Skip to main content

Full text of "Der Buddhist"

See other formats


DER  BUDDHIST 

G  B 


I.  Jj^nRGANG 


^    f  r^v-   T  yjgir 


;*5> 


X«%  .1..  >S'?A 


>'«X 


:;;i  ..K  ^^  4,  Jf.2*S  4..  jf.%  .-. 


S'i 


*-<^ 


>?.?< 

5%;^ 


4>* 


^ 


^^     1.  ÄWjC  4-.  Ä*A 


4&  •!-  <'^* 


4- 


TM? 


*•  lä^  *  12> 


.^    T  V/.ßj    '^   V»«,  ~  v«o^    '    vci^    ^    V01X    '    M".^    '    ve^x         vev         x(f*i/         \enr-         ves/  \et^         > 


■A«»  »'6'»  «'^>  »V»  .^V»  •V" 


%'^ 


■^       SS'*'       ^^^       «^'^       4*55^ 


4^  ^.^  4.  ^.%;  4.  Js;>i  i. 


* 


;%  .  jssjx  I  ?s%j .-.  AW/c  ...  x«%?  .-.  ^?<  4  x«.%  ...  ^.24  4..  .\«%  4,  x9d  .*.  ??;/  4.  x9d  4-.  >^?^  4. ; 


:%  .,  ki?A  I  x«%  4.  ^?6  ■;■■  ^.^-  4.  ^.?^  4.  ^;^  4.  -«.^  4.  >^  .5.  ^.'d  :  S^  4  ^-^  4  h^.^  4. ' 

^?A  I  ^?A  ....  X«%  X  ?^.?4  .....  X«V.  .1  X«%?  ..,.,  X«^  4.  >«;.»X  .1.  ^S.%  4.  ^?^  4-  S^;  4.  >^?^  .*.  ^.«^  4.  i 


f.«?  4-  "9d  4.  ^«=i^  4-  ^9^  .+.  X«.?*^  .t.  ^.?«  4.  >^J>^  -fc.  ^.*«  ij-  ^J^  4-  o9d  .■{>  .^  4-  ^9^  4.  ^?^  4.  < 


x^Ä 


X^jL  .t.   lÄ. 


>.^Ä. 


^.^ 

*.*) 


<$u 


^4i}^-*-<i>-*-<i^4-4i>-:i:-<i>4-4i>>*<«s>4-<iJ-4-<i>4-^ 


AfM. 


W<  4.  ^.?<  .4-.  ^}f>  4. 


f::^ 


^;d  4. 


f^* 


X9«  4 .  X9«C  4.  X9d  4.  ^;>^  4. 


X9-«^  4.  i^?r  4.  XC^  -^    ".'  " 

Yf.^  l  M:>V  :  ^«:?C  *^  5%S«  ^  ......  ^  .....   .     -.      .....  ^  —  ^ 

X«S/.  T  ^.%  I  X«%  .^.  X<vJi  X  >^?A  .:..  X«.% 


:A. 


:i.$. 


•6?;r.V  .V-  AV.^  .K  AS»A.  4-.  ^i''. 


Ä^j 


Ä^i  4. 


?s;;2<. 


*  SSs  4- 


-/«^  T  5^sv  T  ^«s^  :  ^«»' 


5^«S? 


4>  -««-4.  *  -«H*  *  *-5?-V  4=.  <««*•  •:}:- 


.*. 


StJ^c 


lSSSjC  .1 .  Ä?A. 


Der  Buddhist. 

Unabhängige  deutsche  Monatsschrift 
für  das  Gesamtgebiet  des  Buddhismus. 


I.  Jahrgang.    2449  nach  Buddha. 

April  1905  — März   1906. 

Herausgegeben  von 
Karl  B.  Seidenstücker. 

Dhammo  kappa/w  ti//Aeyya. 


Verlag  und  Expedition: 
Buddhistischer  Verlag,  Leipzig. 


Aussprache  der  Päli-  und  Sanskrit- Wörter. 


&,  t,  fi  sind  stets  lang  zu  sprechen. 

e,  o  sind  im  Päii  vor  Doppeliconsonanz  kurz,  sonst  lang;  im 
Sanskrit  stets  lang. 

n  vor  k  und  g  sprich  wie  deutsches  n  in  Engel. 

c  sprich  wie  deutsches  tsch.  ß^ 

j  sprich  wie  deutsches  dsch.  IL  00 

n  sprich  wie  deutsches  nj.  ^ 

y  sprich  wie  deutsches  j. 

V  sprich  wie  deutsches  w.  ''9-.  i 

s  sprich  wie  deutsches  ss. 

5  (nur  sanskr.)  sprich  wie  deutsches  ssj. 

sh  (nur  sanskr.)  sprich  wie  deutsches  seh. 

s  sprich  wie  deutsches  ss. 

h  klingt  tönender  als  im  Deutschen. 

kh,  gh,  ch,  jh,  th,  dh,  ph,  bh  gelten  als  einfache  Konso- 
nanten und  sind  wie  k,  g,  c,  j,  t,  d,  p,  b  mit  deutlich 
nachstürzendem  Hauch  zu  sprechen.  Z.B.  Buddha 
sprich  Budd-ha.  Siddhattha  sprich  Sidd-hatt-ha.  Dham- 
ma  sprich  D-hamma.  Bojjhanga  sprich  Bodsch-dsch- 
hanga. 

Alle  übrigen  Laute  sind  wie  im  Deutschen  zu  sprechen. 

Betonung:  Der  Accent  geht  selten  über  die  drittletzte  Silbe 
zurück.  Auf  der  viertletzten  kann  er  nur  stehen,  wenn 
die  drittletzte  und  vorletzte  Silbe  kurz  ist;  sonst  steht 
er  auf  der  drittletzten,  wenn  die  vorletzte  kurz  ist;  auf 
der  vorletzten,  wenn  diese  natura  oder  positione  lang  ist. 


Inhaltsverzeichnis  des  ersten  Jahrganges. 

(Die  Ziffern  bedeuten  die  Seitenzahlen.) 


Abhandlungen,  Aufsätze  und  Artikel. 

Amitäbha 289 

Berührungspunkte  der  Philosophie  Schopenhauers  und  des  Buddhis- 
mus, Die 260,  304,  336 

Buddhistische  Grundidee  des  »Meisters  von  Palmyra«,  Die     ....    197 

Buddhistische  Ideen  bei  Richard  Wagner 129,  167 

Buddhistische  Züge  im  modernen  Vollcsdenlcen 353 

Erhabene  achtfache  Pfad,  Der 97 

Gedanicen  über  dies  und  das     317,  349 

Gemüts-Läuterung 225 

Goethe  ein  Buddhist 201,  230,  270 

Gott  und  Götter 117 

Grundideen  des  Buddhismus,  Die 80,  111,  142,  186,  209,  251 

Heidentum 254 

Ist  der  Buddhismus  atheistisch? 117 

Macht  der  Meditation,  Die     274 

Macht  des  Karma,  Die     380 

Mahäbodhi 87 

Mahäyäna 135 

Messias,  Der 234 

Mission  und  „Mission" 173 

Missions-Problem,  Das 321,  371 

Moralität  in  orientalischer  Beleuchtung 68 

Nibbäna 74,  106,  138,  177 

Soziale  Kräfte  im  Buddhismus  und  Christentum 149 

Transmigration  oder  Wiedergeburt,  Die     .    .  204,  241,  280,  309,  345,  375 

Vergänglichkeit 45 

Vier  erhabenen  Wahrheiten,  Die 23 

Warum  ich  Buddhist  wurde 214,  244,  285,  314 

Wert  des  Buddhismus,  Der 8 

Wesen  des  Buddhismus  im  Lichte  der  (japanischen)  Tendai-Schule,  Das  341 
Wiedergeburt,  Die,  s.  u.  Transmigration. 

Übersetzungen  kanonischer  Texte. 

Aller  Seelen,  s.  u.  Zwei  Lieder  aus  den  Therigäthä. 

Dhammacakkappavattana-sutta,  Aus  dem 65 

Lehre  des  Buddha,  Die 164,  194,  228,  265,  295,  326,  362 

Mahämangala-sutta,  Das 193 

Metta-sutta,  Das 6 


-    IV    - 

Udftna,  Aus  dem 293 

Utth4na-sutta,  Das     94 

Vier  heiligen  Wahrheiten,  Die,  s.  u.  Lehre  des  Buddha,  Die. 

Zwei  Lieder  aus  den  TherJgäthä 220 

Buddhistische  Sprüche. 

Sprache  aus  dem  sOdlichen  Kanon 

22,  67,  73,  86,  172,  294,  320,  335,  352,  370,  384 
Sprache  und  Predigt-Texte  des  nördlichen  Buddhismus  191,  257,  326,  344 

Freie  Wiedergabe  alter  Texte. 

Tröstungen  der  Religion,  Die 221 

Doxologieen. 

Freuet  euch     1 

Samsära  und  Nirväna 2 

Wahrheit  der  Heiland 4 

Maximen. 

Buddhistische  Sittenlehren 94 

Gedichte. 

Abendstimmung 224 

Buddha 64 

Buddha 64 

Buddhas  Preis 192 

Das  Metta-sutta  (metrische  Übersetzung) 6 

Der  grosse  Arzt 159 

Ende  einer  Leidenschaft 63 

Freier  Wille 96 

Kamma 95 

Lied  von  der  Erlösung        - 96 

Mahinda 161 

Saat  und  Ernte 234 

Volkslied 256 

Wirket  eure  Erlösung 160 

Illustrationen. 

Der  Mahäbodhi-Tempel  zu  Buddha-Qayä. 

Japanische  Buddha-Statuette. 

Henry  S.  Oleott. 

Sir  Edwin  Arnold. 

Der  Thäthanäbaing. 

Kwan-Yin-Statue. 

Der  Buddha  vor  einem  deutschen  Fürstenschloss. 

Nachdruck  nur  mit  genauer  Quellenangabe  gestattet. 


t)ie  Mahäbodhi- Stätte   zu  Buddha -6ayä. 

(An  diesem  Orte  erlangte  Gotama  die  Buddhaschaft.) 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend    üben,    das    eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,   V.  183. 


Ein  Weckruf 
aus  dem  Evangelium  Buddhas. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

— "SS — 

I.  Freuet  Euch. 

1.  Freuet  euch  der  frohen  Botschaft!  Buddha,  unser  Herr, 
hat  die  Wurzel  alles  Übels  gefunden.  Er  hat  uns  den  Weg 
des  Heils  gewiesen. 

2.  Buddha  vertreibt  die  Wahngebilde  unseres  Gemütes 
und  erlöst  uns  von  den  Schrecken  des  Todes. 

3.  Buddha,  unser  Herr,  bringt  Trost  den  Müden  und  Sorgen- 
beladenen.  Er  verleiht  Frieden  denen,  die  unter  der  Bürde  des 
Lebens  niedergebeugt  sind.  Er  gibt  Mut  den  Schwachen,  die 
Selbstvertrauen  und  Hoffnung  verlieren. 

4.  Ihr,  die  ihr  leidet  unter  der  Mühsal  des  Lebens;  ihr, 
die  ihr  kämpfen  und  ertragen  müsst;  die  ihr  Verlangen  habt 
nach  Leben  und  Wahrheit:   freuet  euch  der  frohen  Botschaft! 

5.  Hier  ist  Balsam  für  die  Verwundeten  und  Brot  für  die 
Hungrigen.  Hier  ist  Wasser  für  die  Durstigen  und  Hoffnung 
für  die  Verzweifelnden.  Hier  ist  Licht  für  die,  so  in  Finsternis 
wohnen  und  unerschöpflicher  Segen  für  die  Aufrichtigen. 

6.  Heilet  eure  Wunden,  ihr  Verwundeten,  und  esset  euch 
satt,  ihr  Hungrigen!  Ruhet,  ihr  Müden,  und  ihr,  die  ihr  dürstet, 
löschet  euren  Durst!  Blicket  auf  zum  Licht,  ihr,  die  ihr  in 
Finsternis  wohnet!    Seid  fröhlich,  ihr  Niedergeschlagenen! 


2  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

7.  Vertrauet  der  Wahrheit,  ihr,  die  ihr  die  Wahrheit  liebt,  denn 
das  Reich  der  Gerechtigkeit  ist  begründet  auf  Erden.  Die 
Finsternis  des  Irrtums  ist  vertrieben  durch  das  Licht  der  Wahr- 
heit. Wir  icönnen  unseren  Weg  sehen  und  feste  und  gewisse 
Schritte  tun. 

8.  Buddha,  unser  Herr,  hat  die  Wahrheit  offenbart. 

9.  Die  Wahrheit  heilet  unsere  Gebrechen  und  erlöst  uns 
vom  Verderben;  die  Wahrheit  stärkt  uns  im  Leben  und  im 
Tode;  die  Wahrheit  allein  kann  das  Übel  des  Irrtums  über- 
winden. 

10.  Freuet  euch  der  frohen  Botschaft! 


2.  Samsära  und  Nirväna. 

1.  Schauet  um  euch  und  betrachtet  das  Leben! 

2.  Alles  ist  vergänglich,  nichts  beharrt.  Überall  ist 
Geburt  und  Tod,  Wachstum  und  Verfall,  Verbindung  und 
Trennung. 

3.  Die  Herrlichkeit  der  Welt  ist  wie  eine  Blume:  am  Morgen 
stehet  sie  in  voller  Blüte,  und  sie  welket  dahin  in  der  Hitze 
des  Tages. 

4.  Wohin  ihr  auch  schaut,  da  ist  ein  Drängen  und  Treiben, 
eine  wilde  Jagd  nach  Vergnügen,  eine  hastige  Flucht  vor  Schmerz 
und  Tod;  da  ist  Eitelkeit  und  die  Glut  verzehrender  Begierden. 
Die  Welt  ist  voll  von  Wechsel  und  Veränderung.  Alles  ist  Samsära. 

5.  Gibt  es  nichts  Beständiges  in  der  Welt?  Gibt  es  in 
dem  allgemeinen  Getriebe  keinen  Ruheplatz,  wo  unser  geäng- 
stigtes Herz  Frieden  finden  kann?  ist  nichts  von  ewiger  Dauer? 

6.  Giebt  es  kein  Ende  der  Qual?  Können  die  brennenden 
Begierden  nicht  gestillt  werden?  Wann  soll  das  Gemüt  ruhig 
und  zufrieden  werden? 

7.  Buddha,  unser  Herr,  war  bekümmert  über  das  Elend  des 
Lebens.  Er  sah  die  Eitelkeit  weltlichen  Glückes  und  suchte 
Heil  in  dem  Einen,  das  nicht  verwelkt  oder  verdirbt,  sondern 
bleibet  immer  und  ewiglich. 

8.  Ihr,  die  ihr  euch  sehnt  nach  Leben,  wisset,  dass  Un- 
sterblichkeit verborgen  liegt  in  der  Vergänglichkeit.  Ihr,  die 
ihr  ein  Glück  begehret,  welches  nicht  die  Keime  der  Enttäu- 


No.  lu.  2.  DER  BUDDHIST.  3 

schung  und  der  Reue  enthält,  folget  dem  Rate  des  Meisters 
und  lebet  ein  Leben  der  Rechtschaffenheit.  Ihr,  die  ihr  Ver- 
langen traget  nach  echten  Reichtümern,  kommt  und  empfanget 
Schätze,  die  ewig  sind. 

9.  Die  Wahrheit  ist  ewig.  Die  Wahrheit  kennt  weder 
Geburt  noch  Tod  und  hat  weder  Anfang  noch  Ende.  Jauchzet 
der  Wahrheit  entgegen,  ihr  Sterblichen,  und  lasset  die  Wahr- 
heit einziehen  in  eure  Seelen. 

10.  Die  Wahrheit  ist  der  unsterbliche  Teil  eurer  Seele.  Der 
Besitz  der  Wahrheit  ist  Reichtum,  und  ein  Leben  in  der  Wahr- 
heit ist  Glückseligkeit. 

11.  Begründet  die  Wahrheit  in  euren  Gemütern,  denn  die 
Wahrheit  ist  das  Abbild  dessen,  das  ewig  ist;  sie  ist  eine 
Darlegung  des  Unveränderlichen,  sie  offenbart  das  Dauernde. 
Die  Wahrheit  gewährt  Sterblichen  die  Gabe  der  Unsterblichkeit. 

12.  Buddha  ist  die  Wahrheit.  Lasset  Buddha  in  euren 
Herzen  wohnen.  Vernichtet  in  eurer  Seele  jede  Begierde,  die 
mit  Buddha  unverträglich  ist,  und  ihr  werdet  endlich  im  Geiste 
Buddha  gleich  werden. 

13.  Alles,  was  in  eurer  Seele  sich  nicht  zu  Buddha  entfaltet, 
muss  vergehen,  denn  es  ist  eitel  Wahn  und  nicht  wirklich;  es  ist 
die  Quelle  eures  Irrtums  und  der  Grund  eures  Elendes. 

14.  Ihr  könnt  eure  Seele  unsterblich  machen  dadurch,  dass 
ihr  sie  erfüllet  mit  Wahrheit.  Werdet  dadurch  Gefässe,  geeignet, 
die  Ambrosia  der  Worte  des  Meisters  aufzunehmen.  Reiniget 
euch  von  Sünden  und  heiliget  euer  Leben.  Es  gibt  keinen 
anderen  Weg,  die  Wahrheit  zu  erreichen. 

15.  Lernet  den  Unterschied  zwischen  »Selbst«  und 
»Wahrheit«.  Selbst  ist  der  Grund  aller  Selbstsucht  und  die 
Quelle  der  Sünde.  Die  Wahrheit  bleibt  nicht  am  Selbst  haften; 
sie  ist  allgemein  und  führt  zu  Gerechtigkeit  und  Rechtschaffenheit. 

16.  Denen,  die  ihr  Selbst  lieben,  erscheint  das  Selbst  als 
ihr  eigenstes  und  wahres  Wesen;  doch  das  Selbst  ist  nicht 
ewig;  es  ist  nicht  dauernd,  nicht  unvergänglich.  Suchet  nicht 
euer  Selbst,  suchet  vielmehr  die  Wahrheit. 

17.  Wenn  wir  unsere  Seelen  von  unserem  kleinlichen  Selbst 
befreien,  niemandem  übelwollen  und  rein  werden  wie  ein 
Diamant-Kristall,   der  das  Licht  der  Wahrheit  klar  zurückwirft, 

1» 


4  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

wie  leuchtend  wird  das  Bild  in  uns  sein,  das  die  Dinge  spiegelt, 
wie  sie  sind,  ohne  Beimischung  brennender  Begierden,  ohne 
Verzerrung  irrigen  Wahnes,  ohne  die  Erregung  sündiger  Ruhe- 
losigkeit, 

18.  Wer  sein  Selbst  sucht,  sollte  unterscheiden  zwischen  dem 
falschen  und  dem  wahren  Selbst.  Das  Ich  und  alle  Ichsucht 
sind  das  falsche  Selbst;  sie  sind  unwahre  Wahngebilde  und 
Verbindungen  vergänglicher  Art.  Wer  sein  Selbst  in  der  Wahr- 
heit sucht,  wird  Nirväna  erreichen,  und  wer  in  Nirväna  einge- 
gangen ist,  hat  das  Buddhatum  erreicht.  Er  hat  den  höchsten 
Segen  erworben  und  ist  zu  dem  geworden,  was  ewig  und 
unsterblich  ist. 

19.  Alle  zusammengesetzten  Dinge  müssen  sich  wieder 
auflösen,  Welten  werden  zerbrechen,  und  unsere  Persönlich- 
keiten werden  verstreut  werden,  die  Worte  Buddhas  aber  blei- 
ben ewiglich. 

20.  Die  Tilgung  des  Selbst  ist  Erlösung;  die  Vernichtung 
des  Selbst  ist  Bedingung  aller  Erleuchtung;  das  Auslöschen 
des  Selbst  ist  Nirväna.  Glücklich  der,  welcher  aufgehört  hat, 
dem  Vergnügen  zu  leben  und  der  in  der  Wahrheit  ruhet. 
Wahrlich,  seine  Ergebung  und  die  Stille  seines  Gemütes  sind 
höchste  Seligkeit. 

21.  Lasset  uns  Zuflucht  nehmen  zu  Buddha,  denn  er  hat 
das  Dauernde  im  Vergänglichen  gefunden.  Lasset  uns  Zuflucht 
nehmen  in  der  Wahrheit,  die  durch  Buddhas  Erleuchtung  ge- 
wonnen ist.  

3.  Wahrheit,  der  Heiland. 

1.  Die  Dinge  der  Welt  und  ihre  Bewohner  sind  dem  Wechsel 
unterworfen;  sie  sind  das  Erzeugnis  der  Dinge,  die  vorher  da 
waren,  und  alle  lebenden  Wesen  sind  das,  wozu  ihre  früheren 
Taten  sie  gemacht  haben;  denn  das  Gesetz  von  Ursache  und 
Wirkung  herrscht  allüberall  und  ist  ohne  Ausnahme. 

2.  Aber  in  dem  Wechsel  der  Dinge  liegt  die  Wahrheit 
verborgen.  Wahrheit  macht  die  Dinge  wirklich.  Wahrheit  ist 
die  Dauer  im  Wechsel. 

3.  Und  die  Wahrheit  verlangt  darnach,  zu  erscheinen;  die 
Wahrheit  sehnet  sich  darnach,  sich  selbst  zu  erkennen. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  5 

4.  Wahrheit  wohnt  im  Stein;  denn  der  Stein  ist  hier.  Keine 
Macht  in  der  Welt,  l<ein  Gott,  kein  Mensch,  kein  Dämon  kann 
sein  Dasein  zerstören;  aber  der  Stein  hat  kein  Bewusstsein. 

5.  Wahrheit  wohnt  in  der  Pflanze,  und  ihr  Leben  kann 
sich  entfalten.  Die  Pflanze  wächst  und  blüht  und  bringt  Frucht. 
Ihre  Schönheit  ist  wunderbar,  aber  sie  hat  kein  Bev/usstsein, 

6.  Wahrheit  wohnt  im  Tier;  es  bewegt  sich  und  nimmt 
seine  Umgebung  wahr;  es  unterscheidet  und  lernt  wählen. 
Bewusstsein  entsteht,  aber  es  ist  noch  nicht  das  Bewusstsein 
der  Wahrheit.    Es  ist  nur  ein  Bewusstsein  des  Selbst. 

7.  Das  Bewusstsein  des  Selbst  verdunkelt  die  Augen  des 
Geistes  und  verbirgt  die  Wahrheit.  Es  ist  der  Ursprung  des 
Irrtums,  die  Quelle  des  Wahnes  und  das  Saatkorn  der  Sünde. 

8.  Selbst  gebiert  Selbstsucht.  Es  gibt  kein  Übel,  das 
nicht  dem  Selbst  entfliesst,  und  es  gibt  kein  Unrecht,  das 
nicht  durch  Übergriffe  des  Selbst  geschieht. 

9.  Selbst  ist  der  Anfang  von  allem  Hass,  von  Übeltat  und 
Verleumdung,  von  Schamlosigkeit  und  Unzucht,  von  Diebstahl 
und  Raub,  von  Unterdrückung  und  Blutvergiessen.  Selbst  ist 
Mära,  der  Versucher,  der  Übeltäter,  der  Urheber  des  Ärgernisses. 

10.  Das  Selbst  verführt  durch  Vergnügungen;  es  verspricht 
ein  Feen-Paradies.  Selbst  ist  der  Schleier  der  Mäyä,  der 
Zauberin.  Aber  die  Vergnügungen  des  Selbst  sind  unwahr, 
sein  paradiesisches  Labyrinth  ist  der  Weg  zur  Hölle,  und  seine 
welkende  Schönheit  entfacht  der  Begierde  Flammen,  die  nie 
befriedigt  werden  können. 

11.  Wer  soll  uns  erlösen  von  der  Macht  des  Selbst?  Wer 
soll  uns  erretten  aus  dem  Elend?  Wer  soll  uns  ein  Leben 
voller  Segen  gewähren? 

12.  Voll  von  Elend  ist  die  Welt  des  Samsära,  voll  von 
mancherlei  Elend  und  voll  Schmerz.  Aber  grösser  als  alles 
Elend  ist  der  Segen  der  Wahrheit.  Die  Wahrheit  gibt  dem 
sehnenden  Gemüte  Frieden;  die  Wahrheit  überwindet  den  Irr- 
tum; sie  löscht  der  Begierde  Flammen  und  führt  zum  Nirväna. 

13.  Selig,  wer  den  Frieden  des  Nirväna  gefunden  hat  Er 
hat  Ruhe  gefunden  in  den  Widerwärtigkeiten  des  Lebens.  Er 
steht  über  allem  Wechsel;  er  steht  über  Geburt  und  Tod;  er 
bleibt  unberührt  von  den  Übeln  des  Lebens. 


6  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

14.  Selig  ist,  wer  zu  einer  Verkörperung  der  Wahrheit  ge- 
worden; er  hat  seinen  Zweck  erreicht  und  ist  eins  mit  sich 
selbst  und  der  Wahrheit.  Er  überwindet,  auch  wenn  er  unter- 
liegt; er  ist  ruhmreich  und  glücklich,  auch  wenn  er  leidet;  er 
ist  stark,  auch  wenn  er  unter  der  Bürde  seiner  Arbeit  zusam- 
menbricht; er  ist  unsterblich,  ob  er  gleich  stürbe.  Unsterblich- 
keit ist  das  Wesen  seiner  Seele. 

15.  Selig  ist,  wer  das  heilige  Ziel  des  Buddhatums  erreicht 
hat;  denn  er  ist  tüchtig,  für  die  Erlösung  seiner  Genossen  zu 
wirken.  Die  Wahrheit  hat  Wohnung  in  ihm  genommen.  Voll- 
kommene Weisheit  erleuchtet  seinen  Verstand,  und  Recht- 
schaffenheit beseelt  den  Zweck  aller  seiner  Handlungen. 

16.  Die  Wahrheit  ist  eine  lebendige  Macht  zum  Guten, 
unzerstörbar  und  unbesieglich.  Arbeitet  die  Wahrheit  In  eurem 
Gemüte  aus  und  verbreitet  sie  unter  den  Menschen;  denn  die 
Wahrheit  allein  ist  der  Erlöser  von  Sünde  und  Elend.  Die 
Wahrheit  ist  Buddha,  und  Buddha  ist  die  Wahrheit.  Gesegnet 
sei  Buddha! 

Das  Mettasutta  des  Sutta  Nipäta. 

Deutsche  Übersetzung 

von 
Dr.  Arthur  Pfungst. 

(Vom  Autor  genehmigter  Nachdruck.) 

1.  Fürwahr,  was  auch  ein  Mann  zu  tun  mag  haben, 
Der  wohlgeschickt  dem  Guten  nachzugehen. 
Nachdem  er  des  Nibbäna^)  Ruh'  erreicht. 

Das  tu'  er  tüchtig,  auch  gewissenhaft. 

Und  redlich,  sanften  Wortes,  mild,  nicht  stolz. 

2.  Dass  er  zufrieden  ist,  leicht  unterstützt. 
Um  wenig  sorgt,  von  keiner  Last  gedrückt, 
Dass  er  als  Meister  ruhig  hält  die  Sinne, 
Dass  er  nicht  übermütig  und  nicht  gierig. 
Wenn  er  den  Rundgang  zu  den  Häusern  macht. 

')  Nirväna. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST. 

3.  Er  tue  nichts  Gemeines,  was  ihm  and're, 
Die  weise  sind,  zum  Vorwurf  machen  könnten. 
Mög'  Sicherheit  und  Glück  den  Wesen  allen 
Beschieden  sein  und  Freudigkeit  des  Herzens. 

4.  Was  es  auch  gibt  an  lebenden  Geschöpfen, 
Ob  schwach  sie  oder  stark,  ob  lang,  ob  gross, 
Ob  mittlerer  Gestalt,  ob  kurz,  klein,  breit, 

5.  Ob  sichtbar  oder  unsichtbar  sie  sind. 
Ob  weit  sie  leben  oder  nah',  ob  sie 
Geboren  sind,  ob  der  Geburt  sie  harren, 
—  Glückselig  mögen  alle  Wesen  sein ! 

6.  Es  täusche  keiner  einen  andern,  keiner 
Verachte  einen  andern  je,  auch  wünsche 

Aus  Zorn  und  Rachsucht  keiner  andern  Böses. 

7.  Gleich  einer  Mutter,  die  ihr  eig'nes  Kind, 
Ihr  einz'ges  Kind  bewacht,  indem  ihr  Leben 
Sie  wagt,  so  hege  jeder  ohne  Schranken 
Wohlwollen  im  Gemüt  für  alle  Wesen. 

8.  In  Euren  Herzen  pfleget  freundliche 
Gesinnung  masslos  für  die  ganze  Welt, 

Nach  oben,  unten,  und  nach  den  vier  Winden, 
Ohn'  Hindernis,  Feindseligkeit  und  Hass. 

9.  Und  stehend  oder  gehend,  sitzend,  liegend, 
So  lang  man  wacht,  sei  diesem  Sinne  man' 
Ergeben  ganz;  sie  sagen,  dass  die  Weise 

Des  Lebens  sei  die  beste  dieser  Welt. 

10.  Wer,  ohne  dass  er  philosophische 
Betrachtungen  erfasst,  voll  Tugend  ist, 
Mit  Einsicht  ausgestattet  ganz,  nachdem 
Die  Gier  nach  sinnlichen  Vergnügungen 

Er  unterdrückt  —  dem  wird  Geburt  nie  wieder. 


8  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Der  Wert  des  Buddhismus. 

Von  Bhlkkhu  Ananda  Maitriya.') 

Jegliche  Art  der  Sünde  zu  meiden, 
Gutes  zu  tun,  wo  immer  du  Icannst, 
Nach  des  Gemütes  Läuterung  streben: 
Aller  Erleuchteten  Lehre  ist  dies. 
Dhammapada,  V.  183. 

Wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Bedeutung  einer  Religion 
für  die  Menschheit  genau  zu  bestimmen,  muss  man  zunächst 
den  kritischen  Standpunl<t  einnehmen;  man  muss  die  Religion 
beurteilen  nicht  etwa  nach  dem  Anspruch,  den  sie  darauf  er- 
hebt, für  die  einzige  Wahrheit  gehalten  zu  werden;  auch  nicht 
nach  den  Versprechungen  oder  Drohungen,  mit  denen  sie  im 
Hinblick  auf  das  Jenseits  operiert;  ja,  nicht  einmal  nach  einer 
Auswahl  von  Stellen  aus  ihren  heiligen  Schriften  —  denn  bei 
der  Text-Erklärung  hängt  sehr  viel  von  der  subjektiven  Ansicht 
des  Einzelnen  ab  — ;  eine  Religion  ist  vielmehr  zu  beurteilen 
nach  der  Wirkung,  die  sie  im  Laufe  der  Vergangenheit  auf  das 
Leben  ihrer  Bekenner  ausgeübt  hat,  sowie  nach  dem  Grade 
ihrer  Fähigkeit,  die  Bedürfnisse  des  heutigen  Fortschrittes  und 
des  modernen  Denkens  zu  befriedigen.  Die  Fragen,  welche 
nach  dieser  Richtung  hin  erwogen  werden  müssen,  sind  folgende: 
Inwieweit  hat  die  betreffende  Religion  dazu  beigetragen,  während 
der  Vergangenheit  das  menschliche  Solidaritäts-Gefühl  zu  för- 
dern; in  welchem  Masse  ist  sie  darauf  bedacht  gewesen,  die 
bösen  Leidenschaften,  die  blinden  Vorurteile  und  die  angeborene 
Wildheit  der  Menschen  zu  überwinden;  in  welchem  Grade 
hat  sie  der  Erde  Frieden  und  Glück  gebracht,  —  und  endlich, 
in  wieweit  ist  sie  fähig,  eine  praktische  Antwort  auf  die  grossen 
Probleme  unserer  jüngsten  Zeit  zu  geben? 


')  Der  Autor  ist  ein  geborener  Schotte  und  hiess,  solange  er  im 
Weltleben  verblieb,  Allan  Mac  Gregor.  Er  trat  dann  zum  Buddhismus 
über  und  wurde  in  einem  burmesischen  Kloster  als  Bhikkhu  ordiniert. 
Gegenwärtig  ist  er  General  -  Sekretär  der  >International  Buddist 
Society«  und  Herausgeber  der  bedeutenden  Zeitschrift  »Buddhism« 
(Rangün,  Burma). 


No.  lu.  2.  DER  BUDDHIST.  d 

Wenn  in  dieser  Weise  die  Probe  auf  die  buddhistische 
Religion  gemacht  wird,  so  werden  wir,  wie  ich  glaube,  finden, 
dass  der  Buddhismus  sowohl  in  seinem  hohen  Werte  als 
Kulturfaktor,  von  dem  die  Geschichte  der  verflossenen  vierund- 
zwanzig Jahrhunderte  Zeugnis  ablegt,  als  auch  in  seiner  Fähig- 
keit, für  die  Zukunft  den  Frieden,  Fortschritt  und  die  allgemeine 
Wohlfahrt  der  modernen  Welt  zu  fördern,  —  dass  der  Buddhis- 
mus, sage  ich,  heute  in  der  Reihe  der  grossen  Religionen 
einzig-artig  und  unerreicht  dasteht.  Aber  bevor  wir  der  Er- 
örterung dieser  Fragen  näher  treten,  wird  es  nötig  sein,  einige 
weitverbreitete  Missverständnissc  zu  besprechen,  welche  das 
Wesen  des  Buddhismus  betreffen;  denn  nur  nach  Beseitigung 
dieser  Missverständnisse  kann  ein  klares  Urteil  über  die  so 
vielfach  falsch  verstandene  Religion  gewonnen  werden.  Diese 
Missverständnisse  können  kurz  folgendermassen  zusammenge- 
fasst  werden:  Erstens,  der  Buddhismus  sei  eine  heidnische 
Lehre,  deren  Anhänger  Götzen  Verehrern  und  Stein  und  Holz 
anbeten;  zweitens,  er  sei  ein  geheimnisvolles,  mysteriöses 
Etwas,  zusammengesetzt  aus  einer  Vermengung  von  krassem 
Wunderglauben  und  Esoterismus;  drittens,  der  Buddhismus 
sei  eine  saft-  und  kraftlose  Philosophie,  ohne  Rückgrat,  pessi- 
mistisch und  apathisch,  deren  Ziel  und  Zweck  in  absoluter  Ver- 
nichtung liege,  und  welche  den  Umsturz  aller  nützlichen 
Aktivität  anstrebe;  eine  Religion,  wohl  gut  genug  für  „die 
träumenden  Völker  des  Orients",  —  wie  die  Nichtunterrichteten 
sich  auszudrücken  belieben,  —  aber  gänzlich  ungeeignet  für 
die  mehr  aktiven  und  energischen  Nationen  des  Westens. 

Der  Grund  des  ersten  dieser  Missverständnisse  ist  sehr  ein- 
fach. Reisende  kommen  aus  dem  Abendlande  in  östliche  Länder 
und  erbHcken  bei  ihrem  Besuche  buddhistischer  Tempel  dort 
Bilder  des  Buddha;  sie  sehen,  dass  der  Altar  vor  dem  Buddha- 
Bilde  zeitweise  von  knieenden  andächtigen  Menschen  umlagert 
ist,  welche  Sprüche  in  einer  unbekannten  Sprache  murmeln  und 
Blumen  oder  Lichter  vor  des  Meisters  Altar  opfern.  Und  sofort 
machen  diese  Fremden  aus  dem  Gesehenen  ihre  Schlussfolge- 
rungen.  Diese  Leute,  so  denken  sie,  sind  Götzendiener;  das 
Buddha-Bild  ist  ihr  Idol;  die  gemurmelten  Worte  sind  die 
Gebete,  die  sie  zu  ihrem  „Götzen"  richten;  die  Blumen,  Wohl- 


,10  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

gerüche  und  Lichter  sind  die  Opfer,  von  denen  diese  „Heiden" 
wähnen,  dass  sie  von  dem  Ding  aus  Stein  oder  Holz,  vor  dem 
sie  knieen,  angenommen  werden.  —  Die  Tatsachen  selbst  sind 
richtig;  aber  die  daraus  gezogenen  Schlüsse  sind  der  Wahrheit 
durchaus  entgegengesetzt.  Erstens  glauben  Buddhisten  über- 
haupt nicht  an  einen  Gott,  wie  er  in  der  Vorstellung  der 
Abendländer  lebt  als  ein  höchstes  Wesen,  welches  Gebete 
hören  und  beantworten  kann.  Die  Bilder,  vor  denen  Buddhisten 
knieen,  sind  nur  Darstellungen  des  einen  grossen  Meisters;  sie 
ehren  sein  Andenken,  weil  er  die  ganze  Menschheit  liebte  und 
für  sie  den  Weg  zum  Frieden  fand,  und  dieser  Meister  ist  vor 
langer,  langer  Zeit  eingegangen  „in  jene  höchste  Ruhe,  in  der 
von  weltlichen  Vorstellungen  nichts  mehr  vorhanden  ist". 
Buddhisten  beten  nicht,  da  nach  ihrem  Glauben  niemand  da 
ist,  zu  dem  sie  beten  sollten,  —  Buddhisten  beten  überhaupt 
nie,  ^-  und  die  Gaben,  die  sie  darbringen,  sind  nur  ein  Sym- 
bol ihrer  Ehrfurcht  für  den  grossen  Lehrer  und  ein  Mittel  zur 
Konzentration  des  Geistes  entsprechend  den  Worten,  die  sie 
leise  hersagen.  Wie  wir  gerne  das  Bild  eines  uns  teuren 
Menschen  ansehen,  wenn  Tod  oder  Abwesenheit  uns  seiner 
Gegenwart  beraubt  hat,  gerade  so  wünschen  die  Buddhisten  die 
Sinnbilder  ihres  Meisters  vor  sich  zu  haben;  denn  durch  diese 
Symbole  werden  sie  mehr  als  durch  sonst  etwas  in  der  Welt 
angeleitet,  nachzudenken  über  das  unvergleichliche  Leben,  das 
Er  gelebt,  über  die  Liebe,  die  Ihn  beseelt,  über  das  Gesetz, 
welches  Er  gelehrt  hat  —  und  das  ist  alles.  Die  Buddhisten 
sind  der  Ansicht,  dass,  je  mehr  sie  das  Leben  ihres  Meisters, 
seine  die  Wahrheit  enthüllende  Lehre  und  die  Gemeinschaft 
seiner  wahren  Jünger  betrachten,  —  ihr  Gemüt  um  so  besser, 
edler  und  reiner  werden  wird,  —  und  das  ist  ihr  grosses 
Lebens-Ideal.  Und  so  vergegenwärtigen  sie  sich  die  lichten 
Tugenden  ihres  Meisters,  die  Vorzüge  seiner  Lehre  und  seines 
Bruder-Bundes;  sie  tun  das  in  der  Erkenntnis,  dass  das  Denken 
an  heilige  Dinge  das  Gemüt  immer  erhebt  und  läutert;  sie  tun 
es  in  der  Hoffnung,  diese  Vorzüge,  und  sei  es  nur  teilweise, 
in  ihrem  Leben  zu  verwirklichen.  Die  Dinge,  welche  sie  knie- 
end  opfern,  sind  gleichsam  Unterrichts-Gegenstände,  mit  denen 
sie   der  Wahrheit,    die   sie   zu   realisieren   trachten,   näher   zu 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  ■'ll 

kommen  hoffen,  und  die  Sprüche,  welche  sie  murmeln,  sind 
keine  Gebete,  sondern  Meditations-Übungen  über  den  Gegen- 
stand, welchen  diese  Darbringungen  versinnbildlichen  sollen. 

Eine  dieser  Meditationen,  welche  beim  Opfern  von  Blumen 
geübt  wird,  wollen  wir  wiedergeben,  damit  der  Leser  einen 
Begriff  von  der  Gedankenrichtung  jener  knieenden  „Heiden" 
bekommt: 

„Diese  Blumen  bringe  ich  dar  zur  Erinnerung  all  Ihn,  den 
Meister,  den  Heiligen,  den  vollkommen  erleuchteten  Buddha, 
wie  auch  die  Erleuchteten  in  vergangenen  Tagen,  wie  die 
Heiligen  und  Arahäs  aller  Zeiten  geopfert  haben.  Jetzt  ist  die 
Gestalt  dieser  Blumen  prächtig,  ihre  Farben  sind  lieblich,  am- 
brosisch ihr  Duft.  Aber  gar  bald  wird  das  alles  vergangen 
sein  —  verdorrt  diese  schöne  Form,  verblichen  diese  schillern- 
den Farben,  unrein  dieser  jetzt  so  liebliche  Duft.  Genau  so 
verhält  es  sich  mit  allen  zusammengesestzten  Dingen:—  Ver- 
gänglich, leidvoll,  nicht-wirklich!  Mögen  wir  diese  Wahrheit 
verwirklichen  und  in  jenen  Frieden  eingehen,  der  jensdits 
alles  Lebens  liegt!" 

Da  der  Buddhist  an  die  universale  Herrschaft  des  gefech- 
ten  Gesetzes  glaubt,  so  würde  es  ihm  allerdings  nicht  nur 
närrisch,  sondern  sogar  schlecht  erscheinen,  vvoflte  er  für" dies 
oder  jenes  beten;  er  betrachtet  es  als  eine  Tatsache,  dass  sfeihe 
Lebenslage  die  Wirkung  bestimmter  Gesetze  ist,  und  er  würde 
ebensowenig  daran  denken,  zu  diesen  Gesetzen  zu  beten,  wie 
es  dem  Physiker  einfallen  würde,  die  Schwerkraft  zu  bitten, 
sie  möge  auf  diesen  oder  jenen  Stein  nicht  einwirken.  —   ' 

Die  zweite  irrige  Ansicht,  —  der  Buddismus  sei  eine  my- 
steriöse, occultistische  Religion,  hat  ihren  Grund  in  dem  Um- 
stand, dass  die  westliche  Welt  mit  dieser  Religion  zuerst  in 
Berührung  gekommen  ist  durch  die  Übersetzungen  umfangreicher 
Sanskrit- Werke,  welche  ihr  Dasein  einer  Zeit  verdanken,  da  der 
Buddhismus  in  Indien  im  Verfall  begriffen  war,  einer  Zeit, 
welche  durch  das  üppige  Empörwuchern  animistischen  Aber- 
glaubens charakterisiert  ist:  das  war  die  Zeit  zwischen  den  Jahren 
800  und  1000  nach  dem  Abscheiden  des  grossen  Meisters. 
Die  genannten  Werke  bestehen  zum  Teil  aus-  Übersetzung;en 
ursprünglicher -Päli-Texte;    in  der  Hauptsache  aber  handelt  es 


vi  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sich  um  Original-Erzeugnisse,  welche  dem  Buddiia  oder  seinen 
grossen  Schülern  untergeschoben  wurden;  indessen  zeigen  sie 
sowohl  durch  ihre  Schreibweise,  als  auch  durch  den  Stoff,  den 
sie  behandeln,  dass  sie  unmöglich  aus  derselben  Quelle,  wie 
die  Päli-Schriften,  geflossen  sein  können.  Diese  letzteren  nun 
wurden  dann  später  von  Europäern  in  Burma,  Ceylon  und  Siam 
entdeckt,  und  da  die  Päli-  und  Sanskrit-Werke  sogar  in  manchen 
wesentlichen  Punkten  differieren,  so  entstand  das  Problem 
über  die  Frage,  welches  die  reinen,  ursprünglichen  und  authen- 
tischen Lehren  des  Buddha  seien.  Die  historische  Kritik,  wie 
sie  von  Dr.  Rhys  Davids  und  anderen  tüchtigen  Gelehrten  ge- 
übt worden  ist,  hat  dieses  Problem  für  immer  gelöst:  Die 
Päli-Schriften  sind  die  älteren ;  sie  sind  die  Repräsentanten  der 
ursprünglichen,  Lehren,  und  die  späteren  Sanskrit-Werke  stehen 
zu  ihnen  in  etwa  demselben  Verhältnis,  wie  die  lateinische 
Mönchs-Literatur  des  Mittelalters  zu  dem  Christentum  Christi.*) 
Wir  kommen  nun  zu  dem  letzten  der  oben  angeführten 
Missverständnisse.  Der  Buddhismus,  so  wird  oft  behauptet, 
hat  als  letztes  Ziel  absolute  Vernichtung;  er  ist  gänzlich  pessi- 
mistisch und  kennt  keine  andere  Hoffnung,  als  den  Tod;  seine 
Lehre  untergräbt  die  Tatkraft  seiner  Anhänger  und  macht  dieselben 
schlaff  und  gleichgültig.  Wir  können  solche  Behauptungen  nur 
als  völlig  unwahr  und  verkehrt  bezeichnen.  Freilich  gibt  der 
Buddhismus  zu,  dass  in  dem  Leben,  welches  wir  leben,  Leid 
und  Übel  vorhanden,  ja  sogar  in  bedeutendem  Übermass 
vorhanden  sind;  aber  es  ist  gerade  die  Hauptaufgabe  dieser 
Religion,  zu  zeigen,  wie  das  Leid  und  Übel  beseitigt,  wie  eine 
Glückseligkeit  erreicht  werden  kann,  die  jenseits  unseres  Träumens 
liegt,  und  die  von  unserer  Religion  nachdrücklich  geforderte  Pflege 
der  Tugend  und  der  Meditation  in  ihrem  gesamten  Umfange 
ist  nur  ein  Mittel  zu  diesem  Zweck.  Zugeben,  dass  Leid  und 
Übel  vorhanden  sind,  heisst  doch  nichts  anderes,  als  eine  un- 
zweifelhaft feststehende  Tatsache  zugeben,  während  wir  unter 
Pessimismus  nicht  nur  dieses  Zugeständnis  verstehn,  sondern 
vielmehr  den  Glauben,  dass  dem  Übel  nicht  abgeholfen  werden 

')  Vergl.  Dr.  Rhys  Davids'  »Notes  on  the  History  of  Buddhism«  und 
die  Einleitung  zu  den  Übersetzungen  in  den  »Sacred  Bool<s  of  the  East« 
und  die  »Dialogues  of  Buddha«. 


No.  I  u.  2.  DER  BUDDHIST.  13 

könne,  und  gerade  diesen  unerträglichen  Gedanken  weist  der 
Buddhismus  auf  das  entschiedenste  zurück.  Gerade  weil  der 
Buddhismus  behauptet,  dass  die  Selbstzucht  stärker  ist  als  das 
Böse,  und  die  Erziehung  mächtiger  als  der  Naturtrieb,  so  ist 
er  sicher  nicht  Pessimismus,  sondern  vielmehr  der  stolzeste 
Optimismus,  der  jemals  den  Menschen  unter  dem  Banner  von 
Religion  und  Philosophie  verkündet  wurde. 

Wenn  ferner  behauptet  wird,  der  Endzweck  des  Buddhismus 
sei  absolute  Vernichtung,  so  ist  das  durchaus  verkehrt;  —  das 
Ziel  des  Buddhismus  liegt  nicht  in  einem  Jenseits,  sondern  hier 
in  unserem  Leben;  sein  Ziel  ist  ein  Leben,  das  durch  Selbst- 
überwindung glorreich  geworden  und  durch  eine  alles  umfassende 
Liebe  und  Weisheit  geläutert  ist.  Die  Lehre  betont,  dass  innere 
Zweifel  —  von  denen  wir  sagten,  sie  seien  eine  von  jenen  drei 
geistigen  Fesseln,  welche  gebrochen  werden  müssen,  bevor  das 
ideale  Leben  erreicht  werden  kann,  —  dass  innere  Zweifel  alle 
solche  Spekulationen  erzeugen,  wie:  „Werde  ich  nach  dem  Tode 
fortleben  oder  nicht?"  Da  diese  Frage  nach  dem  Wesen  des 
Endzieles,  welches  der  Buddhismus  sich  steckt,  in  einem  be- 
sonderen Aufsatze  behandelt  wird,*)  so  ist  es  unnötig,  hier 
näher  darauf  einzugehen. 

Endlich  der  Vorwurf  der  Apathie.  Derselbe  wird  von 
Leuten  erhoben,  die  den  Inhalt  und  Endzweck  des  Buddhismus 
nicht  begriffen  haben,  und  der  Nachweis,  dass  die  Ansicht  irrig 
ist,  der  Buddhismus  zerstöre  den  Willen  und  lähme  die  Tatkraft 
des  Menschen,  ist  von  C.  A.  F.  Rhys  Davids  in  einem  Essay*) 
glänzend  geliefert  worden.  Die  Praxis  des  Buddhismus  ist  eine 
langdauernde,  auf  tatkräftiger  Anstrengung  beruhende  Selbstzucht, 
die  unter  dem  Namen  »der  vierfache  grosse  Kampf«  bekannt 
ist;  ihre  Teile  sind:  Die  Anstrengung,  vorhandene  schlechte 
Zustände  des  Gemütes  zu  beseitigen,  neue  schlechte  Zustände 
nicht  aufkommen  zulassen,  vorhandene  gute  Zustände  zu  stärken 
und  neue  gute  Zustände  hervorzubringen,  und  dieser  Kampf 
erfordert  eine  nie  wankende  Willens-Energie,  eine  dauernde 
Konzentration  und  Wachsamkeit  der  Geistes.  „Anstrengung", 
so  werden  wir  gelehrt,  „ist  der  unsterbliche  Pfad,  Trägheit  ist 

')  Unter  dem  Titel  »Nibbäna«  in  einem  der  nächsten  Hefte. 
")  »Buddhism  and  Will«. 


14  DER  BUDDHJST.  I.  Jahrg. 

der  Weg  des  Todes.  Die,  Tatkräftigen  leben  immer;  aber  die 
Trägen  gleichen  bereits  den  Toten",  ^)  und  diese  Lehre  klingt 
wider  in  allen  Teilen  der  buddhistischen  Schriften.  „Vergäng- 
lich sind  alle  Dinge,  deshalb  arbeitet  rnit  Tatkraft  an  eurer 
Erlösung" -)  ;—.4ies  war  der  letzte  Auftrag  des  Buddha  an 
seine  Jünger,  ein  Auftrag,  der  von  dem  buddhistischen  Mönch 
stets  aufs  neue  wiederholt  wird,  so  oft  er  dem  Volke  die  Ge- 
bote erklärt.  Eine  Religion,  welche  die  Notwendigkeit  energi- 
scher Aufraffung  und  des  »Nicht-Aufschiebens«  (Appamäda) 
so  sehr  in  den  Vordergrund  stellt  und  als  das  Haupterfordernis 
für.  jeden  wahren  Fortschritt  betont,  kann  schwerlich  mit  Recht 
beschuldigt  werden,  zur  Verkümmerung  des  Geistes  und  Willens 
zu  führen.  — 

Nach  Beseitigung  dieser  Missverständnisse  können  wir  nun 
zur  Besprechung  jener  wesentlichen  Fragen  schreiten,  die  wir 
am  Anfange  der  Ausführungen  aufwarfen:  Was  hat  der  Bud- 
dhismus während  der  Vergangenheit  für  die  Menschheit  und 
Gesittung  geleistet,  und  in  welchem  Masse  ist  er  fähig,  heute 
die  Probleme  zu  lösen,  welche  die  moderne  Welt  beschäftigen? 

Wenn  wir  der  ersten  dieser  Fragen  näher  treten,  so  hat 
nach  unserer  Meinung  der  Buddhismus  durch  Förderung  der 
Gesittung  und  Kultur  für  die  Welt  mehr  getan,  als  irgend  eine 
andere  der  grossen  Religionen,  die  wir  kennen.  Der  wahre 
Wert  einer  Religion  ist  sicherlich  abzuwägen  nach  ihrer  Befähi- 
gung, die  Leidenschaften,  die  Unwissenheit  und  namentlich  die 
Vorurteile  der  Menschheit  zu  beseitigen,  nach  ihrer  Kraft,  die 
sie  in  der  Förderung  des  allgemeinen  Wohles  und  in  der 
Mission  des  Friedens  offenbart. '  Wir  können,  denke  ich,  ruhig 
zugeben,  dass  alle  grossen  Religionen  bis  zu  einem  bestimmten 
Grade  dahin  gestrebt  haben,  ihre  Anhänger  zu  besseren  Men- 
schen zu  machen;  leider  aber  wird  —  mit  alleiniger  Ausnahme 
des  Buddhismus  —  das  Gute,  das  sie  ihren  Bekennern  durch 
die  Einschärfung  der  Moral-Lehren  erwiesen,  bei  weitem  über- 
troffen von  den  furchtbaren  Verbrechen,  welche  eben  diese 
Anhänger  gegen  unschuldige  Andersgläubige  verübt  haben,  — 
von  den  Früchten  einer  wilden  Grausamkeit  und  eines  blinden 


')  Dhammapada,  V.  21. 

')  Sacred  Books  of  the  Eeast,  Vol.  XI,  S.  114. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  15 

Fanatismus,  für   welche   religiöse  Dogmen    sich  nur  zu   leicht 
als  ein  bequemer  Vorwand    darbieten.     Mögen    wir    nun    die; 
unter  Qankaräcärya  im  Namen    der  drei  Millionen  Götter  des 
hinduistischen   Pantheons   inscenierten   grausamen   Buddhisten- 
Verfolgungen  betrachten,  oder  die  Ströme  von  Blut,  welche  die 
Anhänger  Mohammeds  vergossen  haben,  oder  die  langen  und 
zahlreichen  Verfolgungen,    mit  welchen    man    im   Namen  Jesu 
Christi  gegen  jegliche  Art   des  geistigen  Fortschrittes  gewütet 
hat,  —  so   werden   wir  immer  finden,   dass   die  Annalen  aller 
Religionen  unauslöschlich  mit  dem  Blute  der  Unschuld  besudelt 
sind,  und  in  demselben  Masse,  wie  diese  den  Fanatismlis  und 
alle  nur  denkbare  Grausamkeit  begünstigt  haben,   sind   sie  für 
die  Welt  eher  eine   Geissei,  als  ein   Segen   gewesen.     Diesen 
unwiderleglichen  Tatsachen  gegenüber  müssen  wir  sagen,  dass 
der   Buddhismus   unter   den   grossen   Weltreligionen    einzig  in 
seiner  Art  dasteht,  obwohl  er  heute  über  fünfhundert  Millionen 
Anhänger  zählt,  obwohl  seine  Herrschaft  sich  über  Rassen  er- 
streckt, die  so  grundverschieden  sind,  wie  die  nomadisierenden 
Stämme  der  tartarischcn  Steppen  und  die  Bewohner  des  tropischen 
Ceylon;  der  Buddhismus  kann  allein  den  stolzen  Ruhm  für  sich 
in  Anspruch  nehmen,  dass  seine  Altäre  von  Anfang  an  nie  mit 
Menschenblut  befleckt  worden  sind,  und  dass  niemals  im  Namen 
dessen,  der  Mitleid  und  Liebe  als  das  wichtigste  Lebensgesetz 
gepredigt  hat,  ein  Leben  geopfert  wurde.     Was  der  Buddhismus 
auf  Erden  Gutes  geleistet  hat  —  und  ist  er  nicht  eine  Befreiung 
für  die  einst    so  wilden   Horden    der  Tibeter  und   Mongolen 
gewesen,  hat  er  nicht  die  uralte  Kultur  Chinas  mächtig  gefördert, 
hat  er  nicht  das  nationale  Leben  und  den  Charakter  des  grosseh 
japanischen  Volkes  in  hohem  Masse  veredelt?!  —  was  er,  sage 
ich,  Gutes  getan  hat,   ist  ungetrübt  gut  geblieben.     Die  Herr- 
schaft, die  er  über  seine  Bekenner  ausgeübt  hat,  ist  so  gross 
und  gut  gewesen,  dass  dieselben  niemals  auf  den  finsteren  Ab- 
weg der  Unduldsamkeit  geraten  sind,  dass  sie  niemals  gewagt 
haben,  des  Meisters  Namen   als  Deckmantel   der  Grausamkeit 
zu  missbrauchen,  und  diese  Tatsache,  denke  ich,  ist  von  allen 
Beweisen    wohl    der  beste   für   die  Vollkommenheit   der   bud- 
dhistischen Sittenlehren,  für  den  hohen  humanitären  Wert,  der 
dem  Buddhismus  als  Kulturfaktor  zukommt. 


16  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Wir  gelangen  endlich  zur  Erörterung  der  Frage:  Welche 
Bedeutung  hat  der  Buddhismus  für  die  heutige  Welt,  und  in- 
wieweit ist  er  fähig,  den  Fortschritt  der  modernen  Civilisation 
zu  fördern?  Wir  behaupten,  dass  in  dieser  Beziehung  die  An- 
nahme des  Buddhismus  einen  Fortschritt  der  Humanität  bedeuten 
wlirde,  der  in  seiner  ganzen  Grösse  nur  mit  dem  Fortschritte 
verglichen  werden  könnte,  den  der  Westen  seit  den  letzten 
hundert  Jahren  auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft  aufzuweisen 
hat,  —  und  dies  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  unsere  Reli- 
gion alle  die  edlen  Bestrebungen,  die  der  Unterdrückung  alter 
Barbarei,  der  Erhaltung  des  Friedens  und  der  Verbreitung  der 
allgemeinen  Wohlfahrt  gewidmet  sind,  in  sich  schliesst,  begründet 
und  mit  neuem  Leben  erfüllt,  —  und  das  sind  gerade  diejenigen 
Bestrebungen,  die  heute  im  Abendlande  eifrig  diskutiert  werden. 

Das  erste  der  für  jeden  Buddhisten  giltigen  fünf  Gebote 
erhebt  die  Forderung,  sich  von  der  Zerstörung  von  Leben  fern- 
zuhalten. Die  allgemeine  Annahme  dieser  Vorschrift  als  eines 
Führers  im  Leben  muss  einen  unermesslichen  Fortschritt  für 
die  Humanität  und  Gesittung  bedeuten.  Dadurch  würde  die 
Grundlage  für  eine  vernünftige  Beurteilung  der  Schrecken  und 
Greuel,  die  der  Krieg  mit  sich  bringt,  geschaffen,  und  die  Folge 
würde  eine  bedeutende  Reduzierung  der  Armee-Rüstungen  sein, 
die  für  die  Einnahmen  der  modernen  Staaten  einen  so  beklagens- 
werten]! Abzug  darstellen;  die  Todesstrafe  würde  aufgehoben, 
jenes  Überbleibsel  barbarischer  Zeiten,  das  sich  mit  dem  mo- 
dernen Fortschritt  nicht  mehr  verträgt;  die  Grundsätze  der 
Menschlichkeit  würden  auch  auf  die  Tierwelt  ausgedehnt  werden, 
(und  sicheriich  sollte  man  eine  menschhche  Behandlung  nicht 
nur  den  Geschöpfen  zugestehen,  die,  wie  der  Mensch  sich 
selbst  verteidigen  können);  es  würden  nicht  allein  die  Brutali- 
täten des  Schlachthauses  abgeschafft  werden,  sondern  es  fiele 
auch  zugleich  die  Notwendigkeit  fort,  eine  Klasse  von  Menschen 
in  einem  menschenunwürdigen  Handwerke  zu  erhalten,  das  darauf 
ausgeht,  für  die  Esslust  der  feineren  Klassen  Kuppler-Dienste 
zu  leisten,  und  gerade  diese  feineren  Kreise  sind  es,  die  vor 
dem  Abstechen  wehrioser  fühlender  Tiere  mit  Entsetzen  zurück- 
beben würden  und  sorglos  genug  dahin  leben,  um  diese  blutige 
Aufgabe  weniger  glücklichen  Menschen  zu  übedassen. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  17 

Die  Annahme  des  fünften  Gebotes  —  die  Enthaltsamkeit 
von  berauschenden  Getränken  —  würde  mit  einem  Schlage  einen 
bedeutenden  Rückgang  von  Verbrechen  und  Irrsinn  bedeuten  und 
zugleich  einen  Fluch  beseitigen,  der  wie  ein  Alp  auf  unserer 
Zeit  lastet,  einen  Fluch,  der  nicht  nur  das  Mark  derer  unterwühlt, 
die  ihm  verfallen  sind,  sondern  der  auch  die  Saat  eines  unver- 
meidlichen Verfalles  für  künftige  Zeiten  streut  und  in  kommenden 
Geschlechtern  jenes  geistige  Kontroll-Zentrum  zu  zerstören  droht, 
von  dessen  Beschaffenheit  allein  der  Unterschied  zwischen 
geistiger  Klarheit  und  Wahnsinn  abhängt. 

Ferner  ist  der  Buddhismus  die  einzige  grosse  Religion,  in 
der  die  ungerechten  Schranken  zwischen  beiden  Geschlechtern 
gänzlich  fehlen,  und  wo  er,  wie  in  Burma,  praktisch  betätigt 
und  gelebt  wird,  —  da  geniessen  die  Frauen  in  jeder  Hinsicht 
dieselbe  Freiheit,  wie  die  Männer;  sie  sind  frei  in  der  Verfügung 
über  ihr  Eigentum,  frei  in  dem  Rechte,  aus  denselben  Gründen 
Ehescheidung  zu  fordern,  v/ie  das  andere  Geschlecht,  frei  in 
ihrem  Rechte  auf  ihre  Kinder  —  überhaupt  in  allen  wesentlichen 
Punkten  viel  freier,  als  ihre  Schwestern  in  den  westlichen 
Ländern  es  sind. 

Auch  in  der  Richtung  des  Erziehungswesens  würde  die 
Annahme  des  Buddhismus  einen  grossen,  bemerkenswerten 
Fortschritt  bedeuten,  insofern  derselbe  die  Behauptung  aufstellt, 
dass  alle  Verbrechen  und  Sünden  in  der  Unwissenheit  wur- 
zeln. '  Denn  in  den  buddhistischen  Schriften  wird  nicht  nur  die 
Unterweisung  in  den  Künsten  und  Wissenschaften  als  ein 
wesentlicher  Teil  der  Pflicht  der  Eitern  ihren  Kindern  gegen- 
über gefordert^),  sondern  auch  die  Tatsache,  dass  die  Trainie- , 
rung  des  Geistes  ein  sehr  wichtiger  Faktor  in  dem  praktischen 
Buddhismus  ist,  würde  einem  dergrössten  Bedürfnisse  unserer  Zeit 
voll  Rechnung  tragen.  Es  ist  mir  immer  befremdlich  erschienen, 
dass  das  moderne  Denken,  welches  so  viel  Wert  auf  die  Pflege 
des  menschlichen  Körpers  legt,  welches  so  vollkommene  An- 
weisungen zur  Pflege  eines  jeden  Muskels  im  Körper  gibt, 
nicht  auch  eine  entsprechende  Methode  zur  Übung  und  Entfal- 
tung der  höheren  geistigen  Fähigkeiten  aufgefunden  hat  — 
Fähigkeiten,  deren  Ausbildung  nicht  weniger  unsere  Pflicht  ist, 

')  S.  Singalasuttanta. 


18  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

als  die  Trainierung  der  Musi<eln  und  Sehnen  im  Körper.  In 
einem  gewissen  Sinne  bedeutet  natürlicli  alle  moderne  Erziehung 
eine  Pfleg  gewisser  geistiger  Fähigl<eiten ;  aber  es  werden  in 
der  jetzt  gebräuchlichen  Methode  eben  nur  einige  von  ihnen 
berücksichtigt,  während  andere,  die  für  die  Wohlfahrt  der 
Menschheit  bei  weitem  wichtiger  sind,  gänzlich  vernachlässigt 
werden.  Der  Buddhismus  behauptet,  dass  genau  ebenso,  wie 
ein  Muskel  durch  Nicht-Gebrauch  atrophisch  wird,  und  durch 
sorgfältigen  systematischen  Gebrauch  zu  seiner  vollen  Entfaltung 
gelangt,  auf  Grund  deren  er  seine  Funktionen  in  jeder  Bezie- 
hung verrichten  kann,  auch  die  geistigen  Kräfte  verkümmern 
oder  wachsen  können.  Und  wie  er  die  Prinzipien  der  Soli- 
darität als  den  Grundkern  aller  wahren  Gesittung  betrachtet, 
so  betont  er,  dass  dieselben  durch  eine  bestimmte  Methode  geisti- 
ger Operationen  ausgebildet  werden  müssen.  So  ist  z.  B.  eine 
der  Hauptursachen  des  Leidens  in  dieser  Welt  Zorn  und  Hass, 
—  Eigenschaften,  die  nicht  nur  demjenigen  Kummer  bringen, 
welcher  hasst  oder  reizbar  ist,  sondern  auch  der  Menschheit 
selbst,  von  der  er  einen  integrierenden  Bestandteil  bildet.  Und 
wie  ist  diese  Ursache  des  Leidens  zu  überwinden?  Dadurch, 
sagt  der  Buddhismus,  dass  die  entgegengesetzte  Kraft,  die 
Liebe,  entfaltet  wird,  und  der  Weg,  der  zu  diesem  Ziele  führt, 
ist  sehr  einfach:  Wir  üben  uns  darin,  Gedanken  der  Liebe 
gegen  alle  Wesen  in  uns  wachzurufen,  wir  üben  uns  darin  an 
jedem  Tage  eine  bestimmte  Zeit,  bis  die  auf  diese  Weise  er- 
worbene Kraft  der  Liebe  jede  Möglichkeit  des  Hassens  aus 
unserem  Leben  verbannt  hat.  Und  ebenso  verhält  es  sich  mit 
Sympathie,  Barmherzigkeit,  Mitleid  und  all  den  höheren  Geistes- 
kräften: —  Der  Buddhismus  kennt  ein  bestimmtes  System,  um 
dieselben  zu  entwickeln,  und  dieses  System  besteht  eben  darin, 
dass  man  sich  regelmässig  darin  übt,  Gedanken  zu  erwecken, 
die  zur  Entfaltung  jener  Kräfte  führen  müssen.  Ist  es  etwa 
im  Interesse  der  Menschheit  weniger  wichtig,  dass  wir  fähig 
werden,  Wohlwollen  zu  hegen,  an  der  Freude  anderer  teilzunehmen 
und  mit  ihren  Leiden  mitzufühlen,  als  dass  wir  imstande  sind, 
eine  algebraische  Gleichung  zu  lösen?  Sicherlich  nicht,  wenn 
anders  uns  daran  gelegen  ist,  das  grösste  und  erhabenste  Ziel 
unseres  menschlichen  Wesens  zu   erreichen,  wenn  anders  wir 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  19 

danach" streben,  der  Verwirklichung  wahrer  Menschlichkeit  näher 
zu  kommen  und  den  Zweck  unserer  Rasse  zu  erfüllen. 

Und  so  würde  die  Einführung  des  Buddhismus  die  Er- 
ziehungsmethode in  neue  Bahnen  lenken;  sie  würde  der  Be- 
deutung und  dem  Zwecke  der  Erziehung  selbst  einen  neuen 
Gehalt  verleihen:  —  Die  letztere  würde  dann  nicht  nur  ein 
Mittel  werden,  um  den  Menschen  mit  jener  für  den  Fortschritt 
im  Leben  wesentlichen  Einsicht  auszustatten,  sondern  auch  ein 
Werkzeug,  um  die  gesamte  Menschheit  zu  heben  und  die  Prin- 
zipien der  Solidarität  in  dem  Grade  zu  verwirklichen,  dass  dieselben 
die  Grundlage  eines  wirklichen,  dauernden  Fortschrittes  bilden 
müssten.  Dies  nun  müsste  unseres  Erachtens  auch  die  Idee 
sein,  die  der  Behandlung  der  Verbrecher  zu  Grunde  zu  legen 
ist.  Dem  Verbrecher  fehlt  nach  unserem  Dafürhalten  nur  jene 
moralische  Kontrolle,  welche  bei  dem  Durchschnittsmenschen  die 
Ausübung  verbrecherischer  Triebe  verhindert,  und  eine  solche 
Person  zu  „bestrafen"  dadurch,  dass  man  sie  „isoliert",  dass 
man  sie  Steine  klopfen  oder  Werg  zupfen  lässt,  ist  nach 
unserem  Standpunkte  absurd,  ja,  noch  mehr:  diese  Methode 
selbst  ist  in  ihrem  Wesen  verbrecherisch.  Denn  nachdem  der 
Mann  durch  die  ihm  zuteil  gewordene  rauhe  Behandlung  und 
durch  die  zwangsweise  Ausführung  nutzloser  Handarbeit  in 
seiner  eigenen  Achtung  und  der  seiner  Mitmenschen  äusserst 
gesunken  ist,  nachdem  er  den  Funken  von  Intelligenz  und 
höheren  Regungen,  die  er  ursprünglich  besass,  gänzlich  verloren 
hat,  kehrt  er  haltlos  wieder  in  die  Welt  zurück,  um  neue  Nach- 
kommen ins  Dasein  zu  rufen,  —  und  hierzu  treibt  ihn  nicht 
nur  seine  angeerbte,  sondern  auch  die  in  jenen  Jahren  erworbene 
Schwachheit,  da  man  ihn  in  einem  modernen  Gefängnis  wie 
ein  Tier  behandelt  hat.  Es  ist  selbstverständlich  notwendig, 
die  Gesellschaft  vor  den  Verwüstungen  solcher  Menschen  zu 
schützen;  aber  es  ist  töricht,  das,  was  in  Wahrheit  eine  Geistes- 
krankheit ist,  so  zu  behandeln,  dass  diese  Krankheit  doppelt 
so  bösartig  wird,  und  dann  dem  zugerichteten  Verbrecher  zu 
gestatten,  in  die  Welt  zurückzukehren  und  seine  geistige  Ver- 
kümmerung auf  die  Geschlechter  neuer  Nachkommen  zu  über- 
tragen, welche  durch  die  Kraft  der  Vererbung  gewöhnlich  den 
Weg  gehen  müssen,  den  er  betreten  hat.     Die  Beseitigung  der 

2* 


20  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Vergehen  liegt  —  wenigstens  bei  dem  gewoiiniieitsmässigen 
Verbrectier  —  sicheriicii  in  der  Bemühung,  die  fehlenden  Fähig- 
keiten und  die  höhere  geistige  Kontrolle  zu  erwecken  (was  durch 
Steine-Klopfen  und  Werg-Zupfen  schwerlich  erreicht  wird),  und, 
falls  dies  misslingen  sollte,  die  Person  von  der  Gesellschaft 
abzusondern  und  an  der  Fortpflanzung  ihrer  Spezies  zu  hindern 
—  ohne  ihr  dabei  das  ganze  Leben  zur  Hölle  zu  machen.  Der 
Zweck  des  gesitteten  Strafrechtes  sollte  gewiss  nicht  darin 
bestehn,  den  Menschen,  der  Unrecht  getan  hat,  zu  peinigen; 
nicht  darin,  ihm  Nase  und  Ohren  abzuschneiden,  wie  es  die 
Gepflogenheit  früherer  Zeiten  war,  noch  auch,  wie  man  es  jetzt 
tut,  seine  zurückgebliebenen  geistigen  Anlagen  ganz  zu  vernich- 
ten; am  allerwenigsten  aber  darin,  ihn  anderen  als  abschreckendes 
Beispiel  hinzustellen,  damit  sie  nicht  auch  dasselbe  Verbrechen 
begehen  sollen,  (denn  abgesehen  von  der  dem  Abschreckungs- 
System  eigenen  Ungerechtigkeit  hat  die  Erfahrung  längst  die 
Torheit  dieser  Methode  nachgewiesen),  —  der  Zweck  des  Straf- 
rechtes muss  vielmehr  der  sein,  die  Gesellschaft  vor  dem 
Verbrecher  zu  schützen,  aus  seiner  notwendigen  Bestrafung  ein 
Mittel  zur  Reform  zu  machen  und  ihn  anstatt  in  eine  soziale 
Geissei  in  einen  nützlichen  Diener  des  Staates  umzu- 
wandeln. Eine  solche  Art,  Verbrecher  zu  behandeln,  sollte  nicht, 
wie  das  so  vielfach  geschieht,  als  „krankhafte  Sentimentalität" 
verspottet  werden;  denn  die  genannte  Methode  geht  bis  an 
die  eigentliche  Urquelle  des  gewohnheitsmässigen  Verbrechertums 
zurück  —  die  letztere  ist  nur  eine  Form  geistiger  Krankheit;  — 
in  wenigen  Generationen  würde  die  Zahl  der  Verbrecher  in  der 
Welt  ganz  erheblich  abnehmen,  und  eine  solche  Abnahme  her- 
beizuführen, ist  zweifellos  Zweck  und  Ziel  aller  Strafgesetze. 
Dieses  Ziel  aber  —  das  wissen  wir  sehr  wohl  —  kann  durch 
das  jetzt  gebräuchliche  System  nicht  erreicht  werden:  —  soll 
da  die  Annahme  einer  mehr  sicheren,  mehr  wissenschaftlichen, 
mehr  humanitären  Methode  nur  deshalb  verschrieen  werden, 
weil  sie  menschlicher  ist?!  — 

Die  Verbreitung  solcher  Ideen,  wie  die  hier  angeführten, 
als  eines  integrierenden  Bestandteiles  der  buddhistischen  Religion, 
und  die  Darlegung  der  Religionslehre  selbst,  bilden  den  Grund- 
riss  unserer  Arbeiten;     wir   laden   zur   Mitarbeit   herzlich   alle 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  21 

diejenigen  ein,  die  an  der  Propagandierung  dieser  Anschauungen 
irgend  welclien  Anteil  nehmen  —  mögen  sie  sich  nun  Bud- 
dhisten nennen  oder  nicht.  Ein  besseres  Verständnis  für  die 
Lebensgesetze  zu  verbreiten,  in  welchem  das  Geheimnis  wahrer 
Glücl<seligkeit  verborgen  liegt;  mitzuhelfen  an  der  Mission,  deren 
Aufgabe  darin  besteht,  Liebe  im  Menschenherzen  an  Stelle  der 
Selbstsucht  zu  erwecken  und  Mitleid  zu  säen,  wo  Grausamkeit 
wucherte;  mitzuwirken  in  der  Verbreitung  dieser  Ideen,  um  den 
Gefallenen  und  Zurückgebliebenen  unseres  Geschlechtes  aufzu- 
helfen und  ihnen  durch  die  Sympathie  der  Starken  zu  ihrem 
angeborenen  Menschenrecht  zu  verhelfen;  zu  lehren,  dass  wahre 
Menschlichkeit  nicht  allein  in  der  Liebe  zu  den  Menschen, 
sondern  in  dem  Wohlwollen  auch  gegenüber  dem  schwächsten 
und  geringsten  Geschöpfe  auf  Erden  besteht;  und  schliesslich 
das  wichtigste:  vor  aller  Welt  jenen  Schatz  der  Wahrheit  auf- 
zudecken, den  unser  Meister  einst  schaute,  und  von  dem  die 
genannten  Punkte  nur  ein  paar  vereinzelte  Juwelen  sind:  — 
Das  ist  der  Zweck  unseres  neuen  Vorhabens,  das  Programm 
unseres  geringen  Anteiles  an  der  Symphonie  des  universalen 
Lebens.  Wir  würden  uns  in  der  Tat  freuen,  wenn  dieses 
unser  Werk  dazu  beiträgt,  einem  kleinen  Teil  des  Übels  auf 
der  Erde  abzuhelfen,  einen  Lichtsciiimmer  in  die  geistige  Finster- 
nis zu  senden  und  in  der  Wüste  der  Begierde  eine  reine  Blume 
der  Liebe  zur  Blüte  zu  bringen:  —  dieses  Zieles  wegen  wirken 
wir  ja  in  diesem  Leben;  um  seinetwillen  sind  wir  dem  von 
unserem  Meister  gepredigten  Glauben  ergeben  und  senden  nun 
einen  Strahl  seines  Evangeliums  in  alle  Welt  hinaus. 

„Die  V/ahrheit"  —  so  steht  in  unseren  heiligen  Schriften 
geschrieben  —  „ist  der  Ausdruck  der  Unsterblichkeit".  In 
dieser  Erkenntnis  senden  wir  aus  dem  Osten  diesen  Weckruf 
eines  alten  Glaubens:  —  eines  Glaubens,  so  alt,  dass  die 
grossen  Berge  wüste  geworden  sind,  dass  die  Konstellationen 
am  Himmel  sich  verändert  haben  seit  der  Zeit,  da  der  Meister 
des  Erbarmens  diesen  Glauben  zuerst  verkündete  am  Fusse 
der  Himälaya-Gletscher,  unter  den  funkelnden  Sternen  der  stillen 
Nacht  des  tropischen  Indiens.  Haben  etwa  die  Zeiten  vermocht, 
die  Liebe,  die  er  predigte,  zu  vermindern,  die  Weisheit  seiner 
Worte  zu  verhüllen   oder  den  Eingang  zu   dem  Friedenspfade, 


22  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

den  er  gewiesen,  zu  versiegeln?  Siciieriich  nicht,  —  und  was 
immer  von  der  alten  Wahrheit  in  unseren  Ausführungen 
schlummern  mag,  was  immer  von  seiner  Lehre  in  diesem  ihrem 
fernen  Echo  wiederklingt:  —  das  wird  Eingang  finden  in  die 
Herzen  derer,  die  darauf  warten;  das  wird  weiterdauern,  auch 
nachdem  der  Tod  unsere  Lippen  einst  geschlossen  hat.  Das 
Übrige  ist  nicht  von  Belang,  alle  anderen  Worte  sind  eitel:  — 
Die  Wahrheit,  die  unsterbliche  allein,  wird  weiterleben;  wird 
weiterleben  den  Lauf  der  Zeiten  hindurch  als  Heiligstes  im 
Tempel  reiner  Menschlichkeit;  bis  das  Feuer  von  Begierde, 
Hass  und  Wahn  für  immer  erloschen  und  der  Schleier  der 
Unwissenheit  zurückgezogen  ist;  bis  das  ganze  Menschengeschlecht 
endlich  als  Friedensbruderbund  vereint  ein  Gesetz,  eine  Hoff- 
nung, einen  Glauben  haben  wird:  das  ist  der  Glaube  des 
Mitleids,  der  Weisheit  und  der  Liebe,  der  alle  anderen  Lichter 
überleben  wird,  —  die  zarte  Blüte  am  Baume  rein  menschlicher 
Gesinnung;  der  Glaube  der  gesamten  Menschheit,  die  Religion 
der  Zukunft!  (Aus:  Buddhism,  Vol.  1  No.  1.) 

Wie   an    der   Lotusblume  Wasser   nicht   haftet,   so 
bleibt  Nirväna  von  jeder  bösen  Neigung  unberührt. 

Milindapaiiha. 
*  * 

Befleissigt  euch  der  Wachsamkeit  über  eure  Herzen. 

Mahäparinibbäna-Sutta. 


Tue  niemandem  Unrecht,  lebe  in  der  Welt,  erfüllt  von 
Liebe  und  Güte. 

Milindapanha. 


Wie  ich  bin,  so  sind  diese  (Geschöpfe),  wie  diese  sind, 
so  bin  ich;  sich  selbst  mit  anderen  identifizierend, 
möge  der  Weise  nicht  töten,  noch  Tötung  veranlassen. 

Sutta-Nlpäta. 


No.  1   u.  2.  DER  BUDDHIST.  23 


Die  vier  erhabenen  Wahrheiten. 

Ein  Vortrag 

gehalten  i.  J.  1901  in  Colombo  (Ceylon) 

von 

Allan  Mac  Gregor. 


Meine  Brüder! 

Nur  mit  dem  grössteii  Zögern  wage  ich  es,  Euch  am  heutigen 
Abend  eine  kurze  Darstellung  der  buddhistischen  Religion  zu 
geben.  Dieses  Zögern  hat  seinen  Grund  nicht  nur  in  der 
ausserordentlichen  Schwierigkeit,  die  darin  liegt,  in  dem  Rahmen 
eines  einstiindigen  Vortrages  auch  nur  die  notwendigsten  Um- 
risse eines  so  hehren,  heiligen  Gegenstandes  zu  zeichnen,  — 
sondern  auch  in  der  Tatsache,  dass  viele  von  Euch  dazu  bei 
weitem  befähigter  sind,  als  ich,  klar  darzulegen,  was  Buddhis- 
mus ist,  befähigter  auf  Grund  eines  lebenslänglichen  Studiums 
und  einer  langen  Wirksamkeit. 

Es  ist  auch  nichts  Neues,  was  ich  Euch  sagen  kann,  nichts, 
was  Ihr  nicht  schon  vorher  gehört  hättet,  —  und  wenn  ich,  als 
ein  Fremder,  der  von  diesem  grossen  Gesetz  der  Liebe  und 
Gerechtigkeit  nur  geringe  Kenntnisse  besitzt,  es  wage,  zu  Euch 
zu  sprechen,  die  Ihr  zum  grossen  Teil  von  Jugend  auf  Bekenner 
der  buddhistischen  Religion  seid,  so  geschieht  das  nur  aus 
folgendem  Grunde:  Es  dünkt  mich,  das  Licht  aus  dem  »Kleinod 
des  Guten  Gesetzes«  strahlt  auch  heute  noch  wie  vor  vierund- 
zwanzig Jahrhunderten  so  klar,  so  glänzend,  so  rein,  dass  selbst 
meine  Unkenntnis  nicht  imstande  ist,  es  völlig  zu  verdunkeln, 
und  ich  halte  dafür,  dass  dieses  Gesetz,  wann  und  von  wem 
es  auch  immer  in  liebevoller  Gesinnung  erklärt  oder  gehört 
werden  mag,  niemals  verfehlen  wird,  Hilfe  zu  bringen,  und 
wenn  es  auch  nur  in  geringem  Masse  wäre;  dass  es  niemals 
ermangeln  kann,  einen  lichten  Schimmer  in  die  dunklen  Stellen 
unseres  Geistes  und  unseres  Lebens  auszugiessen. 

So  dürft  Ihr  von  meinen  folgenden  Ausführungen  nichts 
Neues,   nichts  Aussergewöhnliches  erwarten.     Es  ist  das  alles 


24  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

schon  früher  so  viele,  viele  Male  erklärt  worden,  dieses  erhabene 
Gesetz  der  Liebe  und  Weisheit,  welches  uns  unser  Lehrer 
hinterlassen  hat,  —  und  ich,  der  ich  der  niedrigste  Schüler  dieses 
unvergleichlichen  Meisters  bin,  kann  nur  in  neuen  Worten  das 
wiederholen,  was  er  einst  in  längst  entschwundenen  Tagen  ge- 
predigt hat. 

Vieles  weniger  Wichtige  muss  ich  notwendigerweise  über- 
gehen, und  sollte  ich  in  meiner  Ansicht  über  echten  und  wahren 
Buddhismus  hie  und  da  irren,  so  muss  ich  Euch  um  Nachsicht 
bitten.  Von  hohem  Alter  sind  die  heiligen  Schriften,  in  welchen 
unseres  Meisters  Lehre  niedergelegt  ist,  und  selbst  die  grossen 
Gelehrten,  deren  liebevoller  Sorgfalt  und  Arbeit  die  Wiederbe- 
lebung der  echten  buddhistischen  Lehre  für  die  Welt  des  Westens 
zu  verdanken  ist,  geben  die  Schwierigkeit  zu,  die  darin 
liegt,  durch  die  Sprache  des  Abendlandes  Ausdrücke  wiederzu- 
geben, welche  mit  den  Begriffen  der  westlichen  Philosophie- 
Systeme  so  wenig  gemein  haben. 

Als  ich  zuerst  überlegte,  wie  ich  die  grundlegenden  Lehren 
unseres  Herrn  wohl  am  besten  in  einem  einstündigen  Vortrage 
zusammenfassen  könnte,  betrachtete  ich  mit  Schrecken  jene 
imgeheure  Literatur,  die  den  Tipitaka,  den  buddhistischen  Kanon, 
ausmacht,  gar  nicht  zu  reden  von  der  grossen  Menge  der  als 
vollgültig  anerkannten  Kommentare  —  und  die  Aufgabe  erschien 
mir  hoffnungslos.  Ich  dachte  an  die  leicht  irreführenden  und 
leicht  misszuverstehenden  metaphysischen  Feinheiten  des  Abhi- 
dhamma,  an  die  zahllosen  Regeln  und  Beispiele  des  Vinaya,  an 
die  vielen,  vielen  schönen  Geschichten,  Reden  und  Lieder  des 
Sutta-Pitaka,  —  und  ich  wusste  nicht,  wo  ich  da  beginnen 
sollte.  Dann  erinnerte  ich  mich  aber  daran,  wie  der  Meister 
einmal  gesagt  hat,  das  Gesetz  sei  so  einfach,  dass  ein  kleines 
Kind  seinen  wesentlichen  Inhalt  verstehen  könne,  und  wie  er 
am  Ende  seiner  langen,  glorreichen .  Laufbahn  seine  gesamte 
Lehre  in  dem  Rahmen  eines  einzigen  Satzes  zusammengefasst  hat. 

Erlaubt,  dass  ich  Euch  die  Szene  ins  Gedächtnis  zurück- 
rufe. In  einem  grossen  Waldpark  nahe  bei  der  Stadt  Kusinära 
haben  sie  für  den  sterbenden  Meister  zwischen  zwei  Sala-Bäumen 
ein  Lager  bereitet.  Er  hat  verkündet,  dass  er  in  der  kommenden 
letzten  Nachtwache  den  Körper  ablegen  wird  —  den  Körper, 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  25 

der  so  lange  Zeit  hindurch  nur  deshalb  zusammengehalten  hat, 
damit  Er  der  Welt  den  Pfad  zum  grossen  Frieden  weisen  könnte. 
Sein  Werk  —  das  mächtigste  Werk,  das  einer  in  sterblicher  Ge- 
stalt jemals  auf  Erden  getan  hat  — ist  nun  vollbracht,  und  für  alle 
die  hundert  Jünger,  die  bis  zuletzt  bei  ihm  sind,  gibt  es  jetzt 
keine  ungelöste  Schwierigkeit,  keinen  Zweifel  mehr.  Änanda, 
der  Lieblingsjünger,  v/ill  in  liebevoller  Fürsorge  den  Meister 
vor  den  Zudringlichkeiten  Subhaddas,  eines  wandernden  Asketen, 
schützen.  Der  Buddha  hört  ihre  im  Flüsterton  geführte  Unter- 
haltung und  bittet  Subhadda  näherzutreten.  Er  lehrt  ihn  die 
Wahrheit,  und  Subhadda  wird  sein  letzter,  von  ihm  persönlich 
gewonnener  Jünger.  Und  nun  legt  sich  ein  grosses  Schweigen 
auf  die  gewaltige  Menge  der  Bhikkhus  und  Arahäs,  als  sie 
dastehn  und  warten,  um  die  letzten  Worte  aufzufangen,  die 
von  den  Lippen  des  weisesten  und  mitleidvollsten  der  Menschen 
kommen  werden,  —  und  die  Worte  werden  endlich  gesprochen. 
Er  beginnt:  „Meine  Brüder!  Weil  wir  vier  grosse  Wahrheiten 
nicht  verstehn  und  begreifen,  mussten  wir,  ihr  und  ich,  so 
lange  durch  Tod  und  Leben  wandern.  Und  welches  sind  diese 
vier  Wahrheiten?  Das  Leiden,  die  Ursache  des  Leidens, 
die  Aufhebung  des  Leidens  und  der  erhabene  achtfache 
Pfad,  der  zur  Aufhebung  des  Leidens  führt.  Aber  wenn 
diese  grossen  Wahrheiten  begriffen  und  anerkannt  sind,  wird 
der  Drang  nach  Dasein  ausgerottet,  das,  was  zu  erneuter  Exi- 
stenz führt,  ist  zerstört,  und  es  gibt  keine  neue  Geburt  mehr." 
So  ist  in  diesen  vier  Wahrheiten  der  gesamte  Buddhis- 
mus enthalten  und  zusammengefasst.  Vier  Wahrheiten  solcher- 
art, dass  ein  Kind  ihre  Richtigkeit  einsehen,  dass  ein  kleines 
Kind  sie  verstehn  und  begreifen  kann.  Wenn  ich  Euch  also 
den  Sinn  jener  vier  grossen  Wahrheiten  so  klar  zu  erklären 
vermag,  wie  die  heiligen  Schriften  sie  erklären,  dann  habe  ich 
Euch  alles  das  gezeigt,  was  das  Wesen  unserer  Religion  aus- 
macht. Die  Feinheiten  der  praktischen  Anwendungen  im  Abhi- 
dhamma,  die  Regeln  des  Vinaya,  die  Poesie  und  die  tiefen 
Moral-Lehren  der  Suttas,  —  sie  alle  sind  nur  praktische  Er- 
läuterungen und  Illustrationen,  ein  grosser  Kommentar  zu  den 
vier  erhabenen  Wahrheiten.  Und  weil  sie  so  leicht  und  uns  in 
unserem  Leben  so  nahe  sind  —  zwei  von  diesen  Wahrheiten 


26  -  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sind  stets  mit  uns,  und  die  zwei  anderen  suchen  wir  beständig, 
—  deshalb  sagen  wir,  ein  kleines  Kind  kann  unsere  Religion 
begreifen. 

Nurmüsstihr  recht  verstehn:  Obgleich  der  ganze  Buddhis- 
mus auf  der  Wahrheit  und  richtigen  Würdigung  dieser  vier  Sätze 
gegründet  und  aufgebaut  ist,  so  liegt  es  uns  doch  sehr  fern, 
an  die  letzteren  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  zu  „glauben". 
Das  würde  durchaus  gegen  den  Geist  unserer  Lehre  sein.  Wir 
werden  ermahnt,  nichts,  selbst  wenn  es  das  ausdrückliche  Wort 
des  Buddha  wäre,  anzunehmen,  wenn  wir  uns  in  unserem  Geiste 
nach  sorgfältiger  Prüfung  nicht  von  seiner  Wahrheit  überzeugt 
haben.  Und  so  sind  diese  vier  grossen  Wahrheiten  für  uns 
keineswegs  blosse  Glaubensartikel,  an  welche  wir  auf  Grund 
der  Autorität  unseres  Meisters  „glauben",  sondern  Behauptungen, 
Leitsätze,  die  wir  alle  genau  erwogen,  durchdacht  und  mit  un- 
serer Erfahrung  verglichen  haben,  und  zwar  werden  die  ersten 
beiden  durch  unsere  Erfahrung  bestätigt,  und  die  beiden  anderen 
werden  dann  durch  Schlussfolgerungen  als  richtig  erkannt. 
Wenn  diese  vier  Wahrheiten  bestätigt  und  angenommen  sind, 
so  ergeben  sich  dann  die  übrigen  Lehren  des  Buddhismus  als 
etwas  Selbstverständliches,  und  zwar  geht  der  grösste  Teil  der- 
selben von  der  Bestätigung  des  ersten  Satzes,  der  Wahrheit 
vom  Leiden,  aus. 

Hier  kommt  nun  der  grosse  Stein  des  Anstosses,  besonders 
für  die  Völker  des  Westens.  Wir  fühlen  uns  in  unserer  neu 
gefundenen  Freiheit  und  Macht  so  lebensvoll,  so  tatenfroh,  so 
stark,  dass  wir  einem  eben,  erst  der  Schule  entwachsenen, 
trotzig-kühnen  Knaben  gleich,  nur  zu  leicht  geneigt  sind,  eine 
Philosophie  als  den  krassesten  Pessimismus,  um  niclit  zu  sagen 
reinsten  Unsinn  zu  verschreien,  welciie  damit  anhebt  den  Satz 
aufzustellen,  dass  alles  nur  denkbare  Leben  Leiden  ist.  Wir 
haben  ein  so  starkes  Selbstvertrauen,  wir  halten  die  Kenntnis 
der  Naturkräfte,  die  uns  stark  gemacht  hat,  für  so  wichtig, 
wir  haben  so  schöne  Pläne  für  die  Gegenwart,  —  dass  wir 
die  Vergangenheit  ebenso  wie  die  Zukunft  vergessen,  dass  wir 
nicht  an  die  zahllosen  Civilisationen  denken,  die  auftauchten, 
blühten  und  dahinschwanden  und  nichts  als  Trümmer  zurück- 
liessen;  und  wir  sollten  uns  daran  erinnern,  dass  auch  unsere 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  -  27 

Zivilisation  ebenso  vergehen  muss,  und  dass  Europa  in  fernen 
Tagen  wiederum  von  Barbaren  bewohnt  sein  wird. 

So  sind  wir  nun  zu  leicht  geneigt,  von  vornherein  die 
Einflüsterung  abzuweisen,  dass  alles  Leben  seiner  innersten 
Natur  nach  ein  Übel  ist,  dass  das  Beste,  was  wir  tun  können, 
darin  besteht,  so  zu  leben,  dass  wir  dem  ewig  wechselnden 
Kreislaufe  seiner  Leiden  zu  entfliehen  vermögen.  Und  doch, 
betrachtet  die  grossen  VVeltreligionen,  und  Ihr  werdet  mit 
alleiniger  Ausnahme  des  Islam  finden,  dass  dieselbe  Lehre  von 
dem  grossen  Leiden  und  von  der  Hinfälligkeit  alles  irdischen 
Daseins  der  Grund  ist,  auf  dem  sie  alle  aufgebaut  sind.  „Die 
Welt  ist  eine  Stätte  des  Übels;  lasst  uns  ihre  Verführungen  ver- 
achten und  so  leben,  dass  wir,  mag  es  sein,  wo  es  wolle,  ein 
besseres  Leben  haben  mögen",  —  ist  dies  nicht  das  Fundament 
aller  Religionen,  ja,  noch  mehr,  ist  dies  nicht  überhaupt  die 
Grundlage,  der  sie  ihr  Dasein  verdanken?! 

Ist  denn  diese  Wahrheit,  diese  erste  Wahrheit  unserer 
buddhistischen  Religion  so  schwer  zu  lernen,  so  schwierig  zu 
begreifen,  dass  wir  genötigt  wären,  an  sie  als  ein  unbewiesenes 
und  unbeweisbares  Dogma  zu  „glauben"?  Sicherlich  nein; 
denn  wer  von  Euch  ist  jetzt,  in  diesem  Augenblick  der  Macht 
des  Leidens  nicht  unterworfen?  Hast  du  nach  grosser  Trübsal 
einen  geliebten  Gegenstand  für  dich  gewonnen  und  empfängst 
ihn  mit  deiner  ganzen  Liebe  —  bist  du  selig  in  seinem  Besitze, 
bist  du  nun  auf  einmal  glücklich  in  deinem  Leben?  Sage  mir, 
Freund,  hat  denn  das  Gesetz  aufgehört,  dich  zu  leiten,  also 
dass  du  sprechen  könntest:  „Das,  was  ich  liebe,  wird  auch 
morgen  noch  mein  sein  ?!"  Hat  der  grösste  aller  Erdenschmerzen, 
das  jähe  Abscheiden  derer,  die  wir  hier  so  zärtlich  liebten,  ihr 
plötzliches  Abtreten  von  der  Lebensbühne  und  Eingehen  zur 
unzugänglichen  Stätte  des  Todes  —  hat  dieser  grösste  aller 
Erdenschmerzen  noch  nie  seinen  düstern  Schatten  auf  dein 
Leben  geworfen,  und  wenn  nicht,  erkühnst  du  dich  etwa  zu 
sagen,  dass  es  nicht  schon  morgen  der  Fall  sein  kann?!  Wenn 
du  liebst  —  und  ist  nicht  die  Liebe  die  höchste  aller  irdischen 
Freuden?  — wenn  du  liebst,  musst  du  Furcht  haben,  ja,  Furcht, 
wenn  du  den  Sinn  unseres  Lebens  geschaut  und- verstanden 
hast,   und   Furcht  ist  —  Leiden.     Hast   du   ein   grosses   Ideal, 


28  DER  BUDDHIST.  F.  Jahrg. 

nach  welchem  du  strebst,  und  glaubst  du,  das  Ziel,  für  welches 
du  so  lange  deine  Kraft  einsetztest,  nahezu  erreicht  zu  haben? 
Beeile  dich,  mein  Bruder,  beeile  dich,  das  beinahe  Erlangte  zu 
ergreifen;  die  Zeit  ist  so  kurz,  beeile  dich,  damit  der  Gegenstand 
deiner  höchsten  Anstrengungen  nicht  auch  in  Staub  zerfällt! 
Wenn  jemand  einem  Ideale  nachgejagt  ist  —  hat  er  das  noch 
nicht  gelernt:  Solange  das  Ideal  noch  nicht  erreicht  ist,  scheuen 
wir  kein  Opfer,  um  es  zu  erreichen,  und  wenn  unser  Abgott 
nun  endlich  gefunden  ist  —  steht  er  dann  nicht  immer  auf 
tönernen  Füssen?!     Und  das  ist  —   Leiden. 

Ist  einer  unter  Euch,  der  imstande  ist,  sich  eine  weltliche 
Hoffnung  zu  zimmern,  sich  ein  sei  es  noch  so  erhabenes  Ideal  zu 
konstruieren,  welches,  lange  bevor  es  erreicht  ist,  sich  nicht  von 
selbst  in  ein  Nichts  auflöst?  Du  sagst,  du  liebst  den  Armen,  den 
Leidenden,  du  liebst  deine  menschlichen  Brüder,  welche  schwächer 
und  weniger  glücklich  sind,  als  du;  du  liebst  sie  und  möchtest 
ihnen  in  der  Misere  ihres  Lebens  eine  kleine  Hilfe  sein.  Weisst 
du  nicht,  dass  bevor  das  stolze  Ideal  der  Verbrüderung  erreicht 
sein  kann,  bevor  sich  alle  Menschen  wirklich  lieben  und  ein- 
ander helfen  können,  dass  lange,  lange  vorher  derselbe  Gegen- 
stand deines  Mitleids  und  deiner  Sympathie  für  immer  dahin 
sein  wird?  Ja  ich  will  sogar  noch  weiter  gehen.  Du  hegst 
vielleicht  eine  grosse  Liebe  zu  deiner  Religion,  mag  es  nun 
diese  oder  jene  sein,  es  scheint  dir,  dass  die  Menschen  in 
diesem  oder  in  einem  anderen  Leben  besser  und  liebevoller 
werden  würden,  wenn  sie  alle  ebenso  glaubten,  wie  du.  Du 
siehst  deine  Lebensaufgabe  darin,  die  grosse  Religion,  welche 
dich  das  Dasein  leichter  tragen  lässt,  denen  zu  bringen,  die 
im  Schatten  der  Finsternis  sitzen.  Freund,  wisse,  dass  auch 
hier  immer  das  unabänderliche  Gesetz  der  Vergänglichkeit 
regiert!  In  der  kleinen  Spanne  Zeit,  welche  wir  kennen,  in 
den  wenigen  tausend  Jahren  menschlichen  Lebens,  von  denen 
die  Annalen  der  Geschichte  zu  berichten  wissen  —  wie  viele 
Religionen  sind  da  nicht  entstanden,  lebten  ihre  Zeit  und  starben 
ab,  indem  sie  nur  die  Erinnerung  an  verwelkte  Hoffnungen 
zurückliessen?!  O,  ich  weiss,  dass  ein  jeder  von  Euch  jetzt 
sagen  wird:  „Ach,  das  ist  so  bei  allen  anderen  Religionen  ge- 
wesen,  weil  sie  von  dem  wahren  Licht  nur  wenig  oder  nichts 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  29 

enthielten;  aber  diese  meine  grosse  Religion,  das  ist  etwas 
anderes,  o,  sie  wird  sicher  ewig  leben,  sicher  werden  alle 
Völker  unter  ihre  heilige  Herrschaft  kommen,  weil  sie  in  sich 
die  Erkenntnis  besitzt,  welche  selbst  ewig  ist,  jenes  Licht,  das 
nie  verdunkelt  oder  erlischt".  So  träumten  die  zahllosen  Ver- 
ehrer der  Isis,  der  heiligen  Mutter,  auch,  vor  vielen,  vielen 
Jahrhunderten  dort  an  den  Ufern  des  Nils  —  und  heute,  wie- 
viel Blumen  opfert  man  noch  zu  ihren  Füssen?  So  dachten 
auch  die  ungezählten  Anhänger  der  grossen,  alten  parsischen 
Religion,  als  sie  die  Quelle  alles  Guten  anbeteten,  als  sie  ihr 
Antlitz  dem  Lichte,  als  dem  geeignetsten  Symbole,  zuwandten 

—  und  heute,  wie  viele  sind  von  jenen  Millionen  noch  übrig 
geblieben?  So  denkt  der  vernarrte  Verehrer  immer,  gleichviel, 
ob  es  sich  um  menschliche  oder  göttliche  Angelegenheiten 
handeln  mag:  „Dies  von  mir  Geliebte  ist  besser  als  alles  andere; 
wie  sollte  es  möglich  sein,  dass  es  jemals  vergehen  oder  sterben 
könnte?"  Vielmehr:  Wie  sollte  es  nicht  möglich  sein?  Wie 
ist  es  möglich,  dass  die  zusammengesetzten  Bestandteile  unseres 
Denkens,  Fühlens  und  Sprechens  nicht  vergehen  sollten  — 
auch  das  Hehrste  und  Heiligste?!     Und  das  ist  —  Leiden. 

Wenn  du  nun  sagen  willst:  „Sehr  wahr,  alle  Dinge  müssen 
vergehen,  alle  irdischen  Hoffnungen  müssen  verbleichen,  wenn 
auch  heute  nicht,  so  vielleicht  schon  morgen;  doch  -  lasst 
mich  heute  glücklich  sein,  weil  ich  es  so  gerne  möclite,  diesen 
Tag  nur;  denn  heute  ist  für  mich  alles  wohlbestellt,  und  die 
ich  liebe,  sind  mir  nahe;"  —  wenn  du  mir  sagen  willst:  „Es 
gibt  wohl  viel  Leiden,  doch  es  gibt  auch  Glück,  heute  lasst 
mich  glücklich  sein,  und  wenn  morgen  schon  Leid  über  mich 
kommen  sollte,  dann  kann  ich  es  nicht  ändern,  lasst  mich  nur 
jetzt  glücklich  sein,  lasst  mich  nur  das  Licht  dieses  Tages  ge- 
niessen"  —  —  dann  antworte  ich  dir,  dass  du  nicht  nachge- 
dacht, dass  du  nicht  begriffen  hast.  Hast  du  noch  nicht  die 
erste  grosse  Lektion,  des  Daseins  gelernt,  dass  du  nicht  ein 
getrenntes  Wesen  bist,  sondern  ein  wesentlicher  Bestandteil  des 
Lebens,  jenes  Lebensodems,  der  in  allem  pulsiert  und  atmet? 
Und  wenn  du  nun  die  grosse  Wahrheit  von  der  Einheit  aller 

—  nicht  nur  der  Menschen,  sondern  aucii  der  höchsten  und  der 
niedrigsten  Wesen  —  wenn  du  diese  Wahrheit  begriffen  hast, 


30  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

kannst  du  da  noch  sagen:  heute  habe  ich  kein  Leid?!  Kein 
Leid,  wenn  die  Augen  deiner  Brüder  mit  Tränen  gefüllt  sind? 
Wenn  das  ganze  Antlitz  der  lachenden,  heiter  scheinenden  Natur 
nur  die  Maske  einer  unerträglichen,  ununterbrochenen  Grausam- 
keit ist,  wenn  die  Luft  widergellt  von  dem  Schrei  hilfloser,  in 
ihrer  Qual  sich  windender  Lebewesen?!  Und  du  hast  an 
diesem  Tage  kein  Leid?!  Dann,  mein  Bruder,  hast  du  diesen 
Tag  nicht  verstanden,  hast  nicht  begriffen,  dass  das  Leben 
ausserhalb,  welches  leidet,  eins  ist,  eins  ist  auch  mit  dem  Leben, 
welches  in  dir  pulsiert.  Du  errichtest  zwischen  dir  und  dem 
andern  Leben  eine  Trennungsmauer  —  und  gerade  wegen  dieser 
Täuschung  des  Sonderseins  existiert  ja  das  Leiden  überhaupt! 
Wir  müssen  heute  leiden,  weil  wir  unwissend  sind;  wir  haben 
so  viele  leidvolle  Leben  durcheilen  müssen,  weil  die  Verblen- 
dung uns  in  der  Unwissenheit  hielt.  Und  ist  nicht  diese  Un- 
wissenheit, die  fruchtbare  Ursache  unseres  Leidens,  selbst  Leid?! 
Welches  grössere  Weh  kann  es  geben,  als  sich  getrennt  von 
anderen  Leben  zu  fühlen,  zu  fühlen,  dass  jemand  abgesondert 
von  dem  übrigen  Leben  ist,  dass  er  für  sich  allein  steht,  ohne 
Mitleid,  für  den  Schwachen,  ohne  Kummer  für  den  Leidenden? 
Dies  ist  ebenfalls  —  Leiden,  und  vielleicht  das  grösste  Leiden 
überhaupt.  Denn  morgen  wird  die  Frucht  reifen,  und  wer  kann 
den  Lauf  der  Zeit  aufhalten,  wer  vermag  der  eisernen  Hand  des 
Schicksals  ein  Halt  zu  gebieten? 

Und  wenn  wir  dieses  alles  eingesehen  und  verstanden 
haben,  dann  begreifen  wir  die  erste  erhabene  Wahrheit 
und  nehmen  ihren  Inhalt  an,  welcher  sagt,  dass  alles  Leben,  alles 
Dasein  ohne  irgend  eine  Ausnahme  Leiden  ist,  Leiden  ohne 
Aufhören,  und  dass  es  keinen  Wald,  keinen  Berg,  keine  Höhle, 
ja  noch  mehr,  dass  es  aucli  keine  Stelle  in  dem  höchsten, 
heiligsten  Himmel  gibt,  wo  ein  Lebewesen  ruhig  werden  und 
sprechen  könnte:  „Hier  wird  mir  das  Leid  nicht  nahe  kommen!" 
Und  nachdem  wir  das  grosse  Siechtum  und  Leiden  des  Lebens 
erkannt  und  verstanden  haben,  gehen  wir  wiederum  zu  unserem 
Meister,  um  das  Heilmittel  kennen  zu  lernen.  Er  hat  uns  gelehrt, 
unser  Auge  und  unseren  Geist  so  zu  gebrauchen,  dass  wir  zu 
der  Einsicht  gelangen:  Dieses  glückliche  Leben,  nach  dem  wir 
streben,   kann    eben    niemals  erreicht  werden;     er  hat  unseren 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  31 

Blick  geschärft,  dass  wir  das  universale  Leid  und  Weil  aller 
empfindenden  Wesen  erkennen  können.  Wo  ist  nun  der  Weg, 
der  liinausführt  aus  dem  Meere  des  Samsara,  was  ist  zunäcfist 
zu  tun?  Wie  sollen  wir  aus  diesem  verfiängnisvollen  Rade  des 
Daseins  entkommen,  wohin  sollen  wir  uns  wenden,  um  Frieden 
zu  erlangen?  Der  nächste  Schritt,  so  sagt  unser  Meister,  ist 
das  Verstehen  und  Ergreifen  der  zweiten  erhabenen  Wahr- 
heit, genannt  die  Ursache  des  Leidens. 

„Nicht  aus  sich  selbst  kommt  Leiden,  —  Leid  kommt  aus 
böser  Lust"  singt  der  Dichter  der  »Leuchte  Asiens«.  In  dem 
Rahmen  dieser  wenigen  Worte  liegt  die  Wahrheit,  die  da  heisst 
des  Leidens  Ursache.  Wir  sehnen  uns  nach  Reichtum,  und 
wenn  wir  ihn  nicht  erlangen,  empfinden  wir  Leid,  oder  wenn 
wir  ihn  besitzen,  fürchten  wir  ihn  zu  verlieren,  und  dieses 
Sehnen,  diese  Furcht  ist  Ursache  des  Leidens.  Wir  sehnen  uns 
nach  Liebe,  nach  Glück,  nach  dem  Leben  selbst,  nach  allen 
Dingen,  die  uns  erfreuen,  die  uns  glücklich  machen  und  das 
Leben  verschönen,  und  dieses  Sehnen  ist  Ursache  des  Leidens; 
denn  entweder  können  wir  nicht  erlangen,  was  wir  begehren, 
oder  wenn  wir  es  haben,  cntreisst  uns  die  unerbittliche  Hand 
des  Schicksais  den  Gegenstand  unserer  Liebe,  und  es  entsteht 

—  Leiden.  Wir  gleichen  schiffbrüchigen  Seefahrern,  die  auf 
dem  unermesslichen  Ozean  des  Samsara  hin  und  her  geworfen 
werden,  und  wir  lechzen  mit  Sehnsucht  nur  nach  einem  Trünke 
von  dem  Wasser  rings  um  uns  her,  das  uns  so  klar,  so  rein, 
so  reichlich  erscheint.  Lange  vielleicht  mögen  wir  widerstehn, 
denn  alle  Religions- Lehrer  Iiabeii  uns  von  dem  Trug  jener 
glitzernden  Wellen  erzählt;  --  aber  schliesslich  in  einem  Augen- 
blick unerträglichen  Durstes  werden  wir  schwach  und  trinken, 

—  und  dann  —  ja  welche  Hoffnung  bleibt  uns  dann  für  dieses 
Leben?  Mit  einem  Durst,  der  durch  das  Geniessen  des  salzigen 
Wassers  stetig  wächst,  müssen  wir  immer  mehr  und  mehr 
trinken,  bis  zuletzt  unsere  ganze  Zeit  damit  verbracht  wird,  dass 
wir  von  dem  Durst  erzeugenden  Wasser  der  Leidenschaft  und 
Begierde  fortwährend  trinken,  bis  wir  keine  Zeit  mehr  für  die 
Fahrtjunseres  Schiffieins  nach  der  jenseitigen  Küste  mehr  übrig 
haben.  Dies  letztere  ist  ja  unsere  Aufgabe,  aber  schwierig  ist 
ihre  Durchführung!    Nicht  zu  begehren!    Aufzuhören  von  jenem 


32  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

salzigen  Lebenswasser  zu  trinken,  wenn  dies  letztere  uns  zur 
dauernden  Gewohnheit,  zum  Inhalte  unseres  Lebens  geworden 
ist!  Aber  was  sagt  das  »Gute  Gesetz«?  Es  sagt:  Die  Leiden- 
schaft ist  weniger  stark,  als  die  Liebe  zum  Guten;  derjenige, 
der,  wenn  auch  nur  Schritt  für  Scliritt,  jenen  verhängnisvollen 
Durst  zu  überwinden  trachtet,  wird  immer  fester  in  seinem 
Streben;  „niemand  sollte  leichthin  vom  Guten  denken:  ,es  wird 
mir  nicht  nahe  kommen';  denn  auch  durch  das  allmähliche 
Fallen  der  Wassertropfen  wird  ein  Krug  gefüllt;"  wer  Tag  für 
Tag  darnach  strebt,  stark  genug  zu  werden,  um  seine  Wünsche 
zu  beherrschen,  wird  sie  alsbald  bemeistern  und  überwinden; 
und  dieser  Sieg  wird  errungen  durch  unermüdliche,  energisciie 
Anstrengung,  durch  ein  Leben  der  Reclitschaffenheit.  Das  ist 
die  dritte  erhabene  Wahrheit,  genannt  die  Aufhebung 
des  Leidens.  Und  die  vierte  Wahrheit  ist  der  Weg,  der 
erhabene  achtfache  Pfad,  der  zum  ewigen  Frieden  führt, 
der  uns  herausleitet  aus  diesem  grossen  Begierden-  und  Leidens- 
Meere;  es  ist  der  Pfad,  den  unser  Meister  uns  gewieserr  hat, 
um  uns  zum  grossen  Frieden  zu  führen,  der  Zweck  und  das 
Endziel  unseres  buddiiistischen  Glaubens;  der  Pfad,  welcher 
das  Auge  öffnet  und  Einsicht  verleiht,  welcher  hinführt  zur  Ruhe 
des  Gemütes,  zur  iiöchsten  Erleuchtung,  zum  Nirväna. 

Sehr  schwierig  ist  es,  diesen  Weg  zu  wandeln;  ja,  es  ist 
schon  mühsam  genug,  diesen  heiligen  Pfad  zu  betreten,  über 
dessen  Tor  und  Schwelle  das  Wort  »Entsagung«  geschrieben 
steht.  Und  es  ist  die  furchtbarste  aller  Entsagungen,  die  hier 
gefordert  wird.  Reichtum,  Weib,  Kind,  selbst  das  Leben  auf- 
zugeben ist  nur  eine  Kleinigkeit  im  Vergleich  zu  jener  ersten 
Stufe  auf  dem  Pfade  der  Buddhas.  Es  haben  Menschen  schon 
oftmals  die  genannten  Punkte  aus  tausend  Ursaciien  geopfert, 
—  aus  rein  hysterischer  Eitelkeit  sowohl,  als  aus  der  Liebe  zu 
den  höchsten  religiösen  Idealen,  wie  dem  Glauben  an  ein  zu- 
künftiges Leben,  der  Sehnsucht  nach  himmlischer  Seligkeit,  dem 
Glauben  an  ei  ■■  liebende  Hilfe  jenseits  des  Todes,  dem  Glau- 
ben an  eine  jsen  Gott,  welcher  Gebete  versteht,  hört  und 
beantwortet.  A.>-er  hier,  ehe  du  den  Pfad  betreten  kannst,  handelt 
es  sich  gerade  um  diese  gross  und  hehr  erscheinenden  Ideale 
selbst,  die  du  aufgeben,  auf  die  du  verzichten  musst;  —  denn 


No.  t  u.  2.  DER  BUDDHIST.  33 

wer  diesen  göttlichen  Weg  wandein  will,  darf  keine  Hoffnungs- 
Bande,  keine  Vertrauens-Ketten,  keine  Giaubens-Fesseln  fiaben, 
die  ilin  am  Fortsciireiten  iiindern.  So  sieli  docii:  Welclies  sind 
unsere  höcfisten  Hoffnungen,  weiciies  ist  unsere  grösste  und 
stärkste  Sehnsuclit?  Wir  lieben  das  Glück,  wir  fiassen  das 
Leid  und  möchten  schon  in  diesem  Leben  ganz  glücklich  sein. 
Gib  jene  Sehnsucht  auf,  sagt  das  Gesetz;  denn  all  Leben  ist 
Leiden,  und  durch  die  Hoffnung  auf  etwas  Unerreichbares 
kommst  du  nimmer  zum  Frieden.  Wir  lieben  das  Leben,  wir 
hassen  den  Tod,  und  so  bilden  wir  uns  in  uns  selbst  ein  Ideal, 
ein  Phantom,  ein  Wesen,  oder  einen  „  Geist",  ein  eingebildetes  „Ich", 
das  in  uns  leben,  ja,  das  für  immer  in  uns  leben  soll,  auch  wenn 
unser  Körper  nicht  mehr  da  sein  wird.  Dieser  „Glaube"  an  ein 
unauflösbares  Seelenwesen  ist  die  Frucht,  welche  der  Lebenswille 
in  eurem  Leben  gezeitigt  hat;  also  spricht  das  Gesetz.  Ihr  seid 
nicht  glücklich  hier,  und  alles,  was  ihr  kennt  und  liebt,  ist  der 
höchsten  Macht  der  Vergänglichkeit  und  der  Auflösung  unter- 
worfen, —  und  so  baut  ihr  euch  aus  jenem  wilden  Lebensdrange 
das  Bild  von  einem  Leben,  das  nicht  vergänglich  ist,  und  die 
Vorstellung,  dass  euer  eingebildetes  „Ich"  ewig  dauern  wird.  Gib 
auf,  sagt  das  »Gute  Gesetz«,  gib  auf  diese  so  närrische  Torheit 
und  Illusion  der  Menschen,  diesen  „Glauben"  an  ein  unauflös- 
bares Seeienwesen;  denn  es  gibt  nichts  Stoffliches,  das  sich  im 
Kreislauf  der  Zeiten  nicht  auflösen  sollte  oder  wert  wäre,  ewig  zu 
dauern!  Gib  auf  diesen  „Glauben";  denn  er  ist  aus  der  Be- 
gierde entsprossen;  wer  nicht  begehrt,  hat  keinen  „Glauben"^), 
sondern  nur  Wissen.  Gib  auf  den  „Glauben"  ans  „Ich";  denn  so- 
lange jener  Lebenswille,  die  Ursache  dieses  Irrwahnes,  in  dir  fort- 
lebt, hast  du  noch  nicht  den  ersten  Schritt  auf  deiner  Pilgerreise 
getan.  Gerade  dieser  Irrglaube  ist  die  Ursache,  dass  du  so  lange 
die  zahlreichen  Wiedergeburten  erleiden  musstest;  und  nach- 
dem du  nunmehr  zu  der  Einsicht  gekommen,  dass  alles,  wo- 
nach du  gestrebt  hast,  leidvoll  ist,  musst  du  nun  auch  dem  entsagen, 
das  als  die  Hauptursache  des  Leides  bezeichnet  werden  muss. 
Und  da  wir  oft  sehr  schwach  und  hoffnungslos  sind,  wenn 

')  Unter  „Glauben"  ist  hier  nicht  der  wahre  (geistige)  Glaube,  der  durcli 
die  aufleuchtende  Erkenntnis  im  Menschen  erlangt  wird,  gemeint,  sondern 
der  blinde  „Glaube"  (Fürwahrhalten)  eines  Dogmas. 

3     . 


34  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

der  iinverineidliclie  Schatten  des  Leidens  auf  unseren  Lebens- 
weg fällt,  sehnen  wir  uns  darnach,  ein  Leben  kennen  zu  lernen, 
welches  dem  Wechsel  nicht  unterworfen  ist,  und  wünschen  uns 
ein  Dasein,  das  von  dem  Wechsel  unberührt  bleibt.  Wahrlich, 
wir  verlangen  wie  kleine  Kinder  in  den  Stunden  der  Angst 
nach  einem  geistigen  Vater,  nach  einer  Mutter,  sehnen  uns  nach 
einem  Etwas,  das  unsere  Sünden  auf  sich  nehmen,  das  für  uns 
leiden  und  in  unseren  kleinen  Sorgen  mit  uns  fühlen  könnte, 
und  suchen  jemand,  der  unsere  Gebete  hört  und  uns  hilft.  Weil 
wir  den  Sinn  dieses  ganzen  gewaltigen  Lebensrätsels  nicht  ohne 
weiteres  erfassen  und  begreifen,  deshalb  haben  wir  Menschen 
die  höchsten,  heiligsten  Ideale  aufgestellt;  das  Ideal  eines  grossen 
Gottes  in  irgend  einem  Himmel,  der  uns  alle  geschaffen  hat, 
der  uns  hilft,  wenn  wir  zu  ihm  beten,  der  uns  in  unserem 
Leben  führen  und  dem  (eingebildeten)  „Ich"  in  uns  für  ewig  eine 
Wohnung  in  seiner  heiligen  Stätte  gewähren  wird.  Verbanne 
jenen  „Glauben",  sagt  das  »Gute  Gesetz«;  denn  auch  dieser  ent- 
springt einem  wenn  auch  hohen,  erhabenen  Begehren,  dem 
Wunsche  nach  unsterblichem  Leben,  dem  Sehnen,  sich  zu  der 
seligen  Gegenwart  des  Geliebten  zu  erheben;  er  ist  aus  der 
Schwachheit  unserer  Natur  entsprungen  und  aus  dem  Wahne 
geboren,  dass  irgend  ein  anderes  Wesen  ausserhalb  unserer 
selbst  uns  retten  und  erlösen  kann.  Gib  jenen  „Glauben"  auf; 
denn  so  lange  du  am  Wege  sitzen  bleibst  und  einen  anderen 
um  Hilfe  bittest,  kannst  du  nicht  fortschreiten.  Nehmt  eure 
Zuflucht  in  der  Wahrheit,  geht  zu  der  Wahrheit  und  zu  euch 
selbst  als  einer  Leuchte  und  einem  Führer,  suchet  keine  andere 
Zuflucht  als  die  Wahrheit,  als  euch  selbst.  Nicht  durch  Gebet 
oder  blinden  Glauben  kannst  du  zum  Frieden  gelangen,  son- 
dern nur  dadurch,  dass  du  begreifen  lernst,  was  du  bist  und 
was  du  nicht  bist,  und  dass  dein  Handeln  mit  dem  Gesetz  der 
Liebe  und  mit  der  Wahrheit  in  Einklang  steht,  durch  Erkennt- 
nis, nicht  durch  „Glauben",  durch  rechtes,  liebevolles  Tun,  und 
nicht  durch  Beten. 

Aber  hier  wird  eine  Frage  aufgeworfen  werden:  Wenn 
wir  an  keine  Macht  dort  droben  glauben,  an  keinen  Gott,  der 
unsere  Gebete  beantworten  kann,  —  wenn  wir  uns  an  keinen 
Heiligen  im   Himmel    um    Hilfe  wenden,   was   bedeuten  dann 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  35 

diese   vielen   knieenden  Menschen    in  unseren    Tempeln,   was 
die  wallenden  Weihrauchwolken  und  die  ungezählten  Blumen, 
die  wir  vor  dem   Bilde  unseres  Meisters  niederlegen?     Soll 
das  etwa  kein  Gebet  sein?  Wäre  es  möglich,  dass  fünfhundert 
Millionen  Menschen    ohne   jeden   Grund   ihre  Verehrung  be- 
zeugen,  ohne   jeden    Grund    Räucherwerk    und   Blumen  dar- 
bringen? Nein,  meine  Brüder;  dies  geschieht  allerdings  nicht 
ohne  Grund,  und  es  handelt  sich  hier  sogar  um  den  höchsten 
Beweggrund,  den  wir  überhaupt  kennen.     Nicht  etwa  deshalb 
geschieht  es,  weil  wir  den  Mitleidvollsten  um  irgend  eine  Wohl- 
tat zu  bitten  hätten;  nicht  deshalb,  weil  wir  uns  der  Hoffnung 
hingeben,  unsere  Bitten  möchten  zu  seinem  lauschenden  Ohre 
gelangen   und   er  wäre  über  die  erwiesenen  Ehren  glücklich. 
Nein;   er,  der  grosse,  liebevolle  Lehrer  ist  eingegangen  zum 
Frieden  und  zu  jener  Stille,  wo  kein  Laut  aus  dem  Getriebe 
des  Weltrades  ihn  erreicht,  —   und  wir  haben  nichts  von  ihm 
zu  erbitten,  wie  auch  er  uns  nichts  zu  geben  hat.     Nun,  was 
soll    also    diese   scheinbare  Anbetung,   diese  Verehrung,   was 
sollen  diese  Blumenopfer?  Ich  will  es  euch  mit  einem  Worte 
sagen:   Die    Liebe   ist  der  Beweggrund  gewesen,   dass  jener 
Mensch  —  denn  er  war  einst  Mensch  und  strebte  wie  wir  — 
allein  entsagte,   um    für  uns  das  Licht,    um  für  die  Welt  den 
Weg  zum  Frieden  zu  finden.   Für  uns,  nicht  nur  für  sich  selbst, 
—  und  nach  vielen  bitteren  Kämpfen  hat  er  das  Ziel  erreicht. 
Weil    er   seinen  Palast   und    alle    Herrlichkeiten    seines 
Lebens  verliess,  weil  er  in  die  Einsamkeit  ging,  um  die  Wahr- 
heit  zu    suchen,     damit   wir   den  Weg   zum    Frieden    finden 
möchten,  —  weil   er  nach  Erreichung  dieses  Zieles   fünfund- 
vierzig Jahre  lang  jene  Wahrheit  unermüdlich  predigte,  damit 
andere  den  heiligen  Pfad  finden  könnten,  —  weil  er  sterbend 
die  Versicherung  abgab,    dass    er   nicht    wie    andere    Lehrer 
seiner  Zeit  und  seines  Volkes  etwas  zurückgehalten,  sondern 
der  Menschheit  die  ganze  Wahrheit  enthüllt  habe,  —  weil 
er  niemals  ein  gehässiges  oder  unwirsches  Wort  sprach,  — 
weil   er  für   uns   die  unvergleichliche  Personifikation  unseres 
höchsten  Ideales  war,    die    Realisierung    von    Mitleid,   Liebe, 
Erbarmen,   —  deshalb  beugen  wir  uns  in  Ehrfurcht  vor  ihm 
und    opfern    ihm    Blumen,   Lichter   und   Weihrauch;   deshalb 

3* 


36  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

scliliessen  wir  ihn  vor  allem  anderen  als  höchstes  Ideal  in 
unsere  Herzen  ein.  Und  es  ist  unsere  Verehrung  ein  Opfer 
der  Liebe,  und  nicht  eine  Markthalle,  in  welcher  Gebete  und 
Anrufungen  für  irgend  welche  Wohltaten  aus  der  Höhe  um- 
getauscht werden. 

Wenn  wir  das  Meer  betrachten,  wie  sein  nimmermüder 
Wellenschlag  sich  im  Sonnenlichte  hin  und  her  bewegt,  — 
wenn  wir  auf  eine  herrliche  Landschaft  blicken  oder  die  Palmen 
beobachten,  die  sich  duftend  in  der  frischen  Abendluft  regen; 
—  wenn  wir  emporblicken  zum  nächtlich-dunklen  Himmel, 
der  mit  unzähligen  funkelnden  Sternen  geschmückt  ist  — 
fühlen  wir  da  nicht  auch  von  diesen  rein  irdischen  Dingen, 
diesen  Bildern  unserer  Sinne,  jenes  namenlose  Sich-regen  in 
unserer  Seele,  wodurch  die  Felsen,  Bäume  und  Sterne  uns 
ein  wenig  von  jener  Erhabenheit  enthüllen,  welche  jenseits 
unseres  Lebens  liegt?  Warum  lieben  wir  die  grünenden  Hügel 
und  jene  schweigenden,  geheimnisvollen  Sterne?  Weil  sie 
schön  sind,  und  weil  es  in  unserer  Natur  liegt,  das  Schöne, 
das  Hohe,  das  Erhabene  zu  lieben,  und  wie  alle  Menschen 
sich  gerne  in  diesen  herzbewegenden  Anblick  versenken  aus 
Liebe  zu  der  rein  äusserlichen  Schönheit,  die  uns  darin  ent- 
gegentritt, so  fühlen  wir  Nachfolger  des  »Guten  Gesetzes« 
uns  dazu  getrieben,  über  das  unvergleichliche  Leben,  Erbar- 
men und  Wohlwollen  unseres  grossen  Lehrers  nachzudenken; 
diese  Dinge  können  uns  mehr  sagen  und  in  weit  höherem 
Masse  unser  Gemüt  zu  einem  edlen  Wirken  und  reinen  Leben 
antreiben,  als  die  höchste  Schönheit  der  Sinneswelt.  Aus 
Liebe  und  Dankbarkeit  geschieht  es,  dass  wir  am  Altare  un- 
seres Herrn  niederknieen,  dass  wir  jenen  Baum  heilig  halten, 
unter  welchem  er  zur  Weisheit  gelangte;  aus  Liebe  zu  ihm, 
weil  die  Erinnerung  an  sein  Leben  und  seine  Lehre,  weil  das 
Denken  an  seine  Weisheit  und  Barmherzigkeit  unser  Gemüt 
mit  unaussprechlichem  Frieden  erfüllt  und  für  uns  der  stärkste 
Impuls  ist,  um  jenem  unvergleichlichen  Leben,  jenem  Mitleid 
und  jener  Liebe  demütig  nachzueifern.  Er  ist  das  allerhöchste 
Ideal,  das  unser  Begriff  von  Menschlichkeit  überhaupt  auf- 
stellen kann,  und  wir  halten  es  für  gut,  oft  an  dasselbe  zu 
denken  und   über  jenes  von   uns  so  hochverehrte  Leben  zu 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  ä? 

meditieren.  Wir  sind  der  Ansicht,  dass,  wenn  ein  Mensch 
sich  den  Meister  selbst  als  sein  höchstes  Ideal  aufstellt,  wenn 
er  ihn  verehrt  mit  den  Worten:  „Preis  sei  Dir,  Du  Allbarm- 
herzigster" —  dass  dieser  Mensch  selbst  mitleidsvoller  wer- 
den muss  durch  diese  Verehrung;  nicht  etwa  deshalb,  weil 
der  Buddha  etwas  gewähren  könnte,  sondern  weil  die  Gesinnung 
des  Verehrenden,  das  Ideal,  welchem  er  huldigt  in  seinem 
Geiste,  von  selbst  diese  Wirkung  hervorbringt.  Und 
könnt  Ihr  etwa  mehr  und  Besseres  verlangen,  als  dass  die 
religiöse  Verehrung,  welche  ein  Mensch  pflegt,  diesen  liebe- 
voller und  barmherziger  macht  und  ihn  seinem  Ideale  näher 
bringt?!  Das  ist  sicherlich  besser  und  würdiger,  als  um 
Geschenke  zu  bitten. 

Wer  durch  die  Kraft  der  reinen  Erkenntnis  zur  Verwirk- 
lichung der  vier  erhabenen  Wahrheiten  gelangt  ist,  wer  die 
von  dieser  Erkenntnis  abhängige  Tatsache  realisiert  hat,  dass 
nämlich  alle  Bestandteile  der  Wesen  mit  den  drei  Eigenschaf- 
ten: Leiden  (Dukkha),  Vergänglichkeit  (Anicca)  und 
Nicht-Selbst  (Wesenlosigkeit,  Anatta),  behaftet  sind,  —  der 
wird  Sammäditthi  genannt;  darunter  verstehen  wir  einen 
Bekenner  des  buddhistischen  Glaubens,  der  richtige  An- 
sichten oder  rechte  Einsicht  besitzt.  Wir  brauchen  noch 
nicht  die  anderen  höheren  Stufen  des  erhabenen  achtfachen 
Pfades  genommen,  sondern  nur  die  vier  erhabenen  Wahr- 
heiten und  die  aus  ihnen  sich  ergebenden  drei  Eigen- 
schaften (Anicca,  Dukkha,  Anatta)  realisiert  zu  haben.  Wer 
Sammäditthi  erreicht,  hat  wenigstens  den  heiligen  Weg  be- 
treten, und  wenn  er  nur  ernstlich  sich  anstrengt,  so  wird  er 
die  Kraft  gewinnen,  auch  die  anderen  Fesseln  zu  überwinden, 
welche  seinen  Fortschritt  hemmen.  Aber  zu  allererst  muss 
er  alle  jene  falschen  Hoffnungen  und  illusorischen  Glaubens- 
formen abstreifen.  Wer  dies  getan  hat,  der  wird  ein  Buddhist 
genannt,  und  dieses  Erlangen  der  rechten  Einsicht 
(Sammäditthi)  ist  der  erste  Schritt  auf  dem  erhabenen 
achtfachen  Pfade. 

Die  zweite  Stufe  ist  das  rechte  Streben,  Sammäsan- 
kappa.  Wenn  wir  die  Erkenntnis  vom  Leiden  (Dukkha), 
von   der   Vergänglichkeit   (Anicca)   und   Wesenlosigkeit 


^  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

(Anattä)  alles  empfindenden  Daseins  verwirklicht  haben,  dann 
entsteht  das  »rechte  Streben«.  Da  alle  Geschöpfe  leiden, 
wollen  wir  ihnen  ihre  Bürde  wenigstens  nicht  noch  erschweren; 
wir  streben  darnach,  mitleidsvoll  und  barmherzig  zu  werden, 
gegen  kein  Wesen  eine  übelwollende  Gesinnung  zu  hegen 
und  uns  von  jenen  sinnlichen  Vergnügungen  fernzuhalten, 
welche  die  fruchtbare  Ursache  des  Leidens  sind.     Der  Wille 

—  das  wissen  wir  alle  —  ist  stets  schneller  bereit,  als  der 
Geist,  und  so  werden  wir  vielleicht  noch  oft  in  der  Durch- 
führung unseres  Strebens  straucheln,  obwohl  wir  uns  be- 
mühen, den  Sinnesfreuden  zu  entsagen  und  allen  Wesen  mit 
Güte  und  Mitleid  zu  begegnen.  Wenn  aber  der  Wille,  barmher- 
zig und  rein  zu  werden,  in  uns  feste  Wurzel  geschlagen  hat, 
dann  haben  wir  die  zweite  Stufe  des  Pfades  erreicht:  Sammä- 
sankappa,  rechtes  Streben. 

Wer  sein  Handeln  auf  reine  Motive  gründet,  hat  nicht 
nötig,  die  Wahrheit  zu  verbergen;  wer  seine  Mitmenschen 
wahrhaft  liebt  und  keine  gehässige  Gesinnung  gegen  irgend 
jemanden  aufkommen  lässt,  der  wird  nur  anständige  und 
sanfte  Worte  sprechen.  Von  eines  Menschen  Redeweise  können 
wir  auf  seinen  Charakter  schliessen,  und  wenn  das  »rechte 
Streben«  bei  einem  Manne  gute  Früchte  zeitigt,  dann  betritt 
er  die  dritte  Stufe,  rechte  Rede,  Sammavaca.  Wer  in 
jeder  Beziehung  nur  die  Wahrheit  spricht,  wer  nie  barsche 
oder  unfreundliche  Worte  redet,  wer  in  seiner  Sprache  die  in 
seinem  Herzen  wohnende  Liebe  und  Barmherzigkeit  zum 
Ausdruck  bringt,  der  hat  die  dritte  Stufe  des  Pfades  erreicht. 

Und  da  die  Gedanken  und  Worte  eines  Menschen  dessen 
Inneres  gar  mächtig  umzugestalten  vermögen;  da  eine  barm- 
herzige Gesinnung  auch  barmherzige  Taten  hervorbringen 
muss,  —  deshalb  wird  die  vierte  Stufe  rechtes  Betragen 
oder  rechtes  Hände  In  genannt.  Für  denjenigen,  der  diese  Staffel 
erklommen  hat,  werden  endlich  seine  angestrengten  Bemühun- 
gen, seine  richtige  Einsicht,  seine  sorgsam  gewählten  Worte 

—  vielleicht  erst  nach  einer  jahrelangen  Selbstbeobachtung 
reiche  Früchte  zeitigen,  bis  schliesslich  alle  seine  Handlungen 
liebevoll,  rein  und  ohne  irgend  welche  Hoffnung  auf  Gewinn 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  39 

vollbracht    werden.     Dann    ist    die    vierte  Stufe    betreten, 
genannt  Sammäkammanta. 

Und  wenn  diese  heilige  Gewohnheit  des  rechten  Handelns 
stark  und  zielbewusst  stetig  wächst;  wenn  unser  ganzes  Leben 
nur  für  diesen  Glauben,  der  in  uns  ist,  gelebt  wird;  wenn 
jeder  einzelne  Akt  unseres  täglichen  Lebens,  ja  sogar  jede 
Regung  in  unserem  Schlafe  auf  das  geweihte  Ziel  gerichtet 
ist;  wenn  kein  Gedanke,  keine  Handlung,  die  grausam  oder 
unbarmherzig  wäre,  unser  Wesen  mehr  beflecken  kann,  — 
dann  haben  wir  die  fünfte  Stufe  erreicht:  Sammäjiva, 
das  rechte  Leben.  Wer  sich  von  allem  zurückhält,  was 
anderen  Schmerz  verursachen  könnte,  der  wird  untadelhaft 
und  kann  nur  solchen  Beschäftigungen  nachgehen,  die  kein 
Leid  in  ihrem  Gefolge  haben. 

Über  denjenigen,  der  so  lebt,  sagen  die  heiligen  Schriften, 
kommt  eine  Kraft,  die  dem  gewöhnlichen  Menschen  unbekannt 
ist.  Lange  Zucht  und  Selbstbeherrschung  haben  ihn  befähigt, 
sein  Gemüt  zu  bemeistern;  er  kann  jetzt  alle  seine  Kräfte 
mit  mächtiger  Gewalt  auf  irgend  einen  Gegenstand  beliebig 
übertragen,  und  die  Fähigkeit,  die  Kräfte  seines  Wesens  zu 
benutzen  und  seine  gewaltige  Willensanstrengung  dauernd 
fortzusetzen,  bringen  ihn  auf  die  sechste  Stufe,  Samma- 
vayäma.  Dies  wird  gewöhnlich  übersetzt  durch  »rechte 
Anstrengung«;  jedoch  würde  »rechte  Willenskraft«  oder 
»rechte  Energie«  der  Bedeutung  wohl  näher  kommen;  denn 
durch  Anstrengung  wird  auch  schon  die  erste  Stufe  be- 
schritten. Und  wenn  der  Mensch  diese  Kraft  erlangt  hat, 
durch  die  er  fähig  ist,  alle  seine  Gedanken  jederzeit  auf  einen 
Gegenstand  zu  richten  und  festzuhalten,  erinnert  er  sich, 
wachend  und  schlafend,  was  er  und  was  das  Ziel  seines 
Lebens  ist,  und  dieses  dauernde  »Gedenken«,  diese  beständige 
Konzentrierung  des  Geistes  auf  das  Endziel  unseres  Ringens, 
ist  die  siebente  Stufe,  Sammäsati,  rechtes  Gedenken. 
Durch  die  Kraft  dieser  transcendentalen  Fähigkeit  erhebt  sich 
der  Mensch  durch  die  acht  Glieder  transcendentaler  Schauung 
hindurch  bis  zu  der  Schwelle  Nirvänas;  bis  er  endlich  noch  in 
diesem  Leben  in  der  »Nirodha  Samapatti«  genannten  Schau- 
ung zum  »todlosen  Ufer  Nirvänas«  gelangt;  dieses  geschieht 


40  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

durch  die  Kraft  von  Sammäsamädhi,  durch  »rechte 
Versenkung«,  die  achte  Stufe  des  heiligen  Pfades.  Ein 
solcher  Mensch  hat  den  Pfad  vollendet,  hat  die  Ursache  aller 
seiner  Lebensketten  zerstört  und  ist  ein  Arahä,  ein  Heiliger, 
ein  Buddha  geworden. 

„Mächtiger  noch  als  die  Fürsten  der  Erde, 

Heiterer  selbst  als  die  Götter  des  Lichts, 

Ist  jener  Glückselige, 

Der  dieses  leidvollen  Kerkers 

Schmerzliche  Fesseln  zerbricht. 

Lautlos  gleitet  das  Leben 

Zur  tiefen  Ruh', 

Zum  ewigen  Frieden. 

Süsses  Nirväna! 

Meerstilles  Schweigen ! 

Sündlose  Rast! 

Du  bist  das  andere 

Niemals  sich  ändernde 

Ufer  der  Welt."  — 
Dies,  meine  Brüder,  ist  ein  kurzer  Überblick  über  die 
Religion  der  Nachfolger  des  Buddha,  eine  kurze  Beschreibung 
des  geistigen  Pfades,  der  ihnen  alle  Zeit  vor  Augen  schwebt. 
Aber,  wieihrwisst,  können  solche  summarischen  Darstellungen 
das  grosse  Ganze  nur  in  Umrissen  zeichnen  und  sind  höch- 
stens als  ein  Auszug  aus  dem  Gesamtgebiet  zu  betrachten. 
Und  nachdem  ich  Euch  diesen  Vortrag  über  den  Pfad 
und  die  vier  erhabenen  Wahrheiten  gehalten  habe,  der  sich 
auf  die  heiligen  Schriften  stützt  und  den  Stoff  nur  in  neue 
Worte  kleidet,  —  gestattet  mir  nunmehr.  Euch  zu  sagen,  wie 
ich  über  den  wahren  Buddhismus  denke,  sowie  einige 
Einwände  zu  besprechen.  Bekanntlich  haben  die  verschiedensten 
Menschen,  unter  ihnen  grosse  Gelehrte,  den  Buddhismus  sehr 
verschieden  beurteilt:  Einige  nennen  ihn  Materialismus, 
einige  Pessimismus,  andere  das  bewundernswürdigste 
System  einer  begründeten  Ethik;  wieder  anderen 
scheint  er  nur  eine  altertümliche  Form  der  modernen 
agnostischen  Philosophie  zu  sein.  Dass  der  Buddhis- 
mus von  allen  diesen  Dingen  Elemente  enthält,  ist  zweifellos 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  41 

richtig;  aber  ich  glaube  nimmer,  dass  rein  logische  Seelen- 
und  Lebenstheorien  vierundzwanzig  Jahrhunderte  überdauern 
und  noch  heute  die  grösste  Weltreligion  sein  könnten.  Und 
so  bin  ich  durchaus  nicht  der  Ansicht,  dass  jene  rein  philo- 
sophischen Fragen,  wie:  Gibt  es  eine  Seele  oder  nicht? 
Was  wird  wiedergeboren?  usw.  überhaupt  nicht  das  Wesen 
des  Buddhismus  ausmachen.  Wenn  ich  aufgefordert  würde, 
den  Buddhismus  in  ein  einziges  Wort  zusammenzufassen,  so 
würde  ich  sagen:  Mitleid!  Mitleid;  denn  dieses  begreift  in 
sich  sowohl  Liebe,  als  Leid,  welche  die  Grundlage  unseres 
Glaubens  bilden.  Wenn  ich  einen  Menschen  sehe,  der  von 
tiefem  Mitleid  durchdrungen  ist,  welcher,  wenn  auch  vergeb- 
lich, sich  bemüht,  den  grossen  Wechsel  von  Leben  und 
Sterben  in  seiner  ganzen  Tragweite  zu  begreifen,  einen  Men- 
schen, der  zu  allen  lebenden  Wesen  eine  innige  Sympathie 
fühlt  und  bereit  ist  zu  helfen,  wo  immer  er  kann,  so  ist  dieser 
nach  meinen  Begriffen  Sammäditthi,  er  hat  die  erste  Stufe  des 
Pfades  betreten,  und  mag  er  im  übrigen  an  sieben  Arten  von 
Seelen  glauben.  Liebe  und  liebevolles  Handeln,  — das  sind  die 
Wahrzeichen  des  Buddhisten,  und  alle  jene  schwierigen  Be- 
trachtungen über  die  Wirkung  von  Karman,  über  die  Bestand- 
teile eines  lebenden  Wesens  usw.  sind  zwar  sehr  gut  und 
nützlich  für  diejenigen,  die  danach  verlangen,  aber  sie  sind 
nicht  wesentlich.  Wer  das  Gesetz  betätigt,  der  ist  Sammä- 
ditthi,^ und  der  Mann  betätigt  das  Gesetz,  der  gütig  und 
mitleidsvoll  ist,  und  der  sein  höchstes  Ideal  in  unserem 
Meister,  unserem  Buddha,  erblickt.  Die  Priesterkaste  seiner 
Zeit,  jene  abgeschlossenen  Brahmanen,  welche  die  Verbreitung 
geistiger  Erkenntnis  jeder  Art  zu  unterdrücken  suchten,  um 
sich  ihren  Broterwerb  und  ihr  Ansehen  beim  Volke  zu  erhal- 
ten, —  diese  eitlen,  törichten  Männer  nannten  den  Meister 
einen  Materialisten  und  Atheisten,  weil  er  sich  weigerte,  das 
Unendliche  in  begrenzte  Formen  zu  bannen  und  in  leere  Worte 
zu  kleiden,  und  weil  er  das  Ansinnen  zurückwies,  ihren  Speku- 
lationen über  die  Entstehung  der  Welt  beizupflichten.  Eins 
wissen  wir  von  ihm,  nämlich,  dass  er  der  mitleidvollste  der 
Menschen  gewesen  ist,  und,  meine  Brüder,  wenn  man  uns 
heutigen  Tages   Atheisten   und    Materialisten   schilt   und   uns 


42  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

damit  zu  verachten  glaubt:  Wohlan,  lasst  diese  Benennung  für 
uns  einen  Ehrentitel  sein,  denn  als  solchen  hat  auch  unser  Herr 
sie  bezeichnet.  Dass  wir,  soweit  es  in  unserer  schwachen 
Kraft  liegt,  bemüht  sein  sollten,  seiner  Weisheit,  seiner  Ent- 
sagung und  vor  allen  Dingen  seinem  unbegrenzten  Erbarmen 
nachzueifern:  das  ist,  denke  ich,  der  Zweck  unserer  ganzen 
Lebensarbeit,  und  ich  glaube,  dass  ich  damit  auch  die  Ansicht 
aller  unserer  Religionsgenossen  zum  Ausdruck  bringe. 

Dass  unser  Meister  der  Begründer  eines  metaphysischen 
Systems  war,    das    an    Feinheiten    auch    den    kühnsten    Flug 
westlicher  Philosophie    hinter    sich    lasst,    ist    gewiss    etwas 
Grosses,    und    es    ist    bewunderungswürdig,   wie   er  im  Abhi- 
dhamma  die  zarten  Regungen  des  Geistes  klar  legt,  um  zu 
erklären,    wie    ein  Gedanke    in    seinem    Entstehen  verhindert 
werden  könne;  —  aber  nicht  diese  Dinge  sind  es,  welche 
den  Ruhm  seines  Dhamma  begründet  und  ihm  die  Herrschaft 
über   ein  Drittel    der   gesamten   Menschheit  verliehen  haben; 
nicht  diesem  transcendentalen  Wissen  verdankt  der  Buddhismus 
heute   seinen    Einfluss   auf   fünfhundert  Millionen  Menschen- 
herzen.    Denkt  Ihr  etwa,  blosse  philosphische  Betrachtungen 
und  rein  logische  Systeme  könnten  auf  das  menschliche  Gemüt 
eine  derartige  Zugkraft  ausüben?     Gewiss   nicht;    der  Grund 
liegt  vielmehr  in  der  Tatsache,  dass  des  Buddhas  Leben  die 
getreue  Verkörperung 'seiner  Lehre  gewesen  ist  —  unendliche 
Liebe,    Reinheit,   Weisheit    und    ein    unbegrenztes    Erbarmen. 
Diese  Kräfte  haben  unsern  Glauben  auf  Erden  mächtig  gemacht, 
und  solange  auf  unserem  Planeten  menschliche  Wesen  wohnen 
werden,  deren  Herzen  in  Liebe  und  Mitleid  für  alle  Geschöpfe 
schlagen,   und    solange    ihnen    dieses    Evangelium   gepredigt 
wird,  solange  wird  auch  sein  Reich  bestehn.     Und  welch  eine 
Herrschaft!    Bedenkt,   welche    wunderbare  Kraft   dieses  Reich 
zusammengehalten  hat!   Glaubt  Ihr,   dass,   wenn   der   Buddha 
ein   weltlicher   Herrscher  gewesen  wäre,   dieser   Name    mehr 
als  zehn  Studenten  der  alten  Geschichte  bekannt  sein  würde? 
Und    doch    ist   sein  Reich    heute   noch  viel  grösser,   als  das- 
jenige Alexanders  einst  war,  obwohl  es  solange  her  ist,  dass 
er  kam,   uns   zu    lehren.     Vierundzwanzig  Jalirhunderte   sind 
dahingeflossen    im  Strom   der   Zeit,    und   docli    ist  der  Name 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  43 

»Buddha«  heute  auf  fünfhundert  Millionen  Lippen,  sein  Reich 
in  fünfhundert  Millionen  Herzen  und  seine  Lehre  das  Ideal 
von  fünfhundert  Millionen  Leben.  Und  wodurch  wird  dieses 
weite  Reich  zusammengehalten?  Welcher  mächtige  Beweg- 
grund treibt  ein  Drittel  des  Menschengeschlechtes  an,  dieses 
eine  Gesetz  zu  verehren?  Haben  uns  etwa  grosse  Heere  zu 
Gebote  gestanden,  um  den  dritten  Teil  der  Menschheit  zu 
erobern?  Es  ist  unser  Stolz,  dass  niemals  in  unseres 
Meisters  Namen  ein  Leben  geopfert  worden  ist.  Haben  wir 
einen  grossen,  einflussreichen  Priesterstand?  Seht,  unsere 
heiligen  Männer,  welche  bemüht  sind,  das  von  unserem 
Meister  empfohlene  Leben  wirklich  zu  leben,  —  sie  sind  es, 
welche  vor  Euren  Türen  ihre  Nahrung  erbitten.  Durch  welche 
wunderbare,  übermenschliche  Kraft  wird  denn  diese  Gott-freie 
Religion  zusammengehalten  mit  ihrer  gebetiosen  Verehrung, 
mit  ihrer  nicht-organisierten  Priesterschaft,  —  diese  Religion, 
deren  Herrschaft  über  ein  Drittel  unserer  Rasse  sich  ausdehnt? 
Die  Liebe,  unseres  Meisters  Liebe  und  Erbarmen,  —  sein 
Mitleid  und  die  Wahrheit,  die  er  enthüllt  hat:  diese  Kräfte 
haben  unsere  Religion  zusammengehalten;  denn  wir  lieben 
unseren  Meister  wegen  der  Liebe,  die  ihn  beseelte,  wegen 
des  Lebens,  das  er  uns  als  Vorbild  wies,  wegen  der  Wahrheit, 
die  er  verkündete,  und  an  jedem  Tage  unseres  Lebens  erhal- 
ten wir  aus  dem  Geheimnis  unseres  eigenen  Wesens  immer 
wieder  von  neuem  die  Bestätigung  für  die  Wahrheit  seines 
Gesetzes,  für  die  Genauigkeit  seiner  Analyse,  für  die  Voll- 
kommenheit seiner  Einsicht.  — 

Folgender  Punkt  ist  uns,  wie  ich  gehört  habe,  wiederholt 
zum  Vorwurf  gemacht  worden:  Wir,  die  wir  dafür  halten,  dass 
unser  Meister  eingegangen  ist  „in  jenes  letzte  Dahinschwinden, 
wo  von  irgendwelchen  weltlichen  Begriffen  nichts  mehr  vor- 
handen ist",  nehmen  dennoch  bei  unseren  täglichen  Andachts- 
übungen unsere  Zuflucht  zu  dem  Buddha.  „Wie  könnt  ihr", 
so  hat  man  uns  vorgehalten,  „eure  Zuflucht  zu  dem  Buddha 
nehmen,  von  dem  ihr  doch  selbst  sagt,  dass  er  nicht  mehr 
»da  sei«;  wie  zu  dem  Dhamma,  welcher  in  Büchern  sich 
autgezeichnet  findet,  deren  Blätter  vor  den  Verwüstungen  der 
Motten  und  Insekten  geschützt  werden  müssen;  —  wie  zu  dem 


44  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Sangha,  dessen  Mitglieder  zum  grossen  Teil  einfache,  un- 
gelehrte Männer  sind?"  Ich  erwidere,  dass  der  Buddha, 
Dhamma,  Sangha,  welchen  jene  Leute  im  Auge  haben,  nicht 
derselbe  ist,  welchen  wir  verehren.  Wir  nehmen  unsere  Zu- 
flucht zum  Sangha,  weil  die  Männer,  die  ihn  bilden,  mögen 
sie  nun  gelehrt  oder  ungclehrt  sein,  wenigstens  den  Versuch 
machen,  dem  idealen  Leben  zu  folgen;  weil  ein  jeder  von 
uns  in  der  Hoffnung  lebt,  dass  wir  eines  Tages  frei  genug 
sein  werden,  um  dieses  Leben  der  Entsagung,  der  Unterwei- 
sung und  der  Liebe,  welches  als  Ideal  in  unser  aller  Herzen 
strahlt,  selbst  in  die  Tat  umsetzen  zu  können,  und  endlich, 
weil  der  Sangha  als  solcher  das  Symbol  des  idealen  Wandels 
ist,  den  wir  zu  führen  bestrebt  sind.  Wir  nehmen  unsere 
Zuflucht  zu  dem  Dhamma;  derselbe  steht  nicht  nur  in  Büchern 
geschrieben,  sondern  vielmehr  in  unseren  Herzen  und,  wie  ich 
hoffe,  in  unserem  Leben.  Dieser  Dhamma  ist  in  seinem 
Wesen  kein  rein  irdischer,  nur  auf  diese  Welt  beschränkter 
„Glaube",  sondern  ein  mächtiges  Gesetz,  welches  durch  Raum 
und  Zeit  hindurch  wirken  wird,  bis  alle  Geschöpfe  der  Er- 
leuchtung teilhaftig  geworden  sind;  er  ist  das  Gesetz  des 
Mitleids  und  der  Liebe,  welches  alle  Wesen  bemeistert  auf 
dem  entferntesten  Stern  sowohl  als  hier  auf  der  Erde,  und 
welches  alle  Wesen  zum  grossen  Frieden  Nirvänas  führen 
wird.  —  Und  endlich:  wir  nehmen  unsere  Zuflucht  in 
Buddha;  ach,  habe  ich  wirklich  noch  nötig.  Euch  zu  sagen, 
warum  wir  das  tun?  Welches  andere  Leben  hinieden  hat  je 
einen  so  gewaltigen  Eindruck,  auf  das  Menschenherz  gemacht? 
Er  war  kein  Gott,  sondern  ein  Mensch  gleich  uns,  und  er 
strebte  vorwärts,  wie  wir  zu  streben  bemüht  sind,  aber  für 
ihn  gab  es  nie  ein  Zurückweichen.  Er  hat  gelitten,  wie  wir 
es  gar  nicht  ertragen  könnten,  weil  er  glaubte,  auf  diese  Weise 
für  uns  den  Weg  zum  Frieden  zu  finden;  kein  Fehlschlag  hat 
ihn  je  entmutigt,  und  schliesslich  ist  ihm  der  Sieg  geblieben. 
Als  dann  für  ihn  die  Stunde  des  Scheidens  kam,  tröstete  er 
seinen  weinenden  Jünger  mit  den  Worten:  „Ananda,  ihr  dürft 
nicht  denken,  dass  nach  meinem  Heimgange  der  Lehrer  nicht 
mehr  bei  euch  ist.  In  dem  Gesetze,  welches  ich  euch  ver- 
kündet habe,  werde  ich  weiterleben,  so  wähnt  also  nicht 
»wir  haben  keinen  Lehrer  mehr!«" 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  45 

Und  so  glauben  wir  in  der  Tat  niciit,  dass  wir  ohne  Lehrer 
sind.  Der  »Lotus  des  guten  Gesetzes«  ist  allerdings  einge- 
gangen zur  Ruhe,  zum  grossen  Frieden,  und  seine  Asche  wurde  in 
alle  Windrichtungen  zerstreut,  aber  der  Wohlgeruch  seiner  Liebe 
und  seines  unvergleichlichen  iMitleids  durchdringt  noch  die 
Welt,  und  ich  denke,  ja  wir  alle  denken  es,  dass  die  Welt 
besser,  reiner  und  liebevoller  geworden  ist,  weil  er  einst 
unter  uns  gelebt  hat.  Wenn  wir  seine  Worte  in  den  heiligen 
Schriften  lesen,  wenn  wir  uns  bemühen,  täglich  dem  Leben, 
das  er  uns  als  Ideal  aufgestellt  hat,  einen  Schritt  näher  zu 
kommen,  ja,  dann  fühlen  wir,  dass  wir  von  unserem  Meister 
nicht  allein  gelassen  worden  sind.  Es  ist  seine  Stimme,  die 
aus  seinem  Gesetz  und  aus  dem  tiefen,  dunklen  Geheimnis 
unseres  Lebens  zu  uns  spricht;  es  ist  seine  Stimme,  die  uns 
tröstet  und  aufrichtet,  wenn  wir  gestrauchelt  sind,  indem  sie 
uns  zuruft,  dass  dieses  grosse  Gesetz  ewig  und  unabänderlich 
dauern  wird,  und  dass  jede  rechte  Anstrengung  ihre  künftigen 
Früchte  zeitigen  muss;  —  es  ist  seine  Stimme  und  seine 
unvergleichliche  Lehre,  die  uns  Liebe  für  alle  Lebewesen  und 
Erbarmen  mit  allen  Leidenden  eingeilösst  hat;  ja  dieses  Ge- 
setz wird  uns,  wenn  wir  unermüdlich  bestrebt  sind  es  zu  befol- 
gen, endlich  zu  dem  Ziele  unseres  heissen  Ringens  leiten,  zu 
dem  Verlöschen  des  dreifachen  Feuers  der  Begierde,  des 
Hasses  und  der  Verblendung,  —  zu  dem  anderen  Ufer  des 
ewig  rinnenden  Weltstroms,  —  zum  unbegrenzten  Lichte 
Nirvänas,  zur  tiefen  Ruhe,  zum  ewigen,  seligen  Frieden! 

^  Verg-äng-lichkeit.  f^ 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Zwei  kleine,  unscheinbare  Sätze  sind  es,  die  der  Meister 
als  letztes  Vermächtnis  kurz  vor  seinem  Heimgange  hinter- 
lassen hat:  „Alle  Dinge  sind  dem  Wechsel  unterworfen; 
arbeitet  an  Eurer  Erlösung  ohne  Unterlass!"  An  die  Ver- 
gänglichkeit verweist  der  scheidende  Buddha  seine  Jünger; 
Vergänglichkeit  ist  der  Ausgangspunkt  seiner  Lehre.   Alltags- 


46  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

menschen  nennen  das  spöttisch  einen  „schönen"  Trost,  voll- 
endete Passivität,  krassen  Nihilismus;  sie  werden  nicht  müde 
zu  versichern,  dass  der  stille  Mönch  im  gelben  Gewände 
sein  Haus  auf  Sand  gebaut  hat.  Es  gibt  freilich  auch  Leute, 
die  wesentlich  anders  urteilen;  nach  ihrer  Ansicht  ist  das 
völlige  Ergreifen  des  V'ergänglichkeits-Gedankens  aller  Weis- 
heit Anfang,  und  sie  halten  dafür,  dass  erst  von  diesem  Stand- 
punkte aus  dem  geistigen  Auge  der  ungetrübte,  klare,  azur- 
blaue Himmel  reinster  Erkenntnis  und  höchsten  Friedens  sich 
erschliesst.  Von  der  Vergänglichkeit  will  auch  ich  ausgehen, 
um  dem  Leser  den  Kern  des  Buddhismus  vorzuführen.  — 
Zur  Zeit,  da  diese  Blätter  als  der  Weckruf  eines  alten  Glaubens 
hinausgehen  in  die  Gaue  des  deutschen  Landes,  rüstet  sich 
die  Christenheit,  ihr  Osterfest  zu  feiern.  Ein  uraltes  Früh- 
lingsfest in  einem  kirchlich-historischen  Gewände.  Ostern 
feierten  schon  vor  Jahrtausenden  die  arischen  Völker;  sie  be- 
grüssten  den  Sieg  des  Lichtes  über  die  Finsternis,  sie  jubel- 
ten dem  jungen  Leben  entgegen,  welches  blütenbekränzt, 
kraftvoll,  sonnig,  sich  alljährlich  dem  Schosse  der  Natur  aufs 
neue  entringt.  Die  Zeiten  haben  sich  geändert:  Wo  in  ent- 
schwundenen Tagen  der  urwüchsige  Germane  im  schweigenden 
Haine  unter  der  knorrigen  Eiche  oder  in  weltferner  Höhe 
auf  einsamem  Felsengrat  der  Frühlingsgöttin  huldigte,  da 
ladet  heute  Glockenklang  und  Orgelspiel  die  Menge  zur 
Andacht.  Und  doch,  wer  tiefer  blickt,  erkennt,  dass  auch 
heute  noch  Ostern  dieselbe  Bedeutung  hat,  wie  vor  Jahrtau- 
senden; „neues  Leben",  raunte  ehedem  der  greise  Heiden- 
priester; „neues  Leben",  predigt  jetzt  der  christliche  Geistliche; 
„neues  Leben",  jubelt  heute  das  feiernde  Volk,  das  aus  der 
dumpfen  Behausung  hinauszieht  in  die  grünende  Flur. 

Neues  Leben!  Gleich  einem  Zauber  lässt  dieses  Wort 
das  Blut  schneller  kreisen,  das  Herz  freudiger  schlagen,  den 
Busen  höher  schwellen.  Ja,  gleich  einem  Zauber;  aber  Zauber 
—  blendet. 

Wie  leicht  doch  wird  der  betörte  Mensch  durch  dieses 
neue  Leben  berauscht;  wie  sehr  ist  er  geneigt,  unter  der 
schier  betäubenden  Wirkung  dieses  Wonnetrankes  den  klaren, 
nüchternen  Blick  zu  verlieren;  wie  schnell  verliebt  er  sich  in 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  47 

diese  reizende,  fröhliche  Maske  der  Natur!  Er  vergisst  darüber, 
dass  die  Welt  ein  doppelt-blickendes  Janus-Haiipt  darstellt: 
Hie  lachendes  Leben,  hie  düsteres  Sterben!  Wo  Wachstum, 
da  Verfall;  wo  Erblühen,  da  Verwelken;  wo  Geburt,  da  Tod; 
wo  Entstehen,  da  Vergehen  —  das  ist  ein  ewiges  Gesetz,  und 
wo  zu  Ostern  der  frohe  Lenz  seine  Blumen  streut,  da  wird 
gar  bald,  wenn  der  Mond  sechsmal  seinen  Kreislauf  vollendet 
hat,  am  Allerseelentage  das  letzte  welke  Blatt  herniederfallen. 

Vergänglichkeit,  du  König  der  Könige,  du  Herr  der  Welt, 
vor  dessen  Szepter  sich  Götter  und  Menschen  neigen!  Deinem 
Machtspruche  entrinnt  nichts,  kein  Weltsystem,  kein  Eintags- 
leben! Seit  Anbeginn  aller  Zeiten  drehst  du  das  wirbelnde 
Welt-Rad  von  Geburt  und  Tod,  heissest  Formen  erscheinen 
und  wieder  verschwinden,  rufst  Wesen  zum  Bewusstsein  und 
lösest  sie  wieder  auf. 

„Alle  Dinge  sind  vergänglich";  —  wendet  euren  Blick 
der  Entwickelungsgeschichte  unseres  Planeten  zu,  wie  sie  dem 
forschenden  Menschengeiste  sich  enthüllt,  oder  seht  auf  die 
Dinge  um  euch,  betrachtet  euch  selbst;  allüberall  herrscht 
Entstehen  und  Vergehen,  das  ist:  Vergänglichkeit.  Sonnen 
flammen  auf  im  Räume,  Sonnen  werden  verlöschen;  Welt- 
systeme verdichten  sich  aus  kreisenden  Urnebein,  Sonnen- 
systeme zerstieben  wieder  unter  der  Wucht  elementarer 
kosmischer  Katastrophen;  Kontinente  erheben  sich  aus  den 
Fluten  des  Ozeans  und  werden  über  kurz  oder  lang  die  Beute 
der  nagenden  Woge;  glänzende  Zivilisationen,  blühende  Kul- 
turen erstanden,  lebten  ihre  Zeit  und  starben  ab;  mächtige 
Fürstenthrone  Hessen  den  Erdkreis  vor  ihrer  Macht  erzittern, 
—  aber  auch  sie  sanken  in  Trümmer.  „Alles  ist  dem  Wechsel 
unterworfen",  hat  der  Buddha  gesagt,  und  sein  Wort  ist  wahr 
befunden  worden. 

Erinnere  dich  doch,  mein  Freund,  der  Menschen,  die  du 
vor  zehn  Jahren  so  gut  gekannt  hast;  mustere  einmal  die 
Schar  derer,  die  dir  früher  mehr  oder  weniger  nahe  standen; 
siehe,  hier  eine  Lücke,  hier  wieder,  dort  abermals.  Wie  haben 
sich  die  Reihen  gelichtet!  Der  Tod  hat  an  manche  Pforte 
geklopft,  der  Zahn  der  Zeit  hat  seine  Beute  erbarmungslos 
zermalmt.     Vergänglichkeit! 


48  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Betritt  dein  Fiiss  nach  langer  Abwesenheit  wieder  die 
Fluren  des  heimatlichen  Bodens:  andere  Gestalten,  andere 
Menschen,  andere  Anschauungen.  Die  du  in  der  Fülle  der 
Manneskraft  gesehen,  sind  vom  Alter  gebeugt;  du  vermisst 
viele  und  fragst  nach  ihnen;  stumm  weist  man  dort  nach 
jenem  stillen  Hügel,  wo  weisse  Kreuze  schimmern  —  — 

Ja,  was  ist  der  Mensch,  „der  flüchtige  Sohn  der  Stunde"?! 
Durch  die  Geburt  ist  sein  Leben  dem  Tode  verfallen;  während 
des  Lebensprozesses  sterben  beständig  Teile  seines  Körpers 
und  neue  entstehen,  und  einmal,  sei  es  heute,  sei  es  morgen, 
sei  es  in  einigen  Jahren,  schlägt  die  Stunde,  da  der  Leib  in 
Staub  zerfällt.  Was  bist  du,  o  Erdensohn,  in  der  eisernen 
Hand  der  Vergänglichkeit?  Ein  fallender  Stein,  eine  winzige 
Kugel,  eine  geringe  Menge  giftiger  Substanz  genügt,  um 
deine  Lippen  für  immer  zu  schliessen.  Und  wenn  der  Kör- 
per nach  dem  Tode  sich  in  seine  Bestandteile  zersetzt,  er- 
blüht aus  den  berstenden  Trümmern  der  Ruine  neues  Leben, 
und  in  dem  Grabes-Moder  der  Verwesung  feiern  Myriaden 
winziger  Geschöpfe  ihr  Auferstehungs-Fest. 

Das  Innen-Leben  des  Menschen  gleicht  einem  rinnenden 
Strom;  da  ist  nichts  Beständiges;  auch  hier  waltet  der 
Wechsel.  Wie  rasch  folgen  sich  da  Vorstellungen,  Gedanken, 
Wünsche  der  verschiedensten  Art,  und  sogar  das  scheinbar 
verharrende  „Ich"  ist  nicht-dauernd;  krankhafte  Zustände  des 
Gehirns  können  es  trüben  oder  spalten,  und  das  „Ich"  des 
jauchzenden,  in  Illusionen  schwelgenden  Kindes  ist  ein  an- 
deres, als  das  des  ernsten,  erfahrenen  Greises,  der  am  Ziele 
seiner  irdischen  Laufbahn  angelangt  ist.  Auch  diese  Formen 
deines  Innen-Lebens  werden  wie  Blätter  im  Herbstwinde  vom 
Tode  verweht  werden,  aber  die  Wirkungen  ihres  Schaffens 
werden  der  fruchtbare  Boden  für  neue  Erscheinungen  sein. 

„Alle  Dinge  sind  dem  Wechsel  unterworfen."  —  Ver- 
gänglichkeit ist  die  Natur  der  Welt;  Geburt  und  Tod  sind  die 
beiden  Genien,  welche  seit  ewigen  Zeiten  die  Fackel  des 
Lebens  entzünden  und  wieder  löschen.  Die  Welt  ist  ein  ewig 
wogendes  Meer  ohne  Ruhe;  ein  Kreislauf  ohne  Anfang,  ohne 
Ende;  ein  nie  aufhörendes  Werden;  ein  endloses  Entstehen 
und  Vergehen;  ein  bunt-schillerndes  Kaleidoskop,  welches  be- 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  49 

ständig  wechselnde  Gestalten  dir  zeigt;  ein  unergründlich- 
dunkler Schoss,  der  seit  Ewigkeiten  gebiert  und  das  Geborene 
wiederum  in  sich  zurückzieht.  Gar  kurz  ist  das  Dasein  einer 
einzelnen  Lebensform,  aber  Leben  reiht  sich  an  Leben,  wie  die 
Glieder  einer  Kette  —  ohne  Beginn,  ohne  Aufhören,  ein  ewiger 
Strom: 

„Ein  kleiner  Ring 

Begrenzt  unser  Leben, 

Und  viele  Geschlechter 

Reihen  sich  dauernd 

An  ihres  Daseins 

Unendliche  Kette."  — 
Freund,  was  suchst  du  das  ewige  Leben  jenseits  des 
Grabes?  Hier,  diese  Welt,  diese  Welt  ist  das  ewige  Leben, 
nur  wisse,  dass  da,  wo  ewiges  Leben  ist,  auch  ewiges  Sterben 
herrscht.  Ohne  Tod  kein  Leben,  ohne  Leben  kein  Tod;  auf 
Ostern  folgt  ein  Allerseelen,  auf  Allerseelen  der  Ostermorgen. 
Und  so  erkenne  die  Wahrheit  des  Wortes:  „Alles  Ent- 
standene eilt  dem  Verfall  zu,"  lerne  begreifen,  dass  in  diesem 
Satze  der  erste  grosse  Trost  verborgen  liegt,  den  dir  der  Bud- 
dhismus in  schweren  'Stunden  beut.  Wenn  die  Vergänglich- 
keits-Idee in  ihrer  ganzen  gewaltigen  Wucht  von  dir  ergriffen 
und  dauernd  der  Inhalt  deines  Gemütes  geworden  ist,  dann 
kommt  der  grosse  Friede  der  Ergebung  in  dein  sieches  Herz. 
Dann  zitterst  du  nicht  mehr  unter  den  Schlägen  des  Schick- 
sals; dann  jammerst  du  nicht  über  verlorene  Güter;  dann  fürch- 
test du  den  Tod  nicht  länger;  dann  wirst  du  nicht  mehr  in 
dunkler  Verzweiflung  händeringend  dem  Schicksal  fluchen,  wenn 
die  schwarzen  Erdschollen  dumpf  niederfallen  auf  die  Bretter, 
die  dir  dein  Liebstes  auf  Erden  für  immer  entreissen.  Dann 
wirst  du  sagen:  „Alles  Entstandene  eilt  dem  Verfall  zu,  alle 
Menschen  müssen  diesen  Weg  gehen,  auch  ich,  auch  du;  ich 
stehe  nicht  allein  im  Leiden,  alle  Wesen  sind  dem  Wechsel 
unterworfen;  Myriaden  sind  vorangegangen,  Myriaden  werden 
folgen;  wie  wäre  es  da  möglich,  dass  dieser  von  mir  geliebte 
Gegenstand  der  Vergänglichkeit  nicht  unterworfen  sein  sollte?!" 
Du  verstehst  nun,  dass  die  letztere  die  Natur  der  Welt  ist,  dass 
ihre  Herrschaft  sich  über  alle  Gebiete  des  Universums  erstreckt, 

4 


50  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

in  der  Pflanzenwelt,  im  Tierreich,  in  der  Menschen-Rasse,  im 
Reiche  der  nicht-organisierten  Materie.  Mögiicii,  dass  es  irgend- 
wo noch  ganz  anders  geartete  Wesen  gibt:  Selige  Geister, 
Götter,  Dämonen;  mag  sein,  aber  auch  sie  sind  dem  ewigen 
Weltgesetz  unterworfen,  und  auch  ein  Götter-Dasein  schwindet 
dahin,  selbst  wenn  es  dem  Ansturm  von  Billionen  Jahren  Trotz 
bieten  sollte;  auch  ein  himmlisches  Leben  eilt  seinem  Verfall 
entgegen.     „Alle  Dinge  sind  dem  Wechsel  unterworfen."  — 

So  hat  der  Buddha,  indem  er  von  dem  Vergänglichkeits- 
Gedanken  ausgeht,  mit  nichten  auf  Sand  gebaut;  vielmehr  er- 
hebt sich  sein  stolzes  Gebäude  auf  dem  denkbar  festesten 
Felsengrunde.  Warum?  Nun  eben,  weil  die  Vergänglichkeit 
eine  unbestreitbare,  evidente  Tatsache  darstellt,  und  weil  — 
ein  scheinbarer  Widerspruch  —  in  der  gesamten  Welt  über- 
haupt nichts  dauernd  ist  ausser  dem  Wechsel.  Der  Wechsel 
bestand,  ehe  unser  Sonnensystem  Lebewesen  gebar;  der  Wechsel 
wird  ebenso  herrschen,  wenn  das  organische  Leben  auf  un- 
serem Planeten  einst  erloschen  sein  wird.  Der  Buddhismus 
knüpft  also  an  kein  historisches  Ereignis  an,  an  keine  ge- 
schichtliche Begebenheit,  an  keinen  Mythus,  an  keinen  Köhler- 
glauben, an  keine  vage  Voraussetzung;  sondern  er  ist  gegründet 
auf  die  ewige  Wahrheit  selbst,  und  die  Wahrheit  über  diese 
Welt  ist:  Vergänglichkeit.  Denn  mögen  die  Dinge  wirklich  so 
sein,  wie  wir  sie  wahrnehmen,  oder  mögen  sie  anders  sein, 
oder  mögen  sie  ein  leeres  Phantom  vorstellen:  Gleichviel  —  wo 
immer  Dinge,  Wesen,  Formen  von  uns  wahrgenommen  werden, 
da  befinden  sie  sich  stets  im  Zustande  der  Veränderung,  sind 
stets  dem  Wechsel,  der  Vergänglichkeit  unterworfen.  Dieses 
erste  grundlegende  Prinzip  der  Vergänglichkeit  wird  in  der  Lehre 
des  Buddha  Anicca  genannt. 

Aus  der  Vergänglichkeits-Idee  ergeben  sich  eine  Reihe 
wichtiger  Folgerungen.  Wenn  die  Welt  in  allen  ihren  Erschei- 
nungen einen  ewig  rinnenden  Strom,  ein  anfangloses,  endloses 
Werden  darstellt,  wenn  kein  Ding,  kein  Körper,  kein  Etwas 
innerhalb  ihrer  vorhanden  ist,  von  dem  man  sagen  könnte,  dass 
es  dauernd,  wechsellos,  unveränderlich  wäre,  —  so  folgt  daraus, 
dass  auch  der  Mensch  als  Erscheinungsform  im  Universum 
kein   verharrendes   Prinzip   besitzt.    Der  Mensch   gleicht   dem 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  51 

Schaume  auf  der  Wasserfläche,  der,  kaum  entstanden,  wieder 
zerfliesst,  oder  der  leichten  Federwolke  am  Firmament,  welche 
sich  bildet  und  gar  bald  in  ein  luftiges  Nichts  zerrinnt. 
Der  Körper  ist  in  beständigem  Wechsel  begriffen,  die  seelischen 
Eigenschaften  befinden  sich  in  einem  fortwährenden  Fliessen; 
da  ist  nichts  Verharrendes;  aber  aus  dem  Zusammenwirken 
dieser  wechselnden  Qualitäten  entsteht  die  Illusion  eines  dau- 
ernden »Ich«,  welches  sich  eine  buntschillernde,  tausendgestal- 
tige  Welt  konstruiert  und  sich  in  der  Täuschung  wiegt,  als  ein 
dauerndes,  bleibendes  »Selbst«  der  übrigen  Welt  gegenüber  zu 
stehen.  Weder  der  Körper  ist  das  Selbst,  noch  können  Vor- 
stellen, Gefühl,  Begehren  das  Selbst  genannt  werden. 

Das  Abendland  hat  seit  Jahrtausenden  diesen  trügerischen 
Selbst-Gedanken  kultiviert  und  durch  die  Lehre  von  der  Un- 
sterblichkeit des  »Ich«  eine  Apotheose  der  illusorischen  Ego-Idee 
geschaffen.  Wo  ist  das  Ich,  das  Ego,  das  Selbst?  Der  Körper 
ist  es  nicht;  Vorstellen  ist  es  nicht;  Gefühl  ist  es  nicht;  Be- 
gehren ist  es  nicht;  dieses  sind  die  konstituierenden  Bestandteile 
des  Menschen.  Der  letztere,  ein  Komplex  verschiedener  Qualitäten, 
besitzt  nichts,  was  man  ein  dem  Wechsel  nicht  unterworfenes 
Selbst  nennen  könnte.  So  stellt  sich  der  Mensch  im  Lichte 
der  Vergänglichkeits-Lehre  dar  als  Anattä,  d.  h.  als  Nicht- 
Selbst, Nicht-Ich,  Nicht-Individualität.  Die  Vorstellung 
eines  unsterblichen,  wechsellosen  Ich  im  Menschen  ist  eine 
Täuschung;  ausser  der  vorstellenden,  fühlenden,  strebenden,  aber 
dem  Wechsel  unterworfenen  Seele  ist  innerhalb  des  in  die  Er- 
scheinung tretenden  Menschen  kein  getrenntes,  mit  dauerndem 
Selbst-Bewusstsein  begabtes  Seelenwesen  vorhanden.  In  der 
Welt  gibt  es  keine  Ausnahme-Gesetze. 

Hier  zeigt  sich  uns  der  Buddhismus  abermals  als  Vernich- 
ter —  nicht  der  Wahrheit,  sondern  eines  alt-angeerbten  Wahnes, 
ja,  des  grössten,  verhängnisvollsten  Irrwahnes  überhaupt,  der 
das  menschliche  Gemüt  gleich  einem  Alp  drückt.  Aus  dieser 
verhängnisvollen  Ich^Illusion  und  Selbst-Täuschung  entspriesst 
ja  alle  Begierde,  aller  Mass,  aller  Irrtum,  alles  Leiden,  und  noch 
in  der  Todesstunde  quält  sich  der  arme  gehetzte  Erdensohn 
ab  in  den  bangen  Gedanken:  „Wird  dieses  mein  teures  Ich 
weiterleben?    Wenn  ja,  wird  es  dann  die  ewigen  Qualen  hölli- 

4* 


52  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

scher  Verdammnis  erdulden  müssen?  Wenn  nein,  acli,  dann 
ist  ja  für  immer  dahin,  was  mir  auf  dieser  Erde  das  Liebste 
war,  —  mein  Ich!"  Aber  der  Buddha  spricht:  „Mein  Freund, 
wenn  du  die  Ruhe  und  den  Frieden  wahrer  Weisheit  erringen 
willst,  dann  gib  bei  Zeiten  diese  grösste  aller  Täuschungen 
auf,  diesen  Selbst-Gedanken,  diese  schwerste  der  Fesseln;  das 
von  dir  Aufgegebene  wird  dir  zum  Wohle,  zum  Heile,  zur 
Glückseligkeit  gereichen." 

Anicca!  Anattä!  Nicht-dauernd,  Nicht-Selbst!  Das  sind 
die  beiden  ersten  grundlegenden  Eigenschaften  des  Menschen, 
der  Welt  und  aller  Dinge.  — 

Wir  gehen  weiter,  indem  wir  die  Frage  stellen:  „Welche 
Folgerung  ergibt  sich  aus  derVergänglichkeits-  und  Nicht-Selbst- 
Idee  für  mich  als  empfindendes,  fühlendes,  denkendes  Wesen?" 
Die  Anwort  liegt  auf  der  Hand.  Wo  nichts  von  Dauer,  nichts 
von  Bestand  ist,  wo  Vergänglichkeit,  Wesenlosigkeit  und  Wechsel 
herrschen,  da  gibt  es  keine  wahre  Ruhe,  keinen  wahren  Frieden, 
keine  wahre  Glückseligkeit.  Mit  anderen  Worten:  Alles  Dasein, 
alles  Leben  ist  seiner  wahren  Natur  nach  keineswegs  Glück, 
Wonne,  sondern  ein  Leiden  (Dukkha).  Jedes  Ding  ist  schon 
durch  sein  Entstehen  dem  Verfall  preisgegeben,  und  ein  jedes 
Geschöpf  schon  durch  die  Geburt  mit  dem  Mal  des  Todes 
gezeichnet:  „Alles,  was  entsteht,  ist  wert,  dass  es  zu  Grunde 
geht."  Das  ist  die  wohlbekannte,  oft  so  verschrieene  und  ver- 
ketzerte buddhistische  Lehre  vom  Leiden,  genannt  die  erste  er- 
habene Wahrheit  (Dukkha);  dieselbe  ergibt  sich  folgerichtig  aus 
Anicca  und  Anattä. 

Mit  aller  Schärfe  muss  hier  folgendes  betont  werden : 
Dieser  vom  Buddha  aufgestellte  Satz  »alles  Dasein  ist  Leiden« 
ist  keineswegs  das  Erzeugnis  einer  weltschmerzlichen,  sentimen- 
talen Gemütsstimmung  oder  der  Ausdruck  eines  verzweifelnden, 
verbitterten  Pessimismus,  sondern  vielmehr  eine  durch  nüch- 
terne Schlussfolgerung  und  objektiv-kühle  Beobach- 
tung erkannte  und  durch  die  Erfahrung  bestätigte 
Tatsache  und  Wahrheit.  Das  vom  Buddhismus  gepredigte 
Daseins-Leiden  ist  also  in  erster  Linie  Sache  der  Erkenntnis,  und 
dass  die  letztere  sich  wirklich  als  eine  Folgerung  aus  dem  Vergäng- 


r 


No.  I  11.  2.  DER  BUDDHIST.  SS 

lichkeits-Gedanken  ableitet,  erhellt  zur  Genüge  aus  jenem  be- 
rühmten alten  Wort  im  Majjhima  Nikäya: 

„Sieh'  hin,  o  Weiser,  auf  dieses  Sein: 
Entstehn-Vergehen  ist  seine  Pein." 

Das  Weh  der  Geburt  und  das  Röcheln  des  Sterbens  sind 
die  beiden  das  Leben  begrenzenden  Repräsentanten  des  grossen 
Leidens,  und  die  dazwischen  liegenden  Stationen  sind  Krank- 
heit, Verfall,  Kummer,  unerfüllte  Wünsche,  verwelkte  Hoffnungen, 
Verein  mit  Widerwärtigem,  Trennung  von  Angenehmem. 

„Das  ist  ja  der  krasseste  Pessimismus!"  wird  hier  mancher 
Leser  entsetzt  ausrufen.  Gemach,  mein  Freund,  wir  sind  noch 
nicht  am  Ende  unserer  Betrachtungen  angelangt.  Das  scheinbar 
unheilvolle  Dreigestirn  Anicca-Anattä-Dukkha  wird  bei  näherer 
Betrachtung  eine  glückverheissende  Konstellation.  Die  Vergäng- 
lichkeits-Idee mit  ihren  beiden  Folgerungen  ist  nur  das  Funda- 
ment, auf  dem  die  Religion  des  Buddha  sich  erhebt;  sie  bildet 
nur  den  Untergrund  für  die  Ethik  einerseits  und  den  Erlö- 
sungs-Gedanken andererseits. 

Wer  den  Satz  »alles  Dasein  ist  Leiden«  in  sein  Inneres 
aufgenommen  und  die  Wahrheit  vom  Nicht-Selbst  fest  ergriffen 
hat,  indem  entsteht  Sympathie  und  Mitleid  mit  allen  Wesen. 
Die  Schranke  des  »Ich«,  welche  sich  bis  dahin  trennend 
zwischen  dem  Menschen  und  der  übrigen  Welt  erhob,  ist  ge- 
fallen; der  Mensch  erkennt  jetzt  das  »Ego«,  das  ihn  als  ein 
gesondertes  Wesen  gleichsam  aus  dem  Universum  heraushob, 
als  illusorisch;  im  Spiegel  der  Anattä-Lehre  schaut  er  nunmehr 
nichts  anderes,  als  ein  universelles  Weben  und  Wogen,  in  wel- 
chem unzählige  Gestalten  auftauchen  und  verschwinden,  ein  un- 
ermessliches  Meer,  in  dem  Woge  sich  an  Woge  reiht.  Er 
selbst  ist  eine  dieser  Wellen;  wo  fing  sie  an,  wo  hört  sie  auf? 
Diese  kleine  Welle  ist  nicht  abgesondert  von  der  übrigen  Flut, 
von  den  anderen  Wogen;  sie  waHt  dahin  mit  ihren  Schwestern 
im  Weltentanz.  Und  in  demselben  Masse,  wie  die  Erkenntnis 
von  Anicca-Anattä-Dukkha  zunimmt,  wächst  die  Einsicht,  dass 
alle  Wesen  Gefährten,  Leidensgenossen,  dasselbe  Geschick 
tragende  Formen  sind,  in  denen  das  eine  ewige  Leben  pulsiert. 
Alle  die  lieben  Wesen,  gute  und  böse,  sie  kommen  und  gehen 


54  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

in  diesem  Weltstrome,  wie  ich;  sie  sind  dem  Wechsel  unter- 
worfen, wie  ich;  sie  leiden,  wie  ich.  Auf  Grund  dieser  Er- 
kenntnis kann  ich  keinem  Hass,  keinem  Groll,  keiner  Missgunst 
gegen  irgend  eine  Kreatur  Raum  geben.  Hier  gibt  es  kein 
innerliches  Getrenntsein  mehr,  sondern  nur  ein  Solidaritäts- 
Bewusstsein;  kein  Hassen,  sondern  nur  tiefe  Sympathie;  kein 
Übelwollen,  sondern  nur  herzliches  Erbarmen  und  reines,  selbst- 
loses Mitleid.  Aus  dieser  Einsicht  in  die  gleiche  Natur  aller 
Geschöpfe  heraus  konnte  das  alte  Wort  im  Sutta  Nipäta  ge- 
sprochen werden: 

„Wie  ich  bin,  so  sind  diese  Wesen, 
Wie  diese,  so  bin  ich. 
Sich  selbst  in  anderen  erkennend 
Töte  man  nicht  noch  veranlasse  Qual." 

Die  buddhistische  Ethik  gründet  sich  also  auf  Sympathie 
und  Mitleid,  und  diese  wiederum  ergeben  sich  mit  Notwendig- 
keit aus  dem  Ergreifen  der  Vergänglichkeits-Idee  und  ihren 
beiden  Folgerungen  Nicht-Selbst  und  Leiden;  diese  Ethik  ist 
in  ihrem  Wesen  autonom,  nicht  heteronom;  sie  ist  selbstlos, 
universell,  nicht  egoistisch  und  individuell.  Sie  gliedert  sich 
dreifach  und  achtfach.  Das  erste  Erfordernis  ist  Weisheit; 
dieselbe  resultiert  1.  aus  der  rechten  Einsicht  in  die  wahre 
Natur  des  Menschen,  der  Welt  und  aller  Dinge,  2.  aus  der 
durch  diese  Einsicht  erzeugten  rechten  Gesinnung  der  Sym- 
pathie und  des  Mitleids.  Als  zweites  Glied  reiht  sich  daran 
die  Tugendpflege;  dieselbe  zielt  darauf  ab,  alles  das  zu 
unterlassen,  was  für  irgend  ein  Geschöpf  Leid  bedeutet  und 
alles  das  zu  tun,  was  lebenden  Wesen  zum  Wohle  und  Heile 
gereicht.  Aus  der  rechten  Gesinnung  wächst  3.  rechte  Rede- 
weise, 4.  rechtes  Handeln,  5.  rechte  Lebensführung. 
Endlich  drittens  wird  die  Gemütsvertiefung  auf  dem  Wege 
der  Meditation  nicht  zu  vernachlässigen  sein;  dadurch  wird 
das  Innere  Schritt  für  Schritt  von  den  Schlacken  der  Unrein- 
heit geläutert,  Vorurteile  fallen  und  die  Einsicht  wächst.  Zur 
Meditation  gehört  6.  rechte  Anstrengung,  7.  rechte  Be- 
trachtung, 8.  rechte  Vertiefung.  — 

Auf  der  andern  Seite  wird  aus  der  Erkenntnis  von  Anicca- 


No.  1  U.2.  DER  BUDDHiSt.  55 

Anattä-Dukkha  der  Erlösungs-Gedanke  geboren.  Der  Bud- 
dha hat  den  letzteren  einmal  als  den  Kardinalpunkt  seiner 
Religion  bezeichnet:  „Gleichwie,  ihr  Jinger,  das  weite  Welt- 
meer überall  nur  von  einem  Geschmacko  durchdrungen  ist, 
dem  Geschmacke  des  Salzes,  so  ist  auch  diese  meine  Lehre 
an  jeder  Stelle  nur  von  einem  Geschmacke  durchsetzt,  dem 
Geschmacke  der  Erlösung."  Der  Meister  betrachtet  die 
Anicca-Anattä-Dukkha-Idee  nur  als  ein  Mittel,  um  die  Erlösungs- 
sehnsucht zu  wecken;  deshalb  kann,  ja  muss  er  fortfahren, 
nachdem  er  auf  die  Vergänglichkeit  verwiesen:  „Arbeitet  an 
eurer  Erlösung  ohne  Unterlass!"  Und  in  der  Tat:  Wer  den 
Satz  »alles  Dasein  ist  Leiden«  in  seinem  Innern  erfasst 
hat,  in  dem  regt  sich  der  eine  heisse  Wunsch,  die  eine  grosse 
Sehnsucht:  Erlösung  vom  Leiden! 

Erlösung  vom  Leiden!  Hier  erweist  sich  der  Buddhismus 
als  eminent  praktisch.  Sein  nächstes  Ziel  ist  darauf  gerichtet, 
schon  in  diesem  Leben  die  Möglichkeit  der  Erlösung  zu 
schaffen;  die  Frage:  quidnam  post  mortem?  ist  von  unterge- 
ordneter Bedeutung.  Es  handelt  sich  also  in  erster  Linie  da- 
rum, in  diesem  Leben  hier  Ruhe  zu  finden  im  Getriebe  der 
Welt,  schon  in  diesem  Leben  unterzutauchen  in  die  stille, 
kühlende  Flut  des  inneren  Friedens,  schon  in  diesem  Leben 
einen  Gemütszustand  zu  erreichen,  an  dem  Leiden  und  Leiden- 
schaften, Unruhe  und  Hader,  Hast  und  Ungewissheit  zerschellen 
wie  die  Brandung  am  wetterfesten  Felsgestein.  Der  Buddha  gibt 
uns  die  Versicherung,  dass  ein  solcher  Zustand  restloser  Er- 
lösung schon  in  diesem  Leben  erreichbar  sei;  sein  Name  ist 
allbekannt:  Nibbäna  (Nirväna). 

Man  hat  dieses  Erlösungsbedürfnis  im  Sinne  des  Buddhis- 
mus oft  inferior  genannt  im  Vergleich  zu  der  christlichen  Er- 
lösungs-Idee, man  hat  pathetisch  gesagt:  „Ein  kummerbeladenes 
Herz,  das  darnach  ringt,  von  der  Sünde  loszukommen,  ist  un- 
endlich viel  mehr  wert,  als  ein  Gemüt,  das  dem  Leiden  zu 
entgehen  sucht."  Das  stimmt  nicht;  insofern  nämlich,  als  der 
ideale  leidfreie  Zustand  des  Buddhismus,  das  Nibbäna,  zugleich 
Leidenschaftslosigkeit,  Sündlosigkeit  in  sich  schliesst,  woraus 
hervorgeht,  dass  der  buddhistische  Erlösungsgedanke  tatsächlich 
viel  umfassender  ist,  als  der  christliche.    Er  ist  aber  nicht  nur 


56  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

viel  umfassender,  sondern  viel  natürliclier,  viel  ursprünglicher, 
viel  universeller,  viel  primärer.  Die  Erlösungs-Sehnsucht  im 
Sinne  des  Buddhismus  geht  wie  ein  universeller  Wehruf  durch 
die  gesamte  empfindende  Welt;  bewusst  tritt  sie  auf  und 
nimmt  feste  Form  an  im  Menschen;  instinktiv  aber  durchbebt 
sie  auch  die  stumme,  traumbewusste  Kreatur,  „die  sich  sehnet 
mit  uns,  und  ängstet  noch  immerdar"  (Römer  VllI,  22).  Die 
allgemeine,  universelle,  nicht  niederzukämpfende  Erlösungssehn- 
sucht richtet  sich  in  erster  Linie  zweifellos  auf  das:  Los  von 
der  Vergänglichkeit,  los  vom  Leiden!  und  nicht  auf  das:  Los 
von  der  Stinde!  Warum  sträubt  sich  dem  Tiere  vor  Grauen 
und  Entsetzen  das  Haar,  wenn  es  einen  toten  oder  kranken 
Leidensgefährten  erblickt?  Warum  erstirbt  selbst  in  dem  aus- 
gelassensten Taumel  der  Freude  auch  das  leiseste  Lächeln,  so- 
bald des  Todes  Majestät  an  die  Pforte  klopft?  Warum  das 
plötzliche  ängstliche  Betretensein  und  der  ernste  Blick,  wenn 
mitten  im  bunten  Getriebe  der  Grossstadt  die  Klänge  eines 
Trauermarsches  hörbar  werden  oder  der  Krankenwagen  ge- 
räuschlos die  Strassen  durcheilt?  —  Weil  die  Wesen  den  Ver- 
gänglichkeits-  und  Leidens-Gedanken  nicht  klar  ins  Auge  zu 
fassen  wagen,  weil  sie  dieser  Tatsache  auszuweichen  suchen 
und  sich  in  dem  momentanen  trügerischen  Glücke  sonnen, 
gleich  als  müsste  es  ewig  währen,  —  gerade  deshalb  das  Ent- 
setzen, wenn  ihnen  ganz  plötzlich  und  unerwartet  die  Vergäng- 
lichkeits-  und  Leidens-Wahrheit  sichtbar  wird,  wie  der  zuckende, 
grelle  Wetterstrahl  in  dunkler  Nacht. 

Der  Buddha  kennt  ein  Heilmittel  gegen  das  grosse  Siech- 
tum der  seufzenden  Kreatur,  und  die  Genesung  ist  Nibbäna, 
der  in  diesem  Leben  erreichbare  leidfreie,  leidenschaftslose, 
sündenbefreite,  friedvolle  Zustand  des  Heiligen.  Wie  wird 
Nibbäna  erreicht? 

Mit  der  heiteren,  abgeklärten  Ruhe  des  Weisen  blickt  der 
Leidüberwinder  in  diese  Leidenswelt.  Alles  im  Universum  hat 
seinen  zureichenden  Grund,  also  auch  das  Leiden  des  Lebens. 
Wie,  wenn  ich  die  Ursache  des  Leidens  fände?  Wie,  wenn 
ich  diese  Ursache  aufhöbe,  vernichtete,  ausrodete?  Dann  wäre 
auch  dem  Leiden  ein  Ende  bereitet. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  57 

Als  die  nächste  Ursache  des  Leidens  nennt  der  Buddhis- 
mus die  Tanhä,  ein  Begriff,  der  in  seinem  ganzen  Umfange 
im  Deutschen  kaum  durch  ein  Wort  widergegeben  werden 
i<ann.  Tanhä  ist  der  Durst  nach  Dasein,  das  Verlangen  nach 
individueller  Glückseligkeit,  das  Begehren  nach  Lust;  da  sein 
wollen,  gieren,  für  sich  haben  wollen.  Genüge  haben  wollen,  die 
Leidenschaften  des  Selbst  befriedigen  wollen.  Diese  Gier  entfacht 
die  wilde  Jagd  nach  Glück,  das  ruhelose  Hasten  und  Treiben,  um 
Reichtum,  Ansehen,  Macht  zu  erlangen;  sie  bewirkt  das  Nieder- 
treten und  Schädigen  anderer,  das  Verlangen  nach  mehr,  Hab- 
sucht, Geiz,  Missgunst,  Schamlosigkeit,  Eifersucht,  Streit,  Zorn, 
Rachsucht,  Unzufriedenheit,  Wut:  Siehe  da,  die  Fülle  des  Leidens! 
Mit  unermüdlichem  Eifer  schärft  der  Buddha  seinen  Jüngern 
als  Quintessenz  aller  Lebensweisheit  ein,  von  dieser  verhäng- 
nisvollen Tanhä,  der  leiderzeugenden  Gier,  abzulassen.  Wer 
nicht  begehrt,  wer  bedürfnislos,  wunschfrei  ist,  dem  drohen 
keine  Enttäuschungen,  der  lebt  glücklich  in  dieser  Welt,  unbe- 
rührt von  dem  wilden  Getriebe  des  Daseins,  ohne  Missgunst, 
ohne  Zorn,  ohne  Sorge,  ohne  Gram,  ohne  Schädigung  anderer. 
Nibbäna  bedeutet  wörtlich  Verlöschen;  das  bezieht  sich  auf 
das  Verlöschen  der  Tanhä,  jener  Gier,  welche  heiss  lodernd 
die  Menschheit  nimmer  zur  Ruhe  kommen  lässt,  bei  dem 
Weisen  dagegen  wie  die  Flamme  auf  einer  öllosen  Lampe  er- 
lischt. Das  ist  der  gesegnete  Zustand,  Nibbäna  genannt:  ein 
ruhiges,  leidfreies,  gicrloses,  hassentwundenes,  reines,  untadel- 
haftes,  heiteres  Gemüt  voller  Frieden: 

„0  wie  so  glücklich  leben  wir 

Hasslos  unter  Gehässigen! 

In  dieser  hasserfüllten  Welt 

Verweilen  hasserlöset  wir. 

„O  wie  so  glücklich  leben  wir 

Heil  unter  den  Unheilbaren! 

In  dieser  heilverlornen  Welt 

Verweilen  heilgesundet  wir. 
„O  wie  so  glücklich  leben  wir 

Gierlos  unter  den  Gierigen ! 

In  dieser  gierverzehrten  Welt 

Verweilen  giergesundet  wir. 


58  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

„Wutlos  in  dieser  Wütensweit  — 
Wehrlos  in  dieser  Waffenwelt  — 
Wunschlos  in  dieser  Wunscheswelt: 
Den  heiss'  ich  einen  Heiligen".  ^) 

Es  erhebt  sich  nunmehr  die  Frage:  Weiches  ist  die  Ursache 
der  Tanhä?  Wodurch  kann  ich  diese  Gier  überwinden?  Der 
Buddha  weist  wiederum  auf  den  Vergänglichkeits-Gedanken 
hin  und  spricht:  „Das  Nicht-Wissen  (Avijjä)  von  jenen  drei 
Eigenschaften  der  Welt  ist  die  letzte  Ursache  der  Tanhä.''  In 
der  Laiita  Vistarä  heisst  es: 

, Betrachtung  über  .Anicca  —  ein  lichtes  Tor  der 
Wahrheit  —  führt  zum  Überwinden  der  Gier  nach  Lust,  Gestalte- 
tem oder  Nicht-Gestaltctem.  Betrachtung  über  Dukkha  — 
ein  lichtes  Tor  der  Wahrheit  —  führt  zu  gänzlicher  Aufhebung 
des  Verlangens.  Betrachtung  über  Anattä  —  ein  lichtes 
Tor  der  Wahrheit  —  führt  zur  Nichthingabe  an  das  eigene 
Selbst."  Mit  anderen  Worten:  Durch  die  Erkenntnis  der  Ver- 
gänglichkeits-Wahrheit erlischt  das  Gieren  nach  Dingen,  deren 
kurze  Dauer  man  sich  vor  Augen  stellt.  Durch  die  Einsicht 
in  den  Nicht-Selbst-Gedanken  schwindet  das  Verlangen,  das 
Selbst,  welches  man  als  Illusion  erkennt,  durch  Lust  sättigen 
zu  wollen  und  an  dieser  Täuschung  zu  haften.  Endlich  das 
Ergreifen  des  Satzes  vom  Leiden  tilgt  das  Verlangen  nach 
dauernder  individueller  Glückseligkeit  mit  ihren  Folgeer- 
scheinungen, da  man  zu  der  Einsicht  gekommen  ist,  dass  eine 
solche  schlechterdings  niemals  erlangt  werden  kann.  So  erkennt 
der  Weise  wohl  die  Vergänglichkeit;  aber  dieselbe  berührt  ihn 
nicht,  da  er  weiss,  dass  das  Selbst,  vor  dessen  Vernichtung 
im  Tode  der  Tor  zittert,  eine  Illusion  ist;  er  erkennt  wohl  das 
Leiden,  aber  es  ist  nicht  mehr  sein  Leiden;  er  erkennt  die 
Wahrheit  vom  Nicht-Selbst,  und  sein  scheinbares  Ich  analy- 
sierend kommt  er  zu  der  seligen  Gewissheit,  dass  in  demselben 
Masse,  wie  das  Haften  am  Selbst  schwindet,  das  Leiden,  unter 
dem  dieses  vorgetäuschte  Ich  solange  seufzte,  mehr  und  mehr 
abgleitet. 


')  Dhammapada,  K.  E.  Nciimanns  Übersetzung. 


i 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  59 

Wie  wunderbar  doch  ist  diese  Religion  des  Wissens!  Das 
scheinbar  unheilvolle  Anicca-Dukkha-Anattä  wird  dem  Betrach- 
tenden der  grössle  Segen,  und  aus  der  Vergänglichkeit  erblüht 
die  Blume  des  seligen  Friedens.  Aus  der  Auflösung  dieser 
dreifachen  Idee  entspringt  hier  der  Zweiklang  Sympathie  — 
Mitleid  als  Basis  für  die  Ethik;  dort  das  Erlösungs-Bedürfnis 
mit  der  Überwindung  der  Gier  und  Unwissenheit.  Beide  Fak- 
toren nun:  Ethik  und  Erlösung  stehen  in  steter  Wechselbeziehung; 
beide  sind  aufeinander  angewiesen,  und  aus  ihrer  innigen  Um- 
armung wird  Nibbäna  geboren,  das  Ziel  des  Buddhismus,  der 
Zustand  des  Erlösten  noch  in  diesem  Leben.  — 

Wir  wären  eigentlich  am  Ende  unserer  Betrachtungen 
angelangt.  Aber  der  eine  oder  der  andere  Leser  wird  zaghaft 
fragen:  Ja,  der  Buddhismus  führt  wohl  zu  einem  Zustande  des 
Friedens  hier  auf  Erden;  aber  was  wird  nun  aus  dem  Erlösten 
nach  seinem  Ableben?  Existiert  er  weiter?  Wird  er  vernichtet? 
Der  Buddha  ist  der  Beantwortung  dieser  Frage  absichtlich  aus- 
gewichen. Und  das  mit  Recht.  Seine  Religion  ist  in  erster 
Linie  praktisch;  was  nützt  es  dir,  du  Tor,  das  grössere  von 
zwei  Rätseln  lösen  zu  wollen,  wenn  du  das  kleinere  noch  nicht 
einmal  lösen  kannst?  Siehe  zu,  dass  du  bald  in  diesem  Leben 
an  das  ersehnte  Ziel  gelangst;  was  dann  wird,  lass  jetzt  deine 
Sorge  nicht  sein. 

Es  wird  uns  indessen  gestattet  sein,  diese  dunkle  Frage 
hier  wenigstens  zu  streifen.  Wenn  der  Buddhismus,  soweit 
er  die  praktischen  Fragen  dieses  Lebens  behandelt,  einem 
kunstvollen  Gemälde  gleicht,  auf  dem  die  Gestalten  sich  lebens- 
wahr, plastisch  abheben  und  harmonisch  zu  einem  Ganzen 
zusammenschliessen,  so  ist  der  jenseits  des  Todes  liegende 
Zustand  des  Erlösten  wie  der  dunkle,  neblige  Hintergrund 
dieses  Gemäldes.  Bei  scharfem  Hinblicken  scheint  es  mit- 
unter, als  tauchten  aus  diesem  Nebel  die  Umrisse  von  einem 
Etwas  auf  —  nur  für  einen  Augenblick  —  undeutlich,  viel- 
leicht Täuschung,  vielleicht  nicht,  dann  wieder  das  alte,  dunkle 
Ungewisse.  Der  Buddha  hat  diesen  Schleier  niemals  klar 
gelüftet;  er  hat  wohl  daran  getan;  denn  wie  könnte  das  Un- 
endliche von  der  beschränkten  Form  begriffen  werden?!  Nur 


60  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

eins  hat   uns  der  Meister  mit   Bestimmtheit  versichert,  dass 
dieses  jenseitige  Nibbäna  nicht  absolute  Vernichtung  ist. 

Um  mich  verständlich  zu  machen,  möge  mir  der  Leser 
gestatten,  dieses  grosse  Problem  von  einer  anderen  Seite  zu 
beleuchten.  Der  buddhistische  Künstler  schaut  die  Welt  als 
ewiges  Werden;  dieses  ewige  Werden  steht  im  Zeichen  der 
Kausalität,  ist  selbst  Kausalität;  die  letztere  ist  der  Ausdruck 
des  immanenten  Weltgesetzes.  So  sind  alle  Formen,  die  im 
universalen  Lebensstrome  auftauchen,  kausal  bedingt;  sie 
gehen  auf  früheres  zurück  und  sind  wiederum  die  Ursache 
für  spätere  Erscheinungen.  Im  Lichte  der  Anattä-Lehre  zer- 
fliesst  die  Illusion  des  Ich  und  mit  ihr  der  Gedanke  eines 
getrennten  Seelenwesens,  welches  von  Geburt  zu  Tod  und 
von  Sterben  zum  Wiedergeboren-werden  „wandert".  Lebens- 
form reiht  sich  an  Lebensform  wie  ein  Kettenglied  an  das 
andere;  sie  sind  mit  einander  kausal  verknüpft,  ohne  dass 
ein  bleibendes  Ego  die  verbindende  Brücke  schlüge.  Als  die 
Ursache  dieser  zahllosen  Lebensprozesse  ist  wiederum  Tanhü 
zu  betrachten,  der  universelle  Lebenswille.  „Es  besteht  die 
Möglichkeit,  ja  man  darf  wohl  sagen  Wahrscheinlichkeit,  dass 
jeder  individuelle  Lebensprozess  in  dem  universalen  Lebens- 
willen einen  gewissen  Totaleindruck  zurücklasse,  der  auf  die 
Richtung  oder  den  Charakter  eines  neuen  Aktes  der  Indivi- 
duation  bestimmend  einwirke".*)  Diese  Vorstellung  gibt  den 
Buddhisten  das  Recht  von  einer  Wiedergeburt,  von  einer 
Neu-Individuation  zu  sprechen,  während  sie  den  Glauben 
an  eine  Wiederverkörperung  —  welche  doch  ein  konstan- 
tes Etwas,  das  sich  wiederverkörpert,  voraussetzt,  —  ablehnen 
müssen.  Tanhä  also  erzeugt  Individuen,  Dasein,  Täuschung, 
Leiden;  durch  die  Vernichtung  der  Tanhä  wird  folglich  eine 
neue  Individuation,  neues  Dasein,  neue  Täuschung,  neues 
Leiden  beseitigt;  eine  neue  Geburt  und  neues  Sterben  tritt 
nicht  wieder  ein.  Was  nun?  Was  wird  nun  aus  dem  Erlösten, 
wenn  er  ausschaltet  aus  dem  ewigen  Strom,  wenn  er  versinkt  in 
die  Flut  tiefer  Ruhe?  Nibbäna!  Verlöschen!  Verlöschen  des  indi- 
viduellen Daseins?  Wie  furchtbar!  Warum  denn?  Doch  nur  des- 


')  Th.  Schultze:  Die  Religion  der  Zukunft.    3.  Aufl.,  II.  Teil  S.  161. 


No.  1  u.  2.  DER  BUDDHIST.  61 

halb  furchtbar,  weil  du  an  jeden  Begriff  des  Seins  notwendig  den 
Begriff  des  individuellen  Daseins  als  Massstab  anlegst.  Törichtes 
Menschenherz!  Willst  du  dich  wirklich  zu  der  kühnen  Be- 
hauptung versteigen,  dass  es  nicht  jenseits  alles  Daseins, 
himmlischen  sowohl  wie  irdischen,  noch  ein  etwas  anderes, 
für  dich  ganz  unbegreifbares,  mit  Worten  nicht  zu  beschrei- 
bendes grosses  Unbekanntes  geben  könnte?! 

Still  lächelnd  blickt  der  Buddha  in  diese  Leidenswelt  und 
spricht:  „Es  gibt,  ihr  Brüder,  eine  Stätte,  wo  weder  Erde  noch 
Wasser,  weder  Feuer  noch  Luft  vorhanden  ist;  es  ist  dort 
weder  der  unermessliche  Äther,  noch  die  Unbegrenztheit  der 
Gedanken,  weder  der  weite  Raum,  noch  das  gleichzeitige 
Vorhandensein  von  Erkenntnis  und  Nicht-Erkenntnis;  weder 
diese  Welt  noch  eine  andere  Welt,  weder  Sonne  noch  Mond. 
Dieses,  ihr  Brüder,  erkläre  ich  euch  als  weder  ein  Werden, 
noch  ein  Vergehen,  weder  Leben  noch  Sterben,  noch  Wieder- 
geboren-werden,  unräumlich,  unveränderlich,  ursachlos.  Das 
ist  das  Ende  des  Leidens.  Es  gibt,  ihr  Brüder,  ein  Unge- 
borenes, Unentstandenes,  nicht  Gewordenes,  nicht  Gestaltetes. 
Gäbe  es  dies  nicht,  so  würde  auch  kein  Entrinnen  möglich 
sein  aus  der  Welt  des  Gewordenen,  Entstandenen,  Gestalteten". ') 

Freund,  beginnt  es  dir  nun  allmählich  aufzuleuchten? 
Diese  Welt  des  Werdens  ist  Anicca-Dukkha-Anattä,  d.  h.  Ver- 
gänglichkeit, Leiden,  Nicht-Selbst.  So  ist  also  jene  Stätte, 
von  welcher  der  Meister  hier  spricht,  von  dieser  Welt  grund- 
verschieden, von  ihr  durch  eine  unendliche  Kluft  getrennt, 
ihr  gerades  Gegenteil,  nämlich:  Nicca-Adukkha-Attä,  d.  h. 
Dauer,  Nicht-Leid,  Selbst.  In  dieser  Welt  der  Vergänglichkeit 
ist  nirgends  ein  bleibendes  »Selbst«  zu  finden;  daher  ruft 
der  Meister  seinen  Jüngern  zu:  Der  Körper,  die  Empfindung, 
das  Gefühl,  das  Begehren  ist  nicht  euer  Selbst,  gehört  euch 
nicht  an.  Was  euch  nicht  angehört,  das  gebt  auf;  das  von 
euch  Aufgegebene  wird  euch  zum  Heile,  zur  Glückseligkeit 
gereichen ! 

Buddha  bedeutet  der  Erwachte.  Das  Leben  ist  ein  Traum; 
die  Wesen  träumen   von    einem  Selbst;    sie   klammern    sich 

■)  Udäna.  ' 


I 


62  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

an  dieses  Selbs,  sie  zittern  vor  seiner  Vernichtung.  Erwachet! 
Erwachet!  ruft  der  Meister;  versucht  vom  Traume  loszukoinnien, 
diesen  schweren  Alp  des  Leidens  abzuwälzen!  Das  Selbst  in 
eurem  Traum  ist  eine  Täuschung;  in  der  Welt  des  Wechsels 
gibt  es  keine  bleibende  Stätte. 

Vor  dem  Auge  des  Buddha  versinkt  diese  Leidens-Welt 
der  Vergänglichkeit  als  ein  Schein;  er  schaut  das  Unsag- 
bare, Unbegreifliche,  und  aus  diesem  Schauen  heraus  strahlt 
„jene  tiefe  Ruhe,  unerschütterliche  Zuversicht  und  Heiterkeit, 
deren  blosser  Abglanz  im  Antlitz  ein  ganzes  und  sicheres 
Evangelium  ist." 

Das  ist  die  letzte  Perspektive,  die  uns  der  Buddhismus 
eröffnet;  das  ist  der  ewige  Friede,  der  jenseits  alles  Lebens 
liegt.  Jenseits  alles  Lebens?  Ja,  jenseits  alles  dessen,  was  du 
Leben  nennst,  aber  auch  jenseits  alles  Sterbens.  Jetzt  verstehen 
wir,  was  der  Buddha  meint,  wenn  er  triumphierend  verkündet: 
„Tuet  auf  euer  Ohr,  die  Unsterblichkeit  ist  gefunden!"  Un- 
sterblichkeit freilich  in  einem  ganz  anderen,  weiteren  Sinne 
als  ein  ewiges  Leben  in  einer  Himmelswelt. 

Es  ist  Vermessenheit,  ergründen  zu  wollen,  was  dieses 
letzte  Ziel,  dieses  Un,;^-eborene,  Nicht-Entstandene,  Nicht-Ge- 
staltete  ist.  Unser  Verstand  begreift  nur  die  Welt  der  Form. 
Für  den  „Entschwundenen"  aber  gibt  es  keine  Form  mehr, 
und  wo  alle  Formen  abgeschnitten  sind,  da  sind  auch  alle 
Fragen  und  Antworten  abgeschnitten.  Einst  wird  auch  für 
uns  der  schwere,  letzte  Traum  ausgeträumt  sein,  und  dann 
kommt  das  grosse  Erwachen.  —  — 

Mag  das  letzte  Unnennbare  sein,  was  es  will;  eins  können 
wir  sagen:  es  ist  nicht  Unruhe,  sondern  Friede.  Friede  im 
Gegensatz  zu  dem  Wirbel  der  Welt,  dem  Leiden  des  Daseins, 
der  Unruhe  der  Seele.  Ruhe  und  Friede  aber  ist  die  einzige 
Sehnsucht  für  den,  der  den  Wechsel  der  Welt  erkannt  hat. 
So  wird  die  Vergänglichkeits-Lehre  zu  einem  Evangelium  der 
Freiheit,  ja  der  stolzesten,  höchsten  Freiheit,  die  jemals  auf 
unserem  Planeten  verkündet  wurde,  zu  einer  frohen  Botschaft 
des  Friedens.  Sie  öffnet  unser  Auge,  sie  vertreibt  die  be- 
ängstigenden Schatten  der  Irrtums-Nacht,  sie  führt  in  unserem 
Gemüt  das  Frührot  des  geistigen  Erwachens  herauf  und  lässt 


No.  lu.  2,  DER  BUDDHIST.  63 

in  uns  eine  leise,  immer  lichter  werdende  Ahnung  aufdämmern 
von   jener  stillen,   tiefen   Ruhe,    von   jenem    grossen,   seligen 
Frieden,  der  jenseits  des  schweren  Weltentraumes  liegt. 
„Wie  kurz  ist  aller  Erdendinge  Sein! 
Sie  müssen  wachsen  und  darauf  vergehen, 
Sie  kommen  und  sie  schwinden  wieder  hin, 
Im  Frieden  nur  winkt  wahre  Seligkeit."  — 

^  Lieder  des  Lebens.'^  ^ 

Von  Wolfgang  Bohn. 

Ende  einer  Leidenschaft. 

Es  wallte,  als  wir  auf  erhitzten  Sotilcn 

In  lieisser  Sommernacht  empor  geklettert, 

Im  Krater  rote  Gischt,  nun  ausgewettert 
Die  Flamme  in  dem  tiefen  Schacht  der  Kohlen ; 
Die  Stickluft  drückt,  kaum  dass  wir  Atem  holen. 

Die  dürren  Sträucher  hat  der  Wind  zcrschicttcrl, 
In  Lüften  krächzt  ein  Schwärm  heimloser  Dohlen. 

Am  Horizonte  steigt  die  frühe  Sonne 
Ein  Qlutball,  drohend,  dunkclviolett 
Empor  aus  düstrer  Wolken  nächtigem  Bett, 

Nicht  Morgenkühlung  grüssct  uns  mit  Wonne. 

Bald  aber  reckt  sich  aus  ein  lichter  Arm, 
Aus  Finsternis  wird  heller  Glanz  geboren. 

Es  stiebt  der  schwarze,  violette  Schwärm. 
Ein  weiches  Wehen  raunt  in  unsre  Ohren, 

Das  Flüstern  schwillt  zum  brausenden  Alarm.  — 

Dein  Bild,  Siddhattha-),  hab'  ich  oft  betrachtet. 

Das  über  sturmgepeitschter  Lebensflut 

Im  heiligen  Lotuskelche  leuchtend  ruht. 
Dich  fand  ich,  wenn  das  Leid  mich  ganz  umnaclitet, 
Im  Wirbel  heisser  Lust,  im  Herzenskratcr 

Tobt'  gestern  noch  das  letzte  IJngewittcr, 

Verbrennt  der  Eitelkeit  Theaterflitter  — 
Du  aber  sänftigst,  gütig  v/ie  ein  Vater, 

Und  mächtig,  wie  ein  stolzer  Sonnenrittcr, 

Die  Flut,  Herr  über  Meer  und  Ungewilter. 

')    Aus:     Samsar.i,  eines  deutschen  Buddhisten  Lieder  des   Lebens.     (Er- 
scheint im   Herbst  1905.)  , 
-)  Siddhartha  Gautama  Sakyamuni,  der  Buddha. 


64  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Buddha. 

O  sehnsuchtsvoll  schau  ich  zu  Dir,  mein  Meister,  Du, 
In  blühender  Lotus  ruhend,  Leidesüberwinder, 
Komm,  König  Du  in  mitleidstiefer,  sel'ger  Ruh, 
Ein  Lehrer  in  das  Land  der  hassgehetzten  Kinder. 
Nie  gabst  zum  Streite  Du  ein  einziges  Gebot, 
Du  lehrtest  Liebe,  die  das  wirre  All  versöhnte, 
Nie  zogest  Du  ein  Schwert,  und  keine  Flamme  loht', 
Wo  Deiner  reichen  Liebe  Lehre  hell  ertönte. 
Du  wiesest  nie  uns  bangende  an  einen  Rächer, 
Der  über  Wolken  thront,  der  eines  Wesens  Feind; 
Dem  Schuldigen  selbst  reichtest  Du  des  Wissens  Becher, 
In  welchen  Du  des  Mitleids  Tränen  einst  geweint. 
Du  lehrtest,  dass  aus  uns'res  Lebens  eignen  Taten, 
Wie  aus  dem  Korn  der  Halm  —  Belohnung  einst  ersteht 
Und  dass,  nur  jedem  Hasse  liebend  zu  entratcn 
Der  Himmel  sei,  das  reinste  Lobgebet. 


Buddha. 

Es  ist  Winter,  und  der  Schnee  fällt, 
Und  meine  Locken  erbleichen. 
Doch  kann  mein  Blick  von  Dir,  Du  Welt, 
Du  Heiland  der  Welt,  nicht  weichen. 

Es  ist  Abend,  und  das  Dunkel  legt 
Seine  Hand  auf  die  Augen,  die  hellen  -- 
Doch,  der  die  Leuchte  im  Herzen  hegt. 
An  dem  muss  die  Nacht  zerschellen. 

Ruhig  sitzt  Deine  stille  Gestalt 

Im  Lotuskelche,  dem  reinen. 

Des  besten  Auges  Liebesgewalt 

Will  alle  Welt  überscheinen. 

Du  öffnest  die  Hand,  zum  Segen  erhoben. 

Du  säest  Frieden  über  die  Welt; 

Mit  Harfenrauschen  möcht'  ich  Dich  loben, 

O  Du,  mein  Held! 

Es  ist  Winter,  und  der  Schnee  fällt. 
Und  meine  Locken  erbleichen  — 
Bald,  ich  fühl  es,  Du  Welt,  Du  Heiland  der  Welt, 
Wird  meine  Seele  Dich  erreichen. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  B.  Seidenstocker,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann  in  Baalsdorf-Leipzig. 


Japanische  Buddha-Statue. 

(Beilage  zu  S.  23  der  »Buddhistischen  "V/elt«.) 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend   üben,    das    eigene    Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,   V.  183. 


Die  Gründung 
des  Reiches  der  Gerechtigkeit. 

SS" — 

Verehrung  dem  Erhabenen,  Heiligen,  vollkommen  Erwachten! 

So  habe  ich  gehört:  Der  Erhabene  verweilte  zu  Benares, 
in  der  Einsiedelei  mit  Namen  Migadäya.  Da  nun  redete  der 
Erhabene  die  Gesellschaft  der  fünf  Bhikkhus*)  an  und  sprach: 

„Zwei  Extreme  gibt  e.s,  ihr  Bhikkhus,  denen  der  Mensch, 
welcher  die  Welt  aufgegeben  hat,  nicht  folgen  sollte,  einerseits 
die  Beschäftigung  mit  Dingen,  deren  Anziehungskraft  auf  den 
Leidenschaften  und  besonders  auf  der  Sinnlichkeit  beruht,  — 
eine  niedrige,  heidnische  Art,  Befriedigung  zu  suchen,  unwürdig, 
nutzlos  und  nur  für  weltlich  Gesinnte  passend;  —  andererseits 
die  Ausübung  einer  selbstquälerischen  Askese,  welche  peinvoll, 
unwürdig  und  nutzlos  ist. 

„Es  gibt,  ihr  Bhikkhus,  einen  mittleren  Pfad,  der  jene 
beiden  Extreme  vermeidet,  der  von  dem  Vollendeten ")  entdeckt 
ist,  —  ein  Pfad,  welcher  die  Augen  öffnet  und  Einsicht  verleiht, 
welcher  zum  Frieden  des  Gemütes  führt,  zur  höheren  Weisheit, 
zur  vollen  Erleuchtung,  zum  Nibbäna. 

')  Bhikkhu,  Mönch.  Die  hier  angeredeten  Mönche  sind  jene  fünf 
Mcndikanten,  welche  Gotama  begleitet  hatten,  als  er  sich  vor  seiner  Er- 
leuchtung den  strengsten  Bussübungen  unterzog. 

')  Tathägata,  ein  häufig  gebrauchtes  Epitheton  des  Buddha.  Die 
eigentliche  Bedeutung  ist  noch  nicht  ganz  klar;  ganz  allgemein  verbreitet 
ist  die  Übersetzung  »Der  Vollendete«. 


66  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

„Welches  ist,  ihr  Bhikkhus,  dieser  mittlere  Pfad,  der  jene 
beiden  Extreme  vermeidet,  der  von  dem  Vollendeten  entdeckt 
ist,  —  dieser  Pfad,  weicher  die  Augen  öffnet  und  Einsicht  ver- 
leiht, welcher  zum  Frieden  des  Gemütes  führt,  zur  höheren 
Weisheit,  zur  vollen  Erleuchtung,  zum  Nibbäna? 

„Wahrlich,  es  ist  dies  der  hohe  achtfache  Pfad;  das  will 
sagen:  Rechte  Ansichten,  rechtes  Streben,  rechte  Rede,  rechtes 
Handeln,  rechte  Lebensführung,  rechtes  Kämpfen,  rechtes  Ge- 
denken, rechte  Kontemplation. 

„Das  also,  ihr  Bhikkhus,  ist  dieser  mittlere  Pfad,  der  jene 
beiden  Extreme  vermeidet,  der  von  dem  Vollendeten  entdeckt 
ist,  —  dieser  Pfad,  welcher  die  Augen  öffnet  und  Einsicht 
verleiht,  welcher  zum  Frieden  des  Gemütes  führt,  zur  höheren 
Weisheit,  zur  vollen  Erleuchtung,  zum  Nibbäna. 

„Dies  nun,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  das  Leiden  betref- 
fende Wahrheit: 

„Geburt  ist  mit  Leid  behaftet,  Verfall  ist  leidvoll,  Siechtum 
ist  leidvoll,  Tod  ist  leidvoll.  Vereinigung  mit  Unerfreulichem 
ist  leidvoll,  die  Trennung  von  Angenehmem  ist  leidvoll,  jedes  un- 
befriedigte Verlangen  ist  leidvoll.  Kurz,  die  fünf  Aggregate'), 
welche  aus  dem  Haften")  entspringen,  sind  leidvoll. 

„Das  also,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  das  Leiden  betref- 
fende Wahrheit. 

„Dies  nun,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  den  Ursprung  des 
Leidens  betreffende  Wahrheit: 

„Wahrlich,  es  ist  jene  Begierde''),  welche  die  Erneuerung 
des  Daseins  wirkt,  begleitet  von  sinnlichem  Genuss,  bald  hier, 
bald  dort  Befriedigung  suchend,  —  das  will  sagen  die  Begierde 
nach  Befriedigung  der  Leidenschaften,  oder  die  Begierde  nach 
Leben'),  oder  die  Begierde  nach  Macht''). 

„Das  also,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  den  Ursprung  des 
Leidens  betreffende  Wahrheit. 

')  Die  fünf  Khandhas,  aus  denen  der  Mensch  gebildet  ist:  Lciblich- 
keit,  Gefühl,  Vorstellen,  Strebungen,  Bewusstscins-Aspekte. 

-)  Upädäna,  das  Haften  an  der  Ausscnwelt,  erzeugt  die  fünf  Khandhas. 

')  Tanhä,  Durst  nach  Dasein,  Daseins-Drang,  der  universelle 
Lebenswille. 

*)  Gier  nach  individuellem  Dasein  in  einem  anderen  Leben. 

^)  Gier  nach  individuellem  Dasein  in  diesem  Leben. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  &7 

„Dies  null,  ihr  Bliikl<iius,  ist  die  hohe,  die  Vemiciilutig  des 
Leidens  betreffende  Wahriieit: 

„Wahrlich,  es  ist  die  restlose  Vernichtung  jener  Begierde, 
ihre  Beseitigung,  die  Befreiung  von  ihr,  ihre  nicht  länger 
währende  Duldung. 

„Das  also,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  die  Vernichtung  des 
Leidens  betreffende  Wahrheit. 

„Dies  nun,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  den  zur  Vernichtung 
des  Leidens  führenden  Weg  betreffende  Wahrheit: 

„Wahrlich,  es  ist  dies  der  hohe,  achtfache  Pfad,  das  will 
sagen:  Rechte  Ansichten,  rechtes  Streben,  rechte  Rede,  rechtes 
Handeln,  rechte  Lebensführung,  rechtes  Kämpfen,  rechtes  Ge- 
denken, rechte  Kontemplation. 

„Das  also,  ihr  Bhikkhus,  ist  die  hohe,  den  zur  Vernichtung 
des  Leidens  führenden  Weg  betreffende  Wahrheit."  — 

*  * 

Dies  ist  das  Wesen  der  Lehre  des  Buddha,  dies  ist  der 
Dhamma,  zu  welchem  Buddhisten  ihre  Zuflucht  nehmen. 

Diese  Lehre  von  den  vier  hohen  Wahrheiten  und  vom 
hohen  achtfachen  Pfade  wurde  von  dem  Buddha  mit  der 
mächtigen  Grösse  seiner  eindrucksvollen  Persönlichkeit  gepredigt. 
Er  verwirklichte  die  Lehre  durch  seinen  Wandel  und  erläuterte 
sie  durch  zahlreiche  Gleichnisse.  Das  Senfkorn  seiner  erha- 
benen Religion  ist  ein  starker  Baum  geworden,  unter  dessen 
Zweigen  ungezählte  Menschenherzen  den  Frieden  gefunden  ha- 
ben. — 

Der  Anhänger  töte  nicht,  noch  veranlasse  er,  dass  irgend 
ein  lebendes  Wesen  getötet  werde,  noch  billige  er  die  Tötung 
durch  andere.  Er  versage  sich  das  Verletzen  aller  Geschöpfe, 
sowohl  derjenigen,  welche  stark  sind,  als  auch  jener,  welche 
sich  in  der  Welt  ängstigen.  Dhammika-Sutta. 

Wer  den  Zorn,  wenn  er  in  ihm  aufsteigt,  wie  einen  schnell 
dahinrollenden  Wagen  hemmt,  den  nenne  ich  einen  Wagen- 
lenker; die  anderen  halten  nur  die  Zügel  in  der  Hand. 

Dhammapada. 


68  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Moralität 
in  orientalischer  Beleuchtung. 

Von  Rev.  Dr.  K.  Hori. 


In  den  Worten  »Liebe  Brüder«  kommt  die  edle  Lelirc  des 
abendländisciien  Weisen  zum  Ausdruck;  die  preiswürdige  An- 
weisung des  orientaiisclien  Lehrers  wird  zusammengefasst  in 
den  Satz:  Sei  wohlwollend  und  mitleidsvoll  gegenüber  allen 
Menschen  ohne  Unterschied  des  Standes,  der  Nationalität  und 
Rasse.  Die  Weisen  des  Morgen-  und  Abendlandes  stimmen 
überein  in  ihren  Angaben  über  die  Quellen,  aus  denen  die 
sozialen  Tugenden  fliessen.  Natürlich  läuft  soziale  Tugend 
mit  persönlicher  Tugend  parallel;  aber  die  erstere  wird  heute 
mehr  beachtet,  als  die  letztere.  Wir  sehen,  dass  in  den  ver- 
schiedenen Verwaltungen  öffentlicher  Organisationen  (Dörfer, 
Städte,  Staaten)  jeder  wirklich  gute  und  tüchtige  Bürger  seinen 
eigenen  Nutzen  und  Vorteil  mehr  oder  weniger  der  Wohlfahrt 
der  Gesellschaft  opfert,  in  welcher  er  lebt.  Alle  guten  Männer 
und  Frauen  sind  für  die  Verbesserung  sozialer  Zustände  ein- 
getreten und  haben  durch  ihre  Bemühungen  für  dieselben  eine 
bessere  Lage  geschaffen,  und  ich  bin  sicher,  dass  man  die 
letztere  immer  günstiger  gestalten  und  dem  Ideal  tatsächlich 
immer  näher  bringen  kann. 

Es  gibt  viele  Menschen,  die  in  der  Gesellschaft  wegen 
ihrer  Opferfreudigkeit  geachtet  werden  insofern,  als  sie  sich 
stark  an  sozialen  Bestrebungen  beteiligen;  und  doch  haben 
dieselben  Menschen  im  Geheimen  furchtbare  Sünden  begangen. 
Andererseits  werden  viele  Individuen,  welche  hinsichtlich  ihrer 
persönlichen  Tugenden  untadelhaft  dastehen,  von  der  Ge- 
sellschaft unbeachtet  gelassen,  ja  off  geradezu  verachtet,  weil 
sie  unfähig  sind,  soziale  Bestrebungen  zu  leiten.  Diese  selt- 
same Erscheinung  kann  man  gleicherweise  in  Asien,  Europa 
und  Amerika  beobachten.  Wenn  diese  Ungerechtigkeiten,  an- 
statt abgeschafft,  geduldet  werden,  dann  werden  jene  geschickt 
maskierten,  innerlich  verdorbenen  Menschen  fortfahren,  ange- 
sehene Stellungen  in  der  betreffenden  Gesellschaft  zu  bekleiden 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  69 

welche  sie  dementsprechend  schädigen  müssen.  Sie  gleichen 
geprägten  Münzen.  Ihr  Aussehen  mag  uns  für  eine  Zeit  blen- 
den, aber  die  Stunde  wird  früher  oder  später  kommen,  da  ihre 
Niedrigkeit  offenbar  wird.  Wenn  dann  die  Öffentlichkeit  dem 
Ruchlosen  die  Maske  herunterreisst,  wird  er  bereits  Niedergang, 
Verwüstung  und  Schande  in  geweihte  Kreise  gebracht  haben. 

Um  dieser  Art  gesellschaftlicher  Korruption  durch  ruchlose, 
falsche  Führer  vorzubeugen,  müssen  wir  die  leitenden  Männer 
nicht  nur  nach  ihrer  äusseren  Befähigung,  sondern  in  erster 
Linie  nach  ihren  persönlichen  Tugenden  auserwählen. 

Die  Gesellschaft  ist  ein  Aggregat,  das  sich  aus  Tausenden 
von  Individuen  zusammensetzt,  und  der  Wille  der  Gesellschaft 
muss  sich  auf  den  Willen  eines  jeden  Individuums  gründen. 
Wenn  wir  wünschen,  dass  die  Gesellschaft  moralisch  voll- 
kommen sei,  muss  zunächst  das  moralische  Wollen  eines  jeden 
Individuums  gestärkt  und  geläutert  werden. 

Ein  klassischer  orientalischer  Text  sagt:  „Ein  reines  Herz 
schafft  einen  untadelhaften  Geist.  Ein  untadelhafter  Geist  schafft 
eine  gute  Persönlichkeit.  Eine  gute  Persönlichkeit  wirkt  ein 
glückliches  Haus.  Das  glückliche  Haus  ist  der  Grundstein 
einer  angenehmen  Stadt.  Eine  angenehme  Stadt  lässt  einen 
friedlichen  Distrikt  oder  Staat  erstehen." 

Es  kann  ein  Mensch  Liebe  mit  den  Lippen  sprechen  und 
Mitleid  mit  der  Feder  schreiben,  aber  wir  sollten  niemals  einen 
Menschen  nur  nach  dem  auswählen,  was  von  seinen  Lippen 
fliesst.  Die  glänzende  Diktion  eines  Redners  kann  seine  Fehler 
verdecken,  und  die  schönen  Aufsätze  eines  Schreibers  können 
die  Verderbtheit  seines  Herzens  verhüllen.  Eine  ergreifende 
Rede  ist  nur  dann  etwas  wert,  wenn  sie  aus  einem  aufrichtigen 
Herzen  kommt.  Tausend  brillante  Aufsätze  taugen  nichts,  wenn 
die  Beweggründe  des  Schreibers  nicht  rein  sind.  Zu  öffent- 
lichen Beamten  und  Gesetzgebern  sollten  Männer  von  aufrich- 
tigem Wollen  und  gutem  Charakter  ausersehen  werden  — 
Männer,  welche  die  geistige  Wohlfahrt  der  Gesellschaft  und 
der  Menschheit  fördern  werden. 

Der  menschliche  Geist  gleicht  —  im  Bilde  gesprochen  — 
dem  hellen  Lichtschein  eines  Leuchtturmes  an  der  Küste.  Der 
Schein  mag  manchen  Schiffen  in  weiter  Ferne  auf  hoher  See 


%  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

ein  guter  Führer  sein,  aber  am  Fusse  des  Leuchtturmes  herrscht 
absolute  Finsternis.  Nach  dieser  Analogie  ist  es  leicht,  andere 
zu  kritisieren,  während  Dunkelheit  die  eigene  Seele  umgibt. 
Wenn  wir  in  unser  inneres  Heim  den  lichten  Schimmer  giessen 
wollen,  solhen  wir  nach  den  Lehren  der  grössten  Weisen  mit 
uns  selbst  zu  Rate  gehen,  streng  gegen  uns  sein,  uns  selbst 
veredeln  und  läutern. 

Verschiedene  Weise  des  Westens  haben  als  Massstab  für 
die  Tugend  die  goldene  Mittelstrasse  empfohlen.  Der  grösste 
orientalische  Meister  lehrte  seine  Jünger  ebenfalls  den  »mitt- 
leren Pfad«  oder  die  in  der  Mitte  liegende  Art,  ein  tugend- 
haftes LebL-n  zu  führen.  Derselbe  zerfällt  in  acht  Prinzipien 
oder  Teiie  und  wird  deshalb  der  »erhabene  achtfache  Pfad« 
genaimt. 

Die  erste  Stufe  des  erhabenen  achtfachen  Pfades  ist 
rechte  Einsicht. 

Wir  müssen  zunächst  den  wahren  Charakter  alles  Lebens 
in  der  Welt  begreifen  lernen.  Drei  Arten  des  Leidens  —  Altern, 
Verfall,  Sterben  —  sind  allen  Kreaturen  beschieden.  Was  in 
der  Welt  geboren  wird,  kann  nicht  über  die  Grenze  hinaus, 
welche  diese  drei  Leiden  ziehen. 

Es  kann  sich  ein  Mensch  eine  Weile  damit  begnügen,  dass 
er  nicht  auf  das  Leid  seiner  Mitmenschen  achtet,  und  dass  er 
sich  hinsichtlich  seiner  eigenen  Zukunft  in  lieblichen  Träumen 
wiegt.  Aber  diese  Selbst-Beruhigung  entsteht  aus  der  Unwissen- 
heit. Aber  ist  Unwissenheit  nicht  an  und  für  sich  ein  Leiden?! 
Fast  alle  Religionen,  alte  wie  neue,  östliche  und  westliche,  sind 
auf  die  Idee  des  Leidens  oder  Übels  in  der  Welt  gegründet. 
Ohne  diese  Leid-Idee  würden  alle  Weltreligionen  ihre  Existenz 
eingebüsst  haben.  —  Sodann  müssen  wir  die  Vergänglichkeit 
alles  Lebens  verstehen.  Jedes  Ding  in  der  Welt  ist  mit  dem 
Vergänglichkeitsprinzip  behaftet.  Menschen,  Tiere,  Pflanzen  und 
Mineralien  müssen,  nachdem  sie  einmal  ins  Dasein  eingetreten 
sind,  früher  oder  später  verfallen  und  sich  auflösen;  diese  Tat- 
sache begreifen,  heisst  das  Vergänglichkeits-Prinzip  verstehen. 
—  Ferner  müssen  wir  Einsicht  gewinnen  in  das  Nicht-Selbst- 
Prinzip,  d.  h.  in  das  Nicht-Vorhandensein  eines  unsterblichen 
getrennten  Selbstes.  Dies  ist  für  westliche  Geister  sehr  schwer  zu 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  71 

begreifen,  denn  ihre  Art  zu  denken  ist  verschieden  von  der  des 
Orients.  Wir  pflegen  zu  sagen  „ich  bin",  „mein  Eigentum"  usw. 
Diese  Ich-heit,  dieses  Selbst  ist  nicht  unsterblich,  sondern  wird  nur 
irrtümlicherweise  als  unsterblich  vorgestellt.  Alle  Leidenschaften, 
aller  Hader,  alle  Unruhe  entspringen  aus  dieser  Selbst-heit.  In 
Wahrheit  gibt  es  kein  egoistisches  Ich-Selbst.  Wenn  wir  so 
ein  richtiges  Verständnis  für  die  Prinzipien  des  Leidens,  der 
Vergänglichkeit  und  des  Nicht-Selbst  gewonnen  haben, 
dann  erreichen  wir  die  rechte  Einsicht,  die  erste  Stufe  des 
Pfades. 

Die  zweite  Stufe  des  erhabenen  Pfades  heisst  rechte  End- 
zwecke. Wenn  wir  ein  Wesen  leiden  sehen,  fühlen  wir  mit- 
leidsvoll Erbarmen  und  entschliessen  uns,  unser  Übelwollen 
aufzugeben  und  dem  Leidenden  Hilfe  zu  bringen.  Wenn  das 
Motiv  unserer  Betätigung  rein  und  aufrichtig  ist,  dann  haben 
wir  rechte  Endzwecke,  die  zweite  Stufe  des  Pfades. 

Die  dritte  Stufe  des  achtfachen  Pfades  ist  rechte  Rede. 
Wenn  die  Motive,  die  einen  Menschen  bestimmen,  gut  und  rein 
sind,  dann  wird  er  die  Wahrheit  nicht  verbergen,  wird  keine 
Geheimtuerei  lieben,  noch  unfreundlich  und  barsch  zu  den 
Menschen  sprechen,  sondern  seine  Worte  werden  stets  wahr, 
mild,  fein  und  anständig  sein.  Wer  Liebe  und  Mitleid  in  seinem 
Sprechen  zum  Ausdruck  bringt,  von  dem  sagt  man,  er  habe  die 
dritte  Stufe  des  Pfades  beschritten,  rechte  Rede. 

Die  vierte  Stufe  des  achtfachen  Pfades  bilden  rechte 
Handlungen.  Durch  die  Einsicht  in  das  Leiden  des  Lebens 
und  durch  die  Entfaltung  von  Liebe  und  Mitleid  wird  jeder 
Akt  unseres  Betragens  sicher  von  Sympathie  erfüllt  und  von 
Erbarmen  durchweht  sein.  Dieser  erhabene  Zustand  im  Men- 
schen bedeutet  rechte  Handlungen,  die  vierte  Stufe  des 
Pfades. 

Die  fünfte  Stufe  des  achtfachen  Pfades  ist  rechte  Art  der 
Lebensführung.  Gewöhnt  an  rechtes  Handeln  wird  natürlich 
das  Leben  immer  reiner  und  lichter,  und  dann  werden  alle  ein- 
zelnen Phasen  des  täglichen  Lebens  beim  Essen,  Gehen  oder 
Schlafen  selbstverständlich  mit  den  höchsten  Naturgesetzen  harmo- 
nieren. Wir  erheben  uns  über  alle  Bedingungen,  welche  Leid 
oder  Kummer  nach  sich  ziehen  und  führen  ein  solches  Leben,  wel- 


72  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

ches  geistigen  Frieden  und  Heiterlceit  des  Gemütes  schafft. 
Dieser  Zustand  ist  die  rechte  Art  der  Lebensführung,  die 
fünfte  Stufe  des  Pfades. 

Die  sechste  Stufe  des  achtfachen  Pfades  ist  rechte  Energie. 
Wenn  der  Mensch  auf  diese  Weise  lebt  und  an  sich  arbeitet, 
wird  er  sein  Gemüt  bemeistern  und  die  Fähigi<eit  erlangen, 
seine  Energie  in  einer  ausserordentlich  starlcen  Willenskraft  zu 
offenbaren.  Das  heisst  rechte  Energie,  die  sechste  Stufe 
des  Pfades. 

Die  siebente  Stufe  des  achtfachen  Pfades  ist  rechte  Geistes- 
fülle (Gemütstiefe,  Geisteskraft).  Der  Mensch,  der  auf  der 
sechsten  Stufe  rechte  Energie  erworben  hat,  wird  nun  lernen, 
alle  seine  Gedanken  zu  sammeln  und  nach  Belieben  auf  einen 
bestimmten  Gegenstand  zu  richten,  wobei  er  sich  in  seinem 
Geiste  nur  heilige  Dinge  vergegenwärtigt.  Das  bedeutet  rechte 
Geistesfülle,  die  siebente  Stufe  des  Pfades. 

Die  achte  Stufe  des  achtfachen  Pfades  ist  der  rechte  Zu- 
stand eines  reinen  Gemütes.  Durch  diese  heilige  trans- 
zendentale Fälligkeit  können  wir  dauernd  heilige  Dinge  in  uns 
gegenwärtig  erhalten,  und  das  Gemüt  ist  ganz  erfüllt  von  seli- 
gem Frieden;  dies  ist  der  rechte  Zustand  eines  reinen  Gemütes, 
die  letzte  Stufe  des  Pfades.  Dieser  Zustand  im  Menschen  ist 
ein  Zustand  vollkommener  Moralität;  er  verwirklicht  in  der 
betreffenden  Person  das  höchste  moralische  Ideal.  Ein  solcher 
Mensch  ist  natürlich  untadelhaft  in  seiner  persönlichen  Tugend 
und  erfüllt  genau  seine  heilige  Pflicht  der  Gesellschaft  gegen- 
über; sein  moralischer  Einfluss  wird  heilsam  auf  seine  Familie 
und  seine  Mitmenschen  einwirken,  so  dass  er  und  viele  andere 
auf  Grund  seines  guten  Wirkens  den  Segen  des  Friedens  ge- 
niessen  können. 

Ich  schliesse   diese  Zeilen   mit   den   schönen  Worten   des 
Dichters  der  »Leuchte  Asiens«: 

Gebunden  hält 
Des  Menschen  Herz,  der  Völker  Denken  das 
Gesetz,  der  Herr  der  Welt. 

Unsichtbar  hilft  es  euch  mit  treuer  Hand, 
Hört  ihr's  gleich  nicht,  doch  spricht's  im  Sturm  euch  an; 
Der  Mensch  hat  Lieb'  und  Mitleid,  weil  im  Kampf 
Das  Chaos  Form  gewann. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  73 

Verachtet  ist's  von  keinem;  denn  wer  es 
Bekämpft,  verliert;  und  wer  ihm  dient,  gewinnt; 
Verborgne  Guttat  lohnt's  mit  Ruh'  und  Glück, 
Mit  Qual  verborgne  Sund'. 

Es  sieht  allüberall  und  merket  wohl. 
Tu'  recht,  und  es  belohnt;  tu'  Unrecht,  dann 
Musst  du  die  Schuld  bezahlen,  ob  auch  lang' 
Der  Dharma  zögern  kann. 

Nicht  Zorn,  noch  Gnade  kennt's;  es  misst  sein  Mass 
Untrüglich,  fehlerlos  ist  seine  Wag'; 
Zeit  gilt  ihm  nichts:  es  richtet  morgen  wohl. 
Vielleicht  nach  manchem  Tag. 

Des  Mörders  Dolch  kehrt's  gegen  ihn  allein. 
Wer  richtet  falsch,  verliert  das  Heil  im  Leben, 
Den  Lügner  straft  die  Lüge  selbst,  der  Dieb 
Raubt  nur,  zurückzugeben. 

Dies  das  Gesetz;  es  wirkt  Gerechtigkeit, 
Niemand  entgeht  ihm,  keiner  hemmt's  zuletzt; 
Sein  Urgrund  ist  die  Liebe,  und  sein  Ziel 
Fried'  und  Vollendung.    Ihm  gehorchet  jetzt! 

Habe  Erbarmen  und  Mitleid  mit  allen  Wesen,  welche  leben. 

Brahmajäla-Sutta. 

Wohlwollen  gegen  alle  Wesen  ist  die  wahre  Religion. 

Buddhacarita. 

Ernste  Gesinnung  führt  zur  Todlosigkeit,  Leichtsinn  zum 
Pfad  des  Sterbens.  Die  im  Ernste  verharren,  sterben  nicht, 
aber  die  Leichtfertigen  sind  bereits  [hier]  den  Toten  gleich. 

Dhammapada. 

Pflege  das  Mitleid! 

Visuddhi-Magga. 

Die  Akte  religiöser  Betätigung  bestehen  in  Wohlwollen^ 
Liebe,  Wahrhaftigkeit,  Reinheit,  Edelmut  und  Güte. 

Asoka-kischrift. 


74  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 


^^  Nibbäna.  U^f^ 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

Es  gibt,  ihr  Jünger,  ein  Reich,  wo  weder 
Erde  noch  Wasser,  weder  Feuer  noch  Luft  vor- 
handen ist;  es  ist  dort  weder  der  unermessliche 
Äther  noch  die  gleichzeitige  Existenz  von  Be- 
wusstsein  und  Nicht-Bewusstsein,  weder  diese 
Welt  noch  eine  andere  Welt,  weder  Sonne, 
noch  Mond.  Dies,  ihr  Jünger,  erkläre  ich  euch 
als  weder  ein  Werden,  noch  ein  Vergehen,  we- 
der Leben,  noch  Sterben,  noch  Geboren-wcrden, 
unräumlich,  unveränderlich,  ursachlos:  Das  ist 
das  Ende  des  Leidens.  Udäna. 

Vielleicht  kein  einziges  Kapitel  in  unserer  buddhistischen 
Religion  ist  so  viel  umstritten  und  so  häufig  missverstanden 
worden,  als  der  Gegenstand,  den  die  eben  citierte  Stelle  aus 
dem  Udäna  behandelt.  Ganze  Bände  gelehrter  Abhandlungen 
sind  über  dieses  Gebiet  geschrieben  worden,  und  die  gezogenen 
Schlussfolgerungen  sind  natürlich  so  verschiedenartig,  wie  die 
Qlaubensrichtung  und  der  geistige  Standpunkt  des  jeweiligen 
Verfassers.  Die  Frage  selbst  ist  so  alt  wie  unsere  heiligen 
Lehren:  „Nibbäna,  Nibbäna,  so  sagt  man,  Freund  Säriputta, 
was  aber,  Freund,  ist  denn  dieses  Nibbäna?"^)  So  fragte  vor 
fünfundzwanzig  Jahrhunderten  an  den  Ufern  des  Ganges  ein 
brahmanischer  Asket;  dieselbe  Frage  wurde  im  zweiten  Jahr- 
hundert V.  Chr.  von  Milinda  wiederholt,  und  sie  findet  seit 
jener  Zeit  ihr  Echo  im  Geiste  eines  jeden  Denkers  und  bud- 
dhistischen Schriftstellers.  Von  Tokyo  bis  zum  modernen 
Babel,  von  der  kalten  Hochebene  des  geheimnisvollen  Tibet 
bis  zu  den  Duft-durchwürzten  Palmen-Hainen  Ceylons  ist  die 
Antwort  auf  diese  Frage  von  jedem  ernsten  Forscher  und  An- 
hänger des  Buddhismus  gesucht  worden;  ihre  Aufhellung  ist 
das  Lebenswerk  grosser  Gelehrter  gewesen,  deren  selbstlose 
Arbeiten  der  westlichen  Welt  den  Schatz  des  hochvortrefflichen 
Gesetzes   enthüllt  haben,   und  die  Verwirklichung  der  Antwort 


')  Samyutta-Nikäya. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  75 

auf  diese  Frage  ist  lieute  die  Hoffnung  und  das  Ziel  von  fünf- 
hundert Millionen  unserer  Religionsgenossen. 

Der  Grund  liierfür  ist  nicfit  fern  zu  suciien;  denn  dieses 
Nibbäna  ist  das  Ziel  unserer  Religion,  es  ist  der  Schlussstein 
dieses  ganzen,  grossen,  wunderbaren,  aus  Philosophie  und 
Ethik  bestehenden  Tempels,  den  wir  mit  dem  Namen  Buddhis- 
mus bezeichnen;  das  Gedenken  an  Nibbänas  todlose  Ruhe  ist 
der  Trost  unseres  Lebens,  und  seine  Erreichung  die  Hoffnung 
aller  unserer  Herzen.  In  der  Tat:  Der  Buddhismus  beruht  auf 
der  Gewissheit  dieses  Nibbäna,  und  der  Grad  der  Genauig- 
keit, mit  der  wir  die  grösste  Weltreligion  würdigen,  muss  ent- 
schieden taxiert  werden  nach  dem  klaren,  geistigen  Verständ- 
nis, das  wir  dem  Nibbäna-Begriff  entgegenbringen.  Denn  wenn 
wir  selbst  nicht  eine  wenigstens  annähernd  klare  Idee  in  un- 
serem Geiste  über  das  Endziel  unserer  Religion  gewonnen 
haben,  verdienen  wir  den  Tadel,  welcher  im  Tevijja-Sutta  *) 
dem  unpraktischen  jungen  Mann  erteilt  wird:  „Aber  dann, 
bester  Freund,  baust  du  ja  eine  Treppe,  die  zu  irgend  einem 
Etwas  führen  soll,  das  du  für  ein  Wohnhaus  hältst,  das  du 
aber  gegenwärtig  weder  kennst,  noch  jemals  gesehen  hast." 
Andererseits  ist  natürlich  die  erste  Frage,  die  sich  im  Geiste 
eines  Aussenstehenden  regt,  folgende:  Welches  ist  der  Zweck 
und  das  Ziel  dieser  Religions-Philosophie,  welches  ist  das 
Endziel,  zu  dem  alle  jene  in  den  buddhistischen  Werken  be- 
schriebenen praktischen  Übungen  führen?  Ich  habe  gerade 
dieses  schwierigste  aller  Probleme  im  Buddhismus  zum  Gegen- 
stande dieses  Essays  gemacht;  wenn  einmal  Zweck  und  Ziel 
unserer  Religion  begriffen  ist,  dann  treten  die  übrigen  Teile 
des  Buddhismus,  Praxis  und  Philosophie  in  gleicher  Weise,  an 
ihre  natürliche  Stelle  als  die  Mittel,  die  der  Erreichung  des 
Nibbäna  als  dem  Endzweck  dienen.  Ich  bin  mir  dabei  der 
mannigfachen  Schwierigkeiten  dieses  Gegenstandes  sehr  wohl 
bewusst,  und  ich  muss  den  Leser  um  Nachsicht  bitten  wegen 
der  unzureichenden  Darlegung  eines  Ideales,  welches  das  Leben 
von  ungezählten  Millionen  durchgeistigt  hat,  und  ich  hoffe, 
dieser  Versuch  wird  wohlwollend   aufgenommen  werden,  und 

')  Siehe  Dr.  Rhys  Davids'  Übersetzung  in  den  »Sacred  Books  of 
the  Easts  Vol.  XI,  S.  177. 


76  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

man  wird  mich  entschuldigen,  wenn  ich  „dorthin  enteile,  wo 
einzutreten  selbst  Götter  sich  scheuen."  — 

Bevor  wir  weitergehen,  scheint  mir  noch  ein  Punkt  eine 
besondere  Betrachtung  zu  erheischen,  nämlich  das  Wort 
»Nibbäna«  selbst.  Es  ist  bei  der  Behandlung  dieses  Begriffes 
die  Gewohnheit  geworden,  die  sanskritisierte  Form  »Nirväna« 
zu  gebrauchen,  eine  Gewohnheit,  gegen  welche  die  Buddhisten 
eigentlich  protestieren  sollten;  einmal  deshalb,  weil  der  Buddha 
eben  den  Nibbäna-Begriff  erklärt  und  es  untersagt  hat,  die 
Ausdrücke  in  seiner  Lehre  in  das  Sanskrit  zu  übersetzen,^)  und 
sodann,  weil  wir,  wenn  wir  Nirväna  sagen,  in  manchen  Geis- 
tern die  Vorstellung  vom  Nirväna  der  Hindu-Philosophie  er- 
wecken, d.h.  vom  Aufgehen  in  Brahman,  welches  erst  unser 
vierter  Arüpa-Vimokkha  und  vom  Nibbäna  sehr  verschieden 
ist.  Da  wir  nun  in  unserer  Sprache  kein  Wort  haben,  welches 
die  hier  in  Rede  stehende  Idee  vollständig  ausdrückt,  und  wir 
deshalb  notgedrungen  ein  Fremdwort  gebrauchen  müssen,  so 
erscheint  e^  mir  besser,  unser  eigenes  Äquivalent  im  Päli  zu 
verwenden,  jener  Sprache,  der  unser  Meister  sich  bediente,  als 
Zuflucht  zu  einem  leicht  misszuverstehenden  Worte  aus  einer 
Sprache  zu  nehmen,  welche  der  Buddha  absichtlich  vermie- 
den hat. 

Abgesehen  von  dieser  nur  das  Wort  betreffenden  Unge- 
nauigkeit  findet  man  sehr  häufig  in  den  früheren  Schriften  über 
Buddhismus  einen  Irrtum,  der  auch  heute  noch  angetroffen 
wird,  und  gegen  den  nicht  eindringlich  genug  protestiert  wer- 
den kann.  Es  ist  dies  jene  irrige  Ansicht,  —  die  meines  Wissens 
zuerst  von  Burnouf  aufgestellt  wurde,  und  die  in  den  ersten 
Tagen  der  buddhologischen  Forschung  ganz  natürlich  war,  — 
dass  es  drei  Arten  Nibbäna  gebe:  das  eigentliche  Nibbäna, 
Parinibbäna  und  Mahäparinibbäna.  Das  ist  von  Childers  und 
Rhys  Davids ')  als  ein  gänzliches  Missverständnis  nachgewiesen 
worden.     In  den  Texten   wird   teils  das  Wort  »nibbuto«  und 

')  Cullavagga,  V,  33,  1 ;  übersetzt  in  »Sacred  Books  of  the  East«, 
Vol.  XX,  S.  150,  151  und  Dr.  Rhys  Davids'  Anmerkung  dazu. 

-)  Vergl.  Childers'  Dictionary  of  the  Päli  Language  s.  v.  Nibbäna 
S.  268,  und  Dr.  Rhys  Davids'  Einleitung  zum  Mahäparinibbäna-Sutta,  Sac- 
red  Books  of  the  East,  Vol.  XI,  S.  XXXII. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  77 

teils  »parinibbuto«  gebraucht  für  die  Erreichung  des  Anupä- 
disesa  Nibbäna  seitens  eines  Arahä'),  das  will  sagen,  für 
das  Abieben  des  letzteren,  und  diese  beiden  Ausdrücke  wech- 
seln mit  einander  ab;  während  in  d,em  Worte  »Mahäpari- 
nibbäna«  —  das  bedeutet  die  Erreichung  von  Anupädiscsa 
Nibbäna  seitens  des  Buddha,  also  das  Ableben  des  Buddha  — 
das  Präfix  »Mahä«  (gross)  nur  ein  ehrfurchtsvoller  Ausdruck 
ist  und  keineswegs  eine  höhere  Art  oder  einen  höheren  Zustand 
von  Nibbäna  in  sich  schliesst,  ebenso  wie  etwa  der  Ausdruck 
»das  grosse  Abscheiden«  nur  die  Person  betrifft,  von  der 
dieses  Wort  gebraucht  wird.  Nun  werden  im  Kanon  allerdings 
zwei  verschiedene  Adjektive  verwandt,  um  Nibbäna  zu 
charakterisieren:  1.  Sa-upädisesa,  d.h.  mit  einem  Überbleibsel, 
mit  einer  Basis,  mit  einem  Substrat  versehen;  dies  wird  ge- 
braucht, wenn  ein  Arahä  oder  Buddha  in  diesem  Leben 
Nibbäna  erlangt  resp.  erlangt  hat;  obwohl  in  diesem  Falle 
Nibbäna  erreicht  ist,  bleibt  doch  der  Körper  nebst  anderen 
Khandhas'-)  als  ein  Verbindungsglied  mit  dieser  Welt  zurück. 
2.  An-upädisesa,  d.  h.  ohne  eine  Basis.  Dies  letztere  wird 
gebraucht  für  Nibbäna  selbst,  d.  h.  für  den  Zustand  eines 
Arahä  oder  Buddha  nach  dem  Sterben  seines  Körpers.  Diese 
beiden  Worte  wollen  also  nicht  etwa  sagen,  dass  es  zwei  Arten 
Nibbäna  gebe,  sondern  sie  beziehen  sich  nur  auf  den  Zustand 
des  Arahä  oder  Buddha  vor  bez.  nach  seinem  Ableben.  Das 
Nibbäna-Prinzip  ist  nur  eins  —  unendlich,  unveränderlich,  real: 
Es  ist  das  Ende  aller  Dinge;  wie  könnte  da  noch  etwas 
jenseits  seiner  vorhanden  sein?  Der  einzige  Unterschied  ist 
der:  Für  den  noch  in  seinem  Körper  Befindlichen,  wenn  er 
Nibbäna  erlangt  hat,  wird  das  Wort  Sa-upädisesa  (eine  Basis 
habend)  gebraucht;  dagegen  sagen  wir  von  dem  Erlösten,  wenn 
sein  Körper  tot  ist,  Anupädisesa  Nibbäna,  d.  h.  Nibbäna 
ohne  eine  Basis. 

Childers   vermutete   allerdings'),   dass   durch    diese  Worte 
zwei   verschiedene   Dinge   ausgedrückt,   und    dass    zwei   Arten 


')  Arahä  wird  der  Jünger  genannt,  der  die  vierte  Etappe  des  Pfades 
erreicht  hat;  derselbe  geht  seiner  endgültigen  Erlösung  entgegen. 
')  Siehe  weiter  unten. 
')  Päli-Dictionary  s.  v.  Nibbäna. 


78  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Nibbäna  unterschieden  würden:  einmal  der  Zustand  der  Arahä- 
schaft  und  sodann  absolute  Verniclitung;  er  versuclite  zu  zeigen, 
dass  einige  mit  Nibbäna  synonyme  Ausdrücke  für  das  eine 
Nibbäna  gebraucht  würden,  und  einige  für  das  andere  Nibbäna. 
Diese  Vermutung  ist  indessen  als  irrig  nachgewiesen  worden, 
und  die  Untersuchungen  späterer  Gelehrter  haben  deutlich  ge- 
zeigt, dass  alle  mit  Nibbäna  synonymen  Ausdrücke  gleicher- 
weise für  beide  Aspekte  gebraucht  werden  können,  während 
andere  Texte  —  die  Childers  nicht  herangezogen  hat  oder 
übersehen  haben  muss,  ausdrücklich  leugnen,  dass  Anu- 
pädisesa  Nibbäna  (das  post  mortem-Nibbäna)  Vernichtung  sei.') 
Hier  ist  nun  eins  klar:  Wenn  wir  eine  einigermassen 
richtige  Auffassung  des  Nibbäna-Begriffes  bekommen  wollen, 
so  müssen  wir  uns  auf  den  geistigen  Standpunkt  des  Bud- 
dhisten stellen;  denn  solange  wir  den  Versuch  machen,  die 
Idee  von  einem  anderen  Standpunkte  aus  zu  analysieren,  wer- 
den wir  in  immer  grössere  Konfusion  geraten,  und  alle  unsere 
Bemühungen  müssen  notwendigerweise  fehlschlagen.  Solche 
Versuche  können  verglichen  werden  mit  der  Bemühung,  die 
moderne  Kopernikanische  Astronomie  mit  Hilfe  des  Ptolemäi- 
schen  Systems  zu  begreifen,  nach  dessen  Lehren  die  Erde  der 
Mittelpunkt  des  Universums  ist,  während  Sonne,  Mond,  Planeten 
und  Fixsterne  in  mannigfachen  Bahnen  um  die  Erde  kreisen 
und  dazu  bestimmt  sein  sollen,  der  letzteren  zu  „dienen"  und 
den  Menschen  zum  Wohle  und  zur  Freude  zu  gereichen. 
Zwischen  den  in  der  neueren  Zeit  aufgekommenen  metaphysi- 
schen und  ontologischen  Theorieen  des  Westens  und  der 
ptolemäischen  Hypothese  von  der  geozentrischen  Welt  besteht 
tatsächlich  eine  höchst  beachtenswerte  Analogie;  denn  wie 
die  Ptolomäisten  den  Erdmittelpunkt  für  den  Zentralpunkt  des 
gesamten  Universums  hielten,  und  wie  alle  ihre  Schlussfolge- 
rungen über  die  Bewegung  der  Himmelskörper  auf  Grund  dieser 
irrigen  Ansicht  falsch  waren,  so  gelangten  die  früheren  ontolo- 
gischen Systeme  des  Occidents  von  Cartesius  an  aufwärts  zu 
einer  unrichtigen   Schlussfolgerung  über  die  Natur  des  Seins, 


')  Vergl.  Brahniajäla-Sutta,  Sacred  Books  of  the  Buddhists,  Vol.  II, 
Dialoguc  I,  S.  46  ff. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  79 

weil  sie  irrtümlicherweise  das  geistige  Universum  um  ein 
imaginäres  Wesen  gruppierten,  das  sie  als  ein  im  Menschen 
wohnendes  abgesondertes  Etwas  sich  vorstellten,  und  das  sie  als 
das  Ego  oder  die  unsterbliche  Seele  des  Menschen  bezeichneten. 
Die  Analogie  kann  aber  noch  weiter  durchgeführt  werden;  denn 
gerade  so  wie  die  Anhänger  des  alten  geozentrischen  Systems 
die  Lehren  des  Kopernikus  für  offenbar  absurd  hielten,  indem 
sie  sich  darauf  beriefen,  dass  man  die  Bewegung  der  Sonne 
um  die  Erde  doch  wahrnehme,  so  gründen  die  modernen 
Verteidiger  der  Ego-zentrischen  Systeme  ihre  Abweisung  des 
non-ego-zentrischen  Buddhismus  und  der  späteren  occidentalen 
Ontologieen  auf  die  Wahrnehmung,  dass  alle  geistigen  Phä- 
nomene sich  drehen  und  zentralisiert  sind  um  ein  statisches,  un- 
veränderliches Selbst  oder  Ego  in  uns,  einen  Wahrnehmer  aller 
Empfindungen,  einen  Gestalter  aller  Willensregungen,  einen 
Wisser  aller  Gedanken  und  Handlungen,  eine  getrennte,  geistige 
oder  seelische  Wesenheit,  die  sie  sich  als  verschieden  und  unab- 
hängig von  den  Sinnesorganen  und  Seelenvermögen  vorstellen. 
Und  weiter:  Die  Ptolemäisten  wähnten  damals,  als  das  Kopcrni- 
kanische  System  zuerst  aufkam,  dasselbe  müsste  alle  wahre 
Religion  und  Moralität  vernichten,  weil  es  das  Weltzentrum 
nicht  in  die  von  ihnen  so  hochgeschätzte  Erde  verlegt,  weil  es 
leugnet,  dass  die  Welt  zum  Dienste  der  Menschen  geschaffen 
sei.  Genau  ebenso  nun  meinen  auch  heute  diejenigen,  die  an 
ein  unsterbliches,  getrenntes  Seelenwesen  im  Menschen  glauben, 
die  buddhistische  Theorie  sei  verderblich  und  unsittlich,  weil 
dieselbe  diesen  von  ihnen  so  sorgsam  gehegten  Wahn  eines 
wechsellosen,  abgesonderten,  unsterblichen  Egos  im  Menschen 
verneint;  diese  Leute  ziehen  den  Schluss,  dass,  wenn  kein  un- 
wandelbares, für  sich  allein  bestehendes  Seelen -Substratum 
existiere,  dann  auch  keine  Hoffnung  mehr  für  uns  vorhanden 
sei,  dass  vielmehr  das  Ende  aller  Religion  und  alles  Lebens 
vor  der  Tür  stehe. 

Aber  die  Erkenntnis  wächst.  Heute  will  der  abendländi- 
sche Geist  nicht  länger  mehr  daran  glauben,  dass  es  für  die 
Religion  —  in  einem  mehr  tiefen,  wahren  Sinne  —  verhängnisvoll 
sei,  wenn  wir  lernen,  dass  diese  Erde,  auf  welcher  wir  leben, 
nur  ein  Tropfen  im  Ozean  der  Unendlichkeit  ist;  kein  vernünf- 


80  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

tiger  Mensch  hält  heute  diese  Lehre  für  so  verderblicli,  dass 
nur  der  Galgen  und  die  Folter  als  Hilfsmittel  gegen  dieselbe 
angerufen  werden  müssten.  Vielmehr  hat  diese  Idee  so  sehr 
dazu  beigetragen,  die  kleinliche  Eitelkeit  des  Menschen  zu 
dämpfen,  dass  in  unserer  Zeit  die  Anwendung  von  Rad  und 
Folter  unmöglich  geworden  ist:  Der  Mensch  ist  in  geistiger 
Hinsicht  unendlich  gewachsen  entsprechend  seiner  zunehmenden 
Erkenntnis  des  Weltprozesses.  (Fortsetzung  folgt.) 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 


Einleitung. 

Der  Buddhismus  wird  sehr  häufig  charakterisiert  als  eine 
Religion  ohne  den  Glauben  an  Gott  und  an  die  menschliche 
Seele,  ohne  die  Hoffnung  auf  eine  zukünftige  Existenz,  als  eine 
pessimistische,  trostlose  Religion,  die  auf  das  Leben  nur  als 
auf  ein  Leidensmeer  blickt,  die  in  ihren  etliischen  Forderungen 
quietistisch  ist  und  als  einzigen  Trost  den  Ausblick  gewährt, 
endlich  einmal  im  absoluten  Nichts  zu  verlöschen.  Nun  ist  es 
richtig,  dass  die  Buddhisten  mit  Ausnahme  einiger  häretischer 
Schulen  nicht  an  einen  persönlichen  Gott  glauben ;  indessen 
gibt  es  viele  gläubige  Christen,  welche  in  dem  theistischen 
Dogma  nur  den  symbolischen  Ausdruck  einer  tieferen  Wahrheit 
erblicken,  und  andererseits  glauben  die  Buddhisten^)  nicht  nur 
an  den  Sambhoga-Käya,  welcher  als  ein  Äquivalent  der  christ- 
lichen Gottesidee  bezeichnet  werden  muss,  sondern  auch  an  die 
Trinität  Sambhoga-Kaya,  Nirmäna-Käya  und  Dharma- 
Käya-),  welche  eine  ausserordentliche  Ähnlichkeit  mit  der  christ- 
lichen Idee  vom  Vater,  Sohn  und  Heiligen  Geist  hat.  Ferner 
ist  es  eine  unleugbare  Tatsache,  dass  die  Buddhisten  nicht  an 
ein  getrenntes  Seelenwesen  (Atman)  glauben,  wie  es  die  brah- 


')  Allerdings  nur  die  Anhänger  des  (nördlichen)  Mahäyäna-Buddhismus. 
■)  Näheres  hierüber  in  einem  späteren  Aufsätze  von  Dr.  Paul  Carus 
über  »Buddhismus  und  Christentum«, 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  81 

manischen  Piiilosophen  lehren,  aber  sie  leugnen  durchaus  nicht 
die  Existenz  des  Geistes  und  die  Fortsetzung  des  geistigen 
Daseins  des  Menschen  nach  dem  Tode.  Aber  die  in  der 
abendländischen  Denkweise  geschulten  Menschen  sind  so  sehr 
in  ihrer  eigenen  Ausdrucksweise  befangen,  dass  orientalische 
Denker,  wenn  sie  Ausdrücke  gebrauchen,  welche  die  allegorische 
Bezeichnung  der  christlichen  Denkweise  verneint,  für  Negativisten 
angesehen  werden.  Ja,  sogar  solche  Abendländer,  welche  auf- 
gehört haben,  Anhänger  des  Christentums  zu  sein,  sehen  häufig 
den  positiven  Aspekt  der  buddhistischen  Weltanschauung 
nicht,  und  wir  müssen  immer  und  immer  wieder  den  alten 
Refrain  hören:  Wenn  die  Lehre  des  Buddha  nicht  Nihilismus 
ist,  so  läuft  sie  dennoch  in  praxi  auf  Nihilismus  hinaus. 

Benfey  sagt  in  der  Vorrede  zu  seiner  Übersetzung  des 
Panca-Tantra : 

„Die  hohe  Blüte  des  indischen  Geisteslebens  (gleichviel  ob  sie  in 
brahmanischen  oder  buddhistischen  Werken  zum  Ausdruck  gelangte)  ging 
im  wesentlichen  aus  dem  Buddhismus  hervor  und  ist  gleichzeitig  mit 
der  Epoche,  in  welcher  der  Buddhismus  florierte ;  das  will  sagen,  vom  3. 
Jahrhundert  v.  Chr.  bis  zum  6.  Jahrhundert  n.  Chr.  Wenn  wir  das  von 
dem  Buddhismus  in  seinen  frühesten  Tagen  an  vertretene  Prinzip  betrach- 
ten, „dass  nur  die  Lehre  wahr  ist,  welche  der  gesunden  Ver- 
nunft nicht  zuwiderläuft",  so  müssen  wir  ganz  gewiss  zugeben,  dass  damit 
die  Selbständigkeit  der  menschlichen  Vernunft  tatsächlich  anerkannt 
war;  die  Gesamtheit  der  Beziehungen  zwischen  dem  Reich  des  Erkenn- 
baren und  Nicht-Erkennbaren  war  ihrer  Kontrolle  unterworfen,  und  unge- 
achtet der  Tatsache,  dass  die  tätigen  Kräfte  der  Vernunft,  an  welche  so 
in  letzter  Linie  appelliert  wurde,  in  der  Tat  noch  nicht  gesundet  waren, 
so  war  dennoch  der  Ausweg  gewiesen,  auf  welchem  die  Vernunft  unter 
günstigeren  Umständen  damit  beginnen  konnte,  sich  von  den  ihr  anhaf- 
tenden Schlacken  zu  läutern.  Wir  lernen  bereits  in  den  philosophischen 
Untersuchungen  des  Buddhismus  die  Arbeiten  schätzen,  die,  obgleich  zum 
Teil  spitzfindig,  dennoch  nach  Vollkommenheit  streben  und  wegen  ihres 
Porschungs-Ernstes  die  höchste  Beachtung  verdienen.  Aus  dem  Tone, 
der  in  unserem  Werke  vorherrscht,  und  mehr  noch  aus  dem  wahrschein- 
lichen buddhistischen  Ursprünge  jener  anderen  indischen  Geschichtsbücher, 
die  uns  bis  jetzt  bekannt  geworden  sind,  ist  Hand  in  Hand  mit  dem  bud- 
dhistischen Ernst  der  heitere  Scherz  klar  ersichtlich,  und  sogar  frivole 
Dichtung  und  Unterhaltung  hat  den  Frohsinn  des  Lebens  bewahrt." 

Diese  Schilderung  zeichnet  den  Buddhismus  keineswegs 
in   einem   düsteren   Kolorit;  sie  ist  sehr  verschieden  von  den 

6 


82  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Vorstellungen,  welche  sich  gewöhnlich  die  Leute  von  demselben 
machen. 

Trotz  mancher  Überschwänglichkeiten  innerhalb  des  mo- 
dernen Buddhismus  sind  seine  Kräfte  und  Fähigkeiten  noch 
gross  genug,  hauptsächlich  deshalb,  weil  er  seinen  Anhängern 
einschärft,  die  Kraft  ihrer  Vernunft  frei  zu  gebrauchen.  Unter 
allen  religiösen  Menschen  sind  die  Buddhisten  mehr  als  andere 
zu  gleicher  Zeit  voll  religiösen  Eifers  und  auch  gegen  ein 
Überzeugt-werden  nicht  verschlossen. 

Wir  lesen  in  M.  Hucs  »Travels  in  Tartary,  Thibet  and 
China«  (Reisen  in  der  Tartarei,  Tibet  und  China,  II,  S.  189), 
dass  der  Herrscher  von  Lhassa  den  französischen  Missionaren 
gegenüber  unaufhörlich  wiederholte: 

„Ihre  Religion  ist  der  unsrigen  gleich,  die  Wahrheiten  sind  dieselben, 
wir  unterscheiden  uns  nur  in  der  Erklärung.  Inmitten  alles  dessen,  was 
Sie  in  der  Tartarei  und  in  Tibet  gesehen  und  gehört  haben,  müssen  Sie 
manches  gefunden  haben,  das  nicht  gebilligt  werden  kann ;  indessen  dürfen 
Sie  nicht  vergessen,  dass  manche  der  von  Ihnen  beobachteten  Irrtümer 
und  Formen  des  Aberglaubens  von  unwissenden  Lamas  eingeführt  sind, 
dagegen  von  gebildeten  und  einsichtigen  Buddhisten  verworfen  werden". 
Er  gab  zwischen  ihm  und  uns  nur  zwei  Verschiedenheiten  (im  Glauben) 
zu:  den  Ursprung  der  Welt  und  die  Wiedergeburt  betreffend. 
„Lassen  Sie  uns  zusammen  beide  Punkte  prüfen",  fuhr  er  fort,  „mit  Auf- 
richtigkeit und  Sorgfalt;  wenn  Ihre  Ansicht  die  bessere  ist,  wollen  wir  sie 
annehmen;  wie  könnten  wir  Ihnen  dies  abschlagen?  Wenn  aber  anderen- 
falls unsere  Ansicht  die  bessere  ist,  so  zweifle  ich  nicht,  dass  Sic  ebenso 
vernünftig  sein  und  dieselbe  annehmen  werden". 

Nun  ist  es  merkwürdig,  dass  in  jenen  zwei  Punkten, 
welche  (nach  der  Ansicht  des  Gross-Lamas)  die  hauptsäch- 
lichsten Unterscheidungen  zwischen  Buddhismus  und  Christen- 
tum ausmachen,  nämlich  Schöpfung  einerseits  und  Natur 
der  Seele  andererseits,  die  moderne  Wissenschaft,  wie  sie 
vorwiegend  von  Gelehrten  repräsentiert  wird,  die  eine  christ- 
liche Erziehung  genossen  haben  und  innerhalb  einer  zwei- 
tausendjährigen christlichen  Überlieferung  leben,  zweifellos  auf 
Seiten  des  Buddhismus  steht.  Unter  unseren  Gelehrten  wird 
schwer  einer  zu  finden  sein,  welcher  gewillt  wäre,  eine  Schöp- 
fung aus  Nichts  anzunehmen,  und  in  den  Reihen  unserer  her- 
vorragenden Psychologen  werden  nur  wenige  der  dualistischen 
Anschauung   über  die   Seele   zustimmen,   welche  die  Existenz 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  83 

eines  psychischen  Agens  hinter  den  Tatsachen  des  Seelen- 
lebens behauptet.  Nichtsdestoweniger  wurzelt  unsere  populäre 
Vorstellung  von  einem  Gott-Schöpfer  und  von  einer  für  sich 
bestehenden,  getrennten  Ich-Seele  so  tief  in  dem  Gemüt  un- 
serer Volksgenossen,  dass  sie  von  den  letzteren  als  die  unbe- 
dingte Grundlage  aller  Religion  betrachtet  wird. 

Wir  beabsichtigen,  hier  in  kurzem  die  fundamentalen  Ideen 
des  Buddhismus  zu  untersuchen,  und  hoffen  den  Nachweis  zu 
liefern,  dass,  obwohl  seine  Lehren  von  der  Seele  und  von  Nir- 
vAna  dem  abendländischen  Geiste  als  gleichbedeutend  mit 
Nihilismus  erscheinen  mögen,  dieselben  sicher  nicht  Nihilismus 
sind,  wenn  wir  uns  die  Mühe  nehmen,  sie  vom  buddhistischen 
Standpunkte  aus  zu  betrachten.  Und  weit  entfernt  davon 
pessimistisch  im  Sinne  des  Abendlandes  zu  sein,  besitzt  der 
Buddhist  eine  heitere  Gemütsverfassung,  welche  ihn  in  dieser 
Welt  der  Trübsal  über  Schmerz  und  Leiden  emporhebt. 


Karman. 


Die  Seele  wurde  von  den  brah manischen  Philosophen 
identifiziert  mit  dem  »Ätman«,  dem  »Selbst«,  dem  »Ego«  oder 
Ego-Bewusstsein,  d.  h.  sie  hielten  dafür,  dass  im  Menschen  ein 
Etwas  vorhanden  sei,  welches  sagt:  »Ich«.  Dieser  Ätman 
wurde  gedacht  als  eine  metaphysische  Wesenheit  hinter  den 
Empfindungen,  Gedanken  und  anderen  Tätigkeitsformen  des 
Menschen.  Nicht  das  Auge  sieht,  —  sagten  sie,  —  sondern 
der  Seher  im  Auge;  nicht  das  Ohr  hört,  sondern  der  Hörer 
im  Ohr;  nicht  die  Zunge  schmeckt,  sondern  der  Schmecker  in 
der  Zunge;  nicht  die  Nase  riecht,  sondern  der  Riecher  in  der 
Nase;  nicht  der  Geist  denkt,  sondern  der  Denker  im  Geiste; 
nicht  die  Füsse  gehen,  noch  sind  die  Hände  tätig,  sondern  der 
Täter  in  den  Füssen  und  Händen.  Dieses  mysteriöse  Wesen 
im  Menschen,  welches  da  sagt:  „Ich  bin  diese  Person,  ich 
besitze  Augen,  Ohren,  Nase,  Zunge,  Hände  und  Füsse,  ich 
sehe,  höre,  rieche,  schmecke,  fühle  die  Berührung  von  Körpern, 
gehe  und  handle,"  soll  das  Agens  der  Tätigkeit  des  Menschen 
sein.  Dieses  »Ich«  oder  »Ego«  der  Seele,  dieser  Agens  mensch- 
licher Tätigkeit  ist  der   »Ätman«   oder   das    »Selbst«   (in  der 


84  DER  BUDDHIST.  I,  Jahrg. 

brahmanisclicn  Philosophie),  und  insofern  das  Dasein  dieses 
Alman  von  Buddha  geleugnet  wird,  lehrt  der  Buddhismus,  dass 
keine  Seele  (d.  h.  kein  getrenntes,  mit  dem  Ich-Bcwusstsein  be- 
gabtes Seelen-Substrat)  existiert. 

Wenn  die  Buddhisten  von  der  Seele  sprechen,  meinen  sie 
den  (eben  charakterisierten)  brahmanischen  Ätman.  Wenn  sie 
dagegen  das  bezeichnen  wollen,  was  wir  Seele  nennen,  so 
sprechen  sie  vom  Geist,  und  weit  entfernt  davon,  das  Vor- 
handensein des  Geistes  zu  leugnen,  ersetzt  der  Buddhismus 
nur  die  dualistische  Auffassung  der  brahmanischen  Philo- 
sophie durch  eine  monistische  Seelen-Theorie,  welche  im 
Laufe  der  Zeit  natürlich  jene  Lehre  entwickelt  hat,  welche  be- 
sagt: „Es  existiert  nichts  ausser  dem  Geist." 

Die  These:  „Es  existiert  nichts  ausser  dem  Geist"  erinnert 
uns  an  Cliffords  Ausspruch:  „Alles,  was  existiert,  ist  Geist- 
Stoff;"  das  mag  folgendermassen  erläutert  werden:  Alle  Dinge 
ausserhalb  erscheinen  uns  als  Materie,  die  sich  im  Räume  be- 
wegt; so  erscheinen  wir  anderen  Wesen  als  im  Raum  sich  be- 
wegende Materie;  wir  erscheinen  unseren  eigenen  und  anderer 
Menschen  Sinnen  als  Körper;  aber  in  uns  selbst  fühlen  wir 
unsere  Existenz  als  das,  was  wir  Geist  oder  Seele  nennen. 
Körper  ist  dasjenige,  als  was  Geist  oder  Seele  in  die  Erschei- 
nung tritt.  Da  unser  Körper  aus  demselben  Material  besteht, 
wie  die  Körper  der  umgebenden  Welt,  und  aus  demselben 
seinen  Ursprung  nahm,  so  schliessen  wir,  dass  die  gesamte 
Welt  aus  demselben  Stoff  besteht.  Alles,  was  als  Materie  er- 
scheint, kann,  wenn  es  nur  die  spezifische  Form  annimmt,  zu 
solchen  Arten  Geist  oder  Seele  werden,  wie  wir  selbst  sind; 
mit  einem  Worte:  Alles  Dasein  ist  geistig,  oder  genauer  ge- 
sprochen: psychisch."*) 

')  In  teilweiser  Anpassung  an  die  Terminologie  der  Übersetzer,  welche 
in  der  Regel  Ätman  durch  »Seele«  und  das,  was  wir  »Seele«  nennen,  d.  h. 
die  Gesamtheit  unserer  Gedanken,  Empfindungen  und  Strebungen,  durch 
»Geist«  wiedergeben,  sprechen  wir  hier  von  »Seele  oder  Geist«.  Anderer- 
seits machen  wir,  um  uns  einer  genaueren  Terminologie  zu  bedienen,  den 
Vorschlag,  eine  Unterscheidung  eintreten  zu  tassen.  Wenn  wir  »Seele« 
sagen,  so  meinen  wir  hauptsächlich  das  fühlende  oder  empfindende 
Element  im  Dasein  des  Menschen ;  wenn  wir  von  »Geist«  sprechen,  so 
sind  damit  die  intcllectucll-geistigen  und  vernünftigen  Züge,  mit 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  85 

Die  Psychologie  des  Buddhismus  ist  kurz  niedergelegt  in 
dem  ersten  Verse  des  Dhammapada: 

„Alles,  was  wir  sind,  ist  die  Frucht  von  dem,  was  wir  ge- 
dacht haben;  es  gründet  sich  auf  unsere  Gedanken,  es  ist  aus 
unseren  Gedanken  entsprungen." 

Dieses  Wort  beweist,  dass  der  Buddhismus  keineswegs 
die  Existenz  der  Seele  leugnet,  wenn  unter  Seele  die  Ideen, 
Strebungen  und  geistigen  Tätigkeiten  des  Menschen  verstanden 
werden.  Die  Buddhisten  erklären,  dass  die  Seele  nicht  eine 
unauflösliche  Einheit,  nicht  ein  metaphysisches  Selbst  ist,  son- 
dern ein  Zusammengesetztes.  Des  Menschen  psychisches  und 
geistiges  Wesen  besteht  aus  »Samskäras« '),  d.  i.  aus  gewissen 
Formen  und  formativen  Fähigkeiten,  welche  dem  Karman-Ge- 
setz  zufolge  erhalten  bleiben  und  so  eine  Fortdauer  der  mensch- 
lichen Existenz  in  dem  Wirbel  beständiger  Veränderungen  ver- 
ursachen. Oldenberg  übersetzt  das  Wort  Samskära  durch  »Ge- 
staltung« und  sagt  bei  der  Erläuterung  dieses  Begriffes: 

„Wir  könnten  Samkhära  direkt  mit  »Handlungen«  übersetzen,  wenn 
wir  dieses  Wort  in  dem  weiten  Sinne  verstehen,  in  welciiem  es  zu  gleicher 
Zeit  auch  die  inneren  Handlungen,  den  Willen  und  den  Wunsch  in  sich 
schliesst." 

Samskära  bedeutet  Seelen-Struktur;  dieselbe  offenbart  sich 
in  Verrichtungen  als  das  formative  (bildende)  Element,  welches 
unser  Dasein  und  unser  Schicksal  schafft.    Oldenburg  fährt  fort: 

„Der  Buddhismus  lehrt:  Meine  Tat  ist  mein  Besitz,  meine  Tat  ist 
mein  Erbteil,  meine  Tat  ist  der  Mutterschoss,  der  mich  gebiert,  meine  Tat 
ist  das  Geschlecht,  dem  ich  verwandt  bin,  meine  Tat  ist  meine  Zuflucht! 
(Anguttara  Nikäya,  Pancaka  Nipäta.)  Was  dem  Menschen  als  sein  Kßper 
erscheint,  ist  in  Wahrheit  die  Tat  seines  vergangenen  Zustandes,  welche 
dann  eine  durch  sein  Streben  realisierte  Form  annehmend,  mit  einer  fühl- 
baren Existenz  begabt  worden  ist. 


welchen  die  manigfaltigen  Gefühle  begabt  sind,  gemeint.  So  wäre  es  ge- 
nauer, wenn  Clifford  anstatt  »Geist-Stoff«  »Seelen-Stoff«  gesagt  hätte, 
und  die  buddhistische  Lehre:  »Alles  ist  Geist«  könnte  folgendermassen 
definiert  werden:  Jede  Realität,  welche  empfindenden  Wesen  als  objektiv 
erscheint,  ist  in  sich  selbst  subjektiv;  wir  nennen  sie  Materie,  aber  sie 
ist  in  sich  selbst  wirkendes  Fühlen ;  sie  kann  empfindend  werden,  sie  ist 
Seele  oder  besser:  Seelen-Stoff.  Über  die  Definitionen  von  »Seele«  und 
»Geist«  im  einzelnen  siehe  »Primer  of  Philosophy«  S.  193. 

')  »Samskära«  ist  Sanskrit,  »Samkhära«  oder  »Sankhära«  ist  Päli. 


/ 


/ 


kS  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  jüdisch-christliche  Weltanschauung  schildert  uns  als 
die  Geschöpfe  Gottes.  Wir  sind  wie  Gefässe  in  des  Töpfers 
Hand;  einige  von  uns  sind  für  einen  hohen  Zweck  bestimmt, 
andere  sind  als  unreine  Gefässe  geschaffen.  Die  Buddhisten 
betrachten  unsern  Charakter  und  unser  Schicksal  als  das  Er- 
gebnis unserer  eigenen  Taten  in  unserem  gegenwärtigen  Dasein 
und   in   zahllosen   vergangenen   Existenzen.    In   diesem   Sinne 


/        sagt  das  Dhammapada: 


„Durch  das  eigene  Selbst  wird  das  Böse  getan,  durch  das 
eigene  Selbst  leidet  man.  Durch  das  eigene  Selbst  bleibt  das 
Böse  ungetan,  durch  das  eigene  Selbst  wird  man  rein.  Reinheit 
und  Unreinheit  schafft  man  sich  selbst,  niemand  kann  einen 
anderen  reinigen.  Ihr  selbst  müsst  euch  anstrengen,  die  Buddhas 
sind  nur  Prediger.  Der  Pfad  wurde  von  mir  gepredigt,  als 
ich  die  Beseitigung  des  Stachels  im  Fleisch  verstand". 

Nach  den  buddhistischen  Lehren  dauert  die  Existenz  der 
menschlichen  Seelen  fort,  insofern  als  die  letzteren  anderen  Gene- 
rationen durch  Vererbung  und  Erziehung  aufgeprägt  werden. 
Ein  Mensch  bleibt  derselbe  von  gestern  auf  heute  und  von 
heute  auf  morgen,  in  dem  Sinne,  als  er  aus  denselben  Sams- 
käras  besteht;  sein  Charakter  bleibt  derselbe,  genau  so  wie 
ein  Licht,  welches  einige  Stunden  brennt,  dasselbe  Licht  bleibt, 
obgleich  die  Flamme  fortwährend  von  anderen  Teilchen  des 
Öles  gespeist  wird.')  Der  Mensch  desselben  Charakters  wie 
du  ist  derselbe  Mensch,  wie  du,  geradeso  wie  zwei  Dreiecke 
von  gleichen  Winkeln  und  Seiten  kongruent  sind.  Dies  findet 
seinen  schönen  Ausdruck  in  dem  Worte  »Tat  tvam  asi«  (das 
bist  du),  welches  Schopenhauer  zum  Grundstein  der  Ethik 
macht;  denn  diese  Anschauung  von  der  Seele,  nach  welcher 
man  sich  selbst  in  anderen  wiederkennt,  beseitigt  alle  selbst- 
süchtigen Motive.  (Fortsetzung  folgt.) 

Roh  und  barsch  sein,  verläumderisch,  treulos,  hochmütig, 
voller  Habsucht,   niemandem  etwas  zuwenden  -—  dies  und  nicht 
das  Essen  von  Fleisch  ist  unrein.  Amagandha-Sutta. 
:|j 

')  Ein  ähnliches  Bild  wird  im  Milindapanha  gebraucht. 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  87 

^^  Mahäbodhi.  ^^ 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 


In  derselben  Zeit  des  Jahres,  da  die  Pfingstglocken  das 
deutsclie  Land  durchiciingen,  begeht  die  buddhistische  Welt  die 
Feier  ihres  Mahäbodhi-Festes.  Das  Wort  »Bodhi«  (Sani- 
bodhi,  Mahäbodhi)  ist  stammverwandt  mit  Buddha  und  ab- 
geleitet von  der  Sanskrit-Päji-Wurzel  »budh«,  erwachen, 
erleuchtet  sein,  weise  sein.  Bodhi  heisst  also  Erwachen, 
Erleuchtung,  Weisheit.  Der  Begriff  spielt,  wie  auf  den  ersten 
Blick  erhellt,  im  Buddhismus  eine  ausserordentlich  wichtige 
Rolle,  ja,  er  kann  als  der  Kardinalpunkt  dieser  Religion  betrachtet 
werden,  wie  denn  der  Buddhismus  häufig  als  die  Religion  der 
Erleuchtung,  Religion  des  Erwachens*)  definiert  worden  ist. 

Bodhi  hat  eine  doppelte  Bedeutung,  je  nachdem  sie  vom 
religions-gesch  ich  fliehen  oder  vom  religions-philosop  bi- 
schen Standpunkte  aus  betrachtet  wird.  Im  ersteren  Sinne 
bedeutet  Mahäbodhi  jenen  markanten  Wendepunkt  in  dem 
Leben  Qäkyamunis,  welcher  dem  letzteren  den  Ehrentitel  der 
Buddha  verlieh,  und  welchem  die  Welt  die  Segnungen  dieser 
wunderbaren  Religion  verdankt.  Hochheilig  ist  den  Buddhisten 
die  Erinnerung  an  diese  Weihe-Nacht,  in  welcher  der  Meister 
zur  klaren  Erkenntnis,  zur  hohen  Weisheit  gelangte;  das  Gedenken 
an  des  Meisters  geistiges  Erwachen  ist  für  sie  eine  Quelle,  aus 
der  sie  neuen  Mut,  neue  Freudigkeit,  neuen  Trost  im  Dunkel 
des  Lebens  schöpfen.  Mahäbodhi  ist  für  die  Buddhisten  eben 
mehr,  als  ein  religions-geschichtlicher  Begriff,  welcher  für  sie 
von  keiner  besonderen  Bedeutung  sein  könnte,  wenn  sie  nicht 
wüssten,  dass  der  Meister  für  sie  das  höchste  Ideal,  das  er- 
habenste Vorbild  ist,  und  dass  jene  Erleuchtung  des  Buddha 
eine  geistige  Tatsache  darstellt,  deren  Verwirklichung  das  Ziel 
eines  jeden  wahren  Buddhisten  sein  sollte.  Wenn  wir  sagen, 
Mahäbodhi  sei  eine  geistige  Tatsache,  so  wollen  wir  damit 
unserer  Ansicht  Ausdruck  geben,  dass  dieses  geistige  Erwachen 


')  Es  bedarf  wohl  kaum  eini-s  besonderen   Hinweises  darauf,  dass 
unter  Erwachen  hier  etwas  rein  Geistiires  zu  verstehen  ist. 


te  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

als  ein  inneres  Erlebnis  für  den  Menschen  zur  Qewissheit  wer- 
den kann.  In  diesem  Sinne  ist  Mahäbodhi  ein  religions- 
philosophischer  Begriff. 

Es  soll  nun  im  folgenden  der  Versuch  gemacht  werden, 
das  Wesen  der  Mahäbodhi  kurz  zu  charakterisieren  und  auf 
die  Mittel  hinzuweisen,  durch  welche  nach  den  Lehren  des 
Buddhismus  der  Mensch  zur  Erreichung  dieses  Zustandes  ge- 
langen kann.  Eins  muss  von  vornherein  bemerkt  werden:  Der 
Leser  mache  den  Versuch,  möglichst  vorurteilsfrei  an  die  Prü- 
fung dieser  Frage  heranzutreten,  d.  h.  nicht  von  dem  Stand- 
punkte aus  das  Mahäbodhi-Problem  zu  betrachten,  auf  den  ihn 
der  landläufige  abendländische  Religions-Unterricht  geführt  hat; 
denn  dieser  Standpunkt  muss  im  Sinne  des  Buddhismus  als 
ein  Vorurteil  bezeichnet  werden,  und  mit  Vorurteilen  eine  Frage 
entscheiden  zu  wollen,  ist  von  vornherein  eine  vergebliche 
Liebesmühe.  Der  Buddhismus  ist  eine  durchaus  undogmatische 
Religions-Philosophie,  und  wer  ihn  vom  Standpunkte  irgend 
eines  Dogmatismus  aus  beurteilen  will,  gleicht  einem  Menschen, 
der  die  Welt  durch  eine  blaue  Brille  betrachtet  und  sich  auf 
die  Behauptung  versteift,  dass  blau  das  Wesen  aller  Dinge  sei. 
Vor  allen  Dingen  hüte  man  sich  von  vornherein,  aus  der 
scheinbaren  Identität  des  christlichen  Pfingst-Gedankens  und 
der  Mahäbodhi-ldee  —  im  Mittelpunkt  beider  steht  der  Begriff 
der  Erleuchtung  —  den  falschen  Schluss  zu  ziehen,  dass  beide 
in  Wahrheit  identisch  seien.  Es  ist  möglich,  dass  der  christ- 
lichen Erleuchtungs-ldee  eine  tiefere  Wahrheit  zu  Grunde  liegt, 
jedenfalls  ist  aber  der  Vorgang  der  Erleuchtung,  wie  er  in 
weiten  Kreisen  der  Christenheit  vorgestellt  wird,  grundver- 
.schieden  von  der  Mahäbodhi  der  Buddhisten.  Der  Haupt- 
unterschied ist  dieser:  Während  die  Erleuchtung  im  christlichen 
Sinne  als  ein  Vorgang  angesehen  wird,  der  auf  mystische 
Weise  zwischen  einem  persönlich-gedachten  Gott  einerseits  und 
dem  Menschen  andererseits  sich  abspielt,  reift  die  buddhistische 
Erleuchtung  durchaus  nur  im  Innern  des  menschlichen  Geistes, 
ohne  jedwede  Einwirkung  von  ausserhalb.  Die  Vorstellung, 
welche  das  Gemüt  des  betenden  Monotheisten,  gleichviel  ob 
Jude,  Christ  oder  Islämit,  erfüllt:  „Hier  stehe  ich  als  Bittender, 
dort  bist  du,   Gott,   an   den  ich  mein  Gebet  richte,   der  meine 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  89 

Bitten  erhört",  diese  Vorstellung  ist  auf  dem  Boden  des  Bud- 
dhismus durchaus  undenkbar,  und  wer  den  letzteren  mitsamt 
der  Mahäbodhi-Idee  von  diesem  Standpunkte  aus  beurteilt,  muss 
notwendigerweise  zu  ganz  falschen  Ansichten  kommen.  Man 
vergesse  nie,  dass  die  Vorstellung  eines  persönlichen  Gottes, 
der  ausserhalb  des  Menschen  ist  und  Gebete  erhört,  in  der 
buddhistischen  Lehre  als  eins  der  grössten  Vorurteile  bezeich- 
net wird. 

Der  Buddhismus  ist  eine  durchaus  nüchterne  Philosophie, 
welche  weder,  wie  der  Brahmanismus,  an  irgend  welche  meta- 
physischen Spekulationen  anknüpft,  noch  auch,  wie  die  mono- 
theistische Religionen  des  Westens,  auf  irgend  welchen  Ereig- 
nissen in  der  Religionsgeschichte  fusst.  Der  Buddha-Dharma 
geht  nicht  etwa  von  Erwägungen  aus,  wie  sie  die  Hindu-Philo- 
sophie liebt,  ob  die  Dinge,  die  wir  wahrnehmen,  sind  oder 
nicht  sind,  ob  die  Welt  real  ist  oder  nicht,  —  sondern  er  sagt 
schlicht  und  einfach  zu  seinen  Anhängern:  „Schauet  um  euch 
und  betrachtet  das  Leben!"  Da  ergibt  sich  als  erstes  Resultat 
einer  solchen  Betrachtung,  dass  alle  Dinge  vergänglich  sind. 
Diese  Vergänglichkeit,  dieser  Wechsel,  herrscht  uneingeschränkt 
und  überall  im  gesamten  Universum:  was  entsteht,  muss  ver- 
gehen, was  erblüht,  muss  verwelken,  was  als  Form  in  die  Er- 
scheinung tritt,  muss  sich  auflösen,  was  geboren  wird,  muss  j 
sterben.  Was  aber  vergänglich  ist,  birgt  Leid  in  sich;  da  nun  | 
das  Leben  mitsamt  seinem  Inhalt  der  Vergänglichkeit  unterwor-  \ 
fen  ist,  so  ist  das  Leben  leid  voll. 

Die  eben  genannten  beiden  Tatsachen  der  Vergänglich- 
keit und  des  Leidens  waren  einst  dem  Gemüt  des  jungen 
indischen  Prinzen  mit  furchtbarer  Wucht  offenbar  geworden, 
und  es  handelte  sich  für  ihn  nur  noch  um  eine  Frage:  Wie 
kann  der  Mensch  von  dem  Leiden  und  von  der  Ver- 
gänglichkeit erlöst  werden?  In  der  Erleuchtung  hat 
Gotama-Siddhattha  die  Antwort  auf  diese  Frage  gefunden. 

Der  Mensch  sieht  sich  von  einer  Welt  mannigfacher,  tausend- 
gestaltiger  Formen  umgeben.  Fortwährend  empfangen  seine 
Sinnesorgane  Eindrücke,  die,  zum  Hirn  geleitet,  bestimmte 
Empfindungen,  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  hervorrufen; 
diese  Empfindungen,  Wahrnehmungen    und  Vorstellungen   ver- 


90  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

knüpfen  sich  im  menschlichen  Gehirn  zur  Einheit,  und  es  ent- 
steht die  Vorstellung:  „Ich  bin".  Das  »Ich«  wird  als  ein 
selbständiges,  getrenntes  Wesen  empfunden ;  es  tritt  in  Gegen- 
satz zur  Welt  und  den  Dingen,  es  wird  das  Zentrum,  um 
welches  sich  alle  Gedanken  und  Handlungen  des  Menschen 
gruppieren.  Ja,  dieses  abgesonderte  »Ich«,  dieses  getrennte 
»Selbst«  in  der  menschlichen  Vorstellung  wird  schliesslich  das 
einzige  Willensmotiv,  und  der  Ego-Gedanke  leitet  und  lenkt 
den  Menschen  in  allem  seinem  Wirken;  er  ist  das,  was  wir 
Individualität  nennen,  jene  Selbst-heit,  deren  Frucht  die 
Selbstsucht  ist.  Der  Mensch  klammert  sich  mit  allen  Fasern 
seines  Seins  an  diesen  Selbst-Gedanken;  er  strebt  danach, 
dieses  »Selbst«  um  jeden  Preis  zu  erhalten;  er  wiegt  sich  in 
dem  ach  so  wonnigen  Traum,  dass  sein  »Ich«  ewig  sein  werde. 
Alles  was  der  Mensch  denkt,  redet,  tut,  dreht  sich  in  letzter 
Linie  darum,  sein  Selbst  zu  befriedigen,  seinem  Ich  zu  dienen, 
seine  Individualität  noch  mehr  aus  der  Welt  hervortreten  zu 
lassen;  mit  anderen  Worten:  alles  Streben  des  Menschen  ist 
im  letzten  Grunde  aus  der  Selbstsucht  geboren. 

Bei  der  Pflanze  offenbart  sich  die  Selbstsucht  als  dumpfer 
Lebensdrang,  das  vegetative  Dasein  auf  Kosten  ihrer  Umgebung 
zu  fristen;  beim  Tiere  tritt  sie  hervor  als  wilde  Grausamkeit, 
als  roher  Begattungstrieb,  als  ein  Vollgeniessen  des  Augen- 
blickes. Beim  Menschen  sind  die  Formen  der  Selbstsucht  sehr 
verschiedenartig:  bald  materieller  als  Geschlechtstrieb,  Eigen- 
dünkel, Daseins-Kampf,  Mammon-Kultus,  Streben  nach  Macht, 
Ansehn,  Ruhm.  Aber  es  gibt  auch  feinere  Formen  der  Selbst- 
sucht: Behagliches  Dahinleben  in  der  Sonne  eines  momentanen 
Glückes,  das  Verhätscheln  gewisser  selbstgefälliger  Gedanken, 
Schwärmerei,  der  Glaube  an  die  Ewigkeit  dieses  vielgeliebten  Ich. 

Nun  ist  eins  klar:  Solange  der  Mensch  seiner  Selbstheit 
frönt,  wird  er  stets  aufs  neue  von  Enttäuschungen  heimgesucht 
werden;  denn  die  Ordnung  der  Welt  sorgt  dafür,  dass  die 
Vergänglichkeit  aller  Dinge  offenbar  wird,  auch  der  Dinge, 
an  welche  der  Mensch  sein  Selbst  hängt;  dann  tritt  die  Fülle 
des  Leidens  vor  Augen,  und  der  Mensch  wird  das  Leiden  um  so 
stärker  fühlen,  je  mehr  der  Selbst-Gedanke  in  ihm  Wurzel 
geschlagen  hat.    Ja,  der  letztere  mitsamt  der  aus  ihm  erzeugten 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  91 

Selbstsucht  ist  ja  die  Quelle  des  Leidens.  Fühlst  du  dich  als 
ein  »Ich«,  sagst  du:  „dies  ist  mein,  jenes  gehört  mir,"  so  musst 
du  eben  Leiden  ernten,  sobald  dir  das  Sciiicksal  das,  was  du 
als  dein  Eigentum  liebst,  unerbittlich  entreisst.  Der  Ausweg 
aus  dem  Leiden  ist  also  die  Erkenntnis,  dass  die  Individualität, 
die  sich  als  ein  Ich,  ein  Selbst  fühlt  und  Dinge  in  der  Welt 
als  ihr  eigen  betrachtet,  —  dass  diese  Individualität  mit  aller 
ihrer  schillernden,  trügerischen  Herrlichkeit  eine  Illusion  ist. 
Diese  Erkenntnis  und  die  aus  ihr  entspringende  selbst- 
lose Gesinnung  des  Gemütes  ist  Erleuchtung  im  bud- 
dhistischen Sinne. 

Der  Mensch  erscheint  nach  aussen  hin  objektiv  als  Form 
(Rüpa);  sich  selbst  betrachtend  ist  er  Subjekt  mit  Empfin- 
dungen, Gefühlen,  Strebungen  und  Gedanken-Aspekten.  Die 
letzteren  vier  Qualitäten  nun  sind  nicht  etwa  Verrichtungen 
oder  Funktionen  eines  getrennten  Ich-Wesens,  sondern  sie  selbst 
sind  das  »Ego«,  aus  ihrem  Zusammenwirken  entsteht  der  Ich- 
Gedanke;  hierin  stimmt  der  Buddhismus  durchaus  mit  der 
modernen  Wissenschaft  überein.  Wie  der  Körper  sich  uns  als 
ein  Werden  und  Vergehen  im  Reich  des  Materiellen  darstellt, 
wie  er  dem  Wechsel  unterworfen  ist,  wie  er  schwindet  und 
stetig  sich  erneuert,  so  ist  auch  in  dem  Innenleben  des  Men- 
.schen  kein  bleibendes,  unveränderliches,  getrenntes  Etwas  vor- 
handen, sondern  es  gilt  auch  hier  uneingeschränkt  der  Satz 
Heraklits:  „Alles  fliesst." 

Wenn  ein  Mensch  den  Selbst-Gedanken  aufgegeben  hat, 
wenn  er  zu  der  Einsicht  gelangt  ist,  dass  kein  bleibendes,  ge- 
trenntes Ego  existiert,  sondern  dass  die  Vorstellung  »Ich«  nur 
aus  dem  Zusammenwirken  verschiedener  Faktoren  resultiert, 
dann  schwindet  in  gleichem  Masse  die  Selbstsucht  und  die 
individuelle  Lust,  welche  bis  dahin  die  einzigen  Willensmotive 
waren.  Der  Egoismus  wird  abgestreift,  und  das  Gemüt  wird 
geläutert.  Jetzt  wird  der  Mensch  nicht  länger  die  Befriedigung 
seines  individuellen  »Ich«  suchen,  wird  nicht  länger  an  den 
vergänglichen  Dingen  haften,  wird  fürder  keine  Enttäuschung, 
kein  Leid  mehr  ernten,  wenn  das  Schicksal  ihm  dieses  oder 
jenes  versagt  oder  entreisst.  Das  heisse  Ringen  nach  materiellen 
Gütern   kommt   zur   Ruhe;    die   wilden  Wogen    des   irdischen 


92  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Hastens,  Jagens  und  Treibens  glätten  sich,  und  in  dem  Gemüte 
herrscht  jene  Stille,  dem  Wasser  vergleichbar,  das  nach  dem 
Toben  wilder  Stürme  sich  allmählich  glättet,  bis  endlich  der 
lautlose,  klare  Wasserspiegel  in  majestätischer  Ruhe  vor  uns 
liegt.    Das  ist  der  Erleuchtung  erster  Aspekt. 

Die  Erleuchtung  hat  die  Wolken  der  Ich-Illusion  verscheucht. 
Der  Mensch  fühlt  sich  nicht  mehr  im  Gegensatz  zu  den  Dingen 
stehend,  er  gruppiert  die  Welt  der  Vorstellung  nicht  weiter  um 
sein  Ego,  sondern  er  ist  nunmehr  zu  der  Einsicht  gelangt,  dass  er 
nur  ein  kleiner  Teil  des  Universums,  ein  geringer  Bruchteil  des 
universellen  Lebens  ist.  Die  Aggregate,  die  in  ihm  die  Vor- 
stellung eines  wechsellosen,  getrennten  »Ich«  hervorriefen,  sie 
kommen  und  gehen,  sie  sind  dem  Wechsel  unterworfen,  und 
diese  Tatsache  erstreckt  sich  auf  alle  Lebewesen.  So  bewirkt 
die  Erleuchtung,  dass  sich  der  Mensch  in  anderen  Geschöpfen 
wiedererkennt;  er  ist,  wie  sie  sind,  sie  sind  wie  er.  Diese  Ein- 
sicht läutert  die  Gesinnung  des  Menschen;  es  schwindet  Hass, 
Zorn,  Übelwollen,  Neid  und  Groll.  Mitleid,  Sympathie,  Wohl- 
wollen, Erbarmen  treten  an  ihre  Stelle,  und  wo  früher  Egoismus, 
Selbstsucht  wucherte,  da  erblüht  jetzt  die  Blüte  reiner  Selbst- 
losigkeit. Diese  Gesinnungs-Läuterung  führt  zur  Tat-Läuterung; 
der  Mensch  handelt  nicht  mehr  egoistisch,  sondern  sein  Wirken 
wird  selbstlos  und  ist  solcherart,  dass  keinem  lebenden  Wesen 
daraus  Leid  erwachsen  kann.  Das  ist  der  Erleuchtung  zweiter 
Aspekt. 

Wenn  im  Augenblick  des  geistigen  Erwachens  der  Egois- 
mus als  Triebfeder  der  Handlungen  dahinschwindet,  wenn  das 
Wirken  selbstlos  wird,  so  glaube  niemand,  dass  der  Mensch 
dadurch  erschlafft  oder  verweichlicht.  Im  Gegenteil!  Eine  Ge- 
sinnung, welche  derartig  geläutert  ist,  dass  sie  für  ihre  Taten 
keinen  Lohn  beansprucht,  entwickelt  erst  die  wahre  Energie, 
weil  sie  durch  keinen  Fehlschlag,  durch  keine  Anfeindung,  durch 
keinen  Misserfolg  irgendwie  erschüttert  oder  enttäuscht  wer- 
den kann.  — 

Es  handelt  sich  nunmehr  nur  noch,  um  die  Beantwortung 
der  Frage:  Welches  sind  die  Mittel,  durch  deren  Anwendung 
der  Mensch  zur  Erleuchtung  gelangen  kann?  Der  Buddha  hat 
vor  zwei   extremen  Irrwegen  gewarnt:  vor  Sinnen lust  einer- 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  93 

seits  und  vor  Abtötung  andererseits.  Beide  entspringen  dem 
Selbst-Gedanlten  und  der  Selbstsuciit:  Die  Sinnenlust  sucht  das 
Icii  durcii  irdische  Freude  zu  sättigen.  Die  Abtötung  sucht  durch 
peinvolle  Verzichtleistung  auf  irdische  Lust  dem  Ich  ein  jensei- 
tiges Paradies  zu  erobern;  beides  schafft  Enttäuschung  und 
Leiden,  beides  ist  nutzlos.  Der  Mittelweg  allein  führt  zum  Ziele. 
Strebe  nach  rechter  Einsicht  in  die  Natur  der  Welt;  aus  dieser 
Einsicht  heraus  keimt  eine  reine  selbstlose  Gesinnnung.  Hand 
in  Hand  damit  geht  die  Tat-Läuterung  durch  Tugendpflege  und 
Gemütsläuterug  durch  Meditation.  Verbanne  den  Selbst-Ge- 
danken, überwinde  Selbstsucht  und  Gier,  indem  du  dich  von 
der  Illusion  der  Individualität  frei  machst;  das  ist  der  Weg,  auf 
dem  du  zur  Vernichtung  des  Leidens,  zur  Aufhebung  von 
Kummer,  Sorge,  Enttäuschung,  zur  Beseitigung  von  Begierde, 
Hass  und  Wahn  gelangen  wirst. 

Wenn  der  Mensch  die  Erleuchtung  vollständig  realisiert 
hat,  dann  ist  jener  glückselige  Zustand  erreicht,  dessen  Name 
Nibbäna  ist:  das  ist  die  tiefe  Meeresstille  des  Gemütes,  der 
von  Leidenschaften  und  Leid  befreite  Geist,  jener  Zustand,  den 
ein  deutscher  Buddhist  so  treffend  bezeichnet  hat  als  »den 
festen  Ruhestand  im  rollenden  Rade  des  Lebens«.  — 

Das  Jahr  eilt  mit  Riesenschritten  seinem  Höhepunkt  entge- 
gen. Die  Natur  prangt  im  vollsten  Blütenschmuck;  helles  Sonnen- 
licht durchflutet  Luft  und  Erde;  bald  ist  St.  Johannistag  — 
Sommersonnenwende.  Dann  hat  die  Sonne  ihren  höchsten 
Stand  erreicht,  und  auf  den  Höhen  deutscher  Berge  lohen  die 
Johannisfqier.  Menschenherz,  lass  dich  nicht  betören  durch  diese 
Pracht,  durch  dieses  irdische  Licht.  Vergiss  nicht,  dass  an 
dem  lichtesten  Tage  im  Jahre  die  Gräber  der  Dahingeschiedenen 
geschmückt  werden,  denke  daran,  dass  gerade  zu  St.  Johanni,  da  das 
Leben  in  der  Natur  in  vollster  Blüte  steht,  vom  Friedhof  her  ernst 
die  Weise  erklingt:  „Wer  weiss  wie  nahe  mir  mein  Ende!" 
Tod  und  Leben,  -  Vergänglichkeit!  Hänge  dein  Herz  nicht 
an  die  vergänglichen  Güter  dieser  Welt,  sondern  wachse  in  der 
Erkenntnis,  dass  das  Verstehen  der  Vergänglichkeits-Wahrheit 
aller  Weisheit  Anfang  ist: 

„Auf  und  wappne  dich  mit  Weisheit, 
Denn,  Jüngling,  die  Blume  verblüht." 


94  DER  BUDDHIST.  I,  Jahrg. 

Wie  echt  buddhistisch  hat  hier  der  christliche  Dichter  gesprochen! 
Wie  wahr  ist  dieses  Wort!  Hast  du,  o  Menscli,  die  Weisheit 
vollständig  realisiert,  von  welcher  Klopstock  singt,  dann  weisst 
du,  was  Mahabodhi  ist.  Glückselig  der  Mensch,  in  dessen 
Gemüt  die  geistige  Sonne  aufgeht,  glückselig  das  Wesen,  wel- 
ches aus  dem  Wahne  des  Sonderseins  zur  geistigen  Freiheit 
erwacht  ist! 

Das  Utthäna-Sutta. 

Erhebe  dich!  Raffe  dich  auf!  Was  nützt  dir  dein  Schlafen? 
Gibt  es  auch  Schlaf  für  die  Siechen,  die  getroffen  sind  vom 
Pfeile  (der  Trübsal)  und  vom  Leide? 

Erhebe  dich!  Raffe  dich  auf!  Strebe  ohne  Unterlass  nach 
Einsicht,  damit  du  zum  Frieden  gelangst.  Lasse  dich  nicht 
von  dem  Fürsten  des  Todes  umgarnen  und  überwältigen,  nach- 
dem er  dich  als  lässig  erkannt  hat. 

Überwinde  jene  Gier,  von  der  Götter  und  Menschen  erfüllt 
und  beherrscht  sind;  lass  dir  den  rechten  Augenblick  nicht 
enteilen;  denn  diejenigen,  welche  die  zugemessene  Zeit  unbe- 
nutzt haben  vorübergehen  lassen,  werden  klagen,  wenn  sie  auf 
dem  abwärts  führenden  Pfade  angelangt  sind. 

Trägheit  ist  Befleckung;  dauernde  Schlaffheit  ist  Besudelung. 
Voll  Energie  und  Einsicht  möge  man  seinen  Pfeil  herausziehen. 

Buddhistische  Sittenlehren. 

Fünf  Lebensregeln:  Kein  Leben  zerstören,  —  nichts  nehmen, 
was  nicht  freiwillig  gegeben  wird,  —  sich  von  Unkeusch- 
hcit  fernhalten,  —  keine  Unwahrheit  sprechen,  —  keine 
berauschenden  Getränke  geniessen. 

Zehn  Gebote:  Nicht  töten,  nicht  stehlen,  —  nicht  unkeusch 
sein,  -  nicht  lügen,  -  -  nicht  verleumden,  —  nicht  gemein 
reden,  —  nicht  unnütz  reden,  —  nicht  begehren,  —  nicht 
gehässig  sein,  —  nicht  vorsätzlich  skeptisch  sein,  —  (in 
einzelnen  Schulen:  nicht  falsch  oder  hinterlistig  sein). 


No.  3.  DER  BUDDHIST.  ,95 

Zehn  zu  vermeidende  Irrungen:  Bcgicrdt-,  Hass,  Wahn, Stolz, 
Aberglauben,  vorsätzliche  Skepsis,  Trägheit,  Sclbstgerech- 
tigiceit,  Schamlosigkeit,  Nachlässigkeit. 

Zehn  Tugenden:  Mildtätigkeit,  Reinheit,  Selbstlosigkeit,  Weis- 
heit, Tatkraft,  Langmut,  Wahrhaftigkeit,  Entschlossenheit, 
Lindigkeit,  Gleichmut. 

Vier  grosse  Anstrengungen:  Keine  schlechten  Zustände  des 
Gemütes  aufkommen  lassen,  —  vorhandene  schlechte  Zu- 
stände beseitigen,  —  gute  Zustände  hervorbringen,  —  vor- 
handene gute  Zustände  vermehren. 

Das  vierfache  Gedenken:  An  die  Hinfälligkeit  des  Körpers, 
—  an  die  Gefahren,  die  aus  den  Sinnesempfindungen  ent- 
springen, —  an  die  Unbeständigkeit  der  Gedanken,  —  an 
die  Vergänglichkeit  aller  zusammengesetzten  Dinge. 

Die  vierfache  Gemüts  Vertiefung,  die  darin  besteht,  allen  Wesen 
aufrichtigen  Herzens  Gutes  zu  wünschen,  —  mit  dem  Leiden 
anderer  mitzufühlen,  —  sich  über  das  Wohlergehen  anderer  zu 
freuen,  —  Wohlwollen  gegen  alle  Wesen  in  sich  wachzurufen. 

^  Lieder  des  Lebens.  P 

Von  Wolfgang  Bohn. 


Kapima  (Karman). 

Die  Dämm'rung  schmeicliclte  mit  weichen  Schwingen 
Um  Deine  silbcrwcissen  Haare,  Bruder, 
Müd'  senktest  Du  Dein  Haupt  —  da  lag  das  Ruder, 
Der  Hand  entglitten  und  den  Eisenringen. 

Vor  einem  Leben  sank  der  Vorhang  nieder. 

Ein  Becher  Wein  verblieb  vom  Korb  voll  Trauben, 

Und  unter  immergrünen  Cypruslauben 

Verweht'  ein  Hauch  die  letzten,  reifsten  Lieder. 

So  sah  ich  Dich!    Und  blitzhell  durch  Äonen 
Erkannt  ich  mich  in  Deinem  stillen  Frieden 
Und  fand  den  Kelch,  —  von   dem  Du  einst  geschieden 
Aus  seiner  Süsse  Deine  Tat  zu  lohnen. 

Und  Bitterkeit,  die  noch  im  Trank  geblieben. 

In  meinem  Leben  findet  letzte  Gährung; 

Was  Du  nicht  gabst,  hier  biet'  ich  die  Gewährung, 

Ins  Weltall  schütt'  ich  aus  mein  ganzes  Lieben. 


96  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Lied  von  der  Erlösung. 

Unerlöst  in  Lust  und  Leid, 

Sclnnuck  in  Mäyäs  Goldgcschmeid, 
Holil  im  Herzen,  lag  das  Land,  t 

Schrie  nach  Lösung  unverwandt. 

Da  fandest  Du 

Nirvänas  Ruh! 

Märas  Schar 

Zerschlagen  war.  — 
Selbstsucht,  die  im  Sein  erhält, 
Überwunden  schweigt  und  fällt. 

Still  stand  das  Rad, 

Es  sank  die  Saat, 

Der  Tropfen  glitt 

In  Meeres  Mitt'. 
Sinnend  unterm  Blütenbaum 

Löstest  Du  aus  Trug  und  Traum 
Die  gefesselte  Natur, 
Brahmas  müde  Crcatur. 

Der  Briiderscliar 

Vertrauet  war 

Licht  und  Lehr', 

Der  Sprüche  Meer. 
Brausend  tönt  Dein  Liebeswort 
Herzenzwingend  fort  und  fort. 

Mit  Blumen  gekränzt, 

Der  Tempel  glänzt. 

Dein  Friedensfest 

Eint  Ost  und  West. 

Freier  Wille. 
Zum  Flusse  war  ich,  müd'  und  matt  vom  Staub' 
Der  Strassen  abends  einst  hinabgestiegen, 
Und  sah  das  Blatt  im  Strom  vorüberfliegen  — 
Der  Woge  Spiel,  der  Welle  sich'ren  Raub. 
Wenn  —  dachte  ich  —  die  Seel'  im  Blatt  erwacht, 
Was  würde  sie  zu  solchem  Tanze  sagen?  — 
„Mein  Wille  hat  mich  in  die  Flut  getragen, 
„Und  eifrig  streb'  ich  dem  Entschlüsse  nach." 
Und  Buddha  sprach:  Bist  selbst  ein  Blatt  im  Bach, 
Und  glaubst  nach  eig'nem  Wunsche  frei  zu  handeln 
Und  zwischen  grünen  Ufern  hinzuwandeln. 
Doch  läufst  auch  Du  dem  Schicksalsziele  nach. 
Kannst  nicht  den  Strom,  in  dem  Du  treibst,  verlassen; 
Und  mit  ihm  zieht  Dein  Leben,  Lieben,  Hassen. 


Vertntwortlichrr  Kedakteur:  Karl  H.  ScidenstOckcr,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischrr  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann  in  Baalsdorl-Leipxig. 


J^enry  S.  Oleott. 

(Verfasser  des   ältesten    buddhistischen    Kafechismus    und    der 
vierzehn  buddhistischen  Leitsätze.) 


Alle  Suaden  meiden,    die  Tugend   üben,    das    eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhamraapada,   V.  183. 


Der  erhabene  achtfache  Pfad. 

Von  James  Allen. 

Es  gibt,  ihr  Bliilikiius,  einen  mittleren 
Pfad,  der  die  beiden  Extreme")  vermeidet, 
der  von  dem  Tathägata-)  entdeckt  ist,  — 
einen  Pfad,  welciier  Einsicht  verleiht  und 
Verständnis  schafft,  welcher  zum  Frieden 
des  Gemütes  führt,  zur  höheren  Weisheit, 
zum  grossen  Erwachen,  zum  Nibbäna! 

Dhammacakkappavattana-Sutla. 

Erhaben  fürwahr  ist  der  achtfache  Friedenspfad,  welchen 
der  »Nachfolger  der  Erleuchteten«  entdeckt  und  erklärt  hat; 
erhaben  allerdings  nicht  sowohl  deshalb,  weil  er,  dessen  Leben 
gross  und  erhaben  war,  ihn  enthüllt  hat,  sondern  erhaben 
ist  dieser  Pfad  wegen  der  Wahrheit,  welche  er  enthält  und 
wegen  des  Friedens,  zu  dem  er  führt;  erhaben,  weil  er 
eine  Zusammenfassung  des  Weges  ist,  den  der  hohe  Meister 
selbst  wandelte,  und  auf  dem  er  der  vollkommenen  Erleuchtung 
teilhaftig  geworden  ist. 

Es  bedarf  nun  freilich  keines  hohen  Grades  von  Weisheit, 
um  eine  Reihe  von  Gesetzen  aufzustellen,  oder  ein  Dogma  zu 
proklamieren.  Das  kann  auch  ein  Tor  tun.  Der  humanitäre 
Wert  der  Lehre  vom  mittleren  Pfade  liegt  nicht  in  der  Tatsache, 


')  Die  beiden  Extreme  sind  das  weltliche  Leben,  das  auf  der  Befrie- 
digung der  Sinneslust  beruht,  und  die  Praxis  selbstquälerischer  Abtötung. 
-)  Tathägata  ist  ein  Epitheton  des  Buddha  und  bedeutet:  »Einer,  der 
in  den  Fusstapfen  seiner  erleuchteten  Vorgänger  wandelt. 

7 


98  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

dass  der  letzere  von  dem  Buddha  entworfen  oder  erläutert 
worden  ist,  sondern  vielmehr  darin,  dass  der  Buddha  ihn 
wandelte  und  dadurch  entdeckte,  ja,  dass  er  ihn  bis  zum  Ziele 
verfolgte,  bis  zu  Nibbänas  gesegnetem  Frieden.  So  sind  in 
diesem  Pfade  das  edle  Streben  und  die  heiligen  Anstrengungen 
des  Meisters  selbst  zusanimengefasst  und  erklärt,  und  wer  ihn 
beschreitet,  geht  den  Weg,  den  der  Buddha  einst  ging,  er 
kämpft,  wie  er  einst  kämpfte,  ja,  er  tritt  in  die  Fusstapfen  dessen, 
der  so  mächtig  überwunden  hat. 

Es  ist  der  Weg  der  Gerechtigkeit,  der  heilige  Friedenspfad, 
die  Enthüllung  des  Lebensgesetzes.  Ausserhalb  dieses  Pfades 
ist  alles  Irrtum,  Leidenschaft  und  Täuschung;  er  umfasst,  ja  er 
übersteigt  zuletzt  noch  die  Höhen  moralischer  Vollkommenheit, 
und  sein  Gipfel  ist  bestrahlt  vom  Lichte  eines  unaussprechlichen 
Friedens. 

Und  so  ist  dieser  Pfad,  den  Sakyamuni  fand,  nicht  der 
Pfad  Sakyamunis  allein.  Wenn  irgendwo  ein  Heiliger  vorhanden 
ist,  welcher  nichts  weiss  von  dem  Buddha  und  seiner  Lehre, 
ein  Heiliger,  der  dennoch  durch  energische  Selbstbezähmung 
zur  höchsten  Erleuchtung  gelangt  ist,  —  so  hat  dieser  Weise 
damit  den  erhabenen  achtfachen  Pfad  betreten  und  nach  und 
nach  die  verschiedenen  Stufen  desselben  erklommen ;  und  wenn 
dieser  Mensch  den  Weg  beschreiben  würde,  den  er  mit  Fleiss 
und  Eifer  zurückgelegt  hat,  so  würde  er  denselben  achtfachen 
Pfad  enthüllen  und  lehren,  obwohl  er  sich  immerhin  einer  ver- 
schiedenartigen Ausdrucksweise  bedienen  könnte.  Denn  es 
gibt  nur  einen  Weg  zum  Lichte,  nur  den  einen  wahren  Pfad 
der  Gerechtigkeit  und  Liebe.  Die  Worte,  in  welche  die  Lehre 
vom  Pfad  gekleidet  ist,  können  verschieden  sein,  aber  der  Pfad 
ist  ein  und  derselbe,  und  niemand  kann  zur  Erleuchtung  und 
zum  Frieden  gelangen,  es  sei  denn,  dass  er  diesen  Weg  ge- 
wandert ist. 

Acht  aufeinander  folgende  Stufen  sind  die  Teile  des  Pfades; 
sie  bilden  einen  wunderbaren  Stufengang,  der  in  seiner  Grund- 
lage von  dem  Morast  der  Erde  seinen  Anfang  nimmt,  während 
sein  Gipfel  sich  in  dem  unbegrenzten  Lichte  Nibbänas  verliert. 
Und  diese  acht  Stufen  sind  mit  einander  verbunden;  sie  sind 
der  Ausdruck  eines  vollkommenen  Lebensgesetzes  und  die  kurze 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  99 

Zusammenfassung  des  Weges,  den  der  des  Leidens-Lebens 
müde  Pilger  gehien  muss.  Es  handelt  sich  hier  um  die  Glieder 
eines  praktischen  Vorwärtsschreitens,  nicht  um  Theorieen 
oder  Glaubenssätze;  es  ist  der  Fortschritt  im  rechten  Handeln, 
rechten  Reden,  rechten  Denken  und  in  der  Überwindung  von 
Leidenschaft  und  Irrwahn,  und  eine  jede  Stufe,  die  zuversicht- 
lich erklommen  wird,  bringt  den  Jünger  näher  dem  höchsten 
Erwachen,  näher  der  Befreiung,  näher  dem  grossen  Frieden. 

Welches  sind  nun  die  acht  Stufen,  und  wie  kann  sie  ein 
Mensch  begreifen  und  verwirklichen?  Lassen  Sie  uns  ihren 
Sinn  sorgfältig  betrachten!  Die  erste  Stufe  heisst  rechte  An- 
sichten, oder,  wie  Dr.  Paul  Carus  übersetzt,  rechtes  Ver- 
ständnis. Bevor  ein  Mensch  die  erste  Stufe  des  Pfades  be- 
treten kann,  muss  sein  Verständnis  geklärt  sein.  Beachten  Sie, 
was  darin  liegt!  Alle  verkehrten  Ansichten  müssen  aufgegeben, 
alle  eitlen  Vorstellungen  von  den  Dingen  müssen  abgelegt  und 
alle  Vorurteile  müssen  verlassen  werden;  denn  wessen  Geist 
durch  diese  Dinge  noch  verdunkelt  ist,  der  kann  kein  rechtes 
Verständnis  haben.  Bevor  die  Wahrheit  ergriffen  werden  kann, 
muss  der  für  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  richtige  Standpunkt 
des  Geistes  gewonnen  sein,  und  dieser  Standpunkt  fordert  vor  allen 
Dingen  jene  Demut  des  Herzens,  welche  alle  vorgefassten, 
selbstischen  Vorstellungen,  alle  angenehmen  Annahmen  und 
geliebten  Meinungen  ohne  Vorbehalt  auf  dem  Altar  als  Opfer 
darbringt. 

Niemand  kann  den  Pfad  betreten,  der  nicht  bereit  ist,  ja, 
der  nicht  danach  brennt,  äusserst  zu  entsagen.  Wer  in  irgend 
ein  selbstisches  Element  verliebt  ist,  wer  begierig  an  irgend- 
welchen geliebten  Gegenständen  hängt,  oder  wer  ängstlich  um 
die  Aufrechterhaltung  und  Fortsetzung  seiner  Meinungen  sorgt 
und  eine  gehässige,  aburteilende  Gesinnung  gegen  die  Ansichten 
anderer  in  sich  hegt,  kann  noch  nicht  die  erste  Stufe  des  Pfades 
beschreiten.  Ein  solcher  Mensch  hat  noch  nicht  die  drei  er- 
habenen Wahrheiten  verwirklicht,  welche  der  vierten  —  der 
Wahrheit  vom  Erlösungs-Pfade  —  vorausgehen.  Es  wird  sich 
so  zeigen,  dass,  bevor  die  erste  Stufe  des  Pfades  genommen 
werden  kann,  eine  durchgreifende  strenge  Vorbereitung  des 
Gemütes  sich  notwendig  macht.     Die  erste  Wahrheit  vom 

7» 


100  DER  BUDDHIST.  I.  Jalirg. 

Leiden,  das  aus  der  Vergänglichkeit  entsteht,  muss  in  ihrem 
vollen  Umfange  erfasst  sein;  die  zweite  Wahrheit  von  der 
Ursache  des  Leidens,  welche  in  dem  Haften  an  den  ver- 
gänglichen Dingen  liegt,  muss  klar  erkannt,  und  die  dritte 
Wahrheit  von  der  Aufhebung  des  Leidens  durch 
das  Aufgeben  des  Haftens  an  den  vergänglichen  Din- 
gen muss  ganz  verstanden  sein.  Die  meisten  Menschen  blei- 
ben ausserhalb  des  Weges  stehen,  weil  sie  nicht  die  Opfer 
bringen  wollen,  welche  für  sie  notwendig  sind,  damit  sie  fähig 
werden,  die  erste  Stufe  zu  betreten.  Verloren  in  Egoismus, 
Selbstgefälligkeit  und  in  dem  Hang  nach  Lust,  nach  vergäng- 
lichen Dingen  und  Vorstellungen,  sehen  sie  nicht  die  Notwen- 
digkeit dieses  Selbstopfers,  ohne  welches  der  Pfad  nicht  ver- 
standen, geschweige  denn  seine  erste  Stufe  betreten  werden 
kann.  Verloren  in  der  Lust  der  Vergnügungen  des  Selbst 
und  in  der  Betrachtung  der  Täuschungen  des  Selbst,  welche 
als  Realitäten  vorgestellt  werden,  bemerken  die  Menschen 
nicht  das  Leid,  welches  unaufhörlich  an  dem  Herzen  des  selbst- 
ischen Lebens  nagt,  und  sie  nehmen  .sich  infolgedessen  nicht 
die  Mühe,  die  Ursache  des  Leidens  und  das  Heilmittel  gegen 
dasselbe  aufzufinden. 

Wer  tief  über  die  Übel  des  Daseins  nachsinnt,  kommt 
schliesslich  dahin,  dass  er  das  schmerzende  Leid  wahrnimmt, 
welches  den  Veränderungen  im  Leben  folgt;  wer  ernstlich  über 
den  Sinn  dieses  Leidens  meditiert,  muss  schliesslich  dessen 
Ursache  erkennen,  und  wer  in  tatkräftiger  Anstrengung  aus 
seinem  Geiste  diese  Ursache  entfernt,  wird  tüchtig,  den  er- 
habenen achtfachen  Pfad  zu  wandeln.  Er  ist  bereit,  seinen 
selbstischen  Vergnügungen  und  eigenen  Ansichten  zu  entsagen, 
—  jenen  Dingen,  welche  die  Menschen  so  werthalten,  —  und 
ein  Leben  der  Heiligkeit  zu  leben. 

Wenn  der  Mensch  auf  diese  Weise  fortgeschritten  ist,  hat 
er  sich  rechtes  Verständnis  erworben;  er  sieht  die  Dinge, 
wie  sie  sind.  Von  Leidenschaften  und  Vorurteilen  nicht  mehr 
verwirrt  und  nicht  mehr  erpicht  darauf,  die  Begierde  befriedigen 
zu  wollen  oder  irgend  eine  Partei  zu  verteidigen,  ist  er  fähig 
geworden,  jene  Gemütsruhe  zu  pflegen,  kraft  deren  er  die  Dinge 
in    ihrer   wahren   Natur  zu  schauen  vermag.    Er  sieht   nackte 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  löl 

Tatsachen  hinter  den  Schleiern  von  Hypothesen,  in  welche  die 
Menschen  die  Dinge  gehüllt  haben,  und  durch  welche  die 
letzteren  verschleiert  worden  sind ;  er  erkennt,  dass  hinter  den 
veränderlichen  und  widerstreitenden  Ansichten  der  Menschen 
beständige  Prinzipien  vorhanden  sind,  welche  die  ewige  Wirk- 
lichkeit in  der  kosmischen  Ordnung  ausmachen. 

Dieser  Stand  des  Gemütes  führt  den  Menschen  zur 
zweiten  Stufe,  zum  rechten  Streben,  oder,  wie  auch  über- 
setzt wird,  zum  rechten  Entschluss.  Nachdem  nämlich  der 
Mensch  die  vergängliche  Natur  aller  Dinge,  auch  der  seelischen 
Funktionen,  erkannt,  und  jene  herrliche  Intuition  erlangt  hat, 
welche  ihn  befähigt,  das  Dauernde  vom  Vergänglichen  zu 
unterscheiden,  strebt  er  nach  der  Erlangung  einer  vollkommenen 
Erkenntnis  dessen,  das  jenseits  von  Wechsel  und  Leid  liegt, 
und  fasst  den  starken  Willensentschluss,  zu  diesem  wechsellosen 
Frieden  zu  gelangen,  —  dorthin,  wo  sein  Herz  Ruhe  finden, 
wo  sein  Gemüt  standhaft,  klar  und  heiter  werden  kann. 

Ein  derartiges  Streben  und  Sich-entschliessen  führt  zu 
einer  Entfaltung  der  Selbstzucht,  welche  die  veränderlichen, 
schwankenden  Elemente  aus  dem  Betragen  ausschaltet.  Wer 
eifrig  der  Verwirklichung  eines  heiligen  Lebens  zustrebt,  wer 
diese  Anstrengungen  gegen  alle  seine  Sünden  und  Fehler  mit 
glühendem  Eifer  beständig  erneuert  und  durch  Gedanken  der 
Demut  nährt,  gelangt  schliesslich  zu  der  Station  seiner  Pil- 
grimschaft,  wo  er  die  Kraft,  sich  selbst  zu  bemeistern,  voll- 
ständig in  seine  Hand  nimmt.  Das  Streben  führt  zur  Praxis 
oder  Tat,  und  die  dritte  Stufe  des  Pfades,  —  rechte  Rede 
—  ist  in  Wahrheit  die  erste  Stufe  einer  reinen,  lauteren  Praxis. 
Dies  ist  der  Anfang  jener  strengen  Selbst-Disziplin,  welche  die 
Grundlage  eines  standhaften  Lebens  bildet,  und  ohne  welche 
die  Wahrheit  nicht  verstanden  werden  kann.  Wenn  diese  Stufe 
erreicht  ist,  dann  hat  der  Mensch  das  ewige  Gesetz  der 
Gerechtigkeit  erkannt  und  weiss,  dass  er  seinen  Lebens- 
wandel nach  diesem  Gesetz  einrichten,  dass  er  ihm  in  allen 
Einzelheiten  seiner  Lebensführung  gehorsam  sein  muss.  Un- 
bescheidenheit,  Unbedachtsamkeit,  Verleumdung,  Schmähung, 
unnütze,  harte  und  bittere  Worte,  sind  der  Ausdruck  des  Un- 
gehorsams gegen  dieses  grosse  Gesetz  und  müssen  bedingungs- 


108  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

los  aufgegeben  werden.  Anstatt  deren  halte  man  seine  Zunge 
wohl  im  Zaum  und  mache  ernstlich  den  Anfang  damit,  nur 
solche  Worte  zu  sprechen,  welche  edel,  rein  und  wahr  sind; 
man  wähle  seine  Rede  so,  dass  Leidlosigkeit  und  Friede  daraus 
entstehen. 

Die  Vollkommenheit  in  reiner,  freundlicher  Rede  führt  leicht 
und  sicher  zu  der  vierten  Stufe,  genannt  rechtes  Betragen. 
Wenn  ein  Mensch  die  selbstischen  Elemente  aus  seinen  Worten 
entfernt  hat,  so  wird  er  weiter  dazu  schreiten,  alle  seine  Hand- 
lungen von  jedem  selbstischen  Makel  zu  reinigen;  er  wird 
daran  gehen,  nur  das  zu  tun,  was  wahr,  schön  und  untadelhaft 
ist.  Er  wird  nun  aus  sich  alle  Gedanken  ausmerzen,  die  auf 
einen  Gewinn,  auf  eine  Vergeltung  hier  oder  im  Jenseits  reflek- 
tieren, und  sein  Handeln  gänzlich  vom  egoistischen  Interesse 
ablösen.  Hinfort  wird  er  nimmer  Liebe  und  Mitleid  ausser 
Acht  lassen,  sondern  ein  Heiligtum  reiner  fleckenloser  Taten 
werden.  Äusserer  Antrieb  und  der  Gedanke  an  eine  Wieder- 
vergeltung sind  für  ihn  nicht  mehr  vorhanden;  Neigung  und 
Abneigung  gibt  es  für  ihn  nicht  mehr,  und  sein  Handeln  wird 
frei  von  Leidenschaft,  frei  von  Hang,  frei  von  Streit  sein. 
Wenn  der  Mensch  so  jegliches  Verlangen  nach  einer  Belohnung 
für  gute  Taten  beseitigt  hat  und  sich  in  seinem  Tun  nur  noch 
von  Liebe  und  Mitleid  leiten  lässt,  erwirbt  er  jene  untrügliche 
Einsicht  und  jene  feine  Unterscheidungskraft,  welche  ihn  in- 
standsetzen, zwischen  denjenigenHandlungen  zu  unterscheiden, 
welche  recht  sind,  (d.  i.  welche  in  vollkommenem  Einklang 
mit  dem  grossen  Gesetz  stehen),  und  denjenigen,  welche  un- 
recht, (d.  h.  der  Gerechtigkeit  entgegengesetzt)  sind,  und  er 
erntet  die  Glückseligkeit,  welche  er  um  sich  verbreitet,  ohne 
dass  er  irgend  ein  Verlangen  nach  Belohnung  oder  Ge- 
winn hegt. 

Schwer  zu  erklimmen  sind  die  beiden  Stufen  der  rechten 
Rede  und  des  rechten  Handelns,  und  auf  dem  Wege  zu  ihnen 
trifft  und  überwindet  der  Wanderer  manches  Leid,  und  viele 
innere  Feinde  werden  zu  Boden  gestreckt.  Das  Entfernen  der 
selbstischen  Elemente  aus  Wort  und  Tat  erfordert  Anstrengung, 
Mut,  Geduld,  Kraft  und  Ausdauer,  —  Kräfte,  die  durch  eine 
andauernde   Praxis    in   demselben   Masse    entwickelt    werden 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  1Ö3 

als  der  Strebende  vorwärts  schreitet;  und  wenn  der  Forschende 
Schritt  für  Schritt  das  Ende  der  vierten  Stufe,  des  rechten 
Handelns,  erklommen  hat,  gewinnt  er  eine  erhabene  Reinheit 
und  schafft  in  Geist  und  Herz  eine  unwandelbare  Milde,  Barm- 
herzigkeit und  liebevolle  Güte.  Er  versenkt  sich  in  die  ihn 
umgebenden  Dinge,  welche  sich  in  Harmonie  mit  seiner  inneren 
Reinheit  und  Güte  befinden;  er  kann  sich  nicht  in  solche  Be- 
schäftigungen verwickeln,  welche  mit  Grausamkeit,  Betrug, 
Hinterlist  oder  Bestialität  verquickt  sind.  So  betritt  er  die 
fünfte  Stufe,  nämlich  die  rechte  Art,  den  Lebensunter- 
halt zu  erwerben,  und  auf  diese  Weise  wird  sein  ganzes 
Leben  —  innerlich  wie  äusserlich  —  untadelhaft,  rein,  un- 
befleckt von  Sünde  und  Leid. 

Bevor  der  Mensch  die  fünfte  Stufe  erreicht  hat,  ist  er  vor- 
wiegend ein  Lernender.  Wie  der  Athlet  seine  physische  Gestah 
ausbildet  und  durch  eine  unermüdliche  Trainierung  Herrschaft 
über  seine  Muskeln  gewinnt,  so  ist  der  Wahrheits-Jünger  auf 
den  ersten  fünf  Stufen  damit  beschäftigt,  seine  höheren  geistigen 
Kräfte  und  spirituellen  Fähigkeiten  zu  entwickeln  und  die  Kontrolle 
über  sein  Gemüt  zu  erringen,  und  wenn  er  dies  erreicht  hat,  ist  er  ein 
Überwinder  geworden,  und  gross  und  ruhmreich  sind  die  Siege 
dessen,  der  das  Selbst  überwunden  hat.  Nun  ist  der  Mensch 
nicht  mehr  länger  nur  ein  Lernender,  sondern  vielmehr  ein 
Meister;  denn  er  hat  vollkommene  Herrschaft  über  sich  selbst 
erreicht,  und  durch  die  Macht  einer  solchen  Selbst-Bemeiste- 
rung  stehen  ihm  stets  die  Kräfte  und  Energieen  des  Geistes 
zur  Verfügung,  welche  er  unter  seine  Herrschaft  gebracht  hat. 
Alle  die  Kräfte,  welche  weltliche  Menschen  zwecklos  und  leiden- 
schaftlich vergeuden,  erhält  er  und  lenkt  dieselben  nach  einem 
bestimmten  Ziel  in  ruhiger  Meisterschaft.  Bis  zu  diesem 
Punkte  hat  es  noch  hin  und  wieder  ein  Schwanken  hinsichtlich 
seines  Zieles  gegeben,  wenn  gelegentlich  die  Neigung  sich  ein- 
schlich, verlangend  zurückzublicken  nach  irgendwelchen  irdi- 
schen Dingen,  die  aufgegeben  worden  sind;  sobald  aber  die 
fünfte  Stufe  erreicht  ist,  schwindet  auch  das;  das  Gemüt  wird 
lauter  und  weise  geleitet;  alle  Formen  des  Zweifels  und 
der  Furcht  sind  für  immer  zerstört,  und  der  Jünger  ist  voll 
erwacht   und   erleuchtet.    Er  erkennt   die  ungetrübte  Wahrheit. 


104  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

So   wird    die    siebente   Stufe    betreten,    die   Stufe   der 
rechten  Anstrengung.     Der  Jünger   ist   nun   ein  Lehrer  ge- 
worden.   Nachdem    er  sich   voiiicomnien  bemeistert   und   sein 
Leben  weise  geregelt  hat,  wird  er  fähig,  andere  zu  lehren  und 
zu  führen.     Da  er   sich  selbst  überwunden,   ist  er  ein  Meister 
der  Tugend;  da  er  sich  selbst  geläutert,  kennt  er  das  vollkom- 
mene Leben;   da  er  heilig  handelt,   kennt  er  die  Heiligkeit;  da 
er   die  Wahrheit  betätigt  hat,    ist   er    in   der  Erkenntnis   der 
Wahrheit  vollkommen  geworden.     Er  erkennt   das  Wirken  des 
immanenten  Weltgesetzes   und  ist  liebevoll,   weise,   erleuchtet. 
Und  weil  er  liebevoll,  weise,  erleuchtet  ist,  tut  er  alles  zu  einem 
weisen  Endzweck,  in  der  vollen  Erkenntnis  dessen,  was  er  tut 
und  was  er  erreichen  will.     Er  vergeudet  kein   Atom   Energie, 
sondern   tut   alles   mit   ruhiger  Sicherheit  im  Hinblick  auf  das 
Ziel  und  mit  durchdringender  Einsicht.     Dies   ist   der  Zustand 
der  Meister-Kraft,  in  welchem  das  Streben  frei  ist  von  Wider- 
streit und  Irrtum,   und  es  wird  eine  vollkommene  Gemütsruhe 
unter  allen  Umständen  behauptet.    Wer  diesen  Zustand  erreicht 
hat,  bringt  alles  das  zur  Ausführung,   was  er  sich   in  seinem 
Geiste  vorgenommen  hat;  er  führt  es  aus,  befreit  von  Zweifel, 
Furcht,  Ungewissheit,  Angst  und  lästiger  Mühe.    Schlafend  oder 
wachend,   arbeitend  oder  ruhend,  tut  er  alles  in  Übereinstim- 
mung mit  dem  grossen  Gesetz,  und  durch  seinen  vollkommenen 
Gehorsam  diesem  Gesetz  gegenüber  hat  er  die  moralische  Kraft 
und   die  vollendete  Einsicht   eines  Buddha  erlangt.     Dann  be- 
tritt  er   ohne  Hindernis   die   siebente  Stufe,   d.  i.   die  Stufe 
der  rechten  Gedankenkonzentration;  denn  nachdem  er  die 
Kraft  einer  vollkommenen  Selbst-Führung  erworben   hat,  sind 
alle  seine  Gedanken  nach  weisen,  einsichtigen  Zwecken  geord- 
net.   Er  hat  alle  selbstischen  Gedanken  aufgegeben,   und   sein 
Denken  ist  nunmehr  das  Gedenken  an  die  Wahrheit.    Wie  der 
Zimmermann   das  Holz   einer   nützlichen   Bestimmung  gemäss 
ordnet,  so  wendet  er  die  Wesenheit  des  Denkens  den  höchsten, 
heiligsten  Zielen  zu.     In  einem  Augenblick  kann    er  alle  seine 
Geisteskräfte    auf   einen   beliebigen    Gegenstand   konzentrieren 
und   denselben   ohne  Anstrengung  erfassen   in  seinem  ganzen 
Umfange  und  mit  den  Schwierigkeiten  und  Feinheiten,  die  mit 
ihm  verbunden  sind.     So  gibt  es  für  denjenigen,  welcher  die 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  105 

siebente  Stufe  erklommen  hat,  keine  Schwierigkeiten  mehr; 
denn  nachdem  er  die  Erkenntnis  der  grundlegenden  Prinzipien 
seines  Wesens,  und  somit  der  Welt,  erlangt  hat,  versteht  er 
die  Prinzipien  aller  Dinge,  und  indem  er  in  den  innersten 
Kern  und  Grund  seines  Wesens  eindringt,  steht  er  Auge  in 
Auge  mit  der  Ursaciie  alles  Seins  und  vermag  in  untrüglichem 
Schauen  den  Verzweigungen  aller  universalen  Wirkungen  zu  folgen, 
welche  aus  dieser  Ursache  entspringen.  Er  hat  die  Illusion 
überwunden;  er  ist  der  Kenner  der  Wirklichkeit;  er  ist  die 
Wirklichkeit.  Allen  Irrtum  hat  er  besiegt;  er  ist  der  Kenner 
der  Wahrheit;  er  ist  die  Wahrheit. 

Und  so  ist  die  achte  und  letzte  Stufe  erreicht,  der  rechte 
Zustand  eines  friedvollen  Gemütes;  denn  was  bleibt,nach- 
dem  sich  die  Wahrheit  in  ihrer  ganzen  Erhabenheit  und  Glorie 
enthüllt  hat,  noch  übrig,  was  den  Menschen  bekümmern  könnte? 
Worüber  sollte  in  diesem  Zustande  noch  Unruhe,  Verwirrung 
oder  Angst  empfunden  werden?  Was  gibt  es  da  noch  zu 
zweifeln  oder  zu  fürchten?  Wer  den  quälenden  Durst  nach 
»Da-sein«  gelöscht,  wer  alle  Leiden  überwunden  und  alle  die 
Täuschungen  zerstreut  hat,  die  aus  diesem  »Durst«  entspringen, 
steht  Auge  in  Auge  mit  der  ewigen  Wirklichkeit;  er  ist  eins 
geworden  mit  der  Wahrheit.  Die  Welt  des  Geboren-werdens 
und  Sterbens,  des  Leidens  und  der  Vergänglichkeit  kann  ihn 
nicht  mehr  berühren;  er  wird  nicht  länger  getäuscht,  verwirrt 
und  erschüttert  durch  den  unaufhörlichen  Wechsel;  er  kommt 
zur  Ruhe  dort,  wo  keine  Veränderung  mehr  vorhanden  ist.  — 

Der  erhabene  achtfache  Pfad  ist  ein  Pfad  der  Selbst-Über- 
windung und  Selbst-Erleuchtung.  Die  ersten  beiden  Stufen 
sind  Stufen  der  Vorbereitung.  Das  Gemüt  wird  geläutert  von 
falschen  Hoffnungen  und  Befürchtungen,  von  egoistischen  Mei- 
nungen und  unbegründeten  Ansichten;  dafür  wird  das  Streben 
nach  dem  Guten,  Wahren  und  Ewigen  erzeugt  und  gepflegt 
Die  dritte  und  vierte  Stufe  sind  Stufen  der  Praxis  im  rechten 
Handeln.  Die  intensive  Richtung  des  Geistes  nach  aufwärts 
zu  dem  Reinen,  Mitleidsvollen,  Milden  und  Wahren  führt 
schliesslich  zu  dem  Punkte,  wo  Reinheit,  Mitleid,  Milde  und 
Wahrhaftigkeit  praktisch  ausgeübt  werden,  und  alles,  was  sich 
nicht  in  Harmonie  mit  diesen  erhabenen  Bedingungen  befindet, 


106  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

wird  Schritt  für  Schritt  aus  dem  Charai<ter  entfernt;  reine  Ge- 
dani<en  und  heilige  Handlungen  werden  zur  Gewohnheit.  Die 
fünfte  Stufe  ist  eine  Stufe  des  Gleichgewichtes,  des  (inneren) 
Glückes,  welche  als  das  Ergebnis  einer  langen  Selbstzucht  und 
der  Ausdauer  in  der  Ausübung  der  Tugend  entsteht.  Es  ist 
das  die  Zeit,  da  die  heilige  Kraft  gesammelt  und  aufgespei- 
chert wird.  Auf  der  sechsten  und  siebenten  Stufe  wird  die 
Kraft  bestimmt  geleitet,  und  die  Einsicht  weise  geordnet.  Die 
achte  Stufe  ist  vollkommener  Friede,  die  Frucht  eines  gänzlich 
geläuterten  Lebens. 

In  den  acht  Stufen  gibt  es  fünf  verschiedene  Perioden 
oder  bestimmt  begrenzte  Abteilungen,  nämlich:  —  eine  Periode 
der  Vorbereitung  (erste  und  zweite  Stufe);  zwei  Perioden  des 
Handelns  (dritte  und  vierte,  sechste  und  siebente  Stufe);  zwei 
Perioden  des  Segens  (fünfte  und  achte  Stufe). 

Dies  ist  der  erhabene  achtfache  Pfad,  dessen  Ende  die 
höchste  Erleuchtung  ist;  sein  Ergebnis  ist  die  Befreiung  von 
der  Knechtschaft  des  Selbst.  Der  Pfad  ist  in  uns.  Wer  ihn 
mit  ernstem,  wahrheitliebendem  Gemüte  sucht,  wird  ihn  finden; 
wer  ihn  findet,  wird  ihn  wandeln;  und  wer  ihn  demütigen 
Fusses  und  freudigen  Herzens  betritt,  wird  zuletzt  sicher  das 
goldene  Ufer  der  grossen  Befreiung  erreichen,  wird  seinen 
müden,  wunden  Fuss  kühlen  im  Meer  der  Seligkeit. 

(Buddhism.) 

f^m  Nibbäna.  U^fJ^ 

Von  Bhlkkhu  Ananda  Maitriya. 

(1.  Fortsetzung.) 
Es  scheint  mir  nun,  dass  in  analoger  Weise  das  Aufgeben 
der  alten  ego-zentrischen  Irrtümer  nicht  nur  unsere  Auffassung 
von  der  Natur  der  geistigen  Welt  erheblich  erweitern,  sondern 
auch  die  Sittlichkeit,  Humanität  und  vor  allen  Dingen  die 
Toleranz  fördern  wird.  Mag  das  sein,  wie  es  will,  —  genug, 
die  Notwendigkeit  ist  evident,  dass  wir,  wenn  wir  die  Nibbäna- 
Idee  richtig  erfassen  wollen,  der  buddhistischen  Weltanschauung 
gemäss  folgendes  begreifen  müssen:   Wie   die  Erde   nicht  das 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  107 

Zentrum  des  Universums  ist,  wie  es  überhaupt  keinen  fest- 
stellenden Mittelpunkt  des  Universums  gibt,  —  ebensowenig 
existiert  im  Menschen  ein  selbständiges  Ego  oder  Seeienwesen, 
d.  h.  eine  ewig-währende  getrennte  Seelen-Persönlichkeit;  denn 
ohne  ein  klares  Verständnis  dieses  Punktes  kann  von  vornherein 
eine  richtige  Idee  von  dem  Endziel  des  Buddhismus  schlechter- 
dings nicht  gewonnen  werden.  In  diesem  Zusammenhange  muss 
darauf  hingewiesen  werden,  dass  zugleich  mit  dem  Aufgeben  des 
Ich-Selbst-Gedankens  alle  solche  Fragen,  wie:  „Wer  erreicht 
Nibbäna?"  notwendig  beiseite  zu  setzen  sind.  Dieses  Leugnen 
eines  Seelen-Substratums,  d.  h.  einer  unsterblichen  getrennten 
Wesenheit  im  Menschen,  ist  einer  der  wichtigsten  Grundsätze 
im  Buddhismus;  gerade  diese  Lehre  ist  dem  Buddhismus  allein 
und  ausschliesslich  eigentümlich  und  kennzeichnet  ihn  als  eine 
Religion,  die  abseits  von  allen  anderen  Formen  des  religiösen 
Denkens  steht.  Das  Wesen  des  Menschen  im  Lichte  der  bud- 
dhistischen Psychologie  betrachtet  besteht  aus  fünf  grossen 
zusammengesetzten  Gruppen,  von  denen  eine  jede  für 
sich  eine  Welt  im  Kleinen  darstellt;  wir  können  sie  passend 
klassifizieren  als  Körper,  Empfindungen,  Vorstellungen, 
Strebungen,  Gedanken  oder  Bewusstseins-Aspekte*). 
Von  diesen  fünf  Kategorieen  ist  es  allein  die  geistige  Gruppe, 
die  auf  die  niederen  Gruppen  einwirkt  und  so  dasjenige  erzeugt, 
was  wir  Kamma  (Karman)  oder  Handlung  nennen;  nach  der 
modernen  Ausdrucksweise  würde  ich  sagen:  sie  leistet  Arbeit. 
Wenn  nun  gewisse  Formen  dieser  geist-geborenen  Arbeit  ge- 
leistet werden,  wird  die  verbrauchte  Energie  latent,  sie  wird 
unoffenbar  und  bleibt  so  lange  latent,  bis  Bedingungen  vorhanden 
sind,  unter  denen  sie  sich  wieder  als  aus  dem  Geist  entstan- 
dene Arbeit  manifestieren  kann.  Anders  ausgedrückt:  Diese 
Energie  erzeugt  jene  Gruppe,  welche  ich  » Streb ungen« 
(Samkhärä)  genannt  habe,  in  genau  derselben  Weise,  wie  wenn 
nach  dem  Aufziehen  einer  Uhr  die  geleistete  Arbeit  auf  das 
Material  der  Springfeder  einwirkt  und  später  als  Arbeitsleistung 
wieder  offenbar  wird,  wenn  nämlich  die  Hemmung  gestattet, 
dass  die  Uhr  abläuft.     Wenn  ein  Lebewesen  stirbt,   so  hinter- 


')  Im  Päli:  RQpa,  Vedanä,  Saiinä,  Samkhärä,  Viiinäna. 


108  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

lässt  es  sehr  viele  von  diesen  »Strebungen«,  und  diese  laufen 
nun,  wenn  ich  so  sagen  darf,  ab,  d.  h.  sie  manifestieren  sich 
als  ein  Wesen;  dieses  Lebewesen  nun  ist  ein  neues  Wesen 
nach  dem  Standpunkte  des  westlichen  individualistischen  Glau- 
bens, aber  dasselbe  Wesen  vom  buddhistischen  Standpunkte 
aus  betrachtet,  da  es  von  demselben  Kamma  oder  von  der 
Folge  der  Ursache  und  Wirkung  abhängig  ist.  Wenn  nun  ein 
Wesen  aus  seinem  Geist  heraus  Böses  tut,  so  erzeugt  es  damit 
Kräfte,  welche  die  Ursachen  zur  Entstehung  späterer  schlechter 
geistiger  Zusände,  zur  Entstehung  von  Leiden,  sind.  Umgekehrt, 
wenn  das  Wesen  Gutes  wirkt,  so  entwickelt  es  Kräfte,  welche 
später  gute  geistige  Zustände,  d.  i.  Freude,  entstehen  lassen. 
Dies  ist  die  sogenannte  »Remkarnation«,  ein  Begriff,  von  dem 
teilweise  recht  verworrene  Ansichten  sich  im  Abendlande  ver- 
breitet haben.  Transmigration  wäre  ein  besserer  Ausdruck; 
denn  es  ist  ein  Etwas  vorhanden,  das  transmigriert,  d.  h.  über- 
geht, übertragen  wird,  nämlich  die  »Strebungen«  (Sam- 
khärä),  zusammengefasst  das  »Kamma«;  dagegen  ist  der  bud- 
dhistischen Idee  zufolge  durchaus  nichts  vorhanden,  was  sich 
reVnkarniert,  —  ein  Ausdruck,  welcher  die  Existenz  eines  „Geistes" 
oder  Seelensubstratums  voraussetzt,  das  —  wie  die  Hindus 
glauben  —  aus  einem  Körper  in  den  andern  geht,  ähnlich 
wie  ein  Mensch  bald  dieses  Gewand  anlegt,  bald  jenes  *).  Der 
Buddhismus  leugnet  das  Vorhandensein  eines  wechsellosen, 
statischen  Etwas,  das  sich  reinkarniert;  alles,  was  von  Leben 
auf  Leben  übergeht  (transmigriert),  ist  unserer  Anschauung  zu- 
folge jene  vorhandene  Energie  der  »Strebungen«  (Samkhärä) -). 


•)  A.  d.  Her.  Wir  werden  in  unserer  Zeitschrift  uns  folgender  Aus- 
drücke für  die  in  Rede  stehende  Idee  bedienen:  Wiedergeburt,  Palin- 
genesie,  Transmigration,  Neü-Indi viduation,  Neu-Objelctiva- 
tion,  Neu-Manifestation. 

-)  Sir  Edwin  Arnold  bringt  diese  buddhistische  Leugnung  der  Rei'n- 
karnation  sehr  gut  im  8.  Buch  seiner  »Leuchte  Asiens«  zum  Ausdrucic 
„Sprecht  nicht  ,ich  bin',  ,ich  war',  ,ich  werde  sein', 
Denkt  nicht,  ihr  wechselt  des  Leibes  Haus, 
Wie  Wandrer,  wohl  beherbergt  oder  schlimm, 
Vergessend  zieh'n  hinaus. 
Zu  neuem  Kreislauf  geht  in's  All  der  Rest 
Des  letzten  Lebens," 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  109 

Ein  gutes  Gleichnis  für  die  Idee,  weiche  hier  dem  Verständnis 
des  Lesers  näher  gebracht  werden  soll,  ist  die  Übertragung 
der  Energie,  wie  sie  allgemein  in  den  Lehrbüchern  der 
Physik  veranschaulicht  wird.  Stellen  Sic  eine  Anzahl  von 
Billard-Kugeln  in  eine  Reihe,  und  zwar  so,  dass  jede  Kugel 
mit  der  nächsten  in  Berührung  ist,  und  stossen  Sie  auf  die 
an  dem  einen  Ende  befindliche,  so  werden  Sie  an  den  Kugeln 
in  der  Reihe  keine  wahrnehmbare  Bewegung  konstatieren  kön- 
nen, weil  jede  Kugel  vor  sich  eine  andere  hat,  vielmehr  über- 
tragen sie  die  Energie,  und  die  Kugel  am  anderen  Ende  fliegt 
nach  einem  kurzen  Zeiträume  ab. 

Nun  können  wir  eine  klare  Idee  gewinnen  über  den  Sinn 
der  buddhistischen  These:  „Geistige  Aktion  und  Reaktion 
entsprechen  einander."  Wenn  du  gute  Samkhäras  erzeugst, 
wirst  du  dich  später  guter  geistiger  Zustände  erfreuen,  und 
umgekehrt,  wenn  du  schlechte  »Strebungen«  ins  Dasein  treten 
lässt,  werden  leidvolle  Zustände  entstehen.  Da  aber  die  Kammas 
eines  jeden  Wesens  nach  ihrer  Zahl  tatsächlich  unbegrenzt  sind 
wegen  der  Zeiträume,  innerhalb  deren  sie  erzeugt  wurden,  so 
sehen  wir,  dass  wir  selbst  uns  in  einem  beständigen,  nie  en- 
denden Übergang  befinden,  bald  in  Zuständen  des  Glückes 
und  der  Freude,  bald  in  Zuständen  des  Leidens.  Es  enthüllt 
sich  hier  unseren  Blicken  ein  endloser  Kreislauf  des  Werdens, 
bald  entsteht  ein  glückliches  Wesen,  bald  ein  unglückliches, 
und  so  geht  es  fort,  solange  wir  überhaupt  fortfahren,  diese 
»Strebungen«  zu  erzeugen.  Und  weiter:  Da  nun  der  grössere 
Teil  der  von  den  Wesen  erzeugten  Samkhäras  zum  Bösen  hin- 
neigt, so  wird  eben  viel  mehr  Leid  geschaffen,  als  Glück. 
Ferner  ist  das  Kamma  selbst  nur  eine  von  acht  Ursachen  des 
Leidens  —  Naturkräfte,  Zeit-Umstände  und  einige  andere  Ur- 
sachen können  ebenfalls  leidvollc  Zustände  schaffen  ').  So  z.  B. 
wenn  ein  Stein  auf  meinen  Fuss  fällt  und  denselben  verletzt,  so 
wird  Leid  hervorgerufen;  aber  dieses  Leid  ist  nicht  durch 
Kamma  erzeugt,  sondern  durch  die  Naturgesetze,  nach  denen 
der  Stein  fällt,  sowie  durch  die  Natur  meines  Fusses  und  der 


')  Über  die  Darlegung  dieser  acht  Ursachen  des  Leidens  vergleiche 
Sacred  Books  of  the  East,  Vol.  XXXV,  S.  191. 


HO  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sensorischen  Nerven.  So  ist  in  diesem  fortgesetzten  Kreislauf 
der  Geburt  und  Wiedergeburt  das  Übergewictit  ieidvolier  Zu- 
stände über  gltickliche  und  angenelime  ganz  enorm,  und  wenn 
wir  das  Leid  gegenüber  dem  Glück  abwägen,  so  zeigt  sicli,  dass 
Leid  in  allem  empfindenden  Dasein  ganz  bedeutend  überwiegt, 
und  dies  ist  die  erste  erhabene  Wahrheit  unserer  buddhi- 
stischen Religion,  weiche  besagt,  dass  alles  Dasein  zum  Leid 
hinneigt,  dass  Leiden  allen  nur  möglichen  Lebensformen  inhä- 
riert.  Wir  menschliche  Wesen  nun  sind  sehr  stark  und  ge- 
schickt und  können  vielen  Leiden  entgehen,  welche  aus 
natürlichen  und  ähnlichen  Ursachen  entspringen.  Wir  stehen 
auf  dem  Gipfel  irdischer  Entwicklung  als  die  Könige  und 
Herren  der  Erde;  und  gerade  so,  wie  Könige  geneigt  sind, 
die  Leiden  ihrer  ärmsten  Untertanen  unbeachtet  zu  lassen  — 
natürlich  aus  reiner  Unkenntnis  und  aus  Mangel  an  Verständ- 
nis, auf  Grund  deren  jene  französische  Prinzessin  die  naive 
Frage  aufwerfen  konnte:  „Wenn  das  Volk  kein  Brot  hat,  warum 
isst  es  dann  keinen  Kuchen?"  —  gerade  ebenso,  fürchte  ich, 
sind  viele  von  uns  nicht  aus  Hartherzigkeit,  sondern  infolge 
von  Unwissenheit  und  Mangel  an  Beobachtung,  nur  zu  sehr 
geneigt,  die  kummervollen  Leiden  unserer  Mitgeschöpfe,  der  Tiere, 
gering  zu  achten  und  zu  übersehen.  Aber  dieses  Leiden  ist 
nur  zu  real,  und  ich  fürchte,  die  Menschheit  vermehrt  es  eher, 
als  dass  sie  es  lindert.  Und  wie  namentlich  in  unseren  moder- 
nen demokratischen  Tagen  ein  König  niemals  ganz  sicher  ist, 
dass  er  auch  morgen  noch  König  sein  wird,  so  ist  niemand 
von  uns  infolge  der  Hervorbringung  solcher  tierischer  »Stre- 
bungen« sicher,  dass  wir  selbst,  —  d.  h.  das  auf  Grund  unseres 
Kammas  erzeugte  Wesen  oder  das  Dasein  auf  Grund  unseres 
Kammas,  —  nicht  unter  den  niederen  Lebensformen  wieder  in 
die  Erscheinung  treten  werden.  Sicherlich  können  wir  bei  un- 
serem Tode  auch  solche  edlen  »Samkhäras«  zurücklassen,  welche 
die  Geburt  eines  viel  höheren,  als  eines  menschlichen  Wesens, 
verursachen  mögen;  aber  auch  dann  ist  der  Kreislauf  noch 
nichtbeendet,  und  gerade  der  unbeendcte  Kreislauf  dieses 
beständigen  Wechsels  und  Überganges  ist  es  ja,  aus 
dem  zu  entrinnen  wir  Verlangen  tragen. 

Ich  muss  den  Leser   um  Entschuldigung   bitten,  dass   ich 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  111 

mir  eine  so  lange  Abscliweifung  auf  das  Gebiet  der  Wieder- 
geburt (Transmigration)  gestattet  habe;  aber  ohne  eine  derartige 
Klarstellung  ist  es  unmöglich,  die  Natur  des  Nibbäna  und  die 
Methode,  nach  der  die  Buddhisten  das  letztere  zu  erreichen 
streben,  darzulegen.  Denn  es  gibt  nur  einen  Weg,  um  diesem 
leidigen  Cyklus  der  Existenzen  mit  seinen  acht  Leidens-Ursachen, 
mit  seiner  Endlosigkeit,  mit  seinen  leidvollen  Lebensläufen  zu 
entrinnen.  Der  Weg  ist  der  Weg  zum  Nibbäna,  der  Pfad 
zu  jener  Erlösung  von  Geburt  und  Tod,  welchen  unser 
Meister  uns  verkündet  hat.  Dies  also  ist  die  Natur  des 
Nibbäna:  Befreiung  von  diesem  leidvollen  Kreislauf, 
die  Überwindung  jenes  Nicht-Wissens,  welches  nach 
unserer  Erkenntnis  die  letzte  Daseins-Ursache  ist,  und 
damit  zugleich  die  Überwindung  von  Begierde,  Hass 
und  Wahn,  ein  schon  in  dieser  Welt  erreichbares 
Leben  der  Weisheit  und  Liebe.  Diese  Erreichung 
Nibbänas  in  diesem  Leben,  — das  Sa-upädisesa  Nibbäna, 
von  dem  ich  oben  gesprochen  habe,  —  ist  der  Zustand 
des  Arahä,  der  Zustand  der  Heiligkeit,  welcher  das 
Ziel  des  Buddhismus  ist.  Denn  es  wird  gesagt:  Der- 
jenige Mensch,  welcher  zu  diesem  Nibbäna  gelangt  ist,  bewirkt 
durch  diese  Erlangung  die  Aufhebung  der  Begierden,  Leiden- 
schaften und  Täuschungen,  d.  h.  aller  jener  Ursachen,  welche 
uns  an  das  Rad  des  Daseins  heften.  Unberührt  von  Furcht, 
Zweifel  und  geist-geborenen  Leiden  lebt  der  Arahä  ruhig  und 
sicher,  bis  sein  Körper  stirbt,  um  dann  aus  der  Welt  des  Da- 
seins zu  verlöschen,  wie  die  Flamme  einer  Lampe  verlischt, 
wenn  Öl  und  Docht  verbraucht  sind.  (Fortsetzung  folgt.) 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(I.  Fortsetzung) 

Nun  linden  sich  im  Dhammapada  zwei  vereinzelte  Stellen, 
welche  scheinbar  im  Widerspruch  mit  des  Buddha  Lehre 
von  der  Illusion  des  Selbst  stehen.  Wir  lesen  im  160.  Verse: 
„Selbst  ist  der  Herr  des  Selbst;  wer  könnte  sonst  Herr  sein?", 


112  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

und  im  323.  Verse:  „Ein  Mensch,  der  sich  selbst  bezähmt,  ge- 
langt in  das  unbetretene  Land  durch  sein  eigenes  selbst-be- 
zähmtes  Selbst."  Professor  Max  Müller,  welcher  ein  eifriger 
Verteidiger  der  Atman-Lehre  war,  hat  sich  besonders  auf  diese 
beiden  Verse  berufen,  um  darzutun,  dass  der  Buddha  die  Exi- 
stenz eines  Ich-Selbst  gelehrt  habe.  Aber  diese  Annahme  ist 
durchaus  unwahrscheinlich  angesichts  so  vieler  anderer  unzwei- 
deutiger Stellen.  Vielmehr  ist  der  aligemeine  Sinn  der  beiden 
zitierten  Passus  gar  nicht  misszuverstehn.  Hier  wird  natürlich 
überhaupt  nicht  auf  das  Vorhandensein  eines  Selbst  im  Sinne 
des  brahmanischen  Atman  angespielt.  Der  Verfasser  dieser 
Verse  —  entweder  der  Buddha  selbst,  oder  ein  Buddhist,  oder 
aber,  was  nicht  unwahrscheinlich  ist,  ein  vorbuddhistischer 
Denker  —  will  einfach  ausdrücken,  dass  „nur  durch  Selbstbe- 
zähmung die  Erlösung  erlangt  werden  kann",  und  wir  haben 
beileibe  kein  Recht,  diese  Stellen  in  einer  Weise  zu  interpretieren, 
welche  gegen  eine  Kardinal-Lehre  des  Buddhismus  Verstössen 
würde.  Wir  müssen  immer  festhalten,  dass  der  Buddha  durchaus 
nicht  das  Vorhandensein  der  Selbst-Idee  im  Menschen  leugnet;  er 
leugnet  nur  die  Existenz  eines  Seelen-Substratums,  wie  es  von 
den  hervorragendsten  Philosophen  seiner  Zeit  unter  dem  Namen 
»Selbst«  (Atman)  gelehrt  wurde.  Der  Buddha  leugnet  nicht, 
dass  es  ein  Ich-Bewusstsein  in  der  Seele  gibt;  er  verwirft  nur 
die  Ansicht,  dass  unser  Ich-Bewusstsein  der  Tuer  unserer 
Handlungen  und  der  Denker  unserer  Gedanken  oder  eine  Art 
Von  „Ding  an  sich"  hinter  unserer  Existenz  sei. 

Es  gibt  viele  Worte,  welche  verschieden  angewandt  werden 
können  und  dementsprechend  einen  verschiedenen,  ja  oft  gerade- 
zu contradictorischen  Sinn  haben,  und  das  Wort  »Selbst«  macht 
in  dieser  Beziehung  keine  Ausnahme.  Im  allgemeinen  bedeutet 
»Selbst«  jene  Idee  im  Geiste  des  Menschen,  welche  die  Ge- 
samtheit seiner  Existenz  zum  Ausdruck  bringt,  nämlich  seine 
körperliche  Form,  seine  Sinne  und  deren  Tätigkeiten,  seine 
Gedanken,  seine  Gefühlsregungen,  seine  Neigungen  und  Ab- 
neigungen, sein  Streben  und  sein  Hoffen.  Weit  entfernt  nun 
davon,  die  Ausrottung  der  Selbst-Idee  in  diesem  Sinne  zu 
fordern,  predigt  vielmehr  die  Religion  des  Buddha  die  Verede- 
lung und  Heiligung  des  Selbst;    ja, 'sie  predigt  dies   so  nach- 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  113 

drücklich,  dass  Oldenburg  die  Ethik  des  Buddhismus  als  „sitt- 
liche Arbeit  an  sich  selbst"  charakterisiert,  wie  der  239. 
Vers  des  Dhammapada  sagt:  „Der  Weise  soll  aus  seinem  Selbst 
alle  Unreinheit  entfernen,  wie  der  Schmied  das  Silber  von  den 
Schlacken  läutert,   allmählich,  Stück  für  Stück  und  zur  rechten 

Zeit." 

Wenn  die  Buddhisten  von  der  Illusion  des  Selbst  sprechen 

und  dieselbe  als  die  mittelbare  Ursache  alles  Übels  anklagen, 
so  meinen  sie  jene  irrige  Anschauung,  welche  nicht  nur 
das  Selbst  als  ein  unabhängiges  Wesen  annimmt,  son- 
dern dasselbe  sogar  zu  einem  metaphysischen  Agens  aller 
unserer  Tätigkeiten  stempelt.  Die  Annahme  dieser  metaphysi- 
schen Ansicht  über  das  Selbst  gibt  —  so  behaupten  wir  — 
allen  unseren  Gedanken  eine  falsche  Richtung  und  trübt  unsere 
geistige  Erkenntnis;  sie  veranlasst  uns,  das  wahre  Wesen  unserer 
Seele  als  einen  blossen  Schatten  zu  vernachlässigen. 

Indem  der  Buddha  die  brahmanische  Atman-Theorie  leug- 
nete, gab  er  eine  neue  Lösung  des  Seelen-Problems.  Rhys 
Davids  sagt  in  seinen  »Hibbert  Lectures«  (S.  29): 

„Das  unterscheidende  charakteristische  Merkmal  des  Buddhismus 
bestand  darin,  dass  er  einen  neuen  Gesichtspunkt  aufstellte,  dass  er  die 
tiefsten  Fragen,  deren  Löstuig  die  Menschen  beschäftigt,  von  einem  gänz- 
lich verschiedenen  Standpunkte  aus  betrachtete.  Er  verbannte  aus  seinem 
Gesichtskreise  das  Ganze  jener  grossen  Seelen-Theorie,  welche  bis  dahin 
die  Geister  der  Abergläubischen  und  Einsichtigen  in  gleicherweise  erfüllt 
und  beherrscht  hatte.  Denn  zum  ersten  Male  in  der  Weltgeschichte  pro- 
klamierte er  eine  Erlösung,  welche  jeder  Mensch  für  sich  selbst  und  durch 
sich  selbst  erlangen  konnte,  in  dieser  Welt,  schon  in  diesem  Leben, 
ohne  auch  die  geringste  Beziehung  zu  einem  Gott  oder  zu  Göttern,  eine 
Erlösung,  die  jedem  offenstand:  dem  Hohen  wie  dem  Niedrigen.  Gleich 
den  Upanishaden  legte  der  Buddhismus  den  Hauptnachdruck  auf  die  Ein- 
sicht oder  Erkenntnis;  aber  es  war  jetzt  nicht  mehr  eine  Erkenntnis 
Gottes,  sondern  eine  klare  Einsicht  in  die  wirkliche  Natur  des  Menschen 
und  der  Dinge.  Und  er  forderte  ausser  der  Notwendigkeit  der  Einsicht 
auch  die  Notwendigkeit,  rein,  höflich,  aufrichtig,  friedvoll,  in  weitestem 
Masse  gütig  zu  sein  und  diese  Tugenden  so  sehr  als  möglich  wachsen  zu 
lassen." 

Während  so  das  Selbst,  d.  h.  jenes  hypothetische  Agens 
hinter  der  Seele,  in  den  Lehren  des  Buddhismus  verschwindet, 
wird  trotzdem  die  Seelen-  oder  Geist-Idee  keineswegs  verworfen, 
und  der  Begriff  der  Seelentransmigration  bekommt  einen  neuen 

8 


114  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Sinn,  eine  neue  Bedeutung.  Die  vorbuddliistisclie  Auffassung, 
dass  die  Seele  umherirrt  und  sich  eine  neue  Wohnung  in  einem 
andern  Körper  sucht,  wurde  von  Qäkyamuni  aufgegeben,  und 
an  ihre  Steile  trat  die  richtige  Idee  von  einer  Übertragung  der 
Samskäras  entsprechend  dem  Karmau-Gesetz.  Der  Buddhismus 
erkennt  das  Karman-Gesetz  als  unumstösslich  an  und  fundiert 
darauf  die  untrügliche  Gerechtigkeit  des  moralischen  Gesetzes. 

Bei  der  Betrachtung  der  Moral,  welche  der  Seelen-Trans- 
migration in  den  Jätakas')  zu  Grunde  liegt,  sagt  Professor 
Rhys  Davids  in  der  Vorrede  zu  seiner  Übersetzung  (S.  LXXV) 
folgendes: 

„Der  Leser  muss  vermeiden,  dadurch  die  Sache  misszuverstchcn, 
das  er  christliche  Ideen  auf  diesen  Punkt  überträgt,  indem  er  annimmt, 
die  Identität  der  Personen  in  den  beiden  Erzählungen  hege  in  der  Wan- 
derung einer  Seele  aus  einer  Person  in  die  andere.  Der  Buddhismus 
lehrt  nicht  die  Wanderung  von  Seelenwesen  (d.  i.  von  Ätmans).  Seine 
Lehre  würde  besser  zu  bezeichnen  sein  als  die  Transmigrntion  (Über- 
tragung) des  Charakters;  denn  diese  Doktrin  ist  ganz  unabhängig  von 
der  veralteten,  weitverbreiteten  Anschauung  von  der  Existenz  eines  be- 
stimmten getrennten  Geistes,  Seclenwesens  oder  Spirits  in  jedem  mensch- 
lichen Körper." 

Derselbe  Autor  spricht  sich  in  seinem  Handbuch  »Bud- 
dhismus« -)  folgendermassen  aus: 

„Gleichwie  eine  Generation  abstirbt  und  einer  neuen  Platz  macht, 
der  Erbin  der  Folgen  aller  ihrer  Tugenden  und  aller  ihrer  Laster,  dem  genauen 
Ergebnis  der  vorausgegangenen  Ursachen,  —  so  erbt  ein  jedes  Individuum 
in  der  langen  Kette  des  Seins  alles  Gute  oder  alles  Böse,  was  alle  seine 
Vorgänger  gewesen  sind,  oder  getan  haben,  und  nimmt  das  Ringen  nach 
Erleuchtung  gerade  an  der  Stelle  wieder  auf,  wo  jene  es  abgebrochen 
haben." 

Und  hinsichtlich  des  Karman  erläutert  Professor  Davids 
a.  a.  0.  das  Wesen  des  Buddhismus  wie  folgt: 

„Die  meisten  heidnischen  Systeme,  sowohl  die,  welche  der  Vergangen- 
heit, als  die,  welche  der  Gegenwart  angehören,  lehren,  dass  die  Menschen 
hier  nach  irgend  einer  Art  Glückseligkeit  suchen  müssen.  Die  meisten 
anderen  Glaubenssysteme  sagen  hingegen,  dass  dies  eine  Torheit  sei, 
dass  vielmehr  die  Treuen  und  Heiligen  ein  zukünftiges  Glück  in  einer 
besseren  jenseitigen  Welt  finden  werden.  Der  Buddhismus  sagt  aber, 
dass  die  eine  Hoffnung   ebenso  eitel   wie   die  andere,    dass   das  Selbst- 


')  Die  Legenden  von  den  verschiedenen  Daseins-Perioden  des  Buddha. 
^)  Deutsche  Übersetzung  von  Dr.  Arthur  Pfungst  S.  111. 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  115 

bewusstsein  eine  Täuschung  sei,  dass  das  organisierte,  das  empfindende 
Sein,  solange  es  der  Endlichl<eit  angehört,  unaufhörlich  mit  der  Unwissen- 
heit und  daher  mit  der  Sünde  und  also  auch  mit  dem  Leide  verknüpft 
sei.  „Lasst  daher  diese  kleinliche,  törichte  Sehnsucht  nach  persönlichem 
Glück  fahren"  würde  der  Buddhismus  sagen.  „Hier  (auf  Erden)  stammt 
sie  von  der  Unwissenheit  und  führt  zur  Sünde,  und  dort  sind  die  gleichen 
Existenzbedingungen  vorhanden,  und  jede  neue  Geburt  wird  euch  noch 
immer  in  der  Unwissenheit  und  in  der  Endlichkeit  lassen.  Nichts  ist 
ewig;  der  ganze  Kosmos  scliwindet  dahin;  nichts  ist,  alles  ist  im 
Werden  begriffen,  und  alles,  was  ihr  körperlich  oder  geistig  von  eurem 
Selbst  seht  oder  fühlt  —  es  wird  vergehen  wie  alles  andere.  Nichts 
wird  übrig  bleiben,  als  nur  das  aufgespeicherte  Ergebnis  aller 
eurer  Handlungen,  Worte  und  Gedanken.  Darum  seid  rein  und 
gütig  und  nicht  träge  im  Denken.  Seid  wach,  schüttelt  eure  Täuschungen 
ab  und  betretet  entschlossen  den  »Pfad«,  der  euch  hinwegführen  wird 
von  den  hin-  und  hergeschleuderten  Wogen  des  Lebensmeeres;  den  Pfad, 
der  zur  Freude  und  Ruhe  des  Nirväna  leitet,  den  Pfad  der  Weisheit,  der 
Herzensgüte  und  des  Friedens." 

Rhys  Davids  sagt:  „Nichts  wird  übrig  bleiben  als  nur 
das  aufgespeiciierte  Ergebnis  aller  eurer  Handlungen,  Worte 
und  Gedanken."  Ganz  richtig;  aber  warum  sagt  er  »nur«? 
Das  aufgespeicherte  Ergebnis  eurer  Handlungen,  d.  h.  eure 
Samskäras  sind  ja  euer  eigenes  Wesen.  Dieselben  bilden 
euren  Geist,  solange  ihr  lebt,  und  es  existiert  kein  Selbst 
hinter  ihnen,  kein  Ego,  kein  Atman,  keine  metaphysische  Seelen- 
monade. So  ist  es  klar,  dass  wir  nach  den  buddhistischen 
Anschauungen  selbst  fortbestehen  in  den  angehäuften  Ergeb- 
nissen unserer  Handlungen.  Da  Professor  Rhys  Davids  sich 
nicht  vergegenwärtigt,  dass  unsere  Samskäras  wir  selbst  sind, 
so  ist  es  vielleicht  natürlich,  dass  er,  obwohl  einer  der  gründ- 
lichsten Buddhologen,  und  trotz  seiner  vollkommenen  Sach- 
kenntnis, die  Wichtigkeit  der  buddhistischen  Anschauung  vom 
Karman  und  von  der  Seelentransmigration  nicht  genug  beachtet. 
Ich  sage  nicht,  dass  er  diesen  Teil  der  buddhistischen  Lehre 
falsch  versteht;  aber  ich  behaupte,  dass  er  ihm  nicht  genügend 
Beachtung  schenkt.  Er  setzt  seine  hier  angezogenen  Betrach- 
tungen folgendermassen  fort: 

„Es  ist  eine  seltsame  und  lehreiche  Erscheinung,  dass  alles  dieses 
die  2300  und  mehr  Jahre  lang  auf  so  viele  verzweifelnde  und  ernst  gestimmte 
Herzen  seinen  Zauber  auszuüben  vermocht  hat,  dass  sich  so  viele  der 
anscheinend  stattlichen  Brücke  anzuvertrauen  vermochten,   welche  der 

8* 


116  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Buddhismus  zu  schlagen  versucht  liat  über  den  Strom  der  Rätsel  und  der 
Leiden  des  Daseins.  Sie  sind  von  der  auserlesenen  oder  edlen  Schönheit 
mancher  Bausteine  von  denen,  welche  den  Bogen  bilden,  entzückt  oder 
gar  in  Ehrfurcht  versetzt  worden ;  sie  haben  gesehen,  dass  das  Ganze  auf 
einer  mehr  oder  weniger  zuverlässigen  Grundlage  von  Tatsachen  ruht, 
dass  auf  der  einen  Seite  des  Schlusssteins  die  Notwendigkeit  der  Gerech- 
tigkeit, und  auf  der  andern  das  Kausalgesetz  liegt.  Das,  was  sie  aber 
nicht  gesehen  haben,  das  ist  die  Tatsache,  dass  der  Schlussstein  selbst, 
das  Bindeglied  zwischen  dem  einen  Leben  und  dem  anderen  nichts  weiter, 
als  ein  Wort  ist,  —  jene  wunderbare  Hypothese,  jenes  luftige  Nichts,  jene 
imaginäre  Ursache,  welche  ausserhalb  des  Bereiches  der  Vernunft  liegt, — 
die  individualisierte  und  individualisierende  Kraft  des  Karnia." 

In  einer  Fussnote  fügt  Professor  Rhys  Davids  hinzu: 

„Individualisiert  insofern,  als  das  Resultat  aus  den  Handlungen  eines 
Menschen  mittelst  der  Bildung  eines  zweiten  empfindenden  Wesens  kon- 
zentriert wird;  individualisierend  insofern,  als  es  die  Kraft  ist,  durch  welche 
verschiedene  Wesen  zu  einem  Individuum  werden.  In  anderer  Hinsicht 
ist  die  JVIacht  des  Karma  real  genug." 

Die  moderne  Wissenschaft  lehrt,  dass  es  die  Funktion 
ist,  welche  das  Organ  erzeugt,  und  dass  umgel<chrt,  das  Organ 
nur  das  sichtbare  Ergebnis  unzähliger  früherer  Verrichtungen  ist. 
Dies  kann  man  als  eine  moderne  Bestätigung  der  buddhisti- 
schen Samskära-Lehre  betrachten.  Das  gesamte  Sehen  der 
Augen  der  Vorfahren  lebt  in  unseren  Augen  weiter  fort. 
Unsere  Vorfahren  sind  nicht  tot;  sie  sind  noch  hier  in  ims, 
und  unter  Vorfahren  versteht  der  Buddhist  nicht  nur  die  natür- 
lichen Ahnen,  sondern  auch  jene,  welche  unsere  Seele  gebildet 
haben.  So  spricht  Qäkyamuni  zu  seinem  Vater,  dass  nicht  er 
und  seine  Väter,  die  Fürsten  des  Qäkyas,  sondern  die  Buddhas 
früherer  Zeiten  seine  Vorfahren  seien. 

Ich  muss  hier  im  Namen  des  Buddhismus  Professor  Rliys 
Davids  mit  einer  Erwiderung  entgegentreten:  Der  Buddhismus  liat 
die  imaginäre  Mauer  niedergerissen,  welche  das  Selbst  des  Men- 
schen von  dem  Selbst  anderer  trennt.  Wer  nicht  das  Glied 
zwischen  dem  einen  Leben  und  dem  anderen  sieht,  oder  wer  von 
diesem  Gliede  als  einem  „luftigen  Nichts"  spricht,  ist  noch  in 
der  Selbst-Täuschung  befangen.  Wer  den  Selbst-Gedanken 
aufgibt,  muss  erkennen,  dass  die  Identität  zweier  Seelen  in 
denselben  Samskäras  liegt.  Sonst  müssten  wir  auch  die  Iden- 
tität des  »Ich«  von  heute  und  des  »Ich«  von  gestern  leugnen. 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  117 

Was  die  Identität  der  Person  in  einem  und  demselben  Indivi- 
duum ausmacht,  ist  nur  die  Fortführung  und  Gleichheit  ihres 
Charakters.  Das  »Ich«  von  heute  hat  alle  Folgen  und  Hand- 
lungen auf  sich  zu  nehmen,  welche  das  »Ich«  von  gestern  aus- 
geführt hat.  So  wird  das  individualisierte  Karman  zukünftiger 
Zeiten  alles  das  ernten,  was  das  individualisierende  Karman  der 
Gegenwart  sät. 

Und,  seltsam  genug,  diese  buddhistische  Auffassung  von 
der  Seele  steht  in  vollkommenem  Einklang  mit  den  Anschau- 
ungen der  hervorragendsten  Psychologen  Europas. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Gott  und  Götter 

oder 

Ist  der  Buddhismus  atheistisch  ? 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Die   Qeschiclite   der  Religion   ist  die 
Geschichte  der  Entmenschlichung  Gottes. 

Spencer. 

Der  hauptsächlichste  Einwand,  den  Christen  gegen  den  Bud- 
dhismus zu  machen  pflegen,  ist  der,  dass  der  letztere  atheistisch 
sei,  dass  er  den  Gottesbegriff  nicht  kenne.  Die  meisten  der 
uns  bekannten  Rcligionssysteme  sind  theistisch,  d.  h.  sie 
lehren  das  Dasein  eines  persönlichen  Gottes  (Mono- 
theismus) oder  die  Existenz  mehrerer  ebenfalls  persön- 
lich gedachter  Götter  (Polytheismus);  sie  betonen  ferner, 
dass  der  Mensch  in  einem  bestimmten  Abhängigkeitsverhältnis 
zu  dem  persönlichen  Gott  (resp.  zu  den  persönlichen  Göttern) 
stehe,  und  dass  er  durch  bestimmte  Verrichtungen  (Gebet, 
Opfer,  Ceremonien)  auf  Gott  (resp.  auf  die  Götter)  einwirken 
und  ihn  (resp.  sie)  durch  diese  Verrichtungen  in  ganz  bestimm- 
ter Weise  beeinflussen  könne.  Von  diesem  Standpunkte  geht 
man  christlicherseits  aus  und  definiert  im  Hinblick  auf  die  meisten 
religiösen  Systeme  Religion  als  das  Abhängigkeitsgefühl 
des  Menschen   von    dem    persönlichen    Gott   oder   von 


118  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

persönlich  vorgestellten  göttlichen  Wesen.  Abgesehen 
von  dem  indischen  Yoga'imus  gibt  es  drei  monotheistische 
Religionsformen:  Das  Judentum,  Christentum  und  den  Islam; 
die  polytheistischen  Religionen  werden  von  den  Monotheisten 
als  heidnisch  bezeichnet.  Dem  Buddhismus  gegenüber  be- 
finden sich  nun  die  Christen  in  einer  grossen  Verlegenheit;  sie 
können  ihn  nach  der  landläufigen  Klassifizierung  nirgends  ein- 
registrieren. Denn  auf  der  einen  Seite  leugnet  der  Buddhismus 
auf  das  entschiedenste  den  persönlichen  Gottesbegriff  im  Sinne 
der  monotheistischen  Systeme,  ist  also  in  dieser  Hinsicht 
atheistisch,  auf  der  anderen  Seite  gibt  er  die  Existenz  von 
Devas,  Göttern,  göttlichen  Wesen,  zu,  betont  dabei  aber  nach- 
drücklich, dass  der  Mensch  in  keinerlei  abhängigem  Verhältnis 
zu  diesen  Wesen  stehe.  Man  beliilft  sich  daher  kurzer  Hand 
und  behauptet  schlankweg,  der  Buddhismus  sei  überhaupt  keine 
Religion.  So  einfach  ist  die  Sache  aber  doch  nicht;  denn  ein- 
mal liefert  die  Tatsache,  dass  der  Buddhismus  seit  langer  Zeit 
auf  einen  grossen  Teil  der  Menschheit  geistig  erhebend  und 
sittlich  veredlend,  also  wahrhaft  religiös,  einwirkt,  den  Beweis, 
dass  die  Gleichsetzung  von  Religion  und  persönlichem  Gottes- 
glauben unzulänglich  ist,  und  sodann  ist  noch  längst  nicht  ge- 
sagt, dass  der  Buddhismus,  wenn  er  auch  den  monotheistischen 
Gottesbegriff  ablehnt,  auch  im  absoluten  Sinne  atheistisch 
sei,  d.  h.  dass  sich  in  ihm  vom  Gottesbegriff  überhaupt  nichts 
vorfinde. 

Zunächst  eine  Bemerkung,  bevor  ich  weitergehe.  Man 
nennt  christlicherseits  den  Buddhismus  atheistisch,  weil  er 
leugnet,  dass  ein  persönlicher  Gott  existiere,  geschweige  denn, 
dass  der  Mensch  von  demselben  abhängig  sei;  man  maclit  dem 
Buddhismus  diesen  Atheismus  zu  einem  schweren  Vorwurf, 
man  sucht  den  Atheismus  überhaupt  als  etwas  Niedriges, 
Schimpfliches  hinzustellen  und  preist  dagegen  den  Glauben  an 
den  persönlichen  Gott  als  das  Höchste,  Erhabenste,  als  den 
grössten  Segen  für  die  Menschheit.  Man  wird  gut  tun,  diesen 
monotheistischen  Dithyramben  gegenüber  einfach  die  Religionsge- 
schichte zu  befragen  und  dabei  seine  gesunde  Vernunft  zu  ge- 
brauchen. Ich  kann  mich  in  keiner  Weise  davon  überzeugen, 
dass  der  Monotheismus,  wie  er  innerhalb  des  Judentums  und 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  119 

des  von  diesem  genetisch  abhängigen  Christianismus  und  Islams 
in  die  Erscheinung  getreten  ist,  ein  besonderer  Segen  für  die 
ihm  ergebenen  Völi<er  gewesen  wäre;  der  Weg,  den  diese  drei 
Religionen  gegangen  sind,  ist  genug  mit  Blut  gesprengt.  Jehovah 
befiehlt  seinem  auserlesenen  Volke,  die  Ureinwohner  Kanaans 
bis  auf  das  Kind  im  Mutterleibe  niederzumachen;  er  straft  und 
peinigt  die  Gegner  seines  Volkes;  ihm  wurden  bis  zum  Jahre 
70  nach  Chr.  blutige  Tieropfer  in  Hülle  und  Fülle  dargebracht. 
Die  Juden  selbst,  dieses  so  zäh  monotheistische  Volk,  waren 
im  höchsten  Grade  intolerant  und  grausam.  Die  Geschichte 
der  christlichen  Kirche  ist  ebenfalls  sehr  reich  an  Gewalttaten, 
Mord,  Blutvergiessen  und  Unduldsamkeit,  und  auch  die  Kirchen- 
neuerung des  16.  Jahrhunderts  zeichnete  sich  in  dieser  Richtung 
keineswegs  vorteilhaft  aus.  Im  Islam  liegen  die  Verhältnisse 
ebenfalls  nicht  günstiger.  Ohne  den  monotheistischen  Religionen 
irgendwie  zu  nahe  treten  zu  wollen,  kann  ich  doch  nur  zu  dem 
Resultat  kommen:  Es  ist  ein  grosser  Vorzug  des  Buddhismus, 
dass  er  mit  diesem  immerhin  blutrünstigen  Monotheismus  nichts 
gemein  hat,  und  wenn  man  ihn  atheistisch  im  Sinne  von  »nicht 
monotheistisch«  nennen  will,  so  kann  das  für  ihn  nur  eine 
Ehrung  sein.  — 

Das  Wort  Spencers,  das  ich  diesen  Ausführungen  als 
Motto  vorausgeschickt  habe,  erkennt  an,  dass  der  Gottesbegriff 
in  der  Religionsgeschichte  eine  sehr  wichtige  Rolle  spielt  und 
behauptet,  dass  der  Entwicklung  des  religiösen  Denkens  analog 
auch  der  Gottesbegriff  mancherlei  Wandlungen  unterliegt;  Gott 
wird  mehr  oder  weniger  »vermenschlicht«,  d.  h.  als  mit 
menschlichen  Eigenschaften  behaftet  vorgestellt;  diejenige 
Religion  ist  als  die  höchste  zu  betrachten,  die  Gott  am  meisten 
»entmenschlicht«,  d.  h.  die  in  der  Läuterung  des  Gottes- 
begriffes von  menschlichen  Vorstellungen  am  weitesten  geht. 

Wenn  wir  den  Spencerschen  Satz  als  Massstab  für  die 
Würdigung  der  religiösen  Systeme  der  westlichen  Welt  anlegen, 
so  ergibt  sich,  dass  alle  Religionen  Gott  (resp.  Götter)  insofern 
vermenschlicht  haben,  als  sie  einen  persönlichen  Gott 
(resp.  persönliche  Götter)  predigen.  Die  Götter  der  Griechen 
waren  durchweg  anthropomorph;  sie  zeigten  sich  in  mensch- 
licher Gestalt;   sie  stritten,   schlemmten,   hurten    und   ergötzten 


120  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sich  nach  Menschenart.  In  der  Vorstellung  der  Juden  war  der 
Gottesbegriff  ebenfalls  durchaus  vermenschlicht,  jehovah  ist 
ein  persönlicher  Gott;  er  spricht  bei  der  Weltschöpfung;  er  geht 
im  Garten  Eden  spazieren;  er  „riecht  den  lieblichen  Geruch" 
geopferter  Tiere;  er  sucht  Abraham  auf,  nimmt  bei  ihm  ein 
Mahl  ein,  geht  eine  Strecke  Weges  mit  ihm  und  hat  mit  ihm 
eine  längere  Unterredung.  Er  erscheint  dem  Moses  in  einem 
brennenden  Busch,  er  zeigt  sich  den  Israeliten  als  Feuersäule. 
Er  spricht  zu  Menschen  und  erscheint  ihnen  im  Traume;  er 
liebt  und  zürnt,  er  belohnt  und  züchtigt.  Derselbe  per- 
sönliche Gott  Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs  war  auch  der 
Gott,  den  Jesus  predigte,  den  Paulus  den  Athenern  verkündete. 
Auch  im  Neuen  Testament  offenbart  sich  Jehovah  verschiedent- 
lich in  sichtbarer  oder  hörbarer  Form;  er  spricht  vom  Himmel; 
Johannes  sieht  den  Geist  Gottes  herabkommen  „wie  eine  Taube", 
und  am  Pfingsttage  zeigt  sich  der  letztere  in  der  Gestalt  von 
„feurigen  Zungen";  Stephanus  „sieht  den  Himmel  offen  und 
den  Herrn  Jesus  sitzen  zur  rechten  Hand  Gottes".  Die 
christlichen  Kirchen  lehren  bis  auf  den  heutigen  Tag  einen 
persönlichen  Gott,  der  Gebete  hört  und  erhört,  der  liebt  und 
straft.  Es  soll  nicht  geleugnet  werden,  dass  in  einzelnen  Par- 
tieen  des  Neuen  Testaments  die  Gottesidee  weniger  anthropo- 
morph,  mehr  vergeistigt,  zu  Tage  tritt;  aber  vergessen  wir  nicht, 
dass  diese  Stellen  wahrscheinlich  auf  gnostische  Einflüsse 
zurückzuführen  sind.  — 

In  den  ältesten  Schriften  des  vorbuddhistischen  Indiens 
finden  wir  einen  immerhin  geläuterten  Polytheismus,  der  sich 
namentlich  durch  das  Zurücktreten  des  sinnlich-erotischen  Ele- 
mentes vorteilhaft  vor  dem  griechisch-römischen  Götterglauben 
auszeichnet.  Diese  altvedischeii  Götter,  wahrscheinlich  personi- 
fizierte Naturkräfte,  wurden  von  dem  indischen  Volke  durch 
Gebete,  Hymnen  und  Opfer  verehrt.  Über  dem  Ganzen  lag 
ursprünglich  ein  Hauch  geistiger  Freiheit  und  Selbständigkeit, 
das  Volk  war  durch  seinen  Götterglauben  nicht  geknechtet. 
Bald  wurde  der  letztere  aber  durch  das  allmähliche  Empor- 
kommen einer  besonderen  Priesterkaste  und  durch  die  Aus- 
bildung eines  komplizierten  Zeremonialkultcs  für  die  grosse 
Masse  der  Inder  ein   drückender  Alp,  eine  schwere  Last;   der 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  121 

Hauch  der  geistigen  Freiheit  war  verweht.  Auf  der  andern 
Seite  bemächtigte  sich  die  philosophische  Speitulation  des  vedi- 
schen  Polytheismus.  Es  bricht  sich  zunächst  die  Anschauung 
Bahn,  dass  die  verschiedenen  Götter  nur  verschiedene  Aspekte, 
Manifestationen  eines  Gottes  sind;  es  tritt  allmählich  eine 
Göttergestalt  in  den  Vordergrund;  sie  repräsentiert  gleichsam 
die  Gütterwelt:  Brahma,  der  oberste  der  Götter.  So  wird  der 
Polytheismus  zum  HenotheTsmus;  aber  nicht  genug  damit: 
Die  Philosophie  ging  noch  weiter  zum  PanhenotheTsmus. 
Der  maskuline  persönliche  Brahma  bleibt  bestehen;  daneben 
oder  dahinter  tritt  dann  allmählich  das  neutrale,  unpersönliche 
Brahm,  das  Ein  und  All,  die  einzige  Realität,  die  Grundlage 
des  menschlichen  Bewusstseins  mit  seinen  Inhalten,  die  trans- 
zendentale Wirklichkeit  im  Gegensatz  zu  der  Welt  des  Scheins. 

Wir  sehen  also,  dass  sich  die  indische  Religion  vor  Buddha 
in  zwiefacher  Richtung  entwickelt:  einmal  als  Polytheismus  der 
grossen  Massen,  und  sodann  als  Philosophie  der  hervorragende- 
ren Geister. 

Für  die  Beurteilung  der  Frage  nach  der  Rolle,  welche  die 
Gottes-Idee  im  Buddhismus  spielt,  kommt  in  erster  Linie  die 
Stellung  in  Betracht,  die  der  Buddha  dem  Gottes-  resp.  Götter- 
glauben seiner  Zeit  und  seines  Volkes  gegenüber  einnahm. 
Glaubte  er  an  das  Dasein  der  hinduistischen  Götter  oder 
glaubte  er  nicht  daran  ?  Wie  stellte  sich  der  Meister  zu  Brahma, 
dem  höchsten  persönlichen  Gott  des  indischen  Pantheons? 
Und  endlich,  was  ist  Brahm,  d.  h.  die  transzendentale  Realität, 
im  Buddhismus? 

Wenn  ich  hier  meiner  persönlichen  Meinung  Ausdruck 
geben  darf,  so  glaubte  der  Buddha  selbst  nicht  an  die  hin- 
duistischen Götter;  aber  Gotama  war  kein  Revolutionär,  sondern 
ein  Reformator.  Er  war  weise  genug,  den  Bestand  der 
Götterwelt  unangetastet  zu  lassen;  aber  seine  grosse  Tat,  viel- 
leicht seine  grösste  Tat,  war  die,  dass  er  dieser  Götterwelt 
gänzlich  ihren  bisherigen  mächtigen  Einfluss  nahm.  Der  Buddha 
betonte  die  Nichtigkeit  der  rein  formalen  Seite  des  Ritualismus; 
er  vertiefte  den  letzteren,  indem  er  die  tote  Form  mit  neuem 
geistigen  Gehalt  füllte.  Er  lehrte,  dass  der  Mensch  nicht  ab- 
hängig sei  von   Davas,  Asuras,   Petas,  Yakkhas,   BhQtas   und 


// 


122  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Gandhabbas;  er  predigte,  dass  der  Erlöste  höher  stehe,  als 
alle  Götter,  und  dass  nicht  Gebet  und  Opfergaben,  sondern 
Tugendpflege  und  die  Läuterung  des  Gemütes  von  Begierde, 
Sünde  und  Wahn  zur  Erlösung  führen.  So  werden  im  Buddhis- 
mus die  Göttergestalten,  vor  denen  das  Volk  bisher  in  Furcht 
und  banger  Scheu  zitterte,  zu  ganz  harmlosen,  untergeordneten 
Wesen,  zu  Statisten,  deren  Aufgabe  darin  besteht,  die  Grösse 
des  buddhistischen  Erlösungsgedankcns  erst  recht  hervortreten 
zu  lassen.  Der  Buddha  bedient  sich  der  himmlischen  Wesen 
zur  Ausschmückung  seiner  Erzählungen;  Brahma,  „der  grosse 
Brahma",  wird  redend  eingeführt;  er  erscheint  in  sichtbarer 
Gestalt  und  macht  dem  Meister  seine  Reverenz,  ja,  Gotama 
persifliert  diesen  Brahma  mit  feiner  Ironie  und  mit  einem  köst- 
lichen Humor,  indem  er  ihn  auf  die  Fragen,  die  ihm  ein  bud- 
dhistischer Mönch  vorlegt,  in  tötliche  Verlegenheit  geraten  lässt. 
Auch  Brahma  nebst  Sakka,  „dem  Götterkönig",  sind  wie  jede 
andere  Kreatur  dem  Gesetz  der  Vergänglichkeit  unterworfen  und 
werden  weit  überragt  von  dem  Heiligen,  welcher  der  restlosen 
Erlösung  teilhaftig  geworden  ist  und  aus  dem  ewigen  Strom 
des  Werdens  ausschaltet. 

So  ist  das  hinduistische  Pantheon  als  ungetilgter  Rest 
einer  früheren  Weltanschauung  vom  Buddhismus  mit  über- 
nommen worden;  aber  es  hat  in  demselben  gänzlich  seine 
ursprüngliche  Bedeutung  verloren  und  hat  mit  dem  eigentlichen 
Wesen  der  Buddha-Lehre  gar  nichts  zu  tun.  Daher  hat  Th. 
Schultze  durchaus  recht,  wenn  er  sagt:  Der  Buddhismus  ist 
zwar  keine  gottlose  Religion;  denn  er  hat  mehr  Götter,  als 
andere  Religionen;  wohl  aber  ist  er  gottfrei,  weil  keiner 
seiner  Anhänger  sich  von  diesen  Göttern  irgendwie  abhängig 
fühlt.  — 

Wir  in  Europa  verzichten  selbstverständlich  und  gern  auf 
diese  guten,  alten  Götter.  Sic  haben  nunmehr  dreitausend  Jahre 
und  länger  den  Himmel  menschlicher  Vorstellung  geziert;  sie 
sehnen  sich  nach  Ruhe,  wollen  auch  einmal  ihre  Ruhe  haben, 
gebt  ihnen  ihre  Ruhe,  die  wohlverdiente!  Mögen  sie  in  Frieden 
ruhen!  Wenn  man  uns  aber  deshalb  in  der  deutschen  Presse, 
wie  das  jüngst  hie  und  da  geschehen  ist,  beschuldigt,  dass 
wier  einen  „modern  aufgeputzten"  Buddhismus  importieren,  so 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  123 

ewidern  wir  darauf:  1.  Die  Devaiogie  spielt  im  Buddhismus 
eine  mindestens  ebenso  untergeordnete  Rolle,  wie  die  Lehre 
von  den  Engeln  im  Christentum  und  tangiert  den  wesent- 
lichen Bestand  des  Buddhismus  nicht  im  geringsten;  2.  man 
möge  doch  gefälligst  so  ehrlich,  gerecht  und  wahrheitsliebend 
sein,  auch  dort  von  einem  „modern  auffrisierten"  Christentum 
zu  sprechen,  wo  man  die  Gottessohnschaft  und  leibliche  Auf- 
erstehung Jesu,  die  Auferstehung  des  Fleisches,  die  Wiederkunft 
Christi  im  Weltgericht,  die  Dämonologie,  die  Mythen  des  alten 
Testaments  und  das  Dasein  eines  persönlichen  Teufels  leugnet. 
Man  könnte  dies  Christentum  mit  weit  mehr  Recht  „modern 
zugestutzt",  ja  sogar  dezimiert  und  dekapitiert  nennen,  als  den 
adevaistischen  Buddhismus,  u.  z.  deshalb  mit  weit  grösserem 
Rechte,  weil  einige  der  genannten  Punkte  achtzehn  Jahrhunderte 
lang  zu  den  wesentlichen  Grundlagen  und  dem  wesent- 
lichen Bestände  des  Christentums  gehört  haben,  während  die 
Devaiogie  im  Buddhismus  durchaus  unwesentlich  ist  und 
ohne  jeden  Schaden  für  den  Kern  getrost  und  mit  gutem  Recht 
beiseite  gesetzt  werden  kann.  — 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  natürlich  die,  ob  —  abgesehen 
von  dem  Glauben  an  das  hinduistische  Pantheon  —  innerhalb 
des  Buddhismus  der  Glaube  an  eine  übersinnliche  Welt,  an 
transzendente  Wesen,  an  Geister  und  dergleichen  möglich  ist 
oder  nicht.  Möglich  ist  ein  solcher  Glaube  allerdings.  Für 
die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  mit  die  Erwägung  massge- 
bend, dass  der  Buddhismus  in  erster  Linie  den  Erlösungs- 
Gedanken  betont,  dass  er  dagegen  allen  metaphysischen 
Spekulationen,  Erörterungen  und  Mutmassungen  indifferent,  eher 
noch  ablehnend,  gegenübersteht.  Es  bleibt  jedem  Buddhisten 
überlassen,  an  geistige  Wesen  zu  glauben  oder  nicht;  der  in- 
dische Buddhist  glaubt  an  die  Devas,  der  buddhistische  Burmane 
an  die  Nats,  und  ich  wäre  der  letzte,  der  das  Vorhandensein 
einer  übersinnlichen,  d.  h.  unseren  Sinnesorganen  unzugäng- 
lichen Welt,  von  vornherein  leugnen  möchte.  Nur  muss  betont 
werden,  dass  alle  derartige  Fragen  mit  dem  Wesen  des  Bud- 
dhismus gar  nichts  zu  tun  haben  oder  dass  sie,  wo  immer  sie 
aufgeworfen  werden,  in  den  grossen  Rahmen  der  buddhistischen 
Weltanschauung  hineinfallen.    Mit  anderen  Worten:  Gesetzt  den 


/ 


»24  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Fall,  es  gäbe  Devas,  Götter,  Geister  usw.,  so  müsste  auch  für 
jede  nur  denkbare  Götter-  oder  Geisterwelt  die  buddhistische 
Wahrheit  von  der  Vergänglichkeit,  vom  Leiden,  vom  Nicht-Selbst, 
vom  Lebenswillen,  zutreffen,  und  unser  Weltbild  wäre  dann  in 
seiner  Perspektive  wohl  um  einen  Schritt  erweitert  woidcn, 
aber  es  bliebe  trotzdem  seinem  Grundcharaktcr  nach  dasselbe 
Weltbild.  Und  was  das  Wichtigste  ist:  Der  Buddhismus 
stellt  seinen  Bekennern  wohl  den  Glauben  an  tjbersinnliche 
Wesen  frei,  aber  er  nimmt  den  ersteren  jedes  Abliängigkeits- 
gefühl,  jede  Furcht,  jedes  Grauen,  jedes  Entsetzen  vor  trans- 
zendenten Welten  und  deren  Bewohnern;  er  betont  die  wahre 
Würde  des  Menschen,  die  Überlegenheit  des  letzteren  über 
Götter  und  Teufel  —  mögen  diese  sein  wo  sie  wollen,  wie 
sie  wollen  und  wann  sie  wollen.  Daher  hat  der  Buddhismus 
niemals,  in  welches  Land  er  immer  gekommen  ist,  gegen  den 
bestehenden  Gottes-  und  Götterglauben  geeifert,  sondern  seine 
Aufgabe  darin  erblickt,  die  untergeordnete  Bedeutung  eines 
solchen  Glaubens  darzutun  und  dem  Menschen  zu  bedeuten, 
dass  er  unabhängig  von  Göttern  und  Geistern  ist.  „Nicht 
Opfergaben  für  einen  Gott  können  einen  Menschen  reinigen, 
der  noch  von  der  Täuschung  umfangen  ist."  Das  ist  der 
Grund,  weshalb  in  vielen  Ländern  neben  dem,  ja  innerhalb 
des  Buddhismus  verschiedene  Formen  des  Gottesglaubens  sich 
erhalten  haben  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Möglich,  dass  man 
einst  auch  in  Europa  von  einem  buddhaisierten  Christentum 
wird  sprechen  können,  dass  neben  einem  geläuterten  Gottes- 
glauben die  Erlösungs-Idee  des  Buddhismus  die  Gemüter  des 
Westens  erfüllen  wird. 

Damit  wäre  auch  zugleich  die  Frage  nach  dem  gegensei- 
tigen Verhältnis  von  Buddhismus  und  Occultisnius  ent- 
schieden. Der  letztere  ist  ebenso  wie  der  Materialismus 
international  und  interkonfessionell,  und  occultistische  Strömun- 
gen gibt  es  im  Buddhismus  ebensogut  wie  im  Christentum. 
Aber  alle  diese  Strömungen  im  Buddhismus  sind  sekundäre 
Schalen,  Anhängsel,  Übertünchungen.  Stets  wird  der  Occultis- 
mus,  wo  und  wann  immer  er  innerhalb  des  Buddhismus  auf- 
tritt, buddhaisiert  erscheinen,  d.  h.  er  wird  nichts  anderes 
vorstellen   können,   als   einen    Teil    des  ganzen,   grossen  bud- 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  125 

dhistischen  Weltbildes.  Wo  hingegen  der  Occultismus  beginnt, 
für  das  Gemüt  die  einzige  oder  doch  die  hauptsächlichste 
Richtschnur  zu  werden,  —  da  scheiden  sich  die  Geister,  da 
ist  kein  Boden  und  kein  Verständnis  mehr  für  die  reine,  hohe 
Lehre  der  Weisen  aus  dem  Qäkya-Stamm.  — 

Eine  Richtung  innerhalb  des  Buddhismus  hat  allerdings, 
wie  es  scheint,  dem  Monotheismus  Konzessionen  eingeräumt; 
es  sind  dies  die  in  voriger  Nummer  erwähnten  Schulen  des 
japanischen  Jodoismus,  welche  nach  ihrer  populären  Auffassung 
zu  urteilen,  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Schulen  als  hete- 
ronom  bezeichnet  werden  müssen.  Die  Anhänger  dieses 
Zweiges  richten  an  den  persönlich  vorgestellten  Buddha-Ami- 
täbha  Gebete  und  glauben  durch  das  unbegrenzte  Erbarmen 
dieses  Buddha  der  Erlösung  teilhaftig  zu  werden.  Aber  auch 
hier  hat  sich,  soweit  ich  diq  Verhältnisse  übersehen  kann,  die 
Amitäbha-Idee  dem  buddhistischen  Grundgedanken  durchaus 
untergeordnet.  Amitäbha  ist  nicht  der  Herr  der  Welt,  der  seit 
Ewigkeit  regiert  und  seine  Geschöpfe  belohnt  oder  züchtigt, 
sondern  ein  Wesen,  dass  während  langer  Zeiträume  den  Weg 
zur  Buddhaschaft  gewandert  ist  und  nun,  am  Ziele  angelangt, 
dem  Bittenden  in  seinem  Streben  nach  Erlösung  hilfreich  Bei- 
stand leistet.  Dass  aber  diesem  Amitäbha-Buddhismus  wahr- 
sclieinlich  eine  ganz  andere,  als  eine  heteronom-monotheistische 
Idee,  zu  Grunde  liegt,  wurde  bereits  in  der  vorigen  Nummer 
erwähnt. 

Soviel  über  das  Verhältnis  des  Buddhismus  zum  persön- 
lichen Gottesbegriff;  es  zeigt  sich  also,  dass  der  erstere  wohl 
persönliche  Götter  kennt,  und  dass  innerhalb  seiner  der  per- 
sönliche Gottesglaubc  wohl  möglich  ist,  dass  ihm  dagegen 
das  spezifische  Charakteristikum  des  Theismus  völlig  fehlt: 
Das  Abhängigkeits-Gefühl  des  Menschen  von  irgend  einem 
persönlichen  Gottc;  in  dieser  Beziehung  ist  der  Buddhismus 
atheistisch,  d.h.  nicht  theistisch.  Es  bleibt  nunmehr  noch 
die  Frage  offen,  ob  der  Buddha-Dharma  abgesehen  von  dem 
persönlichen  »vermenschlichten«  Gottesbegriff  nicht  noch  ein 
Etwas  kennt,  das  Spencer  als  den  völlig  »entmenschlichten« 
Gott  bezeichnen  würde.  Der  philosophische  Brahmanismus 
hatte   durch   seine  Postulierung   des   unpersönlichen,  neutralen 


126  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Brahm  als  der  transzendentalen  Realität  in  der  »Entmensch- 
lichung Gottes«  einen  grossen  Schritt  vorwärts  getan.  Aber  dieser 
Brahmanismus  war  in  seinem  Wesen  rein  spekulativ:  „Wer 
Brahm  erkennt,  ist  Brahm".  Der  Buddha  ging  von  ganz  anderen 
Gesichtspunkten  aus.  Für  ihn  handelte  es  sich  in  erster  Linie 
darum,  den  Blick  seiner  Zeitgenossen  von  der  unfruchtbaren, 
rein  theoretischen  Spekulation  einerseits,  und  von  dem  starren, 
geisttötenden  Rituaiismus  anderweit  abzulenken  und  ihm  ein* 
andere  Richtung  zu  geben.  Von  der  Vergänglichkeit  ausgehend, 
stellte  der  Buddha  den  Satz  auf:  „Alles  Dasein  ist  Leiden" 
und  suchte  nun  den  Menschen  den  Weg  zu  zeigen,  auf  dem 
ein  Entrinnen  aus  dem  Leiden  möglich  sei;  dieser  Weg  aber 
war  Selbstläuterung,  ernste  Arbeit  des  Menschen  an  sich 
selbst,  und  die  Pflege  wohlwollender  Gesinnung  den  Mitge- 
schöpfen gegenüber. 

Der  Meister  zeichnet  ein  sehr  einfaches  und  dabei  doch 
durchaus  vollkommenes  Weltbild;  seine  gesamte  Lehre  durch- 
tönt der  kosmische  Dreiklang  Anicca-Anattä-Dukkha  (Ver- 
gänglichkeit, Nicht-Selbst,  Leid).  Alle  Dinge  sind  beständig 
im  Wechsel  begriffen,  unterliegen  fortwährend  Veränderungen; 
sie  entstehen  und  müssen  vergehen.  Der  Mensch  macht  hier- 
von keine  Ausnahme;  sowohl  seine  objektive  Erscheinungsform 
(ROpa),  als  seine  subjektiven  Aspekte  (Näma  Vedanä-fSanfiä 
+  Samkhärä-|  Vifinäna)  fliessen,  wechseln,  verändern  sich.  Es 
existiert  im  Menschen  nichts  Unveränderliches,  Wcchselloses, 
kein  Selbst  im  Sinne  einer  für  sich  bestehenden  dauernden 
Ego-Wesenheit.  So  ist  der  Mensch  im  Sinne  des  Buddhismus 
Anattä  (Sanskr.  Anätman),  d.  h.  Nicht-Selbst,  Nicht-Ego.  Wohl 
existiert  das  Selbst,  aber  das  Selbst  ist  nur  die  Summe  der 
Empfindungen,  Vorstellungen,  •  Strebungen  und  Bewusstscins- 
Aspekte;  das  Selbst  steht  nicht  ausserhalb  oder  hinter  diesen 
Gruppen  als  ein  metaphysisches  Ich -Wesen,  sondern  die 
wechselnden  Gruppen  in  ihrer  Gesamtheit  sind  das  Selbst. 

Vergänglichkeit  und  Nicht-Selbst  sind  das  allem  Dasein 
inhärierende  Leiden.  Die  Ursache  des  Leidens  ist  der  Drang 
nach  Individualität,  nach  Dasein,  die  Begierde,  dieses  fälschlich 
als  etwas  Wechselloses  vorgestellte  Ich  in  jeder  Weise  zu  be- 
friedigen.   Die  Aufhebung  des  Leidens  wird  bewirkt  durch  die 


No.  4.  DER  BUDDHIST.  127 

Beseitigung  dieses  Lebensdranges,  und  die  Mittel,  welche  die- 
sem Zwecke  dienen,  sind  die  acht  Richtwege  des  Pfades. 

Die  Welt  ist  ein  ewiges  Werden;  jeder  einzelne  Werde- 
prozess  innerhalb  ihrer  ist  ein  Ausdruck  der  Kausalität;  die 
Welt  ist  Kausalität.  Die  letztere  herrscht  nicht  nur  im 
Physio-psychischen  (Nidänc),  sondern  auch  im  Moralischen 
(Kamnia).  So  ist  ein  jedes  Phänomen  Ursache  und  Wirkung 
zugleich,  ein  Glied  in  der  unendlichen  Kette  kausaler  Ver- 
knüpfung. Der  Leser  wolle  diese  kurze  Charakterisierung  scharf 
im  Auge  behalten. 

Das  Endziel  des  Buddhismus  ist  Nibbana.  WasistNibbäna 
per  se?  Der  Meister  nennt  einmal  im  Udäna  das  Nibbäna 
ursachlos,  d.  h.  Nichtkausalität.  Wir  erhalten  also  die 
Gleichung: 

Nibbäna^  Nichtkausalität 
und  deren  Umkehrung 

Nichtnibbäna  =^  Kausalität. 

Nun  haben  wir  aber  auf  Grund  unserer  obigen  Betrachtung 
der  Welt  folgende  zwei  Gleichungen  gewonnen: 

1 )  Anicca  +  Anattä  -|-  Dukkha    =  Welt 

2)  Kausalität -- Welt. 

Folglich:  Anicca -f  Anattä -j  Dukkha    =  Kausalität 

Folglich:  Anicca  +  Anattä -|  Dukkha      Nichtnibbäna 

Folglich  umgekehrt:  Nicca -j  Atta -|- Adukkha ')  =^  Nibbäna. 

Mit  anderen  Worten:  Die  Welt  in  ihrer  Gesamtheit  ist 
Kausalität,  ist  Vergänglichkeit,  ist  Nicht-Selbst,  ist 
Leiden.  Dieser  Welt  gegenüber  steht  Nibbäna,  die  Nicht- 
Kausalität, das  Wechsellose,  das  Selbst,  das  Leidlose, 
—  die  Substanz. 

Dieses  Nibbäna  ist  der  »entmenschlichte«  Gott 
des  Buddhismus.  Hier  hört  jede  menschliche  Vorstellung 
auf.  Was  wir  hier  durch  logisch-mathematische  Schlussfolgc- 
rungen  gewonnen  haben,  hat  der  Buddha  selbst  niemals  aus- 
gesprochen; er  hat  niemals  das  Nibbäna  als  das  »Selbst«  be- 
zeichnet.    Warum   nicht?     Erstens    deshalb    nicht,    weil   seine 


')  Nicca  — Wechsellos;  Atta-    Selbst;  Adukkha  —  Leidlosigkeit. 


128  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Zeitgenossen  unter  dem  »Selbst«  ein  getrenntes  Seeienwesen 
innerhalb  der  phänomenalen  Welt  verstanden,  und  zweitens 
deshalb  nicht,  weil,  wenn  der  Nibbäna-Begriff  positiv  ausge- 
drückt wird,  sehr  leicht  der  Masstab  irgendwelcher  mensch- 
licher Vorstellung  an  denselben  angelegt  und  Gott  »vermensch- 
licht« werden  kann.  Dieser  letzteren  Gefahr  hat  der  Meister  in 
seiner  Weisheit  vorbeugen  wollen,  und  wir  können  deshalb 
nur  mit  um  so  grösserer  Bewunderung  und  Ehrfurcht  zu  ihm 
emporblicken.  — 

„Die  Geschichte  der  Religion  ist  die  Geschichte  der  Ent- 
menschlichung Gottes".  Wenn  wir  uns  auf  diesen  Standpunkt 
stellen,  so  bedeutet  der  Buddhismus  des  Buddha  tatsächlich 
das  Ende  aller  Religionsgeschichte.  Mehr  als  er  kann  keine 
Religion  Gott  »entmenschlichen«,  kann  keine  Philosophie  den 
Gottesbegriff  von  menschlichen  Vorstellungen  läutern.  Der 
Buddhismus  nennt  Gott  nicht,  sondern  stellt  den  Menschen  auf 
sich  selbst;  aber  er  führt  denselben,  ohne  ihm  irgend  eine  Vor- 
stellung von  Gott  zu  machen,  zielbewusst  zum  Friedensthron 
der  höchsten  Gottheit.  ^-v«».^ 

Langmut  und  freundliche  Rede,  der  Verkehr  mit  geistig 
Strebenden,   Unterredung  über  die  Lehre   zur  rechten  Zeit  — 

das  ist  ein  sehr  grosser  Segen.  Maliämangala-Sutta. 

•  * 

* 

,Da  Begierde  und  Mismut,  böse  und  schlechte  Gelüste  gar 
bald  den  überwältigen,  dessen  Gesicht  und  Gedanken  unbewacht 
sind,  so  wollen  wir  uns  dieser  Bewachung  bcfleissigen,  wollen 
das  Gesicht  und  die  Gedanken  hüten  und  eifrig  bewachen:' 
also  habt  ihr  euch,  meine  Jünger,  wohl  zu  üben. 

Majjhima-Nikäya. 
* 
„Kämpfer,  Kämpfer,  o  Herr,  so  nennen  wir  uns;  inwiefern 

denn  sind  wir  Kämpfer?" 

,Wir  kämpfen,  o  Jünger,  deshalb  heissen  wir  Kämpfer.' 

„Um  was  kämpfen  wir,  Herr?" 

,Um  hohe  Tugend,  um  hohes  Streben,  um  hohe  Weisheit. 
Deshalb,  o  Jünger,  heissen  wir  Kämpfer.  Anguttara-Nikäya. 


Vermtwortlicher  Red«kteur:  Karl  B.  StidenstOrkir,  Lcipzip.    Verlajj:  Biiddhistischrr  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bacbmann  in  Baalsdorf-Leipzig. 


.^f''^ 

jm^ 

1 

Bülf, 

• 

1llf^'\' 

r 

l^^^^r*'^ 

1 
J 

^iMilii  feil 

-M 

Sir  Edwin  Arnold. 

(Der  Dichter  der  »Leuchte  Asiens«.) 


^\\\ 


JMm 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend   üben,    das    eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,   V.  183. 


Buddhistische  Ideen  €€€$ 
$:^:$^  bei  Richard  Wagner. 

Von  Georg  Jahn, 

Richard  Wagner,  der  grosse  Dichter-Komponist,  wird  gern 
als  echtdeutscher  und  spezifisch  christlich  empfindender  Künstler 
angesehen,  obwohl  das  für  einen  Teil  seiner  Werke  durchaus 
nicht  zutrifft.  Es  gilt  dies  hauptsächlich  von  seinen  letzten  grossen 
Tondichtungen,  die  ihrem  Gedankengehalt  nach  wohl  das  Beste 
und  Reifste  sind,  was  er  geschaffen,  die  er  selbst  als  Ergebnis 
und  Bekenntnis  seines  Lebens  und  Wirkens  hinstellt.  Freilich 
ist  Richard  Wagner  seiner  ästhetischen  Anschauung,  seiner 
ganzen  Kunst  nach  ein  deutscher  Dichter,  bildet  er  doch  das 
Schlussglied  in  der  Entwickelungsreihe  derjenigen  deutschen 
Ästhetiker,  die  mit  Leibniz  beginnt  und  ihren  Weg  über  Wolff, 
Baumgarten,  Lessing,  Suizer,  Schiller  und  Hegel  zu  ihm  nimmt. 
Diese  Angehörigkeit  zur  spezifisch  deutschen  Ästhetik  hindert 
aber  nicht,  dass  er  gerade  in  seinen  bedeutendsten  Werken  nicht 
vornehmlich  christliche  Ideen,  von  denen  die  deutsche  Kultur 
ja  beherrscht  ist,  sondern  vielfach  buddhistische  Tendenzen 
verfolgt.  Das  ist  wohl  begründet  im  ganzen  Verlauf  seiner 
geistigen  Entwickelung.  Wagner  ist  in  seinem  Denken  und 
Dichten  hauptsächlich  von  zwei  ganz  verschiedenen  Philosophien 
beeinflusst  worden,  voti  der  der  Junghegelianer  und  der  Arthur 
Schopenhauers.  Während  die  erstere  ausgesprochen  optimi- 
stische Anschauungen  vertritt,  und  einer  Philosophie  der  Freude 

9 


130  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

das  Wort  redet,  betrachtet  die  letztere  die  Welt  im  Spiegel  des 
Pessimismus  und  hält  ihr  hohnlachend  das  Bild  des  Leidens 
vor,  das  sich  darin  zeigt.  Es  ist  bekannt,  dass  die  Philosophie 
Schopenhauers  zahlreiche  Berührungspunkte  mit  dem  Buddhis- 
mus hat,  und  daher  leicht  erklärlich,  dass  wir  in  einzelnen 
Werken  Wagners  eine  Fülle  buddhistischer  Ideen,  wenn  auch 
nicht  in  voller  Reinheit,  entwickelt  finden.  Der  Zeit  der  Be- 
einflussung Wagners  durch  die  Philosophie  Schopenhauers  ge- 
hören die  letzten  dreissig  Jahre  seines  Lebens  und  Schaffens 
an,  also  die  Periode  seiner  vollen  künstlerischen  Selbständigkeit 
mit  denjenigen  Werken,  die  auf  die  Weltanschauung  der 
heute  sehr  zahlreichen  Wagnerianer  bestimmenden  Einfluss 
haben.  Während  nun  in  die  Zeit  vor  der  Bekanntschaft  mit 
Schopenhauer,  die  Periode  der  blossen  Nachahmung  und  der 
Junghegelei,  die  sogenannten  romantischen  Opern  Wagners 
gehören,  kommen  für  unsern  Zweck  nur  der  „Ring  des  Nibe- 
lungen", „Tristan  und  Isolde"   und    „Parsifal"  in  Betracht. 

Auch  in  Wagners  ganzer  Persönlichkeit  zeigt  sich  der 
Einfluss,  den  die  Lehren  des  Buddhismus  auf  ihn  gemacht 
haben.  Ein  Dichter  und  Denker,  der  anfangs  durch  eine 
grosse  allgemeine  Sozialrevolution  eine  Wendung  zum  Besseren 
erhofft  hatte,  der  fortgesetzt  bestrebt  war,  die  Welt  nach  seinen 
Theorieen  umzugestalten,  konnte  nicht  bei  dem  absoluten  Pessi- 
mismus Schopenhauers  stehen  bleiben  und  sich  einsam  in  sein 
Denken  einspinnen.  Er  vermochte  seiner  ganzen  Natur  nach 
nichts  anderes  zu  tun,  als  nach  Besserung  zu  streben,  und  so 
setzte  er  denn  an  Stelle  jenes  finsteren,  weitabgewandten  Pessi- 
mismus die  Erlösung  der  Welt  durch  Resignation  und  Mitleiden 
angesichts  der  Erkenntnis  der  leidensvollen  Lebensrätsel.  Das 
Wesen  der  Welt  ist  nichts  als  Täuschung,  Trug  und  Leiden, 
das  erkennt  er  klar  und  fordert  darum  Entsagung  und  Askese. 
Mitleid  mit  allem,  was  da  lebt  in  seiner  Qual,  wird  ihm  zur 
einzigwahren  Grundlage  aller  Sittlichkeit,  und  das  höchste  ethi- 
sche Prinzip  ist  Verneinung  des  Willens  zum  Leben.  Jene  frei- 
willige Askese,  jene  Umkehr  des  Lebenswillens,  welche  die  Weisen, 
die  Heiligen  üben,  die  das  Wesen  der  Welt  erkannt  und  in  der 
Vernichtung  des  Individualwillens  sich  zur  heiteren  Ruhe  dieses 
Quietivs  emporgeschwungen  haben,  ist  die  höchste  persönliche 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  131 

Tat,  deren  der  Mensch  fähig  ist.  Doch  nicht  nur  der  einzelne, 
der  stari<  genug  ist,  der  Weit  zu  entsagen,  soll  der  Erlösung 
teilhaftig  werden,  die  ganze  leidende  Menschseit  soll  erlöst 
werden.  Dazu  bedarf  es  jedoch  einer  Regeneration  des 
Lebens,  einer  neuen  geistigen  und  sittlichen  Kultur,  die  er- 
zielt werden  soll  durch  Selbsterkenntnis  und  sittliche  Selbst- 
verneinung der  Welt.  In  einzelnen  Bestrebungen  der  neuesten 
Zeit  sieht  Wagner  die  Anfänge  zu  einer  solchen  umwälzenden 
Bewegung  und  begriisst  sie  infolgedessen  freudig.  So  bricht 
er  manche  Lanze  für  den  Vegetarismus,  fordert  gleich  den 
Buddhisten  Liebe  und  Zärtlichkeit  für  die  Tiere,  bekämpft  die 
Vivisektion,  fördert  mit  Wort  und  Schrift  alle  Friedensbestre- 
bungen und  preist  den  Altruismus,  wie  er  namentlich  im 
Sozialismus  der  Gegenwart  gepredigt  wird.  Wagner,  ein  Pessi- 
mist der  Gegenwart,  hält  also  für  die  Zukunft  an  einem  gemäs- 
sigten und  veredelten  Optimismus  fest  und  glaubt  gegenüber 
Schopenhauer  und  anderen  Philosophen  an  die  Möglichkeit 
einer  Erlösung  vom  Leiden  und  an  eine  Besserung  der  gegen- 
wärtigen Zustände. 

Was  Wagner  in  der  Theorie  in  sich  aufgenommen  hat 
und  praktisch  betätigt,  das  legt  er  auch  in  seinen  Werken 
nieder.  Schon  im  „Ring  des  Nibelungen",  der  als  Dichtung 
noch  vor  der  Bekanntschaft  mit  der  Philosophie  Schopenhauers 
entstanden  ist,  herrscht  entschieden  eine  Tendenz,  die  an  bud- 
dhistische Ideen  erinnert.  Erlösung  der  Welt  zu  einem  besseren 
Leben,  Auflösung  des  Bestehenden  in  ein  neues  Weltalter  ist 
der  Kernpunkt,  das  Problem  dieser  seiner  grössten  Dichtung. 
Eingehüllt  in  das  Gewand  urgermanischer  Sage  und  Mythologie, 
predigt  uns  hier  der  Dichter  von  der  Macht  des  Goldes,  des 
Unschuld  würgenden  Dämons  der  Menschheit.  Auf  des  Rheines 
Grund  ruht  das  glitzernde  Rheingold,  nach  dessen  Besitz  schon  2 
lange  All)erich,  der  Nibelung,  trachtet.  Dem  schlauen  Zwerge 
gelingt  es  auch,  den  Rheintöchtern  das  Gold  zu  entwinden 
und  einen  Ring  daraus  zu  schmieden,  der  Macht  ohne  Massen 
und  Herrschaft  über  die  Welt  verleiht.  Alberich  freut  sich  je- 
doch nicht  lange  des  Besitzes,  denn  schon  strebt  Wotan,  der 
Oberste  der  Götter,  nach  dem  köstlichen  Kleinod  und  entreisst 
es  ihm  bald.    Doch  des  Zwerges  Fluch  hängt  an  dem  Ringe. 

9» 


132  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Gab  sein  Gold  bisher  massiose  Macht,  so  soll  es  jetzt  dem 
Besitzer  Tod  und  Verderben  bringen.  Kein  Froher,  kein  Glück- 
licher soll  sich  des  Ringes  freuen;  wer  ihn  besitzt,  den  quält 
nun  die  Sorge,  und  wer  ihn  nicht  hat,  den  nagt  der  Neid. 
Jeder  aber  ringt  nach  Gold  und  Macht,  und  so  bringt  es  jedem 
nicht  Nutzen,  sondern  Furcht  und  Leiden,  Verderben  und  Tod. 
Ring  und  Hort  wird  Wotan  wieder  vom  rohen  Geschlechte  der 
Riesen  entrissen.  An  ihnen  bewahrheitet  sich  der  Fluch,  der. 
am  Golde  haftet:  Sie  gehen,  wie  auch  die  lustheischenden, 
machtgierigen  Götter,  schnell  ihrem  Untergange  entgegen.  Aus 
des  Riesen  Fafner  Hand,  der  in  Wurmesgestalt  den  Nibelungen- 
Hort  mitsamt  dem  Macht  verleihenden  Ringe  hütet,  gewinnt 
Siegfried  sich  das  Kleinod  und  mit  ihm  zugleich  Verderben 
und  Untergang.  Neidisch  ist  Mime,  neidisch  ist  Alberich  auf 
ihn  um  des  Besitzes  willen;  sie  sinnen  beide  dem  Recken 
den  Tod.  Mime  fällt  jedoch  von  Siegfrieds  Hand,  ein  weiteres 
Opfer  der  Macht  und  Goldgier.  Doch  Alberich  lebt  und  sucht 
ihn  zu  verderben.  Mit  Hagens  Hilfe  gelingt  es  ihm,  Siegfried  aus 
dem  Wege  zu  räumen,  kommt  jedoch  auch  dadurch  nicht  in 
den  Besitz  des  Ringes.  Brünnhilde,  die  menschgewordene 
Walküre,  Siegfrieds  Weib,  die  dem  toten  Helden  den  Ring 
vom  Finger  gezogen,  besteigt  mit  der  Leiche  des  Gatten,  der 
sie  unwissend  betrog,  zum  selbstgewählt^n  Flammentode  den 
Scheiterhaufen.  Aus  seiner  Asche  holen  die  Rheintöchter  den 
Ring  zurück,  den  ihnen  Alberich  einst  geraubt.  Nicht  frommt 
es  nun  Hagen,  dass  er  sich  zu  seinem  Verderben  in  die  Flut 
stürzt,  ihnen  das  Kleinod  zu  entreissen.  So  ist  das  Macht 
verleihende,  Verderben  bringende  Gold  wieder  in  der  Tiefe  des 
Rheines,  wo  es  „traulich  und  treu"  nur  ist,  nachdem  sein  Be- 
sitz den  Riesen,  den  Göttern,  den  Zwergen  und  Menschen, 
Siegfried,  Günther,  Hagen  und  Brünnhilde  den  Untergang  ge- 
bracht hat. 

Das  ist  die  grosse  Wahrheit,  die  in  der  Wagnerschen  Te- 
tralogie steckt:  Am  Golde  hängt  die  Macht!  Nur  der  vermag 
etwas  auf  der  Welt,  wer  reiche  Schätze  besitzt.  Darum  strebt 
und  ringt  alles  nach  Gold  und  wirkt  sich  so  selbst  sein  Leiden; 
denn  der  Besitz  bringt  mit  der  Macht  zugleich  Verderben,  das 
Gold  Leid,  Not  und  Tod  in  die  Welt.    Der  Fluch,  der  auf  dem 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  133 

Begehren  nach  Schätzen  lastet,  ist  Wagner  hier  identisch  mit 
der  Betätigung  des  Willens  zum  Leben,  zur  Macht.  Von  diesem 
Fluche  aber  vermag  nur  die  reine,  allumfassende,  nicht  Lust 
heischende,  verzichtende  Liebe,  die  des  Goldes  und  der  Herr- 
schaft nicht  begehrt,  zu  erlösen,  sie  nur  vermag  Seligkeit, 
Ruhe  und  Frieden  in  die  Welt  zu  bringen.  Eine  solche  Liebe 
aber  wird  von  Brünnhilde  am  Schlüsse  der  Dichtung  proklamiert, 
wenn  sie  singt: 

Nicht  Gut,  nicht  Gold, 

noch  göttliche  Pracht; 

nicht  Haus,  nicht  Hof, 

noch  herrischer  Prunk ; 

nicht  trüber  Verträge 

trügender  Bund, 

nicht  heuchelnder  Sitte 

hartes  Gesetz: 

selig  in  Lust  und  Leid 

lässt  —  die  Liebe  nur  sein. 

Trägt  so  die  ganze  Grundidee  des  „Ringes"  einen  unbe- 
streitbar buddhistischen  Charakter,  so  zeigen  sich  auch  noch 
andere  Züge,  die  an  die  Weltanschauung  des  Buddhismus 
stark  erinnern.  Da  ist  zunächst  die  deterministische  Gebunden- 
heit der  Götter,  die  ihrem  Ende  entgegeneilen,  obgleich  sie  so 
stark  im  Bestehen  sich  wähnen.  Wotan,  der  Götter  Oberster, 
ist  der  Unfreiste  aller.  Was  er  ist,  ist  er  nur  durch  Verträge,  die 
aus  Schuld  hervorgegangen  sind.  So  gebunden,  vermag  er 
nicht  die  erlösende  Tat  zu  vollbringen  und  den  Ring  wieder 
zu  gewinnen,  ihn  also  unschädlich  zu  machen  und  die  Welt- 
herrscheft  aufs  neue  an  sich  zu  reissen.    Das  dürfte  nur: 

ein  Held,  dem  helfend 
nie  Wotan  sich  neigte; 
der  fremd  dem  Gott, 
frei  seiner  Gunst, 
unbewusst, 
ohne  Oeheiss, 
aus  eigener  Not 
.  mit  der  eigenen  Wehr 
schüfe  die  Tat, 

ein  Held,  der,  ledig  göttlichen  Schutzes,  sich  vom  Göttergesetz 
loszulösen  vermöchte. 


134 


DER  BUDDHIST. 


I.  Jahrg. 


Ober  seine  Unfreiheit  aber  klagt  Wotan: 

was  ich  gebaut  I 

Auf  geh'  ich  mein  Werk; 

Eines  nur  will  ich  noch: 


O  heilige  Schmach! 

O  schmählicher  Harm! 

Götternot ! 

Götternot ! 

Endloser  Grimm!  Ewiger  Gram! 

Der  Traurigste  bin  ich  von  allen 


das  Ende! 
das  Ende! 


So  nimm  meinen  Segen 
Niblungen-Sohn! 
Was  tief  mich  ekelt, 
dir  geb'  ich's  zum  Erbe, 
der  Gottheit  nichtigen  Glanz: 
Zernage  sie  gierig  dein  Neid! 


Fahre  denn  hin, 
herrische  Pracht, 
göttlichen  Prunkes 
prahlende  Schmach! 
Zusammenbreche, 

Auch  das  Versinken  in  Liebesgenuss,  der  Quell  so  zahl- 
reicher Menschenleiden,  das  Wagner  gern  zur  gegensätzlichen 
Darstellung  braucht  und  das  in  der  Vernichtung  des  individu- 
ellen Seins  einen  Vorgeschmack  des  Erloschenseins  gewährt, 
treffen  wir  schon  im  „Ring  des  Nibelungen".  In  der  herrlichen 
Erweckungsszene  des  zweiten  Tagewerkes,  in  der  Siegfried 
Brünnhilde,  die  zum  Weibe  gewordene  Walküre,  welche  um 
irdischer  Liebeslust  willen  auf  himmlisches  Wissen  verzichtet, 
gewinnt,  hören  wir  Worte,  die  im  Liebesrausch  die  vorahnende 
Vernichtungsseligkeit  erkennen  lassen: 


O  kindischer  Held! 

O  herrlicher  Knabe! 

Du  hehrster  Taten 

töriger  Hort! 

Lachend  muss  ich  dicli  lieben; 

lachend  will  ich  erblinden; 

lachend  lass  uns  verderben  — 

lachend  zu  Grunde  geh'n! 

Fahr'  hin,  Wallhall's 

leuchtende  Welt! 

Zerfall  in  Staub 

deine  stolze  Burg! 

Leb'  wohl,  prangende 

Götterpracht ! 


Du  ewig  Geschlecht! 
Zerreisst,  ihr  Nornen, 
das  Runenseil! 
Götterdämm'rung 
dunkle  herauf! 
Nacht  der  Vernichtung 
neble  herein!  — 
Mir  strahlt  zur  Stunde 
Siegfrieds  Stern; 
er  ist  mir  ewig, 
er  ist  mir  immer 
Erb'  und  Eigen, 
ein  und  all': 
leuchtende  Liebe, 
lachender  Tod! 


Ende  in  Wonne, 

Einen  ganz  ausgeprägt  buddhistischen  Charakter  schliess- 
lich tragen  die  Worte,  welche  die  endende  Brünnhilde  am 
Schlüsse  der  grossen  Dichtung  angesichts  der  Leiche  Siegfrieds, 
mit  dem  ihr  Liebes-  und  Lebensglück  zu  Grunde  gegangen,  sagt. 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  135 

Jene  Verse,  die  nicht  mit  in  Musik  gesetzt  sind  und  deshalb 
in  den  Textbüchern  fehlen,  bilden  mit  ihrer  charakteristischen 
Terminologie  einen  Beweis  dafür,  dass  wir  mit  unserer  Deutung 
nicht  fehlgegangen  sind:  Brünnhilde  hat  das  Wissen  vom 
Nirväna  gewonnen,  wenn  sie  auf  die  Frage:  Wisst  ihr,  wohin 
ich  fahre?  antwortet: 

Aus  Wunschheim  zieh'  ich  fort, 
Wahnheim  flieh'  ich  auf  immer; 
des  ew'gen  Werdens 
offne  Tore 
schliess'  ich  hinter  mir  zu: 
nach  dem  wünsch-  und  wahnlos 
heiligsten  Wahlland, 
der  Welt-Wanderung  Ziel, 
von  Wiedergeburt  erlöst, 
zieht  nun  die  Wissende  hin. 
Alles  Ewigen 
sel'ges  Ende 
wisst  ihr,  wie  ich's  gewann? 
Trauernder  Liebe 
tiefstes  Leiden 
schloss  die  Augen  mir  auf: 
enden  sah  ich  die  Welt. 

(Schluss  folgt). 

Mahäyäna. 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Die  folgenden  Ausführungen  sind  ein  Nachtrag  zu  dem  in  voriger 
Nummer  gebrachten  Artikel  »Gott  und  Götter«  und  sollen  einen  ganz 
kurzen  Überblick  über  die  Entwickelung  geben,  welche  der  Nirväna-Be- 
griff)  in  dem  Mahäyäna,  d.  h.  in  der  nördlichen  Richtung  des  Bud- 
hismus,  genommen  hat.  Der  Hauptunterschied  zwischen  den  beiden 
grossen  Schulen  »Hlnayäna«  und  »Mahäyäna«  besteht  in  der  ver- 
schiedenen Betrachtung  Nibbänas  (Nirvänas).  Dieser  Unterschied  ist  aber, 
wie  wir  sehen  werden  rein  philosophisch-theoretischer  Natur  und  berechtigt 
keineswegs  die  Anschauung,  dass  das  Mahäyäna  ausserhalb  des 
Buddhismus  stehe;  es  handelt  sich  um  nichts  weiter,  als  um  eine  in  brah- 


•)  Das  Mahäyäna  bedient  sich  im  Gegensatz  zu  der  südlichen  Schule 
in  seiner  Terminologie  der  Sanskrit-Sprache;  aus  diesem  Grunde  sage 
ich  hier  Nirväna  statt  Nibbäna  usw. 


136  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

manische  Bahnen  einlenkende  spei<ulative  Fortbildung  (oder  Rückbildung?) 
der  Lehre  des  Buddha. 

Die  Entwicklung  des  Nirväna-Begriffes  im  Mahäyäna  lässt  sich  an 
der  Hand  folgender  Hauptgesichtspunkte  verständlich  machen: 

I.  Buddha  und  Nirväna  werden  identifiziert. 

a)  Als  der  Körper  des  Buddha  im  Tode  sich  in  seine  Bestandteile 
auflöste,  entschwand  der  Buddha  aus  der  Welt  der  Erscheinungen ;  nichts 
war  vorhanden,  was  eine  neue  Objektivation  hätte  veranlassen  können; 
der  Buddha  hat  die  restlose  Erlösung  erreicht;  er  ist  ins  Nirväna  einge- 
gangen, ist  eins  mit  Nirväna;  Buddha  ist  Nirväna,  und  Nirväna  ist 
Buddha. 

b)  Buddha  Qäkyamuni  ist  nur  einer  von  vielen  Erleuchteten,  die  im 
Laufe  der  Zeiten  in  der  Welt  als  Lehrer  auftreten.  Sie  alle  sind  die 
sichtbare  Verkörperung  Nirvänas  und  gehen  bei  ihrem  Abscheiden  aus 
der  Erscheinungswelt  in  den  unsichtbaren  Nirväna-Zustand  zurück;  alle 
Buddhas  sind  eins  mit  Nirväna. 

c)  Buddha  im  Sinne  von  Nirväna  wird  im  Mahäyäna  als  »Adi-Buddha« 
(ursprünglicher  Buddha)  bezeichnet;  die  auf  Erden  erscheinenden  Erleuch- 
teten sind  gleichsam  nur  sichtbare  Erscheinungsformen  von  Adi-Buddha 
(vergl.  weiter  unten  Trikäya). 

n.  Tathätä. 

a)  Adi-Buddha,  resp.  Nirväna  wird  als  Tathätä  bezeichnet,  d.  h. 
als  Wirklichkeit,  Realität.    Adi-Buddha  (Nirväna)  ist. 

b)  Die  Welt  der  Vielheit  in  ihrem  Verhältnis  zu  Buddha  kann  be- 
trachtet werden : 

1.  als  eine  illusorische  subjektive  Spaltung  Adi-Buddhas; 

2.  als  ein  blosses  subjektiv-illusorisches  Träumen  im  Gegensatze  zu 
Buddha  (dem  Zustande  des  Erwacht-seins) ; 

3.  als  (um  in  einem  vielfach  gebrauchten  Bilde  zu  sprechen)  die 
Wellen  im  Verhältnis  zum  Wasser.  Die  Wellen  existieren  wohl ;  aber  sie 
könnten  nicht  sein  ohne  das  Wasser.  Analog  existiert  wohl  die  Welt 
der  Vielheit,  aber  sie  wäre  nicht,  wenn  Buddha  nicht  wäre;  Buddha 
ist  das  Wesen  aller  Dinge,  wie  das  Wasser  das  Wesen  der  Wellen  ist. 

4.  Buddha  ist  Geist;  alle  Dinge  sind  nur  Erscheinungen  innerhalb 
des  Geistes;  die  infolge  der  »grossen  Täuschung«  als  real  vorgestellt 
werden. 

5.  Wo  immer  durch  den  Drang  nach  individuellem  Dasein  der  Geist 
(Buddha)  getrübt  wird,  da  entsteht  Täuschung,  Sondersein,  Vielheit.  So 
spielt  sich  der  Samsära  (der  Kreislauf  des  Daseins)  innerhalb  Buddhas 
ab;  wie  das  Spiel  der  Wellen  im  Wasser  beginnt,  eine  Zeit  dauert  und 
schliesslich  wieder  im  Wasser  verschwindet,  bis  der  Spiegel  klar,  lauter,  un- 
bewegt in  tiefer  Ruhe  liegt,  so  sind  alle  Dinge  ihrem  Wesen  nach  Buddha, 
existieren  in  Buddha  und  kehren,  wenn  die  Erleuchtung  erreicht  ist,  zu 
Buddha,  zur  Ruhe,  zum  Frieden  zurück. 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  137 

6.  Das  Ziel  der  Menschen  wie  alles  Daseins  überhaupt,  ist,  Buddha 
zu  werden.  Dieses  Ziel  wird  erreicht  durch  die  Mittel :  Tugendpflege 
(^ila),  Meditation  (Dhyäna)  und  Weisheit  (Prajriä).  Durch  dieses 
»dreifache  Fahrzeug«  kreuzt  der  Mensch  den  Strom  des  Daseins,  zerstört 
die  Illusion  und  kommt  zu  der  Erkenntnis,  dass  Buddha  nicht  ausserhalb 
der  Dinge  ist  und  die  Dinge  nicht  ausserhalb  Buddhas  sind.  Das  Wesen 
Buddhas  in  all  seiner  Erhabenheit  und  Glorie  liegt  in  allen  Wesen  ver- 
borgen ;  nur  die  Täuschung  verhindert,  dass  dies  erkannt  wird ;  wird  die 
Täuschung  in  der  Erleuchtung  beseitigt,  dann  wird  der  Mensch  »Buddha«, 
eine  Verkörperung  der  Wahrheit,  Weisheit,  Tugend  und  des  Friedens; 
nach  dem  Ableben  .seines  Körpers  ruht  er  in  Nirväna  und  ist  dort  ange- 
langt, wo  Sünde,  Täuschung  und  Leid  nicht  mehr  sind,  wo  nur  Buddha 
ist,  höchste  Seligkeit  und  tiefster  Friede.  — 

III.  Trikäya. 

Adi-Buddha  zeigt  sich  als  Trikäya,  d.  h.  in  dreifachem  Aspekt, 
als  Sambhoga-Käya,  Dharma-Käya  und  Nirmäna-Käya. 

a)  Buddha  als  Nirväna,  als  Zustand  ewigen  Friedens  und  tiefster 
Ruhe  ist  der  als  Sambhoga-Käya  bezeichnete  Aspekt  Adi-Buddhas. 
Sambhoga-Käya  bedeutet  Aspekt  der  Seligkeit  und  bezeichnet  Nirväna 
im  Gegensatz  zu  dem  leidvollen  Kreislauf  des  Daseins. 

b)  Dharma-Käya  ist  die  Welt  als  Entwicklungs-Prozess  innerhalb 
Buddhas.  Diese  Entwicklung  vollzieht  sich  nach  ewigen  Gesetzen ;  diese 
ewige  Weltordnung  (Dharma)  führt  schliesslich  alles  wieder  zu  Buddha, 
zur  ewigen  Wahrheit,  zurück. 

c)  Nirmäna-Käya  ist  Buddha  in  sichtbarer  Gestalt,  d.  h.  ein  Wesen, 
das  durch  Überwindung  aller  Täuschung,  Sünde  und  Begierde  der  Er- 
leuchtung teilhaftig  geworden  ist  und  bei  seinem  Ableben  aus  dem  Kreis- 
lauf des  Daseins  ausschaltet.  So  ist  nach  mahäyänistischer  Auffassung 
Gautama  Qäkyamuni  als  historische  Persönlichkeit  ein  Nirmäna- 
Käya,  d.  h.  eine  sichtbare  Verkörperung  der  Wahrheit.  — 

Mag  man  nun  von  diesen  Lehren  des  mahäyänistischen  Buddhismus 
halten,  was  man  will,  so  ist  meines  Erachtens  doch  eins  klar:  diese 
Lehren  stehen  nicht  im  Widerspruch  mit  der  Doktrin  des  Buddha. 
Es  bleibt  im  Mahäyäna  das  Wesentliche  dieser  Lehren  bestehen:  Der 
vierfache  Satz  vom  Leiden,  das  Prinzip  der  Kausalität,  ferner  die  Idee  vom 
Nicht-Selbst  und  von  der  Vergänglichkeit.  Deshalb  ist  es  ein  Irrtum, 
wenn  gesagt  wird,  im  Mahäyäna  existiere  der  wesentliche  Bestand  des 
Buddhismus  nicht  mehr.  Diese  Sache  liegt  vielmehr  so :  Der  wesentliche 
Bestand  ist  in  beiden  grossen  Schulen  des  Buddhismus  durchaus  vorhanden  ;^ 
während  nun  der  Buddha  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  Nibbänas  zur 
Welt  unerörtert  lässt,  ebenso  wie  die  Frage  nach  der  Realität  der  Dinge, 
tritt  das  Mahäyäna  an  die  Aufgabe  heran,  diese  Frage  zu  beantworten, 
und  diese  Antwort  geht  über  die  Lehre  des  Meisters  hinaus,  ohne  aber 
mit  dieser  direkt   in  Widerspruch  zu  stehen,  noch  auch  irgendwie  den 


138  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Kern  des  ursprünglichen  Buddhismus  anzutasten.  Eins  scheint  mir  aber 
sicher  zu  sein:  Vielen  Gemütern  wird  gerade  diese  der  menschlichen  Nei- 
gung zum  Spekulieren  entgegenkommende  Mah.lyäna-Lehre  einen  un- 
aussprechlichen Frieden  bringen  und  jene  iimig-begeislcrfe  Hingabe  an 
den  Buddhismus,  welche  heute  die  Buddhisten  in  Japan  dazu  bewegt,  die 
Sendboten  dieses  Evangeliums  in  alle  Teile  der  Erde  zu  senden. 

^^  Nibbäna.  U^m 

Von  Bhlkkhu  Änanda  Maitriya. 

(2.  Fortsetzung.) 

Um  dem  Leser  einen  Begriff  von  dem  Wesen  dieses 
Arahatta-Zustandes  zu  geben,  kann  ich  meines  Erachtens  nichts 
Besseres  tim,  als  einige  Stellen  aus  unseren  heiligen  Schriften 
hier  wiederzugeben,  in  denen  jener  Zustand  beschrieben  ist; 
denn  in  diesen  Partieen  haben  wir  die  Äusserungen  der  grossen 
Arahäs  alter  Zeiten  vor  uns,  welche  selbst  in  jenem  glorreichen 
Leben  standen,  nach  dessen  Erreichung  wir  streben.  Hier  zum 
Beispiel  eine  der  vielen  Beschreibungen  aus  dem  Munde  un- 
seres Herrn  selbst:  —  „Der  Jünger,  welcher  Lust  und  Gier 
aus  sich  entfernt  hat,  der  gross  ist  in  Weisheit :  —  er  hat  hier 
auf  Erden  die  Befreiung  vom  Tode  erreicht,  den  Frieden,  das 
Nihbäna,  den  ewigen  Zustand." ') 

Da  ist  weiter  eine  wundervolle  Beschreibung,  die  einst 
Mahä-Kassapa  gleich  nach  der  Erlangung  der  Arahäschaft 
gegeben  hat.  Dieser  Mahä-Kassapa  war  ein  Brahmane,  gefeiert 
wegen  seiner  grossen  Einsicht  in  die  Mysterien  des  Feueropfers 
und  weit  und  breit  wegen  seiner  harten  Bussiibungen  berühmt. 
Er  hatte  viele  Anhänger,  und  der  genaue  Bericht  seiner  Be- 
kehrung zum  Buddhismus  findet  sich  im  Mahävagga. ')  Nach- 
dem er  ein  Jünger  des  Meisters  geworden  war  und  die  Ara- 
häschaft erlangt  hatte,  konnten  die  Leute,  als  sie  ihn  und  seine 
grosse  Gefolgschaft  im  jüngerkreise  des  Buddha  gewahrten, 
kaum  glauben,  dass  ein  so  grosser,  berühmter  Büsser  und 
Priester  ein  Bekenner  der  Lehren  unseres  Meisters  geworden  sei; 

')  Suttasangahä ;  vgl.  Dr.  Hoey's  Übersetzung  in  Oldenbergs  »Buddha» 
-■)  Vergl.  »Sacred  Bocks  of  the  East«,  Vol.  XIII,  S.  118  ff. 


No-  5.  DER  BUDDHIST.  I3& 

einige  sagten,  der  Buddha  sei  ein  Schüler  Mahä-Kassapas  ge- 
worden; andere  begnügten  sich  damit,  den  Sachverhalt  fest- 
zustellen. .  Und  so  wendet  sich  nun  der  Buddha  an  Mahä- 
Kassapa  und  fragt  ihn,  aus  welchen  Gründen  er  sein  Jünger 
geworden  sei : 

„Was  sähest  du,  mein  Freund  von  Uruvelä, 
Dass  du,  so  hochberühmt  durch  büssende  Abtötung, 
Dein  lodernd  Opferfeuer  nunmehr  aufgabst? 
Ich  frage  dich,  o  Kassapa,  warum  du's  tatest. 
Wie  kommt  es,  dass  dein  Altar  liegt  verödet? 
Was  ist  es,  in  der  Menschen-  oder  Götterwelt, 
Wonach  dein  Herz  sich  sehnet?  Sprich,  o  Kassapa!" 
Und  der  neugewonnene  Jünger  erwidert: 

„Ich  schaute  jenen  Friedeszustand,  wo  die  Wurzeln 
Der  Neugeburten  sind  beseitigt,  wo  Begierde 
Und  Hass  und  Wahn  besiegt  daniederliegen,  ^ 
Den  Zustand,  der  von  Lust  nach  künft'gem  Leben  frei, 
In  wechselloser  Ruhe  nie  sich  ändert. 
Den  sah  mein  Geist,  —  was  kümmern  mich  noch  Riten?" 
Aber  vielleicht  die  beste  und  am  meisten  vollständige  von 
jenen  Wortzeichnungen  Nibbänas  ist  die,  welche  sich  im  Mi- 
lindapaüha  findet,    wo  Milinda,   der  graeco-indische  König 
von  Sägala,   den  Arahä  Nägasena   um  eine  genaue  Beschrei- 
bung  des   Nibbäna   bittet.     „Mache    nicht   den   Versuch,   ehr- 
würdiger Nägasena",  sagt  der  König,  „diese  Schwierigkeit  auf- 
zuklären dadurch,   dass   du   sie  verdunkelst.     Es  handelt  sich 
da   um    einen   Punkt,    dem   diese    Leute   hier,    in    Bestürzung 
geraten  und  von  Zweifeln  umfangen,  verwirrt  gegenüberstehen. 
Zerstreue  diese  leidige  Ungewissheit;  sie  schmerzt  wie  ein  Pfeil," 
Und  Nägasena  antwortet: 

„Dieses  Nibbäna-Prinzip,  o  König,  mit  seiner  Fülle  von  Frieden, 
von  Seligkeit  und  Glück  —  ist.  Wer  sein  Leben  recht  richtet 
und  die  Dinge  erfasst,  der  realisiert  dieses  Prinzip  durch  seine 
Weisheit  und  macht  sich  kraft  seiner  Einsicht,  den  Unterwei- 
sungen seines  Lehrers  gemäss,  zum  Meister.  Und  wenn  du 
fragst,  ,welches  ist  das  Merkmal  Nibbänas'?,  —  so  sage  ich: 
Freisein  von  Elend  und  Unsicherheit,  Vertrauen^  Friede,  Ruhe, 
Seligkeit,  Glück,  Zartheit,  Reinheit,  geistige  Frische.  ...... 


140  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

„Und  wenn  du  weiter  fragst:  ,Wie  verwirklicht  ein  Mensch, 
der  sein  Leben  recht  richtet,  dieses  Nibbäna?'  —  so  möchte 
ich  erwidern:  Wer,  o  König,  sein  Leben  recht  richtet,  erfasst 
die  Wahrheit  soweit,  dass  sich  die  iNatur  aller  Dinge  enthüllt, 
und  wenn  er  dies  tut,  so  bemerkt  er  in  ihnen  Geboren-werden, 
er  bemerkt  Altern,  er  bemerkt  Verfall,  er  bemerkt  Siechtum, 
er  bemerkt  Sterben.  Aber  er  bemerkt  in  ihnen,  sowohl  am 
Anfang,  als  in  der  Mitte,  als  am  Ende,  nichts,  was  wert  wäre, 
dass  man  sich  darauf  verliesse,  als  könnte  es  dauernd  Befrie- 
digung gewähren.  Und  es  entsteht  Unzufriedenheit  in  seinem 
Gemüte,  wenn  er  so  findet,  dass  nichts  passend  wäre,  dass 
man  darauf  bauen  könnte,  oder  was  dauernd  Befriedigung 
zu  gewähren  imstande  wäre,  und  ein  Fieber  ergreift  von  seinem 
Körper  Besitz,  und  ohne  eine  Zuflucht,  ohne  einen  Schutz,  ohne 
Hoffnung  wird  er  der  sich  wiederholenden  Lebensläufe  über- 
drüssig. Und  in  dem  Gemüte  dessen,  der  so  die  Ungewiss- 
heit  des  vergänglichen  Lebens  erkennt,  das  sich  in  ungezählten 
Wiedergeburten  fortsetzt,  erhebt  sich  der  Gedanke:  ,Ein  ewiges 
Feuer  ist  dieses  unendliche  Werden,  flammend  und  brennend! 
Voll  von  Leiden  ist  es,  voll  von  Verzweiflung!  Wenn  man 
nur  einen  Zustand  erreichen  könnte,  in  welchem  es  kein  Wer- 
den gäbe,  —  dort  würde  Ruhe  sein,  das  wäre  süss,  —  das 
Aufhören  aller  dieser  Bedingungen,  das  Sich-Iosmachen  von 
allen  diesen  Gebrechen,  von  den  Begierden,  vom  Übel,  vom 
Kamma,  das  Ende  des  Begehrens,  die  Abwesenheit  der  Leiden- 
schaften, der  Friede,  das  Nibbäna'. 

„Und  damit  dringt  sein  Gemüt  vorwärts  in  jenen  Zustand, 
wo  es  kein  Werden  gibt,  und  dann  hat  er  Frieden  gefunden, 
dann  jauchzt  er  und  triumphiert  bei  dem'  Gedanken:  .Endlich 
habe  ich  eine  Zuflucht  gefunden!'  Und  er  strebt  mit  Macht 
und  Kraft  jenen  Pfad  vorwärts,  forscht  ihn  aus,  gewöhnt 
sich  völlig  an  ihn  zu  dem  Zwecke,  seine  Selbstzucht  fest  zu 
halten,  um  standhaft  zu  bleiben  in  der  Liebe  zu  allen  Wesen 
in  allen  Welten;  —hierauf  richtet  er  seinen  Geist  wieder  und 
wieder,  bis  er  über  die  Vergänglichkeit  hinausgekommen  ist  und 
das  Wirkliche  erlangt,  die  Frucht  der  Arahäschaft.  Und  wenn, 
0  König,  ein  Mensch,  der  sein  Leben  recht  richtet,  dies  erreicht 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  141 

hat,  dann  hat  er  Nibbäna  realisiert,  hat  Nibbäna  von  Angesicht 
zu  Angesicht  geschaut !"  *)   — 

Das  sind  einige  wenige  von  den  Steilen,  welche  das  Ideal 
des  Buddhismus  beschreiben,  den  Zustand  des  Arahä,  der 
schon  in  diesem  Leben  Nibbäna  erlangt  hat.  Unsere  Bücher 
sind  angefüllt  mit  derartigen  Beschreibungen,  angefüllt  mit 
Worten  und  mit  Ehrfurcht  gebietenden,  Bewunderung  erregen- 
den Äusserungen  jener,  welche  schon  in  diesem  Leben 
zu  dem  Ziele  unserer  Religion  gelangt  sind,  zu  dem  glor- 
reichen Zustande  höchsten  Friedens,  zu  der  unvergleichlichen 
Sicherheit  Nibbänas;  welche  Hass,  Begierde  und  Wahn  ausge- 
rottet und  alles  eitle  Verlangen  nach  einem  zukünftigen  Dasein 
aufgegeben  haben,  jene  eitle  Hoffnung  auf  individuelle  Unsterblich- 
keit, welche  für  jede  wahre  Grösse  in  unserem  Leben  Gift  ist.  „Ich 
verlange  nicht  nach  Sterben,  ich  verlange  nicht  nach  Leben,  ich 
warte,  bis  die  Stunde  kommt,  bewusst  und  wachen  Geistes."  -) 
Welch  ein  höheres  Ideal  könnte  aufgestellt  werden  als  dieses,  wie 
es  in  den  Worten  des  grössten  Jüngers  unseres  Meisters  seinen 
Ausdruck  findet?!  Es  ist  die  Apotheose  der  reinen  Vernunft: 
—  kein  vergebliches  Verlangen  nach  glückseligen  Zuständen 
jenseits  des  Grabes,  sondern  die  schon  in  diesem  Leben 
zu  vollendende  Erreichung  jenes  Zieles  der  Glückseligkeit,  nach 
welchem  die  Menscheit  sich  gesehnt  hat,  seitdem  der  erste 
artikulierte  Laut  über  menschliche  Lippen  gekommen  ist;  die 
Glückseligkeit,  die  den  erfüllt,  der  die  Ursachen  des  Leides 
vernichtet  hat,  der  frei  von  der  fesselnden  Leidenschaft,  Ge- 
hässigkeit und  Verblendung  lebt,  —  dessen  Leben  von  unaus- 
sprechlichem Frieden  durchdrungen,  dessen  Herz  von  Liebe  und 
Erbarmen  mit  allen  lebenden  Wesen  durchweht  ist. 

Und  doch  wird  der  Buddhismus  mit  seiner  Hoffnung,  die 
er  in  diesem  seinem  Endziel  zum  Ausdruck  bringt,  als  Pessi- 
mismus verschrieen,  als  ein  trauriger,  hoffnungsloser  Glaube, 
dessen  Anhängern  keine  bessere  Hoffnung  übrig  bleibt,  als  in 
das  ewige  Vergessen  einer  absoluten  Vernichtung  zu  versinken. 
Wenn  das  so  wäre,  dann  würde  der  Selbstmord  die  Erlösung 


')  Vergl.  Sacred  Books  of  tlie  Hast,  Vol.  XXXVI,  S.  196  ff. 
•)  Sacred  Books  of  the  East,  Vol,  XXXV,  S.  70. 


U2  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

des  Buddhisten  sein!  Aber  nein!  Un.scr  Endziel  ist  Glücl<sclig- 
keit,  mit  der  l<cin  irdisclies  Giücit  vergiiciien  werden  i<ann,  — 
die  Befreiung  von  diesen  niclitigen  Schatten,  von  diesen  wilden 
Begierden,  welche  das  menschliche  Leid  schaffen.  „Glück- 
lich wahrlich  leben  wir,  unter  Gehässigen  frei  von  Mass;  in 
dieser  Hass-erfUllten  Welt  leben  wir  Hass-bcfreit!  Glücklich 
wahrlich  leben  wir,  die  wir  nichts  unser  eigen  nennen;  den 
strahlenden  Göttern  gleichen  wir,  und  unsere  Speise  ist  Glück- 
seligkeit!" Das  ist  der  Zweck  und  das  Ziel  des  Buddhismus, 
das  ist  die  Krone  dessen,  der  den  erhabenen  Pfad  beschreitet: 
Die  Arahäschaft,  die  Erlangung  Nibbänas,  die  Errei- 
chung einer  endgültigen,  unbegrenzten  Glückseligkeit 
schon  hinieden  und  jetzt,  hier  in  diesem  Leben.  — 

(Fortsetzung  folgt). 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

'  Von  Dr.  Paul  Carus. 

(2.  Fortsetzung.) 

Seit  der  Veröffentlichung  dieser  Bemerkung  in  der  April-Num- 
mer des  »Monist«  i.  J.  1894  hat  Profes-sor  Rhys  Davids  seine  An- 
sicht über  den  Gegenstand  offenbar  geändert,  und  ich  würde 
den  ganzen  Passus,  in  dem  ich  mich  gegen  Rhys  Davids'  Auf- 
fassung gewandt  habe,  streichen,  wenn  nicht  sein  früher  ge- 
schriebenes populäres  Buch  (»Der  Buddhismus«)  im  Publikum 
bliebe  und  fortgesetzt  einen  grossen  Einfluss  ausübte;  denn 
dieser  Forscher  gilt  mit  Recht  als  eine  grosse  Kapazität  auf 
dem  Gebiete  huddhologischer  Forschungen.  In  seiner  letzten 
Publikation  berührt  Professor  Rhys  Davids  dasselbe  Problem 
und  kleidet  seine  jetzige  Ansicht  in  folgende  Worte: 

„Ein  Mcnscli  denkt,  seine  Existenz  habe  vor  wenltjeii  Jahren  be- 
gonnen, —  etwa  vor  zwanzig,  vierzig  oder  sechzig  Jahren.  Darin  liegt 
wohl  etwas  Wahres;  aber  in  einem  viel  tieferen,  umfassenderen,  richtigeren 
Sinne  hat  er  während  ungczähKcr  Zeitläufe  der  Vergangenheit  in  den  Ur- 
sachen existiert,  deren  Resultat  er  ist,  und  jene  selben  Ursachen,  deren 
zeitweilige  Wirkung  er  darstellt,  werden  in  anderen  ebenfalls  zeitweiligen 
Formen  für  ungezählte  Perioden  bestehen,  die  noch  kommen  werden. 

„Es  gibt  kein  Ding,  wie  eine  Individualität,  welche  permanent, 
dauernd,  beständig  wäre;   ja,  selbst  wenn  eine  permanente  Individualität 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  143 

möglich  wäre,  so  würde  sie  durcliaus  nicht  wünschenswert  erscheinen; 
denn  es  ist  nicht  wünschenswert,  getrennt  zu  sein.  Der  Versuch,  sich 
selbst  getrennt  zu  halten,  mag  für  eine  gewisse  Zeit  woiii  glücken ;  aber 
solange  dieser  Versuch  glückt,  schliesst  er  Begrenzung  in  sich,  mithin 
Unwissenheit,  mithin  Leid.  ,Nein,  du  darfst  kein  Getrenntsein  erhoffen 
oder  begehren',  sagt  der  Buddhist,  ,£ondern  Einheit,  die  Gesinnung  der 
Solidarität  mit  allem,  was  jetzt  ist,  was  einst  war,  und  was  je  sein  wird, 
—  jene  Gesinnung,  welche  den  Horizont  deines  Wesens  bis  an  die  Gren- 
zen des  Universums,  bis  an  die  Schranken  von  Zeit  und  Raum  erweitern 
und  dich  erheben  wird  auf  einen  neuen  Standpunkt,  der  weit,  weit  jen- 
seits von  der  niedrigen,  armseligen  Sorge  um  das  Selbst  liegt.  Warum 
weichst  du  zurück?  Gib  auf  das  Narren-I'aradies  von  »Dies  bin  ich« 
und  »Dies  ist  mein«.  Es  ist  eine  reale  Tatsache,  ja  die  grösste  aller 
Realitäten,  um  deren  Erlangung  du  bekümmert  bist.  Strebe  vorwärts  ohne 
Furcht!  Du  wirst  dich  selbst  in  den  ambrosischen  Wassern  Nirvänas 
finden,  wirst  wetteifern  mit  den  Arahäs,  welche  Geburt  und  Tod  über- 
wunden haben  I' 

„Diese  Karma-Theorie  nimmt  in  der  buddhistischen  Lehre  die  Stelle 
jener  sehr  alten  Theorie  von  „Seelenwesen"  ein,  welche  die  Christen  von 
den  rohen  Glaubensformen  der  frühesten  historischen  Zeiten  als  Erbe 
überkommen  haben. 

„Die  Geschichte  eines  Individuums  beginnt  nicht  mit  dessen  Geburt, 
sondern  sie  hat  sich  seit  endlosen  Zeiträumen  entwickelt,  und  das  Indi- 
viduum kann  sich  nicht,  ja  nicht  einmal  für  eine  Stunde,  von  den  umge- 
benden Dingen  absondern.  Das  winzigste  Schneeglöckchen  senkt  seine 
zarte  Blüte  gerade  so  viel  und  nicht  mehr,  weil  es  das  Gleichgewicht  des 
Universums  so  erheischt.  Es  ist  ein  Schneeglöckchen  und  keine  Eiche,  und 
zwar  gerade  die  betreffende  Art  Schneeglöckchen,  weil  es  das  Ergebnis  aus 
dem  Karma  endloser  Reihen  vergangener  Existenzen  ist.  Sein  Dasein  beginnt 
weder  mit  dem  Augenblick,  da  die  Blüte  sich  öffnet,  oder  als  die  Mutter- 
pflanze zum  ersten  Male  über  das  Erdreich  cmporlugte,  oder  als  sie  die 
erste  Umarmung  der  Sonnenstrahlen  genoss,  auch  nicht  damals,  als  die 
Wurzel  ihre  Schösslinge  über  den  Boden  emporsprossen  liess,  oder  zu 
irgend  einem  Zeitpunkt,  den  du  oder  ich  bestimmen  könnte  ....  Wir 
können  einen  neuen,  tieferen  Sinn  in  das  Wort  des  Dichters  legen,  der 
da  singt: 

Von  ferne  folgen  uns're  Taten  uns. 

Und  was  wir  einst  gewirkt,  das  sind  wir  jetzt." 

Man  mag  gegenüber  dieser  buddhistischen  Anschauung  den 
Einwand  geltend  machen,  dass  wir  l<cine  Neigung  haben,  die 
Menschen,  weiche  in  i<ünftigen  Zeiten  die  Veri<örpenmg  unseres 
Karmans  darsteilen  werden,  für  identisch  mit  uns  selbst  zu 
halten,  dass  wir  es  vielmehr  vorziehen,  sie  als  gänzlich  ver- 
schiedene Wesen  zu  betrachten.    Aber  hier  wird  der  Buddhist 


144  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sofort  seine  Entgegnung  bereit  halten.  Die  IdentitSt  behauptet 
sich,  mögen  wir  sie  nun  anerkennen  oder  nicht.  Sie  ist  real; 
denn  die  Naturgesetze  bestätigen  sie;  sie  ist  eine  feststehende 
Tatsache.  Diesen  zukünftigen  Verkörperungen  unseres  Karmans 
inhäriert  unser  Charakter  mit  seinem  ganzen  Segen  und  seinem 
ganzen  Fluch,  genau  ebenso,  wie  das  Ich  von  heute  gesegnet 
oder  verdammt  ist  von  den  Handlungen  aus  meiner  Jugendzeit, 
ganz  gleichgültig,  ob  es  mir  beliebt,  die  Identität  meiner  selbst 
anzuerkennen  oder  nicht. 

Wir  können  keine  richtige  Auffassung  von  dem  Wirken 
des  moralischen  Gesetzes  haben,  wenn  wir  den  Zusammenhang 
des  Seelenlebens  nicht  verstehen.  Solange  wir  in  dem  letzteren 
einzelne  »Selbste«  abgrenzen,  werden  wir  nie  aufhören,  mit 
psychologischen,  philosophischen  und  ethischen  Problemen  zu 
ringen,  die  uns  unlöslich  und  unbegreiflich  zu  sein  scheinen. 

Die  grössere  Mehrzahl  derjenigen  Menschen,  welche  sich  als 
orthodoxe  Christen  bekennen,  sind  in  ihrer  Anschauung  über  die 
Seele  zweifellos  Anhänger  der  Ätman-Theorie;  sie  postulieren  ein 
Selbst  als  das  Asiens  hinter  dem  Seelenleben  und  betrachten 
jenes  als  die  eigentliche  Seele;  und  doch  zeigen  die  grossen 
autoritativen  Repräsentanten  des  orthodoxen  Christentums, 
Männer  wie  der  Apostel  Paulus,  Thomas  von  Aquin,  Eckhart, 
Tauler,  Ignatius  von  Loyola,  Tholuck  und  viele  andere,  eine 
starke  Tendenz  nach  der  Anätman-Lehre,  d.  h.  nach  dem  Auf- 
geben des  Selbstes  als  der  eigentlichen  Seele.  Die  Christen 
entsetzen  sich  über  den  „Nihilismus"  des  Buddhisten,  dessen 
höchstes  Streben  darin  besteht,  seine  Seele,  d.  h.  seinen  Ätman, 
den  Selbst-Gedanken,  auszurotten  zu  dem  Zwecke,  Nirväna 
zu  erreichen  und  ein  Buddha  zu  werden,  aber  sie  nehmen 
keinen  Anstoss  daran,  wenn  Paulus  sagt:  „Ich  bin  mit  Christus 
gekreuzigt,  doch  nicht  ich  lebe,  sondern  Christus  lebt  in  mir." 

Nirväna. 

Wir  haben  gelernt,  dass  es  ebenso  natürlich  wie  irrtümlich 
ist,  wenn  Menschen,  die  ausschliesslich  in  der  Denkweise  des 
Westens  geschult  sind,  die  wichtigste  Lehre  der  buddhistischen 
Psychologie*)   für    eine   glatte,    ungeschminkte   Leugnung    der 

>)  Anätman  (Sanskr.),  Anattä  (Päli). 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  145 

Seele  erklären.  Auf  dieselbe  Weise  und  aus  denselben  Grün- 
den ist  es  ebenso  natürlich  wie  irrig,  wenn  westliche  Geister, 
die  in  Christen-Schulen  erzogen  sind,  das  Nirväna  des  Bud- 
dhismus für  Vernichtung  halten  und  die  buddhistische  Ethik 
als  Quietismus  charakterisieren. 

Nirväna,  das  ideale  Ziel  des  vollkommenen,  erleuchteten 
Jüngers  Buddhas,  ist  der  wichtigste  Begriff  in  der  buddhis- 
tischen Religionsphilosophie;  es  ist  der  Schlussstein  des  ge- 
samten Aufbaues,  und  doch,  wenn  man  nach  den  mannigfachen 
Deutungen  dieses  Begriffes  und  nach  den  Fehden  urteilen 
wollte,  die  sich  um  seine  Bedeutung  entsponnen  haben,  so 
müsste  man  schliessen,  dass  der  Sinn  dieses  Begriffes  ein  sehr 
zweifelhafter,  oder  aber,  dass  er  dem  Verständnis  des  abend- 
ländischen Denkens  sehr  schwer  zugänglich  sei. 

Die  unter  allen  Buddhisten  ganz  allgemeine  Definition  von 
Nirväna  ist  Befreiung  vom  Übel,  d.h.  Erlösung.  Die  Frage 
ist  nun  die,  von  welcher  Art  diese  Befreiung  ist. 

Die  Etymologie  des  Wortes  ist  einfach  genug;  Nirväna  be- 
deutet »Verlöschen«,  das  will  sagen  »Verlöschen  des 
Selbstes«,  eine  Deutung  des  Begriffes,  welche  in  der  HTna- 
yäna-Schule  des  alten  südlichen  Buddhismus*)  die  gebräuch- 
lichste ist.  Jene  Repräsentanten  der  japanischen  Mahäyäna- 
Schule  indessen,  welche  den   Religions-Kongress  in  Chicago 


')  Die  nördlichen  Buddhisten  machen  einen  Unterschied  zwischen 
Hinayäna  oder  dem  »kleinen  Fahrzeug  (der  Erlösung)«  und  dem 
Mahäyäna  oder  dem  »grossen  Fahrzeug«;  das  erstere  ist  die  siid- 
ichc,  das  letztere  die  nördliche  Schule  des  buddhistischen  Denkens. 
Das  erstere  zieht  es  bis  zu  einem  gewissen  Grade  vor,  seine  Definitionen 
negativ  und  philosophisch  zum  Ausdruck  zu  bringen,  während  das 
letztere  sich  einer  positiven  und  religiösen  Ausdrucksweise  bedient. 
Das  Hinayäna  repräsentiert  im  ganzen  gläubig  die  historischen  Über- 
lieferungen des  Buddha;  das  Mahäyäna  dagegen  hat  in  seinem  Streben, 
den  grossen  Massen  der  Menschheit  die  Erlösung  zu  bringen,  manche 
mystische  Elemente  zugelassen.  Wir  müssen  aber  hinzufügen,  dass  diese 
Gegensätze  in  Wirklichkeit  nicht  so  gross  sind,  als  es  bei  einer  allge- 
meinen Charakterisierung  den  Anschein  haben  könnte,  und  die  Unter- 
scheidung zwischen  Hinayäna  und  Mahäyäna,  welche  für  gewisse  Zwecke 
ganz  passend  ist,  hat  doch  nur  innerhalb  ganz  bestimmter  Grenzen 
Gültigkeit.  • 

10 


»46  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

besuchten,  pflegten  Nirväna  zu  definieren  als  »die  vollkom- 
mene Erlangung  der  Wahrheit«.  Nach  ihrer  Anschauung 
wird  Nirväna  erreicht  durch  das  Verlöschen  der  Selbst-Illusion 
mit  allem,  was  diese  in  sich  schliesst:  Begierde,  Lust  und  jedes 
sündige  Verlangen. 

Bei  den  Erörterungen,  die  über  den  Nirväna-Begriff  an- 
gestellt werden,  dreht  sich  im  Grunde  alles  um  das  Problem, 
ob  Nirväna  als  ein  positiver  oder  ein  negativer  Zustand  be- 
trachtet werden  muss,  als  ewige  Ruhe  oder  als  paradiesisches 
Leben,  als  vollkommene  Vernichtung  oder  als  die  Glückselig- 
keit höchster  Vollendung.  Um  diese  viel  umstrittene  Frage  zu 
lösen,  haben  die  Professoren  Max  Müller  und  Childers  unter 
Vermeidung  jeder  voreiligen  und  voreingenommenen  Forschungs- 
methode systematisch  die  alten  buddhistischen  Autoritäten  heran- 
gezogen und  eine  grosse  Anzahl  gesammelter  Stellen  verglichen, 
in  denen  das  Wort  Nirväna  vorkommt.  Als  Resultat  ergab 
sich,  „dass  sich  keine  Stelle  vorfindet,  welcher  notwendiger- 
weise die  Bedeutung  von  Vernichtung  beigelegt  werden  müsste, 
während  die  meisten  Stellen,  wenn  nicht  alle,  vollkommen  un- 
verständlich sein  würden,  wenn  wir  den  Begriff  »Vernichtung« 
auf  das  Wort  Nirväna  übertrügen". 

Es  wurde  von  manchen  Seiten  behauptet,  dass  es  verschie- 
dene Arten  von  Nirväna  gebe;  aber  Professor  Childers  erklärt 
diese  Annahme  für  gänzlich  irrig.     Er  sagt: 

„Ein  grosser  Irrtum,  der  meines  Wissens  von  Burnouf  ausging  und 
von  einigen  bedeutenden  europäischen  Gelehrten  ohne  Bedenken  über- 
nommen wurde,  hat  viel  dazu  beigetragen,  das  Nirväna-Probiem  unnötiger- 
weise mit  Zweifel  und  Unklarheit  zu  umhüllen.  Es  ist  das  jene  Ansicht, 
nach  welcher  drei  Arten  von  Nirväna  vorhanden  sein  sollen,  nämlich 
Nibbäna,  Parinibbäna  und  Mahäparinibbäna  (eigentliches  Nirväna,  voll- 
kommenes Nirväna  und  grosses  vollkommenes  Nirväna).  Diese  Annahme 
ist  weit  von  der  Wahrheit  entfernt;  denn  Parinibbäna  bedeutet  nur  Nir- 
väna oder  die  Erlangung  Nirvänas,  und  Mahäparinibbäna  bedeutet  nichts 
anderes,  als  das  Ableben  des  Buddha." 

Professor  Rhys  Davids  fasst  seine  Ansicht  über  die  Be- 
deutung von  Nirväna  in  folgende  Worte  zusammen: 

„Es  ist  das  Auslöschen  jener  sündigen,  greifenden  Be- 
schaffenheit des  Geistes  und  des  Herzens,  welche  sonst  nach 
dem  grossen  Mysterium  des  Karma  die  Ursache  zu  erneutem, 
individuellem  Dasein  werden  würde.    Jenes  Auslöschen   wird  zu 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  147 

Stande  gebracht  durch  ein  Zunehmen  des  Geistes  an  der  dieser  sündigen, 
greifenden  entgegengesetzten  Beschaffenheit  des  Geistes  und  des  Herzens 
und  läuft  mit  dieser  Zunahme  parallel;  jenes  Auslöschen  ist  ein  vollstän- 
diges, wenn  diese  entgegengesetzte  Beschaffenheit  erreicht  ist.  Daher  ist 
Nirväna  das  nämliche,  wie  ein  sündenloser  ruhiger  Gemütszustand; 
und  wenn  das  Wort  überhaupt  übersetzt  werden  soll,  wird  es  vielleicht 
am  besten  mit  »Heiligkeit«  wiederzugeben  sein;  —  denn  Heiligkeit  be- 
deutet im  buddhistischen  Sinne:  Vollkommenheit  in  Frieden,  Güte 
und  Weisheit." 

Professor  Childers  bietet  uns  in  seinem  »Päli-Dictonary« 
eine  sorgfältige  Erörterung  über  das  Problem.  Er  sagt  unter 
dem  Worte  Nibbäna  (dem  Päli-Ausdrucic  für  Nirväna): 

„Die  Schwierigkeit  ist  folgende:  Es  ist  wahr,  dass  manche  Ausdrücke 
für  Nirväna  gebraucht  werden,  welche  Vernichtung  zu  bedeuten  scheinen; 
aber  auf  der  andern  Seite  werden  andere  ebenso  zahlreiche  und  nicht 
minder  bedeutsame  Bezeichnungen  gebraucht,  welche  ganz  deutlich  als 
ein  glückseliger  Zustand  zu  verstehen  sind.  So  wird  Nirväna  Freiheit 
von  menschlicher  Leidenschaft  genannt,  Reinheit,  Heiligkeit,  Seligkeit, 
Glück,  das  Ende  des  Leidens,  das  Auflösen  des  Verlangens,  Friede,  Ruhe, 
Stille  und  so  fort.  Wie  ist  dieser  Widerspruch  zu  begreifen?  Ich  glaube, 
dass  das  Wort  Nibbäna  für  zwei  verschiedene  Begriffe  gebraucht  wird: 
einmal  für  jenes  Verlöschen  des  individuellen  Wesens,  welches  das  Ziel 
des  Buddhismus  ist,  und  sodann  für  den  Zustand  glückseliger  Heiligkeit, 
Arahatta  oder  Arahäschaft  genannt,  dessen  Ende  im  Verlöschen  liegt. 
Die  Erklärung  löst  den  scheinbaren  Widerspruch. 

„Beim  ersten  Blick  mag  es  unverständlich  erscheinen,  dass  ein  und 
derselbe  Ausdruck  auf  zwei  Begriffe  angewandt  wird,  die  so  verschieden- 
artig sind,  wie  Verlöschen  und  glückseliges  Dasein ;  aber  ich  glaube  zeigen 
zu  können,  wie  dieselben  zu  vereinbaren  sind.  So  kann,  wenn  wir  sagen, 
»Nirväna  ist  die  Vergeltung  eines  tugendhaften  Lebens«,  dies  im  eigent- 
lichen Sinne  bedeuten,  das  Verlöschen  sei  die  Vergeltung  eines  tugend- 
haften Lebens;  da  nun  aber  Verlöschen  ohne  die  Arahäschaft  nicht  er- 
langt werden  kann,  so  drängt  sich  dem  Geist  gleichzeitig  und  unabweisbar 
die  Idee  auf,  dass  die  Arahäschaft  die  Vergeltung  für  ein  tugendhaftes 
Leben  ist. 

„Obwohl  Sätze  wie:  „Verlöschen  ist  Glückseligkeit"  —  uns  be- 
fremdlich oder  sogar  lächerlich  erscheinen  mögen,  die  wir  von  unserer 
frühesten  Kindheit  an  belehrt  worden  sind,  dass  Seligkeit  in  ewigem  Leben 
bestehe,  so  wird  ein  solcher  Satz  einem  Buddhisten,  nach  dessen  Ansicht 
Dasein  Leiden  ist,  ganz  natürlich  und  vertraut  erscheinen;  das  ist  im 
Grunde  nur  eine  Frage  der  Erziehung  und  Gewohnheit;  die 
Worte:  „Verlöschen  ist  Seligkeit"  rufen  im  Gemüte  eines  Buddhisten  das- 
selbe Gefühl  begeisterter  Sehnsucht,  dasselbe  Bewusstsein  höchster  Wahr- 
heit wach,  wie  die  Worte :  „Ewiges  Leben  ist  Seligkeit"  im  Geiste  eines 
Christen." 

10* 


148  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

So  hätten  wir  nach  Professor  Childers  die  Seiigiteit  der 
Arahäschaft  und  das  vollständige  Verlöschen  des  individuellen 
Wesens,  das  erstere  die  Ursache  des  letzteren.  Wenn  der 
Arahä  das  Ziel,  Nirvana,  erreicht,  hört  er  auf,  als  eine  indivi- 
duelle Persönlichkeit  zu  existieren.    Childers  sagt: 

„Die  Lehre  des  Buddha  über  diesen  Gegenstand  ist  ganz  klar;  er 
sagte  sogar  seinen  eigenen  Tod  voraus.  Wenn  min  die  Arahäschaft  das 
letzte  Ziel  des  Buddhismus  wäre,  müsste  sie  ein  ewiger  Zustand  sein; 
denn  wäre  sie  nicht  ewig,  so  müsste  sie  früher  oder  später  aufhören,  u. 
z.  müsste  sie  dann  entweder  auslaufen  in  das  Verlöschen,  oder  in  einen 
nicht  glückseligen  Zustand,  der  in  jedem  Falle  nicht  das  Endziel  des 
Buddhismus  ist.  Da  aber  Arahäs  sterben,  so  ist  die  Arahäschaft  kein 
ewiger  Zustand  und  mithin  nicht  das  Endziel  des  Buddhismus.  Es  ist 
beinahe  überflüssig,  hinzuzufügen,  dass  sich  in  den  buddhistischen  Schriften 
keine  Spur  von  einem  weiteren  Da-sein  der  Arahäs  nach  ihrem  Ableben 
vorfindet;  es  ist  vielmehr  bedachtsam  in  unzähligen  Stellen  mit  aller 
Klarheit  und  dem  ganzen  Nachdruck,  deren  die  Sprache  fähig  ist,  konsta- 
tiert, dass  der  Arahä  nach  seinem  Ableben  nicht  weiter  existiert,  sondern 
aufhört  da  zu  sein.  Es  gibt  wahrscheinlich  keine  Doktrin,  welche  für 
Qäkyamunis  ursprüngliche  Lehre  so  charakteristisch  ist,  wie  das  Ver- 
löschen des  individuellen  Wesens". 

Diese  Lösung  scheint  nihilistisch  zu  sein;  aber  meines  Er- 
achtens  bedeutet  das  vollständige  Verlöschen  Gautama  Siddhär- 
thas  keineswegs  das  vollständige  Verlöschen  des  Buddha.  Es 
heisst,  der  Buddha  sei  bei  seinem  Ableben  in  Nirvana  einge- 
gangen; aber  gleichzeitig  wird  gesagt,  dass  der  Buddha  schon 
während  seines  Lebens  Nirvana  erreicht  habe.  In  der  Tat  sind 
nach  der  Ansicht  aller  Buddhisten  sowohl  des  Hinayäna  als 
des  Mahäyäna  Erleuchtung  und  Nirvana  vollkommen 
synonyme  Begriffe.  Nirvana,  das  Verlöschen  der 
Selbst-Illusion,  ist  der  Zustand  der  Erleuchtung  oder 
vollendetes  Erkennen  der  Wahrheit.  Ein  Buddha  ist  das 
ideale  Bild  eines  Menschen,  in  dem  aller  Irrtum  und  die  Folgen 
von  Wahn,  Begierde  und  Sünde  aufgehoben  sind;  sein  Wille 
ist  geläutert,  seine  Gedanken  sind  nicht  mehr  durch  Täuschun- 
gen verdunkelt,  und  in  seinem  Geiste  herrscht  vollkommene 
Wahrheits-Erkenntnis.  (Fortsetzung  folgt.) 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  149 

Soziale  Kräfte 
im  Buddhismus  und  Christentum. 

Kritische  Betrachtungen 

über  die  Ausführungen  der   Herren  Pfarrer  Lic.  Hacic- 

mann  und  Professor  D.  Harnack  auf  dem  diesjährigen 

»Evangelisch-sozialen  Kongress«. 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Wohl  selten  hat  man  sich  bei  einem  Vergleich  zwischen 
Buddhismus  und  Christentum  mehr  den  Anschein  wissenschaft- 
licher Objektivität  gegeben  und  ist  dabei  voreingenommener 
und  einseitiger  verfahren,  als  dies  auf  dem  Evangelisch-sozialen 
Kongress  in  Hannover  am  8.  Juni  1905  geschehen  ist,  als 
Pfarrer  Lic.  Hackmann  sein  Referat  über  „die  sozialen  Kräfte 
im  Christentum  und  Buddhismus"  hielt  und  Professor  D.  Har- 
nack ihm  dabei  als  Sekundant  assistierte.  Mir  liegen  die  Be- 
richte von  etwa  zwanzig  Tageszeitungen  vor,  die  ein  hinreichend 
klares  Urteil  über  die  Ausführungen  der  beiden  Redner  ge- 
statten. 

Die  Aufgabe,  über  soziale  Kräfte  im  Buddhismus  und 
Christentum  zu  sprechen,  ist  nicht  leicht  und  dazu  ausser- 
ordentlich verantwortungsvoll;  doppelt  verantwortungsvoll  dann, 
wenn  es  sich  nicht  um  einen  rein  wissenschaftlichen  Essay, 
sondern  um  eine  Darstellung  handelt,  die  dazu  bestimmt  ist, 
weiten  Kreisen  als  Richtschnur  und  Massstab  bei  der  Abwägung 
der  beiden  grössten  Weltreligionen  zu  dienen.  Solange  das 
Wort  Apostelgeschichte  IV,  12  für  christliche  Theologen  zu- 
recht besteht  —  und  das  ist  heute  wohl  noch  ausnahmslos  der 
Fall  —  muss  man  von  vornherein  jeder  theologischen  Äusse- 
rung über  Buddhismus  und  Christentum  durchaus  skeptisch 
gegenübertreten  und  kann  mit  tötlicher  Sicherheit  die  Prognose 
stellen,  dass  in  den  betreffenden  Ausführungen  dem  Christen- 
tum auf  alle  Fälle  der  Siegespreis  zuerkannt  wird.  Daran 
ist  die  Welt  bereits  so  gewöhnt,  dass  kein  vernünftiger  Mensch 
mehr  darüber  in  Verwunderung  oder  Aufregung  gerät,  wenn 
er  die  alte  Melodei  bald  in  Dur,  bald  in  Moll  singen  hört. 
Pfarrer  Lic.  Hackmann  hat  diesmal  die  Dur-Tonart  verschmäht 


150  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

und  ist  nicht  in  den  robusten,  polternden  Kampfton  verfallen, 
den  ein  Militär-Oberpfarrer  Falke  liebt,  dessen  Ausführungen  zu 
wenig  vernünftig  sind,  um  ernst  genommen  zu  werden;  Pfarrer 
Hackmann  sang  vielmehr  in  Moll  und  verfuhr  scheinbar 
„fein  säuberlich"  mit  dem  Buddhismus,  um  ihn  dann  desto 
besser  degradieren  zu  können. 

Herr  Hackmann  misst  gleich  von  vornherein  beide  Religi- 
onen mit  ungleichem  Mass,  wenn  er  einerseits  ganz  richtig 
behauptet,  der  Buddhismus  unterscheide  zwischen  der  engeren 
Jüngergemeinde  (dem  Bhikkhutum)  und  der  Laien-Anhänger- 
schaft, wenn  er  dagegen  andererseits  eine  analoge  Zweiteilung 
im  Christentum  in  Abrede  stellt.  „Die  soziale  Arbeit  des 
Christentums  erkennt  —  nach  Lic.  Hackmann  —  keinerlei 
Scheidung  in  vollkommneres  und  unvollkommneres  Christentum 
an;  was  in  dieser  Hinsicht  auf  christlichem  Boden  sich  geltend 
gemacht  hat,  kann  vom  Standpunkte  Jesu  Christi  aus  nicht 
gerechtfertigt  werden."  Daraus  folgert  dann  Herr  Hackmann 
weiter,  dass  der  Buddhismus  nur  zum  Teil,  nämlich  in  seinem 
Laien-Anhängertum  soziale  Kräfte  enthalte,  während  „die  soziale 
Arbeit  des  Christentums  alle  natürlich  notwendigen  mensch- 
lichen Gesellschaftsgruppen  gleichmässig  mit  einer  höheren,  sie 
zusammenfassenden  Kraft  durchdringe."  —  Mit  Verlaub,  Herr 
Pfarrer,  dem  kann  ich  nicht  beipflichten.  Wenn  Sie  nur  für 
den  Buddhismus  und  nicht  auch  für  das  Christentum  jene 
Zweiteilung  gelten  lassen  wollen,  kommen  Sie  sehr  bald  in  die 
Brüche.  Genau  so,  wie  der  Buddha  im  Kreise  seiner  engeren 
Jüngergemeinde  vor  der  Ehe  und  vor  weltlichen  Geschäften 
warnt,  seinen  Laien-Anhängern  gegenüber  dagegen  die  Er- 
füllung der  ehelichen  Pflichten  und  die  Ausübung  eines  »fried- 
lichen Berufes«  als  den  höchsten  Segen  preist,  genau  ebenso 
fordert  Christus  von  seinen  wahren  Jüngern  das  Sich-Ioslösen 
von  verwandtschaftlichen  Banden  und  weltlichen  Angelegenheiten, 
während  er  vor  weiteren  Kreisen  von  diesen  Dingen  als  etwas 
ganz  Natürlichem  spricht.  Die  Jüngerschaft  Christi  ist  ebenso- 
wenigsozial in  unserem  Sinne,  wie  das  buddhistische  Bhikkhu- 
tum. Dazu  kommt  für  das  Christentum  der  ältesten  Zeit  noch 
die  Schwierigkeit,  dass  die  Anhänger  Christi  die  Wiederkunft 
des  letzteren  zum  Weltgericht  als  unmittelbar  bevorstehend  er- 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  151 

warteten,  und  in  dieser  Erwartung  werden  sie  sich  dem  Gedanken 
an  eine  soziale  Betätigung  iierzlich  wenig  iiingegeben  haben. 
Philipper  IV,  5:  „Eure  Lindigkeit  iasst  kund  werden  allen 
Menschen;  der  Herr  ist  nahe,  deshalb  bekümmert  euch  um 
nichts."  Die  Verhähnisse  in  den  urchristlichen  Gemeinden 
mögen  nicht  unähnlich  den  Zuständen  in  der  Gemeinde  der 
Adventisten  gewesen  sein,  welche  die  Wiederkunft  Christi 
für  den  22.  Oktober  1844  berechnet  hatte.  Die  Mitglieder 
warfen  in  dem  festen  Glauben  an  dieses  Ereignis  ihr  Hab  und 
Gut  von  sich  und  standen  dann,  als  Christus  zu  dem  ange- 
setzten Termin  wieder  nicht  eintraf,  vis-ä-vis  de  rien.^)  — 
Sieht  man  über  die  Tatsache  hinweg,  dass  der  Glaube  der 
Urchristen  an  die  nahe  Wiederkunft  Jesu,  der  jede  soziale 
Betätigung  notwendigerweise  lahm  legen  musste,  sich  als  eine 
bare  Illusion  erwiesen  hat,  und  betrachtet  man  die  Schriften 
des  Neuen  Testaments  nach  ihrem  ethischen  Gehalt,  so  lässt 
sich  nicht  leugnen,  dass  dieselben  allerdings  die  Keime  zur 
Entfaltung  sozialer  Kräfte  enthalten,  die  indessen  keineswegs 
bedeutender  sind  als  die  im  Buddhismus.  Immerhin  bestand  im 
Christentum  von  jeher  eine  weltfremde  Richtung  der  eigent- 
lichen Jünger,  also  ein  Christentum  strengster  Observanz,  und 
ein  laxeres  Laienchristentum.  Dass  das  eigentliche  Christentum 
durchaus  weltflüchtig  war,  erhellt  zur  Genüge  aus  folgenden 
Belegen: 

Christus  selbst  führte  mit  seinen  Jüngern  ein  Bhikkhu- 
Leben  der  Entsagung,  und  ich  meine,  es  ist  höchst  gleichgültig, 
ob  ein  Asket  wie  der  Buddha  seine  Nahrung  von  der  Hand 
wohltätiger  Menschen  entgegennimmt,  oder  aber,  wie  Christus, 
die  Nahrung  für  das  Geld  kauft,  das  fremde  Menschen  ihm 
darreichen.  Christus  war  von  Familienbanden  frei;  vergleiche 
die  Erzählung  von  der  Hochzeit  zu  Cana,  wo  Jesus  seiner 
Mutter  in  einer  Weise  begegnet,  deren  Schroffheit  jedem  Un- 
befangenen auffallen  niuss.  Als  ihm  gesagt  wird,  dass  seine 
Angehörigen  in  der  Nähe  sind,  und  ihn  zu  sprechen 
wünschen,  weist  er  kurz  und  bündig  darauf  hin,  dass  seine 
Anhänger   seine  Mutter  und  seine  Brüder  seien;   es  kann  da 

')  Vergleiche  Eberhard  Buchner:  Sekten  und  Seklierer  in  Berlin, 
2.  Auflage  S.  15  f. 


152  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

nicht  Wunder  nehmen,  wenn  seine  Angehörigen,  die  für  seine 
weltflüchtige  Neigung  offenbar  wenig  Verständnis  hatten,  sagten, 
„dass  er  von  Sinnen  sei."  Jesus  veranlasst  ferner  verschiedene 
seiner  Jünger,  ihren  weltlichen  Beruf  ohne  weiteres  aufzugeben 
und  ihm  nachzufolgen.  Ja,  einem  seiner  Jünger,  der  ihn  um 
Urlaub  bittet,  um  seinen  Kindespflichten  nachzukommen  und 
seinen  Vater  zu  begraben,  untersagt  er  dies  mit  den  Worten: 
„Folge  du  mir  und  lass  die  Toten  ihre  Toten  begraben." 
(Matth.  VIII,  21,  22).  Der  Leser  mag  ferner  noch  folgende 
Stellen  beachten:  „Ich  bin  gekommen,  den  Menschen  zu  er- 
regen wider  seinen  Vater  und  die  Tochter  wider  ihre  Mutter, 
und  die  Schnur  wider  ihre  Schwieger.  Wer  Vater  oder  Mutter 
mehr  liebt  als  mich,  der  ist  mein  nicht  wert  und  wer  Sohn  oder 
Tochter  mehr  liebt  als  mich,  der  ist  mein  nicht  wert"  (Matth.  X, 
35,  37).  „Von  nun  an  werden  fünf  in  einem  Hause  uneins  sein, 
drei  wider  zwei,  und  zwei  wider  drei.  Es  wird  sein  der  Vater 
wider  den  Sohn,  und  der  Sohn  wider  den  Vater;  die  Mutter 
wider  die  Tochter  und  die  Tochter  wider  die  Mutter;  die 
Schwieger  wider  die  Schnur  und  die  Schnur  wider  die  Schwie- 
ger" (Luc.  XII,  52,  53).  „So  jemand  zu  mir  kommt,  und  ver- 
abscheut (!)  nicht  seinen  Vater,  Mutter,  Weib,  Kinder,  Brüder, 
Schwestern,  dazu  sein  eigen  Leben,  der  kann  nicht  mein  Jünger 
sein"  (Luc.  XIV,  26).  „Es  ist  niemand,  der  ein  Haus  verlasset, 
oder  Eltern,  oder  Brüder,  oder  Weib,  oder  Kinder  um  des 
Reichs  Gottes  willen,  der  es  nicht  vielfältig  wieder  empfange 
in  dieser  Zeit,  und  in  der  zukünftigen  Welt  das  ewige  Leben" 
(Luc.  XVIII,  29,  30). 

Wie  Pfarrer  Hackmann  angesichts  dieser  Stellen  den  Mut 
haben  kann,  in  die  Welt  hineinzurufen,  „eine  Scheidung  in 
vollkommneres  und  unvollkommneres  Christentum  könne  vom 
Standpunkte  Jesu  Christi  aus  nicht  gerechtfertigt  werden,"  ist 
mir  einfach  unverständlich.  Diese  Ansicht  Hackmanns  mag 
wohl  den  Intentionen  eines  modern  zurechtgestutzten  protestan- 
tischen Christentums  entsprechen,  nicht  aber  dem  Evangelium, 
auf  das.  gerade  diese  Herren  sich  mit  Vorliebe  berufen.  Man 
hat  christlicherseits  nicht  das  mindeste  Recht,  dem  Buddha  und 
seiner  Religion  einen  Vorwurf  daraus  zu  machen,  dass  sie  durch 
die  Unterscheidung  einer  geistlichen   und  einer  weltlichen 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  153 

Richtung  dem  individuellen  Bedürfnis  des  menschlichen  Gemütes 
entgegenkommen. 

Die  sozialen  Kräfte  in  diesem  weitabgewandten  Christen- 
tum sind  positiv  gleich  Null.  Einem  Christen,  der  um  Christi 
und  des  Himmelreichs  willen  seinen  Beruf  aufgibt  und  seine 
Angehörigen  verabscheut,  kann  es  nicht  im  entferntesten  ein-  . 
fallen,  sich  sozial  betätigen  zu  wollen.  In  sozialer  Hinsicht 
steht  das  buddhistische  Bhikkhutum  keineswegs  tiefer, 
als  das  asketische  Christentum;  im  Gegenteil,  jedem  Bhikkhu 
steht  es  ohne  weiteres  jeden  Augenblick  frei,  in  das  Welt- 
leben zurückzukehren;  überdies  hat  der  Bhikkhu  den  Laien 
gegenüber  die  Pflicht  der  Unterweisung  in  der  Lehre*),  muss 
sich  also  immerhin  dadurch  sozial  betätigen,  dass  er  zur  Ver- 
breitung der  humanitären  buddhistischen  Sittenlehre  beiträgt. 
Wenn  also  Pfarrer  Hackmann  sagt,  ,die  engere  Jüngergemeinde 
des  Buddha  wende  sich  so  entschieden  vom  Leben  ab,  dass 
in  diesem  Mönchtum  von  sozialen  Kräften  nicht  die  Rede  sein 
könne,"  so  hätte  er  gerechter-  und  billigerweise  hinzufügen 
müssen,  dass  in  der  engeren  Jüngergemeinde  Christi  die  Ver- 
hältnisse eher  schlechter,  als  besser  liegen.  Da  Pfarrer  Hack- 
mann der  Welt  dies  verschweigt,  behaupte  ich,  dass  er  von 
vornherein  mit  ungleichem  Mass  gemessen  hat. 

Abgesehen  von  dem  Bhikkhutum  gibt  Hackmann  zu,  „dass 
die  buddhistische  Laiensittlichkeit  eine  Fülle  sozialer  Beziehun- 
gen und  sozialer  Antriebe  umfasst."  Trotzdem  meint  er,  „die 
buddhistische  Laiensittlichkeit  sei  dennoch  durch  drei  Hinder- 
nisse stark  beschränkt." 

1.  „Die  sozialen  Pflichten  beruhen  nicht  auf  einem  grund- 
legenden Prinzip,  sondern  sind  zufällig  formuliert."  —  Das 
stimmt  nicht,  verehrter  Herr;  das  grundlegende  Prinzip,  auf 
dem  die  sozialen  Pflichten  beruhen,  ist  Metta  und  Karuna, 
d.  h.  jenes  Wohlwollen  und  Mitleid,  das  aus  der  Erkenntnis 
der  Einheit  alles  empfindenden  Seins  entspringt  und  nagh 
Möglichkeit  bestrebt  ist,  alles  das  zu  meiden,  was  Leid  in 
irgend  einer  Form  nach  sich  zieht. 

2.  „Es    werden    fünf    unbedingte  Einzelgebote  besonders 


')  Vergl.  Sigäloväda-Sutta. 


154  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

betont,  welche  für  soziale  Entwickelung  hemmend  oder  schäd- 
lich wirken."  Diese  Behauptung  Hackmanns  ist  so  ungeheuer- 
lich, dass  ich  eher  an  einen  Irrtum  der  Berichterstatter  glauben, 
als  einem  gebildeten  Manne  eine  derartige  Absurdität  zutrauen 
möchte.  Die  fünf  Gebote  lauten:  Nicht  töten,  nicht  stehlen, 
nicht  ehebrechen,  nicht  lügen,  keine  berauschenden  Getränke 
gemessen.  Und  die  Betonung  dieser  fünf  Einzelgebote  soll  für 
soziale  Entwickelung  hemmend  oder  schädlich  wirken!  Man 
muss  sich  doch  wirklich  an  die  Stirn  greifen  und  fragen,  wie 
ein  Mann,  der  einer  „sozialen"  Partei  angehört,  vor  der  Welt 
eine  derartige,  —  ich  kann  mir  nicht  helfen  —  unsinnige  Be- 
hauptung aufstellen  kann.  Man  vergleiche  dagegen,  was 
Oleott  in  seinem  Katechismus  (S.  41  f.)  über  diese  fünf  Ge- 
bote sagt:  „Was  fällt  dem  einsichtigen  Leser  dieser  Gebote 
sofort  in  die  Augen?  Dass  einer,  der  sie  beobachtet,  von 
jeder  wirkenden  Ursache  menschlichen  Elends  verschont  bleiben 
muss.  Dieses  hat,  wie  die  Geschichte  lehrt,  stets  seinen  Ur- 
sprung in  einer  oder  der  anderen  dieser  Ursachen  gehabt.  In 
welchen  Geboten  zeigt  sich  die  weitblickende  Weisheit  des 
Buddha  am  deutlichsten?  Im  ersten,  dritten  und  fünften  Gebot; 
denn  die  Gefährdung  des  Lebens,  die  Sinnlichkeit  und  der 
Genuss  berauschender  Getränke  verursachen  mindestens  95 
Prozent  aller  Leiden  unter  den  Menschen."  Ich  glaube,  dieses 
Urteil  Oleotts  ist  richtiger  und  vernünftiger  als  die  Ansicht  des 
Herrn  Hackmann.  Übrigens  scheint  der  letztere  seinen  Hörern 
verschwiegen  zu  haben,  dass  in  den  gesamten  Schriften  des 
Sutta-Pitaka  sich  zahlreiche  Lehren,  Ratschläge  und  Anweisun- 
gen allgemeiner  Natur  für  die  Laien-Anhänger  finden.  Aber  alle 
diese  buddhistischen  »Gebote«  haben  einen  ganz  anderen  Cha- 
rakter als  der  jüdisch-christliche  Dekalog;  sie  sind  freundliche 
Ermahnungen  und  gütige  Aufmunterungen,  und  nicht  der  herrische 
Befehl  eines  Gottes,  auf  dessen  Befolgung  oder  Nichtbefolgung 
eine  göttliche  Belohnung  resp.  Bestrafung  folgt. 

3.  „Indem  den  Laien  als  höhere  Schicht  die  Mönchsge- 
meinde übergeordnet  und  hingebende  Förderung  derselben 
unter  die  wesentlichsten  Pflichten  gezählt  wird,  bekommt  die 
Sittlichkeit  eine  antisoziale  Richtung;  Pflege  des  Mönchtums 
wird  der  Schwerpunkt."     Freilich  liegt  den  Laien  die  Unter- 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  155 

Haltung  der  Bhikkhus  ob,  d.  h.  sie  versorgen  die  letzteren  mit 
Kleidung  und  Nahrung.  Dass  diese  Unterhaltung  aber  als 
eine  Last  des  Volkes  empfunden  wird,  kann  angesichts  der 
Gehälter,  welche  die  christliche  Geistlichkeit  jährlich  verschlingt, 
schwerlich  behauptet  werden.  Das  gilt  selbstverständlich  nur 
von  den  Ländern,  wo  die  Bhikkhus  tatsächlich  dem  Gelübde 
der  freiwilligen  Armut  treu  geblieben  sind  (Ceylon,  Burma, 
Siam).  Wo  aber,  wie  vielfach  in  China  und  Tibet,  in  den 
.  Klöstern  Reichtümer  angehäuft  und  die  Mönche  der  Trägheit 
ergeben  sind,  da  wird  jeder  Einsichtige  dies  als  unbuddhi- 
stisch bezeichnen  und  das  Seine  dazu  tun,  dass  hier  Abhilfe 
geschaffen  wird,  wie  dies  z.  B.  in  China  zum  Teil  bereits  ge- 
schehen ist.  Den  Schwerpunkt  der  buddhistischen  Laien- 
sittlichkeit bildet  jedenfalls  die  Pflege  des  Mönchtums  nicht; 
das  weiss  jeder,  der  die  buddhistischen  Schriften  kennt. 

Indem  sich  Pfarrer  Hackmann  dem  Christentum  zuwendet, 
führt  er  etwa  folgende  Gedanken  aus:  „Im  engsten  organischen 
Zusammenhange  mit  dem  religiösen  höchsten  Gute  des  Christen- 
tums, dem  Glauben  an  den  himmlischen  Vater,  steht  als  Prinzip 
der  christlichen  Sittlichkeit  die  Liebe  da.  Sie  gestaltet  die 
Einzelgebote  aus  sich  heraus.  Mit  dem  Prinzip  der  Liebe  ist 
das  Christentum  grundsätzlich  an  soziale  Arbeit  gewiesen;  sie 
ist  das  natürliche  Feld  seiner  Tätigkeit."  Und  Professor  Har- 
nack  bemerkt  in  seinem  Schlussworte:  „Weil  unsere  evangelische 
Religion ')  auf  dem  klaren  Gedanken  beruht,  den  jedes  Herz 
und  jedes  Kind  versteht,  dem  Gedanken  der  Liebe,  darum  wird 
sie  bleiben  und  leben  und  dem  Buddhismus  nicht  nur  ge- 
wachsen sein,  sondern  wie  ein  Magnet  auf  ihn  einwirken." 

Bekanntlich  nimmt  das  Christentum  die  Bezeichnung 
»Religion  der  Liebe«  als  Ehrentitel  für  sich  allein  in  Anspruch; 
Liebe  ist  der  Refrain  aller  Lobpreisungen  dieser  Religion;  der 
Begriff  Liebe  war  auch  diesmal  in  Hannover  der  Haupttrumpf, 
den  die  Herren  vom  evangelisch-sozialen  Kongress  ausgespielt 
haben.  Nun  kann  sich  aber  jeder  davon  überzeugen,  dass  im 
Neuen  Testament  der  Lohngedanke  eine  grosse  Rolle  spielt; 
„freuet  euch  und  frohlocket,  denn  euer  Lohn  ist  gross  im 
Himmel"  (Matth.  V,  12).     Diese  christliche  Liebe   ist   in  ihrem 

')  Die  katholische  Religion  also  nicht? 


156  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Motiv  also  etwas  durchaus  egoistisches;  denn  der  von  dieser 
Liebe  Erfüllte  spekuliert  auf  alle  Fälle  auf  die  individuell  ge- 
dachte himmlische  Seligkeit.  Sieht  man  nun  von  diesem  durch- 
aus selbstischen  Motiv  der  christlichen  Liebe  ab,  so  lässt 
sich  nicht  leugnen,  dass  dieselbe  in  ihren  Äusserungen 
nach  den  Lehren  Jesu  einen  sehr  hohen  Grad  sittlicher  Voll- 
kommenheit darstellt.  Ja,  die  Christen  gehen  so  weit,  ihre 
Religion  wegen  der  von  Jesus  geforderten  Feindesliebe  als  das 
höchste,  unerreichte  Ideal  religiösen  Strebens  hinzustellen. 
„Liebet  eure  Feinde,  segnet  die  euch  fluchen"  usw.  Alles  gut 
und  schön;  nur  behaupte  ich,  dass  der  Buddhismus  in 
dieser  Hinsicht  dem  Christentum  nicht  nur  gleich- 
kommt, sondern  dasselbe  sogar  übertrifft.  Die  gesamte 
buddhistische  Literatur  hallt  wieder  von  dem  Metta,  der  Güte, 
dem  Wohlwollen,  dem  Erbarmen,  welches  der  Jünger  des 
Buddha  den  lebenden  Wesen  entgegenbringt.  Zunächst  ein 
paar  Belege  für  das  buddhistische  Metta  dem  Feinde  gegen- 
über: „Wenn  auch,  ihr  Jünger,  Räuber  und  Mörder  mit  einer 
Säge  euch  Gelenke  und  Glieder  abtrennten,  so  würde,  wer  da 
in  Wut  geriete,  nicht  meiner  Lehre  folgen.  Da  habt  ihr  euch 
nun,  meine  Jünger,  wohl  zu  üben:  ,Nicht  soll  unser  Gemüt 
verstört  werden,  kein  böser  Laut  unserem  Munde  entfahren, 
freundlich  und  mitleidig  wollen  wir  bleiben,  liebevollen  Gemütes, 
ohne  heimliche  Tücke;  und  jene  Person  werden  wir  mit  liebe- 
vollem Gemüte  durchstrahlen;  von  ihr  ausgehend  werden  wir 
die  ganze  Welt  mit  liebevollem  Gemüte,  mit  weitem,  tiefem, 
unbeschränktem,  von  Grimm  und  Groll  geklärtem,  durchstrahlen.' 
Also  habt  ihr  euch,  meine  Jünger,  wohl  zu.  üben"  (Majjhima- 
Nikäya,  21.  Sutta).  „Selbst  wenn  ein  Mann  mit  scharfem 
Schwerte  euch  stückweise  die  Glieder  vom  Leibe  trennt,  so 
geratet  nicht  in  Zorn,  fasst  keine  rachsüchtigen  Gedanken,  kein 
böses  Wort  entfahre  euren  Lippen"  (Fo-sho-hing-tsan-king  V. 
2046).  „Wenn  die  Tugendhaften  geschmäht  werden,  so  be- 
kümmern sie  sich  nicht  um  ihr  eigenes  Leiden,  sondern  viel- 
mehr um  den  Verlust  an  Glück,  den  die  Beleidiger  sich  zu- 
ziehen" (Jätakamälä,  24.  Erzählung).  „Wer  von  der  Welt 
verdammt  wird,  hege  dennoch  keine  feindselige  Gesinnung 
gegen  dieselbe"  (Sammäparibbäjaniya-Sutta,  V.  8)  u.  s.  w. 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  157 

Aber  der  Buddhismus  geht  in  seinem  Metta  weiter  als 
das  Christentum  in  seiner  Liebe,  weil  er  das  Metta  1.  in  Olau- 
benssachen  als  Toleranz  nachdrücklichst  proklamiert,  und  2. 
dasselbe  auf  die  gesamte  empfindende  Welt,  auf  Mensch  und 
Tier,  ausgedehnt  wissen  will. 

In  puncto  Toleranz  wollen  wir  am  Christentum  lieber 
nicht  rühren;  jeder  weiss,  dass  Duldsamkeit  niemals  die  starke 
Seite  dieser  Religion  gewesen  ist,  und  wollte  man  die  Geschichte 
des  Christentums  durch  ein  passendes  Motto  illustrieren,  so 
würdeich  die  drei  Worte  vorschlagen :  Blut,  Folter,  Scheiter- 
haufen. Im  Buddhismus  findet  sich  von  alledem  keine  Spur. 
Man  vergleiche  historische  Gestalten  wie  Konstantin,  Karl  den 
Grossen  auf  der  einen  Seite  mit  Asoka  andererseits;  welch 
ein  Kontrast!  Ich  könnte  hier  noch  einige  Streiflichter  auf  die 
„christliche  Mission"  werfen  und  zeigen,  dass  auch  heutigen 
Tages  noch  der  Geist  der  Unduldsamkeit  dieselbe  durchweht, 
doch  will  ich  mir  das  für  eine  der  nächsten  Nummern  vorbe- 
halten. Alles  in  allem:  Was  Toleranz  anbetrifft,  kann  das 
Christentum  von  dem  Buddha  noch  viel,  viel  lernen. 

Ferner  ist  das  buddhistische  Metta  universell,  erstreckt 
sich  auf  Mensch  und  Tier.  Das  Christentum  hat  für  die  Ein- 
heit alles  empfindenden  Seins  niemals  auch  nur  das  geringste 
Verständnis  gehabt  und  konnte  es  nicht  haben,  da  es  in  diesem 
Punkte  über  den  Mosaismus  nicht  hinausgeht.  Man  beachte 
z.  B.  folgende  Stellen:  „Herrschet  über  die  Fische  im  Meer 
und  über  die  Vögel  unter  dem  Himmel  und  über  alles  Tier, 
das  auf  Erden  kriechet"  (1.  Mos.  I,  28).  „Eure  Furcht  und 
Schrecken  sei  über  alle  Tiere  auf  Erden,  über  alle  Vögel  unter 
dem  Himmel,  und  über  alles,  was  auf  dem  Erdboden  kriechet, 
und  alle  Fische  im  Meer  seien  in  eure  Hände  gegeben.  Alles, 
was  sich  lebet  und  reget,  das  sei  eure  Speise"  (I.  Mos.  IX,  2,  3). 
Im  Neuen  Testament  findet  sich  von  humanitären  Lehren  der 
leidenden  Kreatur  gegenüber  keine  Spur.  Zur  Feier  von  Festen 
wird  jedesmal  ein  „gemästet  Kalb"  geschlachtet,  und  der  Stifter 
des  Christentums  selbst  nimmt  keinen  Anstoss  daran.  Jünger 
auszusenden,  um  das  Passah -Lamm  zu  bereiten.  Da  will 
mir  der  Standpunkt  des  Buddhismus  denn  doch  ungleich  höher 
und  reiner  erscheinen,  wenn  es  heisst:    „Wie  ich  bin,  so  sind 


158  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

diese  [Kreaturen];  wie  diese  sind,  so  bin  icli;  sich  selbst  mit 
anderen  identifizierend,  möge  man  niclit  töten  nocli  Tötung 
veranlassen"  (Sutta-Nipäta) ;  oder:  „Nicht  jedes  Opfer  billige 
ich,  aber  auch  nicht  jedes  Opfer  missbillige  ich.  Ein  Opfer, 
bei  welchem  Rinder,  Schafe  und  Ziegen  und  andere  Tiere 
geschlachtet  werden,  bei  welchem  mancherlei  lebende  Wesen 
zugrunde  gehen,  ein  solches  schädliches  Opfer,  wahrlich,  billige 
ich  nicht.  Aus  welchem  Grunde?  Ein  solches  schädliches 
Opfer  begehen  nicht  die  Heiligen  oder  die  den  Weg  der  Hei- 
ligen Wandelnden"  (Anguttara-Nikäya,  II.  Bd.,  IV.  Teil,  39.Sutta); 
oder:  „Wie  eine  Mutter  mit  Hintansetzung  ihres  Lebens  über 
ihrem  einzigen  Kinde  wacht,  so  hege  jeder  eine  schrankenlos- 
gütige Gesinnung  gegen  alle  Wesen."  —  Also  mit  der  Über- 
legenheit der  christlichen  Liebe  über  das  buddhistische  Metta 
ist  es  nichts,  und  damit  bleibt  der  von  Pfarrer  Hackmann  aus- 
gespielte Haupttrumpf  durchaus  wirkungslos.  Möchte  mich 
aber  Pfarrer  Hackmann  auf  die  „christlichen  Liebeswerke"  un- 
serer Tage  verweisen,  so  sei  ihm  folgende  Antwort  gegeben: 
Dieselben  sind  ein  Produkt  unserer  vorgeschrittenen  Zeit,  der 
sich  das  Christentum  notgedrungen  anpassen  muss;  sind  nicht 
auch  die  freireligiösen  Maurer-Logen  humanitär?  Verdanken 
wir  nicht  der  Christus-feindlichen  Sozialdemokratie  eine  ganze 
Reihe  sozialer,  humanitärer  Verordnungen?  Sind  es  nicht  gerade 
freidenkende  Gelehrte,  die  sich  an  humanitären  Bestrebungen 
rege  beteiligen?  Im  buddhistischen  Asien  gibt  es  weniger 
humanitäre  Einrichtungen,  als  bei  uns;  aber  wie  mir  überein- 
stimmend aus  Ceylon,  Burma,  Slam  und  Japan  berichtet  wird, 
ist  dort  die  Gesinnung  der  Bevölkerung  bei  weitem  milder, 
wohlwollender  und  hilfsbereiter,  als  im  Abendlande.  „Dort, 
wo  der  Buddhismus  herrscht,  braucht  niemand  zu  fürchten, 
dass  er,  in  Not  geraten,  verhungern  muss."  Aber  im  christlichen 
Abendlande  begehen  täglich  so  und  so  viel  Hunderte  Selbst- 
fnord,  weil  ihnen  das  Nötigste  fehlt,  und  weil  trotz  der  christ- 
lichen Liebe  niemand   da  ist,  der  sich  ihrer  erbarmt. 

Pfarrer  Hackmann,  der  im  Gegensatz  zu  vielen  seiner 
Amtsbrüder  das  wertvolle  Zugeständnis  macht,  dass  der  Bud- 
dhismus der  Frau  ihre  gebührende  Stellung  in  der  Gesellschaft 


No.  5.  DER  BUDDHIST.  159 

verschafft  habe*),  geht  auf  eins  der  wichtigsten  Momente  gar 
nicht  ein,  das  bei  der  Besprechung  der  sozialen  Kräfte  im 
Buddhismus  durchaus  mit  berücksichtigt  werden  muss:  die 
Kamma-Lehre,  nach  welcher  das  geerntet  wird,  was  gesäet 
wurde.  Diese  Ernte  wird  aber  nicht  im  Himmel  eingeheimst, 
sondern  sie  vollzieht  sich  hier  auf  Erden,  und  Wohlergehen 
oder  Verfall  der  Generationen  sind  das  Ergebnis  von  dem 
Wirken  ihrer  Vorgänger.  Die  Menschheit  hat  also  ihr  eigenes 
Geschick  in  ihrer  Hand,  und  diese  vom  Buddhismus  gepredigte 
Lehre  birgt  in  sich  die  Keime  zur  Entfaltung  höchster  sozialer  Kraft. 

Meine  Ausführungen,  die  nichts  weiter  sein  wollen  und 
sein  sollen  als  eine  kritische  Beleuchtung  der  auf  dem  evan- 
gelisch-sozialen Kongress  vertretenen  Ansichten,  können  hier- 
mit geschlossen  werden.  Es  bleibt  mir  nunmehr  noch  die 
Aufgabe  vorbehalten,  das  Thema:  »Soziale  Kräfte  im  Bud- 
dhismus« systematisch  und  eingehend  zu  behandeln,  und  diese 
Aufgabe  wird  in  einem  der  späteren  Hefte  zu  absolvieren  sein. 

„Alles  Böse  meiden,  die  Tugend  ausüben,  das  eigene  Ge- 
müt läutern,  —  das  ist  die  Religion  der  Buddhas"  —  heisst 
es  im  Dhammapada.  Eine  höhere,  grössere,  edlere  Religion 
ist  undenkbar,  und  weder  ein  Pfarrer  Lic.  Hackmann,  noch  ein 
evangelisch-soziales  Christentum  können  uns  etwas  bieten,  was 
höher  stünde  als  die  Lehre  jenes  grossen  Meisters,  der  einst 
gesagt  hat:  „Alle  Wesen  sehnen  sich  nach  Glückseligkeit;  des- 
halb umpfange  mit  deiner  Güte  alle  Wesen."  — 

Zwei  buddhistische  Hymnen. 

Von  Dr.  Wolfgang  Bohn. 

1.  Der  grosse  Arzt.  ') 

1.  Du  suchst  den  Arzt,  mein  krank  Gemüt, 
Der  dich  in  Schlummer  singet, 
Den  Garten,  wo  die  Blume  blüht, 
Die  süssen  Schlaf  dir  bringet, 
Der  dir  zeigt  der  Schmerzen  Quell, 
Reicht  den  Trank  dir  rein  und  hell,  — 
Herz,  dich  willig  ihm  gesell', 
Dass  dein  Werk  gelinget. 

')  Was  ich  vom  Christentum  nicht  zugeben  kann,  worüber  später  mehr.  K.S. 
-)  Nach  der  Melodie  eines  englischen  geistlichen  Liedeg  zu  singen. 


leo  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

2   Voll  hoher  Lust  ein  Lebenstraum 
War  immer  dein  Begehren, 
Auf  Früchte  hofftest  du  vom  Baum, 
Gar  lieblich  zu  verzehren. 
Lass  den  Wunschi  Es  rollt  das  Rad 
Durch  des  Todes  Tor,  die  Tat 
Muss  dich,  fern  dem  Ruhgestad', 
Leidend  stets  gebären. 

3.  Zerschlag'  die  Glocken  jeder  Lust, 
Ihr  Klang  hält  dich  hinieden; 
Das  sind  die  Sieger,  die  vom  Dust 
Friedloser  Glut  sich  schieden. 
Wirf  »on  dir  das  Weltgewand, 
Steure  hin  zum  lichten  Strand, 
Den  uns  weist  des  Heilands  Hand,  — 
Leidlos  ist  sein  Frieden. 

2.  Wirket  eure  Erlösung  ohne  Unterlass!') 

1.  Willst  du  vom  Pfad  der  Schmerzen 
Fliehend,  den  Frieden  seh'n, 

Musst  du  mit  starkem  Herzen 
Treu  den  Heilsweg  geh'n,  — 
Darfst  nicht  mit  flücht'gem  Lieben 
Spielen  am  Maientag, 
Sehnsucht  darf  nicht  mehr  trüben 
Deines  Herzens  Schlag. 

2.  Grfisst  dich  die  Morgensonne, 
Denk',  das  sie  untergeht; 

Lockt  dich  des  Sommers  Wonne,  — 
Bald  ist  sie  verweht. 
Leuchtender  Blüten  Farben 
Welken  wohl  über  Nacht, 
Schon  decken  Alters-Narben 
Weicher  Jugend  Pracht. 

3.  Mahnend  im  Glase  rinnet 
Abwärts  der  schnelle  Sand; 
Wieder  das  Spiel  beginnet, 
Dreht  am  Glas  die  Hand. 
Sicher  erfasst  das  Ruder, 
Wieder,  der  Qual  und  Zeit 
Kamma,  der  treue  Bruder 

Der  Vergänglichkeit. 

4.  Willst  du  nicht  endlich  fliehen, 
Seele,  aus  Sturm  und  Strom? 
Willst  du  nicht  schweigend  liehen 
In  des  Friedens  Dom? 

Wirke  im  Still-versenken 
Schauung  ohn'  Unterlass,  — 
Lass  deine  Schritte  lenken 
Hin,  wo  Ruh'  und  Pass. 


')  Nach  der  Melodie  eines  englischen  geistlichen  Liedes  zu  singen. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  B.  -SeidenstOcker,  Leipzif^    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
ia  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Der  »Thäthanäbaing«  Taunggwin  Sayadaw. 

(Vergl.  S.  48  der  »Buddhistischen  Weit».) 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend   üben,    das   eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhamraapada,   V.  183. 


^^  Mahinda.  ^^ 

Von  Karl  Fr.  Töllner. 

(Mahinda,  der  Sohn  Asokas,  des  Königs  von  Magadha,  verbreitete  die 
buddhistische  Lehre  auf  Ceylon.  Die  späteren  Jahre  seines  Lebens  ver- 
brachte der  berühmte  Missionar  auf  dem  Hügel  von  Mihintale,  einem 
von  der  Welt  abgeschlossenen  Orte,  wo  seine  steinerne,  aus  dem  Felsen 
herausgemeisselte  Lagerstätte  noch  heute  sich  befindet.) 

Erhabner  Buddha!  Du  hast  mir  erschlossen 
Den  Pfad  vom  Erdenleid  zum  höchsten  Glück; 
Ich  sucht'  ihn  sechzig  Jahre  unverdrossen 
Und  blick'  voll  Frieden  jetzt  den  Weg  zurück. 

Als  Jüngling  halt'  Asoka  mich  erkoren, 
Dass  ich  die  reine  Lehre  hier  verkünde, 
Und  freudig  zog  ich  aus  Magadhas  Toren 
Zu  streiten  gegen  Leid  und  Wahn  und  Sünde. 

Des  Fürstenmantels  eitle  Pracht  vertauschte 
Ich  mit  des  Bettelmönches  gelbem  Kleid, 
Bei  frommen  Brüdern  in  den  Hainen  lauschte 
Ich  Buddhas  Lehre  der  Gerechtigkeit. 

Gleichwie  ein  Priester  um  das  Opferfeuer 
Sich  sorgsam  müht,  so  hielt  ich  den  Gewinn, 
Die  edle  Weisheit  des  Erwachten,  teuer. 
Und  gab  mich  ihr  mit  ganzer  Seele  hin. 

11 


162  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Durch  Güte  könnt'  als  Arahä  ich  schaffen, 
Was  nimmer  Schwert  und  roher  Zwang  vollbracht, 
Geduld  und  Wahrheit  waren  meine  Waffen, 
Vor  ihrem  Leuchten  schwand  des  Irrwahns  Nacht. 

Die  Pflanze  Vassika  wirft  welke  Blüten 
In  ew'ger  Jugendfülle  von  sich  fort, 
So  wird  auch  Ceylons  Volk  die  Lehre  hüten, 
Ein  rein  Gefäss  für  Buddhas  reines  Wort. 

O  Mendikanten,  meines  Alters  Tage 
Beschliess'  ich  freudig  in  der  Einsamkeit 
Von  Mihintales  Hügeln  und  entsage 
Der  Welt,  dem  Schmerz  und  allem  Erdenleid. 

Zum  letzten  Mal  soll  Euch  mein  Mund  verkünden 
Der  Lehre  Kern,  der  tiefsten  Weisheit  Schatz; 
Lasst  dauernd  Eure  Herzen  tauglich  finden, 
Der  wahren  Einsicht  ein  geweihter  Platz. 

Die  höchste  Freude  sei  Euch  ernstes  Denken, 
Ausdauernd,  wachsam,  stets  voll  mächt'ger  Kraft, 
Nur  rechtes  Glauben,  rechtes  Sichversenken 
Vernichtet  Zweifelsucht  und  Leidenschaft. 

Und  wie  im  Herbste  ihr  den  Lotus  schneidet. 
So  fällt  den  Wald  der  Lust  auf  einen  Strich, 
Nur  der  ist  frei,  der  selbst  Verlangen  meidet 
Und  schneidet  aus  der  Brust  den  Hang  zum  „ich". 

Gleich  einer  Mutter,  die  ihr  Kindlein  pfleget, 
Sorgsam  bewacht,  dafür  ihr  Leben  wagt. 
So  ohne  Schranken  Nächstenliebe  heget 
Für  jedes  Wesen,  das  ein  Leiden  plagt. 

Wer  glaubt,  dass  Hass  dem  Hasse  weiche, 
Der  irrt,  nur  Güte  setzt  dem  Hass  ein  Ziel; 
Vergelte  mit  dem  Gleichen  nie  das  Gleiche, 
Gehorch'  dem  Mitleid  und  dem  Hass  befiehl. 


Na  6.  DER  BUDDHIST.  163 

Der  Torheit  diene  nicht,  jedoch  dem  Weisen, 
Gib  willig  Ehre  dem,  dem  sie  gebührt; 
Nicht  für  Gebet  und  Opfer  lass  dich  preisen, 
Heil  dem,  der  eine  gute  Tat  vollführt! 

Mit  ernstem  und  erkenntnisreichem  Geist  entsage 
Der  Eitelkeit  und  irdischem  Genuss, 
Auch  das  versäumte  Gute  führet  Klage 
Und  zwinget  dich  zu  bitterm  »Muss«. 

Auch  nenne  nichts  dein  Eigen,  sondern  stelle 
In  Armut  über  Unglück  dich  und  Glück; 
Besitzen  schafft  Begehren,  von  der  Quelle 
Der  Tugend  dränget  dich  die  Gier  zurück. 

Ein  Mann,  der  tausend  Männer  überwunden. 
Hat  Unglück  nur  und  Hass  und  Schmerz  erweckt, 
Weit  grösser  wird  als  Sieger  der  befunden, 
Der  eigne  Lust  und  Sünde  niederstreckt. 

Nur  guten  Taten  folget  höchster  Segen, 
Sie  lösen  deine  Fesseln  und  das  Leid, 
Sie  führen  dich  dem  vierten  Pfad  entgegen, 
Der  von  Begierde  dich  und  Wahn  befreit. 

Des  früher'n  Irrens  Frucht,  dein  Karma,  zwinget 
Zu  neuem  leidensvollem  Dasein  dich, 
Nur  wer  dem  Hang  zur  Sünde  sich  entringet, 
Entledigt  auch  des  Leidens  Fesseln  sich. 

Es  kreist  in  ew'gem  Werden  und  Vergehen 
Die  Erde,  Himmel,  Hölle,  Welt; 
Was  heute  stirbt,  muss  morgen  neu  erstehen 
Bis  auch  der  Khandä  letzter  einst  zerfällt. 

Aus  einem  Reich  von  Weisheit,  Frieden,  Güte 
Kehrt  der  Befreite  niemals  mehr  zurück. 
Er  ist  gleich  einer  Flamme,  die  verglühte,  — 
Erloschen  in  Nibbänas  reinem  Glück. 

11» 


164  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die    vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 

Von  Bhlkkhu  Nyänatiloka  (Ceylon)»). 

Die  Tore  der  Unsterblichkeit  sind  offen: 
Wer  Ohren  hat  zu  hören  komm'  und  höre. 
Majjhima-Nikäya  26. 

Der  Vollendete,  ihr  Brüder,  der  Heilige,  der  vollkommen 
Erwachte  (buddha)  hat  zu  Benares,  am  Sehersteine,  im  Wild- 
park das  höchste  Reich  der  Wahrheit  aufgerichtet:  und  dar- 
widerstellen  kann  sich  kein  Asket  und  kein  Priester,  kein  Gott, 
kein  böser  und  kein  heiliger  Geist,  noch  irgend  wer  in  der 
Welt;  es  ist  das  Verkünden,  Aufweisen,  Darlegen,  Darstellen, 
Enthüllen,  Entwickeln,  Offenbar-machen  der  vier  heiligen  Wahr- 
heiten. Welcher  vier?  Der  heiligen  Wahrheit  vom  Leiden,  der 
heiligen  Wahrheit  von  der  Leidensentstehung,  der  heiligen 
Wahrheit  von  der  Leidensvernichtung,  der  heiligen  Wahrheit 
von  dem  zur  Leidensvernichtung  führenden  Pfade.  (Majjhima- 
Nikäya  141). 

Und  der  Erhabene  sprach:  So  lange,  ihr  Brüder,  als  meine 
Erkenntnis  und  Einsicht  in  jede  einzelne  dieser  vier  heiligen 
Wahrheiten  nicht  ganz  klar  war,  so  lange  war  ich  ungewiss, 
ob  ich  den  vollen  Einblick  in  dasjenige  Wissen  gewonnen  hatte, 
das  unübertroffen  ist  in  den  Himmeln  und  auf  der  Erde,  un- 
übertroffen unter  der  gesamten  Schar  der  Asketen  und  Priester, 
der  Götter  und  Menschen.  Aber  sobald,  ihr.  Brüder,  meine  Er- 
kenntnis und  Einsicht  in  jede  einzelne  der  vier  heiligen  Wahr- 
heiten vollkommen  klar  geworden  war,  da  ging  mir  die  Ge- 
wissheit auf,  dass  ich  vollen  Einblick  in  jenes  Wissen  gewonnen 
hatte,  das  unübertroffen  ist  in  den  Himmeln  und  auf  der  Erde, 
unübertroffen  in  der  gesamten  Schar  der  Asketen  und  Priester, 
der  Götter  und  Menschen. 

Und  jenes  tiefe  Wissen  habe  ich  mir  zu  eigen  gemacht, 
das  schwer  zu  erfassende,  schwer  zu  verstehende,  dem  Gemüt 


0  Original-Beitrag  für  den  »Buddhist«. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  165 

Frieden  bringende,  jenes  Wissen,  das  nicht  durch  blosse  Ver- 
nunftschiüsse  gewonnen  werden  i<ann,  das  tiefsinnig  und  nur 
dem  weisen  Jünger  zugänglich  ist.  —  Die  Welt  jedoch  ist  dem 
Begehren  hingegeben,  in  Begehren  verstrickt,  in  Begehren  ver- 
zückt. Diejenigen  freilich,  die  dem  Begehren  hingegeben,  in 
Begehren  verstrickt,  in  Begehren  verzückt  sind,  werden  schwer- 
lich das  Gesetz  der  Verursachung,  das  Bedingtsein  des  Ent- 
stehens, erfassen  können;  unbegreiflich  auch  wird  ihnen  das 
Vernichten  der  »Strebungen«  (Sankhärä)  sein,  das  Sichloslösen 
von  allen  Bestandteilen  des  Daseins,  die  Vernichtung  des  Be- 
gehrens, die  Abwesenheit  der  Leidenschaft,  der  Gemütsfriede, 
—  das  Nibbäna. 

Dennoch  gibt  es  einige  unter  den  Wesen,  deren  Augen 
kaum  mit  Staub  bedeckt  sind :  sie  werden  die  Lehre  verstehen. 
(Mahävagga). 

Erstes  Kapitel. 
Die  heilige  Wahrheit  vom  Leiden. 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit  vom  Leiden? 
Geburt  ist  Leiden,  Altern  ist  Leiden,  Sterben  ist  Leiden,  Kummer, 
Jammer,  Schmerz,  Gram  und  Verzweiflung  sind  Leiden,  das 
Nicht-erlangen  dessen,  was  man  begehrt,  ist  Leiden;  kurz  ge- 
sagt, die  fünf  Aspekte  des  Haftens  am  Dasein^)  sind  Leiden. — 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  die  Geburt?  Der  jeweiligen 
Wesen  in  jeweilig  existierender  Gattung  Geburt,  Gebärung, 
Bildung,  Keimung,  Empfängnis,  das  Erscheinen  der  Teile,  das 
Ergreifen  der  Gebiete:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  Geburt.  — 
Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  Altern?  Der  jeweiligen  Wesen  in 
jeweilig  existierender  Gattung  altern  und  abnutzen,  gebrechlich, 
grau  und  runzelig  werden,  der  Kräfteverfall,  das  Abreifen  der 
Sinne:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  altern.  —  Was  ist  nun,  ihr 
Brüder,  sterben?  Der  jeweiligen  Wesen  in  jeweilig  existierender 
Gattung  Hinschwinden,  Auflösung,  Zersetzung,  Untergang,  Ab- 
scheiden, Zeiterfüllung,  das  Zerfallen  der  Teile,  die  Verwesung 


')  Die  fünf  Khandas:  Form  (rüpa);  Gefühl  (vedanä);  Vorstellen 
(saünä);  Strebungen  (sankhärä);  Gedanken-Aspekte  (vinnäna,  Bewusst- 
sein). 


166  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

der  Leiche:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  sterben.  —  Was  ist 
nun,  ihr  Brüder,  Kummer?  Was  da,  ihr  Brüder,  bei  diesem 
und  jenem  Verluste,  den  man  erfährt,  bei  diesem  und  jenem 
Unglück,  das  einen  betrifft,  Kummer,  Kümmernis,  Bekümmerung, 
innerer  Kummer  ist:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  Kummer.  — 
Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  Jammer?  Was  da,  ihr  Brüder,  bei 
diesem  und  jenem  Verluste,  den  man  erfährt,  bei  diesem  und 
jenem  Unglück,  das  einen  betrifft,  Klage  und  Jammer,  Beklagen 
und  Bejammern,  laute  Klage  und  lauter  Jammer  ist:  Das  nennt 
man,  ihr  Brüder,  Jammer.  —  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  Schmerz? 
Was  da,  ihr  Brüder,  körperlich  schmerzhaft,  unangenehm  ist, 
durch  körperliche  Berührung  als  schmerzhaft,  unangenehm  em- 
pfunden wird:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  Schmerz.  —  Was 
ist  nun,  ihr  Brüder,  Gram?  Was  da,  ihr  Brüder,  geistig  schmerz- 
haft, geistig  unangenehm  ist,  durch  Gedanken-Kontakt  als 
schmerzhaft,  unangenehm  empfunden  wird:  Das  nennt  man, 
ihr  Brüder,  Gram.  —  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  Verzweiflung? 
Was  da,  ihr  Brüder,  bei  diesem  und  jenem  Verluste,  den  man 
erfährt,  bei  diesem  und  jenem  Unglück,  das  einen  betrifft, 
Verzagen  und  Verzweifeln,  Verzagtsein  und  Verzweifeltsein  ist: 
Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  Verzweiflung.  —  Was  ist  nun,  ihr 
Brüder,  das  Nicht-erlangen  dessen,  was  man  begehrt,  für 
Leiden?  Die  Wesen,  ihr  Brüder,  der  Geburt  unterworfen, 
kommt  das  Begehren  an:  „0  dass  wir  doch  nicht  der  Ge- 
burt unterworfen  wären,  dass  uns  doch  keine  Geburt 
(wieder)  bevorstünde!"  Aber  das  kann  man  durch  Begehren 
nicht  erreichen:  Gerade  nun  das  Nicht-erlangen  dessen,  was 
man  begehrt,  ist  Leiden.  Die  Wesen,  ihr  Brüder,  dem  Altern, 
dem  Sterben,  dem  Kummer,  dem  Jammer,  dem  Schmerz,  dem 
Gram,  der  Verzweiflung  unterworfen,  kommt  das  Begehren 
an:  „0  dass  wir  doch  nicht  dem  Altern,  dem  Sterben,  dem 
Kummer,  dem  Jammer,  dem  Schmerz,  dem  Gram,  der  Ver- 
zweiflung unterworfen  wären,  dass  uns  doch  kein  Altern  und 
Sterben,  kein  Kummer  und  Jammer  und  Schmerz,  kein  Gram 
und  keine  Verzweiflung  bevorstünde!"  Aber  das  kann  man 
durch  Begehren  nicht  erreichen:  Gerade  nun  das  Nicht-erlangen 
dessen,  was  man  begehrt,  ist  Leiden.  —  Was  sind  nun,  ihr 
Brüder,  kurz  gesagt,   die  fünf  Aspekte  des  Haftens  am  Dasein 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  167 

für  Leiden?  Es  ist  da  ein  Aspekt  des  Haftens  an  der  Form, 
ein  Aspekt  des  Haftens  am  Gefühl,  ein  Aspekt  des  Haftens  an 
der  Vorstellung,  ein  Aspekt  des  Haftens  an  den  »Strebungen«, 
ein  Aspekt  des  Haftens  an  den  verschiedenen  Teilen  des  Be- 
wusstseins:  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  kurz  gesagt,  die  fünf 
leidvollen  Aspekte  des  Haftens  am  Dasein.  — 

Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit  vom 
Leiden.    (Majjhima-Nikäya  141).  — 

Was  denkt  ihr,  Brüder:  was  ist  wohl  mehr,  die  Tränen- 
flut, die  ihr  auf  diesem  langen  Wege,  immer  wieder  zu  neuer 
Geburt  und  zu  neuem  Tode  eilend,  mit  Unerwünschtem  vereint, 
von  Erwünschtem  getrennt,  klagend  und  weinend  vergossen 
habt,  —  oder  das  Wasser  der  vier  grossen  Meere? 

Ohne  Anfang  und  ohne  Ende,  ihr  Brüder,  ist  dieser  Sam- 
sära,  unerkennbar  ist  der  Beginn  der  vom  Nichtwissen  um- 
hüllten Wesen,  die  durch  den  Durst  nach  Dasein  immer  und 
immer  wieder  zu  erneuter  Geburt  geführt  werden  und  den 
endlosen  Kreislauf  der  Wiedergeburten  durcheilen. 

Und  so  habt  ihr,  Brüder,  durch  lange  Zeit  Leid  erfahren, 
Qual  erfahren,  Unglück  erfahren  und  das  Leichenfeld  vergrössert 
—  lange  genug,  wahrlich,  ihr  Brüder,  um  von  jeder  Existenz 
unbefriedigt  zu  sein,  lange  genug,  um  sich  von  allem  Dasein 
abzuwenden,  lange  genug,  um  sich  von  ihm  zu  erlösen. 
(Samyutta-Nikäya  II,  XV,  3).—  (Fortsetzung  folgt). 

Buddhistische  Ideen  $€€$ 
$$:$$  bei  Richard  Wagner. 

Von  Georg  Jahn. 

(Scliluss). 

War  der  „Ring  des  Nibelungen"  diejenige  Dichtung,  welche 
die  Verderben  und  Leiden  bringende  Macht  des  Goldes  zeigte, 
so  kann  man  „Tristan  und  Isolde"  ein  Weltgedicht  der  sinn- 
lichen Liebe,  jener  unerschöpflichen  Leidquelle  des  Menschen, 
nennen.  Der  Buddhismus  lehrt  Abwendung  von  der  Welt  und 
ihren  Leidenschaften,  Überwindung  dieses  Lebens  des  Leidens, 
das  der  Täuschungen,  des  Truges  und   des  Scheines  voll  ist. 


168  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Zustimmung  zu  dieser  Lehre  treibt  Wagner  an,  in  „Tristan 
und  Isolde",  seinem  dichterisch  wertvollsten  und  kraftvollsten 
Werke,  den  Sinnentaumel  als  Vernichtungsseligkeit  und  die 
Liebe  als  zum  Nirväna  führende  Macht  darzustellen. 

Tristan  hat  Isolde  für  Marke,  seinen  König,  zur  Braut  ge- 
worben. Diese  aber,  die  jenen  einst  in  schwerer  Krankheit 
pflegte,  ist  zu  ihm  in  heisser  Liebe  entbrannt,  sodass  sie  sich 
jetat  von  Tristan,  den  des  Tages  Schein  mit  Glanz  und  Ehre, 
Ruhm  und  Macht  an  sich  gefesselt  und  betört  hat,  verraten 
wähnt.  Isolde  will  deshalb  sich  und  den  Geliebten  dem  Tode 
weih'n,  was  sie  Tristan  später  in  den  Worten  anspricht: 


Dem  Licht  des  Tages 
wollt  ich  entflieh'n 
dorthin  in  die  Nacht 
dich  mit  mir  zieh'n, 
wo  der  Täuschung  Ende 
mein  Herz  mir  verhicss, 


wo  des  Trugs  geahnter 

Wahn  zerrinne: 

Dort  dir  zu  trinken 

ewige  Minne, 

mit  mir  —  dich  im  Verein 

wollt'  ich  dem  Tode  weih'n. 


Der  statt  des  Gifts  gewählte  Zaubertrank  der  Minne  aber 
lässt  Tristan  in  brünstiger  Liebe  entbrennen  und  eint  das  Paar 
zu  ehebrecherischer  Lust.  Wunderbar  schön  ist  die  nächtliche 
Liebesszene  zwischen  Tristan  und  Isolde.  Dort  klagen  sie  sich 
die  unendlichen  Leiden  und  Qualen,  welche  die  Liebessehnsucht 
ihnen  bereitet.  Da  findet  man  es  wieder,  was  der  Buddhismus 
mit  Recht  behauptet:  Von  Liebem  getrennt  sein  ist  Leiden!  Da 
hören  wir  die  Liebenden  klagen  über  die  böse  Ferne,  über  der 
trägen  Zeiten  zögernde  Länge,  über  die  öde  Weite  und  den 
tückischen  Tag,  den  härtesten  Feind  sinnlicher  Liebeslust.  Ihr 
ganzes  Sehnen  gilt  der  Nacht,  wo  beide  liebend  in  einander 
aufgehen  und  in  die  Seligkeit  der  Erlösung  vom  Wahn  des 
Daseins  versinken: 

In  des  Tages  eitlem  Wähnen 
bleibt  ihm  einzig  Sehnen, 

das  Sehnen  hin 

zur  heil'gen  Nacht, 

wo  ur-ewig, 

einzig  wahr 
Liebeswonne  ihm  lacht. 

In  der  Liebe  hört  das  Individuum  auf,  für  sich  zu  existieren, 
da  stirbt  das  Ich,  der  dunkle  Despot,  da  gibt  es  keinen  Tristan, 


No.  6. 


DER  BUDDHIST. 


169 


keine  Isolde  mehr,  ohne  Nennen  und  ohne  Trennen  ist  es  ein 
neues  Ericennen  und  Entbrennen,  ein  endloses  und  ewiges 
Einbewusst-Sein: 

So  starben  wir, 

um  ungetrennt, 

ewig  einig, 

ohne  End', 

ohn'  Erwachen, 

ohne  Bangen, 

namenlos  ^ 

in  Lieb'  umfangen, 

ganz  uns  selbst  gegeben 

der  Liebe  nur  zu  leben. 


Von  höchstem  Schwung   und 
die  Darstellung   der   Seligkeit   des 
folgendem  Gesänge: 

0  sink'  hernieder, 

Nacht  der  Liebe, 

gib  Vergessen, 

dass  ich  lebe. 

Nimm  mich  auf 

in  deinen  Schoss, 

löse  von 

der  Weit  mich  los! 

Verloschen  nun 

die  letzte  Leuchte; 

was  wir  dachten, 

was  uns  deuchte, 

all'  Gedenken, 

all'  Gemahnen, 

heil'ger  Dämm'rung 

hohes  Ahnen 

löscht  des  Wähnens  Graus 

welterlösend  aus. 

Barg  im  Busen 

uns  sich  Sonne, 

leuchten  lachend 

Sterne  der  Wonne. 

Von  deinem  Zauber 


grösster  Schönheit  aber  ist 
Versinkens   ins  Nirväna   in 

sanft  umsponnen, 
vor  deinen  Augen 
süss  zerronnen, 
Herz  an  Herz  dir, 
Mund  an  Mund, 
Eines  Atems 
einiger  Bund;  — 
bricht  mein  Blick  sich 
wonn-erblindet, 
erbleicht  die  Welt 
mit  ihrem  Blenden: 
die  mir  den  Tag 
trügend  erhellt, 
zu  täuschendem  Wahn 
entgegengestellt; 
selbst  —  dann 
bin  ich  die  Welt, 
Liebe-heiligstes  Leben, 
Wonne-hehrstes  Weben, 
Nie-Wieder-Erwachens 
wahnlos 
holdbewusster  Wunschi 


Es  sei  uns  gestattet,  noch  den  Schluss  der  herrlichen 
Dichtung  wiederzugeben.  Tristan  ist  verschieden,  zurückgekehrt 
in   jene  überirdische   Welt,    die   unserer   Vorstellung  gänzlich 


170 


DER  BUDDHIST. 


I.  Jahrg. 


fremd  und  unbekannt  ist,  in  das  überirdische  Sein  des  Nirväna. 
An  einer  andern  Stelle  sagt  er  zur  Isolde: 


Es  ist  das  dunkel 

nächt'ge  Land, 
daraus  die  Mutter 
einst  mich  sandt', 
als,  den  im  Tode 
sie  empfangen, 
im  Tod'  sie  liess 


zum  Licht  gelangen. 
Was,  da  sie  mich  gebar, 
ihr  Liebesberge  war, 
das  Wunderrcich  der  Nacht, 
aus  der  ich  einst  erwacht,  — 
das  bietet  dir  Tristan, 
dahin  geht  er  voran. 


Isolde  aber  sinkt  entseelt  auf  Tristans  Leiche  nieder,  nach- 
dem sie  folgende  Worte  in  höchster  Verzückung  und  Verklärung 
gesungen: 


Höre  ich  nur 
diese  Weise, 
die  so  wunder- 
voll und  leise 
Wonne  klagend, 
alles  sagend, 
mild  versöhnend 
aus  ihm  tönend 
auf  sich  schwingt, 
in  mich  dringt, 
hold  erhallend 
um  mich  klingt? 
Heller  schallend 
mich  umwallend, 
sind  es  Wellen 
sanfter  Lüfte? 
Sind  es  Walken 


Wie  sie  schwellen, 
mich  umrauschen, 
soll  ich  atmen, 
soll  ich  lauschen? 
Soll  ich  schlürfen, 
untertauchen, 
süss  in  Düften 
mich  verhauchen? 
In  des  Wonnenmeeres 
wogendem  Schwall, 
in  der  Duft-Wellen 
tönendem  Schall, 
in  des  Weltatems 
wehendem  All  — 
ertrinken  — 
versinken  — 
unbewusst  — 
höchste  Lust! 


wonniger  Düfte? 

Die  dritte  der  für  unsere  Betrachtungen  in  Frage  kommen- 
den Operndichtungen  Wagners  ist  der  „Parsifal",  ein  buddhi- 
stisches Erlösungsdrama  im  Gewände  christlicher  Symbolik. 
Amfortas,  der  heilige  Hüter  des  Gral,  ist  der  sinnlichen  Lust, 
den  Verführungskünsten  der  Zauberin  Kundry  zum  Opfer  ge- 
fallen und  siecht  nun  an  der  Wunde,  die  die  Sünde  ihm  ge- 
schlagen, in  qualvollen  Leiden  dahin.  Kein  Heilmittel  der  Welt 
kann  ihm  die  Wunde  schliessen,  nichts,  auch  nicht  der  Anblick 
des  Wunder  verrichtenden  heiligen  Gral  vermag  ihm  zu  helfen. 
Rettung  kann  ihm  nur  bringen  ein  reiner  Tor,  der  durch  des 
Mitleids  Kraft  wissend  ward.   Das  aber  ist  Parsifal,  der  ähnlich 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  171 

wie  der  Prinz  Siddhattha  Gotama  in  der  Einsamkeit  aufwächst 
und  durch  Mitleid  Wissen  erlangt.  Dieser  widersteht  der 
Versucherin  Kundry,  die  ihrem  bösen  Geschicke  gemäss  auch 
ihn  zu  sinnlichem  Liebesgenuss  verlocken  will,  um  so  auch 
ihn  der  Qualen  teilhaftig  zu  machen,  an  denen  sie  unnennbar 
zu  leiden  hat.  Kundry  ist  die  personifizierte  Sinnlichkeit,  die 
Verkörperung  verführerischer  Weibesmacht.  Sie  ist  eine  Ver- 
wünschte, die  heute  erneut,  in  wiedergeborener  Gestalt  lebt: 

zu  büssen  Schuld  aus  früheren  Leben, 
,  die  dorten  üir  noch  nicht  vergeben. 


Ur-Teufelin!    Höllen-Rose! 
Herodias  warst  du  und  was  nochl 

Ihr  böses  Karma  zwingt  sie,  Amfortas  durch  sinnlichen 
Liebesgenuss  die  Wunde  zu  schlagen;  dieses  Karma  treibt  sie 
dazu,  auch  an  Parsifal  zur  Versucherin  zu  werden.  Furcht- 
bares Liebes-Sehnen  erfasst  dann  alle  ihre  Sinne  und  alles 
schnürt,  bebt  und  zuckt  an  ihr  in  sündigem  Verlangen.  Unter 
ihres  Daseins  Qual  aber  schreit  sie  nach  Erlösung: 

0,  kenntest  du  den  Fluch, 

der  mich  durch  Schlaf  und  Wachen, 

durch  Tod  und  Leben, 

Pein  und  Lachen 

zu  neuem  Leben  neu  gestählt 

endlos  durch  das  Dasein  quält ! 

Parsifal  widersteht  ihrer  Verführungskunst  mit  folgenden 
Worten,  in  denen  sich  hauptsächlich  der  rein  buddhistische 
Grundgedanke  des  Stückes  ausspricht: 

In  Ewigkeit 
wärst  du  verdammt  mit  mir 

für  eine  Stunde 
Vergessens  meiner  Sendung 
in  deines  Arms  Umfangen !  — 
Auch  dir  bin  ich  zum  Heil  gesandt, 
bleibst  du  dem  Sehnen  abgewandt. 
Die  Labung,  die  dein  Leiden  endet, 
beut  nicht  der  Quell,  aus  dem  es  fliesst: 
Das  Heil  wird  nimmer  dir  gespendet, 
wenn  jener  Quell  sich  dir  nicht  schliesst. 
Ein  andrer  ist's  —  ein  andrer  achl 


172  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

nach  dem  ich  jammernd  schmachten  sah 

die  Brüder  dort  in  grausen  Nöten, 

den  Leib  sich  quälen  und  ertöten. 

Doch  wer  erkennt  ihn  klar  und  hell, 

Des  einz'gen  Heiles  wahren  Quell? 

O  Elend,  aller  Rettung  Flucht! 

O  Weltenwahns  Umnachten: 

in  höchsten  Heiles  heisser  Sucht 

nach  der  Verdammnis  Quell  zu  schmachten! 

Eine  andere  Liebe  als  die  sinnliclie  erwaciit  in  Parsifal, 
die  Liebe  des  Mitleids.  Zum  inneren,  mitfühlenden  Dulder  ge- 
worden, kommt  er,  »der  Irrnis-  und  der  Leiden-Pfade"  müde, 
zu  Amfortas,  bringt  ihm  den  heiligen  Speer,  das  Sinnbild  der 
Erlösung,  und  befreit  ihn  von  seinen  Qualen: 

Gesegnet  sei  dein  Leiden, 

das  Mitleids  höchste  Kraft 

und  reinsten  Wissens  Macht 

dem  zagen  Toren  gab. 

Auch  Kundry  bringt  er  Daseins-Erlösung.  Sie  sinkt  ent- 
seelt vor  ihm  zu  Boden,   und  die  Dichtung  schliesst  mit  den 

Worten : 

Höchsten  Heiles  Wunder: 
Erlösung  dem  Erlöser. 

Wagner  hat  uns  in  seinen  drei  grössten  Schöpfungen  er- 
greifende Bilder  von  der  Verderben  bringenden  Macht  des 
Goldes,  der  Leid  schaffenden  Sinnenlust  und  der  Kraft  des 
Mitleids  gemalt.  Wir  glaubten  mit  unserer  Deutung  der  Grund- 
gedanken jener  Dichtungen  nicht  fehlgegangen  zu  sein  und 
erkennen  in  Wagner  geradezu  den  Propheten  des  Buddhismus 
auf  künstlerisch-ästhetischem  Gebiete  im  Abendland.  Gerade 
die  hier  besprochenen  Tondichtungen  sind  es,  die,  dank  ihrem 
tiefen  Gehalte,  einen  grossen  Einfluss  auf  die  moderne  Welt 
gewonnen  und  dazu  beigetragen  haben,  dem  Buddhismus  auch 
bei  uns  eine  Stätte  zu  bereiten. 

Wertvoller  als  irdische  Macht,  wertvoller  als  eine  Wieder- 
geburt im  Himmel,  wertvoller  selbst  als  Weltherrschaft  ist  für 
den  Jünger  das  Betreten  des  Pfades.  Dhammapada. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  173 

Mission  und  „Mission". 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Ein  Brief,  den  kürzlich  ein  Freund  der  buddhistischen 
Bewegung  an  mich  gerichtet  hat,  enthält  folgenden  Passus: 

„Der  Name  »Missions-Verein«  stösst  mich  ab.  Das 
Wort  »Mission«  ist  für  immer  befleckt  durch  das  Treiben 
christlicher  Missionare  gegenüber  den  „Heiden".  Unsere 
Aktion  hat  mit  der  jener  nichts  gemein,  warum  dann  den 
irreführenden  Namen?  Uns  treibt  kein  Europäerdünkel, 
Völkern  gleichviel  welcher  Kulturstufe  und  welcher  An- 
schauungen ein  festgefügtes  System  als  patentiert  bestes 
über  den  Kopf  zu  stülpen.  Bescheiden  treten  wir  vor 
unsere  deutschen  Landsleute,  breiten  vor  ihnen  die  schim- 
mernden Kleinodien  des  Buddhismus  aus  und  überlassen 
ihnen  ohne  aufdringliches  Geschwätz,  was  sie  davon  zu 
glücklichem  Leben  und  Sterben  brauchen  können.  Nur 
bekannt  machen  soll  der  Verein  die  Lehren  des  Bud- 
dha in  Deutschland,  keine  „Mission"  mit  ihnen  treiben! 
Brächte  das  auch  der  Name  des  Vereins  hinlänglich  zum 
Ausdruck,  --  ich  wäre  sofort  der  Ihre."  — 

Diese  Notitz  bietet  mir  einen  willkommenen  Anlass,  den 
Begriff  »Mission«  in  den  Kreis  unserer  Betrachtungen  zu 
ziehen  und  dabei  die  Frage  zu  beantworten,  warum  bei  der 
Gründung  der  buddhistischen  Gesellschaft  in  Deutschland  i.  J. 
1903  der  Name  »Missions-Verein«  gewählt  wurde. 

Der  Buddhismus  ist  die  älteste  Weltreligion,  welche  seit 
ihren  frühesten  Zeiten  den  Zweck  der  Missionierung  verfolgt. 
Das  buddhistische  Missions-Evangelium  findet  sich  im  I.  Teile 
des  Mahävagga,  wo  der  Meister  seine  Jünger  aussendet  mit 
den  Worten: 

„So  gehet  hin,  ihr  Brüder,  und  wandert  zum  Heile  der 
Vielen,  zum  Segen  der  Vielen,  aus  Mitleid  für  die  Welt, 
für  Götter  und  Menschen.  Verkündet,  Brüder,  die  glor- 
reiche Lehre,  predigt  ein  Leben  der  Heiligkeit,  Vollkommen- 
heit und  Reinheit." 


174  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Wenn  wir  diesen  Text  für  die  Eri<lärung  des  Begriffes 
»Mission«  im  buddiiistisclien  Sinne  zu  Grunde  legen,  so 
erl<ennen  wir  ohne  weiteres,  was  die  buddhistisciie  Mission 
in  ihrer  Grundlage,  ihren  Prinzipien  und  ihrer  Methode  ist, 
und  was  sie  nicht  ist. 

Ihre  treibende  Kraft  ist  nicht  jene  zclotische  Bekehrungs- 
wut, welche  die  Jünger  Mahommeds  antrieb,  ihr  Schwert  bis 
ans  Heft  im  Blute  zu  röten,  nicht  jener  blinde  Fanatismus,  der 
einen  Bonifatius,  einen  Karl  den  Grossen  und  viele  moderne 
christliche  Missionäre  angestachelt  hat,  in  „heiliger  Rück- 
sichtslosigkeit" die  Rechte,  den  Glauben  und  die  heiligen  Stätten 
der  Nicht-Christen  zu  verachten,  zu  zerstören  und  mit  Ge- 
walt, List,  Kinderdrill  oder  Geldspenden  Proselyten  der  neuen 
Religion  zu  machen.  Nein!  Die  treibende  Macht  der  Buddha- 
Mission  ist  das  innig-empfundene  Solidaritäts-Bcwusstsein,  die 
tiefe  Sympathie  und  das  warme  Mitgefühl  mit  allen  Menschen, 
gleichviel  welcher  Rasse,  Nationalität  oder  Konfession  sie  an- 
gehören mögen.  Jener  herrliche  Schatz,  der  mir  Frieden  und 
Trost  gespendet  hat,  er  soll  nicht  mir  allein  gehören,  ich 
will  ihn  denen  darreichen,  die  ihn  noch  nicht  kennen.  Dar- 
reichen, nicht  aufzwingen.  Die  Aufgabe  buddhistischer 
Missionare  kann  und  soll  nur  darin  bestehen,  die  Lehre 
zu  predigen  und  durch  das  persönliche  Beispiel  die  Heils- 
lehre des  Buddha  nach  Möglichkeit  zu  realisieren.  Niemals 
aber  sollte  der  Gedanke  an  „Bekehrungen",  seelische  Beein- 
flussungen durch  Schaugepränge  oder  Suggestion,  an  Proselyten- 
macherei  usw.  in  der  buddhistischen  Mission  Wurzel  fassen; 
noch  weniger  aber  etwa  die  Absicht,  alle  Völker  auf  jeden 
Fall  und  mit  allen  Mitteln  buddhistisch  zu  machen  und  andere 
Religionen  auszurotten.  Der  buddhistischeKönig  Asoka  schrieb 
im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  in  einem  seiner  Edikte:  „Piyadasi'), 
der  von  allen  Göttern  geliebte  König,  wünscht,  dass  die  An- 
hänger aller  Bekenntnisse  an  allen  Orten  wohnen  sollen. 
Alle  diese  Asketen  bekenen  sich,  der  eine  wie  der  andere,  zu 
der  Herrschaft,  die  man  über  sich  haben  soll  utid  zur  Rein- 
heit  der   Seele.      Freilich    haben    die   Menschen   verschiedene 


')  Beiname  Asokas. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  175 

Meinungen  und  verschiedene  Wege."  —  Das  iieisst  buddhistisch 
gesprochen ;  das  ist  der  Geist,  von  dem  die  buddhistische 
Mission  erfüllt  sein  soll!  Wohlwollen,  Menschlich- 
keit, Toleranz!  — 

Und  nun  vergleiche  man  hiergegen  die  christliche 
Mission!  Wir  brauchen  nicht  bis  auf  Karl  den  Grossen 
zurückzugehen,  um  zu  zeigen,  was  diese  Mission  an  Grausam- 
keit und  Fanatismus  zu  leisten  vermag.  Nein,  die  allerneueste 
Zeit  bietet  die  Belege  dafür,  dass  auch  heute  noch  vieles  in 
der  christlichen  Mission  geschieht,  was  nicht  anders  bezeichnet 
werden  kann  als  ungebildet,  roh,  fanatisch,  brutal.  Was 
sich  Sendboten  Christi  in  den  buddhistischen  Ländern  heraus- 
nehmen dürfen,  ist  kaum  glaublich;  und  wollte  man  diese 
Mission  so  zeichnen,  wie  sie  faktisch  ist,  und  nicht,  wie  sie 
in  frommen  Traktätlein  und  Bilderbüchern  für  artige  Kinder  und 
blindgläubige  Weiber  gezeichnet  wird,  —  wahrlich,  man  könnte 
eine  eigene  Monatsschrift  zu  diesem  Zwecke  herausgeben,  und 
Europa  würde  staunen  über  diese  seltsamen  „christlichen  Lie- 
beswerke"! 

Der  in  Leipzig  erscheinende  »Theosophische  Wegweiser« 
brachte  in  seinem  3.  Jahrgange  (S.  28)  folgende  Notiz:  „Wer 
jemals  unter  den  sogenannten  Heiden  gelebt  hat  und  unpar- 
teiisch urteilen  kann,  der  muss  zugestehen,  dass  die  „christ- 
lichen" Missionare,  selbst  wenn  sie  bei  ihrer  Proselytenmacherei 
die  besten  Absichten  haben,  für  alle  nichtchristiichen  Völker 
eine  Pestbeule  sind.  Kein  vernünftiger  Buddhist,  Brahmine 
oder  Anhänger  irgend  eines  orientalischen  Kultus  hat  etwas 
dagegen  einzuwenden,  über  religiöse  Dinge  mit  christlichen 
Missionaren  zu  sprechen  und  sich  von  ihnen  überzeugen  zu 
lassen,  wenn  sie  etwas  Vernünftiges  vorbringen  können. 
Als  z.  B.  Missionare  nach  Ceylon  kamen,  stellten  die 
Buddhisten  denselben  ihre  Tempel  zum  Predigen  zur 
Verfügung,  worauf  dann  die  Missionare  ihre  Dank- 
barkeit dadurch  zeigten,  dass  sie  die  Religion  der 
Buddhisten  beschimpften  und  die  Tempel  mit  Unrat 
beschmutzten." 

Vor  vier  Jahren  hielt  hier  in  Leipzig  Herr  Dr.  Jeremias, 
Prediger  an  der  hiesigen  Lutherkirche,  einen  Vortrag  über  Bud- 


176  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

dhismus,  bei  dem  ich  persönlicli  anwesend  war.  Dieser  Herr 
gab  folgendes  Missionars-Stüci<iein  zum  besten:  „Ein  ilim  be- 
freundeter, auf  Ceylon  wirkender  protestantischer  Missionar 
habe  ihm  aus  seinen  Erlebnissen  folgendes  erzählt:  Er  (der 
Missionar)  sei  eines  Tages,  als  in  einem  Buddhisten-Tempel 
eine  grosse  Menge  anwesend  war,  eingetreten  und  habe  schel- 
tend (!)  den  dort  amtierenden  Bhikklui  darauf  hingewiesen, 
dass  das,  was  die  Leute  hier  trieben,  ja  der  reinste  Götzen- 
dienst sei^).  Der  Bhikkhu  habe  den  Missionar  ruhig  ausreden 
lassen  und  ihm  dann  lächelnd  die  Hand  mit  den  Worten  ge- 
boten: ,Schon  gut,  Bruder;  wir  wollen  es  aber  so  lassen'."  —  Ich 
habe  damals  den  Eindruck  gehabt,  dass  bei  einem  grossen  Teil 
unserer  christlichen  Bevölkerung  das  Gefühl  für  Menschlichkeit, 
Gerechtigkeit,  Duldung  gänzlich  abgestumpft  sein  muss,  wenn 
ein  christlicher  Geistlicher  sans  gene  dieses  zelotische,  gemeine, 
taktlose  Benehmen  jenes  Missionars  zum  Amüsement  seiner  Zu- 
hörer zum  besten  gibt  und  diese  dann  am  Schluss  durch  lebhaftes 
Beifallklatschen  dankend  quittieren.  —  Was  würde  geschehen, 
wenn  ein  buddhistischer  Missionar,  der  Lehre  seines  Meisters  un- 
eingedenk,  so  anmassend  wäre,  in  eine  christliche  Kirche  einzu- 
dringen und  den  Geistlichen  unter  Scheltworten  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  Anbetung  des  historischen  Jesus  nach  seiner 
Ansicht  Götzendienst  sei?!  —  Ja  Bauer,  das  ist  ganz  etwas 
anderes!  —  Später  fielen  mir  Jahrgänge  des  ceylonesischen 
»The  Buddhist«  in  die  Hände.  Da  habe  ich  gestaunt  einerseits 
über  das  seltsame  Treiben  christlicher  Missionare,  andererseits ' 
über  die  ungeheure  Lammsgeduld  der  dortigen  Buddhisten 
diesem  Treiben  gegenüber.  Die  Kinder  werden  gelehrt,  ihre 
Eltern  als  „arme  Heiden"  zu  verachten  und  den  letzteren  auf 
diese  Weise  entfremdet;  die  Lehre  des  Buddha  wird  in  Wort 
und  Schrift  beschimpft  und  verhöhnt;  Schlachthäuser  werden 
direkt  neben  buddhistischen  Heiligtümern  gebaut,  und  alte 
Rechte  der  buddhistischen  Einwohner  mit  Füssen  getreten.  Man 
lese  die  betreffende  Skizze  in  Dr.  Paul  Dahlkes  »Buddhis- 


')  Der  gute  Missionar  hat  offenbar  hier  das  BUimenopfer  und  die 
Medifationsübung  für  eine  Anbetung  der  Buddha-Statue  gehalten;  vergl. 
das  erste  Heft  dieser  Zeitschrift  S.  9  ff..    K.  S. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  177 

tischen  Erzählungen«,  in  welcher  der  Autor  diese  christ- 
liche „Mission"  in  ihrer  ganzen  geistigen  Armut  und  Roheit 
nach  dem  Leben  zeichnet. 

Angesichts  dieser  bedauerlichen  Zustände  muss  ich  dem 
Schreiber  des  am  Anfange  dieser  Ausführungen  zitierten 
Schreibens  allerdings  recht  geben,  wenn  er  sagt:  „Das  Wort 
»Mission«  ist  für  immer  befleckt."  Diese  Tatsache  wird  ja 
auch  von  den  besonnenen  Elementen  der  protestantischen  Geist- 
lichkeit im  stillen  zugegeben;  man  denke  an  das  wertvolle 
Eingeständnis  des  Pfarrers  Lic.  Hackmann:  „Die  christliche 
Mission  bedürfe  noch  ganz  wesentlicher  Vervollkommnung". 
Nun  fragt  es  sich  nur:  Sollen  die  Buddhisten  deshalb,  weil 
Christen  die  Mission  herabgezogen  haben,  von  dem  Worte 
»Mission«  überhaupt  absehen?  Ich  meine  nein;  denn  einer- 
seits ist  der  Buddhismus  von  seinen  frühesten  Anfängen  an  eine 
Religion  mit  dem  Prinzip  der  Missionierung  gewesen,  anderer- 
seits wollen  wir  uns  bemühen,  den  Missions-Begriff  wieder  zu 
Ehren  zu  bringen,  und  diesmal  mögen  die  Buddhisten  den 
Christen  zeigen,  wie  Mission  sein  soll.  Wir  sind  in  dieser  Be- 
ziehung Optimisten  und  glauben  immer  noch,  dass  auch  die 
schwärzeste  christliche  „Heidenmission"  allmählich  von  den  Strah- 
len der  aufgehenden  Sonne  der  Humanität  und  Duldsamkeit  erhellt 
und  erleuchtet  werden  wird,  —  wenn's  auch  schwer  fällt  und  etwas 
lange  dauern  mag.  Darum:  Nil  desperari,  —  auch  hier  wird 
es  tagen!  Und  der  buddhistische  Missions- Verein  soll  sich 
seines  Namens  nicht  schämen! 

mm  Nibbäna.  U^U^ 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitrlya. 

(3.  Fortsetzung  und  Schluss.) 
Wir  kommen  nunmehr  zu  der  bei  weitem  schwierigeren 
Betrachtung  von  Anupädisesa-Nibbäna,  d.h.  von  Nibbäna 
an  sich.  Wir  haben  gesehen,  worin  die  in  diesem  Leben  zu 
realisierende  Erlangung  Nibbänas  besteht;  wir  haben  aus  den 
heiligen  Schriften   und   aus   dem    Munde  derer,   die  in  diesem 

12 


178  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Zustande   lebten,   das  erhabene  Bild   der  Arahäschaft  kennen 
gelernt   und   einen  Einblick   in  das  Leben  eines  Menschen  ge- 
wonnen, für  den  alle  Unwissenheit,  alles  Übel,  alles  Leiden  zur 
Ruhe  gebracht  ist.    Wir  haben  vernommen,  wie  die  Erreichung 
Nibbänas,  —  diese  auf  der  Erlösung  von  allen  Leiden  beruhende 
Seligkeit,  —  in  dem  Gemüte  dessen,   der   am   Ziele   angelangt 
ist,  jene  Zustände  geistigen  Entzückens  erstehen  lässt,  die  selbst 
in  den  heiligen  Büchern   mit  nur  unzureichenden  Worten  ge- 
schildert sind;  denn  welche  irdische  Sprache  reichte  wohl  aus, 
um   dieses  höchste,  leidlose  Glück  zu   schildern?!    Aber  wie 
sollen    wir    nun    das    Nibbäna  an  sich   beschreiben?    Wie 
sollen  wir,  die  wir  leben,  denken  und  vorstellen,  wir  mit  un- 
serem stets  wechselnden  Gemüte,  —  wie  sollen  wir  nachsinnen 
über  Das,   was  jenseits   von  Leben,   Denken   und  Vorstellen, 
jenseits  von  Tod  und  Vergänglichkeit  liegt,  —  über  das  Wechsel- 
lose,  Unbedingte,   Höchste,   das  kein  Denken  realisieren,   kein 
Wort  ausdrücken  kann?!     Es   liegt  jenseits   von    uns,   ausge- 
nommen,  wenn  wir  es  erreichen,   ebenso  wie   der   Glanz  des 
Tageslichtes  dem  Blindgeborenen  unbekannt   und  unerkennbar 
ist;  und  das  Beste,  was  wir  tun  können,  besteht  darin,  durch 
Anwendung  von  Gleichnissen   und    Bildern   einen,   wenn  auch 
getrübten   Begriff   von   diesem   jenseitigen   Lichte   zu   erhalten, 
ähnlich,  wie   etwa  ein   Mensch  durch  Anwendung  endlicher 
mathematischer  Grössen   eine   schwache,   dämmernde   Ahnung 
von  der  Unendlichkeit   zu   erlangen  vermag.     Und  doch,  — 
wie  hoffnungslos   ist   der  Versuch!    Wir   müssen  Nibbäna  als 
Existenz  auffassen;    —   denn   die  Schatten    unserer  höchsten 
Vorstellungen  verschwinden  vor  dem  Licht  Seiner  unaussprech- 
lichen Wirklichkeit:   —   und  doch,   Existenz   bedeutet   für 
uns  Wechsel,  während  Nibbäna  über  allen  Wechsel  und  über 
alle  Veränderung   erhaben   ist.    Wir  müssen  Nibbäna   als  das 
Unbedingte   bezeichnen,   wir,   für   die    jeder   einzelne   Denk- 
Prozess  etwas   Bedingtes   ist;    wir   müssen   Es  unendlich, 
ewig  nennen,  wir,  deren  Natur  endlich  ist,  wir,  die  wir  selbst 
nur  die  Kinder  flüchtiger  Stunden  sind.    Wir,  deren  Leben 
ein  Werden  ist,  müssen  Nibbäna  als  das  Absolute,  Unver- 
änderliche begreifen,   als   ein  Etwas,   das   weder  jemals   ins 
Dasein   eintritt,    noch  jemals   dahinschwindet.    Und   dennoch: 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  179 

Nibbäna  ist;  unsere  eigene  Vernunft  muss  uns  dies  sagen; 
denn  wir  wissen,  dass  wir  ein  Ding  nur  durch  eine  Ver- 
gleiciiung  mit  dem  begreifen  i<önnen,  was  es  nictit  ist.  So 
z.  B.  wenn  icti  sage;  ,Ein  Ding  ist  weiss',  so  spreciie  icti  mit 
Beziehung  auf  und  im  Vergleich  mit  etwas,  was  nicht  weiss 
ist,  und  so  verhält  es  sich  mit  allen  unseren  inneren  Vorstel- 
lungen. Wenn  wir  so  analog  das  gesamte  bekannte  Univer- 
sum, in  dem  wir  leben,  als  etwas  Bedingtes,  als  ein  Werden 
begreifen,  dann  können  wir,  vielmehr  dann  müssen  wir  auf 
ein  Etwas  schliessen,  das  unbedingt,  wechsellos,  unbe- 
kannt ist.  So  heisst  es  im  »Udäna«:  „Es  gibt,  ihr  Brüder,  ein 
Ungeborenes,  Unentstandenes,  nicht  Gewordenes,  nicht  Gestal- 
tetes. Gäbe  es  dies  nicht,  so  würde  auch  kein  Entrinnen 
möglich  sein  aus  dieser  Welt  des  Geborenen,  Entstandenen, 
Gewordenen,  Gestalteten."  — 

Da  finde  ich  ein  Gleichnis,  welches,  wie  ich  denke,  uns 
in  den  Stand  setzen  kann,  dass  wir  nicht  nur  eine  Vorstellung 
von  Nibbäna-dhätu ')  an  sich  zu  gewinnen  vermögen,  son- 
dern auch  von  dem  Verhältnis,  in  welchem  unser  Bewusstsein 
zu  dem  steht,  was  ich  in  Ermangelung  eines  besseren  Aus- 
druckes als  das  absolute  Bewusstsein  bezeichnen  möchte. 
Dieses  Bild  wird  uns  auch  illustrieren  können,  inwiefern  der 
Ausdruck  »existierend«,  welchen  wir  notgedrungen  dem  Be- 
griff »Nibbäna«  beilegen  müssen,  in  Wirklichkeit  eine  gänzlich 
andere  Bedeutung  für  denjenigen  hat,  welcher  diesen  Zustand 
begreifen  und  verwirklichen  kann.  —  Wir  wollen  uns  einmal 
den  Raum  vorsteilen.  Wir  verstehen  unter  diesem  Worte 
»Raum«  zwei  sehr  verschiedene  Dinge,  welche  doch  in  ge- 
wisser Weise  zu  einander  in  Beziehung  stehen: — Wir  meinen 
einerseits  Unendlichkeit  oder  Unbegrenztheit,  andererseits 
endliche  (begrenzte)  Ausdehnung.  Wenn  wir  sagen,  ein 
Kubus  (Würfel)  nimmt  einen  bestimmten  Raum  ein,  so  meinen 
wir  »Raum«  in  dem  letzteren  Sinne;  aber  wir  sind  uns  dabei 
wohl  bewusst,  dass  dieser  Kubus-Raum  in  keiner  Weise  den 
unendlichen  Raum  beeinträchtigt;  denn  ein  Kubus,  mag  dieser 
so   gross   sein,   wie   er   will,    kann    selbstverständlich    keinen 


')  Dhätu  bedeutet  Element,  Begriff. 


Wß  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Raum-Teil  von  dem  unendlichen  Raum  ausmachen.  Dasselbe 
gilt  für  jedes  gestaltete  Ding;  denn  alles,  was  eine  Form  hat, 
ist  notwendigerweise  begrenzt  oder  endlich.  Wass  wir  die 
Form  eines  Dinges  nennen,  ist  eben  die  Gesamterscheinung 
seiner  Grenzen;  und  da  der  Raum  in  dem  unbegrenzten 
(unendlichen)  Sinne  keine  Grenzen  hat,  so  kann  man  natür- 
lich niemals  von  einem  unbegrenzten  oder  unendlichen 
Kubus  sprechen.  Solch  ein  Kubus,  wie  gross  er  auch  sein 
mag,  ist  immer  begrenzt,  und  als  begrenzter  Körper  nimmt 
er  einen  begrenzten  Raum  ein;  aber  er  nimmt  im  unend- 
lichen Raum  überhaupt  keinen  Raum  ein;  denn  der  unend- 
liche Raum  bleibt  derselbe,  ganz  gleichgültig,  ob  ein  Kubus 
vorhanden  ist  oder  nicht. 

Wir  wollen  uns  nun  den  unendlichen,  unbegrenzten 
Raum  denken  und  wollen  annehmen,  dass  derselbe  mit  einem 
gleichartigen  Medium  angefüllt  sei,  mit  einer  Art  sehr  feiner 
Gallerte  oder  Äther,  wie  es  die  moderne  Wissenschaft  nennt; 
wir  wollen  weiter  annehmen,  dass  dieser  Raum-Äther  eine  ein- 
zige Eigenschaft  habe,  die  Eigenschaft  des  Bewusstseins  an 
sich.  Dieser  Bewusstseins-Raum  (oder  dieses  Raum-Bewusst- 
sein)  versinnbildlicht  unser  Nibbäna-dhätu  (Nibbäna  an  sich); 
aber  insofern  das,  was  wir  Bewusstsein  nennen,  das  Verhältnis 
zweier  Dinge  in  sich  schliesst,  und  insofern  in  dem  unbe- 
grenzten Bewusstseins-Raum  nichts  sonst  ist,  als  der  Bewusst- 
seins-Äther,  so  ist  es  ganz  einleuchtend,  dass  das  Bewusstsein, 
welches  er  hat,  gänzlich  verschieden  von  dem  ist,  was  wir 
Bewusstsein  nennen. 

Nun  wollen  wir  annehmen,  dass  in  dem  unbegrenzten 
Bewusstseins-Raum  ein  Kubus  —  ein  fester  Würfel  —  ins 
Dasein  tritt.  Dieser  Kubus  muss  vorgestellt  werden  als  aus 
einem  anderen  Stoffe  bestehend,  als  der  Bewusstseins-Äther. 
Wir  können  nun,  wenn  ich  mich  einer  etwas  laxen  Ausdrucks- 
weise bedienen  darf,  die  Sache  so  betrachten,  dass  der  Be- 
wusstseins-Raum an  einer  bestimmten  Stelle,  die  wir  im  Auge 
haben,  von  den  Flächen  des  Würfels  begrenzt  ist.  Jetzt  ent- 
steht innerhalb  dieser  Flächen  in  dem  Bewusstseins-Äther  ein 
Bewusstsein  der  Art,  wie  wir  es  kennen,  d.  h.  ein  differen- 
ziertes Bewusstsein;  der  Bewusstseins-Äther  nämlich  an  der 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  181 

einen  Fläche  des  Kubus  empfindet  sicli  als  ein  individuelles, 
getrenntes  Ding.  Erdenkt:  „Hier  bin  ich;  an  meiner  rechten 
Seite  ist  jene  Fläche,  dort  ist  eine  Ecke,  hier  ist  eine  Linie" 
usw.  Nun  mag  der  Kubus  von  Zeit  zu  Zeit  seine  Form  ändern, 
—  bald  wird  er  ein  Rhomboid,  bald  schwinden  seine  Ecken, 
und  er  wird  eine  Kugel  und  so  fort:  er  besteht  aus  einer  Un- 
menge kleiner  Teilchen,  welche  keinen  Augenblick  sich  in  Ruhe 
befinden.  Mit  jeder  Bewegung  in  dem  Kubus  wird  eine  neue 
Art  von  Bewusstsein  —  oder  besser:  Serien  von  Bewusstsein  — 
in  dem  anliegenden  Bewusstseins-Äther  entstehen:  Jetzt  ein 
Kubus-Bewusstsein,  jetzt  ein  Kugel-Bewusstsein,  dann  wieder 
das  Bewusstsein  eines  Rhomboids  oder  eines  Tetraheders.  Wie 
nun  jener  Kubus  in  der  räumlichen  Unendlichkeit  überhaupt 
keinen  Teil-Raum  einnimmt,  gerade  so  wenig  verändern  oder 
beeinflussen  alle  diese  kleinen  Arten  von  differenziertem 
Bewusstsein  auch  nur  im  geringsten  das  allgemeine  noetische 
Bewusstsein  des  unendlichen  Raumes.  Und  wenn  jener  Kubus 
plötzlich  vernichtet  würde,  dann  würde  das  an  seinen  Flächen 
entstandene  differenzierte  Bewusstsein  ebenfalls  verlöschen; 
das  will  sagen,  an  seiner  Stelle  würde  das  unendliche,  unbe- 
grenzte Raum-Bewusstsein,  das  nicht-differenzierte  abso- 
lute Bewusstsein,  allein  übrig  bleiben. 

In  diesem  Gleichnis  nun  ist  das  Nibbäna  durch  den  un- 
endlichen Bewusstseins-Äther  versinnbildlicht  und  das 
menschliche  Dasein  durch  den  Kubus.  Die  Form  jenes 
Würfels  ist  das  Symbol  für  die  körperliche  Form  (rüpa)  des  Men- 
schen; die  Fähigkeit,  auf  äussere  Schwingungen  zu  reagieren,  ist 
seine  Empfindung  (vedanä);  die  Fähigkeit  der  unterscheidenden 
Wahrnehmung  ist  sein  Wahrnehmen  und  Vorstellen  (sannä);  und  das 
inhärierende » Würfel-sein«,  wenn  ich  so  sagen  darf,  veranschaulicht 
seine  Strebungen  (samkhärä).  —  Wenn  der  Arahä  abschei- 
det, dann  zerfallen  diese  vier  Khandas  oder  Gruppen 
sämtlich;  es  bleiben  keine  »Strebungen«  zurück,  um 
ein  neues  Wesen  zu  bilden;  und  so  flackert  das  diffe- 
renzierte Bewusstsein  (vifiiiäna)  in  Abhängigkeit  von 
diesen  vier  Gruppen  nicht  länger  mehr,  und  jenes 
Wesen  hört,  soweit  unsere  Begriffe  auf  dasselbe  An- 
wendung finden,  auf,  als  eine  getrennte  Wesenheit  zu 


182  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

existieren.  Nibbäna-dhätu  ist,  —  das  ist  alles,  was 
wir  uns  sagen  können,  wenn  wir  von  dem  Arahä  nach 
seinem  Ableben  sprechen.  — 

Noch  ein  weiteres  Gleichnis  mag  hier  ausgeführt  werden, 
welches  den  Nibbäna-Begriff  in  seinen  zwei  Aspekten  veran- 
schaulichen kann.  Wenn  wir  schlafen,  treten  wir  gleichsam 
in  eine  neue  Welt  ein,  in  die  Welt  der  Schatten  der  Nacht. 
Dann  irren  wir  in  unklaren,  flüchtigen  Vorstellungen  von  Traum 
zu  Traum,  ähnlich  wie  sich  hier  in  dem  solideren  Dasein  der 
allerdings  langsamere  Übergang  von  Existenz  zu  Existenz  voll- 
zieht. Hier  schauen  wir  durch  die  »Tore  von  Hörn«  auf  die 
Mysterien  der  Welt  um  uns;  dort  erheben  sich  hinter  den 
»Toren  von  Elfenbein«  eitle,  flüchtige  Visionen,  bald  lieblich, 
bald  furchtbar;  aber  alles  wogt  und  wechselt  wie  der  Schaum 
auf  dem  Kamm  der  Wellen.  Oft  erleben  wir  direkt  nachein- 
ander Träume,  ohne  im  geringsten  daran  zu  zweifeln,  dass 
diese  Traum-Erlebnisse  real  seien;  wir  ergötzen  uns  an  ihrer 
Lieblichkeit,  wir  fürchten  uns  und  erschrecken  vor  ihrem  Weh 
und  Grauen;  wir  sind  von  der  Wirklichkeit  dieser  Träume 
gerade  so  überzeugt,  wie  von  der  Realität  unseres  irdischen 
Lebens.  So  mögen  wir  vielleicht  eine  geraume  Zeit  fortträu- 
men, bis  sich  plötzlich  ein  Traum  voller  Leid  und  Entzetzen 
einstellt;  wir  martern  uns  infolgedessen  ab,  wie  wir  das  Furcht- 
bare ertragen  sollen  und  quälen  uns  mit  dem  Gedanken,  ob 
wir  das  Entsetzliche  überhaupt  aushalten  können.  Vielleicht 
stirbt  in  unserem  Traum  jemand,  den  wir  innig  lieben,  und 
wir  sind  nicht  in  der  Lage,  ihn  zu  retten;  oder  wir  selbst  be- 
finden uns,  von  Furcht  durchlebt,  in  einem  finstern  Kerker 
eingeschlossen  und  wissen  nicht,  wie  wir  dem  Verhängnis 
entrinnen  sollen.  Und  in  demselben  Masse,  wie  unser  Leiden 
und  Entsetzen  unser  Inneres  immer  mehr  erfüllt,  wird  es  uns 
plötzlich  klar,  dass  das  ganze  Traum-Leben  vom  Übel,  dass 
es  in  seinem  ganzen  Umfange  unbeständig,  leidvoll,  nicht-wirk- 
lich ist.  Und  wenn  uns  dieser  Gedanke  aufsteigt,  leuchtet  es 
uns  plötzlich  ein,  dass  diese  Traum-Nichtwirkliciikeit  in  irgend 
einer  nicht  bekannten,  schwer  zu  begreifenden  Weise  von  uns 
selbst  abhängt,  dass  es  jenseits  von  diesen  schrecklichen  Phan- 
tasieen   ein    reales   Leben   gibt,    und    dass   diese   Leiden    und 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  183 

Schrecken  der  Nacht  nur  unsere  eigenen  Schöpfungen  sind. 
Und  nun  machen  wir  eine  gewaltige  Willensanstrengung,  um 
zu  erwachen,  und  lachen  dann  nach  ein  paar  Augenblicken 
darüber,  dass  wir  so  töricht  gewesen  sind,  uns  von  jenen 
Leiden  und  Beschwerden  quälen  und  niederdrücken  zu  lassen; 
wir  erkennen  dann,  dass  dies  alles  aus  unserem  eigenen  Qemüte, 
oder  vielmehr  aus  unserer  im  Schlafe  herrschenden  Unwissen- 
heit, unserem  träumenden  Zustande,  geboren  wurde. 

So  liegen  auch  hier  die  Verhältnisse  im  Meere  des  Daseins. 
Wir  irren  von  Leben  zu  Leben,  bald  glücklich,  bald  unglücklich; 
und  für  lange  Zeit  führen  wir  so  das  Dasein  fort  und  eilen 
von  der  Geburt  zum  Tode,  ohne  jemals  ernstlich  darüber  nach- 
zusinnen, wer  wir  sind  und  warum  wir  leben.  Aber  zu  irgend 
einer  Zeit  bricht  ein  schweres  Leid  über  uns  herein,  und  dann 
halten  wir  für  einen  Moment  inne,  dann  fragen  wir  verwundert, 
was  wohl  hinter  allen  diesen  dunklen  Geheimnissen  des  Lebens 
sein  mag?  Und  sogleich  werden  wir  im  Hinblick  auf  den 
rastlosen  Lauf  des  Daseins  das  grosse  Leiden  gewahr,  welches 
in  diesem  nie  aufhörenden  Wechsel  liegt,  und  zugleich  mit 
dieser  Verwirklichung  der  Wahrheit  vom  Leiden  leuchtet 
die  tiefe  innere  Erkenntnis  auf,  dass  alle  die  mannigfaltigen 
Formen  und  Lagen  des  Lebens  vergänglich,  leidvoll,  nicht 
wirklich  sind. 

So  erkennen  und  verwirklichen  wir  wie  jener  Mann  in 
Nägasenas  Rede  die  Wahrheit  vom  Leiden:  „Ein  ewiges 
Feuer  ist  dieses  undenliche  Werden,  flammend  und  brennend! 
Voll  von  Leiden  ist  es,  voll  von  Verzweiflung!"  Und  wir  streben 
wie  er  nach  einem  Zustand,  in  welchem  es  kein  Werden  gibt,  in 
weichem  Hass  durch  Güte  ersetzt  wird,  Begierde  durch  Liebe, 
Verblendung  durch  Einsicht  und  alle  Unruhe  des  Lebens  durch 
Nibbänas  Frieden. 

Infolge  dieser  Erkenntnis  und  Sehnsucht  machen  wir  dann 
eine  gewaltige  Willens-Anstrengung,  um  aus  dem  Traum  des 
Lebens  zu  erwachen  und  suchen  nach  einem  Weg,  der  uns 
aus  dem  endlosen  Leid  des  Daseins  hinausführen  soll.  Wir 
gewöhnen  uns  daran,  die  Moral-Satzungen  (Stla)  zu  be- 
folgen, indem  wir  das  Gebot:  »Alle  Sünden  meiden«  beob- 
.  .  n.    Wir  üben  uns  in  der  Betätigung  der  Nächstenliebe 


184  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

(Dana),  indem  wir  danach  streben,  anderen  Gutes  zu  erweisen, 
den  Armen  zu  speisen,  dem  Bedürftigen  zu  lielfen  und  mit 
allen  Menschen  in  Frieden  und  Harmonie  zu  leben,  wie  ge- 
schrieben steht:  »Die  Tugend  üben«.  Und  endlich,  wir 
gehen  daran,  die  Meditation  (Bhävana)  zu  pflegen,  um  jene 
Konzentration  und  Kraft  des  Geistes  zu  erlangen,  welche  allein 
die  Fesseln  der  Illusion  zerbrechen  kann,  welche  allein  uns 
den  Pfad  zum  Nibbäna,  den  Weg  zum  grossen  Frieden  zu 
öffnen  vermag;  dies  geschieht  durch  >die  Läuterung  des 
eigenen  Herzens«.  Und  diese  drei  Richtwege:  Sila,  Dana, 
Bhävana  bilden  zusammen  die  gesamte  Praxis  unserer  bud- 
dhistischen Religion '). 

Wer  so  in  dem  Gesetz  lebt,  wer  so  in  Frieden  und  Wohl- 
wollen mit  allen  Wesen  verharrt,  wer  so  über  die  Natur  dieses 
Daseins  meditiert,  für  den  schlägt  einst  die  Stunde  des  »grossen 
Erwachens« ").  Und  wer  dieses  Erwachen  erlebt,  auch  wenn 
er  den  Glanz  Nibbänas  nur  von  fern  geschaut  hat,  gelangt  zum 
Frieden,  und  die  irdischen  Trugbilder  können  ihn  nicht  mehr 
blenden.  Wie  der  aus  dem  Schlaf  Erwachte  seinen  Tranm  als 
die  Schöpfung  seines  Geistes  erkennt,  so  geht  es  auch  dem- 
jenigen, der  aus  dem  Traum  des  Lebens  erwacht  ist:  Er  sieht, 
dass  diese  Welten  nur  in  Vorstellungen  und  Gedanken  bestehen 
und  dass  diese  Pilgerreise  durch  die  ungezählten  Lebensläufe 
nichts  ist,  als  Schaum  und  Traum.  Für  den  »Erwachten« 
ist  dieses  unser  Leben  in  Wahrheit  eine  Traum-Welt;  seine 
Meditation  und  sein  Erwachen  enthüllen  ihm  sein  wahres 
Leben,  welches  jenseits  von  Zeit,  Raum  und  Vorstellung  liegt. 

Und  so  komme  ich  zum  Schluss.  Wenn  ich  gefragt  werde: 
„Ist  Nibbäna  Vernichtung?  Ist  es  Aufhören?  Ist  es  das  Ende 
von  allem?" — so  erwidere  ich:  Gerade  das  haben  wir  ja  ge- 
lernt; Nibbäna  ist  Vernichtung,  —  nämlich  Vernichtung  des 
verhängnisvollen  dreifachen  Feuers    der   Begierde,   des  Hasses 

')  Vergl.  Dhamraapada,  V.  183:  Alle  Sünden  meiden,  die  Tugend  üben, 
das  eigene  Herz  läutern:  das  ist  die  Religion  der  Buddhas. 

-)  In  diesem  Zusammenhange  sei  darauf  hingewiesen,  dass  das  Wort 
»Buddha«  von  der  Päli-Wurzel  »budh«  abgeleitet  ist  und  »der  Erwachte« 
bedeutet  Das  bekannte  Wort  »Mahäbodhi«  bedeutet  wörtlich  »das 
grosse  Erwachen«.  Eine  andere  aber  gleichbedeutende  Übersetzung 
beider  Worte  ist  *der  Erleuchtete«  und  »die  grosse  Erleuchtung«. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  185 

und  Irrwahns.  Nibbäna  ist  Vernichtung,  —  nämlich  die  Vernich^ 
tung  des  bedingten  Daseins  und  aller  Fesseln,  die  uns  gebun- 
den hielten.  Nibbäna  ist  das  Aufhören  jener  gleissnerischen 
Irrlichter  des  Lebens,  welche  uns  den  Glanz  des  jenseitigen 
Lichtes  nicht  erkennen  Hessen.  Nibbäna  ist  das  Ende  aller 
Dinge,  —  das  Ende  der  langen,  peinvollen  Pilgerschaft  durch 
die  Welten  unsagbarer  Täuschungen;  das  Ende  des  Leidens, 
der  Vergänglichkeit  und  des  Selbst-Wahnes.  Aus  der  Qual 
des  schweren  Lebens-Traumes  ein  nie  aufhörendes  Erwachen, 
—  aus  der  Pein  der  Selbstheit  eine  ewige  Erlösung;  —  ein 
Sein,  ein  Etwas,  für  das  die  Bezeichnung  Leben  ein  Frevel  und 
der  Ausdruck  Tod  eine  Lüge  wäre:  —  unnennbar,  unvorstellbar, 
und  doch  in  diesem  Leben  erreichbar  und  der  Verwirklichung 
zugänglich:  So  wurde  der  schimmernde  Glanz  Nibbänas  von 
unserem  Herrn  erklärt,  und  dies  ist  das  Endziel  unserer  bud- 
dhistischen Religion. 

Jenseits  des  Scheines  von  Sonne,  Mond  und  Sternen,  entfern- 
ter als  die  dunkle  Leere  im  Raum,  abseits  von  den  Toren  des 
ewigen  Werdens  ist  Nibbäna,  wechsellos,  in  unaussprechlicher 
Ruhe.  Jenseits  von  dem  inneren  Bewusstsein  des  Menschen,  in 
welchem  diese  Welten  und  Systeme  und  der  sie  einhüllende, 
weit  reichende  Äther  fliessend  schweben  wie  ein  Staubkorn 
im  Abgrunde  des  Raumes;  —  jenseits  von  dem  tief-inneren 
Zustande,  wo  Denken  und  Nicht-Denken  gemeinsam  gleichzeitig 
weilen,  wo  das  letzte,  schwachverhallende  Echo  der  Taten, 
Worte  und  Gedanken  sich  mit  der  Stille  mischt  und  nicht 
mehr  vernommen  wird:  —  jenseits  von  allen  diesen  Sphären 
ist  Nibbäna,  und  dennoch  ist  es  jetzt  hier,  hier  in  unseren 
Herzen,  obwohl  unbegriffen  und  unerkannt;  es  kann  nur  in 
diesem  menschlichen  Dasein  erlangt  werden  hier  auf  Erden 
von  demjenigen,  der  den  von  unserem  Meister  verkündeten 
achtfachen  Pfad  verfolgt. 

Jede  gute  Tat,  die  wir  vollbringen,  jedes  gütige  Wort,  das 
wir  sprechen,  jede  mächtige  Anstrengung  unseres  Geistes 
bringt  uns  dieser  höchsten  Seligkeit  einen  Schritt  näher.  Nicht 
in  den  tiefer  stehenden  Lebensformen,  nicht  in  dem  Leben  von 
Göttern  kann  man  dahin  gelangen,  sondern  hier  und  jetzt, 
hier  in  diesem  Leben,  das  uns  so  kleinlich,  so  dunkel,  so  all- 


186  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

täglich,  SO  sorgenvoll  zu  sein  sciieint.  Dieses  menschliche 
Leben  ist  fürwahr  grösser  als  ein  Leben  in  himmlischen  Welten, 
da  wir  in  ihm  durch  Selbstzucht  und  höchste  Anstrengung, 
durch  Entsagung,  Güte,  Weisheit  und  Mitleid  diesen  hohen 
Wahrheitspfad  beschreiten  können,  den  Weg,  welcher  zur  Er- 
lösung und  zum  totlosen  Ufer  leitet,  den  Weg,  der  aus  den 
traumhaften  Schatten  des  Lebens  hinführt  zur  Wirklichkeit,  zum 
unvergänglichen  Lichte  Nibbänas;  —  aus  des  Lebens  Leid  zur 
unaussprechlichen  Freude,  aus  des  Lebens  Kampf  zum  ewigen 
Frieden.  — 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(3.  Fortsetzung.) 

Für  die  strenggläubigen  Buddhisten  unterliegt  es  überhaupt 
keinem  Zweifel,  dass,  wenn  ein  Buddha  abscheidet,  seine  phy- 
sische Existenz  sich  in  ihre  Elemente  auflöst;  und  diese  Auf- 
lösung wird  betrachtet  als  die  endgüUige  Befreiung  von  jenem 
Teile  der  menschlichen  Natur,  welcher  die  Ursache  von  Schmerz 
und  Leid  ist;  aber  die  Wahrheit,  d.  h.  jenes  Element,  welches 
das  Buddhatum  des  betreffenden  Menschen  ausmacht,  bleibt. 
Das  Leben  im  Fleisch  ist  beendet,  aber  das  Leben  in  Nirväna 
besteht  fort.  Da  nun  die  Buddhaschaft  als  das  Ziel  aller 
Lebensentwicklung  betrachtet  wird,  während  der  Abweg  der 
Sünde  und  des  Irrtums,  welcher  die  Kreisläufe  nutzloser  Wieder- 
geburten ausmacht,  uns  von  unserem  Ziele  ablenkt,  so  wird 
der  Buddha  glückselig  gepriesen,  weil  er  der  Wiederholung 
des  leidigen  Kreislaufes  entronnen  ist.  Ein  Buddha  hat  das 
Ziel  erreicht  und  Unvergänglichkeit  erlangt.  Er  ist  in  der  Welt 
des  Irrtums  geboren,  um  als  Lehrer  zu  erscheinen  und  seinen 
Mitgeschöpfen  den  Weg  zu  zeigen,  auf  dem  sie  von  der  Täu- 
schung, von  der  Sünde  und  vom  Tode  loskommen  können. 

Nach  der  Ansicht  der  strenggläubigen  Buddhisten  ist  es 
zweifellos,  dass  die  Erscheinung  Buddhas  in  der  Person  Gau- 
tama  Siddhärthas  für  immer  dahin  ist.  Gautama  ist  gestorben, 
und  sein  Körper  wird  niciit  wieder  auferstehen.    Aber  Buddha 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  187 

lebt  fort  in  dem  »Körper«  seines  Dtiarma  (Dharma-Käya)  d.  i. 
in  dem  Gesetz  und  in  der  Weltordnung,  die  der  Buddha  verkündet 
hat,  und  insofern  dieser  Dharma  die  Wahrheit  ist,  ist  Buddha 
unsterblich  und  ewig.  Die  ganze  Welt  mag  in  Trümmer  gehen, 
aber  Buddha  stirbt  nicht.  Die  Worte  Buddhas  sind  unvergäng- 
lich. Wir  lesen  in  der  »Jätakamälä«  folgende  bemerkens- 
werte Stelle,  welche  uns  stark  an  Matth.  XXIV,  35^)  erinnert. 
Einer  der  Bodhisattvas  -')  nimmt  den  Entschluss  auf  sich,  ein 
Buddha  zu  werden,  indem  er  sagt: 

„Die  Buddhas  sprechen  nicht  zweifelhafte  Worte,  die  Sieger  sprechen 

nicht  eitle  Worte, 
Es   ist  kein  Falsch   in   den  Buddhas,  —  wahrlich,  ich  will  ein  Buddha 

werden. 
Wie  ein  Stein,  der  in  die  Luft  geworfen  wird,  gewiss  wieder  zur  Erde  fällt. 
So  ist  das  Wort  der  erhabenen  Buddhas  gewiss  und  von  ewiger  Dauer. 
Wie  der  Tod  aller  Geschöpfe  gewiss  ist  und  nie  ausbleibt. 
So  ist  das  Wort  der  erhabenen  Buddhas  gewiss  und  von  ewiger  Dauer. 
Wie  der  Aufgang  der  Sonne  gewiss  ist,  wenn  die  Nacht  verschwindet. 
So  ist  das  Wort  der  erhabenen  Buddhas  gewiss  und  von  ewiger  Dauer. 
Wie  das  Brüllen  des  Löwen  gewiss  ist,  wenn  er  seine  Höhle  verlassen  hat. 
So  ist  das  Wort  der  erhabenen  Buddhas  gewiss  und  von  ewiger  Dauer. 
Wie  die  Niederkunft  von  Frauen  mit  Kindern  gewiss  ist. 
So  ist  das  Wort  der  erhabenen  Buddhas  gewiss  und  von  ewiger  Dauer." 

Als  Christus  von  seinen  Jüngern  Abschied  nimmt,  wird 
ihm  das  Wort  in  den  Mund  gelegt:  „Siehe,  ich  bin  bei  euch 
alle  Tage  bis  an  das  Ende  der  Welt",  und  der  Buddha  drückt 
dieselbe  Idee  aus,  als  in  der  Stunde  seines  Abscheidens  die 
Mallas  ängstlich  auf  ihn  blicken.    Der  Buddha  spricht: 

„Wenn  ihr  den  Pfad  sucht,  müsst  ihr  euch  selbst  anstrengen  und  mit 
Eifer  vorwärts  streben ;  —  es  ist  nicht  damit  getan,  dass  ihr  mich  gesehen 
habt.  Wandelt  so,  wie  ich  euch  angewiesen  habe;  wohlan,  macht  euch 
los  von  dem  verwickelten  Netz  des  Leidens.  Wandelt  den  Pfad  mit 
sicheren  Endzielen.  Ein  Kranker,  der  die  heilkräftige  Medizin  anwendet, 
wird  bald  Herr  über  seine  Unpässlichkeiten,  auch  wenn  er  den  Arzt  nicht 
sieht.  Wer  meine  Anweisungen  nicht  ausführt,  sieht  mich  vergeblich; 
es  gereicht  ihm  nicht  zum  Segen.  Wer  aber  auf  dem  rechten  Wege 
wandelt,  ist  mir  immer  nahe,  auch  wenn  er  weit  von  mir  entfernt  wäre. 
Ein  Mensch  kann  nahe  bei  mir  verweilen  und  ist  doch  fern  von  mir, 
wenn  er  meine  Lehren  nicht  befolgt"  (Fo-sho-hing-tsan-king). 

>)  Vergl.  auch  Marc.  XIII,  31 ;    Luc.  XVI,  17;    Luc.  XXI,  33. 
-)  Bodhisattva  ist  die  Bezeichnung  eines  zukünftigen  Buddha. 


188  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Wer  die  Wahrheit  erkennt  und  ein  Leben  der  Wahrheit 
führt,  indem  er  den  achtfäitigen  Pfad  der  Gerechtigkeit  wandelt, 
hat  Nirväna  erreicht  und  ist  mit  Buddha.  Und  dieser  Glaube 
kann  nur  dann  Nihilismus  genannt  werden,  wenn 
Wahrheit  ein  albernes  Wort  ist,  und  wenn  moralische 
Anstrengungen  Dasein-vernichtend  sind. 

Es  gibt  verschiedene  synonyme  und  erklärende  Bezeich- 
nungen für  Nirvana.  Über  eine  Aufzählung  der  Päli-Synonyma 
für  Nirväna  ist  Childers  Päli-Dictionary  S.  272,  274  zu  ver- 
gleichen, wo  sich  Ausdrücke  finden,  wie:  Das  Unvergäng- 
liche, das  Unbegrenzte,  das  Ewige,  das  Immerwährende, 
das  Höchste,  das  Transzendentale,  das  Ruhige,  das 
Nichtgestaltete,  die  Leere,  der  Stillstand,  das  Nichtbe- 
dingte, das  Ziel,  das  andere  Ufer,  die  Ruhe,  das  Wahre 
oder  die  Wahrheit.  Nirväna  ist  gleich  „einem  Eiland,  das 
durch  keine  Flut  überwältigt  werden  kann",  es  wird 
bezeichnet  als  »Friedensstadt«,  als  »das  juwelengezierte 
Reich  der  Glückseligkeit«,  als  »eine  Rettung  aus 
der  Knechtschaft  Märas«,  des  Bösen,  des  Versuchers, 
und  es  wird  gesagt,  „dass  der  Jünger  des  Buddha  »die  Welt 
der  Menschen,  die  Welt  Yamas^)  und  die  Welt  der  Götter« 
überwinden  wird."  Die  Siamesen  lieben  es,  zusagen:  „Nirväna 
ist  eine  Stätte  der  Erquickung,  wo  es  keine  Sorge  gibt;  lieb- 
lich ist  das  Reich  Nirvänas."  Wir  lesen  im  26.  Kapitel  des 
Dhammapada:  „Wenn  du  das  Ende  alles  Entstandenen  begrif- 
fen hast,  dann  wirst  du  verstehen,   was  nicht  entstanden  ist". 

Die  am  meisten  negative  Bezeichnung  für  Nirväna  ist  der 
Ausdruck  »Leere«,  und  sein  blosses  Vorhandensein  in  den 
buddhistischen  Schriften  scheint  die  nihilistische  Auffassung 
vom  Buddhismus  zu  begünstigen.  Aber  was  sollen  wir  dann 
mit  Ausdrücken  beginnen  wie  der  folgende:  „Die  Leere  allein 
ist  selbst-existierend  und  vollkommen?"  »Das  Abstrakte« 
wäre  wohl  eine  bessere  Übersetzung,  als  das  Wort  »Leere«; 
wenigstens  würde  sie  denjenigen  weniger  anstössig  erscheinen, 
die  sich  dem  Studium  der  Philosophie  des  abstrakten  Denkens 
gewidmet  haben. 


')  Der  Todes-Oolt  im  hinduislisclien  Pantheon. 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  1«9 

Es  ist  manchmal  schwierig,  den  Grund  einzusehen,  wes- 
halb ein  Begriff  wie  Leere,  Hohlheit,  Nichtigkeit,  welcher 
uns  die  Abwesenheit  von  Existenz  anzudeuten  scheint,  in  an- 
deren Sprachen  einen  positiven  Sinn  hat,  und  wir  müssen 
vorsichtig  vermeiden,  den  Negativismus  unserer  Sprache 
auf  die  Rechnung  anderer  zu  setzen.  So  finden  wir  in  einem 
alten,  in  Sanskrit  geschriebenen  Palm-Blätter-Manuskript,  wel- 
ches seit  dem  Jahre  609  n.  Chr.  im  Kloster  Horiuzi  (Japan) 
aufbewahrt  liegt,  den  Begriff  »Nichtigkeit«  identifiziert  mit 
dem  Begriff  »Form«^),  und  der  bedeutendste  chinesische 
Philosoph  Laotse  gibt  uns  den  Schlüssel  zur  wahrscheinlichen 
Lösung  dieses  Problems,  wenn  er  im  »Tau-Teh-King«,Xi,  sagt: 

„Die  drci.ssig  Radspeichen  vereinigen  sich  in  der  Nabe,  aber  es  ist 
der  leere  Raum,  von  dem  der  Gebrauch  des  Rades  abhängt.  Der  Ton 
wird  zu  Gefassen  geformt,  aber  es  ist  ihre  hohle  Leerheit,  von  der  ihr 
Gebrauch  abhängt.  Türen  und  Fenster  werden  in  die  Mauern  gebrochen, 
die  dazu  dienen,  ein  Zimmer  zu  bilden,  aber  es  ist  der  leere  Raum 
innen,  von  dem  der  Gebrauch  abhängt.  Darum :  Was  ein  positives  Dasein 
hat,  dient  zu  einer  nützlichen  Anwendung,  und  was  keine  positive  Existenz 
hat,  dient  zu  nutzvollem  Gebrauch." 

Der  Buddha  selbst  lehnte  es  ab,  irgendwelche  positive 
Angaben  über  das  Wesen  Nirvänas  zu  machen.  Ob  wir  Nir- 
väna  durch  positive  oder  negative  Bezeichnungen  wiedergeben, 
ist  völlig  gleichgültig  und  für  die  Heiligung  ohne  jeden  Belang. 
In  diesem  Sinne  antwortet  der  Buddha  auf  die  Frage  Mäluk- 
yas:  „Lebt  der  Erhabene  nach  seinem  Abscheiden  weiter  oder 
lebt  er  nach  seinem  Abscheiden  nicht  weiter?"  folgendes: 
„Wenn  ein  Mann  von  einem  vergifteten  Pfeile  getroffen  wäre 
und  seine  Freunde  und  Verwandten  riefen  einen  geschickten 
Arzt,  —  wie,  wenn  der  verwundete  Mann  spräche:  ,Ich  werde 
nicht  erlauben,  dass  meine  Wunde  behandelt  wird,  bevor  ich 
nicht  weiss,  wer  der  Mann  ist,  der  mich  verwundet  hat,  ob  er 
ein  Kshatriya,  ein  Brähmana,  ein  Vai^ya  oder  ein  Qudra')  ist?' 
—  oder  wenn  er  spräche:  ,Ich  werde  nicht  erlauben,  dass  meine 


')  Vergl.  S.  48.  in  »The  ancicnt  Palmleaves«,  edited  by  F.  Max  Müller 
and  Bunyin  Nanjio  (Oxford  1884). 

-)  Dies  sind  die  Bezeichnungen  der  vier  indischen  Hauptkasten :  die 
Namen  sind  hier  in  der  Sanskrit-Form  angeführt. 


190  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Wunde  behandelt  wird,  bevor  ich  nicht  weiss,  wie  der  Mann 
heisst,  der  mich  verwundet  hat,  und  aus  welcher  Familie  er 
stammt,  ob  er  gross  ist  oder  klein  oder  von  mittlerer  Statur 
und  wie  die  Waffe  aussieht,  mit  der  er  mich  verletzte'." 

Soviel  ist  sicher:  Wenn  der  Buddha  von  der  Seligkeit 
Nirvänas  spricht,  so  leugnet  er  das  Fortbestehen  der  mensch- 
lichen individualisierten  Form.  Die  Arahaschaft  ist  ihm  ewig, 
aber  die  körperliche  Form  des  Araha  löst  sich  auf. 

(Fortsetzung  folgt). 

Eine  alte  Buddha-Biographie. 

Verhältnismässig  wenig  bekannt  im  deutschen  Publikum 
ist  die  im  Verlag  von  Philipp  Reclam  erschienene  metrische 
Übersetzung  einer  alten  chinesischen  Buddha-Biographie, 
welche  1894  von  dem  verstorbenen  Oberpräsidialrat  Theo- 
dor Schnitze  unter  dem  Titel  »Buddhas  Leben  und  Wirken« 
publiziert  wurde.  Das  chinesische  Werk  »Fo-Sho-Hing- 
Tsan-King«  stammt  aus  der  ersten  Hälfte  des  5.  nachchrist- 
lichen Jahrhunderts;  sein  Verfasser  ist  Dhamaraksha,  der,  in 
Vorderindien  geboren,  später  nach  China  kam,  wo  er  sich  mit 
der  Übersetzung  buddhistischer  Texte  ins  Chinesische  beschäf- 
tigte. Das  genannte  chinesische  Werk  ist  kein  Original,  sondern 
eine  freie  Bearbeitung  des  aus  dem  1.  nachchristlichen  Jahr- 
hundert stammenden  sanskritischen  »Buddha-carita«  des 
A9vagosha.  Professor  Samuel  Beal  fertigte  eine  englische 
Übersetzung  des  »Fo-Sho-Hing-Tsan-King«  an,  und  das 
Schultzesche  Werk  ist  die  deutsche  Übertragung  dieser  engli- 
schen Version. 

Die  genannte  Buddha-Biographic  verdient  grössere  Beach- 
tung, als  ihr  bisher  zuteil  wurde.  Die  Buddha-Legende,  die 
in  manchen  anderen  Lebensbeschreibungen  des  Meisters  in 
grotesker  Form  emporwuchert,  hält  sich  hier  in  verhältnismässig 
bescheidenen  Grenzen.  Von  hoher  Bedeutung  aber  sind  die 
philosophisch-religiösen  Betrachtungen,  die  dem  Buddha  und 
anderen  Personen  bei  geeigneten  Gelegenheiten  in  dem  Mund 
gelegt  werden.     Wir  geben  im  folgenden  ein  paar  Proben  aus 


No.  6.  DER  BUDDHIST.  191 

dieser  alten  Dichtung  wieder;  vielleicht  schöpft  der  eine  oder  der 
andere  Leser  daraus  die  Anregung,  sich  eingehender  mit  der 
Lektüre  von  »Buddhas  Leben  und  Wirken«  zu  befassen. 

V.    440:  So  möget  ihr  bedenken,  dass  das  Trachten 

Nach  wahrer  Religion  stets  an  der  Zeit  ist. 

Die  Unbeständigkeit,  der  ew'ge  Wechsel, 

Die  Todesfurcht  verfolgen  uns  beständig; 

Darum  ergreife  ich  den  gegenwärt'gen 

Tag,  überzeugt,  dass  jetzt  die  rechte  Zeit  ist, 

Nach  Religion  zu  suchen. 
V.  2076:  Das  Weltmeer  von  Geburt  und  Tod  zu  kreuzen, 

Dafür  baut  Weisheit  uns  ein  lenksam  Fahrzeug; 

Die  trübe  Finsternis  auf  ihm  erhellt  uns 

Mit  seinem  Strahlenschein  der  Weisheit  Leuchtturm. 
V.  1629:  Gut  oder  böse,  folgen  uns  die  Taten, 

Die  jemals  wir  vollbracht,  wie  unser  Schatten. 
V.  2242:  Wollt  ihr  dem  hingeschied'nen  Buddha  Ehre 

Erweisen,  nun  wohlan!    so  folgt  dem  Beispiel, 

Das  er  gegeben  in  Geduld  und  Langmut! 
V.  2046 :  Selbst  wenn  mit  scharfem  Schwert  ein  Mann  vom  Leibe 

Euch  stückweis'  haut  die  Glieder,  so  geratet 

Doch  nicht  in  Zorn  und  fasst  nicht  Rachgedanken, 

Kein  böses  Wort  geh'  über  eure  Lippen. 
V.  2047 :  Mag  auch  der  Leib,  verstümmelt,  Schmerzen  leiden. 

Hilft  nichts  doch  als  Geduld  zum  vollen  Siege. 
V.  1827:  Schwer  lasten  auf  der  Welt  die  Leiden,  die  uns 

Geburt  und  Alter,  Tod  und  Krankheit  bringen. 

Wer  deren  Zahl  die  Leidenschaft  hinzufügt. 

Verstärkt  die  Schar  der  Feinde,  die  ihn  drängen. 

Vielmehr,  da  wir  die  Welt  bedrückt  von  Plagen 

In  Menge  sehen,  sollte  in  uns  wachsen 

Das  Mitleid  und  wir  unermüdlich  Hilfe 

Dem  stets  erneuten  Schmerz  entgegenstellen. 
V.  2098 :  Benutzt  mit  Fleiss  die  angezeigten  Mittel, 

Strebt  nach  dem  Heim,  das  keine  Trennung  zulässt. 

Das  Licht  der  Weisheit  nur,  von  mir  entzündet. 

Verscheucht  das  Dunkel,  das  die  Welt  bedecket. 
26.  Kap.:  Wer  auf  dem  rechten  Wege  wandelt,  war'  er 

Auch  weit  von  mir  entfernt,  ist  stets  mir  nahe. 

Denn  wenn  das  Handeln  folgt  der  Reinheit  Richtschnur, 

Dann  ist  die  wahre  Religion  gefunden. 

Befolgt  die  wahre  Lehre  und  begegnet 

Mit  Güte  allen  Wesen,  die  da  leben. 
V.  1289:  Wenn  auch  den  Leib  Juwelen  schmücken. 

Kann  doch  das  Herz  den  Sinn  bezwungen  haben. 

Wer  Lebenslust  und  Leid  mit  Gleichmut  aufnimmt, 

Hat  Religioij,  sei  auch  sein  Äuss'res  weltlich. 

Und  wer  in  des  Asketen  Kleid  den  Leib  hüllt. 

Kann  dennoch  hegen  weltliche  Gesinnung. 

Wer  in  Waldeinsamkeit  noch  nach  dem  Glänze 

Der  Welt  verlangt,  bleibt  nach  wie  vor  ein  Weltkind. 

Zu  höchsten  Dingen  mag  der  Geist  sich  heben, 

Steckt  auch  der  Leib  in  weltlicher  Verkleidung. 


»92  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg" 

Weltmann  und  Eremit  sind  nicht  verschieden, 

Wenn  beide  sie  vert)annt  den  Selbstgedanl<cn ; 

Doch,  wenn  das  Herz  umschlingen  Fleischesbanden, 

Sind  köperlichcr  Zucht  Anzeichen  nutzlos. 
V.  1663 :  Wie  einer  Lampe  Licht  in  finsterii  Räumen 

Gleich  sehr  die  Farben  aller  Dinj;e  aufhellt. 

So  leuchtet  allen,  die  zu  ihr  sich  wenden, 

Die  Religion,  wes  Standes  sie  auch  seien. 

Ein  Waldeinsiedler  kann  das  Zi';l  verfehlen. 

Zum  Rishi  ein  llaushalter  sich  erheben. 
V.  1777:  Vertrau'n  auf  äuss're  Hilfe  bringet  Kummer, 

Nur  auf  sich  selbst  vertrauen,  Kraft  und  Freude. 

Buddhas  Preis. 

Von  Dr.  Wolfgang  Bohn. 

1.  Wo  Menschenherzen  beben 
Gequält  vom  Erdcnleid, 
Wo  Jugendlust  und  Leben 
Dem  harten   Tod  geweiht. 
Der  Geist  in  heissem  Ringen 
Pflückt  der  Erkenntnis  Reis, 
Das  Dunkel  zu  durchdringen  — 
Da,  Buddha,  klingt  Dein  Preis. 

2.  Wo  Blätter  niederfallen 

Vom  Sturm-gepeitschlen  Baum, 
Wo  sanfte  Lieder  hallen 
Hinsterbend  durch  den  Raum, 
Treu  nach  Erlösung  streben 
Der  Jüngling  und  der  Greis, 
Zu  flieh'n  den  Lauf  der  Leben  — 
Da,  Buddha,  klingt  Dein  Preis. 

3.  Und  rollt  auch  graue  Wogen 
Ums  Lebensschiff  der  Sturm,  — 
Die  suchend  ausgezogen,  — 

Uns,  —  hellt  die  Bahn  ein  Turm,  — 
Die  Täuschung  überwunden,  — 
Bringt  nichts  aus  dem  Geleis; 
Im  Port,  in  Friedensstunden, 
Da,  Buddha,  klingt  Dein  Preis. 

4.  Der  Abendsonne  Glühen 
Durch  bunte  Scheiben  fällt. 
Vor  Deinem  Bilde  blühen 
Viel  Blumen,  Herr  der  Welt! 
Und  wenn  die  Blüten  sinken, 

Die  Nacht  schon  dämmert  leis',  — 
Seh'  ich  Dein  Bild  noch  blinken,  — 
Da,  Buddha,  klingt  Dein  Preis. 


Verantwortlicher  R«l»kteur:  Karl  B.  Seidenstocker,  Lripzig.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Ein   Denkmal  chinesisch-buddhistischer  Kunst: 

Kwan -Yin  -  Statue. 

(Siehe  »Buddhistische  Welt«  Seite  52.) 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend   üben,    das   eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddbas.  Dhammapada,  V.  183. 


Das  Mahämangala-Sutta. 

Der  Meister  spricht: 

Die  Gesellschaft  von  Toren  meiden,  aber  den  Verkehr  mit 
Einsichtigen  pflegen,  Hochachtung  denen  gegenüber,  die  ver- 
ehrungswürdig sind:  das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

In  einem  gesegneten  Lande  wohnen,  ein  gutes  Karma  aus 
früheren  Existenzen,  die  Läuterung  des  eigenen  Gemütes:  das 
ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

Rechte  Einsicht  und  Zucht,  Selbstüberwindung  und  gütige 
Rede:  das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

Vater  und  Mutter  unterstützen,  Weib  und  Kind  pflegen, 
die  Betätigung  in  einem  friedfertigen  Beruf:  das  ist  ein  sehr 
grosser  Segen. 

Almosen  spenden,  ein  religiöses  Leben  führen,  für  die 
Angehörigen  sorgen,  das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

Vom  Bösen  sich  abkehren  und  sich  seiner  enthalten,  be- 
rauschende Getränke  meiden,  die  Anweisungen  der  Lehre  be- 
folgen: das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

Ehrfurcht  und  Demut,  Zufriedenheit  und  Dankbarkeit,  das 
Hören  der  Lehre  zur  richtigen  Zeit:  das  ist  ein  sehr  grosser 
Segen. 

Geduld  und  Freundlichkeit,  der  Verkehr  mit  geistig  Stre- 
benden, religiöse  Unterredung  zur  richtigen  Zeit:  das  ist  ein 
sehr  grosser  Segen. 

Selbstzucht  und  Reinheit,  das  Verstehen  der  erhabenen  Wahr- 
heiten, die  Verwirklichung  Nibbänas,  das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

13 


194  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Ein  Gemüt,  das  nicht  zittert  bei  der  Berüiirung  mit  ver- 
gänglichen Dingen,  das  frei  von  Kummer,  frei  von  Leidenschaft, 
iji  Ruhe  verharrt:  das  ist  ein  sehr  grosser  Segen. 

Wer  durch  die  Vollbringung  dieser  Anweisungen  durchaus 
unüberwindlich  ist  und  aller  Orten  sicher  wandelt:  der  ist  des 
grössten  Segens  gewiss. 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 

Von  Bhikkhu  Nyänatiloka  (Ceylon). 

(1.  Fortsetzung.) 

Zweites  Kapitel. 
Die  heilige  Wahrheit  von  der  Leidensentstehung. 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit  von  der 
Leidensentstehung?  Es  ist  jener  Dasein-erzeugende  Trieb, 
jenes  bald  hier,  bald  dort  nach  Befriedigung  dürstende  Be- 
gehren ^),  das  sinnliche  Begehren  (kämatanhä),  das  Begehren 
nach  individuellem  (zukünftigen)  Dasein  (bhavatanhä),  das  Be- 
gehren gegenwärtigen  Wohlseins  (vibhavatanhä). 

Wo  aber,  ihr  Brüder,  nimmt  dieses  Begehren^)  seinen 
Ursprung  und  wo  wächst  es?  Wo  setzt  es  sich  fest  und  wo 
fasst  es  Wurzel? 

[Die  sechs  Sinne:]  Das  Auge  ist  entzückend,  ist  an- 
genehm den  Menschen:  dort  nimmt  das  Begehren  seinen  Ur- 
sprung, dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich  fest,  und  dort  fasst 
es  Wurzel.  Ohr,  Nase,  Zunge  und  Verstand  (mano)  sind  ent- 
zückend, sind  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt  das  Be- 
gehren seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich 
fest,  und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Die  sechs  Sinnesobjekte:]  Die  Formen,  Töne,  Düfte, 
Säfte,  Tastungen   und  Verstandes-Objekte  (Gedanken  u.  s.  w.) 


')  Tanhä,  wörtlich  Durst. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  195 

sind  entzückend,  sind  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt 
das  Begehren  seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es 
sich  fest,  und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Das  sechsfache  Bewusstsein:]  Das  dem  Sehen, 
Hören,  Riechen,  Schmeci<en,  Tasten  und  Denken  entsprungene 
Bewusstsein  ist  entzückend,  ist  angenehm  den  Menschen:  dort 
nimmt  das  Begehren  seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort 
setzt  es  sich  fest,  und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Der  sechsfache  Kontakt:]  Der  durch  Sehen,  Hören, 
Riechen,  Schmecken,  Tasten  und  Denken  entstandene  Kontakt 
[der  Sinnesorgane  mit  den  ihnen  entsprechenden  Objekten] 
ist  entzückend,  ist  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt  das 
Begehren  seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich 
fest,  und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Das  sechsfache  Gefühl:]  Die  durch  Sehen,  Hören, 
Riechen,  Schmecken,  Tasten  und  Denken  hervorgerufenen  Ge- 
fühle sind  entzückend,  sind  angenehm  den  Menschen:  dort 
nimmt  das  Begehren  seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort 
setzt  es  sich  fest,  und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Die  sechsfache  Wahrnehmung  und  Vorstellung:] 
Die  Wahrnehmung  und  die  Vorstellung  der  Formen,  der  Töne, 
der  Düfte,  der  Säfte,  der  Tastungen  und  der  Gedanken  ist 
entzückend,  ist  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt  das  Be- 
gehren seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich  fest, 
und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Das  sechsfache  Verlangen:]  Das  Verlangen  nach 
den  Formen,  nach  den  Tönen,  nach  den  Düften,  nach  den 
Säften,  nach  den  Tastungen  und  nach  den  Gedanken  ist  ent- 
zückend, ist  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt  das  Be- 
gehren seinen  Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich  fest, 
und  dort  fasst  es  Wurzel. 

[Das  sechsfache  Urteilen  und  Nachdenken:]  Das 
Urteilen  und  Nachdenken  über  Formen,  über  Töne,  über  Düfte, 
über  Säfte,  über  Tastungen  und  über  Gedanken  ist  entzückend, 
ist  angenehm  den  Menschen:  dort  nimmt  das  Begehren  seinen 
Ursprung,  dort  wächst  es,  dort  setzt  es  sich  fest,  und  dort  fasst 
es  Wurzel. 

13» 


196  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit  von  der 
Leidensentstehung.  (Digha-Niicäya)  — 

[Offenbare  Leidensverkettung:]  Und  von  Begehren 
getrieben,  von  Begehren  gereizt,  von  Begehren  bewogen,  eben 
nur  aus  eitel  Begehren  streiten  Könige  mit  Königen,  Fürsten 
mit  Fürsten,  Priester  mit  Priestern,  Bürger  mit  Bürgern,  streitet 
die  Mutter  mit  dem  Sohne,  der  Sohn  mit  der  Mutter,  der  Vater 
mit  dem  Sohne,  der  Sohn  mit  dem  Vater,  streitet  Bruder  mit 
Bruder,  Bruder  mit  Schwester,  Schwester  mit  Bruder,  Freund 
mit  Freund.  Also  in  Zwist,  Zank  und  Streit  geraten  gehen  sie 
mit  Fäusten  auf  einander  los,  mit  Steinen,  Stöcken  und  Schwer- 
tern. Und  so  eilen  sie  dem  Tode  entgegen  oder  tötlichem 
Schmerze.  Das  aber,  ihr  Brüder,  ist  Elend  des  Begehrens,  ist 
die  offenbare  Leidensverkettung,  durch  Begehren  gefügt,  durch 
Begehren  erhalten,  durch  Begehren  schlechthin  bedingt. 

Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Von  Begehren  getrieben, 
von  Begehren  gereizt,  von  Begehren  bewogen,  eben  nur  aus 
eitel  Begehren  brechen  sie  Verträge,  rauben  fremdes  Gut, 
stehlen,  betrügen,  verführen  Ehefrauen.  Da  lassen  die  Könige 
einen  solchen  ergreifen  und  verhängen  mancherlei  Strafen,  als 
wie  Peitschen-,  Stock-  oder  Rutenhiebe;  Handverstümmelung, 
Fussverstümmelung  oder  Verstümmelung  der  Hände  und  Füsse; 
das  Zerreissen  durch  Hunde,  die  lebendige  Pfählung,  die  Ent- 
hauptung. Und  so  eilen  sie  dem  Tode  entgegen  oder  töthchem 
Schmerze.  Das  aber,  ihr  Brüder,  ist  Elend  des  Begehrens,  ist 
die  offenbare  Leidensverkettung,  durch  Begehren  entstanden, 
durch  Begehren  gefügt,  durch  Begehren  erhalten,  durch  Be- 
gehren schlechthin  bedingt. 

[Verborgene  Leidensverkettung:]  Und  ferner  noch, 
ihr  Brüder:  Von  Begehren  getrieben,  von  Begehren  gereizt, 
von  Begehren  bewogen,  eben  nur  aus  eitel  Begehren  wandeln 
sie  in  Taten  den  Weg  des  Unrechts,  wandeln  sie  in  Worten 
den  Weg  des  Unrechts,  wandeln  sie  in  Gedanken  den  Weg 
des  Unrechts.  Und  in  Taten  auf  dem  Wege  des  Unrechts,  in 
Worten  auf  dem  Wege  des  Unrechts,  in  Gedanken  auf  dem 
Wege  des  Unrechts  gelangen  sie  bei  der  Auflösung  des  Kör- 
pers, nach  dem  Tode,  abwärts,  auf  schlechte  Fährte,  in  Ver- 
derben und  Unheil.    (Denn  es  heisst:  Nicht  in  dem  Reich  der 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  iM 

Lüfte,  nicht  in  der  Tiefe  des  Meeres,  nicht  in  den  Höhlen  der 
Berge,  überhaupt  nirgends  in  der  Welt  findet  sich  eine  Stätte, 
wo  du  ledig  würdest  deiner  bösen  Tat.  —  Dhammapada.  — ) 
Das  aber,  ihr  Brüder,  ist  Elend  des  Begehrens,  ist  die  verbor- 
gene Leidensverkettung,  durch  Begehren  gefügt,  durch  Begehren 
erhalten,  durch  Begehren  schlechthin  bedingt.  (Majjhima- 
Nikäya  13).  —  ' 

Es  gibt  eine  Zeit,  ihr  Brüder,  wo  das  grosse  Weltmeer 
versiegt,  austrocknet,  nicht  mehr  ist.  Nicht  aber,  wahrlich,  das 
sage  ich,  ihr  Brüder,  gibt  es  ein  Ende  des  Leidens  für  die 
vom  Nichtwissen  umhüllten  Wesen,  die  durch  den  Durst  nach 
Dasein  immer  und  immer  wieder  zu  erneuter  Geburt  geführt 
werden  und  den  endlosen  Kreislauf  der  Wiedergeburten  durch- 
eilen. 

Es  gibt  eine  Zeit,  ihr  Brüder,  wo  die  gewaltige  Erde  vom 
Feuer  verzehrt  wird,  zugrunde  geht,  nicht  mehr  ist.  Nicht  aber, 
wahrlich,  das  sage  ich,  ihr  Brüder,  gibt  es  ein  Ende  des  Lei- 
dens für  die  vom  Nichtwissen  umhüllten  Wesen,  die  durch 
den  Durst  nach  Dasein  immer  und  immer  wieder  zu  erneuter 
Geburt  geführt  werden  und  den  endlosen  Kreislauf  der  Wieder- 
geburten durcheilen.     (Samyutta-Nikäya  111,  XXII,  99).  — 

(Fortsetzung  folgt). 

Die  buddhistische  Grundidee  des 
»Meisters  von  Palmyra«. 

Von  Georg  Jahn. 

Adolf  Wilbrandt  hat  manches  schöne  und  gute  Buch 
geschrieben  und  mit  seiner  Kunst  schon  vieler  Herzen  erfreut, 
das  Schönste  und  Tiefste  aber,  was  er  gedichtet  und  geschaffen, 
ist  unstreitig  sein  »Meister  von  Palmyra«,  der  eine  Perle 
unter  den  Schöpfungen  der  neuesten  Dichtkunst  genannt  zu 
werden  verdient.  In  milder  Weise  und  schöner,  vollendeter 
Form  werden  darin  vielfach  buddhistische  Gedanken  zum  Aus- 
druck gebracht,  unter  denen  wir  die  Grundidee  der  ganzen 
dramatischen  Dichtung  zu  unserer  skizzenhaften  Darstellung  aus- 


198  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

wählen  wollen.  Apelles,  der  Meister  von  Palmyra,  der  seine 
Vaterstadt  mit  den  herrlichsten  Werken  seiner  Kunst  geschmückt, 
der  in  edler  Begeisterung  die  alte  aristokratische  Herrschaft 
gestürzt  und  seinen  Mitbürgern  die  Freiheit  geschenkt,  hat  sich 
nach  siegreicher  Schlacht  gegen  die  Perser  in  überschwellender 
Lebenskraft  und  Lebensfreude,  auf  der  Höhe  seines  Glückes 
stehend,  vom  Herrn  des  Lebens,  der  Personifikation  der  freu- 
digen Daseinsbejahung,  ewiges  Leben  erbeten,  das  ihm  mit 
den  Worten  gewährt  wird: 

Dich  erhört  der  Herr  des  Lebens, 

Hält  dich  fest  auf  dieser  Erde  — 

An  der  Stirn  gezeichnet  wirst  du 

Wachen  ohne  Schlaf  des  Todes. 

Er  hat  sich  dieses  ewige  Leben  erbeten,  ohne  zu  bedenken, 
dass  Leben  ohne  Ende  auch  Reue  ohne  Ende  sein  kann,  dass 
dieser  Segen  leicht  zu  einem  Fluche  zu  werden  vermag,  von 
dem  die  Seele  erlöst  zu  werden  wünscht.  In  den  fünf  Aufzügen 
der  Dichtung  ziehen  nun  an  Apelles  fünf  „Abbilder  des  ewig 
neu  geformten  Lebens"  vorüber,  um  den  zu  führen  und  zu 
belehren,  der  in  sich  selbst  verharren  will,  fünf  Verkörperungen 
ein  und  derselben  Wesenheit,  die  seinen  Lebenspfad  kreuzt: 

Irre  wandelnd,  vorwärts  schreitend, 
Und  in  jeder  ihrer  Formen 
Ihm  begegnend,  neu  und  fremd, 
Unbewusst  dem  Unbewussten  — 
Bis  sich  Gottes  Werk  vollendet. 

Die  erste  dieser  Gestalten  ist  eine  christliche  Märtyrerin 
mit  Namen  Zoe,  die  durch  des  heiligen  Geistes  Stimme  ange- 
trieben, von  Damaskus  ausgezogen  ist,'  um  den  Armen  und 
Unweisen,  den  von  Angst  und  Trübsal  Geplagten  Palmyras 
Heil  und  Seligkeit  zu  bringen.  Sie  hängt  nicht  am  Leben,  sie 
vermag  in  schwärmerischer  Begeisterung  ihre  blühende  Jugend, 
der  Glieder  Kraft  und  Schönheit,  Fühlen,  Denken  und  Wollen 
für  ein  dunkel  geträumtes  „Vielleicht"  dahinzugehen.  Der  Wut 
der  noch  an  die  lebensfreudige  Götterwelt  der  Griechen  glau- 
benden Palmyrener  preisgegeben,  verhaucht  sie  zu  des  Meisters 
Füssen  im  Märtyrertod  ihr  junges  Leben.  Apelles  aber  sinkt 
tief  ergriffen  an  ihrer  Leiche  nieder  und  erkennt  den  Todbrin- 
ger  Pausanias,  den  Sorgenloser,  der  ihr  zu  Häupten  steht. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  199 

Im  zweiten  Aufzuge  ist  Phöbe,  die  römische  Geliebte  des 
Meisters,  eines  der  Abbilder  des  vielgestaltigen  Lebens.  Die  Ver- 
körperung der  Weltlust,  des  Leichtsinns,  des  Tages,  ist  sie  eine 
jener  „Luftgestalten  aus  Dunst  und  Schaum  und  Flattergeistern", 
die  wohl  lieben  können  und  deren  Herz  für  jede  Güte  ge- 
schaffen ist,  nur  nicht  für  Mut  und  Treue.  An  den  Gütern  der 
Welt,  am  Golde  hängend,  verlässt  sie,  des  Apelles  Licht-  und 
Musenkind,  sein  Glück,  sein  Leben,  den  Geliebten,  weil  er  in 
edlem  Stolze  sein  Vermögen  dahingegeben  und  nun,  ein  armer 
Mann,  ihr  nichts  zu  geben  hat  als  seine  Liebe.  So  erduldet 
der  Meister  einen  zweiten  grossen  Schmerz,  erleidet  er  einen 
zweiten  Verlust  in  der  Geliebten,  die  trotz  aller  offenbaren 
Verschiedenheit  doch  der  Christin,  die  einst  zu  seinen  Füssen 
verschied,  glich,  „als  wär's  derselbe  Geist  in  beiden  Formen". 
Doch  bleibt  ihm  noch  die  geliebte  Mutter,  die  ihm  Pausanias 
um  den  Preis  der  Geliebten  lässt. 

Die  dritte  Verkörperung  jener  Wesenheit  ist  des  Apelles 
christliches  Weib  Persida.  Im  Fanatismus  der  Entsagung  trennt 
sie  sich  von  ihm  im  Kampf  zwischen  dem  überall  siegenden 
Christentum  und  der  mehr  und  mehr  sinkenden  heidnischen 
Philosophie,  zu  der  mit  wenigen  Freunden  Apelles  noch  hält, 
weil  er  ein  freier  Mann,  kein  „Knecht  des  Herrn"  sein  mag 
und  nicht  beten  will,  wo  er  lügen  müsste.  Im  nächsten  Auf- 
zuge ist  es  der  eigne  Enkel,  der  letzte  übrig  gebliebene  Spross 
des  Apelles,  Nymphas,  der  als  Verkörperung  jenes  Lebensgei- 
stes in  erneuter  Form  auftritt.  Als  des  Meisters  philosophischer 
Schüler,  als  Anhänger  der  alten  Griechengötter,  begeistert  er 
sich  für  den  Kaiser  Julianus  Apostata,  jenen  edlen  Feind  des 
Christentums,  der  die  alte  hellenische  Weltanschauung  aufs  neue 
zu  beleben,  das  Rad  der  Zeit  zurückzudrehen  versuchte,  und 
fällt  im  Kampf  für  ihn.  Nun  steht  Apelles  ganz  allein,  nicht 
Freunde,  nicht  Kinder,  nicht  Enkel  leben  ihm  zur  Seite  und 
erfreuen  sein  Alter.  Phöbe  nahm  fliehend  den  Frühling  mit 
von  dannen,  Persida,  sein  stolzer  Sommer,  wandte  sich  ab  von 
ihm  dem  Himmel  zu,  Nymphas,  der  Enkel,  der  sonnige  Herbst, 
verhauchte  seine  edle  Seele  für  die  alten  Götter.  Nur  er  kann 
nicht  Sterben,  er,  der  zu  ewigem  Leben  verurteilt  ist,  sehnt 
sich    nun    nach  Vergessenheit,    sehnt    sich    nach    des   Todes 


200  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

erlösendem  Frieden.  Da  erscheint  ihm  endlich  eine  letzte 
Frauengestalt,  Zenobia,  die  Verkörperung  jenes  Seelenfriedens, 
den  der  Mensch  nur  durch  Entsagung  nach  der  Art  buddhisti- 
scher Heiligkeit  erlangen  kann.  Ihr  Geist  ist  es,  der  in  der 
Gestalt  der  Zoe  und  der  Phöbe,  der  Persida  und  des  Nymphas 
das  Leben  des  Apelles  geleitet  hat.  Sie  bringt  ihm  die  ersehnte 
Vergessenheit  und  mit  ihr  den  Tod  selbst,  den  er  bis  dahin 
als  Unhold  und  Höllengeist,  als  bittersten  Feind  gehasst,  doch 
nicht  gefürchtet  hatte,  und  der  als  Pausanias,  der  Sorgenloser, 
ihm  so  oft  im  Leben  erschienen  war.   Da  bekennt  denn  Apelles: 

Ja,  nun  erkenn'  ich's. 
O  Wunderrätsel  du,  das  meinen  Weg 
So  oft  verwandelt  kreuzte;  holde  Flamme 
Des  vielgestaltigen  Lebens!    Nun  erfass'  ich 
Des  hohen  Meisters  Meinung,  —  ach,  zu  spät. 
Es  springt  des  Lebens  Geist  von  Form  zu  Form; 
Eng  ist  des  Menschen  Ich,  nur  Eine  kann  es 
Von  tausend  Formen  fassen  und  entfalten, 
Nur  eine  Strasse  gehn;  drum  tracht'  es  nicht 
Ins  lebenwimmelnde  Meer  der  Ewigkeit, 
Das  Gott  nur  ausfüllt!  —  Sollt'  es  dauern,  müsst'  es 
Im  Wechsel  blüh'n  wie  du!  von  Form  zu  Form 
Das  enge  Ich  erweiternd,  füllend  läuternd. 
Bis  sich's  in  einem  Licht  verklärt.    So  könnten  wir 
Vielleicht,  allmählich  Gott  entgegenreifen. 
Zenobia  aber,  das  letzte  Abbild  des  ewig  neu  geformten  Lebens 

^         '  Erlösung  dem, 

der  lang  geprüft  des  Lebens  Rätsel  und 
des  Todes  Lehre  fasste!  — 
So  dämmert  der  Meister  von  Palmyra  hinüber  in  die  Nacht 
des  Friedens,   um  nie  wieder  zu  erwachen,  vielleicht  auch  ins 
Freie,  ins  Andere,   ins  —  —  wer  weiss  es?     Pausanias  aber 
geleitet  ihn  mit  erlösender,  kalter  Hand. 

Wir  haben  versucht,  die  Grundideen  der  schönen,  an  bud- 
dhistischen Gedanken  auch  sonst  reichen  Dichtung  in  kurzer 
Skizze  herauszuarbeiten.  Sie  soll  freilich  keinen  Ersatz  für  das 
Lesen  des  Werkes  bilden,  sondern  vielmehr  dazu  anregen. 
Jeder,  der  dem  Buddhismus  Sympathie  und  Verständnis  ent- 
gegenbringt, möge  den  „Meister  von  Palmyra"  lesen,  er  wird 
sicherlich  tief  davon  ergriffen  werden. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  201 

Goethe  ein  Buddhist. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

Der  Buddhismus  wird  ganz  allgemein  als  eine  Religion 
betrachtet,  die  zwar  den  „passiven  Völkern"  des  Ostens  angepasst 
sei,  die  dagegen  niemals  auch  nur  den  geringsten  Einfluss  auf 
die  „energischen  Nationen"  des  Westens  ausüben  könne.  Aber 
diese  Ansicht  ist  nur  dann  richtig,  wenn  Buddhismus  mit  jenem 
Quietismus  identifiziert  wird,  welcher  die  Trägheit  zur  höchsten 
Tugend  des  Lebens  erhebt.  Aber  nichts  ist  von  den  Lehren 
des  Tathägata  mehr  entfernt,  als  passive  Gleichgültigkeit,  und 
es  ist  und  bleibt  eine  Tatsache,  dass  einige  der  genialsten  Gei- 
ster Europas  spontan  die  wesentlichen  Lehren  jenes  ehrwürdigen 
Weisen  aus  dem  Qäkya-Volk  entwickelt  haben,  welcher  der 
Leitstern  der  Buddhisten  ist. 

Eins  der  schlagendsten  Beispiele  für  die  Art,  wie  ein  west- 
licher Geist  buddhistisch  denkt,  so  unglaublich  dies  auch 
jenen  erscheinen  mag,  welche  den  wahren  Geist  des  Buddhis- 
mus fortwährend  missverstehen,  ist  der  grosse  Dichter  Wolf  gang 
Goethe,  der  Darwinist  vor  Darwin,  der  Prophet  des  Monis- 
mus und  Positivismus,  der  Naturalist  unter  den  Dichtern,  und 
der  Barde  unter  den  Naturalisten.  Goethe  glaubte  ungleich 
August  Gomte,  dem  Begründer  des  französischen  Positivis- 
mus, nicht  an  unerkennbare  Ursachen  hinter  den  Phäno- 
menen. Er  proklamierte  das  Prinzip  eines  echten  Positivismus 
mit  den  Worten :  ^) 

„Das  Höchste  wäre:  zu  begreifen,  dass  alles  Faktische  schon 
Theorie  ist.  Die  Bläue  des  Himmels  offenbart  uns  das  Grund- 
gesetz der  Chromatik.  Man  suche  nur  nichts  hinter  den  Phä- 
nomenen: sie  selbst  sind  die  Lehre." 

Dieses  Prinzip  schliesst  die  Leugnung  der  Annahme  in 
sich,  dass  es  Dinge  an  sich,  sei  es  in  der  menschlichen 
Seele,  sei  es  in  der  Welt  als  Ganzem,  gebe;  und  diese  Wahr- 
heit wird  von  dem  Buddha  durch  die  These  ausgedrückt: 
„Es  existiert  kein  Ätman."     Wir  werden   unsere  Behauptung, 


')  Sprüche  in  Prosa. 


202  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

dass  Goethe  in  diesem  Sinne  ein  Buddliist  war,  beweisen,  indem 
wir  einzelne  seiner  Gedichte  zitieren,  welche  deutlich  zeigen, 
dass  er  sowohl  die  Karma-Lehre,  als  die  buddhistische  Psycho- 
logie verteidigt  hat,  welche  nichts  von  einem  Ätman  oder  ge- 
trennten Ich-Selbst  weiss,  sondern  dafür  hält,  dass  die  mensch- 
liche Seele  ein  zusammengesetztes  Produkt  aus  verschiedenen 
Bestandteilen  darstellt,  welche  unser  aus  früheren  Existenzen 
ererbtes  Karma  ausmachen  und  dazu  bestimmt  sind,  nach  dem 
Tode  entsprechend  unseren  während  des  Lebens  vollbrachten 
Taten  weiterzuleben. 

Goethe  analysiert  sich  selbst  in  folgendem  Gedicht: 

„Vom  Vater  hab'  ich  die  Statur, 

Des  Lebens  ernstes  Führen, 

Vom  Mütterchen  die  Frohnatur 

Und  Lust  zu  fabulieren. 

Urahnherr  war  der  Schönsten  hold, 
Das  spukt  so  hin  und  wieder; 
Urahnfrau  liebte  Schmuck  und  Gold, 
Das  zuckt  wohl  durch  die  Glieder. 

Sind  nun  die  Elemente  nicht 
Aus  dem  Komplex  zu  trennen, 
Was  ist  denn  an  dem  ganzen  Wicht 
Original  zu  nennen?" 
Die  Frage:     „Was  bin  ich?"   wird  von  Goethe  dahin  be- 
antwortet:    Ich  bin  ein  Gemeinplatz   von   ererbten  Strebungen 
und  Ideen. 

Der  Mensch  ist  geneigt,  sein  eigenes  süsses  Selbst  als  ein 
gesondertes  und  getrenntes  Wesen  zu  betrachten,  als  etwas 
ganz  Originales  und  als  ein  Ding  an  sich,  analog  den  meta- 
physischen „Dingen  an  sich"  der  Kantschen  Philosophie.  Aber 
diese  Meinung  über  sich  selbst  ist  ein  Irrtum;  sie  ist  das,  was 
die  Buddhisten  als  die  »Illusion  des  Selbst-Gedankens«  bezeich- 
nen. Die  Grundidee  des  Buddhismus  ist  die  Lehre,  dass  die 
Erleuchtung  die  Ego-Illusion  zerstreut,  und  Goethe  sagt  ganz 
ungeschminkt: 

„Erkenne  dich!  —  Was  hab'  ich  da  für  Lohn? 
Erkenn'  ich  mich,  so  muss  ich  gleich  davon." 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  203 

Goethe  war  ein  Mann  von  grossem  Selbstbewusstsein, 
und  es  ist  i<iar,  dass  er  liier  nicht  von  Seibstvernichtung  oder 
Resignation  spricht.  Goethe  will  nicht  sagen,  dass  er  selbst 
(Goethe  oder  Goethes  Seele)  nicht  existiere;  vielmehr  meint 
er,  dass  jene  Selbst-Eitelkeit,  welche  die  Einbildung  schafft, 
des  Menschen  Selbst  bestehe  in  einem  getrennten,  unabhängi- 
gen und  ganz  originalen  Wesen,  weiches  ein  ausschliesslich 
für  sich  existierendes,  eigentümliches  Ding  wäre,  —  dass  diese 
Selbst-Eitelkeit  eine  Illusion  ist,  welche  durch  Selbst-Erkenntnis 
zerstreut  wird. 

»Ich«  bin  nicht  ein  getrenntes  Ego-Bewusstsein,  welches 
sich  im  Besitze  einer  Seele  mit  allen  ihren  Impulsen,  Gedanken 
und  Neigungen  befindet.  Vielmehr  ist  das  Gegenteil  wahr. 
Meine  Seele,  welche  aus  ganz  bestimmten  Seelen-Strukturen 
besteht,  ist  im  Besitze  eines  Ego-Bewusstseins;  und  meine 
ganze  Seele  ist  gemeint,  wenn  ich  sage:  »Ich«.  In  diesem 
Sinne  kann  jeder  von  sich  selbst  sprechen:  „Ich  existierte  lange 
bevor  ich  geboren  war."  Sicherlich  existierte  ich  nicht  in 
genau  dieser  Zusammensetzung  von  Seelen-Elementen;  aber 
die  Seelen-Elemente  meines  Karmas  existierten. 

Dies  ist  die  buddhistische  Lehre,  und  das  ist  auch  Goethes 
Ansicht  über  die  Seele.  Die  Worte,  welche  unsere  Gedanken, 
den  wesentlichen  Teil  unserer  selbst,  zum  Ausdruck  bringen, 
wurden  schon  vor  Millionen  von  Jahren  ausgesprochen  und 
sind  seitdem  angewandt  worden  unter  nicht  wahrnehmbaren 
Veränderungen  in  Aussprache,  Grammatik  und  Konstruktion, 
bis  sie  sich  wieder  in  dem  System  unseres  Geistes  inkarniert 
haben.  Aber  nicht  nur  unsere  Sprache  existierte  vor  uns,  son- 
dern auch  unsere  Gwohnheiten  im  täglichen  Leben,  unsere 
Lebensweise,  unser  Lieben  und  Hassen,  unsere  Sitten,  unsere 
Hoffnungen  und  unsere  Anstrengungen.     Goethe  sagt: 

„Wenn  Kindesblick  begierig  schaut. 
Er  findet  des  Vaters  Haus  gebaut; 
Und  wenn  das  Ohr  sich  erst  vertraut, 
Ihm  tönt  der  Muttersprache  Laut; 
Gewahrt  er  dies  und  jenes  nah, 
Man  fabelt  ihm,  was  fern  geschah, 


204  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Umsittigt  ihn,  wächst  er  heran: 

Er  findet  eben  alles  getan; 

Man  rühmt  ihm  dies,  man  preist  ihm  das: 

Er  wäre  gar  gern  auch  etwas. 

Wie  er  soll  wirken,  schaffen,  lieben, 

Das  steht  ja  alles  schon  geschrieben 

Und,  was  noch  schlimmer  ist,  gedruckt. 

Da  steht  der  junge  Mensch  verdiickt, 

Und  endlich  wird  ihm  offenbar: 

Er  sei  nur,  was  ein  and'rer  war."  — 

(Fortsetzung  folgt.) 

Die 

Transmigration  oder  Wiedergeburt. 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

Sprecht  nicht,  ,ich  bin',  ,ich  war',  ,ich  werde  sein', 

Denkt  nicht,  ihr  wechseltet  des  Leibes  Haus, 

Wie  Wandrer,  wohl  beherbergt  oder  schlimm, 

Vergessend  zieh'n  hinaus. 

Zu  neuem  Kreislauf  geht  ins  All  der  Rest 

Des  letzen  Lebens. 

Die  Leuchte  Asiens,  8.  Buch. 

Abgesehen  von  der  sehr  schwierigen  Frage  nach  der  wahren 
Bedeutung  des  Wortes  »Nibbäna«,  welche  ich  im  vorigen  Auf- 
satze ein  wenig  aufzuhellen  versucht  habe,  ist  zweifellos  für 
abendländische  Schüler  unserer  buddhistischen  Religion  am 
schwersten  begreiflich  und  am  leichtesten  misszuverstehen  jene 
Lehre,  für  die  wir  gezwungen  sind,  einen  besseren  Ausdruck 
zu  wünschen,  als  das  allgemein  gebräuchliche,  aber  sehr  unzu- 
längliche Wort  »Transmigration«  oder  »Wiedergeburt«, 
—  die  Übertragung  des  Kamma  oder  Handelns,  das  Über- 
gehen der  Sankhäras  oder  Strebungen,  der  Übergang  des 
Charakters  oder  Schicksals  von  einem  Wesen  auf  das 
andere  im  Augenblick  des  Todes  resp.  der  Geburt.  Diese 
Lehre  ist  ein  solcher  Stein  des  Anstosses  für  westliche  Geister 
gewesen,  dass  diejenigen,  welche  sie  überhaupt  nicht  verstehen, 
in  ihr  einen  Beweis   dafür  erblickt  haben,   dass   der  Buddha 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  205 

eine  Lehre  verkündet  haben  soll,  welche  er  von  allen  Lehren 
am  entschiedensten  verneinte:  nämlich  die  Existenz  eines  ge- 
trennten unsterblichen  Seelcnwescns  im  Menschen,  welches 
gleich  dem  »Jivätmä«  der  Vedänta-Philosophie,  beim  Tode  aus 
einer  körperlichen  Form  in  eine  andere  wandert,  während  es 
selbst  unverändert  und  ewig  bleibt,  just  so,  wie  ein  Mensch 
eines  Tages  seine  alten  Kleider  ablegt  und  sich  in  ein  neues 
Gewand  hüllt,  dabei  sich  selbst  aber  in  keiner  Weise  ändert. 
—  Andere  Schüler  wieder,  die  zwar  die  buddhistische  Lehre 
besser  verstanden  haben,  dabei  aber  in  das  entgegengesetzte 
Extrem  verfallen  sind,  haben  gemeint,  die  wahre  Ansicht  des 
Meisters  über  diesen  Punkt  sei  folgende  gewesen:  Beim  Tode 
eines  Menschen  vergehe  der  betreffende  Mensch  als  Individuum, 
als  getrennte  Wesenheit  im  Ozean  des  Daseins,  für  immer, 
während  von  seinem  Wirken  nichts  übrig  bleibe,  als  die 
Wirkung,  welche  sein  Leben,  Reden  und  Denken  auf  alle 
seine  Mitmenschen  ausgeübt  habe,  in  der  Weise  etwa,  wie  wir 
dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  gemäss  sagen:  Shakespeare 
ist  unsterblich  und  lebt  noch  unter  uns  insofern,  als  seine 
wunderbaren  Schöpfungen  noch  in  unseren  Herzen  weilen,  un- 
ser Gemüt  begeistern  und  unsere  Handlungen  beeinflussen, 
obwohl  von  der  menschlichen  Persönlichkeit  »Shakespeare«  selbst 
absolut  nichts  mehr  vorhanden  ist. 

In  der  Tat:  den  meisten  westlichen  Geistern  scheint  diese 
buddhistische  Lehre  von  der  Wiedergeburt  entweder  eine  Mysti- 
fikation oder  ein  Paradoxon  zu  sein;  und  es  ist  auch  keines- 
wegs befremdlich,  wenn  die  Leute  zu  dieser  Ansicht  kommen. 
Wir  sind  so  sehr  von  der  individualistischen  Seelen-Theorie 
durchdrungen,  und  diese  nimmt  eine  so  gewichtige  Stellung 
in  unserer  Erziehung  und  in  unseren  vererbten  Anschauungen,  ein, 
dass  es  uns,  wenigstens  bei  der  ersten  Betrachtung,  —  schwer 
fällt,  einer  das  zukünftige  Dasein  betreffenden  Lehre  beizu- 
pflichten, in  welcher  von"  vornherein  das  Vorhandensein  einer 
für  sich  bestehenden  getrennten  Ego-Seele  geleugnet  wird. 
„Wie",  fragt  der  westliche  Schüler  der  Buddhismus,  „wie, 
wenn  es  keine  veränderliche  Ich-Seele  gibt,  keine  dauernde 
Wesenheit,  welche  von  Leben  zu  Leben  wandert,  kein  sich 
rei'nkarnierendes  Ego  oder  Selbst  im  Menschen,  —  wie  können 


206  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

wir  dann  den  Sinn  einer  Lelire  verstehen,  welche  sagt,  dass 
eines  Menschen  Charakter  und  Schici<sal  nur  die  Früchte  seiner 
Gedanlcen,  Worte  und  Handlungen  aus  ungezählten  früheren 
Existenzen  sind?!  Wie  können  wir  mit  einer  solchen  Lehre 
die  Angabe  in  Einklang  bringen,  welche  in  den  heiligen  Schriften 
so  oft  von  unserem  Lehrer  am  Schluss  irgend  einer  Erzählung 
aus  der  Vergangenheit  gemacht  wird,  dass  er  selbst  eine  Per- 
son in  der  betreffenden  Geschichte  war,  und  Änanda  oder  ein 
anderer  Jünger  ebenfalls  eine  Person  gewesen  sei?!  Wie 
können  wir  diese  Doktrin  mit  den  Erzählungen  vereinbaren, 
die  noch  jetzt  in  buddhistischen  Ländern  so  allgemein  ver- 
breitet sind,  Erzählungen  von  Rückerinnerung  an  vergangene 
Lebensläufe  und  deren  bestätigten  Einzelheiten,  oder  mit  der 
Tatsache,  dass  eine  der  buddhistischen  Meditations-Übungen 
den  Zweck  verfolgt,  eben  diese  Fähigkeit  der  Rückerinnerung 
zu  gewinnen,  damit  wir  daraus  die  Lektion  lernen,  dass  diese 
Leben  durch  den  Schleier  der  Geburt  und  des  Todes  vor  uns 
verborgen  sind?!  Wie  kann  dies  alles  sein,  wenn  tatsächhch 
kein  für  sich  bestehendes  Seelenwesen,  kein  separates  Selbst 
vorhanden  ist,  welches  in  ein  anderes  Leben  übergeht,  kein 
Ego,  welches  sich  an  vergangene  Erfahrungen  und  frühere 
Leben  erinnern  kann,  so  wie  wir  auf  die  Szenen  und  Hand- 
lungen aus  den  Tagen  unserer  Kindheit  zurückblicken?!" 

Der  Umstand,  dass  solche  Fragen  überhaupt  aufgeworfen 
werden,  ist,  wie  wir  bereits  sagten,  ein  Beweis  für  die  Macht, 
welche  die  individualistische  Seelen-Theorie  auf  das  mensch- 
liche Gemüt  ausübt.  Wir  sind  nur  zu  gern  geneigt,  alle  un- 
sere Gedanken  und  Handlungen  auf  ein  imaginäres  Selbst 
in  uns  zu  konzentrieren,  so  dass  uns  die  grosse  Lehre  der  bud- 
dhistischen Psychologie  „Dies  ist  nicht  mein,  dies  ist  nicht 
mein  Ich,  dies  bin  ich  nicht,  da  ist  kein  Selbst  darin,"  —  nur 
ein  Paradoxon  zu  sein  scheint,  bis  wir  den  eigentlichen  Sinn 
dieser  Doktrin  begriffen  haben;  und  alle  unsere  hoffnungsfreu- 
digen Vorstellungen  von  dem  zukünftigen  Leben  sind  auf  dies 
Selbst  gegründet  als  auf  ein  Etwas,  das  fortbestehen  wird, 
nachdem  das  Leben,  welches  wir  kennen,  verweht  ist.  So 
stark  ist  tatsächlich  dieser  unser  menschlicher  Durst  nach  Leben, 
dass    die    Idee    eines  unsterblichen  Ich-Prinzipes  in  uns  viel- 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  207 

leicht  das  am  weitesten  verbreitete  Prinzip  religiösen  Glau- 
bens ist,  und  gerade  diese  individualistische  Theorie  von 
einer  Ego-Seele  ist  die  Ursache  des  Kampfes,  welcher  zwischen 
den  geoffenbarten  Religionen  und  der  Wissenschaft  sich  er- 
hoben hat  und  noch  ausgefochten  werden  muss;  denn  die 
Anhänger  der  verschiedenen  Religionen  ausser  dem  Bud- 
dhismus kämpfen  im  Grunde  nur  für  die  Hoffnung  auf  ein 
dem  Menschen  ach  so  teures,  persönliches  Fortleben  nach  dem 
Tode,  während  die  Wissenschaft  Schritt  für  Schritt  durch  klare, 
unumstösslichc  Beweise  eben  diese  „Seele"  in  ihre  verschiedenen 
psychischen  Elemente  zerlegt  und  zu  beweisen  versucht,  dass 
alles,  was  wir  vom  Menschen  kennen,  —  Charakter  und  Gemüt 
sowohl  als  auch  diese  körperliche  Form,  —  zugleich  mit  dem 
Tode  des  Körpers  untergehe  und  beim  Ableben  nichts  zurück- 
lasse, als  nur  eine  wenige  Unzen  vermodernden  Hirn-Stoffes, 
—  von  diesem  ganzen  Menschenleben,  dem  Erben  einer  alters- 
grauen Entwickelung  nur  diesen  armseligen  Staub,  eine  Nahrung 
für  das  Feuer  und  die  Würmer. 

Getreu  seiner  Lehre  vom  Pfade  der  Mitte,  steuert  der 
Buddhismus  seinen  klaren  Weg  zwischen  diesen  beiden  Extre- 
men, indem  er  einerseits  mit  den  heutigen  Psychologen  be- 
hauptet, dass  das,  was  wir  »Seele«  nennen,  nur  eine  Ansamm- 
lung von  innerliclien  Erscheinungen  und  Fähigkeiten,  und  als 
solche  flüchtig  und  vergänglich  wie  alle  phänomenalen  Dinge 
ist;  während  er  andererseits  lehrt,  dass  das  Kamma,  (das 
Wirken)  eines  jeden  individualisierten  Lebens  den  Zerfall  des 
Gemütes,  welches  es  hervorbrachte,  überdauert  und  sich  in 
zahllosen  Leben  weiter  manifestiert,  bis  Nibbänas  Friede  erreicht 
ist;  denn  der  Tod  ist  nur  das  Tor  zu  einer  neuen  Geburt,  und 
die  Geburt  das  Vorspiel  eines  neuen  Sterbens.  Und  es  ist 
gerade  diese  »mittlere  Lehre«,  welche  für  das  in  einer  ande- 
ren Schule  des  Denkens  erzogene  westliche  Gemüt  so  schwer 
zu  begreifen  ist  und  von  ihm  als  wahr  anerkannt  werden  kann. 
Wenn  du  an  eine  getrennte,  lebende  Ego-Seele  glaubst,  an  einen 
„Geist"  oder  Spirit,  welcher  innerhalb  dieser  Wände  von  Fleisch 
verborgen  wohnt,  welcher  beim  Akte  des  Sehens  durch  unsere 
Augen  blickt  und  sich  des  Hirns  bedient,  —  etwa  wie  ein 
Künstler    sich   eines  Klaviers   bedient    oder    wie   ein  Mensch 


208  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

irgend  einen  feinen  Mechanismus  gebraucht,  —  dann  scheint 
es  für  uns  Abendländer  iciar  und  selbstverständlich  zu  sein, 
wenn  wir  von  einem  individuellen,  postmortalen  Weiterleben 
sprechen,  —  denn  es  ist  nach  dieser  Auffassung  gerade  jener 
hypothetische  „Geist",  welcher  den  Körper  beim  Tode  verlässt, 
und  wenn  der  Seher  und  der  Täter  gegangen  ist,  wie  könnte 
da  noch  etwas  Sehendes  oder  Handelndes  im  Körper  vor- 
handen sein?  Und  wenn  wir  andererseits  mit  klarerer  Einsicht 
und  richtigerem  Verständnis  die  Tatsache  begreifen,  dass,  wenn 
wir  von  Vitalität  oder  Leben  sprechen,  welches  getrennt  von 
diesem  ganzen  organisierten  körperlichen  Mechanismus  wäre, 
dies  dasselbe  sein  würde,  als  wenn  wir  —  nach  dem  Ausspruch 
eines  grossen  Gelehrten  —  einen  besonderen  Uhr-Geist  oder  eine 
für  sich  bestehende  Uhr-Seele  annähmen,  um  uns  das  Gehen 
einer  Uhr  verständlich  zu  machen  %  dann  will  es  uns  scheinen, 
als  ob  es  eitel  sei,  von  einem  Weiterleben  in  irgend  einer  Form 
zu  sprechen,  wenn  der  körperliche  Mechanismus  abgelaufen  ist 
und  alle  seine  Funktionen  beim  Eintritt  des  Todes  zum  Still- 
stand gekommen  sind;  denn  welche  Kraft  soll  die  Atome  eines 
Tautropfens  wieder  zusammenfügen,  wenn  die  Strahlen  der 
aufgehenden  Sonne  diese  Teile  des  Tropfens  aufgesaugt  und 
mit  der  Morgenluft  vermischt  haben? 

So  scheint  die  buddhistische  Theorie  den  Animisten 
und  den  Gelehrten  in  gleicher  Weise  befremdlich  zu  sein;  den 
einen,  weil  sie  die  Existenz  eines  j^etrennten  unsterblichen 
Seelenwesens  leugnet,  den  anderen,  weil  sie  behauptet,  dass 
die  Kräfte  eines  Lebens  noch,  zusammenhalten  und  fortbestehen, 
nachdem  der  Tod  den  Mechanismus  zerbrochen  hat,  in  dem 
sie  sich  manifestierten,  und  nachdem  die  Winde  alle  Teilchen, 
die  einst  den  lebenden  Organismus  bildeten,  weit  über  Land 
und  Meer  verweht  haben. 

„Na  ca  so,  na  ca  aüno",  —  „es  ist  nicht  derselbe 
und  ist  nicht  ein  anderer",  --  dies  ist  die  buddhistische 
Anschauung  von  der  Art  der  fortdauernden  Identität  zwischen 
dem  Menschen,  der  jetzt  eben  starb,  und  dem  U'esen,  welches 


')  So  haben  häufig  Neger,  denen  man  zum  ersten  Male  eine  Uhr 
zeigte,  tatsächlich  geglaubt,  das  in  der  Uhr  ein  Fetisch  oder  Geist  hause. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  209 

in. dem  Augenblick,  da  jener  starb,  in  dieser  oder  einer  anderen 
Welt*)  in  die  Ersciieinung  tritt.  Der  erste  Teil  dieser  bud- 
dhistischen Erklärung  mit  seiner  Leugnung  einer  persönlichen 
Identität  der  beiden  Wesen  scheint  dem  Animisten  unmöglich 
zu  sein ;  und  der  zweite  Teil  mit  seiner  Behauptung  einer  fort- 
laufenden Individualität  (oder  besser:  individuellen  Daseins-Ten- 
denz) wird  wiederum  von  den  Psychologen  schwerlich  akzeptiert 
werden  können.  Wir  wollen  nun  diese  beiden  Positionen  vom 
buddhistischen  Standpunkte  aus  mit  einander  vergleichen  und 
untersuchen,  ob  zwischen  ihnen  irgend  eine  Vermittlung 
möglich  ist.  (Fortsetzung  folgt). 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(4.  Fortsetzung.) 

Umgeben  von  diesen  Schwierigkeiten  und  entgegengesetzten 
Ansichten  wollen  wir  unsere  Aufmerksamkeit  darauf  richten, 
wie  gross  die  Ähnlichkeit  ist  zwischen  der  buddhistischen 
Nirväna-Idee  und  der  christlichen  Hoffnung  auf  den  Himmel. 
Es  ist  oft  darauf  hingewiesen  worden,  dass  viele  Stellen  in 
den  heiligen  Büchern  der  Buddhisten  durchaus  verständlich 
sein  würden,  wenn  wir  das  Wort  »Nirväna«  durch  »Himmel« 
ersetzten.  Das  würde  in  einer  Hinsicht  freilich  ausserordentlich 
irreführend  sein ;  denn  die  Christen  neigen  der  Vorstellung  zu, 
dass  im  Himmel  die  Persönlichkeit  der  Seele  als  eine  getrennte, 
geheimnisvolle  Wesenheit  aufbewahrt  wird.  Die  christliche 
Auferstehungs-Hoffnung  verlangt  nach  einer  Erhaltung  des  Ego, 
nicht  des  Geistes.  Und  in  diesem  Punkte  ist  der  Buddhis- 
mus gänzlich  verschieden  vom  Christentum.  Der  Buddha 
leugnet  das  Vorhandensein  irgend  eines  Seelen-Substratums 
oder  Ego-Wesens;  er  verwirft  die  alte  brahmanische  Lehre 
vom   »Ätman«  oder  »Selbst«,   welches   als   die   metaphysische 


')  Für  »Welt«  könnte  man  auch  »Zustand«  sagen.  Jedem  subjek- 
tiven Zustand  des  Gemütes  entspricht  eine  bestimmte  objektive  Er- 
scheinungswelt. 

14 


210  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Grundlage  der  menschlichen  Empfindungen,  Gedanken  und 
Willensregungen  vorgestellt  wird.  Während  nun  auf  der  einen 
Seite  ein  grosser  Unterschied  ist  zwischen  den  Begriffen  »Nir- 
väna«  und  »Himmel«,  besteht  andererseits  eine  grosse  Ähn- 
lichkeit zwischen  ihnen,  und  zwar  nicht  nur  hinsichtlich  alle- 
gorischer Ausdrücke  und  Beschreibungen  seitens  der  Mystiker, 
sondern  auch  hinsichtlich  des  Versuches,  das  Wesen  der  beiden 
Begriffe  durch  genaue  Ausdrücke  wiederzugeben.  Es  sind  im 
Neuen  Testament  verschiedene  Stellen  vorhanden,  deren  jede 
einzelne  sehr  deutlich  zeigt,  dass  das  letzte  Ziel  der  Mission 
Christi  die  Auslöschung  der  Persönlichkeit  war;  denn  es 
heisst,  „dass  Gott  wird  sein  alles  in  allem"  (1.  Kor.  XV,  28), 
und  dieses  letzte  Ziel  wird  charakterisiert  in  den  Worten:  „Es 
bleibet  also  eine  Ruhe  für  das  Volk  Gottes  übrig"  (Hebr.  IV,  9). 
Indem  der  Apostel  diese  Ruhe  mit  einem  grossen  Sabbath 
vergleicht,  sagt  er:  „Denn  wer  in  seine  Ruhe  eingegangen  ist, 
der  ist  auch  zur  Ruhe  gelangt  von  seinen  Werken,  gleichwie 
Gott  von  seinen  eigenen;  lasst  uns  nun  danach  trachten,  in 
jene  Ruhe  einzugehen."      Und  Jesus   spricht  selbst:     „Nehmet 

auf  euch  mein  Joch so  werdet  ihr  Ruhe  finden  für  eure 

Seelen."  Angesichts  dieser  Stellen  können  wir  kaum  behaupten, 
dass  der  Christianismus  den  Himmel  als  eine  Örtlichkeit 
auffasst,  und  wenn  wir  versuchen,  positiv  auszudrücken,  was 
die  christlich-orthodoxe  Auffassung  in  Wirklichkeit  ist,  so  wer- 
den wir  uns  bald  in  ebenso  verwickelten  historisch-philologi- 
schen Problemen  befinden,  wie  unsere  Päli-Gelehrten  in  ihrer 
Definition  von  Nirväna.  Als  christliche  Missionare  in  Tibet 
einige  christlichen  Bilder  von  Jesus  und  biblische  Geschichten 
entdeckten,  da  entwickelte  der  Lama  ihnen  seine  Ansicht  über 
das  Christentum  folgendermassen:*) 

„Das  Christentum  liefert  keine  endgültige  Erlösung.  Nach  den 
Prinzipien  Ihrer  Religion  werden  die  Frommen  mit  einer  Wiedergeburt 
unter  den  Dienern  des  höchsten  Gottes  belohnt,  wo  sie  verpflichtet  sind, 
eine  Ewigkeit  damit  zu  verbringen,  Hymnen,  Psalmen  zu  singen  und  Ge- 
bete zu  seiner  Verherrlichung  zu  verrichten.  Solche  Wesen  sind  natürlich 
noch  nicht  von  der  Wiedergeburt  befreit;  denn  wer  garantiert  dafür,  dass 
sie  infolge  Nachlassens  in  der  ihnen  übertragenen  Pflicht  aus  der  Welt,  in 


')  Vergl.  Schlagintweit's  »Buddhism  in  Tibet«  S.  99, 


No.  7,  DER  BUDDHIST.  2il 

der  Gott  residiert,   nicht  ausgetrieben  und   zur  Strafe  in  den  Welten  der 
Nichtswürdigen  wiedergeboren  werden?!" 

Schlagintweit  fügt  hinzu:  „Der  Lama  muss  von  der  Aus- 
treibung der  bösen  Engel  aus  dem  Himmel  gehört  haben." 

Diese  lamaistische  falsche  Vorstellung  vom  christlichen 
Himmel  scheint  dem  christlichen  Missverständnis  über  Nirväna 
analog  zu  sein;  beide  Missverständnisse  sind  in  gleicher  Weise 
entschuldbar. 

Schlagintweit  sagt,  „der  genuine  Buddhismus  lehne  die 
Idee  ab,  dass  dem  Nirväna  eine  besondere  Örtlichkeit  zukomme", 
und  Nägasena  spricht  zum  König  Milinda:  „Nirväna  ist 
dort,  wo  immer  die  Gebote  gehalten  werden,  ganz 
einerlei,  an  welchem  Orte."  Wenn  man  diese  Stellen  mit 
der  Lehre  Jesu  vergleicht,  welcher  sagt:  „Das  Reich  Gottes 
ist  in  euch",  so  brauchen  wir  uns  nicht  zu  verwundern,  wenn 
einige  mystische  Lamas  in  Tibet  erklären,  dass,  wenn  die 
christliche  Lehre  vom  Himmel  nach  Jesu  eigenen  Worten  rein 
innerlich  sei  und  nicht  auch  die  positive  Existenz  irgendwo  im 
Räume  einschliesse,  die  christliche  Lehre  ein  äusserst  trostloser 
Nihilismus  genannt  werden  müsse. 

Schlagintweit  meint:  „Die  heiligen  buddhistischen  Schriften 
erklären  bei  jeder  Gelegenheit,  es  sei  unmöglich,  positiv  die 
Eigenschaften  und  Eigentümlichkeiten  Nirvänas  zu  definieren." 
Ein  tibetanischer  buddhistischer  Gelehrter  könnte  seinen  Lands- 
leuten genau  dasselbe  sagen,  wenn  er  den  christlichen  Begriff 
»Himmel«  erläutert. 

Wenn  wir  nach  christlichen  Ausdrücken  für  »Himmel« 
suchen,  welche  den  buddhistischen  Prädikaten  von  Nirväna 
ähnlich  sind,  so  finden  wir  eine  reiche  Fülle  solcher  Bezeich- 
nungen, namentlich  in  den  Schriften  der  Mystiker.  Wer  der 
philosophischen  Spekulation  zuneigt,  wird  die  grosse  Ähnlich- 
keit in  der  sogenannten  negativen  Formulierung  zugeben 
müssen:  Der  Himmel  wird  ebenso  wie  Nirväna  als  die 
gänzliche  Veriöschung  des  Selbstes  gepriesen;  das  Selbst 
vergeht  in  der  Allgegenwart  Gottes  und  erscheint  höchstens 
wieder  als  der  verklärte  Banner-Träger  des  Gesetzes  der  Ge- 
rechtigkeit. 


212  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Ob  nun  diese  Anschauung  als  Nihilismus  zu  betrachten 
ist  oder  nicht,  das  sollte  nach  der  Natur  der  Sittenlehren 
beurteilt  werden,  die  aus  derselben  entspringen.  Wenn  man 
die  buddhistische  Sittenlehre  als  Quietismus  charakterisiert, 
dann  kann  man  die  Doktrin  des  Buddhismus  natürlich  auch 
nihilistisch  nennen.  Wir  finden  nun,  dass  dieselben  Ein- 
wände, welche  heute  von  westlichen  Geistern  gegen  den  Bud- 
dhismus erhoben  werden,  auch  in  alter  Zeit  von  jenen  erhoben 
wurden,  welche  in  der  Schule  des  Brahmanismus  erzogen 
waren.  Da  ist  eine  Stelle  im  Mahävagga,  in  weicher  der 
Buddha  sehr  ausführlich  seine  Ansicht  über  Handeln  und 
Nicht-handeln  auseinandersetzt.  Er  gibt  zu,  dass  er  eine 
gewisse  Art  des  Quietismus  lehre,  aber  er  leugnet 
ganz  entschieden,  dass  dies  ein  Quietismus  der  Träg- 
heit und  Untätigkeit  sei.   Wir  lesen  in  Mahävagga  VI,  31,  4: 

„Siha,  der  Feldherr  sprach  zu  dem  Erhabenen:  ,Ich  habe 
gehört,  o  Herr,  dass  der  Asket  Gotama  die  Folgen  des  Handelns 
leugnet,  dass  er  Nichthandcln  lehrt  und  in  dieser  Lehre  seine 
Jünger  erzieht.  Ich  bitte  dich,  Herr,  sage  mir,  sprechen  die, 
welche  so  reden,  die  Wahrheit,  oder  legen  sie  falsches  Zeug- 
nis ab  wider  den  Erhabenen  und  geben  einen  unechten 
Dhamma  für  seine  Religion  aus?'" 

Der  Buddha  gibt  folgendes  zur  Antwort: 

„Einerseits,  Siha,  ist  es  richtig,  wenn  man  von  mir  be- 
hauptet: ,Der  Asket  Gotama  verleugnet  das  Handeln,  er  lehrt 
das  Nichthandeln  und  erzieht  seine  Jünger  in  dieser  Lehre.' 
Und  andererseits,  Siha,  ist  es  richtig,  wenn  man  von  mir  be- 
hauptet: ,Der  Asket  Gotama  betont  das  Handeln,  er  lehrt  das 
Handeln  und  erzieht  seine  Jünger  in  dieser  Lehre.' 

„Und  in  welcher  Weise,  Siha,  ist  es  richtig,  wenn  man 
von  mir  behauptet:  ,Der  Asket  Gotama  verleugnet  das  Handeln, 
er  lehrt  das  Nichthandeln  und  erzieht  seine  Jünger  in  dieser 
Lehre?'  Ich  lehre,  Siha,  das  Nichttun  solcher  Handlungen,  die 
ungerecht  sind  in  Taten,  Worten  und  Gedanken;  ich  lehre  das 
Nichthervorbringen  der  mannigfaltigen  Zustände  des  Gemütes, 
welche  schlecht  sind  und  nicht  gut.  In  dieser  Weise,  Stha, 
ist  es  richtig,  wenn  man  von  mir  behauptet:    ,Der  Asket  Go- 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  ^\3 

tama  verleugnet  das  Handeln,   er   lehrt  das  Nichthandeln   und 
erzieht  seine  Jünger  in  dieser  Lehre.'" 

„Und  in  welcher  Weise,  Siha,  ist  es  richtig,  wenn  man 
von  mir  behauptet:  ,Der  Asket  Gotama  betont  das  Handeln, 
er  lehrt  das  Handeln  und  erzieht  seine  Jünger  in  dieser  Lehre?' 
Ich  lehre,  Stha,  das  Tun  solcher  Handlungen,  welche  gerecht 
sind  in  Taten,  Worten  und  Gedanken;  ich  lehre  das  Hervor- 
bringen der  mannigfaltigen  Zustände  des  Gemütes,  welche  gut 
sind  und  nicht  schlecht.  In  dieser  Weise,  Siha,  ist  es  richtig, 
wenn  man  von  mir  behauptet:  ,Der  Asket  Gotama  betont  das 
Handeln,  er  lehrt  das  Handeln  und  erzieht  seine  Jünger  in 
dieser  Lehre.'" 

In  demselben  Buche  erklärt  der  Buddha  seine  Lehre  von 
der  Vernichtung  und  Nichtigkeit  nicht  als  eine  absolute  Ver- 
nichtung, sondern  als  eine  Ausrottung  der  Sünde  und  des 
menschlichen  Veriangens  nach  der  Sünde.     Der  Meister  spricht: 

„Ich  verkünde,  Siha,  die  Vernichtung  von  Begierde,  Hass 
und  Wahn;  ich  halte  dafür,  Siha,  dass  unrechte  Handlungen 
verächtlich  seien.  Wer  sich,  Siha,  befreit  hat  von  allen  Zu- 
ständen des  Gemütes,  welche  schlecht  sind  und  nicht  gut, 
welche  vertilgt  werden  müssen;  wer  sie  ausgerottet  und  be- 
seitigt hat,  gleichwie  man  einen  Palmstumpf  ausrodet,  so  dass 
sie  vernichtet  sind  und  nicht  wieder  emporwuchern  können, — 
den  nenne  ich  einen  im  Tapas^)  vollkommenen  Menschen." 

Weit  entfernt  davon,  einen  Quietismus  zu  proklamieren, 
tragen  die  Reden,  Gleichnisse  und  Sentenzen  des  Buddha  viel- 
mehr im  Überfluss  die  Ermahnungen  zu  unermüdlichem,  ener- 
gischem Handeln.  Wir  lesen  im  Dhammapada:  „Wer  sich 
nicht  aufrafft,  wenn  es  Zeit  ist  zum  Aufraffen,  wer,  obwohl 
jung  und  kräftig,  voll  Trägheit  ist,  wessen  Wille  und  Gedanken 
schwach  sind,  ein  solcher  träger  und  fauler  Mensch  wird 
nimmer  den  Pfad  zur  Weisheit  finden.  Wenn  etwas  zu  tun 
ist,  so  soll  der  Mensch  es  tun;  kräftig  soll  er  es  anfassen."') 
*»99«66»  (Schluss  folgt.) 

')  Die  wörtliche  Bedeutung  ist  »Brennen«;  es  bedeutet  Selbstpeini- 
gung. Der  Buddha  verwirft  Selbsiabtötung  und  setzt  an  dessen  Stelle 
die  Ausrottung  alles  sündigen  Begehrens. 

■')  Vergl.  auch  das  Utthäna-Sutta  im  diesjährigen  Juni -Heft  des 
»Buddhist«  (S.  94). 


214  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Warum  ich  Buddhist  wurde/) 

Von  A.  E.  Buultjens. 

Mit  Ihrer  Erlaubnis,  meine  Freunde,  will  ich  den  Gegen- 
stand meiner  heutigen  Ausführungen  unter  zwei  Hauptgesichts- 
punkten betrachten,  indem  ich  folgende  zwei  Fragen  beantworte: 
Erstens,  warum  ich,  obwohl  von  christlichen  Eltern  stammend 
und  christlich  erzogen,  dennoch  meinen  christlichen  Glauben 
aufgab;  zweitens,  warum  ich  gerade  ein  Buddhist  wurde, 
und  nicht  etwa  ein  Mohammedaner  oder  ein  Hindu. 

Der    erste   Teil   meiner  Vorlesung  könnte    beinahe   meine 
Biographie    oder    besser    meine    Autobiographie    von    meiner 
frühesten  Kindheit  bis  zu  meinem  zwanzigsten  Lebensjahr  sein. 
Ich  wurde  bei  christlichen  Eltern  geboren  inmitten  einer  christ- 
lichen Umgebung,   inmitten   christlicher   Einflüsse   und   Gesell- 
schaften.   Zu    jener    Zeit    gliederten    sich     die    Christen    von 
Matara,   etwa  400  an  der  Zahl,   in  vier  Zweige:    in   römische 
Katholiken,  in  Presbyterianer  oder  Anhänger  der  Holländischen 
reformierten  Kirche,  in  Wesleyaner  und  in  Anhänger  der  Kirche 
von  England.    Meine  Mutter  war  Presbyterianerin  und   mein 
Vater  eine  Stütze  der  dortigen  englischen  Kirche.    Als  ich  un- 
gefähr ein  Jahr  alt  war,  wurde  ich,  wie  mir  berichtet  wird,  von 
einem   eifrig  darauf  ausgehenden  Kreise  von  Verwandten  und 
Freunden  regelrecht  in  die  englische  Kirche  aufgenommen  und 
der  liebevollen  Gnade  Seiner  Hochwürden,  des  Herrn  Abraham 
Dias  übergeben,  eines  Herrn,   welcher  nach  seiner  Nationalität 
zwar  Singhalese  ist,  sich  aber  trotzdem  eines  hebräischen  und 
portugiesischen   Namens  erfreut.     Es    ist    mir  erzählt  worden, 
dass   ich   aus   seiner  Hand   rite  die   Tauf-Ceremonie   erhalten 
habe,   —   ein   Kreuzzeichen   mit  Wasser   auf   meine   kindliche 
Stirn,   und   so  war   ich  mit  dem  Amtssiegel  oder  vielmehr  mit 
dem  heiligen  Zeichen  eines  Christen  versehen.   Die  Überlieferung 
sagt  nichts  davon,  ob  ich  mich  gegen  diese  Behandlung  durch 
kindliches  Sträuben  und  Schlagen  wehrte,   aber  ich    neige  der 


')  Eine  Vorlesung,  gehalten  am  25.  März  1899  zu  Colombo  im  Haupt- 
quartier der  Young  Men's  Buddhist  Association. 


No.  7.  DER  BUDDHISt.  ^iS 

Ansicht  zu,   dass  ich  durch  fortgesetztes  Schreien  und  Heulen 
dagegen  protestiert  habe. 

Bis  zu  meinem  vierzehnten  Jahre  befand  ich  mich  haupt- 
sächlich unter  der  Aufsicht  des  ersten  Schui-Inspei<tors,  Herrn 
R.  H.  Leembruggen  und  des  Rev.  J.  Stevenson  Lyle.  Ich  er- 
wähne diesen  Einfiuss  auf  mein  jugendliches  Leben,  weil  die 
Eindrüci<e,  weiche  wir  in  jenem  zarten  Alter  empfangen,  uns 
oft  durch  unser  ganzes  Leben  folgen;  das  Kind  ist  nicht  selten 
der  Vater  des  Mannes.  Herr  Leembruggen  nun  war  kein 
Kirchengänger,  und  er  wurde  in  den  damaligen  familiären 
Äusserungen  häufig  als  erklärter  Freidenker  und  Agnostiker 
bezeichnet.  Ich  muss  aber  sagen,  dass  er  Kindern  gegenüber 
niemals  abfällig  über  die  Kirche  gesprochen  hat,  vielmehr  hat 
sein  persönliches  Beispiel  einen  grossen  Einfiuss  auf  mich  aus- 
geübt; —  denn  alle  Schulkinder  blickten  zu  ihm  in  grösster 
Ehrerbietung  und  Hochachtung  empor  und  hielten  ihn  für  einen 
Mann,  der  genau  auf  Zucht  und  Ordnung  hält.  Von  meinem 
anderen  Gönner,  „Vater  Lyle",  wie  er  allgemein  genannt  wurde, 
kann  ich  berichten,  dass  er  ein  strenger  Hochkirchler  oder 
Ritualist  war,  und  während  der  sechs  Monate,  während  derer 
ich  in  seinem  Hause  weilte,  prägte  er  meinem  Geiste  ein,  wie 
ausserordentlich  wichtig  es  sei,  pünktlich  der  Ordnung  in  den 
allgemeinen  Gebetbüchern  zu  folgen,  an  Feiertagen  zu  fasten 
und  in  seiner  privaten  Kapelle  pflichtschuldigst  und  aufmerk- 
sam den  Frühmessen  und  Abendandachten  beizuwohnen.  Er 
war  mit  meinen  Fortschritten  so  zufrieden,  dass  er  mich  am 
Prüfungstage  mit  einem  »allgemeinen  Gebetbuche«  und  einer 
»Nachfolge  Christi«  beschenkte.  „Vater  Lyle"  war  ein  Mann 
von  strengen  Grundsätzen,  dabei  aber  etwas  heftig.  Er  liebte 
ein  Leben  der  Selbstverleugnung  und  Selbstaufopferung.  Man 
argwöhnte  damals,  dass  er  ein  jesuitischer  Agent  des  römischen 
Papstes  sei.  Es  erhob  sich  ein  grosser  Streit  in  der  Diöcesan- 
Zeitung  zwischen  der  Hochkirche  und  den  nicht-hochkirchlichen 
Parteien.  Mein  Väter  war  ein  entschiedener  Gegner  von  den 
brennenden  Kerzen,  den  Hostien  und  anderen  Neuerungen  des 
„Vater  Lyle"  und  der  hochkirchlichen  Gruppe.  Die  Gegen- 
partei pflegte  in  der  Dienstwohnung  meines  Vaters  zusammen- 
zukommen,  um   zu   diskutieren    und   für  die  Diöcesan-Zeitung 


216  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Angriffe  gegen  die  Ritualisten  zu  verfassen.  Ich  hörte  als 
Knabe  in  einer  Ecke  des  Zimmer  schweigend  diesen  Streite- 
reien zu,  und  der  Lärm  einer  Kirche,  die  mit  sich  selbst  uneins 
wird,  muss  einen  ausserordentlich  „aufbauenden"  Einfluss 
auf  mein  Gemüt  ausgeübt  haben!  Kurze  Zeit  darauf  schied 
Vater  Lyle  aus  seiner  Dienstpflicht  gegenüber  dem  Bischof 
von  Colombo  und  der  englischen  Kirche  und  trat  zur  römisch- 
katholischen Kirche  über.  Mit  Vater  Lyle  vollzogen  noch  Vater 
Ogilvie  und  Vater  Duthy  ihren  Übertritt  zur  Kirche  von  Rom. 
Wenn  ich  mir  heute  die  Zahl  der  Geistlichen  vergegenwärtige, 
welche  mit  halfen,  meinen  Geist  zu  bilden,  so  bin  ich  ver- 
wundert darüber,  dass  ich  jetzt  nicht  auf  einer  Kirchen-Kanzel 
stehe,  um  den  Glauben  der  Kirche  zu  verteidigen. 

Zusammen  mit  Vater  Lyle  hatte  mich  Rev.  William  Henley 
in  seine  Obhut  genommen.  Religion  lehrte  er  mich  wenig; 
aber  ich  bin  ihm  dankbar  für  die  Fortschritte,  die  ich  unter 
seiner  Leitung  in  lateinischer  Grammatik  und  im  Schachspiel 
machte. 

Von  meinem  vierzehnten   bis   neunzehnten  Jahre  verweilte 
ich  im  Schatten  und  unter  dem  Einfluss  der  St.  Thomas-College- 
Kirche  unter  der  Aufsicht  des  Vorstehers  Rev.  E.  F.  Miller  und 
der   Hilfsvorsteher   Rev.  T.  F.  Faulkner   und    Rev.  H.  Meyrick. 
Abgesehen   von   dem  Unterricht  in  den  Gegenständen,  die  für 
die    Callcutta- Cambridge -Local- Prüfungen    erforderlich    sind, 
wurden  wir  während  dieser  sechs  Jahre  sorfältig  in  der  intel- 
lektuellen Kenntnis  des  allgemeinen  Gebetbuches  und  verschie- 
dener   biblischer   Bücher    des    alten    und   neuen  Testamentes 
gedrillt,  sowie  in  der  Bekanntschaft  mit  den  Kommentaren  und 
dem  griechischen  Urtext  des  Evangeliums.     Ich  widmete  mich 
mit  Fleiss   diesen  Studien   und    machte   so   grose   Fortschritte, 
dass  ich  im  ersten  Jahre  alle  Anforderungen  in  der  Prüfung  für 
die  gesamte    höhere  Schule    übertraf    und    den    vielbegehrten 
„Bischofs -Preis  für   Gottesgelehrtheit"    erhielt.     Im   folgenden 
Jahre  erhielt  ich   trotz  der  Mitbewerbung   der  höchsten   oder 
College-Klasse   abermals  den  Bischofs-Preis.    Während  dieser 
ganzen  sechs  Jahre  war  jeder  Zögling  nach  den  für  die  Zög- 
linge des  Colleges  gültigen  Satzungen  verpflichtet,  die  Anstalts- 
Kirche   jeden   Tag   am   Morgen    und   am  Abend  zu  besuchen. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  217 

Ich  hatte  bereits  drei  Jahre  vorher,  1884  —  ein  wichtiges  Jahr 
in  meinem  Leben  —  die  Konfirmations- Zeremonie  empfangen 
oder  das  Auflegen  der  Hände   des  Bischofs  von  Colombo  auf 
mein  Haupt,    und    damit   war   meine  Aufnahme  als  Glied  der 
englischen  Kirche  bestätigt.     Und  an  dieser  Stelle  will  ich  be-  ] 
tonen,  dass  ich  die  in  meinem  Kindesalter  von  meinen  „Hirten  ' 
und  Lehrern"   an   mir  gewaltsam   vollzogene  Taufe  u.  z.  voll- 
zogen zu  einer  Zeit,   da   ich   vor  dem  Gesetz  noch  unmündig,  { 
also  ein  Kind  war,  in  keiner  Weise  billige.    Ich  erhebe  Anklage  ! 
gegen   eine  solche  Praxis    und    protestiere  dagegen,    weil  sie  ! 
eine  Verletzung  des  Kindcs-Rechts  ist.  — 

Ich  habe  bei  dem  Vorstehenden  etwas  länger  verweilt,  um 
als  Einleitung  die  zurückliegenden  Bedingungen  und  Umstände 
zu  schildern,  welche  mich  schliesslich  zu  dem  Standpunkt  ge- 
führt haben,  den  ich  einnahm,  als  ich  meinen  christlichen 
Glauben  aufgab.  Im  St.  Thomas-College  selbst  war  es,  wo 
ich  den  ersten  Wink  erhielt,  wo  der  erste  Zweifel  an  der 
Wahrheit  des  Christentums  —  wenn  auch  nur  vorübergehend 
—  an  mich  herantrat.  Einem  Buche,  welches  ich  in  der 
Bücherei  des  St.  Thomas-Colleges  vorfand,  habe  ich  den  ersten 
Leisen  Argwohn  zu  verdanken,  dass  das,  was  die  Geistlichen 
sagen,  und  was  die  Kirche  lehrt,  denn  doch  recht  fragwürdig 
_SeL_  Durch  die  Lektüre  dieses  Buches  erhielt  mein  Glaube 
an  die  Schöpfung  und  an  den  Schöpfer  den  ersten  Stoss. 
Die  eigentliche  Grundlage  der  auf  den  „Glauben"  fundierten 
Religion  wurde  äusserst  erschüttert  durch  die  wuchtigen  Argu- 
mente, welche  in  dem  materialistischen  Werke,  von  dem  ich 
spreche,  enthalten  waren;  gemeint  ist  Dr.  Ludwig  Büchners 
»Kraft  und  Stoff«.  Das  Buch  befand  sich  auf  den  moderigen, 
staubigen  Brettern  der  College-Bücherei  und  wurde  mir  von 
einem  älteren  Kommilitonen,  Herrn  J.  R.  Molligodda,  gegeben, 
welcher  später  als  ein  angesehener,  mild-denkender  Rechtsge- 
lehrter sich  in  Kegalle  niedergelassen  hat.  Wir  disputierten 
lange  über  die  atheistische  und  deistische  Weltan- 
schauung. Ich  war  ein  Verfechter  des  Deismus,  aber  mein 
Gegner  war  immer  mit  ruhigen,  sachlichen  Widerlegungen 
und  Argumenten  bei  der  Hand.  Damals  war  ich  neunzehn 
Jahre  alt  und  dem  Autoritäten -Zwang  abhold,  sowie  geneigt. 


218  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

gegen  das  zu  opponieren,  was  die  Menschen  allgemein  auf 
Treu  und  Glauben  blindlings  als  Evangelium  annehmen.  Wenn 
ich  heute  meinen  geistigen  Standpunkt,  den  ich  zwischen 
meinem  19.  und  21.  Lebensjahre  einnahm,  analysieren  soll,  so 
muss  ich  behaupten,  dass  ich  damals  noch  ein  Christ  war; 
aber  ich  entfernte  mich  allmählich,  oder  soll  ich  sagen,  ich 
schritt  allmählich  vorwärts  vom  Christentum  dem  Materialis- 
mus zu. 

Im  Jahre  1884  ging  ich  nach  England  und  bezog  das 
St.  John's  College  der  Universität  Cambridge  für  vier  Jahre. 
Während  dieser  ganzen  Zeit  nun  kam  ich  hier  mit  Vertretern 
der  verschiedensten  Schattierungen  und  Richtungen  zusammen: 
mit  ergebenen,  strengen  Kirchengläubigen,  mit  unreifen  Theo- 
logen, die  ihren  wilden  Hafer  aussäten,  während  sie  sich  für 
den  theologischen  Dreifuss  vorbereiteten,  um  einst  flügge  Diener 
des  Wortes  Gottes  zu  werden;  dann  begegnete  ich  auch 
Studenten  der  Theologie,  welche  gelehrt  worden  waren,  dass 
die  Bibel  nicht  ein  wörtlich  inspiriertes  Buch,  sondern  ein  ge- 
schichtliches Werk  der  Israeliten  sei:  Dies  letztere  war  die 
fortschrittliche  Richtung  der  Kirche,  welche  ihre  Front  gewech- 
selt hatte,  um  den  Angriffen  der  Agnostiker  und  Freidenker 
begegnen  zu  können.  Ich  verkehrte  auch  mit  einer  ausgewähl- 
ten Schar  von  Engländern,  die  überzeugte  Agnostiker  und 
Bewunderer  von  Huxley  und  Bradlaugh  waren.  Der  Streit 
des  ersteren  mit  Gladstone  wogte  damals  hin  und  her,  und 
die  Menschen  beschäftigten  sich  im  Geiste  viel  mit  dem  bibli- 
schen Schöpfungsberichte. 

Ich  hatte  vorzugsweise  physikalische  Geographie  und 
Geologie  gehört;  mein  Geist  war  infolgedessen  geneigt,  die 
Nebular-Theorie  der  Weltbildung  anzunehmen  und  die  christ- 
liche Theorie  der  sechstägigen  Schöpfung  für  immer  aufzugeben. 
Natürlich  erklärten  die  christlichen  Kommentatoren  und  Vertei- 
diger der  biblischen  Erzählung  das  Wort  »Tag«  als  Zeitperiode; 
aber  dies  haben  sie  nur  notgedrungen  und  erst  in  neuerer 
Zeit  tun  müssen,  nachdem  geologische  Gelehrte  den  unan- 
fechtbaren Nachweis  geliefert  hatten,  dass  die  Welt  ihre  heutige 
Gestalt  einer  vorhergegangenen   natürlichen  Entwickelung   von 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  .219 

Millionen  von  Jahren  zu  verdanken  hat.  Das  Studium  der 
Erdschichten,  der  fossilen  Überreste,  der  Meeres-,  Vulkan- 
und  Stromtätigkeit,  durch  welche  die  Erde  allmählich  umgebildet 
wurde,  bis  sie  ihre  heutige  Gestalt  erhielt,  —  dieses  Studium, 
sage  ich,  trägt  viel  dazu  bei,  den  Glauben  an  die  biblische 
Genesis  zu  modifizieren,  wenn  nicht  gänzlich  zu  beseitigen. 
Zugleich  mit  der  Überzeugung,  dass  nicht,  wie  die  Bibel  be- 
richtet, ein  Gott  die  Welt  erschaffen  habe,  gab  ich  allmählich 
die  liebsten  und  am  meisten  gehegten  Ansichten  meiner  Kind- 
heit auf.  Das  bedeutete  für  mich  eine  sehr  ernste  Sache.  Nur 
wer  in  seinem  Gemüte  die  Qualen  des  Kampfes  erfahren  hat, 
welche  der  Mensch  allein  in  der  Stille  ertragen  muss,  wenn  er 
gezwungen  ist,  die  teuersten,  während  vieler  Jahre  im  Busen 
gehegten  Anschauungen  einer  ernsten  Überzeugung  zu  opfern, 
—  nur  der  kennt  die  Pein,  wenn  die  Notwendigkeit  eintritt, 
diese  Anschauungen  aus  Herz  und  Geist  herauszureissen. 
Schritt  für  Schritt  wurde  mein  mir  einst  so  teurer  Glaube  er- 
schüttert. Ich  begann  in  mir  selbst  folgendermassen  zu  argu- 
mentieren: Wenn  die  Welt  von  einem  gnädigen,  unendlichen, 
mit  zartem  Erbarmen  begabten  Wesen  geschaffen  wurde,  — 
warum  schuf  dann  dieses  Wesen  die  Hölle  und  den  Teufel? 
Gott  schafft  alle  Dinge.  Warum  schuf  ein  guter  Gott  Böses? 
Warum  schuf  er  Leid  und  Unglück?  In  allen  fünf  Erdteilen 
sind  die  Hospitäler  angefüllt  mit  Krankheiten  und  ansteckenden 
Seuchen.  Die  Christen  sagen,  dies  sei  eine  Strafe  für  sie. 
Nonsens!  Warum  müssen  blinde,  taube  und  irrsinnige  Kinder 
geboren  werden,  warum  müssen  Missgeburten  mit  fehlenden 
Gliedmassen  das  Leben  erblicken?  Warum  werden  Tausende 
durch  Erdbeben,  Pest  und  Hungersnot  von  einem  gerechten 
Gott  gestraft?  Wenn  Gott  alimächtig  und  allbarmherzig  wäre, 
dann  hätte  er  leicht  eine  Welt  ohne  Teufel,  ohne  Hölle,  ohne 
Leid  schaffen  können.  Aber  ich  vermute,  einige  unwissende 
Menschen  werden  sagen,  dass  der  Teufel  zu  dem  speziellen 
Zweck  gemacht  wurde,  um  die  Mohammedaner,  Hindus, 
Agnostiker  und  Buddhisten  zu  verführen,  und  dass  die  HöUe 
dazu  vorhanden  sei,  damit  jene  hineingeworfen  werden.  Zu 
meinem  Bedauern  muss  ich  konstatieren,  dass  manche  Christen 
bigott  genug   sind,   ein   solches   Urteil   zu   fällen.    Sie  stützen 


220  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sich  auf  die  Stelle  im  neuen  Testament,  welctie  alle  Ungläubigen 
und  Häretiker   zu    ewiger  Verdammnis   in   der  Hölle  verurteilt. 

(Fortsetzung  folgt). 

Aller  Seelen. 

Zwei  Lieder  aus  den  Therigäthä.') 

I. 
Eine  Nonne: 
, Meine  Jtvä!'  also  jammerst  du  im  Walde  — 
Kehre  in  dich  selbst  zurück,  o  Ubbiri  I 
Vierundachtzigtausend,  welche  alle  Jivä  hiessen, 
Hat  man  auf  dem  Friedhofe  verbrannt; 
Welche  ist's,  die  du  beweinst? 

Ubbiri: 
Herausgezogen,  wahrlich,  hast  du  mir  den  Pfeil, 
.-  Den  unsichtbaren,  der  mein  Herz  durchbohrte. 

Da  du  mir,  der  von  wildem  Gram  Verzehrten, 
Den  Schmerz  um  meine  Tochter  mild  entferntest. 
Entrissen  ist  auf  immer  mir  der  Pfeil, 
Frei  bin  ich  nun  von  Fürchten  und  von  Hoffen. 
Buddha  und  seine  Lehre  und  Gemeinde 
Sind  meine  Zuflucht  fernerhin. 

II. 
Patacärä: 

Kennst  du  den  Weg  des  Kommenden, 

kennst  du  den  Weg  des  Gehenden? 
Der  Sohn,  der  aus  der  Nacht  dir  kam, 

was  klagst  um  ihn  du:  ,Ach  mein  Sohn!?' 
Du  kennest  ja  den  steten  Weg 

des  Kommenden,  des  Gehenden, 
Klag'  nicht  und  weine  nicht  um  ihn, 

denn  sieh':  dies  ist  des  Lebens  Los. 
Er  kam  —  nidht  weil  dein  Wunsch  es  war, 

er  ging  —  nicht  fragte  er  um  dich. 
Wohin  enteilte  er  wohl  jetzt 

nach  seinem  flücht'gen  Aufenthalt? 
Von  hier  in  eine  andre  Welt, 

von  dort  wieder  zu  dieser  Welt 
Eilt,  Menschenformen  wechselnd,  der 

Verstorbene  von  Sein  zu  Sein; 
Woher  er  kam  kehrt  er  zurück: 

was  ist  da  zum  Bejammern  Grund?  — 

Die  Trauernde: 

Den  Pfeil  hast  du  entrissen  mir, 

der  ach!  mein  krankes  Herz  durchstach. 


')  Aus  Dr.  Neumanns  »Buddhistische  Anthologie«  S.  217  f. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  221 

Mir,  die  in  heisseni  Weh  verging, 

nahmst  du  den  Schmerz  um  meinen  Sohn. 

Für  immer  ist  entrissen  mir  '■ 

der  Pfeil,  ich  bin  vollendet  nun.  .  ..  ,   ,  ■■ 

Buddha  und  seine  Lehre  und  Gemeinde 
Sind  meine  Zuflucht  fernerhin. 

Die  Tröstungen  der  Religion. 

Eine  buddhistische  Erzählung. 

Ein  junges  Weib,  Kisägotami  mit  Namen,  gebar  einen 
Sohn;  aber  der  schöne  Knabe  starb  im  zarten  Alter.  Die  ver- 
zweifelte Mutter  trug  das  tote  Kind  an  ihren  Busen  gedrückt 
zu  ihren  mitleidigen  Freunden  von  Haus  zu  Haus  und  bat  sie 
um  eine  Arzenei.  Die  Leute  aber  sprachen:  „Sie  hat  den  Ver- 
stand verloren;  das  Kind  ist  tot." 

Ein  Bhikkhu,  dem  Kisägotami  ihre  Bitte  vortrug,  dachte 
bei  sich:  „Sie  hat  keine  Einsicht",  und  sprach  zu  ihr:  „Meine 
Tochter,  ein  Heilmittel,  wie  du  es  wünschest,  habe  ich  zwar 
nicht,  aber  ich  kenne  einen  Arzt,  der  dir  helfen  kann." 

Die  junge  Frau  sprach:  „Bitte,  Ehrwürdiger,  sage  mir, 
wer  es  ist." 

„Der  Buddha  kann  dir  das  Heilmittel  geben,  gehe  hin  zu 
ihm,"  lautete  die  Antwort. 

Kisägotami  begab  sich  zu  dem  Fiuddha,  verneigte  sich 
vor  ihm  und  sprach  zu  ihm:  „Herr  und  Meister,  kennst  Du 
ein  Heilmittel,  das  für  mein  Kind  gut  sein  würde?"  „Ja,  ich 
kenne  eins",  sprach  der  Meister. 

Nun  war  es  Sitte,  dass  die  Kranken  oder  deren  Freunde 
die  Kräuter  herbeischafften,  deren  die  Ärzte  bedurften,  und  so 
fragte  die  Frau,  weiche  Kräuter  er  brauche. 

Der  Buddha  sprach:  „Ich  brauche  ein  paar  Senfkörner," 
und  als  sie  in  ihrer  Freude  versprach,  etwas  von  diesem  ganz 
gewöhnlichen  Heilmittel  zu  bringen,  fügte  der  Meister  hinzu: 
„Du  musst  sie  dir  in  einem  Hause  geben  lassen,  in  welchem 
weder  Sohn,  noch  Tochter,  noch  Gatte,  noch  Vater,  noch  Mutter, 
noch  Diener  gestorben  ist."  —  „Sehr  wohl",  antwortete  sie 
und  ging  fort,  um  die  Senfkörner  zu  erbitten,  während  sie  ihr 


222  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

totes  Kind  bei  sich  trug.  Sie  ging  nun  von  Haus  zu  Haus, 
und  die  Leute  hatten  Mitleid  mit  ihr  und  sagten:  „Hier  sind 
Senfkörner,  nimm  sie;"  aber  wenn  sie  fragte:  „Ist  in  eurem 
Hause  vielleicht  ein  Sohn  oder  eine  Tochter,  oder  Gatte,  Vater, 
Mutter,  Diener  gestorben?",  dann  antwortete  man  ihr:  „Frau, 
was  redest  du  da?  Siehe,  der  Lebenden  sind  so  wenige  und 
der  Toten  so  viele."  Sie  begab  sich  alsdann  in  andere  Häuser, 
aber  hier  hiess  es:  „Ich  habe  einen  Sohn  verloren",  dort:  „Wir 
haben  unsere  Eltern  verloren",  an  einer  anderen  Stelle:  „Ich 
habe  meinen  Diener  verloren". 

Zuletzt,  als  es  ihr  nicht  möglich  war,  auch  nur  ein  ein- 
ziges Haus  zu  finden,  wo  niemand  gestorben  war,  wurde  sie 
matt  und  hoffnungslos;  sie  setzte  sich  nieder  an  der  Seite  des 
Weges  und  beobachtete  die  Lichter  der  Stadt,  wie  sie  auf- 
flackerten und  wieder  erloschen;  zuletzt  herrschte  Dunkelheit 
liberall.  Da  lernte  Kisägotami  das  Schicksal  der  Menschen 
verstehen  und  dachte:  „Wie  selbstsüchtig  bin  ich  in  meinem 
Schmerz!  Der  Tod  ist  allen  gemein.  In  diesem  Tal  des  Elends 
gibt  es  einen  Pfad,  auf  dem  der  wandelt,  welcher  um  der 
Todlosigkeit  willen  alle  Selbstsucht  aufgegeben  hat." 

Es  begann  in  ihrem  Geiste  hell  zu  werden,  und 
indem  sie  sich  zur  Entschlossenheit  aufraffte  und  die 
selbstsüchtige  Liebe  zu  ihrem  Kinde  überwand,  Hess 
sie  den  toten  Körper  in  einem  Walde  beerdigen,  kehrte  wieder 
zu  dem  Buddha  zurück  und  beugte  sich  vor  ihm  nieder. 

Er  sprach  zu  ihr:  „Hast  du  die  Senfkörner?"  „Herr",  er- 
widerte sie,  „ich  habe  sie  nicht;  die  Leute  sagen  mir,  dass  der 
Lebenden  so  wenige  und  der  Toten  so  viele  sind." 

Darauf  redete  der  Meister  zu  ihr  über  jenen  wesentlichen 
Teil  seiner  Lehre,  über  die  Vergänglichkeit,  und  sprach: 

„Das  Leben  der  Sterblichen  in  dieser  Welt  ist  voll  Küm- 
mernis, flüchtig  und  leidvoll.  Was  geboren  ist,  muss  sterben, 
und  es  gibt  kein  Mittel,  dem  Schicksal  zu  entrinnen.  Das  Alter 
naht  und  dann  der  Tod.    Das  ist  das  Los  der  lebenden.  Wesen. 

„Wie  die  reifen  Früchte  leicht  abfallen,  so  sind  dieSterblichen, 
sobald  sie  geboren  werden,  der  Gefahr  ausgesetzt,  zu  sterben. 

„Das  Leben  der  Sterblichen  gleicht  den  irdenen  Gefässen, 
die  der  Töpfer  macht.    Ihr  Ende  ist,  dass  sie  zerbrechen. 


No.  7.  DER  BUDDHIST.  223 

„Jung  und  Alt,  Toren  und  Weise  fallen  dem  Grabe  anheim; 
sie  alle  sind  dem  Tode  unterworfen. 

„Der  Vater  kann  den  Sohn  nicht  retten,  und  der  Freund 
nicht  seinen  Gefährten,  noch  die  Familienglieder  ihre  Ange- 
hörigen. 

„Während  die  Verwandten  das  Sterbelager  umstehen  und 
wehklagen,  wird  einer  nach  dem  andern  dahingerafft,  wie 
Rinder,  die  zur  Schlachtbank  geführt  werden. 

„So  ist  die  Welt  mit  Tod  und  Auflösung  behaftet;  aber 
die  Weisen,  welche  die  Bedingungen  des  Daseins  kennen, 
grämen  sich  nicht. 

„Ganz  anders,  als  man  es  sich  vorgestellt  hat,  sind  oft 
die  Ereignisse  des  Lebens,  wenn  sie  wirklich  eintreten.  Aber 
das  ist  der  Lauf  der  Welt. 

„Weder  durch  Weinen,  noch  durch  Grämen  wird  jemand 
den   Frieden    des  Gemütes  erlangen;   im    Gegenteil,   sein  Leid  *• 

wird  dadurch  noch  vermehrt.     Er  wird  sich  krank  und  bleich  i 

machen,  aber  die  Toten  werden  durch  seine  Klagen  nicht  gerettet.  ^ 

„Die  Menschen  gehen  dahin,  und  ihr  Schicksal  nach  dem 
Tode  ist  ihrem  Wirken  gemäss. 

„Ja,  wenn  ein  Mensch  auch  hundert  Jahre  alt  wird  oder 
älter  noch,  so  wird  er  doch  endlich  von  den  Seinigen  getrennt 
werden  und  aus  dieser  Welt  abscheiden. 

„Wer  Frieden  sucht,  sollte  den  Pfeil  des  Jammers,  der 
Klage  und  des  Grams  herausziehen. 

„Wer  den  Pfeil  herausgezogen  hat  und  still  geworden  ist, 
wird  Seelenfrieden  erlangen;  wer  allen  Gram  überwunden  hat, 
wird  frei  werden  vom  Leiden  und  glückselig  sein. 

„Wie  ein  grosse-r  mächtiger  Wind,  der  dahinfährt  über 
die  Erde  in  der  Hitze  des  Tages,  so  kommt  der  Vollendete 
und  weht  durch  die  Gemüter  der  Menschen  mit  dem  Hauch  des 
Erbarmens  so  kühl,  so  süss,  so  sanft,  so  milde;  und  die  Fieber- 
kranken erholen  sich  von  ihren  Qualen  und  erquicken  sich  an 
dem  erfrischenden  Hauch. 

„Wahrlich  ich  sage  dir:  Der  Vollendete  ist  nicht  ge- 
kommen, den  Tod  zu  lehren,  sondern  Todlosigkeit;  lerne  den 
Unterschied  zwischen  Tod  und  wahrem  Leben.  Dieser  Körper 
wird  sich  in  seine  Bestandteile  auflösen;  deshalb  trachte  nach 


E4  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

jenem  Leben,  welches  vom  Geiste  ist.  Wo  das  Selbst  ist, 
kann  die  Wahriieit  niciit  sein,  aber  wenn  die  Wahrheit  sich 
enthüllt,  verschwindet  der  Selbst-Wahn. 

„Darum  lass'  dein  Gemüt  in  der  Wahrheit  ruhen;  suche 
die  Wahrheit  zu  erreichen,  versenke  deine  ganze  Seele  in  die 
Wahrheit  und  wachse  in  ihr.  In  der  Wahrheit  wirst  du  ewig 
sein;  Selbst  ist  der  Tod,  Wahrheit  ist  Leben>  Das  Haften  am 
Selbst  ist  ein  beständiges  Sterben,  während  das  Ergreifen  der 
Wahrheit  die  Erreichung  Nibbänas  bedeutet.  Nibbäna  aber  ist 
die  unvergleichliche  Sicherheit,  die  Todlosigkeit,  das  ewige 
Leben."  — 

Da  wurden  Kisägotamis  Zweifel  zerstreut,  und  indem 
sie  ihr  Los  auf  sich  nahm,  ward  sie  eine  Schülerin  des  Er- 
habenen und  betrat  die  erste  Stufe  des  Pfades. 

^^  Abendstimmung.  !^!^ 

Von  Dr.  Wolfgang  Bohn. 

Wenn  sich  am  Himmel  dunkle  Farben  regen, 
Die  Abendsonne  sinkt  in  mildem  Glühen, 
Die  Blumenkronen  an  den  Wicscnwegen 
Vergessen  schlummernd  all'  ihr  duftig  Blühen, 
Ihr  Auge  einzig  öffnen  Nachtviolen, 
Die  letzten  Schwalben  um  den  Kirchturm  schwirren, 
Vergess'  ich,  träumend,  Lampenlicht  zu  holen 
Und  lass'  die  seufzenden  Gedanken  irren. 

Da  sich  die  Schatten  um  das  Herz  mir  legen, 
Der  erste  Schnee  um  meine  Locken  flimmert  — 
Da  fühl'  ich  Buddha,  Deiner  Lehre  Segen, 
Die  alles  löset,  was  mich  sorgt  und  kümmert. 

An  Deiner  Hand  schau'  ich  in  jene  Tiefen, 

Aus  denen  mahnen  Schuld  und  Schmerz  und  Siiline, 

Ich  seh'  die  tausend  Machte,  die  mich  riefen 

Auf  dieses  Lebens  bunte  Trauerbühne,  — 

Und  immer  wieder  werden  sie  mich  rufen, 

Und  immer  wieder  muss  das  Herz  verbluten. 

Bis  ich  an  Deines  reinen  Altars  Stufen 

Ganz  ausgelöscht  der  Sehnsucht  letzte  Gluten. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  K.  Seidenstocker,  Leipzigr.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
iU  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Alle  Sünden  meiden,   die  Tugend  üben,   das   eigene   Heri  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,  V.  183. 


^^  Gemüts-Läuterung.  1^!^ 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

Das  Wirken  des  Menschen  äussert  sich  in  dreifacher  Weise: 
in  Handlungen,  in  Worten  und  in  Gedanken  (im  weitesten 
Umfange).  Tun  und  reden  ist  äusseres  Wirken,  denken  ist 
inneres  Wirken.  Unter  Moralität  versteht  man  rechtes 
äusseres  Wirken  in  der  Weise,  dass  durch  die  Worte  und 
Handlungen  keinem  Wesen  Leid  zugefügt  wird.  Der  Buddhis- 
mus begnügt  sich  nicht  mit  einfacher  Moralität,  d.  h.  mit  der 
Forderung,  die  äusseren  Handlungen  und  Worte  zu  glätten. 
Der  Buddhismus  geht  in  die  Tiefe.  Es  nützt  dir  nichts,  nur 
in  deinem  äusseren  Benehmen  Rechtschaffenheit  zur  Schau  zu 
tragen,  während  dein  Inneres  voll  Unrat  ist.  Aus  der  Gesin- 
nung, aus  dem  Herzen,  aus  dem  Denken  entspringen  deine 
Worte  und  Taten,  —  das  ist  die  eigentliche  Lösung  des  ethi- 
schen Problems;  bring'  dein  Inneres  in  Ordnung,  dann  werden 
deine  Tat-  und  Wort-Äusserungen  von  selbst  die  richtigen  sein. 
Wir  lesen  im  Dhammapada:^) 

Vom  Herzen  gehn  die  Dinge  aus, 
Sind  herzgeboren,  herzgefügt: 
Wer  bösgewillten  Herzens  spricht. 
Wer  bösgewillten  Herzens  wirkt, 
Dem  folgt  notwendig  Leiden  nach, 
Gleichwie  das  Rad  dem  Hufe  folgt. 


•)  Nach  Dr.  Neumanns  Übersetzung. 


15 


226  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Vom  Herzen  gehn  die  Dinge  aus, 
Sind  herzgeboren,  herzgefügt: 
Wer  wohlgewillten  Herzens  spricht, 
Wer  wohlgewillten  Herzens  wirkt. 
Dem  folgt  notwendig  Freude  nach, 
Dem  untrennbaren  Schatten  gleich. 
Allen  Taten  und  Worten  geht  irgend  eine  innere  Regung 
voran,  sei  es  eine  Vorstellung,  ein  Gedanke,  ein  Wunsch.    Ein 
Mord,  ein  Diebstahl,  eine  Lüge,  die  Verführung  einer  Frau  ist 
nur  die  Folge  eines  seelischen  Vorganges  (oder  mehrerer  Vor- 
gänge),   die    sich   im   Gemüt  des   Menschen   abspielen.    Das 
Herz  behüte,  es  wirkt  dein  Geschick! 

Erst  die  neuere  Zeit  hat  wieder  mit  Nachdruck  auf  die 
Bedeutung  hingewiesen,  welche  die  Zustände  der  Psyche  für  das 
äussere  Gebahren  des  Menschen  haben.  Wer  sein  Inneres 
beständig  mit  grausamen,  gierigen,  lüsternen  Gedanken,  Vor- 
stellungen und  Wünschen  anfüllt,  muss  schliesslich  auch  äusser- 
lich  notwendig  dem  Zustande  seines  Innern  entsprechend  reden 
und  handeln.  Ebenso  umgekehrt.  Qäkyamuni  war  erst  dann 
ein  Buddha,  als  er  „der  Dornen  Ausrottungsweise"  vollständig 
erkannt  und  durchgeführt  hatte.  Es  kommt  also  darauf  an, 
das  Gemüt  von  allen  Schlacken  „rein  zu  glühen".  Diese  Ge- 
mütsläuterung hat  vier  Aspekte:  1.  Vorhandene  schlechte  Zu- 
stände des  Gemütes  beseitigen,  2.  keine  schlechten  Zustände 
aufkommen  lassen,  3.  vorhandene  gute  Zustände  vermehren, 
4.  noch  nicht  vorhandene  gute  Zustände  hervorbringen. 

Was  aber  sind  üble  Zustände  des  Herzens?  Alle  jene 
seelischen  Regungen  in  Gedanken,  Vorstellungen  und  Wünschen, 
welche  in  letzter  Linie  die  Befriedigung  des  eigenen  Selbstes 
auf  Kosten  anderer  Wesen  bezwecken;  die  Wurzel  aller  dieser 
schlechten  inneren  Zustände  ist  also  der  Selbst-Gedanke 
nebst  der  aus  demselben  entspringenden  Selbstsucht. 

Dementsprechend  ist  die  Gemütsläuterung  eine  doppelte, 
indem  sie  1.  die  schlechten  Gemütszustände  einzeln  bekämpft, 
und  indem  sie  2.  deren  Ursache:  Selbstwahn  und  Selbstsucht 
auszurotten  sucht,  und  das  Mittel  zu  diesem  Zweck  ist  die 
Meditation.  Achte  sorgfältig  darauf,  welche  schlechten  Zu- 
stände noch  dein  Inneres  beflecken;  bist  du  zum  Zorn  geneigt, 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  227 

SO  fülle  dein  Inneres  immer  und  immer  wieder,  täglich,  stünd- 
lich mit  dem  Gedanken:  „Ich  will  nicht  zornig  sein;  liebevoll 
will  ich  sein  in  allen  Lagen  des  Lebens."  Analog  ist  das 
Verfahren  gegenüber  allen  anderen  Schwächen  und  Fehlern. 
Nur  so  wirst  du  Schritt  für  Schritt  dem  Ziele  näher  kommen; 
mache  den  Versuch,  und  du  wirst  den  Segen  deiner  ernsten 
Anstrengung  bald  erfahren.  Gehe  daran,  den  Selbst-Wahn  zu 
vernichten;  vergegenwärtige  dir  ununterbrochen,  dass  alle 
Wesen  genau  so  wie  du  das  Leid  und  den  Schmerz  fliehen 
und  sich  nach  Glück  sehnen;  dass  alle  Geschöpfe  genau  so 
wie  du  ein  unveräusserliches  Recht  auf  ihr  Leben  haben;  denke 
daran,  dass  dieses  Leben  leidvoll,  und  dass  es  ein  Verbre- 
chen ist,  absichtlich  irgend  einem  Wesen  Qual,  Schmerz  oder 
Kummer  zu  bereiten,  vielmehr  — 

„Da  wir  die  Welt  bedrückt  von  Plagen 
In  Menge  sehen,  sollte  in  uns  wachsen 
Das  Mitleid  und  wir  unermüdlich  Hilfe 
Dem  stets  erneuten  Schmerz  entgegenstellen." 
Nimm  zu  und  wachse  an  Güte,  Erbarmen  und  Wohlwollen 
gegenüber  allen  Wesen   in   gleicher  Weise.    Nur  durch   sorg- 
fältige, stete,  peinliche  Beobachtung  deiner  inneren  Vorgänge, 
durch  Abweisung  schlechter,  selbstsüchtiger  Regungen,  durch 
Hervorbringung  selbstloser,  gütiger  Gesinnung  kann  das  erreicht 
werden.    Kontrolliere  dein  Inneres! 

Dazu  ist  es  aber  notwendig,  dass  du  lernst,  bewusst 
innerlich  zu  wirken.  Kannst  du  dir  Rechenschaft  geben  über 
alle  seelischen  Vorgänge,  die  sich  gestern,  die  sich  erst  vor 
einer  Stunde,  ja,  die  sich  eben  noch  in  deinem  Gemüt  abspiel- 
ten?! Versuch'  es,  in  jedem  Augenblick  vollbewusst  zu 
werden  und  sofort  jede  böse  Regung  abzuweisen.  Dass  der 
Mensch  noch  nicht  bewusst  denkt,  kann  er  am  besten  aus 
folgendem  Versuch  ersehen.  Man  versuche  es  einmal,  für  fünf 
Minuten  nur  an  einen  Gegenstand  zu  denken;  bald  wird  man 
merken,  dass  andere,  nicht  gewollte  Gedanken  sich  einschlei- 
chen. Der  Mensch  muss  danach  trachten,  seine  Gedanken 
konzentrieren  zu  können;  erst  dann  wird  er  Herr  seines  Ge- 
mütes, voll  bewusst,  und  kann  mit  Erfolg  alle  üblen  Zustände 
seines  Herzens  beseitigen. 

15» 


228  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Dieses  innere  stetige  »Gedenken«  ist  das  »Erwachen«  oder 
die  »Erleuchtung«  im  Sinne  des  Buddhismus.  Schritt  für 
Schritt  vorwärts  schreitend,  möge  der  Jünger  erwachen  zu  dem 
Morgenglanz  des  inneren  Friedens,  da  die  Wolken  der  Begierde, 
des  Hasses  und  Selbstwahnes  zerstreut  sind.  Wer  dieses  Er- 
wachen verwirklicht,  der  realisiert  damit  zugleich  die  Religion 
der  Buddhas,  deren  Wesen  darin  besteht,  alle  Sünden  zu 
meiden,  die  Tugend  zu  üben,  das  eigene  Gemüt  zu  läutern. 
Durch  Kampf  zum  Sieg! 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 
Von  Bhikkhu  Nyänatiloka  (Ceylon). 

(2.  Fortsetzung.) 

Drittes  Kapitel. 
Die  heilige  Wahrheit  von  der  Leidensvernichtung. 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit  von  der 
Leidensvernichtung?  Es  ist  eben  dieses  Begehrens  (tanhä) 
vollkommen  restlose  Vernichtung,  Abstossung,  Austreibung, 
Verneinung.  Das  nennt  man,  ihr  Brüder,  die  heilige  Wahrheit 
von  der  Leidensvernichtung.    (Majjhima-Nikäya  141). 

Und  wenn,  ihr  Brüder,  der  Sonderheit  Wahrnehmungen, 
wodurch  auch  immer  bedingt,  an  den  Menschen  der  Reihe 
nach  herantreten  und  da  kein  Entzücken,  kein  Entsprechen, 
keinen  Halt  finden,  so  ist  das  eben  das  Ende  der  Lustanhaf- 
tungen,  so  ist  das  eben  das  Ende  der  Ekelanhaftungen,  so  ist 
das  eben  das  Ende  der  Glaubensanhaftungen,  so  ist  das  eben 
das  Ende  der  Zweifelanhaftungen,  so  ist  das  eben  das  Ende 
der  Dünkelanhaftungen,  so  ist  das  eben  das  Ende  der  Anhaf- 
tungen  der  Daseinslust,  so  ist  das  eben  das  Ende  der  Anhaf- 
tungen  des  Nichtwissens,  so  ist  das  eben  das  Ende  von  Wüten 
und  Blutvergiessen,  von  Krieg  und  Zwietracht,  Zank  und  Streit, 
Lug  und  Trug:  da  werden  diese  bösen,  schlechten  Dinge  rest- 
los aufgelöst.    (Majjhima-Nikäya  18). 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  229 

Denn,  ihr  Brüder,  entflammt  von  Begierde  (lobha),  erbost 
durch  Hass  (dosa),  betört  durch  Wahn  (moha),  überwältigt, 
besessenen  Gemütes,  sinnt  man  auf  eigenen  Schaden,  sinnt 
man  auf  fremden  Schaden,  sinnt  man  auf  beiderseitigen  Schaden, 
empfindet  man  geistige  Leiden  und  Qualen.  Ist  aber  die  Be- 
gierde, ist  aber  der  Hass,  ist  aber  der  Wahn  aufgehoben,  so 
sinnt  man  weder  auf  eigenen  Schaden,  noch  auf  fremden 
Schaden,  noch  auf  beiderseitigen  Schaden,  empfindet  man  keine 
geistigen  Leiden  und  Qualen:  also,  ihr  Brüder,  ist  das  Nibbäna 
sichtbar,  nicht  erst  zukünftig,  einladend,  anziehend,  für  j^den 
verständlich,  erkennbar.    (Anguttara-Nikäya). 

Und  wer  die  Vernichtung  des  Begehrens  (tanhä),  das 
Ende  der  Verblendungen  erreicht  hat,  der  fürwahr  durchschaut 
der  Gefühle  Ursache;  geklärt  ist  sein  Geist.  Und  für  einen 
Jünger,  der  solcherart  erlöst  ist,  und  in  dessen  Herz  der  Friede 
wohnt,  gibt  es  kein  Grübeln  mehr  über  das,  was  abgetan  ist, 
und  zu  erfüllen  bleibt  ihm  nichts  mehr  übrig.  Gerade  wie  ein 
Felsen  ganz  aus  einer  Masse  nicht  durch  den  Wind  erschüttert 
wird,  ebenso  können  weder  Formen,  können  weder  Töne, 
weder  Düfte,  Säfte  noch  Tastungen  in  ihrer  ganzen  Gesamt- 
heit, können  weder  Erwünschtes  noch  Unerwünschtes  einen 
solchen  zum  Wanken  bringen.  Standhaft  ist  sein  Gemüt, 
verwirklicht  ist  die  Erlösung.  — 


Viertes  Kapitel. 

Die  heilige  Wahrheit  von  dem  zur  Leidens- 
vernichtung führenden  Pfade. 

[Die  beiden  Extreme  und  der  Mittelweg:]  Keinem 
Begierdenwohle  sich  hingeben,  dem  gewöhnlichen,  gemeinen, 
alltäglichen,  unheiligen,  unheilsamen,  und  auch  keiner  Selbst- 
kasteiung sich  hingeben,  der  leidigen,  unheiligen,  unheil- 
samen: eben  diese  beiden  Extreme  hat  der  Vollendete  bei- 
seite gelassen  und  den  mittleren  Pfad  aufgefunden,  auf  dessen 
Fährte  man  sehend  und  wissend  wird,  der  zur  Ebbung,  Durch- 
schauung, Erwachung,  Erlöschung  (nibbäna)  führt.  Es  ist  dies 
der  heilige  achtfache  Pfad,  der  zur  Leidensvernichtung 
führende  Weg,  nämlich: 


2ao  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

|1.  Sammäditthi,  rechte  Erkenntnis. 
I.  Panfiä,  Erkennen  .  |2.  Sammäsankappa,  rechter  Vorsatz. 

13.  Sammävaca,  rechtes  Wort. 
4.  Sammäkammanta,  rechte  Tat. 
5.  SammäjTva,  rechter  Beruf. 
(6.  Sammävayäma,  rechter  Kampf. 
III. Samädhi, Vertiefung]  7.  Sammäsati,  rechte  Einsicht. 

(8.  Sammäsamädhi,  rechte  Vertiefung. 

Das  ist  also,  ihr  Brüder,  der  mittlere  Pfad,  den  der  Voll- 
endete aufgefunden  hat,  auf  dessen  Fährte  man  sehend  und 
wissend  wird,  der  zur  Ebbung,  Durchschauung,  Erwachung, 
Erlöschung  (nibbäna)  führt,  ein  Ding  ohne  Leid,  ohne  Qual, 
ohne  Jammer,  ohne  Schmerz,  ein  rechtes  Vorwärtsschreiten. 
(Majjhima-Nikäya  139). 

Wenn  diesem  Wege  ihr  folget,  ein  Ende  des  Leidens 
werdet  ihr  finden.  Von  mir  ward  er  gewiesen,  als  ich  der 
Dornen  Ausrottungsweise  erkannt  hatte.  Selbst  müsst  ihr 
euch  anstrengen;  die  Tathägatas  haben  nur  den  Beruf  zu 
predigen.    (Dhammapada,  275,  276). 

Leihet  Gehör,  ihr  Brüder,  die  Unsterblichkeit  ist  gefunden. 
Ich  führe  ein,  ich  lege  die  Lehre  dar.  Der  Führung  folgend 
werdet  ihr  in  gar  kurzer  Zeit  jenes  Ziel,  um  dessen  willen  edle 
Söhne  gänzlich  vom  Hause  fort  in  die  Heimatlosigkeit  ziehen, 
die  höchste  Vollendung  der  Heiligkeit  noch  in  dieser  Erschei- 
nung   euch    offenbar    machen,    verwirklichen    und    erringen. 

(Majjhima-Nikäya  26).  — 

(Fortsetzung  folgt.) 

Goethe  ein  Buddhist. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(1.  Fortsetzung). 

Die  Idee,  dass  ich  ein  Individuum  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes  sei,  d.  h.  ein  unteilbares  Seelenwesen,  eine 
echte  Einheit,  (und  nicht  eine  Vereinigung),  eine  Art  spiritueller 
Monade,  —  diese  Idee  scheint  auf  den  ersten  Blick  der  Eitel- 
keit des  Menschen  zu  schmeicheln;  denn  sie  macht  den  letzteren 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  23l 

unabhängig  von  seiner  Vergangenheit,  die  ihn  schuf,  und  igno- 
riert die  Schulden,  die  er  seinen  geistigen  und  leiblichen  Vor- 
fahren schuldig  ist,  indem  sie  dem  Menschen  den  Anschein 
von  Originalität  gibt.  Mit  gutem  Humor  charakterisiert  Goethe 
dieses  Verlangen  unserer  natürlichen  Eitelkeit  in  folgenden 
Versen : 

„Gern  war"  ich  Überlief'rung  los 

Und  ganz  original; 

Doch  ist  das  Unternehmen  gross 

Und  führt  in  manche  Qual. 

Als  Autochthone  rechnet'  ich 

Es  mir  zur  höchsten  Ehre, 

Wenn  ich  nicht  gar  zu  w^underlich 

Selbst  Überlief'rung  wäre." 

Die  beiden  letzten  Zeilen  drücken  in  einfacher  Sprache 
sowohl  die  alte  buddhistische  Karman- Lehre,  als  auch  das 
Wesen  der  modernen  Psychologie  aus.  Wir  haben  nicht 
unsere  Gedanken,  Gewohnheiten  und  Strebungen,  sondern  wir 
sind  sie.  Das,  was  vor  uns  existierte,  und  von  Generation 
auf  Generation  sich  vererbte  oder  überging,  ist  unsere  eigene 
Präexistenz.  Wir  empfangen  nicht  die  Überlieferung  der 
Vergangenheit,  sondern  wir  selbst  sind  diese  Überlieferung, 
wie  sie  von  dem  Karman  der  Vergangenheit  geschaffen  wurde. 

Diese  Anschauung  über  die  Seele  scheint  zu  einer  Zer- 
Spaltung unserer  Existenz  in  verschiedene  Persönlichkeiten  zu 
führen,  welche  die  psychischen  Saaten  unseres  Karmans  ein- 
ernten. Aber  diese  Spaltung  ist  nicht  ein  Aufgehen  in  ein 
verschwommenes,  unbestimmtes  Halb-Dasein,  sondern  vielmehr 
eine  Vervielfältigung  und  Verdoppelung  unserer  Seele  in  der 
Weise  etwa,  wie  eine  Platte  reproduziert  wird,  oder  wie  ein 
in  vielen  Exemplaren  gedrucktes  Buch  die  Saatkörner  der  Ge- 
danken des  Verfassers  in  ihrer  Gesamtheit  ausstreut  in  die 
Herzen  ungezählter  Leser.  Da  ist  wohl  eine  Spaltung  oder 
Vervielfältigung,  aber  keine  Zerteilung;  da  ist  wohl  ein 
Ausstreuen  unserer  geistigen  Schätze,  aber  dennoch  bleibt  die 
Seele  überall  ganz  und  unzerteilt  sowohl  hinsichtlich  ihrer 


i 

/ 


232  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

inneren  Empfindungen,  als  aucli  iiirer  äusseren  Formen.  Goetlie 

singt: 

„Teilen  kann  ich  nicht  das  Leben, 

Nicht  das  Innen  noch  das  Aussen, 

Allen  muss  das  Ganze  geben. 

Um  mit  euch  und  mir  zu  hausen. 

Immer  hab'  ich  nur  geschrieben 

Wie  ich  flHile,  wie  ich's  meine, 

Und  so  spalt'  ich  mich,  ihr  Lieben, 

Und  bin  immerfort  der  Eine." 
Diese  Auffassung  von  unserem  eigenen  Wesen  ist  prak- 
tisch von  Bedeutung  insofern,  als  sie  uns  lehrt,  mit  Ehrfurcht 
der  Vergangenheit  zu  gedenken  und  mit  Ernst  die  Zukunft 
ins  Auge  zu  fassen.  Unser  Dasein  ist  nicht  eingeschlossen 
in  der  kurzen  Spanne  unserer  gegenwärtigen  Lebenszeit;  es  ist 
nicht  begrenzt  durch  Geburt  und  Tod;  es  begann  mit  dem 
Auftreten  von  organisiertem  Leben  auf  unserem  Planeten,  — 
nein,  es  ist  vielmehr  älter  als  diese  Anfänge  des  Lebens;  denn 
es  lag  verborgen  in  den  Bedingungen  des  organisierten  Lebens, 
ganz  gleichgültig,  welcher  Art  dieselben  gewesen  sind;  und 
wir  werden  weiter  leben,  solange  das  Menschengeschlecht  auf 
Erden  blühen  wird,  —  nein,  länger  noch  werden  wir  leben; 
denn  wo  immer  dieselben  Seelen-Strukturen  in  die  Erscheinung 
treten,  da  wird  unsere  Seele  sich  wieder  gestalten  und  von 
/  neuem  zum  Leben  erwachen.  Mit  einem  Worte:  Unsere  Seele 
ist  unbegrenzt  sowohl  in  der  Vergangenheit,  als  in  der  Zukunft. 
Goethe  glaubt  an  die  Unsterblichkeit;  er  sagt: 

„,Du  hast  Unsterblichkeit  im  Sinn; 

Kannst  du  uns  deine  Gründe  nennen?' 

Gar  wohll  Der  Hauptgrund  liegt  darin, 

Dass  wir  sie  nicht  entbehren  können." 
Goethe  meint  aber  nicht,  dass  Unsterblichkeit  den  Glauben 
an  einen  utopistischen  Himmel  bedeute;  vielmehr  weist  er  wie 
der  Buddha  mit  Nachdruck  darauf  hin,  dass,  wenn  ein  solcher 
Himmel  wirklich  existierte,  wie  ihn  viele  Christen  sich  vor- 
stellen, dies  keine  Stätte  der  Befreiung,  sondern  nur  eine 
Umgestaltung  oder  Verklärung  dieser  irdischen  Trivialitäten 
sein   könne.    So  zieht  es   Goethe  vor,    unter  die  Sadduzäer 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  253 

gerechnet  zu  werden,  welche  nach  dem  Zeugnis  der  Bibel 
dafür  hielten,  dass  es  keine  Auferstehung  von  den  Toten  gebe. 
So  sagt  unser  Dichter: 

„Ein  Sadduzäer  will  ich  bleiljen!  — 

Das  könnte  mich  zur  Verzweiflung  treiben, 

Dass  von  dem  Volk,  das  hier  mich  bedrängt, 

Auch  würde  die  Ewigkeit  eingeengt: 

Das  war'  doch  nur  der  alte  Patsch, 

Droben  gäb's  nur  verklärten  Klatsch." 

Unsterblichkeit  ist  nicht  eine  innere  Beschaffenheit  unserer 
Seele,    sondern   sie   kann   nur  das  Ergebnis   unserer  Anstren- 
gungen  sein.     Wir  besitzen   nicht   Unsterblichkeit,   sondern 
wir  müssen  sie  erst  gewinnen.    Wie  Christus  sagt,  „wir  sollen 
uns  Schätze  sammeln,  die  weder  Motten,  noch  der  Rost  fressen, 
und  wo  die  Diebe  nicht  nachgraben  noch  stehlen."    Wir  sind 
Überlieferung    und    leben    als   Überlieferung    fort.      Unsere 
eigene  Verewigung  ist  der  Zweck  unseres  Lebens;  Goethe  singt: 
„Nichts  vom  Vergänglichen, 
Wie's  auch  geschah! 
Uns  zu  verewigen 
Sind  wir  ja  da." 
Die  Methode  der  alten  Ägypter,  die  Körper  der  Verstor- 
benen durch  Einbalsamierung  und  Mumifizierung  zu  verewigen 
und  Pyramiden   darüber  zu  errichten,   ist   töricht;   lasst   lieber 
die  Traditionen,  aus  denen  wir  bestehen  und  die  wir  anderen 
mitteilen,  von  der  rechten  Art  sein!    Die  grössten  Schätze,  die 
wir  anderen  geben  können,  sind  wir  selbst,  unsere  Seelen,  die 
Wahrheiten,  die  wir  entdeckt  haben,  unsere  Hoffnungen,  unser 
Lieben,  unsere  Ideale.    So  sagt  der  grosse  Dichter: 
„Und  wo  die  Freunde  faulen. 
Das  ist  ganz  einerlei,  , 

Ob  unter  Marmor-Saulen,  \ 

Oder  im  Rasen  frei. 
Der  Lebende  bedenke. 
Wenn  auch  der  Tag  ihm  mault, 
Dass  er  den  Freunden  schenke, 
Was  nie  und  nimmer  fault." 


234  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Goethesche  Erlösungs-Idee,  wie  sie  im  »Faust«  zum 
Ausdruck  gelangt,  bedeutet  Selbst-Erlösung  durch  unsere 
eigenen  Taten.    Es  heisst: 

„Ja!  diesem  Sinne  bin  ich  ganz  ergeben, 

Das  ist  der  Weisheit  letzter  Schluss: 

Nur  der  verdient  sich  Freiheit  wie  das  Leben, 

Der  täglich  sie  erobern  muss. 

Zum  Augenblicke  dürft'  ich  sagen: 

Verweile  doch,  du  bist  so  schön! 

Es  kann  die  Spur  von  meinen  Erdentagen 

Nicht  in  Äonen  untergehn.  — " 
Das  Leben  besitzt  keinen   inneren  Wert:  der  Wert  eines 
Menschen  hängt  gänzlich  von  ihm  selbst  ab.    Goethe  spricht: 

„Willst  du  dich  deines  Wertes  freuen. 

So  musst  der  Welt  du  Wert  verleihen." 

(Schluss  folgt.) 

^^  Saat  und  Ernte.  U^tJ^ 

Von  Elsbeth  Ebertin. 

Nur  das,  was  ihr  im  Geist  gesät, 
Wird  gute  Früchte  tragen, 
Wenn  eure  Asche  längst  verweht, 
Noch  tiefe  Wurzeln  schlagen.; 

Und  könnt  ihr  selbst  auch  nimmermehr 
Die  Lotusblüten  pflücken, 
Wird  sich  in  ew'ger  Wiederkehr 
Die  Nachwelt  danach  bücken.  — 

^^  Der  Messias.  !^!^ 

Von  A.  Malvert.*) 

Der  vedische  Mythos,  der  sich  wie  ein  roter  Faden  durch  die  Reli- 
gionen der  arischen  Welt  zieht,  beseelt  fast  alle  Symbole,  Riten  und 
Formeln,  die  das  sinnlich-wahrnehmbare  Element  dieser  Religionen  bilden. 


•)  Aus:  »Wissenschaft  und  Religion«,  von  A.  Malvert.  Neuer  Frank- 
furter Verlag.    S.  46  ff. 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  235 

Die  Lehre  von  dem  Messias,  dem  Sohn  Gottes,  der  da  kommt  die 
Welt  zu  erretten,  hat  ihren  Ursprung  in  den  vedischen  Hymnen,  von  wo 
aus  sie  in  die  alexandrinischen  und  palästinesischen  Apokryphen  und  zu 
den  jüdischen  Sekten  eindringt,  die  sich  seit  der  babylonischen  Gefangen- 
schaft unter  arischem  Einfluss  gebildet  hatten.  Der  Buddhismus,  der 
bereits  durch  seine  Missionäre  in  die  griechisch-römische  Welt')  einge- 
drungen war,  trug  viel  dazu  bei,  den  Stiftern  des  Christentums  die  Ele- 
mente zu  ihrer  Lehre  zu  liefern. 

Die  Existenz  einer  Persönlichkeit,  der  man  den  Namen  Jesus  Christus 
gegeben,  ist  zweifelhaft  geblieben.-)  Kein  zeitgenössisches  Dokument 
erwähnt  ihn. ')  Der  Geschichtsschreiber  Josephus  erwähnt  ihn  zum  ersten 
Mal  ganz  beiläufig  an  einer  Stelle,  die  man  alle  Ursache  hat  als  eine  der 


•)  Zwischen  Indien  und  dem  Abendlande  fand  ein  grosser  Gedanken- 
austausch über  Alexandrien  statt  und  vielleicht  auch  über  den  persischen 
Meerbusen  und  durch  die  zentralasiatischen  Karawanen.  Buddha  hinter- 
Hess  bei  seinem  Tode  seinen  Jüngern  den  Auftrag,  seine  Lehre  in  den 
„zehn  Weltteilen"  zu  verkünden.  Fast  fünf  Jahrhunderte  vor  unserer  Zeit- 
rechnung hatten  buddhistische  Missionare  in  Persien  und  Baktrien  Klöster 
gegründet,  von  denen  sich  der  Buddhismus  nach  Westen  ausbreitete. 
Zwei  Jahrhunderte  später  erwähnte  der  grosse  buddhistische  König  Asoka 
die  griechischen  Könige  Antiochus,  Ptolemäus  und  Antigones  als  solche, 
in  deren  Ländern  sich  Anhänger  Buddhas  befanden.  Zu  derselben  Zeit 
waren  buddhistische  Missionäre  auf  den  Karawanenstrassen  nach  Syrien, 
Macedonien,  Ägypten,  ja  selbst  nach  Cyrenaica  gekommen.  Unter  dem 
Kaiser  Augustus  sah  man  einen  dieser  Missionäre,  Zarmano  Chegas,  der 
später  in  Athen  ein  trauriges  Ende  nahm. 

Nach  der  Entdeckung  des  Südwestmonsums,  zu  Anfang  unserer 
Zeitrechnung,  wurde  der  Seeweg  vorgezogen,  wodurch  der  Verkehr  mit 
Indien  zunahm.  Es  war  jedoch  zu  spät,  da  die  Plagiatoren  des  Buddhis- 
mus sich  bereits  eingenistet  hatten.  Der  Buddhismus  hätte  die  Welt  er- 
obert, wären  nicht  die  den  Indern  feindseligen  Parther  ein  Hemmnis 
gewesen. 

Die  orientalische  Theologie  war  den  Kirchenvätern  bekannt.  Gegen 
Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  erwähnt  Theophilus  Häresien,  die  von 
gewissen  brahmanischen  Lehrern  ausgingen.  Im  dritten  Jahrhundert 
spricht  Tertullian  von  Buddhisten  und  indischen  Asketen.  Clemens  von 
Alexandrien  erwähnt,  dass  die  buddhistischen  Nonnen  und  Mönche  die 
Reliquien  ihres  Herrn  verehrten. 

")  Es  scheint,  dass  Christus  in  den  verschiedenen  Abschnitten  seines 
Lebens  keine  Handlung  vollführt  hätte,  die  nicht  schon  früher  die  Mytho- 
logie irgend  einem  ihrer  Götter  zugesprochen  hätte.  Wie  Adonis  und 
Mithra  wird  er  in  einer  Höhle  geboren.  Seine  Mutter  ist  eine  vom  Geist 
(Hauch)  befruchtete  Jungfrau,  wie  auch  der  Apis-Stier  von  einer  durch 
den  Hauch  befruchteten  Ferse  geboren  wurde;  wie  ferner  Mithra  und 
Bacchus,  der  Sohn  der  Semele,  geboren  wurden.  Seine  Mutter  heisst 
Maria,  Mä  bei  den  Ägyptern,  Mäyä  bei  den  Indern.  Er  ist  blond  wie 
Apollo  und  tut  Wunder  wie  dieser,  den  die  Griechen  »S6ter«-Heiland 
nennen.  Wie  Prometheus  liebt  er  die  Menschen  und  stirbt  wie  Prome- 
theus und  Adonis  für  dieselben. 

')  Im  zweiten  Jahrhundert  berichtet  der  Geschichtsschreiber  Tacitus, 
dass   ein  gewisser   Christus   vom  Landpfleger   Pontius  Pilatus  verurteilt 


236  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

vielen  frommen  Fälschungen,  welche  die  Geschichte  kennt,  anzusehen. 
Selbst  die  Evangelien  stimmen  weder  im  Datum  seiner  Geburt,  noch  in 
seiner  Lebensdauer  überein.') 

Vielleicht  hatte  einer  der  zahlreichen  Propheten,  die  der  Reihe  nach 
seit  mehreren  Jahrhunderten  auftraten  und  sich  für  den  von  jüdischen 
Schriften  verheissenen  Messias  ausgaben,  in  irgend  einem  buddhistischen 
Kloster  die  vedischen  Lehren  kennen  gelernt  und  sie  verkündet.  Später 
verkündeten  die  Apostel  dieselben  Lehren,  die  sie  wahrscheinlich  aus  den 
Heiligtümern  Indiens  geschöpft  oder  von  den  Missionären  erhalten,  und 
legten  sie  in  den  Mund  dieses  jüdischen  Propheten  Jesus.  Sie  erdichte- 
ten eine  Legende  von  ihm,  stellten  ihn  dar  als  eine  neue  Verkörperung 
Agnis  und  entwarfen  von  ihm  eine  Lebensbeschreibung  nach  dem  Vor- 
bilde derjenigen  Buddhas-),  der  sie  gewisse  aus  verschiedenen  Quellen 


wurde  und  seine  Anhänger  den  Namen  Christen  annahmen.  Ernsthafte 
Kritiker  sehen  diese  Stelle  jedoch  als  gefälscht  an. 

Philo  von  Alexandrien,  der  um  40  n.  Chr.  schrieb,  war  einer  der 
Schöpfer  der  christlichen  Metaphysik.  Keine  einzige  seiner  Schriften  be- 
rührt jedoch  die  vorgebliche  Mission  Christi.  Ein  Brief  des  Plinius  an 
Trajan  kommt  auf  diese  zu  sprechen,  der  Brief  ist  jedoch  gefälscht  und 
datiert  wahrscheinlich  erst  aus  der  Renaissance-Zeit. 

Unter  54  apokryphischen  Evangelien  hat  die  Kirche  die  Evangelien 
des  Matthäus,  Markus  und  Lukas  ausgewählt.  Das  Johannesevangelium 
ist  gnostischen  Ursprungs  aus  späterer  Zeit.  Das  älteste  vorhandene 
Evangeliummanuskript  datiert  aus  dem  4.  Jahrhundert,  ist  also  mindestens 
300  Jahre  nach  Christi  Tod  niedergeschrieben,  ein  Zeitraum  gross  genug, 
um  Sagen  zu  erfinden  und  aufzuzeichnen. 

')  Nach  der  Legende  wäre  Christus  im  Alter  von  30  Jahren  gestorben. 
Nach  Irenäus  wäre  er  jedoeh  wenigstens  50  Jahre  alt  geworden,  womit 
die  Stelle  im  Johannesevangelium  übereinstimmt:  „Du  zählst  noch  nicht 
50  Jahre  und  willst  Abraham  gekannt  haben  ?"  Diese  Worte  wären  un- 
begreiflich, wenn  der  Verfasser  des  Evangeliums  Jesus  nicht  als  annähernd 
50  Jahre  alt  angenommen  hätte. 

')  Die  buddhistische  Legende,  die  fünfhundert  Jahre  älter  als  das 
Christentum  ist,  wurde  selbst  wieder  dem  vedischen  Mythos  entlehnt.  Im 
Buddhismus  empfängt  die  jungfräuliche  Mutter  Mäyä  im  Buddha  den 
Heiland  der  Welt.  Bei  Buddhas  Geburt  erscheint  ein  Stern  am  Himmel. 
Könige  kommen  ihn  anzubeten.  Als  Kind  wird  er  in  den  Tempel  gebracht, 
Propheten  verkünden  wunderbare  Dinge  von  ihm.  Er  setzt  durch  seine 
Weisheit  die  Gelehrten  in  Staunen. 

Vor  seiner  Predigt  zieht  Buddha  sich  zurück,  fastet  dort  vier  Wochen 
lang  und  weist  den  Versucher  Mära  ab,  der  ihm  das  Reich  der  Welt 
anbietet.  Hernach  heilt  er  Kranke,  macht  Blinde  sehend,  geht  trockenen 
Fusses  über  das  Wasser,  verschafft  seinen  Jüngern  eine  wunderbare 
Speise  und  erscheint  seinen  Jüngern  nach  seinem  Tode  in  einer  Licht- 
gestalt, das  Haupt  von  Glorienschein  umgeben. 

Buddha  hatte  wie  Jesus  seinen  bösen  Jünger,  den  Verräter,  nur  dass 
er  Devadatta  anstatt  Judas  Ischarioth  hiess. 

Diese  Legende  wurde  von  den  drei  ersten  Evangelisten,  speziell 
von  Lukas  in  der  Weise  nachgebildet,  dass  fast  nur  die  Namen  geändert 
wurden.  (Anm.  des  Her.:  Die  Ähnlichkeit  könnte  noch  durch  weitere 
Züge  nachgewiesen  werden.) 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  237 

entlehnte  Züge  hinzufügten,  wie  den  bethlehemitischen  Kindermord,  eine 
in  ein  historisches  Ereignis  umgebildete  Sonnensage,  und  die  Flucht  nach 
Ägypten,  die  an  die  Flucht  der  jungfräulichen  Göttin  Isis  erinnert,  welche 
den  jungen  Gott  Horus')  auf  einem  Esel  aus  Ägpyten  flüchtet 

Eins  steht  jedenfalls  fest,  dass  das  Leben  Christi,  wie  es  uns  in  den 
Evangelien  erzählt  wird,  durchweg  legendär  ist.  Fast  alle  Bestandteile 
desselben  sind  dem  vedischen  Mythos  entlehnt:  Die  doppelte  Sohnschaft 
Jesu,  die  jungfräuliche  Mutter  Maria,  der  Zimmermann  Joseph,  der  heilige 
Geist,  seine  wunderbare  Empfängnis,  die  durch  einen  Stern  angekündigte 
Geburt,  seine  geistige  Frühreife,  seine  Verklärung,  seine  Wunder,  seine 
Fahrt  gen  Himmel  zur  Wiedervereinigung  mit  dem  Vater,  der  ihn  erzeugt 
hatte  zum  Heile  der  Menschen,  kurz  die  ganze  christliche  Legende 

Ohne  die  verschiedenen  Vorgänge  im  Leben  Christi  zu  prüfen, 
wollen  wir  uns  hier  nur  mit  seiner  Empfängnis  und  Geburt  befassen. 

Da  alle  Religionen  ihre  Legenden  über  dasselbe  Thema  ausgespon- 
nen haben,  muss  eine  jede,  wenn  auch  unter  verschiedenen  Namen  und 
anderer  Betrachtungsweise  die  Urlegende,  die  sich  auf  die  Sonne  und 
das  Feuer  bezieht,*)  wiederholen.  Wir  haben  bereits  gesehen,  wie  die 
Höhlung  im  Svastika,  **)  Mäyä  genannt,  vom  Windhauch  befruchtet,  das 
Feuer  entstehen  Hess.  Nun  werden  in  den  verschiedensten  Religionen 
Gottheiten  von  einer  Jungfrau  geboren,  die  durch  den  Hauch  oder  den 
Geist  befruchtet  wurde.  *)  Allein  die  Namen  der  Gottheiten  unterscheiden 
sich.  Die  wunderbare  Empfängnis  der  Jungfrau  Maria  ist  die  genaue 
Wiederholung  des  buddhistischen  Mythos,  der  wiederum  auf  eine  ältere 
Form  zurückgeht.  Jupiter  nahm  die  Form  einer  Taube  an  und  machte 
die  jungfräuliche  Phthia  zur  Mutter,  ebenso  Leda,  Antiope,  Europa  und 
Alkmene.  Bacchus  und  Mithra  wurden  auf  gleiche  Weise  erzeugt.  In 
China  soll  Fo-hi   auf  wunderbare  Weise  von  einer  Jungfrau  empfangen 


')  Diese  Legende  existiert  auch  im  alten  Indien.  Im  Museum  Guimet 
kann  man  den  Gott  Krishna  sehen,  wie  er  als  Kind  in  einem  Korb  auf 
das  jenseitige  Ufer  der  Yamunä  «gebracht  wird,  um  dem  von  König  Kamga 
anbefohlenen  Knabenmord  zu  entgehen. 

*)  Anm.  d.  Her.  Der  Verfasser  berichtet  hierüber  (S.  4.):  „Die  Veden, 
die  ältesten  indo-arischen  Religionsurkunden,  führen  uns  dieses  Mysterium 
[der  heiligen  Dreieinigkeit]  in  Form  eines  Mythos  vor.  Agni  (das  Feuer), 
der  fleischgewordene  Sohn  des  Savitri  (des  himmlischen  Vaters),  [der 
Sonne],  wurde  empfangen  und  geboren  von  der  Jungfrau  Mäyä  und 
hatte  den  Zimmermann  Tvashtri  (den  Verfertiger  des  Svastika)  zum 
irdischen  Vater.  In  der  Höhlung  desjenigen  der  beiden  Stäbchen  [des 
Svastika],  das  den  Namen  »die  Mutter«  führt,  wohnt  die  Göttin  Mäyä, 
die  Personifikation  der  schöpferischen  Kraft,  und  zeugt  den  Sohn  durch 
Einwirkung  Väyus  (des  Geistes,  des  Windhauches,  ohne  den  das  Feuer 
nicht  angefacht  werden  kann)." 

••)  Anm.  d.  Her.  Der  Svastika  oder  das  Hakenkreuz,  wie  der 
Leser  es  auf  der  ersten  Umschlagseite  unserer  Zeitschrift  in  dem  »Welt- 
rade« erblickt,  ist  das  Wahrzeichen  des  Buddhismus.  Indessen  ist  der 
Svastika  älter  als  die  buddhistische  Religion.  Man  hat  ihn  in  Kleinasien 
und    Amerika    auf    alten    Funden   entdeckt.     Nach   Malvert   wäre    die 


238  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sein.  Codom  wurde  von  einer  von  den  Sonnenstrahlen  befruchteten 
Jungfrau  geboren.  In  Korea  war  Archer,  in  Mexilco  Huitzilipotzli  auf  die 
gleiche  Weise  erzeugt.  Die  Babyloner  verehrten  eine  jungfräuliche  Göttin, 
die  gleichfalls  Mutter  war.  In  Ägypten  geht  die  legendäre  Geburt  des 
Königs  Amenophis  III.  auf  denselben  Mythos  zurück.  Sie  ist  auf  einer 
Wandfläche  des  Tempels  von  Luxor  dargestellt,  wo  man  die  Verkündigung, 
die  Empfängnis,  die  Geburt  und  Anbetung  sieht,  d.  h.  Punkt  für  Punkt 
achtzehn  Jahrhunderte  vor  Christus  alle  Vorgänge  in  der  von  Lukas 
erzählten  evangelischen  Legende.  Auf  dem  ersten  Bilde  zur  Linken  be- 
grüsst  der  Gott  Toth  die  Jungfrau  und  verkündet  ihr  einen  Sohn.  Auf 
dem  folgenden  führt  der  Gott  Kneph  die  Empfängnis  herbei;  das  dritte 
stellt  die  Geburt  dar.  Die  jungfräuliche  Mutter  sitzt  auf  dem  Gebärstuhl, 
während  der  Knabe  von  einer  seiner  Ammen  hochgehoben  wird.  Auf 
dem  vierten  Bild  nimmt  das  Kind  auf  einem  Throne  die  Huldigung  der 
Götter  entgegen  nebst  Geschenken,  die  ihm  von  drei  Personen  (den 
Magiern  aus  dem  Morgenlande  bei  Lukas)  zur  Rechten  dargebracht  werden. 

Die  Evangelisten  nehmen  also  nur  eine  uralte  Legende  auf,  die  in 
letzter  Instanz  auf  den  vedischen  Feuermythos  zurückgeht.  Allerdings 
mussten  die  Evangelisten  diese  Legende  den  Ideen  und  Taditionen  ihrer 
Umgebung  anpassen,  und  in  dem  zu  diesem  Zwecke  von  ihnen  Hinzuge- 
fügten nimmt  man  leicht  die  Widersprüche  wahr. 

Um  die  Legende  den  jüdischen  Traditionen  und  der  Prophetie 
anzupassen,  nach  welcher  der  Messias  aus  dem  Hause  Davids  stammen 
sollte,  erfand  man  eine  Genealogie.  Um  den  Messias  in  Bethlehem,  dem 
Geburtsort  Davids,  geboren  sein  zu  lassen,  nahm  man  einen  Census  an, 
der  seine  Mutter  dorthin  brachte,  wo  sie  dann  niederkam.  Aber  die  Ge- 
schichte weiss  nichts  von  einem  solchen  Census  (Volkszählung),  während 


ursprüngliche  Bedeutung  des  Svastika  folgende:  Der  primitive  Mensch 
verdankt  die  Entdeckung  des  Feuers  dem  Aneinanderreihen  zweier  Holz- 
stäbchen. „Seit  Jahrhunderten  verehrt  der  Mensch  das  Bild  des  Werk- 
zeuges t,  mit  dessen  Hilfe  er  zum  ersten  Male  das  Feuer  hervorbrachte, 
wie  ein  geheimnisvolles,  göttliches  Zeichen.  Man  findet  es  bereits  in  der 
dem  Zeitalter  des  Eisens  vorangehenden  Periode,  in  der  Steinzeit,  auf 
megelathischen  Denkmälern  und  Grabdenkmälern  eingraviert.  Später  fin- 
det man  dasselbe  heilige  Zeichen  in  der  Form  zweier  sich  kreuzender 
Stäbchen,  die  an  den  Enden  hakenförmig  umgebogen  sind.  Dies  ist 
der  Svastika  oder  das  Hakenkreuz,  eine  Vervollkommnung  des  primitiven 
Werkzeugs.  Das  Kreuz  ist  an  den  Enden  gekrümmt,  um  mit  vier  Nägeln 
festgehalten  werden  zu  können.  In  der  Öffnung  am  Kreuzpunkt  der 
beiden  Stäbchen  setzte  man  einen  konisch  zugespitzen  Pflock,  der  ver- 
mittelst einer  ledernen  Strippe  so  lange  hin  und  her  gewirbelt  wurde, 
bis  Funken  sprühten."  —  ^  ,,,...      o      *■, 

Im  Buddhismus  symbolisiert  nach  meinem  Dafürhalten  der  Svastika 
den  Samsära,  den  ewigen  Kreislauf  der  Geburt  und  des  Todes.  Der 
Übergang  der  ursprünglichen  Bedeutung  zu  dieser  späteren  vergei- 
stigten ist  nicht  so  rätselhaft,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte. 
Man  denke  daran,  dass  im  Buddhismus  der  Samsära  sehr  häufig  mit 
einem  grossen  Feuer,  mit  einem  unendlichen  Brennen  verglichen 
wird.    Dasselbe  Gleichnis  findet  sich  bei  Heraklit.  — 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  239 

die  indische  Legende  Krishna  unter  gleichen  Umständen  geboren  sein 
lässt.  In  dem  Stammbaum  weichen  aber  Matthäus  und  Lukas  beträcht- 
lich ab,  während  er  bei  Marlons  und  Johannes  klüglicherweise  gänzlich 
fehlt.  Nach  Matthäus  stammte  Jesus  von  David  durch  Salomo  und  die 
jüdischen  Könige.  Josephs  Vater  hiess  Jakob.  Nach  Lukas  führte  er  über 
Nathan,  einen  anderen  Sohn  Davids,  seinen  Stammbaum  auf  diesen,  und 
Josephs  Vater  hiess  Eli.  Matthäus  wollte  Joseph,  Jesu  Vater,  an  die 
grosse  königliche  Linie  anschliesen,  übersah  jedoch,  dass  diese  auch 
solche  Könige  enthielt,  die  üble  Vorbilder  abgegeben  hatten.  Die  ehe- 
brecherische Verbindung  Davids  mit  der  Bathseba,  dem  Urias-Weib,  der 
Mutter  Salomos,  war«  nach  ihm  eine  das  Heil  der  Welt  vorbereitende 
Handlung  gewesen  1  Aus  diesem  Grunde  erfand  Lukas  eine  andere 
Genealogie,  die  weder  Skandale  aufwies,  noch  überhaupt  vom  Licht  der 
Geschichte  bestrahlt  wurde. 

Bei  ihren  Anstrengungen,  ihre  Legende  mit  der  hebräischen  Tradition 
in  Einklang  zu  bringen,  gerieten  die  Evangelisten  in  einen  anderen 
Widerspruch.  Jesus  Christus  kann  „nach  dem  Fleisch"  nicht  von  David 
abstammen,  da  dies  mit  der  unbefleckten  Empfängnis  durch  den  heiligen 
Geist  kollidiert.  Infolgedessen  hätte  Maria  „nach  dem  Fleisch"  mit 
David  genealogisch  verknüpft  werden  müssen.  Trotzdem  schweigen  alle 
Evangelisten  über  die  Vorfahren  Marias.  Sie  konnten  auch  nicht 
anders;  ihre  Familie  war  ohne  Interesse;  denn  das  männliche  Geschlecht 
allein  war  massgebend.  Nach  der  Anschauung  seiner  Zeit  war  Jesus  der 
Sohn  seines  Vaters  und  nicht  seiner  Mutter.  „Weib,  was  habe  ich  mit 
dir  zu  schaffen?"  sagte  er  zu  ihr.  Als  Sohn  des  Vaters  und  nicht  der 
Mutter  erbte  man  in  Israel.  Auch  das  Levirat  beruhte  auf  diesem  Grund- 
satz.') 

Ein  ähnliches  Bedenken,  das  den  Stammbaum  Jesu  eingegeben  hatte, 
veranlasste  die  Evangelisten,  ihm  einen  doppelten  Namen  zu  geben.  In- 
dem man  ihn  Jesus  (Heiland)  nannte,  ein  Name,  der  bis  dahin  allen 
jüdischen  als  Messiasse  auftretenden  Propheten  gegeben  war,  knüpfte 
man  die  Legende  an  die  alten  hebräischen  Traditionen.  Durch  die  Hin- 
zuziehung des  Namens  Christus  (der  Gesalbte)  bewahrte  man  den 
wahren  Charakter  des  vedischen  Mythos,  da  Christus  (der  Gesalbte)  die 
alte  Bezeichnung  Agnis  war,  des  Heilands  der  Welt,  dessen  neue  Ver- 
körperung Jesus  war.  Indem  man  endlich  die  wichtigsten  Abschnitte  des 
Lebens  Jesu  mit  dem  Lauf  der  Sonne  und  des  Mondes  in  Übereinstimmung 
brachte,  erkannte  man  an,  dass  sie  einer  astronomischen  Auslegung  zu- 
gänglich waren.-) 


>)  Um  diese  Unterlassung  betreffs  der  Eltern  der  Maria  wieder  gut 
zu  machen,  entschied  man  um  das  6.  Jahrhundert  nach  Angaben  der  apo- 
kryphen Evangelien,  dass  ihre  Mutter  Anna,  ihr  Vater  Joachim  hiess. 

*)  Alle  Feste  des  Altertums,  an  deren  Stelle  die  christlichen  getreten 
sind,  waren  durch  die  wichtigsten  Etappen  des  Sonnenkreislaufs,  die 
beiden  Solstitien  und  die  Tag-  und  Nachtgleichen  geregelt. 


240  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Die  Lehre  vom  Christ  sowie  sein  Leben  sind  gänzlich  den  Veden 
entlehnt.  Gott  (die  Sonne)  ist  es,  der  seinen  einzigen  Sohn  (das  Feuer) 
zum  Heil  der  Menschen  darbringt.') 

JVlan  sah  im  Altertum  das  Opfer  des  eigenen  Lebens  für  weniger 
verdienstlich  an,  als  das  eines  geliebten  Gegenstandes,  wie  eines  teuren 
Kindes,  eines  einzigen  Sohnes.  Iphigeniens  Tod  ist  ein  Beispiel  hierfür. 
Bei  den  Phöniziern  opferten  zur  Zeit  eines  grossen  Unglücks  die  Staats- 
häupter für  das  allgemeine  Wohl  den  Göttern  ihre  teuersten  Kinder.  In 
Karthago  Hess  der  Anstifter  einer  Empörung  seinen  Sohn  kreuzigen,  um 
sich  der  Gottheit  geneigt  zu  machen  (Justin  18,  7).  Die  Genesis  erzählt, 
dass  Gott  Abraham  befahl  seinen  Sohn  Isaak  zu  opfern. 

Der  Gedanke,  dass  ein  Mittler  durch  Selbstverstümmelung  oder  den 
Tod  die  Gottheit  gewinnen  und  das  Heil  der  anderen  bewerkstelligen 
könne,  war  im  Heidentum  ganz  allgemein.  Prometheus  hatte  sein  Leben 
für  das  Heil  der  Menschheit  geopfert.  „Wer  weiss  es  nicht",  sagt  Lucian, 
„dass  Prometheus  dafür,  dass  er  die  Menschen  zu  sehr  liebte,  am  Kaukasus 
gekreuzigt  wurde."  Auch  Bacchus  war  der  Erlöser-Gott  gewesen.  Orpheus 
sprach  zu  ihm:  „Du  wirst  die  Menschen  von  ihrer  harten  Arbeit  und 
ihrem  Elend  befreien."  Hamilkar  stürzte  sich  während  der  Schlacht  in  die 
Flammen  eines  Holzstosses,  um  den  Sieg  zu  erlangen.  Das  Brüderpaar 
der  Philänen  Hess  sich  für  das  Heil  des  Vaterlandes  lebendig  begraben. '') 

In  einer  Elegie  des  Tibull  hackt  sich  die  Priesterin  der  asiatischen 
Bellona  den  Arm  ab,  um  die  Bildsäule  der  Göttin  mit  ihrem  eigenen  Blut 
zu  bespritzen.  Apulejus  erzählt,  dass  die  Priester  der  Göttermutter  ihr 
Blut  auf  die  um  sie  versammelten  Gläubigen  gössen.  Juvenal  zeigt  uns 
eine  Matrone,  die  sich  auf  den  Befehl  einer  Priesterin  auf  einem  langen 
Sühnegang  die  Kniee  blutig  schlägt.  Das  ganze  Altertum  zeigt  uns 
Fromme,  die  sich  verstümmeln,  um  die  Götter  für  sich  günstig  zu  stim- 
men. Die  Verehrer  der  Cybele  schlugen  sich  wund,  um  den  Himmel 
zu  erlangen.  Die  Baalspriester  brachten  sich  mit  Messern  vor  den  Altären 
ihres  Gottes  Schnitte  bei,  bis  das  Blut  in  Strömen  floss. 

Diese  blutigen  Büssungen,  denen  sich  die  interessierte  Person  selber 
oder  ein  Priester  als  Stellvertreter  unterzog,  waren  in  der  römischen  Gesell- 
schaft gang  und  gebe.  Niemand  zweifelte  daran,  dass  die  Gunst  der 
Gottheit  zu  gewinnen  war,  wenn  ein  heroischer  Mensch  sein  Leben  zur 
Sühne  für  die  Sünden  seiner  Nächsten  hingab.  Indem  die  Evangelisten 
nach  dem  Vorbild  der  Prometheus-Legende  den  Tod   Christi  durch  die 


»)  Im  dritten  sibyllinischen  Buch  der  alexandrinischen  Juden  wird 
auf  einen  „von  der  Sonne  kommenden  König"  angespielt.  Das  Evan- 
gelium des  Lukas  zeigt  uns  Jesus  Christus  aus  der  Sonne  auf  einer  Wolke 
kommen:  „Es  wird  Zeichen  in  der  Sonne  geben  .  .  .  Man  wird  alsdann 
des  Menschen  Sohn  auf  einer  Wolke  sehen,  mit  grosser  Macht  und 
grossem  Glanz."    (XXI,  25.) 

*)  Valerius  Maximus  V,  6. 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  241 

ergreifende  Darstellung  seiner  Passion  so  dramatisch  gestalteten,  er- 
schütterten sie  die  Herzen  und  kamen  den  Anschauungen  ihrer  Zeit  ent- 
gegen')- — 

Die 

Transmigration  oder  Wiedergeburt. 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

(1.  Fortsetzung.) 
Zwei  Menschen  stehen  am  Ufer  eines  grossen  Sees  und 
betrachten  die  Wellen  auf  seiner  Oberfläche,  welche  fern  am 
Horizonte  ihren  Ursprung  zu  nehmen  und  immer  näher  zu 
kommen  scheinen,  bis  sie  sich  schliesslich  als  Schaum  zu  ihren 
Füssen  brechen.  Jeder  der  beiden  Menschen  beobachtet  diese 
Erscheinung,  und  trotzdem  hat  jeder  für  dieses  Phänomen  eine 
andere  Erklärung.  Der  eine  hat  zwar  keine  Kenntnis  von  den 
Naturgesetzen,  aber  er  besitzt  das,  was  man  gesunden 
Menschenverstand  nennt;  für  ihn  ist  es  —  denn  der  Augen- 
schein lehrt  es  ihn  —  eine  entfernte  Wassermasse,  welche, 
durch  den  Luftstrom,  der  auch  sein  Haupt  umweht,  angetrieben, 
vom  Horizonte  aus  auf  ihn  zu  kommt,  wobei  sie  aber  sich 
selbst  in  Wesen  und  Form  stets  gleich  bleibt;  und  wenn  du 
ihn  fragst,  was  eine  Welle  sei,  so  wird  er  dir  sagen:  „Eine 
Welle  ist  eine  Wassermasse,  welche,  von  der  Kraft  des  Windes 
getrieben,  sich  über  den  Wasserspiegel  hin  fortbewegt."  Der 
andere  nun  besitzt  den  geschulten  Geist  eines  wissenschaftlichen 
Beobachters  und  ist  mit  jenen  Naturgesetzen  vertraut,  welche 
im  Laufe  der  letzten  Jahrhunderte  den  Menschen  bekannt  ge- 
worden sind.  Er  hat  über  die  Bewegung  der  Welle  eine  ganz 
andere  Ansicht;  denn  er  weiss  genau,  dass  von  der  Bewegung 
irgend  einer  Wassermasse   auf  ihn   zu   überhaupt  nicht  die 


')  Der  Glaube,  dass  das  menschliche  Blut  die  Kraft  besitze,  die 
Sünden  zu  sühnen,  scheint  die  ersten  Christen  in  einen  reinen  Opfer- 
wahnsinn getrieben  zu  haben.  Nach  Origenes  ist  der  Tod  eines  Märty- 
rers ebenso  wie  Christi  Tod  imstande,  das  Heil  der  Menschheit  zu  ver- 
gewissern. Viele  Christen  suchten  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach 
einer  Gelegenheit  zu  sterben,  um  ihr  eigenes  Opfer  mit  dem  des  Sohnes 
Gottes  zu  vereinigen, 

16 


242  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Rede  sein  kann,  sondern  dass  vielmehr  an  jedem  Punkte  des 
Wasserspiegels  die  Wasserteilchen  sich  nur  heben  und  dann 
wieder  in  ihre  ursprüngliche  Lage  zurücksinken,  und  dass  jedes 
einzelne  Teilchen  nach  seiner  Schwingung  die  Bewegung  auf 
das  benachbarte  Teilchen  überträgt.  Kurz,  für  den  wissen- 
schaftlich Denkenden  gibt  es  in  diesem  Falle  nicht,  wie  für 
den  anderen  Beobachter,  eine  Übertragung  von  Materie,  son- 
dern nur  eine  Übertragung  von  Kraft.  Mit  anderen  Worten: 
der  erste  Beobachter  sieht  die  Bewegung  von  etwas  Materi- 
ellem und  gemäss  seiner  Unkenntnis  der  Naturgesetze  hält  er 
diese  Täuschung  seiner  Sinne  für  eine  reale  Tatsache;  der 
andere  Mann  dagegen,  dessen  Erklärung  dieses  Phänomens 
eine  dynamische,  und  keine  materielle  ist,  sieht  nur  die 
Übertragung  eines  Teiles  der  universellen  Energie,  wie  sie 
augenblicklich  in  einer  Welle  individualisiert  war. 

Wir  wissen  natürlich,  dass  der  letztere  Beobachter,  der 
Mann  mit  der  dynamischen  Weltanschauung,  recht  hat,  und 
dass  keine  Übertragung  einer  Wassermasse  von  einer  Stelle  zur 
anderen  stattfindet,  sondern  nur  eine  Übermittelung  schwingen- 
der Kraft.  Wir  wollen  nun  dieses  Beispiel  auf  das  Dasein 
anwenden.  Wir  wollen  jetzt  annehmen,  die  beiden  Männer, 
von  denen  wir  eben  sprachen,  seien  mit  der  Gabe  des  Schauens 
ausgestattet,  —  ich  meine  hier  nicht  das  Betrachten  der  Wellen 
auf  einem  irdischen  See,  sondern  das  Schauen  auf  das  wo- 
gende Meer  des  bewussten  Lebens,  —  die  Kraft  zurück- 
zublicken auf  frühere  Existenzen,  bis  das  geistige  Schauen  mit 
dem  fernen  Horizonte  einer  vergangenen  Ewigkeit  verschmilzt. 
Der  Mann  mit  dem  gesunden  Menschenverstand  wird  dann 
von  einer  bestimmten  Welle  sprechen,  welche  selbst  ein 
dauerndes,  sich  nicht  veränderndes  Ding  ist,  ein  gesonderter 
Teil  der  Wogen  des  Daseins,  welcher  seine  Identität  beibehält, 
während  seine  Lage  und  Umgebung  mit  jedem  Augenblick  der 
dahineilenden  Stunden  wechselt;  er  wird  den  Standpunkt  des 
Vitalisten  oder  des  Vedäntisten  einnehmen  und  wird  an 
die  Existenz  eines  Seelenwesens  glauben,  welches  selbst  un- 
veränderlich und  unverändert  im  Lauf  der  Zeiten  von  Ort  zu 
Ort  durch  das  Universum  wandert  und  in  seiner  wechsellosen 
Individualität  immer  dasselbe  bleibt.  Aber  der  wohlunterrichtete 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  248 

Mann  wird  nur  die  Übertragung  einer  individualisierten  Kraft 
sehen;  er  wird  wissen,  dass  von  dem  Leben,  welches  in  ferner 
Vergangenheit  ins  Dasein  eintrat,  kein  Element  selbst  für  zwei 
aufeinander  folgende  Augenblicke  dasselbe  bleibt;  er  erkennt, 
dass  die  Welle  im  Ozean  des  Lebens,  welche  sich  jetzt  an 
einer  Stelle  zum  Dasein  emporhob,  durchaus  nicht  dieselbe 
Welle  ist,  welche  eine  kurze  Zeit  vorher  zu  scheinbarer  Ruhe 
sich  senkte,  insofern  nämlich,  als  sie  kein  Teilchen  mit  der 
Woge  des  vorhergehenden  Lebens  gemeinsam  hat;  und  dennoch 
ist  es  dieselbe  Welle,  weil  sie  das  Ergebnis  aus  der  Über- 
tragung des  Charakters,  der  geistigen  Kräfte,  des  Handelns 
oder  der  Energie  aus  jenem  vergangenen  Leben  darstellt.  „Es 
ist  nicht  derselbe  und  ist  nicht  ein  anderer,"  —  und  wir  haben 
nun  genau  denselben  Unterschied  zwischen  den  Grün- 
dern des  Vedänta  einerseits  und  dem  Buddha  anderer- 
seits, wie  zwischen  den  beiden  Männern  in  unserem 
Gleichnis:  beide  haben  mit  höherer  Einsicht  dasselbe 
Phänomen  ins  Auge  gefasst,  —  der  eine  hat  diese  Erscheinung 
für  einen  vollständig  genügenden  Beweis  für  das  Dasein  und 
die  Unsterblichkeit  eines  unveränderlichen  Egos  gehalten, 
während  der  andere  mit  tieferer  Einsicht  und  klarerem 
Verständnis  die  tatsächliche  Wahrheit  gesehen  hat, 
dass  es  nämlich  nirgends  ein  dauerndes,  getrenntes 
Seelen-Wesen  gibt,  sondern  nur  eine  Übertragung  des 
Charakters,  der  Frucht  des  geistigen  Wirkens  in  der 
Vergangenheit.  Der  Vedäntist  hat  Substanz  gesehen, 
ein  dauerndesPrinzip,  ein  Ens  (Seiendes);  der  Buddhist 
dagegen  nur  Eigenschaften,  welche  selbst  in  allen 
ihren  Elementen  fortwährend  wechseln,  deren  Total- 
Summe  aber  beständig  fortschreitet,  bis  die  Welle  an 
Nibbänas  Ufer  sich  bricht  und  für  immer  verschwindet. 

Dies  ist  die  Antwort  des  Buddhisten  an  den  Animisten, 
welcher  sich  im  Hohen  oder  Niedrigen,  im  Groben  oder  Feinen 
das  Dasein  eines  dauernden  Prinzipes  im  Menschen,  eines 
Ich-Wesens  einbildet,  welches  von  Leben  zu  Leben  weiter- 
schreitet, gerade  so,  wie  die  Welle  des  Sees  von  Ort  zu  Ort 
vorzurücken  scheint. 

Es  gibt  nun  viele  Menschen,  denen  es  schwer  wird,  zu 

16* 


244  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

verstehen,  wie  der  Charakter  eines  Menschen  an  sich  im  Augen- 
blici<  des  Todes  irgendwie  fortdauern,  oder  das  Dasein  eines 
ähnlichen  Individuums  verursachen  könne,  —  kurz  mit  einem 
Worte,  wie  die  Individualität  der  Kräfte  nach  dem  Tode  fort- 
zubestehen vermöge,  anstatt  sich  im  Universum  zu  verteilen. 
Ein  anderes  Gleichnis  mag  dazu  dienen,  denjenigen  Lesern, 
welchen  das  eben  genannte  Bedenken  aufsteigt,  das  Verständ- 
nis dieser  buddhistischen  Idee  zu  erleichtern. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Warum  ich  Buddhist  wurde. 

Von  A.  E.  Buultjens. 

(1.  Fortsetzung.) 

Hinsichtlich  dieses  den  Schöpfer  betreffenden  Punktes  muss 
ich  mir  hier  eine  kleine  Abschweifung  gestatten.  Gestern  er- 
hielt ich  einen  offenbar  von  einem  Christen  geschriebenen  Brief, 
in  welchem  ich  augefordert  werde,  einige  Argumente  gegen  den 
Buddhismus  zu  widerlegen  welche  in  acht  beiliegenden  Flug- 
schriften enthalten  waren.  Ich  antwortete  dem  Schreiber,  dass 
es  mir  augenblicklich  an  Zeit  mangelt,  auf  antibuddhistische 
Traktate  einzugehen,  die  ich  noch  nicht  gelesen  habe,  dass  ich 
aber  hoffte,  bei  passender  Gelegenheit  einen  Vortrag  über  das 
Thema:  „Eine  Erwiderung  auf  die  von  christlichen  Traktat- 
Schreibern  gegen  den  Buddhismus  unternommenen  Angriffe"  zu 
halten.  Heute  will  ich  nur  einen  Punkt  berühren,  welcher  sich  in 
einer  von  der  »Christlichen  Literatur-Gesellschaft«  veröffentlichten 
Schrift  findet.  Der  anonyme  Verfasser  dieser  den  Titel 
»Buddha  und  seine  Religion«  tragenden  Schrift  sagt: 

„Das  Dasein  eines  Schöpfers  kann  auf  folgende  Weise 
bewiesen  werden:  Wo  immer  wir  Ordnungen  und  Einrichtungen 
wahrnehmen,  welche  dazu  bestimmt  sind,  einen  bestimmten 
Zweck  zu  erfüllen,  so  sind  wir  dessen  sicher,  dass  diese  Dinge 
ihren  Ursprung  der  Tätigkeit  eines  intelligenten  Wesens  ver- 
danken müssen.  Angenommen,  wir  sehen  eine  Uhr,  so  schlies- 
sen  wir  aus  ihrer  wunderbaren  Einrichtung,  dass  ein  Verfer- 
tiger  sie   gemacht   haben  rnuss,   welcher  wusste,   wofür  sie 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  245 

bestimmt  war,  und  der  dementsprechend  ihr  die  bestimmte 
Konstruktion  gab.  Die  verschiedenen  Teile  der  Uhr  l<onnten 
sich  nicht  selbst  bilden  noch  sich  zusammenfinden.  Wenn  die 
Uhr  so  wunderbar  konstruiert  wäre,  dass  sie  andere  Uhren 
erzeugen  würde,  so  würde  das  sicherlich  unsere  Auffassung 
von  der  Weisheit  ihres  Verfertigers  erheblich  steigern.  Nun  ist 
die  Welt,  in  welcher  wir  leben,  weit  wundervoller  gebaut,  als 
irgend  eine  Uhr,"  —  folglich  —  muss  sie  einen  Schöpfer  haben. 

Ich  bin  mit  diesem  „Beweise"  wohl  vertraut.  Er  ist  den 
Freidenkern  bekannt  als  „Paley's  Uhr-Beweis  für  den  Plan  in 
der  Natur."  Wenn  ein  Uhrmacher  schlechte  Uhren  verfertigt, 
so  nennen  wir  ihn  einen  ungeschickten  Uhrmacher.  Nun  ge- 
wahrt man  in  dieser  Welt  auf  Schritt  und  Tritt  eine  offenbare 
Fülle  von  Monstrositäten,  schlechten  Dingen,  wilden  Tieren  in  der 
Tierwelt,  Dornen,  Stacheln  und  Unkraut  in  der  Pflanzen-Welt, 
ferner  Gift,  Siechtum,  Wahnsinn,  Unglück,  Schmerzen  und 
Leiden.  Eine  schlechte  Uhr  hat  einen  ungeschickten  Uhrmacher; 
ergo:  das  Übel  in  der  Welt  ist  von  einem  schlechten  Welt- 
Verfertiger  gemacht,  denn  eine  gute  Person  will  keine  schlechten 
Dinge  schaffen. 

Ferner:  Der  Uhrmacher  verfertigt  seine  Uhr  aus  Rädern, 
Spiralen,  Zifferblatt,  Zeigern  und  Gehäuse;  er  setzt  einige  schon 
vorher  vorhandene  Materialien  zusammen.  Er  verfährt  nicht 
in  der  Weise  eines  Gauklers,  der  ein  Etwas  aus  Nichts  hervor- 
zaubert. Folglich  kann  ein  Schöpfer  nicht  die  Welt  aus  Nichts 
gemacht  haben  nach  dem  Satze:  „Ex  nihilo  nihil  fit",  „aus 
Nichts  wird  Nichts."  Aber  selbst  die  Möglichkeit  der  Welt- 
schöpfung aus  Nichts  zugegeben,  hervorgerufen  durch  einen 
einfachen  Willensakt  des  allmächtigen  Wesens,  so  ist  es  billig, 
folgende  Frage  aufzuwerfen:  „Was  tat  denn  der  Schöpfer,  be- 
vor er  die  Sonne,  den  Mond,  die  Vögel  in  der  Luft  und  die 
Fische  im  Meere  schuf?"  Er  muss  im  Chaos  oder  in  der 
Leere  existiert  haben,  ohne  etwas  zu  tun. 

Doch  kehren  wir  wieder  von  dieser  Abschweifung  zurück. 
Nachdem  ich  meinen  Glauben  an  einen  persönlichen  Schöpfer, 
einen  anthropomorphen,  vermenschlichten  Gott  verlassen  hatte, 
gab  ich  die  Gebete  auf  und  den  Glauben  an  die  unbefleckte 
Empfängnis  Christi,  den  ich  als  einen  edlen,  heiligen  Menschen 


246  DER  BUDDHIST.  I.  Jalirg. 

betrachtete,  —  ich  verwarf  den  Glauben  an  das  stellvertretende 
Sühnopfer,  welches,  wie  die  Christen  gelehrt  werden,  durch 
Christi  Tod  uns  die  Möglichkeit  der  StJndenvergebung  gewährt. 
Ich  gab  den  Glauben  an  die  letztere  überhaupt  auf;  denn  wenn 
es  keinen  persönlichen  Gott  gibt,  wer  soll  da  Sünden  vergeben  ? 
Ich  konnte  nicht  länger  an  die  empörende  Lehre  von  der 
ewigen  Verdammnis  in  der  Hölle  glauben,  wo  Heulen  und 
Zähneklappen  sein  soll.  Dadurch  nun,  dass  ich  meine  inner- 
liche Zustimmung  den  Lehren  des  Christentums  auf  diese  Weise 
versagte,  war  ich  nunmehr  vor  die  Entscheidung  gestellt,  ob 
ich,  wie  so  viele,  ein  äusserlicher  oder  Namens-Christ  bleiben, 
oder  ob  ich  den  ehrlicheren  Weg,  der  Wahrheit  die  Ehre  zu 
geben,  gehen  sollte.  Sollte  ich  mich  noch  weiter  als  Christen 
bekennen,  oder  sollte  ich  schweigen?  Ich  zog  es  vor,  mich 
auszusprechen.  Mit  meinen  agnostischen  Anschauungen  stand 
ich  nicht  allein;  einige  englische  Studenten,  besonders  solche, 
welche  Vorlesungen  über  Ethik  und  Naturwissenschaften  hörten, 
und  einige  Juristen  dachten  wie  ich.  So  entschloss  ich  mich, 
die  Sache  zur  Entscheidung  zu  bringen.  Es  war  in  Cambridge 
Vorschrift,  dass  jeder  Hörer  den  College-Gottesdienst  minde- 
stens fünfmal  in  der  Woche  besuchen  musste.  Ich  blieb  nun 
den  Gottesdiensten  fern  und  wurde  infolgedessen  vor  den  Dechan- 
ten  des  Colleges  geladen;  ich  glaube,  sein  Name  war  Dechant 
Maitland;  er  war  ein  liberaler,  toleranter,  sympatischer  Mann. 
Der  Inhalt  unserer  einstündigen  Unterredung  war  kurz  folgender: 

„Guten  Morgen!" 

.Guten  Morgen,  Hochwürden!' 

„Ich  hoffe,  Sie  werden  in  Zukunft  den  Gottesdiensten 
regelmässiger  beiwohnen.     Guten  Morgen!" 

Er  wollte  mich  damit  entlassen,  weil  noch  andere  Herren, 
die  den  Gottesdienst  geschwänzt  hatten,  darauf  warteten,  vom 
Dechanten  ermahnt  zu  werden.  Aber  ich  war  entschlossen, 
unsere  Unterredung  fortzusetzen. 

,Wenn  Ew.  Hochwürden  gestatten,  so  möchte  ich  mit 
Ihnen  über  den  Gottesdienst  sprechen.' 

„Gewiss!  Um  was  handelt  es  sich?  Bitte  nehmen  Sie 
Platz." 

Ich  setzte  mich. 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  2*7 

,Ich  kann  es  nicht  billigen,  dem  Gottesdienste  zwangs- 
weise beizuwohnen;  der  Zwang  tut  mir  nicht  gut.' 

„Schön!     Ich  dispensiere  Sie  für  die  Zukunft  davon." 

Nachdem  ich  so  die  Erlaubnis  bekommen  hatte,  dem 
Gottesdienste  fern  bleiben  zu  dürfen,  weil  eine  gezwungene 
Aufmerksamkeit  beim  christlichen  Kultus  mir  nicht  gut  bekam, 
wollte  ich  die  Unterredung  abbrechen.  Nicht  so  der  gute  Dechant, 
welcher  nun  eine  Ansprache  an  mich  richtete,  nicht  als  ein 
Dechant,  der  seine  gesetzliche  Autorität  einem  College-Studenten 
gegenüber  geltend  macht,  sondern  als  ein  Diener  der  Kirche 
Christi,  welcher  mit  sanften  Worten  versucht,  ein  Schäflein  zur 
Hürde  zurückzuführen,  welches  sich  in  Glaubenssachen  auf  Ab- 
wegen befindet. 

„Nun  erzählen  Sie  mir  mal,  welche  Gründe  Sie  eigentlich 
bestimmen,  vom  Gottesdienst  fernzubleiben." 

,lch  würde  meine  Ansicht  frei  heraussagen,  wenn  ich  nicht 
fürchten  müsste,  dass  meine  Stellung  im  College  dadurch  er- 
schüttert würde.' 

„Keineswegs;  ich  versichere  Sie,  dass  alles,  was  Sie  mir 
sagen,  bei  mir  bleiben  soll." 

,Hochwürden,  ich  möchte  Ihr  Gemüt  durch  meine  ungläu- 
bigen, agnostischen  Ansichten  nicht  gerne  erschrecken.' 

„Wie  sehr  auch  dieselben  mich  bekümmern  mögen,  es  ist 
meine  Pflicht,  Ihre  Zweifel  anzuhören  und  den  Versuch  zu 
machen,  sie  zu  beseitigen.  Ein  Geistlicher  kommt  im  Laufe 
seines  Lebens  mit  Menschen  der  verschiedensten  Ansichten  zu- 
sammen, und  es  ist  seine  Pflicht,  dieselben  zu  Gott  zurück- 
zuführen." 

,Nun  gut.  Hochwürden,  ich  glaube  nicht  mehr  an  das,  was 
in  der  Bibel  geschrieben  steht;  ich  glaube  nicht  an  die  ewige 
Verdammnis  in  der  Hölle,  und  vor  allen  Dingen,  ich  kann 
nicht  an  einen  Schöpfer  glauben.' 

„Sie  haben  Huxley  und  Bradlaugh  gelesen?" 

,Ja,  Hochwürden,  und  ich  glaube  auch  nicht  mehr  an  die 
Inspiration  der  Bibel,  noch  an  die  unbefleckte  Empfängnis 
Christi,  noch  an  die  stellvertretende  Versöhnung,  noch  auch  an 
Christi  Gottessohnschaft.' 


540  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

„Ich  bin  bekümmert,  dies  hören  zu  müssen.  Haben  Sie 
versucht  zu  beten?  Gott  hilft  denen,  die  gläubig  und  aufrich- 
tig zu  ihm  beten." 

,Gewiss,  ich  habe  sehr  ernstlich  gebetet;  seitdem  aber 
mein  Gottesglaube  verloren  ging,  sagt  mir  meine  Vernunft,  dass 
Gebete  zu  einem  nicht  existierenden  Gott  sinn-  und  zwecklos 
sind.' 

„Dann  möchte  ich  Sie  bitten,  die  christliche  Familie  zu 
betrachten.  Welch'  eine  Fülle  von  Frieden  und  Glück  ruht 
doch  im  christlichen  Heim!  Haben  Sie  hieran  noch  nicht  ge- 
dacht?" 

,Ja,  Hochwürden,  ich  habe  oft  daran  gedacht  und  gebe 
gerne  zu,  dass  in  dem  Hause,  wo  die  Sittenlehren  Christi  befolgt 
werden.  Glück  vorhanden  ist.  Aber  ich  komme  aus  einem 
buddhistischen  Lande,  wo  eine  buddhistische  Familie  genau 
ebenso  glücklich  ist,  wenn  sie  die  Morallehren  des  Buddha 
beobachtet.  Dasselbe  wird  von  einem  hinduistischen  oder 
mohammedanischen  Hause  gelten,  in  denen  die  Anweisungen 
der  betreffenden  Religion  befolgt  werden.'  — 

Dies  war  in  kurzen  Zügen  der  Inhalt  unserer  Unterredung. 
Der  freundliche  Dechant  sprach  mit  mir  nahezu  eine  Stunde 
lang  und  zum  Schluss  gab  er  mir  ein  Buch  von  Dr.  Wace  zum 
Lesen  mit  und  bat  mich,  ihn  dann  wieder  aufzusuchen.  Ich 
las  das  Buch,  aber  es  Hess  mich  gänzlich  unbefriedigt;  denn 
es  begann  mit  der  Voraussetzung  eines  allwissenden  Gott- 
Schöpfers,  setzte  also  gerade  mit  dem  Dogma  ein,  welches  ich 
zu  allererst  aufgegeben  hatte.  Als  ich  dem  Dechanten  das 
Buch  zurückerstattete,  konstatierte  ich,  dass  es  für  meinen  Fall 
ohne  jede  Bedeutung  sei,  und  so  fiel  meine  Angelegenheit  unter 
den  Tisch. 

In  der  Folgezeit  war  ich  nun  ein  überzeugter  Agnostiker. 
Dies  tat  aber  meinen  gesellschaftlichen  Beziehungen  keinerlei 
Abbruch,  und  während  ich  speziell  unter  den  Ethikern  und 
Naturwissenschaftlern  manche  Freunde  hatte,  so  mieden  mich 
auch  die  Theologen,  welchen  mein  Unglaube  bekannt  war, 
keineswegs,  und  einige  gute  Freunde  von  mir  sind  noch  heute 
Geistliche  der  anglikanischen  Kirche. 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  249 

Als  es  bekannt  geworden  war,  dass  der  Dechant  mich 
von  dem  Besuche  des  Gottesdienstes  dispensiert  hatte,  ereig- 
nete sich  ein  amüsanter  Zwischenfall.  Ein  Zögling  eines  anderen 
Colleges  ging  zu  seinem  Dechanten  und  bat  ihn  um  die  Er- 
laubnis, dem  Gottesdienst  fernbleiben  zu  dürfen,  weil  er  nicht 
an  Gott  glaube.  Darauf  erwiderte  ihm  der  Dechant:  „Ich  will 
Ihnen  vierundzwanzig  Stunden  Bedenkzeit  geben;  entweder, 
Sie  finden  Ihren  Gott,  oder  Sie  finden  ein  anderes  College."  — 

Zugleich  mit  einer  grossen  Zahl  von  Christen  auf  Ceylon 
war  ich  geflissentlich  in  dem  Glauben  bestärkt  worden,  dass 
Bosheit  und  Verbrechen  nur,  oder  doch  wenigstens  zum 
weitaus  grössten  Teil  unter  den  Buddhisten  und  anderen 
„Heiden"  ihr  Unwesen  trieben,  dass  die  Verbrechen  dagegen  im 
christlichen  England  verhältnismässig  zu  den  Seltenheiten  ge- 
hörten. Dies  war  ein  Argument  aus  dem  praktischen  Aspekt  des 
Christentums.  Ich  weiss  nicht,  ob  diese  in  Ceylon  herrschende  An- 
sicht von  den  Missionaren  importiert  war  und  weiter  kolportiert 
wurde,  —  genug,  sie  bestand.  Und  nun  sah  ich  gerade  genug 
von  den  praktischen  Wirkungen  des  Christentums 
unter  Christen  in  christlichen  Ländern.  Ich  brauche 
nicht  den  äussersten  Reichtum  zu  schildern  gegenüber  der 
kriechenden  Niedrigkeit,  Armut  und  dem  namenlosen  Elende 
im  Ost-Ende  von  London.  Nächtliche  Ausschweifungen,  hoff- 
nungslose Trunksucht  in  den  Alkohol-Palästen,  Tausende  von 
hungernden,  obdachlosen  Menschen,  Notschreie  an  die  Regie- 
rung, die  Demonstrationen  unbefriedigter  Sozialisten,  —  das 
waren  die  Gegenstände  auf  dem  Gemälde,  welches  mein  Geist 
nie  vergessen  wird.  Tausende  von  Männern,  Frauen  und 
Kindern  mussten  zusammengepfergt,  ohne  Heim,  ohne  Dach, 
ihr  Lager  auf  der  blossen,  grasfreien  schneebedeckten  Erde 
aufschlagen,  und  niemand  half  ihnen.  Wie  kommt  es,  dass 
solche  Dinge  im  christlichen  England  vor  sich  gehen?!  Die 
Bibel  sagt:  „Verkaufe  was  du  hast,  und  gib  es  den  Armen;" 
—  aber  inmitten  dieser  Unreinheit,  Armut  und  Not  gewahrte 
ich  die  wohlgenährten  Körper  der  christlichen  Bischöfe  und 
Geistlichen,  die  sich  behaglich  ihres  luxuriösen  Lebens  freuten. 
Ungeheure  Summen  wurden  auch  für  grosse  Kirchen  verwandt, 
so  für    die  St.  Pauls-Kathedrale    und    die  Westminster-Abtei, 


250  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

während  kein  Geld  vorhanden  war,  um  die  hungernden  Armen 
zu  speisen.  Ich  war  Augenzuge,  wie  junge,  zelotische,  begeis- 
terte Prediger  des  Evangeliums  unter  dem  Gebet  und  Applaus 
rechtgläubiger  Christen  in  Versammlungen,  die  von  grossen 
Missions-Gesellschaften  einberufen  waren,  nach  China,  Afrika 
und  Indien  gesandt  wurden.  Diese  Art  praktischen  Christen- 
tums erschien  mir  als  der  reinste  Hohn;  denn  zugleich  mit  dem 
Export  christlicher  Missionare  und  Bibeln  ging  ein  weit 
grösserer  Export  von  Flaschen  und  Kugeln  Hand  in  Hand,  — 
die  ersteren,  um  den  Geist,  die  letzteren,  um  den  Körper  zu 
ruinieren.  Und  alles  das  kommt  aus  einer  Stadt,  wo  mehr  als 
in  anderen  Orten  allnächtlich  tausende  christlicher  Frauen  und 
Mädchen  ihren  Körper  gegen  klingende  Münze  öffentlich  feil- 
bieten. Ich  entsinne  mich,  dass  einer  unserer  ersten  Gesetzgeber 
Ceylons,  der  eine  Reise  nach  dem  modernen  Babylon  machte,  seinen 
Augen  nicht  traute,  als  er  dort  einmal  um  Mitternacht  am 
Theater  den  ungeheuren  Schwärm  von  hochelegant  gekleideten 
öffentlichen  Dirnen  sah,  die  ihrem  traurigen  Berufe  nachgingen. 
Er  war  tieftraurig,  solche  Dinge  im  christlichen  England 
sehen  zu  müssen.  Das  soziale  Elend  ist  aber  durchaus  nicht 
auf  London  allein  beschränkt,  sondern  es  wuchert  und  nimmt 
stetig  zu  in  allen  grösseren  christlichen  Städten,  so  in  Liverpool, 
Paris,  Berlin,  Wien  und  New- York. 

Gerade  so  wie  bei  Christen,  die  im  Orient  geboren  sind, 
die  falsche  Ansicht  herrscht,  dass  allein  in  den  „heidnischen" 
Ländern  die  Nichtswürdigkeit  des  Menschen  triumphiere, 
während  die  wahre  menschliche  Tugend  nur  in  den  Christen- 
ländern des  Westens  blühe,  grassiert  auch  im  Abendlande  ein 
starkes  Missverständnis  hinsichtlich  der  Prüfungen  und  Ge- 
fährnisse,  welchen  die  zu  den  „Heiden"  entsandten  Missionare 
ausgesetzt  seien.  Ich  musste  wiederholt  gebildeten  und  intelli- 
genten Leuten  in  England  allen  Ernstes  versichern,  dass  man 
es  auf  Ceylon  keineswegs  als  eine  Delikatesse  betrachte,  wenn 
ein  Missionär  gebraten  und  beim  Diner  serviert  würde!  Es 
gab  Leute,  welche  tatsächlich  noch  glaubten,  dass  Ceylon  eine 
von  Menschenfressern  bewohnte  Insel  sei,  und  dass  die  armen 
Missionare  dort  bei  ihrer  schweren  Arbeit  fortwährend  die 
Attacken  von  Tigern,  Elefanten,  Krokodilen  und  Schlangen  aus- 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  25» 

halten  müssten.  Offenbar  wurden  solche  Histörchen  geflissent- 
lich in  Umlauf  gesetzt,  um  die  Aufopferung  der  Missionare  in 
hellem  Lichte  erstrahlen  zu  lassen  und  dazu  beizutragen,  die 
Gotteskästen  der  Missions-Gesellschaften  in  der  nötigen  Weise 
zu  füllen.  —  (Schluss  folgt.) 

Die  Grundideen  des  Buddhismus. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(Schluss.) 

Die  Schwierigkeit,  welche  das  richtige  Verständnis  des 
Nirväna-Begriffes  für  westliche  Geister  mit  sich  bringt,  liegt 
hauptsächlich  in  unserer  Gewohnheit,  die  Natur  der  Seele  in 
dem  alten  brahmanischen  Sinne  aufzufassen,  indem  wir  uns 
die  letztere  als  ein  Ego-Wesen  vorstellen,  als  den  Täter  unserer 
Empfindungen,  den  Denker  unserer  Gedanken.  In  neunund- 
neunzig Fällen  von  hundert  wird  derjenige,  welcher  die  Exi- 
stenz dieses  hypothetischen  Wesens  leugnet,  von  den  in  der 
abendländischen  Denkweise  erzogenen  Menschen  als  ein  Leugner 
der  Seele  überhaupt  angesehen. 

Der  Buddha  lehrte  die  Nicht-Existenz  des  Selbstes, 
und  er  verstand  unter  dem  Selbst  den  »Ätman«  seiner 
zeitgenössischen  Philosophie.  Immer  und  immer  wieder 
stellte  er  nachdrücklichst  die  Forderung  auf,  dass  die  Illusion 
des  Selbstes  überwunden  werden  müsse.  Diese  Illusion  des 
Selbstes  oder  Selbsttäuschung  ist  die  geheime  Ursache  aller 
Selbstsucht;  sie  erzeugt  alle  jene  schlechten  Arten  des  Be- 
gehrens (Begierde,  Verlangen  nach  Macht,  Lust),  von  denen 
der  Mensch  sich  befreien  muss.  Sobald  die  Selbst-Illusion 
überwunden  ist,  hören  wir  auf,  andere  Wesen  zu  schädigen 
um  eigenen,  selbstischen  Vorteiles  willen. 

Die  buddhistische  Nirväna-Idee  bedeutet  sicherlich  nicht 
die  Vernichtung  der  Gedanken,  sondern  deren  Vervollkomm- 
nung und  Vollendung.  Wir  lesen  im  21.  Verse  des  Dhamma- 
pada:  „Ernst  ist  der  Pfad  der  Unsterblichkeit  (d.  i.  des  Nirväna), 
Gedankenlosigkeit  der  Weg  des  Sterbens.  Die  im  Ernste  ver- 
harren, sterben  nicht;  aber  die  Gedankenlosen  sind  bereits  den 
Toten  gleich."  —    Das  riecht  gewiss  nicht  nach  Nihilismus. 


252  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Dass  Nirväna  das  Gebiet  des  Idealen  ist,  das  Reicii  der 
reinen  Formen,  erhellt  deutlich  aus  dem  Nirmäna-Sütra  und 
anderen  chinesischen  Quellen,  in  denen  Nirväna  definiert  wird 
als  »der  dauernde  Zustand  des  Seins«,  welcher  durch  das 
Aufgeben  jener  Bedingungen  erreicht  wird,  die  der  Vergäng- 
lichkeit angehören,  nämlich  Köperlichkeit  (rupa)  und  Ich- 
heit  (ätman).  Nirväna  bedeutet  die  Erlangung  desjenigen 
Zustandes,  in  dem  es  weder  Geburt  noch  Tod  gibt;  Nirväna 
wird  erläutert  durch  das  Gleichnis  vom  Dunst  und  Staub 
im  Gegensatze  zu  der  Ruhe  des  reinen  Raumes.  Der  Mensch 
gleicht  dem  Dunst  am  Firmament;  er  befindet  sich  in  einem 
Zustande  fortwährender  Bewegung  wie  die  Staubteilchen,  die 
im  Sonnenstrahle  schweben;  Nirväna  aber  ist  der  Unveränder- 
lichkeit  des  reinen  Raumes  zu  vergleichen,  der  in  wechselloser 
Ruhe  verharrt,  während  alle  Dinge  sich  verändern.  ^) 

Meist  wird  Nirväna  durch  negative  Ausdrücke  erläutert; 
aber  es  ist  positiv,  wie  in  einer  Unterredung  ausgeführt  wird, 
die  der  Buddha  mit  einem  Andersgläubigen  führt.  Die  Stelle 
findet  sich  im  Parinirväna-Sütra  (39.  Kap.,  1)  und  lautet  in 
der  Übersetzung  folgendermassen : 

„Es  war  ein  Brahmacäri  namens  Basita,  welcher  die 
Unterredung  so  einleitete:  ,Gotama,  ist  das,  was  du  Nirväna 
nennst,  ein  dauernder  Zustand  des  Seins  oder  nicht?'  ,Nirväna 
besteht  in  der  Abwesenheit  (Nicht-Existenz)  des  Leidens.  Ge- 
wiss, Brahmacäri,  es  kann  so  definiert  werden.'  Basita  sprach: 
,Es  gibt,  Gotama,  vier  Arten  von  Zuständen  in  der  Welt,  welche 
als  nicht-existierend  betrachtet  werden:  zum  ersten  das,  was 
noch  nicht  im  Dasein  ist,  z.  B.  der  Krug,  welcher  aus  Ton 
gemacht  werden  soll;  zweitens  dasjenige,  was  da  war,  aber 
zerstört  wurde,  z.  B.  ein  zerbrochener  Krug;  drittens  das- 
jenige, was  in  der  Abwesenheit  von  etwas  besteht,  das  von 
ihm  verschieden  ist,  wie  wir  z.  B.  sagen,  ein  Stier  sei  nicht 
ein  Pferd,  und  endlich  viertens,  das,  was  rein  imaginär  ist, 
wie  z.  B.  das  Haar  der  Schildkröte  oder  das  Hörn  des  Hasen. 
Wenn   wir    nun    durch   das  Freiwerden  vom  Leiden .  Nirväna 


')  Siehe  Samuel  Beal:  A.  Catena  of  Buddhist  Scriptures  from  the 
Chinese,  S.  99  und  157. 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  253 

erlangt  haben,  so  ist  doch  Nirväna  dasselbe  wie  »Nichts«  und 
kann  als  Nicht-Sein  definiert  werden;  wenn  dem  aber  so  ist, 
wie  kannst  du  Nirväna  dann  definieren  als  Dauer,  Freude, 
Kraft  und  Reinheit?'  —  Der  Buddha  erwidert:  ,Erlauchter 
Schüler,  Nirväna  ist  eine  von  den  vier  Arten;  es  ist  nicht  gleich 
dem  Kruge,  der  noch  nicht  aus  dem  Ton  verfertigt  ist,  noch  auch 
gleicht  es  der  Nichtigkeit  des  Kruges,  der  zerstört  wurde,  auch 
gleicht  es  nicht  dem  Haar  der  Schildkröte  oder  dem  Hörn  des 
Hasen,  also  etwas  rein  Imaginärem.  Aber  Nirväna  kann  ver- 
glichen werden  mit  dem  Nicht-Sein,  wie  es  definiert  wird  als 
„Abwesenheit  von  etwas,  das  von  ihm  selbst  verschieden  ist". 
Obwohl,  erlauchter  Schüler,  wie  du  sagst,  das  Pferd  keine 
Eigenschaften  des  Stiers  an  sich  hat,  noch  der  Stier  Eigen- 
schaften vom  Pferd,  so  kannst  du  doch  nicht  behaupten,  dass 
das  Pferd  und  der  Stier  nicht  existiert.  Gerade  so  verhält  es 
sich  mit  Nirväna.  Inmitten  des  Leides  gibt  es  kein  Nirväna, 
und  im  Nirväna  gibt  es  kein  Leiden.  So  können  wir  Nirväna 
ganz  richtig  definieren  als  eine  Art  von  Nicht-Existenz,  welche 
in  der  Abwesenheit  von  etwas  wesentlich  Verschiedenem 
besteht.'"  — 

Der  Buddhismus  wird  ganz  allgemein  als  Pessimismus  ' 
bezeichnet.  Das  ist  insofern  richtig,  als  der  Buddhist  das  | 
Vorhandensein  des  Leidens  anerkennt;  aber  es  ist  durchaus  | 
verkehrt,  den  Buddhismus  Pessimimus  zu  nennen,  wenn  man  j 
unter  Pessimismus  jenen  Weltschmerz  versteht,  welcher  das  | 
Leben  und  die  Pflichten  des  Lebens  verzweifelnd  aufgibt.  ' 
Oldenberg  sagt  bei  der  Besprechung  des  buddhistischen  Kanons:  ". 

„Einige  Schriftsteller  haben  häufig  den  Ton,  der  im  Kanon  1 
vorherrscht,  so  beschrieben,  als  wenn  derselbe  besonders  durch  f 
ein  Gefühl  der  Schwermut  charakterisiert  wäre,  welches  in 
endlosem  Kummer  die  Unrealilät  des  Seins  betrauert.  In  die- 
sem Punkte  haben  sie  alle  zusammen  den  Buddhismus  miss- 
verstanden. Gewiss,  der  echte  Buddhist  erblickt  in  dieser  Welt 
einen  Zustand  fortgesetzten  Leidens;  aber  dieses  Leiden  er- 
weckt in  ihm  nur  ein  Gefühl  des  Mitleids  für  jene,  welche 
noch  in  der  Welt  sind;  für  sich  selbst  fühlt  er  weder  Leiden 
noch  Mitleid,  denn  er  weiss,  dass  er  einem  Ziele  nahe  ist, 
welches,  erhabener  als  alles  andere,  seiner  wartet. 


254  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  frohe  Botschaft  der  Religion  des  Buddha  ist  nicht 
sowohl  die  Erkenntnis,  dass  das  Dasein  voll  Leid  und  Mühsal 
ist,  sondern  sie  liegt  in  der  Überwindung  des  Übels  und  in 
der  Befreiung  vom  Leiden.  Folgende  Verse  des  Dhammapada 
haben  keinerlei  pessirnistische  Tendenz: 

„Glücklich  wahrlich  leben  wir  hassfrei  unter  Gehässigen; 
in  dieser  hasserfüllten  Welt  verweilen  hass-erlöset  wir. 

„Glücklich  wahrlich  leben  wir  heil  unter  den  Unheilbaren; 
in  dieser  heilverlorenen  Welt  verweilen  heilgesundet  wir. 

„Glücklich  wahrlich  leben  wir  gierlos  unter  den  Gierigen; 
in  dieser  gierverzehrten  Welt  verweilen  giergesundet  wir." 

Das  buddhistische  Nirväna  kann  somit  nur  von  denen 
als  ein  negativer  Zustand  bezeichnet  werden,  welche  noch  in 
der  Illusion  des  Selbstes  verstrickt  sind.  Nirväna  ist  nicht  Tod, 
sondern  ewiges  Leben,  nicht  Vernichtung,  sondern  Unsterblich- 
keit, nicht  Zerstörung,  sondern  Unzerstörbarkeit.  Wäre  Wahr- 
heit und  Moralität  negativ,  so  würde  Nirväna  ebenfalls  negativ 
sein;  da  sie  aber  positiv  sind,  so  ist  auch  Nirväna  positiv. 
Die  Seele  eines  jeden  Menschen  besteht  in  dem  fort,  was 
die  Buddhisten  das  Karman  des  Betreffenden  nennen;  und  wer 
die  Buddhaschaft  erreicht,  wird  dadurch  identisch  mit  der 
Wahrheit  selbst,  welche  ewigdauernd  und  allgegenwärtig  ist, 
welche  nicht  nur  dieses  Weltsystem  durchdringt,  sondern  auch 
alle  anderen  Welten,  die  in  Zukunft  auftauchen  werden.  Denn 
die  Wahrheit  ist  heute  dieselbe  wie  morgen.  Wahrheit  ist 
das  Wasser  des  Lebens;  sie  ist  die  Ambrosia  der  Seele.  Je 
mehr  unser  Geist  sich  von  der  Selbstsucht  befreit  und  Teil 
hat  an  der  Wahrheit,  um  so  höher  werden  wir  uns  •  in  jenes 
Gebiet  erheben,  wo  alle  Mühen  und  Ängste  verschwunden  sind; 
denn  dort  ist  die  Sünde  vernichtet   und  der  Tod  überwunden. 

^  F^  Heidentum.  AR  U^ 

Von  Karl  B.  Seldenstücker. 
Ob  ein  Mensch  ein  Heide  ist  oder  nicht,  hängt  nicht  da- 
von ab,  ob  er  die  Beschneidung  empfangen  hat,  ob  er  in  den 
Listen  eines  Kirchenbuches  aufgezeichnet  ist,  ob  er  irgend  eine 


No.  8.  DER  BUDDHIST.  255 

kirchliche  Zeremonie  mitgemacht  hat.  Das  Heidentum  ist  inter- 
national; es  gibt  viele  Christen,  die  jeden  Sonn-  und  Feiertag 
die  Kirche  besuchen  und  trotzdem  im  Herzen  echte  Heiden 
sind;  es  gibt  viele  Anhänger  des  Buddhismus,  die  am  Altare 
ihres  Meisters  Blumen  opfern  und  mit  ihren  Lippen  die  Gebote 
aussprechen,  und  dennoch  sind  sie  Heiden.  Auch  die  Gebets- 
mühlen ^)  sind  heidnisch,  auch  sie  sind  international:  In  Asien 
klappern  sie,  in  Europa  plappern  sie,  —  der  Effekt  ist  in  bei- 
den Fällen  derselbe. 

Was  aber  ist  Heidentum?  Christus  hat  einmal  gesagt,  dass 
die  gierige  Sorge  um  Nahrung  und  Kleidung  und  das  Gebets- 
plappern  für  die  Heiden  charakteristisch  sei.  Wenn  man  dies 
als  Massstab  für  die  Beurteilung  des  heutigen  Christentums  an-  t 
legt,  so  kann  man  ohne  Übertreibung  getrost  behaupten,  dass 
95  Prozent  der  Christen  in  Wahrheit  Heiden  sind. 

Die  Gier  zur  Befriedigung  des  eigenen  Selbstes  ohne 
Rücksicht  auf  andere  ist  heidnisch.  Diese  Begierde  kann  sehr 
verschiedene  Form  annehmen:  Geiz,  Wollust,  Zorn,  Hass,  Bruta- 
lität, das  Verachten  Andersgläubiger,  die  wonnige  selbstische 
Hoffnung  auf  eine  individuelle  Seligkeit  ungeachtet  der  vie- 
len MilHonen,  die  nach  dem  Glauben  des  Betreffenden  in  der 
Hölle  gequält  werden,  das  Anbetteln  der  Götter  zu  dem  Zwecke, 
damit  diese  die  privaten  Angelegenheiten  der  Bittenden  regu- 
lieren sollen,  das  Beten  zu  Göttern  um  Vernichtung  der  Feinde, 
die  fleischliche  Abtötung,  durch  welche  man  das  Selbst  der 
himmlischen  Seligkeit  teilhaftig  machen  möchte,  Unmässigkeit, 
Luxus,  Pracht  ungeachtet  der  grossen  Not  von  Millionen  leiden- 
der Mitmenschen,  —  das  alles  ist  heidnisch. 

Millionen  werden  aufgebracht,  um  Priester  und  Prälaten 
zu  mästen,  um  Kirchen  zu  errichten,  die  von  Gold  und  Kost- 
barkeiten strotzen,  um  dem  tausendköpfigen  Götzen  des  eigenen 
Selbstes  Tempel  zu  bauen.  Und  dabei  leiden  Ungezählte  die 
bitterste  Not  und  verhallen  tausend  gellende  Notschreie  unge- 
hört Heidentum! 


')  Die  im  tibetischen  Buddhismus  gebräuchlichen  sogenannten  Gebets- 
mühlen haben  eigentlich  eine  ganz  andere  Bedeutung,  worüber  später 
einmal  mehr.  Das  oben  Gesagte  gilt  nur  für  die  Fälle,  wo  Gebrauch  und 
Name  dieses  Gegenstandes  sich  decken. 


256  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Selbstsucht  und  den  Selbstwahn  überwinden,  heisst 
vom  Heidentum  sich  frei  machen.  Es  gibt  einen  Pfad,  der 
zur  Vernichtung  der  Selbstsucht  und  damit  zur  Aufhebung  des 
Leidens  führt:  Es  ist  dies  der  erhabene  achtfache  Pfad,  den 
der  Vollendete  gewiesen  hat.  Der  Pfad  ist  in  dir;  ob  du  ihn 
beschreiten  willst,  ist  deine  Sache.  Tue,  was  du  als  das  Rechte 
erkennst. 

Volkslied/) 

Von  Dr.  Wolfgang  Bohn. 

1.  Als  unser  Herr  erkannte 

Des  Leidens  Quell  und  tiefsten  Grund, 

Ein  Sehnen  heiss  entbrannte 

Im  weiten  Weltenrund. 

„Gib  uns  das  Licht"  das  Beten  hallt 

Und  braust  mit  zwingender  Gewalt; 

Natur,  die  nachtgebannte 

Fühlt  nah  die  Morgenstund'. 

2.  Der  Selbstsucht  eitle  Pfade 

Geht  mancher  noch  in  Trug  und  Traum, 

Sieht  nicht  den  Stern  der  Gnade, 

Ahnt  die  Erlösung  kaum. 

Und  ohne  Rast  bei  Lust  und  Tand 

Knüpft  fester  er  des  Leidens  Band, 

Vergisst  das  Ruhgestade, 

Das  fern  von  Zeit  und  Raum. 

3.  Doch  manches  Aug'  verhüllet 
Nur  noch  ein  letzter  dünner  Flor, 
Manch  Flehn  blieb  unerfüllet, 
Sucht  schon  der  Blick  das  Tor, 
Manch  starkes  Herze  schritt  vorbei 
An  ird'scher  Wollust  Jubelschrei. 
Ein  Rufen  ungestillet 

Tönt  an  des  Herren  Ohr. 

4.  Da  wandte  Tat  und  Denken 
Der  Herr  den  Welten  wieder  zu, 
Uns  Trost  ins  Herz  zu  senken 
Verliess  er  seine  Ruh',  — 

Trug  einmal  noch  des  Wanderns  Leid 
Und  eines  Lebens  lange  Zeit, 
Der  Jünger  Schritt  zu  lenken 
Der  Friedenspfortc  zu.  — 


>)  Melodie  aus  Beethoven  op.  20. 


Ver»ntwortlicher  Red.kteur:  Karl  B.  SeidenslOckcr,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischer  VerUg 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorl-Leipiig. 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tagend   üben,    das    eigene    Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,  V.  183. 


Einige  Parallelen  zwischen  der 
buddhistischen  und  christlichen  Geburtslegende. 


Fo-sho-hing-tsan-king. 

I,  3—4.  Im  Wollen  fest  und 
ruhig  wie  die  Erde,  rein  wie 

■  die  Wasserlilie  von  Gesin- 
nung, hiess  sie  mit  bild- 
licher Bedeutung  Mäya,  er- 
haben über  alle  irdischen 
Frauen. 

Auf  sie,  das  Ebenbild  der 
Himmelsfürstin,  Hess  sich 
der  Geist  herab,  den  Ein- 
gang wählend  in  ihren  Mut- 
terleib. Zwar  Mutter,  war 
sie  doch  frei  von  Schmerz 
und  truglos  im  Gemüte. 

I,  18.  Jetzt  bin  ich  als  ein 
Buddha  neu  geboren,  her- 
nach folgt  keine  weitere  Ge- 
burt mehr.  Dies  eine  Mal 
nur  tret'  ich  noch  ins  Da- 
sein, damit  der  ganzen 
Welt  ich  Rettung  bringe. 


Evangelium  des  Lukas 
und  Matthäus. 

Lukas  I.  Gegrüsset  seist  du 
Holdselige!  Der  Herr  ist 
mit  dir,  du  Gebenedeite  un- 
ter den  Weibern  . . . 


Der  heilige  Geist  wird 
über  dich  kommen,  und  die 
Kraft  des  Höchsten  wird 
dich  überschatten;  darum 
auch  das  Heilige,  das  von 
dir  geboren  wird,  wird  Got- 
tes Sohn  genannt  werden. 

Matth.  I.  Sie  wird  einen  Sohn 
gebären,  des  Namen  sollst 
du  Jesus  heissen;  denn  er 
wird  sein  Volk  erretten 
von  seinen  Sünden. 

Lukas  IL  Siehe,  ich  verkün- 
dige euch  grosse  Freude, 
die  allem  Volke  widerfah- 
ren wird;  denn  euch  ist 
heute  der  Retter  geboren. 
17 


258 


DER  BUDDHIST. 


I.  Jahrg. 


I,  22.  Die  Näga-Könige, 
erfüllt  von  Freude  und  eifrig, 
iiire  Ehrfurcht  zu  bezeigen 
dem  höchst  vortrefflichen 
Gesetz,  erschienen  vor  Bo- 
dhisattva,  Mandara- Blumen 
streuend,  innig  erfreut  ob 
solcher  frommen  Huldigung. 

I,  23,  30,  34,  35.  Dass  in 
der  Welt  Tathägata  erschie- 
nen, erfreute  auch  die  selig- 
reinen Devas,  nicht  um  des 
eignen  Bestens  willen,  son- 
dern aus  religiösem  Sinn, 
weil  allem  Leben,  dem  in 
das  Meer  des  Leidens  tief 
versenkten,  jetzt  zur  Erlösung 
war  der  Weg  geöffnet. 

Dicht  wie  Wolken  kamen 
in  Scharen,  zahllos,  fromm 
gesinnte  Geister. 

Unsichtbar  Hess  ringsum 
Musik  sich  hören,  des  Frie- 
dens und  der  allgemeinen 
Ruhe  erfreute  sich,  was  nur 
Empfindung  hatte. 

So  wurden  bei  Bodhisatt- 
vas  Geburt  alle  Lebewesen 
ihres  Leides  entledigt. 

I,  38.  Der  königlichen  Mutter 
weiblich  furchtsam  Herz 
ward  erfüllt  von  Zweifeln, 
als  sie  wahrnahm,  wie  dem 
Gesetze  der  Natur  zuwider 
ihr  Kind  geboren  ward. 


Matth.  II.    Es   kamen  Weise 

vom  Morgenlande und  sie 

gingen  in  das  Haus  und 
fanden  das  Kindlein  mit 
Maria,  seiner  Mutter,  und 
fielen  nieder,  beteten  es  an 
und  schenkten  ihm  Gold, 
Weihrauch  und  Myrrhe. 

Lukas  II.  Der  Engel  sprach: 
„Siehe,  ich  verkündige  euch 
grosse  Freude,  die  allem 
Volke  widerfahren  soll;  denn 
euch  ist  heute  der  Retter  ge- 
boren   " 

Und  plötzlich  war  da  bei 
dem  Engel  die  Menge  der 
himmlischen  Heerscharen, 
welche  Gott  lobten  uncl 
sprachen:  „Herrlichkeit  [sei] 
Gott  in  den  höchsten  [Sphä- 
ren] und  Friede  auf  Erden, 
an  den  Menschen  ein  Wohl- 
gefallen." 


Lukas  I.  Da  sie  aber  ihn 
[den  Engel]  sah,  erschrak  sie 
über  seine  Rede  und  ge- 
dachte: Welch  ein  Gruss  ist 
das? 

Maria  sprach:  Wie  soll 
das  zugehen,  sintemal  ich 
von  keinem  Manne  weiss? 

Lukas  II.  Maria  aber  behielt 
alle  diese  Worte  und  beweg- 
te sie  in  ihrem  Herzen. 


No.  9. 


DER  BUDDHIST. 


259 


I,  43,  45.  Möge  deshalb  Freu- 
de der  König  fühlen  von 
des  Vollmonds  Fülle,  da  ihm 
ein  Sohn  geboren  ohneglei- 
chen, der  seinem  Stamme 
hohen   Ruhm  wird   bringen. 

Dies  neugeborene  Kind 
von  überreicher  Begabung 
wird  der  ganzen  Welt  Be- 
freiung verschaffen. 

So  kommt  auch  dem  Ta- 
thägata  von  allen  Menschen, 
die  zur  Welt  geboren  wer- 
den, an  Hoheit  keiner  gleich. 

Der  greise  Seher  Asiia 
spricht  von  dem  Bodhisatt- 
va-Kindlein: 
I,  94,  95,  98,  99,  101,  102, 
103,  104,  107.  Weil  mir  in 
den  Sinn  kam  mein  Alter, 
deshalb  flössen  meine  Trä- 
nen. Denn  mir  ist  schon 
das  Ende  nahe,  aber  euer 
Sohn  wird  zum  Heile  alles 
dessen,  was  lebt,  geboren, 
ein  Weltlenker  werden. 

Da  alles  Fleisch  ist  in  dem 
Meer  des  Leidens  versun- 
ken, wird  er,  behende  in  der 
Weisheit  Fahrzeug  steigend, 
aus  aller  dieser  Not  die 
Welt  erretten,  mit  kluger 
Kunst  der  Flut  entgegen- 
steuernd. 

Die  in  dem  Reich  der 
fünf  Begierden  gefesselt,  oder 
von  zahlreichen  Leiden  ver- 
folgt sind,  oder  irre  gehen, 


Matth.  I.  Joseph,  du  Sohn 
Davids,  fürchte  dich  nicht, 
deine  Gemahlin  Maria  zu 
dir  zu  nehmen;  denn  was 
von  ihr  geboren  ist,  das  ist 
von  dem  heiligen  Geist. 

Und  sie  wird  einen  Sohn 
gebären,  des  Namen  sollst 
du  Jesus  [Retter]  heissen; 
denn  er  wird  sein  Volk 
erretten  von  seinen  Sünden. 


Lukas  I  und  II. 

Und  ihm  war  eine  Antwort 
geworden  von  dem  heiligen 
Geist,  er  sollte  den  Tod 
nicht  sehen,  er  hätte  denn 
zuvor  den  Christus  des 
Herrn  gesehen. 


Auf  dass  er  erscheine 
denen,  die  da  sitzen  in  Fin- 
sternis und  Schatten  des 
Todes  und  richte  unsere 
Füsse  auf  den  Weg  des 
Friedens. 


Meine  Augen  haben  dei- 
nen Heiland  gesehen,  wel- 
chen du  bereitet  hast,  ein 
Licht  zu   erleuchten  die 


260 


DER  BUDDHIST. 


I.  Jahrg. 


Nationen  und  zur  Herr- 
lichkeit deines  Volkes  Is- 
rael. 


Lukas  II.  Aber  das  Kind 
wuchs  und  ward  stark  im 
Geist,  voller  Weisheit,  und 
Gottes  Gnade  war  bei  ihm. 


unkundig  des  Weges  in  der 
Wildnis  der  Geburt  und  des 
Todes:  Bodhisattva  ist 
geboren,  der  Rettung 
Pfad  für  alle  zu  eröffnen. 
II,  147.  Wie  nach  und  nach 
das  Licht  der  Sonne  oder 
des  Mondes  zunimmt,  eben- 
so wuchs  täglich  der  könig- 
liche Prinz  an  Schönheit 
seiner  Person  und  geistigen 
Vortrefflichkeiten. 

Die  Berührungspunkte  der 

Philosophie  Schopenhauers 
und  des  Buddhismus. 

Von  Georg  Jahn. 

Der  Buddhismus,  der  in  neuester  Zeit  versucht,  festen  Fuss 
auch  im  Abendlande  zu  fassen  und  mit  der  uralten  Weisheit 
der  indischen  Priester  und  Heiligen  die  Kultur  des  Westens  zu 
befruchten,  wirkt  seinem  Ideengehalte  nach  schon  seit  Jahr- 
zehnten auf  Leben  und  Denken  unserer  Zeit  ein.  Es  sind 
nicht  nur  einzelne  Berührungspunkte,  die  moderne  Kultur  und 
Buddhismus  gemeinsam  haben,  es  handelt  sich  vielmehr  um 
eine  tatsächliche  Durchdringung  derselben  mit  den  ungleich 
sozialeren  Anschauungen  der  »Religion  des  Mitleids«.  Eine 
pessimistische  Grundstimmung  beherrscht  mit  Recht  einen  Teil 
des  westlichen  Lebens  der  Gegenwart,  ein  Zug  des  Mitleids 
geht  durch  unsere  Zeit,  der,  entsprungen  aus  dem  Anblick  der 
Leiden  und  Qualen  dieses  für  so  viele  Menschen  geradezu 
jammervollen  Daseins,  überall  lindernd,  bessernd  und  helfend 
eingreifen  möchte.  Gegenüber  einem  seichten  und  oft  geradezu 
nichtswürdigen  Optimismus  sind  Künstler,  Dichter  und  Philo- 
sophen gleichzeitig  bemüht,  die  Menge  der  Geist- und  Gedanken- 
losen, vom  Strome  der  Zeit  und  des  Geschehens  mit  fortgerissenen 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  261 

Menschen  auf  die  Nichtigkeit  des  Hastens  und  Jagens  der 
Welt  hinzuweisen,  ihr  über  Leid  und  Vergänglichlceit  die  Augen 
zu  offen  und  den  Weg  zu  einer  innerlich-geistigen  Kultur  zu 
bereiten,  die  bei  der  herrschenden  Äusserlichkeit  und  Ober- 
flächlichkeit bitter  not  tut.  Deshalb  erfreut  sich  die  Kunst 
Richard  Wagners  und  die  seiner  Anhänger  und  Schüler  bei 
den  Gebildeten  der  grössten  Beliebtheit,  deshalb  auch  ist  in 
den  letzten  Jahrzehnten  der  einst  so  wenig  gekannte  und  zu 
seinen  Lebzeiten  in  seiner  Bedeutung  niemals  erkannte  Schopen- 
hauer sehr  stark  in  Aufnahme  gekommen  und  seine  Gemeinde 
rasch  gewachsen.  Er  ist  es,  der  zum  ersten  Male  voUbewusst 
eine  pessimistische  Philosophie  aufbaute,  die  in  allen  Haupt- 
punkten mit  der  Lehre  des  Buddhismus  sich  eng  berührt,  er  ist 
es,  der  damit  zum  Hauptpropheten  des  so  nahe  liegenden  und 
so  sehr  berechtigten  Pessimismus  auf  modernem,  abendländi- 
schem Boden  wird.  Philosophie  und  Religion  haben  immer 
mehr  oder  weniger  Berührungspunkte,  hauptsächlich  in  den 
Fragen  über  die  letzten  Dinge  des  Seins,  in  den  Fragen  der 
Metaphysik.  Keine  Philosophie  kann  die  Metaphysik  ganz  ent- 
behren, wenn  anders  sie  eine  in  sich  geschlossene  Erklärung 
des  Welt-  und  Lebensproblems  geben  will;  jede  (?)  Religion  aber 
baut  sich  notwendig  auf  metaphysischen  Grundlagen  auf.  So 
ist  es  kein  Wunder,  dass  Schopenhauer  und  der  Buddhismus 
sich  vielfach  und  stark  berühren,  zumal  da  des  ersteren  Philo- 
sophie einen  tiefen  Glauben,  eine  grosse  persönliche  Überzeu- 
gung in  sich  trägt  und  somit  der  Religion  näher  steht,  als  die 
anderer  Denker,  der  letztere  aber,  trotzdem  er  wie  alle  Reli- 
gionen für  das  Volk  berechnet  und  bestimmt  ist,  von  einer 
Tiefe  des  Denkens  und  des  Urteils  seiner  Urheber  zeugt,  die 
mancher  sogenannten  Philosophie  Ehre  machen  würde.  Scho- 
penhauer hat  seine  Philosophie  bereits  zu  einer  Zeit  durchge- 
dacht und  niedergeschrieben,  in  der  man  in  Deutschland  noch 
herzlich  wenig  von  indischer  Philosophie  und  buddhistischer 
Religion  wusste.  Als  aber  die  Forschung  auch  in  die  Weisheit 
des  Orients  einzudringen  begann,  da  erkannte  der  Philosoph 
bald  die  Übereinstimmung  seiner  Lehre  mit  der  des  Buddha 
und  betonte  dieselbe  freudig  und  oft.  Wenn  wir  nunmehr 
darangehen,  eben  diese  Berührung  und  Übereinstimmung  bei- 


262  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

der  Welt-  und  Lebensanschauungen  darzustellen,  so  möchten 
wir  gleich  bemerken,  dass  es  sich  nicht  vermeiden  lassen  wird, 
die  ganze  Philosophie  Schopenhauers  im  Umriss  wiederzugeben, 
während  wir  uns  in  unseren  Ausführungen  über  den  Buddhis- 
mus als  etwas  dem  Leser  mehr  Bekanntes  ja  viel  kürzer  fassen 
können. 

Schopenhauers  Weltanschauung  ist  eine  idealistische.  Auf 
Kant  fussend,  unterscheidet  er  die  Welt  als  Erscheinung  vom 
eigentlichen  Wesen  derselben,  ihrem  Kern,  dem  Ding  an  sich. 
Als  Erscheinung  ist  die  Welt  lediglich  Vorstellung;  alles,  was  uns 
umgibt,  alles,  was  in  Raum  und  Zeit  ausgebreitet  ist,  ist  nur 
da  in  Beziehung  auf  ein  Anderes,  auf  ein  Vorstellendes,  kein  Objekt 
ohne  ein  Subjekt.  Das  Subjekt,  das  alles  erkennt  und  doch  von 
Keinem  erkannt  wird,  ist  also  der  Träger  der  Welt,  die  Bedingung 
alles  Erscheinenden.  Raum  und  Zeit,  sowie  das  Gesetz  der 
Kausalität,  dem  Schopenhauer  eine  vierfache  Gestaltung  gibt, 
sind  die  subjektiven  Formen,  welche  die  Welt  nur  als  Vor- 
stellung uns  zum  Bewusstsein  kommen  lassen,  und  die  wir 
als  angeboren  in  uns  tragen.  Das  Wesen  der  Zeit  ist  die 
Succession,  die  Aufeinanderfolge,  das  Wesen  des  Raumes  die 
Möglichkeit  der  wechselseitigen  Bestimmungen  seiner  Teile 
durcheinander,  welche  Lage  heisst.  Die  Materie  aber,  die  man 
vielfach  als  das  Wesen  der  Dinge  anzusehen  sich  gewöhnt  hat, 
ist  nichts  als  Kausalität,  sie  ist  nur,  sofern  sie  wirkt.  Durch 
das  Gesetz  der  Kausalität,  welches  besagt,  dass  alles,  was  ge- 
schieht, einen  zureichenden  Grund  haben  muss,  wird  die  Auf- 
einanderfolge der  Zustände  in  Hinsicht  auf  einen  bestimmten 
Raum,  und  das  Dasein  derselben  an  einem  gewissen  Ort  zu 
einer  gewissen  Zeit  bestimmt.  Die  Kausalität  vereinigt  also 
den  Raum  erst  mit  der  Zeit.  Das  Zugleichsein  der  Dinge 
macht  Wirklichkeit  und  Dauer  möglich,  von  denen  die  letztere 
wieder  die  Bedingung  für  die  Veränderung,  den  Wandel  der 
Beschaffenheit  und  Form  bei  Beharren  der  Substanz  ist.  Es 
ist  nun  die  Funktion  des  Verstandes,  das  Kausalitätsverhältnis 
der  Dinge  zu  erkennen,  eine  Tätigkeit,  die  sich  in  der  An- 
schauung der  wirklichen  Welt  äussert.  Alle  Anschauung  aber 
ist  nicht  nur  sinnlich,  sondern  intellektuell,  ist  eine  Verstandes- 
erkenntnis   der    Ursache    aus    der  Wirkung.    Sofern   wir  die 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  263 

Welt  mit  unserm  Verstand  anschauend  erkennen,  hat  sie 
empirische  Realität;  andererseits  aber  besitzt  sie,  da  sie  sich 
eben  nur  als  Vorstellung  gibt,  transzendentale  Idealität.  Die 
Tätigkeit  der  Vernunft  besteht  im  Bilden  von  Begriffen  und 
Urteilen  aus  dem  anschaulich  Erkannten.  Während  nun  das 
durch  den  Verstand  richtig  Erkannte  Realität,  Übergang  der 
Wirkung  im  unmittelbaren  Objekt  auf  deren  Ursache  ist,  heisst 
das  von  der  Vernunft  richtig  Erkannte  Wahrheit  und  besteht 
in  einem  abstrakten  Urteil  mit  zureichendem  Grunde. 

Die  objektive  Welt,   die  Welt  der  Vorstellungen,   ist  nicht 
die  einzige,  sondern  nur  eine  gleichsam  äussere  Seite  der  Welt, 
welche    noch    eine    ganz  und  gar    andere  Seite   hat,    die   ihr 
innerstes  Wesen,    ihren   Kern,    das    Ding  an   sich,  ausmacht. 
Diese  Wirklichkeit  nun,  die  der  Totalität  der  Welt  zu  Grunde 
liegt,    ist    der  Wille.    Alle  Vorstellung,    alles   Objekt    ist   Er- 
scheinung, Ding  an  sich  ist  allein  der  Wille.    Er  ist  es,  wovon 
alles  Vorgestellte,  alles  Objekt  erst  wieder  Erscheinung,  Sicht- 
barkeit,   Objektität   ist.    Er   ist   das   Innerste,   der   Kern   jedes 
Einzelnen  und  ebenso  des  Ganzen,  er  erscheint  in  jeder  blind- 
wirkenden Naturkraft,  er  erscheint  auch  im  überlegten  Handeln 
des   Menschen.     Dieser    Wille    als    Ding  an   sich    nun    liegt 
ausserhalb  des  Gebietes  des  Satzes  vom  Grunde,   er  allein  ist 
völlig  frei  und  schlechthin  grundlos,  obwohl  jede   seiner  Er- 
scheinung  durchaus   dem  Satze  vom  Grunde   unterworfen  ist. 
Die  Welt  des  blossen  Seins,   des  Dinges  an  sich,  ist  also  das 
Reich  der  Freiheit;  die  Welt  des  Geschehens,  der  Erscheinung, 
des  Handelns   dagegen   macht  das  Gebiet   der  Notwendigkeit 
aus,    und    es   ist  nicht   umgekehrt,   wie  oberflächliche  Geister 
leicht  anzunehmen  geneigt  sind.   Die  Objektivation  des  Willens 
nun   tritt  uns   in   der  Natur  in  verschiedenen  Stufen  entgegen. 
Am  rohesten  und  niedrigsten  zeigt  er  sich  in  dem  blinden  und 
dumpfen  Walten   der  Kräfte  in  der  unorganischen  Natur.    Auf 
einer  höheren  Stufe  stehend,  offenbart  er  sich  in  der  Reaktion 
der   Pflanzen    auf    die    Reize   der   Aussenwelt,    vollkommener 
wieder  in  dem  unbewussten  Triebleben  der  Tiere  und  Menschen, 
in   seiner  vollendetsten  Gestalt   aber   im   bewussten  Tun   des 
Menschen.     Die  Welt  ist  lediglich  Wille,  solange  noch  ein  Gehirn 
fehlt    wie   in   der  unorganischen  Natur   und  der  Pflanzenwelt. 


264  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Entsteht  dieses  aber,  wie  bei  den  Tieren  und  Mensciien,  so 
ist  sofort  auch  die  Vorstellung  mit  allen  ihren  Formen,  Objekt 
und  Subjekt,  Zeit  und  Raum,  Vielheit  und  Kausalität  da.  Der 
überall  in  der  Natur  wirkende  Wille,  dessen  Erscheinung  die 
ganze  sichtbare  Welt  ist,  besitzt  vollkommene  Einheit,  aus  der 
sich  sowohl  die  innere  als  auch  die  äussere  Zweckmässigkeit 
der  Welt  erklärt.  Die  beste  Erläuterung  zu  der  letzteren  gibt 
uns  das  unbewusste  Triebleben  der  Tiere.  In  der  äusseren 
wie  auch  in  der  inneren  Zweckmässigkeit  ist  das,  was  wir  als 
Mittel  und  Zweck  denken  müssen,  überall  nur  die  für  unsere 
Erkenntnisweise  in  Raum  und  Zeit  auseinander  getretene  Er- 
scheinung der  Einheit  des  mit  sich  selbst  übereinstimmenden 
einheitlichen  Willens. 

Während  diese  idealistische  Weltansicht  vom  gewöhnlichen 
Verstände  im  Abendlande  zumeist  nicht  geteilt  wird,  sondern 
als  ein  kaum  ernstlich  zu  nehmendes  Paradoxon  gewisser 
Philosophen  gilt,  ist  sie  im  Brahmanismus  und  Buddhismus 
bereits  seit  Jahrtausenden  Lehre  der  Volksreligion.  Es  liegt 
nun  dem  Buddhismus  als  Religion  durchaus  fern,  eine  be- 
stimmte philosophische  Lösung  des  „Welträtsels"  seinen  An- 
hängern aufzwingen  zu  wollen,  wie  etwa  der  Katholizismus 
mit  seinen  Dogmen  gegenüber  seinen  Bekennern  verfährt;  er 
tritt  vielmehr  nur  in  die  Fusstapfen  der  ihm  von  der  alten  in- 
dischen Philosophie  überkommenen  Welterklärung,  ohne  ihr  je- 
doch eine  unbedingte  Gültigkeit  zuzuschreiben.  Nach  dieser  Lehre 
nun  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  körperliche  Welt  und 
bewusste  in  ihr  lebende  Wesen  wirklich  existieren,  es  ist  eine 
Tatsache,  dass  die  sichtbare  Welt  empirische  Realität  besitzt. 
In  dieser  Welt  des  ewigen  Geschehens  aber  ist  alles  dem 
Gesetze  von  Ursache  und  Wirkung,  dem  Gesetze  der  Kausalität 
naturnotwendig  unterworfen.  Es  gibt  keine  Ausnahme  hiervon, 
es  gibt  im  Geschehen,  im  Handeln  und  Tun  keine  Freiheit,  es 
herrscht  hier  vielmehr,  ganz  wie  bei  Schopenhauer,  ein  strenger 
Determinismus.  Auf  Ursachen  müssen  notwendig  irgendwelche 
Wirkungen  folgen,  ein  Stillstand  im  Fortlauf  des  Geschehens 
ist  ausgeschlossen.  Die  Welt  ist  in  ewigem  Flusse,  alles  än- 
dert sich  beständig,  wenn  auch  unmerklich,  überall  herrscht 
der  Wechsel,  nirgends  ist  ein  ruhiger  Punkt,  ein  rettendes  Ei- 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  265 

land,  auf  das  man  sich  flüchten  könnte.  So  kommt  es,  dass 
die  Welt,  in  der  wir  leben,  der  Samsära,  die  Welt  des  ewigen 
Entstehens  und  Vergehens,  der  Geburt  und  des  Todes,  eine 
Welt  des  Irrtums  und  der  Täuschung,  des  Scheins  und  des 
Trugs  ist.  Das  Dasein  der  dem  Gesetz  der  Kausalität  unter- 
worfenen sichtbaren  Welt,  der  Welt  als  Vorstellung,  ist  ganz 
und  gar  veraltet.  Das  spricht  schon  die  uralte  Weisheit  der 
Inder  aus,  wenn  sie  sagt:  Es  ist  dieMäyä,  der  Schleier  des  Truges, 
welcher  die  Augen  der  Sterblichen  umhüllt  und  sie  in  eine 
Welt  sehen  lässt,  von  der  man  weder  sagen  kann,  dass  sie 
sei,  noch  auch,  dass  sie  nicht  sei;  denn  sie  gleicht  dem  Traum, 
der  uns  im  Schlaf  umhüllt,  gleicht  dem  Sonnenglanz  auf  dem 
Sande,  welchen  der  Wanderer  von  fern  für  ein  Wasser  hält, 
gleicht  dem  hingeworfenen  Strick,  den  er  für  eine  Schlange 
ansieht.  (Fortsetzung  folgt.) 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:   Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 

Von  Bhikkhu  Nyänatiloka  (Ceylon). 

(3.  Fortsetzung.) 


Erste  Stufe:  Sammäditthi,  rechte  Erkenntnis/) 

Inwiefern  nun,  ihr  Brüder,  hat  ein  heiliger  Jünger  die 
rechte  Erkenntnis? 

[Erkenntnis  des  Guten  und  Bösen:]  Wenn,  ihr  Brü- 
der, der  heilige  Jünger  das  Böse  erkennt  und  die  Wurzel  des 
Bösen  erkennt,  wenn  er  das  Gute  erkennt  und  die  Wurzel  des 
Guten  erkennt,  dann  hat  er,  ihr  Brüder,  die  rechte  Erkenntnis, 
ist  seine  Erkenntnis  eine  ehrliche,  seine  Liebe  zum  Dhamma 
erprobt,  gehört  er  dieser  edlen  Lehre  an.  Was  ist  nun,  ihr 
Brüder,  das  Böse? 


*)  Andere  Übersetzungen  sind:  Rechter  Glaube,  rechte  Ansichten 
rechtes  Verständnis,  rechte  Einsicht. 


266 


DER  BUDDHIST. 


1.  Jahrg. 


[Das  zehnfache  schleciite  Wirken:] 


I.  Körperliches  Wirken 
(Käya-kamma). 

II.  Sprachliches  Wirken 
(Väci-kamma). 

III.  Inneres  Wirken 
(Mano-kamma). 


1.  Töten,  ihr  Brüder,  ist  das  Böse. 

2.  Stehlen  ist  das  Böse. 

3.  Unzucht  treiben  ist  das  Böse. 

4.  Lügen  ist  das  Böse. 

5.  Verleumden  ist  das  Böse. 

6.  Roh  reden  ist  das  Böse. 

7.  Unnütz  reden  ist  das  Böse. 

8.  Begierde  ist  das  Böse. 

9.  Hass  ist  das  Böse. 
10.  Irrwahn  ist  das  Böse. 


[Die  dreifache  Wurzel  des  Bösen:]  Und  was,  ihr 
Brüder,  ist  die  Wurzel  des  Bösen?  Begierde  (lobha)  ist  die 
Wurzel  des  Bösen,  Hass  (dosa)  ist  die  Wurzel  des  Bösen, 
Wahn  (moha)  ist  die  Wurzel  des  Bösen. 

[Das  zehnfache  gute  Wirken:]  Und  was,  ihr  Brüder, 
ist  das  Gute? 

1.  Überwindung  des  Tötens  ist  das  Gute. 

2.  Überwindung  des  Stehlens  ist  das  Gute. 

3.  Überwindung  der  Unzucht  ist  das  Gute. 

4.  Überwindung  der  Lüge  ist  das  Gute. 

5.  Überwindung  d.Verleumdung ist  dasGute. 

6.  Überwindung  der  rohen  Rede  ist  das  Gute. 

7.  Überwindung  d.  unnützen  Rede  ist  d.  Gute. 

8.  Überwindung  der  Begierde  ist  das  Gute. 

9.  Überwindung  des  Hasses  ist  das  Gute. 
10.  Überwindung  des  Irrwahns  ist  das  Gute. 

[Die  dreifache  Wurzel  des  Guten:]  Und  was,  ihr  Brü- 
der, ist  die  Wurzel  des  Guten?  Freisein  von  Begierde  ist 
die  Wurzel  des  Guten,  Freisein  von  Hass  ist  die  Wurzel 
des  Guten,   Freisein  von  Wahn   ist  die  Wurzel   des  Guten. 

[Erkenntnis  des  Leidens:]  Und  ferner  noch,  ihr  Brüder, 
wenn  der  heilige  Jünger  das  Leiden  erkennt,  und  die  Leidens- 
entstehung, die  Leidensvernichtung  erkennt  und  den 
zur  Leidensvernichtung  führenden  Pfad,  dann  hat  er, 
ihr  Brüder,  die   rechte  Erkenntnis,  ist  seine   Erkenntnis  eine 


I.  Körperliches 

Wirken 
(Käya-kamma). 

II.  Sprachliches 
Wirken 
(Väci-kamma). 

in.  Inneres 
Wirken 
(Mano-kamma). 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  267 

ehrliche,  seine  Liebe  zum  Dhamma  erprobt,  gehört  er  dieser 
edlen  Lehre  an.    (Majjhima-Nikäya  9.)  — 

[Unnütze  Fragen:]  Wer  da,  ihr  Brüder,  also  spräche: 
„Nicht  eher  will  ich  bei  dem  Erhabenen  das  Jünger-Leben 
führen,  bis  mir  der  Erhabene  mitgeteit  haben  wird,  ob  die 
Welt  ewig  oder  zeitlich  ist,  ob  die  Welt  endlich  oder 
unendlich,  ob  Leben  und  Leib  ein  und  dasselbe,  oder 
anders  das  Leben  und  anders  der  Leib  ist,  ob  der 
Vollendete  nach  dem  Tode  fortbesteht  oder  nicht  fort- 
besteht", —  dem  könnte,  ihr  Brüder,  der  Tathägata  nicht 
genug  mitteilen:  denn  jener  stürbe  zuvor  hinweg. 

Gleichwie  etwa,  ihr  Brüder,  wenn  ein  Mann  von  einem 
Pfeile  getroffen  wäre,  dessen  Spitze  mit  Gift  bestrichen  wurde, 
und  seine  Freunde  und  Genossen,  Verwandte  und  Vettern  be- 
stellten ihm  einen  heilkundigen  Arzt;  er  aber  spräche:  „Nicht 
eher  will  ich  diesen  Pfeil  herausziehen  lassen,  bevor  ich  nicht 
weiss,  wer  jener  Mann  ist,  der  mich  getroffen  hat,  ob  er  ein 
Fürst  oder  ein  Priester,  ein  Bürger  oder  ein  Diener  ist",  — 
wenn  er  spräche:  „Nicht  eher  will  ich  diesen  Pfeil  heraus- 
ziehen lassen,  bevor  ich  nicht  weiss,  wer  jener  Mann  ist,  der 
mich  getroffen  hat,  wie  er  heisst,  woher  er  stammt,  wohin  er 
gehört",  —  wenn  er  spräche:  „Nicht  eher  will  ich  diesen  Pfeil 
herausziehen  lassen,  bevor  ich  nicht  weiss,  wer  jener  Mann 
ist,  der  mich  getroffen  hat,  ob  er  gross  oder  klein  oder  von 
mittlerer  Gestalt  ist",  —  nicht  genug,  wahrlich,  ihr  Brüder, 
könnte  dieser  Mann  erfahren:  denn  er  stürbe  zuvor  hinweg. 
(Majjhima-Nikäya  63.) 

0  möchte  deshalb  der  Mensch,  der  doch  sein  eigenes 
Wohl  sucht,  diesen  Pfeil  herausreissen,  diesen  Pfeil  des  Jam- 
mers, der  Klagen  und  der  Sorgen;  denn  ob  nun  diese  These: 
„Die  Welt  ist  ewig"  zurecht  besteht,  oder  die  These:  „Die 
Welt  ist  zeitlich":  sicher  besteht  Geburt,  besteht  Altern,  besteht 
Sterben,  besteht  Wehe,  Jammer,  Leiden,  Gram  und  Verzweif- 
lung, deren  schon  bei  Lebzeiten  zu  erreichende  Vernichtung 
ich  kennen  lehre.    (Majjhima-Nikäya  63.) 

Da  hat  einer,  ihr  Brüder,  nichts  erfahren,  ist  ein  gewöhn- 
licher Mensch,  ohne  Sinn  für  das  Heilige,  der  heiligen  Lehre 
unkundig,  der  heiligen  Lehre  unzugänglich,  ohne  Sinn  für  das 


268  DtR  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Edle,  der  Lehre  der  Edlen  unkundig,  der  Lehre  der  Edlen  un- 
zugänglich. 

[Die  fünf  grossen  Fesseln:]  Der  Glaube  an  Per- 
sönlichkeit hat  sein  Herz  umsponnen,  hat  sein  Herz  um- 
zogen, und  wie  man  dem  sehrenden  Glauben  an  Persönlich- 
keit entgehen  könne,  daran  denkt  er  nicht  der  Wahrheit  gemäss; 
dem  ist  dieser  Glaube  an  Persönlichkeit,  weil  er  ihn  hat  er- 
starken lassen,  weil  er  ihn  nicht  aufgelöst  hat,  zu  einer  nieder- 
zerrenden Fessel  geworden. 

Der  Zweifel  hat  sein  Herz  umsponnen,  —  die  Askese 
als  Selbstzweck*)  hat  sein  Herz  umsponnen,  —  die 
Sucht  des  Begehrens  hat  sein  Herz  umsponnen,  die  Ge- 
hässigkeit hat  sein  Herz  umsponnen,  hat  sein  Herz  umzogen, 
und  wie  man  diesen  sehrenden  Fesseln  entgehen  könne,  daran 
denkt  er  nicht  der  Wahrheit  gemäss;  dem  sind  diese  Übel, 
weil  er  sie  hat  erstarken  lassen,  weil  er  sie  nicht  aufgelöst  hat, 
zu  niederzerrenden  Fesseln  geworden. 

Ohne  Kenntnis  der  würdigen  Dinge,  ohne  Kenntnis  der 
unwürdigen  Dinge  achtet  er  auf  das  Unwürdige  und  nicht  auf 
das  Würdige. 

[Seichte  Erwägungen:]  Und  seicht  erwägt  er  also: 
„Bin  ich  wohl  in  den  vergangenen  Zeiten  gewesen?  Oder  bin 
ich  nicht  gewesen?  Was  bin  ich  wohl  in  den  vergangenen 
Zeiten  gewesen?  Wie  bin  ich  wohl  in  den  vergangenen  Zeiten 
gewesen?  Was  geworden  bin  ich  dann  was  gewesen? 
Werde  ich  wohl  in  den  zukünftigen  Zeiten  sein?  Oder  werde 
ich  nicht  sein?  Was  werde  ich  wohl  in  den  zukünftigen  Zeiten 
sein?  Wie  werde  ich  wohl  in  den  zukünftigen  Zeiten  sein? 
Was  geworden  werde  ich  dann  was  sein?" 

Und  auch  die  Gegenwart  erfüllt  ihn  mit  Zweifeln:  „Bin 
ich  denn?    Oder  bin  ich  nicht?    Was  bin  ich?    Und  wie  bin 

')  Im  Päli:  Sllabbata  paramasa.  Dies  ist  die  Einbildung,  dass  man 
Tugend  durch  Sittiichiceitsregeln  oder  durch  blosse  Zeremonien  oder  auch 
durch  beide  erlangen  könne.  Im  Fa-Kheu-King-Tsu,  dem  Dliamma- 
pada  der  Chinesen,  heisst  es:  „Opferverrichtungen  und  dergleichen  Dienste 
sind  Quellen  der  Sorge,  Tag  und  Nacht  eine  beständige  Bürde  und  Last; 
um  dem  Leiden  zu  entgehen,  sollte  man  sich  an  die  Lehre  des  Buddha 
halten  und  sich  von  den  Banden  aller  Religionsformen  frei  machen." 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  200 

ich?  Dieses  Wesen  da,  woher  ist  es  wohl  gekommen?  Und 
wohin  wird  es  gehen?" 

[Die  sechs  Spei<ulationen  über  die  Seele:]  Und  bei 
solchen  Erwägungen  kommt  er  zu  dieser  oder  zu  jener  der 
sechs  Ansichten.  Die  Ansicht:  „Ich  habe  eine  Seele"  wird 
ihm  zur  festen  Überzeugung,  oder  die  Ansicht:  „Ich  habe  keine 
Seele"  wird  ihm  zur  festen  Überzeugung,  oder  die  Ansicht: 
„Beseelt  ahn'  ich  Beseelung"  wird  ihm  zur  festen  Überzeugung, 
oder  die  Ansicht:  „Beseelt  ahn'  ich  Entseelung"  wird  ihm  zur 
festen  Überzeugung,  oder  die  Ansicht:  „Entseelt  ahn'  ich  Be- 
seelung" wird  ihm  zur  festen  Überzeugung,  oder  er  kommt  zu 
folgender  Ansicht:  „Mein  selbiges  Selbst,  sage  ich,  findet  sich 
wieder,  wenn  es  da  und  dort  den  Lohn  guter  und  böser  Werke 
geniesst,  und  dieses  mein  Selbst  ist  dauernd,  beharrend,  ewig, 
unwandelbar,  wird  sich  ewiglich  also  gleich  bleiben."  —  Ist 
das  nicht,  ihr  Brüder,  eine  völlig  ausgereifte  Narrenlehre?  Das 
nennt  man,  ihr  Brüder,  Gasse  der  Ansichten,  Höhle  der  An- 
sichten, Schlucht  der  Ansichten,  Dorn  der  Ansichten,  Hag  der 
Ansichten,  Garn  der  Ansichten.  Ins  Garn  der  Ansichten  ge- 
raten, ihr  Brüder,  wird  der  unerfahrene  Erdensohn  nicht  frei 
vom  Geboren-werden,  Altern  und  Sterben,  von  Not,  Jammer 
und  Schmerz,  von  Gram  und  Verzweiflung;  er  wird  nicht 
frei,  sage  ich,  vom  Leiden. 

Doch  der  erfahrene,  heilige  Jünger,  ihr  Brüder,  merkt  das 
Heilige,  ist  der  heiligen  Lehre  gewärtig,  ist  der  heiligen  Lehre 
wohl  zugänglich,  merkt  das  Edle,  ist  der  Lehre  der  Edlen  ge- 
wärtig, ist  der  Lehre  der  Edlen  wohl  zugänglich;  er  erkennt, 
was  der  Achtsamkeit  wert  ist  und  erkennt,  was  der  Achtsam- 
keit unwert  ist.  Bekannt  mit  den  würdigen  Dingen,  bekannt 
mit  den  unwürdigen  Dingen  achtet  er  nicht  des  Unwürdigen, 
sondern  des  Würdigen.  „Dies  ist  das  Leiden"  —  erwägt  er 
gründlich.  „Dies  ist  die  Leidensentstehung"  —  erwägt  er 
gründlich.  „Dies  ist  die  Leidensvernichtung"  —  erwägt  er 
gründlich.  „Dies  ist  der  zur  Leidensvernichtung  führende  Pfad" 
—  erwägt  er  gründlich. 

[Der  erste  Pfad  der  Heiligung  und  die  Befreiung 
von  den  drei  Fesseln:]  Und  bei  solcher  gründlicher  Erwä- 
gung lösen  sich  ihm  die  drei  Umgarnungen  auf:  die  egoisti- 


270  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sehen  Ansichten,  die  Zweifelsucht  und  der  Glaube  an 
die  Wirksamkeit  äusserer  Handlungen.  Und  mehr  als 
die  höchste  Würde  der  Erde,  als  der  Genuss  himmlischer 
Freuden  und  der  Besitz  des  ganzen  Weltalls  ist  schon  dieser 
erste  Schritt  auf  dem  Pfade  der  Heiligung  wert;  denn  jene 
Jünger,  welche  die  drei  Fesseln  irdischen  Wahnes  abgestreift 
haben,  alle  diese  sind  »Hörer  der  Botschaft«  (Sotäpannä*) 
geworden,  dem  Verderben  entronnen,  eilen  zielbewusst  dem 
vollen  Erwachen  entgegen.    (Majjhima-Nikäya  22.) 

(Fortsetzung  folgt.) 

Goethe  ein  Buddhist. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(Schluss.) 

Das  buddhistische  Nirväna  ist  die  Auslöschung  der  Ego- 
Illusion;  es  ist  die  Vernichtung  des  Irrtums  der  Selbstheit, 
aber  nicht  die  Vernichtung  der  menschlichen  Seele  oder  der 
Welt.  Nirväna  ist  nicht  Tod,  sondern  Leben;  es  ist  der  rechte 
Lebensweg,  welcher  durch  die  Überwindung  aller  Leiden- 
schaften, die  das  Gemüt  umwölken,  erreicht  werden  kann. 
Nirväna  ist  die  Ruhe  in  der  Tätigkeit,  die  Stille  eines  Menschen, 
welcher  sich  selbst  aufgerichtet  und  gelernt  hat,  das  Leben  in 
seinen  ewigen  Aspekten  zu  betrachten.  Wahre  Ruhe  ist  nicht 
Quietismus,  sondern  wohl  abgewogene  Tätigkeit.  Es  ist  die 
Hingabe  des  Selbstes  als  Umtausch  für  das  unbegrenzbare 
Leben  der  Wahrheits-Evolution.  Es  ist  in  unserem  Leben  und 
Streben  die  Überwindung  des  Selbst-Gedankens  und  der  Vor- 
stellung: „Merkt  auf:  Ich  bin  es,  der  dies  tut."  Und  die  Auf- 
lösung alles  Eigendünkels  ist  nicht,  wie  der  Egoist  sich  ein- 
bildet, ein  Verzicht,  eine  Entbehrung,  sondern  höchste  Seligkeit. 
Goethe  sagt  in  seinem  Gedicht  »Ein  und  Alles«: 


')  Die  vier  Pfade  der  Heiligkeit  sind  der  Pfad  des  Sotäpanna, 
des  Sakadägämt,  des  Anägämt  und  des  Arahä.  Diese  vier  Klassen 
von  heiligen  Jüngern  besitzen  die  vollkommene  rechte  Erkenntnis 
(lokuttara  sammäditthi)  im  Gegensatz  zur  unvollkommenen  rechten 
Erkenntnis  (lokiya  sammäditthi)  der  weltlichen  Anhänger. 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  271 

„Im  Grenzenlosen  sich  zu  finden, 
Wird  gern  der  Einzelne  verschwinden, 
Da  löst  sich  aller  Überdruss: 
Statt  heissem  Wünschen,  wildem  Wollen, 
Statt  läst'gem  Fordern,  strengem  Sollen, 
Sich  aufzugeben  ist  Genuss." 

Betrachtung  und  Abgeschiedenheit  haben  ihren  Reiz  und 
sind  dem  Trubel  des  weltlichen  Lebens  bei  weitem  vorzuziehen. 
Goethe  liebte  die  Wonne  der  Abgeschlossenheit,  und  in  seinem 
»Lied  an  den  Mond«  heisst  es: 

„Selig,  wer  sich  vor  der  Welt 
Ohne  Hass  verschliesst, 
Einen  Freund  am  Busen  hält 
Und  mit  dem  geniesst, 

„Was,  von  Menschen  nicht  gewusst, 
Oder  nicht  gedacht. 
Durch  das  Labyrinth  der  Brust 
Wandelt  in  der  Nacht."  — 

Nach  der  Goetheschen  Anschauung  über  die  Seele  und  über 
das  Streben  des  Menschen,  wie  sie  in  seinen  eigenen  Gedich- 
ten zum  Ausdruck  gelangt,  kann  es  uns  nicht  Wunder  nehmen, 
sondern  muss  uns  ganz  natürlich  erscheinen,  dass  seine 
Gottes-Idee  mehr  dem  Amitäbha,  als  dem  Zeus  oder  Jahwe 
gleicht.    Er  sagt: 

„Was  soll  mir  euer  Hohn 
Über  das  AU  und  Eine? 
Der  Professor  ist  eine  Person, 
Gott  ist  keine." 
Ebensowenig  erwartet  Goethe   Hilfe  vom  Himmel;   er  hat 
gelernt  auf  sich  selbst  zu  stehen.    Der  Dichter  lässt  Prome- 
theus sprechen: 

„Da  ich  ein  Kind  war. 
Nicht  wusste,  wo  aus  noch  ein, 
Kehrt'  ich  mein  verirrtes  Auge 
Zur  Sonne,  als  wenn  drüber  war' 
Ein  Ohr,  zu  hören  meine  Klage, 


712  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Ein  Herz,  wie  meins, 

Sich  des  Bedrängten  zu  erbarmen. 

„Wer  half  mir 
Wider  der  Titanen  Übermut? 
Wer  rettete  vom  Tode  mich, 
Von  Sklaverei? 

Hast  du  nicht  alles  selbst  vollendet 
Heilig  glühend'  Herz? 
Und  glühtest  jung  und  gut, 
Betrogen,  Rettungsdank 
Dem  Schlafenden  da  droben!" 
Goethes  Gott  ist  das  Ewige  im  Vergänglichen,  das  Unver- 
änderliche im  Wechsel   und  die  Ruhe,  welche  der  Vertiefte  in 
dem  immer  rollenden  Lauf  der  kreisenden  Welten  entdecken 
wird:   Gott  ist  mit  einem  Wort   das  kosmische  Nirväna, 
die  Ruhe  in  der  Unruhe,  der  Friede  im  Kampf  und  die 
Seligkeit,   welche   in   den  Mühen   hehren  Strebens  er- 
erreicht wird.    Goethe  sagt: 

„Wenn  im  Unendlichen  dasselbe 
Sich  wiederholend  ewig  fHesst, 
Das  tausendfältige  Gewölbe 
Sich  kräftig  in  einander  schliesst. 
Strömt  Lebenslust  aus  allen  Dingen, 
Dem  kleinsten  wie  dem  grössten  Stern, 
Und  alles  Drängen,  alles  Ringen, 
Ist  ewige  Ruh'  in  Gott  dem  Herrn." 
Welches    auch    immer    die  Lehren  des  Buddha  gewesen 
sein  mögen:  soviel  ist  gewiss,  dass  das  Prinzip  des  Buddhis- 
mus dasselbe  ist  wie  das  Prinzip  der  »Wissenschafts-Reli- 
gion«;     denn    der    Buddhismus    ist    die    Religion    der 
Erleuchtung,    und  Erleuchtung    bedeutet  eine    vollkommene 
Einsicht  in  den  Sinn  des  Lebens  als  Grundlage  der  Religion. 
Goethes  diesbezügliche  Worte  sind  sehr  klar.    Er  kommt  dem 
Buddhismus  ausserordentlich  nahe;  daher  verwirft  er  nicht  das 
Christentum,  aber  er  lehnt  es  entschieden  ab,  sich  durch  die 
dogmatische  Beschränktheit  des  letzteren   irgendwie  einengen 
zu    lassen.    Goethe   nimmt    die  Wahrheiten   an,    welche    das 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  273 

Christentum  der  Welt  gegeben  hat,  und  merke  dir  wohl,  warum 
er  sie  annimmt:  Weil  sie  nicht  als  das  ausschliessliche  Erbe 
einer  Kirche  oder  Sekte  gelten  dürfen,  sondern  als  das  Gut 
der  gesamten  Menschheit;  deshalb  hat  der  Forscher  ein  Recht 
auf  diese  Wahrheiten,  und  indem  Goethe  sein  Recht  mit  dem 
des  Forschers  identifiziert,  nimmt  er  es  auch  für  sich  selbst 
in  Anspruch. 

Der  Dichter  richtet  an  die  Christ-Gläubigen  folgende  Worte: 
„Ihr  Gläubigen!  rühmt  nur  nicht  euren  Glauben 
Als  einzigen:  wir  glauben  auch  wie  ihr; 
Der  Forscher  lässt  sich  keineswegs  berauben 
Des  Erbteils,  aller  Welt  gegönnt  —  und  mir." 
Wie  nahe  ist  Goethe,  der  Forscher,  daran,  in  diesen  Zeilen 
seinen   Glauben    direkt    als   »Wissenschafts-Religion«   zu 
bezeichnen. 

Die  Tatsache,  dass  Goethes  Anschauung  über  die  Seele 
sich  in  vollkommenem  Einklang  mit  den  Lehren  des  Buddha 
befindet,  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  Goethe  selbst  mit 
den  Grundzügen  des  buddhistischen  »Abhidharma«  nicht 
vertraut  war. 

Ich  könnte  hier  auf  viele  Übereinstimmungen  zwischen 
dem  Buddhismus  und  den  Resultaten  der  modernen  Wissen- 
schafft speziell  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  hinweisen. 
Diese  Übereinstimmung  kann  uns  keineswegs  überraschen; 
denn  der  Buddhismus  ist  eine  Religion,  welche  keine  andere 
Offenbarung  anerkennt,  als  die  Wahrheit,  welche  durch  die 
Wissenschaft  bewiesen  werden  kann.  Der  Buddha  lehrt  seine 
Jünger  die  Tatsachen  des  Lebens  betrachten,  ohne  die  letz- 
teren durch  Voraussetzungen  oder  metaphysische  Annahmen 
zu  verdrehen.  Seine  Religion  ist  das  radikalste  Freidenkertum, 
welches  vor  keinen  Konsequenzen  zurückschreckt  noch  irgend 
jemanden  durch  Gefühlsphantastereien  irreleitet.  Und  doch  ist 
der  Buddhismus  gleichzeitig  die  ausserordentlich  ernste  Hin- 
gebung an  die  Wahrheit;  denn  ein  hervorstechender  Zug  der 
Buddha-Religion  ist  immer  folgender  gewesen:  Die  Über- 
windung der  Ego-Illusion  bleibt  keine  blosse  Theorie, 
sondern  sie  wird  ein  Prinzip  der  Lebensführung, 
welches   die  Nachfolger  der  Tathägata  antreibt,  allen  Egois- 

18 


274  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

mus  aufzugeben,  in  brüderlicher  Liebe  und  Herzensreinheit 
zu  wachsen  und  sich  dem  Wohle  ihrer  Mitgeschöpfe  zu  wid- 
men und  vor  allen  Dingen  denen  beizustehen,  welche  mühselig 
und  beladen  sind. 

Christus  lehrte  durch  sein  Beispiel,  durch  markige  Worte 
und  Gleichnisse  eine  Ethik,  welche  sich  mit  den  Sittenlehren 
des  Buddhismus  nahe  berührt;  aber  Christus  lehrte  keine 
Philosophie  und  kein  religiöses  System.  Christi  Sittenlehren 
stellen  einen  breiten  Humanitarismus  dar,  und  die  Gestalt 
Christi  steht  vor  uns  als  das  ecce  homo,  —  als  des  Men- 
schen Sohn,  als  der  Repräsentant  des  Menschengeschlechtes. 
Die  Kirche,  welche  sich  aus  der  ethischen  Bewegung,  die 
von  Christus  ausging,  entwickelt  hat,  hat  die  von  Christus 
vernachlässigten  theoretischen  Lehren  ergänzt;  aber  un- 
glücklicherweise ersetzten  die  kirchlichen  Dogmatiker  das  breite 
»ecce  homo«  durch  ein  enges  »ecce  ego«,  und  so  sind  die 
Annahmen  der  Ego-Psychologie  offiziell  als  christliche 
Dogmen  anerkannt  worden.  Und  doch  wage  ich  zu  behaupten, 
dass  jene  beiden  Meister  in  der  Welt  des  Denkens,  Buddha 
und  Goethe,  dem  Geiste  Christi  näher  stehen  als  die,  welche 
seinen  Namen  tragen  und  sich  seine  Jünger  nennen.  Wenn 
die  Anhänger  des  dogmatischen  Christentums  endlich  einmal 
den  Lehren  der  forschenden  Wissenschaft  Gehör  schenken 
wollten,  dann  würden  sie  wenigstens  zu  einem  inneren  Ver- 
ständnis der  Sittenlehren  ihres  Meisters  bekehrt  werden.  — 

Die  Macht  der  Meditation. 

Von  James  Allen. 

t?] '  Die  geistige  Meditation  ist  die  geheimnisvolle  Leiter,  welche 
Erde  und  Himmel  verbindet,  welche  vom  Irrtum  zur  Wahrheit, 
vom  Leiden  zum  Frieden  führt.  Jeder  heilige  Mensch  hat  diese 
Leiter  bestiegen;  ein  jeder  Sünder  muss  früher  oder  später 
ihr  sich  nahen,  und  jeder  müde  Pilger,  welcher  von  der  Lust 
der  Welt  und  der  Selbstsucht  sich  abwendet,  muss  mit  seinem 
Fuss  die  goldenen  Sprossen  betreten. 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  275 

Die  Meditation  ist  das  intensive  Richten  der  Gedanken 
auf  eine  Idee  oder  einen  Gegenstand  zu  dem  Zwecke,  dieselben 
gänzlich  zu  ergreifen,  und  dasjenige,  worüber  du  beständig 
meditierst,  wird  allmählich  nicht  nur  deinem  Verständnis  sich 
erschliessen,  sondern  du  wirst  demselben  mehr  und  mehr 
ähnlich  oder  gleich  werden;  denn  es  wird  sich  in  deinem 
eigenen  Wesen  verkörpern,  ja  es  wird  tatsächlich  dein  eigenes 
Selbst  werden.  Wenn  du  daher  mit  deinen  Gedanken  fort- 
während bei  Dingen  weilst,  die  der  Selbstsucht  frönen  und 
niedrig  sind,  so  wirst  du  schliesslich  selbstsüchtig  und  niedrig; 
pflegst  du  dagegen  beständig  reine,  nicht-selbstische  Gedanken, 
so  wirst  du   am  Ende  sicherlich  lauter  und  selbstlos  werden. 

Sage  mir,  woran  du  am  häufigsten  und  intensivsten  denkst, 
sage,  wohin  sich  in  stillen  Stunden  deine  Seele  von  selbst 
kehrt,  —  und  du  gibst  dir  damit  zugleich  die  Antwort,  zu 
welcher  Stätte  des  Leidens  oder  Friedens  du  unterwegs  bist, 
und  ob  du  zu  dem  Ebenbild  des  Göttlichen  oder  des  Tierischen 
heranreifst. 

Nach  einem  nicht  zu  umgehenden  Gesetz  wird  der  Mensch 
buchstäblich  die  Verkörperung  der  Eigenschaften,  an  die  er 
am  beharrlichsten  denkt.  Zufolge  dessen  sei  der  Gegenstand, 
den  du  zu  deiner  Meditation  erwählst,  nicht  niedrig,  sondern 
erhaben,  so  dass  du  zu  jeder  Zeit,  wann  du  in  Gedanken  zu 
ihm  zurückkehrst,  innerlich  erhoben  wirst;  der  Gegenstand 
deiner  Meditation  sei  rein  und  von  keinem  selbstischen  Element 
durchgesetzt;  dann  wird  dein  Gemüt  geläutert  und  wird  der 
Wahrheit  immer  näher  kommen,  anstatt  befleckt  und  hoffnungs- 
los in  Irrwahn  verstrickt  zu  werden. 

Die  Meditation  im  geistigen  Sinne,  —  in  welchem  ich  hier 
dieses  Wort  gebrauche,  —  ist  das  Geheimnis  jeglichen  Wachs- 
tums im  inneren  Leben  und  in  der  geistigen  Erkenntnis.  Jeder 
Prophet,  Weise  und  Heiland  wurde,  was  er  war,  durch  die 
Kraft  der  Meditation. 

Wenn  du  befreit  werden  willst  von  Sünde  und  Leid,  — 
wenn  du  von  jener  fleckenlosen  Reinheit  kosten  willst,  nach 
der  du  dich  sehnst  und  schmachtest,  —  wenn  du  Willens  bist, 
Weisheit  und  Einsicht  zu  verwirklichen  und  den  Besitz  eines 
tiefen,  dauernden  Friedens  anzutreten,  —  dann  komm'  jetzt  und 

18* 


7t6  DER  BUDbHISt.  I.  jahfg. 

beschreite  den  Pfad  der  Meditation,  und  der  höchste  Gegen- 
stand deiner  Vertiefung  sei  die  Wahrheit. 

Gleich  von  vornherein  muss  man  die  Meditation  von  eitler 
Schwärmerei  unterscheiden.  Da  gibt  es  keine  Träumereien 
und  unnütze  Hirngespinste.  Es  handelt  sich  hier  vielmehr  um 
den  Prozess  ernsten  und  unbestechlichen  Denkens,  welches 
nichts  anderes  zurückbleiben  lässt,  als  die  einfache,  nackte 
Wahrheit.  Und  so  wirst  du  nach  und  nach  alle  Irrtümer  be- 
seitigen, weiche  du  während  vergangener  Zeiten  um  dich  er- 
richtet hast,  wirst  geduldig  der  Enthüllung  der  Wahrheit  ent- 
gegenharren, die  sich  einstellen  wird,  nachdem  die  Formen 
deines  Irrtums  hinlänglich  zerstreut  sind. 

Wähle  dir  einen  bestimmten  Teil  des  Tages  aus,  während 
dessen  du  meditieren  willst  und  weihe  diesen  Zeitpunkt  ganz 
deinem  Unternehmen.  Die  beste  Zeit  ist  die  der  frühesten 
Morgenstunden,  wenn  der  Geist  der  Ruhe  über  alle  Dinge 
ausgebreitet  ist.  Alle  natürlichen  Bedingungen  sind  dann 
deinem  Beginnen  günstig.  Die  Leidenschaften  sind  nach  der 
längeren  körperlichen  Nachtruhe  zum  Schweigen  gebracht; 
die  Aufregungen  und  Wirren  des  letzten  Tages  sind  verblasst, 
und  das  neugestärkte,  beruhigte  Gemüt  ist  befähigt,  geistige 
Anweisungen  entgegen  zu  nehmen.  Freilich,  —  eine  der  ersten 
Anstrengungen,  zu  der  du  dich  aufraffen  musst,  besteht  darin, 
alle  Schlaffheit  und  Selbstnachsicht  abzuschütteln,  und  solange 
du  dich  dessen  weigerst,  wirst  du  unfähig  bleiben,  irgendwelche 
Fortschritte  zu  machen;  denn  die  Forderungen  des  Geistes  sind 
gebieterisch. 

Geistig  erwacht  sein  bedeutet  also  inneres  und  äusseres 
Wach-sein.  Der  Träge  und  Bequeme  kann  keine  Wahrheits- 
Erkenntnis  haben.  Wer,  obwohl  gesund  und  kräftig,  die  stillen, 
köstlichen  Stunden  des  schweigenden  Morgens  in  schläfriger 
Trägheit  vergeudet,  ist  gänzlich  unfähig,  die  geistigen  Höhen 
zu  erklimmen. 

Wessen  erwachendes  Bewusstsein  frei  geworden  ist  zur  Ent- 
faltung seiner  erhabenen  Möglichkeiten,  wer  damit  begonnen 
hat,  die  Finsternis  des  Nichtwissens,  in  welches  die  Welt  ein- 
gehüllt ist,  zu  durchbrechen,  der  erhebt  sich  von  seinem  Lager, 
bevor   die  Sterne    ihre  Nachtwache    vollendet  haben,  —  der 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  .;^7 

ringt   mit  dem   Dunkel   in  seiner  Seele    und  strebt  in  heiliger 
Anstrengung   danach,   das   Licht   der  Wahrheit   zu   empfinden 
—  während  die  unerwachte  Welt  noch  fortträumt. 
Die  Höhen,  welche  Weise  einst  erklommen, 
Sie  wurden  nicht  in  einem  Flug  erreicht; 
Wenn  alle  Welt  in  Schlummers  Armen  ruhte, 
Des  Nachts,  dann  rangen  sie  im  inneren  Kampf. 

Kein  Weiser,  kein  Heiliger,  kein  Wahrheitskünder  hat  je 
gelebt,  der  sich  nicht  in  aller  Morgen-Frühe  erhoben  hätte. 
Der  Buddha  erhob  sich  immer  eine  Stunde  vor  Sonnenaufgang 
und  verbrachte  diese  Zeit  in  Meditation,  und  alle  seine  Jünger 
waren  ebenfalls  dazu  angewiesen. 

Wenn  du  dein  Tagewerk  beim  ersten  Morgengrauen 
beginnen  musst  und  daher  verhindert  bist,  den  frühen  Morgen 
einer  stystematischen  Meditation  zu  widmen,  so  versuche  es, 
eine  Stunde  der  Nacht  zu  opfern,  und  sollte  dir  auch  dies 
wegen  der  Länge  und  Schwere  deiner  Arbeiten  versagt  sein,  so 
brauchst  du  deshalb  nicht  zu  verzweifeln;  denn  du  kannst 
dann  in  den  Pausen  deiner  Arbeit  oder  in  den  freien  Minuten, 
die  du  jetzt  zwecklos  vergeudest,  deine  Gedanken  in  heiliger 
Meditation  sammeln;  und  sollte  deine  tägliche  Beschäftigung 
mehr  automatisch-mechanischer  Art  sein,  so  kannst  du  während 
deiner  Arbeit  der  Meditation  obliegen.  In  jedem  Leben,  in 
jedem  Beruf  ist  Zeit  zum  Nachdenken  vorhanden,  und  auch  der 
am  meisten  Beschäftigte,  auch  der  hart  Arbeitende  ist  durchaus 
nicht  von  innerer  Anstrengung  und  Meditation  ausgeschlossen. 

Geistige  Meditation  und  Selbstzucht  sind  eng  mit  einander 
verbunden;  du  wirst  demgemäss  damit  beginnen  müssen,  über 
dich  selbst  zu  meditieren;  denn  denke  daran:  der  grosse 
Gegenstand,  den  du  im  Auge  hast,  bedeutet  die  vollständige 
Entfernung  aller  deiner  Irrtümer  zu  dem  Zwecke,  damit  du  die 
Wahrheit  verwirklichen  kannst.  Du  musst  dazu  schreiten,  deine 
Motive,  Gedanken  und  Handlungen  zu  prüfen  und  dieselben 
mit  deinem  Ideal  zu  vergleichen;  du  musst  dich  bemühen,  auf 
sie  mit  einem  ruhigen,  von  Vorurteilen  nicht  getrübten  Auge 
zu  sehen.  Auf  diese  Weise  wirst  du  beständig  mehr  und  mehr 
jenes  innere  Gleichgewicht  erhalten,  ohne  welches  der  Mensch 
ein  hilfloses  Wrack  im  wogenden  Meere  des  Lebens  ist.     Bist 


278  DER  BUDDHIST.  .      I.  Jahrg. 

du  z.  B.  zu  Hass  und  Zorn  geneigt,  so  meditiere  über  Sanft- 
mut und  Verträglichkeit,  damit  in  dir  die  Empfängiichi<eit  für 
das  Gefühl  deines  barschen,  törichten  Betragens  geweckt  wird. 
Du  wirst  dann  deine  Gedanken  auf  Güte,  Freundlichkeit  und 
Verzeihung  richten,  und  wie  du  nun  Schritt  für  Schritt  das 
Niedere  durch  das  Höhere  überwindest,  dringt  still  in  dein 
Herz  eine  stetig  wachsende  Einsicht  in  das  erhabene  gute  Ge- 
setz, sowie  ein  Verständnis  für  die  Bedeutung,  die  dieses 
Gesetz  für  alle  die  Wirrsale  im  Leben  und  Wandel  hat.  Und 
indem  du  diese  Erkenntnis  auf  deine  eigenen  Gedanken,  Worte 
und  Taten  anwendest,  wirst  du  immer  freundlicher,  immer 
liebevoller,  immer  vollkommener  werden.  Genau  so  nun  hast  du 
dich  gegenüber  dem  Irrtum,  jedem  selbstsüchtigen  Begehren, 
jeder  menschlichen  Schwäche  zu  verhalten.  Durch  die  Kraft  der 
Meditation  wird  dieses  alles  überwunden,  und  in  dem  Grade, 
wie  jeder  Irrtum  und  jede  Sünde  ausgerodet  wird,  scheint  auch 
der  Lichtstrahl  der  Wahrheit,  der  des  Pilgers  Seele  erleuchtet, 
in  immer  hellerem,  schönerem  Glänze. 

Wenn  du  in  dieser  Weise  meditierst,  verteidigst  du  dich 
gegen  deinen  einzigen  wirklichen  Feind,  d.  h.  gegen  dein 
eigennütziges,  vergängliches  Selbst  und  wirst  stetig  fester  in 
der  ewigen,  unvergänglichen  Wahrheit,  welche  mit  Nirväna 
identisch  ist.  Die  direkte  Frucht  deiner  Meditation  wird  dann 
eine  ruhige  geistige  Kraft  sein,  dein  Ruhepunkt  und  Halt  im 
Kampfe  des  Lebens.  Gross  ist  die  Macht  des  heiligen  Denkens, 
und  die  Kraft  und  Einsicht,  welche  du  in  den  Stunden  stiller 
Meditation  erwirbst,  wird  deine  Seele  in  Zeiten  des  Kampfes, 
des  Leidens  und  der  Versuchung  mit  der  heilsamen  Fähigkeit 
des  rechten  »Gedenkens«  bereichern. 

Indem  du  durch  die  Kraft  der  Meditation  in  der  Weisheit 
stark  wirst,  wirst  du  allmählich  von  deinen  selbstsüchtigen 
Neigungen  frei  werden,  den  wankelmütigen,  unbeständigen 
Erzeugern  von  Leid  und  Schmerz;  du  wirst  mit  zunehmender 
Festigkeit  und  wachsendem  Vertrauen  deinen  Standpunkt  auf 
unvergängliche  Prinzipien  gründen  und  wirst  eine  wahrhaft 
himmlische  Ruhe  realisieren. 

Die  Pflege  der  Meditation  bedeutet  die  Erlangung  einer  Er- 
kenntnis ewiger  Prinzipien,  und  die  Kraft,  welche  aus  der  Meditation 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  279 

entspringt,  ist  die  Fähigkeit,  diesen  Prinzipien  zu  vertrauen  und 
sich  fest  auf  sie  zu  stützen.  Lass  deine  Meditationen  in  der 
ethischen  Grundlage  wurzeln,  zu  der  du  nunmehr  gelangt  bist. 
Denke  daran,  dass  du  durch  ernstes  Ausharren  in  der 
Wahrheit  wachsen  sollst. 

Der  Buddha  spricht:  „Wer  sich  selbst  der  Eitelkeit  hingibt 
und  sich  nicht  der  Meditation  weiht,  indem  er  das  wirkliche 
Ziel  des  Lebens  vergisst  und  an  der  Lust  haftet,  der  wird 
einst  den  beneiden,  welcher  sich  in  der  Meditation  geübt  hat." 
In  den  folgenden  fünf  grossen  Meditationen  hat  der  Mei- 
ster seine  Jünger  unterwiesen: 

Die  erste  Meditation  ist  die  Meditation  der  Men- 
schenliebe, in  welcher  du  dein  Gemüt  so  stimmen  musst, 
dass  du  für  alle  Wesen  Wohlfahrt  und  Heil,  und  für  die  dir 
feindlich-gesinnten  Menschen  Glück  ersehnst. 

Die  zweite  Meditation  ist  die  des  Mitleids,  in  wel- 
cher du  dir  in  deiner  Seele  lebhaft  ihre  Schmerzen  und  Ängste 
vorführst,  bis  in  deinem  Gemüte  ein  tiefes  Erbarmen  mit  jenen 
entsteht. 

Die  dritte  Meditation  ist  die  Meditation  der  Freude, 
in  welcher  du  an  das  Glück  der  anderen  Wesen  denkst  und 
an  ihrer  Freude  teilnimmst. 

Die  vierte  Meditation  ist  die  Meditation  über  die 
Unreinheit.  Hier  betrachtest  du  die  üblen  Folgen  der  Ver- 
derbnis, die  Wirkungen  der  Sünde  und  die  Gebrechen,  denen 
die  Wesen  unterworfen  sind.  Wie  unbedeutend,  wie 
niedrig  ist  oft  die  Lust  eines  Augenblickes,  und  wie  verhäng- 
nisvoll seine  Folgen! 

Die  fünfte  Meditation  ist  die  Meditation  über  den 
Seelenfrieden.  In  derselben  erhebst  du  dich  über  Liebe 
und  Hass,  über  Tyrannei  und  Bedrückung,  über  Reichtum  und 
Mangel,  über  Glück  und  Unglück,  und  betrachtest  dein  eigenes 
Geschick  ganz  objektiv  mit  unparteiischem  Gleichmut  und 
vollkommener  Gemütsruhe,  bis  tiefster  Friede  dein  Inneres 
erfüllt. 

Durch  die  Ausübung  dieser  Meditationen  gelangten  die 
Jünger  des  Buddha  zu  der  Erkenntnis  der  Wahrheit.  Wer 
immer  diese  grossartigen  Meditationen   pflegt,   dessen  Gemüt 


MÖ  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

wird  wachsen  und  zunehmen  an  tiefer  Güte  und  lauterem 
Wohlwollen,  bis  das  Herz  von  aller  Gehässigkeit,  Leidenschaft 
und  Aburteilung  befreit  ist  und  die  ganze  Welt  mit  liebevoller 
Gesinnung  durchstrahlt.  Wie  die  Blüte  ihren  Kelch  öffnet,  um 
das  Morgenlicht  zu  empfangen,  so  öffne  deine  Seele  mehr  und 
mehr  dem  Lichte  der  Wahrheit.  Schwinge  dich  empor  auf 
den  Fittichen  ernster  Anstrengung,  sei  furchtlos  und  glaube 
an  die  erhabensten  Möglichkeiten.  Glaube,  dass  ein  Leben 
vollkommener  Milde  möglich  ist;  glaube,  dass  ein  Leben  voll- 
endeter Heiligkeit  möglich  ist;  glaube,  dass  die  Verwirklichung 
der  höchsten  Wahrheit  möglich  ist.  Wer  so  glaubt,  klimmt 
schnell  empor  zu  den  himmlischen  Höhen,  während  die  Ver- 
blendeten fortfahren,  unsicher  und  schmerzlich  in  dem  nebel- 
bedeckten Abgrunde  herumzutappen. 

Wenn  du  so  glaubst,  so  kämpfst,  so  meditierst,  werden 
deine  geistigen  Erfahrungen  wunderbar  und  erhaben  sein, 
und  glorreich  die  Enthüllungen,  welche  deinem  geistigen  Auge 
sich  erschliessen  werden.  In  dem  Mafse,  wie  du  die  göttliche 
Liebe,  die  göttliche  Gerechtigkeit,  die  göttliche  Reinheit,  das 
vollkommene  gute  Gesetz  verwirklichst,  wird  deine  Selig- 
keit gross,  und  tief  dein  Friede  sein.  Das  Alte  ist  vergangen, 
alle  Dinge  werden  neu:  der  Schleier  der  materiellen  Welt, 
so  dicht  und  undurchdringlich  für  das  Auge  des  Irrtums, 
so  dünn  und  durchscheinend  dem  Wahrheits-Auge,  —  dieser 
Schleier  wird  sich  lüften  und  die  geistige  Welt  sich  enthüllen; 
das  Zeitliche  wird  versinken,  und  du  wirst  nur  im  Ewigen 
leben;  Vergänglichkeit  und  Tod  werden  dir  keine  Angst  und 
Qual  mehr  verursachen;  denn  festgegründet  wirst  du  im  Un- 
vergänglichen stehen  und  wirst  ruhen  am  grossen  Herzen  der 
Unsterblichkeit.  — 

Die 

Transmigration  oder  Wiederg-eburt. 

Von  Bhikkhu  Ananda  Maitriya. 

(2.  Fortsetzung.) 

In  den  lebhaften  Strahlen  eines  entfernten  Gestirnes  flammt 
eine  Anzahl  von  verschiedenen  Stoffen  auf;   ein  jedes  winzige 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  281 

Molekül  derselben  zittert  und  schwingt  auf  seine  ihm  eigen- 
tümliche Weise;  ein  jedes  setzt  durch  seine  Vibrationen  den 
es  umgebenden  Äther  in  Bewegung  und  sendet  eine  Reihe  von 
Schwingungen  aus,  —  die  Totalsumme  seines  Tuns,  die  Wir- 
kung seiner  Arbeit  auf  das  Weltall.  Kann  Zeit  oder  Raum 
die  Individualität  einer  solchen  Welle  auslöschen  oder  eine 
flammende  Linie  aus  dem  Spektrum  eines  Elementes  nehmen? 
Nein,  nicht  einmal  dann,  wenn  der  Stern  bereits  er- 
loschen ist!  Kaum  gestern  erst  erblickten  wir  das  Licht  der 
Nova  Persei  in  einem  neuen,  strahlenden  Glanz  am  Himmel, 
wie  eine  gewaltige  Feuersbrunst  von  neuem  auflodernd;  wir 
lesen  ihre  Botschaft  aus  den  Abgründen  des  Raumes  und 
sind  in  der  Lage,  die  verschiedenen  Elemente  ihres  Spektrums 
identifizieren  zu  können;  und  doch  fand  dieser  gewaltige 
Ausbruch  vor  etwa  dreihundert  Jahren  statt,  und 
wahrscheinlich  ist  Nova  Persei  heute  erloschen  und 
kalt.  Und  wenn  wir  imstande  wären,  mit  einer  noch  grösseren 
Geschwindigkeit  als  der  des  Lichtes  von  jenem  erkalteten  Ge- 
stirn uns  zu  entfernen,  so  würden  wir  jene  seltsame  Eruption 
immer  wieder  beobachten  können,  und  immer  wieder,  —  dann 
würden  wir  wohl  das  Geheimnis  dieses  Aufleuchtens  verstehen 
lernen,  würden  die  durch  Raum  und  Zeit  nicht  zerstörbare 
Identität  eines  jeden  einzelnen  Elementes  begreifen,  welches 
an  dieser  kosmsichen  Katastrophe  Teil  nahm.  Selbst  wenn  der 
Mechanismus,  welcher  alle  diese  komplizierten  Schwingungen 
des  Äthers  veranlasste,  schon  vor  zehn  Millionen  Jahren  auf- 
gehört hätte  zu  wirken,  so  würden  wir,  falls  unsere  Schnellig- 
keit gross  genug,  unsere  Instrumente  fein  genug,  unsere  Beob- 
achtung scharf  genug  wäre,  immer  und  immer  wieder  jene 
Botschaft  lesen,  die  tief  in  die  Abgründe  des  Raumes  fliegt, 
und  würden  erkennen,  dass  Wasserstoff  auf  jenem  Stern  auf- 
loderte, obwohl  derselbe  jetzt  —  im  Augenblicke  unserer 
Beobachtung,  seit  ungezählten  Jahrhunderten  tot  ist.  Und 
wenn  so  die  Geschichte  der  »Nova  Persei«  zu  uns  sprach 
und  noch  immer  irgendwo  im  Räume  zu  uns  spricht  und 
immer  noch  zu  uns  sprechen  wird,  solange  die  Zeit  andauert 
und  der  Ozean  des  Äthers  sich  ausdehnt;  —  wenn  so  Jahr- 
hunderte, Jahrmillionen  nach  dem  Aufhören  jenes  Aufleuchtens 


282  DER  BUDDHIST.  i.  jahrg. 

das  Wirken  eines  jeden  daran  beteiligten  Elementes  noch  fort- 
dauert und  seine  individuelle  Eigentümlichkeit  noch  behauptet, 

—  wie  kann  es  uns  dann  seltsam  oder  befremdlich  erscheinen, 
dass  das  bei  weitem  verwickeitere  Wirken  des  menschlichen 
Lebens  in  analoger  Weise  fortbesteht  und  noch  fähig  ist,  wenn 
der  notwendige  Mechanismus  gegeben  ist,  auf  der  Erde  oder 
anderswo  den  Charakter  und  die  Natur  dessen,  was  einst  ein 
Mensch  war,  wiederhervorzubringen?! 

Was  meinen  wir  denn  eigentlich,  wenn  wir  von  einem 
einzelnen  Menschen  sprechen?  Sicherlich  nicht  nur  die  Ma- 
terialien seines  Körpers,  welcher  sich  in  jeder  Minute  des 
Lebens  verändert;  ebensowenig  —  nach  buddhistischer  Ansicht 

—  ein  getrenntes  Ego-Seelen-Wesen  im  Menschen.  Es  ist 
vielmehr  die  Gesamtsumme  seiner  Vorstellungen,  seine  geistigen 
und  anderen  Fähigkeiten,  —  kurz,  es  ist  der  Charakter,  den 
wir  meinen,  wenn  wir  von  Johannes  Schmidt  sprechen.  Und 
für  uns  bewusste  und  reflektierende  Wesen  besteht  dieser 
Charakter  zum  weitaus  grössten  Teile  aus  gewissen  Energieen, 
und  wenn  wir  diese  Energieen  weiter  analysieren,  kommen  wir 
zu  dem  Schluss,  dass  dieselben  auf  das  sie  umgebende  Uni- 
versum auf  eine  ihnen  ganz  eigentümliche  Weise  einwirken, 
gerade  so,  wie  auch  ein  Wasserstoff-Molekül  das  umgebende 
Universum  affiziert,  —  d.  h.  wir  gelangen  nach  scharfem 
Durchdenken  zu  der  Anschauung,  dass  das,  was  wir  Johannes 
Schmidt  nennen,  im  letzten  Grunde  eine  eigentümliche,  ausser- 
ordentlich komplizierte  Vibration  des  Äthers  ist.  Ich  will  noch 
ungeschminkter  sprechen:  Der  menschliche  Körper  ist  eine 
Maschine,  und  die  Gesamtsumme  seiner  Energieen  kann  wie 
die  irgend  einer  anderen  Maschine  abgeschätzt  werden  nach 
der  Feuerung  (in  Form  von  Nahrung),  welche  nötig  ist,  um 
den  Menschen  in  gesundem  Zustande  zu  erhalten.  Wenn  wir  dies 
nach  Wärme-Einheiten  berechnen,  so  finden  wir,  dass  die  Gesamt- 
summe der  Energie  des  menschlichen  Körpers  ungefähr  eine  halbe 
Pferdekraft  beträgt.  Wie  wird  diese  Energie  im  Körper  ver- 
wendet? Zumeist  für  die  Verrichtung  der  vitalen  Funktionen 
sowie  der  Arbeiten,  die  der  betreffende  Mensch  ausübt.  Aber 
es  gibt  noch  ein  Organ,  das  wichtigste  von  allen,  nämlich 
das  Gehirn,    dessen  Arbeitsleistung    wir    nicht    direkt   ab- 


No.9.  DER  BUDDHIST.  283 

schätzen  können,  und  dennoch  verbraucht  gerade  dieses  Organ 
einen  erheblichen  Teil  der  gesamten  menschlichen  Energie. 
Wir  können  den  Gehalt  an  deoxydiertem  Blut,  welches  von 
irgend  einem  Organe  kommt,  als  ungefähres  Mats  für  die 
Arbeit  annehmen,  welche  dieses  Organ  leistet.  Von  dem  ge- 
samten Blut-Vorrat  des  Körpers  wird  ein  ganzes  Fünftel  in 
dem  Hirn  verbraucht,  und  da  das  zurückströmende  Blut  etwas 
mehr  deoxydiert  ist,  als  gewöhnlich,  so  kann  als  sicher  gelten, 
dass  das  Gehirn  für  seine  Arbeitsleistung  ungefähr  den  zehnten 
Teil  einer  Pferdekraft  verbraucht  hat.  Wenn  wir  die  Hälfte 
davon  für  die  Kontroll-Zentra  der  niederen  Funktionen  ab- 
rechnen (was  sehr  hoch  gerechnet  ist),  so  bleibt  immer  noch 
der  zwanzigste  Teil  einer  Pferdekraft  übrig,  welche  verbraucht 
wird  für  das,  was  wir  als  Gedanken,  Wahrnehmungen  und 
Bewusstseins-Inhalte,  kurz  als  den  Charakter  eines  Menschen 
bezeichnen. 

Nun  ist  der  zwanzigste  Teil  einer  Pferdekraft  immer  noch 
ein  grosser  Gehalt  von  Energie.  Unter  Zugrundelegung  physi- 
kalischer Gesetze  müssen  wir  erkennen,  dass  ein  Teil,  ja  der 
grösste  Teil  dieser  ganzen  verbrauchten  Energie  seinen  Aus- 
druck in  den  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  des  Menschen 
findet,  in  dem,  was  wir  ganz  allgemein  »Denken«  nennen, 
von  dem  Bewusstwerden  einer  einfachen  Sinnesempfindung  an 
bis  zu  dem  verwickeltsten  Akte  eines  Vernunft-Schlusses.  Was 
auch  immer  der  Gedanke  sein  mag,  eins  ist  sicher,  dass  er 
nämlich  entweder  das  Resultat,  oder  aber  die  Begleit- 
erscheinung von  molekularen  Veränderungen  ist, 
welche  sich  in  der  Struktur  des  Gehirns  abspielen. 
Das  würde  aus  der  Deoxydation  des  Blutes  folgen,  welches 
von  diesem  Organe  kommt,  sowie  von  der  Tatsache,  dass, 
wenn  ein  Mensch  intensiv  geistig  tätig  ist,  seine  Blutzufuhr  im 
Hirn  sich  erheblich  steigert.  Aber  alle  molekularen  Verände- 
rungen, welche  uns  bis  heute  bekannt  geworden  sind,  verur- 
sachen im  Äther  ganz  bestimmte  Eigentümlichkeiten,  welche 
sich  darin  äussern,  dass  sie  in  diesem  Medium  gewisse  Arten 
von  Schwingungen  hervorrufen.  So  können  wir  sagen,  dass 
das  Denken  in  bestimmten  charakteristischen  Schwingungen 
des  Äthers  besteht,  oder  von  denselben  begleitet  ist;    diese 


184  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Schwingungen  aber  sind  bei  weitem  komplizierter,  als  beispiels- 
weise jene  Vibrationen,  welche  stark  erhitztes  Eisen  um  sich 
verbreitet.  Von  diesem  Standpunkte  aus  kann  behauptet 
werden,  dass  ein  Mensch  während  seines  Lebens,  solange  er 
denkt  und  wahrnimmt,  beständig  eine  Reihe  von  ihm  spezifisch 
eigentümlichen  Vibrationen  aussendet;  in  ihrer  Gesamtheit 
charakterisieren  diese  den  Menschen,  wie  etwa  das  Spektrum 
des  Eisens  gerade  für  dieses  Metall  charakteristisch  ist.  Und 
gesetzt  den  Fall,  wir  hätten  ein  alles  durchdringendes  Auge 
sowie  ein  Spektroskop,  welches  imstande  wäre,  jene  mensch- 
lichen Schwingungen  wahrzunehmen  und  zu  analysieren,  — 
dann  würden  wir  auch  imstande  sein,  unsern  Freund  Johannes 
Schmidt  zu  identifizieren,  solange  dieser  lebt  und  auf  den 
Äther  in  seiner  spezifischen  Art  einwirkt.  Es  können  noch 
manche  Jahre  vergehen,  bis  die  Substanz  entdeckt  wird,  welche 
auf  diese  Gedanken- Ausstrahlungen  reagiert,  wie  z.  B.  das 
Selen  auf  bestimmte  Wellen  des  gewöhnlichen  Lichtes;  dann 
wird  gleich  vielen  anderen  scheinbar  weithergeholten  Theorien 
der  Traum  der  Gedanken-Übertragung  als  eine  wirkliche  Tat- 
sache vor  uns  stehen. 

So  ist  also  Johannes  Schmidt  in  einem  Sinne  unsterblich, 
ja,  ein  jeder  der  von  ihm  gedachten  Gedanken  ist  unsterblich 
und  wird  noch  irgendwo  in  den  Tiefen  der  Unendlichkeit 
verharren,  selbst  wenn  die  körperliche  Form  schon  längst  in  Staub 
zerfallen  ist.  Aber  dieser  Teil  seiner  Energie  ist  es 
nicht,  welcher  im  Augenblick  seines  Ablebens  die 
Bildung  eines  neuen  Wesens  hervorruft,  —  das  ist 
eine  andere  Sache,  und  indem  ich  das  begonnene  Gleich- 
nis noch  weiter  fortführe,  will  ich  zu  zeigen  versuchen,  wie 
diese  Neuformation  zustande  kommt.  Dabei  darf  man  na- 
türlich nicht  vergessen,  dass  es  sich  hier  nur  um  ein 
Gleichnis  handelt,  oder  besser  um  einen  Weg,  durch 
den  ich  diese  Dinge  erläutere;  denn  ich  spreche  hier 
vom  Universum,  als  einem  Konglomerat  von  Substanz, 
mögen  wir  die  letztere  nun  Substanz  oder  Äther 
nennen,  —  während  nach  der  wirklichen  Ansicht  des 
Buddhisten  dasjenige,  was  wir  als  Materie  bezeichnen, 
nur  ein  geistiger  Zustand  innerer  Vorstellung  ist,  und 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  285 

dass    es    ausser    demselben    überhaupt    keine    Form, 
Materie  oder  Substanz  gibt.  (Fortsetzung  folgt.) 

Warum  ich  Buddhist  wurde. 

Von  A.  E.  Buultjens. 

(2.  Fortsetzung.) 

Ich  komme  nun  zu  jenem  Zeitpunkt,  da  ich  nach  Ceylon 
zurückkehrte.  Seit  zwei  Jahren  hatte  ich  keinen  Gottesdienst 
besucht.  Den  Universitäts-Predigten  wohnte  ich  ab  und  zu  bei, 
wenn  Prediger  von  Ruf  nach  Cambridge  kamen,  deren  Vor- 
tragsweise glänzend  und  fesselnd  war,  und  deren  durch  keine 
rituellen  Zeremonien  unterbrochene  Aufführungen  von  Leuten 
aller  Schattierungen  gehört  wurden.  Ausserdem  hatte  ich  mir 
noch  die  Notre-Dame-Kathedrale  und  einige  durch  ihre  archi- 
tektonische Schönheit  ausgezeichnete  Kirchen  in  Holland  ange- 
sehen; sonst  war  ich,  wie  gesagt,  volle  zwei  Jahre  lang  in 
keine  Kirche  gekommen.  Als  daher  nach  meiner  Rückkehr  in 
meine  Heimat  Matara  auf  Ceylon  die  ersten  Sonntage  vorüber- 
gingen, ohne  dass  ich  meine  Geschwister  bei  ihrem  Kirch- 
gange begleitete,  fragte  mich  meine  Mutter  nach  dem  Grunde 
meines  gottlosen  Benehmens  und  wie  es  käme,  dass  ich  dem 
Gotteshause  fern  bliebe.  Ich  erwiderte  ihr,  dass  die  ganze 
Welt  Gottes  Haus  sei  und  nicht  ein  einzelnes  Gebäude  mit  vier 
Wänden  und  einem  Dach.  Meine  Mutter  meinte,  ich  sei  ein 
seltsamer  Sonderling  und  hielt  es  unter  der  Annahme,  dass  in 
meinem  Oberstübchen  etwas  nicht  in  Ordnung  sei,  für  das 
Beste,  einen  heilkundigen  Arzt  zu  konsuhieren,  —  natürlich 
keinen  Doktor  der  Medizin,  sondern  der  Gottesgelahrtheit.  So 
kam  denn  eines  Morgens  Rev.  F.  D.  Edirisinhe  und  wünschte 
mich  zu  sprechen.  Nach  der  einleitenden  Begrüssung  entspann 
sich  folgendes  Zwiegespräch: 

„Wie  kommt  es,  dass  ich  Sie  seit  Ihrer  Rückkehr  noch 
nicht  in  der  Kirche  gesehen  habe?" 

,Darf  ich  mir  eine  Gegenfrage  erlauben:  Ist  das  Kirchen- 
gehen wesentlich  notwendig  zur  Erlösung?' 


286  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

„Freilich!  Sie  nehmen  dadurch  Teil  an  den  Gottesdiensten, 
an  den  Gebeten  und  hören  die  Predigt." 

,Ich  ziehe  es  vor,  in  Steinen,  überhaupt  in  allen  Dingen 
Predigten  zu  lesen.' 

„Aber  Ihr  Vater  und  alle  Ihre  Verwandten  haben  bisher 
die  Kirche  besucht." 

,Allerdings;  so  habe  auch  ich  zweimal  täglich  sechs 
Jahre  lang  die  Thomas-College-Kirche  besucht.  Das  ergibt,  die 
Sonn-  und  Feiertage  abgerechnet,  eine  Gesamtsumme  von 
3600  Kirchgängen.  Ausserdem  bin  ich  zweimal  wöchentlich 
während  eines  Jahres  in  Cambridge  in  der  Kirche  gewesen, 
also  ca.  200  mal.  Gesamtsumme:  3800  Gottesdienst-Besuche. 
Wenn  also  das  Kirchengehen  zum  Heil  wirklich  notwendig  ist, 
so  glaube  ich  meinen  Teil  getan  zu  haben,  um  mich  für  den 
Himmel  zu  qualifizieren  und  bitte  mich  für  den  Rest  meines 
Lebens  entschuldigen  zu  wollen.' 

„Aber  Sie  sind  ganz  sicherlich  kein  Christ  mehr?!" 

,Nun  denn,  —  wenn  Sie  direkt  meine  Ansicht  hören  wollen, 
—  ich  bin  kein  Christ.  Muten  Sie  mir  vielleicht  zu,  dass  ich 
an  die  Arche  Noah,  an  Jonas  in  dem  Bauch  des  Walfisches 
und  an  andere  derartige  Fabeln  glauben  soll?' 

In  diesem  Augenblick  entfernte  sich  meine  Mutter,  welche 
anwesend  war,  voller  Unwillen,  und  Hess  Se.  Hochwürden 
und  mich  bei  unserer  netten  Unterredung  allein.  Leider  war 
Rev.  Edirisinhe  nicht  dazu  zu  bewegen,  unsere  Disputation 
öffentlich  zu  führen,  und  so  hatte  unser  Zwiegespräch  bald 
sein  Ende  erreicht. 

Bald  darauf  verbreitete  sich  das  Gerücht,  dass .  ein  Un- 
gläubiger in  der  Gesellschaft  von  Matara  sein  Unwesen  treibe, 
und  ich  wurde  von  Verschiedenen  ein  Wahnsinniger  genannt. 
Dann  kamen  eines  Tags  einige  meiner  buddhistischen  Freunde 
zu  mir  und  fragten  mich,  ob  ich  einmal  mich  mit  einem  bud- 
dhistischen Bhikkhu  über  Buddhismus  zu  unterreden  geneigt  sei. 
Ich  willigte  ein,  und  die  Folge  war,  dass  ich  in  Gegenwart 
des  Herren  Mohandiram  De  Saram  Siriwardene  und  anderer 
ein  langes  Gespräch  mit  dem  Bhikkhu  Bedigama  Unnanse  in 
Hittetiya  Pansala  führte.  Ich  lernte  von  dem  letzteren,  dass  der 
Buddhismus    in    den   Punkten    »Schöpfer«    und   »Schöpfung« 


No.  9.  DER  BUDDHIST.  287 

mit  den  agnostischen  Anschauungen,  die  ich  bisher  vertrat, 
übereinstimmt,  und  dass  er  von  seinen  Anhängern  nicht 
den  Glauben  an  einen  persönlichen  Gott  verlangt.  Ich 
erfuhr  ferner,  dass  in  der  Religion  des  Buddha  die  christliche 
Lehre  von  der  Seele  ersetzt  sei  durch  die  Theorie  der  fünf 
Khandas,  und  dass  ich  im  Buddhismus  nicht  länger  an  die 
durch  einen  allmächtigen  Gott  vollzogene  Schöpfung  neuge- 
borener Kinder  glauben  müsse,  von  denen  viele  die  ewige  Ver- 
dammnis in  der  von  demselben  Gott  geschaffenen  Hölle  zu 
leiden  gezwungen  sind.  Der  Bhikkhu  erklärte  mir  die  Lehre 
vom  Karman,  welche  im  Gegensatz  zu  dem  christlichen  Glau- 
ben an  die  Vergebung  der  Sünden  die  Ungleichheiten  im  Leben 
befriedigend  erklärt.  Die  Karman-Doktrin  weist  den  Glauben 
an  die  Wirksamkeit  der  Gebete  ab,  sie  lehrt,  dass  der  Mensch 
die  Folgen  seiner  eigenen  Handlungen  erntet  und  seine  Erlö- 
sung selbst  wirken  muss.  Diese  Lehre  sagt  mir  —  was  das  Chris- 
tentum mir  nicht  genügend  zu  erklären  vermag,  warum  die  Irren- 
häuser mit  geistig  Umnachteten,  warum  die  Siechenhäuser  und 
Hospitäler  mit  Kranken  angefüllt  sind.  Karman  erläutert  mir 
in  vernünftiger  Weise,  dass  jede  Ursache  ihre  Wirkung  zeitigen 
muss,  und  dass  dieses  grosse  Gesetz  auch  in  der  moralischen 
Welt  waltet. 

Ich  hatte  in  der  Folgezeit  mit  dem  genannten  Mönch  ver- 
schiedene Unterredungen,  und  je  mehr  ich  den  Buddhismus 
kennen  lernte,  um  so  mehr  wurde  ich  von  seiner  Wahrheit 
überzeugt.  Warum  sollen  wir  für  Adams  Sünde  büssen? 
Karman  lehrt,  dass  wir  für  unsere  eigenen  Vergehen  leiden. 
Warum  sollen  wir  auch  durch  Christi  Genugtuung  Vergebung 
erlangen?  Wir  selbst  müssen  Schritt  für  Schritt  und  Leben 
für  Leben  uns  bemühen,  das  Ziel  zu  erreichen.  Warum  sollen 
wir  an  einen  Seelen-Verfertiger  da  droben  glauben?  Wir  sind 
das,  wozu  wir  uns  selbst  gemacht  haben.  Wie  kann  ein  er- 
barmungsvoller  und  gerechter  Gott,  welcher  lehrte:  „Liebet 
eure  Feinde"  —  eine  Hölle  und  einen  Teufel  geschaffen  haben? 
Wir  machen  uns  selbst  zu  Göttern  oder  zu  Teufeln  und 
schaffen  uns  selbst  eine  Hölle  auf  Erden.  Der  Buddhismus 
stimmt  auch  darin  mit  der  Wissenschaft  überein,  dass  er  Kraft 
und  Materie  für  ewig  erklärt,    dass   er  Gesetz  und  Ordnung 


288  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

ohne  einen  Gott  erklärt  und  Umgestaltungen  ohne  eine  Schöp- 
fung. Insbesondere  wurde  ich  stark  angezogen  von  den  ein- 
fachen, dabei  aber  so  tiefen  Wahrheiten  des  Anicca,  Dukkha, 
Anattä  —  d.  h.  der  Vergänglichkeit,  des  Leidens  und  Nicht- 
Selbstes. 

Das  Christentum  ist  eine  Glaubensreligion;  Agnostizismus 
ist  nur  eine  Negation.  Der  Buddhismus  geht  infolge  seiner 
Bejahung  der  Karman-,  Wiedergeburts-  und  Nirväna-Idee  fiber 
den  Agnostizismus  hinaus.  Das  Christentum  hat  in  der  Zeit 
seines  Bestehens  die  Lehren  Christi  durch  Kriege  und  Kreuz- 
züge, durch  Folter  und  Inquisition,  durch  Verfolgungen,  Scheiter- 
haufen und  Grausamkeiten  der  verschiedensten  Art  geschändet. 
Der  Agnostizismus  war  noch  nicht  organisiert  und  tat  nichts, 
um  sein  philanthropisches  Programm  bekannt  zu  machen. 
Erst  ganz  vor  kurzem  haben  seine  Anhänger  sich  propagan- 
distisch betätigt  im  Dienste  der  Humanität.  Wenn  man  den 
Buddhismus  in  seiner  ganzen  Erscheinung  betrachtet,  muss 
man  sagen,  dass  er  nie  zu  Verfolgungen  angeleitet  oder  auf- 
gereizt hat,  und  wenn  wir  ihn  im  Lichte  der  vergangenen 
Jahrhunderte  bis  zur  Jetztzeit  verfolgen,  so  müssen  wir  zugeben, 
dass  Beweisgrund  und  Apell  an  die  Vernlinft  seine  einzigen 
Waffen  gewesen  sind.  Überdies  ist  das  Christentum  Fetischis- 
mus und  unphilosophisch,  und  der  Agnostizismus  ist  wohl 
negativ  tätig,  das  Christentum  zu  beseitigen,  allein  er  ist  nicht 
wesentlich  positiv  aufbauend.  Der  Buddhismus  dagegen  ist 
analytisch  und  philosophisch,  —  dabei  humanitär  und  praktisch. 
Das  Christentum  lehrt  nur  eine  Form  von  Sittlichkeit,  ohne 
das  Reich  innerer  Erkenntnis  zu  berühren,  während  der  Bud- 
dhismus einerseits  Ethik,  andererseits  namentlich  in  seinen 
höheren  Aspekten  eine  dem  ringenden  Gemüte  sich  erschlies- 
sende  tief  geistige  Philosophie  darstellt.  Ich  begann  zu  fühlen, 
dass  der  Agnostizismus  —  als  eine  blosse  Negation  —  nicht 
nur  auf  dem  Gebiete  der  Moral  als  Lebensführer  versagt, 
sondern  auch  auf  dem  Gebiete  der  Weltanschauung,  da  er  das 
Problem  des  »woher?«  und  »wohin?«  unseres  Kommens  und 
Gehens  unbeantwortet  lässt.  (Schluss  folgt.) 

Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  B.  SeidenstOcker,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend    üben,    das    eigene   Herz  läutein: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dharamapada,   V.  183. 


Amitäbha. 


E 


Wir  lesen  im  »Evangelium  Buddhas«: 

»Ein  Jünger  kam  zu  dem  Erhabenen  mit  bebendem  Her- 
zen, und  sein  Gemüt  war  voller  Zweifel.  Er  fragte  den  Er- 
habenen: „Herr  und  Meister,  warum  geben  wir  die  Freuden 
der  V/elt  auf,  wenn  Du  uns  verbietest,  Wunder  zu  tun  und 
übernatürliche  Kräfte  zu  erlangen?  Ist  nicht  Amitäbha  das 
unendliche  Licht  der  Offenbarung  und  der  Quell  unzähliger 
Wunder?" 

Und  der  Erhabene  erkannte  die  bange  Sehnsucht  eines 
wahrheitsuchenden  Gemütes  und  sprach:  „Du  bist,  Schüler, 
ein  Neuling  unter  den  Neulingen,  und  du  schwimmst  noch 
auf  der  Oberfläche  des  Samsära.  Wie  lange  brauchst  du,  um 
die  Wahrheit  zu  erfassen?  Du  hast  die  Worte  des  Tathägata 
nicht  verstanden.  Das  Gesetz  des  Karman  ist  unverbrüchlich, 
und  Beschwörungen  sind  nutzlos;  denn  es  sind  leere  Worte." 

Der  Jünger  sprach:  „Du  sagst  also,  dass  es  keine  Wun- 
der gibt?" 

Der  Erhabene  antwortete:  „Ist  es  nicht  ein  Wunder,  ge- 
heimnisvoll und  unbegreiflich  dem  Weltmenschen,  dass  ein 
Sünder  ein  Heiliger  werden  kann,  dass  derjenige,  welcher 
wahre  Erleuchtung  erlangt,  den  Pfad  der  Wahrheit  findet  und 
die  bösen  Pfade  der  Selbstsucht  verlässt?  Der  Bhikkhu,  wel- 
cher den  vergänglichen  Freuden  der  Welt  entsagt  für  den 
ewigen  Segen  der  Heiligkeit,  vollbringt  das  einzige  Wunder, 
welches  wirklich  ein  Wunder  genannt  werden  kann.  Ein  hei- 
liger Mensch  verwandelt  den  Fluch  des  Karman  in  Segen. 
Das  Verlangen,  Wunder  zu  tun,  entspringt  entweder  der  Hab- 
sucht oder  der  Eitelkeit.  Ein  Bhikkhu,  der  da  denkt:  ,Die 
Leute  sollen  mich  grüssen',  ist  nicht  frei;  wenn  er  aber,  ob- 
wohl von  der  Welt  verachtet,  doch  kein  Übelwollen  gegen  die 

10 


290  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Welt  hegt,  so  ist  sein  Gemüt  in  der  rechten  Verfassung.  Der 
Bhii<khu,  welchem  Ahnungen,  Sterndeuterei,  Träume  und  Vor- 
zeichen bedeutungslos  sind,  wandelt  auf  dem  rechten  Wege; 
er  ist  frei  von  ihren  Übeln.  Amitäbha,  das  unermess- 
liche  Licht,  ist  die  Quelle  der  Buddhaschaft.  Das 
Unterfangen  von  Beschwörern  und  Wundertätern  ist  Betrug; 
was  aber  ist  erstaunlicher,  geheimnisvoller  und  wunderbarer 
als  Amitäbha?" 

„Aber,  Meister,"  unterbrach  der  Sävaka  den  Erhabenen, 
„ist  die  Verheissung  des  Landes  der  Glückseligkeit  eitles 
Geschwätz  und  Fabel?" 

„Was  ist  diese  Verheissung?"  fragte  der  Buddha,  und 
der  Jünger  antwortete: 

„Im  Westen  liegt  ein  paradiesisches  Gefilde,  genannt  »das 
reine  Land«,  prächtig  geschmückt  mit  Gold  und  Silber  und 
Edelgestein.  Dort  rinnen  reine  Gewässer  über  goldenen  Sand, 
bedeckt  von  Lotusblumen  und  schattigen  Wegen.  Anmutige 
Musik  ertönt  da,  und  dreimal  des  Tages  regnen  Blumen  her- 
nieder. Singvögel  verkünden  in  harmonischen  Weisen  die  Herr- 
lichkeit der  Religion  und  erwecken  in  den  Gemütern  derer, 
welche  den  süssen  Gesängen  lauschen,  Erinnerungen  an  den 
Buddha,  den  Dhamma  und  die  Bruderschaft.  Keine  böse  Ge- 
burt ist  dort  möglich,  und  die  Hölle  ist  selbst  dem  Namen 
nach  unbekannt.  Wer  inbrünstig  und  mit  frommem  Sinn  den 
Buddha  Amitäbha  anruft  imd  immer  wieder  seinen  Namen 
nennt,  wird  nach  diesem  Leben  in  das  glückselige,  reine  Land 
versetzt,  und  wenn  der  Tod  ihm  naht,  steht  Buddha  mit  einer 
Schar  von  Heiligen  vor  ihm,  und  vollkommene  Ruhe  wird  über 
ihn  kommen." 

Der  Buddha  sprach:  „Wahrlich,  Schüler,  es  gibt  ein  sol- 
ches glückseliges  Paradies.  Aber  das  Land  ist  ein  geistiges 
Land  und  ist  nur  für  die  geistig  Gesinnten  erreichbar.  Du 
sagst,  es  liegt  im  Westen.  Das  heisst,  du  musst  es  da  suchen, 
wo  der  wohnt,  welcher  die  Welt  erleuchtet.  Die  Sonne  ver- 
sinkt und  lässt  uns  in  tiefer  Dunkelheit  zurück;  die  Schatten 
der  Nacht  überfallen  uns,  und  Mära,  der  Böse,  legt  unsern 
Leib  in  das  Grab.  Nichtsdestoweniger  aber  ist  der  Sonnen- 
untergang kein  Verlöschen  der  Sonne,  und  dort,  wo  wir 
das  Verlöschen  wahrzunehmen  glauben,  ist  unbegrenztes  Licht 
und  unerschöpfliches  Leben. 

„Deine  Beschreibung  ist  schön;  sie  ist  jedoch  unzuläng- 
lich und  lässt  der  Herrlichkeit  des  reinen  Landes  wenig  Ge- 
rechtigkeit widerfahren.  Die  Weltlichen  vermögen  von  ihm  nur 
in  weltlicher  Weise  zu  reden,  sie  gebrauchen  weltliche  Bilder  und 
wählen  weltliche  Worte.  Aber  das  reine  Land,  in  dem  die  Rei- 
nen wohnen,  igt  schöner,  als  du  zu  sagen  oder  zu  denken  vermagst. 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  291 

„Die  Anrufung  des  Namens  Amitäbha  Buddha  ist  nur 
dann  verdienstlich,  wenn  du  denselben  mit  so  andächtiger 
Gesinnung  aussprichst,  dass  dein  Herz  dadurch  gereinigt  und 
dein  Wille  zu  Werken  der  Rechtschaffenheit  bestimmt  wird. 
Nur  der  kann  das  reine  Land  erreichen,  dessen  Seele  erftillt 
ist  von  dem  unermesslichen  Lichte  der  Wahrheit.  Nur 
der  vermag  in  der  geistigen  Atmospiiäre  des  westlichen  Para- 
dieses zu  atmen,  der  die  Erleuchtung  erlangt  hat. 

„Wahrlich,  ich  sage  dir:  Der  Tathägata  lebt  schon  jetzt 
in  diesem  reinen  Lande  ewiger  Glückseligkeit,  während  er 
noch  im  Körper  weilt;  und  der  Tathägata  verkündet  dir  und 
der  ganzen  Welt  das  Gesetz  der  Religion,  so  dass  alle  den- 
selben Frieden  und  dieselbe  Glückseligkeit  erlangen  mögen."«  — 

in  dieser  anmutigen  kleinen  Erzählung  wird  ein  Glaube 
berührt,  der,  obwohl  dem  genuinen  Buddhismus  und  der  süd- 
lichen Hinayäna-Schule  fremd,  im  Mahäyäna  oder  nördHchen 
Buddhismus  eine  grosse  Rolle  spielt.  Amitäbha  Buddha 
wird  zum  ersten  Male  erwähnt  im  »Amitäyurdhyäna-Sötra« 
etwa  um  das  Jahr  150  n.  Chr.  Namentlich  für  einen  grossen 
Zweig  des  japanischen  Buddhismus,  den  »Jödö-mon«,  hat  der 
Amitäbha-Begriff  eine  hohe  Bedeutung.  Dieser  Zweig  gliedert 
sich  wieder  in  vier  »Schulen«,  von  denen  die  »J6d6-shu« 
und  die  »Shin-shu«  (auch  »Jödo-shin-shu«  genannt)  die 
weitaus  wichtigsten  und  verbreitetsten  sind. 

Beiden  Schulen  gemeinsam  ist  die  Idee,  dass  durch  Ami- 
täbhas  unbegrenztes  Erbarmen  die  Erlösung  des  Menschen 
erwirkt  wird.  Vorbedingung  für  die  Erlösung  ist  aber  die 
strikte  Beobachtung  und  Erfüllung  aller  sozialen 
Pflichten  und  Tugenden,  sowie  das  unbedingte  Ver- 
trauen auf  Amitäbha.  Die  Jodo-shu  lehrt  nun,  dass  das  in- 
brünstige und  andächtige  Anrufen  des  heiligen  Namens  Ami- 
täbha besonders  verdienstvoll  sei,  ja,  hie  und  da  begegnen  wir 
sogar  der  katholisch-sinnlichen  Vorstellung,  dass  das  Aus- 
sprechen der  Formel  »Namu  Amida  Butsu«  (Verehrung  dem 
unermesslichen  Lichte,  dem  Buddha),  selbst  wenn  es  nicht 
in  andächtiger  Gesinnung  geschieht,  magisch  „ex  opere  ope- 
rato"  heilsam  wirke.  Die  Shin-shu  hat  eine  ungleich  ver- 
geistigtere Auffassung.  Hier  ist  es  der  hingebende,  ver- 
trauende Glaube  an  die  Barmherzigkeit  Amitäbhas,  der  zur 
Erlösun-g  führt.  Gute  Werke  sind  unerlässlich,  aber  sie  sind 
an  sich  nicht  verdienstvoll,  sondern  nur  die  praktischen  Früchte 
dieses  Glaubens;  das  andächtige  Aussprechen  der  oben  ge- 
nannten Formel  wird  nicht  verworfen,  aber  auch  sie  ist  an 
sich  nicht  verdienstvoll,  sondern  nur  die  Äusserung  der  glau- 
bensvollen Gesinnung. 

19» 


292  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Auffassung  vom  »reinen  Lande«,  wo  Amitäbha 
wohnt,  ist  bei  der  »Shin-shu«  ebenfalls  geistiger  als  bei  der 
»Jödö-shu«.  Nach  der  Auffassung  der  letzteren  ist  das  »reine 
Land«  nicht  Nirväna,  sondern  eine  Art  Himmel,  ein  glücklicher 
Zustand,  die  Vorstufe  von  Nirväna.  Dagegen  ist  in  der  »Shin- 
shu«  das  reine  Land  Nirväna. 

Auf  den  ersten  Blick  gewinnt  es  den  Anschein,  als  ob  die 
Jödö-  und  Shin-shu  sich  mit  der  Lehre  des  Buddha  im 
Widerspruch  befinden:  Hier  Erlösung  durch  Selbst-Arbeit  und 
strenge  Selbstanstrengung,  —  dort  Erlösung  durch  den  Glau- 
ben an  ein  anderes  Wesen.  Aber  dieser  Glaube  ist  ja  nur 
dann  der  rechte,  wenn  er  von  der  unentwägten  Ausübung  der 
Tugend  (also  von  ernster  Selbstanstrengung)  als  der  notwen- 
digen Frucht,  begleitet  ist.  Ist  denn  aber  Amitäbha  wirklich 
ein  fremdes  Wesen,  eine  Persönlichkeit,  ein  rettender  Heiland, 
der,  in  einem  Himmel  thronend,  dem  um  Erlösung  Bittenden 
hilfreich  seine  Hand  bietet?!  Lässt  sich  dieser  Amitäbhaglaube 
wirklich  nicht  mit  der  Lehre  des  Buddha  in  Einklang  bringen,  wie 
es  auf  den  ersten  Blick  den  Anschein  hat?    Fragen  wir  also: 

Was  ist  Amitäbha?  Nach  der  Ansicht  einiger  Forscher 
eine  rein  fiktive  Gestalt,  das  leere  Gebilde  einer  hohlen  Scho- 
lastik; andere  wiederum  vermuten  (wie  mir  aber  scheint,  sehr 
mit  Unrecht)  christlichen  Einfluss.  Jedenfalls  ist  soviel  klar, 
dass  Amitäbha,  obwohl  in  der  populären  Anschauung  per- 
sönlich vorgestellt,  keineswegs  mit  dem  Buddha  Gotama 
identisch  ist;  letzterer  ist  nur  eine  zeitlich-sichtbare  Manifesta- 
tion Amitäbhas.  Buddha  Amitäbha  ist  nach  dieser  populären 
Auffassung  allerdings  ein  Wesen,  welches  nach  einer  Reihe 
heiliger  Existenzen  Nirväna  erreichte  und  das  Gelübde  ablegte: 
„Nicht  würde  ich  die  volle  Einsicht  erlangt  haben,  wenn  eins 
der  lebenden  Wesen,  das  mit  ganzem  Gemüte  an  mich  glaubt 
und  dankbar  meinen  Namen  wiederholt,  nicht  ins  reine  Land 
eingehen  würde." 

In  Wirklichkeit  wird  Amitäbha  nichts  anderes  sein,  als 
die  Personifikation  von  Sambodhi  (Erleuchtung).  Das  Rich- 
tige trifft  wohl  hier  Dr.  Carus,  dem  wir  jetzt  das  Wort  er- 
teilen wollen.     Er  sagt  (Buddhism,  Vol.  I,  No.  4): 

„Die  Gesamtheit  der  Bedingungen,  welche  Nibbäna  mög- 
lich machen,  die  Quelle  der  Erleuchtung,  und  die  Ordnung 
des  ewigen  Gesetzes,  ist  in  der  Mahäyäna-Schule  des  Buddhis- 
mus unter  dem  Namen  Amitäbha  personifiziert  worden.  Ami- 
täbha, die  Quelle  alles  Lichtes,  ist  Buddha  vom  ewigen 
Aspekt  aus  betrachtet,  oder  umgekehrt:  Ein  Mensch,  welcher 
der    Bodhi    (Erleuchtung)   zustrebt,    wird  ein   Buddha,    wenn 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  293 

Amitäbha  ihn  erleuchtet.  Ein  Buddha  enthüllt  das  Licht,  dessen 
ewige  Quelle  Amitäbha  genannt  wird.  Amitäbha  ist  die  be- 
stimmte Norm  der  Weisheit  und  Sittlichkeit,  die  Standarte  der 
Wahrheit  und  Gerechtigkeit,  die  letzte  raison  d'etre  der  kos- 
mischen Ordnung. 

Ist  dieser  Amitäbha  eine  Realität?  Allerdings  ist  Ami- 
täbha eine  Realität!  Freilich  nicht  in  dem  Sinne  körperlicher 
Existenzen,  welche  vergänglich  und  wandelbar  sind,  sondern 
in  einem  höheren  Sinne;  denn  Amitäbha  ist  eine  ewige  und 
allgegenwärtige  Wirklichkeit;  und  wenn  wir  das  Wort  »real«  in 
seinem  etymologischen  Sinn  nehmen  als  „einem  Dinge  eigen- 
tümlich", und  wenn  gestaltete  Dinge  allein  den  Namen 
»real«  führten,  so  müssten  wir  Amitäbha  als  super-real  be- 
zeichnen. 

Was  ist  Amitäbha?  Jeder  Forscher  erkennt  das  Vor- 
handensein einer  kosmischen  Ordnung  an,  welche  die  Gesamt- 
heit aller  Naturgesetze  ist  einschliesslich  der  höheren  Gesetze, 
welche  die  menschliche  Gesellschaft  bilden,  und  welche  Fichte 
die  moralische  Welt-Ordnung  nennt.  Die  kosmische  Ord- 
nung ist  die  Kraft,  welche  das  Universum  gestaltet  und  die 
Verteilung  der  Welt  bewirkt.  Sie  macht  die  Wissenschaft  mög- 
lich, denn  sie  gewährt  die  Prinzipien  des  Erkennens.  Sie  er- 
möglicht Vernunft  und  beabsichtigtes,  zweckmässiges  Handeln; 
denn  sie  lehrt  uns,  die  Resultate  im  Voraus  zu  erkennen  und 
uns  selbst  somit  den  Umständen  anzupassen.  Sie  ermöglicht 
endlich  die  Sittlichkeit;  denn  sie  zeigt  uns  die  Ideale,  welche 
wert  sind,  dass  man  für  dieselben  lebt. 

Diese  Welt-Ordnung,  die  letzte  Norm  der  Wahrheit  und 
des  Rechtes,  d.  h.  Amitäbha,  die  unerschöpfliche  Quelle  jeder 
Erleuchtung,  bestimmt  das  Gesetz  der  Evolution,  indem  sie  die 
Möglichkeit  schafft,  dass  im  Laufe  des  kosmischen  Prozesses 
Leben  entsteht,  dass  empfindende  Wesen  mit  Vernunft  begabt 
werden,  und  dass  vernünftige  Wesen  durch  die  Erfahrung  die 
Torheit  des  Egoismus  kennen  lernen  und  so  den  universalen 
guten  Willen  entwickeln.  Auf  diese  Weise  gelangt  Empfindung 
zur  Vernunft,  und  Vernunft  führt  zu  sittlicher  Anstrengung  und 
zur  Anerkennung  liebevoller  Güte  als  Ideal.  Erleuchtung  ist 
eben  möglich,  weil  Amitäbha  ist,  die  ewige  Norm  aller  Ord- 
nung.   Wir  lesen  im  »Udäna«: 

»So  habe  ich  gehört:  Zu  einer  Zeit  weilte  der  Erhabene 
zu  Sävatthi,  im  Siegerhaine,  im  Parke  des  Anäthapindika.  Nun 
war  der  Erhabene  damals  damit  beschäftigt,  die  Bhikkhus  über 
das  Nibbäna  zu  belehren,  zu  erwecken,  zu  beleben  und  zu  er- 
freuen. Und  jene  Bhikkhus  erfassten  den  Sinn,  durchdachten 
ihn  gründlich  und  nahmen  in  ihrem  Herzen   die  ganze  Lehre 


!^  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

auf,  aufmerksam  zuhörend.  Und  in  diesem  Zusammenhang, 
bei  dieser  Gelegenheit  sprach  der  Erhabene  folgende  feierliche 
Worte: 

,Es  gibt,  ihr  Jünger,  einen  Zustand,  wo  weder  Erde  noch 
Wasser  ist,  weder  Feuer  noch  Luft,  weder  Raum-Unendlichkeit, 
noch  Unendlichkeit  des  Bewusstseins,  noch  Vernichtung;  weder 
Empfindung  noch  Nicht-Empfindung;  weder  diese  Welt  noch 
jene  Welt;  weder  Sonne  noch  Mond. 

.    ,Dies,   ihr  Jünger,   nenne   ich  weder  Entstehen    noch  Ver- 
gehen, noch  Stillstand,  weder  Geburt  noch  Tod.  Da  ist  weder 
Festes,   noch   eine  Entwicklung,   noch  irgend  eine  Basis:   Das 
ist  das  Ende  des  Leidens. 
.Schwer  ist's,  das  Wesentliche  zu  verwirklichen, 
Die  Wahrheit  wird  nicht  leicht  erkannt. 
Wer  rechte  Erkenntnis  hat,  wird  Herr  des  Begehrens, 
Für  den,  der  rechte  Einsicht  besitzt,  sind  alle  Dinge  ein  Nichts. 
,Es  gibt,  ihr  Jünger,  ein  Ungeborenes,  Nicht-Entstandenes, 
Nicht-Gewordenes,   Nicht-Gestaltctes.      Gäbe   es,   iiir   Jünger, 
nicht  dieses  Ungeborene,  Nicht-Entstandene,  Nicht-Gewordene, 
Nicht-Gestaltete,  so   würde  auch   kein  Entrinnen  möglich  sein 
aus  der  Welt  des  Geborenen,  Entstandenen,  Gewordenen,  Ge- 
stalteten. 

,Da  es  nun  aber,  ihr  Jünger,  ein  Ungeborenes,  Nicht-Ent- 
standenes, Nicht-Gewordenes,  Nicht- Gestaltetes  gibt,  so  ist 
auch  ein  Entrinnen  möglich  aus  der  Welt  des  Geborenen,  Ent- 
standenen, Gewordenen,  Gestalteten.'«  — 

Eine   wahre   Einsicht    in    die    Natur    des   Ewigen,   Uner- 
schaffenen,  Unentstandenen  ist  nur  möglich  durch   die  Über- 
windung des  Selbst-Gedankens;  und  diese  kann  nur  erreicht 
werden    durch    Ausrodung    aller    egoistischen   Leidenschaften, 
wie  es  im  383.  Verse  des  Dhammapada   heisst,  wo  ein  Mann 
angeredet  wird,  der  sich  durch  die  Tat,  und  nicht  durch  Beob- 
achtung  äusserer    Kasten -Satzungen    bemüht,    ein    Brahmane 
(Priester)  zu  werden: 
,Durchkreuze  kräftig  diesen  Strom  der  Lust,  Brahmane, 
Treib'  aus  Begierde,  Trägheit,  Übelwollen, 
Hast  du  gelernt,  dass  alle  Formen  wechseln,  fliessen, 
Dann  kennst  du  das,  was  unvergänglich  ist.'" 

Wertvoller  als  irdische  Macht,  wertvoller  als  eine  Wieder- 
geburt in  lichten  Welten,  wertvoller  selbst  als  Weltherrschaft 
ist  für  den  Jünger  das  Betreten  des  Pfades.         Dhammapada. 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  295 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 
Von  Bhikkhu  Nyänatiloka  (Ceylon). 

(4.  Fortsetzung.) 

Wenn  nun  jemand,  ihr  Brüder,  die  Frage  aufwerfen  wollte: 
„Bekennt  denn  der  Herr  Gotama  irgend  eine  Ansicht?" 
—  dem  wäre,  ihr  Brüder,  also  zu  erwidern:  „Eine  Ansicht, 
Bruder,  kommt  dem  Vollendeten  nicht  zu.  Denn  der  Tathägata, 
Bruder,  hat  es  gesehen:  ,So  ist  die  Form,  so  entsteht  sie,  so 
löst  sie  sich  auf;  so  ist  das  Gefühl,  so  entsteht  es,  so  löst 
es  sich  auf;  so  ist  die  Wahrnehmung,  so  entsteht  sie,  so 
löst  sie  sich  auf;  so  sind  die  Unterscheidungen  (san- 
khärä,  Vorstellungen,  Ein-Bildungen),  so  entstehen  sie,  so  lösen 
sie  sich  auf;  so  ist  das  Bewusstsein,  so  entsteht  es,  so  löst 
es  sich  auf.'  Darum,  sage  ich,  ist  der  Vollendete  durch  aller 
Meinungen  und  aller  Vermutungen,  durch  aller  Ichheit,  Eigen- 
heit und  Dünkelsucht  Versiegung,  Abweisung,  Aufhebung, 
Ausrodung,  Entäusserung  restlos  erlöst.   (Majjhima  Nikäya  72). 

Wahrlich,  ihr  Brüder,  wovon  die  Weisen  erklären:  ,Es  ist 
nicht  in  der  Welt,'  davon  sage  auch  ich:  ,Es  ist  nicht';  wovon 
die  Weisen  erklären:  ,Es  ist  in  der  Welt',  davon  sage  auch  ich: 
,Es  ist.'    (Samyuttaka  Nikäya  III.) 

[Anicca,  Vergänglichkeit:]  Und  ob  auch,  ihr  Brüder, 
Weise  (buddhä)  in  der  Welt  auftreten  oder  nicht,  —  so  bleibt 
es  dennoch  eine  Tatsache  und  die  feste,  notwendige  Bedingung, 
dass  alle  Daseinsformen  (dhammä)  vergänglich  (anicca) 
sind.  (Anguttara  Nikäya).  Denn  der  Körper,  ihr  Brüder, 
ist  vergänglich,  das  Gefühl  ist  vergänglich,  die  Wahrneh- 
mung ist  vergänglich,  die  Unterscheidungen  (sankhärä) 
sind  vergänglich,  das  Bewusstsein  ist  vergänglich. 

(Majjhima  Nikäya.) 

[Dukkha,  Leiden:]  Ob  auch,  ihr  Brüder,  Weise  in  der 
Welt  auftreten  oder  nicht,  —  so  bleibt  es  dennoch  eine  Tat- 
sache und  die  feste,  notwendige  Bedingung,  dass  allen  Da- 
seinsformen Leiden  innewohnt.  (Anguttara  Nikäya).  Denn 


296  DER  BUDDHIST.  I.  }ahrg. 

der  Körper  ist  leidvoll,  das  Gefühl  ist  leidvoll,  die  Wahr- 
nehmung ist  leidvoll,  die  Unterscheidungen  sind  leidvoll, 
das  Bewusstsein  ist  leidvoll. 

[Anatta,  Wesenlosigkeit:]  Ob  auch,  ihr  Brüder,  Weise 
in  der  Welt  auftreten  oder  nicht,  —  so  bleibt  es  dennoch  eine 
Tatsache  und  die  feste,  notwendige  Bedingung,  dass  alle 
Daseinsformen  keine  dauernde  Ichheit  bilden.  (Angut- 
tara  Nikäya).  Denn  der  Körper  ist  ohne  Wesenskern,  das 
Gefühl  ist  ohne  Wesenskern,  die  Wahrnehmung  ist  ohne 
Wesenskern,  die  Unterscheidungen  sind  ohne  Wesenskern, 
das  Bewusstsein  ist  ohne  Wesenskern.     (Anguttara  Nikäya.) 

[Das  Gefühl  und  das  Selbst:]  Wenn  da,  ihr  Brüder, 
jemand  sagen  sollte:  ,Das  Gefühl  ist  mein  »Ich«  (Atta,  Selbst),' 

—  dem  wäre  also  zu  erwidern:  „Es  gibt,  Bruder,  drei  Arten 
der  Gefühle:  Das  freudvolle  Gefühl,  das  leidvolle  Gefühl  und 
das  weder  freudvolle  noch  leidvolle  Gefühl  (Gefühle  der  Lust,  der 
Unlust  und  indifferente  Gefühle).  Welches  dieser  drei  Gefühle 
betrachtest  du  nun  als  dein  »Ich«?  Zu  der  Zeit,  da  man  eins 
dieser  Gefühle  empfindet,  empfindet  man  die  beiden  anderen 
nicht.  Diese  drei  Arten  von  Gefühlen  heisst  man  vergänglich, 
durch  Ursachen  bedingt;  sie  sind  dem  Vergehen,  der  Auflö- 
sung unterworfen;  denn  ihr  Wesen  besteht  in  der  Lostrennung, 
im  Hinschwinden.  Wer  nun  beim  Empfinden  eines  dieser  drei 
Gefühle  also  sagen  sollte:  ,Dies  ist  mein  Ich',  —  der  sollte 
dann  auch  sagen:  ,Mein  Ich  erlischt  durch  das  Verschwinden 
dieses  Gefühles',  und  damit  erkennt  er  dann  auch  sein  »Ich« 
selbst  in  diesem  Leben  als  vergänglich  an." 

Wenn  da,  ihr  Brüder,  jemand  sagen  sollte:  ,Das  Gefühl 
ist  nicht  mein  Ich,    mein  Ich   ist   dem   Gefühle   unzugänglich,' 

—  dem  wäre  also  zu  erwidern:  „Würdest  du  denn,  Bruder 
wenn  kein  Gefühlseindruck  in  dir  stattfände,  sagen:  ,Ich  bin?' 
Wahrlich  nicht,  Bruder."  —  Demnach  würde  es  in  aller  Welt 
verkehrt  sein,  eine  solche  Meinung  mit  ihm  zu  teilen. 

Wenn  da,  ihr  Brüder,  jemand  sagen  sollte:  ,Das  Gefühl 
ist  nicht  mein  Ich,  aber  es  ist  falsch,  zu  behaupten,  dass  mein 
Ich  dem  Gefühle  unzugänglich  sei;  es  ist  mein  Ich,  welches 
das  Gefühl  empfindet,  denn  Fühlen  ist  die  Eigenschaft  (Fähig- 
keit) meines  Ichs',  —  dem  wäre  also  zu  erwidern:  „Wenn  die 


Üo.  lö.  DER  BUDDHIST.  25^7 

Gefühle,  Bruder,  zur  gänzlichen  Vernichtung  gelangen  sollten, 
ohne  auch  nur  eine  Spur  zu  hinterlassen,  wenn  also  durchaus 
kein  Gefühl  stattfände,  könntest  du  dann  infolge  des  Nicht-seins 
der  Gefühle  sagen:  ,Ich  bin?'  Wahrlich  nicht,  Bruder."  — 
Demnach  würde  es  in  aller  Welt  verkehrt  sein,  eine  solche 
Meinung  mit  ihm  zu  teilen.    (Dtgha  Nikäya). 

[Die  Gedanken  sind  Nicht-Ich  (anattä):]  ,Die  Ge- 
danken sind  das  Ich',  —  eine  solche  Behauptung  ist  nicht 
angängig;  bei  den  Gedanken  wird  ein  Entstehen  und  Vergehen 
wahrgenommen;  wenn  nun  aber  dabei  ein  Entstehen  und  Ver- 
gehen wahrgenommen  wird,  da  muss  man  die  These:  .Mein 
Ich  entsteht  und  vergeht'  als  Ergebnis  gelten  lassen;  darum 
geht  es  nicht  an  zu  behaupten:  ,Die  Gedanken  sind  mein  Ich'; 
somit  sind  die  Gedanken  Nicht-Ich  (anattä). 

[Das  Denkbewusstsein  ist  Nicht-Ich  (anattä):]  ,Das 
Denkbewusstsein  ist  das  Selbst',  —  eine  solche  Behauptung 
ist  nicht  angängig;  beim  Denkbewusstsein  wird  ein  Entstehen 
und  Vergehen  wahrgenommen;  wenn  nun  aber  dabei  ein  Ent- 
stehen und  Vergehen  wahrgenommen  wird,  da  muss  man  die 
These:  ,Mein  Selbst  entsteht  und  vergeht'  als  Ergebnis  gelten 
lassen;  darum  geht  es  nicht  an  zu  behaupten:  ,Das  Denkbe- 
wusstsein ist  mein  Selbst';  somit  ist  das  Denkbewusstsein 
Nicht-Selbst  (anattä). 

[Der  Verstand  ist  Nicht-Ich  (anattä):]  ,Der  Verstand 
ist  das  Ich  (Selbst);'  —  eine  solche  Behauptung  ist  nicht  an- 
gängig; beim  Verstand  wird  ein  Entstehen  und  Vergehen 
wahrgenommen;  wenn  nun  aber  dabei  ein  Entstehen  und  Ver- 
gehen wahrgenommen  wird,  da  muss  man  die  These:  ,Mein 
Selbst  entsteht  und  vergeht'  gelten  lassen;  darum  geht  es  nicht 
an  zu  behaupten:  ,Der  Verstand  ist  mein  Selbst;'  somit  ist  der 
Verstand  Nicht-Selbst  (anattä).    (Majjhima  Nikäya  148). 

Wahrlich,  ihr  Brüder,  es  würde  mehr  der  Wahrheit  ent- 
sprechen, wollte  man  anstatt  der  Seelen-Aspekte  ^)  den  aus  den 


*)  A.  d.  H.  Seelen-Aspekte,  Seele,  d.  h.  die  subjektive  Seite  des 
Menschen  (näma)  setzt  sich  zusammen  aus  1.  vedanä,  Gefühl,  2.  safifia, 
Wahrnehmung,  3.  sankhärä,  Vorstellungen  (Unterscheidungen,  Ein-Bildun- 
gen,  Strebungen,  Fähigkeiten  des  Geistes),  4.  viünäna,  Bewusstsein. 


2»  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

vier  Elementarkräften  *)  aufgebauten  Körper  als  ein  (dauerndes) 
Selbst  (attä)  betrachten;  denn  es  ist  offenbar,  dass  dieser  aus 
den  vier  Elementarkräften^)  aufgebaute  Körper  ein  Jahr  währt, 
zwei  Jahre  währt,  drei,  vier,  fünf,  sechs,  ja  sieben  Jahre  währt; 
das  dagegen,  ihr  Brüder,  was  man  Seele,  Subjekt  oder  Be- 
wusstsein*)  nennt,  befindet  sich  bei  Tag  und  Nacht  in  einem 
unaufhörlichen  Wechsel,  vergeht  als  dieses  und  tritt  als  ein 
anderes  wieder  in  die  Erscheinung.    (Samyutta  Nikäya). 

Darum  also,  ihr  Brüder:  Was  es  auch  für  eine  Form  sei, 
vergangene,  zukünftige,  gegenwärtige,  eigene  oder  fremde, 
grobe  oder  feine,  gemeine  oder  edle,  ferne  oder  nahe:  alle 
Form  ist,  der  Wahrheit  gemäss,  mit  vollkommener  Weisheit 
also  zu  betrachten:  ,Das  gehört  mir  nicht  an,  das  bin  ich 
nicht,  das  ist  nicht  mein  Selbst.'  —  Was  es  auch  für  ein  Ge- 
fühl, was  es  auch  für  eine  Vorstellung  (Unterscheidung),  was 
es  auch  für  ein  Bewusstsein  sei,  vergangenes,  zukünftiges, 
gegenwärtiges,  eigenes  oder  fremdes,  grobes  oder  feines,  ge- 
meines oder  edles,  fernes  oder  nahes:  jedes  Gefühl,  jede 
Wahrnehmung,  jede  Vorstellung  (Unterscheidung),  jedes  Be- 
wusstsein ist,  der  Wahrheit  gemäss,  mit  vollkommener  Weis- 
heit also  anzusehen:  ,Das  gehört  mir  nicht  an,  das  bin  ich 
nicht,  das  ist  nicht  mein  Selbst.'    (Majjhima  Nikäya  1Ü9). 

[Vergangenes,  gegenwärtiges,  zukünftiges  Dasein:] 
Wenn  nun,  ihr  Brüder,  jemand  euch  fragen  sollte:  ,Seid  ihr 
wohl  in  den  vergangenen  Zeiten  gewesen,  oder  aber  seid  ihr 
in  den  vergangenen  Zeiten  nicht  gewesen?  Werdet  ihr  wohl 
in  den  zukünftigen  Zeiten  sein,  oder  aber  werdet  ihr  in  den 
zukünftigen  Zeiten  nicht  sein?  Seid  ihr  jetzt,  oder  aber  seid  ihr 
jetzt  nicht?'  ■ —  so  hättet  ihr  zu  sagen,  dass  ihr  in  einer  Hin- 
sicht wohl  in  den  vergangenen  Zeiten  gewesen  seid,  dass  ihr 
in  anderer  Hinsicht  jedoch  in  den  vergangenen  Zeiten  nicht 
gewesen  seid;  dass  ihr  in  einer  Hinsicht  wohl  in  den  zukünf- 

')  A.  d.  Her.  Die  den  Körper  (rüpa)  aufbauenden  »vier  Elementar- 
kräfte« (dhätu)  sind:  1.  väyu,  Beweglichl<eit  (wörtlich:  Wind),  2.  tejo, 
Strahlung  (wörtlich:  Feuer),  3.  apo,  Kohäsion  (wörtlich:  Wasser),  4. 
pathavl,  Trägheit  (wörtlich:  Erde).  Vergl.  Dr.  Ernest:  »Buddhism  and 
Science«  S.  6.  f. 

*)  Vergl.  Anmerk.  auf  vorhergehender  Seite. 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  299 

tigen  Zeiten  sein  werdet,  dass  ihr  in  anderer  Hinsicht  jedoch 
in  den  zul<ünftigen  Zeiten  nicht  sein  werdet;  dass  ihr  in  einer 
Hinsicht  jetzt  seid,  dass  ihr  in  anderer  Hinsicht  jedoch  jetzt 
nicht  seid.     (Digha  Nikäya). 

Wahrlich,  nur  derjenige,  welcher  die  Entstehung  aus  Ur- 
sachen merkt,  der  merkt  die  Wahrheit,  und  wer  die  Wahrheit 
merkt,  der  merkt  die  Entstehung  aus  Ursachen.  (Majjhima 
Nikäya). 

Denn  gerade  so,  ihr  Brüder,  wie  von  der  Kuh  die  Milch 
kommt,  aus  der  Milch  der  Rahm  entsteht,  aus  dem  Rahme 
die  Butter,  aus  der  Butter  der  Käse,  —  und  wenn  es  Milch 
ist,  dieselbe  nicht  Rahm,  oder  Butter,  oder  Käse  genannt  wird, 
und  wenn  es  Käse  ist,  derselbe  durch  keinen  anderen  Namen 
bezeichnet  wird:  genau  ebenso,  ihr  Brüder,  wird,  wenn  eine 
der  drei  Daseinsarten  (vergangenes,  gegenwärtiges  oder  zu- 
künftiges Dasein)  vorgestellt  wird,  diese  nicht  mit  dem  Namen 
der  beiden  anderen  bezeichnet;  denn  diese,  ihr  Brüder,  sind 
blosse  Namen,  blosse  Redewendungen,  Bezeichnungen  im  ge- 
wöhnlichen Verkehrsgebrauche.  Von  diesen  macht  allerdings 
der  Erhabene  Gebrauch,  ohne  aber  durch  sie  irregeleitet  zu 
werden.     (Digha  Nikäya  9.) 

[Die  beiden  Extreme:  Der  Materialismus  und  der 
Glaube  an  eine  persönliche  Unsterblichkeit:]  Wenn,  ihr 
Brüder,  die  Ansicht  besteht,  dass  das  Ich  mit  unserem  körper- 
lichen Dasein  identisch  ist,  so  ist  in  diesem  Falle  ein  heiliges 
Leben  nicht  recht  möglich;  oder  wenn,  ihr  Brüder,  die  Ansicht 
besteht,  dass  das  Ich  (d.  h.  die  persönlich  gedachte  Ich-Seele) 
eins  ist,  aber  ein  anderes  der  Körper,  auch  in  diesem  Falle 
ist  ein  heiliges  Leben  nicht  recht  möglich.  Diese  beiden 
Extreme  jedoch  wurden  von  dem  Erhabenen  gemieden,  und 
es  gibt  eine  mittlere  Lehre,  welche  sagt: 

[Paticcasamuppäda,  die  Kausal-Kette:]  Infolge  der 
Verblendung  (avijjä)  bilden  sich  die  »Strebungen«  (sankhärä), 
[die  in  gutem  oder  üblem  körperlichen,  sprachlichen  oder  gei- 
stigen Wirken  (kamma)  sich  äussern].  Dadurch  ist  das  Er- 
wachen des  Bewusstseins  (vififiäna)  bedingt;  von  dem  Dasein 
des  Bewusstseins  hängt  die  Unterscheidung  in  das  anschau- 
ende Subjekt  einerseits  (näma)  und  die  angeschaute  Welt 


300  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

als  Objekt  andererseits  (röpa)  ab;  aus  der  Existenz  der  sub- 
jei<tiv-objei<tiven  Welt  entspringt  die  sechsfache  Sinnestätigkeit 
(saläyatana);  durch  diese  entsteht  phassa,  d.  h.  der  Kontakt 
der  sechs  Sinnesorgane  mit  den  objektiv  angeschauten  Sinnes- 
gegenständen (d.  i.  den  Formen,  Tönen,  Düften,  Säften,  Tastun- 
gen und  Gedanken);  der  Kontakt  bedingt  das  (Lust-,  Unlust- 
oder indifferente)  Gefühl  (vedanä);  aus  dem  Gefühl  entspringt 
das  Begehren  (tanhä);  dieses  erzeugt  das  Haften  am  Dasein 
(upädäna);  das  Haften  am  Dasein  wirkt  den  Daseinsprozess 
(bhava);  dieser  erzeugt  die  Geburt  (jäti);  die  Geburt  bedingt 
Altern  und  Sterben,  Wehe,  Jammer,  Leiden,  Gram  und  Ver- 
zweiflung. Also  kommt  es  zur  Entfaltung  dieser  ganzen  Lei- 
densfülle. 

Aber  mit  der  vollständigen  Auflösung  und  Aufhebung  der 
Verblendung  sind  die  »Strebungen«  aufgehoben;  mit  der  Auf- 
hebung der  »Strebungen«  ist  das  Erwachen  des  Bewusstseins 
aufgehoben;  mit  der  Aufhebung  des  Bewusstseins  ist  die  sub- 
jektiv-objektive Anschauung  aufgehoben;  mit  der  Aufhebung 
der  subjektiv-objektiven  Anschauung  ist  die  sechsfache  Sinnes- 
tätigkeit aufgehoben;  mit  der  Aufhebung  der  sechsfachen 
Sinnestätigkeit  ist  der  Kontakt  (der  Sinnesorgane  mit  der  ob- 
jektiv angeschauten  Welt)  aufgehoben;  mit  der  Aufhebung  des 
Kontaktes  ist  das  Gefühl  aufgehoben;  mit  der  Aufhebung  des 
Gefühls  ist  das  Begehren  aufgehoben;  mit  der  Aufhebung  des 
Begehrens  ist  das  Haften  am  Dasein  aufgehoben;  mit  der 
Aufhebung  des  Haftens  am  Dasein  ist  der  Daseinsprozess  auf- 
gehoben; mit  der  Aufhebung  des  Daseinsprozesses  ist  die 
Geburt  aufgehoben;  durch  das  Nicht-geboren-werden  ist  Altern 
und  Sterben,  Wehe,  Jammer,  Leiden,  Gram  und  Verzweiflung 
aufgehoben.  Also  kommt  es  zur  Aufhebung  dieser  ganzen 
Leidensfülle.    (Samyuttaka  Nikäya). 

Wahrlich,  ihr  Brüder,  weil  die  Wesen,  versunken  in  Nicht- 
wissen (avijjä),  von  dem  Lebensdrang  (tanhä)  geködert,  bald 
hier  und  bald  da  sich  ergötzen,  deshalb  kommt  immer  wieder 
ein  neuer  Keim  zustande  (Majjhima  Nikäya  43),  und  des 
Menschen  Werke,  ihr  Brüder,  die  aus  Begehren  getan  sind, 
die  dem  Begehren  entspringen,  durch  Begehren  veranlasst 
sind,  in  Begehren  ihren  Ursprung  haben,  werden  dort  zur  Reife 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  301 

gelangen,  wo  auch  immer  der  Mensch  sein  mag;  und  wo  auch 
immer  jene  Werke  zur  Reife  gelangen,  eben  dort  erntet  der 
Mensch  die  Früchte  jener  Werke,  sei  es  in  diesem,  sei  es  in 
einem  zukünftigen  Leben.  Des  Menschen  Werke,  ihr  Brüder, 
die  aus  Begierde,  Hass  und  Wahn  getan,  durch  Begierde, 
Hass  und  Wahn  veranlasst  sind,  in  ihnen  ihren  Ursprung 
haben,  werden  dort  zur  Reife  gelangen,  wo  auch  immer  der 
Mensch  sein  mag;  und  wo  auch  immer  jene  Werke  zur  Reife 
gelangen,  eben  dort  erntet  der  Mensch  die  Früchte  jener  Werke, 
sei  es  in  diesem,  sei  es  in  einem  zukünftigen  Leben.  (Angut- 
tara  Nikäya). 

[Aufgehobenes  Kamma:]  Durch  den  Nichtwissens- 
Überdruss  jedoch,  ihr  Brüder,  durch  die  Wissensgewinnung, 
durch  die  Zerstörung  des  Lebensdranges  (tanhä)  wird  jede 
weitere  Keimbildung  aufgehoben,  und  des  Menschen  Werke, 
ihr  Brüder,  die  nicht  durch  Begierde,  Hass  oder  Wahn  ver- 
ursacht sind,  nicht  aus  Begierde,  Hass  oder  Wahn  entspringen, 
nicht  durch  sie  veranlasst  sind,  nicht  in  ihnen  ihren  Ursprung 
haben,  sind,  insofern  Begierde,  Hass  und  Wahn  verschwunden 
sind,  verlassen,  ausgerodet,  gleich  einer  Fächerpalme  dem 
Boden  entrissen,  sind  erloschen  und  keinem  ferneren  Treten 
ins  Dasein  ausgesetzt.     (Majjhima  Nikäya.) 

Wahrlich,  ihr  Brüder,  in  dieser  Hinsicht  könnte  jeder  von 
mir  mit  Recht  behaupten:  ,Ein  Verneiner  ist  der  Asket  Gotama, 
die  Vernichtung  lehrt  der  Asket  Gotama;'  denn  wahrlich,  ihr 
Brüder,  ich  verkünde  die  Vernichtung;  die  Vernichtung  näm- 
lich der  Begierde,  die  Vernichtung  des  Hasses,  die  Ver- 
nichtung des  Irrwahns,  sowie  die  Vernichtung  der  man- 
nigfachen üblen,  unheilsamen  Gemütszustände.  (Mahä- 

vagga  VI,  31).  

Zweite  Stufe:  Sammäsankappa,  rechter  Vorsatz.*) 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechter  Vorsatz?  Der  Vorsatz, 
sinnliche  Vergnügungen  aufzugeben,  der  Vorsatz,  gegen 
niemanden  Bosheit  zu  hegen,  derVorsatz,  keinemWesen 
Harm  zu  bereiten. 

Das,  ihr  Brüder,  ist  rechter  Voratz.     (Digha  Nikäya  22). 

')  Andere  Übersetzungen  sind:  Rechte  Gesinnung,  rechtes  Denken, 
rechte  Endzwecke,  rechtes  Ziel. 


302  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Dritte  Stufe:  Sammävaca,  rechte  Rede. 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechte  Rede? 

[Überwindung  der  Lüge:]  Da  hat  jemand,  ihr  Brüder, 
das  Lügen  verworfen,  vom  Lügen  hält  er  sich  fern.  Die  Wahr- 
heit spricht  er,  der  Wahrheit  ist  er  ergeben,  standhaft,  des 
Vertrauens  würdig,  kein  Heuchler  und  Schmeichler  der  Welt. 

[Überwindung  der  Verleumdung:]  Das  Verleumden 
hat  er  verworfen,  vom  Verleumden  hält  er  sich  fern.  Was  er 
hier  gehört  hat,  erzählt  er  dort  nicht  wieder,  um  jene  zu  ent- 
zweien, und  was  er  dort  gehört  hat,  erzählt  er  hier  nicht  wieder, 
um  diese  zu  entzweien.  So  einigt  er  Entzweite,  festigt  Ver- 
bundene, Eintracht  macht  ihn  froh,  Eintracht  erfreut  ihn,  Ein- 
tracht fördernde  Worte  redet  er. 

[Überwindung  der  rohen  Rede:]  Rohe  Worte  hat  er 
verworfen,  von  rohen  Worten  hält  er  sich  fern.  Worte,  die 
frei  von  Schimpfen  sind,  dem  Ohre  wohltuend,  liebreich,  zum 
Herzen  dringend,  höflich,  viele  erfreuend,  viele  erhebend,  solche 
Worte  spricht  er.  (Majjhima  Nikäya).  Denn  er  weiss:  In 
wem  der  Gedanke  lebt:  .Verleumdet  hat  er  mich,  geschlagen, 
vergewaltigt  hat  er  mich  und  beraubt,'  —  der  wird  nimmer 
frei  von  Hass;  denn  nie  wird  Hass  durch  Hass  gestillt;  durch 
Güte  wird  Hass  überwunden,  das  ist  ein  ewiges  Gesetz. 
(Dhammapada,  4 — 5). 

Und  er  erinnert  sich  der  Worte  des  Erhabenen:  „Wenn 
auch,  ihr  Brüder,  Räuber  und  Mörder  mit  einer  Säge  Gelenke 
und  Glieder  abtrennten,  so  würde,  wer  da  in  Wut  geriete,  nicht 
meine  Weisung  erfüllen.  Da  habt  ihr  euch  nun,  meine  Brüder, 
wohl  zu  üben:  ,Nicht  soll  unser  Gemüt  verstört  werden,  kein 
böser  Laut  unseren  Lippen  entfahren,  freundlich  und  mitleidig 
wollen  wir  bleiben,  liebevollen  Gemütes,  ohne  heimliche  Tücke; 
und  jene  Person  werden  wir  mit  liebevollem  Gemüte  durch- 
strahlen: von  ihr  ausgehend  werden  wir  dann  die  ganze  Welt 
mit  liebevollem  Gemüte  durchstrahlen,  mit  weitem,  tiefem,  un- 
beschränktem, von  Grimm  und  Groll  geklärtem,'  —  also  habt 
ihr  euch,  meine  Brüder,  wohl  zu  üben."  (Majjhima  Nikäya  21.) 

[Überwindung  unnützer  Rede:]  Da  hat  ferner,  ihr 
Brüder,  jemand  das  Schwätzen  verworfen,  vom  unnützen  Reden 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  303 

hält  er  sich  fern.  Zur  rechten  Zeit  spricht  er,  den  Tatsachen 
gemäss,  auf  den  Sinn  bedacht,  der  Lehre  und  Ordnung  getreu; 
seine  Rede  ist  inhaitreich,  gelegentlich  mit  Gleichnissen  ge- 
schmückt, klar  und  bestimmt,  ihrem  Gegenstande  angemessen; 
denn  er  ist  eingedenk  der  Weisung,  die  da  lautet:  „Trefft  ihr 
euch,  meine  Brüder,  so  geziemt  euch  zweierlei:  Lehrreiches 
Gespräch  oder  heiliges  Schweigen."  (Majjhima  Nikäya.) 
Dies,  ihr  Brüder,  ist  rechte  Rede. 


Vierte  Stufe:  Sammäkammanta,  rechte  Tat. 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechte  Tat? 

[Überwindung  des  Tötens:]  Da  hat  jemand,  ihr  Brüder, 
das  Morden  verworfen,  vom  Töten  hält  er  sich  fern.  Ohne 
Stock,  ohne  Schwert,  fühlsam,  voll  Teilnahme  hegt  er  zu  allen 
lebenden  Wesen  Güte  und  Mitleid. 

[Überwindung  des  unrechtmässigen  Nehmens:] 
Nichtgegebenes  zu  nehmen  hat  er  verworfen,  vom  Nehmen 
des  Nichtgegebenen  hält  er  sich  fern.  Gegebenes  nimmt  er,  Ge- 
gebenes wartet  er  ab,  nicht  diebisch  gesinnt,  geläuterten  Herzens. 

[Überwindung  der  Unkeuschheit:]  Die  Unkeuschheit 
hat  er  verworfen,  keusch  lebt  er,  der  niedrigen  Fleischeslust 
erstorben.    (Majjhima  Nikäya.) 

Dies,  ihr  Brüder,  ist  rechte  Tat. 

Fünfte  Stufe:  Sammäjiva,  rechter  Beruf/) 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechter  Beruf? 

Wenn,  ihr  Brüder,  ein  heiliger  Jünger  einem  Leiden-erzeu- 

genden  Berufe")    entsagend    sich    seinen   Lebensunterhalt   auf 

eine  gerechte  Weise  erwirbt,   so   ist   dies,   ihr  Brüder,   rechter 

Beruf.    (Digha  Nikäya  22). 

(Fortsetzung  folgt.) 


')  Andere  Übersetzungen  sind :  Rechtes  Leben,  rechte  Lebensführung, 
rechte  Lebensweise. 

-)  Fünf  solcher  Leiden-erzeugenden  Berufe  werden  in  den  Schriften 
angeführt:  1.  Schlächterei  und  Handel  mit  Schlachttieren;  2.  Handel  mit 
alkoholischen  Getränken;  3.  Handel  mit  Gift;  4.  Handel  mit  Waffen  und 
Mordwerkzeugen;  5.  Handel  mit  Menschen  (Sklavenhandel,  Mädchen- 
handel, Kuppelei). 


SM  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Die  Berührungspunkte  der 

Philosophie  Schopenhauers 
und  des  Buddhismus. 

Von  Georg  Jahn. 

(1.  Fortsetzung.) 
Erkennt  so  der  Buddhismus,  dass  die  sichtbare  Welt  der 
Vorstellung  angehört  und  durchaus  nichts  Beständiges  hat,  so 
bleibt  er  dabei  jedoch  nicht  stehen,  sondern  geht  tiefer,  sucht 
nach  dem,  was  hinter  den  Dingen  steckt,  nach  dem  Urgrund 
der  Welt.  Das  aber  ist  der  „Wille  zum  Leben",  der  wie  der 
Wille  Schopenhauers  keineswegs  dem  gleichzusetzen  ist,  was 
man  gewöhnlich  unter  bewusstem  Willen  versteht.  Es  ist  der 
in  allem  Geschehen  wirkende  Lebenstrieb,  die  eigentlich  welt- 
schöpferische Kraft,  es  ist  die  Ursache  unseres  Daseins  und 
unserer  Wiedergeburt  und  in  Wahrheit  der  Schöpfer,  Erhalter 
und  zugleich  Zerstörer  aller  Dinge,  es  ist  das  Urprinzip  des 
Seienden,  das  andere  Religionen  sich  als  Gott  personifiziert 
denken.  In  den  buddhistischen  Schriften  aber  fehlt  jede  An- 
schauung eines  höchsten  Wesens  als  Grund  der  Schöpfung. 
Der  Buddhismus  kennt  durchaus  kein  unerschaffenes,  ewiges 
einiges  göttliches  Wesen,  das  vor  allen  Zeiten  war  und  alles 
Sichtbare  und  unsichtbare  aus  nichts  erschaffen  hat,  er  kennt 
keinen  persönlichen  Gott,  von  dessen  Gnade  oder  dessen 
Willen  der  Bestand  der  Welt  abhinge.  Alles  entwickelt  sich 
durch  und  aus  sich  selbst,  kraft  seines  eigenen  Willens 
und  gemäss  seiner  inneren  Natur  und  Beschaffenheit.  Einen 
persönlichen  Gottschöpfer  hat  nur  die  Unwissenheit  der  Mensch- 
heit erfunden,  die  mit  der  Erklärung  der  Welt  aus  sich  selbst 
nicht  fertig  wurde.  Es  gibt  eben  keine  Schöpfung,  der  Aus- 
druck selbst  ist  sogar  dem  Buddhismus  fremd,  es  gibt  nur 
Weltentstehungen  nach  unabänderlichen,  ewigen  Gesetzen,  die 
Lehre  einer  Schöpfung  aus  nichts  ist  ein  Irrwahn.  Genau 
alles  dasselbe  aber  lehrt  auch  Schopenhauer.  Nach  ihm  ist 
die  Annahme  eines  selbständigen  Urgrundes,  eines  intelligenten 
Schöpfergottes  ein  Verstoss  gegen  das  Gesetz  der  Kausalität, 
das    unbedingt    Giltigkeit    hat-     Alles    Bestehende,    alles   Ge- 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  305 

schehende  hat  einen  Grund,  hat  eine  Ursache;  soweit  wir  auch 
zurückgehen  mögen,  niemals  stossen  wir  auf  etwas  Grundloses, 
Absolutes,  etwas,  das  die  Ursache  seiner  selbst  wäre.  Die 
Vorstellung  eines  intelligenten  Schöpfergottes  ist  aus  dem  Be- 
streben hervorgegangen,  die  durchgehende  Zweckmässigkeit  der 
Welt  zu  erklären.  Um  das  zu  können,  braucht  man  aber 
durchaus  keine  schöpferische  Intelligenz  anzunehmen,  man 
kommt  da  mit  dem  innerweltlichen  Grunde  des  Willens,  dem 
Lebenstrieb  sehr  gut  aus. 

So  stimmt  also  Schopenhauers  Philosophie  mit  dem  Bud- 
dhismus in  allen  Hauptpunkten  der  Welterklärung  überein: 
beide  sind  voll  und  ganz  atheistisch,  beide  erklären  die  sicht- 
bare Welt  für  Vorstellung,  die  ewig  wechselt,  beide  treffen 
sich  schliesslich  in  der  metaphysischen  Begründung  der  Welt, 
indem  sie  den  Willen  als  überall  wirkenden  und  gestaltenden 
Lebenstrieb  auffassen  und  in  ihm  das  Urprinzip  der  Welt  er- 
blicken. 

Auf  einem  anderen  und  für  uns  hier  viel  bedeutsameren 
Gebiete  als  dem  der  Natur-  und  Welterklärung  finden  wir 
Schopenhauer  ebenfalls  mit  dem  Buddhismus  in  vollem  Ein- 
klang, auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Lebensanschauung, 
der  Erklärung  des  grossen  Mysteriums  unseres  Daseins. 
Schopenhauer  hält,  wie  oben  schon  gesagt,  den  Willen  für 
das  Ding  an  sich,  den  inneren  Gehalt,  das  Wesen  der  Welt. 
Das  Leben  hingegen,  die  sichtbare  Erscheinung  ist  nur  der 
Spiegel  des  Willens.  Wenn  Wille  da  ist,  so  ist  auch  notwen- 
dig Leben,  Welt  da.  Die  Objektivationen  des  Willens  sind 
in  ewigem  Fluss  begriffen,  sie  entstehen  und  vergehen;  das 
Ewige,  im  Wechsel  Beharrende  ist  allein  der  Wille.  Auch  im 
Individuum  ist  der  Wille  zum  Leben  in  die  Erscheinung  getre- 
ten; deshalb  ist  es  vergänglich,  deshalb  muss  es  sterben  und 
vergehen,  während  nur  die  Gattung  sich  erhält.  Der  Tod  ist 
nur  ein  Schlaf,  in  dem  die  Individualität  vergessen  wird.  Das 
andere,  hinter  der  individuellen  Erscheinung  Stehende,  der  Wille, 
bleibt  wach,  ihm  ist  das  Leben  gewiss,  und  seine  Lebensform 
ist  Gegenwart  ohne  Ende. 

Der  Wille  ist  sich  in  Welt  und  Leben,  seinen  Erscheinun- 
gen als  Vorstellung  vollständig  gegeben,  er  erkennt  sich  darin, 

20 


a06  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

ohne  jedoch  dadurch  in  seinem  Wollen  irgendwie  gehemmt  zu 
werden.  Es  wird  vielmehr  eben  dieses  erkannte  Leben  als 
solches  von  ihm  nun  auch  mit  Erkenntnis,  bewusst  und 
besonnen,  gewollt,  er  bejaht  sich  mithin  selbst.  Das  Gegen- 
teil hiervon,  die  Verneinung  des  Willens  zum  Leben,  zeigt  sich, 
wenn  auf  jene  Erkenntnis  hin  das  Wollen  endet,  dann  wirken 
nicht  mehr  die  erkannten  Einzelerscheinungen  als  Motive  des 
Wollens,  sondern  es  wird  die  ganze  Erkenntnis  des  Wesens 
der  Welt,  dieses  Spiegels  des  Willens,  zum  Quietiv  desselben, 
der  Wille  hebt  sich  selbst  auf.  Eine  solche  vom  Wollen  unab- 
hängige Betrachtungsart  ist  die  der  Kunst.  Bei  ihr  verschwin- 
det die  Welt  als  Wille  und  bleibt  nur  noch  als  Vorstellung 
übrig.  Das  eben  ist  die  Bedingung  des  ästhetischen  Wohlge- 
fallens: Befreiung  des  Erkennens  vom  Dienste  des  Willens, 
Selbstvergessen  und  Erhöhung  des  Bewusstseins  zu  einem 
willenlosen,  zeitlosen,  von  allen  Relationen  unabhängigen  Sub- 
jekt des  Erkennens.  So  bietet  das  reine,  uninteressierte  künst- 
lerische Geniessen  und  Schauen  einen  Vorgeschmack  der  Selig- 
keit des  Nirväna,  des  Befreitseins  vom  Leiden,  von  der  Begierde, 
vom  Lebensdurst,  eine  Seligkeit,  die  wir  etwa  empfinden,  wenn 
wir  in  klarer  Nacht  den  sternbesäebten  Himmel  betrachten: 

„Die  Sterne,  die  begehrt  man  nicht, 

Man  freut  sich  ihrer  Pracht, 

Und  mit  Entzücken  blickt  man  auf 

In  jeder  klaren  Nacht." 
Kehren  wir  zurück  zur  Lebensauffassung  Schopenhauers. 
Nach  seiner  Ansicht  ist  jedes  Menschen  Charakter  vorherbe- 
stimmt, er  ist  sein  eigenes  Werk  vor  aller  Erkenntnis,  der 
Mensch  erkennt  sich  selbst  im  Leben,  erkennt,  was  er  ist.  Man 
kann  sagen,  dass  alles  vom  Schicksal  vorher  bestimmt  ist, 
wenn  man  damit  meint,  dass  alles  nur  mittelst  der  Kette  von 
Ursachen  geschieht,  denn  keine  Wirkung  kann  ohne  Ursache 
eintreten.  Nicht  die  Begebenheit  schlechthin  ist  also  vorher- 
bestimmt, sondern  dieselbe  als  Schlussglied  einer  langen  Reihe 
vorhergängiger  Ursachen.  Nicht  der  Erfolg  allein,  sondern 
auch  die  Mittel  sind  also  vom  Schicksal  beschlossen.  Treten 
demnach  die  Mittel  nicht  ein,  dann  bleibt  auch  sicherlich  der 
Erfolg  aus:  beides  immer  nach  der  Bestimmung  des  Schicksals, 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  307 

die  wir  aber  stets  erst  hinterher  erfahren.  Da  nun  das  Wesen 
des  Willens  fortwährendes  Streben  ist,  das  überall  gehemmt 
wird,  so  muss  dasselbe  immer  kämpfen,  und  das  heisst  leiden. 
Das  Streben  ist  endlos,  es  hat  kein  letztes  Ziel,  mithin  gibt 
es  auch  kein  Mass,  kein  Ende  des  Leidens.  Die  Grösse  des 
Leidens  hängt  von  der  Höhe  der  Erkenntnis  des  einzelnen  In- 
dividuums ab:  Je  mehr  Erkenntnis,  desto  mehr  Leiden!  Ober- 
haupt kann  man  sagen,  dass  das  Leben  im  Wesentlichen 
Leiden  ist.  Zunächst  wird  das  Dasein  bei  den  allermeisten 
Menschen  ausgefüllt  durch  einen  steten  Kampf  um  die  Existenz, 
einen  Kampf  mit  der  Gewissheit,  zuletzt  doch  zu  verlieren. 
Dann  ist  es  die  fortgesetzte  Furcht  vor  dem  Tode,  dem  endlichen 
Ziel  der  mühseligen  Fahrt  durch  des  Lebens  Wellentrug  und 
Wüstensand,  die  uns  Qual  bereitet.  Wo  nicht  eigentliche 
Leiden  und  Qualen  sind,  stellt  sich  die  Langeweile  ein,  die 
man  durch  Geselligkeit  zu  überwinden  sucht.  Wie  nahe  aber 
die  Langeweile  dem  Leiden  steht,  das  mag  jeder  selbst  beur- 
teilen. Zwischen  Wollen  und  Erreichen  wogt  das  Leben  hin 
und  her,  jedes  Wollen  zeitigt  den  Schmerz  des  Nichthabens, 
jedes  Erreichte  ein  neues  Wollen,  einen  neuen  Wunsch  und 
damit  erneute  Schmerzen.  Leidenschaftliche  Liebe  und  Eifer- 
sucht, Neid  und  Hass,  Ehrgeiz  und  Ruhmsucht,  Krankheit  und 
Lebensüberdruss,  Geschlechtstrieb  und  Egoismus,  alles  Dinge, 
die  oft  das  ganze  Leben  ausfüllen,  sie  alle  sind  Leiden.  Die  Be- 
hauptung erscheint  nicht  so  unrichtig,  dass  im  Leiden  das  Positive 
liege,  das  Glück,  die  Befriedigung  dagegen  immer  negativ  sei. 
Gibt  es  denn  keinen  Ausweg  aus  diesem  Jammertale,  gibt 
es  keine  Ueberwindung  des  Leidens ,  gibt  es  keine 
Mittel,  zur  Glückseligkeit  zu  gelangen,  gibt  es  keine 
Moral?  0  gewiss,  Schopenhauer  erkennt  eine  solche  durchaus 
an  und  sieht  ihr  Urphänomen  im  Mitleid.  Die  Haupttriebfeder 
im  Menschen  ist  unzweifelhaft  der  Egoismus,  der  Drang  zn 
Leben  und  Wohlsein.  Jeder  Handlung  nun  liegt  als  letzter 
Zweck  das  Wohl  und  Wehe  des  Handelnden  selbst  oder  eines 
anderen  zum  Grunde.  Bezieht  sich  die  Handlung  auf  das 
eigene  Wohl,  dann  ist  sie  egoistisch  und  ohne  moralischen 
Wert.  Ist  dagegen  der  Zweck  einer  Handlung  das  Wohl  eines 
Mitmenschen,  so  ist  sie  ein  Ausfluss  des  Mitleids,  des  Prinzinps 

20* 


308  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

der  Moralität;  ist  der  Zweck  das  Wehe  desselben,  so  entspringt 
sie  der  Bosheit  des  Handelnden,  dem  Prinzip  der  Unmoralität. 
Aus  dem  Mitleid,  das  seinen  Grund  in  dem  mehr  oder  weni- 
ger grossen  Einheitsbewusstsein  der  Menschheit,  dem  Solidari- 
tätsgefühl der  einzelnen  Individuen  hat,  entspringen  die  Kar- 
dinaltugenden der  Gerechtigkeit,  die  uns  gebietet,  niemand  zu 
verletzen,  und  der  Menschenliebe,  die  uns  befiehlt,  den  Nächsten 
nach  Kräften  zu  unterstützen.  Die  Betätigung  einer  solchen 
moralischen  Gesinnung  ist  nun  freilich  der  Grund  zur  Glück- 
seligkeit, aber  Moral  lässt  sich  nicht  anerziehen,  lässt  sich 
nicht  lernen.  Die  Motivation  des  menschlichen  Willens  richtet 
sich  nach  dem  Charakter,  und  der  ist  angeboren  und  unver- 
änderlich. Alles,  was  geschieht,  vom  Grössten  bis  zum  Klein- 
sten, geschieht  notwendig,  auch  das  menschliche  Handeln. 
Wir  können  nicht  aus  dieser  Notwendigkeit  heraus,  solange 
wir  wollen,  wir  können  nichts  tun,  was  unserm  Charakter 
widerspricht.  Durch  unser  Tun  erfahren  wir  gerade  erst,  was 
wir  sind,  erkennen  uns  und  unsern  Charakter.  Eine  Glück- 
seligkeit auf  Grund  einer  moralischen  Gesinnung  ist  also  nur 
den  wenigsten  Menschen  möglich.  Wir  müssen  deshalb  nach 
anderen  Mitteln  suchen,  wenn  wir  zu  Glück  und  Frieden  ge- 
langen wollen.  Schopenhauer  sucht  dieses  Mittel  in  der  Askese. 
Der  erste  Schritt  dazu  ist  die  vollkommene  freiwillige  Keusch- 
heit, die  Verneinung  des  Geschlechtstriebes,  des  Brennpunktes 
des  Willens  zum  Leben.  Damit  wird  der  Wille  über  die  eigene 
Individualität  hinaus  verneint.  Der  zweite  Schritt  ist  die  Be- 
dürfnislosigkeit und  die  damit  verknüpfte  Besiegung  der 
Willenserscheinungen  der  Wünsche.  Schliesslich  wird  noch 
der  Wille  mehr  und  mehr  durch  Selbstzucht  und  Selbstüber- 
windung, und  durch  freiwillige,  absichtliche  Entbehrung 
gebrochen.  So  führt  die  Askese,  die  Verneinung  des 
Willens  zum  Leben,  die  Überwindung  des  Eigenwillens,  zur 
Selbstverleugnung  und  Heiligkeit.  Die  Erkenntnis  des  eigenen 
Wesens  wird  zum  Quietiv  alles  Wollens.  —  Man  hat  nun 
eingewandt,  dass  man  das  Ziel  der  Askese,  die  Ver- 
neinung des  Wollens,  am  schnellsten  doch  durch  den  Selbst- 
mord erreichen  könne.  Dieser  aber  ist  ein  Phänomen 
stärkster    Bejahung    des    Lebenswillens,    denn    die 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  309 

Verneinung  hat  ihr  Wesen  nicht  darin,  dass  man  die  Leiden, 
sondern  dass  man  die  Genüsse  des  Lebens  aufgibt.  Der 
Selbstmörder  will  das  Leben  und  ist  nur  mit  den  Bedingungen, 
unter  denen  es  ihm  geworden,  unzufrieden.  Daher  gibt  er 
keineswegs  den  Willen  zum  Leben  auf,  sondern  nur  die  ein- 
zelne Erscheinung  desselben,  indem  er  seine  Form  zerstört. 

Was  nach  gänzlicher  Verneinung  und  Aufhebung  des 
Willens  übrig  bleibt,  ist  für  alle  die,  welche  noch  des  Willens 
voll  sind,  allerdings  nichts  —  Nirväna.  Aber  auch  umgekehrt 
ist  denen,  in  welchen  der  Wille  sich  gewendet  und  verneint 
hat,  diese  unsere  so  sehr  reale  Welt  mit  allen  ihren  Sonnen 
und  Milchstrassen  —  Nichts.  Es  ist  das  „Jenseits  aller  Er- 
kenntnis" der  Buddhisten,  der  Punkt,  wo  Subjekt  und  Objekt 
nicht  mehr  sind.  (Schluss  folft.) 

Die 

Transmigration  oder  Wiedergeburt. 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

(3.  Fortsetzung.) 

Wir  wollen  nun  den  Augenblick  betrachten,  wenn  Johannes 
Schmidt  stirbt.  Der  letztere  hat  während  seines  Lebens  nicht 
nur  den  grossen  Ozean  des  Äthers  in  Vibration  versetzt,  son- 
dern er  hat  vor  allen  Dingen  mit  jedem  wechselnden  Gedanken 
und  Gefühl  auf  seine  eigene  psychische  Struktur  eingewirkt, 
wie  sie  in  der  komplizierten  Werkstatt  seines  Hirns  zusammen- 
gefasst  ist.  So  ist  in  dem  Augenblick  vor  seinem  Abscheiden 
sein  ganzes  Leben,  ja  das  Leben  aller  seiner  Ahnen,  und  so  sind 
auch,  wie  wir  Buddhisten  sagen  würden,  seine  eigenen  früheren 
Leben  gleichsam  gezeichnet  in  einer  ganz  bestimmten  und  charak- 
teristischen Molekular-Struktur,  in  einer  ausserordentlich  ver- 
wickelten Darstellung  alles  dessen,  was  wir  unter  dem  Ausdruck 
»Johannes  Schmidt«  verstanden;  aber  diese  Darstellung,  welche 
ihm  selbst  unbekannt  ist  und  überhaupt  nicht  bemerkt  werden 
kann,  ist  in  Wahrheit  das  Ergebnis  aus  den  Zeitaltern,  da 
Johannes  Schmidt  in  seinem  Charakter  die  Gedanken  und 
Handlungen  unzähliger  Lebensläufe  manifestierte.  Jede  winzige 
Zelle  von  allen  den  vielen  Millionen,  welche  die  graue  Masse 


älb  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

seines  Gehirns  zusammensetzen,  kann  mit  einer  geladenen 
Leydener  Flasclie  verglichen  werden,  welche  bei  einer  jeweiligen 
Entladung  gewisse  Energieen  ausstrahlt,  deren  Bedeutung  und 
Botschaft  sie  durch  den  ganzen  menschlichen  Körper  und 
durch  den  Äther,  bis  zu  den  Unendlichkeiten  des  Raumes 
hin  befördert.  Eine  jede  dieser  Zellen  ist  versehen  mit  ihrem 
eigenen  Laboratorium  von  Apparaten,  —  mit  ihren  Widerständen, 
Isolatoren,  Schaltern,  und  durch  diese  ist,  wenn  sie  normal 
funktionieren,  der  Gesamt-Entladung  vorgebeugt;  so  dass  zu 
einem  bestimmten  Zeitpunkt  nie  mehr  als  ein  Bruchteil  der 
aufgespeicherten  Energie  ausgesendet  werden  kann,  —  nie  auf 
einmal  mehr,  als  die  geschäftigen  Blutkörperchen  ersetzen 
können.  Und  jede  einzelne  Zelle  von  all  den  Myriaden  hat 
in  sich  eine  gewaltige  Energie  aufgespeichert,  einen  Teil  von 
all  den  Energieen,  Leidenschaften,  Wünschen,  Hoffnungen  und 
hohen  Anstrengungen,  welche  zusammen  jenes  wunderbare 
Gebilde  ausmachen,  welches  wir  »Mensch«  nennen. 

Und  nun  kommt  der  Tod;  und  in  dem  Augenblick  seines 
Eintretens  strahlt  jene  gesamte  aufgespeicherte  Energie  auf  das 
Universum  aus  wie  ein  neu-entstehender  Stern;  denn  in  dem 
wunderbaren  Laboratorium,  das  wir  als  Gehirn  bezeichnen, 
hat  jetzt  eine  plötzliche,  entscheidende  Katastrophe  sich  abge- 
spielt, welche  die  gesamten  feinen  Apparate  zerschmettert; 
die  Schutz-  und  Hemm-Vorrichtungen  sind  zertrümmert  und 
jede  kleine  Zelle  ist  völlig  entladen.  Stellen  wir  uns  nun  ein 
Wesen  vor,  dessen  Augen  sensitiv  genug  sind,  um  die  Art  der 
feinen  Schwingungen,  die  wir  Gedanken  nennen,  wahrzu- 
nehmen, so  würde  dieses  Wesen  den  Tod  Johannes  Schmidts 
sehen,  wie  wir  etwa  das  Aufflammen  der  Nova  PerseT  ge- 
wahrten, —  wie  ein  plötzliches  geistiges  Auflodern  würde  sich 
ihm  der  Vorgang  darstellen,  und  er  könnte  in  einem  psychi- 
schen Spektroskop  das  geistige  Verzeichnis  dessen  analysieren, 
was  einst  ein  Mensch  war;  und  wie  sich  die  Kunde  von  einer 
Katastrophe  auf  einem  Gestirn  durch  den  ganzen  Raum  aus- 
breitet, so  könnte  hier  ein  auf  einem  fernen  Stern  befindlicher 
sensitiver  Beobachter  den  Tod  Newtons  oder  Ramses  des 
Grossen  überwachen. 

Wenn  wir  nun   die  Frage  ganz   auf  sich  beruhen  lassen. 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  311 

ob  die  Existenz  einer  für  unsere  Qedankenschwingung  empfäng- 
lichen unbekannten  Substanz  möglich  ist,  so  kennen  wir  doch 
nur  ein  Mittel,  wodurch  die  durch  den  Tod  eines  Menschen 
hervorgerufenen  Wellen  aufgehalten  und  ihre  Energien  absor- 
biert werden  könnten.  Wenn  wir  uns  eine  Flamme  vorstellen, 
—  nehmen  wir  an  das  gelbe  Licht  des  Natriums,  —  welches 
von  einem  Gegenstand  ausgeht,  so  werden  diese  Lichtschwin- 
gungen durch  den  Raum  bis  in  alle  Ewigkeit  weitereiien,  aus- 
genommen nur  den  einen  Fall,  dass  sie  irgendwo  auf  eine 
Schicht  von  Natrium-Dämpfen  auftreffen,  d.  h.  auf  die  einzige 
Substanz  im  Universum,  welche  in  ihrer  Struktur  dem  Molekül 
ähnlich  ist,  von  dem  das  Licht  ausgeht.  Dann  wird  sich 
nämlich  etwas  sehr  Seltsames  ereignen,  —  etwas  so  Fremd- 
artiges, dass  wir  keine  durchsichtige  und  einfache  Erklärung 
dafür  haben,  obwohl  wir  wissen,  dass  es  immer  eintreffen  wird. 
Denn  der  Natrium-Dampf  wird  das  Natrium-Licht  ab- 
sorbieren, und  wahrscheinlich  wird  jedes  Element  in  einem 
entsprechenden  Zustande  das  Licht  desselben  Elementes  ab- 
sorbieren, das  auf  eine  höhere  Temperatur  erhitzt  ist,  —  ein 
Phänomen,  welches  sich  bei  den  Sternen  von  demselben  Typus 
wie  unsere  Sonne  klar  äussert,  wo  die  Elemente  in  ihrer  gas- 
förmigen Umhüllung  das  Licht  derselben  Gattung  aufnehmen, 
wie  das,  welches  sie  selbst  bei  höheren  Temperaturen  aus- 
strahlen, indem  sie  ein  kontinuierliches  Spektrum  mit  dunklen 
Absorptions-Streifen  geben. 

Was  aus  der  Energie  geworden  ist,  die  auf  diese  Weise 
absorbiert  wurde,  wissen  wir  nicht;  nur  das  ist  klar,  dass  sie, 
da  Energie  unzerstörbar  ist,  noch  irgendwie  vorhanden  sein 
muss,  wahrscheinlich  in  der  Substanz,  die  sie  absorbiert  hat, 
verschlossen  und  latent;  —  kann  sein;  auf  jeden  Fall  muss  sie 
aber  noch  existieren.  Vielleicht  können  wir  in  dieser 
Absorption  ein  typisches  Beispiel  für  das  erkennen, 
was  sich  beim  Tode  eines  Menschen  abspielt,  sowie 
das  Geheimnis  der  Entstehung  eines  neuen  Lebewe- 
sens, das  von  dem  vorhergehenden  abhängig  ist. 

Denn  welche  Substanz  kann  in  dem  vorliegenden  Falle 
eine  Struktur  aufweisen,  die  dem  absterbenden  Gehirn  so 
ähnlich  wäre,   als  einzig   und  allein   das  Hirn  eines  in  diesem 


älä  ÖER  BUDDHISt.  1.  Jahrg. 

Augenblick  geborenen  Kindes  oder  Lebewesens,  welches  auf 
Grund  seiner  Vererbung  und  Anlage  dem  Gehirn  des  sterben- 
den Menschen  verwandt  ist?!  Und  solche  Vorgänge  spielen 
sich  nach  der  Anschauung  der  Buddhisten  tatsächlich  ab. 
Unsere  Schriften  lehren  uns  die  Existenz  unzähliger  Welten 
(resp.  Zustände)  und  sechs  Haupt-Arten  von  Dasein  (oder  Zu- 
ständen) in  unserer  kleinen  Welt.  ^)  Da  aber  die  Natur  jener 
Welten  von  den  unsrigen  verschieden  ist,  und  da  notwendiger- 
weise der  Mensch  dem  Menschen  mehr  gleicht  als  einem 
anderen  Wesen,  so  wollen  wir  unsere  Betrachtung  auf  die 
Menschenwelt  alleiu  beschränken. 

Im  Augenblick,  da  ein  Mensch  stirbt,  wird  irgendwo  ein 
Kind  mit  einer  derartigen  körperlichen  Konstitution  geboren, 
dass  das  kleine  Gehirn  dem  Charakter  des  abscheidenden 
Menschen  entspricht  und  ihn  aufnehmen  kann;  ein  Gehirn  ohne 
diese  Art  von  Beeinflussung  wird  niemals  in  ein  individuelles 
Dasein  eintreten.  Der  Mensch  stirbt,  und  sein  Abscheiden 
erregt  den  Äther  in  der  diesem  Menschen  eigentümlichen,  sehr 
komplizierten  Weise,  und  fast  in  demselben  Augenblick  erhält 
ein  neugeborenes  Kind,  das  noch  sehr  nahe  an  der  Schwelle 
des  Todes  steht,  den  Impuls  von  jener  »Todes-Welle«,  und 
sein  Gehirn  erzittert  zu  einem  neuen  Leben;  das  Herz  und  die 
Atmungs-Centra  werden  plötzlich  zur  Tätigkeit  angeregt,  — 
das  neugeborene  Kind  atmet  und  lebt,  oder  wie  die  Buddhisten 
sagen  würden,  „die  neue  Lampe  wird  an  der  verlöschen- 
den Flamme  angezündet." 

Dieses  Bild  mag  auch  dazu  dienen,  noch  eine  andere 
Schwierigkeit  zu  erhellen,  welche  Rolle  nämhch  die  Ver- 
erbung in  der  Transmigrations-Theorie  spielt,  ferner  welche 
Stellung  die  buddhistische  Lehre  zu  diesem  Punkte  einnimmt, 
dass,  wenn  ein  guter  Mensch  stirbt,  er  auf  Grund  seines  Kar- 
mans  als  ein  Kind  tugendhafter  Eltern  wiedergeboren  wird;  wie 
es  zu  verstehen  ist,  dass  eine  bestimmte  Natur  oder  Beschaffen- 
heit übertragen  wird;  —  kurz,  wie  das  neue  Leben  eine  Gruppe  von 
geistigen  und  moralischen  Eigenschaften  aufweist,  die  denen  des 

')  Was  wir  objektiv  Welt  nennen,  ist  subjektiv  ein  innerer  Zustand. 
Je  nach  der  Verschiedenheit  dieser  inneren  Zustände  sind  auch  die  sich 
in  diesen  reflektierenden  objektiven  Erscheinungs-Welten  verschieden. 


No.  lö.  DER  BUDDHIST.  3(3 

erloschenen  Lebens  in  jeder  Weise  ähnlich  sind.  Wir  wollen  uns 
dies  durch  eine  analoge  Betrachtung  verständlich  machen. 
Angenommen,  in  Rangun  sei  ein  Apparat  zur  Erzeugung  von 
»Hertz'schen  Äther-Wellen«  aufgestellt,  der  so  abgestimmt  ist, 
dass  er  Wellen  von  ganz  bestimmter  Länge  aussendet,  und 
rings  im  Umkreise  seien  Empfangs-Apparate  postiert,  die  ein 
gegebenes  Signal  aufnehmen  können,  die  aber  nur  auf  andere 
Wellenlängen  abgestimmt  sind,  dann  werden  alle  diese  Apparate 
auf  die  ausgesandten  Wellen  nicht  reagieren.  Wenn  sich 
aber  in  Mandalay  oder  in  Kalkutta  ein  Empfänger  befindet, 
der  genau  auf  den  ersten  Apparat  abgestimmt  ist,  so  wird  er, 
obwohl  er  viel  weiter  entfernt  ist  als  die  anderen  Empfangs- 
Apparate,  die  gegebenen  Wellen  aufnehmen,  —  der  elektrische 
Stromkreis  ist  geschlossen  und  die  vorhandene  Welle  mani- 
festiert sich.  So,  können  wir  sagen,  verhält  es  sich  auch  mit 
der  Übertragung  der  Kräfte  eines  Menschen  beim  Tode.  Es 
mögen  da  hundert  Kinder  in  demselben  Augenblick  und  in 
derselben  Stadt  geboren  werden;  aber  wenn  z.  B.  der  Ver- 
storbene ein  sehr  gelehrter  Mann  war  und  alle  diese  Kinder 
werden  bei  Eltern  geboren,  bei  denen  keine  ähnliche  Erblich- 
keit vorhanden  ist,  dann  wird  die  Todes-Woge  jenes  Mannes 
keins  von  diesen  Kindern  beeinflussen,  sondern  würde  unauf- 
genommen  weitergehen,  vielleicht  bis  zu  einem  sehr  entfernten 
Kinde,  welches  vermöge  seiner  günstigen  Vererbung  ein  wenn 
auch  noch  nicht  ausgereiftes  Hirn  besitzt,  das  fähig  ist,  die 
Todes-Woge  jenes  Gelehrten  aufzunehmen.  Und  auf  gleiche 
Weise  verhält  es  sich  mit  allen  Arten  von  Menschen.  Einige, 
welche  mit  ihren  Begierden  und  Instinkten  nur  wenig  über  dem 
Tiere  stehen,  mögen  bei  ihrem  Sterben  solche  Wellen  hervor- 
rufen, die  nur  ein  bestimmtes  Tier  zum  Leben  erwecken  können; 
andere  wieder  mögen  so  gelebt  haben,  dass  nur  eine  höhere 
Geburt  als  im  Menschenreich  das  höhere  Leben  verwirklichen 
kann,  welches  sie  zu  führen  begonnen  haben. 

So  kann  also  nach  dieser  Theorie  das  Phänomen  der 
Vererbung  so  betrachtet  werden,  dass  nur  dort,  wo  eine  ähn- 
liche Vererbung  existiert,  die  Todes-Woge  das  neugeborene 
Hirn  zur  Tätigkeit  durchdringt,  just  so,  wie  ein  genau  ge- 
stimmter Apparat  auf  die  Ätherwelle  reagieren  kann.    Bei  Zu- 


Sl-4  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

grundelegung  dieser  Analogie  muss  natürlich  daran  erinnert 
werden,  dass  das  Leben  des  Kindes  nicht  von  der  Einwirkung 
der  Todes-Woge  auf  ein  Gehirn  kommt;  die  letztere  dient  nur 

—  ähnlich  wie  die  Äther-Welle  wirkt  —  dazu,  den  Stromkreis 
mit  dem  Kohärer  zu  schliessen;  sie  ist  der  Anstifter  des 
Lebens,  aber  nicht  dessen  Ursache;  sie  wirkt  auf  die 
Zellen,  welche  bereit  sind  auf  Lebensimpulse  zu  reagieren, 
wie  etwa  eine  Ätherwelle  wirkt,  wenn  sie  einen  Bogen  oder 
Funken  bildend  von  einem  Leiter  auf  den  anderen  überspringt, 
dagegen  bei  Vorhandensein  einer  Potential-Differenz  unfähig  ist, 
die  zwischen  ihnen  befindliche  Kluft  zu  überbrücken.  Die  tat- 
sächliche Struktur  des  Hirns,  das  Blut,  der  Körper  und  die 
Latenz  des  Lebens  sind  natürlich  alle  das  direkte  Erbteil 
der  Eltern  und  leiblichen  Vorfahren;  aber  nach  unserer 
Anschauung  ist  noch  etwas  anderes  erforderlich,  nämlich  die 
feine  Energie,  welche  notwendig  ist,  um  diesen  Mechanismus 
wirklich  zu  einem  individuellen  Wesen  zu  machen;  und  dieser 
notwendige  andere  Faktor  kann,  wie  wir  meinen,  nur  das  sein, 
was  ich  in  meinem  Gleichnis  die  »Todes-Woge«  genannt  habe, 

—  das  Kamma  eines  Wesens,  welches  in  jenem  Augenblick 
sein  Leben  ausgehaucht  hat.  In  Fällen,  wo  dieser  notwendige 
Impuls  mangelhaft  ist,  kann,  obwohl  Gehirn,  Blut  und  Körper 
vollkommen  sind,  und  obgleich  die  Latenz  des  Lebens  vorhan- 
den ist,  dennoch  kein  Eintritt  in  das  Leben  stattfinden,  und 
das  Kind  bleibt  unbelebt,  odier  es  scheint  nur  für  wenige  Se- 
kunden gleichsam  automatisch  Lebenstätigkeit  zu  äussern,  ohne 
aber  jemals  zu  einem  individuellen  Leben  zu  erwachen. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Warum  ich  Buddhist  wurde. 

Von  A.  E.  Buultjens. 

(Schluss.) 

Die  hier  angeführten  Gründe  sagen  Ihnen,  warum  ich 
Buddhist  geworden  bin;  ich  war  eben  mit  vollem  Bewusstsein 
von  seiner  Wahrheit  überzeugt.  Ich  fragte  mich  ernst  und 
feierlich  im  stillen,  ob  ich  mich  öffentlich  zum  Buddhismus  be- 
kennen solle  oder  nicht.    Damals,  im  Jahre  1888  wurden  die 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  äJ5 

Buddhisten  mehr  als  jetzt  von  der  mit  der  Tünche  der  Zivili- 
sation versehenen  christlichen  Bevölkerung  verachtet;  denn  die 
Anhänger  des  Buddhismus  rekrutierten  sich  namentlich  aus  den 
Kreisen  der  „unwissenden,  dummen  Eingeborenen".  Ich  wusste, 
dass  meinem  Übertritt  zum  Buddhismus  meine  gesellschaftliche 
Ächtung  folgen  würde. 

An  einem  Vollmondtage  des  Jahres  1888  begab  ich  mich 
mit  dem  oben  genannten  buddhistischen  Freunde  und  anderen 
zu  dem  Tempel  und  erklärte  mich  durch  feierliches  Bekennen 
des  Tisarana')  und  Paficasila'^)  öffentlich  als  einen  An- 
hänger des  Buddhismus. 

Solange  ich  Freidenker  war,  hatte  mich  die  christliche  Ge- 
sellschaft unter  der  Annahme,  ich  sei  ein  exzentrischer  Mensch, 
noch  allenfalls  geduldet;  als  ich  mich  aber  offen  zum  Bud- 
dhismus bekannte,  war  ich  in  der  Gesellschaft  mehr  verachtet, 
als  ein  Wahnsinniger.  Und  dies  war  keineswegs  befremdlich; 
denn  wie  ich  bereits  sagte,  galt  damals  das  Christentum  als 
Religion  der  „Ansehnlichen",  der  Buddhismus  dagegen  ge- 
hörte den  „dummen  Eingeborenen".  Christliche  Eltern  und 
eine  christliche  Anstalt  hatten  mich  dazu  erzogen,  die  Kirche 
Christi  zu  verteidigen  und  deren  Argumente  gegen  anders 
denkende  „Ketzer"  und  „Schismatiker"  mir  anzueignen.  So 
war  für  diese  Leute  natürlich  mein  Übertritt  zum  Buddhismus 
ein  „nichtswürdiger  Abfall".  Es  wird  gesagt,  Gott  schuf  Men- 
schen und  gab  ihnen  Gehirne  zum  Denken,  und  wenn  nun  ein 
Mensch  denkt,  vernünftig  nachsinnt  und  Buddhist  wird,  dann 
verdammt  ihn  Gott  dafür,  dass  er  mit  dem  Hirn,  welches  er 
ihm  gegeben,  nachgedacht  hat.  Als  ich  nun  vollends  gegen 
Ende  des  Jahres  das  mir  übertragene  erste  Inspektions-Amt 
der  »Colombo-Buddhist-Schule«  übernahm,  da  wurden  die 
Schalen  des  Zornes  von  Christen  und  besonders  von  Beamten 
der  englischen  Kirche  über  mein  Haupt  ausgegossen.  Ich  hatte 
mich   der  Kirche  gegenüber  ablehnend  verhalten,  und  so  war 


')  Tlsarana,  die  Formel  der  »dreifachen  Zuflucht«:  Ich  nehme 
meine  Zuflucht  zu  dem  Buddha,  ich  nehme  meine  Zuflucht  zu  dem 
Dhamma,  ich  nehme  meine  Zuflucht  zu  dem  Sangha. 

')  Paficasila,  die  fünf  allgemeinen  Lebensregeln  der  Buddhisten: 
nicht  töten,  nicht  stehlen,  nicht  ehebrechen,  nicht  lügen,  sich  von  dem 
Genuss  berauschender  Getränke  fernhalten. 


st«  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

jede  christliche  Tür  für  mich  verschlossen,  und  jede  Verleum- 
dung war  gut  genug,  um  mich  gesellschaftlich  zu  brandmarken; 
ich  war  eben  in  den  Augen  dieser  Menschen  ein  Skorpion, 
eine  Schlange. 

Den  ersten  maliziösen  giftigen  Pfeil  schoss  auf  mich  Rev. 
E.  F.  Miller  ab,  der  Vorsteher  des  St.  Thomas-College,  mein 
alter  angesehener  Gönner.  Die  jetzt  folgenden  beiden  Briefe 
von  ihm  zeigen  seine  Stellung  mir  gegenüber  vor  und  nach 
meinem  offiziellen  Übertritt  zum  Buddhismus. 

I.  Brief. 

St.  Thomas-College,  6.  Februar  1888. 

Mein  lieber  Buultjens!    Ich   bin   in  Sorge,    weil  ich  Sie 

diesen  Morgen   vermisst  habe.    Wir  werden   uns  freuen,  Sie 

morgen  Nachmittag  ^/„S  Uhr  bei  uns  zu  sehen,  wenn  Sie  Lust 

haben,  an  der  Versammlung  junger  Männer  Teil  zu  nehmen. 

Ihr  ergebener 

E.  F.  Miller. 
Der  zweite  Brief  war  die  Antwort  Millers  auf  meine  höf- 
liche Anfrage,  warum  er  meinen  Namen,   der  auf  den   Tafeln 
der  College-Bücherei  als  Auszeichnung  sich  befand,  habe  ent- 
fernen lassen. 

II.  Brief. 

St.  Thomas-College,  19.  Februar  1890. 

Mein  lieber  Buultjens!  Ach,  es  ist  doch  garnicht  schwer, 
Ihre  Frage  zu  beantworten.  Ihr  Name  ist  aus  der  Bücherei 
entfernt  worden,  weil  Sie  von  dem  Glauben  Christi  abtrünnig 
geworden  sind.  Das  College  ist  gegründet  worden,  um  diesen 
Glauben  aufrecht  zu  erhalten  und  zu  verbreiten,  und  Sie,  ob- 
wohl auf  diesen  Glauben  getauft,  sind  nun  zu  seinen  Feinden 
desertiert.  Wollen  Sie  mir  wirklich  zutrauen,  den  Namen 
eines  Verräters  unter  jenen  Namen  zu  belassen,  die  das  College 
zu  ehren  wünscht?! 

Ihr  betrübter 

E.  F.  Miller. 

Diese  für  Missionars-Christen  charakteristische  Handlungs- 
weise, meinen  Namen  aus  der  Bücherei  zu  entfernen,  hatte  die 
Zustimmung  des  Bischofs  von  Colombo,  an  den  ich  appelliert 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  317 

hatte,  gefunden.  Sie  beabsichtigten  mich  zu  entehren;  aber  sie 
haben  nur  erreicht,  eine  öffentliche  Äusserung  von  christlicher 
Gehässigkeit  und  Intoleranz  zu  geben,  auf  welche  sie  möglicher- 
weise noch  heute  stolz  sind. 

Zum  Schluss  will  ich  noch  ein  persönliches  Erlebnis  er- 
zählen, um  eine  Illustration  dafür  zu  liefern,  wie  manche 
Geistliche  der  christlichen  Kirche  über  die  Buddhisten  denken. 
Ich  traf  eines  Tages  in  der  Pettah-Bibliothek  den  Rev.  Abraham 
Dias,  welcher  mich  in  meiner  Kindheit  getauft  hatte,  und 
wünschte  ihm  einen  „guten  Tag!".  Er  erkannte  mich  wieder, 
und  nun  entspann  sich  folgendes  kurzes  Zwiegespräch: 

„Wie  geht  es  Ihnen?" 

,Danke,  mein  Herr,  sehr  gut!' 

„Wie  ich  höre,   sind  Sie  an  der  Buddhistischen  Schule?" 

Ja.' 

„Sind  Sie  ein  Buddhist?" 

,Ja,  mein  Herr.' 

„Dann  werden  Sie  unverzüglich  in  die  Hölle  verdammt 
werden." 

,Mein  verehrter  Herr,  sind  Sie  denn  der  himmhschen 
Seligkeit  so  absolut  sicher?!' 

Und  lautlos  ging  der  hochwürdige  Herr  von  dannen. 

Gedanken  über  dies  und  das. 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 
Vor  einiger  Zeit  sah  ich  in  Leipzig  ein  grosses  Plakat 
einer  christlichen  Sekte  mit  der  Aufschrift:  »Mittwoch 
Abend  öffentlicher  Vortrag  über  die  bevorstehende 
Wiederkunft  Christi  und  das  Ende  der  Welt«.  Auf 
selbigem  Plakat  waren  greuliche  Bilder  zu  sehen:  Einstür- 
zende Berge,  Felsen  und  Häuser,  Schwefelregen,  Unwetter 
und  Menschen,  die  in  wahnsinniger  Angst  sich  die  Haare 
rauften.  „Aha",  sagte  ich  zu  meinem  Begleiter,  „hier  ist  also 
die  Furcht  das  Zugmittel."  Und  ich  dachte  an  die  Lehre  des 
Erhabenen,    in   der    die  Furcht    eins  der  grössten  Hemnisse 


318  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

für  die  innere  Entwicklung  des  Menschen  genannt  wird. 
Dann  fiel  mir  ein  Wort  Schopenhauers  ein,  der  von  Kant 
sagt:  „Kants  Lehre  gibt  die  Einsicht,  dass  der  Welt  Ende 
und  Anfang  nicht  ausser,  sondern  in  uns  zu  suchen  sei." 
Und  der  Buddha  spricht:  „Wahrlich,  ich  sage  euch,  dass  in 
diesem  mit  Wahrnehmung  und  Vorstellung  behafteten  klafter- 
grossen  Körper  die  Welt  enthalten  ist,  die  Weltentstehung, 
das  Ende  der  Welt  und  der  zum  Weltende  führende  Pfad." 
Aber  das  sind  leere  Worte  für  jene,  welche  die  von  ihnen 
geschaffenen  Götter  über  alles  fürchten.  — 


Hast  du,  mein  Leser,  schon  einmal  über  die  Rolle  nach- 
gedacht, welche  die  Suggestion  in  der  Religion  gespielt 
hat  und  noch  heute  spielt?  Nein?  Nun,  dann  mag  dir  das 
Folgende  eine  Anregung  zum  Nachdenken  sein.  Was  der 
Mensch  sich  nachdrücklichst  einredet,  oder  was  ihm  eingeredet 
wird,  das  glaubt  er  schliesslich,  das  wird  ihm  zur  Gewiss- 
heit. „Zureden  hilft",  heisst  es,  und  das  ist  in  der  Tat  so. 
Und  zwar  hilft  „zureden"  dann  am  meisten,  wenn  der  In- 
tellekt schwach  oder  noch  wenig  entwickelt  ist,  daher  sind 
Kindlein  und  Einfältige  am  leichtesten  zu  suggerieren. 
Die  christlichen  Priester  wissen  sehr  wohl,  warum  gerade 
Kinder  und  zwar  recht  zeitig  in  den  Lehren  des  dogmati- 
schen Christentums  zu  unterweisen  sind;  und  die  christlichen 
Missionare  streben  mit  grosser  List  und  Klugheit  dahin,  ge- 
rade die  Kinder  der  Eingeborenen  mit  den  Dogmen  ihrer 
Religion  zu  imprägnieren;  „denn",  sagt  Schopenhauer,  „das 
Gewerbe  der  Priester  musste  diesen  dadurch  gesichert  wer- 
den, dass  sie  das  Recht  erhielten,  ihre  metaphysischen  Dogmen 
den  Menschen  sehr  frühe  beizubringen,  ehe  noch  die  Urteils- 
kraft aus  ihrem  Morgenschlummer  erwacht  ist,  also  in  der 
ersten  Kindheit:  denn  da  haftet  jedes  wohl  eingeprägte 
Dogma,  sei  es  auch  noch  so  unsinnig,  auf  immer.  Hätten 
sie  zu  warten,  bis  die  Urteilskraft  reif  ist,  so  würden  ihre 
Privilegien  nicht  bestehen  können."  Es  gibt  aber  auch  viele 
Menschen,  bei  denen  selbst  nach  dem  Ausziehen  der  Kinder- 
schuhe die  Urteilskraft  nimmer  erwacht.  — 


No.  10.  DER  BUDDHIST.  319 

Man  hört  so  viel  von  den  Erfolgen  der  Heilsarmee. 
Suggestion,  meine  Herren,  nichts  weiter!  Die  Versamm- 
lungen werden  durch  ein  begeistert  gesungenes  Lied  einge- 
leitet; darauf  betritt  ein  „Offizier"  das  Podium  und  eindring- 
lich versichert  er:  „Christus  ist  unter  uns,  Christus  hört  uns, 
Christus  kann  dich  erretten,  er  ist  hierl"  Und  vorn  auf  der 
Bank  sitzt  ein  armer  Schlucker,  moralisch  niedergedrückt 
von  den  Excessen  der  letzten  Nacht.  „0,  lass  dich  retten" 
—  tönt  es  wieder  und  wieder  an  sein  Ohr  —  und  immer 
fester  dringt  die  Vorstellung  in  ihm  ein:  Ich  will  mich  retten 
lassen.  Und  diese  Suggestion  wird  so  mächtig,  dass  er  dem 
Laster  entsagt.    Wahrlich  —  dein  Glaube   hat  dir  geholfen. 

Heilungen  im  Wallfahrtsort  Lourdes  werden  häufig  be- 
richtet, und  ich  glaube  nicht,  dass  hier  immer  Schwindel 
vorliegt.  Nur  fragt  es  sich:  Wer  hat  geholfen,  die  Mutter 
Gottes  oder  der  Glaube?  — 

Da  hatte  ich  einmal  mit  einer  überzeugten  und  gebilde- 
ten Christin  ein  interessantes  Zwiegespräch.  Die  Dame 
meinte  es  herzlich  gut  und  wollte  mir,  nachdem  alle  ihre 
Versuche,  mir  das  Dasein  Gottes  zu  beweisen,  gescheitert 
waren,  ihren  „inneren  Gottesbeweis"  auftischen.  „0," 
sagte  sie,  „wer  jemals  die  Kraft  des  Gebetes  gefühlt,  wer 
jemals  die  Erhörung  des  Gebetes  gesehen  hat,  der  hat  Gott, 
den  lebendigen  Gott  erlebt  und  braucht  keinen  anderen  Be- 
weis." Ich  machte  den  Einwand  der  Autosuggestion.  Um- 
sonst! Entrüstet  beharrte  sie  auf  ihrem  Standpunkt.  Ich 
schlug  nun  einen  anderen  Weg  ein  und  sagte:  „Sie  sind 
fromme  Protestantin ;  glauben  Sie  an  die  Existenz  der 
katholischen  Heiligen?" 

,Natürlich  nein!' 

„Nun  behaupten  aber  die  Katholiken  gerade  eben  so  fest, 
wie  Sie  es  von  Ihren  Gebeten  zu  Gott  und  Christus  behaup- 
ten, dass  ihre  Gebete  zu  den  Heiligen  erhört  werden.  Das- 
selbe behaupten  ferner  die  „Heiden"  von  den  Gebeten  zu 
ihren  Göttern.  Was  nun?  Entweder  also  existieren  und 
helfen  die  Heiligen  und  Götter  wirklich,  oder  aber,  sie  exi- 
stieren nicht;  dann  kann  also  nur  der  Glaube  geholfen 
haben  und  es  handelt  sich  nur  um  Autosuggestion,  also  um 


320  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

eine  selbstbewirkte  Beeinflussung  des  Gemütes  (resp.  des 
Körpers  durch  die  Psyche)." 

Glaubst  du  etwa,  lieber  Leser,  die  Dame  gab  sich  be- 
siegt?! Weit  gefehlt!  Pathetisch  erwiderte  sie:  ,Sollte  es 
dem  allmächtigen  Gott  nicht  möglich  sein,  auch  solche  Ge- 
bete zu  erhören,  die  aus  Unwissenheit  nicht  an  ihn  gerichtet 
werden  ? !' 

Gesagt  habe  ich  nichts  dazu.  Aber  in  meinem  Innern 
stieg  der  Gedanke  auf:  „0  wie  glückselig  seid  ihr  doch,  ihr 
Einfältigen!"  — 

Der  verehrte  Leser  hat  sicher  schon  vom  Gesundbeten 
gehört.  Schwindel?  Oft  sicherlich,  manchmal  aber  auch 
nicht,  und  in  diesen  Fällen  ist  wiederum  die  Suggestion  die 
wirkende  Kraft.  Und  je  stärker  der  Wille  des  Beeinflussenden 
ist,  um  so  grösser  der  Erfolg,  um  so  grösser  auch  —  wenn 
es  sich  um  religiöse  Dinge  handelt  —  der  Fanatismus.  Daher 
die  schnelle  Ausbreitung  des  Islam,  daher  die  grossen  Erfolge 
der  jesuitischen  Missions-Predigten;  denn  die  Jünger  Loyolas 
sind  nicht  nur  ausgezeichnete  Kanzelredner,  sondern  auch 
ausserordentlich  starke  Willens-Naturen. 

Dem  Buddhismus  ist  dieses  „Einreden"  und  Überzeugen- 
wollen völlig  fremd.  Die  Lehre  wird  dargelegt  ohne  auf- 
dringliches Geschwätz;  wie  der  Hörer  sich  dazu  stellt,  ist 
seine  Sache.  Daher  werden  in  buddhistischen  Ländern  die 
Kinder  nicht  in  irgendwelchen  Dogmen,  sondern  in  der 
Sittenlehre  unterwiesen.  Und  in  diesen  buddhistischen 
Sittenlehren  zielt  gerade  alles  darauf  ab,  Vernunft  und  Ver- 
stand nicht  in  Fesseln  zu  schlagen,  sondern  frei  zu  entfalten. 
Wer  in  den  buddhistischen  Territorien  sich  durch  das  Christen- 
tum suggerieren  lässt,  der  tut  wohl  daran,  Christ  zu  werden; 
denn  er  ist  reif  dafür.  —  (Fortsetzung  folgt.) 

Ein  Jünger  des  Buddha  darf  nicht  erzittern,  wenn  er 
geschmäht  wird,  noch  aufgebläht  werden,  wenn  man  ihn  preist. 

Tuvataka-Sutta. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  B.  Seidenstocker,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipziig.    ~    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baaladorf-Leipzig. 


Der  Buddha  vor  einem  deutschen  Fürstenschloss. 

(Buddha-Sfaluc  des  Qrosshcrzogs  uon  Resscn 
im  lüolfgarfcncr  SchlossparU.) 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend    üben,    das    eigene    Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,  V.  183. 


Das  Missions-Problem. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

Mission  ist  etwas  sehr  Empfehlenswertes;  sie  ist  an  sich 
eine  gute  Sache  und  sollte  mit  Energie  und  Begeisterung 
betrieben  werden.  Eine  Religion,  welche  nicht  missioniert, 
ist  starr  und  tot.  Kein  schlimmerer  Vorwurf  kann  modernen 
Freidenkern,  welche  sich  häufig  mit  ihrer  hoch-entwickelten 
Weltanschauung  brüsten,  gemacht  werden,  als  ihr  äusserster 
Mangel  an  Missions-Geist.  Das  Freidenkertum  kann  nur 
dann  erwarten,  dass  man  ihm  Beachtung  schenkt,  wenn  es 
zu  missionieren  beginnt.  Solange  Freidenker  keine  Opfer 
für  eine  weite  Verbreitung  ihrer  Anschauungen  bringen,  ist 
ihre  Sache  lediglich  von  negativer  Art.  Ein  positiver  Glaube 
erzeugt  stets  den  Entschluss,  ihn  zu  verbreiten.  Die  Mission, 
weit  entfernt  davon  unberechtigt  und  unvernünftig  zu  sein, 
ist  ein  sicheres  Symptom  für  das  Leben,  welches  in  einer 
Religion  herrscht.  Aber  während  die  Mission  an  sich  gut- 
zuheissen  ist,  sollten  wir  doch  nicht  verfehlen  zu  gleicher 
Zeit  den  rechten  Geist  in  der  Mission  zu  fördern. 

Ein  Missionar,  der  das  Bedürfnis  spürt,  seinen  Glauben 
zu  propagieren,  darf  keinesfalls  die  Menschen  beschimpfen, 
welche  er  für  seine  Religion  gewinnen  möchte.  Er  darf  ihre 
religiösen  Anschauungen  nicht  verdrehen  oder  falsch  dar- 
stellen, noch  das,  was  ihnen  heilig  ist,  unnötigerweise  ent- 
weihen. Es  gibt  Christen,  bei  denen  die  Ansicht  gilt,  dass 
die   guten    Eigenschaften    der    „heidnischen"   Religionen   für 

21 


322  DER  BUDDHIST.  I.  Jahig 

das  Christentum  ein  Hindernis  sind.  Wann  und  wo  immer 
eine  solche  Ansicht  begegnet,  itann  sie  als  ein  sicheres 
Zeichen  dafür  gelten,  dass  der  rechte  Missionsgeist  nicht 
vorhanden  ist.  Ein  Missionar  sollte  stets  nach  den  guten 
Seiten  einer  Religion  blicken  und  vor  allen  Dingen  sorgfältig 
jeden  Berührungspunkt  aufsuchen.  Das  Christentum  kann 
nur  dann  hoffen  Eroberungen  zu  machen,  wenn  es  sich  das 
Gute  im  „Heidentum"  zu  Nutze  macht  und  es  versteht  die 
die  Sympathie  der  „Heiden"  zu  gewinnen. 

Als  St.  Paulus  nach  Athen  kam,  fiel  es  ihm  nicht  ein, 
die  griechischen  Götter  zu  schmähen.  Im  Gegenteil,  er  sah 
sich  nach  einem  Berühnungspunkte  um  und  fand  diesen 
schliesslich  in  einer  Inschrift  an  einem  Altar,  der  „einem  un- 
bekannten Gotte"  geweiht  war.  Indem  er  die  gewissenhafte 
und  bewusste  Religiosität  der  Athener  pries,  ging  er  dazu 
über,  ihnen  den  unbekannten  Gott  zu  predigen,  „dem  sie 
unwissend  Gottesdienst  leisteten." 

Es  ist  noch  ein  Brief  des  Papstes  Gregors  des  Grossen 
aus  dem  Jahre  601  vorhanden,  welcher  an  den  missionieren- 
den Mönch  Augustinus  gerichtet  war,  und  in  dem  die  Politik 
einer  geistvollen  Methode  in  Sachen  der  Mission  ihren  Aus- 
druck fand.  Der  Papst  war  offenbar  ein  praktischer  Psycholog, 
welcher  wusste,  wie  Menschen  zu  behandeln  und  wie  Neue- 
rungen annehmbar  seien.  Was  immer  die  Kritik  an  diesem 
Rat  des  Papstes  aussetzen  mag,  dass  er  nämlich  eine  Art 
Kompromiss  mit  dem  Heidentum  schliesse,  —  so  zeugt  er 
doch  sicherlich  von  einem  grossen  Scharfsinn  und  einem 
gesunden  Urteil.  Der  Erfolg  seiner  Mission  in  England  war 
ein  guter  Beweis  für  die  Gewandtheit  seiner  Methode. 
Kirchen  wurden  regelrecht  über  den  Altären  und  Heiligtümern 
der  alten  Götter  errichtet,  und  die  heidnischen  Feste  wurden 
unter  christlichen  Namen  weitergefeiert.   Papst  Gregor  schreibt: 

„Weil  sie  (die  Angel-Sachsen)  gewöhnt  sind  an  den  Festen  der 
Dämonen  (d.  i.  der  heidnischen  Götter)  viele  Ochsen  und  Pferde  zu 
schlachten,  so  ist  es  bestimmt  notwendig  diese  Feste  bestehen  zu  lassen 
imd  ihnen  eine  andere  raison  d'etre  zu  geben.  An  den  Kirchweih-  und 
an  den  Gedächtnis-Tagen  der  heiligen  Märtyrer,  deren  Reliquien  in  jenen 
an  den  Stellen  heidnischer  Tempel  erbauten  Kirchen  aufbewahrt  werden, 
sollen  ähnliche   Feste  gefeiert  werden;    der  Festplatz  soll   mit  grünen 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  323 

Zweigen  geschmückt  und  ein  Gottesdienst  abgehalten  werden.  Nur  das 
Schlachten  von  Tieren  soll  fürderhin  nicht  mehr  zu  Ehren  des  Satans, 
sondern  zum  Preise  Gottes  vor  sich  gehen,  und  die  Tiere  sollen  ge- 
schlachtet werden,  damit  man  sie  esse  und  Dank  soll  dafür  abgestattet 
werden  dem  Geber  aller  guten  Gaben." ') 

Gregor  gibt  hier  also  die  Anweisung,  die  heidnischen 
Heiligtümer  nicht  zu  zerstören,  sondern  sie  in  Kirchen  um- 
zuwandeln. Er  besteht  darauf,  sich  den  heidnischen  Riten 
so  weit  als  möglich  anzupassen  und  die  Namen  der  Heiigen 
an  die  Stelle  der  Namen  von  Heroen  und  Göttern  zu  setzen. 
In  demselben  Geiste  schreibt  Bischof  Daniel  an  Winfrid 
(Bonifatius)-),  er  solle  tolerant  und  geduldig  sein  und  alles 
Schelten  vermeiden,  damit  die  Heiden  nicht  verbittert  würden. 
„Ein Missionar  darf  nicht  sogleich  die  Genealogieen  der  Götter 
abweisen,sondern  er  soll  sie  vielmehr  benutzen,um  ihren  mensch- 
lichen Charakter  darzutun.  Er  sollte  Fragen  stellen,  welche 
die  Heiden  zum  Nachdenken  anregen  über  den  Ursprung 
der  Welt  und  der  Götter,  woher  die  Götter  kamen  und 
welches  der  Ursprung  des  ersten  Gottes  war,  ob  sie  fort- 
führen neue  Götter  zu  erzeugen;  wenn  nicht,  wann  sie  mit 
der  Erzeugung  aufgehört  hätten;  wenn  ja,  ob  dann  ihre 
Zahl  allmählich  nicht  unendlich  werden  würde." 

Leo  der  Grosse  machte  die  römisch -heidnische  Kunst 
christlichen  Zwecken  dienstbar.  Er  verwandelte  die  Statue 
Jupiters  in  die  des  Petrus,  und  die  Göttin  Anna  Perenna 
wurde  die  heilige  Anna  Petronela,  welche  noch  jetzt  in  der 
Campagna  verehrt  wird.  Und  die  christlichen  Missionare 
befolgten  diese  päpstliche  Methode  weiter.  Die  teutonische 
Muspili-Eschatologie,  d.  h.  die  Vorstellung  von  der  Zerstörung 
der  Welt  durch  Feuer,  wurde  von  deutschen  Konvertiten  durch 
ein  Gedicht  christianisiert,  in  dem  Elias  nebst  anderen  Heiligen 
und  Erzengeln  die  Stelle  der  teutonischen  Götter  einnehmen, 
deren   ursprüngliche    Züge    noch    unverkennbar  hervortreten. 

Diese  Methode  des  Missionierens  hatte  ihre  ernsten 
Schattenseiten  und  führte  eine  Zeit  lang  zu  einer  argen  Ver- 
mischung von  christlichen  und  heidnischen  Glaubensformen. 


')  Vergl.  Beda  Venerabilis,  »Hist.  Eccies.  Britorum«  1,  Kap.  30. 
-)  Epist.  XIV,  99. 

21* 


324  DliH  IJUUDHIST.  I.  Jahrg. 

So  legte  der  Dänen-König  Suen  Tuesking  bei  einer  Expe- 
dition gegen  England  ein  dreifaches  Gelübde  ab,  eins  dem 
Gotte  Bragafull,  eins  Christo  und  eins  dem  heiligen  Michael. 
Und  wir  lesen  von  Ketil,  einem  irischen  Feldherrn,  dass  der- 
selbe bei  gewöhnlichen  Anlässen  Christus  anrief,  während  er 
bei  dringlichen  Fällen  sich  an  den  Gott  Thorr^)  wandte.  Es 
ist  richtig,  dass  viele  heidnische  Gebräuche  und  Einrich- 
tungen erhalten  sind,  aber  ihre  schlechten  Seiten  wurden  mit 
der  Zeit  überwunden,  und  das  Gute  blieb  bestehen.  Ein 
heidnisches  Fest,  die  Yul-Zeit,  ist  jetzt  das  beliebteste 
christliche  Fest;  es  hat  den  Namen  Weihnachten  erhalten, 
und  das  Christentum  hat  dadurch  nichts  verloren. 

Ich  will  nicht  etwa  gesagt  haben,  dass  christliche  Missio- 
nare sich  mit  heidnischen  Irrtümern  einverstanden  erklären 
oder  heidnische  Einrichtungen  ohne  weiteres  gut  heissen 
sollen,  —  gewiss  nicht;  ich  will  nur  sagen,  die  Missionare 
mögen  sich  hüten  den  Grundsatz  des  heiligen  Augustinus 
zu  dem  ihrigen  zu  machen,  welcher  alle  Tugenden  der 
Heiden  nur  als  glänzende  Laster  betrachtete;  sie 
mögen  vielmehr  alles  Gute  in  nicht-christlichen  Religionen 
freudig  anerkennen  und  begrüssen.  Ich  plaidiere  einfach  für 
strenge  Gerechtigkeit  und  möchte  von  jedem  Missionar  nur 
ein  sympathisches  Verständnis  für  diejenige  Religion  fordern, 
welcher  das  Volk,  bei  dem  er  wirkt,  ergeben  ist. 

Gibt  es  nicht  viele  Einrichtungen,  moralische  Überzeu- 
gungen, Gewohnheiten  und  Anschauungen  in  nicht-christlichen 
Ländern,  welche  von  unseren  Missionaren  ganz  unnötiger- 
weise bekämpft  werden?  Sollten  christliche  Missionare,  um 
erfolgreich  zu  wirken,  in  erster  Linie  nicht  ein  richtiges  Ver- 
ständnis für  die  religiösen  Überzeugungen  haben,  die  sie  zu 
überwinden  trachten?!  Sollten  sie  nicht  erst  lernen  das  hohe 
Streben  „heidnischer"  Heiliger  und  Propheten  wie  Buddha 
und  Konfuzius  zu  prüfen  und  anzuerkennen?!  Es  würde 
für  das  Christentum  selbst  besser  sein,  wenn  die  „heidni- 
schen" Völker  daran  gingen,  ihre  Alissionare  in  christliche 
Länder  zu  senden;  denn  es  gibt  nichts,  was  geistig  heilsamer 


')  Roskoff,  »Gedichte  des  Teufels«  Bd.  I,  S.  10—13. 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  325 

wäre,  als  ein  ernster  Wettbewerb  unter  denjenigen,  weiche 
das  Vertrauen,  die  Walnrheit  gefunden  zu  liaben,  beanspruchen. 
Zu  unserem  Bedauern  müssen  wir  sagen,  dass  der  Geist, 
in  welchem  sich  die  christlichen  Missionare  an  die  „Ungläu- 
bigen" wenden,  im  allgemeinen  ein  durchaus  beleidigender 
ist.  Der  Missionar  kommt  zu  Nicht-Christen  wie  ein  Feind, 
dessen  Streben  darauf  gerichtet  ist  alles  das  zu  zerstören, 
was  sie  als  das  Höchste  und  Beste  verehren,  und  die  natür- 
liche Folge  hiervon  ist  die,  dass  die  Missionare  ihre  Konver- 
titen nur  unter  den  minderwertigsten  Volksschichten  und 
Lumpen  machen,  die  sich  lediglich  um  materieller  Vorteile 
willen  bekehren  lassen  und  die  Religion,  der  sie  nunmehr 
zuerteilt  sind,  nur  in  Misskredit  bringen  können.  (Die  sog. 
Reis-  und  Branntwein-Christen  auf  Ceylon!    A.  d.  Her.) 

Der  wahre  Geist  eines  Missionars  sollte  der  sein,  dass 
der  letztere  sich  zu  den  Nicht-Christen  begibt,  unter  ihnen 
verweilt  unter  Anpassung  an  ihre  Art  zu  leben  und  ihnen 
ein  praktisches  Beispiel  für  seine  Lebensanschauungen  bietet. 
Er  sollte  in  fremde  Länder  gehen  und  sich  bemühen  den 
Sinn  der  religiösen  Vorstellungen  des  betreffenden  Volkes 
zu  verstehen.  Er  sollte  zu  den  Eingeborenen  sagen:  Die 
Bewohner  unseres  Landes  haben  an  eurer  Wohlfahrt  Interesse 
und  an  eurer  Art  die  Wahrheit  zu  erforschen.  Lasst  mich 
bitte  wissen,  was  ihr  glaubt,  und  wenn  ihr  mir  euren  Glauben 
gezeichnet  habt,  dann  will  ich,  falls  ihr  Neigung  habt  mich 
anzuhören,  euch  erzählen,  was  wir  glauben.  Wir  glauben, 
dass  wir  recht  haben,  und  ihr  glaubt  dasselbe  von  euch. 
Lasst  uns  unsere  Anschauungen  miteinander  vergleichen,  und 
was  immer  ich  von  euch  lernen  kann,  wünsche  ich  zu  lernen, 
und  ich  erwarte  umgekehrt  von  euch,  dass  ihr  dasjenige 
beachten  werdet,  was  ihr  von  mir  lernen  könnt,  und  was 
immer  die  Wahrheit  sein  mag,  so  werden  wir  uns  freuen, 
sie  annehmen  zu  dürfen."  —  Wenn  die  Missionare  in  diesem 
Geiste  nach  den  „heidnischen"  Ländern  kämen,  würde 
das  Christentum  in  China  nicht  mehr  mit  Beefsteak-Essen 
oder  in  Indien  mit  Branntwein-Trinken  identifiziert  werden. 
Dann  würde  es  auch  keine  „Verfolgungen"  mehr  geben. 
Die   Missionare    könnten    ohne   die   geringste  Gefahr  sich  in 


'32k  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

die  entlegensten  Teile  von  China  begeben;  sie  würden  dann 
nicht  mehr  gehasst,  sondern  willkommen  geheissen  werden, 
und  wir  hoffen,  die  Zeit  wird  nicht  mehr  fern  sein,  da  alle 
Religionen  ihre  Missionare  in  ähnlicher  Weise  austauschen 
werden,  wie  die  Regierung  unseres  Landes  Gesandte  zu 
anderen  Nationen  abordnet  und  umgekehrt  deren  Vertreter 
empfängt.  (Schluss  folgt.) 

Der  Dharma  des  Tathägata  verlangt  von  einem 
Menschen  nicht,  dass  er  heimatlos  sein  oder  der  Weh 
entsagen  soll,  es  sei  denn,  dass  er  den  Beruf  dazu  in 
sich  fühlt;  der  Dharma  des  Tathägata  verlangt  von 
jedem  Menschen,  dass  er  sich  frei  mache  von  der 
Täuschung  des  Selbstes,  dass  er  sein  Herz  läutere, 
dem  Verlangen  nach  Lust  entsage,  und  dass  er  ein 
Leben  der  Rechtschaffenheit  führe. 

Evangelium  Buddhas,  25.  Kapitel. 

Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 

Von  Bhlkkhu  Ny&natlloka  (Ceylon). 

(5.  Fortsetzung.) 


Sechste  Stufe:  Sammävayama,  rechter  Kampf.') 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechter  Kampf? 

Es  gibt,  ihr  Brüder,  vier  rechte  Kämpfe:  Den  Kampf 
zur  Vermeidung,  den  Kampf  zur  Vertreibung,  den  Kampf  zur 
Erweckung  und  den  Kampf  zur  Erhaltung. 

l.  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  der  Kampf  zur  Vermei- 
dung? 


')  Andere  Übersetzungen  sind :  Rechtes  Streben,  rechte  Anstrengung, 
rechte  Energie. 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  327 

Da  erzeugt,  ihr  Brüder,  der  Jünger  in  sicli  den  Vorsatz, 
nicht-aufgestiegene  böse,  unheiisame  Dinge  nicht  aufsteigen 
zu  lassen,  und  seine  Kraft  aufbietend  i<ämpft  und  ringt  er, 
treibt  seinen  Geist  an. 

Wenn  nun,  ihr  Brüder,  dieser  Jünger  mit  dem  Auge  eine 
Form  erblickt,  so  ergeht  er  sich  nicht  im  Anblick  derselben, 
weder  des  Ganzen  noch  seiner  Teile,  und  er  erzeugt  den  Vor- 
satz das  zu  meiden,  was,  wenn  er  unbewachten  Auges  ver- 
harrte, Anlass  geben  möchte  zum  Aufsteigen  von  bösen  Dingen, 
zu  Begehren  und  zu  Missmut.  Und  also  über  das  Auge  wachend 
gelingt  es  ihm  über  dasselbe  Meister  zu  werden. 

Fernerhin:  Hört  er  mit  dem  Ohre  einen  Ton,  riecht  er 
mit  der  Nase  einen  Duft,  schmeckt  er  mit  der  Zunge  einen 
Saft,  fühlt  er  mit  dem  Körper  eine  Tastung,  erkennt  er  mit 
dem  Geiste  ein  Ding  (Vorstellung),  so  ergeht  er  sich  nicht  im 
Anblick  derselben,  weder  des  Ganzen  noch  seiner  Teile,  und 
er  erzeugt  den  Vorsatz  das  zu  meiden,  was,  wenn  er  unbe- 
wachten Sinnes  verharrte,  Anlass  geben  möchte  zum  Aufstei- 
gen von  bösen  Dingen,  zu  Begehren  und  zu  Missmut.  Und 
also  über  die  Sinne  wachend  gelingt  es  ihm  über  dieselben 
Meister  zu  werden. 

Ausgerüstet  mit  dieser  Herrschaft  über  die  Sinne,  der  so 
ruhmvollen,  empfindet  er  in  seinem  Innern  ein  Wohlgefühl,  in 
das  kein  übles  Ding  einzudringen  vermag. 

Das,  ihr  Brüder,   nennt  man   den  Kampf  zur  Vermeidung. 

II.  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  der  Kampf  zur  Vertrei- 
bung? 

Da  erzeugt,  ihr  Brüder,  der  Jünger  in  sich  den  Vorsatz, 
aufgestiegene  böse,  unheilsame  Dinge  zu  vertreiben,  und 
seine  Kraft  aufbietend  kämpft  und  ringt  er,  treibt  seinen 
Geist  an. 

Einen  aufgestiegenen  begehrlichen  Gedanken  lässt  er  nicht 
Fuss  fassen,  übermannt  ihn,  vertreibt  ihn,  vernichtet  ihn,  bringt 
ihn  zum  Verschwinden.  Also  verfährt  er  mit  einem  aufge- 
stiegenen Gedanken  des  Hasses.  Und  was  es  auch  an  üblen 
Dingen  gibt,  nicht  lässt  er  sie  Fuss  fassen,  er  übermannt  sie, 
vertreibt  sie,  vernichtet  sie,  bringt  sie  zum  Verschwinden. 

Das,  ihr  Brüder,  nennt   man   den  Kampf  zur  Vertreibung. 


^  DER  BUDDHlSt.  l.  Jahrg. 

HI.  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  der  Kampf  zur  Erweckung? 

Da  erzeugt,  ilir  Brüder,  der  Jünger  in  sich  den  Vorsatz, 
nicht-aufgestiegene  heilsame  Dinge  zu  erweci<en,  und  seine 
Kraft  aufbietend   i<ämpft   und   ringt  er,  treibt  seinen  Geist  an. 

[Die  sieben  Glieder  der  Erleuchtung,  bojjhangä:] 
Und  er  erweckt  das  an  die  Einsamkeit  gebundene,  auf  Gier- 
entfremdung gegründete  und  zum  Erlöschen  führende  Erleuch- 
tungsmal (bojjhangä)  der  Einsicht,  jener  Einsicht  nämlich, 
die  zur  Gewinnung  durchdringender  Weisheit  und  zur  Be- 
tretung des  Pfades^)  befähigt;  erweckt  das  Erleuchtungsmal 
der  Kraft,  erweckt  das  Erleuchtungsmai  der  Wahrheiter- 
gründung; erweckt  das  Erleuchtungsmal  der  Freude;  erweckt 
das  Erleuchtungsmal  der  Ruhe;  erweckt  das  Erleuchtungsmal 
der  Vertiefung  (samädhi);  erweckt  das  Erleuchtungsmal  des 
Gleichmuts,  jenes  Gleichmutes  nämlich,  der  zur  Gewinnung 
durchdringender  Weisheit  und  zur  Betretung  des  Pfades ')  befähigt. 

Das,  ihr  Brüder,   nennt  man   den   Kampf  zur  Erweckung. 

IV.  Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  der  Kampf  zur  Erhaltung? 

Da  erzeugt,  ihr  Brüder,  der  Jünger  in  sich  den  Vorsatz, 
aufgestiegene  heilsame  Dinge  zu  erhalten,  sie  nicht  schwinden 
zu  lassen  und  sie  zur  Entfaltung  zu  bringen;  und  seine  Kraft 
aufbietend  kämpft  und  ringt  er,  treibt  seinen  Geist  an. 

Das,  ihr  Brüder,  nennt  man  den  Kampf  zur  Erhaltung. 
(DTgha  Nikäya.    Vgl.  auch  Majjhima  Nikäya  77.) 

[Erfordernisse  zum  moralischen  Kampf.  1.  Ver- 
trauen, saddhä:]  Ein  solcher  Jünger,  wahrlich,  iiir  Brüder, 
hat  Zutrauen,  er  traut  der  Erleuchtung  des  Tathägata,  so  zwar: 
,Das  ist  der  Erhabene,  der  Heilige,  vollkommen  Erwachte,  der 
Wissens-  und  Wandelsbewährte,  der  Willkommene,  der  Welt 
Kenner,  der  unvergleichliche  Leiter  der  Männerherde,  der 
Meister  der  Götter  und  Menschen,  der  Erwachte  (buddha),  der 
Erhabene  (bhagavat).' 

[2.  Energie,  vtriya:]  Rüstig  ist  er  und  munter,  seine 
Kräfte  sind  gleichmässig  gemischt,  weder  zu  kalt,  noch  zu  heiss, 
um  den  mittleren  Kampf  zu  bestehen.    (Majjhima  Nikäya,  90.) 


')  Der  vierfache  Pfad  zur  Arahäschaft  oder  zum  Nibbäna,  nämlich: 
sotdpattimagga,  sakadägämimagga,  anägämimagga,  arahattamagga. 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  329 

Und  es  erfüllt  ihn  der  Gedanke:  .Mögen  wahrlich  eher 
Muskeln,  Haut  und  Sehnen  mitsamt  den  Knochen,  dem  Fleisch 
und  dem  Blute  ausdörren  und  zusammenschrumpfen,  als  dass 
ich  meine  Kampfesenergie  aufgäbe,  solange  ich  noch  nicht  das 
erreicht  habe,  was  immer  mit  menschlicher  Ausdauer,  Energie 
und  Anstrengung  erreichbar  ist.'     (Majjhima  Nikäya.) 

Dies,  ihr  Brüder,  ist  rechter  Kampf. 


Siebente  Stufe:  Sammäsati,  rechte  Einsicht/) 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechte  Einsicht? 

[Die  vier  Pfeiler  der  Einsicht:]  Da  wacht,  ihr  Brüder, 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper,  wacht  bei  den  Ge- 
fühlen über  die  Gefühle,  wacht  beim  Gemüte  (citta)  über  das 
Gemüt,  wacht  bei  den  Erscheinungen  (dhammä)  über  die  Er- 
scheinungen, unermüdlich,  klaren  Sinnes,  einsichtig,  nach  Ver- 
windung  weltlichen  Begehrens  und  Bekümmerns. 

Der  gerade  Weg,  ihr  Brüder,  der  zur  Läuterung  der  Wesen, 
zur  Überwältigung  des  Schmerzes  und  Jammers,  zur  Zerstörung 
des  Leidens  und  Kummers,  zur  Gewinnung  des  Rechten,  zur 
Verwirklichung  der  Wahnerlöschung  führt,  —  das  sind  die 
vier  Pfeiler  der  Einsicht.') 

/.  Einsicht  in  den  Körper. 

Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  beim  Körper  über 
den  Körper? 

Da  begibt  sich,  ihr  Brüder,  der  Mönch  ins  Innere  des 
Waldes  oder  unter  einen  grossen  Baum  oder  in  eine  leere 
Klause,  setzt  sich  mit  gekreuzten  Beinen  nieder,  den  Körper 
gerade  aufgerichtet  und  pflegt  der  Einsicht  (Betrachtung). 

[Ein-  und  Ausatmen:]  Bedächtig  atmet  er  ein,  bedäch- 
tig atmet  er  aus.  Atmet  er  tief  ein,  so  weiss  er:  ,Ich  atme  tief 
ein',  atmet  er  tief  aus,  so  weiss  er:  ,Ich  atme  tief  aus';  atmet 
er  kurz  ein,  so  weiss  er:  ,lch  atme  kurz  ein',  atmet  er  kurz 
aus,  so  weiss  er:  ,lch  atme  kurz  aus.'    ,Den  ganzen  Körper 

')  Andere  Übersetzungen  sind:  Rechtes  Gedenken,  rechte  Erinnerung, 
rechte  Betrachtung,  rechte  (Gedanken-)Konzentration. 

-)  Dieselben  sind  auch  bekannt  unter  dem  Namen  »Satipatthänä«, 
die  vier  wesentlichen  Betrachtungen  oder  die  vier  ernsten 
Meditationen. 


33Ö  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

empfindend  will  ich  einatmen',  ,den  ganzen  Körper  empfindend 
will  ich  ausatmen',  so  übt  er  sich.  ,Diese  Körperverbindung 
besänftigend  will  ich  einatmen,  , diese  Körperverbindung  be- 
sänftigend will  ich  ausatmen',  so  übt  er  sich. 
■"^i.  •  So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.  Er  betrachtet 
wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  da:'  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  —  und  unabhängig  lebt 
er  und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper. 

[Körperpositionen:]  Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Der 
Mönch  weiss  wenn  er  geht  ,Ich  gehe',  weiss  wenn  er  steht 
,Ich  stehe',  weiss  wenn  er  sitzt  ,lch  sitze',  weiss  wenn  er  liegt 
,Ich  liege',  er  weiss,  wenn  er  sich  in  dieser  oder  jener  Stellung 
befindet,  dass  es  diese  oder  jene  Stellung  ist. 

So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.  Er  betrachtet 
wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  da:'  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  —  und  unabhängig  lebt 
er  und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper. 

[Körperfunktionen:]  Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Der 
Mönch  ist  klar  bewusst  beim  Kommen  und  Gehen,  klar  be- 
wusst  beim  Hinblicken  und  Wegblicken,  klar  bewusst  beim 
Neigen  und  Erheben,  klar  bewusst  beim  Essen  und  Trinken, 
klar  bewusst  beim  Kauen  und  Schmecken,  klar  bewusst  beim 
Verrichten  der  Notdurft,  klar  bewusst  beim  Gehen,  Stehen, 
Sitzen  und  Liegen,  klar  bewusst  beim  Einschlafen  und  Er- 
wachen, klar  bewusst  beim  Sprechen  und  Schweigen. 

So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.     Er  betrachtet 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  331 

wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  da:'  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  —  und  unabhängig  lebt 
er,  und  nichts  in  der  Weh  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper. 

[Die  Unreinheit  des  Körpers:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  Der  Mönch  betrachtet  sich  diesen  Körper  da  von  der 
Sohle  bis  zum  Scheitel,  den  hautüberzogenen,  welchen  ver- 
schiedenes Unreine  anfüllt:  ,Dieser  Körper  trägt  einen  Schopf, 
ist  behaart,  hat  Nägel  und  Zähne,  Haut  und  Fleisch,  Sehnen, 
Knochen  und  Knochenmark,  Nieren,  Herz  und  Leber,  Zwerch- 
fell, Milz,  Lungen,  Magen,  Eingeweide,  Weichteile  und  Kot, 
hat  Galle,  Schleim,  Eiter,  Blut,  Schweiss,  Lymphe,  Tränen, 
Serum,  Speichel,  Rotz,  Gelenköl,  Urin.' 

Gleichwie  etwa,  ihr  Brüder,  wenn  da  ein  Sack  läge,  an 
beiden  Enden  zugebunden,  mit  verschiedenem  Korne  gefüllt, 
mit  Reis,  mit  Bohnen,  mit  Sesam,  und  ein  scharf  sehender 
Mann  bände  ihn  auf  und  untersuchte  den  Inhalt:  ,Das  ist  Reis, 
das  sind  Bohnen,  das  ist  Sesam':  —  Ebenso  nun  auch,  ihr 
Brüder,  betrachtet  sich  ein  Mönch  diesen  Körper  da  von  der 
Sohle  bis  zum  Scheitel,  den  hautüberzogenen,  welchen  ver- 
schiedenes Unreine  anfüllt. 

So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.  Er  betrachtet 
wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  daV  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  —  und  unabhängig  lebt 
er,  und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  üher  den  Körper. 

[Die  vier  Elementar-Kräfte  des  Körpers:]  Und  ferner 
noch,  ihr  Brüder:  Der  Mönch  betrachtet  sich  diesen  Körper  da, 
wie  er  geht  und  steht,  als  Artung  an:  ,Dieser  Körper  hat  die 
Erdart,  die  Wasserart,  die  Feuerart,  die  Luftart.'  *) 

')  In  den  Worten  der  modernen  Wissenschaft:  Trägheit,  Kohäsioji, 
Strahlung,  Beweglichkeit. 


332  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

Gleichwie  etwa,  ilir  Brüder,  ein  gescliicicter  Metzger  oder 
Metzgergeselie  eine  Kuh  schlachtet,  auf  den  Markt  bringt, 
Stück  für  Stück  zerlegt  und  sich  dann  hinsetzt:  ebenso  nun 
auch,  ihr  Brüder,  betrachtet  sich  ein  Mönch  diesen  Körper  da, 
wie  er  geht  und  steht,  als  Artung  an. 

So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.  Er  betrachtet 
wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  da:'  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  und  unabhängig  lebt  er 
und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper. 

[Erste  Leichenbetrachtung:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  als  hätte  der  Mönch  einen  Leichnam  auf  der  Leichen- 
stätte liegen  sehen,  einen  Tag  nach  dem  Tode,  oder  zwei 
oder  drei  Tage  nach  dem  Tode,  aufgedunsen,  blau-schwarz 
gefärbt,  in  Fäulnis  übergegangen,  —  zieht  er  den  Schluss  auf 
sich  selbst:  ,Und  auch  mein  Körper  ist  so  beschaffen,  wird 
das  werden,  kann  dem  nicht  entgehen.' 

[Zweite  Leichenbetrachtung:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  als  hätte  der  Mönch  einen  Leichnam  auf  der  Leichen- 
stätte liegen  sehen,  von  Krähen  oder  Raben  oder  Geiern  zer- 
fressen, von  Hunden  oder  Schackalen  zerfleischt,  oder  von 
vielerlei  Würmern  zernagt,  —  zieht  er  den  Schluss  auf  sich 
selbst:  ,Und  auch  mein  Körper  ist  so  beschaffen,  wird  das 
werden,  kann  dem  nicht  entgehen.' 

[Dritte  Leichenbetrachtung:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  als  hätte  der  Mönch  einen  Leichnam  auf  der  Leichen- 
stätte liegen  sehen,  ein  Knochengerippe,  fleischbehangen,  von 
Blutjauche  besudelt,  von  den  Sehnen  zusammengehalten,  — 

[Vierte  Leichenbetrachtung:]  ein  Knochengerippe, 
fleischentblösst,  von  Biutjauche  besudelt,  von  den  Sehnen 
zusammengehalten,  — 

[Fünfte  Leichenbetrachtung:]  ein  Knochengerippe  ohne 
Fleisch,  ohne  Blut,  von  den  Sehnen  zusammengehalten,  — 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  333 

[Sechste  Leiclienbetrachtung:]  die  Gebeine,  ohne  die 
Sehnen,  hierhin  und  dorthin  verstreut,  da  ein  Handknochen, 
dort  ein  Fussl<nochen,  da  ein  Schienbein,  dort  ein  Schenkel, 
da  das  Becken,  dort  Wirbel,  da  der  Schädel,  —  als  hätte  er 
dieses  gesehen,  zieht  er  den  Schluss  auf  sich  selbst:  ,Und 
auch  mein  Körper  ist  so  beschaffen,  wird  das  werden,  kann 
dem  nicht  entgehen'. 

[Siebente  Leichenbetrachtung:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  als  hätte  der  Mönch  einen  Leichnam  auf  der  Leichen- 
stätte liegen  sehen,  Gebeine,  blank,  muschelfarbig,  — 

[Achte  Leichenbetrachtung:]  Gebeine, zuhauf  geschich- 
tet, nach  Verlauf  eines  Jahres,  — 

[Neunte  Leichenbetrachtung:]  Gebeine,  verwest,  in 
Staub  zerfallen,  —  als  hätte  er  dieses  gesehen,  zieht  er  den 
Schluss  auf  sich  selbst:  ,Und  auch  mein  Körper  ist  so  be- 
schaffen, wird  das  werden,  kann  dem  nicht  entgehen'. 

So  wacht  er  beim  inneren  Körper  über  den  Körper,  so 
wacht  er  beim  äusseren  Körper  über  den  Körper,  innen  und 
aussen  wacht  er  beim  Körper  über  den  Körper.  Er  betrachtet 
wie  der  Körper  entsteht,  er  betrachtet  wie  der  Körper  vergeht, 
er  betrachtet  wie  der  Körper  entsteht  und  vergeht.  ,Der  Körper 
ist  da:'  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  und  unabhängig  lebt  er 
und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Körper  über  den  Körper. 

[Die  durch  die  Einsicht  in  den  Körper  erlangten 
Früchte:]  Ist  Einsicht,  ihr  Brüder,  in  den  Körper  genommen, 
geübt,  gepflegt,  ausgeführt,  ausgebildet,  angewendet,  durchge- 
prüft, durchaus  entrichtet  worden,  mag  man  da  zehn  förderliche 
Eigenschaften  an  sich  erfahren.  Über  Unmut  hat  man  Gewalt, 
nicht  lässt  man  sich  von  Unmut  bewältigen,  aufgestiegenen 
Unmut  überwindet,  übersteht  man.  Furcht  und  Angst  bewäl- 
tigt man,  nicht  lässt  man  sich  von  Furcht  und  Angst  bewälti- 
Ir  gen,  aufgestiegene  Furcht  und  Angst  überwindet,  übersteht 
P  man.  Man  erträgt  Kälte  und  Hitze,  Hunger  und  Durst,  Wind 
;.  und  Wetter,  Mücken  und  Wespen  und  plagende  Kriechtiere, 
'  boshafte  und  böswillige  Redeweise,  körperliche  Schmerzen, 
r "  ■  "■  ■" " 


334  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

unangenehme,  leidige,  lebensgefährliche  hält  man  duldend  aus. 
Die  vier  Schauungen  (paii:  jhänä,  sanskr.:  dhyänäs),  die 
herzinnigen,  köstliche  Gegenwart  gewährenden,  die  kann  man 
nach  Wunsch  gewinnen,  in  ihrer  Fülle  und  Weihe.  Auf 
mancherlei  Weise  gelingt  einem  magische  Wirkung,  bis  zu  den 
Brahma-Welten  hat  man  den  Körper  in  seiner  Gewalt.  Mit 
dem  himmlischen  Ohre,  dem  geläuterten,  übersinnlichen,  hört 
man  beide  Arten  der  Töne,  die  himmlischen  und  die  irdischen, 
die  fernen  und  die  nahen.  Der  anderen  Wesen,  der  anderen 
Personen  Gemüt  schaut  und  erkennt  man  im  Gemüte  je  gemäss. 
An  manche  frühere  Daseinsform  erinnert  man  sich,  als  wie  an 
ein  Leben,  dann  an  zwei  Leben,  dann  an  viele  Leben,  mit  je 
den  eigentümlichen  Merkmalen,  mit  je  den  eigenartigen  Be- 
ziehungen. Mit  dem  himmlischen  Auge,  dem  geklärten,  über- 
sinnlichen, sieht  man  die  Wesen  dahinschwinden  und  wieder- 
erscheinen, gemeine  und  edle,  schöne  und  unschöne,  glück- 
liche und  unglückliche,  man  erkennt,  wie  die  Wesen  je  nach 
den  Taten  wiederkehren.  Den  Wahn  kann  man  versiegen  und 
die  wahnlose  Gemüterlösung  noch  bei  Lebzeiten  sich  offenbar 
machen,  verwirklichen  und  erringen.  (Majjhima  Nikäya  119). 
//.  Einsicht  in  das  Gefühl. 

Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  beim  Gefühl  über 
das  Gefühl? 

Da  weiss,  ihr  Brüder,  ein  Mönch,  wenn  er  ein  Wohlgefühl 
empfindet,  ,Ich  empfinde  ein  Wohlgefühl',  weiss  wenn  er  ein 
Wehegefühl  empfindet,  ,lch  empfinde  ein  Wehegefühl',  weiss, 
wenn  er  kein  Wohl-  und  kein  Wehegefühl  empfindet,  ,lch 
empfinde  kein  Wohl-  und  kein  Wehegcfühl'.  Er  weiss,  wenn 
er  ein  weltliches  Wohlgefühl  empfindet,  ,lch  empfinde  ein  welt- 
liches Wohlgefühl'  und  weiss,  wenn  er  ein  nicht-weltliches 
Wohlgefühl  empfindet,  ,Ich  empfinde  ein  nicht-weltliches  Wohl- 
gefühl', weiss,  wenn  er  ein  weltliches  Gefühl  ohne  Wohl  und 
Wehe  empfindet,  ,Ich  empfinde  ein  weltliches  Gefühl  ohne 
Wohl  und  Wehe',  und  weiss,  wenn  er  ein  nicht-weltliches  Ge- 
fühl ohne  Wohl  und  Wehe  empfindet,  ,Ich  empfinde  ein  nicht- 
weltliches Gefühl  ohne  Wohl  und  Wehe'. 

So  wacht  er  beim  inneren  Gefühl  über  das  Gefühl,  so 
wacht   er   beim   äusseren  Gefühl  über  das  Gefühl,   innen  und 


No.  n.  DER  BUDDHIST.  335 

aussen  wacht  er  beim  Gefühl  über  das  Gefühl.  Er  betrachtet 
wie  das  Gefühl  entstellt,  er  betrachtet  wie  das  Gefühl  vergeht, 
er  betrachtet  wie  das  Gefühl  entsteht  und  vergeht.  ,Das  Gefühl 
ist  da':  diese  Einsicht  wird  nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie 
zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung  dient,  und  unabhängig  lebt  er 
und  nichts  in  der  Welt  begehrt  er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht 
ein  Mönch  beim  Gefühl  über  das  Gefühl. 

///.  Einsicht  in  das  Gemüt.  ^) 

Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  beim  Gemüt  über 
das  Gemüt? 

Da  kennt,  ihr  Brüder,  ein  Mönch  das  begehrliche  Gemüt 
als  begehrlich  und  das  gierlose  Gemüt  als  gierlos,  das  ge;- 
hässige  Gemüt  als  gehässig  und  das  hassfreie  Gemüt  als 
hassfrei,  das  irrende  Gemüt  als  irrend,  und  das  irrlose  Gemüt 
als  irrlos,  das  gesammelte  (besonnene)  Gemüt  als  gesammelt 
und  das  zerstreute  Gemüt  als  zerstreut,  das  hochstrebende 
Gemüt  als  hochstrebend  und  das  niedrig  gesinnte  Gemüt  als 
niedrig  gesinnt,  das  edle  Gemüt  als  edel  und  das  gemeinp 
Gemüt  als  gemein,  das  beruhigte  Gemüt  als  beruhigt  und  das 
ruhelose  Gemüt  als  ruhelos,  das  erlöste  Gemüt  als  erlöst  und 
das  gefesselte  Gemüt  als  gefesselt. 

So  wacht  er   beim    inneren  Gemüt   über   das  Gemüt,   so 

wacht   er   beim   äusseren  Gemüt   über  das  Gemüt,   innen  und 

aussen  wacht  er  beim  Gemüt  über  das  Gemüt.     Er  betrachtet 

wie  das  Gemüt  entsteht,  er  betrachtet  wie  das  Gemüt  vergeht, 

er  betrachtet  wie  das  Gemüt  entsteht  und  vergeht.    ,Das  Gemüt 

ist  da:'   diese  Einsicht   wird    nun  seine  Stütze,   eben   weil   sie 

zur  Erkenntnis,   zur  Besinnung  dient,    und  unabhängig  lebt  er 

und  nichts   in   der  Welt  begehrt  er.    Also,  ihr  Brüder,  wacht 

ein  Mönch  beim  Gemüt  über  das  Gemüt. 

(Schluss  folgt.) 

Durch  das  eigene  Selbst  wird  Sünde  begangen,  durch 
das  eigene  Selbst  wird  man  schlecht;  durch  das  eigene  Selbst 
wird  die  Sünde  gemieden,  durch  das  eigene  Selbst  wird  man 
gut.  Ja,  Reinheit,  Unreinheit  schafft  man  sich  selbst,  kein 
anderer  kann  Erlöser  sein.  (Dhammapada.) 

')  Oder:    Gesinnung. 


336  DER  BUDDHIST.  I.  Jnlirg. 

Die  Berührungspunkte  der 

Philosophie  Schopenhauers 
und  des  Buddhismus. 

Von  Georg  Jahn. 

(Schluss.) 

Vergleichen  wir  mit  den  hier  vorgetragenen  Ansichten 
Schopenhauers  die  buddhistische  Lebensanschauung,  so  finden 
wir  eine  durchgehende  Übereinstimmung.  Auch  nach  der  Lehre 
des  Buddhismus  ist  der  Wille  zum  Leben  (tanhä)  die  wirkende 
Ursache  unseres  Daseins,  die  Ursache  des  Kreislaufs  der 
Wiedergeburten.  Das  Karma,  die  Fügung,  das  Geschick  be- 
stimmt unsers  Lebens  Gestaltung,  die  Art  und  Beschaffenheit 
unseres  Daseins,  unsern  individuellen,  unveränderlichen  Cha- 
rakter. Der  Samsära  ist  die  in  ewigem  Entstehen  und  Ver- 
gehen begriffene  Welt,  in  der  wir  leben,  die  Welt  des  Irrtums 
und  der  Schuld,  der  Geburt,  des  Leidens  und  des  Todes,  der 
Enttäuschungen  und  der  Schmerzen.  Seine  Ursache  ist  der 
Wille  zum  Leben  mit  seinem  ewigen  Streben  und  Trachten 
nach  Dasein.  Überall  aber  sind  Hemmnisse,  der  Wille  muss 
fortgesetzt  kämpfen:  kämpfen  aber  heisst  leiden!  Wir  Menschen 
sind  vom  irdischen  Wahn  verblendet,  trachten  nach  Dingen, 
die  nur  einen  Scheinwert  haben,  hängen  unser  Herz  an  ver- 
gängliche Güter,  weinen  und  freuen  uns  über  nichtige  Dinge, 
können  uns  nicht  aus  dem  Daseinskampfe  loslösen  und  ver- 
nachlässigen unser  wahres  Heil.  Unser  Leben  ist  so  eine 
Kette  von  Wünschen  und  Hoffnungen,  Täuschungen  und  Ent- 
täuschungen, ein  Hin-  und  Herschwanken  zwischen  Begierde 
und  Befriedigung,  Sehnsucht  nach  Genuss  und  Übcrdruss  am 
Genossenen.  Geburt  und  Tod,  Verfall  und  Krankheit,  Be- 
rührung mit  Unangenehmem,  Trennung  von  Angenehmem, 
tausend  Wünsche  und  unerfüllte  Begierden,  alles  ist  voll  von 
Leiden,  bereitet  uns  Kummer  und  Qual.  Der  Ursprung  des 
Leidens  nun  ist  in  jener  sehnenden  Erregung  zu  suchen,  welche 
der  Empfindung  folgt  und  den  Wahn  vom  Ich  und  die  Be- 
gierde zum  Leben  verursacht,  —  dieser  ungeheure  nagende  Durst 
und  Drang  zur  Sinnlichkeit,   zur   Sehnsucht   nach   zukünftgem 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  337 

Leben  und  zum  Hängen  an  der  gegenwärtigen  Welt.  Kummer 
und  Leiden  i<önnen  überwunden  und  ausgelöscht  werden,  wenn 
dieser  Durst  gestillt,  diese  Begierde  zum  Leben  zerstört,  der 
Wille  aufgehoben  wird.  Dieses  Ziel  aber  lässt  sich  durch  den 
einen  Weg  erreichen,  den  edlen  Pfad  eines  tugendhaften  und 
gedankenvollen  Lebens,  der  als  Grundbedingungen  der  Erlö- 
sung acht  Forderungen  aufstellt:  Rechtes  Glauben,  rechtes  Ent- 
schliessen,  rechtes  Wort,  rechte  Tat,  rechtes  Leben,  rechtes 
Streben,  rechtes  Gedenken,  rechtes  Sichversenken. 

Die  Grundforderung  eines  die  Heiligkeit  erstrebenden 
Lebens  ist  auch  beim  Buddhismus  die  Übung  des  Mitleids, 
das  sich  allen  Wesen  gegenüber  äussern  soll  und  sich  in  jener 
schönen  und  wohltuenden  Liebe  zu  den  Tieren  am  deutlichsten 
dokumentiert.  Dann  aber  soll  sich  der  Mensch  freimachen 
von  Vorurteilen,  Aberglauben  und  Wahn  und  immerdar  den 
höchsten  und  edelsten  Zielen  zugewendet  sein.  Güte,  Einfach- 
heit und  Wahrhaftigkeit,  Friedfertigkeit,  Rechtschaffenheit,  stetes 
Wohlwollen  den  Mitmenschen  gegenüber  und  Reinheit  der  Ge- 
sinnung sind  Tugenden,  deren  Ausübung  ihn  auf  seinem  Wege 
zur  Erlösung  fördern.  Niemals  soll  er  einem  lebenden  Wesen 
Nachteil  und  Schaden  zufügen  und  stets  auf  vollkommene 
Überwindung  der  sinnlichen  Begierden  und  des  Willens  zum 
Leben  überhaupt  bedacht  sein.  Wenn  er  so  sein  ganzes 
Denken  und  Wahrnehmen  von  den  Aussendingen  zurückzieht 
und  auf  sein  Inneres  richtet,  dann  wird  er  seinen  Willen  über- 
winden können,  dann  wird  er  aufgehen  im  Nirväna,  dem  Er- 
löschen jener  sündigen,  nach  Genüsse  greifenden  Beschaffen- 
heit des  Geistes  und  des  Herzens,  welche  sonst  nach  dem 
grossen  Mysterium  des  Karma  zu  erneutem  individuellen  Dasein 
erwachen  würde.  Er  hat  damit  die  Heiligkeit  erreicht,  jenen 
Zustand  der  Vollkommenheit  und  des  Friedens,  in  dem  es  weder 
Leidenschaft  noch  Begierde,  weder  Furcht  noch  Hoffnung  gibt, 
den  Zustand  des  Erloschenseins,  der  Leidlosigkeit,  das  Nirväna. 

Es  bleibt  uns  nun  noch  übrig,  die  Unsterblichkeitslehren 
Schopenhauers  und  des  Buddhismus  und  ihre  Übereinstimmung 
kurz  zu  skizzieren.  Beide  gehen  sie  aus  dem  Bestreben  her- 
vor, eine  ewige  Gerechtigkeit,  die  in  der  Welt  herrschen  soll, 
und   damit   die   Leiden  des   Daseins  als  von  den  Menschen 

22 


338  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg- 

selbst  verschuldet  zu  erweisen.  Nach  Schopenhauer  ist  es  der 
Wille,  das  unsterbliche,  urewige  und  allein  freie  Ding  an 
sich  der  Welt,  der  das  Existierende  schafft.  Die  ewige  Ge- 
rechtigkeit muss  also  darauf  beruhen,  dass  die  Erscheinung 
der  Beschaffenheit  des  schöpferischen  Willens  genau  entspricht. 
Die  Welt  ist  nun  deshalb  so  voller  Leiden  und  Übel,  weil  der 
Wille  es  so  will.  Sic  ist  ja  nur  der  Spiegel,  der  Ausdruck 
des  Willens,  und  alle  Vergänglichkeit,  alle  Qualen  und  Leiden 
in  ihr  gehören  zum  Ausdruck  dessen,  was  er  will,  jedes 
Wesen  trägt  mit  vollem  R«cht  sein  Dasein,  trägt  mit  vollem 
Recht  seine  Art,  seine  Individualität  und  seinen  Charakter,  so 
wie  sie  sind,  in  einer  vom  Zufall  beherrschten,  zeitlichen,  ver- 
gänglichen und  stets  leidenden  Welt,  und  in  allen,  was  ihm 
widerfährt,  geschieht  ihm  stets  recht.  Denn  sein  ist  der  Wille, 
und  wie  der  Wille  ist,  so  ist  die  Welt.  Jammer  und  Schuld 
der  Welt  halten  sich  die  Wage,  es  herrscht  eine  ewige  Ge- 
rechtigkeit in  allem,  was  geschieht.  So  Schopenhauer;  anders 
der  Buddhismus  in  seiner  grundlegenden  Lehre  von  der  Wieder- 
geburt, die  gewöhnlich  mit  dem  recht  unzutreffenden  Namen  der 
Seelenwanderung  bezeichnet  zu  werden  pflegt.  Wiedergeburt 
bedeutet  die  Wiederverkörperung  des  Grundcharakters,  der 
Wesenheit  eines  Menschen  in  immer  neuen  Daseinsformen,  die 
sich  bis  zur  Erlangung  des  Nirväna  fortsetzt.  Sobald  ein  empfin- 
dendes Wesen  stirbt,  wird  ein  neues  zu  einem  mehr  oder  minder 
leidvollen  Daseinszustande  wiederhervorgebracht,  je  nach  dem 
Verschulden  oder  dem  Verdienste  des  Verstorbenen.  Diese 
Wiedergeburt  vollzieht  sich  nach  dem  Gesetz  des  K'arma,  dem 
Gesetz  der  unbedingten  Kausalität,  der  Verkettung  von  Ursache 
und  Wirkung,  gemäss  der  moralischen  Weltordnung,  von  der 
die  physische  nur  ein  Abbild  ist.  Das  Karma  also,  diese 
Resultante  aus  dem  Denken  und  Tun  des  früheren  empfinden- 
den Wesens,  bestimmt  die  örtlichkeit,  Natur  und  Zukunft  des 
neuen.  Man  braucht  sich  deshalb  nicht  zu  wundern,  dass 
Glück  und  Unglück  in  diesem  Leben  mit  der  grössten  Nicht- 
achtung der  moralischen  Eigenschaften  den  Menschen  zuerteilt 
werden,  die  Karmalehre  findet  die  moralischen  Ursachen  für 
Wirkungen,  welche  uns  unerklärlich  sind.  Jeder  ist  das  Ergeb- 
nis seiner  verschiedenen  Lebensformen  und   hat  seine  gegen- 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  339 

wärtigen  Leiden  mit  seinem  Tun  in  vergangenen  Zeiten  ver- 
schuldet, Leiden,  die  er  also  mit  vollem  Recht  trägt.  Es  gibt  eine 
ewige  Gerechtigkeit,  und  Schuld  und  Leiden  vy^iegen  einander  auf! 

So  haben  wir  denn  zwei  grosse  Weltanschauungen  an 
unserem  geistigen  Auge  vorüberziehen  lassen,  zwei  Weltan- 
schauungen, die  gänzlich  unabhängig  von  einander  entstanden 
sind  und  doch  die  grösste  Übereinstimmung  aufzuweisen  haben. 
Sei  es  in  der  Weiterklärung  oder  sei  es  im  Suchen  nach  dem 
Urprinzip  der  Dinge,  sei  es  in  den  Grundprinzipien  der  Moral 
oder  sei  es  in  den  Wegen,  die  einzuschlagen  sind,  um  Glück- 
seligkeit, Herzensreinheit  und  Heiligkeit  zu  erlangen,  oder  sei 
es  schliesslich  im  Bestreben,  eine  moralische  Weltordnung  als 
bestehend  nachzuweisen,  niemals  ein  erheblicher  Gegensatz, 
niemals  ein  bedeutender  Widerspruch.  Schopenhauers  Philo- 
sophie ist  aus  dem  redlichsten  Streben  nach  der  Wahrheit, 
aus  einem  steten  Ringen  mit  ihr  hervorgegangen,  und  auch 
die  Religion  des  Buddhismus  ist  das  Resultat  scharfen  Denkens 
und  tiefen  Eindringens  in  das  Sein  und  das  Wesen  der  Welt. 
Beide,  Schopenhauer  wie  der  Buddhismus  glauben  die  Wahrheit 
gefunden  und  den  Kern  des  Geschehens,  die  moralische  Welt- 
ordnung erfasst  zu  haben.  Auch  wir  streben  darnach,  die 
Wahrheit  zu  erkennen,  auch  wir  Menschen  der  Gegenwart  und 
des  Abendlandes  möchten  das  Leiden  überwinden,  möchten  uns 
und  die  Mitwelt  glücklich,  rein,  vollendet  sehen.  Wie  stellen  wir 
uns  deshalb  zu  jenen  beiden  grossen  Systemen?  Uns  scheint 
es  nun  sehr  unphilosophisch  zusein,  mit  aller  Energie  eine  fertige 
Erklärung  der  Welt  und  des  Lebens  zu  ergreifen  und  in  allen 
Einzelheiten  voll  und  ganz  anzuerkennen.  Treten  wir  also  mit 
prüfender  Vorsicht  an  alles,  was  uns  dargeboten  wird,  heran! 

Das  Wichtige  an  Schopenhauer  und  dem  Buddhismus  ist 
die  Lebensauffassung,  nicht  die  Welterklärung.  Die  letztere  wollen 
wir  der  Wissenschaft  überlassen,  selbst  vielleicht  ein  Steinchen 
herbeitragen  zum  gigantischen  Bau  des  Ganzen  und  im  übrigen 
uns  mit  dem  Bilde  begnügen,  das  sie  uns  in  der  Gegenwart 
zu  bieten  vermag.  Anders  steht  es  mit  der  Lebensauffassung; 
die  können  wir  nicht  auf  sich  beruhen  lassen,  sondern  müssen 
eine  bestimmte  ergreifen  oder  uns  bilden,  um  mit  ihrer  Hilfe 
unser   Leben    zu   gestalten.    Es    ist    wahr,    wir    können    von 

22» 


340  DEF^  BUDDHIST.  I.  Jahtg. 

Schopenhauer  wie  dem  Buddhismus  in  dieser  Hinsicht  sehr  viel 
lernen,  wir  können  lernen,  das  Leben  ernster  zu  betrachten 
und  uns  nicht  über  das  Elend  und  Leiden  des  Daseins  hinweg- 
zutäuschen, wir  können  von  ihnen  lernen,  dass  es  vor  allem 
gilt,  die  Sinnlichkeit  zu  überwinden,  wenn  anders  wir  unser 
Leben  glücklicher  gestalten  wollen,  wir  können  schliesslich 
lernen,  dass  wir  den  Erlöser  in  uns  selbst  tragen  und  nicht 
das  Heil  von  einem  unbekannten  Gott  zu  erwarten  haben.  Das 
alles  ist  sehr  tief  und  schön  in  jenen  Lebensanschauungen 
ausgeführt.  Aber  wenn  wir  uns  die  Mittel  betrachten,  welche 
sie  uns  anempfehlen,  um  aus  der  Sündhaftigkeit  des  Lebens 
herauszukommen,  so  müssen  wir  doch  sagen,  dass  wir  mit  ihnen 
in  unserm  gegenwärtigen  Leben,  wie  es  sich  nun  einmal  gestaltet 
hat,  zum  Teil  nur  schwer  operieren  können.  Schopenhauer  vor 
allem  sieht  den  alleinigen  Heilsweg  in  der  Askese  und  steht 
damit  in  einigem  Gegetisatz  zum  Buddhismus,  der  diese  im  Sinne 
Schopenhauers  ja  nicht  fordert.  Was  aber  sollen  wir  mit 
der  Askese?  Wir  können  uns  nicht  auf  eine  glückliche  Insel 
retten  und  dort  in  der  Einsamkeit  unserm  Seelenheil  leben,  wir 
können  uns  nicht  der  Tätigkeit  in  der  Gesellschaft  entziehen  und 
uns  der  Beschaulichkeit  hingeben.  Bei  aller  Hochachtung  vor  der 
Schopenhauerschen  Philosophie  glauben  wir  doch,  dass  dieses 
Ideal  des  heiligen,  des  sittlichen  Menschen  verzeichnet  ist.  Wir 
brauchen  Menschen,  welche  die  Blüte  der  Sittlichkeit  im  Auf- 
gehen für  andere,  im  Dienst  der  Gemeinschaft,  im  Altruismus 
sehen.  Und  gerade  da  kann  und  soll  uns  der  Buddhismus 
helfen  und  mit  seinem  Geiste  unsere  abendländische  Kultur 
durchdringen.  Die  zahlreichen  sozialen  Kräfte,  die  in  jener 
Religion  wirksam  sind  und  sicherlich  die  des  Christentums 
alier  Richtungen  übertreffen,  sie  mögen  dazu  beitragen,  den 
Kampf  ums  Dasein  zu  lindern,  die  Leiden  unserer  Mitmenschen 
nach  Möglichkeit  herabzumindern  und  die  Idee  des  Wohl- 
wollens, der  Nächstenliebe,  des  Mitleids  zur  herrschenden 
werden  zu  lassen.  Nicht  der  Egoismus,  welcher  keinem  mehr 
gönnt,  als  er  selbst  hat,  sondern  der  freiwillige  Verzicht  auf  Vor- 
teile und  Sonderrechte,  die  liebevolle  Hingabe  an  den  Nächsten, 
an  die  Gemeinschaft,  das  ist  das  höchste  sittliche  ideal! 


1 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  iii 

Das  Wesen  des  Buddhismus 

im  Lichte  der  (japanischen)  Tendai-Schule.  0 

Don  Zitsuzen  Ashitsu. 

Das  Qcscfz  des  Buddha,  unseres  ITleisIcrs,  is(  weder  eine  Flafur- 
Vüisscnschaff,  noch  eine  dogmalischc  Religion,  sondern  eine  Lschre,  die 
zur  Ericuchlung  führf,  und  ihr  Ziel  ist,  Frieden  zu  bringen  den  Ruhelosen, 
und  denen,  die  geisfig  blind  sind  und  ihren  ursprünglichen  Zustand  nichf 
Kennen,  den  ITIcisler  innen  im  Ulenschen  zu  offenbaren. 

Ohne  liefe  ITledilalion  und  wolle  Einsicht  in  die  Lehre  üon  der  Er- 
leuchtung Kann  niemand  die  ücreinigung  mit  dem  ITleisfer  innerlich  er- 
langen. IDer  den  Geist  des  »Guten  Gesetzes«  erkannt  hat,  sollte  seine 
Zeit  nicht  damit  oertrödeln  in  Büchern  und  Schriften  zu  lesen  noch 
seinen  Geist  mit  den  Gedanken  anderer  mästen,  sondern  er  sollte  über 
seinen  eigenen  Zustand  und  seine  Lebensführung  meditieren,  sollte  Gemüt 
und  Sinne  gar  eifrig  bewachen  und  erhennen  lernen,  wer  in  ihm  selbst 
es  ist,  der  denkt  und  fühlt:  dies  ist  der  Schlüssel,  welcher  jenes  Tor 
öffnet,  das  zum  Pfade  Buddhas  führt.  Denn  wer  seinem  Gemüt  nichf 
erlaubt,  sich  zu  zerstreuen,  wer  üielmehr  standhaft  und  unaufhörlich  sich 
selbst  bewacht,  kann  zu  seinem  eigenen  Reile  den  grossen  Pfad  ent- 
decken. Er  kann  das  lüesen  wahren  Gemüts-Friedens  ergründen,  sowie 
den  innersten  Geist  der  Lehre  des  Buddha. 

Für  denjenigen,  der  ein  Buddhist  werden  will,  ist  es  die  erste  Ruf- 
gabe, die  IDurzel  der  täglichen  sinnlichen  Erscheinungen  zu  erkennen 
und  zu  begreifen,  und  dann  seine  Erkenntnis  und  Beobachtung  mit  den 
Lehren  der  heiligen  Schriften  zu  vjergleichcn  als  dem  Spiegel,  welcher 
seine  Gedanken  reflektiert,  so  das  er  lernen  kann,  was  recht  und  unrecht 
ist.  Die  Schriften  wollen  anzeigen,  ob  die  Gedanken  und  Erscheinungen 
recht  oder  unrecht  sind. 

IDir  sollten  nicht  sagen,  dass  die  Gegenstände  um  uns,  mögen  sie 
klein  oder  gross  sein,  innerhalb  oder  ausserhalb  unseres  Geistes  sind. 
Alle  lebenden  IDesen  sind  gleich  oor  der  Ewigkeit,  wenn  sie  sich  nach 
Geschlecht,  Stand  und  3nlcllekl  noch  so  sehr  unterscheiden  mögen, 
niemand  sollte  mehr  geliebt  oder  gchassl  werden  als  der  andere,  und 
kein  Unterschied  sollte  gemacht  werden  zwischen  sich  selbst  und  dem 
nächsten.  Die  Erkenntnis  der  Tatsache,  dass  die  »sechs  IDurzeln« 
(die  fünf  Sinnesorgane  und  das  Denken)  in  dem  einen  Geist  (Rdi- 
Buddha,    Bhüfatafhätä)    ihren    Ursprung  haben    und    mithin    im    Grunde 


')  Getreu  unserem  Programm  und  unter  ausdrücklichem  Hinweis 
auf  das  oon  dieser  Zeitschrift  ocriretenc  Prinzip  der  freien  Äusserung 
gestatten  wir  im  »Buddhist«  nach  wie  cor  den  Derlretern  aller  Richtun- 
gen   innerhalb    des    Buddhismus    das    IDort.  Der  Ficrausgeber. 


ä42  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

nichfs  sind,  als  das  IDescn  des  Qeisics  sclbsf,  —  dies  is(  der  sicherste 
lüeg,  um  den  Zustand  der  BuddhaschafI  zu  erlangen.') 

Die  Täligl^cifcn,  welche  in  den  »sechs  IDurzcln«  zur  Erscheinung 
hommen,  sind  die  bichfsfrahlen  des  einen  Qei.sfcs,'-)  und  die  Objekte, 
welche  den  »sechs  lüurzeln«  entsprechen,  sind  seine  Bilder  (J5dccn).  IDer 
frei  ist  üon  jeder  äusseren  Autorität  und  Fessel,  wie  Aberglaube,  Priester, 
Kirche,  Reiland  und  Qötter,  und  sich  infolgedessen  einer  wirlilichen, 
geistigen  Freiheit  erfreut,  der  ist  ein  grosser  mann ;  denn  er  hat  die 
IDeisheif  und  Erkenntnis  der  Buddhaschaff  erlangt;  er  hat,  um  mit  dem 
mystiker  Swedenborg  zu  sprechen,  „innen  in  sich  sein  göKlichcs  IDescn 
geschaut,"  welches  das  lücsen  Buddhas  im  ITlenschen  ist.  Und  wer 
nach  dem  Zustande  strebt,  in  welchem  er  das  innerste  lücsen  des 
Qeisics  in  sich  verwirklicht,  wird  ein  Jünger  des  Buddha  genannt,  nicht- 
wissend aber  ist  der,  dessen  Gedanken  noch  nicht  auf  dieses  Ziel  kon- 
zentriert sind.  Das  Endziel  der  Ijchre  des  Buddha  ist  die  Zerstreuung 
der  nichtwissens-Finsternis  und  das  sich  Durchringen  zum  Licht. 

Einsehen,  was  der  Geist  an  sich  selbst  sei,  bedeutet,  die  Geheim- 
nisse der  riatur  begreifen  und  cersfehen.  Unwissenheit  darüber,  was 
der  Geist  an  sich  ist,  erzeugt  3rrlum,  so  dass  die  Sinncs-Objekle  für 
sich  unabhängig  üon  dem  Geiste  zu  sein  scheinen,  und  auf  diese  IDeisc 
wird  ein  Derständnis  ihrer  wahren  tlalur  ocreilelt.  ■')  Und  die  Erlangung 
der  Erleuchtung,  welche  durch  Zerstreuen  der  nichtwissens-Finsternis 
zustande  kommt,  ist  zu  gleicher  Zeil  die  Erkenntnis  und  Einsicht,  was 
der  Geist  in  sich  selbst  ist,  und  univjersale  IDeisheif. 

Unser  hoher  ITleistcr,  der  Buddha,  welcher  in  der  IDclt  als  ein  ehr- 
würdiger IDeiscr  erschien,  der  während  eines  Ijcbcns  oon  achlzig  Jahren 
predigte,  den  Schlamm  des  sinnlichen  Lscbcns  zerstörte  und  am  Ende 
seines  IDirkens  in  niroäna  einging,  —  hat  in  sich  keine  Flamme  der 
Leidenschaft.  IDer  diesen  ITleistcr  cerehrl,  ihm  gehorcht  und  im  Geiste 
des  oon  ihm  gepredigten  »Saddharmapundarika-Süfra«  ')  lebt,  —  der  ist 
der  wahre  nachfolger  der  Lehre  uon  der  Erleuchtung. 

Die  buddhistische  Lebensweise  achtel  beides  hoch,  tTledifation  und 
IDissen  als  mittel  zur  Zerstreuung  der  geistigen  Derwirrnng  und  zur 
Erlangung  der  Erleuchlung;    aber   eins   con    diesen   beiden   allein   bringt 


')  Das  bedeutet,  ähnlich  wie  Spinoza  sagt,  dass  malerie  und 
Denken  (Stoff  und  Bewusstsein)  nur  zwei  Aspekte  einer  gemeinsamen 
IDurzel,  der  Substanz,  sind. 

'-)  i\hnlich  nennt  Schopenhauer  den  ;)nlcllekl  die  Fackel,  welche 
der  IDille  zum  Leben  sich  angezündet  hat,  um  sich  in  der  IDelf  der 
Dorslellung  zu  orientieren  und  sich  sclbsf  zu  erkennen. 

')  D.  h.  der  nichlwissendc  hält  die  Erscheinungswell  (also  das 
Produkt  der  Sinnesorgane  oder  sechs  lüurzeln)  für  real;  das  bedeutet 
eine  falsche  lüertung  der  üinge,  aus  welcher  das  Raffen  am  Dasein  und 
mithin  Leiden  entsteht. 

*)  Saddharmapundarika  bedeutet  wörtlich:  Der  Lotus  des  guten 
Gesetzes.  Dieses  Sütra  steht  bei  der  Tendai-Schule  in  hohen  Ehren. 


No.  II.  DER  BUDDHIST.  343 

keinen  llutzcn;  6emülsfricdc  und  der  Zusfand  der  Einheil  mi(  allem 
Leben  sind  dann  gewiss,  wenn  wir  unser  3nncres  erschliessen,  unseren 
öcisl  vjon  aller  Derujirrung  befreien  und  uns  der  Qölllichkci!  in  uns  be- 
\Bussl  werden. 

lüic  die  SQfras  üon  dem  Buddha  im  Zustande  der  Erleuchtung 
gcpredigl  wurden,  so  repräsentieren  sie  oerschiedene  Stufen  in  der  EVrf 
der  Darstellung:  hohe  und  niedrige,  tiefe  und  mehr  oberflächliche,  dem 
Zustande  des  fiörers,  seiner  Einsicht  sowie  dem  Grade  seiner  Dcrficfung 
(rtledifation)  und  Fassungskraft  angcpasst.  lüenn  eines  ITlenschcn  Geist 
den  Pfad  betreten  hat  und  sich  mit  Buddhas  Geist  in  Piarmonie  befindet, 
dann  begreift  er  die  Sütras  ohne  weiteres,  und  die  letzteren  scheinen 
dann  ebenso  der  ftusfluss  der  Erkenntnis  des  eigenen  Geistes,  wie  des- 
jenigen Buddhas  zu  sein.  Und  obwohl  es  uielc  Sulras  und  Schriflen 
gibt  entsprechend  den  \."icrschiedenen  geistigen  Standpunkten  der  ITlcnschen, 
so  halten  wir  doch  das  Saddharmapundarika-Sütra  für  das  wichtigste 
und  Dollendetste. 

Diele  Schriften  enthalten  die  geistigen  und  grundlegenden  [»ehren, 
wie  die  Buddhaschaft  uon  allen  Ulenschen  erreicht  werden  kann,  indessen 
sind  sie  nicht  so  klar  und  vjollkommen  wie  das  Saddharmapundarika- 
Sötra;  denn  dieser  zeigt  den  lüeg  in  einer  äusserst  bestimmten,  sicheren 
IDeise.  lüas  ist  nun  dieses  Sülra?  Enthält  es  nur  Buchstaben,  lüorle, 
Seiten,  Blätter,  Bände?  JXIIerdings  nicht;  sein  3nhalt  ist  unser  Geist 
selbst.  Die  sichtbare  Form  des  Sutras  in  acht  Bänden  ist  üon  keinem 
IDert,  wenn  sein  3nhall  oon  unserem  Geiste  getrennt  wird.  Obwohl  bei 
den  Buddhisten  hoch  angesehen,  da  es  den  Siegel  oon  Buddhas  Geist 
enthält,  ist  es  dennoch,  da  es  durch  Feuer  oerzehrt  werden  kann,  in 
seiner  äusseren  Form  nicht  mehr  wert  als  andere  Schriften.  Beim  Lesen 
des  wahren  Sütra  (d.  h.  des  Sütras  nach  seinem  3nhalt),  welches  in  sich 
die  rricrkmale  des  Geistes  Buddhas  birgt,  müssen  wir  uns  in  dem  Zu- 
stande des  »Lotus  des  Guten  Gesetzes«  (d.  i.  Buddhas)  befinden,  d.  h. 
wir  müssen  in  vollkommener  innerer  Harmonie  sein  mit  Buddha  Qäkya- 
muni.  lüenn  wir  uns  wirklich  innerlich  eins  fühlen  mit  diesem  Buddha, 
dann  ist  unsere  Roffnung  erfüllt  und  oerwirklicht.  Dies  ist  unsere  einzige 
Roffnung,  und  wir  brauchen  keine  andere.  Rus  diesem  Grunde  ist  es 
berechtigt,  wenn  wir  sagen,  dass,  wenn  wir  unser  Snncres  öffnen  und 
entfallen,  wenn  wir  erleuchtet  werden  und  den  Zusland  des  Buddha 
Cäkyamuni  erreichen,  —  die  heiligen  Schriften  für  uns  oon  wenig 
nutzen    sind. 

lüenn  wir  uns  an  den  Buchstaben  der  Schriften  anklammern,  be- 
finden wir  uns  augenscheinlich  in  einem  Zustand,  wo  der  wahre  Sinn 
des  Sütras  uns  fremd  ist,  wo  Derwirrung  und  Leidenschaft  uns  gefessell 
hallen.  Der  lüeise  betrachtet  die  heiligen  Schriflen  als  lüegwciser  und 
Frührer  zum  geistigen  Pfade;  wenn  er  den  Pfad  gefunden  und  befreien 
hat,  bedarf  er  der  Schriflen  nicht  länger. 

Es  ist  cor  Rllers  gesagt  worden:  „Alle  Sütras  sind  nur  Finger,  die 
nach    dem    strahlenden    ITlondc    zeigen."     lüenn    wir   den  ITlond    einmal 


344  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

sehen,  sind  die  weisenden  Finger  für  uns  nichf  mehr  nofvocndig.  IDenn 
voir  uns  an  die  wörilichc  Bedeulung  der  Süfras,  an  ihre  Kommenlarc 
und  Auslegungen  anklammern,  dann  ccrfehlen  wir  ihren  wahren,  gcisligcn 
Sinn,  und  wir  werden  all  und  sierbcn  im  Finslern  —  uncricuchfel.  lüir 
sind  dann  nur  äusserlichc  Buchsiabcn-Schülcr  des  Buddha,  anslati  seine 
wahren  jünger  zu  sein.  Ohne  den  geisligen  Sinn  Können  wir  das  »6utc 
0eselz«  niemals  oersfehen. 

Es  mag  ja  ganz  löblich  sein,  sich  des  Rosenkranzes  zu  bedienen, 
das  Qclbc  öewand  zu  (ragen  und  uor  dem  Bilde  des  Buddha  Sufras  zu 
lesen;  aber  das  isl  rein  formal,  äusscriich,  nicht  wcscnllich,  es  isl  dies 
Schülerarl.  Die  wahre  ^üngcrschafl  erfordert  Einsicht  in  das  wahre, 
ewige  lüesen  des  Buddha;  sie  erfordert,  dass  sich  die  (äedanhen,  lüorlc 
und  Randlungen  mit  ihm  in  uollkommencm  Einklang  befinden.  Der 
jünger  darf  in  keiner  Situation,  mag  er  gehen,  sitzen  oder  liegen,  seinen 
Qeisl  üon  dem  ewigen  Geist  des  Buddha  trennen.  Ein  nie  wankendes 
beben  in  diesem  Geiste  macht  den  ITlcnschcn  zu  einem  üachfolger  des 
mahäyäna,  zu  einem  wahren  Buddhisten. 

Das  »Gute  Gesetz«  ist  in  seinem  IDesen  allerdings  nichf  leicht  zu 
begreifen;  aber  ernste  Rnsfrcngung  und  tiefe  ITleditation  führen  zur 
IDahrhcil. 

Japanisch-buddhistische  Predigt-Texte. 

Siehe,  die  Weisheit  ist  wie  ein  starkes  Fahrzeug,  auf  dem 
du  das  Meer  des  Lebens  und  Sterbens  sicher  kreuzen  kannst; 
sie  ist  wie  ein  Leuchtturm,  der  sein  Licht  in  die  finstere 
Nacht  ausstrahlt;  sie  ist  wie  eine  Arznei,  die  alle  Gebrechen 
heilt;  sie  gleicht  einer  scharfen  Axt,  welche  den  Baum  der 
bösen  Lust  fällt. 

Der  rechte  Glaube  ist  der  hohe  Weg,  auf  dem  ein  Mensch 
in  das  Kastell  der  Weisheit  Buddhas  eintreten  kann. 

Der  rechte  Glaube  gleicht  einem  fruchtbaren  Felde,  auf 
dem  der  gute  Geist  der  Menschen  heranwächst. 

Der  rechte  Glaube  gleicht  einem  klaren  Wasser;  er 
reinigt  das  Gemüt  von  Befleckung. 

Der  rechte  Glaube  ist  ein  gutes  Auge;  er  erfüllt  alle 
Gebote  des  Gesetzes. 

Der  rechte  Glaube  ist  ein  reines  Auge;  er  unterscheidet 
zwischen  gut  und  böse. 

Die  wahre  Natur  aller  lebenden  Wesen  ist  unendlich;  sie 
ist  die  Vollkommenheit  selbst. 

Es  gibt  zwei  Arten  von  Wohltätigkeit.  Wer  andere  in 
geistlichen  Dingen  unterweist,  gibt  das  Almosen  des  Gesetzes; 
wer  seine  Güter  den  Armen  schenkt,  übt  materielle  Wohltätigkeit. 


No.  U.  DER  BUDDHIST.  345 

Die 

Transmigration  oder  Wiedergeburt. 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

(4.  Fortsetzung.) 

Bevor  wir  nun  weitergehen,  wird  es  notwendig  sein,  hier 
ein  paar  Worte  zur  Vorsicht  einzuschalten,  damit  meine  bis- 
herigen Ausführungen  nicht  missverstanden  werden.  Wie  ich 
bereits  gesagt  habe,  soll  die  von  mir  gegebene  Hypothese 
nur  eine  Illustration  sein,  um  den  in  Rede  stehenden  Gegen- 
stand zu  erläutern,  welch'  letzterer  natürlich  von  einem  an- 
deren Standpunkt  aus  betrachtet  in  einem  ganz  anderen 
Lichte  erscheinen  mag.  Mir  persönlich  will  es  scheinen,  als 
ob  ein  solcher  Mechanismus,  wie  ich  ihn  hier  zur  Hilfe  ge- 
nommen habe,  zeitweilig  ganz  gut  als  eine  Brücke  dienen 
kann,  welche  über  den  Abgrund  unseres  Nichtwissens  inbezug 
auf  die  Übertragung  (Transmigration)  des  Lebens  zu  führen 
vermag.  Eine  Sache  als  eine  physikalische  Möglichkeit  dar- 
zustellen ist  nach  meinem  Dafürhalten  eine  weit  befriedigen- 
dere Arbeitsmethode,  als  wenn  wir  über  die  physikalischen 
Gesetze  hinausgehen;  denn  wenn  der  letztere  Schritt  erst 
einmal  getan  ist,  dann  ist  die  Theorie  nicht  mehr  eine  das 
Gebiet  der  Möglichkeit  für  sich  beanspruchende  Hypothese, 
sondern  sie  hat  das  Reich  blosser  Spekulationen  oder  blinden 
Glaubens  betreten.  Wenn  wir  uns  der  physikalischen  Gesetze 
für  unsere  Hypothesen  bedienen,  so  haben  wir  den  grossen 
Vorteil,  dass  wir  bestimmt  sagen  können:  Wenn  gewisse 
bestimmte  Bedingungen  gegeben  sind,  so  müssen  sich  unter 
allen  Umständen  ganz  feste  Resultate  ergeben;  wir  können 
unsere  Hypothesen  bis  zu  einer  bestimmten  Ausdehnung 
prüfen  und  mit  einem  nicht  zu  unterschätzenden  Grade  von 
logischer  Korrektheit  weiterverfolgen.  Und  der  Grund  hierfür 
liegt  in  der  Tatsache,  dass  die  Naturwissenschaften  auf  der 
mathemathischen  Beziehung  der  Phänomene  basieren,  und 
insofern  sie  mathematisch  sind,  sind  sie  der  Ausdruck 
relativer  Wahrheiten.  Indessen  —  es  muss  selbstverständlich 
stets  daran  erinnert  werden,  dass  wir  mit  einem  materi- 
ellen   Universum    überhaupt    nicht   bekannt   sind;  — 


346  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

die  Vielheit  der  Erscheinungen,  welcher  wir  den 
Namen  »materielle  Welt«  geben,  ist  in  Wirklichkeit 
eine  Vielheit  j^f«//^«/',  nicht  aber  wa/m^//^/- Phänomene, 
und  wenn  wir  beispielsweise  sagen,  ein  Kubikzentimeter 
Wasser  wiegt  ein  Gramm,  so  drücken  wir  dadurch  gewisse 
Beziehungen  in  unserem  eigenen  Geist  aus.  Wir  haben 
keinen  Beweis  dafür,  dass  es  irgend  ein  »Ding  an  sich« 
ausserhalb  oder  jenseits  unseres  Geistes  gebe,  oder  dass 
irgend  eine  Welt,  oder  Zeit,  oder  Raum,  oder  andere  Zu- 
stände ausserhalb  der  Grenzen  unseres  eigenen  Bewusstseins 
vorhanden  seien.  Wenn  wir  z.  B.  träumen,  ist  eine  Welt, 
nebst  Zeit  und  Raum  vorhanden,  manchmal  eine  Art  Zeit 
und  Raum,  die  sehr  verschieden  ist  von  jener,  die  wir  im 
wachenden  Leben  kennen;  aber  kein  Mensch  —  es  sei  denn 
ein  hoffnungsloser  Animist  —  wird  sich  einbilden,  dass  er 
während  des  Traumes  in  eine  neue  Art  Welt  gehe,  wo  die 
Grundbedingungen  andere  wären;  —  es  handelt  sich  hier 
natürlich  nur  um  eine  Veränderung  —  nicht  der  Welt  ausser- 
halb unser,  sondern  der  inneren,  geistigen  Welt,  der  Bewusst- 
seinszustände  in  uns.  Insofern  also  die  Naturwissenschaften 
uns  mit  einem  Mittel  versehen,  durch  das  wir  unsere  Ideen 
klar  machen  und  illustrieren  sowie  bestimmte  Beziehungen 
in  der  Form  relativer  Wahrheiten  zum  Ausdruck  bringen, 
ist  ihre  Anwendung  legitimiert  und  notwendig;  aber  wir 
dürfen  uns  nicht  durch  die  Idee  irreleiten  lassen,  dass  das 
Universum,  welches  sie  behandeln,  ein  reales  Universum, 
ein  »Ding  an  sich«  ausserhalb  unseres  Geistes  sei;  denn  wir 
haben  im  Bereiche  der  Möglichkeit  kein  Mittel,  durch  welches 
wir  zu  einer  anderen  Überzeugung  gelangen  könnten.  Es 
sind  die  geistigen  Phänomene  und  nur  die  geistigen  Phä- 
nomene, welche  wir  erkennen  und  deren  wechselseitige 
Beziehungen  wir  bestimmen;  und  all  unser  Wissen  ist  nur 
der  Ausdruck  getvisser  Gesetze,  Beziehungen  und  Begren- 
zungen unseres  eigenen  Geistes.  Gesetzt  den  Fall,  es  exi- 
stierte eine  Art  von  Wesen,  die  mit  einer  der  unsrigen  ähn- 
lichen Intelligenz  begabt  wären,  aber  mit  einer  anderen 
Anschauung  des  Raumes  und  der  Zeit,  so  würden  die  Welt- 
gesetze, welche  diese  Wesen  ableiteten,  gänzlich  verschieden 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  347 

sein  von  denjenigen,  zu  denen  wir  gelangen  müssen,  noch 
mehr  verschieden 'aber  dann,  wenn  der  Intellekt  selbst  ganz 
anders  als  der  unsere  wäre. 

Und  das  ist  nun  tatsächlich  der  Standpunkt,  welchen  die 
buddhistischen  Schriften  in  der  Frage  der  Transmigration 
einnehmen.  Alle  Fragen  nach  der  physikalischen  Natur  des 
Vorganges  werden  ignoriert,  und  das  Einzige,  was  mitgeteilt 
wird,  ist  das  im  Augenblicke  des  Ablebens  sich  abspielende 
Übergehen  der  Sankhäras  oder  des  Charakters  eines  Indivi- 
duums. Und  die  eigentliche  Art  und  Weise  dieser  Trans- 
migration ist,  wie  gesagt  wird,  unerkennbar;  wir  können 
höchstens  eine  schwache  Vorstellung  von  dem  Vorgange,  wie 
er  sich  abspielt,  durch  die  Anwendung  von  Bildern  und 
Gleichnissen  bekommen,  wie  z.  B.  in  den  buddhistischen 
Büchern  als  Richtschnur  das  Gleichnis  von  der  neuen  Lampe 
gegeben  wird,  die  sich  an  der  verlöschenden  Flamme  ent- 
zündet, oder  solche  mehr  ins  Einzelne  gehenden  Gleichnisse, 
wie  ich  sie  oben  angeführt  habe.  Kurz  gesagt,  wir  sehen 
das  Phänomen,  und  damit  ist  unsere  Kenntnis  am  Ende. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  die  Art  und  Weise  be- 
trachtet, in  welcher  die  Übertragung  des  Charakters  eines 
Individuums  möglicherweise  vor  sich  gehen  kann;  wir 
müssen  nunmehr  zu  einer  Diskussion  der  Beweise  schreiten, 
welche  darauf  hindeuten,  dass  dieser  vom  Buddhismus  be- 
hauptete Vorgang  auch  tatsächlich  stattfindet.  Die  vom 
Buddhismus  behauptete  Transmigration  ist  —  wenigstens  für 
die  Majorität  der  Menschen  —  eine  reine  Hypothese,  ja,  weit 
mehr  eine  Hypothese  als  z.  B.  die  Existenz  des  von  der 
Naturwissenschaft  angenommenen  Äthers.  Niemand,  der  seine 
allen  Menschen  gemeinsamen  Sinne  und  mentalen  Fähigkeiten 
benutzt,  hat  jemals  auch  nur  einen  direkten  Beweis  für  das 
Dasein  des  Äthers  gewonnen;  und  dennoch  nehmen  wir  den 
Äther  als  eine  fruchtbare  Hypothese  an,  weil  das,  was  die 
Menschen  mit  diesem  Ausdrucke  bezeichnen,  eine  Erklärung 
für  gewisse,  sonst  unerklärbare  Phänomene  bietet  und  den 
Anforderungen  der  verschiedenen  Wissenschaften  entspricht. 
—  Wir  haben  nunmehr  zu  untersuchen,  ob  die  Transmigra- 
tions-Theorie  nötig  ist,  um  gewisse  Phänomene  zu  erklären, 


348  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

und    ob    diese   Theorie    mit   den    belcannten   Tatsachen    der 
Geburt   und  des  Todes   in   Einiilang  steht. 

Wir  wollen  diese  Beweise  nach  ihrer  Wichtigkeit  in  auf- 
steigender Linie  in  folgende  vier  Klassen  einteilen:  1.  Der 
Beweis  aus  der  Erfahrung,  2.  der  Beweis  aus  dem  moralischen 
Gesetze,  3.  der  Beweis  aus  dem  Umstände,  dass  die  Ver- 
erbung nicht  genügt,  um  die  beobachteten  Tatsachen  zu  er- 
klären und  4.  der  Beweis  aus  den  Lebens-Statistiken. 

Was  den  ersten  dieser  Beweise  betrifft,  so  ist  über  den- 
selben nicht  viel  zu  sagen,  und  zwar  aus  dem  einfachen 
Grunde,  weil  eine  solche  Erfahrung  in  den  meisten  Fällen 
nur  für  denjenigen  überzeugend  sein  kann,  der  sie  innerlich 
erlebt  hat.  Um  es  kurz  zu  sagen:  Es  handelt  sich  hier  um 
die  Tatsache,  dass  gewisse  Personen  sich  die  Fähigkeiten  zu- 
schreiben, sich  an  Ereignisse  ihrer  früheren  Lebensläufe  zu 
erinnern,  —  eine  Fähigkeit,  die  entweder  auf  natürliche  Ver- 
anlagung zurückgeht,  oder  aber  durch  die  Ausübung  eines 
bestimmten  geistigen  Trainings  erlangt  werden  kann  ent- 
sprechend den  Anweisungen  im  Visuddhi  Magga  und  anderen 
Werken;  ich  muss  aber  gleichzeitig  bemerken,  dass  dies 
letztere  nichts  Mysteriöses  oder  Magisches  bedeutet,  —  es 
handelt  sich  vielmehr  nur  um  eine  Erweiterung  der  gewöhn- 
lichen Gedächtniskräfte,  und  die  Erörterung  dieses  Gegen- 
standes muss  ich  mir  für  einen  späteren  Aufsatz  vorbehalten. 
Derartige  Fälle  von  Rückerinnerung  sind  natürlich  an  sich 
ohne  jeden  Wert,  es  sei  denn,  dass  der  Zurückschauende  auf 
Grund  einwandfreier,  vollgültiger  Beweise  zeigen  kann,  dass 
die  von  ihm  behaupteten  Tatsachen  ausserhalb  seiner  nor- 
malen Kenntnis  liegen  und  nach  dem  gewöhnlichen  Lauf 
der  Dinge  ihm  nicht  bekannt  werden  konnten.  In  buddhisti- 
schen Ländern  gehört  es  nicht  zu  den  grossen  Seltenheiten, 
daiss  man  Kinder  vorfindet,  welche  ernst  behaupten,  in  ihren 
vergangenen  Lebensläufen  den  und  den  Namen  gehabt  und 
an  dem  und  dem  Orte  gewohnt  zu  haben,  und  gelegentlich 
gelingt  es,  diese  Behauptungen  als  richtig  nachzuweisen. 

Solche  Kinder  werden  in  Burma  »IVlnzas«  genannt,  und 
es  ist  nicht  ungewöhnlich  und  kann  als  eine  Art  Beweis  für 
die  Richtigkeit  des  Gesagten  gelten,   dass,  wenn   ein  Winza 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  349 

ZU  dem  Schauplatz  seines  früheren  Lebens  gebracht  wird,  er 
gewöhnlich  seine  einstige  Wohnung  und  seine  ehemaligen 
Freunde  zu  identifizieren  sowie  Tatsachen  zu  konstatieren 
vermag,  welche  nur  der  verstorbenen  Person  und  einer  an- 
deren lebenden  Person  bekannt  sein  können.  Diese  Winzas 
sind  in  Burma  relativ  so  häufig,  dass  ihr  Vorhandensein  all- 
gemein als  ausgemacht  gilt;  man  kann  konstatieren,  dass  die 
Kraft  der  Rückerinnerung  an  ein  früheres  Leben  gewöhnlich 
mit  dem  Heranwachsen  des  Kindes  allmählich  verschwindet; 
wir  haben  indessen  auch  erwachsene  Winzas  angetroffen, 
welche  die  Kraft  der  Erinnerung  an  die  vorgeburtliche  Ver- 
gangenheit von  sich  behaupten.  In  einem  späteren  Aufsatze 
werden  wir  einige  von  den  am  besten  beglaubigten  Fällen 
dieser  Art  anführen,  aber  für  unseren  gegenwärtigen  Zweck 
wird  es  am  besten  sein,  direkt  mit  der  Aufzählung  der  Ar- 
gumente fortzufahren,  welche  geeignet  sind,  die  Lehre  von 
der  Transmigration  zu  stützen.  (Schluss  folgt.) 

Gedanken  über  dies  und  das. 

Von  Karl  B.  Seidenstücker. 

(1.  Fortsetzung.)  ■ 
„Diese  Arroganz  der  Buddhisten  ist  doch  unerhört"  — 
sagte  einmal  ein  cholerischer  Herr  in  der  Hitze  des  Gefechtes, 
—  „alles  Gute  nehmen  sie  unbefugterweise  von  anderer  Seite, 
und  indem  sie  so  den  Buddhismus  mit  fremden  Federn 
schmücken,  entblöden  sie  sich  nicht,  ihn  als  das  Höchste 
und  Vollkommenste  hinzustellen.  Sogar  den  Ausdruck 
»Evangelium«  (man  denke  an  das  »Evangelium  Buddhas«) 
haben  sie  vom  Christentum  gestohlen." 

Diesem  Manne  wurde  also  erwidert:  „Es  ist  nicht  der 
Wahrheit  entsprechend  zu  behaupten,  die  Buddhisten  hätten 
das  Wort  »Evangelium«  vom  Christentum  entlehnt.  Evan- 
gelium bedeutet  »gute  Kunde«  oder  »frohe  Botschaft«,  und 
es  gibt  zwei  uralte  Bezeichnungen  für  die  buddhistische  Lehre, 
welche  dem  Sinne  nach  dem  Worte  »Evangelium«  durchaus 
entsprechen:  1.  Kalyäno  dhammo;  dieses  bedeutet  wörtlich 


350  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

»heilsame  oder  glückbringende  Lehre«,  und  2.  Siibhä- 
shitä,  »gute  Kunde«.  Da  nun  diese  beiden  Worte  tatsäch- 
lich denselben  Sinn  haben  wie  das  Wort  »Evangelium«,  und 
da  der  letztere  Ausdruck  im  Abendlande  im  Gegensatz  zu 
den  beiden  indischen  Wörtern  allgemein  bekannt  ist,  haben 
die  Buddhisten  durchaus  ein  gutes  Recht,  den  Ausdruck 
»Kalyäno  dhammo«  durch  »Evangelium  Buddhas«  wiederzu- 
geben." — 

* 

Es  gehört  nicht  gerade  zu  den  Seltenheiten,  dass  christ- 
liche Missionare  den  entarteten  populären  Buddhismus  in 
China  und  Tibet  in  Wort  und  Schrift  geissein  und  ihn  als 
Götzendienst  brandmarken.  Nun,  Kritik  ist  hier  durchaus 
berechtigt.  Allein  diese  Missionare  vergessen,  dass  auch  das 
Christentum  seine  krassen  Entartungen  aufweist.  Wir  brauchen 
nicht  erst  nach  Abessynien,  Russland  oder  Griechen- 
land zu  gehen,  um  das  konstatieren  zu  können;  eine  Reise 
durch  Bayern,  Tirol  und  Österreich  genügt  vollkommen. 
Ja,  —  das  ist  der  Katholizismus!"  —  werden  hier  unsere 
Missionare  einwerfen.  Und  wie  steht  es  mit  manchen  pro- 
testantischen Sekten?!  Weiss  man  nicht,  dass  auch  hier 
der  religiöse  Irrwahn  die  seltsamsten  Blüten  gezeitigt  hat, 
von  der  Vergötterung  des  seligen  „Apostels"  Krebs  an  bis 
zu  dem  mit  hysterisch-konvulsivischen  Zuckungen  widerlich- 
ster Art  verbundenen  „Zungenreden",  ganz  zu  schweigen  von 
der  verhängnisvollen  Entgleisung,  welcher  die  Gebetsmanie 
hie  und  da  auf  das  Gebiet  erotischer  Orgien  verfallen  ist?! 
Man  könnte  hier  auch  harmlosere,  aber  doch  bezeichnende 
Dinge  erwähnen.  Vor  eingen  Jahren  benötigte  ein  christ- 
licher Jünglingsverein  eines  Klavieres,  und  da  kein  Geld  in 
der  Kasse  war,  setzte  man  Gebetsstunden  an,  in  welchen  Gott 
gebeten  wurde,  den  Gegenstand  zu  beschaffen;  ob  es  geholfen 
hat,  ist  mir  nicht  bekannt  geworden. 

Es  ist  die  Pflicht  eines  jeden,  der  noch  Gefühl  für  Wahr- 
heit und  Gerechtigkeit  besitzt,  diesen  christlichen  Missionaren 
bei  jeder  passenden  Gelegenheit  offen  und  ohne  Scheu  zu 
sagen,  dass  jeder  zunächst  die  Pflicht  hat  vor  seiner  eigenen 
Tür  zu  fegen,  bevor  er  den  Besen  nimmt,   um  erlaubt  (oder 


No.  11.  DER  BUDDHIST.  351 

meistens    unerlaubt)    die    Säuberung    des    „heidnischen" 

Nachbarhauses  vorzunehmen. 

*  ♦ 

Folgender  Einwand  wurde  mir  einst  gemacht:  ,Die  bud- 
histische  Anattä-  oder  Nicht-Seibst-Idee  ist  für  einen  tätigen 
Abendländer  auf  die  Dauer  unerträglich.  Diese  Forderung, 
das  Ich  aufzugeben,  das  Selbst  zu  verneinen,  diese  Er- 
drosselung der  Persönlichkeit  bedeutet  Vernichtung,  bedeutet 
geistigen  Tod." 

Hierauf  eine  Entgegnung:  Die  Anattä-Idee  bedeutet 
keineswegs  Vernichtung  des  Geistes.  Wir  wollen  annehmen, 
ein  Forscher  sei  stark  in  ein  wissenschaftliches  Problem  ver- 
tieft, so  stark,  dass  er  absolut  nicht  wahrnimmt,  was  um  ihn 
vergeht.  Ja,  der  Mann  ist  derartig  mit  dem  Problem  be- 
schäftigt und  identifiziert,  dass  er  während  dieser  Zeit 
seiner  selbst  zweifellos  gar  nicht  bewusst  ist;  und 
doch  ist  sein  Geist  rastlos  tätig  und  empfindet  hohen,  reinen 
Genuss.  Auch  von  dem  in  tiefes  Anschauen  versunkenen 
Künstler  gilt  das  Gleiche:  Er  hat  während  der  Zeit  seines 
Anschauens  den  Selbst-Gedanken  tatsächlich  aufgegeben  und 
die  Anattä-Idee  bis  zu  einem  gewissen  Grade  realisiert. 

Die  Mutter,  welche  ihr  kleines  Kind  auf  den  Schienen 
spielen  und  den  Zug  heranbrausen  sieht  und  ohne  Bedenken 
zu  der  Stelle  eilt  um  ihr  Kind  der  Todesgefahr  zu  entreissen, 
—  sie  weiss  nichts  von  ihrem  Ich,  denkt  überhaupt  nicht 
an  ihr  Selbst,  und  während  das  eiserne  Ungetüm  ihren 
Körper  zermalmt,  geniesst  sie,  vom  Selbstwahn  frei,  die 
höchste  Seligkeit.  — 

Dies  sind  ein  paar  schwache  Vergleiche,  um  das 
Wesen  der  Anattä-Idee  verständlich  zu  machen.  Die  Be- 
deutung der  letzteren  liegt  vornehmlich  auf  praktischem 
Gebiete,  theoretische  Erörterungen  über  diesen  Gegenstand 
kommen  erst  in  zweiter  Linie.  In  jedem  Augenblicke  sich 
dessen  bewusst  sein,  dass  ich  eins  bin  mit  allen  Wesen,  dass 
alles  Leben  in  Wahrheit  eins  ist,  —  dies  klar  erkennen, 
fühlen  und  demgemäss  handeln,  das  bedeutet  die  buddhi- 
stische Anattä-Lehre  verwirklichen.  — 


352  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Wenn  ich  Sie  fragen  würde:  „Was  halten  Sie  für  das 
Einzigartige  des  Buddhismus?"  —  was  würden  sie  mir  da 
antworten?  Würden  Sie  etwa  die  »Wahrheit  vom  Leiden« 
nennen?  Wohl  kaum  mit  Erfolg;  denn  es  kann  leicht  gezeigt 
werden,  dass  diese  grosse  Wahrheit  überall  auf  Erden  ihren 
Widerhall  findet,  —  eben  weil  sie  so  sehr  evident  ist.  Oder 
etwa  den  Vergänglichkeitsgedanken?  Ebenfalls  nicht  mit 
Recht;  denn  auch  diese  Wahrheit  ist  ausserhalb  des  Bud- 
dhismus oft  genug  anerkannt  worden.  Nein,  das  Einzigartige 
des  Buddhismus  ist  die  Anattä-ldee;  ich  sehe  in  der  Tat 
keine  Religion,  welche  diesen  Gedanken  jemals  so  aus- 
schliesslich und  fest  betont  hätte.  Der  Brahmanismus  lehrt: 
„alles  ist  Selbst"  (d.  h.  Brahman-Ätman);  die  monotheisti- 
schen Religionen  stellen  ausdrücklich  die  ewige  Fortdauer 
des  »Ich-Selbstes«  in  Aussicht.  Der  Buddhismus  allein 
proklamiert  die  These:  „Die  Welt  ist  Nicht-Selbst".  Dieser  Satz 
ist  in  seinen  Konsequenzen  so  schwerwiegend,  dass  er  in 
seiner  ganzen  Grösse  nicht  sogleich  erfasst  werden  kann. 
Die  Folgerung  aus  diesem  Satze  ist,  dass  derjenige,  der  ihn 
anerkennt,  notwendigerweise  sich  von  allen  Fesseln,  welche 
andere  Religionen  dem  Menschen  anlegen,  um  zur  Erhaltung 
des  Egoismus  und  des  Selbstgedankens  beizutragen,  befreien 
muss.  Solche  Fesseln  sind  z.  B.:  Abtötende  Askese,  Ritua- 
lismus, Pflege  des  die  Persönlichkeit  betreffenden  Unsterb- 
lichkeits-Glaubens. Wer  diese  Fesseln  ganz  überwunden  hat, 
der   hat   den    schwersten   aber   auch   grössten  Schritt  zu 

seiner  endgültigen  Befreiung  getan.  — 

(Schluss  folgt.) 

Es  gibt  kein  Ende  des  Leidens  für  die  vom  Nichtwissen 
bedeckten  Wesen.  Der  edle  Jünger  aber,  der  die  Wahrheit 
erfahren  hat,  der  das  Heilige  versteht,  der  die  Lehre  der 
Edlen  angehört  hat,  wird  befreit  von  der  Geburt,  vom  Alter 
und  Tod,  vom  Gram  und  Jammer,  von  Leiden,  Trübsal  und 
Verzweiflung,  er  wird  befreit,  sage  ich,  vom  Leiden. 

Samyuftaka-Nikäya. 


V«r*iitwertlirh«TRcdakt«ir:  K»rl  B.  Sfidenstürkrr,  Lripzig.    Vrrlag:  Buddhisluwhrr  Verlag 
in  Lcipiif .    —    Druck  von  Arno  Btchimmn,  BkalBdorf-Leipzig. 


Alle  Sünden  meiden,    die  Tugend   üben,    das    eigene   Herz  läutern: 
das  ist  die  Religion  der  Buddhas.  Dhammapada,  V.  183. 


k 


Buddhistische  Züge 
im  modernen  Volksdenken. 

Eine  Skizze. 
Von  Dr.  phil.  F.  Hornung. 

Dass  sich  in  den  Werken  hervorragender  Dichter  und 
Denker  Europas  und  besonders  auch  Deutschlands  buddhisti- 
sche Gedanken  gar  nicht  so  selten  antreffen  lassen,  ist  eine 
ziemlich  bekannte  und  auch  an  dieser  Stelle  mehrfach  erörterte 
und  bewiesene  Tatsache.  Erwägt  man  nun  aber,  dass  die 
„Grossen"  der  Kulturgeschichte,  mögen  sie  sich  noch  so  hoch 
über  das  allgemeine  Niveau  ihres  Volkes  erheben,  geboren  und 
erzogen  unter  den  historischen  und  gesellschaftlichen  Daseins- 
bedingungen ihres  Volkes,  ständig  angeregt  und  beeinflusst 
von  allem,  was  jenes  bewegt,  nicht  wohl  etwas  anderes  zum 
Ausdruck  bringen  können,  als  was  auch  in  ihrem  Volke  Wieder- 
hall findet,  so  drängt  sich  unmittelbar  die  Frage  auf,  ob  nicht 
auch  im  Denken  und  Handeln  der  europäischen  Völker  der 
Buddhismus  irgendwie  in  die  Erscheinung  tritt. 

Die  Erörterung  dieser  Frage  gewinnt  an  Reiz,  wenn  wir 
uns  gegenwärtig  halten,  dass  die  europäischen  Völker  zwar 
zum  grössten  Teile  indo-arischer*)  Abstammung  sind,  dass 
aber  ihr  Denken  und  sittliches  Empfinden  auf  eine  historisch 
überaus  interessante,  hier  allerdings  nicht  näher  zu  unter- 
suchende Weise  seit  mehr  als  anderthalbtausend  Jahren  unter 
den  ausschliesslichen  Einfluss  des  so  ganz  fremd  und  seltsam 
allem  Indogermanischen  gegenüberstehenden  semitischen  Ideen- 


•)  Sie  sind  Indogermanen   und   als  solche  stammverwandt  mit  den 
Ariern  im  engeren  Sinne,  den  Iraniern  und  Indern. 

23 


354  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

kreises  geraten  ist.  Kann  man  es  da  ftir  möglich  halten, 
möchte  man  fragen,  dass  trotz  dieser  Sachlage,  trotz  des  bis 
auf  den  heutigen  Tag  mit  allen  pädagogischen  Künsten  und 
Gewaltmitteln  praktizierten  Imprägnierens,  der  Kinderseelen 
schon,  ausschliesslich  mit  semitischen  Vorstellungen,  der  bud- 
dhistische, das  ist  der  arische  Geist,  dennoch  zum  Durchbruch 
kommt? 

Zur  Beantwortung  dieser  Frage  müssten  wir  uns  vor  allem 
nach  etwas  möglichst  Bodenständigem  umsehen,  nach  echt  origi- 
nalem Volksdenken  und  -empfinden,  und  dürfen  erwarten,  um 
so  Echteres  vor  uns  zu  haben,  je  fremdartiger  es  selber  vor- 
läufig gegen  die  noch  allenthalben  haftende  semitische  Decke, 
vergleichbar  etwa  einer  alten  Wandmalerei  der  abbröckelnden 
Mörtelüberkleidung  gegenüber,  absticht.  Und  je  mehr  es  bereits 
hervortreten  sollte,  je  ausdauernder  und  gleichmässiger  es  sich 
ausbreitet  allen  Hindernissen  zum  Trotz,  um  so  mehr  würden 
wir  es  als  den  unverfälschten  Ausdruck  der  Volkspsyche  an- 
sprechen müssen.  — 

Etwas  derartiges  zu  untersuchen,  und  zwar  aus  nächster 
Nähe,  haben  wir  jetzt  die  bequemste  Gelegenheit:  es  ist  der 
moderne  Sozialismus,  der  uns  hier  zum  geeigneten  Objekte 
dient.  Er  erfüllt  die  obengenannten  Bedingungen  auf's  Beste, 
so  das  uns  nichts  weiter  zu  tun  bleibt,  als  zu  untersuchen, 
ob  sein  Ideeninhalt  mit  dem  buddhistischen  Berührungspunkte 
besitzt,  oder  ob  beide  wohl  gar   hie  und  da  identisch  sind. 

Das  eigentliche,  das  philosophische  Fundament  des  Sozia- 
lismus ist  die  sogenannte  materialistische  Geschichtsauffassung, 
wie  sie  Karl  Marx,  Friedrich  Engels  und  Joseph  Dietzgen  fest- 
gestellt und  propagiert  haben.  Die  gesamte  Gegnerschaft  des 
Sozialismus  steht  dagegen  auf  dem  Boden  der  im  Kern 
semitisch-theistischen  Ideologie.  Um  uns  über  den  unüber- 
brückbaren Gegensatz  beider  Auffassungen  klar  zu  werden,  be- 
trachten wir  zunächst  die  letztere,  und  zwar  ihre  reinste  Form. 

Nach  ihr  hat  ein  Gott  die  Welt  erschaffen  mit  allem,  was 
darinnen  ist.  Die  Welt  ist  also  Gottes  Werk;  und  was  in  ihr 
vorgeht  und  wie  sich  das  abspielt,  geschieht  daher  gemäss 
einer  „von  Gott  gewollten  Ordnung,"  ist  Gottes  Wille,  den  er 
durchführt  teils  auf  übernatürliche,  teils  auf  natürliche,  aber 
trotzdem  nicht  weniger  wunderbare  Weise,  nämlich  durch  Aus- 
erwählte, d.  h.  von  ihm  selber  eingesetzte,  „verordnete"  Per- 
sonen. —  Dass  dieses  System  in  sich  selber  eine  arge  Lücke 
aufweist,  insofern  es  zur  Aufrechterhaltung  der  bestehenden 
Gesellschaftsordnung  dienen  soll,  stört  seine  Verkündiger  nicht. 
Hat  sich  Gott  z.  B.  nicht  selber  und  zu  verschiedenen  Malen 
recht  missfällig  über  den  Lauf  der  Dinge  in  seiner  Welt  ge- 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  355 

äussert  und  hat  er  nicht  wiederholt,  und  mitunter  recht  ener- 
gisch sogar,  dazwischengegriffen  —  Vertreibung  von  Adam 
und  Eva,  Sündflut,  Sodom  und  Gomorrha  z.  B.  —  um  den 
Dingen  einen  anderen  Lauf  zu  geben?  Wäre  es  hiernach 
seinen  „unerforschlichen  Ratschlüssen"  nicht  ganz  gut  zuzu- 
trauen, auch  einmal  Sozialisten,  Atheisten  sogar  in  Funktion 
treten  zu  lassen,  um  die  Weltordnung  nach  seinem  Willen 
wieder  in  das  richtige  Gleis  zu  bringen,  falls  sich  seine  bis- 
herigen Sachwalter  unfähig  erwiesen  haben  sollten?! 

So  ist  die  „göttliche  Weltordnung"  nun  freilich  nicht  ge- 
meint. Das  System  bezweckt  vielmehr  das  Gerechtfertigtsein 
jeder  Gewalttat,  welche  auszuführen  man  die  Macht  besitzt; 
man  proklamiert  die  absolute  göttliche  Gewalt,  eine  Despotie, 
welche  tut  und  unterlässt,  was  ihr  beliebt,  um  in  deren  Auf- 
trag und  Schutz  selber  unverantwortlich  zu  sein  und  um  den 
hierbei  Geschädigten  die  Idee  einer  Appellation  hiergegen,  oder  gar 
eines  Widerstandes  am  liebsten  schon  von  vornherein  garnicht 
in  den  Sinn  kommen  zu  lassen.  So  müssen  schon  die  Kinder 
die  Geschichte  von  Jakob  und  Esau  lesen  und  lernen,  von  dem 
Arglistigen,  dem  seine  Anschläge  so  glänzend  gelingen,  der 
sich  sogar  den  Gottessegen  durch  List  zu  sichern  weiss, 
während  sein  treuherziger  Bruder  alles  verliert,  und  auch  noch 
obenein  den  Auftrag  bekommt,  den  Raub  seines  rücksichtslosen 
Feindes,  seines  Bruders,  mit  den  Waffen  in  der  Hand  zu  be- 
schützen! Ein  Beispiel  dieser  „göttlichen  Weltordnung",  wel- 
ches mit  erschütternder  Deutlichkeit  zeigt,  um  was  es  sich 
handelt;  und  handeln  soll,  wenn  sonst  alles  nach  Wunsch 
ginge,  in  alle  Ewigkeit.  Denn  als  ob  es  noch  nicht  genug 
wäre  an  diesem  alttestamentlichen  Semitismus:  man  hat  auch 
noch  den  neutestamentlichen  diesem  Systeme  dienstbar  zu 
machen  gewusst,  gemäss  dessen  das  Elend  des  Lebens  von  denen, 
die  es  gepackt  hat  und  zermalmt,  nicht  nur  in  widerstandsloser 
Sklavendemut  ertragen  werden  soll,  nein,  es  soll  sogar  noch  als 
höchstes  Glück  gepriesen  werden,  als  Läuterungsmittel,  durch 
welches  ein  überschwängliches,  ewiges  Wohlergehen  und  Ge- 
niessen erworben  wird.  Allerdings  mit  der  kleinen  Unbequem- 
lichkeit insofern,  als  man  erst  gestorben  sein  muss,  wenn  man 
sich  ihrer  erfreuen  will.  „Die  Religion  des  Kreuzes".  Kreuz 
nicht  nur  als  altrömisches  Hinrichtungsinstrument,  sondern 
auch  in  der  Bedeutung  des  Lebensjammers  und  Elends  des 
modernen  Proletariates. 

Diesem  System  stellt  nun,  wie  gesagt,  der  Sozialismus 
seine  materialistische  Geschichtsauffassung  entgegen.  Gemäss 
dieser  sind  die  berührten  Gesellschaftsverhältnisse  nichts  Ge- 
wolltes, sondern  etwas  Gewordenes;  etwas,  was  aus  bestimmten 


356  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

anderen,  früheren  Verhältnissen  und  Geschehnissen  als  seinen 
Ursachen  mit  Notwendigiteit  hervorgegangen  ist.  Diese  bereits 
echt  buddhistische  Anschauungsweise  wird  nun  konsequent 
buddhistisch  weitergeführt.  Beruht  unser  modernes  Massen- 
elend auf  Ursachen,  so  gibt  es  auch  ein  Mittel  dagegen;  ein 
einziges  zwar  nur,  aber  dafür  auch  ein  unfehlbares,  welches 
dem  menschlichen  Willensentschlusse  frei  zur  Verfügung  steht. 
Geschehene  Dinge  sind  zwar  nicht  zu  ändern;  zu  ändern  ist 
aber  das  fortdauernde  Geschehen,  welches  für  die  Zukunft 
Unheil  im  Gefolge  haben  muss.  Gelingt  es,  dessen  Wesen 
zu  durchschauen  und  selbst  stark  und  mächtig  genug  zu 
werden,  um  unseren  Willen  ihm  gegenüber  zur  Geltung  zu 
bringen,  es  zu  verhindern,  so  ist  auch  dieses  Elend,  seine  Folge, 
für  die  Zukunft  beseitigt. 

Wie  nun  und  als  was  der  Sozialismus  das  Elend  unserer 
modernen  Gesellschaftsordnung  erkannt  hat,  und  welche  Gegen- 
mittel er  zu  seiner  Abstellung  ersonnen  hat  und  anzuwenden 
bemüht  ist,  das  gehört  nicht  hierher,  um  so  weniger,  als  eine 
bereits  recht  umfangreiche  sozialistische  Literatur  den  einge- 
hendsten Aufschluss  hierüber  gibt. 

Der  Buddhist  sieht  aber  hier  —  man  hat  kaum  noch  einen 
Hinweis  nötig  —  die  Kamma-Lehre  vor  sich.  In  vollster  Rein- 
heit sieht  er  hier  sein  uraltes  Kausalitätsgesetz,  wie  es  der 
Buddha  selber  verkündigt  hat,  wenn  auch  nur  auf  einen  Teil 
der  Leiden  des  Lebens  angewendet.  Und  rein  auch  in  Bezug 
auf  seine  praktische  Anwendung,  insofern  nämlich,  als  nicht 
mit  Bösem,  nicht  in  Mass  und  Rachedurst  das  Böse  beseitigt 
werden  soll,  sondern  mit  Gutem,  d.  h.  durch  Erkennen  und 
Wissen,  durch  Aufklärung  und  Erziehung  zur  Sittlichkeit,  zum 
Zusammenwirken  und  zur  gegenseitigen  Unterstützung. 

Die  Gegner  des  Sozialismus  erblicken  hierin  Atheismus. 
Gewiss,  sie  haben  Recht!  Denn  wo  man  ein  Gesetz  entdeckt 
hat,  braucht  man  die  Willkür  nicht  mehr.  Weder  die  göttliche, 
noch  die  menschliche.  Und  auch  in  letzterer  Hinsicht  ist  ebenfalls 
niemand  ehrlicher  als  die  Sozialisten  selber,  wenn  sie  sich  in 
verschiedenen  Staaten  Europas  offen  als  Demokraten  bezeichnen. 
Und  trotzalledem:  ist  es  nicht  höchste,  wahrste  Frömmigkeit, 
edelster  Theismus;  ist  es  nicht  bewundernswerteste  Loyalität 
zugleich,  für  all  das  tausendfältige  Elend  der  Welt,  für  die 
entsetzlichen  Blutopfer  der  Kriege,  der  Industrien,  Bergwerks- 
betriebe usw.,  für  das  grauenvolle  Dahinsiechen  der  Millionen 
in  geistiger  Nacht  und  körperlichen  Leiden  eben  keinen  „all- 
gütigen Vater  im  Himmel"  und  keinen  Mitmenschen  verant- 
wortlich zu  machen?! 

Ein  weiterer  und  wiederum  echt  buddhistischer  Zug  im 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  357 

Sozialismus  ist  die  Idee  der  Gleichheit  aller  Menschen,  rück- 
sichtlich ihres  Daseins-  und  Selbstbestimmungsrechtes,  und  die 
Idee  der  Brüderlichkeit,  der  Solidarität  oder  des  Füreinander- 
eintretens bei  allen  Gelegenheiten  und  auf  jede  Weise,  wo  die 
einen  den  anderen  nützlich  werden  können.  Der  Sozialismus 
negiert  und  bekämpft  prinzipiell  jede  Bevorrechtung  respektive 
Benachteiligung  nicht  nur  der  verschiedenen  Individuen  und 
Gesellschaftsklassen  daheim,  sondern  auch  jede  Art  der  Verge- 
waltigung fremder  Völker  und  Rassen,  und  wären  es  selbst  die 
unentwickeltsten,  rückständigsten.  Die  Motive  sind  Humanität 
und  Nützlichkeit.  Das  ist  nun  freilich  nicht  mehr  buddhistisch, 
oder  vielleicht,  besser,  noch  nicht  buddhistisch.  Der  Buddhis- 
mus hat  auch  hier  ein  solides  philosophisches  Fundament,  den 
All-Einheitsbegriff  rücksichtlich  aller  Bewusstseinsträger,  oder 
die  Einheit  alles  Bewusstseins  auf  dem  Substrate  der  Indivi- 
dualisationen  als  seines  unentbehrlichen  Daseinsmittels;  prak- 
tisch verwirklicht  durch  „das  Aufgeben  des  Ich-selbst-Gedan- 
kens",  wie  es  die  buddhistischen  Schriften  negativ  auszudrücken 
pflegen.  Mit  letzterem  verglichen  bemerkt  man  nun  allerdings, 
dass  Humanität  und  Nützlichkeit  kaum  etwas  anderes  sind, 
wie  Phrasen  von  äusserst  schwankendem  Gedankeninhalt  und 
Umfang,*)  und  so  braucht  es  denn  auch  nicht  Wunder  zu 
nehmen,  wenn  wir  infolgedessen  auf  Disharmonien  und  direkte 
Gegensätze  stossen  gerade  bei  dieser  Gelegenheit,  wie  sie  sonst 
innerhalb  des  Sozialismus  nicht  hervortreten.  Da  gibt  es  z.  B. 
Leute,  die  „nicht  jeden  Schutzzoll  verwerfen,"  also  bereit  sind, 
ihren  Brüdern  da  draussen  den  Absatz  ihrer  Arbeitsprodukte 
und  ihren  Brüdern  daheim  die  Deckung  ihrer  Bedürfnisse  zu 
erschweren.  Andere  „verwerfen  nicht  jede  Kolonialpolitik 
schlechthin",  sie  möchten  also  gern  eine  Zivilisation  exportieren, 
die  uns  selber  noch  fehlt,  eine  Kultur  verbreiten,  von  der  sie 
selber  sagen,  dass  sie  keine  ist,  oder  dass  sie  in  den  letzten 
Zügen  liegt.  Manche  wollen  auch  noch  die  dazugehörigen 
Panzerschiffe,  wie  z.  B.  ein  bekannter  christlichsozialer  Geist- 
licher. Zahllos  sind  jene,  die  bald  zu  diesem,  bald  zu  jenem 
vermeintlich  guten  Zwecke  „im  Interesse,  zum  Wohle  derGesamt- 
heit,"    wie   sie   es   auszudrücken  lieben,   bald   dem   Einzelnen, 


*)  Schon  im  alltäglichen  Sprachgebrauche  findet  man  das  bestätigt. 
Man  sagt:  wahre  Humanität,  echte  H.,  edelste  H.,  seltene  H.,  wenn  es 
etwas  Besonderes  gilt.  Folglich  gibt  es  auch  falsche,  unechte,  weniger 
edele,  alltägliche  Humanitäten,  von  denen  man  kein  Aufhebens  macht. 
Human  nannte  man  bei  seiner  Einfuhrung  in  verschiedenen  Staaten 
Nordamerikas  das  entsetzenerregende  elektrische  Hinrichtungsverfahren. 
Human  wird  jede  neue  Kriegswaffe,  jede  auf  die  Erhöhung  ihrer  Wirk- 
samkeit gerichtete  Veränderung  einer  alten  genannt.  —  Humanität  ist 
eben,  wie  gesagt,  eine  verwaschene  Phrase. 


S58  t)ER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

bald  Minoritäten  der  verschiedensten  Grösse   Opfer  der  aller- 
bedenklichsten  Art  aufzuerlegen  bereit  sind.     Um  aus  Vielem 
nur  eins  herauszugreifen:   wenn   es   sich   z.  B.   um   die  soge- 
nannte    Prophylaxis,     um     mehr     oder     weniger    imaginäre 
hygienische  Endzwecke  handelt,  geht  bei  nicht  Wenigen  jede 
Rücksicht  auf  das  leibliche  und  geistige  resp.  sittliche  Wohl- 
befinden  ihrer  Mitmenschen  verloren.    Die  Furcht,  die  Angst, 
die  freilich  der  Buddhist  als  ihm  wohlbekannte  Leidenschaften 
von   sich   abzustreifen    hat,   rauben   diesen   Menschenfreunden 
den  Verstand.    Sie  übersehen  daher  einmal,  dass  die  Gesamt- 
heit minus  Minorität   nicht   mehr   die  Gesamtheit  ist,   sodann, 
dass  das  Wohl   der   Gesamtheit   überhaupt  niemals   in  Frage 
steht,  sondern  ebenfalls  nur  das  Wohl  einer  mehr  oder  weni- 
ger grossen  Minorität,  in  der  Regel  noch  dazu  von  Individuen, 
die  teils  aus  Unverstand  und  Leichtsinn,  teils  aus  Selbstsucht 
für  ihre  Person  keinerlei  Vorsicht  zu  beobachten  willens  sind. 
So  sehen  wir  uns  denn  allerdings  in  diesen  letzteren  Fällen 
wieder  dem  berüchtigten  Rechte  des  Stärkeren  oder  der  nicht 
weniger  bedenklichen  Majoritätswirtschaft  auch  noch  im  Sozia- 
lismus gegenüber.     Das  „stellvertretende  Leiden"  der  Christen 
in  allem  Atheismus  noch.    Die  notwendige  Folge  des  Mangels 
eines  festen,  philosophischen  Fundamentes!    Doch  verdient  es 
Hervorhebung,  dass  der  Sozialist  Jos.  Dietzgen  in  konsequen- 
ter Entwickelung  seiner  panhenotistischen  Philosophie  den  hier 
in  Frage  kommenden  buddhistischen  Vorstellungen  schon  sehr 
nahe  steht,   und   das  ist   um   so  bemerkenswerter,  wenn  man 
sich  gegenwärtig  hält,    welche   ausserordentlichen    Schwierig- 
keiten  das   volle  Erfassen    gerade    der  All-Einheitslehre  dem 
europäisch  trainierten  Gehirne   zu  bereiten  pflegt.     Es  ist  also 
mindestens  nicht  ausgeschlossen,  dass  auch   hier  eines  Tages 
die   buddhistische  Philosophie   zum    Durchbruch    kommt,    und 
die  zwar  anbefohlene,  aber  nun  schon  seit  1900  Jahren  tagtäg- 
lich auf  das   brutalste   durch  Tatsachen   ironisierte  Liebe   der 
praktischen  Verwirklichung  von  ein  paar  ganz  anspruchslosen 
logischen    Postulaten    des    Buddhismus:     Mitleid    und    Wohl- 
wollen heissen  sie,  Platz  machen  muss. 

Soviel  über  die  Grundlagen  des  Sozialismus.  —  Beachtens- 
wert in  hohem  Masse  ist  es  nun,  dass  wie  im  Buddhismus, 
so  auch  im  Sozialismus  die  übereinstimmende,  beziehungsweise 
ähnliche  Weltauffassung  zu  völlig  oder  nahezu  übereinstim- 
menden Moralbegriffen  geführt  hat.  Wir  wollen  das  prüfen, 
indem  wir  den  greifbarsten  Niederschlag  der  buddhistischen 
Ethik,  die  sogenannten  fünf  Gebote  des  Buddha  durchsehen, 
und  dabei  vergleichen,  wie  sich  der  Sozialismus,  aber  auch 
seine  Gegnerschaft  zu  denselben  stellt. 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  359 

1.  Nicht  töten.  —  Im  Buddhismus  gibt  es  bei  diesem 
Gebote  überhaupt  keine  Ausnahme.  Der  Sozialismus  zeigt 
sich  ihm  am  nächsten  stehend  insofern,  als  derselbe  wenig- 
stens das  Töten  von  Menschen  unter  allen  Umständen  verwirft, 
also  auch  Krieg,  Hinrichtung  und  Duell.  —  Seine  Gegner  zei- 
gen sich  in  diesen  Punkten  uneins.  So  verwirft  der  Katholi- 
zismus, wie  übrigens  auch  das  Gesetz  Englands,  das  Duell.  Gegen 
Hinrichtung  und  Krieg  haben  beide  dagegen  nichts  einzuwenden. 
Gegner  der  Todesstrafe  trifft  man  in  allen  Bevölkerungsschichten 
Europas,  doch  sind  sie,  soweit  sie  eben  nicht  Sozialisten  sind, 
recht  dünn  gesäet.  —  Der  Krieg  wird  von  einer  Friedensliga 
perhorresziert.  Wird  er  aber  drohend,  wie  beispielsweise  im 
vorigen  Sommer  in  Deutschland,  so  hört  man  von  einer 
Friedensliga  nichts  mehr,  desto  vernehmlicher  und  einstimmiger 
aber  aus  sämtlichen  nichtsoziaiistischen  Lagern  das  Schimpfen 
und  Schreien  über  diejenigen,  welche  ernstliche  Massnahmen 
zur  Erhaltung  des  Friedens  treffen,  wie  es  eben  die  deutschen 
und  französischen  Sozialisten  bei  jener  Gelegenheit  unter- 
nommen hatten.  — 

2.  Nicht  nehmen,  was  einem  nicht  gegeben  ist.  —  Der 
Umfang,  welcher  dieser  Vorschrift  im  Gesellschaftsleben  der 
Staaten  Europas  eingeräumt  ist,  deckt  sich  vollkommen  mit 
den  bescheidenen  Ansprüchen  der  verschiedenen  Strafgesetz- 
bücher. Dass  es  auch  Unrecht  sein  kann,  seine  Mitmenschen 
durch  Lohnkürzungen  und  Knapphalten,  durch  Börsenmanöver, 
durch  Trust-  und  Syndikatswucherei,  durch  gesetzgeberische 
Massnahmen,  wie  Zölle,  Steuern,  welche  die  Armen  treffen,  u. 
dergl.  m.  zu  expropriieren,  ist  eine  Ansicht,  welche  ausser  Bud- 
dhisten nur  Sozialisten  zu  ihren  Trägern  hat. 

3.  Keiner  sexuellen  Unsittlichkeit  fröhnen.  —  Auch  in 
diesem  trüben  Kapitel  erblicken  wir  einzig  den  Sozialismus  in 
prinzipienklarer  Stellungnahme,  obschon  gern  anerkannt  sein 
soll,  dass  auch  von  anderer  Seite  nicht  wenig  gegen  die  Un- 
sittlichkeit gesprochen  und  geschrieben  wird,  bei  den  soge- 
nannten standesgemässen  und  dergleichen  Heiraten  angefangen 
bis  hinunter  zum  ordinären  Menschenhandel  der  Strasse.  Aber 
die  Ideologen  vergessen  auch  hier,  wie  immer,  dass  das  ge- 
wissermassen  Gesellschaftsinstitutionen  sind,  die  ihre  Opfer 
fordern,  und  daher  mit  moralischen  wie  physischen  Zwangs- 
und Strafmitteln,  die  ja  nur  die  Opfer  treffen  können,  nicht  zu 
bessern,  geschweige  zu  beseitigen  sind.  —  Abschaffung  der 
Privilegien,  der  Geburt  sowohl,  wie  der  des  Besitzes,  Hebung 
der  Bildung,  Nichtverhindern  der  wirtschaftlichen  Kämpfe  um 
eine  menschenwürdige  Existenz,  das  sind  die  Gegenmittel  des 
Sozialismus   gegen   jene  Übel,   sein   auf   die   Beseitigung   der 


360  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Ursachen  gerichtetes  und  darum  wieder  echt  buddhistisches 
Streben.  Soweit  seine  Macht  reicht,  betätigt  er  sich  schon 
jetzt,  z.  B.  dadurch ,  dass  seine  Zeitungen  im  auffallenden 
Unterschiede  zu  den  meisten  übrigen  keine  Anzeigen  etc.  auf- 
nehmen, welche  der  Unsittlichkeit  irgendwie  Vorschub  leisten. 

4.  Nichts  Unwahres  sagen.  —  Die  strenge  Befolgung 
gerade  dieses  buddhistischen  Gebotes  mtisste  als  ein  Haupt- 
verdienst des  Sozialismus  gepriesen  werden,  wenn  sie  sich 
nicht  ganz  von  selbst  verstände.  Wer  die  Zukunft  zu  erobern 
gedenkt,  kann  nicht  mit  falschen  Vorspiegelungen  operieren, 
denn  „Lügen  haben  kurze  Beine."  Sein  Heil  in  der  Aufrecht- 
erhaltung von  Vorurteilen,  Aberglauben  und  sonstigen  Unwahr- 
heiten zu  suchen,  ist  Torheit,  denn  es  ist  aussichtslos.  Zu 
bedauern  sind  diejenigen,  welche  das  nötig  zu  haben  glauben. 

5.  Keine  berauschenden  Getränke  geniessen.  —  Auch  die 
Erfüllung  dieses  letzten  der  buddhistischen  Laiengebote  lässt 
man  sich  in  sozialistischen  Kreisen  in  beständig  zunehmendem 
Masse  angelegen  sein;  und  besonders  interessant  in  seiner 
Form  sowohl,  wie  in  seinen  Motiven  ist  dieser  Vorgang  im 
heutigen  Deutschland,  dem  klassischen  Lande  des  Durstes, 
wenn  auch  nicht  gerade  der  Betrunkenheit.  —  Hat  er  in  an- 
deren Ländern  nicht  selten  einen  eigenartigen  frömmelnden, 
sektirerischen  Anstrich  mit  den,  wie  es  scheint,  unvermeid- 
lichen Begleiterscheinungen,  wie  Selbstüberhebung,  öffentliches 
Sichbrüsten  und  Heuchelei,  zumal  dort,  wo  man  einen  Teufel 
austreiben  zu  müssen  glaubt,  und  nebenher  die  Spenden  wohl- 
habender Philanthropen  winken,  so  ist  das  hier  anders.  Man 
macht  hier  kein  Aufhebens  mit  Abstinenzgelübden,  noch  weniger 
dekoriert  man  sich,  sondern  unterlässt  die  Trinkerei  in  aller 
Formlosigkeit.  Das  Resultat  ist  bei  oberflächlichem  Betrachten 
nicht  leicht  erkennbar,  denn  in  den  deutschen  Industriestädten, 
den  Hauptsitzen  des  Sozialismus,  haben  die  Betrunkenen 
eigentlich  niemals  eine  einigermassen  auffällige  Erscheinung 
gebildet.  Um  so  klarer  tritt  es  dagegen  hervor  in  dem  ganz 
bedeutenden  und  andauernden  Rückgange  der  Umsätze  in 
alkoholischen  Getränken,  in  den  Fabrikkantinen  besonders,  und 
in  dem  wachsenden  Missvergnügen  aller  Alkoholinteressenten. 
—  Und  aus  welchen  Motiven  hat  sich  dieser  Umschwung 
vollzogen?  Unsere  aufgeklärte  Arbeiterschaft  enthält  sich  der 
alkoholischen  Getränke,  weil  sie  eingesehen  hat,  dass  sie  den 
Verstand  schwächen,  schlaff,  gleichgiltig,  energielos  machen, 
im  Menschenverkehr  zu  unüberlegtem  Reden  und  Tun  Veran- 
lassung geben  und  bei  der  Arbeit  grosse  Gefahr  bringen.  — 
Die  Schwächung  des  Verstandes  ist  aber  genau  derselbe  Grund, 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  36l 

aus  welchem  das  Trinken  auch  in  den  buddhistischen  Texten, 
z.  B.  im  Dhammikasutta,  verboten  wird!  — 

Es  würde  keinerlei  Schwierigkeiten  bieten,  noch  mehr  der- 
artige Parallelismen  aufzuführen;  doch  mag  es  an  obigen  genug 
sein.  —  Der  Grund  ihres  im  Hinblick  auf  die  dazwischen- 
liegenden 2500  Jahre  gewiss  recht  seltsam  anmutenden  Vor- 
handenseins ist  zwar  schon  aus  dem  Dargelegten  zu  erkennen, 
doch  werden  ihn  ein  paar  Worte  noch  klarer  hervortreten  lassen. 

Die  Pälitexte  zeigen  uns  den  Buddha  als  einen  Denker, 
der  fest  und  unerschütterlich  auf  dem  Boden  der  induktiven 
Forschungsmethode  stand.  Beobachtung  war  die  alleinige 
Quelle  seiner  Kenntnisse,  und  eindringlichst  ermahnt  er  seine 
Zuhörer,  jeden  Autoritätsglauben  abzustreifen  und  nur  das  allein 
als  glaubwürdig  anzusehen,  was  sich  mit  den  Tatsachen  deckt. 
Dem  entsprach  auch  seine  Lehrmethode.  Mag  man  auch  ge- 
neigt sein,  in  dem  unablässigen,  in  jedem  Satze  wiederkehren- 
den Begründen  eines  jeden  Gedankens  auch  ein  mnemotech- 
nisches Hilfsmittel  zu  erblicken,  ähnlich  dem  Beweisaufbau 
in  Euklids  Elementen,  so  wird  man  doch  zugeben  müssen, 
dass  für  den  Buddha  und  seine  Schüler  hierfür  noch  andere 
Gründe  massgebend  sein  mussten,  sobald  man  sich  erinnert, 
mit  welchen  ganz  anderen,  und  keineswegs  weniger  zweck- 
mässigen Methoden  man  in  Indien  seit  den  ältesten  Zeiten 
schon  seinem  Gedächtnisse  zu  Hilfe  zu  kommen  versteht, 
wenn  man  nur  diesen  letzteren  Zweck  im  Auge  hat.  Und 
diese  Gründe  können  dann  keine  anderen  gewesen  sein,  als 
das  untrennbare  Zusammenschweissen  von  Grund  und  Folge, 
um  selbst  nicht  das  kleinste  Teilchen  des  Ganzen  aus  dem 
Gebiete  des  Realen,  Beweisbaren  in  dasjenige  des  Übersinn- 
lichen, Unbeweisbaren  hinüberverdunsten  zu  lassen.  — 

So  ist  die  Lehre  des  Buddha  die  verkörperte  Kausalität 
schon  in  ihrer  Form  und  nichts  weiter  bringt  sie  und  kann 
sie  bringen,  als  das  Kausalitätsprinzip.  Sehen  wir  nun,  dass 
dieses  selbe  Prinzip,  wenn  auch  nach  noch  so  langer  Zeit, 
sich  auch  bei  uns  endlich  zum  Durchbruch  ringt,  so  kann  es 
gar  nicht  anders  sein,  als  dass  sich  auch  die  oben  nachge- 
wiesenen Übereinstimmungen  zeigen. 

Dass  es  gerade  der  Sozialismus  ist,  an  welchem  sie  sich 
zeigen,  und  nicht  die  Naturwissenschaft,  obgleich  letztere  jenes 
Prinzip  schon  weit  länger  anerkennt,  liegt  daran,  dass  sich  die 
Naturwissenschaftler,  die  einen  als  Nichts-als-Materialisten,  die 
anderen  als  abhängige  Beamte  konfessionell  regierter  Staaten, 
auf  das  Strengste  je  auf  ihre  allerengsten  Wissensgebiete 
zurückgezogen   haben,   daher   mit  Philosophie  und  Ethik,   und 


362  DER  BUDDHIST.  1.  Jahrg. 

gar  mit  Politik,  Volkswirtsciiaft,  Religion  und  dergleichen  als 
Forscher  längst  ausser  jedem  Kontakt  sind. 

So  waren  es  eben  andere  Leute,  welche  das  Kausalitäts- 
gesetz für  die  Wissenschaften  des  Menschentums  nutzbar  zu 
machen  hatten. 

Man  könnte  nun  hier  wohl  einwenden,  dass  trotz  aller 
Übereinstimmung  im  philosophischen  Fundamente  wie  in  der 
hierauf  basierten  Ethik  doch  die  Ziele  recht  verschieden  seien. 
Im  Buddhismus  die  Erlösung  von  allen  Leiden  durch  Erlangung 
höchster  Weisheit;  im  Sozialismus  die  Erringung  eines 
menschenwürdigen  Daseins.  Das  ist  richtig.  Dafür  ist  eben 
das  eine  der  Buddhismus,  das  andere  der  Sozialismus,  welche 
heute  schon  identifizieren  zu  wollen  niemandem  in  den  Sinn 
kommen  wird.  —  Aber  was  ist  diese  Erringung  eines  menschen- 
würdigen Daseins  weiter,  als  die  Aufhebung  eines  Leidens, 
eines  Massenelendes  sogar,  durch  welches  Millionen  und 
Abermillionen  an  die  Erlangung  einer  höheren  Vollkommenheit 
auch  nur  zu  denken  schon  verhindert  sind?  Und  ein  Leiden 
in  seinen  Ursachen  erforschen  und  durch  Aufhebung  seiner 
Ursachen  beseitigen,  ist  eben  echt  buddhistisches  Streben  und  Tun. 
Was  weiter  wird,  nach  Erreichung  dieses  nächsten  Zieles, 
kann  kaum  zweifelhaft  sein.  Man  wird  sich  nach  derselben 
Methode  von  weiteren  Leiden  zu  erlösen  bestrebt  sein,  wird 
also  dem  reinen  Buddhismus  immer  näher  kommen.  Denn 
dass  man  lieber  zur  Askese  zurückkehren  wird,  —  entgegen 
den  Ausführungen  im  Dhamma-cakka-ppavattana-sutta,  der 
allerersten  Lehrrede  des  Buddha,  wo  aber  schon  die  Askese 
ebenso  verboten  ist,  wie  Genusssucht  und  Völlerei  —  zurück- 
kehren wird  zur  Askese  des  Proletarierelends,  die  nicht  einmal 
Ansehen  verschafft,  sondern  auch  noch  Spott,  Verachtung  und 
Entrechtung  einbringt,  das  ist  nicht  besonders  wahrscheinlich. 
Dazu  ist  schon  heute  die  Opposition  hiergegen  zu  gross. 


Die  Lehre  des  Buddha 

oder:    Die   vier   heiligen  Wahrheiten. 

Nach  Aussprüchen  des  Päli-Kanons  zusammengestellt. 

Von  Bhikkhu  Nyänatiloka  (Ceylon). 

(Schluss.) 

IV.  Einsicht  in  die  Erscheinungen. 
Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erschei- 
nungen über  die  Erscheinungen? 

[Die   fünf   Hemmungen:]     Da   wacht,    ihr   Brüder,    ein 
Mönch  bei  den  Erscheinungen   über  das  Erscheinen  der  fünf 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  363 

Hemmungen.  Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den 
Erscheinungen  über  das  Erscheinen  der  fünf  Hemmungen? 

[1.  Begierde:]  Da  merkt,  ihr  Brüder,  ein  Mönch,  wenn 
Wunscheswiile  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist  Wunscheswilie',  merkt, 
wenn  kein  Wunscheswille  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist  kein  Wunsches- 
wille'. Er  merkt,  wenn  Wunscheswilie  sich  eben  erst  entwickelt, 
merkt,  wenn  der  deutlich  gewordene  Wunscheswille  verneint 
wird,  er  merkt,  wenn  der  verneinte  Wunscheswille  künftig  nicht 
mehr  erscheint. 

[2.  Hass:]  Er  merkt,  wenn  Hass  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist 
Hass',  merkt,  wenn  kein  Hass  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist  kein  Hass'. 
Er  merkt,  wenn  Hass  sich  eben  erst  entwickelt,  merkt,  wenn 
der  deutlich  gewordene  Hass  verneint  wird,  er  merkt,  wenn 
der  verneinte  Hass  künftig  nicht  mehr  erscheint. 

[3.  Trägheit:]  Er  inerkt,  wenn  Trägheit  in  ihm  ist,  ,ln 
mir  ist  Trägheit',  merkt,  wenn  keine  Trägheit  in  ihm  ist,  ,In 
mir  ist  keine  Trägheit'.  Er  merkt,  wenn  Trägheit  sich  eben 
erst  entwickelt,  merkt,  wenn  die  deutlich  gewordene  Trägheit 
verneint  wird,  er  merkt,  wenn  die  verneinte  Trägheit  künftig 
nicht  mehr  erscheint. 

[4.  Stolz:]  Er  merkt,  wenn  Stolz  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist 
Stolz',  merkt,  wenn  kein  Stolz  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist  kein  Stolz'. 
Er  merkt,  wenn  Stolz  sich  eben  erst  entwickelt,  merkt,  wenn 
der  deutlich  gewordene  Stolz  verneint  wird,  er  merkt,  wenn 
der  verneinte  Stolz  künftig  nicht  mehr  erscheint. 

[5.  Zweifel:]  Er  merkt,  wenn  Zweifel  in  ihm  ist,  ,In  mir 
ist  Zweifel',  merkt,  wenn  kein  Zweifel  in  ihm  ist,  ,In  mir  ist 
kein  Zweifel'.  Er  merkt,  wenn  Zweifel  sich  eben  erst  entwickelt, 
merkt,  wenn  der  deutlich  gewordene  Zweifel  verneint  wird, 
er  merkt,  wenn  der  verneinte  Zweifel  künftig  nicht  mehr  erscheint. 

So  wacht  er  bei  den  inneren  Erscheinungen  über  die  Er- 
scheinungen, so  wacht  er  bei  den  äusseren  Erscheinungen  über 
die  Erscheinungen,  innen  und  aussen  wacht  er  bei  den  Erschei- 
nungen über  die  Erscheinungen.  Er  betrachtet  wie  die  Er- 
scheinungen entstehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen 
vergehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen  entstehen  und 
vergehen.  ,Die  Erscheinungen  sind  da:'  diese  Einsicht  wird 
nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie  zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung 
dient,  —  und  unabhängig  lebt  er  und  nichts  in  der  Welt  be- 
gehrt er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erschei- 
nungen über  die  Erscheinungen,  über  die  fünf  Hemmungen. 

[Die  fünf  Elemente  des  Lebenstriebes  (upädäna):] 
Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Der  Mönch  wacht  bei  den  Er- 
scheinungen über  das  Erscheinen  der  fünf  Elemente  des 
Lebenstriebes.    Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei 


au  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

den  Erscheinungen  über  das  Erscheinen  der  fünf  Elemente  des 
Lebenstriebes? 

Da  sagt  sich,  ihr  Brüder,  der  Mönch:  ,So  ist  die  Form, 
so  entsteht  sie,  so  löst  sie  sich  auf;  so  ist  das  Gefühl,  so 
entsteht  es,  so  löst  es  sich  auf;  so  ist  die  Wahrnehmung, 
so  entsteht  sie,  so  löst  sie  sich  auf;  so  sind  die  Unterschei- 
dungen (sankhärä),  so  entstehen  sie,  so  lösen  sie  sich  auf; 
so  ist  das  Bewusstsein,  so  entsteht  es,  so  löst  es  sich  auf.' 

So  wacht  er  bei  den  inneren  Erscheinungen  über  die  Er- 
scheinungen, so  wacht  er  bei  den  äusseren  Erscheinungen  über 
die  Erscheinungen,  innen  und  aussen  wacht  er  bei  den  Er- 
scheinungen über  die  Erscheinungen.  Er  betrachtet  wie  die 
Erscheinungen  entstehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen 
vergehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen  entstehen  und 
vergehen.  ,Die  Erscheinungen  sind  da:'  diese  Einsicht  wird 
nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie  zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung 
dient,  —  und  unabhängig  lebt  er  und  nichts  in  der  Welt  be- 
gehrt er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erschei- 
nungen über  die  Erscheinungen,  über  die  fünf  Elemente 
des  Lebenstriebes. 

[Die  sechs  subjektiv  -  objektiven  Sinnesorgane:] 
Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Der  Mönch  wacht  bei  den  Er- 
scheinungen über  das  Erscheinen  der  sechs  subjektiv-ob- 
jektiven Sinnesorgane.  Wie  aber,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch 
bei  den  Erscheinungen  über  das  Erscheinen  der  sechs  subjek- 
tiv-objektiven Sinnesorgane? 

Da  kennt,  ihr  Brüder,  ein  Mönch  das  Auge  und  kennt  die 
Formen  und  die  Verbindung,  die  sich  aus  beiden  ergibt,  auch 
diese  kennt  er.  Er  erkennt,  wenn  die  Verbindung  eben  erst 
erfolgt,  erkennt,  wenn  die  erfolgte  Verbindung  aufgehoben  wird, 
und  erkennt,  wenn  die  aufgehobene  Verbindung  künftig  nicht 
mehr  erscheint.  —  Er  kennt  das  Ohr  und  kennt  die  Töne  und 
die  Verbindung,  die  sich  aus  beiden  ergibt,  auch  diese  kennt 
er.  Er  erkennt,  wenn  die  Verbindung  eben  erst  erfolgt,  erkennt, 
wenn  die  erfolgte  Verbindung  aufgehoben  wird,  und  erkennt, 
wenn  die  aufgehobene  Verbindung  künftig  nicht  mehr  erscheint. 
—  Er  kennt  die  Nase  und  kennt  die  Düfte  und  die  Verbindung, 
die  sich  aus  beiden  ergibt,  auch  diese  kennt  er.  Er  erkennt, 
wenn  die  Verbindung  eben  erst  erfolgt,  erkennt,  wenn  die  er- 
folgte Verbindung  aufgehoben  wird,  und  erkennt,  wenn  die 
aufgehobene  Verbindung  künftig  nicht  mehr  erscheint.  —  Er 
kennt  die  Zunge  und  kennt  die  Säfte  und  die  Verbindung,  die 
sich  aus  beiden  ergibt,  auch  diese  kennt  er.  Er  erkennt,  wenn 
die  Verbindung  eben  erst  erfolgt,  erkennt,  wenn  die  erfolgte 
Verbindung  aufgehoben  wird,   und  erkennt,  wenn   die   aufge- 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  'JOS 

hobene  Verbindung  künftig  nicht  mehr  erscheint.  —  Er  kennt 
den  Leib  und  kennt  die  Tastungen  und  die  Verbindung,  die 
sich  aus  beiden  ergibt,  auch  diese  kennt  er.  Er  erkennt,  wenn 
die  Verbindung  eben  erst  erfolgt,  erkennt,  wenn  die  erfolgte 
Verbindung  aufgehoben  wird,  und  erkennt,  wenn  die  aufge- 
hobene Verbindung  künftig  nicht  mehr  erscheint.  —  Er 
kennt  das  Denken  und  kennt  die  Dinge  (Vorstellungen)  und 
die  Verbindung,  die  sich  aus  beiden  ergibt,  auch  diese  kennt 
er.  Er  erkennt,  wenn  die  Verbindung  eben  erst  erfolgt,  erkennt, 
wenn  die  erfolgte  Verbindung  aufgehoben  wird,  und  erkennt, 
wenn  die  aufgehobene  Verbindung  künftig  nicht  mehr  er- 
scheint. — 

So  wacht  er  bei  den  inneren  Erscheinungen  über  die  Er- 
scheinungen, so  wacht  er  bei  den  äusseren  Erscheinungen 
über  die  Erscheinungen,  innen  und  aussen  wacht  er  bei  den 
Erscheinungen  über  die  Erscheinungen.  Er  betrachtet  wie  die 
Erscheinungen  entstehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen 
vergehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen  entstehen  und 
vergehen.  ,Die  Erscheinungen  sind  da:'  diese  Einsicht  wird 
nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie  zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung 
dient,  und  unabhängig  lebt  er  und  nichts  in  der  Welt  begehrt 
er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erscheinungen 
über  die  Erscheinungen,  über  die  sechs  subjektiv-objek- 
tiven Sinnesorgane. 

[Die  sieben  zur  Erleuchtung  führenden  Kräfte, 
bojjhangä:]  Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Der  Mönch 
wacht  bei  den  Erscheinungen  über  das  Erscheinen  der  sieben 
zur  Erleuchtung  führenden  Kräfte.  Wie  aber,  ihr  Brüder, 
wacht  ein  Mönch  bei  den  Erscheinungen  über  das  Erscheinen 
der  sieben  zur  Erleuchtung  führenden  Kräfte? 

[1.  Einsicht:]  Da  gewahrt,  ihr  Brüder,  ein  Mönch,  wenn 
Einsicht  in  ihm  wach  ist,  ,In  mir  ist  Einsicht  wach',  und  ge- 
wahrt, wenn  Einsicht  nicht  in  ihm  wach  ist,  ,In  mir  ist  Ein- 
sicht nicht  wach';  er  gewahrt,  wenn  Einsicht  eben  erst  erwacht, 
und  gewahrt,  wenn  die  erwachte  Einsicht  völlig  aufgeht. 

[2.  Wahrheitserforschung:]  Er  gewahrt,  wenn  Intuition 
in  ihm  wach  ist,  ,ln  mir  ist  Intuition  wach',  und  gewahrt,  wenn 
Intuition  nicht  in  ihm  wach  ist,  ,In  mir  ist  Intuition  nicht  wach'; 
er  gewahrt,  wenn  Intuition  eben  erst  erwacht,  und  gewahrt, 
wenn  die  erwachte  Intuition  völlig  aufgeht. 

[3.  Kraft:]  Er  gewahrt,  wenn  Kraft  in  ihm  wach  ist,  ,In 
mir  ist  Kraft  wach'  und  gewahrt,  wenn  Kraft  nicht  in  ihm 
wach  ist,  ,In  mir  ist  Kraft  nicht  wach';  er  gewahrt,  wenn  Kraft 
eben  erst  erwacht,  und  gewahrt,  wenn  die  erwachte  Kraft 
völlig  aufgeht. 


986  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

[4.  Freudigkeit:]  Er  gewahrt,  wenn  Freudigkeit  in  ihm 
wach  ist,  ,In  mir  ist  Freudigkeit  wach',  und  gewahrt,  wenn 
Freudigkeit  nicht  in  ihm  wach  ist,  ,ln  mir  ist  Freudigkeit  nicht 
wach';  er  gewahrt,  wenn  Freudigkeit  eben  erst  erwacht,  und 
gewahrt,  wenn  die  erwachte  Freudigkeit  völHg  aufgeht. 

[5.  Ruhe:]  Er  gewahrt,  wenn  Ruhe  in  ihm  wach  ist,  ,ln 
mir  ist  Ruhe  wach',  und  gewahrt,  wenn  Ruhe  nicht  in  ihm 
wach  ist,  ,In  mir  ist  Ruhe  nicht  wach';  er  gewahrt,  wenn  Ruhe 
eben  erst  erwacht,  und  gewahrt,  wenn  die  erwachte  Ruhe 
völlig  aufgeht. 

[6.  Konzentration:]  Er  gewahrt,  wenn  Sammlung  in  ihm 
wach  ist,  ,In  mir  ist  Sammlung  wach',  und  gewahrt,  wenn 
Sammlung  nicht  in  ihm  wach  ist,  ,In  mir  ist  Sammlung  nicht 
wach';  er  gewahrt,  wenn  Sammlung  eben  erst  erwacht,  und 
gewahrt,  wenn  die  erwachte  Sammlung  völlig  aufgeht. 

[7.  Gleichmut:]  Er  gewahrt,  wenn  Gleichmut  in  ihm 
wach  ist,  ,In  mir  ist  Gleichmut  wach',  und  gewahrt,  wenn 
Gleichmut  nicht  in  ihm  wach  ist,  ,In  mir  ist  Gleichmut  nicht 
wach';  er  gewahrt,  wenn  Gleichmut  eben  erst  erwacht,  und 
gewahrt,  wenn  der  erwachte  Gleichmut  völlig  aufgeht. 

So  wacht  er  bei  den  inneren  Erscheinungen  über  die  Er- 
scheinungen, so  wacht  er  bei  den  äusseren  Erscheinungen  über 
die  Erscheinungen,  innen  und  aussen  wacht  er  bei  den  Er- 
scheinungen über  die  Erscheinungen.  Er  betrachtet  wie  die 
Erscheinungen  entstehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen 
vergehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen  entstehen  und 
vergehen.  ,Die  Erscheinungen  sind  da:'  diese  Einsicht  wird 
nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie  zur  Erkenntnis,  zur  Besinnung 
dient,  und  unabhängig  lebt  er,  und  nichts  in  der  Welt  begehrt 
er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erscheinungen 
über  die  Erscheinungen,  über  die  sieben  zur  Erleuchtung 
führenden  Kräfte. 

[Die  vier  heiligen  Wahrheiten:]  Und  ferner  noch,  ihr 
Brüder:  Der  Mönch  wacht  bei  den  Erscheinungen  über  das 
Erscheinen  der  vier  heiligen  Wahrheiten.  Wie  aber,  ihr 
Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erscheinungen  über  das  Er- 
scheinen der  vier  heiligen  Wahrheiten? 

Da  versteht,  ihr  Brüder,  ein  Mönch  der  Wahrheit  gemäss: 
.Dies  ist  das  Leiden',  versteht  der  Wahrheit  gemäss:  ,Dies  ist 
die  Leidensentstehung',  versteht  der  Wahrheit  gemäss:  ,Dies 
ist  die  Leidensvernichtung',  versteht  der  Wahrheit  gemäss: 
(Dies  ist  der  zur  Leidensvernichtung  führende  Pfad'. 

So  wacht  er  bei  den  inneren  Erscheinungen  über  die  Er- 
scheinungen, so  wacht  er  bei  den  äusseren  Erscheinungen 
über  die  Erscheinungen,  innen  und  aussen  wacht  er  bei  den 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  367 

Erscheinungen  über  die  Erscheinungen.  Er  betrachtet  wie  die 
Erscheinungen  entstehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen 
vergehen,  er  betrachtet  wie  die  Erscheinungen  entstehen  und 
vergehen.  ,Die  Erscheinungen  sind  da:'  diese  Einsicht  wird 
nun  seine  Stütze,  eben  weil  sie  zur  Ericenntnis,  zur  Besinnung 
dient,  und  unabhängig  lebt  er,  und  nichts  in  der  Weit  begehrt 
er.  Also,  ihr  Brüder,  wacht  ein  Mönch  bei  den  Erscheinungen 
über  die  Erscheinungen,  über  die  vier  heiligen  Wahr- 
heiten. 

Der  gerade  Weg,  ihr  Brüder,  der  zur  Läuterung  der  Wesen, 
zur  Überwältigung  des  Schmerzes  und  Jammers,  zur  Zerstörung 
des  Leidens  und  Kummers,  zur  Gewinnung  des  Wissens,  zur 
Verwirklichung  des  Nibbäna  führt,  das  sind  die  »vier  Pfeiler 
der  Einsicht«.     (Majjhima  Nikäya,  Satipatthänasutta.) 

Gleichwie  nun,  ihr  Brüder,  der  Elefantenbändiger  einen 
grossen  Pfahl  in  die  Erde  eingräbt  und  den  wilden  Elefanten 
mit  dem  Halse  daran  fesselt,  um  ihm  sein  waldgewohntes  Be- 
tragen eben  auszutreiben,  um  ihm  seine  waldgewohnte  Sehn- 
sucht eben  auszutreiben,  um  ihm  seine  waldgewohnte  Wider- 
spenstigkeit, Verstocktheit,  Heftigkeit  eben  auszutreiben,  und 
ihn  in  der  Umgebung  des  Dorfes  heimisch  werden  und  Sitten 
annehmen  lässt,  wie  sie  bei  Menschen  beliebt  sind:  —  Ebenso 
nun  auch,  ihr  Brüder,  hat  der  heilige  Jünger  sein  Gemüt  an 
diese  »vier  Pfeiler  der  Einsicht«  gleichsam  festgebunden,  um 
sich  das  weltgewohnte  Betragen  eben  auszutreiben,  um  sich 
die  weltgewohnte  Sehnsucht  eben  auszutreiben,  um  sich  die 
weltgewohnte  Widerspenstigkeit,  Verstocktheit,  Heftigkeit  eben 
auszutreiben,  um  das  Echte  zu  gewinnen,  um  das  Nibbäna  zu 
verwirklichen.    (Majjhima  Nikäya  125.) 


Achte  Stufe:  Sammäsamädhi,  rechte  Vertiefung/) 

Was  ist  nun,  ihr  Brüder,  rechte  Vertiefung? 

Da  sucht,  ihr  Brüder,  der  Mönch  einen  abgelegenen  Ruhe- 
platz auf,  den  Fuss  eines  Baumes  im  Walde,  eine  Felsengrotte, 
eine  Bergesgruft,  einen  Friedhof,  die  Waldesmitte  oder  ein 
Streulager  in  der  offenen  Ebene.  Nach  dem  Male,  wenn  er 
vom  Almosengange  zurückgekehrt  ist,  setzt  er  sich  mit  ge- 
kreuzten Beinen  nieder,  den  Körper  gerade  aufgerichtet,  und 
pflegt  der  Einsicht. 

(Frei-sein  von  den  fünf  Hemmungen:]  Er  hat  Lust- 
begierde verworfen   und  verweilt  begierdelosen  Gemütes,  von 


')  Andere  Übersetzungen  sind:    Rechte  Versenkung,   rechtes  Sich- 
versenken, rechte  Meditation,  rechter  Zustand  eines  reinen  Geistes. 


366  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Begierde  läutert  er  sein  Herz.  —  Gellässigkeit  hat  er  verworfen, 
hasslosen  Gemütes  verweilt  er,  voll  Liebe  und  Mitleid  zu  allen 
lebenden  Wesen  läutert  er  sein  Herz  von  Gehässigkeit.  — 
Matte  Schlaffheit  hat  er  verworfen,  von  matter  Schlaffheit  ist 
er  frei;  das  Licht  liebend,  einsichtig,  klar  bewusst,  läutert  er 
sein  Herz  von  matter  Schlaffheit.  —  Stolzes,  mürrisches  Wesen 
hat  er  verworfen,  er  ist  frei  von  Stolz;  innig  beruhigten  Gemütes 
läutert  er  sein  Herz  von  stolzem,  mürrischem  Wesen.  —  Das 
Schwanken  hat  er  verworfen,  der  Ungewissheit  ist  er  entronnen; 
er  zweifelt  nicht  am  Guten,  vom  Schwanken  läutert  er  sein 
Herz.  — 

[Die  vier  Jhänä  (Schauungen,  Vertiefungen):]  Er 
hat  nun  diese  fünf  Hemmungen  aufgehoben,  hat  die  Schlacken 
des  Gemütes,  die  lähmenden  kennen  gelernt.  Den  Begierden 
erstorben,  dem  Schlechten  entronnen,  lebt  er  in  sinnend  geden- 
kender, ruhegeborener,  seliger  Heiterkeit  in  der  Weihe  der 
ersten  Schauung. 

Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Nach  Vollendung  des  Sinnens 
und  Gedenkens,  erwirkt  der  Mönch  die  innere  Meeresstille,  die 
Einheit  des  Gemütes,  die  von  Sinnen  und  Gedenken  los- 
gelöste, in  der  Selbstvertiefung  geborene  selige  Heiterkeit  der 
zweiten  Schauung. 

Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  In  heiterer  Ruhe  verweilt 
der  Mönch  gleichmütig,  einsichtig,  klar  bewusst;  jenes  Glück 
empfindet  er  in  seinem  Körper,  von  dem  die  Heiligen  sagen: 
,Der  gleichmütig-Einsichtige  lebt  beglückt';  so  erwirkt  er  die 
Weihe  der  dritten  Schauung. 

Und  ferner  noch,  ihr  Brüder:  Nach  Verwerfung  der  Freuden 
und  Leiden,  nach  Vernichtung  des  einstigen  Frohsinns  und 
Trübsinns  bewirkt  der  Mönch  die  Weihe  der  vierten  Schau- 
ung.   (Majjhima  Nikäya.) 

Solchen  Gemütes,  innig  geläutert,  gesäubert,  gediegen, 
schlackengeklärt,  geschmeidig,  biegsam,  fest,  unversehrbar, 
richtet  er  den  Geist  auf  die  Erkenntnis  der  Wahnversiegung. 
,Dies  ist  das  Leiden'  versteht  er  der  Wahrheit  gemäss.  ,Dies 
ist  die  Leidensentstehung'  versteht  er  der  Wahrheit  gemäss. 
,Dies  ist  die  Leidensvernichtung'  versteht  er  der  Wahrheit  ge- 
mäss. ,Dies  ist  der  zur  Leidensvernichtung  führende  Pfad' 
versteht  er  der  Wahrheit  gemäss.     (Majjhima  Nikäya  39.) 

Erblickt  er  nun  mit  dem  Gesichte  eine  Form,  so  verfolgt 
er  nicht  die  angenehmen  Formen  und  verabscheut  nicht  die 
unangenehmen,  gewärtig  des  Wesens  der  Körperlichkeit  ver- 
weilt er  unbeschränkten  Gemütes  und  gedenkt  der  Wahrheit 
gemäss,  jener  Gemüterlösung,  Weisheiterlösung,  wo  seine 
schlechten,  bösen  Eigenschaften  sich  restlos  auflösen.    So  hat 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  30B 

er  sich  von  Befriedigt-sein  und  Nicht-befriedigt-sein  losgelöst, 
und  was  für  ein  Gefühl  er  auch  fühlt,  ein  freudiges  oder  lei- 
diges oder  weder  freudiges  noch  leidiges,  dieses  Gefühl  hegt 
er  nicht  und  pflegt  er  nicht  und  klammert  sich  nicht  daran. 
Während  er  das  Gefühl  nicht  hegt  und  nicht  pflegt  und  sich 
nicht  daran  klammert.Möst  jenes  Genügehaben  bei  den  Gefühlen 
sich  auf.  Durch  die  Auflösung  jenes  Genügens  wird  das 
Haften  am  Dasein  aufgelöst,  durch  die  Auflösung  des  Haftens 
am  Dasein  der  Daseinsprozess,  durch  die  Auflösung  des  Da- 
seinsprozesses die  Neu-Individuation,  durch  die  Aufhebung  der 
Neu-lndividuationi.werden  Altern.und  Sterben,  Wehe,  Jammer, 
Leiden,  Gram  und  Verzweiflung  aufgelöst:  also  kommt  die 
Auflösung  dieser  ganzen  Leidensverkettung  zustande. 

Hört  er  nun  mit  dem  Gehöre  einen  Ton,  —  riecht  er  nun 
mit  dem  Gerüche  einen  Duft,  —  schmeckt  er  nun  mit  dem 
Geschmacke  einen  Saft,  —  tastet  er  nun  mit  dem  Körper  [als 
Tastorgan]  eine  Tastung,  —  stellt  er  nun  mit  den  Gedanken 
sich  ein  Ding  vor,  so  verfolgt  er  nicht  die  angenehmen  Dinge 
und  verabscheut,  nicht  die  unangenehmen,  gewärtig  des  Wesens 
der  Körperlichkeit  verweilt  er  unbeschränkten  Gemütes  und 
gedenkt,  der  Wahrheit  gemäss,  jener  Gemüterlösung,  Weisheit- 
eriösung,  wo  seine  schlechten,  bösen  Eigenschaften  sich  rest- 
los auflösen.  So  hat  er  sich  von  Befriedigt-sein  und  Nicht- 
befriedigt-sein  losgelöst,  und  was  für  ein  Gefühl  er  auch  fühlt, 
ein  freudiges  oder  leidiges,  oder  weder  freudiges  noch  leidiges, 
dieses  Gefühl  hegt  er  nicht  und  pflegt  er  nicht  und  klammert 
sich  nicht  daran.  Während  er  das  Gefühl  nicht  hegt  und  nicht 
pflegt  und  sich  nicht  daran  klammert,  löst  jenes  Genügehaben 
bei  den  Gefühlen  sich  auf.  Durch  die  Auflösung  jenes  Ge- 
nügens wird  das  Haften  am  Dasein  aufgelöst,  durch  die  Auf- 
lösung des  Haftens  am  Dasein  der  Daseinsprozess,  durch  die 
Auflösung  des  Daseinsprozesses  die  Neu-Individuation,  durch 
die  Auflösung  der  Neu-Individuation  werden  Altern  und  Ster- 
ben, Wehe,  Jammer,  Leiden,  Gram  und  Verzweiflung  aufgelöst: 
also  kommt  die  Auflösung  dieser  ganzen  Leidensverkettung 
zustande.    (Majjhima  Nikäya  38.) 

Das  ist  ja,  ihr  Brüder,  die  höchste,  heilige  Weisheit,  näm- 
lich alles  Leiden  versiegt  wissen.  Der  hat  eine  Freiheit  ge- 
funden, die  wahrhaft  besteht,  unantastbar. 

Das  ist  ja,  ihr  Brüder,  die  höchste,  heilige  Wahrheit,  näm- 
lich was  echt  ist,  das  Nibbäna. 

Das  ist  ja,  ihr  Brüder,  die  höchste,  heilige  Entsagung, 
nämlich  aller  Anhaftungen  sich  entäussern. 

Das  ist  ja,  ihr  Brüder,  die  höchste,  heilige  Beruhigung, 
nämlich  Begierde,  Hass  und  Wahn  aufgelöst  haben. 

24 


370  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

,Ich  bin',  ihr  Brüder,  ist  ein  Wälinen;  ,ich  bin  niclit'  ist 
ein  Wähnen;  ,ich  werde  sein'  ist  ein  Wähnen;  ,ich  werde  nicht 
sein'  ist  ein  Wähnen;  ,gestaltet  werde  ich  sein'  ist  ein 
Wähnen;  ,formlos  werde  ich  sein'  ist  ein  Wähnen;  ,be- 
wusst  werde  ich  sein'  ist  ein  Wähnen;  ,unbewiisst  werde 
ich  sein'  ist  ein  Wähnen ;  ,weder  bewusst  noch  iinbewusst 
werde  ich  sein'  ist  ein  Wähnen.  Wähnen,  ihr  Brüder,  ist  icrani< 
sein,  wähnen  ist  weh  sein:  ist  aber,  ihr  Brüder,  alles  Wähnen 
überstanden,  so  wird  man  »Stiller  Denker«  genannt.  Und 
der  Denker  nun,  ihr  Brüder,  der  stille,  entsteht  nicht,  vergeht 
nicht,  erstirbt  nicht,  erbebt  nicht,  begehrt  nicht.  Das  eben,  ihr 
Brüder,  gibt's  nicht  bei  ihm,  dass  er  entstände;  weil  er  nicht 
entsteht,  wie  sollte  er  vergehen?  Weil  er  nicht  vergeht,  wie 
sollte  er  ersterben?  Weil  er  nicht  erstirbt,  wie  sollte  er  er- 
beben? Weil  er  nicht  erbebt,  wie  sollte  er  begehren?  (Maj- 
jhima  Nikäya  140.) 

So  ist,  ihr  Brüder,  der  Gewinn  des  Arahätums  nicht 
Almosen,  nicht  Ehre,  nicht  Ruhm,  nicht  Ordenstugend,  nicht 
Glück  der  Selbstvertiefung,  nicht  Wissensklarheit.  Jene  uner- 
schütterliche Gemüterlösung  aber  wahrlich,  ihr  Brü- 
der, das  ist  der  Zweck,  das  ist  das  Arahätum,  das 
ist  der  Kern,  das  ist  das  Ziel.    (Majjhima  Nikäya  30.) 

Und  die  da  früher,  ihr  Brüder,  in  vergangenen  Zeiten 
Heilige,  vollkommen  Erwachte  (sambuddhä)  waren,  auch  diese 
haben  eben  so  richtig  ein  solches  Ziel  den  Jüngern  gewiesen, 
gleichwie  da  jetzt  von  mir  die  Jünger  rjchtig  gewiesen  sind. 
Und  die  da  später,  ihr  Brüder,  in  künftigen  Zeiten  Heilige, 
vollkommen  Erwachte  sein  werden,  auch  diese  Erhabenen 
werden  ebenso  richtig  ein  solches  Ziel  den  Jüngern  weisen, 
gleichwie  da  jetzt  von  mir  die  Jünger  richtig  gewiesen  sind. 
(Majjhima  Nikäya  51.) 

Wahrlich,  ihr  Brüder,  was  ein  Meister  den  Jüngern  aus 
Liebe  und  Teilnahme,  von  Mitleid  bewogen,  schuldet,  das  habt 
ihr  von  mir  empfangen.  Da  laden  Bäume  ein  und  dort  leere 
Klausen.  Wirket  Schauung,  ihr  Brüder,  auf  dass  ihr  nicht  lässig 
werdet,  später  nicht  Reue  empfindet:  Das  haltet  als  unser 
Gebot!    (Majjhima  Nikäya  106.) 

Alle  Dinge  sind  vergänglich:  Wirket  eure  Erlösung  ohn' 
Unterlass!    (Mahäparinibbänasutta.) 

Alle  Gaben  überwältigt  Wahrheitsgabc,  alle  Würzen  über- 
wältigt Wahrheitswürze,  alle  Wonnen  überwältigt  Wahrheits- 
wonne, der  Gier  Erlöschen  überwältigt  alle  Leiden. 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  371 

Das  Missions-Problem. 

Von  Dr.  Paul  Carus. 

(Schluss.) 

Der  Grund,  weshalb  im  allgemeinen  die  heutigen  christ- 
lichen Missionen  als  ein  beklagenswerter  Missgriff  bezeichnet 
werden  müssen,  liegt  hauptsächlich  in  der  Überhebung,  mit 
welcher  die  Religion  Christi  den  „Heiden"  aufgedrungen  wird. 
Die  Christen  beschäftigen  sich  so  intensiv  mit  der  Demut 
Christi,  dass  sie  des  Übermutes  nicht  gewahr  werden,  der  sie 
selbst  auszeichnet.  Da  ist  z.  B.  ein  Missions-Hymnus, 
dessen  melodische  Verse  häufig  in  christlichen  Kirchen  Eng- 
lands und  Amerikas  gesungen  werden.  Die  Verse  sind  an  sich 
schön,  aber  leider  sind  sie  durch  den  Ausdruck  einer  unver- 
hüllten Verachtung  gegen  die  „Heiden"  verdorben  worden,  und 
doch  scheint  kein  einziger  Missionar  dies  zu  merken.  Die 
erste  Strophe  ist  erhaben  und  voll  von  Begeisterung;  sie  lautet 
in  deutscher  Übersetzung: 

„Von  Grönlands  eisigen  Höhen, 

Von  Indiens  Korallen-Strand, 

Wo  Libyens  sonnige  Quellen 

Fortrollen  ihren  gold'nen  Sand; 

Von  manchem  alten  Strome, 

Von  manchem  Palmen-Land 

Fleht  man  uns  an,  zu  lösen 

Das  Volk  von  Irrtums  Band." 
Das  ist  wirkliche  Poesie  und  Begeisterung;  aber  das  Ge- 
dicht fährt  nun  fort: 

„Weh'n  auch  ambrosische  Lüfte 

Durch  Ceylons  Palmen-Hain, 

In  aller  Pracht  und  Schönheit 

Ist  schlecht  der  Mensch  allein. 

Umsonst  hat  hier  die  Liebe 

Des  Herrn  die  Gaben  gesät: 

Der  Heide  in  geistiger  Blindheit 

Zu  Holz  und  Steinen  fleht." 
Das  singhalesische  Volk  ist  weder  schlecht  noch  heid- 
nisch; es  ist  eine  der  edelsten  Rassen,  und  seine  Religion  ist 
Buddhismus.  Die  Verehrung  der  Singhalesen  besteht  in  Blumen- 
Opfern  auf  den  Altären  des  Buddha;  aber  selbst  der  un- 
wissendste Bewohner  Ceylons  weiss  ganz  genau  und  ist  stets 
der  Tatsache  eingedenk,  dass  eine  Buddha-Statue  keineswegs 
Buddha  selbst  ist.  Protestanten  erheben  häufig  gegen  die 
Katholiken  denselben  Vorwurf,  indem  sie  zwischen  Gebräuchen, 
die  scheinbar  wie  Idolatrie  aussehen,  und  Götzendienst  keinen 
Unterschied  machen. 

24* 


2(12  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Wie  würden  es  die  Christen  aufnehmen,  wenn  die  Bud- 
dhisten ihre  Missionare  in  unsere  Länder  schicl<ten  und  diese 
dann  Lieder  solchen  Inhalts  hier  singen  würden?!  Es  ist 
zweifellos,  dass  Missions-Lipder,  welche  die  Bewohner  von 
Ceylon  als  schlecht  und  verkommen  darstellen,  nichts  dazu 
beitragen,  die  letzteren  für  das  Christentum  einzunehmen.  Der 
oben  zitierte  Hymnus  fährt  fort: 

„Können  wir,  deren  Seelen  durch  Weisheit 

Aus  der  Höhe  erleuchtet  sind,  — 

Können  wir  denen,  die  in  Finsternis  wohnen. 

Das  Licht  des  Lebens  verweigern?" 
Der  Dichter  beabsichtigt,  das  „Licht  aus  der  Höhe"  zu 
preisen,  aber  er  preist  in  Wirklichkeit  nur  sich  selbst  als  einen 
von  jenen,  deren  „Seelen  durch  Weisheit  aus  der  Höhe  er- 
leuchtet sind",  —  und  das  ist  sehr  zweierlei.  Sein  edler  Eifer 
für  die  Ausbreitung  der  Wahrheit  entpuppt  sich  als  eine  phari- 
säische Selbstüberhebung  und  kann  bei  denen  nur  Anstoss 
erregen,  die  er  zu  bekehren  wünscht.  So  ist  es  ganz  natürlich 
und  leicht  begreiflich,  dass,  wenn  christliche  Missionare  von 
Liebe  sprechen,  Buddhisten  sie  der  Überhebung  und  Selbst- 
gerechtigkeit beschuldigen. 

Die  Missionare  beleidigen  nicht  nur  die  „Heiden"  un- 
nötigerweise dadurch,  dass  sie  eine  Verachtung  für  ihre  Per- 
son, Religion  und  Nationalität  an  den  Tag  legen,  —  nein,  sie 
verlangen  von  ihren  Konvertiten  so'gar  ein  Aufgeben  von 
Sitten  und  Gewohnheiten,  welche  sie  unmöglich  aufgeben 
können,  ohne  sich  selbst  dadurch  von  ihren  Traditionen  los- 
zureissen,  und  diese  letzteren  sind  ihnen  natürlich  sehr  teuer. 
Wenn  ein  Chinese  Christ  wird,  sollte  es  für  ihn  ebensowenig 
notwendig  sein,  dass  er  sich  von  den  edlen  Überlieferungen 
seines  Volkes  losmacht,  als  es  für  einen  getauften. Juden  er- 
forderlich ist,  seine  Volksgenossen  als  von  Gott  Ausgestossene 
zu  betrachten.  Mögen  doch  die  Juden-Christen  ruhig  fortfahren, 
den  Genuss  von  Schweinefleisch  zu  meiden,  und  indische 
Vegetarier,  die  Christen  geworden  sind,  mögen  auch  nach 
ihrem  Übertritt  Vegetarier  bleiben. 

In  der  russischen  Kirche  ist  es  Gebrauch,  dass  Konvertiten 
den  Glauben  verfluchen  müssen,  dem  sie  früher  anhingen,  und 
wir  wissen,  dass  die  jetzige  Kaiserin  diejenige  übergetretene 
Person  gewesen  ist,  bei  welcher  von  dieser  barbarischen  Sitte 
zum  ersten  Male  Abstand  genommen  wurde.  Es  war  ihr  er- 
laubt, griechisch-katholisch  zu  werden,  ohne  das  lutherische 
Bekenntnis,  in  dem  sie  erzogen  war,  verfluchen  zu  müssen. 

Es  gibt  in  China  gewisse  Gebräuche,  welche  als  der  Aus- 
druck  für   die   Heiligkeit  der   Familien-Traditionen    betrachtet 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  ab 

werden  müssen,  und  man  verlangt  von  einem  Konvertiten, 
dass  er  diese  Gebräuche  aufgebe.  In  einem  » The  Dragon, 
Image  and  Demon«  betiteltem  Buche  über  China  macht  der 
Rev.  Hampten  C.  Du  Böse  manche  wertvollen  Angaben;  leider 
ist  dieses  Buch  in  einem  überaus  engherzigen  Geist  gehalten. 
Du  Böse  mag  es  ganz  ehrlich  meinen,  aber  er  ist  ein  Sek- 
tierer, ein  christlicher  Heide,  welcher  glaubt,  dass  nur  die 
Einrichtungen  seiner  Sekte,  Kirche  oder  Nation  die  Erlösung 
gewährleisten.  Sein  Werk  ist  ein  Beispiel  für  den  schlechten 
Geist,  der  in  weiten  Kreisen  der  christlichen  Mission  herrscht. 
Es  ist  nicht  frei  von  Verdrehungen  und  Entstellungen  und 
entbehrt  jeder  Achtung  und  Anerkennung  gegenüber  dem 
Schaffen  grosser  Männer,  welche  einem  anderen  Glauben 
und  einer  anderen  Rasse  angehören. 

Du  Böse  nennt  Buddha  „die  Nacht  Asiens",  gerade  als  ob 
Asien  ohne  den  Buddhismus  besser  geworden  wäre.  Für  Aus- 
wüchse des  Aberglaubens  innerhalb  des  Buddhismus  bei  dem 
ungebildeten  Volk,  deren  Vorhandensein  jeder  Buddhist  ohne 
weiteres  zugeben  wird,  kann  doch  der  Buddha  ebensowenig 
verantwortlich  gemacht  werden,  wie  Christus  für  die  christlichen 
Kreuzzüge,  die  Verfolgungen  und  Ketzerhinrichtungen  ver- 
antwortlich ist,  Verirrungen,  mit  welchen  einst  das  gesamte 
Christentum  durchtränkt  war. 

Die  christlichen  Missionare  sollten  geneigt  sein,  alles  das, 
was  an  dem  chinesischen  Volkscharakter  gut  ist,  zu  erhalten. 
Sie  dürfen  nicht  erbarmungslos  jene  für  die  Chinesen  charak- 
teristischen Züge  ausrotten  wollen.  Wenn  die  Missionare 
keinen  modus  vivendi  für  die  Konvertiten  finden  können, 
auf  Grund  dessen  dieselben  ihre  heiligen  Familienbeziehungen 
aufrecht  erhalten,  sowie  ihre  Vorfahren  auch  weiterhin  in 
Ehren  halten  können,  —  dann  müssen  wir  der  chinesischen 
Regierung  Recht  geben,  wenn  sie  die  christlichen  Missionare 
als  eine  Landplage  betrachtet.  Wir  haben  alle  Hochachtung 
vor  jenem  Sachsen-Häuptling,  welcher,  als  er  vernahm,  dass 
alle  seine  Vorfahren  in  der  Hölle  seien,  vom  Taufbecken 
davonlief  und  es  vorzog,  mit  seinen  Vätern  die  ewige  Ver- 
dammnis zu  teilen,  anstatt  die  Seligkeit  des  Christen-Himmels 
in  der  Gessellschaft  christlicher  Priester  zu  geniessen. 

Das  Missions-Werk  ist  auf  einen  höheren  Standpunkt 
emporzuheben;  es  sollte  in  einer  Gesinnung  brüderlicher 
Liebe,  und  nicht  in  dem  Geiste  pharisäischer  Selbstüberhe- 
bung ausgeführt  werden.  Die  Regeln,  welche  in  dieser  Rich- 
tung von  allen  beobachtet  werden  sollten,  hat  Rev.  George 
T.  CandUn,  ein  in  Tien-tsin  (China)  wirkender  christlicher 
Missionar,  welcher   auf  dem   Religions-Parlament  persönlich 


314  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

und  freundschaftlich  mit  den  buddhistischen  und  itonfuzi- 
anischen  Delegierten  aus  Ost-Asien  verkehrte,  in  schöner, 
klarer  Weise  auseinander  gesetzt.     Er  schreibt: 

„Wir  müssen  den  Anfang  damit  machen,  dass  einer  dem 
anderen  von  uns  für  seine  guten  Absichten  Dank  weiss.  Ich 
sehe  nicht  ein,  aus  welchem  Grunde  wir,  die  wir  hier  ver- 
sammelt sind,  —  die  vielen  hervorragenden  Vertreter  des 
Christentums  und  die  Repräsentanten  anderer  Religionen,  die 
jetzt  hier  in  Chicago  weilen,  wie  die  Herren  Mozoomdar, 
Dharmapäla,  Vivekänanda,  Ghandi,  Pimg,  ferner  die  buddhi- 
stischen Delegierten  aus  Japan  und  die  Hohenpriester  des 
Shintoismus,  —  ich  sehe  nicht  ein,  sage  ich,  warum  wir 
alle  uns  gegenseitig  nicht  fest  auf  folgende  Punkte  verpflich- 
ten sollten: 

1.  Niemals  persönlich  geringschätzend  über  die  religiöse 
Überzeugung  emes  anderen  zu  sprechen.  Diesen  Punkt 
möchte  ich  so  verstanden  wissen,  dass  derselbe  keineswegs 
die  freundliche,  objektive  Diskussion  über  die  vorhandenen 
Verschiedenheiten,  sowie  das  freie  Bekenntnis  der  eigenen 
Überzeugung  ausschliesse. 

2.  Offiziell  unter  den  eigenen  Religionsgenossen  mit 
allen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln,  durch  mündliche  Beleh- 
rung, durch  die  Person  und  durch  jede  sich  bietende  gün- 
stige Gelegenheit  denselben  Geist  brüderlichen  Wohlwollens 
und  anerkennender  Achtung  hinsichtlich  des  religiösen  Den- 
kens anderer  zu  verbreiten. 

3.  Die  religiösen  Führer  mögen  ihren  ganzen  Einfluss 
aufbieten,  um  die  Volksmassen  von  der  Ausübung  solcher 
Praktiken  und  Zeremonien  abzubringen,  welche  mit  dem 
Wesen  der  betreffenden  Religion  nichts  zu  tun  haben;  die- 
selben sind  der  Reinheit  der  Lehre  schädlich  und  verhindern 
ein  gemeinsames  Wirken. 

4.  Alle  diejenigen  Mittel  zu  begünstigen  und  anzuwenden, 
welche  unter  den  Menschen  desselben  Bekenntnisses  und 
derselben  Nationalität  Reform,  Fortschritt,  Einsicht,  politische 
Freiheit  und  sozialen  Aufschwung  zu   fördern  geeignet  sind. 

5.  Es  als  einen  Teil  der  heiligsten  Aufgaben  hier  auf  Erden 
zu  betrachten,  alle  Menschen  von  Fähigkeit  und  Einfluss,  mit 
denen  man  in  Berührung  kommt,  für  dieselbe  hohe  Sache 
zu  werben. 

Alle  diese  Punkte  kann  ich  von  ganzem  Herzen  unter- 
schreiben. Ich  sehe  nicht  ein,  warum  es  andere  nicht  können 
sollten."  — 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  375 

Die 

Transmigration  oder  Wiedergeburt. 

Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya. 

(Schluss.) 
Der  Beweis  auf  Grund  des  moralischen  Gesetzes  ist 
eine  Art  argumentum  ad  hominem  und  nur  für  diejenigen 
zwingend,  weiche  an  das  Vorhandensein  einer  moralischen 
Weltordnung  glauben.  Dieses  Argument  kann  so  formuliert 
werden:  Allein  hier  in  unserem  menschlichen  Leben  sehen 
wir,  dass  IVIänner  und  Frauen  in  allen  Arten  möglicher  Bedin- 
gungen, in  den  verschiedensten  Umgebungen,  mit  den  denk- 
bar abweichendsten  Möglichkeiten  nach  der  guten  oder  bösen 
Seite  hin  geboren  werden,  und  es  erhebt  sich  natürlich  die 
Frage,  auf  welche  vorhergehende  Ursache  kann  die  Verschie- 
denheit dieser  Bedingungen  zurückgeführt  werden?  Die 
Antwort  an  der  Hand  dieses  Argumentes  ist  folgende:  Wenn 
es  ein  moralisches  Gesetz  im  Universum  gibt,  so  sind  auch, 
da  wir  wissen,  dass  keine  Wirkung  ohne  eine  Ursache  erzeugt 
wird,  jene  Unterschiede  in  den  mannigfaltigen,  bald  mehr, 
bald  weniger  glücklichen  Lebenslagen  die  Frucht  einer  be- 
stimmten mentalen  Beschaffenheit  in  der  Vergangenheit,  d.i. 
in  einem  vergangenen  Dasein;  und  wenn  man  diesen  Gedanken 
in  einer  mit  den  menschlichen  Ideen  von  Gerechtigkeit  usw. 
harmonierenden  Weise  zum  Ausdruck  bringen  will,  so  muss  man 
sagen,  dass  hier  die  Transmigrations-Theorie  (oder  in 
gleicher  Weise  die  hinduistische  Reinkarnations-Idee)  als  die 
einzige  haltbare  Hypothese  sich  bietet.  Denn  wenn  ein 
Mensch  jetzt  leidet,  so  geschieht  dies  nach  der  genannten 
Theorie  aus  dem  Grunde,  weil  er  in  vergangenen  Leben 
Böses  getan  hat,  und  umgekehrt;  auf  diese  Weise  werden  die 
augenscheinlichen  Ungerechtigkeiten  im  Leben  beiseite  ge- 
schafft. Wir  sehen  tatsächlich,  wie  dieses  moralische  Gesetz 
in  den  menschlichen  Leben  wirkt;  wie  gewisse  Arten  von 
schlechten  Taten  unweigerlich  bestimmte  Strafen  in  Form 
von  Leiden  nach  sich  ziehen,  und  es  ist  nicht  schwer  den 
buddhistischen  Standpunkt  zu  verstehen,  dass  ein  Mensch, 
welcher    augenscheinlich     unversehrt     durchs     Leben    geht, 


376  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

obwohl  er  sein  eigenes  Gemüt  durch  seine  Missetaten  be- 
schädigt hat,  ganz  gewiss  in  späteren  Leben  für  das  Böse, 
das-  er  in  dieser  Erscheinungsform  begangen  hat,  leiden 
wird;  denn  es  ist  allein  sein  Geist,  welcher  die  Kräfte  in  Be- 
wegung setzt,  die  sein  zukünftiges  Leben  aufbauen  werden. 
Die  Schwierigkeit,  ein  ^moralisches  Gesetz<<  anzuerkennen, 
(welche  für  viele  besteht),  —  denn  alle  Gesetze,  die  wir 
kennen,  können  in  ihrer  Wirkung  ebenso  „gut"  wie  „schlecht" 
sein,  —  diese  Schwierigkeit  kann  am  ehesten  beseitigt  werden, 
wenn  die  Ansicht  sich  durchringt,  dass  ein  Mensch  durch 
»schlechtes  Handeln«  seinen  eigenen  Geist  schädigt;  und 
Moralität  wird  dann  als  eine  Art  y  Wissenschaft  der  geistigen 
Hygiene«  eine  höhere  Stelle  einnehmen,  als  ihr  eine  blosse 
Gefühlsschwärmerei  jemals  zu  geben  vermag.  — 

Was  das  mit  der  Vererbung  in  Zusammenhang 
stehende  Argument  anbetrifft,  so  wissen  wir,  dass  gewisse 
Tatsachen  der  Lebenserscheinu^gen  durch  Zuhilfenahme  des 
blossen  Vererbungs-Gedankens  nur  sehr  unvollkommen  erklärt 
werden  können.  Wenn  die  Vererbung  ein  absolut  gültiges  Ge- 
setz wäre,  dann  müssten  alle  Kinder  derselben  Eltern  —  zum 
mindesten  alle  Zwillinge  —  genau  dieselben  mentalen  Fähig- 
keiten aufweisen.  Wir  wissen,  dass  dies  letztere  nicht  der 
Fall  ist,  dass  vielmehr  alle  Kinder  als  Individuen  verschieden 
sind,  und  der  Buddhist  erklärt  diese  Tatsache  dadurch,  dass 
er  sagt:  Die  Vererbung  hat  nur  einen  relativ  kleinen  Anteil, 
und  jedes  Kind  hat  tatsächlich  als  Fundament  seines  Charak- 
ters das  Kamma  seiner  eigenen  vergangenen  Lebensläufe, 
und  die  Vererbung  eines  Menschen  wirkt  nur  insofern  mit,  als 
sein  eigenes  Kamma  mit  derselben  übereinstimmt  (durch  den 
Prozess  einer  bestimmten  „Absorption",  wie  wir  oben  durch 
eine  physikalische  Analogie  erläutert  haban).  A'\:j3S3hen  von 
den  Fällen  einfacher  Va'-iationen  ist  die  Vererbungs-Tneorie 
gänzlich  ungenügend,  um  die  bemirkenswarten  Baispiele 
des  sporadisch  erscheinenden  Genies  zu  erklären,  welche 
gelegentlich  ba^egnen;  ferner  manche  von  unwissenden  Eltern 
gezeugte  Kinder,  welche  schon  in  ihrer  frühesten  Kindheit 
die  baachtenswertesten  Anlagan  zeigen,  wie  ein  ausgezeich- 
netes Gedächtnis,  hohe  Bagabung  für  Mithemjtik,  Misik  und 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  377 

andere  Zweige  der  Kunst  und  Wissenschaft.  Die  Trans- 
migrations-Theorie,  —  und  diese  Theorie  allein,  —  kann  alle 
diese  Phänomene  richtig  verständlich  machen.  Es  ist  keine 
genügende  Erklärung,  wenn  man  dieselben  als  zufällige 
Variationen  betrachten  will;  denn  es  kann  kein  solches  Ding 
wie  Zufall  geben,  und  was  wir  mit  diesem  Namen  bezeich- 
nen, ist  nur  ein  Deckmantel  für  unsere  Unwissenheit  hin- 
sichtlich irgend  eines  unbekannten  Gesetzes.  Das  Gesetz, 
welches  die  aus  der  Vererbung  nicht  ableitbaren  Verschieden- 
heiten erklären  will,  ist  das  Transmigrations-Gesetz.  — 

Wir  kommen  nunmehr  zu  dem  letzten  Beweise,  dem 
Argument  aus  den  Lebensstatistiken ;  ich  kann  indessen  hier 
nur  die  allerwichtigsten  Umrisse  dieses  Argumentes  zeichnen 
und  muss  die  zu  behandelnden  Tatsachen  für  eine  später 
zu  erledigende  besondere  Abhandlung  aufsparen;  denn  der 
Gegenstand  ist  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit.  Es  handelt 
sich  in  kurzen  Worten  um  folgendes:  bei  zivilisierten  Rassen 
findet  sich  weniger  die  Tendenz  zu  Individualitäts-Extremen*) 
als  bei  halb-zivilisierten,  und  wir  können  es  als  ausgemacht 
nehmen,  dass  manche  charakteristische  geistige  Eigentümlich- 
keiten, z.  B.  die  eines  Londoners,  den  meisten  Londonern 
gemeinsam  sind,  dagegen  von  denjenigen  eines  —  sagen  wir 
—  Parisers  abweichen.  Unter  Hinweis  auf  solche  ausge- 
sprochenen Eigentümlichkeiten  können  wir  vom  Standpunkt 
der  Wiedergeburts-Idee  natürlich  erwarten,  dass  der  sterbende 
Londoner  die  Tendenz  haben  wird  als  ein  Londoner  wieder- 
geboren zu  werden,  und  nicht  als  ein  Pariser.  Wenn  nun  aber 
die  Mehrzahl  der  sterbenden  Londoner  eine  Wiedergeburt  in 
London  erwirkt,  dann  werden  wir,  wenn  wir  die  normale  Bewe- 
gung der  Londoner  Bevölkerung  abwägen,  erwarten  dürfen,  dass 
irgend  eine  Schwankung  in  der  Zahl  der  Todesfälle 
innerhalb  der  Einwohner  Londons  von  einer  ähn- 
lichen Schwankung  in  der  Anzahl  der  Geburten  be- 
gleitet sein  muss.  Und  das  ist,  wie  ich  in  einem  späteren 
Aufsatze  für  die  verschiedensten  Städte  und  Länder  zeigen 
werde,  eine  fast  unveränderliche  Regel.  Die  durchschnittlichen 
Verschiedenheiten  (Fallen  und  Steigen)  in  den  Londoner  Ge- 
burts-  und  Sterbe-Listen  sind  gleichzeitig,  —  eine  Tatsache, 
welche  nur  durch  die  Transmigrations-Theorie  erklärt  werden 
kann;  denn  man  kann  unmöglich  annehmen,  dass  die  Be- 
dingungen, welche  eine  Steigung  der  Todesziffer  verursachen, 
auch  eine   Erhöhung  der  Geburtszahlen   hervorrufen  sollten. 


')  Im  Original :  „In  civilised  -aces  there  is  less  tendency  to  extremes 
of  individuality " 


378  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

Dieser  gleichmässlge  Ausgleich   ist  besonders  auffallend  bei 
dem  Eintreten  von  Katastrophen,  durch  welche  die  Zahl  der 
Todesfälle  ungewöhnlich  gesteigert  wird.    Als  der  schwarze 
Tod  die  Bewohner  Europas  dahinraffte,  war  überall  eine  ab- 
norme Zunahme  der  Geburten  zu  konstatieren,  und  die  Ge- 
burt von  Zwillingen,  ja  von  Drillingen   war   durchaus  nichts 
Aussergewöhnliches.    Dasselbe  ist  bei  Kriegen  zu  beobachten. 
Bei  dem  deutsch-französischen  Kriege  1870  war  die  franzö- 
sische Sterblichkeits-Ziffer  weit  über   dem  normalen  Stande, 
und  es  stellte  sich  sofort  ein  plötzliches  Steigen  in  der  Anzahl 
der  Geburten  ein,    und    das  Merkwürdigste    dabei  war,    dass 
die   männlichen    Geburten    die   weiblichen    numerisch   stark 
übertrafen,    —   eine   Tatsache,    welche    die  Transmigrations- 
Theorie  genau   bestätigt,   und   welche   eben    nur  durch  diese 
Theorie  erklärt  werden  kann.     Es   sind    nur  Männer,   welche 
in  einem  Kriege  der  Jetztzeit  getötet  werden,  und  nach  bud- 
dhistischer Anschauung  gehören  die  in  einer  Schlacht  Getö- 
teten zu  denjenigen  Menschen,  welche  als  Männer  und  nicht 
als  Frauen  wiedergeboren  werden.    -  Viele  andere  ähnliche 
Beispiele    muss   ich   für   eine   andere  Gelegenheit  aufheben; 
es  mag  hier  genügen,  wenn  ich  sage:  Es  ist  eine  allgemeine 
Regel,    dass  zwischen    den    Sterbe-   und   Geburtsziffern    ein 
ganz  bestimmtes  Verhältnis  besteht,  und   diese  merkwürdige 
feststehende  Beziehung  kann  nach  unserer  Ansicht  nur  durch 
die  buddhistische  Transmigrations-Theorie  erklärt  werden.  — 
Wir  haben    nun   einen  allgemeinen  Überblick   über  alles 
das  gegeben,  was  Buddhisten   unter  dem  Namen  » Transml- 
grationi-  oder  ^Wiedergeburt«  zu  bezeichnen  pflegen,  und  es 
bleibt   nur  noch  übrig  zu  betrachten,    worauf   diese   bud- 
dhistische Theorie   in   Wirklichkeit   hinausläuft.     Der 
erste   Stein,    an    dem    sich  ein  abendländischer  Leser  wahr- 
scheinlich stossen  wird,  ist  der  Umstand,  dass  hier  von  einer 
Rersönlichen  Unsterblichkeit  überhaupt  keine  Rede  ist. 
ach  buddhistischer  Anschauung   sind   wir  unsterb- 
lich nur  insofern,  als  wir  ein  Teil  der  Kräfte  in  dem 
unermesslichen  Ozean  des  Daseins  sind.   Alles  Leben 
ist  in  Wahrheit  ein  einziges,   und  das,   was   heute  unser 
Nichtwissen  als  das  »Ich«  bezeichnet,  war  gestern  die  Kraft, 
welche   in    einem   untergegangenen  Gestirn  aufflammte,   und 
wird  morgen  weitereilen  ins  Meer  der  Ewigkeit,  —  wird  hier 
in  ein  neues  Leben  eintreten    und   dort   in  einem  entfernten 
fremden  Geist  die  Gedanken  erwecken,  die  einst  die  unseren 
waren;   und  so  wird  das  Leben   gleich  dem  Licht  von  Stern 
zu  Stern  aufleuchten,   indem  es  bald  hier  erlischt,   bald  dort 
wieder  aufloht,  solange  als  das  Denken,  —  ja  das  Denken, 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  379 

welches  das  Universum  über  uns  in  der  Vorstellung  aufbaute, 
andauern  wird.  So  ist  in  der  buddhistischen  Lebensanschau- 
ung kein  Platz  für  den  Glauben  an  eine  persönliche  Unsterb- 
lichkeit, —  ,Abbhantare  jivo  nattht,  —  ,es  gibt  kein  {persön- 
liches) zukünftiges  Weiterleben' ;  —  denn  das,  was  wir 
y>Leben«  nennen,  ist,  wie  wir  sahen,  nur  eine  leichte  Kräuse- 
lung auf  der  Oberfläche  fdes  Daseins-Meeres,  —  eine  leichte 
Kräuselung,  welche  gestern  noch  nicht  war,  und  welche 
morgen  für  immer  dahin  sein  wird  —  —  . 

Und  wenn  jenen,  die  in  einer  anderen  Geistesrichtung 
erzogen  sind,  —  wenn  ihm,  der  die  selbstsüchtige  Chimäre 
gehegt  hat,  dass  die  gesamte  Welt  ohne  sein  persön- 
liches fortdauerndes  Leben  eitel  sei,  —  wenn  einem  solchen 
Menschen,  sage  ich,  die  Lehre  des  Meisters  traurig  und  öde 
erscheinen  mag,  so  erscheint  sie  im  Gegenteil  dem 
wahren  Buddhisten  als  die  feierliche  Lehre  von  dem  Ge- 
heimnis des  Lebens.  Für  ihn  ist  diese  Transmigrations- 
Doktrin  gross,  herzerhebend  und  die  geheime  Quelle  alles 
wahren  Glückes.  Demjenigen,  der  sich  selbst  als  den  Meister 
der  Ewigkeit  erkennt,  als  den  Bildner  und  Gestalter  eines 
neuen,  grösseren  Lebens  in  Zukunft,  —  was  liegt  ihm  daran, 
ob  ein  anderer  die  Früchte  geniesst,  solange  er  selbst  das 
Vorrecht  hat,  dieselben  auszustreuen?! 

So  ist  sein  Hoffen  und  Streben  frei  von  dem  elenden, 
selbstischen  Traum  einer  persönlichen  Unsterblichkeit,  es  ist 
gerichtet,  —  nicht  auf  die  Zukunft,  sondern  auf  das  Leben, 
welches  er  lebt,  auf  das  einzige  Leben,  über  welches  er  in 
Wahrheit  eine  Kontrolle  besitzt,  welches  er  grösser,  reiner 
und  edler  machen  kann,  als  es  von  uralten,  vergangenen 
Leben  auf  ihn  gekommen  ist.  In  Liebe  zu  leben  mit  allem, 
was  lebt,  ohne  Lohn  für  morgen  zu  suchen  oder  zu  gewinnen, 
—  sein  Leben  in  eine  Oase  inmitten  der  Wüste  selbstischen 
Begehrens  zu  verwandeln,  —  immer,  eben  jetzt  und  hier, 
nach  wahrer  Liebe,  Weisheit  und  vollkommenem  Frieden  zu 
streben,  —  dies  ist  für  den  Buddhisten  das  höchste  Ideal, 
der  Ruhm  seines  Dhamma  und  die  Hoffnung  auf  allen  seinen 
Wegen.  Alles  andere,  —  alles  Denken  an  einen  zukünftigen 
Lohn  für  das  Selbst  ist  nur  Trug  und  Blendwerk.  „Wie 
etwas  Reales  und  Wahres",  sagt  uns  Buddhaghosa,  „erhebt 
sich  in  uns  der  Glaube  ,Ich  bin',  ,ich  war',  ,ich  werde  sein'." 
Und  es  ist  alles  Illusion,  dem  Tautropfen  gleich,  der  sich 
selbst  für  eine  dauernde,  getrennte  Wesenheit  hält,  obwohl 
die  Wasserteilchen,  die  ihn  zusammensetzen,  gestern  in  des 
Meeres  Tiefen  ruhten  und  mit  dem  Dämmerlichte  sich  erheben 
und  mit  den  wandernden  Lüften  verschmelzen  werden.    Aber 


m  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

wenn  auch  dieses  universale  Leben  ewig  wechselnd,  mit 
Leid  behaftet  und  ohne  individuellen  Wesenskern  ist, 
so  gibt  es  doch,  wie  unsere  Religion  lehrt,  ein  Ende,  ein 
Aufhören.  Das  Denken  ist  der  Schöpfer  dieser  Welten, 
der  Bildner  dieses  irdischen  Tabernakels,  der  Erschaffer  der 
Täuschung.     Wer  nun  den  Sieg  über  die  Gedanken  gewinnt, 

gelangt  in  diesem  Leben  zum  unaussprechlichen  Frieden, 
»er  ist  der  Sieger,  welcher  hier  und  jetzt  über  das  Nicht- 
wissen triumphiert,  welcher  alle  Begierde,  allen  Mass,  allen 
Wahn  überwunden  und  den  Zustand  erreicht  hat,  wohin  das 
Weh  der  Erde  nicht  mehr  dringen  kann.  Derjenige  besitzt 
die  Freude,  welche  höher  ist  als  alle  uns  bekannten  Freuden, 
die  Seligkeit  des  Erlöst-seins  von  der  Eitelkeit  dieses  Lebens, 
—  welcher  erkennt,  dass  die  Wiedergeburten  für  ihn  beendigt 
und  alle  seine  Mühen  zum  Abschluss  gelangt  sind,  und  dass, 
wenn  der  Tod  seinen  Körper  dahinrafft,  keine  Veränderung, 
kein  Leid,  keine  Täuschung  mehr  vorhanden  sein  werden, 
wie  der  Meister  einst  gesprochen  hat: 

Verfall  muss  kommen  über  alle  Dinge, 
Vergänglich  sind  des  Lebens  Elemente, 
Was  erst  entstand,  eilt  der  Auflösung  zu: 
Des  Wechsels  Stillstand  ist  Glückseligkeit.  — 

mm 

I        I  Die  Macht  des  Karma.  i        i 

Von  Lafcadio  Hearn. ') 

Dieser  Tage  starb  ein  Priester  unter  sehr  seltsamen  Um- 
ständen. 

Er  war  der  Priester  eines  altbuddhistischen  Tempels  in 
einem  Dorfe  nahe  von  Osaka.  (Man  kann  den  Tempel  von 
der  Kwan-Setsubahn  sehen,  wenn  man  nach  Kyoto  fährt.) 

Er  war  jung  und  ausserordentlich  schön.  Allzuschön 
für  einen  Priester,  sagten  die  Frauen.  Er  sah  wie  eine  jener 
schönen  Amida-Statuen  aus,  welche  die  grossen  buddhistischen 
Bildhauer  der  Vergangenheit  geformt  haben. 

Die  Männer  seiner  Gemeinde  hielten  ihn  für  einen  reinen 
und  gelehrten  Priester,  und  darin  hatten  sie  recht.    Die  Frauen 

')  Aus  der  deutschen  Ausgabe  von  Hearns  einzigartigem  Werke  über 

iapan  »Kokoro«  (S.  174  ff.),  weiches  wir  in  dieser  Nummer  besprochen 
aben.  — 

Der  Schluss  von  •Gedanken  über  dies  und  dasc  muss  für 
einen  längeren  Aufsatz  in  einem  späteren  Heft  aufbewahrt 
werden. 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  311 

dachten  nicht  bloss  an  seine  Tugend  und  seine  Gelehrsam- 
keit; denn  er  besass  die  verhängnisvolle  Macht,  sie  wider 
seinen  Willen  anzuziehen,  in  seiner  blossen  Eigenschaft  als 
Mann.  Sie,  sowie  auch  Frauen  anderer  Gemeinden  bewun- 
derten ihn  in  keineswegs  heiliger  Weise,  und  ihre  Huldigungen 
störten  seine  Studien  und  andächtigen  Betrachtungen.  Sie 
ersannen  Vorwände,  ihn  zu  allen  Stunden  des  Tages  im 
Tempel  aufzusuchen,  nur  um  ihn  einen  Augenblick  zu  sehen 
und  zu  ihm  sprechen  zu  können.  Sie  richteten  Fragen  an 
ihn,  die  zu  beantworten  seine  Pflicht  war  und  brachten 
fromme  Gaben,  die  er  nicht  gut  abweisen  konnte.  Manche 
stellten  Fragen  unkeuscher  Art,  die  ihn  erröten  machten. 
Er  war  von  Natur  zu  weich,  um  sich  mit  harter  Abweisung 
zu  schützen.  Die  vorlauten  Stadtmädchen  erlaubten  sich 
daher,  ihm  Dinge  zu  sagen,  wie  sie  ein  Landmädchen  nie 
über  die  Lippen  gebracht  hätte:  Dinge,  die  ihn  zwangen,  sie 
aufzufordern,  seinen  Tempel  zu  verlassen.  Aber  je  mehr  er 
vor  der  Bewunderung  der  Schüchternen  und  der  Zudringlich- 
keit der  Kecken  zurückscheute,  desto  mehr  nahmen  die  An- 
fechtungen zu,  bis  sie  zur  Qual  seines  Lebens  wurden. 

Seine  Eltern  waren  schon  lange  tot;  keine  irdischen 
Bande  knüpfen  ihn  an  das  Leben;  er  liebte  nur  seinen  Beruf 
und  die  Studien,  die  damit  zusammenhingen.  Er  wollte  nicht 
an  eitle  und  verbotene  Dinge  denken.  Seine  ausserordent- 
liche Schönheit  —  die  Schönheit  eines  lebendigen  Gottes 
—  dünkte  ihm  nur  ein  Unglück.  Reichtum  wurde  ihm  unter 
Bedingungen  angeboten,  deren  blosse  Andeutung  ihn  schon 
verletzte.  Mädchen  warfen  sich  ihm  zu  Füssen  und  flehten 
vergebens  um  seine  Liebe.  Er  erhielt  fortwährend  Liebes- 
briefe, die  er  niemals  beantwortete.  Einige  derselben  waren 
in  jenem  alten,  bilderreichen  Stil  abgefasst,  der  von  „dem 
felsenfesten  Ruhekissen  der  Liebesbewegung,"  oder  von  den 
„Wellen,  welche  die  Schatten  des  Angesichtes  beleben,"  und 
von  „Strömen,  die  sich  nur  trennen,  um  sich  wieder  zu  ver- 
einigen," spricht.  Andere  wieder  waren  kunstlos,  überströ- 
mend zärtlich,  voll  von  dem  Pathos  des  ersten  Liefiesgeständ- 
nisses  eines  Mädchenherzens.  Lange  Zeit  Hessen  solche 
Briefe  den  jungen  Priester  so  ungerührt  wie  jene  Statue  des 
Buddha,  dessen  Abbild  er  zu  sein  schien.  Aber  in  Wahrheit 
war  er  kein  Buddha,  sondern  nur  ein  schwacher  Mensch, 
und  seine  Lage  wurde  immer  unerträglicher. 

Eines  Abends  kfim  ein  kleiner  Knabe  in  den  Tempel 
und  händigte  ihm  einen  Brief  ein,  flüsterte  den  Namen  der 
Absenderin  und  verschwand  in  der  Dunkelheit.  Nach  der 
späteren  Zeugenaussage  eines  Tempeldieners  las  der  Priester 


äfe  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

den  Brief,  schob  ihn  in  den  Umschlag  zurücic  und  legte  ihn 
dann  auf  die  Matte  neben  sein  Kniekissen.  Nachdem  er 
lange  in  Sinnen  versunken  dagesessen  hatte,  holte  er  sein 
Schreibzeug,  schrieb  selbst  einen  Brief,  adressierte  ihn  an 
seinen  geistlichen  Vorgesetzten  und  liess  das  Schreiben  auf 
seinem  Pult  liegen.  Dann  warf  er  einen  Blick  auf  die  Uhr 
und  zog  eine  japanische  Eisenbahntabelle  zu  Rate.  Es  war 
sehr  spät,  die  Nacht  dunkel  und  stürmisch.  Er  warf  sich 
vor  dem  Altar  zu  einer  kurzen  Andacht  auf  die  Kniee  und 
eilte  dann  aus  dem  Tempel.  Er  erreichte  die  Bahnstation 
gerade  in  dem  Augenblicke,  als  der  Expresszug  aus  Kob^ 
brausend  einfuhr.  Blitzschnell  warf  er  sich  auf  das  Geleise 
vor  dem  schnaubendem  Ungetüm  nieder.  Und  im  nächsten 
Augenblicke  hätten  diejenigen,  die  seine  seltsame  Schönheit 
angebetet  hatten,  vor  Entsetzen  aufgeschrieen  beim  Anblick 
dessen,  was  von  seinem  armen,  vergänglichen  Körper  auf 
den  Schienen  klebte. 

Der  Brief,  den  er  an  seinen  Vorgesetzten  geschrieben 
hatte,  wurde  gefunden.  Er  enthielt  die  kurze  Mitteilung,  dass 
er  in  dem  Gefühl  seiner  erschöpften  Widerstandskraft  be- 
schlossen habe,  zu  sterben,  um  nicht  der  Sünde  zu  erliegen. 
Der  andere  Brief  lag  noch  auf  dem  Boden,  wo  er  ihn  liegen 
gelassen  hatte,  ein  Brief  in  jener  Frauensprache  geschrieben, 
in  der  jede  Silbe  eine  demütige  Liebkosung  ist 

Ich  begab  mich  zu  einem  japanischen  Freunde,  einem 
buddhistischen  Gelehrten,  um  ihm  einige  Fragen  über  die 
religiöse  Auffassung  dieses  Vorfalls  zu  stellen.  Selbst  als 
Zeichen  menschlicher  Schwäche  angesehen,  erschien  mir 
dieser  Selbstmord  heroisch. 

Nicht  so  meinem  Freunde.  Er  sprach  Worte  der  Ver- 
urteilung, er  wies  darauf  hin,  dass  der,  welcher  annahm, 
durch  den  Selbstmord  der  Sünde  entgehen  zu  können,  in 
den  Augen  des  Meisters  ein  im  geistigen  Sinn  Verlorener 
sei  —  unwürdig  der  Gemeinschaft  mit  heiligen  Männern. 
Was  nun  den  Priester  betrifft,  so  hatte  er  zu  jenen  gehört, 
die  der  Meister  Toren  nannte. 

Nur  ein  Tor  könne  glauben,  durch  Zerstörung  des  eigenen 
Körpers  auch  zugleich  die  Quelle  der  Sünde  in  seiner  Seele 
zu  vernichten. 

„Aber",  wendete  ich  ein,  „das  Leben  dieses  Mannes  war 
rein.  Nehmen  Sie  an,  dass  er  den  Tod  bloss  suchte,  damit 
er  nicht  unwissentlich  andere  zur  Sünde  veranlasse?" 

Mein  Freund  lächelte  ironisch,  dann  sagte  er:  „Es  war 
einmal  eine  vornehme  japanische  Dame  von  erlesener  Schön- 
heit, die  Nonne  werden  sollte.   Sie  begab  sich  in  einen  Tempel 


No.  12.  DER  BUDDHIST.  383 

und  trug  ihren  Wunsch  vor.  Aber  der  Oberpriester  sagte: 
,Sie  sind  noch  sehr  jung,  Sie  haben  das  Leben  am  Hofe 
gelebt.  In  den  Augen  weltlicher  Männer  sind  sie  sehr  schön, 
und  Ihr  schönes  Antlitz  wird  eine  stete  Versuchung  für  Sie 
sein,  zu  den  Freuden  der  Welt  zurückzukehren.  Überdies 
kann  Ihr  Wunsch  vielleicht  nur  einem  augenblicklichen 
Kummer  entspringen.  Ich  kann  Sie  deshalb  jetzt  noch  nicht 
in  den  Orden  aufnehmen.' 

„Aber  sie  fuhr  fort  so  beharrlich  in  den  Priester  zu 
dringen,  dass  dieser  es  für  das  Beste  hielt,  sich  ihren  Bitten 
zu  entziehen,  indem  er  sich  rasch  entfernte. 

„In  dem  Räume,  wo  sie  nun  allein  war,  stand  ein  grosses 
»Hibashi«  (ein  Feuerbecken  mit  glühenden  Kohlen),  sie  er- 
griff die  Zange,  hielt  sie  ins  Feuer,  bis  sie  glühend  rot  war, 
und  damit  verwundete  und  zerriss  sie  erbarmunglos  ihr  Ant- 
litz und  zerstörte  so  ihre  Schönheit  auf  ewig. 

„Der  durch  den  Brandgeruch  erschreckte  Priester  eilte 
herbei  und  sah  voll  Betrübnis  das  Geschehene.  Aber  sie 
erneute  allsogleich  ihre  Bitten  ohne  das  geringste  Zittern 
in  ihrer  Stimme.  ,Meine  Schönheit  war  das  Hindernis,  für 
meinen  Eintritt  in  den  Orden',  sagte  sie,  ,wollen  Sie  mich 
nun  aufnehmen  ?' 

„Der  Priester  willfahrte  nun  ihrer  Bitte.  Sie  wurde 
in  den  Orden  aufgenommen  und  lebte  als  heilige  Nonne. 
Nun,  wer  war  weiser,  die  Frau  oder  der  Priester,  den  Sie 
preisen  wollten?" 

„Aber  war  es  denn  die  Pflicht  des  Priesters,"  fragte  ich, 
„sein  Gesicht  zu  verunstalten?" 

„Sicherlich  nicht!  Selbst  die  Handlungsweise  der  Frau 
wäre  nicht  verdienstvoll  gewesen,  hätte  sie  sich  dadurch  nur 
gegen  die  Versuchung  schützen  wollen.  Selbstverstümmelung 
irgend  welcher  Art  ist  durch  das  Gesetz  Buddhas  verboten; 
darin  hat  sie  sich  einer  Übertretung  schuldig  gemacht.  Aber 
da  sie  sich  das  Gesicht  einzig  aus  dem  Grunde  verbrannte, 
um  allsogleich  in  den  heiligen  Verband  aufgenommen  zu 
werden,  und  nicht,  weil  sie  [sich  unfähig  fühlte,  der  Sünde 
durch  eigene  Willenskraft  zu  widerstehen,  war  ihr  Vergehen 
verzeihlich,  wohingegen  der  Priester,  der  sein  Leben  vernich- 
tete, sich  einer  grossen  Sünde  schuldig  machte.  Er  hätte 
versuchen  müssen,  alle  die,  welche  ihn  verlocken  wollten,  zur 
Umkehr  zu  bringen.  Dazu  war  er  zu  schwach.  Fühlte  er, 
dass  er  keine  Kraft  habe,  der  Sünde  als  Priester  zu  wider- 
stehen, so  wäre  es  weit  besser  für  ihn  gewesen,  in  das  welt- 
liche Leben  zurückzukehren  und  dort  nach  dem  Gesetz 
derjenigen  zu  leben,  die  nicht  den  Geboten  der  heiligen 
Ordensregeln  unterworfen  sind." 


384  DER  BUDDHIST.  I.  Jahrg. 

„Der  buddhistischen  Auffassung  nach  hat  er  sich  demnach 
kein  Verdienst  erworben?"  fragte  ich. 

„Es  ist  schwer  anzunehmen,  dass  dies  der  Fall  sein 
könnte.  Seine  Tat  kann  nur  in  den  Augen  derer,  die  das 
Gesetz  nicht  kennen,  verdienstlich  erscheinen." 

„Und  was  denken  diejenigen,  die  das  Gesetz  kennen, 
über  die  Folgen,  über  das  Karma  seiner  Handlung?" 

Nach  kurzem  Sinnen  sagte  mein  Freund  nachdenklich: 
„Die  ganze  Wahrheit  dieses  Selbstmordes  entzieht  sich  unserem 
Wissen  —  vielleicht  war  es  nicht  das  erste  Mal." 

„Meinen  Sie  damit,  er  könnte  schon  in  irgend  einem 
früheren  Leben  versucht  haben,  der  Sünde  durch  die  Vernich- 
tung seines  Körpers  zu  entgehen?" 

„Ja,  oder  in  vielen  früheren  Leben." 

„Wie  verhält  es  sich  mit  seinem  zukünftigen  Leben?" 

„Nur  ein  Buddha  vermöchte  über  diese  Fragen  bestimm- 
ten Aufschluss  zu  geben." 

„Aber  was  sagt  Ihre  Religion  darüber?" 

„Sie  vergessen,  dass  es  für  uns  nicht  möglich  ist,  zu 
wissen,  was  in  der  Seele  dieses  Mannes  vorging." 

„Nehmen  wir  an,  er  suchte  den  Tod  nur  um  der  Sünde 
zu  entgehen." 

„In  diesem  Falle  wird  er  der  Versuchung  mit  all  ihren 
Schmerzen  und  all  ihren  Qualen  tausend  und  tausende  Male 
wieder  und  wieder  begegnen  müssen,  bis  er  gelernt  hat,  sich 
selbst  zu  überwinden.  Im  Tode  ist  kein  Entrinnen  vor  der 
ewigen  Notwendigkeit  der  Selbstüberwindung." 

Als  ich  meinen  Freund  verliess,  verfolgten  mich  seine 
Worte,  und  sie  verfolgen  mich  noch  immer.  Meine  eigenen 
Anschauungen  erschienen  mir  nun  in  einem  anderen  Lichte. 
Ich  war  noch  nicht  fähig,  mir  darüber  klar  zu  werden,  ob 
diese  geheimnisvolle  Interpretation  des  Liebesmysferiums  der 
Beachtung  weniger  würdig  sei,  als  unsere  abendländische 
Auffassung.  Ich  habe  darüber  nachgesonnen,  ob  die  Liebe, 
die  in  den  Tod  führt,  nicht  weit  mehr  bedeuten  könnte,  als 
die  Wiedergeburt  begrabener  Leidenschaften.  Könnte  sie 
nicht  auch  die  unentrinnbare  Vergeltung  bedeuten  für  längst 
vergessene  Sünde?  .  .  . 

Wie  das  Weltmeer,  ihr  Jünger,  überall  nur  von  einem 
Geschmacke  durchdrungen  ist,  dem  Geschmacke  des  Salzes, 
so  ist  diese  meine  Lehre  an  jeder  Stelle  durchweht  von  dem 
Geiste  der  Erlösung. 


VwaBtwortlicher  Redakteur:  Karl  B.  Seidenstttcker,  Leipzig.    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipaig.    —    Druck  von  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 

Buddhistische  Welt. 

Monatsblätter 

zur  Orientierung  über  die  buddhistische  Mission. 
Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions- Vereins  in  Deutschland. 

« 
I.  Jahrgang.    2449  nach  Buddha. 

April  1905  — März  1906. 

w 

Herausgegeben  von 

Karl  B.  Seidenstücker. 


Verlag  und  Expedition: 
Buddhistischer  Verlag,  Leipzig. 


Dhammo  kappa/77  ti/Meyya. 


Inhaltsverzeichnis  des  ersten  Jahrganges. 

(Die  Ziffern  bedeuten  die  Seitenzahlen.) 


Rundschau. 

Ausbildung  buddhistischer  Missionare  34 

Buddhismus  in  Japan 20,  34,  59,  66,  81 

Buddhismus  und  die  deutsche  Presse 28 

Buddhistische  Gesellschaften 2 

Buddhistische  Leitsätze 18 

Buddhistische  Mission  in  Amerika 7,  26,  42,  49,  60,  67,  83 

Buddhistische  Mission  in  Indien 4,  73 

Buddhistische  Mission  in  Korea  und  China 4,  35,  49,  82 

Buddhistische  Zeitschriften  in  englischer  Sprache 2 

Burma 66 

Ceylon 42,  44,  59,  65,  83,  89 

Christliche  Mission  auf  Ceylon 42 

Einigung  der  buddhistischen  Welt 17 

Evangelisch-sozialer  Kongress  in  Hannover 28 

Friede 41 

Internationaler  Bund  junger  Buddhisten      25 

Japan,  s.  u.  Buddhismus  in  Japan. 

Mahäbodhi-Qesellschaft 50,  89 

Neue  buddhistische  Zeitschrift  in  englischer  Sprache 34 

Neues  Leben 3 

Projekt  einer  buddhistisch-konfuzianischen  Universität 49 

Religions-Kongress  in  Japan 7 

Russland 53,  74,  84 

Sandwich-Inseln 82 

Schweiz 74 

Soyen  Shaku's  Reise 89 

Tibet 58 

Zweierlei  Buddhismus? 6 

Mitteilungen  und  Notizen. 

An  die  >Vegetarische  Warte« 54 

Arthur  Schopenhauers  Werke 78 

Aufgaben  des  Christentums  gegenüber  dem  Buddhismus 29 

Bibliographisches 12 

Buddha-Statuetten 48 

Buddhas  Glocken 52 

China  und  die  christliche  Mission 84 

Das  »Evangelium  Buddhas« 92 

Das  Urteil  eines  nicht-buddhistischen  Inders  über  den  Buddha  ...  53 


—    IV    — 

Der  Buddha  vor  einem  deutschen  Fürstenschloss 4& 

Der  Buddhismus  und  die  deutsche  Presse 77 

Der  »Buddhist«  als  offener  Sprechsaal 92 

Des  Kriegers  Zweifel 86,  92 

Die  christliche  Mission  in  Japan 84 

Die  Marmor-Bibel  der  Burmanen 60 

Ein  Abriss  der  buddhistischen  Terminologie 36 

Ein  ceylonesischer  Bhikkhu  als  Märtyrer 61 

Ein  christlicher  Missionars-Trick 44 

Ein  Pastorales  Anathema 30 

Ein  Verslein  zum  China-Prozess 36 

Ein  Vorschlag  zur  Lösung  des  deutsch-englischen  Konfliktes  ....  7& 

Eine  beachtenswerte  Probe-Predigt •    .    .  61 

Eine  Berichtigung  von  unbekannter  Hand 30 

Eine  Buddha-Statue  in  Deutschland     36 

Eine  christliche  Missionars-Stimme 44 

Fanatismus  christlicher  Missionare  in  China 6& 

Gegnerische  Stimmen II 

Hymnen  für  buddhistische  Gemeinden 25 

Kwan-Yin     52 

0  diese  buddhistischen  Barbaren 70 

Pastor  militaris  militans 11 

Pseudo-Buddhismus 60 

Strassburg 70 

Verschiedene  Ansichten  über  buddhistische  Kunst 23 

Völker  Europas,  wahrt  Eure  heiligsten  Güter 9 

Vom  christlichen  „Liebeswerke"  auf  Ceylon 51 

Zum  Bilde  des  Thäthanäbaing 48 

Zur  11.  kontinentalen  Missions-Konferenz  in  Bremen 76 

Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland. 

8,  22,  26,  36,  44,  50,  60,-  68,  74,  88,  91 

Bfichertisch. 

Anzeigen  und  Besprechungen  12,  24,  31,  37,  48,  55,  62,  70,  78,  88,  93 

Sprüche. 

16,  24,  32,  40,  48,  56,  80 

Verschiedenes. 

Aufruf  zur  Unterstützung  hilfsbedürftiger  Japaner 57 

Die  Führer  der  »Theosophischen  Gesellschaft«  (Adyar) 90 

Eine  Erklärung 33 

Herzliche  Bitte  s.  u.  Aufruf  zur  Unterstützung. 


[^ra 


Die 

Buddhistische  Welt 

Deutsche  Monatsblätter 

zur  Orientierung  über  die  buddhistische  Mission 
im  Morgen-  und  Abendlande. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


!.  Jahrgang.  LEIPZIG,  April-Mai   1905. 


No.  1  u.  2. 


Dieses  Blatt   erscheint    monatiicii  in  Verbindung  mit  der  Zeit- 
sciirift  »Der  Buddhist«  im  Umfange  von  mindestens  vier  Seiten. 

»Die  buddhistische  Welt« 

kann    aucli   separat   (ohne  den    »Buddhist«)    zum    Preise  von 
1,20  Mk.  für  12  Nummern  vom  Verlage  bezogen  werden. 

Leipzig.  —  Buddhistischer  Verlag. 


Die  buddhistische  Weit.  I.  Jahrg. 


Rundschau. 


Buddhistische  GeseHschaften. 

I.  Internationale  Gesellscliaften.  1.  The  Mahäbodhi-Society, 
gegründet  1891  von  II.  Dharmapäla  in  Colonibo  (Ceylon).  Hauptquartier: 
Calcutta,  2,  Creek  Rovv.  Zweck:  Verbreitung  der  buddhistischen  Lehren 
in  Indien  und  im  Abendlande  und  Centralisierung  der  pan-buddhistischen 
Bewegung  in  Buddha-Gayä  (Nord-Indien).  —  2.  The  International 
Buddliist  Society  (Buddhasasana  Samägäma),  gegründet  1903  in  Rangün. 
Hauptquartier:  1  Paguda  Road,  Kangün,  (Burma).  Zweck:  Bekanntmachung 
der  buddhistischen  Religion  und  Förderung  des  Pali-Studiums  zum  Ver- 
ständnis des  buddhistischen  Kanons.  —  3.  The  International  Buddhist 
Young  Men's  Association,  gegründet  am  23.  September  1903  in  Tokyo. 
Hauptquartier:  Buddhist  Ur.iversity,  Takanawa,  Tokyo,  Japan.  Zweck: 
Die  Vereinigung  soll  ein  Verkehrsmittel  zwischen  den  buddhistischen 
HochschUlcrn  und  Anhangern  in  allen  Ländern  der  Erde  werden  und  die 
ver.inte  Arbeit  derselben  unterstützen,  um  den  Geist  des  wahren  Bud- 
dhismus zu  verbreiten.  — 

II.  Landesgesellschaften.  1.  The  Young  Men's  Buddhist  Asso- 
ciation of  Ceylon.   Hauptquartier:  61,  Maliban  Street,  Pettah,  Colombo. 

—  2.  The  Society  for  Promoting  Buddhism,  Mandalay,  Ober- 
Burma;  gegründet  am  16.  April  1900.  —  3.  The  Sasanadhara  Society, 
Mulmein,  Burma.  —  4.  Bukkyö  Gakkuwai,  Tokyo,  Japan.  —  5.  The 
Young  Men's  Buddhist  Association  in  San  Francisco,  Nord-Amerika. 

—  6.  Der  buddhistische  Missions-Verein  in  Deutschland,  Sitz 
Leipzig;  gegründet  am  15.  August  1903.  —  Dazu  kommen  noch  7.  die 
verschiedenen  Landesgruppen  der  Mahäbodhi-Society.  — 

Buddhistische  Zeitschriften  in  englischer  Sprache. 

Die  älteste  Zeitschrift  für  Buddhismus  ist  der  in  Colombo  (Ceylon) 
erscheinende  »The  Buddhist«,  herausgegeben  von  D.  B.  Jayatilaka. 
Dieses  Journal  war  ursprünglich  in  den  Händen  der  Theosophischen  Ge- 
sellschaft in  Ceylon  und  befand  sich  damals  in  einem  sehr  entarteten  Zu- 
stande. Glücklicherweise  übernahm  dann  die  oben  erwähnte  Young 
Men's  Buddhist  Association  die  Leitung  des  Blattes  und  brachte  es 
bald  auf  die  Höhe  einer  im  wahren  buddhistischen  Geiste  wirkenden  Zeitung. 

Das  offizielle  Organ  der  Mahäbodhi-Society  ist  die  weitverbreitete 
Monatsschrift  »The  Mahäbodhi  and  The  United  Buddhist  World«, 
begründet  1891.  Herausgegeben  wird  dieses  Blatt  von  dem  mit  unermüd- 
lichem Eifer  wirkenden  Missionar  H.  Dharmapäla,  Calcutta. 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  3 

Als  ein  Journal  vornehmsten  Stils  muss  das  prächtig  ausgestattete, 
reich  illustrierte  Organ  der  International  Buddhist  Society,  die  Vierteljahrs- 
schrift »Buddhism«,  bezeichnet  werden.  JVlitarbeiter  sind  u.  a.  namhafte 
europäische  Gelehrte,  wie  Rhys  Davids  und  K.  E.  Neumann.  »Buddhism« 
erscheint  vom  September  1903  ab  und  wird  herausgegeben  von  Bhikkhu 
Ananda  iV^aitriya.  Uns  liegt  bis  jetzt  der  erste  Jahrgang  vor,  und  wir 
können  an  dieser  Stelle  nur  unserer  lebhaften  Freude  über  dieses  schöne, 
gross  angelegte  Werk  Ausdruck  geben. 

Der  buddhistisclien  Bewegung  im  Abendlande  unschätzbare  Dienste 
leistet  die  in  San  Francisco  seit  dem  Jahre  1900  erscheinende,  vortrefflich 
redigierte  Quartals-Schrift  »The  Light  of  Dharma«,  herausgegeben  von 
dem  verdienstvollen,  mit  grossem  Eifer  wirkenden  japanischen  Geistlichen 
Rev.  Dr.  K.  Hori,  Superintendent  der  buddhistischen  iVlission  in  Amerika. 
Über  unsere  Beziehungen  zu  dieser  IVlission  werden  wir  noch  an  anderer 
Stelle  berichten. 

Neues  Leben. 

Noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  würde  das  christliche  Abendland  die 
Vorstellung  als  unsinnig  verlacht  haben,  dass  ausser  dem  wegen  seines 
Monotheismus  noch  allenfalls  respektierten  Isläm  eine  bis  Dato  in  die 
Kategorie  „Heidentum"  verwiesene  Religion,  wie  der  Buddhismus,  jemals 
mit  dem  Anspruch,  Weltreligion  zu  sein,  auftreten  und  diesen  Anspruch 
durch  energisches  Handeln  realisieren  könnte.  Die  Verhältnisse  vor  fünf- 
zig Jahren  Hessen  allerdings  eine  derartige  Perspektive  als  eine  Unmög- 
lichkeit erscheinen:  Das  innere  Leben  der  buddhistischen  Welt  schien 
erstarrt  zu  sein,  und  christlicherseits  wurde  mit  der  bekannten  Überlegen- 
heit konstatiert,  dass  das  „buddhistische  Heidentum"  seinem  unvermeid- 
lichen Verfall  entgegeneile.  Aber  man  hat  zu  früh  triumphiert.  Das 
Päli-Studium  erschloss  den  gebildeten  Kreisen  des  Westens  die  buddhi- 
stischen Quellen,  und  staunend  gewahrte  das  Abendland  die  Schätze,  die 
hier  verborgen  lagen.  Der  Buddhismus  begann  auf  das  occidentale 
Denken  mehr  und  mehr  seinen  Einfluss  auszuüben  und  fand  den  Boden 
durch  die  Philosophie  Schopenhauers  vorbereitet.  Diese  Wiederbelebung 
buddhistischer  Ideen  übte  nun  naturgemäss  einen  mächtigen  Rückschlag 
auf  den  buddhistischen  Orient  selbst  aus:  Es  begann  in  dem  scheinbar 
verdorrten  alten  Baume  ein  neues  Leben  sich  zu  regen;  zunächst  nur  hie 
und  da,  leise,  kaum  bemerkt,  bald  aber  kräftig  und  in  verjüngter  Kraft 
unaufhaltsam  allüberall  emporkeimend.  Die  neugegründeten  Gesellschaften, 
Schulen  und  Journale  im  buddhistischen  Asien  sagen  durch  ihre  unermüd- 
liche Arbeit  mehr  als  alle  Worte.  Namentlich  an  zwei  Centren  ist  die 
Neubelebung  des  Buddhismus  deutlich  zu  spüren:  einmal  in  Süd-Asien 
(Ceylon,  Burma,  Indien),  und  sodann  in  Japan.  China,  Korea,  Tibet 
liegen  noch  erstarrt,  doch  wird  auch  seit  kurzem  hier  von  Japan  aus  mit 
Erfolg  gewirkt.    Heute  ist  das  buddhistische  Bewusstsein  bereits  soweit 


4  Die  buddhistische  Welt.  1.  Jahrg. 

erstarkt,  dass  abgesehen  von  der  Arbeit  der  inneren  Mission  die  Sendboten 
des  Buddha  im  brahnianischen  Indien  wie  im  ehristlichcn  Abcndlande  ihre 
grosse  Weltano/iiauung  predigen.  Aber  wir  stehen  hier  erst  am  Anfange 
einer  gewaltig'  n  religiösen  Bewegung,  und  die  nächsten  Jahrzehnte  werden 
dem  Abendlande  in  dieser  Richtung  ungcalintc  Überraschungen  bringen. 
Jedenfalls  wird  auch  der  Ausgang  des  blutigen  Krieges  im  Osten  für  die 
Zukunft  des  Buddhismus  in  beiden  Hemisphären  von  einiger  Bedeutung 
sein.  Wir  können  schon  heute  mit  Bestimmth  it  versichern,  dass  der 
Bestand  der  buddhistischen  Mission  in  Amerika  wie  in  Europa  jetzt 
gesichert  ist. 

Buddhistische  Mission  in  Korea  und  China. 

Vor  ca.  1350  Jahren  wurde  der  Buddhismus  durch  koreanische  und 
chinesische  Missionare  in  Japan  eingeführt  und  damit  die  Saat  zu  einer 
damals  wohl  kaum  geahnten  Ernte  gestreut.  Es  ist  nun  merkwürdig,  wie 
sich  seit  jener  Zeit  die  religiösen  Verhältnisse  im  östlichen  Asien  gestaltet 
haben.  Heute  sind  die  Buddhisten  in  Japan  die  eifrigsten  und  tätigsten 
Pioniere  im  Dienste  der  Mission,  während  das  buddhistische  Leben  in 
Korea  und  China  vollständig  erstarrt  ist.  Nun  hat  kürzlich  Hongwanji, 
ein  Hauptzentrum  des  japanischen  Buddhismus,  im  Verein  mit  mehreren 
»Schulen«  eine  Anzahl  Missionare  nach  Korea  und  China  gesandt,  um 
dort  eine  Erweckungsbewegung  ins  Leben  zu  rufen.  Es  steht  zu  erwarten, 
dass  die  Buddha -Religion  in  diesen  Ländern  allmählich  ihre  frühere 
lebensvolle  Kraft  wiedergewinnen  wird. 

Buddhistische  Mission  in  Indien. 

Die  kulturellen,  religiösen  und  sittlichen  Verhältnisse  des  einst  so 
blühenden  Indiens  sind  heute  die  denkbar  traurigsten.  Bekanntlich  ist 
der  Buddhismus  aus  seinem  Geburtslande  verdrängt  worden,  "nicht  ohne 
aber  dauernde  Spuren  seiner  ehemaligen  Herrschaft  hinterlassen  zu  haben. 
Der  Qrund  seines  Verschwindens  lag  einerseits  in  einer  durch  brahmanischc 
Religionsmischerei  verursachten  Decadence  seiner  selbst,  sodann  aber  in 
blutigen  Reaktionen  des  Brahmanismus  unter  ^ankaräcärya  und  verheeren- 
den Einfällen  der  Mohammedaner.  Seit  jener  Zeit  liegt  der  weitaus  grösste 
Teil  des  Hindus,  etwa  250  Millionen,  im  Banne  des  furchtbar  entarteten 
Brahmanismus.  Ein  starres  Kastenwesen  verhindert  einen  geistigen  Auf- 
schwung dieses  hochbegabten  Volkes,  und  ein  unwissender,  geldgieriger 
Priesterstand  hält  seine  Glaubensgenossen  in  grösster  geistiger  Unfreiheit. 
Der  Brahmanismus  selbst  stellt  sich  uns  in  zwei  Hauptformen  dar:  einmal 
als  Philosophie  der  Gebildeten  und  sodann  als  Volksreligion  der 
grossen  Massen.  Die  brahmanische  Philosophie  umfasst  sechs  als  orthodox 
anerkannte  Systeme,  von  denen  wiederum  drei  die  bedeutendsten  sind, 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  5 

nämlich  der  panhenotheistische  Vedänta,  das  atheistische  Sämkhya  und 
der  monotheische  Yoga.  Wenn  auch  diese  Systeme,  vor  allem  der  Ve- 
dänta,  in  hohem  .Masse  unsere  Bewunderung  erregen,  so  sind  sie  doch 
völlig  ungeeignet  —  das  !iat  die  Geschiclite  gelehrt  —  als  Volksreligion 
die  Massen  zur  geistigen  Freiheit  zu  führen.  Es  ist  eben  „Kaviar  fürs 
Volk",  eine  Philosophie  g'ibildeter,  geistig  hervorragender  Menschen,  die 
aber  gänzlich  ungeeignet  ist,  wie  z.  B.  der  Buddhismus,  auch  für  die 
breiten  Schichten  des  Volkes  eine  frohe  Botschaft  zu  sein.  So  zeigt  also 
der  Braiimanismus  als  Volksreligion  ein  ganz  anderes  Antlitz,  und  dieses 
Antlitz  ist  der  grinsende  Schädel  des  geistigen  Todes.  Götzendienst, 
Gespensterfurcht,  Zauberformeln,  ein  bis  ins  Einzelne  gehendes  Cere- 
monienwesen,  religiöse  Eestfeiern  mit  Obscoenitäten,  an  die  nur  zu  denken 
sich  unser  Geist  sträubt  —  das  ist  der  volkstümliche  Aspekt  der  alten 
Weisheitsreligion.  Im  Norden  Indiens  herrscht  der  erotisch-sinnliche 
Vislinuismus;  im  Süden  prävaliert  der  v/ildc  (Jivaisraus  mit  seinem  scheuss- 
lichen  Durgä-Kult  und  dringt  allmählich  nordwärts  vor.  Wie  die  Verhäll- 
nisse  heute  in  Indien  liegen,  muss  man  sagen,  dass  der  zuletzt  genannte 
(^ivaisraus  die  grüssten  Chancen  hat,  die  herrschende  Religion  des  Landes 
zu  werden  und  dann  —  verhülle  dein  Antlitz,  Land  der  Lotusblume  1 

Von  anderen  Religionen  arbeiten  in  Indien  missionierend  das  Christen- 
tum, der  Islam  und  der  Buddhismus.  Von  diesen  hat  von  vornherein  das 
Christentum  die  geringste  Aussicht,  dauernd  die  Hindus  für  sich  zu 
gewinnen.  Die  gebildeten  Hindus  lachen  über  diese  „Religion  der  Kinder" 
und  bedauern  höchstens  die  schädlichen  Einflüsse  der  westlichen  Kultur, 
die  sich  über  kurz  oder  lang  als  Gefolgschaft  der  Christenmission  ein- 
stellen, und  die  Hefe  des  Volkes,  die  zum  Christentum  übertritt,  tut  diesen 
Schritt  wohl  in  erster  Linie  aus  ganz  anderen,  als  religiösen  Gründen; 
denn  einmal  ist  die  christliche  Lehre  der  DcnkweLse  der  Inder  diametral 
entgegengesetzt  (man  denke  nur  an  die  Wiederverkörperungs-Lelire!),und 
sodann  ist  die  Vorstellung  vom  blutigen  Sühnopfer  Christi  dem  weichen 
Hindu  ein  Greuel  (vergl.  Abhedhänanda:  Vedänta-Philosophie,  Heft  I  ff.). 
Also  mit  den  Aussichten,  die  sich  dem  Christianismus  in  Indien  eröffnen, 
sieht  es  windig  genug  aus.  Weit  mehr  Chancen  hat  der  Islam,  dessen 
Anhänger  in  Indien  bereits  nach  vielen  Millionen  zählen.  Vielleicht  ist  es 
die  rein  abstrakte  Gottesidee  im  Mohammedanismus,  die  dem  Hindu 
näher  liegt  und  ihn  zweifellos  sympathischer  berührt,  als  das  christliche 
Dreifaltigkeitsdogma;  vielleicht  dient  auch  die  Rücksichtlosigkeit,  mit  der 
der  Islam  gegen  das  Kastenwesen  einschreitet,  bei  vielen  „Ausgestossenen" 
als  Zugmittel;  zum  guten  Teil  aber  wird  die  Religion  Mohammeds  ihre 
Erfolge  bei  den  Indern  der  Konzession  zuschreiben  können,  die  sie  in 
puncto  Sinnlichkeit  macht;  denn  der  Hindu-Charakter  ist  namenlos  sinn- 
lich und  wird  für  derartige  Freiheiten  nicht  unzugänglich  sein. 

Die  günstigsten  Aussichten  für  die  Zukunft  bieten  sich  hier  dem  Bud- 
dhismus. DaS  wird  zunächst  durch  die  Statistik  erwiesen.  Obwohl  die 
buddhistische  Mission  im  Hindulandc  erst  seit  relativ  kurzer  Zeit  tätig  ist, 


6  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

hat  sie  dennoch  geradezu  glänzende  Erfolge  aufzuweisen  —  in  einem 
Distrikte  Indiens  hat  sich  die  Zahl  der  Buddhisten  in  zehn  Jahren  ver- 
zehnfacht! Aber  abgesehen  davon  ist  es  ganz  naturgeinäss,  dass  das 
Hindu-Volk  ein  fruchtbarer  Boden  für  die  buddhistische  Mission  ist. 
War  nicht  der  Meister  selbst  ein  Sohn  des  Landes?  Fand  er  nicht  ähn- 
liche religiöse  Vorstellungen  vor,  wie  heutzutage  seine  Sendboten?  Hat  er 
es  nicht  in  geradezu  grandioser  Weise  verstanden,  an  diese  Verhältnisse 
anzuknüpfen,  die  vorgefundenen  Anschauungen  zu  vertiefen  und  zu  ver- 
geistigen? Eine  Fülle  von  Anknüpfungspunkten  bietet  sich  hier  dem 
buddhistischen  Missionar,  und  die  grösste  Reformation  der  Religionsge- 
schichte, die  sich  vor  vierundzwanzig  Jahrhunderten  im  Gangeslande  ab- 
spielte, sie  kann  heute  in  demselben  Lande  auf  Grund  eines  weisen 
Vorgehens  ihre  glänzende  Auferstehung  feiern!  Das  Hauptverdienst  bei 
der  Propagandierung  des  Buddhismus  in  Indien  gebührt  zweifellos  der 
Mahäbodhi-Society,  und  wir  wünschen  der  Arbeit  dieser  Gesellschaft  im 
Hinblick  auf  das  schwergeprüfte  Volk  den  reichsten  Segen :  Wie  die  Saat, 
so  die  Ernte!  —  Wir  werden  unsere  Leser  des  öfteren  über  den  Stand 
des  Buddhismus  in  Indien  orientieren. 

Zweierlei  Buddhismus? 

Es  ist  eine  offen  anerkannte  Tatsache,  dass  der  Buddhismus  in  Japan 
ein  ganz  anderes  Gepräge  nach  aussenhin  aufweist,  als  z.  B.  der  Buddha- 
Dharma  in  Ceylon.  Wir  unterscheiden  heute  im  Buddhismus  zwei 
grosse  Richtungen,  die  ihrerseits  wiederum  in  verschiedene  »Schulen« 
zerfallen.  Die  eine  dieser  Hauptrichlungen  heisst  Hinayäna  und  herrscht 
in  Ceylon,  Burma,  Slam,  Süd-Indien ;  das  Hinayäna  fusst  auf  dem  ur- 
sprünglichen Päli-Kanon.  Die  andere  Richtung  —  Mahäyäna  genannt  — 
prävaliert  in  Nepal,  Tibet,  China,  Korea  und  Japan.  Innerhalb  der 
Mahäyäna-Richtung  sind  wiederum  zwei  Aspekte  zu  unterscheiden  ;  einmal 
das  reinere  Mahäyäna  in  Japan  mit  ca.  12  Schulen,  und  sodann  der  sehr 
modifizierte  und  mit  brahmanischen  Elementen  stark  durchsetzte  Lama- 
ismus in  Tibet  und  den  von  hier  aus  beeinflussten  Ländern.  Das  Mahä- 
yäna basiert  auf  einen  im  Sanskrit  geschriebenen  Kanon,  der  offenbar 
jünger  ist,  als  die  Päli-Schriften  und  ausser  direkten  Übersetzungen  aus 
den  letzteren  zahlreiche  neue  Traktate  enthält. 

Aus  diesen  Tatsachen  haben  viele  den  Schluss  gezogen,  dass  der 
Begriff  eines  einheitlichen  Buddhismus  unhaltbar,  und  dass  das  Wort 
Buddhismus  nur  ein  Sammelname  für  ganz  verschiedene,  mindestens 
zwei  Systeme  sei.  Dem  gegenüber  sei  hier  folgendes  hervorgehoben: 
Abgesehen  von  einer  phantastischen  Mythologie,  die  aber  das  Wesen 
und  die  Lehre  des  Buddhismus  überhaupt  nicht  berührt,  zeigt 
das  Mahäyäna  nur  eine  Hauptverschiedenheit  von  dem  Hinayäna,  u.  z. 
hinsichtlich   der  Auffassung   des  Nirväna-Begriffes.     Die  Philosophie  des 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  7 

Hinayäna  ist  ein  transcendentaier  Dualismus,  das  Mahäyäna dagegen 
ein  der  Philosophie  Spinozas  nicht  unähnlicher  spiritualistischer 
Monismus.  Für  die  Praxis  ist  diese  Verschiedeniieit  überhaupt  ohne 
jeden  Belang.  Dagegen  sei  hier  konstatiert,  dass  das  Hinayäna  und 
Mahäyäna  in  den  folgenden  das  Wesen  der  buddhistischen  Welt-  und 
Lebensanschauung  ausmachenden  Punkten  völlig  übereinstimmen:  1.  Die 
Leugnung  des  animistisch-dualistischen  Seelenbegriffes  (Anattä).  —  2.  Das 
ewige  Werden  (Anicca).  —  3.  Die  vier  Sätze  vom  Leiden  (Dukkha,  Tanhä, 
Nibbäna,  Magga).  —  4.  Die  Idee  der  Wiedergeburt  nicht  im  Sinne  einer 
Seelenwanderung  oder  Ego-Reinkarnation,  sondern  einer  kausalbcdingten 
Übertragung  des  Kamnia.  —  5.  Kamma  (Karman)  vorgestellt  als  Wirken 
(Tat,  Gedanke,  Wunsch)  nebst  der  daraus  resultierenden  Wirkung.  —  6. 
Das  Kausalitäts-Gcietz  als  herrschend  gedacht  in  der  physischen,  geistigen 
und  moralischen  Welt.  —  7.  Die  Erlösung  als  Befreiung  vom  Leiden.  — 
8.  Die  Hauptteile  der  Sittenlehren.  —  Der  Begriff  Buddhismus  als  ein- 
heitliches Ganzes  ist  also  selir  wohl  haltbar.  Wir  werden  in  späteren 
Heften  auf  diesen  Punkt  zurückkommen. 

Religlons-Kongress  in  Japan.  Im  Mai  des  verflossenen  Jahres 
traten  zahlreiche  Vertreter  kirchlicher  und  religiöser  Gemeinschaften  in 
Japan  zu  einem  Kongress  in  Tokyo  zusammen  und  tauschten  ihre  Ansichten 
über  den  russisch-japanisclien  Krieg  aus.  Viele  Tausende  waren  zusammen- 
geströmt: Buddhisten,  Shintoisten  und  Christen,  und  zahlreiche  Rednergaben 
ihr  Votum  ab.  Unter  dem  Vorsitz  des  Erzbischofs  der  Sodo-Gemeinschaft, 
Rt.  Hon.  Rev.  B.  Nischiari,  wurde  eine  Resolution  folgenden  Inhalts  ange- 
nommen: „Der  gegenwärtige  Krieg  zwischen  Japan  und  Russland  ist  keines- 
wegs ein  Krieg  zwischen  Buddhisten  und  Christen,  ebensowenig  zwischen 
der  gelben  und  der  weissen  Rasse;  er  hat  überhaupt  mit  einer  religiösen 
oder  Rassen-Frage  nichts  zu  tun.  Es  ist  lediglich  ein  Selbstverteidungs- 
kampf,  den  Japan  zur  Wahrung  seiner  Existenz  führt".  —  Viele  in  Japan 
wirkende  englische  und  amerikanische  Missionare  nahmen  an  dem  Kongreis 
teil  und  waren  in  dieser  Frage  derselben  Ansicht  wie  die  dortigen  Ein- 
geborenen. 

Die  buddhistische  Mission  in  Amerika. 

Abgesehen  von  der  amerikanischen  Sektion  der  Mahäbodhi-Society 
mit  ihrer  Centrale  in  Chicago  wird  die  dortige  sehr  tätige  buddhistische 
Mission  von  Japan  aus  geleitet.  Der  Mittelpunkt  ist  die  Mission  in  San 
Francisco  (Polk  Street  807) ;  an  ihrer  Spitze  steht  der  Herausgeber  von 
»The  Light  of  Dharma«,  Rev.  Dr.  Kentok  Hori,  mit  dem  wir  in  freund- 
schaftlichem Briefwechsel  stehn.  Dieser  verdienstvolle  Geistliche  hat  das 
ganze  Missions  -  Wesen  in  Nord-Amerika  wohl  organisiert ;  in  seinem 
Missionshause  hält  er  jeden  Sonntag  Vormittag  Erbauungs-Stunden,  über 


8  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

deren  Verlauf  er  uns  kürzlich  ausführlich  Bericht  erstattet  hat.  Die  ein- 
zelnen Missions-Centren  erstrecken  sich  bereits  von  Seattle  bis  Los  Angelos 
die  ganze  Pacific-Küste  entlang;  verschiedene  Tempel  sind  erriclitet 
worden,  und  man  ersieht  daraus,  dass  der  Buddhismus  im  transatlantischen 
Kontinent  allmählich  vorrückt.  Die  amerikanische  Mission  ist  nun  mit 
unserer  deutschen  eng  verknüpft  worden,  und  beide  werden  in  Zukunft 
gemeinsam  die  buddhistischen  Interessen  im  Abendlande  wahrnehmen. 
Wir  wollen  an  dieser  Stelle  nicht  versäumen,  unseren  Gesinnungsgenossen 
in  Amerika  ein  herzliches  „Glückauf!"  zu  ihrem  grossen  Werke  zuzurufen. 

Der   »Buddhistische  Missions-Verein  in  Deutschland« 

(Sitz  Leipzig). 
Einen  Auszug  aus  den  Satzungen  dieses  Vereines  findet  der  Leser 
auf  der  Rückseite  des  Umschlages.  Hier  sei  nur  folgendes  hervorgehoben : 
Die  Gründung  erfolgte  am  15.  August  1903  durch  den  Zusanunenschluss 
von  acht  in  Leipzig  domicilierten  Mitgliedern.  Etwa  vier  Wochen 
später  wurde  dem  Vorsitzenden  offiziell  die  Genehmigung  seitens  des 
Polizeiamtes  zu  Leipzig  bekannt  gegeben.  Kurze  Zeit  darauf  machte 
die  Notiz  von  der  Konstituierung  des  Vereins  die  Runde  durch  die  gesamte 
deutsche  und  einen  Teil  der  ausländischen  Presse.  Zalilreiche  Anfragen 
und  Mitteilungen  liefen  ein  aus  den  verschiedensten  Orten  Deutschlands, 
sowie  aus  Oesterreich,  Ungarn,  der  Schweiz,  Belgien,  Luxemburg,  Frank- 
reich, Gross-Britannien,  Russland,  Griechenland,  Nord-Amerika  und  Süd- 
Afrika.  Der  Missions-Verein  versandte  zunächst  eine  grosse  Anzahl  der 
von  ihm  herausgegebenen  Gratis-Schriiten  und  fasstc  dann  den  Beschluss, 
durch  eine  Reihe  von  Vorträgen  an  die  Öffentlichkeit  zu  treten.  Es  wurden 
während  des  Winterhalbjahres  1903  1904  insgesamt  22  öffentliche  Vor- 
träge über  Buddhismus  in  Leipzig  gehalten.  Ferner  hat  der  Verein  eine 
Anzahl  von  Schriften  in  deutscher  Sprache  herausgegeben,  dip  wir  hier 
anführen  wollen:  Frey  dank:  Kleiner  buddhistischer  Katechismus,  (bis 
jetzt  3  Auflagen)  —  K  uro  da:  Mahäyäna,  die  Hauptlehren  des  nördlichen 
Buddhismus  (Übersetzung)  —  Kuroda:  Das  Licht  des  Buddha  (Über- 
setzung und  Bearbeitung)  —  Tilbe:  Dhamma  oder  die  Moral-Pliilosophie 
des  Buddha-Gotama  —  Tilbe:  Sangha  oder  der  buddhistische  Mönchs- 
orden; (die  beiden  letzteren  Schriften  sind  Übersetzungen  aus  des  Autors 
Werk  »Päli-Buddhism«)  —  Freydank:  Buddhistisches  Vergissmeinnicht; 
eine  Sammlung  buddhistischer  Sprüche  für  alle  Tage  des  Jahres  — 
Skesaburo  Nagao:  Der  Weg  zu  Buddha  (Übersetzung  aus  einem  uns 
von  Rev.  K.  Hori  freundlichst  zugesandten  Buch)  —  Bowden:  Die 
Nachfolge  Buddhas  (Übersetzung).  Wir  weisen  ferner  an  dieser 
Stelle  darauf  hin,  dass  Herr  Dr.  Paul  Carus  (La  Salle,  Nord- 
Amerika)  kürzlich  die  Freundlichkeit  hatte,  uns  die  Autorisation  zu  der 
Übersetzung  seines  Werkes  »Buddhism  and  its  Christian  Critics«  zu  geben; 


No.  1.  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  9 

voraussichtlich  wird  auch  binnen  kurzem  das  bekannte  schöne  Buch  des- 
selben Verfassers  »The  Gospel  of  Buddha«  in  einer  zweiten  deutschen 
Auflage  publiciert  werden.  Endlich  hat  der  »Missions-Verein«  die  schon 
seit  einem  Jahre  projektierte  Herausgabe  der  Monatsschriften  »Der  Buddhist« 
und  »Die  buddhistische  Welt«  jetzt  zur  Tatsache  gemacht. 

Um  Missverständnissen  in  Bezug  auf  die  Tendenzen  dieses  Vereins 
vorzubeugen,  machen  wir  hier  nachdrücklich  auf  folgende  vier  Punkte 
aufmerksam.  Erstens:  Der  Verein  ist  laut  §3a,  b  der  Satzungen  keine 
Vereinigung  von  Buddhisten.  .Mitglied  des  Vereins  kann  jede  unbescholtene 
Person  werden,  die  das  21.  Lebensjahr  erreicht  hat  und  mit  dem  Zweck 
des  Vereins  sympathisiert;  die  Mitgliedschaft  ist  unabhängig  von  Geschlecht, 
Stand,  Konfession;  sie  ist  nicht  abhängig  von  dem  Austritt  aus  dem  bis- 
herigen Bekenntnis  und  Übertritt  zu  einer  buddhistischen  Gemeinschaft 
oder  von  der  Anerkennung  irgend  welcher  Glaubensartikel.  Zweitens: 
Der  Verein  hat  nach  §  1  b  seiner  Statuten  nichts  mit  irgendweichen  An- 
griffen gegen  die  bestehenden  kirchlichen  Gemeinschaften  zu  tun;  er 
steht  durchaus  auf  dem  Boden  der  Toleranz  und  will  niemandem  seine 
religiöse  Überzeugung  rauben;  sein  einziges  Ziei  ist,  den  Buddha-Dharma 
in  seinem  wesentlichen  Bestand  in  de:-.  Ländern  deutscher  Zunge  bekannt 
zu  machen ;  dieses  Ziel  wird  erreicht  durch  die  Darstellung  der  buddhi- 
stischen Lehren,  durch  die  Abwehr  unberechtigter  Angriffe  und  durch 
Beseitigung  irrtümlicher  Ansichten  hinsichtlich  dieser  Religions-Philosophie. 
Drittens:  Der  Verein  ist  eine  durchaus  unabhängige  Gesellschaft;  er 
steht  in  keinem  abhängigen  oder  sonst  irgend  weichem  Verhältnis  zu  occultisti- 
schen,  esoterischen,  theosophisciicri,  mysiicistischen  Vereinen,  Logen  oder 
Gesellschaften.  Viertens:  Der  Verein  macht  für  keine  spezielle  Richtung, 
Kirche  oder  Schule  innerhalb  des  Buddhismus  Propaganda ;  er  repräsentiert 
den  Buddhismus  im  allgemeinen,  nicht  aber  einen  einzelnen  Aspekt  des- 
selben; er  beobachtet  absolute  Neutralität  hinsichtlich  der  von  den  ver- 
schiedenen Schulen  vertretenen  Lehrmeinungen.  Der  Verein  hat  aber  nicht 
das  Geringste  mit  den  Lehren  des  sogenannten  esoterischen  oder  Geheim- 
Buddhismus  zu  schaffen,  da  dieselben  a)  historisch  überhaupt  nicht  nach- 
weisbar sind  und  b)  mit  dem  von  allen  buddhistischen  Schulen  ausnahmslos 
anerkannten  Hauptprinzip  des  Buddha-Dharma  (Anattä)  in  direktem 
Widerspruche  stehn. 


Kleine  Mitteilungen. 


Völker  Europas,  wahrt  Eure  heiligsten  Güter! 

Unter  diesem  Titel  brachte  seiner  Zeit  die  »Leipziger  Gerichts-Zeitung« 
einen  Artikel,  in  dem  sie  von  der  Gründung  des  Missions-Vercins  Kenntnis 
nahm.    Wir  bringen  die  Ausführungen  des  genannten  Blattes  ihrer  Origi- 


10  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

naiität  halber  hier  zum  Abdruck :  „Wer  erinnert  sich  nicht  noch  des  vom 
deutschen  Kaiser  gemalten  Bildes,  das  den  vorstehenden  Warnungsruf  als 
Unterschrift  trug.  Der  Sinn  des  Bildes  war  nicht  schwer  zu  erkennen. 
Im  Vordergrunde  scliarten  sich  um  den  gewappneten  Michel  die  symbo- 
lischen Vertreterinnen  der  europäisclien  Grossmächte,  und  im  Hintergrunde 
tauchte  am  Horizont,  umgeben  von  schweren  Wetterwolken,  das  Bildnis 
Buddhas  auf.  Des  Kaisers  Gemälde  drückte  also  deutlich  die  Befürchtung 
aus,  dass  der  Drache  dem  Kreuz,  —  der  Buddhismus  dem  Christentum 
gefährlich  werden  könnte,  darum  eben  sollten  die  christlichen  Völker 
Europas  sich  wappnen  gegen  das  Vordringen  der  buddhistischen  Lehre. 
Was  nach  dem  Warnungsruf  des  Kaisers  von  Berufenen  und  Unberufenen 
im  Namen  des  Christentums  getan  wurde,  ist  hinreichend  bekannt.  Man 
hat  aber  nicht  nur  im  Innern  fleissig  gearbeitet  und  darüber  oft  die  For- 
derungen des  realen  Lebens  vergessen,  nein,  man  hat  auch  nach  aussen 
hin  sich  bemüht,  dem  Christentum  eine  grössere  Verbreitung  zu  verschaffen. 
Grosse  Missionen  wurden  ausgerüstet,  um  die  sogenannten  Heiden 
zu  bekehren,  für  die  Negerkinder  wurden  von  wohltätigen  christlichen 
Frauen  Strümpfe  gestrickt,  und  ungeachtet  des  Elends  im  Innern  der 
Heimat  gingen  grosse  Summen  Geldes  ins  Ausland,  die  dafür  ausgegeben 
wurden,  eine  Hand  voll  gesinnungsloser  Lumpen,  die  es  ja  unter  allen 
Völkern  giebt,  oder  ein  paar  Weiber,  namentlich  aber  Kinder  dem  Christen- 
tum zu  gewinnen.  Auch  die  Anhänger  Buddhas  blieben  von  den  Missio- 
nären nicht  verschont;  was  aber  noch  keine  andere  Religionsbekenner- 
schaft  fertig  brachte,  das  leisteten  die  Buddhisten:  sie  revanchierten 
sich  und  schickten  die  Vcrkündcr  ihrer  gro.ssen  V/eltanschauung  als 
Missionäre  zu  den  Christen.  Der  Buddhismus  hat  zur  Zeit  mehr  als 
eine  halbe  Milliarde  Anhänger.  Da  reicht  weder  das  Christentum,  noch 
eine  andere  Religion  auch  nur  annähernd  heran.  Bedenkt  man  überdies, 
dass  die  buddhistische  Lehre,  die  eine  Weltanschauung,  keine  Religion  im 
Sinne  unseres  vom  Formalismus  arg  entstellten  Christentums  bietet,  etwas 
ungemein  bestechendes  für  den  denkenden  Menschen  hat,  so  wird  man 
leicht  ermessen  können,  dass  sie,  zumal  im  Lande  der  Denker  und  Dichter, 
rasch  und  reichlich  an  Boden  gewinnen  »vird. 

„Neuerdings  hat  sich  nun,  wie  die  Tageszeitungen  meldeten,  ein 
»Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland«  gebildet,  der 
seinen  Sitz  in  der  Intelligenzstadt  Leipzig  nahm.  Dieser  Missions-Verein 
will,  seinen  Satzungen  gemäss,  die  buddhistische  Religions-Philosophie 
durch  Zusammenschluss  vieler  in  weiteren  Kreisen  des  deutschen  Volkes 
verbreiten. 

„Wir  haben  also  in  unseren  Mauern  eine  richtige  Mission  zur  — 
Ausrottung  des  Christentums!  Dieser  Ausdruck  ist  selbstverständlich  zu 
schroff,  aber  er  nennt  die  Sache  beim  rechten  Namen.  (Anm.  d.  Red. 
Diese  Meinung  ist  natürlich  irrig,  vergl.  §  1  der  Vereins-Satzungen). 

„^Der  Verein«  —  so  heisst  es  in  dem  Bericht  —  »bildet  eine  freie 
Vereinigung  derjenigen  Personen,  die  den  Wert  der  buddhistischen  Religions- 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  11 

Philosophie  für  das  Abendland  erkannt  haben;  er  steht  auf  dem  Boden 
der  Toleranz  und  will  daher  mit  Angriffen  gegen  die  bestehenden  l<irch- 
lichen  Gemeinschaften  nichts  zu  tun  haben.  Er  erstrebt  die  Bildung 
einer  buddhistischen  Gemeinschaft  in  Deutschland,  die  Gründung  von 
Zweigvereinen,  Abhaltung  von  Vorträgen,  Gründung  von  buddhistischen 
Seminarien,  Bibliotheken  und  Lesezimmern,  Centraüsierung  der  in  Deutsch- 
land domizilierten  Buddhisten,  Verkehr  mit  buddhistischen  Gesellschaften 
im  Orient  und  Einberufung  buddhistischer  Kongresse«. 

„Mit  Toleranz  will  man  also  die  Bekenner  der  Lehre  Jesu  ihrer 
Religion  abwendig  machen  (Anm.  d.  Red.  Das  ist  derselbe  bereits  oben 
rektifizierte  Irrtum);  nun  sind  wir  neugierig  zu  erfahren,  wie  die  Hüter 
des  Christentums  ihre  heiligsten  Güter  wahren  werden".  — 

Gegnerische  Stimmen.  Dass  öcr  buddhistische  Einfluss  in  Deutsch- 
land bereits  als  ziemlich  stark  anerkannt  wird,  erhellt  aus  dem  Umstände, 
dass  die  christliche  Apologetik  in  dieser  Richtung  immer  tätiger  wird. 
Zumal  protestantische  Geistliche  sind  es,  die  zu  dem  Thema  »Buddhis- 
mus und  Christentum«  das  Wort  ergreifen.  Herr  Dr.  Jercmias,  Prediger 
an  der  Lutherkirche  in  Leipzig,  hielt  hier  vor  einigen  Jahren  einen  Vortrag 
über  Buddhismus,  welcher,  wenn  wir  nicht  irren,  einige  Zeit  darauf  in  der 
»Evangelisch  -  lutherischen  Kirchenzeitung«  veröffentlicht  wurde.  Zwei 
andere  Leipziger  Geistliche,  die  Herren  Schreiber  und  Frenkel, 
sprachen  hier  im  vergangenen  Jahre  ebenfalls  über  Buddhismus  und  sein 
Verhältnis  zum  Christentum.  Superintendent  Klingemann-Essen  veröffent- 
lichte eine  Broschüre  »Buddhismus,  Pcssimisraus  und  moderne  Weltan- 
schauung«. Pastor  Hunzinger  schrieb  über  »Christentum  und  Buddhismus«; 
Pastor  Max  Schreiber  behandelte  in  einer  besonderen  Schrift  das  Thema 
»Buddha  und  die  Frauen«.  In  anerkennenswert  objektiver  Weise  urteilt 
Alfred  Bertholet,  Professor  der  Theologie  in  Basel,  in  seinen  Broschüren 
»Buddhismus  und  Christentum«  und  »Der  Buddhismus  und  seine  Bedeutung 
für  unser  Geistesleben«.  In  der  letzten  Abhandlung  (S.  57)  sagt  er  be- 
züglich der  buddhistischen  Ethik:  „Ich  stehe  mit  Bewunderung  vor  einer 
solchen  Ethik;  aber  ich  muss  von  denen,  die  sie  zu  der  ihren  machen,  sagen: 
»Ihr  habt  einen  andern  Geist  als  wir«. 

Pastor  militaris  militans.  Während  die  Ausführungen  der  eben  ge- 
nannten geistlichen  Herren  mehr  oder  weniger  objektiv  urteilen  (nota  bene: 
soweit  das  vom  Standpunkte  des  christlichen  Offenbarungsglaubens  eben 
möglich  ist)  wendet  sich  Herr  Militär-Oberpfarrer  Robert  Falke- 
Mainz  gegen  den  Buddhismus  in  recht  einseitiger  und  subjektiv  gefärbter 
Weise.  Dieser  Herr  hat  mit  einer  bewundernswerten  Beharrlichkeit  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  in  Wort  und  Schrift  gegen  den  Buddha  und  seine 
Lehre  polemisiert.    Der  Buddha  erscheint  ihm  „treulos",  „ihm  schlug  kein 


12  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

fühlend  Herz  in  der  Brust",  er  war  ein  „stumpfer  Mönch";  der  Buddhis- 
mus ist  für  Herrn  Falke  eine  „Bettlerphilosophie";  eine  „atheistische, 
nihilistische,  pessimistische  Philosophie",  sie  atmet  eine  „schwermütige, 
weltschmerzliche  Stimmung;",  und  der  Verfasser,  nach  dessen  Ansicht 
„dem  Christentum  vom  Buddhismus  eine  bedeutende  Gefahr  droht", 
resümiert  in  einem  uns  vorliegenden  Artikel  folgendermassen:  „Der  bleiche 
Tod  grinst  dem  Buddhismus  aus  seinen  beiden  Augen!"  —  Der  Haupt- 
irrtum Falkes,  der  auch  eine  Auseinandersetzung  mit  ihm  erheblicli  er- 
schwert, besteht  darin,  dass  er  fortwährend  Buddhismus  und  theosophischc 
Qeheimlehre  identifiziert.  Die  meisten  der  von  Falke  vorgebrachten 
Argumente  sind  alt  und  längst  widerlegt;  indessen  werden  wir  bei  Gele- 
genheit nicht  versäumen,   sie   einmal  gehörig  unter  die  Lupe  zu  nehmen. 

Bibliographie. 

Abgesehen  von  den  oben  erwähnten,  vom  Buddhistisciicn  Missions- 
Verein  veröffentlichten  Schriften  und  den  gegnerischen  Auslassungen  liegen 
seit  Ende  lö^DS  folgende  beachtenswerte  Ncu-Erscheinuiigen  vor:  Olden- 
bergs  monumentales  Werk  »Buddha«  in  4.  Auflage;  Arthur  Pfungst: 
»Aus  der  indischen  Kulturwelt«;  Edmund  Hardy:  »Buddha«; 
Dr.  Paul  Dahlke:  »Aufsätze  zum  Verständnis  des  Buddhismus«; 
von  demselben  Verfasser  »Buddhistische  Erzählungen«;  Dr.  Otto 
Schrader:  »Die  Fragen  des  Königs  Menandros  (Milindapafilia)«; 
in  Vorbereitung  von  demselben  ist  noch  eine  Abhandlung  über  »Das 
Wesen  des  Buddhismus«;  eine  andere  kleine  Arbeit  Schraders:  »Kennt 
der  Buddhismus  den  Begriff  der  christlichen  Nächstenliebe?«  ist  leider 
nahezu  vergriffen.  Die  Besprechung  einzelner  dieser  Werke  wird  in  den 
nächsten  Nummern  erfolgen. 


Büchertisch. 


(Für    liesprechiinjj    und     KiicUsendiiiiij    nicht    verlangter    Büclier     übfriiiinnit    die 

RedaUliim    keine   VerpBiclitiuiij.      Die  Jiiiclier   sind    zu  senden   an  den  Redakteur 

Karl   Seidenstiicker,  per  Adr.   üuddhistiscljcr   Verlag  in   Leipzig.) 


Eingesandte  Literatur. 

Die  Religion  der  Zukunft.  Von  Oberpräsidialrat  Th.  Schnitze.  Dritte 
stark  vermehrte  Auflage,  i.  Teil.  Das  Christentum  Christi  und  die 
Religion  der  Liebe.  II.  Teil.  Das  rollende  Rad  des  Lebens  und  der 
feste  Ruhestand.  Frankfurt  a.  .M.  Neuer  Frankfurter  Verlag  1901. 
Preis  4  M. 

Confucius.  Von  Professor  Dr.  U.  Hattori,  Tokyo.  Frankfurt  a.  M. 
Neuer  Frankfurter  Verlag  1902.    Preis  0,30  M. 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  13 

The  Light  of  Buddha.    By.  Rcv.  S.  Kuroda.    Osnl<a,  Japan  1903. 
Oullines  of  the  Mahsiyäna  as  tought  by  Buddha.    By.  F^cv.  S.  Kuroda. 

Asakusa,  Tokyo,  Japan  1893. 
Buddhist  and  Christian  Gospels.    By  Albert  J.  Edmunds.    Philadel- 
phia 1904. 
The  Outline  of  Buddhisni.     By   Skesaburo   Nagno.    San  Francisco, 

Buddhist.  Mission  19C0. 
The  Light  of  Dhanna.    A  reh'gious  magazinc  dcvotcd  to  the  teachings 

of  Buddha.    Editcd   by  Rcv.   Dr.    Kcntok    Hori.     April    1904  — 

Januar  1905.    San  Francisco,  Buddhist  Mission. 
Cuddhism.    An  illustrated  quarterly  revievv.   Edited  by  Bhikkhu  An  and  a 

Maitriya.    Vol.  1,  No.  4.  Rangoon,  Burma,  Hanthav/addy  Printing 

Works  1904. 
Im   Wunderlar.de    der    Lotusblunie.      Lehrdrania    von    Kama    Deva. 

Graz,  Verlag  von  Paul  Cicslar  1904.    Preis  geh.  2  Mk. 
Das  Evangelium  der  Freiheit.      Von    Anton    Hartmann.      Leipzig, 

Theosophische  Zcntraibuchhandlung  1904.    Preis  1,20  M. 
The  Buddhist  Hymns.    Published   by   the  Dharma-Sangha  of  B;iddha. 

San  Francisco. 

Neuerscheinungen  buddhistischer  Literatur. 

Der  Weg  zu  Buddha.  Von  Skesaburo  Nagao.  Deutsche  Ausgabe 
von  Karl  B.  Seidcnstücker,  Leipzig,  Buddhistischer  Verlag.  Preis 
0,80  M. 

Buddhistisches  Vergissmeinnicht.  Eine  Sammlung  buddhistischer  Sprüche 
für  alle  Tage  des  Jahres.  Zusammengestellt  von  Bruno  Freydank. 
Leipzig,  Buddhistischer  Verlag.    Preis  1,50  M. 

Der  Wert  des  Buddhismus.  Von  Bhikkhu  Änanda  Maitriya.  Leipzig, 
Buddhistischer  Verlag.    Preis  0,30  Mk. 

Die  vier  erhabenen  Wahrheiten.  Von  Bhikkliu  Änanda  Maitriya. 
Leipzig,  Buddhistischer  Verlag.    Preis  0,30  M. 

Der  Buddhismus  als  Erlösungs-Religion.  Von  Karl  B.  Seiden- 
stücker.    Leipzig,  Buddhistischer  Verlag.    Preis  0,30  Mk. 

Die  Fragen  des  Königs  Menandros.  Von  Dr.  Otto  Schrader.  Berlin, 
Verlag  von  Paul  Raatz.    Preis  5,50  M. 

The  Light  of  Dharma.  Inhalt  der  letzten  Nummer  (Januar  1905):  Die 
Kürze  des  ursprünglichen  buddhistischen  Kanons  —  Buddhistische 
Ideen  bei  Shakespeare  —  Civilisation  und  Aberglauben  —  Die 
Tätigkeit  deutscher  Buddhisten  —  Bei  der  Schlacht  am  Nan-Shan- 
Hügel  —  Bücherschau  —  Kleine  Mitteilungen. 

Buddhism.  Aus  dem  Inhalt  der  letzten  Nummer  (November  1904):  Die 
neue  Civilisation  —  Die  Philosophie  des  Buddhismus  —  Die  Grün- 
dung von  Lha'ssa  —  Sir  Edwin  Arnold  —  Die  Einführung  des 
Buddhismus  in  Burma  —  Das  lamaTstische  Gebets-Rad  —  Die 
Stein-Altertümer  von  Ceylon  —  In  dem  Schatten  von  Shwe-Dagon. 


14  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Besprechungen. 

Die  Religion  der  Zukunft.  Von  Oberpräsidiairat  Th.  Schultze.  Dritte 
stark  vermehrte  Auflage,    l'reis  4  M. 

Wer  immer  an  den  religiösen  Strömungen  und  Kämpfen  unserer  Zeit 
Interesse  nimmt,  wird  nicht  umhin  können,  das  geistvolle,  grosse  Werk 
des  »deutschen  Buddhisten«  zu  würdigen.  Theodor  Schultze,  dessen 
Lebens-  und  Charakterbild  Arthur  Pfungst  gezeichnet  hat,  gehörte  ohne 
Zweifel  zu  den  tiefsten  i3enkcrn  unseres  Volkes,  und  was  an  diesem 
Manne  das  wahrhaft  Grosse  und  Bewundernswerte  ist,  liegt  in  der  Tat- 
sache, dass  er  mit  seiner  hohen  Begabung  eine  unbeugsame  Energie  und 
einen  tiefen  Ernst  verband,  und  dass  er  die  Weltanschauung,  der  er  er- 
geben war,  auch  wirklich  gelebt  hat  und  ihr  bis  zu  seinem  Tode  in 
Theorie  und  Praxis  treu  geblieben  ist.  Keiner  seiner  Gegner  hat  es  je 
gewagt,  seinen  lauteren  Charakter  anzutasten  und  die  Persönlichkeit  dieses 
Mannes  zu  verdächtigen. 

In  der  Vorrede  zu  seiner  deutschen  Uebersetzung  des  Dhammapada 
formuliert  Schultze  sein  Programm  im  Anschluss  an  die  Worte  Max 
Müllers:  „Und  wenn  ich  mich  selbst  fragte,  aus  welcher  Literatur  wir  hier 
in  Europa,  die  wir  beinahe  ausschiicsslich  von  den  Gedanken  der  Griechen 
und  Römer,  und  einer  semitischen  Rasse,  der  jüdischen,  gezehrt  haben, 
dasjenige  Correktiv  herleiten  können,  dessen  wir  am  meisten  bedürfen, 
um  unser  inneres  Leben  vollkommener,  universeller,  in  Wahrheit  mensch- 
licher zu  machen,  zu  einem  Leben  nicht  nur  für  diese  Welt,  nein,  zu 
einem  verklärten  und  ewigen  Leben  zu  gcstaUen :  —  ich  würde  wiederum 
auf  Indien  weisen."  —  Also  die  Schätze  der  indischen  Geisteswelt  sind 
es,  deren  nach  Schultzes  Ansicht  die  europäische  Kultur  bedarf. 

So  ist  das  gesaninite  Werk  »Die  Religion  der  Zukunft«  im  Grunde 
der  Beantwortung  der  Frage  gewidmet:  Welcher  Weltanschauung  ist  ein 
grösserer  Wert  als  Kulturfaktor  beizumessen:  der  jüdisch-christlichen  oder  der 
indischen,  speziell  der  in  ethischer  Hinsicht  so  bedeutenden  buddhistischen 
Weltanschauung?  In  dem  ersten  Teile  unterzieht  der  Verfasser  das 
Judentum  und  das  aus  ihm  hervorgegangene  Christentum  einer  wahrhaft 
vernichtenden  Kritik;  das  Resultat,  zu  dem  Schultze  gelangt,  ist  ein  durch- 
aus negatives:  „Es  handelt  sich  jetzt  um  die  Entscheidung  der  Frage, 
ob  es  für  jeden  Alenschen  nur  eine  überall  gleichberechtigte  Erkenntnis- 
quelle giebt:  Beobachtung  und  I'Jachdenken  mit  Hilfe  seiner  eigenen  Sinne 
und  seines  eigenen  Verstandes,  sowie  begründetes  Zutrauen  zu  dem  von 
anderen  ebenso  gewonnenen,  ihm  mitgeteilten  Wissen;  —  oder  ob  für 
das  religiöse  Gebiet  noch  ausnahmsweise  eine  zweite 
höhere  Erkenntnisquelle  besteht:  eine  zu  gewisser  Zeit  gewissen 
die  von  ihnen  den  Zeitgenossen  mitgeteilt  und  der  Nachwelt  überliefert 
Personen  auf  übernatürliche  Weise  zuteil  gewordene  Offenbarung, 
worden  ist.  Fällt  die  endliche  Entscheidung  dieser  Frage  gegen  die  bis- 
her dem  äusseren  Anschein  nach  noch  vorherrschende  Annahme 
einer  Offenbarung  als  besonderer  Erkenntnisquelle  für  das  religiöse  Ge- 


No.  1  u.  2.  Die  buddhistische  Welt.  15 

biet,  und  zu  Gunsten  der  Einheit  der  Erkenntnisquelle  für  alles  menschliche 
Wissen  und  Glauben  aus,  dann  wird  das  Christentum  zu  einer  historischen 
Antiquität,  die  man  ruhig  beiseite  legen  kann,  ohne  besorgen  zu  müssen, 
dass  deshalb  die  Fundamente  für  den  Bestand  der  europäischen  Gesell- 
schaft aus  den  Fugen  gehen  würden.  Diese  Krisis  aber  muss  überstanden 
sein,  die  Religion  in  der  Gestalt  überlieferter  dogmatischer 
Systeme  gewisser  vom  Staate  mit  Zwangs-  und  Bannrechten 
auf  den  Jugendunterricht  ausgestatteter  Korporationen  muss 
erst  ganz  absterben,  bevor  sie  als  selbsterworbene,  oder  in  reifem 
Lebensalter  selbsterwählte,  ethisch  -  metaphysische  Welt-  und  Lebensan- 
schauung und  in  dieser  wurzelnde  Gesinnung  der  Einzelnen  zum  innerlich 
leitenden  Prinzip  für  die  Gestaltung  der  sozialen  Verhältnisse  der  Nationen 
des  europäischen  Kulturkreises  werden  kann."  —  Die  Ansichten  des  Ver- 
fassers über  den  Wert,  oder  Unwert  des  Christentums  als  Kulturfaktor 
können  wir  im  wesentlichen  teilen;  indessen  erscheint  uns  die  Zeichnung 
der  Persönlickeit  Jesu  zu  einseitig. 

Im  zweiten  Teile  »Das  rollende  Rad  des  Lebens  und  der  feste 
Ruhestand«  wendet  Schnitze  s.-ine  Aufmerksamkeit  dem  indischen  Denken 
zu.  „Während  die  Israeliten  wie  überhaupt  die  Semiten  ganz  unfähig  waren, 
den  geistigen  Blick  der  subjektiven  Tiefe  des  Bewusstseins  zuzuwenden, 
dort  Fragen  vom  höchsten  allgemein  menschlichen  Interesse  aufzufassen, 
und  für  diese  durch  Selbstbeobachtung  und  Nachdenken  eine  Lösung  zu 
suchen,  besass  gerade  hierfür  der  indische  Zweig  des  arischen  Völker- 
stammes vor  alters  eine  ebenso  ausnahmsweise  hohe  Begabung,  wie  der 
hellenische  für  die  Auffassung  und  Darstellung  des  Schönen  in  der  sinn- 
lichen Erscheinung  und  im  sprachlichen  Gedankenausdruck."  Der  Ver- 
fasser gibt  nun  eine  vortreffliche  Darstellung  des  Entwickelungsganges, 
den  die  vorbuddhistische  Religion  in  Indien  genommen  hat.  Der  Kern 
desselben  liegt  nach  Schultze  —  und  das  ist  zweifellos  richtig  —  in  dem 
Übergang  von  dem  Standpunkte  des  nniv-o bjektiven  Realis- 
mus auf  den  des  subjektiven  Idealismus.  „Es  brach  sich  die 
Erkenntnis  Bahn,  dass  die  objektive  Welt  nicht  ausserhalb  des  Bewusst- 
seins und  unabhängig  von  diesem  bestehe,  sondern  eine  innerhalb  des- 
selben schwebende  und  völlig  von  dessen  Organen  und  deren  Funktionen 
abhängige  Erscheinung  sei,  welche  durch  das  Bewusstscin  zur 
Einheit  verknüpft  werde.  Aber  mit  diesem  subjektiven  Idealismus 
verband  sich  sofort  auch  ein  transcendenter  oder  metaphysischer  Realis- 
mus, d.  h.  die  Einsicht,  dass  die  Existenz  des  Bewusstseins  mit  seinen 
subjektiven  Fimktionen  und  seinem  mannigfachen  objektiven  Inhalt  nur 
begreiflich  sei,  wenn  ihm  und  allem,  was  es  in  sich  trage,  ein  unbekann- 
tes Etwas  zur  Unterlage  seines  zeitweiligen  Bestehens  diene,  von  welchem 
sich  nichts  weiter  sagen  lasse,  als  dass  es  sei." 

Nachdem  der  Verfasser  das  vorbuddhistische  religiöse  Denken  in 
Indien  uns  in  seiner  Entwicklung  vorgeführt  hat,  geht  er  zur  Darstellung 
des  Buddhismus  über.     Dieselbe   ist   geradezu  meisterhaft  und  gehört 


16  Die  buddliistischc  Welt.  1.  Jalirj; 

ohne  Zweifel  zu  dem  Besten,  was  jemals  über  dieses  Thema  geschrieben 
ist.  Schultze  begnügt  sich  nicht  etwa  mit  einer  troclccnen  Darstellung 
der  buddhistischen  Lehren,  sondern  sein  scharfer  Blici<  erkennt  den  Kern 
der  Sache  und  greift  das  Wichtigste  heraus.  Kein  Wort  ist  hier  zuviel 
gesagt,  und  jeder,  der  sich  in  diese  Darstellung  versenkt,  wird  den  tiefen 
sittlichen  Ernst  fühlen,  der  aus  jeder  Zeile  zu  uns  spricht.  Zahlreiche 
Belegstellen  aus  dem  buddhistischen  Kanon  werden  herangezogen,  und 
vortrefflich  ist  die  Art  und  Weise,  wie  Th.  Schultze  verschiedene  gegen  den 
Buddhismus  erhobene  Einwände  zurückweist.  Wie  hoch  der  Autor  den 
Buddha  und  seine  Religion  schätzt,  erhellt  zur  Genüge  aus  den  Worten, 
mit  denen  die  Darstellung  des  Buddhismus  schliesst:  „Soweit  unsere 
historische  Kenntnis  reicht,  hat  keines  andern  Menschen  Lebensarbeit 
einen  so  ausgedehnten,  so  andauernden  und  so  vorwiegend  heilsamen 
Einfluss  auf  die  Nachwelt  ausgeübt,  wie  die  des  Weisen  aus  dem  Qäkya- 
stamme". 

Das  letzte  Kapitel  ist  »Bodenuntersuchungen  für  etwaige 
Neubauten  auf  religiösem  Gebiet«  gewidmet.  Schultze  schrieb 
diese  Ausführungen  als  schwerkranker  Mann,  und  bedauerlicher  Weise 
war  er  genötigt,  seine  Betrachtungen  in  den  engsten  Rahmen  zu  spannen. 
Die  Idee  seiner  geistvollen  Darstellungen  ist  im  wesentlichen  die,  dass 
der  Vedänta  die  Grundlage  für  die  metaphysische  Seite  der  Zukunfts- 
rcligion  bilden  und  der  Buddhismus  die  Bausteine  für  die  Ethik  liefern 
wird.  Der  Verfasser  ist  in  seinem  Urteil  übrigens  ausserordentlich  zurück- 
haltend: „Es  wäre  sehr  voreilig,  schon  jetzt  Vermutungen  darüber  hegen 
zu  wollen,  welchen  Inhalt  das  religiöse  Vorstellen  und  Denken  europäisch 
gebildeter  NichtChristen  erhalten  werde,  wenn  in  Zukunft  einmal  nur 
solche  auch  äusserlich  für  Christen  gelten  sollten,  welche  noch  innerlich 
am  christlichen  Dogma  festhalten". 

Die  Arbeit  Theodor  Schultzes  ist  nach  unserem  Urteil  ein  monumen- 
tales Werk  von  bleibendem  Wert,  und  würden  wir  gefragt,  welches  nach 
unserem  Dafürhalten  die  drei  besten  und  bedeutendsten  Darstellungen 
des  Buddhismus  in  deutscher  Sprache  seien,  so  würden  wir  dieses  Buch 
mit  nennen.  Wenn  eine  spätere  Generation  einmal  in  der  Lage  sein  wird, 
die  religiösen  Strömungen  unserer  Tage  klar  überblicken  zu  können,  dann 
wird  auch  Theodor  Schultze  und  seine  Lebensarbeit  noch  nicht  vergessen 
sein:  Der  »deutsche  Oudd'iist«  hat  in  seiner  »Religion  der  Zukunft«  ein 
ehernes  Denkmal  geschaffen,  das  dem  Sturm  der  Zeiten  trotzen  und  auch 
für  die  Nachwelt  von  hoher  Bedeutung  bleiben  wird.  S. 

Toleranz.  Wenn  da  etwa,  ihr  Brüder,  jene,  die  nicht  mit  uns  sind, 
über  mich,  oder  über  meine  Lehre,  oder  über  meine  Gemeinde  verächtlich 
reden  sollten,  so  darf  das  für  euch  kein  Grund  sein,  dass  ihr  in  Zorn  geratet. 

Brahniajäla-Sutta. 

Redaktion:  Karl  B.  SeidenstOckcr,  Leipzig.   —   Druck;  Arno  Barhmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  Juni   1905. 


No.  3. 


Rundschau. 


Die  Einigung  der  buddhistischen  Welt. 

Dür  Buddhismus  in  seinem  heutigen  Bestände  stellt  sich  uns  in  zwei 
Hauptrichtungen  dar:  die  Buddhisten  von  Ceylon,  Burma,  Slam  gehören 
der  Hinayäna-Schule  an;  während  die  Bewohner  von  Nepal,  China, 
Tibet,  den  mongolischen  Territorien,  Korea  und  Japan  Anhänger  des 
Mahäyäna  sind.  Das  Hinayäna  fusst  auf  dem  älteren,  ursprünglichen 
Päli-Kanon  und  hat  bis  heute  das  Päli  als  heilige  Sprache  bewahrt,  weshalb 
man  das  Hinayäna  nicht  unpassend  als  Päli-Buddhismus  bezeichnet  hat. 
Im  Gegensatze  dazu  stützt  sich  das  Mahäyäna  auf  einen  jüngeren,  aber 
umfangreicheren  Sanskrit-Kanon;  derselbe  ist  im  ersten  christlichen  Jahr- 
hundert auf  dem  unter  der  Regierung  Kanishkas,  Königs  von  Kashmir  ab- 
gehaltenen vierten  Konzile  festgesetzt  worden.  Beide  Richtungen  nun 
zerfallen  wiederum  in  verschiedene  Unterabteilungen,  aber  es  berührt 
sympathisch,  wenn  wir  hören,  das  alle  »Schulen«  des  Buddhismus  ein- 
trächtig zusammen  wirken  und  sich  gegenseitig  durchaus  als  berechtigt 
anerkennen ;  sie  bezeichnen  sich  als  „verschiedene  Wege,  die  alle  zu  dem 
gleichen  Ziele  führen." 

Nun  ist  es  sehr  bemerkenswert,  dass  in  unserer  Zeit  auch  äusserlich 
eine  Einigung  der  verschiedenen  Richtungen  innerhalb  des  Buddhismus 
zustande  gekommen  ist.  Henry  S.  Oleott,  der  verdienstvolle  Verfasser 
des  weitverbreiteten  buddhistischen  Katechismus,  berief  i.  J.  1891  eine 
Buddhisten-Konferenz  nach  Adyar  (Indien)  und  legte  den  dort  anwesenden 
Vertretern  der  verschiedenen  Schulen  vierzehn  von  ihm  ausgearbeitete 
Leitsätze  vor,  welche  die  Grundlage  für  eine  Zusammenschliessung 
der  buddhistischen  Welt  bilden  sollten.  Die  Delegierten  billigten  die 
Thesen  und  unterbreiteten  sie  den  Vorstehern  der  einzelnen  Territorien. 
Die  Sätze  sind  dann  geprüft  und  angenommen  worden  von  den  Buddhisten 
in  Burma,  Ceylon,  Bengalen  und  Japan ;  später  haben  auch  die  Lamas 
der  mongolischen  Distrikte  ihr  Votum  in  bejahendem  Sinne  abgegeben. 
Wir  stehen  hier  also  vor  der  bedeutsamen  Tatsache,  dass  die  buddhisti- 
sche Welt  ihrem  Solidaritäts-Bewusstsein  in  nicht  misszuverstehender 
Weise  Ausdruck  gegeben  hat. 

««See«* 


18  Die  buddhistische  Welt.  l.  Jahrg. 

Buddhistische  Leitsätze. 

Im  folgenden  geben  wir  unseren  Lesern  die  erwähnten  vierzehn  von 
H.  S.  Oicott  aufgestellten  Thesen  wieder.     (Nach  Oleotts  Katechismus). 

1.  Die  Buddhisten  werden  gelehrt,  allen  Menschen  ohne  Unterschied 
die  gleiche  Duldsamkeit,  Nachsicht  und  brüderliche  Liebe,  und  allen  Glie- 
dern des  Tierreichs  eine  umwandelbare  Güte  entgegenzubringen. 

2.  Das  Weltall  hat  sich  entwickelt,  ist  nicht  erschaffen  worden,  und 
in  ihm  waltet  das  Gesetz,  nicht  irgend  eines  Gottes  Willkür. 

3.  Die  Wahrheiten,  auf  die  sich  der  Buddhismus  gründet,  sind  natür- 
licher Art.  Sie  sind,  so  glauben  wir,  in  aufeinanderfolgenden  Weltperioden 
durch  gewisse  erleuchtete  Wesen,  Buddhas  genannt,  gelehrt  worden; 
der  Name  Buddha  bedeutet  »Erleuchteter«. 

4.  Der  vierte  Lehrer  unserer  gegenwärtigen  Weltperiode  war  ?äkya- 
muni  oder  Gautama  Buddha,  der  vor  ungefähr  2500  Jahren  in  einer 
königlichen  Familie  Indiens  geboren  wurde.  Er  ist  eine  historische  Per- 
sönlichkeit, und  sein  Name  war  Siddhärtha  Gautama. 

5.  Qäkyamuni  lehrte,  dass  Unwissenheit  Begierde  erzeuge,  unbe- 
friedigte Begierde  die  Ursache  wiederholter  Geburt  und  diese  die  Ursache 
der  Trübsal  sei.  Um  daher  Freiheit  von  der  Trübsal  zu  erlangen,  ist  es 
nötig,  der  wiederholten  Geburt  zu  entrinnen;  um  dieser  zu  entrinnen,  ist 
es  nötig,  die  Begierde  auszulöschen,  und  um  die  Begierde  auszulöschen, 
ist  es  nötig,  die  Unwissenheit  zu  beseitigen. 

6.  Die  Unwissenheit  nährt  den  Glauben,  dass  wiederholte  Geburt  eine 
Notwendigkeit  sei.  Wenn  die  Unwissenheit  beseitigt  ist,  wird  die  Wert- 
losigkeit jeder  solchen  wiederholten  Geburt  —  als  Selbstzweck  betrachtet 
—  ebenso  klar  erkannt,  wie  das  hochgradige  Bedürfnis,  eine  Lebens- 
führung anzunehmen,  durch  welche  die  Notwendigkeit  solcher  wiederholter 
nochmaligen  Geburten  aufgehoben  werden  kann.  —  Unwissenheit  erzeugt 
auch  die  täuschende  und  unlogische  Vorstellung,  dass  es  nur  ein  einziges 
Dasein  für  den  Menschen  gebe,  sowie  die  andere  Täuschung,  dass  auf 
dieses  eine  Leben  Zustände  unwandelbarer  Freude  oder  Qual  folgten. 

7.  Die  Beseitigung  all'  dieser  Unwissenheit  kann  erreicht  werden 
durch  die  beharrliche  Ausübung  eines  allumfassenden  Altruismus  im  Be- 
tragen, Entwickelung  der  Einsicht,  Weisheit  im  Denken  und  Vernichtung 
des  Begehrens  nach  den  niederen  persönlichen  Freuden. 

8.  Da  das  Verlangen  nach  individuellem  Dasein  die  Ursache  wieder- 
holten Geboren-werdens  ist,  hören  die  wiederholten  Geburten  auf,  wenn 
dieses  Verlangen  ausgelöscht  ist,  und  das  vollendete  Einzelwesen  erreicht 
durch  Meditation  jenen  höchsten  Friedenszustand,  der  Nirväna  genannt 
wird. 

9.  Qäkyamuni  lehrte,  dass  die  Unwissenheit  beseitigt  und  das  Leiden 
entfernt  werden  könne  durch  die  Erkenntnis  der  »vier  erhabenen 
Wahrheiten«,  welche  umfassen: 

I.  Das  Leiden  des  Daseins. 

II.  Die  Entstehunsgsursache  des  Leidens,  welche  in  dem  stets  erneuten 
Begehren  besteht,  sein  Ich  zu  befriedigen,  ohne  jemals  imstande  zu  sein, 
die  Erreichung  dieses  Zieles  zu  verbürgen. 

III.  Die  Vernichtung  dieses  Begehrens  oder  das  Sichabwenden  von 
ihm. 

IV.  Die  Mittel  zur  Erreichung  dieser  Vernichtung  des  Begehrens.  Die 
Mittel,  auf  die  er  hinwies,  heissen  der  »erhabene  achtfache  Pfad«, 
nämlich:  Rechte  Einsicht;  rechte  Gesinnung;  rechte  Rede;  rechtes  Handeln; 
rechte  Lebensweise;  rechtes  Streben;  rechtes  Gedenken;  rechtes  Sich- 
versenken. 

10.  Rechtes  Sichversenken  (Meditation)  führt  zu  geistiger  Erleuchtung 


No.  3.  Die  buddhistische  Welt.  19 

oder   zur    Entwici<iung   jener    buddhamässigen  Fähigiceit,    die    in   jedem 
Menschen  schlummert. 

11.  Das  Wesen  des  Buddhismus,  wie  es  vom  Tathägata  (Buddha) 
selbst  zusammengefasst  wurde,  ist: 

Von  aller  Sünde  zu  lassen, 
Tugend  zu  erringen. 
Das  Herz  zu  reinigen. 

12.  Das  Weltall  ist  einer  als  »Karma«  bezeichneten  Ursächlichkeit 
unterworfen.  Die  Verdienste  oder  Verschuldungen  eines  Wesens  in 
früheren  Daseinsformen  bestimmen  seinen  Zustand  in  der  jetzigen.  Jeder- 
mann hat  daher  die  Ursachen  der  Wirkungen,  die  er  jetzt  erfährt,  selbst 
vorher  bereitet. 

13.  Die  Hindernisse  für  die  Erreichung  eines  guten  Karma  können 
durch  die  Befolgung  nachstehender  Vorschriften  beseitigt  werdan,  welche 
in  dem  buddhistischen  Moralkodex  enthalten  sind,  nämlich:  1.  Töte  nicht! 
—  2.  Stiehl  nicht!  —  3.  Gib  dich  nicht  verbotenem  geschlechtlichen  Ge- 
nüsse hin!  —  4.  Lüge  nicht!  —  5.  Qeniesse  keine  berauschenden  Ge- 
tränke. —  Fünf  andere  Gebote,  die  hier  nicht  aufgezählt  zu  werden 
brauchen,  sollen  von  denen  beobachtet  werden,  welche  schneller  als  der 
Durchschnittslaie  zur  Erlösung  von  Leid  und  wiederholter  Geburt  ge- 
langen wollen. 

14.  Der  Buddhismus  warnt  vor  abergläubischer  Leichtgläubigkeit. 
Gautama  Buddha  lehrte,  dass  es  Pflicht  der  Eltern  sei,  ihre  Kinder  in 
Wissenschaft  und  Literatur  unterrichten  zu  lassen.  Er  lehrte  auch,  dass 
niemand  etwas  glauben  solle,  was  von  irgend  einem  Weisen  gesprochen, 
in  irgend  einem  Buche  geschrieben  oder  durch  Tradition  bekräftigt  sei, 
sofern  es  nicht  mit  der  Vernunft  in  Einklang  stehe."  — 

Ein  anderer  hochverdienter  Propagandist,  Dr.  Paul  Carus,  hat  eben- 
falls buddhistische  Leitsätze  —  fünfzehn  an  der  Zahl  —  aufgestellt.  Es 
ist  nun  hochinteressant,  an  diesem  Beispiele  zu  sehen,  dass  der  Buddhis- 
mus, von  verschiedenen  Standpunkten  beleuchtet,  verschiedene  Aspekte 
darbietet.  Der  Leser  mag  nun  die  hier  folgenden  Leitsätze  von  Carus 
mit  denen  Oleotts  vergleichen: 

1.  Der  Buddhismus  ist  die  Religion  der  Erlösung  vom  Übel  durch 
Erleuchtung. 

2.  Erleuchtung  bedeutet  Erkennen  der  Wahrheit,  die  meine  ganze 
Persönlichkeit  berührt;  sie  erleuchtet  den  Kopf,  wärmt  das  Herz  und 
leitet  die  Hand. 

3.  Die  Wahrheit,  die  Erleuchtung  verleiht,  kann  nur  durch  energische 
Anstrengung  erreicht  werden;  sie  muss  erlangt  werden  durch  persönliche 
Erfahrung,  durch  Versuche  in  dem  Empfindungsleben  der  Seele  und  durch 
ernste  Erforschung  der  Tatsachen  des  Daseins. 

4.  Erleuchtung  zeigt,  dass  das  Gesetz  der  Ursache  und  Wirkung  in 
der  moralischen  Welt  nicht  weniger  unwiderleglich  ist,  als  in  der  phy- 
sischen, dass  jede  üble  Tat  ihre  üblen  Wirkungen  hat  und  jede  gute  Tat 
ihre  guten  Wirkungen. 

5.  Durch  Erleuchtung  lernen  wir,  dass  das  grösste  Übel,  in  der  Tat 
das  alleinige  absolute  Übel,  moralische  Schlechtigkeit  ist,  und  dass  ihre 
Ursache  Individualität  ist. 

6.  Individualität  besteht  in  der  Annahme,  dass  es  ein  unabhängiges, 
getrenntes  Selbst  gibt,  und  dass  die  Wohlfahrt  des  Selbst  der  höchste 
Zweck  des  Daseins  ist. 

7.  Es  gibt  kein  Selbst-an-sich,  kein  Atman  im  Sinne  einer  getrennten 
Ego-Wesenheit.  Das  wahre  Selbst  des  Menschen  ist  die  Zusammensetzung 
seiner  ganzen  Persönlichkeit  (Nama-Rflpa,   Name  und  Form,  d.  i.  Subjekt 

2* 


20  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

und  Objekt);  dieselbe  besteht  hauptsächlich  aus  dem  Charakter  des  Men- 
schen, seinem  Gemüt,  seinen  Strebungen  und  seiner  Denkweise. 

8.  Jedes  Wesen  ist  in  seinem  gegenwärtigen  Dasein  das  genaue  Pro- 
dukt aller  seiner  Taten  in  früheren  Existenzen,  und  es  wird  gemäss  seiner 
Taten  einst  in  zukünftigen  Existenzen  weiter  bestehen. 

9.  Individualität  ist  eine  Illusion,  aber  die  Illusion  wird  durch  Erleuch- 
tung zerstört. 

10.  Erleuchtung  erkennt  den  Zusammenhang  alles  Lebens,  verleiht 
eine  alles  verstehende  Güte  gegen  alle  Lebewesen  und  ein  tiefes  Mitleid 
mit  jeder  leidenden  Kreatur. 

11.  Erleuchtung  ist  mehr  als  Erkenntnis,  mehr  als  Moralität,  mehr  als 
Güte.  Es  ist  Weisheit,  Tugend  und  eine  alles  verstehende  Liebe  in 
einem  vereint.  Es  ist  \Vahrheit,  die  sich  in  bewegenden  Ideen  als  Kraft 
manifestiert.  Erleuchtung  ist  nur  vollkommen,  wenn  sie  unsere  Gedanken 
beherrscht,  unsere  Gefühle  anregt  und  unsere  Lebensführung  regelt. 

12.  So  gleicht  die  Wahrheit  einer  Leuchte.  Sie  offenbart  das  Gesetz 
des  Guten  und  zeigt  uns  den  erhabenen  Pfad  der  Gerechtigkeit,  der  zu 
Nirväna  führt. 

13.  Nirväna  ist  ein  Zustand  des  Geistes,  in  welchem  die  Grenzen  der 
Individualität  verschwinden  und  in  dem  man  die  Ewigkeit  der  Wahrheit 
betrachtet.  Dieser  Zustand  macht  die  eigene  Individualität  ebenso  ob- 
jektiv wie  die  anderer.  Individuelle  Existenz  hört  auf  Zweck  zu  sein, 
und  das  eigene  Selbst,  die  eigene  Seele  wird  mit  den  Wahrheiten,  aus 
denen  sie  besteht,  identifiziert;  nur  diese  Wahrheiten  sind  jenes  Etwas, 
welches  bleiben  wird,  selbst  wenn  die  ganze  Welt  untergehen  sollte 
[A.  d.  H.:  Die  sogen,  ewigen  Wahrheiten].  Kurz,  Nirväna  ist  das  voll- 
ständige Übergehen  der  Individualität  zur  Wahrheit.  Es  ist  Erlösung  vom 
Übel  und  höchste  Seligkeit. 

14.  Wer  zur  vollkommenen  Erleuchtung  gelangt  ist,  so  dass  er  ein 
Lehrer  der  Menschheit  ist,  wird  »Buddha«  genannt,  das  heisst  »der 
Erleuchtete«. 

15.  Die  Buddhisten  verehren  Gautama  Siddhärtha  als  den  Buddha; 
denn  er  hat  zum  ersten  Male  die  Wahrheit  klar  gezeigt,  welche  vielen 
Hundert  Millionen  Leidenden  unaussprechliche  Segnungen  gebracht  hat."  — 

Wer  sich  mit  den  Lehren  des  Buddha  beschäftigt,  wird  nicht  umhin 
können,  diese  zwei  Gruppen  von  Thesen  zu  studieren  und  zu  durch- 
denken. Eine  Fülle  tiefer  Gedanken  liegt  in  ihnen,  und  glaube  niemand, 
ihren  ganzen  Inhalt  so  ohne  weiteres  zu  erfassen.  Die  von  H.  S.  Oleott 
aufgestellten  Sätze  sind  einfacher,  mehr  für  das  allgemeine.  Verständnis 
des  morgenländischen  Geistes  berechnet,  während  Dr.  Carus'  Thesen  in- 
haltlich subtiler,  tiefer  und  dem  wissenschaftlichen  Denken  des  Westens 
angepasst  sind. 

Der  Buddhismus  in  Japan. 

Die  buddhistische  Religion  in  Japan  ist  durchweg  Mahäy.lna-Buddhis- 
mus  und  zerfällt  wiederum  in  verschiedene  Unterabteilungen  oder  »Schu- 
len«, die  aber  alle  sich  gegenseitig  achten  und  einmütig  zusammen  wirken. 
Da  in  unseren  Tagen  die  Buddhisten  in  Japan  ausserordentlich  eifrig  tätig 
sind,  wird  es  sich  lohnen,  hier  einen  ganz  kurzen  Überblick  über  die 
Gliederung  des  Buddha-Dharma  im  fernen  Inselreich  zu  geben. 

Der  Buddhismus  wurde  552  n.  Chr.   in  Japan    eingeführt;  in  seinem 
heutigen  Bestände  zerfällt  er  in  zwei  Hauptgruppen. 
Erste  Gruppe  (Shödö). 

1.  Die  Kusha-  oder  Abhidharma-Schule;  eingeführt  658  n.  Chr. 


No.  3.  Die  buddhistische  Welt.  21 

2.  Die  Ritsu-  oder  Vinaya-Schuie;  eingeführt  724  n.  Chr.  Diese 
Schule  lehrt  die  im  Vinaya  niedergelegten  Morallehren. 

3.  Die  Hosso- oder  Dharmalakshana-Schule;  eingeführt  653  n.  Chr. 
Dieselbe  lehrt,  dass  alle  Dinge  nur  Erscheinungen  im  Geiste  eines  jeden 
Wesens  sind,  d.  h.,  dass  die  drei  Welten:  Wunsch,  Form,  Nicht-Form 
nur  im  Geiste  bestehen,  und  dass  ausserhalb  des  Geistes  überhaupt 
nichts  existiert. 

4.  Die  Kegon-  oder  Avatamsaka-Sütra-Schuie;  eingeführt  736 
n.  Chr.  Nach  der  Lehre  dieser  Schule  befinden  sich  in  Wahrheit  alle 
Wesen  im  Zustande  absoluter  Freiheit  ohne  jede  Fessel. 

5.  Die  Tendai-Schule;  eingeführt  805  n.  Chr.  Sie  lehrt:  Alle  Wesen 
sind  ursprünglich  rein  und  vollkommen;  aber  infolge  der  durch  Unwissen- 
heit erzeugten  Trübung  des  Geistes  wird  diese  Wahrheit  nicht  erkannt. 

6.  Die  Shingon-  oder  Mantra-Schule;  eingeführt  806  n.Chr.  Es 
gibt  in  Wahrheit  nichts  anderes,  als  Buddhn,  und  Buddha  ist  nicht  ausser- 
halb der  Dinge.  Alle  Tugenden  Buddhas  liegen  vollkommen  in  allen 
Wesen,  aber  die  Unwissenheit  verhindert  die  Erkenntnis  dieser  Wahrheit. 
(Im  Geiste  dieser  Schule  ist  das  vom  Herausgeber  übersetzte  Schriftchen 
»Der  Weg  zu  Buddha«  geschrieben.) 

7.  Die  Zen-  oder  Dhyäna-Schule.  Dieselbe  gliedert  sich  in  drei 
Zweige: 

a)  Die  Rinzai-Schule;  eingeführt  1168  n.  Chr. 

b)  Die  Sotö-Schule;  eingeführt  1223  n.  Chr. 

c)  Die  Oback-Schule;  eingeführt  1653  n.  Chr. 

Diese  Schulen  lehren :  Es  hat  nichts  eine  reale  E.xistenz,  als  der  eigene 
Geist;  ausserhalb  des  Geistes  ist  Buddha  nicht,  und  der  Geist  ist  nicht 
ausserhalb  Buddhas.  Infolgedessen  ist  es  nicht  nötig,  nach  der  Tugend 
zu  suchen  und  die  Sünde  zu  fürchten;  das  Wesen  aller  Dinge  ist  Buddha 
d.  h.  vollkommen  und  gut. 

8.  Die  Hokke-  oder  Nichiren-Schule,  (Schule  vom  Sonnenlotus); 
eingeführt  1252  n.  Chr.    Sie  fusst  auf  dem  Saddharmapundarika-Sütra. 

Zweite  Gruppe  (Jödo). 

9.  Die  Jojitsu-  oder  Satyasiddhi-(^ästra-Schule;  eingeführt  625 
n.  Chr.  Sie  lehrt  die  zwei  Arten  von  Unrealifät,  nämlich  die  Nichtigkeit 
des  Atman  (Selbst)  und  die  Nichtigkeit  des  Dharma  (Dharma-Ding). 

10.  Die  Sanron-  oder  Drei-^ästra-Schule;  eingeführt  625  n.  Chr. 
Ihre  Lehre  hat  den  Zweck,  den  beiden  weitverbreiteten  irrigen  Ansichten 
(die  Dinge  sind,  die  Dinge  sind  nicht;  beides  im  absoluten  Sinne)  ent- 
gegenzutreten und  den  Mittelweg  zu  zeigen. 

11.  Die  Jödo-Schule  oder  die  Schule  vom  reinen  Lande;  einge- 
führt 1138  n.Chr.  Sie  ist  weitverbreitet  und  könnte  als  der  buddhistische 
Protestantismus  bezeichnet  werden.  Die  Priester  dürfen  heiraten;  Cere- 
monien  sind  abgeschafft  und  —  leider  —  das  fünfte  Gebot  (Enthaltung 
von  alkoholischen  Getränken)  ist  aufgehoben.  Diese  Schule  ist  charakteri- 
siert durch  die  Verehrung  des  Buddha  Amitäbha.  Äusserlich  betrach- 
tet, steht  diese  Schule  ausserhalb  des  Buddhismus  insofern,  als  ihre  An- 
hänger den  Buddha  Amitäbha  personifiziert  haben  und  glauben,  durch 
das  unbegrenzte  Erbarmen  dieses  Buddha  erlöst  zu  werden ;  damit  haben 
sie  das  Grundprinzip  des  Buddhismus  (Selbst-Befreiung)  aufgegeben.  An- 
dererseits muss  gesagt  werden,  dass  Amitäbha  (d.  h.  unbegrenztes  Licht 
habend)  in  Wahrheit  ein  Prinzip  ist,  das  später  personifiziert  wurde. 
Paul  Carus  hat  den  Nachweis  geliefert,  dass  der  Begriff  Amitäbha  als 
Prinzip  sehr  wohl  haltbar  ist  (Buddhism,  Vol.  I.  No.  4);  er  sagt  im  An- 
hange zum  Evangelium  Buddhas:  „Der  Buddhismus  lehrt,  dass  Amitäbha, 
der  Urquell  des  Lichts  und  das  eigentliche  Wesen  Buddhas,  d.  h.  dasjenige, 
was  Erleuchtung  gibt  und   dessen  Erkenntnis  Nirväna  ist,  allgegenwärtig 


22  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

und  ewig  ist.  Es  ist  das,  was  der  Wiri<lichkeit  die  Gestalt  eines  liar- 
monisclien  Ganzen  gewährt.  Es  zeigt  sich  in  der  Gesetzmässigkeit  des 
Alls,  die  in  gewissem  Sinne  übernatürlich  ist,  weil  sie  die  unerlässliche 
Bedingung  aller  Natur  ist.  Es  ist  das  absolut  Allgemeine,  welches  wir 
in  den  formalen  Wissenschaften,  insbesondere  der  Logik,  Mathematik  und 
dem  Kausalgesetz  als  schlechthin  notwendig  erkennen.  Als  solches  ist  es 
die  Bedingung  nicht  nur  der  wirklichen,  sondern  überhaupt  jeder  möglichen 
Welt.  Seine  Gegenwart  erst  macht  die  Welt  erkennbar;  daher  ist  es  die 
Voraussetzung  der  Wissenschaft  und  das  ewige  Urbild  der  Wahrheit.  Vor 
allen  Dingen  ist  es  auch  der  reale  Uri^rund  des  guten  Gesetzes  der  Reli- 
gion und  bildet  die  höchste  Autorität  sittlichen  Lebens."  —  Es  ist  klar, 
dass  in  diesem  Lichte  betrachtet  die  Aniitäbha-Lehre  des  Jödoismus 
keineswegs  ausserhalb  des  Buddhismus  steht,  sondern  im  Gegenteil  einen 
recht  vollkommenen,  auf  der  geistigen  Höhe  der  letztzeit  stehenden  Aspekt 
desselben  repräsentiert,  der  mit  der  Lehre  des  Buddha  in  vollkommenem 
Einklänge  steht.  Die  Anhänger  dieser  Scliule  bekennen  sich  denn  auch 
als  eifrige  Buddhisten,  deren  (ilaube  vollkommen  auf  dem  Boden  der 
Buddha-Leine  fusst.  Wer  den  Buddhismus  in  dieser  Beleuchtung  kennen 
lernen  will,  sei  auf  die  vom  Herausgeber  übersetzten  zwei  Schriften  von 
Rev.  Kuroda  verwiesen :  »Mahäyäna«  und  »Das  Licht  des  Buddha«. 

12.  Die  Shinshu-Schule  oder  wahre  Schule;  eingeführt  1173  n. 
Chr.  Sie  stimmt  in  den  Hauptpunkten  mit  dem  Jödoismus  überein  und 
unterscheidet  sich  von  demselben   in  verschiedenen  Nebensächlichkciien. 

13.  Die  Ji -Schule  welche  sich  von  der  Jödo-  und  Shinshu-Schule  nur 
wenig  unterscheidet. 

Vom  buddhistischen  Missions-Verein. 

Die  Fortschritte  des  Vereins  während  der  letzten  Monate  sind  durch- 
aus befriedigend.  Die  Mitgliederzahl  ist  gewachsen,  der  Interessenten- 
kreis hat  sich  erheblich  vergrössert. 

Dem  von  verschiedenen  Seiten  gemachten  Vorschlag,  den  Verein  der 
Mahäbodhi-Oesellschaft  als  Landes-Sekiion  zu  affiliieren,  konnte  aus  tak- 
tischen Gründen  nicht  stattgegeben  werden.  Dagegen  wird  der  Verein 
demnächst  mit  einem  Projekt  hervortreten,  welches  den  Zusammenschluss 
aller  buddhistischen  Korporationen  im  Westen  zu  einer  »Abendländisch- 
buddhistischen Gesellschaft«  bezweckt;  dabei  soll  die  Selbständig- 
keit der  einzelnen  Vereine  durchaus  bestehen  bleiben. 

Der  Verein  beabsichtigt,  vom  Herbst  dieses  Jahres  an  in  verschiedenen 
Teilen  Deutschlands  durch  grosse  öffentliche  Vorträge  zu  wirken.  Zu 
diesem  Zwecke  wird  ein  »Vortrags-Fonds«  gegründet  werden. 

Der  buddhistische  Missions-Verein  erhielt  dankend  folgende  Schen- 
kungen für  seine  im  Entstehen  begriffene  Central-Bibliothek:  Von 
der  »International  Buddhist-Society«  je  ein  Exemplar  von:  The 
Foundation  of  the  Sangha  of  the  West;  On  Religious  Education  in  Burma; 
On  the  Will  in  Buddhism;  The  Four  Noble  Truths;  Animism  and  Law. 
Von  Herrn  Dr.  Paul  Dahlke-Berlin  wurde  geschenkt  je  ein  Exemplar 
seiner  Werke:  Aufsätze  zum  Verständnis  des  Buddhismus  und  Buddhis- 
tische Erzählungen. 

Alle  Mitglieder  und  Freunde  des  Vereins  werden  gebeten,  die  Adres- 
sen von  Interessenten  sowie  Äusserungen  der  Presse  über  die  buddhis- 
tische Bewegung  der  Geschäftsstelle  bekannt  zu  geben. 


No.  3.  Die  buddhistische  Welt.  23 

Kleine  Mitteilungen. 

Hymnen  für  buddhistische  Gemeinden. 

Bei  den  Andachts-  und  Erbauungsstunden  der  Buddhistcn-Oenieinden  in 
Amerika  sind  geistliche  Lieder  eingeführt  worden.  Dieselben  sind  —  so- 
weit wir  sie  kennen  —  sehr  schön,  innig  empfunden,  ohne  Sentimentali- 
tät, von  kräftigem,  frischem  Geiste  durchweht.  Ein  Teil  derselben  ist  von 
Dr.  Carus  gedichtet  und  komponiert,  teils  freie  Schöpfungen,  teils  Über- 
tragungen alter  Verse  aus  dem  Dhammapada.  Einige  dieser  Hymnen 
werden  nach  deutschen  Choralmelodicn  gesungen.  Im  Laufe  der  Zeit 
werden  sie  ins  Deutsche  übersetzt  werden  und  zweifellos  viel  zur  Heili- 
gung und  Veredelung  des  inneren  Lebens  beitragen. 

Verschiedene  Ansichten  über  buddhistische  Kunst 
und  buddhistische  Tempel. 

Die  »Neue  metaphysische  Rundschau«  brachte  in  ihrem  5.  Bande 
(1902,  No.  5  6)  die  Reproduktion  eines  japanischen  Kunstwerkes,  welches 
den  Buddha  Amitäbha  darstellt.  Das  Blatt  bemerkte  bei  dieser  Gelegen- 
heit: „Wir  haben  in  diesem  Hefte  die  Reproduktion  einer  Buddhastatuc') 
beigefügt,  um  unseren  Lesern  zu  zeigen,  wie  hoch  die  buddhistische  Kunst 
entwickelt  ist,  entgegen  der  landläufigen  Anschauung,  der  Buddhismus  hätte 
als  Nihilismus  nicht  die  Fähigkeit,  eine  Kunst  zu  schaffen.  Wir  haben 
hier  unzweifelhaft  ein  Kunstwerk  von  vollendeter  Schönheit  vor  uns,  das 
sehr  wohl  geeignet  ist,  auch  auf  christliche  Gemüter  einen  tiefen  Eindruck 
zu  machen." 

Dieselbe  Nummer  brachte  einen  Artikel  über  »Buddhistische  Kunst«, 
in  dem  unter  Bezugnahme  auf  die  Pariser  Weltausstellung  gesagt  wird: 
„Ein  moderner  Künstler  hätte  auf  der  Pariser  Weltausstellung  jedenfalls 
gute  Gelegenheit  gefunden,  sich  durch  die  buddhistische  Kunstauffassung 
inspirieren  zu  lassen,  und  ein  Laie  hätte  mindestens  die  Erfahrung  gemacht, 
dass  das  Märchen,  der  Buddhismus  habe  keine  Kunst  hervorgebracht,  — 
eben  ein  Märchen  ist.  .  .  .  Die  wunderbaren  Bauten  der  alten  Khmers  in 
Angkor  und  Baioni  überbieten  in  Wahrheit  alles,  was  die  religiöse  Kunst 
geschaffen  hat.  Zum  ersten  Male  hatte  man  jetzt  Gelegenheit,  einen  Be- 
griff dieser  eigenartigen  Kunst  zu  erhalten,  und  die  deutschen  Museen 
sollten  daran  denken,  das  Publikum  ihrerseits  durch  gute  Nachbildungen  mit 
diesen  merkwürdigen  Erzeugnissen  religiöser  Kunst  eines  untergegangenen 
Volkes  bekannt  zu  machen.  .  .  .  Man  kann  sich  denken,  welchen  erha- 
benen, wahrhaft  überwältigenden  Eindruck  die  Hundertc  von 
Buddha-Statuen  machen  müssen,  welche  das  Äussere  des  berühmten 
Tempels  von  Boro-Budur  schmücken". 

Im  Gegensatze  hierzu  urteilt  in  dem  protestantischen  Missions-Blält- 
lein  »Israels  Hoffnung«  (15.  Juni  1904,  S.  61)  Herr  Pastor  und  Missionar 
Inwood  folgendermassen :  „Als  ich  in  China  war,  besuchte  ich  einen 
Buddhisten -Tempel.  In  diesem  Tempel  waren  500  Götzen  aufgestellt. 
Ich  werde  das  sonderbare  eigentümliche  Gefühl  nicht  vergessen,  was  in 
jenem  Tempel  über  mich  kam,  als  ich  rings  um  mich  her  nur  die  gräss- 
lichen  heidnischen  Götzen  sah.  Es  schien  mir  als  wenn  die  ganze  Atmo- 
sphäre mit  Satan  angefüllt  sei,  und   ich  fühlte  ein  Beben  im  Innern".  — 


')  Die  Wiedergabe   dieses   Bildes  ist  die  Kunstbeilage  dieser  Nummer. 


24  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Büchertisch. 

(Kür    Besprechuiif;    und     Kückseiulunj;    nicht    verlaiiKli;!'    l'üclicr     übernimmt    die 

Redalilion   keine  Vcrpllichlunf;.      Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,   per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Eingesandte  Literatur. 

Der  buddhistische  Katechismus.  Von  Henry  S.  Oleott.  35.  (2. deut- 
sche) Ausgabe  mit  besonderem  Vorwort  des  Verfassers.  Autorisierte 
Übersetzung  nobst  Erläuterungen  von  Dr.  Erich  Bischoff,  Leipzig. 
Th.  Griebens  Verlag  (L  Fernau)  1902.    X,  143  S.    Preis  1,60  M. 

The  Light  of  Dharma,  Buddha  Birthday  Number,  April  1905.    San  Fran- 
cisco.   36  S. 
Von   The  Open   Court  Publishing  Co.    in  Chicago  wurden   uns 

eingesandt : 

The  Open  Court,  A  Monthly  Magazine,  edited  by  Dr.  Paul  Carus. 
Oktober  1904,  Januar  1905.  (Diese  Nummern  enthalten  buddhi- 
stische Hymnen). 

Kants  Prolegoniena.  Edited  by  Dr.  Paul  Carus.  1902.  V,  301  S. 
Preis  2,—  M. 

Nirväna.  A  Story  of  Buddhist  Psychology.  By  Paul  Carus;  illustrated 
by  Kwason  Suzuki.     1902.  93  S.    Preis  2,40  M. 

Karma.  A  Storv  of  Buddhist  Ethics.  By  Paul  Carus.  Illustrated  by 
Kwason  Suzuki.     1903.  VI,  41  S.  Preis  3,— M.    (Dieses  Buch  ist 

'v.  bereits  ins  Deutsche  übersetzt.) 

Buddhism  and  Its  Christian  Critics.  By  Dr.  Paul  Carus.  1897.  316  S. 
Preis  5,  -  M.  (Dieses  gross  angelegte  Werk  wird  vom  Herausgeber 
ins  Deutsche  übersetzt  werden.) 

Das  Evangelium  Buddhas.  Nach  alten  Quellen  erzählt  von  Paul  Carus. 
Deutsche  Übersetzung  von  E.  F.  L.  Gauss.  1895.  XII,  352  S.  Preis 
5,—  JVl. 

PrImer  of  Philosophy.  By  Dr.  Paul  Carus.  1899.  VI,  232  S.  Preis 
4,-  M. 

The  Surd  of  JMetaphysics.    By  Dr.  Paul  Carus.     1903.  VI,  233  S. 

Neuerscheinungen  buddhistischer  Literatur. 
The  Light  of  Dharma.  Inhalt  der  letzten  Nummer  (April  1905):  Die 
Behandlung  russischer  Gefangener  und  Verwundeter  seitens  der 
Japaner.  —  Der  Wert  des  Buddhismus.  —  Sir  Edwin  Arnold  über 
den  Buddhismus  in  Japan.  —  Das  blumenreiche  Japan.  —  Neue 
Anwendung  der  alten  Wahrheit.  —  Prädestination.  —  Notizen. 

Gleichmut.  Wenn  dn,  ihr  Jünger,  die  Menschen  den  Vollendeten 
werthalten,  hochschätzen,  achten  und  einen,  da  wird  der  Vollendete  nicht 
froh,  nicht  freudig,  nicht  aufgeblähten  Gemütes.  Darum  also,  ihr  Jünger, 
wenn  auch  die  Menschen  euch  werthalten,  hochschätzen,  achten  und  ehren, 
werdet  da  nicht  froh,  nicht  freudig,  nicht  aufgeblähten  Gemütes. 

Wenn  da,  ihr  Jünger,  die  Menschen  den  Vollendeten  tadeln,  verurteilen, 
verfolgen  und  angreifen,  da  wird  der  Vollendete  nicht  unwillig,  nicht  miss- 
mutig, nicht  gedrückten  Gemütes.  Darum  also,  ihr  Jünger,  wenn  auch  die 
Menschen  euch  tadeln,  verurteilen,  verfolgen  und  angreifen,  werdet  da 
nicht  unwillig,  nicht  missmutig,  nicht  gedrükten  Gemütes. 

Majjhima-Nikäya. 

Redakteur:  G.  A.  Dietze,  Leipzig.  —  Verlag;  Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig. 
Druck:  Arno  Bachmann,  liaalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  Juli  1905. 


No.  4. 


Rundschau. 


Der  internationale  Bund  junger  Buddhisten. 

Der  »Internationale  Bund  junger  Buddhisten«  (Inter- 
national Buddhist  Young  Men's  Association)  mit  seiner  Zentral- 
stelle in  Tokyo  hat  folgenden  Aufruf  erlassen:  „Da  in  unseren  Tagen 
der  einsichtigere  Teil  der  Menschheit  jener  Übel  überdrüssig  geworden 
ist,  welche  eine  rein  materielle  Kultur  mit  sich  bringt,  und  da  sich  der 
Mangel  einer  mehr  geistigen  Gesittung  in  hohem  Grade  fühlbar  macht, 
wenden  viele  ihren  Blick  dem  Buddhismus  zu  als  der  am  meisten  vernünf- 
tigen, philosophischen  und  kosmopolitischen  Religion,  welche  unserem 
zwanzigsten  Säculum  von  den  früheren  Jahrhunderten  als  Erbe  vermacht  ist, 
—  einer  Religion,  die  in  äusserst  vollkommener  Weise  den  geistigen  Anfor- 
derungen einer  fortschreitenden  Menschheit  genügt.  Angesichts  der  jetzigen 
Zeitverhältnisse  sind  wir  junge  Buddhisten  Japans  von  dem  innigen  Wunsche 
beseelt,  das  Evangelium  Buddhas  unter  allen  Völkern  zu  verbreiten  und  die 
Wahrheit  seiner  Lehre  dem  Geiste  aller  Rassen  auf  Erden  einzuprägen. 

Viele  der  buddhistischen  Völker  befinden  sich  in  einem  schlafenden 
Zustande  hilfloser  Untätigkeit  und  sind  im  Zauber  des  Aberglaubens  be- 
fangen. Das  kaiserliche  Inselreich  im  fernen  Osten  betrachtet  es  als  seine 
Aufgabe,  den  schlafenden  asiatischen  Kontinent  zu  erwecken  und  strebt 
mit  Eifer  danach,  diese  sich  selbst  auferlegte  Aufgabe  durchzuführen.  Da 
dürfen  auch  seine  buddhistischen  Einwohner  nicht  müssig  sein.  Es  ist 
ihre  Plicht,  ihre  Aufgabe  darin  zu  erblicken,  die  geistigen  Erwecker  der 
Völker  Asiens  zu  werden  und  gleichzeitig  die  Wahrheit  des  Buddhismus 
weit  und  breit  auf  Erden  auszusäen. 

Der  »Internationale  Bund  junger  Buddhisten«  ist  gegründet  worden 
als  erster  Schritt  zur  Verwirklichung  dieses  Ideals;  es  ist  sein  Ziel,  eine 
Kette  zwischen  den  auf  allen  Erdteilen  zerstreut  lebenden  Buddhisten  zu 
werden;  er  will  den  Zusammenschluss  und  die  Vervollkommnung  der 
letzteren  anbahnen  und  sie  befähigen,  für  die  Veredelung  des  Menschen- 
geschlechtes in  grossem  Masstabe  zu  wirken. 

Brüder  und  Schwestern,  wo  immer  ihr  weilen  mögt,  in  Asien  oder 
Amerika,  in  Europa  oder  auf  anderen  Erdteilen,  kommt  und  seid  bereit, 
euch  mit  uns  zu  verbinden  1  Lasst  uns  Hand  in  Hand  der  Verwirklichung 
unserer  glorreichen  Hoffnung  entgegen  gehen  1"  — 


26  Die  buddhistische  Welt. 


I.  Jahrg. 


Der  Bund  formuliert  die  Mittel,  deren  er  sich  zur  Erreichung  seines 

Zieles  bedienen  will,  folgcndermassen :    Er  will  i-n-nung  sunes 

1.  mit  den  Buddhisten  in  den  verschiedenen  Ländern  in  Verbindunc 

K''^?^-'i"''u""'a''*'"'"^""'"  Ansichten   und    Berichte   über  den  Stand  de? 
buddhistischen  Bewegung  austauschen; 

2  den  jungen  Buddhisten  Japans,  die  ins  Ausland  gehen,  und  den 
au.slandischen  Buddhisten,  die  nach  Japan  kommen,  in  nTöglichst  ausge- 
dehntem JVlasse  Vergünstigungen  verschaffen  •  ^ 

R  ^J-  ^^"^}^^^  '"  englischer  Sprache   und   ändere   neue   Literatur  über 
Buddhismus  herausgeben; 

nu^°".,^^'J,^"  ^^'*  8''°^^^  Buddhisten-Konferenzen  abhalten 

Über  den  Bund  erteilen  weitere  Auskunft  in   Deutschland   die 

vTrf\\^^^^''fr^'  Pn^ster,   Strassburg  i.  E.,  Schochstrasse  II,  und 

Karl  B.  Seidenstücker  in  Leipzig.    (Briefe  an  Herrn  Watanabe  sind 

tunlichst  in  englischer  Sprache  abzufassen.)  oidnaoi.  sina 


4W><»«««» 


Buddhistische  Mission  in  Amerika. 

,.  .  Die  Mission  im  transatlantischen  Kontinent  arbeitet  mit  unermüd- 
ichem  Elfer  und  grossen  Erfolgen.  Vor  kurzem  wurde  in  O  a  k  1  a  n  d 
y.  uJau^  .^'"'^  "^"i^  Missions-Station  gegründet,  und  die  hier  wohnen- 
ic-c*^  h'^^"-^J"1.  ^"^^  [T''^"''^  *ä*'g  gewesen.  Im  April  kam  der 
assistierende  Geistliche  von  San  Francisco,  Rev.  M.  Fujii  nach  Oakland. 

J^-»-  u  T.'''!""^..'!'^''  "^"'^"  Mission  zu  übernehmen.  In  Vancouver 
(Britisch  Columbia)  wird  binnen  kurzem  eine  neue  Station  gegründet 
werden,  die  ein  japanischer  Geistlicher  leiten  wird.  Jetzt  kommt  die  er- 
freuliche Kunde  dass  die  buddhistische  Mission  auch  an  der  atlantischen 
(diesseitigen)  Küste  Amerikas  ihr  Werk  beginnen  wird;  es  werden  sehr 
bald  geeignete  Leiter  die  Arbeit  übernehmen 

cfoho,^'^  T  "^'■'■..'^.^^-  Dr.  Hori  mitteilt,  trifft  im  Juni  d.  J.  der  Vor- 
steher von  Engaku-ji  (Japan)  Rt.  Hon.  Rev.  Soyen  Shaku  in  San  Fran- 
cisco ein  und  wird  vielleicht  ein  ganzes  Jahr  in  Amerika  verweilen.  Herr 
hi^^ün»         .'St  einer  der  hervorragendsten  Geistlichen  Japans  und  steht 

der  7Pn  Sp"!,'  ,.'"V^"'''-''*5"  ^'^'l^."  ''"  <^"ß^^  ''"hlung."'  Er  ist  Mitglied 
y!^  «  H  D^,-^-°^'^?.""^^''^''^^'^'t<'»"on'Stcn)  und  fungierte  seiner 
Zeit  auf  deni  Religion.s-Parlament  in  Chicago  als  einer  der  Delegierten 
des  japanischen  Buddhismus.  Auf  seiner  Visitations-Reise  längs  der 
Pacific-Küste  werden  ihm  die  buddhistischen  Missionare  uad  Laien-An- 
hänger einen  freudigen  Empfang  bereiten. 
i,„    iR.'^  buddhistische  Mission   in    Leipzig  erhielt   kürzlich   einen   sehr 

MHauIr  ^"^*m"1,^k'1'u?  ^°"  "'='''"  ^  "T-  Strauss,  einem  der  ältesten 
Mitglieder  der  Mahäbodhi-Society.  Herr  Strauss,  ein  Freund  Dhar- 
Zl^Jlt^'  r  .1  u  1?'^"  ceylonischen  Missionars,  ist  Repräsentant  der 
genannten  Gesellschaft  und  der  International  Buddhist  Society  für 
^mH^^'I"»-  f'  ^^"i^^  "''."•^  '^J"'''"''  '''■^"de  über  die  deutsche  Mission  aus 
und  billigt  durchaus  die  Zwecke  und  Ziele  des  »Buddhistischen 
^Ömo'h"^;^^"^'"^-  '"  Deutschland«.  Wir  erwidern  auch  an  dieser 
Stelle  die  Grüsse  dieses  alten  Pioniers  buddhistischer  Ideen  im  fernen 
Westen  auf  das  herzlichste  und  wünschen  seinem  Wirken  den  reichsten 
oegcn. 

Buddhistische  Mission  in  Deutschland. 

in  nn^HÜ-M*^"!,  ß'^-^'^''^"  ""screr  Zeitschrift  hat  die  buddhistische  Mission 
in  Deutschland  einen  sehr  erfreulichen  Aufschwung  genommen,  so  dass 


No.  4.  Die  buddhistische  Welt.  27 

der  Geschäftsführer  des  Missions-Vereins  (G.  A.  Dietze,  Leipzig-R., 
Kohlgartenstrasse  39)  vollauf  zu  tun  hat.  Wir  möchten  unsere  werten 
Leser  hier  auf  folgende  Punkte  hinweisen: 

Der  Missions-Verein  wird  nunmehr  damit  beginnen,  ganz  billige 
Propaganda-Schriften  herauszugeben.  Diese  Schriften  sollen  kurz  das 
Wesen  des  Buddhismus  charakterisieren,  seine  hohe  soziale  Bedeutung 
für  unsere  Zeit  hervorheben  und  die  gegen  ihn  erhobenen  ungerechten 
Anschuldigungen  sachlich  zurückweisen. 

Ferner  werden  acht  glänzende  Aufsätze  Maitriyas  (Separat-Abdrücke 
aus  dem  »Buddhist«)  als  selbständige  Broschüren  unter  dem  Gesamt- 
titel »Buddhismus«  zum  Preise  von  je  0,30  Mk.  herausgegeben.  Bis 
jetzt  sind  erschienen  das  erste  und  zweite  Heft  (»Der  Wert  des  Buddhis- 
mus« und  »Die  vier  erhabenen  Wahrheiten«).  Die  Schriften  sind  vorzüg- 
lich zur  Propaganda  und  Aufklärung  geeignet;  jeder  Freund  und  Anhänger 
des  Buddhismus  sollte  das  Seine  dazu  tun,  dass  diese  Hefte  in  Lesehallen, 
Bibliotheken,  vegetarischen  Speisehäusern,  Cafes,  in  den  Sprechzimmern 
von  Ärzten  und  Rechtsanwälten  usw.  ausgelegt  werden.  Man  denke  daran, 
dass  wir  nicht  für  eine  Organisation,  sondern  für  die  Ausbreitung  der 
buddhistischen  Wahrheiten  wirken.  Der  Missions-Verein  ist  nur  ein 
Mittel  zum  Zweck,  er  soll  nur  die  Mission  zentralisieren  und  die  Arbeit 
planmässig  durchführen.  Wer  aber  von  der  Wahrheit  des  Buddhismus 
überzeugt  ist,  sollte  sich  stets  das  alte  Wort  des  Dhammapada  vergegen- 
wärtigen: „Die  Darreichung  der  Lehre  ist  die  grösste  aller 
Gaben". 

Die  Mission  hat  jetzt  auch  mit  der  Herausgabe  der  ethischen 
und  Erbauungs-Literatur  des  Buddhismus  begonnen.  Kurz  nachein- 
ander erschienen  B.  Freydanks  Spruchsammlung  »Buddhistisches 
Vergissmeinnicht«  und  E.  M.  Bowdens  »Die  Nachfolge  Buddhas«. 
In  diesen  beiden  Sammlungen  sprechen  die  buddhistischen  Schriften  selbst 
zu  uns,  und  es  tritt  in  ihnen  die  ganze  sittliche  Hoheit  und  soziale  Kraft 
des  Buddhismus  zu  Tage.  Das  »Vergissmeinnicht«  bietet  zum  weitaus 
grössten  Teile  Perlen  aus  den  alten  Päli-Quellen,  während  Bowdens  Werk 
Sprüche  aus  der  gesamten  Literatur  des  Buddhismus  von  den  ältesten 
Tagen  an  bis  auf  die  allerneueste  Zeit  enthält.  Alle  freireligiösen,  ethi- 
schen, fortschrittlichen  Vereinigungen.  Tierschutz-Vereine,  alle  freigesinnten 
Eltern  und  Lehrer  und  alle,  die  für  einen  undogmatischen  Religions- 
unterricht, für  reine  Moralunterweisung  eintreten,  sollten  diese  Bücher 
wenigstens  prüfen;  eine  Fülle  hoher,  reiner,  liebevoller  Lehren  werden 
hier  gegeben ;  eine  höhere  umfassendere  Ethik,  als  die  hier  niedergelegte, 
ist  schlechterdings  undenkbar.  Die  Mission  in  Amerika  hat  ihre  grosse 
Freude   über   diese  Spruchsammlungen   bereits  zum   Ausdruck   gebracht. 

Wir  bitten  alle  Freunde,  Mitglieder  und  Anhänger  uns  baldmöglichst 
etwaige  Wünsche  betreffs  buddhistischer  Vorträge  für  den  Herbst  und 
Winter  zukommen  zu  lassen.  Wer  es  für  wünschenswert  hält,  dass  in 
seinem  Wohnorte  ein  oder  mehrere  grössere  oder  kleinere  Vorträge  ge- 
halten werden,  setze  sich  mit  uns  in  Verbindung.  Wünsche  betreffs 
Thema,  Zeit  usw.  werden  gern  berücksichtigt.  Auch  werden  nach  wie 
vor  die  Adressen  neuer  Interessenten  und  die  Einsendung  von  Äusserungen 
der  Presse  über  unsere  Bewegung  erbeten. 

Es  wird  gebeten  alle  Mitteilungen  nur  an  die  oben  angegebene 
Geschäftsstelle  des  Missions-Vereins  zu  richten. 

3* 


28  Die  buddhistische  Welt.  j.  Jahrg. 

Vom  evangelisch-sozialen  Kongress  in  Hannover. 

Am  13.  Juni  tagte  in  Hannover  der  16.  Evangelisch-soziale  Kongress 
Als  ein  erfreuliches  Symptom  für  das  Vorrücken  des  Buddhismus  ist  es 
zu  bezeichnen,  dass  dieser  Kongress  sich  eingehend  mit  dem  Buddhismus 
beschäftigt  hat.  Das  war  man  bisher  von  den  christlichen  Kreisen  gar 
nicht  gewöhnt,  umsomehr  verdient  diese  Tatsache  beachtet  zu  werden 
Es  fängt  allmählich  an  zu  tagen,  und  man  beginnt  langsam  einzusehen 
dass  der  Buddhismus  immer  mehr  und  mehr  im  Abendlande  an  Bedeu- 
tung gewinnt. 

Also:  Herr  Pfarrer  Lic.  H.  Hack  mann -London  sprach  über  »die 
sozialen  Kräfte  im  Christentum  und  im  Buddhismus«-  er  stellte 
sechs  Thesen  auf,  und  die  Ausführungen  des  Redners  dienten  natür- 
lich dem  Zweck,  die  Superiorität  des  Christentums  gegenüber  dem  Bud- 
dhismus darzutun.  Herr  Professor  Dr.  Harnack-Berlin  pries  dann  im  An- 
schluss  daran  die  christliche  Nächstenliebe  „als  den  Magnet  der  das 
Christentum  zur  Weltreligion  gemacht  habe,  und  der  auch  ferner  sein 
Leitstern  sein  werde."  — 

Wir  werden  uns  in  der  nächsten  Nummer  näher  mit  den  sozialen 
Kräften  im  Buddhismus  zu  beschäftigen  haben.  —  Inzwischen  hat  das 
»Freie  Wort«  in  seiner  letzten  Nummer  Herrn  Lic.  Hackmann  eine  sehr 
scharfe  Abfertigung  zu  teil  werden  lassen;  wir  empfehlen  dem  Leser  die 
Lektüre  dieses  Aufsatzes. 

»Der  Buddhist«  und  die  deutsche  Presse. 

Die  Beurteilung,  welche  unsere  Zeitschrift  in  der  deutschen  Presse 
gefunden  hat,  ist  zum  grössten  Teil  objektiv-sachlich,  stellenweise  sehr 
günstig,  hie  und  da  kühl  abwartend.  Durchweg  abfällige  Kritiken  liegen 
uns  bis  jetzt  zwei  vor:  die  eine  in  der  »Christlichen  Welt«  einem 
in  Marburg  erscheinenden  kirchlich -liberalen  Wochenblatt  Die  Be- 
sprechung findet  sich  in  der  Nummer  vom  1.  Juni  und  stammt  aus  der 
Feder  des  oben  erwähnten  Lic.  Pfarrer  Hack  mann.  Die  andere  abfällige 
Beurteilung  befindet  sich  in  der  Juni-Nummer  der  in  Leipzig  erscheinenden 
theosophischen  Monatsschrift  »Der  Vähan«  (Richard  Bresch ) 

Dass  ein  christliches  Blatt  den  Buddhismus  vor  der  Hand  eo  ipo  ab- 
lehnt, ist  nicht  weiter  verwunderiich ;  befremdhcher  könnte  es  schon 
manchem  erscheinen,  dass  ein  theosophisches  Journal  eine  buddhi- 
stische Zeitschrift  gänzlich  abfällig  bespricht.  Dem  guten  »Vähan«  geht 
es  halt  wie  so  manchem  seiner  Gesinnungsgenossen:  Er  schätzt  den  Bud- 
dhismus, preist  ihn,  empfiehlt  ihn;  dabei  passiert  ihm  nun  das  immerhin 
bedaueriiche  Malheur,  dass  er  gerade  denjenigen  Punkt  auf  den  im 
Buddhismus  alles  ankommt,  von  dessen  Verständnis  eine  rechte  Würdigung 
dieser  Religion  erst  abhängt,  der  als  charakteristisches  Merkmal  dem 
Buddhismus  allein  unter  allen  anderen  Religionen  eigentümlich  ist  — 
dass  er  gerade  diesen  Punkt  in  jeder  Weise  verfehlt  Wir  meinen 
die  Anatjä-Lehre,  die  Doktrin  vom  Nicht-Selbst.  Der  »Vähan«  gleicht, 
um  mit  Änanda  Maitriya  zu  sprechen,  einem  Manne,  der  das  Koperni- 
kanische  Weltsystem  mit  Hilfe  des  Ptolemäischen  kapieren  und  erklären 
will.  —  Ergebnis :  Konfusion,  Unklarheit.  So  will  der  »Vähan«  von  seinem 
ätmanisierenden,  brahmanisierenden,  egozentrischen  Standpunkte  aus  den 
nicht-ätraanischen,  nicht-egozentrischen  Buddhismus  verstehen  Dabei 
kann  selbstverständlich  niemals  etwas  Gescheites  herauskommen  •  er  setzt 
seinen  Lesern  nur  ein  verzerrtes  Bild  des  Buddhismus  vor  Wir 
empfehlen  dem  »Vähan«  bei  seinen  egoisierenden  Tendenzen  drin- 
gend das   Studium   der  Aufsätze    von    Dr.  Carus  und  Maitriya-   das 


No.  4.  Die  buddhistische  Welt.  29 

Blatt  kann  sehr  viel  daraus  lernen  und  wird  hoffentlich  nicht  so  obstinat 
sein,  sein  Ohr  gegenüber  sachlicher  Aufklärung  zu  verschliessen.  Der 
»Vähan«  fand  es  in  seiner  diesjährigen  Januar-Nummer  für  gut,  die  Anattä- 
Lehre,  also  das  spezifische  Charakteristikum  des  Buddha-Dharma,  „ein 
monströses  Unding"  zu  nennen;  schon  allein  durch  dieses  eine 
Dictum  hat  der  »Vähan«  die  Quantität  und  Qualität  seines  Verständnisses 
für  den  Buddhismus  einer  wahrhaft  vernichtenden  Selbstkritik  unterzogen. 

Sowohl  die  »Christliche  Welt«  als  der  »Vähan«  urteilen  gehässig 
und  lassen  in  ihrer  Besprechung  Objektivität  in  jeder  Weise  vermissen. 
Der  hämische  Ton,  den  die  »Christliche  Welt«  anschlägt,  und  die  höhnisch 
wegwerfende  Art  des  »Vühan«  scheinen  uns  denn  doch  nicht  im  Einklang 
zu  stehen  mit  der  guten  Sache,  der  beide  Blätter  dienen  oder  dienen 
wollen.    Wie  sagt  doch  der  vorchristliche  buddhistische  König  Asoka? 

„Nicht  das  Verketzern  anderer  Religionen  oder  das  grundlose  Ge- 
ringschätzen derselben,  sondern  im  Gegenteil,  die  Achtung  anderer  Reli- 
gionen und  Ehrerbietung  ihnen  gegenüber  —  das  ist  recht.  Wer  so 
handelt,  unterstützt  seine  eigene  Religion  und  erweist  derjenigen  anderer 
einen  guten  Dienst;  wer  entgegengesetzt  handelt,  kompromittiert  die 
eigene  Religion  und  beleidigt  die  der  anderen."  — 

Wir  werden  auf  die  Auslassungen  der  genannten  beiden  Blätter  noch 
einmal  zurückkommen,  wenn  wir  die  Stellung  der  deutschen  Presse  zum 
»Buddhist«  näher  betrachten  werden.  Mit  denselben  Waffen  freilich 
kämpfen  wir  nicht. 

Kleine  Mitteilungen. 

Die  Aufgaben  des  Christentums  gegenüber 
dem  Buddhismus. 

Unter  dieser  Devise  veröffentlicht  Herr  Lic.  Pfarrer  Hackmann  in 
der  »Christlichen  Welt«  (15.  Juni  er.)  folgende  fünf  Thesen: 

1.  „Eine  natürliche  und  unvermeidliche  Ent Wickelung  rückt  Buddhismus 
und  Christentum  immer  näher  aneinander  und  zwingt  sie,  ihre  Kräfte  mit- 
einander zu  messen. 

2.  Es  ist  wichtig,  dass  man  auf  christlicher  Seite  dem  Studium  des 
Buddhismus  als  Religion  sowohl  nach  seinem  geschichtlichen  Fort- 
schreiten, als  nach  seinen  heutigen  Zuständen  viel  stärker  die  Aufmerk- 
samkeit zuwende. 

3.  Den  Ausschlag  im  Kampfe  zwischen  Buddhismus  und  Christentum 
werden  freilich  nicht  Studien  und  theoretische  Erwägungen  geben,  son- 
dern der  tatsächliche  Erweis  religiöser  und  sittlicher  Kraft. 

4.  Diesen  Erweis  hat  in  erster  Linie  die  Missionsarbeit  zu  liefern. 
Sie  bedarf  dafür  aber  noch  ganz  wesentlicher  Vervollkommnung.  Sie 
muss  Männer  zu  ihrem  Dienste  finden,  welche  hervorragende  Begabung 
und  gründlichste  Geistesbildung  verbinden  mit  einer  festen  Schulung  des 
Willens  zur  Hingabe  an  aufreibende  Arbeit;  sie  muss  in  ihrer  Methode 
immer  vor  allem  danach  streben,  etwas  vom  Wesen  Jesu  Christi  als 
einer  lebendigen  Macht  der  Hilfe  den  NichtChristen  nahe  zu  bringen  mit 
Zurückstellung  blosser  Formen  und  Organisationen. 

5.  Die  Theologie  hat  bisher  in  der  Missionsaufgabe  fast  völlig  versagt. 
Gerade  die  freigesichtete  Theologie  muss  in  diese  Lücke  eintreten.  Sie 
findet  hier  das  notwendige  Gegengewicht  zu  überstarker  Reflektion  und 
theoretischer  Verdünnung  des  Christentums,  eine  Probe  auf  das,  was 
wirklich  lebt."  — 


30  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Bravo,  Herr  Licentiat,  endlich  einmal  ein  vernünftiges  Wort,  welches 
verdient,  in  den  weitesten  Kreisen  beachtet  zu  werden!  Dass  die  christ- 
liche Theologie  bisher  in  der  Missions-Aufgabe  versagt  hat,  dass  Sie 
einen  freieren  Geist  in  der  christlichen  Missionsarbeit  wünschen,  ist  wohl 
gesprochen.  Sehr  gut  ist  auch  das  offene  Eingeständnis,  dass  die  christ- 
liche Mission  „noch  ganz  wesentlicher  Vervollkommnung  bedarf", 
und  die  Forderung,  „blosse  Formen  und  Organisationen  sollen  zurückge- 
stellt" und  dafür  „etwas  vom  Wesen  Jesu  Christi  den  NichtChristen"  — 
Herr  Hackmann  vermeidet  hier  in  löblicher  Weise  den  sonst  ebenso  be- 
liebten wie  despektierlichen  Ausdruck  »Heiden«  —  „nahegebracht  werden." 
Das  ist  vorzüglich  gesagt;  wenn  die  christliche  Mission  wirklich  in 
diesem  Geiste  arbeiten  wird,  wenn  anstelle  von  Seelenfang  und  Pro- 
selytenmacherei  wahre  Menschlichkeit,  Humanität  und  Liebe  treten  werden, 
dann  wird  auch  die  buddhistische  Welt  Hand  in  Hand  mit  der  christlichen 
Mission  zum  wahren  Wohle   und  Heil   der  Menschheit  wirken  können. 

Von  dem  Zeitpunkte  an,  da  die  christliche  Mission  diesen  Geist  in 
sich  realisiert  haben  wird,  wird  man  christlicherseits  auch  nicht  mehr  — 
wie  es  Herr  Hackmann  noch  tut  —  von  einem  Kampfe  zwischen  Chri- 
stentum und  Buddhismus  sprechen.  Brüderlich  Hand  in  Hand  arbeiten 
zur  wahren  Wohlfahrt  der  Völker,  —  das  entspricht  dem  Geiste  des 
Buddhismus,  und  wenn  die  christliche  Mission  sich  bis  zu  derselben  Höhe 
emporschwingen  kann  —  wohlan,  sie  soll  willkommen  sein  I 

Durchaus  zu  billigen  ist  endlich  die  Forderung  des  Herrn  Hackmann, 
„dass  man  auf  christlicher  Seite  dem  Studium  des  Buddhismus  viel  stärker 
die  Aufmerksamkeit  zuwende I"  Das  ist  allerdings  sehr,  sehr  nötig. 
Die  Unwissenheit,  auch  in  den  Kreisen  der  protestantischen  Geistlichkeit, 
über  den  Buddhismus  ist  denn  doch  etwas  zu  gross,  wie  wir  hier  gleich 
an  einem  Falle  unseren  Lesern  zeigen  werden. 

«»See» 

Ein  Pastorales  Anathema. 

Im  »Jahrbuch  moderner  Studenten«  (Osterwieck  a.  Harz  1905) 
schreibt  Herr  Pastor  Schwechten  S.  55  wörtlich  folgendes:  „Heute  ist 
Buddha  der  Götze  auch  vieler  auf  den  dreieinigen  Gott  Getaufter.  Unser 
Geschlecht  ist  im  ganzen  so  müde  und  zum  Teil  so  von  Furien  verfolgt, 
dass  es  leicht  nur  seine  Hoffnung  auf  Nirväna  setzt.  Christ  sein  aber  ist 
das  Gegenteil  dieser  schwächlichsten  und  schmählichsten  aller  Religionen." 

Der  Buddhismus  —  die  „schmählichste"  aller  Religionen !  Wir 
sehen,  dass  auch  im  Zeitalter  der  drahtlosen  Telegraphie  der  Kultus  der 
Sancta  Simplicitas  selbst  in  den  gebildeten  Kreisen  immer  noch  seine 
grotesken  Blüten  zeitigt.  Wir  sehen  aber  aus  dieser  pasloralen  Aburtei- 
lung wieder,  wie  zeitgemäss  die  Forderung  des  Herrn  Lic.  Hackmann 
ist,  „man  möge  auf  christlicher  Seite  dem  Studium  des  Buddhismus  viel 
stärker  die  Aufmerksamkeit  zuwenden."  Nötig  ist's  sicherlich;  hoffen  wir, 
dass  die  Beachtung  dieser  Forderung  bald  greifbare  Gestalt  annehme. 
Glauben  können  wir's  freilich  vor  der  Hand  noch  nicht. 

Eine  Berichtigung  von  unbekannter  Hand. 

Wir  finden  soeben  in  einem  Exemplar  von  No.  3  des  »Buddhist«, 
welches  in  einem  Leipziger  vegetarischen  Speisehaus  ausliegt,  auf  S.  18 
der  »Buddhistischen  Welt«  eine  Randbemerkung  von  unbekannter  Hand  zu 
der  zweiten   Olcottschen  These.     Oleott  formulierte  diese  These 


No.  4.  Die  buddhistische  Welt.  31 

folgendermassen :  „Das  Weltall  hat  sich  entwickelt,  ist  nicht  erschaffen 
worden,  und  in  ihm  waltet  das  Gesetz,  nicht  irgend  eines  Gottes  Willkür." 
Hierzu  bemerkt  der  unbekannte  Leser:  „Das  Weltall  existiert,  ist  in  einem 
ewigen  Werden,  Wechsel  begriffen,  hat  sich  also  nicht  entwickelt, 
sondern  entwickelt  sich." 

Der  Schreiber  hat  ganz  recht.  Wann  und  wo  immer  ein  empfinden- 
des, denkendes  Wesen  die  Vorstellung  des  »Jetzt«  in  sich  empfindet,  gilt 
stets  der  Satz:  „Die  Welt  ist  ein  Werden."  Da  nun  die  einzelnen  Punkte 
des  zeitlichen  Nacheinander,  d.  h.  die  subjektiven  Vorstellungen  »Jetzt« 
unendlich  sind,  so  gilt  auch  der  Satz  von  der  Welt  als  Werden  unendlich 
vielmal,  d.  h.  immer.  Oleott  hat  allerdings  im  Hinblick  auf  die  in  der 
Vergangenheit  vorgestellte  Weltschöpfung  des  Judentums  und  Christi- 
anismus die  in  unserer  Vorstellung  zeitlich  hinter  uns  liegenden  Stadien 
der  Welt  im  Auge  gehabt  und  konnte  von  diesem  Standpunkte  aus 
immerhin  sagen:    „Die  Welt  hat  sich  entwickelt." 


Büchertisch. 


(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher    übernimmt    die 

Redalition   keine  V'er]iflichtung.      Die   Bücher  sind  zu   ser.dcn   an   den  Herausgeber 

Karl  Scidenstücker,  per  Adr.   Buddhistischer   Verlag  in  Leipzig.) 


Eingesandte  Literatur. 
Prostitution    des   Geistes.    Satirischer    Roman    von   Erdniann   Gott- 
reich  Christaller.  Jugenheim  a.  d.  B.    Sueviaverlag  1901.  375  S. 
2  Bde.     Preis  br.  3  Mk. 
Ein  kleiner  Kulturkampf.    Akten  und  Erlebtes  zu  dem  satirischen  Roman 
Prostitution   des   Geistes«.    Von    E.  G.  Christaller.  Jugenheim 
a.  d.  B.    Sueviaverlag  1903.    59  S.    Preis  br.  1  Mk. 

Besprechungen, 

Der  buddhistische  Katechismus.  Von  Henry  S.  Oleott.  35. 
(2.  deutsche)  Ausgabe.  Autorisierte  Übersetzimg  nebst  Erläuterungen  von 
Dr.  Erich  Bischoff.  Leipzig,  Th.  Griebens  Verlag  (L.  Fernau)  1902. 
X,  143  S.    Preis  br.  1,60  Mk. 

Das  vorliegende  Werk  ist  der  älteste  buddhistische  Katechismus. 
In  einige  zwanzig  Sprachen  übersetzt,  hat  es  eine  ausserordentlich  weite 
Verbreitung  gefunden.  Die  vorliegende  Ausgabe  zerfällt  in  fünf  Abschnitte 
und  gibt  in  386  Fragen  und  Antworten  einen  Überblick  über  das  Leben 
des  Buddha,  die  Lehre,  die  Mönchsgemeinschaft,  die  Entwickelung  des 
Buddhismus  und  über  das  Verhältnis  des  letzteren  zur  Wissenschaft. 
Beigefügt  sind  als  Anhang  die  »vierzehn  Leitsätze«,  Literaturangaben, 
Anmerkungen  des  Übersetzers  und  die  Titel  der  kanonischen  Päli-Texle. 

Die  Darstellung  ist  im  allgemeinen  klar  und  verständlich ;  recht  ge- 
schickt ist  besonders  das  Nibbäna-Problem  behandelt.  Der  Katechismus 
ist  in  erster  Linie  als  Leitfaden  für  buddhistische  Schulen  in  Asien  be- 
stimmt und  will  als  solcher  beurteilt  sein.  Unseres  Erachtens  wäre  es 
besser  gewesen,  wenn  in  der  deutschen  Ausgabe  verschiedene  Fragen 
und  Antworten  gestrichen  wären,  namentlich  No.  41,  42  und  104.  Diese 
Bemerkungen  passen  wohl  für  ceylonische  Kindcrschulen,  aber  nicht  für 
wissenschaftlich  gebildete  Europäer,  zumal  sie  von  ganz  unwesentlicher 
Bedeutung  sind.  Wir  hoffen  auch,  dass  in  der  nächsten  deutschen  Aus- 
gabe das  leidige  »das«  Dharma  durch  »der«  Dharma  ersetzt  wird. 


32  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Im  allgemeinen  bietet  dieser  Katechismus  manches  Anregende,  wenn 
er  auch  inhaltlich  und  formell  weit  hinter  dem  in  jeder  Beziehung  muster- 
gültigen Katechismus  von  Subhadra  Bhikshu  zurückbleibt.  S. 

Kennt  die  Lehre  Buddhas  den  Begriff  der  christlichen  Liebe? 
Von  Dr.  Otto  Schrader.  Berlin,  Verlag  von  Paul  Raatz.  9  S.  Preis 
0,25  Mk. 

Dieses  leider  nahezu  vergriffene  kleine  Schriftchen  ist  warm  zu 
empfehlen.  Schrader  führt  den  klaren  Nachweis,  dass  der  Begriff  der 
christlichen  Liebe  (Caritas,  Maitri)  im  Buddhismus  eine  sehr  wichtige  Rolle 
spielt.  Es  wird  hier  scharf  der  Unterschied  betont  zwischen  Maitri 
(Caritas)  und  Käma  (Amor),  auf  deren  Verwechslung  das  weitverbreitete 
Missverständnis  beruht,  der  Buddhismus  kenne  den  Begriff  der  Liebe 
nicht,  da  er  die  Überwindung  von  Käma  lehre.  Käma,  niedere  Liebe  im 
Gegensatz  zum  Hass  ist  im  Sinne  des  Buddhismus  eine  Leidenschaft, 
die  notwendigerweise  aufzugeben  ist.  Dagegen  ist  Maitri,  die  wahre 
Herzensgüte,  das  unumschränkte  Wohlwollen,  Caritas,  das  Ideal  eines 
jeden  Buddhisten.  S. 

Der  Weg  zu  Buddha.  Von  Skesaburo  Nagao.  Berechtigte 
deutsche  Ausgabe  von  Karl  B.  Seidenstücker.  Leipzig,  Buddhistischer 
Verlag.    VIII,  61  S.    Preis  br.  0,80  Mk. 

Dieses  kleine  Werkchen  ist  der  dritte  Teil  der  in  englischer  Sprache 
erschienenen  Schrift  »The  Outlines  of  Buddhism«  (San  Francisco  1900). 
Seiner  Darstellung  nach  mahäyänistisch,  schildert  es  in  sechs  Kapiteln 
die  theoretische  Lehre  und  die  religiöse  Praxis  des  Buddhismus.  Das 
speziell  Mahäyänistische  wird  den  Leser,  der  den  Buddhismus  bisher  nur 
in  hinayänistischer  Auffassung  kennt,  zunächst  etwas  befremdlich  anmuten; 
er  wird  aber  bald  finden,  dass  der  Gegensatz  zwischen  beiden  Richtun- 
gen, so  gross  er  in  manchen  Punkten  auch  sein  mag,  in  den  Haupt- 
punkten der  Lehre  fast  gänzlich  verschwindet.  Eibaulich  ist  zu  lesen, 
was  über  die  religiöse  Praxis  gesagt  wird.  Wer  den  Buddhismus  in 
mahäyänistischer  Beleuchtung  kennen  lernen  will,  dem  sei  neben  den 
Schriften  von  Kuroda  auch  dieses  billige  Büchlein  empfohlen.  D. 

Prostitution  des  Geistes.  Von  E.  G.  Christ  aller.  Satirischer 
Roman  in  2  Bdn.   Jugenheim  a.  d.  B.    Sueviaverlag.    375  S.    Preis  3  Mk. 

Der  Verfasser,  ein  ehemaliger  württembergischer  Geistlicher,  schil- 
dert in  diesem  Romane  die  Pfarrcriaufbahn  eines  jungen  Theologen,  der 
durch  sein  Studium  Atheist  geworden  ist.  Wegen  der  erhaltenen  Stipen- 
dien wird  derselbe  gezwungen,  in  den  Dienst  der  Kirche  zu  treten,  trotz- 
dem der  Kirchenbehörde  der  Unglaube  des  jungen  Mannes  nicht  unbekannt 
ist.  Die  hieraus  entstehenden  Konflikte  sind  meisterhaft  geschildert, 
interessant  sind  auch  die  Pfarrertypen,  die  uns  Christallcr  vorführt.  Eine 
herbe  Kritik  kirchlicher  Einrichtungen  zieht  sich  wie  ein  roter  Faden  durch 
das  ganze  Buch.  Eigentlich  gehört  ja  der  Roman  nicht  in  den  Propramm- 
bereich  unserer  Zeitschrift,  doch  können  wir  des  innerlichen  Ernstes 
wegen,  der  das  Buch  vorteilhaft  auszeichnet,  dasselbe  wohl  empfehlen.    D. 

Erlösung  vom  Übel.  Gier  und  Hass,  Zorn  und  Zwietracht,  Heu- 
chelei und  Neid,  Eiferung  und  Eigennutz,  Trug  und  List,  Starrsinn  und 
Ungestüm,  Stolz  und  Dünkel,  Lauheit  und  Lässigkeit  sind  vom  Übel.  Es 
fribt  einen  Mittelweg,  um  der  Lauheit  und  Lä.ssigkcit  und  den  anderen 
Übeln  zu  entgehen,  der  sehend  und  wissend  macht,  der  zur  Ebbung, 
Durchschauung,  Erleuchtung,  Erlösung  führt:  es  ist  der  heilige  achtfache 
Pfad  Majjhima-Nikäya. 

RediktenrT'GV  A.  Dietze,  I.eipiii;.  —  Verlag:  Buddhisti.sclier  Verlag  in  Leipzig. 
Druck:  Arno  Bachmann,  Baaladorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  August  1905. 


No.  5. 


Eine  Erklärum 


»Der  Tag«  bringt  in  seiner  Nummer  vom  23.  Juli  er.  einen  offenbar 
pastoral  inspirierten  kurzen  Artil<el  unter  der  Überschrift  »Buddhismus 
in  Deutschland«,  in  dem  das  Blatt  von  unserer  Zeitschrift  Notiz  nimmt 
und  im.Anschluss  daran  bemerkt:  „Man  kann  kaum  viel  davon  (d.  h.  vom 
»Buddhist«)  zu  erwarten  haben,  da  die  erste  Nummer  ausser  einem  ein- 
zigen Original-Artikel  aus  der  Feder  ihres  Herausgebers  nur  Nachdrucke 
und  Übersetzungen  bringt.  Schade  1  Ein  ernstlicher,  überzeugungsgewisser 
und  proselytenhungriger  Kampf  des  Buddhismus  auf  christ- 
lichem Boden')  würde  gewiss  im  Christentum  wieder  mehr  die  grossen 
und  zugleich  die  gemeinsamen  Gesichtspunkte  hervortreten  lassen.  Immer- 
hin rüsten  sich  die  »Freunde  der  Christlichen  Welt«  bereits  auf  die  Aus- 
einandersetzung mit  dem  Buddhismus."  ...  Es  folgt  nun  die  Wiedergabe  der 
bekannten  Hackmannschen  Thesen.  Dieser  Umstand,  sowie  die  Tat- 
sache, dassdic  »Christliche  Welt«  seinerzeit  ganz  ähnlich  wie  hier  »Der  Tag« 
dem  »Buddhist«  den  Vorwurf  der  Unselbständigkeit  machte,  legt  die 
Vermutung  nahe,  dass  auch  diesmal  der  Schreiber  nicht  fern  von  der 
»Christlichen  Welt«  zu  suchen  ist.  Mag  das  richtig  sein  oder  nicht,  genug, 
der  »Tag«  ist  ein  sehr  verbreitetes  Blatt,  und  da  ich  vermuten  darf,  dass 
der  besagte  Artikel  manchen  Lesern  des  »Buddhist«  zu  Gesicht  gekommen 
ist,  so  sehe  ich  mich  veranlasst,  hier  eine  Erklärung  in  dieser  Sache  ab- 
zugeben. 

Ich  will  hier  die  Frage  ganz  unerörtert  lassen,  ob  die  diversen 
christlichen  Missions-Blätter,  -Boten,  -Harfen  etc.  in  Asien  durchweg 
Original-Artikel  bringen  oder  auch  zahlreiche  Nachdrucke  und  Übersetzungen 
aus  europäischen  christlichen  Journalen.  Jedenfalls  scheint  mir  der  Herr 
Schreiber  geistig  nach  anderen  logischen  Gesetzen  zu  arbeiten,  als  ich; 
denn  ich  kann  beim  besten  Willen  nicht  einsehen,  dass  man  deshalb, 
weil  eine  Zeitschrift  zahlreiche  Übersetzungen  bringt,  von  derselben 
„kaum  viel  zu  erwarten  habe",  d.  h.  gut  deutsch  gesprochen,  dass  eine 
Zeitschrift  wegen  der  Übersetzungen,  die  sie  bietet,  minderwertig  sei.  Ich 
habe  ausdrücklich  im  F'rogramm  des  »Buddhist«  darauf  hingewiesen,  dass 
in  unserem  Journale  den  hauptsächlichsten  Repräsentanten  der  buddhisti- 
schen Mission  in  ausgedehntestem  Masse  das  Wort  gegeben  werden  soll. 
Ob  es  sich  hierbei  um  Original-Aufsätze  oder  um  Übersetzungen  aus  dem 


')  Von  mir  gesperrt.    Der  Herausgeber. 


34  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Englischen  handelt,  tut  absolut  nichts  zur  Sache ;  mein  Bestreben  ist  darauf 
Rcrlchtet,  unseren  Lesern  gerade  gute,  gediegene  Arbeiten  aus  der  Feder 
bedeutender  buddhistischer  Forscher  und  Propagandisten  zu  bieten. 

Wenn  der  Herr  Schreiber  es  bedauert,  dass  der  »Buddhist«  nicht 
zu  einem  „proselytenhungrigen  Kampfe"  antritt,  so  sollte  mir  für 
meinen  Teil  der  »Buddhist«  leid  tun,  wenn  er  sich  zu  einem  derartigen 
niedrigen,  unwürdigen  Zweck  hergäbe.  Mag  sein,  dass  andere 
Missionen  in  hohem  Masse  proselytenhungrig  sind,  jedenfalls  lehnt 
es  die  buddhistische  Mission  mit  aller  Entschiedenheit  ab,  auf  die 
Seelenhatz  und  Proselytenmacherei  auszugehen.  Im  >Buddhist«  wird  nur 
die  Lehre  bekannt  gemacht;  niemand  wird  von  uns  genötigt  oder  be- 
einflusst,  Buddhist  zu  werden. 

Der  Herr  Schreiber  sagt  weiter,  dass  sich  „die  »Freunde  der  Christ- 
lichen Welt«  bereits  auf  eine  Auseinandersetzung  mit  dem  Buddhis- 
mus rüsten".  Das  klingt  freilich  schon  bedeutend  feiner  und  anständiger. 
Zu  einer  sachlichen  Auseinandersetzung  sind  wir  jederzeit  gern 
bereit,  und  dass  wir  unseren  christlichen  Freunden  in  keiner  Weise  eine 
Antwort  schuldig  bleiben,  können  unsere  Leser  aus  der  vorliegenden 
Nummer  des  »Buddhist«  ersehen. 

Gewiss,  verehrter  unbekannter  Herr,  ich  kann  es  ganz  gut  verstehen, 
wenn  Sie  es  lebhaft  bedauern,  dass  der  »Buddhist«  Ihrem  Wunsche  zu- 
wider davon  Abstand  nimmt,  durch  ein  äusserliches,  „prosclytcnhungri- 
ges  Kämpfen"  dem  heute  äusserlich  und  innerlich  zerfahrenen  Christentum 
mit  all  seinen  hadernden  Kirchen  und  Sekten  zu  der  Gewinnung  „gemein- 
samer Gesichtspunkte"  zu  verhelfen;  —  wie  gesagt,  verstehen  kann  ich 
dieses  Ihr  Bedauern ;  aber  Sie  werden  uns  hoffentlich  gestatten,  dass  wir 
es  dem  Christentum  überlassen,  diese  Aufgabe  selbst  zu  lösen  und  seine 
„gemeinsamen  Gesichtspunkte"  selbst  ausfindig  zu  machen.  Wir  haben 
in  der  Tat  Wichtigeres  zu  tun.  — 

Ich  glaube  hiermit  über  diesen  Punkt  das  Nötige  gesagt  zu  haben. 

Karl  B.  Seidenstücker. 

Aus  der  buddhistischen  Welt. 

Eine   neue   buddhistische   Zeitung   in    englischer   Sprache.     In 

Ceylon  ist  eine  neue  buddhistische  Zeitung  in  englischer  Sprache  unter 
dem  Titel  »The  Sandaresa«  ins  Leben  getreten.  Dieselbe  erscheint  in 
Colombo  wöchentlich  einmal  als  Beiblatt  zu  dem  singhalesischen 
»Sarasavi  Sandaresa«.  Redakteur  ist  der  rührige  Laien -Anhänger 
Perera.  Die  neue  Zeitung  gibt  regelmässig  politische  Übersichten,  Mit- 
teilungen aus  den  asiatischen  Ländern,  Nachrichten  über  die  buddhistische 
Bewegung  auf  Ceylon,  über  die  christliche  Mission,  sowie  buddhistische 
Aufsätze.  Wir  wünschen  dem  neuen  Unternehmen  einen  gedeihlichen 
Fortgang!  — 

Ausbildung  buddhistischer  Missionare  für  das  Abendland.  Es 
besteht  der  Plan,  in  den  nächsten  Jahren  einen  festen  Siamni  von  Bhikkhus 
abendländischer  Nationalität  in  Burma  zu  organisieren.  Die  letzteren 
sollen  dann  nach  einer  Reihe  von  Jahren  nach  dem  Westen  zurückkehren 
und  in  ihren  Ländern  für  die  buddhistische  Mission  wirken ;  ins  Auge 
gefasst  sind  zunächst  Amerika,  England,  Deutschland  und  Frankreich. 
Auf  jugendliches  Alter,  gute  Erziehung,  gründliche  Bildung,  eingehende 
Kenntnis  des  Buddhismus  und  Beherrschung  von  Deutsch,  Englisch  und 
Französisch  wird  grosser  Nachdruck  gelegt. 

Nochmals  der  Buddhismus  in  Japan.  Gelegentlich  eines  längeren 
privaten  Schreibens,  das  Herr  Watana be,  Priester  in  Strassburg,  an  den 


No.  5. 


Die  buddhistische  Welt. 


35 


Herausgeber  gerichtet  hat,  gibt  der  erstere  eine  Notiz,  die  wir  unseren 
Lesern  nicht  glauben  vorenthalten  zu  dürfen.  Herr  Watanabe  schreibt: 
„Da  ich  in  No.  3  Ihrer  Zeitschrift  einen  kleinen  Fehler  gefunden  habe, 
erlaube  ich  mir,  denselben  zu  berichtigen.  1.  Ihre  Klassifikation  der 
Shödo  und  Jödo  muss  wie  die  nachstehende  Liste  gegeben  werden: 


A. 
Shödo 


Abhidharma 


Hinayäna 


B. 
Jödo 


Kusha 

Jöjitsu  ,  . 

Kitsu-Vinaya  I 

Hosso.  Positiver  Idealismus.     \ 

Sanron.  Negativer  Idealismus.  |    ' 

Kegon.  Realistischer  Pantheismus) 

Tendai.  Realistischer  Pantheismus) 

Shingon.  Mystik. 

Rinzai     1 

So  tu  Zen  oder  Meditationismus. 

Wöbakul 

Nirhirpn  I Praktisches  Mahäyäna.  (Ten- 

iNicnirtn  ^^^^  ^^^^  Shingon  kombiniert). 

Ji  1  Mit  Shödo-Elementcn 

Vutsunenbutsu)  stark  durchsetzt. 

Jödo.  —  Steht  in  der  Mitte  von  Ji, 
Yutsu  und  Shin. 

Silin.  ~  Absoluter  heteronomer  Bud- 
dhismus. 


Niederes . 


Höheres 


Mahäy&na 


II.  Kusha  und  Jöjitsu  existieren  nicht  mehr  in  Japan,  obwohl  ihre 
Abhidharma-Schriften  noch  sehr  eifrig  studiert  werdfen.  Ritsu  gehört 
jetzt  zur  Shingon-Schule  und  ist  nicht  mehr  unabhängig.  —  III.  Es 
ist  richtiger,  wenn  für  das  Wort  „eingeführt"  bei  den  Schulen  Nichiren 
und  Jödo  „gegründet"  gesetzt  wird.  —  IV.  Nur  allein  die  Shin-Schule 
erlaubt  ihren  Priestern  die  Heirat.  Die  anderen  Schulen  halten  am  Cölibat 
fest;  aber  es  macht  sich  jetzt  eine  Reformbewegung  bemerkbar,  deren 
Zweck  es  ist,  den  Geistlichen  die  Ehe  zu  erlauben.  —  V.  Der  von  den 
jödoi'stischen  jungen  Priestern  gegründete  National-Temperenz- 
Verein  und  der  Hansei-Kwai  der  Shin-Schule  haben  sehr  viel  für 
die  Anti-Alkohol-Bewegung  in  Japan  getan.  Die  höheren  jödo- 
i'stischen Geistlichen  sind  fast  alle  Anti-Alkoholiker."  — 

Buddhistische  Mission  in  China.  Erfreuliche  Nachrichten  über 
die  buddhistische  Mission  kommen  aus  China.  Die  japanischen  Missionare 
wirken  mit  unermüdlichem  Eifer  und  sehr  grossen  Erfolgen.  Wie  aus 
Peking  gemeldet  wird,  hat  der  japanische  Gesandte  Nishida  von  der 
chinesischen  Regierung  alle  dieselben  Rechte  für  die  buddhistische  Pro- 
paganda der  japanischen  Missionare  verlangt,  welche  die  christlichen 
Missionen  geniessen,  und  die  Regierung  hat  diesem  Verlangen  bereits 
stattgegeben.  Tempel,  Schulen  und  Hospitäler  werden  erbaut,  und  es 
unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dass  nach  Beendigung  des  Krieges  die 
Buddha'isierung  Chinas  von  Japan  aus  in  grossem  Masstabe  in  Angriff 
genommen  und  allmählich  durchgeführt  werden  wird.  Das  kann  viel 
schneller  geschehen,  als  viele  glauben  mögen;  handelt  es  sich  doch  unter 
Anknüpfung  an  uralte  Traditionen  nur  um  die  Neubelebung  erstarrter 
Formen,  um  die  Erweckung  einer  schlafenden  Religion.  Für  China  bricht 
der  Morgen  des  geistigen  Erwachens  an.   — 


4* 


36  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Eine  Buddha-Statue  in  Deutschland.  Der  Grossherzog  Ernst 
Ludwig  von  Hessen  hat  unter  einer  alten,  wuchtigen  Eiche  seines 
Wolfgartener  Schlossparl<es  eine  grosse  Buddha-Statue  aufstellen 
lassen.  Er  hatte  unmittelbar  nach  der  Rückkehr  von  seiner  indischen 
Reise  die  Figur  des  Religionsstifters  bei  Professor  Habich,  Mitglied  der 
Darmstädter  Künstler-Kolonie,  bestellt.  Das  wohlgelungene  Kunstwerk  ist 
in  Odenwälder  Syenit  ausgeführt. 

Ein  Theologen-Urteil.  In  einem  Briefe  an  den  Herausgeber  schreibt 
ein  Theologe:  „Gestatten  Sie  mir  das  eine  Urteil:  Eine  derartige  kraft- 
und  energielose  Weltanschauung  ist  zwar  so  recht  geeignet  für  unser 
heutiges  degeneriertes  Geschlecht,  das  den  Taumelbecher  der  Lust  bis  zur 
Neige  und  darum  sich  zum  Ekel  genossen  hat,  aber  kann  nicht  im  ge- 
ringsten einen  Menschen  befriedigen,  der  einmal  die  herrliche  Fülle  der 
Lebensaufgaben,  die  das  Christentum  erschliesst.  voll  und  ganz  erfasst 
hat.  Mögen  darum  auch  durch  die  Tätigkeit  des  »Buddhistischen  Missions- 
Vereins«  u.  ä.  mehr  und  mehr  solcher  jungen  und  alten  „Greise"  an  ab- 
gestandenen Zisternen  sich  erquicken  lernen,  doch  wird  die  Zahl  derer 
unvergleichlich  viel  grösser  bleiben,  die  an  dem  frisch  sprudelnden  Kraft- 
quell ihres  Heilands  und  Königs  Jesu  Christi  täglich  von  neuem  schöpfen 
Achtungsvoll  Gottlieb  Wiedenfeld,  stud.  theol.  in  Greifswald" 

Was  der  junge  Mann  hier  schreibt,  ist  ja  zweifellos  gut  gemeint 
nur  tut  es  uns  aufrichtig  leid,  dass  er  durch  diese  Zeilen  seiner  eigenen 
Sache,  der  er  dient,  einen  recht  Übeln  Dienst  erwiesen  hat.  Er  scheint 
nicht  zu  wissen,  dass  „der  frisch  sprudelnde  Kraft-Quell  seines  Heilandes 
und  Königs"  aus  dem  ethisch  nicht  ganz  reinen  Brunnen  des  alten  Juden- 
tums floss,  und  dass  dieser  Quell  da,  wo  er  von  Jesus  gereinigt  ist,  aus 
denselben  Bestandteilen  besteht,  wie  das  von  Herrn  stud.  theol  Wieden- 
feld so  herzlich  verachtete  „abgestandene  Zisfernenwasser."  Wo  Jesus 
über  den  Mosaismus  hinausgeht,  da  stellt  er  —  teilweise  sogar  mit  den- 
selben oder  ganz  ähnlichen  Worten  —  sittliche  Forderungen  auf,  die  sich 
samt  und  sonders  in  den  ältesten  buddhistischen  Schriften  finden  Es 
tut  nicht  gut,  wenn  ein  Unerfahrener  sich  voreilig  „von  dem  Eifer  um 
das  Haus  des  Herrn  fressen  lässt".  — 

Ein  Verslein  zum  China-Prozess.  Anlässlich  des  letzten  Hunnen- 
Brief-Prozesses  schrieb  ein  grösseres  Blatt  Mittel-Deutschlands  folgenden 
kurzen  Vers: 

„Der  Besiegte  wehrlos  und  vogelfrei! 
Raub,  Schändung  und  Tempel-Plünderei! 
Auf  Deutschlands  Ehre  ein  Fleck,  ein  trüber,  — 
Christen  waren  wieder  mal  Buddha  über!"  — 

Ein  Abriss  der  buddhistischen  Terminologie.  Von  verschiedenen 
Seiten  ist  der  Herausgeber  ersucht  worden,  eine  Zusammenstellung  und 
Erklärung  der  wichtigsten  buddhistischen  Fachausdrücke  als  besondere 
Broschüre  erscheinen  zu  lassen.  Der  Herausgeber  wird  diesem  Wunsche 
gern  entsprechen,  da  ein  derartiges  kleines  Wörterbuch  für  die  mit  der 
indischen  Philologie  nicht  vertrauten  Leser  des  »Buddhist«  zweifellos  von 
grossem  Nutzen  sein  wird.  Es  kann  sich  zunächst  natürlich  nur  um  eine 
Erläuterung  der  allerwichtigsten  Termini  handeln,  also  um  einen  kurzen 
Abriss  der  buddhistischen  Terminologie.  Das  Erscheinen  des  Buches 
wird  den  Lesern  unserer  Zeitschrift  bekannt  gegeben  werden. 

Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland. 

Der  Vorstand  hat  den  mehrfach  ergangenen  Anregungen  zufolge  die 
auch  statutengemäss  vorgesehene  Einrichtung  einer  öffentlichen  Bibliothek 


No.  5.  Die  buddhistische  Welt.  37 

nunmehr  durchgeführt.  Da  zu  diesem  Zwecice  nur  geringe  Mittel  zur 
Verfügung  standen,  ist  die  Bücherei  vor  der  Hand  natürlich  nicht  umfang- 
reich. Vorläufig  stehen  nur  die  im  Litteraturverzeichnis  auf  dem  Umschlag 
des  »Buddhist«  angeführten  Werke  mit  Ausnahme  der  umfangreicheren  zur 
Verfügung.  Die  Entleihbedingungen  sind  von  der  Geschäftsstelle  des 
Vereins  zu  erfahren.  Nach  auswärts  muss  Porto  für  Zusendung  der  Be- 
stellung beigefügt  werden;  im  übrigen  empfiehlt  es  sich,  stets  mehrere 
Bücher  zu  notieren,  falls  das  eine  oder  das  andere  bereits  vergeben  sein 
sollte.  Um  tatkräftige  Unterstützung  dieser  Einrichtung  wird  freundlichst 
gebeten,  insbesondere  wäre  die  Bibliotheksverwaltung  für  Büchersperiden 
aus  dem  Gebiete  der  Religionswissenschaften  sehr  dankbar. 

Als  Antwort  auf  verschiedene  Anfragen,  die  Abhaltung  von  Vorträgen 
betreffend,  ist  mitzuteilen,  dass  zu  diesem  Zwecke  erst  ein  Fonds  geschaf- 
fen werden  muss;  aus  den  Vereinsmitteln  können  Aufwendungen  hierfür 
nicht  gemacht  werden.  Zusendungen  für  den  Vortragsfonds  wolle  man 
mit  einer  diesbezüglichen  Angabe  an  die  persönliche  Adresse  des  Ge- 
schäftsführers Herrn  G.  A.  Dietze,  Leipzig-Reudnitz,  Kohlgartenstrasse  39, 
richten.  Quittung  über  eingegangene  Beiträge  erfolgt  umgehend.  In  Aus- 
sicht sind  genommen  für  nächste  Zeit  Vorträge  in  Halle  a.  S.,  Altenburg 
und  Berlin. 

Um  Irrtümer  zu  vermeiden,  sei  darauf  hingewiesen,  dass  der  Bud- 
dhistische Verlag  ein  vom  Buddhistischen  Missions -Verein  vollständig 
unabhängiges  Privatunternehmen  ist;  Verein  und  Verlag  arbeiten  zwar 
bei  der  Verbreitung  der  buddhistischen  Lehren  Hand  in  Hand,  doch  hat 
der  Verlag  keinerlei  Einfluss  auf  geschäftliche  Einrichtungen  etc.  des 
Vereins  und  umgekehrt. 

Büchertisch. 

fFür    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verLingter    Bücher     übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpflichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,   per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  I-eipzig.) 

Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Het  Boeddhisme.  En  Schets  van  Dr.  Louis  A.  Bäh  1er.  Uitgegeven 
te's  Gravenhage  in  het  jaar  1905.  38  S. 
Eine  ausgezeichnete  kleine  Schrift  über  Buddhismus.  Der  Verfasser, 
ein  holländischer  Pfarrer,  gibt  in  ausserordentlich  objektiver,  sehr  ver- 
ständlicher Weise  an  der  Hand  von  Oleotts  Katechismus  und  den  vierzehn 
Leitsätzen  eine  kurze  Darstellung  der  Buddha-Religion.  Das  Buch  zerfällt 
ausser  seiner  Einleitung  in  fünf  Kapitel,  die  das  Leben  des  Meisters,  den 
Dhamma,  den  Sangha,  die  Ausbreitung  des  Buddhismus  und  das  Verhält- 
nis des  letzteren  zur  Wissenschaft  behandeln.  Wir  sind  der  Ansicht,  dass 
die  Ausführungen  Bählers  in  Holland  viel  zur  Beseitigung  von  Missver- 
ständnissen und  zur  Bekanntwerdung  des  Buddhismus  beitragen  werden. 
Mancher  protestantische  Geistliche  könnte  sich  Bähler  in  puncto  Sachlichkeit 
und  Toleranz  zum  Vorbilde  nehmen.  Wir  wünschten  im  Interesse  unserer 
Mission,  dass  dieses  Schriftchen  bald  ins  Deutsche  übersetzt  werden 
möchte.  S. 

Die  Nachfolge  Buddhas.  Perlen  aus  der  buddhistischen  Literatur  für 
jeden  Tag  im  Jahre.  Zusammengestellt  von  Ernest  M.  Bowden. 
Mit  einem  Geleitwort  von  weiland  Sir  Edwin  Arnold.  Nach  der 
vierten  englischen  Auflage  ins  Deutsche  übertragen  und  mit  einem 
Anhange  versehen  von  Karl  B.  Seidenstücker.  Leipzig,  Bud- 
dhistischer Verlag.  VIII,  307  S.  Preis  br.  2,80  M. 


38  Die  buddhistische  Welt.  i.  jahrg 

Für  jeden  Tag  des  Kalenderjahres  ist  aus  den  verschiedpiKsfpn  huH 
dhistischen  Quellen   je  ein  Spruch   ausgewählt;  -  wer   sie   ai7e   im   7^ 

htt«'""!'?^  ^t'^'"'  "^>  "•""■'*'•  '^^"^^  '''^'  «""  Ende  des  Iah  es  e  n 
besserer  Mensch  geworden  sein,  als  er  am  Anfang  war.*-  Diese  »Nach- 
folge Buddhas,  ist  eine  hochwillkommene  Ergänzung  zu  B  Frevdanks 
unlängst  ersch.enenem  .Buddhistisches  Vergissmeinnicht,  eine  Sammlung 
buddhistischer  Sprüche  für  alle  Tage  des  Jahres«.  Die  Austattun^def 
prachtigen  Buches  ist  durchaus  würdig  und  vornehm  und  dem  t  efen  Ge- 
halt seines  Inhaltes  entsprechend.  Diese  wenigen  Worte  nur  als 
empfeh^nden  Hinweis;  denn  das  Buch  ist  gerade  auch  für  den  b"ddhis«- 
schem  Denken  und  Fühlen  noch  Fernstehenden  eine  unschätzbare  Fund- 
grube tiefsinnigster  Lebensweisheit.  Richard  Degen 

•""'"Tcbs^^Preis'b^lsih.  m'.T-1.  '''"'''"'  "  ''■'   ^'"'^^^"^^''^   ^^'^'^ 

VnibJ'^?  eingehende  Besprechung  dieses  ausgezeichneten,  die  japanische 
Volksseele  charakterisierenden  Werkes  erfolgt  in  der  nächsten  Nummer 
Buddhistischer  Katechismus  zur  Einführung  in  die  Lehre  des  Buddha 
Gütamo.  Von  Subhadra  Bhikshu.  Siebente  Auflage  Leipzie 
Altmanns  Verlag  1902.  VII,  85.  S.  Preis  broscli.  M.  1  _.  ^  ^' 
ti:rJ"  ^"^r  Vorrede  zu  diesem  vortrefflichen  Buch  schreibt  der  Verfasser 

^Eh'r^r'"t'''!'^"u">^    "^^^   '"'   J^hre    1888    die    erste    Auflage   des 
.Buddhistischen  Katechismus«  erschien,  gab  es  zwar  schon  Wissenschaft 

KreL^n^/t"''H',''  ^5"  B"dJ'"snnis  genu^,  aber  selbst  in  dergebldeten 
Kreisen  Deutschlands  kannte  man   die   reine  Lehre  des  Buddha  Götamo 

edelsten  wSrHi^ir"';  ""'  ^7'^^  ^1''  '''  '"^  '"  ^'^''^^  ältesten  'und 
edelsten  Weltreligion  etwas  anderes,  als  eine  längst  vergangene  und  ab- 
getane ku  tur-  und  religionsgeschichtliche  MerkwürdigkluSn  nicht 
♦r^r/'"^J^5^1I^'S^'  ''^"'^  ^'^  ^o"-  2400  Jahren  gültige  Wahrheit'  Hier 
w,  ."''h  'Buddhistische  Katechismus,  als  Bahnbrecher  auf.  Sein  Verfasse 
uStt^'u^-ni'^:^''^.  ^^'t^^^'^"  "^"-«'«^  der  Gebildeten  für  die  Gr'fsse 
ständniS  und' Ant'  ''"d'lh  stischen  Weltanschauung  zu  interessieren^  Ver- 
s  andnis  und  Achtung  dafür  zu  erwecken  und  ihr  Freunde  und  Anhänger 

Z^^ZTn-^I',''u''"^^  '^^^^'  g^'^'**^^  ^o"  der  festen  Überzeugung  dfss 
die  echte  Buddha^ehre  von  weittragendem  Einflüsse  auf  die  geistigen  Be- 
wegungen der  Gegenwart  werden  müsse,  und  ihre  Verbfe  tung  eine 
Kulturmission  im  höchsten  Sinne  sei."  -  veroreiiung    eine 

Dieses  Ziel,  welches  Friedrich  Zimmermann  bei  der  Abfassung  seines 
^ll'^'i'f'""*  ""  A"ge  gehabt  hat,    ist    in   jeder  Weise   orS  forden 
Se^nf 'S  ^l'^^'^"  ^'^'ff^"  ""^^  den  Buddhismus  ist  es  gerade  dem 
hnnlt^  ^'"•^"^'If  ^"/erdanken,  dass  die  Lehre  des  Buddha  in  den  ge 
^nhfi      ^T''"-  des  deutschen  Volkes  mehr  und  mehr  bekannt  und  be- 
achtet  worden  ist.    Die    letzte    Auflage    von    H.  S.  Oleotts   Ka  ecliismus 
behandelt    den    Buddhismus  in   386.   Zimmermanns    Werk   dagegen  Tur 
in  174  Fragen  und  Antworten;   letzteres  ist  also  an  Umfang  bedeutend 
keiner;   indessen  wird  niemand,  der  die  beiden  Katechismen  kennt    be 
rLÄ  .dä«s  Subhadra  Bhikshus  Katechismus   nach   Form   und  innerem 
Gehalt  bei  weitem  der  beste  ist.  Der  bekannte  Buddhologe  Dr.  K  E  Neüman^ 
schrieb  m  dem  Anhange  zu  seiner  Dhammapadani-Übersetzung  (S    m) 
Zur  ersten  Einfuhrung  in  den  Buddhismus  ist  mir  kein  geeigneteres  und 
^n  ^^}u'  r"l^^^^l^  Kründlicheres  Werk  bekannt  geworden   als  der 
;^.n„f'^n""'n'^l'P''""""!:  ^°"  Subhadra  Bhikshu  (Friedrich  Zimmer^ 
mann).    Das  Büchlein,  wohl  zu  unterscheiden  von  ähnlichen,  jedoch  sehr 

ZltrZ'Y"'  •"*•  '."*  <?l"  ^'''  J"'"''^"  «e'"<^s  Erscheinens  bereits  ins 
Englische,  Franzosische,  Schwedische,  Holländische,  Russische  (von  der 
Zensur  verboten),  Tschechische  (gleich  dem  letzteren  noch  ungeZckt) 


No.  5.  Die  buddhistische  WeH.  39 

sogar  ins  Japanisclie,  Tokyo  1891,  übersetzt  worden."  Ich  darf  hinzu- 
fügen, dass  eine  Übersetzung  des  Büchleins  ins  Norwegische  binnen 
kurzem  zu  erwarten  steht. 

Unser  Katechismus  gliedert  sich  nach  einer  kurzen  Einleitung  natur- 
gemäss  in  die  drei  Kapitel  Buddha,  die  Lehre  (Dhammo),  und  die 
Brüderschaft  der  Erlesenen  (Sangho).  Die  Ausdrucksweise  ist 
überall  sehr  klar  und  bestimmt,  für  den  abendländischen  Geist  durchaus 
verständlich.  Die  Antworten  sind  mit  zahlreichen,  sehr  gehaltvollen  An- 
merkungen versehen,  und  eine  reiche  Fülle  von  Text-Stellen  aus  den 
PÄli-Pitakas  gibt  dem  Leser  die  Gewähr,  dass  der  Verfasser  in  seiner 
Darstellung  der  reinen  Buddha-Lehre  den  richtigen  Weg  eingeschlagen 
hat.  Vielleicht  hätte  Zimmermann  in  Anbetracht  des  grossen  Umfanges 
der  Päli-Schriften  die  Stellen  genauer  zitieren,  also  das  entsprechende 
Sutta  des  Anguttara-  oder  Samyutta-Nikäya  usw.  angeben  können,  in  dem 
diese  oder  jene  Textstelle  zu  finden  ist. 

Die  Hauptpunkte  der  buddhistischen  Lehre  (Die  vier  Wahrheiten, 
Wiedergeburt,  Karman,  Tanhfl,  die  Khandhas)  sind  ausserordentlich  durch- 
sichtig behandelt;  hie  und  da  hätte  der  Anattä-Gedanke  noch  schärfer 
hervorteten  können.  In  den  die  Sittenlehren  betreffenden  Partieen,  die 
sonst  wie  alles  andere  in  diesem  Buche  vortrefflich  gehalten  sind,  ver- 
misse ich  noch  die  zehn  Sünden,  die  zehn  Irrungen  (Dasa  Kilcsä)  und 
die  sechs  resp.  zehn  Tugenden.  Ich  will  indessen  keineswegs  sagen,  dass 
das  Fehlen  dieser  Pimkte  ein  Mangel  des  Katechismus  sei ;  ich  hätte  sie 
nur  der  Vollständigkeit  halber  gern  genannt  gesehen. 

Allen,  die  eine  vorzügliche  kurze  Schrift  zur  Einführung  in  die  Lehre 
des  Buddha  kennen  lernen  wollen,  sei  Subhadra  Bhikshiis  Katechismus 
als  die  beste  aller  vorhandenen  einschlägigen  Bücher  auf  das  wärmste 
empfohlen.  S. 

Buddhist  and  Christian  Gospels  now  first  compared  from  the  Originals. 
Being  Gospel  Parallcis  from  Päli  Texts,  reprinted  with  additions. 
By  Albert  J.  Edmunds.  Sccond  edition  with  a  notice  by  T.W. 
Rhys  Davids.    Philadelphia,  1904.    34  S. 

Eine  ebenso  beachtenswerte,  wie  interessante  Schrift.  Sie  bietet 
zahlreiche  buddhistische  Parallelstellcn  aus  den  Päli-Textcn  zum  Neuen 
Testament  und  bildet  den  vierten  und  fünften  Teil  zu  einem  grösseren 
Gesamtwerk,  dessen  ersten  drei  Teile  als  einzelne  zerstreute  Aufsätze 
erschienen  sind.  Diese  ersten  drei  Abschnitte  behandeln  1.  die  Kindheits- 
legenden, 2.  die  Vorbereitung  Jesu  und  Gotamas  zu  ihrem  Lehramt,  3.  das 
Lehramt  und  die  Sittenlehren  beider  Meister.  Der  vierte  Teil  nun,  also 
die  erste  Partie  des  uns  vorliegenden  Buches  ist  betitelt  »The  Lord« 
(Der  Herr)  und  gibt  hochinteressante  analoge  Äusserungen  Christi  und 
des  Buddha  über  sich  und  ihre  Mission;  stellenweise  ist  die  Überein- 
stimmung und  Ähnlichkeit  dieser  »Herren-Worte«  geradezu  verblüffend. 
Im  fünften  Teile  endlich  werden  die  Parallelstellen  zusammengetragen, 
die  auf  die  Zukunft  der  Gemeinde,  die  Eschatologie  usw.  Bezug  nehmen. 

Edmunds  hat  durch  diese  Arbeiten  wirklich  etwas  Dankenswertes 
geliefert;  Schriften  wie  die  vorliegende  sind  in  erster  Linie  imstande,  den 
Dünkel  vieler  Christen,  im  Besitze  der  „allein  selig  machenden  Religion" 
zu  sein,  herabzuschrauben,  und  das  gegensätzliche  Verhältnis,  in  das 
ebenfalls  gerade  weite  Kreise  des  orthodoxen  Christentums  beide  Reli- 
gionen bringen  möchten,  auszugleichen.  Wir  werden  nicht  verfehlen, 
den  Lesern  unserer  Zeitschrift  die  wertvollen,  ausgezeichneten  Zusam- 
menstellungen Edmunds  in  deutscher  Übersetzung  vorzulegen.  S. 

The  Light  of  Dharma.  Inhalt  der  letzten  Nummer  (Juli  1905): 
Ewige  Glückseligkeit  ist  dein.  —  Im  blumenreichen  Japan  (Fortsetzung). 


.40  Die  buddhistische  Weit.  I.  Jahrg. 

—  Die  Behandlung  russischer  Gefangener  und  Verwundeter  seitens  der 
Japaner  (Schluss).  —  Obasuteyama.  —  Die  goldenen  Regehi  der  Pytha- 
goräer.  —  Buddhismus.  —  Bücherschau.  —  Notizen  des  Herausgebers. 

Congress  of  Japanese  Religionists.  The  Kinitodo  Publishing  Co. 
Tokyo  1904.    IV,  56  S.  mit  drei  Beilagen. 

Dies  ist  der  gedruckte  Bericht  über  den  vorjährigen  in  Tokyo  abge- 
haltenen Kongress,  über  den  wir  seiner  Zeit  (S.  7  der  »Buddhistischen 
Welt«)  eine  Notiz  gebracht  haben.  Die  Begrüssungsrede  hielt  Rev.  S.  Ku- 
roda  (Buddhist).  Bevor  die  bekannte  Resolution  bezüglich  des  Krieges 
angenommen  wurde,  sprachen  folgende  Herren:  Rev.  Moritane  Hirata 
(Shintoist),  Jitsunen  Saji  (Unitarier),  Rev.  Ködo  Kozaki  (Christ), 
Professor  Sensho  Murakami  (Buddhist),  Rev.  Seiran  Ouchi  (Bud- 
dhist), Rev.  Reichi  Shibata  (Shintoist).  —  Drei  Beilagen  geben  die 
Photographieen  der  hervorragendsten  buddhistischen ,  christlichen  und 
shintoistischen  Kongressteilnehmer. 

Wie  sympathisch  berührt  dieses  gemeinsame,  einmütige  Zusammen- 
arbeiten der  verschiedenen  religiösen  Gemeinschaften!  Werden  wir  in 
Europa  auch  einmal  derartiges  erleben?  — 

Sozialist  und  Vegetarier.    Ein  Zwiegespräch.    Von  Franz  Priscliing. 
Selbstverlag  des  Verfassers,  Graz  1905.     16  S. 
Der  Verfasser  legt  in   diesem   kleinen  Schriftchen  seine   Gedanken 
über    Sozialismus    und  Vegetarismus    nieder.     Interessenten   können   die 
Broschüre  vom  Autor  kostenlos  beziehen. 

Eingegangene  Zeitschriften:  Der  Herausgeber  bestätigt  dankend 
den  Empfang  von  Tausch-Exemplaren  seitens  folgender  Zeitschriften : 
Blätter  zur  Pflege  des  höheren  Lebens  (Paul  Frömsdorf,  Schwcid- 
nitz);  Buddhism  (Ananda  Maitriya,  Rangün);  Das  freie  Wort  (Max 
Henning,  Frankfurt  a.  M.);  Das  Wort  (Leopold  Engel,  Dresden);  Der 
g'rode  Michel  (Franz  Prisching,  Graz);  Der  Tier-  und  Menschen- 
freund (Professor  Dr.  Förster,  Friedenau  b.  Berlin) ;  DerVähan  (Richard 
Bresch,  Leipzig);  Die  freien  Glocken  (Ludwig  Kreichauf,  Leipzig); 
Die  Handelsakademie  (Leipzig);  Die  übersinnliche  Welt  (A.  Wein- 
holtz,  Berlin);  Reformblätter  (Max  König,  Hannover);  Schweizer- 
ische Abstinenzblätter  (Zürich,  Schweizerische  Gross-Loge  des  I.  O. 
G.  T.);  Steirische  Schul-  und  Lehrer-Zeitung  (Friedrich  Döhren, 
Graz);  The  Open  Court  (Dr.  Paul  Carus,  Chicago);  The  Light  of 
Dharma  (Rev.  Dr.  Kentok  Hori,  San  Francisco);  The  'Sandarcsa 
(Percra,  Colombo);  Theosophischcs  Leben  (Paul  Raatz,  Berlin); 
Theosophischer  Wegweiser  (Arthur  Weber,  Leipzig);  Volkskraft 
(Otto  Melchers,  Bremen). 

Solidarität.  Sei  stets  darauf  bedacht,  das  Wohl  und  Glück  anderer 
zu  fördern.  jatakamal:i. 

Überall  in  allem  sich  wiederkennend  durchstrahlt  der  Jünger  die 
ganze  Welt  mit  liebevollem,  fricdevollein,  unbewegtem  Gemütc,  mit  weitem, 
tiefem,  unbeschränktem,  von  Grimm  und  Groll  geklärtem. 

Majjhima-Nikäya. 


Verantwortlicher  Rcdaktrur:  G.  Ä.  Dirtze,  Lcijtzig:.  —  VVrlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzig.     —     Druck:  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  September  1905. 


No.  6. 


Rundschau. 


Friede.  So  ist  er  denn  ausgestritten,  der  blutigste,  furchtbarste 
Krieg,  von  welchem  die  Weltgeschichte  zu  sagen  weiss!  Welch'  heisses 
Ringen,  welch'  mörderischer  Kampf!  Viel  tausend  Menschenleben  sind 
geopfert;  in  ungezählten  Familien  ist  Leid  und  Jammer  eingekehrt,  und 
manch  trauerndes  Herz  sieht  seine  einst  so  stolzen  Hoffnungen  welken, 
sterben,  für  immer  verweht  werden.  Eine  furchtbar  ernste  Predigt  über 
die  Wahrheit  vom  Leiden ! 

Und  schnell  und  unaufhaltsam  rollt  das  Rad  der  Zeitlichkeit  dahin: 
Wo  noch  vor  kuizem  Kanonendonner  dumpf  erdröhnte,  wo  der  Schmerz 
in  tausendfacher  Gestalt  die  Krieger  anblickte,  wo  Blutgeruch  die  Luft 
erfüllte  und  gellendes  Todesschreien  gen  Himmel  drang,  —  da  schweigen 
jetzt  die  Geschütze,  da  wird  es  still;  lächelnd  als  sei  nichts  geschehen, 
bestrahlt  die  Sonne  das  ganze  Leichenfeld,  und  unter  dem  Erdboden 
gehen  die  letzten  sichtbaren  Überreste  tapferer  Streiter  dem  Zerfall  ent- 
gegen,  um  neuen  Formen  eine  Stätte  zu  bereiten  —  Vergänglichkeit!  — 

Japan  hat  den  ostasiatischen  Völkern  die  Wege  zu  einer  friedlichen 
Weiterentwicklung  und  geistigen  Regeneration  ebnen  wollen;  Japan 
wollte  den  Frieden  und  hat,  als  alle  anderen  Mittel  fehlschlugen,  zu 
dem  schwersten,  schmerzlichsten,  opferreichsten  Mittel  gegriffen:  zum 
Kriege.  Und  dieses  Mittel  hat  den  Zweck  erreicht:  Die  Völker  im 
fernen  Osten  haben  nun  für  Jahre  hinaus  Frieden. 

Der  Friedensabschluss  zu  Portsmouth,  dessen  Zustandekommen  der 
weisen  Einsicht  der  japanischen  Staatsmänner  zur  hohen  Ehre  gereicht, 
ist  für  die  buddhistische  Welt  in  zwiefacher  Hinsicht  von  höchster  Be- 
deutung: Erstens  sind  die  Völker  Ostasiens  für  absehbare  Zeit  vor  der 
russischen  Knute  und  Finsternis,  der  »weissen  Gefahr«  für  Asien,  ge- 
schützt; und  mit  Japans  Dominat  in  Ostasien  ist  diesen  Völkern  die 
Möglichkeit  eines  geistigen  Aufschwungs  gewährleistet.  Zweitens  bricht 
für  die  buddhistiche  Mission  mit  dem  Frieden  von  Portsmouth  eine 
neue  Ära  an.  lapan  wird  jetzt  mit  Nachdruck  dafür  eintreten  können, 
dass  seinen  buddhistisciien  Untertanen,  die  in  andere  Länder  das  Licht 
des  Buddha  tragen  wollen,  und  ihrer  Mission  dieselbe  Freiheit  gewähr- 
leistet wird,  die  andere  Missionen  schon  seit  langem  geniessen.  Dies 
wird  zunächst  für  die  ostasiatischen  Länder  in  Frage  kommen;  im  Lauf 
der  Zeit  wird  sich  aber  die  Wirkung  auch  im  Westen  bemerkbar  machen. 


42  Die  buddhistische  Welt.  i.  Jahrg. 

Die  Buddhisten  Japans  sind  in  erster  Linie  dazu  berufen  und  unter  den 
momentanen  Verhältnissen  an;  meisten  dazu  befähigt,  die  Missions-Arbeit 
im  grossen  Massstabe  aufzunehmen  und  durchznfiilncn.  Die  buddhistische 
Welt  ist  daher  Japan  zu  grossem  Danke  verpflichtet. 

Die  buddliistischc  IMission  in  Ameril<a.  In  den  Vereinigten  Staaten 
geht  das  Missionswerk  schneller  vorwärts,  als  wir  geglaubt  haben:  Die 
Gründung  einer  Station  an  der  atlantischen  (diesseitigen)  Küste  ist  be- 
reits vollendete  Tatsache.  Rev.  Dr.  Kentok  Hori,  der  bisher  die 
Mission  an  der  Pacific-Küste  von  San  Francisco  aus  leitete,  ist  dazu 
auserselien  worden,  in  Boston  die  Arbeit  aufzunehmen.  An'seine  bis- 
herige Stelle  in  San  Francisco  als  neuer  Superintendent  ist  Rev.  K 
Uchida,  Dozent  an  der  buddhistischen  Universität  in  Tokyo,  getreten. 
Rev.  Uchida  ist  bereits  im  Juli  in  San  Francisco  eingetroffen. 

Die  christliche  Mission  und  die  religiöse  Erziehung  auf  Ceylon. 

Über  dieses  Thema  veröffentlicht  Marie  Musäus-Higgins,  Colombo 
(Ceylon),  einen  sehr  interessanten  Aufsatz  in  No.  18  des  »Volkserzieher« 
(Wilh.  Schwaner,  Berlin),  dem  wir  nachstehendes  entnehmen. 

Von  den  3578000  Bewohnern  der  Insel  Ceylon  sind  2331000  Sing- 
halcsen,  und  unter  diesen  nach  den  neuesten  Zählungsberichten  2141000 
Buddhisten. 

Seit  ungefähr  1880  sind  allmählich  überall  buddhistische  Schulen 
entstanden,  die  auch  buddhistischen  Religionsunterricht  erteilen,  sodass 
die  buddhistischen  Kinder  nicht  mehr  nötig  haben,  um  etwas  zu  lernen, 
in  die  Missionsschulen  zu  gehen,  wo  sie  gezwungen  werden,  die  Religion 
ihrer  Väter  zu  verachten.  Gewiss  werden  die  Missionare  bestreiten,  dass 
sie  die  Kinder  zwingen,  Christen  zu  werden.  Da  möchte  ich  als  Ant- 
wort eine  kleine  Geschichte  erzählen,  die  ich  erst  vor  einigen  Tagen  von 
einem  gebildeten  buddhistischen  Singhalcsen  gehört  habe.  Er  sagte: 
„Als  ich  klein  war,  lebte  ich  in  einem  Dorfe  und  ging  jeden  Morgen  mit 
anderen  Jungen  meines  Alters  in  den  Tempel,  wo  wir  von  einem  Priester 
unterwiesen  wurden,  wie  wir  den  Tempel  reinigen  und  Blumen  auf  den 
Altar  des  Buddha  legen  sollten.  Dafür  wurden  wir  im  Lesen  und  Schrei- 
ben unterrichtet  und  lernten  unser  Panca  Sita  (die  fünf  Gebote  in  Päli 
der  religiösen  Sprache  der  Buddhisten).  Wir  waren  sehr  glücklich.  Als 
ich  grösser  wurde  und  auch  das  Englische  lernen  sollte,  wurde  ich  in  eine 
Missionsschule  geschickt.  Wir  waren  17  buddhistische  Knaben  in  der 
Klasse  zusammen  und,  als  wir  versetzt  wurden,  waren  nur  noch  drei  von 
uns  Buddhisten.  Warum?  Weil  die  Knaben  dadurch,  dass  sie  sich  als 
Christen  bekannten,  allerlei  Freiheiten  erlangten,  weil  sie  bei  den  Lehrern 
besser  angeschrieben  waren  und  weil  sie  nicht  jeden  Montag  eine 
Tracht  Prügel  haben  wollten,  wenn  sie  die  Frage,  ob  sie  am  Sonn- 
tag in  der  Kirche  gewesen  seien,  verneinten."  „Schliesslich,"  fuhr  der 
Singhalese  fort,  „ging  ich  auch  in  die  Kirche;  aber  meinem  Glauben  blieb 
ich  doch  treu.  Einmal  erwarb  ich  mir  einen  Preis  durch  den  besten  Auf- 
satz; aber  alle  Lehrer  mit  Ausnahme  meines  Klassenlehrers  wollten  mir 
den  Preis  nicht  geben,  Ich  bekam  ihn  schliesslich  doch;  aber  er  wurde 
mir  ohne  die  übliche  Öffentlichkeit  übergeben.  Mehrere  Jahre  später  traf 
ich  meinen  damaligen  Klassenlehrer  wieder,  und  er  fragte  mich,  ob  ich 
gesehen  hätte,  was  auf  dem  überklebten  Titelblatte  meines  Pre'isbuchcs 
stehe.  Ich  fand  beim  Ablösen,  dass  das  Buch  einem  anderen  christlichen 
Mitschüler  zugedacht  war,  und  dass  ich  nur  dem  Gerechtigkeitssinn 
meines  Klassenlehrers  den  Preis  zu  verdanken  gehabt  habe." 

So  ist  es  auch  noch  jetzt.  Die  buddhistischen  Kinder  werden  durch 
Äusserungen  —  ich  meine  in  den  Schulen,  wo  sie  nicht  offen  zum  Christen- 
tum bekehrt  werden  —  über  ihre  ungebildeten  heidnischen  Ellern,  welche 


No.  6.  Die  buddhistische  Welt.  43 

zur  Hölle  verdammt  sind,  dazu  gebracht,  in  der  Schule  sich  als  Christen 
zu  bekennen,  während  im  Vaterhause  sie  es  meistens  nicht  zu  gestehen 
wagen  und  mit  den  Eltern  in  den  buddhistischen  Tempel  gehen.  So 
werden  sie,  sozusagen,  zur  Heuchelei  erzogen,  und  sind,  wenn  sie  heran- 
wachsen, weder  Christen  noch  Buddhisten.  Sie  sind  gelehrt  worden,  den 
Buddhismus  zu  verachten ;  aber  sie  haben  nicht  gelernt,  das  walue 
Christentum  zu  lieben,  denn  sie  kennen  es  nicht.  Ich  kann  di^:  Ver- 
sicherung geben,  dass  in  den  wenigen  Distrikten,  wo  überwiegend  be- 
kehrte Heiden  leben,  mehr  Lug  und  Trug  herrscht  als  in  denen,  wo  die 
meisten  Menschen  Buddhisten  sind.  Ein  Schulinspektor  sagte  mir  vor 
kurzem  noch,  dass  er  viel  lieber  die  buddhistischen  Schulen  prüfe  als  die 
christlichen,  da  er  in  den  letzteren  im  Gegensatz  zu  den  ersteren  immer 
so  sehr  aufpassen  müsse,  dass  kein  Betrug  vorkäme.  Kann  man  sich  nicht 
vorstellen,  dass  Leute,  denen  immer  das  Gesetz  „des  Karma"  gepredigt 
wurde,  welches  sagt,  dass  jede  böse  Ursache  eine  böse  Folge,  jeder 
schlechte  Same  eine  schlechte  F-rucht  hervorbringen  muss,  dass  jeder  Tat, 
ob  gut  oder  böse,  eine, Belohnung  oder  Bestrafung  folgt,  wenn  nicht  im 
gegenwärtigen  Erdenleben,  dann  in  einem  der  folgenden,  und  dass  niemand 
ihnen  iiire  bösen  Taten  abnehmen  kann,  dass  diese  Leute  die  christliche 
Lehre  der  Vergebung  der  Sünden  mi'svcrstehen  können?  Mir  wird  viel- 
leicht geantwortet  werden,  dass  die  Buddhisten  dann  aus  i'urcht  vor  der 
Strafe  nichts  Böses  tun.  Aber  da  möchte  ich  fragen,  ob  das  nicht  besser 
ist,  als  wenn  sie  sagen:  „O,  es  ist  viel  leichter,  ein  Christ  zu  sein; 
denn  dann  kann  ich  unrecht  tun  und  nachher  zum  Priester  gehen  und 
mir  Vergebung  meiner  Sünden  holen  1  Oder,  ich  lebe,  wie  es  mir  gefällt, 
und  wenn  es  zum  Sterben  kommt,  dann  bekenne  ich  meinen  Glauben  an 
Christus,  und  meine  Sünden  sind  mir  vergeben !"  Denn  so  wird  das 
Christentum  leider  meistens  unter  den  Eingeborenen  aufgefasst,  wenn  sie 
es  nicht  aus  Gewohnheit  von  ihren  Vorfahren  beibehalten  haben,  die 
unter  den  Portugiesen  Christen  werden  mussten. 

Nun  wird  man  mich  fragen,  warum  stehen  denn  die  Singhalesen 
nicht  Hand  in  Hand  zusammen  und  arbeiten  in  Einigkeit  für  ihre  Religion, 
da  ihnen  doch  Religionsfreiheit  gewährt  ist?  Ja,  das  ist  wohl  leicht  ge- 
sagt, aber  nicht  so  leicht  getan !  Ein  Volk,  welches  seit  mehreren  Jahr- 
hunderten unterjocht  gewesen  ist  und  religiös  bedrückt  war  von  den 
Portugiesen  und  Holländern,  kann  sich  nicht  so  schnell  davon  frei  machen. 
Sie  haben  sich  zum  Teil  aufgerafft  und  1880  viele  Schulen  gegründet; 
aber  es  sind  nur  wenige  in  Missionsschulen  erzogene  und  ihrem  Glauben 
treu  gebliebene  Singhalesen  da,  die  befähigt  sind  zum  Organisieren  ; 
denn  wie  gesagt:  früher  durften  Singhalesen  nicht  Leiter  von  Schulen 
sein.  Es  gibt  kaum  Europäer,  die  vorurteilsfrei  genug  sind,  um  nach 
Ceylon  zu  gehen  und  die  Erziehung  der  Kinder  in  buddhistischem  Sinne 
zu  übernehmen.  Bis  jetzt  gibt  es  nur  zwei  Europäer,  einen  Engländer 
und  eine  Deutsche,  welche  es  unternommen  haben,  auf  Ceylon  erziehlich 
im  buddhistischen  Sinne  zu  wirken.  Den  meist  armen  buddhistischen 
Schulen  gegenüber  steht  die  mächtige  Mission  mit  ihren  vielen  Schulen 
und  reichen  Geldmitteln,  die  von  guten  Christen  in  Europa  zur  Bekehrung 
der  Heiden  gespendet  werden  und  es  den  Missionaren  möglich  machen, 
billige  Schulbildung  zu  geben.  Dennoch  heisst  es  im  letzten  Zählur.gs- 
bericht  vom  Jahre  1901,  dass  von  den  ungefähr  867100  Kindern  im 
schulpflichtigen  Alter  nur  218500  unterrichtet  werden,  also  drei  Viertel 
der  Kinder  keine  Schule  besuchen.  Es  sieht  also  noch  sehr  traurig  mit 
der  Kindererziehung  auf  Ceylon  aus. 

Regierungsschulen  gibt  es  auf  der  Insel  500,  Qrant-in-Aid-SchuIen 
(solche,  welche  von  der  Regierung  unterstützt  werden)  1328  und  allein- 
stehende Schulen  2089.     Die  meiste  Schulbildung  hängt  also  von  Frivat- 

5» 


44  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Unternehmungen  ab,  welche  mit  grossen  Opfern  verbunden  sind.  Die 
Buddhisten  haben  jetzt  142  Schulen,  was  sehr  anzuerkennen  ist,  da  ja  alle 
erst  seit  1880  entstanden  sind.  Die  Katholiken  haben  allein  336  Schulen 
aufzuweisen,  darunter  mehrere  sehr  grosse,  prächtige  Knabenschulen. 
Unter  den  buddhistischen  Schulen  sind  drei  gutbesuchte  Kollegcs  für 
Knaben,  eine  einzige  Mädchenpension  und  Schule  (anglo-vernacular),  wo 
die  Mädchen  eine  singhalesische  und  englische  Erziehung  bekommen, 
und  mehrere  Oriental-Kolleges,  wo  Päli,  Sanskrit  und  Singhalesisch  ge- 
lehrt wird  und  die  meistens  von  jungen  Priestern  besucht  und  von  alten 
Priestern  geleitet  werden.  Die  übrigen  buddhistischen  Schulen  sind 
meistens  Dorfschulen. 

Von  der  älteren  Generation  der  Buddhisten  kann  ich  sagen,  dass 
ich  viele  gefunden  habe,  besonders  unter  den  Frauen,  die  ihre  Religion 
sehr  lieben,  und  ich  habe  bei  den  religiösen  Festen  wie  beim  Wesak 
(dem  Geburtstag  Buddhas,  Vollmond  im  Monat  Mai)  die  Andächtigen  mit 
Gesichtern  gesehen,  welche  von  Liebe  und  Erleuchtung  glänzten.  Unter 
der  grossen  Menge  herrschte  bei  solchen  Festen,  wo  die  Menschen  ge- 
wöhnlich die  ganzen  Nächte  im  Tempel  bleiben,  Ruhe  und  Einigkeit;  sie 
erscheinen  ganz  glücklich  in  ihrem  religiösen  Eifer.  Auch  auf  die  Kinder 
kann  man  durch  ihre  Religion  einen  sehr  grossen  Einfluss  ausüben.  Un- 
streitig passt  nur  der  Buddhismus  für  die  Bevölkerung  Ost-  und  Südasiens; 
die  Grundlagen  desselben  sind  jedenfalls  sehr  moralisch  und  gut,  min- 
destens ebenso  rein  und  ebenso  erhaben  wie  diejenigen  des  aus  dem 
Buddhismus  hervorgegangenen  Cliristentums.  Es  sollte  überhaupt  jedem 
erlaubt  sein,  in  seinem  eigenen  Glauben,  falls  er  dem  Staate  und  der 
Gemeinsamkeit  nicht  schadet,  selig  zu  werden. 

Die  buddhistische  Mission  in  Deutschland.  Von  der  Heft-Serie 
»Buddhismus«  ist  nunmehr  das  dritte  Heft  »Nibbäna«  (von  Änanda 
Maitriya,  Separat-Abdruck  aus  dem  »Buddhist«)  erschienen  und  kann  zum 
Preise  von  30  Pfg.  käuflich  erworben  werden. 

Im  September  wird  Karl  Seidcnstücker  in  Hallea.S.  in  einem 
geschlossenen  Kreise  von  Anhängern,  Freunden  und  Interessenten  über 
das  Thema:  »Der  Buddhismus  und  das  Abendland«  sprechen.  Es 
ist  dies  der  erste  Missions-Vortrag,  der  ausserhalb  Leipzigs  gehalten  wird. 

Tod  eines  buddhistischen  Hohenpriesters?  Verschiedene  Blätter 
berichten  von  dem  Ableben  des  greisen  Hohenpriesters  H.  Sumangala 
(Ceylon),  eines  der  bedeutendsten  buddhistischen  Gelehrten  und  Apolo- 
geten. Wir  geben  die  Nachricht  mit  allem  Vorbehalt  wieder,  da  unser 
ceylonesischer  Gewährsmann  bis  jetzt  von  diesem  Ereignis  nichts  be- 
richtet hat. 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Ein  christlicher  Missionars  -  Trick  ?  Christliche  Blätter  brachten 
vor  einem  Vierteljahr  mit  innigem  Behagen  die  Meldung,  dass  der 
japanische  Admiral  Togo  ein  frommer,  eifriger  Christ  sei.  Wie  nun 
der  ceylonische  »The  San  dar  es  a«  aus  ganz  sicherer  Quelle  erfährt,  ist 
Togo  kein  Christ  und  denkt  auch  nicht  im  entferntesten  daran,  Christ 
zu  werden.  »Sandaresa«  meint,  die  Meldung  sei  nichts,  als  ein  christ- 
licher Missionars-Trick. 

Eine  christliche  Missionars-Stimme.  Ein  Freund  aus  Halle  be- 
richtet uns  über  eine  Unterredung,  die  er  kürzlich  mit  einem  christlichen 
Missionar,  der  in  China  gewirkt  hatte,  gehabt  hat.  Nachdem  der  Mis- 
sionar in  einem  Vortrag  die  Religion  des  Buddha  vor  einer  frommen  Zu- 


No.  6.  Die  buddhistische  Welt.  45 

hörerschaft  beschimpft  hatte,  wurde  er  von  dem  betreffenden  Herrn  zur 
Rede  gestellt.  „Woher  es  wohl  komme,  dass  der  Buddhismus  in  Deutsch- 
land immer  weitere  Ausbreitung  gewänne?"  Nach  der  Antwort  des 
Missionars  trägt  daran  der  Satan  und  die  verderbte  Welt  die  Schuld. 
„Der  Buddhismus,  dessen  Ziel  absolute  Vernichtung  sei,  habe  überhaupt 
keinen  sozialen  Wert",  meinte  der  Missionar.  —  Letzterer  hat,  wie  gesagt, 
in  China  gewirkt,  und  in  diesem  Lande  ist  es  um  den  Buddhismus  ähn- 
lich bestellt,  wie  um  das  Christentum  in  Russland  (allerdings  ohne  Knute 
und  Wutky).  Wenn  also  der  Herr  Missionar  die  Entartung,  die  Miss- 
bräuche und  den  Aberglauben  innerhalb  dieses  chinesischen  Buddhis- 
mus dem  Buddhismus  an  sich,  d.  h.  der  Lehre  des  Buddha,  auf  die  Rech- 
nung setzt,  so  darf  er  logischerwcise  nichts  dagegen  einwenden,  wenn  je- 
mand das  Christentum  Christi,  d.h.  das  Christentum  an  sich,  für  die  Verehrung 
der  heiligen  Mutter  Gottes  von  Kasan,  für  die  mönchische  Faulenzerei  und 
Trunksucht,  für  den  Götzendienst  und  Aberglauben  innerhalb  des  russi- 
schen Christentums  verantwortlich  machen  wollte.  Freilich,  wenn  der  Spiess 
in  dieser  Weise  umgedreht  wird,  dann  wird  es  den  Herren  Missionaren  nicht 
passen;  mögen  sie  doch  endlich  einmal  die  elementare  Lektion  lernen,  dass 
mit  demselben  Mass,  mit  dem  sie  messen,  auch  ihnen  gemessen  wird;  d.  h. 
dass  ihnen  unter  Anwendung  der  von  ihnen  geübten  Unlogik  auf  das 
Christentum  deutlich  gezeigt  wird,  dass  sie  sich  auf  dem  Holzwege  befinden. 

Der  Buddha  vor  einem  deutschen  Fürstenschlosse.  Unter  dieser 
Devise  brachte  die  Vossische  Zeitung  in  ihrer  Nummer  vom  25. 
August  folgenden  Leitartikel :  „Die  Heidenmission  erlebt  gegenwärtig 
offenbar  eine  ernste  Krisis.  Man  kann  kein  kirchliches  Blatt  in  die  Hand 
nehmen,  in  dem  nicht  ein  beweglicher  Aufruf  zur  Sammlung  von  Geld- 
mitteln zu  lesen  wäre.  Fast  ausnahmslos  klagen  die  Missionsgesell- 
schaften, dass  ihre  Kassen  ein  Defizit  aufzuweisen  haben  von  einem 
derartigen  Umfang,  dass  der  weitere  Betrieb  der  Vereinsarbeit  in  Frage 
gestellt  ist.  Man  greift  zu  den  seltsamsten  Mitteln,  die  treugebliebenen 
Freunde  der  Missionssache  zu  immer  neuen  und  immer  grösseren  Opfern 
willig  zu  machen. 

Es  ist  keine  Frage,  die  Teilnahme  an  der  Heidenmission  ist  gegen- 
wärtig in  einem  rapiden  Niedergang  begriffen.  Diese  Tatsache  ist  über- 
raschend. Das  Interesse  an  der  Christianisierung  der  heidnischen  Völker 
musste,  so  sollte  man  meinen,  in  dem  Masse  wachsen,  als  unsere  geschäft- 
lichen und  politischen  Beziehungen  sich  über  den  Erdball  ausdehnen. 
Mit  der  politischen  und  kommerziellen  Entwickelung  Englands  ging  die 
Enstehung  und  Blüte  der  Missions-  und  Bibelgesellschaften  des  Insel- 
reiches Hand  in  Hand.  Man  könnte  erwarten,  dass  die  Ära  der  deutschen 
„Weltpolitik"  eine  Blüteperiode  der  Missionsarbeit  herbeiführen  würde. 
Nun  ist  das  Gegenteil  der  Fall.  Die  Teilnahme  an  der  Bekehrung  der 
Heidenwelt  erlahmt,  und  wenn  dieser  Mangel  an  Interesse  nicht  sehr  bald 
aufhört,  werden  die  Missionsgesellschaften  genötigt  sein,  ihre  Arbeit  er- 
heblich einzuschränken. 

Es  ist  schwer  zu  sagen,  wie  diese  Erscheinung  zu  erklären  ist.  Aus 
mangelnder  Begeisterung  für  die  religiösen  Ideale  des  Christentums  jeden- 
falls nicht.  Denn  der  Sinn  für  die  Religion  scheint  in  allen  Schichten 
der  Bevölkerung  im  Wachsen  begriffen  zu  sein.  Man  denke  an  die  sog. 
Gemeinschaftsbewegung,  die  wie  eine  starke  Woge  elementarer  Frömmig- 
keit von  England  und  Skandinavien  aus  gegenwärtig  über  Deutschland 
geht,  man  denke  an  den  Jugendbund  für  entschiedenes  Christentum,  der 
Millionen  von  jungen  Leuten  zu  seinen  Mitgliedern  zählt  und  in  Berlin 
jüngst  eine  imposante  Versammlung  abhalfen  konnte,  man  denke  an  die 
überaus  erfolgreiche  literarische  Propaganda  der  modernen  Theologie. 
Aber  vielleicht  hat  diese  verstärkte  Anteilnahme  an  den  religiösen  Fragen 


4&  Die  buddhistische  Welt.  [.  Jahrg. 

Rcrade  den  Blick  von  den  fernen  Missionsfeldern  abgezogen  Als  in  der 
Reformationszeit  das  ganze  Volk  den  Kampf  um  die  religiöse  Befreiung 
vom  romischen  Papst-  und  Priestertum  mitkämpfte,  verlor  es  die  Mission 
völlig  aus  dem  Auge.  Der  katholisch  gebliebene  Erasmus  war  es  der 
die  Christenheit  seines  Zeitalters  auf  die  Missionspflicht  gegen  die  heid- 
nischen Bewoliner  der  eben  entdeckten  neuen  Welt  hinwies  für  Luther 
Zwingli  und  Calvin  hörte  die  Welt  hinter  den  Grenzen  Frankreichs  Eng- 
ands  und  Spaniens  auf.  Der  Kampf  um  die  Herrschaft  in  der  Landes- 
kirche, der  Kampf  um  die  Erneuerung  dieser  Kirche,  um  das  Recht  der 
freien  persönlichen  Überzeugung,  dor  Zwist  zwischen  den  „Bekehrten"  in 
den  Gemeinschaften  und  den  „Unbekehrten"  in  der  Kirclie,  die  Ausein- 
andersetzung zwischen  den  Verteidigern  der  Wissenschaft  und  denen  des 
Bekenntnisses  —  dies  alles  mag  zusammenwirken,  die  Teilnahme  für  die 
Arbeit  der  Missionare  einzuschränken.  Dazu  kommt  noch  die  starke 
Durchsetzung  des  religiösen  Interesses  mit  sozialen  Ideen,  die  ihre  Ver- 
wirklichung im  Heimatboden  suchen. 

Der  Mission  erwachsen  aber  nicht  nur  in  der  Heimat  Schwierigkeiten 
Auch  draussen  treten  ihr  unerwartete  Hemmnisse  entgegen.  In  Afrika 
erhebt  die  Athiopiermission  drohend  ihr  Haupt.  Unicr  der  Parole  Afrika 
für  die  Afrikaner"  wächst  sie  zu  einer  schweren  Gefahr  für  die  europäi- 
schen Missionsgesellschaften  heran.  Aller  Orten  berichten  die  Missionare 
von  dem  Einbrechen  der  Sendlinge  der  farbigen  Mission,  denen  die  Ein- 
gel)orenen  zulaufen,  und  den  Erfolg  der  weissen  Missionare  in  Frage 
stellen.  Man  mochte  geneigt  sein,  der  schwarzen  Mission  in  diesem 
Wetfkampf  den  Sieg  zu  gönnen,  wenn  man  nicht  bedenkt,  dass  unsere 
Missionare  zugleich  die  Pioniere  der  Kultur  sind  und  neben  den  Kirchen 
sogleich  Schulen  und  Werkstätten  erbauen,  dass  die  Äthiopier  aber  mit 
r^di  en"^^      '   zugleich   die  Feindschaft  gegen  die  europäische  Kultur 

if..iw^H^'*V/'"f"''"'*  '^*>'''^  "^"""«  '^^'  Ostasiaten,  sie  nehmen  die 
Kultur  des  Westens  an,  lehnen  aber  die  Religion  des  Westen  ab.  Man 
vf!  ^^^""o.   •^"*  hingewiesen,   dass   die  hervorragendsten  Heerführer  der 

J^pfvnrrw.nHo  qI^h'""'  ■''^^  °''"  ""''  ^"'''^^  »«'^  ^""re  Christen  eine 
hervorragende  Stellung  einnehmen  und  einen  vorbildlichen  Wandel  führen" 

Ch^JZf  h//  h^'^^k    \on  Tsuschima,    Admiral    Togo    protestantische^ 
7w«r  nt^hf  «oIk  '^.^'■..«"'^''^le  Heerführer  der  Landtruppen,  Marschall  Oyama, 
nrLJn^L^^-^  übergetreten  sei,   aber  doch    nichts   wider  das  eifrige 
rti^r  Frfn  Hp  'ph'  9^"'"    ^'"^"wenden  habe,   aber  im  ganzen  hält  sich 
der  Erfolg  der  Christianisierungsarbeit    in   Japan   und   auch   in   China  in 
ii^h'/5?fl"  Grenzen.    Ja,  die  heimischen  Kulte  bemühen  sich,  durch  ernst- 
liche Reformen  sich  zum  Wettbewerb  mit  dem  Christentum  zu  rüsten. 
...    Y^^  in  Afrika  das  Äthiopiertum  den  Rückschlag  gegen  die  christliche 
Missionsarbeit  darstellt,  so  in  Asien  die  buddhistische  .Erwcckung<     Der 
Buddhismus   erneuert   sich  nicht   nur  daheim,   in  Indien  wie  in  Japan 
mÜ«,w„»k^"*"'    f  "«^'•seits    das    christliche  Europa    als  buddhistisches 
Missionsgebiet  zu  behandeln.    So  abenteuerlich  das  klingt,  so  liegen  doch 
Ir     Ju    '^'^J'^^'"'  Anfänge  einer  buddhistischen  Expansion  in  Europa 
r,L  Schopenhauer  würde  mit  inniger  Freude  diese  Propaganda  begrüsst 
rÄ.»    Q  ^  1^'  f- ^  '"'^"u-l:,    ^"r  theosophischen  Gesellschaften  mit  ihrem 
pi  f«f  .?nif  ^"^'■''*'^'"",^  bilden  vielfach  die  Leute  für  die  Sendboten  Buddhas. 
<Lu    ?.nÄ'  eme  Zeitschrift  gegründet  worden,   die   sich   die  Aufgabe 
fphri'n  ^c.   **^"'^^''?"  Protestanten    und  Katholiken   für  die  Weisheits- 
mn<,Pr  RuJfu"^"  °'"''u  ^"  r^''*'"'    '"'"'*   ''^"''^"  J""Serii  Christi   ganze 
Ä.?»"^'^''^*^"  '"'^'^^''"-    ^^   «ibt   bereits   eine   ganze   Literatur   von 
mehr  oder  weniger  gelehrten  Schriften,   die   die  Ebenbürtigkeit   oder  gar 
die  Überlegenheit  des  Buddhismus  dartun  wollen  und  die  Prognose  stellln 


No.  6.  Die  buddhistische  Welt.  47 

dass  der  Buddhismus,  der  der  Vernunft  Iceinerlei  Gewalt  antue,  einst  da- 
zu bestimmt  sein  werde,  das  Christentum  in  der  europäischen  Kulturweit 
abzulösen.  Tolstoi  hat  der  europäischen  Kulturwelt  mit  feurigen  Zungen 
ein  Christentum  gepredigt,  das  in  Wahrheit  trotz  seiner  christlichen 
Therminologie  echter  Buddhismus  ist. 

In  diesem  Zusammenhang  ist  eine  Notiz  von  lebhaftem  Interesse,  die 
jüngst  durch  die  Blätter  liet:  Der  Grosshcr/.og  von  Hessen  habe  von 
dem  Darmstädter  Bildhauer  Professor  Habich  eine  grosse  Buddha-Statue 
aus  Odenwälder  Syenit  herstellen  lassen  und  ihr  einen  Platz  unter  einer 
mächtigen  Eiche  seines  Wolfgartener  Schlossgartcns  angewiesen.  Schwer- 
lich ist  dies  geschehen,  weil  der  Fürst  ein  ästhetisches  Wohlgefallen  an 
der  Buddha-Figur  gefunden  hat.  Es  soll  dieser  Akt  vielmehr  ohne  Zweifel 
eine  Huldigung  vor  dem  Stifter  der  tiefsinnigen  Religion  des  Ostens  dar- 
stellen, deren  reine  und  erhabene  Gedanken  unter  uns  weit  mehr  stille 
Bekenncr  gefunden  haben,  aKs  man  vermutet.  Würde  ein  japanischer 
Fürst  vom  Range  des  hessischen  Grossherzogs  in  seinem  Schlosspark 
ein  steinernes  Kruzifix  aufrichten,  so  würden  die  Missionare  seinen  Über- 
tritt zum  Christentum  melden.  Vielleicht  wird  mancher  unserer  Frommen 
deshalb  erschreckt  aufgefahren  sein,  als  er  diese  Darmstädter  Nachricht 
las.  Es  ist  ein  deutsch-protestantischer  Bundesfürsf,  der  oberste  Bischof 
einer  deutschen  Landeskirche,  der  dem  indischen  Königssohn  dieses 
Monument  errichtet  hat,  der  in  stillen  Stunden  vielleicht  religiösen  Ideen 
nachhängt,  von  denen  die  cliristlichen  Priester  nichts  wissen.  In  jedem 
Falle  ist  es  ein  sympathisches  Zeichen  persönlichen  Mutes,  wenn  der  Gross- 
herzog einem  achtungswerten  Zuge  seines  Herzens  rückhaltlosen  Ausdruck 
verleiht,  unbekümmert  um  höfisches  Zeremonienchristentum  und  unduld- 
same Eiferer. 

Der  Buddhismus  klopft  an  die  Türe  Europas.  Auch  er  ist  eine  Welt- 
rcligion,  auch  er  lehrt  die  Moral  der  Liebe,  auch  er  kann  die  Gläubigen 
mit  jenem  Frieden  erfüllen,  der  „höher  ist  als  alle  Vernunft".  Ob  er  auf 
die  Dauer  dem  Christentum  widerstehen  kann,  ist  die  Frage.  In  der 
Gegenwart  aber  weigert  er  sich  entschieden,  sicli  von  den  Zöglingen 
unserer  Missionsanstalten  tributpflichtig  machen  zu  lassen.  Er  beginnt 
seine  mächtigen  Glieder  zu  recken,  und  fängt  nun  seinerseits  an,  in 
christliches  Gebiet  einzubrechen.  Wollen  wir  nicht  pharisäisch  urteilen, 
so  müssen  wir  eingestehen,  dass  das  christliche  Europa  auch  vom  Bud- 
dhismus mancherlei  lernen  kann.  Die  edle  Toleranz  ist  der  Ruhm  des 
Buddhismus;  wo  aber  das  Christentum  hinkommt,  da  kommt  allzuoft 
gleich  hinterher  die  Intoleranz,  jene  „heilige  Rücksichtslosigkeit",  zu  der 
sich  unsere  frommen  Geheimbündler  gegenseitig  verpflichtet  haben.  So 
lange  aber  das  herrschende  Christentum  noch  vom  Buddhismus  lernen 
kann,  darf  es  sich  nicht  wundern,  wenn  der  Buddhismus  sein  Haupt  er- 
hebt und  den  tauffreudigen  christlichen  Missionen  einmal  ein  lautes  Halt 
zuruft!"  — 

Ob  dieses  Artikels  hat  sich  in  einem  Teile  der  orthodox-protestan- 
tischen Presse  ein  Entrüstungssfurm  erhoben.  Den  Vogel  abgeschossen 
haben  das  Berliner  Pastoren-Blatt  »Der  Reichsbote«  und  die  »Deut- 
sche Tageszeitung«.  Der  »Reichsbote«  schreibt  (26.  August)  am 
Schluss  eines  Artikels  in  der  bekannten  „heiligen  Rücksichtslosigkeit": 
„So  oberflächlich,  wie  die  »Voss.  Zeitung«  denken  unsere  Missionare 
nicht.  Die  »Voss.  Zeitung«  bringt  so  etwas  fertig;  denn  sie  tritt  heute 
für  die  Theologen  Fischer,  Jatho,  Harnack,  wie  für  die  Heroen  der  Affen- 
theorie ein,  warum  sollte  sie  nicht  auch  für  den  Buddhismus  eintreten  — 
da  er  sich  ja  auch  als  Mauerbrecher  gegen  Christentum  und  Kirche  ver- 
wenden lässt." 


48  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Soweit  das  fromme  Pastorenbiatt.  Wie  wir  nun  hören,  hat  der 
Grossherzog  von  Hessen  noch  den  Auftrag  zur  Anfertigung  einer  zweiten 
Buddha-Statue  gegeben ;  nun  hat  der  »Reichsbote«  abermals  Gelegenheit, 
seinem  Herzen  Luft  zu  machen;  wir  können  freilich  nicht  recht  begreifen, 
wie  man  sich  um  ein  an  und  für  sich  durchaus  unwichtiges  Ereignis  so 
arg  aufregen  Icann.    Viel  Lärm  um  Nichts! 

Zu  unserem  Bilde.  Wir  bringen  in  dieser  Nummer  das  Bild  des 
buddhistischen  Patriarchen  von  Burma.  »Thätanäbaing.  ist 
der  Titel  und  bedeutet  soviel  als  »Rat  in  Sachen  der  Religion«.  Es  ist 
dies  der  höchste  Würdenträger  unter  der  burmanischen  Geistlichkeit,  aber 
keineswegs  ein  Oberer  oder  Bischof,  dem  die  Mönche  und  Laien  in 
blindem  Gehorsam  ergeben  sein  müssten.  Der  jetzige  greise  Patriarch, 
den  unser  Bild  darstellt,  ist  Taunggvvin  Sayadaw;  der.selbe  wurde  am 
24.  Oktober  1903  in  Mandalay  von  dem  englischen  Lieutenant-Gouverneur 
feierlich  in  seinen  Rechten  anerkannt  und  bestätigt,  nachdem  er  in  einer 
Versammlung  von  delegierten  Bhikkhus  als  Thäthanäbaing  gewählt  worden 
war.  —  Ein  ausserordentlich  durchgeistigtes  Antlitz,  in  dem  ein  hoher  Grad 
von  geistiger  Konzentration  und  tiefer  ücmütsfriede  sich  ausprägt. 

Buddha-Statuetten.  Auf  die  an  den  Herausgeber  gerichteten  zahl- 
reichen Anfragen  wegen  Buddha-Statuetten  und  -Bildern  teilt  derselbe 
mit,  dass  er  in  dieser  Angelegenheit  ?ich  mit  japanischen  Buddhisten  in 
Verbindung  gesetzt  hat.  Es  steht  zu  erwarten,  dass  der  »Missions-Verein« 
in  einiger  Zeit  in  der  Lage  sein  wird,  orientalische  Buddha-Statuen  zum 
Selbstkostenpreis  abgeben  zu  können. 

Büchertisch. 

(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher    übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpflichtung.     Die   Bücher  sind   zu  senden  au  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,   per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Als  wichtige  Neuerscheinung  liegt  vor: 
Die  Reden  Qotamo  Buddhos  aus  der  Sammlung  der  Bruchstücke 
Suttanlpäto  des  Pält-Kanons  übersetzt  von  Karl  Eugen  Neu- 
mann. Leipzig.  Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  1905.  VII, 
409  S.  Preis  20. —  Mk.  —  Eine  Besprechung  dieser  hocliwillkom- 
menen  Übersetzung  des  Suttanipäta  erfolgt  in  einer  späteren 
Nummer. 

I  Glaubensfreiheit.  Glaube  nichts  auf  blosses  Hörensagen  hin  ;  glaube 

I  nicht  an  Überlieferungen,   weil  sie  alt   und   durch  viele  Generationen  bis 

(  auf  uns  gekommen  sind;   glaube   nichts  auf  Grund  von  Gerüchten,   oder 

.*  weil  die  Leute  davon  reden;    glaube  nicht,   blcss  weil  man  dir  das  ge- 

/  schriebene  Zeugnis  irgend  eines  alten  Weisen  vorlegt;  glaube  nie  etwas, 

j  weil  Mutmassungen   dafür   sprechen   oder   weil    langjährige    Gewohnheit 

/  dich  verleitet,  es  für  wahr  zu  halten:    glaube   nichts   auf  die  blosse   Au- 

1  torität   deiner   Lehrer  und  Geistlichen  hin.    Was  nach  eigener  Erfahrung 

f  und    Untersuchung    mit    deiner  Vernunft  übereinstiinmt    und    zu   deinem 

f  eigenen  Wohle  und  Heile,  wie  zu  dem  aller  anderen  lebendenden  Wesen 

'  dient,  das  nimm  als  Wahrheit  an  imd  lebe  danach. 

'  Anguttara-Nikäya. 


Verantwortlicher  Rcdaktrur;  G.  A.  Uirtzp,  Leipzig.  —  Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzig.    —    Druck:  Arno  Baciimann,  Baalsdorf- Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutsclhand. 


Rundschau. 


Der  japanische  Einfluss  In  China.  Japans  Einfluss  auf  China  ist 
zweifellos  im  stetigen  Wachsen  begriffen.  Die  von  dem  Prinzen  Inuye 
gegründete  »Ostasiatische  Liga«  hat  bereits  eine  weitreichende  Pro- 
paganda entwickelt.  Eine  von  Japanern  geleitete  chinesische  Presse  be- 
ginnt in  China  die  japanischen  Anschauungen  über  Kultur  und  Politik  zu 
verbreiten,  und  die  japanischen  Klassiker  werden  eifrig  studiert.  Japanische 
Lehrerhaben  europäische  ersetzt  und  neue  Colleges  gegründet,  während 
in  Tokyo  nicht  weniger  als  fünftausend  chinesische  Studenten 
sich  ausbilden.  Bekanntlich  nehmen  die  Japaner  wohl  gewisse  Aspekte 
der  abendländischen  Zivilisation  an,  behalten  aber  ihre  eigene  Weltan- 
schauung und  Philosophie  bei  und  kennen  ganz  genau  die  Schwächen 
der  occidentalen  Kultur.  Die  Chinesen  werden  von  den  Japanern  in  ihren 
Anschauungen,  soweit  es  sich  um  Humanität  und  Barbarei  handelt,  nicht 
irre  geleitet.  Die  Wiedererweckung  des  erstarrten  chinesischen  Buddhis- 
mus lind  eine  Vereinigung  seiner  Zweige  ist  eine  Aufgabe,  deren  Durch- 
führung sich  die  japanischen  Buddhisten  unterziehen  wollen.  Ja,  eine 
chinesische  Zeitschrift  wies  kürzlich  auf  die  Notwendigkeit  hin,  buddhi- 
stische Missionare  nach  London  zu  senden.  —  Man  darf  auf  die  Weiter- 
entwicklung der  religiösen  Verhältnisse  in  Ost-Asien  gespannt  sein. 

Das  Projekt  einer  konfuzianisch -buddhistischen  Universität. 
Ein  cinflussrcicher  Japaner,  der  auch  den  südlichen  Buddhismus  genau 
kennt,  entwickelt  der  buddhistschen  Welt  Asiens  ein  interessantes  Projekt; 
es  handelt  sich  um  die  Gründung  einer  grossen  konfuzianisch-buddhisti- 
schen Universität.  Die  Durchführung  des  Planes  wäre  aufrichtig  zu  be- 
grüssen ;  denn  durch  dieses  äusserst  wichtige  kulturhistorische  Ereignis 
würde  den  Völkern  Asiens  auf  einmal  der  Schatz  ihrer  eigenen  Geistes- 
kultur vor  Augen  geführt  und  ihnen  Gelegenheit  geboten,  ihre 
heiligsten  Güter  wieder  kennen  zu  lernen.  Die  Völker  Ostasiens  brauchen 
keine  neue  Religion ;  was  ihnen  not  tut,  ist,  dass  sie  auf  die  Quellen  zu- 
rückgreifen, die  in  ihren  eigenen  Landen,  obwohl  Tausenden  unbekannt, 
flicssen. 

Der  Buddhismus  in  Amerika.  Die  amerikanischen  Buddhisten 
erbauen  sich  ein  Zentral-Heiligtum.  In  Los  Angeles  (Kalifornien)  ist 
ein  prachtvoller  Tempel  i(n  Bau  begriffen.  Wenn  auch  an  und  für  sich 
die  Errichtung   eines  Tempels  für  den  geistigen  Gehalt  einer  Bewegung 

6 


50  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

nichts  hedeutet,  so  beweist  diese  Tatsache  doch,  dass  unsere  buddhisti- 
schen Freund«  im  transatlantischen  Kontinent  fähig  sind,  für  ihre  Sache 
grosse  Opfer  zu  bringen.  Möge  das  auch  für  die  Anhänger  in 
Deutschland  ein  Ansporn  sein! 

Von  der  IMahäbodhi-Geseltschaft.  Die  Geschäftsstelle  der  Mahä- 
bodhi-Society  ist  jetzt :  Isipatana  Sarnath  Benares,  Indien.  Der 
dort  domizilierte  Sekretär  der  Geselischaft  ist  Herr  Brahmachari 
Haris  Chandra,  an  welchen  al!e  Mitteilungen  und  Sendungen  die  Ge- 
sellsch.ift  betreffend,  zu  richten  sind.  Die  Zentralstelle  der  Mahäbodhi- 
Society  befindet  sich  also  jetzt  an  jener  Stätte,  wo  der  Buddha  vor  fünf- 
undzwatKfg  Jahrhutrderten  seine  erste  Predigt  über  »die  Aufrichtung  des 
Reiches  der  Gerechtigkeit«  gehalten  hat. 

Die  bttddbtsttsche  Mission  in  Deutschland. 

Halle  a.  S.  Am  22.  September  hielt  hier  Herr  Karl  Seiden- 
stücker  einen  Vortrag  über  das  Thema  »Der  Buddhismus  und  das 
Abendland«.  In  einem  anderthalbstündigen  Referat  behandelte  der 
Redner  die  Grundideen  des  Buddhismus  und  wies  auf  die  Bedeutung  hin, 
welche  der  letztere  namentlich  für  die  dem  Abendlande  so  sehr  fehlende 
innerlich-geistige  Kultur  habe.  An  die  Ausführungen  schloss  sich 
eine  sehr  anregende  Diskussion,  die  wegen  weit  vorgerückter  Zeit  ('  J2 
Uhr)  abgebrochen  werden  musste.  Es  sind  für  Halle  während  des  Winters 
weitere  Vorträge  geplant,  und  es  besteht  die  Aussicht,  in  absehbarer  Zeit 
eine  Orts-Oesellschaft  ins  Leben  zu  rufen. 

Leipzig.  Die  buddhistische  Gesellschaft  in  Leipzig  hält  im 
kommenden  Winterhalbjahre  allmonatlich  einen  öffentlichen  Vortrags-Abend 
ab.  Am  16.  Oktober  sprach  Karl  Seidenstücker  über  die  buddhi- 
stische Ethik.  Wir  geben  im  folgenden  das  Vortrags-Programm  für  das 
diesjährige  Wintersemester: 
Mittwoch,  den  8.  November  1905:    Buddha  und   Christus.    Karl 

Seidenstücker. 
Mittwoch,   den    13.  Dezember  1905:    Die  Religion  der  Zukunft. 

Karl  Seidenstücker. 
JMiittwoch,   den    10.  Januar    1906:      Buddhismus   und    Toleranz. 

G.  A.  Dietze. 
Mittwoch,   den    14.    Februar   1906:     Buddhistische  Wahrheiten 

bei  nicht-buddhistischen  Denkern.     Karl  Seidenstücker. 
Montag,   den    12.   März    1906:      Die   Seele   des   Menschen.    Karl 

Seidenstücker. 
Mittwoch,    den   11.   April    1906:    Ist  der  Buddhismus  pessimis- 
tisch?   G.  A.  Dietze. 
Lokal:    Vegetarisches  Speisehaus   »Manna«,   Leipzig,  Schulstrasse  8,  I. 
Beginn:    8'  .^  Uhr  abends.    Nach  den  Vorträgen  Fragen-Erörterung. 
Eintritt  frei.    Jedermann  willkommen. 

Berlin.  Im  November  wird  Karl  Seidenstücker  in  Berlin 
einige  Vorträge  halten.  Es  ergehen  an  die  uns  bekannten  Mitglieder 
des  Vereins  und  Interessenten  Eünladungen.  Wer  sonst  den  Vorträgen 
beizuwohnen  wünscht,  möge  rechtzeitig  seine  Adresse  der  Geschäfts- 
stelle des  Missionsvereins  (Leipzig-!^.,  Kohlgartenstr.  39)  mitteilen.  Es 
wird  auch  die  Frage  erörtert  werden,  ob  zur  Gründung  einer  buddhi- 
stischen Gesellschaft  in  Berlin  geschritten  werden  kann. 

Sonstige  Vorträge.  Ausser  den  genannten  Orten  sind  noch  für 
folgende  Städte  Vorträge    im  kommenden  Winter  geplant:    Altenburg, 


No.  7.  Die  buddhistische  Well  51 

Bremen,  Breslau,   Hamburg.    Jnteressenten  mögen  ihre  Adresse  der 
Geschäftsstelle  bekannt  geben. 

Gründung  von  Zweig  -  Gesellschaften  des  »Buddbistischen 
Missions-Vereins«.  Für  Berlin  und  Bremen  sind  die  Aussichten  auf 
die  Gründung  von  Orts-Gesellschaften  günstig.  Es  ist  aber  wichtig,  dass 
bei  Neugründungen  nicht  übereilt  vorgegangen  wird.  Es  ist  erwünscht, 
dass  Zweig-Vereine  erst  dann  selbständig  ins  Leben  treten,  wenn  die 
Garantie  vorliegt,  dass  die  neue  Orts-Oesellschaft  wirklich  positiv 
arbeiten  wird. 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Vom  christlichen  „Liebeswerke"  auf  Ceylon.  Das  »Mahäbodhi- 
Journal«  berichtet:  Vor  kurzem  betrat  der  »Chief  Officer«  der  »North 
Central  Province«  mit  einer  geladenen  Flinte  in  der  Hand  und  begleitet 
von  einer  Schar  von  Polizeibeamten  die  Einfriedigung  des  grossen  Bodhi- 
Baumes  von  Anurndhapura,  jenes  Baumes,  der  vor  2227  Jahren  von  dem 
Arahä  JVlahinda,  dem  Sohn  de.s  Königs  Asoka,  gepflanzt  war.  Der 
Beamte  liess  dort  verschiedene  Buddhisten  verhaften  und  zur  Polizei- 
Station  abführen.  Seit  2227  Jahren  ist  hier  nie  eine  Störung  der  buddhi- 
stischen Andachten  vorgekommen.  An  dieser  heiligen  Stätte  befanden 
sich  Einsiedeleien,  Klöster  und  Altäre;  heute  wird  der  geweihte  Boden 
von  der  englischen  Regierung  benutzt,  und  unter  dem  Schatten  des  altchr- 
würdigen  Heiligtumes  stehen  jetzt  Schlachthallcn,  Branntwein-Destillalionen 
und  Kaufbuden.  Die  Buddhisten  Ceylons  hatten  gehofft,  dass  dieser  ehr- 
würdige Ort  ihnen  zu  Kultuszwecken  belassen  würde.  Ganz  neuerdings 
nun  hat  die  englische  Regierung  ein  Stück  Land  zwischen  den  drei 
grossen  vor  2200  Jahren  errichteten  buddhistischen  Altären  dem  angli- 
kanischen Bischof  überwiesen,  und  die  IVlissionare  der  englischen 
Hochkirche  sind  jetzt  am  Werk,  hier  eine  Kirche  zu  errichten.  Das 
»Mahäbodhi-Journal«  fügt  hinzu:  „Die  Wahrheit  des  Wortes:  .Mitten  im 
Leben  sind  wir  vom  Tod  umfangen'  haben  die  Buddhisten  hier  er- 
fahren müssen."  — 

»The  Sandaresa«  berichtet  ebenfalls  über  die  Gründung  dieser 
anglikanischen  Kirche  und  bemerkt  dazu:  „Es  ist  dies  nicht  das  erste  Mal, 
dass  sich  die  Anglikanische  Kirche  breit  macht.  Wir  erinnern  z.  B.  an 
Kandy,  wo  die  englische  Kirche  auf  einem  Grund  und  Boden  steht,  der 
noch  dem  buddhistischen  Tempel  gehört,  und  wo  die  gewöhn- 
lichen Andachten  der  Bud  dhisten  an  Sonntagen  verboten  (1!) 
sind.  Wir  würden  diesen  Fall  christlicher  Eingriffe  vergessen,  wenn  in 
dem  vorliegenden  Fall  von  Anuradhapura  die  christlich-kirchlichen  Autori- 
täten anch  nur  einen  Funken  grossmütigen  Entgegenkommens  gezeigt 
hätten.  Dieselben  wissen  ganz  genau,  wie  heilig  und  teuer  diese  heilige 
Stätte  von  Anuradhapura  dem  Herzen  eines  jeden  Buddhisten  ist.  Sie 
haben  es  nichtsdestoweniger  vorgezogen,  die  Gefühle  der  buddhistischen 
Gemeinde  zu  ignorieren  und  mit  Füssen  zu  treten.  .  .  ." 

Also  das  ist  „christliche  Heidenmission" !  Ist  es  unter  diesen  Um- 
ständen wirklich  psychologisch  unerklärlich  und  merkwürdig,  wenn  sich 
die  Volksmassen  in  Asien  hie  und  da  gegen  diese  scheinheilige,  unter 
der  Maske  christlicher  Liebe  sich  einschleichende,  in  Wahrheit  äusserst 
brutale  Mission  auflehnen  und  den  Versuch  macihen,  sich  dieses 
rücksichtslose  weisse  Schmarotzertum  vom  Halse  zu  schaffen?!  Eine 
Wirkung  hat  diese  „Heidenmission"  dennoch:  Sie  hilft  fleissig  mit,  auch 
noch  den  letzten  Rest  von  Hochachtung  gegeaüber  den  christlichen  Kirchen 
und  Sekten  vollends  zu  untergraben.  Nur  fröhlich  weiter  so ;  die  Toten 
reiten  schnell  1 ! 


*^  Die  buddhistische  Welt.  i.  jghrg. 

Buddhas  Glocken.  In  dem  uns  vorliegenden  zweiten  Hefte  der 
protestantischen  Missionsschrift  »Licht  im  firnen  oTten.  findet  sS 
unter  dem  genannten  Titel  auf  S.  31  folgendes  Gedicht: 

„Hör-,  wie  die  Glocken  klingen,  so  feierlich  durchs  Tal!  - 

Was  sagt  woh|  Chinas  Söhnen  ihr  heller,  reiner  Schall? 

Es  ladet  das  Geläute  sie  wohl  zur  Kirche  ein 

s^u       ■   ,"'Ä'- '^^".'^  ""'^  •'•■'^"''e  ^''^h  "e"  dem  Herrn  zu  weih'n? 

Apn  H?i"h?w''r'"  '^'^"g'-^'  ''"^  f-'^'ten  Buddhas  Ohr 

Uen  die  betorte  Menge  zu  ihrem  Gott  erkor' 

Sie  sollen  ihn  bewegen,  von  seinem  Himmelsthron 

Zu  senden  Glück  und  Segen  als  frommer  Andacht  Lohn 

Und  wenn  die  Glocken  schallen,  steigt  manch  Gebet  empor 

K^^"-"i    °i-  ^"  verhallen,   denn  taub  ist  Buddhas  Ohr 

Doch  jeder  dieser  Töne  verwundet  Jesu  Herz 

pfcn  vi!/"''  n'lV?'''^  ^^^"^  ""'"^^  ^'■'"=h  im  födesschmerz. 
Er  spricht,  vo  I  Weh  und  Leiden  zu  seiner  Gläub'gen  Schar 
Die  sorglos  lasst  verderben  die  Heiden  Jahr  für  lahr- 
„O  dass  dein  Herz  dies  rührte,  du  träge  Christenheit, 
Und  dir  zur  Bürde  würde  der  Ärmsten  bittres  Leid  I 
,,Uu  hast  das  Wort  des  Lebens  und  sollst  mein  Bote  sein 
Ü/M  1^!)'  '^^^  vergebens  noch  fleh'n  zu  Holz  und  Stein! 
FinH       ^"  '^i^u^"'  ""^^*  ^'"'^^'"'  '"c  Chinas  Vor^  durchwühlt 
una  so  die  Schmerzen  lindern,  die  meine  Seele  fühlt?" 

,.oihJ^  •'^^'"f;,^'"^."  nüchternen  Menschen  wirklich  eine  Aufgabe  dieser 
pathologisch-ruhrseligen  Dichterei  auch  nur  ein  Wort  des  Bidauerns  zu 
widmen.    Hat  der  „Dichter«  vom  Buddhismus  so  wenig  Ahnung    dass  er 

sTgenaTntl'  BuddhM.^«"''''^,^"'"  ''^''"  "^'^^  Und' wenn  "cf'inesLche 
«^ntn  ■".  ^^'""'^*'^"  wirklich  zu  Buddha  als  zu  ihrem  Gotte  beten 
sollten,  so  ist  dieses  nichts  anderes,   als  wenn  Christen  den  Stifter  ihrer 

Ss'Z"eSnotH«''^^- V',"^"!"!.""^*  ''^  ""'^"  S"*?  Niemand  ist  gut 
ais  aer  einige  Gott!"    Seit  Jahrhunderten  betet  die  Christenheit  zu  lesus- 

Verschone  uns  vor  Krieg,  fi'rdbeben,  Feuersbrunst,  Wassersno  Seuchen 
?.h  h^'T'J"^'  k""  t^of^dem  bleibt  alles  beim  alten  Hört  Jesus? -Sei" 
^Ketzerei'  aher*^>',^''j°'''''=-''l  ^''"'''"  ^"  -1^«"«  um  Vusrot  u„g  de 
Hörf  esüs?  %.fK''H^'''*'i  ^'"^  trotzdem  immer  weiter  aus. 
nort  jesus^  —  Seit  Jahrhunderten  beten  die  Christen  aller  Richtunpen 
zu  Jesus  um  die  Bekehrung  der  „Heiden«,  und  trotzdem  gewinnt  der  nich 
mlhf  Anhänte^^Hörf  .-'^^'^f'^he"  Buddhismus  im  ASänd  'imme! 
^^hl  u-^r^u  .HorJesus?  —  „Nimm  alle  christliche  Obrigkeit  fdie 
nicht-chrisfhche  also  nicht?!)  in  Deinen  gnädigen  Schutz'"  -St  ein 
christliches  Gebet,  ---  und  trotzdem  fallen  chriltliche  Fi^rsten  und  obriH- 

sch  r'n'JrT.'e'sus?"  '^f;"^H^''""?'-f'  T''  ^"'"  ""^''^  «'^  ändere  Me^- 
scnen.  Hört  Jesus?  —  Richtig  ist  übrigens  im  genannten  Gedicht  der 
Passus  welcher  besagt,  dass  „der  Gläubfgen  Schar  die  Heiden  _  (wie 
liebevoll!)  -  lässt  verderben  Jahr  für  Jahr."  Sehr  wahr  Denke  an 
die  „christliche  Mission"  auf  Ceylon!  -  uenKe  an 

....  Kwan-Yin,  Wir  bringen  unseren  Lesern  in  dieser  Nummer  die  Ab- 
b  Idung  eines  Denkmales  buddhistischer  Kunst:  eine  chinesische  Kwan-Yin- 
Statue.  Kwan-Yin,  eine  eigentümliche  Auffassung  von  Buddha,  repräsentiert 
den  Buddha  (d.  h.  den  Adi-Buddha  der  Mahäyäna-Schule)  in  einer  weib- 

Se"  DerTwa:  Yi'n  .."u  ^'T  if''  B^T^erzigkeit  uiid"mXrirchen 
ueoe.     uer  Kwan-Ym-Kultus   ähnelt  in   vie  en   Punkten  dem  christlichen 

ScrAuffassunTvon';^''^''"^-''^-^'*^*  "*^'-'^"  '""•''^-  dass"'die  mytholo- 
gische Auffassung  von  Kwan-Yin  eine  ganz  andere  ist,  als  die  von  Maria. 


No.  7.  Die  buddhistische  Welt.  53 

Urprüngiich  ist  Kwan-yin  wohl  eine  durch  brahmanische  Einflüsse  in  den 
Buddhismus  gebrachte  hinduistische  Qakti.  Qlakti  ist  der  Kraft-Aspekt 
der  Substanz. 

Das  Urteil  eines  nicht-buddhistischen  Inders  über  den  Buddha. 
Der  indisch-brahmanische  Missionar  Svänii  Vivckänanda  schreibt  in 
seinem  Werke  »Karma-Yoga«  über  den  Buddha  folgendes:  „Viele 
haben  die  Frage  aufgeworfen,  ob  es  überhaupt  möglich  sei,  ohne  Motiv 
zu  wirken.  Sie  haben  kein  anderes  Werk,  als  Fanatismus,  gesehen  und 
sprechen  deshalb  in  dieser  Weise.  Icn  will  Euch  mit  wenigen  Worten 
von  einem  Mann  erzählen,  der  es  ins  Praktische  übertrug.  Dieser  Mann 
war  Buddha.  Er  ist  der  einzige  Mensch,  der  dies  jemals  in  die  Praxis 
umsetzte.  Alle  Propheten  der  Welt,  ausgenommen  Buddha,  wurden  von 
äusseren  Triebkräften  bewegt.  Die  Weltpropheten  können,  mit  dieser 
einen  Ausnahme,  in  zwei  Teile  geteilt  werden:  erstens  die,  welche  be- 
haupten, der  auf  die  Erde  herniedergestiegene  Gott  zu  sein,  und  zweitens 
die  anderen,  welche  sich  Gesandte  Gottes  nennen.  Beide  folgen 
einem  äusseren  Antriebe  und  erwarten  Belohnung  von  ausserhalb,  wie 
geistig  auch  die  Sprache  sein  mag,  die  sie  führen.  Nur  Buddha  ist  der 
einzige  Prophet,  welcher  .sagte:  „Ich  frage  nichts  darnach,  eure  ver- 
schiedenen Theorieen  von  Gott  zu  kennen.  Was  hat  es  für  einen  Nutzen, 
alle  die  spitzfindigen  Lehren  über  die  Seele  durchzusprechen?  Tut  Gutes 
und  seid  gut.  Dies  wird  euch  zu  aller  Wahrheit  leiten."  Buddha  war 
absolut  ohne  Motivkraft,  und  welcher  Mensch  wirkte  mehr  als  er?! 
Zeigt  mir  in  der  Geschichte  einen  Charakter,  der  sich  so  hoch  über  alle 
erhob,  wie  er!  Die  ganze  menschliche  Rasse  hat  nur  einen  solchen 
Charakter  hervorgebracht,  solche  erhabene  Philosophie,  solche  Sympathie. 
Dieser  grosse  Philosoph,  der  die  höchste  Philosophie  predigte,  hatte 
dennoch  Sympathie  für  das  geringste  Tier  und  machte  niemals  irgend- 
welche Ansprüche.  Er  ist  der  ideale  Karma-Yogi,  welcher  gänzlich  ohne 
Motiv  handelte,  und  die  Geschichte  der  Menschen  zeigt  ihn  als  den 
Grossesten,  der  jemals  geboren  wurde,  über  jeglichen  Vergleich  mit  an- 
deren erhaben ;  die  grösste  Vereinigung  von  Kopf  und  Herz,  die  jemals 
existierte,  die  grösste  Seelenkraft,  die  sich  jemals  offenbarte.  Er  war 
der  grösste  Reformator,  den  die  Welt  jemals  sah.  Er  war  der  erste,  der 
zu  sagen  wagte:  „Glaubet  nicht  um  einiger  alter  Manuskripte  willen; 
glaubet  nicht,  weil  es  euer  National-Glaube  ist,  oder  weil  man  euch  von 
Kindheit  an  zum  Glauben  zwang;  sondern  denket  selbst  darüber  nach, 
und  wenn  ihr  es  geprüft  habt,  und  findet,  dass  es  einem  und  allen  gut 
tun  wird,  dann  lebt  danach  und  helft  anderen  danach  zu  leben."  Der 
wirkt  am  besten,  der  ohne  jede  Triebkraft  schafft,  weder  für  Geld,  noch 
für  irgend  etwas  anderes,  und  wenn  ein  Mensch  das  zu  tun  imstande  ist, 
so  wird  er  ein  Buddha  sein,  und  in  ihm  wird  die  Kraft  erstehen,  so  zu 
wirken,  dass  er  die  Welt  umgestalten  kann."  — 

Aus  Russland.  Wie  uns  in  einem  privaten  Schreiben  aus  Livland 
mitgeteilt  wird,  besteht  die  Absicht,  binnen  kurzem  einige  buddhistische 
Schriften  in  lettischer  Sprache  erscheinen  zu  lassen;  unter  anderem 
Subhadra  Bhikshu's  Katechismus  sowie  die  im  »Buddhist«  deutsch 
herausgegebenen  Aufsätze  von  Änanda  Maitriya. 

In  Russland  leben  etwa  850000  Anhänger  des  Buddhismus.  Es  sind 
dies  kirghisische  und  kalmückische  Tataren  an  den  Ufern  der 
Wolga  im  europäischen  Russland  und  eine  wachsende  Anzahl  von  Bur- 
jäten und  anderen  Stämmen  im  südlichen  Sibirien,  wo  der  Buddhismus 
sich  ausbreitet.  Alle  diese  Völkerschaften  sind  Anhänger  des  lama- 
i'stischen  Mahäyänismus,  also  desjenigen  Zweiges  des  Buddhismus, 
der  am  stärksten  modifiziert  ist.  Da  nun  jährlich  eine  Anzahl  dieser 
Buddhisten,   unter  ihnen   befand  sich  ein  Gross-Lama  der  mongolischen 


5*  Die  buddhistische  Weit. 


I.  Jahrg. 


Klöster,  nach  Buddha-Gayä  in  Nord-Indien  pilgert  und  dort  mit  dem 
reineren  südlichen  Buddhismus  bekannt  wird,  ist  die  Mögh'chkcit  geceben 
dass  allmählich  neues  Leben  in  diesen  erstarrten  Zweig  des  Buddhismus 
einströmt.  Der  Lamaisnius  ist  bekanntlich  der  westliche  Zwei"  des 
Mahäyäna  und  hat  sein  Zentrum  in  Tibet,  während  das  reinere  Mahä- 
yäna  hauptsächlich  in  Japan  seine  Anhänger  hat.  Nach  dem  letzten 
Rehgions- Edikt  des  Zaren  ist  es  verboten,  die  in  Russland  lebenden 
iamaistischen  Buddhisten  als  „Heiden"  zu  bezeichnen;  was  sagen  dazu 
die  evangelischen  Konsistorien  in  Deutschland,  die  nach  der  Fassung  des 
allgemeinen  Kirchengebetes  zu  urteilen,  die  Buddhisten  als  Heiden" 
betrachten  ? !  " 

u  ..  .,^^j^\  i^^enfalls  beachtenswert,  dass  auch  im  dunklen  Russland  die 
buddhistische  Propaganda  sich  bemerkbar  macht.  — 

An  die  »Vegetarische  Warte.>.  In  No.  19  der  »Vegetarischen 
V/arte,  schreibt  ein  Herr  F.  Spier  bei  der  Besprechung  einiger  bud- 
dhistischer Bucher  folgendes:  „Wenn  man  in  obigen  Schriften  auch 
manchen  richtigen  und  anregenden  Gedanken  findet,  so  ist  doch  für 
einen  sich  am  Leben  freuenden  Vegetarier  diese  die  Nicht-Existenz 
(Nirväna)  als  Höchstes  preisende,  den  Lebenswillen  als  »Ursache  des 
leidvollen  Daseins«  erklärende  Weisheit  Buddhas  nicht  die  rechte  Erbau- 
ung.   Wenn  auch   der  Vegetarismus   als  solcher   (als  welcher?  die  Red) 

^1°I.L^  ^"''''  ^°-  '^*  '^°'^^  ^°"  *^'"'='^'  Ausbauen  unseres  Jammertals  durch 
Ubstgärtner  zum  irdischen  Paradiese  absolut  nicht  die  Rede 

Die  verehrliche  »Vegetarische  Warte«  würde  sich  zweifellos  weniger 
blamieren,  wenn  sie  als  Rezensenten  Männer  anstellte,  die  von  dem 
Ciegenstand,  den  sie  besprechen,  etwas  mehr  „Ahnung"  hätten  als  Herr 
F.Spier.  Der  letztere  ist  genau  so  wie  sein  Vorgänger  Herr  Benno  Buer- 
dorff  ein  gänzlich  ungenügend  informierter  Beurteiler  des  Buddhismus 
Die  oben  angeführten  wenigen  Worte  des  genannten  Herrn  zeigen,  dass  er 

n,.™^i?  ^^''4'"'f.u^'=^^"'^'^■''^  ^"'^'1  "'«^ht  im  entferntesten  erfasst  hat. 
Dass  nach  des  Buddha  Lehre  das  Dasein  deshalb  leidvoll  ist,  weil 
Artem  Zerfall,  Vcrgangichkeit  nllen  phänomenalen  Dingen  anhaftet,  sollte 
Herr  Spier  sich  zunächst  ad  notam  nehmen.  Werden  diese  Tatsachen 
etwa  dadurch  aus  der  Welt  geschafft,  dass  „lebensfreudige  Vegetarier" 
h,"„!i.  c^'°"  .rdischer  Obst-Paradiese  anlegen?!  Hebt  etwa  das  Vor- 
handensein solcher  Lustgärten  die  Wahrheit  von  der  Vergänglichkeit  auf?! 
Man  verschone  doch  endlich  die  Welt  mit  derartigen  Donquichotterien! 
P/nn  ''"'■f''  ."3  "'■gemasse  Lebensweise  manches  Übel  beseitigt  werden 
kann,  bestreitet  selbstverständlich  kein  vernünftiger  Mensch.  Aber  gerade 
^lV,u"'^lu^^V'  "■'"  derentwillen  der  Buddha  die  These  auf- 
•  iVL"'*  '  ^'-'''5"  '^'  '-'^"''^""  -kann  auch  der  Vegetarismus 
alt.l  ^'v  "v'^"v  *^,^"",  ^."Z*!  ''/''  'ustigste  Vegetarier  hat  noch  kein  Kraut 
gegen  die  Vergang  ichkeit  aufgefunden.  Wir  gönnen  Herrn  Spier  von 
Herzen  seine  Freude  an  Obstparadiescn ;  wir  bestreiten  nur,  dass  durch 
deren  Anlegung  der  Charakter  des  Daseins  an  sich  irgendwie  verändert 
wird^  Es  mag  ja  ganz  lustig  .sein,  so  naturgemäss  durch  das  Leben  zu 
K^c*  -V  ~"  ,'ü''«^^*^'.  "»"l  das  wird  auch  der  lebensfrohe  Herr  Spier  nicht 
bestreiten  können,  ist  es  trotz  alledem  immer  noch  derselbe  alte  Spiel- 
M^eTster^Tod   -^^'"  '-^'*^"**^"^'=  aufspielt:    Freund   Hein,    alias    der 

Bewahret  Tugend,  bewahret  Reinheit!  Reinheit  heecnd  und  nfleupnri 
bewahret  im  Handel  und  Wandel;  vor  geringstem  S  auf  der Xl 
schrertet  beharrlich  weiter  Schritt  für  Schritt.      ^  Maihhül-N^a  "' 


Na.  7.  Die  buddhistische  Welt.  55 


Büchertisch. 


(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher     übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpflichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidonstücker,  per  Ad».   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 


Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Unter   Marsmenschen.      Erzählung   von    Oskar   Hoffmnnn,   Breslau. 

Schlesische  Verlags-Anstalt  v.  S.  Schottiänder.    490  S.    Preis  3  M. 

Eine  originelle   Schilderung   einer  Reise   nach   dem  Mars  in  einem 

seltsamen  Vehikel,  ähnlich  den  phantasiereichen  Schriften  des  bekannten 

Jules  Verne. 

Die  Entstehung  des  Christentums  nach  der  modernen  Forschung  für 
weite  Kreise  voraussetzungslos  dargestellt  von  C.  Promus.  Jena, 
Eugen  Diederichs.    69  S.    Preis  1  M. 

Das  wie  alle  bei  L^iederichs  erschienenen  Werke  trotz  seines  billigen 
Preises  vorzüglich  ausgestattete  Büchlein  wünsche  ich  in  die  Hand  eines 
jeden  gebildeten  Laien,  der  den  religiösen  Problemen  auch  nur  einiges 
Interesse  entgegenbringt.  Wenn  man  auch  den  Schlussfolgerungen  in 
Bezug  auf  die  Bedeutung  eines  modernisierten  Christentums  nicht 
allenthalben  bei.stinimen  kann,  sondern  die  religiöse  Regeneration  von 
anderer  Seite  erwartet,  so  kann  doch  jeder  aus  dieser  Schrift  gar  manches 
lernen.  D. 

Das  Lied  von  der  Treue  von  C.  Fr.  Töllner.  Oldenburg,  Schwarz'sche 
Hofbuchhandlung.     Br.  3  M. 

Das  vorliegende  Werk  des  Verfassers,  der  den  Lesern  des  »Buddhist« 
schon  durch  die  vor  kurzem  erschienene  Dichtung  „Mahinda"  bekannt 
geworden  ist,  ist  in  Anlehnung  an  Wilhelm  Jensens  „Rose  von  Hildesheim" 
entstanden.  Genanntem  Dichter  ist  auch  das  Werk  zugeeignet.  Es  ver- 
setzt uns  in  die  bewegten  Zeiten  des  Mittelalters,  da  überall  der  Kampf- 
ruf ertönte:  „Hie  Weif,  hie  Waibling".  Es  zeigt  uns  des  deutschen 
Reiches  Herrlichkeit  zur  Zeit  der  Hohenstaufer,  zur  Zeit  Heinrichs  VI.,  des 
machtvollsten  dieses  Geschlechtes.  Philipp,  der  unglückliche  Bruder 
dieses  Herrschers,  seine  Gattin  henc,  die  Rose  von  Byzanz,  Konrad  von 
Querfurt,  der  ritterliche  Kanzler  des  Reiches,  die  erdichtete  Persönlichkeit 
eines  Junkers  Fink  v.  Lassberg,  das  sind  die  Hauptgestaltcn  des  Werkes. 
Ein  „Lied  von  der  Treue",  wie  es  der  Dichter  nennt,  weiss  es  uns  zu 
singen  von  Gattentreue,  von  Lehns-  und  Freundestreue,  zeigt  uns  auch 
in  fesselnder  Weise  die  mannigfachen  ethischen  Kollisionen,  die  sich  aus 
den  verschiedenen  Treuverpflichlungen  ergeben.  O.  D. 

Plotin,  Enneaden.  In  Auswahl  übersetzt  und  eingeleitet  von  Otto  Kiefer. 

2  Bände.    Jena,  Eugen  Diederichs  Verlag.    Preis  brosch.  ä  7  Mk., 

geb.  ä  9  Mk. 

Der  äusserst  rührige  Verlag  von  Eugen  Diederichs,  der  sich  schon 
durch  eine  ganze  Reihe  von  Neuausgaben  älterer  Philosophie  und  Mystik 
verdient  gemacht  hat,  bietet  mit  obigem  Werke  eine  wertvolle  Ergänzung 
dieser  Ausgaben.  Hier  des  Näheren  auf  die  Philosophie  des  grossen 
Neu-Platonikcrs  einzugchen,  erscheint  nicht  angebracht,  ich  verweise  auf 
einen  in  nächster  Zeit  in  unserer  Zeitschrift  erscheinenden  Aufsatz  über 
Neuplatonismus  und  Buddhismus;  hierbei  wird  auch  Plotinos  seine  Wür- 
digung erfahren,  gegen  den  vom  Standpunkte  der  Buddhisten  mancherlei 


56  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

einzuwenden  ist.  Die  Kiefersche  Plotin-Ausgabc  ist  keine  nur  für  Fach- 
gelehrte bestimmte  Arbeit,  sondern  wendet  sich,  gehalten  in  der  Sprache 
der  Gegenwart,  an  die  Gebildeten  unserer  Tage,  in  welchen  ein  Streben 
nach  Verinnerlichung  und  Vergeistigung  lebt.  Allen  denen  kann  dieses 
Werk  auch  wirklich  empfohlen  werden.  D. 

Jahrbuch  für  Alkoholgegner  1906.  Herausgegeben  von  Max  War- 
ming.  Druck  und  Verlag  der  Hanseatischen  Druck-  und  Verlags- 
Anstalt,  Hamburg.    Gebunden  I.—  Mk. 

Unter  Hinweis  auf  das  fünfte  buddhistische  Gebot  sei  dieses  Büch- 
lein wärmstens  empfohlen.  D. 

In  der  Welt,  aber  nicht  von  der  Welt.  Gleichwie,  ihr  Jünger, 
eine  blaue  Lotusrose,  oder  eine  rote  Lotusrose,  oder  eine  weisse  Lotus- 
rose im  Wasser  geboren,  im  Wasser  entwickelt,  über  das  Wasser  sich 
emporhebend  darsteht,  unbefleckt  von  Wasser :  Ebenso  auch,  ihr  Jünger, 
ragt  der  Tathägata,  der  sich  in  der  Welt  entwickelt  hat,  über  die  Welt 
empor,  unbefleckt  von  der  Welt.  Samyutta-Nikäya. 


Wenn  ein  Mensch  auch  Böses  getan  hat,  so  sündige  er  hinfort  nicht 
wieder  noch  denke  er  mit  Sehnsucht  an  das  Böse  zurück:  das  Ende  der 
Sünde  ist  Leid.  Doch  wenn  ein  Mensch  Gutes  tut,  so  tue  er  ts  immer 
wieder  und  denke  daran  mit  Sehnsucht:  tugendhafte  Taten  wirken  Glück- 
seligkeit, nhamni.ipada. 

•  * 

Die  von  aller  Sünde  sich  fernhalten,  die  in  beständiger  Einsicht 
wandeln,  die  Erleuchteten,  welche  aller  f-esscln  ledig  sind,  diese  wahrlich 
sind  Priester  in  der  Welt.  Udäna. 

»  » 

• 

Welcher  Lehren  immer  du  bewusst  sein  solltest,  dass  sie  zur  Leiden- 
schaft und  nicht  zum  Frieden  führen,  zum  Stolze  und  nicht  zur  ücniui, 
zum  Wunsche  nach  vielem  und  nicht  zum  Wunsche  nach  wenigem,  zur 
Liebe  zur  Zerstreuung  und  nicht  zur  inneren  Einkehr,  zur  Tiaghcit  und 
nicht  zur  Übung  des  Eifers,  zu  schwerer  Befriedigung  und  nicht  zur 
Zufriedenheit,  —  wahrlich,  dann  mögest  du  im  Geiste  erwägen,  dass 
dies  nicht  der  Dhamma,  dass  dies  nicht  der  Vinaya,  dass  dies  nicht 
die  Lehre  des  Meisters  ist.  Aber  von  welchen  Lehren  immer  du 
bewusst  sein  solltest,  dass  sie  zum  Frieden  und  nicht  zur  Leidenschaft, 
zur  Demut  und  nicht  zum  Stolze,  zum  Wunsche  nach  wenigem  und  nicht 
zum  Wunsche  nach  vielem  führen,  zur  inneren  Einkehr  und  nicht  zur  Liebe 
zur  Zerstreuung,  zur  Zufriedenheit  und  nicht  zur  Streitsucht,  —  wahilich, 
dann  magst  du  im  Geiste  erwägen,  dass  dies  der  Dhamma,  dass  dies 
der  Vinaya,  dass  dies  die  Lehre  des  Meisters  ist.  vinaya-HiaUa. 


Geläutert  sei  unser  Wandel,  unsere  Rede,  unser  Sinn,  unser  Leben, 
offen  und  ehrlich,  nicht  heimlich  und  verhohlen;  und  dieser  Läuterung 
halber  werden  wir  uns  nicht  überheben,  noch  die  anderen  geringschätzen: 
also  habt  ihr  euch,  meine  Jünger  wohl  zu  üben.  Majjhima-Nikäya. 

VerintwörtUcher  Redakteur:  G.  A.  Dietze,  Leipzig.  -    Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
in  Leipzi|^.    —    Druck:  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 

Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang.  LEIPZIG,  November  1905. 


No.  8. 


Herzliche  Bitte! 

etwa  2000  japanische  Kriegsgefangene  (worunter 
ungefähr  5—600  Nichtkombattanten)  werden  gegen  Ende 
November  oder  Anfang  Dezember  aus  Russiand  in  Bremer- 
haven eintreffen,  von  wo  sie  sich  direkt  nach  Japan  einzu- 
schiffen gedenken. 

Da  sie  während  ihrer  langen  Gefangenschaft  ein  Leben 
unter  traurigsten,  elendesten  Verhältnissen  zu  führen  ge- 
zwungen waren,  drängt  es  mich,  den  nun  glücklich  Befreiten 
durch  ein,  wenn  auch  kleines  Geschenk,  Trost  und  Freude 
zu  bereiten  und  darf  ich  mir  zu  diesem  edlen  Zwecke  wohl 
auch  Ihre  gütige  Mithilfe  erbitten. 

Jede,  auch  die  kleinste  Gabe  wird  dankbarst  ent- 
gegengenommen. 

Da  die  Soldaten  nur  eine  ganz  geringfügige  Tages- 
löhnung erhalten,  dürfte  ihnen  die  Anschaffung  der  not* 
wendigen  Kleinigkeiten,  wie:  Strümpfe,  Taschentücher, 
Seife  usw.  recht  beschwerlich  fallen  und  ist  deshalb  die 
freundliche  Zusendung  eben  erwähnter  Artikel,  sowie  von: 
Zigarren,  Zigaretten,  Ansichtspostkarten  und  ähnlichen  Sachen 
sehr  angenehm  und  erwünscht. 

Quittung  und  Abrechnung  über  die  eingehenden  Spenden 
werden  in  „Ost-Asien"  veröffentlicht. 

Hochachtungsvoll 

Kisak  Tamai, 

Chefredakteur  der  Monatsschrift  „Ost-Asien*. 
Berljf»  SW.,  Kleinbeerenstr.  9. 

7 


58  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Rundschau. 


Aus  Tibet.  Während  den  meisten  Reisenden  verschiedener  Natio- 
nalität der  Versuch,  nach  der  Hauptstadt  des  geheimnisvollen  Tibet, 
Lhassa,  vorzudringen,  fehlschlug,  ist  es  dem  russischen  Forscher 
Zybikow  nicht  nur  gelungen,  die  Stadt  zu  erreichen,  sondern  er  hat 
sich  dort  auch  zwölf  Monate  aufgehalten.  Zybikow  ist  Buddhist;  er 
stammt  aus  der  Baikal-Gegend  und  hat  die  Universität  Petersburg  besucht. 
Lediglich  die  Tatsache,  dass  er  ein  Anhänger  des  Buddhismus  ist  und 
die  tibetische  Sprache  kannte,  ermöglichte  es  ihm,  als  Lama  das  Land  zu 
betreten  und  die  ersten  zuverlässigen  Nachrichten  über  Lhassa  zurück- 
zubringen. Im  Sommer  1900  betrat  Zybikow  das  Land.  Von  Lhassa 
selbst  erzählt  der  Reisende,  dass  es  malerisch,  von  üppigen  Gärten  im 
Westen  und  Süden  umgeben,  an  dem  südlichen  Abhänge  eines  Berges 
liegt.  Der  Fluss  Uitschu  geht  an  dem  südlichen  Ende  der  Stadt  vorbei, 
die  von  Dämmen  und  Kanälen  zum  Schutz  gegen  Überschwemmungen 
durchzogen  ist.  Rund  um  die  Stadt  führt  ein  schöner  breiter  Weg,  der 
zu  Prozessionen  benutzt  wird.  Die  Stadt  ist  trotz  ihrer  Kleinheit  —  sie 
hat  nicht  mehr  als  10000  ansässige  Einwohner  —  ein  bedeutender  Handels- 
knotenpunkt. Die  eingeborenen  Händler  sind  meist  Frauen.  Mitten  in 
der  Stadt  steht  der  mächtige  Buddha-Tempel.  Er  misst  etwa  140  Fuss 
im  Quadrat,  ist  drei  Stockwerke  hoch  und  hat  drei  vergoldete  chinesische 
Dächer.  Er  enthält  die  riesenhafte  Bronze-Statue  des  Buddha,  die  einen 
Kopfputz  aus  getriebenem  Gold  und  Juwelen  trägt.  Vor  dieser  Statue 
brennt  beständig  ein  Feuer,  das  mit  geschmolzener  Butter  genährt  wird. 
Das  heilige  Gebäude  enthält  auch  die  Räume  für  den  Dalai-Lama  und 
seinen  Rat.  Der  Wohnsitz  des  Dalai-Lama,  der  im  7.  Jahrhundert  der 
europäischen  Zeitrechnung  erbaut  wurde,  liegt  etwa  eine  Meile  entfernt 
auf  dem  Berge  Buddha-Lha.  Nahe  dabei  steht  das  alte  Schloss 
Hodson-Bodala,  ein  1400  Fuss  langes  Gebäude  mit  neun  Stockwerken. 
In  diesem  Schloss  befindet  sich  das  Schatzamt,  die  Münze,  die  Schulen 
für  Theologie  und  Medizin  und  die  Unterkunftsräume  für  1200  Beamte 
und  500  Mönche.  Etwa  1000  Bhikshu  nehmen  an  der  Prozession  nach 
diesem  Berge  teil.  Unter  anderen  Klöstern  und  Tempeln  sind  in  der 
Nähe  von  Lhassa  drei  zu  verzeichnen,  in  denen  sich  1500  Mönche  mit 
gelehrten  Forschungen  beschäftigen.  — 

Nunmehr  ist  auch  der  bekannte  russische  Reisende  und  Erforscher 
der  Mongolei  und  Tibets,  Leutnant  P.  K.  Koslow,  von  seiner  letzten 
Reise,  die  er  in  diesem  Sommer  durch  die  Mongolei  unternahm,  zurück- 
gekehrt und  hat  ein  sehr  umfangreiches  und  höchst  interessantes  Material 
mitgebracht,  über  das  er  demnächst  in  der  kaiserlich  russischen  Geo- 
graphischen Gesellschaft  berichten  wird.  In  Urga  ist  Koslow  mit  dem 
Dalai-Lama  zusammengetroffen,  der  damals  seit  seinem  Entweichen  aus 
Lhassa  dort  in  grösster  Zurückgezogenheit  lebte.  Koslow  schildert  den 
Dalai-Lama  als  jungen,  sehr  gebildeten  und  energischen  Mann. 
Der  Forscher  überbrachte  dem  letzteren  kostbare  Geschenke  der  Geo- 
graphischen Gesellschaft  und  erhielt  als  Gegengeschenk  sehr  wertvolle 
Daten  über  die  gegenwärtige  Lage  Tibets  und  mehrere  Gegenstände,  die 
sich  auf  den  lamaistischen  Kultus  beziehen.  Das  Herstellen  einer  Photo- 
graphie von  sich  gestattete  der  Dalai-Lama  nicht,  doch  sass  er  dem 
Zeichner  der  Expedition,  Herrn  Koshewnikow,  in  den  verschiedensten 
Stellungen  und  Kostümen.  Diese  Entwürfe  sollen  alle  sehr  gut  gelungen 
sein  und  werden  in  den  Veröffentlichungen  der  Geographischen  Gesell- 
schaft wiedergegeben  werden.    Koslow  wurde  vom  Dalai-Lam?  mehrere 


No.  8.  Die  buddhistische  Welt.  59 

Male  empfangen ;  die  Unterhaltung  wurde  dabei  durch  zwei  Dolmetscher, 
einen  Mongolen  und  einen  Tibeter,  geführt.  — 

Tibet  hatte  im  19.  Jahrhundert  die  Freundschaft  Englands  gesucht, 
musste  jedoch  zu  seiner  Enttäuschung  erleben,  dass  die  Engländer  nur 
eigennützige  Ziele  verfolgten.  Darauf  schloss  sich  der  jetzige  Dalai-Lama 
an  Russland  an  und  lehnte  jede  Handelsbeziehung  mit  England  ab. 
Das  hatte  die  englische  Expedition  zur  Folge  und  die  Flucht  des  Dalai- 
Lama.  Der  Regent,  ein  Abt,  welcher  während  der  Abwesenheit  des 
Dalai-Lama  regierte,  wird  von  den  Engländern  als  eine  gelehrte,  wahr- 
haft gebildete,  liebenswürdige  Persönlichkeit  geschildert.  Beim 
Abschied  gab  er  dem  Chef  der  englischen  Expedition  ein  Bild  des 
Buddha  und  sagte:  „Wenn  die  Buddhisten  dieses  Bild  ansehen, 
denken  sie  nicht  an  Streit  und  haben  nur  Gedanken  des  Frie- 
dens. Ich  hoffe,  wenn  Sie  dieses  Bild  ansehen,  werden  Sie 
freundlich  an  Tibet  denken."  Als  der  Oberst  Waddell  ihm  sagte, 
das  Wesentliche  christlicher  Religion  sei  das  „Liebet  eure  Feinde",  da 
rief  der  Regent  bitter  aus:  „Die  Engländer  haben  überhaupt  keine  Religion." 
Als  Waddell  fragte,  warum  er  das  denke,  erwiderte  er:  „Weil  ich  es 
weiss;  weil  ich  es  mit  meinen  eigenen  Augen  sehe  in  den  Gesichtern 
und  an  den  Handlungen  Ihres  Volkes.  Die  Engländer  haben  harte  Herzen 
und  werden  dazu  erzogen,  zu  töten  und  zu  fechten  wie  Riesen,  die  gegen 
Götter  Krieg  führen."  — 

In  Lhassa  herrscht  seit  zehn  bis  zwölf  Jahren  eine  geistige  Regene- 
ration und  Regsamkeit,  die  sich  im  eifrigen  wissenschaftlichen  Studium 
und  im  Schriftstellern  äussert.  Seit  1903  erscheint  in  Lhassa  sogar  eine 
von  Mönchen  herausgegebene  Zeitschrift  in  englischer  Sprache.  — 

Über  die  Geschichte  und  Form  des  Buddhismus  in  Tibet  werden 
wir  in  einem  späteren  Hefte  berichten.  — 

Japan.  Selbst  christliche  Zeitschriften  weisen  jetzt  auf  die  intensive 
Tätigkeit  hin,  welche  die  japanischen  Buddhisten  in  ihrem  eigenen  Lande, 
sowie  in  Korea  und  China  entfalten.  Gleich  nach  der  Übergabe  von 
Port-Arthur  errichtete  dort  die  ausserordentlich  tätige  Zen-Schule  (Ge- 
meinde der  Meditationisten)  eine  Missions -Station.  Namentlich  beginnt 
jetzt  der  Buddhismus  eine  besondere  Volks-Literatur  zu  schaffen.  So 
wurde  vor  kurzem  in  Japan  ein  buddhistischer  Katechismus  heraus- 
gegeben, welcher  die  Lehre  in  klarer,  allgemein  verständlicher  Form  be- 
handelt ;  die  erste  Auflage  dieses  Buches  von  5000  Exemplaren  war 
schon  nach  zwei  Wochen  vollständig  vergriffen.  Von  Interesse  dürfte 
auch  die  Mitteilung  sein,  dass  während  des  Feldzuges  zahlreiche  buddhis- 
tische Geistliche  den  Kämpfenden  und  Verwundeten  Trost  gespendet 
haben.  — 

Ceylon.  Der  gesetzgebende  Rat  von  Ceylon  hat  neulich  eine  Reihe 
von  Beschlüssen  gefasst,  die  darauf  hinauslaufen  würden,  den  Buddhis- 
mus zur  Staatsreligion  dieser  britischen  Kolonie  zu  machen. 
Obwohl  damit  die  Verwaltung  des  buddhistischen  Kirchengutes  in  die 
Hände  der  Regierung  kommen  und  damit  der  britische  Einfluss 
auf  die  Bekenner  des  Buddhismus  gestärkt  würde,  finden  es  verschie- 
dene englische  Missions-Gesetlschaften  unbegreiflich,  dass  ein 
christlicher  Staat  den  Buddhismus  in  einer  seiner  Kolonieen 
als  Staatsreligion  anerkennen  soll.  (!!)  Sie  werden  der  engli- 
schen Regierung  einen  Protest  unterbreiten,  in  dem  sie  ver- 
langen, dass  die  Beschlüsse  des  gesetzgebenden  Rates  von 
Ceylon  die  königliche  Sanktion  nicht  erhalten. 

Wir  können  nicht  umhin,  diesen  Akt  vollkomniener  Intoleranz 
christlicher  Missions-Gesellschaften  vor  der  zivilisierten  Welt  gebührend 
festzunageln.    Es  ist  indessen  gut  und  nützlich,  dass  die  Herreh 


60  Die  buddhistische  Welt.  1.  Jahrg. 

von  der  christlichen  Mission  von  Zeit  zu  Zeit   der   Welt  den 
wahren  Geist,  der  sie  durchweht,  ungeniert  offenbaren. 

Nord-Atnerllca.  In  Los  Angeles  sind  vor  kurzem  zwanzig  den 
gebildeten  Kreisen  angehörende  angesehene  Personen  offiziell  in  die 
buddhistische  Gemeinde  aufgenommen  worden. 

Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland. 

Leipzig.  Am  8.  November  sprach  Karl  Seidenstück  er  über  das 
Thema  >Budd ha  und  Christus«.  In  eingehender  Darstellung  behandelte 
der  Redner  zunächst  die  auffallende  Ähnlichkeit  zwischen  der  buddhisti- 
schen und  christlichen  Legende  und  widmet«!  dabei  dem  Christus-Mythos  eine 
eingehende  Betrachtung.  Sodann  versuchte  er,  die  historischen  Persön- 
lichkeiten der  beiden  Meister  an  der  Hand  der  Pali-Suttas  und  der  ersten 
drei  Evangelien  zu  zeichnen.  Des  weiteren  schritt  der  Referent  zur  Dar- 
legung der  Lehren,  wobei  er  nachdrücklich  darauf  hinwies,  dass  trotz 
mancher  Änlichkeiten  sich  auch  tiefgehende  Unterschiede  in  den  Lehren 
des  Buddha  und  Christi  zeigen,  so  namentlich  hinsichtlich  des  Gottes- 
Begriffes,  der  Begriffe  der  Gerechtigkeit,  Unpersönlichkeit  auf  der  einen, 
Gnade  und  Persönlichkeit  auf  der  anderen  Seite;  ferner  zeigt  sich  die 
grosse  Kluft  zwischen  beiden  Religionen  in  der  Auffassung  der  Erlö- 
sungs-Idee. Zum  Schluss  wies  der  Vortragende  auf  die  mystische  Ver- 
wertung hin,  welche  die  Begriffe  Buddha  und  Christus  im  nördlichen 
Buddhismus  einerseits,  bei  den  christlichen  Mystikern  andererseits  gefun- 
den haben.  —  An  den  Vortrag  schloss  sich  eine  sehr  lebhafte  lange 
Diskussion,  in  welcher  Vertreter  der  buddhistischen,  mosaischen,  christ- 
lichen und  theosophischen  Weltanschauung  -das  Wort  ergriffen.  Auch 
diesmal  musste  die  Diskussion  wegen  weit  vorgerückter  Zeit  abgebrochen 
werden. 

Der  nächste  Vortrag  findet  am  Mittwoch,  den  13.  Dezember 
statt;  das  Thema  lautet:     »Die  Religion  der  Zukunft«. 

Berlin.  Am  18.  November  hat  sich  hier  eine  »Buddhistische 
Gesellschaft  in  Berlin«  konstituiert.  Den  Vorsitz  übernimmt  Herr 
Dr.  med.  Landsberg  (Berlin  S.  14,  Dresdenerstr.  52). 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Pseudo-Buddhisraus.  Am  23.  Oktober  hat  in  Mannheim  zu  Gunsten 
der  durch  die  Katastrophe  in  Italien  so  schwer  heimgesuchten  Bevölke- 
rung ein  Vortrag  über  Buddha  stattgefunden.  Rednerin  war  die  Dich- 
terin Franz  Sikking.  Wenn  auch  der  Zweck  des  Unternehmens  ein 
durchaus  guter  Ist,  so  hätte  die  Dame  —  wenn  wir  den  Zeitungsbe- 
richten Glauben  schenken  dürfen  —  besser  getan,  ein  anderes  Thema 
zu  behandeln,  das  sie  besser  beherrscht.  Die  Ausführungen  strotzen 
geradezu  von  Ungereimtheiten  und  Unrichtigkeiten.  Frau  Franz  Sikking 
erntete  dafür  ausser  reichem  Beifall  noch  einen  Lorbeerkranz,  woraus 
wieder  einmal  die  Tatsache  erhellt,  dass  die  Ansichten  des  deutschen 
Publikums  über  den  Buddhismus  vollständig  wüste  und  leer  sind  und  dass 
noch  mancher  Tropfen  ins  Meer  rinnen  wird,  bis  die  Spukgeister  dieses 
Pseudo-Buddhismus  ihre  Unkenrufe  nicht  mehr  erschallen  lassen. 

Die  Marmorbibel  der  Burmanen.  So  ungeheuer  viel  Arbeit  auch 
auf  die  verschiedenen  Bibeln  der  Welt  verwendet  worden  ist,  so  muss 
die  Palme  doch  der  Kutho-daw  zuerkannt  werden,  die  ein  buddhistisches 
Monument  in  der  Nähe  von  Mandalay  in  Burma  ist.    Es  besteht  aus 


No.  8.  Die  buddhistische  Welt.  61 

etwa  siebenhundert  Tempeln,  von  denen  jeder  eine  weisse  Marmorplatte 
enthält,  auf  deren  Gesamtzahl  der  ganze  Text  der  burmanischen  Bibel, 
aus  über  acht  Millionen  Silben  bestehend,  eingegraben  ist.  Die  Sprache 
ist  Päli.  Dies  wunderbare  Werk  steht  einzig  in  seiner  Art  da.  Die 
Kutho-daw  wurde  im  Jahre  1857  von  Mindon-min,  dem  vorletzten 
Könige  von  Burma,  errichtet.  Diese  gewaltige  Tempelmasse  bildet  ein 
Viereck,  in  dessen  Mitte  sich  ein  alles  überragender  Tempel  erhebt. 
Jede  der  Marmor-Tafeln,  auf  denen  der  heilige  Text  verzeichnet  ist,  wird 
von  einem  reichverzierten  Schutzdache  in  Pagodenform  überschattet. 

Ein  ceylonesischer  Bhikkhu  als  Märtyrer.  Im  Dezember  1900 
wurde  der  Bhikkhu  Silaratana  Thero  von  dem  Distrikts-Gerichtshof  von 
Matara  zu  sechs  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt.  Der  Grund  war 
folgender:  Der  Mönch,  welcher  bereits  zwanzig  Jahre  der  Bruderschaft 
angehörte,  wurde  von  einem  Schurken  überfallen  und  misshandelt.  Das 
Gericht  lud  den  Bhikkhu  vor,  damit  derselbe  seinen  Beleidiger  namhaft 
machen  und  gegen  ihn  Zeugnis  ablegen  sollte.  Entprechend  dem  für  die 
Ordensgemeinschaff  gültigen  Gebot,  dass  kein  Mitglied  sich  gegen  Be- 
leidiger rächen  oder  dazu  beitragen  darf,  dass  die  letzteren  bestraft  wer- 
den, weigerte  sich  der  Bhikkhu,  gegen  seinen  Beleidiger  Zeugnis  abzulegen. 
Die  Lehre  des  Buddha  predigt  Vergebung,  und  der  Mönch  wollte  dieses 
höchste  Gebot  unter  keinen  Umständen  verletzen.  Die  Prinzipien  der 
britischen  Jurisprudenz  scheinen  aber  mit  dieser  Satzung  nicht  in  Einklang 
zu  stehen;  denn  der  unschuldige  Möncli  wurde  gewaltsam  entkleidet,  mit 
der  Faust  geschlagen  und  zu  den  Verbrechern  gebracht. 

Alle  Hochachtung  vor  diesem  Märtyrer  im  gelben  Gewände  1 

Eine  beachtenswerte  Probepredigt  hat  der  protestantische  Stadtvikar 
Lic.  H.  Römer  in  Remscheid  gehalten.  Die  „Reformation"  macht 
darüber  folgende  Angaben: 

„Die  kirchliche  Lehre  von  der  Gottessohn  schaff  ist  aus  zwei 
Quellen  geflossen:  einer  alttestamentlich-jüdischen  und  griechisch-heid- 
nischen. Lasst  uns  zunächst  von  der  letzteren  hören.  Ihr  wisst  alle,  wie 
in  der  Sage  und  Mythologie  der  Griechen  und  Römer  und  anderer  Völker 
des  Altertums  von  Gottessöhnen  die  Rede  ist.  Herakles-Herkules  z.  B. 
ist  der  griechische  Held,  der  Sohn  des  Zeus  und  einer  irdischen  Mutter; 
Romulus  und  Remus,  die  Gründer  Roms,  werden  als  Göttersöhne  hinge- 
stellt, ebenso  Kyros,  der  grosse  Perserkönig,  Alexander  der  Grosse, 
Kaiser  Augustus,  im  fernen  Osten  der  grosse  indische  Religionsstifter 
Buddha.  Alle  diese  grossen  und  bedeutenden  Menschen,  die  mehr 
leisteten,  als  gewöhnliche  Sterbliche,  wurden  auf  göttlichen  Ursprung 
zurückgeführt.  Diese  griechisch-heidnische  Anschauung  hat  sich  auch  der 
Person  Jesu  bemächtigt."  So  hatte  man  denn  auch  ihm  übernatürliche 
Geburt  zugeschrieben  und  habe  dadurch  seine  Sündlosigkeit  erklären 
wollen.  So  stehe  denn  im  Glaubensbekenntnis:  „geboren  von  der  Jung- 
frau Maria".  Die  Sitte,  das  Apostolikum  verlesen  zu  müssen,  sei 
ein  Kreuz  und  ein  Zwang  für  viele  Diener  des  Wortes,  die  dadurch 
mit  dem  Schein  der  Unwahrhaftigkeit  behaftet  würden.  Die  Verlesung 
müsse  durchaus  beseitigt  werden.  A-lan  könne  Jesum  den  Sohn  Gottes 
nur  in  dem  Sinne  nennen,  dass  er  am  tiefsten  in  das  göttliche  Geheimnis 
hineingeschaut  und  dass  Gott  durch  ihn  seine  Gnade  und  Wahrheit  in  einzig- 
artiger Weise  der  Welt  kund  getan  habe.  Gegen  Schluss  der  Predigt 
heisst  es:  „Wir  suchen  den  Menschen,  der  ganz  ist  und  echt,  der  nicht 
seine  wunde  Stelle  hat  und  seine  Achillesferse.  Wir  suchen  den,  der  ein 
Ideal  ist  für  unser  Leben,  das  niemals  täuscht  noch  trügt,  von  dem  wir 
sagen  können:  So  möchte  ich  sein,  so  möchte  ich  werden,  so  ganz  und 
echt,  so  rein  und  wahr,  so  freundlich  und  geduldig,  so  mild  und  so  tapfer, 
so  männlich  und  kindlich,  so  menschlich  und  göttlich  zugleich,  —  o  Herr, 


88  Die  buddhistische  Welt.  j  jajjrg. 

zu  wem  können  wir  gehen  als  zu  dir,  zu  dir,  der  du  die  Göttlichkeit  des 
Menschen  uns  hast  schauen  lassen  "  vjuiuicnKcit  aes 

Auf  diese  Probe-Predigt  hin  ist  Lic.  H.  Römer  zum  Pfarrer  in  Rem 
scheid  gewäiilt  worden.  Wenn  der  Bericht  der  „Reformation^'  hre"  Inh^ 
zutre  fend  wiedergibt  so  kann,  meint  die  „Kreuzzeit.m?'  das  rheinische 
Konsistorium  diese  Wahl  unmöglich  bestätigen  es  müsste  dPnn^  rh  mi^ 
den  Grundsätzen,  die  der  Evangelische  OberkfrchenraT  bei  der  endJüLen 
EnUcheidung  des  Falles  Fischer  aufgestellt  hat,  in  schroffen  WideSch 


setzen 


Büchertisch. 

(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher    übernimmt    die 

Redakuon  kerne  Verpfl,ch.ung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  HerTsgeb  r 

Karl  Seidenstucker,  per  Adr.  Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

„  ,,. .    Eingesandte  Literatur  und  Besprechuneen 
Buddhist   and    Christian   Gospels.    Compared^fromtSe^  Originals   by 
Ät  r'rinif,r"h'-M^l''*^'*   with   parallels  from  the  Chin^ese  Bud- 
dhist Tripitaka  by  M.  Anesaki.    (Tokio,   1905.    Pp.  XVIII  <S  230.) 

c  •*  j       r.  Selbstanzeige  des  Herausgebers 
beit  dem  Bekanntwerden  der  indischen  Religion  in  Eurooa  ist  diP 
Frage   ob  der  Buddhismus  vom  Christentum   oder   das  ChrSum  vom 
Buddhismus  entlehnt  habe,  oft  der  Gegenstand  von  SehrtenFoSnee^ 
geworden.    Seydel   versuchte  die  Ähnlichkeiten   zwischen   den  Lebens" 
ere  gnissen    und    Reden    Christi  und  Buddhas    durch    Entlehnungen    au 
Seiten  der  christlichen  Evangelien  zu  erklären.    Lillie  eing  den  hLori 
rtl^l"  ß^?ie'i""gen  zwischen  den  beiden  Religionen  nach    ^Die  Resultate 
P^ttn^^Th'''" '^°'"i,''">-°""f"  "'^ht  als  abschliessend  betrachtet  werden 
es  sind   Ihnen  auch   einige  Irrtümer   mit   unterlaufen     Die  Ahn  ichkeifpn 

fmÄ"-«""    "t''^'"  R<="g'0"en   in  Einzelheiten   der  heiligen  Legenden 
icnünh  "sind^'h'i^-h?''  "t**"'"^   't'''  ^^""g'°«^"  Mission   m  ?  elÄrvefl 

er^Äifer^i^f^^S-^rÄ^^^ST^ 

ngen   Quellen   sind   ziemlich    weit   fortgeschritten     na^<;„lf,-Pi 
die  Sammlung  der  Reden  und  Sprüche  Buddhas  und  deiner   mn^i'tfeih'.rp'n' 
Jünger,  ist  jetzt  vollständig  in  der  Ursprache, Im  PäHveröZtcS'T 
V«.  D'e  mehrjährige  Arbeit  Edmund's   kann    mit   Recht  als   der  erste 
Versuch  der  obenerwähnten  Forschung  bezeichnet  wenden    Wie  Professir 

UmsciUi?u?g'  ^"^'"^  "''  Päli-Text-Society  zu  London  in  römischer 

\l\  Die  siamesische  Ausgabe  des  Königs  von  Slam 
(3)  Die  birmanische,  herausgegeben  in  Rangoon.     ' 


No.  8.  Die  buddhistische  Welt.  63 

Rhys  Davids  über  das  Werk  bemerkte,  ist  die  Arbeit  Edmund's  eine 
vollständige  Nebeneinanderreihung  aller  der  Stellen,  in  denen  die  Evan- 
gelien und  die  Nikäyas  (die  fünf  Teile  des  Sutta-pitaka)  Ähnlichkeiten 
aufweisen.  Die  Vergleichungen  sind  mit  Bezug  auf  die  Ähnlichkeiten  im 
Lehrinhalte  und  in  den  Ideen  unternommen  und  wie  der  Verfasser  selbst  sagt : 

„Weder  auf  christlicher  noch  auf  buddhistischer  Seite  soll  bei  diesen 
Parallelen  auf  eine  Entlehnung  hingedeutet  werden.  Wir  bringen  keine 
Theorie  vor,  sondern  beschränken  uns  lediglich  auf  Tatsachen.  Sie  stammen 
aus  einer  Gedankenwelt,   die   einst  dem  ganzen  Orient  gemeinsam  war." 

Die  ganze  JVlasse  der  Parallelstellen  ist  in  sechs  Gruppen  eingeteilt: 

1.  Geburts-  und  Kindheitslegende. 

2.  Anfang  der  Lehrtätigkeit. 

3.  Lehrtätigkeit  und  Ethik. 

4.  Der  Herr  und  Meister. 

5.  Schluss  der  Lehrtätigkeit ;  Zukunft  der  Kirche;  Eschatologie. 

6.  Ausserkanonische  Parallelen. 

Diejenigen  Leser,  die  sich  für  die  legendarischen  Seiten  der  Evan- 
gelien interessieren,  werden  in  den  zwei  Anfangsabschnitten  zuverlässigere 
Mitteilungen  über  diese  Gegenstände  finden,  als  Seydels  obengenannte 
Werke.  Andererseits  dringen  die  zwei  folgenden  Abschnitte  noch  tiefer 
in  den  Geist  der  beiden  grossen  Gottmenschen  ein.  Manche  Christen 
werden  vielleicht  in  meiner  Anwendung  des  Ausdrucks  „Gottmensch"  auf 
Buddha  eine  Entwürdigung  ihres  Herrn  finden;  aber  diese  Bezeichnung 
entspricht  eben  dem  Glauben  der  Buddhisten.  Schon  die  frühesten  Bud- 
dhisten, welche  uns  die  Päli-Schriften  überliefert  haben,  glaubten  an 
Buddha  als  „wahrlich  Mensch  und  wahrlich  Gott"  (manussa-bhüto 
brahma-bhüto).  Den  Inhalt  dieses  Glaubens  hat  der  Verfasser  klar  im 
vierten  Abschnitte,  besonders  in  den  Parallelen  43-44  und  50-60  dargelegt.') 

Der  fünfte  Abschnitt  legt  vor  uns  die  Gedanken  über  die  drohenden 
Zustände  des  Weltlebens  und  über  den  schliesslichen  Sieg  der  Gerechtig- 
keit. Diese  Gedanken  werden  Abscheu  in  dem  Herzen  der  Kinder  der 
modernen  Kultur  erwecken.  Aber  sie  waren  der  feste  Glaube  der  beiden 
Meister  und  werden  immer  lebendig  im  Menschenherzen  fortleben,  sofern 
das  Weltleben  voll  von  Ungerechtigkeiten  und  Brutalitäten  bleibt. 

Diesen  Parallelen  hat  der  Verfasser  eine  historische  Einleitung  hin- 
zugefügt. Darin  wollte  er  haupsächlich  auf  die  Möglichkeit,  ja  einiger- 
massen  Wahrscheinlichkeit  der  Entlehnung  einiger  Gedanken  und  Stellen 
in  den  Geburts-  und  Kindheitslegenden  auf  christlicher  Seite  hinweisen. 

Die  ganze  Arbeit  hat  der  Verfasser  zwar  schon  längst  im  ganzen 
abgeschlossen,  aber  sie  ist  bis  auf  die  Erscheinung  der  eben  erschienenen 
Ausgabe  nicht  veröffentlicht  worden.  Einen  kleinen  Teil  davon  druckte 
der  Verfasser  zweimal,  —  die  erste  Ausgabe  1902  und  die  zweite  1904.  Jetzt 
ist  das  Ganze  vollständig  in  Tokio  erschienen.  Hier  muss  ich,  als  Heraus- 
geber dieser  dritten  Ausgabe,  mein  Bedauern  darüber  ausdrücken,  dass  der 
Druck  hier  in  Tokio    nicht   ohne  entstellende  Druckfehler  geschehen  ist. 

Ferner  möchte  ich  noch  einige  Worte  über  meine  Arbeit  an  den 
Paralielstellen  aus  den  chinesischen  Versionen  sagen.  Bisher  ist  es 
schon  teilweise  bekannt  gegeben  worden,  dass  die  chinesisch-buddhisische 
Tradition   einige   dem   Päli-Kanon   entsprechende  Texte   aufbewahrt  hat. 


')  Die  weitere  Entwickelung  dieses  Glaubens  hat  der  Herausgeber 
in  einer  besonderen  Arbeit  (Genshinbutsu  to  Hoshinbutsu),  erschienen 
im  Oktober  1904,  zu  verfolgen  gesucht.  Das  Buch  wird  hoffentlich  in 
naher  Zukunft  in  englischer  Sprache  erscheinen. 

Vgl.  die  Besprechung  der  japanischen  Ausgabe  in  Japan  Daily  Mail, 
U-  März  1905. 


64  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Nanjio')  hat  früher  die  Sütras  (Reden)  im  chinesischen  Dirghaägama 
mit  den  Suttas  im  Päli  Digha-nil<aya  identifiziert.  Kasawara's'^)  Ver- 
gleich der  chinesischen  Nirväna-Rede  mit  dem  Päli  Mahäparinibbäna, 
Beal's')  Inhalts-Angabe  verschiedener  Vinaya-Texte  (Bücher  der  Disziplin) 
u.  a.  können  als  bahnbrechende  Entdeckungen  auf  diesem  Gebiete  be- 
zeichnet werden.  In  jüngster  Zeit  hat  Takakusu  einige  andere  Über- 
einstimmungen zwischen  den  beiden  Traditionen ')  und  auch  die  Existenz 
einer  chinesischen  Übersetzung  aus  dem  Päli'')  bewiesen.  JV\eine  Arbeit 
auf  dem  Gebiete  hat  einige  neuere  Übereinstimmungen  zu  Tage  gebracht;") 
z.  B.  die  Existenz  beinahe  aller  chinesischer  Madhyama-Reden  im  Päli 
Majjhima  u.  a.,  ferner  die  von  über  800  chinesischen  Samyukla-Reden 
im  Päli  Samyutta.  Ausserdem  ist  jetzt  das  Vorhandensein  des  Päli  Iti- 
vuttaka,  Mahämangala,  Khandha-paritta,  Vasala,  Agganna  u.  s.  f.  in  chine- 
sischen Versionen  bewiesen.  Einen  Teil  dieser  Ergebnisse  habe  ich  in 
den  Parallelstellungen  der  chinesischen  Versionen  zu  den  in  dem  hier 
besprochenen  Buche  übersetzten  Päli-Stellen  benutzt.  Der  Leser  wird 
finden,  wie  wenige  dieser  Päli-Stellen  ohne  entsprechende  chinesische 
Versionen  sind.  Darum  möchte  ich  zum  Schlüsse  nochmals  betonen, 
was  ich  im  Vorwort  zu  dem  Buche  gesagt  habe: 

„Die  Agamas  und  die  Nikäyas,  von  denen  die  ersteren  in  chinesi- 
schen Übersetzungen  aufbewahrt,  aber  seit  tausend  Jahren  von  den 
Buddhisten  im  Osten  übersehen  worden  sind,  und  von  denen  die  letzteren 
treu  von  den  Buddhisten  des  Südens  in  ihrer  Ursprache,  dem  Päli,  über- 
liefert sind,  treffen  hier  (in  diesem  Buche)  zusammen  und  stehen,  neben- 
einander gedruckt  im  Chinesischen  und  im  Englischen.  Es  dünkt  mir  eine 
Tatsache  zu  sein,  dass  die  Päli  Nikäyas  und  die  chinesischen  Agamas 
von  einer  und  derselben  Quelle  herstammen.  Vergleichende  Studien 
dieser  zwei  Abzweige  der  Überlieferungen  werden  über  den  ursprüng- 
lichen Bau  und  Inhalt  der  buddhistischen  heiligen  Schriften,  und  infolge- 
dessen über  ihre  Geschichte  Licht  verbreiten.  Wenn  die  vorliegende 
Ausgabe  einen  Stein  zum  grossen  Gebäude  der  historischen  Studien  des 
Buddhismus  beitragen  sollte,  so  wäre  meine  Arbeit  an  der  Herausgabe 
dieses  Buches  nicht  ohne  ihren  Lohn."  Anesaki  Masaharu.  (D.  jap.  Post.) 
Der  Ursprung  des  Buddhismus  und  die  Geschichte  seiner  Ausbreitung 
von  Licentiat  Hackmann-London.  I.  Teil.  Religionswissenschaft- 
liche Volksbücher,  III.  Reihe,  Heft  4.  Halle  a.S.  Gebauer-Schwetschke 
Verlag.  74  S.  Preis  40  Pfg. 
Erwartungsvoll  haben  wir  die  Arbeit  unseres  guten  Bekannten  vom 
evangelisch-sozialen  Kongress  in  die  Hand  genommen  und-  haben  eine 
für  einen  christlichen  Geistlichen  einigerniassen  passable  Darstellung 
des  Buddhismus  gefunden,  die  sich  vorteilhaft  von  den  Pamphleten  der 
meisten  Amtsbrüder  des  Autors  abhebt.  Allerdings  können  wir  dies  zu- 
nächst nur  vom  ersten  Teil  sagen,  der  zweite  Teil  ist  wohl  noch  nicht 
erschienen.  Das  Schriftchen  enthält  nach  einigen  einleitenden  Bermer- 
kungen  eine  kurze  Darlegung  des  Lebens,  eine  Abhandlung  über  die 
Lehre  und  die  Geschichte  der  Ausbreitung  in  Vorderindien,  Ceylon, 
Hinterindien,  Tibet,  China,   Korea  und  Japan.  D. 

')  Nanjio,  A  Catalogue  of  the  Chinese  Translation   of  the  Buddhist 
Tripitaka.     1883,  Oxford. 

-)  Max  Müller,  Sacred  Books  of  the  East,  Vol.  XI.  p.  37. 

Oldenberg,  The  Vinäya  Pitakam,  Bd.  I.  p.  XLV  f. 

Takakusu,  A  Päli  Chrestomathy,  1900,  Tokio. 


J.  R.  A.  S.,  Juli  1896  pp.  416-439. 
Vgl.  .      ~.      ™.      . 


")  Vgl.   A.  J.  Edmunds,   The   Shortness   of   the   Primitive   Buddhist 
Canon.    San  Franzisko,  Januar  1905. 

Verantwortlicher  Redakteur:  G.  A.  Dietze,  Leipzig.  —  Verlag:  Buddhistischer  VerUg 
in  Leipzig.    —    Druck:  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  Dezember  1905. 


No.  9. 


Rundschau. 


Ceylon.  In  Ceylon  hat  sich  vor  kurzem  eine  »Buddhistische 
Traictat-Gesellschaf  t«  gebildet.  Dieselbe  gibt  billige  Flugblätter  uiid 
Broschüren  in  singhalesischer  Sprache  heraus,  um  den  breiten  Massen 
des  Volkes  die  buddhistischen  Lehren  in  leicht  verständlicher  Form  nahe 
zu  bringen.  Der  Verleger  hat  es  sich  namentlich  zur  Aufgabe  gemacht, 
in  regelmässiger  Folge  kleine  Broschüren  zu  vertreiben,  welche  die  von 
selten  der  christlichen  Missions-Gesellschaften  irreführenden  Angriffe  auf 
den  Buddhismus  gebührend  zurückweisen. 

Dieses  neue  Unternehmen  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  für  die  immer 
stärker  um  sich  greifende  buddhistische  Bewegung.  Die  christlichen 
Missions-Gesellschaften  klagen  denn  auch  nicht  wenig  über  den  ener- 
gischen Widerstand,  den  sie  jetzt  allenthalben  finden.  Von  ihrem  Stand- 
punkte aus  kann  man's  ihnen  allerdings  nicht  verdenken,  dass  sie  in 
Jeremiaden  ausbrechen;  wie  viel  angenehmer  wäre  es  doch,  wenn  die 
Singhalesen  widerstandslos  sich  dem  Christentum  unterwerfen  würden! 
Aber  damit  ist  es  jetzt  vorbei.  Der  letzte  Bericht  der  »Bibel-  und  Christ- 
lichen Literatur-Gesellschaft«  ist  denn  auch  des  Jammers  voll.  Man  höre: 
„Die  Schaffung  und  Verbreitung  christlicher  Literatur  war  niemals  so 
notwendig  wie  heute.  Die  Angriffe  auf  das  Christentum  von  selten  der 
buddhistischen  Presse  waren  noch  niemals  so  ernst  und  zuversichtlich. 
Sie  macht  sich  damit  breit,  Hundert-tausende  von  Flugschriften  und 
Büchern  zu  verbreiten,  die  den  Zweck  haben,  die  Ansprüche  des  Herrn 

Jesu  Christi  herabsusetzen  (?)  und  den  Glauben  vieler  zu  zerstören " 

In  dieser  Tonart  geht  es  dann  weiter.  »The  Sandaresa«  konstatiert,  dass 
dieses  wertvolle  Dokument  für  die  buddhistische  Propaganda  sehr  er- 
mutigend sei  und  protestiert  energisch  gegen  die  schamlosen  Verdächtigun- 
gen, welche  dieser  Bericht  gegen  die  buddhistische  Literatur  schleudert. 
Die  Temperenz-Bewegung  auf  Ceylon,  ein  Protest  gegen  die  mit  der 
europäischen  Hochkultur  Hand  in  Hand  gehende  Verbreitung  des  Alko- 
holismus, hat  grosse  Fortschritte  gemacht.  Die  Zahl  der  gegründeten 
Zweig-Gesellschaften  beträgt  etwa  sechshundert.  Herr  Dharmäpala, 
der  verdienstvolle  Begründer  der  Mahäbodhi-Society,  weilt  gegen- 
wärtig in  Ceylon,  um  für  die  Temperenz-Bewegung  zu  wirken  und  junge 
Singhalesen  zu  veranlassen,  nach  Japan  zu  gehen,  dort  zu  studieren  und 
die  kulturellen  Verhältnisse  des  kaiserlichen  Inselreiches  kennen  zu  lernen. 

8 


66  Die  buddhistische  Welt. 


I.  Jahrg. 


Unser  trefflicher  Mitarbeiter,  der  Hochw.  Bhiicl<hu  Nyänatilolca 
der  uns  vor  l<urzem  die  deutsche  Übersetzung  des  Elta-Nipata  (aus 
dem  Anguttara  Nikäya)  zur  Publil<ation  eingesandt  hat,  ist  von  Colombo 
nach  Cullalankä  übergesiedelt.  Er  schrieb  uns:  „Das  nächste  Mal  hoffe 
ich  Ihnen  die  Übersetzung  eines  Aufsatzes  meines  lieben  Freundes,  des 
Bhikkhu  Jinavaravamsa,  d.  i.  des  vormaligen  siamesischen  Prinzen 
Prisdang  übersenden  zu  können  samt  seiner  Photographic  und  Lebens- 
beschreibung, welch'  letztere  wohl  geeignet  sein  dürfte,  grosse  Sensation 
hervorzurufen."  —  Wir  wollen  an  dieser  Stelle  vorläufig  bemerken  dass 
der  genannte  Prinz,  der  eine  englische  Erziehung  genossen  und  als  be- 
glaubigter Bevollmächtigter  Slams  an  europäischen  Höfen  geweilt  hat 
1896  in  die  Bruderschaft  eintrat  und  seitdem  rastlos  für  die  Ausbreitung 
des  Buddhismus  tätig  ist.  ^ 

Zwei  deutsche  Anhänger  des  Buddhismus,  darunter  ein  Mitglied  des 
»Buddhistischen  Missions-Vereins«,  haben  sich  vor  kurzem  nach  Ceylon 
begeben  und  beabsichtigen  demnächst  einige  Broschüren  zu  veröffent- 
lichen, in  denen  das  Verhältnis  zwischen  Buddhismus  und  Christentum 
näher  behandelt  wird. 

Burma.  Endlich,  nachdem  ein  langer  Zeitraum  verflossen  ist  nun- 
mehr das  I.  Heft  (Oktober  1905)  des  zweiten  Jahrganges  des  »Buddhism. 
erschienen.  Das  Journal  nennt  sich  jetzt  nicht  mehr  Quartalsschrift- 
die  einzelnen  Nummern  folgen  einander  in  einem  Zeitraum  von  vier  bis 
sechs  Monaten,  und  vier  Nummern  bilden  jedesmal  einen  »Jahrgang« 
oder  »Band«.  Die  vorliegende  stattliche  Nummer  von  167  Seiten  ist 
wieder  reich  illustriert  und  enthält  ausgezeichnete  Aufsätze  deren  Titel 
wir  unter  der  Rubrik  »Büchertisch,  anführen.  Als  Vollbilder  bietet  das 
Heft  Abbildungen  de^  Shwe-Dagon-Pagode  in  Rangün  (Buntdruck), 
ferner  des  herrlichen  Änanda-Tempels  und  des  »Unvergleichlichen 
Klosters«.  Die  Oktober-Nummer  bringt  auch  eingehende  Besprechungen 
der  buddhistischen  Mission  in  Deutschland. 

Der  Sekretär  der  »International  Buddhist  Society«  hat  in 
diesem  Jahre  zwei  Reisen  im  Interesse  der  Gesellschaft  unternommen 
eine  m  den  Pegu-Distrikt,  die  andere  nach  Tavoy  und  Mergui-  Die  Be- 
wohnerschaft hat  ihm  überall  einen  enthusiastischen  Empfang  bereitet 
Der  Zweck  der  Reise  war  die  Unterhandlung  über  wichtige  —  für  den 
Buddhismus  in  Burma  so  brennende  Fragen,  den  Unterricht  und  die  Er- 
ziehung betreffend.  Ferner  sind  mit  gutem  Erfolge  sehr  bedeutsame 
Schritte  von  Seiten  des  Thäthanäbaing  zur  Reorganisierung  des  burmani- 
schen Sangha  unternommen  worden. 

Japan.  Unter  den  zwölf  buddhistischen  »Schulen«  in  Japan  sind 
die  unter  dem  Namen  Shin,  Jödo  und  Zen  bekannten  die  tätigsten 
Uie  westliche  und  östliche  Hongwanji  sind  die  wichtigsten  Zweige 
der  Shin-shu  (Shu=r Schule),  und  diese  sind  jetzt  die  am  weitesten  ver- 
breiteten und  einflussreichsten  Glieder  des  japanischen  Buddhismus 
Die  genannten  beiden  Zweige  der  Hongwanji  haben  ihre  eigenen 
Schulen,  in  welchen  die  Söhne  und  Töchter  ihrer  Anhänger  erzogen 
werden,  während  für  die  höhere  wissenschaftliche  Ausbildung  in  beiden 
Zweigen  berühmte  Colleges  und  ähnliche  Anstalten  in  Tokyo  und  Kyoto 
den  zwei  grossen  Hauptquartieren  der  Hongwanji,  bestehen  In  diesen 
Colleges  erhalten  die  Studierenden  die  Elemente  der  abendländischen 
Wissenschaft  sowie  einen  tiefgehenden  Unterricht  nicht  nur  in  der  eigenen 
sondern  in  der  allgemein-buddhistischen  Philosophie.  Die  Zöglinge  dieser 
Anstalten  haben  wichtige  Posten  im  In-  und  Auslande  inne  und  die  aus- 
gezeichneten Früchte  dieses  reformierten  Erziehungssystems  machen  sich 
bereits  in   verschiedenster  Weise   bemerkbar.    Die  Hongwanji   ist  es 


No.  9.  Die  buddhistische  Welt.  67 

auch,   welche   die   buddhistische  Mission  in  Noid-Amerika  gegründet  hat 
und  unterhält  und  jetzt  ebenfalls  in  Korea  und  China  eifrig  propagandiert. 

An  zweiter  Stelle,  was  das  Werk  der  Erziehung  und  des  Unterrichts 
betrifft,  ist  die  J6d6-Schule  (»Schule  des  reinen  Landes«)  zu 
nennen.  Obwohl  dieser  Schule  in  früheren  Jahren  aus  finanziellen  Gründen 
in  ihrem  Wirken  gewisse  Grenzen  gezogen  waren,  so  sind  diese 
Schwierigkeiten  nunmehr  beseitigt.  Das  Jödö-College  in  Tokyo  spielt 
heute  unter  den  japanischen  Lehranstalten  eine  Hauptrolle  und  ist  ein  . 
typisches  Beispiel  für  den  Aufschwung  des  japanischen  Unterrichtswesens. 
Zwei  Schriften  des  Rev.  Kuroda,  der  als  Dozent  an  dieser  Anstalt  wirkt, 
wurden  vor  Jahresfrist  in  deutscher  Ausgabe  veröffentlicht. 

Die  Zen -Schule  gliedert  sich  dreifach,  und  ihr  unter  dem  Namen 
S6d6  bekannter  grösster  Zweig  hat  in  den  letzten  Jahren  einen  gewal- 
tigen Aufschwung  genommen.  Die  Södö-Schule  besitzt  zahlreiche,  über 
das  ganze  Reich  zerstreute  Lehranstalten,  und  das  Sodö-College  in 
Tokyo  ist  eine  der  ersten  buddhistischen  Universitäten  Japans;  viele  von 
ihren  ehemaligen  Alumnen  bekleiden  jetzt  hohe  Posten. 

Seit  den  letzten  Jahren  hat  die  kaiserliche  Regierung  ihre  indifferente 
Haltung  gegenüber  diesen  wichtigen  Institutionen  aufgegeben  und  erkennt 
nun  ihren  hohen  Wert  und  fordet  die  genannten  Bestrebungen  nach 
Kräften. 

Humanitäre  Einrichtungen  sind  in  Japan  nicht  so  allgemein  wie  in 
den  Ländern  des  Westens;  denn  die  Bevölkerung  ist  im  allgemeinen  be- 
deutend hilfsbereiter  als  im  Abendlande,  so  dass  die  Notwendigkeit  öffent- 
licher Wohlfahrtseinrichtungen  bei  weitem  nicht  so  dringend  ist.  Waisen- 
häuser und  -Schulen  sind  indessen  in  Japan  nichts  Seltenes,  solche 
Anstalten  trifft  man  in  grösseren  und  kleineren  Städten  an.  Die  reichste 
und  verbreitetste  humanitäre  Korporation  in  Japan  ist  die  Charitas-Ver- 
einigung  der  Nishi  Hongwanji,  welche  über  das  ganze  Reich  verbreitet 
ist.  Ausser  anderen  nützlichen  und  milden  Einrichtungen  unterhält  sie 
ein  Säuglingsheim  und  eine  Waisen-Schule  in  Kyoto. 

Seit  Jahren  unterhielt  die  Hongwanji  auf  eigene  Kosten  Prediger, 
welche  die  Aufgabe  haben,  die  Gefangenen  in  verschiedenen  Gefängnis- 
sen zu  besuchen  und  ihnen  zu  predigen.  Jetzt  aber  unterhält  die 
kaiserliche  Regierung  diese  Prediger  auf  Staatskosten,  da  die  Wirkung 
solcher  Predigten  sich  als  sehr  heilsam  erwiesen  hat.  Viele  Gefangene 
sind  durch  diese  buddhistische  Mission  völlig  umgewandelt  und  noch 
nützliche  Glieder  der  menschlichen  Gesellschaft  geworden.  — 

Nord- Amerika.  Rev.  K.  Uchida  hat  am  14.  August  in  San  Fran- 
cisco sein  neues  Amt  als  Superintendent  der  buddhistischen  Mission 
angetreten  und  ist  jetzt  der  Herausgeber  des  »The  Light  of  Dharma«. 
Er  war  bisher  als  Dozent  an  der  buddhistischen  Universität  zu  Tokyo 
tätig  und  berechtigt  für  sein  jetziges  Arbeitsfeld  zu  den  besten  Hoffnungen. 
Rev.  Uchida  hat  verschiedene  Werke  veröffentlicht,  von  denen  sein  »The 
Light  of  Truth«  ein  vortreffliches  Handbuch  zur  Einführung  in  das 
Studium  des  Buddhismus  darstellt. 

Rev.  Kentok  Hori  wirkt  jetzt  in  Boston;  er  hat  für  unsere  Zeit- 
schrift die  Übersetzung  von  Mahäyäna-Texten  in  Aussicht  gestellt. 

Der  Right  Rev.  Soyen  Shaku,  einer  der  hervorragendsten  Geist- 
lichen der  Zen-Schule,  hat  in  den  Stationen  der  amerikanischen  Mission 
glänzende  Vorträge  gehalten,  bei  denen  Herr  Suzuki,  der  Assistent  des 
Herrn  Dr.  Carus,  als  Dolmetscher  fungierte.  Die  diesjährige  Oktober- 
Nummer  des  »The  Light  of  Dharma«  bringt  das  Bild  dieses  einsichtigen, 
energischen  Geistlichen. 

Die  von  Rev.  Fujii  geleitete  Oakland-Mission  macht  sehr  er- 
freuliche Fortschritte;    ihr    Einfluss    erstreckt    sich    bereits    bis  zu  dem 

8* 


tß  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

benachbarten  Alvarado.  Am  10.  September  fand  in  Aivarado  eine  grosse 
Versammlung  statt,  in  der  beschlossen  wurde,  dort  eine  Mission  zu  grün- 
den und  zum  Bau  eines  Tempels  zu  schreiten;  eine  Kommission  wurde 
gewählt,  um  die  nötigen  Schritte  zu  tun. 

Die  buddhistische  Mission  in  Deutschland. 

Obwohl  die  buddhistische  Mission  in  Deutschland  seit  ihrem  Be- 
stehen schon  manches  geleistet  hat,  so  ist  das  bisher  Geleistete  dennoch 
im  Vergleich  zu  dem  gewaltigen  Arbeitsfeld  gleich  Null.  Die  Propaganda 
muss  in  einem  ganz  anderen  Mafsstabe  betrieben  werden.  Die  weitesten 
Kreise  des  deutschen  Volkes  kennen  vom  Buddhismus  entweder  gar  nichts, 
oder  nur  sein  durch  die  christliche  Brille  gesehenes  Zerrbild,.  Hier  will 
und  wird  unsere'Missioh  Wandel  schaffen ;  es  muss  nach  Kräften  danach 
gestrebt  werden,  dass  die  Saalkörner  der  buddhistischen  Ideen  in  die 
weitesten  Kreise  gestreut  werden,  damit  jeder  die  Gelegenheit  hat,  die 
Lehre  kennen  zu  lernen.  Das  lässt  sich  aber  nur  durch  eine  planmässig 
durchgeführte,  energische  und  ausdauernde  Propaganda  erreichen; 
die  Geduld  ist  nicht  ohne  Grund  eine  der  buddhistischen  Haupttugenden. 
Es  wird  daher  folgendes  geschehen:  I.  Der  Missionsverein  gibt  in  mög- 
lichst schneller  Reihenfolge  eine  Serie  billiger  Flugschriften  heraus, 
die  in  leicht  verständlicher  Form  die  Grundgedanken  der  Lehre  darstellen 
und  die  unberechtigten  Angriffe  auf  den  Buddhismus  sachlich  zurück- 
weisen. Bis  jetzt  sind  zwei  Flugschriften  erschienen:  No.  1.  Der 
erhabene  achtfache  Pfad,  No.  2.  Die  Kraft  der  Meditation. 
Der  Preis  für  alle  diese  Flugblätter  stellt  sich  folgendermassen :  1  Stück 
10  Pfg.,  10  Stück  60  Pfg.,  100  Stück  4,50  Mk.  Der  billige  Preis  dieser 
Schriften  ermöglicht  eine  möglichst  weite  Verbreitung  derselben.  Wir 
bitten  alle  Mitglieder  des  Vereinsund  alle  Freunde  der  Bewegung  dringend, 
für  die  Verbreitung  dieser  Flugblätter  im  Bekanntenkreis  usw.  energisch 
wirken  zu  wollen.  II.  Die  buddhistische  Mission  in  Leipzig  stellt  allen 
Freunden  Prospekte  des  >Buddhist«  sowie  Satzungen  des 
Missions-Vereins  in  beliebiger  Anzahl  zur  Verbreitung  gratis  zur 
Verfügung.  Alle  Bestellungen  erledigt  prompt  die  Geschäftsstelle  des 
Vereins  (Herr  G.  A.  Dietze,  Leipzig-R.,  Kohlgartenstrasse  39).  Möge 
jeder  Freund  der  Bewegung  das  Seine  dazu  tun,  die  buddhistischen  Ideen 
verbreiten  zu  helfen:  Viribus  unitisl  —  III.  Der  Herausgeber  dieser 
Zeitschrift  wird  im  nächsten  Frühjahr  ein  Buch  veröffentlichen  unter  dem 
Titel  »Der  Buddhismus.  Vier  Vorträge  zur  Einführung«.  Inhalt: 
1.  Ecce  mundus.  2.  Das  grosse  Problem  und  seine  Lösung.  3.  Die  Richt- 
wege. 4.  Im  Keuzfeuer  der  Kritik.  Der  Autor  gedenkt  in  dieser  Arbeit, 
welche  speziell  für  die  gebildeten  Kreise  bestimmt  ist,  in  durchsichtiger 
Form  das  Wesen  des  Buddhismus  zu  zeichnen,  und  zwar  in  einer  Auf- 
fassung, die,  in  manchen  Punkten  von  der  landläufigen  abweichend,  in 
allen  Punkten  der  Kritik  standhalten  kann.  Das  Erscheinen  dieser  Arbeit 
wird  den  Lesern  bekannt  gegeben  werden.  —  Weitere  Ideen  zur  Ver- 
stärkung der  Propaganda  liegen  vor;  doch  ist  deren  Verwirklichung  zur 
Zeit  noch  nich  möglich. 

Wir  machen  unsere  Leser  bei  dieser  Gelegenheit  nochmals  auf  den 
Vortrags-Fonds  aufmerksam,  dessen  Speisung  allen  Freunden  hiermit 
höflichst  nahe  gelegt  wird.  Die  genannte  Geschäftsstelle  des  Vereins 
nimmt  alle  Spenden  dankbar  entgegen  und  sendet  umgehend  Quittung 
über  die  eingelaufenen  Beträge.  — 


No.  9.  Die  buddhistische  Welt.  69 


Mitteilungen  und  Notizen. 

Fanatismus  christlicher  JWissionare  in  China.  Die  »Londoner 
Zeitung  Hermann«  berichtet:  „Über  die  Ermordung  der  amerika- 
nischen Missionare  in  China  berichtet  der  Korrespondent  des 
„Daily  Express"  in  Hongkong,  dass  die  Handlung  der  Eingeborenen 
lediglich  auf  einen  Fehler  zurückzuführen  war,  den  sich  eine  der  Mis- 
sionarinnen der  Station,  Miss  Machle,  zu  Schulden  kommen  liess.  Diese 
Dame  versuchte  nämlich  während  einer  Prozession  der  Chinesen  in 
Lientschau  in  Kwantung  einige  der  Teilnehmer  davon  abzuhalten,  ihre 
„Götzenbilder"  anzubeten,  die  sie  in  der  Prozession  umhertrugen.  Und  als 
die  Heiden  sich  weigerten,  das  zu  tun,  nahm  sie  ihnen  einige  der  „Götzen- 
bilder" weg  und  weigerte  sich,  ihnen  dieseben  zurückzugeben.  Darüber 
gerieten  die  Chinesen  natürlich  in  sinnloser  Wut;  sie  umzingelten  die 
Missionsstation  und  setzten  dieselbe  in  Brand.  Die  Bewohner  derselben 
wurden  erschlagen  und  ihre  Leichen  nachher  in  den  Fluss  geworfen. 
Fünf  Personen  verloren  auf  diese  Weise  ihr  Leben,  nur  Dr.  Machle  und 
Miss  Paterson  blieben  am  Leben.  Sechs  französische  Priester,  die  auf 
einer  benachbarten  Station  nebenbei  wohnten,  liess  man  gänzlich  unbe- 
lästigt."  — 

Nun  kommt  also  die  Welt  endlich  dahinter,  wie  sogenannte 
Christenverfolgungen  entstehen.  Verführe  ein  chinesischer  Missionar  in 
Spanien  oder  Deutschland  bei  einer  christlichen  Prozession  mit  gleicher 
Unverfrorenheit,  so  würde  er  in  Spanien  zweifellos  totgeschlagen  und  in 
Deutschland  geprügelt  und  eingekerkert.  O  christliche  Duldung,  wie  mild 
lässt  du  doch  dein  Licht  im  fernen  Osten  strahlen!  Wahrlich  du  bist 
seit  den  Zeiten  des  Bonifatius  immer  noch  die  alte  geblieben! 

Eine  Zuschrift.  Wir  geben  gerne  folgender  Berichtigung  Raum, 
die  uns  aus  unserem  Leserkreise  zugeht: 

„Sehr  geehrte  Redaktion!  Unter  Mitteilungen  und  Notizen  des  No- 
vemberheftes findet  sich  eine  kurze  Angabe,  die  mich  veranlasst  Ihnen 
zu  schreiben.  Die  Überschrift  lautet:  Die  Marmorbibel  der  Burmanen. 
Da  ich  selbst  in  Burma  war  und  Mandalay  recht  genau  zu  kennen  glaube, 
war  ich  über  Ihre  Notiz  einigermassen  überrascht.  Ich  vermute,  dass  Sie 
einem  ungenauen  Berichterstatter  in  die  Hände  geraten  sind.  Jener 
Mindon-min,  der  die  heiligen  Schriften  redigieren  und  in  Marmor  aus- 
hauen liess,  baute  meines  Wissen  nur  450  sog.  Pagoden,  um  sie  darin 
zu  bewahren,  nicht  aber  700.  Diese  Pagoden  sind  ferner  nicht  Tempel, 
sondern  kleine  Dagobas,  d.  h.  Reliquienschreine,  wie  sie  sich  in  Burma 
zu  hunderttausenden  finden  und  wie  man  sie  auch  sonst  in  buddhistischen 
Ländern  baut. 

Auch  in  der  Mitte  dieses  Pagodenkomplexes  steht  kein  Tempel, 
sondern  nur  eine  grosse  Dagoba,  ein  Reliquienschrein. 

Der  burmanische  Name  für  Pagode  ist  Zaydi  (Opferplatz),  man 
sagt  auch  wohl  Paya  (Heiligkeit),  eine  allgemeine  Bezeichnung,  mit  der 
auch  die  Mönche  angeredet  werde. 

Würde  es  sich  nicht  überhaupt  empfehlen,  beim  Buddhismus  nicht 
von  Tempeln  zu  sprechen?  Das  Wort  Tempel  hat  einen  etwas  barbari- 
schen oder  sagen  wir  heidnischen  Beigeschmack,  es  erinnert  an  heidnische 
Idole  und  dergl.  Zudem  kennt  der  Buddhismus  ja  auch  eigentliche 
Tempel  garnicht.  Er  hat  seine  Klöster,  seine  Tschetiyas  (Versammlungs- 
hallen), (was  bei  ihnen  Tempel  genannt  wird),  seine  Statuarien  (in  Burma 
Tayaung's)  und  seine  Stüpas,  englisch  Topes  oder  Dhätugarbhas,  (singh. 
Dagabas),  das  sind  die  Reliquienschreine,  aber  eigentliche  Tempel,  wo 
man  einem  Gotte  opfert,  besitzt  er  nicht.    Wenn  die  Burraanen   Blumen 


TD  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

und  Kerzen  opfern,  so  ist  das  nicht  ein  do  ut  des-Act  für  den  Gott 
Buddha,  sondern  lediglich  eine  Handlung  der  Dankbarkeit  für  den,  der 
den  achtfachen  Pfad  fand,')  den  erleuchteten  Menschen,  Qautama  Buddha. 
Was  mit  dem  „reichverzierten  Schutzdach  in  Pagodenform"  gemeint  ist, 
verstehe  ich  auch  nicht.    Die  Marmortafel   ist  in   die  kleine  Pagode  ein- 

felassen,  die  glockenförmig  ist  und  von  einem  „Hti"  gekrönt  wird,  dem 
onnenschirm  mit  Glöckchen,    der   die    „Erhabenheit"    symbolisiert,    ein 
Schutzdach  aber  existiert  nicht.  -  j^.^  ^^.^^^^^  Hochachtung 

Graf  K.  H. 
0  diese  buddhistischen  Barbaren!  Das  »Hamb.  Fremdenbl.«  berich- 
tet von  einem  Automobilisten,  der  in  Indien  von  „buddhistischen  Fanatikern" 
und  „wütenden  Dienern  Buddhas"  beinahe  lebendig  gebraten  worden  wäre. 
Diese  Notiz  machte  die  Runde  durch  die  deutsche  Presse.  Das  verehrliche 
»Hamb.  Fremdenblatt«  mag  sich  nun  endlich  einmal  derbe  hinter  die  Ohren 
schreiben,  dass  die  Hauptmasse  des  indischen  Volkes  sich  aus  Brah- 
minen  und  nicht  aus  Buddhisten  rekrutiert,  und  dass  Buddhisten  sicher- 
lich nicht  im  Schlafe  daran  denken  einen  Europäer  zu  rösten.  Vor  einigen 
Jahren  waren  drei  Deutsche  rüpelhaft  genug,  auf  dem  Altare  eines  bud- 
dhistischen Tempels  in  der  Nähe  von  Tokyo  ihren  Skat  zu  spielen,  nach- 
dem sie  die  Buddha-Bilder  heruntergeworfen  hatten.  Der  Geistliche  sah 
dieser  europäischen  Flegelei  schweigend  zu,  und  die  Skat-Helden  amü- 
sierten sich  weidlich  über  diese  Gutmütigkeit.  Und  trotzdem  sollen  die 
„wütenden"  Jünger  Buddhas  wild  genug  sein,  um  einen  europäischen 
Automobilisten  wegen  seines  Sause-Wahnsinns  lebendig  zu  rösten! 

Zu  Strassburg  auf  der  Schanz.  Im  »Katholischen  Kaufmännischen 
Verein  Argentina«  sprach  im  November  der  als  Orientalist  bekannte  (?) 
Divisions-Pfarrer  Holtzmann  über  das  Thema  »Christus  und  Buddha«. 
Nach  dem  Bericht  der  »Strassburger  Post«  hat  der  Redner  lediglich  »olle 
Kamellen«  aufgewärmt.  „Buddha,  der  lebensmüde  Pessimist",  „die  bud- 
dhistische, pessimistische  Weltanschauung  verneint  jede  Möglichkeit  einer 
t lücklichen  Lebensgestaltung"  u.  s.  f.  Donnernder  Beifall  erscholl  am 
nde  des  Vortrages,  an  den  sich  ein  „Tänzchen"  anschloss.  Ob  der 
Beifall  dem  Vortrag  oder  dem  beginnenden  Tanz  galt ,  lassen  wir 
füglich  auf  sich  beruhen;  jedenfalls:  Christus  und  Buddha  nebst  anschlies- 
sendem Tänzchen  —  wirklich  nicht  übel.  Erinnert  uns  lebhaft  an  jene 
Bekanntmachung  eines  theologischen  Studenten-Vereins:  „Dienstag  abend: 
Paulus  im  Leiden,  danach  Kneipe."  —  Wohl  bekomm'sl 

«»996««* 

Büchertisch. 

(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher     übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpöichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  .in  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,  per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Buddha  und  Christus.    Von  G.  Tschirn,  Breslau.    II.  Auflage.    Verlag 
der  Handesdruckerei  in  Bamberg.    Preis  50  Pfg. 
Buddha  und  Christus!    Ein   vielverbreitetes  Thema,   besonders   hat 
man  sich  christlicherseits  öfters  damit  abgegeben,  diese  beiden  Personen 


')  Anm.  d.  H.    Vgl.  hierüber  die  April-Mai-Nummer  des  »Buddhist« 
9.  f.  -     -    - 


S.  9.  f ,  S.  43  ff. 


No.  9.  Die  buddhistische  Welt.  H 

miteinander  zu  vergleichen,  um  dann  Christus  in  recht  hellem  Lichte 
strahlen  zu  lassen.  Im  vorliegenden  Werkchen  ist  es  ein  freireligiöser 
Prediger,  der  unparteiisch,  da  er  weder  Christ  noch  Buddhist  ist,  Buddha 
und  Christus  miteinander  vergleichen  will.  Es  muss  nun  auch  zugegeben 
werden,  dass  die  Darstellung  vollständig  objektiv  ist,  ob  man  dies  aber 
auch  auf  christlicher  Seite  tun  wird,  erscheint  mir  fraglich,  denn  da  heisst 
es  immer  noch:  „wer  nicht  für  uns  ist,  der  ist  wider  uns."  Unser  Ver- 
fasser schildert  zunächst  die  bekannte  frappante  Ähnlichkeit  der  christ- 
lichen und  buddhistischen  Legende,  ohne  jedoch  wie  Professor  Seydel 
und  andere  zur  Annahme  einer  direkten  Beeinflussung  zu  kommen.  Dann 
weist  er  auch  auf  die  Ähnlichkeit  so  mancher  Sittenlehren  der  beiden 
Religionsstifter  hin,  doch  nicht  ohne  die  vollständig  verschiedenen  Grund- 
lagen der  beiderseitigen  Religionen  eingehend  darzulegen.  Die  christlichen 
Autoren,  die  über  dasselbe  Thema  geschrieben  haben,  machen  dem  Bud- 
dhismus eine  ganze  Reihe  schwerwiegender  Vorwürfe,  auf  die  des  näheren 
einzugehen  hier  nicht  der  Platz  ist.  Herr  Prediger  Tschirn  weist  nun  an 
der  Hand  zahlreicher  Belegstellen  diese  Vorwürfe  als  unberechtigt  zurück 
und  zeigt  an  einer  ganzen  Reihe  von  Bibelstellen,  wie  dem  Christen- 
tum dieselben  Vorwürfe  gemacht  werden  können.  Herr  Tschirn  kommt 
zu  dem  Schluss,  dass  der  Buddhismus  sehr  wohl  einen  Vergleich  mit  dem 
Christentum  aushalten  könne.  Es  wäre  so  manches  noch  über  das  sehr 
treffliche  Büchlein  zu  sagen,  doch  besser  ist  es  schon,  man  liest  es 
selbst,  und  das  möchte  ich  hiermit  jedermann  empfehlen.  Eins  wäre 
noch  zu  bemerken.  Herr  Tschirn  nimmt  an,  dass  der  Buddhismus  dem 
Entwicklungsgedanken  ablehnend  gegenübersteht,  dies  ist  von  T.  ein  Irr- 
tum. (?  D.  H.)  Wenn  Oberpräsidialrat  Schultze  dem  Entwicklungsgedanken 
skeptisch  gegenüber  stand,  so  tat  er  dies  nur,  um  vor  einer  Überschätzung 
desselben  zu  warnen.  Dass  viele  Leute  den  Entwicklungsgedanken  über- 
schätzen, alles  von  der  Entwickelung  erwarten,  an  diesem  Gedanken 
„haften",  ist  wohl  unbestritten,  und  das  ist  ein  Fehler,  vor  dem  der 
Buddhist  warnt.  D. 

Giovanni  Pico  della  IVlirandola.  Ausgewählte  Schriften.  Übersetzt  und 
eingeleitet  von  Arthur  Liebert.  Verlegt  bei  Eugen  Diederichs 
in  Jena.  1905.  Preis  brosch.  8  Mk.,  geb.  10  Mk. 
Wir  hatten  schon  früher  einmal  Gelegenheit,  auf  das  verdienstvolle 
Unternehmen  des  Diederichs'schen  Verlages  hinzuweisen,  die  alten  Philo- 
sophen und  Mystiker  durch  zweckmässige  Neuausgaben  weiteren  Kreisen 
zugänglich  zu  machen.  Diesmal  sind  es  die  Schriften  eines  der  einfluss- 
reichen Humanisten  und  Mystiker  der  Frührenaissance,  die  uns  zum  ersten- 
male  überhaupt  in  deutscher  Übersetzung,  vornehm  ausgestattet,  der  Ver- 
lag vorlegt.  Der  Graf  Pico  von  Mirandola  und  Concordia  gehört  zu  den 
Philosophen  des  Quatrocento,  die  wohl  stark  beeinflusst  durch  die 
Studien  griechischer  Klassiker,  insbesondere  Piatons  und  der  Neuplatoniker, 
doch  die  Fesseln  der  Scholastik  nicht  ganz  abstreifen  konnten.  Seine 
Philosophie  ist  kein  selbständiges  System,  vielmehr  ist  dieselbe  eine  Zu- 
sammenfassung fast  aller  bis  dahin  in  der  Geschichte  des  Denkens  auf- 
getretener Systeme.  Immerhin  ist  dieselbe  nicht  ohne  historische  Bedeu- 
tung und  zeigt  von  einem  erstaunlichen  Fleisse  und  grossen  Kenntnissen. 
—  Das  vorliegende  Werk  enthält  einen  Abriss  des  Lebens  und  der 
Philosophie  Picos,  eine  Reihe  Briefe  von  demselben,  sowie  eine 
Auswahl  aus  seinen  Schriften.  Aus  dem  Leben  Picos  ist  bemerkenswert, 
dass  er,  der  doch  trotz  seiner  Studien  antiker  Schriftsteller  ein  treuer  Sohn 
der  römischen  Kirche  war,  mit  derselben  in  Konflikt  geriet  und  vor  ein  In- 
quisitionstribunal gestellt  wurde.  Doch  lief  alles  gut  ab,  da  Pico  die 
Zurückziehung  einer  seiner  Schriften,  der  sog.  Apologie,  welche  auch  in 
der  vorliegenden  Ausgabe  bruchstückweise  enthalten  ist,  eidlich  versprach. 


72  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Bei  seinem  Tode  hielt  der  bekannte  Dominikaner  Girolamo  Savonarola 
eine  Leichenrede,  die  darin  gipfelte,  dass  des  Toten  Seele  noch  nicht 
eingegangen  sei  zur  ewigen  Seligkeit  im  Schosse  des  Vaters,  dieselbe 
vielmehr  ihre  Sühne  im  Fegefeuer  empfinge.  Die  Sühne  war  notwendig, 
weil  der  Graf  der  Stimme  des  Herrn,  die  ihn  durch  Savonarola  auffor- 
derte, in  das  Dominikanerkloster  St.  Marco  zu  Florenz  einzutreten,  nicht 
Folge  geleistet  hatte!  —  Erbaulich  sind  die  Briefe  zu  lesen,  die  uns 
Zeugnis  ablegen  vom  Geiste  jener  Zeit.  In  den  Werken  selbst  finden 
wir  manche  Gedanken,  die  auch  heute  nicht  ohne  Bedeutung  sind, 
während  andere  wieder  seltsam  anmuten.  Für  oberflächliche  Lektüre 
sind  die  Schriften  jedoch  nicht  geeignet,  da  könnten  sie  leicht  Verwirrung 
anrichten.    Denkenden  Lesern  aber  werden  sie  manche  Anregung  bieten. 

D. 
Die  Religionen  der  Erde  von  Professor  Nathan  Söderblom-Upsala. 

Religionsgeschichtliche  Volksbücher.    111.   Reihe,  Heft  3.     Halle  a. 

Saale,  Gebauer-Schwetschke  Verlag.  Preis  40  Pfg. 
Der  Autor,  ein  liberaler  protestantischer  Theolog,  bringt  in  diesem 
Schriftchen  eine  schätzenswerte  Darstellung  der  verschiedenen  Religions- 
systeme. Für  uns  ist  natürlich  das  besonders  von  Interesse  was  der 
Verfasser  über  den  Buddhismus  zu  sagen  hat;  da  finden  wir,  dass  er 
wirklich  bestrebt  ist,  dem  Buddhismus  Gerechtigkeit  wiederfahren  zu 
lassen.  Wenn  bei  der  Gegenüberstellung  von  Christentum  und  Buddhis- 
mus das  Christentum  als  besser  und  für  die  Menschheit  wichtiger  dar- 
gestellt wird,  so  ist  dies  ja  bei  einem  christlichen  Theologen  nicht  anders 
zu  erwarten  und  kann  durchaus  nicht  Wunder  nehmen.  Die  verschiedenen 
Unklarheiten  über  den  Buddhismus,  die  in  dem  Heftchen  nicht  fehlen, 
hier  richtig  zu  stellen,  würde  zu  weit  führen,  sie  ergeben  sich  auch  aus 
dem  christlichen  Standpunkte  des  Verfassers.  Nun  noch  ein  Wort  zur 
Religionsstatistik.  Wenn  der  Herr  Prof.  Söderblom  alle  die  „mit  oder 
wider  Willen  etwas  von  dem  christlichen  Denken  angenommen  haben" 
als  Christen  zählt,  dann  wird  wohl  der  Irrtum  derer,  die  den  grössten 
Teil  der  Einwohner  Chinas  und  Japans  als  Buddhisten  zählen,  auch  nicht 
80  sehr  gross  sein.  Im  allgemeinen  ist  die  Broschüre  ganz  empfehlens- 
wert. D. 

The  Light  of  Dharma.  A  Religious  Magazine  devoted  to  the  Teachings 
of  Buddha.  Edited  by  Rev.  K.  Uchida.  San  Francisco,  Cal. 
U.-S.  A.,  October  1905.  Pp.  71—102.  Inhalt:  Das  Wesen  des 
Buddhismus.  —  Der  Buddhismus  eine  natürliche  Religion.  —  Glaube 
ist  Saat.  —  Die  Behandlung  russischer  Gefangener. seitens  der 
Japaner.  —  Das  chinesische  Itivuttakam.   —   Ein  lebender  Buddha. 

—  Der  Buddhismus.  —  Der  moderne  buddhistische  Tempel  auf 
Ceylon.  —  Notizen  des  Herausgebers.  — 

Buddhism.  An  illustrated  Review.  Edifed  by  Bhikkhu  Änanda 
Metteyya,  Rangoon.  Vol.  II,  No.  1,  October  1905.  Pp.  167  und 
VIII.  Inhalt:  Rechte  Anstrengung.  —  Die  Illusion  des  Ego.—  Bud- 
dhismus und  Pessimismus.  —  Sam-Ye.  —  Die  Kräfte  des  Charakters. 

—  Der  Buddhism-js,  eine  agnnstische  Religion.  —  Ceylon  in  der 
Vergangenheit  und  Gegenwart.  —  Das  neuere  Leben  in  Amerika.  — 
Verdienst.  —  Die  Reorganisation  des  Sangha  in  Ober-Burma.  — 
Die  Gesellschaft.  —  Buddhistische  Propaganda.  —  Neuigkeiten  und 
Notizen.  —  Nachrichten  aus  Ceylon.  —  Toten-Liste.  —  Der  Kom- 
mentar zu  dem  Dhammapada.  — 


VerutwortUcher  Redakteur:  G.  A.  Dietze,  Leipzig.  —  Verlag:  Buddhistischer  Verlag 
ia  Leipzig.    —    Druclc:  Arno  Bachmano,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  Januar  1906. 


No.  10. 


Rundschau. 


Die  buddhistische  Mission  In  Indien.  3n  Royapeffah  (Süd- 
3nditn)  arbeifef  eine  »Buddhisf ische  Qesellschaff«  mif  grosser 
Energie  unfer  nichf  geringen  Schwierigkeifen.  EVIlwöchenflich  findef  eine 
Dersammlung  s(a(l,  in  welcher  Bhikshu  Reu.  Handaräma  über  Buddhis- 
mus spricht;  ausserdem  werden  noch  besondere  Dorlcsungen  oon  ITlil- 
gliedern  der  Qesellschaff  gehallen.  Der  Zuhörerhreis  wächst  beständig, 
und  manche  Besucher  haben  bereits  den  Buddhismus  öffentlich  ange- 
nommen. Ändere  wiederum,  die  sich  gern  offen  zum  Buddhismus  be- 
kennen möchten,  zaudern  cor  der  Rand  noch,  dies  zu  tun.  Das  Umsich- 
greifen des  Buddhismus  in  Sndien  wird  nämlich  üon  den  Rindus  im 
allgemeinen  sehr  argwöhnisch  beobachtet;  sie  fiirchlen  im  Buddhismus 
einen  ihrer  eigenen  Religion  überlegenen  Riualen.  Aus  diesem  Grunde 
sympathisieren  sie  mil  wenigen  Ausnahmen  nicht  mit  der  buddhistischen 
mission  und  lassen  ihr  nicht  die  geringste  Unlerstützung  angedeihen; 
dahinter  steht  natürlich  die  brahmanische  Prieslerschaft  (Tout 
comme  chez  nousl  D.  R.).  So  i.sl  es  erklärlich,  dass  die  mission  in 
Petlah  sehr  arm  ist  und  ihre  Dersammlungen  oorläufig  in  einer  gemie- 
teten Rallc  abhalfen  muss.  Es  ist  durchaus  notwendig,  dass  hier  Bud- 
dhisten namentlich  aus  Ceylon  helfend  eingreifen ;  und  zweifellos  wird 
dies  letztere  auch  geschehen. 

Rus  einem  späteren  Berichte  der  Petfah-mission  erfahren  wir  fol- 
gendes: namentlich  wirken  ausser  dem  obengenannten  Bhikshu  zwei 
niänncr  für  die  Rusbreifung  des  Buddhismus :  der  Pandit  Jyodhi  Doss 
(der  Generalsekretär  der  »Säkya  Buddhist  EVssociafion  of  Southern  3ndia«) 
und  Professor  Lakshmi  Oarasu.  Der  Pandit  erklärt  im  EVnschluss  an 
die  Predigten  des  Bhikshu  die  buddhistische  Lehre  in  einfacher,  klarer 
Form  unter  Reranziehung  wichtiger  Text-Stellen  und  belebt  seine  Rus- 
führungen  durch  Beispiele  aus  dem  praktischen  beben.  Die  macht 
seiner  Reden  auf  die  Zuhörerschaft  soll  eine  gewaltige  sein.  Professor 
narasu  hält  des  öfteren  Dorträge  über  Buddhismus  in  englischer  Sprache; 
dieselben  erfreuen  sich  eines  sehr  regen  Besuches.  Er  entwickelf  den 
Dhamma  mit  grosser  Klarheit  und  beleuchtet  ihn  üon  den  ücrschieden- 
slen  Gesichtspunkten  aus.  namentlich  schärft  der  Redner  seinen  Zuhö- 
rern immer  wieder  ein,  dass  der  Buddha  keinen  blinden  Glauben  uon 
den    menschen    oerlangte,    sondern    vor   allen  die    Betätigung   dessen, 


74  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

was  ihnen  geprcdigf  wurde.  Der  meisler  sleüfe  jedem  anheim,  die 
Lehre  zu  prüfen  und,  wenn  man  findcf,  dass  sie  für  den  Einzelnen  wie 
für  die  Qesamfheil  heilbringend  isf,  ihr  nachzuleben.  —  Professor  Harasu, 
der  in  der  Rcligionswisscnschaff  wohl  bewanderf  isl,  weist  ferner  auf 
den  Unterschied  zwischen  Buddhismus  und  den  anderen  Religionen, 
namentlich  fiinduismus  und  Christentum,  hin.  Die  letzleren  haben  ihre 
bestimmten  Dogmen  und  lehren  das  Reit  oon  fremder  fiilfe  erwarlen; 
der  Buddhismus  hat  nichts  dergleichen.  Er  besteht  in  Selbstzucht  und 
Selbstbeobachtung,  und  diese  seine  praktische  Seite  ist  das  lüichtigste 
an  ihm.  Diese  Dcrnunft-Religion  ist  im  Grunde  nichts  mehr  und  nichts 
weniger,  als  der  Erzieher  zu  sittlicher  Reinheit  und  menschlicher  Doll- 
kommenhcit.  Die  Grösse  des  Buddha  bestand  darin,  dass  er  die  IDahr- 
heiten,  die  in  den  cerschiedcncn  religiösen  Systemen  üorhanden  sind,  er- 
kannte und  anerkannte  und  auf  diese  IDeise  eine  uniüersalc  Religion 
schuf,  eine  Religion,  die  nicht  nur  den  Gelehrten  und  Philosophen  be- 
friedigt, sondern  auch  dank  ihrer  praktischen  Bedeutung  (Sittenlehre) 
den  breiten  Olassen  des  Dolkcs  zum  Segen  gereicht.  — 

Der  kürzlich  slatfgefundene  Besuch,  welchen  der  Tashi-bama 
oon  Tibet  dem  ITlahäbodhi-Tempel  in  Buddha-Qayä  (Oord- 
3ndien)  abgestattet  hat,  darf  in  seiner  hohen  Bedeutung  für  die  buddhi- 
stische Bewegung  nicht  unterschätzt  werden.  Der  Buddhismus  in  Tibet  tritt 
jetzt  aus  seiner  starren  Exciusicifäf  heraus  und  besinnt  sich  auf  seinen 
Zusammenhang  mit  der  reineren  südlichen  Ljehre.  Die  Folgen  hiercon 
dürften  weitgehende  Reformen  im  tibetischen  Buddhismus  sein,  welche, 
wenn  auch  nicht  plötzlich,  so  doch  allmählich  in  dem  ccrschlossenen 
Fiochlande  um  sich  greifen  werden.  — 

Russland.  Das  St.  Pertcrsburger  Sslowo  bringt  in  seiner  Hummer 
com  22.  Dezember  (9.  Dezember  alten  Stils)  190.5  unter  der  Spilzmarke 
»O  Buddislach«  folgende  interessante  Ootiz:  „lüie  uns  mitgeteilt  wird, 
arbeitet  das  ITlitglied  des  Reichsrates  Tscherewanski  ein  Schriftstück 
aus  über  die  Frage  des  freien  Bekenntnisses  (im  weitesten  Sinne)  der 
buddhistischen  Religion.  Der  Entwurf  soll  dann  dem  Reichsraf  oder  der 
Dolks-Duma  üorgelegt  werden."  — 

Schweiz.  3m  Laufe  des  Januar  wird  Dr.  R.  Führer  in  Basel 
einen  Cyklus  uon  sechs  Dorträgen  über  »die  weif-  und  kultur- 
historische Bedeutung  des  Buddhismus«  halten.  Dr.  Führer  hat 
zwanzig  ^ahre  in  Britisch  Ostindien  gelebt  und  während  dieser  Zeit 
den  Zustand  der  buddhistischen  Gemeinden  in  Burma,  Ceylon  und  Slam 
genau  kennen  gelernt  und  war  so  glücklich,  i.  "].  1896  den  Lumbinl-Rain 
(den  Geburtsort  des  Buddha)  aufzufinden  und  identifizieren  zu  können. 
Dr.  Führer  wird  die  Freundlichkeit  haben,  uns  seine  Dorträge  zur  Pu- 
blikation zu  überlassen. 

Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland. 

Offizielle  Anzeigen.  Die  Anfang  Januar  1906  collzogene  tleuwahl 
des  Dorslandes  ergab  folgendes  Resultat: 

Dorsitzcndcr:  Dr.  phil.  F.  Rornung,  Leipzig-Rleinzschocher. 

General-Sekretär:  Karl  Seidenstücker,  Leipzig. 

Sekretär:  R.  Löwke,  Leipzig. 

Kassierer  und  Geschäftsführer:  G.  EV.  Dictze,  Leipzig-Reudnifz. 
Der  buddhistische  ITlissions-üerein   ernannte   folgende  Repräsen- 
tanten:   Für   nord-Amerika    Rerrn   Reo.    Dr.  Rentok  Rori  in  Cam- 
bridge-Boston (U.-S.  a.);    für  Ceylon    Rerrn  ID.  R.  de  Siloa  (Dice- 
Präsidcnt  der  Voung  ITlen's  Buddhist  Association)  in  Colombo.    Ferner 


No.  10.  Die  buddhistische  Welt.  75 

überfrug  der  Buddhisdschc  ITlissions-Derein  Herrn  Reu.  Dr.  Rori  die 
Ehrenmitgliedschaff.  — 

Die  rnifglieder  des  buddhisf ischen  missions  -  Dcreins 
werden  höflichst  gebeten,  ihre  ITlitgiieds-Beifräge  für  das 
Jahr  1906  an  den  Kassierer  einzusenden.  Da  dcrDercin  durch 
seine  erhöhte  Propaganda  dringend  finanzieller  Unter- 
stützung bedarf,  so  ist  es  erwünscht,  dass  die  Rbgabcn  — 
wenn  möglich  —  für  das  ganze  laufende  Jahr  pränumerando 
gezahlt  werden.     Quittung  erfolgt  umgehend. 

Vorträge.  Rm  13.  Dezember  sprach  Karl  SeidenstücUer  über 
»Die  Religion  der  Zukunft«.  Die  Ausführungen  bestanden  im 
wesentlichen  in  einer  i^larcn  Darlegung  der  idealistischen  lüeltan- 
schauung  und  der  sich  aus  derselben  ergebenden  ethischen  Ronsequen- 
zen, nach  dem  üorlrag  gelangte  durch  Rerrn  Dielze  der  EVufsatz:  »Die 
Kraft  der  meditation«  zur  Dericsung. 

Die  nächsten  Oorträge  in  Leipzig  finden  statt  am  10.  Januar 
(Buddhismus  und  Toleranz,  Q.  A.  Dictze),  und  am  14.  Februar 
(Buddhistische  LDahr heilen  bei  nicht-buddhistischen  Denkern, 
Karl  Seidensfückcr). 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Ein  Vorschlag  zur  Lösung  des  deutsch-englischen  Konfliktes. 

Die  »Friedcns-lüarte«  schreibt  in  ihrer  Dczember-flummer:  ,,Dass 
wenigstens  für  die  diplomatischen  Kreise  in  Deutschland  ein  solcher 
Konflikt  besteht,  daran  ist,  nach  der  Thronrede  Kaiser  IDilhelms  und  den 
Reden  des  Reichskanzlers  im  deutschen  Reichstage,  kein  Zweifel.  An- 
dererseits haben  Dertreter  der  IDissenschaft  und  des  fiandels  in  beiden 
Ländern  wiederholt  erklärt,  dass  für  den  Antagonismus  beider  Länder 
kein  eigentlicher  Grund  oorlicgt,  dass  oielmehr  ITlissüersändnisse  und 
Presstreibereien  auf  beiden  Seiten  die  Ursache  jenes  undefinierbaren 
Konfliktes  bilden,  der  die  Gemüter  nicht  nur  in  Deutschland  und  England, 
sondern  in  der  ganzen  Kulturwelt  auf  das  heftigste  erregt. 

Angesichts  dieser  uerworrencn  Lage,  die  gerade  durch  ihre  Dcr- 
worrenheit  so  gefärlich  wird,  gibt  es  nur  ein  mittel,  die  gesunde  Der- 
nunft  zur  Geltung  kommen  zu  lassen,  indem  man  nämlich  den  wahren 
Tatbestand  aufzuklären  cersucht  und  auf  Grund  des  gewonnenen  Ergeb- 
nisses die  Gefahr  eines  Krieges  beseitigt. 

Am  29.  3uli  1899  haben  bekanntlich  26  Regierungen,  unter  welchen 
sich  auch  die  deutsche  und  die  englische  Regierung  befand,  ein  Abkom- 
men getroffen,  in  dem  sich  folgender  Passus  findet: 

»Bei  internationalen  Streitigkeiten,  die  weder  die  Ehre  noch  wesent- 
liche Onteressen  berühren  und  einer  ucrschiedenen  IDürdigung  der  Tat- 
sachen entspringen,  erachten  die  Signaturmächtc  es  für  nützlich,  dass 
die  Parteien,  die  sich  auf  diplomatischem  lücge  nicht  haben  uerständigcn 
können,  soweit  es  die  Umstände  gestalten,  eine  internationale  Unter- 
suchungskommission einsetzen  mit  dem  Auftrage,  die  Lösung  dieser 
Streitigkeiten  zu  erleichtern,  indem  sie  durch  eine  unparteiische  und  ge- 
wissenhafte Prüfung  die  Tatfragen  aufklärt«. 

IDorauf  Hesse  sich  dieser  Paragraph  besser  anwenden  als  auf  den 
zwischen  Deutschland  und  England  bestehenden  Gegensatz,  für  den  keiner 
den  Grund  kennt,  dessen  Berechtigung  jedoch  üon  beiden  Seifen  be- 
stritten wird?I  mit  der  Aufklärung  des  Tatbestandes  sind  »die  Ehre 
und  wesentliche  3nteressen«  keines  der  beiden  Länder  berührt,  im  Gegen- 
teil, diese  Aufklärung  läge  im  3nteresse  beider  Staaten  und  würde  einem 

9* 


78  bie  buddhistische  Welt.  I.  )ahrg. 

jeden  zur  Ehre  gereichen.  Ruf  diplomafischem  IDege  voar,  wie  uns 
dauernd  mitgeleilf  wird,  eine  Einigung  schon  deshalb  nicht  möglich,  da 
man  die  Ursache  der  Dcrsfimmung  eben  nichl  kcnnf,  und  die  Umsfändc 
gesfaifcn  es  auch  ausgczeichnef ,  diesen  Raager  Paragraphen  zur  t\n- 
Mjendung  zu  bringen. 

Die  Einselzung  einer  infernafionalen  Unfersuchungskommission  zur 
Aufklärung  der  Tafsachen,  die  ja  keine  Rafion  irgendwie  vjerpflichfcf 
(„Der  Bericht  hat  in  keiner  IDeise  die  Bedeutung  eines  Schiedsspruches"), 
wäre  demnach  das  denkbar  oernünfligsfe  Beginnen,  lüahrlich,  wem  es 
Ernst  darum  ist,  dass  die  elende  Retze  nicht  weifer  fortgesetzt  werde, 
wer  das  Qlück  üon  Tausenden  und  die  Erhaltung  unserer  V^ulturgüter 
nicht  leichtfertig  auf  das  Spiel  setzen  will,  sollte  das  durch  internationale 
Dereinbarung  gegebene  mittel  zur  Anwendung  bringen  und  den  Frieden 
herzustellen  suchen,  beuor  es  eine  ,, Ehrensache"  geworden  ist,  den  Rricg 
zu  führen."  — 

Zur  elften   Kontinentalen  Missions-Konferenz  in  Bremen.    Die 

Dcrhandlungen  dieser  oom  29.  ITlai  bis  2.  ;juni  1905  abgehaltenen  Konferenz 
liegen  nunmehr  gedruckt  uor.  3ntere.ssanf  ist  besonders  das  Referat  des 
Prof.  D.  IDarneck  (Ralle)  über  »die  gegenwärtige  Lage  der  deut- 
schen eoangelischen  missionen«.  IDir  erfahren  darüber  in  der 
»Zeitschrift  für  ITlissionskundc  und  Religionswissenschaft« 
folgendes:  „D.  IDarneck  hob  drei  Tatsachen  heruor,  die  nach  seiner 
Überzeugung  die  Lage  zu  einer  ernsten  machen.  1.  Das  bedrohliche 
Zurückbleiben  der  missionseinnahmen  hinter  den  Ausgaben; 
2.  die  wachsende  Qefahr  der  Überflügelung  der  eüangclischen  ITlission  durch 
die  katholische  in  unseren  Roloniecn ;  8.  die  zunehmende  Zersplitte- 
rung unserer  ITlissionskraft  durch  Begründung  immer  neuer  kleiner 
missionen,  namentlich  unter  dem  Einfluss  der  „Qemeinschaftsbewegung". 
Zu  Punkt  1  bemerkt  D.  IDarneck:  „Unbedingt  ausgeschlossen  ist 
eine  Rerabsetzung  der  Gehälter  der  missionare,  da  bei  der  zu- 
nehmenden Derteuerung  aller  bebcnsbedürfnisse  uielmehr  eine  Er- 
höhung derscben  unausbleibbar  ist."  Bei  Punkt  1  führt  IDarneck 
als  erschwerend  für  eine  Steigerung  der  missionsbeiträgc  an  1.  die 
zielbcwusstc  Gegnerschaft,  die  die  öffentliche  mcinung  durch  Der- 
mittelung  der  sich  ihr  meist  (?)  sehr  willig  zur  Derfügung' 'stellenden 
Tagespresse  stark  wider  die  mission  beeinflusst;  2.  die  mit  der  Unter- 
grabung seiner  Fundamente  immer  fortschreitende  Entleerung 
des  Christentums  zu  einer  blossen  Dernunft-  und  moralreli- 
gion;  3.  die  steigenden  Ansprüche,  welche  die  wachsenden  und  sich 
beständig  mehrenden  heimatlichen  Liebeswerke  an  die  finanziellen  Lei- 
stungen der  missionsfreunde  stellen.  Über  die  moderne  liberale  prote- 
stantische Theologie  spricht  sich  D.  IDarneck  sehr  scharf  aus:  „Be- 
ängstigender (I)  als  die  direkte  Gegnerschaft  ist  die  destruktiue  moderne 
Theologie,  welche  durch  ihre  Derneinung  der  Geschichtlichkeit  der 
Reilstalsachen  wie  ihre  Eliminicrung  der  cüangelischen  Grundwahrheiten 
das  Christentum  won  einem  Stück  seines  apostolischen  Glaubens  nach 
dem  anderen  entleert,  die  Offenbarung  in  eine  bloss  natürlich  religions- 
geschichtüche  Entwicklung  umsetzt  und  dadurch  den  Boden  wankend 
macht,  in  dem  der  christliche  Glaube  gewurzelt  ist.  Unter  dem  Einfluss 
dieser  Theologie,  der  in  dem  jüngeren  Qe,schlechl  der  Pastoren  und 
Lehrer  im  IDachsen  ist  und  auch  in  den  Gemeinden  immer 
weiter  um  sich  greift  und  selbst  nicht  wenigen  innerhalb  der 
missionskreise  zur  Anfechtung  (I)  wird,  erlahmen  die  inner- 
sten, die  religiösen  missionsantriebc,  die  durch  keine  natio- 
nalen, kolonialpolitisehcii,  kulturellen  oder  humanitären  ersetzt 
werden  können  (?V);  sie  erlahmen,  weil  die  apostolische  Botschaff  nicht 
mehr  da  ist,  die  einen  solchen  IDert  für  den  Glauben  hat,  dass  er  ange- 


I«Jo.  10.  Die  buddhistische  Welt.  77 

trieben  wird,  zu  ihrer  OcrbrcKung  Opfer  zu  bringen.  3n  der  Zweifels- 
afmosphäre,  voelche  unfer  dem  Einfluss  der  modernen  Theo- 
logie erzeug!  wird,  sierben  die  lüerke  öolfes  ab.  IDell  für  die 
gegenwärfige  ITlisslon  hier  dieselbe  Gefahr  besfehf,  wie  einsf  für  die 
dänisch-hallcsche,  deren  Tofengräbcr  der  Rationalismus  wurde,  muss 
sie  an  dem  grossen  Rampfe,  der  jefzf  um  den  aposfolischen 
Glauben  gekämpft  wird,  durch  IDorf  und  Schrift  den  aktiosfen 
EVnteil  nehmen;  denn  sie  lebt  uon  diesem  Glauben  und  Kann, 
wie  ihre  Arbeiter,  so  auch  ihre  Unferhaltungsmittel  in  zureichendem 
rriassc  nur  gewinnen,  wenn  derselbe  Glaube  in  ihr  die  Orossmacht  bleibt, 
der  die  Rposfel  zu  LDelteroberern  machte." 

Diese  Ausführungen  des  in  den  Kreisen  der  eoangelischen  ITlission 
hochgefeierten  Professor  IDarneck  sind  nach  oerschiedenen  Richtungen 
hin  sehr  charakteristisch  und  lehrreich.  IDir  erfahren  uon  ihm  —  was 
allerdings  schon  längst  ein  offenes  Qeheimniss  ist,  —  dass  der  gegenwärtige 
Stand  der  protestantischen  mission  den  Dertretern  derselben  ernste  Sorgen 
bereifet.  Finanzielle  Schwierigkeiten,  Zersplitterung,  Uneinigkeit  im  eigenen 
Rause,  Überflügelung  durch  Rom,  nachlassen  des  allgemeinen  3nteres8es 
für  die  „ficidenmission",  —  freilich  ernst  genügt  IDas  nun  speziell  uns 
bei  der  ganzen  Sache  interessiert,  ist  die  für  die  Christen  beschämende, 
für  den  Unbeteiligten  belustigende  Katzbalgerei  im  eigenen  Lager 
zwischen  der  allen  posiliuen  Richtung  (zu  deren  Dertretern  D. 
IDarneck  gehört)  und  der  modernen  liberalen  Theologie,  unter 
deren  Dertretern  unsern  Lesern  der  bic.  Plarrer  Fiackmann  zur  Genüge 
bekannt  geworden  ist.  lüährend  hier  Professor  IDarneck  der  „grund- 
stürzenden modernen  Theologie''  offen  den  Krieg  erklärt  und  sie  be- 
schuldigt, dass  sie  ,,den  Boden  des  Christentums  wankend  mache"  und 
das  letztere  ,,üon  einem  Stück  des  aposfolischen  Glaubens  nach  dem 
anderen  entleere",  hat  sich  seinerzeit  L>ic.  Rackmann,  also  ein  Dertreter 
der  ,, entleerenden  Richtung",  dahin  ausgesprochen,  ,,dass  die  Theologie 
bisher  (also  die  alte  Richtung)  in  der  tTlissionsaufgabe  fast  viöllig  oer- 
sagi  habe  und  dass  die  freigcrichtefe  Theologie  in  diese  Lücke  ein- 
treten müsse." 

lüir  sind  nun  gespannt,  wie  sich  die  Dinge  weiter  entwickeln  wer- 
den, ob  die  alte,  oolle  Theologie,  oder  die  moderne,  entleerte 
Richtung  aus  diesem  Kampf  als  Siegerin  heruorgeht.  3n  der  Zwischen- 
zeit reibt  sich  natürlich  Rom  als  tertia  gaudens  seelcnoergnügt  die 
Rande  und  ,, überflügelt"  die  protestantische  mission.  „IDenn  nun  ein 
Reich  mit  sich  selbst  uneins  wird,  wie  will  dies  Reich  bestehen?"  Und 
was  endlich  die  Raupisache  ist:  IDelche  Schlüsse  werden  die  denkenden 
„Reiden"  aus  diesen  christlichen  Streitereien  ziehen  und  was  werden 
sie  daraus  für  die  Religion  der  Liebe  und  ihre  Dorkämpfer  folgern?!   — 

Der  Buddhismus  und  die  deutsche  Presse.  IDie  sehr  das  3n- 
teresse  des  deutschen  Publikums  für  den  Buddhismus  im  Steigen  be- 
griffen ist,  kann  man  am  besten  aus  der  deutschen  Presse  ersehen.  Es 
oergehf  jetzt  keine  IDochc,  ohne  dass  eins  der  grösseren  Tagesblätter 
zu  dem  Thema  »Buddhismus«  das  IDorf  ergreift.  So  machte  kürzlich 
ein  »3m  Rciligtum  des  Buddhismus«  betifelfer  Aufsatz  die  Runde 
durch  die  Blälfer,  welcher  in  gefälliger  Form  ein  slimmungsuolles  Bild 
üon  einem  Besuche  des  ITlahäbodhi -Tempels  in  Buddha-Qayä 
enlwirfl.  „nirgends  wohl  auf  der  IDelf  umfängt  die  mystisch-tiefe 
Gtaubensmachi  dieser  grossen  und  reinen  Religion,  der  seit  den  Tagen 
Friedrich  Schlegels  und  Schopenhauers  auch  die  deutsche  Kultur  man- 
che Offenbarung  oerdankt,  mit  solcher  Allgewalt  den  ITlenschen,  wie  in 
dem  Tempel  cor  dem  Baum  zu  Buddha-Qayä."  Ferner  ist  während  der 
Abfassung    dieser   Zeilen    der  protestantisch-orthodoxe  »Reishsbole«  am 


7fc  Die  buddhistische  Welt.  1.  Jahrg. 

IDerk,  einen  längeren  Rufsafz  über  »die  Erlösung  nach  Buddhismus 
und  Chrisfenfum«  zu  ucröffenflichcn,  zu  welchem  unsere  Zcifschriff 
Stellung  nehmen  wird.  —  Auch  die  »lüochc«  und  der  »Tag«  bringen  des 
öfleren  inferessanfe  Oofizen  und  Bilder  aus  der  buddhistischen  RuKur- 
welf.  —  Zu  unserem  lebhaften  Bedauern  lässt  seit  einiger  Zeit  Rerr 
militäroberpfarrer  Robert  FalKe  nichts  mehr  uon  sich  hören,  der 
früher  durch  seine  plumpen  antibuddhisfischcn  Angriffe  in  sehr  danhens- 
Moerfer  IDeise  die  allgemeine  Rufmcrhsamtseit  auf  den  Buddhismus  ge- 
Icnhf  hat.  Sein  Schweigen  rührt  oielleicht  daher,  weil  ihm  im  wer- 
gangenen  Sommer  auf  einen  im  »Tag«  ucröffcntlichten  EVrtihel  über 
»buddhistisches  millcid  und  christliche  ijicbe«  vjon  einem  nicht- 
Buddhisten coram  publico  in  demselben  »Tag«  die  wohloerdicnfc 
Züchtigung  erfeilt  wurde.  Eine  zweite  gründliche  Lektion  hat  dem  Rerrn 
militäroberpfarrer  ganz  kürzlich  Dr.  Schrader  in  einem  neu  er- 
schienenen Büchlein  gelesen,  dessen  Anzeige  der  bescr  unier  der  Rubrik 
»Bücherfisch«  finden  wird.  —  Endlich  sei  noch  bemerkt,  dass  der  Sanskrit- 
Professor  ander  Uniüersifät  IDien  L>.  u.  Schröder  in  IDiener  Zeitungen 
Artikel,  über  Buddhismus  ueröffcnllicht  hat.  ü.  Schröder,  der  durch 
seine  Übersetzung  des  »Dhammapada«  in  der  buddhistischen  IDelt  be- 
kannt geworden  ist,  hatte  in  den  neunziger  Jahren  eine  literarische 
Fehde  mit  dem  oerstorbenen  Oberpräsidialrat  Th.  Schultze  über  das 
Thema  »Buddhismus  und  Christentum«,  bei  welcher  u.  Schröder 
als  Derteidiger  des  letzteren  nicht  gerade  günstig  abschnitt. 

Arthur  Schopenhauers  Werke.  Das  Studium  der  Philosophie 
des  grossen  deutschen  Geistes  wird  für  jeden  Schüler  des  Buddhismus 
zum  Dersfändnis  des  letzleren  sehr  förderlich  sein.  Die  genaueste  und 
beste  aller  Schopenhauer-Ausgaben  ist  die  uon  Eduard  Qrisebach  im 
Derlagc  oon  Philipp  Reclam  jun.  in  Leipzig  erschienene.  Dieselbe 
empfiehlf  sich  —  ganz  abgesehen  üon  ihrem  billigen  Preise  —  durch 
ihre  grosse  Qenauigkcil  und  Sorgfalt.  Für  den  philosophisch  nicht.  Qe- 
schulten  empfiehlf  es  sich  oielleicht,  zunächst,  ehe  er  an  das  'Studium 
des  Hauptwerkes  (»Die  LDelt  alslDillc  und  Dorstell  ung«)  herantritt, 
zu  den  »Parerga«  zu  greifen.  Freilich  wird  für  ein  wirkliches  Der- 
sfändnis der  Schopenhauerschen  Philosophie  die  Bekanntschaft  mit  Rants 
Lehre  unerlässlich  sein;  auch  Spinoza  und  Piaton  sind  heranzuziehen. 
IDir  können  allerdings  jenen  nicht  beipflichten,  welche  behaupten,  dass 
die  buddhistische  Lehre  sich  mit  der  Schopenhauers  deckt;  aber  ein 
tieferes  Dersfändnis  des  Buddhismus  wird  durch  ein  Eindringen  in 
Schopenhauers  IDeltanschauung  zweifellos  wesentlich  gefördert.  Erst 
dann  werden  dem  Schüler  die  Augen  für  die  Tiefe  des  Dhamma  ge- 
öffnet. Zur  Erleichterung  des  Eindringens  in  die  Schopenhauerschc 
Philosophie  kann  Professor  Paul  Deussens  IDerk  »Die  Elemente  der 
tnetaphysik«  (Leipzig,  F.  A.  Brockhaus  189Ü)  empfohlen  werden. 

Büchertisch. 

(Für    Besprechuiij;    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Kücher    übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpflichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,  per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Wille  und  Liebe  in  der  Lehre  Buddhas.  Don  Dr.  phil.  F.  Otto 
Schrader,  Zweite  bedeutend  uermehrfe  Auflage  üon  »Kennt 
der  Buddhismus  den  Begriff  der  christlichen  Liebe?«  Berlin. 
Derlag  üon  Paul  Raafz  1906.    34  S.     Preis  brosch.  80  Pf. 


No.  10.  Die  buddhistische  Welt.  *9 

Der   Derfasser,   ein   junger  Päli-Qclehrfer,  bemerl?t  in  seinem  Dor- 
M:or(:  „Zu  der  oorliegendcn  ZMjeilen  Ruflage  haf   mir  der  oon  Unrichtig- 
I^eilen    s(rolzende   Rrfikel    des   Rerrn   ITlil  ifäroberpfarrers    R.    Fällte 
über    »Buddhis(isches   ITliflcid    und   clirisdiche   biebe«    (aus   dem   Berliner 
»Tag«  am   9.  ^uli  1905  im  Ramburger  Rorrespondenlen  wiedergegeben) 
die   Feder   in    die  Rand    gedrüclif.      Die    Ervoeilerung    des    Themas    ent- 
sprang   der   IJberlcgung,    dass   die   beiden    bchandclfen    Begriffe,    lüille 
und  Isiebe,   (alsächlich   eng   mif   einander  verbunden   sind,   und   dass   es 
sehr   notwendig    isl,    das   dcufsche   Publikum   auch    über  den    ,, schlaffen 
weichlichen    3ndiffcrenfismus"  Buddhas  ein  wenig   aufzuklären."    —    IDir 
cerweisen  den  Leser  auf  unsere  kurze  Besprechung   der  ersten  Ruflage 
dieser    vorzüglichen    Schrift     (Juli-Reff    der    »Buddhistischen    IDelf« 
1905)  und   wollen   an   dieser  Stelle   nur    noch    hinzufügen,    dass    hier   ein 
Renner  der  Päli-Quellcn  an  der  Rand  zahlreicher  Belegstellen  einen   der 
Raupt-Einwändc,    welche    man    christlicherseits   gegen    den    Buddhismus 
zu  erheben  pflegt,  in  siner  ganzen  Ralflosigkelt  gründlich  aufdeckt.    IDir 
empfehlen  dieses  Büchlein   wärmstcns   unsern  Lesern,    sowie   den  Rmts- 
brüdern  des  Rerrn  Falke,   also  den  protestantischen  Qcistlichen,   zur  ge- 
neigten Kenntnisnahme.  S. 
Wissenschaft  und  Religion.     Don  R.  maluert.     Flach   dem  25.  Tau- 
send der  französischen  Rusgabe  ins  Deutsche  übertragen.     Frank- 
furt  am   maln.      Heuer   Frankfurter   üerlag    1904.     IV   und    124  S. 
mit  1.56  ailustrationen.     Preis  brosch.  2  m. 
Das  oorlicgende  hochinteressante,  äusserst  lehrreiche  IDerk  ist  den 
Lesern  bereits   aus  einem  Kapitel   desselben  bekannt,   das  wir  S.  234  ff. 
unserer  Zeitschrift  zum  Rbdruck  gebracht  haben.     Es   ist   hier   sehr  üicl 
gutes  Ulalerial   zusammengetragen,   an   dessen   Rand   der  Derfasscr  dem 
Ursprung    des    religiösen    Denkens    und    dem    Zusammenhang    der   oer- 
schiedenen  Religionssysfeme  nachzugehen  cersucht.     Ob  alle  uon  ITlaloerf 
gezogenen    Sclu.ssfolgerungen   zu   recht   bestehen,    ist    allerdings   fraglich; 
immerhin  zeigt  das  IDerk  in  seinem  Rufbau  einen  durchaus  streng  wLssen- 
schafllichen,  objekfioen    Charakter,    und    die  Rusführungen   sind    auf   alle 
Fälle  äusserst  anregend.     ITlaloerls  3dee  ist,  kurz  ausgedrückt,  folgende: 
Die  rriythen  aller  Religionen  —  also   auch   der   christlichen   —   gehen   in 
ihren   wesentlichen   Punkten   im   letzten  Grunde   auf  den  Sonnen-   und 
Feuer-iriythos    zurück,    wie    er    —    nach    ITlaloert    —    in    den    alten 
uedischen    Rymnen    am    deutlichsten    zum    Rusdruck    kommt.     Der  Der- 
fasser  sucht   seine  Rnsichten   durch  Reranziehung   zahlreicher  geschicht- 
licher Quellen  und  an  der  Rand  der  Symbolik  der  verschiedenen  Systeme 
zu  stützen.     Eins  lernen  wir  jedenfalls  aus  diesem  Buche:   dass   nämlich 
bei    der   Rnalysierung    des    Christentums    herzlich    wenig    Originales    zu 
finden  ist,  „es  ist  alles  schon  dagewesen".     Das  mythologische  im   Bud- 
dhismus können  wir  selbstuerständüch  ohne  Schaden  für  den  wesentlichen 
Bestand    des    letzteren    getrost    aufgeben,    (ich    meine   hier   die    Buddha- 
Legende);  was  aber  wird   aus  dem  Christentum,  wenn  die  Fundamente 
des  Chrislus-mylhos   und    die  sich   aus   demselben   ergebenden   Dogmen 
zum  IDanken  gebracht  werden?     Eine  morallehre,  weiter  nichts,  während 
der  Buddhismus  seine  grossartige  Sittenlehre  auf  einer  IDeltan schauung 
aufbaut,  die  oon  keiner  einzigen  monolheVslischen  Religion  auch  nur  an- 
nähernd erreicht  worden  ist.     Und  gerade  in   diesem  Punkte   kommt   der 
Buddhismus    in    maloerts   Buch    entschieden    viel    zu    kurz;     denn    eben 
über  das   IDcscnIlichc   des   Buddhismus,    das   aus   dem    ,,vedischen 
Feuer-mythos"     nicht    abgeleitet    werden    kann,    wird    hier    nichts    ge- 
sagt.    IDir   nehmen    trofsdem    keinen    Rnstand    dieses    bedeutende   IDcrh 
unsern  Lesern  zu  empfehlen,   welches   wie  wohl   selten   ein   anderes  ge- 
eignet isl,   die  dumpfe  dogmatische  Kirchenlufl  (ganz  einerlei,   in  welcher 
Religion  sie  auf  den  Qemüfern  lasten  mag)  durch   einen  frischen,  freien 
jjuffstrom  forizufcgen.  S. 


80  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Die  wahre  Gestalt  des  Christentums.  Don  Vues  Quyof  und  Sigis- 
mond  Isacroix.  Übersefzf  uon  einem  deufschcn  Sozialisfen. 
Berlin.  Derlag :  Buchliandlung  Dorwärfs  1905.  XII  und  92  Seilen. 
Preis  50  Pfg. 
Dieses  cor  kurzem  neu  aufgelegte,  inhaKreiche  Schriffchen  isf  eine 
Übcrseizung  der  Elude  sur  le.s  docfrines  sociales  du  chrislianisme  der 
genannten  Derfasser,  welche  bei  J.  Brouillet,  Paris,  Quais  des  Qrands 
Äuguslins  57  im  Jahre  1873  erschien.  —  lüer  sich  insbesondere  über  die 
polifische  Bcdeulung  des  Chrislenlums  in  der  Eniwichlungsgeschichle 
der  europäischen  üölUer  zu  orientieren  wünscht;  wer  wissen  will,  wes- 
halb die  doch  gewiss  sonst  recht  nüchternen,  meist  nur  auf  Gelderwerb 
bedachten  Europäer  und  Rmerihaner  dennoch  millionen  über  millionen 
übrig  haben  für  die  Unterhaltung  ihres  Rirchenwesens  daheim,  wie  für 
ihre  missionen  im  Auslände;  oder  sich  die  Frage  beantworten  möchte, 
weshalb  es  gerade  Bchenncr  des  Christentums  sind,  welche  die  Technik 
des  Zcrslörens  oon  beben  und  Eigentum  zur  allerhöchsten,  nirgends  und 
nie  zuuor  erreichten  Blüte  entwickelt  haben  und  unablässig  weiterent- 
wickeln selbst  unter  den  schwersten  persönlichen  Opfern,  der  wird  in  diesem 
Schriftchen  gründliche  Belehrung  finden.  —  abgesehen  uon  der  knappen, 
markanten  französischen  E\usdruckswcisc,  die  der  Uberetzer  üorzüglich 
wiedergegeben  hat,  liegt  ein  gewisses  Kolorit  über  dem  ganzen,  wie 
man  es  sonst  in  Büchern,  welche  Religionsangelegenheiten  behandeln, 
allerdings  nicht  anzutreffen  gewöhnt  ist.  Dasselbe  ist  wohl  eine  lüider- 
spiegelung  der  Entslehungszeit  dieser  Arbeil:  nur  zwei  Jahre  erst  waren 
ja  vjerflossen  seil  jenem  entsetzlichen  Kriege,  in  welchem  die  zwei  mäch- 
(igslen,  in  den  Künsten  und  IDissenschaftcn  auch  des  Friedens  am 
höchsten  siehenden  Dölker  des  Kontinents  —  und  sclbstüerständlich 
eines  genau  so  christlich,  wie  das  andere  I  —  einander  zerfleischten ;  und 
das  mirakel-  und  lüallfahrtswcsen  üon  bourdes  usw.,  in  welchem  ihr 
unglückliches,  noch  aus  Tausenden  frischer  lüunden  blutendes  Daterland 
auch  noch  seine  Ehre  als  Kullurstaat  und  mehr  noch  zu  cerlicren  drohte, 
hallen  die  Derfasser  sogar  noch  ganz  dicht  cor  Augen :  ein  paar  ,, Seg- 
nungen der  christlichen  Ziuilisalion",  welche  wohl  sehen  und  denken 
lehren  und  dann  gewiss  nicht  jedermann  zu  ihrem  bobredncr  machen. 
—  Recht  lesenswert  erscheint  das  Reftchen  auch  für  Buddhisten,  nament- 
lich jene,  welche  noch  immer  gern  uon  den  uermeintlichcn  Ähnlichkeiten 
zwischen  Buddhismus  und  Christentum  reden,  werden  hier  Daten  genug 
finden,  an  denen  sie  den  lüert  ihrer  chrisljich-afaüistischcn  Doreingc- 
nommenheilen  selber  abschätzen  können.  Übersetzt  und  gnlsprechend 
bearbeitet,  d.  h.  üon  demjenigen  befreit,  was  nur  einem  uerhällnismä.ssig 
liefeingeweihten  Kenner  europäischer  sozialer  Dcrhällnisse  ucrständlich 
sein  kann,  dürfte  sich  diese  Abhandlung  als  ein  oortreffliches  Schutzmittel 
bewähren  in  allen  jenen  bändern,  wo  sich  Christen  lästig  machen, 
einerlei  wodurch :  Es  würde  den  lüescnskern  dieses  beidcns  erkennen 
lehren,  und  hiermi!  würde  es  zur  Aufhebung  dieses  bcidens  führen.      R. 

Der  Verkehr  mit  Frauen.  IDcnn  du  mit  einer  Frau  redesi,  so  tue 
CS  in  Rerzensrcinheif.  Sprich  zu  dir  selbst:  „Jin  diese  sündige  lüelt  ge- 
slellt,  will  ich  der  fleckenlosen  bilic  gleichen,  die  unberührt  bleibt  üon 
dem  ITlorast,  in  dem  sie  wächst."  JSsl  die  Frau  alt,  betrachte  sie  als 
deine  mutier;  ist  sie  eine  jüngere  Frau,  betrachte  sie  als  deine  Schwester; 
ist  sie  üon  niedriger  Rerkunfl,  betrachte  sie  als  deine  jüngere  Schwester; 
ist  es  ein  jugendliches  ITlädchen,  dann  begegne  ihr  mit  Ehrerbietung  und 
Röflichlieit.  Sülra  der  zweiundüicrzig  Teile. 


Verantwortliche !■  Redakteur;  G.  .'\.  l)irt/r,  1  eip/i;;.  -  -  Verlag:  Hiuldliistisclicr  Verlug 
in  Leipzig.    —    Druck ;  Arno  Harhmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  Februar  1906. 


No.  11. 


Rundschau. 


Japan,  flach  der  offiziellen  SfafisfiK  oom  ^ahre  1905  isf  der  Bestand 

der  buddhislischen  Schulen  in  ^apan  an  Tempeln  folgender: 

Schulen:      Jahr  der  Begründung:      Zahl  der  Tempel: 

Rosso 659  n.  Chr 

Regon 7.36  n.  Chr 

Tendai 805  n.  Chr 4600 

Shingon 806  n.  Chr 13016  (inhi.  Rosso) 

Yuzunembuisu  .    .    1117  n.  Chr 

Uödo 1175  n.  Chr 8381  (Inkl.  Regon) 

I  Rinzai 1191  n.  Chr 6122 

Zen    86(6 1227  n.  Chr 13708 

I  IDobaku    ....    1654  n.  Chr 5.56 

Shin 1224  n.  Chr 19639 

nichiren 1252  n.  Chr 5195 

J\ 1275  n.  Chr.  .    .    ■    .      1199  (inhl.  Vuzu) 

3nsgesamt  72416  Tempel, 
nach  der  Slalisfih  oom  jjahre  1902  besfanden  71994  Tempel;  es  isf 
also  innerhalb  der  lelzicn  drei  ^ahrc  die  2ahl  der  buddhislischen  Tempel 
in  3apan  um  422  gesliegen. 

^ede  Schule  hal  für  die  Ausbildung  ihrer  Geisdichen  mehrere  höhere 
und  mifflerc  Seminare.  Einige  Schulen  haben  üiele  junge  Qeislliche  zum 
Studium  nach  Europa  und  Amerika  gesandl.  Flach  der  S(a(is(ik  com 
^ahre  1902  bcfrug  die  Zahl  der  buddhislischen  Qeisflichen  in  Japan  53178. 
Die  innere  ITlission  des  japanischen  Buddhismus  arbeifcf  mi(  derselben 
Energie  voie  die  äussere  ITlission. 

Jedes  Regimen!  und  jede  Schvaadron  der  japanischen  Armee  sovaie 
jedes  Schiff  der  kaiserlichen  marine  haf  eine  Anzahl  buddhislischer 
missionare,  deren  Aufgabe  es  isf,  den  Soldafen  die  buddhistischen  IDahr- 
heilen  zu  predigen.  Diese  missionare  kamen  bei  Beginn  des  Rrieges 
mit  nach  dem  asiatischen  Rontinent,  voo  sie  inmitten  der  furchlbaren 
Ereignisse  vjiel  Trost  gespendet  und  oiel  Segen  oerbreitet  haben.  Sic 
sind  Abgesandte  fast  aller  buddhistischen  Schulen ;  den  stärksten  Ron- 
fingent  stellten  auch  hier  wieder  die  Rongwanji  (Shin),  36do  und  Sölö 
(Zen).  nach  einer  aufopferungsüollcn  Täligkeif  kehren  die  missionare 
jetzt  wieder  nach  Japan  zurück.  — 

10 


82  Die  buddliistisclic  Welt. 


1.  Jahrg. 


Dor  einigen  fahren  gründelcn  fähige  japanische  Buddhisfen  in  Tolwo 
eine  Randclsschule,  genannt  die  »Cenfral-Randels-Schule«,  welche 
einen  erfreulichen  Aufschwung  genommen  hal  und  jefzf  einige' Rundcrl 
Sfudenlen  als  Rörer  zählf.  Ferner  ha(  Dr.  S.  ITluraUami,  Professor  des 
Buddhismus  an  der  Uniüersiläf  Tokyo,  dasclbsf  die  »Orienlalischc 
mädchen-Schulc«  gegriindef,  welche  für  die  Zukunft  das  Beste  cer- 
sprichf.  Reiche  Personen  haben  dieses  schöne  IDerk  mit  grossen  Sum- 
men unterstützt.  — 

Ruch  in  der  Rerausgabe  religiöser  Literatur  seitens  der  Buddhisten 
in  'Japan  macht  sich  ein  lebhafter  Aufschwung  bemerkbar.  Es  gibt 
Traklat-Gesellschaffen  in  Kyoto  und  Tokyo,  welche  kleine  Broschüren 
und  Flugschriften  zum  Teil  uorzüglicher  EVrl  herausgeben.  So  erschien 
kürzlich  in  japanischer  Sprache  eine  Sammlung  buddhistischer 
Predigten  der  Sötö-Qemeinschaf t,  ferner  ein  englisch  geschriebenes 
lüerk  betitelt  »Buddhistische  ITIeditationen  nach  japanischen 
Quellen«.  Es  werden  ücrschicdene  buddhistische  Zeitschriften  in  japani- 
scher Sprache  herausgegeben,  unter  denen  die  monatlich  erscheinenden 
Journale  »Die  religiöse  IDelt«  und  »Das  reine  Licht«  die  ucrbrei- 
fetsten  sind.  —  Dazu  kommen  noch  die  Publikationen  der  »3nter- 
nalional  Buddhist  Voung  ITIen's  Rssoccialion«,  welche  einen 
festen  Zusammenschluss  aller  Buddhisten  ohne  Rücksicht  auf  die  ein- 
zelnen Richtungen  anstrebt.  — 

Die  buddhistische  Mission  in  Korea  und  China.  Schon  uor  dem 
russisch-japanischen  Rriege  war  die  ITIission  in  diesen  Ländern  tälig. 
Um  nur  üon  der  mission  der  Rongwanji  zu  reden,  so  hat  dieselbe 
wichtige  missions-Cenfra  in  Shang-hai,  Söul,  Chcmulpo,  Fusan,  Rmoy 
und  oielen  anderen  Orten.  Seil  Beendigung  des  Krieges  ist  die  Ulissions- 
fätigkeit  in  Korea  und  China  eine  noch  ciel  inlensiüere  geworden,  allein 
die  »lüestliche  Rongwanji«  beabsichtigt  in  diesem  jähre  in 
folgenden  Orten  neue  Stationen  zu  gründen:  Ta-lien,  Port  Rrlhur,  muk- 
dcn,  Rntung,  Liao-yang,  Tieh-Iing,  Chang-chun,  Peking,  Tien'-ching, 
Ping-yang;  Ccntral-Stationcn  werden  in  Peking  und  Ta-lien  errichtet. 
Es  ist  zu  bemerken,  da.ss  ausser  der  Rongwanji  natürlich  auch  andere 
Schulen  in  China  und  Korea  missionieren,  unter  denen  wiederum  die 
Sotö  die  tätigste  ist.  Gleichzeitig  werden  auf  der  3nsel  Sachalin 
buddhistische  ITlissionen  gegründet. 

lüir  geben  an  dieser  Stelle  den  lüortlaut  eines  Dertrages  wieder 
der  zwischen  den  buddhistischen  Führern  in  Tokyo  und  den  Dihäras  in 
Rwantung,  Fukien  und  T.schetiang  üereinbart  wurde:  „1.  JJn  Kanton  wird 
eine  grosse  Cenfral-ITlission  errichtet  und  damit  eine  buddhistische  Roch- 
schule zur  Ausbildung  junger  Qcistlicher  vjerbunden.  Don  hier  aus  soll 
die  buddhistische  Reform  in  China  ausgehen  und  durch  Gründung  anderer 
niissionen  in  den  Prouinzen  üerbreifel  werden.  2.  Die  Central-ITlission 
in  Kanton  ist  ihrerseits  ein  Zweig  der  Central-ITlission  in  ;]apan.  Rllc 
Ternpel,  Schulen  und  sonstigen  Anstalten  dieser  buddhistischen  mission 
geniessen  den  Schutz  des  japanischen  Kaiserreiches.  3.  Die  alten  Qrund- 
lehren  des  Buddhismus,  wie  die  riiruäna-adee,  das  Gebot  der 
Schonung  aller  Lebewesen  und  der  buddhistischen  allgemei- 
nen Bruderliebe  werden  zu  Gründe  gelegt.  4.  Auf  dieser  gemein- 
sanien  Grundlage  soll  eine  Einigung  der  vjerschiedenen  Schulen  und 
Richtungen  innerhalb  des  Buddhismus  erstrebt  werden,  'y.  Bei  allem 
Festhalten  an  den  buddhistischen  Grundwahrheiten  soll  gegen  die  religi- 
ösen Anschauungen  und  Dorschriften  aller  Hicht-Buddhisfen  die  weit- 
gehendste Duldung  geübt  werden."  — 

.         Sandwich-Inseln.    Ruf  den   Rawai'i'schen  tJnseln   mitten  im  Stillen 
Ozean    arbeiten    lebhaft    buddhistische    ITlissionare   (Japaner)    unter   der 


No.  11.  Die  buddhistische  Welt.  83 

Lcifung  des  Superinfendenfen  Reo.  K.  Omamura  in  honolulu.  Ruf 
der  tinsel  befinden  sich  eine  EVnzahl  buddhislischer  Tempel  und  Qeisf- 
licher.    Der  Sfand  dieser  ITlission  isf  ein  sehr  blühender. 

Ceylon.  Rm  2.  Januar  fand  im  Rnanda-Collcgc  zu  Colombo  die 
diesjährige  Ronuenlion  der  Dorsfeher  und  Lehrer  der  Buddhisfen-Schulen 
Ceylons  sfalt  (nofa  bene:  nur  derjenigen,  welche  unfer  Rufsichl  der 
»Colombo  Buddhist  Theosophical  Sociefy«  arbcifen).  Die  Oersammlung 
gab  ein  erfreuliches  Bild  oon  dem  IDachsfum  des  buddhistischen  Schul- 
wesens auf  Ceylon.  Soweit  die  unter  der  beifuug  der  genannten  Qesell- 
schaff  stehenden  Buddhisten-Schulen  (abgesehen  oon  diesen  gibt  es  in 
jenem  l^ande  noch  ca.  100  andere  buddhistische  Isehranslalten)  in  Frage 
kommen,  wollen  wir  über  die  Rrbeit  im  cerflosscncn  Jahre  folgendes 
bemcrlien ;  Es  wurden  22  neue  Schulen  eröffnet;  damit  beträgt  die, 
Gesamtzahl  der  unter  der  C.  B.  T.  S.  arbeitenden  ceylonesischen  Bud- 
dhisten-Schulen 200.  Rcht  neue  besondere  Schulhäuser  wurden  gebaut; 
sechs  Schulgcbäude  wurden  oergrössert  und  mit  dem  Bau  oon  fünf 
neuen  Schulhäusern  ist  begonnen  worden.  Die  Schulen  werden  besucht 
oon  1.5770  Knaben  und  9800  tTlädchcn,  also  insgesamt  oon  25570  Rindern. 
Die  Aussichten  für  die  weitere  Entwicklung  im  kommenden- Jahr  sind 
günstig  trotz  der  Schwierigkeiten,  welche  die  christlichen  missionare  der 
Ausbreitung  der  buddhistischen  Erziehung  bereiten,  ücrschiedenc  wich- 
tige Anträge  zur  Förderung  der  edlen  Sache  wurden  oon  der  Dersamm- 
lung  angenommen. 

Am  9.  Februar  dieses  3ahres  sind  zwei  Europäer,  ein  Deutscher 
und  ein  Rolländer,  oon  Bhikkhu  riyänatiloka  als  riooizcn  in  die 
buddhistische  Bruderschaft  aufgenommen  worden. 

Nord-Amerika,  nach  Dancouoer  (Britisch  Columbia)  kam  oor 
kurzem  ein  neuer  buddhistischer  missionar  aus  Japan,  Reo.  S.  Sasaki. 
So  oiel  wir  wissen,  ist  dies  die  erste  buddhistische  ITlission  in  Britisch- 
riord-Amerika.  Die  dort  wohnenden  Buddhisten  hatten  sich  bereits  oor- 
hcr  zu  einer  Organisation  zusammengeschlossen  und  haben  nunmehr  ein 
schmuckes  ITlisslonshaus  errichtet.  — 

Blättermeldungen  zufolge  haben  sich  in  San  Francisco  gelegentlich 
der  Einweihung  eines  neuen  buddhistischen  Tempels  fünfzig  Personen 
als  mifgüeder  der  dorfigen  Gemeinde  eintragen  lassen. 

Unser  oerehrter  Freund,  Fierr  Reo.  Kentok  Rori  in  Cambridge- 
Boston  ist,  wie  er  uns  mitteilt,  mit  der  englischen  Übersetzung  eines  wichtigen 
grossen  IDerkes  über  Buddhismus  beschäftigt.  Das  Buch  ist  japanisch  ge- 
schrieben und  hat  als  Autoren  Reods.  Dr.  B.  rianjio  und  Dr.  R.  Rayeda! 
Das  bedeutende  lüerk  isf  betitelt:  »Auszüge  aus  buddhistischen 
Schriften«  und  enthält  eine  reiche  Auswahl  oon  Texten  sowohl  des 
südlichen,  wie  des  nördlichen  Buddhismus.  IDir  wollen  hier  das  3nhalts- 
ocrzeichnis  anführen:  I.  Teil:  Allgemeine  Einleitung.  II.  Teil:  Der 
Glaube.  1.  Glaube,  2.  Derehrung,  3.  Bekenntnis.  111.  Teil:  Lebenswandel. 
1.  Einleitung,  2.  rnoralilät  in  Bezug  auf  die  eigene  Person,  a)  Selbst- 
beherrschung, b)  Einsichtige  Rede,  c)  Geduld,  d)  Fleiss.  e)  Treue, 
f)  Schamhaffigkeit.  g)  Ehrenhaftigkeit,  h)  Geduld,  i)  Geistige  Gesund- 
heit. 8.  nioralitäf  gegen  andere,  a)  Dankbarkeit,  b)  Loyalität,  c)  Pflichten 
der  Elfern  und  Rinder,  d)  Pflichten  der  Lehrer  und  Schüler,  e)  Freundes- 
pflichten, f)  Pflichten  des  Ehemannes  und  der  Ehefrau,  g)  menschenliebe. 
h)  Güte  gegen  die  Tiere,  i)  Pflege  der  Elenden.  4.  Soziale  Tugenden, 
a)  Friedfertigkeit,  b)  lüirkcn  für  das  allgemeine  IDohl.  c)  die  Rlasscn 
in  der  Gesellschaft.  5.  moralifät  in  Bezug  auf  die  »drei  3uwelen«.  a) 
Buddha-yuwel.  b)  Dharma-3uwel.  c)  Sangha-3uwel.  d)  Predigt. 
IV.  Teil:  Die  Lehre.  1.  Die  Hatur.  a)  Die  Realität  der  Hafur.  b)  Die 
natur  als  Erscheinung.  2.  Der  ITlensch.  a)  Die  Ocrgänglichkeif.  b)  Der 
menschliche  Rörper.    c)  Der   menschliche   Geist,     d)  Sünde,     c)   Rarma. 


84  bie  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

glDiedcrgcburl.  g)  Erlösung.  3.  Der  Buddha,  a)  Das  ITlIfleid  des 
uddha.  b)  Die  iDcishcif  des  Buddha.  c1  die  Rciligkcif  des  Buddha, 
d)  Die  Persönlichkeit  des  Buddha,  e)  Plirvjana.  Appendix:  1.  Das  Iscben 
des  Buddha.  2.  Rurzgefassle  Qeschichfe  des  Buddhismus.  —  IDir  sehen 
der  englischen  Übersetzung  dieses  ca.  600  Seiten  umfassenden  hochwich- 
tigen iDerkes  (dieselbe  wird  in  etwa  2  fahren  üollendel  sein)  mit  grosser 
Spannung  entgegen  und  hoffen  schon  corher  das  eine  oder  andere 
Rapifel  unseren  Lesern  in  dieser  Zeitschrift  zugänglich  machen  zu  hönnen. 
—  Rcrr  Reo.  Dr.  Rori  hat  uns  ferner  noch  einen  EVufsatz  über  den 
Buddhismus  in  ^apan  freundlichst  zugesagt. 

Russland.  Der  Kaiser  oon  Russland  empfing  am  14.  Februar  in 
Audienz  Abordnungen  der  buddhistischen  QeisHichheif  mit  dem  Raupt 
der  buddhistischen  öeisIlichUeit  oon  Sibirien,  Bandido  Khamba-Lama 
an  der  Spitze,  sowie  üertreler  der  burjatischen  Bevölkerung.  Die  Ab- 
ordnungen überreichten  Adressen,  in  denen  sie  ihrem  Danke  für  die 
manifeste  oom  3.  ITIärz  1905  Ausdruck  gaben,  die  die  Oleichheil  und  die 
Freiheit  des  Qewissens  gewährten.  Die  Deputationen  überreichten  dem 
Kaiser  eine  Statue  des  Buddha  und  der  Kaiserin  eine  vjon  Burjaten  ge- 
fertigte silberne  Dase. 

Mitteilungen  und  Notizen. 

Die  christliche  Mission  in  Japan,  nach  der  Statistik  com  ^ahre 
1902  war  der  Bestand  der  christlichen  mission  in  ^apan  wie  folgt: 

iVtlssionare 
Ausländer    Unländer      Kirchen 

Protestantismus 275   ....   775   ....   801 

Römischer  Katholizismus    .    .    106   ....     34   ...    .    154 
Griechischer  Katholizismus  1    .    .    .    .    179   ....    103 

interessant  und  äusserst  beachtenswert  sind  die  Klagen  protestan- 
tischer missions-Bläller  über  die  Zähigkeit,  mit  welcher  bei  den  japani- 
schen Christen  der  buddhistische  Qrundzug  sich  erhält;  überall  kommt 
unter  der  christlichen  ITlaske  das  buddhistische  Qesicht  wieder  zum  Dor- 
schein. Ein  christlicher  Qelehrter  in  Tokyo,  Professor  Ukita,  sagte 
i.  3.  1903  ganz  offen,  dass  „gelehrte  Christen  (es  handelt  sich  nicht  um 
Ronoertitenl)  Schritt  für  Schritt  buddhistische  und  konfuzianische  An- 
schauungen annehmen."  —  Es  ist  ein  grossartiges  Schauspiel  zu  sehen, 
wie  der  Buddhismus,  ohne  in  seinem  eigentlichen  IDesen  sich  zu  ändern, 
alles  Gute,  wo  immer  er  es  finden  mag,  aufnimmt  und  ucrwerfet.  ^n 
der  Form  äusserer  Propaganda  hat  der  Buddhismus  oom  Christen- 
tum manches  gelernt,  während  das  Christentum  beginnt,  sich  mit  bud- 
dhistischen Grundsätzen,  die  ihm  ursprünglich  oöUig  fremd  waren 
(z.  B.  der  Tierschutz),  zu  durchsetzen.  tJn  Japan  besteht  übrigens  eine 
starke  unitarische  Bewegung,  deren  Zweck  es  ist,  Buddhismus  und 
Christentum  in  'Japan  zu  oerschmelzen,  u.  z.  unter  Beiseitlassung  aller 
Derschiedenheiten  in  der  lüeltanschauung  (?)  und  unter  Betonung  der  ethi- 
schen niomenle;  die  üertrefer  dieser  Richtung  sind  meist  Japaner.  IDir 
glauben  nicht  so  recht  an  einen  dauernden  Erfolg,  da  die  Kluft  zwischen 
der  orientalisch-buddhistischen  und  der  abendländisch-christlichen  lüelt- 
anschauung doch  zu  tief  ist.  Freilich  —  maskieren  lässt  sich  so  manches, 
und  im  günsfigsfen  Fall  wird  hier  das  Ergebnis  ein  —  buddhaisicrtcs 
Christentum  sein. 

China  und  die  christliche  Mission.  IDieder  einmal  geht  die  Kunde 
»on  einer   bevorstehenden   frcmdcnfcindlichcn  Bewegung  in  China  durch 


No.  11.  Die  buddhistische  Welt.  85 

die  Presse,  und  \Biedcr  weiss  man  uon  der  Ermordung  chrisllicher 
missionare  scilens  chinesischer  Banden  zu  melden.  Jinleressanl  ist  die 
Oofiz  einer  Zeifung,  wonach  die  Dcranlassung  zu  dieser  Qevoalltaf 
wieder  die  „UnDorsichfigl^eiC  chrisflicher  missionare  gewesen  sei;  ielzfere 
sollen  nämlich  einen  (oder  mehrere)  Chinesen  gewalfsam  gegen  seinen 
IDillen  bei  sich  behalfen  haben.  —  Es  ls(  nun  sehr  werfooll,  dass  gerade 
In  dieser  Zeil  der  chinesische  Qcsandlc  In  Berlin,  Qenerallcufnanl  Vinl- 
schang,  sich  einem  Derlrefer  des  »Berliner  Tageblaffes«  gegenüber  bezüg- 
lich des  chinesischen  Fremdenhasses  folgendermassen  geäusserf  hal: 
„3ch  muss  mir  da  im  Urfeil  einige  Beschränkung  auferlegen,  doch  will 
ich  sagen,  dass  die  Schuld  nichl  auf  Seifen  der  Chinesen  liegf.  Die  2Aus- 
länder  fragen  selbst  die  Schuld.  3ch  mache  In  erster  Reihe 
die  missionare  ocranfwortllch,  wenn  üon  den  Chinesen  Felndseüg- 
Keiten  gegen  die  Ausländer  cerübt  werden.  Sagen  Sie  selber,  muss  es 
uns  nichl  tief  ucrlclzen,  wenn  da  so  ein  misslonar  ankommt  und  uns  zu 
seiner  Religion,  was  er  so  nennt,  mit  Freundlichkeit  oder  auch  mit  Ge- 
walt behehren  will.  Ruf  unsere  Empfindungen  wird  dabei  heine  Rück- 
sicht genommen.  Unser  Ahncnkulfus  und  die  Lehre  des  Konfuzius  sind 
uns  durch  jahrtausendelange  Übung  heilig  und  teuer.  Gibt  es  etwas 
Besseres  und  fnöhcres,  so  wollen  wir  es  gerne  kennen  lernen. 
Rber  dicLeute,  die  es  uns  bringen,  müssen  auch  danach  sein. 
Dann  dürfen  nicht  protestantische  und  katholische  missionare 
sich  mit  einander  herumbalgen  und  Im  Seelenfange  einander 
Konkurrenz  machen,  lüas  sind  es  denn  für  beute,  die  sich  oon  den 
missionaren  bekehren  lassen?  meistens  oerkommene  menschen, 
die  dabei  ihren  materiellen  Dorteil  finden.  IDIe  lächerlich  ist 
überhaupt  dies  ganze  missionswesen!  3n  Europa  gibt  es  doch 
wahrhaftig  so  üiel  zu  oerbessern,  dass  Europäer  es  wirklich  nicht 
nötig  haben,  Ihren  heiligen  Eifer  an  die  „minderwertigen  Chinesen"  zu 
uerschwenden.  Die  missionare,  sage  Ich,  dringen  Ins  Land  ein, 
behelligen  die  chinesischen  Bauern,  die  am  Glauben  ihrer 
üätcr  hängen,  werden  üon  Ihnen  zurückgewiesen,  kommen  mit 
grösserer  Zudringlichkeit  wieder,  hetzen  Familienglieder 
gegen  einander  auf,  stiften  Unfrieden  unter  der  Beoölkcrung 
und  werden  schliesslich  uon  hcissblüligen  Leuten  tällich  an- 
gegriffen. Dann  ist  der  Krach  fertig.  Der  misslonar  ruft  seine  Re- 
gierung an,  diese  muss  sich,  oft  gegen  ihren  IDillen,  gedrängt  oon  einer 
starken  Strömung  in  ihrem  Lande,  für  den  misslonar  Ins  Zeug  legen 
und  zwingt  die  chinesische  Regierung,  ihre  herausgeforder- 
ten Untertanen  noch  zu  bestrafen!  Das  wiederholt  sich  im 
ganzen  Reiche  in  hundert,  in  tausend  Fällen.  So  wird  im 
ganzen  Lande  Erbitterung  erzeugt,  die  sich  schliesslich  in 
einem  Ausbruch  gegen  alle  Fremde  entladet." 

Gleichzeitig  spricht  sich  ein  chinesischer  Rutor  in  seiner  »modernen 
Betrachtung  der  Beziehung  der  missionen  zu  den  chinesischen  EVuf- 
ständen«  über  den  IDerl  der  christlichen  mission  In  nlcht-misszuoer- 
stehender  IDeise  aus:  ,,lDenn  man  uns  beweisen  kann,  dass  die  IDirk- 
samkeit  der  missionare  in  China  eine  geistige  Bewegung  Ist,  dass 
dieselben  dahin,  wo  oorher  Dunkel  herrschte,  Licht  bringen,  dass  sie  Orient 
und  Occident  dadurch  einander  nähern,  dass  sie  gewissermasscn  deren 
höhere  Qelstesströmungen  in  gegenseitige  Berührung  bringen,  dann  sage 
ich:  sie  sind  würdig,  uon  allen  Gutgesinnten  unterstützt  zu  werden.  Rber 
ich  frage:  kann  man  uns  das  beweisen? 

„Gewiss  hat  der  protestantische  misslonar  sich  in  der  letzten  Zeil 
eifrig  „wissenschaftlichen"  Studien  hingegeben.  Er  kann  seinen  einge- 
borenen Schülern  mit  vjollem  Rechte  sagen,  dass  die  mandarincn  Toren 
sind,  wenn  sie  sich  über  eine  mondfinsicrnis  aufregen.     EVber  erzählt  er 


86  Die  buddhistische  Welt.  l.  Jahrg. 

nifhl  denselben  Schülern  eine  Slundc  später,  dass  die  Sonne  und  der 
niond  auf  den  Befehl  des  hebräischen  öcnerals  ^osua  sfillslanden  und 
dass  das  Buch,  in  dem  diese  Talsache  berichfel  wird,  ein  uon  dem  all- 
wissenden Schöpfer  des  IDellalls  diUficrfes  heiliges  Buch  isf? 

„Och  appelliere  an  alle,  denen  die  Sache  des  geisligen  ForlschrlKs 
ernstlich  am  Rerzen  liegt,  und  frage  sie,  ob  es  etwas  Unwissenschaft- 
licheres geben  kann,  als  eine  derartige  Gaukelei,  um  Keinen  schummern 
Rusdruck  zu  gebrauchen.  Die  Tatsache,  dass  dieser  missionar  sich 
dessen  nicht  bewusst  ist,  beweist  nur,  wie  tiefgehend  das  Übel  ist,  das 
er  anrichten  kann. 

„3ch  behaupte  also,  dass,  wie  ausgedehnt  auch  die  rein  wissen- 
schaftlichen Kenntnisse  sein  mögen,  welche  die  protestantischen  Ulissio- 
narc  nach  China  tragen,  sie  gleichzeitig  den  nagenden  IDurm  mitbringen, 
der  schliesslich  jede  Hoffnung  auf  geistigen  Fortschrift  für  die  Chinesen 
uerschwinden  lässt. 

„Denn  ist  es  nicht  in  Europa  diese  selbe  geistige  Gefahr,  gegen  welche 
alle  die  grossen  Befreier  des  menschlichen  Geistes  gekämpft  haben?  IDahr- 
lich  jedem,  der  den  Kampf  für  die  Qcistesfreiheit  in  Europa  auch  nur 
ein  wenig  kennt,  muss  es  höchst  sonderbar,  ja  abgeschmackt  erscheinen, 
dass  dieselben  Ijeute,  die  in  Europa  im  Flamen  der  Religion  uerbrannt 
und  üerfolgt  haben,  sich  hier  in  China  als  die  Derfechfer  der  IDisscn- 
schaft  und  des  geistigen  Fortschrittes  aufspielen I 

„Es  isf  also  nicht  wahr,  dass  das  lüerk  der  missionarc  in  China 
eine  geistige  Bewegung  ist.  ^eder,  der  sich  die  mühe  nehmen'  will,  den 
wirren  und  dunklen  fiaufen  oon  Schriften  zu  untersuchen,  der  sich  ,,Der- 
öffenflichungen  der  missionen  in  China"  nennt,  kann  sich  leicht  über- 
zeugen, dass  es  gerade  diese  obskure  biteratur  ist,  die  dem  gebildeten 
Chinesen  seine  üerachfung  des  Auslandes  einflösst.  Und  wenn  nun 
dieser  gebildete  Chinese  sieht,  dass  dieses  obskure  Zeug  dem  Dolke 
aufgezwungen  wird,  einesteils  durch  die  anmassende  Zudringlichkeit  der 
missionare,  andernteils  durch  den  Schrecken,  den  die  fremden  Kanonen- 
boote einflössen,  so  empfindet  er  für  die  Ausländer  einen  Fiass,  den  nur 
diejenigen  begreifen  können,  die  zusehen  müssen,  wie  alles,  was  ihnen 
teuer  und  heilig  ist,  das  Erbe  ihrer  Rasse  und  ihrer  Oation,  ihre  Bildung, 
ihre  Ziüilisalion,  ihre  Literatur  Gefahr  läuft,  auf  immer  entstellt  oder 
zerstört  zu  werden."  — 

Des  Kriegers  Zweifel. 

Stha,  der  Feldherr,  trat  üor  den  Erhabenen  und  sprach:  „iJch 
bin,  Erhabener,  ein  Krieger  und  bin  uom  Könige  ernannt,  seinen 
Gesetzen  Geltung  zu  verschaffen  und  seine  Kriege  zu  führen. 
Erlaubt  nun  der  Talhägata,  welcher  Güte  ohne  ITlass  lehrt  und 
Barmherzigkeit  gegen  alle  Leidenden,  die  Bestrafung  des  Der- 
brechersV  Und  weiter,  erklärt  der  Talhägata,  dass  es  Unrecht 
ist,  in  den  Krieg  zu  ziehen,  zur  Beshützung  unseres  fierdes, 
unserer  Frauen,  unserer  Kinder  und  unseres  Eigentums? 
Lehrt  der  Talhägata  eine  uüllige  Selbstergcbung,  so  dass  ich  dem  Übel- 
täter gestatten  soll,  zu  tun,  was  ihm  beliebt,  und  dass  ich  unterwürfig 
dem  nachgeben  soll,  welcher  droht,  mir  mein  Eigentum  mit  Gewalt  zu 
nehmen?  Sagt  der  Talhägata,  dass  jeder  Kampf,  auch  die  Kriegführung, 
welche  einer  gerechten  Sache  gilt,  Unrecht  ist?" 

Der  Buddha  erwiderte:  „Der  Talhägata  erklärt:  lOer  Strafe  ver- 
dient, muss  bestraft  werden,  und  wer  Gunst  verdient,  muss  begünstigt 
werden.  Aber  gleichzeitig  lehrt  er,  keinem  lebenden  IDcsen  Schaden 
zuzufügen,  sondern  voll  Güte  und  lüohlwollen  zu  sein.  Diese  Dorschriften 
widersprechen  einander  nicht;  denn  wer  seiner  Derbrechen  wegen  bestraft 
werden  muss,  erleidet  seinen  Schaden  nicht  durch  das  Übelwollen  des 
Richters,  sondern  infolge  seiner  bösen  Taten.  Seine  eigenen  Handlungen 
haben  die  Strafe  über  ihn  gebracht,    welche  der  üollziehcr  des  Gesetzes 


No.  U.  Die  buddhistische  Welt.  87 

über  ihn  verliängl.  lüenn  ein  Richler  sfraff,  so  soll  er  keinen  Rass  im 
Rerzen  liegen;  der  ITlörder  jedoch,  \)jenn  er  die  Todesstrafe  erleidcl, 
sollle  bedenken,  dass  dies  die  Fruch!  seines  eigenen  Tuns  isi.  Sobald 
er  cersichf,  dass  die  Sfrafe  sein  Gemüf  läulerf,  wird  er  sein  Qeschick 
nich!  länger  beklagen." 

Und  der  Erhabene  fuhr  forf :  ,, Der  Talhägala  lehrt,  dass  alle  Krieg- 
führung, bei  voelcher  der  ITlensch  besfrcbt  isf,  seinen  Bruder  zu  löfen, 
zu  beklagen  isi;  aber  er  lehrf  nichf,  dass  diejenigen,  welche  in  den  Rricg 
ziehen  für  eine  gerechfc  Sache,  nachdem  sie  alle  ITliilel  aufgebofen  haben, 
den  Frieden  zu  erhallen,  ladclnswcrf  sind,  lüer  Krieg  üerursachf,  der  isl 
ladcInsMjerl. 

,,Der  Talhägala  lehrl  ein  völliges  Selbslaufgeben,  aber  er  lehrl  nichf 
die  Unler\s:erfung  unler  böse  ITlächle,  seien  es  ITlcnschen,  oder  Deoas, 
oder  riafurkräfle.  Kampf  muss  sein;  denn  alles  Leben  isf  ein  Kampf 
irgendwelcher  Rrf.  E\bcr  derjenige,  welcher  kämpft,  soll  zusehen,  dass 
er  nicht  im  3nleresse  des  Selbstes  kämpft  gegen  lüahrheit  und  Gerech- 
tigkeit. 

„IDer  im  Interesse  des  Selbstes  kämpft,  so  dass  er  selbst  gross, 
oder  mächlig,  oder  reich,  oder  berühmt  werden  möchte,  wird  keinen 
guten  Lohn  ernlen;  wer  aber  für  Gerechtigkeit  und  lüahrheit  kämpft, 
wird  grossen  Lohn  haben;  denn  wenn  er  auch  unterliegt,  wird  er  siegen. 

..Das  Selbst  ist  kein  geeignetes  Qefäss  für  grossen  Erfolg;  das 
Selbst  isf  klein  und  zerbrechlich,  und  sein  3nhalt  wird  bald  cerschüllet 
werden  zum  Dorteil  und  üielleichf  zum  Fluch  anderer. 

„Die  lüahrheit  aber  ist  gross  genug,  das  Streben  und  die  Arbeit 
aller  menschen  in  sich  aufzunehmen,  und  wenn  die  Einzelexistenzen 
oergehen  wie  Seifenblasen,  die  in  nichts  zerplatzen,  so  wird  ihr  3nhalf 
erhalten  bleiben,  und  in  der  lüahrheit  werden  sie  ein  ewiges  Dasein  führen. 

,,lüer  in  den  Krieg  zieht,  Siha,  sei  es  selbst  für  eine  gerechte  Sache, 
muss  darauf  gefasst  sein,  üon  den  Feinden  getötet  zu  werden;  denn  das 
isf  das  Los  der  Krieger,  und  wenn  sein  Schicksal  ihn  ereilen  sollte,  so 
hat  er  keine  Ursache,  sich  zu  beklagen. 

,,EVber  wer  siegreich  ist,  sollle  der  Unbeständigkeit  aller  irdischen 
Dinge  gedenken.  Sein  Erfolg  mag  gross  sein;  aber  sei  er  noch  so  gross, 
so  kann  doch  das  Rad  des  Lebens  sich  wieder  wenden  und  ihn  nieder- 
werfen in  den  Staub. 

,, lüenn  ein  Sieger  sich  mässigt,  allen  Rass  im  Rerzen  ausrodef, 
den  niedergetretenen  Feind  aufhebt  und  zu  ihm  spricht:  ,Komm'  nun 
und  mache  Frieden,  lass  uns  Brüder  sein!'  so  wird  er  einen  Sieg  dauon- 
Iragen,  der  nicht  ein  oorübergehender  Erfolg  ist;  denn  seine  Früchte 
werden  bleiben  immerdar. 

,, Gross  ist  ein  erfolgreicher  Feldherr,  o  Siha,  aber  wer  das  Selbst 
bezwungen  hat,  ist  der  grösste  Sieger. 

„Die  Lehre  con  der  Selbstbezwingung,  Siha,  wird  nichf  gelehrt, 
um  die  Seelen  der  ITlenschen  zu  uerderben,  sondern  sie  zu  erhalten,  lüer 
das  Selbst  besiegt,  ist  fähiger  zu  leben,  erfolgreich  zu  sein  und  Siege  zu 
erringen,  als  wer  der  Sklace  des  Selbstes  ist. 

„lüer  frei  ist  von  der  Täuschung  des  Selbstes,  wird  bestehen  und 
nicht  fallen  im  Ringen  des  Lebens. 

,,lüer  Rechtschaffenheii  und  Gerechtigkeit  erstrebt,  wird  keinen 
misserfolg  haben;  seine  Unternehmungen  werden  gelingen,  und  sein 
Erfolg  wird  ein  dauernder  sein. 

„lüer  in  seinem  Qemüte  Liebe  zur  IDahrheit  beherbergt,  wird 
leben  und  nicht  sterben;  denn  er  hat  üon  dem  lüasser  der  UnSfcrblich- 
keif  getrunken."  (Eüangelium  Buddhas). 


88  Die  buddhistische  Weit.  I.  Jahrg. 

Buddhistischer  Missions-Verein  in  Deutschland. 

Zum  Repräscnfanf  cn  des  »Buddhisfischen  ITlissions-Dereins«  für 
Ös( erreich  is(  üom  Dorsfand  Rcrr  Dr.  med.  Erich  ITlafzner  in 
Birhfcld  (Sieicrmark)  ernannf  worden. 

Rm  14.  Februar  sprach  Rarl  Seidensfüchcr  in  ijeipzig  über  das 
Thema  »Der  Buddha  als  Reformalor«.  3n  diesem  Dorfrage  wurde 
der  Derdiensfe  gedachl,  welche  sich  der  ITlcisler  als  Reformafor  [Indiens 
erworben  haf.  EVls  Raupfgesichfspunkfe  wurden  namentlich  bclonf  die 
üerficfung  und  Dergeisligung  der  uorgefundenen  Anschauungen,  der 
Derzichl  auf  jede  Ar(  abföfender  Rskese,  die  Überwindung  des  Rifualis- 
mus  und  endlich  die  prai?fische  Durchführung  des  Einheifs-Prinzipes,  auf 
örund  deren  Toleranz,  menschenliebc  und  Qüfe  gegen  alle  lüesen  die 
bcifsicrne  des  praklischen  Buddhismus  wurden.  —  Rn  den  üorlrag  schioss 
sich  eine  längere  Debafie,  in  welcher  Fragen  allgemeinen  Charakters 
besprochen  wurden,  die  ausserhalb  des  in  dem  Dorlrage  behandclfen 
öcbiefes  lagen.  —  Der  nächste  Dorfrag  findet  am  14.  ITlärz  slaft  im 
Degelarischen  Speisehaus  »ITlanna«  Leipzig,  Schulsfrasse  8. 


Büchertisch. 


(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Rücher     übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verp6ichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,  per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Das  untergegangene  Lemuria.    Von    W.    Scott-Elliot.    Autorisierte 

Übersetzung    von    A.   von    Ulrich.     Mit   zw^ei    Karten.    Leipzig. 

Verlag  von  Max  Altmann  1905.    62  S. 

Die  zügellosen  Phantasien  eines  Laien  über  ein  paar  geologische 
und  paläontologische  Namen.  Dass  in  unserer  naturwissenschaftlich  so 
sehr  weit  vorgeschrittenen  Zeit  dergleichen  botokudenhaft  abergläubisches 
Zeug  nur  gedacht,  geschweige  denn  niedergeschrieben  werden  kann,  bleibt 
ein  Rätsel.  Dr.  H. 

Waiden  oder  das  Leben  in  den  Wäldern   von   Henry  D.  Thoreau. 

Aus  dem  Englischen  übersetzt  und  eingeleitet  von  Dr.  W.  Nobbe. 

Verlegt  bei  Eugen  Diederichs,  Jena  1905.  Br.  5.— M.,  geb.  6.— M. 
Als  Führer  zur  Vereinfachung  des  Lebens  wird  dem  deutschen 
Publikum  dieses  Hauptwerk  des  Philosophen  von  Concord  vorgelegt. 
Zur  Vereinfachung  des  Lebens!  Unsere  Leser  werden  darunter  nichts 
Verwunderliches  finden,  die  Einsicht  von  der  Notwendigkeil  einer  Ver- 
einfachung des  Lebens  wird  wohl  keinem  fehlen.  Uns  sind  es  keine 
fremden  Lehren,  4ie  der  Asket  vom  Waldenteich  verkündet.  Wir  wün- 
schen diesem  ausgezeichneten  Werke  auch  in  Deutschland  die  Beachtung, 
die  es  verdient,  und  die  es  in  Amerika  in  so  grossem  Masse  ge- 
funden hat.  Von  Thoreau  ist  der  Weg  zum  Buddha  nicht  mehr  so  schwer 
zu  finden.  D. 

Oemeinsame  Philosophie  der  Religionen.    Von  Willi  Boldt.    Berlin. 

Selbstverlag  des  Verfassers  1904.    32  S.    Preis  0,40  M.. 
Eine  der  vielen  überflüssigen  theosophischen  Propaganda-Schriften. 


Vertntwortlieher  Red«kteur:  G.  A.  Dietie,  Leipzig.  —  Verlmg:  Buddhistischer  Vertag 
in  Leipzig.    —    Druck:  Arno  Bachnunn,  Ba«lsdorf-Leipzij. 


Die 


Buddhistische  Welt. 


Publikations-Organ 

des 
Buddhistischen  Missions-Vereins  in  Deutschland. 


I.  Jahrgang. 


LEIPZIG,  März   1906. 


No.  12. 


Rundschau. 


Ceylon.  In  buddhistischen  Kreisen  ventiliert  man  lebhaft  die  Frage 
der  Gründling  einer  buddhistischen  Universität  in  Colombo. 

Japan.  Die  Jödo-Schule  besitzt  ein  vorzügliches  College  in  Tokyo, 
und  die  Zöglinge  desselben  sind  nach  verschiedener  Richtung  mit  gutem 
Erfolg  tätig.  Es  ist  jetzt  ein  Fond  gegründet  worden,  um  für  das  College 
ein  neues  grosses  Gebäude  zu  errichten,  welches  in  wenigen  Jahren  be- 
endet sein  wird.  Die  Wirksaml<eit  der  Jödo-Schule  liegt  hauptsächlich 
auf  dem  Gebiet  der  Erziehung  und  des  Unterrichtes. 

Drei  Provinzen  des  nördlichen  Japan  sind,  wie  bekannt,  von  einer 
Hungersnot  heimgesucht.  In  Tokyo  und  anderen  Städten  haben  Buddhisten 
sofort  Hilfskomitees  gegründet,  welche  eine  energische  Tätigkeit  enfal- 
teten;  auch  die  Christen  haben  sich  in  derselben  Weise  betätigt.  Der 
Mikado  und  die  Kaiserin  haben  ebenso  wie  die  Regierung  durch  grosse 
Geldspenden  und  Lieferung  von  Nahrungsmitteln  tatkräftige  Unterstützung 
gewährt.  Dank  dieser  edlen  Hilfsaktionen  ist  die  Lage  der  bedrohten 
Einwohner  jetzt  erträglich. 

China  und  Korea.  Die  Jödo-Schule  hat  jetzt  13  Missionare 
nach  Korea  und  4  nach  der  Mandschurei  entsandt.  Die  wichtigsten 
Centra  ihrer  Tätigkeit  sind  die  Städte  Söul,  Chemulpo,  Fusan  und  Gesan. 
In  China  missionieren  die  Jödoisten  in  Liaoyang,  Talien-wan,  Mukden 
und  Port  Arthur. 

Rundreise  des  Right  Rev.  Soyen  Shaku.  Der  hohe  Geistliche 
der  buddhistischen  Aieditations  -  Gemeinschaft  (Zen-shu  oder 
Dhyäna-Schule)  hat  in  den  Vereinigten  Staaten,  wie  wir  bereits  wieder- 
holt berichteten,  viele  buddhistische  Vorträge  gehalten.  Er  verliess  San 
Francisco  am  12.  März  und  besucht  nun  die  Städte  Chicago,  Washington 
und  New- York.  Ende  April  schifft  er  sich  nach  Europa  ein;  es  ist 
nicht  ausgeschlossen,  dass  er  hier  in  Leipzig  einen  Lehrvor- 
trag halten  wird.  Von  Europa  begibt  sich  Herr  Soyen  Shaku  über 
Indien,  wo  er  früher  viele  Jahre  geweilt  hat,  nach  Japan  zurück. 

Von  der  Mahäbodhi-Society.  Die  Mahäbodhi-Gesellschaft 
hat  ihr  Hauptquartier  jetzt  endgültig  von  Benares  nach  Colombo  (Ceylon) 
verlegt.  Wer  die  Tätigkeit  dieser  Gesellschaft  unterstützen  will,  abonniere 
auf  das  »Mahäbodhi-JournaU  (jährl.  4  Mk.)  Adresse:  The  Manager, 
Mahäbodhi-Journal,  Colombo,  Ceylon.  Der  Abonnements-Betrag  ist  im 
Voraus  zu  entrichten. 

11 


90  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Die  Ffihrer  der  »Theosophischen  Gesellschaft«  (Adyar). 

Das  »Mahäbodhi-Journa!«  schreibt  in  seiner  diesjährigen  Januar-Num- 
mer: „Wir  sehen,  dass  in  Indien  theosophische  Führer  an  Europäer  und 
Amerikaner  appellieren,  hinduistische  Colleges  und  Bibliotheken 
zu  unterstützen.  Henry  S.  Oleott,  Mrs.  Besant,  Herr  Leadbeater 
und  eine  Anzahl  anderer  europäischer  Theosophisten,  die  in  Indien  wirken, 
helfen  der  Hindu-Bewegung.  Die  Theosophisten  behaupten  von  sich, 
keiner  speziellen  Religion  auzugehören,  da  nach  ihrer  Auffassung  alle 
Religionen  dieselbe  Grundlage  haben;  und  dennoch  finden  wir, 
dass  es  ein  ganz  bestimmter  Hinduismus  ist,  den  die  genann- 
ten Führer  in  Indien  predigen.  Das  Central -Hindu-College 
wird  durch  öffentliche  Beiträge  erhalten;  es  hält  seine  Tore  buddhi- 
stischen Studenten  geschlossen  (!l),  und  dieses  College  steht 
unter  dem  Schutz  von  Annie  Besant  und  anderen  europäischen 
und  hinduistischen  Theosophisten.  In  Ceylon  wird  Theosophie 
als  Buddhismus  gehandhabt;  in  Indien  ist  sie  Hinduismus,  und  in  Amerika 
und  England  ist  sie  ein  esoterisches  Christentum.  In  Ceylon  predigt  H. 
S.  Oleott  Buddhismus,  und  wenn  er  in  Indien  ist,  sagt  er  den  Hindus, 
dass  der  Hinduismus  für  sie  das  Beste  sei.  Herr  C.  W.  Leadbeater  ist 
in  Ceylon  Buddhist,  in  Amerika  und  England  predigt  er  die  christliche 
Gottes-ldee.  Die  armen  Buddhisten  Ceylons  steuern  dazu  bei, 
in  ihren  Städten  buddhistische  Schulen  zu  eröffnen,  und  doch 
wird  der  Aussenwelt  erzählt,  es  seien  dies  theosophische 
Schulen."  — 

Also  die  genannten  Herrschaften  von  der  Theosophischen  Gesell- 
schaft können  deutsch  und  polnisch  —  je  nach  Bedarf.  Wir  freuen  uns 
aufrichtig,  dass  endlich  ein  buddhistisches  Journal  den  Mut  findet,  gegen 
diesen  widerwärtigen  Adyar-Schwindel  einmal  energisch  Front  zu  machen. 

Freilich  von  den  drei  mit  Namen  genannten  Führern  sind  zwei,  näm- 
lich Oleott  und  Leadbeater,  höchst  minderwertige  Geister,  tief  unter 
Annie  Besant  stehend,  welche  in  gewisser  Beziehung  eine  geistvolle  Frau 
und,  wie  wir  wenigstens  trotz  Hensoldt  immer  noch  glauben,  ehrliche 
Kämpferin  genannt  werden  muss.  Henry  S.  Oleott,  dessen  Verdienste 
als  Organisator  wir  keineswegs  verkennen  wollen,  der  Präsident  dieser 
in  Adyar  zentralisierten  Gesellschaft,  hat  bereits  von  der  verschlagenen 
Gründerin,  Madame  Blavatsky,  das  Zeugnis  erhalten,  „dass  er  dümmer  als 
der  König  von  Portugal  und  der  Grossvater  aller  Esel  sei."  Und  doch 
ist  dieser  im  Grunde  höchst  unbedeutende  Yankee  schlau  genug,  auf  die 
Dummheit  seiner  Mitmenschen  bauend  sich  seinen  wohlbesoldeten  Präsi- 
dentenposten bis  an  sein  Lebensende  zu  sichern.  Klappern  gehört  eben 
zum  Handwerk,  und  ein  Präsident,  der  sich  des  besonderen  Schutzes 
und  Wohlwollens  zweier  hypothetischer,  transbrahmaputrischer  Adepten 
erfreut  und  rühmt,  hat  der  Welt  für  das  Vorhandensein  dieser  „Meister" 
Beweise  zu  liefern  —  selbstredend  auf  Kosten  der  Wahrheit.  So  hat  denn 
Oleott  im  Zeitalter  der  Röntgenstrahlen  die  Schaubuden-Wunder  seines 
„mystic  shrine"  in  Adyar  spielen  lassen,  oder  gut  deutsch  gesprochen, 
hat  gelogen  wie  telegraphiert  und  das  Dunkelblaue  von  Indiens  Himmel 
heruntergeschwindelt.  Und,  —  so  unglaublich  dies  klingen  mag,  dieser 
plumpe,  polizeiwidrige  Schwindel  fand  und  findet  auch  heute  noch  in 
allen  fünf  Erdteilen  selbst  unter  Gebildeten  Gläubige,  alias  Gimpel,  die 
sich  durch  den  Knalleffekt  dieses  brillierenden,  aber  stinkenden  Feuer- 
werkes fangen  liessen.  Aber  jedes  Feuerwerk  muss  einmal  verpuffen, 
und  auch  für  den  »Old  Nominal«  in  Adyar  ist  die  Stunde  nahe,  da  sein 
ganzer  fauler  Zauber  offenbar  wird;  ihn  und  seine  Meister  (deren  in 
Dresden  fabrizierte  Phantasie-Bilder  in  Deutschland  reissenden  Absatz 
finden)  nimmt  heute  kein  zurechnungsfähiger  Mensch  mehr  ernst,  —  und 
wäre  es  auch  nur  im  leisen  Halbschlaf. 


No.  I2.  Die  buddhistisclie  Welt.  IW 

Herr  Leadbeater,  der  sich  durch  seine  ernst  genommen  sein 
wollenden  Reiseberichte  aus  Astralien  und  Devachan  schon  ge- 
nügend in  geistiger  Hinsicht  qualifiziert  hat,  weiss  offenbar  die  Dummheit 
des  „homo  sapiens",  auf  die  er  spekuliert,  ebenso  zu  schätzen,  wie 
Herr  Oleott.  Anders  steht  es  mit  Frau  Besant,  die  uns  aus  besserem 
Holz  geschnitzt  zu  sein  scheint  als  ihre  Genossen.  „Von  Zeit  zu 
Zeit  hör'  ich  die  Alte  gern",  —  gewiss,  Annie  Besant  ist  eine 
ehrliche  und  geschickte  Vorkämpferin  ihrer  Sache;  sie  ist  der  Abend- 
und  Morgenstern  der  »Theosophical  Society«,  welcher  bald  in  Madras, 
bald  in  London  sein  Licht  erstrahlen  lässt  und  die  Scharen  der  Getreuen 
immer  wieder  aufs  neue  begeistert;  aber  es  muss  trotzdem  konstatiert 
werden,  dass  sie  ebensowenig  wie  die  anderen  „Koryphäen"  sich  von 
der  Beschränktheit  und  Sophistik  des  theosophistischen  Systems  losringen 
kann.  Die  Einseitigkeit  dieses  Systems  besteht  darin,  dass  es  alle 
Religionen  durch  die  graue  Brille  eines  bestimmten,  Geheimlehre 
genannten  occultistischen  Mystizismus  betrachtet  und  allen  Ernstes 
behauptet,  alle  Religionen  seien  im  wesentlichen  sich  gleich.  Anders 
ausgedrückt:  das  theosophistische  System  ist  ein  modernes  Prokrustes- 
Bett,  für  welches  alle  Religionen  und  Philosophieen  unter  Anwendung 
von  roher  Gewalt,  verlogener  Sophistik  und  plumper  Fälschung  zurecht- 
gestutzt werden;  was  zu  lang  ist,  wird  abgehackt,  was  zu  kurz 
ist,  wird  auseinandergezerrt;  Hauptsache,  dass  das  gemarterte  Opfer 
hineinpasst.  Was  aus  einem  derartig  prokrustizierten,  ausgezerrten,  ver- 
stümmelten, vergewaltigten,  gefälschten,  kurz,  theo-sophistisch  zugerich- 
teten und  verhunzten  Buddhismus  oder  Christentum  für  ein  — 
stellenweise  allen  geschichtlichen  Tatsachen  Hohn  sprechendes  —  grauen- 
volles Monstrum  wird ,  ist  allen  mit  den  Verhältnissen  Vertrauten 
zur  Genüge  bekannt.  Diese  Herrschaften  von  der  »Theosophical  Society« 
haben  —  incredibile  dictu  —  wirklich  und  wahrhaftig  die  Naivität  (oder 
soll  ich  sagen  Arroganz)  der  Welt  (d.  h.  der  kritiklosen  Menge)  weiss 
zu  machen,  dass  erst  ihnen  durch  den  Schimmer  der  von  Madame 
Blavatsky  verkündeten  Geheimlehren  das  wahre  Licht  über  das  eigentliche 
Wesen  des  Buddhismus,  Hinduismus  und  Christentums  aufgegangen  sei;  Tat- 
sache, —  Scherz  ausgeschlossen!  Diese  Leute  sagen  allen  Ernstes  den 
Buddhisten  und  Brahminen,  dass  diese  ihre  eigene  Religion  nicht  verstehen, 
und  dass  ein  rechtes  Verständnis  erst  durch  ein  wenig  Zusatz  des 
Blavatskyschen  Elixieres  resp.  durch  die  für  Flachköpfe  so  bequeme 
Prokrustes-Methode  gewonnen  werden  könne.  Unter  diesen  Umständen  ist 
es  nicht  verwunderlich,  wenn  die  Hindus  der  Frau  Besant  trotz  deren  Fürsorge 
für  das  Hindu-College  den  Stuhl  laut  und  deutlich  vor  die  Tür  stellen;  wenn 
ferner  Christen  der  „genialen"  Engländerin  für  ihr  esoterisches  Christen- 
tum mit  den  allerdings  wenig  galanten  Worten  quittierten:  „Mir  scheint, 
die  Alte  spricht  im  Fieber."  Und  nun  wird  Mrs.  Besant  auch  noch  von 
den  Buddhisten  abgeschüttelt.  Madame  sitzen  also  glücklich  zwischen 
drei  Stühlen,  —  Madame  konnten  es  auch  kaum  anders  erwarten; 
suum  cuique!  —  Wir  werden  uns  übrigens  bald  mit  Frau  Besants 
Schriften  auseinandersetzen  müssen  und  bei  dieser  Gelegenheit  den  Be- 
weis liefern,  dass  wir  ihren  Standpunkt  an  dieser  Stelle  richtig  beurteilt 
haben.  —  S.  .mi-x-fm 

Buddhistischer  Missions-Verein. 

Zum  Repräsentanten  des  »Buddhistischen  Missions-Vereins«  für 
die  Schweiz  ist  Herr  Dr.  A.  Führer  in  Basel  ernannt  worden. 

Der  Geschäftsführer  des  Vereins,  Herr  G.  A.  Dietze  wohnt  vom 
1.  April  d.  J.  ab  Leipzig- Neustadt,  Tauchaerstrasse  50.  Wir  bitten, 
hiervon  Kenntnis  nehmen  zu  wollen. 

11* 


9f  Die  buddhistische  Welt.  I.  Jahrg. 

Einladung  zur  General-Versammlung.  Der  »Buddhistische 
Missions-Verein«  ladet  hierdurch  die  verehriichen  Mitglieder 
zu  der  am  Dienstag,  den  8.  Mai  d.  J.,  abends  8  Uhr,  im  Vegeta- 
rischen Speisehaus  »Manna«,  Leipzig,  Schulstrasse  8,  I  statt- 
findenden diesjährigen  General-Versammlung  ergebenst  ein. 
Tagesordnung:  1.  Bericht  der  Beamten;  2.  Wahl  der  Kassen-Revisoren; 
3.  Neuwahl  des  Vorstandes;  4.  Antrag  des  Vorstandes,  die  Generalver- 
sammlung wolle  beschliessen,  „den  bisherigen  Namen  »Buddhisti- 
scher Missions-Verein  in  Deutschland«  umzuändern  in  »Bud- 
dhistische Gesellschaft  in  Deutschland«;"  5.  Antrag  des  Vor- 
standes, die  Generalversammlung  wolle  beschliessen,  „die  von  dem 
Vorstande  in  dreifacher  Lesung  angenommenen  revidierten  Satzungen  als 
offizielle  Satzungen  des  Vereins  anzunehmen."  6.  Referat  des  Herrn  Karl 
Seidenstücker  über  das  Thema:  „Wege  und  Ziele  unserer  Propaganda."— 

Erklärung.  Der  »Buddhistische  Missions-Verein«  erklärt  hierdurch 
offiziell,  dass  er  in  keinerlei  Verbindung  mit  dem  »Buddhistischen  Verlage« 
in  Leipzig  steht  und  für  etwaige  Geschäfts-Manipulationen  dieses  Privat- 
Unternehmens  in  keiner  Weise  verantwortlich  ist.  Der  Verein  erklärt 
ferner,  dass  er  mit  der  im  »Buddhistischen  Verlage«  erschienenen  und 
von  demselben  jüngst  zur  Ansicht  versandten  Schrift  »Das  christliche 
Barbarentum  in  Europa«  nicht  das  Geringste  zu  tun  hat. 

*»»»€&» 

Notizen  des  Herausgebers. 

Der  »Buddhist«  als  offener  Sprechsaal.  Ich  möchte,  ehe  der 
neue  Jahrgang  beginnt,  die  Leser  nochmals  auf  einen  Punkt  besonders 
aufmerksam  machen.  Der  Buddhismus  ist  kein  fertiggedrechseltes  dog- 
matisches System,  in  welchem  alle  Fragen  nach  Schema  F  behandelt 
werden.  Im  Gegenteil;  es  ist  hier  der  individuellen  Anschauung  der 
denkbar  weiteste  Spielraum  gelassen,  namentlich  hinsichtlich  philosophi- 
scher, kulturhistorischer,  religionsgeschichtlicher  und  sozialer  Probleme. 
Unsere  Zeitschrift  nun  will  keiner  speziellen  Richtung  dienen,  vielmehr 
jeden  zu  Wort  kommen  lassen,  der  einen  verständigen  Beitrag  für  einen 
Teil  des  grossen  Gebietes  liefert,  So  erklärt  es  sich,  dass  im  »Buddhist« 
oft  verschiedene  Ansichten  sich  hören  lassen,  und  der  geneigte  Leser 
wolle  nicht  gleich  murren,  wenn  er  in  einem  Punkte  anderer  Ansicht  ist 
als  ein  Mitarbeiter.    Der  Buddhismus  ist  eben  kein  Dogmatismus. 

Das  »Evangelium  Buddhas«.  Um  Missverständnissen  vorzubeugen, 
sei  bemerkt,  dass,  wo  wir  das  »Evangelium  Buddhas«  als  Quelle 
zitieren,  es  sich  keineswegs  um  eine  alte  kanonische  Schrift  handelt,  son- 
dern um  ein  von  Dr.  Carus  geschriebenes  Buch.  Dasselbe  fiisst  zwar 
zum  grössten  Teile  auf  alten  Quellen,  enthält  daneben  aber  auch  Zu- 
taten, welche  die  eigene  Phantasie  eingegeben  hat.  Dies  gilt  z.  B.  von 
der  in  voriger  Nummer  abgedruckten  Partie,  betitelt: 

Des  Kriegers  Zweifel.  Verschiedene  Leser  haben  mir  ihr  grosses 
Befremden  über  dieses  Kapitel  ausgedrückt,  und  gesagt,  dies  könne 
schwerlich  eine  authentische  Äusserung  des  Buddha  sein,  da  es  dem 
Geist  des  Buddhismus  (cf.  das  erste  Gebot!)  direkt  widerspreche.  Ich 
habe  darauf  im  »Evangelium  Buddhas«  nach  der  Quellenangabe  für  dieses 
Kapitel  mich  umgesehen  und  allerdings  gefunden,  dass  Dr.  Carus  gerade 
die  von  uns  abgedruckte  Stelle  als  »explanatory  addition«  bezeichnet. 
Wir  haben  hier  also  beileibe  kein  authentisches  Wort  des 
Buddha  über  die  Kriegsführung  vor  uns,  sondern  die  rein  persön- 
liche Ansicht  eines  Anhängers,  welche,  solange  sie  nicht  in  aufdringlicher 


No.  12.  Die  buddhistische  Welt.  99 

Form  erscheint,  immerhin  als  der  geschickte  Versuch  eines  Kompromisses 
betrachtet  werden  muss. 

Des  Right  Rev.   Soyen  Shaku  Vortrag  in  Leipzig   ist   bis  jetzt 

allerdings  noch  ein  frommer  Wunsch,  dessen  Realisierung  aber  durchaus  im 
Bereich  der  Möglichkeit  liegt.  Wir  bitten  daher  alle  diejenigen,  welche, 
falls  der  Vortrag  stattfindet,  an  demselben  teilzunehmen  wünschen,  dies 
rechtzeitig  dem  Geschäftsführer  Herrn  Dietze  mitzuteilen. 


Büchertisch. 


(Für    Besprechung    und    Rücksendung    nicht    verlangter    Bücher    übernimmt    die 

Redaktion  keine  Verpflichtung.     Die  Bücher  sind  zu  senden  an  den  Herausgeber 

Karl  Seidenstücker,  per  Adr.   Buddhistischer  Verlag  in  Leipzig.) 

Eingesandte  Literatur  und  Besprechungen. 

Buddhismus  und  buddhistische  Strömungen  in  der  Gegenwart.  Eine 

apologetische  Studie.  Von  Peter  Sinthern,  Priester  der  Ge- 
sellschaft Jesu.  Münster  i.  Westf.  Verlag  der  AIphonsus-Buch- 
handlung  (A.  Ostendorff).    XII  und  129  S.    Preis  2  Mk. 

Wenn  da  etwa,  ihr  Brüder,  jene,  die  nicht  mit  uns  sind, 
über  mich,  oder  über  meine  Lehre,  oder  Ober  meine  Ge- 
meinde verächtlich  reden  sollten,  so  darf  das  für  euch  kein 
Grund  sein,  dass  ihr  in  Zorn  geratet.       Brahmajäla-Sutta. 

„Dem  abgelebten  Genussmenschen,  dem  weichlichen,  trägen,  lebens- 
überdrüssigen, daseinsmüden  Sohne  der  indischen  Sonne  .  .  .  ."  Wir 
haben  wörtlich  zitiert;  vergl.  S.  20.  Wer  das  sein  soll?  Nun,  der 
Buddha!    Und  das  nennt  sich  eine  Apologie,  eine  Verteidigung! 

Wie  es  nun  weiter  geht  und  schon  auf  den  Seiten  vorher  zu  lesen 
war,  kann  sich  ja  nun  wohl  jedermann  selber  vorstellen  nach  diesem 
Pröbchen.  Mag  es  sich  nun  um  das  Leben  und  die  Lehren  des  Buddha,  um 
seine  Jünger,  seine  Laienanhänger  oder  um  sonst  etwas  Buddhistisches 
ältesten  oder  neuesten  Datums  handeln:  Alles  ausnahmslos  findet  hier 
seine  Kritik  nach  obigem  Muster.  —  So  schien  unsere  Lesearbeit  ziem- 
lich langweilig  werden  zu  wollen.  Aber  trotzdem  sind  wir,  und  bald 
genug,  auf  unsere  Kosten  gekommen,  wenn  auch  schwerlich  nach  den 
Intentionen  des  Autors.  Wenn  man  nämlich  ein  Weilchen  nur  mit  einiger 
Aufmerksamkeit  gelesen,  wird  man  plötzlich  mit  Überraschung  gewahr, 
dass  alles  ohne  Ausnahme,  was  hier  dem  Buddhismus  so  bitter  aufgerech- 
net wird,  genau  dasselbe  ist,  was  bald  dem  Christentume  im  allgemeinen, 
bald  dem  Katholizismus  im  besonderen  von  ihren  Kritikern  vorgehalten 
zu  werden  pflegt.  Da  fehlt  weder  die  Authenticität  der  Texte,  noch  ihre 
Vertrauenswürdigkeit  rücksichtlich  Wundergeschichten  etc.,  weder  die 
Transsubstantiation,  noch  die  Unverständlichkeit  des  Lateinischen  für 
Laien,  weder  die  Moraltheologie  des  Liguori,  noch  gewisse  neueste  Straf- 
prozesse gegen  christliche  Geistliche  usw.  Nichts  bleibt  unserem  Er- 
innerungsvermögen erspart;  der  Verfasser  suggeriert  uns  all  und  jedes I 
Aber  auch  er  scheint  von  solcher  Suggestion  nicht  freigeblieben  zu  sein. 
Beim  Pätimokkha  z.  B.,  S.  53,  scheint  ihm  so  etwas  in  den  Sinn  ge- 
kommen zu  sein,  wie  eine  Erinnerung  an  das  Gleichnis  vom  Splitter  im 
Auge.  Er  beklagt  da,  dass  unser  Jahrhundert  „so  krankhaft  erregbare 
Nerven  gegenüber  dem  geringsten  Scheine  eines  Schattens  im  Christen- 
tume zeigt."  Also  doch  „der  geringste  Schein  eines  Schattens."  Wes- 
halb übersetzt  er  uns  nicht  lieber  bei  dieser  so  günstigen  Gelegenheit 


M  Die  buddhistische  Welt.  1.  Jahrg. 

etwas  z.  B.  aus  der  Theologia  moralis  des  heiligen  Dr.  Alphonsus  iWaria 
de  Liguori?  Fügte  er  dann  hinzu,  dass  diese  für  den  Gebrauch  im 
Beichtstuhl  bestimmt  ist,  zum  Ausfragen  der  Ehefrauen  und  Töchter  an- 
derer Leute  durch  einen  Cölibatären  unter  vier  Augen,  und  nicht  für  eine 
Versammlung  erwachsener,  selbständiger  Männer,  so  würde  er  schnell 
genug  erfahren,  ob  auch  Leute  von  festen  Nerven,  allerfestesten  und  gesun- 
desten sogar,  nicht  doch  etwas  anderes  darin  sehen,  als  den  „Schein 
eines  Schattens." 

Auf  die  gleiche  Art  wie  vorstehend,  stets  zu  seinem  Schaden,  Hesse 
sich  ausnahmslos  alles  und  ohne  irgend  welche  Mühe  widerlegen,  was 
der  Autor  dem  Buddhismus  zum  Vorwurfe  macht.  Wollte  er  das?  Wir 
verzichten  trotzdem. 

Nebenher  bekommen  dann  auch  die  Leute  von  der  Ethischen  Kultur 
und  auch  die  Theosophen  ihr  Teil.    Doch  das  interessiert  hier  nicht  weiter. 

Was  nun  der  Autor  als  seinen  eigenen,  selbstverständlich  positiv- 
christlichen  Standpunkt  darlegt,  deckt  sich  mit  dem,  was  uns  meistens 
schon  auf  den  Schulbänken  zuwider  geworden  ist.  Auch  hier  gelingt 
es  ihm  noch  rücksichtlich  des  von  ihm  Beabsichtigten  in  mitunter  recht 
tragikomischer  Weise  danebenzugreifen.  —  So  illustriert  er  seine  Glautjens- 
stärke  an  der  Erweckung  des  Lazarus.  Angenommen,  die  Sache  habe 
sich  so  verhalten.  Aber  was  beweist  sie  denn?  Eigentlich  doch,  dass 
ein  Mensch,  entgegen  den  Behauptungen  des  Autors,  unter  Umständen 
auch  öfter  sterben  kann,  als  nur  ein  Mal.  Was  die  Wiedergeburt  des 
Lazarus  von  der  indo-buddhistischen  Wiedergeburt  unterscheidet,  ist  in 
der  Hauptsache  das,  dass  dem  zweiten  Dasein  des  Lazarus  die  Kinder- 
und  Jugendzeit  fehlte.  Als  erwachsener  Mann  kam  er  in  das  Leben  zu- 
rück; möglichen  Falles  eben  so  schwach  und  gebrechlich,  wie  wenige 
Tage  vor  seinem  ersten  Tode.  Ob  das  ein  Glück  war,  über  welches  er 
und  seine  Angehörigen  sich  zu  freuen  Ursache  hatten? 

„Nur  unter  dem  Schatten  des  Kreuzes  wird  die  alte  und  neue  Welt 
ihre  höchsten  Kulturgüter  wahren,  nur  die  Religion  des  Kreuzes  wird  dem 
nach  Erlösung  schmachtenden  Inder  wahre  Erlösung,  menschenwürdige 
Erlösung  und  alle  Segnungen  bringen  für  Zeit  und  Ewigkeit,  welche  die 
Religion  des  Kreuzes  so  reichlich  über  alle  Völker  ausgiesst  .  .  .  ."  ruft 
der  Verfasser  zum  Schluss  S.  129  aus.  Wie  diese  „Kulturgüter"  und 
„Segnungen  für  Zeit"  aussehen,  erfährt  man  auf  S.  85,  wo  man  es  eine 
„unendliche  Liebestat  Gottes  nennen  rauss,  wenn  er  den  Menschen  mehr 
oder  weniger  sein  ganzes  Leben  lang  von  Kreuz  und  Leid  geplagt  sein 
lässt."  Und  S.  88,  wo  es  heisst:  „Gerade  die  Übel  dieses  Lebens  be- 
weisen das  Dasein  eines  persönlichen  Gottes."  —  Das  ist  also  der 
Weisheit  letzter  Schluss.  Elend  sollen  wir  sein,  elend  muss  man  die 
Menschen  machen,  damit  Gottes  Herrlichkeit  offenbar  werde! 

Mehr  oder  Ärgeres  hat  keiner  der  zahlreichen  antikirchlichen  und 
atheistischen  Historiker  und  Pamphletisten  gegen  das  Christentum  und 
seine  Einrichtungen  vorzubringen  gewusst,  wie  dieser  Pater  S.  J.  in  diesen 
paar  Worten.  —  Wir  lassen  ihm  gerne  seine  „Religion  des  Kreuzes"  und 
ertragen  es  neidlos,  dass  man  die  unserige  weder  nach  einem  Kreuz, 
noch  nach  einem  Galgen,  Richtbeil,  Scheiterhaufen  oder  einem  anderen 
Mordinstrumente  nennen  kann.  Sie  ist,  was  sie  war,  und  bleibt,  was 
sie  ist:  die  Religion  des  in  der  Weisheit  beruhenden  Friedens,  in  welchem 
Mass,  Neid,  Hochmut,  Gier  keine  Stätte  besitzen ;  tolerant,  weil  sie  kein 
Gewerbe  ist;  frei,  weil  sie  für  keine  Mächtigen  Bütteldienste  am  Geiste 
der  Unterdrückten  verrichtet;  unbenötigt  der  Gotteslästerungs-  und 
Religionsschmähungsparagraphen,  weil  sie  als  Wahrheit  die  Logik  auf 
ihrer  Seite  hat;  unbefleckt  vom  Blute  der  Folterkammern,  Schafotte  und 
Religionskriege    wie    vom  Qualme    der    Ketzerverbrennungen.    Und  von 


No.  12.  Die  buddhistische  Welt.  fl6 

den  Übeln  des  Lebens  lehrt  sie  nicht,  dass  sie  eine  ewige  und  gar 
segensreiche  Institution  eines  allgütigen  Gottes  seien,  sondern  sie  sagt: 
„Alles,  was  dich  plagt  und  peinigt,  hat  seine  natürliche  Ursache.  Betäube 
dich  darum  nicht  mit  Hoffnungen  auf  fremde  Hilfe.  Bitte  und  bete  nicht 
um  Hilfe,  denn  das  ist  zwecklos  und  Zeitvergeudung.  Willst  du,  dass 
es  besser  werde,  so  benutze  deinen  dir  angeborenen  Menschenverstand, 
das  einzige,  was  dir  zu  helfen  vermag,  und  erforsche  die  Ursachen  deines 
Elendes,  deiner  Leiden.  Hast  du  sie  gefunden,  so  nimm  nicht  etwa  Rache, 
denn  nicht  durch  Böses,  sondern  durch  das  Gute  wird  das  Böse  beseitigt. 
Beseitige  daher  die  bösen  Ursachen,  so  bist  du  frei  von  deren  bösen 
Wirkungen:  all  dein  Elend  hat  dann  ein  Ende.    Es  ist  nicht  ewig!" 

Dr.  H. 
Kokoro.  Von  Lafcadio  Hearn.  Einzig  autorisierte  Übersetzung  aus 
dem  Englischen  von  Berta  Franzos.  Mit  Vorwort  von  Hugo 
von  Hofmannsthal.  Buchschmuck  von  Emil  Orlik.  Frankfurt 
a.  M.  Literarische  Anstalt  Rütten  <S  Loening.  1905.  290  S.  Preis: 
brosch.  5  Mk.,  geb.  7  Mk. 
Ein  wundervolles  Buch!  Nichts  Alltägliches,  Gewöhnliches,  sondern 
eine  ganz  aussergewöhnliche  Schöpfung.  Wer  Lafcadio  Hearn  nicht  ge- 
lesen hat,  hat  nichts  gelesen  von  dem,  was  über  Japan  geschrieben  ist. 
Es  ist  wirklich  wunderbar,  mit  welcher  Tiefe  und  Innigkeit  der  Verfasser 
die  Seele  des  seltsamen  Volkes  im  fernsten  Osten  in  sich  aufgenommen 
hat.  Über  dem  Ganzen  liegt  ein  Kolorit,  das  sich  unmöglich  in  Worten 
wiedergeben  lässt.  Wir  lesen  kein  Buch,  —  nein,  wir  sind  in  Japan, 
hören  japanische  Lieder,  atmen  japanische  Luft,  besuchen  einsame  Tempel, 
lassen  uns  von  Priestern  belehren,  sehen  und  fühlen  japanische  Trauer 
und  Freude.  Stereoskopartig  stehen  die  Bilder  vor  uns  mit  einer  Lebens- 
wahrheit und  Ausprägung  im  Einzelnen,  die  durch  und  durch  meisterhaft 
ist.  Wir  freuen  uns  noch  am  Bilde,  —  da,  plötzlich  ein  anderes,  ebenso 
klar,  lieblich,  schön  und  herzerfreuend.  So  reiht  sich  Bild  an  Bild,  und 
wenn  man  das  Buch  aus  der  Hand  legt,  fühlt  man  erst  ganz  die  Grösse 
und  Reinheit  dieses  Genusses  im  Gegensatz  zu  den  zweifelhaften  Ge- 
nüssen unserer  modernen  Decadence-Literatur.  Hier  weht  göttlich-reine, 
frische,  krystallklare  Bergesluft,  ein  Labsal  für  den,  der  gezwungen  ist, 
für  gewöhnlich  den  Strassenstaub  der  Moderne  zu  schlucken.  Bald  heiter, 
bald  ernst,  bald  leichte  Genre-Bildchen,  bald  tiefernste  Schilderungen,  so 
ziehen  diese  entzückenden  Gemälde  plastisch  an  unserem  geistigen  Auge  vor- 
über, aber  nie  verfehlen  sie,  das  höchste  Interesse  wachzurufen!  Wie 
rührend  ist  da  die  Erzählung  von  der  »Nonne  im  Tempel  von  Amida«, 
wie  tief  ergreifend  die  Skizze  »Auf  einer  Eisenbahnstation«,  wie 
ernst  und  tief  die  Kapitel  »Die  Macht  des  Karma«,  »Die  Idee  der 
Präexistenz«,  »Gedanken  über  den  Ahnenkult«!  Und  dann  wieder 
»Götterdämmerung«  mit  ihren  geistvollen  Betrachtungen  über  japani- 
sche Buddha-Statuen.  Hier  sagt  Hearn:  „Die  reine  Klarheit,  die  leiden- 
schaftslose Zärtlichkeit  dieser  Buddhagesichter  vermag  noch  jetzt  dem 
Abendland  Seelenfrieden  zu  bringen,  das  in  seinen  zur  Konvention  herab- 
gesunkenen Religionen  keine  Befriedigung  mehr  findet  und  dem  Kommen 
eines  neuen  Heilandes  entgegenharrt,  der  da  verkünden  wird:  ,Ich  habe 
dieselbe  Liebe  für  Hoch  wie  für  Nieder,  für  den  Sittlichen  wie  für  den  Un- 
sittlichen, für  den  Verderbten  wie  für  den  Tugendhaften,  für  jene,  die 
Irrlehren  anhängen,  wie  für  jene,  deren  Glaube  gut  und  wahr  ist.'" 

So  haben  wir  in  der  Tat  ein  Werk  vor  uns,  welches  die  höchste 
Aufmerksamkeit  der  gebildeten  Welt  beanspruchen  muss.  Dass  ein  Bud- 
dhist aus  den  Hearnschen  Werken  wertvolle  Beiträge  zum  Verständnis 
des  japanischen  Buddhismus  erhält,  macht  diese  Bücher  für  unsere 
üesinnesgenossen  um  so  wertvoller.    Wir  werden  uns  sehr  bald  mit  einer 


96  Die  buddhistische  Weit.  1.  Jahrg. 

anderen  Schöpfung   des   hervorragenden   Autors   beschäftigen ;    vor   der 
Hand  empfehlen  wir  »Koiioro«   aufs   wärmste,    dessen   deutsche  Über- 
setzung und  künstlerische  Ausstattung  dem  Inhalt  adäquat  sind.  —     S. 
The  Light  of  Dharma.  A  Religious  Magazine  devoted  to  the  Teachings 
o?  Buddha.    Edited    by    Rev.    K.   Uchida.    San    Francisco,    Cal. 
U.-S.  A.,  Vol.  IV,  No.  4.    Januar  1906.    Pp.  103—134.  —    Inhalt: 
Das  Phänomenale   und   das  Hyperphänomenale.   —   Altruismus  im 
Buddhismus.    —   Buddhismus.   —   Eine  kurze  Skizze  der  Shin-shu. 
—  Das  blumenreiche  Japan.  —  Die  Schwelle  buddhistischer  Sitten- 
lehren.  —   Die   Behandlung  gefangener   und  verwundeter  Russen 
seitens  der  Japaner.  —  Notizen  des  Herausgebers.  —  Bücherschau. 
The  Journal  of  the  Mahäbodhi-Society.    Edited  by  the  Anagärika  H. 
Dharmapäla.    Colombo,  Ceylon.    Vol.  .XIV,  No.  1.    Januar  1906. 
Pp.  1  —  16.    Inhalt:    Ein  Rückblick.  —  Übersicht  über  den  Angut- 
tara-Nikäya.  —   Der  Unterschied  zwischen   dem   Buddhismus  und 
anderen  Religionen.   —   Mitteilungen  und  Notizen.   —  Nachruf  für 
Eduard  Atkinson.  — 
Ein   deutscher  Buddhist    (Oberpräsidialral    Theodor  SchuUze). 
Biographische    Skizze   ron    Dr.    Rrlhur    Pfungsf.     Zweite  uer- 
mehrle  Auflage.     ITlif  Bildnis.    Sfudgarf.      Fr.  Frommanns  Derlag 
1901.    51  S.     Preis  brosch.  0,75  mk. 
Der  Derfasser  bemerk!  in  seinem  DorvDorf  zu  diesem  rech!  beachlcns- 
vocrten  Büchlein:    „Es  war    mir    eine  besondere  Freude,   dass  es  dieser 
kleinen  Schriff   oergönnf  gewesen  isi,    zum    erslen  Ulalc   wcifere    Rreise 
auf  die  einzigarlige  Persönlichkei!  des  »Dcufschcn  Buddhisten«  aufmerk- 
sam zu  machen,  welcher  wie  kaum  ein  anderer,  dazu  berufen  erscheint, 
ein   entscheidendes   IDort   zu    den    religiösen    Kämpfen    unserer   Zeit   zu 
sprechen.     Oberpräsidialral  Schulfze   hätte   es    in    seinen    letzten  Lebens- 
jahren gewiss   nicht  für  möglich  gehalten,    dass  die  Frage,   wie  sich  der 
RuKurwert  des  Christentums   zu  dem   des  Buddhismus  üerhalie  —  jenes 
Problem,    dessen  Studium    ihn   unablässig    anzog  —  so  bald  oon  höchst 
aktueller  Bedeutung    werden  würdel    lüenn    man    aber   seine    Schriften 
liest,  in  denen  er  mit  furchtbarem  Ernste  die  Fragen  behandelt,  die  heute 
an  jedem  lüirtshaustischc  besprochen  werden,  dann  gelangt  man  zu  der 
Überzeugung,  dass  er  uorausgesehen  haben  muss,  wie  die  lücltanschau- 
ung  des  abendländischen  Rulturkreises  mit  der  des  ostasiatischen  in  nicht 
ferner   Zeit   cerhängnisooll   zusammenprallen   würde.     IDenn    ich    in  der 
Dorrede  zur  ersten  Auflage  dieser  Schriff    die  Erwartung  ausgesprochen 
habe,  dass  ich  durch  meine  Arbeit    uielleicht    der  lüissenscliaft    einen 
Dienst  leisten  würde,  so  möchte  ich  heute  der  Fioffnung  Ausdruck  geben, 
dass  es  dieser  neuen  Auflage  üergönnt  sein  möchte,  auch  die  Augen  der 
Politiker  auf  Schultzes  Bücher  zu  lenken,     mehrere  der  schwierigsten 
Probleme,  welche  heute  Parlamente  und  Kabinette  in  inlensiusfer  IDcise 
beschäftigen,  —  ich  möchte  als  Beispiel    nur   die  Diskussionen  über  den 
Unwert   oder   den  lüert   der  missionen    erwähnen  —  sind   uon  Schultze 
eingehend    behandelt  worden.    Die  f'^esultale,    zu    denen   er   gelangt   ist, 
ccrdienen  um    so  höhere  Beachtung,   als  er,  dem  Streite  des  Tages  ent- 
rückt,  frei  üon   jeder   leidenschaftlichen  Parteinahme   die  Probleme  rein 
theoretisch  und  ausschliesslich  mit  wissenschaftlichen  millcln  zu  lösen 
oersucht  hat." 

^eder,  der  Theodor  Schultzes  Fiaupfwerk  »Die  Religion  der 
Zukunft«  wirklich  studiert  und  mit  (äenuss  gelesen  hat,  wird  gern  zu 
dem  üorliegenden  Büchlein  greifen,  in  dem  Arthur  Pfungst  den  Charakter, 
Iscbensgang  und  die  Qeistesrichtung  dieses  bedeufenden  ITIannes  so  an- 
ziehend gezeichnet  hat.     S. 


Verantwortlicher  Redakteor:  G.  A.  Dietze,  I-eipzig.  —  Verlag:  Bnddhistischer  VerUg 
In  Leipzig.    —    Druck:  Arno  Bachmann,  Baalsdorf-Leipzig. 


T;j?T 


5V  r  5*3^  '^  '*S 


^äi?T  'f^  r$T  "^  y$T 


'  -'^^  I.'W 


^.        »V        •v>        'V«        •'V'> 

t  M:5V  ^  5Ä-^  ,  :::;     .,.,.     ....     ..... 


^/^^  ^•^'  '■A-'  ^-V»'       .        "^A'  ""V*'       .       *-<V' 


%5V 


4- 


sx  : 


...  XO> 


^;/. 


* 


Yf,^  ■-:  Yeti  l  5%SX  f  %sV  ^  ....  ^ 

<#  #-a>  *  "^  4-4i>  *^  #-4# 


i«KSe 


%5V 


y«ti 


V^  »V*  •■'V'^  »V'»  #V'\  •*«**  •V'^  'V*  'V^  'V*  'V^  »TT»  »v^ 

^  %5\'  :  %>^e  *^  %5V  :  ^sv  -^  Yeti  r  %s*?  *^  %jV  X  5^S?  T  %jV  X  5*S*f,^  5«5V  X  '"^  I 


•■»=• 


A'  nA»  %.A 


X«?4  I  X«/.  .;   X«;?  .;  X«?4  .    X<?X  :   X«%  .4.  if.%^  4.  >^?c  4-  ^.'>^  *  «^.^  4-  >^^  4- 


X9    *-P*    «A 


?^ 


7<S 


* 


•••  vit(      .,.., ,., 

^'      *.^'*      *'^-'      ^A-*      ^.^- 


4>  4:-  4>  *  ^i»  4-  f5>  4-  tit  4-  m  *  tit  *  tst 


:.  >^?A  ...  ^.%^.  4.  X«%4  ..V  J«»;^  ...  X;.?4  ...  ?S.%  4  ^»^.  .1,  ^?A  ..^  .,... 


X«5> 
%5V 


%s 


4- 


4. 


-•t=- 


•^i>  4-  4^-> 


....   X<%<.  ...  X^PA       '"■'        ' '"■' 


yS 

V*»  '■'V'«  ^V*  -'V'»  'V'» 


4"»       •.^.        •.^.       ."»■•        "^»       -v"        "^»       'V"        'V*       'V»        'v*       'V^       'V^, 

I  i^^A  T  x<?4  ...  i^v.  Z  x<%  T  x«?<.  -K  ^'x  I  J*.%  ..I.  }§?/>  4.  JiS.iii  ..^  xwx  ...  X94  ..K  ^%J  4.  ] 


* 


ves/        veü'        vesr        ves/'        ^£ax         vsv        VSS'        ""-tJ'    .    vSJ-'        ^CS'    .    iS2x    .    X?2i    .   i 

.•K    X«^-    .:•.    >§?/'   4:   ^■i^'   4.    i^?A   .-U.   i^?A    4:    ^.VC    4.    J*;/.    ..{..    ??.%    ..j.   i^?A    ...    i^^   ,N.    X«K    ,1,    ^M   <^  \ 

•  yiti  t  yä<  '  ^^v  1  '«V  *^  M:>v  X  ^^  X  ^^  1  '«*^  I  %5V  X  5^s?  X  %*?  r  ^«s^  r; 


;;iP^ 


..   J*.S/.     ..     X«%    .n    J«J, 


^•6-'  ^A»  ^-o«' 

,v  •*•  <!*  jy  ••t'  e*Vv  •'t-- 


*$t 


* 


«<At«  yJk»  «A^. 

'•*»        <v>        -vV 

'•ö".        .v>        'v> 
?4  4  X«%  .i.  U?A  I 

,'^.        .•^»        «v« 


BL 

uoo 

B7 

Jg.l 


Der  Buddhist 


X«%^  4.  ^.^  4. 


*f  -^ „_ 

äe  "^  >%sV  :  Yeti  ^ 

?/^  4.  i^?/'  .*.  ^P-^  .i. 

^  4S>  4-  4i>  -*•  4P 
?/.  -K  J«.%^  4-  X9<?  4. 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


?A  4.  x«;<i 


^4S> 


4S> 


:a^.    ;.   J«.%C  T  k^:yA  4,  ^«:.%  4,  i^?A  4,  X«%C  4,  ;«,?<  ..   X<%  4.  .^«.?^  4. 

•  A,-  *A*  *A'  •■A'  *A'  *A-' 


s^W  T  ^V'  T  y^f^  T  '%'5V  T  ^cfi 


■*f :  %k 

^  4?»  4-  4 

S  f  5«We 

^  4S^  4-  4 
i%  4.  JS.?<  . 

^4|t^^ 

^^*4 

^  4S>  4-  4 

»•^ '    .    \ 
^  4»>-  *  4 

S^  -^  Yek 

^4-1^  4-< 

i^  4S->  4-  4 
1%  Ä  J^9-*i 

j-  41>  *  < 
,*5  X  J^9«^ 

»V  X  %>\- 

■?•  4i>  •*•  4 

5V  ■■■  Yik 

>^4-^ 

-M  i.  ^9^ 


4- 


-         -%  I  X«%?  ..V  X9^  4.  ^9>5 

4>4-<i>4-<^4-^4--i>-^4i^*-; 


%JV 


*-4^4-^4-<^4--«5>4-4S^4-4^4-4S>4--^4-<S^4-4^-¥-<^4-t^ 

.A.  .A_  .*.  .dr.  .A.  a-A..  ■  Jl   a  «   JL.  »  ■  Jl  «  «  JL  •  ^^^  ^  ^  iCV' 


^:^^. 


,>  \  ^^v^^' 


■^  1^ 


1«