Bechmann, Hermann
Der Entwicklungsgedanke in
der Philosophie von Gustav Class
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University of Toronto
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Der Entwicklungsgedanke
in der Philosophie von Gustav Class
Inaugural-Dissertation
R - 3 zur
Erlangung der Doktorwürde
der
hohen philosophischen Fakultät
der
Friedrieh- Alexanders-Universität Erlangen
vorgelegt
von
HERMANN BECHMANN
aus Nürnberg.
DH TER
u ii 5
Inhaltsübersicht,
Vorbemerkung.
I. Teil.
Darstellung S. 1—45.
Das Problem der Geschichte
a) Individuum und historischer Inhalt
b) Die Behauptung deshistorischen Inhaltes vom Ob aus
c) Die Behauptung des historischen Inhaltes vom Indi-
viduum aus Te N re RR
2. Das Verhältnis des EEStärischeh zum Ewigen
a) Das Historische . A
b) Der a ak Hypothese
c) Analyse des personalistischen und sachlichen en
d) Das Ewige als unhistorisches Element
e) Der Entwicklungsgedanke in zweiter hybötketischer
Form. : Da
3. Die Einheit des Ceisteälebäns dd der Eat-
wicklungsgedanke. 2
a) Ihre Begründung in der Beziehung lachen Be Bad
Natur .
b) Einheit und Mahnielaltigkent des Eeisesichen.
c) Inadäquatheit des Geisteslebens .
d) Der Entwicklungsgedanke
Ir Keil:
Beurteilung S. 46 - 54.
1. Die philosophische Grundlage
2. Ergebnis I
Seite
L— 15
14
4—Io
Io—15
1533
15—18
18—21
21—27
27--31
3235
33745
S33m=371
37741
41744
44745
46— 50
53154
ur N
Vorbemerkung.
Mit vorliegender Arbeit möchte der Verfasser sich einer
Dankespflicht gegen seinen Lehrer in der Philosophie ent-
ledigen.
Die Class’sche Philosophie hat seines Wissens noch
keine eingehendere Darstellung erfahren. Es wurde hier
der Versuch gemacht, sie vom Entwicklungsgedanken aus
zu verstehen und zu reproduzieren. Zuletzt wurde der
Ertrag dieser Philosophie für einige Probleme, die zurzeit
im Vordergrunde stehen, angedeutet.
Nach der Meinung des Verfassers hat die Class’sche
Philosophie noch nicht die ihr gebührende Würdigung er-
langt. Sie steht hinter der an ein breiteres Publikum sich
wendenden und mehr propagandistisch auftretenden Philo-
sophie Euckens zurück. Ohne die Bedeutung der letzteren
zu verkennen, sind wir der Überzeugung, dass der Wahrheits-
gehalt, welcher in dem tiefgründigen Werke ‚Untersuchungen
zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes“
(Leipzig 1896) niedergelegt ist, zu seiner Zeit sich Bahn
brechen und neben den Euckenschen Gedanken seine selbst-
ständige Bedeutung erweisen wird.
In den Verhandlungen über die Absolutheit des Christen-
tums glauben wir jetzt schon da und dort die führende
Hand unseres Philosophen wahrzunehmen.
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III
l. Teil.
Darstellung.
1. Das Problem der Geschichte,
a) Individuum und historischer Inhalt.
Was wir historisch konstatieren können, ist immer eine
konkrete Gestaltung des religiösen oder des rechtlich-mora-
lischen oder des kulturlichen Lebens; eben als solche heisst
sie ein historischer Inhalt. (Phaen.* p. 30.) Wir begegnen
also in der Geschichte nirgendwo weder der Religion rein
als solcher, noch dem Recht oder der Moral als solcher,
d.h. mit allen ihren Begriffsmerkmalen ausgestattet. Aber
auch der Mensch als solcher, jenes abstrakte Lebewesen,
welches nur die Begriffsmerkmale des homo sapiens zum
Ausdruck brächte, ıst eine imaginäre Grösse. Vielmehr ist
jedes Individuum ein Kind seiner Zeit, d. h. einer bestimmten
Phase in der Entwicklung der historischen Inhalte. Fragt
man, wie das einzelne Individuum die betreffende zeit-
geschichtliche Signatur bekommt, so ist zunächst hinzuweisen
auf die Einwirkung der Gesamtheit, welche ihrerseits wieder
von bestimmten historischen Inhalten beherrscht wird. Diese
Einwirkung ist zunächst eine rein naturmässige. Der einzelne
trägt die Merkmale der Rasse, des Volkes, des Stammes,
der Familie. Und wie vieles von dem, was wir unsere
individuelle Besonderheit nennen möchten, ist Resultat
körperlicher und seelischer Vererbung. Man blickt da
*) Abkürzung für: Class, Phänomenologie und Ontologie (1896).
Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie. 1
=— je} 2
gleichsam in einen Strom naturgeschichtlichen Werdens
hinein, in welchem die einzelnen Wellen hervortauchen und
wieder verschwinden. (Phaen. p. 31.) Indes ist der einzelne
Mensch nicht bloss Produkt jenes naturgeschichtlichen
Werdens; die Einwirkung der Gesamtheit auf ihn ist nicht
lediglich eine naturmässige. Vielmehr erfährt er, wenn auch
zunächst in unbewusster Weise, die bildende Gewalt der
historischen Inhalte seiner Zeit, worunter ein bestimmter
Entwicklungszustand der Religion, des Rechtes, der Moral
und der Kultur zu verstehen ist. Sein Naturdasein verdankt
er seinen Eltern, was aber durch deren Vermittlung und
durch Vermittlung der ganzen erwachsenen Generation in
ihn eingeht, das kommt von jenen Inhalten her. (Phaen. p. 39.)
Man versuche es einmal, aus einem bestimmten Menschen das-
jenige fortzudenken, was seiner historisch gegebenen Religion,
ebenso seiner Periode des rechtlich moralischen Lebens an-
gehört, so schwindet er schon merklich zusammen. Streicht
man vollends das aus, was der betreffenden Phase der Kultur
angehört, was bleibt dann übrig? Etwas bleibt allerdings
übrig, aber dies „etwas“ scheint nicht ein Lebensinhalt,
sondern eine Lebensform zu sein. Nennen wir es „Für sich
sein“ oder Personhaftigkeit, so ist es eine Form, deren jedes-
maliger Inhalt historisch gegeben ist. (Phaen. p. 32.)
Somit hat sich uns der Unterschied der persönlichen
Lebensform und des sachlichen historischen Inhaltes er-
schlossen. Aber besteht dieser Unterschied wirklich, oder
ist er nur eine Abstraktion, die das künstlich trennt, was
einheitlich erlebt wird? Geht nicht vielmehr der sachliche
Inhalt aus dem „Fürsichsein“ hervor, in der Weise, dass
das, was erlebt wird, eins ıst mit demjenigen Element,
welches seinerseits diese Lebenserfahrung nicht bloss erleidet,
sondern selbständig durchmacht? (Phaen. p. 65.) Ist nicht
das, was bisher als historischer, sachlicher Inhalt vom
Individuum, von der persönlichen Lebensform, unterschieden
wurde, weiter nichts, als ein charakteristischer Zustand, der
sich am Individuum findet? Es sind in der Tat gewichtige
Gründe, welche gegen jene Unterscheidung sprechen und
somit das Individuum für sich als das wahrhaft und allein
— 3 —
wirkende erscheinen lassen. Jene Unterscheidung und damit
auch der Begriff des sachlichen historischen Inhaltes bleiben
uns also vorerst noch problematisch, bis die Einwendungen
dagegen erledigt sind
Man kann die Abhängigkeit des Einzelnen von der
Gesamtheit energisch betonen, und doch an der individualisti-
schen Geschichtsauffassung festhalten; darunter verstehen
wir hier zunächst die Ansicht, dass alles, was erlebt wird,
für das erlebende Subjekt in Anspruch zu nehmen ist. Die
Macht dessen, was wir „Inhalt“ nennen, gehört dann aus-
schliesslich dem Individuum an. Ob dem wirklich so ist,
oder ob es vielmehr ein objektiver Gehalt ist, der erlebt
wird, das ist die für die nachfolgende Untersuchung mass-
gebende Frage.
Stellen wir uns zunächst auf den individualistischen
Standpunkt, so wird man bestrebt sein, das Schema „Indi-
viduum und historischer sachlicher Inhalt“ durch ein anderes
zu ersetzen, welches die Zusammengehörigkeit des erlebenden
Subjektes mit dem, was es erlebt, unmittelbar zum Aus-
druck bringt. Dazu dürfte sich am meisten das Schema:
Volk und Individuum, oder Volksseele und Individuum
empfehlen. Untersucht man nämlich die Einflüsse, von denen
das in die geschichtliche Gegenwart gestellte Individuum
umgeben ist, so scheinen diese nichts anderes zu sein, als
das, was gerade in dem betreffenden Volke, dessen Glied
einer ist, historische Geltung hat. In einem anderen Volke,
zu einer anderen Zeit hätte es das Individuum mit anderen
historischen Einflüssen zu tun. Der historische Inhalt scheint
also schliesslich nichts anderes zu sein als eine Phase des
nationalen Lebens (Phaen. p. 35), die Völker, aus denen sich
die grossen Persönlichkeiten hervorheben, sind die Träger
der historischen Inhalte.
Indes, wenn man das untersucht, was innerhalb einer
bestimmten Phase des nationalen Lebens erlebt wird, so
zeigt sich, dass das Nationale allein nicht den Inhalt der
betreffenden Phase zum völligen Ausdruck bringt. Dass
man z. B. die bedeutenderen Religionen ebenso aber die
Entwicklung von Wissenschaft und Kunst aus dieser Quelle
1*
— 4 _——
des nationalen Lebens abzuleiten hätte, davon kann offenbar
keine Rede sein (Phaen. p. 35). Das Nationale ist — so zu
sagen —, das Gewand der Bewegung, nicht der Inhalt der-
selben (Phaen. p. 36). Für die philosophische Forschung ist
alles, was wir „Volk“ oder „national“ nennen, nur etwas,
was sich an den Personen findet. Es ist ein Typus, den
eine bestimmte Anzahl von Menschen trägt. Der Historiker
und Politiker freilich wird die Völker als Träger der
historischen Inhalte ansehen (Phaen. p. 37). Mithin erweist
sich der Ausdruck „Phase des nationalen Lebens“ als nicht
zureichend, um das zu benennen, was erlebt wird, und der
weitere Begriff des sachlichen historischen Inhaltes kehrt
wieder.
b) die Behauptung des historischen Inhaltes vom
Objekt aus.
Was das Individuum an Inhalt besitzt, empfängt es auf
doppelte Weise, gleichsam aus zwei Strömen, aus dem Strom
des naturgeschichtlichen Werdens, in welchem sich die Natur-
typen der Völker und Familien befinden, und aus dem Strome
der Geschichte im engeren Sinne, welche für uns in die
Entwicklungsreihen der Religion, des Rechtes und der Moral,
sowie der Kultur eingeteilt ist (Phaen. p. 37). Nur von diesem
zweiten Strome ist die Rede, wenn wir fortan den Ausdruck
historischer Inhalt (im engeren Sinne also) gebrauchen.
Ist ein sachlicher historischer Inhalt nicht nur in
unserer Abstraktion sondern als objektive Grösse vorhanden,
so ist zu erwarten, dass diese Grösse sich dem Individuum
gegenüber irgendwie aktıv verhält. Dies ist nunmehr zu
prüfen.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der einzelne
die bildenden Gewalten seiner Zeit mit ihren historischen
Inhalten in zunächst unbewusster Weise erfährt. Er ist eben
in eine bestimmte geistige Atmosphäre hineingeboren, welche
vorerst nach Analogie der Naturtypen, also zwangsweise
wirkt. Man mag wollen oder nicht, man ist eben das oder
das durch Geburt und historische Situation (Phaen. p. 40).
Der Inhalt ist in diesem Stadium alles, das Individuum
— 5 a
verhält sich mehr oder weniger passiv. Indes ist dies nicht
die einzige Weise, wie Inhalte sich zu Individuen verhalten.
Hätte es bei dieser naturhaften Einwirkung der Inhalte sein
Bewenden, so würde eine Reihe der wichtigsten und höchsten
Lebensvorgänge nicht stattfinden können. Bleiben wir, um
diese Behauptung durchzuführen, bei unserer bisherigen
Einteilung des menschlichen Handelns in die drei Arten des
religiösen, des rechtlich moralischen und des kulturlichen
und knüpfen zunächst an das letztgenannte an.
Das kulturliche Handeln umfasst alle praktische und
theoretische Bearbeitung, welche der Mensch auf die Natur
richtet. Dazu gehört auch das, was man Naturanschauung
nennt. Diese selbst ıst keine konstante Grösse, sondern
wechselt mit den Zeiten Wie kommt es aber überhaupt
zu einer Naturanschauung? Offenbar doch dadurch, dass
man alles sinnlich Wahrnehmbare nicht etwa rein objektiv,
sondern in einem ganz bestimmten Zusammenhange vor sich
hat (Phaen. p. 42). Fasst man z. B. die Gesamtheit des
sinnlich Wahrnehmbaren auf als unmittelbare Verbindung
von Materie und Kraft, so hat man der Hauptsache nach
das, was die „Natur“ für Goethe war. Dieser besondere
Zusammenhang, in welchem Goethe und seine Zeitgenossen
die Natur ansahen, kraft dessen „alle äusseren Verknüpfungen
sich in Vorgänge eines einheitlichen, allgemeinen Lebens
verwandeln“, ıst für die rein empirische, exakte Natur-
forschung vielleicht nicht vorhanden. Er leuchtet nicht aus
der gewöhnlichen Natur heraus, sondern aus der Seele des-
jenigen Menschen, welcher die Natur im Lichte eines
intellektuellen Mediums zu betrachten vermag, in die Natur
hinein. Was Goethe unter „Natur“ verstand, war nichts
anderes, als die oben angedeutete intellektuelle Anschauung
der unmittelbaren Verbindung von Materie und Kraft, wo-
durch ein „geheimnisvolles Ganzes, die uns umgebende
Materie entsteht, untrennbar verbunden, innig durchdrungen
von beständig schaffender und bildender Kraft (Phaen. p. 4r).
Diese intellektuelle Anschauung gehört offenbar dem Subjekte
an und stammt nicht aus der Sache, denn sonst müsste sie
der Ausdruck dafür sein, was die Natur an sich ist, ganz
u
abgesehen von dem betrachtenden Denken. Somit scheint
gerade der Vorgang einer intellektuellen Anschauung gegen
die Vorstellung zu beweisen, dass ein sachlicher historischer
Inhalt auf das Individuum einwirkt. In Wirklichkeit jedoch
verhält sich die Sache anders. Das Zustandekommen einer
intellektuellen Anschauung wird nämlich noch von einem
anderen Faktor als dem individuellen regiert, und dieser
andere Faktor ist ein sachlicher. Dies geht aus folgender
Erwägung hervor. -
Die Naturanschauung Goethes ist nicht mehr die unserer
Tage, soferne wir überhaupt in einer bestimmten Natur-
anschauung leben. Zwar können wir das Medium künstlich
wieder hervorbringen, also uns einigermassen in die Goethe-
sche Naturanschauung versetzen, aber wir leben nicht mehr
in ihr (Phaen. p. 43). Mit der veränderten geistigen Kultur
geht auch in dem intellektuellen Anschauen eine Veränderung
vor sich. Nur scheinbar also ist es dem Subjekt anheim-
gestellt, in welchem Zusammenhang es einen Inhalt sehen
will. Tatsächlich kommt gerade in der intellektuellen An-
schauung die Gewalt zum Ausdrucke, unter der das Indi-
viduum auch bei freistem, schöpferischem Tun sich befindet.
Im vorliegenden Falle ist es die Gewalt einer bestimmten
Phase der Kultur. So hat Goethe die Natur im Sinne seiner
Zeit, d. h. derjenigen Gestalt des kulturlichen historischen
Inhaltes aufgefasst, welche damals bestand (Phaen. p. 43).
Mit anderen Worten, es tritt in der intellektuellen An-
schauung ein Element in Kraft, das dem Individuellen nicht
angehört. Was dem Inhalt der intellektuellen Anschauung
seine Macht verleiht, ist das Historische. Dieser Inhalt wird
von der Historie gleichsam gespeist. Ein objektiver histori-
scher Inhalt gewinnt ein innerliches Dasein in den Individuen
durch das Medium einer intellektuellen Anschauung. In
unserem Falle war es eine bestimmte Phase der Kultur, die
durch die intellektuelle Anschauung „Natur“ in einer Reihe
von Zeitgenossen ein trotz aller Modifikationen doch ein-
heitliches innerliches Dasein gewann. Der gleiche Vorgang
lässt sich auf den beiden anderen Gebieten menschlichen
Handelns nachweisen. Zunächst auf dem rechtlich moralischen.
— 7 —
Was hier gegeben ist, das sind, wie dort bei dem Komplex,
den wir Natur nennen, nur faktische Verhältnisse, nämlich
eine Anzahl von Menschen, welche in bestimmten natürlichen
und kulturlichen, namentlich wirtschaftlichen Beziehungen zu
einander stehen (Phaen. p. 45). Es liesse sich denken, dass
jemand sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen ausschliesslich
nach den faktischen Verhältnissen regelte.e Wir würden
einen solchen einen absoluten Wirklichkeitsmenschen nennen.
Jedes ideale Element, sei es in Ehe und Familie, in Gesell-
schaft und Staat, würde für ihn wegfallen, denn es liegt
nicht in dem empirisch Gegebenen. Auf diesem Standpunkte
ist aber auch kein ethischer Lebensvorgang möglich, denn
zu einem solchen gehört jedenfalls Verpflichtungsgefühl
gegen moralische Gebote. Nun mag sich ein absoluter
Realist der bezeichneten Art immerhin mit den Geboten der
Moral abfinden, er tut es jedenfalls nicht deshalb, weil er
sich innerlich verpflichtet fühlte. Dieses Verpflichtungsgefühl
tritt vielmehr erst dann ein, wenn man sich und die anderen
Menschen in einem ganz anderen Lichte sieht, als in dem
der empirischen Betrachtung. Man braucht sich über die
tatsächlichen Verhältnisse deshalb nicht zu täuschen, kann
sehr pessimistisch sein und dennoch erblickt man auch hier
alles im Lichte einer energischen intellektuellen Anschauung.
Sie bringt zu dem empirisch Gegebenen, zur Wirklichkeit,
einen Zusatz heran. Dieser Zusatz besteht nicht etwa aus
einer Theorie über das Menschentum, denn darin läge kein
Zwang zu handeln, wie er sich mit der intellektuellen An-
schauung verknüpft. Es handelt sich auch hier wieder um
ein Erlebnis, nicht um Erdachtes und Erlerntes. Fragen
wir, was erlebt wird und wenden uns dem Inhalt der An-
schauung zu, so kommen wir zu dem gleichen Ergebnis
wie oben. Auch hier bestehen nämlich Unterschiede in dem
Inhalt der Anschauung. Wir finden in ihr bald mehr den
Menschen, bald mehr den Bürger vertreten. Auch das
merken wir, dass die Anschauung manchmal mehr personalen,
manchmal mehr institutionellen Inhalt hat. Jedenfalls aber
ist die intellektuelle Anschauung ein konstitutives Element
in dem ethischen Lebensvorgang und die grossen Unterschiede
rei
in ihrem Inhalte beweisen, dass auch hier die Historie die
inhaltgebende Instanz ist. Die Anschauung dient als Form,
mittels deren ein objektiver historischer Inhalt in den Indi-
viduen Dasein gewinnt (Phaen. p. 47). Das Historische ist
dabei die unmittelbar wirkende Macht, sodass der Vorgang
den Charakter des Selbstverständlichen gewinnt.
Es erübrigt nun noch, das Gebiet des religiösen Han-
delns hinsichtlich der intellektuellen Anschauung ins Auge
zu fassen. Die Religion kommt hier nur als praktisches
Verhältnis des Menschen zu Gott in Betracht. Es ist die
Tatsache zu interpretieren, dass es einen direkten Verkehr
des Menschen mit Gott gibt. Die Gottesvorstellung, welche
für den religiösen Menschen nicht etwa ein Gedankengebilde,
sondern der Inbegriff höchster objektiver Realität ist, resul-
tiert nicht aus der gegebenen Wirklichkeit. Sie stammt
nıcht aus der „Erfahrung“, denn dieser sind nur körperliche
und menschliche seelische Bewegungen gegeben. Auch
hier findet sich, wie im moralischen Leben, jener „Zusatz“
wieder, der zur gegebenen Wirklichkeit mittels einer in-
tellektuellen Anschauung gemacht wird. Prüfen wir hier
wieder den Inhalt der religiösen Anschauung, so scheint in
diesem Falle, wo der übersinnliche Grund der Wirklichkeit
in Betracht kommt, die Historie als inhaltgebende Instanz
ausgeschlossen zu sein. Tatsächlich ist dem aber nicht so,
denn der Gottesgedanke, welcher auf den Höhepunkten des
Lebens zur präsenten Tatsache wird, ist kein anderer als
der, welcher objektiv in der betreffenden Religion enthalten
ist. Es steht gar nicht im Belieben des Frommen, zu
welchem Gott er ein persönliches Verhältnis haben will, .er
muss es zu demjenigen haben, welcher in der ihm über-
lieferten Religion herrscht (Phaen. p. 51).
Das Resultat ist also dasselbe wie bei dem ethischen
Lebensvorgang. Der objektive historische Gehalt einer
Religion ist es, der von den Frommen subjektiv erlebt wird.
Auch hier ıst demnach das Historische die inhaltgebende
Macht, und die intellektuelle Anschauung erweist sich aber-
mals als die Form, mittels welcher ein objektiver historischer
Inhalt in den Individuen Dasein gewinnt, und zwar in un-
9
mittelbarer Weise, denn des Aktes der Anschauung ist sich
der Mensch während des religiösen Vorganges nicht bewusst
(Phaen. p. 51).
In der das Individuum umgebenden Gesamtheit herrscht
stets irgend ein historischer Inhalt. Es besteht demnach
allezeit ein durch die Gesamtheit vermitteltes Verhältnis von
Individuum und Inhalt. Auch wo die intellektuelle An-
schauung fehlt, ist doch ein solches Verhältnis vorhanden,
nur dass dann der historische Inhalt auf eine dem Individuum
unbewusste Weise nach Analogie der Naturtypen wirkt.
Es ist die Macht der Tradition, welche durch die organisierte
Allgemeinheit (Staat und Kirche) wirkt.
Wo aber die Anschauung stattfindet, da fällt die Ver-
mittlung der Allgemeinheit weg, da steht das Individuum
unter der direkten Gewalt des betreffenden Inhaltes. Es ist
über die Abhängigkeit von der Gesamtheit gleichsam hinaus-
gewachsen (Phaen. p. 56). Der Inhalt wird ohne Vermittlung
erlebt. — Es gehen aber nicht alle Elemente eines Inhaltes
in die intellektuelle Anschauung und dadurch in die individuelle
Daseinsform über. Was erlebt wird, ist doch nur der
„konzentrierte Extrakt“ eines historischen Inhaltes. Wie
verhält es sich nun mit den Elementen, die in der Anschauung
nicht enthalten sind? Wirken sie auch unmittelbar auf den
Einzelnen, oder nur durch Vermittlung der Gesamtheit’?
Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie die
einzelnen Elemente eines Inhaltes miteinander verknüpft
sind. Dass sie im wissenschaftlichen Sinne systematisch
verbunden sind, ist nicht anzunehmen. „Die grossen Formen
des religiösen, moralischen und kulturlichen Lebens sind
nicht nach wissenschaftlicher Methode produziert, sondern
stellen sich als Gebilde eigner Art dar. Man muss bei
ihnen in ähnlicher Weise nach einem Bildungsgesetz forschen
wie bei den Organismen“ (Phaen. p. 58). Aber eben ein
solches Bildungsgesetz, das auf organische Verknüpfung der
wesentlichen Elemente eines historischen Inhaltes schliessen
lässt, vermag die eindringende Forschung aufzuweisen. Es
darf freilich dem vorhandenen Tatsachenmaterial kein Zwang
angetan werden im Interesse irgend einer spekulativen
Ansicht, es muss streng empirisch vorgegangen werden,
aber das gesicherte Material, welches z. B. zu einer be-
deutenden religiösen Formation gehört, lässt sich schliesslich
nicht anders denn als ein Lebenssystem begreifen und ver-
langt ein synthetisches Verständnis. Dies gilt auch von
Gestaltungen des moralischen und, etwas modifiziert, des
kulturlichen Lebens. Wer daher „an einem fundamentalen
Punkt innere Fühlung mit einem solchen Inhalt gewonnen
hat, für den wird das Traditionelle immer mehr ein Lebendiges,
welches als System auf ihn wirkt. Als solches steht es dann
in innerlicher Objektivität vor ihm; man möchte sagen, es
redet selbst zu ihm, nicht mehr bloss durch den Mund der
Gesamtheit.“ (Phaen. p. 57.) Durch oftmaliges Erleben der
entsprechenden intellektuellen Anschauung tritt ein Mensch
unter die systematische Einwirkung eines historischen Inhaltes;
er wird das Organ eines Lebenssystemes, das grösser ist
als er, eines historischen Inhaltes, der in einem individuellen
Leben zur unbedingten Herrschaft gelangt ist.
Damit dürfte das Verhältnis des Inhaltes zu den Indi-
viduen erschöpfend dargestellt sein. Unter dem naturmässigen
Einfluss der Gesamtheit stehend, bekommt das Individuum
zeitgeschichtliche Signatur. Die von der Gesamtheit ge-
tragenen Inhalte treten dem Individuum als objektive Mächte
gegenüber, das Verhältnis zwischen beiden wird ein direktes,
in intensiver Weise da, wo die intellektuelle Anschauung
stattfindet, in extensiver Weise da, wo der Inhalt dem
Individuum als System gegenübertritt.
c) Behauptung des historischen Inhaltes vom
Individuum aus.
Ob alles Grosse in der Geschichte aus der letzten
Einheit der individuellen Persönlichkeit stammt, also per-
sönliche Tat ist, oder ob es vielmehr sachliche Wirkung
unpersönlicher Gedanken ist, das steht in Frage.
Bedenkt man, dass die historischen Inhalte wechseln,
dass einer von dem anderen abgelöst wird, eine Religion
von der anderen, eine ethische Gesamtanschauung von der
anderen, und dass es offenbar von den Individuen, von ihrer
grösseren oder geringeren Treue, von ihrem Gehorsam
gegen die Gebote eines historischen Inhaltes abhängt, ob
ein historischer Inhalt seine Herrschaft über die Massen zu
behaupten vermag oder ob er der Zerstörung anheimfällt,
so wird man sich der individualistischen Auffassung zu-
wenden. Denn alles scheint hier in den persönlichen Macht-
willen der Individuen gelegt zu sein. Ob aber das Handeln
der Individuen gegen die Inhalte, das nunmehr darzustellen
ist, wirklich im letzten Grunde als individualistisches zu
gelten hat oder nicht, ist zu untersuchen.
Die Zeiten, oder vielmehr die historischen Inhalte
ändern sich. Wie pflegen die Veränderungen vor sich zu
gehen? Zuweilen gleicht der Vorgang dem Verwitterungs-
prozess; so langsam und unmerklich vollzieht er sich. Der
einzelne lernt den für ihn vorhandenen Inhalt zunächst als
herrschende Sitte kennen. Ohne den Geboten des Inhaltes
prinzipiell den Gehorsam zu verweigern, lässt man es doch
an Inkorrektheiten nicht fehlen. Dadurch kann auf die
Dauer, wenn die Reaktion der Gesamtheit nachlässt, die
Herrschaft eines Inhaltes in Frage gestellt, ja ganz beseitigt
werden. Es kommt zu einem Zersetzungsprozess, fremde,
aus anderen Inhalten stammende Elemente dringen ein, ohne
dass sie wirklich assimiliert werden; es geschieht schliesslich
das vom Standpunkt der betreffenden Moral, Kultur oder
Religion aus direkt Verwerfliche.
Es gibt aber auch ein korrektes Handeln der Individuen
in Bezug auf die historischen Inhalte, das auf die Aus-
gestaltung des betreffenden Inhaltes gerichtet ist. (Phaen.
P- 75.) Das korrekte Handeln ist keineswegs auf das un-
selbständige Ausführen der einmal herrschenden Gedanken
beschränkt. Das objektiv vorhandene Gedankensystem, in
welchem das Arbeitsprogramm gleichsam vorgezeichnet ist,
gewährt der individuellen Selbsttätigkeit Spielraum. Jeder
bedeutende historische Inhalt ist von einem Kreise von
Möglichkeiten umgeben. „So sind z. B. in der Natur-
anschauung des ı8. Jahrhunderts immer gewisse Grund-
gedanken wirksam, aber die Verarbeitung derselben ist bei
Goethe anders als bei Rousseau“. (Phaen. p. 76.) Zu dem
bewussten Handeln an der Ausgestaltung der Inhalte gehört
ferner die Auseinandersetzung mit Elementen anderer Systeme,
für welche ebenfalls verschiedene Möglichkeiten gegeben
sind. Solange es aus einem historischen Inhalt noch etwas
zu eruieren gibt, ıst die korrekte Arbeit das „historische,
von lebendigen Individuen geführte Instrument, durch welches
offenbar gemacht wurde, was in ihnen lag“. (Phaen. p. 79.)
Durch die korrekte Arbeit wird der Inhalt gleichsam auf
die Probe gestellt. Es muss sich zeigen, ob er jeder Ver-
änderung der historischen Situation innerlich gewachsen ist,
ob er für jede Lebensfrage das lösende Wort zu liefern
vermag. Entstehen darüber Zweifel, so pflegt die Kritik
einzusetzen, die sich zunächst gegen die schon vorhandenen
Ausgestaltungen der Grundgedanken richtet, sodann dazu
fortschreitet, nicht nur die Ausgestaltung der Grundgedanken,
sondern ihre Fassung selbst zu revidieren, bis sie sich endlich
gegen das System selbst richtet. Hiemit ist das Handeln
der Individuen in Bezug auf die Inhalte gleichsam auf seiner
Höhe angelangt. Das Individuum „kehrt sich mit Erfolg
polemisch gegen den Inhalt, dessen ausführendes Organ es
einst war.“ (Phaen. p. 81.) Es gibt eine ‘auf nesatyer
Tendenz ruhende Kritik, die weiter nichts bezweckt, als
dass sie mittels intellektueller Technik ihre individuelle
Macht an vorgefundenen Tatbeständen erweisen will.
Wiederum gibt es eine positiv gerichtete Kritik, die dann
einsetzt, wenn Zweifel an der unbedingten Gültigkeit des
bisher herrschenden Systems auftauchen. Neue Positionen
sind noch nicht gefunden, aber die kritische Zerstörung der
alten geht aus der Tendenz nach einem neuen, schlechthin
giltigen, also universalen und ewigen Inhalt vor. (Phaen.
p. 86.) Individualistisch kann man diese Kritik nicht mehr
nennen. Sie wird zwar vom Individuum ausgeübt, aber „im
Namen einer schlechthin allgemeinen Instanz; das Charakte-
ristische aber ist, dass diese gar nicht individualistische,
sondern eben allgemeine Instanz nicht in dem historischen
Inhalt, sondern in dem Individuum hervortritt“. (Phaen. p. 86.)
Im Gegensatz zu diesen kritisch gerichteten Geistern
stehen die Vertreter des Alten, in denen das betreffende
Lebenssystem innerliches Dasein gewonnen hat. Sie haben
ein so festes Vertrauen zu dem historischen Inhalt erlangt,
„dass sie sich ihr Leben gar nicht mehr ausserhalb des-
selben denken können“. Dabei sind sie über den blossen
Autoritätsstandpunkt hinausgewachsen. Sie stehen vielmehr
in direktem Verkehr mit dem Lebenssystem, das von ihrer
Persönlichkeit gleichsam Besitz genommen hat. Sie sind
nicht etwa ohne Kritik, sondern mit derselbigen intellektuellen
Technik ausgerüstet wie die kritischen Geister, doch ist bei
ihnen die Kritik ‚nur als Potenz vorhanden, welche sich im
entscheidenden Augenblick als positives Urteil äussert‘“,
während bei jenen die Kritik „sich in breiter Entfaltung
zeigt und negative Urteile sind die Regel; das positive
Urteil und die persönliche Hingabe bleiben im Potenz-
zustande“. (Phaen. p. 94.) Wie ist es nun bei den Ver-
tretern des Alten, den Konservativen im höchsten Sinne,
zu dem konstatierten innerlichen und unerschütterlichen
Vertrauensverhältnis gekommen’?
Naturmässig, ohne bewusstes Zutun jedenfalls nicht.
Das Verhältnis ruht vielmehr auf entscheidenden Taten
innerer Bejahung. Die Grösse des Inhaltes, von dem sie
leben, ist ihnen innerlich aufgegangen und dann erfolgte die
prinzipielle, allgemeine Bejahung desselben. Aber „liegt
nicht zwischen jenem inneren Sonnenaufgang und dem Akte
der inneren Bejahung ein Element, welches beide verknüpft?
Wer würde denn auf der Höhe des inneren Lebens einen
historischen Inhalt prinzipiell bejahen, wenn ihm nicht eine
innere Stimme sagte: ja, das ist es! Darin aber liegt nichts
anderes als der verhüllte Gedanke: Dieser Inhalt ist
schlechthin wahr und darum ewig giltig‘“. (Phaen. p. 92.)
Es ist also eine urteilende Instanz zu konstatieren, die den
Inhalt gleichsam legitimiert, indem sie ihm unbedingte
Giltigkeit zuspricht. Diese Instanz tritt im Individuum, nicht
im Inhalt hervor, ist aber nicht individualistisch, sondern
allgemeiner Art. Im Individuum ergeht ein allgemeines
Urteil. Derselbe Vorgang ist im Prozess des gewöhnlichen
moralischen Lebens zu konstatieren. Geht man nämlich dem
Verpflichtungsgefühl auf den Grund, so lässt sich dieses
= I4 ——
nicht lediglich aus der Abhängigkeit des einzelnen von der
Gesamtheit ableiten. Es ist vielmehr die Resonanz des
moralischen Gebotes, das seinerseits wieder mit dem Gefüge
des historischen Inhaltes organisch verknüpft ıst, sodass es
also die Resonanz ist, welche der objektive Inhalt in den
menschlichen Subjekten findet. „Würde er sie finden, wenn
keine Instanz im Individuum zu seinen Gunsten ein allgemein
günstiges Urteil abgäbe? Dem aus dem Inhalt stammenden
Soll gegenüber heisst es im Individuum: Ja, du sollst aller-
dings, denn der Inhalt hat Recht.“ (Phaen. p. 93.)
Nun hat diese im Individuum hervortretende allgemeine
Beurteilungsinstanz offenbar dieselbe Tendenz, welche wir
bei den Kritikern gefunden haben, nämlich die Tendenz auf
einen schlechthin giltigen, also unıversalen und ewigen Inhalt.
Diese Tendenz kann sich die Erfüllung nicht selbst geben,
„aber wenn sich ihr ein Inhalt unmittelbar als schlechthin
wahr dokumentiert, so erfolgt gleichsam blitzartig der Zu-
sammenschluss des formalen subjektiven und des objektiven
materialen Elementes. Er würde gewiss nicht erfolgen,
wenn das subjektive Element seinem Wesen nach indivi-
dualistisch wäre“. (Phaen. p. 94.)
Ob das Handeln des Individuums gegen den Inhalt,
das jetzt in seinen Hauptphasen dargestellt wurde, da, wo
es auf seiner Höhe angelangt ist, individualistisch ist, war
die Frage.
Die Macht des Individuums gegen die Inhalte erschien
als sehr bedeutende; indes mussten wir die ihrem Wesen
nach individualistische Macht, wie sie in gewissen Formen
der Kritik sich kundgibt, unterscheiden von derjenigen, welche
zwar vom Individuum ausgeübt wird, aber ıhrem Wesen
nach nicht individualistisch ist. (Phaen. p. 98.).
In dem Lebensprozess, der sich zwischen Inhalt und
Individuum abspielt, sind neue Seiten hervorgetreten. Dass
nicht alle Gewalt dem Individuum anheimgegeben ist, hat
sich erwiesen zuerst in jener allgemeinen Tendenz auf einen
schlechthin wahren, universalen Inhalt, sodann in der damit
übereinkommenden Beurteilungsinstanz, die im Individuum
wirksam ist, ohne individualistisch zu sein. Die Inhalte
gewinnen Gestalt in individuellen Persönlichkeiten; dieses
Ziel der Inhaltsbewegung kann ohne inneres Handeln der
Individuen, das gleichwohl nicht individualistisch ist, nicht
erreicht werden. (Phaen. p. 100.) Nicht alles im Geistes-
leben, was historisch konstatiert werden kann, ist aus dem
Individualismus ableitbar. Das trat schon bei der intellek-
tuellen Anschauung hervor, für welche sich die Historie als
inhaltgebende Instanz ausgewiesen hat, das wurde abermals
deutlich, als jenes Element zu Tage trat, in welchem wir
die Beurteilungsinstanz erkannten. Beide Elemente sind für
das objektiv Allgemeine in Anspruch zu nehmen. Durch
sie regiert eine nicht individualistische Macht innerhalb der
dem Individuum angehörenden Wirksamkeit. Somit bleibt
die Unterscheidung von Individuum und Inhalt auch von
dieser Seite der Betrachtung aus bestehen. Will man
endlich das benennen, was ın einem historischen Inhalt
organisch verknüpft zu denken ist, so ist es „eine Summe
von Formen des theoretischen und praktischen Lebens,
sodann autoritative Institutionen, endlich ein mehr oder weniger
ausgebildetes System von Gedanken, welches dem allem zu
Grunde liegt“. (Phaen. p. 66.) Es ist also ein objektiver
Gehalt, der erlebt wird, und es ist eine sachliche Wirkung
unpersönlichen Denkens, die sich manifestiert.
2. Das Verhältnis des Historischen zum Ewigen.
a) Das Historische.
Der Umfang des in Frage kommenden Gebietes kann
nunmehr bestimmt werden. Geschichte ist die grosse
Totalität von Wechselwirkungen, welche die historischen
Inhalte und Individuen anfeinander ausüben. (Phaen. p. 108.)
„Es steht nichts im Wege, den Gang der Geschichte gleich-
sam als ein grosses Leben anzusehen, welches in der steten
Wechselwirkung der Inhalte und Individuen besteht; immer
sind beide Seiten irgendwie wirkend vorhanden, nur dass
bald die eine, bald die andere überwiegt, und eben durch
dieses gegenseitige Wirken kommt der lebendige Fluss der
en —
Geschichte zustande.“ (Phaen. p. 103.) Deutlicher noch
grenzt sich der Umfang unseres Gebietes ab, wenn wir auf
eine schon früher gemachte Unterscheidung zurückkommen,
Es war bereits die Rede von dem doppelten Strom, aus
welchem das Individuum seine Inhalte empfängt. Wir unter-
schieden den Strom des naturgeschichtlichen Werdens, in
welchem die körperlichen Typen der Völker, Stämme und
Individuen auftauchen und wieder verschwinden, von dem
Strem der Geschichte im engeren Sinne, welcher in die
Entwicklungsreihen der Religion, des Rechtes und der Moral,
sowie der Kultur eingeteilt wurde. Das Verhältnis der
historischen Inhalte und Individuen gehört dem zweiten
Strome an. (Phaen. p. 109.) „Folglich fallen alle Unter-
suchungen über das Entstehen und Vergehen körperlicher
Typen für uns fort. Sie beziehen sich nicht auf den Daseins-
kreis, welcher unseren Phänomenen das Material liefert.“
(Phaen. p. 109.) Dieser Daseinskreis, der unser Gebiet
bildet, ist mithin der seelische. Die sinnenfälligen Gestaltungen,
welche zu den Gebieten der Religion, Kultur etc. gehören,
also die ungeheuren Massen körperlicher Gestaltungen und
Produkte kommen nur als Ausdruck eines Inneren in Be-
tracht, das als solches in den Bereich des seelischen Lebens
gehört. (Phaen. p. ııo.) „Streichen wir das menschliche
seelische Leben, so fehlt den Inhalten nicht nur der Ort
ihres Wirkens, sondern auch das Material, aus welchem sie
selbst bestehen. Sind sie in letzter Instanz lebensvolle Ge-
dankensysteme, so bedürfen sie menschlicher Seelen, um
überhaupt gedacht und erlebt werden zu können. Immer
grösser als die Individuen, haben sie gleichwohl ihr Dasein
nur in den Seelen derselben.“ _(Phaen. p. ıro-ıır.) Ist
somit Umfang und Daseinskreis beschrieben, so erübrigt
nur noch, den Inhalt des geschichtlichen Lebens, also die
Wechselwirkung von Individuum und historischem Inhalt,
zusammenfassend zu vergegenwärtigen. ‚Das Verhältnis
der Inhalte und Individuen stellt sich gleichsam in zwei
Schichten dar. Die untere ist dadurch charakterisiert, dass
die beiden Faktoren nicht direkt, sondern durch das Medium
der Gesamtheit hindurch miteinander verkehren.“ (Phaen.p.ı15.)
Für die obere Schicht ist das direkte Verhältnis von Inhalten
und Individuen charakteristisch. Die geschichtlichen Ver-
änderungen sind in diesem Wechselverhältnis begründet.
Sie sind schon da zu konstatieren, wo ein Inhalt noch un-
mittelbar herrscht und den Gliedern einer Gesamtheit ihre
historische Signatur verleiht. Unwillkürlich verändern da
die Individuen im kleinen die Gestalt historischer Inhalte,
in gleichsam unbewusster Äusserung des Individualismus,
In tiefer gehender Weise wird die Geltung eines historischen
Inhaltes da beeinflusst, wo die Herrschaft der Inhalte dem
Individuum gegenüber als eine vermittelte zu bezeichnen ist,
indem sıe sich in Gestalt von autoritativen Institutionen oder
auch in einer Summe allgemein anerkannter Forderungen
darstellt. Hier kommt es auf bewussten Gehorsam und
Ungehorsam an; letzterer hat überhandnehmend die Abnahme
der Geltung des betreffenden historischen Inhaltes zur Folge.
Die geschichtlichen Veränderungen grösseren Stiles gehen
aus der oberen Schicht, wo das direkte Verhältnis besteht,
hervor. Hier treten die Wechselwirkungen zwischen Inhalten
und Individuen deutlich zu Tage. Der Inhalt, oder wenig-
stens eine Konzentration desselben, wird von den Individuen
in Form einer intellektuellen Anschauung erlebt, diese be-
finden sich nunmehr unter der ganz direkten Einwirkung
des betreffenden Inhaltes; das ganze persönliche Leben
kommt unter den Einfluss eben jenes Systems von Gedanken,
das dem Inhalt zu Grunde liegt; der Inhalt setzt sich sozu-
sagen in persönliches Leben um. (Phaen. p. ıı2.) Dies
wäre nicht möglich, hätte nicht das Individuum die formale
Fähigkeit intellektuellen Anschauens, und käme nicht hinzu
die prinzipielle Hingabe an die lebenskräftigen Grund-
gedanken des Systems, welche wiederum darin begründet
ist, „dass eine allgemeine, urteilende Instanz jenen Grund-
gedanken die unbedingte Giltigkeit wirklich zuerkennt, welche
dieselben ihrerseits beanspruchen“. (Phaen. p. 113.)
Die historische Geltung der Inhalte beruht also sowohl
auf ihrer eigenen Wirksamkeit, als auf derjenigen der
Individuen. Die korrekte Arbeit der Individuen an einem
historischen Inhalte führt zu seiner theoretischen und prakti-
Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie. 2
ee
schen Ausgestaltung. Der Inhalt leitet, die Individuen führen
aus, aber „ohne ihre ausführende Arbeit könnte er nicht auf
dıe letzte Höhe historischer Wirksamkeit gelangen“. (Phaen.
p. 114.) Zur positiven Tätigkeit an den Inhalten sind auch
die grösseren Reformarbeiten zu rechnen, ob sie nun auf die
alt gewordene Ausgestaltung oder auf die gedankliche
Fassung des Inhaltes selbst gerichtet werden. ‚Beide Weisen
menschlicher Arbeit an den Inhalten sind es, welche — ab-
gesehen von der Produktion neuer Inhalte — die eigentlich
grossen und innerlich bedeutenden Veränderungen in der
Geschichte bewirken.“ (Phaen. p. 114.) Hieher gehört
endlich noch die nicht ındividualistische Kritik, welche es
mit dem Inhalt selbst zu tun hat in direkter Weise. Sie
verneint seine unbedingte Gültigkeit; sie sucht einen schlecht-
hin wahren Inhalt, vermag ihn aber, als blosse Kritik, nicht
hervorzubringen. Auch sie gehört zu den Faktoren, welche
grosse Veränderungen bewirken, oder wenigstens einleiten.
Was wir mithin unter der Historie verstehen, ist, begrifflich
ausgedrückt, ein ungeheures Ganze von Wechselwirkungen
zwischen den Inhalten und den Individuen, bildlich gesprochen,
die komplizierte Wellenbewegung im dahingleitenden Strom
der Individuen und Inhalte. (Phaen. p. 102.)
b) Der Entwicklungsgedanke als Hypothese.
Ist die Geschichte das Ganze der Wechselwirkungen
zwischen Inhalten und Individuen, so liegt es nahe, zu fragen,
ob ein erkennbares Gesetz diesem Ganzen zu Grunde liegt.
Was ist in dem Entstehen neuer und in dem Vergehen alter
Inhalte das wahrhaft Wirkende? Wodurch wird trotz der
unsagbar grossen Mannigfaltigkeit der menschlichen Ge-
schichte doch die Einheitlichkeit der geschichtlichen Bewegung
erhalten? Sind in den Gedankenformationen der historischen
Inhalte ideelle Reihen konstatierbar? Der Entwicklungs-
gedanke drängt sich auf, die Frage nach dem Ziel der
Inhaltsbewegung. Eine Theorie will gefunden sein, die das
Problem der geschichtlichen Bewegung erklärt. Dieses
Problem lässt sich nunmehr auf seine kürzeste Form zurück-
führen: Historische Inhalte sind immer grösser als die
N Di
Individuen, aber sie haben ihr Dasein nur in den Seelen
derselben. (Phaen. p. 118.) „Lebenskräftige Systeme von
Gedanken mit vollem Anspruch auf schlechthinige, ewige
Giltigkeit stehen fest in individuellen Seelen, welche jeder
Stundenschlag an die Flüchtigkeit ihres dahinrinnenden
Lebens erinnert! Wie ist das möglich? (Phaen. p. 118.)
Überblicken wir das bisherige Material. Innerhalb des
individuellen Lebens wurde ein Element festgestellt, dem
allgemeiner, idealer Charakter zukommt; wir nannten es die
Beurteilungsinstanz. Als ein Allgemeines idealer Art sind
auch die Gedankensysteme der historischen Inhalte zu fassen.
„Wie wäre es, wenn die beiden Gestalten des ideal Allge-
meinen innerlich zusammengehörten, wenn sie beide Äusse-
rungen eines idealen allgemeinen Lebens wären? In
diesem Leben hätten wir dann das Innere dessen, was wir
früher den Strom der Geschichte genannt haben. Das
Wesen aber, dessen Selbstbewegung sich in jenem Leben
vollzieht, wäre als der ‚Geist der Menschheit‘ zu bezeichnen,
denn das missverständliche Wort ‚Weltgeist‘ wird man
besser vermeiden. Wie nun die körperlichen Typen der
Individuen aus dem Strom des naturgeschichtlichen Werdens
auftauchen und wieder in demselben verschwinden, so liefern
die individuellen Seelen nur das Material, dessen sich der
allgemeine Geist für sein viel höheres Leben bedient.“
(Phaen. p. 119.) Reales Leben hätten demnach nicht sie,
sondern er, der in allen ist, durch alle hindurchgeht und
über jede einzelne Seele, wenn sie verbraucht ist, hinweg-
geht. Der allgemeine Geist würde dann die historischen
Inhalte produzieren und zugleich mittels jener allgemeinen
Instanz, die vom Standpunkt des Individuums aus rätselhaft
ist, seine Produktionen beurteilen. Er wäre also der eigent-
lich wirkende, wahrhaft reale, während die Individuen nur
der Sphäre der geistigen Phänomene angehören, also nicht
dem Daseinskreis des wahrhaft Seienden. (Phaen. p. 120.)
Die Hypothese liesse sich noch weiter ausbauen und durch
eine Kombination mit der Gottesidee vollenden. Ihr Vorteil
liegt auf der Hand. Sie erklärt das Geistesleben aus einem
einheitlichen Prinzip, macht die Kontinuität desselben ein-
2*
— 20 -—
leuchtend und bietet den gesuchten spekulativen Entwicklungs-
gedanken.
Indes, die Hypothese ist nicht haltbar und sie wurde
nur aufgestellt, um die Schwierigkeit des hier vorliegenden
Problems ins Licht zu stellen. Die Hypothese ruht auf der
Voraussetzung, dass der Charakter des wahrhaft Seienden,
also der Realität, lediglich dem Allgemeinen zuzuerkennen,
dem Individuellen aber abzusprechen sei. Letzteres erscheint
ihr nur als eine kleine Welle im Strome der Geschichte,
als vorübergehende individuelle Bindung des allgemeinen,
geschichtlichen Lebens; sie gesteht ihm also nur phänomenale
Existenz zu. Aber eben diese Voraussetzung entspricht
nicht dem tatsächlichen Befund. Was bei der Wechsel-
wirkung der historischen Inhalte und Individuen innerhalb
der letzteren vor sich geht, ist mehr als nur Phänomen; es
reicht in die Tiefe der Realität hinab. (Phaen. p. 121.)
„Eine Existenz, welche bloss phänomenal wäre, kann nicht
die inneren Kämpfe durchmachen, welche allem Getriebe
der individualistischen Leidenschaften unendlich an Tiefe
überlegen sind. Was zum Beispiel Augustin und Luther
innerlich durchgemacht haben, kann nicht als bloss phäno-
menale Wellenbewegung aufgefasst werden, während das
allein Reale nur der allgemeine Geist wäre, welcher durch
sie hindurch eine höhere Stufe beschreitet.‘“ (Phaen. p. 121.)
Wir verlassen mithin die hypothetische Form des Ent-
wicklungsgedankens, welche nicht allen Tatsachen des
Geisteslebens gerecht wird, immerhin aber dazu gedient hat,
das hier vorliegende Problem deutlich hervortreten zu lassen:
Wie ıst das zusammenzudenken, dass den beiden Faktoren
des geschichtlichen Lebens nicht nur dem Allgemeinen,
sondern auch dem Individuellen Realıtät zukommt? (Phaen.
p. 121.) Ehe hierüber eine Theorie aufgestellt werden
kann, muss offenbar der Lebensvorgang gründlicher unter-
sucht werden, welcher auf Seite des Individuums unter der
Einwirkung eines historischen Inhaltes sich entfaltet. Ent-
steht durch das Zusammenwirken der Gedankensysteme
und der Individuen das, was wir geistiges Leben als ge-
schichtliches bezeichnet haben, so wird nunmehr zu fragen
— 2I de
sein, wie sich die Wirksamkeit der Individuen gegen die
der sachlichen Gedankensysteme als eine eigentümliche
abgrenzt. Die verschiedenen Seiten des geistigen Lebens-
prozesses werden deutlicher hervortreten.
c) Analyse des personalistischen und sachlichen Lebens.
„Unter Personalismus verstehen wir die vom Fühlen
bestimmte Lebensrichtung des Individuums.‘ (Phaen. p. 128.)
Personalismus und Individualismus bedeuten ganz dasselbe.
Die individuelle Lebensbewegung entwickelt sich zu-
nächst unter dem Primat des Fühlens. Das Denken wird
in den Dienst des Fühlens genommen, um die Mittel zu
beschaffen, welche Lustgefühle festhalten, Unlustgefühle
vertreiben. Auch auf den höheren Stufen des Eudämonismus
empfängt die ganze individuelle Lebensbewegung ihr Leit-
motiv vom Fühlen, mag auch das Denken eine bedeutendere
Rolle spielen als bei jener elementaren Bewegung. Aller-
dings steht das Individuum von Anfang bis zu Ende seines
Lebens immer in dem Verhältnis zu historischen Inhalten
(Phaen. p. 125), aber auch in dem Rahmen dieses Verhält-
nisses setzt sich zunächst der Primat des Fühlens durch.
Dass jeder Mensch unmittelbar unter der Gewalt eines
historischen Inhaltes steht, also „ein Kind seiner Zeit“ ist,
ändert offenbar an dem Primat des Fühlens nichts. Eben-
sowenig die Tatsache, dass die Individuen unwillkürlich
nicht selten die äussere Gestalt der Inhalte im kleinen ver-
ändern. Von der vermittelten Herrschaft der Inhalte ist da
die Rede, wo sie dem Individuum als autoritative Institutionen
oder als eine Summe allgemein giltiger Forderungen ent-
_ gegentreten. Eine gewisse Bestätigung dafür, dass auch
hier das Fühlen im menschlichen Individuum den Primat
besitzt, liegt in den zahlreichen Fällen des Ungehorsams
gegen allgemeingiltige Forderungen vor. Die vom Fühlen
gelenkte Lebensrichtung unterwirft sich nicht der geforderten
Einschränkung. Aber auch wenn Gehorsam geleistet wird,
ist nicht ohne weiteres auf eine neue Grundrichtung zu
schliessen. Man hat eingesehen, dass dauerndes Glück nur
auf dem Wege des Gehorsams blüht und trägt das Unlust-
gefühl, welches die Selbstüberwindung kostet, um der in
Aussicht stehenden grösseren Lust willen. Endlich auch
das Verpflichtungsgefühl den allgemeinen Forderungen
gegenüber und die Reue, nachdem man ungehorsam gewesen,
kann mit dem Primat des Fühlens zusammen bestehen;
jenes lässt sich aus dem Bedürfnis, sich an die Gesamtheit
und an die in ıhr geltenden Werte anzulehnen, erklären,
diese zur Not aus der Missbilligung der Gesamtheit. Auch
hier scheinen sich die seelischen Bewegungen aus den
individuellen Bedürfnissen ableiten zu lassen und das deutet
abermals auf den Primat des Fühlens. (Phaen. p. 127.)
Wäre damit die Gesamtansicht des menschlichen Lebens
gezeichnet, so müssten wir das bedeutend modifizieren, was
über die Inhalte gesagt wurde. Es hiess, dass Inhalte, die
einen einheitlichen Charakter haben, in letzter Instanz aus
Systemen lebensvoller Gedanken bestehen. Gibt nun aber
das Fühlen das Leitmotiv für das ganze individuelle Leben
ab, dann können jene Gedanken höchstens deshalb lebens-
voll erscheinen, weil sie sich dem vom Fühlen beherrschten
Individuum empfehlen. Nur deshalb erscheinen sie wirkungs-
kräftig, weil sie zu den bestimmten Gefühlsdispositionen der
Individuen in Beziehung stehen. Letztere, und nicht die
Gedanken wären somit die eigentlich wirkenden Kräfte. Die
Gedanken erhalten nur in abgeleiteter Weise die Bedeutung
von solchen Kräften. ‚Sie gewinnen so ein historisches
Dasein und machen den Eindruck von herrschenden Mächten,
im letzten Grunde aber wären sie doch nur als Lehensträger
des Personalismus zu bezeichnen.“ (Phaen. p. 128.) Wenn
jene Gedankensysteme einen unmittelbaren und selbständigen
Einfluss ausübten, so könnte es nur ein sachlicher sein.
Eine solche menschliche Bewegung aber, deren Ursprung
und Ziel sachlicher Art wäre, hat sich uns bis jetzt noch
nicht gezeigt; wir kennen nur personalistich bestimmte
Bewegungen. (Phaen. p. 128.)
Allerdings sind die höheren und höchsten Lebens-
vorgänge noch nicht in Betracht gekommen. Sie erscheinen
da, wo das Individuum in direktem Verkehr mit dem Inhalt
steht, wo es dessen ausführendes Organ geworden ist, also
in der „oberen Schicht“. Das Verpflichtungsgefühl, welches
hier sehr intensiv aufzutreten pflegt, kann nicht mehr als
blosse Abhängigkeit von der Allgemeinheit aus gedeutet
werden; wir erkannten in ihm vielmehr diejenige Resonanz,
welche das moralische Gebot eines ausgeprägten historischen
Inhaltes im menschlichen Subjekt findet. Es würde aber
diese Resonanz nicht finden, wenn nicht im Individuum
ein Urteil erginge, das diesem moralischen Gebot beipflichtet.
In diesem Urteil gegenüber dem aus dem Inhalt stammenden
Soll erkannten wir ein nichtindividualistisches subjektives
Element, und hier ist der Punkt gegeben, an welchem ein
anderer Primat als der des Fühlens sich ankündigt Die
von dem Inhalt erhobene Forderung besteht nämlich aus
nichts anderem, als aus „Gedanken, welche mit den übrigen
Gedanken desselben historischen Inhalts systematish ver-
knüpft sind“. In der einzelnen Forderung tritt das ganze
Gedankensystem als solches hervor; jede solche Forderung
stellt sich als allgemeingiltig hin und wird als prinzipiell
allgemeingiltige vom Individuum vernommen und durch das
Verpflichtungsgefühl beantwortet. (Phaen. p. ı29.) Wir
haben hier Gefühle anderer Art vor uns, als sie dort auf-
zutreten pflegen, wo das Fühlen den Primat hat. In diesem
Falle sind nämlich die Gefühle der „energische Ausdruck
für die Förderung oder Hemmung, welche dem Individuum
von Menschen und Dingen zu teil wird‘. (Phaen. p. 130.)
Die Gefühle entstehen hier also unter dem Druck bloss
faktischer Verhältnisse, deren äussere Gestalt wechseln kann.
Was hier eigentlich herrscht, wo das Fühlen den Primat
hat, das sind die blossen Tatsachen; mithin steht das Ich,
soferne es von seinen Gefühlen regiert wird, unter der Ge-
walt rein tatsächlicher Verhältnisse, es befindet sich ım
Zustande des Leidens, das Wort im allgemeinen begriff-
lichen Sinne genommen. (Phaen. p. 132.) Anders da, wo
das Ich auf die allgemeine Forderung des Gedankens
reagiert hat. Hier ist der Weg erschlossen zu den Höhen
menschlicher Entwicklung, zu den Taten des Gehorsams,
zur freien, schöpferischen Nachbildung des dem Inhalte zu
Grunde liegenden Gedankensystems. Das Ich befindet sich
dabei im Zustande des Tuns. Denn ‚‚fordernde Gedanken,
hinter denen nicht die Wucht von Tatsachen steckt, zwingen
überhaupt nicht, nicht einmal durch die Künste kluger Über-
redung. Sie stellen nur sachliche Aufgaben einfach hin,
und wer diese als die seinigen setzt, befindet sich gar nicht
im Zustande des Leidens, sondern im Zustande desjenigen
Tuns, welches allein diesen Namen verdient. (Phaen. p. 132.)
Dieser Lebensprozess kann nicht abermals unter dem Primat
des Fühlens stehen. Zwar spielen auch in ihm die Gefühle,
insbesondere das Verpflichtungsgefühl und die Reue eine
hervorragende Rolle, aber diese Gefühle sind hier nicht
personalistisch, sondern sachlich begründet. Wo sachliches
Leben ist, da kündigt sich ein anderer Primat an; es ist
der des Gedankens. Diejenige Instanz aber, welche dem
Verpflichtungsgefühl zur Kraft verhilft, dass es die Forderung
des Inhaltes zu erfüllen vermag, also die entschliessende
Instanz, bezeichnen wir als das menschliche Ich. ‚Dieses
Ich ist es, welches sich verpflichtet fühlt, und welches die
Forderungen der Inhalte entweder erfüllt oder nicht erfüllt.
Man darf also bildlich von ihm sagen, dass es die Sprache
der Sachlickeit versteht, in welcher die gedanklichen Inhalte
zu ihm reden, und dass es sachliche Aufgaben als die seinigen
anzuerkennen und zu bejahen vermag. — Das ‚Wollen‘ ist
die Tat des Ich, durch welche es die fordernden Gedanken
bejaht, und dann die weitere Tat, durch welche die seelischen
und körperlichen Tätigkeiten in die durch die Forderung
bezeichnete Richtung gebracht werden.“ (Phaen. p. ı3L.)
Was Kant gesagt hat vom menschlichen Willen, dass er
durch blosse Vernunft bestimmbar sei, das gilt auch vom
Ich. Ebenso aber gilt vom Ich, was Kant weiterhin vom
Willen behauptet, dass er nämlich immer zugleich durch
die Antriebe der Sinnlichkeit affıziert se. Auch das Ich,
welches die rein sachlichen Forderungen durch Verpflichtungs-
gefühle beantwortet und durch Taten des Gehorsams zu
erfüllen vermag, lässt sich andrerseits durch seine Gefühle
in individualistischer Richtung treiben. „Demnach stellt das
Ich den rätselhaften Punkt dar, in welchem zwei ganz ver-
schiedene Arten von „Leben“ zusammentreffen.‘‘ (Phaen.p.131.)
en 25 —
Wir können nunmehr sagen, dass sich uns die Ge-
danken als eigentlich wirkende Kräfte erschlossen haben.
Sie wirken nicht nur als Lehensträger des Personalismus,
nicht nur wegen ihrer Beziehung zu den Gefühlsdispositionen
der Individuen, sondern ihre Herrschaft besteht „kraft eigenen
Rechtes“. Es gibt innerhalb des persönlichen Lebens eine
unter dem Primat des Gedankens sich entwickelnde Lebens-
sphäre.. Und dieser Primat des Gedankens ist die letzte
Interpretation. Hinter ihm kommt kein anderer Primat mehr
zum Vorschein. „Denn hinter dem einzelnen fordernden
Gedanken steht zwar das ganze Gedankensystem des be.
treffenden Inhaltes, aber er ist eben ein integrierendes
Moment desselben. Und hinter dem Gedankensystem steht
gar nichts mehr: es lebt und herrscht kraft eigenen Rechtes.‘
(Phaen. p. 130.)
Damit sind wir der Lösung unseres Problems etwas
näher gekommen. Es war formuliert: Lebenskräftige Systeme
von Gedanken mit dem vollen Anspruch auf schlechthinige
ewige Giltigkeit stehen fest ın individuellen Seelen, welche
jeder Stundenschlag an die Flüchtigkeit ihres dahinrinnenden
Lebens erinnert. Wie ist das möglich? „Es ist darum in
der Tat möglich, weil die menschlichen Seelen nicht nur
ein personalistisches, sondern auch, die einen mehr, die
anderen weniger, ein sachliches Leben führen.“ (Phaen.
p. 145.) Dieses sachliche, unter dem Primat des Gedankens
sich entfaltende Leben bedarf noch weiterer Untersuchung.
Mit Absicht ıst der Ausdruck gewählt Primat ‚des
Gedankens‘“ und nicht „des Denkens“ Es soll damit der
Unterschied hervorgehoben werden, der zwischen dem eigenen
Denken des Individuums und dem längst fertigen, objektiv
in einem historischen Inhalt enthaltenen Gedanken besteht.
Unter dem Einfluss dieser Gedanken, nicht des individuellen
Denkens entwickelt sich das sachliche Leben. Allerdings
soll die positive Entwicklung dahin führen, dass das ganze
Gedankensystem eines Inhaltes vom Denken des Individuums
schliesslich angeeignet ist. Auf den Höhepunkten könnte
man wohl von einem Primat des Denkens reden, da die
fremden Gedanken nunmehr zu eigenen geworden sind, aber
auch dieses reifste Denken verhält sich zu den objektiven
Gedanken des Inhaltes nur reproduktiv. Der Vorgang ist
mithin dieser, dass die fertigen Gedanken des Inhaltes zu-
nächst auf das Denken des Individuums weckend und ent-
fesselnd wirken; ‚dieses Denken stellt innerhalb des im
übrigen individualistischen Lebens eine Instanz von inner-
licher Objektivität dar. Hat dieselbe beistimmend gesprochen,
so sind die Verpflichtungsgefühle die sofortige, notwendige
Folge davon.“ (Phaen. p. 134.)
Die Bezeichnung des höheren Lebens als „sachlichen“
bedarf noch einer Rechtfertigung. Unpersönliche Dinge oder
„Sachen‘‘ stehen immer niedriger als persönliche Menschen;
folglich erscheint der Ausdruck „sachlich“ nicht geeignet,
etwas zu bezeichnen, das mehr ıst als „persönlich“, Indes
kann das, worauf es hier ankommt, der Gegensatz zum
Personalismus, nicht zutreffender als mit „sachlich“ aus-
gedrückt werden. Wer sachlich denkt und handelt, lässt
seine Person und seine Interessen hinter die Sache, die er
vertritt, zurücktreten. In diesem Sinne ist der Ausdruck
hier zu verstehen. Sachlichkeit ist die Signatur des unter
dem Primat des Gedankens stehenden Lebens.
Sachlich ist da zunächst jenes Urteil, das im
Menschen in Bezug auf die Gedanken der Inhalte ergeht,
sei es bejahend oder verneinend. Hier handelt sich’s einfach
darum, diesen Gedanken unbedingte Giltigkeit zuzusprechen,
oder in heiligem Ernste ihnen die unbedingte Gültigkeit ab-
zusprechen; die Rücksicht auf das persönliche Wohl und
und Wehe tritt bei dieser allgemeinen Instanz völlig zurück.
Der Gedanke setzt sich unter Umständen mit furchtbarer
Härte gegen den Individualısmus durch. Hier heist es
„Stirb“ und ,„Werde“. Den Charakter der Sachlichkeit
tragen auch die Grundgesinnungen, die in allen denen ent-
stehen, welche auf dem Wege des sachlichen Lebens schon
Fortschritte gemacht saben. (Phaen. p. 141.) Das auf seine
Höhe gelangte Verhalten des Individuums zu einem histori-
schen Inhalte ist das des Vertrauens. Wir können es auch
„Glaube‘“‘ nennen, im weiteren, als religiösen Sinne, Aber
analog der religiösen Bedeutung drückt der Glaube auch
auf den anderen Gebieten das unerschütterliche Vertrauens-
verhältnis aus zu dem entsprechenden historischen Inhalt.
Wo sachliches Leben ist, wo das personalistische zurück-
gedrängt wird, da tritt auch das Merkmal des Glaubens,
das „Sehen auf Unsichtbares“ in seine Rechte, da ist An-
fechtung und Kampf. ‚In diesem Sinne gilt uns der Glaube
als die Grundgesinnung jedes höheren Lebens. (Phaen.
p. 142.) Sachlichen Charakters ist endlich auch die in den
höheren Lebensformationen hervortretende Grundgesinnung
der Liebe. Ihre Tendenz geht dahin, alle natürlichen Indi-
viduen zu Organen eines Systems lebenskräftiger Gedanken
umzuwandeln. ‚Wo diese Gesinnung herrscht, die anderen
Individuen im Sinne dieser Würde nicht nur zu betrachten,
sondern auch zu behandeln, da ist Liebe.“ (Phaen. p. 143.)
Damit sind die Hauptmomente des sachlichen Lebens
angedeutet. Es beruht darauf, dass in den menschlichen
Seelen nicht nur gewöhnliches Vorstellen, sondern auch
eigentliches Denken auftritt, welches eine selbständige
Tendenz besitzt; es ist auf schlechthin giltige, ewige Wahr-
heit gerichtet. Wenn der einzelne Akt des Denkens, der
wie alle anderen Akte des seelischen Lebens vorübergehend
ist, als Resultat einen haltbaren Gedanken hervorgebracht
hat, so bleibt derselbe und wirkt fort in diesem und in
anderen Menschen. Das Denken stellt gegenüber dem
personalistischen Leben eine Instanz von innerlicher Objek-
tivität dar. (Phaen. p. 145.)
d\) Das Ewige als unhistorisches Element.
Aus dem zuletzt Dargelegten geht hervor, dass ein
Mensch geistig eigentlich nur so viel erleben kann, als in
dem regierenden Gedankensystem objektiv enthalten ist.
Das persönliche ist also vom unpersönlichen Geistesleben
abhängig und da wir nichts dafür können, unter welche
Formation der unpersönlichen Geistigkeit wir historisch ge-
stellt sind, so scheint die persönliche Geistigkeit dem Laufe
der Geschichte völlig preisgegeben zu sein. (Phaen. p. 147.)
Dies wäre in der Tat der Fall, wenn alle Elemente des
HE AB BE
sachlichen Lebens, das wir von jetzt ab geistiges nennen,
sich als historische erweisen sollten, d. h. als solche, welche
dıe Farbe einer bestimmten historischen Formation an sich
haben. Unsere Erwartung geht aber dahin, dass durch den
geistigen Lebensprozess ein Element des Ewigen in die
der Zeit angehörigen Individuen hineingeleitet werde.
(Phaen. p. 148.) Ewiges kann aber nicht historisch sein.
Gibt es denn im geistigen Leben kein unhistorisches, immer
und überall gleiches Element, ein solches, das zunächst
ausserhalb der geistigen Inhaltsgeschichte steht?
Man könnte ein solches gleichbleibendes, unhistorisches
Element vermuten in jenem allgemeinen Urteil, das im
Individuum ergeht; es scheint sıch nämlich dieses Urteil
nach einem a priori im Menschen vorhandenen Massstabe
zu vollziehen. Dieser Annahme stehen indes ernste Be-
denken entgegen, wie ein Beispiel von weltgeschichtlicher
Bedeutung zeigt. Als Luther zu Worms den Widerruf ab-
lehnte und mit den bekannten Worten schloss: „ich kann
nicht anders,‘ da hätte er gewiss gerade so gut sagen können:
ich darf nicht anders. Wollte er gewissenhaft bleiben, so
durfte er dem in ıhm ergehenden objektiven Urteil gegen-
über nicht anders. Zehn Jahre vorher befand er sich noch
nicht im Konflikt mit dem herrschenden religiösen Gedanken-
system; an der Stelle des späteren verwerfenden hat offenbar
ein billigendes Urteil in ihm gesprochen. Diese beiden
Urteile unterscheiden sich aber sicherlich nicht nur durch
den Grad der Deutlichkeit von einander. Somit dürfen wir
das innerlich objektive Urteil nicht als das gesuchte un-
historische Element in Anspruch nehmen; das ist es so
wenig, als die Entstehung und das historische Dasein der
reagierenden Gedankensysteme. Hier geht alles historisch
zu. (Phaen. p. 149.)
Geistiges Leben ıst vorhanden, wenn das Ich unter der
Leitung des Gedankens befindlich ıst; es befasst also die
lebendige Kongruenz von Gedanke und Kraftäusserung.
Diese Kongruenz kommt zustande durch die bejahende Tat
des Ich. Ist das Urteil ergangen: du darfst nicht anders,
so pflichtet ihm die entschliessende und kraftgebende Instanz,
das Ich, bei: also will ich auch. Darin ist jene Kongruenz
vollzogen und damit das persönliche geistige Leben gesetzt.
Eben dieser Akt und die bejahende Tat des Ich ist das
gesuchte unhistorische Element, denn diese Kraftäusserung
ist zu allen Zeiten und allen verschiedenen Gedankensystemen
gegenüber formal die gleiche. „Unhistorisch‘ bedeutet also
nun soviel als ausserhalb der geistigen Inhaltsgeschichte
stehend. „Also: was bejaht wird, ist ein historisch ge-
gebenes Gedankensystem. Der Akt der Bejahung selbst,
obwohl er natürlich einen bestimmten Moment der Zeit
füllt, ist unhistorisch, das heisst, er hat nicht gleichsam die
Farbe einer bestimmten historischen Formation, sondern ist
farblos. Was aus der Bejahung dann entsteht, ist wiederum
historisch, denn es ist persönliches geistiges Leben unter
der Herrschaft eines bestimmten Gedankensystems. (Phaen.
p- E51.)
Die Situation, in welcher der Mensch sich befindet,
gleicht jener von Platon in seiner „Republik“ gezeichneten.
Das ganze äussere Lebensschicksal, welches die aus der
Unterwelt ins irdische Dasein zurückkehrenden Seelen zu
erwarten haben, ist durchs Los, das die Seelen selbst ge-
wählt haben, vorausbestimmt. Nur die Tugend, so erläutert
der Götterdolmetsch, ist durchaus Sache der menschlichen
Freiheit; das Lebensschicksal ist durch die vorirdische
Wahl bestimmt, die Tugend aber ist von der äusseren Ge-
stalt des Lebens vollkommen unabhängig. Für uns bedeutet
das: unter welchem Gedankensysteme man auch sein Leben
zu verbringen hat, es hängt doch letztlich von dem freien
Entschluss des Ich ab, ob man bejaht oder verneint. Die
Treue der Menschen gegen ein Gedankensystem ist unab-
hängig von der Tüchtigkeit des letzteren. Oft wird ge-
ringeren Formationen eine Treue bewiesen, welche die unter
höher stehenden Formationen der unpersönlichen Geistigkeit
Lebenden beschämen muss. (Phaen. p. 152.)
Es fragt sich nunmehr, ob mit dem nachgewiesenen
unhistorischen Element wirklich Ewiges in den historischen
Prozess geleitet wird. Soviel steht fest, dass erst mit der
bejahenden Tat des Ich die persönliche Geistigkeit zustande
kommt, und dass damit der Lebensvorgang eine entscheidende
Wendung erfährt. Das Ich wird vom Primat des Fühlens
erlöst, es hört auf, unter dem Zwange des bloss Tatsäch-
lichen zu stehen. Das geistige Leben ist nicht, wie das
personalistische, im Naturvorgang, sondern es ist Geschichte
im tieferen Sinne des Wortes. „Wir nennen Geschichte
die menschliche, zeitlich verlaufende Bewegung, deren
prineipium movens in einem Gedankensystem liegt. (Phaen.
p. 157.) Überblicken wir diese persönlich geistige Geschichte
in ihren Hauptmomenten. Der Anfang liegt da, wo zuerst
ein geistiger Inhalt durch den freien Entschluss des Ich
bejaht wird. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn die Bejahung
eine völlige geworden, wenn das Individuum zum ausführen-
den Organ des Inhaltes durchgebildet ist. Von dieser Höhe
neigt sich aber die geistige Entwicklungslinie nicht dem Ende
zu, wie die natürliche Lebenslinie es tut, wenn der Höhe-
punkt überschritten ist, vielmehr ist dem persönlichen geistigen
Leben durch das herrschende Gedankensystem ein Ziel vor-
gezeichnet, welchem es sich durch freie Bejahung annähern
soll; es schwebt als Ideal dem geistig strebenden Menschen
vor, das nie ganz erreicht wird. „Ziel“ ist hier nicht „Ende“.
(Phaen. p. 153.) Das Ideal enthält das Bild eines kraftvollen
Arbeitslebens für die grosse Sache des geistigen Inhaltes.
Von einem Ende, das in ıhm selbst begründet wäre, ist bei
dem persönlichen geistigen Leben keine Rede, höchstens
von einem Ziel, dem es sich nähert.
Aber zugegeben den idealen Charakter des Geistes-
lebens, darf man von ihm behaupten, dass sich Ewiges
darinnen realisiert? Oder ist es nicht dennoch dem Laufe
der Geschichte preisgegeben? Die bejahende Tat des Ich,
mit welcher die persönliche Geistigkeit begründet wird,
geschieht allerdings ın der bestimmten Erwartung, dass
durch das bejahte Gedankensystem dem Ich eine höhere
Wirklichkeit erschlossen werde. Als ein unbedingt giltiges,
ewig wahres wird es vom Ich bejaht. Das damit begründete
geistige Leben steht aber vom ersten Augenblick seines
Daseins an unter der Herrschaft eines regierenden Gedanken-
systemes; dieses wiederum ist ein historisches Gebilde, in
f
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.—_ 31 —
der Zeit entstanden und wohl mit der Zeit vergehend. Also
scheint das, was uns über die sinnliche Wirklichkeit erhebt
und den Zugang zu einem geistigen Reiche eröffnet, dem ganz
gewöhnlichen Laufe der historischen Entwicklung anzugehören.
Was ewig giltig erschien, erweist sich als historisch begrenzt.
Was als ewiges geistiges Leben galt, ist am Ende nichts
weiter als der „subjektive Wiederschein eines objektiven Ge-
dankensystemes“, das der Historie angehört. Aber Ewiges
kann doch nicht historisch sein? (Phaen. p. 159.)
Das Problem läge einfacher, wenn wir annehmen
dürften, es gebe für jedes Lebensgebiet nur je ein herrschen-
des Gedankensystem, also ein religiöses, ein rechtlich-
moralisches und ein kulturliches. Diese Systeme müssten
wir uns so reich und tief denken, dass sie das geistige
Arbeitsleben der Menschheit bis zum Ende für ihre Aus-
gestaltung in Anspruch nähmen. Dann würde das Ich,
welches so organisiert ist, dass es die Sprache der reinen
Sachlichkeit versteht, auf jedem Lebensgebiet nur eine
Stimme vernehmen, die zu allen Zeiten dieselbe wäre, und
ihre Giltigkeit könnte nur der in Abrede stellen, der über-
haupt in wahrhaft böser Gesinnung gegen die Herrschaft
objektiver Gedanken opponierte. (Phaen. p. 147.) Allein die
Tatsachen stehen dieser spekulatiren Annahme entgegen.
Es gibt auf jedem Lebensgebiet eine Reihe teils noch
herrschender, teils der Geschichte angehöriger Systeme.
Und diese Tatsache scheint keine absoluten, unbedingt
giltigen Worte in der Historie aufkommen zu lassen, viel-
mehr alles Unbedingte in Relatives aufzulösen. Nur eine
Annahme scheint aus dem tragischen Verhängnis, dem die
persönliche Geistigkeit ausgeliefert ist, herauszuführen, näm-
lich die, dass jener tiefere Begriff der Geschichte, den wir
in Bezug auf die persönliche Geistigkeit gebildet haben,
irgendwie auch auf das unpersönliche geistige Leben an-
gewendet werden könnte. (Phaen. p. 159.) Damit kehrt
der Entwicklungsgedanke wieder, freilich wieder nur als
Hypothese, die wir aber nicht ungeprüft von der Hand
weisen dürfen.
— 32 —
e) Der Entwicklungsgedanke in zweiter hypothetischer
Form.
Geschichte nannten wir die menschliche, zeitlich ver-
laufende Bewegung, deren principium movens in einem Ge-
dankensystem liegt. Ein Inneres, welches bleibt, wird in
den Verlauf eines persönlichen Lebens gleichsam umgesetzt.
Nunmehr fragt es sich, wo das Innere ist, welches bleibt,
während sein Inhalt in den zeitlichen Verlauf nicht eines persön-
lichen, sondern des menschheitlichen Lebens gleichsam
umgesetzt wird? (Phaen. p. 171.) Das menschheitliche Leben
steht unter der Herrschaft der regierenden Gedankensysteme.
Diese bilden mitsamt den in den Individuen ergehenden
Urteilen das Gebiet des unpersönlichen geistigen Lebens,
also die Voraussetzung der persönlichen Geistigkeit. Wie
es im Bereiche der letzteren ein unhistorisches, identisches
Element gibt, nämlich die bejahende Tat des Ich, so ist auf
der Seite der unpersönlichen Geistigkeit ebenfalls ein un-
historisches Element zu konstatieren, nämlich das Denken
als solches mit seiner praktischen Wahrheitstendenz. In
ihm haben wir die gleichbleibende Voraussetzung für Ent-
stehung, Dasein und Beurteilung aller regierenden Gedanken-
systeme zu sehen, in ihm auch die auf das Ich gerichtete
Bewegung. Aber lässt sich nun auf dieses unpersönliche
Denken unser Geschichtsbegriff anwenden? Zwar das Vehikel
desFortschrittes ist am leichtesten nachzuweisen, es besteht
offenbar in der praktischen Wahrheitstendenz des Denkens.
Aber wo ist das Innere, welches bleibt, während sein Inhalt
in den Verlauf des menschlichen Lebens umgesetzt wird?
(Phaen. p.171.) Unter dem Inhalt haben wir hier die Summe
aller Gedankensysteme, also ein gewaltiges ideelles Reich
zu verstehen. Aber eben, dass es sich nur um eine Summe
von Systemen handelt, erscheint unwahrscheinlich und ergibt
keine befriedigende Vorstellung. Wir erwarten nicht eine
Summe, sondern einen fest verbundenen Komplex, in welchem
ein Aufsteigen vom Niedern zum Höhern stattfindet. So
käme der ganze, in sich notwendige Inhalt des auf praktische
Wahrheit gerichteten Denkens im Laufe der Geschichte zur
Darstellung. Von diesem Denken könnte also gesagt werden,
dass es bleibt, während seine einzelnen Glieder, die Ge-
dankensysteme, successiv in den Verlauf des menschlichen
Lebens umgesetzt werden mit intellektueller Notwendigkeit,
vermittels der praktischen Wahrheitstendenz, ohne dass die
Freiheit des menschlichen Ich dadurch aufgehoben würde.
Ihren Abschluss erhielte die Hypothese durch die Annahme,
dass alle historisch wirksamen Gedankensysteme in dem
Denken als ideelle Präformationen vorhanden sind. (Phaen.
p. 171.) Somit hätten wir abermals einen spekulativen
Entwicklungsgedanken, der sich von dem früher dargestellten
dadurch unterscheidet, dass er die persönliche Geistigkeit
des Ich nicht zu einem blossen Phänomen herabdrückt,
sondern ihr. ihre Realität belässt. Ob man jenes Reich
ideeller Präformationen im absoluten, göttlichen Denken
begründet wissen will, wie Hegel tut, oder im immanenten
menschlichen Denken, kann zunächst dahingestellt bleiben.
In jedem Falle unterliegt auch diese Spekulation schweren
Bedenken und stösst hart mit den geschichtlichen Tatsachen
zusammen. Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, ein
Gedankensystem zu eruieren vermittels synthetischer Re-
konstruktion, ohne den Tatsachen Zwang anzutun, und von
der noch grösseren Schwierigkeit, ein solches Gedanken-
system hernach selbst wieder als Ausdruck von intellektuellen
Positionen zu begreifen, welche in dem Denken als solchem
ihre notwendige Stellung haben, steht besonders ein Punkt
unserer Spekulation im Wege. Jedes Gedankensystem hat
nämlich eine eigentümliche konkrete Beschaffenheit, deren
Wurzel in der zu Grunde liegenden intellektuellen An-
schauung zu finden ist. Es ist ein konkretes Lebenssystem,
das sich in tatsächliches Leben umsetzt; es lässt sich daher
nicht auf intellektuelle Positionen der bezeichneten Art zurück-
führen, deren Kenntnis wir doch nur aus der Erkenntnis-
theorie haben könnten. (Phaen. p. 173.) Ferner scheitert
das Unternehmen, mittels apriorischen Denkens feststellen zu
wollen, welche geistigen Evolutionen denknotwendig seien
und darum auch historische Wirklichkeit gewinnen müssten,
an dem äusseren historischen Entwicklungsgang. Die ideelle
und die reelle Reihe entsprechen einander nicht. Objektiv
Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie. 3
tiefer stehende Gedankensysteme treten geschichtlich später
auf, wie z. B. der Islam nach dem Christentum. Somit kann
der Begriff der Geschichte, wie er für die persönliche
Geistigkeit geprägt wurde, auf die unpersönliche Geistigkeit
nicht angewendet werden. (Phaen. p. 177.) Eine Einheit
des Geisteslebens wird also mit dem spekulativen Ent-
wicklungsgedanken nicht erreicht. Das persönliche Geistes-
leben scheint anderen Gesetzen zu folgen, als das unpersön-
liche. Der Hauptmangel dieser Entwicklungsidee liegt aber
offenbar darin, dass sie an die Stelle der konkreten Ge-
schichtlichkeit eine philosophische Abstraktion treten lässt.
Die konkrete Geschichtlichkeit eines jeden Gedankensystems
wiederum hat ihren Grund in der Beziehung zur Natur und
diese Beziehung reicht bis in die Wurzeln alles Geistes-
lebens, des persönlichen wie des unpersönlichen hinein.
Sie regiert mit beim Zustandekommen der intellektuellen
Anschauung, sowohl der produktiven als der reproduzierenden.
Daher kommt es, dass die den Gedankensystemen zu grunde
liegende Gedankenverknüpfung nicht die Art der logischen,
sondern die einer organischen an sich hat. Mit logischen und
theoretischen Kategorien ist deshalb dem konkreten Leben
nirgends beizukommen.
Die Frage nach dem Verhältnis des Ewigen zum
Historischen hat ihre Erledigung bisher nicht gefunden.
Ein gemeinsames Schema für das objektive und subjektive
Geistesleben, wie es der spekulative Entwicklungsgedanke
herzustellen sucht, erwies sich als imaginär; es gibt wohl
eine Geschichte des subjektiven, nicht aber des objektiven
Geistes. Das bleibende Innere, dessen Inhalt in den zeit-
lichen Verlauf umgesetzt wird, kann zwar für das persön-
liche Leben festgestellt werden (es ist eines der historisch
wirksamen Gedankensysteme), nicht aber für das unpersön-
liche, objektive Geistesleben. Dadurch wird die Einheit des
Geisteslebens, die Identität des Geistes, in Frage gestellt.
Das Problem wird noch schwieriger, wenn man hinzunimmt,
dass auch das objektive Geistesleben in den Lauf der Ge-
schichte verflochten und mithin der Geschichte preisgegeben
erscheint.
Der Gang unserer Untersuchung führt uns von selbst
dahin, jene Beziehung zwischen Geist und Natur, die offenbar
von eminenter Wichtigkeit ist für die konkrete Gestaltung
des Geisteslebens, nunmehr ins Auge zu fassen.
3. Die Einheit des Geıisteslebens und der
Entwicklungsgedanke.
a) Ihre Begründung in der Beziehung zwischen Geist
und Natur.
Das geistige Leben ist charakterisiert durch die lebendige
Kongruenz von Gedanke und Kraftäusserung. Geist ist also
die Verbindung von „Denken“ und „Ich“. (Phaen. p. 180.)
Das auf praktische Wahrheit gerichtete Denken kommt
überhaupt nur in Verbindung mit einem Ich vor und das
Ich als geistiges ist nur da vorhanden, wo jenes Denken
gesprochen hat. Die ganze Funktion des Denkens besteht
in der Herausbildung solcher Gedankensysteme, welche das
Ich beherrschen sollen. Die ganze Funktion des Ich
wiederum besteht darin, dem als wahr Erkannten den un-
bedingten Gehorsam zu leisten, zu dem es sich verpflichtet
fühlt. Also ist die Beziehung zwischen Denken und Ich
eine schlechthin ursprüngliche und fundamentale. Man darf
sagen, beide sind nur für einander da. (Phaen. p. 182.)
Ihrem Inhalte nach bezeichnet, ist diese Beziehung die Be-
arbeitung der menschlichen Natur durch den menschlichen
Geist. Der Geist ist nur dann wahrer Geist, wenn er seine
Natur bearbeitet, und die seelische Natur gelangt erst durch
die geistige Bearbeitung zur Entfaltung ihrer Anlagen.
Wäre diese ursprüngliche Beziehung nicht, so wäre die Be-
arbeitung der Natur ein „ins Blaue hinein unternommener
Eroberungsversuch“ ohne inneres Recht und ohne Erfolg.
(Phaen. p. 187.) Zweck der Bearbeitung ist die Vergeisti-
gung der menschlichen Natur, worunter hier die seelische
verstanden wird. So ist die ursprüngliche Beziehung zwischen
Geist und Natur die bleibende Grundlage des persönlichen
Geisteslebens; sie ist eine geltende Ordnung, welche zwei
3%
unterschiedene Elemente, das Denken und das Ich konstant
verknüpft. Diese Ordnung gilt aber auch für die allgemeine
geistige Geschichte, denn auch sie ist als Bearbeitung der
menschlichen Natur aufzufassen. Das geht aus folgendem
hervor. Der positive Fortschritt der allgemeinen geistigen
Entwicklung besteht darin, dass ein neues, tieferes Gedanken-
system auftritt und die Leitung der persönlichen Geister
übernimmt. Ein praktisches Gedankensystem ist immer
zuerst in nuce als grundlegende intellektuelle Anschauung
vorhanden. Sie vermittelt ihrerseits das Bild einer höheren
Wirklichkeit, in welcher nicht tatsächliche Bestände regieren,
sondern wahre Gedanken. Die produzierende und zusammen-
haltende Kraft der intellektuellen Anschauung ist eine geistige,
aber die einzelnen Teile des neuen Weltbildes sind gewöhn-
liche Vorstellungen. „Also ist hier das gewöhnliche, natur-
hafte Vorstellungsleben durch die geistige Kraft über sich
selbst, und damit über dıe Abhängigkeit von dem Gegebenen
hinausgehoben. Es hindert uns nichts, diesen Vorgang als
eine grundlegende und vorbildliche Bearbeitung der mensch-
lichen Natur durch den Geist aufzufassen.“ (Phaen. p. 188.)
Was aus dieser Bearbeitung hervorgeht, ıst das Gedanken-
system, das seine Forderungen an die einzelnen persönlichen
Geister richtet. In der Beziehung zwischen Natur und Geist
ist der Grund dafür gegeben, dass bei solcher vorbildlichen
Bearbeitung etwas herauskommt, was im geistigen Sinne
„regierungsfähig“ heisst. Wenn nunmehr von allgemeiner
Geistesgeschichte die Rede ist, so ist damit weiter nichts
gemeint, als das Nacheinander und Nebeneinander der
regierenden (Gredankensysteme mit ihrem grösseren und
geringeren Mass von Wahrheitsgehalt. Von ihnen ist der
positive Fortschritt des persönlichen Geisteslebens abhängig.
Für diese allgemeine Geistesgeschichte gilt, was auch vom
persönlichen Geistesleben behauptet wurde, dass sie als
Bearbeitung der menschlichen Natur durch den Geist auf-
zufassen ist.
Beide Arten von Geschichte werden getragen von der
3eziehung zwischen Geist und Natur. Sie haben darin ihre
gemeinsame geltende Ordnung. „In dem Gedankensystem
liegt die vorbildliche Bearbeitung der besonderen Natur
eines Volkes und einer geschichtlich bestimmten Epoche vor.
Und dieses Gedankensystem regiert wiederum die Bearbeitung,
welche der persönliche Geist auf seine besondere Natur
richtet.“ (Phaen. p. ı89.) Mithin haben wir in der Be-
arbeitung der Natur durch den Geist die korrespondierende
Tätigkeit des objektiven und subjektiven Geisteslebens zu
erblicken, und in der ursprünglichen Beziehung des Geistes
zur Natur die einheitliche Ordnung, auf welcher das persön-
liche und das unpersönliche Geistesleben ruht.
b) Einheit und Mannigfaltigkeit des Geisteslebens.
Gegeben ist eine Anzahl von Systemen, die unter sich
verschieden sind, was die Tiefe des Wahrheitsgehaltes be-
trifft, die aber auch bei gleichem Wahrheitsgehalt durch die
konkrete geschichtliche Ausgestaltung sich wesentlich von
einander unterscheiden. Die Annahme liegt nahe, dass alle
Mannigfaltigkeit der Systeme und die der geistigen Persön-
lichkeiten von der Natur herkommt. Die Natur und ıhre
besondere Gestaltung in Völkern, Zeiten und Individuen
wäre also die Quelle für die Konkretheit der Gedanken-
systeme; indem der Geist die besondere Natur eines Volkes
etc. bearbeitet, kommt es zu dem Resultat, das man als
vergeistigte Besonderheit bezeichnen könnte. (Phaen. p. 190.)
Dieser Annahme stehen aber nicht geringe Schwierigkeiten
entgegen. Es kann nämlich der grössere und geringere
Wahrheitsgehalt der Systeme aus ihr nicht genügend ab-
geleitet werden. Dass das überall gleiche, auf ewige Wahr-
heit gerichtete praktische Denken in dem einen Falle mehr,
in dem anderen weniger erreicht, müsste demnach seinen
Grund haben in der verschiedenen nationalen und zeit-
geschichtlichen Besonderheit, auf deren Bearbeitung das
praktische Denken gerichtet ist. Aber lässt sich, um ein
Beispiel aus dem religiösen Gebiet anzuführen, das christ-
liche Gedankensystem mit seinem Schatze neuer und tiefer
Wahrheit etwa aus der Bearbeitung der israelitischen Natur
durch das überall gleiche, praktische Denken ableiten?
(Phaen. p. 192.) Die Unterschiede der Gedankensysteme,
ra
welche rücksichtlich des Wahrheitsgehaltes bestehen, ge-
hören nicht der Natur, sondern dem Geiste an. AÄndrerseits
gibt es Unterschiede, die von der Natur herrühren. Diese
liefert als national und historisch bestimmte der grundlegen-
den intellektuellen Anschauung das in vorbildlicher Weise
zu bearbeitende Material. Das Resultat ist die vergeistigte
Besonderheit. Somit hat jedes System einen bestimmten
Wahrheitsgehalt und die Züge vergeistigter Besonderheit,
wenn es voll ausgestaltet ist. Aus dieser doppelten Quelle
stammt die Konkretheit der Gedankensysteme. Bei tieferem
Eindringen erschliesst sich aber noch eine dritte. Abgesehen
nämlich von den Unterschieden an Wahrheitsgehalt, die auf
die Leistung des praktischen Denkens zurückzuführen sind,
und vor der Bearbeitung einer nationalen Besonderheit
liegen, gleichsam also im ersten originalen Wurf des Denkens
begründet sind, unterscheiden sich die Gedankensysteme
noch in anderer Weise von einander. Es hat jedes seinen
eigenartigen Typus; in allen bedeutenderen Systemen ist
ein gewisses unsagbares Etwas zu konstatieren, wovon jede
einzelne Position gleichsam tingiert ist, und worauf schliess-
lich die Eigenartigkeit des geistigen Typus beruht. Be-
gründet ist diese Eigenartigkeit in dem spezifischen Gesichts-
punkt, welcher in der grundlegenden intellektuellen An-
schauung die Aktion des geistigen Schauens regiert. Wie
die geistige Höhenlage eines Systems schon entschieden ist
vor der Bearbeitung einer nationalen Besonderheit durch
die erste originale Leistung des praktischen Denkens, so
gehört auch die Eigenartigkeit der Systeme, die auf einer
besonderen Betätigung des praktischen Denkens ruht, dem
Geist und nicht der Natur an. (Phaen. p. 195.) Diese mit
„Eigentümlichkeit“ zu bezeichnende Besonderheit ist also
zu unterscheiden von der vergeistigten Besonderheit, von
der oben die Rede war. Letztere ist das Resultat aus zwei
Faktoren, nämlich dem Denken, das eine nationale und
historische Besonderheit vorbildlich durch eine intellektuelle
Anschauung bearbeitet. Erstere gehört ganz dem Geiste
an (Phaen.p. 195). Als geschichtliche Illustration zu dem, was
begrifflich entwickelt wurde bezüglich der Eigentümlich-
U A
vn.
keit, mag das Beispiel der drei grossen christlichen Kon-
fessionen dienen. Jedes dieser Gedankensysteme enthält
eine eigentümliche Auffassung des christlichen Wahrheits-
gehaltes. Dementsprechend gestaltet sich auch die persön-
liche Frömmigkeit unter der Herrschaft jedes dieser Systeme
verschieden. Denken wir uns drei Menschen, an welchen
das, was objektiv in ihrer Konfession an religiösem Gehalt
enthalten ist, zum typischen Ausdruck kommt, so werden
diese drei Typen nicht nur in diesem oder jenem Stück,
sondern, man möchte sagen, dem inneren Genius nach ver-
schieden sein. (Phaen. p. 196.) Solche Unterschiede in der
subjektiven Sphäre können nur in der Beschaffenheit der
regierenden Gedankensysteme begründet sein; es liegen
also hier offenbar drei eigentümliche Gestaltungen des christ-
lichen Gedankensystemes vor.
Die Ansicht von der Eigentümlichkeit ist hier nur in-
soweit darzustellen, als sie schliesslich für den Entwicklungs-
gedanken in Betracht kommt, und dazu erübrigt noch, auch
das persönliche geistige Leben daraufhin zu prüfen, ob es
die Merkmale der Eigentümlichkeit aufzuweisen hat. Es
ereignet sich hier in der Tat im Kleinen dasselbe, was
vorher rücksichtlich der objektiven Fortbildung der Systeme
im Grossen gesagt wurde. Dort wurde die Eigentümlickeit
eines Gedankensystems hergeleitet von dem spezifischen
Gesichtspunkt, der in der grundlegenden intellektuellen An-
schauung die Aktion des geistigen Schauens regiert. Hier
ist der Moment ins Auge zu fassen, in welchem eın neues
Gedankensystem im Geiste eines Menschen zuerst ins Dasein
tritt. Da scheint nun jene spezifische Richtung des prakti-
schen Denkens eben eine Qualität seines Denkens zu sein.
Die Eigentümlickeit seines Geistes scheint der tragende
Grund für die Eigentümlichkeit des von ihm produzierten
Systems zu sein; es mag dem so sein, jedenfalls aber ist
hinzuzunehmen, dass „je grösser der Heros und sein System
ist, um so mehr sich Züge finden, welche man nicht umhin
kann, als inspiratorisch zu bezeichnen. Gerade am ersten
Anfang kommt der Heros nur als Organ in Betracht, in
welchem das praktische Denken selbst eine neue Stufe
ersteigt.“ (Phaen. p. 198.) Indes kommt hier weniger in
Betracht was der Mensch an dem Gedankensystem arbeitet,
sondern was er als Organ des Systems an seiner Natur tut.
Und hier ist bei aller Abhängigkeit doch Raum für die
Betätigung geistiger Eigentümlichkeit. Man kann einen
bedeutenden historischen Inhalt auf verschiedene Weise zur
Durchführung bringen und er bleibt doch derselbe. „Es
muss ın der Wurzel ein aktives Element vorhanden sein,
welches zwar nicht das Wachstum selbst, wohl aber die
spezifische Art des Wachstums hervorruft.“ (Phaen. p. 200.)
Die Eigentümlichkeit kann allerdings nur in der Reproduktion
eines Gedankensystems betätigt werden. Aus der natürlichen
Besonderheit ist die individuelle Eigentümlichkeit nicht
ableitbar, wenigstens dann nicht, wenn die Reproduktion
mit Treue und Hingebung vollzogen worden ist, denn in
diesem Falle wurde ja die natürliche Besonderheit als das
Nichtseinsollende ferne gehalten. Es bleibt nur übrig, die
individuelle Eigentümlichkeit, welche die Reproduktion eines
Inhaltes auszeichnet, auf die spezifische Richtung des prakti-
schen Denkens zurückzuführen. Es handelt sich also tat-
sächlich um persönliche Eigentümlickeit in geistiger Beziehung.
Dass sie verhältnismässig selten vorkommt, hat seinen Grund
in Verhältnissen die hier nicht erörtert zu werden brauchen.
— Das Ergebnis der beiden letzten Abschnitte für den Ent-
wicklungsgedanken kann nunmehr zusammengefasst werden.
Die berechtigten Momente der älteren spekulativen Ent-
wicklungsidee in der Hegelschen Fassung bleiben erhalten.
Dazu ist zu rechnen die Einheit des Geisteslebens und der
Gedanke des Fortschrittes. Jene ist garantiert durch die
ursprüngliche Beziehung zwischen Geist und Natur, deren
Bearbeitung den gemeinsamen Inhalt aller Gedankensysteme
bildet. Die ursprüngliche Beziehung umfasst als geltende
Ordnung das allgemeine sowie das persönliche Geistesleben.
Doch ist diese Einheit keine abstrakte, sondern eine ge-
gliederte, denn innerhalb dieser Ordnung ist Raum für
Betätigung von objektiver und persönlicher Eigentümlichkeit.
Darin wieder liegt die Möglichkeit für die unzähligen indi-
viduellen Geister, von denen jeder ein „dieser“ ist. Dabei
|
bleibt das persönliche Geistesleben völlig an das objektive
gewiesen, denn persönliche Eigentümlichkeit ist nur möglich
in der Reproduktion eines Gedankensystems. Was die Idee
des Fortschrittes betrifft, so erfährt sie allerdings eine be-
deutende Modifikation. Es gibt für das allgemeine Geistes-
leben kein Inneres, das sich in den Verlauf irgend eines
Lebens umsetzte. Die Ansicht, dass alle Gedankensysteme
im menschlichen Denken präformiert vorhanden wären und
darum in einer bestimmten Reihenfolge hervortreten müssten,
wurde abgewiesen. Ebenso die von den drei Normalsystemen,
die sich successive verwirklichen sollen. Den Begriff der
Geschichte können wir mithin nicht in gleicher Weise auf
das unpersönliche Geistesleben anwenden, wie auf das per-
sönliche. Allerdings ist ein bleibendes Innere auch auf der
objektiven Seite vorhanden, nämlich das Denken mit seiner
Tendenz auf ewige Wahrheit, und die fundamentale Be-
ziehung zwischen Geist und Natur; aber die beiden Faktoren
setzen sich nicht in einen Lebensverlauf um, sondern äussern
sich in immer neuen Produktionen des Denkens auf Grund
der Beziehung. Von einem stetigen Fortschritt, der die
Selbstverwirklichung der Idee darstellte, kann daher keine
Rede sein. Es ist mehr das Nebeneinander als das Nach-
einander der Systeme zu betonen.
c) Die Inadäquatheit des Geisteslebens.
Eine weitern Modifikation erfährt der Gedanke des
Fortschrittes durch das, was man die Inadäquatheit des
Geisteslebens nennen könnte; sie ist sowohl auf Seite des
objektiven wie des persönlichen Geistes vorhanden und be-
darf nunmehr der Hervorhebung. Es ist, um mit dem per-
sönlichen Geistesleben zu beginnen, hier auf die Tatsache
hinzuweisen, dass in jedem Menschen der Geist mit einem
Element verknüpft ist, über welches er nicht wahrhaft siegen
kann, sondern welches am letzten Ende ihn besiegt. (Phaen.
p. 217.) Das geistige Leben ist mit dem Körper verknüpft,
welcher wohl diszipliniert, aber nicht vergeistigt werden
kann. Das persönliche geistige Leben erscheint nie anders,
als mit dem personalistischen verbunden; letzteres aber stellt
einen Naturvorgang dar und unterliegt völlig den äusseren
tatsächlichen Verhältnissen. In der „Natur“ aber ist keine
Tendenz wahrzunehmen, welche dahin ginge, menschliche
Persönlichkeiten als bleibende Lebensmittelpunkte hervor-
zubringen. (Phaen. p. 158.) Also die Tatsache des Sterben-
müssens ist eine vom Geistesleben aus unbegreifliche. Das
Leben des Geistes ist dem zeitlichen Verlauf preisgegeben,
der sich aus den Verhältnissen tatsächlicher Bestände ergibt.
Diese Preisgebung ist um so merkwürdiger, als der Anfang
des geistigen Lebens nicht mit dem des natürlichen zu-
sammenfällt. Die geistige Bewegung, deren Anfang in den
Moment zu setzen ıst, wo das Denken und das Ich unter
der Leitung eines Gedankensystems sich wahrhaft zusammen-
geschlossen haben, und deren Ende unabsehbar ist, bleibt
in den Naturlauf verflochten. Eine entsprechende Erscheinung
trıtt uns auf der Seite des objektiven geistigen Lebens ent-
gegen. (Phaen. p. 218.) Die Faktoren, um die es sich hier
handelt, sind die Gedankensysteme, welche aus der Tendenz
des Denkens auf praktische Wahrheit hervorgehen, und die
durch ıhre Eigentümlichkeit ein weiteres bedeutendes Element
des Geistes darstellen. Diese Produktionen des objektiven
Geistes sind nicht gleicherweise mit dem Personalismus ver-
flochten wie das persönliche Geistesleben. Allerdings kommt
auch für sie die Treue und der Gehorsam der führenden
Geister namentlich in der späteren Ausgestaltung sehr in
Betracht, aber der über die geistige Höhenlage des ent-
stehenden Gedankensystems entscheidende Moment liegt
jenseits des Personalismus, jenseits von Treue und Untreue.
(Phaen. p. 230.) Man kann mithin sagen, dass hier die
geistige Macht des Denkens ursprünglich auf geistige Weise
tätıg ist und dass ihre Fortschritte von geistiger Art sind;
und dennoch sind die Gedankensysteme nicht nur an Wahr-
heitsgehalt verschieden, sondern sie sind in ihrer Entwicklung
mit dem menschlichen Naturleben und dessen zeitlichem
Verlaufe in einer Weise verflochten, die vom Standpunkt
des Geistes aus nicht für selbstverständlich gelten kann.
(Phaen. p. 219.) Die Preisgebung des geistigen Lebens an
den zeitlichen Verlauf gehört unter den Begriff des Inadäquaten.
2
— 43 —
Bleibt es doch die Situation unzähliger Menschen, die unter
einer niederen geistigen Formation leben, dass ihnen von
dem objektiven Geistigen, auf das sie angelegt sind, viel
weniger zu teil wird als anderen. Was sie als unbedingt
und ewig giltig bejaht haben, erweist sich hinterher als
etwas, das vorwiegend eine historische Grösse ist, wenn
auch sein Ursprung aus dem geistigen Lebensgrunde des
Denkens feststeht. Allerdings wird, sofern dies klar wird,
die geistige Selbständigkeit und Eigentümlichkeit sich in
der Kritik des Bestehenden und eventuell in Ansätzen zu
objektiven Neubildungen äussern. (Phaen. p. 227.) Insofern
also, als eine Wechselwirkung zwischen objektivem und
subjektivem geistigen Leben stattfindet, ist die Preisgebung
an die historische Situation keine absolute, aber die
Frage, ob nicht das, was von dem Ich als unbedingt
geltend bejaht wurde, schliesslich nur ein relativer histori-
scher Wert ist, bleibt bestehen, denn Ewiges und Historisches
scheinen sich gegenseitig auszuschliessen. Bis zu diesem
Punkte sind wır schon einmal gelangt bei der Frage nach
dem Verhältnis zwischen dem Ewigen und Historischen.
Nunmehr dürfte eine rein begriffliche Klarstellung günstig
auf die Umgrenzung des Problems wirken. „Historisch“
und „ewig“ heben sich dann allerdings gegenseitig auf,
wenn wir unter „historisch“ den Verlauf in der mensch-
lichen Sphäre verstehen, welche von dem Naturkreislauf
nicht wesentlich verschieden ist, also wıe dieser sich aus
den Verhältnissen tatsächlicher Bestände ergibt. (Phaen.
p. 228.) Bezeichnen wir irgend etwas als ewig, so heisst
das ja gerade, dass es nicht dem Daseinskreise angehört,
für welchen der bezeichnete Verlauf charakteristisch ist.
„Dagegen behaupten wir nicht, dass einem solchen Gegen-
stand alle Bewegung fehlen müsse, und dass er nur in
starrer Ruhe verweilen könne. Aber diese Bewegung und
Entwicklung ist nicht die naturmässige. Sie beginnt im
Geiste, das heisst letztlich im Denken und sie geht von
einer Stufe des geistigen Lebens zur anderen ins Unendliche
fort. Solche Bewegung nennen wir Geschichte, und diese
ist die wahre Lebensform des Geistes.“ (Phaen. p. 228.)
m MA
Nun ist es gerade dieser Begriff der Geschichte, den
wir für das persönliche Geistesleben in Anspruch genommen
haben, und es steht mithin der Annahme nichts im Wege,
dass sich in ıhm Ewiges realisieren könne. Andrerseits
freilich konnten wir für das unpersönliche Geistesleben nicht
den Nachweis erbringen, dass es nach dem Schema einer
Geschichte verlaufe. Das Vehikel des Fortschrittes zwar
ist gegeben in der unbedingten Wahrheitstendenz des
Denkens, aber es fehlt die Umsetzung in einen Lebensverlauf
und es fehlt das Moment der Freiheit, welches für das
persönliche Geistesleben von entscheidender Bedeutung ist,
denn sowohl das praktische Denken als die daraus hervor-
gehenden Gedankensysteme sind unpersönlicher Art. Ist
nun auch das Handeln der Individuen gegen die Inhalte,
die Wechselwirkung des subjektiven und objektiven Geistes-
lebens, von weitgehender Bedeutung, so kann man doch
nicht behaupten, dass das objektive geistige Leben vom
subjektiven aus etwa begründet werde durch freie, wesens-
bildende Taten des Ich, sondern jenes bleibt allezeit das
übergeordnete. „Das Ich wird niemals ein Herr des
Denkens und damit der theoretischen und praktischen
Wahrheit.“ (Phaen. p. 209.) Mithin bleibt eine gewisse
Differenz zwischen dem objektiven und subjektiven Geistes-
leben bestehen. Jenes ist nur bis zu einem gewissen Grade
Geschichte. Dieses wird umsomehr Geschichte und nicht
bloss historischer Verlauf sein, je geistiger der Ursprung
des Gedankensystems ist, unter dessen Herrschaft es steht,
und ein Gedankensystem wird um so grösseren Wahrheits-
gehalt besitzen, je mehr es alle in der ursprünglichen
Beziehung liegenden Momente zu tiefem und allseitigem
Ausdruck bringt. (Phaen. p. 229.)
d) Der Entwicklungsgedanke.
Zusammenfassend können wir nunmehr folgende Momente
hervorheben, die den Entwicklungsgedanken charakterisieren:
Ein eigentliches Subjekt der Entwicklung, mögen wir es
Idee oder sonstwie nennen, das sich selbst in immer höheren
Daseinsformen verwirklicht und zum absoluten Bewusstsein
erhebt, kennen wir nicht. An dessen Stelle tritt der im-
manente Denkprozess, dessen beide Faktoren das Denken
mit seiner praktischen Wahrheitstendenz und die Beziehung
zwischen Geist und Natur sind. In letzterer ist die Einheit
des Geisteslebens begründet. „Wir haben die Annahme
jenes allgemeinen Geistes der Menschheit wirklich nicht
nötig, uns genügt die starke Betonung der Identität des
Denkens in den aufeinander folgenden Geschlechtern der
menschlichen Individuen. Es ist der Art nach dasselbe
Denken, welches einst ın einer Anzahl von Individuen die
Inhalte bildete, und welches jetzt in nachgeborenen Ge-
schlechtern sich urteilend und reproduzierend in ihnen
verhält.“ (Phaen. p. 135.) Durch den Gedanken der Eigen-
tümlichkeit, welcher der älteren Spekulation fremd war,
gewinnt ferner der einzelne Geist mächtig an Bedeutung;
seine persönliche, eigentümliche Richtung wird zu einem
Einschlag in dem Gewebe der Geschichte. Es kann keine
Rede mehr davon sein, dass der einzelne Geist nur eine
Durchgangsstufe von bloss phänomenaler Bedeutung für den
allgemeinen Geist sei. Endlich wird die optimistische Ent-
wicklungstheorie Hegels mit ihrer Annahme eines stetigen
Fortschrittes stark modifiziert durch die Ansicht von der
Inadäquatheit des Geisteslebens; letzteres stösst infolge
seines Verflochtenseins mit den natürlichen Tatbeständen
auf weit mehr Widerstand, als es der älteren Spekulation
erschien. Eine Stetigkeit des Fortschrittes ist nicht nach-
weisbar. Statt dem Nacheinander ist vielmehr das Neben-
einander der Gedankensysteme zu betonen. (Phaen. p. 231.)
„Wir werden allerdings nicht meinen, den ganzen Reichtum
des subjektiven und objektiven Geistes in der irdischen
Geschichte vorgeführt zu bekommen. Alle dahingehenden
philosopischen Versuche müssen fehlschlagen.“ (Phaen. p. 225.)
1. Teil:
Beurteilung.
l. Die philosophische Grundlage.
Es sind zwei Theorien, welche der Philosophie von Class,
die zwar nicht vollständig, aber der Hauptsache nach dar-
gestellt wurde, zu Grunde liegen. Eine Theorie vom
menschlichen Ich und eine vom unpersönlichen autonomen
Denken.
Was die erste betrifft, so ist sie wesentlich an Kant
orientiert.. Das Ich ist, wie bei Kant der Wille, bestimmbar
durch blosse Vernunft. Es vermag fühlend und wollend aut
die sachlichen Forderungen der Gedankensysteme zu
reagieren, es versteht die Sprache der Sachlichkeit; anderer-
seits ist es zugleich individualistisch bestimmt, durch die
Antriebe der Sinnlichkeit affiziert, wie Kant vom Willen
sagt. (Phaen. p. 131.) Auch der ethische Vorgang, die
Entscheidung des Ich für ein unbedingtes Soll, wie es ıhm
in den Gedankensystemen entgegentritt, ein Vorgang, welcher
„alle Potenzen des Universums vertreten zeigt“, ist durchaus
kantisch gedacht. An dieser prinzipiellen Übereinstimmung
vermögen auch einzelne, teilweise sehr bedeutsame Modifi-
kationen nichts zu ändern. Zu letzteren gehört es, wenn
Class statt des einen, inhaltlich allezeit gleichen kate-
gorischen Imperativs, wie Kant ıhn lehrt, eine Verschieden-
heit von Imperativen, die doch gleichermassen unbedingt
sind, nachweist, wenn er ferner diese Imperative auch auf
den Gebieten des religiösen und kulturlichen Handelns
konstatiert, nicht nur, wie Kant tut, auf dem Gebiet des
rechtlich moralischen Handelns.
Die andere Theorie von unpersönlichen Denken führt
dagegen über Kant hinaus. Zwar sofern dieses Denken
als reines, postulierendes, Kategorien bildendes gedacht ist,
befinden wir. uns noch auf kantischem Boden; nicht mehr
aber, wenn diesem Denken eine eigene Bewegung, eine auf
das Ich gehende Tendenz, also ein Wille zugeschrieben wird.
Hier tritt die Hegelsche Philosophie in Sicht. Mehr noch
ist dies der Fall, wenn in der geschichtsphilosophischen
Weise Hegels der Begriff eines historischen Inhaltes ge-
bildet wird und wenn vollends als letzte Grundlage. der
historischen Inhalte ein System von Gedanken konstatiert
wird. Hier befinden wir uns auf einer Linie mit Hegels
Ansicht vom objektiven Geiste; Class hat diese Ansicht vom
objektiven Geiste von Hegel übernommen und zu der An-
sicht vom historischen Inhalt ausgestaltet und fortgebildet.
Und gerade darin erblicken wir ein Verdienst dieser Philo-
sophie, dass sie unbekümmert um die Ungunst, unter welcher
die Hegelsche Philosophie derzeit noch zu leiden hat, ein
Moment von unvergänglichem Wahrheitsgehalt zu Ehren
gebracht und als festes Bollwerk dem Individualısmus ent-
gegengestellt hat. Eben die Ansicht vom objektiven Geist,
von der Realität und Autonomie des Gedankens. Gewiss
hat diese Ansicht ihre Schwierigkeiten und Hegel selbst
hat diese seine bedeutendste Leistung diskreditiert dadurch,
dass er eine Geschichte des objektiven Geistes glaubte
nachweisen zu können. Dass das vorliegende System sich
von dieser Verirrung durchaus frei gehalten hat, wird die
Darstellung des Entwicklungsgedankens genügend gezeigt
haben. Immerhin liegt es nahe, auch gegen diese stark,
modifizierte Ansicht vom unpersönlichen Denken den Vorwurf
des Intellektualismus zu erheben. Dass der „Gedanke“,
zumal der systematisch entfaltete, ein Element, und zwar
ein energisches, der Wirklichkeit sein soll, will der modernen
Denkweise nicht in den Sinn. „Sie ist daran gewöhnt, den
‚Gedanken‘ nur als Spiegelung der Wirklichkeit, höchstens
als das Instrument zu betrachten, mittels dessen die Wirklichkeit
ee
zum intellektuellen Präparat umgestaltet wird. Vielleicht
erkennt sie die Tatsächlichkeit der von uns betonten
Phänomene an, aber sie wird nachzuweisen suchen, dass
die Macht jener Gedankensysteme in Wahrheit nicht ihnen
selbst, sondern den Individuen angehört.“ (Phaen. p. 66.)
Somit hat Class selbst die Schwierigkeit seiner philosophi-
schen Position gefühlt, aber er hat auch jenen naheliegenden
Einwand in einer wie uns scheint durchaus zutreffenden
Weise entkräftet. „Dem gegenüber fragen wir: wie würde
denn eigentlich im vorliegenden Falle eine wahrhaft intel-
lektualistische Theorie lauten? Sie würde einfach das
Wollen in Denken auflösen und dann zwischen theoretischem
und praktischem Denken unterscheiden. Bei letzterem wäre
nicht eine selbständige praktische Potenz anzunehmen,
welche die Gedanken ausführte, sondern dem Denken selbst
würde die Fähigkeit eigen sein, sich praktisch zu verhalten.“
(Phaen. p. 137.) Wenn wir dagegen an das denken, was
Class von dem Ich als der entschliessenden und kraftgeben-
den Instanz lehrt, ferner an die Zusammengehörigkeit dieses
leidenden und handelnden Ich mit dem Denken, so geht
daraus hervor, wie ferne ıhm trotz allem eine intellektualistische
Theorie legt.
Was die Selbstbewegung des reinen Denkens, die
Tendenz auf das Ich hin betrifft, so müssten wir sie als
eine „Begriffsdichtung“ ablehnen, wenn sie gemeint wäre
im Sinne der Hegelschen panlogistischen Spekulation,
nämlich als das Vehikel, durch welches es zur Selbst-
entfaltung der metaphysisch gedachten Idee kommt. Wir
müssten diese Ansicht um so mehr abweisen, als es Hegel
selbst in der Frage nach dem Primat des Denkens oder
Wollens in jenem Prozesse zu keiner einheitlichen An-
schauung gebracht hat. (K. Fischer, Hegel Band Il, p. 683.)
Um eine solche Spekulation handelt es sich aber ım vor-
liegenden Falle nicht, sondern nur um die Frage, ob den
Gedanken, nämlich den fertigen Gedanken der historischen
Inhalte, oder dem persönlichen Wollen der Primat im allge-
meinen und im individuellen Geistesleben zukommt. Wer
mit Class der ersteren Ansicht ist, der konstatiert einfach
eine Tatsache, wenn er von einer auf die Beherrschung des
Ich hinzielenden Bewegung des reinen Gedankens redet.
Es ist die Tatsache, dass das unpersönliche Denken in der
Geschichte allezeit auftritt mit dem Anspruch, der „geborene
Führer des Ich“ zu sein. Zu erklären ist diese Tatsache
aus der praktischen Tendenz des reinen Denkens. Ungleich
wichtiger als alles bisherige erscheint es uns aber, dass
Class den Monismus Hegels völlig aufgegeben hat. Nicht
nur sind, wie bei Schleiermacher, Natur und Geist
zwei unterschiedene Faktoren, sondern der Geist selbst ist
nach seinem innersten Wesen nur eine gegliederte, nicht
eine abstrakte Einheit. Er ist die Kongruenz, nicht die
Indentität des Ich als kraftgebender Instanz und des un-
persönlichen Denkens. Er ist nicht eine Substanz, sondern
ein durch die zwei genannten Faktoren hervorgebrachter
Vorgang. Mit dieser Auffassung, die schliesslich auf den
aristotelischen »oög in seinem Verhältnis zur Ywy7 zurück-
geht (Real.* p. 33), hat Class ein realistisches Element in
seine Philosophie eingeführt, das von grösster Bedeutung ist.
Denn nur bei dieser Fassung der Sache scheint uns die
Immanenz des Geisteslebens einleuchtend zu sein. Da jener
voös, das reine Denken, zur Ausrüstung des menschlichen
Geistes gehört, ist es nicht nötig, stets auf eine Überwelt
des Geisteslebens zu rekurrieren. Schreibt man dagegen
dem Geistesleben in platonisierender Weise ein substantielles
Selbst und Beisichsein zu, wie es in der in mancher Be-
ziehung verwandten Philosophie Euckens geschieht, so ist
sowohl die Immanenz des Geisteslebens als auch die Be-
deutung des individuellen für das substantielle Geistesleben
schwer vorstellig zu machen. Anders hier, wo das Denken
und das Ich vermöge einer fundamentalen Beziehung, die
ihren Grund und Inhalt in der Bearbeitung der Natur durch
den Geist hat, aufeinander angewiesen sind. Hier ist
Raum für Betätigung individueller Eigentümlichkeit, ver-
möge deren jeder einzelne Geist ein „dieser“ ist und für
den Bestand und die Fortbildung des betreffenden histori-
*), Abkürzung für: Class, die Realität der Gottesidee (1904).
Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie. 4
—— 50 —
schen Inhaltes seine Bedeutung hat. Die Ansicht von der
Eigentümlichkeit, welche Class nach dem Vorgange Schleier-
machers in seine Philosophie eingeführt hat, könnte vielleicht
noch weiter ausgestaltet werden; es dürften z. B. die letzten
Gründe für das konservative oder kritische Verhalten einem
gegebenen Inhalt gegenüber auf die persönliche Eigentümlich-
keit zurückzuführen sein. Jedenfalls hat Class mit dieser Ansicht
eine zwar sehr schwierige, aber auch sehr ergiebige Materie
in seine Philosophie eingeführt, die in einem rein idealistischen
System keine Stelle hätte. Seiner realistischen Auffassung
vom Wesen des Geistes ist es zu verdanken, dass das
Gesamtbild des Geisteslebens, wie er es entworfen hat, sich
durch reiches geschichtliches Kolorit und durch plastische
Konkretheit auszeichnet.
Die Elemente, auf welche schliesslich der Verlauf des
persönlichen Geisteslebens sowie die Gesamtentwicklung
der Gedankensysteme zurückzuführen ist, sind zwei, nämlich
die Tendenz des Denkens auf Wahrheit und die ur-
sprüngliche Beziehung zwischen dem menschlichen Geiste
und der menschlichen Natur. Dass die philosophische
Forschung hier nicht Halt machen kann, ist klar. Die Frage
nach dem tragenden Grunde der beiden Elemente, die doch
nicht „gleichsam in der Luft schweben“ können, ist unab-
weisbar. (Phaen. p. 231.) Aber mit der Beantwortung dieser
Frage überschreiten wir das Gebiet, welchem die bisher
behandelten Phänomene angehören, nämlich das Zwischen-
gebiet zwischen Gott und der Materie. Wird die letzte
Frage gestellt, so ıst der Rekurs auf die Gottesidee voll-
zogen. Class hat diesen Schritt getan in seiner Schrift:
Die Realität der Gottesidee (München ı904). Da sie für
den Entwicklungsgedanken nicht in Betracht kommt, müssen
wir uns eine eingehende Behandlung dieses bedeutenden
Versuchs versagen.
PRIPRERN?.
Fo
2. Ergebnis.
Es sind sichere Anzeichen vorhanden, dass gewisse
Grundgedanken der Hegelschen Philosophie wieder zu Ehren
kommen. Nennt doch ein von Hegel so grundverschiedener
Denker wie Wundt Hegels Philosophie des Geistes neben
dem Positivismus die hervorragendste Erscheinung des ver-
flossenen Jahrhunderts (Einleitung in die Philosophie p. 268).
Die Bedeutung der Religionsphilosophie Hegels für die
Gegenwart hat kürzlich eine Würdigung erhalten (Dr. Emil
Ott, die Religionsphilosophie Hegels). Auch ein anderes
vielgenanntes Werk Euckens „Wahrheitsgehalt der Religion“
ist eine Weiterbildung Hegelscher Gedanken. Ganz be-
sonders gilt letzteres Urteil von der Class’schen Philosophie.
Sie hat Hegels Grundanschauung vom objektiven Geist in
originaler Weise umgestaltet und fortgebildet zu der des
historischen Inhaltes und hat mit letzterem einen Begriff von
weittragender Bedeutung geschaffen. Seine Leistungs-
fähigkeit scheint uns besonders in zwei zur Zeit akuten
Fragen hervorzutreten, deren Präliminarien wenigstens noch
in das philosophische Gebiet gehören, in den Fragen nach
der Absolutheit und nach dem Wesen des Christentums.
Was das erstere Problem betrifft, so kann vom Stand-
punkte historischen Denkens aus die Absolutheit des
Christentums geschichtlich jedenfalls nicht mehr in der Weise
begründet werden, dass man den historischen Inhalt, welchen
das Christentum darstellt, gegen alle anderen historischen
Inhalte isoliert. Dazu ist das historische Denken weder
berechtigt, noch bedarf der Gegenstand eines solchen Mittels,
um seine Überlegenheit über alle verwandten historischen
Inhalte darzutun. Der andere Weg, die Absolutheit des
Christentums nachzuweisen, ist der, dass man es als
Realisierung der religiösen Idee erweist. Auch dieser Weg
ist für den historisch Denkenden ungangbar, denn er führt,
wenn konsequent verfolgt, zuletzt doch wieder auf den
metaphysischen Entwicklungsgedanken Hegels hinaus. Wo-
her will man nämlich den Allgemeinbegriff oder die Idee
der Religion gewinnen, wenn nicht aus der Geschichte ?
4
Diese aber zeigt uns nie Allgemeinbegriffe, sondern nur
individuelle Gebilde in konkreter, also geschichtlich be-
dingter Gestalt. Aber selbst zugegeben, der Allgemein-
begriff liesse sich auf historische Weise ermitteln, wie wollte
man dann beweisen, dass dieser Allgemeinbegriff zugleich
der oberste Normbegriff ist? Der Nachweis hiefür wäre
doch nur unter der Voraussetzung möglich, dass in der
Geschichte ein Entwicklungsgesetz sich auswirkt, das an
bestimmten Punkten mit Notwendigkeit zur Erscheinung der
Idee führt. Das postulierte Gesetz müsste sich also zu
allen geschichtlichen Hervorbringungen kausal verhalten und
müsste zugleich den Grund für den teleologischen Charakter
derselben enthalten. Es wäre mit anderen Worten nichts
anderes als die Umsetzung eines Allgemeinen in einen
historischen Verlauf, und diese wiederum fände ihre letzte
Begründung in dem metaphysischen Entwicklungsgedanken,
nach welchem im Begriff des Absoluten die kausale Ent-
wicklungsreihe und ihr Ziel, die Realisierung der Idee
gesetzt ist. Ein solches Entwicklungsschema ist der wirk-
lichen Geschichte fremd.
Demnach kann der Beurteilungsmasstab für die Ab-
solutheit des Christentums nicht irgend woher a priori kon-
struiert werden, sondern er ist aus der Sache selbst, das
heisst, aus der Geschichte zu gewinnen. Es wäre freilich
ein aussichtsloses Unternehmen, aus der Historie objektive
Masstäbe gewinnen zu wollen, wenn die Geschichte nichts
weiter wäre als die grenzenlose Auswirkung des Indivi-
dualismus. Dann kämen wir über einen endlosen Progress
nicht hinaus. Wer sich aber von der Unrichtigkeit dieser
Ansicht überzeugt hat, und in der Geschichte vielmehr das
Ganze von Wechselwirkungen zwischen Individuen und
Inhalten erkannt hat, der kann es nicht mehr für aussichtslos
halten, aus dem historischen Geschehen objektive Mass-
stäbe zu gewinnen. Schliesslich ist doch kein historischer
Inhalt, der diesen Namen verdient, ganz ohne objektiven
Wahrheitsgehalt. Nur aus dem Zusammenschauen und
Vergleichen aller zugänglichen Inhalte kann der Beurteilungs-
masstab hervorgehen für denjenigen geschichtlichen Inhalt,
welcher nicht nur einzelne Wahrheitsmomente enthält wie
die anderen auch, sondern alle in der Sache (das heisst hier
in der Beziehung des Geistes zur Natur, unter dem religiösen
Gesichtspunkt betrachtet), liegenden. Auf diesem Wege
gelangt man dann allerdings nicht zu einer abstrakten,
sondern zu einer historischen Absolutheit. Aber das
Weniger ist auch in diesem Fall ein Mehr. Dass die religiöse
Vergewisserung um die Absolutheit des Christentums nicht
von jenem historisch wissenschaftlichen Beweisverfahren
abhängig ist, braucht wohl nur erwähnt zu werden. Zur
Verständigung über den aus der Geschichte hervor-
gehenden Absolutheitsbegriff, sowie zur weiteren Umgrenzung
dieses Begriffes mag wohl noch hervorgehoben werden,
dass auch den an Wahrheitsgehalt reichsten Gedanken-
systemen die Verflechtung in den naturhaften historischen
Verlauf nicht erspart bleibt, wenngleich die tiefsten und
wahrsten Systeme aus jener Verflechtung kraft geistiger
Verjüngung in erneuter Gestalt heraustreten (Phaen. p. 229).
Ein Vorgang, der in einzigartiger Weise am christlichen
Gedankensystem geschichtlich nachweisbar ist.
Auch für das andere Problem, das Wesen des Christen-
tums, gewinnen wir, wie uns scheint, vom Begriff des
historischen Inhaltes aus einen entscheidenden Gesichtspunkt.
Es lässt sich nämlich das „Wesen“ des Christentums nicht,
wie es zuweilen versucht wird, auf eine kurze Formel
bringen, derart, dass man etwa unterscheidet zwischen zeit-
geschichtlicher Form und bleibendem Gehalt. Hier dürfen
wir an die jedem Gedankensystem zu Grunde liegende
intellektuelle Anschauung erinnern. Sie erschliesst das Bild
einer höheren Wirklichkeit, in welcher nicht tatsächliche
Bestände, sondern wahre Gedanken regieren. Das gewöhn-
liche, naturhafte Vorstellungsleben ist durch eine geistige
Kraft über sich hinausgehoben, aber die einzelnen Teile des
Bildes sind, so sahen wir, gewöhnliche Vorstellungen. Sie
sind mit dem regierenden Gedanken organisch verknüpft.
Eben dadurch unterscheiden sich die praktischen Lebens-
systeme von den Theorien der Wissenschaft. Nun kann,
was, bildlich geredet, bei dem Geburtsakt eines historischen
Inhaltes organisch verknüpft ins Dasein getreten ist, nach-
träglich nicht durch Reflexion geschieden werden. Denn
nur unter jener bestimmten, geschichtlich konkreten Formation
vermochte der Gedanke geschichtliches Dasein zu gewinnen.
Jene konkreten, einmal nur vorhandenen und hernach un-
wiederholbaren Verhältnisse sind nicht etwa die leichte
Hülle, welche von der darunter verborgenen Idee abgestreift
werden könnte. Vielmehr bleibt die Wirksamkeit eines
historischen Inhaltes dauernd von der Anfangsgestalt ab-
hängig, unter welcher er ins Dasein der Geschichte getreten
ist, denn nur dort ist die organische Einheit von Gedanke
und naturhafter Vorstellung gegeben.
An dieser Stelle unserer Untersuchung tritt die Be-
deutung und das Wesen des Historischen klar zu Tage und
erfährt seine volle Würdigung.
In der von der Class’schen Philosophie gewiesenen
Richtung scheint uns die Lösung der genannten zwei Probleme
gesucht werden zu müssen, wobei die Darstellung über das
Verhältnis des Ewigen zum Historischen noch besonders ın
Betracht kommt. Die Ausführung im einzelnen ist nicht
mehr Sache der Philosophie sondern der Theologie.
(Geboren am 10. April 1869 in Nürnberg, als Sohn des
Kaufmanns Heinrich Bechmann und dessen Gattin Frau
Johanna, geb. Zwick, beide protestantisch, habe ich, Hermann
Bechmann,*) die Schulen meiner Vaterstadt besucht und das
dortige alte humanistische Gymnasium unter Rektor Dr.
Autenrieth im Jahre 1887 absolviert. Meine Neigung zur
Philosophie geht in die Schulzeit zurück. Als Gymnasiast
verschaffte ich mir von der Stadtbibliothek Spinoza. Später
zogen mich Lessings „Erziehung des Menschengeschlechtes“
und Schillers ästhetische Schriften besonders an. Im Jahre
1887 bezog ich die Universität Erlangen, um mich dem
theologischen Studium zu widmen. Nach zweijährigem
Aufenthalt daselbst und nach Erledigung meiner Militärpflicht
studierte ich zwei Semester in Berlin, wo ich die protestan-
tische Theologie neuer Richtung kennen lernte. Bei E. Zeller
und O. Pfleiderer hörte ich philosophische Kollegien. In
Tübingen und zuletzt wieder in Erlangen brachte ich meine
Studien zum Abschluss. Nach bestandenem Examen wurde
ich in das protestantische Predigerseminar in München auf-
genommen. In den Jahren ı891 bis ıgor war ich amtlich
zu sehr in Anspruch genommen, als dass ich in zusammen-
hängender Weise meiner alten Freundschaft zur Philosophie
mich hätte widmen können; doch drängte sich mir mehr
und mehr die Überzeugung auf, dass bei der gegenwärtigen
Lage der protestantischen Theologie enge Fühlung mit den
philosophischen Disziplinen, insbesondere mit Erkenntnis-
theorie, Ethik und Religionsphilosophie unumgänglich not-
*, Bayerischer Staatsangehöriger.
a;
4
"As van
wendig ist. Durch rseine Versetzung nach Röthenbach bei
St. Wolfgang, einer kleinen mittelfränkischen Landpfarrei,
gewann ich die nötige Zeit, um meine philosophischen
Studien. wieder aufnehmen zu können. Ich wandte mich der
Philosophie vön G. Class zu, und aus dieser Beschäftigung
ging vorliegende Arbeit hervor. Dass ich im Laufe der
Arbeit mit Eucken, Wundt und Hegel vertrauter wurde,
erachte ich als besonderen Gewinn. —
Zur Ergänzung des biographischen Abrisses erwähne
ich noch, dass ich mich ım Jahre 1896 mit einer Tochter
des Oberarztes Hofrats Dr. Goeschel in Nürnberg verehelicht
habe. Jm Jahre 1905 siedelte ich mit meiner Familie nach
Dinkelsbühl über, nachdem ich auf die hiesige dritte prot.
Pfarrstelle präsentiert war.
Herrn Professor Dr. Falckenberg, der mich in freund-
lichster Weise zu meiner Arbeit ermunterte, spreche ich
auch an dieser Stelle herzlichen Dank aus.
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| | Dass - 12!
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B Bechmann, Hermann
3216 Der Entwicklungsgedanke in
C64B3 der Philosophie von Gustav
Class