Skip to main content

Full text of "Der ethische Gehalt des Gorgias"

See other formats


L6!*- 


■-; 


=00 
=00 

ir— 
-CO 


Der  ethische  Gehalt  des  Gorgias. 


Inaugural-Dissertation 

zur 
Erlangung  der  Doktorwürde 

der  hohen 

philosophischen  Fakultät  der  Kgrl.  Universität  Breslau 

vorgelegt 

and  mit  ihrer  Genehmigung  veröffentlicht 

von 

Elisabeth  Thiel. 


Dienstag,   den  8.  Aug-ust  1911,   mittagfS  11  Uhr 

in  der  Aala  Leopoldina 

Vontrag : 

„Die  Ekstase  als  Erkenntnisform  bei  PiotlD" 

und 

« 

Promotion. 


Breslau 

Druck  von  H.  Fleischmann 

1911 


I 


Gedruckt  mit  Genehmigung  der  hohen  philosophischen  Fakultät 
der  Königl.  Universität  Breslau. 


Referent:    Professor  Dr.  Baumgartner. 


Dem  Andenken  meiner  Mutter 


gewidmet. 


L 


Vorwort. 


Dass  unter  den  grossen  Lehrern  der  Menschheit  Plato 
einer  der  grössten  ist,  darüber  sind  alle  einig;  was  den 
eigentlichen  Kern  seiner  Lehre  und  seiner  geschichtlichen 
Wirksamkeit  bildet,  darüber  wird  gestritten.  Wie  lässt  sich 
am  ehesten  dieser  Streit  entscheiden?  Wir  meinen,  durch 
eine  genauere  Durchdringung  der  einzelnen  Schriften  des 
unvergleichlichen  Mannes.  Die  letzten  Jahre  haben  eine 
Reihe  von  Gesamtdarstellungen  der  platonischen  Schriften 
gebracht.  Welches  Verdienst  sie  auch  immer  haben,  dem 
Streite  über  Plat  o's  Grundanschauung  haben  sie  kein  Ende 
gemacht,  sondern  nur  neue  Nahrung  zugeführt.  In  vielen 
Punkten  scheint  es,  dass  man  von  vorn  beginnen  muss. 
Solche  Gesamtdarstellungen  gehen  von  festen  Voraussetzungen 
aus,  die  man  sich  bemüht  in  den  einzelnen  Schriften  durch- 
zuführen und  als  zutreffend  zu  erweisen.  Hat  solche  Arbeits- 
weise ihren  Wert,  so  hat  sie  doch  zugleich  ihre  Gefahren. 
Weil  man  voreingenommen  ist,  übersieht  man,  was  dasteht 
und  trägt  hinein,  was  fremd  ist.  Vielfach  vergisst  man, 
dass  Plato  in  seinen  Schriften  wesentlich  als  Künstler,  als 
Darsteller  wirken  will;  dass  er  Menschen,  Gedankenrichtungen, 
Probleme  zu  konkreten  Gestalten  verdichtet;  dass  er  von 
unerschöpflicher  guter  Laune,  heiter,  geistreich,  aber  auch 
streng  und  herbe,  abweisend,  vernichtend ;  dass  er  über- 
haupt vielgestaltig  ist  und  man  niemals  bei  ihm  an  ver- 
schiedenen Stellen  das  Gleiche  erwarten  darf.  Darum  meinen 
wir,  muss  man,  um    den  Philosophen  philosophisch  zu  wür- 


digen,  diejenigen  Schriften,  die  für  seine  Art  die  be- 
zeichnendsten sind,  jede  einzeln  vornehmen  und  sich  eng  an 
das  an  dieser  Stelle  Dargebotene  halten,  um  erst  dadurch 
schrittweise  zu  einer  Gesamtauff'assung  der  platonischen 
Philosophie  vorzudi-ingen.  Dazu  haben  wir  uns  zunächst 
an  dem  „Gorgias"  versucht,  die  Untersuchung  anderer  Dia- 
loge uns  vorbehaltend.  So  bitten  wir  denn,  was  wir  hier 
als  nach  Kräften  sorgsame  Aufzeigung  des  philosophischen 
Gehalts  dieses  einzelnen  platonisclien  Werkes  von  hervor- 
ragender Bedeutung  zu  bieten  vermögen,  freundlich  aufzu- 
nehmen, gewissermassen  als  Anzahlung  auf  eine  ähnliche 
Durchforschung  anderer  Schriften  des  Meisters,  die  eine 
gesicherte  Gesamtauflfassung  vorzubereiten  bestimmt  ist. 


Disposition  der  Abhandlung. 

Seite 
Einleitung:  1.  Die   Ansichten    über   den   Zusammenhang   der 

platonischen  Schriften  .........       9 

1.  Methodiker;  2.  Genetiker;  3.  Isolierende 
2.  Piatos  Absicht  in  seinen  Dialogen 23 

1.  Der  Dialog  und  die  Darstellung  einer  wissen- 
schaftlichen Theorie. 

2.  Platonische  Dialoge    und  platonische  Lehre 

3.  Die    wirkliche    BeschalTenheit    der  platoni- 
schen Dialoge. 

4.  Der  Wert  der  Berichte  des  Aristoteles  über 
Piatos  Lehre. 

Abhandig:  Der  ethische  Gehalt  des  ^Gorgias" 

L  Ueberblick  über  den  Inhalt  des  „Gorgias" 28 

IL  Der  wesentliche  Gedankengehalt  des  „Gorgias"  ...     82 

1.  Der  Gegensatz  zweier  Richtungen. 

2.  Die  Erörterung  über  die  Redekunst. 

3.  Der  Dialog  „Gorgias"  und  die  Sokratik. 

4.  Episoden  und  Illustrationen. 

III.  Die  Personen  des  „Gorgias" 41 

1.  Gorgias;  Polos;  Kallikles. 

2.  Sokrates. 

IV.  Der  Beweisgang  im  „Gorgias" 53 

V.  Die  Gliederung  des  „Gorgias" 71 

VI.  „Gorgias"  und  die  anderen  platonischen  Dialoge.     .     .     75 

1.  Urteil  über  die  Rhetorik. 

2.  Urteil  über  die  Staatsmänner. 

3.  Ansicht  vom  Jci^seits. 

4.  Die  Gestalt  des  Sokrates. 

5.  Erkenntnislehre 

Vn.  Die  Ergebnisse  der  Untersuchung 84 

Schluss  :  Die  bleibende  Bedeutung  des  „Gorgias". 


Einleitung 


1.  Die  Ansichten  über  den  Zusammenhang"  der 
Platonischen  Schriften. 

Ehe  wir  an  den  eigentlichen  Gegenstand  dieser  Ab- 
handlung, die  Betrachtung  des  platonischen  „Gorgias",  heran- 
treten, sei  es  uns  gestattet,  einige  Bemerkungen  vorauszu- 
schicken über  die  Schwierigkeiten,  die  die  platonischen 
Schriften  schon  durch  die  dialogische  Einkleidung  dem- 
jenigen bereiten,  der  aus  denselben  das  System  von  Gedanken 
entnehmen  will,  das  Plato  als  seinEigentum  zuzuschreiben  ist. 

Wenn  man  neuere  Schriften  über  Piatos  Gesamt  werk, 
wie  diejenigen  von  Kühnemann,  Natorp,  Raeder, 
Constantin  Ritter  zur  Hand  nimmt,  —  wir  werden  die 
Bücher  dieser  hervorragenden  Männer  nachher  genauer  be- 
zeichnen — ,  so  ist  der  erste  Eindruck  der,  dass  man 
vielleicht  allzu  unmittelbar  einen  bestimmten  Schatz  von 
Ansichten,  die  in  diesen  Dialogen  von  den  darin  das  Wort 
führenden  Personen  vorgetragen  werden,  als  Piatos  eigene 
Ansichten  versteht,  die  er  seinen  Personen  in  den  Mund 
gelegt  habe.  Zuweilen  auch,  und  so  besonders  bei  Natorp 
und  Ritter,  möchte  man  nachdem,  was  sie  Plato  als  seine 
Lehre  zuschreiben  oder  absprechen,  auf  die  Vermutung 
kommen,  diese  Forscher  hätten  gedacht,  eine  Meinung,  die 
sie  für  „phantastisch"  halten,  könne  dem  Plato  unmöglich 
zugetraut  werden,  und  eine  Reihe  von  Sätzen,  die  ihnen 
festzustellen  scheint,  müsse  notwendig  sich  bei  Plato  wieder- 


—     10     — 

finden  lassen.  So  erklärt  man  z.  B.  die  Lehre  von  den 
Ideen,  wie  sie  Aristoteles  dem  Plato  zuschreibt,  aus  dem 
Grunde  für  ein  völliges  Missverständnis  dessen,  was  Plato 
wirklich  vorträgt,  weil  man  sich  nicht  überzeugen  kann, 
dass  Plato  so  tief  in  der  Metaphysik  gesteckt  habe.  So 
sucht  man  nachzuweisen,  dass  Piatos  Lehre  von  der  Erkennt- 
nis und  von  dem  Verhältnis  des  menschlichen  Denkens  zu 
dem  objektiv  Existierenden  mit  Kants  transcen dentalem 
Kritizismus,  zu  dem  man  sieh  selber  bekennt,  im  wesent- 
lichen übereinstimmt.  Wir  erinnern  an  Ausführungen  wie 
die  von  Natorp,  Piatos  Ideenlehre  S.  3(56 — 436,  oder  von 
Ritter,  Piaton  S.  564—586.  Die  Bedenken,  die  wir  er- 
heben gegen  diese  Art,  platonische  Schriften  auszulegen, 
wollen  wir  zuvor  andeuten,  um  den  Weg,  der  uns  der 
richtigere  scheint,  in  der  Erfüllung  unserer  besonderen  Auf- 
gabe nachher  um  so  sicherer  betreten  zu  können.  (Vgl. 
Lutoslavvski,  Origin  and  growth  of  Piatons  Logic.  1897 
p.  236). 

Seit  mehr  als  2000  Jahren  stellt  man  Theorien  über 
Theorien  auf,  um  zu  einem  endgültigen,  zusammenhängenden 
Verständnis  der  platonischen  Philosophie  zu  gelangen.  Immer 
neue  Seiten  des  grossen  verwickelten  Geheimnisses  „Platon" 
sind  dadurch  aus  dem  Ewigkeitsgehalte  seiner  Werke  zu 
Tage  gefördert  worden;  aber  immer  noch  bleibt  das  Problem, 
an  dem  jedes  Zeitalter  nach  dem  Masse  seines  Veimögens 
und  des  erworbenen  Materials  an  Erkenntnissen  wird  arbeiten 
müssen,  um  sich  in  stetem  Fortschritt  dem  Ziel  zu  nähern. 

üeber  den  Plan,  der  Plato  bei  Abfassung  seiner  Schriften 
leitete,  über  Echtheit  und  Zeitabfolge  seiner  Dialoge  ist 
seit  dem  Altertum  gestritten  Avorden,  und  noch  immer  ist 
ein  Ende  jener  wissenschaftlichen  Streitigkeiten  nicht  abzu- 
sehen. Noch  immer  weisen  die  Ansichten  der  bedeutendsten 
Forscher  in  Bezug  auf  viele  der  wichtigsten  Punkte  des 
platonischen  Systems  wie  über  Plato  und  seine  Lehre  über- 
haupt weitgehende  Discrepanzen  fiuf.     So  ist,  um  nur  einige 


—    11    — 

Beispiele  zn  erwähnon,  Plato  nach  Tennemaiin')  der 
dunkle  Esoteriker,  der  mystisch  seine  wahre  Lehre  verbirgt; 
nach  Schleiermacher'^)  der  methodische  Dialektiker;  nach 
Ritter^)  der  anregende  Didaktiker.  Ast*)  bezeichnet  ihn 
als  die  Idee  der  Philosophie  selbst:  Bonitz^)  betont  das  ver- 
mittelnde Band  der  einzelnen  in  sich  abgeschlossenen  Werke. 
K.  F.  Hemiann")  sieht  in  Piatos  Sciuiften  das  Spiegelbild 
seiner  Geistesentwicklung;  Munk')  wie  auch  Patrizzi")  er- 
blickt in  dem  Phih:»soj)lien  hauptsächlich  den  Biographen  des 
Sokrates.  Susemihl'-'j  nimmt  mit  Ueberw^eg'^j  eine  ver- 
mittelnde Stellung  zwischen  den  Ansichten  Schleier- 
machers und  K.  F.  Hermanns  ein.  Zeller'^)  lässt  in 
Plato  vor  allem  den  der  nichtigen  Welt  des  Scheines  ab- 
gewendeten, zum  Schauen  des  absolut  wahren  Seins  sich 
erhebenden  Philosophen,  den  Verkimdiger  der  Welt  der 
Ideen  hervortreten;  Teichm  üUer*^)  hält  Piatos  Lehre  für 
eine    mystische  Erlösungslehre,    seine  Schriften    grossenteils 

')  Tennemann,   System  der   ph\t.  Phil.  —  I  S.  125  —  152:    be- 
sonders 128f;  137—141;  149  f.  Geschichte  der  Phil.  Bd.  2,  S.  203—222. 

*)  vergl.    F.  Schleiermacher  Einleitung   zu  Plutons    Werken. 
Berlin  1855  Teil  1  Bd.  I  p.  30. 

•"')  C.  Ritter   neue  Untersuchungen  über  Piaton.  München  1910. 
p.  366. 

*)    Ast,    Uebers.    v.    Piatons     Werken    I.      Einltg.    S.    16-28 
41-48. 

^)  Platonische  Studien  2  nam.  Vorwort. 

^)  Hermann,    Geschichte  und  System    der    platonischen  Philo- 
sophie, S.  313  -  357,  368  -  384. 

')  Munk,  die    natürliche  Ordnung    der    platonischen    Schriften, 
S.  12;  25-58. 

'')  vgl,  W.  Lut oslawski,    Origin  and  growlh  of  Plato's    Logic. 
London  l'JOö  p.  43 

^)    Suse  mihi,    die    genetische    Entwicklung     der    platonischen 
Philosophie,  Bd.  I    Vorwort  S.  8  und   13:  Bd.  II,  Vorw.  S.  7-13. 

^'^)  F.  l'eberweic,  Grundriss  der  Geschichte  d.  Philosophie  Bd.  I 
131  f. 

")  Zeller,  Goschichte  der  Philosophie  der  Griechen,  Bd.  II,  13 
S.  374-378:  445  ö',  470-477,  490  f,  541. 

12)  Teichmüllcr,    Lit.    Fehden    im    4.    Jahrh.    v.  Chr.    Bd.  I, 
S.   11,   13.  Änm.  S.  G7,  75-90:  Bd    II,  S.  10,  14.  S."),   107,  235. 


—     12     — 

für  Streitschriften;  während  endlich  Krohn^),  der  in  Plato 
nur  den  grossen  Ethiker  erblickt,  den  Schwerpunkt  des 
Piatonismus  in  die  Transcendenz  des  Guten  verlegt. 

Welche  von  allen  diesen  Ansichten  ist  nun  die  zu- 
treffendeV  Eine  Entscheidung  wird  sich  schwer  herbei- 
führen lassen,  da  eine  jede  derselben  sich  mit  fast  ebenso 
guten  Gründen  verteidigen  wie  widerlegen  lässt.  Nur  das 
ergibt  sich  daraus,  dass  trotz  aller  aufgewendeten  Mühe  es 
bislang  noch  nicht  gelungen  ist,  die  Pläne,  welche  Piatos 
Schriftstellertätigkeit  bestimmten,  sicher  zu  durchschauen. 
Manche  offenbar  falsche  Auffassungen  ergeben  sich  aus  un- 
berechtigten Modernisierungsbestrebungen  antiken  Denkens, 
andere  aus  ungenügender  Erwägung  der  Form  der  Darstellung 
und  der  Behandlung,  die  Plato  dem  Objekt  seiner  Unter- 
suchungen angedeihen  lässt.  Mit  gutem  Grund  hat  schon 
Schleiermacher^j  darauf  hingewiesen,  dass  Plato  von  den 
geläufigen  Formen  vollständig  abweicht,  „in  denen  sich  die 
grösste  Masse  dessen,  was  gemeinhin  Philosophie  heisst, 
wohlgefällt. " 

lieber  die  viel  erörterte  Frage,  ob  der  Zusammen- 
hang der  einzelnen  Schriften  Piatos  auf  weit  zurückliegender 
Absicht  und  Berechnung  beruht  oder  aus  der  von  den 
geistigen  Bewegungen  seiner  Zeit,  von  den  überkommenen 
Tendenzen  des  griechischen  Charakters  und  dem  Einflüsse 
von  Vorgängern  und  Zeitgenossen  bestimmten  geistigen  Ent- 
wicklung des  Verfassers  sich  von  selber  ergeben  habe,  oder 
ob  beide  Momente  zusammengewirkt  und  den  bestimmenden 
Einfluss  auf  die  Abfassung  der  Schriften  ausgeübt  haben: 
über  alles  das  gehen  die  Ansichten  sehr  weit  auseinander. 
Man  vergleiche  darüber  Jo  s.  S  o  c  h  e  r,  Ueber  Piatos  Schriften, 
1820;  G.W. F.  Suckow,  die  wissenschaftliche  und  künstlerische 
Form  der  platonischen  Schriften  1855. 


')  Krohn,  Die  platonische  Frage,  S.  130,  152,   160,   162. 
^)    Fr.    S Chi  cierma  eher,     Piatons    Werke,    Bd.     I,    S.  7    ff, 
Berlin  1804. 


—     13     - 

Für  das  Verständnis  der  geistigen  Entwicklung  Piatos 
wie  der  ganzen  platonischen  Pliilosophie  ist  eine  chrono- 
logische Anordnung  der  Dialoge  gewiss  die  Voraussetzung; 
andererseits  muss  die  Chronologie  der  Gespräche  aus  dem 
Verständnis,  das  man  von  dem  Entwicklungsgange  des  Philo- 
sophen, wie  er  sich  in  seinen  Schriften  dartut,  erarbeitet 
hat,  erst  erschlossen  werden.  Darin  liegt  die  unermessliche 
Schwierigkeit  des  Gegenstandes. 

Die  Bestimmung  der  Abfassungszeit  der  einzelnen  Dia- 
loge bildet  demnach  wie  eine  der  wichtigsten,  so  auch  eine 
der  dornigsten  Aufgaben  der  Platoforschung^). 

Zu  den  Fragen  über  Keihenfolge  und  Abfassungszeit 
der  platonisclien  Schriften  gesellen  sich  die  Erörterungen 
über  die  Echtheit  der  Dialoge,  und  auch  hier  gehen  die 
Meinungen  der  Gelehrten  noch  immer  in  vielen  Punkten 
weit  auseinander.  Was  das  erste  aubetriftt,  so  zieht  man 
neben  den  Anhaltspunkten,  welche  Beziehungen  auf  Ereig- 
nisse aus  Piatos  Lebenszeit  oder  Hinweisungen  der  Gespräche 
auf  einander  darbieten,  und  die  kein  genügend  sicheres 
Kriterium  für  die  Anordnung  der  Gespräche  bilden,  in 
neuester  Zeit  sprachstatistische  Untersuchungen  heran,  von 
der  richtigen  Voraussetzung  geleitet,  dass  bei  der  fortge- 
setzten langsamen  Umwandlung  der  Sprechweise  eines  geistig 
hochbedeutenden  Mannes  auch  der  in  feste  Formen  gefügte 
Stil  Modifizierungen  erleiden  muss,  die  den  inneren  Ent- 
wicklungsgang der  Gefühls-  und  Denkweise  irgendwie  für 
einen  geschärften  Blick  widerspiegeln.  Das  Studium  des 
Stiles  Piatos,  das  um  vieles  jünger  ist  als  das  seiner  Philo- 
sophie, hat  gleichwohl  bereits  zu  manchen  fruchtbaren  Er- 
gebnissen und  zu  Schlussfolgerungen  von  Bedeutung  ge- 
führt, die  immerhin  als  Basis  zu  weiterer  Forschung  dienen 
können^). 


')  Fr.  Ucberweg,  Untersuchungen  über  Echtheit  und  Zeitfolge 
platonischer  Schriften.     1861. 

^)  vergl.  über  diese  Frage:  Natorp  über  die  Methoden  d. 
Ohronologic  plat.  Schriften  nach  sprachlichen  Kriterien  Arch.  f.  G.  d, 
Ph.  XI  (98)  p.  461-64. 


—     14     — 

Erschlossen  ist  dieses  Untorsiicliungsgebict  worden  durch 
den  verdienstvollen  englischen  Gelehrten  Campbell  in 
seinen  1 867  veröffentlichten  sprachstatistischen  Untersuchungen 
über  die  Dialoge  „Sophistes"  und  „Politikos".  Grösseres 
Aufsehen  erregten  in  Deutschland  die  Untersuchungen 
von  Ditten  berger ^)  und  Schanz ^),  sowie  von 
L  u  t  0  s  1  a  w  s  k  i^),  der  seinen  Untersuchungen  sprachliche 
Argumente,  aber  daneben  auch  den  Grad  der  in  den  Ge- 
sprächen zu  Tage  tretenden  logischen  Vollkommenheit  zu 
Grunde  legte:  allerdings  hat  er  dabei  vernachlässigt,  die 
einzelnen  Dialoge  als  Teile  einer  abgeschlossenen  Lebens- 
arbeit ins  Auge  zu  fassen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  man  überhaupt  berechtigt  ist, 
aus  derartigen  Untersuchungen  chronologische  Folgerungen 
zu  ziehen.  Zell  er*)  besonders  hat  behauptet,  dass  die 
Theorie  der  Spraclistatistiker  sich  auf  unrichtige  Voraus- 
setzungen gründe,  und  dass  ihre  Untersuchungen  mit  noch 
wenig  genügendem  Material  geführt  worden  seien.  Letztere 
Behauptung  ist  doch  vielleicht  nicht  ganz  zutreffend,  da  die 
sprachstatistischen  Untersuchungen  in  den  letzten  Jahren 
einen  beträchtlichen  Umfang  angenommen  haben  und 
schärfer  geführt  worden  sind,  sodass  damit  auch  die  Resul- 
tate an  Sicherheit  und  Umfang  gewonnen  haben.  Lifolge- 
dessen  sind  die  sprachstatistischen  Untersuchungen,  die  der 
Verschiedenheit  subjektiver  Auffassung  doch  nicht  in  dem 
Masse  eine  Handhabe  bieten,  wie  die  Untersuchung  des 
p'hilosophischen  Inhaltes,  immerhin  ein  wichtiges  Hilfsmittel 
für   das    richtige    Erfassen    der  chronologischen  Reihenfolge 


')  Dittenberger,  Fr.  Wilhelm,  conf.  K  u  k  n  1  a  sprachl. 
Kriterien  für  die  Chronolog.  d.  plat.  Dialoge,  Hermes  1881,  Z.  f.  Phil. 
423.  1881. 

2)  Martin  v  o  u  Schanz,  Zur  Entwicklung  d.  platou.  Stils, 
Hermes  1886,  Z.  Phil.  423.  1886. 

')  Lutoslawski,  Wincenty.  The  origin  and  growth  of 
Piatos  Logic  with  an  account  of  Piatos  Style  and  of  the  Chronology 
of  his  writings.     London   1897. 

♦)    Zoll  er,  Geschichte  der  Phil.  d\  Gr.  IW.  II.  S.  512.  IV.  1889. 


—     15     — 

platonischer  Dialoge.  Der  Spraelistatistik  in  allen  Fällen  das 
entscheideiule    Wort    einzuräumen    wäre  allerdings   verfehlt. 

Bis  auf  Schleiermacher  halten  sieh  alle  Versuciie, 
Gruppen  platonischer  Gespräche  nach  Inhalt  und  Form  aufzu- 
stellen, auf  der  Obertläche;  die  Anordnungen  erfolgten  nach 
implatonischen  Gesichtspunkten,  ohne  die  tieferliegenden 
Beziehungen  der  Werke  zu  einander  in  Betracht  zu  ziehen. 
Gewöhnlich  wird  angenommen,  dass  T  e  n  n  e  m  a  n  iT  in 
seinem  17i)"2  bis  17'J5  veröffentlichten  „System  der  platonischen 
Philosophie",  in  dem  er  den  historischen  mit  dem  platonischen 
Sokrates  identifiziert  und  das  Verdienst  Piatos  in  der  Auf- 
zeichnung des  von  Sokrates  Gehörten  sieht,  zuerst  den  Ver- 
such gemacht  habe,  das  Problem  der  platonischen  Chrono- 
logie zu  behandeln.  Vor  ihm  hatte  schon  P  a  t  r  i  z  z  i ') 
am  Ende  des  IG.  Jahrhunderts  eine  Anordnung  der  Dialoge 
aufgestellt:  sie  konnto  aber  nur  den  Anspruch  erheben,  als 
Führer  in  der  Keihenfolge  der  platonischen  Werke  bei  der 
•Lektüre  zu  dienen,  nicht  aber  die  Zeitfolge  wiederzugeben, 
in  welcher  Plato  seine  Dialoge  verfasst  haben  mochte. 

Ks  ist  die  epochemachende  Bedeutung  Schleiermachers, 
durch  seine  üebersetzung  der  platonischen  Werke,  durch 
die  die  Werke  begleitenden  Einleitungen  und  durch  die 
Verwertung  platonischer  Gedanken  in  seinem  eigenen  wissen- 
schaftlichen System  die  platonische  Frage  ernstlich  aufge- 
worfen zu  haben.  Mit  Schleiermacher  beginnt  demnach  seit 
1804  der  Streit  der  Genetiker  und  Methodiker.  Obgleich 
Schleiermacher  sich  als  Philosoph  durch  hochbedeutende 
Werke  betätigt  hatte,  ging  er  bei  der  Behandlung  der 
platonischen  Frage  mehr  von  philologischen,  als  von  philo- 
sophischen  (lesichtspunkten  aus.  Unter  dem  Einflüsse  des 
in  den  ersten  Jahren  des  1!'.  Jahrhunderts  in  Deutschland 
vorherrschenden  Idealismus  glaubte  er  in  den  Schriften 
Piatos,  soweit  sie  sich  nicht  selbst  als  Gelegenheitsschriften 
auswiesen,  einen  fortlaufenden  Zusammenhang  philosophischer 


')  F.  Patrizzi,  Nova  de  universis  philosophia  libris  quin- 
quaginta  comprehensa.  (Venetiis  1.593).  Ein  Abschnitt  dieses  Werkes 
heisst :  „Plato  et  Aristoteles  inystici  atqae  exoterici." 


—     16     — 

Untersuchung  und  Gedankenbildung  zu  sehen,  und  je  nach 
der  Entwicklungsstufe,  welche  ein  Gespräch  in  diesem  Zu- 
sammenhange einnahm,  auch  die  Zeit  seiner  Entstehung 
bestimmen  zu  können.  Er  nahm  an,  Plato  habe,  wie  er 
überhaupt  die  schriftliche  Belehrung  hinter  der  mündlichen 
an  Wert  zurückgesetzt  habe,  danach  getrachtet,  durch  fort- 
schreitende Untersuchungen  seine  schriftstellerischen  Arbeiten 
dem  mündlichen  Vortrage  möglichst  ähnlich  zu  gestalten 
und  in  dieser  Absicht  nach  einem  von  vornherein  fest- 
stehenden Plane  in  sorgfältig  bemessenen  Schritten  sein 
Gedankensystera  in  belebten  Gesprächen  planvoll  niedergelegt. 

Der  Fehler  dieser  Annahme  lag  darin,  dass  Schleiermacher 
ein  absichtsvoll  nach  systematischen  Prinzipien  durchdachtes 
Gesamtwerk  als  gegeben  voraussetzte  und  in  dieser  Vor- 
aussetzung alle  einzelnen  Glieder  des  Ganzen  nach  Absicht 
und  Komposition  zu  würdigen  suchte. 

Weder  bietet  die  Beschaffenheit  der  Schriften  selbst,  die 
in  den  verschiedenen  Perioden  von  Piatos  Schriftsteller- 
tätigkeit über  die  fundamentalsten  Punkte  der  Philosophie 
sehr  verschiedene  Lehren  aufweisen,  irgend  einen  Stütrzpunkt 
für  die  Schleiermachersche  Hypothese,  noch  folgt  die  Eichtigkeit 
derselben  aus  der  Art  der  Behandlung  des  Gegenstandes 
in  den  Dialogen,  die  so  oft  ohne  Rücksicht  auf  Vorher- 
gehendes oder  Nachfolgendes,  häufig  in  polemischer  Absicht 
herrschenden  Zeitströmungen,  literarischen  Erscheinungen, 
gegnerischen  Angriffen  gegenüber  Stellung  nehmen  oder 
auch  gegen  einzelne  Schulhäupter  gerichtet  sind,  sodass  man 
nur  in  gezwungenster  Deutung  eine  systematische  Abzweckung 
in  ihnen  aufzufinden  vermöchte. 

Im  Widerspruch  mit  der  Schleiermacherschen  Ansicht, 
die  ja  in  der  Tat  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  hat,  vertrat  K.  Fr.  Hermann,  indem  er  die 
Einheit  eines  von  vornherein  feststehenden  schriftstellerischen 
Planes  bei  Plato  leugnete,  die  Behauptung,  die  einzelnen 
Schriften  seien  als  Dokumente  der  während  jahrzehntelanger 
Schriftstellertätigkeit  unter  den  Einflüssen  seiner  Zeit  statt- 
gehabten   Entwicklung,    die    die    philosophische    Denkweise 


—     17     — 

Plato's  genommen  habe,  zu  betrachten,  und  ihr  Zusammen- 
haDg  sei  deshalb  nicht  systematischer  oder  didaktischer, 
sondern  historischer  Natur. 

Gewisse  Mängel  traten  in  der  Hermannschen  Auffassung 
immerhin  hervor.  Sie  sind  eine  Folge  einer  gewissen  Ein- 
seitigkeit in  der  Betrachtungsweise  der  Dialoge,  und  wurzeln 
darin,  dass  Hermann  ohne  Berücksichtigung  der  dialogischen 
Einkleidung  und  der  indirekten  Weise,  in  der  Plato  seine 
Gedanken  vorträgt,  den  Entwicklungsgang  des  Philosophen 
unmittelbar  aus  seinen  Dialogen  herauslesen  zu  können 
vermeinte. 

Der  Streitpunkt  zwischen  der  Schleiermacherschen  und 
der  Hermannschen  Theorie  ist  also  der,  ob  die  Dialoge  in 
zeitlicher  Reihenfolge  betrachtet  einen  absichtlich  geordneten 
Lehrkursus  darstellen,  oder  ob  sie  die  von  Plato  selbst 
durchgemachte  Entwicklung  widerspiegeln.  Es  ist  vielleicht 
möglich,  dass  aus  der  Verbindung  beider  Gesichtspunkte 
sich  für  die  Anordnung  der  Gespräche  annehmbare  Resultate 
ergeben.  Niemand  zweifelt  daran,  dass  Piatos  geistige  Ent- 
wicklung in  den  „sokratischen"  Dialogen  sich  noch  nicht 
als  abgeschlossen  darstellt,  und  dass  er  erst,  als  er  zu 
philosophischer  Reife  gelangt  war,  einen  Plan  für  seine 
künftige  Tätigkeit  hätte  fassen  können.  So  ergäbe  sich  die 
Annahme,  dass  sein  System  in  den  Grundzügen  schon  früh- 
zeitig festgestanden  haben  mag,  die  Ausbildung  desselben 
in  ihren  Einzelheiten  jedoch  erst  allmählich  erfolgt  sei. 

Die  Arbeiten  Schleiermachers  und  Hermanns 
bildeten  die  Grundlage  für  die  Platostudien  der  gesamten 
Folgezeit;  insbesondere  veranlasste  die  Ansicht  Hermanns 
mehrere  Forscher,  eine  genetische  Darstellung  der  plato- 
nischen Philosophie  zu  unternehmen. 

Hermanns  Ansicht  bezeichnet  sicher  einen  grossen 
Fortschritt  gegenüber  dem  Standpunkte  Schleiermacher's. 
Sie  bietet  dem  Verständnis  der  platonischen  Philosophie  viel 
geringere  Schwierigkeiten  dar,  indem  sie  nicht  zu  gewalt- 
samen Deutungen  nötigt  und  die  Möglichkeit  gewährt,  jede 
einzelne  der  platonischen  Schriften  für  sich  auf  ihren  Lehr- 


—     18     — 

gelialt  hin  und  als  aus  einer  iranz  besonderen  Situation    im 
Entwicklungsgange  des  Denkers  hervorgegangen  zu  betrachten. 
Aber  man  gerät  auch  bei  iiir,    wenn  man   sie  aufs    einzelne 
anwendet,  in  eine  gewisse  Verlegenheit.     Denn  die  einzelnen 
Stadien  einer  zusammenhängt-nden     Entwicklung    in    Piatos 
Dialogen  nachzuweisen    hat    auch    so    seine    stets    sich    er- 
neuernden   Schwierigkeiten.      Die    Eigenart     der    einzelnen 
Dialoge    nach  Thema    und    Kehandlungsweise    ruft    immer 
wieder    die    ernstesten    Meinungsverschiedenheiten    bei    den 
Forscliern  hervor.     In  der  Tat  zeigt  uns  die  Literatur,  dass 
bis  auf  den  heutigen  Tag  eine  Einhelligkeit  der  Auffassung 
kaum    über    einen    der    unzählbaren    Streitpunkte     erreicht 
worden    ist.      Allerdings    nimmt  jeder    aufmerksame    Leser 
Stadien    schriftstellerisclier  Kunst,    der  Zu-    oder    AbEahme 
in  der  Freude  an  reicher  Scenerie  und  Mannigfaltigkeit  der 
Charakterschilderung  wahr;  aber  der  Hauptfrage  gegenüber, 
der  Frage    nach    dem  Entwicklungsgange    der    platonischen 
Denkweise,  ist  das  alles  zunächst  von  geringerer  Bedeutung. 
Gewiss  können  jene  Momente  auch  durch  die  Art  der  wissen- 
schaftlichen Untersuchung,    durch    die  Stimmung    des  Ver- 
fassers,   die    ganze  Tendenz    des   Werkes    mitbedingt    sein, 
aber  diese  Kennzeichen  für  sich    allein    entscheiden    nichts. 
Wenn    man    die  Verwandtschaft    der    behandelten    Themata 
und  die  in  der  Behandlung  vorwaltende  gedankliche  Stimmung 
vorwiegend  ins  Auge  fasst,  so  wird  man  Gruppen  platonischer 
Gespräche  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  aufstellen  können. 
Doch  ohne  Zwang  führt   auch    dieser  Weg    bisweilen    nicht 
zu  einem  einleuchtenden  Nachweis  bestimmter  Entwicklungs- 
stufen des  platonischen  Lehrsystems.     Die  Arbeiten,  die  bis 
jetzt  darüber  vorliegen,  iFranz  Susemihls:  Genetische  Ent- 
wicklung   der    platonischen    Philosophie.     1855    bis    1860; 
Sigurd  Eibbings  genetische  Darstellung  der    platonischen 
Ideenlehre    (1863    bis    1864);    Paul  Natorps    platonische 
Ideenlehre  (1903);  H.  Raeder,    Piatos   philosophische  P^nt- 
wicklung  (1905),  um  nur  einige  der  meist  genannten  zu  er- 
wähnen, geben  wohl  die  Pfade  an,    die    zu    wandern    sind, 
liefern  aber  keineswegs  den  Beweis,    dass  wirj  den    rechten 


—     19     — 

Faden,  um  uns  in  dem  vielverschlungenen  Hau  der  plato- 
nischen Philosophie  zurechtzufinden,  wirklich  schon  in  Hunden 
hätten. 

Es  liegt  so  nahe  und  geschieht  so  oft,  dass  die  er- 
klärenden Kritiker  in  dem  Bemühen,  die  Prinzipien  irgend 
einer  modernen  Anschauungsweise  durch  die  Worte  Piatos 
bestätigt  zu  sehen,  ihre  eigenen  Ansichten  hineintragen,  statt 
die  des  Verfassers  in  den  Dialogen  wiederzufinden.  Und 
bei  dem  grossen  Eifer,  den  man  darauf  verwendet,  in  den 
Ausführungen  eines  jeden  Dialogs  die  hier  vorliegende  Ent- 
wicklungsstufe in  Piatos  Geistesentwicklung  nachzuweisen, 
geschieht  es  wohl,  dass  man,  oft  mit  Unrecht,  einen  unver- 
hältnismässigen Nachdruck  legt  auf  nebensächliche  oder 
selbstverständliche  Bemerkungen,  Unwesentliches  hervorhebt 
und  Wesentliches  übersieht. 

Mit  einem  bestimmten  Vorurteil  über  das,  was  Plato  hätte 
sagen  können  oder  sagen  müssen,  tritt  man  an  die  Dialoge 
heran  und  weist  ihnen  ihren  Platz  innerhalb  des  Schriften- 
komplexes an,  indem  man  ohne  Grund  eben  das  hineinlegt, 
was  man  zu  finden  erwartet.  Bei  einem  nicht  aufzuhebenden 
Widerspruch  zwischen  Erwartung  und  Wirklichkeit  aber 
steht  allezeit  der  bequemste  Ausweg  offen,  das  Werk,  das 
man,  an  der  eigenen  Voraussetzung  festhaltend,  nicht  ver- 
steht, kurzweg  für  unplatonisch  zu  erklären.  SoSchaar- 
schmidt,  „Die  Sammlung  der  platonischen  Schriften  zur 
Scheidung  der  echten  von  den  unechten.  1866";  und  nach  ihm 
üeberweg^i.  Es  sollen  Dialoge  wie  der  „Sophistes",  der 
„Parmenides"  als  unecht  gelten! 

Nun  gibt  es  aber  einen  dritten  Weg,  um  das  Ver- 
ständnis der  platonischen  Philosophie  zu  erreichen,  der  zu- 
gleich auch  der  angemessenste  und  aussichtsreichste  zu  werden 
verspricht.  Man  betrachtet  jeden  einzelnen  Dialog  als 
ein  abgeschlossene^',  für  sich  allein  bestehendes  Ganzes, 
ohne  Voraussetzung  über  das  zu  Erwartende,  ohne  irgend 
eine  feste  Ansicht  über  Piatos  Lehre,    die  auch  hier  vorge- 

')  Ueberweg,  Grundriss  der  Gesch.  d.  Philosophie.  10.  Auflage. 
Berlin    19C9.     Hd.  I  S.  139. 

2* 


—     20     — 

tragen  werden  müsse,  und  aus  dieser  Isoliertheit  heraus 
sucht  man  das  Gespräch  zu  verstehen  und  seinen  wahren 
Gehalt  zu  erfassen.  Als  Vertreter  dieses  Verfahrens  in  der 
Untersuchung  und  in  der  Deutung  sind  zu  bezeichnen:  H. 
Ronitz,  Platonische  Studien  3.  Aufl.  (1886);  Ferd.  Hörn, 
Platon-Studien,  (1893  und  neue  Folge  (1904);  Constan- 
tin  Kitter,  Piatos  Dialoge  (1903)  und  Piatos  Staat  (1909). 

Mit  dieser  Methode  ist  man  wohl  am  ersten  auf  dem 
richtigen  Wege.  Plato  selbst  scheint  dadurch,  dass  er  durch 
nichts  auf  die  Absicht  eines  systematischen  Zusammenhanges 
hindeutet,  uns  selber  auf  diese  Betrachtungsweise  seiner 
Schriften  hinzuweisen.  Vgl.  Rudolf  Hirzel,  Der  Dialog. 
2  Bde.     1895. 

Oft  entwickelt  sich  die  Unterredung  aus  scheinbar 
ganz  zufälligen  Veranlassungen,  ohne  dass  ein  bestimmtes 
Thema  vorangestellt  würde  („Euthydemos").  Dann  wieder 
wird  ein  solches  aufgestellt,  von  vielen  Seiten  betrachtet, 
mit  weit  entlegenen  Fragen  in  höchst  künstliche  Verbindung 
gebracht  und  sciiliesslich  mit  dem  Bekenntnis  der  Unwissen- 
heit oder  mit  einer  zweifelnden  Frage  unerledigt  gelassen 
(Protagoras).  Oder  auch  die  Diskussion  über  ein  formell 
aufgestelltes  Thema  führt  zu  ganz  anderen  Resultaten  oder 
zur  Lösung  und  Klarstellung  ganz  anderer  Probleme  als 
man  erwartet  hatte  („Menon").  Sehr  richtig  und  treffend 
bemerkt  E.  Kühneraann,  Grundlehren  der  Philosophie. 
Studien  über  Vorsokratiker,  Sokrates  und  Plato,  1899.  S. 
275:  „Wir  müssen  wissen,  dass  von  Plato  oft  die  Form 
selbständig  gebildet  wird  als  ein  Kunstwerk  für  sich,  ohne 
dann  die  Herbeiführung  und  Begründung  des  Gedankens  su 
sein.  Dies  ist  ein  -wirklich  fremdartiger  Zug,  der  die 
Schwierigkeit  der  Deutung  sehr  vermehrt."  Manche  Schriften 
tragen  augenfällig  den  Stempel  von  Gelegenheitsschriften, 
(„Euthyphron"),  charakterisieren  Zeitverhältnisse,  Personen, 
Gesinnungen  (beide  „Hippias")  oder  behandeln  mit  Aus- 
führlichkeit^ Streitfragen,  die  offenbar  zur  Zeit  die  Menschen 
beschäftigten  („Sophistes").  Oft  auch  tritt  eine  polemische 
Absicht  hervor,  um  die  bedenklichen    Folgen    gewisser  Au- 


—     21     — 

sichten  der  Zeitrichtung,  insbesondere  die  Nichtigkeit  der 
Anschauungen  von  Vertretern  der  Sophistik  darzutun 
(„Theaetet").  Zuweilen  soll  der  Dialog  die  Untersuchung 
und  Erörterung  schwieriger  Probleme  nur  vorbereiten,  auf 
den  rechten  Weg  hinweisen,  ohne  dass  ein  eigentlicher 
Abschluss  erreicht  oder  auch  nur  angestrebt  würde  („Parme- 
nides").  Es  darf  keineswegs  von  vornherein  als  ausgemacht 
gelten,  dass  Plato  überall  eine  bestimmte  Lehre  als  seine 
eigene  Lehre  habe  vortragen  wollen.  Nirgend  spricht  er  zu 
uns  in  eigener  Person;  er  referiert  Gespräche,  die  der  Zu- 
fälligkeit ihrer  Veranlassung  wie  der  Mängel  der  Gespräch- 
führenden wegen  oft  einen  strikten  Gedankengang  gar  nicht 
innehalten  können.  Nichts  berechtigt  uns  zu  der  Annahme, 
dass  das,  was  Plato  anderen  Personen  oder  selbst  dem 
Sokrates,  der  in  den  meisten  Dialogen  der  Leiter  des  Ge- 
spräches ist,  in  den  Mund  legt,  ohne  weiteres  als  Ausdruck 
von  Piatos  eigenen  Ansichten  zu  nehmen  wäre.  Vieles  ist 
augenscheinlich  nur  vorläufig  bemerkt,  anderes  dient  als 
Mittel  zur  Widerlegung  gegnerischer  Ansichten  oder  als 
Fallstrick  für  die  dialektische  Unfähigkeit  von  solchen,  die 
in  der  Meinung  der  Menschen  einen  hohen  Rang  einnehmen. 
Wo  aber  Plato  in  den  Aeusserungen  einer  von  ihm  vorge- 
führten Person  seine  eigene  Meinung  durchscheinen  lässt, 
führt  er  sie  oftmals  nicht  in  ihrem  systematischen  Zu- 
sammenhange vor  und  nicht  in  der  Beleuchtung,  die  sie  erst 
als  Ableitung  aus  seinen  obersten  Prinzipien  empfängt. 
In  den  älteren  Dialogen  nimmt  das  dramatische  Element, 
die  Schilderung  und  Charakteristik  von  Personen  und 
Richtungen,  eine  so  selbstständige  Bedeutung  in  An- 
spruch, dass  vieles  nur  diesem  Zwecke  zu  dienen  scheint 
und  nicht  vorbehaltlos  als  Ausdruck  platonischer  Ueber- 
zeugungen  oder  überhaupt  als  lehrhaft  gedeutet  werden 
darf.  Es  lässt  sich  garnicht  verkennen,  dass  manche  Aus- 
führungen Piatos,  von  einem  in  übermütiger  Laune  ge- 
wählten Standpunkt  aus,  oft  fremde  Art  in  künstlerischer 
Meisterschaft  nachahmen  oder  die  äussersten  Konsequenzen 
daraus  bis  zur  Grenze  der  Absurdität  ziehen,  um  in  bewusster 


-  ^'2  - 

Absiebt    die   verderblichen  Folgen  mancher    Zeitströmungen 
zu  kennzeichnen. 

Was  die  mythische  Einkleidung  mancher  Gedanken- 
folgen anbetrifl't,  so  stand  bei  Schleiermacher  der 
Grund.satz  fest,  dass  die  bildliche  Darstellung  philosophischer 
Walirbeiten  der  direkten  bei  Plato  immer  vorangehe.  Doch 
findet  sich  bei  Plato  der  Mythos  nicht  immer  nur  an  Stelle 
begrifflicher  Darstellungen,  wo  er  eine  wissenschaftliche 
Definition  etwa  noch  nicht  zu  geben  vermöchte,  sondern 
sehr  häufig  soll  diese  Art  der  Einkleidung  eine  Anregung 
bieten  zum  Nachdenken,  einen  künstlerischen  Schmuck,  eine 
Unterhaltung  der  Phantasie  ausmachen.  Streift  man  aber 
die  mythische  Hülle  ab,  um  den  darunter  verborgenen 
Lehrsatz  herauszubringen,  so  läuft  man  Gefahr,  nicht  nur 
den  Reiz  zu  zerstören,  der  über  den  Dialogen  ausgebreitet 
ist,  sondern  auch  den  von  Plato  zu  Grunde  gelegten  Ge- 
danken selbst  zu  trivialisieren.  Vgl.  besonders  Volquard- 
sen,  Piatos  Theorie  vom  Mythus  und  seine   Mythen   1871. 

Es  liegt  also  nach  dem  soeben  Ausgeführten  kein  Grund 
vor,  anzunehmen,  Plato  habe  überall  sein  letztes  Wort  ge- 
sagt. Er  spricht  jedesmal  aus  einer  gegebenen  Situation 
heraus,  kann  daher  ganz  wohl  vieles  seiner  eigenen  Ueber- 
zeugung  nicht  Entsprechendes  sagen,  oder  vieles  verschweigen, 
was  er  längst  als  sein  geistiges  Eigentum  bereit  hat.  Da- 
her ist  es  niciit  angebracht,  jedesmal  aus  dem,  was  ge- 
sprochen wird,  oder  aus  dem,  was  ungesagt  bleibt,  ohne 
weiteres  zu  schliessen,  das  üebrige  habe  Plato  noch  nicht 
zu  sagen  vermocht,  und  danach  die  Stufe  der  Durch- 
bildung seines  philosophischen  Denkens  zu  bestimmen. 

Als  Ergebnis  aus  diesen  üeberlegungen  ist  also  Folgen- 
des festzuhalten: 

Zu  einem  wirklichen  Verständnis  einer  jeden  platonischen 
Schrift  wird  man  nur  dadurch  gelangen  können,  dass  man 
jede  einzelne  Schrift  ohne  mitgebrachtes  Vorurteil  in  ihrer 
Eigentümlichkeit  zu  erfassen  sucht  und  aus  ihrer  besonderen 
Anlage  ihre  besondere  Absicht    herausholt. 


-     ^3     - 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  wollen  wir  im  Fitlgenden 
.den  Dialog  „Gorgias"  auf  s.einen  wesentlichen  Gehalt  hin 
untersuchen. 

2.  Platos  Absicht  in  seinen  Dialogren. 

Der  platonische  Dialog  „Gorgias"  ist  ein  sehr  künstlich 
aufgebautes  und  zusammengesetztes  Werk,  dessen  verschiedene 
Teile  scheinbar  nur  in  losem  Zusammenhang  mit  einander 
stehen.  Der  Dialog  beginnt  mit  der  Untersuchung  über 
Wesen  und  Ziele  der  Rhetorik,  beschäftigt  sich  weiterhin 
mit  der  Frage  über  waiires  und  vermeintliches  Glück  und 
läuft  aus  in  die  Erörterung  der  höchsten  Fragen  des  sitt- 
lichen Lebens.  —  Es  ist  nun  eine  durchaus  unzulässige 
Annahme,  dass  ein  so  bewusster  Stilkünstler,  wie  Plato  es 
war,  innerlich  weit  Auseinandorliegendes  ohne  eine  die 
verschiedenen  Teile  zur  Einheit  verbindende,  das  Ganze 
durchdringende  Abzweckung  rein  äusserlich  aneinanderge- 
reiht habe. 

Man  muss  von  vornherein  festhalten,  dass  die  platonischen 
Gespräche,  selbst  wenn  sie  einen  ganz  abstrakt  philosophischen 
Inhalt  aufweisen,  ihrer  ganzen  Gestaltung  nach  nicht  die 
Art  philosophischer  Abhandlungen,  sondern  dramatischer 
Soenen  mit  dichterischer  Einkleidung  an  sich  tragen.  Als 
solche  aber  sind  sie  als  Werk  der  Phantasie,  nicht  als  ge- 
treues Abbild  wirklicher  Vorgänge  gemeint.  So  darf  man 
auch  den  „Gorgias"  nicht  für  eine  wissenschaftliche  Ab- 
handlung in  gewöhnlichem  Sinne  neiimen.  Soviel  allerdings 
muss  als  teststehend  zugegeben  werden,  dass  Plato  selbst 
diese  dialogisch  dramatische  Form  als  geeignet  betrachtet 
hat,  das  Verständnis  wissenschaftlicher  Streitfragen  und 
ihrer  liehandlung  zu  erleichtern.  Nun  ist  aber  offenbar 
der  Unterricht  in  der  platonischen  Akademie  der  Haupt- 
sache nach  in  der  Form  des  Vortrages  und  nur  gelegentlich 
in  dialogischer  Form  betrieben  worden.  Tatsächlich  tritt 
im  Laufe  der  schriftstellerischen  Tätigkeit,  besonders  in 
den  späteren  .Jahren  des  Philosophen,  in  den  wichtigsten 
Dialogen  die  Gesprächsform  völlig  zurück.     Aber  man  wird 


—     24     — 

kaum  mit  K.  Fr.  Hermann';  annehmen  können,  dass  der 
in  den  sokratischen  Schulen  heimische  Dialog,  allen  vertraut 
durch  die  induktiven  Reden  des  Meisters,  aber  auch  in  der 
künstlerischen  Form  durch  die  dramatische  Poesie  eines 
Epicharm,  Sophron  und  Euripides  geläufig  geworden,  ledig- 
lich des  Herkoramens  wegen  von  Plato  gewählt  und  aus 
Pietät  gegen  die  Sitte  beibehalten  worden  sei. 

Vielmehr  wird  man  die  dialogische  Form  von  Piatos 
Schriften  als  eine  Wiedergabe  seines  dialektischen  Denkprozesses 
im  Zusammenhang  mit  seiner  ganzen  philosophischen  An- 
schauung zu  erklären  haben.  —  Mit  Unrecht  will  man  aus 
jener  vielbesprochenen  Phädrusstelle^j  herauslesen,  dass 
Plato  der  dialogisclien  Form  der  Unterredung  wegen  ihrer 
grösseren  Kraft  zu  lehren  den  Vorzug  gegeben  habe  vor 
lehrhaften  Abhandlungen^).  Die  Phädrusstelle  besagt  nur, 
dass  schriftliche  Darstellung  in  keiner  Weise  den  Wert 
lebendiger  Unterredung  zu  ersetzen  vermag,  dass  sie  als 
blosses  Eidolon  der  lebendigen  Rede  sich  der  Individualität 
des  Lesers  nicht  anzupassen  vermag,  dass  aber  die  dia- 
logische Form  der  Aufzeichnung  wenigstens  den  Vorteil  ge- 
währe, in  der  Wiedererinnerung  den  Vorgang  der  Belehrung 
sich  wieder  abspielen  zu  sehen,  sodass  der  Gedankengehalt 
nicht  nur  als  Resultat,  sondern  auch  in  der  Art  seiner  Ge- 
winnung vorgeführt  werde.  —  Plato  hat  sicherlich  nicht 
lediglich  den  schulraässigen  Vortrag  von  Lehren  im  Auge 
gehabt;  und  wenn  er  sich  der  Form  des  Dialoges  bedient 
hat,  so  geschah  es,  um  den  Gang  der  Untersuchung  nach- 
ahmend in  Erinnerung  zu   bringen*). 


')  K.  Fr.  Hermann,  „Geschichte  «.  Systena  der  Platonischen 
Philosophie".     Heidelberg  1839,     3.  Bach.     S.    355. 

2)  Phädrus  274b  -  278b. 

")  Vgl.  Piatons  Werke  von  F.  S  c  h  1  e  ier  m  ac  h  e  r.  Berlin 
1804,  Teil  I,  Bd.  1,  S.  19. 

*)  Vgl  K.  Fr.  Hermann,  Ueber  Piatos  schriftstellerische 
Motive  (Gesammelte  AbLamllgn.  u.  Beiträge  etc  Göltingen  1841^, 
S.  281  ff.) 


-     25     - 

Tra  „Gorgias"  führt  uns  Pinto  eine  Gruppe  von 
Personen  vor.  Er  charakterisiert  sie  geistvoll  nach  Art  des 
Dramatikers,  sodass  sie  als  Vertreter  geistiger  Richtungen 
und  sittlicher  Anschauungen  typische  Geltung  erhalten. 
Ihre  Anschauungen  und  die  Situationen,  in  die  sie  gestellt 
sind,  geben  dem  Dialog  sein  eigentümliches  Gepräge. 

In  der  Sammlung  platonischer  liriet'e  finden  sich  an 
zwei  Stellen  Aeusserungen*),  durch  die  sich  Plato  gegen 
die  Ansicht  verwahrt,  seine  eigentliche  Lehre  in  seinen 
Dialogen  allgemein  zugänglich  gemacht  zu  haben,  mit  der 
ausdrücklichen  Erklärung,  dies  auch  künftig  nicht  tun  zu 
wollen.  Die  Echtheit  dieser  Briefe  wird  angezweifelt.  Allein, 
selbst  ihre  Unechtheit  vorausgesetzt,  ist  es  kaum  verständ- 
lich, wie  ein  Fälscher  dem  Plato  zu  einer  Zeit,  in  der  die 
platonischen  Schriften  der  Oeffentlichkeit  bereits  vorlagen, 
jene  Aeusserungen  hätte  in  den  Mund  legen  können,  die  er 
nicht  wirklich  getan  oder  die  mit  dem  Tatbestande  der 
vorliegenden  Schriften  in  direktem  Widersprucli  gestanden 
hätten.  Zum  mindesten  lässt  sich  aus  jenen  Briefstellon, 
einmal  zugegeben,  die  Briefe  seien  gefälscht,  die  Tatsache 
entnehmen,  dass  bereits  unmittelbar  nach  dem  Tode  Piatos 
vertraute  Kenner  seiner  Philosophie  der  Ansicht  waren,  dass 
seine  Dialoge  nicht  die  eigentlichsten  und  tiefsten  Gedanken 
seiner  Lehre  enthielten.  Ueber  die  Echtheit  der  Briefe  vgl. 
Eduard  Meyer,  Geschichte  des  Altertums.  Bd.  V.  1902. 
S.  500  ff.  2). 

In  der  Mehrzahl  der  Gespräche  wird  über  den  eigent- 
lichen Gegenstand  der  Erörterung  keine  als  Ausdruck  der 
Lehre  des  Verfassers  anzusehende  Entscheidung  herbeige- 
führt; sondern  es  werden  nur  gewisse  Ansichten    über    den 


'}  Zweiter  Brief  p.  322(1:  siebenter  Brief  p.  341c. 

*;  Dazu  wei'cr:  Christ,  Plalon  Studien  p.  25  iT.  Rciiihold, 
de  Plat.  epistnlis  Quedlinburg  iSSG.  Burnet,  Rhein.  Museum  62 
Plat.  Briefe  p.  312.  C.  Ritter,  neue  Untersuchungen  p.  327/4-24. 
R.  Ada  m,  über  d.  plat.  Briefe.  .\rch.  f.  G.  d.  Piiil.  XVI,  1.  H.  Racd  er, 
Über  d.  Echtheit  der  plat.  Briefe.  Rhein.  Museum  61  p.  427/47)  ; 
511/542.     S  ill,  ULtersnchuugen  üler  d.  plat.  Briefe  Diss    Halle  1931. 


-     '^G     — 

Gegenstand  der  Kritik  unterworfen,  zuweilen  in  sehr  heftigar 
Polemik  widerlegt,    wobei    die    Widerlegungsgründe    ahnen 
lassen,  in  welcher  Richtung  etwa  die  Lösung    des  Problems 
zu  suchen  sein  möchte.     Oft  auch    bildet    die    aufgeworfene 
Frage  garnicht  den  eigentlichen  Gegenstand  der  Erörterung; 
sie  dient  nur,  indem  scheinbar  absichtslos  ein  Gedanke  den 
anderen  nach  sich  zieht,  als  Anknüpfung  für  Ueberlegungen, 
die  schliesslich  in  ganz  anderer   Eichtung  verlaufen.      Dann 
wieder    scheint    die    Schilderung    der    Scenerie    soweit    im 
Vordergründe  zu  stehen,  dass    die  Ausführungen    über    das 
zur  Behandlung  gestellte  Thema  lediglich    als  Beiwerk    zur 
Steigerung  der  dramatischen    Lebendigkeit    der  Schilderung 
dienen.     Da  Plato  niemals  selbst  und    im    eigenen    Namen 
redend  auftritt,  so  gilt  es  also  immer,  erst  durch  eingehende 
Untersuchung  festzustellen,    wie  weit    seine    eigene  Ansicht 
von  den  redenden  Personen  vertreten  wird,    wie    weit  Plato 
nur    die    Denkweise    dieser    Personen    schildern    will,    oder 
vielleicht  durch  das  innere  Ungenügen   an  dem    bisher    von 
ihm  Erreichten  oder  durch  die  Einwirkung  fremder  Gedanken- 
gänge   veranlasst,    künstlich    selbst    Denkweisen    geschaffen 
hat,  um  in    der  Erörterung    derselben    selber    zu    grösserer 
geistiger    Klarheit    über    den   jedesmaligen  Gegenstand    zu 
gelangen.     Eben  dieser  Zweifel  betrifft  auch  das  von  Sokrates 
Vorgetragene.     An  manchen  Stellen  ist  mit  aller  Bestimmt- 
heit die  Tendenz  Piatos  erkennbar,    die    eigentümliche    Art 
und    Persönlichkeit    des    verehrten    Meisters    mit    feinstem 
Verständnis  seiner  Individualität  auch  durch  die  Ansichten, 
die  er  ihm  in    den  Mund    legt,    zu    charakterisieren,    nicht 
aber  seine,    Piatos  Lehre,    zum    Ausdruck    zu    bringen.     E. 
Kühnemann    in    dem    obengenannten  Werk    sagt    darüber 
S.  274:   „Durch  Sokrates  wurde  der  Mensch   vor    die  Frage 
des  eigenen  Lebens  gestellt,   —  wie  er  lebt  und  gelebt  hat. 
Dieser  im  tiefsten  Sinne  sittliche   Sinn    der    neuen  Wissen- 
schaft lebt  in  Plato  fort,  dass  sie    nämlich  Selbsterkenntnis 
des  Menschen    ist  und    in    der  Selbsterkenntnis    den  Grund 
eines  waiirhaft  sittlichen  Daseins  ergiebt." 


—     27     — 

Es  lierrsoht  oregenwärtig  bei  vielen  die  Neigung,  den 
Zwiespalt  hervorzuheben  zwischen  dem,  was  wir  in  Piatos 
Dialogen  lesen,  und  dem  von  Aristoteles  als  Piatos  Lehre 
Berichteten^),  und  man  schliesst  daraus  auf  Missverstüudnis 
oder  absichtliche  Verdrehung  der  platonischen  Lehre  durch 
Aristoteles.  Teils  meint  man,  er  sei  unfähig  gewesen,  Piatos . 
Lehre  richtig  zu  verstehen;  teils,  es  sei  seine  hämische 
Tadelsucht  gross  genug  gewesen,  um  durch  entstellende 
Berichte  Plato  lächerlich  zu  machen  und  sich  vor  der  Mit- 
und  Nachwelt  als  den  überlegenen  Geist  zu  erweisen.  Diese 
Ansicht  ist  völlig  unhaltbar;  nur  dadurch  erklärt  sie  sich, 
dass  man  sich  nicht  entschliessen  kann,  den  Tatbestand 
sicher  ins  Auge  zu  fassen.  Aristoteles  hat  nicht  allein 
dieselben  Quellen  gehabt  wie  wir,  sondern  noch  andere, 
und  diese  Quellen  sind  die  besten,  die  denkbar  sind.  Er 
hat  20  Jahre  lang  mit  Plato  gelebt  in  stetem  Austausch, 
hat  seine  Vorlesungen  gehört  und  mit  ihm  disputiert.  Und 
dass  er  die  Fähigkeit  des  Verständnisses  und  den  guten 
Willen  hatte,  seinem  grossen  Lehrer  gerecht  zu  werden, 
das  zu  bezweifeln  gibt  es  keinen  denkbaren  Grund.  Ueber 
diese  Fragen  des  aristotelischen  Berichtes  über  Piatos  Lehre 
siehe  E.  Zeller,  Platonische  Studien  1839.  S.  199-29L 
Alberti,  die  Frage  nach  Geist  und  Ordnung  der  plato- 
nischen Schriften  beleuchtet  aus  Aristoteles.     1864  2). 


')  So  bei  P.  Natorp,  Piatons  Ideenlehre,  Leipzig  1903:  Bericht 
über  Robin,  Stewart,  Taylor.  Dtsch.  Literaturztg.  1910,  Constantin 
Ritter,  Plato,  S.  579,  58  k 

2j  Vcrgl.  weiter:  M.  Watson,  Aristotles  Criticisms  of  Plato. 
Oxford  1909.  F.  U  e  b  e  r  w  e  g,  Grundriss  d.  Geschichte  d.  Philosopliie 
1909  X.  Äuil.  Bd.  I  p  132  135.  L.  Roh  in,  la  theorie  platoniciennc 
des  idecs  et  des  nombrcs  d'apres  Aristoto.  Paris  03.  Ch.  Wer  n  e  r, 
Aristote  et  ridöalisinc  platonicien.  Paris  09.  Th.  G  o  m  p  e  r  z,  die 
angebliche  plat.  Schulbibliothek  (Platonaufsätzc)  Bd.  II.  Sitzungs- 
berichte der  ^Viene^  Akademie.  1899.  E.  Z  e  1  1  e  r,  über  den  Zusammen- 
hang der  plat.  arist.  Schriften.  Hermes  XI,  70  p.  81 -9ü.  Wähle, 
Beitiäge  zar^Würdigung  des  Aristoteles  und  zur  Erklärung  plat. 
Lehrtn.     Arch.  f   Geschichte  d.  Phil.  XIV,  145. 


—     28     — 

Für  unsere  Kenntnis  der  Lehre  Piatos  ist  mitliin  das 
Zeugnis  des  Aristoteles  entscheidend.  Er  hat  sich  immer 
zu  Piatos  Schule  gerechnet;  er  ist  von  dankbarer  Ehrfurcht 
gegen  seinen  Lehrer  erfüllt;  sein  Scharfsinn  ist  unvergleich- 
lich. Wir  kennen  Aristoteles  aus  seinen  eigenen  Werken, 
die  die  Bewunderung  des  menschlichen  Geschlechtes  geniessen. 
Es  ist  also  Aristoteles  sicher  zu  vertrauen;  dagegen  müssen 
■wir  mit  der  höchsten  Behutsamkeit  verfahren,  wenn  wir 
aus  den  Aeusserungen  der  Personen  in  den  platonischen 
Dialogen  auf  Piatos  eigene  Ansichten  schliessen  wollen. 
Wo  also  sich  ein  Widerspruch  zwischen  Aussprüchen  in 
platonischen  Werken  und  Berichten  des  Aristoteles  über 
Piatos  Lehre  zu  ergeben  scheint,  da  werden  wir  die  Auf- 
fassung, die  uns  die  platonischen  Stellen  an  die  Hand  geben, 
durch  die  aristotelische  Darstellung  zu  korrigieren  haben. 

L  Der  ethische  Gehalt  des  „Gorg^ias". 

Zur  Grundlegung  für  alle  weiteren  Darlegungen  wird 
es  nötig  sein,  über  den  Inhalt  des  Dialogs  einen  kurzen 
Ueberblick  zu  geben,  sodass  von  vornherein  die  Hauptsachen 
klar  hervortreten  und  von  allem  bloss  Episodischen,  der 
Einkleidung  Dienenden  oder  auf  zeitlich  interessierende 
Fragen  Hinweisenden  abgesehen  wird. 

Der  berühmte  Sprachkünstler  Gorgias  von  Leontini  ist 
in  Athen.  Sokrates  kommt  mit  Chärephon,  ihn  zu  hören. 
Gorgias,  der  eben  unter  gewaltigem  Beifall  eine  Rede  ge- 
halten hat,  ist  bereit,  über  einen  beliebigen  Gegenstand 
Auskunft  zu  geben.  Aber  Polos,  sein  Schüler,  nimmt  ihm 
die  Last  ab  und  bietet  sich  dem  Chärephon  zur  Unter- 
redung dar.  Als  Polos  auf  Chärephons  Frage,  welches  die 
Kunst  sei,  in  der  Gorgias  sich  betätige,  antwortet,  es  sei 
die  herrlichste  von  allen  Künsten,  wirft  Sokrates  ein,  das 
sei  keine  Antwort  auf  die  Frage.  Gorgias  erklärt  darauf, 
sein  Fach  sei  die  Kunst  der  Rede,  und  weiter,  nach  der 
Aufgabe  dieser  Kunst  befragt,  bezeichnet  er  sie  als  die 
Kunst  des  sprachlichen  Gedankenausdrucks,  sodann  als  ihren 


—     29     — 

Inhalt  die  bedeutsamsten  Angelegenheiten  der  Menschen, 
lind  weiter  als  ihren  Zweck  die  Kunst  der  Ueberredung,  und 
zwar  die  Kunst,  in  Volksversammlung  und  vor  Gericht  die 
Menschen  zu  bestimmten  Ansichten  über  das  Gerechte  und  Unc-e- 
rechte  zuüberreden,  allerdings  nicht  um  sie  zum  Wissen,  sondern 
bloss  zum  Glauben  anzuleiten.  Die  Redekunst  sei  überaus 
wirksam.  Gewiss  könne  man  sie  missbrauchen,  aber  das 
hebe  ihren  Wert  nicht  auf.  Wissenschaftliche  Erkenntnis 
sei  zu  solcher  Ueberredung  nicht  erforderlich;  aber  über 
das  was  gut  oder  böse,  gerecht  oder  ungerecht  sei,  müsse 
der  Redner  unterrichtet  sein.  Sokrates  findet  darin  einen 
Widerspruch.  Denn  wenn  der  Redner  wisse,  was  gerecht 
ist,  werde  "er  auch  ein  gerechter  Mann  sein  und  die  Rede- 
kunst nicht  missbrauchen.  Solchen  Missbraucli  aber  habe 
Gorgias  vorher  als  möglich   zugegeben. 

Da  tritt  Polos  auf  den  Flau.  Gorgias  habe  ein  un- 
nötiges Zugeständnis  gemacht;  der  Redner  brauche  kein 
Wissen  zu  haben;  es  genüge,  dass  ihm  die  Kunst  der  Rede 
die  Macht  über  die  Gemüter  verleihe.  Dann,  führt  Sokrates 
aus,  ist  die  Redekunst  eine  blosse,  durch  Uebung  erworbene 
Fertigkeit,  sich  die  Gunst  der  Menschen  zu  erwerben,  indem 
man  ihren  Neigungen  schmeichelt.  Wirkliche  Macht  aber 
ist  nicht  das  Vermögen,  zu  tun,  was  einem  beliebt,  sondern 
zu  tun,  was  man  vernünftiger  Weise  wollen  kann;  Unrecht 
tun  ist  das  grösste  Uebel.  Polos  ist  über  diesen  Satz  ganz 
entsetzt  und  tritt  den  Beweis  an,  dass  gerade  die  Ungerechten 
die  Glücklichsten  seien.  Sokrates  dagegen  führt  aus,  dass 
das  Glück  in  Herzensbildung  und  Gerechtigkeit  bestehe, 
und  dass  auf  die  geraeine  Meinung,  die  anders  laute,  nichts  zu 
geben  sei.  So  gebe  es  denn  auch  kein  grösseres  Unglück 
für  den  Ungerechten,  als  wenn  er  unbestraft  bleibe ;  denn 
die  Strafe  sei  wenigstens  noch  ein  Mittel,  die  Seele  von 
dem  schlimmsten  Uebel,  von  der  Ungerechtigkeit,  zu  be- 
freien. 

Damit  ist  die  Redekunst  als  (Gegenstand  der  Unter- 
haltung beseitigt.  Die  Erörterung  wendet  sich  nunmehr 
ausschliesslich   den    von    Sokrates    vorgetragenen    Ansichten 


—     30     — 

über  das  Glück  als  das  Heil  der  Seele  zu,  und  im  Verfolg 
dieses  Streites  kommt  es  zu  einer  Untersuchung  über  die 
obersten  Prinzipien  des  sittlichen  Lebens,  die  den  Dialog 
bis  zu  Ende  ausfüllt. 

Polos  muss,  von  Sokrates  gedrängt,  zugeben,  dass  Un- 
recht tun  allerdings  für  das  Gefühl  dasWiderwärtigere  und 
zugleich  das  Verwerflichere  ist  faib/iov  xal  xaxtov);  daraus 
folgert  dann  Sokrates,  dass  Strafe  leiden  wirklich  Erlösung 
vom  Uebel  der  Ungerechtigkeit  bedeutet,  dass  der  elendeste 
Mensch  unter  allen  der  Mensch  ist,  der  die  Macht  besitzt, 
ungestraft  jeden  Frevel  zu  üben,  und  dass  die  Redekunst, 
sofern  sie  solche  Macht  verleiht,  den  an  ihr  gerühmten  Wert 
keineswegs  besitzt. 

Hier  mischt  sich  Kallikles,  der  auch  das  Zugeständnis 
des  Polos  für  übel  angebracht  und  grundlos  hält,  in  das 
Gespräch.  Diese  Aeusserungen  des  Sokrates  gehen  ihm 
über  jeden  Glauben;  das  kann  unmöglich  im  Ernste  ge- 
sagt sein;  das  wäre  die  völlige  Umkehrung  alles  Lebens 
und  aller  Grundsätze  der  Menschen.  In  der  Tat,  erwidert 
Sokrates,  so  ist  es;  aber  man  darf  sich  nicht  an  die 
Meinungen  der  Menschen  und  an  die  tatsächliche  Er- 
scheinung halten;  nur  Wissenschaft  gibt  Wahrheit,  nur  sie 
vermag  zum  rechten  Leben  anzuleiten.  Nun  kramt  Kallikles 
alle  Konsequenzen  der  gemeinen  Meinung  aus  und  sagt 
alles  das  offen  heraus,  wozu  sich  geradezu  zu  bekennen 
schwächere  Gemüter  eine  falsche  Scham  hindere.  Nur  die 
Befriedigung  aller  Lüste  und  Triebe  gibt  dem  Leben  Wert ; 
sich  darin  durch  Gesetze  und  konventionelle  Ansichten 
hindern  zu  lassen,  ist  verächtliche  Schwäche  minderwertiger 
Naturen.  Von  Natur  ist  alles  erfolgreiche  Tun  löblich,  ganz 
gleich,  ob  es  allen  Gesetzen,  die  unter  den  Menschen 
herrschen,  widerspricht  oder  nicht.  Von  Natur  gilt  nur  das 
Recht  des  Stärkeren.  Wissenschaft  mag  ja  sonst  ganz  gut 
sein  zu  geistiger  Uebung  in  den  Jugendjahren;  des  rechten 
Mannes  würdig  ist  nur  die  praktische  Betätigung  im  öffent- 
lichen Leben.  Sokrates  werde  selbst  die  Erfahrung  machen, 
dass  man  mit  Grundsätzen,  wie  er  sie  bekennt,  hilflos  einem 


—      31     — 

schmälilichen  Ende  entgegengeht.  Sokrates  erhebt  dagegen 
seine  Einwendungen.  Ist  der  Stärkere  wirklich  der  Wert- 
vollere, der  zur  Herrschaft  Berufene,  zur  Erfüllung  seines 
Beliebens  Berechtigte,  so  sind  die  vereinigten  Schwachen 
als  die  Stärkerei)  gegenüber  jedem  Einzelnen  von  Natur 
zur  Durchsetzung  ihres  Willens  berechtigt.  Oder  sollen  als 
die  Stärkeren  die  geistig  höher  Stehenden  gelten?  Denen 
kann  man  doch  auf  Grund  ihrer  üeberlcgenheit  kein  anderes 
Recht  zugestehen,  als  das,  was  den  Geringeron  auch  zu- 
kommt. Kallikles  erwidert,  er  meine  mit  den  Stärkeren 
die  Willenstarken,  die  Mutigen  und  Einsichtsvollen,  be- 
sonders in  der  Politik.  Aber,  wendet  Sokrates  ein,  die 
Starken  sind  doch  vielmehr  diejenigen,  die  sich  selbst  be- 
herrschen. Solche  Selbstbeherrschung  weist  Kallikles  als 
eine  leere  und  törichte  Redensart  ab.  Sokrates  meint,  stark 
seien  doch  eigentlich  die,  die  wenig  bedürfen;  das  Streben, 
seine  Begierden  zu  befriedigen,  sei  ganz  ähnlich  dem  Streben, 
ein  Fass  ohne  Boden  zu  füllen;  dann  wäre  auch  der 
niedrigste  Sinnengenuss  ein  Element  des  Glücks.  Zudem, 
Avenn  man  die  Lust  und  das  Gute  als  identisch  setze,  so 
ergebe  sich  der  Widersinn,  dass  während  Glück  und  Un- 
glück einander  ausschliessen,  in  der  Befriedigung  der  Be- 
gierde der  Schmerz  des  Begehrens  und  die  Lust  der  Be- 
friedigung beisammen  sind,  Begierde  und  Befriedigung  auch 
zugleich  aufhören.  Und  weiter :  wenn  gut  ist,  wer  das 
Gute  an  sich  hat,  so  wäre  der  gut,  der  die  Lust  an 
sich  hat,  falls  die  Lust  das  Gute  ist,  und  schlecht 
wäre,  wer  die  Unlust  an  sich  hat.  Es  hiess  ja  aber  vor- 
her, vielmehr  die  Willensstarken  und  Einsichtsvollen  seien 
die  Guten,  und  nicht  die  Feigen  und  Unverständigen,  die 
Lust  empfinden.  Kallikles  sieht  sich  dadurch  zu  dem  Zu- 
geständnis gezwungen,  dass  es  Lust  von  besserer  und  Lust 
von  schlechterer  Art  gebe;  er  habe  nur  von  der  besseren 
Art  von  Lust  gesprochen.  Worin  soll  denn  der  Unter- 
schied liegen,  fragt  Sokrates,  wenn  nicht  darin,  dass  die 
eine  dauernd  frommt,  die  andere  schädlich  ist?  Also  ist 
doch  vielmehr  nicht  die  Lust  das  Gute,    sondern    das  Heil, 


—     32     — 

das  sie  bringt,  und  um  das  lierauszuerkennen,  dazu  gehört 
richtiges  Urteil.  Mithin  erwirbt  sich  nur  der  ein  Verdienst 
um  die  Menschen,  der  sie  besser  macht.  Nun  ist  überall, 
für  den  Staat,  für  den  Einzelnen,  für  Leib  und  Seele,  das 
Gute  Ordnung,  Mass,  Gesetz.  Darum  kann  es  nicht  die 
Aufgabe  sein,  dass  man  den  Begierden,  den  eigenen  wie 
denen  der  anderen,  diene,  sondern  vielmehr  gegebenen  Falls 
dem  anderen  versage,  was  er  begehrt,  ihn  strafe,  um  dem 
Heile  seiner  Seele  zu  dienen.  Das  Gute  und  Gerechte  ist 
verwandt  mit  den  mathematischen  Gesetzen,  den  Gedanken, 
die  das  Universum  im  rechten  Gange  erhalten:  darauf  be- 
ruht auch  das  wahre  Glück.  Nicht  das  Leben  zq  erhalten 
ist  das  Ziel,  sondern  es  mit  würdigem  Inhalt  zu  erfüllen. 
Das  Streben  nach  Erfolg  in  der  äusseren  Welt  zieht  die 
Seele  herab,  die,  um  den  Menschen  zu  gefallen,  sich  ihnen 
angleichen  muss.  Dagegen  wahre  Seligkeit  gewährt  die  Ge- 
sinnung, in  reiner  Innerlichkeit  nach  nichts  anderem  zu 
streben  als  nach  der  Vollendung  des  eigenen  Wesens. 

Das  so  erlangte  Ergebnis  stellt  Sokrates  dann  in 
mythischer  Form  als  ein  Gericht  nach  dem  Tode  dar,  wo 
die  unbestechlichen  Richter  die  Seele  in  ihrer  Nacktheit  in 
der  Form  sehen,  die  sie  durch  ihren  Wandel  im  irdischen 
Leben  erreicht  hat.  Das  seligste  Los  wird  wohl  demjenigen 
zufallen,  der  in  philosophischem  Geiste  rein  und  lauter 
durchs  Leben  gegangen  ist,  unverwickelt  in  die  irdischen 
Händel,  nur  damit  beschäftigt,  seine  Seele  in  möglichst  voll- 
kommenem  Zustande  hindurchzuretten. 

IL  Der  wesentHche  Gedankengrehalt  des   „Gopgias." 

Suchen  wir  nunmehr  die  Einheit  und  hauptsächliche 
Absicht  des  „Gorgias"  festzustellen. 

Der  Dialog  ist  im  wesentlichen  ein  Gespräch,  das 
Sokrates  hinter  einander  mit  drei  Personen:  Gorgias,  Polos 
und  Kallikles,  führt.  Ein  fünfter  Mitunterredner,  Chärephon, 
tritt  nur  in  der  Einleitung  auf,  um  die  Anknüpfung  des 
Gespräches  zu  vermitteln,    und  nimmt    dann    weiterhin    an 


—     33     — 

demselben  keinen  tätigen  Anteil.  Dieses  wirklich  Vorliegende 
gilt  es  streng  im  Auge  zu  behalten  und  keinerlei  Vorurteil 
darüber,  was  für  Lehren  das  Werk  als  Ansichten  Piatos 
vortragen  und  dem  Leser  einprägen  möchte,  in  dasselbe 
hinein  zu  tragen,  wenn  mau  zu  einem  wirklichen  Verständ- 
nis des  Dialoges  gelangen    will. 

Die  im  ,,Gorgias"  auftretenden  Personen  sind  in  zwei 
Lager  geteilt.  In  dem  einen  befindet  sich  Sokrates,  dessen 
Bedeutung  durch  den  Gegensatz,  in  dem  er  zu  den  Sophisten 
steht,  bezeichnet  wird :  in  dem  anderen  die  drei  als  typische 
Vertreter  sophistischer  Ansichten  und  Lehren  charakterisierten 
Personen,  die  der  Reihe  nach  im  Gespräche  mit  Sokrates 
diesem  dann  Anlass  geben,  seine  ethischen  Anschauungen 
im  Gegensatze  zu  den  Sophisten  zu  entwickeln. 

Es  sind  zwei  verschiedene  Auffassungen  vom  Zweck 
und  Inhalt  des  rechten  Lebens,  die  in  diesem  Gespräche 
einander  gegenübertreten.  Die  eine  spricht  sich  dogmatisch 
entschieden  voller  Zuversicht  und  Selbstgewissheit  aus,  hält 
sich  an  die  herrschende  Meinung  der  Masse  und  trotzt  auf 
ihre  Selbstverständlichkeit;  die  andere,  das  persönliche 
Eigentum  des  Sokrates,  sucht  sich  in  eingehender  Reflexion 
zu  begründen.  Die  Widerlegung  der  entgegengesetzten 
Ansicht  dient  ihr  dazu,  für  sich  volle  Sicherheit  zu  erlangen, 
und  durch  ernste  Ueberlegungen  zieht  sie  aus  gesicherten 
Vordersätzen  die  aus  ihnen  mit  logischer  Notwendigkeit  sich 
ergebenden  Folgerungen,  rücksichtslos  und  unbedenklich 
auch  zu  der  äussersten  Paradoxie  bei  der  Bekämpfung  der 
geläufigen  Auffassungen  fortschreitend.  Es  besteht  kein 
Zweifel  daran,  dass  Piatos  Sympathien  dem  Standpunkte  des 
Sokrates,  mit  dem  er  den  Gegensatz  zu  den  Sophisten  gemein 
hat,  zugewandt  sind.  Wie  weit  jedoch  seine  Anschauungen 
mit  den  von  Sokrates  im  „Gorgias"  geäusserten  überein- 
stimmen, wie  weit  er  seine  eigenen  durch  Sokrates  darlegen 
lässt,  oder  ob  die  hier  ausgeführten  Lehren  nur  zur 
Charakteristik  des  Sokrates  dienen,  das  bleibt  fürs  erste  noch 
eine  offene  Frage. 

8 


—     34     — 

Im  Gegensatze  zu  den  mehr  episodisch  gehaltenen 
kleineren  Dialogen,  die  in  keiner  Weise  den  Anspruch 
erheben,  irgend  ein  Thema  abschliessend  zu  behandeln, 
gelangt  der  „Gorgias",  ein  Werk  von  grösserem  Umfang, 
zu  einem  vollkommenen,  das  angeschlagene  Thema  völlig 
erschöpfenden  Abschluss.  Mit  den  sokratischen  Dialogen 
hat  der  „Gorgias"  die  Sorgfalt  in  der  Schilderung  der 
Situation  und  die  Charakteristik  wirkungsvoll  und  in  be- 
w'usster  Absicht  gruppierter  Personen  gemeinsam.  Wie  die 
kleineren  und  mehr  spielenden  Dialoge  gewährt  auch  der 
„Gorgias"  nicht  den  Anschein,  als  ob  er  verfasst  sei,  irgend 
einen  theoretischen  Lehrsatz  zu  beweisen  und  einzuschärfen. 
Er  stellt  dar:  man  dürfte  nicht  eigentlich  sagen: 
er  lehrt.  Wir  lernen  die  entgegengesetzten  Anschauungen 
von  Mensciien  sehr  verschiedener  Art  kennen,  und  diese 
Anschauungen  suchen  sie  aucii  dialektisch  zu  begründen : 
aber  einen  strengen  wissenschaftlichen  Beweis  darf  man 
darin  nicht  erblicken  wollen.  Dass  die  eine  der  streitenden 
Anschauungen  Piatos  Zustimmung  in  höherem  Grade  besitzt 
als  die  andere,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich,  und  es 
wird  wohl  eben  diejenige  sein,  die  am  Schlüsse  als  die 
siegreiche  und  abschliessende  erscheint.  Nur  darüber,  wieweit 
dieselbe  sich  mit  derjenigen  Piatos  deckt,  ist  damit  noch 
garnichts  ausgemacht.  Noch  viel  weniger  aber  darf  man 
Erörterungen  und  Lehren,  die  aus  der  Diskussion  sich 
ergebend  im  Gange  der  Untersuchung  vorgetragen  werden, 
dem  Plato  als  Darlegung  seiner  eigenen  Ansichten  anrechnen. 
Es  ist  naiv  und  unmethodisch,  in  einer  dramatischen  Dar- 
stellung die  von  einer  der  auftretenden  Personen  geäusserten 
Ansichten  für  Ansichten  des  Verfassers  selbst  zu  nehmen. 
Daher  ist  es  geboten,  auch  das,  was  Plato  dem  Sokrates 
in  den  Mund  legt,  zunächst  und  bis  auf  weiteres  als  Be- 
standteil der  Charakteristik  dieser  Lieblingsgestalt  ihres 
Schöpfers  aufzufassen ;  eine  weitere  Untersuchung  mag  dann 
darüber  entscheiden,  ob  die  Aeusserungen  des  Sokrates  bei 
Plato  im  Namen  und  aus  dem  Sinne  Piatos  getan  sind. 


—     35     — 

Aus  der  Tendenz  des  „Gorgias"  darzustellen  und 
nicht  zu  lehren,  ergibt  sich,  dass  es  das  AUerverkehrteste 
wäre,  auf  einzelne  Aussprüche  und  gelegentlich  gemachte 
längere  Ausführungen  einen  unverhältnismässigen  Nachdruck 
zu  legen  und  daraus  Schlüsse  ziehen  zu  wollen,  auf  die  zur 
Zeit  der  Abfassung  des  „Gorgias"  von  Plato  erlangte  geistige 
Entwicklungsstufe  und  auf  seinen  Gedankengang  ^).  Piatos 
Lehre  konnte  in  vielen  Punkten  bereits  weiter  ausgebildet 
gewesen  sein,  als  sie  sich  im  „Gorgias"  darstellt,  wo  die 
bestimmte  Veranlassung  nur  Aeusserungen  bestimmter  Art 
hervorrief:  andererseits  enthält  dieser  Dialog  möglicherweise 
manches,  was  keineswegs  in  vollem  Ernst  und  als  bleibender 
Bestandteil  der  systematischen  Lehre  Piatos  gemeint  ist. 

Der  Anlass  lässt  Menschen  und  Dinge  unter  besonderer 
Beleuchtung  erscheinen,  die  bei  anderem  Anlass  sich  in 
ganz  anderem  Lichte  darstellen  würden.  Das  „haec  fabula 
docet"  stimmt  ganz  und  gar  nicht  zu  dem  schriftstellerischen 
Charakter  eines  Meisters  künstlerischer  Darstellung  wie  Plato 
es  war.  Wer  ihn  verstehen  will,  muss  suchen,  das  von  ilim 
entworfene  Gemälde  als  Ganzes  auf  sich  wirken  zu  lassen 
und  sich  in  die  Gesamtanschauung  hineinzuversetzen,  aus 
der  heraus  das  Kunstwerk  entstanden  ist.  Pedantisch  einzelne 
Aussprüche  zu  pressen,  bis  sich  bestimmte  Lehrsätze  ergeben 
und  man  von  einem  erreichten  Standpunkt  unter  mehr  oder 
weniger  scheinbarem  Vorwande  reden  darf,  ist  doch  nur  ein 
Missverständnis. 

Wer  ohne  vorgefasste  Meinung  an  den  „Gorgias" 
herantritt,  dessen  Interesse  wird  sich  zunächst  dem  Gegensatz 
zwischen  den  vier  als  typischen  Vertretern  ihrer  Anschauungen 
charakertisierten  Personen  zuwenden,  die  mit  einander  ihre 
Ansichten  austauschen.  Gorgias,  der  berühmte  Meister  der 
Rhetorik,  ist  in  Athen  angelangt,  und  Sokrates,  wie  er 
wenigstens  selber  sich  äussert,  hat  in  seinem  eifrigen  Streben 
nach    Wahrheit    den    dringenden  Wunsch,    Gorgias    kennen 


')  Vergl.  Natorp,  Pl.'s.  Ideenlehre  S.  41  fif.  Constantin  Ritter, 
Platu  S.  391  ff. 


—     30     — 

zu  lernen,  um  sieh  von  ihm  über  Wesen  und  Aufgabe  der 
Rhetoriiv  belehren  zu  lassen.  Bei  der  Unterredung  zwischen 
Sokrates  und  Gorgias  entspinnt  sich  aus  der  Erörterung  der 
beiden  vorgenannten  Fragen  zwischen  Sokrates  einerseits, 
Gorgias  und  dessen  Anhänger  Polos  andererseits  eine  Unter- 
suchung über  den  Wert  der  Rhetorik.  Das  Gespräch 
nimmt  eine  allgemeinere  und  prinzipiellere  Wendung,  als 
Kallikles,  der  bis  dahin  nur  als  Zuhörer  sich  beteiligt  hat, 
in  dasselbe  eintritt.  Nunmehr  handelt  es  sich  um  das  letzte 
Ziel  menschlicher  Lebensführung  überhaupt,  und  Sokrates 
stellt  im  schärfsten  Gegensatz  zu  Kallikles  seine  Ansichten 
dar  über  das,  was  im  Leben  anzustreben  ist. 

Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Rhetorik,  die  den  Aus- 
gangspunkt bildete,  tritt  im  Fortgang  mehr  und  mehr  zurück 
hinter  der  Erörterung  über  den  Wert  derselben.  Weiter- 
hin wird  auch  das  Treiben  der  Sophisten  und  die  Tätigkeit 
des  Staatsmannes  zum  Gegenstande  der  Erwägung.  Worin 
besteht  nun  der  eigentliche  Inhalt  des  Dialogs,  die  Einheit 
seiner  ganz  verschiedenen  Teile  und  seine  wirkliche  Ab- 
sicht ? 

Plato  hat  diese  Einheit  und  diese  letzte  Absicht  mit 
genügender  Deutlichkeit  bezeichnet;  mau  muss  nur  auf  seine 
Andeutungen  achten.  Sokrates  ermahnt  den  Kallikles,  in  der 
Untersuchung  nicht  nachzulassen,  bis  ein  genügendes  Er- 
gebnis erreicht  sei;  denn  der  Gegenstand,  dem  schliess- 
lich die  Untersuchung  gelte,  sei  die  Frage,  wie  man  sein 
Leben  einzurichten  habe,  um  volle  Befriedigung  zu  er- 
reichen»). Und  ebenso  wird  in  den  Aeusserungen  des  Kallikles 
und  des  Sokrates  in  aller  Bestimmtheit  bis  zu  den  äussersten 
Konsequenzen  der  oberste  Gegensatz  der  Anschauungen  über 
den  rechten  Inhalt  des  Lebens  vorgeführt»).  Es  ist  der 
Gegensatz  des  Strebens  nach  geistiger  Bildung  und  der 
Richtufig  auf  die  Tätigkeit  nach  aussen;  der  Gegensatz  der 
Arbeit  an  der    inneren  Vollendung    der  Persönlichkeit    und 


»)  Gorg.  492d.     500c. 
*)  Gorg.  482-488. 


ZI 


der  Sucht  nach  Befriedigung  an  den  äusseren  Gütern ;  mit 
einem  Worte:  das  aktive  und  das  kuntemphitive  Leben') 
werden  einander  gegenübergestellt,  um  ihren  wahren  Wert 
zu  ermessen,  und  es  wird  der  Beweis  geführt,  dass,  unbe- 
kümmert um  die  Gestaltung  des  äusseren  Lebens,  nur  in 
dem  der  iimeren  Vollendung  gewidmeten  Leben  der  Mensch 
seine  eigentliche  Bestimmung  erfüllen  und  vollkommenen 
inneren  Frieden  erlangen  könne.  Innere  Durchbildung  ist 
aber  zAigleich  aaeh  Bildung  des  Intellektes  und  des  Willens. 
Philosophie  und  Versittlichung  gehen  Hand  in  Hand  und 
können  nicht  von  einander  getrennt  werden.  Die  Aus- 
führungen, die  Sokrates  in  diesem  Sinne  macht,  sind  ganz 
im  Geiste  des  historischen  Sokrates  gehalten,  und  manches, 
was  Xenophon  denselben  sagen  lässt,  klingt  an  das  im 
„Gorgias"  Vorgetragene  an-).  Doch  ist  damit  noch  nicht 
gesagt,  dass  es  nicht  zugleich  auch  Piatos  Gesinnungen 
wiedergäbe.  Im  Gegenteil,  es  macht  eher  den  Eindruck, 
als  ob  er  sich  zu  den  von  Sokrates  ausgedrückten  Ueber- 
zeugungen  bekenne.  Die  Art  jedoch,  wie  Sokrates  im 
„Gorgias"  diese  Ueberzeugungen  begründet,  ist  nicht  die 
spezifisch  platonisciie.  Sokrates  geht  nicht  auf  die  letzten 
Prinzipien  zurück,  wie  sie  Plato  seiner  Behandlung  der 
Ethik  sonst  zu  Grunde  legt,  sondern  beruft  sich  weit  mehr 
auf  äusserliche  Reflexionen.  Darum  sind  wir  nicht  zu  der 
Annahme  gezwungen,  die  Gründe,  mit  denen  Sokrates  die 
Aufstellungen  der  Sopliisten  zu  widerlegen  oder  seine  eigenen 
Ansichten  zu  beweisen  sucht,  seien  durchweg  im  Sinne  Piatos 
gehalten.  Vieles  darin  dient  augenscheinlich  nur  zur  Kenn- 
zeichnung der  eigentümlichen  Art  des  geschichtlichen  Sokrates. 
Andererseits  ist  auch  die  Annalnne  nicht  berechtiort,  der 
„Gorgias"  gehöre  deshalb,  weil  er  die  Prinzipien,  die  die 
geschichtliche  Stellung  Piatos  bezeichnen  und  seine  eigen- 
tümliche Grösse  ausmachen,  nicht  vorträgt,  der  Frühzeit  des 
Plato  an,  einer  Zeit,  in  der  er  seine  eigentümlichen  Prinzipien 


';  Gorg.  50Cc. 

')  Vgl.  Gercke,  Eialeitung  zu  S  a  u  pp  e 's,  von  ihm  erneuerter, 
Ausgabe  des  „Gorgias".   1897.     S.  XXIX.  ff. 


-     38     - 

noch  nicht  gefunden  hätte.  Vielmehr  bezeichnet  der  „Gorgias", 
eines  der  vollendetsten  Werke,  die  menschlicher  Geist  jemals 
geschaffen  hat,  seiner  ganzen  Beschaffenheit  nach  in  Form 
und  Inhalt  einen  der  Höhepunkte  im  Sehaffen  Piatos  und 
gehört  der  Zeit  der  vollendeten  geistigen  Entwicklung  und 
schriftstellerischen  Meisterschaft  des  Philosophen  an-).  Am 
nächsten  möchte  man  ihn  auch  der  Zeit  der  Entstehung  nach 
an  „Phaedon"  und  „Gastmahl"  anreihen,  ihn  also  um  380—375 
etwa  entstanden  denken.  Die  nähere  Untersuchung  dieses 
Punktes  liegt  unserer  Aufgabe  fern^j. 

In  erster  Linie  muss  der  „Gorgias"  als  ein  Kunstwerk 
und  nicht  als  ein  Lehrbuch  betrachtet  werden.  Als  seine 
Abzweckung  erweist  sich  dem  aufmerksamen  Leser  die  Dar- 
stellung zweier  entgegengesetzter  Weltanschauungen  in  der 
Gestalt  konkreter  Persönlichkeiten  und  in  lebendiger  Aktion 
des  Gedankenaustausches.  Als  eine  dieser  konkreten  Ge- 
stalten tritt  uns  Sokrates  entgegen,  und  vertritt  Gesinnungen, 
die  gewiss  Piatos  volle  Zustimmung  besitzen,  ohne  dass 
darüber  die  geschichtliche  Eigentümlichkeit  des  Sokrates 
geopfert  würde. 

Man  ist  auf  die  sonderbare  Vorstellung  gekommen,  der 
„Gorgias"  wolle  eine  Art  von  Apologie  für  das  philosophische 
Studium  im  allgemeinen  und  für  das  des  Sokrates   oder  des 


I 


')  Sasemihl,  genet.  Eatwicklung  der  plat.  Phil,  Leipzig  1855 
p.  113  verlegt  die  Abfassung  des  Gorgias  in  die  Zeit  unmittelbar 
nach  dem  Tode  des  Sokrates  auf  Grund  von  Gorg.  p.  486  Ä  f;  508  C.  ff; 
p.  521  C.  f.  Lutoslawski,  the  origin  and  growth  of  Piatos  Logic. 
London  1935  p.  189  hält  den  Gorgias  für  einen  der  spätesten  Dialoge 
aus  der  sokratischen  Periode.  Schleiermacher,  Bd.  IL  L  S.  19 
ff.  verlegt  seine  Abfassung  in  etwa  das  40.  Leben&jdhr  Piatos :  des- 
gleichen Zell  er  p.  525  Äcm.  1  wegen  der  im  Gorg.  525  B.  ff 
gemachten  Unterscheidung  zwischen  heilbaren  und  unheilbaren  Sunden 
und  zeitlichen  und  ewigen  Strafen  im  Jenseits.  Ebenso  C.  Ritter, 
Plato,  München  1910  p.  449  wegen  der  ausführlichen  Unterweisung 
des  Polos  in  der  Methode  richtiger  dialektischer  Verständigung. 

^)  Wir  verweisen  für  diese  Frage    auf    die  Untersuchungen    von 
Natorp  und  auf  die  oben  genannte  Einleitung  von  Gercke. 


—     39     — 

Plato  im  besonderen  darstellen.  *)  Offenbar  ist  die  Ab- 
zweckung  des  Werkes  eine  viel  umfassendere,  und  die  Stellen, 
die  auf  den  Wert  der  philosophischen  Durchbildung  der 
Persönlichkeit  gehen,  sind  rein  episodisch  zu  deuten.  Dass 
solche  Aeusserungen  gleichwohl  einen  zeitlichen  Anlass 
haben,  etwa  den  Gegensatz  zu  einer  literarischen  Richtung 
oder  einem  vielgelesenen  Werke  kennzeichnen  können,  — 
man  könnte  dabei  etwa  auch  an  Xenophons  Memorabilien 
denken  —  i-t  damit  keineswegs  geleugnet.  Aber  es  liegt 
auch  dazu  kein  Grund  vor,  anzunehmen,  dass  der  „Gorgias" 
wie  die  „Apologie"  und  Xenophons  „Memorabilien"  etwa 
in  den  Streit  um  das  Andenken  des  Sokrates  eingreifen  sollte. 
Man  beruft  sich  dafür  auf  die  Stellen,  in  denen  von  einer 
möglichen  Anklage  gegen  Sokrates  gesprochen  wird  und  von 
seiner  völligen  Hilflosigkeit  in  einem  solchen  Falle.  Aber 
diese  Ausführungen  erweisen  sich  ohne  jeden  Zweifel  als 
gelegentliche  Folgerungen  aus  dem,  was  als  das  eigentliche 
Ziel  der  Untersuchung  den  Kern  des  Werkes  ausmacht,  und 
für  einen  Rahmen,  in  den  das  Uebrige  eingepasst  wäre, 
träte  es  schon  seiner  Ausdehnung  wegen  allzusehr  zurück. 
Eine  Verkennung  der  hohen  Ziele  Piatos  würde  es  auch 
bedeuten,  wollte  man  im  „Gorgias"  ein  ausführliches  Fiin- 
gehen  auf  minderwertige  literarische  Erscheinungen  der  Zeit 
vermuten,  um  sich  mit  kleineren  Geistern  auseinanderzusetzen. 
In  einem  anderen  seiner  grossen  Werke,  dem  „Symposion", 
hat  Plato,  wie  wir  allerdings  meinen  möchten,  das  entsprechende 
Werk  des  Xenophon  mit  dem  gleichen  Titel  vor  Augen 
gehabt.  Dabei  hätte  er  das,  was  bei  Xenophon  kleinlich 
und  dürftig  ist,  in  ein  Gedicht  von  unermesslicher  Tragweite 
an  künstlerischer  Kraft  und  Hoheit  und  an  Reichtum  der 
Gedanken  umgewandelt^).     Für  den  „Gorgias"  ist  eine  solche 


')  Vgl.  F.  S  u  .s  e  m  i  h  1,  die  genetische  Entwicklung  der  plato- 
nischen Phüosopic.     I.  1855.     S.  90ff. 

2}  K.  Fr.  H  e  r  m  a  n  n  ist  der  Ansiebt,  Xenoph.'s  „Symposion" 
sei  die  frühere  Schrift,  und  man  dürfe  dem  Xenophon  doch  wohl 
schwerlich  einen  solchen  Maugel  an  Urteilskraft  zutrauen,  wie  er  ihn 
mit  der  Abfassung    seines  Gastmahls    bewiesen    hätte,    wenn  ihm  das 


—     40     — 

Voiiuge  nicht  nachweisbar.  Xenophons  „Hiero",  der  wenigstens 
in  der  Darstellung  des  Gegensatzes  zwischen  äusserer  Herrschaft 
und  privatem  Glück  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem 
Inhalt  des  „Gorgias"  besitzt,  ist  wie  öfter  nachgewiesen  ist, 
erst  viel  später  geschrieben. 

Mit  einigen  Worten  berühren  wir  die  Ansichten  der 
Gelehrten  über  die  Zeit,  in  der  das  im  „Gorgias"  geführte 
Gespräch  als  stattgefunden  vorgestellt  werden  könnte.  Diese 
Ansichten  gehen  sehr  weit  auseinander,  und  in  der  Tat 
hat  ja  der  Gegenstand  seine  grossen  Schwierigkeiten,  sodass 
man  aus  den  Zeitbestimmungen  für  die  Ereignisse,  die  im  Dialog 
selber  erwähnt  werden,  keinerlei  Anhalt  gewinnen  kann  für  die 
Bestimmung  der  Zeit,  in  der  der  „Gorgias"  geschrieben  ist. 
Am  genauesten  und  sorgfältigsten  hat  darüber  A.  Gercke 
in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  „Gorgias"  (Berlin 
1897,  S.  XIV  ff.)  gehandelt;  an  dem  Ergebnisse  seiner 
Untersuchung  wird  man  wohl  festhalten  müssen.  Plato  hat 
offenbar  gar  keine  bestimmte  Zeit  ins  Auge  gefasst  oder 
ausdrücklich  die  Zeit,  in  der  das  Gespräch  stattgefunden 
haben  soll,  als  eine  unbestimmte  bezeichnet,  dadurch,  dass 
er  Ereignisse  aus  ganz  verschiedenen  Zeiten  heranzieht,  auf 
die  im  Dialog  Bezug  genommen  wird.  Der  ganze  Dialog 
ist  eine  Dichtung,  durch  kleine,  aber  wohlüberlegte  Mittel 
herausgehoben  aus  der  historischen  Sphäre  realer  Tatsachen 
und  des  Parteigetriebes  in  Athen.  So  Gercke,  und  dabei  wird 
man  sich  beruhigen  dürfen. 

Fest  steht,  dass  der  Dialog  nach  399,  dem  Tode  des 
Sokrates,  verfasst  sein  muss.  Schon  die  irn  Gorgias  vor- 
schauend angebrachte  Andeutung  des  Schicksals  ^),  das 
Sokrates  zuteil  werden  wird,  müsste  als  Beweis  dienen  für 
diejenigen,  die  es  überhaupt  für  möglich  halten,  dass  Plato 

gleichnamige  platonische  Werk  bereits  vorgelegen  hätte.  Gegauteiliger 
Ansicht  ist  Böckh,  De  simultate  quac  inter  Piatonom  et  Xenophontem 
intercessisse  fertur.  1812  und  in  dessen  kleinen  Schriften  Bd.  IV.  S.  ö. 
Ebenso  S  c  h  a  n  z  im  Hermes  XXI,  458.  W.Christ,  Geschichte 
der  griech.  Literatur,  4  Auü.  II.  S.  256. 

')  K.  Fr  H  e  r  m  a  n  n,  Geschichte  und  System  der  platonischen 
Philosophie  Bd.  3,  S.  476. 


—     41     — 

seinen  lioeliverelirtini  Lelirer  iiocli  bei  dessen  Lebzeiten  als 
Person  in  steinen  Dialogen  habe  auftreten  lassen,  was  wir 
allerdings  für  völlig  undenkbar  erklären.  Die  Helege  für 
die  hohe  Stnfe  der  Geistesentwicklung  des  Verfassers,  die 
uns  im  „Gorgias"  entgegentritt,  mögen  als  Beweis  für  eine 
Abfassung  1)  in  höheren  Lebensjahren  nur  eben  angedeutet 
werden.  Für  die  Jahre,  in  die  die  im  „Gorgias"  erwähnten 
Ereignisse  fallen,  verweisen  wir  auf  die  Ausführungen  von 
(jercke  1.  c.  S.  XV.  Daraus  würde  sich  eine  Bestimmung 
für  das  Jahr,  in  das  die  Abfassung  des  Dialoges  fallen  könnte, 
auf  keine  Weise  gewinnen  lassen.  Ebenso  begnügen  wir 
uns,  was  den  Ort  betritt>,  der  als  Schauplatz  des  Gespräches 
zu  gelten  hat,  auf  die  zutreffenden  Ausführungen  von  Gercke 
1.  c.  S.  XIV  hinzuweisen.  Das  Ergebnis  ist,  dass  Plato 
keinen  Wert  darauf  gelegt  hat,  den  Ort  der  Unterredung 
ausdrücklich  zu  bezeichnen,  dass  aber  wahrscheinlich  der 
Ort  eben  der  ist,  an  dem  der  Vortrag  des  Gorgias,  der  dem 
Gespräche  vorangegangen  ist,  stattgefunden,  hat,  also  etwa 
ein  Gymnasium  oder  eine  öffentliche  Säulenhalle,  aber  ganz 
sicher  nicht  das  Haus  des  Kallikles,  wie  manche  gemeint  haben. 

IV.  Die  Personen  im  „Gorgias". 

Aristoteles  unterscheidet  in  seiner  Ethik  drei  haupt- 
sächliche Lebensformen:  das  Leben  des  Genusses,  das  Leben 
in  den  Geschäften,  und  das  theoretische,  das  kontemplative 
Leben  ^).  Ein  Zweifel  daran,  dass  er  auch  in  diesem  Punkte  sich 
an  Plato  anschliesst,  wäre  unberechtigt.  Allerdings  nimmt 
Plato  im  „Gorgias"  statt  dieser  Dreiteilung  eine  Zweiteilung 
vor.  Die  beiden  Lebensformen,  die  er  unterscheidet,  sind 
das  aktive  und  das  kontemplative  Leben.  Offenbar  zieht  er 
das  Leben  des  Genusses  und  das  Leben  in  den  Geschäften 
in  eines  zusammen  unter  dem  Gesichtspunkt,  dass  beide  als 


•)  P.  N  a  t  0  r  p,  Ueber  Grundabsicht  und  Entstehungszoit  des 
platonischen  Gorgias,  Archiv  f.  Geschichte  der  PhilosopliieBd.'},  S.  2>9iS. 
Gercke    in    seinem    Vorwort    zu    Sauppei    Ausgabe    S.    XXXUI  fl'. 

«;   Eth.    Nicoui.     I,   5.    1095   b,    17.      VII,  7.  li  77  b,  30. 


—     42     — 

das  Leben  für  den  Dienst  der  äasseren  Güter  den  gemein- 
samen Gegensatz  bilden  zu  dem  wahren  Leben,  dem  Leben 
im  Dienste  der  inneren  Selbstvollendung.  Um  die  innere 
Nichtigkeit  des  blinden  Machtstrebens  so  vieler  seiner  Zeit- 
genossen und  die  tiefen  Mängel  der  politischen  Zustände 
Athens  überhaupt  darzustellen,  nimmt  er  die  Rhetorik,  die 
eine  der  herrschenden  Mächte  des  Zeitalters  war,  zur  Ziel- 
scheibe. Seine  Absicht  ist  darauf  gerichtet,  als  das  Kenn- 
zeichen des  weltlichen  Lebens  und  Treibens  die  tiefe  Knecht- 
schaft unter  Menschen,  Dingen  und  Verhältnissen  zu  erweisen, 
und  dem  gegenüber  die  Seligkeit  der  inneren  Freiheit  zu 
preisen,  deren  der  Philosoph,  der  frei  ist  von  Begierden 
nach  äusseren  Ehren  und  Genüssen  und  von  ähnlichen 
Affekten,  teilhaft  wird.  Zu  dem  Buhlen  um  die  Gunst  der 
unverständigen  Massen,  um  Macht,  Ehre  und  Reichtum  wird 
das  Streben  nach  der  Gesundheit  der  Seele  und  einem 
günstigen  Urteil  im  jenseitigen  Gericht  in  den  schärfsten 
Gegensatz  gestellt.  Am  Schlüsse  wird  als  Form  der  Dar- 
stellung der  Mythus  verwandt.  Die  hier  auftretende  Vor- 
stellung vom  jenseitigen  Gericht  sollte  man  nicht  als  Beweis 
dafür  verwenden,  dass  Plato  „orphisch-pythagoreische"  An- 
sichten selbst  geteilt  oder  dem  Sokrates  in  den  Mund  gelegt 
habe.  Wenn  wir  Rohde  glauben,  so  ist  jenen  Kultgemeinden  der 
Gedanke  einer  Vergeltung  guter  und  böser  Taten  nach  dem 
Tode  im  Jenseits  vollständig  fremd  gewesen ').  Dass  Sokrates 
selbst  solche  Ansichten  gelehrt  habe,  dafür  fehlt  es  an  jedem 
Zeugnis.  In^Yahrheit  ist  der  Mythus  und  die  ganze  Vorstellung 
vom  jenseitigen  Leben  und  jenseitigen  Gericht  eine  einfache 
Konsequenz  aus  dem  eingenommenen  ethischen  Standpunkt. 
Und  damit  ist  der  „Gorgias"  zu  betrachten  als  ein  Evangelium 
vor  dem  Evangelium,  und  sein  eigentlicher  Gehalt  lässt  sich 
mit  den  Worten  unseres  Heilandes  bezeichnen  :  ^)  „Quid  enim 
prodest  homini,  si  mundum  Universum  lucretur,  animae  vero 
suae  detrimentum    patiatur,    aut  quam   dabit  horao  commu- 


')   Vgl.  Roh  de,  Psyche  2.  Bd.  I.  p.  295. 
2j   Matthäus    XVI,  26. 


—     43     — 

tatioiuMii  pro  anima  sua"-'     „Tt.'   y^fi    w'^cX/,})/, 351011   oi^i^cjiozf.;, 
sav  Tov  x^3u.ov  oXov   xsp^T^T/),   xrjv  os  'l^/V  aotou  ^f^\xuu\ir^;  r^  -'. 

Die  entgegengesetzte,  die  auf  Betätigung  in  der  äusseren 
Welt  gerichtete  Gesinnung  wird  in  drei  verschiedenen  Ge- 
stalten dargestellt.  Die  erste  derselben  ist  Gorgias,  der 
vielgerühmte  Redner  und  Lehrer  der  Sophistik,  der  sich 
selbst  mit  Stolz  als  einen  ausgezeichneten  Rhetor  bezeichnet'). 
Gorgias  in  platonischer  Darstellung  ist  ein  Mann  von  ge- 
mässigter Haltung  und  elirbaren  Grundsätzen;  von  dem 
platonischen  Sokrates  wird  er  mit  unverkennbarer  Hochachtung 
behandelt.  Infolge  seines  ausserordentlichen  Bewandertseins 
in  Kenntnissen  auf  den  verschiedensten  Gebieten  und  seiner 
alle  überragenden  Fertigkeit  im  Reden  und  in  der  Darlegung 
seiner  Wissenschaft  fühlt  er  sich  allen  überlegen;  sein  Selbst- 
vertrauen ist  ungemessen.  ¥a'  ist  ein  Freund  wissenschaft- 
licher Untersuciiung,  und  die  Unterhaltung  mit  einem  so 
geschickten  Dialektiker  wie  Sokrates  bereitet  ihm  ganz 
besondere  Freude.  Was  er  als  von  ihm  bewiesen  anerkennen 
rauss,  gibt  er  offen  und  bereitwillig  zu,  ohne  dass  es  ihm 
Verdruss  verursacht,  im  Gespräche  überwunden  zu  sein.  Er 
hat  sich  auch  genügend  sittliches  Gefühl  bewahrt,  um  den 
Einwänden  des  Sokrates,  die  aus  der  sittlichen  Sphäre  gegen 
seinen  Preis  der  Rhetorik  vorgebracht  werden,  ihr  Recht 
zuzugestehen,  und  in  ernstem  wissenschaftlichem  Interesse 
an  der  Erforschung  der  Wahrheit  treibt  er  die  andern  aus- 
drücklich an,  dem  Sokrates  auch  ferner  Rede  zu  stehen  und 
seiner  Kunst  der  Widerlegung  im  Suchen  der  Wahrheit 
Stand  zu  halten  ^j.  Augenscheinlich  bereitet  ihm  die  Ge- 
schicklichkeit, mit  der  Sokrates  Gedanken  entwickelt,  die  den 
seinigen  ganz  entgegengesetzt  sind,  ein  hohes  Vergnügen, 
und  mit  S{)annung  wartet  er  ab,  wie  Sokrates  seine  Sache 
weiter  und  bis  zu  Ende  durchführen  wird.  Auch  dass  es 
des  Rhetors  eigentliche  Aufgabe  sei,  seine  Kunst  im  Dienste 


»)    Gorg.  449A. 
»J         n        497ß. 


-     44     — 

(los  Rechtes  und  im  Kampfe  gegen  das  Unrecht  zu  gebrauchen, 
bekennt  er  ausdrücklicli  als  seine  Ansicht  und  meint,  wenn 
diese  Kunst  niciit  zur  Verteidigung,  sondern  zum  Angriff", 
und  nicht  im  Dienste  des  Rechtes,  sondern  im  Dienste  des 
Unrechtes  verwendet  werde,  so  solle  man  denjenigen,  der 
so  die  Kunst  missbraucht,  nicht  aber  die  Kunst  selber  tadeln  ^). 
Dem  Redner  aber  schreibt  er  ausdrücklich  die  Verpflichtung 
zu,  sich  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  von  Recht  und 
Unrecht  zu  erwerben,  um  seine  Betätigung  danach  einrichten 
zu  können^;. 

Den  Eindruck  eines  geistig  weit  minder  bedeutenden 
Menschen  von  „sittlich-unsittlicher  Halbheit"  gewährt 
dagegen  der  zweite  Unterredner,  Polos  von  Akragas,  des 
Gorgias  getreuer  Schüler.  Mit  grosser  Konsequenz  an  seinem 
Prinzip  hartköpfig  festhaltend,  nimmt  er  es  auf  sich,  eine 
ganz  ähnliche  Ansicht  vom  Ziele  des  menschlichen  Strebens 
zu  vertreten,  wie  sein  weltberühmter  Meister.  Gleich  bei 
den  ersten  Worten  jedoch,  die  er  spricht,  gewinnen  wir  den 
Eindruck,  dass  zwischen  des  Polus  dreister  Entschiedenheit 
und  Gorgias  ernster  Gehaltenheit  ein  gewaltiger  Unterschied 
sich  auftut  und  erst  Polos  es  ist,  der  die  schlimmen  Konse- 
quenzen des  beiden  gemeinsamen  Standpunktes  blosslegt. 
"Wenn  Gorgias  sich  immerhin  noch  eine  ehrenhafte  Gesinuuug 
bewahrt  hat,  so  ist  dies  offenbar  nicht  den  theoretischen 
Anschauungen,  die  er  hegt  und  in  der  Welt  verbreitet,  zu 
verdanken,  sondern  der  persönlichen  Eigenart  und  abge- 
klärten Stimmung  des  bejahrten  und  geistig  regsamen  Mannes 
zuzuschreiben.  Welche  Konsequenzen  für  die  Lebensführung 
diese  auf  die  äussere  Welt  gerichtete  Anschauung  wirklich 
mit  sich  bringt,  das  zeigt  uns  dagegen  die  Gestalt  des  Polos. 
Jung  und  leidenschaftlich,  vertritt  er  seine  Ansicht,  die 
er  sich  doch  nicht  selbst  gebildet  hat,  mit  tönenden  Worten; 
er  hat  sie  fertig  übernommen  und  steckt  darin  fest  wie  in 
einem  ausgemachten    Dogma.     Diese  Ansicht    ist  nach   ihm 


')    Gorg.  457A— 157C. 
^)       „      460A-460B. 


—     45     — 

die  einzig  mögliche;  wer  eine  andere  hat,  der  ermangelt  des 
gesunden  Menschenverstandes  i).  Mit  unbedingtem  Selbst- 
vertrauen reisst  er  das  Gespräch  an  sich  und  meistert  seinen 
Meister,  der  Zugeständnisse  mache ^),  die  weder  geboten  noch 
zweckmässig  seien.  Mit  Sokrates,  das  steht  ihm  fest,  und 
mit  dessen  sophistischen  Künsten  werde  er  leichtes  Spiel 
haben ;  das  hindert  nicht,  dass  er  sich  nachher  dem  Sokrates 
gegenüber  überaus  unsicher  und  ungeschickt  erweist.  Seine 
Hiltlosigkeit,  die  in  so  schlagendem  Gegensatze  steht  zu  der 
Höhe  seines  Selbstvertrauens,  lässt  erkennen,  wie  gross  die 
Dürftigkeit  des  gesunden  Menschenverstandes  und  des  geraeinen 
Bewusstseins  ist,  avo  es  gilt,  nicht  eingelernte  Sätze  zu 
wiederholen,  sondern  den  Gegenstand  begrifflich  za  unter- 
suchen. In  der  Rolle  des  Fragenden^)  erweist  er  sich  als 
so  ungeschickt,  dass  Sokrates,  der  ihn  wegen  seines  logischen 
Unvermögens  fortgesetzt  mit  grosser  Geringschätzung,  ja 
schliesslich  mit  bitterem  Hohne  behandelt,  ihm  erst  beibringen 
muss,  wie  er  weiter  zu  fragen  habe^). 

Polos  kann  die  Gattung  nicht  von  der  Art  unterscheiden, 
die  Begriffe  Wollen  und  Belieben  nicht  auseinanderhalten: 
er  merkt  nicht,  dass  die  eine  Frage,  die  er  stellt,  vielmehr 
zwei  Fragen  enthält^;:  Hat  einer  Macht,  zu  tun  was  er  will? 
und  tut  er  was  er  will,  wenn  er  vollbringt,  was  ihm  beliebt?  Schon 
seine  ersten  Worte  zeigen,  dass  strenges,  logisches  Denken  nicht 
seine  Sache  ist ;  er  liat  sich  auf  Rhetorik  eingeübt,  der  Dialektik 
aber  ist  er  nicht  Herr  geworden.  Gefragt,  was  die  Rhetorik 
sei,  antwortet  er,  wie  beschaffen  sie  sei.  Mit  grosser 
Heftigkeit  wirft  er  dem  Sokrates,  der  den  Gorgias  abermals 
in  die  Enge  getrieben  hat,  tölpelhaftes  und  unfeines  Wesen 
vor;  er  habe  hinterhaltig  die  Frage  nach  dem  Wesen  der 
Rhetorik  auf  das  ethische  Gebiet  hinübergespielt  ^j,  wo  man 

-473  E. 


') 

Gorg. 

467  ß:  473  A- 

') 

>i 

461B-461C. 

') 

>j 

462  B. 

*) 

>5 

463  C. 

') 

?> 

466  D. 

•) 

1) 

461 B. 

—     40     — 

so  leicht  aus  Scheu  vor  der  lierrscliendcn  Ansicht  sich  ver- 
leiten liisst,  mit  seiner  wahren  Meinung  nicht  offen  lieraus- 
zukoniraen  'j.  Er  selber  ist  über  ethische  Rücksichten  und 
altväterliche  Vorurteile  weit  erhaben;  Annehmlichkeit,  Macht 
und  Ansehen  ist  das,  was  ihm  allein  wertvoll  erscheint^), 
und  nur  die  Furcht  vor  der  Strafe  ist  ihm  der  Grund, 
weshalb  man  sich  des  Bösen  zu  enthalten  hat.  Dabei  ist 
es  ein  köstliches  Schauspiel,  diesen  in  der  gemeinen  Ansicht 
belangenen  Menschen  zögernd  zugeben  zu  sehen,  was  ihn 
widerlegt;  zu  hören,  wie  er  am  entscheidenden  Punkte,  wo 
er  Sokrates  mit  Antworten  nicht  mehr  standhalten  kann, 
diesen  auffordert,  in  der  Klarlegung  des  Gegenstandes  doch 
allein  fortzufahren.  Dann  wieder  glaubt  er  diese  Wider- 
legung durch  die  Bemerkung,  ein  Kind  könne  Sokrates 
widerlegen'),  geleistet  zu  haben  mit  einem  Beispiel"*),  das  er 
anführt,  durch  die  Berufung  auf  die  herrschende  Ansicht  der 
Menschen,  durch  die  Erregung  des  Gefühles  und  dann  wieder 
durch  offenes  Auslachen^).  Das  sind  die  Mittel,  mit  denen 
er  nach  Rhetorenart  die  Gründe  des  Sokrates  entkräftet  zu 
haben  sich  einbildet;  und  schliesslich  erklärt  er  dessen  ernste 
Ueberzeugung  für  so  ungeheuerlich,  dass  er  annehmen  müsse, 
Sokrates  hege  sie  sicher  selbst  nicht,  sondern  stimme  im 
Grunde  seines  Herzens  mit  ihm,  Polos,  überein  ^). 

Indessen,  die  letzten  Konsequenzen  aus  seinem  grund- 
sätzlichen Standpunkte  zu  ziehen,  davon  hält  auch  Polos 
ein  Rest  von  sittlicher  Scheu  zurück.  Von  Sokrates  gedrängt, 
gibt  er  bei  der  Erörterung  über  die  Frage,  ob  Unrecht-Tun 
oder  Unrecht-Leiden  schlimmer  sei,  wenigstens  dies^zu,  dass 
Unrecht-Tun  etwas  für  das  Gefühl  verletzenderes  habe, 
niediiger,   unedler,    unschöner^)  (aia/;.r>v)    sei,    als    Unrecht- 


')   Gorg. 

461  C. 

')       » 

469  A. 

•)       „ 

4700. 

*)       „ 

470  D. 

6\ 
/             55 

473  E. 

•)             5, 

471-473A. 

')            „ 

476B. 

-      47     — 

Leiden.  Damit  aber  hat  ilin  Sokrates  gefangen,  und  lässt 
ihn,  an  diesem  Zugeständnisse  ihn  festhaltend  *),  nicht  eher 
los,  als  bis  er  auch  die  letzten  Konsequenzen,  die  Sokrates 
daraus  zieht,  zugibt. 

Nun  aber    tritt  Kallikles    als    dritter  Unter  red  ner  in 
das  Gespräch  ein,  und   jetzt    erst    enthüllen    sich    die    zer- 
störenden Folgen,  die  eine  weltliche  Gesinnung,    wo  sie  un- 
eingeschränkt   waltet,    nach    sich     ziehen    rauss,     in    ihrer 
ganzen   Schroffheit  und    Hässlichkeit.      Kallikles  verschmäht 
es,  seine  Ansichten    mit    einem    schönen,    das  Gefühl    nicht 
verletzenden  Gewände    zu    bekleiden.     Mit    edlen    Gefühlen 
schön  zu  tun  und  sich  dem  Urteil  der  Menschen  zu  beugen, 
erscheint  ihm  als  feige  Schwäche.     So  spricht  er    seine  An- 
sicht mit  rücksichtsloser  Aufrichtigkeit  aus,    die  auf  diesem 
(Jebiete  geradezu  das  Gepräge  schamloser  Frechheit  annimmt. 
Nach  seiner  allerdings    sehr    einfachen    und    durchsichtigen 
Anschauung    ist    der   Zweck    des    Menschenlebens    der,    zu 
geniossen,  so  viel  und  so  intensiv    wie    möglich-};   Befriedi- 
gung der  Begierden  und  Gelüste,   der  niedrigsten    wie    der 
höheren,  ist  das  Gebotene.     Zu    solcher    Befriedigung    aber 
bedarf  man  der  Macht    über    die  Menschen    und    über    die 
Dinge,  und  damit  wird  Macht  zu  erwerben     als  Mittel    zur 
Befriedigung    der   Begierden    zur    ersten  Aufgabe    des    ver- 
nünftigen Menschen.     Durch  welche  Mittel   diese  Macht  er- 
worben wird,  ist  gleichgültig,  wenn  sie  nur  zum  Ziele  führen; 
wer  aber  die  erlangte  Macht  anders  benutzen  wollte    als  zu 
seiner  persönlichen  Befriedigung,  der  wäre  ein  Tor^).     Denn 
etwas  Heiliges,    Göttliches    anzunehmen,    ist    verkehrt.     Es 
gibt    keine  sittliche  Forderung,  die  man    zu    achten    hätte; 
es  gibt  auch  kein  anderes  Eecht  als  das  Recht  der  Stärke*). 
Von  Natur  ist  Jeglichem  Jegliches  gestattet,    wenn    er   nur 
die  Macht,  es  zu  vollbringen,  besitzt^);  der  Schwächere  aber 


')  Gorg.  iliV  —  ilbE:   475  B. 

2)  „  491  E;  4Ü--' A:  494  C. 

3)  „  491  E. 
*)  „  483  D. 
•)   „  492  C. 


—     48     — 

hat  keinen  Anspruch  auf  zarte  Schonung,  wo  er  den  Gelüsten 
des  Stärkeren  im  Wege  steht.  Der  höhere  Mensch  erweist 
sich  gerade  dadurch  als  charaktervoll  und  vernünftig,  dass 
er  den  Schwächeren  unbarmherzig  zertritt,  wo  es  seinen 
eigenen  Nutzen  gilt.  Die  unter  den  Menschen  geläufigen 
Vorstellungen  von  Gerechtem  und  Ungerechtem  und  die 
denselben  entsprechenden  Gesetze  und  Einrichtungen  im 
Staate  sind  lauter  willkürliche  Erfindungen^)  und  listige 
Auskunftsmittel  der  Niedrigen  und  Schwachen,  um  die  Edlen 
und  Starken  auf  künstliche  Weise  wider  das  Gesetz  der 
Natur  einzuschränken  und  zu  bändigen^).  Der  starke  Geist 
kümmert  sich  nicht  um  solche  willkürlich  aufgerichteten 
Schranken  und  ist  erhaben  über  die  Vorurteile  der  Masse. 
Macht  will  er  erlangen,  um  zu  geniessen;  jedes  Gut,  das 
der  Schwächere  besitzt^),  gehört  von  Rechts  wegen  ihm. 
Darum  wendet  er  sich  der  politischen  Tätigkeit  zu,  widmet 
sein  Leben  praktischen  Aufgaben  und  hat  für  die  Hingabe 
an  ideelle  Interessen  nur  Hohn  und  Verachtung*).  Für  junge 
Leute  mag  es  ja  ganz  angebracht  sein,  eine  Zeit  lang  sich 
dem  Studium  der  Wissenschaften,  der  Geistesbildung  über- 
haupt zu  widmen;  allein  wenn  ältere  Männer  in  derjzleichen 
unnützen  Spielereien  ihre  Kraft  und  ihre  Zeit  zu  vergeuden 
fortfahren,  so  ist  das  für  den  Einsichtigen  ein  Gegenstand 
des  Vorwurfs  und  des  Mitleids-^).  Ein  Tyrann  zu  sein,  seine 
Begierden  so  gross  als  möglich  werden  zu  lassen^),  nach 
Belieben  andere  schädigen  und  vernichten  zu  können,  ohne 
dass  man  dafür  Vergeltung  zu  fürchten  braucht,  das  ist 
das  seligste  Ziel  eines  würdig  zugebrachten  edlen  und  treff- 
lichen Lebens''). 


')  Gorg. 

483  C:  492  A. 

=")      „ 

484  A. 

«)       „ 

484  C. 

*)      „ 

485  A. 

»)      „ 

485  B. 

•)       ,, 

491  E. 

')      » 

492A-492  C. 

1 


—     49     — 

Diese  Ansichten  wurzeln  nicht  in  blosser  Laune  und 
Stimmung,  sondern  sie  sind  vielmehr  eine  wohl  befestigte 
Theorie,  die  ihre  Begründung  in  der  Erkenntnis  hat,  dass 
der  Mensch  als  blosses  Sinnenwesen  von  sinnlichen  An- 
trieben regiert  sei  wie  die  Tiere,  und  seine  Intelligenz  ihm 
nur  zur  besseren  Befriedigung  seiner  sinnlichen  Begierden 
verliehen  sei.  Daher  ist  Kaliikles  in  seinen  Ansichten 
auch  völlig  befestigt  und  unerschütterlich.  Des  Sokrates 
entgegengesetzte  Ansicht  —  so  glaubt  er  —  könne  unmög- 
lich im  Ernste  gemeint  sein'j.  Wo  er  jedoch  durch  des 
Sokrates  Beweisgang  in  Bedrängnis  gerät^),  beschwert  er 
sich,  dass  dieser  eine  kindische  Freude  an  dem  kleinsten 
scheinbaren  Zugeständnis  habe,  und  mit  Beispielen,  die  von 
den  niedersten  Sphären  hergenommen  seien ^),  den  Gegner 
zu  fangen  suche;  dass  er  Unverständliches  rede,  um  den 
andern  zu  überlisten  und  zu  übertölpeln  und  um  selbst  um 
jeden  Preis  Recht  zu  behalten*).  Nur  mit  Widerwillen  lässt 
er  sich  um  der  andern  willen,  die  gern  die  Erörterung  der 
Streitfrage  bis  zu  Ende  mit  anhören  möchten,  dazu  bestimmen, 
die  Unterredung  fortzusetzen  und  dem  Unsinn,  den  Sokrates 
vorträgt,  weiter  sein  Ohr  zu  leihen^).  In  seiner  Ansicht 
ist  er  durch  keinen  noch  so  schlagenden  Beweisgrund^  zu 
beirren;  denn  er  weiss  es  besser,  und  für  die  tiefsinnigsten 
Ausführungen  seines  Gegners  hat  er  nur  ein  überlegenes 
Lächeln.  Das  alles  stimmt  ja  gar  nicht  zur  Wirklichkeit, 
meint  er,  und  die  Gesichtspunkte  des  Sokrates  seien  voll- 
kommen weltfremd ;  weder  handeln  die  Menschen  so,  noch 
denken  sie  so^).  Hierbei  kommt  dann  schliesslich  der  tiefste 
Grund,  in  dem  die  ganze  Anschauung  des  Kaliikles  wurzelt, 
zum  Vorschein:  das  Angenehme  und  das  Gute  sind  eines 
und  dasselbe;  Wissenschaft  dagegen  und  Willensstärke  sind 


')  Gorg. 

481  B. 

'J      ,, 

489  C. 

')      „ 

494  E. 

*)   „ 

497  B. 

»)   „ 

501  C:  505 

')      „ 

511  A. 

—     50     — 

verschieden  uod  haben  weder  miteinander  noch  mit  dem 
Guten  irgend  welche  Geracinschal't^).  Zuletzt  aber  gerät 
Kallikles  dem  Gedankengange  des  Sokrates  gegenüber  doch 
in  ein  gewisses  Schwanken  und  Zweifeln^),  und  nun  behilft 
er  sich,  kleinlaut  geworden,  mit  der  Ausrede,  er  mache  seine 
Zugeständnisse  lediglich  dem  Sokrates  zu  Gefallen  und  um 
der  lästigen  Sache  ein  P^nde  zu  bereiten.  Dann  aber  sich 
wieder  fassend  verbirgt  er  seine  wachsende  Verlegenheit 
hinter  trotziger  Verstocktheit  und  höhnischem  Lachen. 

Vergebene  Mühe,  einen  Kallikles  zu  belehren  oder 
zu  bekehren!  Diese  Art,  die  ihren  Standpunkt  jenseits  von 
Gut  und  Böse  nimmt,  war  vor  2(100  Jahren  ebenso  unver- 
besserlich wie  sie  es  heute  noch  ist,  weil  ihr  der  sittliche 
Ernst,  die  Fähigkeit  des  Erkennens  der  wahren  Bestimmung 
des  Menschen  und  des  ausser  aller  Sinnlichkeit  gelegenen 
absoluten   Seins  abgeht. 

Die  Meisterschaft,  die  sich  in  der  Zeichnung  dieser 
drei  Gestalten,  in  dem  humoristischen  Behagen  wie  in  der 
satirischen  Schärfe  oftenbart,  mit  der  diese  Klimax  aufge- 
baut ist,  bleibt  tür  alle  Zeiten  bewundernswert.  Doch  erst 
in  der  Schilderung  des  Sokrates,  des  eigentlichen  Helden 
dieses  Dramas,  entfaltet  der  platonische  Genius  seine  ganze 
Grösse.  Sokrates  trägt  im  „Gorgias"  besondere  Züge,  welche 
in  andern  Dialogen  nicht  so  hervortreten  oder  ihm  abgehen, 
so  viel  Gemeinsames  auch  in  der  Gestalt  des  Sokrates,  wo 
er  in  den  platonischen  Dialogen  das  Wort  führt,  immer 
wiederkehrt.  Ueberall  ist  er  der  Meister  der  Dialektik,  der 
die  schwachen  Stellen  in  den  Ausführungen  der  Gegner 
schnell  und  sicher  erfasst  und  diese  mit  einfachen,  unschein- 
baren Wendungen  in  die  Enge  treibt.  Ueberall  macht  er 
seine  Deduktionen  mit  unzerstörbarer  Heiterkeit  des  Gemütes, 
welche  auch  die  Gegner  versöhnt;  seine  leichte  Ironie,  seine 
Gutmütigkeit,  Freundlichkeit  und  seine  verbindlichen  Formen 
lassen    bei     ihnen    das    Getühl    des    Verletztseins    garnicht 


')  Gorg.  495  D. 
«)       „      513  C. 


—     51     — 

aufkommen.  Obwohl  ihm  seine  eigenen  üeberzeugungen 
fest  und  heilig  sind,  bleibt  er  doch  meistens  duldsam  und 
nachsichtig  gegen  die  Irrtümer  der  anderen,  die  er  nicht 
sowohl  belehren,  als  vielmehr  zu  Mitwirkenden  bei  der 
ernsten  Arbeit  der  Untersuchung  heranziehen  zu  wollen  vor- 
gibt. 

So  tritt  uns  Sukrates  im  „Gorgias"  entgegen;  doch  hier 
nimmt  sein  Wesen  noch  eine  besondere  Färbung  an.  Stolzes 
Selbstbewusstsein  M  ist  an  Stelle  seiner  sonstigen  Bescheidenheit 
und  vorgeschützten  Unsicherheit  getreten;  nur  einmal  findet 
sich  eine  derartige  Aeusserung^),  wie  man  sie  sonst  so  oft 
von  ihm  vernimmt,  das  Bekenntnis  seines  Nichtwissens. 
Seine  Haltung  ist  durch  die  Art  der  Gegner  bestimmt,  vor 
denen  er  mit  ausserordentlich  geringem  Respekt  erfüllt  ist. 
Den  „Gorgias"  behandelt  er  zwar  noch  mit  sichtbarer  Hoch- 
achtung und  unter  Vermeidung  alles  Verletzenden;  er  ehrt 
sein  Alter  und  seine  Mässigung,  so  geringwertig  ihm  auch 
das  Handwerk  erscheint,  das  „Gorgias"  betreibt,  und  die 
Gesinnung,  in  der  er  es  betreibt.  Ihm  gegenüber  nimmt 
er  auch  den  Anlauf  zu  wirklicher  Untersuchung,  und  wo  er 
Bemerkungen  ausspricht  zur  Methodik  der  Forschung,  gibt 
er  ihnen  nicht  die  Form  einer  Belehrung  oder  gar  einer  Zurecht- 
weisung seines  Mitunterredners,  sondern  einer  Rechtfertigung 
seines  eigenen  Verfahrens  ^).  Zwar  sind  die  Gründe,  deren 
er  sich  bedient,  nicht  eben  tief,  und  die  Gedanken,  die  er 
ausspricht,  bleiben  äusserlich.  Sichtbariich  aber  ist  es  die 
Rücksichtnahme  auf  die  Art  des  Gegners,  die  seine  in  den 
anderen  Unterredungen  zu  Tage  tretende  gute  Laune  hier 
unterdrückt. 

Ganz  anders  aber  gestaltet  sich  des  Sokrates  Ver- 
halten zu  Polos  und  gar  zu  Kallikles.  Beide  sind  ihm 
ärgerlich,  ja  er  behandelt  sie  mit  offensichtlicher  Nicht- 
achtung   wegen    ihres    logischen    und    dialektischen    Unver- 


»)  Gorg.  427A;  482A:  521D. 

»)       „      461A  f.  vgl.  sonst  509A. 

»)      „      453CD. 


—     52      - 

mögens*),  so  sehr  er  sich  aucli  znsammenniramt,  um  die 
Unterredung  mit  ihnen  zu  Ende  zu  führen,  damit  diese  Art 
von  niedriger  Gesinnung  nicht  unwidersprochen  bleibe. 
Sckrates  ist  offenbar  gereizt  durch  des  Polos  dreistes  Selbst- 
vertrauen und  des  Kallikles  frivole,  mit  eiserner  Stirn 
schamlos  vorgetragene  Gesinnungen.  So  kommen  im  „Gorgias" 
alle  die  liebenswürdigen  Züge,  die  Sokrates  sonst  im  Disput 
zu  tragen  pflegt,  wohl  irgendwie  zum  Vorschein,  doch  sind 
sie  getrübt  und  verdunkelt;  ja  er  verleugnet  seine  gewöhnliche 
Gutmütigkeit  und  Freundlichkeit,  indem  er  sich  offenen 
Hohnes  und  verletzender  Schärfe  gegen  seine  Gegner  bedient. 
„So  widerlege  mich  dochl"  herrscht  er  wiederholt  den 
anmassenden  Polos  an.  „Ich  führe  meinen  Beweis  in  Be- 
griffen, und  du  lachst!^)  Soll  das  eine.  Widerlegung  sein? 
Du  berufst  dich  auf  die  Meinung  der  Leute,  du  führst  ein 
Beispiel  an:  meinst  Du  damit  die  Sache  auszumachen?"  Viel 
matter,  viel  weniger  heiter  als  sonst  klingt  es,  wenn  Sokrates 
auch  hier  den  Anschein  erwecken  will,  als  erwarte  er  von 
dem  anderen  Belehrung,  und  weit  geringer  ist  die  Bescheidenheit, 
mit  der  er  sich  auf  sein  angebliches  Nichtwissen  zurückzieht. 
Ueberall  merkt  man  ihm  den  Unwillen,  die  Verachtuug  an'), 
die  er  den  Gegnern  selbst,  und  die  er  ihren  Ansichten 
entgegenbringt;  ja, unverhohlener, höhnischer Sarkasmus  spricht 
sich  in  den  an  Kallikles  gerichteten  Worten  aus,  mit  denen 
er  ihm  für  die  Freundschaft  dankt,  durch  die  jener  ihn  von 
seinen  Irrtümern  zu  befreien  gedenke,  und  ihn  bittet,  darin 
doch  ja  nicht  abzulassen.  Im  „Gorgias"  ist  dem  Sokrates 
das  niedrigste  Beispiel  zur  Widerlegung  seiner  Gegner  nicht 
zu  niedrig*),  und  so  droht  die  Diskussion  zwischen  ihm  und 
Kallikles  nicht  ganz  ohne  Verschulden  des  Sokrates  zuweilen 
in  persönliche  Invektiven  auszuarten^;.  Sokrates  will  es 
offenbar  garnicht  vermeiden,  diese  unwürdigen  oder  unfeinen 


')  Gorg. 

462C;463C;465C 

')       » 

473E. 

')       » 

497. 

*)       ,, 

494C  E. 

•)       » 

495D. 

—     53     — 

Gegner  zu  verletzen;  so  wenig  entspricht  seine  Kampfesweise 
im  „Gorgias"  der  milden,  freundlichen  und  duldsamen  Art, 
mit  der  der  platonische  Sokrates  sonst  von  seiner  Ueber- 
legenheit  Gebrauch  macht,  um  die  Gegner  zu  überführen 
und  zu  belehren.  Im  „Gorgias"  sucht  er  gerade  die  schärfste 
Zuspitzung  des  Gedankens,  wählt  ausdrücklich  die  ausge- 
sprochenste Paradoxio,  um  die  seine  Geringschätzung  heraus- 
fordernde niedrige  Gesinnung  und  Anschauung  seiner  Gegner 
in  ihrer  ganzen  ünwünligkeit  nud  Verderblichkeit  blosszu- 
stellen.  Die  dramatische  Vorführung  dieser  Personen  aus 
zwei  verschiedenen  Lagern  ist  für  den  Dialog  „Gorgias" 
charakteristisch.     Von  dort  aus  will  er  verstanden  sein. 


V.  Der  Beweisgang"  im  „Gorgias". 

Die  Aufgabe  dieser  Abhandlung  ist  nicht,  über  Plato 
zu  philosophieren,  sondern  mit  Plato  zu  philosophieren. 
Es  gilt,  sich  in  ein  bestimmtes  Werk  Piatos  zu  vertiefen 
und  seinen  Gehalt  möglichst  ungetrübt  herauszuheben. 
Dieses  Werk,  den  Dialog  „Gorgias",  wollen  wir  unter  Ab- 
sehen von  jedem  vorgefassten  Urteil  und  ohne  andere  plato- 
nische Werke  oder  geläufige  Ansichten  über  Piatos  Lehre 
heranzuziehen,  nur  aus  sich  selbst  verstehen  ;  denn  wir  sind 
überzeugt,  dass  Piatos  Dialoge  jeder  für  sich  geschlossene 
Kunstwerke  sind,  die  jedes  aus-sich  selbst  verstanden  werden 
müssen,  wenn  man  sich  vor  Missverständnis  und  vor  der 
Verkennung  der  Absichten  Piatos  bewahren  will.  Erst  nach- 
dem man  so  das  Werk  aus  sich  selbst  verstanden  hat,  ist 
es  gestattet  und  geraten,  andere  platonische  Werke  und 
deren  Inhalt  zur  Vergleichung  und  Erläuterung  heranzu- 
ziehen, um  die  Stelle  des  ins  Auge  gefassten  Werkes  inner- 
halb der  Gesamtheit  der  platonischen  Schriften  verstehen 
und  würdigen  zu  können. 

Ein  zweites  Erfordernis  ist  dies:  Wer  ernsthaft  die  Auf- 
gabe verfolgt,  den  Philosophen  zu  v-erstehen,  der  darf  keine 
eigenen  Gedanken  über  den  von  dem  Philosophen  behandelten 
Gegenstand  haben,  und  wenn  er,  wie  es   wohl  meistens   der 


-     54     — 

Fall  sein  wird,  eigene  (jcdankeii  darüber  hat,  so  miiss  er 
tun  als  hätte  er  sie  nicht,  um  sich  von  dem  Philosophen 
einfach  darüber  belehren  zu  lassen.  Manche  unter  denen, 
die  über  Piatos  „Gorgias'*  geschrieben  haben,  hielten  es  für 
geboten,  die  von  Plato  geäusserten  Ansichten  mit  denen, 
die  sie  selbst  haben,  zu  vergleichen,  und  festzustellen,  wo 
Piatos  Ansicliten  von  den  ihrigen  abweichen.  Da  nun  die 
Ansichten  dieser  Kritiker  nach  ihrer  Meinung  unzweifelhaft 
riciitig  sind,  so  sind  die  abweichenden  Ansichten  Piatos 
ebenso  unzweifelhaft  falsch,  und  es  ist  dann  ein  besonderes 
Verdienst  des  Platoforschers.  alle  die  falschen  Schlüsse  und 
die  verkehrten  Behauptungen,  die  ihm  bei  Plato  entgegen- 
treten, aufzuzeigen  und  der  Wahrheit  zu  ihrem  so  lange 
verkannten  Rechte  zu  verhelfen.  —  Wir  halten  diese  ganze 
Stellung  Plato  gegenüber  für  prinzipiell  falsch.  Zunächst 
weil  es  sich  doch  um  die  historische  Frage  handelt,  was 
Plato  wirklich  gelehrt  hat,  und  es  dafür  völlig  gleichgültig 
ist,  wie  der  Kritiker  über  den  Gegenstand  denkt.  Sodann 
aber  auch  deshalb,  weil  die  Vermutung  immer  eher  die  ist, 
dass  Plato  mit  seiner  Ansicht  wohl  im  Rechte  sein  wird 
und  sein  Kritiker  mit  der  abweichenden  Ansicht  im  Unrecht. 
Wir  suchen  also  nur  unter  Beiseitelassen  jeglicher  Kritik 
Plato  zu  verstehen.  Dass  wir  zum  Scliluss  unserer  Be- 
wunderung für  den  grossen  Denker  und  Menschendarsteller 
Ausdruck  verleihen,  wolle  man  uns  freundlich  ;i.gute 
halten,  zumal  da  unsere  religiösen  üeberzeugungen  uiid 
unsere  sittlichen  Ideale  bei  Plato  eine  kräftige  Unterstützung 
finden. 

Die  eigentliche  philosophische  Arbeit  auf  diesem  Gebiete 
bedeutet  also  doch,  dass  man  den  Denker  versteht  und  seine 
Intentionen  richtig  heraushebt.  Im  „Gorgias"  beruft  sich 
Plato  nicht  auf  oberste  philosophische  Prinzipien.  Dass 
diese  im  Hintergrunde  stehen  und  auch  hier  Piatos  Ueber- 
zeugung  aufs  tiefste  bestimmen,  ist  selbstverständlich.  Da 
aber  Plato  im  „Gorgias"  sich  nicht  ausdrücklich  auf  diese 
Prinzipien  beruft,  so  wird  nur  der  den  Philosophen  philo- 
sophisch behandeln,  der  bei  der  Besprechung  des  „Gorgias" 


-    hh    - 

die  philosophische  Prinzipienlehre  bei  Seite  zu  lassen  ver- 
mag. In  einem  platonischen  Dialog  tritt  uns  eine  Menge 
von  Einzelheiten  entgegen.  Zusammen  bilden  sie  ein 
organisches  Ganzes ;  unter  einander  sind  sie  von  abgestuftem 
Werte.  Eines  ist  der  Hauptgedanke;  ihm  dient  alles  andere. 
Unter  ihm  stehen  Ausführungen,  die  mit  dem  Hauptgedanken 
in  engerer  Verbindung  stehen,  und  solche,  die  vermittelnd 
auf  ihn  hinleiten.  Es  kommen  dazu  mehr  episodische 
Gedankengänge,  die  zur  Bereicherung  und  zum  Schmucke 
dienen  und  das  sinkende  Interesse  immer  \vieder  neu  an- 
fachen; darunter  sind  auch  solche,  die  bei  guter  Gelegen- 
heit anzubringen  und  einzuschärfen  dem  Verfasser  besonders 
am  Herzen  lag,  und  andere,  die  nur  nebensächliche  Be- 
deutung in  Anspruch  nehmen.  Alles  das  steht  wirklich 
da,  und  so  finden  sich  unzweifelhafte  Belegstellen  für  die 
verschiedensten  Auffassungen.  Die  richtige  Auffassung  er- 
gibt sich  also  nicht  von  selbst.  In  dieser  Mannigfaltigkeit 
den  springenden  Punkt,  das  eine,  alles  beherrschende  Interesse 
zu  ergreifen,  in  der  reichen  Komposition  die  Teile  nach 
dem  Gewichte  abzuwägen,  das  sie  im  Sinne  des  Urhebers 
haben  sollten,  das  ist  schwer;  aber  es  ist  Sache  der  Intuition 
mehr  als  eines  umständlichen  Beweisverfahrens.  Wir  wagen 
uns  an  die  Aufgabe  deshalb  heran,  weil  wir  meinen,  in  den 
Behandhingen  des  „Gorgias",  die  uns  bekannt  geworden 
sind,  eine  in  aller  Weise  genügende  Auffassung  des  Ganzen 
und  der  Teile  noch  nicht  gefunden  zu  haben.  Und  so 
liaben  wir  für  den  von  uns  erneuerten  Versuch,  dem  „Gorgias" 
gerecht  zu  werden,  um  eine  freundliche  Autnahme  zu  bitten 
auch  da,  wo  m  n  unsere  Auffassung  nicht  für  die  richtige 
hält. 

Den  Anfang  des  Dialogs  bildet  nach  den  Eingangs- 
worten, die  nur  die  Veranlassung  für  das  Gespräch  bezeichnen, 
die  Frage  nach  der  Rhetorik,  ihrem  Wesen  und  ihrer  Be- 
rechtigung. Darüber  erlauben  wir  uns  noch  einige  einleitende 
Worte.  Im  Dialog  selber  handelt  es  sich  der  Hauptsache 
nach  um  das  Problem  der  rechten  Lebensführung;  dafür 
wird  im  Anfang  das  theoretische  Verhalten  ins  Auge  gefasst, 


—     5(5     — 

sofern  in  diesem  die  Auffassung  über  die  im  praktischen 
Leben  anzustrebenden  Ziele  wurzeln.  Die  Rhetorik,  zu  Piatos 
Zeit  von  grösster  Bedeutung  für  politisches  und  privates 
Leben,  steht  im  Gegensätze  zu  eigentlicher  Wissenschaft 
und  dem  Streben  nach  reiner  Erkenntnis.  Wir  würden 
heute  an  ihrer  Stelle  die  populär  wissenschaftliche  Literatur 
nenuen,  die  durch  oberflächliches  und  äusserliches  Wesen, 
dur^h  den  Glanz  der  sprachlichen  Darstellung  und  die  auf 
die  Instinkte  der  Masse  berechnete  Trivialität  der  Gedanken 
und  Gesinnungen  sich  ein  grosses  Publikum  zu  gewinnen 
weiss.  An  die  damalige  Bedeutung  der  Rhetorik  muss  man 
sich  erinnern,  um  Piatos  Polemik  zu  würdigen.  Im  da- 
maligen Hellas  verschaffte  die  Redekunst  auch  politische 
Macht,  hohe  Stellung  und  Ansehen.  Die  Lehrer  der  Rede- 
kunst nahmen  an  diesen  Erfolgen  Teil  und  leiteten  ihre 
Jünger  dazu  an,  sich  solche  Erfolge  zu  gewinnen,  nicht 
durch  wirkliche  wissenschaftliche  Einsicht,  sondern  durch 
ein  die  urteilslosen  Massen  blendendes  Scheinwissen.  Plato 
kommt  in  seiner  Bekämpfung  dieser  Pupularphilosophen,  zu 
der  er  sich  gezwungen  sieht  durch  die  Macht,  die  sie  über 
die  Gemüter  üben,  und  durch  die  von  ihnen  gepflegte  Ab- 
wendung von  aller  strengen  methodischen  Wissenschaft, 
immer  wieder  darauf  zurück,  dass  diese  glänzenden  Meister 
der  Rhetorik  von  den  Elementen  einer  logischen  Methode 
keine  entfernte  Ahnung  haben  und  einem  Meister  der  Dia- 
lektik, wie  es  Sokrates  ist,  wehrlos  preisgegeben  sind.  Dabei 
darf  man  nicht  glauben,  dass  die  Argumente,  mit  denen 
Sokrates  als  der  Typus  des  wissenschaftlichen  Charakters 
die  Sophisten  bekämpft,  alle  ernsthaft  gemeint  und  von 
Plato  als  wertvoll  und  überzeugend  hingestellt  sind.  Ganz 
im  Gegenteil.  Gerade,  dass  diese  sophistischen  Rhetoriker 
selbst  den  leichtest  wiegenden  Scheingründen  unterliegen 
und  sich  Einwendungen  gegenüber,  die  keineswegs  für  den 
ernsten  Denker  zwingend  erscheinen,  nicht  zu  helfen  wissen, 
gerade  dies  beweist  handgreiflich,  wie  dürftig  bestellt  es 
um  diese  stolze  Populärphilosophie  ist,  die  so  hohen  Ruhmes 
geniesst,  und  dass  man    zu    ernster,    strenger    Wissenschaft 


-     57     — 

seine  Zuflucht  nehmen  muss,  wenn  man  mit  Gott  und 
Menschen  in  heilsamen  Anschauungen  übereinstimmend 
Frieden  der  Seele  und  äusseres  Glück  an  die  Fahne  be- 
festigen will,  der  man  dient. 

So  tritt  uns  gleich  zu  Anfang  Polos  entgegen,  der 
geistreiche,  in  tönenden  Worten  sprechende  Sciiüler  des 
Gorgias,  der  die  Kunst  der  Lebensführung  aus  der  Erfahrung 
ableitet.  Die  Höhe  seines  logischen  Vermögens  ist  daran 
zu  ermessen,  dass  er  ernsthaft  meint,  die  Frage  nach  dem 
Was  des  Gegenstandes  mit  einer  Aussage  über  die  Be- 
schaffenheit des  Gegenstandes  beantwortet  zu  haben  (p.  448). 
Gorgias  aber,  das  berühmte  Vorbild  und  Muster  der  Rede- 
kunst und  ihr  gesuchtester  Lehrer,  der  nun  an  Polos  Stelle 
in  die  Unterredung  eintritt,  ist  als  Logiker  kaum  besser. 
Er  zeigt  sich  selbst  so  unklar  über  sein  eigenes  Fach,  dass 
er,  über  das  Wesen  der  Redekunst  befragt,  nur  anzugeben 
weiss,  dass  diese  Kunst  alle  ihre  Funktionen  durch  Reden 
vollziehe,  und  damit  die  Sache  erschöpft  zu  haben  glaubt 
(p.  450  b).  Weiter  aufgefordert  zu  sagen,  von  welchen 
Gegenständen  denn  die  Reden  handeln,  zu  denen  die  Rede- 
kunst gehört,  weiss  er  nur  zu  erwidern,  es  seien  die  be- 
deutsamsten und  vornehmsten  Gegenstände  im  menschlichen 
Leben.  Und  als  er  auch  noch  angeben  soll,  welche  denn 
diese  bedeutsamsten  und  vornehmsten  Dinge  seien,  begnügt 
er  sich  mit  der  Auskunft,  es  gelte  für  jeden  Menschen. 
Freiheit  für  sich  und  Herrschaft  über  andere,  und  das  werde 
erlangt  durch  die  Kunst  der  Ueberredung  in  Gericht  und 
Volksversammlung.  Diesen  unbestimmten  Angaben  gegen- 
über betont  Sokrates,  dass  es  ihm  auf  wirkliche  Erkenntnis 
ankomme,  und  dass  er  dazu  wissenschaftliche  Strenge  in 
begrifflicher  Erörterung  für  erforderlich  halte  (p.  454.  458). 
Durch  Sokrates  gedrängt  gibt  dann  Gorgias  weiter  an,  es 
handle  sich  in  der  Redekunst  um  die  Fragen  über  Recht 
und  Unrecht,  und  ihr  Ziel  sei  nicht,  wissenschaftliche  Er- 
kenntnis zu  erwecken,  sondern  bloss  zur  Annahme  einer 
Meinung  zu  überreden,  und  dazu  bedürfe  es  keiner  Sach- 
kenntnis.    Gorgias  ist  naiv  genug,    gerade  darin    den  hohen 


-     58     - 

Wert  der  Redekunst  zn  finden,  dass  sie  die  Kunst  sei,  auf 
allen  Gebieten  andere  zu  überreden,  ohne  auf  irgend  einem 
Gebiete  sachverständig  zu  sein.  Aber  allerdings,  fügt  er 
gutmeinend  hinzu,  man  dürfe  diese  Kunst  ebensowenig  miss- 
brauchen wie  sonst  irgend  eine  Art  von  Ueberlegeuheit;  wer 
das  persönliche  Uebergewicht  missbrauche,  sei  zu  ver- 
urteilen, aber  nicht  die  Kunst,  die  ihm  das  Uebergewicht 
verliehen,  noch  der  Lehrer  der  ihm  die  Kunst  über- 
liefert habe.  An  dieses  Zugeständnis  nun  knüpft  Sokrates 
geschickt  an  (p.  459)  und  gewinnt  Gorgias  das  weitere 
Zugeständnis  ab,  dass  zur  Ausbildung  in  der  Redekunst 
auch  die  Kenntnis  davon  gehöre,  was  recht  und  unrecht, 
schimpflich  und  löblich,  gut  und  böse  ist.  (p.  460). 
und  nun  schliesst  er  weiter:  Wer  das  Baufach  kennt, 
ist  ein  Baukundiger;  wer  die  Musik,  ein  Musiker; 
wer  die  Medizin,  ein  Heilverständiger;  also  ist,  wer  das 
Recht  kennt,  ein  Gerechter,  und  da  der  Gerechte  gerecht 
handelt,  der  Redekundige  aber  das  Recht  kennt  und  mithin 
ein  Gerechter  ist,  so  wird  der  Redekundige  kein  Unrecht 
tun.  Wenn  also  Gorgias  vorher  von  dem  ungerechten  Miss- 
brauch der  Redekunst  als  einer  Möglichkeit  sprach,  so  hat 
er  sich  in  einen  offenbaren  Widerspruch  verwickelt  (p.  461). 
Die  Argumentation  ist  schlau  auf  des  Sophisten  logische 
Unbeholfenheit  berechnet.  Aber  selbst  einem  Fangschluss, 
wie  dieser,  dessen  Kunstgriff  so  augenscheinlich  ist,  weiss 
ein  Mann  wie  Gorgias  sich  nicht  zu  entziehen!  Damit  ist 
in  Gorgias  die  ganze  Populär-  und  Feuilletonphilosophie 
gekennzeichnet  und  abgetan. 

Da  tritt  nun  Polos,  der  Grossrednerische  und  Zuver- 
sichtliche, der  jugendlich  Hitzige,  zornerfüllt  auf  den  Plan 
und  hält  Sokrates  sein  unfeines  und  heimtückisches  Benehmen 
vor  (p.  461).  Weil  es  so  nahe  liegt,  dass  man  Anstand 
nimmt,  ohne  weiteres  zu  sagen,  Redekunst  sei  gegen  Recht 
und  Unrecht  indifferent,  habe  Sokrates  damit  Gorgias  perfide 
aufs  Glatteis  gelockt.  Und  nun  fragt  er  Sokrates,  wofür 
denn  dieser  die  Redekunst  halte.  Sokrates  erwidert  recht 
unhöflich,    eine    Kunst    (tixvrj)    sei    sie    seiner  Ansicht  nach 


-     59     — 

überhaupt  nicht,  nur  eine  durch  Routine  erworbene  Fertigkeit, 
(l|A7:£if>ia  xal  xpißr^) ;  sie  sei  eine  besondere  Kiclitnng  des 
Bemühens,  sich  die  Gunst  der  Menschen  zu  erwerben,  indem 
man  ihren  niederen  Trieben  schmeichelt  (xoXoc/sia),  nach 
Art  etwa  der  Kochkunst,  ein  Afterbild  eines  Zweiges  politischer 
Tätigkeit;  so  sei  sie  minderwertig  und  niedrig,  weil  sie  nicht 
das  Gute,  sondern  das  Angenehme  anstrebt,  und  dabei  nicht 
einmal  von  den  Mitteln,  die  sie  in  Anwendung  bringt,  ein 
Bewusstsein  hat  oder  sie  zu  begründen  weiss.  Sophisten 
und  Rhetoren  stehen  auch  darum  ganz  nahe.  Wie  die 
Sophisten  die  hohe  Aufgabe  der  Gesetzgebung,  so  ziehen  die 
Rhetoren  die  der  Rechtspflege  in  den  Staub  herunter.  Wie 
Kinder  und  Unverständige  den  Kochkünstler  dem  Arzt  vor- 
ziehen würden,  lo  lässt  sich  die  grosse  Menge  durch  den 
Rhetor  blenden,  der  mit  den  Künsten  der  Rede  um  die 
Gunst  der  Massen  buhlt,     (p.  464). 

Sokrates  ist  gegen  Polos  überaus  unfreundlich.  Er  ist 
verdriesslich  über  Polos  Ungeschicklichkeit  im  Fragen  und 
muss  ihm  erst  Anweisung  geben,  wie  er  seine  Fragen  zu 
stellen  hat,  um  das  Gespräch  in  Gang  zu  bringen.  Er  habe 
eine  lange  Ausführung  gemacht,  sagt  Sokrates  entschuldigend. 
Er  habe  es  wohl  gewusst;  denn  als  er  sich  kürzer  ausgedrückt, 
habe  ihn  Polos  nicht  vei standen.  Polos,  obwohl  er  noch 
jung  sei,  vermöge  einen  einfachen  Satz  nicht  genau  aufzu- 
fassen, wie  solle  es  erst  werden,  wenn  er  älter  geworden 
sei!  Sokrates  bekennt,  nie  zu  wissen,  was  Polos  eigentlich 
meine,  nicht  einmal  dies,  ob  Polos  eine  Frage  tue  oder  aber 
eine  Ausführung  beginne  und  seine  eigene  Ansicht  vortragen 
wolle.  Nicht  einmal  zwischen  dem,  was  einer  will  und  dem, 
was  einem  beliebt,  wisse  Polos  zu  unterscheiden.  Er  stelle 
eine  Frage,  die  eigentlich  zwei  Fragen  seien,  und  wisse  es 
nicht;  er  bewege  sich  in  fortwährenden  W^idersprüchen 
gegen  seine  eigenen  Aufstellungen.  —  Diese  Unfreundlichkeiten 
sind  sehr  auffallend.  Schwerlich  sind  sie  nicht  gegen  Polos 
von  Akragas  gerichtet,  der  Plato  wenig  anging.  Es  ist  eher 
anzunehmen,  dass  ein  gleichzeitiger  Literat  getroffen  werden 
sollte,    auf    den    die    dem    Polos    beigelegten    Züge    passen, 


—     60     - 

vielleicht  einer  aus  der  Schule  des  Isokrates.  Wer  es  ist, 
wird  sich  nicht  mehr  ausmachen  lassen;  aber  für  die  Absicht 
des  Dialogs  ist  auch  dieser  Zug  bedeutsam. 

Alles  Bisherige  ist  im  Dialog  nur  einleitend  gewesen; 
jetzt  wird  der  Uebergang  zum  eigentlichen  Gegenstande  des 
Dialogs  gemacht.  Polos  hat  behauptet,  die  Meister  der 
Redekunst  hätten  die  grösste  Macht  im  Staate  und  besässen 
damit  das  wertvollste  Gut  (p.  46G).  Sokrates  fragt,  ob  Macht 
ein  Gut  sei  auch  für  den  Menschen,  der  nicht  den  Verstand 
habe,  sie  recht  zu  gebrauchen?  Man  will  doch  den  durch 
die  Handlung  zu  erreichenden  Zweck  als  das  Gute.  So 
könne  es  denn  geschehen,  dass  einer,  der  keinen  Verstand 
hat,  weil  er  die  Macht  hat  zu  tun  was  ihm  beliebt,  das 
Schlechte  tut,  also  das  was  er  nicht  will.  Und  so  ist  denn 
der,  der  die  Macht  hat,  unter  Umständen  der  Elendeste; 
denn  Unrecht  tun  ist  das  grösste  Uebel.  Polos  versteht  das 
so,  dass  es  nur  deshalb-  ein  Uebel  sei,  weil  wer  Unrecht  tut 
Strafe  leide.  Aber  Archelaos,  der  König  von  Makedonien, 
habe  straflos  die  grössten  Verbrechen  verübt  und  gelte  deshalb 
nach  aller  Menschen  Urteil  als  ein  überaus  glücklicher  Mann 
(p.  470.  471).  Dem  gegenüber  stellt  Sokrates  die  Behauptung 
auf:  wer  Unrecht  tue,  sei  noch  viel  elender,  wenn  er  keine 
Strafe  erleide;  denn  so  bleibe  er  in  seiner  Schlechtigkeit, 
während  die  Strafe  ihn  heilen  könnte. 

Diese  ungeheuerlichen  Behauptungen,  die  dem  populären 
Bewusstsein  direkt  ins  Gesicht  schlagen,  könne  ein  Mensch 
—  so  meint  Polos,  —  nicht  im  Ernst  aufstellen.  Ein  Kind 
reicht  ja  aus,  Sokrates  zu  widerlegen.  Die  Meinung  der 
Menschen,  die  offenbarsten  Tatsachen  sprechen  wider  ihn. 
Sokrates  aber  findet,  solche  Gründe,  die  zu  seiner  Wider- 
legung vorgebracht  werden,  bewiesen,  dass  Polos  nicht  bloss 
in  der  Logik,  sondern  auch  in  der  Rhetorik  ungeschult  sei. 
Die  Wahrheit  zu  widerlegen  sei  überhaupt  unmöglich;  aber 
eine  Widerlegung  durch  die  Meinung  der  Menschen  oder 
durch  Tatsachen  vollbringen  wollen,  das  sei  vollends  wider- 
sinnig, und  wenn  Polos  nun  gar  die  fremde  Ansicht  verlachte, 
so  sei    das  erst    recht  unwürdig.     Es    handle    sich  um   den 


f 


—     Ol     — 

wichtigsten  Gegenstand    und    die   höchste   der   menschlichen 
Angelegenheiten,  um  die  Frage:  wie  kommt  der  Mensch  zu 
Glück  und    inneren    Frieden?    (p.  472).     Damit    hängt    die 
Frage  zusammen;  Was  ist  das  grössere  Uebel:    Unrecht  tun 
oder  Unrecht    leiden?    Polos    gibt    mit    einem    letzten   Rest 
von  menschlichem  Gefühl  wenigstens  soviel  zu,  dass  Unrechtun 
das  weniger  Edele,    das    für   das  Gefühl  Verletzendere    ist. 
Und  da  fasst    ihn  nun  Sokrates,  indem    er    sich    auf    Polos 
eigenes  Terrain    begiebt.     Unrecht    tun   ist    also  hässlicher, 
sagt  er:  das  heisst  doch  wohl,  es  erregt  nicht  Lust,  gewährt 
keine  Freude,    keinen   Nutzen    (p.  474).     Polos    stimmt  be- 
friedigt bei.     Endlich  meint  er  Sokrates  auf  seiner  Seite  zu 
haben,  der  den  Wert  gleichfalls  an  der  Lust  und  dem  Nutzen 
misst.     Und  so    gibt  er    denn    auch  weiter  eines  nach  dem 
anderen  zu:  Das  Hässlichere  ist  das,  was  grösseren  Schmerz 
und  grösseres  Uebel  mit  sich  bringt:  also  bringt  das  Unrechttun, 
das     Zugestandenermassen     das     Hässlichere     ist,     grösseren 
Schmerz    und    grösseres    Uebel    (p.  475),    oder    wenn   nicht 
grösseren  Schmerz,    so   jedenfalls   das    grössere  Uebel.     Das 
Unrechttun  ist  mithin  das  grössere  Uebel,  das  Unrechtleiden 
also    vorzuziehen.      Polos    kann    sich    der    Folgerung    nicht 
entziehen.      Sokrates    aber    sagt:    wie    auch    die    Menschen 
darüber  denken   mögen,  —  die  Sache   ist   durch  begriffliche 
Untersuchung  ausgemacht  worden,    und   das  genügt  zur  Ge- 
wissheit (p.  476).     Das  Uebrige  ergibt  sich  dann  von  selbst. 
Wer    das  Unrecht    straft,  tut  Recht;    wer  die   Strafe  leidet, 
leidet  gerecht;  beides  steht  im  Dienste  des  Angenehmen  oder 
des  Nützlichen:    also    zu    gutem    Zwecke.     Wer    die    Strafe 
leidet,  wird  von    dem  schwersten   aller  Uebel,  von  der  Ver- 
derbnis der  Seele,    der  Ungerechtigkeit    und  Zuchtlosigkeit, 
geläutert  (p.  477).     Der  Unglücklichste    von  allen    ist    also 
der,  der  das  schwerste  Unrecht  begeht,  aber  von  Strafe  frei 
bleibt  (479),  und    wenn    die  Redekunst    das  bewirkt,  Straf- 
losigkeit bei    aller  Macht  Unrecht    zu  tun,    so  ist  sie  nicht 
nützlich,  sondern    äusserst  verderblich.     Die  Redekunst    ge- 
braucht nur  der  richtig,  der  sein  eigenes  Unrecht  durch  sie 
eindringlich  offenbar    macht  und    die  Strafe   auf  sich  lenkt, 


—     62     — 

und  wenn  er  einem  Feinde  gründlich  schaden  will,  durch 
sie  des  Feindes  Unrecht  zudeckt  und  ihn  vor  Schaden  schützt. 

Diese  letzten  Sätze  sind  denn  doch  dem  Kallikles  zu 
stark.  Schon  Polos  hatte  nur  soviel  zugegeben,  dass  sie 
als  Folgerungen  aus  Sokrates  Vordersätzen  zwar  verständlich 
seien ;  aber  an  sich  seien  sie  die  reine  Torheit.  Wir  selber 
können  dazu  nur  bemerken,  das  diese  Sätze  in  ihrer  nicht 
zu  überbietenden  Schroffheit  ausdrücklich  darauf  berechnet 
scheinen,  die  satte,  selbstgefällige  Trivialität  des  Gegners  zu 
verblüffen.  Und  was  den  Beweisgang  anbetrifft,  so  hätten 
■weder  der  historische  Sokrates  noch  der  platonische  oder  gar 
Plato  selber  eine  Argumentation  wie  diese,  die  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  Lust  und  des  Nutzens  geschieht,  jemals 
in  bitterem  Ernste  vollziehen  können.  Die  Sache  liegt  viel- 
mehr so,  dass  Sokrates  sich  ausdrücklich  auf  den  Standpunkt 
des  Gegners  stellt  und  diesem  nachweist,  dass  des  Sokrates 
Sätze,  die  ihm  so  entsätzlich  und  unerhört  schienen,  aus  dem 
eigenen  Voraussetzungen  des  Gegners  folgen.  Dieser  Gegner 
aber  hat  nicht  die  genügende  begriffliche  Bildung,  um  sich 
der  Schlussketten  des  Sokrates  zu  erwehren,  dessen  Schärfe 
des  dialektischen  Gedankenganges  er  hilflos  unterliegt. 

Kallikles,  der  so  lange  schweigend  zugehört  hat,  tritt 
nunmehr  in  die  Unterredung  ein.  Diese  letzten  Ausführungen 
übersteigen  doch  jeden  Glauben.  Das  kann  Sokrates  nicht 
ernst  gemeint  haben;  das  wäre  ja  eine  Umkehrung  des 
ganzen  menschlichen  Lebens.  Sokrates  erwidert,  er  folge  den 
Ergebnissen  der  wissenschaftlichen  Untersuchung,  die  un- 
veränderlich bleiben;  nur  wer  an  ihnen  festhalte,  könne  mit 
sich  selber  im  Einklang  bleiben,  und  das  sei  das  eigentlich 
menschliche  Gut.  Sokrates  habe  erwidert  Kallikles  wie 
vorher  den  Gorgias,  so  jetzt  den  Polos  arglistig  gefangen, 
indem  er  ihn  zu  einem  Zugeständnis  im  Sinne  der  herrschenden 
moralischen  Vorurteile  verleitet  habe. 

Der  Einsichtige  und  Aufgeklärte  aber  wisse,  dass  diese 
moralischen  Vorurteile,  die  man  sich  schwachmütig  zu  ver- 
letzen scheue,  direkt  wider  die  Natur  sind.  Nicht  Unrecht 
tun,  sondern  Unrecht  leiden    ist    das  Schimpfliche;    es    be- 


—     63     — 

zeichnet  den  Hilflosen,  den  Sklaven,  den  Ehrlosen.  Die 
Gesetze  und  die  Moralvorschriften  stammen  von  den  Schwachen, 
den  Vielzuvielen,  die  damit  die  Starken  unterzubekomraen 
trachten.  Die  Natur  aber  will  das  Recht  des  Stärkeren; 
das  zeigen  die  Erscheinungen  im  Tier-  und  Menschenleben. 
Jetzt  sind  im  Staate  die  Starken  wie  Löwen  im  Kähg;  der 
Starke  zerbricht  solche  Fesseln.  Denn  das  Ziel  des  Menschen, 
das  Glück,  besteht  im  Geniessen,  in  sinnlicher  Befriedigung, 
und  dazu  bedarf  man  der  Macht.  Das  Streben  nach  geistiger 
Bildung  ist  innerhalb  massiger  Grenzen  für  junge  Leute 
gewiss  ein  Schmuck,  und  macht  sich  sehr  gut;  im  Ueber- 
mass  aber  und  für  die  höheren  Jahre  ist  es  geradezu  das 
Verderben.  Es  entfremdet  dem  Leben  und  macht  zu  den 
Aufgaben,  in  denen  des  Menschen  Wert  besteht,  den  Auf- 
gaben des  Lebens  in  Staats-  und  Privatgeschäften,  unfähig. 
Ein  solcher  Mensch  ist  hilflos  jeder  Verfolgung,  jeder 
Schmach  und  Gefahr  preisgegeben;  seine  edleren  Anlagen 
verkümmern  rulimlos,  und  er  führt  ein  verächtliches  Leben 
im  Dunkel  der  Schulstube,     (p.   486.) 

Kallikles  zeigt  in  dieser  Weise  den  Mut,  aus  der 
Gesinnung  der  der  äusseren  Welt  Zugewandten  die  letzten 
Konsequenzen  zu  ziehen,  zu  denen  sich  zu  bekennen  Gorgias 
und  Polos  noch  nicht  die  Entschlossenheit  besassen;  Sokrates 
freut  sich  solcher  Entschiedenheit  und  Folgerichtigkeit. 
Aber  mit  dem  Recht  des  Stärkeren  scheint  es  ihm,  eben 
wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  Kallikles  stellt, 
sich  doch  nicht  so  zu  verhalten.  Denn  die  Vielen  sind  zusammen 
stärker  als  der  Einzelne,  und  so  käme  es  ja  gerade  den 
Vielen  zu,  die  Gesetze  und  Rechte  festzustellen  (p.  488), 
und  zwar  geschähe  das  eben  nach  der  Forderung  der  Natur 
Kallikles  verbirgt  die  Verlegenheit,  in  die  ihn  der  Ein- 
wand versetzt  unter  Schimpfen.  Gleichwohl  wird  er  seines 
eigenen  Gedankens  nicht  mächtig,  von  Bestimmung  zu  Be- 
stimmung weiter  getrieben.  Sokrates,  meint  er,  sei  ein 
Wortjäger ;  er,  Kallikles,  habe  unter  den  Stärkeren  (xpei-tov) 
natürlich  die  Tüchtigeren  (^eätiov)  gemeint.  Aber  wer  sind 
diese    Tüchtigeren?    Nun,    die  Besseren    (ä[j,£ivovx£;),    meint 


—     64     — 

Kallikles.  Aber  das  ist  ja  wieder  nur  ein  anderes  Wort; 
sollten  vielleicht  die  an  Geisteskraft  üeberlegenen  (cppoviu.u>T£?oi) 
gemeint  sein?  Kallikles  greift  freudig  das  ihm  von  Sokrates 
gebotene  Wort  auf.  Also  der  geistig  üeberlegene  soll  der 
nun  mehr  an  Speise  und  Trank,  an  Kleidern,  Schuhen,  an 
Aussaat  für  sein  Land  und  dergleichen  bekommen?  Kallikles 
ist  über  diese  Niedrigkeit  in  der  Auswahl  der  Beispiele 
empört;  er  erwidert,  unter  den  Üeberlegenen  verstehe  er 
natürlich  die  zu  politischer  Tätigkeit  Geeignetsten,  die  Ein- 
sichtsvollen, Tatkräftigen,  Beharrlichen  (p.  491).  Also  doch 
wohl  diejenigen,  die  sich  selbst  beherrschen?  Ach,  das  sind 
ja  gerade  die  Dummen,  meint  Kallikles.  Denn  die  Auf- 
geklärten, die  Freidenker,  lassen  ihren  Begierden  freien  Lauf, 
und  gerade  deshalb  werden  sie  von  den  feigen  Schwäch- 
lingen, den  Verfechtern^^^der  Sklavenmoral,  gehasst.  „Die 
Ausgelassenheit,  Zügellosigkeit  und  Unabhängigkeit  des 
Tyrannen,  der  sich  durch  Machtmittel  zu  sichern  gewusst 
hat,  das  ist  wahrhaftes  menschliches  Verdienst  und  mensch- 
liche Glückseligkeit.  Alles  andere  ist  verlogene  Ziererei, 
Unnatur,  wertloses  Geschwätz,"  — 

Sokrates  wendet  gegen  diese  ganze  Gedankenreihe  ein  : 
Die  Begierde  ist  ihrer  Natur  nach  unersättlich;  im  Dienste 
der  Begierde  gibt  es  keine  Befriedigung.  Wenn  sinnlicher 
Genuss  glücklich  macht,  dann  ist  der  glücklichste  der,  der 
die  Krätze  hat  und  sich  immerfort  daran  erfreuen  kann, 
sich  zu  jucken;  oder  der  Lüstling,  der  immerfort  seinen 
Lüsten  freien  Lauf  lassen  kann  (p.  494).  Und  so  ergibt 
sich  die  Frage  nach  dem  Unterschied  in  der  Art  der  Lust. 
Kallikles,  der  unsicher  geworden  ist,  gibt,  auf  Sokrates 
Frage,  um  nicht  in  einen  Widerspruch  za  geraten,  die  Er- 
klärung ab,  das  Gute  und  das  Lustbereitende  sei  dasselbe. 
Der  Satz  aber  ist  bedenklich,  meint  Sokrates.  Denn  Gutes 
und  Schlechtes  schliessen  einander  aus  und  sind^nicht  bei- 
sammen ;  aber  der  Schmerz  des  Begehrens  und  die  Lust  der 
Befriedigung  treffen  zusammen;  also  kann  Lust  nicht  das 
Gute  sein  (p.  496).  Die  Unlust  der  Begierde  und  die  Lust 
des  Geniessens  ferner  hören  zugleich  auf;  Gutes    und  Böses 


—     65     — 

aber  schwinden  nicht  zugleich;  also  ist  wieder  die  Lust 
nicht  das  Gute  (p.  497).  Wäre  die  Lust  das  Gute,  so 
würden  diejenigen,  denen  die  Lust  beiwohnt,  die  Guten  sein. 
Die  Lust  aber  geniessen  die  Feigen  wie  die  Tapferen,  die 
Verständigen  wie  die  Unverständigen,  diejenigen,  die  nach 
Kallikles  Ansicht  die  Schlechten  sind,  wie  die  Guten:  also 
kann  die  Lust  nicht  das  Gute  sein  (p.  499).  Kallikles 
sträubt  sich  mit  allen  möglichen  Umständen,  das  zuzugeben, 
und  kann  doch  das  Gewicht  der  Gründe  nicht  in  Abrede 
stellen.  Da  verlällt  er  auf  die  Auskunft,  dass  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Genüssen  auch  verschiedenen  Wert 
haben  müssen,  also  gut  oder  schlecht  sind  je  nach  ihren 
Wirkungen.  Dann  muss  also,  meint  Sokrates,  die  Lust  um 
des  Guten  willen,  nicht  das  Gute  um  der  Lust  willen  an- 
gestrebt werden,  und  Kallikles  hat  sich  selbst  widerlegt 
(p.  500).  Dann  aber  muss  man  das  Gute  und  Rechte 
kennen;  dazu  bedarf  es  der  Uebung,  der  Kenntnis,  bewusster 
Kunst.  Nun  gibt  es  viele  Künste,  die  nur  der  Lust  der 
Masse  dienen ;  auch  die  Redekunst  dient  oft  nur  diesem 
Zweck,  und  selbst  die  Staatsmänner  versäumen  nur  allzuoft 
die  Aufgabe,  die  sittliche  Zucht  unter  den  Staatsbürgern 
zu  erhöhen,  (p.  503).  Das  sind  dann  blosse  Schmeichel- 
künste. Wahre  Kunst  hat  andere  Ziele.  Wie  durch  Ord- 
nung und  rechtes  Mass  der  Leib  Gesundheit  und  Kräftig- 
keit gewinn! j  so  gewinnt  die  Seele  eben  dadurch  Gerechtig- 
keit und  gute  Sitte.  Darum  ist  der  Seele  strenge  Zucht 
heilsam  und  Zuchtlosigkeit  verderblich  (p.  505). 

Hier  weigert  sich  Kallikles,  am  Gespräch  sich  weiter 
zu  beteiligen,  und  Sokrates  setzt,  als  hätte  er  sich  selbst 
als  Gegner  gegenüber,  die  Untersuchung  allein  fort.  Es 
ist  ausgemacht  worden,  dass  das  Lustbereitende  um  des 
Guten  willen  zu  suchen  ist.  Gut  aber  ist  jegliches  durch 
die  Vollendung  seiner  Natur,  und  diese  wird  durch  Regel 
und  Ordnung  hervorgebracht.  Die  geordnete  Seele  ist  die 
gute  Seele;  sie  ist  gerecht  gegen  die  Menschen,  fromm 
gegen  die  Götter  und  stark  in  der  Selbstbeherrschung. 
Lben  darum  ist  der  Gute   auch    glückselig,    der    Schlechte, 


—     66     -        . 

der  Zügellose  aber  elend.  Man  muss  danach  streben  für 
sich  und  andere,  der  Züchtigung  nicht  zu  bedürfen,  bedarf 
man  ihrer  aber,  so  darf  man  sich  ihr  nicht  entziehen  wollen. 
Die  Begierden  muss  man  einschränken;  sonst  wird  jedes 
Zusammenleben  mit  anderen,  jedes  Band  der  Freundschaft 
unmöglich.  Die  Welt  ist  eine  geordnete  Welt,  sie  ist 
gebunden  durch  mathematisches  Gleichmass;  so  muss  auch 
die  Seele  eine  geordnete  sein  (p.  508).  Wenn  man  dafür 
Verfolgung  und  Unrecht  leidet,  so  ist  der  Schade  grösser 
für  den,  der  es  dem  Guten  antut,  als  für  den,  der  es  leidet. 
Das  alles,  sagt  Sokrates,  ist  nicht  meine  Meinung  —  denn 
ich  weiss  ja  selber  nichts;  aber  es  ist  wissenschaftlich  er- 
wiesen, und  das  muss  man  anerkennen,  wenn  man  es  nicht 
zu  widerlegen  vermag.  Es  ist  keine  Schande,  Unrecht,  das 
man  erleidet,  nicht  abwehren  zu  können;  aber  Schande  ist 
es,  andern  Unrecht  zu  tun,  und  um  solche  Schande  zu  ver- 
meiden, muss  man  das  Vermögen  erworben  haben,  sich  vor 
dem  ünrechttun  zu  hüten,  und  dazu  gehört  Einsicht  und 
Bildung.  Denn  niemand  tut  mit  Willen  Unrecht  (p.  509). 
Dagegen  um  sich  gegen  das  Unrechtleiden  zu  schützen, 
rnui^s  man  entweder  Tyrann  sein  oder  sich  durch  Gleich- 
heit der  Gesinnung  dem  Tyrannen  empfehlen,  —  ein  Satz 
zu  dem  Kallikles  mit  besonderer  Freude  seine  Zustimmung 
ausspricht.  Sokrates  aber  fügt  hinzu:  Dadurch  wird  einer 
nun  wohl  vor  dem  Unrechtleiden  geschützt,  aber  zum  Un- 
rechttun nur  noch  mehr  befähigt  sein;  er  wird  also  das 
schwerste  Uebel  erleiden,  das  Uebel,  an  seiner  Seele 
geschädigt  und  verderbt  zu  sein.  Und  wenn  er  gleich  Macht 
hat,  den  besser  Gesinnten  seines  Gutes  und  seines  Lebens 
zu  berauben,  so  bleibt  diesem  der  Ruhm  des  edlen 
Charakters,  und  jener  ist  doch  nur  ein  erbärmlicher  Wicht 
(p.  511).  Nicht  das  Leben  solange  als  möglich  zu  erhalten, 
ist  das  rechte  Ziel;  denn  für  den  schlechten  Menschen  ist 
das  Leben  kein  Gut.  Wer  als  Steuermann  auf  dem  Schiff 
oder  als  Maschinenkünstler  vielen  Menschen  Güter  und  Leben 
erhält,  erlangt  darum  keineswegs  hohe  Schätzung  oder  hohen 
Lohn,  selbst  bei  Leuten  wie  Kallikles,  die  eher    auf    die- 


—     67     — 

jenigen,  die    so  nützliche  Dienste  leisten,  mit  Geringschätzung 
herabsehen.      Nicht  danach  soll    man    streben,    reciit    lange 
zu  leben,  sondern  sein  Leben  mit    würdigem    Inhalt    auszu- 
füllen, also  nicht  sich  den  herrschenden  Zuständen  im  Staate 
anzugleichen  und  den  Menschen  zu  Gefallen  zu  leben,  sondern 
in  jedem  Geschäft  der  eigenen   Natur    der  Sache    zur  Voll- 
endung zu  verhelfen,    also  in  politischer  Tätigkeit    die  Ver- 
edlung der  Bürger    zu  betreiben    (p.  514).     Die    Menschen 
mit  den  äusseren  Gütern  des  Lebens,   mit  Macht  und  Reich- 
tum, zu  versehen,  hat  keinen  Wert,    wenn    man    nicht    die 
Seelen  sittlich  tüchtig  und  fähig  macht,    die  äusseren  Güter 
würdig  zu  gebrauchen.     Die  Sophisten  geben  sich  als  Lehrer 
der  Tugend  aus,  und  doch  beklagen  sie  sich    über  den  Un- 
dank ihrer  Schüler;  beweist  das  nicht,   dass    sie    ihre  Auf- 
gabe verfehlt  haben  (p.  519)?     Der  Ehetor  ist  dem  Sophisten 
eng  verwandt;  nur  dass  insofern  die  Sophistik   höher   steht, 
als  sie  zur  Tugend  anleitet,  während  die  Rhetorik  den  Ver- 
stoss gegen  das  rechte  Verhalten    heilen  lehrt.     Beide    aber 
sollten  auf  den  Dank  sicher  rechnen  können,  wenn  sie  ihrer 
Aufgabe  gerecht   werden.     Mir    aber,    dem    Sokrates,    kann 
es  wohl  geschehen,  dass  man  mich   vor  Gericht    zieht,   ver- 
urteilt   und    tötet.     Denn    ich  schmeichle    der  Masse    nicht 
wie  die  andern;  ich  treibe  in    dieser  Zeit    als    der    einzige 
die  wahre  Staatskunst  und  sorge  für  das    wahre  Wohl    des 
Staats.     Darum  wird  man  mich    verurteilen,    wie    der  Arzt 
von  den  Unmündigen  verurteilt  wird,    wenn    der  Koch    ihn 
beschuldigt      Aber  schaden  kann  niemand  dem,    der    seine 
Hilfe  darin  gesucht  hat,  dass    er    sich    vor    jedem  Unrecht 
in    Worten     oder    Werken    gegen    Menschen     und     Götter 
bewahrt  hat.     Den  Tod    fürchten    nur    die  Unverständigen; 
fürchten  sollte   man  sich  nur  vor  der  Sünde  (p.  522).     Zur 
Bekräftigung  gibt  Sokrates  eine   mythische  Schilderung    des 
Gerichts  nach  dem  Tode.     Da  erweist  sich,    dass  die  Macht 
den  meisten   zu  sittlichem  Verderben  gereicht  hat,    während 
die  auf  innere  Vollendung  gerichtete  Lebensweise  zur  Selig- 
keit führt.     Dem  ewigen  Richter  eine  gesunde  Seele  darzu- 
stellen, ist  darum  das  rechte  Ziel  des  Streben s.     Von  äusserer 

5* 


—     G8     — 

Ehre  gilt  es  abzusehen  und  sich  der  Erkenntnis  der  Wahr- 
heit UDd  dem  Wachstum  im  Guten  zu  widmen.  —  So  haben 
sich  denn  alle  von  Sokrates  im  Anfang  aufgestellten  Sätze 
durch  dialektische  Erörterung  bewährt.  Zum  Schluss  werden 
noch  drei  aus  diesen  Sätzen  abgeleitete  Forderungen  einge- 
schärft: 1.  dieEedekunst  soll  wie  alle  anderen  Betätigungen 
im  Dienste  des  Guten  verwandt  werden.  2.  Das  Martyrium 
im  Dienste  des  Guten  und  der  Vollendung  der  Innerlich- 
keit darf  man  nicht  scheuen.  3.  Erst  wenn  man  zu  festen, 
wissenschaftlich  begründeten  üeberzeugungen  gelangt  ist, 
darf  man  sich  politischer  Tätigkeit  widmen,  (p.   527). 

So  hat  sich  uns  der  Beweisgang  in  Piatos  „Gorgias" 
ergeben,  sehr  verschieden  von  der  Art,  wie  ihn  andere^)  dar- 
gestellt haben.  W^ir  stützen  uns  auf  die  unverkennbaren 
Andeutungen,  die  Plato  selbst  über  seine  Intentionen  gegeben 
hat.  Plato  behandelt  Gorgias  selbst  nicht  als  ebenbürtigen 
wissenschaftlichen  Gegner,  noch  viel  weniger  Polos  und 
Kallikles.  Sie  sind  ihm  Vertreter  gedanklicher  Oberfläch- 
lichkeit und  Niedrigkeit  der  Gesinnung.  Am  schlimmsten 
kommt  Kallikles  fort.  Sokrates  behandelt  ihn  ganz  rück- 
sichtslos. Von  scheinbar  gutmütiger  Ironie  geht  er  zu 
heiterem  Spott  und  zu  blutigem  Hohn.  Kallikles  erscheint 
im  übelsten'  Lichte.  Er  ist  der  Typus  der  flachen  Auf- 
klärung und  leeren  Freidenkerei,  die  jeden  Glauben  an  das 
Ideale,  jedes  Verhältnis  zum  Jenseitigen,  Göttlichen  abgetan 
hat,  nur  noch  die  tierischen  Analogien  im  Menschen  aner- 
kennt und  den  Menschen  an  das  äussere  Leben  und  an 
sinnliche  Befriedigung  verweist.     In    solcher  Gewöhnlichkeit 


')  vergl.  hierüber:  Natorp,  über  Grundabsicht  u.  Entstehnngs- 
zeit  d.  piaton.  Gorgias,  Arch.  f.  G.  d.  Phil.  II  p.  394-413.  C. 
Schirlitz,  Beiträge  zur  Erklärung  der  plat.  Dialoge  Gorgias  und 
Thcätet.  Prcuss.  Neustettin  88:  derselbe:  noch^einmal  die  Gliederung 
d.  platonischen  Dialoges  Gorgias,  Jahrb.  f.  class.  Philologie  1895  p. 
343— 3G2.  C  ron,  Beiträge  zur  Erklärung  d.  plat.  Gorgias,  Leipzig 
1870.  G.  G  logau,  Gedankengang  v.  Piatons  Gorgias,  Arch.  f.  G.  d. 
Phil.  III  (1S95)  p.  153—189.  Windelband,  Piaton,  Stuttgart 
1910.  5.  Auü.  p.  52  I.  S  t  e  n  d  e  r,  Gorgias,  Halle  1900.  C.  M  e  i  s  e  r, 
zu  Piatos  Gorgias,  Blätter  für  Gymniasialschulweseu  Bd.  35  p.  415/418. 


—  Ge- 
steckt er  unwandelbar  fest  und  riilimt  sich  mit  ausserordent- 
licher Selbstgefälligkeit  seiner  Freiheit  von  solchen  morali- 
sierenden Wahnvorstellungen  und  solcher  idealistischen 
Verstiegenheit,  wie  Sokrates  sie  kundgibt.  Er  ist  endgültig 
solchen  Aberglauben  los  und  will  nur  noch  sein  Leben 
geniessen.  Mit  unerschütterlichem  Dogmatismus  ist  er 
gegen  alle  Einwendungen  und  Gegengründe  gefeit.  Er  kann 
es  gar  nicht  begreifen,  wie  andere  Menschen  nicht  dieselben 
Ansichten  und  Grundsätze  hegen  können,  wie  er;  denn  seine 
Ansichten  sind  alle  selbstverständlich,  und  wer  sie  nicht 
teilen  kann,  macht  sich  bloss  lächerlich  in  den  Augen  eines 
aufgeklärten  Menschen.  Nun  aber  erweist  sich  im  Gespräch, 
dass  dieser  so  selbstsichere  Mann  im  Grunde  niemals  ernst- 
lich nachgedacht  hat,  dass  er  seines  Gedankens  gar  niciit 
mächtig  ist,  dass  er  voll  von  Vorurteilen  steckt,  dass  er 
nur  der  herrschenden  Strömung  folgt.  Sein  logisches  Ver- 
mögen ist  äusserst  schwach.  Ev  ist  nicht  zu  widerlegen, 
weil  er  entschlossen  ist,  bei  seinem  Sinne  zu  verbleiben, 
und  Gegengründe  teils  nicht  versteht,  teils  einfach  abwei.st. 
Kommt  er  in  Verlegenheit,  weil  er  das  Gewicht  der  Gründe 
des  Gegners  nicht  ableugnen  kann,  so  verlegt  er  sich  aufs 
Schimpfen;  er  wird  heftig;  er  erklärt,  er  wolle  nichts  weiter 
hören,  sich  am  Gespräch  nicht  länger  beteiligen;  es  sei  doch 
alles  nur  dummes  Zeug,  was  Sokrates  da  vorbringe.  Und 
als  Gorgias  ihn  drängt,  das  Gespräch  nicht  vor  dem  Ende 
im  Stich  zu  lassen,  da  sagt  er  Sokrates,  er  möge  nur  reden; 
ihn,  den  Kallikles,  gehe  das  alles  doch  nichts  an,  und  das 
ganze  Gerede  lasse  ihn  völlig  gleichgültig.  Nur  als  Sokrates 
einmal  eine  Aeusserung  tut,  die  dem  Kallikles  zu  seiner 
eigenen  Denkweise  zu  passen  scheint,  da  horcht  er  auf,  wird 
lebhalt,  lobt  den  Sokrates  und  spricht  wieder  für  einige 
Zeit  mit. 

So  zeichnet  Plato  den  Mann,  mit  dem  Sokrates  zu 
streiten  hat.  Auch  in  unserer  Zeit  noch  führt  die  Gesinnung 
eines  Kallikles  in  der  Literatur,  in  der  Wissenschaft,  wie 
auch  in  der  Platoforschung  das  grosse  Wort.  Die  Popular- 
philosophie    und  Verstandesaufklärung    hat   uns  wieder    auf 


—     70     — 

den  Standpunkt  des  18.  Jahrhunderts,  auf  die  Anschauungen 
der  vorkantischen  Zeit  zurückgebracht.  (Man  vergleiche 
statt  vieler  nur  C.  R  i  1 1  e  r,  P  1  a  t  o  n,  S.  408j.  Und  damit 
wird  es  ganz  unmöglich,  Plato  zu  verstehen.  Man  darf  sieh 
auch  nicht  darüber  wundern,  wenn  zeitgenössische  Schrift- 
steller wie  Th.  Gomperz  Kallikles  gegen  Sokrates  in  Schutz 
zu  nehmen.  So  geschieht  es  ferner,  dass  man  den  vom 
platonischen  Sokrates  eingeschlagenen  Beweisgang  in  völlig 
falchem  Lichte  sieht.  Plato  lässt  den  Sokrates  ausdrücklich 
auf  die  aufgeklärten  Gedanken  dieser  schwachköpfigen 
Sophisten  eingehen.  Mit  den  ethischen  Anschauungen,  die 
er  vorträgt,  ist  es  ihm  natürlich  voller  Ernst;  die  Beweis- 
gründe richtet  er  nach  den  Gegnern  ein,  zum  Teil  in  mut- 
willigem Spott  wie  bei  der  Einteilung  der  Künste  (p.  464), 
zum  Teil  mit  schlauer  Arglist,  die  diese  Stümper  in  der 
Logik  in  leicht  gedrehter  Schlinge  zu  fangen  weiss.  Dass 
er  den  Polos  und  Gorgias  auf  diese  Weise  in  Verwirrung 
versetzt  und  zu  Zugeständnissen  aus  Schamgefühl  veranlasst 
hat,  (x7.l  e^sTT/.r^Pa  xal  ai3/jjv£3i)ai  i-rÄrflij  gibt  Sokrates 
dem  Kallikles  ausdrücklich  zu  (494  D).  Und  dass  er  in 
gewissem  Sinne  anders  redet  als  er  über  den  Gegenstand 
denkt,  stellt  er  gleichfalls  gar  nicht  ernstlich  in  Abrede 
(iiTtsp  ::ctpa  -Jj.  SuxoOvxa  aauTm  i^tXt  495  aj.  Des  Polos  Lob 
gewinnt  er  sich,  indem  er  die  Lust  als  das  Gute  und  den 
Zweck  bezeichnet  und  daraus  argumentiert  (p.  475  a);  dem 
Kallikles  gegenüber  hält  er  daran  fest,  dass  das  Gute  und 
das  was  Lust  gewährt  verschieden  sind,  und  führt  seinen 
Beweis  unter  dem  Gesichtspunkt,  dass  es  nur  e  i  n  Gutes 
gibt,  die  sittliche  Selbstvollendung  (p.  495  D;  500  A;  und 
so  weiter).  Sokrates  ist  auch  hier  derselbe,  der  er  sonst  ist ; 
er  weiss,  dass  er  nichts  weiss  (p.  506  A).  Aber  diesen 
festgerannten  Dogmatikern  gegenüber  ist  er  noch  dogmatischer 
und  behauptet  seine  Sätze  als  mit  eisernen  und  stählernen 
Banden  befestigt,  die  man  erst  lösen  muss,  ehe  man  sie 
für  falsch  zu  erklären  das  Recht  beansprucht  (p.  509  A). 
Vor  allem  aber  betont  Sokrates  diesen  schönrednerischen 
Popularphilosophen   gegenüber  immerfort   die  Notwendigkeit 


—     71     — 

wissenschaftlicher  Untersuchung  und  die  Pflicht  begrifflicher 
Strenge.  Niemand  dürfe  behaupten  ohne  strengen  Beweis, 
niemand  ablehnen,  was  streng  bewiesen  sei.  Sokrates  erklärt 
sich  bereit,  in  jedem  Augenblick  dem  triftig  geführten  Be- 
weise des  Gegners  sich  zu  unterwerfen.  Wissenschaftliche 
Erkenntnis  sei  sein  einziges  Interesse;  das  Gleiche  fordert 
er  von  jedem  andern.  —  Wer  die  von  uns  angeführten 
Gesichtspunkte  zur  Charakteristik  der  Unterredner  und  des 
Ganges  der  Unterredung  nicht  ins  Auge  fasst,  der  macht 
sich  das  Verständnis  des  platonischen  Gorgias  von  vornherein 
unmöglich.  Wir  meinen,  dass  ein  grosser  Teil  der  bis- 
herigen Missverständnisse  darauf  zurückzuführen  ist. 

VI.    Die  Gliederung:  des  „Gopgrias". 

Danach  bleibt  uns  nur  noch  die  Aufgabe,  die  Gliederung 
des  Gespräches,  das  im  „Gorgias«  geführt  wird,  in  den 
Hauptzügen  nachzuzeichnen  und  die  wesentlichsten  Ergebnisse 
festzustellen. 

Das  Thema,  von  dem  das  Gespräch  handelt,  ist  die 
Frage  nach  dem  rechten  Ziele  menschlichen 
Lebens  und  St  r  eben  s.  472c.  Zwei  gründlich  ver- 
schiedene Ziele  werden  einander  gegenübergestellt;  zwischen 
beiden  soll  entschieden  werden:  wir  können  sie  bezeichnen 
als  das  aktive  und  das  kontemplative  Leben; 
500C  jenes  gerichtet  auf  die  äusseren  Güter  dieser  Welt 
und  vollen  Erfolg  des  Strebens  zur  Befriedigung  im  dies- 
seitigen Dasein,  dieses  auf  das  Heil  der  Seele  und  die 
Bildung  der  Persönlichkeit  zu  innerer  Vollkommenheit  für 
ein  ewiges  Leben.  Jenes  wird  als  das  niedere,  dieses  als 
das  höhere  Ziel  gemäss  der  wahren  Auffassung  der  mensch- 
lichen Natur  erwiesen. 

Die  Verhandlung  über  Wesen  und  Recht  der 
Rhetorik  bildet  die  Einleitung;  sie  dient  als  äusserer 
Anlass,  um  zu  dem  Thema  überzuleiten.  Man  darf  das 
Gespräch  nicht  mit  vielen  Interpreten  nach  den  ünterrednern 
einteilen,  wie  sie  nacheinander  dem  Sokrates  gegenübertreten; 
denn  über  die  Rhetorik   wird  vorbereitend   mit  Gorgias  und 


72 


dann  auch  noch  mit  Polos  verhandelt,  und  das  eigentliche 
Thema  tritt  zunächst  in  der  Unterredung  mit  Polos  hervor, 
um  dann  im  Gespräch  mit  Kallikles  zum  Austrag  zu  kommen. 
Demnach  würde  sich  eine  Einteilung  des  Gesprächs  in 
folgendem  Sinne  ergeben. 

A.  Einleitung.  Die  Einleitung  reicht  von  p.  448  d. 
bis  p.  468 d.  Die  Gewinnung  eines  bestimmten  Urteils  über  die 
Rhetorik  im  Sinne  des  Gorgias  und  Polos  führt  zu  der  Frage 
nach  dem  rechten  Ziele  des  Lebens.  Dabei  wird  in  der 
Einleitung  ausgemacht: 

1.  dass  die  Rhetorik  dieser  Sophisten  darauf  ausgeht,  zu 
überreden,  nicht  begründete  Erkenntnis  mitzuteilen, 
nur  ein  Meinen,  nicht  ein  Wissen  vom  Gegenstande, 
von  Recht  und  Unrecht  zu  vermitteln.  (448d— 461c) 

2.  Daraus  ergibt  sich  dann,  dass  die  Rhetorik  nicht 
wirkliche  Wissenschaft,  sondern  blosse  durch  Uebung 
erlangte  Fertigkeit  ist,  die  man  gebraucht,  um  den 
niederen  Trieben  der  Menschen  zu  schmeicheln  und 
um  ihre  Gunst  zu  buhlen.     (461c  —  466a) 

3.  Der  Gewinn,  den  der  Rhetor  durch  den  Gebrauch  seiner 
Fertigkeit  anstrebt,  ist  Ansehen,  Macht  und  Einfluss 
bei  der  Menge,  politische  Bedeutung  und  das  Ver- 
mögen, ungestraft  jedes  Unrecht  zu  tun  und  jeden 
nach  Belieben  verletzen  zu  dürfen  ohne  Furcht  vor 
Vergeltung.     (4ß6a  —  467b.) 

Uebergang  zum  Thema.  Die  Behauptung,  dass 
die  Rhetorik  Macht  verleiht,  führt  zu  der  Frage,  ob  derjenige 
mächtig  ist,  der  tun  kann,  was  ihm  beliebt.  Die  Er- 
örterung dieser  Frage  bildet  den  Uebergang  zum 
eigentlichen    Thema. 

(467b— 468d.) 

B.  Hauptteil.  Die  Behandlung  des  Themas,  die 
Frage  nach  dem  rechten  Ziele  des  Lebens, 
gliedert  sich  in  folgende  hauptsächliche  Teile: 

l.  Die  Sorge  für  Macht  in  der  äusseren  Welt  ist 
verkehrt;  denn  der  Besitz  der  Macht  wie  alle 
äusseren  Güter  gewährt  dem  Menschen  keine  wirk- 
liche dauernde  Befriedigung.  (468d— 481b) 


-     73     — 

1.  Wirkliche  Macht  ist  nicht  das  Vermögen  zu  tuo,  was 
einem  beliebt,  sondern  zu  tun,  was  dem  vernünftigen 
Willen  entspricht.  Dem  vernünftigen  Willen  aber 
entspricht  allein,  dass  man  das  Rechte  tue.  (4(]8d 
bis  469b.) 

2.  Die  Macht  unrecht  zu  tun  ist  kein  Gut,  sondern  ein 
Schaden.  Denn  Unrecht  tun  ist  das  grösste  Uebe! 
und  schlimmer  als  Unrecht  leiden.     (469b— 471c.) 

3.  Die  Macht  aber  Unrecht  straflos  zu  tun  i.st  eine 
Steigerung  des  Unglücks  für  den  Täter  des  Unrechts. 
(471c— 481b). 

4.  Die  Behauptung,  dass  von  Natur  der  Stärkere  ein 
Recht  habe,  auf  alles,  wozu  er  die  genügende  Macht 
besitzt,  und  dass  das  im  Staate  herrschende  Gesetz 
willkürliche  Satzung  wider  die  Natur  sei,  hebt  sich 
selber  auf.     (481b— 492c.) 

5.  Die  Macht,  seinen  Lüsten  zu  fröhnen,  ist  vielmehr 
Ohnmacht  und  Sklaverei.  Denn  das  rechte  Ziel  des 
Menschen  ist  nicht  die  Befriedigung  der  Lüste.  (492c 
bis  499e). 

a.  Das  Gute  und  das  Angenehme  sind  zweierlei,  und 
das  zu  Erstrebende  ist  das  Gute,  nicht  das  Ange- 
nehme.    (492c -498a). 

b.  Um  gut  zu  sein,  bedarf  man  der  Einsicht  und  der 
Willensstärke;  denn  es  gilt  seine  Wahl  zu  treffen 
zwischen  Lustempfindungen  von  edler,  förderlicher 
Art  und  solchen  von  niederer  und  verderblicher 
Art.  (499a- 500a). 

IL  Die    wahre    Aufgabe  des    Menschen    ist    die 
Sorge  für  das  Heil  seiner  Seele.  (500a  — 522c). 

1.  Im  Gegensatze  zu  den  meisten  Menschen  und  den 
meisten  Bestrebungen,  die  den  Lüsten  der  Menge 
schmeicheln  auf  Grund  blosser  Erfahrung  und  ohne 
wissenschaftliches  Bewusstsein,  gilt  es,  in  rechter  Er- 
kenntnis von  den  Sachen  und  den  Gründen  für  ihre 
Behandlung  die  rechte  Tätigkeit  mit  Bewusstsein  zu 
üben.  (p.  500a -503c). 


—     74     — 

2.  Die  Seele  gesund  und  wohlgeordnet  zu  erhalten,  be- 
darf es  der  Befolgung  von  Recht  und  Gesetz  mit 
besonnenem  und  gerechtem  Willen  und  der  Unter- 
drückung der  Lüste  durch  Strenge  der  Zucht,  (p.  503c 
bis  505c.) 

3.  Der  Mensch,  der  seiner  Pflicht  getreu  mit  festem 
Willen  die  rechte  Ordnung  innehält,  ist  eben  dadurch 
sowohl  der  gute  Mensch  wie  auch  der  glückliche 
Mensch;  wer  dagegen  zuchtlos  seinen  Begierden  folgt, 
ist  schlecht  und  unglücklich  zugleich,  (p.  50Gc — 508b.) 

4.  Man  muss  also  nicht  sowohl  danach  streben,  mit  un- 
beschränkter Macht  unrecht  handeln  zu  dürfen  und 
vor  dem  Unrechtleiden  sich  zu  schützen,  als  vielmehr 
danach,  die  Seele  gesund  zu  erhalten,  und  das  ohne 
Furcht  vor  Schmerz  und  Tod.  Denn  das  Leben  ist 
der  Güter  höchstes  nicht,  der  Uebel  grösstes  aber  ist 
die  Verderbnis  der  Seele,  (p.  508b— 513b.) 

5.  In  öffentlicher  Tätigkeit  muss  man  danach  streben, 
die  Menschen  sittlich  besser  zu  machen,  und  dazu 
gehört  vor  allem,  dass  man  selbst  sittlich  durchge- 
bildet sei.  Den  grossen  Staatsmännern  Athens  kann 
man  bei  allen  ihren  sonstigen  Verdiensten  das  nicht 
nachrühmen,  so  wenig  wie  man  den  Sophisten  nach- 
rühmen kann,  dass  sie  ihre  Schüler  besser  machen, 
(p.  513c— 520a.) 

G.  Wer  nach  dem  Grundsatze  lebt,  nur  an  das  Heil  der 
eigenen  Seele  und  an  die  Besserung  der  anderen  zu 
denken,  der  muss  das  Martyrium,  das  man  ihm  des- 
halb auferlegen  möchte,  Anklage,  Verurteilung  und 
selbst  Hinrichtung  mit  Ergebung  freudig  auf  sich 
nehmen,  (p.  521a  — 522c.) 

C.  Schluss.  Den  Schluss  bildet  die  Darstellung 
des  Schicksales  der  Seele  im  Jenseits  und  die  sich 
dar  auf  grün  dende  Ermahnung. 

1.  Die  Seelen  der  Menschen  unterliegen  einem  Gericht 
im  Jenseits  vor  dem   ewigen  Richter    von    vollendeter 


-     75    — 

Gerechtigkeit,  und  nach  ihrem    irdisclieii  Warulel    be- 
stimmt sich  ihr  ewiges  Geschick,  fp.  528a— r)2()C.) 

2.  Das  Leben  im  Getriebe  der  Welt  und  im  Besitze  der 
Macht  bringt  die  grössten  Versuchungen  und  Ver- 
fehlungen mit  sich;  das  stille  Leben  in  privaten  Ver- 
hältnissen, in  ernsten  Studien  und  sittlicher  Uebung 
ist  von  diesen  Versuchungen  frei  und  deshalb  vor- 
zuziehen. 

3.  Wen  es  aber  nach  einem  Leben  in  den  Geschäften, 
nach  Macht  und  Ehren  gelüstet,  der  trete  wenigstens 
nicht  an  den  Dienst  der  Oeftentlichkeit  heran,  bevor 
er  seine  Seele  geläutert  und  iu  aller  Tugend  geübt 
hat.  (p.  526c -527e.) 

VIL  „Gorgrias"  und  die    andern  platonischen  Dialoge. 

Alle  diese  ganz  besonderen  Züge  in  den  dargestellten 
Personen  und  in  dem  Gang  der  Verhandlung  muss  man 
wohl  beachten,  wenn  man  die  Eigentümlichkeit  des  Dialoges 
wirklich  verstehen  will.  Die  Schrift  ist  in  polemischer  Ab- 
sicht verfasst;  sie  w^endet  sich  gegen  weitverbreitete  An- 
sichten, gegen  eine  herrschende  Strömung  unter  den  Zeit- 
genossen. Gorgias  und  Polos  sind  hinlänglich  bekannte 
Figuren;  in  ihnen  werden  die  Rhetoren  und  Sophisten  über- 
haupt getroffen.  Kallikles  wird  sonst  nicht  genannt;  und 
man  hat  deshalb  wohl  geraeint,  er  sei  eine  erdichtete  Person, 
um  den  extremsten  möglichen  Gegensatz  zur  Gesinnung  des 
Sokrates  darzustellen.  Das  ist  doch  kaum  denkbar.  Auch 
dass  sein  Name  untergeschoben  sei,  um  eine  bestimmte 
historische  Persönlichkeit  —  etwa  Kritias^),  von  dem  er  in 
der  Tat  Züge  zu  tragen  scheint  —  darunter  zu  verbergen, 
will  nicht  einleuchten.  Denn  es  werden  ganz  bestimmte 
Angaben  über  ihn  und  seine  Verhältnisse  gemacht.  Er 
stammt  aus  Acharnä^);  ist  von  vornehmer  Abkunft  und  be- 


^)  Krohn,  „Beiträge    zur  Erklärung  des  platonischen  Gorgias" 
Leipzig  1876  p.  1.  25. 
2)  Gorg.  495d. 


—     76     — 

gütert');  Gorgias  ist  bei  ihm  abgestiegen  2);  er  liat  sieh  der 
politischen  Tätigkeit  zugewendet^);  aucli  werden  drei  Leute 
genannt'*),  mit  denen  er  befreundet  ist.  Teisander  von 
Aphidnai,  Andron  und  Nausikydes  von  Cholarge,  und  eines 
Gespräches  wird  Erwälinung  getan,  das  er  mit  ihnen  ge- 
führt hat^;;  dann  wird  ein  junger  Mensch  genannt,  der  sein 
Liebling  und  durch  seine  Schönheit  bekannt  hf').  Es  wäre 
gegen  Piatos  sonstige  Art  und  hätte  an  sicli  etwas  Be- 
fremdendes und  Gekünsteltes,  wenn  alle  diese  Züge  nur  er- 
funden sein  sollten,  um  eine  Figur  herauszubringen,  mit 
der  Sokrates  disputieren  kann.  Zwar  kennen  wir  die  Namen 
vieler  Athener  aus  jener  Zeit.  Dass  uns  jedoch  alle  Namen 
von  nur  irgendwie  hervorragender  Bedeutung  überliefert 
wären,  die  in  der  Zeit  von  427 — 375,  —  denn  soweit  müssen 
wir  möglicherweise  die  Grenzen  für  die  Zeit  des  Gespräches 
abstecken,  —  in  Athen  gelebt  haben,  Hesse  sich  nicht  be- 
haupten, trotz  aller  Sorgfalt,  die  Kirchner  in  seiner  Prosopo- 
graphia  Attica  aufgewendet  hat,  um  alle  Menschen,  die  uns 
genannt  werden,  zu  identifizieren.  Es  ist  eben  derselbe 
Fall  mit  Thrasymachus  im  ersten  Buche  der  „Republik", 
der  ganz  ähnliche  Ansichten  vertritt  wie  im  „Gorgias" 
Kallikles  und  auch  nicht  weiter  nachweisbar  ist.  Doch  mag 
dem  sein,  wie  ihm  wolle,  die  Personen  und  die  von  ihnen 
vertretenen  Ansichten  sind  keinesfalls  blosse  Erdichtungen, 
und  als  Ausläufer  und  Nachwirkungen  der  jüngeren  Sophisten- 
scliule  in  dem  damaligen  Athen  nicht  auffallend.  Man 
braucht  nicht  an  bestimmte  Schulrichtungen  oder  Schul- 
häupter zu  denken,  gegen  die  sich  Plato  im  „Gorgias"  ge- 
wendet hätte;  es  genügt  anzunehmen,  dass  in  gewissen 
Gesellschaftsklassen  Ansichten,  wie  sie  im  „Gorgias"  sich 
wiederspiegeln,    populär    und  geläufig    waren,    um    die    von 


»)  Gorg. 

512c. 

')       « 

447b. 

«)   . 

515a. 

*)   » 

487c. 

')      . 

487c. 

')      . 

481d. 

—     77     — 

Plato  geübte  Polemik  zu  verstehen.  Möglich  ist  es  immer- 
hin, dass,  falls  zur  Abfassung  des  Dialoges  die  Schrift  eines 
andern,  etwa  Xenophons,  den  äusseren  Anstoss  gegeben  hat, 
eine  zur  Zeit  viel  gelesene  Schrift  für  die  Ausmalung  der 
gegnerischen  Ansichten  Piaton  das  Material  für  den  „Gorgias" 
lieferte,  und  es  liegt  nicht  fern,  dabei  an  Isokrates  zu  denken, 
(gegen  den  ersieh  auch  im  Euthydem  gewendet  hat')),  etwa 
an  dessen  Rede  gegen  die  „Sophisten",  die  in  der  Zeit  aller- 
dings weiter  zurücklag,  und  etwa  390  als  Programm  bei 
der  Begründung  seiner  Ehetorenschule  von  Isokrates  ge- 
schrieben sein  muss. 

Für  die  Stelle  des  „Gorgias"  in  der  zeitlichen  Reihen- 
folge der  platonischen  Schriften  hat  man  zuweilen  gewisse 
von  Sokrates  im  ^Gorgias"  vorgetragene  Ansichten  zeugen 
zu  lassen  gesucht,  die  von  den  in  andern  Dialogen  vorge- 
tragenen Ansichten  über  denselben  Gegenstand  beträchtlich 
abweichen^).  Daran  hat  man  kaum  Recht  getan.  Denn 
die  im  „Gorgias*  vorgebrachten  Urteile  und  Ansichten 
hängen  auf's  engste  zusammen  mit  dem  hier  behandelten 
Problem  und  mit  der  Art  der  Behandlung,  die  es  erfährt. 
Es  handelt  sich  dabei  hauptsächlich  um  folgende  Punkte: 
Tm  Gegensatze  zu  anderen  Dialogen  scheint  Sokrates  im 
„Gorgias"  die  Rhetorik  schlechthin  zu  verwerfen.  In  Wahr- 
heit jedoch  gilt  in  diesem  Dialoge  nur  der  Art  von  Rhetorik,, 
wie  sie  Gorgias  und  die  Seinen  betreiben,  sein  Verdammungs- 
urteil. •^) 

Im  Phädrus  lautet  das  Urteil  anders;  denn  hier  ist 
gerade  die  Berechtigung  der  Rhetorik  das  eigentliche  Thema. 
An  einem  verfehlten  Modeprodukt,  das  sich  hohe  Bewunde- 
rung verschafft  hat,  wird  dort  nachgewiesen,  wie  eine  Rede, 
ein  Vortrag,  eine  Abhandlung  nicht  beschaffen  sein  dürfe; 
dann  aber  gezeigt,    wie    man    vernünftigerweise  ein  Thema 


')  Eutbydem  p.  304J. 

')  Vgl.  z.  B.  G  c  r  c  k  e  in  seinem  Vorwort  zu  Sauppes  Ausgabe 
p.  38-41.  1897. 

3)  Vgl.  Rudolf  H  i  r  z  1,  das  Hhctorischc  und  seine  Bedeutung  bei 
Piaton  1871. 


—     78     — 

zu  wählen  und  das  gewählte  Thema  zu  behandeln  habe. 
Von  alledem  ist  im  „Gorgias"  nicht  die  Rede,  weil  Plato 
die  Abzweckung  dieses  Dialoges  auf  ganz  andere  Dinge 
richtete.  So  ist  denn  auch  die  Ansicht  verfehlt,  zwischen 
der  freundlicheren  Beurteilung  der  Redekunst  im  „Phaedrus" 
und  der  völligen  Verwerfung  derselben  im  „Gorgias"  bestehe 
ein  unversöhnbarer  Widerspruch  oder  eine  Inkonsequenz,  die 
von  Unsicherheit  des  Denkens  und  der  Parteinahme  zeuge. 
Ein  anderer  Punkt,  der  hierhin  gehört,  ist  die  Ver- 
schiedenheit der  Ansichten  über  das  Verhältnis  zwischen 
dem  Guten  und  dem  Angenehmen,  wie  sie  einerseits  im 
„Protagoras"  und  andererseits  im  ,, Gorgias"  vorgetragen 
werden.  Im  „Protagoras"  wird  die  Identität  des  Angenehmen 
mit  dem  Guten  von  Sokrates  behauptet  und  damit  der  Ein- 
klang mit  dem  Sophisten  erreicht;  im  „Gorgias"  dagegen 
wird  eben  diese  Identifizierung  des  Angenehmen  mit  dem 
Guten  von  Sokrates  mit  dem  grössten  Nachdruck  abgewiesen 
und  als  ein  ganz  ungeheuerlicher  Irrtum  bezeichnet.  Diesen 
Gegensatz  der  Ansichten  auf  einen  Wechsel  in  Piatos  Auf- 
fassung zurückzuführen,  ist  unmöglich.  Man  mag  die  Zeit, 
die  zwischen  der  Abfassung  des  ,, Protagoras"  und  der  des 
„Gorgias"  verflossen  ist,  recht  lang  ansetzen;  zur  Erklärung 
einer  Wandlung  in  Piatos  Ansichten  von  so  radikaler  Art 
würde  sie  immer  noch  nicht  ausreichen.  Dass  der  „Prota- 
goras" der  frühere  von  beiden  Dialogen  ist,  wird  nicht  leicht 
bestritten  werden.  Dann  wird  man  annehmen  dürfen,  dass 
er  der  echten  Manier  des  Sokrates  noch  näher  steht.  Aber 
weder  kann  Sokrates  jemals  im  Ernst  sich  des  Satzes  an- 
genommen haben,  das  Angenehme  sei  auch  das  Gute,  noch 
kann  es  Plato  jemals  in  den  Sinn  gekommen  sein,  dem 
Sokrates  einen  solchen  Satz  in  den  Mund  zu  legen,  der  der 
Gestalt  des  historischen  Sokrates  schnurstracks  widerspricht. 
Dass  die  von  Sokrates  im  „Gorgias"  vorgetragene  Ansicht 
durchaus  ernst  gemeint  ist,  steht  ausser  Zweifel.  Also 
bleibt  nur  die  Annahme  übrig:  der  Satz  im  „Protagoras" 
von  der  Identität  des  Angenehmen  mit  dem  Guten  ist  im 
Munde    des    Sokrates    unmöglich    ernst  gemeint,    er    gehört 


—     79     — 

wie  das  meiste  im  „Protagoras"  zu  den  Mitteln,  die  Sokrates 
anwendet,  um  die  völlige  Unklarheit  und  begriffliche  Un- 
sicherheit des  viel  angestaunten  Sophisten  in  helles  Licht 
zu  stellen.  Ja,  wenn  man  wirklich  annehmen  dürfte, 
Sokrates  mache  die  betreffende  Ausführung  im  „Protagoras" 
in  vollem  Ernste  und  Plato  habe  sich  damit  gegen  den 
historischen  Sokrates  keineswegs  vergangen,  so  wären  wir 
immer  uoch  gezwungen,  zu  bestreiten,  dass  Plato  jemals 
eine  solche  Ansicht  habe  hegen,  sie  jemals  als  seine  Ansicht 
habe  vortragen  können.  Aber  der  ganze  „Protagoras*  be- 
ansprucht ja  garnicht  den  Wert  einer  strengen,  ernsthaften 
Untersuchung.  Das  glänzende  Gemälde  von  Zeit,  Personen 
und  Tendenzen  ist  ganz  und  gar  durchzogen  von  satirischen 
und  ironischen  Absichten,  und  es  ist  schlechterdings  kein 
Grund,  den  Sokrates  oder  gar  Plato  gerade  hier  beim  Worte 
zu  nehmen,  wo  über  das  Gute  in  ethischem  Sinne  eine  An- 
sicht vorgetragen  wird,  die  der  historischen  Stellung  des 
Sokrates  wie  des  Plato  direkt  entgegengesetzt  ist. 

Plato  hat  gegen  Ende  seines  Lebens  noch  einmal  in 
den  „Gesetzen"  die  Frage  Lach  dem  Verhältnis  des  Ange- 
nehmen zum  Guten  behandelt.  Da  führt  er  aas:  Lust-  und 
Schmerzgefühl  ist  mit  der  Natur  des  Menschen  aufs  engste 
verbunden  und  ergibt  für  das  Handeln  der  Menschen  das 
mächtigste  Motiv.  Es  wird  also  dem  Gesetzgeber  zu  raten 
sein,  dass  er  die  Tugend  empfehle  wegen  der  an  sie  ge- 
knüpften Folgen,  die  Lustgefühle  zu  mehren,  die  Schmerz- 
gefühle zu  mindern.  Eine  solche  Empfehlung  wäre  auch 
dann  nützlich  und  wohl  angebracht,  wenn  man  sie  als  eine 
fromme  Täuschung  ansehen  müsste  (Legg.  V.  p.  732  ff.  11, 
p.  663).  Dabei  ist  zu  bedenken,  dass  Plato  hier  von  den 
Gesetzen  für  den  „zweitbesten  Staat"  spricht,  und  dass  er 
nur  die  Mittel  für  die  Erziehung  der  Unverständigen  im 
Auge  hat,  nur  an  die  politische  Abzweckung  und  den  Dienst 
des  gemeinen  Wohles  denkt.  Im  „Gorgias"  dagegen  handelt 
es  sich  um  den  idealen  Begriff  des  sittlich  Guten,  utn  die 
ewige  Seligkeit  und  das  Heil  der  Seele  im  Diesseits  wie 
im  jenseitigen  Leben.     So  fällt    einerseits    der  Widerspruch 


—     80     — 

zwischen  den  „Gesetzen"  und  dem  „Gorgias"  fort,   anderer 
seits  erweisen  sich  alle  Bemühungen,  zwischen  dem  „Gorgias" 
und    dem    „Protagoras",    in    diesem    Punkte     eine    Einheit 
künstlich  herzustellen,   als  eitel  und  missverständlich. 

Ein  anderer  Punkt,  der  Bedenken  erregt  hat,  ist 
folgender:  Im  „Gorgias"  wird  über  die  grossen  Männer, 
die  den  athenischen  Staat  in  den  ruhmvollsten  Zeiten  und 
mit  dem  glänzendsten  Erfolge  gelenkt  haben,  ganz  anders 
geurteilt  als  im  „Menon".  Im  Gorgias  werden  sie  streng 
verurteilt  und  in  sittlicher  Hinsicht  ganz  unzulänglich  ge- 
funden, auch  die  Wirkungen,  die  sie  auf  die  sittlichen  Zu- 
stände im  Staate  geübt  liaben,  werden  im  trübsten  Lichte 
dargestellt.  Im  Menon  klingt  das  Urteil  ganz  anders,  und 
das  grosse  Verdienst  jener  Heroen  wird  mit  Freudigkeit  an- 
erkannt, —  Der  Gegensatz  ist  unleugbar  vorhanden;  aber 
auch  er  erklärt  sich  durch  die  Verschiedenheit  des  Zusammen- 
hangs, in  dem  die  entgegengesetzten  Urteile  gefällt  werden. 
Der  Tadel,  den  Sokrates  ausspricht,  gilt  nicht  der  Betäti- 
gung jener  Männer  im  Dienste  des  Staates,  —  in  dieser 
Beziehung  gibt  Sokrates  zu,  seien  sie  ausgezeichnet  gewesen 
und  viel  vorzüglicher  als  ihre  Nachfolger,  —  sondern  der 
unzulänglichen  Erfüllung  der  höchsten  ethischen  Aufgaben 
für  sich  und  für  das  Gemeinwesen^).  Das  aber  verträgt 
sich  ganz  wohl  mit  den  anders  gerichteten  Aeusserungen 
im  „Menon" 2),  wie  mit  denen  im  „Staatsmann^)"  und  in 
der  „Republik^)". 

Wir  behandeln  noch  die  viel  verhandelte  Frage  nach  der 
Bestimmung  und  Abzweckung  des  Dialogs  in  Bezug  auf  gewisse 
Einzelheiten  der  Ausführung.  Die  scharfsinnige  Beweisführung 
Alfred  Gerckes  legt  die  Annahme  nahe,  die  Absicht  des  Dialogs  sei 
die  Entgegnung  auf  Angriffe  wider  Sokrates  u.  s.  Schüler,  wie  sie 
etwa  ums  Jahr  494  oder  493  Polykrates  aufs  neue  erhoben  hat. 


1)  Gorg.  513  E  bis  521  A. 
»)  Menon  93  a  bis  94e. 
8)  Staatsmann  30,  290,  11,  291. 
*)  Republik  VI,  496, 


—     81     — 

Im  „Gorgias"  ivird  in  der  Tat  vou  einer  als  denkbar  vorge- 
stellten künftigen  Anklage  und  Verurteilung  des  Sokrates 
gehandelt.  Es  geschieht  auf  Anlass  eines  in  strenger  Folge- 
richtigkeit durchgeführten  Gedankens  über  die  sittliche  Pflicht, 
lieber  Unrecht  zu  leiden  als  Unrecht  zu  tun,  ja  auch  dem 
Unrecht,  das  man  erleidet,  sich  lieber  willig  zu  fügen,  als 
es  durch  Unrecht,  das  man  selber  tut,  abzuwehren.  Darin 
ist  offenbar  die  eigentliche  Abzweckung  des  Dialogs  zu 
finden.  Dieser  dienen  auch  die  Ausführungen  am  Schlüsse 
des  „Gorgias"  über  das  ewige  Leben  und  das  Gericht  im 
Jenseits.  Man  darf  sie  nicht  buchstäblich  nehmen  wollen, 
ebensowenig  wie  man  Piatos  Ansicht  von  der  Seele  aus  dem 
Mythos  im  „Phädrus"  erschliessen  dürfte.  Einkleidung 
und  mythische  Darstellungsform  muss  man  als  solche  ge- 
niessen  und  würdigen;  aber  den  Gedanken,  der  dargestellt 
werden  soll,  findet  man  erst,  wenn  man  die  Form  der  Ein- 
kleidung abstreift.  Diese  mythische  Form  aber  nun  gar  als 
Beweismittel  dafür  zu  verwenden,  dass  Plato  orphischeu 
Mysterienkulten  zugewandt  gewesen  sei,  ist  äusserst  verfehlt. 
Diese  Darstellungsformen  sind  nicht  ernsthaft  als  Theorien 
gemeint,  die  in  lehrhafter  Absicht  vorgetragen  werden;  sie 
dienen  lediglich  als  Illustration  des  Gedankens  durch  ein 
anschauliches  Gleichnis.  Wir  knüpfen  daran  weiter  einige 
Bemerkungen  über  anderes,  was  neuere  Erklärer  am  „Gorgias" 
als  auffallende  Eigentümlichkeit  hervorgehoben  haben  ^). 
Alles  das,  um  es  von  vornherein  zu  sagen,  erklärt  sich 
leicht,  wenn  nur  erst  die  Absicht  und  das  eigentliche  Thema 
des  Dialoges  richtig  gedeutet  worden  sind.  Bei  der  Aus- 
malung des  Gegensatzes  der  beiden  Arten,  sein  Leben  ein- 
zurichten und  zu  führen,  dient  Sokrates  als  hervorleuchtendes 
Beispiel  einer  Lebensführung,  die  ganz  und  gar  auf  den 
Ausbau  der  Innenwelt,  auf  das  Heil  der  Seele  gerichtet  ist; 
da  ist  es  eine  einfache  Konsequenz,  dass  daneben  alles 
äussere   Geschick    und    alles    auf     die    Güter    dieser    Welt 


•)  Vgl.  Constantin  Ritter,  Platon,  s.  Leben,  s.  Schriften,  s.  Lehre. 
1.  Bd.  München  1010  p.  95  ff, 

6 


-äl^ 


—     82     — 

gerichtete  Streben  für  gleichgültig  und  hinter  der  Würde 
des  Menschen  zurückbleibend  erklärt  wird.  Daher  ist  es 
keineswegs  verwunderlich,  wenn  Kallikles,  der  den  Genuss 
der  irdischen  Güter  über  alles  stellt,  und  die  Tätigkeit,  sich 
ihrer  um  jeden  Preis  zu  bemächtigen,  für  den  eigentlichen 
Sinn  und  Zweck  einer  vernünftigen  Lebensführung  hält, 
den  Sokrates,  weil  er  sein  Leben  ausschliesslich  mit  allerlei 
Spekulationen  begrifflicher  Art,  mit  der  Erfüllung  seiner 
sittlichen  Aufgabe  und  mit  der  Bildung  seiner  Persönlich- 
keit ausfüllt,  gründlich  verachtet  und  sein  Leben  als  ein 
Leben  im  Winkel,  im  Dunkel  der  Schulstube,  im  Verkehr 
mit  ein  paar  unmündigen  jungen  Leuten  kennzeichnet') 
Mit  diesem  Vorwurf  wird  eben  dieser  Gegensatz  betont. 
Der  ist  kein  rechter  Mann,  der  seine  Kräfte  nicht  der  öffent- 
lichen Tätigkeit,  den  Staatsgeschäften  widmet.  Allen  anderen, 
auch  solchen,  die  ein  sonstiges  nützliches  Gewerbe  betreiben, 
erweist  diese  Art  von  Hochstrebenden  die  gleiche  Nicht- 
achtung, Daraus  wird  es  auch  verständlich,  wenn  im 
„Gorgias"  des  Sokrates  letzte  Geschicke,  die  Anklage  wider 
ihn,  die  Art,  wie  er  sich  in  Wirklichkeit  verteidigt  hat, 
seine  Verurteilung,  seine  Hinrichtung  gewissermassen  vor- 
weg genommen  werden,  allerdings  als  zeitlose  Hypothesen^). 
Wie  des  Sokrates  Leben,  so  ist  auch  sein  Tod  die 
tätige  Verwirklichung  seiner  Lehren  und  der  Grundsätze, 
zu  denen  er  sich  stets  bekannt  hat.  Er  scheut  nicht  Schmerz, 
Verfolgung  oder  Untergang,  wo  es  gilt,  die  Stärke  und 
Hoheit  der  Seele  zu  bewähren.  Freudig  nimmt  er  den 
Märtyrertod  auf  sich,  um  nicht  untreu  befunden  zu  werden 
an  den  heiligsten  Institutionen,  an  dem  Vaterlande  und  seinen 
Gesetzen.  Unbekümmert  um  die  Schmach  und  das  Leid, 
das  die  Unverständigen  ihm  antun,  und  um  deren  Gespött 
rechnet  er  sich  seine  Schwäche  und  Hilflosigkeit  gerade 
zum  Ruhme^).     Sein  ganzes  Streben  ist  allein  darauf  gerichtet, 


»)  p.  485  D. 

2)  p.  521  C.  bis  522  D. 

')  Gorg.  p.  473  E.  f. 


m 


—     83     — 

des  Wohlgefallens  der  Götter  teilhaftig  zu  werden,  und  mit 
unbefleckter  Seele  dereinst  vor  dem  ewigen  Richter  zu 
stehen.  Das  alles  mag  als  Weiterbildung,  als  Ergänzung 
zu  dem  in  der  „Apologie"  Dargestellten  aufgefasst  werden 
können;  in  keinem  Falle  bildet  es  einen  Gegensatz  dazu. 

Selbstverständlich  hängt  das  Prinzip  für  die  praktische 
Lebensführung,  das  Plato  im  „Gorgias"  den  Sokrates  ver- 
treten lässt,  aufs  engste  zusammen  mit  der  Lehre  von  der 
Erkenntnis  un"d  von  dem  Verhältnisse  des  Denkens  zum 
Seienden,  die  Plato  mit  Sokrates  gemein  hat,  wie  mit  der 
Fortbildung,  die  Sokrates  Lehre  durch  Plato  erfahren  hat. 

Das  ist  für  die  ganze  Anschauungsweise  die  Voraus- 
setzung: der  Mensch  erkennt  das  wahrhaft  Seiende;  er  se- 
langt  zur  Wahrheit  durch  begriffliches  Denken,  und  das 
wahrhaft  Seiende  tiägt  mithin  selbst  begrifflichen  Charakter; 
der  Mensch  gehört  seinem  Wesen  nach  nicht  der  sinn- 
lichen Welt,  sondern  dem  Reiche  des  ewig  Seienden  an, 
aus  dem  seine  Begriffe  stammen,  und  in  diesem  ewigen 
Reiche  liegt  seine  Aufgabe  und  seine  Bestimmung.  Diese 
Gedanken  bilden  selbstverständlich  auch  im  „Gorgias"  die 
Grundlage  und  den  Hintergrund,  wenn  auch  Plato  hier 
gegenüber  den  seichten  Lehren  der  Sensualisten  sich  nicht 
veranlasst  sieht,  seine  Ideenlehre  zu  begründen,  sie  auszu- 
bauen oder  auch  nur  heranzuziehen.  Der  „Gorgias"  will 
nicht  streng  wissenschaftlich  ableiten,  sondern  Ueberzeugungen 
eindringlich  vortragen  und  aus  guten  Gründen  Wahrschein- 
lichkeit dafür  erreichen. 

Selbst  die  Frage  nach  dem  Verhältnisse  zwischen  dem 
Wissen  des  Rechten  und  dem  Tun  des  Rechten  zu  erörtern, 
wird  als  in  diesem  Zusammenhange  zu  weit  führend  abge- 
wiesen^). Nur  was  von  der  Lehre  vom  Begriffe  auch  dem 
einfachsten  Verständnisse  zugänglich  ist,  das  will  Sokrates 
diesen  Gegnern  zu  begreifen  zumuten.  Die  Guten  heissen 
gut,  weil  ihnen  das  „Gute"  beiwohnt,  und  die  Trefllichen 
heissen    trefflich,    weil     ihnen     das    „Treffliche"     beiwohnt. 


1)  Gorg.  p.  461  B;  467  C  bis  468  E. 


—     84     — 

Uebrigens  genügt  schon  dieses  Wenige,  was  hier  beigebracht 
wird,  um  das  seltsame  Missverständnis,  das  wir  hier  nur 
streifen  können,  abzuweisen,  als  seien  die  Ideen  im  Sinne 
Piatos  nicht  als  selbständig  für  sich  seiende  Begriffe, 
sondern  als  eine  Art  von  Regeln  oder  Gesetzen  zu  ver- 
stehen, die  nicht  eigentlich  ,, seien",  sondern  „gelten')." 
Man  versteht  dann  die  Auffassung,  wonach  die  Ideen  ge- 
trennt für  sich  existieren,  so,  als  ob  damit  die  Ideen  als 
„Dinge"  gekennzeichnet  würden;  denn  nur  Dingen  kommen 
solche  selbständige  Existenzen  zu.  Dabei  bleibt  zunächst 
unklar,  was  mit  dem  „Gelten"  gemeint  sein  soll,  wenn  etwas 
„gilt",  aber  nicht  „ist".  Die  Münze,  die  beim  Zahlen 
„gilt,"  muss  doch  wohl  existieren,  und  die  Bestimmung, 
die  im  Heere  „gilt",  gleichfalls.  Der  Lehrsatz,  der  „gilt", 
existiert,  und  das  richterliche  Urteil  auch,  das  ausgeführt 
wird.  Aber  nicht  alles  allerdings,  was  selbständig  für 
sich  besteht,  darf  man  als  Dinge  fassen.  Aristoteles  er- 
klärt sie  für  „ouat'ai"  „Wesenheiten";  das  heisst  aber  eben 
nicht  „Dinge",  sondern  geistige  Wesenheiten.  Ob  es  „Dinge" 
im  gemeinen  Sinne  nach  Aristoteles  gibt,  kann  überhaupt 
fraglich  erscheinen.  Denn  nach  ihm  ist  das  Seiende  Geist 
und  das  Sinnliche  selbst  übersinnlich.  Die  Streitfrage 
zwischen  Aristoteles  und  Plato  ist  überhaupt  nicht  die,  ob 
die  Idee  wirklich  ist,  —  darin  stimmen  beide  völlig  über- 
ein —  sondern  ob  die  Idee  vom  Sinnlichen  getrennt  für 
sich  wirklich  ist,  und  da  wird  Aristoteles,  der  dieses 
Getrenntsein  bestreitet,  wohl  Recht  behalten  gegenüber 
Plato,  der  dieses  Getrenntsein  behauptet. 

VII.  Die  Ergebnisse  der  Untersuchung'. 

Zum  Schluss  fassen  wir  das  Ergebnis  aus    unseren  Er- 
örterungen in  folgenden  Sätzen  zusammen: 

1.  Der  Dialog  „Gorgias"  läuft  aus  in  einer  positiven 
Lehre  von  dem  rechten  Lebensziel  und  dem  rechten 
Wege  zum  Ziel.     Die  Antwort  auf  die  Frage,    die   in 


')  Natorp,  Piatons  Ideonlehre  S.  6,  48  und  durchgängig. 


—     85     — 

dem  Gespräche   beliandelt    wird,    bleibt    nicht    unent- 
schieden, sondern  wird  mit  voller  dogmatischer  Sicher- 
heit gegeben.     Diese  positive  Entscheidung  wird    dem 
Sokrates  in  den  Mund   gelegt.     Der   Inhalt    derselben 
Iä>jst  sich  ganz  wohl  verstehen  als    richtige  Folgerung 
aus  den  Gedanken,  die  dem  historischen  Sokrates  auch 
sonst  zugeschrieben  werden,  bei  Plato   und    aucii    bei 
Xenophon.     Die    Form,    in     der     diese    Lehren     von 
Sokrates    im  „Gorgias"    vorgetragen    werden,    stimmt 
gleichfalls  mit  der  Forin,  in  der  Sokrates  auch    sonst 
seine  Gedanken  darzulegen  pUogt,  im  ganzen  überein. 
Das    von    der     gewöhnlichen    Art    des    Sokrates    Ab- 
weichende ist  zu  erklären  durch    die  Eigentümlichkeit 
der  Gegner,    mit    denen   Sokrates    verhandelt.     Gegen 
diese  Sophisten  hegt  Sokrates    die    entschiedenste  Ab- 
neigung; ihre  Ansichten  wie    ilir  ganzes  Treiben    sind 
ihm  geradezu  verächtlich;  die  ünsittlichkeit  derselben 
erscheint  ihm  verwerflich ;    der    dreiste  Hochmut,    die 
unwissenschaftliche     Oberflächlichkeit      darin      erregt 
seinen  hellen  Zorn.     Daher  die  scharfe  Paradoxie,    zu 
der  er  seine  Gedanken  zuspitzt,  das  Zurücktreten  seiner 
sonstigen    gutmütigen,    freundlich    überlegenen,    nach- 
sichtigen Manier  und  die   rücksichtslose  Strenge,    mit 
der  er  die  unwürdigen  Gegner  widerlegt. 
2.  Bei  alledem  darf  man  mit  voller  Sicherheit  behaupten, 
dass  Plato  die  Ansichten,  die     er    durch  Sokrates    im 
„Gorgias"    aussprechen    und    vertreten    lässt,    in    der 
Hauptsache  selbst  geteilt  hat.     Der  Beweis  dafür  liegt 
zunächst  darin,  dass  auch  in  anderen  Dialogen  Piatos 
diese    Ansichten    vorgetragen    werden,    z.  B.    in    den 
Getzen  (II  p.  G61,  Piatos  letztem  Werk);    teils  darin, 
dass  Aristoteles,  Piatos  treuester  Schüler,  die  gleichen 
oder  nahe  verwandte  Lehren  in   seiner  Ethik    vertritt. 
Die  Aehnlichkeit  geht  soweit,  dass  man  fast   zu  jeder 
Ausführung  das  Gegenstück  bei  Aristoteles  nachweisen 
kann.     Insbesondere  lässt  auch  Aristoteles    die    wahre 
Eudämonie,     den    letzten    Zweck     des     menschlichen 


—     86     — 

Handelns,  in  dem  rein  kontemplativen  Zustande,  in 
der  reinen  Betrachtung  (Eth.  Nikom.  x,  6)  erfüllt 
werden  und  stellt  die  Gunst  der  Götter  als  das  zu 
erreichende  Ziel  dem  Handelnden  vor  Augen.  Auch 
bei  Aristoteles  gibt  der  wahrhaft  sittliche  Mensch 
alle  irdischen  Güter,  Macht,  Ehre,  hohe  Stellung  preis, 
um  das  Eine  zu  erlangen,  was  not  ist,  den  Frieden 
der  Seele,  dessen  Bedingung  die  Hingabe  des  ganzen 
Menschen  an  das  Gute,  das  Pflichtgemässe  ist.  Was 
Aristoteles  über  den  Vorzug  des  kontemplativen  vor 
dem  aktiven  Leben  lehrt,  das  kommt  bei  Plato  nicht 
bloss  im  Gorgias  (p.  500  ff.)  sondern  auch  an  vielen 
anderen  Stellen  vor,  so  im  „Theätef  (p.  176),  in  der 
„Republik"  (p.  441  ff.),  im  „Timaeus"  (p.  86  ff.),  im 
„Phaedon"  (p.  64  ff.  79  ff.).  Es  ist  milhin  als  plato- 
nisch zu  nehmen. 

Damit  ist  freilich  nicht  gesagt,  dass  auch  alle  Gründe, 
die  Sokrates  vorbringt,  alle  Einzelheiten  des  Gedanken- 
ganges in  den  Ausführungen  des  Sokrates  ohne  weiteres 
dem  Plato  als  dessen  eigene  Ansichten  zugeeignet 
werden  dürften.  Vieles  ist  offenbar  von  Plato  nur 
als  Mittel  gemeint  zur  Charakteristik  des  Sokrates 
und  zu  schärferer  Zeichnung  des  Gegensatzes,  in  dem 
Sokrates  zu  seinen  sophistischen  Mitunterrednern  steht. 
Es  gilt  also  Vorsicht  zu  üben  und  nur  auf  gute 
Gründe  hin  Aeusserungen  des  platonischen  Sokrates 
als  Meinungsausdruck  des  Plato  zu  betrachten,  (z.  B. 
die  Ausführungen  über  die  xi/vai  p.  404  B  oder  den 
Satz,  dass  niemand  mit  Willen  Unrecht  tut  p.  509  c, 
oder  die  Argumentation,  die  Sokrates  zur  Wider- 
legung des  Gorgias  anwendet,  dass,  wer  weiss,  was 
dgis  Gerechte  und  Ungerechte  ist,  notwendig  auch 
gerecht  sei  und  nicht  als  Rhetor  das  Ungerechte  ver- 
treten könne  p.  460 — 461).  Aber  es  gibt  Leute,  die 
auch  das,  was  Sokrates  in  seiner  Manier  in  satirischer, 
ironischer  Absicht  scherzend  oder  um  den  Gegner 
aufs  Glatteis  zu  führen,  vorbringt,  ganz  ernsthaft   für 


i 


-     87     - 

Piatos  eigene  Meinung  nehmen.     Es  gehört  zum  aller- 
sichersten,  was  wir  von  Plato  wissen,  dass  er  nie    die 
Meinung  gehabt  haben    kann,    das  Angenehme,    Lust- 
bereitende sei  auch  das  Gute.     Aber  auch  von  Sokrates 
selber  gilt,  dass  wenn  er  im  „Protagoras"  eine  solche 
Ansicht  zu  vertreten  scheint,  das  nicht  im  Ernste  tut, 
als  wäre  er  solcher  Meinung,  sondern  nur  im  Scherze, 
als  Kampfmittel  gegen  den    grossen    und    berühmten 
Sophisten,    dessen    vollständige    Unklarheit    über    die 
wichtigsten  und  prinzipiellsten  Fragen  garnicht  besser 
aufgedeckt  werden  kann  als  durch  solches    scheinbare 
Eingehen  auf  seine  Manier  und  auf  seine  Lehren. 
4.  Der  Dialog  handelt   nicht  eigentlich    von    dem  Werte 
oder    Unwerte    der   Redekunst,    was    schon    ein    alter 
Scholiast  als  Ansicht  mancher  berichtet.     (Vgl.  K.   F. 
Hermann,  Geschichte  und  System  der  piaton.  Philo- 
sophie.  1839.     S.  477.  637.  f.).     Zunächst  ist  es  nicht 
denkbar,  dass  Plato   die  Redekunst    als    solche    sollte 
verworfen,  ihren  Wert  als  Bildu^gsmittel    völlig    ver- 
kannt,   ihre    Bedeutung    für     das      öffentliche    Leben 
unterschätzt  haben.     Sein  Schüler  Aristoteles  hat    die 
Rhetorik    mit    grossem    wissenschaftlichem    Ernste    in 
einem  hochbedeutenden  Werke  behandelt,  sicher  auch 
das   in  Piatos   Sinn    und  Geist.     Wogegen  sich    Plato 
im  „Gorgias"  wendet,   ist    der  Missbrauch    der  Rede- 
kunst.    Missbrauch  ist  es,  wenn  man  bei  rhetorischen 
Künsten  stehen  bleibt  und  darüber  gründliche  dialek- 
tische  Untersuchung,    die    allein    zum  Wissen    führt, 
vernachlässigt,  (p.  455—457).  Missbrauch  ist  es  ferner, 
wenn  der  Redner  selbstsüchtige  Zwecke  verfolgt,  Macht 
und  Einfluss  zu  gewinnen  strebt,   um    die  Gunst    der 
Masse  buhlt,  den  Menschen  das   sagt,    wonach    ihnen 
die  Ohren  jucken,  wenn    er    nicht  Wissen    verbreitet, 
sondern  Leidenschaften  wachruft  und  statt  die  Menschen 
zu  bessern,  sie  nur  nach  seinem  Willen  zu  leiten  sucht. 
(p.  462—466).     Darum   darf  man    es    als    aus  Piatos 
Seele  gesprochen   betrachten,    wenn  Gorgias    ausführt. 


—     88     —       • 

dass  der  Missbrauch,  den,  wie  er  zugibt,  sophistischer 
Geist  mit  der  Redekunst  treibt,  den  echten  Wert  der 
Kunst  und  ihren  rechten  Gebrauch  nicht  aufhebt. 
(p.  456C-457C).  In  der  Tat  bekämpft  Sokrates  bei 
Piato  nur  die  Begriflsbestimmung,  die  Gorgias  von 
der  Redekunst  gibt,  und  aus  der  nachher  Polos  und 
Kallikles  die  strikten  Folgerungen  zum  Besten  geben. 
Darum  heisst  es:  Sophist  und  Rhetor  seien  identische 
oder  nahezu  identische  Begriffe  (p.  465  C;  520  A), 
und  die  Sophistik  würde  immeriiiii  erträglicher  (xctUiov) 
sein,  wenn  nicht  die  Rhetorik  ihr  die  Mittel  zu  un- 
heilvollem Tun  lieferte  (p.  520  B).  Aristoteles  aber 
hat  seiner  Zeit  die  gleiche  Ansicht  ausgesprochen:  die 
Redekunst  lasse  sich  missbrauchen,  gerade  wie  jedes 
andere  wertvolle  Gut.  (Rhetor.  I,  1.  1355b  2). 
5.  Der  Streit  um  die  Redekunst  hat  also  keine  selbst- 
ständige Bedeutung  und  der  Satz,  dass  Plato  im 
„Gorgias"  für  alle  Zeiten  das  Grundwerk  der  Be- 
kämpfung der  Jledekunst  im  gewöhnlichen  Sinne  ge- 
schaffen habe,  (vgl.  Christ,  Geschichte  der  griechi- 
schen Litteratur,  5.  Aufl.  bearbeitet  von  W.  Schmid 
1908.  I.,  S.  635.)  trifft  nicht  die  Sache.  Die  Be- 
kämpfung des  sophistischen  Missbrauchs  der  Rede- 
kunst zu  selbstsüchtigen  Zwecken  bietet  nur  die  An- 
knüpfung für  das  eigentliche  Thema  des  Dialogs. 
Statt  der  sophistischen  Redekunst,  die  sich  allerdings 
am  bequemsten  für  den  Zweck  darbot,  hätte  auch 
jede  andere  auf  äusseren  Erfolg  und  die  Gewinnung 
äusserer  Güter  auf  Kosten  des  Gewissens  gerichtete 
Tätigkeit  eintreten  können.  Die  Bekämpfung  der 
Rhetorik  ist  kein  selbständiger  Teil  des  Dialogs ; 
sie  bildet  für  das  Werk  nur  die  Einleitung'.  Ob 
Plato  p.  463  A  als  Anspielung  auf  die  Rede  des  Iso- 
krates  gegen  die  Sophisten  (17j  zu  deuten  ist  (vgl. 
Räder,  S.  124),  ob  nicht  vielmehr  Isokrates  als  der 
Spätere  sich  gegen  Plato  wendet,  ist  schwer  auszu- 
machen; jedenfalls,  für  unsere  Auffassung  ist  es  uner- 


—     89     — 

heblich,  und  wir  können  die  Frage  unerörtert  hissen. 
Der  Grund,  aus  dem  Plato  sich  gegen  die  Redekunst 
als  das  Hauptstück  im  verderblichen  Treiben  der 
Sophisten  gewandt  hat,  ist  auch  ohne  das  verständ- 
lich genug.  Er  hatte  sich  am  meisten  gegen  die 
Gunst  zu  wehren,  die  das  atlieniensische  Publikum 
Männern  wie  Isokrates  und  Antisthenes  zuwandte. 
().  Das  eigentliche  Thema  des  Dialogs  ist  ausdrücklich 
genug  bezeichnet  in  den  Worten,  die  Sokrates  an 
Kallikles  richtet  p.  500  C.  „Der  Gegenstand  unserer 
Unterredung  ist  wichtig  genug,  dass  ein  Mensch,  der 
auch  nur  ein  geringes  Mass  von  vernünftiger  Einsicht 
besitzt,  um  keinen  anderen  Gegenstand  sich  mit 
grösserem  Ernste  bemühen  müsste,  als  um  diesen.  Es 
handelt  sich  um  die  Frage:  wie  soll  der  Mensch  sein 
Leben  einrichten y  Auf  die  Weise,  die  du  mir  an- 
preisest, dass  man  solclies  Werk  eines  reciiten  Mannes 
vollbringen  soll,  als  Redner  in  der  Volksversammlung 
sich  betätigen,  sich  in  der  Redekunst  üben,  die  Staats- 
angelegenheiten betreiben  in  dem  Stil,  wie  es  euch 
geläufig  ist?  oder  soll  man  sein  Leben  dem  Streben 
nach  edler  Bildung  {^tikoarj'Ma,  -aiost'a)  widmen?  und 
wie  unterscheidet  sich  diese  letztere  Lebensführung 
von  jener? 

So  wird  es  denn  das  Beste  sein,  zunächst  den  Unter- 
schied, wie  ich  es  eben  unternommen  habe,  festzu- 
stellen, und  ist  dies  geschehen  und  sind  wir  darüber 
einig,  ob  wirklich  diese  beiden  Arten  der  Lebens- 
führung vorhanden  sind,  dann  zu  erwägen,  welche 
von  beiden  man  auf  Grund  ihres  Unterschiedes  er- 
wählen soll."  Diese  Frage  erweist  sich  als  die  des 
sittlichen  Lebens.  Der  Gedankengang,  den  Plato 
seinem  Sokrates  in  den  Mund  legt,  ist  bekannt  genug. 
Es  ist  derselbe,  den  wir  bei  Aristoteles  wiederfinden: 
Alles  Handeln  hat  einen  Zweck  (p.  477a);  der  höchste 
Zweck  aber  ist  die  Eudämonie,  der  innere  Friede, 
(p.    472  C)    und    dieser    kann  ,  nur    erreicht    werden. 


—     90     — 

wenn  die  Seele,  des  Mensclien  eigentliches  Wesen, 
gesund  ist  und  ihr  Werk  tut  (p.  474a).  Das  Kenn- 
zeichen der  gesunden  Seele  und  ihrer  rechten  Betäti- 
gung ist  edle  Bildung,  Ordnung  und  Mass  {)».  nOö). 
Das  allein  macht  selig.  Darum  strebt  der  rechte 
Mensch  nicht  nach  äusseren  Gütern,  sondeYn  nach  dem 
Heil  der  Seele.  Er  erduldet  lieber  jedes  äussere 
Uebel,  als  dass  er  Scliaden  nähme  an  seiner  Seele. 
Er  folgt  nicht  dem  Belieben  der  Willkür,  sondern 
dem  vernünftigen  Willen,  fp.  468)  Nur  dem  ver- 
nünftigen W^illen  gehorchen  ist  Macht,  der  Willkür 
folgen  Ohnmacht  und  Knechtschaft.  Besser  also  Un- 
recht leiden  als  Unrecht  tun;  jeden  Schmerz  und  den 
Tod  selber  auf  sich  nehmen  um  des  Gewissens  willen; 
seine  Begierden  in  seiner  Gewalt  haben,  auf  alles 
äussere  Glück  verzichten,  um  seine  arme  Seele  zu 
retten,  das  heisst  sittlich  leben  und  zugleich  inneren 
Frieden  haben,  wahrhaft  glücklich  sein  (p.  506 — 508) 
und  »Seligkeit  geniessen.  Dieses  innere  Gericht,  das 
sich  am  Bösen  vollzieht,  dieser  innere  Lohn,  den  das 
Gute  mit  sich  bringt,  wird  dann  am  Schluss  in  mythi- 
scher Form  als  ein  im  Jenseits  nach  dem  Abschluss 
des  irdischen  Lebens  sich  vollziehendes  Gericht  dar- 
gestellt. Dieser  Mythus  ist  zu  verstehen  als  eine 
andere  Ausdrucksform,  als  Mittel  der  Verdeutlichung 
eben  desselben  Gedankenganges,  der  den  eigentlichen 
Inhalt  des  Dialogs  bildet. 

Ueber  die  Höhe  dieser  Gedanken  auch  nur  ein 
Wort  des  Preises  zu  sagen,  ist  überflüssig.  Wer  von 
der  Erhabenheit  der  im  „Gorgias"  vorgetragenen 
Lehre  nicht  im  tiefsten  Innern  ergriffen  wird,  der 
wird  überhaupt  einer  Erhebung  der  Seele  zum  wahr- 
haft Grossen  nicht  leicht  zugänglich  sein.  Die  Auf- 
fassung des  sittlichen  Lebens,  die  Sokrates  hier  vor- 
trägt, begegnet  uns  wieder  im  Christentum,  sicher 
nicht  ohne  dass  ein  historischer  Zusammenhang  statt- 
gefunden hat,  dem  hier  nachzugehen  nicht   wohl   tun- 


-     91     — 

lieh  ist.  Der  beste  Teil  der  Menschheit  lebt  seitdem 
von  diesen  Gedanken  in  der  Form,  die  sie  durch  die 
grosse  religiöse  Bewegung  in  den  ersten  Jahrhunderten 
unserer  Zeitrechnung  empfangen  hat. 
Wir  haben  uns  der  Polemik  gegen  andere  Schrift- 
steller über  unseren  Dialog  möglichst  enthalten;  die 
Verschiedenheit  der  Meinungen  über  den  Inhalt  des 
„Gorgias",  der  uns  bei  den  Gelehrten  begegnet,  kann 
schon  allein  für  sich  als  Beweis  dienen,  welche  Schwierig- 
keiten das  Verständnis  der  platonischen  Intentionen 
bietet.  Zuweilen  wird  man  an  den  gescheiten  Schul- 
meister erinnert,  der  behauptete,  als  der  erste  das 
volle  Verständnis  des  Goethe'schen  „Faust"  erschlossen 
zu  haben,  und  den  eigentlichen  Inhalt  des  berühmten 
Gedichtes  dahin  festlegte:  es  sei  die  Schilderung  des 
Lebens  einer  deutschen  Stadt  im  16.  Jahrhundert, 
wofür  er  auch  eine  grosse  Menge  von  Belegstellen 
aus  dem  Gedichte  anzuführen  vermochte.  In  Piatos 
„Gorgias"  wird  auf  die  Möglichkeit  einer  Anklage 
gegen  Sokrates  und  einer  Verurteilung  hingedeutet, 
also,  schliesst  man,  ist  der  Dialog  bald  nach  Sokrates 
Tode  verfasst  und  hat  die  nachträgliche  Verteidigung 
des  Sokrates  zum  Zweck  ^).  Da  im  Jahre  394  oder  393 
Polykrates  eine  Schrift  gegen  Sokrates  veröffentlicht 
hat,  die  das  Urteil  gegen  Sokrates  rechtfertigen  sollte, 
so  wird  der  „Gorgias"  wohl  als  eine  Entgegnung 
gegen  Polykrates  zu  deuten  sein.  Das  würde  gelten, 
läge  es  nicht  nach  der  Tendenz  des  „Gorgias"  einem 
Sokrates-Schüler  wie  Plato  so  ausserordentlich  nahe, 
auf  Sokrates  Leben  und  Schicksal  zu  exemplifizieren. 
Die  Ausführung  im  „Gorgias"  bleibt  genau  ebenso 
verständlich,  wenn  sie  50,  als  wenn  sie  5  Jahre  nach 
Sokrates  Tode  niedergeschrieben  ist.  Im  „Gorgias" 
werden  „die  beiden  berühmten  Toten  des  Jahres  399" 
Archelaos    von    Makedonien     und    Sokrates     erwähnt. 


*)  vgl.  Alfred  Gercke    in    der    öfter    zitierten  Einleitung    zur 
Ausgabe  des  Gorgias  p.  XVI. 


—     92     — 

Also  wird  geschlossen  ^):  Der  „Gorgias"  will  die  Parallele 
ziehen  zwischen  beiden;  also  ist  der  „Gorgias"  mög- 
lichst nahe  an  das  Jahr  399  zu  rücken.  Die  grossen 
Staatsmänner  Athens  werden  im  „Gorgias"  aus  dem 
Grunde  schwer  getadelt,  weil  ihre  Wirksamkeit  unter 
dem  Gesichtspiinkte  der  Ethik  schlimme  Früchte  ge- 
tragen habe.  Das  Urteil  wird  aus  einer  besonderen 
politischen  Lage  oder  aus  dem  noch  frischen  Schmerz 
über  das  an  Sokrates  begangene  Unrecht  der  Atiiener 
abgeleitet.  Im  „Meno"  urteilt  Plato  über  eben  jene 
Staatsmänner  ganz  anders;  also  ist  der  „Meno"  eine 
Art  von  Widerruf,  später  verfasst  als  der  „Gorgias" 
und  aus  einer  ganz  anderen  politischen  Lage  und 
politischen  Stimmung  Piatos  zu  erklären.  Und  doch 
ist  es  nach  der  Tendenz  des  „Gorgias"  ebenso  ver- 
ständlich, dass  Plato  die  Sache  hier  mit  dem  Mass- 
stabe des  Ethos  misst,  wie  es  nach  der  Absicht  des 
Menon  natürlich  ist,  dass  hier  die  Menschen  und  die 
Sachen  unter  dem  Gesichtspunkt  der  äusseren  Wirk- 
samkeit beurteilt  werden  (vgl.  oben  S,  77.  78). 

Es  kommt  auch  solches  vor,  was  man  für  ganz 
unmöglich  halten  sollte.  F.  Hörn,  Piatonstudien, 
Wien  1893,  S.  92  sagt:  Die  Sittenlehre  Piatos  im 
„Gorgias"  ist  „eine  Glücksoligkeitsraoral  oder  was 
Kant  eine  hetcronoraische  Moral  nennt  im  strengsten 
Sinne  des  Wortes."  „Wie  Plato  das  Wesen  des  Guten 
im  ., Gorgias"  bestimmt  hat,  kann  er  nach  Hörn  seinem 
praktischen  Gesetze  die  einfache  und  klare  Fassung 
geben:  Handle  besonnen  und  gerecht!"  So  Hörn.  Wer 
dann  wieder  bei  Natorp  (Piatos  Ideenlehre  1903 
S.  41—51)  die  Inhaltsangabe  des  Dialogs  liest,  wird 
sich  kaum  überzeugen  lassen,  dass  damit  Piatos 
„Gorgias"  gemeint  sein  soll.  F.  Susemihl  (die 
genetische    Entwicklung    der  Platonischen    Philosophie 


')  vgl.  Dnmmler,  kl.  Schriften  Bd.  I  p.  135  Absatz  47:  ferner 
p.  3?4,  32.5.  -Akadt-mica  Gicsscn  1889  p.  42,  69;  ebenso  Bergk,  Lite- 
raturgeschichte IV  p.  404,  442. 


'f 


—     93     — 

I.  1855.  S.  90)  meint  mit  Steinhart,  der  Mittelpunkt 
des  Werkes  sei  „die  Darstellung  der  Philosophie  als 
der  ethisch-politischen  Lebenskunst."  Th.  Ziegler 
(die  Ethik  der  Griechen  und  Römer,  Bonn  1881, 
S.  78)  meint,  Plato  biege  am  5chluss  noch  einmal  ab, 
um  doch  ein  Stück  äusserer  Glückseligkeit  zu  retten, 
und  vertröste  in  einem  Mythos  auf  ein  anderes  künf- 
tiges besseres  Leben.  Das  sei  ein  Sprung,  den  Plato 
ohne  eigentlich  genügenden  Grund  aus  einem  gewissen 
Schwanken  und  Unsicherheit  oder  aus  dem  Bedürfnis, 
wenigstens  in  mythischer  Form  noch  einen  höheren 
Standpunkt  zu  gewinnen  oder  aus  beiden  Gründen 
gemacht  hat.  Th.  Goraperz  endlich  (Griechische 
Denker.  IL   1908.  S.  268  ff.)  hält 

„Den  Gorgias,  was  die  Beweise  anbetrifft,  für  das 
Schwächste,  was  aus  Piatos  Feder  geflossen  ist.  Die 
Kritik  der  herrschenden  Moral  und  Politik  seines  Zeit- 
alters bildet  den  eigentlichen  Kernpunkt  des  „Gorgias." 
Der  Felller  bei  Plato  sei  gewesen  „der  zum  Aber- 
glauben gesteigerte  Kultus  der  Begriffe"  (S.  282), 
„die  Unzulänglichkeit  der  logischen  Schulung  und 
die  unzureichende  Emanzipation  von  den  Banden  der 
Sprache"  (S.  285).  Es  ist  wohl  aus  den  sich  schroff 
gegenüberstehenden  Ansichten  beider  Denker  zu  er- 
klären, wenn  Gomperz  Plato  nicht  die  rechte  Würdi- 
gung zu  teil  werden  lässt,  indem  er  ihn  logischer 
Schnitzer  überführt,  weil  er,  Plato,  nicht  formale, 
sondern  metaphysische  Logik  treibt  und  —  auch  in 
den  Fragen  der  Ethik  nicht  als  Nominalist  und 
Sensualist,  sondern  als  Realist  und  Rationalist  spricht. 

Die  angeführten  Proben  werden  genügen  zu  dem 
Erweis,  dass  unsere  Untersuchung  doch  nicht  wohl 
überflüssig  erscheinen  möchte,  und  dass  der  Gegen- 
satz unserer  Auffassung  zu  anderen  berechtigt  ist. 
Nur  eine  Aeusserung  von  Wert  wollen  wir  noch  er- 
wähnen. Bei  Ferd.  Dümmler  (Kleine  Schriften  I  1884. 
S.  135)  heisst  es :  „Dem  Eindruck,  dass  der  „Gorgias" 


—     94     — 

eine  epoclieinachenfle  Tat  sei  und  <1ass  er  ein  neues 
Evangelium  einführt,  wird  sich  kein  Leser  entziehen 
können."  Dagegen  den  Scliluss,  der  daran  geknüpft 
wird,  der  Dialog  werde  als  Prograrann  gefasst  werden 
müssen  einer  ersten  Schulgründung  im  Jahre  395 
bald  nach  Piatos  Rückkehr  von  der  Reise  können  wir 
nicht  mitmachen.  Zum  Programm  ist  der  ,.Gorgias" 
ebensowenig  geeignet  wie  der  „Phaedrus",  und  auch 
die  Meinung  „Gorgias  und  Phaedrus"  raüssten  beide 
in  die  neunziger  Jahre  gehören  wegen  der  Sophisten- 
reden, hat  keine  rechte  Begründung.  Wenn  wir  eine 
Ansicht  äussern  dürfen,  so  würden  wir  den  ,, Phaedrus" 
beträchtlich  später  ansetzen,  den  „Gorgias"  aber  als 
ein  Erzeugnis  grösster  Reife  und  höchster  Kunst  mit 
„Symposion"  und  „Phaedon"  in  derselben  Epoche  des 
Lebens  entstanden  glauben. 

Indessen,  darauf  näher  einzugehen  ist  nicht  unsere 
Sache.  Uns  muss  es  an  dem  Versuche  genügen,  den 
Gedankengehalt  des  Gorgias  von  allem  Episodischen 
und  Polemischen  rein  abzusondern  und  aus  seinen 
Hüllen  herauszuschälen.  Aristoteles  hat  in  einem 
Dialoge  aus  seiner  Jugendzeit  erzählt,  ein  korinthischer 
Weinbauer  habe  nach  der  Lektüre  des  „Gorgias" 
Acker  und  Weinberg  im  Stich  gelassen,  sich  der  Philo- 
sophie zugewandt,  und  sei  in  Piatos  Schule  einge- 
treten. (Vgl.  E.  Rohde,  Psyche.  1898.  S.  263  ff.) 
Einen  solchen  Rut  zur  Bekehrung  vernehmen  auch 
wir  heute  noch  in  des  grossen  Atheners  unsterblichem 
Werke.  Es  ist  eine  hohe  Geistesfreude,  eine  so  nahe- 
kommende Ahnung  der  christlichen  Wahrheit  bei  dem 
grossen^Meister  zu  finden,  der  der  Philosophie  ihr 
Stichwort  von  ewiger  Geltung  im  4.  Jahrhundert  vor 
Christi  Geburt  gegeben  hat. 


T 


Vita. 

Ego  vulua  Elisabeth,  Juliana,  Augusta  Tliiel, 
nat.  Moerke,  nata  sum  priedie  Idus  Julius  MDCCCJjXXVIU 
in  vico  Wieschowa  prope  oppiduni  Tarnowit/  in  Pruvincia 
Silesiae  liorussicae,  patre  relice  Moerke,  qui  in  urbe 
Wratislaviensi  ui  socretaiius  (hibernii  vivit,  matrc  Anna 
a  gente  Lenipp,  tiuain  praematura  morte  ereptain  vehemeu- 
tissime  lugeo. 

Primis  litterarum  elementis  in  scliola  publica  Wratis- 
lavviensi  imbuta  scliolam  su[»eriorem  jiueilaruni  sie  dictani 
usque  septimuni  decimum  annuni  frequentavi.  Anno  decinio 
nono  vitae  meae  nupsi  Ernesto  Thiel,  iudiei  publicu 
(jubernii.  Post  eins  mortem,  qui  iam  post  sex  menses  bub- 
secutus  est,  commoravi  in  domo  parentum  meorum.  Anno 
MDCCCCIV  seientias  Gymnasii  privatim  navavi  et  iam  post 
duos  annos  examini  in  scholam  Primae  inferioris  (Unter- 
prima) Gymnasii  publici  ieliciter  me  subieci.  Quod  fuit 
in  oppido  Tarnowitz, 

Mense  Julii  anni  MDCCCCVIII  maturitatis  testimoniura 
accepi  in  Gymnasio  publico  Wuerzburg  in  regno  Bavariae. 
Attamen  iam  ab  anno  MDCCCCVI  usque  MDCCCCVIII  per 
quattuor  semestria  Philosophiae  exercitationibus  interfui  et 
quidem  Berlin,  Wuerzburg.  A  mense  Octobris  MDCCCCVIII 
iusque  nunc  lectiones  philosophiae  audivi  in  Universitate 
Leipzig,  Muenchen,  Wuerzburg,  Berlin. 

Docuerunt  me  viri  doctissimi,  quibus  omnibus  prae- 
cipue  professoribus  doctissimis  Geheimrat  Lassen  et  reveren- 
dissimo  professori  Dr.  M.  'Baumgartner  gratias  maximas 
ago  et  semper  me  obligatara  esse  dico. 

Berlin:    Frischeisen-Köhler,  Lassen, 

Würzburg:    Külpe,  Stölzle, 

Leipzig:    Heinze, 

München:    v.  Hertling.