L6!*-
■-;
=00
=00
ir—
-CO
Der ethische Gehalt des Gorgias.
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der hohen
philosophischen Fakultät der Kgrl. Universität Breslau
vorgelegt
and mit ihrer Genehmigung veröffentlicht
von
Elisabeth Thiel.
Dienstag, den 8. Aug-ust 1911, mittagfS 11 Uhr
in der Aala Leopoldina
Vontrag :
„Die Ekstase als Erkenntnisform bei PiotlD"
und
«
Promotion.
Breslau
Druck von H. Fleischmann
1911
I
Gedruckt mit Genehmigung der hohen philosophischen Fakultät
der Königl. Universität Breslau.
Referent: Professor Dr. Baumgartner.
Dem Andenken meiner Mutter
gewidmet.
L
Vorwort.
Dass unter den grossen Lehrern der Menschheit Plato
einer der grössten ist, darüber sind alle einig; was den
eigentlichen Kern seiner Lehre und seiner geschichtlichen
Wirksamkeit bildet, darüber wird gestritten. Wie lässt sich
am ehesten dieser Streit entscheiden? Wir meinen, durch
eine genauere Durchdringung der einzelnen Schriften des
unvergleichlichen Mannes. Die letzten Jahre haben eine
Reihe von Gesamtdarstellungen der platonischen Schriften
gebracht. Welches Verdienst sie auch immer haben, dem
Streite über Plat o's Grundanschauung haben sie kein Ende
gemacht, sondern nur neue Nahrung zugeführt. In vielen
Punkten scheint es, dass man von vorn beginnen muss.
Solche Gesamtdarstellungen gehen von festen Voraussetzungen
aus, die man sich bemüht in den einzelnen Schriften durch-
zuführen und als zutreffend zu erweisen. Hat solche Arbeits-
weise ihren Wert, so hat sie doch zugleich ihre Gefahren.
Weil man voreingenommen ist, übersieht man, was dasteht
und trägt hinein, was fremd ist. Vielfach vergisst man,
dass Plato in seinen Schriften wesentlich als Künstler, als
Darsteller wirken will; dass er Menschen, Gedankenrichtungen,
Probleme zu konkreten Gestalten verdichtet; dass er von
unerschöpflicher guter Laune, heiter, geistreich, aber auch
streng und herbe, abweisend, vernichtend ; dass er über-
haupt vielgestaltig ist und man niemals bei ihm an ver-
schiedenen Stellen das Gleiche erwarten darf. Darum meinen
wir, muss man, um den Philosophen philosophisch zu wür-
digen, diejenigen Schriften, die für seine Art die be-
zeichnendsten sind, jede einzeln vornehmen und sich eng an
das an dieser Stelle Dargebotene halten, um erst dadurch
schrittweise zu einer Gesamtauff'assung der platonischen
Philosophie vorzudi-ingen. Dazu haben wir uns zunächst
an dem „Gorgias" versucht, die Untersuchung anderer Dia-
loge uns vorbehaltend. So bitten wir denn, was wir hier
als nach Kräften sorgsame Aufzeigung des philosophischen
Gehalts dieses einzelnen platonisclien Werkes von hervor-
ragender Bedeutung zu bieten vermögen, freundlich aufzu-
nehmen, gewissermassen als Anzahlung auf eine ähnliche
Durchforschung anderer Schriften des Meisters, die eine
gesicherte Gesamtauflfassung vorzubereiten bestimmt ist.
Disposition der Abhandlung.
Seite
Einleitung: 1. Die Ansichten über den Zusammenhang der
platonischen Schriften ......... 9
1. Methodiker; 2. Genetiker; 3. Isolierende
2. Piatos Absicht in seinen Dialogen 23
1. Der Dialog und die Darstellung einer wissen-
schaftlichen Theorie.
2. Platonische Dialoge und platonische Lehre
3. Die wirkliche BeschalTenheit der platoni-
schen Dialoge.
4. Der Wert der Berichte des Aristoteles über
Piatos Lehre.
Abhandig: Der ethische Gehalt des ^Gorgias"
L Ueberblick über den Inhalt des „Gorgias" 28
IL Der wesentliche Gedankengehalt des „Gorgias" ... 82
1. Der Gegensatz zweier Richtungen.
2. Die Erörterung über die Redekunst.
3. Der Dialog „Gorgias" und die Sokratik.
4. Episoden und Illustrationen.
III. Die Personen des „Gorgias" 41
1. Gorgias; Polos; Kallikles.
2. Sokrates.
IV. Der Beweisgang im „Gorgias" 53
V. Die Gliederung des „Gorgias" 71
VI. „Gorgias" und die anderen platonischen Dialoge. . . 75
1. Urteil über die Rhetorik.
2. Urteil über die Staatsmänner.
3. Ansicht vom Jci^seits.
4. Die Gestalt des Sokrates.
5. Erkenntnislehre
Vn. Die Ergebnisse der Untersuchung 84
Schluss : Die bleibende Bedeutung des „Gorgias".
Einleitung
1. Die Ansichten über den Zusammenhang" der
Platonischen Schriften.
Ehe wir an den eigentlichen Gegenstand dieser Ab-
handlung, die Betrachtung des platonischen „Gorgias", heran-
treten, sei es uns gestattet, einige Bemerkungen vorauszu-
schicken über die Schwierigkeiten, die die platonischen
Schriften schon durch die dialogische Einkleidung dem-
jenigen bereiten, der aus denselben das System von Gedanken
entnehmen will, das Plato als seinEigentum zuzuschreiben ist.
Wenn man neuere Schriften über Piatos Gesamt werk,
wie diejenigen von Kühnemann, Natorp, Raeder,
Constantin Ritter zur Hand nimmt, — wir werden die
Bücher dieser hervorragenden Männer nachher genauer be-
zeichnen — , so ist der erste Eindruck der, dass man
vielleicht allzu unmittelbar einen bestimmten Schatz von
Ansichten, die in diesen Dialogen von den darin das Wort
führenden Personen vorgetragen werden, als Piatos eigene
Ansichten versteht, die er seinen Personen in den Mund
gelegt habe. Zuweilen auch, und so besonders bei Natorp
und Ritter, möchte man nachdem, was sie Plato als seine
Lehre zuschreiben oder absprechen, auf die Vermutung
kommen, diese Forscher hätten gedacht, eine Meinung, die
sie für „phantastisch" halten, könne dem Plato unmöglich
zugetraut werden, und eine Reihe von Sätzen, die ihnen
festzustellen scheint, müsse notwendig sich bei Plato wieder-
— 10 —
finden lassen. So erklärt man z. B. die Lehre von den
Ideen, wie sie Aristoteles dem Plato zuschreibt, aus dem
Grunde für ein völliges Missverständnis dessen, was Plato
wirklich vorträgt, weil man sich nicht überzeugen kann,
dass Plato so tief in der Metaphysik gesteckt habe. So
sucht man nachzuweisen, dass Piatos Lehre von der Erkennt-
nis und von dem Verhältnis des menschlichen Denkens zu
dem objektiv Existierenden mit Kants transcen dentalem
Kritizismus, zu dem man sieh selber bekennt, im wesent-
lichen übereinstimmt. Wir erinnern an Ausführungen wie
die von Natorp, Piatos Ideenlehre S. 3(56 — 436, oder von
Ritter, Piaton S. 564—586. Die Bedenken, die wir er-
heben gegen diese Art, platonische Schriften auszulegen,
wollen wir zuvor andeuten, um den Weg, der uns der
richtigere scheint, in der Erfüllung unserer besonderen Auf-
gabe nachher um so sicherer betreten zu können. (Vgl.
Lutoslavvski, Origin and growth of Piatons Logic. 1897
p. 236).
Seit mehr als 2000 Jahren stellt man Theorien über
Theorien auf, um zu einem endgültigen, zusammenhängenden
Verständnis der platonischen Philosophie zu gelangen. Immer
neue Seiten des grossen verwickelten Geheimnisses „Platon"
sind dadurch aus dem Ewigkeitsgehalte seiner Werke zu
Tage gefördert worden; aber immer noch bleibt das Problem,
an dem jedes Zeitalter nach dem Masse seines Veimögens
und des erworbenen Materials an Erkenntnissen wird arbeiten
müssen, um sich in stetem Fortschritt dem Ziel zu nähern.
üeber den Plan, der Plato bei Abfassung seiner Schriften
leitete, über Echtheit und Zeitabfolge seiner Dialoge ist
seit dem Altertum gestritten Avorden, und noch immer ist
ein Ende jener wissenschaftlichen Streitigkeiten nicht abzu-
sehen. Noch immer weisen die Ansichten der bedeutendsten
Forscher in Bezug auf viele der wichtigsten Punkte des
platonischen Systems wie über Plato und seine Lehre über-
haupt weitgehende Discrepanzen fiuf. So ist, um nur einige
— 11 —
Beispiele zn erwähnon, Plato nach Tennemaiin') der
dunkle Esoteriker, der mystisch seine wahre Lehre verbirgt;
nach Schleiermacher'^) der methodische Dialektiker; nach
Ritter^) der anregende Didaktiker. Ast*) bezeichnet ihn
als die Idee der Philosophie selbst: Bonitz^) betont das ver-
mittelnde Band der einzelnen in sich abgeschlossenen Werke.
K. F. Hemiann") sieht in Piatos Sciuiften das Spiegelbild
seiner Geistesentwicklung; Munk') wie auch Patrizzi") er-
blickt in dem Phih:»soj)lien hauptsächlich den Biographen des
Sokrates. Susemihl'-'j nimmt mit Ueberw^eg'^j eine ver-
mittelnde Stellung zwischen den Ansichten Schleier-
machers und K. F. Hermanns ein. Zeller'^) lässt in
Plato vor allem den der nichtigen Welt des Scheines ab-
gewendeten, zum Schauen des absolut wahren Seins sich
erhebenden Philosophen, den Verkimdiger der Welt der
Ideen hervortreten; Teichm üUer*^) hält Piatos Lehre für
eine mystische Erlösungslehre, seine Schriften grossenteils
') Tennemann, System der ph\t. Phil. — I S. 125 — 152: be-
sonders 128f; 137—141; 149 f. Geschichte der Phil. Bd. 2, S. 203—222.
*) vergl. F. Schleiermacher Einleitung zu Plutons Werken.
Berlin 1855 Teil 1 Bd. I p. 30.
•"') C. Ritter neue Untersuchungen über Piaton. München 1910.
p. 366.
*) Ast, Uebers. v. Piatons Werken I. Einltg. S. 16-28
41-48.
^) Platonische Studien 2 nam. Vorwort.
^) Hermann, Geschichte und System der platonischen Philo-
sophie, S. 313 - 357, 368 - 384.
') Munk, die natürliche Ordnung der platonischen Schriften,
S. 12; 25-58.
'') vgl, W. Lut oslawski, Origin and growlh of Plato's Logic.
London l'JOö p. 43
^) Suse mihi, die genetische Entwicklung der platonischen
Philosophie, Bd. I Vorwort S. 8 und 13: Bd. II, Vorw. S. 7-13.
^'^) F. l'eberweic, Grundriss der Geschichte d. Philosophie Bd. I
131 f.
") Zeller, Goschichte der Philosophie der Griechen, Bd. II, 13
S. 374-378: 445 ö', 470-477, 490 f, 541.
12) Teichmüllcr, Lit. Fehden im 4. Jahrh. v. Chr. Bd. I,
S. 11, 13. Änm. S. G7, 75-90: Bd II, S. 10, 14. S."), 107, 235.
— 12 —
für Streitschriften; während endlich Krohn^), der in Plato
nur den grossen Ethiker erblickt, den Schwerpunkt des
Piatonismus in die Transcendenz des Guten verlegt.
Welche von allen diesen Ansichten ist nun die zu-
treffendeV Eine Entscheidung wird sich schwer herbei-
führen lassen, da eine jede derselben sich mit fast ebenso
guten Gründen verteidigen wie widerlegen lässt. Nur das
ergibt sich daraus, dass trotz aller aufgewendeten Mühe es
bislang noch nicht gelungen ist, die Pläne, welche Piatos
Schriftstellertätigkeit bestimmten, sicher zu durchschauen.
Manche offenbar falsche Auffassungen ergeben sich aus un-
berechtigten Modernisierungsbestrebungen antiken Denkens,
andere aus ungenügender Erwägung der Form der Darstellung
und der Behandlung, die Plato dem Objekt seiner Unter-
suchungen angedeihen lässt. Mit gutem Grund hat schon
Schleiermacher^j darauf hingewiesen, dass Plato von den
geläufigen Formen vollständig abweicht, „in denen sich die
grösste Masse dessen, was gemeinhin Philosophie heisst,
wohlgefällt. "
lieber die viel erörterte Frage, ob der Zusammen-
hang der einzelnen Schriften Piatos auf weit zurückliegender
Absicht und Berechnung beruht oder aus der von den
geistigen Bewegungen seiner Zeit, von den überkommenen
Tendenzen des griechischen Charakters und dem Einflüsse
von Vorgängern und Zeitgenossen bestimmten geistigen Ent-
wicklung des Verfassers sich von selber ergeben habe, oder
ob beide Momente zusammengewirkt und den bestimmenden
Einfluss auf die Abfassung der Schriften ausgeübt haben:
über alles das gehen die Ansichten sehr weit auseinander.
Man vergleiche darüber Jo s. S o c h e r, Ueber Piatos Schriften,
1820; G.W. F. Suckow, die wissenschaftliche und künstlerische
Form der platonischen Schriften 1855.
') Krohn, Die platonische Frage, S. 130, 152, 160, 162.
^) Fr. S Chi cierma eher, Piatons Werke, Bd. I, S. 7 ff,
Berlin 1804.
— 13 -
Für das Verständnis der geistigen Entwicklung Piatos
wie der ganzen platonischen Pliilosophie ist eine chrono-
logische Anordnung der Dialoge gewiss die Voraussetzung;
andererseits muss die Chronologie der Gespräche aus dem
Verständnis, das man von dem Entwicklungsgange des Philo-
sophen, wie er sich in seinen Schriften dartut, erarbeitet
hat, erst erschlossen werden. Darin liegt die unermessliche
Schwierigkeit des Gegenstandes.
Die Bestimmung der Abfassungszeit der einzelnen Dia-
loge bildet demnach wie eine der wichtigsten, so auch eine
der dornigsten Aufgaben der Platoforschung^).
Zu den Fragen über Keihenfolge und Abfassungszeit
der platonisclien Schriften gesellen sich die Erörterungen
über die Echtheit der Dialoge, und auch hier gehen die
Meinungen der Gelehrten noch immer in vielen Punkten
weit auseinander. Was das erste aubetriftt, so zieht man
neben den Anhaltspunkten, welche Beziehungen auf Ereig-
nisse aus Piatos Lebenszeit oder Hinweisungen der Gespräche
auf einander darbieten, und die kein genügend sicheres
Kriterium für die Anordnung der Gespräche bilden, in
neuester Zeit sprachstatistische Untersuchungen heran, von
der richtigen Voraussetzung geleitet, dass bei der fortge-
setzten langsamen Umwandlung der Sprechweise eines geistig
hochbedeutenden Mannes auch der in feste Formen gefügte
Stil Modifizierungen erleiden muss, die den inneren Ent-
wicklungsgang der Gefühls- und Denkweise irgendwie für
einen geschärften Blick widerspiegeln. Das Studium des
Stiles Piatos, das um vieles jünger ist als das seiner Philo-
sophie, hat gleichwohl bereits zu manchen fruchtbaren Er-
gebnissen und zu Schlussfolgerungen von Bedeutung ge-
führt, die immerhin als Basis zu weiterer Forschung dienen
können^).
') Fr. Ucberweg, Untersuchungen über Echtheit und Zeitfolge
platonischer Schriften. 1861.
^) vergl. über diese Frage: Natorp über die Methoden d.
Ohronologic plat. Schriften nach sprachlichen Kriterien Arch. f. G. d,
Ph. XI (98) p. 461-64.
— 14 —
Erschlossen ist dieses Untorsiicliungsgebict worden durch
den verdienstvollen englischen Gelehrten Campbell in
seinen 1 867 veröffentlichten sprachstatistischen Untersuchungen
über die Dialoge „Sophistes" und „Politikos". Grösseres
Aufsehen erregten in Deutschland die Untersuchungen
von Ditten berger ^) und Schanz ^), sowie von
L u t 0 s 1 a w s k i^), der seinen Untersuchungen sprachliche
Argumente, aber daneben auch den Grad der in den Ge-
sprächen zu Tage tretenden logischen Vollkommenheit zu
Grunde legte: allerdings hat er dabei vernachlässigt, die
einzelnen Dialoge als Teile einer abgeschlossenen Lebens-
arbeit ins Auge zu fassen.
Es fragt sich nun, ob man überhaupt berechtigt ist,
aus derartigen Untersuchungen chronologische Folgerungen
zu ziehen. Zell er*) besonders hat behauptet, dass die
Theorie der Spraclistatistiker sich auf unrichtige Voraus-
setzungen gründe, und dass ihre Untersuchungen mit noch
wenig genügendem Material geführt worden seien. Letztere
Behauptung ist doch vielleicht nicht ganz zutreffend, da die
sprachstatistischen Untersuchungen in den letzten Jahren
einen beträchtlichen Umfang angenommen haben und
schärfer geführt worden sind, sodass damit auch die Resul-
tate an Sicherheit und Umfang gewonnen haben. Lifolge-
dessen sind die sprachstatistischen Untersuchungen, die der
Verschiedenheit subjektiver Auffassung doch nicht in dem
Masse eine Handhabe bieten, wie die Untersuchung des
p'hilosophischen Inhaltes, immerhin ein wichtiges Hilfsmittel
für das richtige Erfassen der chronologischen Reihenfolge
') Dittenberger, Fr. Wilhelm, conf. K u k n 1 a sprachl.
Kriterien für die Chronolog. d. plat. Dialoge, Hermes 1881, Z. f. Phil.
423. 1881.
2) Martin v o u Schanz, Zur Entwicklung d. platou. Stils,
Hermes 1886, Z. Phil. 423. 1886.
') Lutoslawski, Wincenty. The origin and growth of
Piatos Logic with an account of Piatos Style and of the Chronology
of his writings. London 1897.
♦) Zoll er, Geschichte der Phil. d\ Gr. IW. II. S. 512. IV. 1889.
— 15 —
platonischer Dialoge. Der Spraelistatistik in allen Fällen das
entscheideiule Wort einzuräumen wäre allerdings verfehlt.
Bis auf Schleiermacher halten sieh alle Versuciie,
Gruppen platonischer Gespräche nach Inhalt und Form aufzu-
stellen, auf der Obertläche; die Anordnungen erfolgten nach
implatonischen Gesichtspunkten, ohne die tieferliegenden
Beziehungen der Werke zu einander in Betracht zu ziehen.
Gewöhnlich wird angenommen, dass T e n n e m a n iT in
seinem 17i)"2 bis 17'J5 veröffentlichten „System der platonischen
Philosophie", in dem er den historischen mit dem platonischen
Sokrates identifiziert und das Verdienst Piatos in der Auf-
zeichnung des von Sokrates Gehörten sieht, zuerst den Ver-
such gemacht habe, das Problem der platonischen Chrono-
logie zu behandeln. Vor ihm hatte schon P a t r i z z i ')
am Ende des IG. Jahrhunderts eine Anordnung der Dialoge
aufgestellt: sie konnto aber nur den Anspruch erheben, als
Führer in der Keihenfolge der platonischen Werke bei der
•Lektüre zu dienen, nicht aber die Zeitfolge wiederzugeben,
in welcher Plato seine Dialoge verfasst haben mochte.
Ks ist die epochemachende Bedeutung Schleiermachers,
durch seine üebersetzung der platonischen Werke, durch
die die Werke begleitenden Einleitungen und durch die
Verwertung platonischer Gedanken in seinem eigenen wissen-
schaftlichen System die platonische Frage ernstlich aufge-
worfen zu haben. Mit Schleiermacher beginnt demnach seit
1804 der Streit der Genetiker und Methodiker. Obgleich
Schleiermacher sich als Philosoph durch hochbedeutende
Werke betätigt hatte, ging er bei der Behandlung der
platonischen Frage mehr von philologischen, als von philo-
sophischen (lesichtspunkten aus. Unter dem Einflüsse des
in den ersten Jahren des 1!'. Jahrhunderts in Deutschland
vorherrschenden Idealismus glaubte er in den Schriften
Piatos, soweit sie sich nicht selbst als Gelegenheitsschriften
auswiesen, einen fortlaufenden Zusammenhang philosophischer
') F. Patrizzi, Nova de universis philosophia libris quin-
quaginta comprehensa. (Venetiis 1.593). Ein Abschnitt dieses Werkes
heisst : „Plato et Aristoteles inystici atqae exoterici."
— 16 —
Untersuchung und Gedankenbildung zu sehen, und je nach
der Entwicklungsstufe, welche ein Gespräch in diesem Zu-
sammenhange einnahm, auch die Zeit seiner Entstehung
bestimmen zu können. Er nahm an, Plato habe, wie er
überhaupt die schriftliche Belehrung hinter der mündlichen
an Wert zurückgesetzt habe, danach getrachtet, durch fort-
schreitende Untersuchungen seine schriftstellerischen Arbeiten
dem mündlichen Vortrage möglichst ähnlich zu gestalten
und in dieser Absicht nach einem von vornherein fest-
stehenden Plane in sorgfältig bemessenen Schritten sein
Gedankensystera in belebten Gesprächen planvoll niedergelegt.
Der Fehler dieser Annahme lag darin, dass Schleiermacher
ein absichtsvoll nach systematischen Prinzipien durchdachtes
Gesamtwerk als gegeben voraussetzte und in dieser Vor-
aussetzung alle einzelnen Glieder des Ganzen nach Absicht
und Komposition zu würdigen suchte.
Weder bietet die Beschaffenheit der Schriften selbst, die
in den verschiedenen Perioden von Piatos Schriftsteller-
tätigkeit über die fundamentalsten Punkte der Philosophie
sehr verschiedene Lehren aufweisen, irgend einen Stütrzpunkt
für die Schleiermachersche Hypothese, noch folgt die Eichtigkeit
derselben aus der Art der Behandlung des Gegenstandes
in den Dialogen, die so oft ohne Rücksicht auf Vorher-
gehendes oder Nachfolgendes, häufig in polemischer Absicht
herrschenden Zeitströmungen, literarischen Erscheinungen,
gegnerischen Angriffen gegenüber Stellung nehmen oder
auch gegen einzelne Schulhäupter gerichtet sind, sodass man
nur in gezwungenster Deutung eine systematische Abzweckung
in ihnen aufzufinden vermöchte.
Im Widerspruch mit der Schleiermacherschen Ansicht,
die ja in der Tat mit den grössten Schwierigkeiten zu
kämpfen hat, vertrat K. Fr. Hermann, indem er die
Einheit eines von vornherein feststehenden schriftstellerischen
Planes bei Plato leugnete, die Behauptung, die einzelnen
Schriften seien als Dokumente der während jahrzehntelanger
Schriftstellertätigkeit unter den Einflüssen seiner Zeit statt-
gehabten Entwicklung, die die philosophische Denkweise
— 17 —
Plato's genommen habe, zu betrachten, und ihr Zusammen-
haDg sei deshalb nicht systematischer oder didaktischer,
sondern historischer Natur.
Gewisse Mängel traten in der Hermannschen Auffassung
immerhin hervor. Sie sind eine Folge einer gewissen Ein-
seitigkeit in der Betrachtungsweise der Dialoge, und wurzeln
darin, dass Hermann ohne Berücksichtigung der dialogischen
Einkleidung und der indirekten Weise, in der Plato seine
Gedanken vorträgt, den Entwicklungsgang des Philosophen
unmittelbar aus seinen Dialogen herauslesen zu können
vermeinte.
Der Streitpunkt zwischen der Schleiermacherschen und
der Hermannschen Theorie ist also der, ob die Dialoge in
zeitlicher Reihenfolge betrachtet einen absichtlich geordneten
Lehrkursus darstellen, oder ob sie die von Plato selbst
durchgemachte Entwicklung widerspiegeln. Es ist vielleicht
möglich, dass aus der Verbindung beider Gesichtspunkte
sich für die Anordnung der Gespräche annehmbare Resultate
ergeben. Niemand zweifelt daran, dass Piatos geistige Ent-
wicklung in den „sokratischen" Dialogen sich noch nicht
als abgeschlossen darstellt, und dass er erst, als er zu
philosophischer Reife gelangt war, einen Plan für seine
künftige Tätigkeit hätte fassen können. So ergäbe sich die
Annahme, dass sein System in den Grundzügen schon früh-
zeitig festgestanden haben mag, die Ausbildung desselben
in ihren Einzelheiten jedoch erst allmählich erfolgt sei.
Die Arbeiten Schleiermachers und Hermanns
bildeten die Grundlage für die Platostudien der gesamten
Folgezeit; insbesondere veranlasste die Ansicht Hermanns
mehrere Forscher, eine genetische Darstellung der plato-
nischen Philosophie zu unternehmen.
Hermanns Ansicht bezeichnet sicher einen grossen
Fortschritt gegenüber dem Standpunkte Schleiermacher's.
Sie bietet dem Verständnis der platonischen Philosophie viel
geringere Schwierigkeiten dar, indem sie nicht zu gewalt-
samen Deutungen nötigt und die Möglichkeit gewährt, jede
einzelne der platonischen Schriften für sich auf ihren Lehr-
— 18 —
gelialt hin und als aus einer iranz besonderen Situation im
Entwicklungsgange des Denkers hervorgegangen zu betrachten.
Aber man gerät auch bei iiir, wenn man sie aufs einzelne
anwendet, in eine gewisse Verlegenheit. Denn die einzelnen
Stadien einer zusammenhängt-nden Entwicklung in Piatos
Dialogen nachzuweisen hat auch so seine stets sich er-
neuernden Schwierigkeiten. Die Eigenart der einzelnen
Dialoge nach Thema und Kehandlungsweise ruft immer
wieder die ernstesten Meinungsverschiedenheiten bei den
Forscliern hervor. In der Tat zeigt uns die Literatur, dass
bis auf den heutigen Tag eine Einhelligkeit der Auffassung
kaum über einen der unzählbaren Streitpunkte erreicht
worden ist. Allerdings nimmt jeder aufmerksame Leser
Stadien schriftstellerisclier Kunst, der Zu- oder AbEahme
in der Freude an reicher Scenerie und Mannigfaltigkeit der
Charakterschilderung wahr; aber der Hauptfrage gegenüber,
der Frage nach dem Entwicklungsgange der platonischen
Denkweise, ist das alles zunächst von geringerer Bedeutung.
Gewiss können jene Momente auch durch die Art der wissen-
schaftlichen Untersuchung, durch die Stimmung des Ver-
fassers, die ganze Tendenz des Werkes mitbedingt sein,
aber diese Kennzeichen für sich allein entscheiden nichts.
Wenn man die Verwandtschaft der behandelten Themata
und die in der Behandlung vorwaltende gedankliche Stimmung
vorwiegend ins Auge fasst, so wird man Gruppen platonischer
Gespräche mit grosser Wahrscheinlichkeit aufstellen können.
Doch ohne Zwang führt auch dieser Weg bisweilen nicht
zu einem einleuchtenden Nachweis bestimmter Entwicklungs-
stufen des platonischen Lehrsystems. Die Arbeiten, die bis
jetzt darüber vorliegen, iFranz Susemihls: Genetische Ent-
wicklung der platonischen Philosophie. 1855 bis 1860;
Sigurd Eibbings genetische Darstellung der platonischen
Ideenlehre (1863 bis 1864); Paul Natorps platonische
Ideenlehre (1903); H. Raeder, Piatos philosophische P^nt-
wicklung (1905), um nur einige der meist genannten zu er-
wähnen, geben wohl die Pfade an, die zu wandern sind,
liefern aber keineswegs den Beweis, dass wirj den rechten
— 19 —
Faden, um uns in dem vielverschlungenen Hau der plato-
nischen Philosophie zurechtzufinden, wirklich schon in Hunden
hätten.
Es liegt so nahe und geschieht so oft, dass die er-
klärenden Kritiker in dem Bemühen, die Prinzipien irgend
einer modernen Anschauungsweise durch die Worte Piatos
bestätigt zu sehen, ihre eigenen Ansichten hineintragen, statt
die des Verfassers in den Dialogen wiederzufinden. Und
bei dem grossen Eifer, den man darauf verwendet, in den
Ausführungen eines jeden Dialogs die hier vorliegende Ent-
wicklungsstufe in Piatos Geistesentwicklung nachzuweisen,
geschieht es wohl, dass man, oft mit Unrecht, einen unver-
hältnismässigen Nachdruck legt auf nebensächliche oder
selbstverständliche Bemerkungen, Unwesentliches hervorhebt
und Wesentliches übersieht.
Mit einem bestimmten Vorurteil über das, was Plato hätte
sagen können oder sagen müssen, tritt man an die Dialoge
heran und weist ihnen ihren Platz innerhalb des Schriften-
komplexes an, indem man ohne Grund eben das hineinlegt,
was man zu finden erwartet. Bei einem nicht aufzuhebenden
Widerspruch zwischen Erwartung und Wirklichkeit aber
steht allezeit der bequemste Ausweg offen, das Werk, das
man, an der eigenen Voraussetzung festhaltend, nicht ver-
steht, kurzweg für unplatonisch zu erklären. SoSchaar-
schmidt, „Die Sammlung der platonischen Schriften zur
Scheidung der echten von den unechten. 1866"; und nach ihm
üeberweg^i. Es sollen Dialoge wie der „Sophistes", der
„Parmenides" als unecht gelten!
Nun gibt es aber einen dritten Weg, um das Ver-
ständnis der platonischen Philosophie zu erreichen, der zu-
gleich auch der angemessenste und aussichtsreichste zu werden
verspricht. Man betrachtet jeden einzelnen Dialog als
ein abgeschlossene^', für sich allein bestehendes Ganzes,
ohne Voraussetzung über das zu Erwartende, ohne irgend
eine feste Ansicht über Piatos Lehre, die auch hier vorge-
') Ueberweg, Grundriss der Gesch. d. Philosophie. 10. Auflage.
Berlin 19C9. Hd. I S. 139.
2*
— 20 —
tragen werden müsse, und aus dieser Isoliertheit heraus
sucht man das Gespräch zu verstehen und seinen wahren
Gehalt zu erfassen. Als Vertreter dieses Verfahrens in der
Untersuchung und in der Deutung sind zu bezeichnen: H.
Ronitz, Platonische Studien 3. Aufl. (1886); Ferd. Hörn,
Platon-Studien, (1893 und neue Folge (1904); Constan-
tin Kitter, Piatos Dialoge (1903) und Piatos Staat (1909).
Mit dieser Methode ist man wohl am ersten auf dem
richtigen Wege. Plato selbst scheint dadurch, dass er durch
nichts auf die Absicht eines systematischen Zusammenhanges
hindeutet, uns selber auf diese Betrachtungsweise seiner
Schriften hinzuweisen. Vgl. Rudolf Hirzel, Der Dialog.
2 Bde. 1895.
Oft entwickelt sich die Unterredung aus scheinbar
ganz zufälligen Veranlassungen, ohne dass ein bestimmtes
Thema vorangestellt würde („Euthydemos"). Dann wieder
wird ein solches aufgestellt, von vielen Seiten betrachtet,
mit weit entlegenen Fragen in höchst künstliche Verbindung
gebracht und sciiliesslich mit dem Bekenntnis der Unwissen-
heit oder mit einer zweifelnden Frage unerledigt gelassen
(Protagoras). Oder auch die Diskussion über ein formell
aufgestelltes Thema führt zu ganz anderen Resultaten oder
zur Lösung und Klarstellung ganz anderer Probleme als
man erwartet hatte („Menon"). Sehr richtig und treffend
bemerkt E. Kühneraann, Grundlehren der Philosophie.
Studien über Vorsokratiker, Sokrates und Plato, 1899. S.
275: „Wir müssen wissen, dass von Plato oft die Form
selbständig gebildet wird als ein Kunstwerk für sich, ohne
dann die Herbeiführung und Begründung des Gedankens su
sein. Dies ist ein -wirklich fremdartiger Zug, der die
Schwierigkeit der Deutung sehr vermehrt." Manche Schriften
tragen augenfällig den Stempel von Gelegenheitsschriften,
(„Euthyphron"), charakterisieren Zeitverhältnisse, Personen,
Gesinnungen (beide „Hippias") oder behandeln mit Aus-
führlichkeit^ Streitfragen, die offenbar zur Zeit die Menschen
beschäftigten („Sophistes"). Oft auch tritt eine polemische
Absicht hervor, um die bedenklichen Folgen gewisser Au-
— 21 —
sichten der Zeitrichtung, insbesondere die Nichtigkeit der
Anschauungen von Vertretern der Sophistik darzutun
(„Theaetet"). Zuweilen soll der Dialog die Untersuchung
und Erörterung schwieriger Probleme nur vorbereiten, auf
den rechten Weg hinweisen, ohne dass ein eigentlicher
Abschluss erreicht oder auch nur angestrebt würde („Parme-
nides"). Es darf keineswegs von vornherein als ausgemacht
gelten, dass Plato überall eine bestimmte Lehre als seine
eigene Lehre habe vortragen wollen. Nirgend spricht er zu
uns in eigener Person; er referiert Gespräche, die der Zu-
fälligkeit ihrer Veranlassung wie der Mängel der Gespräch-
führenden wegen oft einen strikten Gedankengang gar nicht
innehalten können. Nichts berechtigt uns zu der Annahme,
dass das, was Plato anderen Personen oder selbst dem
Sokrates, der in den meisten Dialogen der Leiter des Ge-
spräches ist, in den Mund legt, ohne weiteres als Ausdruck
von Piatos eigenen Ansichten zu nehmen wäre. Vieles ist
augenscheinlich nur vorläufig bemerkt, anderes dient als
Mittel zur Widerlegung gegnerischer Ansichten oder als
Fallstrick für die dialektische Unfähigkeit von solchen, die
in der Meinung der Menschen einen hohen Rang einnehmen.
Wo aber Plato in den Aeusserungen einer von ihm vorge-
führten Person seine eigene Meinung durchscheinen lässt,
führt er sie oftmals nicht in ihrem systematischen Zu-
sammenhange vor und nicht in der Beleuchtung, die sie erst
als Ableitung aus seinen obersten Prinzipien empfängt.
In den älteren Dialogen nimmt das dramatische Element,
die Schilderung und Charakteristik von Personen und
Richtungen, eine so selbstständige Bedeutung in An-
spruch, dass vieles nur diesem Zwecke zu dienen scheint
und nicht vorbehaltlos als Ausdruck platonischer Ueber-
zeugungen oder überhaupt als lehrhaft gedeutet werden
darf. Es lässt sich garnicht verkennen, dass manche Aus-
führungen Piatos, von einem in übermütiger Laune ge-
wählten Standpunkt aus, oft fremde Art in künstlerischer
Meisterschaft nachahmen oder die äussersten Konsequenzen
daraus bis zur Grenze der Absurdität ziehen, um in bewusster
- ^'2 -
Absiebt die verderblichen Folgen mancher Zeitströmungen
zu kennzeichnen.
Was die mythische Einkleidung mancher Gedanken-
folgen anbetrifl't, so stand bei Schleiermacher der
Grund.satz fest, dass die bildliche Darstellung philosophischer
Walirbeiten der direkten bei Plato immer vorangehe. Doch
findet sich bei Plato der Mythos nicht immer nur an Stelle
begrifflicher Darstellungen, wo er eine wissenschaftliche
Definition etwa noch nicht zu geben vermöchte, sondern
sehr häufig soll diese Art der Einkleidung eine Anregung
bieten zum Nachdenken, einen künstlerischen Schmuck, eine
Unterhaltung der Phantasie ausmachen. Streift man aber
die mythische Hülle ab, um den darunter verborgenen
Lehrsatz herauszubringen, so läuft man Gefahr, nicht nur
den Reiz zu zerstören, der über den Dialogen ausgebreitet
ist, sondern auch den von Plato zu Grunde gelegten Ge-
danken selbst zu trivialisieren. Vgl. besonders Volquard-
sen, Piatos Theorie vom Mythus und seine Mythen 1871.
Es liegt also nach dem soeben Ausgeführten kein Grund
vor, anzunehmen, Plato habe überall sein letztes Wort ge-
sagt. Er spricht jedesmal aus einer gegebenen Situation
heraus, kann daher ganz wohl vieles seiner eigenen Ueber-
zeugung nicht Entsprechendes sagen, oder vieles verschweigen,
was er längst als sein geistiges Eigentum bereit hat. Da-
her ist es niciit angebracht, jedesmal aus dem, was ge-
sprochen wird, oder aus dem, was ungesagt bleibt, ohne
weiteres zu schliessen, das üebrige habe Plato noch nicht
zu sagen vermocht, und danach die Stufe der Durch-
bildung seines philosophischen Denkens zu bestimmen.
Als Ergebnis aus diesen üeberlegungen ist also Folgen-
des festzuhalten:
Zu einem wirklichen Verständnis einer jeden platonischen
Schrift wird man nur dadurch gelangen können, dass man
jede einzelne Schrift ohne mitgebrachtes Vorurteil in ihrer
Eigentümlichkeit zu erfassen sucht und aus ihrer besonderen
Anlage ihre besondere Absicht herausholt.
- ^3 -
Unter diesen Gesichtspunkten wollen wir im Fitlgenden
.den Dialog „Gorgias" auf s.einen wesentlichen Gehalt hin
untersuchen.
2. Platos Absicht in seinen Dialogren.
Der platonische Dialog „Gorgias" ist ein sehr künstlich
aufgebautes und zusammengesetztes Werk, dessen verschiedene
Teile scheinbar nur in losem Zusammenhang mit einander
stehen. Der Dialog beginnt mit der Untersuchung über
Wesen und Ziele der Rhetorik, beschäftigt sich weiterhin
mit der Frage über waiires und vermeintliches Glück und
läuft aus in die Erörterung der höchsten Fragen des sitt-
lichen Lebens. — Es ist nun eine durchaus unzulässige
Annahme, dass ein so bewusster Stilkünstler, wie Plato es
war, innerlich weit Auseinandorliegendes ohne eine die
verschiedenen Teile zur Einheit verbindende, das Ganze
durchdringende Abzweckung rein äusserlich aneinanderge-
reiht habe.
Man muss von vornherein festhalten, dass die platonischen
Gespräche, selbst wenn sie einen ganz abstrakt philosophischen
Inhalt aufweisen, ihrer ganzen Gestaltung nach nicht die
Art philosophischer Abhandlungen, sondern dramatischer
Soenen mit dichterischer Einkleidung an sich tragen. Als
solche aber sind sie als Werk der Phantasie, nicht als ge-
treues Abbild wirklicher Vorgänge gemeint. So darf man
auch den „Gorgias" nicht für eine wissenschaftliche Ab-
handlung in gewöhnlichem Sinne neiimen. Soviel allerdings
muss als teststehend zugegeben werden, dass Plato selbst
diese dialogisch dramatische Form als geeignet betrachtet
hat, das Verständnis wissenschaftlicher Streitfragen und
ihrer liehandlung zu erleichtern. Nun ist aber offenbar
der Unterricht in der platonischen Akademie der Haupt-
sache nach in der Form des Vortrages und nur gelegentlich
in dialogischer Form betrieben worden. Tatsächlich tritt
im Laufe der schriftstellerischen Tätigkeit, besonders in
den späteren .Jahren des Philosophen, in den wichtigsten
Dialogen die Gesprächsform völlig zurück. Aber man wird
— 24 —
kaum mit K. Fr. Hermann'; annehmen können, dass der
in den sokratischen Schulen heimische Dialog, allen vertraut
durch die induktiven Reden des Meisters, aber auch in der
künstlerischen Form durch die dramatische Poesie eines
Epicharm, Sophron und Euripides geläufig geworden, ledig-
lich des Herkoramens wegen von Plato gewählt und aus
Pietät gegen die Sitte beibehalten worden sei.
Vielmehr wird man die dialogische Form von Piatos
Schriften als eine Wiedergabe seines dialektischen Denkprozesses
im Zusammenhang mit seiner ganzen philosophischen An-
schauung zu erklären haben. — Mit Unrecht will man aus
jener vielbesprochenen Phädrusstelle^j herauslesen, dass
Plato der dialogisclien Form der Unterredung wegen ihrer
grösseren Kraft zu lehren den Vorzug gegeben habe vor
lehrhaften Abhandlungen^). Die Phädrusstelle besagt nur,
dass schriftliche Darstellung in keiner Weise den Wert
lebendiger Unterredung zu ersetzen vermag, dass sie als
blosses Eidolon der lebendigen Rede sich der Individualität
des Lesers nicht anzupassen vermag, dass aber die dia-
logische Form der Aufzeichnung wenigstens den Vorteil ge-
währe, in der Wiedererinnerung den Vorgang der Belehrung
sich wieder abspielen zu sehen, sodass der Gedankengehalt
nicht nur als Resultat, sondern auch in der Art seiner Ge-
winnung vorgeführt werde. — Plato hat sicherlich nicht
lediglich den schulraässigen Vortrag von Lehren im Auge
gehabt; und wenn er sich der Form des Dialoges bedient
hat, so geschah es, um den Gang der Untersuchung nach-
ahmend in Erinnerung zu bringen*).
') K. Fr. Hermann, „Geschichte «. Systena der Platonischen
Philosophie". Heidelberg 1839, 3. Bach. S. 355.
2) Phädrus 274b - 278b.
") Vgl. Piatons Werke von F. S c h 1 e ier m ac h e r. Berlin
1804, Teil I, Bd. 1, S. 19.
*) Vgl K. Fr. Hermann, Ueber Piatos schriftstellerische
Motive (Gesammelte AbLamllgn. u. Beiträge etc Göltingen 1841^,
S. 281 ff.)
- 25 -
Tra „Gorgias" führt uns Pinto eine Gruppe von
Personen vor. Er charakterisiert sie geistvoll nach Art des
Dramatikers, sodass sie als Vertreter geistiger Richtungen
und sittlicher Anschauungen typische Geltung erhalten.
Ihre Anschauungen und die Situationen, in die sie gestellt
sind, geben dem Dialog sein eigentümliches Gepräge.
In der Sammlung platonischer liriet'e finden sich an
zwei Stellen Aeusserungen*), durch die sich Plato gegen
die Ansicht verwahrt, seine eigentliche Lehre in seinen
Dialogen allgemein zugänglich gemacht zu haben, mit der
ausdrücklichen Erklärung, dies auch künftig nicht tun zu
wollen. Die Echtheit dieser Briefe wird angezweifelt. Allein,
selbst ihre Unechtheit vorausgesetzt, ist es kaum verständ-
lich, wie ein Fälscher dem Plato zu einer Zeit, in der die
platonischen Schriften der Oeffentlichkeit bereits vorlagen,
jene Aeusserungen hätte in den Mund legen können, die er
nicht wirklich getan oder die mit dem Tatbestande der
vorliegenden Schriften in direktem Widersprucli gestanden
hätten. Zum mindesten lässt sich aus jenen Briefstellon,
einmal zugegeben, die Briefe seien gefälscht, die Tatsache
entnehmen, dass bereits unmittelbar nach dem Tode Piatos
vertraute Kenner seiner Philosophie der Ansicht waren, dass
seine Dialoge nicht die eigentlichsten und tiefsten Gedanken
seiner Lehre enthielten. Ueber die Echtheit der Briefe vgl.
Eduard Meyer, Geschichte des Altertums. Bd. V. 1902.
S. 500 ff. 2).
In der Mehrzahl der Gespräche wird über den eigent-
lichen Gegenstand der Erörterung keine als Ausdruck der
Lehre des Verfassers anzusehende Entscheidung herbeige-
führt; sondern es werden nur gewisse Ansichten über den
'} Zweiter Brief p. 322(1: siebenter Brief p. 341c.
*; Dazu wei'cr: Christ, Plalon Studien p. 25 iT. Rciiihold,
de Plat. epistnlis Quedlinburg iSSG. Burnet, Rhein. Museum 62
Plat. Briefe p. 312. C. Ritter, neue Untersuchungen p. 327/4-24.
R. Ada m, über d. plat. Briefe. .\rch. f. G. d. Piiil. XVI, 1. H. Racd er,
Über d. Echtheit der plat. Briefe. Rhein. Museum 61 p. 427/47) ;
511/542. S ill, ULtersnchuugen üler d. plat. Briefe Diss Halle 1931.
- '^G —
Gegenstand der Kritik unterworfen, zuweilen in sehr heftigar
Polemik widerlegt, wobei die Widerlegungsgründe ahnen
lassen, in welcher Richtung etwa die Lösung des Problems
zu suchen sein möchte. Oft auch bildet die aufgeworfene
Frage garnicht den eigentlichen Gegenstand der Erörterung;
sie dient nur, indem scheinbar absichtslos ein Gedanke den
anderen nach sich zieht, als Anknüpfung für Ueberlegungen,
die schliesslich in ganz anderer Eichtung verlaufen. Dann
wieder scheint die Schilderung der Scenerie soweit im
Vordergründe zu stehen, dass die Ausführungen über das
zur Behandlung gestellte Thema lediglich als Beiwerk zur
Steigerung der dramatischen Lebendigkeit der Schilderung
dienen. Da Plato niemals selbst und im eigenen Namen
redend auftritt, so gilt es also immer, erst durch eingehende
Untersuchung festzustellen, wie weit seine eigene Ansicht
von den redenden Personen vertreten wird, wie weit Plato
nur die Denkweise dieser Personen schildern will, oder
vielleicht durch das innere Ungenügen an dem bisher von
ihm Erreichten oder durch die Einwirkung fremder Gedanken-
gänge veranlasst, künstlich selbst Denkweisen geschaffen
hat, um in der Erörterung derselben selber zu grösserer
geistiger Klarheit über den jedesmaligen Gegenstand zu
gelangen. Eben dieser Zweifel betrifft auch das von Sokrates
Vorgetragene. An manchen Stellen ist mit aller Bestimmt-
heit die Tendenz Piatos erkennbar, die eigentümliche Art
und Persönlichkeit des verehrten Meisters mit feinstem
Verständnis seiner Individualität auch durch die Ansichten,
die er ihm in den Mund legt, zu charakterisieren, nicht
aber seine, Piatos Lehre, zum Ausdruck zu bringen. E.
Kühnemann in dem obengenannten Werk sagt darüber
S. 274: „Durch Sokrates wurde der Mensch vor die Frage
des eigenen Lebens gestellt, — wie er lebt und gelebt hat.
Dieser im tiefsten Sinne sittliche Sinn der neuen Wissen-
schaft lebt in Plato fort, dass sie nämlich Selbsterkenntnis
des Menschen ist und in der Selbsterkenntnis den Grund
eines waiirhaft sittlichen Daseins ergiebt."
— 27 —
Es lierrsoht oregenwärtig bei vielen die Neigung, den
Zwiespalt hervorzuheben zwischen dem, was wir in Piatos
Dialogen lesen, und dem von Aristoteles als Piatos Lehre
Berichteten^), und man schliesst daraus auf Missverstüudnis
oder absichtliche Verdrehung der platonischen Lehre durch
Aristoteles. Teils meint man, er sei unfähig gewesen, Piatos .
Lehre richtig zu verstehen; teils, es sei seine hämische
Tadelsucht gross genug gewesen, um durch entstellende
Berichte Plato lächerlich zu machen und sich vor der Mit-
und Nachwelt als den überlegenen Geist zu erweisen. Diese
Ansicht ist völlig unhaltbar; nur dadurch erklärt sie sich,
dass man sich nicht entschliessen kann, den Tatbestand
sicher ins Auge zu fassen. Aristoteles hat nicht allein
dieselben Quellen gehabt wie wir, sondern noch andere,
und diese Quellen sind die besten, die denkbar sind. Er
hat 20 Jahre lang mit Plato gelebt in stetem Austausch,
hat seine Vorlesungen gehört und mit ihm disputiert. Und
dass er die Fähigkeit des Verständnisses und den guten
Willen hatte, seinem grossen Lehrer gerecht zu werden,
das zu bezweifeln gibt es keinen denkbaren Grund. Ueber
diese Fragen des aristotelischen Berichtes über Piatos Lehre
siehe E. Zeller, Platonische Studien 1839. S. 199-29L
Alberti, die Frage nach Geist und Ordnung der plato-
nischen Schriften beleuchtet aus Aristoteles. 1864 2).
') So bei P. Natorp, Piatons Ideenlehre, Leipzig 1903: Bericht
über Robin, Stewart, Taylor. Dtsch. Literaturztg. 1910, Constantin
Ritter, Plato, S. 579, 58 k
2j Vcrgl. weiter: M. Watson, Aristotles Criticisms of Plato.
Oxford 1909. F. U e b e r w e g, Grundriss d. Geschichte d. Philosopliie
1909 X. Äuil. Bd. I p 132 135. L. Roh in, la theorie platoniciennc
des idecs et des nombrcs d'apres Aristoto. Paris 03. Ch. Wer n e r,
Aristote et ridöalisinc platonicien. Paris 09. Th. G o m p e r z, die
angebliche plat. Schulbibliothek (Platonaufsätzc) Bd. II. Sitzungs-
berichte der ^Viene^ Akademie. 1899. E. Z e 1 1 e r, über den Zusammen-
hang der plat. arist. Schriften. Hermes XI, 70 p. 81 -9ü. Wähle,
Beitiäge zar^Würdigung des Aristoteles und zur Erklärung plat.
Lehrtn. Arch. f Geschichte d. Phil. XIV, 145.
— 28 —
Für unsere Kenntnis der Lehre Piatos ist mitliin das
Zeugnis des Aristoteles entscheidend. Er hat sich immer
zu Piatos Schule gerechnet; er ist von dankbarer Ehrfurcht
gegen seinen Lehrer erfüllt; sein Scharfsinn ist unvergleich-
lich. Wir kennen Aristoteles aus seinen eigenen Werken,
die die Bewunderung des menschlichen Geschlechtes geniessen.
Es ist also Aristoteles sicher zu vertrauen; dagegen müssen
■wir mit der höchsten Behutsamkeit verfahren, wenn wir
aus den Aeusserungen der Personen in den platonischen
Dialogen auf Piatos eigene Ansichten schliessen wollen.
Wo also sich ein Widerspruch zwischen Aussprüchen in
platonischen Werken und Berichten des Aristoteles über
Piatos Lehre zu ergeben scheint, da werden wir die Auf-
fassung, die uns die platonischen Stellen an die Hand geben,
durch die aristotelische Darstellung zu korrigieren haben.
L Der ethische Gehalt des „Gorg^ias".
Zur Grundlegung für alle weiteren Darlegungen wird
es nötig sein, über den Inhalt des Dialogs einen kurzen
Ueberblick zu geben, sodass von vornherein die Hauptsachen
klar hervortreten und von allem bloss Episodischen, der
Einkleidung Dienenden oder auf zeitlich interessierende
Fragen Hinweisenden abgesehen wird.
Der berühmte Sprachkünstler Gorgias von Leontini ist
in Athen. Sokrates kommt mit Chärephon, ihn zu hören.
Gorgias, der eben unter gewaltigem Beifall eine Rede ge-
halten hat, ist bereit, über einen beliebigen Gegenstand
Auskunft zu geben. Aber Polos, sein Schüler, nimmt ihm
die Last ab und bietet sich dem Chärephon zur Unter-
redung dar. Als Polos auf Chärephons Frage, welches die
Kunst sei, in der Gorgias sich betätige, antwortet, es sei
die herrlichste von allen Künsten, wirft Sokrates ein, das
sei keine Antwort auf die Frage. Gorgias erklärt darauf,
sein Fach sei die Kunst der Rede, und weiter, nach der
Aufgabe dieser Kunst befragt, bezeichnet er sie als die
Kunst des sprachlichen Gedankenausdrucks, sodann als ihren
— 29 —
Inhalt die bedeutsamsten Angelegenheiten der Menschen,
lind weiter als ihren Zweck die Kunst der Ueberredung, und
zwar die Kunst, in Volksversammlung und vor Gericht die
Menschen zu bestimmten Ansichten über das Gerechte und Unc-e-
rechte zuüberreden, allerdings nicht um sie zum Wissen, sondern
bloss zum Glauben anzuleiten. Die Redekunst sei überaus
wirksam. Gewiss könne man sie missbrauchen, aber das
hebe ihren Wert nicht auf. Wissenschaftliche Erkenntnis
sei zu solcher Ueberredung nicht erforderlich; aber über
das was gut oder böse, gerecht oder ungerecht sei, müsse
der Redner unterrichtet sein. Sokrates findet darin einen
Widerspruch. Denn wenn der Redner wisse, was gerecht
ist, werde "er auch ein gerechter Mann sein und die Rede-
kunst nicht missbrauchen. Solchen Missbraucli aber habe
Gorgias vorher als möglich zugegeben.
Da tritt Polos auf den Flau. Gorgias habe ein un-
nötiges Zugeständnis gemacht; der Redner brauche kein
Wissen zu haben; es genüge, dass ihm die Kunst der Rede
die Macht über die Gemüter verleihe. Dann, führt Sokrates
aus, ist die Redekunst eine blosse, durch Uebung erworbene
Fertigkeit, sich die Gunst der Menschen zu erwerben, indem
man ihren Neigungen schmeichelt. Wirkliche Macht aber
ist nicht das Vermögen, zu tun, was einem beliebt, sondern
zu tun, was man vernünftiger Weise wollen kann; Unrecht
tun ist das grösste Uebel. Polos ist über diesen Satz ganz
entsetzt und tritt den Beweis an, dass gerade die Ungerechten
die Glücklichsten seien. Sokrates dagegen führt aus, dass
das Glück in Herzensbildung und Gerechtigkeit bestehe,
und dass auf die geraeine Meinung, die anders laute, nichts zu
geben sei. So gebe es denn auch kein grösseres Unglück
für den Ungerechten, als wenn er unbestraft bleibe ; denn
die Strafe sei wenigstens noch ein Mittel, die Seele von
dem schlimmsten Uebel, von der Ungerechtigkeit, zu be-
freien.
Damit ist die Redekunst als (Gegenstand der Unter-
haltung beseitigt. Die Erörterung wendet sich nunmehr
ausschliesslich den von Sokrates vorgetragenen Ansichten
— 30 —
über das Glück als das Heil der Seele zu, und im Verfolg
dieses Streites kommt es zu einer Untersuchung über die
obersten Prinzipien des sittlichen Lebens, die den Dialog
bis zu Ende ausfüllt.
Polos muss, von Sokrates gedrängt, zugeben, dass Un-
recht tun allerdings für das Gefühl dasWiderwärtigere und
zugleich das Verwerflichere ist faib/iov xal xaxtov); daraus
folgert dann Sokrates, dass Strafe leiden wirklich Erlösung
vom Uebel der Ungerechtigkeit bedeutet, dass der elendeste
Mensch unter allen der Mensch ist, der die Macht besitzt,
ungestraft jeden Frevel zu üben, und dass die Redekunst,
sofern sie solche Macht verleiht, den an ihr gerühmten Wert
keineswegs besitzt.
Hier mischt sich Kallikles, der auch das Zugeständnis
des Polos für übel angebracht und grundlos hält, in das
Gespräch. Diese Aeusserungen des Sokrates gehen ihm
über jeden Glauben; das kann unmöglich im Ernste ge-
sagt sein; das wäre die völlige Umkehrung alles Lebens
und aller Grundsätze der Menschen. In der Tat, erwidert
Sokrates, so ist es; aber man darf sich nicht an die
Meinungen der Menschen und an die tatsächliche Er-
scheinung halten; nur Wissenschaft gibt Wahrheit, nur sie
vermag zum rechten Leben anzuleiten. Nun kramt Kallikles
alle Konsequenzen der gemeinen Meinung aus und sagt
alles das offen heraus, wozu sich geradezu zu bekennen
schwächere Gemüter eine falsche Scham hindere. Nur die
Befriedigung aller Lüste und Triebe gibt dem Leben Wert ;
sich darin durch Gesetze und konventionelle Ansichten
hindern zu lassen, ist verächtliche Schwäche minderwertiger
Naturen. Von Natur ist alles erfolgreiche Tun löblich, ganz
gleich, ob es allen Gesetzen, die unter den Menschen
herrschen, widerspricht oder nicht. Von Natur gilt nur das
Recht des Stärkeren. Wissenschaft mag ja sonst ganz gut
sein zu geistiger Uebung in den Jugendjahren; des rechten
Mannes würdig ist nur die praktische Betätigung im öffent-
lichen Leben. Sokrates werde selbst die Erfahrung machen,
dass man mit Grundsätzen, wie er sie bekennt, hilflos einem
— 31 —
schmälilichen Ende entgegengeht. Sokrates erhebt dagegen
seine Einwendungen. Ist der Stärkere wirklich der Wert-
vollere, der zur Herrschaft Berufene, zur Erfüllung seines
Beliebens Berechtigte, so sind die vereinigten Schwachen
als die Stärkerei) gegenüber jedem Einzelnen von Natur
zur Durchsetzung ihres Willens berechtigt. Oder sollen als
die Stärkeren die geistig höher Stehenden gelten? Denen
kann man doch auf Grund ihrer üeberlcgenheit kein anderes
Recht zugestehen, als das, was den Geringeron auch zu-
kommt. Kallikles erwidert, er meine mit den Stärkeren
die Willenstarken, die Mutigen und Einsichtsvollen, be-
sonders in der Politik. Aber, wendet Sokrates ein, die
Starken sind doch vielmehr diejenigen, die sich selbst be-
herrschen. Solche Selbstbeherrschung weist Kallikles als
eine leere und törichte Redensart ab. Sokrates meint, stark
seien doch eigentlich die, die wenig bedürfen; das Streben,
seine Begierden zu befriedigen, sei ganz ähnlich dem Streben,
ein Fass ohne Boden zu füllen; dann wäre auch der
niedrigste Sinnengenuss ein Element des Glücks. Zudem,
Avenn man die Lust und das Gute als identisch setze, so
ergebe sich der Widersinn, dass während Glück und Un-
glück einander ausschliessen, in der Befriedigung der Be-
gierde der Schmerz des Begehrens und die Lust der Be-
friedigung beisammen sind, Begierde und Befriedigung auch
zugleich aufhören. Und weiter : wenn gut ist, wer das
Gute an sich hat, so wäre der gut, der die Lust an
sich hat, falls die Lust das Gute ist, und schlecht
wäre, wer die Unlust an sich hat. Es hiess ja aber vor-
her, vielmehr die Willensstarken und Einsichtsvollen seien
die Guten, und nicht die Feigen und Unverständigen, die
Lust empfinden. Kallikles sieht sich dadurch zu dem Zu-
geständnis gezwungen, dass es Lust von besserer und Lust
von schlechterer Art gebe; er habe nur von der besseren
Art von Lust gesprochen. Worin soll denn der Unter-
schied liegen, fragt Sokrates, wenn nicht darin, dass die
eine dauernd frommt, die andere schädlich ist? Also ist
doch vielmehr nicht die Lust das Gute, sondern das Heil,
— 32 —
das sie bringt, und um das lierauszuerkennen, dazu gehört
richtiges Urteil. Mithin erwirbt sich nur der ein Verdienst
um die Menschen, der sie besser macht. Nun ist überall,
für den Staat, für den Einzelnen, für Leib und Seele, das
Gute Ordnung, Mass, Gesetz. Darum kann es nicht die
Aufgabe sein, dass man den Begierden, den eigenen wie
denen der anderen, diene, sondern vielmehr gegebenen Falls
dem anderen versage, was er begehrt, ihn strafe, um dem
Heile seiner Seele zu dienen. Das Gute und Gerechte ist
verwandt mit den mathematischen Gesetzen, den Gedanken,
die das Universum im rechten Gange erhalten: darauf be-
ruht auch das wahre Glück. Nicht das Leben zq erhalten
ist das Ziel, sondern es mit würdigem Inhalt zu erfüllen.
Das Streben nach Erfolg in der äusseren Welt zieht die
Seele herab, die, um den Menschen zu gefallen, sich ihnen
angleichen muss. Dagegen wahre Seligkeit gewährt die Ge-
sinnung, in reiner Innerlichkeit nach nichts anderem zu
streben als nach der Vollendung des eigenen Wesens.
Das so erlangte Ergebnis stellt Sokrates dann in
mythischer Form als ein Gericht nach dem Tode dar, wo
die unbestechlichen Richter die Seele in ihrer Nacktheit in
der Form sehen, die sie durch ihren Wandel im irdischen
Leben erreicht hat. Das seligste Los wird wohl demjenigen
zufallen, der in philosophischem Geiste rein und lauter
durchs Leben gegangen ist, unverwickelt in die irdischen
Händel, nur damit beschäftigt, seine Seele in möglichst voll-
kommenem Zustande hindurchzuretten.
IL Der wesentHche Gedankengrehalt des „Gopgias."
Suchen wir nunmehr die Einheit und hauptsächliche
Absicht des „Gorgias" festzustellen.
Der Dialog ist im wesentlichen ein Gespräch, das
Sokrates hinter einander mit drei Personen: Gorgias, Polos
und Kallikles, führt. Ein fünfter Mitunterredner, Chärephon,
tritt nur in der Einleitung auf, um die Anknüpfung des
Gespräches zu vermitteln, und nimmt dann weiterhin an
— 33 —
demselben keinen tätigen Anteil. Dieses wirklich Vorliegende
gilt es streng im Auge zu behalten und keinerlei Vorurteil
darüber, was für Lehren das Werk als Ansichten Piatos
vortragen und dem Leser einprägen möchte, in dasselbe
hinein zu tragen, wenn mau zu einem wirklichen Verständ-
nis des Dialoges gelangen will.
Die im ,,Gorgias" auftretenden Personen sind in zwei
Lager geteilt. In dem einen befindet sich Sokrates, dessen
Bedeutung durch den Gegensatz, in dem er zu den Sophisten
steht, bezeichnet wird : in dem anderen die drei als typische
Vertreter sophistischer Ansichten und Lehren charakterisierten
Personen, die der Reihe nach im Gespräche mit Sokrates
diesem dann Anlass geben, seine ethischen Anschauungen
im Gegensatze zu den Sophisten zu entwickeln.
Es sind zwei verschiedene Auffassungen vom Zweck
und Inhalt des rechten Lebens, die in diesem Gespräche
einander gegenübertreten. Die eine spricht sich dogmatisch
entschieden voller Zuversicht und Selbstgewissheit aus, hält
sich an die herrschende Meinung der Masse und trotzt auf
ihre Selbstverständlichkeit; die andere, das persönliche
Eigentum des Sokrates, sucht sich in eingehender Reflexion
zu begründen. Die Widerlegung der entgegengesetzten
Ansicht dient ihr dazu, für sich volle Sicherheit zu erlangen,
und durch ernste Ueberlegungen zieht sie aus gesicherten
Vordersätzen die aus ihnen mit logischer Notwendigkeit sich
ergebenden Folgerungen, rücksichtslos und unbedenklich
auch zu der äussersten Paradoxie bei der Bekämpfung der
geläufigen Auffassungen fortschreitend. Es besteht kein
Zweifel daran, dass Piatos Sympathien dem Standpunkte des
Sokrates, mit dem er den Gegensatz zu den Sophisten gemein
hat, zugewandt sind. Wie weit jedoch seine Anschauungen
mit den von Sokrates im „Gorgias" geäusserten überein-
stimmen, wie weit er seine eigenen durch Sokrates darlegen
lässt, oder ob die hier ausgeführten Lehren nur zur
Charakteristik des Sokrates dienen, das bleibt fürs erste noch
eine offene Frage.
8
— 34 —
Im Gegensatze zu den mehr episodisch gehaltenen
kleineren Dialogen, die in keiner Weise den Anspruch
erheben, irgend ein Thema abschliessend zu behandeln,
gelangt der „Gorgias", ein Werk von grösserem Umfang,
zu einem vollkommenen, das angeschlagene Thema völlig
erschöpfenden Abschluss. Mit den sokratischen Dialogen
hat der „Gorgias" die Sorgfalt in der Schilderung der
Situation und die Charakteristik wirkungsvoll und in be-
w'usster Absicht gruppierter Personen gemeinsam. Wie die
kleineren und mehr spielenden Dialoge gewährt auch der
„Gorgias" nicht den Anschein, als ob er verfasst sei, irgend
einen theoretischen Lehrsatz zu beweisen und einzuschärfen.
Er stellt dar: man dürfte nicht eigentlich sagen:
er lehrt. Wir lernen die entgegengesetzten Anschauungen
von Mensciien sehr verschiedener Art kennen, und diese
Anschauungen suchen sie aucii dialektisch zu begründen :
aber einen strengen wissenschaftlichen Beweis darf man
darin nicht erblicken wollen. Dass die eine der streitenden
Anschauungen Piatos Zustimmung in höherem Grade besitzt
als die andere, ist von vornherein wahrscheinlich, und es
wird wohl eben diejenige sein, die am Schlüsse als die
siegreiche und abschliessende erscheint. Nur darüber, wieweit
dieselbe sich mit derjenigen Piatos deckt, ist damit noch
garnichts ausgemacht. Noch viel weniger aber darf man
Erörterungen und Lehren, die aus der Diskussion sich
ergebend im Gange der Untersuchung vorgetragen werden,
dem Plato als Darlegung seiner eigenen Ansichten anrechnen.
Es ist naiv und unmethodisch, in einer dramatischen Dar-
stellung die von einer der auftretenden Personen geäusserten
Ansichten für Ansichten des Verfassers selbst zu nehmen.
Daher ist es geboten, auch das, was Plato dem Sokrates
in den Mund legt, zunächst und bis auf weiteres als Be-
standteil der Charakteristik dieser Lieblingsgestalt ihres
Schöpfers aufzufassen ; eine weitere Untersuchung mag dann
darüber entscheiden, ob die Aeusserungen des Sokrates bei
Plato im Namen und aus dem Sinne Piatos getan sind.
— 35 —
Aus der Tendenz des „Gorgias" darzustellen und
nicht zu lehren, ergibt sich, dass es das AUerverkehrteste
wäre, auf einzelne Aussprüche und gelegentlich gemachte
längere Ausführungen einen unverhältnismässigen Nachdruck
zu legen und daraus Schlüsse ziehen zu wollen, auf die zur
Zeit der Abfassung des „Gorgias" von Plato erlangte geistige
Entwicklungsstufe und auf seinen Gedankengang ^). Piatos
Lehre konnte in vielen Punkten bereits weiter ausgebildet
gewesen sein, als sie sich im „Gorgias" darstellt, wo die
bestimmte Veranlassung nur Aeusserungen bestimmter Art
hervorrief: andererseits enthält dieser Dialog möglicherweise
manches, was keineswegs in vollem Ernst und als bleibender
Bestandteil der systematischen Lehre Piatos gemeint ist.
Der Anlass lässt Menschen und Dinge unter besonderer
Beleuchtung erscheinen, die bei anderem Anlass sich in
ganz anderem Lichte darstellen würden. Das „haec fabula
docet" stimmt ganz und gar nicht zu dem schriftstellerischen
Charakter eines Meisters künstlerischer Darstellung wie Plato
es war. Wer ihn verstehen will, muss suchen, das von ilim
entworfene Gemälde als Ganzes auf sich wirken zu lassen
und sich in die Gesamtanschauung hineinzuversetzen, aus
der heraus das Kunstwerk entstanden ist. Pedantisch einzelne
Aussprüche zu pressen, bis sich bestimmte Lehrsätze ergeben
und man von einem erreichten Standpunkt unter mehr oder
weniger scheinbarem Vorwande reden darf, ist doch nur ein
Missverständnis.
Wer ohne vorgefasste Meinung an den „Gorgias"
herantritt, dessen Interesse wird sich zunächst dem Gegensatz
zwischen den vier als typischen Vertretern ihrer Anschauungen
charakertisierten Personen zuwenden, die mit einander ihre
Ansichten austauschen. Gorgias, der berühmte Meister der
Rhetorik, ist in Athen angelangt, und Sokrates, wie er
wenigstens selber sich äussert, hat in seinem eifrigen Streben
nach Wahrheit den dringenden Wunsch, Gorgias kennen
') Vergl. Natorp, Pl.'s. Ideenlehre S. 41 fif. Constantin Ritter,
Platu S. 391 ff.
— 30 —
zu lernen, um sieh von ihm über Wesen und Aufgabe der
Rhetoriiv belehren zu lassen. Bei der Unterredung zwischen
Sokrates und Gorgias entspinnt sich aus der Erörterung der
beiden vorgenannten Fragen zwischen Sokrates einerseits,
Gorgias und dessen Anhänger Polos andererseits eine Unter-
suchung über den Wert der Rhetorik. Das Gespräch
nimmt eine allgemeinere und prinzipiellere Wendung, als
Kallikles, der bis dahin nur als Zuhörer sich beteiligt hat,
in dasselbe eintritt. Nunmehr handelt es sich um das letzte
Ziel menschlicher Lebensführung überhaupt, und Sokrates
stellt im schärfsten Gegensatz zu Kallikles seine Ansichten
dar über das, was im Leben anzustreben ist.
Die Frage nach dem Wesen der Rhetorik, die den Aus-
gangspunkt bildete, tritt im Fortgang mehr und mehr zurück
hinter der Erörterung über den Wert derselben. Weiter-
hin wird auch das Treiben der Sophisten und die Tätigkeit
des Staatsmannes zum Gegenstande der Erwägung. Worin
besteht nun der eigentliche Inhalt des Dialogs, die Einheit
seiner ganz verschiedenen Teile und seine wirkliche Ab-
sicht ?
Plato hat diese Einheit und diese letzte Absicht mit
genügender Deutlichkeit bezeichnet; mau muss nur auf seine
Andeutungen achten. Sokrates ermahnt den Kallikles, in der
Untersuchung nicht nachzulassen, bis ein genügendes Er-
gebnis erreicht sei; denn der Gegenstand, dem schliess-
lich die Untersuchung gelte, sei die Frage, wie man sein
Leben einzurichten habe, um volle Befriedigung zu er-
reichen»). Und ebenso wird in den Aeusserungen des Kallikles
und des Sokrates in aller Bestimmtheit bis zu den äussersten
Konsequenzen der oberste Gegensatz der Anschauungen über
den rechten Inhalt des Lebens vorgeführt»). Es ist der
Gegensatz des Strebens nach geistiger Bildung und der
Richtufig auf die Tätigkeit nach aussen; der Gegensatz der
Arbeit an der inneren Vollendung der Persönlichkeit und
») Gorg. 492d. 500c.
*) Gorg. 482-488.
ZI
der Sucht nach Befriedigung an den äusseren Gütern ; mit
einem Worte: das aktive und das kuntemphitive Leben')
werden einander gegenübergestellt, um ihren wahren Wert
zu ermessen, und es wird der Beweis geführt, dass, unbe-
kümmert um die Gestaltung des äusseren Lebens, nur in
dem der iimeren Vollendung gewidmeten Leben der Mensch
seine eigentliche Bestimmung erfüllen und vollkommenen
inneren Frieden erlangen könne. Innere Durchbildung ist
aber zAigleich aaeh Bildung des Intellektes und des Willens.
Philosophie und Versittlichung gehen Hand in Hand und
können nicht von einander getrennt werden. Die Aus-
führungen, die Sokrates in diesem Sinne macht, sind ganz
im Geiste des historischen Sokrates gehalten, und manches,
was Xenophon denselben sagen lässt, klingt an das im
„Gorgias" Vorgetragene an-). Doch ist damit noch nicht
gesagt, dass es nicht zugleich auch Piatos Gesinnungen
wiedergäbe. Im Gegenteil, es macht eher den Eindruck,
als ob er sich zu den von Sokrates ausgedrückten Ueber-
zeugungen bekenne. Die Art jedoch, wie Sokrates im
„Gorgias" diese Ueberzeugungen begründet, ist nicht die
spezifisch platonisciie. Sokrates geht nicht auf die letzten
Prinzipien zurück, wie sie Plato seiner Behandlung der
Ethik sonst zu Grunde legt, sondern beruft sich weit mehr
auf äusserliche Reflexionen. Darum sind wir nicht zu der
Annahme gezwungen, die Gründe, mit denen Sokrates die
Aufstellungen der Sopliisten zu widerlegen oder seine eigenen
Ansichten zu beweisen sucht, seien durchweg im Sinne Piatos
gehalten. Vieles darin dient augenscheinlich nur zur Kenn-
zeichnung der eigentümlichen Art des geschichtlichen Sokrates.
Andererseits ist auch die Annalnne nicht berechtiort, der
„Gorgias" gehöre deshalb, weil er die Prinzipien, die die
geschichtliche Stellung Piatos bezeichnen und seine eigen-
tümliche Grösse ausmachen, nicht vorträgt, der Frühzeit des
Plato an, einer Zeit, in der er seine eigentümlichen Prinzipien
'; Gorg. 50Cc.
') Vgl. Gercke, Eialeitung zu S a u pp e 's, von ihm erneuerter,
Ausgabe des „Gorgias". 1897. S. XXIX. ff.
- 38 -
noch nicht gefunden hätte. Vielmehr bezeichnet der „Gorgias",
eines der vollendetsten Werke, die menschlicher Geist jemals
geschaffen hat, seiner ganzen Beschaffenheit nach in Form
und Inhalt einen der Höhepunkte im Sehaffen Piatos und
gehört der Zeit der vollendeten geistigen Entwicklung und
schriftstellerischen Meisterschaft des Philosophen an-). Am
nächsten möchte man ihn auch der Zeit der Entstehung nach
an „Phaedon" und „Gastmahl" anreihen, ihn also um 380—375
etwa entstanden denken. Die nähere Untersuchung dieses
Punktes liegt unserer Aufgabe fern^j.
In erster Linie muss der „Gorgias" als ein Kunstwerk
und nicht als ein Lehrbuch betrachtet werden. Als seine
Abzweckung erweist sich dem aufmerksamen Leser die Dar-
stellung zweier entgegengesetzter Weltanschauungen in der
Gestalt konkreter Persönlichkeiten und in lebendiger Aktion
des Gedankenaustausches. Als eine dieser konkreten Ge-
stalten tritt uns Sokrates entgegen, und vertritt Gesinnungen,
die gewiss Piatos volle Zustimmung besitzen, ohne dass
darüber die geschichtliche Eigentümlichkeit des Sokrates
geopfert würde.
Man ist auf die sonderbare Vorstellung gekommen, der
„Gorgias" wolle eine Art von Apologie für das philosophische
Studium im allgemeinen und für das des Sokrates oder des
I
') Sasemihl, genet. Eatwicklung der plat. Phil, Leipzig 1855
p. 113 verlegt die Abfassung des Gorgias in die Zeit unmittelbar
nach dem Tode des Sokrates auf Grund von Gorg. p. 486 Ä f; 508 C. ff;
p. 521 C. f. Lutoslawski, the origin and growth of Piatos Logic.
London 1935 p. 189 hält den Gorgias für einen der spätesten Dialoge
aus der sokratischen Periode. Schleiermacher, Bd. IL L S. 19
ff. verlegt seine Abfassung in etwa das 40. Leben&jdhr Piatos : des-
gleichen Zell er p. 525 Äcm. 1 wegen der im Gorg. 525 B. ff
gemachten Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Sunden
und zeitlichen und ewigen Strafen im Jenseits. Ebenso C. Ritter,
Plato, München 1910 p. 449 wegen der ausführlichen Unterweisung
des Polos in der Methode richtiger dialektischer Verständigung.
^) Wir verweisen für diese Frage auf die Untersuchungen von
Natorp und auf die oben genannte Einleitung von Gercke.
— 39 —
Plato im besonderen darstellen. *) Offenbar ist die Ab-
zweckung des Werkes eine viel umfassendere, und die Stellen,
die auf den Wert der philosophischen Durchbildung der
Persönlichkeit gehen, sind rein episodisch zu deuten. Dass
solche Aeusserungen gleichwohl einen zeitlichen Anlass
haben, etwa den Gegensatz zu einer literarischen Richtung
oder einem vielgelesenen Werke kennzeichnen können, —
man könnte dabei etwa auch an Xenophons Memorabilien
denken — i-t damit keineswegs geleugnet. Aber es liegt
auch dazu kein Grund vor, anzunehmen, dass der „Gorgias"
wie die „Apologie" und Xenophons „Memorabilien" etwa
in den Streit um das Andenken des Sokrates eingreifen sollte.
Man beruft sich dafür auf die Stellen, in denen von einer
möglichen Anklage gegen Sokrates gesprochen wird und von
seiner völligen Hilflosigkeit in einem solchen Falle. Aber
diese Ausführungen erweisen sich ohne jeden Zweifel als
gelegentliche Folgerungen aus dem, was als das eigentliche
Ziel der Untersuchung den Kern des Werkes ausmacht, und
für einen Rahmen, in den das Uebrige eingepasst wäre,
träte es schon seiner Ausdehnung wegen allzusehr zurück.
Eine Verkennung der hohen Ziele Piatos würde es auch
bedeuten, wollte man im „Gorgias" ein ausführliches Fiin-
gehen auf minderwertige literarische Erscheinungen der Zeit
vermuten, um sich mit kleineren Geistern auseinanderzusetzen.
In einem anderen seiner grossen Werke, dem „Symposion",
hat Plato, wie wir allerdings meinen möchten, das entsprechende
Werk des Xenophon mit dem gleichen Titel vor Augen
gehabt. Dabei hätte er das, was bei Xenophon kleinlich
und dürftig ist, in ein Gedicht von unermesslicher Tragweite
an künstlerischer Kraft und Hoheit und an Reichtum der
Gedanken umgewandelt^). Für den „Gorgias" ist eine solche
') Vgl. F. S u .s e m i h 1, die genetische Entwicklung der plato-
nischen Phüosopic. I. 1855. S. 90ff.
2} K. Fr. H e r m a n n ist der Ansiebt, Xenoph.'s „Symposion"
sei die frühere Schrift, und man dürfe dem Xenophon doch wohl
schwerlich einen solchen Maugel an Urteilskraft zutrauen, wie er ihn
mit der Abfassung seines Gastmahls bewiesen hätte, wenn ihm das
— 40 —
Voiiuge nicht nachweisbar. Xenophons „Hiero", der wenigstens
in der Darstellung des Gegensatzes zwischen äusserer Herrschaft
und privatem Glück eine gewisse Aehnlichkeit mit dem
Inhalt des „Gorgias" besitzt, ist wie öfter nachgewiesen ist,
erst viel später geschrieben.
Mit einigen Worten berühren wir die Ansichten der
Gelehrten über die Zeit, in der das im „Gorgias" geführte
Gespräch als stattgefunden vorgestellt werden könnte. Diese
Ansichten gehen sehr weit auseinander, und in der Tat
hat ja der Gegenstand seine grossen Schwierigkeiten, sodass
man aus den Zeitbestimmungen für die Ereignisse, die im Dialog
selber erwähnt werden, keinerlei Anhalt gewinnen kann für die
Bestimmung der Zeit, in der der „Gorgias" geschrieben ist.
Am genauesten und sorgfältigsten hat darüber A. Gercke
in der Einleitung zu seiner Ausgabe des „Gorgias" (Berlin
1897, S. XIV ff.) gehandelt; an dem Ergebnisse seiner
Untersuchung wird man wohl festhalten müssen. Plato hat
offenbar gar keine bestimmte Zeit ins Auge gefasst oder
ausdrücklich die Zeit, in der das Gespräch stattgefunden
haben soll, als eine unbestimmte bezeichnet, dadurch, dass
er Ereignisse aus ganz verschiedenen Zeiten heranzieht, auf
die im Dialog Bezug genommen wird. Der ganze Dialog
ist eine Dichtung, durch kleine, aber wohlüberlegte Mittel
herausgehoben aus der historischen Sphäre realer Tatsachen
und des Parteigetriebes in Athen. So Gercke, und dabei wird
man sich beruhigen dürfen.
Fest steht, dass der Dialog nach 399, dem Tode des
Sokrates, verfasst sein muss. Schon die irn Gorgias vor-
schauend angebrachte Andeutung des Schicksals ^), das
Sokrates zuteil werden wird, müsste als Beweis dienen für
diejenigen, die es überhaupt für möglich halten, dass Plato
gleichnamige platonische Werk bereits vorgelegen hätte. Gegauteiliger
Ansicht ist Böckh, De simultate quac inter Piatonom et Xenophontem
intercessisse fertur. 1812 und in dessen kleinen Schriften Bd. IV. S. ö.
Ebenso S c h a n z im Hermes XXI, 458. W.Christ, Geschichte
der griech. Literatur, 4 Auü. II. S. 256.
') K. Fr H e r m a n n, Geschichte und System der platonischen
Philosophie Bd. 3, S. 476.
— 41 —
seinen lioeliverelirtini Lelirer iiocli bei dessen Lebzeiten als
Person in steinen Dialogen habe auftreten lassen, was wir
allerdings für völlig undenkbar erklären. Die Helege für
die hohe Stnfe der Geistesentwicklung des Verfassers, die
uns im „Gorgias" entgegentritt, mögen als Beweis für eine
Abfassung 1) in höheren Lebensjahren nur eben angedeutet
werden. Für die Jahre, in die die im „Gorgias" erwähnten
Ereignisse fallen, verweisen wir auf die Ausführungen von
(jercke 1. c. S. XV. Daraus würde sich eine Bestimmung
für das Jahr, in das die Abfassung des Dialoges fallen könnte,
auf keine Weise gewinnen lassen. Ebenso begnügen wir
uns, was den Ort betritt>, der als Schauplatz des Gespräches
zu gelten hat, auf die zutreffenden Ausführungen von Gercke
1. c. S. XIV hinzuweisen. Das Ergebnis ist, dass Plato
keinen Wert darauf gelegt hat, den Ort der Unterredung
ausdrücklich zu bezeichnen, dass aber wahrscheinlich der
Ort eben der ist, an dem der Vortrag des Gorgias, der dem
Gespräche vorangegangen ist, stattgefunden, hat, also etwa
ein Gymnasium oder eine öffentliche Säulenhalle, aber ganz
sicher nicht das Haus des Kallikles, wie manche gemeint haben.
IV. Die Personen im „Gorgias".
Aristoteles unterscheidet in seiner Ethik drei haupt-
sächliche Lebensformen: das Leben des Genusses, das Leben
in den Geschäften, und das theoretische, das kontemplative
Leben ^). Ein Zweifel daran, dass er auch in diesem Punkte sich
an Plato anschliesst, wäre unberechtigt. Allerdings nimmt
Plato im „Gorgias" statt dieser Dreiteilung eine Zweiteilung
vor. Die beiden Lebensformen, die er unterscheidet, sind
das aktive und das kontemplative Leben. Offenbar zieht er
das Leben des Genusses und das Leben in den Geschäften
in eines zusammen unter dem Gesichtspunkt, dass beide als
•) P. N a t 0 r p, Ueber Grundabsicht und Entstehungszoit des
platonischen Gorgias, Archiv f. Geschichte der PhilosopliieBd.'}, S. 2>9iS.
Gercke in seinem Vorwort zu Sauppei Ausgabe S. XXXUI fl'.
«; Eth. Nicoui. I, 5. 1095 b, 17. VII, 7. li 77 b, 30.
— 42 —
das Leben für den Dienst der äasseren Güter den gemein-
samen Gegensatz bilden zu dem wahren Leben, dem Leben
im Dienste der inneren Selbstvollendung. Um die innere
Nichtigkeit des blinden Machtstrebens so vieler seiner Zeit-
genossen und die tiefen Mängel der politischen Zustände
Athens überhaupt darzustellen, nimmt er die Rhetorik, die
eine der herrschenden Mächte des Zeitalters war, zur Ziel-
scheibe. Seine Absicht ist darauf gerichtet, als das Kenn-
zeichen des weltlichen Lebens und Treibens die tiefe Knecht-
schaft unter Menschen, Dingen und Verhältnissen zu erweisen,
und dem gegenüber die Seligkeit der inneren Freiheit zu
preisen, deren der Philosoph, der frei ist von Begierden
nach äusseren Ehren und Genüssen und von ähnlichen
Affekten, teilhaft wird. Zu dem Buhlen um die Gunst der
unverständigen Massen, um Macht, Ehre und Reichtum wird
das Streben nach der Gesundheit der Seele und einem
günstigen Urteil im jenseitigen Gericht in den schärfsten
Gegensatz gestellt. Am Schlüsse wird als Form der Dar-
stellung der Mythus verwandt. Die hier auftretende Vor-
stellung vom jenseitigen Gericht sollte man nicht als Beweis
dafür verwenden, dass Plato „orphisch-pythagoreische" An-
sichten selbst geteilt oder dem Sokrates in den Mund gelegt
habe. Wenn wir Rohde glauben, so ist jenen Kultgemeinden der
Gedanke einer Vergeltung guter und böser Taten nach dem
Tode im Jenseits vollständig fremd gewesen '). Dass Sokrates
selbst solche Ansichten gelehrt habe, dafür fehlt es an jedem
Zeugnis. In^Yahrheit ist der Mythus und die ganze Vorstellung
vom jenseitigen Leben und jenseitigen Gericht eine einfache
Konsequenz aus dem eingenommenen ethischen Standpunkt.
Und damit ist der „Gorgias" zu betrachten als ein Evangelium
vor dem Evangelium, und sein eigentlicher Gehalt lässt sich
mit den Worten unseres Heilandes bezeichnen : ^) „Quid enim
prodest homini, si mundum Universum lucretur, animae vero
suae detrimentum patiatur, aut quam dabit horao commu-
') Vgl. Roh de, Psyche 2. Bd. I. p. 295.
2j Matthäus XVI, 26.
— 43 —
tatioiuMii pro anima sua"-' „Tt.' y^fi w'^cX/,})/, 351011 oi^i^cjiozf.;,
sav Tov x^3u.ov oXov xsp^T^T/), xrjv os 'l^/V aotou ^f^\xuu\ir^; r^ -'.
Die entgegengesetzte, die auf Betätigung in der äusseren
Welt gerichtete Gesinnung wird in drei verschiedenen Ge-
stalten dargestellt. Die erste derselben ist Gorgias, der
vielgerühmte Redner und Lehrer der Sophistik, der sich
selbst mit Stolz als einen ausgezeichneten Rhetor bezeichnet').
Gorgias in platonischer Darstellung ist ein Mann von ge-
mässigter Haltung und elirbaren Grundsätzen; von dem
platonischen Sokrates wird er mit unverkennbarer Hochachtung
behandelt. Infolge seines ausserordentlichen Bewandertseins
in Kenntnissen auf den verschiedensten Gebieten und seiner
alle überragenden Fertigkeit im Reden und in der Darlegung
seiner Wissenschaft fühlt er sich allen überlegen; sein Selbst-
vertrauen ist ungemessen. ¥a' ist ein Freund wissenschaft-
licher Untersuciiung, und die Unterhaltung mit einem so
geschickten Dialektiker wie Sokrates bereitet ihm ganz
besondere Freude. Was er als von ihm bewiesen anerkennen
rauss, gibt er offen und bereitwillig zu, ohne dass es ihm
Verdruss verursacht, im Gespräche überwunden zu sein. Er
hat sich auch genügend sittliches Gefühl bewahrt, um den
Einwänden des Sokrates, die aus der sittlichen Sphäre gegen
seinen Preis der Rhetorik vorgebracht werden, ihr Recht
zuzugestehen, und in ernstem wissenschaftlichem Interesse
an der Erforschung der Wahrheit treibt er die andern aus-
drücklich an, dem Sokrates auch ferner Rede zu stehen und
seiner Kunst der Widerlegung im Suchen der Wahrheit
Stand zu halten ^j. Augenscheinlich bereitet ihm die Ge-
schicklichkeit, mit der Sokrates Gedanken entwickelt, die den
seinigen ganz entgegengesetzt sind, ein hohes Vergnügen,
und mit S{)annung wartet er ab, wie Sokrates seine Sache
weiter und bis zu Ende durchführen wird. Auch dass es
des Rhetors eigentliche Aufgabe sei, seine Kunst im Dienste
») Gorg. 449A.
»J n 497ß.
- 44 —
(los Rechtes und im Kampfe gegen das Unrecht zu gebrauchen,
bekennt er ausdrücklicli als seine Ansicht und meint, wenn
diese Kunst niciit zur Verteidigung, sondern zum Angriff",
und nicht im Dienste des Rechtes, sondern im Dienste des
Unrechtes verwendet werde, so solle man denjenigen, der
so die Kunst missbraucht, nicht aber die Kunst selber tadeln ^).
Dem Redner aber schreibt er ausdrücklich die Verpflichtung
zu, sich die wissenschaftliche Erkenntnis von Recht und
Unrecht zu erwerben, um seine Betätigung danach einrichten
zu können^;.
Den Eindruck eines geistig weit minder bedeutenden
Menschen von „sittlich-unsittlicher Halbheit" gewährt
dagegen der zweite Unterredner, Polos von Akragas, des
Gorgias getreuer Schüler. Mit grosser Konsequenz an seinem
Prinzip hartköpfig festhaltend, nimmt er es auf sich, eine
ganz ähnliche Ansicht vom Ziele des menschlichen Strebens
zu vertreten, wie sein weltberühmter Meister. Gleich bei
den ersten Worten jedoch, die er spricht, gewinnen wir den
Eindruck, dass zwischen des Polus dreister Entschiedenheit
und Gorgias ernster Gehaltenheit ein gewaltiger Unterschied
sich auftut und erst Polos es ist, der die schlimmen Konse-
quenzen des beiden gemeinsamen Standpunktes blosslegt.
"Wenn Gorgias sich immerhin noch eine ehrenhafte Gesinuuug
bewahrt hat, so ist dies offenbar nicht den theoretischen
Anschauungen, die er hegt und in der Welt verbreitet, zu
verdanken, sondern der persönlichen Eigenart und abge-
klärten Stimmung des bejahrten und geistig regsamen Mannes
zuzuschreiben. Welche Konsequenzen für die Lebensführung
diese auf die äussere Welt gerichtete Anschauung wirklich
mit sich bringt, das zeigt uns dagegen die Gestalt des Polos.
Jung und leidenschaftlich, vertritt er seine Ansicht, die
er sich doch nicht selbst gebildet hat, mit tönenden Worten;
er hat sie fertig übernommen und steckt darin fest wie in
einem ausgemachten Dogma. Diese Ansicht ist nach ihm
') Gorg. 457A— 157C.
^) „ 460A-460B.
— 45 —
die einzig mögliche; wer eine andere hat, der ermangelt des
gesunden Menschenverstandes i). Mit unbedingtem Selbst-
vertrauen reisst er das Gespräch an sich und meistert seinen
Meister, der Zugeständnisse mache ^), die weder geboten noch
zweckmässig seien. Mit Sokrates, das steht ihm fest, und
mit dessen sophistischen Künsten werde er leichtes Spiel
haben ; das hindert nicht, dass er sich nachher dem Sokrates
gegenüber überaus unsicher und ungeschickt erweist. Seine
Hiltlosigkeit, die in so schlagendem Gegensatze steht zu der
Höhe seines Selbstvertrauens, lässt erkennen, wie gross die
Dürftigkeit des gesunden Menschenverstandes und des geraeinen
Bewusstseins ist, avo es gilt, nicht eingelernte Sätze zu
wiederholen, sondern den Gegenstand begrifflich za unter-
suchen. In der Rolle des Fragenden^) erweist er sich als
so ungeschickt, dass Sokrates, der ihn wegen seines logischen
Unvermögens fortgesetzt mit grosser Geringschätzung, ja
schliesslich mit bitterem Hohne behandelt, ihm erst beibringen
muss, wie er weiter zu fragen habe^).
Polos kann die Gattung nicht von der Art unterscheiden,
die Begriffe Wollen und Belieben nicht auseinanderhalten:
er merkt nicht, dass die eine Frage, die er stellt, vielmehr
zwei Fragen enthält^;: Hat einer Macht, zu tun was er will?
und tut er was er will, wenn er vollbringt, was ihm beliebt? Schon
seine ersten Worte zeigen, dass strenges, logisches Denken nicht
seine Sache ist ; er liat sich auf Rhetorik eingeübt, der Dialektik
aber ist er nicht Herr geworden. Gefragt, was die Rhetorik
sei, antwortet er, wie beschaffen sie sei. Mit grosser
Heftigkeit wirft er dem Sokrates, der den Gorgias abermals
in die Enge getrieben hat, tölpelhaftes und unfeines Wesen
vor; er habe hinterhaltig die Frage nach dem Wesen der
Rhetorik auf das ethische Gebiet hinübergespielt ^j, wo man
-473 E.
')
Gorg.
467 ß: 473 A-
')
>i
461B-461C.
')
>j
462 B.
*)
>5
463 C.
')
?>
466 D.
•)
1)
461 B.
— 40 —
so leicht aus Scheu vor der lierrscliendcn Ansicht sich ver-
leiten liisst, mit seiner wahren Meinung nicht offen lieraus-
zukoniraen 'j. Er selber ist über ethische Rücksichten und
altväterliche Vorurteile weit erhaben; Annehmlichkeit, Macht
und Ansehen ist das, was ihm allein wertvoll erscheint^),
und nur die Furcht vor der Strafe ist ihm der Grund,
weshalb man sich des Bösen zu enthalten hat. Dabei ist
es ein köstliches Schauspiel, diesen in der gemeinen Ansicht
belangenen Menschen zögernd zugeben zu sehen, was ihn
widerlegt; zu hören, wie er am entscheidenden Punkte, wo
er Sokrates mit Antworten nicht mehr standhalten kann,
diesen auffordert, in der Klarlegung des Gegenstandes doch
allein fortzufahren. Dann wieder glaubt er diese Wider-
legung durch die Bemerkung, ein Kind könne Sokrates
widerlegen'), geleistet zu haben mit einem Beispiel"*), das er
anführt, durch die Berufung auf die herrschende Ansicht der
Menschen, durch die Erregung des Gefühles und dann wieder
durch offenes Auslachen^). Das sind die Mittel, mit denen
er nach Rhetorenart die Gründe des Sokrates entkräftet zu
haben sich einbildet; und schliesslich erklärt er dessen ernste
Ueberzeugung für so ungeheuerlich, dass er annehmen müsse,
Sokrates hege sie sicher selbst nicht, sondern stimme im
Grunde seines Herzens mit ihm, Polos, überein ^).
Indessen, die letzten Konsequenzen aus seinem grund-
sätzlichen Standpunkte zu ziehen, davon hält auch Polos
ein Rest von sittlicher Scheu zurück. Von Sokrates gedrängt,
gibt er bei der Erörterung über die Frage, ob Unrecht-Tun
oder Unrecht-Leiden schlimmer sei, wenigstens dies^zu, dass
Unrecht-Tun etwas für das Gefühl verletzenderes habe,
niediiger, unedler, unschöner^) (aia/;.r>v) sei, als Unrecht-
') Gorg.
461 C.
') »
469 A.
•) „
4700.
*) „
470 D.
6\
/ 55
473 E.
•) 5,
471-473A.
') „
476B.
- 47 —
Leiden. Damit aber hat ilin Sokrates gefangen, und lässt
ihn, an diesem Zugeständnisse ihn festhaltend *), nicht eher
los, als bis er auch die letzten Konsequenzen, die Sokrates
daraus zieht, zugibt.
Nun aber tritt Kallikles als dritter Unter red ner in
das Gespräch ein, und jetzt erst enthüllen sich die zer-
störenden Folgen, die eine weltliche Gesinnung, wo sie un-
eingeschränkt waltet, nach sich ziehen rauss, in ihrer
ganzen Schroffheit und Hässlichkeit. Kallikles verschmäht
es, seine Ansichten mit einem schönen, das Gefühl nicht
verletzenden Gewände zu bekleiden. Mit edlen Gefühlen
schön zu tun und sich dem Urteil der Menschen zu beugen,
erscheint ihm als feige Schwäche. So spricht er seine An-
sicht mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit aus, die auf diesem
(Jebiete geradezu das Gepräge schamloser Frechheit annimmt.
Nach seiner allerdings sehr einfachen und durchsichtigen
Anschauung ist der Zweck des Menschenlebens der, zu
geniossen, so viel und so intensiv wie möglich-}; Befriedi-
gung der Begierden und Gelüste, der niedrigsten wie der
höheren, ist das Gebotene. Zu solcher Befriedigung aber
bedarf man der Macht über die Menschen und über die
Dinge, und damit wird Macht zu erwerben als Mittel zur
Befriedigung der Begierden zur ersten Aufgabe des ver-
nünftigen Menschen. Durch welche Mittel diese Macht er-
worben wird, ist gleichgültig, wenn sie nur zum Ziele führen;
wer aber die erlangte Macht anders benutzen wollte als zu
seiner persönlichen Befriedigung, der wäre ein Tor^). Denn
etwas Heiliges, Göttliches anzunehmen, ist verkehrt. Es
gibt keine sittliche Forderung, die man zu achten hätte;
es gibt auch kein anderes Eecht als das Recht der Stärke*).
Von Natur ist Jeglichem Jegliches gestattet, wenn er nur
die Macht, es zu vollbringen, besitzt^); der Schwächere aber
') Gorg. iliV — ilbE: 475 B.
2) „ 491 E; 4Ü--' A: 494 C.
3) „ 491 E.
*) „ 483 D.
•) „ 492 C.
— 48 —
hat keinen Anspruch auf zarte Schonung, wo er den Gelüsten
des Stärkeren im Wege steht. Der höhere Mensch erweist
sich gerade dadurch als charaktervoll und vernünftig, dass
er den Schwächeren unbarmherzig zertritt, wo es seinen
eigenen Nutzen gilt. Die unter den Menschen geläufigen
Vorstellungen von Gerechtem und Ungerechtem und die
denselben entsprechenden Gesetze und Einrichtungen im
Staate sind lauter willkürliche Erfindungen^) und listige
Auskunftsmittel der Niedrigen und Schwachen, um die Edlen
und Starken auf künstliche Weise wider das Gesetz der
Natur einzuschränken und zu bändigen^). Der starke Geist
kümmert sich nicht um solche willkürlich aufgerichteten
Schranken und ist erhaben über die Vorurteile der Masse.
Macht will er erlangen, um zu geniessen; jedes Gut, das
der Schwächere besitzt^), gehört von Rechts wegen ihm.
Darum wendet er sich der politischen Tätigkeit zu, widmet
sein Leben praktischen Aufgaben und hat für die Hingabe
an ideelle Interessen nur Hohn und Verachtung*). Für junge
Leute mag es ja ganz angebracht sein, eine Zeit lang sich
dem Studium der Wissenschaften, der Geistesbildung über-
haupt zu widmen; allein wenn ältere Männer in derjzleichen
unnützen Spielereien ihre Kraft und ihre Zeit zu vergeuden
fortfahren, so ist das für den Einsichtigen ein Gegenstand
des Vorwurfs und des Mitleids-^). Ein Tyrann zu sein, seine
Begierden so gross als möglich werden zu lassen^), nach
Belieben andere schädigen und vernichten zu können, ohne
dass man dafür Vergeltung zu fürchten braucht, das ist
das seligste Ziel eines würdig zugebrachten edlen und treff-
lichen Lebens'').
') Gorg.
483 C: 492 A.
=") „
484 A.
«) „
484 C.
*) „
485 A.
») „
485 B.
•) ,,
491 E.
') »
492A-492 C.
1
— 49 —
Diese Ansichten wurzeln nicht in blosser Laune und
Stimmung, sondern sie sind vielmehr eine wohl befestigte
Theorie, die ihre Begründung in der Erkenntnis hat, dass
der Mensch als blosses Sinnenwesen von sinnlichen An-
trieben regiert sei wie die Tiere, und seine Intelligenz ihm
nur zur besseren Befriedigung seiner sinnlichen Begierden
verliehen sei. Daher ist Kaliikles in seinen Ansichten
auch völlig befestigt und unerschütterlich. Des Sokrates
entgegengesetzte Ansicht — so glaubt er — könne unmög-
lich im Ernste gemeint sein'j. Wo er jedoch durch des
Sokrates Beweisgang in Bedrängnis gerät^), beschwert er
sich, dass dieser eine kindische Freude an dem kleinsten
scheinbaren Zugeständnis habe, und mit Beispielen, die von
den niedersten Sphären hergenommen seien ^), den Gegner
zu fangen suche; dass er Unverständliches rede, um den
andern zu überlisten und zu übertölpeln und um selbst um
jeden Preis Recht zu behalten*). Nur mit Widerwillen lässt
er sich um der andern willen, die gern die Erörterung der
Streitfrage bis zu Ende mit anhören möchten, dazu bestimmen,
die Unterredung fortzusetzen und dem Unsinn, den Sokrates
vorträgt, weiter sein Ohr zu leihen^). In seiner Ansicht
ist er durch keinen noch so schlagenden Beweisgrund^ zu
beirren; denn er weiss es besser, und für die tiefsinnigsten
Ausführungen seines Gegners hat er nur ein überlegenes
Lächeln. Das alles stimmt ja gar nicht zur Wirklichkeit,
meint er, und die Gesichtspunkte des Sokrates seien voll-
kommen weltfremd ; weder handeln die Menschen so, noch
denken sie so^). Hierbei kommt dann schliesslich der tiefste
Grund, in dem die ganze Anschauung des Kaliikles wurzelt,
zum Vorschein: das Angenehme und das Gute sind eines
und dasselbe; Wissenschaft dagegen und Willensstärke sind
') Gorg.
481 B.
'J ,,
489 C.
') „
494 E.
*) „
497 B.
») „
501 C: 505
') „
511 A.
— 50 —
verschieden uod haben weder miteinander noch mit dem
Guten irgend welche Geracinschal't^). Zuletzt aber gerät
Kallikles dem Gedankengange des Sokrates gegenüber doch
in ein gewisses Schwanken und Zweifeln^), und nun behilft
er sich, kleinlaut geworden, mit der Ausrede, er mache seine
Zugeständnisse lediglich dem Sokrates zu Gefallen und um
der lästigen Sache ein P^nde zu bereiten. Dann aber sich
wieder fassend verbirgt er seine wachsende Verlegenheit
hinter trotziger Verstocktheit und höhnischem Lachen.
Vergebene Mühe, einen Kallikles zu belehren oder
zu bekehren! Diese Art, die ihren Standpunkt jenseits von
Gut und Böse nimmt, war vor 2(100 Jahren ebenso unver-
besserlich wie sie es heute noch ist, weil ihr der sittliche
Ernst, die Fähigkeit des Erkennens der wahren Bestimmung
des Menschen und des ausser aller Sinnlichkeit gelegenen
absoluten Seins abgeht.
Die Meisterschaft, die sich in der Zeichnung dieser
drei Gestalten, in dem humoristischen Behagen wie in der
satirischen Schärfe oftenbart, mit der diese Klimax aufge-
baut ist, bleibt tür alle Zeiten bewundernswert. Doch erst
in der Schilderung des Sokrates, des eigentlichen Helden
dieses Dramas, entfaltet der platonische Genius seine ganze
Grösse. Sokrates trägt im „Gorgias" besondere Züge, welche
in andern Dialogen nicht so hervortreten oder ihm abgehen,
so viel Gemeinsames auch in der Gestalt des Sokrates, wo
er in den platonischen Dialogen das Wort führt, immer
wiederkehrt. Ueberall ist er der Meister der Dialektik, der
die schwachen Stellen in den Ausführungen der Gegner
schnell und sicher erfasst und diese mit einfachen, unschein-
baren Wendungen in die Enge treibt. Ueberall macht er
seine Deduktionen mit unzerstörbarer Heiterkeit des Gemütes,
welche auch die Gegner versöhnt; seine leichte Ironie, seine
Gutmütigkeit, Freundlichkeit und seine verbindlichen Formen
lassen bei ihnen das Getühl des Verletztseins garnicht
') Gorg. 495 D.
«) „ 513 C.
— 51 —
aufkommen. Obwohl ihm seine eigenen üeberzeugungen
fest und heilig sind, bleibt er doch meistens duldsam und
nachsichtig gegen die Irrtümer der anderen, die er nicht
sowohl belehren, als vielmehr zu Mitwirkenden bei der
ernsten Arbeit der Untersuchung heranziehen zu wollen vor-
gibt.
So tritt uns Sukrates im „Gorgias" entgegen; doch hier
nimmt sein Wesen noch eine besondere Färbung an. Stolzes
Selbstbewusstsein M ist an Stelle seiner sonstigen Bescheidenheit
und vorgeschützten Unsicherheit getreten; nur einmal findet
sich eine derartige Aeusserung^), wie man sie sonst so oft
von ihm vernimmt, das Bekenntnis seines Nichtwissens.
Seine Haltung ist durch die Art der Gegner bestimmt, vor
denen er mit ausserordentlich geringem Respekt erfüllt ist.
Den „Gorgias" behandelt er zwar noch mit sichtbarer Hoch-
achtung und unter Vermeidung alles Verletzenden; er ehrt
sein Alter und seine Mässigung, so geringwertig ihm auch
das Handwerk erscheint, das „Gorgias" betreibt, und die
Gesinnung, in der er es betreibt. Ihm gegenüber nimmt
er auch den Anlauf zu wirklicher Untersuchung, und wo er
Bemerkungen ausspricht zur Methodik der Forschung, gibt
er ihnen nicht die Form einer Belehrung oder gar einer Zurecht-
weisung seines Mitunterredners, sondern einer Rechtfertigung
seines eigenen Verfahrens ^). Zwar sind die Gründe, deren
er sich bedient, nicht eben tief, und die Gedanken, die er
ausspricht, bleiben äusserlich. Sichtbariich aber ist es die
Rücksichtnahme auf die Art des Gegners, die seine in den
anderen Unterredungen zu Tage tretende gute Laune hier
unterdrückt.
Ganz anders aber gestaltet sich des Sokrates Ver-
halten zu Polos und gar zu Kallikles. Beide sind ihm
ärgerlich, ja er behandelt sie mit offensichtlicher Nicht-
achtung wegen ihres logischen und dialektischen Unver-
») Gorg. 427A; 482A: 521D.
») „ 461A f. vgl. sonst 509A.
») „ 453CD.
— 52 -
mögens*), so sehr er sich aucli znsammenniramt, um die
Unterredung mit ihnen zu Ende zu führen, damit diese Art
von niedriger Gesinnung nicht unwidersprochen bleibe.
Sckrates ist offenbar gereizt durch des Polos dreistes Selbst-
vertrauen und des Kallikles frivole, mit eiserner Stirn
schamlos vorgetragene Gesinnungen. So kommen im „Gorgias"
alle die liebenswürdigen Züge, die Sokrates sonst im Disput
zu tragen pflegt, wohl irgendwie zum Vorschein, doch sind
sie getrübt und verdunkelt; ja er verleugnet seine gewöhnliche
Gutmütigkeit und Freundlichkeit, indem er sich offenen
Hohnes und verletzender Schärfe gegen seine Gegner bedient.
„So widerlege mich dochl" herrscht er wiederholt den
anmassenden Polos an. „Ich führe meinen Beweis in Be-
griffen, und du lachst!^) Soll das eine. Widerlegung sein?
Du berufst dich auf die Meinung der Leute, du führst ein
Beispiel an: meinst Du damit die Sache auszumachen?" Viel
matter, viel weniger heiter als sonst klingt es, wenn Sokrates
auch hier den Anschein erwecken will, als erwarte er von
dem anderen Belehrung, und weit geringer ist die Bescheidenheit,
mit der er sich auf sein angebliches Nichtwissen zurückzieht.
Ueberall merkt man ihm den Unwillen, die Verachtuug an'),
die er den Gegnern selbst, und die er ihren Ansichten
entgegenbringt; ja, unverhohlener, höhnischer Sarkasmus spricht
sich in den an Kallikles gerichteten Worten aus, mit denen
er ihm für die Freundschaft dankt, durch die jener ihn von
seinen Irrtümern zu befreien gedenke, und ihn bittet, darin
doch ja nicht abzulassen. Im „Gorgias" ist dem Sokrates
das niedrigste Beispiel zur Widerlegung seiner Gegner nicht
zu niedrig*), und so droht die Diskussion zwischen ihm und
Kallikles nicht ganz ohne Verschulden des Sokrates zuweilen
in persönliche Invektiven auszuarten^;. Sokrates will es
offenbar garnicht vermeiden, diese unwürdigen oder unfeinen
') Gorg.
462C;463C;465C
') »
473E.
') »
497.
*) ,,
494C E.
•) »
495D.
— 53 —
Gegner zu verletzen; so wenig entspricht seine Kampfesweise
im „Gorgias" der milden, freundlichen und duldsamen Art,
mit der der platonische Sokrates sonst von seiner Ueber-
legenheit Gebrauch macht, um die Gegner zu überführen
und zu belehren. Im „Gorgias" sucht er gerade die schärfste
Zuspitzung des Gedankens, wählt ausdrücklich die ausge-
sprochenste Paradoxio, um die seine Geringschätzung heraus-
fordernde niedrige Gesinnung und Anschauung seiner Gegner
in ihrer ganzen ünwünligkeit nud Verderblichkeit blosszu-
stellen. Die dramatische Vorführung dieser Personen aus
zwei verschiedenen Lagern ist für den Dialog „Gorgias"
charakteristisch. Von dort aus will er verstanden sein.
V. Der Beweisgang" im „Gorgias".
Die Aufgabe dieser Abhandlung ist nicht, über Plato
zu philosophieren, sondern mit Plato zu philosophieren.
Es gilt, sich in ein bestimmtes Werk Piatos zu vertiefen
und seinen Gehalt möglichst ungetrübt herauszuheben.
Dieses Werk, den Dialog „Gorgias", wollen wir unter Ab-
sehen von jedem vorgefassten Urteil und ohne andere plato-
nische Werke oder geläufige Ansichten über Piatos Lehre
heranzuziehen, nur aus sich selbst verstehen ; denn wir sind
überzeugt, dass Piatos Dialoge jeder für sich geschlossene
Kunstwerke sind, die jedes aus-sich selbst verstanden werden
müssen, wenn man sich vor Missverständnis und vor der
Verkennung der Absichten Piatos bewahren will. Erst nach-
dem man so das Werk aus sich selbst verstanden hat, ist
es gestattet und geraten, andere platonische Werke und
deren Inhalt zur Vergleichung und Erläuterung heranzu-
ziehen, um die Stelle des ins Auge gefassten Werkes inner-
halb der Gesamtheit der platonischen Schriften verstehen
und würdigen zu können.
Ein zweites Erfordernis ist dies: Wer ernsthaft die Auf-
gabe verfolgt, den Philosophen zu v-erstehen, der darf keine
eigenen Gedanken über den von dem Philosophen behandelten
Gegenstand haben, und wenn er, wie es wohl meistens der
- 54 —
Fall sein wird, eigene (jcdankeii darüber hat, so miiss er
tun als hätte er sie nicht, um sich von dem Philosophen
einfach darüber belehren zu lassen. Manche unter denen,
die über Piatos „Gorgias'* geschrieben haben, hielten es für
geboten, die von Plato geäusserten Ansichten mit denen,
die sie selbst haben, zu vergleichen, und festzustellen, wo
Piatos Ansicliten von den ihrigen abweichen. Da nun die
Ansichten dieser Kritiker nach ihrer Meinung unzweifelhaft
riciitig sind, so sind die abweichenden Ansichten Piatos
ebenso unzweifelhaft falsch, und es ist dann ein besonderes
Verdienst des Platoforschers. alle die falschen Schlüsse und
die verkehrten Behauptungen, die ihm bei Plato entgegen-
treten, aufzuzeigen und der Wahrheit zu ihrem so lange
verkannten Rechte zu verhelfen. — Wir halten diese ganze
Stellung Plato gegenüber für prinzipiell falsch. Zunächst
weil es sich doch um die historische Frage handelt, was
Plato wirklich gelehrt hat, und es dafür völlig gleichgültig
ist, wie der Kritiker über den Gegenstand denkt. Sodann
aber auch deshalb, weil die Vermutung immer eher die ist,
dass Plato mit seiner Ansicht wohl im Rechte sein wird
und sein Kritiker mit der abweichenden Ansicht im Unrecht.
Wir suchen also nur unter Beiseitelassen jeglicher Kritik
Plato zu verstehen. Dass wir zum Scliluss unserer Be-
wunderung für den grossen Denker und Menschendarsteller
Ausdruck verleihen, wolle man uns freundlich ;i.gute
halten, zumal da unsere religiösen üeberzeugungen uiid
unsere sittlichen Ideale bei Plato eine kräftige Unterstützung
finden.
Die eigentliche philosophische Arbeit auf diesem Gebiete
bedeutet also doch, dass man den Denker versteht und seine
Intentionen richtig heraushebt. Im „Gorgias" beruft sich
Plato nicht auf oberste philosophische Prinzipien. Dass
diese im Hintergrunde stehen und auch hier Piatos Ueber-
zeugung aufs tiefste bestimmen, ist selbstverständlich. Da
aber Plato im „Gorgias" sich nicht ausdrücklich auf diese
Prinzipien beruft, so wird nur der den Philosophen philo-
sophisch behandeln, der bei der Besprechung des „Gorgias"
- hh -
die philosophische Prinzipienlehre bei Seite zu lassen ver-
mag. In einem platonischen Dialog tritt uns eine Menge
von Einzelheiten entgegen. Zusammen bilden sie ein
organisches Ganzes ; unter einander sind sie von abgestuftem
Werte. Eines ist der Hauptgedanke; ihm dient alles andere.
Unter ihm stehen Ausführungen, die mit dem Hauptgedanken
in engerer Verbindung stehen, und solche, die vermittelnd
auf ihn hinleiten. Es kommen dazu mehr episodische
Gedankengänge, die zur Bereicherung und zum Schmucke
dienen und das sinkende Interesse immer \vieder neu an-
fachen; darunter sind auch solche, die bei guter Gelegen-
heit anzubringen und einzuschärfen dem Verfasser besonders
am Herzen lag, und andere, die nur nebensächliche Be-
deutung in Anspruch nehmen. Alles das steht wirklich
da, und so finden sich unzweifelhafte Belegstellen für die
verschiedensten Auffassungen. Die richtige Auffassung er-
gibt sich also nicht von selbst. In dieser Mannigfaltigkeit
den springenden Punkt, das eine, alles beherrschende Interesse
zu ergreifen, in der reichen Komposition die Teile nach
dem Gewichte abzuwägen, das sie im Sinne des Urhebers
haben sollten, das ist schwer; aber es ist Sache der Intuition
mehr als eines umständlichen Beweisverfahrens. Wir wagen
uns an die Aufgabe deshalb heran, weil wir meinen, in den
Behandhingen des „Gorgias", die uns bekannt geworden
sind, eine in aller Weise genügende Auffassung des Ganzen
und der Teile noch nicht gefunden zu haben. Und so
liaben wir für den von uns erneuerten Versuch, dem „Gorgias"
gerecht zu werden, um eine freundliche Autnahme zu bitten
auch da, wo m n unsere Auffassung nicht für die richtige
hält.
Den Anfang des Dialogs bildet nach den Eingangs-
worten, die nur die Veranlassung für das Gespräch bezeichnen,
die Frage nach der Rhetorik, ihrem Wesen und ihrer Be-
rechtigung. Darüber erlauben wir uns noch einige einleitende
Worte. Im Dialog selber handelt es sich der Hauptsache
nach um das Problem der rechten Lebensführung; dafür
wird im Anfang das theoretische Verhalten ins Auge gefasst,
— 5(5 —
sofern in diesem die Auffassung über die im praktischen
Leben anzustrebenden Ziele wurzeln. Die Rhetorik, zu Piatos
Zeit von grösster Bedeutung für politisches und privates
Leben, steht im Gegensätze zu eigentlicher Wissenschaft
und dem Streben nach reiner Erkenntnis. Wir würden
heute an ihrer Stelle die populär wissenschaftliche Literatur
nenuen, die durch oberflächliches und äusserliches Wesen,
dur^h den Glanz der sprachlichen Darstellung und die auf
die Instinkte der Masse berechnete Trivialität der Gedanken
und Gesinnungen sich ein grosses Publikum zu gewinnen
weiss. An die damalige Bedeutung der Rhetorik muss man
sich erinnern, um Piatos Polemik zu würdigen. Im da-
maligen Hellas verschaffte die Redekunst auch politische
Macht, hohe Stellung und Ansehen. Die Lehrer der Rede-
kunst nahmen an diesen Erfolgen Teil und leiteten ihre
Jünger dazu an, sich solche Erfolge zu gewinnen, nicht
durch wirkliche wissenschaftliche Einsicht, sondern durch
ein die urteilslosen Massen blendendes Scheinwissen. Plato
kommt in seiner Bekämpfung dieser Pupularphilosophen, zu
der er sich gezwungen sieht durch die Macht, die sie über
die Gemüter üben, und durch die von ihnen gepflegte Ab-
wendung von aller strengen methodischen Wissenschaft,
immer wieder darauf zurück, dass diese glänzenden Meister
der Rhetorik von den Elementen einer logischen Methode
keine entfernte Ahnung haben und einem Meister der Dia-
lektik, wie es Sokrates ist, wehrlos preisgegeben sind. Dabei
darf man nicht glauben, dass die Argumente, mit denen
Sokrates als der Typus des wissenschaftlichen Charakters
die Sophisten bekämpft, alle ernsthaft gemeint und von
Plato als wertvoll und überzeugend hingestellt sind. Ganz
im Gegenteil. Gerade, dass diese sophistischen Rhetoriker
selbst den leichtest wiegenden Scheingründen unterliegen
und sich Einwendungen gegenüber, die keineswegs für den
ernsten Denker zwingend erscheinen, nicht zu helfen wissen,
gerade dies beweist handgreiflich, wie dürftig bestellt es
um diese stolze Populärphilosophie ist, die so hohen Ruhmes
geniesst, und dass man zu ernster, strenger Wissenschaft
- 57 —
seine Zuflucht nehmen muss, wenn man mit Gott und
Menschen in heilsamen Anschauungen übereinstimmend
Frieden der Seele und äusseres Glück an die Fahne be-
festigen will, der man dient.
So tritt uns gleich zu Anfang Polos entgegen, der
geistreiche, in tönenden Worten sprechende Sciiüler des
Gorgias, der die Kunst der Lebensführung aus der Erfahrung
ableitet. Die Höhe seines logischen Vermögens ist daran
zu ermessen, dass er ernsthaft meint, die Frage nach dem
Was des Gegenstandes mit einer Aussage über die Be-
schaffenheit des Gegenstandes beantwortet zu haben (p. 448).
Gorgias aber, das berühmte Vorbild und Muster der Rede-
kunst und ihr gesuchtester Lehrer, der nun an Polos Stelle
in die Unterredung eintritt, ist als Logiker kaum besser.
Er zeigt sich selbst so unklar über sein eigenes Fach, dass
er, über das Wesen der Redekunst befragt, nur anzugeben
weiss, dass diese Kunst alle ihre Funktionen durch Reden
vollziehe, und damit die Sache erschöpft zu haben glaubt
(p. 450 b). Weiter aufgefordert zu sagen, von welchen
Gegenständen denn die Reden handeln, zu denen die Rede-
kunst gehört, weiss er nur zu erwidern, es seien die be-
deutsamsten und vornehmsten Gegenstände im menschlichen
Leben. Und als er auch noch angeben soll, welche denn
diese bedeutsamsten und vornehmsten Dinge seien, begnügt
er sich mit der Auskunft, es gelte für jeden Menschen.
Freiheit für sich und Herrschaft über andere, und das werde
erlangt durch die Kunst der Ueberredung in Gericht und
Volksversammlung. Diesen unbestimmten Angaben gegen-
über betont Sokrates, dass es ihm auf wirkliche Erkenntnis
ankomme, und dass er dazu wissenschaftliche Strenge in
begrifflicher Erörterung für erforderlich halte (p. 454. 458).
Durch Sokrates gedrängt gibt dann Gorgias weiter an, es
handle sich in der Redekunst um die Fragen über Recht
und Unrecht, und ihr Ziel sei nicht, wissenschaftliche Er-
kenntnis zu erwecken, sondern bloss zur Annahme einer
Meinung zu überreden, und dazu bedürfe es keiner Sach-
kenntnis. Gorgias ist naiv genug, gerade darin den hohen
- 58 -
Wert der Redekunst zn finden, dass sie die Kunst sei, auf
allen Gebieten andere zu überreden, ohne auf irgend einem
Gebiete sachverständig zu sein. Aber allerdings, fügt er
gutmeinend hinzu, man dürfe diese Kunst ebensowenig miss-
brauchen wie sonst irgend eine Art von Ueberlegeuheit; wer
das persönliche Uebergewicht missbrauche, sei zu ver-
urteilen, aber nicht die Kunst, die ihm das Uebergewicht
verliehen, noch der Lehrer der ihm die Kunst über-
liefert habe. An dieses Zugeständnis nun knüpft Sokrates
geschickt an (p. 459) und gewinnt Gorgias das weitere
Zugeständnis ab, dass zur Ausbildung in der Redekunst
auch die Kenntnis davon gehöre, was recht und unrecht,
schimpflich und löblich, gut und böse ist. (p. 460).
und nun schliesst er weiter: Wer das Baufach kennt,
ist ein Baukundiger; wer die Musik, ein Musiker;
wer die Medizin, ein Heilverständiger; also ist, wer das
Recht kennt, ein Gerechter, und da der Gerechte gerecht
handelt, der Redekundige aber das Recht kennt und mithin
ein Gerechter ist, so wird der Redekundige kein Unrecht
tun. Wenn also Gorgias vorher von dem ungerechten Miss-
brauch der Redekunst als einer Möglichkeit sprach, so hat
er sich in einen offenbaren Widerspruch verwickelt (p. 461).
Die Argumentation ist schlau auf des Sophisten logische
Unbeholfenheit berechnet. Aber selbst einem Fangschluss,
wie dieser, dessen Kunstgriff so augenscheinlich ist, weiss
ein Mann wie Gorgias sich nicht zu entziehen! Damit ist
in Gorgias die ganze Populär- und Feuilletonphilosophie
gekennzeichnet und abgetan.
Da tritt nun Polos, der Grossrednerische und Zuver-
sichtliche, der jugendlich Hitzige, zornerfüllt auf den Plan
und hält Sokrates sein unfeines und heimtückisches Benehmen
vor (p. 461). Weil es so nahe liegt, dass man Anstand
nimmt, ohne weiteres zu sagen, Redekunst sei gegen Recht
und Unrecht indifferent, habe Sokrates damit Gorgias perfide
aufs Glatteis gelockt. Und nun fragt er Sokrates, wofür
denn dieser die Redekunst halte. Sokrates erwidert recht
unhöflich, eine Kunst (tixvrj) sei sie seiner Ansicht nach
- 59 —
überhaupt nicht, nur eine durch Routine erworbene Fertigkeit,
(l|A7:£if>ia xal xpißr^) ; sie sei eine besondere Kiclitnng des
Bemühens, sich die Gunst der Menschen zu erwerben, indem
man ihren niederen Trieben schmeichelt (xoXoc/sia), nach
Art etwa der Kochkunst, ein Afterbild eines Zweiges politischer
Tätigkeit; so sei sie minderwertig und niedrig, weil sie nicht
das Gute, sondern das Angenehme anstrebt, und dabei nicht
einmal von den Mitteln, die sie in Anwendung bringt, ein
Bewusstsein hat oder sie zu begründen weiss. Sophisten
und Rhetoren stehen auch darum ganz nahe. Wie die
Sophisten die hohe Aufgabe der Gesetzgebung, so ziehen die
Rhetoren die der Rechtspflege in den Staub herunter. Wie
Kinder und Unverständige den Kochkünstler dem Arzt vor-
ziehen würden, lo lässt sich die grosse Menge durch den
Rhetor blenden, der mit den Künsten der Rede um die
Gunst der Massen buhlt, (p. 464).
Sokrates ist gegen Polos überaus unfreundlich. Er ist
verdriesslich über Polos Ungeschicklichkeit im Fragen und
muss ihm erst Anweisung geben, wie er seine Fragen zu
stellen hat, um das Gespräch in Gang zu bringen. Er habe
eine lange Ausführung gemacht, sagt Sokrates entschuldigend.
Er habe es wohl gewusst; denn als er sich kürzer ausgedrückt,
habe ihn Polos nicht vei standen. Polos, obwohl er noch
jung sei, vermöge einen einfachen Satz nicht genau aufzu-
fassen, wie solle es erst werden, wenn er älter geworden
sei! Sokrates bekennt, nie zu wissen, was Polos eigentlich
meine, nicht einmal dies, ob Polos eine Frage tue oder aber
eine Ausführung beginne und seine eigene Ansicht vortragen
wolle. Nicht einmal zwischen dem, was einer will und dem,
was einem beliebt, wisse Polos zu unterscheiden. Er stelle
eine Frage, die eigentlich zwei Fragen seien, und wisse es
nicht; er bewege sich in fortwährenden W^idersprüchen
gegen seine eigenen Aufstellungen. — Diese Unfreundlichkeiten
sind sehr auffallend. Schwerlich sind sie nicht gegen Polos
von Akragas gerichtet, der Plato wenig anging. Es ist eher
anzunehmen, dass ein gleichzeitiger Literat getroffen werden
sollte, auf den die dem Polos beigelegten Züge passen,
— 60 -
vielleicht einer aus der Schule des Isokrates. Wer es ist,
wird sich nicht mehr ausmachen lassen; aber für die Absicht
des Dialogs ist auch dieser Zug bedeutsam.
Alles Bisherige ist im Dialog nur einleitend gewesen;
jetzt wird der Uebergang zum eigentlichen Gegenstande des
Dialogs gemacht. Polos hat behauptet, die Meister der
Redekunst hätten die grösste Macht im Staate und besässen
damit das wertvollste Gut (p. 46G). Sokrates fragt, ob Macht
ein Gut sei auch für den Menschen, der nicht den Verstand
habe, sie recht zu gebrauchen? Man will doch den durch
die Handlung zu erreichenden Zweck als das Gute. So
könne es denn geschehen, dass einer, der keinen Verstand
hat, weil er die Macht hat zu tun was ihm beliebt, das
Schlechte tut, also das was er nicht will. Und so ist denn
der, der die Macht hat, unter Umständen der Elendeste;
denn Unrecht tun ist das grösste Uebel. Polos versteht das
so, dass es nur deshalb- ein Uebel sei, weil wer Unrecht tut
Strafe leide. Aber Archelaos, der König von Makedonien,
habe straflos die grössten Verbrechen verübt und gelte deshalb
nach aller Menschen Urteil als ein überaus glücklicher Mann
(p. 470. 471). Dem gegenüber stellt Sokrates die Behauptung
auf: wer Unrecht tue, sei noch viel elender, wenn er keine
Strafe erleide; denn so bleibe er in seiner Schlechtigkeit,
während die Strafe ihn heilen könnte.
Diese ungeheuerlichen Behauptungen, die dem populären
Bewusstsein direkt ins Gesicht schlagen, könne ein Mensch
— so meint Polos, — nicht im Ernst aufstellen. Ein Kind
reicht ja aus, Sokrates zu widerlegen. Die Meinung der
Menschen, die offenbarsten Tatsachen sprechen wider ihn.
Sokrates aber findet, solche Gründe, die zu seiner Wider-
legung vorgebracht werden, bewiesen, dass Polos nicht bloss
in der Logik, sondern auch in der Rhetorik ungeschult sei.
Die Wahrheit zu widerlegen sei überhaupt unmöglich; aber
eine Widerlegung durch die Meinung der Menschen oder
durch Tatsachen vollbringen wollen, das sei vollends wider-
sinnig, und wenn Polos nun gar die fremde Ansicht verlachte,
so sei das erst recht unwürdig. Es handle sich um den
f
— Ol —
wichtigsten Gegenstand und die höchste der menschlichen
Angelegenheiten, um die Frage: wie kommt der Mensch zu
Glück und inneren Frieden? (p. 472). Damit hängt die
Frage zusammen; Was ist das grössere Uebel: Unrecht tun
oder Unrecht leiden? Polos gibt mit einem letzten Rest
von menschlichem Gefühl wenigstens soviel zu, dass Unrechtun
das weniger Edele, das für das Gefühl Verletzendere ist.
Und da fasst ihn nun Sokrates, indem er sich auf Polos
eigenes Terrain begiebt. Unrecht tun ist also hässlicher,
sagt er: das heisst doch wohl, es erregt nicht Lust, gewährt
keine Freude, keinen Nutzen (p. 474). Polos stimmt be-
friedigt bei. Endlich meint er Sokrates auf seiner Seite zu
haben, der den Wert gleichfalls an der Lust und dem Nutzen
misst. Und so gibt er denn auch weiter eines nach dem
anderen zu: Das Hässlichere ist das, was grösseren Schmerz
und grösseres Uebel mit sich bringt: also bringt das Unrechttun,
das Zugestandenermassen das Hässlichere ist, grösseren
Schmerz und grösseres Uebel (p. 475), oder wenn nicht
grösseren Schmerz, so jedenfalls das grössere Uebel. Das
Unrechttun ist mithin das grössere Uebel, das Unrechtleiden
also vorzuziehen. Polos kann sich der Folgerung nicht
entziehen. Sokrates aber sagt: wie auch die Menschen
darüber denken mögen, — die Sache ist durch begriffliche
Untersuchung ausgemacht worden, und das genügt zur Ge-
wissheit (p. 476). Das Uebrige ergibt sich dann von selbst.
Wer das Unrecht straft, tut Recht; wer die Strafe leidet,
leidet gerecht; beides steht im Dienste des Angenehmen oder
des Nützlichen: also zu gutem Zwecke. Wer die Strafe
leidet, wird von dem schwersten aller Uebel, von der Ver-
derbnis der Seele, der Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit,
geläutert (p. 477). Der Unglücklichste von allen ist also
der, der das schwerste Unrecht begeht, aber von Strafe frei
bleibt (479), und wenn die Redekunst das bewirkt, Straf-
losigkeit bei aller Macht Unrecht zu tun, so ist sie nicht
nützlich, sondern äusserst verderblich. Die Redekunst ge-
braucht nur der richtig, der sein eigenes Unrecht durch sie
eindringlich offenbar macht und die Strafe auf sich lenkt,
— 62 —
und wenn er einem Feinde gründlich schaden will, durch
sie des Feindes Unrecht zudeckt und ihn vor Schaden schützt.
Diese letzten Sätze sind denn doch dem Kallikles zu
stark. Schon Polos hatte nur soviel zugegeben, dass sie
als Folgerungen aus Sokrates Vordersätzen zwar verständlich
seien ; aber an sich seien sie die reine Torheit. Wir selber
können dazu nur bemerken, das diese Sätze in ihrer nicht
zu überbietenden Schroffheit ausdrücklich darauf berechnet
scheinen, die satte, selbstgefällige Trivialität des Gegners zu
verblüffen. Und was den Beweisgang anbetrifft, so hätten
■weder der historische Sokrates noch der platonische oder gar
Plato selber eine Argumentation wie diese, die unter dem
Gesichtspunkt der Lust und des Nutzens geschieht, jemals
in bitterem Ernste vollziehen können. Die Sache liegt viel-
mehr so, dass Sokrates sich ausdrücklich auf den Standpunkt
des Gegners stellt und diesem nachweist, dass des Sokrates
Sätze, die ihm so entsätzlich und unerhört schienen, aus dem
eigenen Voraussetzungen des Gegners folgen. Dieser Gegner
aber hat nicht die genügende begriffliche Bildung, um sich
der Schlussketten des Sokrates zu erwehren, dessen Schärfe
des dialektischen Gedankenganges er hilflos unterliegt.
Kallikles, der so lange schweigend zugehört hat, tritt
nunmehr in die Unterredung ein. Diese letzten Ausführungen
übersteigen doch jeden Glauben. Das kann Sokrates nicht
ernst gemeint haben; das wäre ja eine Umkehrung des
ganzen menschlichen Lebens. Sokrates erwidert, er folge den
Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchung, die un-
veränderlich bleiben; nur wer an ihnen festhalte, könne mit
sich selber im Einklang bleiben, und das sei das eigentlich
menschliche Gut. Sokrates habe erwidert Kallikles wie
vorher den Gorgias, so jetzt den Polos arglistig gefangen,
indem er ihn zu einem Zugeständnis im Sinne der herrschenden
moralischen Vorurteile verleitet habe.
Der Einsichtige und Aufgeklärte aber wisse, dass diese
moralischen Vorurteile, die man sich schwachmütig zu ver-
letzen scheue, direkt wider die Natur sind. Nicht Unrecht
tun, sondern Unrecht leiden ist das Schimpfliche; es be-
— 63 —
zeichnet den Hilflosen, den Sklaven, den Ehrlosen. Die
Gesetze und die Moralvorschriften stammen von den Schwachen,
den Vielzuvielen, die damit die Starken unterzubekomraen
trachten. Die Natur aber will das Recht des Stärkeren;
das zeigen die Erscheinungen im Tier- und Menschenleben.
Jetzt sind im Staate die Starken wie Löwen im Kähg; der
Starke zerbricht solche Fesseln. Denn das Ziel des Menschen,
das Glück, besteht im Geniessen, in sinnlicher Befriedigung,
und dazu bedarf man der Macht. Das Streben nach geistiger
Bildung ist innerhalb massiger Grenzen für junge Leute
gewiss ein Schmuck, und macht sich sehr gut; im Ueber-
mass aber und für die höheren Jahre ist es geradezu das
Verderben. Es entfremdet dem Leben und macht zu den
Aufgaben, in denen des Menschen Wert besteht, den Auf-
gaben des Lebens in Staats- und Privatgeschäften, unfähig.
Ein solcher Mensch ist hilflos jeder Verfolgung, jeder
Schmach und Gefahr preisgegeben; seine edleren Anlagen
verkümmern rulimlos, und er führt ein verächtliches Leben
im Dunkel der Schulstube, (p. 486.)
Kallikles zeigt in dieser Weise den Mut, aus der
Gesinnung der der äusseren Welt Zugewandten die letzten
Konsequenzen zu ziehen, zu denen sich zu bekennen Gorgias
und Polos noch nicht die Entschlossenheit besassen; Sokrates
freut sich solcher Entschiedenheit und Folgerichtigkeit.
Aber mit dem Recht des Stärkeren scheint es ihm, eben
wenn man sich auf den Standpunkt des Kallikles stellt,
sich doch nicht so zu verhalten. Denn die Vielen sind zusammen
stärker als der Einzelne, und so käme es ja gerade den
Vielen zu, die Gesetze und Rechte festzustellen (p. 488),
und zwar geschähe das eben nach der Forderung der Natur
Kallikles verbirgt die Verlegenheit, in die ihn der Ein-
wand versetzt unter Schimpfen. Gleichwohl wird er seines
eigenen Gedankens nicht mächtig, von Bestimmung zu Be-
stimmung weiter getrieben. Sokrates, meint er, sei ein
Wortjäger ; er, Kallikles, habe unter den Stärkeren (xpei-tov)
natürlich die Tüchtigeren (^eätiov) gemeint. Aber wer sind
diese Tüchtigeren? Nun, die Besseren (ä[j,£ivovx£;), meint
— 64 —
Kallikles. Aber das ist ja wieder nur ein anderes Wort;
sollten vielleicht die an Geisteskraft üeberlegenen (cppoviu.u>T£?oi)
gemeint sein? Kallikles greift freudig das ihm von Sokrates
gebotene Wort auf. Also der geistig üeberlegene soll der
nun mehr an Speise und Trank, an Kleidern, Schuhen, an
Aussaat für sein Land und dergleichen bekommen? Kallikles
ist über diese Niedrigkeit in der Auswahl der Beispiele
empört; er erwidert, unter den Üeberlegenen verstehe er
natürlich die zu politischer Tätigkeit Geeignetsten, die Ein-
sichtsvollen, Tatkräftigen, Beharrlichen (p. 491). Also doch
wohl diejenigen, die sich selbst beherrschen? Ach, das sind
ja gerade die Dummen, meint Kallikles. Denn die Auf-
geklärten, die Freidenker, lassen ihren Begierden freien Lauf,
und gerade deshalb werden sie von den feigen Schwäch-
lingen, den Verfechtern^^^der Sklavenmoral, gehasst. „Die
Ausgelassenheit, Zügellosigkeit und Unabhängigkeit des
Tyrannen, der sich durch Machtmittel zu sichern gewusst
hat, das ist wahrhaftes menschliches Verdienst und mensch-
liche Glückseligkeit. Alles andere ist verlogene Ziererei,
Unnatur, wertloses Geschwätz," —
Sokrates wendet gegen diese ganze Gedankenreihe ein :
Die Begierde ist ihrer Natur nach unersättlich; im Dienste
der Begierde gibt es keine Befriedigung. Wenn sinnlicher
Genuss glücklich macht, dann ist der glücklichste der, der
die Krätze hat und sich immerfort daran erfreuen kann,
sich zu jucken; oder der Lüstling, der immerfort seinen
Lüsten freien Lauf lassen kann (p. 494). Und so ergibt
sich die Frage nach dem Unterschied in der Art der Lust.
Kallikles, der unsicher geworden ist, gibt, auf Sokrates
Frage, um nicht in einen Widerspruch za geraten, die Er-
klärung ab, das Gute und das Lustbereitende sei dasselbe.
Der Satz aber ist bedenklich, meint Sokrates. Denn Gutes
und Schlechtes schliessen einander aus und sind^nicht bei-
sammen ; aber der Schmerz des Begehrens und die Lust der
Befriedigung treffen zusammen; also kann Lust nicht das
Gute sein (p. 496). Die Unlust der Begierde und die Lust
des Geniessens ferner hören zugleich auf; Gutes und Böses
— 65 —
aber schwinden nicht zugleich; also ist wieder die Lust
nicht das Gute (p. 497). Wäre die Lust das Gute, so
würden diejenigen, denen die Lust beiwohnt, die Guten sein.
Die Lust aber geniessen die Feigen wie die Tapferen, die
Verständigen wie die Unverständigen, diejenigen, die nach
Kallikles Ansicht die Schlechten sind, wie die Guten: also
kann die Lust nicht das Gute sein (p. 499). Kallikles
sträubt sich mit allen möglichen Umständen, das zuzugeben,
und kann doch das Gewicht der Gründe nicht in Abrede
stellen. Da verlällt er auf die Auskunft, dass die ver-
schiedenen Arten von Genüssen auch verschiedenen Wert
haben müssen, also gut oder schlecht sind je nach ihren
Wirkungen. Dann muss also, meint Sokrates, die Lust um
des Guten willen, nicht das Gute um der Lust willen an-
gestrebt werden, und Kallikles hat sich selbst widerlegt
(p. 500). Dann aber muss man das Gute und Rechte
kennen; dazu bedarf es der Uebung, der Kenntnis, bewusster
Kunst. Nun gibt es viele Künste, die nur der Lust der
Masse dienen ; auch die Redekunst dient oft nur diesem
Zweck, und selbst die Staatsmänner versäumen nur allzuoft
die Aufgabe, die sittliche Zucht unter den Staatsbürgern
zu erhöhen, (p. 503). Das sind dann blosse Schmeichel-
künste. Wahre Kunst hat andere Ziele. Wie durch Ord-
nung und rechtes Mass der Leib Gesundheit und Kräftig-
keit gewinn! j so gewinnt die Seele eben dadurch Gerechtig-
keit und gute Sitte. Darum ist der Seele strenge Zucht
heilsam und Zuchtlosigkeit verderblich (p. 505).
Hier weigert sich Kallikles, am Gespräch sich weiter
zu beteiligen, und Sokrates setzt, als hätte er sich selbst
als Gegner gegenüber, die Untersuchung allein fort. Es
ist ausgemacht worden, dass das Lustbereitende um des
Guten willen zu suchen ist. Gut aber ist jegliches durch
die Vollendung seiner Natur, und diese wird durch Regel
und Ordnung hervorgebracht. Die geordnete Seele ist die
gute Seele; sie ist gerecht gegen die Menschen, fromm
gegen die Götter und stark in der Selbstbeherrschung.
Lben darum ist der Gute auch glückselig, der Schlechte,
— 66 - .
der Zügellose aber elend. Man muss danach streben für
sich und andere, der Züchtigung nicht zu bedürfen, bedarf
man ihrer aber, so darf man sich ihr nicht entziehen wollen.
Die Begierden muss man einschränken; sonst wird jedes
Zusammenleben mit anderen, jedes Band der Freundschaft
unmöglich. Die Welt ist eine geordnete Welt, sie ist
gebunden durch mathematisches Gleichmass; so muss auch
die Seele eine geordnete sein (p. 508). Wenn man dafür
Verfolgung und Unrecht leidet, so ist der Schade grösser
für den, der es dem Guten antut, als für den, der es leidet.
Das alles, sagt Sokrates, ist nicht meine Meinung — denn
ich weiss ja selber nichts; aber es ist wissenschaftlich er-
wiesen, und das muss man anerkennen, wenn man es nicht
zu widerlegen vermag. Es ist keine Schande, Unrecht, das
man erleidet, nicht abwehren zu können; aber Schande ist
es, andern Unrecht zu tun, und um solche Schande zu ver-
meiden, muss man das Vermögen erworben haben, sich vor
dem ünrechttun zu hüten, und dazu gehört Einsicht und
Bildung. Denn niemand tut mit Willen Unrecht (p. 509).
Dagegen um sich gegen das Unrechtleiden zu schützen,
rnui^s man entweder Tyrann sein oder sich durch Gleich-
heit der Gesinnung dem Tyrannen empfehlen, — ein Satz
zu dem Kallikles mit besonderer Freude seine Zustimmung
ausspricht. Sokrates aber fügt hinzu: Dadurch wird einer
nun wohl vor dem Unrechtleiden geschützt, aber zum Un-
rechttun nur noch mehr befähigt sein; er wird also das
schwerste Uebel erleiden, das Uebel, an seiner Seele
geschädigt und verderbt zu sein. Und wenn er gleich Macht
hat, den besser Gesinnten seines Gutes und seines Lebens
zu berauben, so bleibt diesem der Ruhm des edlen
Charakters, und jener ist doch nur ein erbärmlicher Wicht
(p. 511). Nicht das Leben solange als möglich zu erhalten,
ist das rechte Ziel; denn für den schlechten Menschen ist
das Leben kein Gut. Wer als Steuermann auf dem Schiff
oder als Maschinenkünstler vielen Menschen Güter und Leben
erhält, erlangt darum keineswegs hohe Schätzung oder hohen
Lohn, selbst bei Leuten wie Kallikles, die eher auf die-
— 67 —
jenigen, die so nützliche Dienste leisten, mit Geringschätzung
herabsehen. Nicht danach soll man streben, reciit lange
zu leben, sondern sein Leben mit würdigem Inhalt auszu-
füllen, also nicht sich den herrschenden Zuständen im Staate
anzugleichen und den Menschen zu Gefallen zu leben, sondern
in jedem Geschäft der eigenen Natur der Sache zur Voll-
endung zu verhelfen, also in politischer Tätigkeit die Ver-
edlung der Bürger zu betreiben (p. 514). Die Menschen
mit den äusseren Gütern des Lebens, mit Macht und Reich-
tum, zu versehen, hat keinen Wert, wenn man nicht die
Seelen sittlich tüchtig und fähig macht, die äusseren Güter
würdig zu gebrauchen. Die Sophisten geben sich als Lehrer
der Tugend aus, und doch beklagen sie sich über den Un-
dank ihrer Schüler; beweist das nicht, dass sie ihre Auf-
gabe verfehlt haben (p. 519)? Der Ehetor ist dem Sophisten
eng verwandt; nur dass insofern die Sophistik höher steht,
als sie zur Tugend anleitet, während die Rhetorik den Ver-
stoss gegen das rechte Verhalten heilen lehrt. Beide aber
sollten auf den Dank sicher rechnen können, wenn sie ihrer
Aufgabe gerecht werden. Mir aber, dem Sokrates, kann
es wohl geschehen, dass man mich vor Gericht zieht, ver-
urteilt und tötet. Denn ich schmeichle der Masse nicht
wie die andern; ich treibe in dieser Zeit als der einzige
die wahre Staatskunst und sorge für das wahre Wohl des
Staats. Darum wird man mich verurteilen, wie der Arzt
von den Unmündigen verurteilt wird, wenn der Koch ihn
beschuldigt Aber schaden kann niemand dem, der seine
Hilfe darin gesucht hat, dass er sich vor jedem Unrecht
in Worten oder Werken gegen Menschen und Götter
bewahrt hat. Den Tod fürchten nur die Unverständigen;
fürchten sollte man sich nur vor der Sünde (p. 522). Zur
Bekräftigung gibt Sokrates eine mythische Schilderung des
Gerichts nach dem Tode. Da erweist sich, dass die Macht
den meisten zu sittlichem Verderben gereicht hat, während
die auf innere Vollendung gerichtete Lebensweise zur Selig-
keit führt. Dem ewigen Richter eine gesunde Seele darzu-
stellen, ist darum das rechte Ziel des Streben s. Von äusserer
5*
— G8 —
Ehre gilt es abzusehen und sich der Erkenntnis der Wahr-
heit UDd dem Wachstum im Guten zu widmen. — So haben
sich denn alle von Sokrates im Anfang aufgestellten Sätze
durch dialektische Erörterung bewährt. Zum Schluss werden
noch drei aus diesen Sätzen abgeleitete Forderungen einge-
schärft: 1. dieEedekunst soll wie alle anderen Betätigungen
im Dienste des Guten verwandt werden. 2. Das Martyrium
im Dienste des Guten und der Vollendung der Innerlich-
keit darf man nicht scheuen. 3. Erst wenn man zu festen,
wissenschaftlich begründeten üeberzeugungen gelangt ist,
darf man sich politischer Tätigkeit widmen, (p. 527).
So hat sich uns der Beweisgang in Piatos „Gorgias"
ergeben, sehr verschieden von der Art, wie ihn andere^) dar-
gestellt haben. W^ir stützen uns auf die unverkennbaren
Andeutungen, die Plato selbst über seine Intentionen gegeben
hat. Plato behandelt Gorgias selbst nicht als ebenbürtigen
wissenschaftlichen Gegner, noch viel weniger Polos und
Kallikles. Sie sind ihm Vertreter gedanklicher Oberfläch-
lichkeit und Niedrigkeit der Gesinnung. Am schlimmsten
kommt Kallikles fort. Sokrates behandelt ihn ganz rück-
sichtslos. Von scheinbar gutmütiger Ironie geht er zu
heiterem Spott und zu blutigem Hohn. Kallikles erscheint
im übelsten' Lichte. Er ist der Typus der flachen Auf-
klärung und leeren Freidenkerei, die jeden Glauben an das
Ideale, jedes Verhältnis zum Jenseitigen, Göttlichen abgetan
hat, nur noch die tierischen Analogien im Menschen aner-
kennt und den Menschen an das äussere Leben und an
sinnliche Befriedigung verweist. In solcher Gewöhnlichkeit
') vergl. hierüber: Natorp, über Grundabsicht u. Entstehnngs-
zeit d. piaton. Gorgias, Arch. f. G. d. Phil. II p. 394-413. C.
Schirlitz, Beiträge zur Erklärung der plat. Dialoge Gorgias und
Thcätet. Prcuss. Neustettin 88: derselbe: noch^einmal die Gliederung
d. platonischen Dialoges Gorgias, Jahrb. f. class. Philologie 1895 p.
343— 3G2. C ron, Beiträge zur Erklärung d. plat. Gorgias, Leipzig
1870. G. G logau, Gedankengang v. Piatons Gorgias, Arch. f. G. d.
Phil. III (1S95) p. 153—189. Windelband, Piaton, Stuttgart
1910. 5. Auü. p. 52 I. S t e n d e r, Gorgias, Halle 1900. C. M e i s e r,
zu Piatos Gorgias, Blätter für Gymniasialschulweseu Bd. 35 p. 415/418.
— Ge-
steckt er unwandelbar fest und riilimt sich mit ausserordent-
licher Selbstgefälligkeit seiner Freiheit von solchen morali-
sierenden Wahnvorstellungen und solcher idealistischen
Verstiegenheit, wie Sokrates sie kundgibt. Er ist endgültig
solchen Aberglauben los und will nur noch sein Leben
geniessen. Mit unerschütterlichem Dogmatismus ist er
gegen alle Einwendungen und Gegengründe gefeit. Er kann
es gar nicht begreifen, wie andere Menschen nicht dieselben
Ansichten und Grundsätze hegen können, wie er; denn seine
Ansichten sind alle selbstverständlich, und wer sie nicht
teilen kann, macht sich bloss lächerlich in den Augen eines
aufgeklärten Menschen. Nun aber erweist sich im Gespräch,
dass dieser so selbstsichere Mann im Grunde niemals ernst-
lich nachgedacht hat, dass er seines Gedankens gar niciit
mächtig ist, dass er voll von Vorurteilen steckt, dass er
nur der herrschenden Strömung folgt. Sein logisches Ver-
mögen ist äusserst schwach. Ev ist nicht zu widerlegen,
weil er entschlossen ist, bei seinem Sinne zu verbleiben,
und Gegengründe teils nicht versteht, teils einfach abwei.st.
Kommt er in Verlegenheit, weil er das Gewicht der Gründe
des Gegners nicht ableugnen kann, so verlegt er sich aufs
Schimpfen; er wird heftig; er erklärt, er wolle nichts weiter
hören, sich am Gespräch nicht länger beteiligen; es sei doch
alles nur dummes Zeug, was Sokrates da vorbringe. Und
als Gorgias ihn drängt, das Gespräch nicht vor dem Ende
im Stich zu lassen, da sagt er Sokrates, er möge nur reden;
ihn, den Kallikles, gehe das alles doch nichts an, und das
ganze Gerede lasse ihn völlig gleichgültig. Nur als Sokrates
einmal eine Aeusserung tut, die dem Kallikles zu seiner
eigenen Denkweise zu passen scheint, da horcht er auf, wird
lebhalt, lobt den Sokrates und spricht wieder für einige
Zeit mit.
So zeichnet Plato den Mann, mit dem Sokrates zu
streiten hat. Auch in unserer Zeit noch führt die Gesinnung
eines Kallikles in der Literatur, in der Wissenschaft, wie
auch in der Platoforschung das grosse Wort. Die Popular-
philosophie und Verstandesaufklärung hat uns wieder auf
— 70 —
den Standpunkt des 18. Jahrhunderts, auf die Anschauungen
der vorkantischen Zeit zurückgebracht. (Man vergleiche
statt vieler nur C. R i 1 1 e r, P 1 a t o n, S. 408j. Und damit
wird es ganz unmöglich, Plato zu verstehen. Man darf sieh
auch nicht darüber wundern, wenn zeitgenössische Schrift-
steller wie Th. Gomperz Kallikles gegen Sokrates in Schutz
zu nehmen. So geschieht es ferner, dass man den vom
platonischen Sokrates eingeschlagenen Beweisgang in völlig
falchem Lichte sieht. Plato lässt den Sokrates ausdrücklich
auf die aufgeklärten Gedanken dieser schwachköpfigen
Sophisten eingehen. Mit den ethischen Anschauungen, die
er vorträgt, ist es ihm natürlich voller Ernst; die Beweis-
gründe richtet er nach den Gegnern ein, zum Teil in mut-
willigem Spott wie bei der Einteilung der Künste (p. 464),
zum Teil mit schlauer Arglist, die diese Stümper in der
Logik in leicht gedrehter Schlinge zu fangen weiss. Dass
er den Polos und Gorgias auf diese Weise in Verwirrung
versetzt und zu Zugeständnissen aus Schamgefühl veranlasst
hat, (x7.l e^sTT/.r^Pa xal ai3/jjv£3i)ai i-rÄrflij gibt Sokrates
dem Kallikles ausdrücklich zu (494 D). Und dass er in
gewissem Sinne anders redet als er über den Gegenstand
denkt, stellt er gleichfalls gar nicht ernstlich in Abrede
(iiTtsp ::ctpa -Jj. SuxoOvxa aauTm i^tXt 495 aj. Des Polos Lob
gewinnt er sich, indem er die Lust als das Gute und den
Zweck bezeichnet und daraus argumentiert (p. 475 a); dem
Kallikles gegenüber hält er daran fest, dass das Gute und
das was Lust gewährt verschieden sind, und führt seinen
Beweis unter dem Gesichtspunkt, dass es nur e i n Gutes
gibt, die sittliche Selbstvollendung (p. 495 D; 500 A; und
so weiter). Sokrates ist auch hier derselbe, der er sonst ist ;
er weiss, dass er nichts weiss (p. 506 A). Aber diesen
festgerannten Dogmatikern gegenüber ist er noch dogmatischer
und behauptet seine Sätze als mit eisernen und stählernen
Banden befestigt, die man erst lösen muss, ehe man sie
für falsch zu erklären das Recht beansprucht (p. 509 A).
Vor allem aber betont Sokrates diesen schönrednerischen
Popularphilosophen gegenüber immerfort die Notwendigkeit
— 71 —
wissenschaftlicher Untersuchung und die Pflicht begrifflicher
Strenge. Niemand dürfe behaupten ohne strengen Beweis,
niemand ablehnen, was streng bewiesen sei. Sokrates erklärt
sich bereit, in jedem Augenblick dem triftig geführten Be-
weise des Gegners sich zu unterwerfen. Wissenschaftliche
Erkenntnis sei sein einziges Interesse; das Gleiche fordert
er von jedem andern. — Wer die von uns angeführten
Gesichtspunkte zur Charakteristik der Unterredner und des
Ganges der Unterredung nicht ins Auge fasst, der macht
sich das Verständnis des platonischen Gorgias von vornherein
unmöglich. Wir meinen, dass ein grosser Teil der bis-
herigen Missverständnisse darauf zurückzuführen ist.
VI. Die Gliederung: des „Gopgrias".
Danach bleibt uns nur noch die Aufgabe, die Gliederung
des Gespräches, das im „Gorgias« geführt wird, in den
Hauptzügen nachzuzeichnen und die wesentlichsten Ergebnisse
festzustellen.
Das Thema, von dem das Gespräch handelt, ist die
Frage nach dem rechten Ziele menschlichen
Lebens und St r eben s. 472c. Zwei gründlich ver-
schiedene Ziele werden einander gegenübergestellt; zwischen
beiden soll entschieden werden: wir können sie bezeichnen
als das aktive und das kontemplative Leben;
500C jenes gerichtet auf die äusseren Güter dieser Welt
und vollen Erfolg des Strebens zur Befriedigung im dies-
seitigen Dasein, dieses auf das Heil der Seele und die
Bildung der Persönlichkeit zu innerer Vollkommenheit für
ein ewiges Leben. Jenes wird als das niedere, dieses als
das höhere Ziel gemäss der wahren Auffassung der mensch-
lichen Natur erwiesen.
Die Verhandlung über Wesen und Recht der
Rhetorik bildet die Einleitung; sie dient als äusserer
Anlass, um zu dem Thema überzuleiten. Man darf das
Gespräch nicht mit vielen Interpreten nach den ünterrednern
einteilen, wie sie nacheinander dem Sokrates gegenübertreten;
denn über die Rhetorik wird vorbereitend mit Gorgias und
72
dann auch noch mit Polos verhandelt, und das eigentliche
Thema tritt zunächst in der Unterredung mit Polos hervor,
um dann im Gespräch mit Kallikles zum Austrag zu kommen.
Demnach würde sich eine Einteilung des Gesprächs in
folgendem Sinne ergeben.
A. Einleitung. Die Einleitung reicht von p. 448 d.
bis p. 468 d. Die Gewinnung eines bestimmten Urteils über die
Rhetorik im Sinne des Gorgias und Polos führt zu der Frage
nach dem rechten Ziele des Lebens. Dabei wird in der
Einleitung ausgemacht:
1. dass die Rhetorik dieser Sophisten darauf ausgeht, zu
überreden, nicht begründete Erkenntnis mitzuteilen,
nur ein Meinen, nicht ein Wissen vom Gegenstande,
von Recht und Unrecht zu vermitteln. (448d— 461c)
2. Daraus ergibt sich dann, dass die Rhetorik nicht
wirkliche Wissenschaft, sondern blosse durch Uebung
erlangte Fertigkeit ist, die man gebraucht, um den
niederen Trieben der Menschen zu schmeicheln und
um ihre Gunst zu buhlen. (461c — 466a)
3. Der Gewinn, den der Rhetor durch den Gebrauch seiner
Fertigkeit anstrebt, ist Ansehen, Macht und Einfluss
bei der Menge, politische Bedeutung und das Ver-
mögen, ungestraft jedes Unrecht zu tun und jeden
nach Belieben verletzen zu dürfen ohne Furcht vor
Vergeltung. (4ß6a — 467b.)
Uebergang zum Thema. Die Behauptung, dass
die Rhetorik Macht verleiht, führt zu der Frage, ob derjenige
mächtig ist, der tun kann, was ihm beliebt. Die Er-
örterung dieser Frage bildet den Uebergang zum
eigentlichen Thema.
(467b— 468d.)
B. Hauptteil. Die Behandlung des Themas, die
Frage nach dem rechten Ziele des Lebens,
gliedert sich in folgende hauptsächliche Teile:
l. Die Sorge für Macht in der äusseren Welt ist
verkehrt; denn der Besitz der Macht wie alle
äusseren Güter gewährt dem Menschen keine wirk-
liche dauernde Befriedigung. (468d— 481b)
- 73 —
1. Wirkliche Macht ist nicht das Vermögen zu tuo, was
einem beliebt, sondern zu tun, was dem vernünftigen
Willen entspricht. Dem vernünftigen Willen aber
entspricht allein, dass man das Rechte tue. (4(]8d
bis 469b.)
2. Die Macht unrecht zu tun ist kein Gut, sondern ein
Schaden. Denn Unrecht tun ist das grösste Uebe!
und schlimmer als Unrecht leiden. (469b— 471c.)
3. Die Macht aber Unrecht straflos zu tun i.st eine
Steigerung des Unglücks für den Täter des Unrechts.
(471c— 481b).
4. Die Behauptung, dass von Natur der Stärkere ein
Recht habe, auf alles, wozu er die genügende Macht
besitzt, und dass das im Staate herrschende Gesetz
willkürliche Satzung wider die Natur sei, hebt sich
selber auf. (481b— 492c.)
5. Die Macht, seinen Lüsten zu fröhnen, ist vielmehr
Ohnmacht und Sklaverei. Denn das rechte Ziel des
Menschen ist nicht die Befriedigung der Lüste. (492c
bis 499e).
a. Das Gute und das Angenehme sind zweierlei, und
das zu Erstrebende ist das Gute, nicht das Ange-
nehme. (492c -498a).
b. Um gut zu sein, bedarf man der Einsicht und der
Willensstärke; denn es gilt seine Wahl zu treffen
zwischen Lustempfindungen von edler, förderlicher
Art und solchen von niederer und verderblicher
Art. (499a- 500a).
IL Die wahre Aufgabe des Menschen ist die
Sorge für das Heil seiner Seele. (500a — 522c).
1. Im Gegensatze zu den meisten Menschen und den
meisten Bestrebungen, die den Lüsten der Menge
schmeicheln auf Grund blosser Erfahrung und ohne
wissenschaftliches Bewusstsein, gilt es, in rechter Er-
kenntnis von den Sachen und den Gründen für ihre
Behandlung die rechte Tätigkeit mit Bewusstsein zu
üben. (p. 500a -503c).
— 74 —
2. Die Seele gesund und wohlgeordnet zu erhalten, be-
darf es der Befolgung von Recht und Gesetz mit
besonnenem und gerechtem Willen und der Unter-
drückung der Lüste durch Strenge der Zucht, (p. 503c
bis 505c.)
3. Der Mensch, der seiner Pflicht getreu mit festem
Willen die rechte Ordnung innehält, ist eben dadurch
sowohl der gute Mensch wie auch der glückliche
Mensch; wer dagegen zuchtlos seinen Begierden folgt,
ist schlecht und unglücklich zugleich, (p. 50Gc — 508b.)
4. Man muss also nicht sowohl danach streben, mit un-
beschränkter Macht unrecht handeln zu dürfen und
vor dem Unrechtleiden sich zu schützen, als vielmehr
danach, die Seele gesund zu erhalten, und das ohne
Furcht vor Schmerz und Tod. Denn das Leben ist
der Güter höchstes nicht, der Uebel grösstes aber ist
die Verderbnis der Seele, (p. 508b— 513b.)
5. In öffentlicher Tätigkeit muss man danach streben,
die Menschen sittlich besser zu machen, und dazu
gehört vor allem, dass man selbst sittlich durchge-
bildet sei. Den grossen Staatsmännern Athens kann
man bei allen ihren sonstigen Verdiensten das nicht
nachrühmen, so wenig wie man den Sophisten nach-
rühmen kann, dass sie ihre Schüler besser machen,
(p. 513c— 520a.)
G. Wer nach dem Grundsatze lebt, nur an das Heil der
eigenen Seele und an die Besserung der anderen zu
denken, der muss das Martyrium, das man ihm des-
halb auferlegen möchte, Anklage, Verurteilung und
selbst Hinrichtung mit Ergebung freudig auf sich
nehmen, (p. 521a — 522c.)
C. Schluss. Den Schluss bildet die Darstellung
des Schicksales der Seele im Jenseits und die sich
dar auf grün dende Ermahnung.
1. Die Seelen der Menschen unterliegen einem Gericht
im Jenseits vor dem ewigen Richter von vollendeter
- 75 —
Gerechtigkeit, und nach ihrem irdisclieii Warulel be-
stimmt sich ihr ewiges Geschick, fp. 528a— r)2()C.)
2. Das Leben im Getriebe der Welt und im Besitze der
Macht bringt die grössten Versuchungen und Ver-
fehlungen mit sich; das stille Leben in privaten Ver-
hältnissen, in ernsten Studien und sittlicher Uebung
ist von diesen Versuchungen frei und deshalb vor-
zuziehen.
3. Wen es aber nach einem Leben in den Geschäften,
nach Macht und Ehren gelüstet, der trete wenigstens
nicht an den Dienst der Oeftentlichkeit heran, bevor
er seine Seele geläutert und iu aller Tugend geübt
hat. (p. 526c -527e.)
VIL „Gorgrias" und die andern platonischen Dialoge.
Alle diese ganz besonderen Züge in den dargestellten
Personen und in dem Gang der Verhandlung muss man
wohl beachten, wenn man die Eigentümlichkeit des Dialoges
wirklich verstehen will. Die Schrift ist in polemischer Ab-
sicht verfasst; sie w^endet sich gegen weitverbreitete An-
sichten, gegen eine herrschende Strömung unter den Zeit-
genossen. Gorgias und Polos sind hinlänglich bekannte
Figuren; in ihnen werden die Rhetoren und Sophisten über-
haupt getroffen. Kallikles wird sonst nicht genannt; und
man hat deshalb wohl geraeint, er sei eine erdichtete Person,
um den extremsten möglichen Gegensatz zur Gesinnung des
Sokrates darzustellen. Das ist doch kaum denkbar. Auch
dass sein Name untergeschoben sei, um eine bestimmte
historische Persönlichkeit — etwa Kritias^), von dem er in
der Tat Züge zu tragen scheint — darunter zu verbergen,
will nicht einleuchten. Denn es werden ganz bestimmte
Angaben über ihn und seine Verhältnisse gemacht. Er
stammt aus Acharnä^); ist von vornehmer Abkunft und be-
^) Krohn, „Beiträge zur Erklärung des platonischen Gorgias"
Leipzig 1876 p. 1. 25.
2) Gorg. 495d.
— 76 —
gütert'); Gorgias ist bei ihm abgestiegen 2); er liat sieh der
politischen Tätigkeit zugewendet^); aucli werden drei Leute
genannt'*), mit denen er befreundet ist. Teisander von
Aphidnai, Andron und Nausikydes von Cholarge, und eines
Gespräches wird Erwälinung getan, das er mit ihnen ge-
führt hat^;; dann wird ein junger Mensch genannt, der sein
Liebling und durch seine Schönheit bekannt hf'). Es wäre
gegen Piatos sonstige Art und hätte an sicli etwas Be-
fremdendes und Gekünsteltes, wenn alle diese Züge nur er-
funden sein sollten, um eine Figur herauszubringen, mit
der Sokrates disputieren kann. Zwar kennen wir die Namen
vieler Athener aus jener Zeit. Dass uns jedoch alle Namen
von nur irgendwie hervorragender Bedeutung überliefert
wären, die in der Zeit von 427 — 375, — denn soweit müssen
wir möglicherweise die Grenzen für die Zeit des Gespräches
abstecken, — in Athen gelebt haben, Hesse sich nicht be-
haupten, trotz aller Sorgfalt, die Kirchner in seiner Prosopo-
graphia Attica aufgewendet hat, um alle Menschen, die uns
genannt werden, zu identifizieren. Es ist eben derselbe
Fall mit Thrasymachus im ersten Buche der „Republik",
der ganz ähnliche Ansichten vertritt wie im „Gorgias"
Kallikles und auch nicht weiter nachweisbar ist. Doch mag
dem sein, wie ihm wolle, die Personen und die von ihnen
vertretenen Ansichten sind keinesfalls blosse Erdichtungen,
und als Ausläufer und Nachwirkungen der jüngeren Sophisten-
scliule in dem damaligen Athen nicht auffallend. Man
braucht nicht an bestimmte Schulrichtungen oder Schul-
häupter zu denken, gegen die sich Plato im „Gorgias" ge-
wendet hätte; es genügt anzunehmen, dass in gewissen
Gesellschaftsklassen Ansichten, wie sie im „Gorgias" sich
wiederspiegeln, populär und geläufig waren, um die von
») Gorg.
512c.
') «
447b.
«) .
515a.
*) »
487c.
') .
487c.
') .
481d.
— 77 —
Plato geübte Polemik zu verstehen. Möglich ist es immer-
hin, dass, falls zur Abfassung des Dialoges die Schrift eines
andern, etwa Xenophons, den äusseren Anstoss gegeben hat,
eine zur Zeit viel gelesene Schrift für die Ausmalung der
gegnerischen Ansichten Piaton das Material für den „Gorgias"
lieferte, und es liegt nicht fern, dabei an Isokrates zu denken,
(gegen den ersieh auch im Euthydem gewendet hat')), etwa
an dessen Rede gegen die „Sophisten", die in der Zeit aller-
dings weiter zurücklag, und etwa 390 als Programm bei
der Begründung seiner Ehetorenschule von Isokrates ge-
schrieben sein muss.
Für die Stelle des „Gorgias" in der zeitlichen Reihen-
folge der platonischen Schriften hat man zuweilen gewisse
von Sokrates im ^Gorgias" vorgetragene Ansichten zeugen
zu lassen gesucht, die von den in andern Dialogen vorge-
tragenen Ansichten über denselben Gegenstand beträchtlich
abweichen^). Daran hat man kaum Recht getan. Denn
die im „Gorgias* vorgebrachten Urteile und Ansichten
hängen auf's engste zusammen mit dem hier behandelten
Problem und mit der Art der Behandlung, die es erfährt.
Es handelt sich dabei hauptsächlich um folgende Punkte:
Tm Gegensatze zu anderen Dialogen scheint Sokrates im
„Gorgias" die Rhetorik schlechthin zu verwerfen. In Wahr-
heit jedoch gilt in diesem Dialoge nur der Art von Rhetorik,,
wie sie Gorgias und die Seinen betreiben, sein Verdammungs-
urteil. •^)
Im Phädrus lautet das Urteil anders; denn hier ist
gerade die Berechtigung der Rhetorik das eigentliche Thema.
An einem verfehlten Modeprodukt, das sich hohe Bewunde-
rung verschafft hat, wird dort nachgewiesen, wie eine Rede,
ein Vortrag, eine Abhandlung nicht beschaffen sein dürfe;
dann aber gezeigt, wie man vernünftigerweise ein Thema
') Eutbydem p. 304J.
') Vgl. z. B. G c r c k e in seinem Vorwort zu Sauppes Ausgabe
p. 38-41. 1897.
3) Vgl. Rudolf H i r z 1, das Hhctorischc und seine Bedeutung bei
Piaton 1871.
— 78 —
zu wählen und das gewählte Thema zu behandeln habe.
Von alledem ist im „Gorgias" nicht die Rede, weil Plato
die Abzweckung dieses Dialoges auf ganz andere Dinge
richtete. So ist denn auch die Ansicht verfehlt, zwischen
der freundlicheren Beurteilung der Redekunst im „Phaedrus"
und der völligen Verwerfung derselben im „Gorgias" bestehe
ein unversöhnbarer Widerspruch oder eine Inkonsequenz, die
von Unsicherheit des Denkens und der Parteinahme zeuge.
Ein anderer Punkt, der hierhin gehört, ist die Ver-
schiedenheit der Ansichten über das Verhältnis zwischen
dem Guten und dem Angenehmen, wie sie einerseits im
„Protagoras" und andererseits im ,, Gorgias" vorgetragen
werden. Im „Protagoras" wird die Identität des Angenehmen
mit dem Guten von Sokrates behauptet und damit der Ein-
klang mit dem Sophisten erreicht; im „Gorgias" dagegen
wird eben diese Identifizierung des Angenehmen mit dem
Guten von Sokrates mit dem grössten Nachdruck abgewiesen
und als ein ganz ungeheuerlicher Irrtum bezeichnet. Diesen
Gegensatz der Ansichten auf einen Wechsel in Piatos Auf-
fassung zurückzuführen, ist unmöglich. Man mag die Zeit,
die zwischen der Abfassung des ,, Protagoras" und der des
„Gorgias" verflossen ist, recht lang ansetzen; zur Erklärung
einer Wandlung in Piatos Ansichten von so radikaler Art
würde sie immer noch nicht ausreichen. Dass der „Prota-
goras" der frühere von beiden Dialogen ist, wird nicht leicht
bestritten werden. Dann wird man annehmen dürfen, dass
er der echten Manier des Sokrates noch näher steht. Aber
weder kann Sokrates jemals im Ernst sich des Satzes an-
genommen haben, das Angenehme sei auch das Gute, noch
kann es Plato jemals in den Sinn gekommen sein, dem
Sokrates einen solchen Satz in den Mund zu legen, der der
Gestalt des historischen Sokrates schnurstracks widerspricht.
Dass die von Sokrates im „Gorgias" vorgetragene Ansicht
durchaus ernst gemeint ist, steht ausser Zweifel. Also
bleibt nur die Annahme übrig: der Satz im „Protagoras"
von der Identität des Angenehmen mit dem Guten ist im
Munde des Sokrates unmöglich ernst gemeint, er gehört
— 79 —
wie das meiste im „Protagoras" zu den Mitteln, die Sokrates
anwendet, um die völlige Unklarheit und begriffliche Un-
sicherheit des viel angestaunten Sophisten in helles Licht
zu stellen. Ja, wenn man wirklich annehmen dürfte,
Sokrates mache die betreffende Ausführung im „Protagoras"
in vollem Ernste und Plato habe sich damit gegen den
historischen Sokrates keineswegs vergangen, so wären wir
immer uoch gezwungen, zu bestreiten, dass Plato jemals
eine solche Ansicht habe hegen, sie jemals als seine Ansicht
habe vortragen können. Aber der ganze „Protagoras* be-
ansprucht ja garnicht den Wert einer strengen, ernsthaften
Untersuchung. Das glänzende Gemälde von Zeit, Personen
und Tendenzen ist ganz und gar durchzogen von satirischen
und ironischen Absichten, und es ist schlechterdings kein
Grund, den Sokrates oder gar Plato gerade hier beim Worte
zu nehmen, wo über das Gute in ethischem Sinne eine An-
sicht vorgetragen wird, die der historischen Stellung des
Sokrates wie des Plato direkt entgegengesetzt ist.
Plato hat gegen Ende seines Lebens noch einmal in
den „Gesetzen" die Frage Lach dem Verhältnis des Ange-
nehmen zum Guten behandelt. Da führt er aas: Lust- und
Schmerzgefühl ist mit der Natur des Menschen aufs engste
verbunden und ergibt für das Handeln der Menschen das
mächtigste Motiv. Es wird also dem Gesetzgeber zu raten
sein, dass er die Tugend empfehle wegen der an sie ge-
knüpften Folgen, die Lustgefühle zu mehren, die Schmerz-
gefühle zu mindern. Eine solche Empfehlung wäre auch
dann nützlich und wohl angebracht, wenn man sie als eine
fromme Täuschung ansehen müsste (Legg. V. p. 732 ff. 11,
p. 663). Dabei ist zu bedenken, dass Plato hier von den
Gesetzen für den „zweitbesten Staat" spricht, und dass er
nur die Mittel für die Erziehung der Unverständigen im
Auge hat, nur an die politische Abzweckung und den Dienst
des gemeinen Wohles denkt. Im „Gorgias" dagegen handelt
es sich um den idealen Begriff des sittlich Guten, utn die
ewige Seligkeit und das Heil der Seele im Diesseits wie
im jenseitigen Leben. So fällt einerseits der Widerspruch
— 80 —
zwischen den „Gesetzen" und dem „Gorgias" fort, anderer
seits erweisen sich alle Bemühungen, zwischen dem „Gorgias"
und dem „Protagoras", in diesem Punkte eine Einheit
künstlich herzustellen, als eitel und missverständlich.
Ein anderer Punkt, der Bedenken erregt hat, ist
folgender: Im „Gorgias" wird über die grossen Männer,
die den athenischen Staat in den ruhmvollsten Zeiten und
mit dem glänzendsten Erfolge gelenkt haben, ganz anders
geurteilt als im „Menon". Im Gorgias werden sie streng
verurteilt und in sittlicher Hinsicht ganz unzulänglich ge-
funden, auch die Wirkungen, die sie auf die sittlichen Zu-
stände im Staate geübt liaben, werden im trübsten Lichte
dargestellt. Im Menon klingt das Urteil ganz anders, und
das grosse Verdienst jener Heroen wird mit Freudigkeit an-
erkannt, — Der Gegensatz ist unleugbar vorhanden; aber
auch er erklärt sich durch die Verschiedenheit des Zusammen-
hangs, in dem die entgegengesetzten Urteile gefällt werden.
Der Tadel, den Sokrates ausspricht, gilt nicht der Betäti-
gung jener Männer im Dienste des Staates, — in dieser
Beziehung gibt Sokrates zu, seien sie ausgezeichnet gewesen
und viel vorzüglicher als ihre Nachfolger, — sondern der
unzulänglichen Erfüllung der höchsten ethischen Aufgaben
für sich und für das Gemeinwesen^). Das aber verträgt
sich ganz wohl mit den anders gerichteten Aeusserungen
im „Menon" 2), wie mit denen im „Staatsmann^)" und in
der „Republik^)".
Wir behandeln noch die viel verhandelte Frage nach der
Bestimmung und Abzweckung des Dialogs in Bezug auf gewisse
Einzelheiten der Ausführung. Die scharfsinnige Beweisführung
Alfred Gerckes legt die Annahme nahe, die Absicht des Dialogs sei
die Entgegnung auf Angriffe wider Sokrates u. s. Schüler, wie sie
etwa ums Jahr 494 oder 493 Polykrates aufs neue erhoben hat.
1) Gorg. 513 E bis 521 A.
») Menon 93 a bis 94e.
8) Staatsmann 30, 290, 11, 291.
*) Republik VI, 496,
— 81 —
Im „Gorgias" ivird in der Tat vou einer als denkbar vorge-
stellten künftigen Anklage und Verurteilung des Sokrates
gehandelt. Es geschieht auf Anlass eines in strenger Folge-
richtigkeit durchgeführten Gedankens über die sittliche Pflicht,
lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, ja auch dem
Unrecht, das man erleidet, sich lieber willig zu fügen, als
es durch Unrecht, das man selber tut, abzuwehren. Darin
ist offenbar die eigentliche Abzweckung des Dialogs zu
finden. Dieser dienen auch die Ausführungen am Schlüsse
des „Gorgias" über das ewige Leben und das Gericht im
Jenseits. Man darf sie nicht buchstäblich nehmen wollen,
ebensowenig wie man Piatos Ansicht von der Seele aus dem
Mythos im „Phädrus" erschliessen dürfte. Einkleidung
und mythische Darstellungsform muss man als solche ge-
niessen und würdigen; aber den Gedanken, der dargestellt
werden soll, findet man erst, wenn man die Form der Ein-
kleidung abstreift. Diese mythische Form aber nun gar als
Beweismittel dafür zu verwenden, dass Plato orphischeu
Mysterienkulten zugewandt gewesen sei, ist äusserst verfehlt.
Diese Darstellungsformen sind nicht ernsthaft als Theorien
gemeint, die in lehrhafter Absicht vorgetragen werden; sie
dienen lediglich als Illustration des Gedankens durch ein
anschauliches Gleichnis. Wir knüpfen daran weiter einige
Bemerkungen über anderes, was neuere Erklärer am „Gorgias"
als auffallende Eigentümlichkeit hervorgehoben haben ^).
Alles das, um es von vornherein zu sagen, erklärt sich
leicht, wenn nur erst die Absicht und das eigentliche Thema
des Dialoges richtig gedeutet worden sind. Bei der Aus-
malung des Gegensatzes der beiden Arten, sein Leben ein-
zurichten und zu führen, dient Sokrates als hervorleuchtendes
Beispiel einer Lebensführung, die ganz und gar auf den
Ausbau der Innenwelt, auf das Heil der Seele gerichtet ist;
da ist es eine einfache Konsequenz, dass daneben alles
äussere Geschick und alles auf die Güter dieser Welt
•) Vgl. Constantin Ritter, Platon, s. Leben, s. Schriften, s. Lehre.
1. Bd. München 1010 p. 95 ff,
6
-äl^
— 82 —
gerichtete Streben für gleichgültig und hinter der Würde
des Menschen zurückbleibend erklärt wird. Daher ist es
keineswegs verwunderlich, wenn Kallikles, der den Genuss
der irdischen Güter über alles stellt, und die Tätigkeit, sich
ihrer um jeden Preis zu bemächtigen, für den eigentlichen
Sinn und Zweck einer vernünftigen Lebensführung hält,
den Sokrates, weil er sein Leben ausschliesslich mit allerlei
Spekulationen begrifflicher Art, mit der Erfüllung seiner
sittlichen Aufgabe und mit der Bildung seiner Persönlich-
keit ausfüllt, gründlich verachtet und sein Leben als ein
Leben im Winkel, im Dunkel der Schulstube, im Verkehr
mit ein paar unmündigen jungen Leuten kennzeichnet')
Mit diesem Vorwurf wird eben dieser Gegensatz betont.
Der ist kein rechter Mann, der seine Kräfte nicht der öffent-
lichen Tätigkeit, den Staatsgeschäften widmet. Allen anderen,
auch solchen, die ein sonstiges nützliches Gewerbe betreiben,
erweist diese Art von Hochstrebenden die gleiche Nicht-
achtung, Daraus wird es auch verständlich, wenn im
„Gorgias" des Sokrates letzte Geschicke, die Anklage wider
ihn, die Art, wie er sich in Wirklichkeit verteidigt hat,
seine Verurteilung, seine Hinrichtung gewissermassen vor-
weg genommen werden, allerdings als zeitlose Hypothesen^).
Wie des Sokrates Leben, so ist auch sein Tod die
tätige Verwirklichung seiner Lehren und der Grundsätze,
zu denen er sich stets bekannt hat. Er scheut nicht Schmerz,
Verfolgung oder Untergang, wo es gilt, die Stärke und
Hoheit der Seele zu bewähren. Freudig nimmt er den
Märtyrertod auf sich, um nicht untreu befunden zu werden
an den heiligsten Institutionen, an dem Vaterlande und seinen
Gesetzen. Unbekümmert um die Schmach und das Leid,
das die Unverständigen ihm antun, und um deren Gespött
rechnet er sich seine Schwäche und Hilflosigkeit gerade
zum Ruhme^). Sein ganzes Streben ist allein darauf gerichtet,
») p. 485 D.
2) p. 521 C. bis 522 D.
') Gorg. p. 473 E. f.
m
— 83 —
des Wohlgefallens der Götter teilhaftig zu werden, und mit
unbefleckter Seele dereinst vor dem ewigen Richter zu
stehen. Das alles mag als Weiterbildung, als Ergänzung
zu dem in der „Apologie" Dargestellten aufgefasst werden
können; in keinem Falle bildet es einen Gegensatz dazu.
Selbstverständlich hängt das Prinzip für die praktische
Lebensführung, das Plato im „Gorgias" den Sokrates ver-
treten lässt, aufs engste zusammen mit der Lehre von der
Erkenntnis un"d von dem Verhältnisse des Denkens zum
Seienden, die Plato mit Sokrates gemein hat, wie mit der
Fortbildung, die Sokrates Lehre durch Plato erfahren hat.
Das ist für die ganze Anschauungsweise die Voraus-
setzung: der Mensch erkennt das wahrhaft Seiende; er se-
langt zur Wahrheit durch begriffliches Denken, und das
wahrhaft Seiende tiägt mithin selbst begrifflichen Charakter;
der Mensch gehört seinem Wesen nach nicht der sinn-
lichen Welt, sondern dem Reiche des ewig Seienden an,
aus dem seine Begriffe stammen, und in diesem ewigen
Reiche liegt seine Aufgabe und seine Bestimmung. Diese
Gedanken bilden selbstverständlich auch im „Gorgias" die
Grundlage und den Hintergrund, wenn auch Plato hier
gegenüber den seichten Lehren der Sensualisten sich nicht
veranlasst sieht, seine Ideenlehre zu begründen, sie auszu-
bauen oder auch nur heranzuziehen. Der „Gorgias" will
nicht streng wissenschaftlich ableiten, sondern Ueberzeugungen
eindringlich vortragen und aus guten Gründen Wahrschein-
lichkeit dafür erreichen.
Selbst die Frage nach dem Verhältnisse zwischen dem
Wissen des Rechten und dem Tun des Rechten zu erörtern,
wird als in diesem Zusammenhange zu weit führend abge-
wiesen^). Nur was von der Lehre vom Begriffe auch dem
einfachsten Verständnisse zugänglich ist, das will Sokrates
diesen Gegnern zu begreifen zumuten. Die Guten heissen
gut, weil ihnen das „Gute" beiwohnt, und die Trefllichen
heissen trefflich, weil ihnen das „Treffliche" beiwohnt.
1) Gorg. p. 461 B; 467 C bis 468 E.
— 84 —
Uebrigens genügt schon dieses Wenige, was hier beigebracht
wird, um das seltsame Missverständnis, das wir hier nur
streifen können, abzuweisen, als seien die Ideen im Sinne
Piatos nicht als selbständig für sich seiende Begriffe,
sondern als eine Art von Regeln oder Gesetzen zu ver-
stehen, die nicht eigentlich ,, seien", sondern „gelten')."
Man versteht dann die Auffassung, wonach die Ideen ge-
trennt für sich existieren, so, als ob damit die Ideen als
„Dinge" gekennzeichnet würden; denn nur Dingen kommen
solche selbständige Existenzen zu. Dabei bleibt zunächst
unklar, was mit dem „Gelten" gemeint sein soll, wenn etwas
„gilt", aber nicht „ist". Die Münze, die beim Zahlen
„gilt," muss doch wohl existieren, und die Bestimmung,
die im Heere „gilt", gleichfalls. Der Lehrsatz, der „gilt",
existiert, und das richterliche Urteil auch, das ausgeführt
wird. Aber nicht alles allerdings, was selbständig für
sich besteht, darf man als Dinge fassen. Aristoteles er-
klärt sie für „ouat'ai" „Wesenheiten"; das heisst aber eben
nicht „Dinge", sondern geistige Wesenheiten. Ob es „Dinge"
im gemeinen Sinne nach Aristoteles gibt, kann überhaupt
fraglich erscheinen. Denn nach ihm ist das Seiende Geist
und das Sinnliche selbst übersinnlich. Die Streitfrage
zwischen Aristoteles und Plato ist überhaupt nicht die, ob
die Idee wirklich ist, — darin stimmen beide völlig über-
ein — sondern ob die Idee vom Sinnlichen getrennt für
sich wirklich ist, und da wird Aristoteles, der dieses
Getrenntsein bestreitet, wohl Recht behalten gegenüber
Plato, der dieses Getrenntsein behauptet.
VII. Die Ergebnisse der Untersuchung'.
Zum Schluss fassen wir das Ergebnis aus unseren Er-
örterungen in folgenden Sätzen zusammen:
1. Der Dialog „Gorgias" läuft aus in einer positiven
Lehre von dem rechten Lebensziel und dem rechten
Wege zum Ziel. Die Antwort auf die Frage, die in
') Natorp, Piatons Ideonlehre S. 6, 48 und durchgängig.
— 85 —
dem Gespräche beliandelt wird, bleibt nicht unent-
schieden, sondern wird mit voller dogmatischer Sicher-
heit gegeben. Diese positive Entscheidung wird dem
Sokrates in den Mund gelegt. Der Inhalt derselben
Iä>jst sich ganz wohl verstehen als richtige Folgerung
aus den Gedanken, die dem historischen Sokrates auch
sonst zugeschrieben werden, bei Plato und aucii bei
Xenophon. Die Form, in der diese Lehren von
Sokrates im „Gorgias" vorgetragen werden, stimmt
gleichfalls mit der Forin, in der Sokrates auch sonst
seine Gedanken darzulegen pUogt, im ganzen überein.
Das von der gewöhnlichen Art des Sokrates Ab-
weichende ist zu erklären durch die Eigentümlichkeit
der Gegner, mit denen Sokrates verhandelt. Gegen
diese Sophisten hegt Sokrates die entschiedenste Ab-
neigung; ihre Ansichten wie ilir ganzes Treiben sind
ihm geradezu verächtlich; die ünsittlichkeit derselben
erscheint ihm verwerflich ; der dreiste Hochmut, die
unwissenschaftliche Oberflächlichkeit darin erregt
seinen hellen Zorn. Daher die scharfe Paradoxie, zu
der er seine Gedanken zuspitzt, das Zurücktreten seiner
sonstigen gutmütigen, freundlich überlegenen, nach-
sichtigen Manier und die rücksichtslose Strenge, mit
der er die unwürdigen Gegner widerlegt.
2. Bei alledem darf man mit voller Sicherheit behaupten,
dass Plato die Ansichten, die er durch Sokrates im
„Gorgias" aussprechen und vertreten lässt, in der
Hauptsache selbst geteilt hat. Der Beweis dafür liegt
zunächst darin, dass auch in anderen Dialogen Piatos
diese Ansichten vorgetragen werden, z. B. in den
Getzen (II p. G61, Piatos letztem Werk); teils darin,
dass Aristoteles, Piatos treuester Schüler, die gleichen
oder nahe verwandte Lehren in seiner Ethik vertritt.
Die Aehnlichkeit geht soweit, dass man fast zu jeder
Ausführung das Gegenstück bei Aristoteles nachweisen
kann. Insbesondere lässt auch Aristoteles die wahre
Eudämonie, den letzten Zweck des menschlichen
— 86 —
Handelns, in dem rein kontemplativen Zustande, in
der reinen Betrachtung (Eth. Nikom. x, 6) erfüllt
werden und stellt die Gunst der Götter als das zu
erreichende Ziel dem Handelnden vor Augen. Auch
bei Aristoteles gibt der wahrhaft sittliche Mensch
alle irdischen Güter, Macht, Ehre, hohe Stellung preis,
um das Eine zu erlangen, was not ist, den Frieden
der Seele, dessen Bedingung die Hingabe des ganzen
Menschen an das Gute, das Pflichtgemässe ist. Was
Aristoteles über den Vorzug des kontemplativen vor
dem aktiven Leben lehrt, das kommt bei Plato nicht
bloss im Gorgias (p. 500 ff.) sondern auch an vielen
anderen Stellen vor, so im „Theätef (p. 176), in der
„Republik" (p. 441 ff.), im „Timaeus" (p. 86 ff.), im
„Phaedon" (p. 64 ff. 79 ff.). Es ist milhin als plato-
nisch zu nehmen.
Damit ist freilich nicht gesagt, dass auch alle Gründe,
die Sokrates vorbringt, alle Einzelheiten des Gedanken-
ganges in den Ausführungen des Sokrates ohne weiteres
dem Plato als dessen eigene Ansichten zugeeignet
werden dürften. Vieles ist offenbar von Plato nur
als Mittel gemeint zur Charakteristik des Sokrates
und zu schärferer Zeichnung des Gegensatzes, in dem
Sokrates zu seinen sophistischen Mitunterrednern steht.
Es gilt also Vorsicht zu üben und nur auf gute
Gründe hin Aeusserungen des platonischen Sokrates
als Meinungsausdruck des Plato zu betrachten, (z. B.
die Ausführungen über die xi/vai p. 404 B oder den
Satz, dass niemand mit Willen Unrecht tut p. 509 c,
oder die Argumentation, die Sokrates zur Wider-
legung des Gorgias anwendet, dass, wer weiss, was
dgis Gerechte und Ungerechte ist, notwendig auch
gerecht sei und nicht als Rhetor das Ungerechte ver-
treten könne p. 460 — 461). Aber es gibt Leute, die
auch das, was Sokrates in seiner Manier in satirischer,
ironischer Absicht scherzend oder um den Gegner
aufs Glatteis zu führen, vorbringt, ganz ernsthaft für
i
- 87 -
Piatos eigene Meinung nehmen. Es gehört zum aller-
sichersten, was wir von Plato wissen, dass er nie die
Meinung gehabt haben kann, das Angenehme, Lust-
bereitende sei auch das Gute. Aber auch von Sokrates
selber gilt, dass wenn er im „Protagoras" eine solche
Ansicht zu vertreten scheint, das nicht im Ernste tut,
als wäre er solcher Meinung, sondern nur im Scherze,
als Kampfmittel gegen den grossen und berühmten
Sophisten, dessen vollständige Unklarheit über die
wichtigsten und prinzipiellsten Fragen garnicht besser
aufgedeckt werden kann als durch solches scheinbare
Eingehen auf seine Manier und auf seine Lehren.
4. Der Dialog handelt nicht eigentlich von dem Werte
oder Unwerte der Redekunst, was schon ein alter
Scholiast als Ansicht mancher berichtet. (Vgl. K. F.
Hermann, Geschichte und System der piaton. Philo-
sophie. 1839. S. 477. 637. f.). Zunächst ist es nicht
denkbar, dass Plato die Redekunst als solche sollte
verworfen, ihren Wert als Bildu^gsmittel völlig ver-
kannt, ihre Bedeutung für das öffentliche Leben
unterschätzt haben. Sein Schüler Aristoteles hat die
Rhetorik mit grossem wissenschaftlichem Ernste in
einem hochbedeutenden Werke behandelt, sicher auch
das in Piatos Sinn und Geist. Wogegen sich Plato
im „Gorgias" wendet, ist der Missbrauch der Rede-
kunst. Missbrauch ist es, wenn man bei rhetorischen
Künsten stehen bleibt und darüber gründliche dialek-
tische Untersuchung, die allein zum Wissen führt,
vernachlässigt, (p. 455—457). Missbrauch ist es ferner,
wenn der Redner selbstsüchtige Zwecke verfolgt, Macht
und Einfluss zu gewinnen strebt, um die Gunst der
Masse buhlt, den Menschen das sagt, wonach ihnen
die Ohren jucken, wenn er nicht Wissen verbreitet,
sondern Leidenschaften wachruft und statt die Menschen
zu bessern, sie nur nach seinem Willen zu leiten sucht.
(p. 462—466). Darum darf man es als aus Piatos
Seele gesprochen betrachten, wenn Gorgias ausführt.
— 88 — •
dass der Missbrauch, den, wie er zugibt, sophistischer
Geist mit der Redekunst treibt, den echten Wert der
Kunst und ihren rechten Gebrauch nicht aufhebt.
(p. 456C-457C). In der Tat bekämpft Sokrates bei
Piato nur die Begriflsbestimmung, die Gorgias von
der Redekunst gibt, und aus der nachher Polos und
Kallikles die strikten Folgerungen zum Besten geben.
Darum heisst es: Sophist und Rhetor seien identische
oder nahezu identische Begriffe (p. 465 C; 520 A),
und die Sophistik würde immeriiiii erträglicher (xctUiov)
sein, wenn nicht die Rhetorik ihr die Mittel zu un-
heilvollem Tun lieferte (p. 520 B). Aristoteles aber
hat seiner Zeit die gleiche Ansicht ausgesprochen: die
Redekunst lasse sich missbrauchen, gerade wie jedes
andere wertvolle Gut. (Rhetor. I, 1. 1355b 2).
5. Der Streit um die Redekunst hat also keine selbst-
ständige Bedeutung und der Satz, dass Plato im
„Gorgias" für alle Zeiten das Grundwerk der Be-
kämpfung der Jledekunst im gewöhnlichen Sinne ge-
schaffen habe, (vgl. Christ, Geschichte der griechi-
schen Litteratur, 5. Aufl. bearbeitet von W. Schmid
1908. I., S. 635.) trifft nicht die Sache. Die Be-
kämpfung des sophistischen Missbrauchs der Rede-
kunst zu selbstsüchtigen Zwecken bietet nur die An-
knüpfung für das eigentliche Thema des Dialogs.
Statt der sophistischen Redekunst, die sich allerdings
am bequemsten für den Zweck darbot, hätte auch
jede andere auf äusseren Erfolg und die Gewinnung
äusserer Güter auf Kosten des Gewissens gerichtete
Tätigkeit eintreten können. Die Bekämpfung der
Rhetorik ist kein selbständiger Teil des Dialogs ;
sie bildet für das Werk nur die Einleitung'. Ob
Plato p. 463 A als Anspielung auf die Rede des Iso-
krates gegen die Sophisten (17j zu deuten ist (vgl.
Räder, S. 124), ob nicht vielmehr Isokrates als der
Spätere sich gegen Plato wendet, ist schwer auszu-
machen; jedenfalls, für unsere Auffassung ist es uner-
— 89 —
heblich, und wir können die Frage unerörtert hissen.
Der Grund, aus dem Plato sich gegen die Redekunst
als das Hauptstück im verderblichen Treiben der
Sophisten gewandt hat, ist auch ohne das verständ-
lich genug. Er hatte sich am meisten gegen die
Gunst zu wehren, die das atlieniensische Publikum
Männern wie Isokrates und Antisthenes zuwandte.
(). Das eigentliche Thema des Dialogs ist ausdrücklich
genug bezeichnet in den Worten, die Sokrates an
Kallikles richtet p. 500 C. „Der Gegenstand unserer
Unterredung ist wichtig genug, dass ein Mensch, der
auch nur ein geringes Mass von vernünftiger Einsicht
besitzt, um keinen anderen Gegenstand sich mit
grösserem Ernste bemühen müsste, als um diesen. Es
handelt sich um die Frage: wie soll der Mensch sein
Leben einrichten y Auf die Weise, die du mir an-
preisest, dass man solclies Werk eines reciiten Mannes
vollbringen soll, als Redner in der Volksversammlung
sich betätigen, sich in der Redekunst üben, die Staats-
angelegenheiten betreiben in dem Stil, wie es euch
geläufig ist? oder soll man sein Leben dem Streben
nach edler Bildung {^tikoarj'Ma, -aiost'a) widmen? und
wie unterscheidet sich diese letztere Lebensführung
von jener?
So wird es denn das Beste sein, zunächst den Unter-
schied, wie ich es eben unternommen habe, festzu-
stellen, und ist dies geschehen und sind wir darüber
einig, ob wirklich diese beiden Arten der Lebens-
führung vorhanden sind, dann zu erwägen, welche
von beiden man auf Grund ihres Unterschiedes er-
wählen soll." Diese Frage erweist sich als die des
sittlichen Lebens. Der Gedankengang, den Plato
seinem Sokrates in den Mund legt, ist bekannt genug.
Es ist derselbe, den wir bei Aristoteles wiederfinden:
Alles Handeln hat einen Zweck (p. 477a); der höchste
Zweck aber ist die Eudämonie, der innere Friede,
(p. 472 C) und dieser kann , nur erreicht werden.
— 90 —
wenn die Seele, des Mensclien eigentliches Wesen,
gesund ist und ihr Werk tut (p. 474a). Das Kenn-
zeichen der gesunden Seele und ihrer rechten Betäti-
gung ist edle Bildung, Ordnung und Mass {)». nOö).
Das allein macht selig. Darum strebt der rechte
Mensch nicht nach äusseren Gütern, sondeYn nach dem
Heil der Seele. Er erduldet lieber jedes äussere
Uebel, als dass er Scliaden nähme an seiner Seele.
Er folgt nicht dem Belieben der Willkür, sondern
dem vernünftigen Willen, fp. 468) Nur dem ver-
nünftigen W^illen gehorchen ist Macht, der Willkür
folgen Ohnmacht und Knechtschaft. Besser also Un-
recht leiden als Unrecht tun; jeden Schmerz und den
Tod selber auf sich nehmen um des Gewissens willen;
seine Begierden in seiner Gewalt haben, auf alles
äussere Glück verzichten, um seine arme Seele zu
retten, das heisst sittlich leben und zugleich inneren
Frieden haben, wahrhaft glücklich sein (p. 506 — 508)
und »Seligkeit geniessen. Dieses innere Gericht, das
sich am Bösen vollzieht, dieser innere Lohn, den das
Gute mit sich bringt, wird dann am Schluss in mythi-
scher Form als ein im Jenseits nach dem Abschluss
des irdischen Lebens sich vollziehendes Gericht dar-
gestellt. Dieser Mythus ist zu verstehen als eine
andere Ausdrucksform, als Mittel der Verdeutlichung
eben desselben Gedankenganges, der den eigentlichen
Inhalt des Dialogs bildet.
Ueber die Höhe dieser Gedanken auch nur ein
Wort des Preises zu sagen, ist überflüssig. Wer von
der Erhabenheit der im „Gorgias" vorgetragenen
Lehre nicht im tiefsten Innern ergriffen wird, der
wird überhaupt einer Erhebung der Seele zum wahr-
haft Grossen nicht leicht zugänglich sein. Die Auf-
fassung des sittlichen Lebens, die Sokrates hier vor-
trägt, begegnet uns wieder im Christentum, sicher
nicht ohne dass ein historischer Zusammenhang statt-
gefunden hat, dem hier nachzugehen nicht wohl tun-
- 91 —
lieh ist. Der beste Teil der Menschheit lebt seitdem
von diesen Gedanken in der Form, die sie durch die
grosse religiöse Bewegung in den ersten Jahrhunderten
unserer Zeitrechnung empfangen hat.
Wir haben uns der Polemik gegen andere Schrift-
steller über unseren Dialog möglichst enthalten; die
Verschiedenheit der Meinungen über den Inhalt des
„Gorgias", der uns bei den Gelehrten begegnet, kann
schon allein für sich als Beweis dienen, welche Schwierig-
keiten das Verständnis der platonischen Intentionen
bietet. Zuweilen wird man an den gescheiten Schul-
meister erinnert, der behauptete, als der erste das
volle Verständnis des Goethe'schen „Faust" erschlossen
zu haben, und den eigentlichen Inhalt des berühmten
Gedichtes dahin festlegte: es sei die Schilderung des
Lebens einer deutschen Stadt im 16. Jahrhundert,
wofür er auch eine grosse Menge von Belegstellen
aus dem Gedichte anzuführen vermochte. In Piatos
„Gorgias" wird auf die Möglichkeit einer Anklage
gegen Sokrates und einer Verurteilung hingedeutet,
also, schliesst man, ist der Dialog bald nach Sokrates
Tode verfasst und hat die nachträgliche Verteidigung
des Sokrates zum Zweck ^). Da im Jahre 394 oder 393
Polykrates eine Schrift gegen Sokrates veröffentlicht
hat, die das Urteil gegen Sokrates rechtfertigen sollte,
so wird der „Gorgias" wohl als eine Entgegnung
gegen Polykrates zu deuten sein. Das würde gelten,
läge es nicht nach der Tendenz des „Gorgias" einem
Sokrates-Schüler wie Plato so ausserordentlich nahe,
auf Sokrates Leben und Schicksal zu exemplifizieren.
Die Ausführung im „Gorgias" bleibt genau ebenso
verständlich, wenn sie 50, als wenn sie 5 Jahre nach
Sokrates Tode niedergeschrieben ist. Im „Gorgias"
werden „die beiden berühmten Toten des Jahres 399"
Archelaos von Makedonien und Sokrates erwähnt.
*) vgl. Alfred Gercke in der öfter zitierten Einleitung zur
Ausgabe des Gorgias p. XVI.
— 92 —
Also wird geschlossen ^): Der „Gorgias" will die Parallele
ziehen zwischen beiden; also ist der „Gorgias" mög-
lichst nahe an das Jahr 399 zu rücken. Die grossen
Staatsmänner Athens werden im „Gorgias" aus dem
Grunde schwer getadelt, weil ihre Wirksamkeit unter
dem Gesichtspiinkte der Ethik schlimme Früchte ge-
tragen habe. Das Urteil wird aus einer besonderen
politischen Lage oder aus dem noch frischen Schmerz
über das an Sokrates begangene Unrecht der Atiiener
abgeleitet. Im „Meno" urteilt Plato über eben jene
Staatsmänner ganz anders; also ist der „Meno" eine
Art von Widerruf, später verfasst als der „Gorgias"
und aus einer ganz anderen politischen Lage und
politischen Stimmung Piatos zu erklären. Und doch
ist es nach der Tendenz des „Gorgias" ebenso ver-
ständlich, dass Plato die Sache hier mit dem Mass-
stabe des Ethos misst, wie es nach der Absicht des
Menon natürlich ist, dass hier die Menschen und die
Sachen unter dem Gesichtspunkt der äusseren Wirk-
samkeit beurteilt werden (vgl. oben S, 77. 78).
Es kommt auch solches vor, was man für ganz
unmöglich halten sollte. F. Hörn, Piatonstudien,
Wien 1893, S. 92 sagt: Die Sittenlehre Piatos im
„Gorgias" ist „eine Glücksoligkeitsraoral oder was
Kant eine hetcronoraische Moral nennt im strengsten
Sinne des Wortes." „Wie Plato das Wesen des Guten
im ., Gorgias" bestimmt hat, kann er nach Hörn seinem
praktischen Gesetze die einfache und klare Fassung
geben: Handle besonnen und gerecht!" So Hörn. Wer
dann wieder bei Natorp (Piatos Ideenlehre 1903
S. 41—51) die Inhaltsangabe des Dialogs liest, wird
sich kaum überzeugen lassen, dass damit Piatos
„Gorgias" gemeint sein soll. F. Susemihl (die
genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie
') vgl. Dnmmler, kl. Schriften Bd. I p. 135 Absatz 47: ferner
p. 3?4, 32.5. -Akadt-mica Gicsscn 1889 p. 42, 69; ebenso Bergk, Lite-
raturgeschichte IV p. 404, 442.
'f
— 93 —
I. 1855. S. 90) meint mit Steinhart, der Mittelpunkt
des Werkes sei „die Darstellung der Philosophie als
der ethisch-politischen Lebenskunst." Th. Ziegler
(die Ethik der Griechen und Römer, Bonn 1881,
S. 78) meint, Plato biege am 5chluss noch einmal ab,
um doch ein Stück äusserer Glückseligkeit zu retten,
und vertröste in einem Mythos auf ein anderes künf-
tiges besseres Leben. Das sei ein Sprung, den Plato
ohne eigentlich genügenden Grund aus einem gewissen
Schwanken und Unsicherheit oder aus dem Bedürfnis,
wenigstens in mythischer Form noch einen höheren
Standpunkt zu gewinnen oder aus beiden Gründen
gemacht hat. Th. Goraperz endlich (Griechische
Denker. IL 1908. S. 268 ff.) hält
„Den Gorgias, was die Beweise anbetrifft, für das
Schwächste, was aus Piatos Feder geflossen ist. Die
Kritik der herrschenden Moral und Politik seines Zeit-
alters bildet den eigentlichen Kernpunkt des „Gorgias."
Der Felller bei Plato sei gewesen „der zum Aber-
glauben gesteigerte Kultus der Begriffe" (S. 282),
„die Unzulänglichkeit der logischen Schulung und
die unzureichende Emanzipation von den Banden der
Sprache" (S. 285). Es ist wohl aus den sich schroff
gegenüberstehenden Ansichten beider Denker zu er-
klären, wenn Gomperz Plato nicht die rechte Würdi-
gung zu teil werden lässt, indem er ihn logischer
Schnitzer überführt, weil er, Plato, nicht formale,
sondern metaphysische Logik treibt und — auch in
den Fragen der Ethik nicht als Nominalist und
Sensualist, sondern als Realist und Rationalist spricht.
Die angeführten Proben werden genügen zu dem
Erweis, dass unsere Untersuchung doch nicht wohl
überflüssig erscheinen möchte, und dass der Gegen-
satz unserer Auffassung zu anderen berechtigt ist.
Nur eine Aeusserung von Wert wollen wir noch er-
wähnen. Bei Ferd. Dümmler (Kleine Schriften I 1884.
S. 135) heisst es : „Dem Eindruck, dass der „Gorgias"
— 94 —
eine epoclieinachenfle Tat sei und <1ass er ein neues
Evangelium einführt, wird sich kein Leser entziehen
können." Dagegen den Scliluss, der daran geknüpft
wird, der Dialog werde als Prograrann gefasst werden
müssen einer ersten Schulgründung im Jahre 395
bald nach Piatos Rückkehr von der Reise können wir
nicht mitmachen. Zum Programm ist der ,.Gorgias"
ebensowenig geeignet wie der „Phaedrus", und auch
die Meinung „Gorgias und Phaedrus" raüssten beide
in die neunziger Jahre gehören wegen der Sophisten-
reden, hat keine rechte Begründung. Wenn wir eine
Ansicht äussern dürfen, so würden wir den ,, Phaedrus"
beträchtlich später ansetzen, den „Gorgias" aber als
ein Erzeugnis grösster Reife und höchster Kunst mit
„Symposion" und „Phaedon" in derselben Epoche des
Lebens entstanden glauben.
Indessen, darauf näher einzugehen ist nicht unsere
Sache. Uns muss es an dem Versuche genügen, den
Gedankengehalt des Gorgias von allem Episodischen
und Polemischen rein abzusondern und aus seinen
Hüllen herauszuschälen. Aristoteles hat in einem
Dialoge aus seiner Jugendzeit erzählt, ein korinthischer
Weinbauer habe nach der Lektüre des „Gorgias"
Acker und Weinberg im Stich gelassen, sich der Philo-
sophie zugewandt, und sei in Piatos Schule einge-
treten. (Vgl. E. Rohde, Psyche. 1898. S. 263 ff.)
Einen solchen Rut zur Bekehrung vernehmen auch
wir heute noch in des grossen Atheners unsterblichem
Werke. Es ist eine hohe Geistesfreude, eine so nahe-
kommende Ahnung der christlichen Wahrheit bei dem
grossen^Meister zu finden, der der Philosophie ihr
Stichwort von ewiger Geltung im 4. Jahrhundert vor
Christi Geburt gegeben hat.
T
Vita.
Ego vulua Elisabeth, Juliana, Augusta Tliiel,
nat. Moerke, nata sum priedie Idus Julius MDCCCJjXXVIU
in vico Wieschowa prope oppiduni Tarnowit/ in Pruvincia
Silesiae liorussicae, patre relice Moerke, qui in urbe
Wratislaviensi ui socretaiius (hibernii vivit, matrc Anna
a gente Lenipp, tiuain praematura morte ereptain vehemeu-
tissime lugeo.
Primis litterarum elementis in scliola publica Wratis-
lavviensi imbuta scliolam su[»eriorem jiueilaruni sie dictani
usque septimuni decimum annuni frequentavi. Anno decinio
nono vitae meae nupsi Ernesto Thiel, iudiei publicu
(jubernii. Post eins mortem, qui iam post sex menses bub-
secutus est, commoravi in domo parentum meorum. Anno
MDCCCCIV seientias Gymnasii privatim navavi et iam post
duos annos examini in scholam Primae inferioris (Unter-
prima) Gymnasii publici ieliciter me subieci. Quod fuit
in oppido Tarnowitz,
Mense Julii anni MDCCCCVIII maturitatis testimoniura
accepi in Gymnasio publico Wuerzburg in regno Bavariae.
Attamen iam ab anno MDCCCCVI usque MDCCCCVIII per
quattuor semestria Philosophiae exercitationibus interfui et
quidem Berlin, Wuerzburg. A mense Octobris MDCCCCVIII
iusque nunc lectiones philosophiae audivi in Universitate
Leipzig, Muenchen, Wuerzburg, Berlin.
Docuerunt me viri doctissimi, quibus omnibus prae-
cipue professoribus doctissimis Geheimrat Lassen et reveren-
dissimo professori Dr. M. 'Baumgartner gratias maximas
ago et semper me obligatara esse dico.
Berlin: Frischeisen-Köhler, Lassen,
Würzburg: Külpe, Stölzle,
Leipzig: Heinze,
München: v. Hertling.