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Full text of "Der Geist in der Natur"

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OERSTED # DER GEIST IN DER NATUR 


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83 


Der Geiſt in der natur.“ 1 


Von 


— 


Hans Chriſtian Oerſted. 


Deutſche Original-Ausgabe des Verfaſſers. 


München. 
Literariſch⸗artiſtiſche Anſta lt 
der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung. 


1850. 


— 


Buchdruckerei der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart. 


Inhalt. 


Dieſe, zu ſehr verſchiedenen Zeiten geſchriebenen Beiträge ſind hier, 
ohne Rückſicht auf die Zeitfolge, ſo zuſammengeſtellt, wie ſie ſich 
gegenſeitig am beſten einleiten, beleuchten oder ergänzen konnten. 


Das SGeiſtige im Körperlichen, ein Geſpräch. S. 1— 62. 


Die beiden Weltanſchauungen, deren eine von der Betrach— 
tung des Geiſtigen, deren andere von der des Körperlichen aus— 
geht, ſollen verſöhnt werden. EIN, 

Was wir zunächſt von den Körpern wiſſen, iſt, daß ſie ſich 
als Räume darſtellen, erfüllt mit der Fähigkeit, Wirkungen 


hervorzubringen. S. 5— 10. 
Das Körperliche, als ein ſolches, iſt unaufhörlichen Wechſeln 
unterworfen. S. 10-21. 


Als etwas Vorläufiges iſt feſtzuſetzen, daß das Beſtändige, 
welches im Wechſel der Körper ſich findet, die Gedankeneinheit 
iſt, welche wir darin antreffen. S. 22. 

Dieſe Gedankeneinheit iſt doch nicht bloß die unfrige, ſon— 
dern gehört der Natur an, denn die Naturgeſetze ſind beſtän⸗ 
dig. S. 23. 


IV 


und find zugleich Vernunftgeſetze, S. 26. 
doch nicht von unſerer Vernunft herrührend, ſondern von 
der Vernunft, die ihre Gültigkeit im geſammten Weltall 
hat. N S. 15 
Könnte dieſe Meinung von der ae e 
Vernunft ſich nicht durch die Eigenthümlichkeit unſeres Den— 
kens eingeſchlichen haben? Widerlegung dieſes Zweifels. 


S. 32— 42. 
Verſchiedene Andeutungen über Fragen, welche weiter be— 
handelt werden ſollen. 2 


Weiter entwickelte Darſtellung des Wechſelvollen, und die 
Wichtigkeit, dasjenige zu ſuchen, was darin das Beſtändige iſt. 
S. 49. 

Das Weſen eines Dinges wird durch die Geſammtheit der 
Geſetze beſtimmt, nach denen alle darin vorgehenden Wirkungen 
geſchehen. Dieſe Geſetze werden mit Recht Naturgedanken 
genannt. Sie machen in jedem Weſen eine Einheit aus, welche 
des Weſens Gedanke, des Dinges Idee, genannt werden kann. 
S. 54. 

Dieſe Idee iſt nicht bloß eine gedachte Idee, ſondern ver— 
wirklicht durch die die Dinge beherrſchenden Kräfte. Das We— 
ſen des Dinges iſt demnach ſeine lebendige Idee. S. 54. 
Die Ideen finden in der Natur eine vollkommene Verwirk— 
lichung. S. 56. 
Wiederholter Zweifel, ob nicht-die Stoffe den Dingen ihre 
Gißentg än e geben, und Antwort. S. 
Ein jedes Ding iſt nur Glied einer Geſammtheit von Din— 
gen, die wiederum Glied einer mehr umfaſſenden Geſammtheit 
iſt, welche ſelbſt wieder Glied einer höhern iſt, und ſo fort bis 
ins Unendliche; eben fo verhält es ſich denn auch mit den Ideen, 
deren Verwirklichungen ſie ſind. Das ganze Daſeyn alſo Werk 
und Offenbarung der lebendigen Allvernunft. S. 59. 
Die Verſöhnung der Gedanken von der Weſengleichheit der 
Materie und des Geiſtes liegt darin, daß das Körperliche und 
Geiſtige unzertrennlich vereinigt ſind in dem ſchaffenden Gott— 


bheitsgedanken. S. 61. 
Der Springbrunnen. S. 8 


Ausruhe in der Nähe eines großen Springwaſſers; Eindruck 
de ſſelben. S. 65. 


* 


Frage nach der Erklärung dieſes Eindrucks, und in welchem 
9 g . 


Sinne des Worts dieſelbe zu erwarten iſt. S. 66. 
Der Eindruck, den das Steigen des Waſſers der Schwere 
entgegen hervorbringt. S. 70. 
Der Eindruck der wachſenden Dicke, des ſteigenden Strahls. 
S. 73. 

Der Eindruck der innern Bewegungen im Strahle und der 
daraus erfolgenden Zerſtreuung ſeiner Theile. S. 74. 
Verſchiedene Eindrücke beim Laut des Tropfenfalls. S. 77. 
Das Schöne in der Figur der Tropfenbahnen. S. 81. 


Der in der Geſammtheit der Wirkungen enthaltene Ver— 
nunftzuſammenhang wird von dem innern Sinne mit Wohl— 
behagen aufgefaßt, welcher ſich dieſer Vernunft zwar nicht be— 
wußt wird, aber von der alles beherrſchenden Vernunft! ſelbſt 


ſein Weſen hat. S. 83. 
Die Lichtwirkungen des Springwaſſers ſteigern die Leben— 
digkeit des Eindrucks. S. 83. 
Eindrücke hervorgebracht an Springbrunnen von verſchiede— 
ner Kraft und Größe. S. 85. 
Vom Schönheitseindruck des Erhabenen und Großen. 
S. 88. 
Vom Schönheitseindruck des Lebensvollen. S. 89. 


Das Erhebende, das Lebensvolle, das Harmoniſche als Schön— 
heitsformen. S. 90. 
Hinweiſung auf den ewigen Urquell des Schönen. S. 92. 


Ueber das Verhältniß zwiſchen der Naturauffaſſung des 
Denkens und der Einbildungskraft. S. 98 


Der bei der Mehrzahl herrſchende Streit zwiſchen der Welt— 
auffaſſung ihres Verſtandes und ihrer Einbildungskraft, iſt 
Folge ihrer mangelhaften Bildung. S. 95. 

Zu einer vollkommenen Bildung wird wenigſtens erfordert, 
daß man ſich mit der Natur ebenſo bekannt als mit der Fabel— 


welt mache. S. 99. 
Wie dieſes zum Selbſtverſtändniß beiträgt, wird hier durch 
ein Beiſpiel aus der Aſtronomie beleuchtet. S. 101. 


Der durch den Sternhimmel hervorgebrachte Eindruck hat 
etwas für alle Menſchen Gemeinſames, enthält aber vieles 
Andere, welches allmählig auf jeder höhern Bildungsſtufe hin— 
zukommt. S. 102. 


VI 


Allgemeiner Eindruck des Sternhimmels ohne die Dazwiſchen— 
9 


kunft des Mondlichts. S. 103. 
Die Mondſcheinnacht. S. 104. 
Eindruck des Sternhimmels uf, Menſchen in ganz ungebil— 

detem Zuſtande. S. 104. 
Eindruck auf Meuſchen mit einigermaßen 05 
Wahrnehmungsgeiſte. 105. 


Eindruck auf Menſchen, welche die erſte Stufe von er 
maßen entwickelten aſtronomiſchen Kenntniſſen erreicht haben. 
Hier treten höhere, doch immer noch begrenzte Vorſtellungen 
von der Größe und Ordnung der Welt hervor. S. 106. 

Geringe Aenderung hierin, vom Alterthum an bis auf Co— 
pernieus. Man nimmt hier das ganze mit ihm e 
Zeitalter als Einheit. 1 

Die Erfolge der wiſſenſchaftlichen Weltmeſſungen 5 
um von der Einbildungskraft gefaßt zu werden, erſt von dieſer 
bearbeitet worden ſeyn. S. 115. 

Daſſelbe in Beziehung auf die Zeitverhältniſſe. S. 116. 

Der Eindruck des Sternhimmels, den Derjenige empfängt, 
welcher ſeine Einbildungskraft durch eine denkende und klare 
Auffaſſung der Lehre vom Weltſyſtem befruchtet hat. 

S. 118. 

Der Charakter, den der Eindruck durch den Gedanken erhält, 
daß vernünftige Bewohner über das ganze Weltall verbreitet 
ſind. S. 121. 

Das noch mehr Erhebende, welches dieſer Eindruck bei Dem— 
jenigen erhält, welcher von der Ueberzeugung durchdrungen 
iſt, daß das Ganze ein Vernunftreich ſey. S. 125. 


Aberglaube und Unglaube in ihrem Verhältniß zur 


Uaturwiſſenſchaft. 129. 
1. Was Aberglaube und Unglaube ſey. 131. 
Eine Unterſuchung hierüber iſt noch keineswegs überflüſſig. 

S. 131. 


Vorläufige Warnung für diejenigen, welche dem Aberglau— 
ben eine mehr als zufällige Beziehung zum Glauben oder zu 
dem Poetiſchen beimeſſen. S. 132. 

Aberglaube iſt ein Hang, etwas anzunehmen, was außerhalb 
der Ordnung der Natur liegt. S. 133. 


VII 


Da aber die Natur das beſtändig fortgeſetzte Werk der 
ewigen Vernunft iſt, iſt der Aberglaube ein Hang zum Ver— 
nunftwidrigen, folglich eine Einbildung, die ſich durch ihre 
Benennung den Namen des Glaubens angelogen hat. 


S. 139. 
Dieſer Hang iſt eine Entartung von urſprünglich guten 
Anlagen. S. 139. 


Unglaube iſt ein Hang, alle unmittelbare Gewißheit, 
welche nicht von den Sinnen herkömmt, zu verwerfen. 


S. 142. 
2. Urſprung und Entwickelungsgang des Aberglaubens 
und des Unglaubens. S. 143. 


Die Schönheit der früheſten Weltauffaſſung des Menſchen— 
geſchlechts mußte durch die Weltkräfte ſelbſt vernichtet werden, 
um das Geſchlecht einem höhern Standpunkte entgegen zu 
führen. S. 143. 

Die Aufklärung des Verſtandes über die Naturbegebenheiten 
erweckt bei Einigen Zweifel gegen alte Meinungen, bei An— 
dern ein ſtärkeres Anhangen an dieſelben und Haß gegen das 


Neue. S. 144. 
3. Das Mittelalter als Beiſpiel eines abergläubiſchen 
Zeitalters. S. 153158. 
Das Chriſtenthum konnte den Aberglauben, welcher Hülfe 
beim Teufel ſuchte, nicht aufheben. S. 153. 
Die falſche Auffaſſung des Menſchen hat der Religion den 
gröbſten Aberglauben beigemiſcht. e. 1 
Gegen die einſeitigen Lobredner des Mittelalters muß man 

die wahre Geſchichte als Zeuge aufſtellen. S. 157. 


4 


4. Der Aberglaube greift verwirrend in das ganze 
Leben ein. S. 158 — 161. 


5. Das vermeintlich Poetiſche des Aberglaubens. 
S. 162—180. 


Die Geſchöpfe des Aberglaubens brauchen nicht, um dichte— 
riſchen Werth zu haben, an der äußeren Wirklichkeit Theil zu 
nehmen; dieſe der Poeſie wegen zu fordern, iſt ein proſaiſcher 
Irrthum. S. 162. 


VIII 


Eine wahre Einſicht in die Dinge kann den Trotz nicht 
billigen, womit einige Dichterwerke eine äußere Wirklichkeit 
für die vom . erſchaffenen Mächte der Finſterniß 
zu vertheidigen ſtreben. Das wahre Reich des Schönen iſt ein 
Reich der Vernunft. S. 164. 

Das von Einigen beliebte Steben, den Aberglauben wieder 
emporzubringen, hat den Fehler, daß es Niemand ernftlich da— 
mit meint, und daß es nur Viele zu einem angenommenen We— 


ſen verleitet. S. 168. 
Grober Mißbrauch der Wörter poetiſch und proſaiſch. 
S. 169. 


Die Naturwiſſenſchaft beſchränkt zwar den Dichter in Rück— 
ſicht auf den Gebrauch einiger naturwidrigen Vorſtellungen: 
aber — außer daß ſie ihm durch höhere Einſichten, als Menſch, 
reichen Erſatz gewährt — eröffnet fie ihm eine neue und reiche, 
noch wenig dichteriſch benutzte Welt. Sue 


Die Wirkungen des Unglaubens. S. 180—184. 


Der Unglaube iſt zwar ebenſo verderblich als der Aberglaube, 
da er aber gewöhnlich durch die Fortſchritte der Wiſſenſchaft 
erzeugt wird, unterdrückt ihn ihr ferneres Fortſchreiten leichter. 

S. 180. 

Inzwiſchen kann er eine Uebermacht gewinnen, die Land und 
Leute ins Verderben führt. S. 182. 

Zu jeder Zeit wird es viele geben, die weder vom Aberglau— 
ben noch vom Unglauben beherrſcht werden. S. 183. 


Wie Naturwiſſenſchaft gegen Aberglauben wirkt. 
„ 


Es iſt nicht die einzige Wirkung d er Naturwiſſenſchaft gegen 
den Aberglauben, daß ſie gewiſſe Meinungen ausrottet, ſon— 
dern ſie wirkt zugleich durch den Geiſt, den ſie erweckt. 

S. 184. 

In einer Reihe von zuſammenhängenden Beiſpielen wird 
die den Aberglauben vernichtende Wirkungsweiſe der Natur— 
wiſſenſchaft näher gezeigt, deren höchſte Kraft endlich darin 
liegt, daß ſie uns die Natur von ewigen Vernunftgeſetzen be— 
herrſcht darſtellt. a S. 185. 

Mehrere Beiſpiele. S. 190. 


Die beſtändig mehr durchgreifende Anwendung der Natur— 
wiffenfchaft im Leben weckt ſelbſt in den bisher weniger ge— 
bildeten Ständen eine dem Aberglauben verderbliche Gedanken— 


thätigkeit. S. 193. 
Von abergläubiſchen Meinungen, die durchaus ohne Natur— 
weren bee jind. ©. 197. 


Der, welcher ſich durch geiſtige Anſchauung die Lehre von 
der Natur als ein Vernunftgaͤnzes recht angeeignet hat, muß 
insbeſondere den Aberglauben kräftig abweiſen, welcher dage— 
gen nicht immer durch einſeitige Kenntniſſe in gewiſſen Rich— 


tungen ausgeſchloſſen wird. S. 200. 
S. Die Wirkung der Naturwiſſenſchaft ga den Un= 
glauben. 203—213. 


Wohl widerlegt die Naturwiſſenſchaft br manchen un— 
gläubigen Gedanken, zu welchem ſie Anlaß gegeben hat; aber 
die Geſetzmäßigkeit und eine daraus folgende Nothwendigkeit, 
welche ſich in Allem zeigt, wird leicht als eine blinde Nothwen— 
digkeit, die der Vernunft vorangeht, und nicht aus ihr erfolgt, 
mißverſtanden. S. 203. 

Es iſt hier nicht genug, ſich darauf zu berufen, daß viele 
Naturforſcher Zweck und Plan in der Natur nachgewieſen 
haben; denn der Nothwendigkeitsgedanke ſcheint ihnen zu wi— 


derſprechen. S. 205. 
Aber die Naturwiſſenſchaft zeigt uns die ganze Welt als 
ein Werk der Gottheit. S. 209. 


Zwar ſcheint die Nothwendigkeit die freie Weisheit auszu— 
ſchließen; aber in der ewigen Vernunft ſind ſie unauflöslich 


vereinigt. S. 210. 
Das ganze Daſeyn ein Vernunftreich. 3 
1. Die Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens durch 
das ganze Weltall. S n 

Der Gegenſtand muß zu der Naturwiſſenſchaft hingerechnet 
werden. S. 217. 
Darf nicht verſchmäht werden, weil die Kenntniß davon von 

der Vollkommenheit noch ſo entfernt iſt. S. 219. 


Die Behandlung des Gegenſtandes iſt hier ſehr verſchieden 
von der methaphyſiſchen. S. 219. 


— 


Die Weſeneinheit ſchließt eine Mannigfaltigkeit großer 


Verſehiedenheiten nicht aus. S. 220. 
Die Behandlung muß hier eine ſolche ſeyn, welche die Wahr— 
heiten für die Anſchauung darſtellt. S. 221. 


Eine zuſammenhängende Reihe von Beiſpielen, um zu zei— 
gen, daß die Bewegungsgeſetze in der Vernunft begründet find. 
Ein Jupiterbewohner muß die von uns erkannten Geſetze 
in der ihn umgebenden Welt wiederfinden, und er würde ſich 
dieſelben unrichtig vorſtellen, wenn ſein Erkenntnißvermögen 
von dem unſrigen grundverſchieden wäre. S. 226. 
Zweifel gegen die Richtigkeit unſerer Auffaſſung wird durch 
die unſäglich vielfältigen und genauen Uebereinſtimmungen 
der vorausgeſagten und wirklichen Himmelsbegebenheiten wi— 
derlegt. S. 228. 
Fortgeſetzte Betrachtung über die von uns angenommene 
Beſchaffenheit der Naturauffaſſung eines Jupiterbewohners. 


S. 229. 
Beiſpiele, die Möglichkeit großer Ungleichheiten bei glei— 
cher Weſenseinheit zu beleuchten. S. 232. 


Fernere Entwickelung der Weſensgleichheit des Erkenntniß— 
vermögens bei den Bewohnern des Jupiter und der Erde. 

S. 233. 

In allem Weſentlichen läßt ſich das über den Jupiterbe— 

wohner Beleuchtete nicht nur auf das Erkenntnißvermögen 

der Bewohner der übrigen Planeten unſeres eee 

anwenden, ſondern auch ferner noch auf das des ganzen Welt— 


alls. S. 235. 
Die Geſetze des Lichts, Vernunftgeſetze. S. 236. 


Sie gelten ebenfalls über das geſammte Weltall. S. 237. 
Es wird gezeigt, wie die Weſensgleichheit in der Auffaſ— 
ſung des Lichts mit großen Verſchiedenheiten gepaart ſeyn 
könne. S. 238. 
Da die Schallwirkung auf Schwingungen beruht, welche 
in allen Körpern vorgehen können, fo werden Weſen, die ſich 
ihres körperlichen Zuſtandes bewußt find, Empfindungen ha— 


ben, welche der Schallempfindung entſprecheu. S. 243. 
Uebergang zur Betrachtung der Weltbedeutung der chemi— 
ſchen Naturgeſetze. S. 244. 


Die Geſetze für Elektrieität, Galvanismus und Magnetis— 
mus ſind Vernunftgeſetze. S. 245. 


Geſchichtliche Bemerkungen und Vorausſehungen über die 
Entwickelung der Chemie. S 246. 
Die Eigenſchaften, welche wir hier auf der Erde allgemeine 
nennen, ſind es ebenfalls im ganzen Weltall. S. 248. 
Die Gültigkeit der Geſetze der Wärme für das ganze Weltall. 
S. 251. 

Die Allgemeinheit der Elektrieitätsgeſetze, ein Beweis mehr 
für die Allgemeinheit der chemiſchen Naturgeſetze. S. 252. 
Ein ausgezeichneter Chemiker, welcher in ſeiner Wiſſen— 
ſchaft Grund zu finden meinte, das allgemeine Verhalten der 
Schwere zur Maſſe in Zweifel zu ziehen, prüfte daſſelbe ſelbſt 
durch Verſuche und fand ſeinen Zweifel widerlegt. S. 253. 
Die Gleichartigkeit der Materie im Weltraume wird durch 
die Meteorſteine bekräftigt. S. 254. 
Die übrigen Planeten ſind nach denſelben Geſetzen, als die 
Erde, hervorgebracht worden. Gleich wie der Menſch das 
höchſte Erzeugniß der Erdentwickelung iſt, müſſen die ſelbſt— 
bewußten Weſen anderer Weltkörper Erzeugniſſe ihrer Ent— 
wickelung ſeyn. Sind ſie alle nach denſelben Geſetzen hervor— 
gebracht, müſſen ſie auch in ihrem Erkenntnißvermögen eine 
Grundähnlichkeit haben. S. 256. 


2. Die Grundähnlichkeit der Schönheitsgeſetze im gan— 
zen Weltall. S. 259. 


Die Weſensgleichheit des Erkenntnißvermögens und der 
ſinnlichen Fähigkeiten bringt auch die des Schönheitsſinnes 
mit ſich. S. 259. 

Bei den Erdbewohnern beruht der Schönheitsſinn darauf, 
daß die Befähigung für ſinnliche Eindrücke, welche nach den— 
ſelben Vernunftgeſetzen, als das ganze übrige Daſeyn, her— 
vorgebracht iſt, ein befriedigendes Gefühl durch das Vernunft— 
mäßige hat; daſſelbe Geſetz muß auch im übrigen Weltall 
gelten. S. 261. 

Dieſes wird durch Beiſpiele beleuchtet, welche Figuren und 


Geſtalten entnommen find. S. 262. 
Beiſpiele von Lichtwirkungen. S. 264. 
Beiſpiele von Schallwirkungen. S. 269. 


3. Das gleiche Grundweſen der moraliſchen Natur in 
dem ganzen Weltall. S. 271. 


XII 


Hier wird wiederum mit den Erdbewohnern angefangen 
und gezeigt, auf welche Weiſe der Wille freier Weſen unter 
den ewigen Naturgeſetzen ſteht. S. 20% 

Das Menſchengeſchlecht beginnt, wie der einzelne Menſch, 
mit bloßen Anlagen, welche in der Wechſelwirkung mit der 
übrigen Welt ſich entwickeln ſollen. SEIEN 

Schon auf der erſten Entwickelungsſtufe des Menſchenge— 
ſchlechts tritt ein ſchwacher Keim von Gottesbewußtheit her— 


vor. S. 274. 
Die früheſte Naturentwickelung von Pflicht- und Tugend— 
bewußtheit. l 273: 
Die höher begabten Geiſter führen und leiten dieſe Ent⸗ 
wickelung und fühlen ſich hierin gottbefeelt. S. 277 


Die weitere Entwickelung des Gottesbegriffs. S. 278. 
Unter dieſer Entwickelung trägt die Naturwiſſenſchaft vieles 
zur Verjagung der Götzen bei. S. 280. 
Schwingungen in dieſer Entwickelung. S. 281. 
Die vielen von Denkern gate Moralſyſteme deu— 
ten ſämmtlich auf die Wahrheit hin, daß unſer Wille und 
Leben mit der ewigen Vernunft übereinſtimmen müſſen. 
S. 282. 
Die Verſuchungen, welche von der körperlichen Natur her— 
rühren, laſſen ſich nur in der Zuſammenſtellung mit den mo— 
raliſchen Abſchweifungen und allen andern der Endlichkeit 


0 


angehörenden Verirrungen richtig beurtheilen. S. 286. 
geh 9 g 

Die wahre Bedeutung des Gegenſatzes zwiſchen Gott und 
8 ) 9 d g 
Welt. S. 287. 


Wie der Mißbrauch der menſchlichen Freiheit nicht die 
Macht hat, die Ordnung der ewigen Vernunft zu ſtören. 
S. 289. 
Der Mißbrauch der menſchlichen Freiheit ſtellt ſich noch 
mehr als eine unendlich kleine Wirkung, in Beziehung zum 
Ganzen, dar. S. 297. 
Die ſämmtlichen Betrachtungen führen zu der Ueberzeugung, 
daß das geiſtige Leben auf der Erde, trotz mancher Schwin— 
gungen, ſchon mehr und mehr zur Verwirklichung eines Ver— 
nunftreiches ſich entwickele. S. 299. 
Die Kenntniſſe, Einſichten und der Glaube des Einzel— 
menſchen ſind weit entfernt, ausſchließlich ſein eigenes Werk 
zu ſeyn. S. 300. 


en 


Die 


Anwendung des Vorhergehenden auf die Bewohner anderer 
Weltkörper. S. 303. 
Vorſicht bei dieſer Anwendung. S. 305. 


Erkenntnißgemeinſchaft zwiſchen den Weltkörpern. 
S. 307. 


Gleich wie wir einige Kenntniß haben von dem Zuſtande 
auf andern Weltkörpern, wird man auf andern Weltkörpern 
auch Kenntniß haben können von dem Zuſtande auf dem unſ— 
rigen. S. 308. 

Geſchichtliche Warnung für die Zweifelnden. S. 309. 

Wir ſchreiten fort in der Kenntniß von dem Zuſtande auf 
den andern Weltkörpern. Auf vielen derſelben iſt man uns 
wahrſcheinlich weit vorausgeſchritten. Im ganzen Weltall ent— 
wickelt ſich eine eigene Art von e zwi⸗ 
ſchen den endlichen, denkenden Weſen. 1 


Kultur der Wiſſenſchaft, als Veligionsübung be- 
trachtet, n 


Einleitende Worte. Ein Feſt für die Verbeſſerung der Re— 
ligion und der Univerſität bei uns fordert uns auf, den 
drohenden Verirrungen dadurch entgegenzuwirken, dau wir 
das Gleichgewicht der Wahrheit betrachten, von dem fie uns 
wegführen würden. S. 317. 

Die Rede wird zeigen, wie das eigene Weſen der Wiſſen— 
ſchaft fordere, daß ihre Kultur ſich zur Religion entwickele. 


S. 320. 

Es liegt im Weſen der Forſchung, das Ewige in den Din— 
gen zu ſuchen. S. 321. 
Die Grundformen der ewigen Vernunft ſind: Selbſtſtän⸗ 
digkeit, Thätigkeit und Harmonie. S. 322. 


Dieſelben Grundformen finden ſich im Schönen, nämlich: 
das Erhabene, das Begeiſternde, das Harmoniſche. S. 324. 
Das Gute, was wir zu ſuchen haben, muß das in Wahr— 
heit Unvergängliche ſeyn. S. 326. 
Die Sittenlehre verwandelt ſich hier in Religion, und 
fordert, daß wir mit ganzer Kraft das Bild Gottes in uns 
erhalten und ſeinen Willen verwirklichen ſollen. S. 327 


XIV 


Die Formen der Tugend ſind: Selbſtſtändigkeit, Thätigkeit 
und Harmonie. Es wird in großer Kürze gezeigt, wie ſich 
dieſes verhält, und namentlich wird die Pflicht gezeigt, das 
Reich der Vernunft zu verbreiten. S. 328 u. f. 

Dieſelbe Pflicht erheiſcht, daß wir die wiſſenſchaftliche 
Kunſtvollkommenheit zu erreichen ſuchen, wozu Gründlichkeit, 
Klarheit und Uebereinſtimmung gehören. 380 

Aus der Wiſſenſchaftspflicht folgt nicht, daß jeder in der 
Wiſſenſchaft arbeiten ſolle. Hoher Beruf des Wiſſenſchafts— 
mannes. S. 333. 

Hieraus geht eine Ermunterung für junge Wiſſenſchafts— 
männer hervor. S. 334. 


Das Geiſtige im Körperlichen. 


Ein Geſpräch. 


Derfter, ter Geiſt in der Natur. | | 


Dieſes Geſpräch war anfangs beſtimmt, das dritte meiner „Ge— 
ſpräche über das Schöne“ zu bilden, und der Anfang trägt Spuren 
davon; da es aber einen Gegenſtand behandelt, der ſich nur mittelbar 
auf die Auffaſſung des Schönen, unmittelbar aber auf unſere ganze 
Weltauffaſſung bezieht, und weil zu deſſen Verſtändniß die beiden 
frühern Geſpräche nicht erfordert werden, wird es hier mitgetheilt. 


Alfred. Sophie. Felix. Hermann. 


Sophie. Der Abend hat uns denn von neuem 
verſammelt und iſt ſo ſchön als der geſtrige. Er 
ſcheint mir recht zur Fortſetzung der abgebrochenen 
Unterhaltung einzuladen. 

Hermann. Gewiß theilen wir alle Ihren 
Wunſch. — Du ſagteſt geſtern, lieber Alfred, du 
ſeyeſt beides, Spiritualiſt und Materialiſt. Da ich 
weiß, daß du dieß weder aus Rechthaberei, noch 
aus eitlem Hang zum Sonderbaren geſagt haſt, ſo 
möchte ich gerne deine Erklärung darüber hören. 

Alfred. Zwar berühren wir hier einen der 
großen philoſophiſchen Streitpunkte, ich will aber 
nach beſtem Vermögen ſuchen von meiner Vorſtel— 
lungsweiſe Rechenſchaft zu geben. 


Sophie. Es mag unbeſcheiden erſcheinen, 
ich kann aber einen Wunſch nicht zurückhalten. 
Ich fühle das größte Verlangen dieſe Dinge zu 
begreifen und möchte daher Alfred bitten, ſich wo 
möglich ſo auszudrücken, daß auch Ungelehrte wie 
ich es zu faſſen vermögen. 

Alfred. Laſſet es uns verſuchen. Damit wir 
aber nicht etwas übergehen, was ich, wenn ich 
nur mit meinem Freunde ſpreche, als bekannt vor— 
ausſetzen würde, will ich die Rede an Sie richten 
und ihn bitten, Einſprache zu thun, wenn wir 
etwas als ausgemacht annehmen, was er unrichtig 
findet. 

Hermann. Damit bin ich ganz zufrieden. 

Sophie. Und ich ſehe einen lieben Wunſch 
erfüllt. 

Alfred. So werde ich denn mit einer Frage 
beginnen müſſen, die Sie vielleicht etwas unzeitig 
finden werden: Wie gelangen wir zur Kenntniß 
der äußern Dinge? | 

Sophie. Durch die Sinne, denke ich. 

Alfred. Und lehren uns die Sinne den ganzen 
Gegenſtand auf einmal kennen? 

Sophie. Darüber habe ich nicht nachgedacht. 


5 


Alfred. Indem ich die Hand auf dieſes Buch 
lege, fühle ich da das ganze Buch oder nur eine 
Wirkung deſſelben, einen Widerſtand nämlich gegen 
die Bewegung, womit meine Hand in den vom 
Buche eingenommenen Raum eindringen wollte? 

Sophie. Letzteres wird wohl der Fall ſeyn; 
aber zeigt der Anblick mir nicht das ganze Buch? 

Alfred. Doch nicht das ganze auf einmal? 

Sophie. Allerdings nicht; einige Theile 
werden dem Auge durch andere verdeckt. 

Alfred. Ueberhaupt hätte Sie der bloße Au— 
genſchein betrügen können; unter Umſtänden kann 
ein Spiegelbild oder ein treues Gemälde das Auge 
täuſchen, als ob es eine körperliche Sache wäre. 

Sophie. Das iſt wahr. 

Alfred. Wir erkennen alſo das Daſeyn eines 
körperlichen Dings nicht durch einen einzigen Sin— 
neseindruck, ſondern dadurch, daß unſer geiſtiges 
Weſen vielfältige Sinneneindrücke zuſammenfaßt. 

Sophie. Doch überzeugt mich oft ein ein— 
ziger Blick von der Wirklichkeit eines Dings. 

Alfred. Ich bin weit entfernt dieſes in Ab— 
rede zu ſtellen; ich gebe vielmehr zu, daß dieß meiſt 
der Fall iſt. Wenn aber ein Blick Sie überzeugt, 


daß es ein Buch ſey, was Sie ſehen, fo erneuern 
ſich Ihnen, der Einrichtung unſeres ganzen Weſens 
gemäß, zahlloſe ältere Eindrücke, ſo daß das Ding 
Ihnen in ſeiner Ganzheit erſcheint, obgleich es nur 
ein ſehr geringer Theil war, von dem Ihre Sinne 
einen Eindruck empfingen. 

Sophie. Alſo konnte ich mich täuſchen, wenn 
nicht alles beiſammen war, was ſich zu begleiten 
pflegt? Ja, nun fällt mir Manches ein, nach dem 
ich dieß vorher hätte wiſſen können. Ich habe 
einmal jene Luftbilder geſehen, welche man Fata 
Morgana oder Luftſpiegelungen! nennt, und ich 
war lange überzeugt, es ſeyen wirkliche Häuſer, 
Bäume und Waſſer, was ich vor mir ſah. Ich 
erinnere mich nun auch eines merkwürdigen Ver— 
ſuchs mit einem Hohlſpiegel, mittelſt deſſen man 
das Bild einer Blume ſo über einem Blumentopf 
ſchweben ließ, daß man in Verſuchung kam das 
Bild für die Sache ſelbſt zu halten. 

Alfred. Wir nehmen demnach die Gegenſtände 
ſelbſt nicht unmittelbar wahr, z. B. einen Baum, 
ein Haus, ein Buch; was wir eigentlich auffaſſen, 
iſt der Eindruck, den das Ding in uns hervor— 

Däniſch Hildringer. 


7 


bringt. Aber dieſer Eindruck iſt ja eine Wirkung, 
welche nicht ohne ein Thätiges in den Dingen 
hervorgebracht werden konnte. Nur dieſes alſo 
gibt ſich uns zu erkennen. 

Sophie. Ich ſehe nicht, wie ich dieß leugnen 
ſoll, und doch, wenn ich mir einen Metallklumpen, 
einen Stein oder Holzklotz denke, bin ich ſo weit 
entfernt mir dabei etwas Thätiges vorzuſtellen, 
daß es mir vielmehr ſcheint, als ſey Alles daran 
todt, ſo unbewegt, ſo ganz das Gegentheil jeder 
Thätigkeit, als ob die Natur der Körperlichkeit 
vielmehr in unwirkſamem Seyn als in beſtändigem 
Wirken beſtände. 

Alfred. Aber dieſe Vorſtellungsweiſe hält 
nicht die Probe der Erfahrung aus. Wenn Sie 
einen Stein auf einen andern legen, trägt dann 
nicht der unten liegende den oben liegenden? 

Sophie. Gewiß; geſchieht dieß aber durch 
eine Thätigkeit? 3 

Alfred. Wie ſonſt? Wo etwas bewirkt wird, 
muß ja etwas Wirkendes ſeyn. Im vorliegenden 
Fall wird bewirkt, daß der oben liegende Stein 
in ſeinem unabläſſigen Beſtreben zu fallen aufge— 
halten wird. 


Sophie. Ich weiß nichts darauf zu erwidern, 
und doch will es mir ſcheinen, als ob es einen 
todten Widerſtand geben müſſe. 

Alfred. Sie thun wohl daran, Ihren Zweifel 
nicht zurückzuhalten. Ein unwirkſamer Widerſtand 
iſt ein Unding, das öfter, als man glauben ſollte, 
die Menſchen betrogen hat; aber fürchten Sie hier 
nicht durch einen philoſophiſchen Machtſpruch ab— 
gewieſen zu werden. Die Aufklärung der Sache 
muß aus ihrer eigenen Betrachtung hervorgehen.“ 
Laſſen Sie uns daher von Neuem unſer Beiſpiel 
vornehmen. Glauben Sie nicht, daß der über dem 
andern liegende Stein dieſen drückt? 

Sophie. Gewiß. 

Alfred. Und daß der unten liegende gedrückt 
wird? 

Sophie. Verſteht ſich. 

Alfred. Wird aber das, was gedrückt wird, 
nicht auch zuſammengedrückt? 

Sophie. Gewiß ſehr oft, aber geſchieht es 
immer? Es ſcheint mir nicht, daß ein Stein zu— 
ſammengepreßt wird, wenn man etwas darauf legt. 

Alfred. Der Stein wird nur ſehr wenig 
zuſammengedrückt; man hat ſich aber durch feine 


— 


Meſſungen überzeugt, daß alle Körper zuſammen— 
gedrückt werden können. 

Sophie. Um aber einen Stein zuſammenzu— 
drücken, bedürfte es doch eines ungeheuren Gewichts. 

Alfred. Um ihn ſo weit zuſammenzudrücken, 
daß er auch nur um ein Tauſendtheil kleiner würde, 
möchte ſchon eine ſehr große Kraft erforderlich ſeyn; 
erfolgt aber der Druck mit geringerer Kraft, ſo 
wird zwar die Verkleinerung in eben dem Maße 
geringer, indeſſen entſpricht jedem noch ſo geringen 
Druck eine gewiſſe Zuſammendrückung. 

Sophie. Sehr wohl, wenn dieß durch Ver— 
ſuche erwieſen iſt, bin ich weit entfernt wider— 
ſprechen zu wollen, da es mir ganz wahrſcheinlich 
vorkommt. 

Alfred. Sobald nun die drückende Kraft auf 
den Stein zu wirken aufhört, wird er ſich von 
neuem zu ſeinem frühern Raum ausdehnen. 

Sophie. Iſt dieß immer der Fall? 

Alfred. Ja, wenn der Druck nicht ſo groß 
war, daß eine innere Zerquetſchung ſtattfand. 

Sophie. So begreife ich, daß der Körper, 
der gedrückt wird, einen ſteten Gegendruck gegen 
den ihn drückenden ausübt, und folglich, daß er 


einen wirkſamen Widerſtand dem entgegenſetzt, der 
ſich in ſeinen Raum einzudrängen ſtrebt. 

Alfred. Die Körper beſitzen alſo eine innere 
Thätigkeit, vermittelſt welcher ſie ihren Raum aus— 
füllen. Wenn demnach Ihre Hand die Gegen— 
wart dieſes Tiſches fühlt, ſo iſt es eigentlich nur 
ſeine raumerfüllende Thätigkeit, welche ſich Ihnen 
kund gibt; und jeder andere Eindruck, den Sie von 
körperlichen Dingen empfangen, iſt gleichfalls nur 
Kundgebung einer Thätigkeit. Sie würden nichts 
ſehen, wenn die Gegenſtände nicht entweder die 
Kraft beſäßen, Licht zu entwickeln, oder etwas von 
dem Lichte, welches anders woher auf ſie fällt, ſo 
zurückzuwerfen, daß Ihr Auge einen Theil davon 
aufzufangen vermag. Doch ich brauche nicht län— 
ger in Beiſpielen zu reden; ich zweifle nicht, Sie 
erkennen mit mir an, daß jeder Eindruck eine Thä— 
tigkeit vorausſetzt. | 

Sophie. Ich hätte dieſes nicht jo langſam 
begreifen ſollen, da es ſich eigentlich von ſelbſt 
verſteht. 

Alfred. Was wir zunächſt von den Körpern 
wiſſen, iſt demnach, daß ſie krafterfüllte Räume ſind. 

Sophie. So wäre denn das Körperliche dem 


11 


Geiftigen näher verwandt, als man ſich vorzuſtellen 
pflegt. Aber während mir hier eine Schwierigkeit 
aus dem Wege geräumt wird, begegnet mir eine 
andere. Das Körperliche wird hier vor meinen 
Augen in einen Dunſt, in ein Luftiges aufgelöst, 
das ich mit dem Zeugniß der Sinne nicht zu ver— 
einen vermag. 

Alfred. Sie ſcheinen ſich vorzuſtellen, es ſey 
eigentlich nur ein zu weit getriebener Gedanke, der 
uns auf dieſe Weiſe die Körper in Nebelgebilde, 
in Luft und Dunſt auflöst. Aber was werden Sie 
ſagen, wenn ich Ihnen verſichere, daß zahlloſe, 
mittelſt körperlicher Hülfsmittel unternommene na— 
turwiſſenſchaftliche Unterſuchungen uns daſſelbe 
lehren? 

Sophie. Wie ſo? 

Alfred. Dieß thut die Chemie. 

Sophie. Von dieſer Wiſſenſchaft verſtehe ich 
leider nichts. 

Alfred. Dieß ſoll mich nicht abhalten, Ihnen 
erzählungsweiſe ein paar Beiſpiele daraus mitzu— 
theilen. Eis iſt ja ein feſter Körper; wenn es 
aber von einer gewiſſen Wärmemenge durchdrungen 
wird, ſo wird es, wie allgemein bekannt, zu Waſſer, 


und dieſes selbe Waſſer wird, von einer noch 
größern Wärmemenge durchdrungen, zu einem un— 
ſichtbaren Dampf. Das, was hiebei die Maſſe 
bildet und ſich durchs Gewicht beſtimmen läßt, 
bleibt unter allen dieſen Zuſtandsveränderungen 
unverändert daſſelbe. Dieß gilt nun nicht nur vom 
Waſſer, ſondern von allen übrigen Körpern. Ich 
brauche Ihnen nicht zu ſagen, daß das harte Eiſen 
in ſtarker Hitze flüſſig wird; vielleicht aber dürfte 
es Ihnen neu ſeyn, daß auch Eiſen bei gewiſſen 
Hitzegraden ſelbſt in Dampf verwandelt werden 
kann. Ich führe dieſes Beiſpiel an, weil es den 
Alltagsbegriffen von der Körperlichkeit ſo auffallend 
widerſpricht. Es iſt, wie geſagt, ein allgemeines 
Geſetz, daß jeder Körper feſt, tropfbarflüſſig und 
in Dampfform eriftiren kann, und ich bemerke hier 
nur beiläufig, daß Dampf- und Luftzuſtand in 
ihrem Weſen nicht verſchieden ſind. Aber ich bleibe 
dabei noch nicht ſtehen. Die einfachſten Körper 
ſcheinen am geneigteſten in luft- oder gasförmigem 
Zuſtand aufzutreten. Das Waſſer, das ſo lange 
als Element betrachtet wurde, kann durch chemiſche 
Kunſt in zwei Beſtandtheile zerlegt werden, deren 
jeder für ſich eine eigene Luftart iſt und die ver— 


13 


einigt wiederum Waller bilden, ohne daß diefe 
Umwandlung Einfluß auf die Menge der Maſſe 
hätte. Um Ihnen nicht Gegenſtände außerhalb des 
gemeinen Lebens zu nennen, erwähne ich nur, daß 
Zucker, Holz, Horn und viele andere feſten Körper 
des Gewächs- und Thierreichs ſich ebenfalls in 
luftartige Beſtandtheile zerlegen laſſen; ja, es iſt 
ſehr wahrſcheinlich, daß alle Körper dereinſt als 
aus luftartigen Grundſtoffen zuſammengeſetzt er— 
ſcheinen werden; aus Stoffen nämlich, welche ihren 
luftförmigen Zuſtand bei niedrigern Wärmegraden 
als andere Körper zu behaupten vermögen. 

. Sophie. Ich glaube dieß gern, aber ich finde 
die Schwierigkeit dadurch dennoch nicht gehoben, 
wenn es auch den Worten nach ſo ſcheint. 

Alfred. Ich habe dieß, aufrichtig geſagt, 
auch nicht erwartet. Sie haben ſchwerlich den 
rechten Ausdruck für Ihren Zweifel gefunden. 

Sophie. Warum warnten Sie mich denn 
nicht? 

Alfred. Weil ich glaubte, auch die Schwie— 
rigkeit, auf die ich hier Rückſicht genommen, ſey 
ein Beſtandtheil Ihres Zweifels, von dem Sie ſich 
ſelbſt nicht volle Rechenſchaft gegeben. 


14 

Sophie. Ich glaube Sie haben Recht; aber 
welche andern Beſtandtheile hat denn mein Zweifel? 

Alfred. Sie vermiſſen in der Vorſtellung, 
welche ich Ihnen von den Dingen gegeben, die 
Beſtändigkeit, an welche Sie in der Körperwelt 
gewöhnt ſind. Auf das, was ich Ihnen weiter 
geſagt, werden Sie erwidern: nicht nur die Dich— 
tigkeit oder Feſtigkeit allein iſt es, was ich ver— 
miſſe, wenn ich mir die Körper als bloße Raum— 
erfüllungen denke; ich begreife gleichfalls nicht die 
Möglichkeit der vielfachen beſtimmten und dauern— 
den Geſtalten, welche ich überall in der Körper— 
welt erblicke. 

Sophie. Ich geſtehe, dieß ſcheint mir eine 
große Schwierigkeit. 

Alfred. Da möchte ich Sie denn erſuchen, 
das Vergängliche alles Körperlichen noch etwas 
genauer mit mir zu betrachten, um deſto ſicherer 
das Unvergängliche am rechten Ort zu ſuchen. 
Die fortwährende Veränderlichkeit des menſchlichen 
und aller thieriſchen Körper bedarf kaum einer Er— 
wähnung. Eine tägliche Erfahrung ſtellt uns vor 
Augen, wie ſie geboren werden, wachſen, abneh— 
men, untergehen, und wie eine Geſchlechtsfolge 


15 

beſtändig die andere ablöst. Im Reiche der Ge— 
wächſe iſt dieſelbe Erſcheinung nicht minder klar. 
Blumen, Gras, überhaupt alle jährlich abſterben— 
den Pflanzen haben zu jeder Zeit als Beiſpiele 
der Vergänglichkeit gedient. Ja ſelbſt die mäch— 
tigen Bäume, welche ſich durch Jahrhunderte be— 
haupten, ſind derſelben Vergänglichkeit unterwor— 
fen, nur ungleich langſamer. Aber ſelbſt unſer 
Erdball, der nach unſern gemeinen Vorſtellungen 
als der feſte Träger alles Uebrigen gilt, ſteht ja 
nicht feſt; er dreht ſich, wie Sie wiſſen, täglich 
um ſeine Achſe, und vollendet alljährlich ſeinen 
Umlauf um die Sonne. Aber die Sonne ſelbſt 
hat ihre von uns noch nicht ermeſſene Bahn und 
iſt auf einer ungeheuren Wanderung begriffen, auf 
der die Erde und alle ihre Geſchwiſterplaneten ſie 
zu begleiten genöthigt ſind; den Mittelpunkt aber, 
um welchen die Sonne eine Bahn beſchreibt, deren 
Größe uns unermeßlich ſcheint, können wir mit 
der größten Sicherheit abermals als bewegt an— 
ſehen; kurz alle Weltkörper bewegen ſich unauf— 
hörlich, keiner derſelben hat einen feſten Standort. 

Sophie. Obgleich ich mir alle dieſe Dinge 
nie ſo in einem Bilde vorgeſtellt habe, ſind ſie 


16 
mir doch nicht fremd. Aber folgt denn daraus, 
daß auch die lebloſen Beſtandtheile der Erde ebenſo 
unbeſtändig ſind als alles Uebrige? Etwas Be— 
ſtändiges wird doch da ſeyn müſſen. 

Alfred. Sehr wahr! etwas Beſtändiges muß 
da ſeyn; aber hier haben wir es noch nicht zu 
ſuchen. Die Erde ſelbſt war nicht immer, was ſie 
jetzt iſt; ihr Inneres zeugt davon, daß ſie ſich 
Jahrtauſende hindurch aus einem Zuſtand in den 
andern entwickelt hat, und der aufmerkſame Forſcher 
muß gewahr werden, daß ſie ſich noch immerfort 
entwickelt und daß ſie im gegenwärtigen wie in 
jedem frühern Augenblicke nur im Uebergang vom 
einen Zuſtand in den andern ſich befindet. Daſſelbe 
wird, wie Sie ſich leicht denken können, auch mit 
jedem andern Weltkörper der Fall ſeyn. Demnach 
befindet ſich die Geſammtheit der Weltkörper nicht 
nur in ſteter Bewegung, ſondern zugleich in un— 
abläſſiger Entwicklung. Stillſtand oder Ruhe iſt 
dem großen Ganzen fremd. i 

Sophie. Nun, ich will nur ſehen, wenn 
Sie zu den lebloſen Dingen ſelbſt kommen; denn 
die Erde und die übrigen Weltkörper ſcheinen die 
größte Aehnlichkeit mit lebenden Weſen zu haben, 


27 


wie ſehr ſie ſich auch in vieler Hinſicht von 
ihnen unterſcheiden mögen. 

Alfred. Wir haben aber zu erwägen, daß 
dieſe lebloſen Dinge auf der Erde nur Theile der 
Erde ſelbſt ſind und ſich folglich mit derſelben ent— 
wickelt haben und ferner mit ihr entwickeln wer— 
den. Die Küſte, welche ſich ſo ſchön vor uns er— 
hebt, iſt nicht von jeher da geweſen, vielmehr gab 
es eine Zeit, wo ſie noch nicht über den Waſſer— 
ſpiegel emporgehoben war. Selbſt das härteſte 
Felsgebirge hat ſeine Bildungszeit gehabt und hat 
ſeitdem fortwährende Veränderungen durch den Ein— 
fluß der Luft, des Waſſers, der Hitze und Kälte 
erlitten. Die Gewächſe, welche auf der Oberfläche 
des Geſteins gedeihen, zehren zugleich daran, und 
wer kann wiſſen, wie viele andere Kräfte noch 
darauf einwirken mögen! Unaufhörlich ſind unter— 
irdiſche Gewalten wirkſam, die das Geſtein empor— 
zuheben oder ſinken zu laſſen ſtreben, die aber 
ſelbſt im Zuſtand ſcheinbarer Ruhe keineswegs un— 
thätig ſind; und wenn ſie wirkliche Hebungen oder 
Senkungen hervorbringen, geſchieht dieß oft ſo 
langſam, daß ſich dieſe der Beobachtung entziehen, 
wenn nicht dazu das eine Zeitalter dem andern 


Oerſted, der Geiſt in der Natur 2 


18 


die Hand reicht. Unter allen dieſen Bildungen 
und Umbildungen der Erde werden aber natürlich 
auch die Körper gebildet und umgebildet, woraus 
dieſelbe zuſammengeſetzt iſt, denn jene Körper ſind 
ja nicht von außen her auf die Erde gekommen, 
ſondern ſie gehören ihr ebenſowohl an, als Knochen, 
Fleiſch oder Blut dem Thierkörper. 

Sophie. Gibt es aber nicht Körper, welche 
ganze Jahrtauſende ſich unverändert behaupten? 
Ich habe Alterthümer geſehen, von Glas, Stein 
und Gold, welche unermeßlich lang in der Erde 
gelegen hatten. 

Alfred. In völlig ruhendem Zuſtande haben 
ſie ſich indeſſen nicht befunden, ſie ſind unſtreitig 
den allgemeinen Bedingungen der Körper unter— 
worfen geweſen; vorläufig iſt nur zu bemerken, 
daß ihre Ruhe, ſo tief wir uns dieſelbe vor— 
ſtellen mögen, doch nichts anderes war als ein 
Schweben zwiſchen gleich großen entgegengeſetzten 
Kräften. 

Sophie. Auf welche Weiſe? 

Alfred. Durch die Schwere zum Fallen an— 
getrieben werden ſie nur durch eine entgegen— 
geſetzte Kraft in den Körpern, welche den Fall. 


19 
verhindern, davon abgehalten, wie wir dieß bereits 
geſehen haben. Jeder über ihnen liegende Körper 
wird ſtreben ſie niederzudrücken; ſie ihrerſeits wer— 
den um ſo kräftiger abwärts drücken, aber auch von 
ihrer Unterlage einen deſto ſtärkern Gegendruck 
erleiden. Vermöge ihrer eigenen Ausdehnungskraft 
werden ſie ſich allen zuſammendrückenden Kräften 
entgegenſtemmen. Die Ruhe eines Körpers iſt 
daher kein unthätiges Seyn. In dem Zuſtande, 
den wir Ruhe nennen, erhält der Körper außerdem 
ſeinen verhältnißmäßigen Antheil, ſey dieſer auch 
noch ſo klein, von allen Einwirkungen, welche die 
Erde in Bewegung ſetzen und ſie in ihrer Bahn 
erhalten. Er nimmt auf ſolche Weiſe gewiſſer— 
maßen ſelbſtſtändigen Theil an der Geſammtheit 
der Wirkungen, welche die Welt in derjenigen 
Bewegung erhält, die zugleich das vollkommenſte 
Gleichgewicht iſt. Aber dieß iſt noch nicht Alles. 
Jeder Körper, auf welcher Stelle im Weltſyſtem er 
ſich auch befinden möge, erleidet Einwirkungen 
durch eine Menge anderer Kräfte, deren Streben 
dahin geht, innere Veränderungen in ihm hervor— 
zubringen. Eine unabläſſige Wechſelwirkung, ver— 
mittelt durch Wärme, Elektricität und Magnetis— 


20 


mus, beſteht zwiſchen ihm und der übrigen Welt. 
Ein ſtets ſich erneuerndes Geben und Nehmen von 
Einwirkungen iſt unzertrennlich vom körperlichen 
Seyn. Wir dürfen aber unſere Betrachtung hier— 
auf nicht beſchränken. Wir kennen nicht alle Welt— 
kräfte, aber ſo viel iſt leicht einzuſehen, daß manche 
derſelben, die auf jeden Körper wirken, beſtrebt 
ſind ſeinen gegenwärtigen Zuſtand zu ſtören und 
aufzuheben, während andere denſelben zu erhalten 
ſuchen. Bei vielen Körpern kennen wir die Be— 
dingungen, unter welchen ſie in ihrem Zuſtande 
verharren oder denſelben ändern, andererſeits unter 
welchen ſie in ihre Beſtandtheile zerſetzt oder ge⸗ 
nöthigt werden neue Verbindungen einzugehen. 
Können wir wohl zweifeln, daß ſolche Bedingungen 
auch da vorhanden ſind, wo wir ſie nicht kennen? 

Sophie. Gewiß nicht; wir dürfen im Ge— 
gentheil annehmen, daß alle Körper denſelben Be— 
dingungen unterworfen ſind. 

Alfred. Nun wohl, ſo gibt es denn keinen 
Körper oder Theil eines Körpers, deſſen Daſeyn 
wir beſtändig nennen können. Wo in der Körper— 
welt etwas ſich unverändert zu behaupten ſcheint, 
es ſey nun in Beziehung auf den Ort oder den 


innern Zuſtand, da iſt dieſer Stillſtand nur ſchein— 
bar, etwa wie der Stundenzeiger einer Uhr für 
kurze Betrachtung ſtill zu ſtehen ſcheint. Doch iſt 
dieſes Bild nur ſchwach, wo von Veränderungen 
die Rede iſt, welche Jahrtauſende kaum merkbar 
werden laſſen. Denken Sie ſich einen Zeiger, der 
zehntauſend Jahre bedürfte, um die Strecke zurück— 
zulegen, die der Stundenzeiger in einer Stunde 
zurücklegt, ſo wird das Bild ſprechender ſeyn. 

Sophie. Ich geſtehe, ich kann Sie nicht nur 
nicht widerlegen, ich fühle mich ſogar überzeugt. 
Aber nun, denke ich, werden Sie uns auch das 
Beſtändige zeigen, das, wie Sie ſelbſt ſagen, ſich 
im Daſeyn offenbart. 

Alfred. Sie äußerten heute auf unſerem 
Spaziergang, Sie haben zweimal den großen Waſſer— 
fall Sarpen geſehen. War es beide male daſſelbe 
Waſſer, das Sie ſahen? 

Sophie. Gewiß nicht. Das Waſſer ſtürzt 
mit einer grauſenerregenden Eile herab und wird 
unaufhörlich durch neues erſetzt. 

Alfred. Und dennoch war es derſelbe Waſſer— 
fall, den Sie beide male ſahen. 

Sophie. Ich verſtehe Sie. Die körperlichen 


2 * 


Theile waren nicht das Beſtändige daran. Aber 
helfen Sie mir nun das Beſtändige daran nennen, 
es fehlt mir im Augenblick der Ausdruck dafür. 

Alfred. Fürs erſte können wir ſogleich jagen, 
das Beſtändige daran ſey eine Menge von Wir— 
kungen, welche im Weſentlichen zu jeder Zeit die— 
ſelben bleiben. Sie empfingen hier den Eindruck 
vom Sturz einer großen Waſſermaſſe, die jedesmal 
aus derſelben anſehnlichen Höhe fällt und den— 
ſelben Hinderniſſen begegnet. Die Zerſtreuung der 
Tropfen, die Schaumbildung, der durch den Sturz 
wie durch das Aufbrauſen und Schäumen verur— 
ſachte Schall, welche immer durch dieſelben Urſachen 
entſtanden, bleiben daher auch dieſelben. Den 
Eindruck, welchen alle dieſe Dinge auf uns her— 
vorbringen, empfinden wir als eine Mannigfaltig— 
keit, aber zugleich als eine Geſammtheit, oder mit 
andern Worten: wir fühlen die ganze Mannig— 
faltigkeit einzelner Eindrücke als das Werk einer 
einzigen großen Naturhandlung, hervorgebracht 
durch die eigenthümlichen Verhältniſſe der Oertlich— 
keit. Vielleicht könnten wir dieſes Beſtändige in 
der Erſcheinung vorläufig den Naturgedanken der— 
ſelben nennen. 


23 


Sophie. Sie meinen damit wohl den Ge— 
danken, den wir damit verbinden? 

Alfred. Begnügen wir uns vor der Hand 
damit; ich habe mir noch nicht das Recht erwor— 
ben mehr zu behaupten. 

Sophie. Werden Sie ſich je ein ſolches Recht 
erwerben können? 

Alfred. Ich werde ſuchen Ihren Beifall dafür 
zu gewinnen. Sie haben bereits zugeſtanden, daß 
nichts Körperliches beſtändig genannt werden konne. 

Sophie. Und will es nicht widerrufen. 

Alfred. Die Naturgeſetze dagegen ſind be— 
ſtändig. 

Sophie. Das wird allgemein angenommen. 
Wie aber reime ich damit, was ich gehört und 
geleſen habe, daß die Erde vor ihrem gegenwärtigen 
Zuſtande ganz andere Thiere und Pflanzen her— 
vorgebracht habe? 

Alfred. Wenn man unter verſchiedenen Um— 
ſtänden dieſelben Grundſätze befolgt, müſſen da 
nicht die Handlungen ſelbſt verſchieden werden? 
und müſſen ſie es nicht um ſo mehr werden, je 
vollſtändiger die Grundſätze entwickelt und be— 
griffen ſind? 


Sophie. Dieß muß wohl jo ſeyn. Bei den— 
ſelben Erziehungsgrundſätzen ſehen wir uns ja 
genöthigt, ein älteres Kind anders zu behandeln 
als ein jüngeres, ein krankes anders als ein ge— 
ſundes, ein heftiges anders als ein träges. Jetzt 
verſtehe ich Sie! Sie meinen, jene vorweltlichen 
Thier- und Pflanzenſchöpfungen ſeyen wohl nach 
denſelben Naturgeſetzen, nicht aber unter denſelben 
Umſtänden hervorgebracht worden. 

Alfred. So iſt es. Der Erdball, der weder 
wärmer noch kälter geworden zu ſeyn ſcheint, ſeit 
das Menſchengeſchlecht ihn bewohnt, bietet in den 
Reſten ſeiner früheren Bewohner die unverkenn— 
barſten Spuren dar, daß er in einem frühern Ent— 
wicklungsalter wärmer geweſen, eine feuchtere Luft 
gehabt habe und in größerem Umfange mit Meer 
bedeckt geweſen ſey. Und aller dieſer Ungleich— 
heiten ungeachtet hat doch das Thierreich ſowohl 
als das der Gewächſe jener Zeit eine ſolche Grund— 
ähnlichkeit mit den gegenwärtigen, daß ſie ſich als 
verſchiedene Ausführungen deſſelben großen Ge— 
danken darſtellen. 

Sophie. Sind aber dieſe verſchiedenen Um— 
ftände, welche zu jener Zeit ftatt hatten, doch nicht 


25 
ein Beweis, daß damals manche andere Naturge- 
ſetze geherrſcht haben? 

Alfred. Wenn es eines der Grundgeſetze 
der Natur iſt, daß ſich alles in der Zeit entwickelt, 
ſo müſſen ja verſchiedene Zuſtände einander folgen 
und, füge ich hinzu, aus einander folgen; ſonſt 
fehlte ja der Zuſammenhang. Wir wollen ein 
großes Beiſpiel wählen. Wie unſer Erdball ſich 
nach und nach entwickelt hat, ſo hat es ſicher 
auch jeder ſeiner Geſchwiſterplaneten. Iſt es aber 
wohl wahrſcheinlich, daß ſich alle gleichzeitig ge— 
bildet haben? Und wenn dem auch ſo wäre, was 
wir jedoch verneinen müſſen, läßt ſich denn an— 
nehmen, daß die von der Sonne weit entfernten, 
die viele Jahre brauchen, um ihre Bahnen zu 
durchlaufen, ſich ganz in derſelben Weiſe und in 
derſelben Zeit entwickeln konnten wie die der Sonne 
nähern, oder mußten ſich nicht im Gegentheil ſchon 
durch die Gleichheit der Bildungsgeſetze unter ſo 
ungleichen Bildungsverhältniſſen große Verſchieden— 
heiten ergeben? | 

Sophie. Ich erkenne nunmehr die Ungül— 
tigkeit meiner Einwendung. Wie aber nun 
weiter? 


Alfred. Der nächte Satz, auf den ich mich 
berufe, lautet: die Naturgeſetze ſind vernünftig. 

Sophie. Gründen Sie dieſes auf die gött— 
liche Weisheit, die ſich in der Natur offenbart? 

Alfred. Ich würde es thun, wenn ich auf 
die eigene zu bauen wagte, aber ich fürchte zu ſehr 
einen Selbſtbetrug, der ſchon ſo viele getäuſcht. 

Sophie. Wie wollen Sie denn Ihren Satz 
erweiſen? 

Alfred. Durch eine große Thatſache aus der 
Geſchichte der Wiſſenſchaften. 

Hermann. Durch eine Thatſache! Da muß 
ich mich denn doch wundern. 

Alfred. Ja, durch eine Thatſache, oder wenn 
du willſt, durch eine Summe von Thatſachen, 
worin ſich das Verhältniß der Natur zu unſerem 
Geiſte offenbart. 

Hermann. Laß doch hören. 

Alfred. Die Naturforſcher haben in vielen 
Fällen aus Vernunftgründen Naturgeſetze abgeleitet 
und dieſe ſpäter wirklich in der Natur gefunden. 

Hermann. Ich meinte, man gelange auf 
dem rein ſpekulativen Wege faſt nie zu Naturge— 
ſetzen, welche durch die Erfahrung beſtätigt werden. 


1 
1 


Alfred. Wenigſtens iſt man noch nicht im 
Stand geweſen, die Naturgeſetze aus der oberſten 
Quelle alles Wiſſens abzuleiten. Doch davon ſoll 
hier nicht die Rede ſeyn; ich habe hier die gewöhn— 
liche Verfahrungsweiſe der Naturforſcher im Auge. 
Dieſe richten ihr Denken auf ſolche Erfahrungs— 
gegenſtände, die uns vollſtändiger bekannt ſind als 
die meiſten andern, und gleichſam die Lichtpunkte 
in der Maſſe unſerer Kenntniſſe bilden; für dieſe 
ſuchen ſie die Geſetze. So hat man aus der Natur 
der Bewegung die merkwürdigen Geſetze der gleich— 
förmig wachſenden Geſchwindigkeit abgeleitet. Aus 
der Natur des Raumes hat man das Geſetz ent— 
wickelt, daß die von einem Punkte ausgehende 
Wirkung in dem Verhältniß ſchwächer wird, als 
das Quadrat der Entfernung wächst. Dieſe bei— 
den Ausgangspunkte und der Gedanke, daß alle 
Körpertheile bei gleichem Abſtand gleiche Anziehung 
auf einander ausüben, ſind faſt die einzigen Quellen, 
aus denen man die Lehre von den Bewegungsge— 
ſetzen der Weltkörper, dieſe große Himmelsmechanik, 
abgeleitet. 

Hermann. Wurde man aber dabei nicht 
weſentlich durch die Erfahrung unterſtützt? 


28 

Alfred. Gewiß! Man würde ſchwerlich je 
all das, was man gegenwärtig von der Bewe— 
gung der Himmelskörper beweiſen kann, entdeckt 
haben, wenn man nicht durch die Erfahrung dazu 
angeleitet worden wäre; ſpäter aber hat man in 
der Mechanik des Himmels die eine Wahrheit aus 
der andern abgeleitet, ohne aus der Erfahrung viel 
anderes zu nehmen als einzelne Anknüpfungs— 
punkte. Dieſe Ableitung der Wahrheit geſchah 
mittelſt Schlüſſen, die unbeſtritten ſind, und viele 
der auf dieſem Wege gefundenen eigenthümlichen 
Naturgeſetze haben ſich durch die Erfahrung beſtätigt. 

Hermann. Hat man aber auch außer der 
Aſtronomie ſolche Beiſpiele? 

Alfred. Sehr viele, wenn auch keines, das 
ſo großartig wäre. Die Eigenſchaften des Lichtes 
zeigen ſich in ſolchem Zuſammenhang, daß man meiſt 
die eine aus der andern ableiten kann; und obgleich 
man auch dabei von einzelnen Erfahrungspunkten 
ausgegangen iſt, ſieht doch jeder Kenner der Wiſ— 
ſenſchaft, daß die bei weitem meiſten Thatſachen 
durch unbeſtreitbare Vernunftſchlüſſe verknüpft ſind, 
ſo daß man faſt überall berechnend vom Bekannten 
aufs Unbekannte ſchließen kann und ſpäter das 


Gefundene in der Erfahrung wieder antrifft. Zwar 
wird einem dieſe Befriedigung nicht immer; aber 
das Unbefriedigende, dem man begegnet, wird bei 
weiterer Entwickelung des Wiſſens verſchwinden, 
wie ſo viele Mängel, welche im Laufe der zwei 
letzten Jahrhunderte beſeitigt worden ſind. 

Hermann. Dergleichen Beiſpiele haben doch 
wohl nur die mathematiſchen Wiſſenſchaften auf— 
zuweiſen? 

Alfred. Wenn dem auch ſo wäre, würde es 
für meinen Zweck hinreichen, denn die Mathe— 
matik und ihre Anwendung auf die Natur iſt ja 
eine Vernunfthandlung. Zudem muß ja Mathe— 
matik ein Element jedes vollſtändigen Erkennens 
ſeyn, da wir unmöglich etwas in ſeinem Weſen 
erfaſſen können, ohne die Größe und die Ver— 
hältniſſe deſſelben zu kennen. Selbſt unſere Alltags— 
kenntniſſe ſind von einer jeder vernünftigen Auf— 
faſſung inwohnenden natürlichen Mathematik durch— 
drungen. Aber die Vorherſagungen, von denen hier 
die Rede iſt, beſchränken ſich keineswegs auf die 
eigentliche Mathematik. Der Blitzableiter, das Luft— 
ſchiff, die Voltaſche Säule, der metalliſche Grund— 
beſtandtheil in den Erdarten ſind ſo berühmte Ent— 


30 


deckungen, daß ich dich nur daran zu erinnern 
brauche. Es iſt bekannt genug, daß ſie nicht zu— 
fällig waren, denn obgleich die letztgenannte bei 
zufälligem Anlaß geſchah, war ſie doch durch La— 
voiſier ſchon lange vorhergeſagt. Ich darf hinzu— 
fügen, daß jede dieſer Entdeckungen durch ſich ſelbſt 
wieder häufig Anſtoß gab zu Vorausbeſtimmungen, 
welche die Erfahrung gerechtfertigt hat. Man könnte 
hier die Worte Schillers parodirend anwenden und 
ſagen: „Was der Geiſt verſpricht, leiſtet die Natur.“ 
Hermann. Oft trifft es ſich aber, daß die 
Natur die menſchlichen Schlüſſe nicht beſtätigt. 
Alfred. Nichts iſt gewiſſer; wir entdecken 
aber dann immer, worin der Fehlſchluß beſtand; 
ja, ich behaupte, dieß kann nie ausbleiben, wenn 
man ſo weit gekommen iſt, um die Durchgänge 
vom Irrthum zur Wahrheit überſchauen zu können. 
Hermann. Dieß gilt ja auch von den ſpeku— 
lativen Wiſſenſchaften, ja muß nothwendig gelten. 
Alfred. Du willſt ſagen, ich habe hier etwas 
Selbſtverſtändliches ausgeſprochen, eine Tautologie, 
die nichts ausſagt, aber du haſt dabei nur einem 
flüchtigen Eindruck gehorcht, wie dieß im Lauf eines 
Geſpräches ſo oft geſchieht; ſonſt hätteſt du leicht 


31 
geſehen, wie dabei der Nachdruck darauf liegt, daß 
nicht bloß unſere Vernunft das Werk unſerer eige— 
nen Vernunft prüft, ſondern daß wir hier die Ue— 
bereinſtimmung unſerer Vernunft mit einem Werke 
prüfen, von dem wir ſicher wiſſen, unſere Vernunft 
habe es nicht hervorgebracht. 

Hermann. Iſt dieß auch ſo gewiß? könnte 
nicht vielleicht alles, was wir für Außenwelt hal— 
ten, nur das Werk einer unbewußten Thätigkeit 
unſeres eigenen Geiſtes ſeyn? 

Alfred. So biſt du Idealiſt? 

Hermann. In dieſem Augenblicke bin ich 
es, deiner dualiſtiſchen Behauptung gegenüber. 

Alfred. Du denkſt dir alſo, ich falle unſere 
Erkenntniß ſo auf, daß das Innere und das Aeu— 
ßere, welche ſich darin begegnen, zwei verſchiedene 
Dinge ſind; wie ſehr du mir dabei unrecht thuſt, 
wird ſich ſpäter zeigen. Daß in der Geſetzlichkeit 
der Außenwelt etwas liegt, das von unſerem auf— 
faſſenden Weſen ganz unabhängig iſt, das ſagt 
uns unſer ganzes Bewußtſeyn. — Die Welt ſchritt 
auf ihrem Bildungsgange einher, ehe der Menſch 
da war, und unzahligemale iſt der Lauf der Welt un— 
ſerem vorausgefaßten Gedanken geradezu entgegen; 


32 
du würdeſt keine Widerſprüche von mir hoͤren, wenn 
dein Gedanke ſelbſt mich hervorbrächte. 

Hermann. Widerſprechen wir uns nicht ſelbſt 
in manchen unſerer Träume? 

Alfred. Wohl wahr; wollteſt du aber dieſen 
Gedanken im Ernſt durchführen, ſo müßteſt du 
das ganze Daſeyn zu einem Traum machen, und 
ich würde mich bedanken in dieſem Traum fortzu— 
ſpielen. 

Hermann. Nun, ich wollte auch den mir 
ſelbſt unnatürlichen Gedanken keineswegs durch— 
führen; aber du kannſt doch nicht in Abrede ſtellen, 
daß es unſere Vernunft iſt, die wir in den Na— 
turgeſetzen finden. Bin ich nicht zum Gedanken 
berechtigt, in der geſammten Außenwelt ſey ein 
Etwas, das auf uns Eindruck macht, dieſes könnte 
aber ganz anders beſchaffen ſeyn, als wir es uns 
vorſtellen, und was wir Naturgeſetze nennen, ſeyen 
am Ende nichts anderes als Geſetze unſerer eige— 
nen Anſchauungsweiſe? 

Alfred. Ich werde zwei Punkte unterſcheiden 
müſſen, die in deiner Frage verbunden ſind: der 
eine iſt das, was in unſerer ſinnlichen Wahrneh— 
mung die Empfindung ausmacht, das Gefühl, das 


durch die Gegenſtände in uns erweckt wird; der 
andere iſt das, was wir durch die vereinte Auf— 
faſſung der Sinne und der Vernunft von der ge— 
genſeitigen Wirkung der Dinge auf einander kennen 
lernen. Daß nun das Gefühl nicht in allen wahr— 
nehmenden Weſen daſſelbe iſt, obgleich dieſelben 
äußern Urſachen auf ſie einwirken, das lehrte uns 
ſchon das, was wir einander über ſolche Eindrücke 
mittheilen, ja der Vergleich zwiſchen unſern eige— 
nen Eindrücken in verſchiedenen Zuſtänden. Eine 
Krankheit kann den durchſichtigen Theil des Auges 
ſo verändern, daß wir alles in gelber Färbung 
erblicken. Mit dem Verſchwinden der Krankheit 
kehrt der geſunde Farbenſinn wieder. Es gibt 
Menſchen, die roth und blau nicht zu unterſcheiden 
vermögen, im übrigen aber ebenſo richtig ſehen 
als irgend ein anderer. Um wie viel größer müſ— 
ſen die Verſchiedenheiten ſeyn, wenn wir uns 
Weſen eines andern Weltkörpers denken, deren 
Sinneswerkzeuge wahrſcheinlich von ganz anderer 
Einrichtung ſind! 

Hermann. Du ſcheinſt ja alles, was ich 
begehre, zuzugeſtehen. 

Alfred. Nichts weniger, wenn ich dich recht 


Oerſted, der Geiſt in der Natur 2 3 


34 


verſtanden habe. Die gegenſeitige Einwirkung der 
Dinge auf einander zeigt uns vieles, was nicht 
auf der Natur unſerer Sinne beruhen kann. Denke 
dir, ich legte in ein Glas mit Waſſer eine Anzahl 
Salzkörner, in ein anderes einige Goldkörner. Ich 
ſehe das Salz verſchwinden und ſich mit dem Waſ— 
ſer vereinigen, die Goldkörner aber bleiben wie ſie 
ſind. Könnte wohl ein Weſen mit anders einge— 
richteten Sinnen das Entgegengeſetzte ſehen? Könnte 
es die Goldkörner im Waſſer ſich auflöſen, die 
Salzkörner unverändert bleiben ſehen? Ein Weſen 
mit feinern Sinnen möchte immerhin in der Salz— 
auflöſung, in der unſer Auge, ſelbſt das bewaff— 
nete, keinen Salztheil erblickt, die Salz- und Waſ— 
ſertheile unterſcheiden; es könnte andererſeits, des 
Farbenſinns entbehrend, nicht im Stande ſeyn das 
farbige Gold vom farbloſen Salze zu unterſcheiden; 
aber das Geſetz, daß das Waſſer Salz in ſich auf— 
nimmt und das Gold unberührt läßt, müßte für 
ein ſolches Weſen daſſelbe bleiben wie für uns. 

Felir. Ich denke, dieſes Beiſpiel wird Her— 
mann gelten laſſen müſſen. 

Alfred. Wenn auch, ſo reicht es doch nicht 
hin die Sache völlig aufzuklären. Denken wir 


35 
uns, ein Bewohner des Planeten Jupiter könnte 
zu uns kommen und ſähe zwei Steine fallen, 
den einen aus der Höhe von 60 Fuß, den an— 
dern aus der von 15; würde er nicht mit uns 
finden, daß jener zweimal ſo lange Zeit zum Falle 
braucht als dieſer? 

Sophie. Haben Sie ſich nicht etwa verſpro— 
chen, wenn Sie ſagten, der Stein, der 60 Fuß 
fällt, brauche nur zweimal ſo viel Zeit als der, 
welcher 15 Fuß fällt? Ich meine, er müſſe vier— 
mal mehr Zeit brauchen. 

Alfred. Was ich ſagte, ſcheint auf den erſten 
Anblick irrig, iſt es aber in der Wirklichkeit nicht. 
Der Stein, der zu fallen fortfährt, nachdem er 
15 Fuß zurückgelegt, hat dadurch fchon eine be— 
deutende Geſchwindigkeit erhalten, welche macht, 
daß er den übrigen Weg mit weit größerer 
Geſchwindigkeit durchläuft, als geſchehen wäre, 
wenn er ſeinen Fall mit dem letzten Theil des 
Weges begonnen hätte. Man kann durch Rech— 
nung ſtreng beweiſen, daß ein fallender Körper in 
zwei Sekunden viermal, in drei Sekunden neun— 
mal, in vier Sekunden ſechzehnmal ſo weit fällt 
als in der erſten Sekunde. 


36 

Sophie. Ich habe alſo die Sekunden mit 
ſich ſelbſt zu multipliciren, zweimal zwei, dreimal 
drei, viermal vier, um den durchlaufenen Raum 
zu finden? 

Alfred. Sehr richtig. Ich wählte dieſes 
etwas ſchwierige Beiſpiel, um darauf aufmerkſam 
zu machen, daß wir häufig die Natur Vernunft— 
geſetze befolgen ſehen, welche wir, ehe wir reiflich 
darüber nachgedacht, für vernunftwidrig halten 
würden. Schon dieß muß uns geneigt machen, 
die Urſache außerhalb unſeres Weſens zu ſuchen, 
nicht in demſelben; ich ſehe aber wohl, unſer 
Freund kann die Behauptung entgegenſetzen, das 
Ding gehe nach Geſetzen unſeres Weſens vor ſich, 
die dieſem ſelbſt unbewußt ſind. Jedenfalls aber 
fordere ich ihn auf, unſer Gedankenerperiment da— 
mit zu beſchließen, daß er erklärt, ob er nicht auch 
meint, unſer Gaſt vom Jupiter müſſe ſo gut als 
wir die eine der zwei Zeiten zweimal ſo lang fin— 
den als die andere. 

Hermann. Dieſe Frage fiele aber ganz weg, 
wenn Zeit und Raum für ihn nicht ſinnliche For— 
men wären wie für uns. 

Alfred. Und wo möglich noch mehr, wenn 


87 
jeine Vernunft andern Geſetzen gehorchte als die 
unſrige. 

Hermann. Nein, es gibt nur Eine Vernunft. 
Sie kann von der Sinnlichkeit mehr oder minder 
| befangen ſeyn; aber die Vernunft auf dem einen 
Planeten iſt weſentlich dieſelbe wie auf dem andern 

Alfred. Aber ein reines Vernunftweſen ohne 
alle Endlichkeit wird unſer Jupiterbewohner doch 
nicht ſeyn ſollen? 

Hermann. Gewiß nicht. 

Alfred. Soll aber das Verhältniß, welches 
in der Vernunft zwiſchen Urſache und Wirkung, 
zwiſchen einer Geiſteshandlung und deren Wieder— 
holung, zwiſchen Etwas und einem Andern, zwi— 
ſchen Mehr und Minder begründet iſt, ſich in end— 
licher Weiſe offenbaren, ſo muß es eine Form 
geben, in der dieß geſchieht. Ich ſehe daher nicht 
ein, wie man der Folgerung entgehen will, daß 
Raum und Zeit nothwendige Formen der End— 
lichkeit ſind, nothwendige Sinnenformen, Kate— 
gorien der Endlichkeit, wenn man ſie ſo nennen 
will. Aber ſelbſt, wenn man verſuchen wollte, ſich 
andere Formen des Endlichen zu denken, müßte 
doch etwas darin den Vernunftverhältniſſen ent— 


38 
ſprechen, und daraus müßte denn zwiſchen den 
Eindrücken, welche daſſelbe Ding auf einen Jupiter— 
bewohner und einen Erdbewohner macht, eine innere 
Verwandtſchaft entſtehen. Inzwiſchen glaube ich, 
daß dieſe halbe Ausflucht, welche eigentlich für 
mich wie für meinen Gegner nur eine halbe iſt, 
ſich wird beſeitigen laſſen. 

Hermann. Dieß möchte ich ſehen. 

Alfred. Wenn ich vorausſetze, meine Erfah— 
rung ſey nicht bloß das Erzeugniß der innern Thä— 
tigkeit meines eigenen Weſens, mit andern Worten, 
nicht bloß ein nothwendiger Traum, worin du mein 
Traumbild biſt, wie ich das deinige, in welchem aber 
das Aeußere ſowohl als das Innere ſeinen An— 
theil an der Erfahrung hat, ſo muß das, was in 
unſerer Erfahrung ſich gleich zeigt, auch außer 
uns etwas dem entſprechend Gleichartiges haben. 

Herman n. Aber es kann im Uebrigen in der 
Wirklichkeit ſehr verſchieden ſeyn von dem, was 
wir uns darunter vorſtellen. 

Alfred. Mehr verlange ich nicht. Laß uns 
nur einige Beiſpiele nehmen, nicht als Beweiſe, 
ſondern um leichter zu einer umfaſſenderen Wahr— 
heit zu gelangen. So mache ich denn darauf 


39 


aufmerkſam, daß wir für alle Planeten dieſelben 
Geſetze finden. Sie haben alle Tag und Nacht 
durch ihre Achſendrehung, ſie haben alle ihr Jahr 
durch ihren Umlauf um die Sonne. Die Planeten, 
welche Monde haben, werden von dieſen nach den— 
ſelben Geſetzen umkreist, wie unſere Erde von ihrem 
Monde, und dieſe Geſetze ſind wiederum dieſelben, 
welchen ein hier an der Oberfläche der Erde ge— 
worfener Körper gehorcht. Die Art, wie die 
Planeten beleuchtet werden und das empfangene 
Licht zu uns zurückwerfen, iſt ganz dieſelbe, welche 
an irdiſchen Körpern beobachtet wird. Erwäge 
nur, daß die gewaltige Lichtmaſſe, welche wir aus 
allen Theilen des Weltalls empfangen, uns keine 
weſentliche Wirkung wahrnehmen läßt, die ſich 
nicht auf die Geſetze zurückführen ließe, denen auch 
das irdiſche Licht unterworfen iſt. 

Hermann. Nun, ich glaube nicht, daß du 
nöthig haſt weiter zu gehen; weder ich noch ſonſt 
einer werden es leicht in Abrede ſtellen, daß Alles, 
ſo weit unſer Auffaſſungsvermögen reicht, denſelben 
Geſetzen unterworfen iſt; bedenke aber, daß es 
vielleicht die Natur unſerer Fähigkeiten iſt, was 
dieſe Geſetze macht. 


40 


Alfred. Aber vergiß auch du nicht, daß 
zwiſchen Dingen, die in gleichen beobachtenden 
Weſen gleiche Erfahrungen wirken, Aehnlichkeit 
beſtehen muß. 

Hermann. Und wenn ich dieſes einräumte? 

Alfred. So würde daraus folgen, daß die 
andern Weltkörper in ihren Eigenſchaften und 
Geſetzen, wie wir ſie durch dieſelben Fähigkeiten 
aufgefaßt und uns entwickelt haben, die wir auf 
die irdiſchen Dinge angewendet, mit unſerem Erd— 
ball eine weſentliche Aehnlichkeit haben muͤſſen, und 
daß die ſie bewohnenden Weſen von uns nicht ſo 
grundverſchieden ſeyn können, daß wir in ihnen eine 
ganz andere, uns unbegreifliche Gattung von Weſen 
zu erblicken brauchten, eine ſolche etwa, denen andere 
Sinnenformen als die von Zeit und Raum zukommen. 

Felix. Eure beiden Vorſtellungsarten, meine 
Freunde, ſcheinen mir ganz unnatürlich. Wollten 
wir alles im auffaſſenden Weſen ſuchen, jo wäre 
keine menſchliche Gemeinſchaft möglich; jeder wäre 
eine Welt für ſich; laſſen wir eine von uns ganz 
unabhängige Außenwelt zur Erfahrung mitwirken, 
ſo wäre es unbegreiflich, wenn uns darin auch 
nur Ein Syſtem von Geſetzen begegnete. Wenn 


wir auch die Natur der unabhängigen Dinge nicht 
zu faſſen vermöchten, ſo müßten wir ſie doch in 
der fortwährenden Unterbrechung der Geſetze, die 
unſere Vernunft fordert, wahrnehmen. Die Quelle 
unſerer Erfahrungserkenntniß nur außer uns zu 
ſuchen, iſt, wie wir wiſſen, ebenſo vergebens. 
Sind wir hier nicht auf unwegſame Pfade gerathen? 

Alfred. Ich ſehe dieſelben Schwierigkeiten 
wie du; aber ich glaubte ſie zum Worte kommen 
laſſen zu müſſen. Sie ſcheinen mir übrigens zu 
verſchwinden, wenn wir annehmen, daß die Welt 
und der Menſchengeiſt nach denſelben Geſetzen ge— 
ſchaffen worden. Wären die Geſetze unſerer Ver— 
nunft nicht in der Natur, ſo würden wir uns 
vergebens beſtreben ſie ihr aufzudringen; wären 
die Geſetze der Natur nicht in unſerer Vernunft, 
ſo vermöchten wir ſie nicht zu begreifen. 

Felir. Es iſt wahr, die erwähnten Schwie— 
rigkeiten werden dadurch gehoben; aber auch dieſe 
vorausbeſtimmte Harmonie ſcheint mir unnatürlich. 
Alfred. Sollte das Wort hier in der Be⸗ 
deutung genommen werden, welche es in der Ge— 
ſchichte der Philoſophie hat, ſo müßte ich mich 
dagegen verwahren; indeſſen behaupte ich doch, 


42 


daß hier eine Harmonie beſteht; denn der Menſch 
iſt ein Erzeugniß der Natur, daher müſſen die— 
ſelben Geſetze in ihm herrſchen, wie in ihr. 

Felix. Dabei iſt mir nur anſtößig, den Men— 
ſchen als bloßes Naturerzeugniß betrachten zu müſſen. 

Alfred. Ich kann mich hier noch nicht anders 
ausdrücken, wenn ich nicht den ganzen bisherigen 
Gedankengang unterbrechen will; im Verlauf un— 
ſerer Unterſuchung werde ich mir aber das Recht 
verſchafft haben zu ſagen, unſer geiſtiges Weſen 
und die Welt ſeyen beide von Gott erſchaffen, und 
es wird ſich dann zeigen, daß beide Sätze daſſelbe 
bezeichnen, nur in verſchiedener Weiſe. 

Felir. Werden aber die Schwierigkeiten nicht 
am beſten von denen beſeitigt, welche von Gott, 
dem urſprünglich denkenden und wollenden Weſen 
ausgehen, und das Weltganze als Gedanken Gottes 
auffaſſen? Wir ſind dann ſelbſtbelebte, ſelbſtbe— 
wußte Gedanken der Gottheit, gleichſam von Hauſe 
aus mit den göttlichen Gedanken erfüllt, welche in 
den bewußtloſen Gebieten der Natur verborgen 
liegen. 

Alfred. Dieß ſcheint mir die Wahrheit, von 
der Seite aufgefaßt, auf der man die Quelle des 


43 

Daſeyns im denkenden Weſen ſucht; aber jede 
der Richtungen, in denen wir zur Wahrheit ge— 
langen, zeigt uns dieſelbe nur von Einer Seite. 
Stellen wir die denkenden Weſen voran, ſo wird 
das Bild, welches wir uns von der Außenwelt 
machen, matt und ſchattenhaft, etwa wie eine von 
beleuchtetem Nebel verhüllte Landſchaft; beginnen 
wir von der Außenwelt, ſo rückt das Reich der 
Freiheit gar zu ſehr in die Ferne. Wir müſſen 
uns der Wahrheit von mehr als einer Seite nä— 
hern, um ſie in der Ganzheit und Fülle zu er— 
greifen, welche uns zu erreichen möglich iſt. 

Felir. Du ſcheinſt mir doch der Außenwelt 
zu viel einzuräumen. Laß ſie uns als Schatten 
erſcheinen, ſo ſieht ſie der Geiſt in ihrem wahren 
Verhältniß. Laß ſie vor uns in einem Lichtnebel 
liegen, ſo werden wir daran erinnert, daß ſie ihr 
Licht von der Geiſterwelt borgt. Oder, um nicht 
in Bildern zu ſprechen, was willſt du von den 
un vernünftigen Weſen lernen, was ſich nicht in 
deinem eigenen vernünftigen Innern findet? Und 
weiter muß ich fragen: was willſt du, lebendige 
Seele, von der unbeſeelten Natur lernen? Soll 
das Leben beim Tode in die Schule gehen? 


44 


Alfred. Wehe! wenn das nicht geſchieht! 

Felir. Gewiß mißverſtehſt du mich. 

Alfred. Verzeihe, daß ich abſichtlich das Ge— 
ſpräch ein wenig verwirrte, gleichſam um deinen 
beredten Angriff aufzuhalten. Indeſſen iſt es meine 
wirkliche Meinung, daß es mit unſerer Einſicht 
ſchlecht beſchaffen wäre, wenn nicht unſer leben— 
diger Geiſt von der Natur lernte, die wir die todte 
nennen. Derſelbe freie Gebrauch, in dem der 
höchſte Vorzug unſerer Vernunft beſteht, bringt 
die Möglichkeit mit ſich, daß ſie irren kann; und 
die reiche Tiefe, welche es möglich macht, ſo vieles 
in ihr zu finden, macht auch, daß ſie in gewiſſer 
Hinſicht ſich ſelbſt ein Räthſel bleibt, das ſie oft 
falſch deutet. Die Vernunft, welche ſich in der 
willenloſen Natur offenbart, iſt in ſich ſelbſt un— 
fehlbar und wird in vieler Hinſicht weniger leicht 
von uns mißverſtanden. Wie geneigt iſt der 
Menſch, ſich für den Mittelpunkt des ganzen Da— 
ſeyns zu halten! Um ihn ſoll der Himmel ſich 
drehen, ſeine Schickſale ſoll der Sternenhimmel 
vorherverkündigen, ſeinetwegen ſoll das Ganze 
erſchaffen ſeyn. Glaubſt du, daß der Menſch 
ohne Naturkenntniß ſich von dieſen Einbildungen 


45 


losgemacht hätte? oder meinſt du, die Weltan— 
ſchauung, in welche dieſelben ſich gemiſcht, hätte je 
rein und klar ſeyn können? Der Menſch hat einen 
natürlichen Hang, die ihm unbegreiflichen Bege— 
benheiten Geiſtern mit menſchlichen Leidenſchaften 
zuzuſchreiben, oder er leiht Gott ſelbſt menſchliche 
Willensbeſtimmungen. Vertreibt nicht die Natur— 
wiſſenſchaft viele Einbildungen von willkürlichen 
Veranſtaltungen der Gottheit, welche nur zu oft 
die Frömmigkeit ſelbſt befleckt haben? 

Felix. Sind denn zu keiner Zeit Denker ohne 
Naturkenntniſſe von ſolchen Einbildungen frei ge— 
weſen? 

Alfred. Gewiß, aber nur wenige, und ich 
möchte glauben, es geſchah nur dadurch, daß ſie, 
den Blick von der Natur abwendend, derſelben 
wenig Aufmerkſamkeit widmeten und ſich in ihre 
eigenen Gedanken verſenkten. 

Felir. Folglich wurden die Andern durch 
Naturbetrachtung irre geleitet. 

Alfred. Sage nicht: „durch Naturbetrach— 
tung;“ denn es war der rohe Eindruck der Natur, 
der ſie irre führte, nicht das wiſſenſchaftliche Durch— 
dringen derſelben. Uebrigens iſt auch die Welt— 


46 


anſchauung der trefflichſten Philoſophen durch Man— 
gel an Naturkenntniß beeinträchtigt worden. Daß 
eine Weltanſchauung ein Grundbeſtandtheil der 
Philoſophie iſt, bedarf keines Beweiſes; daß dieſe 
aber entweder leer, oder in mancher Beziehung falſch 
werden müße, wenn ſie nicht das Weſentlichſte der 
uns von der Natur gebotenen Wahrheiten in ſich 
aufnimmt, iſt nicht minder gewiß. Wenn auch 
den gegenwärtigen Philoſophen die Reſultate der 
Naturwiſſenſchaften nicht unbekannt ſind, ſo ſehen 
ſie doch häufig ſo ganz davon ab, daß dieſelben 
ſo gut als keinen Einfluß auf ihre Forſchung haben. 
Felir. Auch mir ſcheint dieß ſo; aber es 
dürfte an der Zeit ſeyn, zu unſerm Gegenſtande 
zurückzukehren. Hat Sophie in Beziehung auf das 
eben Abgehandelte noch etwas zu fragen? 
Sophie. Nichts von Bedeutung; doch ja, 
eine Frage hatte ich ſchon auf den Lippen, als 
das Geſpräch die letzte Wendung nahm. Beim 
Gedanken, daß die in der Natur ſich offenbarende 
Vernunft unfehlbar ſey, die unſrige aber nicht, 
hätte ich gemeint, ob man nicht lieber ſagen ſollte: 
unſere Vernunft ſtimme mit der der Natur, als 
die der Naturſtimme mit der unſrigen überein? 


Alfred. Jede dieſer Wendungen hat im betref— 
fenden Gedankengang ihre Berechtigung, je nachdem 
wir von uns ſelbſt oder von der äußern Natur aus— 
gehen. Es gibt noch mehr Ausdrücke für daſſelbe, 
z. B. die Naturgeſetze ſind Gedanken der Natur. 

Sophie. Dieſe Gedanken der Natur ſind dann 
auch Gedanken Gottes. 

Alfred. Unzweifelhaft; aber ſo werth uns 
dieſer Ausdruck auch ſeyn muß, ſo wünſchte ich 
doch, daß wir uns deſſen nicht bedienten, bis es 
ſich uns erwieſen hat, daß uns unſere Unterſuchung 
zu einer Naturanſchauung führt, die zugleich eine 
Anſchauung Gottes iſt. Wir werden dann mit 
ganz anderem und vollkommenerem Bewußtſeyn uns 
berechtigt fühlen, die Naturgedanken Gottesgedan— 
ken zu nennen. Ich möchte Sie daher bitten, 
langſamer vorzurücken. 

Sophie. Gerne, denn ich fühle recht lebhaft, 
wie weit wir noch zum Ziel haben. Unter andern 
möchte ich fragen, ob dieſe Naturgedanken einen 
gegenſeitigen Zuſammenhang haben, wie unſere 
Gedanken? 

Alfred. Sie werfen hier eine Hauptfrage auf, 
und wir haben eine Reihe von Betrachtungen zu 


AS 


durchgehen, um ſie uns jo zu beantworten, daß 
die Antwort die rechte Bedeutung erhält. 

Sophie. Sie fällt bejahend aus? 

Alfred. So wahr die Natur ein Ganzes 
und kein Stückwerk iſt. Der erſte Schritt in un— 
ſerer Unterſuchung wird ſeyn, uns zu überzeugen, 
daß die Naturgeſetze, nach denen Alles in jedem 
einzelnen Ding vor ſich geht, nicht nur eine Man— 
nigfaltigkeit, ſondern eine Geſammtheit, eine Ein— 
heit, ein Ganzes ausmachen. Ermüdet es Sie 
wohl nicht, wenn wir noch einmal durchgehen, 
was wir vom Sarpen geſagt, um dieſe innere 
nothwendige Einheit nachzuweiſen? 

Sophie. Trauen Sie mir zu, daß ich bei 
wichtigen Betrachtungen nicht ermüde oder mich 
langweile, wenn ich ſie nur zu faſſen vermag. 

Alfred. Der Grundgedanke, ſo weit ein 
Grundgedanke in einem ſolchen Naturdinge ſich 
ausdrücken mag, iſt ein herabſtürzender Fluß. Das 
durch Hinzuſtrömen ſich ſtets erneuernde Waſſer 
fällt aus einer beträchtlichen Höhe herab. Es ge— 
horcht denſelben Geſetzen des Falles, wie jeder 
andere Körper, und erhält ſo während ſeines 
Falls eine immer größere Geſchwindigkeit. Als 


49 
Waſſer hat es die Eigenſchaft, daß die Theile leicht 
übereinander hinrollen und ſich zerſtreuen, und 
jo, die frei ſchwebenden Tropfen bilden. Bei 
der ſtets wachſenden Schnelligkeit gewinnen die 
Theile, deren Fall früher begonnen, einen Vor— 
ſprung, der ſie von den nachfolgenden trennt, und 
dadurch entſteht eine gewaltige Zerſplitterung; an 
jedem Hinderniß ſpritzen zahlloſe Tropfen nach allen 
Richtungen empor; es bildet ſich, wenn ich ſo ſagen 
darf, eine Welt von Tropfen voll Bewegung, welche 
trotz aller wechſelnden Umſtände eine gewiſſe Eigen— 
thümlichkeit bewahrt. Die ſich mit dem ſtürzenden 
Waſſer vermengende Luft bildet Schaum, zahlloſe, 
von Waſſerhäutchen umſchloſſene Luftbläschen, de— 
ren unabläſſig wechſelnde, unebene, weiße Ober— 
fläche ſo eigenthümlich als bekannt iſt. Die Höhe 
des von jedem fallenden Theile hervorgebrachten 
Lauts wird durch die Fallhöhe beſtimmt, die Stärke 
aber nicht allein dadurch, ſondern zugleich durch 
die Menge der fallenden Theile. Der Eindruck des 
geſammten Schalls kann daher zwar einigermaßen 
wechſeln, bleibt aber im Weſentlichen ſtets derſelbe. 
Das lärmende Gebrauſe des ſchäumenden Falles 
zeugt von ſeiner zerſtörenden Kraft, welche ſich 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 3 % 


50 


alsbald zeigt, wenn etwas Zerbrechliches in ſeinen 
Bereich geräth. Dieß wie wohl manches Andere, 
das ich vergeſſen haben mag, und noch vieles mehr, 
was dabei vorgeht, ohne daß ich es weiß, bildet 
ein innigſt zuſammenhängendes Ganzes, in dem je— 
des Glied nach Naturgeſetzen gebildet iſt, oder mit 
andern Worten: alle Naturgedanken darin ſind vom 
Hauptgedanken unzertrennlich. Seine Eigenthüm— 
lichkeit vor allen andern Waſſerfällen erhält er 
durch ſeine nur ihm zukommende Naturſtellung. Die 
vielfältigen Wechſel, die ſeine Erſcheinung trotz 
ihrer Eigenthümlichkeit annimmt, beruhen auf 
Wechſeln in der Außenwelt: Verſchiedenheiten in 
der Eile des herabſtrömenden Fluſſes, in der Rich— 
tung und Stärke, der Beleuchtung, der Luftbewe— 
gung, der Wärme u. dgl. m. So ſteht er vor 
uns, faſt als ein belebtes Weſen mit eigenthümlichem 
Charakter, unſere Einbildungskraft mit dem Bilde 
eines mächtigen, obſchon bewußtloſen Rieſen er— 
füllend, ein Sklave der Natur mit faſt unbezähm— 
barer Kraft. 

Sophie. Dieß Alles erſcheint mir ſehr klar, 
erfüllt mich aber mit Grauſen. Es ſchwindelt 
mir faſt mehr, ſchaue ich in die leere Nichtigkeit 


51 


des Daſeyns, die Sie mir vor Augen ſtellen, als 
wenn ich in den tiefen Waſſerſchlund hinab blickte. 

Alfred. Sie werden aber doch wohl weder 
hier verlaſſen ſitzen bleiben wollen, noch mir zu— 
trauen, daß ich Sie in dieſer Einöde verlaſſe. 

Sophie. So kommen Sie mir zu Hülfe. 

Alfred. Meine Hülfe wird vorzüglich darin 
beſtehen, daß ich Sie ermuntere, ſich ſelbſt zu helfen. 
Ohne Zweifel war es die augenſcheinliche Un— 
ſelbſtſtändigkeit des betrachteten Gegenſtandes, was 
Sie erſchreckte; aber bedenken Sie, daß Sie 
denſelben Gegenſtand ohne alle wiſſenſchaftliche 
Betrachtung für eben ſo unſelbſtſtändig halten 
müßten. 

Sophie. Ich ſehe, daß Sie Recht haben; aber 
ich fürchtete, jede andere Exiſtenz möchte ſich auf 
dieſelbe Weiſe für uns in bloße Gedanken auflöſen. 

Alfred. Nicht in bloße Gedanken: es waren 
handelnde Kräfte der Natur, die uns eine Ge— 
dankeneinheit darſtellten. Der Grund Ihrer Be⸗ 
fürchtung lag anderswo. 

Sophie. Ich glaube es ſelbſt; aber ſagen 
Sie mir worin? 

Alfred. Die Gedankeneinheit ſtellt ſich uns 


hier nicht als eine in ſich abgeſchloſſene kleine 
Gedankenwelt dar, ſondern nur als ein Bruchſtück 
einer größern Geſammtheit von Gedanken. 

Sophie. Ich glaube es iſt ſo. 

Alfred. Aber Sie müſſen dennoch gewär— 
tig ſeyn, etwas Aehnliches, wenn auch nicht in 
gleichem Grade, in jedem Daſeyn zu finden, da 
jedes Ding, das nicht das All ſelbſt iſt, nur ein 
Theil des größern Ganzen iſt. 

Sophie. Ich fürchte, die Selbſtſtändigkeit der 
Dinge verſchwindet auf dieſe Weiſe unter unſern 
Händen. 

Alfred. Ihre Beſorgniß iſt nicht ganz un— 
gegründet, und doch fürchte ich nichts für Sie, 
wenn wir in unſern Betrachtungen fortfahren. 

Sophie. Sie trauen mir viel zu. 

Alfred. Ich muß die Furcht aus unſerer 
Betrachtung in ihre wahre Heimath verweiſen. 

Sophie. Wo iſt dieſe? 

Alfred. Im Daſeyn ſelbſt. Faſſen Sie nur 
jeden beliebigen Gegenſtand des Alls recht ins 
Auge, und überall wird Ihnen Abhängigkeit und 
Vergänglichkeit begegnen. Dieſe Klage iſt, wie 
Sie wiſſen, ſo alt als das Menſchengeſchlecht; 


jollen wir etwas Unvergängliches in den Dingen 
finden, ſo wird es das Sinnliche daran nicht ſeyn. 

Sophie. Ich merke wohl, daß ich unbedacht— 
ſam auf dem Wege war das Unmögliche zu ver— 
langen. Verzeihen Sie! 

Alfred. Ich würde deſſen nicht gedacht haben, 
wenn ich nicht fürchtete, Sie möchten ſich verſucht 
fühlen unſerer Unterſuchung vorzuwerfen, ihre An— 
ſchauung vom Daſeyn ſey weniger kraftvoll und 
lebendig, als ſie es wirklich iſt. Wir müſſen es 
uns feſt einprägen, daß jede, über das Beſtändige 
in den Dingen aufgeworfene Frage, wenn wir 
uns dabei nicht über den Standpunkt des ſinnli— 
chen Daſeyns erheben, uns zu einem verzweifeln— 
den Gefühle der Nichtigkeit führt. Wir vermögen 
ſomit nur mittelſt eines Vernunftſchluſſes etwas 
Beſtändiges darin zu finden. 

Sophie. Wer aber keine Vernunftſchlüſſe zu 
machen weiß? 

Alfred. Der hält ſich aufrecht an den Strah— 
len des Vernunftdaſeyns, welche die Religion ihm 
herabſendet. 

Sophie. Das iſt wahr. Und nun weiter. 

Alfred. Ich will nun verſuchen,, eine 


54 


gedrängte Darſtellung der Anſchauung zu geben, 
welche wir uns zunächſt anzueignen haben. Daß 
es außer den Grundkräften der Natur, den ſchaf— 
fenden Kräften, nichts Beſtändiges in den Dingen 
gibt als die Naturgeſetze, nach denen Alles vor 
ſich geht, und daß dieſe Naturgeſetze mit Recht 
Naturgedanken genannt werden können, darüber 
ſind wir einig. Die Grundkräfte ſelbſt finden ſich 
in allen Körpern, ihre Verſchiedenheit beruht nur 
auf den in denſelben herrſchenden Naturgeſetzen. 
Das, was einem Dinge ſeine dauernde Eigen— 
thümlichkeit, ſein eigentliches Weſen verleiht, iſt 
demnach, wie wir bereits angenommen haben, die 
Geſammtheit von Naturgeſetzen, durch welche es 
hervorgebracht worden iſt und erhalten wird; aber 
die Naturgeſetze ſind Naturgedanken, und das We— 
ſen der Dinge beruht demnach auf dieſen Gedan— 
ken, welche darin ausgedrückt ſind. In ſo fern 
Etwas ein in ſich beſchloſſenes Weſen ſeyn ſoll, 
müſſen alle die Naturgedanken, die darin ausge— 
drückt ſind, in einen weſentlichen Gedanken zu— 
ſammenfallen, welchen wir die Idee des Dings 
nennen. Das Weſen eines Dings iſt demnach 
deſſen lebendige Idee. 


Sophie. Dann wird ja aber das Weſen 
eines Dinges zu einem bloßen Gedanken. 

Alfred. Vergeſſen wir nicht, daß ich ſagte: 
deſſen lebendige Idee, und ich meine damit die 
durch Naturkräfte verwirklichte Idee. 

Sophie. Ich habe aber ſo oft gehört und ge— 
leſen, daß die Idee nie verwirklicht werden könne. 

Alfred. Im ſtrengſten Sinne des Worts iſt 
dieß auch vollkommen wahr. In jedem Einzel— 
weſen findet ſich die Idee nur in gewiſſen Rich— 
tungen und mit gewiſſen eigenthümlichen Beſtim— 
mungen verwirklicht. Dieß geſchieht auch in der 
Kunſt. Kein Bildhauer verſucht in einem Bilde 
die Idee der ganzen Menſchheit darzuſtellen, in 
jedem beſondern Werke aber ſtellt er ſie mit einem 
eigenthümlichen Gepräge dar: im Jupiter mit dem 
der Macht und Selbſtſtändigkeit, im Apoll mit dem 
der jugendlichen Beweglichkeit und Begeiſterung, 
in der Venus mit den Lockungen des Liebreizes, 
in der Minerva mit dem Gepräge kräftigen Nach— 
denkens, aber im Verein mit dem der Jungfräu— 
lichkeit. Glauben Sie nicht, daß ich durch dieſe 
Ausdrücke etwas Erſchöpfendes über dieſe Gegen— 
ſtände ſagen will, ich will nur darauf aufmerkſam 


56 


machen, daß eine Idee, wenn Sie wollen, eine 
Grundidee, vielfältige eigenthümliche Geſtalten an— 
nehmen kann, welche man als Ausdrücke für eben— 
ſo viele näher beſtimmte Ideen betrachten könnte. 

Sophie. Aber werden denn die Ideen in der 
Natur eben ſo vollkommen wie in der Kunſt ver— 
wirklicht? 

Alfred. Betrachten wir ſämmtliche Werke 
der Künſtler als ein Reich der Kunſt, ſo darf ich 
wohl ſagen, daß das Reich der Natur hier nicht 
zurückſteht; wir wollen uns aber nicht gar zu 
ſtrenge an den Vergleich halten. Die Natur bringt 
jede ihrer Ideen in unzähligen Abänderungen zur 
Ausführung, und in Werken, deren Hervorbringung 
unüberſehbare Zeiträume füllt. In der Geſammt— 
heit Aller ſoll die ganze Idee ausgedrückt werden. 
Wie ein Denker einen Grundgedanken unter den 
verſchiedenſten Formen ausbildet, oder wie ein Ton— 
künſtler daſſelbe thut, wenn er einen Tert variirt, 
ebenſo die Natur, nur in unſäglich größerer Man— 
nigfaltigkeit. Jedes Einzelweſen iſt eine ſolche 
eigenthümliche Ausführung der Grundidee des 
Dings. Aber die reiche Natur beſchränkt ſich 
nicht darauf, uns Ausführungen zu zeigen, in 


* 


* 


34 

denen die Gedanken wie abgeſchloſſen vor uns 
ſtehen; nein, ſie zeigt ſie uns in zahlloſen Ab— 
wechſelungen der endlichen Verhältniſſe, welche ein 
einſeitiger Beobachter die offenbarſte Unvollkommen— 
heit nennen würde, die aber einem, der ſich den 
Gang der Natur bis zu der Höhe verfolgt denkt, 
zu welcher ſie ſich im geſammten Menſchengeſchlecht 
entwickeln ſoll, als Momente erſcheinen müſſen, 
durch die ſich die Idee der Dinge in ihrer ganzen 
Fülle einem mächtigen, klar ſchauenden Geiſte offen— 
bart. Aber auch im gegenwärtigen Zuſtande der 
Dinge, wo ſelbſt der höchſte Menſchengeiſt ſich 
auf eine ſolche Stufe nicht erhoben hat, kann der 
Naturforſcher, obwohl in weniger erſchöpfender 
Weiſe, zur ſelben Einſicht gelangen. 

Sophie. Ihre Anſicht iſt mir nun klar, aber 
erlauben Sie mir eine andere Frage, welche mir 
ſchon vorhin einfiel; nur wollte ich Ihre Rede 
nicht unterbrechen. Sie ſagten, nur auf den Natur— 
geſetzen beruhe das Eigenthümliche in den Dingen, 
aber nach Allem, was mir bekannt iſt, ſind doch 
große Verſchiedenheiten auch durch die Stoffe be— 
dingt, aus denen die Dinge beſtehen; die Roſe hat 
ja ihren Duft vom Roſenöl, die Traube ihren 


58 

Geſchmack vom Zucker und verfchiedenen Säuren, 
wie ich gehört habe, und Ihnen werden beſſer als 
mir zahlloſe Beiſpiele der Art bekannt ſeyn. 

Alfred. Alle dieſe Stoffe ſind aber nur Ver— 
bindungen einfacherer Stoffe, und ihre Zuſammen— 
ſetzung iſt den Naturgeſetzen gemäß erfolgt. In— 
zwiſchen berühren Sie da einen Punkt, der uns 
in Unterſuchungen verwickeln könnte, deren Ab— 
ſchluß unſer Zeitalter bis jetzt noch nicht abſieht. 
Erlauben Sie mir alſo, Sie darauf aufmerkſam 
zu machen, daß die Wiſſenſchaft in höchſt ver— 
ſchiedenen Pflanzen und Pflanzentheilen dieſelben 
Beſtandtheile nachgewieſen hat, ſo daß Giftpflanzen 
und ſolche, welche uns geſunde Nahrungsmittel 
bieten, ihre weſentlichen Eigenſchaften nicht durch 
die Grundſtoffe erhalten, aus denen ſie gebildet 
ſind, ſondern durch die Art und Weiſe, in der 
dieſes geſchehen iſt, d. h. durch die Naturgedanken, 
welche darin verwirklicht ſind. 3 

Sophie. Damit wäre diefer Zweifel gehoben. 

Alfred. Alle Dinge find demnach verwirk— 
lichte Ideen, aber ſo, daß jedes für ſich die Idee 
nur in höchſt beſchränkter Geſtalt ausdrückt, wo— 
gegen ſämmtliche, unter dieſelbe Idee fallende Natur— 


59 


erzeugniſſe die Idee in ihrer ganzen Fülle ver— 
wirklichen; indeſſen iſt jede in der endlichen Welt 
auf dieſe Weiſe verwirklichte Idee wieder nur ein 
Glied einer höheren, umfaſſenderen. So iſt die 
Idee einer jeden Thierart nur ein Glied in der 
Idee des ganzen Thierreichs, dieſe wiederum Theil 
einer noch umfaſſenderen Idee, welche beides, Thier— 
und Pflanzenreich, in ſich begreift; dieſe iſt wie— 
derum ein Glied der ganzen Idee des Erbballs, 
welche ſich uns als eine in ſich ſelbſt abgeſchloſſene 
kleine Welt darſtellt, aber nichts deſto weniger aber— 
mals nur ein Glied eines noch höhern Syſtems iſt. 

Hermann. Iſt aber dieſer Zuſammenhang 
Wirklichkeit und nicht lediglich Erzeugniß unſeres 
eigenen Denkens? 

Alfred. Die Natur ſelbſt zeigt uns, daß es 
ihr Werk iſt. Unſere Unterſuchungen über die 
Bildung der Erde haben uns, wie bereits erwähnt, 
gelehrt, daß ſie ſich in einer langen Reihe von 
Zeitaltern entwickelt hat, daß auf jeder neuen 
Entwickelungsſtufe neue Pflanzen- und Thierarten 
ſich gebildet, welche in Bau und Geſtaltung den 
Erzeugniſſen des gegenwärtigen Erdalters ebenſo 
ſehr ähneln, wie verſchiedene Ausführungen deſſelben 


Grundgedankens einander ähneln müſſen. Es 
iſt ferner wichtig, den Entwickelungsgang zu be— 
achten. Die Natur hat mit den auf der niedrig— 
ſten Stufe ſtehenden Thieren und Pflanzen begon— 
nen, und iſt in den folgenden Zeitaltern nach und 
nach zu hoͤhern Bildungen heraufgerückt, welche 
indeſſen auf den frühern Bildungsſtufen immer ein 
weniger hoch entwickeltes Schöpfungsreich ausmach— 
ten, als dasjenige, welches die Erdoberfläche gegen— 
wärtig trägt. Man nehme hinzu, daß die höhern 
Thierarten in ihrem embryonalen Zuſtande von 
niederern Entwickelungsſtufen ausgehen, denen ver— 
wandt, auf welchen die niedern Thiere ſtehen blei— 
ben, und daß ſie von dieſen aus eine Reihe von 
Stufen durchlaufen, ehe ſie die ihnen als Ziel be— 
ſtimmte erreichen. 

Hermann. Nichts weiter; ich erkenne das 
Gewicht deiner Gründe. 

Alfred. So baue ich denn auf dem Zuge— 
ſtandenen weiter. Der Erdball iſt alſo ein Glied 
unſeres Sonnenſyſtems, mit dem er ſich entwickelt hat 
und mit dem er in unaufhörlicher Wechſelwirkung 
ſteht. Die Idee des Erbdballs iſt folglich in der des 
Sonnenſyſtems eingeſchloſſen; aber in ähnlicher 


61 


Weiſe iſt dieſes wiederum ein Glied des zunächft 
höhern Syſtems, jenes Syſtems von Sonnen, wel— 
ches uns die Milchſtraße zeigt, und in dem unſere 
künſtlichen Sehwerkzeuge und unſere auf Natur— 
geſetze gebauten Schlüſſe uns ſo viel haben er— 
blicken laſſen, was dem bloßen Sinnenmenſchen 
ewig ein Geheimniß bleiben wird. Dieſes unſern 
Begriffen nach ungeheure Syſtem iſt dann wieder 
ein Glied eines weiteren, noch höhern, und ſo fort 
über alle Grenzen hinaus. So baut ſich in un— 
ermeßlicher Ausdehnung ein unendliches Ganze auf, 
das alle im Daſeyn verwirklichten Ideen umfängt; 
aber dieſe Unendlichkeit von Ideen iſt zugleich be— 
ſchloſſen in einer wirkenden Idee, in einer unend— 
lich lebenden Vernunft. 

Hermann. Nun getraue ich mir die Antwort 
vorauszuſagen, die du auf die Frage geben wirſt, 
welche unſer Geſpräch veranlaßt hat. Das Köͤr— 
perliche und das Geiſtige ſind im lebendigen Ge— 
danken der Gottheit, deren Werk alle Dinge ſind, 
unzertrennlich vereinigt. 

Sophie. Aber mir ſcheint der Menſch nach 
dieſer Anſchauung nur das vornehmſte Thier, 
kein freies Vernunftweſen zu ſeyn. ö 


Alfred. Auf den erſten Anblick könnte dieß 
ſo ſcheinen; aber wir müſſen bedenken, daß ſich 
der Menſch vor allen andern irdiſchen Geſchöpfen 
dadurch auszeichnet, daß die Vernunft, der alle 
andern ohne Bewußtſeyn gehorchen, bei ihm zum 
Selbſtbewußtſeyn erwacht iſt. Dadurch iſt er frei, 
aber wohl gemerkt, in dem Sinne, in dem ein 
endliches Weſen es ſeyn kann. 

Sophie. Aber noch begegne ich einer andern, 
furchtbaren Schwierigkeit: ich ſehe nicht, wie die 
Unſterblichkeit unſeres Weſens dabei geſichert iſt. 

Alfred. Sie werden kein Syſtem finden, wo— 
rin die Unſterblichkeit bewieſen wäre; in jedem 
muß dieß dem Glauben überlaſſen bleiben, und ſo 
auch hier; wenn Sie aber fragen, wie dieſer Glaube 
mit unſerer Anſchauung zu verknüpfen ſey, darin 
gerechtfertigt werde, ſo beſchränke ich mich auf die 
Antwort, daß ſich dieß, nach meiner Ueberzeu— 
gung, auf mindeſtens ebenſo, wo nicht befriedi— 
gendere Weiſe thun läßt als in jedem andern Sy— 
ſtem; dieß erfordert aber eine Entwickelung für ſich, 
die einer andern Zeit vorbehalten bleiben mag. 


Der Springbrunnen. 


Ein Geſpräch. 


Bei meinen frühern Beſuchen in Paris nahm ich im Garten 
der Tuilerien mitunter einem Paar anſehnlicher Springbrunnen 
gegenüber meinen Sitz. Der Eindruck, den dieſe auf mich machten, 
iſt mir ſpäter oft ins Gedächtniß gekommen, und hat zu dem folgen— 
den Geſpräche, das weit ſpäter, vor etwa 8 Jahren niedergeſchrie— 
ben wurde, Anlaß gegeben. Bei meinem letzten Beſuche in Paris, 
i. J. 1846, waren dieſe fchönen Springbrunnen durch andere noch 
viel größere und prächtigere, aber auch geräuſchvollere erſetzt; dem 
großen Menſchengewimmel wohl angemeſſener, dürften ſie dem 
ruhenden Wanderer, welcher ſich dem Eindruck einer freundlichen 
Natur hingibt, minder willkommen ſeyn. 


Alfred. Frank. 


Alfred. Wir ſind nun für einen ſo war⸗ 
men Tag genug umhergewandert. Setzen wir 
uns hier auf die Bank unter den blühenden Lin— 
den. Der herrliche Duft, der kühle Schatten, das 
hohe Springwaſſer gegenüber, Alles ladet uns 
ein. Ich betrachte dieſen Ort als einen der ſchön— 
ſten hier im Garten. 

Frank. Sie haben hierin ganz meinen Ge— 
ſchmack; es iſt mein Lieblingsplatz. Ich ſitze oft 
lange hier, mich dem Eindruck der umgebenden 
Natur überlaſſend. Wenn es Jemanden einfiele, 
mich hier zu beobachten, müßte er glauben, ich 
ſitze in Gedanken vertieft, und doch befinde ich 
mich hier oft in einem Zuſtande, von dem man 


— 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 5 


45 
MR 


am richtigſten jagen könnte, ich denke an Nichts. 
Indeß iſt dieſer Zuſtand keineswegs einer der Un— 
thätigkeit. Ich könnte mich verſucht fühlen, ihn 
träumeriſch zu nennen; aber er hat nicht die wil— 
den Sprünge der Träume oder das Losgeriſſene 
derſelben vom ganzen übrigen Kreiſe unſeres Be— 
wußtſeyns. Mir iſt, als ob die Natur mit tau— 
ſend Zungen zu mir redete, und ich ihr ruhiger, 
in mich ſelbſt verſunkener Zuhörer wäre. Dieſer 
Zuſtand, weit entfernt, für den Geiſt unfruchtbar 
zu ſeyn, bringt nicht bloß einen Frieden über mich, 
der mir Kraft zu neuer Thätigkeit verleiht; ſon— 
dern ich nehme oft wahr, daß ich mehr Erinne— 
rungen davon bewahre, als ich gedacht; ſie haben 
gleichſam geſchlummert, erwachen aber in meinem 
Dichten und Denken, wenn ich ihrer bedarf, und 
überraſchen mich gleich hülfreichen Freunden, an 
deren Daſeyn ich nicht gedacht hatte. Nun, Ihre 
Wiſſenſchaft durchdringt ja die Natur; können Sie 
mir dieſen merkwürdigen Einfluß erklären? 
Alfred. Der Ort iſt einladend. Ich fühle 
Luſt, mich mit Ihnen über dieſen Gegenſtand zu 
unterhalten; aber es lag in Ihrer Aufforderung 
Etwas, das mich fürchten läßt, unſer Geſpräch 


” 


werde der Stimmung, welche der Ort hervorruft, 
nicht würdig ſeyn. 

Frank. Sie ſcheinen die Sache ſehr feierlich 
zu nehmen. N 

Alfred. Nein, im Gegentheil, ich handle 
dabei nach Berechnung. Ich will Sie ſelbſt zum 
Richter machen, ob wir die Zeit nicht beſſer an— 
wendeten, wenn wir uns hier ſchweigend den Ein— 
drücken hingäben, ſtatt ein Geſpräch zu führen, 
an deſſen Schluß der Eine die eigentliche Meinung 
des Andern noch nicht wüßte. 

Frank. Kann das Geſpräch keinen beſſern 
Ausgang haben? 


Alfred. Allerdings, wenn wir zuvor ein ge— 
wiſſes Mißverſtändniß aus dem Wege räumen. 

Frank. So thun Sie es. 

Alfred. Erlauben Sie mir denn Ihnen zu 
ſagen: es lag eine Ironie in Ihrer Aufforderung. 

Frank. Meinen Sie? 

Alfred. Ich bin überzeugt, daß Sie die ver— 
langte Erklärung für unmöglich halten, und ich 
füge hinzu, Sie haben Recht, wenn wir gelten 
laſſen, was Sie ſich dabei denken. 


68 

Frank. Laſſen Sie hören, wie genau Ihnen 
meine Meinung bekannt iſt. 

Alfred. Sie haben ſie mir gewiſſermaßen 
ſelbſt mitgetheilt. Ich habe bei andern Anläſſen 
bemerkt, daß, wenn Sie eine wiſſenſchaftliche Er— 
klärung begehren, Sie den Gegenſtand ſo in Ge— 
danken aufgelöst verlangen, daß kein Metaphy— 
ſiker weiter gehen kann. 

Frank. Ich erlaube mir zu bemerken, daß auch 
der Dichter Metaphyſiker ſeyn kann. Will man 
mir eine Erklärung geben, ſo fordere ich, daß ſie 
bis auf den tiefſten Grund dringen ſoll. 

Alfred. Ich will Ihnen dieß Recht nicht 
ſtreitig machen, ich mag es aber nicht auf 
mich nehmen, eine Erklärung in dieſem Sinne 
zu geben. 

Frank. Das iſt, Sie können keine Erklä— 
rung geben. 

Alfred. Nun, wir wollen nicht um Worte 
ſtreiten. Ich verlange nicht, daß Sie das, was 
meine Wiſſenſchaft über unſern Gegenſtand zu 
ſagen hat, eine Erklärung nennen ſollen; wenn 
Sie dieß aber ſo deuten wollten, als ob ich ein— 
räumte, die Wiſſenſchaft vermöge nichts zur 


69 


Beleuchtung der Sache vorzubringen, muß ich mich 
dagegen verwahren. 

Frank. Nun, ich darf Ihnen ja nicht mehr 
zumuthen, als Ihnen zu geben möglich ſcheint. 

Alfred. Geſtehen Sie nun ein, daß unſere 
Unterhaltung eine gegenſeitige Plackerei geworden 
wäre, wenn dieſes nunmehr beſeitigte Mißverſtänd— 
niß ſich geltend gemacht haͤtte? Das ich vorbrachte, 
wäre bei Ihrer Vorausſetzung zwecklos und der 
Sache fremd geweſen, und Sie hätten ſich abge— 
müht, mich von einer Einbildung zu heilen, die 
ich nicht hatte. In dieſer Weiſe ſehe ich oft lange 
Unterhaltungen fruchtlos verlaufen, welche von den— 
ſelben Männern, mit günſtigerem Anfangspunkte 
geführt, wahrhaft geiſtigen Genuß verſchafft hätten. 

Frank. Ich kann dieß nicht in Abrede ſtellen; 
aber ich geſtehe, ich weiß kaum mehr recht, wo— 
von wir reden wollten. 

Alfred. Ich glaube, einen vielfältigen Zu— 
ſammenhang nachweiſen zu können zwiſchen den 
Naturwirkungen und den Eindrücken, die ſie auf 
uns hervorbringen. Doch ich will lieber nicht gar 
zu genau beſtimmen, was ich geben werde; neh— 
men Sie wohlwollend an, was ich biete, prüfen 


5 * 


70 
Sie es, und wir können uns denn hinterher, 
wenn's Noth thut, nach der paſſendſten Benen— 
nung dafür umſehen. 

Frank. Wie ich ſehe, verſchanzen Sie ſich 
gegen mich, als ob ich ein gefährlicher Feind wäre. 

Alfred. Sie ſind dieß nicht mehr, wenn 
Sie keinen Angriff von mir erwarten, und wenn 
Sie überzeugt werden, daß die Wiſſenſchaft richtig 
verſtanden der Dichtung entgegen kömmt. 

Frank. Gut denn! Laſſen Sie uns zur Sache 
kommen. 

Alfred. Wenn ich den mächtigen, faſt arm— 
dicken Strahl betrachte, der hier zu etwa ſechs 
Mannshöhen hinanſteigt, ſo dringt ſich mir im 
Geheim der Eindruck von einer Kraft auf, welche 
das Waſſer zwingt, ſeiner Schwere entgegen em— 
porzuſteigen. 

Frank. Erlauben Sie mir, daß ich Sie un— 
terbreche. Ich habe mich unzähligemale dieſes 
Springbrunnens erfreut, ohne an dieſe Kraft zu 
denken. 

Alfred. Sie thun wohl daran, daß Sie mich 
nicht weiter gehen laſſen, wenn Sie nicht mit mir 
einverſtanden ſind. Vielleicht aber nehmen Sie 


N 
Ihre Einwendung ſelbſt zurück, wenn Sie ſich erin— 
nern, daß ich von einem geheimen Eindrucke ſprach. 

Frank. Aber wenn der Eindruck geheim iſt, 
ſo weiß ich ja Nichts davon, und er iſt alſo nicht 
für mich vorhanden. 

Alfred. Ich ſage, dieſe Behauptung iſt bei 
Ihnen nur eine augenblickliche Gedankenwendung; 
unzähligemale haben Sie ſolche geheime Eindrücke 
erhalten. Es iſt nicht gar lange her, daß wir 
zuſammen zwei in einem Uebungskampfe begriffene 
gewandte Fechter ſahen. Einer derſelben hatte ins— 
beſondere unſern Beifall. Legten wir uns damals 
wohl Rechenſchaft ab von der Kraftfülle und Kunſt, 
die er in der gewandten Führung der Waffen, in 
der Annahme kecker Stellungen, überhaupt dadurch 
bekundete, daß er ſeinen Körper ſo vollkommen in 
ſeiner Gewalt hatte? Sowohl die Kraft, die er an 
den Tag legte, als die deren Gepräge ſein ganzer 
Körper trug, hatte gewiß Theil an unſerem Ver— 
gnügen, nicht weil wir Betrachtungen über die 
Größe derſelben anſtellten, ſondern weil unſer in— 
neres Gemüth von Erinnerungen erfüllt war, die 
bei dieſem Anblick geweckt, uns fühlen ließen, wie 
viel Kraft ſich hier offenbare. 


— 
2 


Frank. Sie haben vollkommen Recht; ich 
ſprach vorhin gegen mein beſſeres Wiſſen. — Da 
fällt mir eben ein, als ich einmal einem Kinde, 
das dergleichen noch nie geſehen hatte, dieſen 
Springbrunnen zeigte, ſagte es: Wie kann wohl 
das Waſſer hier aufwärts ſteigen, da es ſonſt 
immer fällt? — So kann ich mir denn ſelbſt ſa— 
gen, daß uns bei dieſem Anblick ein geheimes Ge— 
fühl der Verwunderung erfüllt. 

Alfred. Sagten Sie dem Kinde die Urſache? 

Frank. Ja, ich konnte dieß leicht. Ich konnte 
dem Knaben den See nennen, woher das Waſſer 
kömmt. Er kannte dieſen und wußte, daß er eine 
hohe Lage hat; ich brauchte ihm daher bloß zu 
erzählen, das Waſſer komme von jenem See durch 
unterirdiſche Röhren, und werde durch den Druck 
der hochliegenden Waſſermaſſe emporgetrieben. 

Alfred. Ich fürchte nun, daß Sie die ge— 
heime Verwunderung, von der Sie geſprochen, 
zurücknehmen. 

Frank. Sie wollen mich in Verſuchung füh— 
ren, aber dießmal gelingt es nicht. Beim Anblick 
von etwas Ungewöhnlichem iſt immer eine ge— 
heime Verwunderung, wenn wir auch bei näherem 


Nachdenken die Urſachen kennen. Sind Sie nun 
mit mir zufrieden? 

Alfred. Sie kommen mir ja auf's Schönſte 
entgegen. Ich gehe daher nun mit um ſo größerer 
Freimüthigkeit weiter, indem ich den Blick auf die 
vielerlei Bewegungen in dieſem Waſſerſtrahl richte. 
Was gewöhnlich unſere Aufmerkſamkeit zuerſt an— 
zieht, iſt die zunehmende Dicke des ſteigenden 
Strahls. Dieſe kömmt daher, daß die Theile des 
Waſſers während des Steigens fortwährend an 
Geſchwindigkeit abnehmen, und der langſamere 
Strom eines breitern Raums bedarf, um dieſelbe 
Waſſermenge durchzulaſſen. 

Frank. Dieß iſt mir nicht ganz klar. 

Alfred. Denken Sie ſich ein Thor, gerade 
ſo breit, daß zehn Mann neben einander durch— 
gehen können und daß tauſend Mann, ſo geordnet 
und mit einer gewiſſen, abgemeſſenen Geſchwindig— 
keit, gerade in einer Minute durchgehen ſollten, 
und nun laſſen Sie dieſes mit der halben 
Geſchwindigkeit verſucht werden, ſo wären zum 
Durchgang zwei Minuten erforderlich; wollte man 
ihnen aber ein Thor verſchaffen, durch das ſie 
auch ſo noch in einer Minute ſollten durchkommen 


können, ſo müßte dieſes jo breit ſeyn, daß zwanzig 
Mann neben einander durchgehen könnten. — 
Stellen Sie ſich nun jeden Ring, den wir uns um 
den Strahl gelegt denken können, als ein Thor 
vor, durch welches das Waſſer gehen ſoll, ſo 
müßte dieſes um ſo weiter ſeyn, je geringer die 
Geſchwindigkeit iſt, mit der das Waſſer hindurch 
geht. Der Zuwachs in der Dicke, den der Strahl 
mit dem Steigen erhält, wird demnach durch 
eine Reihe naturgeſetzlicher Bewegungen hervor— 
gebracht. 

Frank. Das iſt klar. Dieſe zunehmende Dicke, 
dieſes gleichſam innerliche Wachſen, feſſelt die Ein— 
bildungskraft und erweckt den Gedanken eines in— 
nern Lebens; aber indem ich den Gedanken ver— 
folge, begegne ich einer andern Thätigkeit. Die 
Zunahme endigt damit, daß ſich der Waſſerſtrahl 
in zahlloſe Tropfen zerſplittert. — Es iſt, als 
ſähe man unzählige, feine, durchſichtige, herab— 
hängende Zweige, aus Theilen beſtehend, welche 
das Auge als getrennt erkennt, die aber doch 
ſo zuſammen hängen, als unterhielte eine unſicht— 
bare Kraft ihre Verbindung. Es kommt uns 
vor, als ob die verborgene Thätigkeit, welche 


75 
im zuſammenhängenden dicken Strahle wirkſam 
war, hier in weit reicherer Mannigfaltigkeit her— 
vorbräche. 

Alfred. Dieß ſcheint mir eine ſehr treffende 
Schilderung. 

Frank. Ihre Sache iſt es nun, den Grund 
davon anzugeben. 

Alfred. Es iſt durch Verſuche ermittelt, daß 
Waſſer, welches aus einem Behälter ausſtrömt, es 
ſey auf-, ab- oder ſeitwärts, in eine ſolche ſchwin— 
gende Bewegung verſetzt wird, daß dadurch eine An— 
lage zur Bildung von Tropfen ſich entwickelt, welche 
nach 1 Zeiträumen ihre Geſtalt verän— 
dern. Erlitt z. B. ein Tropfen in einer gewiſſen 
ehr kleinen Zeit eine Zuſammenziehung in der 
Höhe, welche ihn etwas flacher machte, ſo wird 
er im nächſten Zeitabſchnitt nach der Breite zu— 
ſammengezogen, ſo daß er länger wird. Zunächſt 
dem Ausfluß laufen noch alle Theile ineinander, 
ein zuſammenhängendes Ganze bildend; etwas wei— 
ter davon, wo der Strahl minder klar und durch— 
ſichtig iſt, ſind ſie zwar geſchieden, fließen aber 
doch ſcheinbar zuſammen, und erſt in größerer 
Entfernung findet ſichtbare Trennung ſtatt. 


76 


Frank. Weiß man auch gewiß, daß Alles 
dieſes ſo vor ſich geht? Ich ſehe z. B. nicht ein, 
wie man wiſſen kann, daß die Theile, welche ſchein— 

bar ineinander laufen, wirklich getrennt ſind. 

Alfred. Ich will Sie nicht mit einem Be— 
richt über die Entdeckung und die erſten Beweiſe 
aufhalten, ſondern nur einen neuerlich gefundenen, 
leichten Beweis anführen. Man nimmt den Ver— 
ſuch mit dem Ausſtrömen des Waſſers in einem 
dunkeln Raum vor, der nur durch eine Reihe elek— 
triſcher Funken, welche einander in kleinen Zwiſchen— 
räumen folgen, erleuchtet wird; man ſieht dann, 
daß der trübe Theil des Strahls, der vorher zu— 
ſammenhängend ſchien, aus Tropfen beſteht. 

Frank. Sehen wir denn die Gegenſtände 
bei elektriſchen Funken richtiger? 

Alfred. In dieſem Falle, ja. Denn ſo lange 
man eine Reihe ſich ſchnell folgender Tropfen in 
ſtetiger Beleuchtung erblickt, empfängt das Auge 
neue Eindrücke, ehe die früheren ausgelöſcht ſind, 
weßhalb man den einen Eindruck nicht vom andern 
zu unterſcheiden vermag; währt dagegen die jedes— 
malige Beleuchtung nur unendlich kurze Zeit, ſo 
erhält jeder Eindruck die nöthige Friſt, ſich zu 


Rt: 


bilden und ſich wieder zu verwiſchen, ehe ein neuer 
ſich darein mengen kann. 

Frank. Man muß es den Erperimentatoren 
zum Ruhme nachſagen, daß ſie nicht viel von 
Unmöglichkeiten wiſſen. Aber nun die Anlage zur 
Tropfenbildung in größerer Nähe von der Aus— 
ſtrömungsöffnung? 

Alfred. Ich übergehe hier wieder Vieles, 
was uns zu weit von unſerem Gegenſtande ab— 
führen würde, und erwähne nur gewiſſer entſchei— 
dender Verſuche, welche auch in anderer Beziehung 
hieher gehören. Wie durch Schwingungen anderer 
Körper, z. B. einer Saite, eines ausgeſpannten 
Felles, der Luft in einer Pfeife, Töne hervorge— 
bracht werden, ſo muß auch die Schwingung dieſer 
Tropfen Töne hervorbringen. Dem iſt auch wirk— 
lich ſo. Findet die Ausſtrömung unter Umſtänden 
ſtatt, welche erlauben, das Ohr dicht an den Strahl 
zu halten, und wird der Eindruck nicht von irgend 
einem andern Laute übertäubt, ſo vernimmt man 
einen ſehr leiſen Laut vom Strahle ſelbſt; läßt 
man dieſen aber auf ein ausgeſpanntes Fell, auf eine 
große Metallplatte oder in ein leeres Metallbecken 
fallen, ſo hört man den Ton ſtark genug, um 


78 


beſtimmen zu können, welcher Note er entſpricht, und 
zugleich die Zahl der Schwingungen feſtzuſetzen, 
welche erforderlich ſind, denſelben hervorzubringen. 

Frank. Aber iſt man auch gewiß, daß der 
Ton, welche das Fell, die Platte oder das Becken 
gibt, wirklich derſelbe ſey, wie der von den Tropfen 
erzeugte? 

Alfred. Ich will die Sache durch einen 
andern wohlbekannten Verſuch erläutern. Sie 
werden ohne Zweifel oft bemerkt haben, daß eine 
angeſchlagene Stimmgabel einen ſehr ſchwachen 
Ton gibt, der in einem mäßigen Abſtande gar 
nicht hörbar iſt; ſetzt man aber den Schaft derſel— 
ben auf einen Tiſch, eine Fenſterſcheibe, oder ein 
ſtraff geſpanntes Fell, ſo hört man ihn in einer 
oft überraſchenden Stärke, wobei der Ton derſelbe 
bleibt, ob es nun dieſer oder jener Körper geweſen, 
deſſen Theile zu ſeiner Verſtärkung gedient a 

Frank. Das iſt wahr. 

Alfred. In Verbindung mit den Ausſtö 
mungsverſuchen, deren ich gedachte, wird noch ein 
anderer angeſtellt, der unſere Aufmerkſamkeit ver— 
dient. Wenn man den Ton der Ausſtrömung 
gefunden hat, und denſelben Ton nun durch ſehr 


W 


kräftige Schwingungen im Strahl und in der 
Waſſermaſſe hervorbringt, ſo ſondert ſich ein großer 
Theil des zuſammenhängenden Strahls in Tropfen 
ab, ja, wenn die Wirkung ſehr ſtark iſt, betrifft 
dieſe Veränderung faſt den ganzen zuſammenhän— 
genden Theil; dadurch iſt es denn außer Zweifel 
geſetzt, daß die Schwingungen bereits im zuſammen— 
hängenden Waſſerſtrahle ſelbſt vorhanden ſind. 

Frank. Es iſt erſtaunlich, welche Summe 
innern Lebens in dieſem Waſſerſtrahle verborgen 
liegt. Aber noch fällt mir eine Frage ein: es ſind 
doch wohl keine ſolchen Töne, die wir in dem den 
Tropfenfall begleitenden Plätſchern vernehmen? 

Alfred. Nein; dieſes wird durch den Stoß 
der Tropfen gegen die Waſſerfläche verurſacht. 
Mancher wird vielleicht dieſes Geräuſch weg wün— 
ſchen, wer ſich aber dem Natureindrucke gerne in 
ſeiner Geſammtheit hingibt, wird ſolchen Wunſch 
nicht theilen. Ihm würde die Lautloſigkeit der 
fallenden Tropfen ein unheimliches Gefühl erregen, 
etwa wie ein Körper ohne Schatten. 

Frank. Ein ſchönes Bild; aber als prak— 
tiſcher Aeſthetiker muß ich doch Einſprache thun: 
dieſes Geplätſcher iſt mir oft beſchwerlich. 


* 


80 


Alfred. Mir ebenfalls, aber nur dann, wenn 
ich mich nicht dem Eindruck in ſeiner Geſammtheit 
hingebe, z. B. wenn ich dem Gegenſtande gar zu 
nahe bin. Ich bin überzeugt, der Gartenkünſtler 
hat dieſe Bank nicht ohne Ueberlegung hieher ge— 
ſetzt. Sein Naturſinn wird ihm geſagt haben, daß 
der Springbrunnen, von hier betrachtet, den ge— 
fälligſten Eindruck machen müſſe. Einem Spring— 
brunnen ſo nahe zu ſeyn, daß man das Plätſchern 
zu ſtark vernimmt, daß man ihn nicht recht überſieht, 
und daß er mit ſeiner Umgebung kein angenehmes 
Ganze bildet, iſt ſo viel, als ob man ein Gemälde in 
falſcher Beleuchtung oder in ſtörender Umgebung ſähe. 

Frank. Ich muß Ihnen wohl Recht geben. 

Alfred. Wir dürfen aber die Sache nicht 
bloß von dieſer einen Seite betrachten. Der her— 
vorgebrachte Laut bringt in das Ganze eine Le— 
bens- und Thätigkeitsäußerung weiter. Dieſer 
Laut iſt natürlich aus zahlloſen einzelnen zuſam— 
mengeſetzt, deren Wirkung durch die unter ihnen 
herrſchende Abſtufung ihre Eigenthümlichkeit erhält. 
Die mannigfachen, in verſchiedenen Bogen herab— 
fallenden Tropfen bringen eine Reihe geſetzmäßiger 
Lautwechſel hervor. Im Geſammteindruck, den wir 


81 


dadurch empfangen, ordnen ſich die vielfältigen un— 
geordneten, uns unbewußten Eindrücke, und ſo 
trägt dieſer Eindruck dazu bei, der Empfindung 
von Ruhe und Frieden die Herrſchaft in uns zu 
verſchaffen. 

Frank. Ich geſtehe, Sie eröffnen mir da 
einen Blick in den Zuſammenhang zwiſchen der 
äußern Natur und den Eindrücken, die wir von 
derſelben empfangen. 

Alfred. Und nun laſſen Sie uns die Bahnen 
betrachten, welche die Theile des Strahls durch— 
laufen. Dieſe Bahnen folgen den Geſetzen des 
Wurfs. Sie ſehen, daß der Strahl aus der Mün— 
dung der Röhre ſchräg aufwärts getrieben wird. 
Jeder Körper, der eine freie Bewegung in dieſer 
Richtung beginnt, würde derſelben fortwährend fol— 
gen, wenn ihn die Schwere nicht beſtändig davon 
abzöge. Die Bewegung wird dadurch gezwungen, 
eine krumme Linie zu beſchreiben, die unter dem 
Namen der Parabel bekannt iſt. Man kann dar— 
thun, daß dieſe Form der Ausdruck einer bedeu— 
tungsvollen Gedankeneinheit iſt, und die Erfah— 
rung zeigt, daß ſolche Formen in uns ein Gefühl 
des Schönen erwecken. 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 6 


141304 


82 


Frank. Wir haben aber hier nicht mit einer 
Bahn zu thun, ſondern mit mehreren, die, wie 
mir ſcheint, nicht alle ganz dieſelbe Figur haben. 

Alfred. So iſt es auch; durch die andern 
im Strahle wirkenden Kräfte werden Abweichungen 
hervorgebracht; der Widerſtand der Luft iſt eben— 
falls nicht ohne Einfluß darauf, aber es bleibt 
dennoch eine Mittelrichtung, welche von der Para— 
bel nicht merklich abweicht, und um dieſe herum 
liegen die andern wie eine geordnete Reihe von 
Annäherungen. Hiedurch entſteht größere innere 
Mannigfaltigkeit neben zuſammenfaſſender Einheit; 
auf dieſe Weiſe kommt in den Eindruck eigenthüm— 
liche Reichhaltigkeit und Gedankenfülle. 

Frank. Ueber den letzten Ausdruck müſſen 
Sie ſich näher erklären. 

Alfred. Gerne; doch möchte ich hier nur den 
nächſten Grund dafür angeben und nicht ſo weit 
in die Gedankenreihe zurückgehen, als Sie ſonſt 
wohl zu fordern berechtigt wären. Dieſes vor— 
ausgeſetzt, antworte ich, daß die Naturgeſetze in 
der äußern Welt daſſelbe ſind, wie die Gedanken 
in uns ſelbſt. Jene ſind die ewigen Gedanken, 
wonach ſich die Dinge richten, ohne daß ſie ein 


83 


Bewußtſeyn davon haben, welche aber die Wiſſen— 
ſchaft aus ihnen entwickelt. Letztere ſind dieſelben 
ewigen Gedanken, aber in unſerem eigenen Selbſt 
hervorgebracht. So finde ich überall, wo eine 
Mannigfaltigkeit von Naturgeſetzen unter einer 
herrſchenden Einheit zuſammenwirkt, eine Fülle 
von Gedanken und ich behaupte, unſer innerer 
Sinn, der nach denſelben Geſetzen gebildet iſt, 
faßt dieß als Schönheit auf. 

Frank. Ihre Meinung iſt mir klar genug, 
und ich darf unſer Geſpräch nicht unterbrechen, 
um Beweiſe für die Sätze zu verlangen, die Sie 
herbeizogen. Ich bitte Sie lieber um Ihre Anſicht 
über eine andere Wirkung, welche ſo eben meine 
Aufmerkſamkeit feſſelt. Mir deucht das dort vom 
Waſſerſtrahle kommende Licht habe etwas Eigenthüm— 
liches, es gleiche nicht dem von klaren Glasperlen, 
noch dem, wie es von einem ſtehenden Gewäſſer 
kommt; ich bemerke daran ein eigenthümliches Blinken. 

Alfred. Dieß liegt in der Natur der Sache. 
Während das Springwaſſer unſern Sinnen ge— 
wiſſermaßen wie eine ſtehende Figur vorſchwebt, 
indem die Tropfen, welche beim Fall ihre Stelle 
verlaſſen, durch andere erſetzt werden, kommt uns 


84 


natürlich dennoch das Licht von daher mit allen 
den zitternden Bewegungen zu, welche die Zurück— 
werfung deſſelben von den unaufhörlich wechſelnden 
Gegenſtänden erzeugen muß. Ich meine hier aber 
nicht bloß die Ortsveränderung der Tropfen, es 
ſind dabei noch zwei andere Verhältniſſe zu berück— 
ſichtigen: das eine derſelben, deſſen ich ſchon vor— 
hin erwähnt habe, iſt die Formveränderung, welche 
jeder Tropfen durch innere Schwingungen erleidet, 
und die ſo ſchnell vor ſich gehen, daß die dadurch 
hervorgebrachten Eindrücke zwar nicht zu unterſchei— 
den ſind, daß ſie aber dem zurückgeworfenen Lichte 
gleichwohl einen eigenthümlichen Charakter geben; 
das andere beſteht darin, daß die Tropfenreihen 
eigentlich aus großen und dazwiſchenliegenden ſehr 
kleinen Tropfen zuſammengeſetzt ſind; ich glaubte dieß 
nicht erwähnen zu müſſen, als ich von der Tropfen— 
bildung ſprach, dieſe kleinen Tropfen gehören in— 
deſſen mit zur Sache. Durch alles dieß empfängt 
das Auge eine ganze Reihe innerlich verbundener 
Eindrücke, welche denen von durchſichtigen unbe— 
weglichen Körpern hervorgebrachten nicht gleichen 
können. 

Frank. Ich habe mitunter ähnliche Eindrücke 


85 


von Tropfen erhalten, welche nach ſtarkem Regen 
oder beim Thauwetter vom Dache fallen, wenn 
ſie von der Sonne beſchienen werden. 

Alfred. Dieſe Eindrücke müſſen verwandt 
ſeyn, da die Tropfenbildung auch hier denſelben 
Geſetzen gehorcht. 

Frank. Da ich im Augenblick über dieſen 
Punkt keines weitern Aufſchluſſes bedarf, ſo werfe 
ich eine allgemeine Frage auf. Ich habe viele 
Springbrunnen geſehen, die vom gegenwärtigen 
ſehr verſchieden waren. Viele ſah ich mit ver— 
hältnißmäßig viel größerer Kraft hervorbrechen, 
ſich in bei weitem feinere Tropfen zerſtreuen und 
daher des hier deutlichen Gepräges von Ruhe in 
der Bewegung entbehren. Auch habe ich vor Jah— 
ren ein ſehr großes Springwaſſer geſehen, deſſen 
Eindruck wieder ein anderer war. Daß die ſehr 
kleinen, wie alles Unbedeutende, nur einen gerin— 
gen Eindruck machen, wundert mich nicht, ich kann 
mir ſelbſt denken, daß ein gar zu unbedeutender 
Springbrunnen, als mißlungener Verſuch, den 
Spott herausfordern mag, allein jene andern Ver— 
ſchiedenheiten möchten doch unſerer Aufmerkſamkeit 
werth ſeyn. 


86 

Alfred. Ich wende mich zuerſt zu den Spring— 
brunnen, welche eine im Verhältniß zu ihrer Maſſe 
große Kraft hervortreibt. Die größere innere Be— 
wegung und ein beträchtlicherer Widerſtand der Luft 
ſind hinreichende Urſachen ihrer größern Zerſplit— 
terung, und darum iſt ihnen, wie Sie bemerkt haben, 
ein ſtärkeres Gepräge von Leben und Bewegung 
eigen, ſie brauſen und ſchäumen und überwältigen 
uns gleichſam mit ihrer Kraft, weßhalb ſie mir für 
große volkreiche Städte und ſtark beſuchte Gärten 
paſſend ſcheinen, wogegen ein dickerer, langſamerer 
Strom ſtillern Orten beſſer entſpricht. 

Frank. Aber was ſagen Sie von den außer— 
ordentlich großen Springwaſſern, welche demnach 
dieſem in allem Weſentlichen gleichen? 

Alfred. Ich hatte ſelbſt Gelegenheit, den 
Unterſchied recht zu empfinden, den die ungewöhn— 
liche ordentliche Größe hervorbringt. Der Spring— 
brunnen, der mir dazu Anlaß gab, hatte, wenn 
mir recht iſt, 180 Fuß Höhe und die Dicke eines 
mittleren Menſchenleibes; wollte ich mich demſelben 
fo nahe ſtellen, daß ich von den einzelnen Theilen. 
einen merkbaren Eindruck erhielt, ſo konnte ich 
das Ganze nicht überſchauen, wenigſtens ſo nicht, 


87 


daß ich die Form deſſelben recht aufzufaſſen ver— 
mocht hätte; dazu kam noch, daß der Lärm der fal— 
lenden Tropfen etwas Betäubendes hatte, das die 
Eindrücke der kleinern Fallbewegungen ſchwächte. 
Zwar unterſcheiden wir dieſe Eindrücke nicht be— 
ſtimmt, aber wir haben gleichwohl ein Gefühl der— 
ſelben. Der Eindruck dieſes großen Springbrun— 
nens war übrigens kein geringer, aber anderer 
Art, ſtärker, großartiger, eher ein erhebender als 
ein harmoniſch befriedigender Anblick. Die innere 
Harmonie war keineswegs aufgehoben, aber der 
Eindruck derſelben mußte dem Gefühl mächtiger 
Kraft und Größe weichen. 

Frank. Sie haben Recht. In einem mäch— 
tigen Waſſerfalle tritt das Harmoniſche noch mehr 
zurück, und in einer unüberſehbaren vom Sturm 
aufgeregten Meeresfläche erlöſcht es faſt ganz; da 
herrſcht ganz der Eindruck der Größe und Erha— 
benheit. Es gibt aber einen gewiſſen Grad von 
Größe, der nicht mehr ſchön iſt. 

Alfred. Unſtreitig, wenn wir das Wort 
ſchön in der gewöhnlichen beſchränkten Bedeutung 
nehmen, und zwar mit Recht; aber mir ſcheint, 
trotz aller Verſchiedenheit, eine Grundähnlichkeit zu 


88 


beſtehen zwiſchen der Seelenthätigkeit, mittelſt wel— 
cher wir das Erhabene und derjenigen, mittelſt 
deren wir das faſſen, was wir eigentlich ſchön 
nennen, eine unbewußte Vernunft in der Natur, 
macht ſich nämlich auch hier geltend. Meiner Mei— 
nung nach erſchienen bei den Menſchen im Allge— 
meinen, ſie mögen nun zur klaren Einſicht einer 
die ganze Natur durchdringenden Vernunft gekom— 
men ſeyn oder nicht, gemäß der allgemeinen ver— 
nünftigen Harmonie die Natureindrücke in Ueber— 
einſtimmung mit dieſer verborgenen Vernunft. Das 
heftig bewegte Meer, der Sturm, der Blitz ver— 
künden ſich uns als Mächte, in denen der unbe— 
kannte Geiſt der Natur ſich offenbart. Ein ver— 
wandtes Gefühl erregt in uns das Weitausge— 
dehnte, wie das Himmelsgewölbe, eine große Mee— 
resfläche, eine mächtige Gebirgsmaſſe. Solche treten 
uns als Werke der unendlichen Naturmacht ent— 
gegen und erwecken in uns das Gefühl des Unab— 
hängigen, Allbeherrſchenden. 

Frank. Oft aber habe ich ſolchen großen Gegen— 
ſtänden gegenüber doch auch entgegengeſetzte Gefühle 
gehabt. Ich erinnere mich noch wohl, daß mich 
in einer Felsgegend, wo eine ungeheure Bergwand 


89 


jich vor meinen Augen erhob, ein überwältigendes 
Gefühl von Verlaſſenſeyn und Tod überkam. 
Alfred. Solches begegnet uns leicht, wenn 
nichts vorhanden iſt, was uns kräftig an Le— 
ben und Thätigkeit erinnert. Ergreift uns das 
Gefühl der Erhabenheit, wenn wir aus einer 
wüſten Steinfläche zu einer gewaltigen Klippenwand 
emporſchauen, ſo kommt dieſes wohl vorzüglich da— 
her, daß unſer Geiſt, in dem zahlloſe Erinnerun— 
gen an andere Verhältniſſe erwachen, ſich der 
Kraft zuwendet, wodurch der Gegenſtand hervor— 
gebracht worden. Dieſer ſelbſt enthielt keine ſtarke 
Aufforderung hierzu; der Geiſt mußte eine eigene 
Richtung und Stimmung haben, um hier mehr 
bei der Größe zu verweilen, als vor dem herr— 
ſchenden Tode zurückzuſchrecken. Anders verhält 
es ſich, wenn ſich das Gebirge in ſehr mannig— 
faltigen Formen entfaltet; wenn Waſſerfälle ſchim— 
mern, ſchäumen, brauſen, wenn Wälder und 
Graswuchs bezeugen‘, daß der Boden nicht un— 
fruchtbar ſey, wenn Vögel und Inſekten die Luft 
beleben, denn da enthält die Natur ſelbſt eine Auf— 
forderung für uns, unſere Aufmerkſamkeit auch dem 
Großen zuzuwenden. Ohne Vorgefühl vom innern 


90 


Leben der Vernunft würde das, was ſonſt ſchön 
genannt werden könnte, nur todt ſeyn; das Le— 
bensvolle in einem Dinge erweckt in uns ſelbſt 
Leben, und dieſes Lebensgefühl gehört mit zum 
vollen Schönheitsgenuſſe. Welche reiche Mannig— 
faltigkeit innerer Thätigkeit erblickten wir in jenem 
Springbrunnen! Wäre ſie davon zu trennen, ſo 
würde das Uebrige nur einen matten Eindruck 
zurücklaſſen. Ein Verſuch, dieſen Springbrunnen 
zu malen, könnte, wenn er meiſterhaft ausgeführt 
wäre, wohl Beifall finden, aber der Genuß, welcher 
aus der eigenthümlichen Natur des Gegenſtandes 
entſpringt, wäre ſehr geſchmälert, weil Bewegung, 
Glanz und Lichtſpiel durch kein Gemälde wieder— 
gegeben werden können; ich habe verſchiedenemale 
gemalte Springbrunnen geſehen, aber der hervor— 
gebrachte Eindruck war ſehr armſelig. 

Frank. Ich kann dem nicht widerſprechen. 
Sie fordern alſo, das Schöne ſolle das Erhabene, 
das Lebendige und das Harmoniſche umfaſſen; 
aber nach dem, was Sie über das Erhabene ge— 
äußert, ſcheint mir dieſes nur eine eigene Art des 
Lebendigen; Sie führten hierzu ganz beſonders 
mächtige Wirkungen als Beiſpiele an. 


91 


Alfred. Aber auch große Werke; doch ich 
leugne nicht, daß auch dieſe auf die hervorbrin— 
gende Kraft hindeuten. Im Erhabenen iſt es in— 
deſſen nicht die Thätigkeit wobei der Gedanke ver— 
weilt, ſondern die Unabhängigkeit die ſich darin 
offenbart; dieß kann auf verſchiedene Weiſe ge— 
ſchehen, ſo daß ſich das Erhabene in mehrere 
Arten eintheilen läßt, ich denke, wir laſſen uns 
hier aber nicht darauf ein. Dagegen möchte ich 
bemerken, daß alle Bedingungen der Schönheit in 
ihrem innern Grunde ſo zuſammenhängen, daß 
ſie uns immer vereinigt entgegentreten. 

Frank. Der Abend bricht an, ich muß Sie 
verlaſſen, ich werde zu Hauſe erwartet. Während 
ich aber daran denke, welche Befriedigung mir 
unſere Unterhaltung gewährt hat, überraſcht mich 
ein unbehagliches Gefühl; es kommt mir vor, als 
ſeien unſere Betrachtungen allzu materiell geweſen. 

Alfred. Von dieſem Gefühl werden wir leicht 
befallen, ſo oft wir einen Zuſammenhang zwiſchen 
unſerem eigenen innern Leben und den Einflüſſen 
der äußeren Natur wahrnehmen; aber rührt dieſes 
Gefühl davon her, daß wir die Natur ſelbſt zu 
materiell auffaſſen? Mir ſcheint, wir vergeſſen in 


92 


ſolchen Fällen, oder erinnern uns vielmehr nicht 
daran, daß die Natur das Werk deſſelben Geiſtes 
iſt, dem wir unſer eigenes Daſeyn verdanken. 
Wenn wir uns den Gedanken recht lebendig ver— 
gegenwärtigen, daß es dieſelbe Vernunft, dieſelben 
ſchaffenden Kräfte ſind, welche ſich in der äußern 
Natur, wie in unſerem eigenen Denken und Füh— 
len offenbaren, ſo muß ja dieſes unſer Verhält— 
niß zur Natur uns als ein Theil der großen 
Harmonie der Weſen, nicht aber als eine Folge 
des Uebergewichts des Körperlichen über das Gei— 
ſtige erſcheinen. 

Frank. Sie haben Recht. Ich hätte mich 
durch dieſes Bedenken nicht ſollen irren laſſen; 
unſere Unterredung enthält ja Andeutungen genug 
die demſelben entgegentreten. 


Die Waturauffafung 


Denkens und der Einbildungskraft. 


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Ueber das Verhältniß zwiſchen der Watnranf- 
faſſung des Denkens und der Einbildungskraft. 


Mitgetheilt in der Verſammlung ſkandinaviſcher Naturforſcher in 
Chriſtiania 1844. 

Es iſt bekannt genug, daß das Menſchenge— 
ſchlecht in der Entwickelung ſeiner Fähigkeiten und 
ſeiner Weltauffaſſung gewiſſen Hauptrichtungen 
folgt, welche ſich zwar in vielfältige Nebenzweige 
verbreiten, aber doch Jahrhunderte hindurch fort— 
geſetzt werden, ohne genugſam ineinander einzu— 
greifen, um ein organiſches Ganze zu bilden; ſelbſt 
in Wiſſenſchaften, welche aus nahe verwandten 
Beſtrebungen entſpringen, findet dieſes ſtatt. Wie 
lange währte es nicht, ehe ſich die Erdbeſchreibung 
und die Pflanzenkunde zur Bildung einer Pflan— 
zengeographie vereinigten! und wie neu iſt nicht 
die Verbindung, in welche die Geologie ſowohl 
mit der Erdbeſchreibung, als mit der Thier- und 


96 


Pflanzenkunde getreten iſt, und doch liegen; ſie 
einander ſo nahe. Wie natürlich iſt es alſo nicht, 
daß ein viel größerer Zwiſchenraum zwiſchen Auf— 
faſſungen, welche von ſehr verſchiedenen Seelen— 
kräften beherrſcht werden, unbebaut liegen bleibt! 
Ich meine hier die Auffaſſung der Naturverhält— 
niſſe durch das Denken auf der einen Seite, und 
der Einbildungskraft auf der andern. Zwar ſind 
in beiden dieſelben Thätigkeiten wirkſam: unſere 
denkende Auffaſſung vermag ebenſo wenig der gei— 
ſtigen Anſchauung zu entbehren, welche allem un— 
ſerm Erkennen der Außenwelt zum Grunde liegt, 
wie die Einbildungskraft der Fähigkeit zum Denken 
entbehren kann, welche das Formgebende in allen 
ihren Schöpfungen ausmacht; aber Niemand wird 
die große Verſchiedenheit in der Art, wie beide ſich 
äußern, verkennen; ſie haben daher auch jede ihr 
Reich, und jede derſelben muß in eigener Weiſe 
wirken und ſich ausbilden. Eine unbefugte An— 
wendung der Einbildungskraft auf die Wiſſenſchaft 
oder des Denkens auf die Kunſt wirkt, wie be— 
kannt, nachtheilig. Man hat Beiſpiele genug hier— 
von in den poetiſirenden Verſuchen, welche manch— 
mal in der Wiſſenſchaft gemacht worden ſind, und 


97 


in den noch häufigern Verſuchen, die Kunſt zu zwin— 
gen, ſich in ihren Leiſtungen den Vorſchriften des 
Denkens zu unterwerfen; aber übertrieben iſt doch 
die Furcht, welche das Gefühl dieſer Mißbräuche 
bei vielen hervorgebracht hat. Es gehört nicht zu 
meinem Zweck, hier von der Art zu ſprechen, 
in welcher dieſe Einſeitigkeit ſich unter den Bear— 
beitern der Wiſſenſchaften äußert; aber es iſt 
die Furcht vor der denkenden Auffaſſung, welche 
man häufig bei denen findet, die ſich gar zu aus— 
ſchließlich in die Welt ihrer Einbildungskraft ein— 
gelebt haben, welche ich hier in's Auge faſſen 
werde. Dieſe Furcht äußert ſich keineswegs gleich— 
mäßig in allen Richtungen bei demſelben Men— 
ſchen; es gibt Viele, die in allen bürgerlichen 
Verhältniſſen und in allen Wiſſenſchaften, welche 
ſich zunächſt auf die Betrachtung des Menſchen 
und der menſchlichen Begebenheiten beziehen, dem 
Denken und der durch daſſelbe erworbenen Einſicht 
ſeinen vollen Spielraum laſſen, damit es die 
Thätigkeit beherrſche, mittelſt welcher die Einbil— 
dungskraft ihre Welt ſich bildet; allein die Einſicht, 
welche aus der Betrachtung der Körperwelt er— 
worben wird, hat nicht vermocht, die gleichen Rechte 


7 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 5 7 


98 


bei ihnen zu erlangen, weil fie mit derſelben nicht 
ſo vertraut ſind. In der Weltanſchauung, welche 
ſich die Mehrheit gebildet hat, findet man daher 
ein wunderliches Gemiſch der Einſichten neuerer 
Zeiten und einer Naturauffaſſung, welche größ— 
tentheils der Kindheit des Menſchengeſchlechts an— 
gehört. Man erkennt Vieles in der Einkleidung 
dieſer Naturanſchauung als fabelhaft, aber man 
kann deſſen nicht entbehren, weil man Nichts hat, 
was man der Einbildungskraft als Erſatz dafür 
anbieten kann. Sogar alles dasjenige, wodurch 
ſich dieſe den Gehalt der wahren Religion aus— 
zuſchmücken pflegt, oder den leeren Raum den 
unſere Kenntniſſe von den höhern Dingen uns 
fühlbar werden laſſen, gehört einer längſt ent— 
ſchwundenen Zeit an. Daher das ſonderbare 
Grauen Vieler vor den Reſultaten der Natur— 
wiſſenſchaft, welche die Welt zu zerſtören droht, 
die ſich ihr Glaube und ihr Schönheitsſinn ge— 
bildet hatten, wodurch ſie in eine Leere und 
Nichtigkeit verſetzt würden, die allerdings ſchauder— 
haft ſeyn müßte, wenn ſie unvermeidlich wäre; 
für ſolche ſind daher die Triumphe der Naturwiſ— 
ſenſchaft, welche uns mit Freude erfüllen, nichts 


99 


als gefährliche Fortſchritte eines feindlichen Er— 
oberers. Sie wünſchen dieſen Feind zurückgetrie— 
ben: faſſen dann und wann eine ſchwache Hoff— 
nung, welche doch ein ſtärkeres Gefühl der Wahr— 
heit jedesmal von Neuem vernichtet, ſo daß ſie 
in der Wirklichkeit ſich auf die Wahrheit des Da— 
ſeyns, in welches ſie ſich hineingelebt haben, nicht 
verlaſſen können. Ihr beſter Troſt iſt daher, ſo viel 
als möglich den gefährlichen Feind zu vergeſſen. 

In dieſem Zuſtande der Dinge findet der 
Naturforſcher eine Aufforderung zu zeigen, wie 
die Wahrheiten, welche Nachdenken und Beob— 
achtung der Natur lehren, reichen Stoff für die 
Einbildungskraft enthalten. Dieſer darf jedoch 
nur unter der Bedingung benützt werden, daß 
man ſich mit jenen Wahrheiten ebenſo vertraut 
mache, als man bisher mit der Fabel geweſen. 
Es wird dabei jedoch nicht erfordert, daß Jeder 
in die ſtreng wiſſenſchaftliche Naturforſchung ein— 
dringe, jo wenig, als die bisher gewöhnlichſte 
Bildung eine gelehrte Kenntniß der Fabelwelt 
vorausſetzte; nein, die Naturforſcher müſſen, und 
zwar mit vermehrter Thätigkeit, in ihrem Be— 
mühen fortfahren, die Wahrheiten der Natur— 


100 


wiſſenſchaft anſchaulich zu machen und das darin 
enthaltene wirkliche Naturleben darzuſtellen; ver— 
gebens wird man in unſern Tagen ſtreben, ſich 
dieſe in der Einkleidung der alten Dichtung an— 
zueignen. Auch der Unwiſſendſte unter uns hat, 
ohne es ſelbſt recht zu bemerken, als Theilnehmer 
einer allgemeinen Erbſchaft, Naturkenntniſſe em— 
pfangen, welche ſich mit der von dem Kindesal— 
ter der Menſchheit herſtammenden Weltanſchauung 
nicht vereinigen laſſen, andererſeits aber auch 
nicht hinreichen, ihn in die Weltanſchauung ein— 
zuführen, welche die neuere Naturwiſſenſchaft er— 
öffnet. Unſer Zeitalter fühlt daher mehr als irgend 
eines der früheren das Bedürfniß einer Verſöhnung 
zwiſchen der Welt ſeines Denkens und der ſeiner 
Einbildungskraft. Jene Verſöhnung iſt zwar nicht 
auf einmal zu bewirken, ſondern muß die Frucht 
vielfältiger Beſtrebungen ſeyn; als ein Beitrag 
dazu dürfte aber eine Reihe von Darſtellungen 
dienen, welche zeigen werden, wie die anſchauende 
und die damit verknüpfte ahnende Naturauffaſſung 
näher beſtimmt und weiter entwickelt wird mittelſt 
der durch das Denken erworbenen Einſicht. 

Ich wage hier einen ſolchen Verſuch darzu— 


101 

bieten, der, wenn er Beifall zu finden das Glück 
hat, den Anfang einer allmählig fortzuſetzenden 
Reihe bilden ſoll. Mein Gegenſtand iſt dießmal 
der großartigſte, den ich zu wählen vermochte: 
der Sternhimmel. Ich weiß, daß dieſer als Ge— 
genſtand allgemeiner Betrachtungen durch die vielen 
ihn betreffenden leeren Deklamationen in übeln 
Ruf gekommen iſt; aber dieß kann uns von einer 
Unterſuchung über die Gründe der Gefühle nicht 
abſchrecken, welche die Betrachtung des Sternhim— 
mels bei allen Menſchen erregt, die ſich derſelben 
wirklich hingeben und ſich nicht von ſolchen Gedanken 
beherrſchen laſſen, welche ſie davon abziehen. Viel— 
leicht werde ich Mißfallen zu fürchten haben, weil 
ich manches allgemein Bekannte hier mittheile; zur 
Darſtellung des Ganzen aber iſt es unvermeidlich. 

Es iſt natürlicher Weiſe der klare, wolkenloſe 
Sternhimmel bei ruhigem Luftzuſtande, dem ich 
hier die Aufmerkſamkeit zuwende. Der Eindruck, 
den er hervorbringt, hat etwas für alle Menſchen 
Gemeinſames. Aber die Stärke und Klarheit deſ— 
ſelben iſt nicht bloß nach den verſchiedenen Na— 
turanlagen, ſondern auch nach der verſchiedenen 
Bildungsſtufe, welche jeder von uns einnimmt, 


verschieden. Es iſt vornehmlich die Bedeutung von 
dieſer, auf welche wir die Aufmerkſamkeit zu rich— 
ten haben; aber erſt müſſen wir uns Rechenſchaft 
von dem ablegen, was darin das Gemeinſchaftliche 
für alle Menſchen iſt. 

Die Größe des Eindrucks, den der Sternhim— 
mel hervorbringt, braucht nur erwähnt zu werden. 
Sie iſt von einer ſo ſinnetreffenden Natur, daß 
ſie ſich zu allererſt bei Jedem geltend macht. Selbſt 
dem Menſchen, der am allermeiſten auf dem Stand— 
punkt bloßer Sinnlichkeit ſteht, bei dem alſo die. 
wachende Vernunft am wenigſten ihre heimlichen 
Winke in die ſinnliche Auffaſſung wirft, muß der 
Sternhimmel als das Größte erſcheinen, was er 
kennt; aber die große Ausdehnung würde uns todt 
und leer ſeyn, wenn ſie nicht durch die zahlloſen 
Sterne belebt würde. Das Licht, welches dieſe vom 
Himmel ftrahlen, wird uns durch das Dunkel der 
Erde doppelt bedeutungsvoll; eben daß wir von 
allen Gegenſtänden, die uns an die beengenden 
Verhältniſſe des Alltagslebens mahnen, und von 
allem Vergänglichen, was ſich ſonſt in unſerer 
Nähe geltend macht, nichts ſehen, läßt unſere 
Seele ſich erweitern, ſchärft unſern Sinn für das 


103 
Licht aus einer höhern, größern und weniger ver— 
gänglichen Welt. Die Herrlichkeit des Lichts tritt 
hier auf eine eigenthümliche Weiſe hervor; ſeine 
belebenden und wohlthätigen Wirkungen haben es 
zu jeder Zeit zum ſchönſten Bilde des Lebens und 
des Guten gemacht. Unter dem klaren, milden, 
niemals blendenden Sternlichte, welches nur in 
einem unmerklichen Grade uns andere Gegenſtände 
ſichtbar macht, indem es ſo zu ſagen nur das Licht 
ſelbſt iſt, das ſich zeigt, durchdringt uns ein Ge— 
fühl, als ob Licht und Leben und Glückſeligkeit 
nur dort in jener Ferne wären, Dunkel dagegen, 
Tod und Schrecken hienieden. Es verſteht ſich, daß 
eine gewiſſe Art einſeitigen Denkens dieſer Auf— 
faſſung leicht eine falſche Deutung geben könnte; 
aber das Gefühl, welches die Anſchauung auf den 
unbefangenen Sinn ausübt, hat damit Nichts zu 
ſchaffen. 

Zu dieſem Allen geſellt ſich noch die tiefe, ſo 
zu ſagen fühlbare Stille der Nacht, durch welche 
wir ebenſo ſchwach an die niedere Welt durch das 
Ohr als bei der milden Sternbeleuchtung durch das 
Auge erinnert werden. Kurz, es iſt kein zufälliges 
Spiel der menſchlichen Einbildungskraft, was uns 


104 


zur Andacht unter dem nächtlichen Sternhimmel 
erweckt hat; ſondern es iſt ein in der Natur der 
Dinge tief begründetes Gefühl. 

Wie verſchieden davon iſt nicht die Mondſchein— 
nacht! Die mild leuchtende Scheibe nöthigt uns 
nicht, wie die Sonne, das Auge niederzuſchlagen, 
ſondern zieht es zu ſich herauf und dadurch zum 
Himmel. Inzwiſchen überſtrahlt ſie das Licht der 
Sterne in dem Grade, daß dieſes unſere Aufmerk— 
ſamkeit weniger feſſelt und daß es zum Theil ſelbſt 
gar nicht ſichtbar iſt, wogegen das Mondlicht uns 
von der Erde genug erblicken läßt, um dieſe nicht 
zu vergeſſen; ſo ſchweben Sinn und Gedanke 
zwiſchen Himmel und Erde ohne beſtimmte Rich— 
tung, aber voll milder Schwärmerei. 

Laſſen Sie uns nun die Geſtalten betrachten, 
welche dieſe Grundauffaſſung auf den verſchiedenen 
menſchlichen Standpunkten annimmt. Wir können 
uns leicht die Weiſe vorſtellen, in welcher der 
ganz ungebildete Menſch die Größe des Stern— 
himmels empfindet: das hohe Gewölbe umfaſſet 
Alles, was er auf der Erdoberfläche kennt, und er— 
hebt ſich über alle Wälder und Berge. Sein Maß— 
ſtab iſt unläugbar viel zu klein für den Himmel, 


105 


aber dieſer bleibt ihm doch das Größte, was 
er kennt; die Sterne ſind ihm nur Lichtpunkte, 
aber die Klarheit und Reinheit ihres Lichts wer— 
den nicht unterlaſſen, auf ihn einzuwirken. Der 
Gegenſatz zwiſchen dem hellen Himmelsgewölbe und 
der dunkeln Erde, die Stille und die ſie begleitende 
Seelenruhe haben Etwas in der Sinnlichkeit ſo 
wohl begründetes, daß ihm dieſe Eindrücke auch 
nicht fremd bleiben können. 

Denken wir uns nun einen Menſchen, bei dem 
das Nachdenken und der Wahrnehmungsgeiſt zu 
einer merklichen Thätigkeit gekommen ſind, ſo wird 
bei dieſem auch ſchon der Maßſtab für die Größe 
des Himmels gewachſen ſeyn. Er hat ſich verſchie— 
dene Sterne bemerkt, die er wieder erkennt, und 
namentlich haben einige einander nahe ſtehende 
ausgezeichnete Sterne ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich 
gezogen: er hat ſie über fernen Berggipfeln geſehen, 
und indem er ſich dieſen näherte, wahrgenommen, 
wie ihre Entfernung unter einander zu wachſen 
ſchien, während der Abſtand dieſer Sterne unver— 
ändert blieb; dieſer mußte folglich ſo groß ſeyn, 
daß der ganze von ihm zurückgelegte Weg im Ver— 
gleich damit keine Bedeutung hatte. Er hat dem— 


106 


nach ſchon einen größeren Maßſtab, welcher feine 
Vorſtellung von der Größe des Himmels erweitert. 
Er hat bemerkt, daß alle irdiſchen Lichter ſchwä— 
cher und immer ſchwächer werden, je größer ihre 
Entfernung wird, und in einem mäßigen Abſtande 
ganz verſchwinden. Aber die Lichter des Himmels, 
von denen er weiß, daß ſie viele Male entfernter 
von ihm ſind, als die fernſten Berge, ſtehen da ſo 
rein und klar, als ob ſie einer andern Ordnung der 
Dinge angehörten. Er hat in Stunden der Be— 
obachtung und des Nachdenkens ſolche Schlüſſe ge— 
macht, aber die Erinnerung dieſer Ergebniſſe folgt 
ihm auch in die Stunden, in denen er ſich dem 
großen Eindruck der Natur ruhig hingibt. 
Denken wir uns ferner den Menſchen auf der— 
jenigen Bildungsſtufe, auf der er ſchon einen An— 
fang aſtronomiſcher Kenntniſſe erlangt hat, ſo 
etwa, wie es bei den Chaldäern der Fall geweſen 
ſeyn mag, ſo gewinnt die Himmelsbeſchauung eine 
neue Größe und Fülle. Er weiß nun, daß es 
unter den kleinen Himmelslichtern Wanderſterne 
gibt, welche ihren vorgeſchriebenen Gang unter 
denen haben, deren Stelle an der Himmelswölbung 
feſt iſt. Es iſt ihm bekannt, daß ſowohl dieſe, 


107 


als Sonne und Mond, ihren geordneten Gang 
haben. Die ſtetige Beobachtung vieler Geſchlechter 
haben zu einiger Kenntniß der ungleichen Entfer— 
nungen dieſer wandernden Himmelskörper geführt; 
während er ſich dem reinen Eindruck der Himmels— 
beſchauung hingibt, wiederholt er ſich gewiß nicht 
alle die Kenntniſſe, welche die Frucht der Unter— 
ſuchungen des Menſchengeſchlechts, zum Theil viel— 
leicht auch ſeiner eigenen iſt; aber ſie ſind ſeiner 
Anſchauung ebenſo gegenwärtig, als die Erinne— 
rung gewöhnlicher Lebenserfahrungen dem Alltags— 
menſchen ſind. Sein Maßſtab iſt abermals weit 
größer, als auf dem vorigen Standpunkte; ihm er— 
ſcheint die Entfernung des Mondes ſchon ungeheuer 
im Vergleich zu allen Entfernungen auf der Erde, 
und doch ſehr gering im Vergleich mit jener der 
andern Himmelskörper, an denen der Mond oft 
vorbeigeht und die er dem Auge entzieht. Jeder 
wird fühlen, wie ſehr hier der Gedanke von der 
Größe des Himmels ſchon gewachſen und bedeu— 
tungsvoll geworden iſt; aber der große Gedanke 
einer Ordnung der Himmelsbewegungen, und zwar 
einer für die Erde erfolgreichen und wohlthätigen 
Ordnung kömmt hier noch hinzu: Es iſt der 


108 


Gedanke einer vernünftigen Lenkung außerhalb der 
Erde, einer höheren Vernunft, welche hier hervor— 
tritt, wenn auch in Folge der menſchlichen Natur— 
beſchaffenheit, nicht ohne viele fremde Beſtandtheile. 
Auf dem früheren Standpunkte erfüllte die Ein— 
bildungskraft den leeren Raum in dem Wiſſen 
dadurch, daß ſie einen Sonnengott den leuchten— 
den Feuerwagen des Tags über den Himmel 
führen ließ, um ihn des Nachts im Schooße des 
Meeres ausruhen zu laſſen. Auch der Mond er— 
hielt ſeine über das Himmelsgewölbe hinfahrende 
Gottheit. Dieſe Vorſtellungen verſchwinden ſchon 
auf einer frühen Entwickelungsſtufe der aſtrono— 
miſchen Wiſſenſchaft, obgleich ſie ſich noch lange 
im Volke behaupten, nicht nur bei den Unwiſſen— 
den, ſondern ſelbſt bei denen, welche mit ander— 
weitiger Bildung nicht diejenige verbinden, die 
aus einer fleißigen Himmelsbetrachtung geſchöpft 
wird. Dagegen erhebt ſich der Gedanke noch nicht 
bis zur Einheit einer göttlichen Lenkung; jedes 
der wandernden Himmelslichter erhält ſeine eigene 
Gottheit mit irdiſchen Eigenſchaften ausgeſtattet. 
Der unberechenbare Einfluß der Sonne auf die 
Erde, ſowie der nicht unbedeutende des Mondes 


109 


ließ, ſowohl vermöge feines Lichts als feiner Zeit— 
wechſel, den Gedanken leicht aufkommen, daß auch 
die andern Himmelslichter nicht ohne Einfluß auf 
die menſchlichen Verhältniſſe ſeyen, und dieſer 
Gedanke mußte um ſo mehr Wurzel faſſen, als 
man nicht darauf verfiel, dem Himmel eine andere 
Bedeutung, als eine ſich auf die Erde beziehende 
beizulegen. Hatten auch die Götter ein höheres 
Daſeyn, ſo waren ſie doch Götter der Erde, und 
dieſe Erde Mittelpunkt des Ganzen. Man verfiel 
dann darauf, den kleinern der wandernden Him— 
melslichtern einen Einfluß auf das Schickſal ein— 
zelner Menſchen zuzuſchreiben; ſo entſtand Stern— 
deuterei, welche in den menſchlichen Thorheiten 
ſo reichliche Unterſtützung erhielt. Es iſt leicht zu 
ſehen, wie ein Dienſt der Sonne oder des geſamm— 
ten Himmels dieſem Standpunkte angemeſſen war; 
daß dagegen aber Manches in der älteren Fabel— 
lehre als Ueberbleibſel einer früheren Zeit daneben 
nur beſtehen konnte, weil man es der Menge nicht 
zu entziehen wagte. 

Hinſichtlich des Baues des Himmels mußte die 
Vorſtellung auch auf dieſem Standpunkte noch falſch 
und beſchränkt ſeyn, obgleich ſie weit umfaſſender 


war als auf dem frühern Standpunkte. Zuerſt 
dachte man ſich, daß das ganze Himmelsgewölbe 
ſich um die Erde drehe, und daß die wandernden 
Himmelslichter ihre Bahnen an dieſer Wölbung 
hätten; dieſe ſich anders als feſt vorzuſtellen, dar— 
auf konnte man nicht fallen. Es war die Feſte 
des Himmels, das Firmament, welches auf feſten 
Stützen ruhte, z. B. auf den höchſten Bergen; 
ſpäter aber ſah man ein, daß jedes der wandern— 
den Lichter ſeine Bahn in einer andern Entfer— 
nung von der Erde hatte: man mußte jedem ſein 
eigenes Gewölbe und zwar ein durchſichtiges Kry— 
ſtallgewölbe zugeſtehen, und über allen dieſen Ge— 
wölben der feſten Himmelslichter den reinen Feuer— 
himmel, den Sitz der höchſten Unveränderlichkeit 
ſich denken. Alle müßten, ſo nahm man an, ſich 
um eine gemeinſame Axe drehen. So erhielt man 
ſieben Himmel der wandernden Himmelslichter und 
einen achten als Sitz eines ewigen Lichts und 
einer ewigen Unveränderlichkeit. 

Während wir nun gegenwärtig dieſen Stand— 
punkt weit überholt haben, müſſen wir doch ein— 
geſtehen, daß der Geiſt, der aus dieſen Kenntniſſen 
Nahrung gezogen hatte, den Himmelseindruck in 


111 


einer bei weitem mächtigern Größe und Fülle 
empfangen habe als auf den früheren Entwicke— 
lungsſtufen, und daß er vor allen dazu den Ge— 
danken an eine göttliche Lenkung mitbringen mußte, 
welcher, aller ſeiner Irrthümer ungeachtet, doch er— 
hebend und veredelnd war. 

Die Fortſchritte der Aſtronomie von der hier 
erwähnten Zeit an bis zur Kopernikaniſchen ſtellten 
an ſich keinen neuen Standpunkt dar. Die nach 
und nach hinzukommenden Entdeckungen waren 
wenig zahlreich und noch weniger eingreifend, 
nur daß fie den Aſtronomen größere und immer 
größere Schwierigkeiten entgegenſetzten, ihre Be— 
obachtungen mit ihrer Vorſtellung vom Weltbau 
in Einklang zu bringen. Von außen her aber war 
durch das Chriſtenthum eine neue Weltauffaſſung 
hinzugekommen. Der Weltbau ward nunmehr als 
das Werk eines einzigen Gottes erkannt. Es iſt 
wahr, dieſe Ueberzeugung hatte früher ſchon auf 
einem kleinen Punkt der Erde, bei verſchiedenen 
höher begabten Männern, die unter den Heiden 
vereinzelt lebten, geherrſcht; wir haben uns aber 
dadurch von der allgemeineren Zeitfolge nicht wollen 
abführen laſſen. Durch das Chriſtenthum ward der 


112 
Gedanke reiner, die Erhebung zu Gott höher und 
herrlicher; aber der Aſtronomie war dieß nicht zu 
verdanken. Dagegen muß derſelben einzuräumt 
werden, daß die chriſtliche Einbildungskraft in den 
vielen Himmelsgewölben zu einer Reihe verſchie— 
dener Wohnungen für die Seligen Raum gewann. 

In der neuern Zeit, von Kopernikus bis auf 
uns gerechnet ließen ſich allerdings mehrere Stand— 
punkte unterſcheiden, aber alle in dieſem großen 
Zeitraum erworbenen Einſichten finden wir ſo in 
einander verwoben, daß wir den klarſten Ueberblick 
gewinnen werden, wenn wir uns ſogleich auf den 
Standpunkt unſerer eigenen Zeit verſetzen. — 
Haben wir erfaßt was ſich von da aus ſehen läßt, 
dann werden wir, wenn es unſer Wunſch iſt, uns 
leicht zu den Standpunkten jenes Zeitalters zurück⸗ 
verſetzen können. 

Die Betrachtung des Himmels hat nunmehr 
einen ganz andern Charakter angenommen: die 
feſten Gewölbe ſind verſchwunden, die Erde iſt 
nicht mehr der Mittelpunkt, ſondern ein ſchwebender 
Weltkörper zwiſchen zahlloſen andern; die Erde 
ſelbſt iſt in den Himmel aufgenommen. Es iſt ein 
ganz neuer Eindruck von Größe, den uns jene 


113 


Betrachtung jetzt gewährt. Wir haben Meſſungen 
und darauf ſich gründende Berechnungen, die 
uns Entfernungen zeigen, gegen welche Millionen 
Meilen kleine Größen ſind. Der Uneingeweihte 
hört von dieſen Größen mit Erſtaunen und be— 
trachtet, je nach ſeiner Sinnesart, die Sache mit 
Vertrauen oder Zweifel; aber es hat auch unter 
den Uneingeweihten geiſtreiche Männer gegeben, die 
mit eingebildeter Ueberlegenheit derjenigen geſpot— 
tet haben, welche Freude an der Betrachtung jener 
Zahlengrößen fanden: Großes und Kleines, haben 
ſie geſagt, ſind ja bloße Verhältniſſe; gegen ein 
Haarbreit iſt eine Elle groß, aber dieſe nur klein 
gegen eine Meile; und was iſt denn wiederum 
eine Meile gegen den Umkreis der Erde! Es findet 
ſich ja gegen eine jede Größe eine andere, gegen 
welche jene nur klein iſt! Iſt es da nicht kindiſch 
ſich über die großen Zahlen der Aſtronomie zu 
freuen? — 

Dieß alles würde richtig ſeyn, wenn hier 
von abſtrakten Zahlen die Rede wäre; aber dieß 
iſt durchaus nicht der Fall: als Bezeichnungen 
der Glieder im Weltſyſtem, als ein organiſches 
Ganze betrachtet, haben jene Zahlengrößen ihre 


Oerſted, der Geiſt in der Natur, 8 


114 


Wichtigkeit. Gleichwie die Größe des Wallfiſch nur 
nach Ellenmaß berechnet nichtsſagend iſt, aber ſehr 
bezeichnend wenn man das Thier als Glied der 
Thierreihe betrachtet; ſo geht es auch mit den 
aſtronomiſchen Zahlengrößen, nur in einem nicht 
zu vergleichenden größern Maßſtab. Die Natur 
der Sache bringt es doch mit ſich, daß wir unſern 
Gegenſtand hier, mit Rückſicht auf dieſes Maß— 
verhältniß, näher ins Auge faſſen. In unſern 
Meſſungen ſind wir immer von bekannten ſinn— 
lichen Größen ausgegangen, und namentlich von 
den Maßverhältniſſen unſeres Körpers: dem Dau— 
men, der Handbreite, der Armlänge, dem Faden, 
dem Fuß, dem Schritt; davon etwa gingen alle 
Meſſungen aus. Die Meile, oder welche andere 
Einheit für die Wegeslänge man wählen will, iſt 
nur eine Vervielfältigung dieſer Maße, z. B. des 
Fußes oder Schritts. Der Erdkreis oder deſſen 
Durchſchnitt iſt abermals eine Wiederholung jener 
Einheit der Wegeslänge, und ſo fahren wir fort 
ſelbſt Maßſtab zu ſeyn, auch wenn man einen 
Maßſtab wie das Meter oder die Pendellänge ge— 
wählt hat: denn immer führt doch die Einbildungs— 
kraft das Maß auf uns ſelbſt zurück. Aber haben 


115 


wir erſt den Durchſchnitt der Erde nach Maßein— 
heiten des Alltagslebens beſtimmt, ſo beſtimmen 
wir nun die Entfernungen im Sonnenſyſtem nach 
Erddurchmeſſern, und die der Firſterne nach Son— 
nenabſtänden; und ſo geht, wenn man ſich ſo aus— 
drücken darf, ein ſinnlicher Leitfaden durch die 
Maßbeſtimmungen der Wiſſenſchaft. Aber die Ein— 
bildungskraft bringt ſich die Maßverhältniſſe noch 
näher, um ſie ſich anzueignen; für ſie iſt der Erd— 
ball im Vergleich mit dem Sonnenſyſtem wie ein 
Sandkörnchen gegen einen großen Berg und wie— 
derum das ganze Sonnenſyſtem gegen das Syſtem 
von Sonnen, welches das Sterngewimmel der 
Milchſtraße uns andeutet, wie ein Tropfen gegen 
das ganze Meer; und ſelbſt dieſes große Syſtem 
von Sonnen iſt vielleicht gegen ein noch höheres, 
wie ein im Sonnenſchein ſchwebendes Stäubchen 
gegen den ganzen Erdball. Und dieſelbe Einbil— 
dungskraft iſt zugleich mit Erinnerungen an die 
Unterſuchungen erfüllt, welche zeigen, daß alle jene 
Größen eine zuſammenhängende Reihe von ineinan— 
der eingreifenden Daſeynsgliedern ausmachen, welche 
einander gegenſeitig bedingen und wiederum von 
demſelben Ganzen bedingt werden. Nun wohlan! 


116 


hat dann die Einbildungskraft nicht einen unaus— 
ſprechlich größeren Maßſtab für den Sternhimmel, 
als auf den früheren Entwickelungsſtufen des Men— 
ſchengeſchlechts möglich war? und iſt nicht jene 
Größe, im Zuſammenhange mit ihren zahlloſen 
innern Gliedern betrachtet, im höchſten Grade in— 
haltreich, auch wenn wir ſie für den Augenblick 
als ein Syſtem von Größen betrachten wollten? 
Gleichwie die tiefere Einſicht uns den mit 
Weltkörpern und Weltbewegungen erfüllten Raum 
bis ins Unendliche erweitert, ebenſo geſchieht es 
auch mit dem Daſeyn jener Welten in der Zeit. 
Unter den vielen Veränderungen in den Bewegun— 
gen der Weltkörper, welche innerhalb eines gewiſſen 
Zeitlaufs vollbracht werden, um von da an wieder— 
um von vorne zu beginnen, gibt es verſchiedene, 
deren Perioden ſich über viele Jahrtauſende er— 
ſtrecken. Das Zurückweichen der Nachtgleichen voll— 
bringt z. B. einen Kreislauf in 25600 Jahren: in 
den überaus verwickelten Abweichungen, welchen die 
Neigung der Ekliptik unterworfen iſt, findet ſich eine 
Periode von 40350 Jahren und eine andere von 
92930 Jahren. Noch weit länger muß die Zeit— 
dauer ſeyn, welche unſer Sonnenſyſtem zu ſeinem 


14 


Umlaufe in dem höhern Syſtem, dem es zunächſt 
angehört, nöthig hat. Zwar iſt uns dieſe Zeit 
noch unbekannt, aber mit der vollkommenſten Sicher— 
heit können wir ſagen, daß Jahrtauſende darin 
noch kleine Größen ſind. Nimmt die Einbildungs— 
kraft hier abermals den Menſchen und die Zeit— 
dauer des Menſchengeſchlechts als Maßſtab an, ſo 
ſtellt ſich ihr eine Dauer der Natur dar, von 
welcher das beſchränkte Faſſungsvermögen des All— 
tagslebens keine Vorſtellung gibt, da es ſich entweder 
ſchlaff an das Seyende, als etwas Todtes und 
Stillſtehendes, hält, oder über die Vergänglichkeit 
des Endlichen, worin das Beſtändige ſeinem Blicke 
entgeht, verzweifelt. Nur der Gedanke und die 
durch wiſſenſchaftliches Denken befruchtete Einbil— 
dungskraft ſieht durch das Sternenlicht die Ewig— 
keit hindurchſchimmern. 

Die Wiſſenſchaft verweilt nicht bei den unthä— 
tigen Größen; wir ſchieden ſie nur der Betrach— 
tung wegen auf einige Augenblicke von den thäti— 
gen Gegenſtänden aus, um ſeiner Zeit ungeſtörter 
den Blick auf dieſe zu richten. Alle aufgeklärten 
Menſchen wiſſen nun, daß jeder Planet ein Welt— 
ball gleich dem unſrigen iſt, allein es iſt eine ſehr 


— * 


118 


bemerkenswerthe Folge der herrſchenden Geiſtes— 
richtung, daß dieſer Gedanke einen ſehr untergeord— 
neten Platz in der Vorſtellungswelt der Meiſten 
einnimmt, in welcher weite Strecken mit Meinungen 
und Einbildungen überwachſen ſind, die er ver— 
drängen müßte, wenn er in ſeiner ganzen Fülle 
aufgefaßt würde. Es iſt nicht genug zu wiſſen, 
daß die andern Planeten unſerer Erde gleichen, 
daß einige derſelben beträchtlich größer ſind; man 
muß ſich mit dieſem Gedanken beſchäftigt und ihn 
in ſich verarbeitet haben. Welche Bedeutung kön— 
nen große Weltbegebenheiten für ſolche Menſchen 
haben, die nur einmal davon hörten, deren Geiſt 
aber nicht häufig zu ihnen zurück gekehrt iſt, um, 
bei ihnen verweilend, ſich dieſelben auszumalen? 
Für Solche kann oft die unbedeutendſte Stadt— 
neuigkeit ein größeres Intereſſe haben als Unter— 
nehmungen, welche die Geſtalt dieſer Welt änder— 
ten; daſſelbe aber läßt ſich mit den erforderlichen 
Abänderungen und mit Anerkennung einer höhern 
Bildung, welche man bei verabſäumtem aſtrono— 
miſchen Denken doch in andern Richtungen haben 
kann, auch auf die Kenntniß des ganzen Welt— 
baues anwenden. Es iſt aber nicht genug, etwas 


119 
oberflächlich davon zu willen; wer die Himmelsbe— 
trachtung recht genießen will, muß in längerer Ver— 
traulichkeit mit dem ſtehen, was ſie uns lehrt; er 
muß die Berge des Mondes geſehen und ſich über 
die ſichere Kunſt gefreut haben, mit der man vermit— 
telſt ihrer Schatten und der Ordnung, in welcher 
ihre Gipfel beleuchtet werden, ihre Höhe zu meſſen 
vermocht hat. Von da muß er ſeinen Blick den 
Planeten zugewendet und ſich überzeugt haben, 
daß auch ihre Oberflächen nicht glatt ſeyn können, 
ſondern Berge und Thäler wie die Erde und der 
Mond haben müſſen: er muß dann und wann auch 
verſucht haben, in Gedanken ſich nach den fremden 
Planeten zu verſetzen; er wird z. B. vom Jupiter 
die Erde als kleinen Planeten haben ſchimmern 
ſehen und vermittelſt vergrößernder Inſtrumente 
auch ihren Mond geſucht und gefunden haben; er 
wird auf dem Jupiter den ſchnellen Wechſel von 
Arbeit und Ruhe während des dort kaum zehn— 
ſtündigen Tageswechſels und der langen Dauer der 
Jahreszeiten als Folge des mehr als 11 Erdenjaͤhre 
dauernden Jahrs empfunden haben; er wird die 
Sonne als eine Scheibe mit fünfundzwanzigmal klei— 
nerer Oberfläche als von hier aus geſehen haben, 


120 


aber auch im wechjelvollen Schein von vier Mon- 
den gewandert ſeyn; er wird bei der Wanderung 
dieſes Planeten auf einer fünfmal größeren Bahn 
als die der Erde gewiß manchen weiter umfaſſenden 
Blick in den Himmelsraum hinaus zu thun ver— 
mocht haben, und von da ſchwerlich mehr als 
einen Traum zurückbringen. Der Geiſt darf nicht 
ermüden, noch weiter über unſer Sonnengebiet hin— 
auszuwandern und in jedem Firſtern eine eigene 
Sonne zu ſehen, umgeben, wie die unſrige, von 
wandernden Weltkörpern, welche von ihr ihren 
Tag und ihre Nacht, ihren Frühling, Sommer, 
Herbſt und Winter erhalten. Er muß ſich klar 
vor Augen ſtellen, daß es Zuſammenordnungen 
gibt, in denen Sonnen auf dieſelbe Weiſe Glieder 
ſind, wie die Planeten in unſerem Sonnenſyſtem, 
daß dieſe Zuſammenordnungen wiederum Glieder 
von noch höheren ſind und ſo fort an, ohne daß 
der Gedanke irgendwo anhalten dürfe. Wer in 
Vertraulichkeit mit dieſen Gedanken, welche wir 
hier nur in flüchtigen Umriſſen angedeutet haben, 
gelebt hat, den wird die Erinnerung daran unter 
den nächtlichen Himmel begleiten und ihm einen 
reichen und lebendigen Eindruck verleihen. Sollte 


121 


Jemand, der dieß nicht empfindet, im Vertrauen 
auf ſeine bedeutende Geiſtesentwicklung in andern 
Richtungen, ſich berechtigt halten, es geringe zu 
achten, den möchten wir an den tiefſinnigen Male— 
branche erinnern, der, nachdem er eine Tragödie 
von Racine gehört, fragte: was beweist ſie? 
Wir haben unſere Aufmerkſamkeit noch nicht 
auf den Charakter gerichtet, den der Gedanke an 
die Bewohner anderer Welten dem Eindruck des 
Sternenhimmels gibt; indem wir aber nun in Er— 
wägung ziehen wollen, wie unendlich mannigfaltige 
Vernunftweſen in dieſem Raume verbreitet ſeyn 
mögen, begegnen wir einer in neuerer Zeit unter 
verſchiedenen Formen geäußerten Behauptung, daß 
ſich ausſchließlich auf der Erde vernünftige Geſchöpfe 
finden ſollten und daß es im ganzen Bereich des 
Seyns keine andern weder gebe, noch gegeben habe, 
als Menſchen. Nehmen wir die Sache ganz abſtrakt, 
ſo könnte man ſich die Möglichkeit leicht denken, 
daß das Geſchöpf auf unſerer Erde ſeinen Gipfel 
erreicht hätte und daß ſich auf keinem der Welt— 
körper Weſen fänden, in denen die Vernunft zum 
Selbſtbewußtſeyn erwacht wäre. Bleibt man dabei 
ſtehen, ſo kann man dann leicht durch Gründe, welche 


122 


außerhalb der Sache liegen, z. B. durch einſeitige 
poetiſche oder religiöſe Anſchauungen, ſich verleiten 
laſſen, dieſer Möglichkeit eine gewiſſe Wahrſchein— 
lichkeit oder ſelbſt Wirklichkeit beizumeſſen; betrachtet 
man dagegen die Sache in ihrem ganzen Zuſam— 
menhange mit dem übrigen Daſeyn, fo wird ſich jene 
abſtrakte Möglichkeit im größten Widerſpruche mit 
der Wirklichkeit zeigen. Wir können hier nicht wei— 
ter gehen, als mittelſt eines flüchtigen Ueberblicks an 
Vieles zu erinnern, welches dazu dienen ſoll, eine 
Weltanſchauung hervorzubringen, in welcher der 
Menſch weder den höchſten Platz einnehmen, noch 
das einzige Vernunftweſen ſeyn kann. Wenn wir 
einen Blick auf die Entwickelungsgeſchichte der Erde 
werfen, ſo ſehen wir darin eine Reihe von Welt— 
altern, deren jedes folgende neue und mehr ent— 
wickelte Geſchöpfe als das vorhergehende hervorge— 
bracht hat, und in denen das Menſchengeſchlecht nicht 
früher als in der letzten Umwälzung, oder beſſer 
Umbildung, hervortrat. Es möchte gefährlich ſeyn, 
die Eigenliebe des Menſchengeſchlechts durch die 
Vermuthung zu verletzen, daß es einſt einem 
vollkommneren Geſchlecht Platz machen müſſe. Wir 
wollen uns deßhalb lieber erinnern, daß ſich unſer 


123 


ganzes Sonnenſyſtem, gleich der Erde, in einer 
Reihe von Naturaltern entwickelt hat, und daß 
jeder Planet eine Reihe ſchaffender Umbildungen 
zu durchlaufen hatte, und daß er folglich, ſo gut als 
die Erde, ſeine Reihe von Geſchöpfen gehabt haben 
wird, nur mit den Abweichungen, welche die Natur— 
beſchaffenheit eines jeden derſelben mit ſich bringt. 
Würde es nun nicht eine ſonderbare Behauptung 
ſeyn, daß weder die von der Sonne entferntern 
ältern Planeten noch die ihr näheren jüngeren einen 
ſo hohen Entwicklungsgrad wie die Erde erlangt 
haben ſollten? Doch es würde ſich vielleicht etwas 
finden laſſen, dieſe Behauptung auszuſchmücken, ob— 
wohl es einer ernſten Prüfung gegenüber ſchwerlich 
Stand halten würde; will man aber darauf beſtehen, 
den Vorrang des Menſchen in ſeiner ungeheuren Er— 
ſtreckung über das geſammte Weltall zu behaupten, 
ſo muß man noch viel weiter gehen. Unſer Son— 
nenſyſtem iſt ja nur ein kleines Glied eines weit 
größern Syſtems, mit dem es ſich denſelben Geſetzen 
gemäß entwickelt haben muß, nur mit dem Unter— 
ſchiede daß der unausſprechlich größere Maßſtab auch 
diejenige größere innere Mannigfaltigkeit eines Sy— 
ſtems von Sonnenſyſtemen nothwendig bedingen 


muß. In jedem derſelben muß doch wohl der 
Grundgedanke des Erdballs ſich wiederholen und 
der des Menſchen ebenfalls, obſchon in andern 
Ausführungsweiſen; und hier ſollte die Vernunft 
nicht zum Selbſtbewußtſeyn erwacht ſeyn, weder 
auf den Weltkörpern, welche die Erde repräſen— 
tiren, noch auf irgend einem der andern? Doch 
wir können auch bei einem ſolchen Weltſyſtem nicht 
ſtehen bleiben, da es abermals das Glied eines 
höheren iſt, und auch in dieſem ſollte die Entwick— 
lung nicht ſo weit gediehen ſeyn, daß die Vernunft 
zur Selbſterkenntniß gelangt wäre? Der Gedanke 
iſt ſelbſt hier noch zu keinem Ruhepunkte gekommen, 
er muß ſich fortwährend zu größern und immer 
größern Syſtemen erheben; aber überall im ganzen 
Daſeyn, außerhalb der Erde, ſoll er nur eine Ein— 
öde ſehen, wohin kein denkendes Weſen jemals 
dringt? Es liegt viel eher in der Natur der 
Dinge, daß die Vernunft zu jeder Zeit hervortritt 
in ihrer erkennenden Selbſtbewußtheit, nicht bloß an 
Einem Punkte, ſondern in jedem der großen Welt— 
glieder, nur nach verſchiedenen Entwicklungsſtufen. 
Von dieſen Entwicklungsſtufen kann die, auf wel— 
chen der Menſch ſteht, von uns ſelbſt kaum als 


die höchſte betrachtet werden, wenn wir die Unvoll- 
kommenheit unſerer Kenntniſſe ſowohl hinſichtlich 
ihrer Sicherheit, als auch ihres Umfangs und ihrer 
innern Fülle recht erwägen. Neben der erhabenſten 
Freude über das Wiſſen, das wir uns zu erwerben 
im Stande geweſen ſind, liegt die tiefſte Sehnſucht 
nach einer höhern Einſicht, deren Möglichkeit uns 
entgegen ſchimmert. Sollen wir das geſammte 
Daſeyn als eine lebendige Vernunftoffenbarung in 
Zeit und Raum betrachten, ſo müſſen wir uns 
denken, daß die verſchiedenſten Entwicklungsſtufen 
zu jeder Zeit ſo darin vertheilt angetroffen werden, 
daß einige Glieder davon noch Dunſtbälle, andere 
ſchon zur Tropfenflüſſigkeit verdichtet find, noch 
andere einen feſten Kern erlangt haben und ſo 
weiter, bis zu den höchſten Entwicklungsſtufen, und 
davon wieder rückwärts bis zu den Gliedern, die 
in einem abſterbenden Zuſtande ihrem Untergange 
entgegen gehen. Wollte man dagegen annehmen, 
daß allein auf der Erde die ſelbſtbewußte Vernunft 
hervortrete, ſo ſteht doch feſt, und die auf uns 
gekommenen Ueberbleibſel früherer Entwicklungs— 
ſtufen bezeugen es, daß es eine unermeßlich lange 
Zeit gegeben, wo der Menſch noch nicht da war; 


126 
in dieſer ganzen unermeßlichen Zeit wäre alſo fein 
Weſen vorhanden geweſen, welches das Daſeyn 
erkennend und denkend aufgefaßt hätte? Jeder 
verſuche, ob dieſer Gedanke ein gründliches Durch— 
denken geſtattet. 

Es wird nun einleuchten, daß derjenige, wel— 
cher die hier hervorgehobene Ueberzeugung eines über 
das geſammte Daſeyn ausgebreiteten Lebens mit— 
bringt, den Sternenhimmel mit einer ganz andern 
Fülle von Gedanken und Bildern anſchauen wird, als 
der Uneingeweihte, und daß ſeiner Einbildungskraft 
ein weites Feld zu neuen Schöpfungen offen vorliegt. 

Wir erwähnten bereits, daß alles in der Welt 
Geſetzen unterworfen ſey, und daß dieſes Vernunft— 
geſetze ſind. Dieſer Wahrheit wird ſchwerlich Je— 
mand widerſprechen; aber die Wiſſenſchaft zeigt ſie 
in einer höhern Klarheit. Man denke ſich, daß 
derjenige, deſſen Forſchungen über die irdiſchen 
Bewegungen ihm die darin herrſchenden, ebenſo 
einfachen als nothwendigen Geſetze gezeigt haben, 
nun gewahr wird, daß die den Himmelsraum durch— 
wandernden, ungeheuren Maſſen durch dieſelben 
Kräfte und Mittel ſich zu Bällen bildeten, zum Ab— 
weichen von der Kugelgeſtalt gebracht wurden, und 


127 


innerhalb beſtimmter Bahnen erhalten werden. Er 
muß der Anwendung dieſer Grundgedanken durch 
ſcharfſinnige, aber zugleich weitläuftige Berechnun— 
gen folgen und endlich ſieht er, daß alles dasjenige 
eintrifft, was die Berechnung gelehrt hat. „Was 
der Gedanke verſpricht, leiſtet die Natur.“ Muß 
er ſich nicht als theilnehmendes Glied in dem 
ewigen Weltgedanken aufgenommen fühlen? 

Auch in den ungeheuern Entfernungen zwiſchen 
den Weltkörpern wird er keine unthätige Leere er— 
blicken. Der Raum iſt von Aether erfüllt und von 
der anziehenden Kraft durchdrungen, vermöge wel— 
cher das ganze Weltall zuſammengehalten wird. 
Der Aether ſelbſt iſt ein Meer, deſſen Wellen das 
Licht ſind, dieſes große Verbindungsmittel, welches 
in unermeßlichen Entfernungen dem einen Weltball 
von dem andern, dem einen Sonnenſyſtem von 
dem andern Botſchaft bringt. — Je vollkommener 
wir dieſes verſtehen lernten, deſto mehr hat es 
uns eröffnet und es verheißt uns künftig noch mehr 
Geheimniſſe zu enthüllen; in einer Weltoffenba— 
rung nach dem möglichſt großen Maßſtabe beſtätigt 
es uns, daß unſer Daſeyn nicht vereinzelt ſtehe, 
ſondern mit dem Weltall zuſammenhänge; in einem 


128 
ähnlichen Umfange, aber in einer andern Richtung, 
lehrt uns daſſelbe eine gründliche Kenntniß von 
der allgemeinen Anziehung. Der Betrachtende 
wird getragen, durchdrungen, belebt von der gan— 
zen Natur und wirkt ſelbſt, wenn auch in noch 
ſo geringem Maße, auf ſie zurück. 

Man denke ſich die Einbildungskraft des Him— 
melsbeobachters mit der ganzen hier angedeuteten 
Gedankenwelt wahrhaft befruchtet, und man wird 
fühlen, daß die Größe, das Leben, die Gedanken— 
fülle, kurz der mächtige Gottheitsinhalt des Da— 
ſeyns mit demſelben Himmelslicht, welches ſein 
Auge trifft, in ſeine Seele ſtrahlen müſſe. 

Schon das hier gegebene Beiſpiel, wenn auch 
nur eins von ſehr vielen, dürfte hinreichend ſeyn um 
zu zeigen, daß die Naturauffaſſung, deren Genuß 
wir uns mit ganzer Seele hingeben, eine um ſo 
größere Kraft und Fülle hat, je mehr wir dazu 
diejenige Bildung mitbringen, welche nur durch 
wiſſenſchaftliches Denken, oder doch durch deſſen 
wohlverſtandene und im Zuſammenhang begriffene 
Reſultate erworben werden kann. 


Aberglaube und Unglaube 


in ihrem Verhältniß zur Naturwiſſenſchaft. 


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Oerſted, der Geiſt in der Natur 6 9 


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1. 
Was Aberglaube und Unglaube iſt. 


Man iſt im Allgemeinen darüber einig, der 
Naturwiſſenſchaft einen großen Einfluß auf die 
Ausrottung des Aberglaubens zuzuſchreiben; die 
Natur der Sache und die Geſchichte des Menſchen— 
geiſtes geſtatten nicht leicht, hierüber verſchiedene 
Meinungen zu haben. Auch darüber iſt man einig, 
daß die Naturwiſſenſchaft oft Unglauben veranlaßt 
habe, daß dieß aber nur durch Mißbrauch geſchehen 
ſey. Es könnte überflüſſig ſcheinen, ſo allgemein 
angenommene Meinungen einer neuen Prüfung zu 
unterwerfen, wenn man keinen Grund hat, ihnen 
zu widerſprechen; allein einige Aufmerkſamkeit auf 
das Menſchenleben zeigt, daß in ihrer Anwendung 
viel Uneinigkeit herrſcht und daß dieſer Gegenſtand 


alfo von der Mehrheit nicht mit der erforderlichen 
Reinheit und Klarheit aufgefaßt wird. 

Es gibt viele, welche meinen, daß der Aber— 
glaube in innigem Zuſammenhange mit dem Glau— 
ben ſtehe, und die ſich deßhalb einbilden, daß die 
Ausrottung des Erſteren dem Letzteren gefährlich 
werden könne. Es dürfte nothwendig ſeyn, dieſen 
zu zeigen, daß der Aberglaube zwei Seiten hat, 
deren eine einen zufälligen, alſo auflösbaren Zu— 
ſammenhang mit dem wirklichen Glauben, die an— 
dere dagegen einen innigen Zuſammenhang mit der 
ſchrecklichſten Gottloſigkeit hat. Es gibt andere, 
welche den Aberglauben für etwas Poetiſches halten 
und deßhalb gegen deſſen Ausrottung feindlich ge— 
ſtimmt ſind. Man muß ihnen etwas dem Aehn— 
liches ſagen; daß nämlich viele Gegenſtände des 
Aberglaubens in den früheſten Zeiten des Men— 
ſchengeſchlechts mit der dichteriſchen Auffaſſung 
verknüpft worden ſind, ohne dieſer unentbehrlich 
zu ſeyn; daß aber die Welt des Aberglaubens, in 
ihrer Fülle entwickelt, ſo weit davon entfernt iſt, 
eine Welt der Schönheit zu ſeyn, daß ſie einer ſol— 
chen vielmehr im höchſten Grade entgegengeſetzt iſt. 

Wir haben uns hier des Wortes Aberglaube 


133 


als eines wohlbekannten Ausdruckes bedient; aber 
zu einer Unterſuchung darüber wird erforderlich 
ſeyn, deſſen Bedeutung näher zu beſtimmen. Wir 
wollen dabei zugleich im Vorbeigehen die Einwen— 
dung abweiſen, daß der Aberglaube nunmehr in 
der aufgeklärten Welt ſo vollſtändig ausgerottet ſey, 
daß es nicht mehr der Mühe lohne, davon zu reden. 
Jeder wird zwiſchen Leichtgläubigkeit und Aber— 
glauben zu unterſcheiden wiſſen. Niemand wird 
den des Aberglaubens beſchuldigen, der falſchen 
Nachrichten, die in ſich keine Ungereimtheiten ent— 
halten, Glauben beimißt; man wird ihn bloß leicht— 
gläubig nennen. Selbſt wenn er ſich höchſt unwahr— 
ſcheinliche Dinge hätte einbilden laſſen, z. B. daß 
es ein Land geben ſolle, in welchem die gewöhnliche 
Höhe der Menſchen zehn Fuß und ihr Alter 1000 
Jahre ſey, ſo würde man ſeine Leichtgläubigkeit nur 
lächerlich finden, ſie aber nicht mit Aberglauben ver— 
wechſeln. Derjenige dagegen, welcher ſich einbildet, 
es könne etwas in der Natur anders wirken, als 
nach deren Geſetzen, den nennen wir abergläubiſch. 
Wer z. B. glaubt, es könne durch Ableſung gewiſſer 
Zauberworte über einem kranken Thiere daſſelbe 
geheilt werden, muß dieſen Worten ohne Zweifel 


134 


eine Wirkung zutrauen, die bloße Worte nach den 
Geſetzen der Natur nicht haben können. Ich werde 
noch einiger anderer davon ſehr verſchiedener Bei— 
ſpiele erwähnen. Viele glauben, daß der, welcher 
von einem Hunde gebiſſen worden iſt, der im Augen— 
blick des Biſſes vollkommen geſund war, von der 
Waſſerſcheu befallen werden könne, wenn derſelbe 
Hund nachher von dieſer Krankheit ergriffen wird, 
obgleich den Geſetzen der Natur gemäß zwiſchen bei— 
den Vorfällen kein Zuſammenhang vorhanden iſt. Die 
Einbildung, es ſey gefährlich oder doch ein Unglücks— 
zeichen, wenn dreizehn Perſonen zuſammen zu Tiſche 
ſitzen, ſetzt voraus, daß eine beſtimmte Zahl Wir— 
kungen hervorbringen, oder in einer Art, die den 
Naturgeſetzen fremd iſt, mit Wirkungen in Ver— 
bindung ſtehen könnte. Nicht weil dieſe Einbil— 
dungen etwas Naturwidriges annehmen, iſt es, 
daß wir ſie abergläubiſch nennen, — denn dann 
müßten wir ja auch die Meinung abergläubiſch 
finden, daß ein Menſch vertragen könne, Scheide— 
waſſer ſtatt Branntwein zu trinken, — nein, weil 
ſie mit Bewußtſeyn, wenn auch mit einem ſehr 
unklaren, annehmen, es könne in der Natur etwas 
vorgehen, das gegen die Naturgeſetze iſt. Es kann 


135 


hier nicht die Abſicht ſeyn, von den vielfältigen aber- 
gläubiſchen Meinungen zu reden: unſer Zweck iſt 
von dem Hange zu ſprechen, ſich etwas ſogenannt 
Uebernatürliches, als in den Gang der Natur ein— 
greifend, zu denken. Dieſer Hang, dieſe abergläu— 
biſche Denkweiſe, behauptet ſich oft bei Menſchen, 
die durch Erziehung alle gangbaren abergläubiſchen 
Meinungen zu ſcheuen gelernt hatten. Ich habe z. B. 
vor etwa 40 Jahren einen franzöſiſchen Emigranten 
gekannt, der ſich ſehr beleidigt gefunden haben würde, 
wenn man ihm Geſpenſterglauben zugetraut hätte; 
der ſich aber von den Freimaurern verfolgt glaubte 
und meinte, daß Londoner Freimaurer, obgleich er 
in Kopenhagen war, auf ihn einwirkten und ihm 
vermöge des thieriſchen Magnetismus nächtliche 
Krämpfe verurſachten. Es iſt mir ſehr wohl be— 
kannt, daß einige Naturforſcher dieſem verwandte 
Wirkungen angenommen, und einige derſelben ſich 
ſogar gedacht haben, daß der thieriſche Magnetismus 
ſeine Wirkungen weit in den Raum hinaus ver— 
breiten könne, wie Licht, Elektricität und Erd— 
magnetismus; aber die Meinung jenes Emigranten 
war ſo wie bei ſo vielen ſogenannten Magnetiſeuren 
eine Einbildung übernatürlicher Wirkungen. Selbſt 


136 
wenn man jemals wirkliche Naturgeſetze entdeckte, 
nach denen die Willens- oder Nervenwirkung eines 
Menſchen ſich über große Entfernungen verbreiten 
könnte, würden doch die, welche ſolche Wirkungen 
als übernatürlich angenommen hätten, des Aber— 
glaubens ſchuldig befunden werden müſſen. In 
ähnlicher Weiſe iſt die Einbildung anzuſehen, als 
könne jemand durch Zauberkraft ſeine Meinung im 
Nu entfernten Genoſſen zu erkennen geben. Die 
Entdeckung der elektromagnetiſchen Fernſchrift kann 
dieſe Einbildung nicht vernünftig machen. — Ein 
anderer Franzoſe äußerte gegen mich die Meinung, 
es ſey nur vermittelſt der Hülfe der Freimaurer, 
daß Napoleon ſo viel ausrichtete. Im erſten Falle 
ward angenommen, es ſey eine körperliche Wir— 
kung außer der Ordnung der Natur hervorgebracht 
worden; im letztern ſollte die natürliche Wirkung 
eines Weſens, das große Fähigkeiten in ſich ver— 
einte, von einer Zuſammenwirkung anderer Kräfte, 
welche nach den Geſetzen der geiſtigen Natur daſſelbe 
unmöglich zu bewirken vermochten, herrühren; will 
man dieſes letztere auch nicht Aberglauben nen— 
nen, ſo läßt ſich deſſen nahe Verwandtſchaft damit 
doch nicht in Abrede ſtellen. In entgegengeſetzter 


Richtung muß man gewiſſe abergläubiſche Meinungen 
betrachten, welche nicht im Geiſte des Aberglaubens 
aufgefaßt werden. So habe ich z. B. in meiner 
frühen Jugend in einer kleinen abgelegenen Stadt 
fromme Leute gekannt, welche nie von der Zweifelſucht 
berührt worden waren, die daher das Daſeyn von 
Geſpenſtern, an die man allgemein glaubte, nicht 
zu läugnen wagten, ſie aber für nichts rechneten, 
da ſie ja ohne Gottes Willen nichts ausrichten 
könnten. Aber der Wille Gottes iſt ja der Aus— 
druck der Religion für die ewigen Geſetze des Da— 
ſeyns und ſo dachten ſie ſich denn freilich auf ihre 
unwiſſenſchaftliche Weiſe das Uebernatürliche dem 
Natürlichen einverleibt. Zur ſelben Zeit kannte 
ich einen Mann, der oft mit vieler Rohheit ſeinen 
Unglauben in Religionsſachen laut werden ließ und 
ſich dennoch fürchtete, des Nachts über einen Kirch— 
hof oder an einem Richtplatz vorbei zu gehen. War 
der nicht ein Muſter aberglaubiſcher Denkweiſe? 
Um die Bedeutung des eben Erwähnten rich— 
tiger zu faſſen, und um verſchiedene darin vor— 
kommende Aeußerungen nicht mißzuverſtehen, wer— 
den wir uns das Weſen der Naturgeſetze näher 
vors Auge zu ſtellen haben. Ungeachtet wir 


138 
bereitwillig eingeſtehen müſſen, daß unſere Natur- 
wiſſenſchaft im Vergleich zu ihrer unendlichen Auf— 
gabe höchſt unvollkommen ſey, ſo iſt ſie doch hin— 
reichend zu zeigen, daß die Naturgeſetze ewige 
Vernunftgeſetze ſind; dieſe zu kennen heißt den 
unendlichen Vernunftzuſammenhang in der Natur 
kennen, heißt die Vernunft kennen, welche das ganze 
Daſeyn, das körperliche ſowohl als das geiſtige 
durchdringt und beherrſcht. Die Naturwiſſenſchaft 
ſtimmt vollkommen überein mit der Religion, welche 
lehrt, daß Alles hervorgebracht iſt, alles hervorge— 
bracht und beherrſcht wird von dem göttlichen Wil— 
len; im Laufe der Dinge Etwas übernatürlich zu 
nennen heißt alſo es ſowohl mit der Vernunft als 
mit dem göttlichen Willen in Widerſtreit ſtellen. 
Es iſt mir ſehr wohl bekannt, daß ſich viele ein— 
bilden, die ewig ſchaffende Kraft könne es dann 
und wann nöthig finden, von dem natürlichen 
Gange der Dinge eine Ausnahme zu machen; wenn 
aber dieſe eine wirkliche Ausnahme von der Ver— 
nunftordnung ſeyn ſollte, würde dieß ja eine Un— 
vernunft der allvollkommenſten Vernunft voraus— 
ſetzen; ſollte dagegen die Ausnahme nur ſcheinbar 
und in der Wirklichkeit ein Glied der Vernunft— 


139 


ordnung ſeyn, jo würde fie ja nur dem Vielen 
uns Unverſtändlichen angehören; es würde dazu 
dienen unſern Stolz zu demüthigen, nicht aber den 
Hang etwas Uebernatürliches anzunehmen recht— 
fertigen. Die abergläubiſche Denkweiſe iſt demnach 
ein Hang etwas Vernunftwidriges anzunehmen; 
und ein ſolcher Hang kann nur als etwas Unbe— 
wußtes vorhanden ſeyn. Derjenige welcher es klar 
auszuſprechen vermag, daß es einen Hang zur Un— 
vernunft giebt, wird ihn ohne Zweifel verabſcheuen. 
Der Aberglaube enthält demnach keinen Glauben; 
der Name lügt: ein Glaube muß ſich ausſprechen 
laſſen können; der Aberglaube aber iſt nur eine 
verworrene Einbildung, deren eigentliches Weſen 
nicht zum klaren Bewußtſeyn kommen kann, ohne 
ſich ſelbſt zu vernichten. 

tan wird mir vielleicht einwenden, ein ſolcher 
Hang zur Unvernunft ſey unmöglich und werde, 
auch wenn es ſich fände, von der Kraft der Ver— 
nunft unwirkſam gemacht werden. Ich erwiedere, 
daß ein unmittelbarer Hang zum Vernunfthaß ge— 
wiß nicht in der Natur des Menſchen liegen könne, 
daß er jedoch als Ausartung guter Anlagen ebenſo 
wenig undenkbar als erfahrungwidrig ſey. Unſere 


140 


Unterſuchung wird in ihrem Verlaufe dieſes beleuch- 
ten. Daß die Vernunft bei der Menge dieſem 
Hange nicht hinreichend entgegenwirkte, begreifen 
wir leicht, wenn wir uns erinnern, daß die Ge— 
dankenwelt der meiſten Menſchen nur auf eine 
höchſt unvollkommene Weiſe zu ihrem eigenen Be— 
wußtſeyn gekommen iſt, und bei weitem nicht in 
ihrer Einheit und Ganzheit von ihnen aufgefaßt 
wird, daß ſie ihnen vielmehr in einer merkwürdigen 
Zerriſſenheit vorſchwebt, ſo daß Gedanken, die ſich 
gegenſeitig beleuchten und verſöhnen ſollten, bei 
ihnen ſich ſelten begegnen. Man denke ſich einen 
Menſchen, deſſen Begriff von der Natur auf die 
am meiſten unmittelbare ſinnliche Gegenwart be— 
ſchränkt iſt: für ihn iſt nicht nur das Geiſtige 
etwas Uebernatürliches, ſondern es ſind es auch 
alle Gegenſtände der Körperwelt, welche ſein Ge— 
danke mit dem Gewöhnlichen nicht in Zuſammenhang 
zu bringen vermag; ſo wird ihm auch der Sternen— 
himmel etwas Uebernatürliches, ſo daß er demſelben 
in ſeiner Unkunde der Geſetze, nach welchen jener 
regiert wird, die naturwidrigſten Einwirkungen auf 
die menſchlichen Dinge beimißt. Ein etwas mehr 
entwickelter Begriff, läßt ſich noch mit vielen 


Irrthümern vereinigen, welche in ihrem innern We— 
ſen zu demſelben Geſchlechte gehören. In dieſem 
Falle befindet ſich der, deſſen Begriff von der Natur 
in dem Maße von der Betrachtung der Verſchie— 
denheit zwiſchen dem Körperlichen und Geiſtigen 
befangen iſt, daß er die Einheit der Vernunftge— 
ſetzgebung, welche das Ganze umfaßt, nicht gewahr 
wird. Allen denjenigen, welche eine ſo beſchränkte 
Vorſtellung von der Natur haben, iſt es möglich, 
ſich einen übernatürlichen Eingriff darein zu denken 
ohne ſelbſt die Unvernunft ihres Gedankens einzu— 
ſehen; doch leben ſie, ohne es ſelbſt zu wiſſen, mit 
dem Daſeyn in einem Widerſtreite, den ſie bei jeder 
kräftigen Gedankenbewegung empfinden müſſen; 
treibt ſie ihr geiſtiges Streben nicht ſo weit, daß 
jener Widerſtreit ihnen mit derjenigen Klarheit 
entgegentritt, welche erforderlich iſt, ſie über den— 
ſelben hinauszuführen, ſo verbleiben ſie in einem 
traurigen, die Seelenkraft danieder drückenden 
Gefühl von Verwirrung und Entfernung vom 
ewigen Licht. — Der hier erwähnte Zuſtand kann 
bei manchen Menſchen, beſonders in gewiſſen dun— 
keln Zeitaltern, ſehr häufig bis zur äußerſten Ver— 
ſenkung in geiſtiges Dunkel, ja in ſeinen Folgen 


142 


in Vernunfthaß und in Gottloſigkeit ausarten. 
Vielleicht möchte dieſes auf den erſten Anblick Vie— 
len als eine überſpannte Anwendung von Grund— 
ſätzen ohne wahre Uebereinſtimmung mit der Wirk— 
lichkeit erſcheinen; wäre dem alſo, ſo würde ich 
ſelbſt dieſe ſtarken Ausdrücke verabſcheuen und mich 
ſchämen, ſie gebraucht zu haben; aber ich hoffe, 
daß ſie bei näherer Prüfung der Sache ſollen 
hinreichend gerechtfertigt befunden werden. 

Dem Aberglauben gegenüber ſteht als eine ent— 
gegengeſetzte Entartung der Unglaube. Dieſer be— 
ruht auf dem Hange alle diejenige unmittelbare 
Gewißheit, welche nicht auf Sinneneindrücken be— 
ruht, zu verwerfen und ſeine ganze Ueberzeugung 
nur auf dieſe und den Ausſpruch des Verſtandes 
zu bauen. 

Aberglaube und Unglaube haben ſich in dem 
Menſchengeſchlechte in derjenigen Verbindung aus— 
gebildet, in welcher Gegenſätze, die ſich ſtets her— 
vorrufen, nothwendig ſich zeigen müſſen; wir müſ— 
ſen daher verſuchen, uns einen Ueberblick ihrer 
Urſprungs- und ihrer Entwickelungsweiſe zu bilden. 


5 


Urſprung und Entwickelungsgang des Aberglaubens und 


des Unglaubens. 


Das Menſchengeſchlecht beginnt, wie der ein— 
zelne Menſch, ſein Erkennen durch unmittelbare 
Auffaſſung. Der Zuſtand der Kindheit, in welcher 
ſich das eigentliche Denken nur noch wenig entwickelt 
hat, und in dem die Verarbeitung, welche die Sin— 
neneindrücke durch jenes erhalten, höchſt gering 
iſt, macht in der Ausbildung des Geſchlechts ein 
langes Zeitalter aus. Des Menſchen Bewußtſeyn 
ſeiner eigenen innern Zuſtände erhält hier einen 
überwältigenden Einfluß auf ſeine Weltauffaſſung. 
Er legt ſein eigenes Fühlen und Wollen und Ein— 
bilden hinein in die ſinnliche Natur; Alles um 
ihn her iſt lebend, fühlend, wollend, wie er ſelbſt. 
Die innere Welt, welche der Menſch ſich auf dieſe 
Weiſe bildet, iſt eine Welt der Dichtung, ſehr 
verſchieden von der, welche das Denken ihn ſpäter 
kennen lehrt; da aber dieſelbe Thätigkeit, welche im 
Denken mit Bewußtſeyn handelt, alle unſere See— 
lenäußerungen durchdringt und die Form derſelben 
ausmacht, ſo erhält dieſe kindliche Weltauffaſſung 


144 


eine eigene Uebereinſtimmung mit der in der Natur 
herrſchenden Vernunft und dadurch das für unſern 
innern Sinn ſo faßliche Vernunftgepräge, welches 
das Weſen der Schönheit ausmacht, das nie auf— 
hört, uns für ſich einzunehmen. Könnte ſich der 
Menſch in dieſer Welt der Dichtung behaupten, 
jo würde fein Leben ein harmoniſches Ganze bilden; 
aber ſeine Weltauffaſſung würde dann nur eine 
bloß ahnende, halb träumende ſeyn. Der Ver— 
nunftzuſammenhang in der Welt, die Offenbarung 
der göttlichen Vernunft im Daſeyn, würde ſeinem 
Bewußtſeyn nicht klar aufgehen; durch zahlloſe 
Kämpfe muß das Geſchlecht daher dem Standpunkte 
zugeführt werden, wo uns die Grundeinheit aller 
unſerer Fähigkeiten und Auffaſſungsweiſen klar 
werden, und wo Denken und Dichten nicht mehr 
im Streit mit einander liegen. Für dieſen Zweck 
iſt in der Einrichtung des ganzen Daſeyns geſorgt. 

Die Natur der Dinge erlaubt es dem Menſchen 
nicht, ſich in ſeine Dichtungswelt einzuſchließen; 
die Einwirkungen der Außenwelt geſtatten dieſes 
nicht: ſie dringen ihm Erfahrungen auf und nöthi— 
gen ihm häufiges Nachdenken ab. Eindrücke von 
unwiderſtehlicher Stärke, Gedanken, welche in 


145 
unabweisbarer Klarheit hervortreten, nöthigen ihn, 
Vieles auf eine neue Weiſe aufzufaſſen. Dieß gibt zu 
zwei entgegengeſetzten Empfindungen Anlaß: ent— 
weder zur Freude über das neue Licht oder zur Un— 
zufriedenheit über den ſtörenden Eingriff in die alte 
eingewohnte Weltanſchauung; je nach der Natur des 
Neuen oder nach der Eigenthümlichkeit jedes einzel— 
nen Menſchen gewinnt die eine oder die andere 
dieſer Empfindungen die Oberhand. Einige Bei— 
ſpiele werden dieß beleuchten. Der Gang der 
Jahreszeiten hat ſelbſt in den am meiſten begün— 
ſtigten Weltgegenden einen großen Einfluß auf den 
Zuſtand des Menſchen; in den wärmern Erdſtri— 
chen wird es ihm wichtig, zu wiſſen, wann die 
Regenzeit von der Sonnenzeit abgelöst werde, 
oder wann die Dürre, welche dieſe beſchließt, dem 
befruchtenden Regen weichen ſoll; in den kältern 
Erdſtrichen wird es ihm wo möglich noch dring— 
licher, den Gang der Jahreszeiten zu kennen. 
Durch eine Reihe von Himmelsbeobachtungen bildet 
ſich im Kreiſe hochbegabter Männer und ihrer 
nächſten Zöglinge eine Kenntniß der Geſetze, nach 
denen ſich die Jahreszeiten vorherſagen laſſen, und 
dieſe Kundigen achtet die Menge als Vertraute 


O erſted, der Geiſt in der Natur. 7 10 


146 


des Himmels und als Wohlthäter des Geſchlechts. 
Durch ihre Weisheit werden die Verrichtungen 
möglich, welche die Vorausbeſtimmungen der Jah— 
reszeiten erfordern, als Ackerbau, Zuſammenkünfte 
zur Verrichtung von Religionshandlungen, große 
Kriegszüge u. dgl. Die Menge zwar wird da— 
durch nicht zum beſondern Nachdenken erweckt; 
aber in dem Kreiſe der Eingeweihten, wo das 
Wiſſen gepflegt und bewahret wird, muß man bald 
gewahr werden, daß die Vorſtellungen der Menge 
von den Himmelskörpern als freiherrſchende Götter, 
deren Güte man die Wohlthaten des Jahres ver— 
danke, den Geſetzen, nach denen die Naturereig— 
niſſe ſich richten müſſen, nicht entſprechen. Der 
menſchlichen Natur gemäß erheben ſich nun zwei 
entgegengeſetzte Einſeitigkeiten: bei Einigen Zweifel 
über die Vorſtellungsweiſe der Menge im Allge— 
meinen und zugleich über die Wahrheiten, welche 
in einem mit groben Irrthümern vermiſchten, in 
ſeiner Grundlage aber doch richtigen Glauben 
enthalten ſind; bei Andern dagegen eine Furcht, 
ſich dadurch jede Ueberzeugung von der Göttlich— 
keit der Sache wegzuvernünfteln. Unter der früh— 
zeitigen Entwickelung jener Einſichten werden ſich 


147 


zwar beide Richtungen ſchwerlich zu einer entfchie- 
denen Einſeitigkeit emporarbeiten; aber der Ge— 
danke wird ſich gleichſam in Schwingungen zwi— 
ſchen beiden Ertremen hin- und herbewegen, und 
der Menſch wird fühlen, daß ſein Gedanke nicht 
den Grund der Tiefe zu erreichen vermag. Aber 
dieſelben Gedankenrichtungen bilden ſich allmählig 
weiter aus, und zwar um ſo mehr, je größer die 
Zahl derjenigen wird, welche wenn auch nur auf 
eine ſehr oberflächliche Weiſe einige Kenntniß von 
den Geſetzen des Himmels erlangen; das wird 
beſonders der Fall ſeyn, wenn Himmelsbegeben— 
heiten, welche die Menge mit Schrecken betrach— 
tet, ſich ihnen als gefahrloſe Folgen der Welt— 
geſetze zeigen. Man denke ſich den Schrecken, der 
die Menſchen überfallen würde, wenn ſie ſich beim 
Anblick einer Sonnenfinſterniß einbildeten, ein 
ungeheurer Drache wolle die Sonne verſchlingen: 
es würde ihnen daſſelbe ſeyn, als wenn die Mächte 
der Finſterniß das Licht zu verſchlingen drohten; 
aber ſelbſt nachdem man dieß Vorurtheil abgelegt 
hatte, fuhr man doch fort, die Sonnenfinſterniß 
mit bangen Ahnungen zu betrachten. Wenn es 
aber zur allgemeinen Kunde kam, daß dieſes Er— 


148 
eigniß nur darin beſteht, daß der Mond in feinem 
wohlgeordneten Gange auf kurze Zeit zwiſchen 
Erde und Sonne kommt, und daß ſich dieß voraus 
berechnen läßt, mußte es zu einer großen Ge— 
dankenbewegung Anlaß geben; die Freude, eine 
alte Furcht vor einer feindlichen Naturmacht ver— 
jagt zu ſehen, mußte ſehr allgemein werden. Denen, 
welche mehr von der Sache begriffen, mußte ſich jener 
Freude noch eine andere höhere beigeſellen, indem 
man an einem großen Beiſpiele ſah, daß unſer Geiſt 
einen Theil der Lenkung der Natur zu verſtehen 
vermag. Indem man jedoch eine Naturfurcht als 
grundlos erkannt hatte, ward man darauf hinge— 
führt, ſich zu fragen, ob daſſelbe nicht etwa auch 
für unzählbare andere gelte; ja bei Manchen blieb 
es natürlich nicht bei der bloßen Frage. Der hier 
erwähnte Fall, wie bedeutungsvoll und gedanken— 
erweckend er immer ſeyn möge, konnte an und für ſich 
wohl keinen weitumfaſſenden Einfluß äußern, aber 
es iſt nur ein aus unendlich vielen Fällen heraus— 
gegriffenes Beiſpiel. Der Einfluß der Umgebung 
erweckt unaufhörlich beim Menſchen das Nach— 
denken, und ſo oft er eine Urſache, einen Zuſam— 
menhang entdeckt, geräth er in Widerſpruch mit 


149 
der alten Welt ſeiner Einbildungskraft; unter 
dieſem Fortſchreiten werden die freieſten und ſelbſt— 
thätigſten Geiſter nicht bei der Verwerfung der— 
jenigen Meinungen, deren Falſchheit man als 
gewiß erkannt hatte, ſtehen bleiben, ſondern ſich 
vielmehr angetrieben fühlen, zugleich alles denſelben 
auffallend Aehnliche zu verwerfen; aber die Mehr— 
zahl derjenigen, welche die neue Gedankenrichtung 
eingeſchlagen haben, läßt ſich leicht hinreißen, dieſes 
Verwerfen über die rechten Grenzen hinaus zu über— 
treiben, und namentlich Wahrheiten, welche mit den 
Irrthümern verwickelt geweſen ſind, abzuläugnen. 
Dieſen gegenüber befinden ſich diejenigen, welche 
ſich nicht leicht von den alten Vorſtellungen loszu— 
reißen vermögen; einige von einem tief empfun— 
denen Glauben an die Wahrheiten, welche man jetzt 
verläugnen will; Andere, und zwar die Mehrzahl 
derer, bei welchen dieſer Glaube weniger lebendig 
iſt, weil ſie gegen alles Neue durch die Stumpf— 
heit ihres Denkens abgehärtet ſind. Dieſe Auf— 
klärungsmänner werden nun, von Freude über die 
Ausſicht in die neue Gedankenwelt erfüllt, ungedul— 
dig werden über den zähen Widerſtand, und den aus— 
ſchließlichen Grund davon in der geiſtigen Schwäche 


150 


ihrer Gegner ſuchen; während auf der andern 
Seite Furcht und Erbitterung entſteht, wenn 
die Anhänger des Alten die Weltanſchauung, mit 
der ihr Gottesbewußtſeyn verwachſen iſt, bedroht 
ſehen. Dieſer Kampf zwiſchen zwei entgegenge— 
ſetzten Einſeitigkeiten ſchreitet ſo wenig als irgend 
ein anderer ununterbrochen fort; bald erhält die 
Erweckung des Denkens durch neue Entdeckungen 
das Uebergewicht; bald tritt eine Zeit der Ruhe ein, 
während welcher man Muße erhält, die Grenzen, 
welche die raſche Gedankenbewegung zu ſehr er— 
weitert hatte, enger zuſammen zu ziehen; in allen 
Zeiten aber wird es einige Menſchen geben, die 
mit wahrer innerer in einer ehrwürdigen Seelen— 
tiefe gegründeten Beſcheidenheit fühlen werden, daß 
zwiſchen den ſtreitenden Parteien viele Fragen 
liegen, auf die man mit wahrer Ueberzeugung 
zur Zeit noch keine Antwort geben kann. Sie 
begnügen ſich daher damit, ſich dasjenige an— 
zueignen, was ihnen bei beiden Parteien das 
Gewiſſeſte ſcheint: einerſeits die Ueberzeugungen, 
zu denen ein in ſich ſelbſt geſichertes Wahr— 
heitsgefühl leitet, obgleich es dem Denken noch 
nicht hinreichend gelungen iſt, ſie zu beleuchten; 


151 


andererſeits die Wahrheiten, welche das Denken 
entſchieden beweist, ſelbſt wenn zwiſchen dieſen und 
der alten Gedankenwelt einiger Widerſtreit obzu— 
walten ſcheint. Menſchen, welche dieſe Selbſtver— 
läugnung zu behaupten vermögen, wiſſen ſehr 
wohl, daß da, wo Widerſpruch vorhanden iſt, 
die ganze volle Wahrheit nicht ſeyn kann; aber 
ſie wiſſen zugleich, daß der Beſitz der Wahrheit 
in ihrer Ganzheit außer unſerem Vermögen liegt, 
und daß wir durch eine unzeitige Unterdrückung 
der Zweifel keineswegs die Wahrheit gewinnen. 

Dieſer hier in der Kürze geſchilderte Entwicke— 
lungsgang geht durch die ganze Geſchichte der 
Menſchheit hindurch, nur verſchieden nach den 
verſchiedenen Zeitaltern und Welttheilen. Wir 
wollen nun verſuchen, die Ausbildung des Aber— 
glaubens ſo darzuſtellen, wie er zur Zeit der größ— 
ten Verbreitung ſeiner Herrſchaft geweſen iſt. Die 
Menſchen waren genöthigt, allmählig mehr und 
mehr Kenntniſſe, welche Denker dem Geſchlecht er— 
worben hatten, aufzunehmen; aber bei der Mehrzahl 
blieben dieſe Kenntniſſe als etwas bloß Empfangenes 
da ſtehen, und eben dasjenige darin, was für 
die höher Begabten die größte Bedeutung hat, iſt 


am wenigſten geſchickt, unentſtellt in das Gedan— 
kenleben der Menge einzugehen; inzwiſchen wird 
doch auch bei den roheren Menſchen durch die Blitz— 
ſtrahlen höherer Gedanken mannigfaltiges Denken 
erweckt. Noch mannigfaltiger iſt die Wirkung aller 
jener Früchte des Denkens, welche den Menſchen 
als ein ſtets wachſendes Erbtheil der Jahrhunderte 
zufließen, und die ihnen vom Alltagsleben, deſſen 
zahlloſe Verrichtungen jedem neuen Menſchenalter 
mehr Nachdenken abnöthigen, aufgedrängt werden. 
Das hiedurch erweckte Denken jedoch erhält bei der 
Mehrzahl nicht eine ſolche Ausbildung, daß es frei 
ſeiner eigenen Natur entſprechend wirken könnte; es 
bleibt bei der rohen Menge der Herrſchaft der Ein— 
bildungskraft unterworfen, und ſeine Thätigkeit, ſo 
weit dieß möglich iſt, auf ihre Welt beſchränkt; man 
will gleichſam mit der Einbildungskraft begreifen 
und den für dieſe unverdaulichen Stoff zu einer 
Weltanſchauung verarbeiten, die in eben dem 
Maße, in welchem ſie ſich mehr entwickelt, verwor— 
rener und widerſprechender wird. Während dieſes 
Zuſtandes bildet ſich ein ſonderbares Gewebe aus 
den Geſchöpfen der alten Dichterwelt und der Maſſe 
von Kenntniſſen, die nunmehr erworben iſt. Man 


153 


würde fich ſehr täuschen, wenn man glauben wollte, 
dieſe Kenntniſſe in den Dichterwerken eines ſolchen 
Zeitalters überwiegend ausgeprägt zu ſehen: in 
dieſen erblickt man nur dasjenige, was der Schön— 
heitsſinn zu wählen und umzubilden vermochte. 
Auch in den Geſchichtswerken, welche ſich nur mit 
den größern Begebenheiten befaſſen, findet man von 
der Welt des Aberglaubens nur wenige Spuren; 
in den Schriften aber, welche uns die Verhält— 
niſſe des Alltagslebens darſtellen, können wir ſie 
zum Theil kennen lernen. Das Leben der Römer 
war ſelbſt in ihrem am meiſt verfeinerten Zeitalter 
ſtark davon durchdrungen; das Mittelalter werden 
wir gleich näher betrachten. 


3. 
Das Mittelalter als Beifpiel eines abergläubiſchen Zeitalters. 


Der Aberglaube hat zu verſchiedenen Zeiten 
einen gewiſſen Höhepunkt erreicht, der durch die 
geſammten Verhältniſſe näher beſtimmt ward. Es 
würde gar zu weitläufig ſeyn, ein jedes ſolches 
Zeitalter zu berühren. Das für uns lehrreichſte 


154 


wird das Mittelalter ſeyn und dieß um fo mehr, 
als ſich der Aberglaube hier mit dem Chriſtenthume 
vermiſchte, deſſen Lehre von menſchlicher Erfindung 
rein aufgefaßt ſo erhaben und herrlich iſt, daß der 
Aberglaube als Gegenſatz dazu in ſeiner düſterſten 
Unvernunft nackt daſteht. Während man eine 
Religion bekannte, welche lehrt, daß die ganze 
Welt von dem göttlichen Willen regiert wird, 
erfüllte die Einbildungskraft ſie mit böſen Weſen, 
die in vielſeitiger Hinſicht Macht über die Natur 
hatten; zwar ſollten ſie dem ewigen Willen unter— 
worfen ſeyn; dieß war eine unbeſtreitbare Lehre; 
aber in den tiefen Abgründen der roheren Seelen 
lagen finſtere Einbildungen, welche mit der leuch— 
tenden Wahrheit in Widerſtreit ſtanden und die 
mehr, als man glauben ſollte, Leben und Handlungs— 
weiſe beherrſchten. Es iſt ſchwierig, ein klareres 
Beiſpiel von der Unvernunft des Aberglaubens zu 
nennen, als die Begierde, mit der ſo viele Chri— 
ſten eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch 
bei Menſchen Zuflucht ſuchten, von denen ſie ſelbſt 
glaubten, daß ſie nur mittelſt teufliſcher Künſte 
zu helfen vermöchten; beim Teufel Hülfe zu ſuchen, 
während man doch an Gott glaubt, könnte die 


155 


lächerlichſte Thorheit genannt werden, wenn es nicht 
die traurigſte Verirrung wäre. Es handelt ſich 
hier nicht um einzelne Beiſpiele, ſondern von einer 
Denkweiſe, welche durch mehr als ein Jahrtauſend 
ſich in allen chriſtlichen Ländern täglich äußerte; 
aber das Uebermaß dieſes Wahnſinns iſt doch der 
Gedanke, ſich dem Teufel zu verſchreiben um ſich 
die vergänglichen Genüſſe einer beſchränkten Lebens— 
zeit gegen Verzichtleiſtung auf die ewige Seligkeit 
und gegen die Verdammung zur unvergänglichen 
Pein eines ewigen Lebens einzutauſchen. Welche 
gleichzeitige Hingebung zur Unvernunft und zur 
Gottloſigkeit, zur Gottloſigkeit und Unvernunft! 
Wenn man dem ſprechenden Zeugniß der 
Geſchichte die falſche Einwendung entgegenſetzen 
wollte, es könne eine ſolche Gottloſigkeit im Mit— 
telalter, wo die Religion ſo hoch geachtet war, 
nicht häufig geweſen ſeyn, ſo werde ich antworten, 
daß eine unparteiiſche Betrachtung der damaligen 
Religionsübung vielmehr zeigt, daß auch dieſe mit 
Aberglauben überfüllt geweſen. Der Gott, den 
man verehrte, ſollte wohl der ſeyn, den Chriſtus 
verkündet hatte; aber in der damaligen Vorſtel— 
lung war er ein ganz anderer; man dachte ſich ihn 


156 


als einen großmächtigen Oberkönig und nicht als 
einen Geiſt, den man im Geiſt und in der Wahr— 
heit anbeten ſollte. Einzelne Ausnahmen wichen 
ſo ſehr von der allgemeinen Handlungsweiſe ab, 
daß ſie hiergegen nicht geltend gemacht werden 
können. Die herrſchende Meinung der Menge war, 
daß man ſeine Gewaltthätigkeiten, ſeinen Raub 
und ſeine Mordthaten durch Gaben ſühnen könne, 
mit denen man ſich nicht ſowohl an den Allerhöch— 
ſten ſelbſt wendete, als vielmehr an Perſonen, wel— 
chen man großen Einfluß bei ihm zutraute, z. B. an 
die Mutter ſeines Sohnes, an eine Heerſchaar von 
Heiligen und eine noch größere Heerſchaar von 
Prieſtern; dieſe Einflußreichen wurden mit Gaben 
überhäuft; die Diener der Kirche verkauften Ablaß. 
Man wird mir gewiß vorwerfen, daß ich hier die 
verbrauchte Sprache des achtzehnten Jahrhunderts 
wiederhole; aber es iſt keineswegs meine Abſicht, 
hier etwas Neues zu ſagen, ſondern etwas Wahres, 
das Viele zu vergeſſen große Luſt haben. Man 
wird mir ſagen, dieſe Meinung über das Mittel— 
alter ſey ſo oft verdammt worden, und zwar in den 
ſtärkſten Ausdrücken, daß man ſie nicht aufs Neue 
hervorziehen ſollte; ich kenne dieſe Verdammungs— 


urtheile; ſie ſchrecken mich nicht mehr, ſeit ich ge- 
ſucht habe, das Mittelalter durch ſich ſelbſt und 
nicht aus den Schilderungen ſtreitender Parteien 
kennen zu lernen. Wir dürfen uns nicht dadurch 
täuſchen laſſen, daß man den Irrthümern der 
finſtern Zeitalter eine höhere Meinung unterzu— 
legen vermag; tiefe Wahrheiten liegen ſehr häufig 
den Irrthümern aller Zeitalter zum Grunde; aber 
wir müſſen die Augen aufthun, um zu ſehen, wie 
die Menſchen jener Zeiten in der Wirklichkeit dach— 
ten; nur ſo erlangen wir ein wahres Bild des 
Zuſtandes. 

er: verſteht ſich, daß bei der hier verfolgten 
Gedankenrichtung unſere Aufmerkſamkeit ausſchließ— 
lich auf die Schattenſeite des Mittelalters gewendet 
ſeyn mußte; nachdem aber dieſes geſchehen iſt, 
werden wir uns ſelbſt daran zu erinnern haben, 
daß in keinem Zeitalter die Verirrung ſo unum— 
ſchränkt herrſchend geweſen ſey, daß nicht auch das 
Wahre und Gute darin große Macht ausgeübt hätte. 
Was ich darzuthun beabſichtigte und für gewiß 
halte, iſt, daß der Aberglaube auf das Leben und 
die Denkweiſe des Mittelalters einen bei weitem 
größeren Einfluß übte, als die meiſten neuern 


158 
Schilderungen vermuthen laſſen, und daß derſelbe 
in eben dem Maße, als er zur Herrſchaft gelangte, 
ſich beides als Unvernunft und als Gottloſigkeit 
zeigte. 

Es wird kaum nöthig ſeyn zu ſagen, daß die 
Religion für ſich ſelbſt an dieſen Verirrungen ſchuld— 
los war; wir ſehen aber hier eines der zahlreichen 
Beiſpiele, welche zeigen, daß dieſelbe auf höchſt 
verſchiedene Weiſe von den Menſchen aufgefaßt 
werde, je nach der Verſchiedenheit ihrer Kenntniſſe 
und der verſchiedenen Entwicklung ihrer Fähigkeiten. 
Das Menſchengeſchlecht hat zum wahren Verſtänd— 
niß erzogen werden müſſen und dieſe Erziehung iſt 
zwar von Stufe zu Stufe vorgerückt, ſcheint aber 
noch weit von der Vollendung entfernt. 


4. 


Der Aberglaube greift verwirrend ins ganze Leben ein. 


Nicht nur gegen die Religion gilt es, daß der 
Aberglaube ſtreitet; er greift auch verwirrend ins 
ganze Leben ein. Um uns dieß recht lebendig vor— 
ſtellen zu können, müſſen wir uns in ein Zeitalter 


159 
verſetzen, in welchem der Aberglaube vorherrſchend 
war. Stellte ſich eine Sonnen- oder Mondverfin- 
ſterung ein, ſo fürchtete man, ſie möchten böſe 
Wahrzeichen ſeyn; eine Furcht dieſer Art erhielt 
ſich viele Jahrhunderte hindurch, ja ſelbſt über ein 
Jahrtauſend, nachdem die Wiſſenſchaft den wahren 
Grund der Verfinſterungen ausfindig gemacht hatte. 
Noch größer war die Beängſtigung, wenn ſich ein 
Komet zeigte; noch im fünfzehnten Jahrhundert 
ward auf Befehl des Papſtes eines Kometen wegen 
in allen Kirchen geläutet. Bei vielen größern Un— 
ternehmungen befragte man Sterndeuter und ließ 
ſich durch ihren Ausſpruch beſtimmen. Selbſt um 
zur Ader zu laſſen, ein inneres Heilmittel zu ge— 
brauchen oder ſich auch nur das Haar ſchneiden zu 
laſſen, fand man es nöthig, mit dem Himmel ſich zu 
berathſchlagen. Die Bedeutung, welche man in 
Zahlen zu finden meinte, deren Urſprung ganz von 
willkürlichen Beſtimmungen abhängt, verſchaffte der 
Furcht, es ſolle die Welt im Jahre 1000 unter— 
gehen, einen die ganze Chriſtenheit umfaſſenden 
Einfluß. Das blinde Vertrauen zu Prophezeiungen 
richtete oft große Verwirrung an; in Krankheiten 
nahm man häufig ſeine Zuflucht zu Männern und 


Weibern, denen man übernatürliche Kenntniſſe zu— 
traute und erhielt bald nutzloſe, bald verderbliche 
Rathſchläge; wenn Krankheiten in einem Hauſe 
Menſchen oder Vieh trafen oder ein ſonſtiges Uebel 
ſich einſtellte, ſchrieb man die Urſache der Einwir— 
kung böſer Menſchen oder anderer böſen Weſen zu 
und litt folglich außer dem Unglück noch an der 
Angſt vor unbekannten Mächten. Selbſt der im 
Gemüthe des Menſchen vorgehende Wechſel, z. B. 
der Liebe und ihrer Verwandlung in Abneigung, 
ward häufig der Zauberei zugeſchrieben und über— 
natürliche Hülfe dagegen geſucht; nicht ſelten wen— 
dete man abſcheuliche Zaubertränke dagegen an. 
Die Dunkelheit war mit Schrecken erfüllt; in Wäl— 
dern und Gebirgen, bei Kirchen, in Einöden, in 
ſelten beſuchten Gemächern hauſeten Zauberer, Er— 
lenmädchen, Berggeiſter, Geſpenſter. Wehrwölfe 
gingen in den Straßen umher; ja im Innerſten 
der Wohnungen konnten böſe Mächte unſchuldige 
Kinder in der Wiege austauſchen. Es iſt mir na— 
türlicherweiſe nur möglich geweſen, einige wenige 
Züge zuſammen zu faſſen, würdigt man ſie aber 
einiger Aufmerkſamkeit, dann wird man leicht ein— 
ſehen, daß ihr Einfluß mächtig ſeyn mußte. Will 


161 


man mir einwenden, daß alle dieſe Dinge hier fo zu— 
ſammengehäuft dargeſtellt worden ſind, wie ſie dies 
im Leben ſelbſt niemals zu ſeyn vermochten, ſo pflichte 
ich dieſem bei. Zwar gab es nicht Wenige, die 
ſich ihrem natürlichen Hange gemäß ſolchen Ein— 
bildungen ganz beſonders hingaben — und ihnen 
mußte das Daſeyn eine Art von Hölle ſeyn — 
aber bei den meiſten Leuten konnten die zahlreichern 
und weit ſtärkern Eindrücke, die ſie aus der wirk— 
lichen Welt empfingen, jene Einbildungen über— 
bieten und niederdämpfen, ſo daß ſie bei Einigen 
nur eine vielfach unterbrochene, bei Andern ſelbſt 
gar eine ſehr geringe Wirkſamkeit erhielten. Im 
Ganzen aber ſtanden ſie den Lebensverhältniſſen 
jener Zeiten weit näher, als es aus den dichteriſch 
ſchönen Zügen erſcheinen mag, mit denen viele 
Schriftſteller uns ein Bild des Mittelalters ent— 
werfen. Es ſteht demnach feſt, darf ich behaupten, 
der herrſchende Aberglaube durchdrang das Men— 
ſchenleben mit einer Unruhe, einer Verwirrung, 
oft mit einem Schrecken, die unſerer Zeit fremd 
ſind, obgleich auch ſie das beſchimpfende Joch des 
Aberglaubens noch nicht ganz abgeſchüttelt hat. 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 11 


Ueber das vermeintlich Poetiſehe des Aberglaubens. 


Noch muß ich eine Meinung über den Aber— 
glauben berühren, welche ihn zum Schooßkinde 
vieler Gebildeten macht: man ſagt, er ſey poetiſch 
und klagt darüber, daß die genaue Kenntniß 1 
Naturgeſetze unſere Auffaſſung proſaiſch mache. 
liegt ein auffallender Mangel an Ehrerbietung = 
Wahrheit und Wirklichkeit hinter dieſer Beſchuldi— 
gung verſteckt; doch dabei wollen wir uns nicht auf— 
halten, es wird hinreichen, wenn wir die Mißver— 
ſtändniſſe löſen, worauf ſich dieſe Meinung gründet. 
Es iſt nicht der Glaube an das Daſeyn übernatür— 
licher Weſen in der Wirklichkeit des Alltaglebens, 
der dieſe Weſen poetiſch macht, ſondern ſo weit 
ſie poetiſch ſind, haben ſie ihren dichteriſchen 
Werth und ihre Bedeutung dadurch, daß eine von 
der Vernunft durchdrungene Einbildungskraft ſie 
benutzt hat, ſchöne Bilder eines höhern Daſeyns 
unſerer innern Anſchauung darzuſtellen. Dem 
Dichter genügt es ſchon, daß dieſe Weſen für 
unſere Einbildungskraft Wirklichkeit haben, wäh— 
rend wir ſein Werk auffaſſen oder es in unſerem 


163 


Innern wiederholen. Er muß feinen Weſen ein 
ſolches Leben eingehaucht haben, daß ſie auf un— 
ſere Einbildungskraft zu wirken vermögen, bei uns 
muß aber auch dieſe Kraft ſo lebendig ſeyn, daß 
wir uns die vom Dichter gezeigten Bilder in uns 
ſelbſt wiedererſchaffen können. Wie viele gibt es 
wohl unter den Tauſenden, welche Shakeſpears 
Macbeth oder Hamlet entzückten, die an die Wirk— 
lichkeit von Heren und Geſpenſtern glauben? Es 
iſt eine Erfahrungswahrheit ſowohl als ein Aus— 
ſpruch der Wiſſenſchaft, daß der Glaube, deſſen 
wir bedürfen, um die Darſtellungen des Dichters 
von dem Uebernatürlichen zu genießen, während 
des Genuſſes bei uns entſteht und unterhalten 
wird. Das Verlangen nach anderer Wirklichkeit 
iſt lächerlich und erinnert mich an einen Mann, 
welcher, als er „den Tod Balders“ von Ewald 
geleſen hatte, fragte: wo wohnte Nanna? worauf 
er die paſſende Antwort erhielt: in dem Chriſten— 
Bernikow-Gäßchen.! Ich weiß ſehr wohl, daß 
ausgezeichnete Dichter in ihren Werken Perſonen 

Es iſt hier die Rede von der Tragödie des däniſchen 


Dichters Ewald, worin er die Liebe des Gottes Baldur 
und der ſchönen Nanna ſehr ergreifend dargeſtellt hat. 


164 


eingeführt haben, welche lächerlich gemacht werden, 
weil ſie nicht an übernatürliche Weſen glauben 
wollten; wo aber eine ſolche Darſtellung gelungen 
iſt, kann ſie nur gegen diejenigen gerichtet ſeyn, 
welche die übernatürlichen Weſen aus der Dich— 
tungswelt vertrieben wiſſen wollten, weil ſie die 
dichteriſche Wirklichkeit mit der proſaiſchen, die 
ihnen der Aberglaube beilegte, verwechſelten. In 
ſo fern es der Dichter anders meint, verfällt er 
in einen ganz proſaiſchen Irrthum. 

Daß ein ſolches Mißverſtändniß indeß ſehr 
ausgezeichnete Dichter irregeführt hat, iſt aller— 
dings unläugbar. Es gab eine Zeit, wo der Ge— 
danke ſowohl in Deutſchland und nachher in Däne— 
mark bei vielen geiſtreichen und in gewiſſen Rich— 
tungen hochgebildeten Männern Eingang gefunden 
hatte, man würde der Religion und Poeſie durch 
Wiedereinführung des Aberglaubens einen Dienſt 
erzeigen. Dieſes Streben erhielt insbeſondere Kraft 
und Leben dadurch, daß es als Gegenſatz gegen 
eine damals herrſchende, ſehr proſaiſche Denkweiſe 
in die Schranken trat. Der Zeitraum jener Thä— 
tigkeit iſt nun vorüber; aber die geiſtigen Kräfte, 
welche zur Führung des Streits für den Aber— 


165 


glauben dann und wann verwendet wurden, haben 
nicht nur bei vielen eine Wirkung hinterlaſſen, 
ſondern dieſer Streit wird oft dadurch erneut, daß 
er uns in Werken jener Zeit, welche durch dich— 
teriſchen Werth ſtets Leſer gewinnen werden, auf— 
bewahrt iſt. Ich will am liebſten ein großes Bei— 
ſpiel anführen: der Dichter Tieck gehörte in ſeinen 
frühern Jahren unter diejenigen, die mit großer 
Kraft die damals herrſchende proſaiſche Denkweiſe 
angriffen und der dieß mit einem Geiſte und einem 
Witze that, die ſtets Bewunderung finden werden; 
doch läßt ſich nicht läugnen, daß ihn dieß Streben 
eine Zeit lang ſo beherrſchte, daß er dadurch über 
die Grenzen des Wahren hinausgeführt ward. In 
einigen ſeiner Werke iſt ein Streben, der Aufklä— 
rung zu trotzen, erkennbar; insbeſondere zeigt ſich 
dieß in den Mährchen und Volkserzählungen, worin 
er alte Fabeln mit dem Alltagsleben auf das in— 
nigſte zuſammen arbeitet, und zwar in einer ſo 
klaren und durchſichtigen Darſtellung, daß ſich das 
Uebernatürliche darin gleichſam eine andere Wirk— 
lichkeit als die der Dichterwelt ertrotzt. Wenn wir 
dasjenige, was den Stoff im „blonden Egbert,“ 
im „Venusberge und den Elfen“ ausmacht, erzählt 
11 * 


166 


in der unmittelbaren Auffaſſungsweiſe der Volks— 
ſagen, welcher jede Gedankenentwickelung fremd iſt, 
leſen oder noch beſſer hören, ſo verſetzt uns dieſes 
in einen der alten Sagenzeit entſprechenden geiſtigen 
Zuſtand, in welchem die innern Widerſprüche der 
Erzählung und der ungeheure Streit des Stoffes 
mit dem ganzen Daſeyn uns nicht eben gar zu 
ſtark entgegentreten. Sobald wir jedoch die Be— 
gebenheit uns weiter ausmalen und bei dem Stre— 
ben alles in die uns wohlbekannte Wirklichkeit ein— 
zupaſſen, es in zahlloſe Berührungen mit dem 
Nachdenken bringen, dann fühlen wir den Wider— 
ſpruch, ſelbſt wenn große Schönheiten des Gedichts 
es verhindern, daß wir uns ſogleich Rechenſchaft 
davon ablegen. Ein ſolches Gedicht macht in 
ſeiner Geſammtheit einen Eindruck, als ob die 
Welt von Mächten der Finſterniß regiert würde 
und der Menſch ihr willenloſes Spielzeug ſey; 
man wird, während man ſich dem Eindruck recht 
hingibt, von einem unausſprechlichen Schauer er— 
griffen und wenn man ſich dieſen nachher zurück— 
ruft, da wird es einem ſo unheimlich zu Muthe, 
als ob man eingeſperrt wäre in einer Welt des 
Wahnſinns, wohin kein Funke der göttlichen 


Vernunftregierung fein Licht über das bedrohte Men— 
ſchendaſeyn fallen läßt. Es iſt keine hinreichende 
Vertheidigung des Dichterwerks, daß deſſen Urhe— 
ber mit vollem Vorſatze dabei zu Werke gegangen 
iſt und mit ebenſo viel Geiſt als Kunſt jenes 
Grauſen hervorgebracht hat. Seine Pflicht als 
Dichter iſt es, uns in eine Welt des Schönen zu 
verſetzen; dieſe ſchließt zwar nicht einen mächtig 
erſchütternden Schauder aus, aber ſie duldet nicht, 
daß die Macht der Finſterniß über das Licht herrſche. 
Man hat, um den Irrthum zu beſtreiten, daß die 
Dichtkunſt fremden, außer ihren eigenen Grenzen 
liegenden Zwecken dienſtbar ſeyn ſolle, ſich gar zu 
oft verleiten laſſen, derſelben eine wilde Freiheit 
einzuräumen und zu vergeſſen, daß ſie nicht nach 
ihrem wahren Weſen gehandelt habe, wenn ſie ſich 
darauf beſchränkt, ſich uns in gewiſſen Schön— 
heitsformen zu zeigen, ſondern daß es eine ganze 
Schönheitswelt gibt, deren Geſetze ſie nicht 
übertreten darf. Denn wenn ſie dieſen huldigt, 
dann dient ſie aus eigener freier Kraft zugleich der 
Religion, Moral und der menſchlichen Geſellſchaft, 
deren inneres Weſen denſelben Urquell mit der 
Schönheitswelt hat; ſie gelangt zur Harmonie mit 


168 


der ganzen Wirklichkeit, wie dieſe von unſern ver: 
einten ſinnlichen und geiſtigen Kräften aufgefaßt 
wird. Ich habe mich hier angetrieben gefühlt, die 
mir von meinem nächſten Zwecke geſetzten Grenzen 
zu überſchreiten, weil ich bemerkt habe, wie viel 
trübe Ueberreſte alter Eindrücke ſich dem eigenen 
Licht der Natur entgegenſtellen. Man muß die— 
jenigen warnen, welche die höchſte Bildung zu zei— 
gen meinen, wenn ſie die Ueberreſte jener Zeit zur 
Schau tragen und ihnen ſagen, daß ſie ſich in 
der Wirklichkeit nur mit dem Bodenſatz einer längſt 
beendigten edeln Gährung etwas zu gute thun. 
Ich habe mich oft ſehr darüber gewundert, daß 
verſchiedene geiſtreiche Männer im Ernſt das Auf— 
hören des Aberglaubens beklagt und ihn aufs neue 
zu einiger Bedeutung wieder aufzurichten gewünſcht 
haben; dieſes Streben aber hat den Fehler, daß 
es Niemand Ernſt damit iſt, weder denen, welche 
aus einer Art beſondrer Zuneigung die Sache des 
Aberglaubens führen oder denen, welche dieſen 
nachſprechen. Es läßt ſich mit gutem Grunde ſa— 
gen, ſie meinen nur, daß ſie meinen und daß ihre 
Anſtrengungen, ohne daß ſie ſich deſſen klar be— 
wußt werden, nur dazu dienen das Reich der 


169 


Unwahrheit und des erlogenen Weſens zu er— 
weitern. 

Es iſt übrigens nicht meine Abſicht zu läugnen, 
daß die Wiſſenſchaft verſchiedene Vorſtellungen des 
Aberglaubens auf eine Weiſe vernichte, daß dieſe 
nur unter ganz eigenen Bedingungen in den Dich— 
terwerken unſerer Zeit brauchbar ſind. So iſt z. B. 
die Einbildung, ein Drache wolle die Sonne ver— 
ſchlingen, daß wir ihn aber durch Gebete, Opfe— 
rungen oder Lärmen verſcheuchen können, viel poe— 
tiſcher, wenigſtens nach unſerer ſeitherigen Vor— 
ſtellungsweiſe als das Wiſſen, daß der Mond 
zwiſchen uns und der Sonne durchgehe. Wer 
aber möchte ſo unſinnig ſeyn, zu wünſchen, eine 
ſo große und fruchtbare Wahrheit für die Aufrecht— 
haltung jener falſchen Einbildung hinzugeben! Ich 
weiß wohl, daß ſich Viele durch das verwirrende 
Spiel, welches mit den Worten poetiſch und pro— 
ſaiſch getrieben worden iſt, haben irreleiten laſſen. 
Wie bekannt, iſt die urſprüngliche Meinung des 
Wortes proſaiſch nur eine Bezeichnung der Rede— 
beſchaffenheit, wodurch ſich dieſe vom Verſe unter— 
ſcheidet; ſpäter aber hat man es ebenfalls ſehr 
paſſend auf Alles angewendet, was ſich dem 


170 
dichteriſchen Geiſte feindlich zeigt, und ſo gebraucht, 
bezeichnet es mit Recht etwas Niedriges und Geiſt— 
loſes. Später aber iſt es auf eine ſehr unvernünf— 
tige und irreleitende Weiſe zur Bezeichnung deſſen, 
was nicht dichteriſch iſt, verwendet worden, wo— 
durch denn die tiefſte Einſicht und das tiefſte 
Wiſſen etwas Proſaiſches wird. Oft hört man 
von Wahrheit und Wirklichkeit als von proſai— 
ſchen Dingen reden, die der Poeſie weichen ſollen. 
Diejenigen, welche dieſe Sprache führen, täuſchen 
ſich ſelbſt durch den grundfalſchen Gedanken, daß 
jede Auffaſſung des geiſtigen Inhalts des Da- 
ſeyns, welche in der Dichtung eine anſprechende 
Ausdrucksform findet, dieſer Form ausſchließend 
angehören ſollte; und während man ſich doch nicht 
verbergen konnte, daß die höchſten Ideen ſich auch 
in der Wiſſenſchaft ausgedrückt und oft herrlich 
ausgedrückt finden, verfiel man auf den verzwei— 
felten Gedanken, dieß Alles für poetiſch zu erklären, 
wie man gewiſſe eifrige Freimaurer alle Moral 
für Freimaurerei und alle guten Menſchen für 
Freimaurer erklären hört. In eben dieſem Geiſte 
behauptete ein ausgezeichneter deutſcher Schrift— 
ſteller (Fr. Schlegel), welcher ſeiner Zeit viel zu 


171 

dieſer Verwirrung beitrug, Spinoza ſey poetiſch. 
Nein, Wahrheit und Wirklichkeit ſind als ſolche 
weder poetiſch noch proſaiſch; der höchſte Auf— 
ſchwung des Geiſtes gehört weder ausſchließlich der 
Poeſie noch der Proſa an, ſondern er iſt gemein— 
ſchaftliches Eigenthum; dem Heiligthum des Geiſtes 
die Bezeichnung poetiſch vorbehalten zu wollen, iſt 
ein verderblicher Mißbrauch der Sprache. 

So kann es denn der Naturwiſſenſchaft nicht 
zum Tadel gereichen, daß ſie verſchiedenen Stoff 
vernichtet, der bisher von den Dichtern ange— 
wandt worden iſt, ja wir finden kein Bedenken 
hinzuzufügen, daß ſie auch andere der Dichterwelt 
einverleibte Irrthümer, welche nicht Aberglauben 
genannt werden können, vernichte; ſo würde ein 
neuerer Dichter von Vorſtellungen wie: „die vier 
Ecken der Welt,“ „die Grundlage der Erde,“ „die 
Feſte des Himmels“ u. dgl. m. entweder gar keinen 
oder wenigſtens nur einen ſehr beſchränkten Ge— 
brauch machen können, weil ſolche falſche Vor— 
ſtellungen als Bilder des Richtigen unbrauchbar 
ſind, welches dagegen mit vielen anderen nicht ſo 
der Fall iſt, z. B. mit „Auf- und Untergang der 
Sonne“ u. a. m. Wenn aber auch die Welt der 


172 


Dichtung nicht vollkommenen Erſatz für ſolche Ver— 
luſte erhielte, ſo würden Klagen darüber dennoch 
ſehr unſtatthaft ſeyn, denn es bleibt doch immer 
die Hauptſache, daß unſer geiſtiges Daſeyn durch 
Einſichten, welche die Irrthümer vernichten, er— 
höht und veredelt werde. Dergleichen Verluſte wer— 
den übrigens für den wahren Dichter wenig Be— 
deutung haben, wohl aber peinlich ſeyn für manche 
Profeſſioniſten der Dichtkunſt, welche meinen einen 
an ſich unbedeutenden Gedanken durch Einkleidung 
in Prachtſtücke aus der Rüſtkammer einer ver— 
ſchwundenen Zeit poetiſch gemacht zu haben. Es 
gibt wohl Manchen, der etwas Großes zu ſagen 
meint, wenn er uns verſichert, daß er das was 
die Wiſſenſchaft als Erſatz bot, nur unbedeutend 
finde; aber ich antworte darauf, daß der, welcher 
ſo ſpricht, hiermit erklärt, daß ihm eine gewon— 
nene tiefere Einſicht keine geiſtige Freude verur— 
ſache, und daß es z. B. für ihn von wenigem 
Intereſſe ſey, daß wir mit ſo bewundrungswür— 
diger Klarheit die Mechanik der Welt durchſchauen, 
und die kosmiſchen Verhältniſſe entfernter Jahr— 
hunderte vorauszuſehen vermögen. Es möge ſolchen 
geſagt ſeyn, daß es ihre eigene Stumpfheit ſev, 


173 

welche ſie der Freude über Einſichten beraubt, auch 
wenn ſie ſich beträchtlicher Fähigkeiten in andern 
Richtungen zu rühmen hätten; ſie ſind entweder 
von der Natur oder eher noch durch eigene Schuld 
von einer Weihe ausgeſchloſſen, welche denjenigen 
dem ſie zu Theil wird, immer mit hoher Freude 
erfüllt. 

Da die Herrlichkeit der Wiſſenſchaft hinreichend 
durch ihr eigenes Weſen bezeugt iſt, ſo ward hier bis 
auf Weiteres angenommen, daß ſie nur durch Mit— 
theilung von Einſicht, nicht aber dadurch daß ſie 
der Dichterwelt Etwas ſchenkte, dieſer einen reich— 
lichen Erſatz für das gegeben habe, was ſie ihr 
raubte; wir dürfen jedoch nun auch darauf hin— 
deuten, daß die Wiſſenſchaft der Dichterwelt einen 
wahrhaften Erſatz für das anzubieten hat, was 
ſie ihr vernichtet. Einiges von dieſem Erſatz hat 
dieſelbe auch ſchon längſt in ſich aufgenommen, 
z. B. die Kugelgeſtaltung der Erde, zu deren Er— 
kenntniß bereits die Wiſſenſchaft des Alterthums 
geführt hatte; nicht nur dem Denken, ſondern auch 
dem Schönheitsſinne muß dieſe Vorſtellung etwas 
Befriedigenderes darbieten, als die: es ſey die 
Erde flach, viereckig oder ſcheibenförmig. Es hat 


174 


die dichteriſche Auffaſſung dann und wann die 
großen Wahrheiten ergriffen: von der Erde, welche 
in ihrer Bahn um die Sonne wandert, von den Pla— 
neten, als bewohnbaren Weltkörpern, von den Sir- 
ſternen, als entfernten Sonnen, leuchtenden und er— 
wärmenden Mittelpunkten, für den Kreislauf unbe— 
kannter bewohnbarer Weltkörper. Iſt der Gedanke 
von dem freiſchwebenden, von unſichtbaren Kräften 
getragenen, im Weltraum weit umher wandernden 
Erdball, in Beziehung auf den Schönheitsſinn, nicht 
ein reichlicher Erſatz für den unverrückbaren Grund— 
bau der Erde? und iſt nicht die Ausſicht in die 
unendliche Mannigfaltigkeit von Welten, voller 
Leben und Gedanken, ein reicher Erſatz für das 
feſte Himmelsgewolbe? Es iſt wahr, die dichteriſche 
Einbildungskraft hat die neuern Einſichten bei 
weitem nicht ſo fleißig benutzt, als die alten Vor— 
ſtellungen; aber hierzu hat ja das ſtets fortſchreitende 
Menſchengeſchlecht noch eine lange Zukunft vor 
ſich. Mittelſt der Wiſſenſchaft erzählt uns die 
Erde ihre eigene Geſchichte, von fernen Zeiten, die 
dem Dafeyn des Menſchengeſchlechtes weit voraus— 
gingen. Dieſes iſt der dichteriſchen Auffaſſung zwar 
nicht fremd geblieben, dennoch aber nur wenig von 


175 


ihr benutzt. Aber die Lehre von der Entwickelung 
des Erdballs gibt mit jedem Jahre neue und rei— 
chere Ausbeute; ſie erzählt uns von einer Zeit, wo 
ein ungeheures erhitztes Meer ihn noch bedeckte, von 
den erſten Inſeln, welche in demſelben auftauchten, 
und der fortſchreitenden Inſelbildung, von den 
ſtummen Thieren, und den blumenloſen Gewächſen 
auf dem jungen, von keinem Laut belebten, und 
von keinem Farbenſpiel verſchönerten, Erdrunde; 
ſie zeigt uns, wie ſich durch eine Reihenfolge von 
Entwickelungen größere Landſtriche gebildet haben, 
ja ſie fängt bereits an, uns von den Grenzen 
derſelben zu erzählen. Auch der fortſchreitenden 
Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs ge— 
denkt ſie, und zeigt uns die wunderbaren Geſtal— 
ten, welche nach einander hervorgebracht, getödtet 
und begraben wurden, unter ſteter Vorbereitung 
zu einer vollkommeneren Schöpfung. Eine Man— 
nigfaltigkeit von weniger inhaltreichen wiſſenſchaft— 
lichen Entdeckungen hat außerdem Eingang in die 
Dichterwelt gefunden, z. B. der Magnet, das 
Schießpulver, die Sonnenflecken, der erborgte Schein 
des Mondes, die Geſchwindigkeit des Lichts, die 
Ableitung des Blitzes, das Athemholen der Gewächſe, 


176 


die unſichtbare Thierwelt im Waſſertropfen, die 
Weingährung u. ſ. w. Das Verhältniß, in welches 
der Menſch, als Entdecker der Geheimniſſe der Na— 
tur, zu dieſer, zu dem ganzen Menſchengeſchlechte 
und zu ſich ſelbſt tritt, iſt bis jetzt nur noch 
ſpärlich benutzt worden. Sollte es für einen 
Dichter nicht der Mühe würdiger ſeyn, den gei— 
ſtigen Zuſtand zu ſchildern, worin der Mann ſich 
befand, welcher ſich zuerſt in den wiſſenſchaftlichen 
Beſitz des Fernrohrs geſetzt hatte, und vermittelſt 
deſſelben Monde eines fremden Planeten, Berge 
in unſerem Monde u. ſ. w. entdeckt hatte? Sollte 
ſein größerer und hellerer Blick in das weite Gebiet 
des Daſeyns hinaus, ſein Bewußtſeyn, das Men— 
ſchengeſchlecht mit einem großen Zuwachs von Ein— 
ſicht bereichert zu haben, ſeine Ueberzeugung, daß 
er nun der Sterndeuterei, und manchen andern 
mit den Himmelsverhältniſſen zuſammenhängenden 
Irrthümern, den gewiſſen Untergang bereitet habe, 
nichts Reizendes für den Dichter haben? Sollte 
es der Mühe nicht werth ſeyn, den Menſchen das 
innere Hochgefühl zu ſchildern, welches in einem 
Geiſte herrſchen mußte, dem es glückte, ſo große 
Naturgeheimniſſe zu entſchleiern und der es vor— 


177 


ausſieht, daß ſein Streben dem Menſchenge— 
| ſchlechte fo köſtliche Früchte bringen werde? Etwas 
ähnliches würde jede der größern und umfaſſenderen 
Entdeckungen auffinden laſſen, wenn auch nicht in 
gleichem Grade auſchaulich bei allen; aber ſelbſt 
die anſchaulichſten ſind nur ſelten fruchtbringend 
für die dichteriſche Darſtellung geworden. So iſt 
es namentlich merkwürdig, daß die Entdeckung der 
elektriſchen Natur des Gewitters keinen großen 
Dichter zur begeiſternden Darſtellung erweckt hat. 
Die Entdeckung war die Frucht wiſſenſchaftlichen 
Denkens, ward aber durch eine Heldenthat in die 
Welt eingeführt; denn der Erfinder leitete das 
elektriſche Feuer der Gewitterwolke durch eine 
Handlung herab, durch welche er ſein Leben wagte. 
Sein junger Sohn war ſein Gehülfe: man denke 
ſich die innere Spannung des Erfinders vor dem 
Verſuch, die unſchuldige oder heldenmüthige Theil— 
nahme des Sohnes, das Siegesgefühl nach dem 
Verſuch. Was die Theilnahme des Sohnes betrifft, 
ſo ſteht dem Dichter die Wahl frei, ob er vorausſetzen 
will, der Vater habe der Gefahr gar nicht gegen ihn 
gedacht, oder er habe ihm dieſe mitgetheilt, aber um 
ihn auf die Probe zu ſtellen, ihm die Vorkehrungen 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 8 12 


178 


verſchwiegen, die er zu feiner Sicherſtellung ge- 
troffen, während er ſich ſelbſt nothwendigerweiſe 
der Gefahr ausſetzen mußte. Man denke ſich 
ferner, das wiederholte Geſchrei des Vorurtheils 
gegen die Blitzableiter, aber zugleich die Ver— 
nichtung des Letztern, als die Sache in der Er— 
fahrung eine große Bekräftigung fand; unter andern 
bietet die Wirklichkeit hier einen Zug dar, den kein 
Dichter beſſer hätte erfinden können. In Siena 
war ein Kirchthurm oft vom Blitze beſchädigt worden; 
die Kirchenvorſteher gaben demſelben einen Ab— 
leiter; die Knechte des Aberglaubens ſchrieen dagegen, 
und nannten die Blitzableiter die Ketzerſtange; ein 
Gewitter zog auf, der Blitz ſchlug in den Thurm 
ein; die Menge ſtrömte herbei, um zu ſehen, ob 
der Ableiter die Kirche beſchützt habe, und ſiehe, 
er hatte ſeine Macht ſo vollkommen erwieſen, daß 
nicht einmal das Geſpinnſt, welches eine Spinne 
daran gefertigt hatte, im Mindeſten beſchädigt 
worden war. 

Es iſt natürlich, daß derjenige, welcher ſich in 
der alten Anſchauungsweiſe gleichſam feſtgelebt hat, 
ſich wenig befriedigt finden wird durch den Erſatz, 
welchen ihm eine neue für ſeinen Verluſt anbietet, 


179 


/ 

und noch weniger wird er zugeben, daß dieſer Erſatz 
unausſprechlich reich ſey und ſeinen Verluſt unend— 
liche Male überwiege. Eine ſolche Ueberzeugung 
läßt ſich zwar durch einzelne bedeutungsvolle Bei— 
ſpiele vorbereiten, nicht aber ausbilden; erſt nach 
und nach wird ſie allgemeiner werden und am Ende 
ſiegen, je nachdem ſich die Naturwiſſenſchaft in 
einer ſolchen Weiſe verbreitet, daß ſie nicht nur 
Sache des Verſtandes wird, ſondern zugleich die 
Einbildungskraft befruchtet. Nur vermöge einer 
ſolchen geiſtigen Entwickelung wird ſich der alten 
Dichterwelt gegenüber eine neue aufthun, geiſtig 
vielleicht, von nicht geringerer Bedeutung als 
die war, welche die Entdeckung eines neuen 
Welttheils der ſogenannten alten Welt gegen- 
über hatte. 

Dieſer Entwickelung wird es an einem geſetz— 
lichen und ſicherlich großen Einfluß auf den Gebrauch 
der alten Dichterwelt nicht fehlen; unter andern 
wird ſich dadurch ein feinerer Takt bilden für die 
Vernunftharmonie, welche, ob auch dem Auge der 
Menge noch ſo verborgen, ſelbſt in der freieſten 
Dichtung herrſchen muß, und dadurch würde die 
wilde Freiheit, welche die gedankenloſe Menge oft 


180 


für hohe Originalität nimmt, mehr und mehr ihre 
Bewunderer verlieren. 


6. 
Die Wirkungen des Unglaubens. 

Wir haben uns lange bei den Wirkungen des 
Aberglaubens und den falſchen Geiſtesrichtungen, 
welche denſelben begünſtigen, verweilt. Bei den 
Wirkungen des Unglaubens werden wir uns ſo lange 
nicht aufzuhalten haben, obgleich auch ſie höchſt 
verderblich ſind; da er aber ſeinem Urſprunge 
(ſiehe S. 147 ff.) gemäß aus dem Unterſuchungs— 
geiſte hervorgeht, ſo trägt er hierdurch zugleich 
den Keim des eigenen Untergangs in ſich und ge— 
winnt daher weder eine ſo dauernde, noch eine ſo 
verbreitete Herrſchaft, als der Aberglaube. Wir 
haben geſehen: der Unglaube beſtehe in einem Hange, 
dasjenige zu verwerfen, was die Menſchen über 
geiſtige Dinge anzunehmen pflegen, inſofern man 
ſich ſolche durch einen unmittelbaren inneren Sinn 
zueignet und nicht durch Denken ſie klar beweist; 
er entſteht auf Veranlaſſung der zahlreichen Fälle, in 
denen die wiſſenſchaftlichen Entdeckungen Meinungen 


181 


widerlegen, welche man ohne Unterſuchung ange— 
nommen hatte. Zwar werden im Laufe der Unter— 
ſuchungen viele Meinungen gleichfalls widerlegt, 
zu welchen man durch frühere Unterſuchungen ge— 
langt war; aber es iſt hier das Denken ſelbſt, 
das ſeine Irrthümer berichtigt; zu geſchweigen, 
daß es in einer langen Reihe von Menſchenaltern 
insbeſondere die Irrthümer des Aberglaubens ſind, 
die das Denken zu beſeitigen hat. Es iſt natür— 
lich, daß dieſes Zweifel gegen die ganze Denkweiſe 
erzeugt, welche ſo häufig auf Verirrungen ertappt 
wird. Der Zweifel geht leicht in Mißtrauen über 
und dieſes erzeugt bei Vielen einen übermäßigen Hang 
zum Verwerfen; dazu kommt noch ein erhöhtes 
Gefühl von der Macht des Denkens, welches an 
ſich ſo herrlich iſt, aber bei Vielen in Uebermuth 
ausartet. Das durch ſo vielfache Befreiung vom 
Naturzwange aufkommende Freiheitsgefühl artet 
bei Andern nicht weniger zu einer wilden, jede 
Schranke verachtenden Freiheitsluſt aus, und je 
nach dem Grade dieſer Ausartung entſpringt aus 
derſelben eine Verwerfung aller Religion, eine 
eingebildete Weisheit, welche ſich über die Tugend— 
und Pflichtbegriffe erhoben dünkt, obſchon ſie es 


182 
gerne ſieht, daß andere ſchwächere Geiſter ſich den— 
ſelben unterwerfen. Daß die Poeſie bei ſolcher Auf— 
faſſungsweiſe nicht blühen könne, begreift ſich leicht. 
Die Anhänger des Unglaubens finden ſich durch 
den Unverſtand, den ihnen die Freunde des Aber— 
glaubens entgegenſetzen, oft beſtärkt; dieſer Unver— 
ſtand geht leicht in Verfolgung über, welche dem 
Irrthum ein gewiſſes Werthgefühl verleiht, ſo— 
wohl dadurch, daß der Verſtand jede Gewalt, 
welche an die Stelle der Ueberzeugungsmittel treten 
will, verachten muß, als durch das Bewußtſeyn, 
für die Wahrheit zu leiden. Es gibt eine gewiſſe 
Entwickelungsſtufe, auf welcher es zunächſt die 
hochbegabteſten Geiſter find, welche am kräftigſten 
gegen den Aberglauben eifern und ſich in dieſem 
Eifer zu Uebertreibungen hinreißen laſſen, welche 
zwar nicht gerade aus Unglauben entſpringen, aber 
leicht Anlaß geben, daß ſolche Männer in der 
Verwirrung der Zeit und unter den Parteikämpfen 
auf der Seite des Unglaubens zu ſtehen ſcheinen. 
Inſoweit der Unglaube in einem Zeitalter die Ober— 
hand erlangt, geht dieſes ſeinem Verderben ent— 
gegen: die Sittlichkeit wird untergraben und dem— 
nächſt gering geſchätzt. Alle die geheimen Bande, 


183 a 


welche die Familien und den Staatsverein zuſam— 
menhalten, werden aufgelöst: alles Heilige wird 
verhöhnt; zu dem Unglauben geſellt ſich nunmehr 
der Verfolgungsgeiſt, wie derſelbe früher bei dem 
Aberglauben war; aber dieſer Zuſtand trägt den 
Keim ſeines eigenen Untergangs in ſich, und wenn 
die geiſtigen Kräfte ihn nicht aufzuheben vermögen, 
endigt er ſich mit großen Umwälzungen und Wie— 
dergeburten des bürgerlichen Vereins, welche be— 
kanntlich von ſolchen Geburtswehen begleitet find, 
daß ſie als ungeheure Strafgerichte der Entartung 
betrachtet werden müſſen. 

Es verſteht ſich, daß weder der Unglaube noch 
der Aberglaube in irgend einem Zeitalter eine aus— 
ſchließliche Herrſchaft erlangen kann. Die unſerm 
Weſen einwohnende Vernunft, im Verein mit der 
belehrenden Einwirkung der ganzen Umwelt, läßt 
es nicht dazu kommen, daß die Mehrzahl der 
Menſchen ſich ganz einer der beiden Einſeitigkeiten 
hingibt, obgleich Wenige nur im Stande ſind, ſich 
vollkommen davon frei zu halten. Auf ſolche Weiſe 
iſt vermöge einer höhern Natureinrichtung dafür 
geſorgt, daß das Böſe keine uneingeſchränkte Ober— 
hand behält, ſondern daß Keime einer neuen und 


184 
edlen Entwickelung übrig gelaſſen werden, [jelbit 
wenn ein Uebel bis zu einer ſolchen Macht heran— 
gewachſen iſt, daß große Umwälzungen nothwen— 
dig werden. 


1. 


Wie die Uaturwiſſenſchaft dem Aberglauben entgegenwirke. 


Es ſcheint, die Meiſten ſetzen die von der Na— 
turwiſſenſchaft auf die Ausrottung des Aberglau— 
bens ausgeübte Wirkung vornehmlich darein, daß 
ſie abergläubiſche Meinungen vernichte. Dieſer 
Dienſt iſt zwar überaus wichtig, aber nicht der 
einzige; ich würde ſagen, daß er nicht einmal der 
wichtigſte ſey, wenn er nicht der Ausgangspunkt 
aller der andern wäre. Man wird leicht ſehen, 
daß diejenige Handlung des Unterſuchungsgeiſtes, 
vermöge welcher eine abergläubiſche Einbildung 
ausgerottet wird, nicht nur den Gewinn mit ſich 
führt, daß eine ſolche beſondere Einbildung ver— 
ſchwindet, ſondern auch zugleich den, daß ein 
Nachdenken entſteht, welches gegen andere, ihr 
verwandte, mißtrauiſch macht. Dieſe wichtige Ne— 
benwirkung wird meiſtens nur in geringem Grade 


185 
durch die Vernichtung einer abergläubiſchen Ein— 
bildung hervorgebracht, wohl aber wird ſie durch das 
Zuſammenwirken mehrerer Entdeckungen in einem 
ſchnell wachſenden Verhältniß verſtärkt. Man denke 
ſich nur vorerſt den Aberglauben verſcheucht, nach 
welchem eine Sonnenfinſterniß andeuten ſollte, daß 
ein Drache die Sonne verſchlingen wolle. Gewiß 
wird dieß auf das Nachdenken Vieler ſeine Wirkung 
äußern, aber der Eindruck davon wird bei der 
Mehrzahl bald geſchwächt werden und ſich nicht. 
zu fortgeſetztem Nachſinnen erweitern. Der Aber— 
glaube hat einen Sonnengott, der ſich jeden Abend 
in dem Meer zur Ruhe begibt und am nächſten 
Morgen ſeine Bahn von Neuem beginnt. Die 
Wiſſenſchaft lehrt, die Erde ſey eine Kugel, um 
welche das Tageslicht in dem Laufe von 24 Stun— 
den von Oſt nach Weſt hinüberrückt. Der Aber— 
glaube nimmt an, es könne der Feuerwagen der 
Sonne bei zu großer Annäherung an die Erde dieſe 
anzünden: die Wiſſenſchaft belehrt uns, die Sonne 
ſey weder ein Feuerwagen, oder werde willkürlich 
gelenkt, noch komme ſie der Erde nahe. — Der 
Aberglaube hatte ſeine Mondgöttin, welche eben— 
falls viele Wirkungen auf die Erde ausübte: die 


186 


Wiſſenſchaft lehrte, daß auch der Mond eine Kugel 
ſey und ſeine beſtimmte Bahn habe. Mehrere ſolcher 
Vernichtungen abergläubiſcher Meinungen mußten 
bei Vielen den Gedanken hervorrufen, der ganze 
Lauf des Himmels ſey beſtimmten Geſetzen unter— 
worfen, wodurch die Meinungen, welche Himmels— 
begebenheiten vorausſetzten, die aus einer willkür— 
lichen Wirkung der Götter hervorgehen, als nichtig 
ſich erwieſen. Ehe ich weiter gehe, will ich einem 
Mißverſtändniß begegnen, zu welchem in dem 
Vorhergehenden durchaus keine Berechtigung liegt; 
ich will es ausſprechen, daß nicht die dichteriſche 
Bedeutung der beſprochenen mythologiſchen Vor— 
ſtellungen es ſey, welche ich hier als Aberglauben 
bezeichne, ſondern die in Wahrheit proſaiſche Auf— 
faſſung, welche über dieſelben Gegenſtände im All— 
tagsleben vormals herrſchend waren. Nach dieſer 
vielleicht überflüſſigen Bemerkung gehe ich in mei— 
ner Betrachtung weiter. Der Gedanke, daß die 
Begebenheiten des Himmels nach beſtimmten Ge— 
ſetzen vor ſich gehen, erhielt nicht ſogleich ſeinen 
vollen Umfang: er blieb im Gegentheil viele Jahr— 
hunderte hindurch innerhalb einer engen Begrenzung 
ſtehen, welche große Zufälligkeiten geſtattete. — 


187 


Selbſt diejenigen, die den Lauf der Himmelskörper 
kannten, wurden z. B. von den Kometen noch 
immer in Schrecken geſetzt. Erſt vor etwa andert— 
halb Jahrhunderten befreite die Wiſſenſchaft die 
Aufgeklärten von dieſer Furcht, welche jedoch weit 
ſpäter aus den Gemüthern der größern Menſchen— 
maſſe verjagt ward, als es weltkundig geworden, 
daß die Rückkehr eines Kometen über 75 Jahre vor 
ihrem Eintreffen richtig vorausgeſagt worden war. 
Lange glaubte man, daß ſich das Schickſal eines 
Menſchen aus der Stellung der Geſtirne bei ſeiner 
Geburt vorherſagen laſſe. Die vollkommene Ge— 
wißheit, daß die Planeten Weltkörper wie die 
Erde, und die Firſterne Sonnen ſind, ſtellte dieſe 
Einbildung in ihrer ganzen Lächerlichkeit dar. Dieſe 
Beiſpiele von der Wirkungsweiſe der Wiſſenſchaf— 
ten gegen den Aberglauben belehren uns, daß es 
nicht bloß die Gewohnheit war, vielfache abergläu— 
biſche Meinungen vernichtet zu ſehen, die am ſtärk— 
ſten gegen den Aberglauben wirkte, ſondern viel— 
mehr die Erkenntniß, welche bei einigen zur inneren 
Einſicht geworden, bei der Menge etwas von außen 
Vernommenes war: daß der Himmelslauf durch 
Naturgeſetze beſtimmt werde. Dieſe Wirkung ſtieg 


188 


zu einer immer wachſenden Höhe, ſowie man zu 
einer mehr vollkommenen Einſicht von der Klarheit 
der Naturgeſetze gelangte. Die klare Auffaſſung 
des wahren Weltſyſtems machte es unmöglich, eine 
oder mehrere feſte Himmelswölbungen anzunehmen, 
wie dieß früher geſchehen war; aber dadurch fielen 
mancherlei Vorſtellungen vom Himmel oder den Him— 
meln weg, Vorſtellungen, welche bei Vielen mit 
ihrer Religion zuſammengewachſen waren, obgleich 
mit Unrecht, da die körperliche Bedeutung der 
Ausſagen von einer Wohnung Gottes und der 
Seligen u. ſ. w. ja in allen Fällen verworfen 
werden mußten und nur eine geiſtige Bedeutung 
des Wortes als gültig anzunehmen war. Endlich 
mußte die durch Newton begründete Einſicht der 
Naturnothwendigkeit der himmliſchen Bewegungs— 
geſetze die Ueberzeugung noch erhöhen, daß bei 
den Weltenbewegungen keine willkürlichen Verän— 
derungen zuläſſig ſeyen. Man ſieht nämlich daraus, 
daß alle jene Geſetze Vernunftgeſetze ſind, bei 
weitem höher zwar, als unſer Geiſt ſie hätte er— 
finden können, dennoch göttliche Vernunftvorſchrif— 
ten, welche wir zu unſrem hohen Glück zu begreifen 
vermögen. Dieſe Ueberzeugung empfängt eine 


189 


unüberwindliche Stärfe dadurch, daß ſie auf einer 
ſolchen Einſicht beruht, in welcher Gedanke und 
Anſchauung auf das Innigſte vereinigt ſind. Ich 
habe dieſe zuſammenhängende Reihe von Beiſpielen 
gewählt, weil dadurch vielfältige Glieder in der 
Wirkungsweiſe der Naturwiſſenſchaften gegen den 
Aberglauben beleuchtet werden; daß dieſelbe näm— 
lich zuerſt durch Vernichtung abergläubiſcher Ein⸗ 
bildungen ſich bethätigt, demnächſt durch das Be— 
gründen der Gewohnheit manche abergläubiſche 
Meinung in Zweifel zu ziehen, ferner dadurch, 
daß ſie es nachweiſet, daß ein großer Theil von 
Naturwirkungen nach Geſetzen geordnet ſey, deren 
Einheit, Zuſammenhang und unbeſchränkter Um— 
fang, deren Nothwendigkeit als eine Vernunft— 
nothwendigkeit, als ein unveränderlicher Gottes— 
wille durch ein tiefer eindringendes Forſchen klar 
gemacht wird. Dieſes Alles wiederholt ſich in der 
Wirkungsweiſe der übrigen Theile der Naturwiſſen— 
ſchaft, obgleich es ſchwierig ſeyn dürfte, eine andere 
eben ſo leicht zu überſchauende Reihe von Beiſpielen 
zu finden; aber dieſe eine Reihe wird den nach— 
folgenden Beiſpielen einen Theil der ihnen nöthi— 
gen Beleuchtung verſchaffen. 


190 


Unter die Begebenheiten, in denen die Menſchen 
geneigt geweſen find, Aeußerungen einer menfch- 
lich willfürlichen, ich möchte faſt ſagen, launen— 
haften Machtvollkommenheit der Gottheit zu ſehen, 
gehören die Witterungsveränderungen. Daß Gott 
Regen oder Dürre, Ungewitter oder Stille, in 
der Art wie ein irdiſcher Herrſcher, Wohlthaten 
oder Strafen austheilt, verhängen ſollte, iſt eine 
Einbildung die ſich bis auf unſere Tage bei der 
Menge behauptet hat, und vielleicht ſobald noch 
nicht verſchwinden wird. Mittlerweile zeigt es 
ſich bei jedem unſerer Fortſchritte in der Kennt— 
niß der Luftbegebenheiten, daß dieſe nach allgemein 
gültigen Naturgeſetzen vor ſich gehen: die Wärme 
kann an einem Orte nicht ungewöhnlich groß 
werden, ohne ſich an einer andern zu vermin— 
dern; die Richtung die der Wind in einem Lande 
nimmt, iſt von denen abhängig, die in allen 
andern Statt finden; dieſelbe Veränderung, welche 
in dem einen Lande Dürre verurſacht, gibt dem 
andern Ueberfluß an Regen. Je vollkommener die 
Allgemeingültigkeit der Geſetze, wonach dieß alles 
geſchieht, eingeſehen und die Kenntniß davon ver— 
breitet wird, um ſo mehr wird jene abergläubiſche, 


191 


der Gottheit unwürdige Meinung von einer will— 
kürlichen Vertheilung ſolcher Naturwirkungen ver— 
ſchwinden. Unter den abergläubiſchen Anſichten 
dieſer Art hatte zu den verſchiedenſten Zeiten, die 
Einbildung, daß Gott ſeinen Zorn im Donner und 
Blitz äußere, die größte finnliche Stärke. Die Ent— 
deckung der elektriſchen Natur des Blitzes und ins— 
beſondere die Erfindung ſeiner Ableitung vernichtete 
jenen Aberglauben aufs kräftigſte, in gewiſſen Rich— 
tungen aber langſam genug; denn der Gedanke be— 
wegt ſich gleich der Elektricität nur in guten Lei— 
tern mit Blitzesſchnelle; wie aber die ableitende 
Wirkung des Blitzableiters ſich bald hier, bald 
dort der ſtumpfen Menge in gehöriger Nähe zeigte, 
mußten die Vorurtheile derſelben davon erſchüttert 
werden. In einem der Seite 178 angeführten Fälle 
mag die Begebenheit als ein Wunder auf die Men— 
ſchen gewirkt haben; und wir wiederholen es: 
manches Vorurtheil vernichtete der Blitz, welchem 
ein Ableiter ſeine Bahn vorſchrieb. 

Ich habe dieſes wohlbekannte Beiſpiel beſon— 
ders darum hervorgehoben, um die Aufmerkſam— 
feit darauf hinzuleiten, daß die Aufklärung, mit 
der die Naturwiſſenſchaft den Aberglauben zerſtreut, 


192 


oft zwar mit bedeutungsvoller ſinnlicher Kraft wirke, 
ſelten aber mit einer ſo mächtigen als hier, ob— 
gleich zu jeder Zeit Erfahrung und Verſuche mit 
vielem Nachdruck reden. Ich werde noch einige 
Beiſpiele anführen: verſetzen wir uns zurück in 
den erſten Theil des ſiebenzehnten Jahrhunderts. 
An einem Orte in Frankreich fiel ein Blutregen. 
Einige Mönche fingen ſchon an dieſe Begebenheit 
als ein ſchreckliches Zeichen des göttlichen Zorns 
zu deuten; aber ein Naturforſcher (Peiresc) zeigte, 
daß die ſogenannten Blutstropfen auch an Stellen 
ſich befanden, die unter Dach waren, wo folglich 
kein Regen fallen konnte, und daß ein Schwarm 
Inſekten ſie verurſacht habe. Man hat ſich be— 
kanntlich noch öfter durch andere Erſcheinungen 
zu ähnlichen Einbildungen verleiten laſſen, und 
z. B. rothe, vom Regen rein geſpülte und ange— 
ſchwollene Moosarten, für Produkte eines Blut— 
regens angenommen, ein Irrthum den die Natur— 
kundigen ebenfalls berichtigten. Die ſogenannten 
Steinregen haben natürlich häufigen Anlaß zu 
abergläubiſchen Einbildungen gegeben. Die Natur- 
wiſſenſchaft hat uns wohl nicht alle wünſchens— 
werthen Aufklärungen hierüber gegeben, aber doch 


193 
genug gethan, um die Sache dem Aberglauben zu 
entziehen; indem ſie einige der Geſetze nachwies, 
denen jene Erſcheinung gehorcht und uns gelehrt 
hat, daß die Meteorſteine faſt ſämmtlich diefel- - 
ben chemiſchen Beſtandtheile haben. 

Einen wichtigen Theil ihrer Kraft zeigt die 
Naturwiſſenſchaft durch ihr Eindringen in die viel— 
fachen Künſte des Erwerbs, und ſie trägt eben 
dadurch vieles bei, abergläubiſche Meinungen zu 
verdrängen, ſo wie — was noch wichtiger iſt — 
die Gewohnheit des Nachdenkens zu verbreiten 
und zu ſtärken. Wie allgemein war unter den 
Bergleuten nicht der Aberglaube! ihre Beſchäfti— 
gung führte ſo viel Unerklärbares, Dunkeles, Ge— 
fahrvolles mit ſich, daß der Aberglaube ſich ihrer 
leicht mußte bemächtigen können. Ohne leugnen 
zu wollen, daß immer noch eine Menge Aberglauben 
bei ihnen zurückgeblieben iſt, insbeſondere unter 
den ungebildeten, zu denen nur einzelne Reſultate 
der Wiſſenſchaft gelangen und zwar durch viele 
Mittelglieder, mußte doch das Licht, welches die 
Wiſſenſchaft nach und nach über den innern Bau 
der Gebirge und alle Theile der Erzbehandlung 


anzündete, eine bedeutungsvolle, jedem Aber— 
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 9 13 


194 


glauben feindliche Einſicht, verbreiten, inſonderheit 
bei allen denen, welche nicht auf der niedrigſten 
Stufe ſtehen. Aber ſelbſt auf dieſe müſſen die 
Entdeckungen der Wiſſenſchaft einen Lichtſchimmer 
haben fallen laſſen; unter andern war es ein 
früherer Glaube unter den Bergleuten, daß bos— 
hafte Geiſter ſie über den Haufen würfen und ſie 
in den Bergwerken erſtickten, oder eine knallende 
und zerſtörende Feuererſcheinung hervorbrächten. 
Die Naturwiſſenſchaft hat, durch Verbreitung der 
Bekanntſchaft mit den dem Athemholen unzuträg— 
lichen Luftarten und namentlich mit der Knallluft, 
noch mehr aber dadurch, daß ſie dem Bergmanne 
die Sicherheitslampe in die Hand gegeben, jener 
alten Geſpenſterfurcht kräftig entgegengewirkt. 
Wie unvollkommen unſere Kenntniß von der 
Natur der Gährung auch immer genannt werden 
möge, ſo hat doch die Einſicht, welche wir uns 
in die Naturgeſetze erworben haben, welche dabei 
wirken, viele Dunkelheiten zerſtreut, und den Er— 
werbszweigen, in denen ſie Anwendung findet, große 
Vortheile zuwege gebracht. Dadurch verſchaffte 
dieſe Kenntniß ſich einen faſt nothwendigen Ein— 
gang bei den Branntweinbrennern, Brauern u. ſ. w., 


195 

deren viele nur durch die zu hoffenden Vortheile 
ſich zur Erwerbung einiger naturwiſſenſchaftlicher 
Einſichten haben beſtimmen laſſen; aber außer dem 
Nachdenken, welches dieß Bemühen mit ſich führte, 
und welches als die Haupſache dabei erſcheint, ſind 
dadurch zugleich auch verſchiedene abergläubiſche Ein— 
bildungen unmittelbar vernichtet worden. Es iſt 
mir aus meiner Jugend noch ſehr wohl erinnerlich, 
daß Leute, welche Branntweinbrennerei betrieben 
und viele Unfälle dabei erfahren hatten, dieſe 
einer feindlichen Zauberkunſt beimaßen, ja ihren 
Verdacht auf beſtimmte Perſonen warfen. Gegen— 
wärtig, wo man mit Hülfe der Wiſſenſchaft mit den 
Geſetzen dieſer Gährungsart vertraut geworden iſt, 
auch allgemeinfaßliche Vorſchriften über die Ver— 
fahrungsweiſe hat, welche verſchiedene dabei ein— 
tretende Umſtände nöthig machen, wird man in 
den meiſten Fällen ſolchen Unfällen entgehen, und 
wo ſie ſich zutragen, den Grund davon auffinden. 
In lange verſchloſſenen Kellern waren vormals Ba— 
ſilisken vorhanden, welche man nicht ſah, deren 
Blick aber den Menſchen tödtete, den er traf. Nach— 
dem es mehr allgemein bekannt geworden iſt, daß 
die Gährung eine unathembare Luft erzeuge, deren 


196 


Eigengewicht fie an niedrigern Orten anhäuft, kennt 
man den Mörder und verjagt ihn durch Auslüf— 
tung. In unſern Tagen haben die vielfältigen 
Anwendungen von Dampfmaſchinen in ſo manchen 
Gewerbsbetrieben, in der Schifffahrt, dem Eiſen— 
bahnverkehr, das Volk im Allgemeinen und mehr 
noch alle Gewerbsleute, zu unſäglich vielem Nach— 
denken geführt. Die zahlreichen andern Maſchinen, 
welche oft die kunſtvollſten Arbeiten ausführen, 
müſſen eine gleiche Wirkung gehabt haben. Der 
elektromagnetiſche Telegraph hat die Aufmerkſamkeit 
des Volkes auf ſich gezogen, ſelbſt in Ländern, 
wo man ihn nur erſt dem Namen nach kennt. 
Neben den übrigen Wirkungen haben dieſe vielen 
Erfindungen den Menſchen zu der Einſicht gebracht, 
daß das Wunderbarſte durch Vernunftgebrauch her— 
vorgebracht werden könne; aber nicht bloß haben 
dieſe großen Unternehmungen zur Geiſtesentwicke— 
lung des Menſchengeſchlechts beigetragen, ſondern 
es läßt ſich kaum ein Erwerbszweig nennen, auf 
den ſie nicht eingegriffen und gedankenerweckend 
gewirkt hätten. Jener erweckte Geiſt des Nach— 
denkens iſt dem Unterſuchungsgeiſte, den die Wiſ— 
ſenſchaft entwickelt, nahe verwandt; auf dieſen, 


197 


welcher jo wohlthätige Folgen äußert, müſſen wir 
in Beziehung auf die Ausrottung des Aberglau— 
bens ein beſonderes Gewicht legen. 

Die abergläubiſchen Meinungen, welche mit 
der Natur in einigem Zuſammenhange ſtehen, ins— 
beſondere aber diejenigen, welche auf eine mißver— 
ſtandene Auffaſſung eines wirklich Daſeyenden be— 
ruhen, vermag die Naturwiſſenſchaft meiſtens zu 
widerlegen; in einem ganz andern Verhältniſſe 
aber ſteht ſie zu denen, welche gar keine Begrün— 
dung in etwas Natürlichem haben. Jene muß der 
durch die Naturwiſſenſchaft erweckte Unterſuchungs— 
geiſt und ihre Unterſuchungskunſt vernichten, dieſe 
ſind aber immer ſchwieriger zu vertilgen. Ein 
Beiſpiel davon iſt der bereits erwähnte Wahn, von 
der Gefahr, als dreizehn zu Tiſche zu ſitzen. Die 
Bemerkung, daß beim Nachtmahl Chriſti dreizehn 
verſammelt waren, gibt ja durchaus keinen Grund 
einer ſolchen Meinung ab. Mancher bezieht ſich 
dabei auf eigene Erfahrung, fragt man ihn aber 
dann, was er erfahren hat, ſo beſteht dieß darin, 
daß nachdem er einmal ſelbſt bei Tiſche geweſen, 
daran dreizehn ſaßen, einer der Gäſte innerhalb 
eines Jahres geſtorben ſey. Aber was bedeutet 


198 


dieſe Erfahrung? Selbſt wenn er zwei oder mehr 
ſolcher Erfahrungen gemacht hätte, würde die Un— 
terſuchungskunſt ſie nicht als Beweiſe anerkennen. 
Sie würde ſagen, nicht die alleinſtehende Erfah— 
rung des Einzelnen kann in Sachen von ſolcher 
Beſchaffenheit einen Beweis abgeben, nein, dazu 
wird die Erfahrung vieler Menſchen, mehrere 
Jahre hindurch ununterbrochen aufgezeichnete Er— 
fahrung über die Zahl der Tiſchgäſte in vielen 
Geſellſchaften und die Zahl der im Laufe des 
darauf folgenden Jahres geſtorbenen, erforderlich 
ſeyn; man wird da eine Mittelzahl erhalten, 
welche zeigen wird, daß je zahlreicher die Gäſte 
geweſen, um ſo mehr derſelben werden in einer 
gewiſſen Zeitfriſt geſtorben ſeyn. Derjenige aber, 
welcher einen lebendigen Sinn für die Geſetze der 
Natur hat, wird dieſe Entſcheidung nicht einmal 
verlangen, da er weiß, daß die verhandelte Mei— 
nung gar nicht mit den Naturgeſetzen ſtimmt. 
Aber, ſo höre ich manchen geiſtreichen und in andern 
Richtungen hoch gebildeten Mann ſagen, ich will 
nicht eben behaupten, daß die Furcht ſelbſt, 
dreizehn am Tiſche zu ſitzen, gegründet ſey, aber 
meine Einbildungskraft iſt nun einmal mit dieſem 


199 


Gedanken erfüllt, man laſſe mir dieſen unſchuldigen 
Irrthum. Dieß iſt etwas ganz anderes, das läßt 
ſich einigermaßen hören; wir andern müſſen dieſe 
Sonderbarkeit dulden; aber darf ſie jemand bei 
ſich ſelbſt dulden? Wäre es nicht beſſer, ſeine 
unvernünftige Furcht vor den Richtſtuhl ſeiner 
eigenen geſunden Vernunft zu beſcheiden und ſie 
zum Tode zu verdammen? Der Irrthum ſelbſt iſt 
an ſich unbedeutend genug; aber die Macht, welche 
man einer ſo falſchen Vorſtellung einräumt, hält 
eine ſchädliche Seelenanlage aufrecht. Wenn wir 
entdeckten, daß irgend ein Organ unſeres Körpers 
eine Krankheitsanlage hätte, die wir zu überwältigen 
vermöchten, würden wir dieß gewiß thun, aber iſt denn 
nicht jede abergläubiſche Einbildung gleichermaßen 
eine Krankheitsanlage unſeres geiſtigen Wiſſens: 
ſollen wir dieſe nicht zu überwältigen ſtreben? 
Was hier von einem einzelnen Falle geſagt 
worden iſt, läßt ſich mit Leichtigkeit auch auf 
viele andere anwenden. Wir wollen uns nicht 
dabei aufhalten, ſolche durchzugehen; alles was ſich 
von dem Einen mehr als von dem Andern ſagen 
läßt, wird die Wirkung nur wenig vermehren. 
Die zerſtreuten Ueberbleibſel des Aberglaubens, 


200 
werden nur allmählig ihre Macht über die Ein— 
bildungskraft vermöge des Unterſuchungsgeiſtes 
verlieren, den die ſtets wachſende Anwendung der 
Naturwiſſenſchaft ſelbſt über die ausbreitet, welche 
ſie ſich nicht aneignen, ſondern nur durch ihre 
vielfältige Anwendung im Menſchenleben von ihr 
berührt werden. Doch läßt ſich dieſe Wirkung 
derjenigen nicht vergleichen, welche das rechte 
Studium der Naturwiſſenſchaft ſelbſt zur Folge 
hat. Sie entwickelt im Menſchen eine ganze innere 
Welt, welche ihm vorſchwebt, nicht bloß als etwas 
Empfangenes und im Gedächtniß Aufbewahrtes; 
ſondern als ein ſich unaufhörlich erneuerndes Da— 
ſeyn, in welchem man ein alles umfaſſendes Wirken 
der ewigen lebendigen Vernunft erkennt. Hier iſt 
dann kein Platz übrig für den Aberglauben. 

Vielleicht wird man mir einwendend hier her— 
vorheben, daß einzelne Naturforſcher nicht frei von 
Aberglauben geweſen ſind. Es verſteht ſich, daß 
wir mit Recht jedes Beiſpiel abweiſen können, 
welches ohne beſonnene Rückſicht auf den Ent— 
wickelungsgang der Naturwiſſenſchaft angeführt 
wird; obgleich nur eine Einheit, hat ſie ſich doch 
in verſchiedene Zweige theilen müſſen, welche nicht 


201 


alle mit gleicher Schnelligkeit ſich entwickeln konnten. 
Es iſt wahr, daß jede dieſer untergeordneten Wiſſen— 
ſchaften ſchon in ihrem früheſten Alter anfing dem 
Aberglauben entgegen zu wirken; doch lange Zeit 
hindurch konnte dieß nur in gewiſſen Richtungen 
mit glücklichem Erfolg geſchehen, während die Natur— 
wiſſenſchaft in andern fortfuhr mit dem Aberglau— 
ben verwachſen zu ſeyn. Die Aſtronomie, derjenige 
Theil der Naturwiſſenſchaft, welcher ſchon beim 
Austritt des Menſchengeſchlechts aus dem Kindes— 
alter ſo manche abergläubiſche Vorſtellung ver— 
ſcheuchte, vermochte ſich dennoch in einer Reihe von 
Jahrhunderten von den Thorheiten der Sterndeute— 
rei nicht loßzureißen, ja es ward den Anhängern 
dieſer Thorheit erſt dann ganz unmöglich, ſich der— 
ſelben ferner zu ergeben, als das Zeitalter Newtons 
die Geſetze der Himmelsbewegung in einem ſolchen 
Zuſammenhange dargeſtellt hatte, daß man nicht 
zugleich dieſe faſſen, und abergläubiſche Vorſtellungen 
in ſeine Himmelskenntniß einzuſchieben vermochte. 
Das Beiſpiel der Aſtronomie wird zur Recht— 
fertigung ähnlicher Einwürfe, in Bezug auf alle 
Theile der Naturwiſſenſchaft, hinreichen. Gefähr— 
licher für unſere Meinung dürfte es ſeyn, wenn 


man Beiſpiele anführen könnte von Männern, 
welche ſich große Kenntniſſe in einem ſehr ent— 
wickelten Theil der Naturwiſſenſchaft erworben 
hatten, und von Aberglauben doch nicht frei waren. 
Ich bin ungewiß ob ſich ſolche Beiſpiele nachweiſen 
laſſen, doch glaube ich es. Vielleicht ließe ſich 
ihre Wirkung durch die Bemerkung entkräften, daß 
es in der menſchlichen Natur liegt, dann und wann 
gegen die ſtrenge Folgerichtigkeit der Gedanken zu 
ſündigen; aber in den meiſten Fällen, und viel— 
leicht in allen, wird es ſich finden, daß Niemand 
in dem Fache, in welchem er tiefe Einſicht beſitzt, 
abergläubiſch ſeyn könne, vorausgeſetzt, daß dieſes 
Fach in ihm bis zu einem hohen Grade des Zu— 
ſammenhangs ausgebildet iſt. Dennoch könnte es 
ſich wohl zutragen, daß ſelbſt der, welcher in einem 
Fache eine anſehnliche Meiſterſchaft erreicht hat, daſ— 
ſelbe in einer ſo einſeitigen Weiſe bearbeitet hätte, 
daß er ſich nicht überzeugen konnte, die ganze Na— 
tur gehorche überall eben jo ſtrengen Geſetzen, als 
in jenem Gebiet, mit dem er zunächſt bekannt iſt. Ich 
halte es demnach für unmöglich, daß irgend Jemand 
im Beſitz unſeres gegenwärtigen aſtronomiſchen 
Wiſſens den mindeſten Aberglauben hinſichtlich der 


. | 203 


Himmelsbewegungen zu nähren vermöchte, dagegen 
würde ich es nicht als abſolut unmöglich in Ab— 
rede ſtellen, es aber ſehr bezweifeln, wenn ich 
Jemand jagen hörte: ein tüchtiger Aſtronom hege 
Aberglauben über Gegenſtände, die ſeiner Wiſſen— 
ſchaft fremd waren. Doch fehle ich vielleicht darin, 
mit einer Einwendung mich einzulaſſen, wozu nur 
ein ſchwacher Anlaß vorhanden iſt. 


Wirkung der Uaturwiſſenſchaft gegen den Unglauben. 


Wir haben die Naturwiſſenſchaft auf ihrem 
Entwickelungsgange Anlaß zum Unglauben geben 
ſehen. Insbeſondere verweilten wir bei der Be— 
trachtung, daß die ſich ſo häufig erneuernden Fälle, 
wo man Vorſtellungsarten und Meinungen wider— 
legt ſah, welche man mit den heiligſten Ueberzeu— 
gungen des Menſchen zu verknüpfen gewohnt war, 
dieſe oft erſchüttern, ja ſelbſt vernichten mußten. 
Es iſt leicht einzuſehen, daß die Naturwiſſenſchaft 
dem Zweifel und der übermüthigen Verwerfung 
tiefer Wahrheiten, die ſie gegen ihre Abſicht hervor— 


204 


gerufen hat, ſelbſt entgegenarbeitet; denn während 
ſie unaufhörlich fortfährt, die Kenntniſſe zu reinigen 
und aufzuklären, wird ſie manche falſche Einwen— 
dung, deren Urſprung einer minder vollkommenen 
Kenntniß beizumeſſen iſt, vernichten; während ſie 
ihre eigenen Irrthümer widerlegt und berichtigt, übt 
jie den Unterſuchungsgeiſt zur Unterſcheidung des 
Wahren vom Falſchen; indem ſie uns fühlen läßt, 
wie leicht wir fehlen können, lehrt ſie uns ein wohl— 
thätiges Mißtrauen gegen unſere eigenen Urtheile. 

Wenn es ſich nur um jene gewiſſermaßen 
zufällige Begünſtigung handelte, welche der Un— 
glaube, von der Naturwiſſenſchaft erhielt, würde 
die Vertheidigung hier ſchon gegeben ſeyn, aber 
die Naturwiſſenſchaft hat durch ein, ihrem eigenen 
Weſen angehöriges Streben, bei vielen einen ge— 
fährlichen Gedanken erweckt, der einſeitig verfolgt, 
zur Gottesverleugnung führt. Indem ſie nämlich 
zeigt, daß alle Wirkungen in der Natur nach Ge— 
ſetzen geſchehen, und daß dieſe Geſetze, nothwendige, 
unveränderliche, ewige ſind, hat ſie Viele veran— 
laßt, ſich dieſe alles durchdringende Nothwendigkeit 
als eine blinde kothwendigkeit zu denken, welche 
gleichſam der Natur ſelbſt angehörend, jeder Ver— 


205 


nunft vorausgehen, und alfo unabhängig von 
ihr ſeyn ſollte. Dieſe Auffaſſungsweiſe ſetzt als 
die Grundlage des ganzen Daſeyns eine von 
Ewigkeit geweſene unbeſeelte Materie mit gewiſſen 
nothwendigen Eigenſchaften voraus; von ihrer 
ebenſo nothwendigen Wirkungsweiſe ſollte alles 
Dasjenige was wir geiſtig nennen, hervorgebracht 
ſeyn, und ſelbſt unſer Denken ſollte nur die Folge 
der Eigenſchaften und Bewegungen körperlicher 
Theile ſeyn. Jeder fühlt das Troſtloſe in dieſer 
Auffaſſungsweiſe und müßte die Naturwiſſenſchaft 
fürchten, wenn ſie uns nur zu einer ſolchen führte. 

Die am nächſten liegende Antwort hierauf iſt 
die wohlbekannte Wahrheit, daß der größte Theil 
der Bearbeiter der Naturwiſſenſchaft einem ent— 
geſetzten Gedanken gehuldigt hat, indem dieſe in 
der Natur die bewunderungswürdigſte Grundlage 
vernunftgemäßer Zwecke nachwieſen, ſo daß man aus 
der weiſen Einrichtung der Natur einen Beweis 
ihres Urſprungs von einer allmächtigen Vernunft 
zu entlehnen pflegt. Dieß würde ſchon hinreichen, 
wenn wir uns mit einer nur auf das Aeußere ſich 
ſtützenden Vertheidigung begnügen wollten; aber 
nicht zu erwähnen, daß wir die Sache alsdann mit 


206 


jenem unbefriedigenden Gefühl verließen, welches 
dadurch erweckt wird, daß zwei wichtige Gegen— 
ſätze unverſöhnt ſtehen bleiben, würden wir zu— 
gleich einen wichtigen Klagepunkt unberührt laſſen. 
Die Wiſſenſchaft führt in ihrem Fortſchreiten immer 
zur vollſtändigeren Entdeckung der Naturgeſetze, 
und zeigt uns bei jedem Fortſchritt einen innigeren 
Zuſammenhang derſelben, ſo daß die Nothwendigkeit 
alles deſſen was geſchieht, mehr und mehr ein— 
leuchtend wird. Man könnte dagegen wohl ein— 
wenden, daß die Weisheit der Einrichtungen eben— 
falls immer vollkommener erkannt wird; aber mit 
um ſo dringenderer Aufforderung bliebe dann der 
unverſöhnte Widerſtreit uns gegenüber ſtehen, mit 
aller daraus entſpringender Unruhe, Zweifeln und 
Möglichkeiten des Unglaubens. Wir wollen denn 
aus der Wiſſenſchaft die Wahrheiten hervorheben, 
welche die Sache zu beleuchten vermögen! 

Ohne Rückſicht auf dasjenige, worüber uns die 
Wiſſenſchaft in Beziehung auf die Zwecke der Natur 
und auf die Weisheit belehrt, welche ſich in ihrer 
Erreichung jener Zwecke offenbart, werden wir durch 
die Betrachtung der Naturgeſetze in ihrer ganzen 
Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung geführt: die Natur 


207 


müſſe eine Vernunfteinrichtung ſeyn. Die Wiſſen— 
ſchaft ſtellt uns nämlich die Naturgeſetze als Vernunft— 
geſetze dar, welche unſere in mannigfaltigen Ein— 
ſchränkungen verſtrickte Vernunft wohl nicht ohne 
die Hülfe der Natur ausgefunden haben könnte, 
aber mit dieſer Hülfe wirklich herausfindet. Das 
Ergebniß aller über die Naturgeſetze angeſtellten 
Betrachtungen iſt, daß ſie alle insgeſammt eine 
unendliche Vernunfteinheit ausmachen. Die Noth— 
wendigkeit hört nicht auf, aber ſie zeigt ſich als 
eine Vernunftnothwendigkeit. Wollte man dagegen 
als Einwendung anführen, dieſe Vernunftnoth— 
wendigkeit ſelbſt ſey eine Naturnothwendigkeit und 
unſer ganzes geiſtiges Weſen ihr Werk, ſo daß es 
ſchon deßhalb mit der Natur übereinſtimmen müſſe, 
dann würden wir antworten können, daß dieß 
weder geleugnet werden könne, noch ſolle, daß es aber 
keine Einwendung ſey, weil die Nothwendigkeit 
aufhöre, ein blindes Schickſal zu ſeyn, wenn ſie 
als Vernunftnothwendigkeit erkannt wird, in dem 
Sinne des Worts, daß es nicht bloß Etwas be— 
zeichnet, was von unſerer Vernunft nothwendig 
angenommen werden muß, ſondern Etwas, welches 
derjenigen Vernunft gemäß und nothwendig iſt, aus 


208 


der alle Naturgeſetze entſpringen. Dieſe Antwort 
aber wird noch nicht ganz genügen, ſo lange man 
ſich die Materie als Grundlage der ganzen Natur 
denkt und nicht bloß als einen Theil ihres Weſens. 
Es gehört zu den uralten, man könnte ſagen, ur— 
ſprünglichen Vorurtheilen des Menſchengeſchlechts, 
das Einfache und Unveränderliche im Körperlichen 
als ſolches zu ſuchen; gewiß, es bedurfte nur des 
geringſten Nachdenkens, um zu ſehen, daß alle 
Körper vergänglich ſind; aber man nahm ſeine 
Zuflucht zum Stoffe. Es iſt wahr, daß dieſer in 
allen unſeren Erfahrungen ſich als unvergänglich 
zeigt, aber, wohl zu bemerken, nicht die vielfältigen, 
ungleichartigen Stoffe, ſondern das wägbare raum— 
erfüllende Etwas, welches allen Stoffen gemein 
iſt, mit andern Worten: die Materie als das 
Allgemeine in allen Körpern. Ein uraltes Syſtem 
ließ die Materie ſelbſt aus unausſprechlich kleinen 
Körpern von ungleicher Größe und Form, aber 
einer unbegränzten Härte, beſtehen; dieſe Vor— 
ſtellungsweiſe hat zwar häufigen Eingang in die 
Naturwiſſenſchaft gefunden, aber ſie gehört ihr 
nicht an; wir haben durchaus keine Kenntniß des 
Stoffs, außer durch ſeine Thätigkeit und durch die 


209 


Naturgeſetze, vermöge welcher er wirkt. Geht die 
Unterſuchung zu den Eigenthümlichkeiten über, unter 
denen der Stoff in jedem beſondern Körper wirkt, 
ſo ergibt es ſich, daß dieſe Eigenthümlichkeiten auf 
den Naturgeſetzen beruhen, nach denen die Wir— 
kungen geſchehen. Zwar ſtockt die Unterſuchung 
bei gewiſſen Stoffen, welche ſie vor der Hand als 
einfache ſtehen laſſen muß; aber die Wiſſenſchaft 
geſtattet keinen Zweifel, daß dieß nur vorläufig 
ſey. Vielleicht wird ſie einſt auf gewiſſe eigen— 
thümliche Stoffe ſtoßen, welche mit Einſicht von 
ihr als Grundſtoffe erkannt werden, aber ſelbſt 
dann wird es nur durch die Geſetze ihrer Thätigkeit 
möglich ſeyn, dieſelben dafür anzuerkennen. Kurz, 
der Stoff iſt fein für ſich beſtehendes todtes Seyn, 
ſondern eine Thätigkeitsäußerung durch die Alles 
durchdringenden Naturgeſetze beſtimmt und begrenzt. 
Das Grundthätige und das Ordnende des Daſeyns 
ſind demnach nicht zwei abgeſonderte Dinge, ſon— 
dern ein lebendiges, unaufhörlich ſowohl ſchaffen— 
des als ordnendes Vernunftganze, eine unendlich 
lebendige Vernunft, Gott!! 

' Man vergleiche zu dieſem ganzen Abſchnitt das Ge⸗ 
ſpräch „über das Geiſtige im Körperlichen.“ 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 14 


210 


Aber schließt denn all' dieſe Nothwendigkeit 
den Gedanken an Zweck und Weisheit nicht aus? 
Keineswegs, wenn wir nur den himmelweiten 
Unterſchied feſthalten zwiſchen der unendlich voll— 
kommenen Vernunft und derjenigen, welche bei 
endlichen Weſen ſtattfinden kann. Schon bei einer 
jeden Anwendung der menſchlichen Vernunft, es 
ſey zu einer Maſchine, einer Staatseinrichtung 
oder zu einem wiſſenſchaftlichen Werke, wird man 
ſtets eine um ſo vollkommenere Uebereinſtimmung 
aller Theile finden, je richtiger und reiner der 
Grundgedanke war. Zuſammenſtimmungen, welche 
nur der folgerechten Anwendung des Grundge— 
dankens ihre Entſtehung verdanken, treten uns oft 
entgegen, als ob verſchiedene Anlagen zu ihrer 
Hervorbringung gemacht wären, obgleich es durch 
die eigene Harmonie der Vernunft geſchah; aber 
in der Vernunft ſelbſt, der Vernunft ohne Be— 
ſchränkung, iſt jede einzelne Aeußerung eine Folge 
des eigenen Weſens der Vernunft, und daher 
Mittel und Zweck zugleich. Beiſpiele würden dieß 
nur unvollkommen beleuchten, aber gleichwohl nicht 
unfruchtbar ſeyn, wenn man ſich ihren Gehalt 
recht aneignete und anwendete. Als Gedanken— 


211 


experiment ſtelle man ſich vor, daß Alles, was 
wir von der Kugel wiſſen, noch unbekannt wäre, 
und daß ein Künſtler eine Form zu erfinden trachtete, 
welche von allen Seiten denſelben Anblick gewähren, 
im Gleichgewicht ſich befinden ſollte, wenn man 
ſie auch auf eine horizontale Fläche legte, eine 
Oberfläche haben müßte, welche einen größeren 
Raum einſchlöße, als irgend eine andere von glei— 
cher Größe; welches unſägliche Hin- und Herdenken 
würde dazu nicht erforderlich ſeyn. Wer dagegen 
von dem Grundgedanken dieſer Form ausgeht, von 
dem eines Raumes, deſſen Oberfläche überall von 
einem Mittelpunkte gleich weit entfernt iſt, wird 
durch die nothwendige Entwickelung des Gedankens 
alle dieſe und weit mehr ſchöne und merkwürdige Ei— 
genſchaften finden, welche ein bloßes Streben nach 
dem Zweck entweder gar nicht oder nur auf vielen 
Umwegen finden könnte. Wenden wir uns nun 
zur Natur ſelbſt; heben wir uns aus der Idee 
des Weltalls nur jene Vorſorge hervor, von wel— 
cher in der unendlichen Mannigfaltigkeit des ſelbſt— 
ſtändigen Seyns und Lebens ein Gegenſtand dem 
andern nicht im Wege ſeyn darf, wie ſollte man 
einen weiſeren Plan dazu ſich denken können, als 


212 
den einer Vertheilung der ganzen Maſſe der Welt 
in zahllofe bewohnbare Kugeln, deren jede ihre 
eigenen Tages- und Jahreszeiten, jede ihre eigen— 
thümliche Wärme, ihre beſondere Dichtigkeit u. ſ. w. 
hat. Wie ſollte ſich ferner etwas weiſeres gedenken 
laſſen, als die Einrichtung, nach welcher eine große 
Anzahl ſolcher Kugeln von einer Sonne aus mit 
Licht und Wärme verſehen wird, deren Tageszeiten 
durch Umdrehung einer jeden um ihre eigene Are, 
deren Jahreszeiten durch Bahnumläufe um ihre 
Sonne beſtimmt werden? Aber alle dieſe und zahl- 
loſe andere damit verbundenen Zwecke folgen mit 
Nothwendigkeit aus den Geſetzen, wonach die Theile 
der Materie, wornach Anziehung und Bewegung 
ſich richten. In der endlichen Betrachtung ſehen 
wir Zweck und Mittel geſchieden, im Wirklichen 
und Ganzen ſind ſie Eins. Wenden wir uns 
nun zu unſerer eigenen Weltkugel, ſo ſehen wir 
die uns wohlthätigſten Einrichtungen, als den 
Wechſel der Tages- und Jahreszeiten, aus Alles 
umfaſſenden nothwendigen Geſetzen hervorgehen. 
Wenn wir einerſeits die wohlthätigen Folgen der 
Bewegung, welche das Meer durch Ebbe und Fluth 
erhält, hervorheben, dann müſſen wir andererſeits 


erkennen, daß fie aus denſelben allgemeinen Geſetzen 
nothwendig entſpringen. Preiſen wir die Abwech— 
ſelung und Ausgleichung der Wärme, welche in 
den verſchiedenen Erdgegenden durch die mannig— 
faltigen Windſtrömungen hervorgebracht wird, ſo 
finden wir wiederum, daß ſie Erfolge jener all— 
gemeinen Geſetze in Verbindung mit der ausdeh— 
nenden Kraft der Wärme ſind. Laſſen wir nun 
den Gedanken ſich von dieſen Beiſpielen bis zu 
ſeinem ganzen unendlichen Umfange erweitern, ſo 
ſehen wir, daß die Ueberzeugung von einem Reiche 
der Zwecke in der Natur die Nothwendigkeit nicht 
ausſchließt, und wiederum die Nothwendigkeit nicht 
die Zwecke, daß aber Mittel und Zweck in der 
Vernunft ſich umarmen, wie der Dichter ſagt. 
So ſchließt denn die wahre Naturwiſſenſchaft 
ſowohl den Unglauben als den Aberglauben aus. 


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Das ganze Daſeyn ein Vernunftreich. 


1. 


Die Weſenheit des Erkenntniſsvermögens im ganzen 
7 
Weltall. 


Dieſes erſte Kapitel bildet den Inhalt eines Vortrages, den 
ich in der Verſammlung der Naturforſcher zu Kiel im Jahre 1846 
hielt, und welchen ich bald nachher in deutſcher Sprache dem Be— 
richte über die Zuſammenkünfte der Verſammlung beigab. Obgleich 
deßhalb dieſe Abhandlung zuerſt in deutſcher Sprache öffentlich be— 
kannt wurde, war ſie dennoch urſprünglich däniſch und in dieſer 
Form hatte ich fie auch ſchon mündlich mehr oder minder vollſtaͤndig 
däniſchen Zuhörern vorgetragen, namentlich 1845 in einer Verſamm— 
lung der Geſellſchaft für Ausbreitung der Naturlehre. Das hier 
Mitgetheilte iſt indeß kein bloßes Wiedergeben des oben erwähnten 
Berichtes, ſondern es ſind ihm viele Verbeſſerungen und Erweiterun— 
gen hinzugefügt worden. Die darauf folgenden Kapitel ſind in 
neueſter Zeit gefchrieben. 


Der Gegenſtand, für welchen ich mir Ihre 
Aufmerkſamkeit erbitte, nämlich eine Unterſuchung 
über die Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens 
in dem ganzen Weltall, ſcheint bei dem erſten An— 
blick durchaus nicht in die Naturwiſſenſchaft zu 
gehören; doch zeigt uns eine nähere Erwägung, 
daß er dieſer Wiſſenſchaft nicht fremd ſeyn dürfe. 


218 


Die Natur iſt nicht etwas bloß Körperliches, ſie 
wird von Geiſt durchdrungen und beherrſcht, wie 
es ſchon aus ihrer unendlichen Geſetzmäßigkeit her— 
vorgeht. Unſer Körper iſt offenbar einer der Ge— 
genſtände der Naturwiſſenſchaft; aber er enthält 
alle Organe unſerer Erkenntniß. Ueber die Or— 
gane unſerer Sinne, hat uns die Naturforſchung 
ſchon vielfältig belehrt, und ſchreitet auf dieſem 
Wege immer weiter fort; aber ſie bleibt dabei 
nicht ſtehen, ſondern ſie dringt in den Bau und 
in die Verrichtungen des Nervenſyſtems ein, und 
hat zur Aufgabe auch den Zuſammenhang der 
Organe mit dem Seelenvermögen zu unterſuchen; 
eine Aufgabe zu deren Löſung ſie bisher nur wenig 
beigetragen, aber doch wichtige Winke gegeben hat, 
und in Beziehung zu welcher ſie ihre Beſtrebungen 
immer fortſetzt. Man wird die Bedeutung hievon 
für unſere ganze Unterſuchung fühlen, wenn man 
ſich recht vor Augen ſtellt, wie Fehler in des 
Menſchen Erkenntnißorganen Verwirrung in ſei— 
ner Weltauffaſſung, ja oft ſelbſt in allen ſeinen 
Vorſtellungen von göttlichen und menſchlichen Din— 
gen mit ſich führen. 

Indem nun die Naturwiſſenſchaft darthut, daß 


219 

die Geſetze, nach welchen unſere Erde und Alles 
was auf ihr lebt, ſich richtet, auch für andere 
Weltkörper gelten, drängen ſich ihr Fragen über 
die Bewohner des ganzen Weltalls auf. Viele 
Gelehrte wieſen dieſe Fragen mit Hohn ab, weil 
ihre Beantwortung nicht mit mathematiſcher Ge— 
wißheit zu geben iſt; wenn wir aber bedenken, wie 
unſicher die erſten Schritte in jeder Wiſſenſchaft 
ſind, und daß wir nie zu den vollkommeneren ge— 
langen würden, wenn wir ihre erſten Anfänge ver— 
ſchmähen wollten, ſo ſcheint es mir für die Wiſſen— 
ſchaft nützlich, unſere Kräfte hierin zu verſuchen, 
indem wir uns in unſern Unterſuchungen nur 
fo nahe als möglich an das ſchon Exwieſene hal— 
ten, und das Zweifelhafte vom Gewiſſen unter— 
ſcheiden. 

Es könnte den Anſchein haben, daß dieſe Un— 
terſuchung in das Gebiet der Metaphyſik ſich ver— 
ſteigen wolle, aber das Folgende wird zeigen, daß 
ſie ſich innerhalb der Grenzen der Naturwiſſenſchaft 
hält und es nicht verſucht, den Urgrund aller Er— 
kenntniß zu finden. Der Philoſoph möge dieſe 
Unterſuchung in demſelben Lichte betrachten, als 
die Forſchungen der Phyſiologen über die Sinnes— 


220 


organe; das Beſtreben der Naturforſcher zur För— 
derung ihrer eigenen Wiſſenſchaft bereitet zugleich 
den Erfahrungsſtoff für den „ des Philo— 
ſophen vor. 

Ich hoffe, man werde meiner Behauptung der 
Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens im ganzen 
Weltall keine größere Ausdehnung geben, als es 
der Ausdruck ſelbſt andeutet, und daß man es ſich 
klar vor Augen ſtellen werde, es ſchließe die We— 
ſenseinheit die größte Mannigfaltigkeit der Da— 
ſeynsformen nicht aus. Wir werden nur nöthig 
haben, uns auf dem von uns bewohnten Welt— 
körper umzuſehen, um ſprechende Beiſpiele genug 
für die Weſenseinheit in der größten Mannigfal— 
tigkeit zu finden. Wie verſchieden ſind nicht die 
Formen, unter welchen die Organe des Athemholens 
in den verſchiedenen Thierklaſſen vorkommen (Lun— 
gen, Kiemen, Tracheen)! Welche Ungleichheiten 
bieten ſich nicht in der Entwickelung der Bewe— 
gungsorgane dar (Arme, Vorderfüße, Flügel, Flo— 
ßen)! Nicht geringer iſt die Unähnlichkeit der 
Gehörorgane, welche bei den Säugethieren und 
Fiſchen z. B. ſo groß iſt, daß nur der Sachkun— 
dige den gleichen Zweck und die Grundähnlichkeit 


221 


der darin angewandten Naturmittel entdeckt. Es 
wird kaum der Erwähnung bedürfen, daß die 
Mannigfaltigkeit auf andern Weltkörpern noch 
unvergleichbar größer ſeyn müſſe; ja daß es 
dort Erkenntnißmittel geben könne, die wir nicht 
kennen. 

Noch eine Verwahrung, die von einer Ent— 
ſchuldigung begleitet ſeyn möge! Im Folgenden 
werde ich mit einer gewiſſen Ausführlichkeit zeigen, 
daß die Naturgeſetze für das ganze Weltall gültig 
ſind. Dieſe Allgemeinheit iſt ſtets von allen den 
Forſchern, deren Unterſuchungen über die Erde hin— 
ausgingen, vorausgeſetzt worden und gewiß mit 
Recht; denn ſie ſahen im Zuſammenhange und im 
Erfolge ihrer Entdeckungen einen hinreichenden 
Beweis dafür. Solche ſind es nicht, die ich hier 
zu überzeugen ſtrebe — ich bitte mir vielmehr ihre 
Nachſicht aus — ſondern zu den Vielen, die keine 
vollkommen klare, mit ihrer Naturanſchauung ver— 
ſchmolzene Ueberzeugung dieſer Wahrheit haben, 
will ich hier reden! Ich ſehe auch ein, daß ich 
ſowohl dieſe Behauptung, als auch alles Uebrige 
meiner Mittheilung in ſehr wenig Worte zuſammen 
zu faſſen vermöchte; aber es ſchien mir rathſamer, 


den Gegenſtand in einem mehr entwickelten Vor— 
trage der Anſchauung näher zu führen. 

Ich werde meine Gedanken in Beiſpielen dar— 
legen, dieſe aber ſo wählen, daß man aus dem 
Beſondern ſich leicht das Allgemeine wird ableiten 
können. Wir wollen unſere Aufmerkſamkeit zuerſt 
auf die Lehre von der Bewegung hinwenden und 
uns überzeugen, daß deren Hauptgeſetze ſolche ſind, 
wie unſer Erkenntnißvermögen ſie, in ſo fern es 
ſich ſelbſt recht verſteht, fordern muß, andererſeits, 
daß dieſe Geſetze ohne unſer Zuthun von der Natur 
befolgt werden. 

Wir wiſſen alle, daß die gerade Linie die ein— 
fachſte iſt; wir ſehen dieß ſchon, wenn wir die 
geiſtige Handlungsweiſe betrachten, vermöge welcher 
wir entweder außer uns, oder in der innern An— 
ſchauung, eine gerade Linie ziehen, denn wir 
führen dieſes mit ſtetig unverändertem Gedanken 
aus. Die Mathematik entwickelt und beweist dieſes 
näher. Bedenken wir nun ferner, daß ein ein— 
facher Antrieb eine einfache Bewegung hervor— 
bringen müſſe, ſo würde das erſte Geſetz, welches 
wir der Bewegung vorſchreiben wollen, das ſeyn: 
daß ein jeder einfache Antrieb eine geradlinige 


223 
Bewegung hervorbringen müſſe, und ſiehe, die Natur 
hat dieß Geſetz ſtets befolgt, unendlich lange zuvor, 
ehe der Menſch daſſelbe einſah. Daß das Willen— 
loſe ſich nicht ſelbſt zu einer Veränderung zu 
beſtimmen vermöge, und daß daher keine Bewe— 
gung weder geſchwinder, noch langſamer werden 
oder ihre Richtung verändern könne, ohne neu 
hinzukommende Einwirkungen; mit andern Worten, 
daß jede einfache Bewegung mit gleichförmiger 
Geſchwindigkeit und unveränderter Richtung ge— 
ſchehen müſſe, iſt auch eine ſo durch ſich ſelbſt 
klare Vernunftnothwendigkeit, daß man kaum glau— 
ben ſollte, es habe ſich die rechte Einſicht in dieſe 
Sache erſt ſeit den letzten Jahrhunderten entwickelt. 
Aus dieſem Geſetze aber folgt weiter, daß eine 
jede ſtetig wirkende Kraft in jedem Augenblick einen 
neuen Antrieb zur Bewegung, ebenſo groß als 
den im erſten Augenblick mitgetheilten, hinzu— 
füge, und daß ſo die hervorgebrachte Geſchwindig— 
keit gleichförmig wachſen, die zu jeder Zeit erlangte 
Geſchwindigkeit ſich der ſeit dem erſten Augenblick 
verfloſſenen Zeit gleich verhalten müſſe. Die ma— 
thematiſche Betrachtung dieſer einfachen Wahrheit 
führte zur Entdeckung mehrerer Geſetze, welche 


224 


+ 


man nie zuvor in der Erfahrung entdeckt hatte, 
die aber nunmehr, nachdem man ſie ſuchen gelernt 
hatte, leicht darin gefunden wurden. 

Durch die Anwendung der vorhergehenden 
Wahrheiten gelangte man auch zu der Einſicht, 
daß eine jede krummlinigte Bewegung das Reſultat 
zuſammenwirkender Kräfte iſt und nie einfach ſeyn 
könne. Daß alle von einem Punkte ausgehenden 
Thätigkeiten ſich auf Flächen verbreiten, welche 
ſich wie die Quadrate der Entfernungen verhalten, 
die Kraft alſo in jedem Punkte zu dieſen Quade 
raten im umgekehrten Verhältniß ſtehen müſſe, iſt 
eine ſehr einfache, aber gleichwohl erſt ſpät er— 
kannte Forderung der Vernunft. 

Wenn wir es auch nicht als befriedigend dar— 
gethan annehmen wollen, daß die allgemeine An 
ziehung ein Vernunftgebot ſey, ſo iſt dieſelbe den— 
noch eine Thatſache, deren unumſtößliche Wahrheit 
von der Vernunft anerkannt werden mußte und 
dieſe Wahrheit hat durch das Wirkungsgeſetz der 
umgekehrten Quadrate der Entfernungen eine un— 
ermeßlich große Anwendung erhalten. Durch die 
weitere Benutzung aller hier angedeuteten Kennt— 
niſſe wurden die Geſetze der Centralbewegung 


gefunden und in Bezug auf diejenigen Centralbewe— 
gungen, bei denen die allgemeine Anziehung die 
Körper gegen den Mittelpunkt treibt, wurde es 
bewieſen, daß die beſchriebenen Bahnen Kegel— 
ſchnitte ſeyn müſſen, und daß eine ſolche mittelſt 
der Erfahrung gefundene Bahnfigur nur durch eine 
Kraft hervorgebracht werden könne, welche jenem 
Geſetz folgt. Aus allen dieſen Unterſuchungen er— 
gab ſich denn, daß die Bewegungen der Weltkörper 
nach denſelben Geſetzen erfolgen, wornach die gewor— 
fenen Körper hier auf unſerer Erde bewegt werden. 

Die Entwickelung der Beweiſe von allem dieſem 
werden Sie hier nicht von mir erwarten. Ein 
ſolches Unternehmen würde nicht nur eine ganze 
Reihe von Vorträgen erfordern, ſondern auch über— 
flüſſig ſeyn, da jeder Sachkundige weiß, daß die 
hier in ſo großer Kürze angedeuteten Wahrheiten 
durch die faſt drei Jahrhunderte fortgeſetzten An— 
ſtrengungen tiefer Denker errungen ſind. Ich 
kann auch die große wiſſenſchaftliche Thatſache als 
allgemein anerkannt betrachten, daß jene Geſetze, 
welche das Denken, befruchtet von der Erfahrung 
auffand, für alle Bewegungen der Weltkörper wirk— 
lich gelten. 


O erſted, der Geiſt in der Natur. 10 15 


226 


Verſuchen wir nun, dieſes für unſern Zweck 
anzuwenden und zu zeigen, daß die allgemeine 
Gültigkeit der durch die Vernunft erkannten Geſetze 
uns zu der Annahme nöthigt, daß auch das Er— 
kenntnißvermögen durch das ganze Weltall von 
gleicher Weſenheit ſey. 

Um nicht im Streben nach dem Allgemeinen 
die Klarheit der Anſchauung zu verlieren, wollen 
wir unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auf einen be— 
ſtimmten fremden Weltkörper hinwenden und es 
wird ſich bald zeigen, daß ſich die hier wahrnehm— 
baren einzelnen Züge mit Leichtigkeit unter ein 
allgemein Erkanntes zuſammenfaſſen laſſen. Wir 
wollen das Gedankenexperiment machen, uns auf 
den Planeten Jupiter hin zu verſetzen. Wir werden 
dort Abwechslungen der Tage und Nächte bemer— 
ken, werden verſchiedene Jahreszeiten erleben wie 
auf unſerm Erdball, nur mit andern Zeitlängen und 
mit andern Größenverhältniſſen. Alle dieſe Ab— 
wechslungen entſtehen dort wie hier aus der Achſen— 
drehung des Weltkörpers und aus ſeiner Bahnbewe— 
gung um die Sonne; beide Bewegungen aber werden 
dort nach denſelben einfachen Geſetzen hervorge— 
bracht, welche wir auf der Erde entdeckt und auf 


das Weltall angewandt haben. Gleicherweiſe wer— 
den wir dort Monde ſehen, die ſich nach eben den 
Geſetzen bewegen als der unſrige, und ſo werden 
wir dort alle jene Erſcheinungen unter denſelben 
Verſtandesbegriffen zuſammenfaſſen können, unter 
denen wir ſie hier umfaſſen. Setzen wir nun an 
unſre Stelle ein anderes, von uns übrigens auch 
noch ſo verſchiedenes Weſen, welches nur darin 
mit uns übereinſtimmt, daß es die Natur mit Be— 
wußtſeyn auffaßt. Ein ſolches Weſen würde viel— 
leicht die Eindrücke, welche die Naturerſcheinungen 
auf uns machten, in anderer Form und Weiſe 
empfangen; inſofern es aber die Geſetzmäßigkeit 
derſelben einſähe, müßte auch ſein Erkenntnißver— 
mögen mit den Naturgeſetzen übereinſtimmen und 
mithin auch mit unſerem Denkvermögen. Wäre 
ſein Erkennen mit den Naturgeſetzen nicht in Ueber— 
einſtimmung, dann wäre es kein vernünftiges, 
wahres, ſondern ein unvernünftiges, falſches; eine 
Vorſtellung, die ſich mit dem Begriff des Erken— 
nens eben ſo wenig verträgt, als der des Sehens 
mit dem der Blindheit und die wir deßhalb ſchon 
auf den erſten Blick verwerfen müſſen, ſpäter aber 
noch vollſtändiger widerlegen werden. Wollte man 


die Sache umkehren und den Zweifel erwecken, 
als ob wir die Dinge vielleicht falſch auffaßten, 
die Bewohner anderer Planeten aber richtig oder 
ebenfalls, und nur in anderer Weiſe falſch, ſo 
antworten wir, daß die prophetiſche Natur unſerer 
Himmelsmechanik uns ein feſtes Vertrauen zu ihr 
gibt, indem ſie uns lehrt, die mannigfaltigſten 
Himmelsbegebenheiten mit der größten Beſtimmt— 
heit und Sicherheit vorauszuſagen. Außer den 
vielen Vorausſagungen der Sonnen- und Mond— 
finſterniſſe und der Orte, welche die Planeten zu 
feſtbeſtimmten Zeiten einnehmen — Vorausſagun— 
gen, von welchen eine jede Staunen erregen würde, 
wenn wir ihrer nicht ſo gewohnt wären — will 
ich nur daran erinnern, daß man nach vierjähri— 
gen Beobachtungen des von William Herſchel 1781 
entdeckten Uranus berechnete, daß derſelbe etwa 
84 Jahre zu ſeinem Umlaufe brauche, und daß 
Gauß, was noch weit mehr iſt, aus den Beob— 
achtungen weniger Tage die Bahn der Ceres richtig 
berechnete und durch ſeine Vorausſagungen be— 
wirkte, daß man dieſelbe auffand; daß le Verrier 
aus den ſcheinbaren Unordnungen in der Bewe— 
gung des Uranus die Bahn eines unbekannten 


229 


Planeten berechnete und deſſen Ort an einem be- 
ſtimmten Tag zutreffend feſtſetzte. Jeder Sachkun— 
dige weiß, daß ich hier nur einige wenige der 
Triumphe der Aſtronomen angeführt habe, um die 
Aufmerkſamkeit zu erwecken. Die Zahl ihrer genau 
beſtimmten und eintreffenden Vorausſagungen iſt 
unüberſehbar. Sie müſſen aus unbeſtreitbaren 
Grundwahrheiten entſpringen und eine dieſen wi— 
derſtreitende Anſicht könnte nicht mit den Natur— 
begebenheiten ſtimmen, müßte demnach unwahr ſeyn. 

Wenden wir abermals unſere Gedanken auf 
die Bewohner des Jupiter; wir ſehen nun ein, 
daß ſie den Gang der Sonne, der Monde und 
der Sterne, kurz den Gang der ganzen Welten— 
uhr nach keinen andern Geſetzen berechnen können, 
als nach den von uns erkannten, daß ſie mithin 
jenen Gang auch auf keine Weiſe begreifen können, 
die mit der unſrigen in Widerſpruch ſtände. Die— 
ſelben Naturgeſetze, welche ſie durch ihre Himmels— 
beobachtungen entdecken, müſſen ſie in ihrer näch— 
ſten Umgebung an der Oberfläche ihres Planeten 
wiederfinden. Aus der Uebereinſtimmung der wirk— 
lichen Bewegungen der Jupitersmonde mit den 
aus den Naturgeſetzen voraus berechneten folgt mit 


230 


mathematischer Strenge, daß dieſelben Geſetze der 
Schwere für 15 Planeten wie für den unſrigen 
gelten; wie z. B. alle Körper hier in einem luft— 
leeren Raum mit gleicher Geſchwindigkeit fallen, 
ſo muß es auch dort geſchehen, nur nach einem 
andern Raummaße. Mit derſelben Nothwendigkeit 
folgt, daß die Wurfbewegung dort wie hier krumme 
Linien beſchreiben muß, in denen dieſelben Geſetze 
ſich offenbaren; ebenſo gewiß iſt es, daß die Geſetze 
der Kreisbewegung dort und hier dieſelben ſeyn 
müſſen. Zwar können wir nicht alle dieſe Schlüſſe 
mit beobachteten Thatſachen belegen, wie wir dieß 
in Beziehung auf die Bewegungen der Weltkörper 
zu thun vermögen; aber es iſt dieß auch nicht er— 
forderlich, da ſie nothwendige Folgen der ſchon 
geſicherten Wahrheiten ſind. Doch können wir 
zum Ueberfluß auf eine durch die Erfahrung gege— 
bene Beglaubigung hinweiſen. Wir finden die 
Figur des Jupiter ganz nach denſelben Geſetzen 
gebildet wie die Figur unſerer Erde; von letzterer 
wiſſen wir, daß ſie ſich zwar der Form der Kugel 
nähert, dennoch aber in der Art davon abweicht, 
daß ſie gegen den Aequator hin etwas umfang— 
reicher iſt; wir wiſſen, daß dieſe Abweichung 


231 


dadurch entſteht, daß alle Theile der Erde vermöge 
ihrer Achſendrehung in Kreiſen herumgeführt wer— 
den, in denen die Schwungkraft der Theile ſich 
gleich den Entfernungen von der Achſe verhält. 
Indem wir den Umkreis, alſo auch den Durch— 
meſſer der Erde, und die Zeit ihrer Achſendrehung 
kennen, berechnen wir die Weite des Weges, in wel— 
cher die Schwungkraft während einer Sekunde jeden 
dieſer Theile vom Mittelpunkt wegführen würde, und 
finden, daß dieſe Größe am Aequator ½ von jener 
Bewegung iſt, welche der Zug der Schwere gegen 
den Mittelpunkt ihnen mitzutheilen ſtrebt. Es 
würde unſere Grenzen überſchreiten, alle die fer— 
nern Betrachtungen hier aufzuführen, durch welche 
die Geſtalt der Erde beſtimmt worden iſt; es iſt 
uns genug, daß alle Sachkundigen über das We— 
ſentliche aller hierher gehörigen Berechnungen einig 
ſind, und daß dieſe ebenfalls durch die angeſtell— 
ten Meſſungen in allem Weſentlichen beſtätigt wer— 
den. Dieſelben Berechnungen laſſen ſich nun auch 
auf die andern Planeten und namentlich auf den 
Jupiter anwenden; dieſer hat einen weit größern 
Durchmeſſer, eine ſchnellere Umdrehung und die 
Schwere an ſeiner Oberfläche übertrifft die auf 


unſerer Erde; aus dieſem allen berechnen wir feine 
Abweichung von der Kugelgeſtalt und finden, daß 
dieſe Abweichung weit größer ſeyn müſſe als die 
der Erde. Gerade ſo aber wie die Berechnung es 
ergab, wird die Geſtalt des Jupiter durch die aſtro— 
nomiſchen Meſſungen ſeiner Achſe und des Dia— 
meters ſeines Aequators wirklich gefunden. Aus 
den Unterſuchungen über unſern Erdkörper hat es 
ſich ergeben, daß ſeine Dichtigkeit gegen den Mit— 
telpunkt hin zunehmen müſſe; die Berechnungen 
lehren, daß daſſelbe auch vom Jupiter gelte. Wir 
ſehen aus dieſem allen, daß die bei uns beſtehen— 
den Naturgeſetze, gleichſam vor unſern Augen, an 
der Oberfläche und in der Maſſe des Jupiter ſich 
ebenfalls geltend machen. 

Die Bewohner jenes Weltkörpers finden alſo 
dieſelbe Anwendung ihres Erkenntnißvermögens 
ſowohl in ihrer naͤchſten Umgebung als an ihrem 
Himmel, ebenſo wie es auf unſerm Erdball der 
Fall iſt. Dieſe Aehnlichkeit ſchließt aber keines— 
wegs große Verſchiedenheiten aus; ſo können wir 
z. B. berechnen, daß die Schwere an der Ober— 
fläche des Jupiter 2½ mal ſo groß iſt als auf 
unſerer Erde; daß die Fallgeſchwindigkeit an 


‘ 


283 
verſchiedenen Punkten deſſelben größere Ungleich— 
heiten darbietet als bei uns; daß die Dichtigkeit 
jenes Weltkörpers weit geringer iſt, als die des Erd— 
balls. Alle ſolche Verſchiedenheiten aber ſind nach 
denſelben Geſetzen hervorgebracht worden. 

Soll der Bewohner des Jupiter alle dieſe Ver— 
hältniſſe, welche ihm die Natur zeigt, faſſen, ſo 
muß er ja ihre Geſetze kennen! Er kann vielleicht 
eine weit klarere, lebendigere, umfaſſendere Einſicht 
darin haben, als wir, oder auch im Gegentheil 
eine ſchwächere; aber in ſo weit er ſie kennt, muß 
ſein Erkenntnißvermögen dem wahren Weſen nach 
daſſelbe wie das unſrige ſeyn. Für ſein Denken muß 
auch die einfache Bewegung geradlinigt, und eine 
krummlinigte dagegen durch mehr als eine Kraft 
hervorgebracht worden ſeyn; für ihn muß dieſelbe 
mathematiſche Reihe die gleichförmig beſchleunigte 
Geſchwindigkeit wie für uns darſtellen; für ihn muß 
daſſelbe Verhältniß zwiſchen Abſeiſſen und Ordina— 
ten ſtattfinden als für uns in allen krummen Linien, 
z. B. in der Ellipſe, welche die Grundform der Pla— 
netenbewegung iſt, in der Parabole, welche ſchräg 
geworfene Körper beſchreiben u. ſ. w. Aber von 
der Auffaſſung dieſer Verhältniſſe ſind wir uns ja 


234 
bewußt, daß ihnen eine Vernunfthandlung in 
Verbindung mit Anſchauung zur Grundlage dient. 
Geſchieht dieſelbe Auffaſſung durch andere Weſen, 
jo nehmen ſie ja ebenfalls Vernunfthandlungen 
vor, und da ſie ſinnliche Weſen ſind, müſſen die— 
ſelben bei ihnen wie bei uns eine ſinnliche Grund— 
lage nicht nur von äußerer, ſondern auch von 
innerer Sinnenthätigkeit haben; kurz jede Auffaſ— 
ſung der Naturgeſetze iſt eine Vernunfthandlung 
mit ſinnlicher Grundlage. Sie werden im Folgen— 
den Beiſpiele genug finden, vermittelſt welcher Sie 
ſich dieſes noch mehr verdeutlichen können; ich 
will hier nur noch einige Augenblicke bei den 
Ungleichheiten verweilen, welche ſich mit dieſen 
Gleichheiten vereinigen laſſen. Ich weiß, man 
wird geneigt ſeyn, mir die Möglichkeit ſolcher Un— 
gleichheiten zum Vorwurf zu machen, daher werde 
ich hier ſchon den Bedenklichkeiten begegnen, ſpä— 
ter aber die Sache ausführlicher behandeln. Die 
Gleichheit, welche ich hier in die mathematiſche 
Auffaſſung geſetzt habe, würde in ihrem Weſen 
nicht aufgehoben ſeyn, wenn unſer Jupiterbewoh— 
ner auch einen Zahlenſinn hätte, welcher den 
unſrigen um ſo viel überträfe, daß er eine Rechnung 


235 


mit zehn Zahlen eben ſo leicht zu fallen und 
auszuführen vermöchte, als wir eine mit nur zwei 
Zahlen; wenn er mittelſt Eines Gedankenblicks das 
Weſen einer für uns nur mit größter Schwierig— 
keit begreiflichen Reihe ſogleich einſähe, oder mit 
einem ähnlichen Gedankenblick alle Verhältniſſe in 
einem Kegelſchnitte, etwa wie wir die Gleichheit 
aller Radien eines Zirkels, erfaßte; die Gedanken— 
verhältniſſe blieben doch dieſelben. Sie werden 
leicht ſehen, daß ſich dieſes Alles auch auf ein 
Denken übertragen läßt, das nicht mathematiſch iſt. 

Alles, was von dem Planeten Jupiter geſagt 
worden, läßt ſich im Ganzen genommen auch auf 
die übrigen Planeten anwenden; obgleich die Dar— 
ſtellung in Betreff einiger weniger vollſtändig, bei 
andern verwickelter wird. 

Unſere Betrachtungen hielten ſich bisher inner— 
halb der Grenzen des Sonnenſyſtems; wir müſſen 
unſern Blick noch weiter ausdehnen. Unſere Unter— 
ſuchungen haben gelehrt, daß die hier erwähnten 
Geſetze auch über dieſes Syſtem hinaus reichen, und 
die Vorausſetzung ihrer Allgemeinheit beſtätigt ſich 
immer mehr; wenn aber im ganzen Weltall gleiche 
Naturgeſetze Gegenſtand des Erkenntnißvermögens 


236 


ſelbſtbewußter Weſen find, ſo folgt daraus noth— 
wendig, daß dieſes Vermögen, ſeinem Weſen nach, 
überall daſſelbe ſeyn muß. 

Wählen wir ein anderes, nicht weniger allge— 
meines und eingreifendes Beiſpiel: die Wirkungen 
und Geſetze des Lichts. Natur und Erkennen ſind 
auch hier in der vollkommenſten Uebereinſtimmung; 
bald ſagt uns das von der Erfahrung befruchtete 
Denken die Erſcheinungen, welche wir zu erwar— 
ten haben, voraus, bald löst es die unvorherge— 
ſehenen in Vernunfterkenntniß auf. In der ſicht— 
barmachenden Wirkung des Lichts treffen wir die 
gerade Linie wieder. Was die Erfahrung uns 
lehrt über die Beleuchtung in verſchiedenen Ent— 
fernungen, die Größe und Form der Schatten, 
über die Wirkung der Spiegelung, läßt ſich alles 
aus den anerkannten Vernunftgeſetzen herleiten, iſt 
alles vernunftnothwendig. Von der Brechung des 
Lichts, von deſſen Auflöſung in Farben, von ſeiner 
Polariſation, Interferenz u. ſ. w. gilt daſſelbe, 
wenn man nur darüber hinwegſieht, daß hier 
einige Dunkelheiten noch zu zerſtreuen ſind, welche 
uns jedoch nicht hindern, den weſentlichen Vernunft— 
zuſammenhang der Geſetze mit Sicherheit zu erkennen. 


237 


Wir überzeugen uns leicht, daß die Geſetze des 
Lichts, wie die der Bewegung und der Anziehung, 
für das ganze Weltall gelten. Das Licht, welches 
von der Sonne, den Planeten, den Firfternen zu 
uns kommt, iſt von derſelben Natur wie das auf 
unſerm Erdball hervorgebrachte; es wird in unſern 
Fernröhren und Spiegelteleskopen auf gleiche Weiſe 
gebrochen, zurückgeworfen, zu Bildern geſammelt, 
wie das Licht von den irdiſchen Gegenſtänden. Es 
liegt in dieſen zahlloſen Erfahrungen ſchon ein 
großer Theil von dem, was hier bewieſen werden 
ſoll, wie jeder, der die Theorie unſerer optiſchen 
Werkzeuge kennt, klar einſehen wird. Unſere 
Erperimente über das Licht zeigen daſſelbe unter 
andern Formen. Wir bringen durch irdiſches Licht 
dieſelben chemiſchen Wirkungen hervor, wie durch 
das Licht der Sonne und der übrigen Himmels— 
körper; wir entwickeln daraus die Farben nach 
denſelben Geſetzen, und ſtellen ſo auf eine mehr 
augenſcheinliche Weiſe jene Gleichheit dar, welche 
uns ſchon die optiſchen Werkzeuge lehrten. Wir 
polariſiren alles Licht, es ſey nun irdiſches oder 
ein von den Himmelskörpern kommendes, auf die— 
ſelbe Weiſe. Aus der Aſtronomie holen wir noch 


x 238 


die große, aus der Aberration dargethane That— 
ſache nach, daß das aus allen Theilen des Welt— 
alls uns zukommende Licht gleiche Geſchwindigkeit 
hat. — Fügen wir noch hinzu, daß die Licht— 
erſcheinungen, die wir an den mit Monden ver— 
ſehenen Planeten beobachten, z. B. die Schatten, 
welche die Monde auf den Hauptplaneten werfen, 
oder dieſer auf ſeine Monde, durchaus ſo erfolgen, 
wie ſie nach den uns bekannten Naturgeſetzen er— 
folgen müſſen. 

Es geht alſo ſowohl aus allen Verhältniſſen 
des Lichts, wie aus jenen der Bewegung hervor, 
daß in dem ganzen unermeßlichen Gebiet des Welt— 
alls keine Grenze ſich finde, jenſeits welcher die Ge— 
ſetze ungültig würden, welche unſer Geiſt fordert. 

Es bietet ſich hier eine gute Gelegenheit dar, 
einige Beiſpiele von den großen Verſchie den— 
heiten zu geben, die neben der Weſens einheit 
beſtehen können. Wir kennen bereits bei den 
Thieren unſeres Erdballs eine große Verſchieden— 
heit in der Einrichtung des Auges; wie verſchieden 
iſt dieſe bei dem Säugethier, dem Fiſch, dem In— 
jeft! — Um wie vielmehr verſchieden von den 
Sehorganen auf unſerer Erde müſſen nicht die auf 


239 


andern Weltkörpern ſeyn! — Dagegen iſt es kaum 
wahrſcheinlich, daß es irgendwo erkennende Weſen 
geben ſollte, denen das Licht keine Kunde von den 
entfernten Gegenſtänden brächte. 

Aus der Theorie des Lichts konnen wir ler— 
nen, daß ſehr große Verſchiedenheiten des Geſichts— 
ſinnes möglich ſind. Sie zeigt uns nämlich, daß 
das Licht durch Schwingungen des Aethers her— 
vorgebracht wird. Wir empfangen nur recht ent— 
ſchiedene Lichteindrücke durch ſolche Aetherwellen, 
deren Breite zwiſchen 300 und 175 Millionenthei— 
len einer Linie liegen, und nur noch wenigen Ein— 
druck von ſolchen, die etwas darüber oder darunter 
fallen. Die für unſere Geſichtsempfindung gar zu 
langſamen — d. i. die von größerer Wellenbreite — 
bringen bei uns Wärmegefühl hervor; die ſchnel— 
lern geben ſich durch gewiſſe chemiſche Wirkungen 
kund. Es mag aber Lichtorgane geben, welche nur 
jene langſamern Schwingungen empfinden, oder 
nur dieſe ſchnellern, oder auch alle die von uns 
empfundenen zugleich mit mehrern der andern. Es 
iſt dieſe Möglichkeit keine bloß abſtrakte, ſondern 
eine in der Natur der Dinge vollkommen gegrün— 
dete; denn wir wiſſen, daß jene auf das Geſicht 


240 


nicht wirkenden Strahlen nach denſelben Geſetzen 
gebrochen und zurückgeworfen werden wie die ſicht— 
bar machenden, und daß ſie daher Bilder hervor— 
bringen können. Diejenigen Strahlen, welche ſich 
durch chemiſche Wirkungen auszeichnen, geben uns, 
wie bekannt, ſehr ſchöne Abbildungen der Dinge. 

Da die Farbeneindrücke durch Aetherſchwingun— 
gen von ungleicher Geſchwindigkeit in uns hervor— 
gebracht werden, ſo wird auch die Farbenwelt ſich 
für andere Weſen auf andere Weiſe darſtellen; 
doch wird, dieſer Unähnlichkeit ungeachtet, eine 
wichtige Uebereinſtimmung darin ſtattfinden, daß 
die ungleichen Geſchwindigkeiten der Schwingungen 
eben ſo viele ungleiche Eindrücke innerhalb der— 
jenigen Grenzen, welche der innern Vollkommen— 
heit des Sinnes geſetzt ſind, hervorbringen. Die 
Fähigkeit Farben wahrzunehmen, kann dagegen bei 
andern Geſchöpfen einen größern Umfang haben, 
als bei uns. Unter den Farben, welche durch 
unſern Lichtſinn empfunden werden, wird die 
rothe durch die langſamſten Zitterungen des Aethers 
erzeugt, die violette durch die ſchnellſten; aber dieſe 
erreichen, wie ſchon geſagt, noch nicht die doppelte 
Schnelligkeit jener. Das äußerſte Geſchwindigkeits— 


241 


verhältniß der Farbenzitterungen liegt alſo bei 
uns, ſelbſt für das empfindlichſte Auge, zwiſchen 
1 und 2. Wir ſind hinſichtlich der Farben in 
demſelben Falle, wie ein Menſch in Bezug auf die 
Töne ſeyn würde, wenn der Umfang ſeines Ton— 
ſinnes nur eine Octave betrüge. Ein Geſchöpf, 
deſſen Sinn eben ſo viele Octaven des Lichts um— 
faßte, als wir für die Töne haben, würde zahlloſe 
Kenntniſſe und Gefühle beſitzen, die uns abgehen. 

Auch die ungleiche Empfänglichkeit für Licht 
von ungleicher Stärke muß die größten Verſchie— 
denheiten hervorbringen. Wir wollen unſere Ge— 
danken abermals zu dem Jupiter hinwenden. Die— 
ſer Weltkörper erhält fünfundzwanzigmal ſo wenig 
Licht auf jedem Quadratzoll als der unſrige. Die 
Beleuchtung der Gegenſtände kann vielleicht durch 
eine trübere Atmoſphäre noch verringert werden. 
Es iſt daher höchſt wahrſcheinlich, daß ſeine Be— 
wohner ein feineres Lichtgefühl als wir haben, 
um die ſie umgebenden Gegenſtände zu erkennen. 
Aber dieſe höhere Empfänglichkeit bringen ſie auch 
zur Beſchauung des Himmels mit. Inſofern ihre 
Atmoſphäre nicht eine viel geringere Durchſichtig— 
keit hat, als die unſrige, wird ſich ihnen alſo der 

Oerſted, der Geiſt in der Natur. 11 16 


242 


Sternenhimmel viel reicher und glanzvoller zeigen; 
auch werden ſie mehr von dieſer Beobachtung ler— 
nen, mithin weit leichter umfaſſende Kenntniſſe des 
Weltalls ſich erwerben. Wegen der mehr als doppelt 
ſo ſchnellen Umdrehung ihres Weltkörpers empfan— 
gen ſie den Eindruck der ſcheinbaren Umdrehung des 
Himmels in ſchnellerer Aufeinanderfolge, welches 
auch auf den Eindruck ſelber von Einfluß ſeyn 
wird; ja man kann ſelbſt vermuthen, der ſchnelle 
Wechſel zwiſchen Tag und Nacht werde mit einer 
entſprechenden ſchnellen Abwechslung zwiſchen Thä— 
tigkeit und Ruhe, und dieſe wiederum mit einem 
geſchwinderen und lebendigern Empfangen, ſowie 
mit einem ſchnellern Verſchwinden der Eindrücke 
verbunden ſeyn. Hierzu kommt noch, daß der 
Jupiterbewohner vermöge des größern Durchſchnitts 
der Bahn ſeines Weltkörpers vom Weltgebäude 
auch mehr ſehen, und mit größerer Leichtigkeit die 
Meſſungen, welche zur Beſtimmung der Entfer— 
nungen der Firfterne nöthig find, zu machen im 
Stande ſeyn wird. 

Es verſteht ſich, daß ich hier bloß mögliche, 
unter gewiſſen Bedingungen nothwendige oder 
wahrſcheinliche Verhältniſſe aufgeſtellt habe; es iſt 


243 


offenbar, daß auch andere Bedingungen ftattfinden 
können, z. B. eine größere oder geringere Voll— 
kommenheit der Theile, welche bei jenen Bewoh— 
nern unſerm Nervenſyſtem entſprechen mögen. Der 
Zweck war hier allein zu zeigen, wie neben der 
Weſenseinheit die vielfältigſten Verſchiedenheiten 
beſtehen können. 

Ueber die Schallempfindungen werde ich mich 
nun ſehr kurz faſſen. Alle Schwingungen von einer 
gewiſſen Schnelligkeit in Körpern von hinreichen— 
der Dichtigkeit bringen Wirkungen auf unſer Ge— 
hörorgan hervor, doch ſind bekanntlich die Schwin— 
gungen, welche in luftförmigen Körpern hervorge— 
bracht werden, am vollkommenſten geſchickt, die 
mannigfaltigſten und beſtimmteſten Schallempfindun— 
gen in uns hervorzurufen. Schwingungen müſſen 
auf allen Weltkörpern hervorgebracht werden kön— 
nen, auf die Organiſation der Bewohner aber 
wird es ankommen, welche Vibrationsgeſchwindig— 
keiten beſtimmte, zur Erkenntniß der Umwelt füh— 
rende Empfindungen erregen ſollen. 

Ich habe bisher nur Beiſpiele angeführt, welche 
in einem umfaſſenderen Sinne des Worts mechaniſche 
genannt werden können; man wird nach chemiſchen 


244 


fragen, wobei abermals das Wort in einem weiteren 
Sinne genommen werden mag; wir wollen jetzt ver— 
ſuchen, ſolche zu geben. Es muß anerkannt werden, 
daß die chemiſchen Naturgeſetze ebenſowohl wie die 
mechaniſchen Vernunftgeſetze ſind. Zwar läßt dieſe 
Behauptung ſich in Bezug auf jene nicht ſo voll— 
ſtändig durchführen wie in Bezug auf dieſe. Es 
iſt eine große Thatſache aus der Geſchichte dieſes 
Zweiges der Wiſſenſchaft, daß der chemiſche Theil 
der Naturlehre ſich weit ſpäter als der mechaniſche 
entwickelt hat; die Kenntniſſe des 16. Jahrhun— 
derts von der Wärme, der Elektricität, dem Mag— 
netismus und ſelbſt von den Verbindungen und 
Trennungen der Stoffe waren nur geringe, meiſt 
von der Erfahrung gegebene Bruchſtücke, aus denen 
den Forſchern nur hie und da eine Geſetzmäßigkeit 
durchſchimmerte; aber der Vernunftzuſammenhang 
in dieſem Allem iſt um ſo mehr klar geworden, je 
reichhaltiger unſere Kenntniſſe geworden ſind. Ich 
weiß wohl, daß ich hier etwas als Reſultat der Ge— 
ſchichte aufſtellte, was ſich für den Denker von ſelbſt 
verſteht, aber es iſt nicht genug, daß dieſe Wahr— 
heit zugeſtanden werde, ſie muß hier hervorgehoben 
werden, um die innere Anſchauung zu ergänzen. 


1 
Fi 
So 


Welche Geſetzeseinheit hat man nicht nach 
und nach in immer größerer Ausdehnung zwiſchen 
den Wärmeerſcheinungen gefunden, und wie voll— 
kommen befolgt nicht die Wärmeausſtrahlung die— 
ſelben Vernunftvorſchriften, welche wir für das 
Licht anerkannten! Unſere Kenntniſſe der Elektricität 
machten durch das 17. und den Anfang des 18. 
Jahrhunderts nur langſame Fortſchritte; aber ſeit 
Benjamin Franklin das Grundgeſetz derſelben ge— 
funden hatte, daß nämlich die beiden verſchiedenen 
Elektricitäten als überall verbreitete Thätigkeiten 
und entgegengeſetzte Größen zu betrachten 
ſind, ſehen wir immer eine Entdeckung aus der 
andern hervorwachſen. Die Vernunft konnte nun 
aus einer klar eingeſehenen großen Wahrheit viel— 
fältige andere ableiten, und in der Natur ſie nach— 
weiſen. Die Entdeckung der Volta'ſchen Säule, 
zwar durch die des Galvanismus veranlaßt, war 
doch in anderer Hinſicht ein Reſultat jener Theo— 
rie; und wie viele Wirkungen dieſer Säule wur— 
den nicht in der Folge durch das von der Erfah— 
rung geleitete Nachdenken entdeckt! Kaum hatte die 
Erfahrung gezeigt, daß jene Säule Waſſer in ſeine 
Beſtandtheile zerlegt, ſo folgten ſich die ſchönſten 


246 

Entdeckungen eleftrifch- chemischer Wirkungen eine 
Reihe von Jahren hindurch, und ſetzen ſich noch fort. 
Die magnetiſchen Forſchungen ſchritten in einer 
ähnlichen Weiſe im 17. und 18. Jahrhundert vor— 
wärts, und knüpften ſich nachher an die Entdeckung 
des Elektromagnetismus an. Jeder weiß, daß 
die denkende Betrachtung der Natur dieſe Ent— 
deckung lange gefordert hatte, daß dieſelbe aber, als 
ſie zur Wirklichkeit kam, weit inhaltsreicher befunden 
ward, als dieß die frühern Zeiten erwarten konnten. 
Das neue Geſetz des Kreislaufes, es möge dieſer 
in den elektriſchen Strom, oder in den Magnet 
geſetzt, oder durch weitere Entdeckungen auf ein 
einfacheres Geſetz zurückgeführt werden, wurde 
ein Wegweiſer zu neuen Schlüſſen, die ſich in der 
Erfahrung bewährten. 

Im Laufe derſelben Jahrhunderte ſchritt die 
Chemie ebenfalls denkend und erfahrend, erfahrend 
und denkend fort. Anfangs wurden die gefunde— 
nen Naturgeſetze zwar vielfältig durch Irrthümer 
umnebelt, was ſelbſt in einem mehr fortgeſchrittenen 
Zuſtande nicht vermeidlich iſt; aber die entdeckten 
Geſetze wurden mehr und mehr von dieſem Nebel 
befreit, und traten in ihrer Vernunftnothwendigkeit 


247 


hervor. Zu unſerer Zeit ſehen wir ſchon die 
Anfänge mathematiſcher Geſetze der Stoffverbin— 
dungen und des Zuſammenhangs der Formen mit 
den Beſtandtheilen hervordämmern; ich ſage her— 
vordämmern; nicht als ob die gemachten Entdeckun— 
gen mehr wie viele andere menſchlichen Kenntniſſe 
dem Zweifel unterliegen, ſondern weil ſie offenbar 
nur die Morgendämmerung von dem ſind, was in 
Zukunft zu erwarten iſt. 

Von der größten Wichtigkeit aber iſt es, hier 
noch hervorzuheben, daß die Entdeckungen dieſes 
Jahrhunderts die Einheit aller hier beſprochenen 
Wirkungen dargethan haben. Zwar läßt ſich dieſe 
Einheit nicht ſo vollkommen darſtellen wie die Ein— 
heit in allen Bewegungsgeſetzen; aber ſie iſt doch 
durch die Entdeckungen unſeres Jahrhunderts ſo 
ſehr beglaubigt und beleuchtet, daß ſie ſich nicht 
mehr bezweifeln läßt. Zudem ſehen wir ſchon 
vielfältige Andeutungen einer Zukunft, in welcher 
ſich die chemiſchen und mechaniſchen Naturgeſetze 
zu einem inniger zuſammenhängenden Wiſſen ver— 
einigen werden. 

Kurz, die chemiſchen Naturgeſetze ſind eben— 
ſowohl Vernunftgeſetze als die mechaniſchen; und 


248 
beide ſtehen in einem ſolchen innigen Zuſammen— 
hange, daß ſie als eine Vernunfteinheit angeſehen 
werden müſſen. Es frägt ſich nun, ob ſie auch 
über das ganze Weltall gelten? Die Vernunft 
fordert es; aber dieß iſt uns hier nicht genug; 
wir wollen die Sache für die geiſtige Anſchauung 
darſtellen. 

Wir fangen damit an, uns zu überzeugen, 
daß die allgemeinen Eigenſchaften der Materie 
überall dieſelben ſind. Ausdehnung und Figur 
ſehen wir an den Himmelskörpern; der Zuſammen— 
hang und die Theilbarkeit laſſen ſich zwar nicht 
unmittelbar an den fremden Weltkörpern nachwei— 
ſen, aber es wird ſich im Folgenden zeigen, daß 
ihre Annahme durch andere erwieſene Eigenſchaf— 
ten nothwendig gemacht wird. Von der größten 
Wichtigkeit wird uns die Schwere als eine der 
Grundeigenſchaften der Materie. Sie iſt als eine 
Erſcheinung der allgemeinen Anziehung anerkannt, 
aber es wird zweckdienlich ſeyn, ſie als ſolche hier 
näher zu beleuchten. Die mechaniſche Phyſik beweist, 
daß alle Planeten, wenn ſie in gleiche Entfernung 
von der Sonne gebracht werden könnten, ohne Rück— 
ſicht auf die Ungleichheit ihrer Maſſen mit gleicher 


249 


Geſchwindigkeit gegen die Sonne fallen würden, und 
daß die Monde in Bezug auf ihren Hauptplaneten 
demſelben Geſetze unterworfen ſind. Es iſt dieſes 
ebenſo gewiß als die Keplerſchen Geſetze und die 
Grundlehren der Mechanik; wir ſehen demnach 
daſſelbe Geſetz der gleichen Fallgeſchwindigkeit der 
Körper, welches wir in Bezug auf die Erde er— 
kannt haben, nur mit andern Größen, ebenfalls 
für den Fall gegen die Sonne, und für den ge— 
gen jeden mit Monden verſehenen Planeten, gel— 
ten; aber wir bleiben dabei noch nicht ſtehen, denn 
eine weitergeführte Unterſuchung zeigt, daß daſſelbe 
Geſetz für alle Weltkörper gilt. 

Dasjenige, was man Undurchdringlichkeit ge— 
nannt hat, und was eigentlich ein Reſultat der 
Ausdehnungskraft iſt, folgt aus der ſchon bewie— 
ſenen Anziehung, die auf und in allen Weltkör— 
pern ſtattfindet; denn ohne einen Widerſtand würde 
die Anziehung alle Theile in einen Punkt zuſam— 
mendrängen. Man kann daſſelbe auch ſo aus— 
drücken: jeder Theil eines Weltkörpers muß, der 
Schwere der andern Theile zufolge, den Druck ſo— 
wohl aller überliegenden Theile tragen, als auch 
den Seitendruck aller benachbarten, was nur 


250 


vermöge der ſogenannten Undurchdringlichkeit geſche— 
hen kann. Wo aber Anziehungs- und Ausdehnungs— 
kraft vorhanden ſind, da iſt Zuſammenhang, und 
wo dieſer nicht unüberwindlich iſt, was ſich nicht 
denken läßt, da iſt Trennbarkeit der Theile, mit— 
hin Theilbarkeit. 

Uebrigens zeigen auch die Planeten, durch ihre 
Fähigkeit das Licht zurückzuwerfen, die Gleichheit 
ihrer Materie mit der der Erde; denn ohne eine 
ſolche könnten ſie nicht auf die Aetherwellen, die 
das Licht hervorbringen, die zu der Zurückwerfung 
nöthige Wirkung haben. Aber auch die ſelbſtleuch— 
tenden Weltkörper könnten ohne dieſe Eigenſchaft 
in dem Aether keine Wellen erregen. Wollte man 
auch eine andere Theorie des Lichts annehmen, 
jo würde doch irgend eine mechaniſche Kraft nöthig 
ſeyn, das Licht auszuſenden, denn auch die ſoge— 
nannte Newton'ſche Theorie wird dieſer Kraft, die 
Lichttheilchen mit unermeßlicher Geſchwindigkeit her— 
auszuſchleudern, bedürfen. 

Die Beweglichkeit, welche unter die allgemeinen 
Eigenſchaften der Körper gezählt wird, wird uns 
durch das ganze Weltſyſtem, worin Alles Bewe— 
gung iſt, dargeſtellt. Die Inertie, welche nichts 


u 251 


weiter iſt, als die Willenloſigkeit des Unbeſeelten, 
iſt für das ganze Weltall erwieſen, indem ſie in 
unſern zahlloſen, durch ihr Zutreffen beglaubigten 
Vorherſagungen der Bewegungen der Himmels— 
körper vorausgeſetzt wird. 

Wir können nun zu Eigenſchaften und Wir— 
kungen übergehen, deren Allgemeinheit man nicht 
ſo ſehr hervorzuheben pflegt, obgleich man ſie zum 
Theil in wichtigen Vorausſetzungen anerkennt. 

Daß die Geſetze der Wärme auch nicht auf 
unſern Erdball beſchränkt ſind, iſt eine alte und 
richtige Vorausſetzung, welche durch die Einſichten 
unſerer Zeit beſtätigt wird. Die uns von der 
Sonne zukommenden Wärmeſtrahlen wirken durch— 
aus nach denſelben Geſetzen, wie die Wärmeſtrah— 
len unſerer Erde. Es iſt nunmehr auch anerkannt, 
daß Wärme und Licht nur durch die verſchiedene 
Schnelligkeit der Aetherſchwingungen verſchieden 
ſind, und daß die Lichtſtrahlen in Wärmeſtrahlen 
übergehen können. Da nun weiter die Strahlung 
als die Grundthätigkeit der Wärme betrachtet werden 
muß, ſo wird man annehmen müſſen, daß die Ge— 
ſetze der Wärme für's ganze Weltall gelten. Bei 
uns beruht Feſtigkeit, Tropfbarkeit, Luftzuſtand auf 


Wärmeverhältniſſen; ift nun die Materie überall 
dieſelbe, ſo werden dieſe Zuſtände auch überall 
unter gleichen Bedingungen ſtattfinden. 

Wir ſehen hier eine völlige Beſtätigung der 
ſchon lange allgemein gemachten Vorausſetzung, 
daß die Planeten nicht bloß in Bezug auf das 
Licht, ſondern auch in Hinſicht auf die Wärme, 
dieſelbe Vertheilung nach Tagen und Jahreszeiten 
auf ihrer Oberfläche haben, wie ſie auf der Erde 
jtattfindet. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß be— 
ſtimmte Urſachen von dieſer Vertheilung Ausnah— 
men hervorbringen können, wie z. B. der Ring 
des Saturns. 

Bedenken wir ferner, daß unſere Verſuche ge— 
zeigt haben, wie die Körper durch Reibung, durch 
Berührung ungleichartiger Theile, durch Wärme— 
verſchiedenheiten elektriſch und magnetiſch werden 
können, ſo dürfen wir kaum zweifeln, daß dieſel— 
ben Wirkungen nach denſelben Geſetzen auch auf 
andere Planeten erfolgen werden, und daß daſſelbe 
auch von der Hervorbringung der Wärme, des 
Lichts und der magnetiſchen Kraft durch Elektrici— 
tät, und wiederum der Elektricität durch Magnet— 
einflüſſe u. ſ. w. gelten müſſe. 


253 


Dieſes Alles muß ſich aber auch auf die chemi- 
ſchen Wirkungen im engern Sinne des Worts: 
auf die Verbindung und Zerlegung der Stoffe an— 
wenden laſſen. Wir bringen ja durch Elektricität 
die verſchiedenſten innern Veränderungen hervor; 
wie wäre es wohl möglich, daß ein kräftiger elek— 
triſcher Strom, der hier einen Körper in Staub 
und Dampf verwandelt, es nicht auch auf andern 
Weltkörpern thun ſollte? Sollten nicht Verbindun— 
gen entgegengeſetzter Stoffe auch anderswo durch 
den elektriſchen Strom aufgehoben werden? Und 
ſollten ſich nicht, dort wie hier, die von einander 
getrennten chemiſchen Grundtheile wie die Quan— 
titäten der angewandten elektriſchen Kräfte verhalten? 

Ein geiſtreicher Chemiker und vortrefflicher Ex— 
perimentator wurde vor einigen Jahren durch wich— 
tige Fragen ſeiner Wiſſenſchaft auf eine Vermuthung 
gebracht, die mit der Allgemeinheit eines der gro— 
ßen Naturgeſetze in Widerſpruch ſteht, nämlich daß 
die Maſſen verſchiedener Stoffe, welche auf unſerer 
Erde daſſelbe Gewicht haben, dieſes nicht in Bezug 
auf andere Weltkörper hätten; welches mit andern 
Worten ſagen würde, daß die Anziehung keine All— 
gemeinheit haben ſollte. Als wahrer Experimentator 


ſtellte er dieſen Gedanken auf die Probe und wog 
ſolche Körper, die ſeinen Zweifel geweckt hatten, 
zu verſchiedenen, ſo gewählten Tages- und Nacht— 
ſtunden, daß wenn die Sonne dieſe Stoffe nicht 
ebenſo wie die Erde anzöge, eine Ungleichheit 
des Gewichts ſtattfinden müßte; er fand aber bei 
den ſorgfältigſten Wägungen keinen Unterſchied. 
So hat es ſich alſo gezeigt, daß ein Verhältniß, 
welches mit der Lehre von der innern Natur der 
Körper in dem engſten Zuſammenhange ſteht, ſeine 
Allgemeinheit gegen die in der Chemie erhobenen 
Zweifel unerſchütterlich behauptet hat. 

Unzählige Boten aus dem Weltraum haben 
uns auf eine merkwürdige Weiſe von der gleichen 
Natur der Materie, in und außer der Erde, Kunde 
gebracht, und ſogar eine Gleichheit angedeutet, die 
mehr ins einzelne geht, als wir dieß auf anderem 
Wege hätten erfahren können; ich ſpreche von den 
Meteorſteinen. Mag ihre Maſſe auch beim Ein— 
tritt in unſere Atmoſphäre neue Verbindungen ein— 
gehen, ſo iſt doch ihre Uebereinſtimmung mit den 
Körpern unſerer Erde, ſowohl in Beziehung auf die 
Grundſtoffe als auf die Verbindungsarten und die 
daraus entſpringenden Kryſtallformen, ſehr ſprechend. 


255 


Alſo überall dieſelbe Materie, dieſelben Kräfte, 
dieſelben Geſetze, und dieſe Geſetze ſind Vernunft— 
geſetze, können folglich nur von Vernunftweſen 
erkannt werden. 

Wir haben noch eine höchſt wichtige Seite un— 
ſeres Gegenſtandes zu betrachten: die gleiche Ent— 
wickelungsart aller Planeten, und was daraus für 
unſern Zweck abgeleitet werden kann. Wir wiſſen, 
daß die Erde früher flüſſig war, ehe ſie feſt wurde. 
Unter den Beweiſen dieſer Wahrheit haben wir 
einen, der ſich auch auf andere Weltkörper anwen— 
den läßt, nämlich: die Abweichung unſeres Erd— 
balls von der Kugelgeſtalt, welche im Vorhergehen— 
den auch in anderer Rückſicht unſere Aufmerkſamkeit 
auf ſich gezogen hat. Es iſt ja eine anerkannte 
Wahrheit, daß die Kräfte, welche der Erde die 
wohlbekannte Abweichung von der Kugelgeſtalt ge— 
geben haben, dieſes nur auszurichten vermochten, 
während der Weltkörper in ſeinem flüſſigen Zu— 
ſtande ſich befand; da nun dieſe Abweichung von 
der Kugelgeſtalt auch bei andern Planeten ſtatt— 
findet, inſofern man ihre Figur und Achſendrehung 
hat beſtimmen können, und da das Verhältniß der 
verſchiedenen Durchmeſſer in jedem dieſer Welt— 


256 


körper ein ſolches iſt, wie es die Anwendung der 
uns bekannten Naturgeſetze fordert, ſo ergibt ſich, 
daß auch die andern Planeten flüſſig geweſen ſind. 

Sind wir nun von der Ueberzeugung durch— 
drungen, daß Alles in dem ganzen körperlichen 
Daſeyn aus derſelben Materie, durch dieſelben 
Kräfte und nach denſelben Geſetzen hervorgebracht 
wird, ſo können wir nicht anders als einräumen, 
daß die Planeten ſich nach denſelben Geſetzen wie 
unſere Erde ausgebildet haben. Von dieſer aber 
wiſſen wir, daß ſie ſich durch unermeßliche Zeit— 
räume in einer Reihe von Umgeſtaltungen ent— 
wickelt hat, und mit ihr zugleich die Gewächſe und 
Thiere. Dieſe Ausgeſtaltung begann mit den nie— 
dern Gebilden, und ſchritt fort zu immer höhern, 
bis endlich in dem neueſten dieſer Zeiträume das 
Geſchöpf hervorgebracht wurde, in welchem das 
ſelbſtbewußte Erkennen ſich offenbarte. Wir müſſen 
alſo auch eine ähnliche Entwickelung der andern Pla— 
neten annehmen. Auf vielen derſelben mag ſie noch 
nicht zu einer ſo hohen Stufe gelangt ſeyn, wie 
auf unſerm Erdball, auf andern mögen ſich weit 
höhere Weſen entwickelt haben; allenthalben aber 
ſind die vernünftigen Weſen in demſelben Sinne 


257 
Naturerzeugniſſe, wie wir es find, d. i., ihr ganzes 
Erkennen iſt an die Organe des Körpers gebun— 
den; die Art ihrer Erkenntniß kann demnach nicht 
von der unfrigen grundverſchieden ſeyn, ſondern 
muß denſelben Geſetzen gehorchen. Ich ſpreche 
hier nur eine, in Bezug auf den Menſchen un— 
läugbare Thatſache aus, ohne mich in die Tiefen 
der Unterſuchungen über die Art, wie das Geiſtige 
mit dem Körperlichen zuſammenhängt, einzulaſſen. 
Nur um jeden Schein des Materialismus abzu— 
wenden, weiſe ich auf den verſöhnenden Gegenſatz 
hin, daß dieſelbe Natur, deren Produkt der Menſch 
unläugbar iſt, als ein Produkt des ewigſchaffenden 
Geiſtes anerkannt werden muß, und daß demnach 
der göttliche Urſprung unſeres Geiſtes auf keine 
Weiſe durch die Einräumung der Rechte der Natur 
verneint wird. Mit andern Worten: der Begriff 
vom Weltall iſt unvollſtändig, wenn dieſes nicht 
als ein beſtändig fortgeſetztes Werk des ewig ſchaf— 
fenden Geiſtes aufgefaßt wird. Das Schaffende 
darin iſt das Geiſtige; das Körperliche iſt das 
Produkt des Schaffenden, und würde aufhören, 
wenn das hervorbringende Wirken aufhören könnte. 
Als Naturerzeugniß in dieſem Sinne muß das 
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 17 


258 


Geiſtige im Menſchen die Naturgeſetze enthalten, 
doch nur ſo, daß dieſe durch die Einwirkung der 
Natur ins Bewußtſeyn gerufen werden, während 
die umgebende Natur ohne Zuthun von Seiten des 
Menſchen übereinſtimmend mit ſeinem Erkenntniß— 
vermögen wirken muß, obgleich dieſes Erkenntniß— 
vermögen größtentheils erſt nach Jahrtauſenden zur 
Einſicht jener Harmonie zu gelangen vermag. Man 
ſieht leicht, daß die Gründe, welche uns zu dieſer 
Ueberzeugung beſtimmen, auch für das ganze Weltall 
gelten. — Durch das ganze Weltall ſind Weſen 
verbreitet, mit Erkenntnißvermögen begabt, um die 
Funken des göttlichen Lichts zu faſſen; und Gott 
offenbart ſich dieſen Weſen durch die ſie umgebende 
Welt, erweckt die in ihnen ſchlummernde Vernunft 
durch die Vernunft, die in alle dem herrſcht, was 
Eindruck auf ſie macht; läßt ſie aber immer deſto 
tiefere Blicke in das körperliche Daſeyn thun, je 
mehr ihr eigener Geiſt geweckt wird, ſo daß ſie 
ſich in eine unaufhörliche, lebendige Entwickelung 
verſetzt finden, welche, nachdem ſie einen gewiſſen 
Punkt erreicht hat, ſie von der Einbildung ſtets 
mehr entfernt, daß die handgreifliche Maſſe die 
Grundlage des Daſeyns ſey, und ſie dahin führt, 


259 
ſich ſelbſt mit Geiſt und Körper als Glieder eines 
unendlichen Vernunftorganismus zu erkennen und 
anzuſchauen. So begegnen denn die Wahrheiten 
der Naturwiſſenſchaft fortwährend mehr und mehr 
denen der Religion, ſo daß beide zuletzt auf das 
Innigſte ſich an einander ſchließen müſſen.! 


Die Grundähnlichkeit der Schönheitsgeſetze im ganzen 
Weltall. 


Wenn ſowohl die Weſenheit der Daſeynskräfte 
als die des Erkenntnißvermögens durch das ganze 
Weltall erwieſen iſt, ſo folgt daraus, daß eine 
gleiche Weſenseinheit auch für den Schönheitsſinn 
und für das Gewiſſen gelte; doch dieſes dürfte 
ohne eine nähere Entwicklung keine ſo willige 


(Man wird es nicht unbemerkt laſſen, daß ich hier 
Wahrheiten wiederhole, welche ich auch in andern Theilen 
dieſer Schrift angeführt habe; da ſie aber jedesmal in einem 
andern Zuſammenhang mit dem Uebrigen aufgeſtellt wurden, 
und nicht ohne Nachtheil für die Geſammtheit, der ſie an— 
gehören, ausgelaſſen werden konnten, ſo hoffe ich, man werde 
dieſe und einige andere Wiederholungen zuläſſig finden. 


260 
Annahme finden. Wir wollen mit dem Schönheits— 
ſinn anfangen. 

Es iſt durch das Vorhergehende bereits gezeigt, 
daß auf allen andern Weltkörpern dieſelben Grund— 
kräfte der Natur herrſchen, und daß dieſelben Grund— 
geſetze dort gelten wie auf unſerm Weltkörper; daß 
die lebenden Weſen anderer Weltkörper durch die— 
ſelben Grundkräfte der Natur und nach denſelben 
Grundgeſetzen wie die lebenden Weſen unſeres 
Weltkörpers hervorgebracht worden ſind; daß ſie 
ein Denkvermögen von der Natur des unfrigen, 
wenn auch in Stärke und Klarheit noch ſo ver— 
ſchieden, daß ſie Sinnenfähigkeiten haben müſſen, 
vermittelſt derer ſie die körperlichen Einwirkungen 
auffaſſen, und daß zu dieſer Fähigkeit nicht bloß 
äußere Sinnenwerkzeuge gehören, ſondern auch eine 
innere Fähigkeit, die durch die Sinne empfangenen 
Eindrücke aufzunehmen und zu bewahren, kurz in— 
nerer Sinn. Zu dieſem gehört unter andern das 
Vermögen die Eindrücke, welche durch die Schwin— 
gungen äußerer Körper in dem eigenen Körper des 
ſelbſtbewußten Weſens hervorgebracht werden, auf— 
zufaſſen und ebenfalls das Vermögen, durch Aether— 
ſchwingungen Kenntniß von der Außenwelt zu 


* 


261 


empfangen. Der erſte dieſer Sätze hat zwar die 
andern zur nothwendigen Folge, doch ſind ſie im 
Vorhergehenden beſonders beleuchtet worden. 
Wenn wir das Schönheitsgefühl ſo betrachten, 
wie es ſich den vernünftigen Bewohnern unſeres 
Weltkörpers offenbart, ſo finden wir, daß ſein Weſen 
darin beſtehe, daß unſer innerer Sinn nach den 
Vernunftgeſetzen des übrigen Daſeyns ſo gebildet 
iſt, daß er ſich durch dasjenige befriedigt fühlt, was 
das Gepräge der Vernunft trägt, ohne daß bei 
dem Genuß irgend ein Bewußtſeyn dieſer Vernunft 
erforderlich wäre. Man findet dieſe Wahrheit in 
dem vorhergehenden Geſpräch: „der Springbrunnen“ 
dargelegt; diejenigen aber, welche davon eine 
umfaſſendere Entwicklung wünſchen, verweiſe ich 
auf meine Schrift: „Zwei Kapitel aus der Natur— 
lehre des Schönen.“ ! Daſſelbe Geſetz muß für die 
denkenden, ſinnlichen Weſen eines jeden der andern 
Weltkörper gelten; dieſe Wahrheit bedarf keines 
eigentlichen Beweiſes, wohl aber einer nähern 


(Von dieſer kleinen Schrift iſt auch eine deutſche Ueber— 
ſetzung herausgekommen, auf deren Titelblatt es aber ver— 
geſſen iſt zu ſagen, daß ſie nur zwei Kapitel aus der 
Naturlehre des Schönen enthält. 


19 


Beleuchtung um Eingang zu finden. Es ift im 
vorhergehenden Abſchnitt gezeigt worden, daß die 
Bewohner anderer Weltkörper die Geſetze der Bewe— 
gung im Weſentlichen ſo wie wir auffaſſen müſſen, 
unter andern, wie bereits angedeutet wurde, die 
Figur der Mondbahnen, deren Beſtimmung mathe— 
matiſche Wahrheiten vorausſetzt; auch ſie müſſen in 
dem Zirkel, in der Ellipſe, in der Parabole u. ſ. w. 
dieſelben Vernunftgeſetze erkennen, welche wir darin 
ſehen, und müſſen ſich — da auch ſie ſinnliche, in 
Zeit und Raum hervorgebrachte Weſen ſind, und 
auch ſie Eindrücke der Dinge in Zeit und Raum 
empfangen — die durch mathematiſche Geſetze des 
Denkens hervorgebrachten Figuren im Weſentlichen 
auf dieſelbe Weiſe wie wir vorſtellen. Alle geſetz— 
mäßigen Figuren aber ſind als mathematiſche zu 
betrachten, ſo daß das Beiwort mathematiſch über— 

flüſſig wäre und nur gebraucht würde, um die Auf— | 
merkſamkeit auf die Figuren hinzuleiten, deren ma— 
thematifche Behandlung am allgemeinſten bekannt iſt. 
Der Formenſinn muß alſo eine wirkliche Weſens— 
ähnlichkeit auf allen Weltkoͤrpern haben; auf allen 
muß er in Uebereinſtimmung mit der Vernunft 
gebildet worden ſeyn; er kann daher nur durch 


263 
das Vernunftmaßige Befriedigung finden und muß 
Anſtoß an dem Vernunftwidrigen nehmen. Man 
denke ſich einen richtig gezeichneten Zirkel neben 
einer Figur, die nur ein ſchlechter Verſuch der— 
ſelben Zeichnung iſt, und man wird leicht begreifen, 
daß es keinen nach Vernunftgeſetzen gebildeten Sinn 
geben kann, welcher eine größere oder auch nur 
gleiche Befriedigung durch den Eindruck der letzte— 
ren, wie durch den der erſteren empfangen könnte; 
daſſelbe läßt ſich von der Zeichnung jeder andern 
Figur ſagen; überhaupt weist dieſes eine Beiſpiel 
auf zahllofe andere hin. Für uns Erdebewohner iſt 
die Symmetrie eine der umfaſſendſten Schönheits— 
formen; aber ſie iſt in einer der Hauptformen des 
Denkens, der Einheit von Gegenſätzen, tief be— 
gründet; man kann ſich daher nicht Weſen anderer 
Weltkörper denken, welche die Symmetrie nicht 
ſchön finden ſollten, weil ja bei Allen der Sinn 
vernunftgemäß ſeyn muß. Hier auf unſerm Erd— 
ball wird durch die menſchliche Geſtalt die höchſte 
Idee ausgedrückt, welche in irgend einem irdiſchen 
Geſchöpf ausgedrückt werden kann, nur in jeder 
beſondern Menſchengeſtalt mit einer beſondern Ent— 
wicklungsrichtung und zudem bei den Allermeiſten 


mit einer ſo großen Beimiſchung von Zufälligkeiten, 
daß der reine Ausdruck der Idee dadurch etwas 
verdunkelt wird; wo aber das vernunftbeſeelte Na— 
turwerk ſich dieſer Idee in hohem Grade nähert, 
oder wo der Künſtler dieſelbe ergriffen und darge— 
ſtellt hat, ſteht das höchſte Bild der Schönheit vor 
uns, welches die Körperwelt geben kann (ſiehe 
S. 55). Auf jedem der andern Weltkörper wird 
das Weſen, in welchem ſich die Vernunftidee auf 
das Vollkommenſte verwirklicht hat, einen dieſem 
verwandten Eindruck hervorbringen. Es wird der 
Erwähnung kaum bedürfen, daß die Geſtalt, unter 
welcher ſich die Idee auf andern Weltkörpern aus— 
drückt, überall nicht nur von der Kraft und Fülle 
der Idee, ſondern auch von den körperlichen Be— 
dingungen, unter denen das Geſchöpf gebildet ward, 
abhängig ſeyn müſſe. 

Hier auf der Erde empfinden alle Menſchen eine 
Freude am Lichte, welche in der Natur der Dinge 
tief begründet iſt; um dieß zu faſſen, müſſen wir 
bedenken, daß ſowohl Licht als Wärme durch 
Aetherſchwingungen hervorgebracht werden. Wie 
man auch ihre Verſchiedenheiten betrachten will, 
ſo iſt es doch gewiß, daß Naturwirkungen, welche 


Licht hervorbringen, zur Hervorbringung von Wärme 
herabgeſtimmt werden können, und daß die, welche 
Wärme erzeugen, zur Lichterzeugung heraufge— 
ſtimmt werden können. Man wird nicht irren, 
wenn man annimmt, es werde das Licht durch 
ſchnellere, die Wärme durch langſamere Aether— 
ſchwingungen hervorgebracht, wenn man auch da— 
mit ihren ganzen Unterſchied nicht erſchöpfend be— 
zeichnet haben ſollte; auf der Wärme aber beruht 
im Weſentlichen der Zuſtand der Körper. Ihre 
Ausdehnung oder Zuſammenziehung und die ge— 
genſeitige Beweglichkeit ihrer Theile werden durch 
den Wärmezuſtand bedingt, ja man kann auf ge— 
wiſſe Weiſe ſagen, daß ſie mit dem Wärmezuſtande 
eins ſind; ſelbſt die Formen, welche ſie annehmen, 
beruhen auf ihrer Wechſelwirkung mit der Wärme. 
Man denke ſich nun, daß alle Körper allmählig 
ihre Wärme verlören, ſo würden ſie ſich mehr und 
mehr zuſammenziehen und zu gleicher Zeit härter 
werden, eine innere Erſtarrung erleiden; kurz, dieß 
würde ein Zuſammenſchwinden und Hinſterben 
ſeyn. Zwar iſt bei der Grundeinrichtung des Da— 
ſeyns dafür geſorgt, daß dieß nicht geſchehen kann, 
aber es iſt dagegen nicht weniger gewiß, daß innere 


266 

Thätigkeit und Daſeynskraft durch Wärme bedingt 
ſind. Nun iſt aber für unſere ganze alltägliche Na— 
turauffaſſung das Licht die große Wärmequelle, und 
jener der größeren Menge unbekannte innere Zu— 
ſammenhang, welchen wir hier hervorgehoben ha⸗ 
ben, gibt ſich auch im Daſeyn deutlich kund. Der 
Menſch hat keiner wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen 
bedurft, den Zuſammenhang zwiſchen Licht und 
Leben zu fühlen, da das Licht ſelbſt in ſeinen 
eigentlichen Lichtwirkungen belebend iſt. Es ſcheint 
überall ſo zu wirken; auf die am meiſten ſinnen— 
erregende Weiſe aber wirkt es auf den Sehnerven, 
auf den es zugleich auch ſo einwirkt, daß es die 
umfaſſendſte Kenntniß der äußern Natur durch die 
Sehwerkzeuge unſerem Innern, unſerem Bewußt— 
ſeyn zuführt. Das Licht iſt der große Verkünder 
der Umwelt. Das iſt ſo wahr, daß nichts für 
alle Menſchen bekannter ſeyn kann, aber eben weil 
es ſo alltäglich iſt, iſt auch die Erkenntniß davon 
bei der Menge ſtumpf und träge, ſo daß man 
daran erinnern muß, um die Quelle der Licht— 
freude zu faſſen; die Lichtfreude ſelbſt wird Jeder, 
der deſſen was in ihm vorgeht, einigermaßen ſich 
bewußt wird, aus eigener Erfahrung kennen. 


267 

Dasjenige, was wir hier in Beziehung auf 
die Erdbewohner gezeigt haben, muß auch für die 
Bewohner anderer Planeten gelten. Das Licht 
wirkt durch die ganze Welt und auf alle Körper. 
Wir haben bewieſen, daß ſeine Wirkungen durch 
das ganze Weltall denſelben Geſetzen folgen. Man 
müßte einen ſehr geringen Naturſinn haben, um 
nicht gleich die Wahrheit zu fühlen, daß wo es 
Abwechſelung von Tag und Nacht, von Licht und 
Schatten gibt, da müſſen die lebenden Weſen einen 
Sinn für's Licht haben; ja wir müſſen dieſen Ge— 
danken weiter faſſen; denn da die Lichtwirkung durch 
das ganze Weltall geht, der eine Weltkörper dem 
andern Licht ſendet, müſſen die lebendigen Weſen 
auf dieſem Weltkörper einen Sinn für das Licht 
haben, und die ſelbſtbewußten Weſen eine Welt— 
offenbarung dadurch empfangen. Mögen ihre Sin— 
nenwerkzeuge, ja ihr ganzer Körperbau von dem 
unſrigen noch ſo verſchieden ſeyn, wenn wir ſie 
nur nach denſelben Vernunftgeſetzen erſchaffen an— 
nehmen, welche wir durch die ganze Natur gültig 
gefunden haben, ſo weit unſere Einſichten reichten, 
ſo muß ihre Lichtfreude und ihr Sinn für die 
Schönheit der ſichtbaren Dinge denſelben Geſetzen 


268 


folgen wie bei uns. Um dieſen Gedanken durch 
eine große Anſchauung noch mehr zu beleben, wol— 
len wir unſere Aufmerkſamkeit auf den Eindruck 
richten, den der Anblick des nächtlichen Himmels 
auf den Bewohner eines andern Planeten ebenſo— 
wohl machen muß wie auf uns. So gewiß ſein 
Sinn für das Licht unter gleichen Bedingungen 
gleiche Wirkungen empfängt, muß für ihn der 
Himmel ebenſowohl eine Wölbung ſeyn, wie es 
unſer Himmel für uns iſt, er muß ſich ihm als 
ein dunkler Grund zeigen, auf dem die Himmels— 
lichter ſtrahlen, gerade ſo wie er uns erſcheint. 
Die Oberfläche ſeines Planeten, mit allem was 
auf derſelben kleinlich oder unrein iſt, muß auch 
für ihn unter dem nächtlichen Himmel in Dunkel— 
heit verſinken, wogegen er zahlloſe klare Lichtein— 
drücke von den fernen Weltkörpern empfangen wird. 
Sein Gedanke muß in die Ferne hingezogen wer— 
den, weit von ſeinen täglichen Beſchäftigungen hin— 
weg, und muß ſich ſo erweitern, daß er ein großes 
Bild des Daſeyns auffaßt, welches um ſo reicher 
und lebensvoller ſeyn wird, je tiefer die Einſicht 
in die Natur iſt, bis zu welcher er ſich entwickelt hat. 

Daß auf jedem Weltkörper durch eine gegen— 


jeitige Einwirkung der Körper Schwingungen von 
derſelben Beſchaffenheit hervorgebracht werden wie 
die, vermöge welcher der Schall bei uns er— 
zeugt wird; daß die lebenden Körper nicht aus— 
geſchloſſen find von der Theilnahme an ſolchen 
Schwingungen, und daß ſie dieſe vernehmen müſ— 
ſen ſo gewiß ſie eine Empfindung von dem haben 
was in ihnen vorgeht, iſt ſchon in dem Vorher— 
gehenden bemerkt. Hier haben wir noch hinzuzu— 
fügen, daß die Geſetze, denen zufolge die Schwin— 
gungen regelmäßig werden, ſo ganz aus der Natur 
der Dinge fließen, daß ſie überall gelten müſſen; 
auf jedem andern Weltkörper müſſen, ſo wie bei uns, 
alle kleinen Schwingungen derſelben geſpannten 
Saite von gleich langer Dauer ſeyn, die Schwin— 
gungsgeſchwindigkeiten verſchiedener Saiten in dem— 
ſelben Verhältniſſe größer ſeyn, als die Quadrat— 
wurzeln der ſpannenden Gewichte größer ſind, oder 
die Längen und der Durchmeſſer kleiner; überall 
im ganzen Daſeyn muß eine in Schwingungen 
verſetzte und mit Staub beſtreute Platte dieſelbe 
Figur geben als bei uns; es wird ebenfalls überall 
gelten, daß Luftmaſſen, welche von Röhren begrenzt 
werden, ſich nicht gleich leicht zu jeder möglichen 


270 


Schwingungsgeſchwindigkeit bringen laſſen, ſon— 
dern daß jede ſolcher Luftmaſſen vermittelſt äußerer 
Einwirkungen nur dahin zu bringen iſt, ſolche 
Schwingungsreihen zu geben, die mit der Rück— 
wirkung von innen nicht in Widerſpruch ſtehen. 
Kurz, alle äußern Bedingungen der Tonwirkungen 
ſind auf andern Weltkörpern wie auf dem unſrigen 
vorhanden; ſie wirken auf lebendige Körper, die 
den allgemeinen Grundgeſetzen der Natur unter— 
worfen find; dieſelben müſſen, — vorausgeſetzt daß 
ſie ſich der bei ihnen hervorgebrachten geſetzmäßigen 
Veränderungen bewußt werden, — dieſe anders em— 
pfinden, als diejenigen, in denen die Gebundenheit 
an das Geſetz unbemerkbar iſt. Nun wohlan denn! 
ſind wir nicht genöthigt, die Grundgeſetze der Ton— 
wirkungen als gültig im ganzen Weltall anzunehmen? 

Ich behandle hier die Lehre von der Allgemein— 
heit der Geſetze des Schönen in großer Kürze, 
theils weil die Sache in dem hier gegebenen Zu— 
ſammenhange aufgefaßt, keine große Ausführlich— 
keit erfordert, theils auch weil die Natur des Ge— 
genſtandes keine ſehr durchgreifende Anwendung 
unſerer Unterſuchungsweiſe geſtattet. 


Das gleiche Grundweſen der moralifchen Natur in dem 
ganzen Weltall. 


Um dieſes zu zeigen will ich abermals mit der 
Betrachtung desjenigen anfangen, was bei uns 
Erdbewohnern vorgeht. Ich werde dabei an man— 
ches ſehr Bekannte erinnern müſſen, und ſelbſt 
der Zuſammenhang, welchen ich darin hervorzu— 
heben beabſichtige, kann nicht neu ſeyn; ich muß 
dieſen aber dennoch ſo, wie ich ihn auffaſſe, aus— 
ſprechen, ſonſt würde man das, was ich zu ſagen 
habe, mißverſtehen. 

Da es bereits in den frühern Abtheilungen 
dieſes Buchs dargelegt worden iſt, wie eine von 
der Vernunft durchdrungene Naturanſchauung uns 
zeigt, daß das ganze Daſeyn ein unendliches, un— 
aufhörlich thätiges Werk der ewigen, lebendigen 
Vernunft iſt, welche wir — wenn wir ſie in ihrer 
Selbſtbewußtheit, ihrer Perſönlichkeit betrachten — 
Gott nennen; ſo iſt es bloß nöthig, daß wir mit 
Klarheit daran erinnern, daß das Menſchenge— 
ſchlecht ein Glied dieſes Ganzen ſey, und daß jeder 
einzelne Menſch, als Theil des Geſchlechts, ein 


Glied in der großen Geſammtheit des Daſeyns 
ausmache, um uns auf den geiſtigen Standpunkt 
zu ſtellen von wo aus die Begriffe und Gefühle 
für Recht, Pflicht, Tugend, Frömmigkeit und für 
Alles, was damit in Verbindung ſteht, ſich in 
ihrem Zuſammenhange mit der Natur zeigen. Was 
wir dann in Bezug auf den Menſchen lernen, 
wird in den grundweſentlichſten Beziehungen auf 
alle Vernunftweſen im ganzen Weltall anzuwenden 
ſeyn; es wird nämlich daraus hervorgehen, daß 
gleichwie unſere Unterſuchungen über die Geſetze 
der bewußtloſen Natur, mit Gegenſtänden hier auf 
unſerer Erde begannen, und ſich davon nach und 
nach, bis zur Erkenntniß derjenigen Naturgeſetze, 
welche alle willenloſen Gegenſtände des ganzen 
Daſeyns umfaſſen, erhoben haben; ſo — in ähn— 
licher Weiſe wir nun auch zu Werke gehen mit der 
Unterſuchung über die Naturgeſetze der wollenden und 
denkenden Weſen, welche ſtärker noch als die der 
unbeſeelten Natur, als Vernunftgeſetze hervortreten. 

Nachdem wir die Wahrheiten ausgeſprochen ha— 
ben, daß die Naturwirkungen Gottheitswirkungen, 
die Naturgeſetze Gottheitsgedanken ſind, werden 
wir ohne Mißverſtändniß dieſelben Dinge bald 


273 


als natürliche, bald als göttliche bezeichnen können 
und von dieſen Ausdrücken jedesmal denjenigen wäh— 
len, der ſich am beſten für den nächſtliegenden Gegen— 
ſtand der Betrachtung eignet. Wir weichen hierin 
nicht von wohlbekannten Gewohnheiten ab, — wir 
nennen z. B. die geiſtigen Fähigkeiten eines Men— 
ſchen bald Naturanlagen, Naturgaben, bald ein 
von Gott anvertrautes Pfund — aber indem wir 
hier mit mehr Stärke, als es gewöhnlich geſchieht, 
uns an das geiſtige Weſen der körperlichen Natur 
erinnern, kommt die Rechtfertigung der entgegen— 
geſetzten Richtungen dieſer Betrachtung auf eine 
deſto lebendigere Weiſe zu unſerm Bewußtſeyn. 
In Uebereinſtimmung damit ſagen wir denn, 
daß der Menſch mit denjenigen Naturanlagen ge— 
boren wird, vermöge welcher er ein vernünftiges 
Weſen iſt. Man kann alſo ſagen, der Menſch 
iſt zur Vernunft, zur Gerechtigkeit, zur Gottes— 
erkenntniß geboren; aber dieſes Alles iſt nur in 
den Anlagen vorhanden, welche durch die Wechſel— 
wirkung mit dem ganzen übrigen Daſeyn ſich 
zum Bewußtſeyn ausbilden ſollen. Wie dieſes mit 
jedem einzelnen Menſchen der Fall iſt, ſo auch mit 
dem ganzen Menſchengeſchlecht. Es iſt hier nur der 


Oerſted, der Geiſt in der Natur 12 18 


274 


Zweck, dieſe Entwicklung in Rückſicht auf unſer Got— 
tesbewußtſeyn und unſer Pflichtbewußtſeyn anzudeu— 
ten, Entwickelungen, welche wohl zum Theil in zuſam⸗ 
menhängender Weiſe erfolgen, aber öfters auch ver— 
ſchiedene Richtungen nehmen, bis ſie in einem gewiſſen 
Grade der Vollendung in Eins zuſammenſtrömen. 

So lange das Menſchengeſchlecht auf dem erſten 
Standpunkte der Geiſtesentwicklung ſteht, wo ſich 
das unterſuchende Denken noch nicht geltend ge— 
macht hat, iſt es dem Geiſte natürlich in den 
äußern Dingen etwas ihm ſelbſt Verwandtes anzu— 
nehmen, ſo werden dann für das kindliche Menſchen— 
geſchlecht Himmel und Erde mit denkenden, füh— 
lenden, wollenden Weſen erfüllt. Schon dadurch 
fängt der im Menſchenweſen liegende Keim der 
Gottesbewußtheit zu treiben an, aber es iſt nur 
ein Keim, welcher unter Mitwirkung der anderen 
Weltkräfte ſich entwickeln muß; ohne dieſe würde 
er von dem Unkraut erſtickt werden, welches mit 
ihm aufwächst. 

Die Wechſelwirkung des Menſchen mit ſeines 
Gleichen gehört mit zu ſeiner Natur. Schon ſein Ge— 
ſchlechtstrieb und die ihm eingepflanzte Liebe zu ſeiner 
Nachkommenſchaft würde dieſes nothwendig machen; 


275 


aber feine übrigen Bedürfniſſe und Triebe erfordern 
daſſelbe nicht weniger; ja man dürfte ſelbſt ſagen, 
es gehöre zur Natur eines vernünftig ſinnlichen 
Weſens ein geſelliges Thier zu ſeyn. Während es 
Einwirkungen von den andern Weſen ſeiner Art 
empfängt und wieder auf ſie einwirkt, wird bei 
ihm ein Gefühl jener Weſensgleichheit erweckt, 
welche zwiſchen ihm und dieſen ſtattfindet. Aller— 
dings muß eine ganze Reihe von Entwicklungs— 
ſtufen durchlaufen werden, ehe jenes Gefühl ſeine 
ganze Bedeutung gewinnt; betrachten wir aber, 
auf welche Weiſe jene Entwicklung zu den Sitt— 
lichkeitsbegriffen führt. Lange Zeit erleidet das 
Wachsthum der Liebe unaufhörliche Unterbrechun— 
gen durch die gegenſeitige Furcht des einen vor 
den Begierden des andern und der daraus folgen— 
den gewaltſamen Eingriffe; inzwiſchen fügen ſich 
die Menſchen gegenſeitig bald Böſes, bald Gutes 
zu und dadurch werden einige Vorſtellungen von 
gutem und böſem Willen, von Recht und Unrecht 
erweckt. Mögen dieſe Vorſtellungen noch ſo dunkel 
ſeyn, ſo ſind ſie doch Ausgangspunkte einer un— 
überſehbaren Reihe von Fortſchritten aufeinander— 
folgender Geſchlechter. Nach dem wilden Daſeyn 


276 


langer Zeiträume, während welcher die geſellſchaft— 
lichen Gefühle im Kampfe mit den vielfältigen 
Forderungen der Selbſtſucht nur wenig Spielraum 
erhielten, gelangen ſie in einer oder der andern 
Gegend ſo weit, daß die Menſchen ſich zu gegen— 
ſeitiger Hülfe und Vertheidigung vereinigen; auf 
dieſem Standpunkte wird bei ihnen der Gedanke 
einer ihrem Vereine wichtigen Geſetzlichkeit und 
Ordnung hervorgerufen, die zum gemeinſchaftlichen 
Beſten gehandhabt werden müſſen. Beim Fort— 
ſchreiten jedes Vereins entwickelt ſich dieſes Be— 
wußtſeyn noch mehr; der Gedanke an Pflicht und 
Tugend tritt mehr und mehr hervor. Vergeſſen 
wir indeſſen weder hier noch in dem folgenden, 
daß alle dieſe äußerlich und innerlich entwickelten 
Urſachen Wirkungen derſelben ewigen lebendigen 
Vernunft ſind, durch welche Alles erſchaffen und 
erhalten wird. Wir müſſen uns alſo ſelbſt ſagen, 
daß die Entwicklung, welche nach einer einſeitigen, 
nur an dem Körperlichen haftenden Betrachtung in 
Widerſpruch mit unſerer geiſtigen Natur zu ſtehen 
ſcheint, in der Wirklichkeit doch nach dem allmäch— 
tigen, allgegenwärtigen göttlichen Willen ſtattfindet. 

Man würde ſich gleichwohl eine irrige Vorſtellung 


277 


von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts ma— 
chen, wenn man glauben wollte, es trüge Jeder 
gleichviel dazu bei. Es gibt einzelne Höherbegabte, 
bei denen dieſe Begriffe am früheſten zu einiger Klar— 
heit gelangten, und welche dieſe gegen die Menge 
ausſprechen. Solche Männer haben gewöhnlicher 
Weiſe auch in vielfältiger anderer Rückſicht einen 
großen Vorſprung vor den Uebrigen, wiſſen dieſen 
viele nützliche Wahrheiten mitzutheilen, z. B. die 
künftigen Stellungen der Himmelskörper und den 
Gang der Jahreszeiten; ſie werden daher, als mit 
den Geiſtern vertraut betrachtet, welche man ſich 
in den Naturgegenſtänden vorhanden denkt, das 
iſt: als Vertraute der Götter; ſie werden bewun— 
dert und man gehorcht ihnen. Dieſe Männer aber 
werden ſelbſt ein tiefes Gefühl davon haben, daß 
das, was ſie wiſſen und mittheilen, weit entfernt 
iſt ausſchließend ihr eigenes Werk zu ſeyn, denn 
die Gedanken bei ihnen ſind von außen her durch 
die Natur, welche ſie beobachtet, und worüber ſie 
nachgedacht haben, erweckt worden, und ſelbſt die 
innere Fähigkeit, mit welcher ſie das Empfangene 
bearbeitet haben, müſſen ſie als eine Naturgabe, 
eine Gabe der Götter empfinden. Sie fühlen ſich 


ſelbſt wie von den Göttern begeiftigt, und können 
ſich ohne Betrug als die Auserwählten der Götter 
äußern. In dieſem unſchuldigen Glauben iſt ohne 
Zweifel eine Wahrheit vorhanden, welche in ſpä— 
tern Zeitaltern oft überſehen wird; es iſt ja die 
göttliche Thätigkeit und Geſetzgebung in der Natur 
und in dem Menſchen, welche bei ihnen zu einem 
lebendigen, wenn auch nicht verſtändig deutlichen 
Bewußtſeyn gekommen iſt. Ich werde wohl ſchwer— 
lich zu ſagen nöthig haben, daß das Menſchen— 
geſchlecht auf dieſe Weiſe fortfährt, ſowohl ſeine 
moraliſchen Begriffe als auch ſeine Einſichten in 
der Natur, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von 
Jahrtauſend zu Jahrtauſend zu entwickeln, und 
daß es die vernünftigen Naturwerke, die Menſchen 
ſind, welche unter ſteter Wechſelwirkung mit der 
Natur und unter einander zufolge nothwendiger 
Daſeynsgeſetze bei ſich ſelbſt dieſe Begriffe und 
Einſichten entwickeln. | 
Bei dieſem geiſtigen Wachſen des Menſchenge— 
ſchlechts entwickelt ſich zugleich der Gottheitsbegriff; 
wie die übrige Entwickelung, geht auch dieſe anfangs 
ſehr langſam von ſtatten. Der Naturdienſt war 
lange das mächtig Ueberwiegende; aber allmälig, 


279 


in dem Maße als die Menſchen ihre eigenen mo— 
raliſchen Begriffe entwickelten, trugen ſie dieſelben 
auch auf ihre Götter über. Man hat, um zu be— 
weiſen, daß die heidniſchen Götter bloße Natur— 
götter waren, angeführt, daß man ihnen manche 
unmoraliſche Eigenſchaften beilegte; dieſes darf 
uns aber das wahre Verhältniß nicht verbergen. 
Die Menſchen legen ihren Göttern dieſelben mo— 
raliſchen Eigenſchaften bei, welche ſie bei ſich ſelbſt 
entwickelt haben, verſteht ſich, jedem Gotte mit 
einer Verſchiedenheit der Denkungsart, wie ſie 
ſeiner Naturmacht angemeſſen iſt; man darf bei 
ſolcher Erwägung nicht vergeſſen, daß die Mythen 
uranfänglich in einem Zeitalter gebildet wurden, 
in welchem die moraliſchen Begriffe noch ſehr roh 
waren, und keineswegs eine ungebundene Wolluſt, 
Raubgier, Grauſamkeit ausſchloſſen; wie die Men- 
ſchen, waren auch die Götter, welche jene nach den 
Geſetzen der Naturdichtung ſich erſchufen. Dieſe 
Götter tragen ihr urſprüngliches Gepräge in eine 
folgende, mehr gebildete Zeit über, in welcher 
dennoch wiederum Etwas hinzugedichtet wird; end— 
lich aber tritt ein Zeitalter ein, wo man ſolche 
Götter mit der erlangten Bildung: ſowohl mit dem 


280 


naturauffaſſenden als mit dem moralifchen Bewußt— 
ſeyn durchaus im Widerſtreit findet. Zuerſt wer— 
den die alten Götter von den Aufgeklärteren, ſpäter 
von der Mehrheit verworfen. Natürlicher Weiſe 
hat dieſer Gang der Dinge bei den verſchiedenen 
Völkern ſeine großen Verſchiedenheiten; aber dieſe 
werden doch in den Hauptzügen dieſelben ſeyn. 
Zwar können wir von der Zeit, welche Zoroaſter 
und Konfu-tſe vorausging, nicht mit derſelben 
Kenntniß reden, wie von der dem Sokrates vor— 
ausgegangenen; doch können wir einen verwandten 
Gang der Dinge dabei ſchwerlich bezweifeln. 

Die Naturwiſſenſchaft hat ihren mächtigen An— 
theil an der Umbildung der Gotteserkenntniß, indem 
ſie die einſt angebeteten Naturgegenſtände aus der 
Reihe freier Weſen hinausſetzt, und ſie unter die 
Geſetze der Natur ſtellt; denn es iſt z. B. mit dem 
Daſeyn des Sonnengottes vorbei, wenn ſein Wagen 
ohne ihn gelenkt wird; mit der Mondgöttin eben— 
falls, wenn ihr Himmelslicht entfernt von den 
Hainen und Gefilden, wo ſie ſich wohl zuweilen 
niederließ, ohne ihre Leitung einherwandelt; ja alle 
Götter werden von ihren hohen Bergſitzen verjagt, 
wenn dieſe recht bekannt werden. 


281 


Es gibt in der Entwickelung des Menſchen— 
geſchlechts von Zeit zu Zeit Wendepunkte, wo 
der Geiſt auf ſolche Weiſe einen neuen und höhern 
Standpunkt gewonnen hat; aber die unmittelbarſten 
Wirkungen dieſes Gewinns ſind nicht ohne wich— 
tige Verluſte für die nächſte Zeit. Während alte, 
eingewurzelte Irrthümer verbannt werden, verwirft 
man faſt immer im Siegesübermuthe große Wahr— 
heiten, welche daran geknüpft waren; und bei der 
geiſtig-unmündigen Menge, welche nicht aus Ein— 
ſicht, ſondern auf das Wort Anderer und ohne 
klaren Zuſammenhang das Neue aufnimmt, ent— 
ſteht eine Unſicherheit, alles Geiſtige betreffend, 
eine Aufgelöstheit der Weltanſchauung, und eine 
Geſetzloſigkeit im Leben, welche ein Volk oder ganze 
Völkergemeinſchaften in ein Zeitalter der Irrthümer 
und der Finſterniß ſtürzen, aus dem ſie ſich erſt 
nach Jahrhunderten wieder herauswinden. 

Dieſe Umwälzungen aber ſollen uns nicht zu 
ſehen hindern, wie Vernunft und Licht wiederum 
ſiegen; jedes Streben den Zuſammenhang der 
Dinge, die Geſetze des Daſeyns zu faſſen, trägt 
das Seine dazu bei, das Menſchengeſchlecht zur 
Gotteserkenntniß zu führen, ſelbſt wenn dieß nicht 


282 


beabſichtigt war, ja ſelbſt, wenn ein ſolches Stre— 
ben den entgegengeſetzten Zweck hatte. Alle Wege 
des Denkens führen zuletzt zu einer vollern Auf— 
faſſung der großen Einheit aller Gedanken; obgleich 
ſie oft in ihrem Anfang von dieſer abführen, 
müſſen ſie dennoch durch die Beſtrebungen der 
ſämmtlichen Denker nach dem rechten Mittelpunkt 
zurückgelenkt werden; denn das Denken vernichtet 
ſeine eigenen falſchen Richtungen. 

Wir wollen uns zu dieſem Mittelpunkte da— 
durch einen Weg bahnen, daß wir unterſuchen, 
worin die Einheit aller der Beſtrebungen liege, 
einen Grundſatz für die Lehren von Pflicht und 
Tugend zu finden. Wie bekannt hat man als ſolche 
Grundſätze aufgeſtellt: befördere deine Vollkom— 
menheit, befördere das allgemeine Beſte, handle 
nach Maximen, welche zu allgemeinen Geſetzen ſich 
erheben laſſen u. ſ. w. Wir brauchen dieſelben nicht 
alle zu nennen, was ohnehin ſchwierig auszuführen 
ſeyn möchte — es iſt uns genug zu ſagen, was 
Allen gemeinſchaftlich iſt, und man wird dann 
finden, daß, welchen immer man auch zum Ge— 
genſtand des Nachdenkens wählen mag — es ſey 
denn, daß es ein Grundſatz wäre, den jeder Ver— 


283 


nünftige gleich verwerfen müßte — er zuletzt dahin 
zielt, unſer Leben nach der Vernunft einzurichten. 
Keiner dieſer Grundſätze enthält das ganze Weſen 
der Tugend; aber doch haben ſie dazu beigetragen, 
diejenigen, welche ſie faßten und befolgten, auf 
die Wege der Vernunft zu leiten; denn eine ver— 
nünftige Lebensvorſchrift, auf die man recht feſt 
hält, nöthigt den Menſchen, wenn er nicht in zahl— 
loſe Widerſprüche fallen ſoll, ſich nach allen Ver— 
nunftvorſchriften, ſoweit er ihren Zuſammenhang 
mit demjenigen, von welchem er ausging, faßt, 
zu richten. Selbſt die Vorſchrift: „Befördere deine 
eigene Glückſeligkeit,“ welche, in einer rohen Auf— 
faſſung, beides abſcheulich und vernunftwidrig iſt, 
wird, wenn man nicht vergißt, die geiſtige Freude 
mit zur Glückſeligkeit zu rechnen, ein vernunftge— 
mäßes Leben fordern; nur muß man zugeben, daß 
dieſer Grundſatz falſchen Anwendungen ganz beſon— 
ders ausgeſetzt iſt. Wird der Begriff von Glück— 
ſeligkeit recht vollſtändig in feinem Zuſammenhang 
mit dem Glück der ganzen Nation aufgefaßt, ſo 
wird er zu einer geſunden Darſtellung unſerer mo— 
raliſchen Verhältniſſe, von einer ihrer Seiten be— 
trachtet, führen. Man müßte nämlich in Betracht 


ziehen, daß der Menſch auch dann, wenn er ſich 
von Leidenſchaften blenden läßt und ſeine vernünf— 
tige Natur vergißt, dieſe nicht, noch auch den Ein— 
fluß vernichten kann, den der Vernunftzuſammen— 
hang der Welt auf ihn haben muß; was er Böſes 
thut, ja was er Böſes denkt, bringt ihn in Streit, 
beides mit ſeiner eigenen Natur — ob er dieſes 
auch noch ſo ſehr für ſich ſelbſt zu verbergen ſtrebt 
— und mit dem ganzen Daſeyn. Alles was 
Sünde iſt im Sinne der Religion, iſt Unvernunft 
in dem der wahren Weltanſchauung; für den alſo, 
der wohl durchdrungen iſt von der Ueberzeugung 
einer unendlichen Vernünftigkeit des ganzen Da— 
ſeyns, wird die Glückſeligkeit mit Tugend und Fröm— 
migkeit eins ſeyn. Es verſteht ſich, daß es oft 
große Anſtrengung koſtet, die Thätigkeit dieſer 
Ueberzeugung gegen die ihr in den endlichen Ver— 
hältniſſen begegnenden ſtarken Einwirkungen zu 
ſichern, ſo daß die beſſere Ueberzeugung oft unter— 
liegen muß; aber dieſe Schwachheit des Menſchenge— 
ſchlechts kann uns nicht verhindern, in jener Ueber— 
zeugung eine mächtige Stütze des Guten zu ſehen. 

In Hinſicht auf die allermeiſten andern mo— 
raliſchen Lehrgebäude, fällt das zunächſt in die 


285 

Augen, daß ſie wollen, es ſolle das menſchliche 
Leben nach der Vernunft eingerichtet werden, und 
natürlicher Weiſe nicht nach der Vernunft irgend 
eines einzelnen, ſondern nach der ewigen Ver— 
nunft. Es iſt nicht bloß unſer Leben, welches 
darnach eingerichtet werden ſoll, auch unſer ganzes 
inneres Weſen muß ſich dieſer Vernunft hingeben, 
und gleichſam darin aufgehen; der Menſch muß 
fühlen, daß er in der Aneignung der ewigen Ver— 
nunft ſeine rechte Lebensquelle habe, ſonſt bleibt ſein 
ganzes Leben nur ein zerriſſenes, vernunftwidriges 
unglückliches Daſeyn. Alles, was uns zum Recht und 
zur Tugend auffordert, fordert uns, wohl verſtanden, 
auch zu einem Leben in Gott, zur Religion auf. 

Dieſe Denkart wird zugleich durch die Ueber— 
zeugung beſtärkt, welche aus der Naturwiſſenſchaft 
entſpringt: daß die ganze Körperwelt, welche man 
nur als ein dem vernünftigen Daſeyn Wider— 
ſtehendes zu betrachten pflegte, auf das Vollkom— 
menſte demſelben einverleibt iſt, ſo daß die Wir— 
kungen in der Natur nach einer von uns unab— 
hängigen Vernunft vorgehen, welche doch dieſelbe 
iſt, die wir, vermöge unſers freien Willens, ſtre— 
ben ſollen in der Welt zu verwirklichen. Wir 


286 


wiſſen alſo, daß unſer ganzes, ſowohl inneres als 
äußeres Leben, in einer um ſo vollkommenern Ue— 
bereinſtimmung mit dem ganzen Daſeyn iſt, je 
mehr es nach der göttlichen Vernunft geführt wird. 

Wie aber vereinigen wir dieſe Lehre von dem 
Vernunftgehorſam der Körperwelt mit der unbe— 
ſtreitbaren Wahrheit, daß wir oft durch unſere 
eigene körperliche Natur, und durch die Einwir— 
kungen der äußern Natur uns bewogen fühlen, 
vom Guten abzuweichen? Dieſe Wahrheit ſoll na— 
türlicher Weiſe nicht geleugnet werden; aber ſie 
iſt im Zuſammenhange mit einer andern eben ſo 
unbeſtreitbaren zu betrachten, mit der nämlich, daß 
unſer freies Denken uns ebenfalls oft zum Wider— 
ſtreit mit dem Guten verleitet. Wir ſehen alſo, daß 
es ſich hier um das Loos des Endlichen handele, 
dem wir wohl unausweichbar unterworfen ſind, doch 
in keinem beſondern Falle ganz unverſchuldet. Es 
geht damit wie in unſern, auf die Benützung der 
äußern Natur gerichteten Beſtrebungen, beſonders 
wenn dieſe etwas verwickelt ſind; es gelingt uns 
nicht leicht, alles in ſolchen Unternehmungen auf 
eine Weiſe einzurichten, daß nicht die Beſchaffen— 
heit oder das Verhalten einiger beſondern Theile 


287 


zur Außenwelt der Erreichung der höchſten Voll— 
kommenheit im Wege ſtände; aber es iſt nicht 
weniger häufig der Fall, daß es Fehlgriffe in 
unſern Gedanken und Entwürfen ſind, welche 
ſolche Unvollkommenheiten verurſachen. Wir ſehen 
alſo, daß es ſowohl in der intellectuellen wie in 
der moraliſchen Welt, daß aber nicht im Körper— 
lichen, als ſolchem, und nicht im Denken, als 
ſolchem, die Veranlaſſung unſerer Irrthümer zu 
finden ſey, ſondern daß der Anlaß dazu in der 
Natur des Endlichen liege. 

Iſt nun der Gegenſatz zwiſchen Gott und Welt 
Nichts? Ja, er iſt ebenſo gewiß etwas, als die 
Endlichkeit es iſt. Könnten wir uns einen Men— 
ſchen denken, welcher durchaus vollkommen in Gott 
lebte, ſo würde für ihn ſelbſt, abgeſehen von ſeiner 
Betrachtung des Lebens der andern freien Weſen, 
der Unterſchied zwiſchen Gott und Welt aufgehört 
haben; aber ein ſolches Ideal erreicht Niemand; nur 
ſo viel kann man ſagen, daß je kräftiger ein Menſch 
dieſem Ideal nachſtrebt, je öfter wird es ihm in hei— 
ligen Augenblicken gegeben ſeyn, bei ſich ſelbſt dieſen 
Gegenſatz zu vernichten, indem er ſich in ſeiner 
geiſtigen Anſchauung es vergegenwärtigt, daß das, 


288 


was man Welt nennt, eine Gottheitswirkung iſt. 
Es verſteht ſich daher auch, daß je weniger kräftig 
das Leben in Gott bei einem Menſchen iſt, um 
deſto ſtärker beſteht für ihn der Gegenſatz zwiſchen 
Gott und Welt; doch darf es nicht vergeſſen wer— 
den, daß ſelbſt für den, der einem Leben in Gott 
nachſtrebt, die Welt in einer gewiſſen Bedeutung 
im allergrößten Gegenſatze zu Gott ſteht, inſofern 
er alles dasjenige in der Endlichkeit, welches die 
freien Weſen von Gott entfernt, mit dem Namen 
Welt bezeichnet, ein Sprachgebrauch der ebenſo voll— 
kommen haltbar iſt, als er ein altes heiliges Ver⸗ 
jährungsrecht für ſich hat. 

Aber indem wir hier das Daſeyn als ein Reich 
der Vernunft dargeſtellt haben, begegnen wir einem 
großen Zweifel in der Frage: Wie iſt dieſes mit 
der Freiheit vereinbar, welche ja Mißbrauch, folg— 
lich auch Unvernunft geſtattet? Dieſe muß ja Ein— 
fluß auf den Gang der Welt haben! Ehe wir es 
unternehmen, uns dieſe Frage zu beantworten, 
haben wir uns daran zu erinnern, daß dieſelbe 
eine Hauptſchwierigkeit in allen Verſuchen einer 
Weltauffaſſung bildet, wovon die chriſtliche Kirche 
ſelbſt das ſtärkſte Zeugniß abgibt. Der Zweck der 


289 


gegenwärtigen Unterſuchung fordert nicht, daß wir 
alle die Fragen beantworten ſollen, welche in Be— 
treff der Freiheit aufgeworfen werden könnten, 
ſondern bloß die hier geſtellte, welche darüber Auf— 
klärung verlangt, wie ein umfaſſendes Vernunft— 
reich neben der Freiheit der Einzelweſen beſtehen 
könne; dieß wollen wir denn hier verſuchen. 
Inſofern der Menſch denkt iſt er frei. Seine 
Freiheit wächst mit ſeinem Denken. Ohne daſſelbe 
ſteht er unter den Geſetzen der bewußtloſen Natur. 
Durchaus freigemacht oder durchaus Naturſklave 
iſt der Menſch niemals, er ſchwebt zwiſchen beiden, 
nur mit höchſt ungleichen Annäherungen an den 
einen oder den andern dieſer Zuſtände. Die freie 
Gedankenthätigkeit iſt doch nur bedingungsweiſe 
den Naturgefetzen entzogen, welche ja mit den 
Daſeynsgeſetzen eins ſind. Es könnte zwar ſchei— 
nen, daß die Freiheit der Einzelweſen mit der 
Herrſchaft der allgemeinen Geſetze in Streit ſtehe, 
aber dieſer Schein verſchwindet bei näherer Be— 
trachtung der Sache. Zwar iſt es offenbar, daß der 
freie Wille oft Handlungen vollbringe, welche nicht 
nur in ſich ſelbſt verdammungswerth ſind, ſondern 
auch in den nächſten Wirkungen dem widerſprechen, 


Oerſted, der Geiſt in der Natur. 13 19 


290 


was ſonſt aus den allgemeinen Vernunftgeſetzen 
erfolgen ſollte. Es könnte alſo ſcheinen, daß Gott 
durch den Mißbrauch, den die endlichen Weſen 
von ihrem Willen machen, genöthigt würde, ſelbſt 
willkürliche Handlungen vorzunehmen; Handlun— 
gen, welche außer der ewigen Vernunftordnung 
lägen; aber hierbei iſt zu bedenken, daß gleichwie 
das Vernunftwidrige, welches ſich oft im Denken 
einſchleicht, ſich endlich ſelbſt vernichtet, auch wenn 
es durch viele Zeitalter einen Schein der Wahrheit 
behauptet hat, eben ſo auch das Vernunftwidrige 
in der übrigen freien Thätigkeit der Menſchen 
ſich ſelbſt vernichten werde. Das Denken muß 
ſeiner Natur zufolge nach ewigen Naturgeſetzen 
wirken, ſo daß deſſen unvernünftige Ausſchweifun— 
gen gegen ſein Grundweſen ſtreiten; hierin liegt 
ſchon ein Streben, die Kraft des Böſen im Wol— 
lenden ſelbſt zu ſchwächen. Außerdem wird dieſer 
durch die Vernünftigkeit des ganzen Daſeyns, mit 
welchem er in unauflöslicher Wechſelwirkung ſteht, 
aufgefordert, ſeine Gedanken nach deſſen Gang zu 
ordnen, ſo daß die Beſchlüſſe des freien Willens 
mit einer gewiſſen Allgemeinheit in die Vernunfthar— 
monie des Ganzen eingeflochten werden, ungeachtet 


291 
derſelbe nicht ſelbſtſtändig gut iſt; inſofern aber 
als die durch den böſen Willen hervorgebrachten 
Wirkungen gewiſſe Glieder der Vernunftordnung 
zerſtören, werden dieſe ſelbſt Gegenwirkungen her— 
vorrufen, welche das Böſe am Ende vernichten. 

Dieſes Alles folgt aus der Natur der Sache; 
aber es bedarf der Beleuchtung. Wir wollen mit 
einem Beiſpiel anfangen. 

Geſetzt, ein Menſch würde von einer tadelns— 
werthen Herrſchſucht getrieben. Dieſe Eigenſchaft 
iſt in ihrer eigentlichen Grundanlage ſelbſt nicht 
böſe, ſo wenig als irgend eine andere Naturanlage; 
ſie enthält gewöhnlich eine Fähigkeit zu ordnen 
und zu leiten, mithin im Dienſte der Vernunft zu 
wirken; aber ſie enthält daneben eine Neigung, 
ihren eigenen Willen geltend zu machen und Andere 
zum Gehorſam zu zwingen, und ſie artet häufig 
ſo weit aus, ſelbſt dann dieſes zu erſtreben, wenn 
es die Forderungen der Vernunft nicht verlangen. 
Die gute Herrſchbegierde kann zwar in dem Eigen— 
willen, dem Vorurtheil oder dem Eigennutze Anderer 
Widerſtand finden, wird aber von der Einſicht und 
dem guten Willen vieler Anderer in dem Streben 
unterſtützt, das Vernünftige zu fördern; die böſe 


findet zwar Vorſchub in dem knechtiſchen Sinne Vie— 
ler, ja ſelbſt Hülfe bei denen, welche Lohn erwarten 
können, wenn ſie ſich zum Werkzeug für den 
Willen des Herrſchſüchtigen machen; aber ihr be— 
gegnet nicht nur Widerſtand bei allen jenen ſchlech— 
ten Hinderniſſen, welche ſie dem Guten entgegen— 
ſetzt, ſondern auch in dem rechten Selbſtgefühle und 
dem Freiheitsſinne des Menſchen. Der kräftige 
Herrſchergeiſt kann, wenn er ſich nicht ſelbſt genug— 
ſam beherrſcht, zwar zugleich mit dem Guten, das 
er ausrichtet, auch manches Ungerechte durchſetzen; 
aber es iſt leicht zu erkennen, daß die Kräfte, welche 
ſeine gute Thätigkeit unterſtützen, vernunftgemaß 
ſind und folglich nichts enthalten, was ſich in der 
Zeit nothwendig ſelbſt vernichten müßte; wogegen 
die Kräfte, welche ſeine ſchlechte Thätigkeit unter— 
ſtützen, vernunftwidrig ſind, folglich Widerſprüche, 
ſowohl untereinander gegenſeitig als auch gegen 
das ganze uͤbrige Daſeyn enthalten. Der tüchtige 
Herrſchergeiſt iſt ein Kraftpunkt, von wo aus viel— 
fältige Wirkungen ausgehen, welche um ſo voll— 
kommener vom kräftigen Geiſte beherrſcht werden, je 
näher ſie ihm in Zeit und Raum ſtehen, ihm aber 
um ſo leichter entweichen oder um ſo leichter 


293 


fremden Einflüſſen unterliegen, jemehr fte ſich vom 
Ausgangspunkte entfernen. Es verſteht ſich, daß 
dieſe Beſtimmungen nur die allgemeinſten Haupt— 
züge ausmachen, und daß viele ſcheinbare Aus— 
nahmen vorkommen können, für welche es oft 
ſchwierig genug ſeyn möchte, Rechenſchaft abzu— 
fegen; vieles wird ſich indeß aufklären, wenn wir 
unſer allgemeines Beiſpiel in einigen Verzweigun— 
gen entwickeln. Eine der größten Aeußerungen 
der Herrſchbegierde iſt bekanntlich die Eroberungs— 
ſucht; daß die Herrſchbegierde nicht deren einzige 
Quelle ſey, ſondern daß unter andern auch die 
Ehrbegierde dabei mitwirkt, wird die Anwendbar— 
keit der Grundſätze, welche wir hier beleuchten 
wollen, nicht vermindern. Der Eroberer wird 
nicht leicht Vieles ausrichten, wenn er in andern 
Ländern nicht einer Schlaffheit und Auflöſung 
begegnet, welche weckende und ordnende Kräfte 
erfordert; dieſe bringt der Herrſchergeiſt mit ſich. 
Zwar geht, bald in höherem bald in geringerem 
Grade, Verwirrung und Zerrüttung der neuen 
Ordnung der Dinge voran, aber hier gleichen die 
Wirkungen der Freiheit denen der Natur, indem 
ſie trotz aller Ungleichheiten gleichwohl nach den 


Grundgeſetzen des Daſeyns wirken müſſen; wenn 
die Eroberung in eine lange Unterdrückung aus— 
artet, kann ſie gerade durch ihren Druck und ihre 
Ungerechtigkeit Kräfte erwecken, welche zur Abwer— 
fung des Jochs erforderlich ſind, und alsdann geht 
das Volk erneut und verjüngt aus dem Kampfe 
hervor. Oder es begegnet der Uebermacht keine 
hinreichende Gegenkraft und dann werden die Sieger 
ein neues Volk im Lande bilden, welches das 
Brauchbare der alten Kräfte in ſich aufnimmt. Die 
guten Kräfte, welche der Sieger ſowohl in ſeinem 
eigenen Volke als bei den Ueberwundenen erweckt 
und die guten Geſetze und Einrichtungen, welche 
er einführt, werden eine lange Dauer haben; das 
der Welt Nachtheilige wird untergehen durch alle 
die Gegenkräfte, die es erwecken muß. Wir müſſen 
uns hier nur ſelbſt daran erinnern, daß Jahr— 
hunderte nur kurze Zeiträume in der Geſchichte 
des Menſchengeſchlechts ſind. 

Der Despotismus begleitet, wie bekannt, faſt 
immer die Eroberungsſucht, er kann aber auch für 
ſich beſtehen; er gedeiht nur da, wo die geiſtigen 
Kräfte nicht hinreichend entwickelt oder durch falſche 
Bildungsrichtungen geſchwächt ſind. Im letzteren 


Falle kann der Despotismus oft ſehr lange wäh— 
ren; wenn aber im Volke ſelbſt nicht hinreichende 
Gegenkräfte zur Ueberwältigung des Druckes em— 
porkommen, dann werden auswärtige Mächte dieſe 
früher oder ſpäter vollbringen. 

Ehe ich weiter gehe, werde ich eine Einwen— 
dung beſeitigen müſſen, welche auf dem endlichen 
Standpunkte unüberwindlich iſt, aber von dem 
Standpunkte aus geſehen, von wo das Ganze zu 
überſchauen iſt, ihr Gewicht, verliert. Mit dem 
Auge auf das Endliche gerichtet, kann man näm— 
lich einwenden: was hilft es den zahlloſen Weſen, 
welche leiden, welche vielleicht beides, geiſtig und 
körperlich leiden, vielleicht ihre ganze Lebenszeit 
hindurch leiden, daß die ſie treffenden Unglücksfälle 
in einer höhern Ordnung der Dinge wieder aufge— 
löst werden? Dieſe Einwendung iſt alt, und auch 
die Antwort iſt es; aber die Einwendung wiederholt 
ſich, ſo oft Jemand die ewige Vernunftordnung 
der menſchlichen Dinge in's Licht zu ſtellen ſucht; 
darum muß auch die Antwort jedesmal wiederholt 
werden, und dieß um ſo mehr, weil ſie in jeder 
Darſtellung einen Zuwachs an innerer Klarheit em— 
pfängt. Vor Allem muß hier bemerkt werden, daß 


296 


die gegenwärtige Darftellung nicht darauf ausgeht, 
die Uebereinſtimmung des Daſeyns mit unſern 
theils auf dem ſinnlichen Standpunkte gefaßten, 
theils durch einſeitiges Denken gebildeten Voll— 
kommenheitsbegriffen darzuthun: wir wollen bloß 
die Wahrheit aufrecht halten, daß das Vernunft— 
widrige am Ende in der ewigen Vernunftthätigkeit 
des Daſeyns aufgehoben wird, und daß das Ver— 
nunftmäßige ſiegen muß. Wir haben hier nur die 
Bemerkung hinzufügen, daß Etwas, was in ſich 
ſelbſt vernunftgemäß iſt, doch in einer gegebenen 
Zeit mit der Vernunftordnung des Ganzen in 
Streit gerathen kann, und daher untergehen muß, 
um zu rechter Zeit aufs Neue wiederum aufzuerſtehen. 

Wir müſſen ferner den Frageſteller daran erin— 
nern, daß noch nie ein Lehrgebäude erfunden wor— 
den iſt, worin das Böſe, es ſey nun das phyſiſche 
oder das moraliſche, ſich als vernichtet und in 
dem Guten aufgelöst, habe darſtellen laſſen, ſo 
lange man ſich nur auf dem endlichen Standpunkte 
halten wollte: man mußte auf die Fortdauer des 
Lebens über das Erdenleben hinaus hinweiſen, 
und dieſes Vortheiles entbehrt unſere Auffaſſung 
ebenfalls nicht. Der Glaube an ein ſolches fort— 


297 
dauerndes Leben iſt ihr ſogar natürlich, wie man 
es in dem Folgenden angedeutet finden wird. Hier 
halten wir nur den Vernunftzuſammenhang der 
Dinge feſt, möge dieſe unſern Wünſchen ſchmei— 
cheln oder ihnen zuwider ſeyn. 

Wir müſſen uns ferner noch ſelbſt daran er— 
innern, daß jedes endliche Daſeyn etwas unendlich 
Kleines im Vergleich zum Ganzen ſey; ob auch 
einige Wirkungen von dem Mißbrauch und der 
Fehlbarkeit des freien Willens ſich durch Jahrhun— 
derte, ja durch Jahrtauſende hindurch erſtrecken 
könnten, ſo bleibt dieſes Alles dennoch in dem Ver— 
hältniß des unendlichen Kleinen. Niemand wird 
dieſe Wahrheit zu leugnen vermögen; aber es wird 
vielleicht die Einſicht beleben, ſie thätiger machen, 
wenn ſie durch eine Anſchauung beleuchtet wird;. 
unſer Erdball bietet uns das Mittel dazu dar. 
Ohne weiter zurückzugehen, als bis dahin, wo uns 
ſichere Thatſachen zu leiten vermögen, ſehen wir, 
daß er Jahrtauſende hindurch beſtanden haben 
müſſe, ehe ſich auf demſelben organiſche Geſchöpfe | 
entwickelten, daß neue Jahrtauſende unter einem 
Zuſtande der Erde dahin gingen, in welchem nur 
blumenloſe Gewächſe und knochenloſe Thiere auf ihr 


298 


hervorgebracht wurden, daß dann auch noch ferner 
eine ganze Reihe großer Zeiträume, von denen 
jeder mit dem Untergange des frühern begann, 
verſtrich; jeder von dieſen bildete einen neuen Fort— 
ſchritt in der Entwickelung, bis endlich der Menſch 
auftrat. Was iſt die ganze Zeit, in welcher der 
Menſch dageweſen iſt, gegen jene unüberſehliche 
Reihe von Jahrtauſenden? und was ſind wieder— 
um die einzelnen Zeiträume im Menſchengeſchlecht 
gegen die ganze Zeit ſeines Daſeyns? ſelbſt ohne 
der Zeit zu gedenken, welche zu erwarten ſteht; 
und doch haben wir hier nur den Erdball als 
Beiſpiel genommen; das ganze Weltſyſtem zeigt 
uns unſäglich längere Zeitabtheilungen. 

Wie ſich der Erdkörper entwickelt hat, ſo auch 
das Menſchengeſchlecht, ungeachtet der Eingriffe 
des freien Willens; auf den Lauf der Natur iſt 
dieſe Einwirkung augenſcheinlich gering. Ich habe 
wohl Theologen gehört, welche durch eine buch— 
ſtäbliche Auffaſſung einiger Bibelworte ſich zu der 
Behauptung haben verleiten laſſen, es ſey der 
körperliche Tod durch den Sündenfall in die Welt 
gekommen; aber daß ſie ſich in einem Mißverſtänd— 
niß befinden, davon zeugt die Natur klar, indem 


299 

fie uns Untergang, Tod und unzweifelhafte Spuren 
von Schmerzen zeigt, ehe das Menſchengeſchlecht 
auf die Erde kam; und zugleich zeigen alle Unter— 
ſuchungen über den menſchlichen Körper, daß ſeine 
Grundeinrichtung Sterblichkeit mit ſich führe. 

Wir müſſen denn allem Vorhergehenden zufolge 
annehmen, daß ſich das Menſchengeſchlecht nach 
Vernunftgeſetzen entwickle, daß die Reihe von Ver— 
änderungen, welche mit demſelben vorgehen, trotz 
mancher Wechſel von Vor- und Rückwärtsgängen, 
doch eine wirkliche Entwickelung ſey, und daß die 
Eingriffe des freien Willens, ſcheinbarer Stö— 
rungen ungeachtet, der ewigen Vernunftordnung 
dennoch dienen müſſe. Wir können noch hinzu— 
fügen, daß die menſchliche Vernunft ſich unauf— 
hörlich zu einem immer größeren Reichthum an 
Kenntniſſen und Klarheit der Einſichten entwickle, 
und durch dieſe zu einer größern Macht gegen die 
Verirrungen. Kurz, wir können uns der erfreu— 
lichen Ueberzeugung hingeben, daß alle uns im 
menſchlichen Geſchlechte begegnende Verwirrungen, 
welche zum Theil in den gegenwärtigen Zeiten 
drohend erſcheinen, uns nicht verhindern, es vor— 
auszuſehen, daß ſich das Menſchengeſchlecht mehr und 


300 

mehr der Verwirklichung eines Vernunftreichs auf 
der Erde nähere, natürlicher Weiſe nur unter allen 
Beſchränkungen, welche die Endlichkeit mit ſich führt. 

Wir kehren zurück zu einem neuen Ueberblick 
über die Wechſelwirkung der vernünftigen Erd— 
bewohner. Die Geiſtesentwickelung, welche jeder 
einzelne Erdbewohner hat, iſt ein vereintes Werk 
ſeiner eigenen Thätigkeit und der Einwirkung der 
ganzen ihn umgebenden Welt, an welcher ſeine 
ſämmtlichen Mitmenſchen gewöhnlicher Weiſe den 
weſentlichſten Theil haben. Kein Menſch könnte 
für ſich ſelbſt alle die Kenntniſſe und Einſichten 
entwickelt haben, welche das geſammte Menſchen— 
geſchlecht erzeugt hat; ja ein Menſchenleben reicht 
nicht einmal hin, ſie alle in ihrer ganzen Fülle zu 
faſſen. Das Höchſte, was ein Menſch an Ausbil— 
dung erreichen kann, iſt das Vermögen: einen be— 
grenzten Kreis des Wiſſens mit tiefer Einſicht zu 
durchdringen und mit Hülfe der dadurch erlangten 
Geiſtesentwickelung, vereint mit einem wißbegieri— 
gen Umſchauen, ſich ein einigermaßen klares Bild 
des ganzen Daſeyns zu verſchaffen. Mit Rückſicht 
auf das Viele, welches er durch eigenes vollſtän— 
diges Forſchen ſich nicht hat aneignen können, muß 


301 
er ſich auf das übrige Menſchengeſchlecht verlaſſen; 
er muß es als eine Gabe der das ganze Daſeyn 
durchdringenden Vernunft empfangen. Es iſt ein 
Licht, das ihn ſehen läßt, was in der bodenloſen 
Tiefe ſeines eigenen Weſens verborgen lag. Sein 
Auffaſſen und Aneignen iſt dann ein Glaube. Dieſer 
Ausdruck iſt doch in einer mehr oder weniger um— 
faſſenden Bedeutung zu nehmen, und in der engern 
nur zu gebrauchen in Bezug auf die Wahrheiten, 
welche ſich näher auf das eigentliche Grundweſen 
des Daſeyns beziehen. Scharfe Grenzen laſſen 
ſich hier nicht ziehen; denn je höher die recht 
wahre und natürliche Geiſtesentwickelung iſt, zu 
welcher ein Menſch ſich erhoben hat, um deſto 
mehr Mittel hat er, ſich im Glauben an das 
Wahre zu ſtärken: ja, er vermag dadurch oft das, 
was für Andere als Glaube gelten muß, in Wiſ— 
ſen zu verwandeln. Und ſelbſt da, wo er beim 
Glauben ſtehen bleiben muß, kann er dieſen da— 
durch zu höherer Klarheit und Stärke bringen, daß 
er ihn an die übrigen Wahrheiten, welche in ſei— 
nem Bewußtſeyn leben, befeſtigt. In allem unſerm 
geiſtigen Streben aber müſſen wir, um nicht irre— 
geleitet zu werden, die natürliche Wahrheitsliebe 


in ihrer ganzen Lauterkeit zu bewahren ftreben; 
denn wir werden durch unſere Begierden oft ver— 
ſucht, etwas für wahr anzunehmen, weil es dieſen 
ſchmeichelt. Unter ſolchen Verſuchungen iſt die Luſt 
ſeinen Mitmenſchen etwas Außerordentliches, etwas 
das dem Redenden ihre Bewunderung verſchaffen 
kann, zu ſagen, eine von denen, welche über 
Männer, die als Lehrer und Leiter des Menſchen— 
geſchlechts auftreten wollen, am leichteſten Macht 
erlangen. 

Alle die klaren und reinen Wahrheiten, welche 
im Menſchen entſtehen, ſind zufolge allem was 
wir hier geſehen haben, Offenbarungen der ewigen 
Vernunft. Derjenige welcher ſie findet und ver— 
kündet, iſt in ſofern ein Werkzeug der Gottheit. 
In demſelben Grade als die offenbarte Wahrheit 
größer, umfaſſender, mehr erhebend iſt, in eben 
dem Grade iſt ſie im Verhältniß zum Endlichkeits— 
zuſtande, welcher auf einem niedrigern Standpunkte 
ausſchließlich Natur genannt wird, übernatürlich; 
obgleich ſie in der ewigen Natur Gottes vollkom— 
men natürlich iſt. Ein äußeres Kennzeichen des 
hohen Weſens der Offenbarung iſt die Größe 
ihrer Wirkung; wohl zu bemerken, nicht bloß einer 


303 
weltlich großen Ausbreitung, ſondern zunächſt die 
Größe der Wirkung, welche das Menſchengeſchlecht 
an ſich wahrnimmt, die Veredelung, die Erhebung, 
die Annäherung zu Gott, deren das Geſchlecht 
ſich dadurch bewußt wird. 

Der Hauptzweck deſſen, was hier vom Frei— 
heitsverhältniß geſagt worden iſt, war zu zeigen, 
daß die ſämmtlichen freien Weſen auf der Erde be— 
ſtimmt ſind, ein Reich der Vernunft zu bilden, und 
daß ein ſolches, der Natur der Dinge zufolge, zwar 
bereits beſtehe, zugleich aber durch fortgeſetzte Ent— 
wickelung einer immer größeren Vollkommenheit ent- 
gegengeführt werden müſſe; was ich mehr geſagt 
habe als das hierzu Nothwendige, ward nur zur Ab— 
wehrung von Mißverſtändniſſen hinzugefügt. Die 
Anwendung hievon auf die vernünftigen Bewohner 
anderer Weltkörper iſt nun leicht; ſie ſind nach den— 
ſelben Vernunftgeſetzen gebildet als die Bewohner 
unſeres Erdballs; ſie müſſen daher, in eben dem 
Sinne als die Menſchen, vergänglich ſeyn; ſie 
müſſen folglich ihr Daſeyn, jeder in ſeiner Zeit 
und an ſeinem Orte, beginnen; ſie müſſen die Ein— 
wirkungen der ſie umgebenden Welt empfinden, 
und dadurch ein Bewußtſeyn deſſen erhalten, was 


ihrem Wollen zuſagt oder demſelben widerſtreitet; 
das iſt, ſie müſſen Luſt und Unluſt fühlen: ſie 
müſſen ihr ſinnliches.Daſeyn mit Vernunftanlagen 
beginnen, müſſen ſich angetrieben fühlen, dieſe 
ſowohl durch Naturtrieb, als durch die erweckende 
Einwirkung der ganzen Umwelt, zu entwickeln. 
Es mlß jeder von den andern freien Weſen Ein— 
wirkungen annehmen, deren einige gegen ſein Wol— 
len und ſein Wohlbefinden ſtreiten, andere damit 
übereinſtimmen. Der Kampf mit dem ſtreitenden 
Willen muß Begriffe von Willensgeſetzen ent— 
wickeln, welche zwar nicht zwingend ſind, wie die 
Naturgeſetze, dennoch aber fordern, daß mit Freiheit 
geſtrebt werde die gewiſſen Vorſchriften der Vernunft 
zu verwirklichen. Sie werden ſo wenig als die 
Menſchen, hier auf unſerer Erde, alle mit gleich 
großen Fähigkeiten ins Daſeyn gekommen ſeyn, 
denn das Daſeyn jedes Einzelnen beginnt unter 
anderen Bedingungen in der Zeit und dem Raume. 
Darum wird es, ſowie hier auf der Erde, ge— 
ſchehen, daß die höher Begabten die Leiter ihrer 
Mitgeſchöpfe werden, in größerem oder geringerem 
Umfange, je nach ihren Fähigkeiten. Sie müſſen durch 
gemeinſchaftliche Naturtriebe, durch gemeinſchaftliches 


305 


Bedürfniß die willenloſe Natur zu überwinden, 
durch gemeinſchaftliche Luſt das Daſeyn zu begreifen, 
ſich gedrungen fühlen, in Gemeinſchaft zu wirken; 
kurz, die Hauptzüge in ihrem geiſtigen Seyn müſſen 
mit denen übereinſtimmen, welche wir bei den freien 
Weſen auf der Erde anerkannt haben. 

Wenn wir uns dieſe Weſenseinheit in der mo— 
raliſchen Welt klar gemacht haben, dann dürfen 
wir, jedoch nur mit ſehr großer Vorſicht, den Ver— 
ſuch einer weiteren Entwickelung dieſer Grundan— 
ſchauung wagen. Wir könnten bei einem ſolchen 
Verſuch leicht verleitet werden, irdiſche Eigenthüm— 
lichkeiten auf das ganze Daſeyn überzutragen; das, 
was ich bei Veranlaſſung der Weſenseinheit des Er— 
kenntnißvermögens von der weitausgedehnten Mög— 
lichkeit anderer Daſeynsformen, obgleich ſie alle ein 
Grundweſen haben, ſagte, findet hier abermals An— 
wendung. Man denke ſich nur die höchſt verſchiedenen 
Zuſtände, in denen wir die Entwickelung des Men— 
ſchengeiſtes unter den verſchiedenen Daſeynsbedin— 
gungen hier auf der Erde antreffen! Aber was 
ſind die Ungleichheiten dieſer Bedingungen gegen 
diejenigen, welche von Weltkörper zu Weltkörper 
ftattfinden müſſen! Zwiſchen dieſen zahlloſen 

Oerſted, der Geiſt in der Natur. 20 


306 


Weltkörpern gibt es alle möglichen Ungleichheiten, in 
Hinſicht auf Alter, Theilnahme am Licht, auf Er— 
wärmung u. ſ. w. Unſere einigermaßen beſtimmte 
Kenntniß von der Ungleichheit dieſer Bedingungen 
beſchränkt ſich auf einen unſäglich geringen Theil 
des Ganzen; noch beſchränkter muß die Anwen— 
dung davon auf weitere, die beſtimmten geiſtigen 
Daſeynsformen betreffenden Schlüſſe ſeyn. Die 
Ungleichheiten der Weltkörper in unſerem Son— 
nenſyſteme ſind ſchon ſehr groß, dehnen wir unſern 
Gedanken über das ganze Weltgebäude aus, dann 
werden ſie zahllos; auf einigen Weltkörpern werden 
die Geſchöpfe weit größer, auf andern weit kleiner 
ſeyn; auf einigen werden ſie aus einer weit dünnern 
Materie gebildet ſeyn als bei uns; ja dieſe kann 
vielleicht in der Verdünnung dem Aether ſich nä— 
hern; auf andern können ſie aus einer dichtern 
gebildet ſeyn; auf einigen Weltkörpern können die 
vernünftigen Geſchöpfe geſchickt ſeyn, weit ſchnel— 
lere, weit feinere, weit klarere Eindrücke zu em— 
pfangen als auf dem unſrigen, auf andern das 
Gegentheil. Gehen wir nun zu den Geiſteskräften 
und der Geiſtesentwickelung ſelbſt über, dann dürfen 
wir nicht geringere Verſchiedenheiten annehmen. 


Es läßt ſich wohl denken, daß es Vernunftweſen 
mit ſchwächern Fähigkeiten gebe, als wir be— 
ſitzen; aber erwägen wir recht, wie außerordent— 
lich tief wir unter dem ſtehen, dem unſere Ver— 
nunft nachſtrebt, dann fühlen wir uns anzu— 
nehmen gezwungen, daß es unſäglich viele Ent— 
wickelungsſtufen über derjenigen geben könne, auf 
welcher wir uns befinden. Doch dieſes darf uns 
nicht niederbeugen! Unſer Geſchlecht iſt noch jung 
hier auf der Erde, und ſcheint eine lange Zukunft 
zu höherer Entwickelung zu haben; und wir dür— 
fen hoffen, daß die welche zu einer beſtimmten 
Zeit ihre Bahn hier vollendet haben, ſich anders— 
wo, bis zu einer größern Höhe werden erheben 
können. 


4. 
Erkenntniſsgemeinſchaft zwiſchen den Weltkörpern. 


Wir haben geſehen, daß die Bewohner unſeres 
Weltkörpers einige Kenntniß vom Zuſtande auf 
den übrigen Weltkörpern beſitzen. In Hinſicht auf 
die moraliſche Welt auf den fremden Weltkör— 
pern beſchränkten wir uns darauf, zu bezeugen, 


308 
daß ihr Grundweſen daſſelbe ſeyn müſſe als bei 
uns; aber um etwas Feſtbeſtimmtes über die Ei— 
genthümlichkeiten auszuſagen, welche ſie auf jeder 
haben können, dazu fehlen uns die Mittel. In 
Betreff der Kenntniß von den Naturgeſetzen fanden 
wir uns etwas weniger beſchränkt; von allen Pla— 
neten unſeres Sonnenſyſtems konnten wir die Länge 
ihres Jahrs beſtimmen; von den uns am beſten 
bekannten konnten wir die Länge ihrer Tage, ihre 
Sonnen- und Mondverfinſterungen, die Geſchwin— 
digkeit des Falles, die Bahn geworfener Körper, 
die Dichtigkeit ihrer Maſſe, die Menge des Lichts, 
welches ſie von der Sonne empfangen u. ſ. w., 
angeben. Gleichwie wir nun hier bei uns dieſes 
von andern Weltkörpern wiſſen, müſſen wir an— 
nehmen, daß auch die Bewohner fremder Welt— 
körper im Stande ſind, etwas von dem Zuſtande 
auf dem unfrigen zu erkennen. Die Bewohner 
fremder Weltkörper, welche höhere Fähigkeiten als 
wir beſitzen, oder größere Fortſchritte gemacht ha— 
ben, können natürlich mehr vom Zuſtande auf un— 
ſerem Weltkörper wiſſen, als wir von dem Zu— 
ſtande auf dem ihrigen zu erkennen vermögen; aber 
auch wir werden gewiß nicht bei der Kenntniß, 


309 


welche wir gegenwärtig von dem Zuſtande auf 
fremden Weltkörpern haben, ſtehen bleiben. Wir 
wollen uns in Gedanken 300 Jahre in der Zeit 
zurückverſetzen, etwa vor das Bekanntwerden des 
Copernikaniſchen Syſteme. Was würde man zu 
jener Zeit von dem geſagt haben, welcher die da— 
mals unbekannten Wahrheiten vermuthet hätte, 
die wir nun mit Gewißheit von fremden Welt— 
körpern wiſſen? Was würde man von demjenigen 
geſagt haben, welcher gemeint hätte, die Planeten 
ſeyen Weltkörper gleich dem unſrigen mit Jahres— 
und Tageszeiten? Was würde man von demjenigen 
gedacht haben, welcher vorausgeſagt hätte, daß man 
dahin kommen würde, Berge im Monde zu entdecken, 
ihre Höhe zu meſſen u. ſ. w., und ſo genaue Kar— 
ten über die uns zugekehrte Mondſeite zu entwerfen, 
daß ſie in gewiſſer Hinſicht die übertreffen, 
welche wir von der Erdoberfläche haben können? 
Was würde man von dem gedacht haben, welcher 
hätte behaupten wollen, daß die Firſterne entfernte 
Sonnen ſeyen, deren viele größer als unſere 
Sonne ſeyn müſſen? Wären ſie nicht als Träumer 
betrachtet worden? Nein, kann man ſagen, nicht 
von Allen. Einige Wenige nahmen ja ſchon im 


20 


310 
Alterhum einen Theil von dieſen Erkenntniſſen 
an, obgleich nicht unterſtützt von allen den Grün— 
den, welche wir nun für ihre Wahrheit haben. 
Wohl wahr, einige Wenige ſahen dieß ein, aber 
kaum einer unter Millionen Menſchen; die Menge, 
ſelbſt der Aufgeklärten, mußte ſolche über den ge— 
wöhnlichen Kreis der Kenntniſſe weit hinaus ſchwei— 
fende Gedanken lächerlich finden. Muß man nicht 
unter ähnlichen Bedingungen, in neuerer Zeit, ein 
gleiches Schickſal erwarten? Ganz wird man dem— 
ſelben wohl nicht entgehen können; vielleicht aber 
dürfte man es doch etwas gemildert erwarten, nach 
der größern Erfahrung, welche wir nun von der 
Kraft haben, womit die Entdeckungen von einer 
Zeit zur andern die Grenzen überſpringen, welche 
man früher für die äußerſten hielt. Niemand wird 
läugnen wollen, daß wir noch weit davon entfernt 
ſind, diejenige Einſicht im Weltbau erlangt zu haben, 
welche uns zu erreichen möglich iſt. Wenn man 
bedenkt, wie die neueren Entdeckungsmittel unauf— 
hörlich wachſen, und wie der eine Wiſſenſchafts— 
zweig den andern unterſtützt und ſtärkt, dann erhält 
man ein lebendiges Gefühl davon, daß die Grenzen 
noch unendlich weit entfernt liegen. Tycho Brahe 


hatte weder das Fernrohr, noch die aftronomifche 
Uhr, noch das Mikrometer. Selbſt ein Jahrhun— 
dert nach ihm waren Fernröhre und Teleſkope 
noch unvollkommene Werkzeuge gegen die, welche 
wir Dollond und Herſchel verdanken, und auch 
dieſe ſind wiederum weit übertroffen worden, 
insbeſondere durch die Fernröhre, welche Frauen— 
hofer und ſeine Nachfolger zuwege gebracht haben. 
Uhren und Meßwerkzeuge find zu einer Voll 
kommenheit gebracht worden, welche den Grenzen 
des Erreichbaren nahe ſcheinen; die Aſtronomen 
aber ſtreben mit Recht nach einer noch größern 
Annäherung, weil ſie wiſſen, daß dieß Wenige 
zu Vielem führen könne, welches ſonſt unerreich— 
bar bliebe. Eine andere Verſtärkung gewann die 
Wiſſenſchaft durch die bei weitem zahlreicheren 
Bearbeiter, welche ſie erhalten hat, und durch die bei 
weitem vollkommenere Grundlage an Kenntniſſen, 
von denen dieſe ausgehen können. Endlich erhält die 
Wiſſenſchaft von den Weltkörpern durch die Fort— 
ſchritte, welche die übrigen Theile der Naturwiſſen— 
ſchaften erreichen, eine große Unterſtützung; ſo 
hat uns z. B. die Geologie in den Stand geſetzt, 
auf den innern Bau der Weltkörper Schlüſſe zu 


312 


machen; untere fteigende Kenntniß von dem Magne— 
tismus des Erdkörpers eröffnet uns die Ausſicht, 
auch den der übrigen Weltkörper kennen zu lernen. 
Unſere unaufhörlich fortſchreitenden Einſichten in 
die Natur des Lichts und der Waͤrme werden uns 
zu ſeiner Zeit mit vielen uns noch verborgenen 
Verhältniſſen auf fremden Weltkörpern bekannt 
machen. Ja es dürfte ſelbſt zuläſſig ſeyn, als eine 
unſäglich ferne Ausſicht es ſich zu denken, daß wir 
noch zu einer ſolchen Kenntniß von den Geſetzen 
des Organismus hier auf der Erde gelangen könn— 
ten, daß ſich davon einige Anwendung auf den 
Organismus in fremden Weltkörpern machen ließe. 
Ich ſehe wohl, der Sprung iſt ungeheuer; inzwiſchen 
müſſen wir bedenken, welche außerordentlich großen 
Fortſchritte unſere Kenntniſſe von den Geſetzen der 
thieriſchen Natur in dem letzten halben Jahrhun— 
dert gemacht haben. Der Zuſammenhang, worin 
wir nun die in der Reihe aller Jahrtauſende un— 
tergegangene Thierwelt mit der gegenwärtigen 
bringen können, die Einheit von Geſetzen, worun— 
ter man ſie zuſammenfaſſen kann, gewährt uns 
die Hoffnung, daß wir einſt die Bedingungen für 
jede Entwickelungsſtufe im Thier- und Pflanzen— 


313 

reiche werden angeben können, ja die Bedingungen 
für Formen, welche hier nie zur Wirklichkeit ge— 
langt ſind. Wohl iſt es wahr, daß von hier bis zu 
der Kenntniß der organiſchen Weſen auf fremden 
Weltkörpern, wo nicht nur ganz andere Stoffe als 
auf unſerer Erde ſeyn können, ſondern ſelbſt ſeyn 
müſſen, ein ſcheinbar unausführbarer Aufſchwung 
iſt; aber auch die Chemie wird mit der Zeit all— 
gemeine Geſetze für die Bildung der Stoffe finden, 
durch deren Hülfe wir auf das, was auf fremden 
Weltkörpern geſchieht, Schlüſſe zu machen vermögen. 

So hoffen wir denn, hier auf der Erde ſtets mehr 
und mehr zu Einſichten zu gelangen, welche unſern 
Geiſt unſäglich mehr als jetzt von dem werden durch— 
ſchauen laſſen, was auf entfernten Weltkörpern 
geſchieht und welche ſomit unſer geiſtiges Daſeyn 
zu einer Theilnahme am Weltall erweitern werden. 
Denken wir uns nun, daß dieſes in Beziehung auf 
uns auch von andern Weltkörpern aus geſchehe, ſo 
ſieht man, daß in dem endlichen Daſeyn eine An— 
lage dazu vorhanden iſt, daß das eine Weltglied, 
vermöge geiſtiger Kräfte, das andere erfaſſen ſoll; 
daß demnach jedes weſentliche Weltglied zu einem 
Bewußtſeyn vom Ganzen gelangen ſolle; daß ſelbſt 


314 


in dem einen ein Wiſſen ſeyn werde von dem 
Wiſſen, dem Glauben, der Gotteserkenntniß, die 
ſich bei dem andern finden; kurz, daß das ganze 
Daſeyn nicht nur vermöge ſeines Urſprungs und 
ſeiner Lenkung von der ewigen, allmächtigen Ver— 
nunft ein wahres Vernunftreich iſt, ſondern daß 
eine Anlage da iſt zu einer Vernunftgemeinſchaft 
zwiſchen den endlichen denkenden Weſen ſelbſt, eine 
Anlage, welche von unſerer, der Erdebewohner 
Seite bisher nur einen geringen Grad derjenigen 
Entwicklung erreicht hat, welche zu hoffen iſt, 
während dieſelbe wahrſcheinlicherweiſe auf einigen 
Punkten des übrigen Daſeyns bereits eine weit 
höhere Vollkommenheit erlangt hat. Im Weſen 
der Dinge liegt es demnach, daß wir in der reich— 
haltigſten Bedeutung des Ausdrucks ſagen dürfen: 
das ganze Daſeyn iſt ein Vernunftreich. 


Die Kultur der Wiſſenſchaft als 
Neligionsübung betrachtet. 


Eine Rede, gehalten beim Univerſitätsfeſte für die lutheriſche 
Reformation, 1814. 


Ich laſſe dieſe kurze Rede hier abdrucken, weil fie manche jener 
Gedanken, welche in den andern Theilen dieſes Buches entwickelt ſind, 
zu einem Ueberblick ſammelt, und weil ſie durch ihre Kürze dazu dient, 
die Einheit Aller recht kräftig vor Augen zu ſtellen. Ich habe ſie 
in allem Weſentlichen unverändert abdrucken laſſen, weil die Ver— 
gleichung der nahe verwandten Arbeiten eines Verfaſſers, zwiſchen 
denen ein Zeitraum von 35 Jahren liegt, nützlich ſeyn kann. 

Mit Rückſicht auf das durch die Umſtände in der Rede Bedingte 
habe ich zu bemerken, daß das Feſt damals nicht nur, wie noch jetzt, 
ein Erinnerungstag für die Religionsverbeſſerungen und für die Um— 
bildung der Univerſität unter Chriſtian III., ſondern auch der Ein— 
weihungstag für die neuen afademifchen Bürger war. 

Die Rede ward in lateiniſcher Sprache gehalten; ich theilte 
ſie jedoch in Molbechs Athene für Februar 1815 däniſch mit. 


Den Geſetzen unſeres gelehrten Vereins zufolge 
iſt mir heute die Aufgabe geworden, die Erinnerung 
an die glückliche Wiedergeburt des wahren Glau— 
bens in unſerem Vaterlande zurückzurufen. So 
ſchön und begeiſternd nun auch dieſer Gegenſtand 
iſt, würde ich nichts deſto weniger, wenn ich 
meinen Mangel an Rednergaben und Rednerübung 
berückſichtige, davor zurückſchrecken, wenn nicht eine 
heilige Pflicht es mir auferlegte, hervorzutreten; 
aber eben dieſe Pflicht verſpricht mir von Ihrer 
Gerechtigkeit die ſchonendſte Beurtheilung, und fo 
gibt denn auch hier, wie überall, das Bewußtſeyn 
der Pflicht den Muth, ſie zu erfüllen. 

So oft andachtsvolle Dankbarkeit Menſchen 
verſammelt, um die Befeſtigung des Reichs der 
Wahrheit unter ihnen zu feiern, ſcheint es mir, 
man ſollte einander daran erinnern, daß dieſes 
Reich, obgleich daſſelbe in ſich ſelbſt ewig und 
unzerſtörbar iſt, für uns verloren gehen könne, 
wenn wir es nicht ſelbſt mit gewiſſenhaftem Eifer 


318 
bewachen; denn unabläſſig hat der Menfch feine 
eigene Schwachheit zu fürchten. Kaum iſt ein Irr— 
thum zu Boden geworfen, da erhebt ſich ein an— 
derer, welchen man bereits in tiefer Vergeſſenheit 
begraben wähnte, von neuem, und ſo gebrechlich 
und wankelmüthig iſt die menſchliche Natur, daß 
ſich die meiſten leicht von dem Extrem des einen 
Irrthums dem entgegen geſetzten zuwenden, welcher 
früher Gegenſtand ihres Haſſes und ihrer Ver— 
achtung war; aber dem feſten Mittelpunkte der 
Wahrheit gehen ſie vorbei, das reine Licht ver— 
ſchmähend, von welchem doch alle Farbenſchimmer 
des Irrthums ihren Schein geborgt haben. Gab 
es z. B. eine Zeit, in der die Entwickelung der 
Wiſſenſchaften von der thörichten Einbildung, daß 
ſie dem Glauben und der Gottesfurcht gefährlich 
ſeyen, zurückgehalten wurde, ſo konnten Viele 
nicht zur Einſicht dieſes Irrthums kommen, ohne 
auf die entgegengeſetzte abſcheuliche Meinung zu 
verfallen, es müſſe die Religion als die ewige 
Feindin der Vernunft ausgerottet werden; kaum 
aber iſt es ſo weit gekommen, daß die Anhänger 
dieſer Meinung ſich ihres gottloſen Wahnſinns 
ſchämen, da hört man die alte Furcht vor der 


Wiſſenſchaft fich von neuem äußern, und zwar zum 
Theil von denſelben Menſchen, welche früher eifrig 
dem entgegengeſetzten Irrthume anhingen. 

Nur um ihrer ſelbſt willen beklagen wir die, 
welche auf ſolche Weiſe von dem Windſtoß jeder 
Meinung ſich hin und her wehen laſſen; aber im 
Intereſſe der Menſchheit beklagen wir die vielen 
trefflichen Jünglinge, welche mit Wärme für alles 
Edle und Gute, dabei aber noch nicht zum rechten 
Ueberblicke gelangt, nur dem einen Irrthume ſich 
hingegeben haben, weil ſie die Abſcheulichkeit des 
Entgegengeſetzten lebendig fühlten. Ein ſolches 
Mißtrauen gegen das Licht, welches uns Gott in 
der, Vernunft gab, iſt es, welches in den letzten 
Jahren ſo viele, zum Theil gewiß edle Männer 
verleitet hat, die Freiheit des Lutherthums in 
Chriſto mit der Prieſterknechtſchaft der römiſchen 
Kirche zu vertauſchen; eine Verirrung, wozu 
wir glücklicherweiſe die Beiſpiele faſt nur aus der 
Fremde holen müſſen, denen wir aber kräftig ent— 
gegen zu arbeiten doch Grund genug haben. 

Unter ſolchen Umſtänden wird es unſerm Zweck 
nicht fremd ſeyn, wenn wir durch die Feier des 
Tages veranlaßt unfere Ueberzeugung von der 


320 


Harmonie der Religion und der Wiſſenſchaft zu 
befeſtigen ſuchen, indem wir zeigen, wie der 
Wiſſenſchaftsmann! fein Streben, wenn 
er es ſelbſt recht verſteht, als eine Reli— 
gionsausübung anſehen müſſe. 

Wenn es hier bloß mein Zweck wäre, zu zeigen, 
daß Gottesfurcht Wiſſenſchaft erzeugen müſſe, ſo 
würde ich mich auf die von allen Seiten erkannte 
große Wahrheit berufen, daß Liebe zu Gott das 
Weſen in aller Religion ausmache. Der Schluß 
würde alsdann leicht ſeyn, daß Liebe zu dem, von 
welchem alle Wahrheit kommt, die Luſt erzeugen 
müſſe, dieſelbe in allen ihren Verzweigungen zu 
erkennen; da wir aber hier die Wiſſenſchaft an 
ſich ſelbſt als Religionspflicht erkannt ſehen möch— 
ten, ſo wird es erforderlich für uns, in das We— 
ſen der Wiſſenſchaftlichkeit tiefer einzudringen. 

Hier zeigt es ſich denn, daß der forſchende 
Blick des Menſchen, er ſey nun auf ſein eigenes 
inneres Weſen oder auf die ihn umgebende und 


»Das Wort Wiſſenſchaftsmann (ein Mann der 
Wiſſenſchaft) iſt im Däniſchen ſchon alt. Irre ich mich nicht, 
jo iſt es auch ſchon in Deutſchland gebraucht worden; aber 
- auf jeden Fall wage ich es hier daſſelbe zu empfehlen. 


321 


miteinſchließende Schöpfung gerichtet, ſtets auf den 
ewigen Urſprung aller Dinge hingeleitet wird. 
In aller Forſchung iſt es der letzte Zweck, das zu 
finden, was ein wirkliches Daſeyn hat und dieſes 
in ſeinem reinen Glanze anzuſchauen, von allem dem 
geſchieden, was nur durch ein Scheindaſeyn den 
Unachtſamen täuſcht. Der Mann der Wiſſenſchaft 
will dann wiſſen, was in den unabläſſigen Ab— 
wechslungen das Beſtändige iſt, das Unerſchaffene, 
welches ſich hinter den zahlloſen erſchaffnen Din— 
gen verbirgt, das Einheitsband, welches macht, 
daß die Dinge in allen ihren vielfältigen Zerthei— 
lungen und Scheidungen doch nicht auseinander 
fallen. Bald wird er erkennen müſſen, daß das 
Unabhängige nur das Beſtändige ſeyn könne und 
das Beſtändige das Unabhängige, und daß die 
wahre Einheit von keinem dieſer beiden getrennt ſeyn 
könne. Und fo liegt es denn ſchon in der Natur 
des Denkens, daß dieſes keinen unerſchütterlichen 
Ruhepunkt, keinen Stillſtand findet, als in der 
wechſelloſen, ewigen, unverurſachten, alles ver— 
urſachenden, alles umfaſſenden Allvernunft. 
Genügt ihm dieſe einſeitige Betrachtung nicht, 
ſondern ſucht er mit dem Auge der Erfahrung die 
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 14 21 


322 
Welt zu durchſchauen, ſo ſieht er daß alle die 
Dinge, von deren Wirklichkeit die Menge ſich am 
meiſten verſichert hält — die körperlichen — nie 
ein dauerndes Daſeyn haben, ſondern daß ſie ſich 
ſtets auf dem Wege zwiſchen der Geburt und dem 
Untergange befinden. Fragt er ſich dann, was darin 
das Beſtändige ſey, ſo antworten Vernunft und 
Erfahrung einſtimmig: daß es nur die Kräfte ſind, 
welche die Dinge hervorbringen und die Geſetze, 
nach denen jene wirken; die Kräfte aber löſen ſich 
alle in eine, in zwei entgegengeſetzten Weiſen ſich 
äußernde Grundkraft auf, und die Geſetze zeigen ſich 
bei näherer Unterſuchung als eine die ganze Natur 
durchdringende und beherrſchende Vernunft. Faßt 
er nun die ganze Harmonie der Natur recht zu— 
ſammen, ſo ſieht er, daß dieſes nicht nur ein 
Begriff, eine abſtrakte Vorſtellung ſey, wie man 
ſie nennt, ſondern daß die Vernunft und die Kraft, 
welcher jedes Ding dasjenige verdankt, was an ihm 
Weſen iſt, nur die Offenbarung einer ſelbſtſtän— 
digen lebendigen Allvernunft ſey. Das Beſtändige 
in der Natur kommt demnach von dem ewig Selbſt— 
ſtändigen, die Lebensäußerungen von dem, welcher 
das Leben in ſich ſelbſt hat, der Zuſammenhang 


323 

und die Harmonie des Ganzen von der allein 
vollkommenen Weisheit. Wie kann er denn, wenn 
er dieß ſieht, anders als von dem tiefſten Gefühl 
der Demuth, der Andacht und Liebe beſeelt ſeyn? 
Hat Jemand etwas anderes aus der Betrachtung 
der Natur gelernt, ſo konnte dieß nur dadurch 
geſchehen, weil er ſich in dem Zerſtreuten und 
Mannigfaltigen verlor und ſich nicht emporhob 
zur ewigen Einheit der Wahrheit. 

Verſuchen wir nun uns auf den Fittigen des 
Geiſtes emporzuſchwingen, die wie ſchwach ſie auch 
ſeyn mögen, den Sterblichen dennoch gegeben wur— 
den, um ſie von dem Staube loszureißen; wagen 
wir, wenn auch im tiefen Gefühl des ungeheuren 
Abſtandes, das Auge zu dem Allvollkommenen em— 
porzuheben, um ſo tief in ſein Weſen zu ſchauen 
als es die Begrenztheit unſerer Kräfte geſtattet, 
ſo ſtellen ſich uns darin drei Grundeigenſchaften 
oder vielmehr Grundweſen dar. 

Seine Selbſtſtändigkeit, die weſentliche 
Art, worin er aus ſich ſelbſt ſeinen Urſprung hat, 
und auf ſich ſelbſt beruht, muß als die unbegreif— 
liche Grundlage das erſte ſeyn. Unzertrennlich 
davon iſt ſeine Thätigkeit, die wir auch mit 


324 


einem andern Ausdruck fein Leben nennen kön— 
nen, in deſſen Weſen es liegt, daß es vermöge 
ſeines ewigen Selbſtvorſtellens ſich ſelbſt von Ewig— 
keit her hervorbringt. Aus beiden endlich geht 
die innere Harmonie des ganzen Weſens hervor, 
die nicht nur eine Eigenſchaft, ſondern ein leben— 
diges thätiges Seyn iſt. 

Es wird wohl unnöthig ſeyn, einer erleuchteten 
Verſammlung zu ſagen, daß dieſe Vorſtellungsweiſe 
keine bloße Anbequemung an die herrſchende Glau— 
benslehre ſey; ſondern daß ſie ſchon in einem 
frühern Alter in derjenigen Philoſophie, welche 
auf das kräftigſte zum Ewigen emporſtrebte, auf— 
geſtellt worden iſt. Sie iſt denn unſerer heiligen 
Religion nicht entlehnt, ſondern hat in dieſer ihre 
Bekräftigung erhalten, ſo daß wir um ſo dreiſter 
dem Lichtſchimmer folgen dürfen, welchen die Ver— 
nunft uns darbietet. 

Aus dem Geſichtspunkte bis zu welchem wir 
uns hier emporgeſchwungen haben, verſtehen wir 
nun das tiefe Gefühl von etwas Göttlichem, das 
uns bei der Betrachtung des Schönen durch— 
dringt. Wir nehmen das Wort hier in der aus— 
gedehnteſten Bedeutung, worin es zugleich das 


Erhabene, das Begeiſternde, und das Harmoniſche 
umfaßt. In dem Erhabenen herrſcht dasjenige 
welches den Gedanken von Selbſtſtändigkeit erweckt; 
eine Vorſtellung, welche in unſerer Seele nicht 
nur durch geiſtige Feſtigkeit und durch Erhebung 
über alles Kleinliche, worauf die Welt ſo häufig 
Werth legt, hervorgerufen wird, ſondern eben ſo 
oft durch die Betrachtung körperlicher Gegenſtände, 
wie etwa eines gegen die Wolken aufgethürmten 
Berges, einer Eiche, welche den Stürmen von 
Jahrhunderten getrotzt hat, des erdumgürtenden 
Meeres, welches alle Länder umfaßt; kurz, durch 
Gegenſtände, deren Feſtigkeit, Unzerſtörbarkeit oder 
Größe ſich unſerer Seele bemächtigt. 

Aber niemals wird die Seele durch irgend eine 
Art von Schönheit hingeriſſen, wenn ſich nicht in 
ihr zugleich eine mächtig ſchaffende Thätigkeit 
offenbart. Durch dieſe nur wird unſer ganzes 
Weſen gleichſam mit neuer Lebenswärme erfüllt 
und von jener Götterkraft durchſtrömt, welche man 
ſo treffend und ſchön bezeichnend Enthuſiasmus, 
Begeiſterung, genannt hat. 

Das Harmoniſche endlich, das man in einer 
mehr beſchränkten Bedeutung des Worts, das 


326 


Schöne genannt hat, beſteht in jenem Gepräge 
einer verborgenen unergründlichen Vernunft, welche 
vom Verſtande unbegriffen, durch die Einbildungs— 
kraft aufgefaßt wird. 

So wird denn der Menſch zu Gott, dem ewigen 
Urquell aller Dinge geführt, er möge nun das 
Weſen der Wahrheit oder das der Schönheit 
zu erforſchen geſucht haben, überhaupt dasjenige, 
was nothwendig in der Natur des Daſeyns liegt. 
Will er nun wiſſen was das ſey, dem er mit Frei— 
heit nachſtreben muß, ſo iſt die erſte Antwort des 
natürlichen Menſchenverſtandes: das Gute. Aber 
er ſieht die Menſchen uneinig unter einander, 
uneinig mit ſich ſelbſt über das, worin dieſes 
nachſtrebungswürdige Gute beſtehe; bald wird 
er gewahr werden, daß faſt alle die Dinge, wel— 
chen man im Leben als Gütern nachſtrebt, ihren 
Werth nicht in ſich ſelbſt haben; daß aber diejeni— 
gen, welche denſelben gedankenlos nachſtreben, wenn 
man ſie dahin bringen könnte, zuſammenhängend 
darauf zu antworten, was ſich über die wichtigſte 
Angelegenheit des Lebens fragen ließe, ſelbſt 
eingeſtehen müßten, daß alle äußern Güter, unter 
denen bei den meiſten der Reichthum die oberſte 


327 


Stelle einnimmt, nur gewiſſer Zwecke wegen ge— 
ſucht werden. Dieſe Dinge ſind demnach nicht 
an ſich ſelbſt gut, ſondern nur weil ſie zum Er— 
werb eines höhern Gutes dienen. 

Der Denker ſucht denn ein unabhängiges Gutes, 
ein Gutes das durch ſein eigenes Weſen, nicht 
aber durch etwas fremdes gut iſt; was aber ſein 
Weſen durch ſich ſelbſt hat, iſt ja vollkommen, 
ſelbſtſtändig, unabhängig, iſt eins mit dem ewi— 
gen Urquell aller Dinge, iſt Gott ſelbſt. Wie die 
Dinge demnach, nur in ſoweit ſie an der Kraft 
des göttlichen Weſens theilnehmen, eine Wirklich— 
keit haben, ſo haben ſie ebenfalls nur durch die— 
ſelbe ein wirklich Gutes. Dem Guten nachzuſtre— 
ben kann daher nichts anderes ſeyn, als zu ſtre— 
ben, ſich ſo viel als möglich von dem göttlichen 
Weſen zuzueignen. Die ſtrenge Wiſſenſchaft ſagt uns 
mithin, was der Freund der Religion wünſchen 
mußte, daß die rechte Weiſe dem Guten nachzu— 
ſtreben, eine Gottesverehrung ſey. 

Es iſt leicht zu ſehen, daß unſere Sitten— 
lehre aus dieſem Geſichtspunkte betrachtet, ſich in 
Religion verwandelt, indem es ihr höchſter Grundſatz 
iſt, daß wir, mit Gott vor Augen, ſtreben 


ſollen, das Gottesbild, welches wir in uns 
bewahren, ſo vollkommen als möglich uns 
zu erhalten. 

Die unbedingte Selbſtſtändigkeit des göttlichen 
Weſens ahmen wir durch den feſten Willen nach, 
unſer geiſtiges Weſen niemals zum Mittel irgend 
eines fremden Zwecks zu machen. Hier wie überall 
liegt der feſte Mittelpunkt der Vernunft zwiſchen 
zwei böſen und unvernünftigen äußerſten Gegen— 
ſätzen; in den einen verfällt die Selbſtſucht, welche 
ihre bloß endliche Eigenheit ſo behandelt, als ob ſie 
das wahre Selbſtſtändige wäre; auf dem entgegen— 
geſetzten Extrem befinden ſich die Schwachen, welche 
mit knechtiſchem Sinne den willkürlichen Zwecken 
anderer ſich als Mittel hingeben. 

Die unendliche ſchaffende Kraft der göttlichen 
Natur ahmen wir, obgleich in unſerer Schwach— 
heit, durch eine Thätigkeit nach, welche allem, 
was uns umgibt, das Gepräge des Geiſtes aufzu— 
drücken ſtrebt; wobei wir uns denn eben ſo weit 
entfernt zu halten haben von einer den Menſchen 
entehrenden, trägen Unwirkſamkeit, als von einer 
ruͤckſichtsloſen oder ſchädlichen Kraftvergeudung. 

Die innere Harmonie des göttlichen Weſens 


329 

iſt in ihrer ſelbſtſtändig ruhigen Beſchauung Ver— 
nunft, in ihrer Thätigkeit Liebe, beide aber 
weſentlich unzertrennlich; der Name beider in ihrer 
völligen Vereinigung iſt Weisheit, in dem 
höchſten und umfaſſendſten Sinne des Worts. In 
dieſem Sinne gehört auch die Gerechtigkeit dahin, 
dieſe beſteht darin, daß wir an den andern Vernunft— 
weſen dieſelbe Selbſtſtändigkeit als bei uns ſelbſt 
anerkennen; die Menſchenliebe, deren Weſen es 
iſt, thätig zu zeigen, daß wir das Bild Gottes 
in den andern Vernunftweſen, gleich wie in uns 
ſelbſt erkennen; Bürgerſinn, welcher die beiden 
vorigen Tugenden, mit Rückſicht auf die Harmonie 
der ganzen Geſellſchaft in ſich vereinigt; Ach— 
tung für die Natur, inſofern dieſe ja als ein 
Werk der unendlichen Weisheit erkannt wird. 

Dieſes iſt die Weisheit in ihren Aeußerungen 
gegen die äußere Welt. Wendet ſie ſich nach 
Innen gegen ſich ſelbſt, ſo iſt es klar, daß ſie ſich 
ſelbſt lieben müſſe, in ihrer Selbſtſtändigkeit als 
Wahrheit, in ihrer Thätigkeit als Wiſſenſchaft und 
Kunſt, in ihrer Harmonie als gelehrte Republik. 

Um wie viel zu beſchränkt ſind nicht die 
Grenzen einer Rede, um dieſes alles darin zu 


330 

entwickeln; für unſern Zweck aber genügt hier in 
innigem Zuſammenhange die Richtigkeit des alten 
Ausſpruchs nachgewieſen zu haben, daß die Wahr— 
heit von Gott iſt, und daß es zu der Liebe zum 
göttlichen Weſen gehöre, Wiſſenſchaft und Kunſt 
zu lieben, welche nichts andres als eine Erkenntniß 
und eine Darſtellung ſeines Weſens ſind. Wir ſehen 
nun ein, daß wir zufolge derſelben Liebe und der 
daraus entſpringenden Liebe zu den Mitmenſchen, 
ſtreben müſſen, die Kenntniſſe weiter zu verbreiten, 
zu deren Erlangung uns die Liebe antrieb. Wir 
begreifen nun die hohe Begeiſterung, mit der die 
Bearbeiter der Wiſſenſchaft alles gewagt haben, was 
dem Menſchen ſonſt lieb und theuer zu ſeyn pflegt, 
Wahrheiten zu entdecken, deren Werth allein durch 
die reinſte Wahrheitsliebe zu begreifen war; und 
nichts kann uns von dieſem Standpunkte aus näher 
liegen, als die große Erfahrung, daß die Wiſſen— 
ſchaft überall, in dem unverdorbneren Zeitalter der 
erſten Entwickelung, mit der Religion in innigſtem 
Zuſammenhange geſtanden ſey, ein Zuſammenhang, 
der nur durch Verirrung in einer oder der andern 
Richtung für einige Zeit aufgehoben werden konnte. 

Die Kunſtvorſchriften ſelbſt, welche wir für 


331 


die Behandlung der Wiſſenſchaft haben, daß die 
Wahrheiten gründlich bewieſen, klar dargeſtellt, 
ſyſtematiſch verbunden werden müſſen, erhalten 
hier eine höhere Bedeutung, ſo daß man wohl 
behaupten dürfte, es gehöre zu unſern wahren 
Pflichten, dieſe Vollkommenheiten, ich ſage nicht 
zu erreichen, ſondern erreichen zu wollen. In der 
Wiſſenſchaft wird nämlich die Selbſtſtändigkeit 
der ewigen Vernunft dadurch kund gethan, daß Nichts 
auf etwas Anderes, als auf die eigene Einſicht 
der Vernunft, und zwar ſo erbaut wird, daß 
jede Wahrheit ihre unmittelbarſte Begründung er— 
hält, das iſt, daß man ſich nicht bloß damit be— 
gnügt, einen Ueberzeugungsgrund gefunden zu 
haben, ſondern auch den wahren Daſeynsgrund 
aufſucht für Alles, was bewieſen werden ſoll. Die 
Thätigkeit oder das Leben, welches die zweite Eigen— 
ſchaft war, wird dadurch erhalten, daß das Wahre 
mit Klarheit dargeſtellt wird, welche die eigentliche 
wirkende Kraft des Wahren, ſowie die des Lichts 
iſt. Ihre Harmonie endlich erhalten die Wahr— 
heiten durch jene innige und richtig abgemeſſene— 
Verbindung, welche wir am liebſten Zuſammen— 
ſtimmung nennen möchten. 


332 


Auch darin ſehen wir eine Uebereinſtimmung 
mit der vollkommenen Vernunft, daß jede dieſer 
Tugenden in ihrer Vollendung alle übrigen mit ſich 
führen muß, ſo daß die eine nicht ohne die an— 
dere gedacht werden kann; denn wäre jede Wahr— 
heit in einer Gedankenfolge richtig begründet, ſo 
wäre ſie dadurch auch klar, und an ihrer rechten 
Stelle; und auf gleiche Weiſe würde auch die voll— 
endete Klarheit und die vollendete Zuſammenſtim— 
mung die andern Tugenden mit einſchließen. Für 
uns dagegen mit unſern beſchränkten Kräften iſt 
jede dieſer Tugenden nur in einem einigermaßen 
hohen Grade erreichbar, inſofern ſie in Geſellſchaft 
der andern geſucht wird. 

Ich habe nicht gefürchtet, von Ihnen, geehrte 
Zuhörer, beſchuldigt zu werden, daß ich mich durch 
eine Gedankenfolgerung gar zu weit habe hinreißen 
laſſen, als ich behauptete, daß es zu den Pflichten 
gehöre, die hier geſchilderten wiſſenſchaftlichen Kunſt— 
vollkommenheiten zu ſuchen. Wie konnte ich ſolches 
befürchten, in einer ſolchen Verſammlung von Ver— 
ehrern der Wiſſenſchaft, unter denen ſo viele ſich 
in der höhern Wahrheitserforſchung ſelbſt verſucht 
haben? Wer hat wohl, bei der Entwickelung einer 


333 


wichtigen Wahrheitenreihe, für ſich oder für andere 
es nicht als eine Gewiſſensſache gefühlt, die Voll— 
kommenheiten, von denen ich hier geredet habe, zu 
erreichen? Aber ich wiederhole es: nicht ſie zu 
erreichen, ſondern nur ſie erreichen zu wollen, iſt 
dem Manne der Wiſſenſchaft möglich. 

Aber habe ich dadurch nicht mehr bewieſen, als 
ich gewollt; habe ich dadurch nicht bewieſen, daß 
alle Menſchen Männer der Wiſſenſchaft ſeyn ſoll— 
ten, und bin ich nicht auf ſolche Weiſe mit einem 
natürlichen Gefühle in Widerſpruch gerathen, gegen 
das man nicht verſtoßen kann, ohne alle ſeine, auf 
Denken und Schließen gegründeten Urtheile zu ver— 
dächtigen? — Meine Antwort liegt nahe; denn nur 
Mißverſtändniß könnte meine Worte ſo deuten. 
Wir haben geſehen, daß es auch von dem Geſichts— 
punkte aus, den wir gewählt haben, vielerlei Pflich— 
ten gebe, deren jede freilich allen Menſchen auf— 
erlegt iſt, dennoch aber dieß in verſchiedenem Maße, 
alles mit Rückſicht auf die beſondere Lage eines 
Jeden; denn die Handhabung der Selbſtſtändigkeit 
erfordert, daß der Menſch ſich einen beſtimmten 
Wirkungskreis wähle, und ſein Gefühl für die 
Harmonie des Ganzen gebietet ihm, denjenigen zu 


334 


wählen, worin er am meiſten zur Vollkommenheit 
des Ganzen beitragen kann. 

Während daher die Meiſten in verſchiedenen 
Richtungen darauf hinarbeiten, das Gepräge der 
Vernunft der körperlichen Umgebung aufzudrücken, 
Andere ihre Kräfte anſtrengen, die geſellſchaftliche 
Selbſtſtändigkeit, innere Thätigkeit oder Harmonie 
aufrecht zu erhalten, wählt der eigentliche Bear— 
beiter der Wiſſenſchaft die Erkenntniß zu ſeinem 
Hauptziel. Die Liebe zur Einſicht, welche die 
Uebrigen oft der Erfüllung anderer Pflichten hint— 
anſetzen müſſen, muß bei dem Manne der Wiſſen— 
ſchaft Lebensbeſchäftigung ſeyn; er iſt beſtimmt, die 
heilige Flamme der Weisheit zu nähren, welche ſich 
ſtrahlend zwiſchen den übrigen Menſchen ausbrei— 
ten ſoll; es iſt ſeine nächtliche Lampe, welche die 
Erde erleuchten ſoll. Wehe ihm, wenn er ſeinen 
Beruf nicht als eine Stimme der Gottheit fühlt! 

Prägt Euch daher das Gefühl Eures hohen Be— 
rufes tief ein, Ihr edeln Jünglinge, die Ihr heute 
zu Mitbürgern unſeres wiſſenſchaftlichen Vereins 
aufgenommen werdet. Nur die Ueberzeugung, daß 
Ihr, indem Ihr Euch den Wiſſenſchaften widmet, 
zugleich Gott verehrt, vermag den Muth und die 


Kraft in Euch beſtändig aufrecht zu erhalten, welche 
Euer Beruf erfordert, und die Ihr vergebens in 
äußern Aufmunterungen ſuchen würdet. 

Daß der Reichthum, deſſen Glanz für die 
Meiſten ſo lockend iſt, nicht das höchſte Ziel Eurer 
Beſtrebungen ſeyn dürfe, wird jeder unter Euch 
gefühlt haben, der mit Ueberlegung die Bahn der 
Wiſſenſchaften gewählt hat; denn es iſt zu augen— 
ſcheinlich, daß kein Weg weniger als dieſer zu 
jenem Götzen der verblendeten Sterblichen führe. 
In der Ehre, ich meine nicht die des Augenblicks, 
ſondern die, welche einen Namen über die Wellen 
der Zeit zu fernen Geſchlechtern führt, werden 
vielleicht viele unter Euch eine reichlichere Beloh— 
nung finden, und es iſt wohl nicht zu läugnen, 
daß man in gewiſſer Hinſicht mit einem der herr— 
lichſten und frömmſten Dichter! des verfloſſenen 
Jahrhunderts ſagen könne: „ein unſterblicher Nach— 
ruhm iſt ein großer Gedanke, iſt des Schweißes 
der Edeln werth.“ Wenn aber die Unſterblichkeit 
des Namens nicht von einer höhern Unſterblichkeits— 
hoffnung getragen würde, wenn ſie nicht ein irdi— 
ſcher Widerſchein eines ewigen Lebens wäre, was 


Jean Paul. 


wäre ſie denn anders, als ein leeres Luftgebilde, 
ein Schatten, der von keinem Körper käme, ein 
Regenbogen ohne Verheißung, welcher durch die 
Tropfen der irdiſchen Materie uns keinen Glanz 
eines höhern Lichts zeigte? — Nein, nur die 
Ueberzeugung, daß unſere Wißbegierde ein Stre— 
ben nach der wahren Wirklichkeit, das wahre Leben, 
die wahre Harmonie ſey, kann Euch die rechte be— 
geiſternde Weisheitsliebe geben. Nur das Gefühl, 
daß Ihr Werkzeuge zur Befeſtigung des Reiches 
Gottes auf Erden ſeyd, wenn Ihr Kenntniſſe ver— 
breitet, kann Euch die rechte unverdroſſene Luſt 
geben, Eure Brüder einem höheren Lichte und höhe- 
rer Erkenntniß entgegenzuführen. Seht, meine 
jungen Freunde, dieſes iſt der hohe Beruf, zu dem 
Ihr Euch zu bilden begonnen habt. Setzt mit hei— 
ligem Ernſt Eure Beſtrebungen fort, und Ihr wer— 
det für Euch ſelbſt einer Freude theilhaftig werden, 
welche die Welt nicht geben kann, und Euer Wir— 
ken wird über Euer Vaterland Segen verbreiten, 
ja heilbringend für die ganze Menſchheit ſeyn. 


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