OERSTED # DER GEIST IN DER NATUR
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83
Der Geiſt in der natur.“ 1
Von
—
Hans Chriſtian Oerſted.
Deutſche Original-Ausgabe des Verfaſſers.
München.
Literariſch⸗artiſtiſche Anſta lt
der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1850.
—
Buchdruckerei der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
Inhalt.
Dieſe, zu ſehr verſchiedenen Zeiten geſchriebenen Beiträge ſind hier,
ohne Rückſicht auf die Zeitfolge, ſo zuſammengeſtellt, wie ſie ſich
gegenſeitig am beſten einleiten, beleuchten oder ergänzen konnten.
Das SGeiſtige im Körperlichen, ein Geſpräch. S. 1— 62.
Die beiden Weltanſchauungen, deren eine von der Betrach—
tung des Geiſtigen, deren andere von der des Körperlichen aus—
geht, ſollen verſöhnt werden. EIN,
Was wir zunächſt von den Körpern wiſſen, iſt, daß ſie ſich
als Räume darſtellen, erfüllt mit der Fähigkeit, Wirkungen
hervorzubringen. S. 5— 10.
Das Körperliche, als ein ſolches, iſt unaufhörlichen Wechſeln
unterworfen. S. 10-21.
Als etwas Vorläufiges iſt feſtzuſetzen, daß das Beſtändige,
welches im Wechſel der Körper ſich findet, die Gedankeneinheit
iſt, welche wir darin antreffen. S. 22.
Dieſe Gedankeneinheit iſt doch nicht bloß die unfrige, ſon—
dern gehört der Natur an, denn die Naturgeſetze ſind beſtän⸗
dig. S. 23.
IV
und find zugleich Vernunftgeſetze, S. 26.
doch nicht von unſerer Vernunft herrührend, ſondern von
der Vernunft, die ihre Gültigkeit im geſammten Weltall
hat. N S. 15
Könnte dieſe Meinung von der ae e
Vernunft ſich nicht durch die Eigenthümlichkeit unſeres Den—
kens eingeſchlichen haben? Widerlegung dieſes Zweifels.
S. 32— 42.
Verſchiedene Andeutungen über Fragen, welche weiter be—
handelt werden ſollen. 2
Weiter entwickelte Darſtellung des Wechſelvollen, und die
Wichtigkeit, dasjenige zu ſuchen, was darin das Beſtändige iſt.
S. 49.
Das Weſen eines Dinges wird durch die Geſammtheit der
Geſetze beſtimmt, nach denen alle darin vorgehenden Wirkungen
geſchehen. Dieſe Geſetze werden mit Recht Naturgedanken
genannt. Sie machen in jedem Weſen eine Einheit aus, welche
des Weſens Gedanke, des Dinges Idee, genannt werden kann.
S. 54.
Dieſe Idee iſt nicht bloß eine gedachte Idee, ſondern ver—
wirklicht durch die die Dinge beherrſchenden Kräfte. Das We—
ſen des Dinges iſt demnach ſeine lebendige Idee. S. 54.
Die Ideen finden in der Natur eine vollkommene Verwirk—
lichung. S. 56.
Wiederholter Zweifel, ob nicht-die Stoffe den Dingen ihre
Gißentg än e geben, und Antwort. S.
Ein jedes Ding iſt nur Glied einer Geſammtheit von Din—
gen, die wiederum Glied einer mehr umfaſſenden Geſammtheit
iſt, welche ſelbſt wieder Glied einer höhern iſt, und ſo fort bis
ins Unendliche; eben fo verhält es ſich denn auch mit den Ideen,
deren Verwirklichungen ſie ſind. Das ganze Daſeyn alſo Werk
und Offenbarung der lebendigen Allvernunft. S. 59.
Die Verſöhnung der Gedanken von der Weſengleichheit der
Materie und des Geiſtes liegt darin, daß das Körperliche und
Geiſtige unzertrennlich vereinigt ſind in dem ſchaffenden Gott—
bheitsgedanken. S. 61.
Der Springbrunnen. S. 8
Ausruhe in der Nähe eines großen Springwaſſers; Eindruck
de ſſelben. S. 65.
*
Frage nach der Erklärung dieſes Eindrucks, und in welchem
9 g .
Sinne des Worts dieſelbe zu erwarten iſt. S. 66.
Der Eindruck, den das Steigen des Waſſers der Schwere
entgegen hervorbringt. S. 70.
Der Eindruck der wachſenden Dicke, des ſteigenden Strahls.
S. 73.
Der Eindruck der innern Bewegungen im Strahle und der
daraus erfolgenden Zerſtreuung ſeiner Theile. S. 74.
Verſchiedene Eindrücke beim Laut des Tropfenfalls. S. 77.
Das Schöne in der Figur der Tropfenbahnen. S. 81.
Der in der Geſammtheit der Wirkungen enthaltene Ver—
nunftzuſammenhang wird von dem innern Sinne mit Wohl—
behagen aufgefaßt, welcher ſich dieſer Vernunft zwar nicht be—
wußt wird, aber von der alles beherrſchenden Vernunft! ſelbſt
ſein Weſen hat. S. 83.
Die Lichtwirkungen des Springwaſſers ſteigern die Leben—
digkeit des Eindrucks. S. 83.
Eindrücke hervorgebracht an Springbrunnen von verſchiede—
ner Kraft und Größe. S. 85.
Vom Schönheitseindruck des Erhabenen und Großen.
S. 88.
Vom Schönheitseindruck des Lebensvollen. S. 89.
Das Erhebende, das Lebensvolle, das Harmoniſche als Schön—
heitsformen. S. 90.
Hinweiſung auf den ewigen Urquell des Schönen. S. 92.
Ueber das Verhältniß zwiſchen der Naturauffaſſung des
Denkens und der Einbildungskraft. S. 98
Der bei der Mehrzahl herrſchende Streit zwiſchen der Welt—
auffaſſung ihres Verſtandes und ihrer Einbildungskraft, iſt
Folge ihrer mangelhaften Bildung. S. 95.
Zu einer vollkommenen Bildung wird wenigſtens erfordert,
daß man ſich mit der Natur ebenſo bekannt als mit der Fabel—
welt mache. S. 99.
Wie dieſes zum Selbſtverſtändniß beiträgt, wird hier durch
ein Beiſpiel aus der Aſtronomie beleuchtet. S. 101.
Der durch den Sternhimmel hervorgebrachte Eindruck hat
etwas für alle Menſchen Gemeinſames, enthält aber vieles
Andere, welches allmählig auf jeder höhern Bildungsſtufe hin—
zukommt. S. 102.
VI
Allgemeiner Eindruck des Sternhimmels ohne die Dazwiſchen—
9
kunft des Mondlichts. S. 103.
Die Mondſcheinnacht. S. 104.
Eindruck des Sternhimmels uf, Menſchen in ganz ungebil—
detem Zuſtande. S. 104.
Eindruck auf Meuſchen mit einigermaßen 05
Wahrnehmungsgeiſte. 105.
Eindruck auf Menſchen, welche die erſte Stufe von er
maßen entwickelten aſtronomiſchen Kenntniſſen erreicht haben.
Hier treten höhere, doch immer noch begrenzte Vorſtellungen
von der Größe und Ordnung der Welt hervor. S. 106.
Geringe Aenderung hierin, vom Alterthum an bis auf Co—
pernieus. Man nimmt hier das ganze mit ihm e
Zeitalter als Einheit. 1
Die Erfolge der wiſſenſchaftlichen Weltmeſſungen 5
um von der Einbildungskraft gefaßt zu werden, erſt von dieſer
bearbeitet worden ſeyn. S. 115.
Daſſelbe in Beziehung auf die Zeitverhältniſſe. S. 116.
Der Eindruck des Sternhimmels, den Derjenige empfängt,
welcher ſeine Einbildungskraft durch eine denkende und klare
Auffaſſung der Lehre vom Weltſyſtem befruchtet hat.
S. 118.
Der Charakter, den der Eindruck durch den Gedanken erhält,
daß vernünftige Bewohner über das ganze Weltall verbreitet
ſind. S. 121.
Das noch mehr Erhebende, welches dieſer Eindruck bei Dem—
jenigen erhält, welcher von der Ueberzeugung durchdrungen
iſt, daß das Ganze ein Vernunftreich ſey. S. 125.
Aberglaube und Unglaube in ihrem Verhältniß zur
Uaturwiſſenſchaft. 129.
1. Was Aberglaube und Unglaube ſey. 131.
Eine Unterſuchung hierüber iſt noch keineswegs überflüſſig.
S. 131.
Vorläufige Warnung für diejenigen, welche dem Aberglau—
ben eine mehr als zufällige Beziehung zum Glauben oder zu
dem Poetiſchen beimeſſen. S. 132.
Aberglaube iſt ein Hang, etwas anzunehmen, was außerhalb
der Ordnung der Natur liegt. S. 133.
VII
Da aber die Natur das beſtändig fortgeſetzte Werk der
ewigen Vernunft iſt, iſt der Aberglaube ein Hang zum Ver—
nunftwidrigen, folglich eine Einbildung, die ſich durch ihre
Benennung den Namen des Glaubens angelogen hat.
S. 139.
Dieſer Hang iſt eine Entartung von urſprünglich guten
Anlagen. S. 139.
Unglaube iſt ein Hang, alle unmittelbare Gewißheit,
welche nicht von den Sinnen herkömmt, zu verwerfen.
S. 142.
2. Urſprung und Entwickelungsgang des Aberglaubens
und des Unglaubens. S. 143.
Die Schönheit der früheſten Weltauffaſſung des Menſchen—
geſchlechts mußte durch die Weltkräfte ſelbſt vernichtet werden,
um das Geſchlecht einem höhern Standpunkte entgegen zu
führen. S. 143.
Die Aufklärung des Verſtandes über die Naturbegebenheiten
erweckt bei Einigen Zweifel gegen alte Meinungen, bei An—
dern ein ſtärkeres Anhangen an dieſelben und Haß gegen das
Neue. S. 144.
3. Das Mittelalter als Beiſpiel eines abergläubiſchen
Zeitalters. S. 153158.
Das Chriſtenthum konnte den Aberglauben, welcher Hülfe
beim Teufel ſuchte, nicht aufheben. S. 153.
Die falſche Auffaſſung des Menſchen hat der Religion den
gröbſten Aberglauben beigemiſcht. e. 1
Gegen die einſeitigen Lobredner des Mittelalters muß man
die wahre Geſchichte als Zeuge aufſtellen. S. 157.
4
4. Der Aberglaube greift verwirrend in das ganze
Leben ein. S. 158 — 161.
5. Das vermeintlich Poetiſche des Aberglaubens.
S. 162—180.
Die Geſchöpfe des Aberglaubens brauchen nicht, um dichte—
riſchen Werth zu haben, an der äußeren Wirklichkeit Theil zu
nehmen; dieſe der Poeſie wegen zu fordern, iſt ein proſaiſcher
Irrthum. S. 162.
VIII
Eine wahre Einſicht in die Dinge kann den Trotz nicht
billigen, womit einige Dichterwerke eine äußere Wirklichkeit
für die vom . erſchaffenen Mächte der Finſterniß
zu vertheidigen ſtreben. Das wahre Reich des Schönen iſt ein
Reich der Vernunft. S. 164.
Das von Einigen beliebte Steben, den Aberglauben wieder
emporzubringen, hat den Fehler, daß es Niemand ernftlich da—
mit meint, und daß es nur Viele zu einem angenommenen We—
ſen verleitet. S. 168.
Grober Mißbrauch der Wörter poetiſch und proſaiſch.
S. 169.
Die Naturwiſſenſchaft beſchränkt zwar den Dichter in Rück—
ſicht auf den Gebrauch einiger naturwidrigen Vorſtellungen:
aber — außer daß ſie ihm durch höhere Einſichten, als Menſch,
reichen Erſatz gewährt — eröffnet fie ihm eine neue und reiche,
noch wenig dichteriſch benutzte Welt. Sue
Die Wirkungen des Unglaubens. S. 180—184.
Der Unglaube iſt zwar ebenſo verderblich als der Aberglaube,
da er aber gewöhnlich durch die Fortſchritte der Wiſſenſchaft
erzeugt wird, unterdrückt ihn ihr ferneres Fortſchreiten leichter.
S. 180.
Inzwiſchen kann er eine Uebermacht gewinnen, die Land und
Leute ins Verderben führt. S. 182.
Zu jeder Zeit wird es viele geben, die weder vom Aberglau—
ben noch vom Unglauben beherrſcht werden. S. 183.
Wie Naturwiſſenſchaft gegen Aberglauben wirkt.
„
Es iſt nicht die einzige Wirkung d er Naturwiſſenſchaft gegen
den Aberglauben, daß ſie gewiſſe Meinungen ausrottet, ſon—
dern ſie wirkt zugleich durch den Geiſt, den ſie erweckt.
S. 184.
In einer Reihe von zuſammenhängenden Beiſpielen wird
die den Aberglauben vernichtende Wirkungsweiſe der Natur—
wiſſenſchaft näher gezeigt, deren höchſte Kraft endlich darin
liegt, daß ſie uns die Natur von ewigen Vernunftgeſetzen be—
herrſcht darſtellt. a S. 185.
Mehrere Beiſpiele. S. 190.
Die beſtändig mehr durchgreifende Anwendung der Natur—
wiffenfchaft im Leben weckt ſelbſt in den bisher weniger ge—
bildeten Ständen eine dem Aberglauben verderbliche Gedanken—
thätigkeit. S. 193.
Von abergläubiſchen Meinungen, die durchaus ohne Natur—
weren bee jind. ©. 197.
Der, welcher ſich durch geiſtige Anſchauung die Lehre von
der Natur als ein Vernunftgaͤnzes recht angeeignet hat, muß
insbeſondere den Aberglauben kräftig abweiſen, welcher dage—
gen nicht immer durch einſeitige Kenntniſſe in gewiſſen Rich—
tungen ausgeſchloſſen wird. S. 200.
S. Die Wirkung der Naturwiſſenſchaft ga den Un=
glauben. 203—213.
Wohl widerlegt die Naturwiſſenſchaft br manchen un—
gläubigen Gedanken, zu welchem ſie Anlaß gegeben hat; aber
die Geſetzmäßigkeit und eine daraus folgende Nothwendigkeit,
welche ſich in Allem zeigt, wird leicht als eine blinde Nothwen—
digkeit, die der Vernunft vorangeht, und nicht aus ihr erfolgt,
mißverſtanden. S. 203.
Es iſt hier nicht genug, ſich darauf zu berufen, daß viele
Naturforſcher Zweck und Plan in der Natur nachgewieſen
haben; denn der Nothwendigkeitsgedanke ſcheint ihnen zu wi—
derſprechen. S. 205.
Aber die Naturwiſſenſchaft zeigt uns die ganze Welt als
ein Werk der Gottheit. S. 209.
Zwar ſcheint die Nothwendigkeit die freie Weisheit auszu—
ſchließen; aber in der ewigen Vernunft ſind ſie unauflöslich
vereinigt. S. 210.
Das ganze Daſeyn ein Vernunftreich. 3
1. Die Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens durch
das ganze Weltall. S n
Der Gegenſtand muß zu der Naturwiſſenſchaft hingerechnet
werden. S. 217.
Darf nicht verſchmäht werden, weil die Kenntniß davon von
der Vollkommenheit noch ſo entfernt iſt. S. 219.
Die Behandlung des Gegenſtandes iſt hier ſehr verſchieden
von der methaphyſiſchen. S. 219.
—
Die Weſeneinheit ſchließt eine Mannigfaltigkeit großer
Verſehiedenheiten nicht aus. S. 220.
Die Behandlung muß hier eine ſolche ſeyn, welche die Wahr—
heiten für die Anſchauung darſtellt. S. 221.
Eine zuſammenhängende Reihe von Beiſpielen, um zu zei—
gen, daß die Bewegungsgeſetze in der Vernunft begründet find.
Ein Jupiterbewohner muß die von uns erkannten Geſetze
in der ihn umgebenden Welt wiederfinden, und er würde ſich
dieſelben unrichtig vorſtellen, wenn ſein Erkenntnißvermögen
von dem unſrigen grundverſchieden wäre. S. 226.
Zweifel gegen die Richtigkeit unſerer Auffaſſung wird durch
die unſäglich vielfältigen und genauen Uebereinſtimmungen
der vorausgeſagten und wirklichen Himmelsbegebenheiten wi—
derlegt. S. 228.
Fortgeſetzte Betrachtung über die von uns angenommene
Beſchaffenheit der Naturauffaſſung eines Jupiterbewohners.
S. 229.
Beiſpiele, die Möglichkeit großer Ungleichheiten bei glei—
cher Weſenseinheit zu beleuchten. S. 232.
Fernere Entwickelung der Weſensgleichheit des Erkenntniß—
vermögens bei den Bewohnern des Jupiter und der Erde.
S. 233.
In allem Weſentlichen läßt ſich das über den Jupiterbe—
wohner Beleuchtete nicht nur auf das Erkenntnißvermögen
der Bewohner der übrigen Planeten unſeres eee
anwenden, ſondern auch ferner noch auf das des ganzen Welt—
alls. S. 235.
Die Geſetze des Lichts, Vernunftgeſetze. S. 236.
Sie gelten ebenfalls über das geſammte Weltall. S. 237.
Es wird gezeigt, wie die Weſensgleichheit in der Auffaſ—
ſung des Lichts mit großen Verſchiedenheiten gepaart ſeyn
könne. S. 238.
Da die Schallwirkung auf Schwingungen beruht, welche
in allen Körpern vorgehen können, fo werden Weſen, die ſich
ihres körperlichen Zuſtandes bewußt find, Empfindungen ha—
ben, welche der Schallempfindung entſprecheu. S. 243.
Uebergang zur Betrachtung der Weltbedeutung der chemi—
ſchen Naturgeſetze. S. 244.
Die Geſetze für Elektrieität, Galvanismus und Magnetis—
mus ſind Vernunftgeſetze. S. 245.
Geſchichtliche Bemerkungen und Vorausſehungen über die
Entwickelung der Chemie. S 246.
Die Eigenſchaften, welche wir hier auf der Erde allgemeine
nennen, ſind es ebenfalls im ganzen Weltall. S. 248.
Die Gültigkeit der Geſetze der Wärme für das ganze Weltall.
S. 251.
Die Allgemeinheit der Elektrieitätsgeſetze, ein Beweis mehr
für die Allgemeinheit der chemiſchen Naturgeſetze. S. 252.
Ein ausgezeichneter Chemiker, welcher in ſeiner Wiſſen—
ſchaft Grund zu finden meinte, das allgemeine Verhalten der
Schwere zur Maſſe in Zweifel zu ziehen, prüfte daſſelbe ſelbſt
durch Verſuche und fand ſeinen Zweifel widerlegt. S. 253.
Die Gleichartigkeit der Materie im Weltraume wird durch
die Meteorſteine bekräftigt. S. 254.
Die übrigen Planeten ſind nach denſelben Geſetzen, als die
Erde, hervorgebracht worden. Gleich wie der Menſch das
höchſte Erzeugniß der Erdentwickelung iſt, müſſen die ſelbſt—
bewußten Weſen anderer Weltkörper Erzeugniſſe ihrer Ent—
wickelung ſeyn. Sind ſie alle nach denſelben Geſetzen hervor—
gebracht, müſſen ſie auch in ihrem Erkenntnißvermögen eine
Grundähnlichkeit haben. S. 256.
2. Die Grundähnlichkeit der Schönheitsgeſetze im gan—
zen Weltall. S. 259.
Die Weſensgleichheit des Erkenntnißvermögens und der
ſinnlichen Fähigkeiten bringt auch die des Schönheitsſinnes
mit ſich. S. 259.
Bei den Erdbewohnern beruht der Schönheitsſinn darauf,
daß die Befähigung für ſinnliche Eindrücke, welche nach den—
ſelben Vernunftgeſetzen, als das ganze übrige Daſeyn, her—
vorgebracht iſt, ein befriedigendes Gefühl durch das Vernunft—
mäßige hat; daſſelbe Geſetz muß auch im übrigen Weltall
gelten. S. 261.
Dieſes wird durch Beiſpiele beleuchtet, welche Figuren und
Geſtalten entnommen find. S. 262.
Beiſpiele von Lichtwirkungen. S. 264.
Beiſpiele von Schallwirkungen. S. 269.
3. Das gleiche Grundweſen der moraliſchen Natur in
dem ganzen Weltall. S. 271.
XII
Hier wird wiederum mit den Erdbewohnern angefangen
und gezeigt, auf welche Weiſe der Wille freier Weſen unter
den ewigen Naturgeſetzen ſteht. S. 20%
Das Menſchengeſchlecht beginnt, wie der einzelne Menſch,
mit bloßen Anlagen, welche in der Wechſelwirkung mit der
übrigen Welt ſich entwickeln ſollen. SEIEN
Schon auf der erſten Entwickelungsſtufe des Menſchenge—
ſchlechts tritt ein ſchwacher Keim von Gottesbewußtheit her—
vor. S. 274.
Die früheſte Naturentwickelung von Pflicht- und Tugend—
bewußtheit. l 273:
Die höher begabten Geiſter führen und leiten dieſe Ent⸗
wickelung und fühlen ſich hierin gottbefeelt. S. 277
Die weitere Entwickelung des Gottesbegriffs. S. 278.
Unter dieſer Entwickelung trägt die Naturwiſſenſchaft vieles
zur Verjagung der Götzen bei. S. 280.
Schwingungen in dieſer Entwickelung. S. 281.
Die vielen von Denkern gate Moralſyſteme deu—
ten ſämmtlich auf die Wahrheit hin, daß unſer Wille und
Leben mit der ewigen Vernunft übereinſtimmen müſſen.
S. 282.
Die Verſuchungen, welche von der körperlichen Natur her—
rühren, laſſen ſich nur in der Zuſammenſtellung mit den mo—
raliſchen Abſchweifungen und allen andern der Endlichkeit
0
angehörenden Verirrungen richtig beurtheilen. S. 286.
geh 9 g
Die wahre Bedeutung des Gegenſatzes zwiſchen Gott und
8 ) 9 d g
Welt. S. 287.
Wie der Mißbrauch der menſchlichen Freiheit nicht die
Macht hat, die Ordnung der ewigen Vernunft zu ſtören.
S. 289.
Der Mißbrauch der menſchlichen Freiheit ſtellt ſich noch
mehr als eine unendlich kleine Wirkung, in Beziehung zum
Ganzen, dar. S. 297.
Die ſämmtlichen Betrachtungen führen zu der Ueberzeugung,
daß das geiſtige Leben auf der Erde, trotz mancher Schwin—
gungen, ſchon mehr und mehr zur Verwirklichung eines Ver—
nunftreiches ſich entwickele. S. 299.
Die Kenntniſſe, Einſichten und der Glaube des Einzel—
menſchen ſind weit entfernt, ausſchließlich ſein eigenes Werk
zu ſeyn. S. 300.
en
Die
Anwendung des Vorhergehenden auf die Bewohner anderer
Weltkörper. S. 303.
Vorſicht bei dieſer Anwendung. S. 305.
Erkenntnißgemeinſchaft zwiſchen den Weltkörpern.
S. 307.
Gleich wie wir einige Kenntniß haben von dem Zuſtande
auf andern Weltkörpern, wird man auf andern Weltkörpern
auch Kenntniß haben können von dem Zuſtande auf dem unſ—
rigen. S. 308.
Geſchichtliche Warnung für die Zweifelnden. S. 309.
Wir ſchreiten fort in der Kenntniß von dem Zuſtande auf
den andern Weltkörpern. Auf vielen derſelben iſt man uns
wahrſcheinlich weit vorausgeſchritten. Im ganzen Weltall ent—
wickelt ſich eine eigene Art von e zwi⸗
ſchen den endlichen, denkenden Weſen. 1
Kultur der Wiſſenſchaft, als Veligionsübung be-
trachtet, n
Einleitende Worte. Ein Feſt für die Verbeſſerung der Re—
ligion und der Univerſität bei uns fordert uns auf, den
drohenden Verirrungen dadurch entgegenzuwirken, dau wir
das Gleichgewicht der Wahrheit betrachten, von dem fie uns
wegführen würden. S. 317.
Die Rede wird zeigen, wie das eigene Weſen der Wiſſen—
ſchaft fordere, daß ihre Kultur ſich zur Religion entwickele.
S. 320.
Es liegt im Weſen der Forſchung, das Ewige in den Din—
gen zu ſuchen. S. 321.
Die Grundformen der ewigen Vernunft ſind: Selbſtſtän⸗
digkeit, Thätigkeit und Harmonie. S. 322.
Dieſelben Grundformen finden ſich im Schönen, nämlich:
das Erhabene, das Begeiſternde, das Harmoniſche. S. 324.
Das Gute, was wir zu ſuchen haben, muß das in Wahr—
heit Unvergängliche ſeyn. S. 326.
Die Sittenlehre verwandelt ſich hier in Religion, und
fordert, daß wir mit ganzer Kraft das Bild Gottes in uns
erhalten und ſeinen Willen verwirklichen ſollen. S. 327
XIV
Die Formen der Tugend ſind: Selbſtſtändigkeit, Thätigkeit
und Harmonie. Es wird in großer Kürze gezeigt, wie ſich
dieſes verhält, und namentlich wird die Pflicht gezeigt, das
Reich der Vernunft zu verbreiten. S. 328 u. f.
Dieſelbe Pflicht erheiſcht, daß wir die wiſſenſchaftliche
Kunſtvollkommenheit zu erreichen ſuchen, wozu Gründlichkeit,
Klarheit und Uebereinſtimmung gehören. 380
Aus der Wiſſenſchaftspflicht folgt nicht, daß jeder in der
Wiſſenſchaft arbeiten ſolle. Hoher Beruf des Wiſſenſchafts—
mannes. S. 333.
Hieraus geht eine Ermunterung für junge Wiſſenſchafts—
männer hervor. S. 334.
Das Geiſtige im Körperlichen.
Ein Geſpräch.
Derfter, ter Geiſt in der Natur. | |
Dieſes Geſpräch war anfangs beſtimmt, das dritte meiner „Ge—
ſpräche über das Schöne“ zu bilden, und der Anfang trägt Spuren
davon; da es aber einen Gegenſtand behandelt, der ſich nur mittelbar
auf die Auffaſſung des Schönen, unmittelbar aber auf unſere ganze
Weltauffaſſung bezieht, und weil zu deſſen Verſtändniß die beiden
frühern Geſpräche nicht erfordert werden, wird es hier mitgetheilt.
Alfred. Sophie. Felix. Hermann.
Sophie. Der Abend hat uns denn von neuem
verſammelt und iſt ſo ſchön als der geſtrige. Er
ſcheint mir recht zur Fortſetzung der abgebrochenen
Unterhaltung einzuladen.
Hermann. Gewiß theilen wir alle Ihren
Wunſch. — Du ſagteſt geſtern, lieber Alfred, du
ſeyeſt beides, Spiritualiſt und Materialiſt. Da ich
weiß, daß du dieß weder aus Rechthaberei, noch
aus eitlem Hang zum Sonderbaren geſagt haſt, ſo
möchte ich gerne deine Erklärung darüber hören.
Alfred. Zwar berühren wir hier einen der
großen philoſophiſchen Streitpunkte, ich will aber
nach beſtem Vermögen ſuchen von meiner Vorſtel—
lungsweiſe Rechenſchaft zu geben.
Sophie. Es mag unbeſcheiden erſcheinen,
ich kann aber einen Wunſch nicht zurückhalten.
Ich fühle das größte Verlangen dieſe Dinge zu
begreifen und möchte daher Alfred bitten, ſich wo
möglich ſo auszudrücken, daß auch Ungelehrte wie
ich es zu faſſen vermögen.
Alfred. Laſſet es uns verſuchen. Damit wir
aber nicht etwas übergehen, was ich, wenn ich
nur mit meinem Freunde ſpreche, als bekannt vor—
ausſetzen würde, will ich die Rede an Sie richten
und ihn bitten, Einſprache zu thun, wenn wir
etwas als ausgemacht annehmen, was er unrichtig
findet.
Hermann. Damit bin ich ganz zufrieden.
Sophie. Und ich ſehe einen lieben Wunſch
erfüllt.
Alfred. So werde ich denn mit einer Frage
beginnen müſſen, die Sie vielleicht etwas unzeitig
finden werden: Wie gelangen wir zur Kenntniß
der äußern Dinge? |
Sophie. Durch die Sinne, denke ich.
Alfred. Und lehren uns die Sinne den ganzen
Gegenſtand auf einmal kennen?
Sophie. Darüber habe ich nicht nachgedacht.
5
Alfred. Indem ich die Hand auf dieſes Buch
lege, fühle ich da das ganze Buch oder nur eine
Wirkung deſſelben, einen Widerſtand nämlich gegen
die Bewegung, womit meine Hand in den vom
Buche eingenommenen Raum eindringen wollte?
Sophie. Letzteres wird wohl der Fall ſeyn;
aber zeigt der Anblick mir nicht das ganze Buch?
Alfred. Doch nicht das ganze auf einmal?
Sophie. Allerdings nicht; einige Theile
werden dem Auge durch andere verdeckt.
Alfred. Ueberhaupt hätte Sie der bloße Au—
genſchein betrügen können; unter Umſtänden kann
ein Spiegelbild oder ein treues Gemälde das Auge
täuſchen, als ob es eine körperliche Sache wäre.
Sophie. Das iſt wahr.
Alfred. Wir erkennen alſo das Daſeyn eines
körperlichen Dings nicht durch einen einzigen Sin—
neseindruck, ſondern dadurch, daß unſer geiſtiges
Weſen vielfältige Sinneneindrücke zuſammenfaßt.
Sophie. Doch überzeugt mich oft ein ein—
ziger Blick von der Wirklichkeit eines Dings.
Alfred. Ich bin weit entfernt dieſes in Ab—
rede zu ſtellen; ich gebe vielmehr zu, daß dieß meiſt
der Fall iſt. Wenn aber ein Blick Sie überzeugt,
daß es ein Buch ſey, was Sie ſehen, fo erneuern
ſich Ihnen, der Einrichtung unſeres ganzen Weſens
gemäß, zahlloſe ältere Eindrücke, ſo daß das Ding
Ihnen in ſeiner Ganzheit erſcheint, obgleich es nur
ein ſehr geringer Theil war, von dem Ihre Sinne
einen Eindruck empfingen.
Sophie. Alſo konnte ich mich täuſchen, wenn
nicht alles beiſammen war, was ſich zu begleiten
pflegt? Ja, nun fällt mir Manches ein, nach dem
ich dieß vorher hätte wiſſen können. Ich habe
einmal jene Luftbilder geſehen, welche man Fata
Morgana oder Luftſpiegelungen! nennt, und ich
war lange überzeugt, es ſeyen wirkliche Häuſer,
Bäume und Waſſer, was ich vor mir ſah. Ich
erinnere mich nun auch eines merkwürdigen Ver—
ſuchs mit einem Hohlſpiegel, mittelſt deſſen man
das Bild einer Blume ſo über einem Blumentopf
ſchweben ließ, daß man in Verſuchung kam das
Bild für die Sache ſelbſt zu halten.
Alfred. Wir nehmen demnach die Gegenſtände
ſelbſt nicht unmittelbar wahr, z. B. einen Baum,
ein Haus, ein Buch; was wir eigentlich auffaſſen,
iſt der Eindruck, den das Ding in uns hervor—
Däniſch Hildringer.
7
bringt. Aber dieſer Eindruck iſt ja eine Wirkung,
welche nicht ohne ein Thätiges in den Dingen
hervorgebracht werden konnte. Nur dieſes alſo
gibt ſich uns zu erkennen.
Sophie. Ich ſehe nicht, wie ich dieß leugnen
ſoll, und doch, wenn ich mir einen Metallklumpen,
einen Stein oder Holzklotz denke, bin ich ſo weit
entfernt mir dabei etwas Thätiges vorzuſtellen,
daß es mir vielmehr ſcheint, als ſey Alles daran
todt, ſo unbewegt, ſo ganz das Gegentheil jeder
Thätigkeit, als ob die Natur der Körperlichkeit
vielmehr in unwirkſamem Seyn als in beſtändigem
Wirken beſtände.
Alfred. Aber dieſe Vorſtellungsweiſe hält
nicht die Probe der Erfahrung aus. Wenn Sie
einen Stein auf einen andern legen, trägt dann
nicht der unten liegende den oben liegenden?
Sophie. Gewiß; geſchieht dieß aber durch
eine Thätigkeit? 3
Alfred. Wie ſonſt? Wo etwas bewirkt wird,
muß ja etwas Wirkendes ſeyn. Im vorliegenden
Fall wird bewirkt, daß der oben liegende Stein
in ſeinem unabläſſigen Beſtreben zu fallen aufge—
halten wird.
Sophie. Ich weiß nichts darauf zu erwidern,
und doch will es mir ſcheinen, als ob es einen
todten Widerſtand geben müſſe.
Alfred. Sie thun wohl daran, Ihren Zweifel
nicht zurückzuhalten. Ein unwirkſamer Widerſtand
iſt ein Unding, das öfter, als man glauben ſollte,
die Menſchen betrogen hat; aber fürchten Sie hier
nicht durch einen philoſophiſchen Machtſpruch ab—
gewieſen zu werden. Die Aufklärung der Sache
muß aus ihrer eigenen Betrachtung hervorgehen.“
Laſſen Sie uns daher von Neuem unſer Beiſpiel
vornehmen. Glauben Sie nicht, daß der über dem
andern liegende Stein dieſen drückt?
Sophie. Gewiß.
Alfred. Und daß der unten liegende gedrückt
wird?
Sophie. Verſteht ſich.
Alfred. Wird aber das, was gedrückt wird,
nicht auch zuſammengedrückt?
Sophie. Gewiß ſehr oft, aber geſchieht es
immer? Es ſcheint mir nicht, daß ein Stein zu—
ſammengepreßt wird, wenn man etwas darauf legt.
Alfred. Der Stein wird nur ſehr wenig
zuſammengedrückt; man hat ſich aber durch feine
—
Meſſungen überzeugt, daß alle Körper zuſammen—
gedrückt werden können.
Sophie. Um aber einen Stein zuſammenzu—
drücken, bedürfte es doch eines ungeheuren Gewichts.
Alfred. Um ihn ſo weit zuſammenzudrücken,
daß er auch nur um ein Tauſendtheil kleiner würde,
möchte ſchon eine ſehr große Kraft erforderlich ſeyn;
erfolgt aber der Druck mit geringerer Kraft, ſo
wird zwar die Verkleinerung in eben dem Maße
geringer, indeſſen entſpricht jedem noch ſo geringen
Druck eine gewiſſe Zuſammendrückung.
Sophie. Sehr wohl, wenn dieß durch Ver—
ſuche erwieſen iſt, bin ich weit entfernt wider—
ſprechen zu wollen, da es mir ganz wahrſcheinlich
vorkommt.
Alfred. Sobald nun die drückende Kraft auf
den Stein zu wirken aufhört, wird er ſich von
neuem zu ſeinem frühern Raum ausdehnen.
Sophie. Iſt dieß immer der Fall?
Alfred. Ja, wenn der Druck nicht ſo groß
war, daß eine innere Zerquetſchung ſtattfand.
Sophie. So begreife ich, daß der Körper,
der gedrückt wird, einen ſteten Gegendruck gegen
den ihn drückenden ausübt, und folglich, daß er
einen wirkſamen Widerſtand dem entgegenſetzt, der
ſich in ſeinen Raum einzudrängen ſtrebt.
Alfred. Die Körper beſitzen alſo eine innere
Thätigkeit, vermittelſt welcher ſie ihren Raum aus—
füllen. Wenn demnach Ihre Hand die Gegen—
wart dieſes Tiſches fühlt, ſo iſt es eigentlich nur
ſeine raumerfüllende Thätigkeit, welche ſich Ihnen
kund gibt; und jeder andere Eindruck, den Sie von
körperlichen Dingen empfangen, iſt gleichfalls nur
Kundgebung einer Thätigkeit. Sie würden nichts
ſehen, wenn die Gegenſtände nicht entweder die
Kraft beſäßen, Licht zu entwickeln, oder etwas von
dem Lichte, welches anders woher auf ſie fällt, ſo
zurückzuwerfen, daß Ihr Auge einen Theil davon
aufzufangen vermag. Doch ich brauche nicht län—
ger in Beiſpielen zu reden; ich zweifle nicht, Sie
erkennen mit mir an, daß jeder Eindruck eine Thä—
tigkeit vorausſetzt. |
Sophie. Ich hätte dieſes nicht jo langſam
begreifen ſollen, da es ſich eigentlich von ſelbſt
verſteht.
Alfred. Was wir zunächſt von den Körpern
wiſſen, iſt demnach, daß ſie krafterfüllte Räume ſind.
Sophie. So wäre denn das Körperliche dem
11
Geiftigen näher verwandt, als man ſich vorzuſtellen
pflegt. Aber während mir hier eine Schwierigkeit
aus dem Wege geräumt wird, begegnet mir eine
andere. Das Körperliche wird hier vor meinen
Augen in einen Dunſt, in ein Luftiges aufgelöst,
das ich mit dem Zeugniß der Sinne nicht zu ver—
einen vermag.
Alfred. Sie ſcheinen ſich vorzuſtellen, es ſey
eigentlich nur ein zu weit getriebener Gedanke, der
uns auf dieſe Weiſe die Körper in Nebelgebilde,
in Luft und Dunſt auflöst. Aber was werden Sie
ſagen, wenn ich Ihnen verſichere, daß zahlloſe,
mittelſt körperlicher Hülfsmittel unternommene na—
turwiſſenſchaftliche Unterſuchungen uns daſſelbe
lehren?
Sophie. Wie ſo?
Alfred. Dieß thut die Chemie.
Sophie. Von dieſer Wiſſenſchaft verſtehe ich
leider nichts.
Alfred. Dieß ſoll mich nicht abhalten, Ihnen
erzählungsweiſe ein paar Beiſpiele daraus mitzu—
theilen. Eis iſt ja ein feſter Körper; wenn es
aber von einer gewiſſen Wärmemenge durchdrungen
wird, ſo wird es, wie allgemein bekannt, zu Waſſer,
und dieſes selbe Waſſer wird, von einer noch
größern Wärmemenge durchdrungen, zu einem un—
ſichtbaren Dampf. Das, was hiebei die Maſſe
bildet und ſich durchs Gewicht beſtimmen läßt,
bleibt unter allen dieſen Zuſtandsveränderungen
unverändert daſſelbe. Dieß gilt nun nicht nur vom
Waſſer, ſondern von allen übrigen Körpern. Ich
brauche Ihnen nicht zu ſagen, daß das harte Eiſen
in ſtarker Hitze flüſſig wird; vielleicht aber dürfte
es Ihnen neu ſeyn, daß auch Eiſen bei gewiſſen
Hitzegraden ſelbſt in Dampf verwandelt werden
kann. Ich führe dieſes Beiſpiel an, weil es den
Alltagsbegriffen von der Körperlichkeit ſo auffallend
widerſpricht. Es iſt, wie geſagt, ein allgemeines
Geſetz, daß jeder Körper feſt, tropfbarflüſſig und
in Dampfform eriftiren kann, und ich bemerke hier
nur beiläufig, daß Dampf- und Luftzuſtand in
ihrem Weſen nicht verſchieden ſind. Aber ich bleibe
dabei noch nicht ſtehen. Die einfachſten Körper
ſcheinen am geneigteſten in luft- oder gasförmigem
Zuſtand aufzutreten. Das Waſſer, das ſo lange
als Element betrachtet wurde, kann durch chemiſche
Kunſt in zwei Beſtandtheile zerlegt werden, deren
jeder für ſich eine eigene Luftart iſt und die ver—
13
einigt wiederum Waller bilden, ohne daß diefe
Umwandlung Einfluß auf die Menge der Maſſe
hätte. Um Ihnen nicht Gegenſtände außerhalb des
gemeinen Lebens zu nennen, erwähne ich nur, daß
Zucker, Holz, Horn und viele andere feſten Körper
des Gewächs- und Thierreichs ſich ebenfalls in
luftartige Beſtandtheile zerlegen laſſen; ja, es iſt
ſehr wahrſcheinlich, daß alle Körper dereinſt als
aus luftartigen Grundſtoffen zuſammengeſetzt er—
ſcheinen werden; aus Stoffen nämlich, welche ihren
luftförmigen Zuſtand bei niedrigern Wärmegraden
als andere Körper zu behaupten vermögen.
. Sophie. Ich glaube dieß gern, aber ich finde
die Schwierigkeit dadurch dennoch nicht gehoben,
wenn es auch den Worten nach ſo ſcheint.
Alfred. Ich habe dieß, aufrichtig geſagt,
auch nicht erwartet. Sie haben ſchwerlich den
rechten Ausdruck für Ihren Zweifel gefunden.
Sophie. Warum warnten Sie mich denn
nicht?
Alfred. Weil ich glaubte, auch die Schwie—
rigkeit, auf die ich hier Rückſicht genommen, ſey
ein Beſtandtheil Ihres Zweifels, von dem Sie ſich
ſelbſt nicht volle Rechenſchaft gegeben.
14
Sophie. Ich glaube Sie haben Recht; aber
welche andern Beſtandtheile hat denn mein Zweifel?
Alfred. Sie vermiſſen in der Vorſtellung,
welche ich Ihnen von den Dingen gegeben, die
Beſtändigkeit, an welche Sie in der Körperwelt
gewöhnt ſind. Auf das, was ich Ihnen weiter
geſagt, werden Sie erwidern: nicht nur die Dich—
tigkeit oder Feſtigkeit allein iſt es, was ich ver—
miſſe, wenn ich mir die Körper als bloße Raum—
erfüllungen denke; ich begreife gleichfalls nicht die
Möglichkeit der vielfachen beſtimmten und dauern—
den Geſtalten, welche ich überall in der Körper—
welt erblicke.
Sophie. Ich geſtehe, dieß ſcheint mir eine
große Schwierigkeit.
Alfred. Da möchte ich Sie denn erſuchen,
das Vergängliche alles Körperlichen noch etwas
genauer mit mir zu betrachten, um deſto ſicherer
das Unvergängliche am rechten Ort zu ſuchen.
Die fortwährende Veränderlichkeit des menſchlichen
und aller thieriſchen Körper bedarf kaum einer Er—
wähnung. Eine tägliche Erfahrung ſtellt uns vor
Augen, wie ſie geboren werden, wachſen, abneh—
men, untergehen, und wie eine Geſchlechtsfolge
15
beſtändig die andere ablöst. Im Reiche der Ge—
wächſe iſt dieſelbe Erſcheinung nicht minder klar.
Blumen, Gras, überhaupt alle jährlich abſterben—
den Pflanzen haben zu jeder Zeit als Beiſpiele
der Vergänglichkeit gedient. Ja ſelbſt die mäch—
tigen Bäume, welche ſich durch Jahrhunderte be—
haupten, ſind derſelben Vergänglichkeit unterwor—
fen, nur ungleich langſamer. Aber ſelbſt unſer
Erdball, der nach unſern gemeinen Vorſtellungen
als der feſte Träger alles Uebrigen gilt, ſteht ja
nicht feſt; er dreht ſich, wie Sie wiſſen, täglich
um ſeine Achſe, und vollendet alljährlich ſeinen
Umlauf um die Sonne. Aber die Sonne ſelbſt
hat ihre von uns noch nicht ermeſſene Bahn und
iſt auf einer ungeheuren Wanderung begriffen, auf
der die Erde und alle ihre Geſchwiſterplaneten ſie
zu begleiten genöthigt ſind; den Mittelpunkt aber,
um welchen die Sonne eine Bahn beſchreibt, deren
Größe uns unermeßlich ſcheint, können wir mit
der größten Sicherheit abermals als bewegt an—
ſehen; kurz alle Weltkörper bewegen ſich unauf—
hörlich, keiner derſelben hat einen feſten Standort.
Sophie. Obgleich ich mir alle dieſe Dinge
nie ſo in einem Bilde vorgeſtellt habe, ſind ſie
16
mir doch nicht fremd. Aber folgt denn daraus,
daß auch die lebloſen Beſtandtheile der Erde ebenſo
unbeſtändig ſind als alles Uebrige? Etwas Be—
ſtändiges wird doch da ſeyn müſſen.
Alfred. Sehr wahr! etwas Beſtändiges muß
da ſeyn; aber hier haben wir es noch nicht zu
ſuchen. Die Erde ſelbſt war nicht immer, was ſie
jetzt iſt; ihr Inneres zeugt davon, daß ſie ſich
Jahrtauſende hindurch aus einem Zuſtand in den
andern entwickelt hat, und der aufmerkſame Forſcher
muß gewahr werden, daß ſie ſich noch immerfort
entwickelt und daß ſie im gegenwärtigen wie in
jedem frühern Augenblicke nur im Uebergang vom
einen Zuſtand in den andern ſich befindet. Daſſelbe
wird, wie Sie ſich leicht denken können, auch mit
jedem andern Weltkörper der Fall ſeyn. Demnach
befindet ſich die Geſammtheit der Weltkörper nicht
nur in ſteter Bewegung, ſondern zugleich in un—
abläſſiger Entwicklung. Stillſtand oder Ruhe iſt
dem großen Ganzen fremd. i
Sophie. Nun, ich will nur ſehen, wenn
Sie zu den lebloſen Dingen ſelbſt kommen; denn
die Erde und die übrigen Weltkörper ſcheinen die
größte Aehnlichkeit mit lebenden Weſen zu haben,
27
wie ſehr ſie ſich auch in vieler Hinſicht von
ihnen unterſcheiden mögen.
Alfred. Wir haben aber zu erwägen, daß
dieſe lebloſen Dinge auf der Erde nur Theile der
Erde ſelbſt ſind und ſich folglich mit derſelben ent—
wickelt haben und ferner mit ihr entwickeln wer—
den. Die Küſte, welche ſich ſo ſchön vor uns er—
hebt, iſt nicht von jeher da geweſen, vielmehr gab
es eine Zeit, wo ſie noch nicht über den Waſſer—
ſpiegel emporgehoben war. Selbſt das härteſte
Felsgebirge hat ſeine Bildungszeit gehabt und hat
ſeitdem fortwährende Veränderungen durch den Ein—
fluß der Luft, des Waſſers, der Hitze und Kälte
erlitten. Die Gewächſe, welche auf der Oberfläche
des Geſteins gedeihen, zehren zugleich daran, und
wer kann wiſſen, wie viele andere Kräfte noch
darauf einwirken mögen! Unaufhörlich ſind unter—
irdiſche Gewalten wirkſam, die das Geſtein empor—
zuheben oder ſinken zu laſſen ſtreben, die aber
ſelbſt im Zuſtand ſcheinbarer Ruhe keineswegs un—
thätig ſind; und wenn ſie wirkliche Hebungen oder
Senkungen hervorbringen, geſchieht dieß oft ſo
langſam, daß ſich dieſe der Beobachtung entziehen,
wenn nicht dazu das eine Zeitalter dem andern
Oerſted, der Geiſt in der Natur 2
18
die Hand reicht. Unter allen dieſen Bildungen
und Umbildungen der Erde werden aber natürlich
auch die Körper gebildet und umgebildet, woraus
dieſelbe zuſammengeſetzt iſt, denn jene Körper ſind
ja nicht von außen her auf die Erde gekommen,
ſondern ſie gehören ihr ebenſowohl an, als Knochen,
Fleiſch oder Blut dem Thierkörper.
Sophie. Gibt es aber nicht Körper, welche
ganze Jahrtauſende ſich unverändert behaupten?
Ich habe Alterthümer geſehen, von Glas, Stein
und Gold, welche unermeßlich lang in der Erde
gelegen hatten.
Alfred. In völlig ruhendem Zuſtande haben
ſie ſich indeſſen nicht befunden, ſie ſind unſtreitig
den allgemeinen Bedingungen der Körper unter—
worfen geweſen; vorläufig iſt nur zu bemerken,
daß ihre Ruhe, ſo tief wir uns dieſelbe vor—
ſtellen mögen, doch nichts anderes war als ein
Schweben zwiſchen gleich großen entgegengeſetzten
Kräften.
Sophie. Auf welche Weiſe?
Alfred. Durch die Schwere zum Fallen an—
getrieben werden ſie nur durch eine entgegen—
geſetzte Kraft in den Körpern, welche den Fall.
19
verhindern, davon abgehalten, wie wir dieß bereits
geſehen haben. Jeder über ihnen liegende Körper
wird ſtreben ſie niederzudrücken; ſie ihrerſeits wer—
den um ſo kräftiger abwärts drücken, aber auch von
ihrer Unterlage einen deſto ſtärkern Gegendruck
erleiden. Vermöge ihrer eigenen Ausdehnungskraft
werden ſie ſich allen zuſammendrückenden Kräften
entgegenſtemmen. Die Ruhe eines Körpers iſt
daher kein unthätiges Seyn. In dem Zuſtande,
den wir Ruhe nennen, erhält der Körper außerdem
ſeinen verhältnißmäßigen Antheil, ſey dieſer auch
noch ſo klein, von allen Einwirkungen, welche die
Erde in Bewegung ſetzen und ſie in ihrer Bahn
erhalten. Er nimmt auf ſolche Weiſe gewiſſer—
maßen ſelbſtſtändigen Theil an der Geſammtheit
der Wirkungen, welche die Welt in derjenigen
Bewegung erhält, die zugleich das vollkommenſte
Gleichgewicht iſt. Aber dieß iſt noch nicht Alles.
Jeder Körper, auf welcher Stelle im Weltſyſtem er
ſich auch befinden möge, erleidet Einwirkungen
durch eine Menge anderer Kräfte, deren Streben
dahin geht, innere Veränderungen in ihm hervor—
zubringen. Eine unabläſſige Wechſelwirkung, ver—
mittelt durch Wärme, Elektricität und Magnetis—
20
mus, beſteht zwiſchen ihm und der übrigen Welt.
Ein ſtets ſich erneuerndes Geben und Nehmen von
Einwirkungen iſt unzertrennlich vom körperlichen
Seyn. Wir dürfen aber unſere Betrachtung hier—
auf nicht beſchränken. Wir kennen nicht alle Welt—
kräfte, aber ſo viel iſt leicht einzuſehen, daß manche
derſelben, die auf jeden Körper wirken, beſtrebt
ſind ſeinen gegenwärtigen Zuſtand zu ſtören und
aufzuheben, während andere denſelben zu erhalten
ſuchen. Bei vielen Körpern kennen wir die Be—
dingungen, unter welchen ſie in ihrem Zuſtande
verharren oder denſelben ändern, andererſeits unter
welchen ſie in ihre Beſtandtheile zerſetzt oder ge⸗
nöthigt werden neue Verbindungen einzugehen.
Können wir wohl zweifeln, daß ſolche Bedingungen
auch da vorhanden ſind, wo wir ſie nicht kennen?
Sophie. Gewiß nicht; wir dürfen im Ge—
gentheil annehmen, daß alle Körper denſelben Be—
dingungen unterworfen ſind.
Alfred. Nun wohl, ſo gibt es denn keinen
Körper oder Theil eines Körpers, deſſen Daſeyn
wir beſtändig nennen können. Wo in der Körper—
welt etwas ſich unverändert zu behaupten ſcheint,
es ſey nun in Beziehung auf den Ort oder den
innern Zuſtand, da iſt dieſer Stillſtand nur ſchein—
bar, etwa wie der Stundenzeiger einer Uhr für
kurze Betrachtung ſtill zu ſtehen ſcheint. Doch iſt
dieſes Bild nur ſchwach, wo von Veränderungen
die Rede iſt, welche Jahrtauſende kaum merkbar
werden laſſen. Denken Sie ſich einen Zeiger, der
zehntauſend Jahre bedürfte, um die Strecke zurück—
zulegen, die der Stundenzeiger in einer Stunde
zurücklegt, ſo wird das Bild ſprechender ſeyn.
Sophie. Ich geſtehe, ich kann Sie nicht nur
nicht widerlegen, ich fühle mich ſogar überzeugt.
Aber nun, denke ich, werden Sie uns auch das
Beſtändige zeigen, das, wie Sie ſelbſt ſagen, ſich
im Daſeyn offenbart.
Alfred. Sie äußerten heute auf unſerem
Spaziergang, Sie haben zweimal den großen Waſſer—
fall Sarpen geſehen. War es beide male daſſelbe
Waſſer, das Sie ſahen?
Sophie. Gewiß nicht. Das Waſſer ſtürzt
mit einer grauſenerregenden Eile herab und wird
unaufhörlich durch neues erſetzt.
Alfred. Und dennoch war es derſelbe Waſſer—
fall, den Sie beide male ſahen.
Sophie. Ich verſtehe Sie. Die körperlichen
2 *
Theile waren nicht das Beſtändige daran. Aber
helfen Sie mir nun das Beſtändige daran nennen,
es fehlt mir im Augenblick der Ausdruck dafür.
Alfred. Fürs erſte können wir ſogleich jagen,
das Beſtändige daran ſey eine Menge von Wir—
kungen, welche im Weſentlichen zu jeder Zeit die—
ſelben bleiben. Sie empfingen hier den Eindruck
vom Sturz einer großen Waſſermaſſe, die jedesmal
aus derſelben anſehnlichen Höhe fällt und den—
ſelben Hinderniſſen begegnet. Die Zerſtreuung der
Tropfen, die Schaumbildung, der durch den Sturz
wie durch das Aufbrauſen und Schäumen verur—
ſachte Schall, welche immer durch dieſelben Urſachen
entſtanden, bleiben daher auch dieſelben. Den
Eindruck, welchen alle dieſe Dinge auf uns her—
vorbringen, empfinden wir als eine Mannigfaltig—
keit, aber zugleich als eine Geſammtheit, oder mit
andern Worten: wir fühlen die ganze Mannig—
faltigkeit einzelner Eindrücke als das Werk einer
einzigen großen Naturhandlung, hervorgebracht
durch die eigenthümlichen Verhältniſſe der Oertlich—
keit. Vielleicht könnten wir dieſes Beſtändige in
der Erſcheinung vorläufig den Naturgedanken der—
ſelben nennen.
23
Sophie. Sie meinen damit wohl den Ge—
danken, den wir damit verbinden?
Alfred. Begnügen wir uns vor der Hand
damit; ich habe mir noch nicht das Recht erwor—
ben mehr zu behaupten.
Sophie. Werden Sie ſich je ein ſolches Recht
erwerben können?
Alfred. Ich werde ſuchen Ihren Beifall dafür
zu gewinnen. Sie haben bereits zugeſtanden, daß
nichts Körperliches beſtändig genannt werden konne.
Sophie. Und will es nicht widerrufen.
Alfred. Die Naturgeſetze dagegen ſind be—
ſtändig.
Sophie. Das wird allgemein angenommen.
Wie aber reime ich damit, was ich gehört und
geleſen habe, daß die Erde vor ihrem gegenwärtigen
Zuſtande ganz andere Thiere und Pflanzen her—
vorgebracht habe?
Alfred. Wenn man unter verſchiedenen Um—
ſtänden dieſelben Grundſätze befolgt, müſſen da
nicht die Handlungen ſelbſt verſchieden werden?
und müſſen ſie es nicht um ſo mehr werden, je
vollſtändiger die Grundſätze entwickelt und be—
griffen ſind?
Sophie. Dieß muß wohl jo ſeyn. Bei den—
ſelben Erziehungsgrundſätzen ſehen wir uns ja
genöthigt, ein älteres Kind anders zu behandeln
als ein jüngeres, ein krankes anders als ein ge—
ſundes, ein heftiges anders als ein träges. Jetzt
verſtehe ich Sie! Sie meinen, jene vorweltlichen
Thier- und Pflanzenſchöpfungen ſeyen wohl nach
denſelben Naturgeſetzen, nicht aber unter denſelben
Umſtänden hervorgebracht worden.
Alfred. So iſt es. Der Erdball, der weder
wärmer noch kälter geworden zu ſeyn ſcheint, ſeit
das Menſchengeſchlecht ihn bewohnt, bietet in den
Reſten ſeiner früheren Bewohner die unverkenn—
barſten Spuren dar, daß er in einem frühern Ent—
wicklungsalter wärmer geweſen, eine feuchtere Luft
gehabt habe und in größerem Umfange mit Meer
bedeckt geweſen ſey. Und aller dieſer Ungleich—
heiten ungeachtet hat doch das Thierreich ſowohl
als das der Gewächſe jener Zeit eine ſolche Grund—
ähnlichkeit mit den gegenwärtigen, daß ſie ſich als
verſchiedene Ausführungen deſſelben großen Ge—
danken darſtellen.
Sophie. Sind aber dieſe verſchiedenen Um—
ftände, welche zu jener Zeit ftatt hatten, doch nicht
25
ein Beweis, daß damals manche andere Naturge-
ſetze geherrſcht haben?
Alfred. Wenn es eines der Grundgeſetze
der Natur iſt, daß ſich alles in der Zeit entwickelt,
ſo müſſen ja verſchiedene Zuſtände einander folgen
und, füge ich hinzu, aus einander folgen; ſonſt
fehlte ja der Zuſammenhang. Wir wollen ein
großes Beiſpiel wählen. Wie unſer Erdball ſich
nach und nach entwickelt hat, ſo hat es ſicher
auch jeder ſeiner Geſchwiſterplaneten. Iſt es aber
wohl wahrſcheinlich, daß ſich alle gleichzeitig ge—
bildet haben? Und wenn dem auch ſo wäre, was
wir jedoch verneinen müſſen, läßt ſich denn an—
nehmen, daß die von der Sonne weit entfernten,
die viele Jahre brauchen, um ihre Bahnen zu
durchlaufen, ſich ganz in derſelben Weiſe und in
derſelben Zeit entwickeln konnten wie die der Sonne
nähern, oder mußten ſich nicht im Gegentheil ſchon
durch die Gleichheit der Bildungsgeſetze unter ſo
ungleichen Bildungsverhältniſſen große Verſchieden—
heiten ergeben? |
Sophie. Ich erkenne nunmehr die Ungül—
tigkeit meiner Einwendung. Wie aber nun
weiter?
Alfred. Der nächte Satz, auf den ich mich
berufe, lautet: die Naturgeſetze ſind vernünftig.
Sophie. Gründen Sie dieſes auf die gött—
liche Weisheit, die ſich in der Natur offenbart?
Alfred. Ich würde es thun, wenn ich auf
die eigene zu bauen wagte, aber ich fürchte zu ſehr
einen Selbſtbetrug, der ſchon ſo viele getäuſcht.
Sophie. Wie wollen Sie denn Ihren Satz
erweiſen?
Alfred. Durch eine große Thatſache aus der
Geſchichte der Wiſſenſchaften.
Hermann. Durch eine Thatſache! Da muß
ich mich denn doch wundern.
Alfred. Ja, durch eine Thatſache, oder wenn
du willſt, durch eine Summe von Thatſachen,
worin ſich das Verhältniß der Natur zu unſerem
Geiſte offenbart.
Hermann. Laß doch hören.
Alfred. Die Naturforſcher haben in vielen
Fällen aus Vernunftgründen Naturgeſetze abgeleitet
und dieſe ſpäter wirklich in der Natur gefunden.
Hermann. Ich meinte, man gelange auf
dem rein ſpekulativen Wege faſt nie zu Naturge—
ſetzen, welche durch die Erfahrung beſtätigt werden.
1
1
Alfred. Wenigſtens iſt man noch nicht im
Stand geweſen, die Naturgeſetze aus der oberſten
Quelle alles Wiſſens abzuleiten. Doch davon ſoll
hier nicht die Rede ſeyn; ich habe hier die gewöhn—
liche Verfahrungsweiſe der Naturforſcher im Auge.
Dieſe richten ihr Denken auf ſolche Erfahrungs—
gegenſtände, die uns vollſtändiger bekannt ſind als
die meiſten andern, und gleichſam die Lichtpunkte
in der Maſſe unſerer Kenntniſſe bilden; für dieſe
ſuchen ſie die Geſetze. So hat man aus der Natur
der Bewegung die merkwürdigen Geſetze der gleich—
förmig wachſenden Geſchwindigkeit abgeleitet. Aus
der Natur des Raumes hat man das Geſetz ent—
wickelt, daß die von einem Punkte ausgehende
Wirkung in dem Verhältniß ſchwächer wird, als
das Quadrat der Entfernung wächst. Dieſe bei—
den Ausgangspunkte und der Gedanke, daß alle
Körpertheile bei gleichem Abſtand gleiche Anziehung
auf einander ausüben, ſind faſt die einzigen Quellen,
aus denen man die Lehre von den Bewegungsge—
ſetzen der Weltkörper, dieſe große Himmelsmechanik,
abgeleitet.
Hermann. Wurde man aber dabei nicht
weſentlich durch die Erfahrung unterſtützt?
28
Alfred. Gewiß! Man würde ſchwerlich je
all das, was man gegenwärtig von der Bewe—
gung der Himmelskörper beweiſen kann, entdeckt
haben, wenn man nicht durch die Erfahrung dazu
angeleitet worden wäre; ſpäter aber hat man in
der Mechanik des Himmels die eine Wahrheit aus
der andern abgeleitet, ohne aus der Erfahrung viel
anderes zu nehmen als einzelne Anknüpfungs—
punkte. Dieſe Ableitung der Wahrheit geſchah
mittelſt Schlüſſen, die unbeſtritten ſind, und viele
der auf dieſem Wege gefundenen eigenthümlichen
Naturgeſetze haben ſich durch die Erfahrung beſtätigt.
Hermann. Hat man aber auch außer der
Aſtronomie ſolche Beiſpiele?
Alfred. Sehr viele, wenn auch keines, das
ſo großartig wäre. Die Eigenſchaften des Lichtes
zeigen ſich in ſolchem Zuſammenhang, daß man meiſt
die eine aus der andern ableiten kann; und obgleich
man auch dabei von einzelnen Erfahrungspunkten
ausgegangen iſt, ſieht doch jeder Kenner der Wiſ—
ſenſchaft, daß die bei weitem meiſten Thatſachen
durch unbeſtreitbare Vernunftſchlüſſe verknüpft ſind,
ſo daß man faſt überall berechnend vom Bekannten
aufs Unbekannte ſchließen kann und ſpäter das
Gefundene in der Erfahrung wieder antrifft. Zwar
wird einem dieſe Befriedigung nicht immer; aber
das Unbefriedigende, dem man begegnet, wird bei
weiterer Entwickelung des Wiſſens verſchwinden,
wie ſo viele Mängel, welche im Laufe der zwei
letzten Jahrhunderte beſeitigt worden ſind.
Hermann. Dergleichen Beiſpiele haben doch
wohl nur die mathematiſchen Wiſſenſchaften auf—
zuweiſen?
Alfred. Wenn dem auch ſo wäre, würde es
für meinen Zweck hinreichen, denn die Mathe—
matik und ihre Anwendung auf die Natur iſt ja
eine Vernunfthandlung. Zudem muß ja Mathe—
matik ein Element jedes vollſtändigen Erkennens
ſeyn, da wir unmöglich etwas in ſeinem Weſen
erfaſſen können, ohne die Größe und die Ver—
hältniſſe deſſelben zu kennen. Selbſt unſere Alltags—
kenntniſſe ſind von einer jeder vernünftigen Auf—
faſſung inwohnenden natürlichen Mathematik durch—
drungen. Aber die Vorherſagungen, von denen hier
die Rede iſt, beſchränken ſich keineswegs auf die
eigentliche Mathematik. Der Blitzableiter, das Luft—
ſchiff, die Voltaſche Säule, der metalliſche Grund—
beſtandtheil in den Erdarten ſind ſo berühmte Ent—
30
deckungen, daß ich dich nur daran zu erinnern
brauche. Es iſt bekannt genug, daß ſie nicht zu—
fällig waren, denn obgleich die letztgenannte bei
zufälligem Anlaß geſchah, war ſie doch durch La—
voiſier ſchon lange vorhergeſagt. Ich darf hinzu—
fügen, daß jede dieſer Entdeckungen durch ſich ſelbſt
wieder häufig Anſtoß gab zu Vorausbeſtimmungen,
welche die Erfahrung gerechtfertigt hat. Man könnte
hier die Worte Schillers parodirend anwenden und
ſagen: „Was der Geiſt verſpricht, leiſtet die Natur.“
Hermann. Oft trifft es ſich aber, daß die
Natur die menſchlichen Schlüſſe nicht beſtätigt.
Alfred. Nichts iſt gewiſſer; wir entdecken
aber dann immer, worin der Fehlſchluß beſtand;
ja, ich behaupte, dieß kann nie ausbleiben, wenn
man ſo weit gekommen iſt, um die Durchgänge
vom Irrthum zur Wahrheit überſchauen zu können.
Hermann. Dieß gilt ja auch von den ſpeku—
lativen Wiſſenſchaften, ja muß nothwendig gelten.
Alfred. Du willſt ſagen, ich habe hier etwas
Selbſtverſtändliches ausgeſprochen, eine Tautologie,
die nichts ausſagt, aber du haſt dabei nur einem
flüchtigen Eindruck gehorcht, wie dieß im Lauf eines
Geſpräches ſo oft geſchieht; ſonſt hätteſt du leicht
31
geſehen, wie dabei der Nachdruck darauf liegt, daß
nicht bloß unſere Vernunft das Werk unſerer eige—
nen Vernunft prüft, ſondern daß wir hier die Ue—
bereinſtimmung unſerer Vernunft mit einem Werke
prüfen, von dem wir ſicher wiſſen, unſere Vernunft
habe es nicht hervorgebracht.
Hermann. Iſt dieß auch ſo gewiß? könnte
nicht vielleicht alles, was wir für Außenwelt hal—
ten, nur das Werk einer unbewußten Thätigkeit
unſeres eigenen Geiſtes ſeyn?
Alfred. So biſt du Idealiſt?
Hermann. In dieſem Augenblicke bin ich
es, deiner dualiſtiſchen Behauptung gegenüber.
Alfred. Du denkſt dir alſo, ich falle unſere
Erkenntniß ſo auf, daß das Innere und das Aeu—
ßere, welche ſich darin begegnen, zwei verſchiedene
Dinge ſind; wie ſehr du mir dabei unrecht thuſt,
wird ſich ſpäter zeigen. Daß in der Geſetzlichkeit
der Außenwelt etwas liegt, das von unſerem auf—
faſſenden Weſen ganz unabhängig iſt, das ſagt
uns unſer ganzes Bewußtſeyn. — Die Welt ſchritt
auf ihrem Bildungsgange einher, ehe der Menſch
da war, und unzahligemale iſt der Lauf der Welt un—
ſerem vorausgefaßten Gedanken geradezu entgegen;
32
du würdeſt keine Widerſprüche von mir hoͤren, wenn
dein Gedanke ſelbſt mich hervorbrächte.
Hermann. Widerſprechen wir uns nicht ſelbſt
in manchen unſerer Träume?
Alfred. Wohl wahr; wollteſt du aber dieſen
Gedanken im Ernſt durchführen, ſo müßteſt du
das ganze Daſeyn zu einem Traum machen, und
ich würde mich bedanken in dieſem Traum fortzu—
ſpielen.
Hermann. Nun, ich wollte auch den mir
ſelbſt unnatürlichen Gedanken keineswegs durch—
führen; aber du kannſt doch nicht in Abrede ſtellen,
daß es unſere Vernunft iſt, die wir in den Na—
turgeſetzen finden. Bin ich nicht zum Gedanken
berechtigt, in der geſammten Außenwelt ſey ein
Etwas, das auf uns Eindruck macht, dieſes könnte
aber ganz anders beſchaffen ſeyn, als wir es uns
vorſtellen, und was wir Naturgeſetze nennen, ſeyen
am Ende nichts anderes als Geſetze unſerer eige—
nen Anſchauungsweiſe?
Alfred. Ich werde zwei Punkte unterſcheiden
müſſen, die in deiner Frage verbunden ſind: der
eine iſt das, was in unſerer ſinnlichen Wahrneh—
mung die Empfindung ausmacht, das Gefühl, das
durch die Gegenſtände in uns erweckt wird; der
andere iſt das, was wir durch die vereinte Auf—
faſſung der Sinne und der Vernunft von der ge—
genſeitigen Wirkung der Dinge auf einander kennen
lernen. Daß nun das Gefühl nicht in allen wahr—
nehmenden Weſen daſſelbe iſt, obgleich dieſelben
äußern Urſachen auf ſie einwirken, das lehrte uns
ſchon das, was wir einander über ſolche Eindrücke
mittheilen, ja der Vergleich zwiſchen unſern eige—
nen Eindrücken in verſchiedenen Zuſtänden. Eine
Krankheit kann den durchſichtigen Theil des Auges
ſo verändern, daß wir alles in gelber Färbung
erblicken. Mit dem Verſchwinden der Krankheit
kehrt der geſunde Farbenſinn wieder. Es gibt
Menſchen, die roth und blau nicht zu unterſcheiden
vermögen, im übrigen aber ebenſo richtig ſehen
als irgend ein anderer. Um wie viel größer müſ—
ſen die Verſchiedenheiten ſeyn, wenn wir uns
Weſen eines andern Weltkörpers denken, deren
Sinneswerkzeuge wahrſcheinlich von ganz anderer
Einrichtung ſind!
Hermann. Du ſcheinſt ja alles, was ich
begehre, zuzugeſtehen.
Alfred. Nichts weniger, wenn ich dich recht
Oerſted, der Geiſt in der Natur 2 3
34
verſtanden habe. Die gegenſeitige Einwirkung der
Dinge auf einander zeigt uns vieles, was nicht
auf der Natur unſerer Sinne beruhen kann. Denke
dir, ich legte in ein Glas mit Waſſer eine Anzahl
Salzkörner, in ein anderes einige Goldkörner. Ich
ſehe das Salz verſchwinden und ſich mit dem Waſ—
ſer vereinigen, die Goldkörner aber bleiben wie ſie
ſind. Könnte wohl ein Weſen mit anders einge—
richteten Sinnen das Entgegengeſetzte ſehen? Könnte
es die Goldkörner im Waſſer ſich auflöſen, die
Salzkörner unverändert bleiben ſehen? Ein Weſen
mit feinern Sinnen möchte immerhin in der Salz—
auflöſung, in der unſer Auge, ſelbſt das bewaff—
nete, keinen Salztheil erblickt, die Salz- und Waſ—
ſertheile unterſcheiden; es könnte andererſeits, des
Farbenſinns entbehrend, nicht im Stande ſeyn das
farbige Gold vom farbloſen Salze zu unterſcheiden;
aber das Geſetz, daß das Waſſer Salz in ſich auf—
nimmt und das Gold unberührt läßt, müßte für
ein ſolches Weſen daſſelbe bleiben wie für uns.
Felir. Ich denke, dieſes Beiſpiel wird Her—
mann gelten laſſen müſſen.
Alfred. Wenn auch, ſo reicht es doch nicht
hin die Sache völlig aufzuklären. Denken wir
35
uns, ein Bewohner des Planeten Jupiter könnte
zu uns kommen und ſähe zwei Steine fallen,
den einen aus der Höhe von 60 Fuß, den an—
dern aus der von 15; würde er nicht mit uns
finden, daß jener zweimal ſo lange Zeit zum Falle
braucht als dieſer?
Sophie. Haben Sie ſich nicht etwa verſpro—
chen, wenn Sie ſagten, der Stein, der 60 Fuß
fällt, brauche nur zweimal ſo viel Zeit als der,
welcher 15 Fuß fällt? Ich meine, er müſſe vier—
mal mehr Zeit brauchen.
Alfred. Was ich ſagte, ſcheint auf den erſten
Anblick irrig, iſt es aber in der Wirklichkeit nicht.
Der Stein, der zu fallen fortfährt, nachdem er
15 Fuß zurückgelegt, hat dadurch fchon eine be—
deutende Geſchwindigkeit erhalten, welche macht,
daß er den übrigen Weg mit weit größerer
Geſchwindigkeit durchläuft, als geſchehen wäre,
wenn er ſeinen Fall mit dem letzten Theil des
Weges begonnen hätte. Man kann durch Rech—
nung ſtreng beweiſen, daß ein fallender Körper in
zwei Sekunden viermal, in drei Sekunden neun—
mal, in vier Sekunden ſechzehnmal ſo weit fällt
als in der erſten Sekunde.
36
Sophie. Ich habe alſo die Sekunden mit
ſich ſelbſt zu multipliciren, zweimal zwei, dreimal
drei, viermal vier, um den durchlaufenen Raum
zu finden?
Alfred. Sehr richtig. Ich wählte dieſes
etwas ſchwierige Beiſpiel, um darauf aufmerkſam
zu machen, daß wir häufig die Natur Vernunft—
geſetze befolgen ſehen, welche wir, ehe wir reiflich
darüber nachgedacht, für vernunftwidrig halten
würden. Schon dieß muß uns geneigt machen,
die Urſache außerhalb unſeres Weſens zu ſuchen,
nicht in demſelben; ich ſehe aber wohl, unſer
Freund kann die Behauptung entgegenſetzen, das
Ding gehe nach Geſetzen unſeres Weſens vor ſich,
die dieſem ſelbſt unbewußt ſind. Jedenfalls aber
fordere ich ihn auf, unſer Gedankenerperiment da—
mit zu beſchließen, daß er erklärt, ob er nicht auch
meint, unſer Gaſt vom Jupiter müſſe ſo gut als
wir die eine der zwei Zeiten zweimal ſo lang fin—
den als die andere.
Hermann. Dieſe Frage fiele aber ganz weg,
wenn Zeit und Raum für ihn nicht ſinnliche For—
men wären wie für uns.
Alfred. Und wo möglich noch mehr, wenn
87
jeine Vernunft andern Geſetzen gehorchte als die
unſrige.
Hermann. Nein, es gibt nur Eine Vernunft.
Sie kann von der Sinnlichkeit mehr oder minder
| befangen ſeyn; aber die Vernunft auf dem einen
Planeten iſt weſentlich dieſelbe wie auf dem andern
Alfred. Aber ein reines Vernunftweſen ohne
alle Endlichkeit wird unſer Jupiterbewohner doch
nicht ſeyn ſollen?
Hermann. Gewiß nicht.
Alfred. Soll aber das Verhältniß, welches
in der Vernunft zwiſchen Urſache und Wirkung,
zwiſchen einer Geiſteshandlung und deren Wieder—
holung, zwiſchen Etwas und einem Andern, zwi—
ſchen Mehr und Minder begründet iſt, ſich in end—
licher Weiſe offenbaren, ſo muß es eine Form
geben, in der dieß geſchieht. Ich ſehe daher nicht
ein, wie man der Folgerung entgehen will, daß
Raum und Zeit nothwendige Formen der End—
lichkeit ſind, nothwendige Sinnenformen, Kate—
gorien der Endlichkeit, wenn man ſie ſo nennen
will. Aber ſelbſt, wenn man verſuchen wollte, ſich
andere Formen des Endlichen zu denken, müßte
doch etwas darin den Vernunftverhältniſſen ent—
38
ſprechen, und daraus müßte denn zwiſchen den
Eindrücken, welche daſſelbe Ding auf einen Jupiter—
bewohner und einen Erdbewohner macht, eine innere
Verwandtſchaft entſtehen. Inzwiſchen glaube ich,
daß dieſe halbe Ausflucht, welche eigentlich für
mich wie für meinen Gegner nur eine halbe iſt,
ſich wird beſeitigen laſſen.
Hermann. Dieß möchte ich ſehen.
Alfred. Wenn ich vorausſetze, meine Erfah—
rung ſey nicht bloß das Erzeugniß der innern Thä—
tigkeit meines eigenen Weſens, mit andern Worten,
nicht bloß ein nothwendiger Traum, worin du mein
Traumbild biſt, wie ich das deinige, in welchem aber
das Aeußere ſowohl als das Innere ſeinen An—
theil an der Erfahrung hat, ſo muß das, was in
unſerer Erfahrung ſich gleich zeigt, auch außer
uns etwas dem entſprechend Gleichartiges haben.
Herman n. Aber es kann im Uebrigen in der
Wirklichkeit ſehr verſchieden ſeyn von dem, was
wir uns darunter vorſtellen.
Alfred. Mehr verlange ich nicht. Laß uns
nur einige Beiſpiele nehmen, nicht als Beweiſe,
ſondern um leichter zu einer umfaſſenderen Wahr—
heit zu gelangen. So mache ich denn darauf
39
aufmerkſam, daß wir für alle Planeten dieſelben
Geſetze finden. Sie haben alle Tag und Nacht
durch ihre Achſendrehung, ſie haben alle ihr Jahr
durch ihren Umlauf um die Sonne. Die Planeten,
welche Monde haben, werden von dieſen nach den—
ſelben Geſetzen umkreist, wie unſere Erde von ihrem
Monde, und dieſe Geſetze ſind wiederum dieſelben,
welchen ein hier an der Oberfläche der Erde ge—
worfener Körper gehorcht. Die Art, wie die
Planeten beleuchtet werden und das empfangene
Licht zu uns zurückwerfen, iſt ganz dieſelbe, welche
an irdiſchen Körpern beobachtet wird. Erwäge
nur, daß die gewaltige Lichtmaſſe, welche wir aus
allen Theilen des Weltalls empfangen, uns keine
weſentliche Wirkung wahrnehmen läßt, die ſich
nicht auf die Geſetze zurückführen ließe, denen auch
das irdiſche Licht unterworfen iſt.
Hermann. Nun, ich glaube nicht, daß du
nöthig haſt weiter zu gehen; weder ich noch ſonſt
einer werden es leicht in Abrede ſtellen, daß Alles,
ſo weit unſer Auffaſſungsvermögen reicht, denſelben
Geſetzen unterworfen iſt; bedenke aber, daß es
vielleicht die Natur unſerer Fähigkeiten iſt, was
dieſe Geſetze macht.
40
Alfred. Aber vergiß auch du nicht, daß
zwiſchen Dingen, die in gleichen beobachtenden
Weſen gleiche Erfahrungen wirken, Aehnlichkeit
beſtehen muß.
Hermann. Und wenn ich dieſes einräumte?
Alfred. So würde daraus folgen, daß die
andern Weltkörper in ihren Eigenſchaften und
Geſetzen, wie wir ſie durch dieſelben Fähigkeiten
aufgefaßt und uns entwickelt haben, die wir auf
die irdiſchen Dinge angewendet, mit unſerem Erd—
ball eine weſentliche Aehnlichkeit haben muͤſſen, und
daß die ſie bewohnenden Weſen von uns nicht ſo
grundverſchieden ſeyn können, daß wir in ihnen eine
ganz andere, uns unbegreifliche Gattung von Weſen
zu erblicken brauchten, eine ſolche etwa, denen andere
Sinnenformen als die von Zeit und Raum zukommen.
Felix. Eure beiden Vorſtellungsarten, meine
Freunde, ſcheinen mir ganz unnatürlich. Wollten
wir alles im auffaſſenden Weſen ſuchen, jo wäre
keine menſchliche Gemeinſchaft möglich; jeder wäre
eine Welt für ſich; laſſen wir eine von uns ganz
unabhängige Außenwelt zur Erfahrung mitwirken,
ſo wäre es unbegreiflich, wenn uns darin auch
nur Ein Syſtem von Geſetzen begegnete. Wenn
wir auch die Natur der unabhängigen Dinge nicht
zu faſſen vermöchten, ſo müßten wir ſie doch in
der fortwährenden Unterbrechung der Geſetze, die
unſere Vernunft fordert, wahrnehmen. Die Quelle
unſerer Erfahrungserkenntniß nur außer uns zu
ſuchen, iſt, wie wir wiſſen, ebenſo vergebens.
Sind wir hier nicht auf unwegſame Pfade gerathen?
Alfred. Ich ſehe dieſelben Schwierigkeiten
wie du; aber ich glaubte ſie zum Worte kommen
laſſen zu müſſen. Sie ſcheinen mir übrigens zu
verſchwinden, wenn wir annehmen, daß die Welt
und der Menſchengeiſt nach denſelben Geſetzen ge—
ſchaffen worden. Wären die Geſetze unſerer Ver—
nunft nicht in der Natur, ſo würden wir uns
vergebens beſtreben ſie ihr aufzudringen; wären
die Geſetze der Natur nicht in unſerer Vernunft,
ſo vermöchten wir ſie nicht zu begreifen.
Felir. Es iſt wahr, die erwähnten Schwie—
rigkeiten werden dadurch gehoben; aber auch dieſe
vorausbeſtimmte Harmonie ſcheint mir unnatürlich.
Alfred. Sollte das Wort hier in der Be⸗
deutung genommen werden, welche es in der Ge—
ſchichte der Philoſophie hat, ſo müßte ich mich
dagegen verwahren; indeſſen behaupte ich doch,
42
daß hier eine Harmonie beſteht; denn der Menſch
iſt ein Erzeugniß der Natur, daher müſſen die—
ſelben Geſetze in ihm herrſchen, wie in ihr.
Felix. Dabei iſt mir nur anſtößig, den Men—
ſchen als bloßes Naturerzeugniß betrachten zu müſſen.
Alfred. Ich kann mich hier noch nicht anders
ausdrücken, wenn ich nicht den ganzen bisherigen
Gedankengang unterbrechen will; im Verlauf un—
ſerer Unterſuchung werde ich mir aber das Recht
verſchafft haben zu ſagen, unſer geiſtiges Weſen
und die Welt ſeyen beide von Gott erſchaffen, und
es wird ſich dann zeigen, daß beide Sätze daſſelbe
bezeichnen, nur in verſchiedener Weiſe.
Felir. Werden aber die Schwierigkeiten nicht
am beſten von denen beſeitigt, welche von Gott,
dem urſprünglich denkenden und wollenden Weſen
ausgehen, und das Weltganze als Gedanken Gottes
auffaſſen? Wir ſind dann ſelbſtbelebte, ſelbſtbe—
wußte Gedanken der Gottheit, gleichſam von Hauſe
aus mit den göttlichen Gedanken erfüllt, welche in
den bewußtloſen Gebieten der Natur verborgen
liegen.
Alfred. Dieß ſcheint mir die Wahrheit, von
der Seite aufgefaßt, auf der man die Quelle des
43
Daſeyns im denkenden Weſen ſucht; aber jede
der Richtungen, in denen wir zur Wahrheit ge—
langen, zeigt uns dieſelbe nur von Einer Seite.
Stellen wir die denkenden Weſen voran, ſo wird
das Bild, welches wir uns von der Außenwelt
machen, matt und ſchattenhaft, etwa wie eine von
beleuchtetem Nebel verhüllte Landſchaft; beginnen
wir von der Außenwelt, ſo rückt das Reich der
Freiheit gar zu ſehr in die Ferne. Wir müſſen
uns der Wahrheit von mehr als einer Seite nä—
hern, um ſie in der Ganzheit und Fülle zu er—
greifen, welche uns zu erreichen möglich iſt.
Felir. Du ſcheinſt mir doch der Außenwelt
zu viel einzuräumen. Laß ſie uns als Schatten
erſcheinen, ſo ſieht ſie der Geiſt in ihrem wahren
Verhältniß. Laß ſie vor uns in einem Lichtnebel
liegen, ſo werden wir daran erinnert, daß ſie ihr
Licht von der Geiſterwelt borgt. Oder, um nicht
in Bildern zu ſprechen, was willſt du von den
un vernünftigen Weſen lernen, was ſich nicht in
deinem eigenen vernünftigen Innern findet? Und
weiter muß ich fragen: was willſt du, lebendige
Seele, von der unbeſeelten Natur lernen? Soll
das Leben beim Tode in die Schule gehen?
44
Alfred. Wehe! wenn das nicht geſchieht!
Felir. Gewiß mißverſtehſt du mich.
Alfred. Verzeihe, daß ich abſichtlich das Ge—
ſpräch ein wenig verwirrte, gleichſam um deinen
beredten Angriff aufzuhalten. Indeſſen iſt es meine
wirkliche Meinung, daß es mit unſerer Einſicht
ſchlecht beſchaffen wäre, wenn nicht unſer leben—
diger Geiſt von der Natur lernte, die wir die todte
nennen. Derſelbe freie Gebrauch, in dem der
höchſte Vorzug unſerer Vernunft beſteht, bringt
die Möglichkeit mit ſich, daß ſie irren kann; und
die reiche Tiefe, welche es möglich macht, ſo vieles
in ihr zu finden, macht auch, daß ſie in gewiſſer
Hinſicht ſich ſelbſt ein Räthſel bleibt, das ſie oft
falſch deutet. Die Vernunft, welche ſich in der
willenloſen Natur offenbart, iſt in ſich ſelbſt un—
fehlbar und wird in vieler Hinſicht weniger leicht
von uns mißverſtanden. Wie geneigt iſt der
Menſch, ſich für den Mittelpunkt des ganzen Da—
ſeyns zu halten! Um ihn ſoll der Himmel ſich
drehen, ſeine Schickſale ſoll der Sternenhimmel
vorherverkündigen, ſeinetwegen ſoll das Ganze
erſchaffen ſeyn. Glaubſt du, daß der Menſch
ohne Naturkenntniß ſich von dieſen Einbildungen
45
losgemacht hätte? oder meinſt du, die Weltan—
ſchauung, in welche dieſelben ſich gemiſcht, hätte je
rein und klar ſeyn können? Der Menſch hat einen
natürlichen Hang, die ihm unbegreiflichen Bege—
benheiten Geiſtern mit menſchlichen Leidenſchaften
zuzuſchreiben, oder er leiht Gott ſelbſt menſchliche
Willensbeſtimmungen. Vertreibt nicht die Natur—
wiſſenſchaft viele Einbildungen von willkürlichen
Veranſtaltungen der Gottheit, welche nur zu oft
die Frömmigkeit ſelbſt befleckt haben?
Felix. Sind denn zu keiner Zeit Denker ohne
Naturkenntniſſe von ſolchen Einbildungen frei ge—
weſen?
Alfred. Gewiß, aber nur wenige, und ich
möchte glauben, es geſchah nur dadurch, daß ſie,
den Blick von der Natur abwendend, derſelben
wenig Aufmerkſamkeit widmeten und ſich in ihre
eigenen Gedanken verſenkten.
Felir. Folglich wurden die Andern durch
Naturbetrachtung irre geleitet.
Alfred. Sage nicht: „durch Naturbetrach—
tung;“ denn es war der rohe Eindruck der Natur,
der ſie irre führte, nicht das wiſſenſchaftliche Durch—
dringen derſelben. Uebrigens iſt auch die Welt—
46
anſchauung der trefflichſten Philoſophen durch Man—
gel an Naturkenntniß beeinträchtigt worden. Daß
eine Weltanſchauung ein Grundbeſtandtheil der
Philoſophie iſt, bedarf keines Beweiſes; daß dieſe
aber entweder leer, oder in mancher Beziehung falſch
werden müße, wenn ſie nicht das Weſentlichſte der
uns von der Natur gebotenen Wahrheiten in ſich
aufnimmt, iſt nicht minder gewiß. Wenn auch
den gegenwärtigen Philoſophen die Reſultate der
Naturwiſſenſchaften nicht unbekannt ſind, ſo ſehen
ſie doch häufig ſo ganz davon ab, daß dieſelben
ſo gut als keinen Einfluß auf ihre Forſchung haben.
Felir. Auch mir ſcheint dieß ſo; aber es
dürfte an der Zeit ſeyn, zu unſerm Gegenſtande
zurückzukehren. Hat Sophie in Beziehung auf das
eben Abgehandelte noch etwas zu fragen?
Sophie. Nichts von Bedeutung; doch ja,
eine Frage hatte ich ſchon auf den Lippen, als
das Geſpräch die letzte Wendung nahm. Beim
Gedanken, daß die in der Natur ſich offenbarende
Vernunft unfehlbar ſey, die unſrige aber nicht,
hätte ich gemeint, ob man nicht lieber ſagen ſollte:
unſere Vernunft ſtimme mit der der Natur, als
die der Naturſtimme mit der unſrigen überein?
Alfred. Jede dieſer Wendungen hat im betref—
fenden Gedankengang ihre Berechtigung, je nachdem
wir von uns ſelbſt oder von der äußern Natur aus—
gehen. Es gibt noch mehr Ausdrücke für daſſelbe,
z. B. die Naturgeſetze ſind Gedanken der Natur.
Sophie. Dieſe Gedanken der Natur ſind dann
auch Gedanken Gottes.
Alfred. Unzweifelhaft; aber ſo werth uns
dieſer Ausdruck auch ſeyn muß, ſo wünſchte ich
doch, daß wir uns deſſen nicht bedienten, bis es
ſich uns erwieſen hat, daß uns unſere Unterſuchung
zu einer Naturanſchauung führt, die zugleich eine
Anſchauung Gottes iſt. Wir werden dann mit
ganz anderem und vollkommenerem Bewußtſeyn uns
berechtigt fühlen, die Naturgedanken Gottesgedan—
ken zu nennen. Ich möchte Sie daher bitten,
langſamer vorzurücken.
Sophie. Gerne, denn ich fühle recht lebhaft,
wie weit wir noch zum Ziel haben. Unter andern
möchte ich fragen, ob dieſe Naturgedanken einen
gegenſeitigen Zuſammenhang haben, wie unſere
Gedanken?
Alfred. Sie werfen hier eine Hauptfrage auf,
und wir haben eine Reihe von Betrachtungen zu
AS
durchgehen, um ſie uns jo zu beantworten, daß
die Antwort die rechte Bedeutung erhält.
Sophie. Sie fällt bejahend aus?
Alfred. So wahr die Natur ein Ganzes
und kein Stückwerk iſt. Der erſte Schritt in un—
ſerer Unterſuchung wird ſeyn, uns zu überzeugen,
daß die Naturgeſetze, nach denen Alles in jedem
einzelnen Ding vor ſich geht, nicht nur eine Man—
nigfaltigkeit, ſondern eine Geſammtheit, eine Ein—
heit, ein Ganzes ausmachen. Ermüdet es Sie
wohl nicht, wenn wir noch einmal durchgehen,
was wir vom Sarpen geſagt, um dieſe innere
nothwendige Einheit nachzuweiſen?
Sophie. Trauen Sie mir zu, daß ich bei
wichtigen Betrachtungen nicht ermüde oder mich
langweile, wenn ich ſie nur zu faſſen vermag.
Alfred. Der Grundgedanke, ſo weit ein
Grundgedanke in einem ſolchen Naturdinge ſich
ausdrücken mag, iſt ein herabſtürzender Fluß. Das
durch Hinzuſtrömen ſich ſtets erneuernde Waſſer
fällt aus einer beträchtlichen Höhe herab. Es ge—
horcht denſelben Geſetzen des Falles, wie jeder
andere Körper, und erhält ſo während ſeines
Falls eine immer größere Geſchwindigkeit. Als
49
Waſſer hat es die Eigenſchaft, daß die Theile leicht
übereinander hinrollen und ſich zerſtreuen, und
jo, die frei ſchwebenden Tropfen bilden. Bei
der ſtets wachſenden Schnelligkeit gewinnen die
Theile, deren Fall früher begonnen, einen Vor—
ſprung, der ſie von den nachfolgenden trennt, und
dadurch entſteht eine gewaltige Zerſplitterung; an
jedem Hinderniß ſpritzen zahlloſe Tropfen nach allen
Richtungen empor; es bildet ſich, wenn ich ſo ſagen
darf, eine Welt von Tropfen voll Bewegung, welche
trotz aller wechſelnden Umſtände eine gewiſſe Eigen—
thümlichkeit bewahrt. Die ſich mit dem ſtürzenden
Waſſer vermengende Luft bildet Schaum, zahlloſe,
von Waſſerhäutchen umſchloſſene Luftbläschen, de—
ren unabläſſig wechſelnde, unebene, weiße Ober—
fläche ſo eigenthümlich als bekannt iſt. Die Höhe
des von jedem fallenden Theile hervorgebrachten
Lauts wird durch die Fallhöhe beſtimmt, die Stärke
aber nicht allein dadurch, ſondern zugleich durch
die Menge der fallenden Theile. Der Eindruck des
geſammten Schalls kann daher zwar einigermaßen
wechſeln, bleibt aber im Weſentlichen ſtets derſelbe.
Das lärmende Gebrauſe des ſchäumenden Falles
zeugt von ſeiner zerſtörenden Kraft, welche ſich
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 3 %
50
alsbald zeigt, wenn etwas Zerbrechliches in ſeinen
Bereich geräth. Dieß wie wohl manches Andere,
das ich vergeſſen haben mag, und noch vieles mehr,
was dabei vorgeht, ohne daß ich es weiß, bildet
ein innigſt zuſammenhängendes Ganzes, in dem je—
des Glied nach Naturgeſetzen gebildet iſt, oder mit
andern Worten: alle Naturgedanken darin ſind vom
Hauptgedanken unzertrennlich. Seine Eigenthüm—
lichkeit vor allen andern Waſſerfällen erhält er
durch ſeine nur ihm zukommende Naturſtellung. Die
vielfältigen Wechſel, die ſeine Erſcheinung trotz
ihrer Eigenthümlichkeit annimmt, beruhen auf
Wechſeln in der Außenwelt: Verſchiedenheiten in
der Eile des herabſtrömenden Fluſſes, in der Rich—
tung und Stärke, der Beleuchtung, der Luftbewe—
gung, der Wärme u. dgl. m. So ſteht er vor
uns, faſt als ein belebtes Weſen mit eigenthümlichem
Charakter, unſere Einbildungskraft mit dem Bilde
eines mächtigen, obſchon bewußtloſen Rieſen er—
füllend, ein Sklave der Natur mit faſt unbezähm—
barer Kraft.
Sophie. Dieß Alles erſcheint mir ſehr klar,
erfüllt mich aber mit Grauſen. Es ſchwindelt
mir faſt mehr, ſchaue ich in die leere Nichtigkeit
51
des Daſeyns, die Sie mir vor Augen ſtellen, als
wenn ich in den tiefen Waſſerſchlund hinab blickte.
Alfred. Sie werden aber doch wohl weder
hier verlaſſen ſitzen bleiben wollen, noch mir zu—
trauen, daß ich Sie in dieſer Einöde verlaſſe.
Sophie. So kommen Sie mir zu Hülfe.
Alfred. Meine Hülfe wird vorzüglich darin
beſtehen, daß ich Sie ermuntere, ſich ſelbſt zu helfen.
Ohne Zweifel war es die augenſcheinliche Un—
ſelbſtſtändigkeit des betrachteten Gegenſtandes, was
Sie erſchreckte; aber bedenken Sie, daß Sie
denſelben Gegenſtand ohne alle wiſſenſchaftliche
Betrachtung für eben ſo unſelbſtſtändig halten
müßten.
Sophie. Ich ſehe, daß Sie Recht haben; aber
ich fürchtete, jede andere Exiſtenz möchte ſich auf
dieſelbe Weiſe für uns in bloße Gedanken auflöſen.
Alfred. Nicht in bloße Gedanken: es waren
handelnde Kräfte der Natur, die uns eine Ge—
dankeneinheit darſtellten. Der Grund Ihrer Be⸗
fürchtung lag anderswo.
Sophie. Ich glaube es ſelbſt; aber ſagen
Sie mir worin?
Alfred. Die Gedankeneinheit ſtellt ſich uns
hier nicht als eine in ſich abgeſchloſſene kleine
Gedankenwelt dar, ſondern nur als ein Bruchſtück
einer größern Geſammtheit von Gedanken.
Sophie. Ich glaube es iſt ſo.
Alfred. Aber Sie müſſen dennoch gewär—
tig ſeyn, etwas Aehnliches, wenn auch nicht in
gleichem Grade, in jedem Daſeyn zu finden, da
jedes Ding, das nicht das All ſelbſt iſt, nur ein
Theil des größern Ganzen iſt.
Sophie. Ich fürchte, die Selbſtſtändigkeit der
Dinge verſchwindet auf dieſe Weiſe unter unſern
Händen.
Alfred. Ihre Beſorgniß iſt nicht ganz un—
gegründet, und doch fürchte ich nichts für Sie,
wenn wir in unſern Betrachtungen fortfahren.
Sophie. Sie trauen mir viel zu.
Alfred. Ich muß die Furcht aus unſerer
Betrachtung in ihre wahre Heimath verweiſen.
Sophie. Wo iſt dieſe?
Alfred. Im Daſeyn ſelbſt. Faſſen Sie nur
jeden beliebigen Gegenſtand des Alls recht ins
Auge, und überall wird Ihnen Abhängigkeit und
Vergänglichkeit begegnen. Dieſe Klage iſt, wie
Sie wiſſen, ſo alt als das Menſchengeſchlecht;
jollen wir etwas Unvergängliches in den Dingen
finden, ſo wird es das Sinnliche daran nicht ſeyn.
Sophie. Ich merke wohl, daß ich unbedacht—
ſam auf dem Wege war das Unmögliche zu ver—
langen. Verzeihen Sie!
Alfred. Ich würde deſſen nicht gedacht haben,
wenn ich nicht fürchtete, Sie möchten ſich verſucht
fühlen unſerer Unterſuchung vorzuwerfen, ihre An—
ſchauung vom Daſeyn ſey weniger kraftvoll und
lebendig, als ſie es wirklich iſt. Wir müſſen es
uns feſt einprägen, daß jede, über das Beſtändige
in den Dingen aufgeworfene Frage, wenn wir
uns dabei nicht über den Standpunkt des ſinnli—
chen Daſeyns erheben, uns zu einem verzweifeln—
den Gefühle der Nichtigkeit führt. Wir vermögen
ſomit nur mittelſt eines Vernunftſchluſſes etwas
Beſtändiges darin zu finden.
Sophie. Wer aber keine Vernunftſchlüſſe zu
machen weiß?
Alfred. Der hält ſich aufrecht an den Strah—
len des Vernunftdaſeyns, welche die Religion ihm
herabſendet.
Sophie. Das iſt wahr. Und nun weiter.
Alfred. Ich will nun verſuchen,, eine
54
gedrängte Darſtellung der Anſchauung zu geben,
welche wir uns zunächſt anzueignen haben. Daß
es außer den Grundkräften der Natur, den ſchaf—
fenden Kräften, nichts Beſtändiges in den Dingen
gibt als die Naturgeſetze, nach denen Alles vor
ſich geht, und daß dieſe Naturgeſetze mit Recht
Naturgedanken genannt werden können, darüber
ſind wir einig. Die Grundkräfte ſelbſt finden ſich
in allen Körpern, ihre Verſchiedenheit beruht nur
auf den in denſelben herrſchenden Naturgeſetzen.
Das, was einem Dinge ſeine dauernde Eigen—
thümlichkeit, ſein eigentliches Weſen verleiht, iſt
demnach, wie wir bereits angenommen haben, die
Geſammtheit von Naturgeſetzen, durch welche es
hervorgebracht worden iſt und erhalten wird; aber
die Naturgeſetze ſind Naturgedanken, und das We—
ſen der Dinge beruht demnach auf dieſen Gedan—
ken, welche darin ausgedrückt ſind. In ſo fern
Etwas ein in ſich beſchloſſenes Weſen ſeyn ſoll,
müſſen alle die Naturgedanken, die darin ausge—
drückt ſind, in einen weſentlichen Gedanken zu—
ſammenfallen, welchen wir die Idee des Dings
nennen. Das Weſen eines Dings iſt demnach
deſſen lebendige Idee.
Sophie. Dann wird ja aber das Weſen
eines Dinges zu einem bloßen Gedanken.
Alfred. Vergeſſen wir nicht, daß ich ſagte:
deſſen lebendige Idee, und ich meine damit die
durch Naturkräfte verwirklichte Idee.
Sophie. Ich habe aber ſo oft gehört und ge—
leſen, daß die Idee nie verwirklicht werden könne.
Alfred. Im ſtrengſten Sinne des Worts iſt
dieß auch vollkommen wahr. In jedem Einzel—
weſen findet ſich die Idee nur in gewiſſen Rich—
tungen und mit gewiſſen eigenthümlichen Beſtim—
mungen verwirklicht. Dieß geſchieht auch in der
Kunſt. Kein Bildhauer verſucht in einem Bilde
die Idee der ganzen Menſchheit darzuſtellen, in
jedem beſondern Werke aber ſtellt er ſie mit einem
eigenthümlichen Gepräge dar: im Jupiter mit dem
der Macht und Selbſtſtändigkeit, im Apoll mit dem
der jugendlichen Beweglichkeit und Begeiſterung,
in der Venus mit den Lockungen des Liebreizes,
in der Minerva mit dem Gepräge kräftigen Nach—
denkens, aber im Verein mit dem der Jungfräu—
lichkeit. Glauben Sie nicht, daß ich durch dieſe
Ausdrücke etwas Erſchöpfendes über dieſe Gegen—
ſtände ſagen will, ich will nur darauf aufmerkſam
56
machen, daß eine Idee, wenn Sie wollen, eine
Grundidee, vielfältige eigenthümliche Geſtalten an—
nehmen kann, welche man als Ausdrücke für eben—
ſo viele näher beſtimmte Ideen betrachten könnte.
Sophie. Aber werden denn die Ideen in der
Natur eben ſo vollkommen wie in der Kunſt ver—
wirklicht?
Alfred. Betrachten wir ſämmtliche Werke
der Künſtler als ein Reich der Kunſt, ſo darf ich
wohl ſagen, daß das Reich der Natur hier nicht
zurückſteht; wir wollen uns aber nicht gar zu
ſtrenge an den Vergleich halten. Die Natur bringt
jede ihrer Ideen in unzähligen Abänderungen zur
Ausführung, und in Werken, deren Hervorbringung
unüberſehbare Zeiträume füllt. In der Geſammt—
heit Aller ſoll die ganze Idee ausgedrückt werden.
Wie ein Denker einen Grundgedanken unter den
verſchiedenſten Formen ausbildet, oder wie ein Ton—
künſtler daſſelbe thut, wenn er einen Tert variirt,
ebenſo die Natur, nur in unſäglich größerer Man—
nigfaltigkeit. Jedes Einzelweſen iſt eine ſolche
eigenthümliche Ausführung der Grundidee des
Dings. Aber die reiche Natur beſchränkt ſich
nicht darauf, uns Ausführungen zu zeigen, in
*
*
34
denen die Gedanken wie abgeſchloſſen vor uns
ſtehen; nein, ſie zeigt ſie uns in zahlloſen Ab—
wechſelungen der endlichen Verhältniſſe, welche ein
einſeitiger Beobachter die offenbarſte Unvollkommen—
heit nennen würde, die aber einem, der ſich den
Gang der Natur bis zu der Höhe verfolgt denkt,
zu welcher ſie ſich im geſammten Menſchengeſchlecht
entwickeln ſoll, als Momente erſcheinen müſſen,
durch die ſich die Idee der Dinge in ihrer ganzen
Fülle einem mächtigen, klar ſchauenden Geiſte offen—
bart. Aber auch im gegenwärtigen Zuſtande der
Dinge, wo ſelbſt der höchſte Menſchengeiſt ſich
auf eine ſolche Stufe nicht erhoben hat, kann der
Naturforſcher, obwohl in weniger erſchöpfender
Weiſe, zur ſelben Einſicht gelangen.
Sophie. Ihre Anſicht iſt mir nun klar, aber
erlauben Sie mir eine andere Frage, welche mir
ſchon vorhin einfiel; nur wollte ich Ihre Rede
nicht unterbrechen. Sie ſagten, nur auf den Natur—
geſetzen beruhe das Eigenthümliche in den Dingen,
aber nach Allem, was mir bekannt iſt, ſind doch
große Verſchiedenheiten auch durch die Stoffe be—
dingt, aus denen die Dinge beſtehen; die Roſe hat
ja ihren Duft vom Roſenöl, die Traube ihren
58
Geſchmack vom Zucker und verfchiedenen Säuren,
wie ich gehört habe, und Ihnen werden beſſer als
mir zahlloſe Beiſpiele der Art bekannt ſeyn.
Alfred. Alle dieſe Stoffe ſind aber nur Ver—
bindungen einfacherer Stoffe, und ihre Zuſammen—
ſetzung iſt den Naturgeſetzen gemäß erfolgt. In—
zwiſchen berühren Sie da einen Punkt, der uns
in Unterſuchungen verwickeln könnte, deren Ab—
ſchluß unſer Zeitalter bis jetzt noch nicht abſieht.
Erlauben Sie mir alſo, Sie darauf aufmerkſam
zu machen, daß die Wiſſenſchaft in höchſt ver—
ſchiedenen Pflanzen und Pflanzentheilen dieſelben
Beſtandtheile nachgewieſen hat, ſo daß Giftpflanzen
und ſolche, welche uns geſunde Nahrungsmittel
bieten, ihre weſentlichen Eigenſchaften nicht durch
die Grundſtoffe erhalten, aus denen ſie gebildet
ſind, ſondern durch die Art und Weiſe, in der
dieſes geſchehen iſt, d. h. durch die Naturgedanken,
welche darin verwirklicht ſind. 3
Sophie. Damit wäre diefer Zweifel gehoben.
Alfred. Alle Dinge find demnach verwirk—
lichte Ideen, aber ſo, daß jedes für ſich die Idee
nur in höchſt beſchränkter Geſtalt ausdrückt, wo—
gegen ſämmtliche, unter dieſelbe Idee fallende Natur—
59
erzeugniſſe die Idee in ihrer ganzen Fülle ver—
wirklichen; indeſſen iſt jede in der endlichen Welt
auf dieſe Weiſe verwirklichte Idee wieder nur ein
Glied einer höheren, umfaſſenderen. So iſt die
Idee einer jeden Thierart nur ein Glied in der
Idee des ganzen Thierreichs, dieſe wiederum Theil
einer noch umfaſſenderen Idee, welche beides, Thier—
und Pflanzenreich, in ſich begreift; dieſe iſt wie—
derum ein Glied der ganzen Idee des Erbballs,
welche ſich uns als eine in ſich ſelbſt abgeſchloſſene
kleine Welt darſtellt, aber nichts deſto weniger aber—
mals nur ein Glied eines noch höhern Syſtems iſt.
Hermann. Iſt aber dieſer Zuſammenhang
Wirklichkeit und nicht lediglich Erzeugniß unſeres
eigenen Denkens?
Alfred. Die Natur ſelbſt zeigt uns, daß es
ihr Werk iſt. Unſere Unterſuchungen über die
Bildung der Erde haben uns, wie bereits erwähnt,
gelehrt, daß ſie ſich in einer langen Reihe von
Zeitaltern entwickelt hat, daß auf jeder neuen
Entwickelungsſtufe neue Pflanzen- und Thierarten
ſich gebildet, welche in Bau und Geſtaltung den
Erzeugniſſen des gegenwärtigen Erdalters ebenſo
ſehr ähneln, wie verſchiedene Ausführungen deſſelben
Grundgedankens einander ähneln müſſen. Es
iſt ferner wichtig, den Entwickelungsgang zu be—
achten. Die Natur hat mit den auf der niedrig—
ſten Stufe ſtehenden Thieren und Pflanzen begon—
nen, und iſt in den folgenden Zeitaltern nach und
nach zu hoͤhern Bildungen heraufgerückt, welche
indeſſen auf den frühern Bildungsſtufen immer ein
weniger hoch entwickeltes Schöpfungsreich ausmach—
ten, als dasjenige, welches die Erdoberfläche gegen—
wärtig trägt. Man nehme hinzu, daß die höhern
Thierarten in ihrem embryonalen Zuſtande von
niederern Entwickelungsſtufen ausgehen, denen ver—
wandt, auf welchen die niedern Thiere ſtehen blei—
ben, und daß ſie von dieſen aus eine Reihe von
Stufen durchlaufen, ehe ſie die ihnen als Ziel be—
ſtimmte erreichen.
Hermann. Nichts weiter; ich erkenne das
Gewicht deiner Gründe.
Alfred. So baue ich denn auf dem Zuge—
ſtandenen weiter. Der Erdball iſt alſo ein Glied
unſeres Sonnenſyſtems, mit dem er ſich entwickelt hat
und mit dem er in unaufhörlicher Wechſelwirkung
ſteht. Die Idee des Erbdballs iſt folglich in der des
Sonnenſyſtems eingeſchloſſen; aber in ähnlicher
61
Weiſe iſt dieſes wiederum ein Glied des zunächft
höhern Syſtems, jenes Syſtems von Sonnen, wel—
ches uns die Milchſtraße zeigt, und in dem unſere
künſtlichen Sehwerkzeuge und unſere auf Natur—
geſetze gebauten Schlüſſe uns ſo viel haben er—
blicken laſſen, was dem bloßen Sinnenmenſchen
ewig ein Geheimniß bleiben wird. Dieſes unſern
Begriffen nach ungeheure Syſtem iſt dann wieder
ein Glied eines weiteren, noch höhern, und ſo fort
über alle Grenzen hinaus. So baut ſich in un—
ermeßlicher Ausdehnung ein unendliches Ganze auf,
das alle im Daſeyn verwirklichten Ideen umfängt;
aber dieſe Unendlichkeit von Ideen iſt zugleich be—
ſchloſſen in einer wirkenden Idee, in einer unend—
lich lebenden Vernunft.
Hermann. Nun getraue ich mir die Antwort
vorauszuſagen, die du auf die Frage geben wirſt,
welche unſer Geſpräch veranlaßt hat. Das Köͤr—
perliche und das Geiſtige ſind im lebendigen Ge—
danken der Gottheit, deren Werk alle Dinge ſind,
unzertrennlich vereinigt.
Sophie. Aber mir ſcheint der Menſch nach
dieſer Anſchauung nur das vornehmſte Thier,
kein freies Vernunftweſen zu ſeyn. ö
Alfred. Auf den erſten Anblick könnte dieß
ſo ſcheinen; aber wir müſſen bedenken, daß ſich
der Menſch vor allen andern irdiſchen Geſchöpfen
dadurch auszeichnet, daß die Vernunft, der alle
andern ohne Bewußtſeyn gehorchen, bei ihm zum
Selbſtbewußtſeyn erwacht iſt. Dadurch iſt er frei,
aber wohl gemerkt, in dem Sinne, in dem ein
endliches Weſen es ſeyn kann.
Sophie. Aber noch begegne ich einer andern,
furchtbaren Schwierigkeit: ich ſehe nicht, wie die
Unſterblichkeit unſeres Weſens dabei geſichert iſt.
Alfred. Sie werden kein Syſtem finden, wo—
rin die Unſterblichkeit bewieſen wäre; in jedem
muß dieß dem Glauben überlaſſen bleiben, und ſo
auch hier; wenn Sie aber fragen, wie dieſer Glaube
mit unſerer Anſchauung zu verknüpfen ſey, darin
gerechtfertigt werde, ſo beſchränke ich mich auf die
Antwort, daß ſich dieß, nach meiner Ueberzeu—
gung, auf mindeſtens ebenſo, wo nicht befriedi—
gendere Weiſe thun läßt als in jedem andern Sy—
ſtem; dieß erfordert aber eine Entwickelung für ſich,
die einer andern Zeit vorbehalten bleiben mag.
Der Springbrunnen.
Ein Geſpräch.
Bei meinen frühern Beſuchen in Paris nahm ich im Garten
der Tuilerien mitunter einem Paar anſehnlicher Springbrunnen
gegenüber meinen Sitz. Der Eindruck, den dieſe auf mich machten,
iſt mir ſpäter oft ins Gedächtniß gekommen, und hat zu dem folgen—
den Geſpräche, das weit ſpäter, vor etwa 8 Jahren niedergeſchrie—
ben wurde, Anlaß gegeben. Bei meinem letzten Beſuche in Paris,
i. J. 1846, waren dieſe fchönen Springbrunnen durch andere noch
viel größere und prächtigere, aber auch geräuſchvollere erſetzt; dem
großen Menſchengewimmel wohl angemeſſener, dürften ſie dem
ruhenden Wanderer, welcher ſich dem Eindruck einer freundlichen
Natur hingibt, minder willkommen ſeyn.
Alfred. Frank.
Alfred. Wir ſind nun für einen ſo war⸗
men Tag genug umhergewandert. Setzen wir
uns hier auf die Bank unter den blühenden Lin—
den. Der herrliche Duft, der kühle Schatten, das
hohe Springwaſſer gegenüber, Alles ladet uns
ein. Ich betrachte dieſen Ort als einen der ſchön—
ſten hier im Garten.
Frank. Sie haben hierin ganz meinen Ge—
ſchmack; es iſt mein Lieblingsplatz. Ich ſitze oft
lange hier, mich dem Eindruck der umgebenden
Natur überlaſſend. Wenn es Jemanden einfiele,
mich hier zu beobachten, müßte er glauben, ich
ſitze in Gedanken vertieft, und doch befinde ich
mich hier oft in einem Zuſtande, von dem man
—
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 5
45
MR
am richtigſten jagen könnte, ich denke an Nichts.
Indeß iſt dieſer Zuſtand keineswegs einer der Un—
thätigkeit. Ich könnte mich verſucht fühlen, ihn
träumeriſch zu nennen; aber er hat nicht die wil—
den Sprünge der Träume oder das Losgeriſſene
derſelben vom ganzen übrigen Kreiſe unſeres Be—
wußtſeyns. Mir iſt, als ob die Natur mit tau—
ſend Zungen zu mir redete, und ich ihr ruhiger,
in mich ſelbſt verſunkener Zuhörer wäre. Dieſer
Zuſtand, weit entfernt, für den Geiſt unfruchtbar
zu ſeyn, bringt nicht bloß einen Frieden über mich,
der mir Kraft zu neuer Thätigkeit verleiht; ſon—
dern ich nehme oft wahr, daß ich mehr Erinne—
rungen davon bewahre, als ich gedacht; ſie haben
gleichſam geſchlummert, erwachen aber in meinem
Dichten und Denken, wenn ich ihrer bedarf, und
überraſchen mich gleich hülfreichen Freunden, an
deren Daſeyn ich nicht gedacht hatte. Nun, Ihre
Wiſſenſchaft durchdringt ja die Natur; können Sie
mir dieſen merkwürdigen Einfluß erklären?
Alfred. Der Ort iſt einladend. Ich fühle
Luſt, mich mit Ihnen über dieſen Gegenſtand zu
unterhalten; aber es lag in Ihrer Aufforderung
Etwas, das mich fürchten läßt, unſer Geſpräch
”
werde der Stimmung, welche der Ort hervorruft,
nicht würdig ſeyn.
Frank. Sie ſcheinen die Sache ſehr feierlich
zu nehmen. N
Alfred. Nein, im Gegentheil, ich handle
dabei nach Berechnung. Ich will Sie ſelbſt zum
Richter machen, ob wir die Zeit nicht beſſer an—
wendeten, wenn wir uns hier ſchweigend den Ein—
drücken hingäben, ſtatt ein Geſpräch zu führen,
an deſſen Schluß der Eine die eigentliche Meinung
des Andern noch nicht wüßte.
Frank. Kann das Geſpräch keinen beſſern
Ausgang haben?
Alfred. Allerdings, wenn wir zuvor ein ge—
wiſſes Mißverſtändniß aus dem Wege räumen.
Frank. So thun Sie es.
Alfred. Erlauben Sie mir denn Ihnen zu
ſagen: es lag eine Ironie in Ihrer Aufforderung.
Frank. Meinen Sie?
Alfred. Ich bin überzeugt, daß Sie die ver—
langte Erklärung für unmöglich halten, und ich
füge hinzu, Sie haben Recht, wenn wir gelten
laſſen, was Sie ſich dabei denken.
68
Frank. Laſſen Sie hören, wie genau Ihnen
meine Meinung bekannt iſt.
Alfred. Sie haben ſie mir gewiſſermaßen
ſelbſt mitgetheilt. Ich habe bei andern Anläſſen
bemerkt, daß, wenn Sie eine wiſſenſchaftliche Er—
klärung begehren, Sie den Gegenſtand ſo in Ge—
danken aufgelöst verlangen, daß kein Metaphy—
ſiker weiter gehen kann.
Frank. Ich erlaube mir zu bemerken, daß auch
der Dichter Metaphyſiker ſeyn kann. Will man
mir eine Erklärung geben, ſo fordere ich, daß ſie
bis auf den tiefſten Grund dringen ſoll.
Alfred. Ich will Ihnen dieß Recht nicht
ſtreitig machen, ich mag es aber nicht auf
mich nehmen, eine Erklärung in dieſem Sinne
zu geben.
Frank. Das iſt, Sie können keine Erklä—
rung geben.
Alfred. Nun, wir wollen nicht um Worte
ſtreiten. Ich verlange nicht, daß Sie das, was
meine Wiſſenſchaft über unſern Gegenſtand zu
ſagen hat, eine Erklärung nennen ſollen; wenn
Sie dieß aber ſo deuten wollten, als ob ich ein—
räumte, die Wiſſenſchaft vermöge nichts zur
69
Beleuchtung der Sache vorzubringen, muß ich mich
dagegen verwahren.
Frank. Nun, ich darf Ihnen ja nicht mehr
zumuthen, als Ihnen zu geben möglich ſcheint.
Alfred. Geſtehen Sie nun ein, daß unſere
Unterhaltung eine gegenſeitige Plackerei geworden
wäre, wenn dieſes nunmehr beſeitigte Mißverſtänd—
niß ſich geltend gemacht haͤtte? Das ich vorbrachte,
wäre bei Ihrer Vorausſetzung zwecklos und der
Sache fremd geweſen, und Sie hätten ſich abge—
müht, mich von einer Einbildung zu heilen, die
ich nicht hatte. In dieſer Weiſe ſehe ich oft lange
Unterhaltungen fruchtlos verlaufen, welche von den—
ſelben Männern, mit günſtigerem Anfangspunkte
geführt, wahrhaft geiſtigen Genuß verſchafft hätten.
Frank. Ich kann dieß nicht in Abrede ſtellen;
aber ich geſtehe, ich weiß kaum mehr recht, wo—
von wir reden wollten.
Alfred. Ich glaube, einen vielfältigen Zu—
ſammenhang nachweiſen zu können zwiſchen den
Naturwirkungen und den Eindrücken, die ſie auf
uns hervorbringen. Doch ich will lieber nicht gar
zu genau beſtimmen, was ich geben werde; neh—
men Sie wohlwollend an, was ich biete, prüfen
5 *
70
Sie es, und wir können uns denn hinterher,
wenn's Noth thut, nach der paſſendſten Benen—
nung dafür umſehen.
Frank. Wie ich ſehe, verſchanzen Sie ſich
gegen mich, als ob ich ein gefährlicher Feind wäre.
Alfred. Sie ſind dieß nicht mehr, wenn
Sie keinen Angriff von mir erwarten, und wenn
Sie überzeugt werden, daß die Wiſſenſchaft richtig
verſtanden der Dichtung entgegen kömmt.
Frank. Gut denn! Laſſen Sie uns zur Sache
kommen.
Alfred. Wenn ich den mächtigen, faſt arm—
dicken Strahl betrachte, der hier zu etwa ſechs
Mannshöhen hinanſteigt, ſo dringt ſich mir im
Geheim der Eindruck von einer Kraft auf, welche
das Waſſer zwingt, ſeiner Schwere entgegen em—
porzuſteigen.
Frank. Erlauben Sie mir, daß ich Sie un—
terbreche. Ich habe mich unzähligemale dieſes
Springbrunnens erfreut, ohne an dieſe Kraft zu
denken.
Alfred. Sie thun wohl daran, daß Sie mich
nicht weiter gehen laſſen, wenn Sie nicht mit mir
einverſtanden ſind. Vielleicht aber nehmen Sie
N
Ihre Einwendung ſelbſt zurück, wenn Sie ſich erin—
nern, daß ich von einem geheimen Eindrucke ſprach.
Frank. Aber wenn der Eindruck geheim iſt,
ſo weiß ich ja Nichts davon, und er iſt alſo nicht
für mich vorhanden.
Alfred. Ich ſage, dieſe Behauptung iſt bei
Ihnen nur eine augenblickliche Gedankenwendung;
unzähligemale haben Sie ſolche geheime Eindrücke
erhalten. Es iſt nicht gar lange her, daß wir
zuſammen zwei in einem Uebungskampfe begriffene
gewandte Fechter ſahen. Einer derſelben hatte ins—
beſondere unſern Beifall. Legten wir uns damals
wohl Rechenſchaft ab von der Kraftfülle und Kunſt,
die er in der gewandten Führung der Waffen, in
der Annahme kecker Stellungen, überhaupt dadurch
bekundete, daß er ſeinen Körper ſo vollkommen in
ſeiner Gewalt hatte? Sowohl die Kraft, die er an
den Tag legte, als die deren Gepräge ſein ganzer
Körper trug, hatte gewiß Theil an unſerem Ver—
gnügen, nicht weil wir Betrachtungen über die
Größe derſelben anſtellten, ſondern weil unſer in—
neres Gemüth von Erinnerungen erfüllt war, die
bei dieſem Anblick geweckt, uns fühlen ließen, wie
viel Kraft ſich hier offenbare.
—
2
Frank. Sie haben vollkommen Recht; ich
ſprach vorhin gegen mein beſſeres Wiſſen. — Da
fällt mir eben ein, als ich einmal einem Kinde,
das dergleichen noch nie geſehen hatte, dieſen
Springbrunnen zeigte, ſagte es: Wie kann wohl
das Waſſer hier aufwärts ſteigen, da es ſonſt
immer fällt? — So kann ich mir denn ſelbſt ſa—
gen, daß uns bei dieſem Anblick ein geheimes Ge—
fühl der Verwunderung erfüllt.
Alfred. Sagten Sie dem Kinde die Urſache?
Frank. Ja, ich konnte dieß leicht. Ich konnte
dem Knaben den See nennen, woher das Waſſer
kömmt. Er kannte dieſen und wußte, daß er eine
hohe Lage hat; ich brauchte ihm daher bloß zu
erzählen, das Waſſer komme von jenem See durch
unterirdiſche Röhren, und werde durch den Druck
der hochliegenden Waſſermaſſe emporgetrieben.
Alfred. Ich fürchte nun, daß Sie die ge—
heime Verwunderung, von der Sie geſprochen,
zurücknehmen.
Frank. Sie wollen mich in Verſuchung füh—
ren, aber dießmal gelingt es nicht. Beim Anblick
von etwas Ungewöhnlichem iſt immer eine ge—
heime Verwunderung, wenn wir auch bei näherem
Nachdenken die Urſachen kennen. Sind Sie nun
mit mir zufrieden?
Alfred. Sie kommen mir ja auf's Schönſte
entgegen. Ich gehe daher nun mit um ſo größerer
Freimüthigkeit weiter, indem ich den Blick auf die
vielerlei Bewegungen in dieſem Waſſerſtrahl richte.
Was gewöhnlich unſere Aufmerkſamkeit zuerſt an—
zieht, iſt die zunehmende Dicke des ſteigenden
Strahls. Dieſe kömmt daher, daß die Theile des
Waſſers während des Steigens fortwährend an
Geſchwindigkeit abnehmen, und der langſamere
Strom eines breitern Raums bedarf, um dieſelbe
Waſſermenge durchzulaſſen.
Frank. Dieß iſt mir nicht ganz klar.
Alfred. Denken Sie ſich ein Thor, gerade
ſo breit, daß zehn Mann neben einander durch—
gehen können und daß tauſend Mann, ſo geordnet
und mit einer gewiſſen, abgemeſſenen Geſchwindig—
keit, gerade in einer Minute durchgehen ſollten,
und nun laſſen Sie dieſes mit der halben
Geſchwindigkeit verſucht werden, ſo wären zum
Durchgang zwei Minuten erforderlich; wollte man
ihnen aber ein Thor verſchaffen, durch das ſie
auch ſo noch in einer Minute ſollten durchkommen
können, ſo müßte dieſes jo breit ſeyn, daß zwanzig
Mann neben einander durchgehen könnten. —
Stellen Sie ſich nun jeden Ring, den wir uns um
den Strahl gelegt denken können, als ein Thor
vor, durch welches das Waſſer gehen ſoll, ſo
müßte dieſes um ſo weiter ſeyn, je geringer die
Geſchwindigkeit iſt, mit der das Waſſer hindurch
geht. Der Zuwachs in der Dicke, den der Strahl
mit dem Steigen erhält, wird demnach durch
eine Reihe naturgeſetzlicher Bewegungen hervor—
gebracht.
Frank. Das iſt klar. Dieſe zunehmende Dicke,
dieſes gleichſam innerliche Wachſen, feſſelt die Ein—
bildungskraft und erweckt den Gedanken eines in—
nern Lebens; aber indem ich den Gedanken ver—
folge, begegne ich einer andern Thätigkeit. Die
Zunahme endigt damit, daß ſich der Waſſerſtrahl
in zahlloſe Tropfen zerſplittert. — Es iſt, als
ſähe man unzählige, feine, durchſichtige, herab—
hängende Zweige, aus Theilen beſtehend, welche
das Auge als getrennt erkennt, die aber doch
ſo zuſammen hängen, als unterhielte eine unſicht—
bare Kraft ihre Verbindung. Es kommt uns
vor, als ob die verborgene Thätigkeit, welche
75
im zuſammenhängenden dicken Strahle wirkſam
war, hier in weit reicherer Mannigfaltigkeit her—
vorbräche.
Alfred. Dieß ſcheint mir eine ſehr treffende
Schilderung.
Frank. Ihre Sache iſt es nun, den Grund
davon anzugeben.
Alfred. Es iſt durch Verſuche ermittelt, daß
Waſſer, welches aus einem Behälter ausſtrömt, es
ſey auf-, ab- oder ſeitwärts, in eine ſolche ſchwin—
gende Bewegung verſetzt wird, daß dadurch eine An—
lage zur Bildung von Tropfen ſich entwickelt, welche
nach 1 Zeiträumen ihre Geſtalt verän—
dern. Erlitt z. B. ein Tropfen in einer gewiſſen
ehr kleinen Zeit eine Zuſammenziehung in der
Höhe, welche ihn etwas flacher machte, ſo wird
er im nächſten Zeitabſchnitt nach der Breite zu—
ſammengezogen, ſo daß er länger wird. Zunächſt
dem Ausfluß laufen noch alle Theile ineinander,
ein zuſammenhängendes Ganze bildend; etwas wei—
ter davon, wo der Strahl minder klar und durch—
ſichtig iſt, ſind ſie zwar geſchieden, fließen aber
doch ſcheinbar zuſammen, und erſt in größerer
Entfernung findet ſichtbare Trennung ſtatt.
76
Frank. Weiß man auch gewiß, daß Alles
dieſes ſo vor ſich geht? Ich ſehe z. B. nicht ein,
wie man wiſſen kann, daß die Theile, welche ſchein—
bar ineinander laufen, wirklich getrennt ſind.
Alfred. Ich will Sie nicht mit einem Be—
richt über die Entdeckung und die erſten Beweiſe
aufhalten, ſondern nur einen neuerlich gefundenen,
leichten Beweis anführen. Man nimmt den Ver—
ſuch mit dem Ausſtrömen des Waſſers in einem
dunkeln Raum vor, der nur durch eine Reihe elek—
triſcher Funken, welche einander in kleinen Zwiſchen—
räumen folgen, erleuchtet wird; man ſieht dann,
daß der trübe Theil des Strahls, der vorher zu—
ſammenhängend ſchien, aus Tropfen beſteht.
Frank. Sehen wir denn die Gegenſtände
bei elektriſchen Funken richtiger?
Alfred. In dieſem Falle, ja. Denn ſo lange
man eine Reihe ſich ſchnell folgender Tropfen in
ſtetiger Beleuchtung erblickt, empfängt das Auge
neue Eindrücke, ehe die früheren ausgelöſcht ſind,
weßhalb man den einen Eindruck nicht vom andern
zu unterſcheiden vermag; währt dagegen die jedes—
malige Beleuchtung nur unendlich kurze Zeit, ſo
erhält jeder Eindruck die nöthige Friſt, ſich zu
Rt:
bilden und ſich wieder zu verwiſchen, ehe ein neuer
ſich darein mengen kann.
Frank. Man muß es den Erperimentatoren
zum Ruhme nachſagen, daß ſie nicht viel von
Unmöglichkeiten wiſſen. Aber nun die Anlage zur
Tropfenbildung in größerer Nähe von der Aus—
ſtrömungsöffnung?
Alfred. Ich übergehe hier wieder Vieles,
was uns zu weit von unſerem Gegenſtande ab—
führen würde, und erwähne nur gewiſſer entſchei—
dender Verſuche, welche auch in anderer Beziehung
hieher gehören. Wie durch Schwingungen anderer
Körper, z. B. einer Saite, eines ausgeſpannten
Felles, der Luft in einer Pfeife, Töne hervorge—
bracht werden, ſo muß auch die Schwingung dieſer
Tropfen Töne hervorbringen. Dem iſt auch wirk—
lich ſo. Findet die Ausſtrömung unter Umſtänden
ſtatt, welche erlauben, das Ohr dicht an den Strahl
zu halten, und wird der Eindruck nicht von irgend
einem andern Laute übertäubt, ſo vernimmt man
einen ſehr leiſen Laut vom Strahle ſelbſt; läßt
man dieſen aber auf ein ausgeſpanntes Fell, auf eine
große Metallplatte oder in ein leeres Metallbecken
fallen, ſo hört man den Ton ſtark genug, um
78
beſtimmen zu können, welcher Note er entſpricht, und
zugleich die Zahl der Schwingungen feſtzuſetzen,
welche erforderlich ſind, denſelben hervorzubringen.
Frank. Aber iſt man auch gewiß, daß der
Ton, welche das Fell, die Platte oder das Becken
gibt, wirklich derſelbe ſey, wie der von den Tropfen
erzeugte?
Alfred. Ich will die Sache durch einen
andern wohlbekannten Verſuch erläutern. Sie
werden ohne Zweifel oft bemerkt haben, daß eine
angeſchlagene Stimmgabel einen ſehr ſchwachen
Ton gibt, der in einem mäßigen Abſtande gar
nicht hörbar iſt; ſetzt man aber den Schaft derſel—
ben auf einen Tiſch, eine Fenſterſcheibe, oder ein
ſtraff geſpanntes Fell, ſo hört man ihn in einer
oft überraſchenden Stärke, wobei der Ton derſelbe
bleibt, ob es nun dieſer oder jener Körper geweſen,
deſſen Theile zu ſeiner Verſtärkung gedient a
Frank. Das iſt wahr.
Alfred. In Verbindung mit den Ausſtö
mungsverſuchen, deren ich gedachte, wird noch ein
anderer angeſtellt, der unſere Aufmerkſamkeit ver—
dient. Wenn man den Ton der Ausſtrömung
gefunden hat, und denſelben Ton nun durch ſehr
W
kräftige Schwingungen im Strahl und in der
Waſſermaſſe hervorbringt, ſo ſondert ſich ein großer
Theil des zuſammenhängenden Strahls in Tropfen
ab, ja, wenn die Wirkung ſehr ſtark iſt, betrifft
dieſe Veränderung faſt den ganzen zuſammenhän—
genden Theil; dadurch iſt es denn außer Zweifel
geſetzt, daß die Schwingungen bereits im zuſammen—
hängenden Waſſerſtrahle ſelbſt vorhanden ſind.
Frank. Es iſt erſtaunlich, welche Summe
innern Lebens in dieſem Waſſerſtrahle verborgen
liegt. Aber noch fällt mir eine Frage ein: es ſind
doch wohl keine ſolchen Töne, die wir in dem den
Tropfenfall begleitenden Plätſchern vernehmen?
Alfred. Nein; dieſes wird durch den Stoß
der Tropfen gegen die Waſſerfläche verurſacht.
Mancher wird vielleicht dieſes Geräuſch weg wün—
ſchen, wer ſich aber dem Natureindrucke gerne in
ſeiner Geſammtheit hingibt, wird ſolchen Wunſch
nicht theilen. Ihm würde die Lautloſigkeit der
fallenden Tropfen ein unheimliches Gefühl erregen,
etwa wie ein Körper ohne Schatten.
Frank. Ein ſchönes Bild; aber als prak—
tiſcher Aeſthetiker muß ich doch Einſprache thun:
dieſes Geplätſcher iſt mir oft beſchwerlich.
*
80
Alfred. Mir ebenfalls, aber nur dann, wenn
ich mich nicht dem Eindruck in ſeiner Geſammtheit
hingebe, z. B. wenn ich dem Gegenſtande gar zu
nahe bin. Ich bin überzeugt, der Gartenkünſtler
hat dieſe Bank nicht ohne Ueberlegung hieher ge—
ſetzt. Sein Naturſinn wird ihm geſagt haben, daß
der Springbrunnen, von hier betrachtet, den ge—
fälligſten Eindruck machen müſſe. Einem Spring—
brunnen ſo nahe zu ſeyn, daß man das Plätſchern
zu ſtark vernimmt, daß man ihn nicht recht überſieht,
und daß er mit ſeiner Umgebung kein angenehmes
Ganze bildet, iſt ſo viel, als ob man ein Gemälde in
falſcher Beleuchtung oder in ſtörender Umgebung ſähe.
Frank. Ich muß Ihnen wohl Recht geben.
Alfred. Wir dürfen aber die Sache nicht
bloß von dieſer einen Seite betrachten. Der her—
vorgebrachte Laut bringt in das Ganze eine Le—
bens- und Thätigkeitsäußerung weiter. Dieſer
Laut iſt natürlich aus zahlloſen einzelnen zuſam—
mengeſetzt, deren Wirkung durch die unter ihnen
herrſchende Abſtufung ihre Eigenthümlichkeit erhält.
Die mannigfachen, in verſchiedenen Bogen herab—
fallenden Tropfen bringen eine Reihe geſetzmäßiger
Lautwechſel hervor. Im Geſammteindruck, den wir
81
dadurch empfangen, ordnen ſich die vielfältigen un—
geordneten, uns unbewußten Eindrücke, und ſo
trägt dieſer Eindruck dazu bei, der Empfindung
von Ruhe und Frieden die Herrſchaft in uns zu
verſchaffen.
Frank. Ich geſtehe, Sie eröffnen mir da
einen Blick in den Zuſammenhang zwiſchen der
äußern Natur und den Eindrücken, die wir von
derſelben empfangen.
Alfred. Und nun laſſen Sie uns die Bahnen
betrachten, welche die Theile des Strahls durch—
laufen. Dieſe Bahnen folgen den Geſetzen des
Wurfs. Sie ſehen, daß der Strahl aus der Mün—
dung der Röhre ſchräg aufwärts getrieben wird.
Jeder Körper, der eine freie Bewegung in dieſer
Richtung beginnt, würde derſelben fortwährend fol—
gen, wenn ihn die Schwere nicht beſtändig davon
abzöge. Die Bewegung wird dadurch gezwungen,
eine krumme Linie zu beſchreiben, die unter dem
Namen der Parabel bekannt iſt. Man kann dar—
thun, daß dieſe Form der Ausdruck einer bedeu—
tungsvollen Gedankeneinheit iſt, und die Erfah—
rung zeigt, daß ſolche Formen in uns ein Gefühl
des Schönen erwecken.
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 6
141304
82
Frank. Wir haben aber hier nicht mit einer
Bahn zu thun, ſondern mit mehreren, die, wie
mir ſcheint, nicht alle ganz dieſelbe Figur haben.
Alfred. So iſt es auch; durch die andern
im Strahle wirkenden Kräfte werden Abweichungen
hervorgebracht; der Widerſtand der Luft iſt eben—
falls nicht ohne Einfluß darauf, aber es bleibt
dennoch eine Mittelrichtung, welche von der Para—
bel nicht merklich abweicht, und um dieſe herum
liegen die andern wie eine geordnete Reihe von
Annäherungen. Hiedurch entſteht größere innere
Mannigfaltigkeit neben zuſammenfaſſender Einheit;
auf dieſe Weiſe kommt in den Eindruck eigenthüm—
liche Reichhaltigkeit und Gedankenfülle.
Frank. Ueber den letzten Ausdruck müſſen
Sie ſich näher erklären.
Alfred. Gerne; doch möchte ich hier nur den
nächſten Grund dafür angeben und nicht ſo weit
in die Gedankenreihe zurückgehen, als Sie ſonſt
wohl zu fordern berechtigt wären. Dieſes vor—
ausgeſetzt, antworte ich, daß die Naturgeſetze in
der äußern Welt daſſelbe ſind, wie die Gedanken
in uns ſelbſt. Jene ſind die ewigen Gedanken,
wonach ſich die Dinge richten, ohne daß ſie ein
83
Bewußtſeyn davon haben, welche aber die Wiſſen—
ſchaft aus ihnen entwickelt. Letztere ſind dieſelben
ewigen Gedanken, aber in unſerem eigenen Selbſt
hervorgebracht. So finde ich überall, wo eine
Mannigfaltigkeit von Naturgeſetzen unter einer
herrſchenden Einheit zuſammenwirkt, eine Fülle
von Gedanken und ich behaupte, unſer innerer
Sinn, der nach denſelben Geſetzen gebildet iſt,
faßt dieß als Schönheit auf.
Frank. Ihre Meinung iſt mir klar genug,
und ich darf unſer Geſpräch nicht unterbrechen,
um Beweiſe für die Sätze zu verlangen, die Sie
herbeizogen. Ich bitte Sie lieber um Ihre Anſicht
über eine andere Wirkung, welche ſo eben meine
Aufmerkſamkeit feſſelt. Mir deucht das dort vom
Waſſerſtrahle kommende Licht habe etwas Eigenthüm—
liches, es gleiche nicht dem von klaren Glasperlen,
noch dem, wie es von einem ſtehenden Gewäſſer
kommt; ich bemerke daran ein eigenthümliches Blinken.
Alfred. Dieß liegt in der Natur der Sache.
Während das Springwaſſer unſern Sinnen ge—
wiſſermaßen wie eine ſtehende Figur vorſchwebt,
indem die Tropfen, welche beim Fall ihre Stelle
verlaſſen, durch andere erſetzt werden, kommt uns
84
natürlich dennoch das Licht von daher mit allen
den zitternden Bewegungen zu, welche die Zurück—
werfung deſſelben von den unaufhörlich wechſelnden
Gegenſtänden erzeugen muß. Ich meine hier aber
nicht bloß die Ortsveränderung der Tropfen, es
ſind dabei noch zwei andere Verhältniſſe zu berück—
ſichtigen: das eine derſelben, deſſen ich ſchon vor—
hin erwähnt habe, iſt die Formveränderung, welche
jeder Tropfen durch innere Schwingungen erleidet,
und die ſo ſchnell vor ſich gehen, daß die dadurch
hervorgebrachten Eindrücke zwar nicht zu unterſchei—
den ſind, daß ſie aber dem zurückgeworfenen Lichte
gleichwohl einen eigenthümlichen Charakter geben;
das andere beſteht darin, daß die Tropfenreihen
eigentlich aus großen und dazwiſchenliegenden ſehr
kleinen Tropfen zuſammengeſetzt ſind; ich glaubte dieß
nicht erwähnen zu müſſen, als ich von der Tropfen—
bildung ſprach, dieſe kleinen Tropfen gehören in—
deſſen mit zur Sache. Durch alles dieß empfängt
das Auge eine ganze Reihe innerlich verbundener
Eindrücke, welche denen von durchſichtigen unbe—
weglichen Körpern hervorgebrachten nicht gleichen
können.
Frank. Ich habe mitunter ähnliche Eindrücke
85
von Tropfen erhalten, welche nach ſtarkem Regen
oder beim Thauwetter vom Dache fallen, wenn
ſie von der Sonne beſchienen werden.
Alfred. Dieſe Eindrücke müſſen verwandt
ſeyn, da die Tropfenbildung auch hier denſelben
Geſetzen gehorcht.
Frank. Da ich im Augenblick über dieſen
Punkt keines weitern Aufſchluſſes bedarf, ſo werfe
ich eine allgemeine Frage auf. Ich habe viele
Springbrunnen geſehen, die vom gegenwärtigen
ſehr verſchieden waren. Viele ſah ich mit ver—
hältnißmäßig viel größerer Kraft hervorbrechen,
ſich in bei weitem feinere Tropfen zerſtreuen und
daher des hier deutlichen Gepräges von Ruhe in
der Bewegung entbehren. Auch habe ich vor Jah—
ren ein ſehr großes Springwaſſer geſehen, deſſen
Eindruck wieder ein anderer war. Daß die ſehr
kleinen, wie alles Unbedeutende, nur einen gerin—
gen Eindruck machen, wundert mich nicht, ich kann
mir ſelbſt denken, daß ein gar zu unbedeutender
Springbrunnen, als mißlungener Verſuch, den
Spott herausfordern mag, allein jene andern Ver—
ſchiedenheiten möchten doch unſerer Aufmerkſamkeit
werth ſeyn.
86
Alfred. Ich wende mich zuerſt zu den Spring—
brunnen, welche eine im Verhältniß zu ihrer Maſſe
große Kraft hervortreibt. Die größere innere Be—
wegung und ein beträchtlicherer Widerſtand der Luft
ſind hinreichende Urſachen ihrer größern Zerſplit—
terung, und darum iſt ihnen, wie Sie bemerkt haben,
ein ſtärkeres Gepräge von Leben und Bewegung
eigen, ſie brauſen und ſchäumen und überwältigen
uns gleichſam mit ihrer Kraft, weßhalb ſie mir für
große volkreiche Städte und ſtark beſuchte Gärten
paſſend ſcheinen, wogegen ein dickerer, langſamerer
Strom ſtillern Orten beſſer entſpricht.
Frank. Aber was ſagen Sie von den außer—
ordentlich großen Springwaſſern, welche demnach
dieſem in allem Weſentlichen gleichen?
Alfred. Ich hatte ſelbſt Gelegenheit, den
Unterſchied recht zu empfinden, den die ungewöhn—
liche ordentliche Größe hervorbringt. Der Spring—
brunnen, der mir dazu Anlaß gab, hatte, wenn
mir recht iſt, 180 Fuß Höhe und die Dicke eines
mittleren Menſchenleibes; wollte ich mich demſelben
fo nahe ſtellen, daß ich von den einzelnen Theilen.
einen merkbaren Eindruck erhielt, ſo konnte ich
das Ganze nicht überſchauen, wenigſtens ſo nicht,
87
daß ich die Form deſſelben recht aufzufaſſen ver—
mocht hätte; dazu kam noch, daß der Lärm der fal—
lenden Tropfen etwas Betäubendes hatte, das die
Eindrücke der kleinern Fallbewegungen ſchwächte.
Zwar unterſcheiden wir dieſe Eindrücke nicht be—
ſtimmt, aber wir haben gleichwohl ein Gefühl der—
ſelben. Der Eindruck dieſes großen Springbrun—
nens war übrigens kein geringer, aber anderer
Art, ſtärker, großartiger, eher ein erhebender als
ein harmoniſch befriedigender Anblick. Die innere
Harmonie war keineswegs aufgehoben, aber der
Eindruck derſelben mußte dem Gefühl mächtiger
Kraft und Größe weichen.
Frank. Sie haben Recht. In einem mäch—
tigen Waſſerfalle tritt das Harmoniſche noch mehr
zurück, und in einer unüberſehbaren vom Sturm
aufgeregten Meeresfläche erlöſcht es faſt ganz; da
herrſcht ganz der Eindruck der Größe und Erha—
benheit. Es gibt aber einen gewiſſen Grad von
Größe, der nicht mehr ſchön iſt.
Alfred. Unſtreitig, wenn wir das Wort
ſchön in der gewöhnlichen beſchränkten Bedeutung
nehmen, und zwar mit Recht; aber mir ſcheint,
trotz aller Verſchiedenheit, eine Grundähnlichkeit zu
88
beſtehen zwiſchen der Seelenthätigkeit, mittelſt wel—
cher wir das Erhabene und derjenigen, mittelſt
deren wir das faſſen, was wir eigentlich ſchön
nennen, eine unbewußte Vernunft in der Natur,
macht ſich nämlich auch hier geltend. Meiner Mei—
nung nach erſchienen bei den Menſchen im Allge—
meinen, ſie mögen nun zur klaren Einſicht einer
die ganze Natur durchdringenden Vernunft gekom—
men ſeyn oder nicht, gemäß der allgemeinen ver—
nünftigen Harmonie die Natureindrücke in Ueber—
einſtimmung mit dieſer verborgenen Vernunft. Das
heftig bewegte Meer, der Sturm, der Blitz ver—
künden ſich uns als Mächte, in denen der unbe—
kannte Geiſt der Natur ſich offenbart. Ein ver—
wandtes Gefühl erregt in uns das Weitausge—
dehnte, wie das Himmelsgewölbe, eine große Mee—
resfläche, eine mächtige Gebirgsmaſſe. Solche treten
uns als Werke der unendlichen Naturmacht ent—
gegen und erwecken in uns das Gefühl des Unab—
hängigen, Allbeherrſchenden.
Frank. Oft aber habe ich ſolchen großen Gegen—
ſtänden gegenüber doch auch entgegengeſetzte Gefühle
gehabt. Ich erinnere mich noch wohl, daß mich
in einer Felsgegend, wo eine ungeheure Bergwand
89
jich vor meinen Augen erhob, ein überwältigendes
Gefühl von Verlaſſenſeyn und Tod überkam.
Alfred. Solches begegnet uns leicht, wenn
nichts vorhanden iſt, was uns kräftig an Le—
ben und Thätigkeit erinnert. Ergreift uns das
Gefühl der Erhabenheit, wenn wir aus einer
wüſten Steinfläche zu einer gewaltigen Klippenwand
emporſchauen, ſo kommt dieſes wohl vorzüglich da—
her, daß unſer Geiſt, in dem zahlloſe Erinnerun—
gen an andere Verhältniſſe erwachen, ſich der
Kraft zuwendet, wodurch der Gegenſtand hervor—
gebracht worden. Dieſer ſelbſt enthielt keine ſtarke
Aufforderung hierzu; der Geiſt mußte eine eigene
Richtung und Stimmung haben, um hier mehr
bei der Größe zu verweilen, als vor dem herr—
ſchenden Tode zurückzuſchrecken. Anders verhält
es ſich, wenn ſich das Gebirge in ſehr mannig—
faltigen Formen entfaltet; wenn Waſſerfälle ſchim—
mern, ſchäumen, brauſen, wenn Wälder und
Graswuchs bezeugen‘, daß der Boden nicht un—
fruchtbar ſey, wenn Vögel und Inſekten die Luft
beleben, denn da enthält die Natur ſelbſt eine Auf—
forderung für uns, unſere Aufmerkſamkeit auch dem
Großen zuzuwenden. Ohne Vorgefühl vom innern
90
Leben der Vernunft würde das, was ſonſt ſchön
genannt werden könnte, nur todt ſeyn; das Le—
bensvolle in einem Dinge erweckt in uns ſelbſt
Leben, und dieſes Lebensgefühl gehört mit zum
vollen Schönheitsgenuſſe. Welche reiche Mannig—
faltigkeit innerer Thätigkeit erblickten wir in jenem
Springbrunnen! Wäre ſie davon zu trennen, ſo
würde das Uebrige nur einen matten Eindruck
zurücklaſſen. Ein Verſuch, dieſen Springbrunnen
zu malen, könnte, wenn er meiſterhaft ausgeführt
wäre, wohl Beifall finden, aber der Genuß, welcher
aus der eigenthümlichen Natur des Gegenſtandes
entſpringt, wäre ſehr geſchmälert, weil Bewegung,
Glanz und Lichtſpiel durch kein Gemälde wieder—
gegeben werden können; ich habe verſchiedenemale
gemalte Springbrunnen geſehen, aber der hervor—
gebrachte Eindruck war ſehr armſelig.
Frank. Ich kann dem nicht widerſprechen.
Sie fordern alſo, das Schöne ſolle das Erhabene,
das Lebendige und das Harmoniſche umfaſſen;
aber nach dem, was Sie über das Erhabene ge—
äußert, ſcheint mir dieſes nur eine eigene Art des
Lebendigen; Sie führten hierzu ganz beſonders
mächtige Wirkungen als Beiſpiele an.
91
Alfred. Aber auch große Werke; doch ich
leugne nicht, daß auch dieſe auf die hervorbrin—
gende Kraft hindeuten. Im Erhabenen iſt es in—
deſſen nicht die Thätigkeit wobei der Gedanke ver—
weilt, ſondern die Unabhängigkeit die ſich darin
offenbart; dieß kann auf verſchiedene Weiſe ge—
ſchehen, ſo daß ſich das Erhabene in mehrere
Arten eintheilen läßt, ich denke, wir laſſen uns
hier aber nicht darauf ein. Dagegen möchte ich
bemerken, daß alle Bedingungen der Schönheit in
ihrem innern Grunde ſo zuſammenhängen, daß
ſie uns immer vereinigt entgegentreten.
Frank. Der Abend bricht an, ich muß Sie
verlaſſen, ich werde zu Hauſe erwartet. Während
ich aber daran denke, welche Befriedigung mir
unſere Unterhaltung gewährt hat, überraſcht mich
ein unbehagliches Gefühl; es kommt mir vor, als
ſeien unſere Betrachtungen allzu materiell geweſen.
Alfred. Von dieſem Gefühl werden wir leicht
befallen, ſo oft wir einen Zuſammenhang zwiſchen
unſerem eigenen innern Leben und den Einflüſſen
der äußeren Natur wahrnehmen; aber rührt dieſes
Gefühl davon her, daß wir die Natur ſelbſt zu
materiell auffaſſen? Mir ſcheint, wir vergeſſen in
92
ſolchen Fällen, oder erinnern uns vielmehr nicht
daran, daß die Natur das Werk deſſelben Geiſtes
iſt, dem wir unſer eigenes Daſeyn verdanken.
Wenn wir uns den Gedanken recht lebendig ver—
gegenwärtigen, daß es dieſelbe Vernunft, dieſelben
ſchaffenden Kräfte ſind, welche ſich in der äußern
Natur, wie in unſerem eigenen Denken und Füh—
len offenbaren, ſo muß ja dieſes unſer Verhält—
niß zur Natur uns als ein Theil der großen
Harmonie der Weſen, nicht aber als eine Folge
des Uebergewichts des Körperlichen über das Gei—
ſtige erſcheinen.
Frank. Sie haben Recht. Ich hätte mich
durch dieſes Bedenken nicht ſollen irren laſſen;
unſere Unterredung enthält ja Andeutungen genug
die demſelben entgegentreten.
Die Waturauffafung
Denkens und der Einbildungskraft.
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Ueber das Verhältniß zwiſchen der Watnranf-
faſſung des Denkens und der Einbildungskraft.
Mitgetheilt in der Verſammlung ſkandinaviſcher Naturforſcher in
Chriſtiania 1844.
Es iſt bekannt genug, daß das Menſchenge—
ſchlecht in der Entwickelung ſeiner Fähigkeiten und
ſeiner Weltauffaſſung gewiſſen Hauptrichtungen
folgt, welche ſich zwar in vielfältige Nebenzweige
verbreiten, aber doch Jahrhunderte hindurch fort—
geſetzt werden, ohne genugſam ineinander einzu—
greifen, um ein organiſches Ganze zu bilden; ſelbſt
in Wiſſenſchaften, welche aus nahe verwandten
Beſtrebungen entſpringen, findet dieſes ſtatt. Wie
lange währte es nicht, ehe ſich die Erdbeſchreibung
und die Pflanzenkunde zur Bildung einer Pflan—
zengeographie vereinigten! und wie neu iſt nicht
die Verbindung, in welche die Geologie ſowohl
mit der Erdbeſchreibung, als mit der Thier- und
96
Pflanzenkunde getreten iſt, und doch liegen; ſie
einander ſo nahe. Wie natürlich iſt es alſo nicht,
daß ein viel größerer Zwiſchenraum zwiſchen Auf—
faſſungen, welche von ſehr verſchiedenen Seelen—
kräften beherrſcht werden, unbebaut liegen bleibt!
Ich meine hier die Auffaſſung der Naturverhält—
niſſe durch das Denken auf der einen Seite, und
der Einbildungskraft auf der andern. Zwar ſind
in beiden dieſelben Thätigkeiten wirkſam: unſere
denkende Auffaſſung vermag ebenſo wenig der gei—
ſtigen Anſchauung zu entbehren, welche allem un—
ſerm Erkennen der Außenwelt zum Grunde liegt,
wie die Einbildungskraft der Fähigkeit zum Denken
entbehren kann, welche das Formgebende in allen
ihren Schöpfungen ausmacht; aber Niemand wird
die große Verſchiedenheit in der Art, wie beide ſich
äußern, verkennen; ſie haben daher auch jede ihr
Reich, und jede derſelben muß in eigener Weiſe
wirken und ſich ausbilden. Eine unbefugte An—
wendung der Einbildungskraft auf die Wiſſenſchaft
oder des Denkens auf die Kunſt wirkt, wie be—
kannt, nachtheilig. Man hat Beiſpiele genug hier—
von in den poetiſirenden Verſuchen, welche manch—
mal in der Wiſſenſchaft gemacht worden ſind, und
97
in den noch häufigern Verſuchen, die Kunſt zu zwin—
gen, ſich in ihren Leiſtungen den Vorſchriften des
Denkens zu unterwerfen; aber übertrieben iſt doch
die Furcht, welche das Gefühl dieſer Mißbräuche
bei vielen hervorgebracht hat. Es gehört nicht zu
meinem Zweck, hier von der Art zu ſprechen,
in welcher dieſe Einſeitigkeit ſich unter den Bear—
beitern der Wiſſenſchaften äußert; aber es iſt
die Furcht vor der denkenden Auffaſſung, welche
man häufig bei denen findet, die ſich gar zu aus—
ſchließlich in die Welt ihrer Einbildungskraft ein—
gelebt haben, welche ich hier in's Auge faſſen
werde. Dieſe Furcht äußert ſich keineswegs gleich—
mäßig in allen Richtungen bei demſelben Men—
ſchen; es gibt Viele, die in allen bürgerlichen
Verhältniſſen und in allen Wiſſenſchaften, welche
ſich zunächſt auf die Betrachtung des Menſchen
und der menſchlichen Begebenheiten beziehen, dem
Denken und der durch daſſelbe erworbenen Einſicht
ſeinen vollen Spielraum laſſen, damit es die
Thätigkeit beherrſche, mittelſt welcher die Einbil—
dungskraft ihre Welt ſich bildet; allein die Einſicht,
welche aus der Betrachtung der Körperwelt er—
worben wird, hat nicht vermocht, die gleichen Rechte
7
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 5 7
98
bei ihnen zu erlangen, weil fie mit derſelben nicht
ſo vertraut ſind. In der Weltanſchauung, welche
ſich die Mehrheit gebildet hat, findet man daher
ein wunderliches Gemiſch der Einſichten neuerer
Zeiten und einer Naturauffaſſung, welche größ—
tentheils der Kindheit des Menſchengeſchlechts an—
gehört. Man erkennt Vieles in der Einkleidung
dieſer Naturanſchauung als fabelhaft, aber man
kann deſſen nicht entbehren, weil man Nichts hat,
was man der Einbildungskraft als Erſatz dafür
anbieten kann. Sogar alles dasjenige, wodurch
ſich dieſe den Gehalt der wahren Religion aus—
zuſchmücken pflegt, oder den leeren Raum den
unſere Kenntniſſe von den höhern Dingen uns
fühlbar werden laſſen, gehört einer längſt ent—
ſchwundenen Zeit an. Daher das ſonderbare
Grauen Vieler vor den Reſultaten der Natur—
wiſſenſchaft, welche die Welt zu zerſtören droht,
die ſich ihr Glaube und ihr Schönheitsſinn ge—
bildet hatten, wodurch ſie in eine Leere und
Nichtigkeit verſetzt würden, die allerdings ſchauder—
haft ſeyn müßte, wenn ſie unvermeidlich wäre;
für ſolche ſind daher die Triumphe der Naturwiſ—
ſenſchaft, welche uns mit Freude erfüllen, nichts
99
als gefährliche Fortſchritte eines feindlichen Er—
oberers. Sie wünſchen dieſen Feind zurückgetrie—
ben: faſſen dann und wann eine ſchwache Hoff—
nung, welche doch ein ſtärkeres Gefühl der Wahr—
heit jedesmal von Neuem vernichtet, ſo daß ſie
in der Wirklichkeit ſich auf die Wahrheit des Da—
ſeyns, in welches ſie ſich hineingelebt haben, nicht
verlaſſen können. Ihr beſter Troſt iſt daher, ſo viel
als möglich den gefährlichen Feind zu vergeſſen.
In dieſem Zuſtande der Dinge findet der
Naturforſcher eine Aufforderung zu zeigen, wie
die Wahrheiten, welche Nachdenken und Beob—
achtung der Natur lehren, reichen Stoff für die
Einbildungskraft enthalten. Dieſer darf jedoch
nur unter der Bedingung benützt werden, daß
man ſich mit jenen Wahrheiten ebenſo vertraut
mache, als man bisher mit der Fabel geweſen.
Es wird dabei jedoch nicht erfordert, daß Jeder
in die ſtreng wiſſenſchaftliche Naturforſchung ein—
dringe, jo wenig, als die bisher gewöhnlichſte
Bildung eine gelehrte Kenntniß der Fabelwelt
vorausſetzte; nein, die Naturforſcher müſſen, und
zwar mit vermehrter Thätigkeit, in ihrem Be—
mühen fortfahren, die Wahrheiten der Natur—
100
wiſſenſchaft anſchaulich zu machen und das darin
enthaltene wirkliche Naturleben darzuſtellen; ver—
gebens wird man in unſern Tagen ſtreben, ſich
dieſe in der Einkleidung der alten Dichtung an—
zueignen. Auch der Unwiſſendſte unter uns hat,
ohne es ſelbſt recht zu bemerken, als Theilnehmer
einer allgemeinen Erbſchaft, Naturkenntniſſe em—
pfangen, welche ſich mit der von dem Kindesal—
ter der Menſchheit herſtammenden Weltanſchauung
nicht vereinigen laſſen, andererſeits aber auch
nicht hinreichen, ihn in die Weltanſchauung ein—
zuführen, welche die neuere Naturwiſſenſchaft er—
öffnet. Unſer Zeitalter fühlt daher mehr als irgend
eines der früheren das Bedürfniß einer Verſöhnung
zwiſchen der Welt ſeines Denkens und der ſeiner
Einbildungskraft. Jene Verſöhnung iſt zwar nicht
auf einmal zu bewirken, ſondern muß die Frucht
vielfältiger Beſtrebungen ſeyn; als ein Beitrag
dazu dürfte aber eine Reihe von Darſtellungen
dienen, welche zeigen werden, wie die anſchauende
und die damit verknüpfte ahnende Naturauffaſſung
näher beſtimmt und weiter entwickelt wird mittelſt
der durch das Denken erworbenen Einſicht.
Ich wage hier einen ſolchen Verſuch darzu—
101
bieten, der, wenn er Beifall zu finden das Glück
hat, den Anfang einer allmählig fortzuſetzenden
Reihe bilden ſoll. Mein Gegenſtand iſt dießmal
der großartigſte, den ich zu wählen vermochte:
der Sternhimmel. Ich weiß, daß dieſer als Ge—
genſtand allgemeiner Betrachtungen durch die vielen
ihn betreffenden leeren Deklamationen in übeln
Ruf gekommen iſt; aber dieß kann uns von einer
Unterſuchung über die Gründe der Gefühle nicht
abſchrecken, welche die Betrachtung des Sternhim—
mels bei allen Menſchen erregt, die ſich derſelben
wirklich hingeben und ſich nicht von ſolchen Gedanken
beherrſchen laſſen, welche ſie davon abziehen. Viel—
leicht werde ich Mißfallen zu fürchten haben, weil
ich manches allgemein Bekannte hier mittheile; zur
Darſtellung des Ganzen aber iſt es unvermeidlich.
Es iſt natürlicher Weiſe der klare, wolkenloſe
Sternhimmel bei ruhigem Luftzuſtande, dem ich
hier die Aufmerkſamkeit zuwende. Der Eindruck,
den er hervorbringt, hat etwas für alle Menſchen
Gemeinſames. Aber die Stärke und Klarheit deſ—
ſelben iſt nicht bloß nach den verſchiedenen Na—
turanlagen, ſondern auch nach der verſchiedenen
Bildungsſtufe, welche jeder von uns einnimmt,
verschieden. Es iſt vornehmlich die Bedeutung von
dieſer, auf welche wir die Aufmerkſamkeit zu rich—
ten haben; aber erſt müſſen wir uns Rechenſchaft
von dem ablegen, was darin das Gemeinſchaftliche
für alle Menſchen iſt.
Die Größe des Eindrucks, den der Sternhim—
mel hervorbringt, braucht nur erwähnt zu werden.
Sie iſt von einer ſo ſinnetreffenden Natur, daß
ſie ſich zu allererſt bei Jedem geltend macht. Selbſt
dem Menſchen, der am allermeiſten auf dem Stand—
punkt bloßer Sinnlichkeit ſteht, bei dem alſo die.
wachende Vernunft am wenigſten ihre heimlichen
Winke in die ſinnliche Auffaſſung wirft, muß der
Sternhimmel als das Größte erſcheinen, was er
kennt; aber die große Ausdehnung würde uns todt
und leer ſeyn, wenn ſie nicht durch die zahlloſen
Sterne belebt würde. Das Licht, welches dieſe vom
Himmel ftrahlen, wird uns durch das Dunkel der
Erde doppelt bedeutungsvoll; eben daß wir von
allen Gegenſtänden, die uns an die beengenden
Verhältniſſe des Alltagslebens mahnen, und von
allem Vergänglichen, was ſich ſonſt in unſerer
Nähe geltend macht, nichts ſehen, läßt unſere
Seele ſich erweitern, ſchärft unſern Sinn für das
103
Licht aus einer höhern, größern und weniger ver—
gänglichen Welt. Die Herrlichkeit des Lichts tritt
hier auf eine eigenthümliche Weiſe hervor; ſeine
belebenden und wohlthätigen Wirkungen haben es
zu jeder Zeit zum ſchönſten Bilde des Lebens und
des Guten gemacht. Unter dem klaren, milden,
niemals blendenden Sternlichte, welches nur in
einem unmerklichen Grade uns andere Gegenſtände
ſichtbar macht, indem es ſo zu ſagen nur das Licht
ſelbſt iſt, das ſich zeigt, durchdringt uns ein Ge—
fühl, als ob Licht und Leben und Glückſeligkeit
nur dort in jener Ferne wären, Dunkel dagegen,
Tod und Schrecken hienieden. Es verſteht ſich, daß
eine gewiſſe Art einſeitigen Denkens dieſer Auf—
faſſung leicht eine falſche Deutung geben könnte;
aber das Gefühl, welches die Anſchauung auf den
unbefangenen Sinn ausübt, hat damit Nichts zu
ſchaffen.
Zu dieſem Allen geſellt ſich noch die tiefe, ſo
zu ſagen fühlbare Stille der Nacht, durch welche
wir ebenſo ſchwach an die niedere Welt durch das
Ohr als bei der milden Sternbeleuchtung durch das
Auge erinnert werden. Kurz, es iſt kein zufälliges
Spiel der menſchlichen Einbildungskraft, was uns
104
zur Andacht unter dem nächtlichen Sternhimmel
erweckt hat; ſondern es iſt ein in der Natur der
Dinge tief begründetes Gefühl.
Wie verſchieden davon iſt nicht die Mondſchein—
nacht! Die mild leuchtende Scheibe nöthigt uns
nicht, wie die Sonne, das Auge niederzuſchlagen,
ſondern zieht es zu ſich herauf und dadurch zum
Himmel. Inzwiſchen überſtrahlt ſie das Licht der
Sterne in dem Grade, daß dieſes unſere Aufmerk—
ſamkeit weniger feſſelt und daß es zum Theil ſelbſt
gar nicht ſichtbar iſt, wogegen das Mondlicht uns
von der Erde genug erblicken läßt, um dieſe nicht
zu vergeſſen; ſo ſchweben Sinn und Gedanke
zwiſchen Himmel und Erde ohne beſtimmte Rich—
tung, aber voll milder Schwärmerei.
Laſſen Sie uns nun die Geſtalten betrachten,
welche dieſe Grundauffaſſung auf den verſchiedenen
menſchlichen Standpunkten annimmt. Wir können
uns leicht die Weiſe vorſtellen, in welcher der
ganz ungebildete Menſch die Größe des Stern—
himmels empfindet: das hohe Gewölbe umfaſſet
Alles, was er auf der Erdoberfläche kennt, und er—
hebt ſich über alle Wälder und Berge. Sein Maß—
ſtab iſt unläugbar viel zu klein für den Himmel,
105
aber dieſer bleibt ihm doch das Größte, was
er kennt; die Sterne ſind ihm nur Lichtpunkte,
aber die Klarheit und Reinheit ihres Lichts wer—
den nicht unterlaſſen, auf ihn einzuwirken. Der
Gegenſatz zwiſchen dem hellen Himmelsgewölbe und
der dunkeln Erde, die Stille und die ſie begleitende
Seelenruhe haben Etwas in der Sinnlichkeit ſo
wohl begründetes, daß ihm dieſe Eindrücke auch
nicht fremd bleiben können.
Denken wir uns nun einen Menſchen, bei dem
das Nachdenken und der Wahrnehmungsgeiſt zu
einer merklichen Thätigkeit gekommen ſind, ſo wird
bei dieſem auch ſchon der Maßſtab für die Größe
des Himmels gewachſen ſeyn. Er hat ſich verſchie—
dene Sterne bemerkt, die er wieder erkennt, und
namentlich haben einige einander nahe ſtehende
ausgezeichnete Sterne ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich
gezogen: er hat ſie über fernen Berggipfeln geſehen,
und indem er ſich dieſen näherte, wahrgenommen,
wie ihre Entfernung unter einander zu wachſen
ſchien, während der Abſtand dieſer Sterne unver—
ändert blieb; dieſer mußte folglich ſo groß ſeyn,
daß der ganze von ihm zurückgelegte Weg im Ver—
gleich damit keine Bedeutung hatte. Er hat dem—
106
nach ſchon einen größeren Maßſtab, welcher feine
Vorſtellung von der Größe des Himmels erweitert.
Er hat bemerkt, daß alle irdiſchen Lichter ſchwä—
cher und immer ſchwächer werden, je größer ihre
Entfernung wird, und in einem mäßigen Abſtande
ganz verſchwinden. Aber die Lichter des Himmels,
von denen er weiß, daß ſie viele Male entfernter
von ihm ſind, als die fernſten Berge, ſtehen da ſo
rein und klar, als ob ſie einer andern Ordnung der
Dinge angehörten. Er hat in Stunden der Be—
obachtung und des Nachdenkens ſolche Schlüſſe ge—
macht, aber die Erinnerung dieſer Ergebniſſe folgt
ihm auch in die Stunden, in denen er ſich dem
großen Eindruck der Natur ruhig hingibt.
Denken wir uns ferner den Menſchen auf der—
jenigen Bildungsſtufe, auf der er ſchon einen An—
fang aſtronomiſcher Kenntniſſe erlangt hat, ſo
etwa, wie es bei den Chaldäern der Fall geweſen
ſeyn mag, ſo gewinnt die Himmelsbeſchauung eine
neue Größe und Fülle. Er weiß nun, daß es
unter den kleinen Himmelslichtern Wanderſterne
gibt, welche ihren vorgeſchriebenen Gang unter
denen haben, deren Stelle an der Himmelswölbung
feſt iſt. Es iſt ihm bekannt, daß ſowohl dieſe,
107
als Sonne und Mond, ihren geordneten Gang
haben. Die ſtetige Beobachtung vieler Geſchlechter
haben zu einiger Kenntniß der ungleichen Entfer—
nungen dieſer wandernden Himmelskörper geführt;
während er ſich dem reinen Eindruck der Himmels—
beſchauung hingibt, wiederholt er ſich gewiß nicht
alle die Kenntniſſe, welche die Frucht der Unter—
ſuchungen des Menſchengeſchlechts, zum Theil viel—
leicht auch ſeiner eigenen iſt; aber ſie ſind ſeiner
Anſchauung ebenſo gegenwärtig, als die Erinne—
rung gewöhnlicher Lebenserfahrungen dem Alltags—
menſchen ſind. Sein Maßſtab iſt abermals weit
größer, als auf dem vorigen Standpunkte; ihm er—
ſcheint die Entfernung des Mondes ſchon ungeheuer
im Vergleich zu allen Entfernungen auf der Erde,
und doch ſehr gering im Vergleich mit jener der
andern Himmelskörper, an denen der Mond oft
vorbeigeht und die er dem Auge entzieht. Jeder
wird fühlen, wie ſehr hier der Gedanke von der
Größe des Himmels ſchon gewachſen und bedeu—
tungsvoll geworden iſt; aber der große Gedanke
einer Ordnung der Himmelsbewegungen, und zwar
einer für die Erde erfolgreichen und wohlthätigen
Ordnung kömmt hier noch hinzu: Es iſt der
108
Gedanke einer vernünftigen Lenkung außerhalb der
Erde, einer höheren Vernunft, welche hier hervor—
tritt, wenn auch in Folge der menſchlichen Natur—
beſchaffenheit, nicht ohne viele fremde Beſtandtheile.
Auf dem früheren Standpunkte erfüllte die Ein—
bildungskraft den leeren Raum in dem Wiſſen
dadurch, daß ſie einen Sonnengott den leuchten—
den Feuerwagen des Tags über den Himmel
führen ließ, um ihn des Nachts im Schooße des
Meeres ausruhen zu laſſen. Auch der Mond er—
hielt ſeine über das Himmelsgewölbe hinfahrende
Gottheit. Dieſe Vorſtellungen verſchwinden ſchon
auf einer frühen Entwickelungsſtufe der aſtrono—
miſchen Wiſſenſchaft, obgleich ſie ſich noch lange
im Volke behaupten, nicht nur bei den Unwiſſen—
den, ſondern ſelbſt bei denen, welche mit ander—
weitiger Bildung nicht diejenige verbinden, die
aus einer fleißigen Himmelsbetrachtung geſchöpft
wird. Dagegen erhebt ſich der Gedanke noch nicht
bis zur Einheit einer göttlichen Lenkung; jedes
der wandernden Himmelslichter erhält ſeine eigene
Gottheit mit irdiſchen Eigenſchaften ausgeſtattet.
Der unberechenbare Einfluß der Sonne auf die
Erde, ſowie der nicht unbedeutende des Mondes
109
ließ, ſowohl vermöge feines Lichts als feiner Zeit—
wechſel, den Gedanken leicht aufkommen, daß auch
die andern Himmelslichter nicht ohne Einfluß auf
die menſchlichen Verhältniſſe ſeyen, und dieſer
Gedanke mußte um ſo mehr Wurzel faſſen, als
man nicht darauf verfiel, dem Himmel eine andere
Bedeutung, als eine ſich auf die Erde beziehende
beizulegen. Hatten auch die Götter ein höheres
Daſeyn, ſo waren ſie doch Götter der Erde, und
dieſe Erde Mittelpunkt des Ganzen. Man verfiel
dann darauf, den kleinern der wandernden Him—
melslichtern einen Einfluß auf das Schickſal ein—
zelner Menſchen zuzuſchreiben; ſo entſtand Stern—
deuterei, welche in den menſchlichen Thorheiten
ſo reichliche Unterſtützung erhielt. Es iſt leicht zu
ſehen, wie ein Dienſt der Sonne oder des geſamm—
ten Himmels dieſem Standpunkte angemeſſen war;
daß dagegen aber Manches in der älteren Fabel—
lehre als Ueberbleibſel einer früheren Zeit daneben
nur beſtehen konnte, weil man es der Menge nicht
zu entziehen wagte.
Hinſichtlich des Baues des Himmels mußte die
Vorſtellung auch auf dieſem Standpunkte noch falſch
und beſchränkt ſeyn, obgleich ſie weit umfaſſender
war als auf dem frühern Standpunkte. Zuerſt
dachte man ſich, daß das ganze Himmelsgewölbe
ſich um die Erde drehe, und daß die wandernden
Himmelslichter ihre Bahnen an dieſer Wölbung
hätten; dieſe ſich anders als feſt vorzuſtellen, dar—
auf konnte man nicht fallen. Es war die Feſte
des Himmels, das Firmament, welches auf feſten
Stützen ruhte, z. B. auf den höchſten Bergen;
ſpäter aber ſah man ein, daß jedes der wandern—
den Lichter ſeine Bahn in einer andern Entfer—
nung von der Erde hatte: man mußte jedem ſein
eigenes Gewölbe und zwar ein durchſichtiges Kry—
ſtallgewölbe zugeſtehen, und über allen dieſen Ge—
wölben der feſten Himmelslichter den reinen Feuer—
himmel, den Sitz der höchſten Unveränderlichkeit
ſich denken. Alle müßten, ſo nahm man an, ſich
um eine gemeinſame Axe drehen. So erhielt man
ſieben Himmel der wandernden Himmelslichter und
einen achten als Sitz eines ewigen Lichts und
einer ewigen Unveränderlichkeit.
Während wir nun gegenwärtig dieſen Stand—
punkt weit überholt haben, müſſen wir doch ein—
geſtehen, daß der Geiſt, der aus dieſen Kenntniſſen
Nahrung gezogen hatte, den Himmelseindruck in
111
einer bei weitem mächtigern Größe und Fülle
empfangen habe als auf den früheren Entwicke—
lungsſtufen, und daß er vor allen dazu den Ge—
danken an eine göttliche Lenkung mitbringen mußte,
welcher, aller ſeiner Irrthümer ungeachtet, doch er—
hebend und veredelnd war.
Die Fortſchritte der Aſtronomie von der hier
erwähnten Zeit an bis zur Kopernikaniſchen ſtellten
an ſich keinen neuen Standpunkt dar. Die nach
und nach hinzukommenden Entdeckungen waren
wenig zahlreich und noch weniger eingreifend,
nur daß fie den Aſtronomen größere und immer
größere Schwierigkeiten entgegenſetzten, ihre Be—
obachtungen mit ihrer Vorſtellung vom Weltbau
in Einklang zu bringen. Von außen her aber war
durch das Chriſtenthum eine neue Weltauffaſſung
hinzugekommen. Der Weltbau ward nunmehr als
das Werk eines einzigen Gottes erkannt. Es iſt
wahr, dieſe Ueberzeugung hatte früher ſchon auf
einem kleinen Punkt der Erde, bei verſchiedenen
höher begabten Männern, die unter den Heiden
vereinzelt lebten, geherrſcht; wir haben uns aber
dadurch von der allgemeineren Zeitfolge nicht wollen
abführen laſſen. Durch das Chriſtenthum ward der
112
Gedanke reiner, die Erhebung zu Gott höher und
herrlicher; aber der Aſtronomie war dieß nicht zu
verdanken. Dagegen muß derſelben einzuräumt
werden, daß die chriſtliche Einbildungskraft in den
vielen Himmelsgewölben zu einer Reihe verſchie—
dener Wohnungen für die Seligen Raum gewann.
In der neuern Zeit, von Kopernikus bis auf
uns gerechnet ließen ſich allerdings mehrere Stand—
punkte unterſcheiden, aber alle in dieſem großen
Zeitraum erworbenen Einſichten finden wir ſo in
einander verwoben, daß wir den klarſten Ueberblick
gewinnen werden, wenn wir uns ſogleich auf den
Standpunkt unſerer eigenen Zeit verſetzen. —
Haben wir erfaßt was ſich von da aus ſehen läßt,
dann werden wir, wenn es unſer Wunſch iſt, uns
leicht zu den Standpunkten jenes Zeitalters zurück⸗
verſetzen können.
Die Betrachtung des Himmels hat nunmehr
einen ganz andern Charakter angenommen: die
feſten Gewölbe ſind verſchwunden, die Erde iſt
nicht mehr der Mittelpunkt, ſondern ein ſchwebender
Weltkörper zwiſchen zahlloſen andern; die Erde
ſelbſt iſt in den Himmel aufgenommen. Es iſt ein
ganz neuer Eindruck von Größe, den uns jene
113
Betrachtung jetzt gewährt. Wir haben Meſſungen
und darauf ſich gründende Berechnungen, die
uns Entfernungen zeigen, gegen welche Millionen
Meilen kleine Größen ſind. Der Uneingeweihte
hört von dieſen Größen mit Erſtaunen und be—
trachtet, je nach ſeiner Sinnesart, die Sache mit
Vertrauen oder Zweifel; aber es hat auch unter
den Uneingeweihten geiſtreiche Männer gegeben, die
mit eingebildeter Ueberlegenheit derjenigen geſpot—
tet haben, welche Freude an der Betrachtung jener
Zahlengrößen fanden: Großes und Kleines, haben
ſie geſagt, ſind ja bloße Verhältniſſe; gegen ein
Haarbreit iſt eine Elle groß, aber dieſe nur klein
gegen eine Meile; und was iſt denn wiederum
eine Meile gegen den Umkreis der Erde! Es findet
ſich ja gegen eine jede Größe eine andere, gegen
welche jene nur klein iſt! Iſt es da nicht kindiſch
ſich über die großen Zahlen der Aſtronomie zu
freuen? —
Dieß alles würde richtig ſeyn, wenn hier
von abſtrakten Zahlen die Rede wäre; aber dieß
iſt durchaus nicht der Fall: als Bezeichnungen
der Glieder im Weltſyſtem, als ein organiſches
Ganze betrachtet, haben jene Zahlengrößen ihre
Oerſted, der Geiſt in der Natur, 8
114
Wichtigkeit. Gleichwie die Größe des Wallfiſch nur
nach Ellenmaß berechnet nichtsſagend iſt, aber ſehr
bezeichnend wenn man das Thier als Glied der
Thierreihe betrachtet; ſo geht es auch mit den
aſtronomiſchen Zahlengrößen, nur in einem nicht
zu vergleichenden größern Maßſtab. Die Natur
der Sache bringt es doch mit ſich, daß wir unſern
Gegenſtand hier, mit Rückſicht auf dieſes Maß—
verhältniß, näher ins Auge faſſen. In unſern
Meſſungen ſind wir immer von bekannten ſinn—
lichen Größen ausgegangen, und namentlich von
den Maßverhältniſſen unſeres Körpers: dem Dau—
men, der Handbreite, der Armlänge, dem Faden,
dem Fuß, dem Schritt; davon etwa gingen alle
Meſſungen aus. Die Meile, oder welche andere
Einheit für die Wegeslänge man wählen will, iſt
nur eine Vervielfältigung dieſer Maße, z. B. des
Fußes oder Schritts. Der Erdkreis oder deſſen
Durchſchnitt iſt abermals eine Wiederholung jener
Einheit der Wegeslänge, und ſo fahren wir fort
ſelbſt Maßſtab zu ſeyn, auch wenn man einen
Maßſtab wie das Meter oder die Pendellänge ge—
wählt hat: denn immer führt doch die Einbildungs—
kraft das Maß auf uns ſelbſt zurück. Aber haben
115
wir erſt den Durchſchnitt der Erde nach Maßein—
heiten des Alltagslebens beſtimmt, ſo beſtimmen
wir nun die Entfernungen im Sonnenſyſtem nach
Erddurchmeſſern, und die der Firſterne nach Son—
nenabſtänden; und ſo geht, wenn man ſich ſo aus—
drücken darf, ein ſinnlicher Leitfaden durch die
Maßbeſtimmungen der Wiſſenſchaft. Aber die Ein—
bildungskraft bringt ſich die Maßverhältniſſe noch
näher, um ſie ſich anzueignen; für ſie iſt der Erd—
ball im Vergleich mit dem Sonnenſyſtem wie ein
Sandkörnchen gegen einen großen Berg und wie—
derum das ganze Sonnenſyſtem gegen das Syſtem
von Sonnen, welches das Sterngewimmel der
Milchſtraße uns andeutet, wie ein Tropfen gegen
das ganze Meer; und ſelbſt dieſes große Syſtem
von Sonnen iſt vielleicht gegen ein noch höheres,
wie ein im Sonnenſchein ſchwebendes Stäubchen
gegen den ganzen Erdball. Und dieſelbe Einbil—
dungskraft iſt zugleich mit Erinnerungen an die
Unterſuchungen erfüllt, welche zeigen, daß alle jene
Größen eine zuſammenhängende Reihe von ineinan—
der eingreifenden Daſeynsgliedern ausmachen, welche
einander gegenſeitig bedingen und wiederum von
demſelben Ganzen bedingt werden. Nun wohlan!
116
hat dann die Einbildungskraft nicht einen unaus—
ſprechlich größeren Maßſtab für den Sternhimmel,
als auf den früheren Entwickelungsſtufen des Men—
ſchengeſchlechts möglich war? und iſt nicht jene
Größe, im Zuſammenhange mit ihren zahlloſen
innern Gliedern betrachtet, im höchſten Grade in—
haltreich, auch wenn wir ſie für den Augenblick
als ein Syſtem von Größen betrachten wollten?
Gleichwie die tiefere Einſicht uns den mit
Weltkörpern und Weltbewegungen erfüllten Raum
bis ins Unendliche erweitert, ebenſo geſchieht es
auch mit dem Daſeyn jener Welten in der Zeit.
Unter den vielen Veränderungen in den Bewegun—
gen der Weltkörper, welche innerhalb eines gewiſſen
Zeitlaufs vollbracht werden, um von da an wieder—
um von vorne zu beginnen, gibt es verſchiedene,
deren Perioden ſich über viele Jahrtauſende er—
ſtrecken. Das Zurückweichen der Nachtgleichen voll—
bringt z. B. einen Kreislauf in 25600 Jahren: in
den überaus verwickelten Abweichungen, welchen die
Neigung der Ekliptik unterworfen iſt, findet ſich eine
Periode von 40350 Jahren und eine andere von
92930 Jahren. Noch weit länger muß die Zeit—
dauer ſeyn, welche unſer Sonnenſyſtem zu ſeinem
14
Umlaufe in dem höhern Syſtem, dem es zunächſt
angehört, nöthig hat. Zwar iſt uns dieſe Zeit
noch unbekannt, aber mit der vollkommenſten Sicher—
heit können wir ſagen, daß Jahrtauſende darin
noch kleine Größen ſind. Nimmt die Einbildungs—
kraft hier abermals den Menſchen und die Zeit—
dauer des Menſchengeſchlechts als Maßſtab an, ſo
ſtellt ſich ihr eine Dauer der Natur dar, von
welcher das beſchränkte Faſſungsvermögen des All—
tagslebens keine Vorſtellung gibt, da es ſich entweder
ſchlaff an das Seyende, als etwas Todtes und
Stillſtehendes, hält, oder über die Vergänglichkeit
des Endlichen, worin das Beſtändige ſeinem Blicke
entgeht, verzweifelt. Nur der Gedanke und die
durch wiſſenſchaftliches Denken befruchtete Einbil—
dungskraft ſieht durch das Sternenlicht die Ewig—
keit hindurchſchimmern.
Die Wiſſenſchaft verweilt nicht bei den unthä—
tigen Größen; wir ſchieden ſie nur der Betrach—
tung wegen auf einige Augenblicke von den thäti—
gen Gegenſtänden aus, um ſeiner Zeit ungeſtörter
den Blick auf dieſe zu richten. Alle aufgeklärten
Menſchen wiſſen nun, daß jeder Planet ein Welt—
ball gleich dem unſrigen iſt, allein es iſt eine ſehr
— *
118
bemerkenswerthe Folge der herrſchenden Geiſtes—
richtung, daß dieſer Gedanke einen ſehr untergeord—
neten Platz in der Vorſtellungswelt der Meiſten
einnimmt, in welcher weite Strecken mit Meinungen
und Einbildungen überwachſen ſind, die er ver—
drängen müßte, wenn er in ſeiner ganzen Fülle
aufgefaßt würde. Es iſt nicht genug zu wiſſen,
daß die andern Planeten unſerer Erde gleichen,
daß einige derſelben beträchtlich größer ſind; man
muß ſich mit dieſem Gedanken beſchäftigt und ihn
in ſich verarbeitet haben. Welche Bedeutung kön—
nen große Weltbegebenheiten für ſolche Menſchen
haben, die nur einmal davon hörten, deren Geiſt
aber nicht häufig zu ihnen zurück gekehrt iſt, um,
bei ihnen verweilend, ſich dieſelben auszumalen?
Für Solche kann oft die unbedeutendſte Stadt—
neuigkeit ein größeres Intereſſe haben als Unter—
nehmungen, welche die Geſtalt dieſer Welt änder—
ten; daſſelbe aber läßt ſich mit den erforderlichen
Abänderungen und mit Anerkennung einer höhern
Bildung, welche man bei verabſäumtem aſtrono—
miſchen Denken doch in andern Richtungen haben
kann, auch auf die Kenntniß des ganzen Welt—
baues anwenden. Es iſt aber nicht genug, etwas
119
oberflächlich davon zu willen; wer die Himmelsbe—
trachtung recht genießen will, muß in längerer Ver—
traulichkeit mit dem ſtehen, was ſie uns lehrt; er
muß die Berge des Mondes geſehen und ſich über
die ſichere Kunſt gefreut haben, mit der man vermit—
telſt ihrer Schatten und der Ordnung, in welcher
ihre Gipfel beleuchtet werden, ihre Höhe zu meſſen
vermocht hat. Von da muß er ſeinen Blick den
Planeten zugewendet und ſich überzeugt haben,
daß auch ihre Oberflächen nicht glatt ſeyn können,
ſondern Berge und Thäler wie die Erde und der
Mond haben müſſen: er muß dann und wann auch
verſucht haben, in Gedanken ſich nach den fremden
Planeten zu verſetzen; er wird z. B. vom Jupiter
die Erde als kleinen Planeten haben ſchimmern
ſehen und vermittelſt vergrößernder Inſtrumente
auch ihren Mond geſucht und gefunden haben; er
wird auf dem Jupiter den ſchnellen Wechſel von
Arbeit und Ruhe während des dort kaum zehn—
ſtündigen Tageswechſels und der langen Dauer der
Jahreszeiten als Folge des mehr als 11 Erdenjaͤhre
dauernden Jahrs empfunden haben; er wird die
Sonne als eine Scheibe mit fünfundzwanzigmal klei—
nerer Oberfläche als von hier aus geſehen haben,
120
aber auch im wechjelvollen Schein von vier Mon-
den gewandert ſeyn; er wird bei der Wanderung
dieſes Planeten auf einer fünfmal größeren Bahn
als die der Erde gewiß manchen weiter umfaſſenden
Blick in den Himmelsraum hinaus zu thun ver—
mocht haben, und von da ſchwerlich mehr als
einen Traum zurückbringen. Der Geiſt darf nicht
ermüden, noch weiter über unſer Sonnengebiet hin—
auszuwandern und in jedem Firſtern eine eigene
Sonne zu ſehen, umgeben, wie die unſrige, von
wandernden Weltkörpern, welche von ihr ihren
Tag und ihre Nacht, ihren Frühling, Sommer,
Herbſt und Winter erhalten. Er muß ſich klar
vor Augen ſtellen, daß es Zuſammenordnungen
gibt, in denen Sonnen auf dieſelbe Weiſe Glieder
ſind, wie die Planeten in unſerem Sonnenſyſtem,
daß dieſe Zuſammenordnungen wiederum Glieder
von noch höheren ſind und ſo fort an, ohne daß
der Gedanke irgendwo anhalten dürfe. Wer in
Vertraulichkeit mit dieſen Gedanken, welche wir
hier nur in flüchtigen Umriſſen angedeutet haben,
gelebt hat, den wird die Erinnerung daran unter
den nächtlichen Himmel begleiten und ihm einen
reichen und lebendigen Eindruck verleihen. Sollte
121
Jemand, der dieß nicht empfindet, im Vertrauen
auf ſeine bedeutende Geiſtesentwicklung in andern
Richtungen, ſich berechtigt halten, es geringe zu
achten, den möchten wir an den tiefſinnigen Male—
branche erinnern, der, nachdem er eine Tragödie
von Racine gehört, fragte: was beweist ſie?
Wir haben unſere Aufmerkſamkeit noch nicht
auf den Charakter gerichtet, den der Gedanke an
die Bewohner anderer Welten dem Eindruck des
Sternenhimmels gibt; indem wir aber nun in Er—
wägung ziehen wollen, wie unendlich mannigfaltige
Vernunftweſen in dieſem Raume verbreitet ſeyn
mögen, begegnen wir einer in neuerer Zeit unter
verſchiedenen Formen geäußerten Behauptung, daß
ſich ausſchließlich auf der Erde vernünftige Geſchöpfe
finden ſollten und daß es im ganzen Bereich des
Seyns keine andern weder gebe, noch gegeben habe,
als Menſchen. Nehmen wir die Sache ganz abſtrakt,
ſo könnte man ſich die Möglichkeit leicht denken,
daß das Geſchöpf auf unſerer Erde ſeinen Gipfel
erreicht hätte und daß ſich auf keinem der Welt—
körper Weſen fänden, in denen die Vernunft zum
Selbſtbewußtſeyn erwacht wäre. Bleibt man dabei
ſtehen, ſo kann man dann leicht durch Gründe, welche
122
außerhalb der Sache liegen, z. B. durch einſeitige
poetiſche oder religiöſe Anſchauungen, ſich verleiten
laſſen, dieſer Möglichkeit eine gewiſſe Wahrſchein—
lichkeit oder ſelbſt Wirklichkeit beizumeſſen; betrachtet
man dagegen die Sache in ihrem ganzen Zuſam—
menhange mit dem übrigen Daſeyn, fo wird ſich jene
abſtrakte Möglichkeit im größten Widerſpruche mit
der Wirklichkeit zeigen. Wir können hier nicht wei—
ter gehen, als mittelſt eines flüchtigen Ueberblicks an
Vieles zu erinnern, welches dazu dienen ſoll, eine
Weltanſchauung hervorzubringen, in welcher der
Menſch weder den höchſten Platz einnehmen, noch
das einzige Vernunftweſen ſeyn kann. Wenn wir
einen Blick auf die Entwickelungsgeſchichte der Erde
werfen, ſo ſehen wir darin eine Reihe von Welt—
altern, deren jedes folgende neue und mehr ent—
wickelte Geſchöpfe als das vorhergehende hervorge—
bracht hat, und in denen das Menſchengeſchlecht nicht
früher als in der letzten Umwälzung, oder beſſer
Umbildung, hervortrat. Es möchte gefährlich ſeyn,
die Eigenliebe des Menſchengeſchlechts durch die
Vermuthung zu verletzen, daß es einſt einem
vollkommneren Geſchlecht Platz machen müſſe. Wir
wollen uns deßhalb lieber erinnern, daß ſich unſer
123
ganzes Sonnenſyſtem, gleich der Erde, in einer
Reihe von Naturaltern entwickelt hat, und daß
jeder Planet eine Reihe ſchaffender Umbildungen
zu durchlaufen hatte, und daß er folglich, ſo gut als
die Erde, ſeine Reihe von Geſchöpfen gehabt haben
wird, nur mit den Abweichungen, welche die Natur—
beſchaffenheit eines jeden derſelben mit ſich bringt.
Würde es nun nicht eine ſonderbare Behauptung
ſeyn, daß weder die von der Sonne entferntern
ältern Planeten noch die ihr näheren jüngeren einen
ſo hohen Entwicklungsgrad wie die Erde erlangt
haben ſollten? Doch es würde ſich vielleicht etwas
finden laſſen, dieſe Behauptung auszuſchmücken, ob—
wohl es einer ernſten Prüfung gegenüber ſchwerlich
Stand halten würde; will man aber darauf beſtehen,
den Vorrang des Menſchen in ſeiner ungeheuren Er—
ſtreckung über das geſammte Weltall zu behaupten,
ſo muß man noch viel weiter gehen. Unſer Son—
nenſyſtem iſt ja nur ein kleines Glied eines weit
größern Syſtems, mit dem es ſich denſelben Geſetzen
gemäß entwickelt haben muß, nur mit dem Unter—
ſchiede daß der unausſprechlich größere Maßſtab auch
diejenige größere innere Mannigfaltigkeit eines Sy—
ſtems von Sonnenſyſtemen nothwendig bedingen
muß. In jedem derſelben muß doch wohl der
Grundgedanke des Erdballs ſich wiederholen und
der des Menſchen ebenfalls, obſchon in andern
Ausführungsweiſen; und hier ſollte die Vernunft
nicht zum Selbſtbewußtſeyn erwacht ſeyn, weder
auf den Weltkörpern, welche die Erde repräſen—
tiren, noch auf irgend einem der andern? Doch
wir können auch bei einem ſolchen Weltſyſtem nicht
ſtehen bleiben, da es abermals das Glied eines
höheren iſt, und auch in dieſem ſollte die Entwick—
lung nicht ſo weit gediehen ſeyn, daß die Vernunft
zur Selbſterkenntniß gelangt wäre? Der Gedanke
iſt ſelbſt hier noch zu keinem Ruhepunkte gekommen,
er muß ſich fortwährend zu größern und immer
größern Syſtemen erheben; aber überall im ganzen
Daſeyn, außerhalb der Erde, ſoll er nur eine Ein—
öde ſehen, wohin kein denkendes Weſen jemals
dringt? Es liegt viel eher in der Natur der
Dinge, daß die Vernunft zu jeder Zeit hervortritt
in ihrer erkennenden Selbſtbewußtheit, nicht bloß an
Einem Punkte, ſondern in jedem der großen Welt—
glieder, nur nach verſchiedenen Entwicklungsſtufen.
Von dieſen Entwicklungsſtufen kann die, auf wel—
chen der Menſch ſteht, von uns ſelbſt kaum als
die höchſte betrachtet werden, wenn wir die Unvoll-
kommenheit unſerer Kenntniſſe ſowohl hinſichtlich
ihrer Sicherheit, als auch ihres Umfangs und ihrer
innern Fülle recht erwägen. Neben der erhabenſten
Freude über das Wiſſen, das wir uns zu erwerben
im Stande geweſen ſind, liegt die tiefſte Sehnſucht
nach einer höhern Einſicht, deren Möglichkeit uns
entgegen ſchimmert. Sollen wir das geſammte
Daſeyn als eine lebendige Vernunftoffenbarung in
Zeit und Raum betrachten, ſo müſſen wir uns
denken, daß die verſchiedenſten Entwicklungsſtufen
zu jeder Zeit ſo darin vertheilt angetroffen werden,
daß einige Glieder davon noch Dunſtbälle, andere
ſchon zur Tropfenflüſſigkeit verdichtet find, noch
andere einen feſten Kern erlangt haben und ſo
weiter, bis zu den höchſten Entwicklungsſtufen, und
davon wieder rückwärts bis zu den Gliedern, die
in einem abſterbenden Zuſtande ihrem Untergange
entgegen gehen. Wollte man dagegen annehmen,
daß allein auf der Erde die ſelbſtbewußte Vernunft
hervortrete, ſo ſteht doch feſt, und die auf uns
gekommenen Ueberbleibſel früherer Entwicklungs—
ſtufen bezeugen es, daß es eine unermeßlich lange
Zeit gegeben, wo der Menſch noch nicht da war;
126
in dieſer ganzen unermeßlichen Zeit wäre alſo fein
Weſen vorhanden geweſen, welches das Daſeyn
erkennend und denkend aufgefaßt hätte? Jeder
verſuche, ob dieſer Gedanke ein gründliches Durch—
denken geſtattet.
Es wird nun einleuchten, daß derjenige, wel—
cher die hier hervorgehobene Ueberzeugung eines über
das geſammte Daſeyn ausgebreiteten Lebens mit—
bringt, den Sternenhimmel mit einer ganz andern
Fülle von Gedanken und Bildern anſchauen wird, als
der Uneingeweihte, und daß ſeiner Einbildungskraft
ein weites Feld zu neuen Schöpfungen offen vorliegt.
Wir erwähnten bereits, daß alles in der Welt
Geſetzen unterworfen ſey, und daß dieſes Vernunft—
geſetze ſind. Dieſer Wahrheit wird ſchwerlich Je—
mand widerſprechen; aber die Wiſſenſchaft zeigt ſie
in einer höhern Klarheit. Man denke ſich, daß
derjenige, deſſen Forſchungen über die irdiſchen
Bewegungen ihm die darin herrſchenden, ebenſo
einfachen als nothwendigen Geſetze gezeigt haben,
nun gewahr wird, daß die den Himmelsraum durch—
wandernden, ungeheuren Maſſen durch dieſelben
Kräfte und Mittel ſich zu Bällen bildeten, zum Ab—
weichen von der Kugelgeſtalt gebracht wurden, und
127
innerhalb beſtimmter Bahnen erhalten werden. Er
muß der Anwendung dieſer Grundgedanken durch
ſcharfſinnige, aber zugleich weitläuftige Berechnun—
gen folgen und endlich ſieht er, daß alles dasjenige
eintrifft, was die Berechnung gelehrt hat. „Was
der Gedanke verſpricht, leiſtet die Natur.“ Muß
er ſich nicht als theilnehmendes Glied in dem
ewigen Weltgedanken aufgenommen fühlen?
Auch in den ungeheuern Entfernungen zwiſchen
den Weltkörpern wird er keine unthätige Leere er—
blicken. Der Raum iſt von Aether erfüllt und von
der anziehenden Kraft durchdrungen, vermöge wel—
cher das ganze Weltall zuſammengehalten wird.
Der Aether ſelbſt iſt ein Meer, deſſen Wellen das
Licht ſind, dieſes große Verbindungsmittel, welches
in unermeßlichen Entfernungen dem einen Weltball
von dem andern, dem einen Sonnenſyſtem von
dem andern Botſchaft bringt. — Je vollkommener
wir dieſes verſtehen lernten, deſto mehr hat es
uns eröffnet und es verheißt uns künftig noch mehr
Geheimniſſe zu enthüllen; in einer Weltoffenba—
rung nach dem möglichſt großen Maßſtabe beſtätigt
es uns, daß unſer Daſeyn nicht vereinzelt ſtehe,
ſondern mit dem Weltall zuſammenhänge; in einem
128
ähnlichen Umfange, aber in einer andern Richtung,
lehrt uns daſſelbe eine gründliche Kenntniß von
der allgemeinen Anziehung. Der Betrachtende
wird getragen, durchdrungen, belebt von der gan—
zen Natur und wirkt ſelbſt, wenn auch in noch
ſo geringem Maße, auf ſie zurück.
Man denke ſich die Einbildungskraft des Him—
melsbeobachters mit der ganzen hier angedeuteten
Gedankenwelt wahrhaft befruchtet, und man wird
fühlen, daß die Größe, das Leben, die Gedanken—
fülle, kurz der mächtige Gottheitsinhalt des Da—
ſeyns mit demſelben Himmelslicht, welches ſein
Auge trifft, in ſeine Seele ſtrahlen müſſe.
Schon das hier gegebene Beiſpiel, wenn auch
nur eins von ſehr vielen, dürfte hinreichend ſeyn um
zu zeigen, daß die Naturauffaſſung, deren Genuß
wir uns mit ganzer Seele hingeben, eine um ſo
größere Kraft und Fülle hat, je mehr wir dazu
diejenige Bildung mitbringen, welche nur durch
wiſſenſchaftliches Denken, oder doch durch deſſen
wohlverſtandene und im Zuſammenhang begriffene
Reſultate erworben werden kann.
Aberglaube und Unglaube
in ihrem Verhältniß zur Naturwiſſenſchaft.
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1.
Was Aberglaube und Unglaube iſt.
Man iſt im Allgemeinen darüber einig, der
Naturwiſſenſchaft einen großen Einfluß auf die
Ausrottung des Aberglaubens zuzuſchreiben; die
Natur der Sache und die Geſchichte des Menſchen—
geiſtes geſtatten nicht leicht, hierüber verſchiedene
Meinungen zu haben. Auch darüber iſt man einig,
daß die Naturwiſſenſchaft oft Unglauben veranlaßt
habe, daß dieß aber nur durch Mißbrauch geſchehen
ſey. Es könnte überflüſſig ſcheinen, ſo allgemein
angenommene Meinungen einer neuen Prüfung zu
unterwerfen, wenn man keinen Grund hat, ihnen
zu widerſprechen; allein einige Aufmerkſamkeit auf
das Menſchenleben zeigt, daß in ihrer Anwendung
viel Uneinigkeit herrſcht und daß dieſer Gegenſtand
alfo von der Mehrheit nicht mit der erforderlichen
Reinheit und Klarheit aufgefaßt wird.
Es gibt viele, welche meinen, daß der Aber—
glaube in innigem Zuſammenhange mit dem Glau—
ben ſtehe, und die ſich deßhalb einbilden, daß die
Ausrottung des Erſteren dem Letzteren gefährlich
werden könne. Es dürfte nothwendig ſeyn, dieſen
zu zeigen, daß der Aberglaube zwei Seiten hat,
deren eine einen zufälligen, alſo auflösbaren Zu—
ſammenhang mit dem wirklichen Glauben, die an—
dere dagegen einen innigen Zuſammenhang mit der
ſchrecklichſten Gottloſigkeit hat. Es gibt andere,
welche den Aberglauben für etwas Poetiſches halten
und deßhalb gegen deſſen Ausrottung feindlich ge—
ſtimmt ſind. Man muß ihnen etwas dem Aehn—
liches ſagen; daß nämlich viele Gegenſtände des
Aberglaubens in den früheſten Zeiten des Men—
ſchengeſchlechts mit der dichteriſchen Auffaſſung
verknüpft worden ſind, ohne dieſer unentbehrlich
zu ſeyn; daß aber die Welt des Aberglaubens, in
ihrer Fülle entwickelt, ſo weit davon entfernt iſt,
eine Welt der Schönheit zu ſeyn, daß ſie einer ſol—
chen vielmehr im höchſten Grade entgegengeſetzt iſt.
Wir haben uns hier des Wortes Aberglaube
133
als eines wohlbekannten Ausdruckes bedient; aber
zu einer Unterſuchung darüber wird erforderlich
ſeyn, deſſen Bedeutung näher zu beſtimmen. Wir
wollen dabei zugleich im Vorbeigehen die Einwen—
dung abweiſen, daß der Aberglaube nunmehr in
der aufgeklärten Welt ſo vollſtändig ausgerottet ſey,
daß es nicht mehr der Mühe lohne, davon zu reden.
Jeder wird zwiſchen Leichtgläubigkeit und Aber—
glauben zu unterſcheiden wiſſen. Niemand wird
den des Aberglaubens beſchuldigen, der falſchen
Nachrichten, die in ſich keine Ungereimtheiten ent—
halten, Glauben beimißt; man wird ihn bloß leicht—
gläubig nennen. Selbſt wenn er ſich höchſt unwahr—
ſcheinliche Dinge hätte einbilden laſſen, z. B. daß
es ein Land geben ſolle, in welchem die gewöhnliche
Höhe der Menſchen zehn Fuß und ihr Alter 1000
Jahre ſey, ſo würde man ſeine Leichtgläubigkeit nur
lächerlich finden, ſie aber nicht mit Aberglauben ver—
wechſeln. Derjenige dagegen, welcher ſich einbildet,
es könne etwas in der Natur anders wirken, als
nach deren Geſetzen, den nennen wir abergläubiſch.
Wer z. B. glaubt, es könne durch Ableſung gewiſſer
Zauberworte über einem kranken Thiere daſſelbe
geheilt werden, muß dieſen Worten ohne Zweifel
134
eine Wirkung zutrauen, die bloße Worte nach den
Geſetzen der Natur nicht haben können. Ich werde
noch einiger anderer davon ſehr verſchiedener Bei—
ſpiele erwähnen. Viele glauben, daß der, welcher
von einem Hunde gebiſſen worden iſt, der im Augen—
blick des Biſſes vollkommen geſund war, von der
Waſſerſcheu befallen werden könne, wenn derſelbe
Hund nachher von dieſer Krankheit ergriffen wird,
obgleich den Geſetzen der Natur gemäß zwiſchen bei—
den Vorfällen kein Zuſammenhang vorhanden iſt. Die
Einbildung, es ſey gefährlich oder doch ein Unglücks—
zeichen, wenn dreizehn Perſonen zuſammen zu Tiſche
ſitzen, ſetzt voraus, daß eine beſtimmte Zahl Wir—
kungen hervorbringen, oder in einer Art, die den
Naturgeſetzen fremd iſt, mit Wirkungen in Ver—
bindung ſtehen könnte. Nicht weil dieſe Einbil—
dungen etwas Naturwidriges annehmen, iſt es,
daß wir ſie abergläubiſch nennen, — denn dann
müßten wir ja auch die Meinung abergläubiſch
finden, daß ein Menſch vertragen könne, Scheide—
waſſer ſtatt Branntwein zu trinken, — nein, weil
ſie mit Bewußtſeyn, wenn auch mit einem ſehr
unklaren, annehmen, es könne in der Natur etwas
vorgehen, das gegen die Naturgeſetze iſt. Es kann
135
hier nicht die Abſicht ſeyn, von den vielfältigen aber-
gläubiſchen Meinungen zu reden: unſer Zweck iſt
von dem Hange zu ſprechen, ſich etwas ſogenannt
Uebernatürliches, als in den Gang der Natur ein—
greifend, zu denken. Dieſer Hang, dieſe abergläu—
biſche Denkweiſe, behauptet ſich oft bei Menſchen,
die durch Erziehung alle gangbaren abergläubiſchen
Meinungen zu ſcheuen gelernt hatten. Ich habe z. B.
vor etwa 40 Jahren einen franzöſiſchen Emigranten
gekannt, der ſich ſehr beleidigt gefunden haben würde,
wenn man ihm Geſpenſterglauben zugetraut hätte;
der ſich aber von den Freimaurern verfolgt glaubte
und meinte, daß Londoner Freimaurer, obgleich er
in Kopenhagen war, auf ihn einwirkten und ihm
vermöge des thieriſchen Magnetismus nächtliche
Krämpfe verurſachten. Es iſt mir ſehr wohl be—
kannt, daß einige Naturforſcher dieſem verwandte
Wirkungen angenommen, und einige derſelben ſich
ſogar gedacht haben, daß der thieriſche Magnetismus
ſeine Wirkungen weit in den Raum hinaus ver—
breiten könne, wie Licht, Elektricität und Erd—
magnetismus; aber die Meinung jenes Emigranten
war ſo wie bei ſo vielen ſogenannten Magnetiſeuren
eine Einbildung übernatürlicher Wirkungen. Selbſt
136
wenn man jemals wirkliche Naturgeſetze entdeckte,
nach denen die Willens- oder Nervenwirkung eines
Menſchen ſich über große Entfernungen verbreiten
könnte, würden doch die, welche ſolche Wirkungen
als übernatürlich angenommen hätten, des Aber—
glaubens ſchuldig befunden werden müſſen. In
ähnlicher Weiſe iſt die Einbildung anzuſehen, als
könne jemand durch Zauberkraft ſeine Meinung im
Nu entfernten Genoſſen zu erkennen geben. Die
Entdeckung der elektromagnetiſchen Fernſchrift kann
dieſe Einbildung nicht vernünftig machen. — Ein
anderer Franzoſe äußerte gegen mich die Meinung,
es ſey nur vermittelſt der Hülfe der Freimaurer,
daß Napoleon ſo viel ausrichtete. Im erſten Falle
ward angenommen, es ſey eine körperliche Wir—
kung außer der Ordnung der Natur hervorgebracht
worden; im letztern ſollte die natürliche Wirkung
eines Weſens, das große Fähigkeiten in ſich ver—
einte, von einer Zuſammenwirkung anderer Kräfte,
welche nach den Geſetzen der geiſtigen Natur daſſelbe
unmöglich zu bewirken vermochten, herrühren; will
man dieſes letztere auch nicht Aberglauben nen—
nen, ſo läßt ſich deſſen nahe Verwandtſchaft damit
doch nicht in Abrede ſtellen. In entgegengeſetzter
Richtung muß man gewiſſe abergläubiſche Meinungen
betrachten, welche nicht im Geiſte des Aberglaubens
aufgefaßt werden. So habe ich z. B. in meiner
frühen Jugend in einer kleinen abgelegenen Stadt
fromme Leute gekannt, welche nie von der Zweifelſucht
berührt worden waren, die daher das Daſeyn von
Geſpenſtern, an die man allgemein glaubte, nicht
zu läugnen wagten, ſie aber für nichts rechneten,
da ſie ja ohne Gottes Willen nichts ausrichten
könnten. Aber der Wille Gottes iſt ja der Aus—
druck der Religion für die ewigen Geſetze des Da—
ſeyns und ſo dachten ſie ſich denn freilich auf ihre
unwiſſenſchaftliche Weiſe das Uebernatürliche dem
Natürlichen einverleibt. Zur ſelben Zeit kannte
ich einen Mann, der oft mit vieler Rohheit ſeinen
Unglauben in Religionsſachen laut werden ließ und
ſich dennoch fürchtete, des Nachts über einen Kirch—
hof oder an einem Richtplatz vorbei zu gehen. War
der nicht ein Muſter aberglaubiſcher Denkweiſe?
Um die Bedeutung des eben Erwähnten rich—
tiger zu faſſen, und um verſchiedene darin vor—
kommende Aeußerungen nicht mißzuverſtehen, wer—
den wir uns das Weſen der Naturgeſetze näher
vors Auge zu ſtellen haben. Ungeachtet wir
138
bereitwillig eingeſtehen müſſen, daß unſere Natur-
wiſſenſchaft im Vergleich zu ihrer unendlichen Auf—
gabe höchſt unvollkommen ſey, ſo iſt ſie doch hin—
reichend zu zeigen, daß die Naturgeſetze ewige
Vernunftgeſetze ſind; dieſe zu kennen heißt den
unendlichen Vernunftzuſammenhang in der Natur
kennen, heißt die Vernunft kennen, welche das ganze
Daſeyn, das körperliche ſowohl als das geiſtige
durchdringt und beherrſcht. Die Naturwiſſenſchaft
ſtimmt vollkommen überein mit der Religion, welche
lehrt, daß Alles hervorgebracht iſt, alles hervorge—
bracht und beherrſcht wird von dem göttlichen Wil—
len; im Laufe der Dinge Etwas übernatürlich zu
nennen heißt alſo es ſowohl mit der Vernunft als
mit dem göttlichen Willen in Widerſtreit ſtellen.
Es iſt mir ſehr wohl bekannt, daß ſich viele ein—
bilden, die ewig ſchaffende Kraft könne es dann
und wann nöthig finden, von dem natürlichen
Gange der Dinge eine Ausnahme zu machen; wenn
aber dieſe eine wirkliche Ausnahme von der Ver—
nunftordnung ſeyn ſollte, würde dieß ja eine Un—
vernunft der allvollkommenſten Vernunft voraus—
ſetzen; ſollte dagegen die Ausnahme nur ſcheinbar
und in der Wirklichkeit ein Glied der Vernunft—
139
ordnung ſeyn, jo würde fie ja nur dem Vielen
uns Unverſtändlichen angehören; es würde dazu
dienen unſern Stolz zu demüthigen, nicht aber den
Hang etwas Uebernatürliches anzunehmen recht—
fertigen. Die abergläubiſche Denkweiſe iſt demnach
ein Hang etwas Vernunftwidriges anzunehmen;
und ein ſolcher Hang kann nur als etwas Unbe—
wußtes vorhanden ſeyn. Derjenige welcher es klar
auszuſprechen vermag, daß es einen Hang zur Un—
vernunft giebt, wird ihn ohne Zweifel verabſcheuen.
Der Aberglaube enthält demnach keinen Glauben;
der Name lügt: ein Glaube muß ſich ausſprechen
laſſen können; der Aberglaube aber iſt nur eine
verworrene Einbildung, deren eigentliches Weſen
nicht zum klaren Bewußtſeyn kommen kann, ohne
ſich ſelbſt zu vernichten.
tan wird mir vielleicht einwenden, ein ſolcher
Hang zur Unvernunft ſey unmöglich und werde,
auch wenn es ſich fände, von der Kraft der Ver—
nunft unwirkſam gemacht werden. Ich erwiedere,
daß ein unmittelbarer Hang zum Vernunfthaß ge—
wiß nicht in der Natur des Menſchen liegen könne,
daß er jedoch als Ausartung guter Anlagen ebenſo
wenig undenkbar als erfahrungwidrig ſey. Unſere
140
Unterſuchung wird in ihrem Verlaufe dieſes beleuch-
ten. Daß die Vernunft bei der Menge dieſem
Hange nicht hinreichend entgegenwirkte, begreifen
wir leicht, wenn wir uns erinnern, daß die Ge—
dankenwelt der meiſten Menſchen nur auf eine
höchſt unvollkommene Weiſe zu ihrem eigenen Be—
wußtſeyn gekommen iſt, und bei weitem nicht in
ihrer Einheit und Ganzheit von ihnen aufgefaßt
wird, daß ſie ihnen vielmehr in einer merkwürdigen
Zerriſſenheit vorſchwebt, ſo daß Gedanken, die ſich
gegenſeitig beleuchten und verſöhnen ſollten, bei
ihnen ſich ſelten begegnen. Man denke ſich einen
Menſchen, deſſen Begriff von der Natur auf die
am meiſten unmittelbare ſinnliche Gegenwart be—
ſchränkt iſt: für ihn iſt nicht nur das Geiſtige
etwas Uebernatürliches, ſondern es ſind es auch
alle Gegenſtände der Körperwelt, welche ſein Ge—
danke mit dem Gewöhnlichen nicht in Zuſammenhang
zu bringen vermag; ſo wird ihm auch der Sternen—
himmel etwas Uebernatürliches, ſo daß er demſelben
in ſeiner Unkunde der Geſetze, nach welchen jener
regiert wird, die naturwidrigſten Einwirkungen auf
die menſchlichen Dinge beimißt. Ein etwas mehr
entwickelter Begriff, läßt ſich noch mit vielen
Irrthümern vereinigen, welche in ihrem innern We—
ſen zu demſelben Geſchlechte gehören. In dieſem
Falle befindet ſich der, deſſen Begriff von der Natur
in dem Maße von der Betrachtung der Verſchie—
denheit zwiſchen dem Körperlichen und Geiſtigen
befangen iſt, daß er die Einheit der Vernunftge—
ſetzgebung, welche das Ganze umfaßt, nicht gewahr
wird. Allen denjenigen, welche eine ſo beſchränkte
Vorſtellung von der Natur haben, iſt es möglich,
ſich einen übernatürlichen Eingriff darein zu denken
ohne ſelbſt die Unvernunft ihres Gedankens einzu—
ſehen; doch leben ſie, ohne es ſelbſt zu wiſſen, mit
dem Daſeyn in einem Widerſtreite, den ſie bei jeder
kräftigen Gedankenbewegung empfinden müſſen;
treibt ſie ihr geiſtiges Streben nicht ſo weit, daß
jener Widerſtreit ihnen mit derjenigen Klarheit
entgegentritt, welche erforderlich iſt, ſie über den—
ſelben hinauszuführen, ſo verbleiben ſie in einem
traurigen, die Seelenkraft danieder drückenden
Gefühl von Verwirrung und Entfernung vom
ewigen Licht. — Der hier erwähnte Zuſtand kann
bei manchen Menſchen, beſonders in gewiſſen dun—
keln Zeitaltern, ſehr häufig bis zur äußerſten Ver—
ſenkung in geiſtiges Dunkel, ja in ſeinen Folgen
142
in Vernunfthaß und in Gottloſigkeit ausarten.
Vielleicht möchte dieſes auf den erſten Anblick Vie—
len als eine überſpannte Anwendung von Grund—
ſätzen ohne wahre Uebereinſtimmung mit der Wirk—
lichkeit erſcheinen; wäre dem alſo, ſo würde ich
ſelbſt dieſe ſtarken Ausdrücke verabſcheuen und mich
ſchämen, ſie gebraucht zu haben; aber ich hoffe,
daß ſie bei näherer Prüfung der Sache ſollen
hinreichend gerechtfertigt befunden werden.
Dem Aberglauben gegenüber ſteht als eine ent—
gegengeſetzte Entartung der Unglaube. Dieſer be—
ruht auf dem Hange alle diejenige unmittelbare
Gewißheit, welche nicht auf Sinneneindrücken be—
ruht, zu verwerfen und ſeine ganze Ueberzeugung
nur auf dieſe und den Ausſpruch des Verſtandes
zu bauen.
Aberglaube und Unglaube haben ſich in dem
Menſchengeſchlechte in derjenigen Verbindung aus—
gebildet, in welcher Gegenſätze, die ſich ſtets her—
vorrufen, nothwendig ſich zeigen müſſen; wir müſ—
ſen daher verſuchen, uns einen Ueberblick ihrer
Urſprungs- und ihrer Entwickelungsweiſe zu bilden.
5
Urſprung und Entwickelungsgang des Aberglaubens und
des Unglaubens.
Das Menſchengeſchlecht beginnt, wie der ein—
zelne Menſch, ſein Erkennen durch unmittelbare
Auffaſſung. Der Zuſtand der Kindheit, in welcher
ſich das eigentliche Denken nur noch wenig entwickelt
hat, und in dem die Verarbeitung, welche die Sin—
neneindrücke durch jenes erhalten, höchſt gering
iſt, macht in der Ausbildung des Geſchlechts ein
langes Zeitalter aus. Des Menſchen Bewußtſeyn
ſeiner eigenen innern Zuſtände erhält hier einen
überwältigenden Einfluß auf ſeine Weltauffaſſung.
Er legt ſein eigenes Fühlen und Wollen und Ein—
bilden hinein in die ſinnliche Natur; Alles um
ihn her iſt lebend, fühlend, wollend, wie er ſelbſt.
Die innere Welt, welche der Menſch ſich auf dieſe
Weiſe bildet, iſt eine Welt der Dichtung, ſehr
verſchieden von der, welche das Denken ihn ſpäter
kennen lehrt; da aber dieſelbe Thätigkeit, welche im
Denken mit Bewußtſeyn handelt, alle unſere See—
lenäußerungen durchdringt und die Form derſelben
ausmacht, ſo erhält dieſe kindliche Weltauffaſſung
144
eine eigene Uebereinſtimmung mit der in der Natur
herrſchenden Vernunft und dadurch das für unſern
innern Sinn ſo faßliche Vernunftgepräge, welches
das Weſen der Schönheit ausmacht, das nie auf—
hört, uns für ſich einzunehmen. Könnte ſich der
Menſch in dieſer Welt der Dichtung behaupten,
jo würde fein Leben ein harmoniſches Ganze bilden;
aber ſeine Weltauffaſſung würde dann nur eine
bloß ahnende, halb träumende ſeyn. Der Ver—
nunftzuſammenhang in der Welt, die Offenbarung
der göttlichen Vernunft im Daſeyn, würde ſeinem
Bewußtſeyn nicht klar aufgehen; durch zahlloſe
Kämpfe muß das Geſchlecht daher dem Standpunkte
zugeführt werden, wo uns die Grundeinheit aller
unſerer Fähigkeiten und Auffaſſungsweiſen klar
werden, und wo Denken und Dichten nicht mehr
im Streit mit einander liegen. Für dieſen Zweck
iſt in der Einrichtung des ganzen Daſeyns geſorgt.
Die Natur der Dinge erlaubt es dem Menſchen
nicht, ſich in ſeine Dichtungswelt einzuſchließen;
die Einwirkungen der Außenwelt geſtatten dieſes
nicht: ſie dringen ihm Erfahrungen auf und nöthi—
gen ihm häufiges Nachdenken ab. Eindrücke von
unwiderſtehlicher Stärke, Gedanken, welche in
145
unabweisbarer Klarheit hervortreten, nöthigen ihn,
Vieles auf eine neue Weiſe aufzufaſſen. Dieß gibt zu
zwei entgegengeſetzten Empfindungen Anlaß: ent—
weder zur Freude über das neue Licht oder zur Un—
zufriedenheit über den ſtörenden Eingriff in die alte
eingewohnte Weltanſchauung; je nach der Natur des
Neuen oder nach der Eigenthümlichkeit jedes einzel—
nen Menſchen gewinnt die eine oder die andere
dieſer Empfindungen die Oberhand. Einige Bei—
ſpiele werden dieß beleuchten. Der Gang der
Jahreszeiten hat ſelbſt in den am meiſten begün—
ſtigten Weltgegenden einen großen Einfluß auf den
Zuſtand des Menſchen; in den wärmern Erdſtri—
chen wird es ihm wichtig, zu wiſſen, wann die
Regenzeit von der Sonnenzeit abgelöst werde,
oder wann die Dürre, welche dieſe beſchließt, dem
befruchtenden Regen weichen ſoll; in den kältern
Erdſtrichen wird es ihm wo möglich noch dring—
licher, den Gang der Jahreszeiten zu kennen.
Durch eine Reihe von Himmelsbeobachtungen bildet
ſich im Kreiſe hochbegabter Männer und ihrer
nächſten Zöglinge eine Kenntniß der Geſetze, nach
denen ſich die Jahreszeiten vorherſagen laſſen, und
dieſe Kundigen achtet die Menge als Vertraute
O erſted, der Geiſt in der Natur. 7 10
146
des Himmels und als Wohlthäter des Geſchlechts.
Durch ihre Weisheit werden die Verrichtungen
möglich, welche die Vorausbeſtimmungen der Jah—
reszeiten erfordern, als Ackerbau, Zuſammenkünfte
zur Verrichtung von Religionshandlungen, große
Kriegszüge u. dgl. Die Menge zwar wird da—
durch nicht zum beſondern Nachdenken erweckt;
aber in dem Kreiſe der Eingeweihten, wo das
Wiſſen gepflegt und bewahret wird, muß man bald
gewahr werden, daß die Vorſtellungen der Menge
von den Himmelskörpern als freiherrſchende Götter,
deren Güte man die Wohlthaten des Jahres ver—
danke, den Geſetzen, nach denen die Naturereig—
niſſe ſich richten müſſen, nicht entſprechen. Der
menſchlichen Natur gemäß erheben ſich nun zwei
entgegengeſetzte Einſeitigkeiten: bei Einigen Zweifel
über die Vorſtellungsweiſe der Menge im Allge—
meinen und zugleich über die Wahrheiten, welche
in einem mit groben Irrthümern vermiſchten, in
ſeiner Grundlage aber doch richtigen Glauben
enthalten ſind; bei Andern dagegen eine Furcht,
ſich dadurch jede Ueberzeugung von der Göttlich—
keit der Sache wegzuvernünfteln. Unter der früh—
zeitigen Entwickelung jener Einſichten werden ſich
147
zwar beide Richtungen ſchwerlich zu einer entfchie-
denen Einſeitigkeit emporarbeiten; aber der Ge—
danke wird ſich gleichſam in Schwingungen zwi—
ſchen beiden Ertremen hin- und herbewegen, und
der Menſch wird fühlen, daß ſein Gedanke nicht
den Grund der Tiefe zu erreichen vermag. Aber
dieſelben Gedankenrichtungen bilden ſich allmählig
weiter aus, und zwar um ſo mehr, je größer die
Zahl derjenigen wird, welche wenn auch nur auf
eine ſehr oberflächliche Weiſe einige Kenntniß von
den Geſetzen des Himmels erlangen; das wird
beſonders der Fall ſeyn, wenn Himmelsbegeben—
heiten, welche die Menge mit Schrecken betrach—
tet, ſich ihnen als gefahrloſe Folgen der Welt—
geſetze zeigen. Man denke ſich den Schrecken, der
die Menſchen überfallen würde, wenn ſie ſich beim
Anblick einer Sonnenfinſterniß einbildeten, ein
ungeheurer Drache wolle die Sonne verſchlingen:
es würde ihnen daſſelbe ſeyn, als wenn die Mächte
der Finſterniß das Licht zu verſchlingen drohten;
aber ſelbſt nachdem man dieß Vorurtheil abgelegt
hatte, fuhr man doch fort, die Sonnenfinſterniß
mit bangen Ahnungen zu betrachten. Wenn es
aber zur allgemeinen Kunde kam, daß dieſes Er—
148
eigniß nur darin beſteht, daß der Mond in feinem
wohlgeordneten Gange auf kurze Zeit zwiſchen
Erde und Sonne kommt, und daß ſich dieß voraus
berechnen läßt, mußte es zu einer großen Ge—
dankenbewegung Anlaß geben; die Freude, eine
alte Furcht vor einer feindlichen Naturmacht ver—
jagt zu ſehen, mußte ſehr allgemein werden. Denen,
welche mehr von der Sache begriffen, mußte ſich jener
Freude noch eine andere höhere beigeſellen, indem
man an einem großen Beiſpiele ſah, daß unſer Geiſt
einen Theil der Lenkung der Natur zu verſtehen
vermag. Indem man jedoch eine Naturfurcht als
grundlos erkannt hatte, ward man darauf hinge—
führt, ſich zu fragen, ob daſſelbe nicht etwa auch
für unzählbare andere gelte; ja bei Manchen blieb
es natürlich nicht bei der bloßen Frage. Der hier
erwähnte Fall, wie bedeutungsvoll und gedanken—
erweckend er immer ſeyn möge, konnte an und für ſich
wohl keinen weitumfaſſenden Einfluß äußern, aber
es iſt nur ein aus unendlich vielen Fällen heraus—
gegriffenes Beiſpiel. Der Einfluß der Umgebung
erweckt unaufhörlich beim Menſchen das Nach—
denken, und ſo oft er eine Urſache, einen Zuſam—
menhang entdeckt, geräth er in Widerſpruch mit
149
der alten Welt ſeiner Einbildungskraft; unter
dieſem Fortſchreiten werden die freieſten und ſelbſt—
thätigſten Geiſter nicht bei der Verwerfung der—
jenigen Meinungen, deren Falſchheit man als
gewiß erkannt hatte, ſtehen bleiben, ſondern ſich
vielmehr angetrieben fühlen, zugleich alles denſelben
auffallend Aehnliche zu verwerfen; aber die Mehr—
zahl derjenigen, welche die neue Gedankenrichtung
eingeſchlagen haben, läßt ſich leicht hinreißen, dieſes
Verwerfen über die rechten Grenzen hinaus zu über—
treiben, und namentlich Wahrheiten, welche mit den
Irrthümern verwickelt geweſen ſind, abzuläugnen.
Dieſen gegenüber befinden ſich diejenigen, welche
ſich nicht leicht von den alten Vorſtellungen loszu—
reißen vermögen; einige von einem tief empfun—
denen Glauben an die Wahrheiten, welche man jetzt
verläugnen will; Andere, und zwar die Mehrzahl
derer, bei welchen dieſer Glaube weniger lebendig
iſt, weil ſie gegen alles Neue durch die Stumpf—
heit ihres Denkens abgehärtet ſind. Dieſe Auf—
klärungsmänner werden nun, von Freude über die
Ausſicht in die neue Gedankenwelt erfüllt, ungedul—
dig werden über den zähen Widerſtand, und den aus—
ſchließlichen Grund davon in der geiſtigen Schwäche
150
ihrer Gegner ſuchen; während auf der andern
Seite Furcht und Erbitterung entſteht, wenn
die Anhänger des Alten die Weltanſchauung, mit
der ihr Gottesbewußtſeyn verwachſen iſt, bedroht
ſehen. Dieſer Kampf zwiſchen zwei entgegenge—
ſetzten Einſeitigkeiten ſchreitet ſo wenig als irgend
ein anderer ununterbrochen fort; bald erhält die
Erweckung des Denkens durch neue Entdeckungen
das Uebergewicht; bald tritt eine Zeit der Ruhe ein,
während welcher man Muße erhält, die Grenzen,
welche die raſche Gedankenbewegung zu ſehr er—
weitert hatte, enger zuſammen zu ziehen; in allen
Zeiten aber wird es einige Menſchen geben, die
mit wahrer innerer in einer ehrwürdigen Seelen—
tiefe gegründeten Beſcheidenheit fühlen werden, daß
zwiſchen den ſtreitenden Parteien viele Fragen
liegen, auf die man mit wahrer Ueberzeugung
zur Zeit noch keine Antwort geben kann. Sie
begnügen ſich daher damit, ſich dasjenige an—
zueignen, was ihnen bei beiden Parteien das
Gewiſſeſte ſcheint: einerſeits die Ueberzeugungen,
zu denen ein in ſich ſelbſt geſichertes Wahr—
heitsgefühl leitet, obgleich es dem Denken noch
nicht hinreichend gelungen iſt, ſie zu beleuchten;
151
andererſeits die Wahrheiten, welche das Denken
entſchieden beweist, ſelbſt wenn zwiſchen dieſen und
der alten Gedankenwelt einiger Widerſtreit obzu—
walten ſcheint. Menſchen, welche dieſe Selbſtver—
läugnung zu behaupten vermögen, wiſſen ſehr
wohl, daß da, wo Widerſpruch vorhanden iſt,
die ganze volle Wahrheit nicht ſeyn kann; aber
ſie wiſſen zugleich, daß der Beſitz der Wahrheit
in ihrer Ganzheit außer unſerem Vermögen liegt,
und daß wir durch eine unzeitige Unterdrückung
der Zweifel keineswegs die Wahrheit gewinnen.
Dieſer hier in der Kürze geſchilderte Entwicke—
lungsgang geht durch die ganze Geſchichte der
Menſchheit hindurch, nur verſchieden nach den
verſchiedenen Zeitaltern und Welttheilen. Wir
wollen nun verſuchen, die Ausbildung des Aber—
glaubens ſo darzuſtellen, wie er zur Zeit der größ—
ten Verbreitung ſeiner Herrſchaft geweſen iſt. Die
Menſchen waren genöthigt, allmählig mehr und
mehr Kenntniſſe, welche Denker dem Geſchlecht er—
worben hatten, aufzunehmen; aber bei der Mehrzahl
blieben dieſe Kenntniſſe als etwas bloß Empfangenes
da ſtehen, und eben dasjenige darin, was für
die höher Begabten die größte Bedeutung hat, iſt
am wenigſten geſchickt, unentſtellt in das Gedan—
kenleben der Menge einzugehen; inzwiſchen wird
doch auch bei den roheren Menſchen durch die Blitz—
ſtrahlen höherer Gedanken mannigfaltiges Denken
erweckt. Noch mannigfaltiger iſt die Wirkung aller
jener Früchte des Denkens, welche den Menſchen
als ein ſtets wachſendes Erbtheil der Jahrhunderte
zufließen, und die ihnen vom Alltagsleben, deſſen
zahlloſe Verrichtungen jedem neuen Menſchenalter
mehr Nachdenken abnöthigen, aufgedrängt werden.
Das hiedurch erweckte Denken jedoch erhält bei der
Mehrzahl nicht eine ſolche Ausbildung, daß es frei
ſeiner eigenen Natur entſprechend wirken könnte; es
bleibt bei der rohen Menge der Herrſchaft der Ein—
bildungskraft unterworfen, und ſeine Thätigkeit, ſo
weit dieß möglich iſt, auf ihre Welt beſchränkt; man
will gleichſam mit der Einbildungskraft begreifen
und den für dieſe unverdaulichen Stoff zu einer
Weltanſchauung verarbeiten, die in eben dem
Maße, in welchem ſie ſich mehr entwickelt, verwor—
rener und widerſprechender wird. Während dieſes
Zuſtandes bildet ſich ein ſonderbares Gewebe aus
den Geſchöpfen der alten Dichterwelt und der Maſſe
von Kenntniſſen, die nunmehr erworben iſt. Man
153
würde fich ſehr täuschen, wenn man glauben wollte,
dieſe Kenntniſſe in den Dichterwerken eines ſolchen
Zeitalters überwiegend ausgeprägt zu ſehen: in
dieſen erblickt man nur dasjenige, was der Schön—
heitsſinn zu wählen und umzubilden vermochte.
Auch in den Geſchichtswerken, welche ſich nur mit
den größern Begebenheiten befaſſen, findet man von
der Welt des Aberglaubens nur wenige Spuren;
in den Schriften aber, welche uns die Verhält—
niſſe des Alltagslebens darſtellen, können wir ſie
zum Theil kennen lernen. Das Leben der Römer
war ſelbſt in ihrem am meiſt verfeinerten Zeitalter
ſtark davon durchdrungen; das Mittelalter werden
wir gleich näher betrachten.
3.
Das Mittelalter als Beifpiel eines abergläubiſchen Zeitalters.
Der Aberglaube hat zu verſchiedenen Zeiten
einen gewiſſen Höhepunkt erreicht, der durch die
geſammten Verhältniſſe näher beſtimmt ward. Es
würde gar zu weitläufig ſeyn, ein jedes ſolches
Zeitalter zu berühren. Das für uns lehrreichſte
154
wird das Mittelalter ſeyn und dieß um fo mehr,
als ſich der Aberglaube hier mit dem Chriſtenthume
vermiſchte, deſſen Lehre von menſchlicher Erfindung
rein aufgefaßt ſo erhaben und herrlich iſt, daß der
Aberglaube als Gegenſatz dazu in ſeiner düſterſten
Unvernunft nackt daſteht. Während man eine
Religion bekannte, welche lehrt, daß die ganze
Welt von dem göttlichen Willen regiert wird,
erfüllte die Einbildungskraft ſie mit böſen Weſen,
die in vielſeitiger Hinſicht Macht über die Natur
hatten; zwar ſollten ſie dem ewigen Willen unter—
worfen ſeyn; dieß war eine unbeſtreitbare Lehre;
aber in den tiefen Abgründen der roheren Seelen
lagen finſtere Einbildungen, welche mit der leuch—
tenden Wahrheit in Widerſtreit ſtanden und die
mehr, als man glauben ſollte, Leben und Handlungs—
weiſe beherrſchten. Es iſt ſchwierig, ein klareres
Beiſpiel von der Unvernunft des Aberglaubens zu
nennen, als die Begierde, mit der ſo viele Chri—
ſten eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch
bei Menſchen Zuflucht ſuchten, von denen ſie ſelbſt
glaubten, daß ſie nur mittelſt teufliſcher Künſte
zu helfen vermöchten; beim Teufel Hülfe zu ſuchen,
während man doch an Gott glaubt, könnte die
155
lächerlichſte Thorheit genannt werden, wenn es nicht
die traurigſte Verirrung wäre. Es handelt ſich
hier nicht um einzelne Beiſpiele, ſondern von einer
Denkweiſe, welche durch mehr als ein Jahrtauſend
ſich in allen chriſtlichen Ländern täglich äußerte;
aber das Uebermaß dieſes Wahnſinns iſt doch der
Gedanke, ſich dem Teufel zu verſchreiben um ſich
die vergänglichen Genüſſe einer beſchränkten Lebens—
zeit gegen Verzichtleiſtung auf die ewige Seligkeit
und gegen die Verdammung zur unvergänglichen
Pein eines ewigen Lebens einzutauſchen. Welche
gleichzeitige Hingebung zur Unvernunft und zur
Gottloſigkeit, zur Gottloſigkeit und Unvernunft!
Wenn man dem ſprechenden Zeugniß der
Geſchichte die falſche Einwendung entgegenſetzen
wollte, es könne eine ſolche Gottloſigkeit im Mit—
telalter, wo die Religion ſo hoch geachtet war,
nicht häufig geweſen ſeyn, ſo werde ich antworten,
daß eine unparteiiſche Betrachtung der damaligen
Religionsübung vielmehr zeigt, daß auch dieſe mit
Aberglauben überfüllt geweſen. Der Gott, den
man verehrte, ſollte wohl der ſeyn, den Chriſtus
verkündet hatte; aber in der damaligen Vorſtel—
lung war er ein ganz anderer; man dachte ſich ihn
156
als einen großmächtigen Oberkönig und nicht als
einen Geiſt, den man im Geiſt und in der Wahr—
heit anbeten ſollte. Einzelne Ausnahmen wichen
ſo ſehr von der allgemeinen Handlungsweiſe ab,
daß ſie hiergegen nicht geltend gemacht werden
können. Die herrſchende Meinung der Menge war,
daß man ſeine Gewaltthätigkeiten, ſeinen Raub
und ſeine Mordthaten durch Gaben ſühnen könne,
mit denen man ſich nicht ſowohl an den Allerhöch—
ſten ſelbſt wendete, als vielmehr an Perſonen, wel—
chen man großen Einfluß bei ihm zutraute, z. B. an
die Mutter ſeines Sohnes, an eine Heerſchaar von
Heiligen und eine noch größere Heerſchaar von
Prieſtern; dieſe Einflußreichen wurden mit Gaben
überhäuft; die Diener der Kirche verkauften Ablaß.
Man wird mir gewiß vorwerfen, daß ich hier die
verbrauchte Sprache des achtzehnten Jahrhunderts
wiederhole; aber es iſt keineswegs meine Abſicht,
hier etwas Neues zu ſagen, ſondern etwas Wahres,
das Viele zu vergeſſen große Luſt haben. Man
wird mir ſagen, dieſe Meinung über das Mittel—
alter ſey ſo oft verdammt worden, und zwar in den
ſtärkſten Ausdrücken, daß man ſie nicht aufs Neue
hervorziehen ſollte; ich kenne dieſe Verdammungs—
urtheile; ſie ſchrecken mich nicht mehr, ſeit ich ge-
ſucht habe, das Mittelalter durch ſich ſelbſt und
nicht aus den Schilderungen ſtreitender Parteien
kennen zu lernen. Wir dürfen uns nicht dadurch
täuſchen laſſen, daß man den Irrthümern der
finſtern Zeitalter eine höhere Meinung unterzu—
legen vermag; tiefe Wahrheiten liegen ſehr häufig
den Irrthümern aller Zeitalter zum Grunde; aber
wir müſſen die Augen aufthun, um zu ſehen, wie
die Menſchen jener Zeiten in der Wirklichkeit dach—
ten; nur ſo erlangen wir ein wahres Bild des
Zuſtandes.
er: verſteht ſich, daß bei der hier verfolgten
Gedankenrichtung unſere Aufmerkſamkeit ausſchließ—
lich auf die Schattenſeite des Mittelalters gewendet
ſeyn mußte; nachdem aber dieſes geſchehen iſt,
werden wir uns ſelbſt daran zu erinnern haben,
daß in keinem Zeitalter die Verirrung ſo unum—
ſchränkt herrſchend geweſen ſey, daß nicht auch das
Wahre und Gute darin große Macht ausgeübt hätte.
Was ich darzuthun beabſichtigte und für gewiß
halte, iſt, daß der Aberglaube auf das Leben und
die Denkweiſe des Mittelalters einen bei weitem
größeren Einfluß übte, als die meiſten neuern
158
Schilderungen vermuthen laſſen, und daß derſelbe
in eben dem Maße, als er zur Herrſchaft gelangte,
ſich beides als Unvernunft und als Gottloſigkeit
zeigte.
Es wird kaum nöthig ſeyn zu ſagen, daß die
Religion für ſich ſelbſt an dieſen Verirrungen ſchuld—
los war; wir ſehen aber hier eines der zahlreichen
Beiſpiele, welche zeigen, daß dieſelbe auf höchſt
verſchiedene Weiſe von den Menſchen aufgefaßt
werde, je nach der Verſchiedenheit ihrer Kenntniſſe
und der verſchiedenen Entwicklung ihrer Fähigkeiten.
Das Menſchengeſchlecht hat zum wahren Verſtänd—
niß erzogen werden müſſen und dieſe Erziehung iſt
zwar von Stufe zu Stufe vorgerückt, ſcheint aber
noch weit von der Vollendung entfernt.
4.
Der Aberglaube greift verwirrend ins ganze Leben ein.
Nicht nur gegen die Religion gilt es, daß der
Aberglaube ſtreitet; er greift auch verwirrend ins
ganze Leben ein. Um uns dieß recht lebendig vor—
ſtellen zu können, müſſen wir uns in ein Zeitalter
159
verſetzen, in welchem der Aberglaube vorherrſchend
war. Stellte ſich eine Sonnen- oder Mondverfin-
ſterung ein, ſo fürchtete man, ſie möchten böſe
Wahrzeichen ſeyn; eine Furcht dieſer Art erhielt
ſich viele Jahrhunderte hindurch, ja ſelbſt über ein
Jahrtauſend, nachdem die Wiſſenſchaft den wahren
Grund der Verfinſterungen ausfindig gemacht hatte.
Noch größer war die Beängſtigung, wenn ſich ein
Komet zeigte; noch im fünfzehnten Jahrhundert
ward auf Befehl des Papſtes eines Kometen wegen
in allen Kirchen geläutet. Bei vielen größern Un—
ternehmungen befragte man Sterndeuter und ließ
ſich durch ihren Ausſpruch beſtimmen. Selbſt um
zur Ader zu laſſen, ein inneres Heilmittel zu ge—
brauchen oder ſich auch nur das Haar ſchneiden zu
laſſen, fand man es nöthig, mit dem Himmel ſich zu
berathſchlagen. Die Bedeutung, welche man in
Zahlen zu finden meinte, deren Urſprung ganz von
willkürlichen Beſtimmungen abhängt, verſchaffte der
Furcht, es ſolle die Welt im Jahre 1000 unter—
gehen, einen die ganze Chriſtenheit umfaſſenden
Einfluß. Das blinde Vertrauen zu Prophezeiungen
richtete oft große Verwirrung an; in Krankheiten
nahm man häufig ſeine Zuflucht zu Männern und
Weibern, denen man übernatürliche Kenntniſſe zu—
traute und erhielt bald nutzloſe, bald verderbliche
Rathſchläge; wenn Krankheiten in einem Hauſe
Menſchen oder Vieh trafen oder ein ſonſtiges Uebel
ſich einſtellte, ſchrieb man die Urſache der Einwir—
kung böſer Menſchen oder anderer böſen Weſen zu
und litt folglich außer dem Unglück noch an der
Angſt vor unbekannten Mächten. Selbſt der im
Gemüthe des Menſchen vorgehende Wechſel, z. B.
der Liebe und ihrer Verwandlung in Abneigung,
ward häufig der Zauberei zugeſchrieben und über—
natürliche Hülfe dagegen geſucht; nicht ſelten wen—
dete man abſcheuliche Zaubertränke dagegen an.
Die Dunkelheit war mit Schrecken erfüllt; in Wäl—
dern und Gebirgen, bei Kirchen, in Einöden, in
ſelten beſuchten Gemächern hauſeten Zauberer, Er—
lenmädchen, Berggeiſter, Geſpenſter. Wehrwölfe
gingen in den Straßen umher; ja im Innerſten
der Wohnungen konnten böſe Mächte unſchuldige
Kinder in der Wiege austauſchen. Es iſt mir na—
türlicherweiſe nur möglich geweſen, einige wenige
Züge zuſammen zu faſſen, würdigt man ſie aber
einiger Aufmerkſamkeit, dann wird man leicht ein—
ſehen, daß ihr Einfluß mächtig ſeyn mußte. Will
161
man mir einwenden, daß alle dieſe Dinge hier fo zu—
ſammengehäuft dargeſtellt worden ſind, wie ſie dies
im Leben ſelbſt niemals zu ſeyn vermochten, ſo pflichte
ich dieſem bei. Zwar gab es nicht Wenige, die
ſich ihrem natürlichen Hange gemäß ſolchen Ein—
bildungen ganz beſonders hingaben — und ihnen
mußte das Daſeyn eine Art von Hölle ſeyn —
aber bei den meiſten Leuten konnten die zahlreichern
und weit ſtärkern Eindrücke, die ſie aus der wirk—
lichen Welt empfingen, jene Einbildungen über—
bieten und niederdämpfen, ſo daß ſie bei Einigen
nur eine vielfach unterbrochene, bei Andern ſelbſt
gar eine ſehr geringe Wirkſamkeit erhielten. Im
Ganzen aber ſtanden ſie den Lebensverhältniſſen
jener Zeiten weit näher, als es aus den dichteriſch
ſchönen Zügen erſcheinen mag, mit denen viele
Schriftſteller uns ein Bild des Mittelalters ent—
werfen. Es ſteht demnach feſt, darf ich behaupten,
der herrſchende Aberglaube durchdrang das Men—
ſchenleben mit einer Unruhe, einer Verwirrung,
oft mit einem Schrecken, die unſerer Zeit fremd
ſind, obgleich auch ſie das beſchimpfende Joch des
Aberglaubens noch nicht ganz abgeſchüttelt hat.
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 11
Ueber das vermeintlich Poetiſehe des Aberglaubens.
Noch muß ich eine Meinung über den Aber—
glauben berühren, welche ihn zum Schooßkinde
vieler Gebildeten macht: man ſagt, er ſey poetiſch
und klagt darüber, daß die genaue Kenntniß 1
Naturgeſetze unſere Auffaſſung proſaiſch mache.
liegt ein auffallender Mangel an Ehrerbietung =
Wahrheit und Wirklichkeit hinter dieſer Beſchuldi—
gung verſteckt; doch dabei wollen wir uns nicht auf—
halten, es wird hinreichen, wenn wir die Mißver—
ſtändniſſe löſen, worauf ſich dieſe Meinung gründet.
Es iſt nicht der Glaube an das Daſeyn übernatür—
licher Weſen in der Wirklichkeit des Alltaglebens,
der dieſe Weſen poetiſch macht, ſondern ſo weit
ſie poetiſch ſind, haben ſie ihren dichteriſchen
Werth und ihre Bedeutung dadurch, daß eine von
der Vernunft durchdrungene Einbildungskraft ſie
benutzt hat, ſchöne Bilder eines höhern Daſeyns
unſerer innern Anſchauung darzuſtellen. Dem
Dichter genügt es ſchon, daß dieſe Weſen für
unſere Einbildungskraft Wirklichkeit haben, wäh—
rend wir ſein Werk auffaſſen oder es in unſerem
163
Innern wiederholen. Er muß feinen Weſen ein
ſolches Leben eingehaucht haben, daß ſie auf un—
ſere Einbildungskraft zu wirken vermögen, bei uns
muß aber auch dieſe Kraft ſo lebendig ſeyn, daß
wir uns die vom Dichter gezeigten Bilder in uns
ſelbſt wiedererſchaffen können. Wie viele gibt es
wohl unter den Tauſenden, welche Shakeſpears
Macbeth oder Hamlet entzückten, die an die Wirk—
lichkeit von Heren und Geſpenſtern glauben? Es
iſt eine Erfahrungswahrheit ſowohl als ein Aus—
ſpruch der Wiſſenſchaft, daß der Glaube, deſſen
wir bedürfen, um die Darſtellungen des Dichters
von dem Uebernatürlichen zu genießen, während
des Genuſſes bei uns entſteht und unterhalten
wird. Das Verlangen nach anderer Wirklichkeit
iſt lächerlich und erinnert mich an einen Mann,
welcher, als er „den Tod Balders“ von Ewald
geleſen hatte, fragte: wo wohnte Nanna? worauf
er die paſſende Antwort erhielt: in dem Chriſten—
Bernikow-Gäßchen.! Ich weiß ſehr wohl, daß
ausgezeichnete Dichter in ihren Werken Perſonen
Es iſt hier die Rede von der Tragödie des däniſchen
Dichters Ewald, worin er die Liebe des Gottes Baldur
und der ſchönen Nanna ſehr ergreifend dargeſtellt hat.
164
eingeführt haben, welche lächerlich gemacht werden,
weil ſie nicht an übernatürliche Weſen glauben
wollten; wo aber eine ſolche Darſtellung gelungen
iſt, kann ſie nur gegen diejenigen gerichtet ſeyn,
welche die übernatürlichen Weſen aus der Dich—
tungswelt vertrieben wiſſen wollten, weil ſie die
dichteriſche Wirklichkeit mit der proſaiſchen, die
ihnen der Aberglaube beilegte, verwechſelten. In
ſo fern es der Dichter anders meint, verfällt er
in einen ganz proſaiſchen Irrthum.
Daß ein ſolches Mißverſtändniß indeß ſehr
ausgezeichnete Dichter irregeführt hat, iſt aller—
dings unläugbar. Es gab eine Zeit, wo der Ge—
danke ſowohl in Deutſchland und nachher in Däne—
mark bei vielen geiſtreichen und in gewiſſen Rich—
tungen hochgebildeten Männern Eingang gefunden
hatte, man würde der Religion und Poeſie durch
Wiedereinführung des Aberglaubens einen Dienſt
erzeigen. Dieſes Streben erhielt insbeſondere Kraft
und Leben dadurch, daß es als Gegenſatz gegen
eine damals herrſchende, ſehr proſaiſche Denkweiſe
in die Schranken trat. Der Zeitraum jener Thä—
tigkeit iſt nun vorüber; aber die geiſtigen Kräfte,
welche zur Führung des Streits für den Aber—
165
glauben dann und wann verwendet wurden, haben
nicht nur bei vielen eine Wirkung hinterlaſſen,
ſondern dieſer Streit wird oft dadurch erneut, daß
er uns in Werken jener Zeit, welche durch dich—
teriſchen Werth ſtets Leſer gewinnen werden, auf—
bewahrt iſt. Ich will am liebſten ein großes Bei—
ſpiel anführen: der Dichter Tieck gehörte in ſeinen
frühern Jahren unter diejenigen, die mit großer
Kraft die damals herrſchende proſaiſche Denkweiſe
angriffen und der dieß mit einem Geiſte und einem
Witze that, die ſtets Bewunderung finden werden;
doch läßt ſich nicht läugnen, daß ihn dieß Streben
eine Zeit lang ſo beherrſchte, daß er dadurch über
die Grenzen des Wahren hinausgeführt ward. In
einigen ſeiner Werke iſt ein Streben, der Aufklä—
rung zu trotzen, erkennbar; insbeſondere zeigt ſich
dieß in den Mährchen und Volkserzählungen, worin
er alte Fabeln mit dem Alltagsleben auf das in—
nigſte zuſammen arbeitet, und zwar in einer ſo
klaren und durchſichtigen Darſtellung, daß ſich das
Uebernatürliche darin gleichſam eine andere Wirk—
lichkeit als die der Dichterwelt ertrotzt. Wenn wir
dasjenige, was den Stoff im „blonden Egbert,“
im „Venusberge und den Elfen“ ausmacht, erzählt
11 *
166
in der unmittelbaren Auffaſſungsweiſe der Volks—
ſagen, welcher jede Gedankenentwickelung fremd iſt,
leſen oder noch beſſer hören, ſo verſetzt uns dieſes
in einen der alten Sagenzeit entſprechenden geiſtigen
Zuſtand, in welchem die innern Widerſprüche der
Erzählung und der ungeheure Streit des Stoffes
mit dem ganzen Daſeyn uns nicht eben gar zu
ſtark entgegentreten. Sobald wir jedoch die Be—
gebenheit uns weiter ausmalen und bei dem Stre—
ben alles in die uns wohlbekannte Wirklichkeit ein—
zupaſſen, es in zahlloſe Berührungen mit dem
Nachdenken bringen, dann fühlen wir den Wider—
ſpruch, ſelbſt wenn große Schönheiten des Gedichts
es verhindern, daß wir uns ſogleich Rechenſchaft
davon ablegen. Ein ſolches Gedicht macht in
ſeiner Geſammtheit einen Eindruck, als ob die
Welt von Mächten der Finſterniß regiert würde
und der Menſch ihr willenloſes Spielzeug ſey;
man wird, während man ſich dem Eindruck recht
hingibt, von einem unausſprechlichen Schauer er—
griffen und wenn man ſich dieſen nachher zurück—
ruft, da wird es einem ſo unheimlich zu Muthe,
als ob man eingeſperrt wäre in einer Welt des
Wahnſinns, wohin kein Funke der göttlichen
Vernunftregierung fein Licht über das bedrohte Men—
ſchendaſeyn fallen läßt. Es iſt keine hinreichende
Vertheidigung des Dichterwerks, daß deſſen Urhe—
ber mit vollem Vorſatze dabei zu Werke gegangen
iſt und mit ebenſo viel Geiſt als Kunſt jenes
Grauſen hervorgebracht hat. Seine Pflicht als
Dichter iſt es, uns in eine Welt des Schönen zu
verſetzen; dieſe ſchließt zwar nicht einen mächtig
erſchütternden Schauder aus, aber ſie duldet nicht,
daß die Macht der Finſterniß über das Licht herrſche.
Man hat, um den Irrthum zu beſtreiten, daß die
Dichtkunſt fremden, außer ihren eigenen Grenzen
liegenden Zwecken dienſtbar ſeyn ſolle, ſich gar zu
oft verleiten laſſen, derſelben eine wilde Freiheit
einzuräumen und zu vergeſſen, daß ſie nicht nach
ihrem wahren Weſen gehandelt habe, wenn ſie ſich
darauf beſchränkt, ſich uns in gewiſſen Schön—
heitsformen zu zeigen, ſondern daß es eine ganze
Schönheitswelt gibt, deren Geſetze ſie nicht
übertreten darf. Denn wenn ſie dieſen huldigt,
dann dient ſie aus eigener freier Kraft zugleich der
Religion, Moral und der menſchlichen Geſellſchaft,
deren inneres Weſen denſelben Urquell mit der
Schönheitswelt hat; ſie gelangt zur Harmonie mit
168
der ganzen Wirklichkeit, wie dieſe von unſern ver:
einten ſinnlichen und geiſtigen Kräften aufgefaßt
wird. Ich habe mich hier angetrieben gefühlt, die
mir von meinem nächſten Zwecke geſetzten Grenzen
zu überſchreiten, weil ich bemerkt habe, wie viel
trübe Ueberreſte alter Eindrücke ſich dem eigenen
Licht der Natur entgegenſtellen. Man muß die—
jenigen warnen, welche die höchſte Bildung zu zei—
gen meinen, wenn ſie die Ueberreſte jener Zeit zur
Schau tragen und ihnen ſagen, daß ſie ſich in
der Wirklichkeit nur mit dem Bodenſatz einer längſt
beendigten edeln Gährung etwas zu gute thun.
Ich habe mich oft ſehr darüber gewundert, daß
verſchiedene geiſtreiche Männer im Ernſt das Auf—
hören des Aberglaubens beklagt und ihn aufs neue
zu einiger Bedeutung wieder aufzurichten gewünſcht
haben; dieſes Streben aber hat den Fehler, daß
es Niemand Ernſt damit iſt, weder denen, welche
aus einer Art beſondrer Zuneigung die Sache des
Aberglaubens führen oder denen, welche dieſen
nachſprechen. Es läßt ſich mit gutem Grunde ſa—
gen, ſie meinen nur, daß ſie meinen und daß ihre
Anſtrengungen, ohne daß ſie ſich deſſen klar be—
wußt werden, nur dazu dienen das Reich der
169
Unwahrheit und des erlogenen Weſens zu er—
weitern.
Es iſt übrigens nicht meine Abſicht zu läugnen,
daß die Wiſſenſchaft verſchiedene Vorſtellungen des
Aberglaubens auf eine Weiſe vernichte, daß dieſe
nur unter ganz eigenen Bedingungen in den Dich—
terwerken unſerer Zeit brauchbar ſind. So iſt z. B.
die Einbildung, ein Drache wolle die Sonne ver—
ſchlingen, daß wir ihn aber durch Gebete, Opfe—
rungen oder Lärmen verſcheuchen können, viel poe—
tiſcher, wenigſtens nach unſerer ſeitherigen Vor—
ſtellungsweiſe als das Wiſſen, daß der Mond
zwiſchen uns und der Sonne durchgehe. Wer
aber möchte ſo unſinnig ſeyn, zu wünſchen, eine
ſo große und fruchtbare Wahrheit für die Aufrecht—
haltung jener falſchen Einbildung hinzugeben! Ich
weiß wohl, daß ſich Viele durch das verwirrende
Spiel, welches mit den Worten poetiſch und pro—
ſaiſch getrieben worden iſt, haben irreleiten laſſen.
Wie bekannt, iſt die urſprüngliche Meinung des
Wortes proſaiſch nur eine Bezeichnung der Rede—
beſchaffenheit, wodurch ſich dieſe vom Verſe unter—
ſcheidet; ſpäter aber hat man es ebenfalls ſehr
paſſend auf Alles angewendet, was ſich dem
170
dichteriſchen Geiſte feindlich zeigt, und ſo gebraucht,
bezeichnet es mit Recht etwas Niedriges und Geiſt—
loſes. Später aber iſt es auf eine ſehr unvernünf—
tige und irreleitende Weiſe zur Bezeichnung deſſen,
was nicht dichteriſch iſt, verwendet worden, wo—
durch denn die tiefſte Einſicht und das tiefſte
Wiſſen etwas Proſaiſches wird. Oft hört man
von Wahrheit und Wirklichkeit als von proſai—
ſchen Dingen reden, die der Poeſie weichen ſollen.
Diejenigen, welche dieſe Sprache führen, täuſchen
ſich ſelbſt durch den grundfalſchen Gedanken, daß
jede Auffaſſung des geiſtigen Inhalts des Da-
ſeyns, welche in der Dichtung eine anſprechende
Ausdrucksform findet, dieſer Form ausſchließend
angehören ſollte; und während man ſich doch nicht
verbergen konnte, daß die höchſten Ideen ſich auch
in der Wiſſenſchaft ausgedrückt und oft herrlich
ausgedrückt finden, verfiel man auf den verzwei—
felten Gedanken, dieß Alles für poetiſch zu erklären,
wie man gewiſſe eifrige Freimaurer alle Moral
für Freimaurerei und alle guten Menſchen für
Freimaurer erklären hört. In eben dieſem Geiſte
behauptete ein ausgezeichneter deutſcher Schrift—
ſteller (Fr. Schlegel), welcher ſeiner Zeit viel zu
171
dieſer Verwirrung beitrug, Spinoza ſey poetiſch.
Nein, Wahrheit und Wirklichkeit ſind als ſolche
weder poetiſch noch proſaiſch; der höchſte Auf—
ſchwung des Geiſtes gehört weder ausſchließlich der
Poeſie noch der Proſa an, ſondern er iſt gemein—
ſchaftliches Eigenthum; dem Heiligthum des Geiſtes
die Bezeichnung poetiſch vorbehalten zu wollen, iſt
ein verderblicher Mißbrauch der Sprache.
So kann es denn der Naturwiſſenſchaft nicht
zum Tadel gereichen, daß ſie verſchiedenen Stoff
vernichtet, der bisher von den Dichtern ange—
wandt worden iſt, ja wir finden kein Bedenken
hinzuzufügen, daß ſie auch andere der Dichterwelt
einverleibte Irrthümer, welche nicht Aberglauben
genannt werden können, vernichte; ſo würde ein
neuerer Dichter von Vorſtellungen wie: „die vier
Ecken der Welt,“ „die Grundlage der Erde,“ „die
Feſte des Himmels“ u. dgl. m. entweder gar keinen
oder wenigſtens nur einen ſehr beſchränkten Ge—
brauch machen können, weil ſolche falſche Vor—
ſtellungen als Bilder des Richtigen unbrauchbar
ſind, welches dagegen mit vielen anderen nicht ſo
der Fall iſt, z. B. mit „Auf- und Untergang der
Sonne“ u. a. m. Wenn aber auch die Welt der
172
Dichtung nicht vollkommenen Erſatz für ſolche Ver—
luſte erhielte, ſo würden Klagen darüber dennoch
ſehr unſtatthaft ſeyn, denn es bleibt doch immer
die Hauptſache, daß unſer geiſtiges Daſeyn durch
Einſichten, welche die Irrthümer vernichten, er—
höht und veredelt werde. Dergleichen Verluſte wer—
den übrigens für den wahren Dichter wenig Be—
deutung haben, wohl aber peinlich ſeyn für manche
Profeſſioniſten der Dichtkunſt, welche meinen einen
an ſich unbedeutenden Gedanken durch Einkleidung
in Prachtſtücke aus der Rüſtkammer einer ver—
ſchwundenen Zeit poetiſch gemacht zu haben. Es
gibt wohl Manchen, der etwas Großes zu ſagen
meint, wenn er uns verſichert, daß er das was
die Wiſſenſchaft als Erſatz bot, nur unbedeutend
finde; aber ich antworte darauf, daß der, welcher
ſo ſpricht, hiermit erklärt, daß ihm eine gewon—
nene tiefere Einſicht keine geiſtige Freude verur—
ſache, und daß es z. B. für ihn von wenigem
Intereſſe ſey, daß wir mit ſo bewundrungswür—
diger Klarheit die Mechanik der Welt durchſchauen,
und die kosmiſchen Verhältniſſe entfernter Jahr—
hunderte vorauszuſehen vermögen. Es möge ſolchen
geſagt ſeyn, daß es ihre eigene Stumpfheit ſev,
173
welche ſie der Freude über Einſichten beraubt, auch
wenn ſie ſich beträchtlicher Fähigkeiten in andern
Richtungen zu rühmen hätten; ſie ſind entweder
von der Natur oder eher noch durch eigene Schuld
von einer Weihe ausgeſchloſſen, welche denjenigen
dem ſie zu Theil wird, immer mit hoher Freude
erfüllt.
Da die Herrlichkeit der Wiſſenſchaft hinreichend
durch ihr eigenes Weſen bezeugt iſt, ſo ward hier bis
auf Weiteres angenommen, daß ſie nur durch Mit—
theilung von Einſicht, nicht aber dadurch daß ſie
der Dichterwelt Etwas ſchenkte, dieſer einen reich—
lichen Erſatz für das gegeben habe, was ſie ihr
raubte; wir dürfen jedoch nun auch darauf hin—
deuten, daß die Wiſſenſchaft der Dichterwelt einen
wahrhaften Erſatz für das anzubieten hat, was
ſie ihr vernichtet. Einiges von dieſem Erſatz hat
dieſelbe auch ſchon längſt in ſich aufgenommen,
z. B. die Kugelgeſtaltung der Erde, zu deren Er—
kenntniß bereits die Wiſſenſchaft des Alterthums
geführt hatte; nicht nur dem Denken, ſondern auch
dem Schönheitsſinne muß dieſe Vorſtellung etwas
Befriedigenderes darbieten, als die: es ſey die
Erde flach, viereckig oder ſcheibenförmig. Es hat
174
die dichteriſche Auffaſſung dann und wann die
großen Wahrheiten ergriffen: von der Erde, welche
in ihrer Bahn um die Sonne wandert, von den Pla—
neten, als bewohnbaren Weltkörpern, von den Sir-
ſternen, als entfernten Sonnen, leuchtenden und er—
wärmenden Mittelpunkten, für den Kreislauf unbe—
kannter bewohnbarer Weltkörper. Iſt der Gedanke
von dem freiſchwebenden, von unſichtbaren Kräften
getragenen, im Weltraum weit umher wandernden
Erdball, in Beziehung auf den Schönheitsſinn, nicht
ein reichlicher Erſatz für den unverrückbaren Grund—
bau der Erde? und iſt nicht die Ausſicht in die
unendliche Mannigfaltigkeit von Welten, voller
Leben und Gedanken, ein reicher Erſatz für das
feſte Himmelsgewolbe? Es iſt wahr, die dichteriſche
Einbildungskraft hat die neuern Einſichten bei
weitem nicht ſo fleißig benutzt, als die alten Vor—
ſtellungen; aber hierzu hat ja das ſtets fortſchreitende
Menſchengeſchlecht noch eine lange Zukunft vor
ſich. Mittelſt der Wiſſenſchaft erzählt uns die
Erde ihre eigene Geſchichte, von fernen Zeiten, die
dem Dafeyn des Menſchengeſchlechtes weit voraus—
gingen. Dieſes iſt der dichteriſchen Auffaſſung zwar
nicht fremd geblieben, dennoch aber nur wenig von
175
ihr benutzt. Aber die Lehre von der Entwickelung
des Erdballs gibt mit jedem Jahre neue und rei—
chere Ausbeute; ſie erzählt uns von einer Zeit, wo
ein ungeheures erhitztes Meer ihn noch bedeckte, von
den erſten Inſeln, welche in demſelben auftauchten,
und der fortſchreitenden Inſelbildung, von den
ſtummen Thieren, und den blumenloſen Gewächſen
auf dem jungen, von keinem Laut belebten, und
von keinem Farbenſpiel verſchönerten, Erdrunde;
ſie zeigt uns, wie ſich durch eine Reihenfolge von
Entwickelungen größere Landſtriche gebildet haben,
ja ſie fängt bereits an, uns von den Grenzen
derſelben zu erzählen. Auch der fortſchreitenden
Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs ge—
denkt ſie, und zeigt uns die wunderbaren Geſtal—
ten, welche nach einander hervorgebracht, getödtet
und begraben wurden, unter ſteter Vorbereitung
zu einer vollkommeneren Schöpfung. Eine Man—
nigfaltigkeit von weniger inhaltreichen wiſſenſchaft—
lichen Entdeckungen hat außerdem Eingang in die
Dichterwelt gefunden, z. B. der Magnet, das
Schießpulver, die Sonnenflecken, der erborgte Schein
des Mondes, die Geſchwindigkeit des Lichts, die
Ableitung des Blitzes, das Athemholen der Gewächſe,
176
die unſichtbare Thierwelt im Waſſertropfen, die
Weingährung u. ſ. w. Das Verhältniß, in welches
der Menſch, als Entdecker der Geheimniſſe der Na—
tur, zu dieſer, zu dem ganzen Menſchengeſchlechte
und zu ſich ſelbſt tritt, iſt bis jetzt nur noch
ſpärlich benutzt worden. Sollte es für einen
Dichter nicht der Mühe würdiger ſeyn, den gei—
ſtigen Zuſtand zu ſchildern, worin der Mann ſich
befand, welcher ſich zuerſt in den wiſſenſchaftlichen
Beſitz des Fernrohrs geſetzt hatte, und vermittelſt
deſſelben Monde eines fremden Planeten, Berge
in unſerem Monde u. ſ. w. entdeckt hatte? Sollte
ſein größerer und hellerer Blick in das weite Gebiet
des Daſeyns hinaus, ſein Bewußtſeyn, das Men—
ſchengeſchlecht mit einem großen Zuwachs von Ein—
ſicht bereichert zu haben, ſeine Ueberzeugung, daß
er nun der Sterndeuterei, und manchen andern
mit den Himmelsverhältniſſen zuſammenhängenden
Irrthümern, den gewiſſen Untergang bereitet habe,
nichts Reizendes für den Dichter haben? Sollte
es der Mühe nicht werth ſeyn, den Menſchen das
innere Hochgefühl zu ſchildern, welches in einem
Geiſte herrſchen mußte, dem es glückte, ſo große
Naturgeheimniſſe zu entſchleiern und der es vor—
177
ausſieht, daß ſein Streben dem Menſchenge—
| ſchlechte fo köſtliche Früchte bringen werde? Etwas
ähnliches würde jede der größern und umfaſſenderen
Entdeckungen auffinden laſſen, wenn auch nicht in
gleichem Grade auſchaulich bei allen; aber ſelbſt
die anſchaulichſten ſind nur ſelten fruchtbringend
für die dichteriſche Darſtellung geworden. So iſt
es namentlich merkwürdig, daß die Entdeckung der
elektriſchen Natur des Gewitters keinen großen
Dichter zur begeiſternden Darſtellung erweckt hat.
Die Entdeckung war die Frucht wiſſenſchaftlichen
Denkens, ward aber durch eine Heldenthat in die
Welt eingeführt; denn der Erfinder leitete das
elektriſche Feuer der Gewitterwolke durch eine
Handlung herab, durch welche er ſein Leben wagte.
Sein junger Sohn war ſein Gehülfe: man denke
ſich die innere Spannung des Erfinders vor dem
Verſuch, die unſchuldige oder heldenmüthige Theil—
nahme des Sohnes, das Siegesgefühl nach dem
Verſuch. Was die Theilnahme des Sohnes betrifft,
ſo ſteht dem Dichter die Wahl frei, ob er vorausſetzen
will, der Vater habe der Gefahr gar nicht gegen ihn
gedacht, oder er habe ihm dieſe mitgetheilt, aber um
ihn auf die Probe zu ſtellen, ihm die Vorkehrungen
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 8 12
178
verſchwiegen, die er zu feiner Sicherſtellung ge-
troffen, während er ſich ſelbſt nothwendigerweiſe
der Gefahr ausſetzen mußte. Man denke ſich
ferner, das wiederholte Geſchrei des Vorurtheils
gegen die Blitzableiter, aber zugleich die Ver—
nichtung des Letztern, als die Sache in der Er—
fahrung eine große Bekräftigung fand; unter andern
bietet die Wirklichkeit hier einen Zug dar, den kein
Dichter beſſer hätte erfinden können. In Siena
war ein Kirchthurm oft vom Blitze beſchädigt worden;
die Kirchenvorſteher gaben demſelben einen Ab—
leiter; die Knechte des Aberglaubens ſchrieen dagegen,
und nannten die Blitzableiter die Ketzerſtange; ein
Gewitter zog auf, der Blitz ſchlug in den Thurm
ein; die Menge ſtrömte herbei, um zu ſehen, ob
der Ableiter die Kirche beſchützt habe, und ſiehe,
er hatte ſeine Macht ſo vollkommen erwieſen, daß
nicht einmal das Geſpinnſt, welches eine Spinne
daran gefertigt hatte, im Mindeſten beſchädigt
worden war.
Es iſt natürlich, daß derjenige, welcher ſich in
der alten Anſchauungsweiſe gleichſam feſtgelebt hat,
ſich wenig befriedigt finden wird durch den Erſatz,
welchen ihm eine neue für ſeinen Verluſt anbietet,
179
/
und noch weniger wird er zugeben, daß dieſer Erſatz
unausſprechlich reich ſey und ſeinen Verluſt unend—
liche Male überwiege. Eine ſolche Ueberzeugung
läßt ſich zwar durch einzelne bedeutungsvolle Bei—
ſpiele vorbereiten, nicht aber ausbilden; erſt nach
und nach wird ſie allgemeiner werden und am Ende
ſiegen, je nachdem ſich die Naturwiſſenſchaft in
einer ſolchen Weiſe verbreitet, daß ſie nicht nur
Sache des Verſtandes wird, ſondern zugleich die
Einbildungskraft befruchtet. Nur vermöge einer
ſolchen geiſtigen Entwickelung wird ſich der alten
Dichterwelt gegenüber eine neue aufthun, geiſtig
vielleicht, von nicht geringerer Bedeutung als
die war, welche die Entdeckung eines neuen
Welttheils der ſogenannten alten Welt gegen-
über hatte.
Dieſer Entwickelung wird es an einem geſetz—
lichen und ſicherlich großen Einfluß auf den Gebrauch
der alten Dichterwelt nicht fehlen; unter andern
wird ſich dadurch ein feinerer Takt bilden für die
Vernunftharmonie, welche, ob auch dem Auge der
Menge noch ſo verborgen, ſelbſt in der freieſten
Dichtung herrſchen muß, und dadurch würde die
wilde Freiheit, welche die gedankenloſe Menge oft
180
für hohe Originalität nimmt, mehr und mehr ihre
Bewunderer verlieren.
6.
Die Wirkungen des Unglaubens.
Wir haben uns lange bei den Wirkungen des
Aberglaubens und den falſchen Geiſtesrichtungen,
welche denſelben begünſtigen, verweilt. Bei den
Wirkungen des Unglaubens werden wir uns ſo lange
nicht aufzuhalten haben, obgleich auch ſie höchſt
verderblich ſind; da er aber ſeinem Urſprunge
(ſiehe S. 147 ff.) gemäß aus dem Unterſuchungs—
geiſte hervorgeht, ſo trägt er hierdurch zugleich
den Keim des eigenen Untergangs in ſich und ge—
winnt daher weder eine ſo dauernde, noch eine ſo
verbreitete Herrſchaft, als der Aberglaube. Wir
haben geſehen: der Unglaube beſtehe in einem Hange,
dasjenige zu verwerfen, was die Menſchen über
geiſtige Dinge anzunehmen pflegen, inſofern man
ſich ſolche durch einen unmittelbaren inneren Sinn
zueignet und nicht durch Denken ſie klar beweist;
er entſteht auf Veranlaſſung der zahlreichen Fälle, in
denen die wiſſenſchaftlichen Entdeckungen Meinungen
181
widerlegen, welche man ohne Unterſuchung ange—
nommen hatte. Zwar werden im Laufe der Unter—
ſuchungen viele Meinungen gleichfalls widerlegt,
zu welchen man durch frühere Unterſuchungen ge—
langt war; aber es iſt hier das Denken ſelbſt,
das ſeine Irrthümer berichtigt; zu geſchweigen,
daß es in einer langen Reihe von Menſchenaltern
insbeſondere die Irrthümer des Aberglaubens ſind,
die das Denken zu beſeitigen hat. Es iſt natür—
lich, daß dieſes Zweifel gegen die ganze Denkweiſe
erzeugt, welche ſo häufig auf Verirrungen ertappt
wird. Der Zweifel geht leicht in Mißtrauen über
und dieſes erzeugt bei Vielen einen übermäßigen Hang
zum Verwerfen; dazu kommt noch ein erhöhtes
Gefühl von der Macht des Denkens, welches an
ſich ſo herrlich iſt, aber bei Vielen in Uebermuth
ausartet. Das durch ſo vielfache Befreiung vom
Naturzwange aufkommende Freiheitsgefühl artet
bei Andern nicht weniger zu einer wilden, jede
Schranke verachtenden Freiheitsluſt aus, und je
nach dem Grade dieſer Ausartung entſpringt aus
derſelben eine Verwerfung aller Religion, eine
eingebildete Weisheit, welche ſich über die Tugend—
und Pflichtbegriffe erhoben dünkt, obſchon ſie es
182
gerne ſieht, daß andere ſchwächere Geiſter ſich den—
ſelben unterwerfen. Daß die Poeſie bei ſolcher Auf—
faſſungsweiſe nicht blühen könne, begreift ſich leicht.
Die Anhänger des Unglaubens finden ſich durch
den Unverſtand, den ihnen die Freunde des Aber—
glaubens entgegenſetzen, oft beſtärkt; dieſer Unver—
ſtand geht leicht in Verfolgung über, welche dem
Irrthum ein gewiſſes Werthgefühl verleiht, ſo—
wohl dadurch, daß der Verſtand jede Gewalt,
welche an die Stelle der Ueberzeugungsmittel treten
will, verachten muß, als durch das Bewußtſeyn,
für die Wahrheit zu leiden. Es gibt eine gewiſſe
Entwickelungsſtufe, auf welcher es zunächſt die
hochbegabteſten Geiſter find, welche am kräftigſten
gegen den Aberglauben eifern und ſich in dieſem
Eifer zu Uebertreibungen hinreißen laſſen, welche
zwar nicht gerade aus Unglauben entſpringen, aber
leicht Anlaß geben, daß ſolche Männer in der
Verwirrung der Zeit und unter den Parteikämpfen
auf der Seite des Unglaubens zu ſtehen ſcheinen.
Inſoweit der Unglaube in einem Zeitalter die Ober—
hand erlangt, geht dieſes ſeinem Verderben ent—
gegen: die Sittlichkeit wird untergraben und dem—
nächſt gering geſchätzt. Alle die geheimen Bande,
183 a
welche die Familien und den Staatsverein zuſam—
menhalten, werden aufgelöst: alles Heilige wird
verhöhnt; zu dem Unglauben geſellt ſich nunmehr
der Verfolgungsgeiſt, wie derſelbe früher bei dem
Aberglauben war; aber dieſer Zuſtand trägt den
Keim ſeines eigenen Untergangs in ſich, und wenn
die geiſtigen Kräfte ihn nicht aufzuheben vermögen,
endigt er ſich mit großen Umwälzungen und Wie—
dergeburten des bürgerlichen Vereins, welche be—
kanntlich von ſolchen Geburtswehen begleitet find,
daß ſie als ungeheure Strafgerichte der Entartung
betrachtet werden müſſen.
Es verſteht ſich, daß weder der Unglaube noch
der Aberglaube in irgend einem Zeitalter eine aus—
ſchließliche Herrſchaft erlangen kann. Die unſerm
Weſen einwohnende Vernunft, im Verein mit der
belehrenden Einwirkung der ganzen Umwelt, läßt
es nicht dazu kommen, daß die Mehrzahl der
Menſchen ſich ganz einer der beiden Einſeitigkeiten
hingibt, obgleich Wenige nur im Stande ſind, ſich
vollkommen davon frei zu halten. Auf ſolche Weiſe
iſt vermöge einer höhern Natureinrichtung dafür
geſorgt, daß das Böſe keine uneingeſchränkte Ober—
hand behält, ſondern daß Keime einer neuen und
184
edlen Entwickelung übrig gelaſſen werden, [jelbit
wenn ein Uebel bis zu einer ſolchen Macht heran—
gewachſen iſt, daß große Umwälzungen nothwen—
dig werden.
1.
Wie die Uaturwiſſenſchaft dem Aberglauben entgegenwirke.
Es ſcheint, die Meiſten ſetzen die von der Na—
turwiſſenſchaft auf die Ausrottung des Aberglau—
bens ausgeübte Wirkung vornehmlich darein, daß
ſie abergläubiſche Meinungen vernichte. Dieſer
Dienſt iſt zwar überaus wichtig, aber nicht der
einzige; ich würde ſagen, daß er nicht einmal der
wichtigſte ſey, wenn er nicht der Ausgangspunkt
aller der andern wäre. Man wird leicht ſehen,
daß diejenige Handlung des Unterſuchungsgeiſtes,
vermöge welcher eine abergläubiſche Einbildung
ausgerottet wird, nicht nur den Gewinn mit ſich
führt, daß eine ſolche beſondere Einbildung ver—
ſchwindet, ſondern auch zugleich den, daß ein
Nachdenken entſteht, welches gegen andere, ihr
verwandte, mißtrauiſch macht. Dieſe wichtige Ne—
benwirkung wird meiſtens nur in geringem Grade
185
durch die Vernichtung einer abergläubiſchen Ein—
bildung hervorgebracht, wohl aber wird ſie durch das
Zuſammenwirken mehrerer Entdeckungen in einem
ſchnell wachſenden Verhältniß verſtärkt. Man denke
ſich nur vorerſt den Aberglauben verſcheucht, nach
welchem eine Sonnenfinſterniß andeuten ſollte, daß
ein Drache die Sonne verſchlingen wolle. Gewiß
wird dieß auf das Nachdenken Vieler ſeine Wirkung
äußern, aber der Eindruck davon wird bei der
Mehrzahl bald geſchwächt werden und ſich nicht.
zu fortgeſetztem Nachſinnen erweitern. Der Aber—
glaube hat einen Sonnengott, der ſich jeden Abend
in dem Meer zur Ruhe begibt und am nächſten
Morgen ſeine Bahn von Neuem beginnt. Die
Wiſſenſchaft lehrt, die Erde ſey eine Kugel, um
welche das Tageslicht in dem Laufe von 24 Stun—
den von Oſt nach Weſt hinüberrückt. Der Aber—
glaube nimmt an, es könne der Feuerwagen der
Sonne bei zu großer Annäherung an die Erde dieſe
anzünden: die Wiſſenſchaft belehrt uns, die Sonne
ſey weder ein Feuerwagen, oder werde willkürlich
gelenkt, noch komme ſie der Erde nahe. — Der
Aberglaube hatte ſeine Mondgöttin, welche eben—
falls viele Wirkungen auf die Erde ausübte: die
186
Wiſſenſchaft lehrte, daß auch der Mond eine Kugel
ſey und ſeine beſtimmte Bahn habe. Mehrere ſolcher
Vernichtungen abergläubiſcher Meinungen mußten
bei Vielen den Gedanken hervorrufen, der ganze
Lauf des Himmels ſey beſtimmten Geſetzen unter—
worfen, wodurch die Meinungen, welche Himmels—
begebenheiten vorausſetzten, die aus einer willkür—
lichen Wirkung der Götter hervorgehen, als nichtig
ſich erwieſen. Ehe ich weiter gehe, will ich einem
Mißverſtändniß begegnen, zu welchem in dem
Vorhergehenden durchaus keine Berechtigung liegt;
ich will es ausſprechen, daß nicht die dichteriſche
Bedeutung der beſprochenen mythologiſchen Vor—
ſtellungen es ſey, welche ich hier als Aberglauben
bezeichne, ſondern die in Wahrheit proſaiſche Auf—
faſſung, welche über dieſelben Gegenſtände im All—
tagsleben vormals herrſchend waren. Nach dieſer
vielleicht überflüſſigen Bemerkung gehe ich in mei—
ner Betrachtung weiter. Der Gedanke, daß die
Begebenheiten des Himmels nach beſtimmten Ge—
ſetzen vor ſich gehen, erhielt nicht ſogleich ſeinen
vollen Umfang: er blieb im Gegentheil viele Jahr—
hunderte hindurch innerhalb einer engen Begrenzung
ſtehen, welche große Zufälligkeiten geſtattete. —
187
Selbſt diejenigen, die den Lauf der Himmelskörper
kannten, wurden z. B. von den Kometen noch
immer in Schrecken geſetzt. Erſt vor etwa andert—
halb Jahrhunderten befreite die Wiſſenſchaft die
Aufgeklärten von dieſer Furcht, welche jedoch weit
ſpäter aus den Gemüthern der größern Menſchen—
maſſe verjagt ward, als es weltkundig geworden,
daß die Rückkehr eines Kometen über 75 Jahre vor
ihrem Eintreffen richtig vorausgeſagt worden war.
Lange glaubte man, daß ſich das Schickſal eines
Menſchen aus der Stellung der Geſtirne bei ſeiner
Geburt vorherſagen laſſe. Die vollkommene Ge—
wißheit, daß die Planeten Weltkörper wie die
Erde, und die Firſterne Sonnen ſind, ſtellte dieſe
Einbildung in ihrer ganzen Lächerlichkeit dar. Dieſe
Beiſpiele von der Wirkungsweiſe der Wiſſenſchaf—
ten gegen den Aberglauben belehren uns, daß es
nicht bloß die Gewohnheit war, vielfache abergläu—
biſche Meinungen vernichtet zu ſehen, die am ſtärk—
ſten gegen den Aberglauben wirkte, ſondern viel—
mehr die Erkenntniß, welche bei einigen zur inneren
Einſicht geworden, bei der Menge etwas von außen
Vernommenes war: daß der Himmelslauf durch
Naturgeſetze beſtimmt werde. Dieſe Wirkung ſtieg
188
zu einer immer wachſenden Höhe, ſowie man zu
einer mehr vollkommenen Einſicht von der Klarheit
der Naturgeſetze gelangte. Die klare Auffaſſung
des wahren Weltſyſtems machte es unmöglich, eine
oder mehrere feſte Himmelswölbungen anzunehmen,
wie dieß früher geſchehen war; aber dadurch fielen
mancherlei Vorſtellungen vom Himmel oder den Him—
meln weg, Vorſtellungen, welche bei Vielen mit
ihrer Religion zuſammengewachſen waren, obgleich
mit Unrecht, da die körperliche Bedeutung der
Ausſagen von einer Wohnung Gottes und der
Seligen u. ſ. w. ja in allen Fällen verworfen
werden mußten und nur eine geiſtige Bedeutung
des Wortes als gültig anzunehmen war. Endlich
mußte die durch Newton begründete Einſicht der
Naturnothwendigkeit der himmliſchen Bewegungs—
geſetze die Ueberzeugung noch erhöhen, daß bei
den Weltenbewegungen keine willkürlichen Verän—
derungen zuläſſig ſeyen. Man ſieht nämlich daraus,
daß alle jene Geſetze Vernunftgeſetze ſind, bei
weitem höher zwar, als unſer Geiſt ſie hätte er—
finden können, dennoch göttliche Vernunftvorſchrif—
ten, welche wir zu unſrem hohen Glück zu begreifen
vermögen. Dieſe Ueberzeugung empfängt eine
189
unüberwindliche Stärfe dadurch, daß ſie auf einer
ſolchen Einſicht beruht, in welcher Gedanke und
Anſchauung auf das Innigſte vereinigt ſind. Ich
habe dieſe zuſammenhängende Reihe von Beiſpielen
gewählt, weil dadurch vielfältige Glieder in der
Wirkungsweiſe der Naturwiſſenſchaften gegen den
Aberglauben beleuchtet werden; daß dieſelbe näm—
lich zuerſt durch Vernichtung abergläubiſcher Ein⸗
bildungen ſich bethätigt, demnächſt durch das Be—
gründen der Gewohnheit manche abergläubiſche
Meinung in Zweifel zu ziehen, ferner dadurch,
daß ſie es nachweiſet, daß ein großer Theil von
Naturwirkungen nach Geſetzen geordnet ſey, deren
Einheit, Zuſammenhang und unbeſchränkter Um—
fang, deren Nothwendigkeit als eine Vernunft—
nothwendigkeit, als ein unveränderlicher Gottes—
wille durch ein tiefer eindringendes Forſchen klar
gemacht wird. Dieſes Alles wiederholt ſich in der
Wirkungsweiſe der übrigen Theile der Naturwiſſen—
ſchaft, obgleich es ſchwierig ſeyn dürfte, eine andere
eben ſo leicht zu überſchauende Reihe von Beiſpielen
zu finden; aber dieſe eine Reihe wird den nach—
folgenden Beiſpielen einen Theil der ihnen nöthi—
gen Beleuchtung verſchaffen.
190
Unter die Begebenheiten, in denen die Menſchen
geneigt geweſen find, Aeußerungen einer menfch-
lich willfürlichen, ich möchte faſt ſagen, launen—
haften Machtvollkommenheit der Gottheit zu ſehen,
gehören die Witterungsveränderungen. Daß Gott
Regen oder Dürre, Ungewitter oder Stille, in
der Art wie ein irdiſcher Herrſcher, Wohlthaten
oder Strafen austheilt, verhängen ſollte, iſt eine
Einbildung die ſich bis auf unſere Tage bei der
Menge behauptet hat, und vielleicht ſobald noch
nicht verſchwinden wird. Mittlerweile zeigt es
ſich bei jedem unſerer Fortſchritte in der Kennt—
niß der Luftbegebenheiten, daß dieſe nach allgemein
gültigen Naturgeſetzen vor ſich gehen: die Wärme
kann an einem Orte nicht ungewöhnlich groß
werden, ohne ſich an einer andern zu vermin—
dern; die Richtung die der Wind in einem Lande
nimmt, iſt von denen abhängig, die in allen
andern Statt finden; dieſelbe Veränderung, welche
in dem einen Lande Dürre verurſacht, gibt dem
andern Ueberfluß an Regen. Je vollkommener die
Allgemeingültigkeit der Geſetze, wonach dieß alles
geſchieht, eingeſehen und die Kenntniß davon ver—
breitet wird, um ſo mehr wird jene abergläubiſche,
191
der Gottheit unwürdige Meinung von einer will—
kürlichen Vertheilung ſolcher Naturwirkungen ver—
ſchwinden. Unter den abergläubiſchen Anſichten
dieſer Art hatte zu den verſchiedenſten Zeiten, die
Einbildung, daß Gott ſeinen Zorn im Donner und
Blitz äußere, die größte finnliche Stärke. Die Ent—
deckung der elektriſchen Natur des Blitzes und ins—
beſondere die Erfindung ſeiner Ableitung vernichtete
jenen Aberglauben aufs kräftigſte, in gewiſſen Rich—
tungen aber langſam genug; denn der Gedanke be—
wegt ſich gleich der Elektricität nur in guten Lei—
tern mit Blitzesſchnelle; wie aber die ableitende
Wirkung des Blitzableiters ſich bald hier, bald
dort der ſtumpfen Menge in gehöriger Nähe zeigte,
mußten die Vorurtheile derſelben davon erſchüttert
werden. In einem der Seite 178 angeführten Fälle
mag die Begebenheit als ein Wunder auf die Men—
ſchen gewirkt haben; und wir wiederholen es:
manches Vorurtheil vernichtete der Blitz, welchem
ein Ableiter ſeine Bahn vorſchrieb.
Ich habe dieſes wohlbekannte Beiſpiel beſon—
ders darum hervorgehoben, um die Aufmerkſam—
feit darauf hinzuleiten, daß die Aufklärung, mit
der die Naturwiſſenſchaft den Aberglauben zerſtreut,
192
oft zwar mit bedeutungsvoller ſinnlicher Kraft wirke,
ſelten aber mit einer ſo mächtigen als hier, ob—
gleich zu jeder Zeit Erfahrung und Verſuche mit
vielem Nachdruck reden. Ich werde noch einige
Beiſpiele anführen: verſetzen wir uns zurück in
den erſten Theil des ſiebenzehnten Jahrhunderts.
An einem Orte in Frankreich fiel ein Blutregen.
Einige Mönche fingen ſchon an dieſe Begebenheit
als ein ſchreckliches Zeichen des göttlichen Zorns
zu deuten; aber ein Naturforſcher (Peiresc) zeigte,
daß die ſogenannten Blutstropfen auch an Stellen
ſich befanden, die unter Dach waren, wo folglich
kein Regen fallen konnte, und daß ein Schwarm
Inſekten ſie verurſacht habe. Man hat ſich be—
kanntlich noch öfter durch andere Erſcheinungen
zu ähnlichen Einbildungen verleiten laſſen, und
z. B. rothe, vom Regen rein geſpülte und ange—
ſchwollene Moosarten, für Produkte eines Blut—
regens angenommen, ein Irrthum den die Natur—
kundigen ebenfalls berichtigten. Die ſogenannten
Steinregen haben natürlich häufigen Anlaß zu
abergläubiſchen Einbildungen gegeben. Die Natur-
wiſſenſchaft hat uns wohl nicht alle wünſchens—
werthen Aufklärungen hierüber gegeben, aber doch
193
genug gethan, um die Sache dem Aberglauben zu
entziehen; indem ſie einige der Geſetze nachwies,
denen jene Erſcheinung gehorcht und uns gelehrt
hat, daß die Meteorſteine faſt ſämmtlich diefel- -
ben chemiſchen Beſtandtheile haben.
Einen wichtigen Theil ihrer Kraft zeigt die
Naturwiſſenſchaft durch ihr Eindringen in die viel—
fachen Künſte des Erwerbs, und ſie trägt eben
dadurch vieles bei, abergläubiſche Meinungen zu
verdrängen, ſo wie — was noch wichtiger iſt —
die Gewohnheit des Nachdenkens zu verbreiten
und zu ſtärken. Wie allgemein war unter den
Bergleuten nicht der Aberglaube! ihre Beſchäfti—
gung führte ſo viel Unerklärbares, Dunkeles, Ge—
fahrvolles mit ſich, daß der Aberglaube ſich ihrer
leicht mußte bemächtigen können. Ohne leugnen
zu wollen, daß immer noch eine Menge Aberglauben
bei ihnen zurückgeblieben iſt, insbeſondere unter
den ungebildeten, zu denen nur einzelne Reſultate
der Wiſſenſchaft gelangen und zwar durch viele
Mittelglieder, mußte doch das Licht, welches die
Wiſſenſchaft nach und nach über den innern Bau
der Gebirge und alle Theile der Erzbehandlung
anzündete, eine bedeutungsvolle, jedem Aber—
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 9 13
194
glauben feindliche Einſicht, verbreiten, inſonderheit
bei allen denen, welche nicht auf der niedrigſten
Stufe ſtehen. Aber ſelbſt auf dieſe müſſen die
Entdeckungen der Wiſſenſchaft einen Lichtſchimmer
haben fallen laſſen; unter andern war es ein
früherer Glaube unter den Bergleuten, daß bos—
hafte Geiſter ſie über den Haufen würfen und ſie
in den Bergwerken erſtickten, oder eine knallende
und zerſtörende Feuererſcheinung hervorbrächten.
Die Naturwiſſenſchaft hat, durch Verbreitung der
Bekanntſchaft mit den dem Athemholen unzuträg—
lichen Luftarten und namentlich mit der Knallluft,
noch mehr aber dadurch, daß ſie dem Bergmanne
die Sicherheitslampe in die Hand gegeben, jener
alten Geſpenſterfurcht kräftig entgegengewirkt.
Wie unvollkommen unſere Kenntniß von der
Natur der Gährung auch immer genannt werden
möge, ſo hat doch die Einſicht, welche wir uns
in die Naturgeſetze erworben haben, welche dabei
wirken, viele Dunkelheiten zerſtreut, und den Er—
werbszweigen, in denen ſie Anwendung findet, große
Vortheile zuwege gebracht. Dadurch verſchaffte
dieſe Kenntniß ſich einen faſt nothwendigen Ein—
gang bei den Branntweinbrennern, Brauern u. ſ. w.,
195
deren viele nur durch die zu hoffenden Vortheile
ſich zur Erwerbung einiger naturwiſſenſchaftlicher
Einſichten haben beſtimmen laſſen; aber außer dem
Nachdenken, welches dieß Bemühen mit ſich führte,
und welches als die Haupſache dabei erſcheint, ſind
dadurch zugleich auch verſchiedene abergläubiſche Ein—
bildungen unmittelbar vernichtet worden. Es iſt
mir aus meiner Jugend noch ſehr wohl erinnerlich,
daß Leute, welche Branntweinbrennerei betrieben
und viele Unfälle dabei erfahren hatten, dieſe
einer feindlichen Zauberkunſt beimaßen, ja ihren
Verdacht auf beſtimmte Perſonen warfen. Gegen—
wärtig, wo man mit Hülfe der Wiſſenſchaft mit den
Geſetzen dieſer Gährungsart vertraut geworden iſt,
auch allgemeinfaßliche Vorſchriften über die Ver—
fahrungsweiſe hat, welche verſchiedene dabei ein—
tretende Umſtände nöthig machen, wird man in
den meiſten Fällen ſolchen Unfällen entgehen, und
wo ſie ſich zutragen, den Grund davon auffinden.
In lange verſchloſſenen Kellern waren vormals Ba—
ſilisken vorhanden, welche man nicht ſah, deren
Blick aber den Menſchen tödtete, den er traf. Nach—
dem es mehr allgemein bekannt geworden iſt, daß
die Gährung eine unathembare Luft erzeuge, deren
196
Eigengewicht fie an niedrigern Orten anhäuft, kennt
man den Mörder und verjagt ihn durch Auslüf—
tung. In unſern Tagen haben die vielfältigen
Anwendungen von Dampfmaſchinen in ſo manchen
Gewerbsbetrieben, in der Schifffahrt, dem Eiſen—
bahnverkehr, das Volk im Allgemeinen und mehr
noch alle Gewerbsleute, zu unſäglich vielem Nach—
denken geführt. Die zahlreichen andern Maſchinen,
welche oft die kunſtvollſten Arbeiten ausführen,
müſſen eine gleiche Wirkung gehabt haben. Der
elektromagnetiſche Telegraph hat die Aufmerkſamkeit
des Volkes auf ſich gezogen, ſelbſt in Ländern,
wo man ihn nur erſt dem Namen nach kennt.
Neben den übrigen Wirkungen haben dieſe vielen
Erfindungen den Menſchen zu der Einſicht gebracht,
daß das Wunderbarſte durch Vernunftgebrauch her—
vorgebracht werden könne; aber nicht bloß haben
dieſe großen Unternehmungen zur Geiſtesentwicke—
lung des Menſchengeſchlechts beigetragen, ſondern
es läßt ſich kaum ein Erwerbszweig nennen, auf
den ſie nicht eingegriffen und gedankenerweckend
gewirkt hätten. Jener erweckte Geiſt des Nach—
denkens iſt dem Unterſuchungsgeiſte, den die Wiſ—
ſenſchaft entwickelt, nahe verwandt; auf dieſen,
197
welcher jo wohlthätige Folgen äußert, müſſen wir
in Beziehung auf die Ausrottung des Aberglau—
bens ein beſonderes Gewicht legen.
Die abergläubiſchen Meinungen, welche mit
der Natur in einigem Zuſammenhange ſtehen, ins—
beſondere aber diejenigen, welche auf eine mißver—
ſtandene Auffaſſung eines wirklich Daſeyenden be—
ruhen, vermag die Naturwiſſenſchaft meiſtens zu
widerlegen; in einem ganz andern Verhältniſſe
aber ſteht ſie zu denen, welche gar keine Begrün—
dung in etwas Natürlichem haben. Jene muß der
durch die Naturwiſſenſchaft erweckte Unterſuchungs—
geiſt und ihre Unterſuchungskunſt vernichten, dieſe
ſind aber immer ſchwieriger zu vertilgen. Ein
Beiſpiel davon iſt der bereits erwähnte Wahn, von
der Gefahr, als dreizehn zu Tiſche zu ſitzen. Die
Bemerkung, daß beim Nachtmahl Chriſti dreizehn
verſammelt waren, gibt ja durchaus keinen Grund
einer ſolchen Meinung ab. Mancher bezieht ſich
dabei auf eigene Erfahrung, fragt man ihn aber
dann, was er erfahren hat, ſo beſteht dieß darin,
daß nachdem er einmal ſelbſt bei Tiſche geweſen,
daran dreizehn ſaßen, einer der Gäſte innerhalb
eines Jahres geſtorben ſey. Aber was bedeutet
198
dieſe Erfahrung? Selbſt wenn er zwei oder mehr
ſolcher Erfahrungen gemacht hätte, würde die Un—
terſuchungskunſt ſie nicht als Beweiſe anerkennen.
Sie würde ſagen, nicht die alleinſtehende Erfah—
rung des Einzelnen kann in Sachen von ſolcher
Beſchaffenheit einen Beweis abgeben, nein, dazu
wird die Erfahrung vieler Menſchen, mehrere
Jahre hindurch ununterbrochen aufgezeichnete Er—
fahrung über die Zahl der Tiſchgäſte in vielen
Geſellſchaften und die Zahl der im Laufe des
darauf folgenden Jahres geſtorbenen, erforderlich
ſeyn; man wird da eine Mittelzahl erhalten,
welche zeigen wird, daß je zahlreicher die Gäſte
geweſen, um ſo mehr derſelben werden in einer
gewiſſen Zeitfriſt geſtorben ſeyn. Derjenige aber,
welcher einen lebendigen Sinn für die Geſetze der
Natur hat, wird dieſe Entſcheidung nicht einmal
verlangen, da er weiß, daß die verhandelte Mei—
nung gar nicht mit den Naturgeſetzen ſtimmt.
Aber, ſo höre ich manchen geiſtreichen und in andern
Richtungen hoch gebildeten Mann ſagen, ich will
nicht eben behaupten, daß die Furcht ſelbſt,
dreizehn am Tiſche zu ſitzen, gegründet ſey, aber
meine Einbildungskraft iſt nun einmal mit dieſem
199
Gedanken erfüllt, man laſſe mir dieſen unſchuldigen
Irrthum. Dieß iſt etwas ganz anderes, das läßt
ſich einigermaßen hören; wir andern müſſen dieſe
Sonderbarkeit dulden; aber darf ſie jemand bei
ſich ſelbſt dulden? Wäre es nicht beſſer, ſeine
unvernünftige Furcht vor den Richtſtuhl ſeiner
eigenen geſunden Vernunft zu beſcheiden und ſie
zum Tode zu verdammen? Der Irrthum ſelbſt iſt
an ſich unbedeutend genug; aber die Macht, welche
man einer ſo falſchen Vorſtellung einräumt, hält
eine ſchädliche Seelenanlage aufrecht. Wenn wir
entdeckten, daß irgend ein Organ unſeres Körpers
eine Krankheitsanlage hätte, die wir zu überwältigen
vermöchten, würden wir dieß gewiß thun, aber iſt denn
nicht jede abergläubiſche Einbildung gleichermaßen
eine Krankheitsanlage unſeres geiſtigen Wiſſens:
ſollen wir dieſe nicht zu überwältigen ſtreben?
Was hier von einem einzelnen Falle geſagt
worden iſt, läßt ſich mit Leichtigkeit auch auf
viele andere anwenden. Wir wollen uns nicht
dabei aufhalten, ſolche durchzugehen; alles was ſich
von dem Einen mehr als von dem Andern ſagen
läßt, wird die Wirkung nur wenig vermehren.
Die zerſtreuten Ueberbleibſel des Aberglaubens,
200
werden nur allmählig ihre Macht über die Ein—
bildungskraft vermöge des Unterſuchungsgeiſtes
verlieren, den die ſtets wachſende Anwendung der
Naturwiſſenſchaft ſelbſt über die ausbreitet, welche
ſie ſich nicht aneignen, ſondern nur durch ihre
vielfältige Anwendung im Menſchenleben von ihr
berührt werden. Doch läßt ſich dieſe Wirkung
derjenigen nicht vergleichen, welche das rechte
Studium der Naturwiſſenſchaft ſelbſt zur Folge
hat. Sie entwickelt im Menſchen eine ganze innere
Welt, welche ihm vorſchwebt, nicht bloß als etwas
Empfangenes und im Gedächtniß Aufbewahrtes;
ſondern als ein ſich unaufhörlich erneuerndes Da—
ſeyn, in welchem man ein alles umfaſſendes Wirken
der ewigen lebendigen Vernunft erkennt. Hier iſt
dann kein Platz übrig für den Aberglauben.
Vielleicht wird man mir einwendend hier her—
vorheben, daß einzelne Naturforſcher nicht frei von
Aberglauben geweſen ſind. Es verſteht ſich, daß
wir mit Recht jedes Beiſpiel abweiſen können,
welches ohne beſonnene Rückſicht auf den Ent—
wickelungsgang der Naturwiſſenſchaft angeführt
wird; obgleich nur eine Einheit, hat ſie ſich doch
in verſchiedene Zweige theilen müſſen, welche nicht
201
alle mit gleicher Schnelligkeit ſich entwickeln konnten.
Es iſt wahr, daß jede dieſer untergeordneten Wiſſen—
ſchaften ſchon in ihrem früheſten Alter anfing dem
Aberglauben entgegen zu wirken; doch lange Zeit
hindurch konnte dieß nur in gewiſſen Richtungen
mit glücklichem Erfolg geſchehen, während die Natur—
wiſſenſchaft in andern fortfuhr mit dem Aberglau—
ben verwachſen zu ſeyn. Die Aſtronomie, derjenige
Theil der Naturwiſſenſchaft, welcher ſchon beim
Austritt des Menſchengeſchlechts aus dem Kindes—
alter ſo manche abergläubiſche Vorſtellung ver—
ſcheuchte, vermochte ſich dennoch in einer Reihe von
Jahrhunderten von den Thorheiten der Sterndeute—
rei nicht loßzureißen, ja es ward den Anhängern
dieſer Thorheit erſt dann ganz unmöglich, ſich der—
ſelben ferner zu ergeben, als das Zeitalter Newtons
die Geſetze der Himmelsbewegung in einem ſolchen
Zuſammenhange dargeſtellt hatte, daß man nicht
zugleich dieſe faſſen, und abergläubiſche Vorſtellungen
in ſeine Himmelskenntniß einzuſchieben vermochte.
Das Beiſpiel der Aſtronomie wird zur Recht—
fertigung ähnlicher Einwürfe, in Bezug auf alle
Theile der Naturwiſſenſchaft, hinreichen. Gefähr—
licher für unſere Meinung dürfte es ſeyn, wenn
man Beiſpiele anführen könnte von Männern,
welche ſich große Kenntniſſe in einem ſehr ent—
wickelten Theil der Naturwiſſenſchaft erworben
hatten, und von Aberglauben doch nicht frei waren.
Ich bin ungewiß ob ſich ſolche Beiſpiele nachweiſen
laſſen, doch glaube ich es. Vielleicht ließe ſich
ihre Wirkung durch die Bemerkung entkräften, daß
es in der menſchlichen Natur liegt, dann und wann
gegen die ſtrenge Folgerichtigkeit der Gedanken zu
ſündigen; aber in den meiſten Fällen, und viel—
leicht in allen, wird es ſich finden, daß Niemand
in dem Fache, in welchem er tiefe Einſicht beſitzt,
abergläubiſch ſeyn könne, vorausgeſetzt, daß dieſes
Fach in ihm bis zu einem hohen Grade des Zu—
ſammenhangs ausgebildet iſt. Dennoch könnte es
ſich wohl zutragen, daß ſelbſt der, welcher in einem
Fache eine anſehnliche Meiſterſchaft erreicht hat, daſ—
ſelbe in einer ſo einſeitigen Weiſe bearbeitet hätte,
daß er ſich nicht überzeugen konnte, die ganze Na—
tur gehorche überall eben jo ſtrengen Geſetzen, als
in jenem Gebiet, mit dem er zunächſt bekannt iſt. Ich
halte es demnach für unmöglich, daß irgend Jemand
im Beſitz unſeres gegenwärtigen aſtronomiſchen
Wiſſens den mindeſten Aberglauben hinſichtlich der
. | 203
Himmelsbewegungen zu nähren vermöchte, dagegen
würde ich es nicht als abſolut unmöglich in Ab—
rede ſtellen, es aber ſehr bezweifeln, wenn ich
Jemand jagen hörte: ein tüchtiger Aſtronom hege
Aberglauben über Gegenſtände, die ſeiner Wiſſen—
ſchaft fremd waren. Doch fehle ich vielleicht darin,
mit einer Einwendung mich einzulaſſen, wozu nur
ein ſchwacher Anlaß vorhanden iſt.
Wirkung der Uaturwiſſenſchaft gegen den Unglauben.
Wir haben die Naturwiſſenſchaft auf ihrem
Entwickelungsgange Anlaß zum Unglauben geben
ſehen. Insbeſondere verweilten wir bei der Be—
trachtung, daß die ſich ſo häufig erneuernden Fälle,
wo man Vorſtellungsarten und Meinungen wider—
legt ſah, welche man mit den heiligſten Ueberzeu—
gungen des Menſchen zu verknüpfen gewohnt war,
dieſe oft erſchüttern, ja ſelbſt vernichten mußten.
Es iſt leicht einzuſehen, daß die Naturwiſſenſchaft
dem Zweifel und der übermüthigen Verwerfung
tiefer Wahrheiten, die ſie gegen ihre Abſicht hervor—
204
gerufen hat, ſelbſt entgegenarbeitet; denn während
ſie unaufhörlich fortfährt, die Kenntniſſe zu reinigen
und aufzuklären, wird ſie manche falſche Einwen—
dung, deren Urſprung einer minder vollkommenen
Kenntniß beizumeſſen iſt, vernichten; während ſie
ihre eigenen Irrthümer widerlegt und berichtigt, übt
jie den Unterſuchungsgeiſt zur Unterſcheidung des
Wahren vom Falſchen; indem ſie uns fühlen läßt,
wie leicht wir fehlen können, lehrt ſie uns ein wohl—
thätiges Mißtrauen gegen unſere eigenen Urtheile.
Wenn es ſich nur um jene gewiſſermaßen
zufällige Begünſtigung handelte, welche der Un—
glaube, von der Naturwiſſenſchaft erhielt, würde
die Vertheidigung hier ſchon gegeben ſeyn, aber
die Naturwiſſenſchaft hat durch ein, ihrem eigenen
Weſen angehöriges Streben, bei vielen einen ge—
fährlichen Gedanken erweckt, der einſeitig verfolgt,
zur Gottesverleugnung führt. Indem ſie nämlich
zeigt, daß alle Wirkungen in der Natur nach Ge—
ſetzen geſchehen, und daß dieſe Geſetze, nothwendige,
unveränderliche, ewige ſind, hat ſie Viele veran—
laßt, ſich dieſe alles durchdringende Nothwendigkeit
als eine blinde kothwendigkeit zu denken, welche
gleichſam der Natur ſelbſt angehörend, jeder Ver—
205
nunft vorausgehen, und alfo unabhängig von
ihr ſeyn ſollte. Dieſe Auffaſſungsweiſe ſetzt als
die Grundlage des ganzen Daſeyns eine von
Ewigkeit geweſene unbeſeelte Materie mit gewiſſen
nothwendigen Eigenſchaften voraus; von ihrer
ebenſo nothwendigen Wirkungsweiſe ſollte alles
Dasjenige was wir geiſtig nennen, hervorgebracht
ſeyn, und ſelbſt unſer Denken ſollte nur die Folge
der Eigenſchaften und Bewegungen körperlicher
Theile ſeyn. Jeder fühlt das Troſtloſe in dieſer
Auffaſſungsweiſe und müßte die Naturwiſſenſchaft
fürchten, wenn ſie uns nur zu einer ſolchen führte.
Die am nächſten liegende Antwort hierauf iſt
die wohlbekannte Wahrheit, daß der größte Theil
der Bearbeiter der Naturwiſſenſchaft einem ent—
geſetzten Gedanken gehuldigt hat, indem dieſe in
der Natur die bewunderungswürdigſte Grundlage
vernunftgemäßer Zwecke nachwieſen, ſo daß man aus
der weiſen Einrichtung der Natur einen Beweis
ihres Urſprungs von einer allmächtigen Vernunft
zu entlehnen pflegt. Dieß würde ſchon hinreichen,
wenn wir uns mit einer nur auf das Aeußere ſich
ſtützenden Vertheidigung begnügen wollten; aber
nicht zu erwähnen, daß wir die Sache alsdann mit
206
jenem unbefriedigenden Gefühl verließen, welches
dadurch erweckt wird, daß zwei wichtige Gegen—
ſätze unverſöhnt ſtehen bleiben, würden wir zu—
gleich einen wichtigen Klagepunkt unberührt laſſen.
Die Wiſſenſchaft führt in ihrem Fortſchreiten immer
zur vollſtändigeren Entdeckung der Naturgeſetze,
und zeigt uns bei jedem Fortſchritt einen innigeren
Zuſammenhang derſelben, ſo daß die Nothwendigkeit
alles deſſen was geſchieht, mehr und mehr ein—
leuchtend wird. Man könnte dagegen wohl ein—
wenden, daß die Weisheit der Einrichtungen eben—
falls immer vollkommener erkannt wird; aber mit
um ſo dringenderer Aufforderung bliebe dann der
unverſöhnte Widerſtreit uns gegenüber ſtehen, mit
aller daraus entſpringender Unruhe, Zweifeln und
Möglichkeiten des Unglaubens. Wir wollen denn
aus der Wiſſenſchaft die Wahrheiten hervorheben,
welche die Sache zu beleuchten vermögen!
Ohne Rückſicht auf dasjenige, worüber uns die
Wiſſenſchaft in Beziehung auf die Zwecke der Natur
und auf die Weisheit belehrt, welche ſich in ihrer
Erreichung jener Zwecke offenbart, werden wir durch
die Betrachtung der Naturgeſetze in ihrer ganzen
Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung geführt: die Natur
207
müſſe eine Vernunfteinrichtung ſeyn. Die Wiſſen—
ſchaft ſtellt uns nämlich die Naturgeſetze als Vernunft—
geſetze dar, welche unſere in mannigfaltigen Ein—
ſchränkungen verſtrickte Vernunft wohl nicht ohne
die Hülfe der Natur ausgefunden haben könnte,
aber mit dieſer Hülfe wirklich herausfindet. Das
Ergebniß aller über die Naturgeſetze angeſtellten
Betrachtungen iſt, daß ſie alle insgeſammt eine
unendliche Vernunfteinheit ausmachen. Die Noth—
wendigkeit hört nicht auf, aber ſie zeigt ſich als
eine Vernunftnothwendigkeit. Wollte man dagegen
als Einwendung anführen, dieſe Vernunftnoth—
wendigkeit ſelbſt ſey eine Naturnothwendigkeit und
unſer ganzes geiſtiges Weſen ihr Werk, ſo daß es
ſchon deßhalb mit der Natur übereinſtimmen müſſe,
dann würden wir antworten können, daß dieß
weder geleugnet werden könne, noch ſolle, daß es aber
keine Einwendung ſey, weil die Nothwendigkeit
aufhöre, ein blindes Schickſal zu ſeyn, wenn ſie
als Vernunftnothwendigkeit erkannt wird, in dem
Sinne des Worts, daß es nicht bloß Etwas be—
zeichnet, was von unſerer Vernunft nothwendig
angenommen werden muß, ſondern Etwas, welches
derjenigen Vernunft gemäß und nothwendig iſt, aus
208
der alle Naturgeſetze entſpringen. Dieſe Antwort
aber wird noch nicht ganz genügen, ſo lange man
ſich die Materie als Grundlage der ganzen Natur
denkt und nicht bloß als einen Theil ihres Weſens.
Es gehört zu den uralten, man könnte ſagen, ur—
ſprünglichen Vorurtheilen des Menſchengeſchlechts,
das Einfache und Unveränderliche im Körperlichen
als ſolches zu ſuchen; gewiß, es bedurfte nur des
geringſten Nachdenkens, um zu ſehen, daß alle
Körper vergänglich ſind; aber man nahm ſeine
Zuflucht zum Stoffe. Es iſt wahr, daß dieſer in
allen unſeren Erfahrungen ſich als unvergänglich
zeigt, aber, wohl zu bemerken, nicht die vielfältigen,
ungleichartigen Stoffe, ſondern das wägbare raum—
erfüllende Etwas, welches allen Stoffen gemein
iſt, mit andern Worten: die Materie als das
Allgemeine in allen Körpern. Ein uraltes Syſtem
ließ die Materie ſelbſt aus unausſprechlich kleinen
Körpern von ungleicher Größe und Form, aber
einer unbegränzten Härte, beſtehen; dieſe Vor—
ſtellungsweiſe hat zwar häufigen Eingang in die
Naturwiſſenſchaft gefunden, aber ſie gehört ihr
nicht an; wir haben durchaus keine Kenntniß des
Stoffs, außer durch ſeine Thätigkeit und durch die
209
Naturgeſetze, vermöge welcher er wirkt. Geht die
Unterſuchung zu den Eigenthümlichkeiten über, unter
denen der Stoff in jedem beſondern Körper wirkt,
ſo ergibt es ſich, daß dieſe Eigenthümlichkeiten auf
den Naturgeſetzen beruhen, nach denen die Wir—
kungen geſchehen. Zwar ſtockt die Unterſuchung
bei gewiſſen Stoffen, welche ſie vor der Hand als
einfache ſtehen laſſen muß; aber die Wiſſenſchaft
geſtattet keinen Zweifel, daß dieß nur vorläufig
ſey. Vielleicht wird ſie einſt auf gewiſſe eigen—
thümliche Stoffe ſtoßen, welche mit Einſicht von
ihr als Grundſtoffe erkannt werden, aber ſelbſt
dann wird es nur durch die Geſetze ihrer Thätigkeit
möglich ſeyn, dieſelben dafür anzuerkennen. Kurz,
der Stoff iſt fein für ſich beſtehendes todtes Seyn,
ſondern eine Thätigkeitsäußerung durch die Alles
durchdringenden Naturgeſetze beſtimmt und begrenzt.
Das Grundthätige und das Ordnende des Daſeyns
ſind demnach nicht zwei abgeſonderte Dinge, ſon—
dern ein lebendiges, unaufhörlich ſowohl ſchaffen—
des als ordnendes Vernunftganze, eine unendlich
lebendige Vernunft, Gott!!
' Man vergleiche zu dieſem ganzen Abſchnitt das Ge⸗
ſpräch „über das Geiſtige im Körperlichen.“
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 14
210
Aber schließt denn all' dieſe Nothwendigkeit
den Gedanken an Zweck und Weisheit nicht aus?
Keineswegs, wenn wir nur den himmelweiten
Unterſchied feſthalten zwiſchen der unendlich voll—
kommenen Vernunft und derjenigen, welche bei
endlichen Weſen ſtattfinden kann. Schon bei einer
jeden Anwendung der menſchlichen Vernunft, es
ſey zu einer Maſchine, einer Staatseinrichtung
oder zu einem wiſſenſchaftlichen Werke, wird man
ſtets eine um ſo vollkommenere Uebereinſtimmung
aller Theile finden, je richtiger und reiner der
Grundgedanke war. Zuſammenſtimmungen, welche
nur der folgerechten Anwendung des Grundge—
dankens ihre Entſtehung verdanken, treten uns oft
entgegen, als ob verſchiedene Anlagen zu ihrer
Hervorbringung gemacht wären, obgleich es durch
die eigene Harmonie der Vernunft geſchah; aber
in der Vernunft ſelbſt, der Vernunft ohne Be—
ſchränkung, iſt jede einzelne Aeußerung eine Folge
des eigenen Weſens der Vernunft, und daher
Mittel und Zweck zugleich. Beiſpiele würden dieß
nur unvollkommen beleuchten, aber gleichwohl nicht
unfruchtbar ſeyn, wenn man ſich ihren Gehalt
recht aneignete und anwendete. Als Gedanken—
211
experiment ſtelle man ſich vor, daß Alles, was
wir von der Kugel wiſſen, noch unbekannt wäre,
und daß ein Künſtler eine Form zu erfinden trachtete,
welche von allen Seiten denſelben Anblick gewähren,
im Gleichgewicht ſich befinden ſollte, wenn man
ſie auch auf eine horizontale Fläche legte, eine
Oberfläche haben müßte, welche einen größeren
Raum einſchlöße, als irgend eine andere von glei—
cher Größe; welches unſägliche Hin- und Herdenken
würde dazu nicht erforderlich ſeyn. Wer dagegen
von dem Grundgedanken dieſer Form ausgeht, von
dem eines Raumes, deſſen Oberfläche überall von
einem Mittelpunkte gleich weit entfernt iſt, wird
durch die nothwendige Entwickelung des Gedankens
alle dieſe und weit mehr ſchöne und merkwürdige Ei—
genſchaften finden, welche ein bloßes Streben nach
dem Zweck entweder gar nicht oder nur auf vielen
Umwegen finden könnte. Wenden wir uns nun
zur Natur ſelbſt; heben wir uns aus der Idee
des Weltalls nur jene Vorſorge hervor, von wel—
cher in der unendlichen Mannigfaltigkeit des ſelbſt—
ſtändigen Seyns und Lebens ein Gegenſtand dem
andern nicht im Wege ſeyn darf, wie ſollte man
einen weiſeren Plan dazu ſich denken können, als
212
den einer Vertheilung der ganzen Maſſe der Welt
in zahllofe bewohnbare Kugeln, deren jede ihre
eigenen Tages- und Jahreszeiten, jede ihre eigen—
thümliche Wärme, ihre beſondere Dichtigkeit u. ſ. w.
hat. Wie ſollte ſich ferner etwas weiſeres gedenken
laſſen, als die Einrichtung, nach welcher eine große
Anzahl ſolcher Kugeln von einer Sonne aus mit
Licht und Wärme verſehen wird, deren Tageszeiten
durch Umdrehung einer jeden um ihre eigene Are,
deren Jahreszeiten durch Bahnumläufe um ihre
Sonne beſtimmt werden? Aber alle dieſe und zahl-
loſe andere damit verbundenen Zwecke folgen mit
Nothwendigkeit aus den Geſetzen, wonach die Theile
der Materie, wornach Anziehung und Bewegung
ſich richten. In der endlichen Betrachtung ſehen
wir Zweck und Mittel geſchieden, im Wirklichen
und Ganzen ſind ſie Eins. Wenden wir uns
nun zu unſerer eigenen Weltkugel, ſo ſehen wir
die uns wohlthätigſten Einrichtungen, als den
Wechſel der Tages- und Jahreszeiten, aus Alles
umfaſſenden nothwendigen Geſetzen hervorgehen.
Wenn wir einerſeits die wohlthätigen Folgen der
Bewegung, welche das Meer durch Ebbe und Fluth
erhält, hervorheben, dann müſſen wir andererſeits
erkennen, daß fie aus denſelben allgemeinen Geſetzen
nothwendig entſpringen. Preiſen wir die Abwech—
ſelung und Ausgleichung der Wärme, welche in
den verſchiedenen Erdgegenden durch die mannig—
faltigen Windſtrömungen hervorgebracht wird, ſo
finden wir wiederum, daß ſie Erfolge jener all—
gemeinen Geſetze in Verbindung mit der ausdeh—
nenden Kraft der Wärme ſind. Laſſen wir nun
den Gedanken ſich von dieſen Beiſpielen bis zu
ſeinem ganzen unendlichen Umfange erweitern, ſo
ſehen wir, daß die Ueberzeugung von einem Reiche
der Zwecke in der Natur die Nothwendigkeit nicht
ausſchließt, und wiederum die Nothwendigkeit nicht
die Zwecke, daß aber Mittel und Zweck in der
Vernunft ſich umarmen, wie der Dichter ſagt.
So ſchließt denn die wahre Naturwiſſenſchaft
ſowohl den Unglauben als den Aberglauben aus.
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N Seien wäehche Bu > 1
Das ganze Daſeyn ein Vernunftreich.
1.
Die Weſenheit des Erkenntniſsvermögens im ganzen
7
Weltall.
Dieſes erſte Kapitel bildet den Inhalt eines Vortrages, den
ich in der Verſammlung der Naturforſcher zu Kiel im Jahre 1846
hielt, und welchen ich bald nachher in deutſcher Sprache dem Be—
richte über die Zuſammenkünfte der Verſammlung beigab. Obgleich
deßhalb dieſe Abhandlung zuerſt in deutſcher Sprache öffentlich be—
kannt wurde, war ſie dennoch urſprünglich däniſch und in dieſer
Form hatte ich fie auch ſchon mündlich mehr oder minder vollſtaͤndig
däniſchen Zuhörern vorgetragen, namentlich 1845 in einer Verſamm—
lung der Geſellſchaft für Ausbreitung der Naturlehre. Das hier
Mitgetheilte iſt indeß kein bloßes Wiedergeben des oben erwähnten
Berichtes, ſondern es ſind ihm viele Verbeſſerungen und Erweiterun—
gen hinzugefügt worden. Die darauf folgenden Kapitel ſind in
neueſter Zeit gefchrieben.
Der Gegenſtand, für welchen ich mir Ihre
Aufmerkſamkeit erbitte, nämlich eine Unterſuchung
über die Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens
in dem ganzen Weltall, ſcheint bei dem erſten An—
blick durchaus nicht in die Naturwiſſenſchaft zu
gehören; doch zeigt uns eine nähere Erwägung,
daß er dieſer Wiſſenſchaft nicht fremd ſeyn dürfe.
218
Die Natur iſt nicht etwas bloß Körperliches, ſie
wird von Geiſt durchdrungen und beherrſcht, wie
es ſchon aus ihrer unendlichen Geſetzmäßigkeit her—
vorgeht. Unſer Körper iſt offenbar einer der Ge—
genſtände der Naturwiſſenſchaft; aber er enthält
alle Organe unſerer Erkenntniß. Ueber die Or—
gane unſerer Sinne, hat uns die Naturforſchung
ſchon vielfältig belehrt, und ſchreitet auf dieſem
Wege immer weiter fort; aber ſie bleibt dabei
nicht ſtehen, ſondern ſie dringt in den Bau und
in die Verrichtungen des Nervenſyſtems ein, und
hat zur Aufgabe auch den Zuſammenhang der
Organe mit dem Seelenvermögen zu unterſuchen;
eine Aufgabe zu deren Löſung ſie bisher nur wenig
beigetragen, aber doch wichtige Winke gegeben hat,
und in Beziehung zu welcher ſie ihre Beſtrebungen
immer fortſetzt. Man wird die Bedeutung hievon
für unſere ganze Unterſuchung fühlen, wenn man
ſich recht vor Augen ſtellt, wie Fehler in des
Menſchen Erkenntnißorganen Verwirrung in ſei—
ner Weltauffaſſung, ja oft ſelbſt in allen ſeinen
Vorſtellungen von göttlichen und menſchlichen Din—
gen mit ſich führen.
Indem nun die Naturwiſſenſchaft darthut, daß
219
die Geſetze, nach welchen unſere Erde und Alles
was auf ihr lebt, ſich richtet, auch für andere
Weltkörper gelten, drängen ſich ihr Fragen über
die Bewohner des ganzen Weltalls auf. Viele
Gelehrte wieſen dieſe Fragen mit Hohn ab, weil
ihre Beantwortung nicht mit mathematiſcher Ge—
wißheit zu geben iſt; wenn wir aber bedenken, wie
unſicher die erſten Schritte in jeder Wiſſenſchaft
ſind, und daß wir nie zu den vollkommeneren ge—
langen würden, wenn wir ihre erſten Anfänge ver—
ſchmähen wollten, ſo ſcheint es mir für die Wiſſen—
ſchaft nützlich, unſere Kräfte hierin zu verſuchen,
indem wir uns in unſern Unterſuchungen nur
fo nahe als möglich an das ſchon Exwieſene hal—
ten, und das Zweifelhafte vom Gewiſſen unter—
ſcheiden.
Es könnte den Anſchein haben, daß dieſe Un—
terſuchung in das Gebiet der Metaphyſik ſich ver—
ſteigen wolle, aber das Folgende wird zeigen, daß
ſie ſich innerhalb der Grenzen der Naturwiſſenſchaft
hält und es nicht verſucht, den Urgrund aller Er—
kenntniß zu finden. Der Philoſoph möge dieſe
Unterſuchung in demſelben Lichte betrachten, als
die Forſchungen der Phyſiologen über die Sinnes—
220
organe; das Beſtreben der Naturforſcher zur För—
derung ihrer eigenen Wiſſenſchaft bereitet zugleich
den Erfahrungsſtoff für den „ des Philo—
ſophen vor.
Ich hoffe, man werde meiner Behauptung der
Weſenseinheit des Erkenntnißvermögens im ganzen
Weltall keine größere Ausdehnung geben, als es
der Ausdruck ſelbſt andeutet, und daß man es ſich
klar vor Augen ſtellen werde, es ſchließe die We—
ſenseinheit die größte Mannigfaltigkeit der Da—
ſeynsformen nicht aus. Wir werden nur nöthig
haben, uns auf dem von uns bewohnten Welt—
körper umzuſehen, um ſprechende Beiſpiele genug
für die Weſenseinheit in der größten Mannigfal—
tigkeit zu finden. Wie verſchieden ſind nicht die
Formen, unter welchen die Organe des Athemholens
in den verſchiedenen Thierklaſſen vorkommen (Lun—
gen, Kiemen, Tracheen)! Welche Ungleichheiten
bieten ſich nicht in der Entwickelung der Bewe—
gungsorgane dar (Arme, Vorderfüße, Flügel, Flo—
ßen)! Nicht geringer iſt die Unähnlichkeit der
Gehörorgane, welche bei den Säugethieren und
Fiſchen z. B. ſo groß iſt, daß nur der Sachkun—
dige den gleichen Zweck und die Grundähnlichkeit
221
der darin angewandten Naturmittel entdeckt. Es
wird kaum der Erwähnung bedürfen, daß die
Mannigfaltigkeit auf andern Weltkörpern noch
unvergleichbar größer ſeyn müſſe; ja daß es
dort Erkenntnißmittel geben könne, die wir nicht
kennen.
Noch eine Verwahrung, die von einer Ent—
ſchuldigung begleitet ſeyn möge! Im Folgenden
werde ich mit einer gewiſſen Ausführlichkeit zeigen,
daß die Naturgeſetze für das ganze Weltall gültig
ſind. Dieſe Allgemeinheit iſt ſtets von allen den
Forſchern, deren Unterſuchungen über die Erde hin—
ausgingen, vorausgeſetzt worden und gewiß mit
Recht; denn ſie ſahen im Zuſammenhange und im
Erfolge ihrer Entdeckungen einen hinreichenden
Beweis dafür. Solche ſind es nicht, die ich hier
zu überzeugen ſtrebe — ich bitte mir vielmehr ihre
Nachſicht aus — ſondern zu den Vielen, die keine
vollkommen klare, mit ihrer Naturanſchauung ver—
ſchmolzene Ueberzeugung dieſer Wahrheit haben,
will ich hier reden! Ich ſehe auch ein, daß ich
ſowohl dieſe Behauptung, als auch alles Uebrige
meiner Mittheilung in ſehr wenig Worte zuſammen
zu faſſen vermöchte; aber es ſchien mir rathſamer,
den Gegenſtand in einem mehr entwickelten Vor—
trage der Anſchauung näher zu führen.
Ich werde meine Gedanken in Beiſpielen dar—
legen, dieſe aber ſo wählen, daß man aus dem
Beſondern ſich leicht das Allgemeine wird ableiten
können. Wir wollen unſere Aufmerkſamkeit zuerſt
auf die Lehre von der Bewegung hinwenden und
uns überzeugen, daß deren Hauptgeſetze ſolche ſind,
wie unſer Erkenntnißvermögen ſie, in ſo fern es
ſich ſelbſt recht verſteht, fordern muß, andererſeits,
daß dieſe Geſetze ohne unſer Zuthun von der Natur
befolgt werden.
Wir wiſſen alle, daß die gerade Linie die ein—
fachſte iſt; wir ſehen dieß ſchon, wenn wir die
geiſtige Handlungsweiſe betrachten, vermöge welcher
wir entweder außer uns, oder in der innern An—
ſchauung, eine gerade Linie ziehen, denn wir
führen dieſes mit ſtetig unverändertem Gedanken
aus. Die Mathematik entwickelt und beweist dieſes
näher. Bedenken wir nun ferner, daß ein ein—
facher Antrieb eine einfache Bewegung hervor—
bringen müſſe, ſo würde das erſte Geſetz, welches
wir der Bewegung vorſchreiben wollen, das ſeyn:
daß ein jeder einfache Antrieb eine geradlinige
223
Bewegung hervorbringen müſſe, und ſiehe, die Natur
hat dieß Geſetz ſtets befolgt, unendlich lange zuvor,
ehe der Menſch daſſelbe einſah. Daß das Willen—
loſe ſich nicht ſelbſt zu einer Veränderung zu
beſtimmen vermöge, und daß daher keine Bewe—
gung weder geſchwinder, noch langſamer werden
oder ihre Richtung verändern könne, ohne neu
hinzukommende Einwirkungen; mit andern Worten,
daß jede einfache Bewegung mit gleichförmiger
Geſchwindigkeit und unveränderter Richtung ge—
ſchehen müſſe, iſt auch eine ſo durch ſich ſelbſt
klare Vernunftnothwendigkeit, daß man kaum glau—
ben ſollte, es habe ſich die rechte Einſicht in dieſe
Sache erſt ſeit den letzten Jahrhunderten entwickelt.
Aus dieſem Geſetze aber folgt weiter, daß eine
jede ſtetig wirkende Kraft in jedem Augenblick einen
neuen Antrieb zur Bewegung, ebenſo groß als
den im erſten Augenblick mitgetheilten, hinzu—
füge, und daß ſo die hervorgebrachte Geſchwindig—
keit gleichförmig wachſen, die zu jeder Zeit erlangte
Geſchwindigkeit ſich der ſeit dem erſten Augenblick
verfloſſenen Zeit gleich verhalten müſſe. Die ma—
thematiſche Betrachtung dieſer einfachen Wahrheit
führte zur Entdeckung mehrerer Geſetze, welche
224
+
man nie zuvor in der Erfahrung entdeckt hatte,
die aber nunmehr, nachdem man ſie ſuchen gelernt
hatte, leicht darin gefunden wurden.
Durch die Anwendung der vorhergehenden
Wahrheiten gelangte man auch zu der Einſicht,
daß eine jede krummlinigte Bewegung das Reſultat
zuſammenwirkender Kräfte iſt und nie einfach ſeyn
könne. Daß alle von einem Punkte ausgehenden
Thätigkeiten ſich auf Flächen verbreiten, welche
ſich wie die Quadrate der Entfernungen verhalten,
die Kraft alſo in jedem Punkte zu dieſen Quade
raten im umgekehrten Verhältniß ſtehen müſſe, iſt
eine ſehr einfache, aber gleichwohl erſt ſpät er—
kannte Forderung der Vernunft.
Wenn wir es auch nicht als befriedigend dar—
gethan annehmen wollen, daß die allgemeine An
ziehung ein Vernunftgebot ſey, ſo iſt dieſelbe den—
noch eine Thatſache, deren unumſtößliche Wahrheit
von der Vernunft anerkannt werden mußte und
dieſe Wahrheit hat durch das Wirkungsgeſetz der
umgekehrten Quadrate der Entfernungen eine un—
ermeßlich große Anwendung erhalten. Durch die
weitere Benutzung aller hier angedeuteten Kennt—
niſſe wurden die Geſetze der Centralbewegung
gefunden und in Bezug auf diejenigen Centralbewe—
gungen, bei denen die allgemeine Anziehung die
Körper gegen den Mittelpunkt treibt, wurde es
bewieſen, daß die beſchriebenen Bahnen Kegel—
ſchnitte ſeyn müſſen, und daß eine ſolche mittelſt
der Erfahrung gefundene Bahnfigur nur durch eine
Kraft hervorgebracht werden könne, welche jenem
Geſetz folgt. Aus allen dieſen Unterſuchungen er—
gab ſich denn, daß die Bewegungen der Weltkörper
nach denſelben Geſetzen erfolgen, wornach die gewor—
fenen Körper hier auf unſerer Erde bewegt werden.
Die Entwickelung der Beweiſe von allem dieſem
werden Sie hier nicht von mir erwarten. Ein
ſolches Unternehmen würde nicht nur eine ganze
Reihe von Vorträgen erfordern, ſondern auch über—
flüſſig ſeyn, da jeder Sachkundige weiß, daß die
hier in ſo großer Kürze angedeuteten Wahrheiten
durch die faſt drei Jahrhunderte fortgeſetzten An—
ſtrengungen tiefer Denker errungen ſind. Ich
kann auch die große wiſſenſchaftliche Thatſache als
allgemein anerkannt betrachten, daß jene Geſetze,
welche das Denken, befruchtet von der Erfahrung
auffand, für alle Bewegungen der Weltkörper wirk—
lich gelten.
O erſted, der Geiſt in der Natur. 10 15
226
Verſuchen wir nun, dieſes für unſern Zweck
anzuwenden und zu zeigen, daß die allgemeine
Gültigkeit der durch die Vernunft erkannten Geſetze
uns zu der Annahme nöthigt, daß auch das Er—
kenntnißvermögen durch das ganze Weltall von
gleicher Weſenheit ſey.
Um nicht im Streben nach dem Allgemeinen
die Klarheit der Anſchauung zu verlieren, wollen
wir unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auf einen be—
ſtimmten fremden Weltkörper hinwenden und es
wird ſich bald zeigen, daß ſich die hier wahrnehm—
baren einzelnen Züge mit Leichtigkeit unter ein
allgemein Erkanntes zuſammenfaſſen laſſen. Wir
wollen das Gedankenexperiment machen, uns auf
den Planeten Jupiter hin zu verſetzen. Wir werden
dort Abwechslungen der Tage und Nächte bemer—
ken, werden verſchiedene Jahreszeiten erleben wie
auf unſerm Erdball, nur mit andern Zeitlängen und
mit andern Größenverhältniſſen. Alle dieſe Ab—
wechslungen entſtehen dort wie hier aus der Achſen—
drehung des Weltkörpers und aus ſeiner Bahnbewe—
gung um die Sonne; beide Bewegungen aber werden
dort nach denſelben einfachen Geſetzen hervorge—
bracht, welche wir auf der Erde entdeckt und auf
das Weltall angewandt haben. Gleicherweiſe wer—
den wir dort Monde ſehen, die ſich nach eben den
Geſetzen bewegen als der unſrige, und ſo werden
wir dort alle jene Erſcheinungen unter denſelben
Verſtandesbegriffen zuſammenfaſſen können, unter
denen wir ſie hier umfaſſen. Setzen wir nun an
unſre Stelle ein anderes, von uns übrigens auch
noch ſo verſchiedenes Weſen, welches nur darin
mit uns übereinſtimmt, daß es die Natur mit Be—
wußtſeyn auffaßt. Ein ſolches Weſen würde viel—
leicht die Eindrücke, welche die Naturerſcheinungen
auf uns machten, in anderer Form und Weiſe
empfangen; inſofern es aber die Geſetzmäßigkeit
derſelben einſähe, müßte auch ſein Erkenntnißver—
mögen mit den Naturgeſetzen übereinſtimmen und
mithin auch mit unſerem Denkvermögen. Wäre
ſein Erkennen mit den Naturgeſetzen nicht in Ueber—
einſtimmung, dann wäre es kein vernünftiges,
wahres, ſondern ein unvernünftiges, falſches; eine
Vorſtellung, die ſich mit dem Begriff des Erken—
nens eben ſo wenig verträgt, als der des Sehens
mit dem der Blindheit und die wir deßhalb ſchon
auf den erſten Blick verwerfen müſſen, ſpäter aber
noch vollſtändiger widerlegen werden. Wollte man
die Sache umkehren und den Zweifel erwecken,
als ob wir die Dinge vielleicht falſch auffaßten,
die Bewohner anderer Planeten aber richtig oder
ebenfalls, und nur in anderer Weiſe falſch, ſo
antworten wir, daß die prophetiſche Natur unſerer
Himmelsmechanik uns ein feſtes Vertrauen zu ihr
gibt, indem ſie uns lehrt, die mannigfaltigſten
Himmelsbegebenheiten mit der größten Beſtimmt—
heit und Sicherheit vorauszuſagen. Außer den
vielen Vorausſagungen der Sonnen- und Mond—
finſterniſſe und der Orte, welche die Planeten zu
feſtbeſtimmten Zeiten einnehmen — Vorausſagun—
gen, von welchen eine jede Staunen erregen würde,
wenn wir ihrer nicht ſo gewohnt wären — will
ich nur daran erinnern, daß man nach vierjähri—
gen Beobachtungen des von William Herſchel 1781
entdeckten Uranus berechnete, daß derſelbe etwa
84 Jahre zu ſeinem Umlaufe brauche, und daß
Gauß, was noch weit mehr iſt, aus den Beob—
achtungen weniger Tage die Bahn der Ceres richtig
berechnete und durch ſeine Vorausſagungen be—
wirkte, daß man dieſelbe auffand; daß le Verrier
aus den ſcheinbaren Unordnungen in der Bewe—
gung des Uranus die Bahn eines unbekannten
229
Planeten berechnete und deſſen Ort an einem be-
ſtimmten Tag zutreffend feſtſetzte. Jeder Sachkun—
dige weiß, daß ich hier nur einige wenige der
Triumphe der Aſtronomen angeführt habe, um die
Aufmerkſamkeit zu erwecken. Die Zahl ihrer genau
beſtimmten und eintreffenden Vorausſagungen iſt
unüberſehbar. Sie müſſen aus unbeſtreitbaren
Grundwahrheiten entſpringen und eine dieſen wi—
derſtreitende Anſicht könnte nicht mit den Natur—
begebenheiten ſtimmen, müßte demnach unwahr ſeyn.
Wenden wir abermals unſere Gedanken auf
die Bewohner des Jupiter; wir ſehen nun ein,
daß ſie den Gang der Sonne, der Monde und
der Sterne, kurz den Gang der ganzen Welten—
uhr nach keinen andern Geſetzen berechnen können,
als nach den von uns erkannten, daß ſie mithin
jenen Gang auch auf keine Weiſe begreifen können,
die mit der unſrigen in Widerſpruch ſtände. Die—
ſelben Naturgeſetze, welche ſie durch ihre Himmels—
beobachtungen entdecken, müſſen ſie in ihrer näch—
ſten Umgebung an der Oberfläche ihres Planeten
wiederfinden. Aus der Uebereinſtimmung der wirk—
lichen Bewegungen der Jupitersmonde mit den
aus den Naturgeſetzen voraus berechneten folgt mit
230
mathematischer Strenge, daß dieſelben Geſetze der
Schwere für 15 Planeten wie für den unſrigen
gelten; wie z. B. alle Körper hier in einem luft—
leeren Raum mit gleicher Geſchwindigkeit fallen,
ſo muß es auch dort geſchehen, nur nach einem
andern Raummaße. Mit derſelben Nothwendigkeit
folgt, daß die Wurfbewegung dort wie hier krumme
Linien beſchreiben muß, in denen dieſelben Geſetze
ſich offenbaren; ebenſo gewiß iſt es, daß die Geſetze
der Kreisbewegung dort und hier dieſelben ſeyn
müſſen. Zwar können wir nicht alle dieſe Schlüſſe
mit beobachteten Thatſachen belegen, wie wir dieß
in Beziehung auf die Bewegungen der Weltkörper
zu thun vermögen; aber es iſt dieß auch nicht er—
forderlich, da ſie nothwendige Folgen der ſchon
geſicherten Wahrheiten ſind. Doch können wir
zum Ueberfluß auf eine durch die Erfahrung gege—
bene Beglaubigung hinweiſen. Wir finden die
Figur des Jupiter ganz nach denſelben Geſetzen
gebildet wie die Figur unſerer Erde; von letzterer
wiſſen wir, daß ſie ſich zwar der Form der Kugel
nähert, dennoch aber in der Art davon abweicht,
daß ſie gegen den Aequator hin etwas umfang—
reicher iſt; wir wiſſen, daß dieſe Abweichung
231
dadurch entſteht, daß alle Theile der Erde vermöge
ihrer Achſendrehung in Kreiſen herumgeführt wer—
den, in denen die Schwungkraft der Theile ſich
gleich den Entfernungen von der Achſe verhält.
Indem wir den Umkreis, alſo auch den Durch—
meſſer der Erde, und die Zeit ihrer Achſendrehung
kennen, berechnen wir die Weite des Weges, in wel—
cher die Schwungkraft während einer Sekunde jeden
dieſer Theile vom Mittelpunkt wegführen würde, und
finden, daß dieſe Größe am Aequator ½ von jener
Bewegung iſt, welche der Zug der Schwere gegen
den Mittelpunkt ihnen mitzutheilen ſtrebt. Es
würde unſere Grenzen überſchreiten, alle die fer—
nern Betrachtungen hier aufzuführen, durch welche
die Geſtalt der Erde beſtimmt worden iſt; es iſt
uns genug, daß alle Sachkundigen über das We—
ſentliche aller hierher gehörigen Berechnungen einig
ſind, und daß dieſe ebenfalls durch die angeſtell—
ten Meſſungen in allem Weſentlichen beſtätigt wer—
den. Dieſelben Berechnungen laſſen ſich nun auch
auf die andern Planeten und namentlich auf den
Jupiter anwenden; dieſer hat einen weit größern
Durchmeſſer, eine ſchnellere Umdrehung und die
Schwere an ſeiner Oberfläche übertrifft die auf
unſerer Erde; aus dieſem allen berechnen wir feine
Abweichung von der Kugelgeſtalt und finden, daß
dieſe Abweichung weit größer ſeyn müſſe als die
der Erde. Gerade ſo aber wie die Berechnung es
ergab, wird die Geſtalt des Jupiter durch die aſtro—
nomiſchen Meſſungen ſeiner Achſe und des Dia—
meters ſeines Aequators wirklich gefunden. Aus
den Unterſuchungen über unſern Erdkörper hat es
ſich ergeben, daß ſeine Dichtigkeit gegen den Mit—
telpunkt hin zunehmen müſſe; die Berechnungen
lehren, daß daſſelbe auch vom Jupiter gelte. Wir
ſehen aus dieſem allen, daß die bei uns beſtehen—
den Naturgeſetze, gleichſam vor unſern Augen, an
der Oberfläche und in der Maſſe des Jupiter ſich
ebenfalls geltend machen.
Die Bewohner jenes Weltkörpers finden alſo
dieſelbe Anwendung ihres Erkenntnißvermögens
ſowohl in ihrer naͤchſten Umgebung als an ihrem
Himmel, ebenſo wie es auf unſerm Erdball der
Fall iſt. Dieſe Aehnlichkeit ſchließt aber keines—
wegs große Verſchiedenheiten aus; ſo können wir
z. B. berechnen, daß die Schwere an der Ober—
fläche des Jupiter 2½ mal ſo groß iſt als auf
unſerer Erde; daß die Fallgeſchwindigkeit an
‘
283
verſchiedenen Punkten deſſelben größere Ungleich—
heiten darbietet als bei uns; daß die Dichtigkeit
jenes Weltkörpers weit geringer iſt, als die des Erd—
balls. Alle ſolche Verſchiedenheiten aber ſind nach
denſelben Geſetzen hervorgebracht worden.
Soll der Bewohner des Jupiter alle dieſe Ver—
hältniſſe, welche ihm die Natur zeigt, faſſen, ſo
muß er ja ihre Geſetze kennen! Er kann vielleicht
eine weit klarere, lebendigere, umfaſſendere Einſicht
darin haben, als wir, oder auch im Gegentheil
eine ſchwächere; aber in ſo weit er ſie kennt, muß
ſein Erkenntnißvermögen dem wahren Weſen nach
daſſelbe wie das unſrige ſeyn. Für ſein Denken muß
auch die einfache Bewegung geradlinigt, und eine
krummlinigte dagegen durch mehr als eine Kraft
hervorgebracht worden ſeyn; für ihn muß dieſelbe
mathematiſche Reihe die gleichförmig beſchleunigte
Geſchwindigkeit wie für uns darſtellen; für ihn muß
daſſelbe Verhältniß zwiſchen Abſeiſſen und Ordina—
ten ſtattfinden als für uns in allen krummen Linien,
z. B. in der Ellipſe, welche die Grundform der Pla—
netenbewegung iſt, in der Parabole, welche ſchräg
geworfene Körper beſchreiben u. ſ. w. Aber von
der Auffaſſung dieſer Verhältniſſe ſind wir uns ja
234
bewußt, daß ihnen eine Vernunfthandlung in
Verbindung mit Anſchauung zur Grundlage dient.
Geſchieht dieſelbe Auffaſſung durch andere Weſen,
jo nehmen ſie ja ebenfalls Vernunfthandlungen
vor, und da ſie ſinnliche Weſen ſind, müſſen die—
ſelben bei ihnen wie bei uns eine ſinnliche Grund—
lage nicht nur von äußerer, ſondern auch von
innerer Sinnenthätigkeit haben; kurz jede Auffaſ—
ſung der Naturgeſetze iſt eine Vernunfthandlung
mit ſinnlicher Grundlage. Sie werden im Folgen—
den Beiſpiele genug finden, vermittelſt welcher Sie
ſich dieſes noch mehr verdeutlichen können; ich
will hier nur noch einige Augenblicke bei den
Ungleichheiten verweilen, welche ſich mit dieſen
Gleichheiten vereinigen laſſen. Ich weiß, man
wird geneigt ſeyn, mir die Möglichkeit ſolcher Un—
gleichheiten zum Vorwurf zu machen, daher werde
ich hier ſchon den Bedenklichkeiten begegnen, ſpä—
ter aber die Sache ausführlicher behandeln. Die
Gleichheit, welche ich hier in die mathematiſche
Auffaſſung geſetzt habe, würde in ihrem Weſen
nicht aufgehoben ſeyn, wenn unſer Jupiterbewoh—
ner auch einen Zahlenſinn hätte, welcher den
unſrigen um ſo viel überträfe, daß er eine Rechnung
235
mit zehn Zahlen eben ſo leicht zu fallen und
auszuführen vermöchte, als wir eine mit nur zwei
Zahlen; wenn er mittelſt Eines Gedankenblicks das
Weſen einer für uns nur mit größter Schwierig—
keit begreiflichen Reihe ſogleich einſähe, oder mit
einem ähnlichen Gedankenblick alle Verhältniſſe in
einem Kegelſchnitte, etwa wie wir die Gleichheit
aller Radien eines Zirkels, erfaßte; die Gedanken—
verhältniſſe blieben doch dieſelben. Sie werden
leicht ſehen, daß ſich dieſes Alles auch auf ein
Denken übertragen läßt, das nicht mathematiſch iſt.
Alles, was von dem Planeten Jupiter geſagt
worden, läßt ſich im Ganzen genommen auch auf
die übrigen Planeten anwenden; obgleich die Dar—
ſtellung in Betreff einiger weniger vollſtändig, bei
andern verwickelter wird.
Unſere Betrachtungen hielten ſich bisher inner—
halb der Grenzen des Sonnenſyſtems; wir müſſen
unſern Blick noch weiter ausdehnen. Unſere Unter—
ſuchungen haben gelehrt, daß die hier erwähnten
Geſetze auch über dieſes Syſtem hinaus reichen, und
die Vorausſetzung ihrer Allgemeinheit beſtätigt ſich
immer mehr; wenn aber im ganzen Weltall gleiche
Naturgeſetze Gegenſtand des Erkenntnißvermögens
236
ſelbſtbewußter Weſen find, ſo folgt daraus noth—
wendig, daß dieſes Vermögen, ſeinem Weſen nach,
überall daſſelbe ſeyn muß.
Wählen wir ein anderes, nicht weniger allge—
meines und eingreifendes Beiſpiel: die Wirkungen
und Geſetze des Lichts. Natur und Erkennen ſind
auch hier in der vollkommenſten Uebereinſtimmung;
bald ſagt uns das von der Erfahrung befruchtete
Denken die Erſcheinungen, welche wir zu erwar—
ten haben, voraus, bald löst es die unvorherge—
ſehenen in Vernunfterkenntniß auf. In der ſicht—
barmachenden Wirkung des Lichts treffen wir die
gerade Linie wieder. Was die Erfahrung uns
lehrt über die Beleuchtung in verſchiedenen Ent—
fernungen, die Größe und Form der Schatten,
über die Wirkung der Spiegelung, läßt ſich alles
aus den anerkannten Vernunftgeſetzen herleiten, iſt
alles vernunftnothwendig. Von der Brechung des
Lichts, von deſſen Auflöſung in Farben, von ſeiner
Polariſation, Interferenz u. ſ. w. gilt daſſelbe,
wenn man nur darüber hinwegſieht, daß hier
einige Dunkelheiten noch zu zerſtreuen ſind, welche
uns jedoch nicht hindern, den weſentlichen Vernunft—
zuſammenhang der Geſetze mit Sicherheit zu erkennen.
237
Wir überzeugen uns leicht, daß die Geſetze des
Lichts, wie die der Bewegung und der Anziehung,
für das ganze Weltall gelten. Das Licht, welches
von der Sonne, den Planeten, den Firfternen zu
uns kommt, iſt von derſelben Natur wie das auf
unſerm Erdball hervorgebrachte; es wird in unſern
Fernröhren und Spiegelteleskopen auf gleiche Weiſe
gebrochen, zurückgeworfen, zu Bildern geſammelt,
wie das Licht von den irdiſchen Gegenſtänden. Es
liegt in dieſen zahlloſen Erfahrungen ſchon ein
großer Theil von dem, was hier bewieſen werden
ſoll, wie jeder, der die Theorie unſerer optiſchen
Werkzeuge kennt, klar einſehen wird. Unſere
Erperimente über das Licht zeigen daſſelbe unter
andern Formen. Wir bringen durch irdiſches Licht
dieſelben chemiſchen Wirkungen hervor, wie durch
das Licht der Sonne und der übrigen Himmels—
körper; wir entwickeln daraus die Farben nach
denſelben Geſetzen, und ſtellen ſo auf eine mehr
augenſcheinliche Weiſe jene Gleichheit dar, welche
uns ſchon die optiſchen Werkzeuge lehrten. Wir
polariſiren alles Licht, es ſey nun irdiſches oder
ein von den Himmelskörpern kommendes, auf die—
ſelbe Weiſe. Aus der Aſtronomie holen wir noch
x 238
die große, aus der Aberration dargethane That—
ſache nach, daß das aus allen Theilen des Welt—
alls uns zukommende Licht gleiche Geſchwindigkeit
hat. — Fügen wir noch hinzu, daß die Licht—
erſcheinungen, die wir an den mit Monden ver—
ſehenen Planeten beobachten, z. B. die Schatten,
welche die Monde auf den Hauptplaneten werfen,
oder dieſer auf ſeine Monde, durchaus ſo erfolgen,
wie ſie nach den uns bekannten Naturgeſetzen er—
folgen müſſen.
Es geht alſo ſowohl aus allen Verhältniſſen
des Lichts, wie aus jenen der Bewegung hervor,
daß in dem ganzen unermeßlichen Gebiet des Welt—
alls keine Grenze ſich finde, jenſeits welcher die Ge—
ſetze ungültig würden, welche unſer Geiſt fordert.
Es bietet ſich hier eine gute Gelegenheit dar,
einige Beiſpiele von den großen Verſchie den—
heiten zu geben, die neben der Weſens einheit
beſtehen können. Wir kennen bereits bei den
Thieren unſeres Erdballs eine große Verſchieden—
heit in der Einrichtung des Auges; wie verſchieden
iſt dieſe bei dem Säugethier, dem Fiſch, dem In—
jeft! — Um wie vielmehr verſchieden von den
Sehorganen auf unſerer Erde müſſen nicht die auf
239
andern Weltkörpern ſeyn! — Dagegen iſt es kaum
wahrſcheinlich, daß es irgendwo erkennende Weſen
geben ſollte, denen das Licht keine Kunde von den
entfernten Gegenſtänden brächte.
Aus der Theorie des Lichts konnen wir ler—
nen, daß ſehr große Verſchiedenheiten des Geſichts—
ſinnes möglich ſind. Sie zeigt uns nämlich, daß
das Licht durch Schwingungen des Aethers her—
vorgebracht wird. Wir empfangen nur recht ent—
ſchiedene Lichteindrücke durch ſolche Aetherwellen,
deren Breite zwiſchen 300 und 175 Millionenthei—
len einer Linie liegen, und nur noch wenigen Ein—
druck von ſolchen, die etwas darüber oder darunter
fallen. Die für unſere Geſichtsempfindung gar zu
langſamen — d. i. die von größerer Wellenbreite —
bringen bei uns Wärmegefühl hervor; die ſchnel—
lern geben ſich durch gewiſſe chemiſche Wirkungen
kund. Es mag aber Lichtorgane geben, welche nur
jene langſamern Schwingungen empfinden, oder
nur dieſe ſchnellern, oder auch alle die von uns
empfundenen zugleich mit mehrern der andern. Es
iſt dieſe Möglichkeit keine bloß abſtrakte, ſondern
eine in der Natur der Dinge vollkommen gegrün—
dete; denn wir wiſſen, daß jene auf das Geſicht
240
nicht wirkenden Strahlen nach denſelben Geſetzen
gebrochen und zurückgeworfen werden wie die ſicht—
bar machenden, und daß ſie daher Bilder hervor—
bringen können. Diejenigen Strahlen, welche ſich
durch chemiſche Wirkungen auszeichnen, geben uns,
wie bekannt, ſehr ſchöne Abbildungen der Dinge.
Da die Farbeneindrücke durch Aetherſchwingun—
gen von ungleicher Geſchwindigkeit in uns hervor—
gebracht werden, ſo wird auch die Farbenwelt ſich
für andere Weſen auf andere Weiſe darſtellen;
doch wird, dieſer Unähnlichkeit ungeachtet, eine
wichtige Uebereinſtimmung darin ſtattfinden, daß
die ungleichen Geſchwindigkeiten der Schwingungen
eben ſo viele ungleiche Eindrücke innerhalb der—
jenigen Grenzen, welche der innern Vollkommen—
heit des Sinnes geſetzt ſind, hervorbringen. Die
Fähigkeit Farben wahrzunehmen, kann dagegen bei
andern Geſchöpfen einen größern Umfang haben,
als bei uns. Unter den Farben, welche durch
unſern Lichtſinn empfunden werden, wird die
rothe durch die langſamſten Zitterungen des Aethers
erzeugt, die violette durch die ſchnellſten; aber dieſe
erreichen, wie ſchon geſagt, noch nicht die doppelte
Schnelligkeit jener. Das äußerſte Geſchwindigkeits—
241
verhältniß der Farbenzitterungen liegt alſo bei
uns, ſelbſt für das empfindlichſte Auge, zwiſchen
1 und 2. Wir ſind hinſichtlich der Farben in
demſelben Falle, wie ein Menſch in Bezug auf die
Töne ſeyn würde, wenn der Umfang ſeines Ton—
ſinnes nur eine Octave betrüge. Ein Geſchöpf,
deſſen Sinn eben ſo viele Octaven des Lichts um—
faßte, als wir für die Töne haben, würde zahlloſe
Kenntniſſe und Gefühle beſitzen, die uns abgehen.
Auch die ungleiche Empfänglichkeit für Licht
von ungleicher Stärke muß die größten Verſchie—
denheiten hervorbringen. Wir wollen unſere Ge—
danken abermals zu dem Jupiter hinwenden. Die—
ſer Weltkörper erhält fünfundzwanzigmal ſo wenig
Licht auf jedem Quadratzoll als der unſrige. Die
Beleuchtung der Gegenſtände kann vielleicht durch
eine trübere Atmoſphäre noch verringert werden.
Es iſt daher höchſt wahrſcheinlich, daß ſeine Be—
wohner ein feineres Lichtgefühl als wir haben,
um die ſie umgebenden Gegenſtände zu erkennen.
Aber dieſe höhere Empfänglichkeit bringen ſie auch
zur Beſchauung des Himmels mit. Inſofern ihre
Atmoſphäre nicht eine viel geringere Durchſichtig—
keit hat, als die unſrige, wird ſich ihnen alſo der
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 11 16
242
Sternenhimmel viel reicher und glanzvoller zeigen;
auch werden ſie mehr von dieſer Beobachtung ler—
nen, mithin weit leichter umfaſſende Kenntniſſe des
Weltalls ſich erwerben. Wegen der mehr als doppelt
ſo ſchnellen Umdrehung ihres Weltkörpers empfan—
gen ſie den Eindruck der ſcheinbaren Umdrehung des
Himmels in ſchnellerer Aufeinanderfolge, welches
auch auf den Eindruck ſelber von Einfluß ſeyn
wird; ja man kann ſelbſt vermuthen, der ſchnelle
Wechſel zwiſchen Tag und Nacht werde mit einer
entſprechenden ſchnellen Abwechslung zwiſchen Thä—
tigkeit und Ruhe, und dieſe wiederum mit einem
geſchwinderen und lebendigern Empfangen, ſowie
mit einem ſchnellern Verſchwinden der Eindrücke
verbunden ſeyn. Hierzu kommt noch, daß der
Jupiterbewohner vermöge des größern Durchſchnitts
der Bahn ſeines Weltkörpers vom Weltgebäude
auch mehr ſehen, und mit größerer Leichtigkeit die
Meſſungen, welche zur Beſtimmung der Entfer—
nungen der Firfterne nöthig find, zu machen im
Stande ſeyn wird.
Es verſteht ſich, daß ich hier bloß mögliche,
unter gewiſſen Bedingungen nothwendige oder
wahrſcheinliche Verhältniſſe aufgeſtellt habe; es iſt
243
offenbar, daß auch andere Bedingungen ftattfinden
können, z. B. eine größere oder geringere Voll—
kommenheit der Theile, welche bei jenen Bewoh—
nern unſerm Nervenſyſtem entſprechen mögen. Der
Zweck war hier allein zu zeigen, wie neben der
Weſenseinheit die vielfältigſten Verſchiedenheiten
beſtehen können.
Ueber die Schallempfindungen werde ich mich
nun ſehr kurz faſſen. Alle Schwingungen von einer
gewiſſen Schnelligkeit in Körpern von hinreichen—
der Dichtigkeit bringen Wirkungen auf unſer Ge—
hörorgan hervor, doch ſind bekanntlich die Schwin—
gungen, welche in luftförmigen Körpern hervorge—
bracht werden, am vollkommenſten geſchickt, die
mannigfaltigſten und beſtimmteſten Schallempfindun—
gen in uns hervorzurufen. Schwingungen müſſen
auf allen Weltkörpern hervorgebracht werden kön—
nen, auf die Organiſation der Bewohner aber
wird es ankommen, welche Vibrationsgeſchwindig—
keiten beſtimmte, zur Erkenntniß der Umwelt füh—
rende Empfindungen erregen ſollen.
Ich habe bisher nur Beiſpiele angeführt, welche
in einem umfaſſenderen Sinne des Worts mechaniſche
genannt werden können; man wird nach chemiſchen
244
fragen, wobei abermals das Wort in einem weiteren
Sinne genommen werden mag; wir wollen jetzt ver—
ſuchen, ſolche zu geben. Es muß anerkannt werden,
daß die chemiſchen Naturgeſetze ebenſowohl wie die
mechaniſchen Vernunftgeſetze ſind. Zwar läßt dieſe
Behauptung ſich in Bezug auf jene nicht ſo voll—
ſtändig durchführen wie in Bezug auf dieſe. Es
iſt eine große Thatſache aus der Geſchichte dieſes
Zweiges der Wiſſenſchaft, daß der chemiſche Theil
der Naturlehre ſich weit ſpäter als der mechaniſche
entwickelt hat; die Kenntniſſe des 16. Jahrhun—
derts von der Wärme, der Elektricität, dem Mag—
netismus und ſelbſt von den Verbindungen und
Trennungen der Stoffe waren nur geringe, meiſt
von der Erfahrung gegebene Bruchſtücke, aus denen
den Forſchern nur hie und da eine Geſetzmäßigkeit
durchſchimmerte; aber der Vernunftzuſammenhang
in dieſem Allem iſt um ſo mehr klar geworden, je
reichhaltiger unſere Kenntniſſe geworden ſind. Ich
weiß wohl, daß ich hier etwas als Reſultat der Ge—
ſchichte aufſtellte, was ſich für den Denker von ſelbſt
verſteht, aber es iſt nicht genug, daß dieſe Wahr—
heit zugeſtanden werde, ſie muß hier hervorgehoben
werden, um die innere Anſchauung zu ergänzen.
1
Fi
So
Welche Geſetzeseinheit hat man nicht nach
und nach in immer größerer Ausdehnung zwiſchen
den Wärmeerſcheinungen gefunden, und wie voll—
kommen befolgt nicht die Wärmeausſtrahlung die—
ſelben Vernunftvorſchriften, welche wir für das
Licht anerkannten! Unſere Kenntniſſe der Elektricität
machten durch das 17. und den Anfang des 18.
Jahrhunderts nur langſame Fortſchritte; aber ſeit
Benjamin Franklin das Grundgeſetz derſelben ge—
funden hatte, daß nämlich die beiden verſchiedenen
Elektricitäten als überall verbreitete Thätigkeiten
und entgegengeſetzte Größen zu betrachten
ſind, ſehen wir immer eine Entdeckung aus der
andern hervorwachſen. Die Vernunft konnte nun
aus einer klar eingeſehenen großen Wahrheit viel—
fältige andere ableiten, und in der Natur ſie nach—
weiſen. Die Entdeckung der Volta'ſchen Säule,
zwar durch die des Galvanismus veranlaßt, war
doch in anderer Hinſicht ein Reſultat jener Theo—
rie; und wie viele Wirkungen dieſer Säule wur—
den nicht in der Folge durch das von der Erfah—
rung geleitete Nachdenken entdeckt! Kaum hatte die
Erfahrung gezeigt, daß jene Säule Waſſer in ſeine
Beſtandtheile zerlegt, ſo folgten ſich die ſchönſten
246
Entdeckungen eleftrifch- chemischer Wirkungen eine
Reihe von Jahren hindurch, und ſetzen ſich noch fort.
Die magnetiſchen Forſchungen ſchritten in einer
ähnlichen Weiſe im 17. und 18. Jahrhundert vor—
wärts, und knüpften ſich nachher an die Entdeckung
des Elektromagnetismus an. Jeder weiß, daß
die denkende Betrachtung der Natur dieſe Ent—
deckung lange gefordert hatte, daß dieſelbe aber, als
ſie zur Wirklichkeit kam, weit inhaltsreicher befunden
ward, als dieß die frühern Zeiten erwarten konnten.
Das neue Geſetz des Kreislaufes, es möge dieſer
in den elektriſchen Strom, oder in den Magnet
geſetzt, oder durch weitere Entdeckungen auf ein
einfacheres Geſetz zurückgeführt werden, wurde
ein Wegweiſer zu neuen Schlüſſen, die ſich in der
Erfahrung bewährten.
Im Laufe derſelben Jahrhunderte ſchritt die
Chemie ebenfalls denkend und erfahrend, erfahrend
und denkend fort. Anfangs wurden die gefunde—
nen Naturgeſetze zwar vielfältig durch Irrthümer
umnebelt, was ſelbſt in einem mehr fortgeſchrittenen
Zuſtande nicht vermeidlich iſt; aber die entdeckten
Geſetze wurden mehr und mehr von dieſem Nebel
befreit, und traten in ihrer Vernunftnothwendigkeit
247
hervor. Zu unſerer Zeit ſehen wir ſchon die
Anfänge mathematiſcher Geſetze der Stoffverbin—
dungen und des Zuſammenhangs der Formen mit
den Beſtandtheilen hervordämmern; ich ſage her—
vordämmern; nicht als ob die gemachten Entdeckun—
gen mehr wie viele andere menſchlichen Kenntniſſe
dem Zweifel unterliegen, ſondern weil ſie offenbar
nur die Morgendämmerung von dem ſind, was in
Zukunft zu erwarten iſt.
Von der größten Wichtigkeit aber iſt es, hier
noch hervorzuheben, daß die Entdeckungen dieſes
Jahrhunderts die Einheit aller hier beſprochenen
Wirkungen dargethan haben. Zwar läßt ſich dieſe
Einheit nicht ſo vollkommen darſtellen wie die Ein—
heit in allen Bewegungsgeſetzen; aber ſie iſt doch
durch die Entdeckungen unſeres Jahrhunderts ſo
ſehr beglaubigt und beleuchtet, daß ſie ſich nicht
mehr bezweifeln läßt. Zudem ſehen wir ſchon
vielfältige Andeutungen einer Zukunft, in welcher
ſich die chemiſchen und mechaniſchen Naturgeſetze
zu einem inniger zuſammenhängenden Wiſſen ver—
einigen werden.
Kurz, die chemiſchen Naturgeſetze ſind eben—
ſowohl Vernunftgeſetze als die mechaniſchen; und
248
beide ſtehen in einem ſolchen innigen Zuſammen—
hange, daß ſie als eine Vernunfteinheit angeſehen
werden müſſen. Es frägt ſich nun, ob ſie auch
über das ganze Weltall gelten? Die Vernunft
fordert es; aber dieß iſt uns hier nicht genug;
wir wollen die Sache für die geiſtige Anſchauung
darſtellen.
Wir fangen damit an, uns zu überzeugen,
daß die allgemeinen Eigenſchaften der Materie
überall dieſelben ſind. Ausdehnung und Figur
ſehen wir an den Himmelskörpern; der Zuſammen—
hang und die Theilbarkeit laſſen ſich zwar nicht
unmittelbar an den fremden Weltkörpern nachwei—
ſen, aber es wird ſich im Folgenden zeigen, daß
ihre Annahme durch andere erwieſene Eigenſchaf—
ten nothwendig gemacht wird. Von der größten
Wichtigkeit wird uns die Schwere als eine der
Grundeigenſchaften der Materie. Sie iſt als eine
Erſcheinung der allgemeinen Anziehung anerkannt,
aber es wird zweckdienlich ſeyn, ſie als ſolche hier
näher zu beleuchten. Die mechaniſche Phyſik beweist,
daß alle Planeten, wenn ſie in gleiche Entfernung
von der Sonne gebracht werden könnten, ohne Rück—
ſicht auf die Ungleichheit ihrer Maſſen mit gleicher
249
Geſchwindigkeit gegen die Sonne fallen würden, und
daß die Monde in Bezug auf ihren Hauptplaneten
demſelben Geſetze unterworfen ſind. Es iſt dieſes
ebenſo gewiß als die Keplerſchen Geſetze und die
Grundlehren der Mechanik; wir ſehen demnach
daſſelbe Geſetz der gleichen Fallgeſchwindigkeit der
Körper, welches wir in Bezug auf die Erde er—
kannt haben, nur mit andern Größen, ebenfalls
für den Fall gegen die Sonne, und für den ge—
gen jeden mit Monden verſehenen Planeten, gel—
ten; aber wir bleiben dabei noch nicht ſtehen, denn
eine weitergeführte Unterſuchung zeigt, daß daſſelbe
Geſetz für alle Weltkörper gilt.
Dasjenige, was man Undurchdringlichkeit ge—
nannt hat, und was eigentlich ein Reſultat der
Ausdehnungskraft iſt, folgt aus der ſchon bewie—
ſenen Anziehung, die auf und in allen Weltkör—
pern ſtattfindet; denn ohne einen Widerſtand würde
die Anziehung alle Theile in einen Punkt zuſam—
mendrängen. Man kann daſſelbe auch ſo aus—
drücken: jeder Theil eines Weltkörpers muß, der
Schwere der andern Theile zufolge, den Druck ſo—
wohl aller überliegenden Theile tragen, als auch
den Seitendruck aller benachbarten, was nur
250
vermöge der ſogenannten Undurchdringlichkeit geſche—
hen kann. Wo aber Anziehungs- und Ausdehnungs—
kraft vorhanden ſind, da iſt Zuſammenhang, und
wo dieſer nicht unüberwindlich iſt, was ſich nicht
denken läßt, da iſt Trennbarkeit der Theile, mit—
hin Theilbarkeit.
Uebrigens zeigen auch die Planeten, durch ihre
Fähigkeit das Licht zurückzuwerfen, die Gleichheit
ihrer Materie mit der der Erde; denn ohne eine
ſolche könnten ſie nicht auf die Aetherwellen, die
das Licht hervorbringen, die zu der Zurückwerfung
nöthige Wirkung haben. Aber auch die ſelbſtleuch—
tenden Weltkörper könnten ohne dieſe Eigenſchaft
in dem Aether keine Wellen erregen. Wollte man
auch eine andere Theorie des Lichts annehmen,
jo würde doch irgend eine mechaniſche Kraft nöthig
ſeyn, das Licht auszuſenden, denn auch die ſoge—
nannte Newton'ſche Theorie wird dieſer Kraft, die
Lichttheilchen mit unermeßlicher Geſchwindigkeit her—
auszuſchleudern, bedürfen.
Die Beweglichkeit, welche unter die allgemeinen
Eigenſchaften der Körper gezählt wird, wird uns
durch das ganze Weltſyſtem, worin Alles Bewe—
gung iſt, dargeſtellt. Die Inertie, welche nichts
u 251
weiter iſt, als die Willenloſigkeit des Unbeſeelten,
iſt für das ganze Weltall erwieſen, indem ſie in
unſern zahlloſen, durch ihr Zutreffen beglaubigten
Vorherſagungen der Bewegungen der Himmels—
körper vorausgeſetzt wird.
Wir können nun zu Eigenſchaften und Wir—
kungen übergehen, deren Allgemeinheit man nicht
ſo ſehr hervorzuheben pflegt, obgleich man ſie zum
Theil in wichtigen Vorausſetzungen anerkennt.
Daß die Geſetze der Wärme auch nicht auf
unſern Erdball beſchränkt ſind, iſt eine alte und
richtige Vorausſetzung, welche durch die Einſichten
unſerer Zeit beſtätigt wird. Die uns von der
Sonne zukommenden Wärmeſtrahlen wirken durch—
aus nach denſelben Geſetzen, wie die Wärmeſtrah—
len unſerer Erde. Es iſt nunmehr auch anerkannt,
daß Wärme und Licht nur durch die verſchiedene
Schnelligkeit der Aetherſchwingungen verſchieden
ſind, und daß die Lichtſtrahlen in Wärmeſtrahlen
übergehen können. Da nun weiter die Strahlung
als die Grundthätigkeit der Wärme betrachtet werden
muß, ſo wird man annehmen müſſen, daß die Ge—
ſetze der Wärme für's ganze Weltall gelten. Bei
uns beruht Feſtigkeit, Tropfbarkeit, Luftzuſtand auf
Wärmeverhältniſſen; ift nun die Materie überall
dieſelbe, ſo werden dieſe Zuſtände auch überall
unter gleichen Bedingungen ſtattfinden.
Wir ſehen hier eine völlige Beſtätigung der
ſchon lange allgemein gemachten Vorausſetzung,
daß die Planeten nicht bloß in Bezug auf das
Licht, ſondern auch in Hinſicht auf die Wärme,
dieſelbe Vertheilung nach Tagen und Jahreszeiten
auf ihrer Oberfläche haben, wie ſie auf der Erde
jtattfindet. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß be—
ſtimmte Urſachen von dieſer Vertheilung Ausnah—
men hervorbringen können, wie z. B. der Ring
des Saturns.
Bedenken wir ferner, daß unſere Verſuche ge—
zeigt haben, wie die Körper durch Reibung, durch
Berührung ungleichartiger Theile, durch Wärme—
verſchiedenheiten elektriſch und magnetiſch werden
können, ſo dürfen wir kaum zweifeln, daß dieſel—
ben Wirkungen nach denſelben Geſetzen auch auf
andere Planeten erfolgen werden, und daß daſſelbe
auch von der Hervorbringung der Wärme, des
Lichts und der magnetiſchen Kraft durch Elektrici—
tät, und wiederum der Elektricität durch Magnet—
einflüſſe u. ſ. w. gelten müſſe.
253
Dieſes Alles muß ſich aber auch auf die chemi-
ſchen Wirkungen im engern Sinne des Worts:
auf die Verbindung und Zerlegung der Stoffe an—
wenden laſſen. Wir bringen ja durch Elektricität
die verſchiedenſten innern Veränderungen hervor;
wie wäre es wohl möglich, daß ein kräftiger elek—
triſcher Strom, der hier einen Körper in Staub
und Dampf verwandelt, es nicht auch auf andern
Weltkörpern thun ſollte? Sollten nicht Verbindun—
gen entgegengeſetzter Stoffe auch anderswo durch
den elektriſchen Strom aufgehoben werden? Und
ſollten ſich nicht, dort wie hier, die von einander
getrennten chemiſchen Grundtheile wie die Quan—
titäten der angewandten elektriſchen Kräfte verhalten?
Ein geiſtreicher Chemiker und vortrefflicher Ex—
perimentator wurde vor einigen Jahren durch wich—
tige Fragen ſeiner Wiſſenſchaft auf eine Vermuthung
gebracht, die mit der Allgemeinheit eines der gro—
ßen Naturgeſetze in Widerſpruch ſteht, nämlich daß
die Maſſen verſchiedener Stoffe, welche auf unſerer
Erde daſſelbe Gewicht haben, dieſes nicht in Bezug
auf andere Weltkörper hätten; welches mit andern
Worten ſagen würde, daß die Anziehung keine All—
gemeinheit haben ſollte. Als wahrer Experimentator
ſtellte er dieſen Gedanken auf die Probe und wog
ſolche Körper, die ſeinen Zweifel geweckt hatten,
zu verſchiedenen, ſo gewählten Tages- und Nacht—
ſtunden, daß wenn die Sonne dieſe Stoffe nicht
ebenſo wie die Erde anzöge, eine Ungleichheit
des Gewichts ſtattfinden müßte; er fand aber bei
den ſorgfältigſten Wägungen keinen Unterſchied.
So hat es ſich alſo gezeigt, daß ein Verhältniß,
welches mit der Lehre von der innern Natur der
Körper in dem engſten Zuſammenhange ſteht, ſeine
Allgemeinheit gegen die in der Chemie erhobenen
Zweifel unerſchütterlich behauptet hat.
Unzählige Boten aus dem Weltraum haben
uns auf eine merkwürdige Weiſe von der gleichen
Natur der Materie, in und außer der Erde, Kunde
gebracht, und ſogar eine Gleichheit angedeutet, die
mehr ins einzelne geht, als wir dieß auf anderem
Wege hätten erfahren können; ich ſpreche von den
Meteorſteinen. Mag ihre Maſſe auch beim Ein—
tritt in unſere Atmoſphäre neue Verbindungen ein—
gehen, ſo iſt doch ihre Uebereinſtimmung mit den
Körpern unſerer Erde, ſowohl in Beziehung auf die
Grundſtoffe als auf die Verbindungsarten und die
daraus entſpringenden Kryſtallformen, ſehr ſprechend.
255
Alſo überall dieſelbe Materie, dieſelben Kräfte,
dieſelben Geſetze, und dieſe Geſetze ſind Vernunft—
geſetze, können folglich nur von Vernunftweſen
erkannt werden.
Wir haben noch eine höchſt wichtige Seite un—
ſeres Gegenſtandes zu betrachten: die gleiche Ent—
wickelungsart aller Planeten, und was daraus für
unſern Zweck abgeleitet werden kann. Wir wiſſen,
daß die Erde früher flüſſig war, ehe ſie feſt wurde.
Unter den Beweiſen dieſer Wahrheit haben wir
einen, der ſich auch auf andere Weltkörper anwen—
den läßt, nämlich: die Abweichung unſeres Erd—
balls von der Kugelgeſtalt, welche im Vorhergehen—
den auch in anderer Rückſicht unſere Aufmerkſamkeit
auf ſich gezogen hat. Es iſt ja eine anerkannte
Wahrheit, daß die Kräfte, welche der Erde die
wohlbekannte Abweichung von der Kugelgeſtalt ge—
geben haben, dieſes nur auszurichten vermochten,
während der Weltkörper in ſeinem flüſſigen Zu—
ſtande ſich befand; da nun dieſe Abweichung von
der Kugelgeſtalt auch bei andern Planeten ſtatt—
findet, inſofern man ihre Figur und Achſendrehung
hat beſtimmen können, und da das Verhältniß der
verſchiedenen Durchmeſſer in jedem dieſer Welt—
256
körper ein ſolches iſt, wie es die Anwendung der
uns bekannten Naturgeſetze fordert, ſo ergibt ſich,
daß auch die andern Planeten flüſſig geweſen ſind.
Sind wir nun von der Ueberzeugung durch—
drungen, daß Alles in dem ganzen körperlichen
Daſeyn aus derſelben Materie, durch dieſelben
Kräfte und nach denſelben Geſetzen hervorgebracht
wird, ſo können wir nicht anders als einräumen,
daß die Planeten ſich nach denſelben Geſetzen wie
unſere Erde ausgebildet haben. Von dieſer aber
wiſſen wir, daß ſie ſich durch unermeßliche Zeit—
räume in einer Reihe von Umgeſtaltungen ent—
wickelt hat, und mit ihr zugleich die Gewächſe und
Thiere. Dieſe Ausgeſtaltung begann mit den nie—
dern Gebilden, und ſchritt fort zu immer höhern,
bis endlich in dem neueſten dieſer Zeiträume das
Geſchöpf hervorgebracht wurde, in welchem das
ſelbſtbewußte Erkennen ſich offenbarte. Wir müſſen
alſo auch eine ähnliche Entwickelung der andern Pla—
neten annehmen. Auf vielen derſelben mag ſie noch
nicht zu einer ſo hohen Stufe gelangt ſeyn, wie
auf unſerm Erdball, auf andern mögen ſich weit
höhere Weſen entwickelt haben; allenthalben aber
ſind die vernünftigen Weſen in demſelben Sinne
257
Naturerzeugniſſe, wie wir es find, d. i., ihr ganzes
Erkennen iſt an die Organe des Körpers gebun—
den; die Art ihrer Erkenntniß kann demnach nicht
von der unfrigen grundverſchieden ſeyn, ſondern
muß denſelben Geſetzen gehorchen. Ich ſpreche
hier nur eine, in Bezug auf den Menſchen un—
läugbare Thatſache aus, ohne mich in die Tiefen
der Unterſuchungen über die Art, wie das Geiſtige
mit dem Körperlichen zuſammenhängt, einzulaſſen.
Nur um jeden Schein des Materialismus abzu—
wenden, weiſe ich auf den verſöhnenden Gegenſatz
hin, daß dieſelbe Natur, deren Produkt der Menſch
unläugbar iſt, als ein Produkt des ewigſchaffenden
Geiſtes anerkannt werden muß, und daß demnach
der göttliche Urſprung unſeres Geiſtes auf keine
Weiſe durch die Einräumung der Rechte der Natur
verneint wird. Mit andern Worten: der Begriff
vom Weltall iſt unvollſtändig, wenn dieſes nicht
als ein beſtändig fortgeſetztes Werk des ewig ſchaf—
fenden Geiſtes aufgefaßt wird. Das Schaffende
darin iſt das Geiſtige; das Körperliche iſt das
Produkt des Schaffenden, und würde aufhören,
wenn das hervorbringende Wirken aufhören könnte.
Als Naturerzeugniß in dieſem Sinne muß das
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 17
258
Geiſtige im Menſchen die Naturgeſetze enthalten,
doch nur ſo, daß dieſe durch die Einwirkung der
Natur ins Bewußtſeyn gerufen werden, während
die umgebende Natur ohne Zuthun von Seiten des
Menſchen übereinſtimmend mit ſeinem Erkenntniß—
vermögen wirken muß, obgleich dieſes Erkenntniß—
vermögen größtentheils erſt nach Jahrtauſenden zur
Einſicht jener Harmonie zu gelangen vermag. Man
ſieht leicht, daß die Gründe, welche uns zu dieſer
Ueberzeugung beſtimmen, auch für das ganze Weltall
gelten. — Durch das ganze Weltall ſind Weſen
verbreitet, mit Erkenntnißvermögen begabt, um die
Funken des göttlichen Lichts zu faſſen; und Gott
offenbart ſich dieſen Weſen durch die ſie umgebende
Welt, erweckt die in ihnen ſchlummernde Vernunft
durch die Vernunft, die in alle dem herrſcht, was
Eindruck auf ſie macht; läßt ſie aber immer deſto
tiefere Blicke in das körperliche Daſeyn thun, je
mehr ihr eigener Geiſt geweckt wird, ſo daß ſie
ſich in eine unaufhörliche, lebendige Entwickelung
verſetzt finden, welche, nachdem ſie einen gewiſſen
Punkt erreicht hat, ſie von der Einbildung ſtets
mehr entfernt, daß die handgreifliche Maſſe die
Grundlage des Daſeyns ſey, und ſie dahin führt,
259
ſich ſelbſt mit Geiſt und Körper als Glieder eines
unendlichen Vernunftorganismus zu erkennen und
anzuſchauen. So begegnen denn die Wahrheiten
der Naturwiſſenſchaft fortwährend mehr und mehr
denen der Religion, ſo daß beide zuletzt auf das
Innigſte ſich an einander ſchließen müſſen.!
Die Grundähnlichkeit der Schönheitsgeſetze im ganzen
Weltall.
Wenn ſowohl die Weſenheit der Daſeynskräfte
als die des Erkenntnißvermögens durch das ganze
Weltall erwieſen iſt, ſo folgt daraus, daß eine
gleiche Weſenseinheit auch für den Schönheitsſinn
und für das Gewiſſen gelte; doch dieſes dürfte
ohne eine nähere Entwicklung keine ſo willige
(Man wird es nicht unbemerkt laſſen, daß ich hier
Wahrheiten wiederhole, welche ich auch in andern Theilen
dieſer Schrift angeführt habe; da ſie aber jedesmal in einem
andern Zuſammenhang mit dem Uebrigen aufgeſtellt wurden,
und nicht ohne Nachtheil für die Geſammtheit, der ſie an—
gehören, ausgelaſſen werden konnten, ſo hoffe ich, man werde
dieſe und einige andere Wiederholungen zuläſſig finden.
260
Annahme finden. Wir wollen mit dem Schönheits—
ſinn anfangen.
Es iſt durch das Vorhergehende bereits gezeigt,
daß auf allen andern Weltkörpern dieſelben Grund—
kräfte der Natur herrſchen, und daß dieſelben Grund—
geſetze dort gelten wie auf unſerm Weltkörper; daß
die lebenden Weſen anderer Weltkörper durch die—
ſelben Grundkräfte der Natur und nach denſelben
Grundgeſetzen wie die lebenden Weſen unſeres
Weltkörpers hervorgebracht worden ſind; daß ſie
ein Denkvermögen von der Natur des unfrigen,
wenn auch in Stärke und Klarheit noch ſo ver—
ſchieden, daß ſie Sinnenfähigkeiten haben müſſen,
vermittelſt derer ſie die körperlichen Einwirkungen
auffaſſen, und daß zu dieſer Fähigkeit nicht bloß
äußere Sinnenwerkzeuge gehören, ſondern auch eine
innere Fähigkeit, die durch die Sinne empfangenen
Eindrücke aufzunehmen und zu bewahren, kurz in—
nerer Sinn. Zu dieſem gehört unter andern das
Vermögen die Eindrücke, welche durch die Schwin—
gungen äußerer Körper in dem eigenen Körper des
ſelbſtbewußten Weſens hervorgebracht werden, auf—
zufaſſen und ebenfalls das Vermögen, durch Aether—
ſchwingungen Kenntniß von der Außenwelt zu
*
261
empfangen. Der erſte dieſer Sätze hat zwar die
andern zur nothwendigen Folge, doch ſind ſie im
Vorhergehenden beſonders beleuchtet worden.
Wenn wir das Schönheitsgefühl ſo betrachten,
wie es ſich den vernünftigen Bewohnern unſeres
Weltkörpers offenbart, ſo finden wir, daß ſein Weſen
darin beſtehe, daß unſer innerer Sinn nach den
Vernunftgeſetzen des übrigen Daſeyns ſo gebildet
iſt, daß er ſich durch dasjenige befriedigt fühlt, was
das Gepräge der Vernunft trägt, ohne daß bei
dem Genuß irgend ein Bewußtſeyn dieſer Vernunft
erforderlich wäre. Man findet dieſe Wahrheit in
dem vorhergehenden Geſpräch: „der Springbrunnen“
dargelegt; diejenigen aber, welche davon eine
umfaſſendere Entwicklung wünſchen, verweiſe ich
auf meine Schrift: „Zwei Kapitel aus der Natur—
lehre des Schönen.“ ! Daſſelbe Geſetz muß für die
denkenden, ſinnlichen Weſen eines jeden der andern
Weltkörper gelten; dieſe Wahrheit bedarf keines
eigentlichen Beweiſes, wohl aber einer nähern
(Von dieſer kleinen Schrift iſt auch eine deutſche Ueber—
ſetzung herausgekommen, auf deren Titelblatt es aber ver—
geſſen iſt zu ſagen, daß ſie nur zwei Kapitel aus der
Naturlehre des Schönen enthält.
19
Beleuchtung um Eingang zu finden. Es ift im
vorhergehenden Abſchnitt gezeigt worden, daß die
Bewohner anderer Weltkörper die Geſetze der Bewe—
gung im Weſentlichen ſo wie wir auffaſſen müſſen,
unter andern, wie bereits angedeutet wurde, die
Figur der Mondbahnen, deren Beſtimmung mathe—
matiſche Wahrheiten vorausſetzt; auch ſie müſſen in
dem Zirkel, in der Ellipſe, in der Parabole u. ſ. w.
dieſelben Vernunftgeſetze erkennen, welche wir darin
ſehen, und müſſen ſich — da auch ſie ſinnliche, in
Zeit und Raum hervorgebrachte Weſen ſind, und
auch ſie Eindrücke der Dinge in Zeit und Raum
empfangen — die durch mathematiſche Geſetze des
Denkens hervorgebrachten Figuren im Weſentlichen
auf dieſelbe Weiſe wie wir vorſtellen. Alle geſetz—
mäßigen Figuren aber ſind als mathematiſche zu
betrachten, ſo daß das Beiwort mathematiſch über—
flüſſig wäre und nur gebraucht würde, um die Auf— |
merkſamkeit auf die Figuren hinzuleiten, deren ma—
thematifche Behandlung am allgemeinſten bekannt iſt.
Der Formenſinn muß alſo eine wirkliche Weſens—
ähnlichkeit auf allen Weltkoͤrpern haben; auf allen
muß er in Uebereinſtimmung mit der Vernunft
gebildet worden ſeyn; er kann daher nur durch
263
das Vernunftmaßige Befriedigung finden und muß
Anſtoß an dem Vernunftwidrigen nehmen. Man
denke ſich einen richtig gezeichneten Zirkel neben
einer Figur, die nur ein ſchlechter Verſuch der—
ſelben Zeichnung iſt, und man wird leicht begreifen,
daß es keinen nach Vernunftgeſetzen gebildeten Sinn
geben kann, welcher eine größere oder auch nur
gleiche Befriedigung durch den Eindruck der letzte—
ren, wie durch den der erſteren empfangen könnte;
daſſelbe läßt ſich von der Zeichnung jeder andern
Figur ſagen; überhaupt weist dieſes eine Beiſpiel
auf zahllofe andere hin. Für uns Erdebewohner iſt
die Symmetrie eine der umfaſſendſten Schönheits—
formen; aber ſie iſt in einer der Hauptformen des
Denkens, der Einheit von Gegenſätzen, tief be—
gründet; man kann ſich daher nicht Weſen anderer
Weltkörper denken, welche die Symmetrie nicht
ſchön finden ſollten, weil ja bei Allen der Sinn
vernunftgemäß ſeyn muß. Hier auf unſerm Erd—
ball wird durch die menſchliche Geſtalt die höchſte
Idee ausgedrückt, welche in irgend einem irdiſchen
Geſchöpf ausgedrückt werden kann, nur in jeder
beſondern Menſchengeſtalt mit einer beſondern Ent—
wicklungsrichtung und zudem bei den Allermeiſten
mit einer ſo großen Beimiſchung von Zufälligkeiten,
daß der reine Ausdruck der Idee dadurch etwas
verdunkelt wird; wo aber das vernunftbeſeelte Na—
turwerk ſich dieſer Idee in hohem Grade nähert,
oder wo der Künſtler dieſelbe ergriffen und darge—
ſtellt hat, ſteht das höchſte Bild der Schönheit vor
uns, welches die Körperwelt geben kann (ſiehe
S. 55). Auf jedem der andern Weltkörper wird
das Weſen, in welchem ſich die Vernunftidee auf
das Vollkommenſte verwirklicht hat, einen dieſem
verwandten Eindruck hervorbringen. Es wird der
Erwähnung kaum bedürfen, daß die Geſtalt, unter
welcher ſich die Idee auf andern Weltkörpern aus—
drückt, überall nicht nur von der Kraft und Fülle
der Idee, ſondern auch von den körperlichen Be—
dingungen, unter denen das Geſchöpf gebildet ward,
abhängig ſeyn müſſe.
Hier auf der Erde empfinden alle Menſchen eine
Freude am Lichte, welche in der Natur der Dinge
tief begründet iſt; um dieß zu faſſen, müſſen wir
bedenken, daß ſowohl Licht als Wärme durch
Aetherſchwingungen hervorgebracht werden. Wie
man auch ihre Verſchiedenheiten betrachten will,
ſo iſt es doch gewiß, daß Naturwirkungen, welche
Licht hervorbringen, zur Hervorbringung von Wärme
herabgeſtimmt werden können, und daß die, welche
Wärme erzeugen, zur Lichterzeugung heraufge—
ſtimmt werden können. Man wird nicht irren,
wenn man annimmt, es werde das Licht durch
ſchnellere, die Wärme durch langſamere Aether—
ſchwingungen hervorgebracht, wenn man auch da—
mit ihren ganzen Unterſchied nicht erſchöpfend be—
zeichnet haben ſollte; auf der Wärme aber beruht
im Weſentlichen der Zuſtand der Körper. Ihre
Ausdehnung oder Zuſammenziehung und die ge—
genſeitige Beweglichkeit ihrer Theile werden durch
den Wärmezuſtand bedingt, ja man kann auf ge—
wiſſe Weiſe ſagen, daß ſie mit dem Wärmezuſtande
eins ſind; ſelbſt die Formen, welche ſie annehmen,
beruhen auf ihrer Wechſelwirkung mit der Wärme.
Man denke ſich nun, daß alle Körper allmählig
ihre Wärme verlören, ſo würden ſie ſich mehr und
mehr zuſammenziehen und zu gleicher Zeit härter
werden, eine innere Erſtarrung erleiden; kurz, dieß
würde ein Zuſammenſchwinden und Hinſterben
ſeyn. Zwar iſt bei der Grundeinrichtung des Da—
ſeyns dafür geſorgt, daß dieß nicht geſchehen kann,
aber es iſt dagegen nicht weniger gewiß, daß innere
266
Thätigkeit und Daſeynskraft durch Wärme bedingt
ſind. Nun iſt aber für unſere ganze alltägliche Na—
turauffaſſung das Licht die große Wärmequelle, und
jener der größeren Menge unbekannte innere Zu—
ſammenhang, welchen wir hier hervorgehoben ha⸗
ben, gibt ſich auch im Daſeyn deutlich kund. Der
Menſch hat keiner wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen
bedurft, den Zuſammenhang zwiſchen Licht und
Leben zu fühlen, da das Licht ſelbſt in ſeinen
eigentlichen Lichtwirkungen belebend iſt. Es ſcheint
überall ſo zu wirken; auf die am meiſten ſinnen—
erregende Weiſe aber wirkt es auf den Sehnerven,
auf den es zugleich auch ſo einwirkt, daß es die
umfaſſendſte Kenntniß der äußern Natur durch die
Sehwerkzeuge unſerem Innern, unſerem Bewußt—
ſeyn zuführt. Das Licht iſt der große Verkünder
der Umwelt. Das iſt ſo wahr, daß nichts für
alle Menſchen bekannter ſeyn kann, aber eben weil
es ſo alltäglich iſt, iſt auch die Erkenntniß davon
bei der Menge ſtumpf und träge, ſo daß man
daran erinnern muß, um die Quelle der Licht—
freude zu faſſen; die Lichtfreude ſelbſt wird Jeder,
der deſſen was in ihm vorgeht, einigermaßen ſich
bewußt wird, aus eigener Erfahrung kennen.
267
Dasjenige, was wir hier in Beziehung auf
die Erdbewohner gezeigt haben, muß auch für die
Bewohner anderer Planeten gelten. Das Licht
wirkt durch die ganze Welt und auf alle Körper.
Wir haben bewieſen, daß ſeine Wirkungen durch
das ganze Weltall denſelben Geſetzen folgen. Man
müßte einen ſehr geringen Naturſinn haben, um
nicht gleich die Wahrheit zu fühlen, daß wo es
Abwechſelung von Tag und Nacht, von Licht und
Schatten gibt, da müſſen die lebenden Weſen einen
Sinn für's Licht haben; ja wir müſſen dieſen Ge—
danken weiter faſſen; denn da die Lichtwirkung durch
das ganze Weltall geht, der eine Weltkörper dem
andern Licht ſendet, müſſen die lebendigen Weſen
auf dieſem Weltkörper einen Sinn für das Licht
haben, und die ſelbſtbewußten Weſen eine Welt—
offenbarung dadurch empfangen. Mögen ihre Sin—
nenwerkzeuge, ja ihr ganzer Körperbau von dem
unſrigen noch ſo verſchieden ſeyn, wenn wir ſie
nur nach denſelben Vernunftgeſetzen erſchaffen an—
nehmen, welche wir durch die ganze Natur gültig
gefunden haben, ſo weit unſere Einſichten reichten,
ſo muß ihre Lichtfreude und ihr Sinn für die
Schönheit der ſichtbaren Dinge denſelben Geſetzen
268
folgen wie bei uns. Um dieſen Gedanken durch
eine große Anſchauung noch mehr zu beleben, wol—
len wir unſere Aufmerkſamkeit auf den Eindruck
richten, den der Anblick des nächtlichen Himmels
auf den Bewohner eines andern Planeten ebenſo—
wohl machen muß wie auf uns. So gewiß ſein
Sinn für das Licht unter gleichen Bedingungen
gleiche Wirkungen empfängt, muß für ihn der
Himmel ebenſowohl eine Wölbung ſeyn, wie es
unſer Himmel für uns iſt, er muß ſich ihm als
ein dunkler Grund zeigen, auf dem die Himmels—
lichter ſtrahlen, gerade ſo wie er uns erſcheint.
Die Oberfläche ſeines Planeten, mit allem was
auf derſelben kleinlich oder unrein iſt, muß auch
für ihn unter dem nächtlichen Himmel in Dunkel—
heit verſinken, wogegen er zahlloſe klare Lichtein—
drücke von den fernen Weltkörpern empfangen wird.
Sein Gedanke muß in die Ferne hingezogen wer—
den, weit von ſeinen täglichen Beſchäftigungen hin—
weg, und muß ſich ſo erweitern, daß er ein großes
Bild des Daſeyns auffaßt, welches um ſo reicher
und lebensvoller ſeyn wird, je tiefer die Einſicht
in die Natur iſt, bis zu welcher er ſich entwickelt hat.
Daß auf jedem Weltkörper durch eine gegen—
jeitige Einwirkung der Körper Schwingungen von
derſelben Beſchaffenheit hervorgebracht werden wie
die, vermöge welcher der Schall bei uns er—
zeugt wird; daß die lebenden Körper nicht aus—
geſchloſſen find von der Theilnahme an ſolchen
Schwingungen, und daß ſie dieſe vernehmen müſ—
ſen ſo gewiß ſie eine Empfindung von dem haben
was in ihnen vorgeht, iſt ſchon in dem Vorher—
gehenden bemerkt. Hier haben wir noch hinzuzu—
fügen, daß die Geſetze, denen zufolge die Schwin—
gungen regelmäßig werden, ſo ganz aus der Natur
der Dinge fließen, daß ſie überall gelten müſſen;
auf jedem andern Weltkörper müſſen, ſo wie bei uns,
alle kleinen Schwingungen derſelben geſpannten
Saite von gleich langer Dauer ſeyn, die Schwin—
gungsgeſchwindigkeiten verſchiedener Saiten in dem—
ſelben Verhältniſſe größer ſeyn, als die Quadrat—
wurzeln der ſpannenden Gewichte größer ſind, oder
die Längen und der Durchmeſſer kleiner; überall
im ganzen Daſeyn muß eine in Schwingungen
verſetzte und mit Staub beſtreute Platte dieſelbe
Figur geben als bei uns; es wird ebenfalls überall
gelten, daß Luftmaſſen, welche von Röhren begrenzt
werden, ſich nicht gleich leicht zu jeder möglichen
270
Schwingungsgeſchwindigkeit bringen laſſen, ſon—
dern daß jede ſolcher Luftmaſſen vermittelſt äußerer
Einwirkungen nur dahin zu bringen iſt, ſolche
Schwingungsreihen zu geben, die mit der Rück—
wirkung von innen nicht in Widerſpruch ſtehen.
Kurz, alle äußern Bedingungen der Tonwirkungen
ſind auf andern Weltkörpern wie auf dem unſrigen
vorhanden; ſie wirken auf lebendige Körper, die
den allgemeinen Grundgeſetzen der Natur unter—
worfen find; dieſelben müſſen, — vorausgeſetzt daß
ſie ſich der bei ihnen hervorgebrachten geſetzmäßigen
Veränderungen bewußt werden, — dieſe anders em—
pfinden, als diejenigen, in denen die Gebundenheit
an das Geſetz unbemerkbar iſt. Nun wohlan denn!
ſind wir nicht genöthigt, die Grundgeſetze der Ton—
wirkungen als gültig im ganzen Weltall anzunehmen?
Ich behandle hier die Lehre von der Allgemein—
heit der Geſetze des Schönen in großer Kürze,
theils weil die Sache in dem hier gegebenen Zu—
ſammenhange aufgefaßt, keine große Ausführlich—
keit erfordert, theils auch weil die Natur des Ge—
genſtandes keine ſehr durchgreifende Anwendung
unſerer Unterſuchungsweiſe geſtattet.
Das gleiche Grundweſen der moralifchen Natur in dem
ganzen Weltall.
Um dieſes zu zeigen will ich abermals mit der
Betrachtung desjenigen anfangen, was bei uns
Erdbewohnern vorgeht. Ich werde dabei an man—
ches ſehr Bekannte erinnern müſſen, und ſelbſt
der Zuſammenhang, welchen ich darin hervorzu—
heben beabſichtige, kann nicht neu ſeyn; ich muß
dieſen aber dennoch ſo, wie ich ihn auffaſſe, aus—
ſprechen, ſonſt würde man das, was ich zu ſagen
habe, mißverſtehen.
Da es bereits in den frühern Abtheilungen
dieſes Buchs dargelegt worden iſt, wie eine von
der Vernunft durchdrungene Naturanſchauung uns
zeigt, daß das ganze Daſeyn ein unendliches, un—
aufhörlich thätiges Werk der ewigen, lebendigen
Vernunft iſt, welche wir — wenn wir ſie in ihrer
Selbſtbewußtheit, ihrer Perſönlichkeit betrachten —
Gott nennen; ſo iſt es bloß nöthig, daß wir mit
Klarheit daran erinnern, daß das Menſchenge—
ſchlecht ein Glied dieſes Ganzen ſey, und daß jeder
einzelne Menſch, als Theil des Geſchlechts, ein
Glied in der großen Geſammtheit des Daſeyns
ausmache, um uns auf den geiſtigen Standpunkt
zu ſtellen von wo aus die Begriffe und Gefühle
für Recht, Pflicht, Tugend, Frömmigkeit und für
Alles, was damit in Verbindung ſteht, ſich in
ihrem Zuſammenhange mit der Natur zeigen. Was
wir dann in Bezug auf den Menſchen lernen,
wird in den grundweſentlichſten Beziehungen auf
alle Vernunftweſen im ganzen Weltall anzuwenden
ſeyn; es wird nämlich daraus hervorgehen, daß
gleichwie unſere Unterſuchungen über die Geſetze
der bewußtloſen Natur, mit Gegenſtänden hier auf
unſerer Erde begannen, und ſich davon nach und
nach, bis zur Erkenntniß derjenigen Naturgeſetze,
welche alle willenloſen Gegenſtände des ganzen
Daſeyns umfaſſen, erhoben haben; ſo — in ähn—
licher Weiſe wir nun auch zu Werke gehen mit der
Unterſuchung über die Naturgeſetze der wollenden und
denkenden Weſen, welche ſtärker noch als die der
unbeſeelten Natur, als Vernunftgeſetze hervortreten.
Nachdem wir die Wahrheiten ausgeſprochen ha—
ben, daß die Naturwirkungen Gottheitswirkungen,
die Naturgeſetze Gottheitsgedanken ſind, werden
wir ohne Mißverſtändniß dieſelben Dinge bald
273
als natürliche, bald als göttliche bezeichnen können
und von dieſen Ausdrücken jedesmal denjenigen wäh—
len, der ſich am beſten für den nächſtliegenden Gegen—
ſtand der Betrachtung eignet. Wir weichen hierin
nicht von wohlbekannten Gewohnheiten ab, — wir
nennen z. B. die geiſtigen Fähigkeiten eines Men—
ſchen bald Naturanlagen, Naturgaben, bald ein
von Gott anvertrautes Pfund — aber indem wir
hier mit mehr Stärke, als es gewöhnlich geſchieht,
uns an das geiſtige Weſen der körperlichen Natur
erinnern, kommt die Rechtfertigung der entgegen—
geſetzten Richtungen dieſer Betrachtung auf eine
deſto lebendigere Weiſe zu unſerm Bewußtſeyn.
In Uebereinſtimmung damit ſagen wir denn,
daß der Menſch mit denjenigen Naturanlagen ge—
boren wird, vermöge welcher er ein vernünftiges
Weſen iſt. Man kann alſo ſagen, der Menſch
iſt zur Vernunft, zur Gerechtigkeit, zur Gottes—
erkenntniß geboren; aber dieſes Alles iſt nur in
den Anlagen vorhanden, welche durch die Wechſel—
wirkung mit dem ganzen übrigen Daſeyn ſich
zum Bewußtſeyn ausbilden ſollen. Wie dieſes mit
jedem einzelnen Menſchen der Fall iſt, ſo auch mit
dem ganzen Menſchengeſchlecht. Es iſt hier nur der
Oerſted, der Geiſt in der Natur 12 18
274
Zweck, dieſe Entwicklung in Rückſicht auf unſer Got—
tesbewußtſeyn und unſer Pflichtbewußtſeyn anzudeu—
ten, Entwickelungen, welche wohl zum Theil in zuſam⸗
menhängender Weiſe erfolgen, aber öfters auch ver—
ſchiedene Richtungen nehmen, bis ſie in einem gewiſſen
Grade der Vollendung in Eins zuſammenſtrömen.
So lange das Menſchengeſchlecht auf dem erſten
Standpunkte der Geiſtesentwicklung ſteht, wo ſich
das unterſuchende Denken noch nicht geltend ge—
macht hat, iſt es dem Geiſte natürlich in den
äußern Dingen etwas ihm ſelbſt Verwandtes anzu—
nehmen, ſo werden dann für das kindliche Menſchen—
geſchlecht Himmel und Erde mit denkenden, füh—
lenden, wollenden Weſen erfüllt. Schon dadurch
fängt der im Menſchenweſen liegende Keim der
Gottesbewußtheit zu treiben an, aber es iſt nur
ein Keim, welcher unter Mitwirkung der anderen
Weltkräfte ſich entwickeln muß; ohne dieſe würde
er von dem Unkraut erſtickt werden, welches mit
ihm aufwächst.
Die Wechſelwirkung des Menſchen mit ſeines
Gleichen gehört mit zu ſeiner Natur. Schon ſein Ge—
ſchlechtstrieb und die ihm eingepflanzte Liebe zu ſeiner
Nachkommenſchaft würde dieſes nothwendig machen;
275
aber feine übrigen Bedürfniſſe und Triebe erfordern
daſſelbe nicht weniger; ja man dürfte ſelbſt ſagen,
es gehöre zur Natur eines vernünftig ſinnlichen
Weſens ein geſelliges Thier zu ſeyn. Während es
Einwirkungen von den andern Weſen ſeiner Art
empfängt und wieder auf ſie einwirkt, wird bei
ihm ein Gefühl jener Weſensgleichheit erweckt,
welche zwiſchen ihm und dieſen ſtattfindet. Aller—
dings muß eine ganze Reihe von Entwicklungs—
ſtufen durchlaufen werden, ehe jenes Gefühl ſeine
ganze Bedeutung gewinnt; betrachten wir aber,
auf welche Weiſe jene Entwicklung zu den Sitt—
lichkeitsbegriffen führt. Lange Zeit erleidet das
Wachsthum der Liebe unaufhörliche Unterbrechun—
gen durch die gegenſeitige Furcht des einen vor
den Begierden des andern und der daraus folgen—
den gewaltſamen Eingriffe; inzwiſchen fügen ſich
die Menſchen gegenſeitig bald Böſes, bald Gutes
zu und dadurch werden einige Vorſtellungen von
gutem und böſem Willen, von Recht und Unrecht
erweckt. Mögen dieſe Vorſtellungen noch ſo dunkel
ſeyn, ſo ſind ſie doch Ausgangspunkte einer un—
überſehbaren Reihe von Fortſchritten aufeinander—
folgender Geſchlechter. Nach dem wilden Daſeyn
276
langer Zeiträume, während welcher die geſellſchaft—
lichen Gefühle im Kampfe mit den vielfältigen
Forderungen der Selbſtſucht nur wenig Spielraum
erhielten, gelangen ſie in einer oder der andern
Gegend ſo weit, daß die Menſchen ſich zu gegen—
ſeitiger Hülfe und Vertheidigung vereinigen; auf
dieſem Standpunkte wird bei ihnen der Gedanke
einer ihrem Vereine wichtigen Geſetzlichkeit und
Ordnung hervorgerufen, die zum gemeinſchaftlichen
Beſten gehandhabt werden müſſen. Beim Fort—
ſchreiten jedes Vereins entwickelt ſich dieſes Be—
wußtſeyn noch mehr; der Gedanke an Pflicht und
Tugend tritt mehr und mehr hervor. Vergeſſen
wir indeſſen weder hier noch in dem folgenden,
daß alle dieſe äußerlich und innerlich entwickelten
Urſachen Wirkungen derſelben ewigen lebendigen
Vernunft ſind, durch welche Alles erſchaffen und
erhalten wird. Wir müſſen uns alſo ſelbſt ſagen,
daß die Entwicklung, welche nach einer einſeitigen,
nur an dem Körperlichen haftenden Betrachtung in
Widerſpruch mit unſerer geiſtigen Natur zu ſtehen
ſcheint, in der Wirklichkeit doch nach dem allmäch—
tigen, allgegenwärtigen göttlichen Willen ſtattfindet.
Man würde ſich gleichwohl eine irrige Vorſtellung
277
von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts ma—
chen, wenn man glauben wollte, es trüge Jeder
gleichviel dazu bei. Es gibt einzelne Höherbegabte,
bei denen dieſe Begriffe am früheſten zu einiger Klar—
heit gelangten, und welche dieſe gegen die Menge
ausſprechen. Solche Männer haben gewöhnlicher
Weiſe auch in vielfältiger anderer Rückſicht einen
großen Vorſprung vor den Uebrigen, wiſſen dieſen
viele nützliche Wahrheiten mitzutheilen, z. B. die
künftigen Stellungen der Himmelskörper und den
Gang der Jahreszeiten; ſie werden daher, als mit
den Geiſtern vertraut betrachtet, welche man ſich
in den Naturgegenſtänden vorhanden denkt, das
iſt: als Vertraute der Götter; ſie werden bewun—
dert und man gehorcht ihnen. Dieſe Männer aber
werden ſelbſt ein tiefes Gefühl davon haben, daß
das, was ſie wiſſen und mittheilen, weit entfernt
iſt ausſchließend ihr eigenes Werk zu ſeyn, denn
die Gedanken bei ihnen ſind von außen her durch
die Natur, welche ſie beobachtet, und worüber ſie
nachgedacht haben, erweckt worden, und ſelbſt die
innere Fähigkeit, mit welcher ſie das Empfangene
bearbeitet haben, müſſen ſie als eine Naturgabe,
eine Gabe der Götter empfinden. Sie fühlen ſich
ſelbſt wie von den Göttern begeiftigt, und können
ſich ohne Betrug als die Auserwählten der Götter
äußern. In dieſem unſchuldigen Glauben iſt ohne
Zweifel eine Wahrheit vorhanden, welche in ſpä—
tern Zeitaltern oft überſehen wird; es iſt ja die
göttliche Thätigkeit und Geſetzgebung in der Natur
und in dem Menſchen, welche bei ihnen zu einem
lebendigen, wenn auch nicht verſtändig deutlichen
Bewußtſeyn gekommen iſt. Ich werde wohl ſchwer—
lich zu ſagen nöthig haben, daß das Menſchen—
geſchlecht auf dieſe Weiſe fortfährt, ſowohl ſeine
moraliſchen Begriffe als auch ſeine Einſichten in
der Natur, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von
Jahrtauſend zu Jahrtauſend zu entwickeln, und
daß es die vernünftigen Naturwerke, die Menſchen
ſind, welche unter ſteter Wechſelwirkung mit der
Natur und unter einander zufolge nothwendiger
Daſeynsgeſetze bei ſich ſelbſt dieſe Begriffe und
Einſichten entwickeln. |
Bei dieſem geiſtigen Wachſen des Menſchenge—
ſchlechts entwickelt ſich zugleich der Gottheitsbegriff;
wie die übrige Entwickelung, geht auch dieſe anfangs
ſehr langſam von ſtatten. Der Naturdienſt war
lange das mächtig Ueberwiegende; aber allmälig,
279
in dem Maße als die Menſchen ihre eigenen mo—
raliſchen Begriffe entwickelten, trugen ſie dieſelben
auch auf ihre Götter über. Man hat, um zu be—
weiſen, daß die heidniſchen Götter bloße Natur—
götter waren, angeführt, daß man ihnen manche
unmoraliſche Eigenſchaften beilegte; dieſes darf
uns aber das wahre Verhältniß nicht verbergen.
Die Menſchen legen ihren Göttern dieſelben mo—
raliſchen Eigenſchaften bei, welche ſie bei ſich ſelbſt
entwickelt haben, verſteht ſich, jedem Gotte mit
einer Verſchiedenheit der Denkungsart, wie ſie
ſeiner Naturmacht angemeſſen iſt; man darf bei
ſolcher Erwägung nicht vergeſſen, daß die Mythen
uranfänglich in einem Zeitalter gebildet wurden,
in welchem die moraliſchen Begriffe noch ſehr roh
waren, und keineswegs eine ungebundene Wolluſt,
Raubgier, Grauſamkeit ausſchloſſen; wie die Men-
ſchen, waren auch die Götter, welche jene nach den
Geſetzen der Naturdichtung ſich erſchufen. Dieſe
Götter tragen ihr urſprüngliches Gepräge in eine
folgende, mehr gebildete Zeit über, in welcher
dennoch wiederum Etwas hinzugedichtet wird; end—
lich aber tritt ein Zeitalter ein, wo man ſolche
Götter mit der erlangten Bildung: ſowohl mit dem
280
naturauffaſſenden als mit dem moralifchen Bewußt—
ſeyn durchaus im Widerſtreit findet. Zuerſt wer—
den die alten Götter von den Aufgeklärteren, ſpäter
von der Mehrheit verworfen. Natürlicher Weiſe
hat dieſer Gang der Dinge bei den verſchiedenen
Völkern ſeine großen Verſchiedenheiten; aber dieſe
werden doch in den Hauptzügen dieſelben ſeyn.
Zwar können wir von der Zeit, welche Zoroaſter
und Konfu-tſe vorausging, nicht mit derſelben
Kenntniß reden, wie von der dem Sokrates vor—
ausgegangenen; doch können wir einen verwandten
Gang der Dinge dabei ſchwerlich bezweifeln.
Die Naturwiſſenſchaft hat ihren mächtigen An—
theil an der Umbildung der Gotteserkenntniß, indem
ſie die einſt angebeteten Naturgegenſtände aus der
Reihe freier Weſen hinausſetzt, und ſie unter die
Geſetze der Natur ſtellt; denn es iſt z. B. mit dem
Daſeyn des Sonnengottes vorbei, wenn ſein Wagen
ohne ihn gelenkt wird; mit der Mondgöttin eben—
falls, wenn ihr Himmelslicht entfernt von den
Hainen und Gefilden, wo ſie ſich wohl zuweilen
niederließ, ohne ihre Leitung einherwandelt; ja alle
Götter werden von ihren hohen Bergſitzen verjagt,
wenn dieſe recht bekannt werden.
281
Es gibt in der Entwickelung des Menſchen—
geſchlechts von Zeit zu Zeit Wendepunkte, wo
der Geiſt auf ſolche Weiſe einen neuen und höhern
Standpunkt gewonnen hat; aber die unmittelbarſten
Wirkungen dieſes Gewinns ſind nicht ohne wich—
tige Verluſte für die nächſte Zeit. Während alte,
eingewurzelte Irrthümer verbannt werden, verwirft
man faſt immer im Siegesübermuthe große Wahr—
heiten, welche daran geknüpft waren; und bei der
geiſtig-unmündigen Menge, welche nicht aus Ein—
ſicht, ſondern auf das Wort Anderer und ohne
klaren Zuſammenhang das Neue aufnimmt, ent—
ſteht eine Unſicherheit, alles Geiſtige betreffend,
eine Aufgelöstheit der Weltanſchauung, und eine
Geſetzloſigkeit im Leben, welche ein Volk oder ganze
Völkergemeinſchaften in ein Zeitalter der Irrthümer
und der Finſterniß ſtürzen, aus dem ſie ſich erſt
nach Jahrhunderten wieder herauswinden.
Dieſe Umwälzungen aber ſollen uns nicht zu
ſehen hindern, wie Vernunft und Licht wiederum
ſiegen; jedes Streben den Zuſammenhang der
Dinge, die Geſetze des Daſeyns zu faſſen, trägt
das Seine dazu bei, das Menſchengeſchlecht zur
Gotteserkenntniß zu führen, ſelbſt wenn dieß nicht
282
beabſichtigt war, ja ſelbſt, wenn ein ſolches Stre—
ben den entgegengeſetzten Zweck hatte. Alle Wege
des Denkens führen zuletzt zu einer vollern Auf—
faſſung der großen Einheit aller Gedanken; obgleich
ſie oft in ihrem Anfang von dieſer abführen,
müſſen ſie dennoch durch die Beſtrebungen der
ſämmtlichen Denker nach dem rechten Mittelpunkt
zurückgelenkt werden; denn das Denken vernichtet
ſeine eigenen falſchen Richtungen.
Wir wollen uns zu dieſem Mittelpunkte da—
durch einen Weg bahnen, daß wir unterſuchen,
worin die Einheit aller der Beſtrebungen liege,
einen Grundſatz für die Lehren von Pflicht und
Tugend zu finden. Wie bekannt hat man als ſolche
Grundſätze aufgeſtellt: befördere deine Vollkom—
menheit, befördere das allgemeine Beſte, handle
nach Maximen, welche zu allgemeinen Geſetzen ſich
erheben laſſen u. ſ. w. Wir brauchen dieſelben nicht
alle zu nennen, was ohnehin ſchwierig auszuführen
ſeyn möchte — es iſt uns genug zu ſagen, was
Allen gemeinſchaftlich iſt, und man wird dann
finden, daß, welchen immer man auch zum Ge—
genſtand des Nachdenkens wählen mag — es ſey
denn, daß es ein Grundſatz wäre, den jeder Ver—
283
nünftige gleich verwerfen müßte — er zuletzt dahin
zielt, unſer Leben nach der Vernunft einzurichten.
Keiner dieſer Grundſätze enthält das ganze Weſen
der Tugend; aber doch haben ſie dazu beigetragen,
diejenigen, welche ſie faßten und befolgten, auf
die Wege der Vernunft zu leiten; denn eine ver—
nünftige Lebensvorſchrift, auf die man recht feſt
hält, nöthigt den Menſchen, wenn er nicht in zahl—
loſe Widerſprüche fallen ſoll, ſich nach allen Ver—
nunftvorſchriften, ſoweit er ihren Zuſammenhang
mit demjenigen, von welchem er ausging, faßt,
zu richten. Selbſt die Vorſchrift: „Befördere deine
eigene Glückſeligkeit,“ welche, in einer rohen Auf—
faſſung, beides abſcheulich und vernunftwidrig iſt,
wird, wenn man nicht vergißt, die geiſtige Freude
mit zur Glückſeligkeit zu rechnen, ein vernunftge—
mäßes Leben fordern; nur muß man zugeben, daß
dieſer Grundſatz falſchen Anwendungen ganz beſon—
ders ausgeſetzt iſt. Wird der Begriff von Glück—
ſeligkeit recht vollſtändig in feinem Zuſammenhang
mit dem Glück der ganzen Nation aufgefaßt, ſo
wird er zu einer geſunden Darſtellung unſerer mo—
raliſchen Verhältniſſe, von einer ihrer Seiten be—
trachtet, führen. Man müßte nämlich in Betracht
ziehen, daß der Menſch auch dann, wenn er ſich
von Leidenſchaften blenden läßt und ſeine vernünf—
tige Natur vergißt, dieſe nicht, noch auch den Ein—
fluß vernichten kann, den der Vernunftzuſammen—
hang der Welt auf ihn haben muß; was er Böſes
thut, ja was er Böſes denkt, bringt ihn in Streit,
beides mit ſeiner eigenen Natur — ob er dieſes
auch noch ſo ſehr für ſich ſelbſt zu verbergen ſtrebt
— und mit dem ganzen Daſeyn. Alles was
Sünde iſt im Sinne der Religion, iſt Unvernunft
in dem der wahren Weltanſchauung; für den alſo,
der wohl durchdrungen iſt von der Ueberzeugung
einer unendlichen Vernünftigkeit des ganzen Da—
ſeyns, wird die Glückſeligkeit mit Tugend und Fröm—
migkeit eins ſeyn. Es verſteht ſich, daß es oft
große Anſtrengung koſtet, die Thätigkeit dieſer
Ueberzeugung gegen die ihr in den endlichen Ver—
hältniſſen begegnenden ſtarken Einwirkungen zu
ſichern, ſo daß die beſſere Ueberzeugung oft unter—
liegen muß; aber dieſe Schwachheit des Menſchenge—
ſchlechts kann uns nicht verhindern, in jener Ueber—
zeugung eine mächtige Stütze des Guten zu ſehen.
In Hinſicht auf die allermeiſten andern mo—
raliſchen Lehrgebäude, fällt das zunächſt in die
285
Augen, daß ſie wollen, es ſolle das menſchliche
Leben nach der Vernunft eingerichtet werden, und
natürlicher Weiſe nicht nach der Vernunft irgend
eines einzelnen, ſondern nach der ewigen Ver—
nunft. Es iſt nicht bloß unſer Leben, welches
darnach eingerichtet werden ſoll, auch unſer ganzes
inneres Weſen muß ſich dieſer Vernunft hingeben,
und gleichſam darin aufgehen; der Menſch muß
fühlen, daß er in der Aneignung der ewigen Ver—
nunft ſeine rechte Lebensquelle habe, ſonſt bleibt ſein
ganzes Leben nur ein zerriſſenes, vernunftwidriges
unglückliches Daſeyn. Alles, was uns zum Recht und
zur Tugend auffordert, fordert uns, wohl verſtanden,
auch zu einem Leben in Gott, zur Religion auf.
Dieſe Denkart wird zugleich durch die Ueber—
zeugung beſtärkt, welche aus der Naturwiſſenſchaft
entſpringt: daß die ganze Körperwelt, welche man
nur als ein dem vernünftigen Daſeyn Wider—
ſtehendes zu betrachten pflegte, auf das Vollkom—
menſte demſelben einverleibt iſt, ſo daß die Wir—
kungen in der Natur nach einer von uns unab—
hängigen Vernunft vorgehen, welche doch dieſelbe
iſt, die wir, vermöge unſers freien Willens, ſtre—
ben ſollen in der Welt zu verwirklichen. Wir
286
wiſſen alſo, daß unſer ganzes, ſowohl inneres als
äußeres Leben, in einer um ſo vollkommenern Ue—
bereinſtimmung mit dem ganzen Daſeyn iſt, je
mehr es nach der göttlichen Vernunft geführt wird.
Wie aber vereinigen wir dieſe Lehre von dem
Vernunftgehorſam der Körperwelt mit der unbe—
ſtreitbaren Wahrheit, daß wir oft durch unſere
eigene körperliche Natur, und durch die Einwir—
kungen der äußern Natur uns bewogen fühlen,
vom Guten abzuweichen? Dieſe Wahrheit ſoll na—
türlicher Weiſe nicht geleugnet werden; aber ſie
iſt im Zuſammenhange mit einer andern eben ſo
unbeſtreitbaren zu betrachten, mit der nämlich, daß
unſer freies Denken uns ebenfalls oft zum Wider—
ſtreit mit dem Guten verleitet. Wir ſehen alſo, daß
es ſich hier um das Loos des Endlichen handele,
dem wir wohl unausweichbar unterworfen ſind, doch
in keinem beſondern Falle ganz unverſchuldet. Es
geht damit wie in unſern, auf die Benützung der
äußern Natur gerichteten Beſtrebungen, beſonders
wenn dieſe etwas verwickelt ſind; es gelingt uns
nicht leicht, alles in ſolchen Unternehmungen auf
eine Weiſe einzurichten, daß nicht die Beſchaffen—
heit oder das Verhalten einiger beſondern Theile
287
zur Außenwelt der Erreichung der höchſten Voll—
kommenheit im Wege ſtände; aber es iſt nicht
weniger häufig der Fall, daß es Fehlgriffe in
unſern Gedanken und Entwürfen ſind, welche
ſolche Unvollkommenheiten verurſachen. Wir ſehen
alſo, daß es ſowohl in der intellectuellen wie in
der moraliſchen Welt, daß aber nicht im Körper—
lichen, als ſolchem, und nicht im Denken, als
ſolchem, die Veranlaſſung unſerer Irrthümer zu
finden ſey, ſondern daß der Anlaß dazu in der
Natur des Endlichen liege.
Iſt nun der Gegenſatz zwiſchen Gott und Welt
Nichts? Ja, er iſt ebenſo gewiß etwas, als die
Endlichkeit es iſt. Könnten wir uns einen Men—
ſchen denken, welcher durchaus vollkommen in Gott
lebte, ſo würde für ihn ſelbſt, abgeſehen von ſeiner
Betrachtung des Lebens der andern freien Weſen,
der Unterſchied zwiſchen Gott und Welt aufgehört
haben; aber ein ſolches Ideal erreicht Niemand; nur
ſo viel kann man ſagen, daß je kräftiger ein Menſch
dieſem Ideal nachſtrebt, je öfter wird es ihm in hei—
ligen Augenblicken gegeben ſeyn, bei ſich ſelbſt dieſen
Gegenſatz zu vernichten, indem er ſich in ſeiner
geiſtigen Anſchauung es vergegenwärtigt, daß das,
288
was man Welt nennt, eine Gottheitswirkung iſt.
Es verſteht ſich daher auch, daß je weniger kräftig
das Leben in Gott bei einem Menſchen iſt, um
deſto ſtärker beſteht für ihn der Gegenſatz zwiſchen
Gott und Welt; doch darf es nicht vergeſſen wer—
den, daß ſelbſt für den, der einem Leben in Gott
nachſtrebt, die Welt in einer gewiſſen Bedeutung
im allergrößten Gegenſatze zu Gott ſteht, inſofern
er alles dasjenige in der Endlichkeit, welches die
freien Weſen von Gott entfernt, mit dem Namen
Welt bezeichnet, ein Sprachgebrauch der ebenſo voll—
kommen haltbar iſt, als er ein altes heiliges Ver⸗
jährungsrecht für ſich hat.
Aber indem wir hier das Daſeyn als ein Reich
der Vernunft dargeſtellt haben, begegnen wir einem
großen Zweifel in der Frage: Wie iſt dieſes mit
der Freiheit vereinbar, welche ja Mißbrauch, folg—
lich auch Unvernunft geſtattet? Dieſe muß ja Ein—
fluß auf den Gang der Welt haben! Ehe wir es
unternehmen, uns dieſe Frage zu beantworten,
haben wir uns daran zu erinnern, daß dieſelbe
eine Hauptſchwierigkeit in allen Verſuchen einer
Weltauffaſſung bildet, wovon die chriſtliche Kirche
ſelbſt das ſtärkſte Zeugniß abgibt. Der Zweck der
289
gegenwärtigen Unterſuchung fordert nicht, daß wir
alle die Fragen beantworten ſollen, welche in Be—
treff der Freiheit aufgeworfen werden könnten,
ſondern bloß die hier geſtellte, welche darüber Auf—
klärung verlangt, wie ein umfaſſendes Vernunft—
reich neben der Freiheit der Einzelweſen beſtehen
könne; dieß wollen wir denn hier verſuchen.
Inſofern der Menſch denkt iſt er frei. Seine
Freiheit wächst mit ſeinem Denken. Ohne daſſelbe
ſteht er unter den Geſetzen der bewußtloſen Natur.
Durchaus freigemacht oder durchaus Naturſklave
iſt der Menſch niemals, er ſchwebt zwiſchen beiden,
nur mit höchſt ungleichen Annäherungen an den
einen oder den andern dieſer Zuſtände. Die freie
Gedankenthätigkeit iſt doch nur bedingungsweiſe
den Naturgefetzen entzogen, welche ja mit den
Daſeynsgeſetzen eins ſind. Es könnte zwar ſchei—
nen, daß die Freiheit der Einzelweſen mit der
Herrſchaft der allgemeinen Geſetze in Streit ſtehe,
aber dieſer Schein verſchwindet bei näherer Be—
trachtung der Sache. Zwar iſt es offenbar, daß der
freie Wille oft Handlungen vollbringe, welche nicht
nur in ſich ſelbſt verdammungswerth ſind, ſondern
auch in den nächſten Wirkungen dem widerſprechen,
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 13 19
290
was ſonſt aus den allgemeinen Vernunftgeſetzen
erfolgen ſollte. Es könnte alſo ſcheinen, daß Gott
durch den Mißbrauch, den die endlichen Weſen
von ihrem Willen machen, genöthigt würde, ſelbſt
willkürliche Handlungen vorzunehmen; Handlun—
gen, welche außer der ewigen Vernunftordnung
lägen; aber hierbei iſt zu bedenken, daß gleichwie
das Vernunftwidrige, welches ſich oft im Denken
einſchleicht, ſich endlich ſelbſt vernichtet, auch wenn
es durch viele Zeitalter einen Schein der Wahrheit
behauptet hat, eben ſo auch das Vernunftwidrige
in der übrigen freien Thätigkeit der Menſchen
ſich ſelbſt vernichten werde. Das Denken muß
ſeiner Natur zufolge nach ewigen Naturgeſetzen
wirken, ſo daß deſſen unvernünftige Ausſchweifun—
gen gegen ſein Grundweſen ſtreiten; hierin liegt
ſchon ein Streben, die Kraft des Böſen im Wol—
lenden ſelbſt zu ſchwächen. Außerdem wird dieſer
durch die Vernünftigkeit des ganzen Daſeyns, mit
welchem er in unauflöslicher Wechſelwirkung ſteht,
aufgefordert, ſeine Gedanken nach deſſen Gang zu
ordnen, ſo daß die Beſchlüſſe des freien Willens
mit einer gewiſſen Allgemeinheit in die Vernunfthar—
monie des Ganzen eingeflochten werden, ungeachtet
291
derſelbe nicht ſelbſtſtändig gut iſt; inſofern aber
als die durch den böſen Willen hervorgebrachten
Wirkungen gewiſſe Glieder der Vernunftordnung
zerſtören, werden dieſe ſelbſt Gegenwirkungen her—
vorrufen, welche das Böſe am Ende vernichten.
Dieſes Alles folgt aus der Natur der Sache;
aber es bedarf der Beleuchtung. Wir wollen mit
einem Beiſpiel anfangen.
Geſetzt, ein Menſch würde von einer tadelns—
werthen Herrſchſucht getrieben. Dieſe Eigenſchaft
iſt in ihrer eigentlichen Grundanlage ſelbſt nicht
böſe, ſo wenig als irgend eine andere Naturanlage;
ſie enthält gewöhnlich eine Fähigkeit zu ordnen
und zu leiten, mithin im Dienſte der Vernunft zu
wirken; aber ſie enthält daneben eine Neigung,
ihren eigenen Willen geltend zu machen und Andere
zum Gehorſam zu zwingen, und ſie artet häufig
ſo weit aus, ſelbſt dann dieſes zu erſtreben, wenn
es die Forderungen der Vernunft nicht verlangen.
Die gute Herrſchbegierde kann zwar in dem Eigen—
willen, dem Vorurtheil oder dem Eigennutze Anderer
Widerſtand finden, wird aber von der Einſicht und
dem guten Willen vieler Anderer in dem Streben
unterſtützt, das Vernünftige zu fördern; die böſe
findet zwar Vorſchub in dem knechtiſchen Sinne Vie—
ler, ja ſelbſt Hülfe bei denen, welche Lohn erwarten
können, wenn ſie ſich zum Werkzeug für den
Willen des Herrſchſüchtigen machen; aber ihr be—
gegnet nicht nur Widerſtand bei allen jenen ſchlech—
ten Hinderniſſen, welche ſie dem Guten entgegen—
ſetzt, ſondern auch in dem rechten Selbſtgefühle und
dem Freiheitsſinne des Menſchen. Der kräftige
Herrſchergeiſt kann, wenn er ſich nicht ſelbſt genug—
ſam beherrſcht, zwar zugleich mit dem Guten, das
er ausrichtet, auch manches Ungerechte durchſetzen;
aber es iſt leicht zu erkennen, daß die Kräfte, welche
ſeine gute Thätigkeit unterſtützen, vernunftgemaß
ſind und folglich nichts enthalten, was ſich in der
Zeit nothwendig ſelbſt vernichten müßte; wogegen
die Kräfte, welche ſeine ſchlechte Thätigkeit unter—
ſtützen, vernunftwidrig ſind, folglich Widerſprüche,
ſowohl untereinander gegenſeitig als auch gegen
das ganze uͤbrige Daſeyn enthalten. Der tüchtige
Herrſchergeiſt iſt ein Kraftpunkt, von wo aus viel—
fältige Wirkungen ausgehen, welche um ſo voll—
kommener vom kräftigen Geiſte beherrſcht werden, je
näher ſie ihm in Zeit und Raum ſtehen, ihm aber
um ſo leichter entweichen oder um ſo leichter
293
fremden Einflüſſen unterliegen, jemehr fte ſich vom
Ausgangspunkte entfernen. Es verſteht ſich, daß
dieſe Beſtimmungen nur die allgemeinſten Haupt—
züge ausmachen, und daß viele ſcheinbare Aus—
nahmen vorkommen können, für welche es oft
ſchwierig genug ſeyn möchte, Rechenſchaft abzu—
fegen; vieles wird ſich indeß aufklären, wenn wir
unſer allgemeines Beiſpiel in einigen Verzweigun—
gen entwickeln. Eine der größten Aeußerungen
der Herrſchbegierde iſt bekanntlich die Eroberungs—
ſucht; daß die Herrſchbegierde nicht deren einzige
Quelle ſey, ſondern daß unter andern auch die
Ehrbegierde dabei mitwirkt, wird die Anwendbar—
keit der Grundſätze, welche wir hier beleuchten
wollen, nicht vermindern. Der Eroberer wird
nicht leicht Vieles ausrichten, wenn er in andern
Ländern nicht einer Schlaffheit und Auflöſung
begegnet, welche weckende und ordnende Kräfte
erfordert; dieſe bringt der Herrſchergeiſt mit ſich.
Zwar geht, bald in höherem bald in geringerem
Grade, Verwirrung und Zerrüttung der neuen
Ordnung der Dinge voran, aber hier gleichen die
Wirkungen der Freiheit denen der Natur, indem
ſie trotz aller Ungleichheiten gleichwohl nach den
Grundgeſetzen des Daſeyns wirken müſſen; wenn
die Eroberung in eine lange Unterdrückung aus—
artet, kann ſie gerade durch ihren Druck und ihre
Ungerechtigkeit Kräfte erwecken, welche zur Abwer—
fung des Jochs erforderlich ſind, und alsdann geht
das Volk erneut und verjüngt aus dem Kampfe
hervor. Oder es begegnet der Uebermacht keine
hinreichende Gegenkraft und dann werden die Sieger
ein neues Volk im Lande bilden, welches das
Brauchbare der alten Kräfte in ſich aufnimmt. Die
guten Kräfte, welche der Sieger ſowohl in ſeinem
eigenen Volke als bei den Ueberwundenen erweckt
und die guten Geſetze und Einrichtungen, welche
er einführt, werden eine lange Dauer haben; das
der Welt Nachtheilige wird untergehen durch alle
die Gegenkräfte, die es erwecken muß. Wir müſſen
uns hier nur ſelbſt daran erinnern, daß Jahr—
hunderte nur kurze Zeiträume in der Geſchichte
des Menſchengeſchlechts ſind.
Der Despotismus begleitet, wie bekannt, faſt
immer die Eroberungsſucht, er kann aber auch für
ſich beſtehen; er gedeiht nur da, wo die geiſtigen
Kräfte nicht hinreichend entwickelt oder durch falſche
Bildungsrichtungen geſchwächt ſind. Im letzteren
Falle kann der Despotismus oft ſehr lange wäh—
ren; wenn aber im Volke ſelbſt nicht hinreichende
Gegenkräfte zur Ueberwältigung des Druckes em—
porkommen, dann werden auswärtige Mächte dieſe
früher oder ſpäter vollbringen.
Ehe ich weiter gehe, werde ich eine Einwen—
dung beſeitigen müſſen, welche auf dem endlichen
Standpunkte unüberwindlich iſt, aber von dem
Standpunkte aus geſehen, von wo das Ganze zu
überſchauen iſt, ihr Gewicht, verliert. Mit dem
Auge auf das Endliche gerichtet, kann man näm—
lich einwenden: was hilft es den zahlloſen Weſen,
welche leiden, welche vielleicht beides, geiſtig und
körperlich leiden, vielleicht ihre ganze Lebenszeit
hindurch leiden, daß die ſie treffenden Unglücksfälle
in einer höhern Ordnung der Dinge wieder aufge—
löst werden? Dieſe Einwendung iſt alt, und auch
die Antwort iſt es; aber die Einwendung wiederholt
ſich, ſo oft Jemand die ewige Vernunftordnung
der menſchlichen Dinge in's Licht zu ſtellen ſucht;
darum muß auch die Antwort jedesmal wiederholt
werden, und dieß um ſo mehr, weil ſie in jeder
Darſtellung einen Zuwachs an innerer Klarheit em—
pfängt. Vor Allem muß hier bemerkt werden, daß
296
die gegenwärtige Darftellung nicht darauf ausgeht,
die Uebereinſtimmung des Daſeyns mit unſern
theils auf dem ſinnlichen Standpunkte gefaßten,
theils durch einſeitiges Denken gebildeten Voll—
kommenheitsbegriffen darzuthun: wir wollen bloß
die Wahrheit aufrecht halten, daß das Vernunft—
widrige am Ende in der ewigen Vernunftthätigkeit
des Daſeyns aufgehoben wird, und daß das Ver—
nunftmäßige ſiegen muß. Wir haben hier nur die
Bemerkung hinzufügen, daß Etwas, was in ſich
ſelbſt vernunftgemäß iſt, doch in einer gegebenen
Zeit mit der Vernunftordnung des Ganzen in
Streit gerathen kann, und daher untergehen muß,
um zu rechter Zeit aufs Neue wiederum aufzuerſtehen.
Wir müſſen ferner den Frageſteller daran erin—
nern, daß noch nie ein Lehrgebäude erfunden wor—
den iſt, worin das Böſe, es ſey nun das phyſiſche
oder das moraliſche, ſich als vernichtet und in
dem Guten aufgelöst, habe darſtellen laſſen, ſo
lange man ſich nur auf dem endlichen Standpunkte
halten wollte: man mußte auf die Fortdauer des
Lebens über das Erdenleben hinaus hinweiſen,
und dieſes Vortheiles entbehrt unſere Auffaſſung
ebenfalls nicht. Der Glaube an ein ſolches fort—
297
dauerndes Leben iſt ihr ſogar natürlich, wie man
es in dem Folgenden angedeutet finden wird. Hier
halten wir nur den Vernunftzuſammenhang der
Dinge feſt, möge dieſe unſern Wünſchen ſchmei—
cheln oder ihnen zuwider ſeyn.
Wir müſſen uns ferner noch ſelbſt daran er—
innern, daß jedes endliche Daſeyn etwas unendlich
Kleines im Vergleich zum Ganzen ſey; ob auch
einige Wirkungen von dem Mißbrauch und der
Fehlbarkeit des freien Willens ſich durch Jahrhun—
derte, ja durch Jahrtauſende hindurch erſtrecken
könnten, ſo bleibt dieſes Alles dennoch in dem Ver—
hältniß des unendlichen Kleinen. Niemand wird
dieſe Wahrheit zu leugnen vermögen; aber es wird
vielleicht die Einſicht beleben, ſie thätiger machen,
wenn ſie durch eine Anſchauung beleuchtet wird;.
unſer Erdball bietet uns das Mittel dazu dar.
Ohne weiter zurückzugehen, als bis dahin, wo uns
ſichere Thatſachen zu leiten vermögen, ſehen wir,
daß er Jahrtauſende hindurch beſtanden haben
müſſe, ehe ſich auf demſelben organiſche Geſchöpfe |
entwickelten, daß neue Jahrtauſende unter einem
Zuſtande der Erde dahin gingen, in welchem nur
blumenloſe Gewächſe und knochenloſe Thiere auf ihr
298
hervorgebracht wurden, daß dann auch noch ferner
eine ganze Reihe großer Zeiträume, von denen
jeder mit dem Untergange des frühern begann,
verſtrich; jeder von dieſen bildete einen neuen Fort—
ſchritt in der Entwickelung, bis endlich der Menſch
auftrat. Was iſt die ganze Zeit, in welcher der
Menſch dageweſen iſt, gegen jene unüberſehliche
Reihe von Jahrtauſenden? und was ſind wieder—
um die einzelnen Zeiträume im Menſchengeſchlecht
gegen die ganze Zeit ſeines Daſeyns? ſelbſt ohne
der Zeit zu gedenken, welche zu erwarten ſteht;
und doch haben wir hier nur den Erdball als
Beiſpiel genommen; das ganze Weltſyſtem zeigt
uns unſäglich längere Zeitabtheilungen.
Wie ſich der Erdkörper entwickelt hat, ſo auch
das Menſchengeſchlecht, ungeachtet der Eingriffe
des freien Willens; auf den Lauf der Natur iſt
dieſe Einwirkung augenſcheinlich gering. Ich habe
wohl Theologen gehört, welche durch eine buch—
ſtäbliche Auffaſſung einiger Bibelworte ſich zu der
Behauptung haben verleiten laſſen, es ſey der
körperliche Tod durch den Sündenfall in die Welt
gekommen; aber daß ſie ſich in einem Mißverſtänd—
niß befinden, davon zeugt die Natur klar, indem
299
fie uns Untergang, Tod und unzweifelhafte Spuren
von Schmerzen zeigt, ehe das Menſchengeſchlecht
auf die Erde kam; und zugleich zeigen alle Unter—
ſuchungen über den menſchlichen Körper, daß ſeine
Grundeinrichtung Sterblichkeit mit ſich führe.
Wir müſſen denn allem Vorhergehenden zufolge
annehmen, daß ſich das Menſchengeſchlecht nach
Vernunftgeſetzen entwickle, daß die Reihe von Ver—
änderungen, welche mit demſelben vorgehen, trotz
mancher Wechſel von Vor- und Rückwärtsgängen,
doch eine wirkliche Entwickelung ſey, und daß die
Eingriffe des freien Willens, ſcheinbarer Stö—
rungen ungeachtet, der ewigen Vernunftordnung
dennoch dienen müſſe. Wir können noch hinzu—
fügen, daß die menſchliche Vernunft ſich unauf—
hörlich zu einem immer größeren Reichthum an
Kenntniſſen und Klarheit der Einſichten entwickle,
und durch dieſe zu einer größern Macht gegen die
Verirrungen. Kurz, wir können uns der erfreu—
lichen Ueberzeugung hingeben, daß alle uns im
menſchlichen Geſchlechte begegnende Verwirrungen,
welche zum Theil in den gegenwärtigen Zeiten
drohend erſcheinen, uns nicht verhindern, es vor—
auszuſehen, daß ſich das Menſchengeſchlecht mehr und
300
mehr der Verwirklichung eines Vernunftreichs auf
der Erde nähere, natürlicher Weiſe nur unter allen
Beſchränkungen, welche die Endlichkeit mit ſich führt.
Wir kehren zurück zu einem neuen Ueberblick
über die Wechſelwirkung der vernünftigen Erd—
bewohner. Die Geiſtesentwickelung, welche jeder
einzelne Erdbewohner hat, iſt ein vereintes Werk
ſeiner eigenen Thätigkeit und der Einwirkung der
ganzen ihn umgebenden Welt, an welcher ſeine
ſämmtlichen Mitmenſchen gewöhnlicher Weiſe den
weſentlichſten Theil haben. Kein Menſch könnte
für ſich ſelbſt alle die Kenntniſſe und Einſichten
entwickelt haben, welche das geſammte Menſchen—
geſchlecht erzeugt hat; ja ein Menſchenleben reicht
nicht einmal hin, ſie alle in ihrer ganzen Fülle zu
faſſen. Das Höchſte, was ein Menſch an Ausbil—
dung erreichen kann, iſt das Vermögen: einen be—
grenzten Kreis des Wiſſens mit tiefer Einſicht zu
durchdringen und mit Hülfe der dadurch erlangten
Geiſtesentwickelung, vereint mit einem wißbegieri—
gen Umſchauen, ſich ein einigermaßen klares Bild
des ganzen Daſeyns zu verſchaffen. Mit Rückſicht
auf das Viele, welches er durch eigenes vollſtän—
diges Forſchen ſich nicht hat aneignen können, muß
301
er ſich auf das übrige Menſchengeſchlecht verlaſſen;
er muß es als eine Gabe der das ganze Daſeyn
durchdringenden Vernunft empfangen. Es iſt ein
Licht, das ihn ſehen läßt, was in der bodenloſen
Tiefe ſeines eigenen Weſens verborgen lag. Sein
Auffaſſen und Aneignen iſt dann ein Glaube. Dieſer
Ausdruck iſt doch in einer mehr oder weniger um—
faſſenden Bedeutung zu nehmen, und in der engern
nur zu gebrauchen in Bezug auf die Wahrheiten,
welche ſich näher auf das eigentliche Grundweſen
des Daſeyns beziehen. Scharfe Grenzen laſſen
ſich hier nicht ziehen; denn je höher die recht
wahre und natürliche Geiſtesentwickelung iſt, zu
welcher ein Menſch ſich erhoben hat, um deſto
mehr Mittel hat er, ſich im Glauben an das
Wahre zu ſtärken: ja, er vermag dadurch oft das,
was für Andere als Glaube gelten muß, in Wiſ—
ſen zu verwandeln. Und ſelbſt da, wo er beim
Glauben ſtehen bleiben muß, kann er dieſen da—
durch zu höherer Klarheit und Stärke bringen, daß
er ihn an die übrigen Wahrheiten, welche in ſei—
nem Bewußtſeyn leben, befeſtigt. In allem unſerm
geiſtigen Streben aber müſſen wir, um nicht irre—
geleitet zu werden, die natürliche Wahrheitsliebe
in ihrer ganzen Lauterkeit zu bewahren ftreben;
denn wir werden durch unſere Begierden oft ver—
ſucht, etwas für wahr anzunehmen, weil es dieſen
ſchmeichelt. Unter ſolchen Verſuchungen iſt die Luſt
ſeinen Mitmenſchen etwas Außerordentliches, etwas
das dem Redenden ihre Bewunderung verſchaffen
kann, zu ſagen, eine von denen, welche über
Männer, die als Lehrer und Leiter des Menſchen—
geſchlechts auftreten wollen, am leichteſten Macht
erlangen.
Alle die klaren und reinen Wahrheiten, welche
im Menſchen entſtehen, ſind zufolge allem was
wir hier geſehen haben, Offenbarungen der ewigen
Vernunft. Derjenige welcher ſie findet und ver—
kündet, iſt in ſofern ein Werkzeug der Gottheit.
In demſelben Grade als die offenbarte Wahrheit
größer, umfaſſender, mehr erhebend iſt, in eben
dem Grade iſt ſie im Verhältniß zum Endlichkeits—
zuſtande, welcher auf einem niedrigern Standpunkte
ausſchließlich Natur genannt wird, übernatürlich;
obgleich ſie in der ewigen Natur Gottes vollkom—
men natürlich iſt. Ein äußeres Kennzeichen des
hohen Weſens der Offenbarung iſt die Größe
ihrer Wirkung; wohl zu bemerken, nicht bloß einer
303
weltlich großen Ausbreitung, ſondern zunächſt die
Größe der Wirkung, welche das Menſchengeſchlecht
an ſich wahrnimmt, die Veredelung, die Erhebung,
die Annäherung zu Gott, deren das Geſchlecht
ſich dadurch bewußt wird.
Der Hauptzweck deſſen, was hier vom Frei—
heitsverhältniß geſagt worden iſt, war zu zeigen,
daß die ſämmtlichen freien Weſen auf der Erde be—
ſtimmt ſind, ein Reich der Vernunft zu bilden, und
daß ein ſolches, der Natur der Dinge zufolge, zwar
bereits beſtehe, zugleich aber durch fortgeſetzte Ent—
wickelung einer immer größeren Vollkommenheit ent-
gegengeführt werden müſſe; was ich mehr geſagt
habe als das hierzu Nothwendige, ward nur zur Ab—
wehrung von Mißverſtändniſſen hinzugefügt. Die
Anwendung hievon auf die vernünftigen Bewohner
anderer Weltkörper iſt nun leicht; ſie ſind nach den—
ſelben Vernunftgeſetzen gebildet als die Bewohner
unſeres Erdballs; ſie müſſen daher, in eben dem
Sinne als die Menſchen, vergänglich ſeyn; ſie
müſſen folglich ihr Daſeyn, jeder in ſeiner Zeit
und an ſeinem Orte, beginnen; ſie müſſen die Ein—
wirkungen der ſie umgebenden Welt empfinden,
und dadurch ein Bewußtſeyn deſſen erhalten, was
ihrem Wollen zuſagt oder demſelben widerſtreitet;
das iſt, ſie müſſen Luſt und Unluſt fühlen: ſie
müſſen ihr ſinnliches.Daſeyn mit Vernunftanlagen
beginnen, müſſen ſich angetrieben fühlen, dieſe
ſowohl durch Naturtrieb, als durch die erweckende
Einwirkung der ganzen Umwelt, zu entwickeln.
Es mlß jeder von den andern freien Weſen Ein—
wirkungen annehmen, deren einige gegen ſein Wol—
len und ſein Wohlbefinden ſtreiten, andere damit
übereinſtimmen. Der Kampf mit dem ſtreitenden
Willen muß Begriffe von Willensgeſetzen ent—
wickeln, welche zwar nicht zwingend ſind, wie die
Naturgeſetze, dennoch aber fordern, daß mit Freiheit
geſtrebt werde die gewiſſen Vorſchriften der Vernunft
zu verwirklichen. Sie werden ſo wenig als die
Menſchen, hier auf unſerer Erde, alle mit gleich
großen Fähigkeiten ins Daſeyn gekommen ſeyn,
denn das Daſeyn jedes Einzelnen beginnt unter
anderen Bedingungen in der Zeit und dem Raume.
Darum wird es, ſowie hier auf der Erde, ge—
ſchehen, daß die höher Begabten die Leiter ihrer
Mitgeſchöpfe werden, in größerem oder geringerem
Umfange, je nach ihren Fähigkeiten. Sie müſſen durch
gemeinſchaftliche Naturtriebe, durch gemeinſchaftliches
305
Bedürfniß die willenloſe Natur zu überwinden,
durch gemeinſchaftliche Luſt das Daſeyn zu begreifen,
ſich gedrungen fühlen, in Gemeinſchaft zu wirken;
kurz, die Hauptzüge in ihrem geiſtigen Seyn müſſen
mit denen übereinſtimmen, welche wir bei den freien
Weſen auf der Erde anerkannt haben.
Wenn wir uns dieſe Weſenseinheit in der mo—
raliſchen Welt klar gemacht haben, dann dürfen
wir, jedoch nur mit ſehr großer Vorſicht, den Ver—
ſuch einer weiteren Entwickelung dieſer Grundan—
ſchauung wagen. Wir könnten bei einem ſolchen
Verſuch leicht verleitet werden, irdiſche Eigenthüm—
lichkeiten auf das ganze Daſeyn überzutragen; das,
was ich bei Veranlaſſung der Weſenseinheit des Er—
kenntnißvermögens von der weitausgedehnten Mög—
lichkeit anderer Daſeynsformen, obgleich ſie alle ein
Grundweſen haben, ſagte, findet hier abermals An—
wendung. Man denke ſich nur die höchſt verſchiedenen
Zuſtände, in denen wir die Entwickelung des Men—
ſchengeiſtes unter den verſchiedenen Daſeynsbedin—
gungen hier auf der Erde antreffen! Aber was
ſind die Ungleichheiten dieſer Bedingungen gegen
diejenigen, welche von Weltkörper zu Weltkörper
ftattfinden müſſen! Zwiſchen dieſen zahlloſen
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 20
306
Weltkörpern gibt es alle möglichen Ungleichheiten, in
Hinſicht auf Alter, Theilnahme am Licht, auf Er—
wärmung u. ſ. w. Unſere einigermaßen beſtimmte
Kenntniß von der Ungleichheit dieſer Bedingungen
beſchränkt ſich auf einen unſäglich geringen Theil
des Ganzen; noch beſchränkter muß die Anwen—
dung davon auf weitere, die beſtimmten geiſtigen
Daſeynsformen betreffenden Schlüſſe ſeyn. Die
Ungleichheiten der Weltkörper in unſerem Son—
nenſyſteme ſind ſchon ſehr groß, dehnen wir unſern
Gedanken über das ganze Weltgebäude aus, dann
werden ſie zahllos; auf einigen Weltkörpern werden
die Geſchöpfe weit größer, auf andern weit kleiner
ſeyn; auf einigen werden ſie aus einer weit dünnern
Materie gebildet ſeyn als bei uns; ja dieſe kann
vielleicht in der Verdünnung dem Aether ſich nä—
hern; auf andern können ſie aus einer dichtern
gebildet ſeyn; auf einigen Weltkörpern können die
vernünftigen Geſchöpfe geſchickt ſeyn, weit ſchnel—
lere, weit feinere, weit klarere Eindrücke zu em—
pfangen als auf dem unſrigen, auf andern das
Gegentheil. Gehen wir nun zu den Geiſteskräften
und der Geiſtesentwickelung ſelbſt über, dann dürfen
wir nicht geringere Verſchiedenheiten annehmen.
Es läßt ſich wohl denken, daß es Vernunftweſen
mit ſchwächern Fähigkeiten gebe, als wir be—
ſitzen; aber erwägen wir recht, wie außerordent—
lich tief wir unter dem ſtehen, dem unſere Ver—
nunft nachſtrebt, dann fühlen wir uns anzu—
nehmen gezwungen, daß es unſäglich viele Ent—
wickelungsſtufen über derjenigen geben könne, auf
welcher wir uns befinden. Doch dieſes darf uns
nicht niederbeugen! Unſer Geſchlecht iſt noch jung
hier auf der Erde, und ſcheint eine lange Zukunft
zu höherer Entwickelung zu haben; und wir dür—
fen hoffen, daß die welche zu einer beſtimmten
Zeit ihre Bahn hier vollendet haben, ſich anders—
wo, bis zu einer größern Höhe werden erheben
können.
4.
Erkenntniſsgemeinſchaft zwiſchen den Weltkörpern.
Wir haben geſehen, daß die Bewohner unſeres
Weltkörpers einige Kenntniß vom Zuſtande auf
den übrigen Weltkörpern beſitzen. In Hinſicht auf
die moraliſche Welt auf den fremden Weltkör—
pern beſchränkten wir uns darauf, zu bezeugen,
308
daß ihr Grundweſen daſſelbe ſeyn müſſe als bei
uns; aber um etwas Feſtbeſtimmtes über die Ei—
genthümlichkeiten auszuſagen, welche ſie auf jeder
haben können, dazu fehlen uns die Mittel. In
Betreff der Kenntniß von den Naturgeſetzen fanden
wir uns etwas weniger beſchränkt; von allen Pla—
neten unſeres Sonnenſyſtems konnten wir die Länge
ihres Jahrs beſtimmen; von den uns am beſten
bekannten konnten wir die Länge ihrer Tage, ihre
Sonnen- und Mondverfinſterungen, die Geſchwin—
digkeit des Falles, die Bahn geworfener Körper,
die Dichtigkeit ihrer Maſſe, die Menge des Lichts,
welches ſie von der Sonne empfangen u. ſ. w.,
angeben. Gleichwie wir nun hier bei uns dieſes
von andern Weltkörpern wiſſen, müſſen wir an—
nehmen, daß auch die Bewohner fremder Welt—
körper im Stande ſind, etwas von dem Zuſtande
auf dem unfrigen zu erkennen. Die Bewohner
fremder Weltkörper, welche höhere Fähigkeiten als
wir beſitzen, oder größere Fortſchritte gemacht ha—
ben, können natürlich mehr vom Zuſtande auf un—
ſerem Weltkörper wiſſen, als wir von dem Zu—
ſtande auf dem ihrigen zu erkennen vermögen; aber
auch wir werden gewiß nicht bei der Kenntniß,
309
welche wir gegenwärtig von dem Zuſtande auf
fremden Weltkörpern haben, ſtehen bleiben. Wir
wollen uns in Gedanken 300 Jahre in der Zeit
zurückverſetzen, etwa vor das Bekanntwerden des
Copernikaniſchen Syſteme. Was würde man zu
jener Zeit von dem geſagt haben, welcher die da—
mals unbekannten Wahrheiten vermuthet hätte,
die wir nun mit Gewißheit von fremden Welt—
körpern wiſſen? Was würde man von demjenigen
geſagt haben, welcher gemeint hätte, die Planeten
ſeyen Weltkörper gleich dem unſrigen mit Jahres—
und Tageszeiten? Was würde man von demjenigen
gedacht haben, welcher vorausgeſagt hätte, daß man
dahin kommen würde, Berge im Monde zu entdecken,
ihre Höhe zu meſſen u. ſ. w., und ſo genaue Kar—
ten über die uns zugekehrte Mondſeite zu entwerfen,
daß ſie in gewiſſer Hinſicht die übertreffen,
welche wir von der Erdoberfläche haben können?
Was würde man von dem gedacht haben, welcher
hätte behaupten wollen, daß die Firſterne entfernte
Sonnen ſeyen, deren viele größer als unſere
Sonne ſeyn müſſen? Wären ſie nicht als Träumer
betrachtet worden? Nein, kann man ſagen, nicht
von Allen. Einige Wenige nahmen ja ſchon im
20
310
Alterhum einen Theil von dieſen Erkenntniſſen
an, obgleich nicht unterſtützt von allen den Grün—
den, welche wir nun für ihre Wahrheit haben.
Wohl wahr, einige Wenige ſahen dieß ein, aber
kaum einer unter Millionen Menſchen; die Menge,
ſelbſt der Aufgeklärten, mußte ſolche über den ge—
wöhnlichen Kreis der Kenntniſſe weit hinaus ſchwei—
fende Gedanken lächerlich finden. Muß man nicht
unter ähnlichen Bedingungen, in neuerer Zeit, ein
gleiches Schickſal erwarten? Ganz wird man dem—
ſelben wohl nicht entgehen können; vielleicht aber
dürfte man es doch etwas gemildert erwarten, nach
der größern Erfahrung, welche wir nun von der
Kraft haben, womit die Entdeckungen von einer
Zeit zur andern die Grenzen überſpringen, welche
man früher für die äußerſten hielt. Niemand wird
läugnen wollen, daß wir noch weit davon entfernt
ſind, diejenige Einſicht im Weltbau erlangt zu haben,
welche uns zu erreichen möglich iſt. Wenn man
bedenkt, wie die neueren Entdeckungsmittel unauf—
hörlich wachſen, und wie der eine Wiſſenſchafts—
zweig den andern unterſtützt und ſtärkt, dann erhält
man ein lebendiges Gefühl davon, daß die Grenzen
noch unendlich weit entfernt liegen. Tycho Brahe
hatte weder das Fernrohr, noch die aftronomifche
Uhr, noch das Mikrometer. Selbſt ein Jahrhun—
dert nach ihm waren Fernröhre und Teleſkope
noch unvollkommene Werkzeuge gegen die, welche
wir Dollond und Herſchel verdanken, und auch
dieſe ſind wiederum weit übertroffen worden,
insbeſondere durch die Fernröhre, welche Frauen—
hofer und ſeine Nachfolger zuwege gebracht haben.
Uhren und Meßwerkzeuge find zu einer Voll
kommenheit gebracht worden, welche den Grenzen
des Erreichbaren nahe ſcheinen; die Aſtronomen
aber ſtreben mit Recht nach einer noch größern
Annäherung, weil ſie wiſſen, daß dieß Wenige
zu Vielem führen könne, welches ſonſt unerreich—
bar bliebe. Eine andere Verſtärkung gewann die
Wiſſenſchaft durch die bei weitem zahlreicheren
Bearbeiter, welche ſie erhalten hat, und durch die bei
weitem vollkommenere Grundlage an Kenntniſſen,
von denen dieſe ausgehen können. Endlich erhält die
Wiſſenſchaft von den Weltkörpern durch die Fort—
ſchritte, welche die übrigen Theile der Naturwiſſen—
ſchaften erreichen, eine große Unterſtützung; ſo
hat uns z. B. die Geologie in den Stand geſetzt,
auf den innern Bau der Weltkörper Schlüſſe zu
312
machen; untere fteigende Kenntniß von dem Magne—
tismus des Erdkörpers eröffnet uns die Ausſicht,
auch den der übrigen Weltkörper kennen zu lernen.
Unſere unaufhörlich fortſchreitenden Einſichten in
die Natur des Lichts und der Waͤrme werden uns
zu ſeiner Zeit mit vielen uns noch verborgenen
Verhältniſſen auf fremden Weltkörpern bekannt
machen. Ja es dürfte ſelbſt zuläſſig ſeyn, als eine
unſäglich ferne Ausſicht es ſich zu denken, daß wir
noch zu einer ſolchen Kenntniß von den Geſetzen
des Organismus hier auf der Erde gelangen könn—
ten, daß ſich davon einige Anwendung auf den
Organismus in fremden Weltkörpern machen ließe.
Ich ſehe wohl, der Sprung iſt ungeheuer; inzwiſchen
müſſen wir bedenken, welche außerordentlich großen
Fortſchritte unſere Kenntniſſe von den Geſetzen der
thieriſchen Natur in dem letzten halben Jahrhun—
dert gemacht haben. Der Zuſammenhang, worin
wir nun die in der Reihe aller Jahrtauſende un—
tergegangene Thierwelt mit der gegenwärtigen
bringen können, die Einheit von Geſetzen, worun—
ter man ſie zuſammenfaſſen kann, gewährt uns
die Hoffnung, daß wir einſt die Bedingungen für
jede Entwickelungsſtufe im Thier- und Pflanzen—
313
reiche werden angeben können, ja die Bedingungen
für Formen, welche hier nie zur Wirklichkeit ge—
langt ſind. Wohl iſt es wahr, daß von hier bis zu
der Kenntniß der organiſchen Weſen auf fremden
Weltkörpern, wo nicht nur ganz andere Stoffe als
auf unſerer Erde ſeyn können, ſondern ſelbſt ſeyn
müſſen, ein ſcheinbar unausführbarer Aufſchwung
iſt; aber auch die Chemie wird mit der Zeit all—
gemeine Geſetze für die Bildung der Stoffe finden,
durch deren Hülfe wir auf das, was auf fremden
Weltkörpern geſchieht, Schlüſſe zu machen vermögen.
So hoffen wir denn, hier auf der Erde ſtets mehr
und mehr zu Einſichten zu gelangen, welche unſern
Geiſt unſäglich mehr als jetzt von dem werden durch—
ſchauen laſſen, was auf entfernten Weltkörpern
geſchieht und welche ſomit unſer geiſtiges Daſeyn
zu einer Theilnahme am Weltall erweitern werden.
Denken wir uns nun, daß dieſes in Beziehung auf
uns auch von andern Weltkörpern aus geſchehe, ſo
ſieht man, daß in dem endlichen Daſeyn eine An—
lage dazu vorhanden iſt, daß das eine Weltglied,
vermöge geiſtiger Kräfte, das andere erfaſſen ſoll;
daß demnach jedes weſentliche Weltglied zu einem
Bewußtſeyn vom Ganzen gelangen ſolle; daß ſelbſt
314
in dem einen ein Wiſſen ſeyn werde von dem
Wiſſen, dem Glauben, der Gotteserkenntniß, die
ſich bei dem andern finden; kurz, daß das ganze
Daſeyn nicht nur vermöge ſeines Urſprungs und
ſeiner Lenkung von der ewigen, allmächtigen Ver—
nunft ein wahres Vernunftreich iſt, ſondern daß
eine Anlage da iſt zu einer Vernunftgemeinſchaft
zwiſchen den endlichen denkenden Weſen ſelbſt, eine
Anlage, welche von unſerer, der Erdebewohner
Seite bisher nur einen geringen Grad derjenigen
Entwicklung erreicht hat, welche zu hoffen iſt,
während dieſelbe wahrſcheinlicherweiſe auf einigen
Punkten des übrigen Daſeyns bereits eine weit
höhere Vollkommenheit erlangt hat. Im Weſen
der Dinge liegt es demnach, daß wir in der reich—
haltigſten Bedeutung des Ausdrucks ſagen dürfen:
das ganze Daſeyn iſt ein Vernunftreich.
Die Kultur der Wiſſenſchaft als
Neligionsübung betrachtet.
Eine Rede, gehalten beim Univerſitätsfeſte für die lutheriſche
Reformation, 1814.
Ich laſſe dieſe kurze Rede hier abdrucken, weil fie manche jener
Gedanken, welche in den andern Theilen dieſes Buches entwickelt ſind,
zu einem Ueberblick ſammelt, und weil ſie durch ihre Kürze dazu dient,
die Einheit Aller recht kräftig vor Augen zu ſtellen. Ich habe ſie
in allem Weſentlichen unverändert abdrucken laſſen, weil die Ver—
gleichung der nahe verwandten Arbeiten eines Verfaſſers, zwiſchen
denen ein Zeitraum von 35 Jahren liegt, nützlich ſeyn kann.
Mit Rückſicht auf das durch die Umſtände in der Rede Bedingte
habe ich zu bemerken, daß das Feſt damals nicht nur, wie noch jetzt,
ein Erinnerungstag für die Religionsverbeſſerungen und für die Um—
bildung der Univerſität unter Chriſtian III., ſondern auch der Ein—
weihungstag für die neuen afademifchen Bürger war.
Die Rede ward in lateiniſcher Sprache gehalten; ich theilte
ſie jedoch in Molbechs Athene für Februar 1815 däniſch mit.
Den Geſetzen unſeres gelehrten Vereins zufolge
iſt mir heute die Aufgabe geworden, die Erinnerung
an die glückliche Wiedergeburt des wahren Glau—
bens in unſerem Vaterlande zurückzurufen. So
ſchön und begeiſternd nun auch dieſer Gegenſtand
iſt, würde ich nichts deſto weniger, wenn ich
meinen Mangel an Rednergaben und Rednerübung
berückſichtige, davor zurückſchrecken, wenn nicht eine
heilige Pflicht es mir auferlegte, hervorzutreten;
aber eben dieſe Pflicht verſpricht mir von Ihrer
Gerechtigkeit die ſchonendſte Beurtheilung, und fo
gibt denn auch hier, wie überall, das Bewußtſeyn
der Pflicht den Muth, ſie zu erfüllen.
So oft andachtsvolle Dankbarkeit Menſchen
verſammelt, um die Befeſtigung des Reichs der
Wahrheit unter ihnen zu feiern, ſcheint es mir,
man ſollte einander daran erinnern, daß dieſes
Reich, obgleich daſſelbe in ſich ſelbſt ewig und
unzerſtörbar iſt, für uns verloren gehen könne,
wenn wir es nicht ſelbſt mit gewiſſenhaftem Eifer
318
bewachen; denn unabläſſig hat der Menfch feine
eigene Schwachheit zu fürchten. Kaum iſt ein Irr—
thum zu Boden geworfen, da erhebt ſich ein an—
derer, welchen man bereits in tiefer Vergeſſenheit
begraben wähnte, von neuem, und ſo gebrechlich
und wankelmüthig iſt die menſchliche Natur, daß
ſich die meiſten leicht von dem Extrem des einen
Irrthums dem entgegen geſetzten zuwenden, welcher
früher Gegenſtand ihres Haſſes und ihrer Ver—
achtung war; aber dem feſten Mittelpunkte der
Wahrheit gehen ſie vorbei, das reine Licht ver—
ſchmähend, von welchem doch alle Farbenſchimmer
des Irrthums ihren Schein geborgt haben. Gab
es z. B. eine Zeit, in der die Entwickelung der
Wiſſenſchaften von der thörichten Einbildung, daß
ſie dem Glauben und der Gottesfurcht gefährlich
ſeyen, zurückgehalten wurde, ſo konnten Viele
nicht zur Einſicht dieſes Irrthums kommen, ohne
auf die entgegengeſetzte abſcheuliche Meinung zu
verfallen, es müſſe die Religion als die ewige
Feindin der Vernunft ausgerottet werden; kaum
aber iſt es ſo weit gekommen, daß die Anhänger
dieſer Meinung ſich ihres gottloſen Wahnſinns
ſchämen, da hört man die alte Furcht vor der
Wiſſenſchaft fich von neuem äußern, und zwar zum
Theil von denſelben Menſchen, welche früher eifrig
dem entgegengeſetzten Irrthume anhingen.
Nur um ihrer ſelbſt willen beklagen wir die,
welche auf ſolche Weiſe von dem Windſtoß jeder
Meinung ſich hin und her wehen laſſen; aber im
Intereſſe der Menſchheit beklagen wir die vielen
trefflichen Jünglinge, welche mit Wärme für alles
Edle und Gute, dabei aber noch nicht zum rechten
Ueberblicke gelangt, nur dem einen Irrthume ſich
hingegeben haben, weil ſie die Abſcheulichkeit des
Entgegengeſetzten lebendig fühlten. Ein ſolches
Mißtrauen gegen das Licht, welches uns Gott in
der, Vernunft gab, iſt es, welches in den letzten
Jahren ſo viele, zum Theil gewiß edle Männer
verleitet hat, die Freiheit des Lutherthums in
Chriſto mit der Prieſterknechtſchaft der römiſchen
Kirche zu vertauſchen; eine Verirrung, wozu
wir glücklicherweiſe die Beiſpiele faſt nur aus der
Fremde holen müſſen, denen wir aber kräftig ent—
gegen zu arbeiten doch Grund genug haben.
Unter ſolchen Umſtänden wird es unſerm Zweck
nicht fremd ſeyn, wenn wir durch die Feier des
Tages veranlaßt unfere Ueberzeugung von der
320
Harmonie der Religion und der Wiſſenſchaft zu
befeſtigen ſuchen, indem wir zeigen, wie der
Wiſſenſchaftsmann! fein Streben, wenn
er es ſelbſt recht verſteht, als eine Reli—
gionsausübung anſehen müſſe.
Wenn es hier bloß mein Zweck wäre, zu zeigen,
daß Gottesfurcht Wiſſenſchaft erzeugen müſſe, ſo
würde ich mich auf die von allen Seiten erkannte
große Wahrheit berufen, daß Liebe zu Gott das
Weſen in aller Religion ausmache. Der Schluß
würde alsdann leicht ſeyn, daß Liebe zu dem, von
welchem alle Wahrheit kommt, die Luſt erzeugen
müſſe, dieſelbe in allen ihren Verzweigungen zu
erkennen; da wir aber hier die Wiſſenſchaft an
ſich ſelbſt als Religionspflicht erkannt ſehen möch—
ten, ſo wird es erforderlich für uns, in das We—
ſen der Wiſſenſchaftlichkeit tiefer einzudringen.
Hier zeigt es ſich denn, daß der forſchende
Blick des Menſchen, er ſey nun auf ſein eigenes
inneres Weſen oder auf die ihn umgebende und
»Das Wort Wiſſenſchaftsmann (ein Mann der
Wiſſenſchaft) iſt im Däniſchen ſchon alt. Irre ich mich nicht,
jo iſt es auch ſchon in Deutſchland gebraucht worden; aber
- auf jeden Fall wage ich es hier daſſelbe zu empfehlen.
321
miteinſchließende Schöpfung gerichtet, ſtets auf den
ewigen Urſprung aller Dinge hingeleitet wird.
In aller Forſchung iſt es der letzte Zweck, das zu
finden, was ein wirkliches Daſeyn hat und dieſes
in ſeinem reinen Glanze anzuſchauen, von allem dem
geſchieden, was nur durch ein Scheindaſeyn den
Unachtſamen täuſcht. Der Mann der Wiſſenſchaft
will dann wiſſen, was in den unabläſſigen Ab—
wechslungen das Beſtändige iſt, das Unerſchaffene,
welches ſich hinter den zahlloſen erſchaffnen Din—
gen verbirgt, das Einheitsband, welches macht,
daß die Dinge in allen ihren vielfältigen Zerthei—
lungen und Scheidungen doch nicht auseinander
fallen. Bald wird er erkennen müſſen, daß das
Unabhängige nur das Beſtändige ſeyn könne und
das Beſtändige das Unabhängige, und daß die
wahre Einheit von keinem dieſer beiden getrennt ſeyn
könne. Und fo liegt es denn ſchon in der Natur
des Denkens, daß dieſes keinen unerſchütterlichen
Ruhepunkt, keinen Stillſtand findet, als in der
wechſelloſen, ewigen, unverurſachten, alles ver—
urſachenden, alles umfaſſenden Allvernunft.
Genügt ihm dieſe einſeitige Betrachtung nicht,
ſondern ſucht er mit dem Auge der Erfahrung die
Oerſted, der Geiſt in der Natur. 14 21
322
Welt zu durchſchauen, ſo ſieht er daß alle die
Dinge, von deren Wirklichkeit die Menge ſich am
meiſten verſichert hält — die körperlichen — nie
ein dauerndes Daſeyn haben, ſondern daß ſie ſich
ſtets auf dem Wege zwiſchen der Geburt und dem
Untergange befinden. Fragt er ſich dann, was darin
das Beſtändige ſey, ſo antworten Vernunft und
Erfahrung einſtimmig: daß es nur die Kräfte ſind,
welche die Dinge hervorbringen und die Geſetze,
nach denen jene wirken; die Kräfte aber löſen ſich
alle in eine, in zwei entgegengeſetzten Weiſen ſich
äußernde Grundkraft auf, und die Geſetze zeigen ſich
bei näherer Unterſuchung als eine die ganze Natur
durchdringende und beherrſchende Vernunft. Faßt
er nun die ganze Harmonie der Natur recht zu—
ſammen, ſo ſieht er, daß dieſes nicht nur ein
Begriff, eine abſtrakte Vorſtellung ſey, wie man
ſie nennt, ſondern daß die Vernunft und die Kraft,
welcher jedes Ding dasjenige verdankt, was an ihm
Weſen iſt, nur die Offenbarung einer ſelbſtſtän—
digen lebendigen Allvernunft ſey. Das Beſtändige
in der Natur kommt demnach von dem ewig Selbſt—
ſtändigen, die Lebensäußerungen von dem, welcher
das Leben in ſich ſelbſt hat, der Zuſammenhang
323
und die Harmonie des Ganzen von der allein
vollkommenen Weisheit. Wie kann er denn, wenn
er dieß ſieht, anders als von dem tiefſten Gefühl
der Demuth, der Andacht und Liebe beſeelt ſeyn?
Hat Jemand etwas anderes aus der Betrachtung
der Natur gelernt, ſo konnte dieß nur dadurch
geſchehen, weil er ſich in dem Zerſtreuten und
Mannigfaltigen verlor und ſich nicht emporhob
zur ewigen Einheit der Wahrheit.
Verſuchen wir nun uns auf den Fittigen des
Geiſtes emporzuſchwingen, die wie ſchwach ſie auch
ſeyn mögen, den Sterblichen dennoch gegeben wur—
den, um ſie von dem Staube loszureißen; wagen
wir, wenn auch im tiefen Gefühl des ungeheuren
Abſtandes, das Auge zu dem Allvollkommenen em—
porzuheben, um ſo tief in ſein Weſen zu ſchauen
als es die Begrenztheit unſerer Kräfte geſtattet,
ſo ſtellen ſich uns darin drei Grundeigenſchaften
oder vielmehr Grundweſen dar.
Seine Selbſtſtändigkeit, die weſentliche
Art, worin er aus ſich ſelbſt ſeinen Urſprung hat,
und auf ſich ſelbſt beruht, muß als die unbegreif—
liche Grundlage das erſte ſeyn. Unzertrennlich
davon iſt ſeine Thätigkeit, die wir auch mit
324
einem andern Ausdruck fein Leben nennen kön—
nen, in deſſen Weſen es liegt, daß es vermöge
ſeines ewigen Selbſtvorſtellens ſich ſelbſt von Ewig—
keit her hervorbringt. Aus beiden endlich geht
die innere Harmonie des ganzen Weſens hervor,
die nicht nur eine Eigenſchaft, ſondern ein leben—
diges thätiges Seyn iſt.
Es wird wohl unnöthig ſeyn, einer erleuchteten
Verſammlung zu ſagen, daß dieſe Vorſtellungsweiſe
keine bloße Anbequemung an die herrſchende Glau—
benslehre ſey; ſondern daß ſie ſchon in einem
frühern Alter in derjenigen Philoſophie, welche
auf das kräftigſte zum Ewigen emporſtrebte, auf—
geſtellt worden iſt. Sie iſt denn unſerer heiligen
Religion nicht entlehnt, ſondern hat in dieſer ihre
Bekräftigung erhalten, ſo daß wir um ſo dreiſter
dem Lichtſchimmer folgen dürfen, welchen die Ver—
nunft uns darbietet.
Aus dem Geſichtspunkte bis zu welchem wir
uns hier emporgeſchwungen haben, verſtehen wir
nun das tiefe Gefühl von etwas Göttlichem, das
uns bei der Betrachtung des Schönen durch—
dringt. Wir nehmen das Wort hier in der aus—
gedehnteſten Bedeutung, worin es zugleich das
Erhabene, das Begeiſternde, und das Harmoniſche
umfaßt. In dem Erhabenen herrſcht dasjenige
welches den Gedanken von Selbſtſtändigkeit erweckt;
eine Vorſtellung, welche in unſerer Seele nicht
nur durch geiſtige Feſtigkeit und durch Erhebung
über alles Kleinliche, worauf die Welt ſo häufig
Werth legt, hervorgerufen wird, ſondern eben ſo
oft durch die Betrachtung körperlicher Gegenſtände,
wie etwa eines gegen die Wolken aufgethürmten
Berges, einer Eiche, welche den Stürmen von
Jahrhunderten getrotzt hat, des erdumgürtenden
Meeres, welches alle Länder umfaßt; kurz, durch
Gegenſtände, deren Feſtigkeit, Unzerſtörbarkeit oder
Größe ſich unſerer Seele bemächtigt.
Aber niemals wird die Seele durch irgend eine
Art von Schönheit hingeriſſen, wenn ſich nicht in
ihr zugleich eine mächtig ſchaffende Thätigkeit
offenbart. Durch dieſe nur wird unſer ganzes
Weſen gleichſam mit neuer Lebenswärme erfüllt
und von jener Götterkraft durchſtrömt, welche man
ſo treffend und ſchön bezeichnend Enthuſiasmus,
Begeiſterung, genannt hat.
Das Harmoniſche endlich, das man in einer
mehr beſchränkten Bedeutung des Worts, das
326
Schöne genannt hat, beſteht in jenem Gepräge
einer verborgenen unergründlichen Vernunft, welche
vom Verſtande unbegriffen, durch die Einbildungs—
kraft aufgefaßt wird.
So wird denn der Menſch zu Gott, dem ewigen
Urquell aller Dinge geführt, er möge nun das
Weſen der Wahrheit oder das der Schönheit
zu erforſchen geſucht haben, überhaupt dasjenige,
was nothwendig in der Natur des Daſeyns liegt.
Will er nun wiſſen was das ſey, dem er mit Frei—
heit nachſtreben muß, ſo iſt die erſte Antwort des
natürlichen Menſchenverſtandes: das Gute. Aber
er ſieht die Menſchen uneinig unter einander,
uneinig mit ſich ſelbſt über das, worin dieſes
nachſtrebungswürdige Gute beſtehe; bald wird
er gewahr werden, daß faſt alle die Dinge, wel—
chen man im Leben als Gütern nachſtrebt, ihren
Werth nicht in ſich ſelbſt haben; daß aber diejeni—
gen, welche denſelben gedankenlos nachſtreben, wenn
man ſie dahin bringen könnte, zuſammenhängend
darauf zu antworten, was ſich über die wichtigſte
Angelegenheit des Lebens fragen ließe, ſelbſt
eingeſtehen müßten, daß alle äußern Güter, unter
denen bei den meiſten der Reichthum die oberſte
327
Stelle einnimmt, nur gewiſſer Zwecke wegen ge—
ſucht werden. Dieſe Dinge ſind demnach nicht
an ſich ſelbſt gut, ſondern nur weil ſie zum Er—
werb eines höhern Gutes dienen.
Der Denker ſucht denn ein unabhängiges Gutes,
ein Gutes das durch ſein eigenes Weſen, nicht
aber durch etwas fremdes gut iſt; was aber ſein
Weſen durch ſich ſelbſt hat, iſt ja vollkommen,
ſelbſtſtändig, unabhängig, iſt eins mit dem ewi—
gen Urquell aller Dinge, iſt Gott ſelbſt. Wie die
Dinge demnach, nur in ſoweit ſie an der Kraft
des göttlichen Weſens theilnehmen, eine Wirklich—
keit haben, ſo haben ſie ebenfalls nur durch die—
ſelbe ein wirklich Gutes. Dem Guten nachzuſtre—
ben kann daher nichts anderes ſeyn, als zu ſtre—
ben, ſich ſo viel als möglich von dem göttlichen
Weſen zuzueignen. Die ſtrenge Wiſſenſchaft ſagt uns
mithin, was der Freund der Religion wünſchen
mußte, daß die rechte Weiſe dem Guten nachzu—
ſtreben, eine Gottesverehrung ſey.
Es iſt leicht zu ſehen, daß unſere Sitten—
lehre aus dieſem Geſichtspunkte betrachtet, ſich in
Religion verwandelt, indem es ihr höchſter Grundſatz
iſt, daß wir, mit Gott vor Augen, ſtreben
ſollen, das Gottesbild, welches wir in uns
bewahren, ſo vollkommen als möglich uns
zu erhalten.
Die unbedingte Selbſtſtändigkeit des göttlichen
Weſens ahmen wir durch den feſten Willen nach,
unſer geiſtiges Weſen niemals zum Mittel irgend
eines fremden Zwecks zu machen. Hier wie überall
liegt der feſte Mittelpunkt der Vernunft zwiſchen
zwei böſen und unvernünftigen äußerſten Gegen—
ſätzen; in den einen verfällt die Selbſtſucht, welche
ihre bloß endliche Eigenheit ſo behandelt, als ob ſie
das wahre Selbſtſtändige wäre; auf dem entgegen—
geſetzten Extrem befinden ſich die Schwachen, welche
mit knechtiſchem Sinne den willkürlichen Zwecken
anderer ſich als Mittel hingeben.
Die unendliche ſchaffende Kraft der göttlichen
Natur ahmen wir, obgleich in unſerer Schwach—
heit, durch eine Thätigkeit nach, welche allem,
was uns umgibt, das Gepräge des Geiſtes aufzu—
drücken ſtrebt; wobei wir uns denn eben ſo weit
entfernt zu halten haben von einer den Menſchen
entehrenden, trägen Unwirkſamkeit, als von einer
ruͤckſichtsloſen oder ſchädlichen Kraftvergeudung.
Die innere Harmonie des göttlichen Weſens
329
iſt in ihrer ſelbſtſtändig ruhigen Beſchauung Ver—
nunft, in ihrer Thätigkeit Liebe, beide aber
weſentlich unzertrennlich; der Name beider in ihrer
völligen Vereinigung iſt Weisheit, in dem
höchſten und umfaſſendſten Sinne des Worts. In
dieſem Sinne gehört auch die Gerechtigkeit dahin,
dieſe beſteht darin, daß wir an den andern Vernunft—
weſen dieſelbe Selbſtſtändigkeit als bei uns ſelbſt
anerkennen; die Menſchenliebe, deren Weſen es
iſt, thätig zu zeigen, daß wir das Bild Gottes
in den andern Vernunftweſen, gleich wie in uns
ſelbſt erkennen; Bürgerſinn, welcher die beiden
vorigen Tugenden, mit Rückſicht auf die Harmonie
der ganzen Geſellſchaft in ſich vereinigt; Ach—
tung für die Natur, inſofern dieſe ja als ein
Werk der unendlichen Weisheit erkannt wird.
Dieſes iſt die Weisheit in ihren Aeußerungen
gegen die äußere Welt. Wendet ſie ſich nach
Innen gegen ſich ſelbſt, ſo iſt es klar, daß ſie ſich
ſelbſt lieben müſſe, in ihrer Selbſtſtändigkeit als
Wahrheit, in ihrer Thätigkeit als Wiſſenſchaft und
Kunſt, in ihrer Harmonie als gelehrte Republik.
Um wie viel zu beſchränkt ſind nicht die
Grenzen einer Rede, um dieſes alles darin zu
330
entwickeln; für unſern Zweck aber genügt hier in
innigem Zuſammenhange die Richtigkeit des alten
Ausſpruchs nachgewieſen zu haben, daß die Wahr—
heit von Gott iſt, und daß es zu der Liebe zum
göttlichen Weſen gehöre, Wiſſenſchaft und Kunſt
zu lieben, welche nichts andres als eine Erkenntniß
und eine Darſtellung ſeines Weſens ſind. Wir ſehen
nun ein, daß wir zufolge derſelben Liebe und der
daraus entſpringenden Liebe zu den Mitmenſchen,
ſtreben müſſen, die Kenntniſſe weiter zu verbreiten,
zu deren Erlangung uns die Liebe antrieb. Wir
begreifen nun die hohe Begeiſterung, mit der die
Bearbeiter der Wiſſenſchaft alles gewagt haben, was
dem Menſchen ſonſt lieb und theuer zu ſeyn pflegt,
Wahrheiten zu entdecken, deren Werth allein durch
die reinſte Wahrheitsliebe zu begreifen war; und
nichts kann uns von dieſem Standpunkte aus näher
liegen, als die große Erfahrung, daß die Wiſſen—
ſchaft überall, in dem unverdorbneren Zeitalter der
erſten Entwickelung, mit der Religion in innigſtem
Zuſammenhange geſtanden ſey, ein Zuſammenhang,
der nur durch Verirrung in einer oder der andern
Richtung für einige Zeit aufgehoben werden konnte.
Die Kunſtvorſchriften ſelbſt, welche wir für
331
die Behandlung der Wiſſenſchaft haben, daß die
Wahrheiten gründlich bewieſen, klar dargeſtellt,
ſyſtematiſch verbunden werden müſſen, erhalten
hier eine höhere Bedeutung, ſo daß man wohl
behaupten dürfte, es gehöre zu unſern wahren
Pflichten, dieſe Vollkommenheiten, ich ſage nicht
zu erreichen, ſondern erreichen zu wollen. In der
Wiſſenſchaft wird nämlich die Selbſtſtändigkeit
der ewigen Vernunft dadurch kund gethan, daß Nichts
auf etwas Anderes, als auf die eigene Einſicht
der Vernunft, und zwar ſo erbaut wird, daß
jede Wahrheit ihre unmittelbarſte Begründung er—
hält, das iſt, daß man ſich nicht bloß damit be—
gnügt, einen Ueberzeugungsgrund gefunden zu
haben, ſondern auch den wahren Daſeynsgrund
aufſucht für Alles, was bewieſen werden ſoll. Die
Thätigkeit oder das Leben, welches die zweite Eigen—
ſchaft war, wird dadurch erhalten, daß das Wahre
mit Klarheit dargeſtellt wird, welche die eigentliche
wirkende Kraft des Wahren, ſowie die des Lichts
iſt. Ihre Harmonie endlich erhalten die Wahr—
heiten durch jene innige und richtig abgemeſſene—
Verbindung, welche wir am liebſten Zuſammen—
ſtimmung nennen möchten.
332
Auch darin ſehen wir eine Uebereinſtimmung
mit der vollkommenen Vernunft, daß jede dieſer
Tugenden in ihrer Vollendung alle übrigen mit ſich
führen muß, ſo daß die eine nicht ohne die an—
dere gedacht werden kann; denn wäre jede Wahr—
heit in einer Gedankenfolge richtig begründet, ſo
wäre ſie dadurch auch klar, und an ihrer rechten
Stelle; und auf gleiche Weiſe würde auch die voll—
endete Klarheit und die vollendete Zuſammenſtim—
mung die andern Tugenden mit einſchließen. Für
uns dagegen mit unſern beſchränkten Kräften iſt
jede dieſer Tugenden nur in einem einigermaßen
hohen Grade erreichbar, inſofern ſie in Geſellſchaft
der andern geſucht wird.
Ich habe nicht gefürchtet, von Ihnen, geehrte
Zuhörer, beſchuldigt zu werden, daß ich mich durch
eine Gedankenfolgerung gar zu weit habe hinreißen
laſſen, als ich behauptete, daß es zu den Pflichten
gehöre, die hier geſchilderten wiſſenſchaftlichen Kunſt—
vollkommenheiten zu ſuchen. Wie konnte ich ſolches
befürchten, in einer ſolchen Verſammlung von Ver—
ehrern der Wiſſenſchaft, unter denen ſo viele ſich
in der höhern Wahrheitserforſchung ſelbſt verſucht
haben? Wer hat wohl, bei der Entwickelung einer
333
wichtigen Wahrheitenreihe, für ſich oder für andere
es nicht als eine Gewiſſensſache gefühlt, die Voll—
kommenheiten, von denen ich hier geredet habe, zu
erreichen? Aber ich wiederhole es: nicht ſie zu
erreichen, ſondern nur ſie erreichen zu wollen, iſt
dem Manne der Wiſſenſchaft möglich.
Aber habe ich dadurch nicht mehr bewieſen, als
ich gewollt; habe ich dadurch nicht bewieſen, daß
alle Menſchen Männer der Wiſſenſchaft ſeyn ſoll—
ten, und bin ich nicht auf ſolche Weiſe mit einem
natürlichen Gefühle in Widerſpruch gerathen, gegen
das man nicht verſtoßen kann, ohne alle ſeine, auf
Denken und Schließen gegründeten Urtheile zu ver—
dächtigen? — Meine Antwort liegt nahe; denn nur
Mißverſtändniß könnte meine Worte ſo deuten.
Wir haben geſehen, daß es auch von dem Geſichts—
punkte aus, den wir gewählt haben, vielerlei Pflich—
ten gebe, deren jede freilich allen Menſchen auf—
erlegt iſt, dennoch aber dieß in verſchiedenem Maße,
alles mit Rückſicht auf die beſondere Lage eines
Jeden; denn die Handhabung der Selbſtſtändigkeit
erfordert, daß der Menſch ſich einen beſtimmten
Wirkungskreis wähle, und ſein Gefühl für die
Harmonie des Ganzen gebietet ihm, denjenigen zu
334
wählen, worin er am meiſten zur Vollkommenheit
des Ganzen beitragen kann.
Während daher die Meiſten in verſchiedenen
Richtungen darauf hinarbeiten, das Gepräge der
Vernunft der körperlichen Umgebung aufzudrücken,
Andere ihre Kräfte anſtrengen, die geſellſchaftliche
Selbſtſtändigkeit, innere Thätigkeit oder Harmonie
aufrecht zu erhalten, wählt der eigentliche Bear—
beiter der Wiſſenſchaft die Erkenntniß zu ſeinem
Hauptziel. Die Liebe zur Einſicht, welche die
Uebrigen oft der Erfüllung anderer Pflichten hint—
anſetzen müſſen, muß bei dem Manne der Wiſſen—
ſchaft Lebensbeſchäftigung ſeyn; er iſt beſtimmt, die
heilige Flamme der Weisheit zu nähren, welche ſich
ſtrahlend zwiſchen den übrigen Menſchen ausbrei—
ten ſoll; es iſt ſeine nächtliche Lampe, welche die
Erde erleuchten ſoll. Wehe ihm, wenn er ſeinen
Beruf nicht als eine Stimme der Gottheit fühlt!
Prägt Euch daher das Gefühl Eures hohen Be—
rufes tief ein, Ihr edeln Jünglinge, die Ihr heute
zu Mitbürgern unſeres wiſſenſchaftlichen Vereins
aufgenommen werdet. Nur die Ueberzeugung, daß
Ihr, indem Ihr Euch den Wiſſenſchaften widmet,
zugleich Gott verehrt, vermag den Muth und die
Kraft in Euch beſtändig aufrecht zu erhalten, welche
Euer Beruf erfordert, und die Ihr vergebens in
äußern Aufmunterungen ſuchen würdet.
Daß der Reichthum, deſſen Glanz für die
Meiſten ſo lockend iſt, nicht das höchſte Ziel Eurer
Beſtrebungen ſeyn dürfe, wird jeder unter Euch
gefühlt haben, der mit Ueberlegung die Bahn der
Wiſſenſchaften gewählt hat; denn es iſt zu augen—
ſcheinlich, daß kein Weg weniger als dieſer zu
jenem Götzen der verblendeten Sterblichen führe.
In der Ehre, ich meine nicht die des Augenblicks,
ſondern die, welche einen Namen über die Wellen
der Zeit zu fernen Geſchlechtern führt, werden
vielleicht viele unter Euch eine reichlichere Beloh—
nung finden, und es iſt wohl nicht zu läugnen,
daß man in gewiſſer Hinſicht mit einem der herr—
lichſten und frömmſten Dichter! des verfloſſenen
Jahrhunderts ſagen könne: „ein unſterblicher Nach—
ruhm iſt ein großer Gedanke, iſt des Schweißes
der Edeln werth.“ Wenn aber die Unſterblichkeit
des Namens nicht von einer höhern Unſterblichkeits—
hoffnung getragen würde, wenn ſie nicht ein irdi—
ſcher Widerſchein eines ewigen Lebens wäre, was
Jean Paul.
wäre ſie denn anders, als ein leeres Luftgebilde,
ein Schatten, der von keinem Körper käme, ein
Regenbogen ohne Verheißung, welcher durch die
Tropfen der irdiſchen Materie uns keinen Glanz
eines höhern Lichts zeigte? — Nein, nur die
Ueberzeugung, daß unſere Wißbegierde ein Stre—
ben nach der wahren Wirklichkeit, das wahre Leben,
die wahre Harmonie ſey, kann Euch die rechte be—
geiſternde Weisheitsliebe geben. Nur das Gefühl,
daß Ihr Werkzeuge zur Befeſtigung des Reiches
Gottes auf Erden ſeyd, wenn Ihr Kenntniſſe ver—
breitet, kann Euch die rechte unverdroſſene Luſt
geben, Eure Brüder einem höheren Lichte und höhe-
rer Erkenntniß entgegenzuführen. Seht, meine
jungen Freunde, dieſes iſt der hohe Beruf, zu dem
Ihr Euch zu bilden begonnen habt. Setzt mit hei—
ligem Ernſt Eure Beſtrebungen fort, und Ihr wer—
det für Euch ſelbſt einer Freude theilhaftig werden,
welche die Welt nicht geben kann, und Euer Wir—
ken wird über Euer Vaterland Segen verbreiten,
ja heilbringend für die ganze Menſchheit ſeyn.
*
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