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Full text of "Der Geltungswert der Metaphysik"

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Liebert,  Arthitr 

Der  Gelt\ingswert  der 
Metaphysik 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.arcliive.org/details/dergeltungswertdOOIieb 


PHILOSOPHISCHE  VORTRAGE    ^^^ 

VERÖFFENTLICHT  VON  DER  KANTGESELLSCHAFT. 
UNTER  MITWIRKUNG  VON  ERNST  CASSIRER  UND 
MAX  FRISCHEISEN -KÖHLER  HERAUSGEGEBEN  VON 
ARTHUR    LIEBERT.  Nr.   10. 


Der  Qeltungswert 
der  Metaphysik 

Von 

Arthur  Liebert 


Berlin 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1915 


Vortrag, 

gehalten  am  9.  Juni  1915  in  der  Berliner  Abteilung  der  Kantgesellschafl. 

(Für  die  Veröffentlichung  wurden   einzelne  Ausführungen   ergänzt;   auch 

wurden  die  Literaturangaben  hinzugefügt.) 


rr.T2  5  1953 
8ti467r) 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Inhalt. 

Seite 

1.  Einleitung.     Problemstellung  und  Methode 7 

2.  Die  Problematik  der  Metaphysik 16 

a)  Der  Gedanke  des  Absoluten  und  seine  Problematik  ...  16 

b)  Die  Metaphysik  und  die  geschichtliche  Kultur     ....  32 

c)  Die  Metaphysik  und  die  theoretische  Kultur 45 

3.  Die  Entwicklung  und  die  Zukunft  der  Meta- 

physik    56 


Vorwort. 


Obwohl  der  Vortrag  für  den  Zweck  seiner  Veröffentlichung 
mannigfache  Zusätze  erfahren  hat,  stellen  die  folgenden  Aus- 
führungen dennoch  nur  einen  Entwurf,  nur  einen  Ansatz  dar 
zu  einer  viel  eingehender  geplanten  Arbeit,  deren  Gegenstand 
in  einer  möglichst  umfassenden  Untersuchung  der  Metaphysik  be- 
stehen soll.  Im  Höchstfalle  könnten  die  hier  gegebenen  Aus- 
führungen als  Prolegomena  zu  einer  solchen  Arbeit  gelten.  Zu 
ihrer  Veröffentlichung  in  der  vorliegenden  Gestalt  haben  mich 
schließlich  und  nach  längerem  Zögern  Gründe  äußerer  und  per- 
sönlicher Natur  bestimmt.  Diese  Gründe  stehen  mit  den  gegen- 
wärtigen Zeitverhältnissen  in  unmittelbarem  Zusammenhang,  und 
sie  dürften  dadurch  auch  eine  gewisse  sachliche  Rechtfertigung 
erhalten.  Den  Versuch  zu  vervollständigen,  die  hier  nur  mehr 
angedeuteten  Gedankengänge  auszubauen  und  zu  vertiefen,  die  in 
Betracht  kommende  Literatur  in  umfangreicherer  Form  zu  be- 
rücksichtigen, soll  mir  eine  willkommene  Aufgabe  zukünftiger  und 
ruhigerer  Tage  sein,  dann,  wenn  die  allgemeine  Problematik  des 
Lebens,  die  ja  stets  vorhanden  und  wirksam  ist,  jedoch  nicht 
immer  so  unmittelbar  zutage  tritt  wie  jetzt,  ihren  Einfluß  auf 
das  Schicksal  des  Einzelnen  in  einer  weniger  eingreifenden  Weise 
betätigt. 

Im   Oktober   1915. 

Arthur  Lieber t. 


I. 


1.  Problem- 
stellung und 
Die  Frage  nach  der  Stellung  und  der  inneren  Be-  Methode. 
Ziehung,  die  nicht  nur  Kant,  sondern  überhaupt  der 
Kritizismus  zum  Problem  der  Metaphysik  innehat,  hat  in 
der  philosophischen  Literatur  mehrfach  Erörterung  ge- 
funden. Und  doch  ist  man  weder  inbezug  auf  die  Be- 
stimmung des  Sinnes  der  ganzen  Frage,  noch  in  bezug 
auf  die  grundsätzliche  Möglichkeit  ihrer  Behandlung  und 
die  Formen  ihrer  Lösung  zu  einer  eindeutigen  Klar- 
stellung, geschweige  denn  zu  einer  auch  nur  annähernden 
Einheitlichkeit  in  der  Beantwortung  gelangt.  Ueberblickt 
man  die  Sachlage  in  großen  Zügen,  so  treten  zwei  Parteien 
mit  diametral  gegenüberstehenden  Ueberzeugungen  her- 
vor. Die  eine  Gruppe  sieht  und  schätzt  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  den  Ausgangspunkt  und  die  metho- 
dische Begründung  für  jene  außerordentliche  Entwicke- 
lung  der  Metaphysik  im  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhun- 
derts, wie  sie  in  den  Systemen  des  konstruktiven  Idea- 
lismus vorliegt ;  demgegenüber  rühmt  die  andere  Partei 
es  gerade  als  die  größte  Leistung  der  Philosophie  Ka*nts, 
daß  sie  die  Metaphysik  von  Grund  aus  vernichtet  und 
aus  dem  System  der  Philosophie  überhaupt  ausgestoßen 
habe,  sodaß  von  hier  aus  gesehen  jene  Entwicklung  zu 
Fichte,  Schelling,  Hegel,  Schopenhauer  nur 
ein  großes  Mißverständnis  und  die  Verkehrung  des  Kriti- 
zismus   in    seinen    Gegensinn    darstellen    würde. 

Auf  welcher  Seite  das  Recht  ist,  das  wollen  die  fol- 
genden Ueberlegungen  nicht  zu  entscheiden  suchen.  Hier 
soll    dieser   Streit   auf   sich   beruhen    bleiben,    und    es    soll 


8  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

kein  Beitrag  zu  einer  Entscheidung  nach  der  einen  oder 
der  anderen  Richtung  geboten  werden.  Denn  das  Ver- 
hältnis der  kritischen  Philosophie  zur  Metaphysik  ist  über- 
haupt in  jener  Alternative  gar  nicht  erschöpfend  bestimmt. 
Wie  immer  man  zu  dem  Nachweis  Kants  Stellung  nehmen 
mag,  daß  die  Metaphysik  im  alten  Sinne  einer  Erkenntnis 
des  Absoluten  nicht  den  Geltungswert  strenger  Wissen- 
schaft aufweise  —  und  mir  persönlich  scheint  allerdings 
diese  Entscheidung  eine  endgültige  zu  sein  —  so  darf  da- 
bei doch  nicht  übersehen  werden,  daß  hiermit  der  Meta- 
physik gegenüber  nur  die  eine,  die  negative  Aufgabe  er- 
ledigt ist.  Wohl  hat  der  Kritizismus  in  abschließender 
Form  gezeigt,  daß  der  Versuch,  von  dem  wahren  „Wesen", 
dem  „Ansich"  der  Dinge  eine  Erkenntnis  zu  gewinnen, 
niemals  den  Geltungscharakter  wahrer  Wissenschaft  be- 
sitzen kann.  Aber  man  beachte,  daß,  so  groß  diese 
Leistung  auch  ist,  sie  doch  nur  gezeigt  hat,  was  die 
Metaphysik  nicht  ist  und  als  was  sie  nicht 
gelten   kann. 

So  sicher  aber  wie  der  eigentliche  Sinn  der  kriti- 
schen Philosophie  nicht  ein  zerstörender  ist,  so  sicher 
bedeutet  auch  die  von  ihr  vollzogene  Verabschiedung 
der  Metaphysik  aus  dem  Verbände  der  Wissenschaft  nicht 
den  gänzlichen  Zusammenbruch  und  nicht  die  unbedingte 
Ungiltigkeits-  und  Nichtigkeitserklärung  aller  Spekulation 
über  das  Absolute  überhaupt.  Der  Kritizismus  macht  den 
Geltungswert  eines  Kulturgebietes  nicht  davon  abhängig, 
daß  dieses  Kulturgebiet  den  Geltungswert  der  Erkenntnis 
besitze.  Wenn  er  auch,  um  einmal  eine  ganz  allgemeine 
Fassung  zu  gebrauchen,  die  einzelnen  Kulturgebiete,  wie 
Wissenschaft,  Sitte,  Recht,  Kunst,  Religion  usw.,  sowie 
die  Kultur  überhaupt  aus  den  Bedingungen  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  heraus  begründen  und  verstehen  will, 
wenn  er  auch  nach  denjenigen  Kategorien  und  Erkenntnis- 
formen fahndet,  die  die  theoretische  Erfassung  und  Siche- 
rung  jener    Gebiete    ermöglichen,    so    bedeutet   das    nicht. 


Der  Qeltungswert  der  Metaphysik. 


daß  er  jene  Gebiete  selber  zu  Formen  oder  Kapiteln  der 
Wissenschaft  machen  will,  und  nur  darauf  ihren  ganzen 
Sinn  und  Wertgehalt  beruhen  läßt. 

Ist  also  auch  nachgewiesen,  daß  die 
Metaphysik  nicht  W  i  s  senschaft  ist,  so  ist 
doch  damit  vom  kritizistischen  Standpunkt 
aus  nicht  in  jeder  Weise  der  Stab  über  sie  ge- 
brochen. Vielmehr  gilt  es,  auch  von  ihm  und  gerade 
von  ihm  aus,  ein  positives  Verständnis,  eine 
positive  Würdigung  der  Metaphysik  zu  er- 
reichen. Denn  diese  Aufgabe  ist  restlos  und  im  streng- 
sten Sinne  systematisch  eingeschlossen  in  die  soeben  be- 
zeichnete allgemeine  Aufgabe,  die  er  zu  erfüllen  hat: 
die  theoretische  Begründung  der  Kultur  überhaupt  aus 
den  Bedingungen  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  aus 
der  Einheit  der  Vernunft  zu  liefern.  Somit  gehört  es 
geradezu  und  unmittelbar  zu  dem  Sinn  und  zu  der  Syste- 
matik seines  Aufgabenbereiches,  nach  der  Abweisung  des 
unberechtigten  Geltungsanspruches  der  Metaphysik  nun- 
mehr den  ihr  eigentümlichen  positiven  und 
objektiven    Geltungswert    nachzuweisen. 

Mit  anderen  Worten:  In  demselben  objektivistischen 
Geiste,  der  die  kritizistische  Grundlegung  der  anderen 
Kulturgebiete  leitet,  der  Wissenschaft,  der  Sittlichkeit,  des 
Rechtes,  der  Kunst,  der  Religion,  ist  auch  die  Begründung 
und  Rechtfertigung  der  Metaphysik  vorzunehmen  ;  es  gilt, 
diejenige  Kategorie,  d.  h.  dasjenige  Gesetz  nachzuweisen, 
auf  dem  sich  ihr  Anspruch  auf  Objektivität  begründet 
und  aus  dem  heraus  diese  Objektivität  sich  rechtfertigt. 
Die  Metaphysik  existiert  ja,  sie  lebt  und  wirkt,  sie  ist 
vorhanden  als  eine  Organisation,  als  eine  bestimmte  Form 
und  Gestaltung  der  Kultur,  als  eine  Erscheinung  des  ge- 
schichtlichen Lebens,  als  ein  Ausdruck  seiner  Gesetzlich- 
keit und  Vernunft  Und  so  kann  man  mit  einer  ablehnen- 
den   Geste    an    ihr    nicht    darum    vorübergehen,    weil     sie 


10  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

nicht  denjenigen  Objelctivitätswert  und  denjenigen  Gel- 
tungsgehalt wie  die  Wissenschaft  im  engeren  Sinne  in 
sich  trägt.  — 

Die  soeben  vorgenommene  Aufgabebestimmung  der 
kritischen  Philosophie  gegenüber  der  Metaphysik  ist  nun 
nach  einer  Seite  hin  von  einer  in  methodischer  Hinsicht 
andersgerichteten  Analyse  der  Metaphysik  genauer  ab- 
zugrenzen, nach  einer  anderen  Seite  hin  gegen  einen 
grundsätzlichen    Einwand    zu   festigen. 

Die  Philosophie  der  jüngsten  Vergangenheit  und  der 
2.  Die  Psy-  Gegenwart  zeigt  nämlich  bedeutungsvolle  Studien  zum 
Metaphysik.  Verständnis  der  Metaphysik  und  ihrer  Eigentümlichkeit 
unter  den  Gesichtspunkten  der  psychologischen  und 
der  geschichtlich  gerichteten  Betrachtungs- 
w  eise.  Man  darf  sogar  gerade  in  Kant  einen  Vertreter 
dieser  Untersuchungsform  der  Metaphysik  erblicken.  Denn 
indem  er  auf  die  subjektiven  Wurzeln,  die  die  Metaphysik 
im  menschlichen  Gemüt  besitzt,  hinweist  und  sie  von 
hier  aus  als  ein  notwendiges  Erzeugnis  des  untilgbaren 
menschlichen  Verlangens  nach  einer  über  alle  Erfahrung 
und  alle  empirische  Bedingtheit  angeblich  hinausreichen- 
den Erkenntnis  erfaßt  und  würdigt  i),  hat  er  einen  Bei- 
trag zu  ihrem  psychologischen  Studium  und  Verständnis 
geliefert.  Und  auf  diesem  Boden  und  in  diesem  Ver- 
fahren bewegen  sich  nun  in  der  Hauptsache  die  ihr  gewid- 
meten Untersuchungen  der  Folgezeit.  Wir  müssen  uns 
hier  mit  einer  summarischen  Uebersicht  über  diese  Unter- 
suchungen begnügen,  schon  darum,  weil  von  den  meisten 
der  zu  nennenden  Philosophen  die  ganze  Frage  mehr 
gelegentlich  und  nebenher  behandelt  wurde. 

An  erster  Stelle  ist  in  diesem  Zusammenhang  Scho- 
penhauer zu  nennen;  er  hat  mit  außerordentlicher  Ein- 
dringlichkeit   und    Kraft    den    subjektiv- anthropologischen 

^)  Kant,  Kr.  d.  rein.  V.  Einleitung  S.  65  (Ausgabe  der 
Philosophischen    Bibliothek   von    Felix   Meiner,    Leipzig). 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  1 1 

Ursprung  der  Metaphysik  geschildert  und  sie  aus  be- 
stimmten seelischen  Erschütterungen  des  Menschen,  der 
ihm  geradezu  ein  animal  metaphysicum  ist,  abzuleiten  ge- 
sucht.i)  Von  großem  Einfluß  für  die  Stellung  der  mo- 
dernen Philosophie  zum  Problem  der  Möglichkeit  der 
Metaphysik  sind  dann  die  Ausführungen  Friedrich 
Albert  Lange's  in  seiner  Geschichte  des  Materialismus 
geworden.  Lange  hat  das  Nachdenken  über  diese  Frage 
dadurch  nachhaltig  angeregt  und  gefördert,  daß  er  auf 
den  Qemütswert  der  Metaphysik  hinweist  und  ihr  Reich 
in  eine  innere  Beziehung  zur  Poesie  und  Religion  bringt.^) 
In  sachlichem  Zusammenhang  mit  Lange's  Anschauungen 
stehen  Nietzsche 's  Aeußerungen  über  die  Voraus- 
setzungen, den  Sinn  und  den  Wert  der  Metaphysik  ^), 
während  V  a  i  h  i  n  g  e  r  wie  in  bezug  auf  das  Ganze  seiner 
Philosophie  so  auch  im  besonderen  in  bezug  auf  sein  Ur- 
teil über  den  geringen  theoretischen,  aber  hohen  prak- 
tischen Qeltungswert  der  Metaphysik  in  unmittelbarer 
Form  von  Lange  beeinflußt  worden  ist.*)  Dann  ist 
Wilhelm  Wundt's  „Völkerpsychologie"  zu  erwähnen, 
wo  sich  wertvolle  Materialien  zum  psychologisch-anthro- 
pologischen Studium  des  metaphysischen  Triebes  und 
seiner  Betätigungsformen  finden.  Wilhelm  Dilthey 
aber  verdanken  wir  wohl  die  feinsinnigsten,  mit  dem  um- 
fassendsten und  eindringendsten  Blick  für  die  psycho- 
logische und  geschichtliche  Bedingtheit  der  Metaphysik 
entwickelten    Studien    zu     ihrem    Verständnis     und     damit 


1)  Schopenhauer,  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung; 
Band   II    §  17. 

2)  Fried  r.  Albert  Lange,  Geschichte  des  Materialismus ; 
Band   II,  Abschnitt   IV,   §   4. 

^)  Raoul  Richter,  Friedrich  Nietzsche,  sein  Leben  und 
sein  Werk,  Leipzig  1903,  S.  136  läßt  sogar  eine  unmittelbare 
Einwirkung    Langes    auf    N.     als    sehr    wahrscheinlich     erscheinen. 

*)  Hans  Vaihinger,  Die  Philosophie  des  Als  Ob,  2.  Aufl. 
1913,   besonders   S.  753  ff. 


12  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

verbunden  eine  von  außerordentlicher  Umsicht  zeugende 
Würdigung  ihrer  Stellung  und  Bedeutung  in  der  allge- 
meinen   geschichtlichen    Kultur.^) 

Alle  diese  Behandlungsarten  des  Problems  der  Meta- 
physik suchen  die  subjektiven  und  psychologischen 
Quellen  herauszustellen,  auf  denen  die  auf  die  Erfassung 
des  Absoluten  gerichteten  Spekulationen  beruhen;  Dil- 
t  h  e  y  führt  diese  Betrachtung  dadurch  weiter,  daß  er  es 
unternimmt,  die  Metaphysik  aus  dem  Ganzen  der  geschicht- 
lichen Lebensordnungen  zu  verstehen.  Dadurch  wird  der 
eigentümliche  Wert  aufgedeckt,  den  diese  Spekulationen 
für  den  Menschen,  für  seinen  Kulturwillen  und  für  die 
Entwickelung   der   Kultur   überhaupt   besitzen. 

Aber  dieses  ganze  Vorgehen  ist  bereits  von  einem 
bestimmten  Begriff  der  Metaphysik  geleitet,  da  es  sonst 
unmöglich  ist,  aus  dem  Gewirre  und  der  Fülle  der  psycho- 
logischen und  geschichtlichen  Lebenserscheinungen  gerade 
diejenigen  herauszuheben  und  zu  studieren,  die  auf  die 
Erkenntnis  des  Absoluten  bezogen  sind  oder  die  bean- 
spruchen, den  Geltungswert  einer  „Metaphysik'*  zu  be- 
sitzen. 

Nun  soll  weder  die  Berechtigung  noch  der  Wert, 
den  diese  Beiträge  zur  Psychologie  des  metaphysischen 
Erlebens  haben,  mit  einem  Worte  angetastet  werden. 
Doch  die  kritizistische  Methodik,  der  wir  uns  für  unseren 
Zweck  anschließen,  hat  nicht  die  Untersuchung  der 
subjektiven  Faktoren,  auf  denen  die  Metaphysik  psycho- 
logisch   und    anthropologisch    gesehen    beruht,    im    Auge, 


1)  Vgl.  bei  Wilhelm  D  i  1 1  h  e  y,  Gesammelte  Schriften, 
II.  Band,  Leipzig  1914  den  Aufsatz:  „Auffassung  und  Analyse 
des  Menschen  im  15.  u.  16.  Jahrhundert"  S.  1  f f.  und  in  dem- 
selben Bande  die  , Zusätze  aus  den  Handschriften':  „Die  Grund- 
motive des  metaphysischen  Bewußtseins"  S.  4Q3.  D.  steht  nahe 
Max  Frischeisen-Koehler,  Zur  Phaenomenologie  der 
Metaphysik;  Zeitschrift  für  Philosophie  u.  philosophische  Kritik, 
Bd.  148. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  13 

sie  richtet  sich  vielmehr  auf  den  Begriff  und  das 
System  der  Metaphysik  selber;  sie  sucht  den- 
jenigen Sinn  und  Bedeutungsgehalt  herauszuarbeiten,  den 
die  Metaphysik  als  objektive  Organisationsform  in  der  Ein- 
heit der  geschichtlichen  Kultur  vertritt.  Für  diesen  Zweck 
gilt  es,  unter  grundsätzlichem  und  methodischem  Verzicht 
auf  Berücksichtigung  aller  psychologischen  Ursachen,  die- 
jenige Kategorie  und  Erkenntnisform  aufzudecken,  durch 
die  der  Objektivitätswert  der  Metaphysik  verstanden  und 
begriffen  wird,  d.  h.  in  der  und  aus  der  dieser  Wert 
sich    vernunftgemäß    begründet. 

Das  heißt :  Ohne  daß  die  Metaphysik  selber  Erkennt-  4.  Die  Meta- 
nis werden  müßte,  ist  doch  der  kritischen  Philosophie  die^^^Einheit 
die  Aufgabe  gesetzt,  auch  die  Metaphysik  in  die  Einheit  derVernunfL 
und  Systematik  der  wissenschaftlichen  Vernunft  als  Unter- 
suchungsgegenstand derselben  einzubeziehen  und  sie  aus 
den  Bedingungen  der  wissenschaftlichen  Vernunft  heraus 
zu  rechtfertigen.  Es  herrscht  hier  kein  Unterschied,  es 
ist  hier  keine  Ausnahme  zulässig:  Ganz  ebenso  wie  sich 
nicht  allein  die  Gesetzlichkeit  und  Einheit  der  mechani- 
schen Natur,  sondern  ebenso  die  Einheit  und  Gesetz- 
lichkeit des  geschichtlichen  Lebens  auf  die  Einheit  und 
Systematik  der  Vernunft  gründet,  so  nicht  minder  die 
Metaphysik,  die  einen  Teil  und  ein  Organ  jener  Einheit 
des  geschichtlichen  Lebens  darstellt.  Die  kritische  Frage 
nach  der  Möglichkeit  der  Metaphysik  soll  in  dem  Sinne 
verstanden  und  beantwortet  werden,  daß  diejenige  Ver- 
nunftkategorie aufzudecken  ist,  durch  die  sich  die  Meta- 
physik einreihen  läßt  in  die  Systematik  der  Vernunft  und 
in  der  sich  ihr  objektiver  Geltungswert  gesetzmäßig  aus- 
prägt und  erhärtet.  — 

Mit  dieser  Aufgabebestimmung  aber  ist  der  oben  an- 
gedeutete Einwand  (S.  10)  nahegerückt.  Hat  denn  nicht, 
so  könnte  gefragt  werden,  der  Kritizismus  bei  aller  An- 
erkennung der  subjektiven  Bedingungen  und  des  psycho- 
logisch-anthropologischen Geltungswertes  der  Metaphysik 


14  Der  Qeltungswert  der  Metaphysik. 

gerade  gezeigt,  daß  die  Frage  nach  iiirer  objektiven  Gel- 
tung zu  verneinen,  daß  ihr  im  Oegensatz  zu  den  übrigen 
Gebieten  der  Kultur  jener  Geltungswert  nicht  zuzu- 
sprechen ist? 

Ein  ernster,  trotzdem  restlos  zu  behebender  Einwand. 
Wohl  ist  zuzugeben,  daß  sowohl  die  von  uns  aufgeworfene 
Frage  hinfällig  als  auch  daß  ihre  Beantwortung  im  ob- 
jektivistischen Sinne  unmöglich  wäre,  wenn  von  der  kri- 
tischen Philosophie  das  Merkmal  der  Objektivität  aus- 
schließlich dem  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
zugestanden  würde,  und  wenn  der  Sinn  des  kritischen  Ide- 
alismus, seine  Grundlegung  und  seine  Methodik,  einge- 
schränkt wäre  auf  die  Begründung  der  Mathematik  und 
der  mathematischen  Naturwissenschaft  im  besonderen. 
Doch  ein  solches  Zugeständnis  und  eine  solche  Einschrän- 
kung entsprechen  weder  der  geschichtlichen  Form  des 
Kritizismus  noch  seiner  grundsätzlichen  und  systematischen 
Bedeutung  und  Tragweite,  sie  entsprechen  nicht  seinem 
Sinn   und  Geist. 

Geschichtlich  betrachtet  ist  der  Kritizismus  weiter- 
geschritten von  der  Begründung  der  genannten  Wissen- 
schaften hin  zur  Begründung  der  Erkenntnis  des  sitt- 
lichen Handelns,  dann  zu  der  der  Erkenntnis  des  reli- 
giösen Lebens,  der  künstlerischen  Betätigung  imd  der 
künstlerischen  Betrachtung,  endlich,  wie  der  zweite  Teil 
der  Kritik  der  Urteilskraft  zeigt,  zur  Begründung  der 
Wissenschaft  vom  Organischen.  Und  nicht  minder  hat 
er,  man  denke  an  Kants  geschichts-  und  rechtsphilo- 
sophische Arbeiten,  es  unternommen,  den  Charakter  der- 
jenigen Objektivität  festzustellen,  der  überhaupt  der  Er- 
kenntnis   der    geistig-geschichtlichen    Welt    innewohnt. 

Aber  auch  grundsätzlich  gesehen  wird  doch  von  der 
kritischen  Philosophie  der  der  Mathematik  und  den  mathe- 
matischen Naturwissenschaften  eigentümliche  Objektivitäts- 
wert nicht  zum  allein  giltigen  Maßstab  und  Kriterium  für 
die    Bestimmung     der     den     übrigen    Kulturgebieten    zu- 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  15 

kommenden  Geltung  erhoben.  Das  eigentliche  Begrün- 
dungs- und  Deduktionsgesetz  des  Kritizismus  bildet  die 
Einheit  und  Systematik  der  wissenschaftlichen  Vernunft 
selber ;  und  dieser  ordnet  sich  die  Begründung  der  Mathe- 
matik und  der  mathematischen  Naturwissenschaft  als  ein 
Kapitel  neben  anderen  innerhalb  der  umfassenden  syste- 
matischen Begründung  ein  und  unter,  wie  sich  ihr  die 
Begründung  aller  anderen  Kulturgebiete,  unter  ihnen  die 
der  Metaphysik  natürlich,  ein-  und  unterordnet.  Die  Ein- 
heit und  Systematik  der  Vernunft  bildet  die  Voraussetzung 
für  die  Begründung  der  Einheit  der  Kultur,  der  Einheit 
des  geschichtlichen  Lebens.  Innerhalb  dieser  Vernunft- 
einheit entwickelt  sich  eine  ganze  Reihe  von  Objektivitäts- 
gruppen ;  die  kritische  Philosophie  deckt  in  der  Vernunft- 
einheit einen  Zusammenhang  von  Objektivitätsformen  auf, 
der  in  dieser  seiner  gegliederten  Einheit  das  ausmacht, 
was  als  geschichtliche  Welt  und  Kultur  gilt.  Jede  Kate- 
gorie ist  als  solche  der  Einheit  der  Vernunft  und  der  Er- 
fahrung eingeordnet.  Und  sobald  nun  für  ein  Kultur- 
gebiet diejenige  Vernunftkategorie  entdeckt  ist,  welche 
die  Erkenntnis  des  betreffenden  Gebietes  in  logisch- 
objektiver und  gesetzmäßiger  Form  gewährleistet,  ist 
diesem  Gebiet  seine  Objektivität  gesichert. 

Neben  dieser  systematischen  Begründung  und  Recht- 
fertigung der  hier  ins  Auge  gefaßten  Aufgabe  ließe  sich 
zudem  darauf  hinweisen,  daß  die  Einbeziehung  der  Meta- 
physik in  den  Kreis  der  philosophischen  Untersuchungs- 
gegenstände auch  aus  zeitgeschichtlichen  Umständen 
heraus  naheliegend  wäre.  Es  gehört  zu  den  wohl  auf- 
fallendsten Tatsachen  in  der  Entwickelung  der  geistigen 
Kultur,  daß  unsere  Zeit  ein  starkes  Verlangen  nach  jder 
Metaphysik  zeigt  und  daß  an  vielen  Orten  und  unter  den 
verschiedensten  Gesichtspunkten  neue  Versuche  auf  diesem 
.Gebiete  hervortreten;  die  Gegenwart  weist  ohne  Frage 
eine    intensive  Wendung    zur    Spekulation    auf.     Und    es 


16  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

würde  eine  reizvolle  Aufgabe  darstellen,  die  Gründe  für 
diese  Entwickelung  in  einer  umfassenden,  alle  Momente 
in  Betracht  ziehenden  Untersuchung  zu  erhellen.  Während 
eine  solche  Untersuchung  natürlich  im  wesentlichen  histo- 
rischer Natur  sein  würde,  bleibt  es  eine  Forderung  von 
grundsätzlicher  Bedeutung,  den  prinzipiellen  Sinn  dieser 
großen  zeitgeschichtlichen  Bewegung  aus  dem  Begriff 
der  Metaphysik  und  aus  dem  Begriff  der  Kultur  her  zu 
erweisen.  Das  heißt,  es  gilt  nicht,  zu  zeigen,  von  welcher 
Grundlage  und  von  welchen  Ueberlegungen  aus,  mit 
welchem  Verfahren  und  mit  welchen  sonstigen  Hilfsmitteln 
eine  Metaphysik  aufzubauen  ist  —  das  alles  ist  denen 
zu  überlassen,  die  den  Beruf  und  die  Kraft  zu  spekulativen 
Versuchen  in  sich  fühlen  —  sondern  es  handelt  sich  um 
die  schlichte  Aufgabe,  denjenigen  Begriff  zu  finden,  der 
das  Verständnis  der  Metaphysik  ermöglicht  und  begründet. 


a)   Der   Ge-  jj 

danke  des 
Absoluten  und  a« 

seine  Proble-         Dig  Metaphysik  ist  der  Versuch,  das  Absolute  gedank- 
1.  Die Meta- lieh   zu   erfassen   und   es  mit  den   Mitteln  des   Intellektes 

physik  und  genauer   zu  bestimmen.     So   wird  man   ihren    Begriff,   bei 

der  Begriff  °  '^ 

des  Abso-    Beiseitelassung   aller   seiner   einzelnen    Ausprägungen   und 

luten.  Festlegungen,  ganz  allgemein  kennzeichnen  dürfen.  Da- 
mit ist  die  Aufgabe  gestellt,  diesen  Begriff  des  Absoluten 
im  metaphysischen  Verstände  in  das  System  der  Vernunft 
einzuordnen  und  seinen  Sinn  und  Geltungswert  aus  der 
Vernunft  heraus  nicht  nur  klarzustellen,  sondern  auch 
zu  begründen. 

Nun  ist  jener  Begriff  schon  wiederholt  in  der  Philo- 
sophie zum  Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht  worden. 
Aber  in  der  Bestimmung  seiner  Bedeutung,  in  der  An- 
erkennung seines  Wertes  gehen  die  Meinungen  auseinander. 
Den  schwersten  und  folgereichsten  Angriff  hat  seine  Be- 
deutung in   der   Kritik   der  reinen  Vernunft  u.   z.   in   den 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  17 

berühmten  Kapiteln  über  die  antinomische  Dialektii^  der 
Vernunft  erlaiiren.  Hier  ist  eben  die  verhängnisvolle 
Dialeivtik,  die  diesem  Begriff  eigen  ist,  hier  ist  die  ganze 
Fülle  der  ihm  innewohnenden  Antinomien  in  der  zwingend- 
sten Form  aufgedeckt.  Und  wenn  Kant  in  jenen  Kapiteln 
die  Metaphysik  einen  „Tummelplatz  aller  Streitigkeiten" 
nennt,  so  ist  sie  das  in  erster  Linie  und  in  entscheidender 
Beziehung  auf  Grund  der  Problematik  und  auf  Grund 
des  bis  zur  Paradoxie  gesteigerten  antinomischen  Charak- 
ters eben  jenes  Begriffes.  In  der  Philosophie  der  Gegen- 
wart hat  dann  auf  die  grenzenlose  Widerspruchsfülle  in 
jenem  Begriff  u.  a.  auch  Vaihinger  hingewiesen.^) 
Während  er  jedoch  diesen  Begriff  nur  als  Fiktion  gelten 
läßt,  die  zwar  eine  außerordentliche  praktische,  aber 
keinerlei  wissenschaftliche  und  theoretische  Bedeutung 
habe,  gilt  es  im  Gegensatz  zu  dieser  Anschauung  gerade 
einzusehen,  daß  dieser  Begriff  auch  von  hohem  theore- 
tischen Wert  ist,  insofern  als  er  es  ist,  der  die  Meta- 
physik gedanklich  ermöglicht,  der  ihr  gedankliches  Rück- 
grat bildet  und  ihren  Aufbau  bestimmt. 

Allerdings :    Weil    er    für    die    Metaphysik    diese    Be-  2.  Die  Meta- 
deutung    hat,    weil    er    ihre     theoretische    Grundlage    dar-   ^y^tem  der 
stellt,  strömt  nun  von  ihm  aus  in  die  Metaphysik  all  das  Problematik. 
Antinomische  und  Problematische,  all  das  Paradoxale  und 
Ueberbegreifbare,   all   das    Inkommensurabeie  und   Unent- 
scheidbar-WiderspruchsvoUe    hinein,    das    diesem    Begriffe 
innewohnt.     Das  System  der  Metaphysik   ist  das 
System  aller  Problematik,  ihre  Struktur  ein 
unendliches  Gewebe  tiefster,  unaufhebbarer 
Paradoxie  n.     Zu    dieser    Entscheidung    wird    man    ge- 
drängt   nicht    allein     durch    die     unmittelbare    Kritik     und 
Analyse  des    Begriffs   des  Absoluten,  sondern  durch   eine 
Reihe  weiterer,  damit  zusammenhängender  Ueberlegungen, 
die    uns    später    zu   beschäftigen    haben.     Hier   haben    wir 


1)    Vaihinger,    i.e.    S.   114ff.,    471  ff.    u.    ö. 


18  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

es  zunächst  mit  derjenigen  Problematik  und  Paradoxie 
zu  tun,  die  der  Metaphysik  unmittelbar  aus  ihrer  all- 
seitigen Verflechtung  mit  dem  Begriff  des  Absoluten 
eigen  ist  und  die  in  ihrer  ganzen  Verfassung  deutlich 
hervortritt. 

Zunächst   jedoch    zwei    kurze   Vorbemerkungen. 

Erstens:  Wenn  auch  versucht  werden  soll,  nach- 
zuweisen, daß  die  Metaphysik  den  Inbegriff  aller  theore- 
tischen Problematik  darstellt,  daß  sie  den  paradoxalen 
Versuch  bedeutet,  schlechthin  alle  Gestalten  und  Formen 
der  Kultur,  alle  Werte  und  Leistungen  der  Geschichte, 
die  sich  gegenseitig  auszuschließen  und  zu  widersprechen 
streben,  doch  zur  Einheit  eines  Systems  zusammenzu- 
schmieden, was  durch  den  Begriff  des  Absoluten  geschehen 
soll,  so  soll  damit  kein  Tadel  und  keine  Herabsetzung 
für  sie  zum  Ausdruck  gebracht  werden.  Im  Gegenteil : 
Gerade  diese  Fülle  von  Antinomien  in  ihrem  System  und 
in  ihrer  Struktur,  gerade  dieses  bis  zur  Paradoxie  ge- 
steigerte Ueberbegreifliche  und  Gegensatzhaltige  in  ihrem 
Begriff  gibt  ihr  die  einzigartige  Stellung  und  Bedeutung 
in  der  Kultur  und  für  diese.  Von  dort  her  gräbt  sich 
ihrem  Begriff  seine  Tiefe  ein  ;  von  da  her  empfängt 
ihre  Geschichte  den  ungeheuren  Reichtum  an  Entwicke- 
lungsmöglichkeiten  und  Entwickelungswirklichkeiten,  ihr 
Zusammenhang  und  Gefüge  die  unvergleichliche  Viel- 
gestaltigkeit und  Komplikation,  sodaß  alle  metaphysischen 
Konstruktionen  in  ungleich  tieferem  Sinne  nur  den  Cha- 
rakter des  unter  Vorbehalt  Abgeschlossenen  tragen  als 
die    Entscheidungen    rein    wissenschaftlicher    Natur. 

In  der  Tat:  Wenn  es  richtig  ist,  zu  sagen,  daß  all- 
gemein jede  Entscheidung,  jedes  Ergebnis,  jede  erreichte 
Lösung,  auf  welchem  Gebiet  auch  immer  es  sei,  ob  im 
Leben  oder  im  Gedanken,  eine  Jeweiligkeit,  ein  plötz- 
liches Stillestehen  auf  einer  endlosen  Bahn  bedeutet,  dann 
gilt  dieses  Wort  in  voller  Stärke  für  alle  metaphysischen 
Entscheidungen.      Und    doch    beruht    gerade    darauf    nicht 


Der  Geltungsvvert  der  Metaphysik.  19 

nur  ihre  Eigentümlichkeit,  sondern  zugleich  ihre  Größe. 
Ohne  sie  gäbe  es  in  der  menschlichen  Kultur  das  nicht, 
was  deren  Tiefe  und  Gehalt,  deren  Unendlichkeit  ,und 
Fruchtbarkeit  ausmacht,  ja  nicht  nur  das:  Wir  werden 
noch  sehen,  daß  ohne  Metaphysik  die  menschliche  Kultur 
schlechthin  unmöglich  ist,  weil  ihr  dann  jeglicher  Gedanke 
an  eine  Bindung  durch  einen  absoluten  Wert  und  .eine 
alles  abschließende  und  zusammenfassende  Einheit  fehlen 
würde. 

Aber  aus  der  Einzigartigkeit  und  Tiefe  ihres  Be- 
griffes erwächst  der  Metaphysik  die  Einzigartigkeit  ihres 
Sinnes  und  ihres  historischen  wie  ihres  systematischen 
Geschickes.  In  diesen  Hinsichten,  aber  nicht  in  diesen 
allein,  gleicht  sie  jenem  Kunstwerk,  das  wir  Tragödie 
nennen.  Wie  darin  das  wahre  Wesen  der  Tragödie  ruht, 
daß  eine  unüberbrückbare  Gegensätzlichkeit  von  Charak- 
teren, von  Verhältnissen,  von  Lebenswerten  und  Lebens- 
bewertungen gegeben  ist,  daß  sich  vor  uns  eine  Proble- 
matik auftut,  die  in  ihrer  Unüberwindbarkeit  erhaben  ist 
nicht  nur  über  jede  willkürliche  Konstellation,  sondern 
auch  über  jede  Lösungs  -  und  Ausgleichsmöglichkeit, 
wie  erst  darin  das  wahrhaft  Tragische  in  der  Tragödie 
sich  entfaltet,  daß  auch  der  Tod  nur  als  Verzicht  auf 
die  adäquate  Hebung  der  entwickelten  Schwierigkeiten, 
nur  als  ein  gewaltsamer  Abbruch  erscheint,  so  trägt  auch 
die  Metaphysik  die  Züge  einer  Tragödie,  die  Züge  einer 
Gigantomachie,  aber  einer  Tragödie,  wie  sie  gewaltiger 
und  verwickelter,  wie  sie  umfassender  und  geschlossener, 
bezwingender  und  unabwendbarer  aus  keines  Künstlers 
Geist,  aus  keines  Einzelnen  Erleben  hervorgegangen  ist: 
eine  Gigantomachie  von  einziger  Art. 

Zweitens     eine    Bemerkung     allgemeiner    Natur,     die  3.  Die  Kate- 
sich  an    die    Betonung   der   dem    Begriff   der    Problematik  pfo^iema^tlk 
hier    zugemessenen    Bedeutung    anschließt.     Vielleicht    ist 
nämlich    ganz    allgemein     die    Forderung    berechtigt,     die 
übliche  Kategorientafel  um  die  Kategorie  der  Problematik 

2* 


20  Der  Geltungsvvert  der  Metaphysik. 


und  daran  anschließend  die  der  Paradoxie  und  Antinomie 
zu  erweitern  ;  und  zwar  müßte  ihre  Aufnahme  und  Ver- 
wendung in  dem  doppelten  Sinne  geschehen,  einerseits 
ihren  Inhalt  phänomenologisch  zu  verdeutlichen  und  an- 
zugeben, was  sie  besagen  und  bezeichnen,  andererseits 
kritisch  ihre  Bedeutung  als  Erkenntnisbedingungen  be- 
stimmter Kulturgebiete  und  Teile  von  solchen  nachzu- 
weisen. 

Die  Philosophie  hat  der  Kategorie  der  Problematik 
bereits  einige  Aufmerksamkeit  geschenkt ;  es  sei  von 
älteren  Philosophen  hier  nur  hingewiesen  auf  Eduard 
von  Hartmann  und  Julius  Bahnsen,  dann  von 
Philosophen  unserer  Tage  auf  Wilhelm  Windelband 
(Begriff  des  „Antinomismus"),  Georg  Simmel,  Jonas 
C  o  h  n.  Während  aber  bei  den  beiden  Erstgenannten  die 
Untersuchung  rein  in  metaphysischem  Geiste  erfolgt,  dem 
Begriff  der  Problematik  dinghafte,  substantielle  Bedeu- 
tung zuerkannt  wird,  als  ob  er  den  wesenhaften  Grund 
der  Wirklichkeit  darstelle,  gilt  er  den  drei  zuletzt  ge- 
nannten Philosophen  als  „Standpunkt"  i),  als  „Betrach- 
tungsweise" -),  als  Form,  als  methodisches  und  heuristi- 
sches Prinzip,  kurz:  als  Idee  im  Kantischen  Sinne.^) 

In  einer  systematischen  Philosophie  der  Problematik, 
der  Antinomie  und  Paradoxie  dürfte  eine  nicht  unfrucht- 
bare Aufgabe  beschlossen  sein.  Die  Durchführung  dieser 
Aufgabe  wird  nicht  sowohl  auf  die  subjektiven  Momente 
eingehen,  durch  die  im  Menschen  das  Erlebnis  der  Proble- 
matik   entsteht,    sie    wird   vielmehr   die    allgemeine   objek- 


1)  Vgl.  Wilhelm  Windelband,  Einleitung  in  die  Philo- 
sophie,   1914,    S.  12;    ferner    S.  40,    423  ff. 

^)  Vgl.  Jonas  Cohn,  Der  Sinn  der  gegenwärtigen  Kultur, 
1914,   S.  236,    244   u.    a.  a.  O. 

3)  Von  den  verschiedenen,  hi€rher  gehörigen  Arbeiten  Georg 
Simmel 's  nenne  ich  nur:  „Zur  Metaphysik  des  Todes",  Logos, 
Bd.  I,  1910-11,  S.  57  ff.  und  „Der  Begriff  und  die  Tragödie 
der   Kultur",   Logos,   Bd.   II,   1911—12,  S.  1  ff. 


Der  Oeltungswert  der  Metaphysik.  21 

tive  Geltuno-  des  Begriffs  der  Problematik  zu  untersuchen 
haben,  seine  Bedeutung  als  konstitutives  Prinzip  bestimm- 
ter Kulturgebiete  und  bestimmter  Kulturformen.  Mit  einem 
Worte:  Es  gilt  die  Gesetzesbedeutung,  die 
grundlegende  kategoriale  Funktion  der  Pro- 
blematik für  die  Erkenntnis  der  geschichtlichen  Welt 
philosophisch  zu  bestimmen.  Wenn  ich  mich  nicht  täusche, 
so  hat  dieser  Begriff  eine  außerordentliche,  noch  nicht 
hinlänglich  geklärte  Bedeutung  u.  a.  auch  für  die  Er- 
kenntnis des  Gebietes  der  Kunst  sowie  des  der  Sprache. 

Die   Problematik,   die   den    Begriff  des   Absoluten   er-  i- ^er Begriff 

des    Ausolii' 

füllt  und  beherrscht,  läßt  sich  durch  eine  dreifache  Ueber-  ten  und  seine 
legung    aufdecken.  Problematik. 

a)  Es  gehört  zu  den  grundsätzlichen  und  grund- 
legenden Ergebnissen  der  modernen  Erkenntnistheorie, 
daß  alle  Begriffe  ohne  Ausnahme  ihren  wissenschaftlichen 
Sinn  und  ihre  wissenschaftliche  Geltung  ausschließlich 
innerhalb  des  Erkenntniszusammenhanges  und  auf  Grund 
seiner  Systematik  besitzen.  Damit  ist  gesagt,  daß  jede 
besondere  Erkenntnis  nur  wirkliche  Erkenntnis  ist  durch 
das  System  der  Erkenntnis,  dem  sie  sich  notwendig  ein- 
ordnet. In  ihm  hat  sie  ihren  Halt,  ihre  methodische  Be- 
grenzung ,  sie  ist  ein  in  das  System  der  Erkenntnis 
hineingewebter  Teil  desselben,  der  sich  mit  immanenter 
Teleologie  auf  andere  Teile  bezieht  und  dadurch  seine 
Stelle  im  System  und  seine  Deduzierbarkeit  hat.  Ohne 
den  allgemeinen  Beziehungszusammenhang,  in  dem  ein 
gedankliches  Gebilde  sich  gründet,  ist  dasselbe  etwas 
Krüppelhaftes,  Haltloses,  Sinn-  und  Geltungsleeres,  ein 
Erzeugnis  blinder  Willkür,  eine  bloße  Fiktion,  noch  nicht 
einmal  ein  Ansatz  zu  einem  Gedanken.^) 

Wie  steht  es  in  dieser  Hinsicht  nun  mit  dem  Begriff 


1)    Näheres   bei   Arthur   L  i  c  b  e  r  t ,   Das   Problem   der   Gel- 
tung,   1914,   S.  108  ff.,    116  ff.   u.   ö. 


22  Der  Oeltungswert  der   Metaphysik. 

des  Absoluten  im  metaphysischen  Sinne?  Die  Absolut- 
heit, die  diesem  Begriff  zukommen  soll,  widerstreitet 
jeglicher  Einordnung  in  einen  Zusammenhang.  Absolut- 
heit bedeutet  Freisein  von  jeder  Verstrickung  in  Rela- 
tionen. So  sucht  jener  Begriff  jegliche  Begrenzung,  jede 
Abhängigkeit  von  einem  Gefüge  zu  verneinen,  er  wider- 
spricht dem  Gedanken  des  Zusammenhanges.  Und  dabei 
gründet  er  sich  doch  notwendig  wiederum  auf  den  Zu- 
sammenhang der  Gedanken ;  denn  ohne  das  System 
der  Vernunft  ist  er  im  genauesten  Sinne  undenkbar  und 
unbegreifbar,  ist  er  leerer  Schall.  Er  setzt  das  System 
der  Vernunft  voraus,  und  in  demselben  Atemzug  sucht 
er  dieses  System  aus  den  innersten  Gesetzen  seines  Sinnes 
heraus  zu  zersprengen  und  aufzulösen.  So  stellt  er  offen- 
bar eine  Anomalie  im  Reiche  der  Begriffe  dar,  und  das 
Merkmal  der  Paradoxie  haftet  ihm  unverkennbar  und  un- 
verwischbar an.  Den  Grund  aber  für  jenes  inkommen- 
surabele  Verhältnis,  das  der  Begriff  des  Absoluten  zur 
Welt  des  Logos  hat,  dürfte  man  darin  zu  sehen  haben, 
daß  er,  nimmt  man  ihn  in  seiner  vollen  Tiefe,  nicht  aus- 
schließlich eine  Schöpfung  des  Logos  darstellt,  sondern 
daß  Momente  anderer  Art  und  Herkunft  bei  seiner  Ent- 
stehung und  bei  seiner  Verwendung  eine  enischeidende 
Rolle  spielen. 

Man  könnte  nun  glauben,  diese  Paradoxie  und  Pro- 
blematik in  dem  Begriff  des  Absoluten  wird  dann  .ver- 
mieden, wenn  das  System  der  Vernunft  selber  als  das 
Absolute  aufgefaßt  wird,  und  wenn  das  Absolute  als 
identisch  mit  dem  Gedanken  und  der  Vernunft  gilt.  Das 
wäre  der  Standpunkt  Hegels,  wie  überhaupt  der  eines 
metaphysisch  genchteten   Panlogismus. 

Aber  ohne  die  Großartigkeit  zu  verkennen,  die  dieser 
Konzeption  nach  der  einen  Seite  hin  innewohnt,  so  be- 
deutet eine  solche  Entscheidung  andererseits  doch  eine 
rationalistische  Abschwächung,  Einschränkung  und  gleich- 
sam Aushöhlung  des  universalen  Sinnes,  der  dem  Absoluten 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  23 

im  Zusammenhang  und  unter  den  Bedingungen  der  meta- 
physischen Spekulation  zukommt.  Denn  in  diesem  Zu- 
sammenhang ist  der  Begriff  nicht  bloßer  Begriff;  ihm 
wird  Wesensgeltung  zuerkannt;  er  ist  das  „Sein",  die 
„Wirklichkeit"  schlechthin.  Erst  mit  dieser  ontologischen 
Wendung,  d.  h.  erst  auf  Grund  seiner  Hypostasierung  er- 
reicht er  seinen  metaphysischen  Wert,  gewinnt  er  seine 
metaphysische  Bedeutung.  Es  soll  gegen  den  Begriff  des 
Absoluten  nichts  eingewendet  werden,  solange  dieser 
Begriff  eben  Begriff  bleibt,  solange  er  nicht  zu  einer 
Wesenheit  und  Substanzialität  verdinglicht  wird,  die  seinem 
kritisch-methodischen  Charakter  widerspricht  und  die  ihn 
seiner  logischen  Bestimmung  entfremdet.  Wahrt  man 
streng  die  kritische  Auffassung,  dann  ist  dieser  Begriff 
identisch  mit  dem  Begriff  des  Systems  oder  der  Vernunft. 
Und  wir  stoßen  alsdann  darum  auf  keine  Paradoxie  und 
Antinomie  in  ihm,  weil  hier  das  System  der  Vernunft 
reinlich  bei  sich  selber  und  in  der  von  ihm  selbst  ge- 
gründeten und  verbürgten  Geltungszone  bleibt,  der  Zone 
der  Erkenntnis,  und  weil  es  hier  Gesetze  entwickelt,  die 
nur  für  diese  Zone  gelten,  und  die  deren  Objektivität  be- 
gründen,  indfem  sie  sie  schaffen. 

Bei  der  metaphysischen  Fassung  des  Begriffes  vom 
Absoluten  handelt  es  sich  im  Gegensatz  dazu  um  eine 
Größe,  der  nicht  die  Grundlegung  der  Erkenntnis,  son- 
dern die  der  Wirklichkeit  anvertraut  und  zugeschrieben 
wird.  Durch  ihn  soll  nicht  die  Objektivität  der  Erkennt- 
nis, sondern  die  Realität  des  Seins  erhärtet  und  gesichert 
werden.  Um  das  zu  erreichen,  muß  ein  Durchbruch  aus 
der  Zone  des  Gedankens  zu  der  des  Seins  erfolgen  ;  die 
Absolutheit  des  Gedankens  muß  zur  Absolutheit  des  Seins, 
der  Gedanke  des  Absoluten  zum  Sein  des  Absoluten  er- 
weitert und  so  über  sich  hinausgeführt  werden,  bevor 
die  metaphysische  Zone  und  das  Absolute  im  metaphy- 
sischen Verstände  erreicht  ist. 

Nun   hat  bekanntlich   Kant  in   dem  berühmten   Anti- 


24  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

nomienkapitel  der  transzendentalen  Dialektik  die  endlosen 
Widersprüche  jegrlicher  metaphysischen  Seinslehre  auf- 
gedeckt. Es  sei  im  Folgenden  versucht,  diese  Aus- 
führungen nach  zwei  Seiten  hin  ein  wenig  zu  ergänzen  ; 
zugleich  soll  damit  der  obige  Nachweis  über  die  Proble- 
matik im  Begriff  de^.  Absoluten  vervollständigt  werden 
(vgl.   S.  21  ff.). 

b)  Es  gilt  näm'ich,  im  Auge  zu  behalten,  daß  der 
volle  Sinn  der  met-^physischen  Fassung  des  Absoluten 
durch  seine  Ausprägung  in  einem  einzelnen,  konkreten 
Begriff,  z.  B.  in  de*n  der  ,. Substanz",  nicht  restlos  er- 
schöpft wird.  Denn  zu  jener  Fassung  gehört  nicht  nur 
das  Substanz-Sein,  sondern  nicht  minder  das  Akzidenz- 
Sein,  ferner  das  Sein  als  Kausalität  und  die  Kausalität 
als  Sein,  wie  überhaupt  alle  nur  möglichen  Arten  Und 
Formen  des  Sein",  mögen  diese  einander  auch  noch  so 
verschieden  und  fremd  sein,  mag  es  auch  ganz  aussichts- 
los erscheinen,  sie  alle  miteinander  zu  einer  wesenhaften 
Einheit  zu  verbinden  oder  ihre  Gegensätzlichkeit  auch 
nur  teilweise   zu  überbrücken    und   zu  versöhnen. 

Doch  selbst  jene  Wesensbestimmung,  daß  das  Absolute 
Substanz  sei.  ist  schon  trotz  ihrer  Einseitigkeit  mit  einer 
außerordentlichen  Fülle  von  Antinomien  behattet,  die  es 
zu  erkennen  frilt,  will  man  in  die  Komplikation  ein- 
dringen, die  bereits  eine  nur  teilweise  Bestimmung  des 
Absoluten  aufv  eist,  will  man  ,.die  Verschlingung  von  Be- 
dingendem und  Bedingtem,  von  Bestimmendem  und  Be- 
stimmtem" in  ihm  erfassen.  In  der  Tat:  Ueberall  tritt 
uns  schon  in  der  einzelnen  Ausprägung,  die  dem  meta- 
physischen Absoluten  in  den  einzelnen  Typen  der  meta- 
physischen Snekulation  zuteil  geworden  ist,  eine  bis  oft 
zu  völliger  logischen  Undurchsichtigkeit  gesteigerte  „Ver- 
schlingung" entgegen.  Man  verfolge  nur  einmal  die  ge- 
schichtlich'- und  svstematische  Entwickelung,  die  der  Be- 
griff der  Substanz  etwa  durchgemacht  hat,  was  sich  ian 
Hand   einer  Monographie  von   Bruno   Bauch,  der  auch 


Der  Geltungswert  der   Metaphysik.  25 

die  obige  Stelle  entnommen  ist,  vortrefflich  bewerkstelligen 
läßt.  Man  wird  alsdann  selbst  in  einem  solchen  Spezial- 
fall fortgesetzt  einer  ganz  eigentümlichen,  aber  sehr 
charakteristischen  Dialektik  und  Problematik  begegnen, 
die  immer  aufs  neue  mit  der  notwendigen  Fortführung 
und  Ausgestaltung  des  Begriffs  zugleich  die  Unlösbar- 
keit  des  metaphysischen  Problems  offenkundig  macht.i) 

Aber,  wie  gesagt,  der  Sinn,  den  der  Begriff  des  Ab- 
soluten in  der  Metaphysik  besitzt,  will  doch  in  dem  Sinn 
absolut  sein,  daß  er  die  ganze  Tiefe  und  Weite  des  Seins, 
die  Wirklichkeit  in  all  ihren  Formen  und  Werten  in  sich 
aufzunehmen  vermag.  Alsdann  kann  er  nicht  nur  das  Sein 
etwa  als  Substanz  oder  das  Sein  als  Rationalität  bedeuten. 
Es  muß  in  ihn  nach  der  einen  Seite  alles  Akzidentielle 
und  Endliche,  nach  der  anderen  alles  Irrationale  und 
alles  jenseits  der  eigentlichen  begrifflichen  Geformtheit 
Stehende,  also  die  ganze  Welt  des  Willens-  und  Gefühls- 
lebens eingehen  und  durch  ihn  dargestellt  und  in  ihm 
verbunden  sein.  Im  Metaphysisch-Absoluten  soll  eine  Ver- 
webung und  Versöhnung  der  rationalen  mit  allen  irra- 
tionalen, der  logischen  mit  allen  über-  und  alogischen 
Zusammenhängen,  ihr  Aufgehobenwerden  in  einem  höhe- 
ren   Begriff   erfolgen. 

Und  diese  Doppelheit  und  Doppelströmung  von 
Geltungszusammenhängen  bedingt  nun  in  ihm  eine  Anti- 
nomie und  eine  bis  zur  Paradoxie  gesteigerte  Kompli- 
kation, die  in  jeglichem  System  der  Metaphysik  zum  Aus- 
druck kommt,  weil  sie  eben  durch  jenen  Begriff  mit  dem 
Sinn  und  dem  System  der  Metaphysik  unlösbar  verbunden 
ist.  Man  darf  sich  über  dieses  vielverschlungene  Ver- 
hältnis, über  dieses  unendlich  komplizierte  Gewebe  ver- 
schiedenartigster Formen  und  Werte  in  dem  Grundgefüge 


1)  Vgl.  Bruno  Bauch,  Das  Substanzproblem  in  der  grie- 
chischen Philosophie  bis  zur  Blütezeit.  Seine  ges:hicht'iche  Ent- 
wicklung in  systematischer  Bedeutung;  Heidelberg  1910;  die  an- 
geführte Stelle  ebendort  auf  S.  265. 


26  Der  Qeltungswert  der   Metaphysik. 

der  Metaphysik  nicht  durch  einzelne  Ausprägungen  der 
metaphysischen  Spekulation  hinwegtäuschen  lassen.  Denn 
ein  eingehendes  Studium  solcher  besonderen  historischen 
Formen  wird  immer  ergeben,  daß  diejenigen  Systeme 
der  Metaphysik,  die  sich  auf  ihre  Rationalität  und  Logi- 
zität  berufen,  ganz  abgesehen  schon  von  den  Formen  der 
Individuation  und  der  Besonderheit,  auch  der  Welt  des 
Nicht-Rationalen  nicht  gerecht  zu  werden  vermögen  oder 
daß  sie  in  ihrem  Bau  Bedingungen  und  Faktoren  irra- 
tionaler Bedeutung  tragen,  die  sie  oft  zu  verheimlichen 
streben.  Für  jenen  Fall  darf  auf  He  gel,  für  diesen  auf 
Spinoza  hingewiesen  werden;  bei  dem  letzteren  aber 
macht  sich  noch  eine  besondere  Schwierigkeit  geltend 
neben  der,  die  in  der  unhaltbaren  Verbindung  von  ratio- 
nalen und  irrationalen  Faktoren  besteht ;  das  ist  die 
Schwierigkeit,  die  Formen  der  Individuation,  die  ,,Modi", 
in  das  System  aufzunehmen  und  aus  ihm  heraus  begreif- 
lich zu  machen.  Doch  davon  später.  Aber  auch  umge- 
kehrt fehlt  keinem  sich  ausgesprochen  irrational  gebenden 
System,  und  nähme  man  die  höchsten  und  feinsten  Aus- 
bildungen der  Mystik,  der  rationale  Faktor ;  er  ist  wirk- 
sam in  jeder  Form  des  Irrationalismus,  und  zwar  nicht 
nur  als  Einschlag  in  seiner  Struktur,  sondern  als  gesetz- 
mäßige Bedingung  seiner  Grundlegung  und  seiner  sach- 
lichen Geltung.i)  Dazu  zwingt  schon  die  sprachliche 
sowie  jede  sonstige  Formung  der  Intuition  und  des  in 
ihr  Erschauten.  Der  bloße  Zustand  der  Intuition  reicht 
als  solcher  bei  weitem  nicht  aus,  um  auf  ihm  eine  Meta- 
physik  zu   entwickeln. 

Auch  an  diesem  Punkt  macht  sich,  was  jedoch  nur 
kurz  berührt  sein  mag,  ein  grundsätzlicher  Unterschied 
zwischen  Metaphysik  und  Wissenschaft  merkbar.  Während 
zum  Begriff  und  System  der  ersteren  notwendig  irrationale 

*)  Vgl.  Arthur  Liebert,  Monismus  und  Renaissance,  in 
„Der  Monismus",  herausgegeben  von  Arthur  Drews,  Bd.  11,  S.  12ff., 
Jena    1908. 


Der  Geltungsvvert  der  Metaphysik.  27 

Bestandteile,  wie  solche  im  Absoluten  notwendig  ein- 
geschlossen sind,  gehören,  kann  davon  in  bezug  auf  die 
Wissenschaft  keine  Rede  sein.  Nun  hat  man  darauf  hin- 
gewiesen, daß  doch  auch  für  sie  gewisse  irrational-psy- 
chologische Momente,  wie  Intuition  oder  Genialität,  von 
größter  Bedeutung  seien,  daß  es  unmöglich  sei,  diese 
aus  den  wirklich  fruchtbaren  Stufen  des  wissenschaftlichen 
Lebens  fortzudenken.  Dieser  Hinweis  beruht  jedoch  auf 
einer  Verwechselung  von  Person  und  Sache  und  auf  einer 
Vermischung  des  Gesichtspunktes  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung  mit  dem  der  objektiven  gesetzmäßigen  Gel- 
tung. Mag  das  Maß  an  Genialität,  über  das  ein  Forscher 
verfügt,  noch  so  groß  sein,  mag  nachweislich  für  die 
Erreichung  dieser  oder  jener  wissenschaftlichen  Einsicht 
und  Entdeckung  der  betreffende  Forscher  von  Intuitionen 
seltenster  Art  erfüllt  gewesen  sein,  so  ist  das  alles,  so 
bedeutend  es  an  sich  auch  sein  mag,  völlig  gleichgiltiig 
für  die  Bestimmung  der  sachlichen  Geltung,  die  eine 
wissenschaftliche  Erkenntnis  als  Erkenntnis  hat,  d.  h.  für 
diese  ihre  sachliche  Geltung  selber.  Was  sich  in  der  Seele 
eines  Physikers  bei  einer  physikalischen  Entdeckung  und 
bei  ihrer  gesetzmäßigen  Formulierung  abgespielt  hat, 
oder  was  wir  selber  erleben,  wenn  wir  von  ihr  hören 
und  sie  kennen  lernen,  das  alles  hat  nicht  das  mindeste 
zu  tun  mit  der  Gesetzesbedeutung  und  dem  wissenschaft- 
lich-sachlichen Wert  dieser  Erkenntnis  und  ihrer  Dar- 
stellung in  bestimmten  Formeln.  Und  nicht  anders  steht 
es  mit  der  Wissenschaft  von  der  Geschichte.  Das  aus  so 
vielen  und  so  verschiedenartigen  Momenten  zusammen- 
gesetzte Erleben  geschichtlicher  Werte  gehört  genau  eben- 
so wie  das  aus  den  verschiedensten  Quellen  gespeiste 
Erschaffen  solcher  Werte,  wie  überhaupt  die  Förderung 
der  geschichtlichen  Entwickelung  in  einen  ganz  anderen, 
nach  Form  und  Inhalt  anderen  Zusammenhang  als  die  von 
eindeutig  bestimmbaren  Kategorien  getragene  Erkenntnis 
dieser  Werte   und  dieser   Entwickelung. 


28  Der  Oeltungswert  der   Metaphysik. 

Und  so  ist  überhaupt  das  System  der  Wissenschaft 
von  einheitlich-eindeutiger  Beschaffenheit:  seine  Grund- 
lagen und  Bedingungen  sind  die  Formen  und  Gesetze 
der  Vernunft,  seine  Methode  ein  Zusammenhang  logisch 
bestimmter  Gesichtspunkte,  sein  Gehalt  und  Sinn  ist  lo- 
gische Vernunft,  ist  logisch  determinierte  Vernunft.  Aus 
diesem  Grunde  ist  auch  das  System  der  Wissenschaft 
so  überaus  einseitig  und  einförmig,  so  begrenzt  und  in 
sich  geschlossen.  Es  stellt  eigentlich  eine  ganz  eigen- 
artige und  einzigartige  Vergewaltigung,  und  zwar  eine 
solche  in  der  brutalsten  Form,  der  Wirklichkeit  dar.  Aber 
zugleich  liegt  darin  die  Eindeutigkeit  und  Geschlossen- 
heit seiner  Geltung  begründet. 

Ganz  anders  ist  es  auch  in  dieser  Hinsicht  mit  der 
Metaphysik  bestellt.  Sie  kann  aus  ihrer  Systematik  das 
Irrationale  nicht  ausschließen.  Die  Gründe  dafür  wurden 
bereits  kurz  angedeutet.  Dadurch  aber  erhält  jene  Syste- 
matik ihre  außerordentliche  Verwickelung,  sie  wird  zu 
einem  über  alle  Massen  reich  verstrickten  Gewirre  der 
mannigfachsten  Momente  und  Beziehungen  von  solchen. 
Zugleich  aber  erhält  das  Verhältnis  der  Metaphysik  zur 
Wirklichkeit,  weil  in  dasselbe  eine  ungeheure  Fülle  von 
Werten  und  Wertbeziehungen  eingehen  muß,  soll  die 
Metaphysik  ihrem  Sinn  entsprechen,  einen  solchen  Reich- 
tum und  einen  so  komplizierten  Charakter,  daß  keine  ein- 
zelne Formulierung  seinem  Wesen  gerecht  wird.  Ja, 
gerade  je  mehr  die  Verwickelung  in  seiner  Struktur  zu- 
nimmt, umsomehr  wächst  auch  der  Gehalt  und  der  Wert, 
die  „Wahrheit",  jenes  Verhältnisses.  Darüber  später  noch 
ein  Wort,  jetzt  sei  die  dem  Begriff  des  Absoluten  im- 
manente Problematik  noch  durch  eine  andere  Ueberlegung 
nachgewiesen. 

c)  Es  ist  nicht  dasselbe,  wenn  im  Umkreis  der  Logik 
den  Gedanken  und  Gedankenformen  ein  absoluter  Wert 
zuerkannt  wird,  und  wenn  im  Umkreis  der  Metaphysik  vom 
Absoluten  die  Rede  ist.    Wir  sahen  schon,  daß  in  letzterer 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  29 

Hinsicht  das  Absolute  als  Sein  gilt  und  als  Sein  an- 
gesprochen wird.  Die  rein  gedankliche  Geltung  des  Ab- 
soluten erhält  nämlich  dadurch,  daß  sie  als  „seiend"  be- 
hauptet wird,  eine  folgenschwere  Veränderung.  Denn  sie 
wird  dadurch  einer  Determination,  einer  Einschränkung 
unterworfen,  die  in  der  Behauptung,  das  Absolute  sei, 
zum  Ausdruck  kommt.  Lautet  doch  ein  berühmtes  Wort 
Spinoza 's:  omnis  determinatio  est  negatio.  Jede  Deter- 
mination bringt  das  Absolute  in  eine  seinem  Sinn  wider- 
sprechende Beziehung  zu  endlichen  Werten.  Die  Behaup- 
tung, das  Unendliche  sei,  ist  ein  Schritt  auf  dem  Wege 
zu  seiner  Verendlichung,  d.  h.  zur  Aufhebung  seines 
Sinnes  und  seiner  Geltung. 

Diese  Aporie  des  Unendlichen  wird  deutlicher,  so- 
bald der  weitere,  notwendige  Schritt  getan  wird  zu  einer 
näheren  Bestimmung  des  Absoluten.  Denn  keine  Meta- 
physik kann  bei  der  nackten  Bestimmung  stehen  bleiben, 
daß  das  Unendliche,  daß  das  Absolute  sei.  Sie  fragt  not- 
wendig nach  der  näheren  Bestimmung  des  Absoluten. 
Ist  es  Bewegung  und  Fluß  oder  Stillstand  und  Ruhe?  Ist 
es  Geist  oder  Stoff?  Oder  eine  Verbindung  zwischen 
ihnen?  Wie  aber  läßt  sich  vom  Absoluten  mit  Fug  be- 
haupten, es  sei  entweder  Ruhe  oder  Bewegung,  Geist 
oder  Stoff?  Nun  hat  man  diese  unhaltbare  monistische 
Verkürzung  und  Verengung  dadurch  zu  überwinden  ge- 
glaubt, daß  man  dem  Absoluten  beides  verleiht:  Ruhe 
und  Werden  oder  Geistsein  und  Stoffsein.  Das  mag  auf 
den  ersten  Blick  aussichtsreich  und  zur  Behebung  der 
Schwierigkeit  geeignet  erscheinen.  Und  doch  steigert 
sich  die  Aporie  gerade  dadurch  ins  Ungemessene.  Unter 
metaphysischem  Gesichtspunkt  hätten  Ruhe  und  Werden, 
Geist  und  Stoff  den  Wert  von  Substanzen,  von  absoluten 
Substanzen.  Nun  hat  schon  Spinoza  unwiderleglich 
dargetan,  daß  es  nicht  zwei  absolute  Substanzen  geben 
könne.'  Die  Vervielfältigung  des  Absoluten  denken,  heißt, 
etwas   Sinnloses   denken.     Doch  nicht  weniger  sinnlos   ist 


30  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

der  Gedanke,  daß  diese  Substanzen  in  Beziehung  zu- 
einander stehen  sollen.  Das  wird  behauptet,  um  dem 
absoluten  Dualismus  zu  entgehen,  in  dem  man  stets  einen 
unzulänglichen  Standpunkt  und  eine  Halbheit  erblickt  hat. 
Es  ist  aber  durchaus  unverständlich,  wie  der  Geist  sich 
auf  die  Materie  beziehen  könne  und  umgekehrt.  Die  ab- 
solute metaphysische  Verschiedenartigkeit  beider  angeb- 
lichen Substanzen  schließt  ein  positives  Verhältnis  zwischen 
ihnen  völlig  aus,  und  man  denke  sich  dieses  in  welcher 
Form  auch  immer :  ob  als  Wechselwirkung  oder  als  psycho- 
physischen  Parallelismus,  ob  kausal  oder  teleologisch,  ob 
im  Sinne  der  Identität  oder  des  Panentheismus. 

Und  nicht  geringer  ist  die  Unerklärbarkeit  des  Ver- 
hältnisses zwischen  dem  Absolut-Unendlichen  und  dem 
Relativ-Endlichen.  Und  doch  sieht  sich  die  Metaphysik 
zur  Konstruktion  dijses  Verhältnisses  unweigerlich  ge- 
zwungen. Denn  es  obliegt  ihr,  das  Empirische  aus  dem. 
Metempirischen  abzuleiten,  beides  in  einen  Zusammenhang 
zu  bringen  und  den  Sinn  ihrer  Beziehung  irgendwie  auf- 
zuhellen. Wo  aber  ist  es  einer  Metaphysik  gelungen,  diese 
Ableitung  ohne  Sprung  und  Künstelei  vorzunehmen  und 
diesen  Sinn  wirklich  sinnvoll  zu  erhellen?  Ja.  diese  Auf- 
gabe kann  ihr  nie  gelingen  trotz  der  Dringlichkeit  und 
Notwendigkeit  der  Lösung.  Es  ist  völlig  unfaßlich,  daß 
und  wie  das  Endliche  mit  dem  Unendlichen  in  Verbindung 
stehen  soll,  wenn  jeder  der  beiden  Werte  seinen  Sinn  und 
seine  Eigentümlichkeit  bewahren  will.  Man  weiß,  wie 
Spinoza  an  dem  Unternehmen  gescheitert  ist,  aus  der 
Unendlichkeit  der  Substanz  und  ihrer  Attribute  die  end- 
lichen Modi  abzuleiten,  d.  h.  die  Endlichkeit  der  ,Modi 
in  eine  eindeutig-einleuchtende  Beziehung  zur  Unendlich- 
keit der  Substanz  zu  setzen. 

Hat  man  diese  Sachverhältnisse  durchschaut,  dann  er- 
scheint der  geschichtliche  wie  der  grundsätzliche  Kampf 
der    metaphysischen    Systeme    als    Ausdruck    eines    naiven 


Der  Geltungsvvert  der  Metaphysik.  31 


Dogmatismus  und  Absolutismus  ;  und  nur  unter  ihrer  Vor- 
aussetzung als  möglich.  Wie  die  Metaphysik  in  ihrer 
systematischen  Ganzheit,  so  ist  auch  jede  ihrer  Formen 
und  Typen  in  die  gleiche  ebenso  charakteristische  als  un- 
auflösbare Problematik  verstrickt.  Wenn  der  metaphy- 
sische Idealismus  nur  den  Geist  als  das  einzig  Wirkliche 
anerkennt,  dann  läßt  er  einfach  das  Problem  der  Materie 
ungelöst,  oder  er  wird  dem  Sinn  dieses  Problems  gar 
nicht  gerecht.  Dieselbe  Unzulänglichkeit  weist  der  meta- 
physische Materialismus  in  bezug  auf  das  Problem  der  Rea- 
lität des  Geistes  auf.  Und  in  dem  gleichen  Verhältnis  zu- 
einander stehen  jene  Ausbildungen  der  metaphysischen 
Spekulation,  die  man  als  organische  bezw.  als  mecha- 
nistische Weltanschauung  bezeichnet.  Sie  gegeneinander 
ausspielen,  heißt,  die  Schranken  einer  jeden  übersehen  ;  sie 
miteinander  verbinden,  heißt,  zwei  Standpunkte  zusammen- 
koppeln, die  einander  ausschließen  und  einander  aufzu- 
heben suchen.  In  dem  metaphysischen  Urprinzip  die  Ver- 
bindung oder  Identität  von  Geist  und  Materie  erblicken, 
heißt  der  Vernunft  einen  unvollziehbaren  Gedanken  zu- 
muten. Die  Durchführung  aber  dieses  Gedankens  im  ein- 
zelnen führt  zu  den  allerseltsamsten  Schwierigkeiten  und 
Paradoxien,  wie  die  Theorie  des  psycho-physischen  Paral- 
lelismus dem  Vorurteilslosen  genugsam  zeigt.  Die  meta- 
physische Lehre  von  der  Allbeseelung,  wie  etwa  Fe  ebner 
sie  vertritt,  ist  dem  Geist  des  Märchens  innerlichst  ver- 
wandt. Kinder  der  Romantik  sind  sie  beide.  Werden  schließ- 
lich nach  der  Theorie  des  metaphysischen  Dualismus  so- 
wohl dem  Geist  als  der  Materie  nicht  nur  absolute  Realität 
sondern  auch  absolute  Unabhängigkeit  voneinander  zuge- 
schrieben, so  wird  von  uns  verlangt,  trotz  der  Absolut- 
heit der  Realität  der  einen  Größe  doch  wieder  beide  als 
metaphysisch  absolut,  also  als  absolut  seiend  zu  denken : 
als  ob  nicht  die  absolute  Realität  des  einen  Wertes  not- 
wendig .  die  des  anderen  ausschlösse  und  verneine.  So 
leicht  und  logisch  die  beiden  Begriffe  beieinander  wohnen, 


32  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

so   undurchsichtig  und   problematisch   wird   ihr  Verhältnis, 
sobald  sie  hypostasiert  d.  h.  als  seiend  ausgegeben  werden. 


b. 

Allgemeines:  Auch    die    Metaphysik    erscheint   als    eine   der   großen 

Physik'  und  Entwickelungsformen  und  Objektivationen  der  geschicht- 
diegeschicht- liehen  Kultur  und  als  ein  Glied  in  derselben.  Es  ist,  als 
IC  e  u  ur.  ^^  g.^  ^^^  Zusammenhang  derselben  restlos  angehörte 
und  von  seinen  Bedingungen  durchaus  abhängig  wäre. 
Deshalb  ist  es  ganz  richtig,  wenn  behauptet  wird,  daß 
der  Einfluß  nicht  unterschätzt  oder  übersehen  werden 
darf,  den  die  allgemeine  geschichtliche  Kultur  auf  die 
Metaphysik  und  die  einzelnen  Formen  derselben  ausübt. 
Diesem  Einfluß  kann  sich  kein  System  ganz  und  gar  ent- 
ziehen. Das  ist  nicht  in  erster  Linie  darin  begründet,  daß 
die  Schöpfer  dieser  Systeme  bestimmte  geschichtliche  Per- 
sönlichkeiten sind,  wenngleich  das  Moment  des  Persön- 
lich-Menschlichen für  die  Entstehung  und  Ausgestaltung 
eines  Systems  der  Spekulation  von  größerer  Bedeutung 
ist  als  bei  den  Wissenschaften  und  dort  etwa  die  gleiche 
Rolle  wie  in  der  Religion  spielt. 

Doch  abgesehen  von  dieser  Beziehung  ist  die  Be- 
einflussung eines  metaphysischen  Systems  durch  zeit- 
geschichtliche Umstände  schon  dadurch  gegeben,  daß  es 
seine  allgemeine  Aufgabe  in  bestimmtem  Umfange  nur 
dadurch  lösen  kann,  wenn  es  diejenigen  Hilfsmittel  heran- 
zieht, die  ihm  die  ganze  theoretische  Verfassung  und  die 
Wissenschaftslage  seiner  Zeit  darbieten.  Man  ermesse 
einmal  die  Abhängigkeit,  in  der  die  Metaphysik  des  Des- 
cartes  oder  des  Spinoza  von  der  Mechanik  ihrer  Zeit 
sowie  überhaupt  von  dem  Stand  der  damaligen  Natur- 
wissenschaft steht.  Und  auch  Hegels  geschichtsphilo- 
sophische  Konstruktionen  wären  wenigstens  nach  der  einen 
Seite  hin  nicht  möglich  ohne  die  eingehenden  historischen 
Studien,  die  er  besonders  in  seiner  Jugend  getrieben  hat, 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  33 

sowie  ohne  die  Belebung  und  Vertiefung,  die  die 
Geschichtswissenschaft  seiner  Zeit  aufzuweisen  hat.  Zu- 
gleich aber  wirkt  auf  die  Schöpfung  jedes  metaphysischen 
Systems  die  allgemeine  Geistesverfassung  und  Gesinnung 
eben  dieser  Zeit  mit  ein.  Dazu  kommt  in  entscheidender 
Form,  daß  jedes  metaphysische  System  neben  seiner  all- 
gemeinen Leistung  und  Funktion  im  besonderen  noch  eine 
Deutung  der  herrschenden  Kultur-  und  Lebensmomente 
derjenigen  Zeit,  in  der  es  erwächst,  versucht  und  eine 
solche  besondere  Aufgabe  in  sich  enthält.  Zum  mindesten 
liegt,  oft  unausgesprochen  und  nur  in  Ansätzen  vor- 
handen, ein  solcher  Versuch  in  ihm  beschlossen. 

Was  eine  Zeit  erregt  und  bewegt,  was  ihren  Geist 
und  ihre  Interessen  zu  tiefst  bestimmt  und  beherrscht, 
das  kommt  in  dem  metaphysischen  System,  das  in  ihr 
entsteht,  irgendwie  zum  Ausdruck  und  zur  Geltung.  So 
kann  man  die  Hauptzüge  und  den  Grundcharakter  einer 
geistesgeschichtlichen  Periode  ablesen  aus  der  Form  und 
Gestaltung,  aus  dem  Gehalt  und  der  Tendenz  der  in  ihr 
hervortretenden  Spekulation.  Wohl  durch  nichts  Anderes 
sind  die  einzelnen  Zeiten  und  Kulturen  so  deutlich  ge- 
kennzeichnet, wie  durch  die  metaphysischen  Systeme,  die 
in  ihnen  entstehen  oder  zu  allgemeinerer  Anerkennung 
gelangen.  Aber  auch  umgekehrt  darf  die  Einwirkung  nicht 
unterschätzt  werden,  die  ein  System  der  Metaphysik  auf 
den  Geist  seiner  Zeit  und  ihre  Entwickelung  ausübt.  Nicht 
selten  und  in  nicht  geringem  Maße  sind  spekulative  Mo- 
mente von  entscheidender  Bedeutung  für  den  Gang  der 
allgemeinen  Kultur  geworden,  ohne  daß  diese  Bedeutung 
nun  stets  sogleich  sichtbar  oder  ohne  weiteres  offenkundig 
geworden  wäre. 

Dieses  Wechselverhältnis  hat  kaum  jemand  klarer 
erkannt  und  geistvoller  herausgearbeitet  als  Wilhelm 
Dilthey.  Ein  großer  Teil  seiner  Forscherarbeit  als 
Historiker  bezieht  sich  auf  diese  Punkte.  Mit  reichem 
Ertrag  ist  es  ihm  gelungen,  durch  eine  umfassende  kultur- 

3 


34  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

psychologische  und  kulturgeschichtliche  Betrachtung  ein 
geschichtliches  Verständnis  der  Metaphysik  zu  erreichen 
und  sowohl  die  allgemeinen  als  auch  die  persönlichen,  in 
der  Eigenart  des  betreffenden  Metaphysikers  ruhenden 
Beweggründe  ans  Licht  zu  stellen,  die  die  Entstehung 
dieses  oder  jenes  bestimmten  Typus  der  Metaphysik  be- 
dingen ;  ferner  hat  er  ihren  Einfluß  auf  ihre  Zeit  ge- 
schildert und  es  verständlich  zu  machen  gewußt,  wieso 
nun  eben  diese  Zeit  gerade  diese  Metaphysik  hervorbringen 
oder  gerade  von  diesem  metaphysischen  Typus  sich  be- 
herrschen lassen  mußte.  Doch  ist  noch  manches  in  dieser 
Richtung  zu  tun.  Denn  auch  hier  zeigt  Diltheys  Arbeit 
neben  großartigen  Ansätzen  und  teilweisen  Ausführungen 
jenen  fragmentarischen  Charakter,  der  ihr  überhaupt  eigen- 
tümlich  ist. 

Aber  bei  aller  Anerkennung  dieser  Arbeit  darf  man 
die  Schranken  nicht  übersehen,  die  ihrem  Verfahren  ge- 
setzt sind.  „Kann  es  einen  geschichtlichen  Ausgangs- 
punkt für  ein  ewiges  Bewußtsein  geben?"  So  fragt  ein- 
mal, allerdings  in  einem  anderen  Zusammenhang  aber  in 
dem  gleichen  Sinne ,  der  dänische  Religionsphilosoph 
Sören  Kierkegaard  in  Nachbildung  eines  bekannten 
Wortes  von  Lessing.i)  Denn  wenn  Kierkegaard 
einen  Zweifel  darüber  ausspricht,  daß  es  möglich  sei,  auf 
dem  Wege  der  geschichtlichen  Betrachtungsweise  von  der 
Religion  ein  adäquates  Verständnis  zu  gewinnen,  da  alle 
ihre  Werte  und  Wertungen,  da  ihr  ganzes  System  und  alle 
Zweige  desselben  über  den  Rahmen  der  bloßen  Geschicht- 
lichkeit hinausreichen  oder  zum  mindesten  hinausstreben, 
so  trifft  das  gleiche  auch  für  die  Metaphysik  zu.  Denn 
der  Versuch,  auch  die  Metaphysik  dem  Zusammenhang  der 
geschichtlichen  Welt  restlos  einzuordnen  und  sie  aus 
diesem  Zusammenhang  heraus  zu  begreifen,  trifft  auf  ganz 


1)    Sören    Kierkegaard,    Philosophische    Brocken,    I.Teil 
Jena    IQIO,    S.   113. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  35 

eigenartige  Schwierigkeiten,  auf  eine  neue  Problematik 
und  Paradoxie.  Es  ist,  als  ob  die  Problematik,  die  das 
innere  Gefüge  und  den  Zusammenhang  aller  meta- 
physischen Spekulation  beherrscht,  aus  diesem  Gefüge 
herausstrahlt  und  auf  alle  Verhältnisse  und  Beziehungs- 
formen einwirkt,  in  die  die  Metaphysik  eintritt  und  in 
die  sie  verflochten  ist. 

Es  gibt  keine  geschichtliche  Kultur,  die  von  meta- 
physischen Durchsetzungen  frei  wäre.  In  irgend  einer 
Form  ist  jede  geschichtliche  Kultur  und  jeder  Zweig 
in  ihr  auf  irgend  eine  Metaphysik  bezogen  und  in  ihr 
gegründet.  Und  doch  waltet  zwischen  der  Metaphysik 
auf  der  einen  und  dem  geschichtlichen  Leben  auf  der 
anderen  Seite  ein  so  starkes  Spannungsverhältnis,  daß 
beide  Teile  immer  unmittelbar  an  der  Grenze  stehen,  an 
der  sie  ihren  Sinn  zu  verlieren,  und  an  der  sie  ihren 
Begriff   und    ihr   Gesetz   einzubüßen    in   Gefahr   sind. 

Dem  geschichtlichen  Leben  erwächst  nämlich  dadurch, 
daß  es  auf  die  Metaphysik  bezogen  ist,  der  Widerspruch 
und  die  Abtrünnigkeit  gegen  sich  selbst  Denn  die  ganze 
geschichtliche  Welt,  die  doch  Leben,  Bewegung,  Spon- 
taneität, Schöpfung  und  Umbildung,  Fluß  und  Werden, 
Abhängigkeit  und  Beziehung  ist,  erleidet  auf  Grund  jenes 
Verhältnisses  das  Schicksal  ihrer  Verabsolutierung,  man 
möchte  fast  sagen :  ihrer  Dogmatisierung  und  Kanonisie- 
rung. Das  kommt  nicht  allein  daher,  daß  sie  von  der 
Metaphysik  rationalisiert  und  in  einen  festen  Begriffs- 
zusammenhang hineingepreßt  wird,  dem  ihr  Sinn  wider- 
spricht. Wohl  erfährt  sie  dadurch  in  gewisser  Form  eine 
ihrem  Wesen  entgegengesetzte  Beschränkung  und  Aus- 
höhlung. Aber  erstens  ist  es  leicht  einzusehen,  daß  sich 
auf  andere  Weise  kein  ernsthaftes,  tieferes  spekulatives 
Verständnis  der  geschichtlichen  Kultur  erreichen  läßt ; 
mit  bloßen  Intuitionen  und  Einfühlungen  ist  hier  ebenso 
wenig  etwas  auszurichten,  wie  inbezug  auf  andere  Auf- 
gaben  der   Erkenntnis.     Zweitens  aber  bleibt  doch  immer 

3* 


36  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 


ein  Bewußtsein  des  außerordentlichen  Abstandes  zwischen 
dem  vollen,  ungebrochenen  Gehalt  des  Lebens  und  seiner 
rationalistischen  Formung  und  Stilisierung  vorhanden.  Nie- 
mand verfällt  so  ohne  weiteres  der  Einbildung,  daß  die 
rationalistischen  Konstruktionen  der  Geschichtsmetaphysik 
Hegels  nun  das  geschichtliche  Leben  als  Leben  er- 
schöpfend zur  Darstellung  bringen  und  es  völlig  decken. 
Die  auch  in  dieser  Hinsicht  zweifellos  obwaltende  Anti- 
nomie bildet  doch  nur  einen  Ausschnitt  aus  jener  ,viel 
umfassenderen  und  verhängnisvolleren  Paradoxie,  die  in 
der  verabsolutierenden  Umformung  der  geschichtlichen 
Wirklichkeit  durch  die  Metaphysik  vorliegt. 

Das  geschichtliche  Leben  ist  eine  von  tausend  und 
abertausend  Momenten  bedingte  und  abhängige  Wirklich- 
keit, vergleichbar  einem  Geflecht,  dem  unzählige  Formen 
und  Bilder  eingewoben  sind,  das  sich  immerfort  verschiebt, 
das  immer  neue  Kombinationen  aufweist,  die  zwar  alle, 
in  ihren  Teilen  wie  in  ihrem  Ganzen,  gesetzmäßig  be- 
gründet sind,  ohne  daß  sich  nun  aber  das  Gesetz  der- 
selben in  einer  einheitlich-eindeutigen  Formel  darstellen 
ließe.  In  dieser  Beziehung  tritt  vielleicht  ein  Unterschied 
neben  anderen  zwischen  dem  Begreifen  der  mechanisti- 
schen Natur-Wirklichkeit  und  dem  Begreifen  der  geschicht- 
lichen Lebens-Wirklichkeit  zu  Tage.  Während  dort  eine 
Gesetzeskategorie  oder  eine  bestimmte  Zahl  derselben  zur 
wissenschaftlichen  Konstruktion  jener  Wirklichkeit  aus- 
reicht, bleiben  alle  kategorialen  Fassungen  und  Er- 
fassungen der  geschichtlichen  Wirklichkeit  nur  einlinige, 
rationalistisch  enge  Quer-  oder  Längsschnitte  derselben. 
Solange  die  Geltung  dieser  Schnitte  nicht  verkannt,  d.  h. 
nicht  überschätzt  wird,  solange  das  Bewußtsein  lebendig 
bleibt,  daß  alle  diese  Kategorien,  wie  deren  die  Geschichts- 
philosophie eine  ganze  Anzahl  entwickelt  hat,  nur  metho- 
disch gemeinte  Gesichtspunkte,  nur  Forschungsmaximen 
und  Forschungsprinzipien  sind,  bleibt  die  Aufstellung  sol- 
cher Kategorien  innerhalb  der  kritischen  Forschung.     So- 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  37 

fort  aber  vollzieht  sich  der  Durchbruch  aus  diesem  Gebiet 
in  das  des  Dogmatismus  und  der  Metaphysik,  sobald  eine 
einzelne  kategoriale  Form  des  Begreifens  unter  Mißachtung 
ihrer  bloß  logischen  und  bloß  rationalen  Gültigkeit  zum 
ausschließlichen  und  das  geschichtliche  Leben  als  solches 
beherrschenden  Gesetz  desselben  gemacht  wird  ;  gleichsam 
als  ob  sie  die  geheime  Kraft  und  Gewalt  wäre,  der  alles 
geschichtliche  Leben  Untertan  ist.  Es  ist  vielleicht  die 
Vollendung  des  kritischen  Tiefsinnes,  der  in  Leopold 
von  Ranke  wirksam  war,  daß  er  bewußt  davon  Abstand 
nahm,  das  geschichtliche  Leben  einem  einzigen  Gesetz 
unterstellen  zu  wollen  und  in  ihm  nur  einen  einzigen 
Zusammenhang,  gleichsam  eine  eingliedrige  Kette,  wahr- 
zunehmen. 

Das  aber  tut  gerade  die  Metaphysik.  Wohl  haben 
wir  Systeme  derselben,  die  den  Begriff  der  Bewegung, 
Entwickelung,  den  des  Fortschritts,  des  Lebens  usw.  zu- 
grunde legen.  Aber  der  Sinn,  in  dem  sie  dieses  tun,  hebt 
den  geschichtlichen  Zusammenhang  und  die  in  ihm  ver- 
wobenen  Momente,  welche  nicht  aus  einzelnen  Personen 
und  Handlungen  oder  Gruppen  von  solchen  bestehen, 
sondern  aus  den  großen  Objektivitäten  wie  Religion  und 
Kirche,  Recht  und  Staat,  Sittlichkeit,  Sitte,  Kunst,  Vernunft 
und  Wissenschaft,  heraus  aus  der  Fülle  ihrer  Beziehungen, 
er  unterdrückt  den  Reichtum  und  die  Komplikation  ihres 
Gefüges,  er  verpflanzt  das  zeitlich  Giltige  in  das  Un- 
veränderlich-Zeitlose, er  verflößt  das  Individuelle  und 
Konkrete  in  das  Unbedingt-Absolute. 

Gewiß,  das  ist  die  Aufgabe  und  das  Wesen  der  Meta- 
physik. Das  Paradoxe  dabei  tritt  aber  hervor,  sobald  er- 
kannt ist,  daß  diese  Tendenz  auf  das  Absolute,  die  so  in 
sich  gegründet  und  unabhängig  erscheint,  nicht  nur  des 
Geschichtlichen  bedarf  und  somit  von  ihm,  das  sie  doch 
zu  enteignen  und  seinem  Sinn  abwendig  zu  machen  strebt, 
abhängig  ist,  sondern  daß  sie  diese  Umprägung  des  Ge- 
schichtlichen zum  Ueberges^hichtlichen  nicht  rein  und  rest- 


38  Der  Geltungswert  der   Metaphysik. 

los  durchsetzen  kann  und  darf.  Die  Struktur  des  Ge- 
schichtlichen, das  Leben,  sein  Sinn  und  Gehalt,  sperrt  sich 
gegen  die  Verabsolutierung,  weil  dadurch  sein  Eigenwert 
und  seine  Autonomie  aufgehoben  und  seine  Geltung  zwar 
vertieft,  zugleich  aber  vernichtet  wird.  Wohl  gewinnt  es 
durch  seine  Beziehung  auf  einen  absoluten  Wert  allererst 
seinen  Halt,  seine  tiefere  Einheit,  es  erreicht  durch  sie 
die  Einheitlichkeit  eines  Sinnzusammenhanges ;  das  Ge- 
schichtliche tritt  in  das  Licht  der  Vernunft  und  wird  ver- 
nünftig. Aber  diese  Erhebung  erkauft  es  um  den  Preis 
seines  geschichtlichen  Gehaltes,  es  erkauft  ihn  durch  den 
Verlust  seiner  Fülle  an  Kulturinhalten  und  an  allem  Kon- 
kreten, wie  dieses  in  bestimmter  Ausbildung  in  den  reli- 
giösen, sittlichen,  rechtlichen  Lebensformen  einer  Zeit 
wirkt  und  gilt. 

Und  auf  der  anderen  Seite  kann  und  darf  keine  Meta- 
physik bei  ihrer  Aufsaugung  und  Verabsolutierung  des 
Empirisch -Geschichtlichen  bis  zum  Aeußersten  gehen. 
Denn  sie  hat  ihre  materielle  Grundlage  eben  in  diesem 
Empirisch-Geschichtlichen,  und  ihre  Aufgabe  einer  speku- 
lativen Deutung  des  Lebens  wäre  in  demselben  Augenblick 
unlösbar  gemacht,  in  dem  das  Leben  restlos  dem  uni- 
formierenden und  uniformen  Wert  des  Absoluten  unter- 
stellt wäre.  Ohne  auf  das  Ganze  der  geschichtlichen  Kultur 
in  immanenter  Form  bezogen  zu  sein,  hätte  der  Begriff 
des  Absoluten  keine  tiefere  Bedeutung,  keinen  tieferen 
Gehalt,  er  wäre  lediglich  ein  reines  Konstruktionsschema, 
er  hätte  nichts  von  jenen  umfassenden  Intentionen,  die 
er  in  der  Systematik  der  Metaphysik  begrifflich  zu  ent- 
wickeln hat;  es  fehlte  ihm  geradezu  seine  metaphysische 
Tiefe  und  damit  die  ihm  eigentümliche  Inkommensurabili- 
tät  und    Problematik. 

Öse  und  'fc  ^'^    Umsetzung   der   geschichtlichen    und    empirischen 

metaphysi-  Werte  ZU  absoluten,  wie  sie  von  der  Metaphysik  erarbeitet 

^sofutiemng.  ^^^^'   *^*  ^^*  '"   ^'"^  Parallele  mit  der  von  der  Religion 
vorgenommenen   Verabsolutierung   des    Lebens   und   seiner 


Der  Qeltungswert  der  Metaphysik.  39 

Güter  gesetzt  worden.  Allein  diese  Verabsolutierung  durch 
die  Religion  hat  eine  ungleich  geschlossenere,  in  sich  ein- 
heitlichere, gleichsam  absolutere  Form  als  die  durch  die 
Metaphysik.  Denn  dort  wird  der  ganze  Lebensgehalt  fast 
restlos  und  bedingungslos  aus  dem  empirischen  Zusammen- 
hang herausgelöst  und  in  eine  Wertsphäre  gehoben,  in 
der  jegliches  Moment  mit  nahezu  radikaler  Härte  seine 
Ueberlegenheit  über  alle  zeitliche  und  geschichtliche  Gel- 
tung betont  und  das  Zeitliche  und  bloß  Geschichtliche 
dem  Ewigen  unbedingt  untergeordnet  wird. 

Zwar  treten  auch  in  der  religiösen  Wertsphäre  Anti- 
nomien und  Paradoxien  auf.i)  Aber  die  Anknüpfung  der 
einzelnen,  irdischen  Werte  an  den  ewigen  religiösen  Wert 
soll  wenigstens  ihrem  Sinn  und  Ziel  nach  in  der  strengsten 
Form  erfolgen,  sodaß  jene  ihre  ursprüngliche  Autonomie 
so  viel  wie  möglich  einbüßen.  Alle  Bedingtheiten  sollen, 
der  Absicht  und  dem  Gehalt  der  Sache  nach,  ins  Unbe- 
dingte erhoben,  durch  und  in  das  Unbedingte,  im  Hegel- 
schen  Sinne,  aufgehoben  werden.  Ich  darf  hier  ein  tref- 
fendes Wort  von  Rudolf  Eucken  anführen.  „So  erst 
entstand  Religion  im  charakteristischen  Sinne",  heißt  es 
einmal  bei  ihm,  „mit  der  vollen  Weltüberlegenheit  und 
der  dadurch  erschlossenen  reinen  Innerlichkeit,  mit  der 
Belebung  eines  Absoluten  im  Menschen  gegenüber  aller 
sonstigen  Bedingtheit  seines  Daseins."')  Und  man  be- 
achte, wie  außerordentlich  stark  z.  B.  die  in  aller  Religion 
vorhandenen  intellektualistischen  und  theoretisch-wissen- 
schaftlichen Bestandteile  von  dem  Gesamtsinn  und  Gesamt- 
ziel der  Religion  überschattet  und  beherrscht  werden. 
Wenn  ein  religiöses  System  irgend  eine  Erkenntnis,  irgend 
eine    wissenschaftliche    Einsicht   und    Bestimmung   in    sich 


1)  Vgl.   Jonas  Cohn,   Der  Sinn  der  gegenwärtigen   Kultur, 
Leipzig    1914,   S.  249  ff.,    257  ff.    u.   ö. 

2)  Rudolf    Eucken,    Der    Sinn    und    Wert    des     Lebens, 
1908,   S.   140. 


40  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

aufnimmt,  oder  wenn  es  überhaupt  mit  Erkenntnis,  Wissen- 
schaft, Philosophie  sich  durchsetzt  und  durchtränkt,  wenn 
sich  also  das  entwickelt,  was  als  , philosophische  Religion* 
bezeichnet  zu  werden  pflegt i),  so  verliert  doch  im  Gefüge 
der  Religion  die  einbezogene  Erkenntnis  oder  Philosophie 
beinahe  jegliche  Eigengeltung  und  Selbstbestimmung.  EHe 
Idee  der  Religion  und  der  religiöse  Geist  binden  die  von 
ihnen  aufgenommenen  und  in  ihnen  gesetzten  Momente, 
mögen  dieselben  noch  so  stark  voneinander  abweichen, 
so  fest  und  dauernd  zusammen,  daß  sie  ihrer  Selbständig- 
keit  fast   bis   auf   die    letzte    Spur   verlustig   gehen. 

Die  Metaphysik  dagegen  bricht  die  Brücken  zur  ge- 
schichtlichen Welt  bei  weitem  nicht  in  demselben  Umfange 
ab.  Selbst  wenn  man  ihre  abstraktesten  Ausprägungen 
ins  Auge  faßt,  bleibt  jene  Beziehung,  jene  Erdennähe  und 
Erdenschwere,  in  doppelter  Hinsicht  gewahrt.  Erstens 
gehört  es  zu  ihrem  Begriff  und  zu  ihrer  Aufgabe,  das 
Reich  der  Natur  und  das  der  Kultur,  sei  es  in  ihrer  Ge- 
samtheit, sei  es  in  besonderen  Richtungen,  zu  deuten, 
d.  h.  deren  Sinn  und  Vernunft  spekulativ  zu  erfassen.  So 
bezieht  sie  sich  schon  in  dieser  Hinsicht  auf  einen  em- 
pirisch-positiven Zusammenhang  als  ihre  unaufgebbare 
materiale  Grundlage.  Dazu  kommt,  daß  sie  für  jenen 
Zweck  irgendwie  der  positiven  Wissenschaften  sich  bedient 
und  auf  diese,  gleichfalls  als  ihre  materiale  Voraussetzung, 
sich  stützt.  Dieser  Tatbestand  kommt  zu  klarem  Ausdruck, 
wenn  die  Aufgabe  der  Metaphysik,  wie  es  oft  geschieht, 
dahin  bestimmt  wird,  daß  dieselbe  in  der  systematischen 
Vereinigung  und  Vollendung  aller  Erkenntnis  bestehe. 
Denn  zur  systematischen  Vereinigung  gebracht  werden  soll 
ja  eben  die  Masse  der  empirischen,  positiven  Wissen- 
schaft, also  nicht  allein   die   Form,  sondern  auch  der  Ge- 


1)    Vgl.    Konstantin    Oesterreich,    Die    religiöse    Er- 
fahrung  als   philosophisches    Problem.     Berlin    1915,   S.   41,   50,    52. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  41 

halt    derselben,    also    das,    was    an    sachlichen    Erkenntnis- 
werten  in   ihnen  beschlossen   ist. 

Und  doch  entspricht  es  andererseits  ebenso  notwendig 
ihrem  Sinn,  das  Gesetz  des  Empirischen  umzuformen  und 
es  durch  den  absolutistischen  Einheitsgedanken  zu  ersetzen, 
gleichsam  die  Welt  des  Empirischen  aus  den  Angeln  zu 
heben,  allen  ihren  doch  endlichen  Werten  ein  anderes  Vor- 
zeichen zu  erteilen,  sie  in  den  Zusammenhang  des  Un- 
endlichen und  Absoluten  einzustellen.  Aber  alles  das 
wiederum  mit  einem  charakteristischen  Vorbehalt.  Ich 
meine  das  nicht  historisch  oder  psychologisch.  Sondern 
rein  logisch  und  grundsätzlich  gesehen,  ist  in  dem  Begriffs- 
wert des  Metaphysisch-Absoluten  seinem  vollen  Sachver- 
halte nach  implizite  die  Beziehung  auf  die  Endlichkeit 
mitenthalten  und  mitgedacht.  Dadurch  aber  tritt  in  die 
logische  Struktur  jenes  Begriffes  ein  Zwiespalt  hinein, 
der  letztlich  aus  der  Zwiespältigkeit  seines  Sachverhaltes, 
aus  der  Unvereinbarkeit  der  Elemente  desselben  erwächst. 

Die    Einordnung    der    Metaphysik    in    das    Ganze    der  2.  Die  Meta- 
geschichtlichen   Welt,    die    eine     neue    Paradoxie     hervor-  gj^el^elnen 
treten  ließ,  legt  nun  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  nahe, Kulturgebiete, 
in  dem  die  Metaphysik  nicht  nur  zu  jenem  Ganzen,  son- 
dern zugleich  zu  den  einzelnen  Gebieten  der  Kultur  steht. 
Ist   sie   in   dieser   Hinsicht  eine   so   bestimmte,   klar  abge- 
grenzte   Ausprägung    des    geschichtlichen    Lebens    wie    es 
beispielsweise  die  Wissenschaft  oder  das  Recht  oder  die 
Sprache  usw.  sind?    Läßt  sich  für  sie  im  allgemeinen  Zu- 
sammenhang der  Kultur  eine  bestimmte,  einzelne  Stellung 
ausfindig  machen,  die  sich  aus  dem  Ganzen  eindeutig  her- 
ausheben und  von  seinen  Teilen  eindeutig  absondern  und 
unterscheiden  läßt? 

Das  ist  mit  nichten  der  Fall.  Im  Gegensatz  zu  den 
anderen  großen  Formen  der  geistigen  Kultur  stellt  die 
Metaphysik  nicht  eine  in  sich  geschlossene  Provinz  dar. 
Sie  ist  von.  ihnen  nicht  mit  derselben  Strenge  und  Ein- 
deutigkeit abgrenzbar  wie  etwa  die  Wissenschaft  abgrenz- 


42  Der  Geltungswert  der   Metaphysik. 

bar  ist  gegenüber  der  Sitte  oder  gegenüber  den  Formen 
des  wirtschaftlichen  Lebens.  Sondern  es  ist  interessant 
und  merkwürdig  zu  beobachten,  daß  sie  nicht  nur  ,zu 
diesem  oder  jenem,  sondern  zu  allen  Gebieten  und  Rich- 
tungen der  Kultur  in  Austausch  und  Verkehr  steht,  indem 
diese  alle  irgendwie  von  der  Idee  des  Absoluten  durch- 
rankt und  umschlossen  werden.  Jedes  einzelne  Kultur- 
gebiet baut  sich  auf,  abgesehen  von  seinen  empirischen 
Momenten,  auf  einer  bestimmten  Ausformung  dieser  Idee 
als    einer    seiner    grundlegenden    Voraussetzungen. 

In  alle  Zweige  und  Richtungen  der  Kultur  ist  mittels 
jener  Idee  metaphysischer  Geist  hineingewebt,  sodaß  man 
nicht  mehr  sagen  kann :  nur  hier  oder  ausschließlich  dort 
ist  die  Metaphysik,  an  dieser  oder  jener  bestimmten  Stelle 
steht  sie  als  einzelnes  Glied  in  der  geschichtlichen  Ent- 
faltung der  Kultur.  Sie  nimmt  vielmehr  jene  beziehungs- 
reiche Mittelstellung  im  Zusammenhang  der  geistigen 
Welt  ein,  die  man  zu  Unrecht  so  oft  der  Philosophie  zu- 
geschrieben hat.i)  Es  ist  die  wesentliche  Funktion  der 
metaphysischen  Gesinnung,  alles  Besondere  und  Einzelne 
auf  ein  Absolutes  zu  beziehen  und  im  Absoluten  zu  ver- 
ankern. Diese  metaphysische  Gesinnung  macht  sich  natür- 
lich und  notwendig  in  irgend  einer  Form  in  jedem  Zweige 
der  Kultur  und  der  Kulturarbeit  geltend.  Und  durch  diese 
ihre  gemeinsame  Beziehung  auf  einen  als  absolut  gedachten 
Wert  treten  die  einzelnen  Gebiete  in  eine  innere  Ver- 
bindung untereinander,  sie,  von  denen  doch  ein  jedes 
seine  besondere  Grundlegung  verlangt  und  auch  aufweist. 
Aber  in  jener  übergreifenden  Verankerung  in  dem  Ab- 
soluten dürfte  der  Grund  für  die  merkwürdige  Tatsache 
zu  sehen  sein,  daß  ein  jedes  der  einzelnen  Gebiete  eine 
eigentümliche  Mißachtung  gegen  die  logische  Autonomie 
und  Eigengesetzlichkeit  des  anderen  zeigt,  daß  es  in  seine 


^)     Schopenhauer,      Neue     Paralipomena,     herausg.     von 
Griesebach,  Reclam,   Leipzig,   IV  §   28  ff. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  43 

Sphäre  überzugreifen  strebt.  Ueber  alle  einzelnen  Kultur- 
gestaltungen spannt  sich  gleich  einem  sie  alle  verbinden- 
den Bogen  der  Gedanke  des  Absoluten  ;  in  ihm  erhoffen 
und  erstreben  sie  alle  ihren  gemeinsamen  Halt  und  ihren 
Zusammenschluß  zu  einer  höheren,  ihnen  allen  über- 
geordneten   Einheit. 

So  bedingt  auch  hier  das  metaphysische  Element  aufs 
neue  eine  seltsame  Problematik  und  ein  eigenartiges 
Spannungsverhältnis.  Auf  der  einen  Seite  gehört  es  zu 
den  Grundbedingungen  für  die  logische  und  methodische 
Sicherung  des  einzelnen  Kulturgebietes,  seine  Autonomie 
zu  wahren,  seine  Eigengesetzlichkeit  kraftvoll  zu  ent- 
falten, sich  seine  Grenzen  genau  abzustecken  und  gegen 
Einbruch  von  außen  her  zu  schützen.  Oder  aber  es  könnte 
weder  dazu  kommen,  seinen  Begriff  und  Sinn  in  ein- 
deutiger Form  festzulegen,  noch  könnte  es  sich  in  ein- 
deutiger, ungemischter  Form  ausbauen  und  entwickeln. 
Auf  der  anderen  Seite  tritt  jedoch  immerfort  eine  wechsel- 
seitige Verletzung  der  Autonomie  und  der  Grenzabsteckung 
hervor :  in  das  System  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
werden  z.  B.  Wertgedanken  sittlicher  oder  künstlerischer 
Art  und  Herkunft  hineingetragen ;  das  System  der  Sitte 
oder  das  des  Rechtes  wird  z.  B.  mit  religiösen  Ideen  ver- 
quickt oder  unterbaut.  Das  eine  sucht  den  Uebergang  zu 
anderen,  die  logische  Bestimmtheit  seiner  Stellung  jm 
System  der  Vernunft  verblaßt  und  lockert  sich  ;  sie  alle 
streben  hin  zu  einer  Einheit,  in  der  sie  ihre  Vollendung 
zu  finden  glauben  und  ihre  Absolutheit  zu  erreichen 
hoffen.  Und  dieser  grenzverletzende  Zusammentritt  wäre 
nicht  möglich  ohne  den  absolutistischen  Einschlag  in  dem 
Gewebe  jedes  einzelnen,  ohne  ihre  gemeinsame  Grund- 
legung im  Metaphysischen,  die  neben  der  besonderen, 
gleichsam  konkreten  Grundlegung  des  einzelnen  Gebietes 
aus  den  speziellen  Voraussetzungen,  die  in  seinem  Begriff 
liegen,   hergeht,   und   die   stets   eine  eigentümliche    Beein- 


44  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

trächtigung  der  autonomen  Entfaltung  des  Einzelgebietes 
und  seiner  Unabhängigkeit  hervorruft. 

Diese  in  der  Aufgabe  der  Metaphysik  liegende  Ver- 
bindung und  Zusammenschließung  der  einzelnen  Kultur- 
gebiete zu  der  umfassenden  Einheit  der  Kultur  ist  es 
wohl,  durch  die  der  Ansicht  Vorschub  geleistet  wurde, 
daß  die  Metaphysik  im  wesentlichen  das  Erzeugnis  und 
der  Ausdruck  der  synthetischen  Funktion  des  Bewußtseins 
sei.  Aber  diese  Ansicht  entspricht  doch  nicht  ganz  dem 
Tatbestande.  Denn  neben  dieser  sicherlich  verbindenden 
und  vereinheitlichenden  Leistung  der  Metaphysik  geht 
deutlich  eine  stark  analytische  Funktion  her.  Das  Meta- 
physisch-Absolute ist  nicht  bloß  die  Einheit  im  Sinne  der 
Universalität,  sondern  zugleich  im  Sinne  der  Einfachheit, 
der  Indiszernibilität,  ja  der  Einförmigkeit.  Die  von  der 
Metaphysik  erstrebte  Einheit  der  Kultur  würde  also  außer 
der  Verbindung  der  Teile  zu  einem  Ganzen  die  Beseiti- 
gung und  Tilgung  ihres  Reichtums  und  Gehaltes  und  die 
Preisgabe  der  Eigentümlichkeit  eines  jeden  bedeuten. 
Aber  auf  dieser  Eigentümlichkeit  beruht  in  nicht  geringem 
Maße  die  Fruchtbarkeit  jedes  einzelnen  Teiles  und  damit 
der  Glanz  und  die  Bedeutung  des  Ganzen.  Ein  Geschichts- 
philosoph von  der  Tiefe  eines  Fichte  wußte  schon,  wes- 
halb es  nötig  sei,  daß  man  trotz  aller  Forderungen,  daß 
das  Einzelne  dem  Ganzen  sich  hingeben  müsse,  doch 
auch  darauf  achten  müsse,  daß  das  Einzelne  bei  dieser 
Hingabe  nicht  seine  Eigenart  opfere,  sondern  sie  kraft- 
voll bewahre.  Der  metaphysische  Vereinheitlichungs- 
gedanke muß  in  sich  selbst  eine  Schranke  finden,  er  muß 
sich  gleichsam  gegen  seine  logische  Konsequenz  auf- 
lehnen :  es  liegt  auch  in  ihm  ein  Gegensatz,  ein  Wider- 
spruch ;  mit  der  Synthese  ist  die  Analyse  verbunden ;  der 
Zug  zur  Universalität  darf  den  zur  Singularität  nicht  be- 
einträchtigen. 

In  dem  Verhältnis  dieser  beiden  Tendenzen  ruht  eine 
schwere    Problematik,    für    die    die    Metaphysik    der  Ge- 


Der  Geltungswert  der  .Metaphysik.  45 

schichte  zwar  eine  große  Zahl  jedoch  immer  nur  proble- 
matischer Lösungen  beigebracht  hat  und  beibringen  kann. 
Aber  diese  Problematik  ist  im  Grunde  keine  andere  als 
die,  die  wir  bereits  in  dem  Verhältnis  zwischen  dem  Un- 
endlichen und  dem  Endlichen,  zwischen  dem  Ganzen  und 
dem  Teil,  zwischen  Substanz  und  Modus,  zwischen  Allheit 
und  Individuation  antrafen ;  sie  ist  nur  die  Beziehung, 
gleichsam  die  Anwendung  dieser  allgemeinen  Problematik 
auf  ein  bestimmtes  Gebiet,  nämlich  das  der  geschicht- 
lichen Welt. 


C.  c)  Die  Meta- 

physik   und 
die     theore- 
Die  komplizierte,  an  Problemen  überreiche  Verfassung,  tische  Kultur. 

die  das  Verhältnis  zwischen  der  Metaphysik  auf  der  einen  g^j^^^^^'^j^". 
und  der  geschichtlichen  Kultur  und  ihren  Gliedern  auf  senschaft. 
der  anderen  Seite  in  sich  trägt,  erreicht  ihren  Höhe- 
punkt in  der  Beziehung  zwischen  Metaphysik  und  Wissen- 
schaft im  besonderen.  Hierbei  ist  nicht  eigentlich  an  das 
uralte,  an  unlösbaren  Schwierigkeiten  überreiche  Be- 
streben der  Metaphysik,  Wissenschaft  zu  sein  oder  zu 
werden  und  eine  irgendwie  geartete  Erkenntnis  des  Ab- 
soluten zu  bieten,  gedacht.  Was  über  diesen  Punkt  ^u 
sagen  ist,  das  ist  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ge- 
schehen. Aber  neben  oder  außer  dieser  unmittelbar  er- 
kenntnismäßigen Absicht,  deren  Schicksal  hier  auf  sich 
beruhen  mag,  erwächst  der  Metaphysik  aus  ihrer  eigen- 
tümlichen Gesamtgeltung  und  Struktur  dennoch  die  Not- 
wendigkeit, ihre  Beziehung  zur  Wissenschaft  zu  wahren 
und  aufrechtzuerhalten.  Und  gerade  darin  vollendet  sich 
die  Paradoxie  und  Gegensätzlichkeit,  die  ihrer  Idee  und 
ihrem  System  eigen  ist,  und  der  wir  bereits  in  so  mannig- 
fachen   Spiegelungen   und   Ausgestaltungen   begegneten. 

Wir  fanden,  daß  die  Metaphysik  in  sich  eine  ungleich 
größere   Fülle  und  Verschiedenartigkeit  an   Momenten   als 


46  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

alle  anderen  Gebiete  der  Kultur  umfaßt  und  ein  viel  be- 
ziehungsreicheres Gewebe  als  sie  alle  besitzt.  Kein  an- 
deres Wertgebiet  läßt  sich  an  innerer  und  äußerer  Kom- 
plikation mit  ihr  vergleichen.  Einzigartig  ist  sie  ebenso 
in  bezug  auf  die  Totalität  ihres  Sinnes  wie  ihres  Geltungs- 
bereiches. Aber  dieser  Reichtum  ihres  Innenbaues  ,und 
diese  Weite  ihrer  Bedeutung  zeitigen  notwendig  die  Ge- 
fahr, daß  ihr  ganzer  Zusammenhang  zerbröckelt,  ihre  Kon- 
turen sich  verwischen,  daß  sie,  indem  sie  überall  zu  sein 
und   zu  wirken   sucht,   nirgends  bestimmt  zu  fassen   ist. 

Und  dennoch  spricht  man  von  ihr  unter  bestimmten 
Gesichtspunkten  ;  man  bezeichnet  ihr  Wesen  mit  bestimm- 
ten begrifflichen  Determinationen.  Wie  immer  man  über 
die  Metaphysik  denken  mag,  so  denkt  man  sie  doch; 
d.  h.  man  sucht  sie  begrifflich  zu  bestimmen  und  ab- 
zugrenzen. Ist  der  Zug  zur  Totalität  eine  Lebensfrage 
für  sie,  so  ist  das  nicht  minder  der  Fall  mit  der  For- 
derung ihrer  begrifflichen  Festlegung.  Der  eine  ist  für 
sie  so  notwendig  wie  der  andere.  Gegen  die  Unend- 
lichkeit ihres  Begriffes,  ihres  Sinnes,  ihrer  Geltung  erhebt 
sich  die  Notwendigkeit,  diesen  Begriff  abzugrenzen,  ihn 
zu  unterscheiden.  Indem  man  vom  Absoluten  spricht,  ver- 
endlicht man  seinen  Begriff,  determiniert  man  seine  Gel- 
tung. Die  Absolutheit  des  Gehaltes,  der  im  Begriff  der 
Metaphysik  liegt,  findet  in  der  Notwendigkeit  ihrer  be- 
grifflichen, theoretischen,  intellektuellen  Formung  ihren 
schärfsten  Gegensatz. 

Und  in  dieser  Notwendigkeit  ruht  das  objektive  Prin- 
zip für  die  Aufrechterhaltung  des  Verhältnisses  zwischen 
der  Metaphysik  einerseits  und  jener  Welt  intellektueller 
Bestimmtheiten  andererseits,  die  man  Wissenschaft  nennt. 
Gerade  je  reicher  und  wechselnder  der  Bestand  an  Ele- 
menten in  der  Struktur  der  Metaphysik  ist,  je  zahlreicher 
und  bewegter  die  in  ihr  kreisenden  Tendenzen  und 
Lebensströme  sind,  umso  unvermeidlicher  tritt  das  Gesetz 
ihrer    Stilisierung   und    die    Notwendigkeit,    sie    begrifflich 


Der  Geltungsvvert  der  Metaphysik.  47 

zu  vereinigen  und  zusammenzufassen,  hervor.  Keine  Kunst- 
form, und  sei  sie  noch  so  streng  und  gebunden,  läßt 
sich  an  Unbedingtheit  und  Strenge  mit  derjenigen  Stili- 
sierung vergleichen,  die  in  den  logischen  Determinationen 
und  Synthesen  metaphysischer  Inhalte  erfolgt.  Nirgends 
ist  das  Spannungsverhältnis  zwischen  Form  und  Inhalt  so 
stark,  nirgends  ist  zwischen  diesen  Faktoren  eine  so  tiefe 
Antinomie  vorhanden  wie  hier. 

Spinozas  oder  Hegels  System  bieten  geschicht- 
liche Belege  für  dieses  einzigartige  Spannungs-  ja:  Miß- 
verhältnis. Die  Eindeutigkeit,  die  Geschlossenheit,  die 
Rationalität  des  formalen  Gefüges,  wie  es  durch  das  de- 
duktive bezw.  durch  das  dialektische  und  konstruktive 
Verfahren  her-  und  dargestellt  wird,  sie  stehen  der  Fülle 
und  Weite  des  in  ihnen  zusammengepreßten  Inhaltes  ebenso 
fremd  gegenüber,  wie  sie  doch  diesem  Inhalt  notwendig 
sind  gerade  um  seiner  Fülle  willen,  die  sonst  unfaßbar 
wäre  und  die  sich  sonst  zerstreuen  und  verlieren  würde. 
Ohne  tausendfältige  Anleihen  bei  den  besonderen  Formen 
der  wissenschaftlichen  Arbeit  und  der  Logik  zu  machen, 
ohne  die  unaufhörliche  Heranziehung  konkreter  begriff- 
licher Bestimmungen  kann  die  Metaphysik  nicht  einmal 
zur  Bestimmung  ihres  Begriffes  gelangen,  kann  sie  auch 
keinen  einzigen  derjenigen  Begriffe,  mit  denen  sie  ar- 
beitet, fassen  und  finden.  Wenn  sie  vom  Absoluten,  vom 
Unendlichen  spricht,  so  meint  sie  in  der  Tat  das  Ab- 
solute, das  Unendliche  in  all  seiner  Weite  und  Tiefe. 
Und  doch  muß  sie  dafür  eine  bestimmte  begriffliche  Fas- 
sung wählen,  sie  muß  eine  Formung,  eine  Stilisierung 
vornehmen  und  zwar  mit  Hilfe  derjenigen  Mittel,  die  ihr 
die  Wissenschaft  darbietet. 

Aber  indem  sie  der  Wissenschaft  solche  Begriffe  ent- 
nimmt und  dieselben  ihrem  Sinn  und  ihrer  Absicht  gemäß 
verwendet,  vollzieht  sie  an  ihnen  eine  fundamentale  Ver- 
änderung. Sie  muß  notwendig  die  Geltung  und  den  Sinn 
derselben    so    sehr    erweitern    und    ausdehnen,    daß    wohl 


48  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

das  äußere  Begriffsschema,  gleichsam  die  Begriffsschale 
und  Begriffsform,  noch  vorhanden  bleibt,  während  sein 
Inhalt  ein  ganz  anderer  geworden  ist.  Denn  der  Inhalt 
der  metaphysischen  Begriffe  widerspricht  jeder  konkreten 
Begriffsbestimmtheit  so  stark,  daß  er  dieselbe  nahezu 
verwischt.  Und  doch  muß  er  immer  wieder  zur  Logi- 
zität  der  Form  und  Formulierung  zurückkehren.  Die 
Strenge  des  von  den  metaphysischen  Systematikern  ver- 
wendeten Verfahrens  täuscht  zu  leicht  über  die  Vielge- 
staltigkeit der  von  ihm  zusammengezwungenen  Bestand- 
teile und  Kulturgebiete  hinweg.  Was  verbirgt  sich  nicht 
alles  in  und  hinter  dem  scheinbar  so  einfachen,  weil 
scheinbar  eindeutig  bestimmten  Begriff  der  Ur-Substanz 
oder  dem  des  absoluten  Geistes,  um  nur  diese  beiden 
Beispiele  hier  anzuführen  !  Was  alles  ist  in  oder  hinter 
diesen  Begriffen  verborgen !  Wie  ließe  sich  dieses  alles 
zur  Einheit  dieser  Begriffe  verweben,  wenn  man  der 
Eigenart  und  Autonomie  jedes  Bestandteils  und  Kultur- 
gebietes nicht  Gewalt  antun  wollte ! 

Mit  dem  Verlust  ihrer  Eigenart  und  Autonomie  ist 
nun  aber  nicht  nur  die  Fülle  des  Lebens,  die  die  Meta- 
physik doch  berücksichtigen  und  gedanklich  anerkennen 
will,  durch  ein  leeres,  abstraktes  Schema  ersetzt,  sondern 
es  läßt  sich  alsdann  auch  keine  Antwort  auf  die  Frage 
geben,  ob  denn  die  Fülle  der  Individuationen  keinen 
Teil  am  Absoluten  habe,  ob  sie  gar  etwa  aus  ihm,  dem 
Absoluten,  herausfalle.  Spinoza  wußte  schon,  weshalb 
er  die  Modi  nur  insofern  der  Substanz  inhärieren  ließ, 
als  sie,  sub  specie  aeternitatis  betrachtet,  in  ihrer  End- 
lichkeit doch  das  unendliche  Wesen  der  Substanz,  sei  es 
als  Denken,  sei  es  als  Ausdehnung,  zum  Ausdruck  bringen. 
Doch  damit  bedeuten  im  Grunde  die  Modi  nichts  Anderes 
als  Selbstdifferenzierungen  der  Substanz,  gleichsam  Ver- 
kleinerungen und  Zusammenziehungen  der  unendlichen 
Substanz,  und  die  Ableitung  der  Modi  aus  der  Substanz  er- 
scheint darum  geglückt,  weil  sie  nur  eine  verkappte  Tau- 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  49 

tologie  ist.  Bedeutet  aber  die  Substanz  das  Ali  der  Rea- 
lität, dann  muß  in  diesem  All  auch  die  Fülle  der  singulären 
Gestalten  ihren  Platz  haben,  d.  h.  der  Begriff  der  Sub- 
stanz ist  im  Grunde  gar  nicht  identisch  mit  dem  des 
Alls  der  Realität,  sondern  er  ist  nur  die  Form,  er  ist 
nur  der  logische  Gesichtspunkt,  unter  dem  das  All  und 
seine   Fülle  begrifflich  gefaßt  und  erfaßt  ist. 

Daß  er  aber  nur  das  sei,  wird  weder  Spinoza 
noch  irgend  ein  anderer  Metaphysiker  zugeben  können, 
da  die  Identität  von  Begriff  und  absolutem  Sein,  da  die 
reale  Geltung  der  Begriffe  im  ontologischen  Sinne  das 
Grunddogma  der  Metaphysik  ist.  So  klaffen  hier  Anti- 
nomien, Paradoxien,  Unlösbarkeiten  ohne  Zahl  auf.  Um 
ein  starkes  Wort  zu  brauchen :  Es  ist  die  Komödie  der 
ewigen  und  notwendigen  Irrungen,  die  die  Metaphysik 
darstellt  und  aufführt.  Sie  ist  der  theoretische  Nieder- 
schlag dieser  Komödie,  der,  weil  sie  eine  echte  Komödie 
ist,  zugleich  die  Tragik  im  Blute  liegt.  Wissen  wir  doch 
seit  Plato,  daß  die  wahre  Tragödie  auch  die  wahre 
Komödie   ist  und   umgekehrt. 

Am  deutlichsten  tritt  die  hier  ins  Auge  gefaßte  Um-  ^^^  InheiT 
Wandlung  an  der  Veränderung  hervor,  die  mit  dem  Be- 
griff des  Systems  bei  seiner  Uebernahme  in  die  Meta- 
physik vorgenommen  wird.  Es  ist  bereits  mehrfach  da- 
von gesprochen  worden,  daß  die  Hauptaufgabe  der  Meta- 
physik in  theoretischer  Hinsicht  in  dem  Nachweis  einer 
über  alle  Einzelheiten  erhabenen  Einheit  der  Wirklich- 
keit besteht,  und  daß  diese  Einheit  nichts  Anderes  als 
das  Absolute  bedeuten  soll.  Gedanklich  gewonnen  wird 
diese  Einheit  von  dem  Begriff  des  Systems  aus ;  sie  ist 
seine  metaphysische  Metamorphose.  Nur  wird  bei  dieser 
Umprägung  sein  ursprünglicher  theoretischer  Sinn  fast 
völlig  umgekehrt,  ja  in  gewissem  Betracht  aufgehoben. 
Ich  habe  an  anderer  Stelle  nachzuweisen  versucht,  daß 
der  Begriff  des  Systems  seiner  ursprünglichen  theoreti- 
schen  Bedeutung  nach  die  einheitliche,  grundlegende  Idee 

4 


50  Der  Qeltungswert  der  Metaphysik. 

der  Erkenntnis  und  den  ideellen  Bezugspunkt  jeder  ein- 
zelnen Erkenntnis  darstellt,  daß  er  in  dieser  Beziehung 
die  entscheidende  methodische  Funktion  für  den  Aufbau 
der  Erkenntnis  besitzt,  und  daß  keine  Auffassung  strenger 
fernzuhalten  ist  als  die,  die  in  ihm  ein  „Wesen"  oder 
irgend   etwas   Substanzielles   erblickt.^) 

Aber  diese  Ontologisierung  vollzieht  mit  ihm  die 
Metaphysik.  Auf  die  aus  dieser  wie  aus  jeder  Ontologi- 
sierung sich  ergebenden  Antinomien  sei  nicht  weiter  ein- 
gegangen. Dagegen  sollen  zwei  andere  Momente  heraus- 
gehoben werden,  die  deutlich  erkennen  lassen,  daß  die 
Herübernahme  des  Systembegriffs  in  die  metaphysische 
Sphäre  und  die  Entwicklung  des  absolutistischen  Einheits- 
gedankens aus  diesem  Begriff  eine  /uecdf^aotg  ng  aXko  yevog 
in  doppelter  Hinsicht  darstellen. 

Die  methodische  Bedeutung  und  Leistung  des  System- 
begriffs ruht  darin,  daß  er  einen  eindeutigen,  in  sich 
klar  gegliederten  Reihenzusammenhang  von  ausgesprochen 
erkenntnismäßigem  Geltungswert  herstellt  und  begründet. 
Zu  diesem  Zwecke  werden  für  die  Gewinnung  und  Bil- 
dung des  betreffenden  Zusammenhanges  von  seinen  Ele- 
menten mit  einer  unverkennbaren,  allerdings  unvermeid- 
lichen rationalistischen  Härte  und  Gewaltsamkeit  alle  über 
seinen  unmittelbaren  Erkenntnissinn  hinausreichenden  und 
hinausweisenden  Merkmale  und  Kennzeichen  ferngehalten 
und  ausgeschieden.  Dadurch  erhält  dieser  Zusammenhang 
eine  ganz  außerordentliche  theoretische  Geschlossenheit, 
er  erhält  eben  das,  was  als  Systematik  und  systematische 
Einheitlichkeit  bezeichnet  wird  und  als  solche  gilt.  Und 
dieser  unvergleichliche  theoretische  Gewinn  rechtfertigt 
die  starke  Einseitigkeit,  die  ,bloß'  theoretisch  -  logische 
Geltung  des  ganzen  Gefüges.  Für  die  der  Erkenntnis 
obliegenden  Arbeit  bleibt  hier  nichts  mehr  zu  tun  übrig; 


1)    Näheres   bei   Arthur    Liebert,    Das    Problem    der   Gel- 
tung,    1914,    S.  108  ff.,     122  ff.,     135  ff. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  51 


ihre  Aufgabe  ist  damit  gelöst,  sofern  die  Erkenntnis  ihrem 
Begriff  treu  bleibt  und  ihren  Sinn  nicht  einer  verfälsch- 
ten Umwertung  unterwirft.  Einseitig  zu  sein,  entspricht 
dem  Wesen  der  Wissenschaft,  weil  nur  dadurch  ihre  Ein- 
heit möglich  ist.  Und  „Erkenntnis"  bedeutet  nichts  An- 
deres, ihr  Begriff  enthält  nichts  Anderes  als  diese  einzige 
Einheit,  die  eben  die  Einheit  des  Systems  ist.  Ihr  ord- 
nen sich  alle  die  mannigfachen  Inhalte,  die  verschiedenen 
Einzelwissenschaften,  bedingungslos  ein  und  unter.  Für 
die  Konstruktion  dieser  Einheit  ist  nur  dieser  eine  Gesichts- 
punkt, der  der  Einheit  selber,  maßgebend.  Jene  inhalt- 
lichen Verschiedenheiten  spielen  hierbei  überhaupt  keine 
Rolle. 

Nun  entwickelt  natürlich  auch  die  Metaphysik  mit 
Hilfe  des  Systemgedankens  bestimmte  Zusammenhänge 
und  umfassende  Vereinheitlichungen.  Qilt  sie  doch  bei 
Vielen  überhaupt  als  die  Einheit  und  als  Inbegriff  aller 
Erkenntnisse  und  aller  Erkenntniszusammenhänge.  Aber 
diese  Einheit  trägt  in  sich  stets  und  unweigerlich  das 
Moment  der  Vielheit,  durch  das  jene  Einheit  nicht  nur 
gefährdet,  sondern  tatsächlich  aufgelöst  und  zerspalten 
wird.  Die  metaphysische  Richtung  der  Geschichtsphilo- 
sophie versucht  eine  Einheit  des  geschichtlichen  Lebens 
zu  konstruieren.  Das  ist  ihr  allgemeiner  Gesichtspunkt. 
Sowie  sie  aber  mittels  seiner  die  Konstruktion  jener  Ein- 
heit vornimmt,  vertauscht  sie  jenen  allgemeinen  Gesichts- 
punkt gegen  eine  ganze  Anzahl  besonderer.  So  ent- 
wickelt sie  z.  B.  die  Einheit  der  geschichtlichen  Welt 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Humanität  oder  dem  der 
Moralität,  der  Freiheit  oder  dem  einer  religiösen  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechts,  und  welches  der  Spiel- 
arten jenes  allgemeinen  Gesichtspunktes  mehr  sein  mögen. 
Keine  dieser  einzelnen  Ausprägungen  genügt  für  die  Er- 
füllung der  metaphysischen  Aufgabe,  die  schlechthin  alle 
Seiten  des  geschichtlichen  Lebens  zu  berücksichtigen  for- 
dert.    Wann  aber  und  wie  kann  dieser  notwendigen  und 

4» 


52  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

berechtigten  Forderung  Genüge  getan  sein?  Doch  nur 
dann,  wenn  der  metaphysische  Weltgeist  selber  eine  Meta- 
physik uns  brächte.  Das  Denken  erfaßt  die  Idee  der  meta- 
physischen Einheit ;  die  konkrete  Ausführung  dieser  Idee 
aber  bleibt  aufgespalten  in  eine  Vielheit  besonderer  Ge- 
sichtspunkte. 

Wollte  man  glauben,  in  der  Idee  der  Kultur  ^ätte 
das  Denken  den  für  jene  Ausführung  zureichenden  Be- 
griff geschaffen,  und  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Kultur 
sei  eine  umfassende  Metaphysik  möglich,  so  bleibt  not- 
wendig die  Aufgabe,  die  einzelnen  Inhalte  des  Kultur- 
begriffs :  Religion,  Kunst,  Sitte,  Recht,  Wissenschaft  usw., 
überhaupt  erst  einmal  zur  Einheit  eines  Begriffes  zu- 
sammenzufassen, sie  systematisch  miteinander  zu  ver- 
binden. Erst  dann  würde  jener  Begriff  der  Kultur  auch 
wirklich  die  Geltung  und  den  Wert  eines  einheitlichen 
Konstruktionsgesichtspunktes  aufweisen.  Die  Aufgabe  ist 
notwendig ;  ihre  Lösung  wird  immer  den  Charakter  der 
Problematik  tragen  und  bewahren.  Denn  die  ungeheure 
Besonderheit  der  soeben  angeführten  Inhalte  hindert  die 
bruch-  und  sprunglose  systematische  Verbindung  zwischen 
ihnen  ;  oder  aber  diese  Ueberbrückung  ist  erreichbar,  in- 
dem jene  Besonderheiten  aufgeopfert  werden,  d.  h.  indem 
der  Inhalt  der  Kultur  gegen  ein  Schema  und  eine  Symbol- 
form eingetauscht  wird.  Die  Verbindung  zwischen  der 
Religionswissenschaft  und  der  Kunstwissenschaft  z.  B.  ist 
durch  den  ihnen  beiden  gemeinsamen  Gesichtspunkt  der 
Wissenschaft  möglich  und  auch  schon  nur  insoweit  mög- 
lich. Versucht  man  aber  Religion  und  Kunst  dadurch  mit- 
einander zu  verbinden,  daß  man  sie  beide  als  Kultur- 
werte auffaßt,  so  ist  damit  doch  eine  mehr  als  lockere 
Beziehung  zwischen  ihnen  aufgestellt ;  es  bleibt  undurch- 
sichtig und  widerspruchsvoll,  wie  und  daß  die  Autonomie 
des  einen  Gebietes  mit  der  des  anderen  in  Einklang  und 
Versöhnung  gesetzt  werden  kann  und  soll.  Außerdem 
ist  die  Möglichkeit,  die   Form  einer  Verbindung  verschie- 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  53 


dener  Kulturgebiete  notwendigerweise  abhängig  von  dem 
jeweiligen  allgemeinen  metaphysischen  Gesichtspunkt;  sie 
wechselt  mit  ihm,  und  der  Fall,  daß  sich  von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  gewisse  Kulturgebiete  gegenseitig  ver- 
neinen oder  einer  Verbindung  unter  sich  widerstreiten, 
ist  nicht  nur  aus  der  Geschichte  der  Metaphysik  mit 
manchen  Beispielen  zu  belegen,  sondern  er  ist  auch  lo- 
gisch ohne  weiteres  denkbar. 

So  zeigt  der  metaphysische  Einheitsgedanke  sowohl 
nach  Seiten  der  Form  wie  nach  Seiten  des  Inhaltes  eine 
von  dem  theoretischen  Systemgedanken,  der  doch  für 
jenen  die  logische  Wurzel  bildet,  ganz  abweichende  Ver- 
fassung. In  ihm  macht  sich  wieder  eine  Problematik 
geltend,  in  ihm  herrscht  eine  Unausgleichbarkeit  und 
Komplikation  der  Inhalte,  wie  sie  dem  eigentlich  simpel 
zu  nennenden  Systemgedanken  der  theoretischen  Vernunft 
fremd  ist. 

Der  tiefere  Grund  für  diese  Diskrepanz  in  dem  meta- 
physischen Einheitsgedanken  ruht  nun  wohl  sicherlich 
darin,  daß  er  nicht  ausschließlich  ein  Erzeugnis  der  theo- 
retischen, am  Gesichtspunkt  reiner  Erkenntnis  sich  ent- 
wickelnden Vernunft  bildet,  so  gewiß  wie  überhaupt  keine 
Metaphysik  lediglich  reine,  in  der  theoretischen  Geltungs- 
reihe beharrende  Welterkenntnis  ist.  Sondern  wie  diese 
über  den  Kreis  der  bloßen,  absichtslosen  Reflexion  und 
des  rein  erkenntnismäßigen  Verhaltens  hinausführt  zu 
einer  bestimmt  ausgeprägten  Stellungnahme  der  Welt 
gegenüber,  wie  in  der  Metaphysik  geradezu  eine  innere 
Verpflichtung  zu  einer  solchen  Stellungnahme  liegt,  so 
umfaßt  auch  jener  Einheitsgedanke  eine  Fülle  von  Wert- 
bestimmungen und  Wertsetzungen  ;  er  ist  seinem  Sinne 
nach  ein  Inbegriff  von  Werten  ;  ja,  er  ist  der  ,Wert 
schlechthin,   der  absolute  Wert. 

Das  läßt  sich  leicht  bei  denjenigen  Formen  der  Meta- 
physik erkennen,  in  denen  diese  Einheit  durch  den  Gottes- 
begriff vertreten   wird.     Denn   es   leuchtet  ohne  weiteres 


54  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

ein,  daß  alle  Bestimmungen  dieses  Begriffs,  wie  Allgüte, 
Allweisheit,  Allmacht,  Wertbestimmungen  sind.  Aber  nicht 
minder  ist  das  der  Fall  bei  dem  metaphysischen  Materia- 
lismus und  Naturalismus.  Auch  der  von  ihnen  verwendete 
Begriff  der  Materie  oder  der  der  Natur,  den  man  streng 
von  dem  erkenntnistheoretischen  Begriff  der  Materie  und 
der  Natur  unterscheiden  muß,  ist  ein  ausgesprochener 
Wertbegriff.  Hier  bedeutet  , Materie'  oder  , Natur'  nicht 
nur  das  Sein  als  solches  und  schlechthin,  sondern  zugleich 
das  , wahrhaft'  Seiende  gegenüber  allen  , bloßen'  Er- 
scheinungen, d.  h.  das  Dauernde  und  Ewige  gegenüber 
dem  Vergänglichen.  Es  ist  ganz  treffend,  wenn,  um  den 
Gedanken  einmal  in  das  Subjektive  zu  wenden,  dem 
metaphysischen  Materialisten  vorgehalten  wird,  daß  ihm 
seine  „Materie"  sein  Gott,  sein  Fetisch  ist. 

Und  um  noch  ein  historisches  Beispiel  .anzuführen, 
so  kann  man  darauf  aufmerksam  machen,  daß  im  System 
Spinoza 's  der  „Deus"  nicht  nur  zur  „Substanz"  und 
zur  „Natur"  ausgeglichen,  sondern  daß  auch  umgekehrt 
die  „Substanz"  und  „Natur"  zum  „Deus"  emporgehoben 
wird,  wie  denn  überhaupt  Spinoza's  System  als  Ganzes 
genommen  durchaus  nicht  den  Standpunkt:  ,nec  irridere, 
nee  illudere,  sed  intelligere'  mit  voller  Strenge  aufrecht- 
erhält, sondern  überall  aus  einer  ursprünglichen  Tathand- 
lung stammende  Wertgedanken  und  Wertsetzungen  auf- 
weist. Der  adäquaten  Erkenntnis  Gottes  schreibt  er  ge- 
radezu die  höchste  sittliche  und  religiöse  Bedeutung, 
die  Kraft  zur  Erhebung  des  Menschen  über  das  Endliche 
zum  Ewigen  und  Unendlichen  zu;  weil  sie  das  vermag, 
ordnet  er  sie  der  gewöhnlichen  empirischen  Erkenntnis 
über,  die  in  der  Zone  des  Endlichen  bleibt  und  schon 
darum  einen  geringeren  Wert  für  den  Zweck  des  Lebens 
besitzt.  Ferner  behauptet  er  zwar,  er  wolle  das  Wesen 
und  Wirken  der  Affekte  völlig  voraussetzungs-  und  vor- 
urteilslos bestimmen.  Aber  schon  ihre  Unterscheidung 
in  ,actiones'  und  ,passiones'  ist  nur  dadurch  möglich,  daß 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  55 

er  einen  höchsten  Auswahl-  und  Zweckgesichtspunkt  auf- 
stellt, d.  h.  er  unterscheidet  sie  nach  dem  Wert,  den  sie 
für  die  Erfüllung  der  dem  Menschen  gesetzten  und  auf- 
gegebenen Bestimmung  haben,  für  die  Erreichung  des 
amor  dei  intellectualis.  So  ist  dieses  System,  das  so  streng, 
ja  fast  bitter  gegen  jegliche  Teleologie  zu  Felde  zieht, 
selber  eines  der  klassischen  Dokumente  einer  kühnen  und 
großartigen  teleologischen   Konstruktion. 

Durch  diese  ganze  Umbildung  der  theoretischen 
Systemidee  in  den  metaphysischen  Wert-Einheitsgedanken 
entsteht  nun  folgende  Problematik  und  Paradoxie.  Jene 
Systemidee,  die,  logisch  -  erkenntnistheoretisch  gesehen, 
den  metaphysischen  Wert-Einheitsgedanken  ermöglicht  und 
begründet,  wird  andererseits  doch  von  dieser  Wert-Einheit 
abhängig  gemacht  und  in  sie  eingeordnet.  Denn  diese 
Wert-Einheit  ist  nach  metaphysischer  Anschauung  die 
höchste  Einheit  und  zugleich  der  höchste  Wert;  sie  ist 
in  beiden  Hinsichten  absolut.  Also  müßte  ihr  auch  die 
Idee  des  Systems  unterstehen,  wie  ihr  überhaupt  das 
System  der  Erkenntnis  unterstehen  müßte. 

Damit  ist  gesagt,  daß  die  Metaphysik  —  von  ihrem 
Standpunkt  aus  notwendig  —  die  Autonomie  der  Er- 
kenntnis verneint,  die  Erkenntnis  zu  einem  von  ihrer 
Systematik  abhängigen  Gebilde  machen  will.  Dabei  wird 
ihre  ganze  Systematik  überhaupt  erst  durch  die  Idee  des 
Systems  begründet ;  sie  besitzt  in  dieser  ihre  logische 
Voraussetzung.  Aus  diesem  Dilemma  kommt  keine  Meta- 
physik heraus.  Und  der  oft  ausgesprochene  Einwand  und 
Zweifel,  ob  die  Erkenntnis  denn  auch  wirklich  autonom 
sei,  ob  sie  besonders  auch  der  Metaphysik  gegenüber  eine 
entschiedene  Autonomie  besitze,  ist  nur  dadurch  möglich, 
daß  man  an  diese  große,  schwere  Frage  nicht  von  der 
Seite  der  kritischen  Philosophie  aus,  nicht  unter  rein  er- 
kenntnistheoretischem Gesichtspunkt,  sondern  mit  einem 
vorgefaßten  metaphysischen  Wertgedanken  herantritt,  mit 
einer  Werthypostase,   ma^  man   diese   nennen,   wie   immer 


56  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

man  will.  Hat  man  eine  solche  aber  erst  einmal  aufge- 
stellt, und  ich  behaupte  nicht,  daß  ihre  Aufstellung  ein 
Akt  der  Willkür  und  des  Beliebens  ist,  sondern  nur,  daß 
hierbei  andere  als  rein  erkenntnismäßige  Bedingungen 
und  Beweggründe  mitsprechen,  dann  ist  der  Zweifel  an 
der  Autonomie  der  Erkenntnis  gegeben,  —  zugleich  je- 
doch ist  die  Unmöglichkeit  gegeben,  diesen  Zweifel  ent- 
wickeln, begründen,  rechtfertigen  zu  können,  ohne  wieder 
die  Autonomie  der  Erkenntnis  vorauszusetzen.!)  Neben 
psychologistisch-pragmatistischen  Ueberlegungen  sind  es 
stets  Aeußerungen  und  Niederschläge  irgend  eines  meta- 
physischen Dogmatismus,  die  zu  einem  Zweifel  an  der 
Autonomie  der  Erkenntnis  führen.  Da  jedoch  dieser 
Zweifel  theoretisch  nicht  begründbar  ist,  so  kann  man 
zweifeln  an  dem  Sinn  dieses  Zweifels  und  an  dem  Sinn 
der  ganzen   Fragestellung. 

Bis  zu  dieser  Problematik  drängt  die  Verflechtung 
von  Metaphysik  und  Wissenschaft,  die  ihren  vielleicht  klar- 
sten und  strengsten  Ausdruck  findet  in  der  dialektischen 
Sinn-Umprägung  des  theoretischen  Systemgedankens  in 
den  metaphysischen  Gedanken  einer  absoluten  Wert- 
Einheit. 


DieEntwick-  jjj 

lung  und  die 

Zukunft   der 

Metaphysik.  Dej-   j^igj.   versuchte    Nachweis,    daß    das    Moment   der 

Antinomie,  der  Inkommensurabilität,  der  immanenten  Pro- 
blematik geradezu  das  Charaktermerkmal  der  Metaphysik 
bildet,  ist  von  keiner  außerhalb  der  Sache  liegenden  Ten- 
denz bestimmt.  Einer  Begriffsbestimmung  der  Metaphysik 
z.  B.  in  dem  Sinne,  daß  sie  die  Lehre  von  den  ersten  Prin- 
zipien  des   Seins   bedeute    (Aristoteles)    oder  daß   sie 


1)    Vgl.    Richard    Honigs  wald,    Die    Skepsis    in    Philo- 
sophie   und    Wissenschaft,    1914. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  57 

die  Erkenntnis  der  Ur-  und  Qrundsubstanz  alles  Seins  sei 
(Spinoza)  oder  daß  sie  die  absolute  Erkenntnis  des  ab- 
soluten Geistes  —  sowohl  im  Sinne  des  Qenitivus  sub- 
jektivus  als  des  Qenitivus  objektivus  —  darstelle,  soll 
nicht  ausgewichen  oder  ihre  Möglichkeit  soll  nicht  in  Ab- 
rede und  Zweifel  gezogen  werden.  Es  gilt  vielmehr  die 
Problematik  und  die  Antinomie  in  dem  vorliegenden  Sach- 
verhalt und  den  Sachverhalt  der  vorliegenden  Antinomie 
vorurteilslos  zu  erkennen  und  zu  bekennen.  Es  soll  mit 
der  hier  gegebenen  Kennzeichnung  nicht  der  leiseste  Tadel 
verbunden  sein,  aber  ebensowenig  die  Forderung,  auf  die 
Metaphysik  zu  verzichten  und  sie  aus  dem  System  der 
Kultur  zu  tilgen. 

Eine  derartige  rationalistische  Forderung  hätte  man 
zur  Zeit  der  Aufklärung  aufstellen  und  vertreten  können. 
Aber  sie  wird,  nachdem  Auguste  Comte  darin  voran- 
gegangen ist,  auch  in  unseren  Tagen  von  dem  Positivis- 
mus erhoben.  In  ihr  spricht  sich  die  ganze  Befangenheit 
der  utilitaristischen  und  pragmatistischen  Schätzung  der 
einzelnen  Kulturwerte  aus  ;  es  ist  eine  Art  theoretisches 
Spießbürgertum,  das  den  Marktwert  mit  dem  Sachwert 
verwechselt  und  identifiziert.  Genau  so  wenig  wie  das 
Freidenkertum  des  18.  Jahrhunderts  oder  der  Naturalismus 
und  Materialismus  um  die  Mitte  des  19.  etwas  gegen  die 
Religion  auszurichten  vermochten,  so  wenig  vermag  eine 
Kritik  der  Metaphysik,  zu  welchem  Entscheid  auch  immer 
sie  gelangen  mag,  der  letzteren  den  Boden  abzugraben 
und  die  Existenz  zu  nehmen. 

So  sind  denn  die  Ausführungen  dieser  Studie  auf  nichts 
weniger  gerichtet,  als  darauf,  über  die  Metaphysik  das 
Wort  des  Bannes  auszusprechen.  Das  wäre  ein  ebenso  ver- 
gebliches wie  verständnisloses  Beginnen.  Wie  es  ganz 
gewiß  nicht  die  Aufgabe  der  Philosophie,  am  allerwenig- 
sten die  des  Kritizismus  ist,  zu  verneinen  oder  die  Gültig- 
keit  eines   Kulturgebietes   anzuzweifeln,   will    er   doch   im 


58  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

Gegenteil  die  betreffende  Tatsache  theoretisch  sicherstellen 
und  begründen,  so  will  er  auch  ein  positives  Verständnis 
und  die  objektive  Rechtfertigung  der  Metaphysik  er- 
arbeiten. Und  in  diesem  objektiven  und  positiven  Sinne 
ist  die  Entscheidung  aufzufassen,  daß  die  Metaphysik  den 
Inbegriff  aller  Problematik,  daß  sie  den  theoretischen 
Niederschlag  alles  gedanklich  Antinomischen  darstellt, 
daß  sie,  subjektiv  gesprochen,  den  ewigen  theoretischen 
Kampf,  das  unermüdliche  theoretische  Ringen  um  die  Pro- 
bleme bedeutet.  Eine  Metaphysik,  die  ihre  Probleme  ge- 
löst, die  das  Wesen  des  Absoluten  entschleiert  zu  haben 
vorgibt,  ist  eine  contradictio  in  adjecto.  Mag  der  ein- 
zelne Metaphysiker  ruhig  glauben,  daß  sein  System  die 
endgültige  Lösung  aller  Rätsel  erbringe  ;  mag  er  mit  dieser 
notwendigen  Selbstmystifikation  arbeiten  und  in  ihr  leben. 
Auf  die  aus  diesem  Verhältnis  sich  ergebende,  sehr  weit 
reichende,  innerlich  recht  fruchtbare  subjektive  Antinomie 
zwischen  der  persönlichen  Ueberzeugung  des  Meta- 
physikers  von  der  Absolutheit  seines  eigenen  Systems  und 
der  unweigerlichen  Relativität  der  von  ihm  tatsächlich  er- 
brachten Lösung  sei  ganz  kurz  hingedeutet 

Die  Metaphysik  selber  aber  lebt  von  der  Unlösbarkeit 
ihrer  Probleme.  Nicht  die  scheinbare  Lösung  in  dem  ein- 
zelnen System,  sondern  die  unendliche  Verschlungenheit 
in  der  Problemstellung  und  Problemlage  selber  bildet  den 
Ausgangspunkt  für  die  weiteren  metaphysischen  Entwicke- 
lungsstufen.  Nur  äußerlich  knüpft  der  Metaphysiker  an 
seine  Vorgänger  an.  Sofern  in  ihm  eine  wirkliche  und 
fruchtbare  spekulative  Energie  herrscht,  greift  er  mit  ihr 
zurück  in  die  unergründliche  Tiefe  der  metaphysischen 
Problematik.  Aus  ihr  und  nicht  aus  den  jeweiligen  posi- 
tiven Entscheidungen,  wie  solche  in  der  Geschichte  des 
menschlichen  Geistes  auftreten,  zieht  er  die  Nahrung  für 
seine  Arbeit. 

Aber  wie  ganz  anders  verläuft   doch  diese   Entwicke- 


Der  Qeltungswert  der  Metaphysik.  59 

lung  als  die  der  eigentlichen  Wissenschaften.!)  Hier 
herrscht  eine  ruhige  Stetigkeit,  eine  klare,  planmäßige,  in 
einer  Richtung  sich  vollziehende  Kontinuität,  ein  Weiter- 
gehen von  Entdeckung  zu  Entdeckung,  jede  darstellbar  in 
festen,  eindeutigen  Formeln.  Die  Astronomie  wird  wohl 
niemals  zur  Wiederaufnahme  des  Ptolemäischen  Systems 
gelangen,  die  Chemie  und  Physik  auf  die  Aufstellung  ge- 
heimer Kräfte  und  substantieller  Zweckursachen  zurück- 
kommen, das  Seelenreale  ist  wohl  endgiltig  und  unwieder- 
bringlich aus  der  wissenschaftlichen  Psychologie  ver- 
schwunden, und  keine  Geschichtsschreibung  wird  wieder 
versuchen,  historische  Ereignisse  an  göttliche  Willens- 
äußerungen anzuknüpfen.  Aber  auf  die  kühnste  Ausbil- 
dung des  Spiritualismus  in  der  Scholastik  folgte  durch 
G  a  s  s  e  n  d  i  die  Wiedererneuerung  des  antiken  Materia- 
lismus, folgte  das  materialistische  System  von  Hob  bes. 
Und  auf  Hegel  konnte  ein  Feuerbach  und  jener  „hane- 
büchene Materialismus",  um  ein  kräftiges  Wort  von  Kuno 
Fischer  zu  gebrauchen,  folgen,  der  dann  in  den  philo- 
sophisch so  dunklen  und  ergebnislosen  fünfziger  Jahren 
des  vergangenen   Jahrhunderts   wucherte.-; 

Und  dieser  wechselvolle,  ja  unsichere  Gang  im 
äußeren  Schicksal  der  Metaphysik  wird  auch  die  Bestim- 
mung der  nächsten  Stufe  ihrer  geschichtlichen  Entwicke- 
lung  und  die  Sicherheit  jeder  Vorhersage  ihrer  zukünf- 
tigen äußeren  Form  problematisch  gestalten,  so  mancher- 
lei Anzeichen  für  das  Einschlagen  nach  dieser  oder  jener 
Richtung  vorhanden  oder  so  berechtigt  auch  die  Wünsche 
und  Forderungen  in  bezug  auf  die  Notwendigkeit  einer 
bestimmten  Neugestaltung  lauten  mögen.  Es  mag  sein, 
daß  Rudolf  Eucken  im  Recht  ist,  wenn  er  mit  innerer 
persönlicher  Zustimmung  das  Wiedererwachen  eines  ethisch 


1)  Vgl.    Ernst   Cassirer,   Substanzbegriff   und    Funktions> 
begriff,    1910,.  S.  360. 

2)  Vgl.    Kuno   Fischer,   Hegels    Leben,   Werke  und   Lehre; 
1.  TeiL    Heidelberg    1902,    Vorrede    S.VI. 


60  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

begründeten  und  ethisch  gerichteten  Idealismus  erwartet 
und  fordert ;  auch  mögen  die  Gründe,  die  er  entwickelt, 
um  die  Notwendigkeit  zu  dieser  Wendung  darzulegen, 
stichhaltig  sein\);  ebenso  kann  Friedrich  Paulsen 
mit  seiner  im  gleichen  Geist  und  Sinn  gehaltenen  Vorher- 
sage und  Forderung  im  Rechte  sein-);  auch  Erich 
Adickes  mag  das  Richtige  getroffen  haben,  wenn  er 
eine  Wendung  zum  „Dogmatismus**  in  Aussicht  stellt,  ohne 
dabei  im  übrigen  diese  Wendung  zu  billigen  ^)  ;  mir  will 
noch  eine  anders  gerichtete  Prognose  möglich  erscheinen. 
Und  diese  geht  nicht  sowohl  darauf  aus,  diejenige  meta- 
physische Entwickelungsstufe,  deren  Erreichung  von  der 
Zukunft  vorhergesagt  oder  erwartet  wird,  in  concreto  zu 
bestimmen,  als  vielmehr  unter  Zugrundelegung  des  der 
Metaphysik  innewohnenden  Sinngehaltes  anzudeuten,  in 
und  nach  welcher  Richtung  sich  ganz  allgemein  ihre  innere 
Ausbildung  und  Entfaltung  vollziehen,  welche  Gestaltung 
ihr  inneres  Gefüge   durchmachen   dürfte. 

Und  da  wird  man  sagen  können  :  Von  dieser  Grund- 
lage aus  wird  die  Dialektik,  die  Komplikation,  die  Be- 
ziehungs-  und  Deutungsfülle  der  der  Metaphysik  eigenen 
Grundbegriffe  und  Grundverfassungen  ein  stetiges  Wachs- 
tum aufweisen.  Mit  welcher  verhältnismäßigen  Einfach- 
heit, ja:  Einfalt  erbaut  sich  die  griechische  Metaphysik 
ihr  Weltbild  und  ihre  Weltdeutung.    Wie  verhältnismäßig 


1)  Von  Euckens  zahlreichen,  diesem  Punkte  gewidmeten 
Ausführungen  sei  hier  nur  hingewiesen  auf  seine  große  Abhand- 
lung über:  „Philosophie  der  Geschichte"  in  „Die  Kultur  der 
Gegenwart",  Teil  I,  Abteilung  VI:  „Systematische  Philosophie", 
1907,    S.  247  ff. 

-)  Friedrich  Paulsen,  Die  Zukunftsaufgaben  der  Philo- 
sophie; in  demselben  Werke  wie  Euckens  soeben  genannte  Ab- 
handlung,  Seite    389  ff. 

2)  Erich  Adickes,  Die  Zukunft  der  Metaphysik ;  in 
„Weltanschauung,  Philosophie  und  Religion",  1911,  S.  217  ff. 
Adickes  würde  „gern  dem  Agnostizismus  das  glänzendste  Pro- 
gnostikon   stellen"    (S.   251). 


Der  Qeltungswert  der  Metaphysik.  61 

einfach  und  eindeutig  sind  die  von  ihr  aufgewendeten 
Mittel.  Ihre  Schöpfungen  sind  vergleichbar  der  reinen 
Größe  und  Schlichtheit  der  antiken  Baukunst ;  ihre  Archi- 
tektonik trägt  einfache  Linienführung,  einfach  ist  die  Glie- 
derung ihrer  Massen. 

Doch  wie  verwickelt  sich  dies  alles  im  Fort- 
schritt der  Spekulation.  Der  Blick  wird  weiter  und 
differenzierter,  die  Wirklichkeit  erscheint  nunmehr  un- 
gleich problemhaltiger,  abgestufter,  von  einer  Fülle  der 
verschiedensten  Wertreihen  durchsetzt  und  beherrscht. 
Und  um  wieviel  ausgebauter,  verwickelter,  gehalt-  ,und 
beziehungsreicher  sind  die  Kriterien,  die  Formen,  die  Be- 
griffe, die  Konstruktionen,  mit  denen  die  neuere  Meta- 
physik der  Problematik  der  Wirklichkeit  Herr  zu  weiden 
sucht.  Ihre  Begriffe  sind  auf  einer  weitausgesponnenen 
Dialektik  aufgebaut,  durch  die  sie  jener  Problematik  ge- 
recht werden  wollen.  Für  Hegel  oder  Schopenhauer 
oder  Nietzsche  ist  die  Wirklichkeit  nicht  nur  vielgestal- 
tiger und  antinomischer  als  für  einen  Thaies  oder  P  ar- 
men i  des,  und  wie  primitiv  im  Vergleich  zu  jenen  sind 
noch  die  Konstruktionen  eines  Descartes  oder  Spi- 
noza; sondern  man  beobachte  auch  einmal,  um  wieviel 
sinn-  und  gehalterfüllter,  um  wieviel  tiefer  und  deutungs- 
reicher, um  wieviel  umfassender,  man  möchte  fast  sagen : 
abgründiger  der  Begriff  des  absoluten  Geistes,  mit  dem 
Hegel,  oder  der  des  Willens,  mit  dem  Schopenhauer, 
oder  der  des  Lebens  ist,  mit  dem  Nietzsche  dem  Ge- 
heimnis der  Wirklichkeit  näherzukommen  glauben.  Und 
um  wieviel  verwickelter  ist  die  Systematik  und  Konstruk- 
tion in  diesen  Spekulationen.  Es  ist  vielleicht  eine  ihrer 
tiefsinnigsten  Leistungen,  daß  Hegel  in  die  Begriffe 
selber  das  Moment  der  Dialektik  hineingelegt  und  in  dieser 
die  konstruktive  und  spekulative  Bedeutung  der  Begriffe 
erblickt  hat.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  gewinnt  auch 
der  Versuch  Bergsons,  den  Begriffen  selber  etwas  vom 
Leben  und  seiner  Spontaneität  zuzusprechen,  und  sie  selber 


62  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

nicht  dem  Denken,  sondern  dem  Leben  entstammen  zu 
lassen,  ein  gewisses  Recht,  allerdings  um  den  Preis,  daß 
damit  die  Begriffe  in  die  Mystik  und  Romantik  überführt 
werden. 1) 

Man  wird  die  hier  angedeutete  Auffassung  über  die 
Entwickelung  der  Metaphysik  nicht  dahin  mißverstehen, 
als  solle  nun  ihr  Stillstand  oder  Zusammenbruch  voraus- 
gesagt werden.  Natürlich,  ein  Fortschritt  ist  schon  in 
ihrer  Geschichte.  Natürlich,  ihre  Systematik  zeigt  eine 
Entfaltung.  L  e  i  b  n  i  z  steht  nicht  mehr  auf  dem  Stand- 
punkt Spinozas,  und  dieser  ist  auch  in  gewissem  Be- 
tracht hinausgewachsen  über  seinen  ihm  sonst  außer- 
ordentlich überlegenen  Lehrer  Descartes.  Und  in  dem 
System  Hegels  darf  man  wohl  die  in  konstruktiver  und 
spekulativer  Hinsicht  reifste  und  reichste  Frucht  der  meta- 
physischen Entwickelung  erblicken.  Auch  wird  die  Zukunft 
gewiß  neue,  wertvolle  Systeme  bringen.  Unabsehbar  dehnt 
sich  hier  der  Weg  nach  vorwärts. 

Aber  bei  dieser  Entwickelung  ist  zweierlei  zu  unter- 
scheiden. Erstens  die  des  metaphysischen  Problems  selber ; 
zweitens  diejenige  der  in  jedem  System  der  Metaphysik 
mitenthaltenen  und  mitverwobenen  erkenntnistheoretischen, 
psychologischen,  geschichts-,  rechts-,  religions-,  kunstphilo- 
sophischen Bestandteile.  Diese  Bestandteile  sind  es,  denen 
die  Entwickelung  eine  sachliche  Förderung  bringt ;  in  bezug 
auf  diese  treten  neue,  feste,  gesetzmäßig  bestimmbare  Lö- 
sungen, treten  wissenschaftlich  gültige  Entscheidungen  auf. 
So  entwickelt  sich  in  und  mit  der  Entwickelung  der  Meta- 
physik eine  Reihe  von  Erkenntniszusammenhängen,  z.  B.  ein 
Zusammenhang  in  der  Entwickelung  der  Erkenntnistheorie, 
ein  anderer  in  der  der  Psychologie,  der  Geschichtsphilosophie 
usw.  Und  diese  Erkenntniszusammenhänge  gewinnen  dann 
im  Laufe  der  Zeit  eine  gewisse  Selbständigkeit  gegenüber 


1)    Vgl.    Arthur     Liebert,     Das     Problem     der     Geltung 
S.    83  f. 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  63 

ihrer  Ahnherrin  ;  es  findet,  wie  die  Geschichte  der  Wissen- 
schaften zeigt,  eine  Herauslösung  aus  dem  ursprünglichen 
Verbände  statt,  aber  eine  Herauslösung,  die  insofern  eine 
Zahl  von  Unterschiedsstufen  aufweist,  als  jede  dieser  sich 
verselbständigenden  Wissenschaften  den  Begriff  des  Ab- 
soluten in  anderem  Sinne  bewahrt  und  bewährt. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Entwickelung  des  meta- 
physischen Problems  selber ;  schon  darum,  weil  in  ihr 
nicht  bestimmte  Lösungen  von  wissenschaftlich  gesetz- 
mäßigem Geltungswert  auftreten,  und  dann  überhaupt, 
weil  ihr  ganzer  Sinn  nach  anderen  Richtungen  hinweist, 
in  andere  Dimensionen  führt  als  diejenige  der  Wissen- 
schaften im  engeren  Sinne.  In  dem  Sich-immer-tiefer- 
Einbohren  in  die  Problematik  des  metaphysischen  Geistes 
und  in  dem  immer  überzeugender  werdenden  dialektischen 
Nachweis  eben  dieser  Problematik  scheint  sich  mir  die 
Entwickelung  der  metaphysischen  Spekulation  im  letzten 
Grunde   zu  bewegen   und   in   ihr  ihren    Sinn   zu   entfalten. 

So  wird  es  nach  allem,  was  hier  darzustellen  ver- 
sucht wurde,  nicht  des  Hinweises  bedürfen,  der  oft  wie 
eine  Klage  und  wie  ein  Vorwurf  gemeint  war,  daß  die 
geschichtliche  Kultur  und  die  geistige  Welt  ohne  die 
Metaphysik  verarmen  und  an  Tiefe  einbüßen  würden. 
Gerade  je  umfassender  unser  Blick  und  je  umfassender 
unsere  Stellungnahme  der  Wirklichkeit  gegenüber  werden, 
je  weniger  wir  uns  bei  der  in  ihrer  Weise  allerdings  not- 
wendigen und  fruchtbaren  Einseitigkeit  des  bloß  wissen- 
schaftlichen Verhaltens  genügen  lassen,  je  mehr  wir  mit 
Goethe  einsehen,  daß  „die  Summe  unserer  Existenz, 
durch  Vernunft  dividiert,  niemals  rein  aufgeht,  sondern 
daß  immer  ein  wunderlicher  Bruch  übrig  bleibt"  i),  um- 
so bedeutungsvoller  wird  die  Stellung  der  Metaphysik  in 
der  geistigen  Kultur  und  ihr  Anteil  an  deren  Entwicke- 
lung werden. 

1)  Vgl.  Goethe,  Wilhelm  Meisters  Lehrjahre;  4.  Buch, 
18.  Kapitel    (aus    der    Lebensgeschichte    des    jungen    Serlo). 


64  Der  Geltungswert  der  Metaphysik. 

Will  sie  der  ihr  eigentümlichen  Aufgabe  gerecht 
werden  u.  z.  vom  Standpunkt  der  ihr  eigentümlichen  — 
unkritischen  —  Abbildtheorie  aus,  und  die  Wirklichkeit, 
die  physische  wie  die  geistige,  adäquat  wiederspiegeln^ 
soll  das  Denken  sich  des  Seins  restlos  bemächtigen, 
dann  wachsen  mit  der  Vertiefung  unseres  Blickes  und  mit 
der  Vertiefung  unserer  Stellungnahme  in  der  Wirklichkeit 
die  Aufgaben  der  Metaphysik  ins  Unermeßliche.  Nicht 
nur  die  Formen  ihrer  Synthesen  werden  immer  um- 
fassender und  weitreichender  gespannt  werden,  sondern 
auch  ihr  Inhalt  wird  immer  reicher,  voller,  abgestufter, 
beweglicher  sein  müssen.  Zugleich  aber  wächst  und  ver- 
tieft sich,  ebenfalls  in  das  Unermeßliche  hinein,  diejenige 
Problematik,  die  in  dem  Verhältnis  zwischen  den  zukünf- 
tigen Aufgaben  der  Metaphysik  und  den  ihr  zur  Ver- 
fügung stehenden  Lösungsmitteln  und  Lösungswegen  ob- 
walten muß.  Denn  da  dem  Sinn  des  Absoluten  immer 
neue  und  neue  Werte  eingebettet  und  zubemessen  werden, 
so  wird  die  Aufgabe  der  gedanklichen  Erfassung  dieses 
Sinnes  immer  größer  und  größer  ;  die  methodischen  Hilfs- 
mittel jedoch,  die  zur  Behandlung  jener  Aufgabe  in  Be- 
reitschaft stehen,  bleiben  für  den  endlichen  menschlichen 
Qeist  die  gleichen  ;  auch  ihre  Zahl  erhöht  sich  nicht. 

Hier  nun,  am  Schluß  unserer  Ueberlegungen,  stoßen 
wir  wohl  auf  die  tiefste,  die  eigentliche,  die  wesenhafte 
Problematik  und  Paradoxie,  in  die  die  Metaphysik  ver- 
strickt ist.  Das  ist  die  unaufhebbare,  weil  aus  dem  Sinn 
der  Metaphysik  erwachsende  Inkommensurabilität  zwischen 
der  ihr  eigentümlichen  Aufgabe  und  der  ihr  möglichen 
Lösung.  Und  vielleicht  ist  es  so,  daß  in  diesem  unver- 
meidlichen, in  diesem  tragischen  und  gigantischen,  in  jeder 
Entwickelungsstufe  neu  auftretenden,  in  jeder  ihrer  Fas- 
sungen und  Feststellungen  wirksamen  Widerspruch  auch 
der  sie  kennzeichnende  Sinn  besteht.  Denn  zeigt  sich 
nicht  darin  die  Eigenart  der  metaphysischen  Gesinnung, 
ist  das  nicht  das  konstruktive  Gesetz  für  die  Metaphysik, 


Der  Geltungswert  der  Metaphysik.  65 

überhaupt  so  zu  fragen,  ein  solches  Problem  stellen  zu 
können,  daß  zwischen  Frage  und  Antwort  notwendig  ein 
Gegensatz  offen  bleibt,  daß  die  ihr  eigene  Erfassung 
ihres  Gegenstandes  nicht  den  Geltungswert  eines  festen 
,, Ergebnisses'*  besitzt,  wie  ihn  die  Wissenschaft  doch 
aufweist?!)  Und  vielleicht  darf  man  endlich  auch  sagen, 
daß  die  Metaphysik  gerade  in  dieser  Hinsicht  und  um 
dieser  ihrer  Eigentümlichkeit  willen  sowohl  der  treueste, 
als  zugleich  der  tiefste  Ausdruck  der  menschlichen  Kultur 
und  des  in  dieser  beschlossenen  Sinnes  ist. 


1)  Vgl.  Bruno  Bauch,  lieber  den  Begriff  des  Naturgesetzes. 
Kantstudien,     Bd.  XIX,     1914,     Heft     3,  S.  335  f. 


BD  Liebert,  Arthur 

23  Der  Geltungswert  der 

L4.  Mettiphysik 


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