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Der Genius des Krieges
und der Deutſche Krieg
von
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Ferdinsenä
Mar Scheler
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Zweites bis viertes Tauſend
Verlag der Weißen Bücher / Leipzig
1915
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eunden im Felde
—
Motto: Aber der Krieg auch hat feine Ehre,
der Beweger des Menſchengeſchicks.
Schiller
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Vorrede
ndem ich — dazu gezwungen zu Hauſe zu ſitzen — dieſes
Buch der deutſchen Offentlichkeit zu übergeben wage,
fühle ich mehr, wie ich es je getan, den Abſtand
zwiſchen der gewaltigen Größe meines Gegenſtandes und der
winzigen Kleinheit und Enge meines Geiſtes und Gewiſſens;
mehr wie je auch die hohe Verantwortung des Philoſophen
wie des Deutſchen zu ſolch welthiſtoriſcher Stunde ſich der
Worte zu bedienen. Was mich bewog, dieſe Aufzeichnungen,
die zunächſt als ein natürlicher Überſchwang meines Ideen⸗
ganges und meiner Gefühle gegenüber dieſem einzigartigen
Ereignis in der moraliſchen Welt — dem erhabenſten ſeit der
franzöſiſchen Revolution — auf das Papier glitten, dennoch
zu veröffentlichen, das war allein der Gedanke, es möchte eine
ſolch zuſammenſchauende Betrachtung des Weſens des Krieges
mit der Seele, den Hauptmomenten, Grundeigenſchaften und
Zielen dieſes unſeres Krieges und mit derjenigen Geiſterhal⸗
tung und Politik Deutſchlands und Europas, die ſein eigen⸗
tümlicher Genius aus ſich hervortreiben wird und ſoll, meinen
Freunden und einigen meiner deutſchen Brüder zur Bildung
eines eigenen Urteils und Willens förderlich ſein.
Geht der erſte Teil ſo vor, daß von dem uns umringenden
Krieg gleichſam nur der Schatten erſcheint, den er vermöge
des Lichtes aus der ewigen Welt der Ideen auf die Wand
des Seins wirft, ſo zeigt der zweite Teil eben dieſelben Ideen
ganz in das konkrete Leben, in die Tat und die Forderung
der Stunde hineingezogen. Völlig fern lag dieſem Buche
alle genauere fortlaufende hiſtoriſche Erklärung der Entſtehung
des Krieges. Es iſt im erſten Teile und im Anhange ganz
philoſophiſch und pſychologiſch, im zweiten ganz politiſch
— im untechniſchen Sinne des Wortes — gemeint.
Schon jetzt fürchte ich, daß die leidenſchaftliche Bewegung
des Gemütes, in der dieſes Buch geboren wurde — wie oft
legte ich die Feder von ihr wie gefangen zur Seite — in Ur⸗
teilen über Perſonen und Völker über berechtigte Grenzen
hinaus geführt habe. Iſt es der Fall, ſo bitte ich die Be⸗
troffenen ob meiner großen Geiſtesenge um Verzeihung.
Noch mehr fürchte ich, daß — aufrichtig gemeſſen an den
Ideen eines abſolut Wahren und Guten, an denen jeder
Menſch ſeine Gedanken und Forderungen meſſen ſollte —
zu dem alſo Wahren und Rechten dieſes Buches ſich viel
alſo Falſches und Unrechtes eingeſchlichen haben werde.
Dann hoffe ich, daß Gott das Wahre und Rechte mit ſeinen
Händen halten, ſchirmen und zur Kraft des Lebens werden,
das Falſche aber, das ich ſagte, ſo bald wie möglich wie
Spreu im Winde verwehen laſſen möge.
Noch reden die Waffen ihre erhabene Sprache. Viel⸗
leicht entſcheiden ſie ſo, daß die zarten europäiſchen Saaten
und jungen Kräfte, die dieſe Schrift hinter dem Geräuſch
und Schutt des Kriegsgetümmels aufdeckt, zum dauernden
Verdorren und zur Unwirkſamkeit verdammt ſind; daß auch
die ſittlichen, politiſchen und kulturellen Ziele, für die dieſe
ne
——
Schrift den Krieg mehr als Auslöſung denn als Urſache
anſetzt, niemals erreicht werden. Beſüßen wir die freche
Vermeſſenheit, an Stelle der Tat der Waffen und an Stelle
echter „Geſchichte“, in der Etwas geſchieht, Berechnungen
der Zukunft zu ſetzen, ſo wäre die große Sprache der Waffen
und Gottes heilige Stimme in dieſer Sprache unnötig. Mur
glauben dürfen wir! Aber glauben — müſſen wir auch,
ſo wir noch Menſchen ſein und ſo wir ſiegen wollen! Nur
als Glaube, aber als feſter und wohlgegründeter, iſt daher
alles Zukunftspolitiſche des zweiten Teiles dieſer Schrift
gemeint.
Wenn ich häufig ältere und andere Schriften, auch aus
meiner Feder zitierte, ſo geſchah es, um dem Leſer Gelegen⸗
heit zu geben, ſich über hier häufig vorausgeſetzte Grundbe⸗
griffe und Grundſätze nach ſtrengem Gehalt und Begründung
genauer zu informieren.
Berlin, in der erſten Hälfte des Nobember 1914.
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Inhalt
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Der Genius des Krieges. 1 7
Wurzel und Sinn des Krieges als Welkeinrichtung 9
1. Der Krieg und das organifche Leben 9
— nur.. 38
f (77
Zur Metaphyſik des Krieges. 117
Nation 119
No dbd 1322
3. Der Krieg als Gottes gericht 127
Der gerechte und ungerechte Krieg . . 1383
,, 11863
1. Seine Gerechtigkeit 6195
2. Der Glaube an unſer Br Ras in if
„ Re 7
Die geiſtige Einheit Europas und ihre N
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r, 335
Anmerkungen 85
Anhang: Zur ppc 15 mie Si on
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Einleitung
ls zu Beginn des Auguſtmonats unſer deutſches Schick⸗
ſal wie eine einzige ungeheure dunkle Frage vor uns
hintrat jedes Individuum bis ins Mark erſchüt⸗
ternd dasſelbe Schickſal, das noch einige Wochen vorher wie
ein gerader wohlgebauter Weg vor Jedem lag und das unemp⸗
funden und mit der Gleichgültigkeit und Selbſtverſtändlichkeit
des Raumes uns eben noch umfangen hatte, da war es nur eine
Antwort, die aus allen deutſchen Seelen zurücktönte, ein einziger
erhobener Arm: Zu Schwert und zum Siege! In der heiligen
Forderung der Stunde ertranken mit allem Parteigezänk
auch die tiefſten Differenzen unſerer Weltanſchauung. Mit
der Verwunderung einer Generation, für die der Friedens⸗
zuſtand die Unmerklichkeit der Atmoſphäre angenommen
hatte, ſahen und fühlten wir alle, wie die Forderung ernſter
Tat eint, was in der Meinung über den Krieg und den
Intereſſen an Krieg und Friede getrennt war; wie ſonnen⸗
klar und eindeutig ein vor die Tat geſtelltes Gewiſſen ant⸗
worten kann und muß, wo die Gedanken über Krieg über-
haupt und die Vermeidbarkeit dieſes Krieges eben noch welten⸗
weit auseinander gingen. Daß wir in dieſen Stunden über⸗
haupt empfanden, daß ein eigentümliches nationales Schickſal
bis in den Kern jedes, des kleinſten und größten Individuums
hineinreicht, und durch es vor⸗ und mitentſchieden wird, was
1 1
Jeder von uns ift und wert iſt, und was aus Jedem und feiner
Lebensarbeit wird — das war das Offentlichſte, Allgemeinſte
und Heimlichſte, Individuellſte zugleich, was dieſe Friedens⸗
generationen erlebten. Der weite große Gang der Welt und
jeder Seele innigſte Beſtrebung ſahen ſich plötzlich in einen
Knoten geſchürzt und wunderſam auf ihren gegenſeitigen
Fortgang angewieſen. Wir waren nicht mehr, was wir ſo
lange waren: Allein! — Der zerriſſene Lebenskontakt zwiſchen
den Reihen: Individuum — Volk — Nation — Welt
— Gott wurde mit einem Male wieder geſchloſſen und
reicher wogten die Kräfte hin und her als es alle Dichtung,
alle Philoſophie, alles Gebet und aller Kult vorher je zur
Empfindung bringen konnten. Doch das ſind Dinge, vor
denen nicht nur das Wort, vor denen auch der Gedanke und
Begriff in Ehrfurcht verſtummen müſſen. Dies Wunder
iſt am beſten ungeſagt im Herzen allein.
Hier ſei von Oberflächlicherem und weit Kleinerem die
Rede: Nur davon, wie ſich dieſer Krieg unſerem bisherigen
Bewußtſein und Denken einordnet, und welche Abänderungen
unſerer Bilder von der Welteinrichtung er erzwingt. Für
jene Glücklichen, die jetzt auf dem Felde ſtehen dürfen,
mag dieſe Frage unzeitgemäß erſcheinen. Für ſolche, die es
erſt werden oder die Geſetz und Mannſchaftsbedarf bisher,
oder überhaupt zwingt, zu Hauſe zu bleiben, iſt ſie es ſchon
darum nicht, da auch bei intenfiofter ſonſtiger Arbeit jedes
Bewußtſein faktiſch fieberhaft arbeitet, die ungeheure Tat⸗
ſache in ſich aufzunehmen und mit Bisherigem zu verketten.
Die Unumgänglichkeit einer Frage iſt der beſte Beweis für
ihr Recht.
2
Sehe ich um mich, fo gewahre ich eine Reihe ſehr ver⸗
ſchiedener Gruppen. Ich ſehe ſolche Menſchen, die durch
das Erlebnis dieſes Krieges völlig konſterniert wie vor einer
Welt ſtehen, die ſie als dieſelbe nicht wiederzuerkennen ver⸗
mögen. Sie fühlen ihre erlebte Tatbereitſchaft und die bis⸗
herige Entwicklung ihrer Ideen, ja ihrer bisherigen Geſchichte
als einen abſoluten Widerſpruch. Sie ſind wie mitten ent⸗
zweigeſchnitten und ſehen ſchon jetzt, daß ſie nach dem Kriege,
wie immer er ausgehen möge — zur „alten“, zur „dama⸗
ligen“ Generation gehören werden. Sie wurden an einem
Tage 20 Jahre älter und müſſen mit Grauſen Ideen, Be⸗
ſchäftigungen, Ziele, begonnene Werke plötzlich als „Ver⸗
gangenheit“ ſehen lernen, die ſie eben noch für blaueſte Zu⸗
kunft hielten. Es iſt wohl die größte Gruppe innerhalb der
intellektuellen Sphäre, der es alſo ergeht. Mur ganz wenige
halten ihre bisherige Welt, für die alles, nur dieſer Krieg
keinen möglichen Platz hatte, mit jener Energie doktrinären
Trotzes feſt, die Schelling einmal angeſichts ihm aufgewie⸗
ſener Widerſprüche ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems mit
neu beobachteten Tatſachen ſagen ließ: „Um ſo ſchlimmer
für die Natur!“ Ein wieder größerer Kreis ſchwankt, ob er
feinen bisherigen Geſinnungen untreu werden, oder beſſer
geſagt, ihre empfundene Korrektur durch die große Tatſache
als ſolche „Untreue“ anſehen ſoll, oder ob er nicht beſſer tue,
mit dem Gefühle der Berechtigung, welche die Regeln der
Induktion an die Hand geben, einen Standpunkt über den
Haufen zu werfen, den neue große Tatſachen als einen un⸗
möglichen dargetan haben.
An dieſen Kreis ſoll ſich das Nachfolgende in erſter Linie
*
2 3
richten. Aber es gibt auch innerhalb der intellektuellen Men⸗
ſchen ein kleines Häuflein ſolcher, deren Vertrauen und Glaube
auf Sinnhaftigkeit und Vernunftrichtung unſeres Lebens um⸗
gekehrt durch die letzten Jahrzehnte des europäiſchen Friedens
bis aufs äußerſte erſchüttert waren, die erſt jetzt die wirkliche
Welt als die ihrige wiedererkennen; und die trotz Leid, Not und
Tod, welche die Erſcheinung eines in der Geſchichte unerhörten
Krieges über uns alle bringen mag, ſich in wunderbarſter Weiſe
im Glauben an alles, was ſie für die kernhafte Realität der
Welt und der Geſchichte, was ſie für gut und ſchön und edel
hielten, geſtärkt und gekräftigt fühlen. Solche, die dieſen Krieg
nicht wie einen ſchweren Traum und Alpdruck, ſondern als ein
faſt metaphyſiſches Erwachen aus dem dumpfen Zuſtand eines
bleiernen Schlafes erleben. Es liegt gewiß auf den erſten
Blick eine tiefe Paradoxie darin, daß dieſes Häuflein zu⸗
ſammenfällt mit den Gläubigen des Lebens gegenüber den
Gläubigen des Mechanismus, den Gläubigen der Liebe
gegenüber den Gläubigen der klugen Organiſation und des
Rechtsvertrags, den Gläubigen der freien Tat gegenüber den
Gläubigen „notwendiger Entwicklung“; den Gläubigen der
Perſon gegenüber den Gläubigen des Werkes, den Gläubigen
des Individuums gegenüber den Gläubigen des Geſetzes, den
Gläubigen des ſchöpferiſchen Geiſtes gegenüber den Gläubigen
des rechnenden Verſtandes. Ich ſage: Dieſe Tatſache er⸗
ſcheint paradox. Denn nicht Leben, ſondern tauſendfachen
Tod, nicht Liebe, ſondern Haß und Rachedurſt, nicht Frei⸗
heit, ſondern „Reaktion“ und neue politiſche und ſoziale
Gebundenheiten, nicht Geiſt und Perſönlichkeit und Indi⸗
vidualität, ſondern phyſiſche Gewalt, Nichtachtung der
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Perſon und ihres Seins und Wertes, ja Steigerung aller
bloß automatiſchen Kräfte unſerer Seele, Ertrinken alles
Individuellen im Urgefühl des Stamms und im Geiſte der
Maſſe ſcheint ja der Krieg zu bringen.
Wie löſt ſich dieſes Paradox?
—
Der Genius des Krieges
11
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Wurzel und Sinn des Krieges als Welt—
einrichtung
1. Der Krieg und das organiſche Leben
ie alle ganz großen Dinge reichen die Wurzeln
IT der Erſcheinungen, die wir „Krieg“ nennen, in
die Tiefen des organiſchen Lebens zurück; aber
wie alle großen Dinge iſt auch der Krieg etwas eigentümlich
Menſchliches, das nicht als eine geradlinige Weiterentfaltung
von Erſcheinungen des untermenſchlichen Lebens begriffen
werden kann. So trüb die Analogien ſind, nach denen man
die Geſellſchaft als „Organismus“, die ſogenannten Tier⸗
geſellſchaften als Vorformen der Staatsbildung verſtehen
wollte, ſo trüb iſt auch die Analogie, nach der man Werk⸗
zeug und Waffe als Fortbildungen der tieriſchen Organe
der Nahrungsſuche, des Angriffs und der Verteidigung, den
Krieg ſelbſt aber als Fortſetzung der tieriſchen Beute⸗ und
Daſeinskämpfe ſich klären wollte. Daß irgendwelche gleich-
artigen Kräfte hier und dort wirken, das freilich iſt gewiß.
Aber erſt indem dieſe Kräfte mit dem bewußten vernünftigen
Geiſte zu einem einzigartigen Zuſammenſpiel treten, durch
deſſen Beſitz das aufrechtgehende Wirbeltier erſt zum „Men⸗
ſchen“ der Geſchichte wird, erzeugen fie jene Erſcheinungen.
Und eben dies beides wird uns alles Folgende beſtätigen:
9
Der Krieg iſt nicht — wie uns eine naturaliſtiſche Auf:
faſſung des Krieges einreden will — bloße phyſiſche Gewalt⸗
äußerung, die ſich aus Ohnmacht des vernünftigen Geiſtes
an deſſen Stelle ſetzt; er iſt Macht⸗ und Willensausein⸗
anderſetzung der geiſtigen Kollektioperſönlichkeiten, die wir
Staaten nennen. Dieſe Machtauseinanderſetzung äußert ſich
nur in Taten phyſiſcher Gewalt, um die Herrſchaftswürdig⸗
keit der Machtwillen feſtzuſtellen. Das letzte objektive Telos
aber, dem der Krieg — jenfeits der ſubjektiven Abſichten der
Kriegführenden — dient und jederzeit gedient hat, iſt nichts
anderes als maximale Geiſtesherrſchaft auf Erden und allem
voran: Bildung und Erweiterung irgendeiner der vielen For⸗
men von echten Liebeseinheiten, die als „Völker“, „Nationen“
uſw. das Gegenteil von bloß faktiſchen oder rechtlich geform⸗
ten Intereſſengemeinſchaften darftellen? Aus dem Geiſte
entſpringt und für den Geiſt iſt der Krieg in ſeinem tiefſten
Kern! Auch Macht iſt noch Geiſt. Sie iſt es im Unter⸗
ſchiede zur Gewalt, die ihrer Matur nach tot, dumm und
phyſiſch iſt. „Macht“ iſt eine Idee, die ihr Fundament im
Erlebnis des Wollen⸗ und Tunkönnens hat; und dieſes
„Können“ iſt edler und höheres Gut als alles bloße faktiſche
Tun oder gar deſſen Erfolg.“ Gibt es zwiſchen Macht und
Gewalt ein ganz allgemeines Grundoerhältnis, fo iſt es eben
darin zu ſehen, daß, je größer die pure Macht eines Weſens
iſt, es um ſo weniger der Gewalt bedarf, um ſeinen Willen
durchzuſetzen. Darum denken wir uns die göttliche Majeſtät
gleichzeitig als „allmächtig“ und als völlig gewaltlos. Ein
„Wink“ Gottes genügt, damit die Planeten kreiſen. Gewiß
gehört zum Weſen des Krieges freilich ganz weſentlich die
10
Anwendung phyſiſcher Gewaltmittel. Aber fie gehört zu
ihm, da er zuvörderſt eine Form der Feſtſtellung faktiſcher
Macht⸗ und Könnensverhältniſſe iſt, nur als Machtäußerung
und gleichzeitig als Machtprobe. Wo etwa ſchon bewaffnete
Beobachtung eines fremden Staats genügt, um einen politi⸗
ſchen Zweck durchzuſetzen, da wäre es ſinnlos, faktiſche Ge⸗
walt anzuwenden; desgleichen, wo das Heer ſich ergibt. Nur
ſo begreift es ſich auch, daß in keinem Krieg der Welt je
alle phyſiſchen Gewaltenergien der Gegner ins Spiel traten;
iſt vielmehr durch faktiſche Anwendung von Gewalt in Ge⸗
fechten, Schlachten, Belagerungen uſw. die gegenſeitige Macht
der Gegner genügend erprobt, und die Machtüberlegenheit
des einen offenkundig geworden, ſo hat auch der Krieg ſein
natürliches Ende gefunden. So iſt das Gefecht nur eine
Stichprobe auf die Macht, ein Anzeiger der Macht. Überall
iſt alſo im Kriege die Gewaltausübung mit ihren Erfolgen
der Maſſentötung uſw., auf welche die naturaliſtiſche Kriegs⸗
auffaſſung allein hinſtarrt, nicht der Kern der Sache; ſie iſt
nur Außerung, Maß und Kennzeichen der Größe und Wucht
der einander entgegentretenden ſouveränen Machtwillen, und
ihr Erfolg iſt nur Anzeiger der faktiſch beſtehenden Gewichts⸗
verhältniſſe der Mächte.
Schon dieſe eine Grundeigenſchaft des Krieges macht ihn
weſensverſchieden von allen Daſeins⸗, Beute: und Erhaltungs⸗
kämpfen der untermenſchlichen Natur. Dieſe ſind ſtets Ge⸗
waltkämpfe: entweder Nahrungskämpfe oder Kämpfe um
die Fortpflanzung. Im Kriege handelt es ſich auf keiner
Stufe ſeiner geſchichtlichen Entwicklung um das Ziel bloßer
„Daſeinserhaltung“ des phyſiſchen Lebens der Individuen
11
oder der Art. Vielmehr find es ſtets, — wenn auch noch fo
primitide kollektive geiſtige Willenseinheiten, — „Stämme“,
„Völker“, „Staaten“, „Nationen“, die als ſolche in die
Kriegsbeziehung zueinander treten. Die natürlichen Indivi⸗
duen ſtellen für ſie nur Organe ihrer Willensmacht dar.
Wie in menſchlich⸗geſchichtlichen Verhältniſſens überhaupt
der Kampf um Macht, Geltung, Ehre, Beſitzgröße, das
heißt der Kampf um Verteilung der Lebensgüter an die Stelle
des in der untermenſchlichen Matur ſtattfindenden Kampfes
ums nackte Daſein und die Fortpflanzung tritt, an die Stelle
der phyſiſchen Ausſchaltung aus der Fortpflanzung aber, die
bloße Entmächtigung von Individuen und Gruppen, De:
klaſſterung, Verluſt politiſcher Selbſtändigkeit uſw., ſo iſt
auch der Krieg nicht mehr eine Art des „Kampfes ums Da⸗
ſein“, ſondern der Kampf um ein Höheres als Daſein, der
Kampf um die Macht und die mit ihr fallende und ſtehende
politiſche „Freiheit“. Eigentliche Machtkämpfe aber finden
wir in der untermenſchlichen Natur nicht. Zwiſchen Beute und
Beutetier findet kein Machtkampf ſtatt — ſo wenig wie
zwiſchen uns Menſchen und denjenigen Tieren, die uns Nah⸗
rung ſind. „Jagd“ iſt nicht Krieg. Kämpfe aber z. B.
zwiſchen zwei Ameiſenhaufen, die noch am eheſten an den
Krieg erinnern möchten, zielen auf Vernichtung des fremden
Haufens ab. Innerhalb der hiſtoriſchen Menſchheit haben
nun zu Zeiten zwar gleichfalls menſchliche Vernichtungs⸗
kämpfe ſtattgefunden. Wo es der Fall war, wo die phyſiſche
Vernichtung der Individuen einer Gruppe Ziel des Kampfes
war — nicht bloß die Wehrlosmachung eines fremden Staates
wie in einigen Raſſe⸗ und Glaubenskämpfen (gegen Indianer,
12
Neger an manchen Orten, bei gewiſſen arabiſchen und für:
kiſchen Zügen), da iſt es Mißbrauch den edlen Namen des
„Krieges“ anzuwenden. Gemeinhin werden die natürlichen
Volkseinheiten ihrem Daſein nach nicht vom Kriege betroffen;
ſie werden nur unter vorhandene oder im Kriege entſtehende
Staaten, die allein unmittelbare Kriegsobjekte ſind, nach
deren ausgeprobten Machtverhältniſſen neu verteilt. Nicht
alſo auf Vernichtung natürlicher menſchlicher Gruppen⸗
einheiten, ſondern auf Neuverteilung der kollektiven geiſti⸗
gen Willensmächte über dieſe natürlichen Einheiten zielt
der echte Krieg ab. Hierzu gewahren wir in der lebendigen
Natur kein Gegenſtück. Aber auch die Triebmächte, die zu
dem natürlichen Daſeinskampf führen, Hunger und Forr⸗
pflanzungstrieb, haben mit den Motoren des kriegeriſchen
Geiſtes nichts zu tun. „Es iſt ein Trugſchluß, daß Kriege
geführt werden um des materiellen Daſeins willen“, ſagt
Treitſchke richtig. Dieſer Satz gilt nicht nur für die moder⸗
nen Kriege, ſondern ſchon für die allerprimitivſten Kriegs:
formen. Es iſt ein Grundirrtum der poſitiviſtiſchen und öko⸗
nomiſtiſchen Geſchichtskonſtruktion, den primitiven Krieg, ſei
es als primitioſte ökonomiſche Erwerbsquelle, ſei es als auto⸗
matiſche Folge einer wachſenden Bevölkerungsdichte anzu:
ſehen. Hat man dies einmal angenommen, ſo glaubt man
ſich freilich leicht berechtigt, alle hiſtoriſchen Kriegserſchei⸗
nungen in „letzter Linie“ auf ökonomiſche und ſozialbiologiſche
Urſachen zurückzuführen; ja auch den weiteren Schluß zu
ziehen, daß im ſelben Maß, als die gewerbliche und induſtri⸗
elle Arbeit zur Erwerbsquelle, und die geſteigerte Arbeits:
technik und Arbeitsteilung zur Steigerung der Bevölkerungs⸗
13
kapazität eines Landes führt, je inniger und umfaſſender zu:
gleich die gegenſeitige ökonomiſche Abhängigkeit und Inter⸗
eſſenſolidarität zwiſchen den menſchlichen Gruppen werden,
die Erſcheinung des Kriegers als Wirkung der hypothetiſch an⸗
genommenen „Urſache“ überhaupt zurücktreten und ſchließlich
völlig verſchwinden müßte. In all dem ſteckt ſchon der Kern⸗
gedanke der Sonderart des Pazifizismus, der nicht wie jener
Kants auf die Forderung eines univerfalen „Vernunftrechtes“,
oder wie andere ſeiner Formen auf die Idee fortſchreitender
„Humanität“ die pazifiziſtiſche Theſe aufbaut, der vielmehr im
Kriege eine vergängliche hiſtoriſche Erſcheinung ſieht, die kraft
einer „notwendigen Entwicklung“ zum vollkommen induſtri⸗
ellen Zuſtand oder ſozialem Gleichgewicht vom „ewigen Frie⸗
den“ müſſe abgelöſt werden.“ Faktiſch aber hat der Krieg eine
vitale Wurzel und durch ſie hindurch auch eine Wurzel in der
Menſchennatur, die mit dem Trieb zur Nahrungsſuche
nichts zu tun hat. Die vitale und willentliche Aktivität des
im eigenen Selbſtwertbewußtſein gerechtfertigten und nur
infolge dieſer Rechtfertigung wahrhaft ſtarken Macht⸗ und
Herrſchaftswillens hat zu keiner Zeit und bei keiner noch ſo
primitiv organifierten Gruppe des Stoßes der Nahrungsnot
bedurft, um in die Bewegung zu geraten, die den kriegeriſchen
Geiſt ausmacht. Dieſe Bewegung iſt gerade umgekehrt ein
ganz ſpontanes und urſprüngliches Agens, deſſen Wirkſam⸗
keit erſt ſekundär die Befriedigung vorhandener ökonomiſcher
und anderer „Bedürfniſſe“, ſpäter „Intereſſen“, endlich die
Erreichung frei gefaßter politiſcher, ſtreug umſchriebener
„Zwecke“ ſich angliedern.“ Nur der typiſche Fehlſchluß
aller populären Philoſophie, nützliche Effekte eines Gefühls,
14
einer Ausdrucks⸗ oder einer Handlungsart und Einrichtung,
zum Beiſpiel der Sprache, des Staates oder des Opfer⸗
und Liebesdranges auf die ſeeliſche Urſache vorſchauender Be⸗
rechnung dieſes Nutzens oder irgendwelcher Steigerung der
Wohlfahrt zurückzuführen, führte zur Ableitung des Krieges
aus dem Nahrungs⸗ oder Fortpflanzungsbedürfnis. Wie
immer in primitiven Zeiten die Effekte kriegeriſcher Unter⸗
nehmungen nachträglich in den Dienſt der „Habſucht“ ge⸗
ſtellt und ſo zu Erwerbsquellen wurden, die Unternehmung
ſelber geht aus Motiven und Leidenſchaften hervor, die völlig
anderen Weſens find als das ökonomiſche Motio. Die Be-
wegung des kriegeriſchen Geiſtes iſt vielmehr ein urſprüng⸗
liches, ſpontanes Agens. Sinn und Luft an der Umwelt
probeiweife® und auf das wogende Ohngefähr, auch auf die
Gefahr des Mißlingens hin, ſeine Macht zu betätigen und
ſie darin zu formen und zu geſtalten, ſind in Lebeweſen und
auch im Menſchen urſprünglicher und ſtärker als der Drang
„ſein Daſein“ zu erhalten, oder ſeine zuſtändlichen Glücks⸗
gefühle zu ſteigern. Urſprünglicher iſt die Freude an Tat und
Kampf, als die Freude an ihrem „Erfolg“ und ihrer Beute;
urſprünglicher die Freude am „Wagnis“ und am „Opfer“ als
die Freude an Sicherheit und Wohlfahrt. „Macht“ über das
höchſte der irdiſchen Weſen, über den Menſchen ſelbſt, iſt
„Herrſchaft“. Drang nach Steigerung der Herrſchaft be—
wegt aber ſchon die primitioſte kriegeriſche Unternehmung;
und dieſer Drang geht aller Habſucht vorher; er gräbt ihr
ſelbſt erſt die Bahnen ihrer möglichen Befriedigung. Schon
die Zähmung der Tiere iſt nicht aus einem Nutzmotio, ſon⸗
dern aus dem Drang nach Ausdehnung der menſchlichen
15
Herrſchafts⸗ und Aktionsſphäre entſprungen.“ Eben darum
find Staat, d. h. das organifierte Herrſchaftsverhältnis in
einer Gruppe und Krieg allüberall gleichzeitig entſtanden —
und ſtehen und fallen zuſammen. Gewinnen Einheiten orga⸗
niſierter Herrſchaftsverhältniſſe im Laufe der Entwicklung
eine Feſtigkeit und Stabilität (im Verein mit der allmählichen
Fixierung der kriegeriſchen Jäger⸗ und Nomadenhorde zur
ackerbautreibenden Geſellſchaft), ſo daß Friede und Kriegs⸗
zuſtand ſich ſchärfer voneinander differenzieren und abheben
und die Friedenszeiten länger werden, ſo iſt dieſer Zuſtand
ſelbſt immer ſchon ein kumulierter und nachdauernder Effekt
früherer Kriege. Der Krieg iſt es ſchon, der ſchwärmende
Stämme zu feſteren Staatsgebilden zuſammenſchweißt. Nutz⸗
nießung wie „Arbeit“ an den Sachgütern, Verteilung bei der
das Maß und die Richtung des „Bedürfniſſes“ nach Ar⸗
beit und nach Nutznießung der Arbeitsprodukte, der Aufbau
der Bedürfnisgliederung nach Dringlichkeit und Intenſttät
in einer Gruppe, bilden ſich und finden nur ſtatt in den je⸗
weiligen Grenzen der durch den kriegeriſchen Geiſt aufgebauten
Herrſchaftsverhältniſſe; ſie werden nur innerhalb dieſer Gren⸗
zen, nicht über ſie hinweg durch das Recht rational geordnet.
Die friedliche oder kriegeriſche „Okkupation“ von Land und
Sachgütern, die Weſenswurzel der „Eigentums“ beziehung
geht aller rechtlichen Ordnung des Eigentumsverhältniſſes
vorher; und erſt beide Faktoren zuſammen beſtimmen ſchon
die Arbeits⸗ und Nutznießungsmöglichkeiten der Gruppenteile
an ihnen. Wäre es — umgekehrt — wahr, daß der primi⸗
tibe Krieg eine bloße, durch die Not und mangelhafte Ar⸗
beitstechnik motivierte Erwerbsform iſt, alſo nur Fortſetzung
16
des tieriſchen Mahrungskampfes oder automatiſche Folge
wachſender Bevölkerungsdichte, daß weiter Eigentum auf
„Arbeit“ beruht, „Herrſchaft“ aber auf „Reichtum“, —
ſo wäre es freilich auch richtig, daß jede Annahme, der
Krieg ſei eine bleibende Welteinrichtung und nicht bloß eine,
auf noch mangelndem induſtriellen und techniſchen Fortſchritt
beruhende „hiſtoriſche Erſcheinung“, das Zeichen eines reak⸗
tionären Geiſtes wäre. So etwa haben uns z. B. A. Comte
in feinem „Cours de philosophie positive“, und noch mehr
H. Spencer in ſeinen „Prinzipien der Moral“ die Sache
dargeſtellt. Faktiſch aber iſt eben dieſe Anſicht nur die Folge
einer rein ſtatiſchen Auffaſſung der menſchlichen Geſchichte;
einer Auffaſſung, die hinter aller menſchlichen Aktion „Be⸗
dürfniſſe! und „Notzuſtände“, hinter allem Wollen und aller
Tat irgendwelche ſie bedingende „Milieuwirkungen“, hinter
jedem „Hinzu“ eines Strebens ein „Vonweg“ ſucht. Wir
haben in der modernen Dynamik gelernt, den Gleichgewichts⸗
zuſtand nur als einen Spezialfall der Geſetze der Bewegung
zu beurteilen. Wir müſſen endlich lernen, auch den hiſtoriſchen
Menſchen als etwas urſprünglich Bewegliches, nicht Be⸗
wegtes, fein Milieu erſt Bildendes und Suchendes, nicht durch
es Gebildetes und Bedingtes zu ſehen: dann werden wir er⸗
kennen, daß der Krieg das dynamiſche Prinzip katexochen der
Geſchichte iſt. Es iſt dagegen die Friedensarbeit, als „An⸗
paſſungs“ tätigkeit angegebene, d. h. immer ſchon durch voraus⸗
gehende Kriege beſtimmte Machtverhältniſſe, welche das ſta⸗
tiſche Prinzip der Geſchichte ausmacht. Jeder Krieg iſt Rück⸗
kehr auf den ſchöpferiſchen Urſprung, aus dem der Staat
überhaupt hervorging; Untertauchen in die mächtige Lebens⸗
2 17
quelle, aus der heraus die großen Grenzlinien beſtimmt wer-
den, in der ſich menſchliches Geſchick und Betätigung ferner⸗
hin bewegen kann. Die poſitiviſtiſch⸗pazifiziſtiſche Geſchichts⸗
theorie, die ihre Gegner gerne als „reaktionär“ bezeichnet, iſt
daher faktiſch ſelbſt ultrareaktionär, da ſie alle dynamiſchen
Kräfte der Geſchichte zur Bildung neuer Machtoerhältniſſe
prinzipiell zugunſten der nur ſtatiſchen Prinzipien ſteigender
„Anpaſſung“ an gegebene Machtoerhältniſſe verleugnet.
Niemand hat dies ſchärfer geſehen als H. von Treitſchke.“
Er urteilt in ſeiner Politik: „Dem Hiſtoriker, der in der Welt
des Willens lebt, iſt ſofort klar, daß die Forderung ewigen
Friedens reaktionär iſt von Grund aus; er ſieht, daß mit dem
Kriege alle Bewegung, alles Werden aus der Geſchichte ge⸗
ſtrichen werden foll.‘‘ Geſchichte — das iſt ein Bergwaſſer, das
ſich ſeine Bahn und ſein Bett erſt im Dahinſpringen bildet,
kein Sumpf, der die Form eines vorhandenen Tales aus⸗
füllt. Eben darum wäre auch im Falle einer ideal⸗abſoluten
Solidarität der Wirtſchafts⸗ und Wohlfahrtsintereſſen aller
menſchlichen Gruppen und bei erreichter ideal⸗abſoluter Aus⸗
bildung und Geltung des internationalen Völkerrechts die
dauernde, lebende Wurzel des Krieges völlig unverſehrt.
Denn wie kräftig kämpfende ökonomiſche Intereſſen der
Völker auch wirken können, zur Kriegsgefahr führen ſie erſt,
wenn bei der Verhandlung über ſie die nationale Ehre, das
heißt die Durchdringung von Wert⸗ und Machtbewußtſein
der im Kriege zur unmittelbaren Anſchauung kommenden
nationalen Staatsperſönlichkeit verletzt wird. Weil dies noch
eben vermieden werden konnte, führte z. B. der Marokko⸗
handel feiner Zeit keinen Krieg herbei. Andererſeits find Ver:
18
letzungen ſolcher Art nicht an ökonomiſche Intereſſengegen—
ſätze gebunden, ſondern können auch ganz andere Herkunft
haben. Der Grad und die Grenzen der Ausbildung des Ver:
tragsrechts in ſeiner Anwendung auf Staaten müſſen daher
von denjenigen Grenzen, die im Weſen des „Vertrags“ als
ſolchem liegen, begrifflich aufs ſchärfſte geſchieden werden. Es
iſt aber ſchon die Idee des Vertrages ſelbſt und ſeiner mög—
lichen hiſtoriſchen Wirkſamkeit überhaupt, — nicht der Grad
feiner Ausbildung und feiner Anwendung auf gegebene Ge—
ſchichtsberhältniſſe —, die drei Dinge impliziert: 1. den bloßen
Intereſſenkonflikt im Unterſchied von Macht⸗ und Ehren:
konflikt, 2. die faktiſch immer nur fiktive Annahme eines
ruhenden, ſtatiſchen Zuſtandes der vorhandenen Gegenſätze
(„rebus sic stantibus“), 3. eine mit Herrſchermacht ausgerüſtete
Autorität, die auf irgendeine Weiſe die Einhaltung der Ver⸗
träge erzwingen kann, ſofern durch ſolche die an ſich und un⸗
abhängig von ſolcher Zwangsautorität geltende und idealiter
exiſtierende rechtliche Forderungsbeziehung erſt hiſtoriſche Re⸗
alität gewinnt. Nur in den Grenzen, in denen dieſe Be:
dingungen erfüllt ſind, beſtehen im Gegenſatze zum casus belli
bloß internationale „Streitigkeiten“, die völkerrechtlicher
Schlichtung fähig ſind. Es gehört aber zum Weſen der zum
Kriege führenden Gegenſätze, daß bei ihnen keine dieſer Be⸗
dingungen erfüllt iſt. Der Krieg iſt, wie geſagt, ſeiner
Natur nach Machtkonflikt, der durch Intereſſenkonflikte
höchſtens aufgelöſt werden kann, niemals in ſolchen oder einer
Häufung ſolcher beſteht. Und nicht ſtatiſch exiſtierende, feſt⸗
umſchriebene formulierbare Intereſſengegenſütze werden in
ihm entſchieden — wie im Falle alles rechtlichen „Streites“ —
2* 19
fondern die Spielräume möglicher und zukünftiger Inter⸗
eſſengegenſätze und =gleichheiten werden durch ihn aus dem Ge⸗
woge der hiſtoriſchen „Zukunft“, des hiſtoriſch „Möglichen“
gleichſam erſt herausgeſchnitten. Krieg iſt nicht „Streit“,
der nach Regeln entſcheidbar iſt. Er iſt eine Funktion
des konkreten einmaligen Wachſens⸗ und Werdenspro⸗
zeſſes der Völker und Staaten und entſcheidet Möglich⸗
keit, Größe und Richtung alles ferneren Wachſens und
Werdens; er iſt keine bloße abhängige Funktion ihres
gegenwärtigen und vergangenen zuſtändlichen Seins. Um der
Zukunft willen, nicht ſoweit ſie geſetzlich geregelt und „be⸗
rechenbar“, ſondern ſoweit fie nur mehr in freier Tat geſtaltbar
iſt, wurden zu allen Zeiten Kriege geführt. Im Kriege wird
dasjenige Sein erſt „gemacht“, das alle internationalen Ver⸗
träge vorausſetzen müſſen, um einen Sinn zu haben. Er iſt
Grenze und Quelle, nicht eine Art des bloßen „Streites“.
Eben darum arbeiten alle völkerrechtlichen Verträge mit der
doppelten Fiktion, die Vertragsmaterie werde fortfahren, nur
eine „Intereſſen“ frage, nicht eine zentrale Machtfrage zu fein
und die Zuſtände der vertragsſchließenden Mächte werden
zukünftig dieſelben fein (rebus sic stantibus). Es iſt nicht
„mangelhaftes Vertragsrecht“ oder diplomatiſcher Fehlgriff,
ſondern Grenze der Idee des Vertragsrechtes ſelbſt, wenn die
Tatſachen über dieſe Fiktionen hinwegſchreiten und der Krieg
eintritt. Endlich fehlt bei der „Souveränität“ jedes Staates
prinzipiell jede irdiſche, mit Herrſchermacht ausgerüſtete Au⸗
torität, die anders als durch, wieder in freiem Zuſammen⸗
ſtimmen ſouveräner Staaten zuſtande gekommene, Garantie⸗
übernahme für die Einhaltung der Verträge, die Erfüllung
20
beſtimmter, aus dem Vertrag erwachſene Rechte und Forde⸗
rungen erzwingen könnte. Man erſteht hieraus, daß die po⸗
ſitiviſtiſche Geſchichtskonſtruktion, ſoweit ſie den Krieg aus
ökonomiſchen Faktoren ableitet und der juriſtiſche Pazifizismus
ein und dieſelbe Wurzel haben: die ſtatiſche Geſchichtsauf⸗
faſſung und die Verwechſlung von Intereſſe, Nutzen mit
Macht und Ehre. Die Geſchichte lehrt uns nur eben das⸗
ſelbe, was die phänomenologiſche Forſchung und die Deduktion
aus den Grundtatſachen des Geiſtes erwarten läßt. Die krie⸗
geriſche Unternehmung und die äußere Politik der Macht⸗
verhältniſſe überhaupt, bedingt und beſtimmt die Bildung
und Geſtaltung „ökonomiſcher Verhältniſſe“; für denjenigen
wenigſtens, dem „Hiſtorie“ ein Nach- und Mitherausleben
des Tuns und Wirkens des hiſtoriſchen Menſchen iſt, alſo
auch ein das Werden der Zeitalter verfolgendes Mitſehen
deſſen, was zu jeder Zeit, im Unterſchied zu dem, was geſchicht⸗
liche „Wirklichkeit“ wurde, noch „möglich“ war; — nicht
alſo ein bloß denkendes Verbinden toter, gewordener Fakten.“
Sie beſtimmt nicht nur die ökonomiſchen möglichen Beziehun⸗
gen zwiſchen den Staaten, ſondern auch indirekt die inner⸗
ſtaatlichen Klaſſenbildungen, bis in das ökonomiſche Schickſal
jedes Einzelnen. L. von Ranke hat den jeweiligen Druck der
„weltpolitiſchen Verhältniſſe“ und Spannungen auf die
innere, auch ökonomiſche Politik der Staaten in ſeiner Ge⸗
ſchichtsſchreibung vortrefflich geſchildert. Freilich eben erſt in
dem Mitſehen deſſen, was ökonomiſch jeweilig hätte werden
„können“, was aber faktiſch nicht oder ganz anders wurde, —
erſt in dem Sehen dieſer Differenz von jeweilig hiſtoriſch
Möglichem und Wirklichem, offenbart ſich die für das
21
Wirtſchaftsleben determinierende Kraft des außerpolitiſchen
Ganges der Dinge. Dieſer typiſchen Verlaufsform gegen⸗
über iſt die entgegengeſetzte Form, bei der z. B. aus ökonomi⸗
ſchen Urſachen und ſteigender Bevölkerungsdichte entſtehende,
oder durch willkürliche Gewaltpolitik erzeugte, innerſtaatliche
revolutionäre, die Herrſchaft der Regierungen bedrohende Be⸗
wegungen im Kriege nach außen abgeleitet werden — ein
Schema, nach dem ſozialiſtiſche Theoretiker ſo gerne alle
Kriege erklären wollen — die durchaus irreguläre und unter⸗
geordnete. Es heißt das Weſen des Krieges auf den Kopf
ſtellen, den auswärtigen Krieg aus dem drohenden Bürger⸗
krieg abzuleiten.“ Nichts hat in den letzten Friedensjahren
den politiſchen Geiſt großer Volksmaſſen ſo ſehr mißleitet,
wie dies „ökonomiſche“ Geſchichtsſchema, verbunden mit einer
konſtitutiv gewordenen Geſichtsfeldeinengung der betreffenden
Parteien auf Fragen der inneren Politik überhaupt. Daß
ſelbſt der Spielraum und die Richtungen aller „mög⸗
lichen“ inneren Politik, aller Güter und Rechteverteilungen,
normaliter ganz und gar von den Erfolgen der äußeren Po⸗
litik abhängen, trat völlig außerhalb des Geſichtskreiſes.
Aus dieſem Schema heraus hat man Frankreichs Marokko⸗
politik, Italiens Annexion von Tripolis, Oſterreichs Bal⸗
kanpolitik, die Annexion Bosniens, den gewaltigen Kampf
Rußlands und Oſterreichs um Erweiterung ihres Macht⸗
ſpielraums in die Richtung auf Konſtantinopel, auf Ver⸗
ſuche, ſich der inneren Revolution zu bemeiſtern, hat man den
Konflikt mit Serbien auf das partikulare Intereſſe des
ſüdöſterreichiſchen Großgrundbeſitzes und der dortigen Groß⸗
induſtrie, zuſammen mit Angſt vor dem Zerfall des in Na⸗
22
tionalitäten zerſplitterten öſterreichiſchen Kaiſerreiches zurück⸗
geführt. Auf Grund dieſes Schemas haben uns die ebenſo
perſönlich harmloſen, als eben politiſch durch dieſe Harm⸗
loſigkeit ſo überaus gefährlichen Leute, die in Vortäuſchung
engliſch⸗deutſcher Entſpannung gemacht haben, ausgerechnet,
daß England ſchon darum keinen Krieg gegen uns beginnen
„könne“, weil es für eine Anzahl großer Induſtrien von uns
die Rohſtoffe, für andere die Halbfabrikate beziehe und da
wir ſein beſter Abnehmer ſeien. Und wieder nach dem gleichen
leeren Schema leitet man jetzt den kriegeriſchen Geiſt der fran⸗
zöſiſchen Jugend und Regierung in den letzten Jahren daraus
her, daß die neue republikaniſche Regierung den Arger der
reichen Leute gegen eine gerechtere Steuervorlage (progreſſive
Einkommensſteuer) nach Bahnen habe ableiten wollen; die
ruſſiſche Großfürſtenpartei aber den Panſlavismus zu benutzen
verſtand, um ihr wackelndes Regime zu ſtützen. (S. das
Folgende.)
Es ſcheint freilich, daß jedes Friedenszeitalter den Glauben
an irgendein Univerſalheilmittel gegen den Krieg hervorbringt.
Ende des 18. Jahrhunderts war die europäiſche Bildung
(ſ. Kants 1. Defenfivartikel in der Schrift zum „Ewigen
Frieden) feſt überzeugt, daß die republikaniſche Staatsform
ein ſolches Allheilmittel ſei. Die Geſchichte des 19. Jahr⸗
hunderts, in der Republiken weit mehr Kriege als Monar⸗
chien geführt haben, (Amerika — Spanien, England — Trans⸗
vaal,) hat uns von der völligen Gleichgültigkeit dieſer
Staatsform für den Krieg und dem weit tieferen Verant⸗
wortlichkeitsgefühl monarchiſch regierter Staaten überzeugt.
Um fo ſtärker wurde in dem vierundvierzig Jahre währenden
23
Friedenszeitalter der Glaube an die wachſende Solidarität
der Intereſſen des internationalen Handels und Verkehrs
und an die gemeinſamen Intereſſen ſozialer Klaſſen, beſon⸗
ders der Arbeitermaſſen als kriegshemmender Urſachen.
Aber wie elend und wie ſchwach haben ſich dieſe Intereſſen⸗
verbände und die ihnen dienenden Organiſationen und
internationalen Mechanismen erwieſen! Spinnegewebe ge⸗
trieben im Sturm! Es iſt aber gerade gegenwärtig von
höchſtem Jutereſſe, zu ſehen, wie dieſe Friedensphiloſophie,
die im Kriege biologiſch nur eine komplizierte Abart tieriſcher
Nahrungskämpfe ſieht und welche gleichzeitig die hiſtoriſchen
Kriegserſcheinungen aus ökonomiſchen und innerpolitiſchen
Faktoren ableiten will, die weiterhin in ſteigender ökonomiſcher
Jutereſſenſolidarität der Völker den Garanten eines immer
näher kommenden „ewigen Friedens“ ſieht, auch bei uns
Deutſchen Herrſchaft gewann. Sie iſt in Sinn und hiſto⸗
riſcher Wurzel völlig verſchieden vom moraliſch⸗ fc een
Pazifizismus.
Dieſer letztere begann nach dem Tod Ludwig XIV., noch
dem Utrechter Frieden ſein Haupt zu erheben. J. dieſer
Zeit, die Friedrich der Große eine „Zeit allgemeiner Ent⸗
artung der europäiſchen Politik“ nannte, begannen der ältere
Rouſſeau und der Abbe Caſtel de Saint Pierre ihre Bücher
vom „ewigen Frieden“ zu ſchreiben. 1795 folgte Kant mit
ſeinem „philoſophiſchen Entwurf zum ewigen Frieden“. In
allen drei Werken ſind es moraliſche Forderungen, entweder
ſolche der Humanität, oder ſolche, die ſich aus einer Univerſa⸗
liſterung der Idee eines republikaniſch orientierten Vernunft⸗
rechtes (Kant) auf die Staatenverhältniſſe ergeben, in deren
24
e a 2
Name der „ewige Friede“ teils als Utopie, teils nur (wie
bei Kant) als „regulative“ Leitidee des politiſchen Handelns
beſtimmt wird. Der dritte „Präliminarartikel zum ewigen
Frieden“ unter den Artikeln Kants fordert das Aufhören
der ſtehenden Heere, die ſelbſt notwendig zu Urſachen des
Krieges würden, „wozu kommt, daß zum Töten und getötet
zu werden in Sold genommen zu ſein, einen Gebrauch von
Menſchen als bloßen Maſchinen und Werkzeugen in der
Hand eines anderen (des Staates) zu enthalten ſcheint, der
ſich nicht wohl mit dem Rechte der Menſchheit in unſerer
Perſon vereinigen läßt“. So wenig konnte ſelbſt der Preuße
Kant — das Unweſen der Kabinettskriege des 18. Jahr⸗
hunderts vor Augen — das ſtehende Heer als einen orga=
niſchen Beſtandteil der Staatseinrichtung und ein frei von
den Bürgern felbft Gewolltes und Verantwortetes begreifen.”
Er empfiehlt daher ausdrücklich das Milizheer. Die „De⸗
fenſtvartikel!“ beginnen gleich mit dem vermeintlichen Uni⸗
verſalheilmittel des 18. Jahrhunderts gegen den Krieg: „Die
bürgerliche Verfaſſung in jedem Staate ſoll republikaniſch
fein.‘ Denn „wenn die Beiſtimmung der Staatsbürger dazu
erfordert wird, zu beſchließen, ob Krieg ſein ſolle oder nicht,
ſo iſt nichts natürlicher, als daß, da ſie alle Drangſale des
Krieges über ſich ſelbſt beſchließen, ſie ſich ſehr bedenken wer⸗
den, ein ſo ſchlimmes Spiel anzufangen“. Im anderen Falle
ſei Gefahr, daß das Staatsoberhaupt, das als Staatseigen⸗
tümer „an ſeinen Tafeln, Jagden, Luſtſchlöſſern, Hoffeſten
und dergl. nicht das Mindeſte einbüßt, dieſen alſo wie eine
Art von Luſtpartie aus unbedeutenden Urſachen beſchließen
und der Anſtändigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplo⸗
25
matiſchen Korps die Rechtfertigung desſelben gleichgültig
überlaſſen kann“. Der Abgrund politiſcher Verworfenheit
der Zeit, in den dieſe Sätze blicken laſſen, rechtfertigt das
Urteil Treitſchkes, daß nur „müde, geiſtloſe und erſchlaffte
Zeiten“ den Traum des ewigen Friedens geträumt haben,
auch angeſichts des Philoſophen des „kategoriſchen Imperatis“,
deſſen ſittliches , Pflicht Pathos in feinen Schülern Gneiſenau
und Boyen die neue preußiſche Armeeverfaſſung der Befrei⸗
ungskriege mitaufbauen half, rechtfertigt es auch dann noch,
wenn einige Kabinettskriege, die er ſich dabei vorſtellte, dieſes
Urteil einigermaßen verſtändlich machen. Immerhin legt Kant
dem Krieg noch eine Art ungewollter Zweckmäßigkeit zur
Ziviliſation der Erde bei; die Menſchen ſeien durch ihn zur
Bevölkerung der ganzen Erde „auch der unwirtſchaftlichſten
Gegenden“ „wider ihre Neigung“ gedrängt worden. Und
im erfreulichen Gegenſatz zu jener Lehre, nach der bloße
Intereſſenkonflikte Urſprung des Krieges ſein ſollen, findet
Kant, daß nicht „eigennützige Triebfedern“, ſondern „ſogar
etwas Edles, wozu der Menſch durch den Ehrtrieb beſeelt
werde“ ſeinen „letzten Beweggrund in der Menſchennatur“
ausmache, wodurch der Krieg eine „innere Würde“ erhalte.“
Wenn dieſer Typus von Kriegsphiloſophie im Geiſte der
franzöſiſchen Revolution ihren letzten Urſprung hat, ſo iſt
England das Mutterland jener andersartigen poſttiviſtiſchen
Intereſſenlehre. Auch hier hängen Lehre, Theorien und die
reale Geſchichte Englands weit tiefer zuſammen, als man
annimmt.
Seit England Aſpirationen, ſich auf dem Feſtland auszu⸗
dehnen, aufgegeben hat, ſeit es am edelſten Heere, das es je
26
befaß, an Oliver Cromwells gottſeligen, gnadentrunkenen Dra⸗
gonern, die nur die Idee einer religiöfen Sekte, Gottes Herr:
ſchaft zu verbreiten, verbunden mit der aus der independenten
Puritanerkirche ſtammenden Idee der religiös fundierten poli⸗
tiſchen Freiheit, nicht aber das Ganze des engliſchen Volkes
vertraten, die furchtbare Erfahrung eines verheerenden Bürger⸗
krieges gemacht hatte, gewöhnte es ſich daran, das Heer nicht
als organiſchen Beſtandteil der Nation, ſondern als bloß
mechaniſches Werkzeug der jeweiligen Staatsregierung zu
betrachten; an erſter Stelle aber als Werkzeug für koloniale
Erwerbsintereſſen. Von der Aufgabe des Küſtenſchutzes ab:
geſehen, der an erſter Stelle der Flotte obliegt, wurde der
Soldat hier in der Tat an erſter Stelle das, wofür ihn jene
neupoſitiviſtiſche Auffaſſung überhaupt nimmt: der bloße
Schrittmacher des Kaufmanns. Die Meutereiakte ſtellte
nach der Reſtauration das Heer unter Wilhelm III. außer⸗
halb der bürgerlichen Geſetze. Engliſche Hiſtoriker, wie Ma⸗
caulay, und faſt alle engliſchen Philoſophen bis zu H. Spen⸗
cer, haben dieſes echt engliſche, konſtitutive Mißtrauen gegen
das Heer zu dem Satze dogmatiſiert, jedes ſtehende Heer ſei
eine Gefahr für die politiſche Freiheit. Die Zwecke, zu denen
Heer und Flotte hier vor allem verwendet wurden, zur be⸗
waffneten Handelsunternehmung und zum ſyſtematiſierten
kolonialen Beutezug, Unternehmungsformen, aus denen zu⸗
ſammen mit der freien Initiative des engliſchen Kaufmanns
ſich langſam die großen Handelskompagnien und ſchließlich
das engliſche Weltreich auf bauten, geſtattete und forderte auch
dieſes loſe, werkzeugliche Verhältnis von Heer und Nation.
Denn nicht die edelſten und beſten Elemente, ſondern an erſter
27
*
Stelle verarmter, aber kühner und raubgieriger Adel, deſſen
ererbte normanniſche Seeräuberinſtinkte im Frieden brach
lagen, drängte ſich automatiſch an die Spitze bei dieſen
Kriegen, die ihr Krämerzweck nicht zu heiligen vermochte,
und deren Führungsart bei der Natur der mit engliſchem
Nationalhochmut verachteten Gegner die Geſetze jener Ritter⸗
lichkeit, die das Menſchentöten erſt zum „Kriege“ machen, in
bekannter Weiſe mißachtete. Moch heute meldet ſich der halb⸗
wegs anſtändige engliſche Arbeiter nicht leicht freiwillig zum
Heeresdienſt, wie die jüngſten Berichte zeigen. Homer Lea
hat in ſeinem Buche „The day of the Saxon“ den Nieder⸗
gang dieſes immerhin kraftvollen (nicht „kriegeriſchen“, wie
er irrig ſagt) Räubergeiſtes, der „das engliſche Weltreich
ſchuf“, anſchaulich geſchildert und beklagt. Aber er wie der
Dichter und Prophet eines neuen engliſchen Militarismus,
R. Kipling, der Sänger des „Roten Kerls“, vergaßen, daß
zwar der „Räuber“, nicht aber der „Krieger“ eine nur hiſto⸗
riſche Kategorie iſt; und daß der ſeiner Romantik entkleidete
„Räuber“ eben nur der merkantile „Gentleman“ iſt und wer⸗
den kann — und darum bleiben muß, da er nie ein „Krieger“
war. Auch die wahrſcheinliche Einführung der allgemeinen
Dienſtpflicht in England in unſerem Kriege wird den „Gentle⸗
man“ nicht zum „Krieger“ machen. Die geſamte engliſche
Philoſophie, die militariſtiſche und pazifiziſtiſche, verwechſelt
den Krieger mit dem Räuber. Daher die Irrungen. Es iſt
daher kein Wunder, daß der echt engliſche Drang, von feinen
inſulären Verhältniſſen aus Weltverhältniſſe zu generalifieren
— das „inſuläre Denken“ nannte es vorzüglich der Oxforder
Philoſoph Breadley und Shaw ſpottet in ſeinem Stück
28
Antonius und Cleopatra feiner fo hübſch, wenn Cäſar gegen
den angeſichts der tanzenden Cleopatra prüden Britannicus
ſagt: „Laßt ihn reden, er hält die Sitten ſeiner Inſel für
Naturgeſetze“ — dazu führte, alle Kriege, ja des Krieges
Weſen auf Urſachen der ökonomiſchen Erwerbsſucht zurück⸗
zuführen; ja ſchließlich ſpäter in der biologiſchen Unterbauung
dieſer Theorie durch Darwin und Spencer im tieriſchen Mah⸗
rungskampf ſeine letzte biologiſche Wurzel zu ſehen. Wäre
dieſe Vorausſetzung wahr, ſo müßte natürlich die ſteigende
ökonomiſche Intereſſenſolidarität der Völker auch ſein end⸗
gültiges Aufhören bewirken.
A—ouẽberr auch an zwei allgemeinere Doktrinen vermochte dieſe
ſchon aus der Praxis der engliſchen Geſchichte nahegelegte
Auffaſſung des Krieges anzuknüpfen. An die philoſophiſchen,
ökonomiſchen und politiſchen Lehren des engliſchen „Liberalis⸗
mus“ und an den traditionellen Utilitarismus ſeit Bacon,
dem ſich ſpäter — nur als kleine Seitenzweige derſelben
Wurzel des nationalengliſchen Geiſtes — auch jene grund⸗
irrigen Prinzipien der engliſchen Biologie anſchloſſen, die
durch Malthus und Darwin aufkamen, nachher aber durch
H. Spencer wieder auf die Moral und Soziologie und hier
ganz beſonders auf die geſchichtsphiloſophiſche Auffaſſung
des Friedens und Krieges übertragen wurden. Der politiſche
„Liberalismus“ brachte ſeit John Locke vornehmlich drei
Ideen hervor, die auf die Auffaſſung des Krieges in genau
dem gleichen Sinne wie die Generaliſterungen der hiſtoriſchen
Wirklichkeit Englands zurück wirkten: Die individnaliftifche
Vertragslehre vom Urſprung des Staates; die Lehre von der
gottgewollten „natürlichen Harmonie der Intereſſen“ bei
29
f
deren freier egoiſtiſcher Auswirkung; und endlich die (mecha⸗
niſtiſche) Leugnung aller in das Spiel der Kräfte irgend⸗
welcher elementarer Einheiten (der Welt, der Seele, des
Staates) eingreifender und lenkender zentraler Agentien, wie
ſie Gottes Weltlenkung und Regierung für die Teile der
Welt, die Perſon für das Spiel der Vorſtellungen und
Triebe, der Staat für das Spiel der wirtſchaftlichen Vor⸗
gänge, die Kirche für eine ſpirituelle Oberleitung der geiſtigen
Kultur darftellen. „Deismus“, Aſſoziationspſychologie, Frei⸗
handelslehre und durch Adam Stiith theoretiſch unterbautes
Mancheſtertum ſowie freies Gemeindechriſtentum ſind alſo
nur Beſtandteile und gleichſam Seitenanſichten der „Welt“,
wie ſie ſich in der „liberalen Weltanſchauung malt. Aus den
Maſchen dieſer Weltanſchauung plumpſt die ungeheure Ir⸗
rationalität des Krieges natürlich allüberall heraus. Beruhte
der Staat, der zu friedlicher Ordnung ſeiner „Bürger“ ge⸗
nannten Glieder faktiſch geführt hat, ſei es hiſtoriſch, ſei es
auch nur eſſentiell auf der Idee des Vertrages, ſo wäre frei⸗
lich nicht einzuſehen, warum nicht durch Verträge der Staaten
untereinander (alſo auf einem höheren Stockwerk gleichſam)
eine analoge, dauernd friedliche Ordnung unter den Staaten
zu erreichen wäre, wie ſie im Staate durch Vertrag möglich
iſt.“ Nur als urſprüngliche Lebens⸗ und Willensgemein⸗
ſchaft — die der Staat faktiſch iſt — deren organiſterter
Wille vor den Individuen iſt und gilt und als eine, von den
durch mögliche Verträge zu regelnden Intereſſen unabhängige
Macht, Rechts⸗ und Werteinheit, deren Rechtſetzung oder
Anerkennung erſt faktiſche „Verträge“ möglich macht, kann
der Staat als Subjekt des Krieges ſinnvoll angeſehen werden.
*
— *
*
r Fa dee
Die zweite Idee aber, jene von der „natürlichen Intereſſen⸗
harmonie“, wurde für A. Smith nicht nur zur Vorausſetzung
ſeiner Lehre von der automatiſchen „beſten“ Preisregulierung
durch Angebot und Nachfrage, ſondern auch ſeiner Lehre vom
Freihandel aus Prinzip, als eines Mittels zur gegenſeitigen
beſten Ergänzung der nationalen Produktionen untereinander
zur vollkommenſten Stillung des ökonomiſchen Weltbedarfs.“
Die Selbſtwertigkeit der ökonomiſchen Autarkie der natio⸗
nalen Wirtſchaftseinheiten als ſolcher, deren Grad in jedem
Kriege einer der entſcheidendſten Faktoren für Sieg und Nieder⸗
lage iſt, trat vor dieſem einſeitig privatwirtſchaftlichen Ge⸗
ſichtspunkt feiner ökonomiſchen Lehre völlig zurück. Die Ver:
bindung aber dieſer Harmonielehre mit der mechaniſtiſchen
Leugnung aller zentraler, leitender Kräfte wurde zur Begrün⸗
dung der folgenſchweren Lehre vom „europäiſchen Gleich⸗
gewicht !, über die ſchon Friedrich der Große die ſcharfe Lauge
feines Spottes ergoſſen hat. Im Bilde einer Wage wurden
die europäiſchen Mächte dargeſtellt, deren Balance durch die
Kunſt der Diplomatie ſorgfältig zu hüten ſei. In dieſem
Bilde der „Wage“ iſt das rein Statiſche dieſer Geſchichts⸗
betrachtung, das Verkennen der Tatſache, daß jeder Staat
ein Wachſendes und Werdendes iſt, daß Geſchichte Tat und
Leben, nicht aber ein diplomatiſches Rechenexempel iſt, auch
formell offenkundig. Dieſe Lehre ſetzt voraus, daß jeder Krieg
durch eine gute Diplomatie und kluge Verträge vermeidbar
geweſen wäre, daß er immer nur die Folge eines ſubjektiven
Rechenfehlers ſei, nicht aber ein in den Dingen ſelbſt liegendes
Irrationales. Daß faktiſch diplomatiſche Unterhandlungen —
im beſten Falle — nur die oberflächlichſten Bewußtſeinsſpiege⸗
31
lungen der faktiſchen Kräfte und Spannungen ſind, die zum
Kriege führen und daß dieſe Kräfte als ſittliche Kräfte nichts
roh Mechaniſches und Berechenbares ſind, ſondern nur für
jeden beſonderen konkreten Fall Aufzeigbares, reſp. hiſtoriſch
Nachzuerlebendes ſind, wurde hier natürlich vergeſſen. In ihrer
Anwendung aber wurde dieſe Methode des politiſchen Gleich⸗
gewichts“ in England fo gefaßt, daß zu den als toten Gewichten
gedachten, kontinentalen europäiſchen Staaten England als
ein außerhalb der europäiſchen Kulturſolidarität ſtehendes,
über ſie erhabenes, rechnendes und lenkendes Subjekt, das die
„Wage“ in der Hand hält, ſtets ſo viel „Gewichte“ auf die
Schalen mit kleinerem Gewicht zu legen habe, daß „Gleich⸗
gewicht“ einträte. Dieſer beiſpiellos freche Anſpruch, mit
Europa bloß zu „rechnen“, anſtatt ſich als Glied Europas
zu fühlen, erhielt dann als köſtliches ethiſches Cachet die For⸗
mulierung, es ſei Englands ganz beſondere göttliche Sendung,
„die Rechte der Schwachen“ zu ſchützen. Der Haß gegen den
jeweilig Starken (beſonders Seeſtarken) wurde per Reſſenti⸗
ment als „Liebe zu den Schwachen“ vermöge des engliſchen
Kant (ſ. Anhang) ſo ausgelegt, daß das Gewiſſen des Gentle⸗
man ſelbſt vor Gott noch „rein“ zu bleiben ſchien. Genau
analog hält noch Spencer ein ethiſch abſolut indifferentes,
blödes, ſoziales Intereſſengleichgewicht (bei dem die Welt
noch teufliſch ſein könnte) für den „Erſatz“ der Idee des chriſt⸗
lichen Liebes⸗ und Gottesreiches! Und wieder zum gleichen
Reſultat führte der engliſche Utilitarismus, ſei es der cant⸗
verſchleierte, ſei es der naiv ehrliche, die ideologiſche und prak⸗
tiſche Spezifizität des Inſelvolkes. In feiner Güterlehre muß
der Utilitarismus nicht nur die geiſtigen Werte (Erkenntnis,
32
Wiſſenſchaft, Kunſt), ſondern auch alle Lebenswerte (Volks⸗
kraft, Raſſe und Volksgeſundheit, echte „Macht“) denen
des Nutzens und der Technik unterordnen. Das aber heißt
einen ſchrankenloſen volks⸗ und landverwüſtenden Induſtria⸗
lismus predigen. Verbunden aber mit dem, alles Fremde
ausſchließenden und am Eigenen ſo naiv meſſenden nationalen
Selbſtgefühl des Inſelvolkes führt dieſe Denkart zum tiefſten
inneren Widerſpruch, den Geſchichte und Kultur Englands
überhaupt in ſich enthalten. Dieſer Widerſpruch beruht dar⸗
auf, daß die utilitariſchen Werte, rein als ſolche betrachter
keinen Differenzierungsgrund für die Exiſtenz von „Nationen“
und nationalen Staaten in ſich enthalten. Sie und ſie allein
ſind von Hauſe aus „international“, ja anational, ſind es
und ſollen es ſein; nur den Methoden ihrer Hervorbringung
— nicht den Produkten — (ſo auch den Methoden, nicht den
Reſultaten des durch dieſe Werte noch mitbeſtimmten Denkens
der exakten Wiſſenſchaften) kommt noch ein eige ntümlicher
„nationaler“ Charakter zu. Sinn und Exiſtenz der Nationen
und nationalen Staaten ruht alſo gerade ausſchließlich auf den
überutilitariſchen Worten, den Lebens⸗ und Kulturwerten, auf
Macht, Ehre, Geiſt.“ Und gleichwohl iſt das engliſche Ethos,
das — ſeiner Breitenherrſchaft nach angeſehen — die Lebens⸗
und Kulturwerte, damit auch gemeinſames Stammesgefühl
und Kulturſolidarität mit den Weſtmächten, prinzipiell und
in jedem praktiſch bedeutſamen Falle den Mützlichkeitswerten
unterordnet — auch jetzt wieder die von ihm tief verachteten
Ruſſen und Japaner gegen uns Deutſche für feine Kontobuch⸗
Intereſſen arbeiten läßt — ausgeprägt nationaliſtiſch! Aber
nicht wie die echte Nation es tut, ſucht es ſein „eigentümliches
3 33
Beſtes“ zur Macht über die Erde werden zu laſſen (J. ©.
Fichte), — dieſes „Beſte“ kann ja von Hauſe aus nur in
den geiſtigen und heldiſchen Werten beſchloſſen liegen —
vielmehr ſucht es nur die Mützlichkeitsintereſſen der Völker
an die eigenen Intereſſen des engliſchen Kontobuches zu heften.
So leugnet es zugleich prinzipiell das Fundament für die
Exiſtenz des nationalen Staates — das Ethos, aus dem dieſer
immer und ewig hervorſprießt — und ſchließt ſich gleichwohl
in ſeinem Selbſtgefühl ſchärfer von allen anderen Nationen
ab als jede andere Nation. Die Löſung dieſes Rätſels liegt
zum Teil in der Natur eines Inſelvolkes, bei dem die Küſte
allein ſchon eine viel ſchärfere natürliche nationale Abgrenzung
ſchafft, der geiſtige Kitt der Nation alſo entſprechend ver⸗
mindert ſein kann; zum Teil aber eben darin, daß die ſchranken⸗
los utilitariſche Geſinnung ſelbſt, hier zum Dogma erhoben,
den beſonderen und allerdings einzigartigen geiſtigen Kitt
bildet, der gerade die engliſche Nation zuſamenhält.“ Die
Kriegsidee der engliſchen Philoſophen und Hiſtoriker trägt
darum den Widerſpruch in ſich, daß ſie gleichzeitig den Krieg
als dauernde Welteinrichtung ſchroff verneinen, aber ſelbſt
vor der Billigung grauſamſter Vernichtungskriege nicht zu⸗
rückſcheuen, wo es Mützlichkeitsintereſſen gebieten. (Man
denke an Indien und die engliſchen Feudalherrn im Kampf
mit den Negern im Süden der Vereinigten Staaten.) All
dem entſpricht auch die utilitariſche Moraltheorie genau.
Alle jene ſpezifiſch vitalen Tugendwerte, deren poſitive
Schätzung ein kriegeriſches Volk auszeichnen, als da ſind Mut
und Liebe zum Ohngefähr und zur Gefahr, Sinn für das
Edle und Heldiſche, Ritterlichkeit, Treue, Opferkraft, Ehr⸗
34
gefühl und Ruhmbegierde pflegen die englifchen Moraltheo⸗
retiker traditionell aus der nützlichen Wirkung abzuleiten,
welche nicht etwa der Beſitz dieſer Eigenſchaften, ſondern nur
das Dafürgelten, daß man ſie beſitze, vor dem „unbeteiligten
Zuſchauer“ und der „öffentlichen Meinung“ mit ſich führe.
Es iſt faſt zum Lachen, wie Smiths Theorie von der Her⸗
kunft moraliſcher Werte und des Gewiſſens aus dem reflexiven
Mitgefühl des Übeltäters mit dem lobenden und tadeln⸗
den Urteil des „unbeteiligten Zuſchauers“ dem engliſchen
cant, wie D. Humes Ableitung der Schätzung des Ehr⸗
gefühls im zweiten Teile ſeines Traktates aus dem Nutzen
und der Kreditfähigkeit, welche die Achtung anderer mit ſich
führen, die Natur des — eben nur englifchen — „Ehrgefühls“
theoretiſch apologetiſiert. (Siehe das Genauere im Anhang
dieſes Buches.) Die Herren wiſſen nicht: „De te fabula nar-
ratur“! Sie merken nicht, daß fie überall da, wo „menſch⸗
liche Natur“ ſteht, ein „wir Engländer“ zu ſetzen hätten.
Genau ſo wie in praxi der engliſche Soldat nur Schrittmacher
des Kaufmanns iſt, ſo erſcheinen auch in der Theorie der
Philoſophen die vitalen und kriegeriſchen Tugenden nur als
Derivate der ſpezifiſch kaufmänniſchen Tugenden, wie ſie ſich
in Fleiß, Solidität, Rechtlichkeit, Sinn für Sekurität in
allen Lebens beziehungen, guten Ruf, Klugheit und Konſtanz
der Willensenergie uſw. verkörpern. Das Kriegeriſch⸗Ritter⸗
liche von dem Räuberiſchen zu unterſcheiden iſt den engliſchen
Moraliſten ſtets am ſchwerſten geworden — eben darum, da
ihre Kriegführung ſtets räuberiſchen Charakter hatte. Kein
Wunder denn auch, daß ſie den Krieg ſelbſt philoſophiſch
und pſychologiſch auf eine Art Räuberei und ſchließlich de
*
3 35
facto darauf zurückführen: daß die Welt noch nicht in ge⸗
nügendem Maße in das Geſchäftshaus Old England & Co.
als Kommis eingetreten iſt. Erſt dann würde das „ſoziale und
politiſche Gleichgewicht“ völlig erreicht ſein.
Darf man von dem Kriege, den wir eben führen, hoffen,
daß die oben bezeichneten Ideengänge, die ein großer Teil
unſeres Volkes und unſerer Parteien allzubereitwillig von
England übernahm, zurücktreten werden? und wir wieder mit
unſeren eigenen deutſchen Augen die Dinge ſehen werden, ſo
darf man vielleicht auch hoffen, daß jene ſchon vorher zurück⸗
gewieſene roheſte und törichteſte theoretiſche Auffaſſung des
Krieges verſchwindet, die wir ſo lange ſowohl von Angehöri⸗
gen des Pazifizismus als von Leuten der Kriegspartei vorgetra⸗
gen hörten, und die aus der engliſchen Biologie, beſonders
aus den Theorien Darwins, als beſonderen Anwendungen des
Utilitarismus auf die Lebenserſcheinungen, hervorging.
Der Krieg — ſagte ich — hat, obzwar ein eigentümlich
menſchlicher Vorgang, eine Wurzel im Weſen des Lebens
überhaupt. Aber dieſe Wurzel iſt gerade nicht — wie uns
die Darwiniſten und H. Spencer verſichern — der tieriſche
Daſeins⸗ und Nahrungskampf; ſie iſt nicht eine Folge ge⸗
wiſſer Disharmonien der „Anpaſſung“, die alſo mit ſteigender
„Anpaſſung“ überwunden würde. Die wahre Wurzel alles
Krieges beſteht darin, daß allem Leben ſelbſt und unabhängig
von ſeiner beſonderen, wechſelnden Umwelt und deren Reizen
eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur Ent⸗
faltung ſeiner Mannigfaltigkeitsarten (Organ, Funktion
uſw.) innewohnt. Gleichzeitig und durch die gleichen Agen⸗
tien beſtimmt betätigt ſich dieſe Tendenz in Organbildung
0
1 SM
reſp. Organdifferenzierung und in Erweiterung ſowie Heraus⸗
formung einer der Artorganiſation entſprechenden „Umwelt“
aus dem Geſamtdaſein der toten Welt.“ Dieſer Tendenz aber
ſind jene Momente, die Darwin und Speneer zu den alleinigen
Weſenszügen des Lebens machen, nämlich „Daſeinserhaltung“
und „Anpaſſung innerer Beziehungen an äußere“ der Um⸗
welt ganz untergeordnet. Analog ſind die individualerhalten⸗
den und ⸗ſteigernden Tendenzen und Kräfte (darunter auch
die Erwerbsfähigkeit neuer „Gewohnheiten“ bei den höheren
Wirbeltieren) den arterhaltenden und artſteigernden Kräften
(wie in den echten „Inſtinkten“) nicht wie Spencer wenig⸗
ſtens für die Urſprünge annimmt, übergeordnet, ſondern
untergeordnet. Zwei Merkmale hat alſo jener Darwin⸗
Spencerſche Lebensbegriff, welche uns tiefere Einſicht heute
zurückzuweiſen zwingt: Er iſt (trotz mancher entgegengeſetzter
Anläufe Darwins) ſchroff individualiſtiſch und er iſt ganz
paſſtoiſch und mechaniſch. Er entwendet, wie ſchon Nietzſche,
neuerdings Bunge“ treffend ſagten, dem Leben fein Weſen:
„die Aktivität“. Die großen Entfaltungs⸗, Differenzierungs⸗
und Formänderungserſcheinungen in der Lebewelt ſollen nach
dieſer überall mit Analogien aus der Mechanik ſpielenden
Lehre keine eigene autonome Urſache haben. Sie ſollen nur
gleichſam ſtatiſtiſche Durchſchnittserfolge davon fein, daß zu:
fällig variierende Individuen und Individualkeime ſich im
„Daſein erhalten“. Alle Ent⸗faltung ſoll nur Epiphänomen
ſein zu Er⸗haltungsprozeſſen; alles Wachstum nur Folge der
Aufnahme und Bindung äußerer Stoffe in der Ernährung.
Das Leben der Art und alle von ihm abhängigen pſychologi⸗
ſchen Kräfte aber ſollen dem Individuum nicht real immanent,
37
fondern nur eine Zuſammenfaſſung unferes künſtlichen Ver:
ſtandes fein, die er an den Erfolgen der individuellen Variation,
den individuellen Erwerbungen (Spencer) und der an dieſen Er⸗
werbungen und richtungsloſen zufälligen Umbildungen ſtatt⸗
findenden Selektion des Untauglichen durch äußere Kräfte vor⸗
nimmt. Faktiſch aber geht die Tendenz zur Erweiterung und
aktiven Formung der Umwelt — Nietzſche nannte fie einſeitig
und unzweckmäßig den „Willen zur Macht“ — allen jenen
Prozeſſen vorher, die nur die ſteigende (und ſinkende) An⸗
paſſung der Individuen an ihre Umwelt beſtimmen; faktiſch
geht — wie die Menge der Reſtitutionen zeigten — die Ten⸗
denz zur Neubildung von Organen allen Prozeſſen vorher,
die auf Grund äußerer Einwirkungen nur ihre Umbildung
veranlaſſen. Faktiſch iſt die Wachstumstendenz ſchon der
einzelnen Zelle Bedingung jener normalen Ernährung.“
Steigende Anpaſſung an die Umwelt, die nicht mit jener pri⸗
mären Tendenz zur Erweiterung und Erformung einer „Um⸗
welt“ gleichzeitig iſt, iſt alſo ſo wenig die mögliche Urſache
einer „Entwickelung“, daß ſie vielmehr häufig zum Verluſt
ſchon entfalteter Organe führt und zur Entdifferenzierung der
Art. Eine Reihe Schmarotzer haben ihre Bewegungsorgane
und vieles andere durch „Anpaſſung“ verloren und faſt nur
ihre Verdauungsorgane blieben ſchließlich zurück; ſie gleichen
einer Geſellſchaft, die nur mehr Handels: und Induſtrie⸗
geſellſchaft wäre. Anpaſſung und Erhaltung des Angepaßten
kann ſchon darum wahre Entwicklung und Entfaltung der
Organiſation nicht erklären, da auf jeder Stufe der Orga⸗
niſationshöhe die Individuen in allen beliebigen Graden ihrer
(von Organiſation zu Organiſation wechſelnden) Umwelt
38
angepaßt und nicht angepaßt fein können: Die Qualle wie
der Menſch.“ Nur indem Spencer die „Menſchenumwelt“
auch den Tieren und Pflanzen zugrunde legt — anſtatt deren
jeweiliges Milien fo, wie es jetzt von Uxküll fo inſtruktio ge-
ſchieht, beſonders zu ſtudieren — kann er vermeinen, die echten
Organiſationsänderungen auf Kumulierung von Anpaſſungs⸗
und Standartsvariationen zurückführen zu können. Durch
dieſe grundirrigen Vorausſetzungen erhielt aber auch der
ſogenannte „Kampf ums Daſein“ und um die Nahrung
eine ganz falſche Bedeutung zugeſchrieben. Während er für
Darwin — der hier charakteriſtiſcherweiſe von den an den
engliſchen Induſtrieverhältniſſen der dreißiger und vierziger
Jahre gewonnenen fozialen Bevölkerungslehren des ortho⸗
doxen Puritaners Malthus ſeinen Ausgang nahm und die
Sonderart ihrer Verhältniſſe gleichſam in die Natur hinein⸗
projizierte — einer der bedeutſamſten Faktoren der Fortent⸗
wicklung des Lebens zu höherer Organiſation iſt, gilt für eine
zutreffendere Auffaſſung des Lebens das Umgekehrte. Es
gilt, daß ſolcher Kampf um die Nahrung genau nur ſoweit
und in den Grenzen ſtattfindet, als jene primäre Tendenz zur
Erweiterung und Erformung eines beſonderen Milieu, ſowie
gleichzeitiger, durch dasſelbe Agens beſtimmter Organbil⸗
dung, in ihrer Kraft nachläßt, das heißt als das Leben in
einer Art ſtagniert und niedergeht. Was in Lebeweſen zur
Entfaltung, zur Erweiterung und Erformung ihres eigen—
tümlichen Milien führt, das eben hemmt zugleich dieſen
Konkurrenzkampf um die Nahrung und macht ihn relativ
unnötig. Nur ſoweit ſich die Milieus der Lebeweſen jeweilig
noch ſchneiden und das heißt ſoweit die Wirk ſamkeit der
39
urfprünglichen Differenzierungsurſache von Organ und Um:
welt ſtagniert, gibt es und kann es folchen „Kampf“ um
eine gemeinſame Nahrung geben. Mangelnde Machtent⸗
faltung des Lebens alfo führt zu Daſeins⸗ und Nahrungs⸗
konkurrenzkampf. Je ſchärfer die Artorganiſationen ge⸗
ſchieden ſind, und je tiefer zwiſchen ihnen die Verſchieden⸗
heiten in den vital wichtigſten Organen und Funktionen
gehen, deſto mehr gibt die lebendige Natur dem geiſtigen
Auge das Bild eines friedlichen Zuſammenwohnens und
einer Solidarität der Kräfte, und nur an den Grenzen und
unklaren Übergängen herrſcht das Prinzip des Nahrungs⸗
kampfes. Analog gilt: Soweit die Organismen überhaupt
im Verhältnis von Jäger und Beute zueinander ſtehen —
nicht alſo bloß des Nahrungskonkurrenzkampfes — deſto
ſpezifiſcher wird die Beute bei wachſender Organiſation,
während gleichzeitig die Eintracht der Familien oder Herd⸗
genoſſen der ſoziallebenden Tiere und ſchließlich der Art⸗
genoſſen bei Verteilung und Verzehren der Beute, bei wach⸗
ſender Höhe der Organiſation zunimmt und mit ſinkender
ſich verringert. Die Hyänenmutter — die Hyäne iſt ein
ſtark parafitäres Tier — entreißt ſelbſt ihren Jungen die
Beute im Gegenſatz z. B. zu Löwe und Tiger. Beide Fak⸗
toren verringern alſo den Beutekampf. Desgleichen gilt,
daß Ausſcheidung der ſchwachen und kranken Individuen
aus der Fortpflanzung — denn nur dies iſt echte Selektion
— nicht nur durchaus nicht in dem Maße ſtattfindet, als
Darwin meinte — eine ſehr genaue Unterſuchung an unſern
Nordſeeheringen ergab z. B. das gegenteilige Reſultat —
ſondern auch nur in dem Maße erfolgt, als die mit niedriger
40
Organiſation im allgemeinen wachſende, mit höherer ab:
nehmende Vermehrungstendenz der Arten ſich ſteigert. Am
irrigſten aber iſt die Meinung, daß das Reüſſieren im Da⸗
ſeins⸗ und Nahrungskampf, ſoweit er unter Arten ſelbſt
ſtattfindet, auch Folge oder Zeichen höherer Organiſation
ſei. Das iſt ſo falſch, daß vielmehr gerade umgekehrt ſehr
häufig die große Maſſe der niedrig und ſchlecht organifierten
Lebensformen die höhere und edlere Lebensform im Kampfe
um bloße Nahrung überwindet und zum Ausſterben bringt.
Eine ganze Reihe hochorganiſierter ausgeſtorbener Tierarten
und Pflanzenarten geben uns Beiſpiele hiervon.
Ich ſagte: menſchliche Dinge wie der Krieg und die
Arbeit können niemals vollſtändig aus biologiſchen Geſetzen
begriffen werden; denn der neue Faktor „Geiſt“ kommt bei
ihnen hinzu. Aber gleichwohl haben ſie alle eine vitale
Wurzel. Wir müſſen alſo zwei Wurzeln auch aller menſch⸗
lichen Kämpfe unterſcheiden. Für allen wirtſchaftlichen
Konkurrenzkampf zwiſchen Individuen und Völkern iſt dieſe
Wurzel dieſelbe, die den tieriſchen Mahrungskampf und
Beutekampf leitet; dieſe Wurzel iſt für die Ausbildung der
Technik und der ökonomiſchen Organiſationsformen das
Prinzip der ſteigenden Anpaſſung an eine gegebene ſtationäre
Umwelt. Sie hat gleichzeitig die individualiſtiſche Tendenz
zur Vorausſetzung. Dieſe Wurzel aber iſt für den Krieg
nicht eines dieſer Prinzipien oder beide zuſammen, ſondern
das andere, das tiefere und dem Leben weſentlichere Prinzip
urſprünglicher Machtſteigerung in Erweiterung und Er⸗
formung der Um⸗ und Wirkenswelt der edleren und höher⸗
gearteten menſchlichen Gruppen. Und gleichzeitig iſt die
41
Wurzel des Krieges das dem individualiſtiſchen Prinzip
übergeordnete Prinzip des Univerſalismus des Lebens, wie es
ſich in der Staatsbildung als der Bildung eines in allen In⸗
dividuen identiſch gemein ſamen, ſelbſtändigen, über alle In⸗
dividualintereſſen und ⸗neigungen real erhabenen, die Zeitinter⸗
eſſen der Generationen real überdauernden Lebenswillen des
Staatsweſens und ſeiner vernünftigen Regelung verkörpert.
Eben darum liegt aber auch Wachſen und Werden, liegt
Machtſteigerung im Weſen des Staates ſelbſt; es iſt kein ak⸗
zeſſoriſches Moment für ihn, das da ſein oder fehlen könnte.
Der nicht wachſende Staat, der Staat, der nur auf „Erhaltung“
ſeines Seins und Soſeins bedacht wäre, es wäre der tote, der er⸗
ſtarrte, der fein Weſen aufgebende, — der ſinkende Staat. Alles
Tote, Mechaniſche ſucht ſich nur zu „erhalten“ und gehorcht
den bekannten mechaniſchen „Erhaltungsprinzipien“; während
Leben wächſt oder niedergeht. Krieg aber, das iſt der Staat in
feinem aktuellſten Wachſen und Werden ſelbſt. Krieg ift,, Poli:
tik katexochen“, wie Treitſchke richtig ſagt. Es iſt alſo darum
auch nicht richtig, daß es „natürliche Grenzen“ der Nationen
gäbe, denen der Staat ſich nur „anzupaſſen“ hätte, wie es
jüngſt wieder Ludo Hartmann auf dem Soziologentag mit,
wenn auch noch ſo geſchickten Gründen, für die deutſche und
tſchechiſche Mationalität vertreten hat. Der Staat iſt nicht
von der „Umwelt“ des naturgegebenen Volkes abhängig: er
bildet ſie, er ſucht erſt für die Geiſtes⸗ und Willensrichtung
ſeines volklichen oder nationalen einfachen oder gemiſchten
Subſtrates die deren Aktionsgröße und Richtung gemäße
territoriale Umwelt. Alſo iſt der Krieg mit der Exiſtenz des
Staates und der Vielheit der Staaten gleich urſprünglich,
42
wie ſchon Treitſchke richtig hervorhob. Ja, der kriegführende
Staat iſt der Staat in der höchſten Aktualität ſeines Daſeins.
Alle ökonomiſche Arbeit der Geſellſchaft und alle ihr dienende
und ſich wandelnde Produktionstechnik und Organiſationsform
der Arbeit hingegen folgt dem, dem Leben nicht minder weſent⸗
lichen, aber ſeinem urſprünglichen Aktivismus untergeordneten
Prinzip des Reaktivismus oder der Anpaſſung, desgleichen
des ökonomiſchen Konkurrenzkampfes. Anpaſſung wie Kampf
finden aber immer nur innerhalb des Ganzen der Milieu⸗
grenzen ſtatt, welche die Staaten in Krieg und Koloniſation
erformt und gebildet haben. Und nur die, nach an ſich be⸗
ſtehenden Vernunftprinzipien, zugleich aber auf Grund des
eigentümlichen Volksweſens, erfolgende Ordnung der inneren
Organiſation und der von all dieſen Organiſationen um⸗
ſpannten Privatintereſſen, ſtellt das durch den Staat geſetzte
„Recht“ dar. Alſo iſt dem Staat Macht und Machtwerden
nicht minder weſentlich als Setzung und Realiſierung der
Rechtsordnung durch eine poſitive Geſetzgebung.
Eben dieſe eigentümliche Art der Verwurzelung des Krieges
im Leben ſelbſt bringt es nun auch mit ſich, daß er im ge⸗
ſchichtlichen Daſein analoge Funktionen ausübt, wie die ur⸗
ſprünglichſte Tendenz des Lebens ſelbſt. Spencers biologiſch
fundierte Soziologie war in einem falſchen Lebensbegriff fundiert
und darum konnte Spencer dieſe wahre Funktion des Krieges
nicht fehen ;3° darum allein konnte er glauben, den unbegrenzten
Fortſchritt des induſtrialiſtiſchen Pazifizismus ſoziologiſch recht⸗
fertigen zu können. Sieht man genau auf die weſentlichſten
Punkte der engliſchen Biologie hin, ſo gewahrt man ja nun
ganz deutlich, daß fie nur die Projektion und Univerfalifierung
43
der vorhin genannten liberalen und utilitarifchen Prinzipien
der engliſchen Kaufmannsphiloſophie auf das ganze Reich
des organiſchen Lebens iſt. Alles entſpricht ſich hier aufs ge⸗
nauſte: der Individualismus hier und dort (ſiehe Vertrags⸗
lehre), die grob⸗mechaniſtiſche Metaphyſik, der Glaube an
„Nutzen“ und „Anpaſſung“ ſogar als lebensſteigernder
Mächte, die Verwechſlung von „Umwelt“ und „Welt“,
der Okonomismus aller Geſchichtsauffaſſung, die Unterord⸗
nung der Tugenden des Edlen unter das Mützliche, des Or⸗
gans unter Werkzeug und Maſchine.s:. So unvergleichlich
tief alfo find hier Naturauffaſſung, Ethik, Staatslehre und Ge⸗
ſchichte dieſes Volkes ineinander verwachſen! Kein Wunder
drum, daß Spencer (im Unterſchied von älteren Utilitariern)
aus ſeinen biologiſchen Prinzipien auch wieder den Liberalis⸗
mus, Pazifizismus und Utilitarismus abgeleitet hat; ja daß er
damit gerade was Neues zu ſagen wähnte! Der Grund, daß
er es vermochte, iſt einfach der, daß er ja zuerſt dieſe traditio⸗
nellen Prinzipien engliſchen Denkens in die Lebenserſcheinun⸗
gen hineingedeutet hatte! Nun aber ſehen wir, daß der Krieg
ſo wenig aus „ökonomiſchen Faktoren“ zu begreifen iſt oder
als fortgebildeter Nahrungskampf und Beute⸗ oder Raub:
zug — daß es vielmehr die mileuerweiternde Kraft des Krieges
für die Sphäre des Staatswillens mit ſich führt, daß die
Intenſität und die Gewaltformen des Nahrungskampfes ſich
durch den Krieg verringern.
Dieſer Gewaltkampf um Wirtſchaftswerte im Frieden iſt
durchaus kein bloßes Merkmal unentwickelter Wirtſchafts⸗
verhältniſſe. Er verſchwindet in der hiſtoriſchen Entfaltung des
Wirtſchafts lebens nicht, ſondern ändert allein feine Form von
44
der mehr unmittelbar phyfifchen Gewalt zur ökonomiſchen und
moraliſchen Vergewaltigung — die fich gerade in langen, dem
Kapitalismus günſtigen Friedenszeiten immer ſtärker ausbreitet
und unter dem modernen Wirtſchaftsprinzip „freier Konkur⸗
renz“ fogar an Intenſität und Ausbreitung im Verhältnis zu
anderen Zeitaltern un verhältnismäßig gewachſen iſt. Preis⸗
unferbiefung und ⸗überbietung, ungerechte Monopoliſterung,
Kartellierung und Vertruſtung, Sabotage, Streik mit Ver⸗
tragsbruch, lügenhafte und gewiſſenloſe Reklame, all die tau⸗
ſenderlei auf Liſt und Täuſchung beruhenden Kunſtgriffe des
Börſianers, des Schiebers und Wucherers, der Grundſtück⸗
ſpinne, die durch die weiten Maſchen der Geſetze hindurchfallen,
die bekannten Formen des Beleidigungsprozeſſes, durch die der
mißliebige Gegner mundtot gemacht wird, wie immer er das
ſittliche Recht zur Seite habe, — und tauſenderlei Ähnliches
ſind Gewaltformen des Kampfes im Frieden, die moraliſch
nicht um ein Haar weniger verdammenswert ſind, weil ſie ſich
der Geſetze und des „Rechtes“ gar noch zur Erreichung ihrer
Zwecke bedienen. Wohl aber ſtehen ſte ſittlich unendlich tief
unter der Gewalt, die im Kriege angewandt wird, da fie nicht
wie dieſe dem idealen Ziele der politiſchen Selbſtändigkeit,
Freiheit und Macht des Staates, ſondern nur Privat⸗
intereſſen dienen und gegenüber jener offenen und ehr⸗
lichen Gewalt noch den Schein einer phariſäiſchen Kor:
rektheit vortäuſchen. Denken wir uns nun aber einen dau⸗
ernden Friedenszuſtand in einer Geſellſchaft, in dem alle
Machterweiterung, die dem Abfluß der Privatintereſſen
und des wirtſchaftlichen Unternehmungsgeiſtes nach außen
(Koloniſierung) dienſam werden kann, alle möglichen Zu⸗
45
ſammenſtöße mit fremden Völkern vermieden worden wären,
ſo müßten ſich im Innern dieſer Geſellſchaft gerade dieſe
niedrigſten Gewaltformen bis aufs äußerſte ſteigern. Die Ge⸗
ſamtſumme der „Gewalt“ auf Erden würde nicht ſinken,
ſondern bedeutend anwachſen. Denken wir gar die Menſch⸗
heit von jeher im Friedenszuſtand, (wobei wir anzunehmen
hätten, daß ſich die vorhandenen Gruppen nur die nach Natur,
Klima, Bodenbeſchaffenheit, Fruchtbarkeit günſtigſten Po⸗
ſitionen der Erde zu ihrem Wohnort ausgeleſen hätten), ſo
iſt gar nicht auszudenken, welche Zunahme und Intenſi⸗
tätsſteigerung dieſe Art von Gewaltkämpfen angenommen
hätte. Ich glaube, die Menſchen hätten ſich gegenſeitig
„friedlich“ aufgefreſſen, wenn nicht die Würde des Kriegs
ſelbſt noch die Gewalt geheiligt und auf gemeinſame Ziele
großer Gemeinſchaften geſpannt hätte. Es iſt der Krieg —
wie ſchon Kant ſah — der die Erdkugel gerade in den Zonen
bevölkert hat, die durch die Arbeit, die ſie als weniger von
Natur begünſtigte, erzwangen, Technik und Ziviliſations⸗
bildung aufs ſtärkſte gefördert, ja erſt möglich gemacht hat.
Es iſt der Krieg, der die faktiſchen Milieus der Völker erſt
aus möglichen ausſchnitt, an welche dann techniſche und ſonſtige
Anpaſſung vermöge Werkzeug, Maſchine, Arbeit und die
gewerblichen uud kaufmänniſchen Tugenden erfolgen konnte.
Die Waffe ging dem Werkzeug vorher und auch faſt alle alte
und neuere höhere Mechanik iſt als Unterſtützung der Kriegs⸗
und Befeſtigungstechnik entſtanden (Galilei,? Ubaldi, Leo⸗
nardo). Gleichzeitig aber ſchafft der Krieg damit auch dem
Rechte des edleren Volkes eine weitere und weitere Sphäre der
Verbreitung und Anerkennung. Vor allem aber wirkt der
46
Krieg jenem ruinierenden Nahrungskampfprinzip entgegen,
das — wie ſich zeigte — gerade die höheren und edleren Lebens⸗
organiſationen mit ihrer vergleichsweife ſinkenden Vermeh⸗
rungstendenz und ſteigendem durchſchnittlichem Lebensalter
zur Beute der — vom Standpunkt der Anpaſſungswerte ge:
meſſenen häufig weit beſſer angepaßtem und fortpflanzungs⸗
kräftigeren großen Maſſe der gemeineren und niedrigeren
kurzlebigeren Lebensformen werden läßt. Dächte man ſich
die Geſchichte ohne Krieg und in ihr nur dasjenige Geſetz der
Erhaltung des Mützlichen und der beſtangepaßten und an⸗
paſſungsfähigſten Varietäten wirkſam, das in menſchlichen
Verhältniſſen vor allem in den ökonomiſchen Konkurrenz⸗
kämpfen der Individuen und Klaſſen und ihren Ergebniſſen
hervortritt, ſo wäre die notwendige Folge, daß überall die
bloße Menge des Kleinen das ſtets in Minorität befindliche
Mächtige und Differenziertere vernichtete. Analog würden
die Beſitzer der Anpaſſungstugenden und =Iafter, Schlauheit,
Schmiegſamkeit, Arbeitſamkeit, Sinn für Sicherheit, aber
auch Feigheit, Mißtrauiſchkeit, Verlogenheit, Sersilität,
egoiſtiſche Rechenhaftigkeit die Beſitzer der entgegengeſetzten,
das heißt der „edlen“, der „heldiſchen“ Eigenſchaften über⸗
leben und überdauern! Darum iſt der Krieg in ſeinem Erfolg
nicht nur die Wirtſchaftspolitik katexochen, ſondern auch die
qualitative (nicht quantitative) Bevölkerungspolitik katexochen.
Wenn das wirtſchaftliche Kampfprinzip nur auf Erhaltung
und Steigerung der Quantität der Bevölkerungsvermehrung
auf einem gegebenen Territorium durch ſteigende Technik
und klügere Organiſation gerichtet iſt, damit aber gerade
die niedrigeren Lebensformen von Hauſe aus begünſtigt,
47
fo wirkt das kriegeriſche Kampfprinzip dem eben dadurch
entgegen, daß es die Fortpflanzungsfähigkeit der qualitativ
edleren Minoritäten im Völkerkampf ſteigert, die durch
die Wirkſamkeit des erſten Prinzips allein dem ſicheren
Ruin ausgeliefert wären. Ein Volk oder eine Gruppe,
die wir „edel“ nennen, zeigt die damit angedeutete Höhe ſeiner
geiſtig⸗vitalen Artung eben durchaus nicht in geſteigerter An⸗
paſſungsfähigkeit an alle möglichen Verhältniſſe der Matur
und Herrſchaft. Umgekehrt erweiſt es dieſe Artung darin, daß
es tief in ſeiner Seele geſonnen iſt, lieber zu ſterben als „ſo“
— d. h. unter beliebigen Verhältniſſen — zu leben. Nur wo es
Natur und ſoziale Umwelt ſeiner vitalen und geiſtigen Eigen⸗
art anpaſſen kann, akzeptiert ſein tieferes Wollen und Ge⸗
fühl Daſein, Leben und Fortpflanzung. Es ſind die Diener⸗
völker, die ohne ſelbſtändige, politiſche Organiſation und Ter⸗
ritorium weiter zu exiſtieren und ſich allen beliebigen Natur⸗
und Herrſchaftsverhältniſſen „anzupaſſen“ vermögen. Es iſt
das Unkraut, das überall gedeiht! In ebendieſer Situation
der edleren, differenzierteren Minorität aber befindet ſich
gegenwärtig derjenige Teil der germaniſch⸗keltiſch⸗ſlaviſchen
Völker Weſteuropas, in denen der Geiſt des Edelſinns auch
noch die Herrſchaft im Staate beſitzt und nicht vor einſeitigen
reaktiven Racheimpulſen wie in Frankreich und rein kapita⸗
liſtiſchem Räubergeiſt wie in England abgedankt hat, gegen⸗
über des Ganzen der ruſſich⸗byzantiniſchen und gelben Völker⸗
welt. Wären wir alſo auf den friedlichen, ökonomiſchen
Konkurrenzkampf allein angewieſen, ſo würde Weſteuropa,
auch derjenige Teil, der heute verblendet genug iſt, aus purem
Haß gegen uns Deutſche ſich zum Vorkämpfer Rußlands
48
und der gelben Kaffe zu machen, alsbald der Unterlegene,
Beſiegte ſein. Obzwar dieſe öſtlichen Völker unfähig waren
und find, die Methoden und Techniken zu erſinnen und fort:
zubilden, die unſere höhere, auch unſere höhere ökonomiſche
Ziviliſation herbeigeführt haben, haben ſie doch ein dauerndes
Übergewicht über die edlere Minorität Europas. Dieſes
Übergewicht erwächſt ihnen mit der Zeit notwendig, ſchon
durch das Zuſammenwirken der leichten, nicht bloß in unferer
Eigenſucht und Torheit, ſondern im Weſen dieſer und aller
utiliſtiſchen Methoden und Techniken, auch noch im Weſen
der Reſultate der exakten Wiſſenſchaften (im Unterſchied zu
Kunſt, Religion, Philoſophie) liegenden internationalen Ver⸗
breitbarkeit und Ablösbarkeit von ihrem nationalen und kul⸗
turellen Urſprungsboden, verbunden mit ihrem weit ſtärkeren
quantitativen Bevölkerungswachstum. Auch hier kann alfo
gerade nur das kriegeriſche, nicht das friedlich⸗ökonomiſche
Kampfprinzip dieſe edlere Minorität auf die Dauer vor dem
Untergang retten. Ein ſiegendes Rußland wäre auch der
Anfang vom Ende der engliſchen Herrſchaft in Perſien und
Indien und die Unterſtützung Japans durch England hinſicht⸗
lich ſeiner chineſiſchen Aſpirationen wird ſich bei der erſten Ge⸗
legenheit gegen England ſelbſt wenden. Nur die Annahme,
Herr Grey habe, nach bekannter engliſcher Methode, die
Kontinentalmächte nach Bedarf gegeneinander auszuſpielen,
damit gerechnet, daß Rußland als der gefährlichſte Konkur⸗
rent Englands — ohne zu große engliſche Einbuße durch
Englands Teilnahme am Dreiverbande — geſchwächt werde,
läßt ihn noch als einen politiſchen Kopf, wenigſtens im macchia=
velliſtiſchen Sinn erſcheinen. Und fo paradox es auch heute noch
4 49
klingen mag, fo find wir doch überzeugt, daß diefer ungeheure
Krieg, in dem wir jetzt allein und von aller Welt verlaſſen
ſtehen, nicht nur die felbftverftändliche Folge eines innigeren
Zuſammenſchluſſes des deutſchen Reiches und Oſterreichs haben
wird, als des feſteſten und durch den Kapitalismus engliſcher
Herkunft noch am wenigſten in ſich zerfreſſenen Kernes weſt⸗
licher Kultur, ſondern daß gerade in ihm und ſeinen Folgen
eine politiſche, geiſtige und wirtſchaftliche Solidarität Euro⸗
pas angebahnt wird, die allein in dem immer näher rückenden
Kampfe gegen den Oſten überhaupt, der Sache der weſteuro⸗
päiſchen Kultur und ihrer Völkerwelt den dauernden Sieg
verheißen kann.? Man laſſe nur erſt England genügend
ſchwere Enttäuſchungen über ſeine jetzigen „Freunde“ Ruß⸗
land und Japan, Frankreich aber — womit Belgien, was
England betrifft, ſchon beginnt —, ſeine noch ſchwerere über
Wert und Bedeutung ſeiner ruſſiſch⸗engliſchen Freund⸗
ſchaft erleben, und die Bündnisfähigkeit der weſteuropäiſchen
Mächte zu einer ſolidariſchen Einheit der Weſtmächte über⸗
haupt gegen den Oſten, das Ganze zentriert um den Kern
eines ſieghaften Deutſchland und Oſterreich, wird gewaltig
geſteigert fein. Iſt der Krieg überhaupt die ſtärkſte ſtaaten⸗,
völker⸗ und nationalbildende Kraft der Geſchichte — nicht
aber, wie der oberflächliche Blick allein ſieht, nur Prinzip der
Menſchenſcheidung, — fo iſt es alfo dieſem unerhörten Kriege
vielleicht vorbehalten, die weſteuropäiſchen Nationen zu einer
Art der Einheit und Solidarität zuſammenzuſchweißen, für
die uns noch der Name fehlt.
Für die innere Unklarheit unſerer darwiniſtiſchen Kriegs⸗
ideologen iſt nichts charakteriſtiſcher, als daß ſie aus demſelben
50
biologifchen Kampf ums Dafeinsprinzip bald einen extremen
Pazifizismus und Induſtrialismus, bald den Militarismus
und die meiſt ſehr niedrig einzuſchätzenden Intentionen bloß
von militäriſchem Standesehrgeiz und Berufsintereffe geleiteter
ſogenannter „Kriegsparteien“ abgeleitet haben. Die letzteren
„Darwiniſten“ ſehen im Kriege nur den menſchlichen Spezial⸗
fall zu jenem „Kampf ums Daſein“, den ſie — durch Darwin
geiſtig angliſtert — für den Motor aller Entwicklung halten.
Wie ſchon E. v. Hartmann meint (ſiehe „Phänomenologie des
ſittlichen Bewußtſeins“, S. 670) iſt ihnen der Krieg ein „Prin⸗
zip der natürlichen Zuchtwahl zwiſchen Raſſen und Völkern“,
das ſolange die Herrſchaft beſitzen müſſe, als bis „künſtliche
Zuchtwahl fie ablöſe“. Dieſe Lehre iſt ſchon darum ganz un⸗
ſinnig, da ſie ſtreng genommen nur für die ſittlich wie rechtlich ab⸗
ſolut zu verurteilenden Kriege,“ die puren Vernichtungskriege
einen Sinn haben könnte, d. h. für Erſcheinungen, welche die
neuere Zeit innerhalb der zivilifierten Welt nicht kennt. Denn
nur Vernichtung einer Gruppe ihrem Naturdaſein nach führt
zum Ausſchluß aus der Fortpflanzung. Die bloße Neuver⸗
teilung der politiſchen Macht ſchließt ja fernere Fortpflan⸗
zung nicht aus, ja pflegt auch die Fortpflanzungsgröße durch⸗
aus nicht weſentlich zu ändern. Uberwundene und beherrſchte
Völker pflanzen ſich oft — ja meiſt wie die dienenden Schich⸗
ten überhaupt — reichlicher fort als die herrſchenden Grup-
pen. Dazu bürgt jene rein phyſiſche Stärke und Übermacht,
welche die Anhänger dieſer Lehre gemeinhin allein im Auge
haben, mit nichten für höhere Macht, geſchweige Kultur⸗
potenz. Der gerechte und ungerechte Krieg würde hier un—
unterſcheidbar. Der Vorzug wenigſtens der logiſchen Konſe—
4* 51
quenz aus den an fich falfchen darwiniſtiſchen Vorausſetzungen
kommt denn auch hier durchaus den pazifiziſtiſchen Geſchichts⸗
naturaliſten zu. Sie ſagen ganz richtig, daß der Krieg nur
eine beſtimmte Form der biologiſchen Kämpfe ſei, die ſich
ohne Verletzung des Nahrungskampfprinzips überhaupt in
der Lebewelt ſehr wohl hiſtoriſch überleben könne, indem an
ihre Stelle eben die ökonomiſchen Intereſſenkämpfe und an⸗
dere unkriegeriſche Kampfformen träten. Die pazifiziſtiſchen
Darwiniſten weiſen weiter ganz richtig (von dem falſchen in⸗
dividualiſtiſchen Standpunkt ihrer engliſchen Geiſtesväter
natürlich nur) darauf hin, daß gerade die Kriegsform des
Kampfes kontraſelektoriſch wirke, indem es ja gerade die jüng⸗
ſten, kräftigſten, mit den beſten Erbwerten ausgeſtatteten In⸗
dividuen find, die, häufig vor der Fortpflanzung überhaupt,
zum Teil wenigſtens ohne die ihnen ſonſt mögliche Fortpflan⸗
zungsleiſtung aus den Volkskörpern ausgemerzt werden.““
Irrig iſt nur die individualiſtiſche Vorausſetzung des
Schluſſes. Die momentane Ausſcheidung einer größeren An⸗
zahl der Tüchtigſten in einem Volke kommt gegenüber den
hohen vitalen Erbwerten der kriegeriſchen Eigenſchaften des
ganzen Volkes, die im Notfall anſtatt zur Unterwerfung unter
den Gegner zum Kriege drängen, gar nicht in Betracht. Um⸗
gekehrt iſt der ſeeliſche Impuls zur Erhaltung der Tüchtigſten,
der im Gegenſatz zur kriegeriſchen Tugend der Opferbereit⸗
ſchaft gerade der Tüchtigſten und der von der Umwelt Gelieb⸗
teſten für das Vaterland ſteht, ein ſicheres Zeichen auch der
biologiſchen Niedergangstendenz diefes Volkes. Dieſe Opfer⸗
bereitſchaft aber gerade in den Tüchtigſten und ihrem An⸗
hang iſt ein ſicheres Zeichen des reichen, hohen Lebens in dieſem
52
Volke. Alles hochgeartete Leben iſt verſchwenderiſch mit
feinen Kräften. Der Schrei „a bas la guerre“ ſeitens der
franzöſiſchen Frauen und Kinder, ihr Sichhinwerfen vor die
Schienen der Züge der abziehenden Soldaten, war ſicherlich
kein Zeichen der franzöſiſchen Lebenskraft. Dazu balanciert
das, was die Vorbereitung auf den Krieg, zumal im ſtehen⸗
den Volksheer an Willenserziehung, an Förderung der Leibes⸗
geſundheit und Abhärtung leiſtet in weitem Maße jenen Aus⸗
fall. Endlich wird der Ausfall quantitativ durch die in ihren
Urſachen noch nicht erklärte, aber ſchon von Süßkind, neuer⸗
dings durch Pleß, Düſing u. a., feſtgeſtellte Tatſache einer
erhöhten Knabengeburt nach Kriegen — eine Art Reſtitution
des volklichen Geſamtorganismus — zum Teil wieder wett⸗
gemacht.
Wir erſehen nun, daß beide Teile, ſowohl Pazifiziſten wie
Militariſten, die aus den darwiniſtiſchen Prinzipien ihre
Lehren folgern, gleich unrecht haben und zwar darum, weil
ihre gemeinſamen Prämiſſen falſche ſind. Wie vielmehr in
der menſchlich⸗hiſtoriſchen Sphäre der bloße Daſeins⸗ und
Nahrungskampf aufhört, ein Kampf um Exiſtenz und Fort⸗
pflanzung zu ſein; wie ſich dieſer Kampf vielmehr in einen
bloßen Konkurrenzkampf um die höhere Lebenshaltung ver-
wandelt und ſich nur mehr um Eingliederung der Einzel⸗
ſubjekte in die beſtimmten Klaſſen eines irgendwie gegliederten
Klaſſennetzes dreht; wie gleichzeitig für Erhaltung durch Ver⸗
erbung das Prinzip der Kumulation der Kultur- und Zivili⸗
ſationsmittel durch Tradition (Sprache, Geiſt) an die erſte
Stelle tritt: ſo tritt an die Stelle jener primären Tendenz
des Lebens zur Machterweiterung durch Milieuerweiterung
53
und neue Organbildung der Krieg als Mittel willentlicher
Machtoerteilung an die Völker in den fie umfaſſenden Staa⸗
ten. Daß dieſe tiefgreifende Umformung der Entwick lungs⸗
kauſalität auf der Stufe des Menſchendaſeins notwendig
wird, hat feinen Grund darin, daß mit ſteigender Entwick⸗
lungshöhe des Lebens die fernere rein vitale Entwicklungs⸗
fähigkeit abnimmt; beim Menſchen als dem höchſtorgani⸗
ſierten Tier alſo die kleinſte iſt. Der Menſch iſt — wie
Weismann treffend ſagt, die organologiſch „fixierteſte Tier⸗
art“. Daß aber dieſe Umformung auch möglich iſt, hat
ſeinen Grund im „Geiſte“, jenem autonomen und aus aller
„Natur“ unableitbaren Prinzip, das im Menſchen hervor⸗
bricht und eine neue Welt über aller Natur geſtaltet und
formt: Die Ziviliſation, die von ihr grundverſchiedene „Kul⸗
tur“ und das geiſtig geſchichtliche Leben.
Es iſt alſo erſt eine eigentümliche gegenſeitige Befruchtung,
welche die urſprünglich kriegeriſche Art des Lebens ſelbſt („vi-
vere est militare“ ſagt ſchon ein alter ſtoiſcher Satz) als einer
urſprünglichen Tendenz des Wachſens und der Entfaltung von
Mannigfaltigkeit, mit dem Geiſte und feinen ſpezifiſchen Wer⸗
ten eingeht, die uns die Stelle ſichtbar macht, die der Krieg in
der Weltordnung beſitzt. Es war ein Irrtum — auch die ge⸗
ſchichtliche Erfahrung von J. G. Fichte bis Bismarck hat es
uns gelehrt — wenn die alte deutſch⸗idealiſtiſche Philoſophie
(Kant, Fichte, Hegel) die gleich urſprünglichen Erſcheinungen
von Staat und Krieg nur aus einem dieſer beiden Prinzipien,
dem vernünftigen Geiſte verſtehen wollten. Dieſer Irrtum iſt
nicht minder groß wie jener der rein naturaliſtiſchen Kriegsauf⸗
faſſung. Daß der Atem des Staates, auch des ITationalftaates
54
Macht ift, blieb diefen Rationaliſten hierdurch verfchloffen.
Selbſt bei J. G. Fichte, dem Herrlichen, der unter den deutſchen
Philoſophen noch am meiſten Sinn für das heldiſche Moment
in der Geſchichte beſaß, und der die Nationalidee unter den
deutſchen Denkern am tiefſten formulierte, bleibt der deutſche
Nationalſtaat nur die Form, in der ſich eine univerſale Ver⸗
nunftgeſtaltung und ⸗bildung vermittels einer Art Erziehung
der Menſchheit durch das „Urvolk“, das „Vernunftvolk“,
durchſetzen ſoll. Der nationale Staat hat ihm als konkrete
Kollektivperſönlichkeit noch kein letztes metaphyſiſches Recht
— er iſt noch nicht nur ſich ſelbſt und Gott verantwortlich;
er behält für ihn nur den Wert einer Einrichtung der „gött⸗
lichen Erziehung des Menſchengeſchlechts“ (Leſſing) zur Ver⸗
wirklichung deſſen, was ſein Lehrer Kant, noch unmittelbarer
als er ſelbſt, als Maßſtab an die Geſchichte anlegte: Zur
Realifierung der Idee der Weltrepublik. F. Meinecke, der
in ſeinem Buche „Weltbürgertum und Nationalſtaat“ in
äußerſt feinfinniger Weiſe die Wandlungen der deutſchen
Nationalidee verfolgt, bemerkt in bezug auf J. G. Fichte:
„Zum Weſen des Machtſtaates gehört die lebendige Be⸗
wegung nach außen hin, Berührung mit den Nachbarn in
Freundſchaft und Feindſchaft und eine gewiſſe Pleonexie.
Hierzu mit in erſter Linie gebraucht er ſeine Selbſtändigkeit
und Unabhängigkeit. Nach Fichte ſoll er fie jetzt gerade um⸗
gekehrt dazu gebrauchen, ſich abzuſchließen von den Macht⸗
kämpfen der übrigen Staaten.“ Aller Kolonialpolitik, durch
die allein eine durch Machtverteilung vermittelte optimale
Kulturberteilung auf der Erdkugel erfolgen kann, ſchneidet
Fichte die Wurzel ab mit dem Satze: „O möchte doch den
55
Deutſchen fein günſtiges Geſchick ebenfo vor dem mittelbaren
Anteile an der Beute der anderen Welten bewahrt haben,
wie es ihn vor dem unmittelbaren bewahrte!“ Den Grund
aber für dieſe ſtatiſche und letztlich univerſaliſtiſche Auffaſſung
des Nationalſtaates gibt Fichte ſelbſt an, wenn er ſchreibt:
„Das bunte und verworrene Gemiſch der ſinnlichen und
geiſtigen Antriebe durcheinander ſoll überhaupt der Welt⸗
herrſchaft entſetzt werden, und der Geiſt allein, rein und aus⸗
gezogen von allen ſinnlichen Antrieben, ſoll an das Ruder
der menſchlichen Angelegenheiten treten.“ Alſo bleibt auch
Fichtes Nationalidee doch in jener Grundſtimmung des Nur⸗
dichterdenkerdeutſchen beſchloſſen, die unſeren Johann Paul
Richter ſagen ließ, daß bei der Verteilung der Erde „Frank⸗
reich das Reich der Erde, England das Reich des Waſſers
und Deutſchland das Reich der Luft zukomme.“ Nein nicht
„der Geiſt oder gar die Vernunft allein“, ſondern unter den
individuell konkreten Nationalperſönlichkeiten, die als ſolche
immer mit ihrer Geiſt⸗ und Perſonnatur zugleich letzte unteil⸗
bare Einheiten menſchlicher Lebensmächte verkörpern, die
edelſte „ſoll“ ans Ruder, nicht der „menſchlichen“, wohl
aber der europäiſchen?' Angelegenheiten treten. Und dieſem
idealen „Soll“, nicht der bloßen Verteidigung irgendwelcher
„natürlicher Grenzen“ der Nation dient der Krieg, in dem
er das Examen rigoroſum für den Wert aller phyſiſcher, intel⸗
lektueller und Charakterkräfte an den Völkern vollzieht. Ihm
dient auch dieſer hehre Krieg, deſſen Erfolg das Gottesgericht
über die Frage enthalten wird, welche Rangabſtufung zwiſchen
den Herrſchaftswürdigkeiten über Europa und ſeine Kolonien
zwiſchen den führenden Nationalperſönlichkeiten exiſtiere. —
56
Es war aber ein noch tieferer Irrtum, als der jener philo—
ſophiſchen Rationaliſten Staat und Krieg, ſo wie es Spencer
und die darwiniſtiſchen Militariſten taten, aus bloßen Lebens-
geſetzen verſtehen zu wollen und das eigentümliche Prinzip des
Geiſtes — im genauen Gegenſatze zum Fehler unſerer klaſſi⸗
ſchen Philoſophen — zu vergeſſen. Der Staat, d. i. an erſter
Stelle eine geiſtige Willensperſönlichkeit, aufgebaut auf einen
vitalen Geſamtorganismus des Volks. Beide ſind nicht min⸗
der real wie die einzelnen Organismen und Perſonen; das
geiſtige Prinzip aber iſt für den vitalen Unterbau leitend und
lenkend. Der Krieg iſt demgemäß zugleich Ausdrucksgebärde
und impulfive, ſtoßartige Entladung dieſes unteilbaren und
nur in abstracto zu ſcheidenden Ganzen der geiſtig⸗vitalen
„Nation“ und willentliche Lenkung dieſer Entladung, um
zu einem beſtimmten Staatszweck, des Staates Willen
einem anderen Staate durch Gewalt aufzunötigen. So hat
der Krieg immer die zwei entgegengeſetzten Eigenſchaften in
ſich: die Eigenſchaft eines elementaren, ſeeliſch vitalen Matur⸗
ereigniſſes, in dem ſich lange geſtaute Kräfte und „Span⸗
nungen“ löſen und einer bewußten Zweckhandlung der Staats⸗
perſon mit mehr oder minder feſt umſchriebenen „Forderungen“
an den fremden Staat. Auch ſprachlich kommt dies klar
zum Ausdruck, indem man einmal ſagt: der Krieg „bricht
aus“, und ein andermal, er wird „erklärt“. Bei aller Er⸗
forſchung der Urſachen der Kriege muß ſtets mit beiden, ihrer
Natur nach ganz verſchiedenen Kauſalreihen gerechnet werden.
Weder eine rein geiſtige Zweckauffaſſung, noch eine nur natu⸗
raliſtiſche Auffaſſung des Krieges als eines ſoziologiſchen
Naturphänomens würde ihm gerecht.
57
2. Krieg und Geiſteskultur
Iſt mit dem Geſagten die vitale Wurzel des Krieges an⸗
gedeutet — nicht als einer hiſtoriſchen Erſcheinung, ſondern
als einer dauernden Welteinrichtung — ſo entſteht nunmehr
die große Frage, die ſo viele unſerer beſten Deutſchen getrennt
hat, wie er und ſein Subjekt der Staat ſich nun nicht mehr
zur Wirtſchaft und zur geſamten Mützlichkeitsziviliſation,
die er, wie gezeigt, als eine ganz von ihm abhängige Er⸗
ſcheinungsgruppe bedingt und bedingen ſoll, ſondern zur freien
Geiſteskultur in Kunſt, Philoſophie, Wiſſenſchaft uſw., und
ihrem Höhen: und Breitenwachstum verhält; und wie er ſich
in zweiter Linie der einheitlichen, religiös-fittlichen Aufgabe
des Menſchengeſchlechtes und ihren höchſten pofitiven Ideal⸗
bildungen, ſei es einordnet ſei es ihnen widerſtreitet.
Als Fr. Nietzſche und Jakob Burckhardt, der Verfaſſer
der griechiſchen Kulturgeſchichte, ſich im Sprechzimmer der
Univerſität Bafel den Brand des Louore gelegentlich der
Einnahme von Paris im Jahre 1871 mitteilten, da durch⸗
zuckte kein Freudenſtrahl die Herzen beider ob unſeres Sieges.
Nur tiefe Trauer über den möglichen Verluſt all dieſer
Kunſtſchätze, gemiſcht mit Entrüſtung gegen die preußiſchen
„Barbaren“ ward laut. So maßen dieſe bedeutenden Männer
die großen geſchichtlichen Dinge. J. Burckhardt zeigt auch
in ſeinen hiſtoriſchen Arbeiten für den Atem des Staates
keinen Sinn. In der griechiſchen Kulturgeſchichte tritt die
Polis faſt gewollt auffällig zurück. Den Eindruck eigent⸗
tümlicher Leere und Unvollſtändigkeit, den ſelbſt die, jenem
Werke weit überlegene „Kultur der Renaiſſance“ durch den
58
Mangel aller Berückſichtigung des Staatslebens der Re⸗
naiſſance und ſeiner tollen Kriegstänze macht, hat Treitſchke
mit Recht hervorgehoben. Man ſieht ſchimmernde Spitzen
eines hiſtoriſchen Lebenszuſammenhangs, auch die Breite von
bunten Gebräuchen, Sitten — man ſieht keine Lebens⸗ und
Mächtebaſis und alles ſcheint wie in der Luft zu ſtehen.
Man ſieht Bild, hört Geſang, aber ihr tiefer Einklang
mit dem Klirren der Schwerter und dem Blitzen der Waffen
bleibt verborgen. Damit auch verborgen, wie dieſe Kultur
ganz aus dem Gewaltſtaat der Renaiſſance geboren war.
Hatten dieſe Männer etwa darin unrecht, wenn ſie in ihren
Wertſchätzungen den geiſtigen Kulturinhalt und ſeine freien
Schöpfungen über alle bloße Macht erhaben wähnten? Wenn
ſie den Genius über den Helden ſetzten?
Nein, darin hatten ſie recht! Hier gibt es nicht Vorliebe
und Geſchmack, ſondern nur ganz einfache ewige Geſetze, die
das Herz ſo klar ſieht, wie der Verſtand einfachſte mathe⸗
matifche Beziehungen.“ Erkenntnis der Wahrheit, die
Werte reiner Schönheit und Erhabenheit ſtehen an Rang
über dem Werte des „Edlen“; ebenſo wie dieſes „Edle“ über
dem „Mützlichen“ ſteht; wie der Logos über dem gopoerdes,
dieſes aber über dem Erıdupntıxöv, fo wie es Platos tiefes
Gleichnis des Wagenlenkers und des hinauf und hinab ziehen⸗
den Roſſes ausdrückt. Echte Kultur iſt ein Höheres als Macht,
höchſte perſonhafte Geiſtesbildung ein Höheres als Herrfcher:
tugend; der „Genius“ iſt von höherem Range als der
„Held“.ss Plato und Sophokles bedeuten mehr für uns als
Miltiades. ' Mag ſich Sinn und Geiſt auch noch am Bilde
desjenigen Helden erheben, der nicht unſerem eigenen Volke
K
*
/ 1
/59
und Staat angehört; das ift nur ſinnvoll, wenn wir zuvor
dieſes ganze Volk, deſſen Held er iſt, bejaht haben; und iſt
nur möglich durch die Vermittlung reflektierter hiſtoriſcher
Erkenntnis. Nur die Helden unſeres Volkes ſind uns durch
das ruhmbekränzte plaſtiſche Bild, das ſchon geheimnisvoll
wirkſame Tradition weiterträgt, unvermittelt durch Geſchichts⸗
betrachtung und Werturteil für die Anſchauung und Herzens⸗
ſtärkung zugänglich. Eines Werturteiles bedarf es nur hier
nicht; denn in unſerem Helden verehren wir unſer eigenſtes
nationales Sein. Der Genius aber bedarf dieſer zwiefachen
Vermittelungen nicht! Wir können ihn lieben ohne Durch⸗
gang durch ſeine Beziehung zu ſeinem Volke; und er iſt uns ge⸗
geben mit ſeiner eigentümlichen „Welt“ unmittelbar in ſeinem
Werke ſelbſt, das gerade um ſo größer iſt, je unabhängiger
von der wechſelnden hiſtoriſchen Umwelt ſein tiefſter Gehalt
iſt, und je direkter es die Gnade hat, uns anzuſprechen und
zu ſich in feine Höhe zu reißen. Alſo ſteht überall „Geiſt“,
„Vernunft“, „Perſon“ über dem „Leben“, dem „Organis⸗
mus“, Geiſteswerte über den Werten der Macht, des Edlen,
der Herrſchaft. Der ältere türkiſche Staat vor Abſchaffung
der Janitſcharen war „edel“ und kriegeriſch bis auf die
Knochen. Aber ſeine Macht war leer von allem urſprüng⸗
lichen, über Sinnenluxus hinausgehenden Kulturgehalt. Die
Hagia Sofia allein klagt ſeine Exiſtenz an. Heute noch iſt
der Türke wahrhaftig, treu, edel, bieder, aber Barbar. Roheit,
die das nicht einſteht — wie die Roheit der ſog. Raſſeethik und
Marſtallpolitik — iſt nicht beſſer als engliſche Krämermoral,
die den Helden zum Diener des Kaufmanns und Technikers
macht; ſich kultiviert dünkt, indem fie nur ziviliſtert iſt.
60
Nicht darin alfo lag die Irrung jener apolitifchen Men⸗
ſchen. Sie lag in ihrem Begriff von „Kultur“ und in einer
prinzipiellen Nichtvergegenwärtigung des ſchöpferiſchen Bo⸗
dens der kulturbildenden Kräfte. Ich ſagte, daß im Weſen
der Mützlichkeitswerte nichts liegt, was ihre Hervorbringung
und ihren Gebrauch auf beſtimmte individuelle Völker, Na⸗
tionen, Staaten, ja Kulturkreiſe wie z. B. Weſteuropa,
Rußland, Mongolentum einſchränkte. Es wäre ganz kon⸗
ſequent, wenn derjenige, der dieſe Werte zu den höchſten
Werten und ihre Hervorbringung zu den höchſten Zielen
menſchlichen Wirkens machen wollte, auch die Vielheiten
der Staaten und Völker als etwas zu Überwindendes anfähe
und in ihrer Exiſtenz einen Beweis für die noch allzujugend⸗
liche Entwicklungsſtufe der Menſchheit erblickte.“ Inſofern
iſt die poſitiviſtiſche Mützlichkeitsphiloſophie mit ihrem Ideal
der einen friedlichen Herde, durchaus konſequent; auch dann
noch, wenn ſie auf Auflöſung des Nationalgefühls und des
nationalen Staates hinarbeitet. Die Realifierung der Utilitäts⸗
werte hat daher durch ihr Weſen allein auch keinen not⸗
wendigen Bezug zur politiſchen Freiheit und Selbſtändigkeit
der Völker. Sie find ihrem Weſen nach „international“
und von Volk zu Volk leicht übertragbar. Ganz anders die
Werte höchſter freier Geiſteskultur. Ihnen fehlt gerade jene
Art von „Allgemeinmenſchlichkeit“, die Werkzeugen und
auch noch Ergebniſſen exakter Wiſſenſchaften zukommt.
Denn auch dieſe Wiſſenſchaften ragen nur durch ihre Me⸗
thoden noch in die Sphäre der Kultur hinein. Geiſtige Kultur⸗
werte ſind perſönlich, individuell, national, ſind im höchſten
Fall europäiſch oder ruſſiſch oder chineſiſch oder indiſch, ſo⸗
6 1
)
wohl nach den Kräften ihres Urſprungs wie nach ihrer vollen
Verſtehbarkeit. Und ſie ſind es von Hauſe aus. Chemie und
Phyſik iſt in Paris, Berlin, Petersburg, Tokio, Kalkutta
dieſelbe; nicht aber Kunſt, Philoſophie, religiöſe Lebensform.
Die „Wiſſenſchaften“ konnten in dem Völkerwirbel des
Alexandria der Ptolemäer ſich hoch entwickeln. Die griechi⸗
ſche Philoſophie forderte die Selbſtändigkeit der helleniſchen
Nation und ging mit ihr zugrunde. Und nicht trotz, ſondern
gerade wegen ihres Anſpruchs auf Weltbedeutung und abſo⸗
luten, nicht mehr auf „menſchliche Bedürfniſſe“ bezogenen
Sinn, ſind dieſe Werte national, reſpektiv in einem Kultur⸗
kreis z. B. europäiſch verwurzelt; wegen dieſes Anſpruches
ſind ſie einmalig und nicht wie Werkzeug und exaktes Wiſſen⸗
ſchaftsreſultat nach übertragbaren Methoden und Techniken
der Herſtellung durch jedes Volk und jeden Kulturkreis nen
reproduzibel; nicht auch ſind ſie wie dieſe Gebilde jeweilig
wertvoll als bloße Phaſen eines kontinuierlichen Fortſchritts⸗
prozeſſes, der die Genien der Völker und Kulturkreiſe über⸗
ſpringt. In der Sphäre echter Kulturwerte gibt es nur ge-
ſchichtliches Wachstum ſelbſtwertiger Tatbeſtände, keinen,
jede Generation mediatifierenden ſogenannten „Fortſchritt“;
gibt es nur ein immer wieder „Zurück“ in ihre dauernde
ſchöpferiſche Quelle des nationalen Geiſtes und Neubildung
aus dieſer Quelle heraus, kein kontinuierliches Weiterbauen.
Die Begriffe der „Renaiſſancen“ und „Reformationen“ —
unſinnig und nur „Rückſchritt“ für alle Ziviliſation — er⸗
halten erſt hierdurch einen Sinn. Nur die banalſten Dinge,
die unſer Weſen nicht berühren, ließen ſich in einer noch ſo
vollkommenen Weltſprache ausdrücken. Daß ſie nicht „fort⸗
62 \
3
ſchreiten ! — eben das läßt echte Kulturgebilde an der einzig:
artigen Stelle, wo fie geboren, wie in Ewigkeit erglänzen!
Aber eben deswegen iſt auch die Hervorbringung dieſer Kul⸗
turgebilde ganz und gar bedingt durch die politiſche Freiheit
und Selbſtändigkeit des Staates, als des organifierten Volkes.
Und ſelbſt bei vollerreichter, gleichmäßig verbreiteter Mutz⸗
und Menſchheitsziviliſation, bei gleichzeitiger äußerſter öko⸗
nomiſcher Intereſſenſolidarität würde die unverletzliche
Freiheit und Fähigkeit zur immer neuen Hervorbringung
freier Werke des Geiſtes allein noch Machtſtaat und Krieg
rechtfertigen und notwendig machen. Das iſt es, was Jakob
Burckhard überſieht. Er betrachtet die Geiſteskultur zu ſehr
wie ein genießender Antiquitätenſammler, der ſeine Sachen
und Sächelchen von dem organiſchen Ganzen losreißt, in dem
fie einſt lebten. Er ſieht fie nicht vom Staudort derer, die
ſie ſchufen und immer weiter ſchaffen ſollen; auch nicht derer,
die darin die Heimat ihres eigentümlichen Geiſtes fanden.
Was Krieg, was Feuer, Waſſer, Roft und Motten zer-
ſtören kann, — das Völkerrecht fordert, auch dies nach Mög⸗
lichkeit zu vermeiden — das iſt niemals die lebendige „Kul⸗
tur“ ſelbſt, ſondern ſind nur die materiellen Vorrichtungen,
durch die wir uns ihrer bewußt werden; an denen wir Durch⸗
blicke gewannen in die „geiſtige Welt“ des Künſtlers und
Stichproben von ihr. In dieſer Welt aber lebt, was allein
„Kunſtwerk“ zu heißen verdient. Mögen die Kriege beliebig
viele ſolcher Vorrichtungen und Kulturmittel vernichtet
haben, ſo haben ſie nicht dieſe „Welt“, ſondern nur unſere
Einſichtnahme in ſie vernichtet. Dafür aber haben die Kriege
für die Kulturſchöpfung die eminent poſitive Bedeutung,
63
daß fie die vorhandenen Begabungen tief zurücktauchen laſſen
in die ſchöpferiſchen Quellen des nationalen und perſönlichen
Geiſtes. Denn nur im Kriege ſelbſt wird Hiſtorie — ſonſt
nur eine Wiſſenſchaft — zu einer erlebten Erfahrung. Wie
der Krieg — ſo daß man ſein ſelbſteigenes geiſtiges Daſein
wie des Himmels Sonne gewahren kann — das Volk eint,
ſo verdichtet er auch deſſen geſchichtliches Bewußtſein und
ſpannt den Geiſt ganzer Generationsketten zu neuer ſich durch⸗
dringender Einheit. In allem, im Staatsleben, in der Dich⸗
tung und Muſik wird man ſich plötzlich wieder der tiefen
Zuſammenhänge mit der Vergangenheit bewußt. Ihre eben
noch vom Lärm des Friedenstages wie abgeſchreckten hehren
Geſtalten — Klaſſiker, Staatsmänner, Heerfüher, Fürſten
— treten wie aus dem Dunkel der Nacht hervor und an
unſere Seele heran. Unſer Tag wird verdunkelt; aber die
Geſchichte wird hell und ihre großen Schatten beginnen ſich
zu rühren! Große Geſchichtſchreibung iſt daher ſtets eine
Folgeerſcheinung des Krieges. Der Geiſt des Dramas, durch⸗
aus nicht nur des „hiſtoriſchen“ oder deſſen, für das der Krieg
Stoffquelle iſt, wird aufgeweckt.
Es bleibt dabei ganz richtig, daß das hohe Kultur⸗
werk niemals durch den Staat unmittelbar beſtimmt iſt.
So läßt ſich die tauſendfältige Befruchtung, welche alle
Geiſteswiſſenſchaften durch die deutſche Romantik erfuhren,
läßt ſich auch der reine Kunſtgehalt dieſer Bewegung ohne
die Befreiungskämpfe bis zum Jahre 1813 gar nicht denken.
Karl Joel hat jüngſt in ſeinem Buche „Antibarbarus“ eine
wundervoll geſättigte Darſtellung des Ineinander von Dich⸗
tung, Philoſophie und Heldentum in dieſer Zeit gegeben.
i 64
Die Überwindung des individualiſtiſchen Rationalismus der
Aufklärung, die erſte fundamentalſte Vorbedingung für alles
tiefere Verſtändnis geiſtiger Kulturwerte von Staat und
Recht, Poeſie und Religion, die Wiederfindung des Begriffes
des „objektiven Geiſtes“, das tiefere Verſtändnis fremder
Nationalkulturen iſt eine Nebenfrucht dieſer Verdichtung
des hiſtoriſchen Bewußtſeins durch die deutſche Erhebung.
Oder wer möchte die atheniſche Blüte in Tragödie, Plaſtik,
Philoſophie vor und nach den Perſerkriegen ohne die geiſtige
Neugeburt verſtehen, welche der atheniſche Staat durch die
ſiegreiche Abwehr der Barbaren in ſich erlebt hatte? Wenn
man die geiſtigen Kulturwerke als „Werke des Friedens“ be⸗
zeichnet, ſo hat man recht, wenn man an ihren geiſtigen Aus⸗
bau denkt; an all das, was „Mühe“, „Arbeit“ an ihnen,
und was das Glück des ruhigen Genuſſes ihrer iſt. Geht
man aber zurück auf die tiefen geheimnisvollen Stunden
ihrer Geburt im Geiſte, ſo gehen dieſe Werke alleſamt aus
einem Zuſtand des Geiſtes hervor, der mehr als „kriegeriſch“
denn als „friedlich“ zu bezeichnen iſt. Was in jedem einzelnen
Falle das ſchöpferiſche Individuum vor der Inangriffnahme
eines großen Werkes erlebt, bei ſeiner ſogenannten „Kon⸗
zeption“, dies wunderſame Heraustreten der Seele aus dem
feſtdeterminierten Gang regelhaft dahinfließender Tage, ihr
Sichzurückbeugen auf ihr wahres Kräftezentrum, aus dem
die Lebensquelle mit wachſender Konzentration immer reiner
fließt, das ſtürmiſche Ergriffenſein und Erzittern durch die
hier gewahrten, in abwechſelnden großen Geſichten ſpielenden
Kräfte, eben das erleben im großen die Völker und Nationen
in ihren Kriegen als ſoziale Ganzheiten. Hier befruchtet Eiſen
5 Be‘,
und Blut den Geift auf dunkle Weiſe, und das Geheimnis
der „Wiedergeburt“ umfaßt nicht nur den Staat, der in
jedem echten Kriege neuerſteht, ſondern auch die hinter Staat
und fertiger Kultur quellenden Kräfte ihrer immer neuen Her⸗
vorbringung. Es kommt dabei durchaus nicht in erſter Linie
darauf an, daß der Krieg der Kunſt eine neue Stoffquelle
gibt: künſtleriſch plaſtiſche oder poetiſche Verherrlichung der
führenden Perſonen, hiſtoriſches Drama, Belebung der Archi⸗
tektur durch Werke, welche die neue nationale Einheit ſym⸗
boliſch verkörpern, Schlachtenmalerei, Soldatenlied und
vieles Ahnliche. Auch das iſt von Bedeutung. Es genügt,
Namen wie Pindar, Taſſo, Kleiſt, Hölderlin, die Mar⸗
ſeillaiſe zu nennen. Aber weit wichtiger als dieſe neue Er⸗
weiterung der künſtleriſchen Stoffgebiete iſt die neue geiſtige
Einſtellung auf Leben und Welt überhaupt, welche der krie⸗
geriſche Geiſt der feurigen Liebe und Hingabe an ein großes
Ganzes (des Vaterlandes) und die neue Kraft der Opferfähig⸗
keit aller ſelbſtiſchen Intereſſen, auch im Künſtler und Denker
erzeugt. Es war ein tiefes und äußerſt deutſches Wort, das
Adolf von Hildebrand jüngſt in einem Briefe über die Be⸗
ſchädigung der Kathedrale von Reims geſprochen: Daß es
ein Teil derſelben Kraft geweſen ſei, die uns jetzt — nach
der Befeſtigung dieſer Stadt und Benutzung der Kathedrale
zu Kriegszwecken durch die Franzoſen — dieſes verehrungs⸗
würdige Kunſtwerk zum Teile zu zerſtören gebot, derſelben
Kraft, durch die dieſes Meiſterwerk einer himmelſtürmenden
Gotik einſt erbaut war. Ja, die tiefere Seele dieſes Bau⸗
werkes — wahrlich die äußerſte Antitheſe zu jener „Weltan⸗
ſchauung! der es beklagenden Rechtsanwälte, die zurzeit Frank⸗
66
reich regieren, einer Weltanſchauung, wie fie fich in der
dummdreiſten Außerung des Herrn Briand malte, es „habe
die moderne Wiſſenſchaft die Sterne des Himmels ausge⸗
löſcht“, — ſie würde, vermöchte ſie zu denken und zu fühlen,
noch im Schmerze unſerer Kanonenſchüſſe, die ihre Verkör⸗
perung trafen, jauchzend die Kraft wahrgenommen haben,
die jene Kanonen abſchoß, als freundlicher, als näher ihrer
eigenen großen, religiöſen Seele, als der Entrüſtung jener
vollendet ‚‚zivilifierten‘‘ Rechtsanwälte, die über ihre Beſchädi⸗
gung zeterten. Wie lange wohl mußte ihre Seele ſchon über
eine franzöſiſche Regierung bitter gelächelt haben, die ſeit
Jahren alles mit Füßen trat, was zu dem großen Geiſtes⸗
zuſammenhang gehörte, von dem ſie ſelbſt ein Teil iſt? —
Die Liebe, die das künſtleriſche Schauen und Schaffen be⸗
flügelt, die den Geiſt heraustreibt aus dem egoiſtiſchen Ich und
der Konvention der gemeinen Natur⸗ und Weltanſicht — ſie iſt
im letzten Grund ein und dieſelbe Liebe mit jener, die der Genius
des Krieges in der Seele hervortreibt. Kultur freilich, deren
Schöpfer der Staat ſein will, Kultur auf Grund von Staats⸗
auftrag iſt meiſt nur Oldruck und Kuliſſe. Und doch behält
der Staat, ſeine Autonomie und Freiheit den Charakter einer
mittelbaren Bedingung auch zur Geiſteskultur. Die erſte und
ganz unauf hebliche Bedingung iſt nicht etwa, daß er dem
Genius vorſchreibe oder Richtungen erteile, ſondern daß er ihm
einen freien Boden ſeines Schaffens dadurch gewähre, daß er
die egoiſtiſchen Triebe des nur durch Intereſſe und Vorteil
bewegten geſellſchaftlichen Seins und Handelns zwecks natio⸗
naler Wohlfahrt bändige und einſchränke. Immer wieder
werden aus Griechen Graeculi werden, wenn der Staat durch
5" 05
Verluſt feiner Macht diefe Aufgabe nicht mehr erfüllen
kann. Der Zioiliſation mag man als Sklase vielleicht ebenfo
gut, ja noch beſſer dienen denn als Freier: der echten Kultur
nicht! Der Genius bedarf weſensnotwendig des Rückhaltes
edler, ritterlicher Kräfte gegen alles Maſſenhafte, Kräfte,
über die er aus ſich ſelbſt heraus nie verfügen kann. So
grundverſchieden daher die Kräfte find, aus denen die Macht
des Staates und aus denen freie Geiſteskultur erwachſen,
ſo gottgeſchenkt und von der Staatsmacht ganz unabhängig
die erſteren, ſo entſcheidet doch Selbſtändigkeit und Macht
des Staates ganz und gar, wie weit aus der, durch die vor⸗
handenen Begabungen möglichen Kultur wirkliches und
faktiſches Kulturwerk wird.
Dieſe einfachen und prinzipiellen Satze zu RR en, find frei:
lich wenige Völker fo ſehr verſucht wie wir Deutſche. Scheint
uns doch gerade unſere Geſchichte eine beſonders weitgehende
Unabhängigkeit von Kulturblüte und ſtaatlicher Einheit und
Macht aufzuweiſen. Selbſt ſo wohlwollende Beurteiler
unſeres Weſens wie Romain Rolland und Bernhard Shaw
halten dem Deutſchland Bismarcks das Deutſchland Goethes
und Beethovens als Vorbild entgegen. Unſere bisher höchſte
Blüte der Dichtkunſt — wie manche meinen auch der Philo⸗
ſophie — fiel zuſammen mit äußerſter ſtaatlicher Zerſplitte⸗
rung. Leibniz und Kant hatten noch kein ſtarkes nationales
Bewußtſein und fühlten ſich ganz als Glieder der „wiſſen⸗
ſchaftlichen Republik“; noch weniger hatten ſie ein deutſches
Staatsbewußtſein. Goethe dichtete an den Befreiungs⸗
kriegen vorbei und ſah Napoleon als äſthetiſches Phänomen.
Umgekehrt war das erſte Jahrzehnt des Reiches nach dem Kriege
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von 1870 die zweifellos geiſtig tiefſtſtehende Epoche des ganzen
neunzehnten Jahrhunderts: Überall niedrigſter Materialis⸗
mus.! Selbſt in dieſen Tagen höchſter nationaler Begeiſterung
kann man die bange Frage hören: Wie wird es diesmal
werden?
Gegen diefen Einwand ift aber weit mehr zu antworten,
als man anzunehmen pflegt. Zuerſt vergißt man doch allzu⸗
ſehr, daß jene Einheit einer bloßen Kulturnation ohne politiſche
Form, die Deutſchland vor der Reichsgründung geweſen iſt,
auch kein rein apolitiſches Werk puren Friedens geweſen iſt.
Nicht immer waren die Deutſchen nur „Dichter und Denker“
geweſen. Es gab einſt ein herrliches deutſches Kaiſertum; es
gab die Zeiten einer kühnen, kraftvollen Hanſa.“
Das Abendrot dieſer ſtolzen Zeiten, die Majeſtät und das
Licht des alten Reichsgedankens haben trotz Glaubenskämpfen
und dem Elend des Dreißigjährigen Krieges niemals aufge⸗
hört, das deutſche Volk zu durchleuchten. Das Mittelalter
kennt Interregnumsdauern, die länger waren als die Zeit
zwiſchen dem endgültigen Zerfall des alten und dem Auf bau
des neuen Reiches im Jahre 1870. Nur die Zurückdrängung
der großdeutſchen Idee, deren Vertreter in einer tiefen Be⸗
wußtſeinskontinuität mit dem alten Reichsgedanken und dem
alten deutſchen Kaiſertum lebten, haben für unſer Bewußt⸗
ſein, nicht aber für unſer tiefes hiſtoriſches Leben, die innere
Bindegewalt dieſer großen politiſchen Vergangenheit auch
auf unſer Denken und geiſtiges Schaffen zeitweiſe verſtecken
müſſen. Gewiß — das war eine hiſtoriſch⸗politiſche Not⸗
wendigkeit! Wir kennen heute die Irrungen des Frankfurter
Parlaments wie die Irrungen derer, welche ſich tatlos die
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politifche Reichseinheit aus der ökonomiſchen Einheit des deut⸗
ſchen Zollvereins hervorwachſend dachten. Nur an der feſt⸗
konſolidierten Grundlage des preußiſchen Machtſtaates konnte
der regionale deutſche Ideen- und Fürſtenpartikularismus
ſein Gegengewicht finden; nur an Preußen konnte der bis zum
embarras de richesse reiche und mannigfaltige deutſche Geiſt
und Sinn, konnte der mit Anlagen und Kräften unerhört
begabte, an ihnen faſt zerberſtende deutſche Junge ſeinen rauhen
Lehrer des realen Lebens finden, — den „Zwingherrn zur
Deutſchheit“ fo wie ihn ſchon der alte J. G. Fichte fernſichtig
gefordert hatte.!“ Die große Sehnſucht nach politiſcher Ein⸗
heit erfüllte ſich nur auf dem dornigen Wege zweier Kriege,
deren erſter Oſterreich aus der Kontinnität des alten Reichs⸗
gedankens ausſchied, ſo aber — dies war Bismarcks Meiſter⸗
werk, dem wir gerade heute mit aufgehobenen Händen danken
müſſen — daß Oſterreich durch unſere Mäßigung bünd⸗
nisfähig erhalten wurde; deren zweiter aber uns die Reichs⸗
einheit brachte, die eben jetzt auf dem Felde ihren erſten Exiſtenz⸗
kampf zu beſtehen hat. Aber wie dürften wir wähnen, daß
es mit dieſer Einheit des Jahres 1870 zu Ende ſei? Darum
hervor an die Sonne wieder du großdeutſcher Gedanke mit
all den ſtolzen Erinnerungen an das alte deutſche Reich und
Kaiſertum! Der Grund zur zeitweiſe notwendigen Verdrän⸗
gung dieſer nie zerriſſenen Tradition beginnt zu weichen. Die
Feindſchaft einer ganzen Welt, die heute älteſte Stammes⸗
liebe und Kulturgemeinſchaft zwiſchen Oſterreich und dem
Reiche neu zuſammenſchmiedet, öffnet uns wieder die Wände,
die vor der Zukunft der großdeutſchen Idee — ich ſage der
großdeutſchen Kulturidee, nicht einer Verkörperung derſelben
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im politiſchen „alldeutſchen“ Sinne — fo lange geftanden
hatten. Darum aber auch weg mit der müden Weisheit
unſerer Aſtheten und Peſſimiſten, der Deutſche könne nur als
ein Leidender in geiſtigen Dingen bedeutend ſein! Die alte
Kulturnation, in der Goethe und Schiller wirkten, war noch
von eben dem Reichsgedanken genährt, deſſen Seele in dieſem
Kriege wieder aufflammt. Nehmen wir dieſes ſein unbewußtes
Fortwirken weg, wo wäre dann auch nur die Einheit der bloßen
deutſchen Kulturnation geblieben? Und iſt nicht der Anfang
des neuen Selbſtbewußtſeins, mit dem Leffing der frangöfifchen
Tragödie entgegentritt und neue Formen und Maße für
Literatur und Dichtung aufſtellt, wiederum ganz bedingt durch
den Siebenjährigen Krieg Friedrich des Großen? Die Haupt⸗
figur aus dem erſten deutſchen Luſtſpiel, Tellheim, iſt ein Offi⸗
zier aus dieſem Krieg. Ebenſo wenig aber dürfen die geiſtigen
Opfer vergeſſen werden, die uns auch in kultureller Hinſicht
Armut und Kleinſtaaterei gekoſtet haben; nicht auch darf durch
eine einſeitige akademiſche Verhimmelung dieſes Zeitalters
aus den Augen gedrängt werden, was dieſe Kulturidee an
Einſeitigem und Fragwürdigem in ſich barg.
Die Lebensſchickſale Leſſings, Kleiſts, Hölderlins — um
von Geringeren zu ſchweigen — reden eine Sprache, grauſam
genug. Was aber das andere angeht, ſo fehlt dem Ganzen
dieſer Kultur doch vor allem dies: daß ſie ein organiſcher Be⸗
ſtandteil des nationalen Lebens und eine aus deſſen tiefſten
Kräften ſelbſt auf keimende Verherrlichung dieſes Lebens und
ſeiner Wirklichkeit geweſen wäre. Die bildende Kunſt und
die Architektur, deren Nährboden noch in höherem Maße
wie jener der Literatur und Dichtung politiſche Freiheit,
Zi
Größe, Stolz und Reichtum des Dafeins ift, lag wie das
Kunſtgewerbe ganz darnieder! Die Kunſt⸗ und Schönheits⸗
ideale ſind — von Goethe abgeſehen — von einem wirklich⸗
keitsflüchtigen Zug beherrſcht, gleichgültig ob man wie Schiller
Schönheit erſt im ſogenannten „Reich des Ideals“ finden
konnte, ob man zu Griechen oder ins Mittelalter floh.
Etwas Mattes, Abſtraktes, gelehrtenhaft Unmännliches,
etwas Abſeitsſtehendes, Blut⸗ und Leidenſchaftsloſes im Kerne
dieſer Kulturidee, ſelbſt noch angeſichts Goethes zu empfinden,
darum wird kein echtes Kind unſerer Tage herumkommen.
Dazu dichtet und philoſophiert hier faſt ausſchließlich ein ein⸗
ziger ſozialer Beſtandteil des deutſchen Volkes, der bei aller
innerer Gemütsgröße doch auch ſehr beſtimmte Grenzen feiner
geiſtigen Welt und ſeiner Perſpektiven hat: das deutſche Klein⸗
bürgertum, ſich ſonnend in der Luft kleiner und oft kleinlicher
Höfe. Die vollen Tiefen des Lebens eines leidenſchaftlichen
Volkes öffnen ſich in dieſer Dichtung ſo wenig, wie ſie an⸗
dererſeits durch ſie voll ergriffen und nach höheren Zielen ge⸗
führt wurden. Man weiß ja, wie wenig dieſe Großen geleſen
wurden!“ Eben weil wir den unvergeßlich Großen jener
Tage nichts als Dank und Liebe ſchulden, dürfen wir
nicht vergeſſen, was der Staat und die deutſche Geſellſchaft
ihnen ſchuldig blieb und was ſie und die Unzähligen, denen
Kleinſtaaterei und Armut den ſang⸗ oder weisheitsbereiten
Mund verfchloffen, hätten ſchaffen können, wenn Zeit, Volk
und Staat ihrer und ihres Geiſtes würdig geweſen wären.
Wenn aber die Zeit nach 1870 kulturell ſo wenig Hoffnungen
erfüllte, ſo lag dies in erſter Linie nicht daran, daß es eine
allgemeine Regel wäre, daß fiegreiche Kriege den Materia⸗
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lismus und Zurückdrängung alles Geiſtigen im Gefolge haben
müßten; oder daß der Deutſche nur im Leiden groß ſein könne,
im Glücke aber an der Erde klebe. Es lag auch nicht allein an
der Befruchtung des Unternehmertums und der „Gründer“
durch die fünf Milliarden — eine Folge, die wir diesmal auch
bei 30 Milliarden ſicher nicht zu erwarten haben. Es lag viel⸗
mehr daran, daß das neue große leere Reichshaus eine Ein⸗
richtung und einen fruchtbaren Garten forderte, auf deren Her⸗
ſtellung ſich bei uns im Gegenſatz zu den Fällen ſtegreicher
Kriege anderer Mationen z. B. den Kriegen Ludwigs XIV. —
zunächſt die geſamte Kraft der Nation zu ſpannen hatte. Es
lag aber auch daran, daß gleichzeitig mit unſerem national⸗
politiſchen Aufſchwung der allgemeine Weltkapitalismus von
engliſchem Typus ſeinen höchſten Kulminationspunkt zu er⸗
ſteigen begann und unſer national wirtſchaftliches wie „weltpoli⸗
tiſches! Aufftreben in Formen zwang, die der deutſche Geiſt
ſchon aus ſeiner, ſo lange währenden rein ideologiſchen Richtung
heraus, nicht aus ſich ſelbſt geboren hatte, die ihm vielmehr im
weſentlichen durch die Konkurrenz der Völker engliſcher Zunge,
— gegen fein wahres Weſen — aufgenötigt wurden. Daß der
Deutſche gleichwohl auch in dieſen beſonderen Formen, die ihm
von Hauſe aus, trotz ſeines uralten ökonomiſchen Wirklich⸗
keitsſinnes fremd waren, das hiſtoriſche Urſprungsland dieſer
Formen überflügeln konnte, darin iſt die letzte Urſache der
Spannungsbildung zu ſehen, die ſich zuerſt in der engliſchen
Einkreiſungspolitik, ſchließlich in dieſem Kriege entluden.*
Denn dieſer Krieg iſt — wie immer der diplomatiſche Her⸗
gang ſeiner Entſtehung eine andere Meinung nahelege —
zuerſt und zuletzt ein deutſch⸗engliſcher Krieg. Hier liegt
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feine prima causa und fein letztes Ziel; und alle anderen Ur⸗
ſachen und Ziele ſind abgeleiteter Art. Dieſer Krieg iſt aber
eben darum von deutſcher Seite aus geſehen nicht ein Krieg,
welcher der Konkurrenz mit England in dieſen neu⸗ und hoch⸗
kapitaliſtiſchen Formen, und Englands in ihnen Überflüge⸗
lung dient! Dieſer Konkurrenzgedanke iſt nur Sinn und Ziel
des engliſchen Krieges gegen uns! Er hat vielmehr die viel
tiefere und welthiſtoriſchere Bedeutung, daß er auf Befreiung
abzielt von jenen neukapitaliſtiſchen Lebensformen überhaupt,
in denen mit England zu konkurrieren und ſie dabei ſelbſt
anzunehmen, die welthiſtoriſche Situation uns zwang, — vor
allem die Tatſache zwang, daß wir ſo ſpät erſt und zu einer
Zeit, da dieſe Formen ſchon gebildet und da fie von England
aus den Siegeszug durch die Welt gemacht hatten, zu einem
Leben realökonomiſcher Geſamttätigkeit gelangten. Nicht
alſo ſiegreiche Konkurrenz, ſondern ſteigende Erlöſung vom
Zwang einer Konkurrenz mit England, die uns allerdings
zeitweiſe von unſerem hiſtoriſchen Weſenscharakter abge⸗
fallen ſcheinen laſſen konnte, iſt das Hauptziel des engliſch⸗
deutſchen Krieges in dieſem Kriege. Denn jeder Krieg gegen
England als gegen das Mutterland des modernen Hochkapi⸗
talismus iſt auch Krieg gegen den Kapitalismus und ſeine
Auswüchſe überhaupt.“ Sehe ich recht, ſo war in dem letzten
Jahrzehnt in unſerem Lande, war zumal in ſeiner neuen herr⸗
lichen Jugend, die jetzt auf dem Schlachtfelde den inneren
Wert ihres neuen Geiſtes und ihrer Beſtrebungen an des
Tages Licht bringt, war in Weltanſchauung und Lebensart
ein tiefgehender Bruch mit eben jenem kapitaliſtiſchen Bürger⸗
geiſt engliſcher Provenienz aufgekommen, der ihre Väter noch
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! H
. ;
allzuſehr umſpannen mußte. Ich habe andernorts über diefe
Wendung gehandelt.“ Dieſer neue deutſche Jugendgeiſt wird
ſich in dieſem Krieg beflügeln und ſeine Grundſtruktur wird
ſich härten und ſtählen. Gibt uns Gott den Sieg, ſo wird
in dem fertiggebauten und gefüllten und hoffentlich erweiter⸗
ten Reichshauſe nach denjenigen Formen weitergearbeitet
werden, die uns nicht von außen aufgedrungen wurden, die
vielmehr zum Geiſte und Weſen ſeiner Bewohner paſſen.
Das aber wird auch unſeren vielverſprechenden kulturbilden⸗
den Kräften in Kunſt und Wiſſenſchaft, in Philoſophie und
Religion die Muße, die Freiheit gegenüber der fatalen Aus⸗
leſekraft des Bourgeoisgeſchmacks, die Leidenſchaft geben zu
einer großen, zu einer blut⸗ und lebensvollen deutſchen Kultur,
die nichts mehr von Wirklichkeitsflucht in ſich hat, ſondern die
fein wird: Wirklichkeitsverherrlichung.
Aber jene pofitive Beziehung des Krieges zur Freilegung
der ſchöpferiſchen Kraft aller Geiſteskultur vermag die Ge⸗
ſamterſcheinung des Krieges nicht im entfernteſten zu recht⸗
fertigen. Möchte ſie ſo tief wie immer ſein — der eigentliche
Sinn, der letzte Wert und Unwert des Krieges, beſtimmt
ſich allein nach feinem Verhältnis zur ſittlichen und reli⸗
giöſen Aufgabe und Miſſton unſeres Geſchlechtes. Es wäre
auch ein prinzipiell irriger Standpunkt, die ſittlichen Werte
als bloße „Bedingungen“ höchſter Kulturentfaltung abzu⸗
leiten, wie es Hegel und W. Wundt verſuchten.“ Weder
der alle Sachwerte überragende Wert der Perſon noch die
qualitative Eigenart der ſittlichen Werte, wäre aus dieſer
Annahme verſtändlich. Und noch weniger ginge es an, den
religiöfen Grundwert, der alle Bildung religiöſer Objektvor⸗
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ftellungen leitet, den Wert des „Heiligen“ als bloße „Er⸗
gänzung“ und letzte „Grundlegung“ für alle übrigen Kultur⸗
werte verſtehen zu wollen.
Eine Welt, ſo eingerichtet, daß Leben und Kultur in ihr
prinzipiell nur unter der Wirkſamkeit einer Kraft gediehen
und wüchſen, die uns die ſonnenk laren Einſichten mußten ver⸗
dammen laſſen, die alles menſchliche Ethos begründen — eine
ſolche Welt könnte nur eine teuf liſche genannt werden. Denn
unbeugſam iſt echte ſittliche Einſicht gegen alle bloße Wirk⸗
lichkeit des Irdiſchen gegen allen „Erfolg“ und gegen alle
jene Klugheiten und Weisheiten der „Welt“, die ach ſo
ſchal ſind, wenn ſie ein gottinniges Gewiſſen mit jenem
fröhlichen metaphyſiſchen Leichtſinn betrachtet, den im letzten
Grunde alle bloß „irdiſchen“ Angelegenheiten ſo ſehr ver⸗
dienen. Wie das Edle über dem Mützlichen, der Held über
dem „führenden“ oder „großen“ Mann der Ziviliſation
ſteht, die Macht und die Herrſchaft über dem Nutzen; wie
das geiſtige Wort der Erkenntnis an Rang über dem Edlen,
die geiſtige Kultur über Vital: und Raſſekraft und ⸗tugend,
der Genius über dem Helden ſteht: Alſo ſteht der Wert des
„Heiligen“ an Rang über allen geiſtigen Werten von Er⸗
kenntnis und Schönheit, die Religion, darin wir Gott und
die Geſtalten des „Heiligen“ erfaſſen, über aller Kultur — der
Heilige aber an Rang unendlich über dem Genius!
Und was nun iſt es, das der Krieg in dieſer Perſpektive
bedeutet?
3. Krieg und Ethik
Was immer alſo der Krieg für Erhaltung und Förderung
höchſter menſchlicher Lebenswerte (Kap. J) und Kulturwerte
(Kap. II) bedeute, es würde ihm die höchſte Sanktion, die
alles menſchliche Tun fordert, gebrechen, könnte er — zu
rechtem Ziele und auf rechte Weiſe geführt, — nicht Beſtand
haben vor dem ſittlichen Gewiſſen und dem religiöſen Sinne
des Daſeins und Lebens unſeres Geſchlechts. Hätten die⸗
jenigen, die ihn von hier aus prinzipiell verwerfen, ſei es vom
Standort der Idee der Gerechtigkeit, ſei es vom Standort
des Liebesgebotes aus, in der Sache recht, ihre Stimme
könnte noch ſo ſchwach und klein, könnte gegen die Kräfte, die
immer neu in Kriege treiben, noch ſo unwirkſam ſein, der
Krieg wäre doch gerichtet! Er wäre gerichtet, auch wenn
er allein den biologiſchen Aufſtieg der Menſchheit garantierte;
er wäre gerichtet, auch wenn er die ſtärkſte kulturſchöpferiſche
Kraft der Geſchichte wäre. Nur der ſittliche Peſſimismus
hinſichtlich der menſchlichen Matur und die alte proteſtan⸗
tiſche Lehre von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchen
gewännen die ſtärkſte ihrer Stützen.
Die Unſinnigkeit gewiſſer exzeſſiver Zeitungs⸗ und Partei⸗
anklagen gegen den Krieg iſt leicht zu ſehen, z. B. feine Auf:
faſſung als „Maſſenmord“. Denn zum Morde gehört
zu allen Zeiten als Weſensmoment, daß der Wille vor
der auf Tötung gerichteten Abſicht die Exiſtenz einer indi⸗
viduellen Perſon als Perſon verneint, fie gleichſam ihres
Daſeins und ihrer Würde entmächtigt. Nichts davon findet
im Kriege ſtatt. Kriege werden nicht gegen Individuen,
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fondern — gemeinhin auf vorherige Erklärung und nach
freiwilligem Übereinkommen — gegen Staaten geführt. Ihr
Prinzipalzweck iſt Wehrlosmachung des fremden Staates,
beziehungsweiſe ſeiner Regierung; nicht das Töten von
Menſchen! Auch im Gefecht ſteht dem Soldaten nicht
eine Summe von Individuen und Perſonen als Gegner vor
dem geiſtigen Auge, fondern die dort wogende Kollektiv:
gewalt des „Feindes“, als eines Werkzeugs der fremden
Regierung, deren Wille in dieſer Gewalt als Ganzes tätig
iſt. Schon dies allein ſchlöſſe den ethiſchen Tatbeſtand des
„Mordes“ völlig aus.“ Vor allem aber beruht jede echte
Kriegführung analog wie der Zweikampf auf dem ritterlichen
Prinzip, das Achtung und Perſonbejahung des Gegners im⸗
pliziert; ja das ſogar einſchließt, daß die geiſtige Willens⸗
perſönlichkeit des Gegners auch noch im Töten ſeines Organis⸗
mus um ſo tiefer und herzlicher bejaht und geachtet werde, je
beſſer und erfolgreicher er auf Schlag mit dem eventuell töd⸗
lichen Gegenſchlag antwortet. Dieſes Töten iſt ein Töten
ohne Haß, ja ein Töten mit der Einſtellung der Achtung!
Das macht die Majeſtät des furchtbaren Werkes aus. Dar⸗
um iſt überall in der Geſchichte das Recht, die kriegeriſche
Waffe zu führen, an ganz feſt umſchriebene Qualitäten, ins⸗
beſondere die Anerkennung des Waffenträgers als einer freien
Perſon geknüpft. Mag der Nahkampf Wut, Zorn, momen⸗
tanen Rachedurſt entzünden — der Haß des Gegners iſt ein
dem echten Kriege völlig fremdes Element. Der Schuß eines
einzigen Franktireurs erzeugt mehr Rachedurſt und Haß als
die ſchärfſte Niederlage, die von regulären Truppen bei⸗
gebracht iſt. Nur ganz unkriegeriſche, weichliche, ſinnliche,
feige Völker, wie z. B. jetzt die Belgier, find es, die eine geringe
Unterſcheidungsgabe für ritterliche Tötung im Krieg und den
gemeinen Mord der Franktireurs beſitzen. Jene naturali⸗
ſtiſche Lehre vom Krieg als,, Maſſenmord“ würde dieſe feigen
und ſchwachen Völker rechtfertigen! Genug alſo von der
Torheit und Niedrigkeit, den Krieg als „Maſſenmord“ zu
bezeichnen!
Das chriſtliche Ethos aber ſteigert das Prinzip der Ritter⸗
lichkeit oder der Feindesachtung, das ſchon den heidniſchen
Krieg, ja den Krieg zwiſchen allen edleren Naturvölkern be⸗
herrſcht, zur Forderung, daß die Nächſtenliebe zu dem Bruder
in Gott — alfo bezogen (den „Feind“) und erlebt in dieſer
tranſzendenten Seins⸗ und Wertſphäre — auch im Kriege
nicht ausſetze, ſondern auch mitten im Kampfe weiterwirke
(„Feindesliebe!“) Internationale Organiſationen wie jene des
Roten Kreuzes ſtellen dieſes Prinzip auch äußerlich und gleich⸗
ſam techniſch dar. Leute, die das Prinzip der chriſtlichen Liebe
von der auf völlig anderem Boden gewachſenen Idee der
modernen „Menſchenliebe“ oder Liebe zu „allem was Men⸗
ſchenangeſicht! trägt, nicht zu unterſcheiden vermögen“, ver⸗
kennen natürlich auch von Grund aus den Sinn der Forde⸗
rung der „Feindesliebe“. Sie machen daraus das von ihr
völlig verſchiedene: Nur keine Feindſchaft! Aber die Tiefe
und die Paradoxie dieſer Forderung — gegen das natürliche
Bewußtſein — beſteht ja eben darin, daß der Beſtand von
Feindſchaft und auch des edlen hohen Charakters der Kräfte
des Gemütes, die zu ihr im Privat⸗ und Völkerleben
treiben können, von Jeſus vorausgeſetzt und pofitiv anerkannt
werden; und dann doch mitten im Kampf und Krieg Liebe
79
des „Bruders in Gott“ gefordert wird. „Chriſten ſtreiten
— als ſtritten fie nicht“ ſagt Richard Rothe. Nicht aber:
„Chriſten ſtreiten überhaupt nicht“. Im Neuen Teſtament
werden häufig Kriege prophezeit (Lukas 21, 9— 18; Mar⸗
kus 13, 7—26); bei Matthäus heißt es (10, 34) Jeſus
ſei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, ſondern das
Schwert und bei Lukas (12, 49) er ſei gekommen um Feuer
und Spaltung auf die Erde zu werfen. In der Antwort,
die bei Lukas (3, 14) Johannes den Kriegsleuten gibt, auf
ihre Frage nach gerechter Buße, ſteht keine Silbe, daß ſie
ihr Handwerk aufgeben ſollen. Die Friedenspreiſungen (Pau⸗
Ins an die Koloſſer 3, 18, Petrus Ep. I, 5, 14, Paulus an die
Philipper 4, 7, an die Epheſer 2, 14, an Timotheus II, 2, 22,
an die Römer 12, 17—20, an die Hebräer 12, 14) ſtehen zu
alledem nicht im mindeſten Gegenſatz. Nirgends meinen ſie
den Begriff desjenigen „Friedens“, der nur der „Nichtkrieg“
iſt, d. h. eine von der Idee des Krieges hergebildete negative
Korrelatidee des „Krieges“. Sie wenden ſich teils gegen das
individualiſtiſche Prinzip der Habſucht, des Neides, des ehr⸗
geizigen Konkurrenzſtrebens, das gerade in ſeiner ganzen Ge⸗
walt dem Nichtkrieg oder dem „Friedenszuſtand“ das generelle
Gepräge gibt und das der, die Individuen und Parteien geiſtig
einigende Kriegszuſtand gerade verringert, ja in höchſten Mo⸗
menten aufhebt; teils meinen fie jenes tranſzendente Ruhe⸗
gefühl, Stillegefühl, jenes Erlebnis von Geborgenheit des
alle Menſchen als „Bruder in Gott“ mit ſich einſchließenden
Gemütes, die natürlich nur den Lautkomplex „Friede“ mit
dem gemein hat, was das Gegenteil des Kriegszuſtandes, den
„Nichtkrieg“, bedeuten ſoll. Dieſer „Friede“ der Friedens⸗
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preifungen aber kann auch noch im Kriege, — ſo er ritterlich
und fromm geführt wird — die Leidenſchaften durchſchneiden
wie der Sonnenſtrahl den Sturm. Es ſind denn auch nur
gewiſſe, moraliſtiſche, den Erlöſungs⸗, Gnaden⸗ und ſupra⸗
naturalen Charakter des Chriſtentums durch und durch ver⸗
kennende utopiſtiſche moraliſtiſche Sekten, wie z. B. Wieder⸗
täufer, Quäker, Mennoniten und andere, geweſen, die eine Ver⸗
urteilung des Krieges überhaupt aus den Evangelien ableiten
wollten. Keine der großen chriſtlichen Kirchen iſt dem gefolgt.“
Und es ſind andererſeits Perſonen und Gruppen, welche die mo⸗
derne, ganz irdiſche und auf den Erfolg eingeſtellte Wohlfahrts⸗
moral, für welche „Liebe“ nicht eine in ſich höchſtwertige
Gemütsbewegung, ſondern nur ein ſeeliſcher Kauſalfaktor für
den allgemeinen Nutzens iſt, mit der chriſtlichen Ethik aufs
peinlichſte vermiſcht haben, die heute noch das Evangelium
gegen den Krieg überhaupt zitieren zu können glauben.
Aber dieſer Tatbeſtand, daß die höchſte und reinſte Yor-
mung, die das ſittliche Bewußtſein bisher gefunden hat, den
Krieg nicht prinzipiell verwirft, ſagt noch nichts über das
poſitibe Sinnverhältnis aus, das Friedenszuſtand und Kriegs⸗
zuſtand für jenes höchſte Ziel beſitzen, das die chriſtliche Lebens⸗
lehre ſtets im Gedanken der Verwirklichung eines „Gottes⸗
reiches“, das zugleich ein Reich der Liebe und des Friedens
(im pofitiven Sinne) iſt, gefunden hat.
Hier aber liegt — in der Tiefe — ein auf den erſten Blick
eminent paradoxes, poſitives Verhältnis vor, das gerade die⸗
jenige Ethik zum Kriege beſitzt, die nicht wie antiker Stoizis⸗
mus oder wie die Ethik Immanuel Kants in der univerſalen
Gerechtigkeit oder in einem „Reiche von Vernunftperſonen, in
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dem Jedes Freiheit mit der Freiheit Jedes widerfpruchslos zu⸗
ſammen beſtehen kann“, die auch nicht in allgemeinſter, größter
Wohlfahrt oder in höchſter Kulturevolution (wie die Ethik
Hegels und Wundts), ſondern in einem Maximum von
Liebe auf Erden das höchſte Ziel aller menſchlichen Beſtre⸗
bung erblickt.
Der Architekt des Haager Friedenspalaſtes hat ſeinen
Bau mit der Devife geſchmückt — einer Transformierung des
bekannten Wortes „si vis pacem, para bellum“ — „Si vis
pacem, para justitiam“. Die Phraſenhaftigkeit und Nichtig⸗
keit dieſes Satzes beſteht zunächſt in der kindlichen Voraus⸗
ſetzung, daß man die „Gerechtigkeit“ irgendwie ſchaffen und
bereiten (parare) könnte — ſo wie man etwas ganz anderes,
nämlich gerechte oder ungerechte Rechtsinſtitute ſchaffen und
„bereiten“ kann. Aber daneben beſteht ein Irrtum, den jener
Architekt mit den ſtrengen Vertretern einer jeden rationa⸗
liſtiſchen Gerechtigkeitsmoral teilt. Es iſt der durch das
Chriſtentum zuerſt aufgedeckte, nur negative und begrenzende,
nicht pofitive und ſchöpferiſche Charakter jeder reinen Gerech⸗
tigkeitsmoral und ihre notwendige Unterordnung unter die
Moral der Liebe. Dieſe Unterordnung iſt in Begriffen aus⸗
gedrückt der Kerngehalt der Bergpredigt. Wie fein und
ſubtil wir die Idee der „Gerechtigkeit“ auch analyſieren, fie
führt nie und nimmer hinaus über eine bloß logiſch⸗formale
Ordnung und Syſtematiſterung von Willenszwecken: Es
werde Gleichwertiges Gleichwertigem unter gleichwertigen Um⸗
ſtänden. Was aber zu wollen und zu tun fei und was
nicht, davon ſagt uns dieſe Idee nichts. Sie ſcheint uns
nur dann etwas Derartiges zu ſagen, wenn wir Verhal⸗
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tungsweiſen, wie Achtung, Liebe, Wohlwollen in den Sub⸗
jekten heimlich ſchon vorausſetzen, um deren „Gerechtigkeit“
es ſich handelt, beſtimmte inhaltlich wertvolle Eigenſchaften
aber in denen, auf die ſie zielt. „Syſtematiſch“ können die
Ziele des Teufels ebenſo ſein, wie die Ziele Gottes! Nennt man
z. B. Gleiche gleich ſtark haſſen, quälen, beſtehlen, berauben
unter gleichen Umſtänden, ſinnvoll keine „gerechte“ Hand:
lung, ſo gibt man ſelbſt zu, daß man alles „gerechte“ Ver⸗
halten gegen jemand bereits in irgendwelcher Form einer auf
die Anſchauung pofitiver Werte in ihm gegründeten Liebe
verwurzelt hatte. „Gerechtigkeit“ iſt eben keine neben oder
gar über der Liebe ſtehende ſittliche Grundidee, ſondern nur
die logiſche Ordnung in der Betätigung irgendeiner Art und
Form von Liebe, reſp. eines von Liebes⸗Geſinnung noch irgend-
wie um ſpannten inneren Verhaltens.? Es iſt der tiefſte ſittliche
Grundgedanke des Chriſtentums, daß die vollkommene Liebe,
auch alle nach dem Maßſtab der Gerechtigkeit „guten“ Akte
des Willens und Handlungen von ſelbſt in ſich ſchließe und nur
eben noch ein unvergleichliches Etwas hinzufüge, das ſie erſt zu
rein ſittlichen Handlungen mache! Darum „enthält“ — nach
dem Geiſte der Bergpredigt — das Liebesgebot alle anderen
„Geſetze“ und Gebote, als von ihm abgeleitet, in ſich. Auguſtin
hat dieſen Gedanken ſchon mit klarſter und ſchärfſter Kon⸗
ſequenz herausgeſtellt. Wenn aber dieſes Grundvoerhältnis
von „Gerechtigkeit“ und „Liebe“ zugegeben wird, dann iſt
auch ohne weiteres klar, daß die „Gerechtigkeit“ eines Subjekts
nie wertvoller ſein kann, als die jeweilige Art und der jeweilige
Wert der Liebe des Subjekts, die ſie notwendig fundiert und
inſpiriert. Die höhergeartete Liebe oder jene Liebe, die ſich auf
6* 83
Schutz, Erhaltung, Förderung von Werten höheren Ranges
in einem anderen Weſen, wenn auch vielleicht gegen die nie⸗
driger gearteten Impulſe, Wünſche, Zwecke dieſes geliebten
Weſens richtet, beſtimmt alſo auch erſt die Höhenlage der
zu dieſem Weſen auch nur möglichen Gerechtigkeit. Eine
Liebe, die man ſchon als eine „Dispoſition, anderen wohlzu⸗
tun“, d. h. im Sinne der Mützlichkeitsmoral definieren würde,
eine ſolche Liebe kann freilich auch dann nicht mehr „wehe⸗
tun“ und unter Umſtänden „züchtigen“; auch dann nicht
mehr, wenn die Forderung des höheren Wertes im Gegenüber,
die Bewahrung der Geiſteswürde des anderen, die Förderung
ſeiner zentralſten Intentionen, die er ſelbſt vielleicht eben
preisgeben will, dies erforderte. Die echte Liebe aber, die
nicht auf die Wünſche, ſondern die Wertess und die Würde
des anderen Teiles und auf ſein wahres „Heil“ gerichtet iſt,
kann auch hier nach dem Vorbilde Gottes verfahren, der
weiſe „züchtigt, die er liebt“. Das gilt auch noch im Völker⸗
leben. Man hat uns z. B. den Vorwurf gemacht, daß wir
1871 unſere Erwerbung der uns von Ludwig XIV. entriſſenen
Landesteile des Elſaß nicht von einem Plebiszit der Elſäſſer
Bevölkerung abhängig machten. Aber die Zugehörigkeit zu
einer Nation beſtimmt ſich nicht nach Wunſch und „Na⸗
tionalbewußtſein“ der in Frage kommenden Subjekte. Sie
beſtimmt ſich nach Art und Richtung der Arbeit, der For⸗
mung, die dieſer Boden in ſich aufgenommen hat und nach
jenen tieferen Lebens⸗Schaffens⸗Werttraditionen, die jenſeits
der Oberfläche des „Urteilsbewußtſeins“ und des „Wunſches“
in dieſer Bevölkerung leben. Die eben vollzogene Formu⸗
lierung dieſes Grundverhältniſſes der Idee „Gerechtigkeit“ zur
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Idee „Liebe“ hat den Einwurf zu gewärtigen, daß doch die
Gerechtigkeit erfordere, „ohne Liebe und Haß zu richten“, be⸗
ziehungsweiſe Geſetze, die Gerechtigkeit verwirklichen ſollen,
„ohne Liebe und Haß“ aufzuſtellen. ! Aber es iſt offenſichtlich,
daß in dieſem Satze etwas ganz anderes mit dem Worte „Liebe“
gemeint iſt als in unſerem: Nämlich Vorliebe für eine Partei
vor der anderen Partei. Was wir oben meinten, bedeutet dieſes
ganz andere: daß weſensgeſetzmäßig alle „gerechte“ Haltung
(Gerechtigkeit als Tugend) von irgendeiner Form der Liebe
gegen jene Geſamtheit ſchon beſtimmt ſei, in der das gerechte
Verhalten eine vernünftige einheitliche Ordnung der Zwecke
bewirken ſoll — und daß gleichzeitig die Sachidee der „Ge⸗
rechtigkeit ! durch beſtimmte Werte bedingt und getragen fei
(und eine Rangordnung ſolcher), die Objektgrundlagen dieſer
Liebe ſind. Nur gegen jene Neigungen der „Begierde“, die
eben das Gegenteil von Liebe (jeder Art) ſind, ſoll Gerechtig⸗
keit das ſein, als das ſie Dichter und bildende Künſtler dar⸗
ſtellen: „Blind“. Eine auch wert- und liebesblinde Gerechtig⸗
keit aber wäre auch blind und ohnmächtig für — die Ge⸗
rechtigkeit ſelbſt. Und wieder gilt nicht, daß Liebe ſondern
daß die Begierde „blind“ mache, wogegen die Liebe das geiſtige
Auge überhaupt erſt für alle die Werte öffnet und ſie in
den Geiſt einſtrömen läßt, deren fühlendes Sehen irgend-
welche Gerechtigkeit erſt möglich macht. Die Liebe iſt die
Wurzel aller echten „Objektivität“ im Verhalten — ſie iſt
es in der Moral wie in der Erkenntnis und das einzige,
letzte Agens, das unſeren Geiſt aus dem Umkreis unſeres
Leibes und ſeiner Begierdeimpulſe ſich heraus ins Freie, zu
Dingen und Werten hinbewegen läßt. Man muß auch
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Gerechtigkeit und Erkenntnis noch „lieben“, um darnach zu
verlangen und in einer dieſer Richtungen tätig zu ſein. Die
pure Gerechtigkeitsmoral (beſſer ſagte man „Geſetzlichkeits⸗
moral“) wird nun dadurch, daß ſie alle anderen willensbeſtim⸗
menden Faktoren außer der Idee formaler Geſetzlichkeit aus⸗
ſchließlich in Egoismus, Intereſſe, Luft, Mutzen verlegtss,
gleichwohl aber doch Liebe das Fundament auch der, über „Ge⸗
ſetzlichkeit / hinausgehenden „Gerechtigkeit“ iſt, dazugeführt, die
Liebe nur als „Dispoſttion zur Förderung allgemeiner Wohl⸗
fahrt“ anzuſehen. Das heißt ſie wird gerade im Hauptpunkt
aller Ethik — ihrer Stellung zum Liebesgedanken — zu einer
bloßen Unterform des Utilitarismus. Sie ſetzt bei all ihren
Ableitungen darum ſchließlich nichts voraus als kämpfende
Indiobidualegoismen — ihre Wohlfahrt aber als Summe
der Wohlfahrt aller Einzelnen — und eine logiſche Regel
ihrer durch das Wollen zu bewirkenden Ordnung. Aber ſelbſt
bei dieſer Anſetzung vergißt fie, daß fie den Satz vom poſitiven
Wert der Wohlfahrt und ihrer Liebenswürdigkeit als einen un⸗
mittelbar evidenten Satz und ſo wenigſtens die niedrigſte Form
der Liebe als der Liebe zu dem, was allem menſchlichen Wert⸗
bewußtſein „gemeinſam“ iſt — d. h. Sinnenluſt und⸗ſchmerz —
bereits heimlich vorausgeſetzt hat. Eben darum gerät die Ge⸗
rechtigkeitsmoral auch ſofort in den zweiten Grundirrtum, der
neben der Verwechslung von „Begierde“, „Neigung“ und
„Liebe“ ſtets die Haupthemmung für das Verſtändnis von Volk,
Nation und Krieg gebildet hat: er beſteht darin, daß man die
„höherwertige Liebe“ nicht gleichſetzt mit der Liebe zum Trä⸗
ger höherer Werte (wie groß oder klein auch der Kreis der
Träger dieſer Werte immer ſei), ſondern mit der Liebe zum
86
jeweilig größeren Menſchenkreiſe und feiner „Wohlfahrt“.
So wird die echte (auch „chriſtliche“) „Nächſtenliebe“ zu etwas
total Anderem, zur „Liebe zur Menſchheit“ umgebogen; und
es kann nun natürlich alle Liebe zu Heimat, Volk, Nation,
Staat, Kulturkreis, ex definitione nur als eine Art widerrecht⸗
liche Entziehung eines Liebesquantums erſcheinen, das man der
„Menſchheit“ als ſolcher, als dem größten Kreiſe ſchuldet.
Hierbei wird aber eben die Hauptſache überſehen: daß die
„höherwertige“ Liebe, — auch die „innigere“ und tiefer in das
zentrale Weſen ihres Gegenſtandes eindringende Liebe — faktiſch
ſtets die auf die höheren Werte (alſo z. B. nicht Wohlfahrt,
Nutzen, ſondern dem Edlen und den geiſtigen Werten der Kul⸗
tur, nicht Sach werten, ſondern Perſonwerten uf.) aufgebaute
Liebe iſt; und daß gleichzeitig eben die Sphäre dieſer höheren,
alle „Wohlfahrt“ weit überragenden Werte, von Hauſe aus
nicht allen Menſchen „gemeinſame“ find, ſondern nur volkliſch
national oder nach Kulturkreiſen differenzierten Eigenſchaften,
Werken und Kräften der Menſchen zukommen können. Dar⸗
um iſt denn auch faktiſch jede ſogenannte Liebe zur Menſch⸗
heit und zu ihrem Geſamtwohl — fo berechtigt und notwendig
ſie auf ihrer Rangſtufe iſt und ſo ſehr gerade dieſe Liebesart
die Vorausſetzung iſt auch aller „internationalen“ Moral, in⸗
direkt alles Privat⸗ und öffentlichen Rechts — in dem Augen⸗
blick eine widerſittliche und darum auch widerrechtliche Ent⸗
ziehung von Liebe gegen die Träger jener „höheren Werte“,
die z. B. als echte Kultur⸗ und Perſonwerte ſich in der Sphäre
jener großen geiſtigen Geſamtperſonen, die wir Nationen
nennen, darſtellen und eben nur hier ihren „Ort“ haben —
in dem Augenblick, als dieſe „Liebe zur Menſchheit“ in Kon⸗
87
flikt mit der Liebe zu den Trägern der an ſich auf Grund
ihrer Qualität höheren Werte tritt. Mit ihrem unumſtöß⸗
lichen Fundament, der „Liebe zur Menſchheit“ und dem ihr
als ſolcher Liebe allein noch zukommenden Wohlfahrtswert,
iſt aus dieſem Grunde auch die Forderung „allgemeinmenſch⸗
licher Gerechtigkeit“ ſo lange in ihrer willensbeſtimmenden
Kraft ausgeſetzt, als bis den Forderungen der höherwertigen
Liebe zu Nation und Staat und ihrer geiſtigen Kultur volles
Gehör und Folge gegeben wurde.““
Damit ſind die fundamentalen ethiſchen Axiome kurz be⸗
zeichnet, die auch für die Beurteilung des Krieges als Oberſätze
zu gelten haben. Die pure rationale Gerechtigkeitsmoral — deren
reinſtes Muſterbild immerdar die Ethik Immanuel Kants dar⸗
ſtellen wird fordert von ihren falſchen und durch die chriſtliche
Liebesethik längſt überwundenen Grundſätzen aus, in völlig
ſchlüſſiger und ſtrenglogiſcher Weiſe auch den „ewigen Frie⸗
den“ als regulative Idee alles politiſchen Handelns; fie fordert
weiter internationale Rechtsinſtitute, die auf Grund der Idee
und Norm der „Gerechtigkeit“ alle internationalen Gegen⸗
ſätze auf rechtliche Weiſe ſchlichten. Dieſe ihre Schlüſſe und
Forderungen erfahren aber auf Grund des Primates der Liebe
über die Gerechtigkeit und des Satzes von der notwendigen
Fundierung aller Gerechtigkeit in Liebe, der „höheren“ Ge⸗
rechtigkeit aber in „höherer“ Liebe, nun eine tiefeinſchneidende
Einſchränkung: Ihre logiſch ſchlüſſige Forderung nach Friede
und ihn gewährleiſtende Rechtsinſtitute, iſt eine „ ſittliche
Forderung“ nur inſoweit und inſoferne, als auf Grund des
Friedens eine gleichgroße Fülle von Liebe auf Erden und
zwar von Liebe der höchſten Arten — und gemeſſen nach dem
*
88
RS
Range diefer Arten — erhalten bleibt. Wenn dagegen durch
eine, vermöge dieſer Inſtitute, gemäß der Morm der „Gerechtig⸗
keit“ zu gewährleiſtende Ordnung der Intereſſengegenſätze die
Geſamtfülle der Liebe in der Welt (und an erſter Stelle der
Arten der höheren und höherwertigen Liebe) abnähme, und
wenn dies auch in beliebigem Maße außerdem noch zugunſten
der Maximiſterung „allgemeinmenſchlicher Wohlfahrt“,
durch Entfallen aller der unſäglichen Kriegsübel geſchähe, ſo
wäre ſolche Ordnung auch in der Idee eine weſenhaft widerſitt⸗
liche, „böſe“ Ordnung und darum auch eine „ungerechte“ —
nicht etwa nur wegen der faktiſchen Schwierigkeiten ihrer Her⸗
ſtellung auf Grund der menſchlichen Schwäche und unſerer
gegenwärtigen hiſtoriſchen Entwicklungsſtufe. Denn alle mög⸗
liche „Rechtsordnung“ erhält ihre eigene Würde und Digni⸗
tät erſt inſofern, als fie ſich aus der ſittlichen Ordnung ableitet
— nicht aber umgekehrt, wie heute eine gewiffe „neukantiſche“
Karikatur der großen Ethik Kants will. Das beſagt der unver⸗
gleichlich tiefſinnige Satz: „Summum jus, summa injuria!“ Und
das zeigt auch, daß es widerſinnig iſt, die nationalen Lebens⸗
und Kulturgemeinſchaften mit Subjekten in Analogie zu be⸗
handeln, die überhaupt keine echten „Gemeinſchaften“, ſondern
nur auf gemeinſamen Nutzen hin gegründete „Geſellſchaften“
find, Gruppen alſo, in denen man egozentriſche Individual- oder
Kollektivintereſſen („Intereſſen“ ſind weſenhaft „egozentriſch“,
wenn ſie auch das ſogenannte „Gemeinintereſſe“ beliebig vieler
find) als die einzigen, zum „Streit“ treibenden und durch Ver:
trag und Recht zu ſchlichtenden Kräfte vorausſetzt und voraus⸗
ſetzen darf. Die Idee der geiſtig⸗vitalen Liebes gemeinſchaft
aber iſt Vorausſetzung der Idee aller bloßen „Geſellſchaft“
89
wie Liebe überhaupt Fundament und Bedingung alles Rech⸗
tes. Dieſen Satz verkennt die „formale“ Ethik der Gerech⸗
tigkeit ebenſo wie die Wohlfahrtsmoral; nur in anderer
Richtung! Sie verkennt damit auch, daß ſich das richtig for⸗
mulierte Prinzip der Gerechtigkeit auf Staaten und Nationen
faktiſch gar nicht anwenden läßt. Denn dieſes richtig for⸗
mulierte Prinzip fordert nicht, daß „unter denſelben Umſtänden
beſtimmten Subjekten Gleiches geleiſtet und genommen werde“,
ſondern daß Gleichen oder gleichwertigen Subjekten unter
gleichwertigen Umſtänden Gleichwertiges widerfahre. Wo
aber wäre auch nur ein denkbarer Maßſtab für den Wert
der Staaten und Nationen, der ſchon für die Herſtellung der
„Normen“ eines ſolchen Gerichtshofes — nicht erſt feiner Recht⸗
ſprechung — Vorausſetzung wäre? Nur unter der ſtändigen
Fiktion der Gleichwertigkeit und der gleichen Herrſchafts⸗
würdigkeit der Staaten könnte ſolcher Gerichtshof operieren:
d. h. unter einer Fiktion, welche alle „höhere Gerechtigkeit“
ſchon prinzipiell und von Haufe aus als widerſittlich verneint.
Natürlich hatte z. B. Polen vor ſeiner erſten Teilung das
formale Recht für ſich. Und doch ſagt jede geſunde Ver⸗
nunft, daß dieſer Staat ſein Recht auf Exiſtenz verloren
hatte, da er durch ſeine innere Anarchie jeder Herrſchafts⸗
würdigkeit bar geworden war. Auch jetzt hatte Belgien gegen
uns das „Recht“ für ſich, wie der Kanzler ſo großartig — im
Gegenſatz zu allerhand mit fragwürdigen Argumenten ver⸗
nünftelnden Juriſten — zugegeben hat. Und doch war unſer
Verhalten fo , ſittlich! wie „gerecht“! Nicht alſo iſt der wert⸗
vollere Staat derjenige, der in der Geſchichte am meiſten bei⸗
trägt, die Idee eines internationalen, nach Gerechtigkeit ge⸗
90
*
ordneten Friedensreiches zu verwirklichen (Kant); fondern der
wertvollere „Staat“ „ſoll“ herrſchen und der Krieg ent⸗
ſcheidet nach der „höheren Gerechtigkeit“ eines Gottesgerichts
in lebendiger Tat, — einer Tat, die eben nicht die leere Fik⸗
tion der Gleichwertigkeit der Staaten, als bloßes Zugeſtänd⸗
nis an die menſchliche Schwäche macht, welcher Staat der
wertvollere ſei! Eben damit iſt aber der „gerechte Krieg“ das
Vehikel, durch das ſich auch die jeweilig höhere Gerechtigkeit
und die vermittelnden Syſteme ihrer Realiſterung, d. h. die
höherwertigen und „gerechteren“ Rechts⸗ und Geſetzesſyſteme
auf Erden auf die maximal beſte Weiſe verbreiten. Die Er⸗
oberungen Roms wurden auch zu Eroberungen eines Teiles
der Welt für das höhergeartete römiſche Recht. Wie iſt
Preußiſch⸗Polen ganz anders geordnet, ſeit es preußiſch iſt und
liegt darin nicht eine „höhere“ Gerechtigkeit als ſie im Spruch
jenes Schiedsgerichtes gelegen geweſen wäre, das Polens for⸗
males Recht gegen feine Teilung geſchützt hätte??“
Eben damit iſt der letzte Grund der Harmonie aufgedeckt, der
zwiſchen echter chriſtlicher Liebesmoral und jeder Moral beſteht,
die den „kriegeriſchen Geiſt“ und die „kriegeriſchen Tugen—
den“ des Menſchen einer poſitiven und hohen Wertſchätzung
unterwirft. Und es iſt gezeigt, wie das pazifiziſtiſche Ideal, im
herkömmlichen Sinne aller ſeiner Formen, der rationaliſtiſchen
und utiliſtiſchen niemals aus den Grundſätzen der Liebesmoral
gewonnen werden kann, ſondern vielmehr immer nur aus
falſcher Gerechtigkeitsmoral und Utilitarismus oder einer
Verbindung beider. Die Liebesmoral bildet nicht nur hiſto⸗
riſch und faktiſch, z. B. innerhalb der älteren keltiſchen, germa⸗
niſchen, romaniſchen und ſlawiſchen Welt, ſondern auch ihren
91
inneren Weſensbaugeſetzen nach, eine ſtrenge Stileinheit mit
der kriegeriſchen Moral und der hohen Wertſchätzung der
fpezififch „edlen“ und „ritterlichen“ menſchlichen Eigen⸗
ſchaften. Verſchiedene Kriegshelden ſind zugleich Heilige.
Liebes⸗ und Kriegsmoral bilden eine ſolche genau im ſelben
Sinne, wie umgekehrt rationale Gerechtigkeitsmoral, Utili⸗
tarismus und Pazifizismus, oder eine jener beiden Moralen
und Pazifizismus ſolche inneren Stileinheiten darſtellen! Dieſe
Stileinheiten find auf evidente Weſenszuſammenhänge zwi:
ſchen Werten und ſittlichen Akten gegründet, die aller poſi⸗
tiven hiſtoriſchen Erfahrung vorhergehen und ihr gegenüber
„a priori“ find, — die aber ſelbſt noch notwendig find, um
die faktiſche hiſtoriſche Entwickelung zu „verſtehen“ .
Nichts finde ich gegenwärtig von Kulturparteien, Philo⸗
ſophen, Ethikern, Hiſtorikern mehr verkannt als den Be⸗
ſtand eben dieſer moraliſchen reinen Typen und Stilgeſetze
der Moralen. Da gibt es zunächſt eine Gruppe ſolcher,
welche die innere Unmöglichkeit einer bloßen Kantiſchen
Gerechtigkeitsmoral wie eines Utilismus begreifen, welche
eine neue Wertſchätzung der „edlen“, kriegeriſchen, ritter⸗
lichen Eigenſchaften der Menſchen fordern, aber gleich⸗
zeitig der Meinung ſind, daß man gerade dann auch die
Grundſätze der echten“ chriftlichen Ethik preisgeben müſſe.
In dieſer Linie bewegt ſich Fr. Nietzſche, dem nicht nur „eine
gute Sache den Krieg“ heiligt, ſondern dem „der Krieg jede
gute Sache“ heiligen ſoll. In dieſer Richtung bewegen ſich
— auf tiefſtem Nioeau und mit Nietzſches Tiefſinn nicht zu
dergleichen — eine Reihe Ethiker, die aus den Grundſätzen
Darwins, nicht wie H. Spencer höchſt ſinnvoll den Pazi⸗
92
fizismus ſondern das Recht einer kriegeriſchen Moral ab:
leiten wollen. Der Unſinn von Vorausſetzung wie Ableitung
bei dieſen Schriftſtellern wurde früher aufgewieſen. Aber
auch tiefe Denker gehen von einem ſinnvolleren und rich
tigeren Begriff des „Lebens“ und der „Lebensentwickelung“
aus dieſen Weg, z. B. der Franzoſe Guyau. Auch W. Rathe⸗
nau ſtellt in feinen ſchönen und leſenswerten Büchern“ ähn⸗
lich wie Fr. Nietzſche das germaniſche „Mutethos“ dem
chriſtlichen „Mitleids⸗, Paſſions⸗, Demuts⸗, Liebesethos“ als
ſich ausſchließende Gegenſätze der Stilformen des ſittlichen
Bewußtſeins und feiner möglichen Strukturen gegenüber —
ohne freilich wie Nietzſche einſeitig für das eine oder andere
Partei zu ergreifen. (Ich gedenke dabei nicht jener „lächer⸗
lichen“ Karikaturen dieſes Standpunktes, die uns auffor⸗
dern, uns wieder lange Bärte wachſen zu laſſen, an Stelle
Chriſtus „Wuotan“ oder ſonſt was der Art zu ſetzen, welche
Religion aus der „Raſſe“ ableiten und die ſittliche Güte
in „Langſchädligkeit“ zu erkennen glauben. Sie ſind der
Widerlegung nicht wert.) Der Grund dafür, daß fie die
aufgewieſene Stileinheit von echter Liebesmoral und Hoch⸗
ſchätzung — wenn auch nicht ſpartaniſchrohe Höchſtſchätzung
des kriegeriſchen Ethos verkennen, iſt an erſter Stelle ein voll⸗
kommenes Mißverſtändnis der chriſtlichen Liebesethik. Dieſes
Mißoerſtändnis beſteht teils in der Verwechslung von chriſt⸗
licher Liebe mit Schopenhauerſchem“ Mitleid oder Comte⸗
ſchem „Altruismus“, teils mit moderner „Menſchenliebe“ und
„Humanität“, teils in der Verwechſlung von (poſitiver) tapferer
„Duldung“ mit „Paſſivität“, von „Demut“ mit „Servili⸗
tät“, dies alles verbunden mit einer Naturaliſierung der
93
chriſtlichen Geſamtidee, wie fie freilich auch einem Teile der
ſogenannten „liberalen“ chriſtlichen Theologie zur Laſt fällt.
In geringerem Maße iſt der Grund für die Annahme dieſes
„Gegenſatzes“ auch die einſeitige und rohe Faſſung des kriege⸗
riſchen Ethos als bloßes blindes Draufgängertum, bloßes
„Mutethos“ und wohl gar noch irdiſches, nur auf die eigene
Gruppe bezogenes Herrſchaftsethos. Kriegeriſches Ethos iſt
aber ebenſo urſprünglich wie es Mutethos iſt, auch Ethos
ritterlicher Selbſtbeherrſchung der eigenen Triebe und Opfer⸗
ethos; kriegeriſches Ethos iſt gerade nicht rohes Säbeltum,
ſondern ritterliches und großherziges Degenethos, das mitten
im Kampf den Feind bejaht und achtet und „Haß“
und „Neid“, d. h. die ſpezifiſchen Haltungen der „Ohn⸗
macht“ nicht kennt; iſt nicht nur Ethos des guten Befehlens,
ſondern auch des guten echten Gehorchens (im Gegenſatze zu
ſklaviſcher, meiſt mit dem Bewußtſein äußerſter „Selbſtändig⸗
keit“ gepaarten Beeinflußbarkeit und Anſteckbarkeit durch
fremdes Wollen); nicht nur Ethos der Siegesfreude, ſondern
auch Ethos ruhigen und ſtillen Duldenkönnens einer Nieder⸗
lage; nicht nur irdiſches Herrſchaftsethos, ſondern auch der
Unſterblichkeit zugewandtes Ruhmesethos. So liegen im
kriegeriſchen Ethos faktiſch bereits alle die Anknüpfungen zu
dem höheren, es unendlich überragenden Stockwerke der höch⸗
fen rein religiöſen, ſittlichen, chriſtlichen Tugenden — und dies
eben im Gegenſatze zu aller utilitariſchen Kaufmanns⸗ und
zu aller brutal „biologiſchen“ blonden Beſtienmoral, die von
Selbſtbeherrſchung, Gehorſam, Opfer, Demut, Duldung,
Fortleben nichts wiſſen will. Nur durch dieſe doppelte Ver⸗
kennung ſowohl des echten Liebes⸗ als des echten kriegeriſchen
94
Ethos vermögen die Vertreter diefes Dualismus von Liebes⸗
und Kriegsmoral natürlich auch für die tiefgreifendſte Er⸗
ſcheinung der weſteuropäiſchen Geſchichte, für die Annahme
des Chriſtentums durch Germanen und Kelten, keinerlei Ver⸗
ſtändnis mehr zu gewinnen. Dieſe allen ſonſtigen Geſchichts⸗
verlauf Weſteuropas bedingende Geiſtesſyntheſe muß ſür ſie
ein vollendetes Rätſel ſein. Wäre das chriſtliche Ethos von
Haufe aus eine auf Reſſentiment beruhende Skladen⸗ und
Dienerreligion und ⸗moral geweſen — wie konnten die Ger⸗
manen und Kelten, dieſe kriegeriſchen Herrſchervölker, ſo un⸗
endlich inſtinktoerlaſſen fein, es anzunehmen? Waren fie
aber fo ſuggerierbar — dann waren es auch keine „Herren“!
Nur der Sklave läßt ſich feine Inſtinkte wegſuggerieren.
Unſer Stilgeſetz aber macht die Geſchichte der Ausbreitung
der chriſtlichen Moral in der nordiſchen Völkerwelt ſinnvoll
und verſtändlich. Das entgegengeſetzte macht ſie zu einer patho⸗
logiſchen unfaßlichen Maſſenſuggeſtion.
In anderer Richtung verkennen dieſe Stilgeſetze alle die⸗
jenigen, die umgekehrt wie die puren Kraftethiker alle kriege⸗
riſche Moral mit dem Kriege ſelbſt im Namen der chriſt⸗
lichen Liebe verwerfen, wie z. B. Tolſtoi; fie ſetzen gleichfalls
Liebesmoral mit Wohlfahrts⸗ und moderner Menſchheits⸗
liebemoral gleich, nur daß ſie dies im Gegenſatze zu den hier
konſequenten „Utilitariern“ nicht merken, alſo eine radikale
Begriffsverwechslung begehen. Weitere Verkennung der
Stilgeſetze liegt vor bei allen chriſtlichen Theologen, die eine
chriſtliche Moral auf den kategoriſchen Imperativ aufbauen
wollen (zwei Dinge, die ſich ausſchließen wie Feuer und
Waſſer) und die darum auch zum Kriege (im Gegenſatz zu
95
dem tiefſinnigen, konſequenten Kant) nur eine ganz opportu⸗
niſtiſche halbe, ſchwächliche Stellung gewinnen können.
Eben dieſem Verhältnis der Kriegsmoral als einer Vor—
ſtufe zur religiöfen Liebesmoral entſpricht es, daß der Krieg eben⸗
ſowohl die Kraft in ſich birgt, die Gemüter innerlich zu einen,
als er die große Kraft iſt, die Menſchen äußerlich zu trennen
und zu ſcheiden; wogegen der Friedenszuſtand die Menſchen
ebenfo äußerlich eint, als er fie innerlich atomiſtert und trennt!
Gewiß iſt dieſe Einung, die der Krieg im Laufe der Geſchichte
innerhalb wachſend größerer und umfaſſenderer Gruppen be⸗
wirkt (aus Stämmen Völker, aus Völkern Nationen bildend
und ſchaffend) zunächſt nur durch das Motio der Schwäche,
gemeinfamer Not der Individuen, gemeinſamer Exiſtenz⸗
gefahr, gemeinſamer Feindſchaft, ja wohl auch gemeinſamer
Angriffsluſt oder gemeinſamer Rache beſtimmt. Aber das
iſt nun das Entſcheidende, daß die Akte der tieferen Willens⸗
und Geſinnungseinigung und das Wachstum der Liebe, die
durch dieſen Notſtand nicht gemacht, ſondern nur als in ſich
freie Kräfte zur Betätigung ausgelöſt werden, nach ihrem
Grade und ihrer Tiefe hin angeſehen, nicht mit dem Notſtand,
der fie ins Spiel ſetzte, vergehen, ſondern weiter durch die Folge⸗
zeiten des Frieden hindurchſchwingen. Die einmal ausgelöſte
Kraft wirkt und ſammelt weiter. Daß es überhaupt erſt
ſolcher „Motive“, daß es des Krieges auch nur zum Geburts⸗
helfer der, echte „Gemeinſchaft“ bildenden Liebeskraft über⸗
haupt bedarf — darin, aber auch nur darin ſah die chriſtliche
Lehre mit Recht eine „Folge der menſchlichen Sündhaftig⸗
keit“, die fie auf Sündenfall und Erbſünde zurückführten.
Gleichwohl bleibt der Krieg, indem er dieſe Auslöſung voll⸗
96 )
zieht, hierdurch ein poſitibver Weſensbeſtandteil der göttlichen
Erlöſungsordnung. Und wie hart, rauh gewunden und dornig
dieſer Weg immer ſei, ſo iſt er doch noch ein geraderer und
ſanfterer Weg zu dem überſchwenglichen Ziele des „Reiches
Gottes“, als ein „ewiger Friede“ wäre, der durch bloße ſtei⸗
gende Intereſſenſolidarität der Völker und vollkommene Aus⸗
dehnung der Vertrags⸗ und Rechtsidee über die Staatenwelt
ſich anbahnte. Denn dieſer „ewige Friede“ würde nicht aus⸗
ſchließen, daß fein ſittlicher Inhalt — in chriftlicher Sprache —
zugleich das „Reich des Teufels“ ſei. Das iſt der Grund⸗
irrtum aller naturaliſtiſchen Kriegs⸗ und Friedensphiloſophie,
daß man, ganz auf das äußerlich Sinnliche und Sichtbare des
Menſchlichen gerichtet, den Krieg nur als Macht der Schei⸗
dung und der Trennung unter Menſchen verſteht; den bloßen
„Nichtkrieg“ aber, der durch eine kluge Verzahnung der
Intereſſen erreicht iſt, für ein pofitives Liebes⸗ und Friedens⸗
reich hält.
Aber ſcheidet und trennt wirklich der Krieg die Menſchen
mehr als er ſie eint? Scheidet und trennt er ſie mehr als
ein dauernder Friedenszuſtand ? Und worin ſcheidet er, worin
trennt er?
Hier gerade liegt die ungeheure Paradoxie des Krieges, daß
er, der auf den erſten Blick Kraft und Prinzip tiefgreifendſter
und furchtbarſter Scheidung und Trennung unter den Men⸗
ſchen zu ſein ſcheint, faktiſch und tiefer geſehen, die ſtärkſte
Kraft der Menſcheneinigung darſtellt, ſo daß man ſeinen
Genius geradezu den mächtigſten Einheitsbildner unter
Menſchen nennen kann.
Die erſte und ſittlich bedeutſamſte Einigungsleiſtung, die
7 97
der Krieg einer fozialen Gruppe, fei fie Stamm, Volk, Na⸗
tion, hervorruft, iſt die Einigung der Teile der in den Krieg
ziehenden Gruppen untereinander. Schon der erſte Ruf „Auf
zum Kriege“ trifft die Egoität eines Jeden mit einer Ge⸗
walt, wie es Zungen von Engeln nicht vermöchten. Die
Diſtanzen der Individuen, der Klaſſen, der Stände, des
Hoch und Nieder, des Arm und Reich, vermindern ſich mit
einem Male; die harten Eigentumsbegriffe des Friedens
werden weich und flüſſig; ſtarre bislang in ſich beſchloſſene
Herzen und Gemüter öffnen ſich und ſehen ſich verwundert
in einen großen, einheitlich dahinrauſchenden Strom macht⸗
vollen Lebens einſchmelzen. Der Geiſt der Liebe und Opfer⸗
bereitſchaft, das wiederkehrende Bewußtſein der Tiefe auch
vorher ſchon vorhandener Liebe zur gemeinſamen Heimat,
Sitte, Staat, das der auf die materiellen Werte bezogene
Konkurrenzgeiſt des Friedens verſteckte und verbarg, alles das
leuchtet hell und ſcharf auf. „Keine Parteien mehr“ und hinter
mir das „ganze deutſche Volk!“ Der Friedenszuſtand mit dieſer
neuen Wachheit und Helle über gemeinſame Werte, (und
unter ihnen über die gemeinſamen höchſten Herzens⸗ und
Geiſteswerte) verglichen, gleicht hiegegen einem Zuſtand des
Schlafes und der Gefühls- und Geiſtesblindheit. Jetzt aber
ſehen die vorher Blinden, hören die vorher Tauben, gehen
die vorher Lahmen! Im Frieden erblickt das Auge des
Herzens nur die jeweiligen Differenzwerte als Werte über⸗
haupt“; nur das, was einer „mehr iſt“ als ein Anderer, das,
was einer „mehr hat“ oder weniger, iſt hier als Wert
gegeben; oder noch ſchlimmer, was Jeder nicht hat! Denn
für die Kräfte menſchlicher Habſucht, für Strebergeiſt, für
98
Ehrſucht und Neid, die der Friede hegt und pflegt, find
nur eben dieſe Differenzwerte Angriffspunkte der Betäti⸗
gung des Handelns und der Sorge. Alles andere wird für
das erlebende Bewußtſein in nächtlichem Dunkel gehalten.
Der Krieg dagegen läßt uns aus dieſem Schlaf, dieſer
Blindheit erwachen: Wir ſehen, was wir ſind und was
wir beſitzen. Wir begehren weniger und lieben viel mehr!
Verſchlafene, in der Gewohnheit des ſelbſtverſtändlichen Hin:
nehmens der Tage, erſtickte Liebe zwiſchen Gatten, Geſchwiſtern,
Eltern und Kind, Freund und Lebenskamerad glüht wieder
auf, da ſie ſich in das große einheitliche Schickſal des Volkes
einbeſchloſſen und durch die Bewegung des Ganzen mit in
eine große Bewegung gezogen ſieht. Mag der Freund, der
Geliebte, der Gatte, der Sohn ſterben; dies iſt dann ſchwere
Herzensnot. Aber vorher wurde das Band verſchlafener
Liebe neu geknüpft. Und nun ſtarb der Geliebte als Geliebter
— während im Frieden ebenderſelbe länger gelebt hätte
aber ungeliebt, vielleicht nur dem Namen nach „Freund“,
„Gatte“, „Bruder“. Alſo erhöht, erweitert, vertieft und
ſpannt auf die höchſten, gemeinſamen unteilbaren Werte der
Krieg unſer ſittliches Bewußtſein! Er gibt uns eben damit
auch für den folgenden Frieden ein neues Maß unſerer
Exiſtenz; hängt über uns eine neue Forderung, die zu ver—
geſſen wir uns von nun an ſchämen müſſen. Im Bilde
und Nachleben der Erinnerung wird im Frieden „Norm“,
ein „Soll“, ein „Ideal“, was „damals“ die geſteigerte
Wirklichkeit ſelbſt war. Alſo bildet ſich die „Norm“ des
Friedens aus der erhöhten ſittlichen Wirklichkeit des Krieges.
Mag der Kampf der Klaſſen, der Parteien im Frieden wieder
*
7 99
beginnen. Immer doch finden wir die packenden beſchämenden
Argumente der Führer der Unterdrückten des Volkes, der
Maſſen gegen wiedererwachenden Klaſſenegoismus, Klaſſen⸗
ſtolz: „Denkt an damals, da ihr uns die Hand drücktet und
wir Kameraden waren.“
Wenn aber der Krieg ſchon durch einen, in jeder Staats⸗
einheit ablaufenden Vorgang die Geſamtfülle der Liebe auf
Erden bedeutend ſteigert — wie immer er auch die allgemeine
Wohlfahrt ſchädigt — ſo gewinnt er für den moraliſchen
Geſamtſtatus keine geringere Bedeutung dadurch, daß er in
ganz großem Stile die furchtbaren Spannungen von Haß,
Neid, Arger, Rache, Zorn und Ekelgefühle, die der Frie⸗
denszuſtand zur Verdrängung in die tieferen Schichten der
Seele führt, gleichſam mit einem Male auswirft und ſo
erſt die Vorbedingung echterer gegenſeitiger Achtung und Zu⸗
neigung unter den Völkern wiederherſtellt. So iſt er eine
Pſychotherapeutik der Völker im großen, wie ſehr er auch
gerade die Geiſteskrankheiten einzelner ſteigert.! “ Mit Recht
hat man daher zu allen Zeiten den Krieg mit dem luft⸗
reinigenden elementaren Maturphänomen des „Gewitters“ ver⸗
glichen. In der Tat, der Krieg iſt das Gewitter der moraliſchen
Welt. Ich kenne viele, und ich leugne nicht, daß ich ſelbſt
zu ihnen gehöre, die mit Entſetzen und Grauen den furcht⸗
baren Ausbruch des Haſſes, des Neides, der Verärgerung
wahrnahmen, dazu die darauf ſich erſt als Wirkungen auf⸗
bauenden Illuſtonen's und Mißverſtändniſſe, die („Barbar“,
„Ulau“, „Attila“, „toller Hund“ uſw.) gleich nach dem Be⸗
ginn des Krieges allem deutſchen Weſen auch aus vielen neu⸗
tralen Staaten entgegenſchlugen. Von dieſem Phänomen
100
waren wir alle, waren auch folche, die wußten, wie viele Nei⸗
der wir hatten und die die billigen Manöver von Vortäu⸗
ſchungen einer „Entſpannung“ z. B. zwiſchen Deutſchland
und England längſt durchſchaut hatten, doch auf das äußerſte
überraſcht. Wie war doch das ganze Heer dieſer gelben und
biſſigen Gefühle unter den Masken des Geſchäftsintereſſes und
geſchmeidiger Geſchäftsmoral gegen uns als den „Kunden“
und unter den ein wenig feineren des Wohlanſtandes und
internationaler Kourtoiſie verſteckt, aber nicht etwa weniger,
ſondern ſtärker wirkſam geweſen! Denn ſtärker wirkt auf
das Ganze der Seele der durch Anſtand, Manier uſw. ver⸗
drängte als der ausgedrückte Affekt. Und doch tröſtet mich
heute tief der Gedanke, daß das rabiate Ausbrechen dieſes
Haſſes in formuliertes Mißoverſtändnis, in Maſſenilluſtonen
und Schimpf die ganz fundamentale Bedingung dafür iſt,
daß fürderhin deutſches Weſen im Auslande ein tieferes,
wahreres Verſtändnis und echtere Würdigung finde. Denn
nicht der Krieg oder unſere Kriegführung hat ja dieſe lieblichen
Gefühle und Affekte erſt geſchaffen; der Krieg löſt ſie nur und
bringt ſie zum Ausdruck; er leitet ſie nur ab und entlaſtet
die Völker von ihnen. Unſer wahres Verhalten in dieſem
Kriege, das ſich mit der Zeit gegen alle Lügen durchſetzen
wird, unſer weiteres Verhalten beim Friedensſchluß, das
beſonders gegen Frankreich das der Großmut und der Ritter⸗
lichkeit ſein wird, werden dann auf die ſo erſt gereinigten
Volksſeelen ein echteres und wahreres Bild deutſchen Weſens
ſich einprägen laſſen, als es vor dem Kriege beſtand.
Aber ſehen wir von dieſer Ableitung des Haſſes ab; ſo wird
man, was Weſen und Urſachen des Krieges betrifft, noch er-
101
heblich weiter gehen müſſen. Man wird zur Einſicht kommen
müſſen, daß es neben und unabhängig von allen „hiſtoriſch“ ſo
unendlich variablen Urſachen zum Kriege, neben allen Inter⸗
eſſen⸗ und Machtkonflikten, Beleidigungen uſw., die zu Kriegen
führen, noch eine konſtant wirkſame Urſache zur rhythmi⸗
ſchen Abwechſlung von Frieden und Kriegszuſtand gibt, die
auch bei Fehlen aller jener hiſtoriſch variablen Kauſalfaktoren
noch in Wirkſamkeit bliebe, und die zum mindeſten rhythmiſch
abwechſelnde Kriegs- und Friedensneigungen erzeugte. Dieſe
gleichſam organiſch wirkſame Miturſache zum Kriege iſt —
ſo paradox es klingen mag — nichts anderes als der „Friede“
ſelbſt. Wenn nichts anderes den Krieg erzeugen würde —
der „Friede“ ganz allein würde ihn immer aufs neue hervor⸗
treiben! Schon F. Doſtojewski, dieſer unvergleichliche Seelen⸗
analytiker, macht in feinem Aufſatz: „Rettet denn ver⸗
goſſenes Blut?“ (f. Politiſche Schriften) die Bemerkung:
„Und als Reſultat erſt erweiſt es ſich, daß der bourgeoiſe
lange Friede zu guter Letzt ſelbſt das Bedürfnis nach Krieg
erzeugt, ihn wie eine traurige Folge von ſich ſelbſt aus ſich
heraus ſchafft.“ Ein allwiſſendes Weſen, das die Phaſen
der Geſchichte mit einem Blick zu umfaſſen vermöchte, könnte
ſicher eine Regel des Rhythmus in der Abwechſlung von
Krieg und Frieden auf Erden gewahren, die ihm nicht ver⸗
wunderlicher wäre als der Rhythmus des Ein⸗ und Aus⸗
atmens, eine Regel, die erſt ſuperponiert mit allen anderen kon⸗
kreten Geſchichtsurſachen und terminbeſtimmenden Anläffen der
Kriege ihm die volle und letzte Einſicht über die Kauſalität von
Krieg und Frieden gewährte. Denn ſo iſt einmal die menſch⸗
liche Matur eingerichtet, daß die bloße Form des „Friedens⸗
102
zuſtandes“ als ſolche — ganz abgeſehen von dem wechfelnden
Inhalt des Friedens und den variablen Volkscharakteren und
ihren Geſchicken — konſtitutive Gefahren, ja konſtitutive
Kraftfaktoren ſittlicher und intellektueller Schädigungen
der Seele und der alle, Kultur und Ethos tragender Vi⸗
talität der Gemeinſchaften in ſich ſchließt, die nur der
Krieg und nichts anderes als der Krieg heilen und ab-
ſtellen kann. Eine dieſer konſtitutiven Schädigungen iſt
eben jene ſeelenzerwühlende Verdrängung der Gemütsbe⸗
wegungen und Affekte des Neides, des Haſſes, des Argers,
des Zornes, der Rache, der Eiferſucht, welche die feſten ſach⸗
haften Zwangsordnungen der Friedensarbeit zuſammen mit
dem konſtitutiven Phariſäismus aller Friedensmoral mit
ſich führen. Es gibt einen Punkt, wo die Kumulation dieſer
gelben Gefühle in den Seelen der Maſſen einen Grad er⸗
reicht, bei dem nur noch das „Ausbrechen“ des ſchon kryp⸗
togam vorhandenen Krieges — wie die Sprache ſo tiefſinnig
ſagt — die Erlöſung und den tieferen Frieden der Seele
gibt. Darum iſt auch, ganz unabhängig von politiſcher Vor⸗
ausberechnung und Kenntnis der diplomatiſchen Verwick⸗
lungen bei ganz apolitiſchen Menſchen (Bauern, Kauf:
leuten, Künſtlern, Forſchern) meiſt ein in ſich wenig klares,
aber doch ſehr beſtimmtes Vorgefühl für den nahenden Krieg
vorhanden; vergleichbar dem Vorgefühl, das der erfahrene
Seemann für den Sturm hat, ohne daß er doch die Zeichen
angeben kann, auf die er ſein Urteil ſtützt, oder gewiſſer
Leute für das Wetter. Ich habe eine ganze Reihe völlig
apolitiſcher Kaufleute zirka zwei Monate vor dem Krieg
geſprochen, die, ob ſie gleich kein Intereſſe am Krieg hatten,
103
ſagten: Wir Kaufleute hier (in Halle a. S.) können den
Zuſtand nicht mehr ertragen, und wünſchen, daß der Krieg
endlich ausbräche. Die Gründe, die ſie angaben, waren dabei
ganz verſchieden. Die einen fanden die Kreditverhältniffe
unerträglich; andere klagten über ganz andere Dinge. Die
Gründe waren alſo zu dem Vorgefühl wohl nur hinzuge⸗
macht! Und wer hätte nicht auch in den Tönen unſerer
jüngſten Dichtung“ und in unſerer bildenden Kunſt bis
hinein in futuriſtiſche Auswüchſe gar mancherlei vom kom⸗
menden Kriege läuten hören und blinken ſehen? Selbſt die
Reichſten begannen Ekel an ihrem Reichtum und ihrem allzu
großen Kuchen zu empfinden. Überall war Überſättigung
an den immer korrupteren Vergnügungen des Friedens, an
Hyperkompliziertheit und Greiſenhaftigkeit der Genüſſe des
ausgelebten europäiſchen Kapitalismus eingetreten, überall
fand man ſich, was auch nur den primitivſten Reiz des
Lebens betrifft, an der Grenze; und nicht nur bei uns in
Deutſchland, ſondern in allen kriegführenden Staaten war
der Geiſt einer „neuen Jugend“ an der Arbeit, den allzu⸗
langen Friedensgeiſt Europas zu beſtatten. Was man in
Frankreich „l’esprit nouveau“ in Literatur, Dichtung, Philo⸗
ſophie nannte,” was man bei uns als „Geiſt der neuen
Jugend“ bezeichnete und ſo mannigfaltig beſchrieb, es hatte
vice versa auch ſeine nachweisbare Analogie in Oxford und
Cambridge, ja ſogar in Petersburg und Moskau. Man
vergeſſe bei Erforſchung der Urſachen zu dieſem Kriege ja
nicht, daß er vor allem auch der Krieg einer neuen Gene⸗
ration iſt — der Krieg der Jugend Europas! Denn eben
nach der Ordnung der Generationenaufeinanderfolgen wirken
1 04
naturgemäß in jene „organiſchen“ Urſachen, von denen ich
hier rede.
Wer gegen dieſe liebesſteigernde und haßabreagierende
Kraft des Krieges einwendet, daß doch anderer ſeits der Krieg
ſchon dadurch, daß immer ein Teil unterliegen müſſe, auf
Jahrzehnte, oft Jahrhunderte hinaus neuen Haß erzeuge, der
hat nur für den Fall Recht, daß es ſich entweder um einen
ungerechten Krieg, oder um ungerechten und politiſch törichten
Friedensſchluß, oder um verbrecheriſche Kriegsführung, oder
endlich um ganz unkriegeriſche Völker handelt, die das Weſen
des Krieges nicht begreifen können. Hat der unter den furcht⸗
barſten Opfern verlaufende und ſo kurz erſt verfloſſene ruſſiſch⸗
japaniſche Krieg es ausgeſchloſſen, daß Ruſſen und Japaner
ſich alsbald wieder ſehr wohl verſtanden, jetzt aber gegen
uns zuſammengehen ? Hat das blutige Ringen der Buren
mit England es ausgeſchloſſen, daß jetzt General Botha
England ſeine Loyalität verſichert? Im „gerechten Krieg“
aber führt auch die blutigſte Niederlage nicht zum dauern⸗
den Haſſe, ſondern allein zur geiftig-fittlichen Einkehr des
beſiegten Volkes, ſowie zur Einſicht in die, durch den Krieg
aufgedeckten Fehler und Mängel ſeiner ſtaatlichen und
ſittlichen Exiſtenz. So waren die Niederlage der deutſchen
Heere bei Jena und der Zuſammenbruch des preußiſchen
Staates „gerecht“ von Grund aus und ſie erſt konnte die
großen Stein⸗Hardenbergſchen Reformen, den großen Geiſt
des Befreiungskrieges zeitigen. Das ſchmerzende Schwert des
überlegenen Feindes wird eben in einem gerechten Kriege nof-
wendig immer auch als heilendes Richtſchwert empfunden.
Und das allein ſchon ſchließt dauernden „Haß“ des Gegners
105
aus, der dies Richtſchwert führt. Andererſeits muß der ge:
rechte Krieg ſo geführt werden, daß er die Möglichkeit des
Beſtandes desjenigen Vertrauens nicht untergräbt, das zu
einem künftigen Friedensſchluß und dem Glauben an die Feſt⸗
haltung ſeiner Bedingungen notwendig iſt. Mit Recht for⸗
dert daher J. Kant in ſeinem ſechſten Präliminarartikel: „Es
ſoll ſich kein Staat mit einem anderen im Kriege ſolche Feind⸗
ſeligkeiten erlauben, welche das wechſelſeitige Zutrauen im
künftigen Frieden unmöglich machen müſſen; als da ſind An⸗
ſtellung der Meuchelmörder, Giftmiſcher, Brechung der Ka⸗
pitulation, Anſtiftung des Verrats im bekriegten Staat uſw.“
Aber auch die Friedensbedingungen ſelbſt müſſen ſo gehalten
fein, daß fie die mögliche Bündnisfähigkeit des befiegten
Staates bei etwa eintretender Gemeinſchaft der Intereſſen
mit dem ſiegenden Staate nicht ausſchließen. Dazu iſt vor
allem nötig, möglichſte Schonung der Ehre des fremden
Staates und ſeiner Repräſentanten; freie ritterliche An⸗
erkennung der in ſeinem Kampfe aufgewandten Energie und
der Tapferkeit ſeiner Armee; endlich Unterlaſſung von ſolchen
territorialen Erwerbungen, die der ſiegende Staat nach Maß⸗
gabe der Volkscharaktere und feiner moraliſchen Affimilations-
kraft nicht dauernd zu verwalten und ſich zu aſſimilieren die
Kraft in ſich fühlt.” Andererſeits iſt die radikale Fortführung
eines Krieges bis zur möglichſt vollſtändigen Klärung der
Machtoerhältniſſe gerade eine fundamentale Bedingung da⸗
für, daß nachdauernder Haß vermieden werde. Ein zu früher
Friedensſchluß, ein zu frühes Zurückweichen vor den, dem
Kriege natürlich abholden, ſich meiſt unter dem Banner der
„Humanität“ heuchleriſch verbergenden Intereſſen des inter⸗
106
nationalen Börſenkapitals, zurückbleibende Unklarheit, ob nicht
etwa bloße Zufälle die Entſcheidung herbeigeführt haben, ſind
für die, dem Kriege folgenden Zeiten von größtem Übel. Die
dauernden Haß erzeugende Kraft, die man dem Kriege fälfch-
lich nachſagt, fällt aber zum größten Teile nur einer falſchen,
unritterlichen Kriegsführung zur Laſt. Es iſt ein Zug tiefer
Vornehmheit der Menſchennatur, der darin in die Erſchei⸗
nung tritt, daß auch die ſchwerſten, opferreichſten Nieder⸗
lagen, die von regulären Truppen in offener Feldſchlacht bei⸗
gebracht worden ſind, nicht den tauſendſten Teil ſo erbitternd
wirken, wie der Schuß eines einzigen Franktireurs aus dem
Hinterhalt oder eine andere der von Kant angeführten ver⸗
brecheriſchen Maßnahmen. Eben darin zeigt auch der ge⸗
meine Mann, wie wenig er nach den Regeln der Wohl⸗
fahrtsmoral fühlt und denkt. Oder: hätte der Kaiſer von
Oſterreich dem gefangenen ſerbiſchen Oberſtkommandierenden
nicht ritterlich freien Abzug gewährt, hätte er die Gunſt des
Zufalls benutzt und ihn während des Krieges gefangen gehalten
— dieſe eine Handlung hätte mehr Haß und Erbitterung
erregt, als eine Anzahl ſchwerer ſerbiſcher Niederlagen. Wäre
der Krieg an ſich ungerecht, griffe er die Struktur unſeres
moraliſchen Bewußtſeins auf löſend an — wie könnte fich
dieſes feine, haarſcharfe Unterſcheidungsbewußtſein für „ge⸗
recht! und „ungerecht“, für ritterlichen Tod und Tod als
Verbrechensfolge auch im Kriege erhalten? Warum gerade
dieſer Krieg in dieſer Richtung ſo viel zu klagen gibt, darauf
komme ich gegen Schluß zurück.
Abgeſehen von der Kriegsführung gibt es nur eine Emo⸗
tion, die der Krieg im Beſiegten hervorrufen kann: das iſt
107
der Rachegedanke und das Rachegefühl — nicht zu ver⸗
wechſeln mit der Idee der „Revanche“. Nun iſt zu aller
erſt die Racheemotion“ in keiner ihrer exiſtierenden Formen
mit „Haß“ identiſch. Sie kann auch in intenſtoſter Form
ohne dieſe exiſtenzentmächtigende Gefühls⸗ und Willensvernei⸗
nung des Gegners beſtehen, die wir „Haß“ nennen. Das
zeigt ja ſchon die Tatſache, daß das Rachegefühl mit der voll:
zogenen Rache erliſcht, während beim echten Haſſe eine regel⸗
mäßige Form fehlt, durch die er zur Erlöſchung gebracht
wird. Haß iſt auf das dauernde Weſen und die Weſens⸗
eigenſchaften des Gegners gerichtet: Rache iſt die emotionale
Reaktion gegen eine Handlung oder Handlungsreihe — nicht
gegen das Weſen des Gegners. Der Haß führt ſehr leicht zur
„Rachſucht“ gegen das gehaßte Subjekt, d. h. dazu, in jeder
Außerung des Gegners einen Rachegrund zu wittern, oder in
alle — auch harmloſe — Äußerungen eine feindliche Spitze
hineinzulegen. Die Racheemotion aber kann nicht umgekehrt
zum Haſſe führen, wenn nicht noch andere, in den Charakteren
liegende Momente der Abſtoßung hinzukommen, auf die die
Racheemotion höchſtens aufmerkſam macht oder ſie heller als
vorher beleuchtet. Trotz dieſer Weſensverſchiedenheit von Haß
und Racheemotion, kann auch die heimlich, in der Seele fort⸗
glimmende Racheemotion zu lange dauernder Untergrabung
der Kulturgemeinſchaft zwiſchen Völkern führen und immer
neue Ketten feindſeliger Handlungen hervorbringen. Doch
auch zwiſchen der eigentlichen Racheemotion und dem, was
wir — nicht umſonſt — mit dem franzöſiſchen Ausdruck
„Revanche“ zu belegen pflegen, iſt ein tiefgreifender Unter⸗
ſchied. Das Wort „Revanche“ bezeichnet nicht nur als deut⸗
108
ſches Fremdwort, ſondern auch als rein franzöſiſches Wort
ein weit weniger ſcharfes und biſſiges Gefühl, als es die echte
RNacheemotion darſtellt. Es iſt kein Zufall, daß wir ſogar
im Spiele von „Revanchenehmen“ und „Revanchegeben“
reden, oder in heiterer ſpieleriſcher Rede von einem „Sich⸗
revanchieren“ (3. B. für einen luſtigen Spott) ſprechen. In
dieſen Fällen kann man das Wort nie durch „Rache“ er⸗
ſetzen. Wird das Wort auf ſo ernſte, vom Spiele weitab⸗
liegende Dinge gebraucht, wie auf das franzöſiſche Volks⸗
gefühl gegen uns nach dem ſiebziger Kriege, ſo liegt zwar
alles leicht Spieleriſche fern; aber dennoch bleibt, was es be⸗
zeichnet, von eigentlicher Racheemotion verſchieden. Die fran⸗
zöſiſche Sprache hat denn auch für Rache ein eigenes Wort,
das Wort vengeance, das unſerer „Rache“ genau entſpricht.
„Vengeance“ bezeichnet ein ganz ſubjektives, dunkles, bitteres
Gefühl — „Revanche“ iſt objektiver, freier, weniger bitter und
gewinnt ſeinen vollen Sinn erſt durch ſeine noch fühlbare
Kontinuität mit dem ritterlichen Kriegsſpiel des Turniers,
deſſen beſondere Emotionen ſich bei den Galliern ſtets bis zu
einem gewiſſen Grade bis in den wirklichen Krieg fortgeſetzt
haben.“ Die Revancheidee iſt auch hiſtoriſch weit weniger
durch den Verluſt von Elſaß⸗Lothringen und durch die Höhe
der Kriegskontribution im Jahre 1871, noch viel weniger
durch die eigentlichen menſchlichen Kriegsopfer und das Nach⸗
gefühl dieſer Opfer bei Eltern, Kindern, Verwandten, Freun⸗
den ausgelöſt worden — hier wäre „Rache“ vielmehr am
Platz — als durch den Flecken, den durch unſern Sieg das hell:
ſtrahlende Banner der ruhmgekrönten und (mit Ausnahme
von 1813) ruhmgewohnten „gloire“ -durftigen franzöſiſchen
109
Armee erhielt. Das franzöfifche alte Mationallaſter der Eitel⸗
keit, das in Frankreich ſo leicht wie nirgends in der Welt mit
Ehrgefühl verwechſelt wird, und der ganz eigenartige, einſt ſo
großartige und helle galliſche „Gloiregedanke“ ſind die Wur⸗
zeln der Revancheidee. Trotz der Tatſache des gegenwärtigen
Krieges und des frankoruſſiſchen Bündniſſes, das zu ihm
führte, muß heute noch geſagt werden, daß dieſes Revanche⸗
gelüſte kein urſprüngliches franzöſiſches Volksgefühl iſt; es
war urſprünglich lediglich ein Gefühl der geſchlagenen Ar⸗
mee und ihrer Führer und nur durch die Sympathie mit der
Armee hindurch, aber nicht urſprünglich aus der Tiefe des
Volkstums hervorſchießend, fand es ſeine Verbreitung; durch
Männer der Armee, zuerſt durch Gambetta, in dem ſich
Armee und Volk verband, auch ſeine immer wieder neue
Anfachung. Es gehört wie mir ſcheint zu jenen tiefen,
ſchwer zu beſeitigenden Mißverſtändniſſen, die im Gegenſatz
der Volkscharaktere wurzeln, daß wir in die franzöfifche Re⸗
vancheidee, auch in ihre erſten Entwickelungsphaſen, immer
Momente deutſchen Ernſtes und deutſcher Schwere hinein⸗
dichteten, die ſie anfangs nicht beſaß. Sie iſt zuerſt ganz
ritterlicher Gloiredurſt, dann ſpäter aber viel mehr flackerndes
Strohfeuer geweſen als eine große, tiefe, ſtill wirkſame Volks⸗
kraft. Beriefe man ſich alſo auf die franzöſiſche Revanche:
idee, um zu beweiſen, daß der Krieg zum mindeſten immer
erbittertes Rachegefühl im Unterlegenen und damit eine
Wurzel zu neuen Kriegen zurücklaſſen müßte, ſo würde man
nicht nur etwas ganz ſpezifiſch Galliſches zu Unrecht genera⸗
liſieren, ſondern man würde auch die Wirkkraft der primären
Form der Revancheidee in der Vorgeſchichte dieſes Krieges
110
ganz bedeutend überſchätzen. Wir waren zu verſchiedenen
Malen einem deutſch⸗franzöſiſchen Bündnis näher als man
allgemein weiß — und am Marokkokonflikt z. B. hatte die
Rebancheidee kaum einen Anteil. Selbſt dieſer ſeltene und
ausgezeichnete Fall beweiſt mit nichten, daß Kriege dauernden
„Haß“ erzeugen müſſen; nichts auch gegen die einigende Kraft
des Krieges.
Hier alfo liegt der Kern der großen ethiſchen Paradorie
des Krieges: Im Namen einer „allgemeinen Menſchenliebe“,
im Namen der „Humanität“ werden die großen, weitſchichti⸗
gen Anklagen der Modernen und Liberalen gegen den Krieg
gerichtet. Aber gebraucht oder mißbraucht man den edlen
Namen der „Liebe“ nicht für ſolche kluge Verzahnung der Pri⸗
vatintereſſen, daß die Förderung jedes ihrer Teile die anderen
Teile mitfördert, alſo für eben das, was die edelſte Kraft im
Menſchen, das Göttliche in ihm, was Liebe, Opfer, Pflicht, ja
am Ende Geiſt überhaupt fo lange ökonomiſch „ſpart“, bis aller
Geiſt überflüſſig wird;? und mißbraucht man den Namen
„Menſch“ nicht für das, was, weil es allen Menſchentieren
gemeinſam ſein kann, dem „Menſchen“ eben auch mit dem
Tiere gemeinſam iſt — z. B. ſinnliche Luſt⸗ und Schmerz⸗
fähigkeit, — ſieht man ein, daß wahrhaft „menſchlich“ in dem
aufrecht gehenden Zweifüßler nur das in ihm Gottähnliche
iſt, und daß es eben zu dieſer Idee des „Menſchen“, wie zu aller
höchſten Werte, Religion, Kunſt, Philoſophie, Sittlichkeit,
Staat, Recht, Weſen gehört, daß ſie ſich nur in einer Fülle
charakteriſtiſch verſchiedener Volks⸗ und Nationaleinheiten
darſtelle; und daß umgekehrt alle Werte zu „allgemeinmenſch⸗
lichen“ oder allen Menſchen gemeinſamen machen zu wollen
111
ſchon das Weſen diefer, von Hauſe aus individuellperſönlichen
höchſten Werte leugnen, gerade für ſie erblinden und alle
Werte auf die niederſten der Sinnenluſt und des Schmerzes
reduzieren und nivellieren heißt: ſo gibt es den Höhepunkt der
echten „Menſchenliebe“ und der „Humanität“, in deren
Namen man den Krieg verwirft, — wenigſtens als Maſſen⸗
erſcheinung — nicht vor dem Krieg, nicht nach dem Krieg,
ſondern gerade nur im Kriege ſelbſt. |
Gibt es darum im Laufe der Geſchichte eine wahrhaft
dauernde Erhöhung des moraliſchen Status und eine Stei⸗
gerung der Innigkeit und Tiefe in der Einigung der Menſch⸗
heit, ſo ſind nicht der Weltfriede, ſondern der Krieg und die
kumulierten, aus ſeinen Traditionen und tiefen Erinnerungen
fließenden moraliſchen Dauereffekte in der menſchlichen Seele
die konſtruktive Auslöſekraft für dieſe Erhöhung und Einigung.
Nicht das Abſterben des kriegeriſchen Geiſtes, der als Geiſt
des wachſenden Lebens ſtets zugleich Auslöſung einer über alle
„Intereſſen“ hinausreichenden Liebe, Großmut, Opferkraft
iſt, und das Auf hören des Krieges, ſondern die Tatſache, daß
immer umfaſſendere und immer inniger und tiefer ſelbſt
früher einmal durch den Krieg in ſich geeinte Gruppenein⸗
heiten zu kriegführenden Mächten werden; daß der Krieg
die gemüterſcheidenden und gemeinſchaftszerſetzenden Kräfte,
die in bloßer Friedensziviliſation und ⸗geſellſchaft wirkſam
ſind, immer umfaſſender und in immer größeren Gruppen
kontrebalanziert, — kann als Vehikel des ſittlichen Fort⸗
ſchritts angeſehen werden. Dies aber iſt nicht der Fortſchritt
über den Krieg hinaus zu einem ſogenannten Weltfrieden,
ſondern der Fortſchritt des Krieges ſelbſt (die immer reinere
112
Ausprägung feines Weſens und feine Vergeiſtigung) und der
ſittliche Fortſchritt gerade durch die gemeinſchaftsbildneriſche
Kraft des Krieges. Die poſitiviſtiſchen Philoſophien und Pazifi⸗
ziſten vergeſſen immer, daß die gegenwärtigen, großen geiſtig
und territorial geeinten Gruppeneinheiten, auf deren Tatſäch⸗
lichkeit ſie ihre Ideen von Vertrag und Schiedsgericht ſtützen, —
in unſerer gegenwärtigen univerſalhiſtoriſchen Entwicklungs⸗
periode die großen „Nationen“, — zum größten Teile und der
Hauptſache nach ſelbſt das Werk und Reſiduum von Kriegen
ſind; daß ſie durch Kriege zuſammengeſchweißt wurden und
die gemeinſame Kriegserinnerung eben den Kern ihrer Schick⸗
ſalsgemeinſchaft ausmacht, die gemeinſamen Bilder ihrer
Helden aber die ſtärkſte Kraft ihres Zuſammenhalts und ihrer
Einheit darſtellen. Dieſe Kraft bildet ein Band, das ſelbſt
gemeinſame Raſſezugehörigkeit, Sprache, geiſtige Kultur
an Stärke weit übertrifft. Wie großartig ſehen wir dies
eben jetzt in Oſterreich. Wohl ſchaffen die Mächte der
Friedensarbeit ihrerſeits gleichfalls eine große Fülle menſch⸗
licher Einheitsbildungen. Aber ſehen wir von Ehe und Fa⸗
milie in ihrer engen Begrenztheit, von der Kraft des Eros,
von rein perſönlichen Geſinnungsbeziehungen und frommen,
durch heilige Liebe geeinten Sekten ab, ſo ſind dieſe Einheiten
immer nur partikulare, eventuell durch Recht und Vertrag
geordnete Zweck⸗ und Intereſſengeſellſchaften, nicht
aber durch irgendeine Art der Liebe zuſammengefaßte
Lebensgemeinſchaften, deren Kräfte von innen und wie
durch einen Stoß von rückwärts, nicht durch den Zug des
Zweckes wirkend, das ganze konkrete Leben der Glieder um⸗
faſſen und durchfluten. Sie ſind, ſo umfaſſend ſie ſein mögen,
8 113
wie etwa die großen internationalen Einheiten des Verkehrs⸗
weſens und gleichgültig, ob ſie materiellen oder geiſtigen Zwecken
dienen und wie vollkommen „organiſtert“ fie ſich darſtellen, doch
alleſamt auf das Prinzip des Egoismus und der bloßen Inter⸗
eſſenſolidarität, im höchſten Falle theoretiſcher Arbeitsgemein⸗
ſchaft gegründet, nicht auf das der tiefen Geſinnungs⸗ und
Willensſolidarität. Eben darum könnten dieſe Verbindungs⸗
arten ſelbſt eine, in ihrer Linie unendliche Vollkommenheit er⸗
reicht haben — nicht nur ſo, daß der Zuſtand der menſchlichen
Geſellſchaft der Idealformel Kants entſpräche, daß „Jedes
Zweck mit jedes Anderem Zweck in einem einigen Reiche
widerſpruchslos zuſammenbeſtehen könnte“, ſondern ſelbſt po⸗
fitio fo, daß „Jedes Zweck den Zweck jedes Anderen in feiner
Erreichung auch unmittelbar objektiv fördere“ — jene ganz
weſensverſchiedene Einheit einer immer umfaſſenderen Lebens⸗
gemeinſchaft der Menſchen würde auch in dieſem idealen
Zuſtande, den die Mächte der Friedensziviliſation wie einen
unendlich fernen Punkt aſymplotiſch anſtreben, nicht um ein
Minimum gefördert, geſchweige erreicht werden. Freilich:
Auch der ganz weſensverſchiedene hiſtoriſche Prozeß, in dem durch
die einheitsbildende Macht des Krieges die Menſchheit immer
tiefer und inniger (gleichzeitig aber extenſiv umfaſſender geeinigt
wird), hat einen idealen Richtpunkt, der als „regulative Idee“
bezeichnet werden kann: Aber dieſer Richtpunkt wieſe nicht
wie für die konſequenten poſitiviſtiſchen Vertreter eines dau⸗
ernden Weltfriedens auf den Weg einer ſteigenden Auflöſung
der Völker in Nationen, der Nationen aber in eine nur mehr
durch Intereſſen verträge in ſich äußerlich geeinten ſogenannten
Menſchheit, ſondern im Gegenteil daraufhin, daß die Grup⸗
114
pen, die ſich heute nur als Nationen darſtellen, das heißt als
weſentlich durch die gebildete Minorität getragene geiſtige
Kulturperſönlichkeiten ſich zu noch höheren Lebensverbänden!
zuſammenſchlöſſen, gleichzeitig aber ſelber jene noch innigere
Einheit und Einigkeit unter ihren Gliedern annähmen, die jetzt
das „Volkstum“ charakteriſiert; die Menſchheit aber ſelbſt
allmählich ſo jene Tiefe der Willens⸗ und Geiſtesgemeinſchaft
erreichte, die gegenwärtig den Kulturkreis, Mation und Volk
charakteriſiert. Auch nach dieſer „regulativen Idee“ kann der
Krieg nur dem univerſalhiſtoriſchen Endziel dienen, den Krieg
überflüſſig zu machen. Und doch hätte es keine Spur von Sinn,
die Idee dieſes ewig anzuſtrebenden „Endzuſtandes“ — denn
nur als regulative Idee, nicht als Utopie dürfte er gelten — als
„allgemeinen oder ewigen Weltfrieden“ zu bezeichnen; es hätte
dies ſo wenig Sinn als zu ſagen, die Teile eines heutigen Volkes
oder einer heutigen Nation befänden ſich untereinander im Zu⸗
ſtande des „Friedens“. Der „Friede“ iſt eben nur die rein
negafive Korrelatividee des Krieges und fest als Sein und
Begriff, Sein und Begriff des Krieges als pofitiver Weltein⸗
richtung voraus! Mit dem Überflüffigwerden dieſer Weltein⸗
richtung gäbe es auch keinen ſolchen negativen „Frieden“ mehr,
ſondern nur mehr die poſitive Idee einer umfaſſenden Liebes⸗
gemeinſchaft aller Geiſt⸗ und Vernunftweſen, d. h. eine Idee,
die das polare Gegenteil des poſttiviſtiſchen Ideals einer bloß
durch Intereſſenſolidarität und Verträge geeinten Menſchen⸗
maſſe ift!
Dieſe Idee hat ſtets den Kernbeſtandteil der chriſtlichen
Idee eines einzigen allumfaſſenden, katholiſchen Liebes⸗ und
Gottesreiches gebildet. In dem Kriege, in dem wir uns
8⁵ 118
befinden, beſtätigt ſich dieſe höchſte und edelſte Dienſtſchaft
des Genius des Krieges an die heilige Liebesgemeinſchaft aller
Perſonen, indem er auf der feſten Grundlage einer viel tieferen
Gemeinſchaft der europäiſchen Zentralmächte, Deutſchlands
und des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates, eine Solidarität der euro⸗
päiſchen Weſtmächte gegen Aſien als die nächſte Vorſtufe zu
dem überſchwänglichen Ziele vorbereiten wird, von deren pofi=
tiven geſchichtlichen Ausſichten hier nicht die Rede fein ſoll. “
Zur Metaphyſik des Krieges
Realitäten der finnlichen und intelligiblen Welt zu allen
Zeiten und in allen individuellen und ſozialen Geſamt⸗
lagen des Gemütes und des Geiſtes in ganz gleichmäßiger Weiſe
erleben und erkennen könnte. Faktiſch gilt dieſer Satz nur —
und ausſchließlich für den Betrieb und die Methode der⸗
jenigen Wiſſenſchaften, die es mehr mit einem Ordnen der
Gegenſtände zwecks ihrer Lenkung und techniſchen Beherrſch⸗
barmachung, als mit adäquater Erkenntnis ihres Weſens zu
tun haben, welch letztere Erkenntnis allein die evident erlebte
Berührung mit der Sache ſelbſt und ihrer Fülle gibt. Außer⸗
dem gilt dieſe Annahme nur für Erkenntnis von ſolchen Gegen⸗
ſtänden, die auf die Organiſation einer gleichförmigen „menſch⸗
lichen Natur“ — oder doch des Lebens in ihr — überhaupt
daſeinsrelativ find; gleichzeitig aber auch erkenntnisrelativ auf
eine, durch Konvention „allgemeingültige“ Gruppe von ſym⸗
boliſchen Zeichen und deren Verknüpfungen; nicht aber
gilt ſie für die Erkenntnis der, ihrem Daſein nach abſoluten
und aſymboliſchen Gegenſtandswirklichkeiten, mit denen es die
Philoſophie oder die Weſenserkenntnis zu tun hat. Für die
Erkenntnis der abſoluten Dinge aber gibt es überall eigen⸗
tümliche, bevorzugte Haltungen des Gemütes und Geiſtes,
E iſt ein großes Vorurteil, daß man die vorhandenen
; 117
gewiſſe Geſamtſituationen und Lebensarten, die nicht ohne
einen ſittlich⸗geiſtigen Aufſchwung, unter Umſtänden durch
dauernde Übung einer Lebensart, der ganzen Menſchen⸗
perſon in eine höhere Daſeinsordnung, zum „Weſenhaften“,
— wie Platon ſchon die wahre Aufgabe des Philoſophen
definiert — in das erlebbare Selbſtdaſein treten können. An
Stelle des unſere Sinne unterſtützenden Inſtrumentes und der
logiſchen Schlußfolgerungen, die uns in den poſttiven Wiſſen⸗
ſchaften über die Schranken unſeres natürlichen Weltbildes
weit hinausführen, — z. B. zur Feſtſtellung von Strahlen,
für die uns Sinne fehlen — tritt hier als erkenntnisbedingendes
und erkenntnisdisponierendes Mittel eine innere Tat des Zen⸗
trums unſerer Perſon ſelbſt, eine Tat, die immer auch eine
ſittliche Tat iſt, — ein machtvolles „Heraus“ aus unſeren
ſonſtigen allzumenſchlichen, vitalen und leiblichen Bedingt⸗
heiten. Und erſt an die in dieſer Tat vermittelte Anſchauungs⸗
reinheit ſchließt ſich dann das volle Erleben von Realitäten
an, für die wir — ohne jene Tat — blind waren, blind ſein
mußten.“ Wer natürlich der Realität der Dinge zuerſt die
lächerliche Bedingung auferlegt, ſie müſſe ſich von „Jedem“,
in „jeder“ Lage des Gemütes und auf jedem Nivean des ſitt⸗
lichen Höhenganges eines Lebens gleichmäßig zur Erkenntnis
geben und bringen laſſen — es gäbe alſo für gewiſſe Teile
und Arten der Realität nicht auch ganz ſpezifiſche Bedin⸗
gungen einer Gemüts⸗ und Geiſteshaltung, um mit ihnen im
Erleben in eine mögliche Berührung zu treten, ja es „könne“
gar keine ſolche geben: der muß freilich das in ſolchen
inneren Lagen Erlebte und Erſchaute „a priori“ für eitel
„Phantaſie“, „Einbildung“, „Traum“ halten. Aber —
118
was kümmert ſich die Realität ſelbſt um Erkenntnisbedin⸗
gungen, die ihr die Gelehrten auferlegen wollen? Welch
lächerliche Illuſton, die Dinge hätten die Verpflichtung auf
ſich genommen, ſich ohne ſolchen Geſamtaufſchwung der
Seele und des Geiſtes jederzeit jedem in jeder Lage zu er⸗
kennen zu geben! Gerade wenn es abſolute Realität gibt,
und wir uns nicht damit erſchöpfen müſſen, bloß Gegenſtände,
die eine ſpezifiſch menſchliche Erfahrungsart und ⸗form ſchon
gebunden hat und die ſo zur bloßen „Erſcheinung“ geworden
ſind, eindeutig zu ordnen, — ſo iſt eben dieſer Fall der un⸗
wahrſcheinlichſte von allen möglichen Fällen.
Eine ſolche erkenntnisdisponierende Bedeutung für abſolute
Wirklichkeiten eignet aber dem Kriege, eignet dem eigentüm⸗
lichen Aufſchwung des Geiſtes, den der Krieg hervorruft, in
ganz beſonderem Maße.
1. Die Realität der Nation
Eine erſte Erkenntnis, die der Krieg möglich macht, und die
an die Form der „Kriegserfahrung“ in ihrer vollen Fülle
geradezu gebunden iſt, iſt die Erkenntnis der Realität der
Nation als geiſtige Geſamtperſon.
Im Kriege erſt werden ſich jene großen machtvollen geiſti⸗
gen Kollektivperſönlichkeiten, die wir „Nationen“ nennen,
ihrer Exiſtenz und ihres Weſens voll bewußt. Und es ſind
dieſelben geiſtig⸗ſoziologiſchen Prozeſſe, auf denen das Dahin⸗
ſchmelzen der kleinen Egoitäten in den Strom der Kriegs⸗
begeiſterung, das ſich Offnen und das ſich Verklammern der
Herzen, und auf denen dieſe neue Wachheit der im Frieden
wie ſchlafenden Nationalperſönlichkeit, ihr volles Seins⸗ und
119
Werterlebnis beruht. Im Frieden iſt die Nation für ihre
Glieder mehr ein ſymboliſcher Begriff als ein anſchauliches,
erlebtes ſelbſtdaſeiendes Etwas; mehr eine komplizierte Kollek⸗
tion und Relation als eine ſubſtantielle Perſon. Erſt im
Kriege wird dieſer Begriff mit jener Anſchauung und jenem
geheimen Leben erfüllt, die auch noch im Frieden ſein, hier nur
für Anſchauung und Gefühl unerreichbares Fundament bilden;
erſt hier wird die gleichſam konſtitutionelle, in der Friedens⸗
egoität begründete metaphyſiſche Täuſchung, Nation ſei ein
bloßer Beziehungskomplex oder ein mehr oder weniger künſtlich
zuſammengebundenes Kollektivum klar durchſchaut. Jetzt
erſt meinen wir voll das große geiſtige Weſen zu ſchauen und
zu fühlen, dem wir alle als ſeine Glieder angehören und das
uns erſt jetzt als bloße „Glieder“ ſtürmiſch zu ſich an ſein
pochendes Herze reißt. Sowohl hinſichtlich aller mikroſkopi⸗
ſchen, wie aller makroſkopiſchen Realitäten iſt ja unſer Geiſt
von Hauſe aus von Täuſchungsformen benebelt, die alle in
der Dienſtſchaft des Geiſtes an die gemeinen Lebensbedürfniſſe
begründet find.5 Jetzt erſt wird die in der leiblichen Egoität
begründete beſondere Täuſchungsform des nur atomiſtiſchen
Sehens der geiftigen Welt — fo, als ob die einzelnen ſicht⸗
baren Leiber die Fundamente für die Einheiten und Gliede⸗
rungen auch der geiſtigen Welt wären — zerbrochen. Als ob
das Bewußtſein „im Kopfe“ wäre! Die Realität der Na⸗
tion wird für das geiſtige Auge wahrhaft ſichtbar und greif⸗
bar und die ihr im Frieden zuerteilte Rechtfertigungspflicht
ihrer Realität vor dem Einzelbewußtſein fällt nun umgekehrt
auf das Einzelbewußtſein als Laſt der Rechtfertigung zurück.
Jeder empfindet nun, es ſei viel ſelbſtverſtändlicher und ſehr
120
viel evidenter, daß die Nation „ſei“ als daß er felber „ſei“;
und jeder empfindet, er müſſe ſein Sein vor ihr, der Nation
rechtfertigen und durch Tat verdienen — nicht aber wie
vorher ſie vor ihm. In dieſem großen Erlebnis aber liegt
eine metaphyſiſche Erkenntnisbedeutung des Krieges, die auf
niedrigerer wie höherer Stufe ihr Analogon hat. Auf
niedrigerer Stufe gibt das Erlebnis der „Verſchmelzung“
von Seele und Leib im liebebeſeelten Umfangen der Ge⸗
ſchlechter die Erkenntnis der realen Einheit des Lebens, trotz
ſeiner an organiſchen Körpern räumlich und zeitlich diskreten
Erſcheinungsweiſe. Auf höchſter Stufe aber geht uns in
jener Gottinnigkeit heiliger Liebe, in der wir uns ſchon als
Menſchen, ja darüber hinaus als „Inbegriff aller perſönlicher
Geiſter“ alle als Brüder und als Kinder eines „göttlichen
Vaters! fühlen und ſehen, die ganze Ausdehnung des geiſtigen
Reiches auf.
Zu dieſer Richtung der Anſchauung, deren Gegenſtand die
chriſtliche Kirche das „myſtiſche Corpus Chriſti“ nennt, leitet
uns aber der Krieg trotz alles Kampfes der Völker als der
Glieder dieſes Korpus mehr als der Friede, deſſen vorwiegende
geiſtige Einſtellung jenes atomiſtiſche Sehen aller geiſtigen
Einheiten und Realitäten iſt, die ſie ganz als bloße anhangende
Modi der ſichtbar getrennten körperlichen Einheiten und deren
Teilen und wie als bloße Komplexionen der leiblich noch lokali⸗
ſierten Empfindungsgruppen auffaßt; fo aber ſchon das An⸗
ſchauen der Richtung erſchwert, die zur Idee eines Gottesreiches
führt. Mag auch bei vielen der Geiſt ſtehen bleiben an der
neugegebenen Realität der Nation und nicht darüber hinaus⸗
gehen, ein Bruch mit jener konſtitutiv materialiſtiſchen Schau⸗
121
form des Friedens iſt doch vollzogen, jener Schauform, die
den Geiſt „im Kopfe“, das Streben nur im Unterleibe wähnt
und der gemäß man nur durch Schlüſſe (Analogieſchluß)
vom Selbſterlebten aus zu fremdem Seelenleben, ſeiner Exi⸗
ſtenz und feinem Inhalt zu gelangen glaubt.” Ein Weg iſt
geöffnet, eine Quelle iſt aufgetan, die, ſo man ihnen folgt, an
die Grenze leitet, wo die Religion und ihre Welt beginnt.
2. Der Krieg und der Tod
Aber dies iſt nicht der einzige metaphyſiſche Erkenntniswert,
den der Krieg in ſich birgt. Sein Genius haucht uns allen,
jedem einzelnen, eine Wahrheit ins Ohr, für die uns die Ge⸗
räuſche des Friedens taub machen. Sie iſt ausgedrückt in den
alten deutſchen Worten: „Ich leb, ich weiß nicht wie lang, ich
ſterb, ich weiß nicht wann, ich fahr, ich weiß nicht wohin, —
mich wundert, daß ich fo fröhlich bin“. Der Krieg ſtellt das
wahre, das der Wirklichkeit angemeſſene Verhältnis von Leben
und Tod für unſer Bewußtſein wieder her. Er vollbringt dies
große Werk, indem er jenes „Leben“, das im Frieden ſich nur
an uns abſpielt, uns wie eine dumpfe Kraft weiter von dem
be in die Tage — horizontlos in die Weite — hineinſtößt,
ls „unſer“ Leben, d. h. das Leben nicht als identiſch mit
Di Derfon, Küken nur als Eigentum und Spielraum
unſerer freien geiſtigen Perſönlichkeit auch wahrhaft ſchauen,
fühlen, empfinden lehrt — als kurzen, endlichen Spielraum,
als Inſel auf einem Meer unendlichen ſchwarzen Schweigens;
aber als Spielraum für eine Perſon von unendlichen, über
dieſen Spielraum weit hinausſchießenden Kräften, Zielen und
ewigen Forderungen; als Spielraum für eine Perſon, die im
122
felben Akte zu den ewigen Sternen greift, in dem fie ihr Leben
wagt und dahingibt. Ich ſuchte anderen Ortes“ zu zeigen,
daß die letzte Wurzel alles neueren Unglaubens an die Un⸗
ſterblichkeit nicht in irgendwelchen „wiſſenſchaftlichen Erkennt⸗
niſſen “ über den Zuſammenhang ſeeliſcher und phyſtologiſcher
Vorgänge oder über die zuſammengeſetzte Natur des Ich
beſteht, ſondern in etwas ganz Einfachem: In dem Nicht⸗
ſehen des Todes, in der Verdrängung und Verdunkelung der
zu allen Zeiten hell und klar in uns leuchtenden, nicht erſt
aus der induktiven Erfahrung der Sterbenserſcheinungen in
der organiſchen Natur abgezogenen Todesidee, durch die
täuſchenden Schleier einer zu ſtumpfer Gewohnheit geworde⸗
nen Lebenspraxis. Dieſe biologiſch zweckmäßige Täuſchung
läßt den Erdenwurm bei jeder durchlaufenen Strecke nur die
kleine näch ſte Strecke erblicken, die er nun zu durchlaufen hat.
Sie läßt ihn ſich nicht „erheben“ über ſeine Bahn, um ſie in
ein Ganzes zuſammenzuſchauen. Wer vom Tode nicht nur
„weiß“ aus Büchern, oder vom Hörenſagen, auch nicht nur
mit ihm „rechnet! wie die Lebensverſicherungen, ſondern ihn vor
ſich ſieht, der ſieht „ſich!“ — d. h. feine geiſtige Perſon, fein
wahres Selbſt — zu gleicher Zeit über den Tod als Lebens⸗
grenze hinausſchwingen und hinausleben. Man kann nicht
das eine ohne das andere. Ein Weſenszuſammenhang der
Schauungen bindet das eine an das andere. Der Genius
des Krieges befreundet unſer geiſtiges Auge (nach Überwin⸗
dung der erſten Furchtſchauer der pfeifenden Kugeln) mit dem
Tode; er bringt unſeren dumpfen Lebensdrang, der ihn uns
immer zu verbergen ſtrebt, zu einer tiefen Verſöhnung mit
der großen herben Realität des Todes; er macht ſie ſüß
123
und ſüßer. Diefer Genius erhebt das Bewußtſein des dahin⸗
kriechenden Erdenwurms über feine Bahnkurve und läßt dieſe
Kurve als geſchloſſenes Ganzes — wie aus Sternenblick —
das geiſtige Auge gewahren. Er demonſtriert auf eine un⸗
widerlegliche Weiſe die große Wahrheit, das „Leben“ ſei etwas
das wir „haben“ und erweiſt es uns als Täuſchung des Frie⸗
dens, daß es etwas ſei, was „uns“ hat (unſere Perſon). Denn
nur, wer es gewagt, innerlich dahingegeben und wie durch Gnade
zurückerhalten hat, hat ſein Leben fürderhin und für alle
Zeiten wahrhaft „im Beſitz“. Dieſes „Wagen“ und „Dahin⸗
geben“ haben als innere Akte noch nichts zu tun mit dem
wirklichen Sterben; aber dieſes „Wagen“ und die Liebe, um
derentwillen es gewagt war, ſind hier die erkenntnisdisponie⸗
renden Akte für das Schauen der Exiſtenz⸗Erhabenheit und
damit auch des Fort⸗ und Hinauslebens der Perſon über den
Leib — und kein Beobachten und Schließen kann Akte ſolcher
Art erſetzen. Wieder wird hier das, was die Denker, was der
homo religiosus auf ſeine Weiſe gefunden und der auf⸗
horchenden Menge als wie eine fremde, dem Alltag ferne
Mär erzählt hatten, zum erlebten Gemeingut. Jeder wird
Metaphyſiker, indem jeder ein Held werden kann! Denn
die wahre Spekulation ift — im Gegenſatz zu pofitiver Wiſſen⸗
ſchaft — nur Heldentum des Gedankens; ſo wie auch der
Held ein „praktiſcher Metaphyſiker“ genannt werden kann.
Beide leben, beide wachſen miteinander in uns in die Höhe,
Held und Metaphyſtker.““
Wie auf Stufen läßt der Genius des Krieges ſeinen Lehr⸗
ling bis an die Grenze der großen herrlichen religiöfen Wahr⸗
heit wandeln: die da heißt „Unſterblichkeit“, Gewißheit und
124
Sicht auf ewiges Leben! Er zeigt feinem Jünger zuerft Ehre
und Auszeichnung und lockt ihn heraus aus dem dumpfen, in
ſich geſchloſſenen Ichgefühl, das ihn in Friedenszeiten ſo leicht
ſeinen Leib und deſſen Luſt und Schmerz als die Wurzel
ſeines wahren Selbſt vorſpiegelt! Er führt ihn hinaus über
die Liebe zu ſeiner Ehre und läßt ihn im Blick auf die ge⸗
liebte Fahne, im Kampf und Einſtehen für ſie, die Ehre eines
Größeren, die Ehre des „Regimentes“, bis zur Armee, den
Fährniſſen wie feines Leibes fo auch feiner eigenen Ehre vor:
ziehen. Aber das alles iſt noch irdiſch — allzuirdiſch — für
den großen Lehrer. Ehre und Nichtehre hängen vom Ver⸗
halten der noch Lebenden ab, vom Verhalten der Umwelt
und Nachwelt. Viele taten Kühnſtes ohne daß es jemand
weiß! Viele erhielten nicht die Auszeichnung und Ehrung,
die fie verdienten; viele erhielten Auszeichnungen, die fie nicht
verdienten. Die „Fahne“ — fo herrlich fie dort winkt und fo
berechtigt das Symbol unſer Gefühl erregt — für Gott iſt fie
nur ein — Stück Tuch. Aber der Genius des Krieges
verfügt über noch tiefere Künſte, die ſchlafenden Seelen zu ſich
ſelbſt zu erwecken. Er führt ſeinen Schüler vor etwas, das
größer und beſſer iſt als alle Ehre: vor den Ruhm, vor die
„irdiſche Unſterblichkeit“, wie ſchon die Alten den Ruhm
nannten. Denn Ruhm, das iſt das lebendige bildneriſche
Fortwirken und Fortexiſtieren der Perſon in ihrer Willenstat
oder in ihrem Werke auf die irdiſchen Dinge ſelbſt, — Ruhm⸗
liebe, Vorgefühl und Sehnſucht nach dieſer Wirkſamkeit in
der Dauer einer unmeßbaren Geſchichte. Ruhm beſteht durch⸗
aus nicht in Sehen und Schätzung dieſes Fortlebens und
⸗wirkens durch Umwelt und Nachwelt, d. h. durch andere, die
125
fich auch täuſchen oder blind fein können. Wer dies meint, ver⸗
wechſelt ihn mit bloßer „Ehrung“. Es ſelbſt, — dieſes Sein
und Schönſein im Aktus des Fortwirkens über alle begrenzte
Geſchichte und Zukunft iſt der wahre Ruhm. Wer Ruhm
gewinnt, wird nicht mit ihm „gekrönt“ und „bekränzt“ und
„geſchmückt“ durch Um⸗ und Nachwelt: er ſchmückt, kränzt
und „verewigt“ ſich, im irdiſchen Sinne, ſelbſt in edler Tat und
ſchlägt fein Bild in ein dauerhafteres Element, als in menſch⸗
liche Meinung und Schätzung: in den lebendigen Wirkungs⸗
zuſammenhang des hiſtoriſchen Wirkens ſelbſt, das ſo geheim⸗
nisvoll und lautlos den Kern ſeiner Exiſtenz in ſeiner Tat oder
ſeinem Werke verborgen ins Ungemeſſene weiterträgt — auch
tragen würde, wenn es keiner — keiner wüßte. Hier ſchon hängt
Wert und Weiterwirken nicht mehr ab von dem wechſelnden
Verhalten, der Schätzung, der Ehrung anderer, Mit⸗ oder
Nachwelten: hier hängt umgekehrt der Wert, die Schätzbar⸗
keit der „anderen“, der Um⸗ und Nachwelt davon ab, daß fie
den ſehen und „ehren“, der „ſich mit Ruhm bedeckt“, der
jene „irdiſche Unſterblichkeit“ errang. So iſt der Ruhm ſehr
viel ſtiller, ſehr viel geräuſchloſer, aber größer und herrlicher
als alle und jede „Ehre“ und „Ehrung“, die ſtets ein wenig
klappern. „Ehre“ — das bringen uns die anderen; wir können
„uns“ nicht mit Ehre „bedecken“. Solche Rede erlaubt die
Sprache nicht. Aber wir können uns bedecken mit Ruhm,
— auch noch als verlorener ungekannter Poſten in der
Schlacht. Die Nachwelt verherrlicht nur, auf den ſich dieſer
hehre Glanz niederließ und mißt ſich ſelbſt darin ab, wie weit
fie es tut und wie weit fie es nicht tut. Sie prägt den Glanz
nicht. Im Sehnen nach dem Ruhme, da beginnt ſich leiſe und
126
unmerklich unſer geiſtiges Antlitz abzuwenden vom Irdiſchen
und ſich nach einem „Oben“, wie nach Sternen zu kehren.
Darum beginnt hier zuerſt der Durchbruch des Erlebens durch
die Schranken und durch die „Angſt des Irdiſchen“. Der
Anhauch der Ewigkeit und ſeine Aufnahme im Vorgeſchmack
des ewigen Lebens beginnen im Ruhmgedanken gar wunder⸗
bar miteinander Fühlung zu nehmen.
Das iſt der höchſte Punkt, zu dem der Genius des Krieges
uns führen kann: zur Pforte in die religiöſe Unſterblichkeit,
zur Schwelle des Glaubens an fie. Den Eintritt über die
Schwelle aber muß der Glaube vollziehen, — ſo dieſe Schwelle
betreten iſt.
3. Der Krieg als Gottesgericht
Wie uns das kriegeriſche Prinzip der Ritterlichkeit an
die Schwelle der Feindesliebe, die erſchaute Realität der
Nation an die Schwelle des Gottesreiches, der ſtille, ſchöne
Heldenruhm an die Schwelle des ewigen Lebens führt, alſo
führt uns die mit jedem echten Kriege verbundene Empfindung
eines in ſeinem Ausgang ſtattfindenden „Gottesgerichtes“,
— eine Empfindung, der ſich auch die ſogenannten „Ungläu⸗
bigen“ nur mit dem Munde, nicht mit dem Herzen ent⸗
ſchlagen können, — an die Schwelle des Erlebens der göft-
lichen Realität ſelbſt und ihres heiligen Regimentes. Nur
der allerverſtändnisloſeſte Aberwitz hat daran Anſtoß ge⸗
nommen, daß ſich im Kriege alle kämpfenden Parteien gleich⸗
mäßig auf Gott ſtützen und von feiner Gnade und Gerechtig⸗
keit den Sieg erflehen und erhoffen. Natürlich kann dieſe
Hereinziehung des Namens Gottes ſeitens der kriegführenden
127
Parteien auch tief irreligiöſen Charakter haben. Dies iſt
dann der Fall, wenn anſtatt demütige Unterwerfungsbereit⸗
ſchaft unter den göttlichen Willen vor aller Kriegsentſchei⸗
dung, aber gleichzeitiges Vertrauen auf das eigene Recht
und die göttliche Hilfe, bewußt oder unbewußt die Gottheit
wie zur eigenen Partei herübergezogen erſcheint — ſo daß
der Monotheismus eigentlich in den Henotheismus des älteſten
Judentums und ſeines Stammesgottes Jahwe auseinander
zu fallen, die Tendenz gewinnt. Das war ſtets eine Gefahr
proteſtantiſchen Staatschriſtentums. Die Rede „Unſer alter
Preußengott“ iſt ficher leicht in dieſem Sinne mißverſtändlich.
Dieſes „unſer“ iſt nicht das „unſer“ des Vaterunſers. Auch
die Rede vom „Deutſchen Gott“ ſollte man unterlaſſen. Eine
andere Gefahr — die ſpezifiſch engliſche, (fiehe den Anhang
über den cant) — iſt umgekehrt die unbewußte Verſteckung
ſeiner Intereſſen unter den Namen eines ganz univerſal und
echt monotheiſtiſch ſchein⸗ intendierten „Gottes“. Die letztere
Gefahr iſt die — häßlichere, unfrömmere. So wenig aber iſt
vom Standort der echten Religion an der rechten Anrufung
Gottes Anſtoß zu nehmen, daß umgekehrt ſchon die Voraus⸗
ſetzung einer irdiſchen Rechtsinſtanz, durch die eine Einung
über die in einen „gerechten Krieg“ (ſiehe folgende Kapitel)
treibenden Konflikte herbeizuführen wäre, eine unerhört an⸗
maßende Verleugnung der letzten und höchſten aller Rechts⸗
inſtanzen, der Inſtanz des lebendigen Gottes iſt; ein vor⸗
witziger Verſuch, ihr in den Arm zu fallen! Eben weil die
Rechtsidee nicht erſt aus dem vom Staate geſetzten Rechte
ſich ableitet, ſondern die logiſche Weſensordnung eines reinen
unendlichen Vernumftwillens ſelbſt ausdrückt, — gleichwohl
128
aber jeder Staat „ſouverän“ iſt und keine irdiſche poſttive
Rechtſetzung über dieſe ſeine Souveränität anerkennen kann
— vermag nur Gott im Richterſpruch des Krieges, d. h. im
Richtſpruch der Tat, ſolche Rechtsfrage zu entſcheiden. Es
iſt alſo entweder Erniedrigung oder Beugung der Erhaben⸗
heit der Rechtsidee in die Grenzen menſchlicher Inſtitute,
Schwächen und Bedürfniſſe oder es iſt Leugnung der Got:
veränität des Staates, wenn man prinzipiell an die Stelle
des göttlichen Gerichtes durch den Krieg ein menſchliches
Schiedsgericht ſetzen will; wenn man die Erhabenheit des
Krieges zu einem „Streit“ vor Perücken erniedrigen will.
Daß dieſe Art der Rechtsſuche und der Rechtsfindung in der
Form eines Gewaltkampfes zwecks Erprobung der Macht
verläuft, erſcheint nur der Sentimentalität der Gottheit un⸗
angemeſſen. Gott iſt auch Gott der Macht — iſt „All⸗
mächtiger“. „Daß Gott immer bei den ſtärkſten Batail⸗
lonen ſei“, ein Wort, das ein Brief der Pompadour
dem Marſchall Turenne zuſchreibt und das nicht von
Friedrich dem Großen ſtammt — iſt, ſo frech es vielleicht
gemeint iſt (auch dies muß es nicht ſein, da es an der Stelle,
wo es ſteht, nur die engliſche Form von Bigotterie treffen
will) doch auch geradezu wahr; nämlich eine ſtrenge De⸗
duktion aus der Idee göttlicher Allmacht. So ſchlägt die
noch witzigere Wahrheit des Satzes den Witz der iro:
niſchen Intention des Argumentes! Wie in höchſter menſch⸗
licher Güte und Weisheit Spuren der göttlichen Güte und
Weisheit und Lichtblicke von deren Exiſtenz in die Erſcheinung
treten, ſo auch in der ſiegreichen Wucht der Macht Spuren
und Durchblicke auf die göttliche Allmacht. Gott iſt ſo ur⸗
9 129
fprünglich „allmächtig“, als er allgerecht und allweiſe iſt und
nur eines iſt er noch urſprünglicher und wurzelhafter als dies
alles zuſammen: Alliebend und allgnädig! Es iſt eine durch
das Chriſtentum überwundene antik⸗gelehrtenhafte Gottes⸗
idee, wenn man nur den „Allweiſen“ in ihm fieht und dann
auch konſequent Schöpfermacht und Weltregiment ihm ab⸗
ſprechen muß, ſo wie es Ariſtoteles konſequent tun mußte
und tat. Es iſt nicht minder ein Rückgang gegen die chriſt⸗
liche Gottesidee, wenn der moderne Rationalismus (3. B.
Kant) ausſchließlich den „gerechten Wiedervergelter “ und
Richter in Gott ſieht und ſeine Allmacht nur als ein äußer⸗
liches Werkzeug ſeiner Gerechtigkeit annehmen will; wenn
derſelbe Rationalismus auch im menſchlichen Bewußtſein
das Könnensbewußtſein nach dem Satze „Du kannſt, denn
du ſollſt“ erſt auf das „Sollensbewußtſein“ aufbauen will.”
Das iſt Verwechſlung der Macht mit der Gewalt, die allein
verdient „Werkzeug“ zu heißen und deren gerade Gott nicht
bedarf. Die „Macht“ iſt alſo ſo urſprünglich im Weſen
der Dinge verwurzelt wie das Recht; die Kraft ſo urſprüng⸗
lich wie das Geſetz. Wer nur im Säuſeln der Pappeln
und im Gezwitſcher der Vögel das Wehen des göttlichen
Geiſtes vernimmt und nicht auch in dem Donner der Ge⸗
ſchütze, der iſt vielleicht ein liebenswürdiger, aber kein ganzer
und liebenswerter Menſch. Gewiß iſt es auch tiefe Irrung,
ſo wie es Calvin und in anderer Form Spinoza getan haben,
die „Allmacht“ in der Gottesidee ſo zu überſteigern, daß ſich
wie bei Spinoza der falſche, frivole Satz ergibt „Macht iſt
Recht“ oder die Gnade — eine Äußerung der Liebe — wie
bei Calvin (und im ſchärfſten Gegenſatz zu Auguſtin) zu
130
finſterer Willkür der grundloſen „Erwählung“ wird. Auf
Erden ſuchen vielmehr echte Macht und echtes Recht einander,
die in Gott ſich real decken und eines ſind. Oft findet die wahre
Macht nicht ihre Rechtsform und ihren Rechtsausdruck, da
ſie durch die bloße Gewalt oder die Schlauheit des faktiſch
Ohnmächtigeren daran verhindert wird. Oft auch findet das
faktiſche Recht nicht die Macht, in der es ſich behauptet.
Aber erſt da, wo ſie ſich finden, da wird die Welt voll⸗
kommen „gut“ und ihres Schöpfers wert. Der gerechte
Krieg, das eben iſt die höchſte Form dieſes Suchens und Fin⸗
dens! Wo Willkür und pure Gewalt ohne heiliges Rechts⸗
bewußtſein für die eigene Sache den Krieg vom Zaune
brechen, da beſteht freventliche verbrecheriſche Amwendung dieſer
höchſten Form der Rechtsſuche durch die lebendige Tat und
vor dem Richterſtuhle Gottes ſelbſt. Solche „ungerechte“
Kriege hat es natürlich gar viele gegeben. Aber auch kaum
mehr, eher viel weniger als ungerechte Gerichte und ungerechte
Geſetze! Manche Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts,
manche Kriege, die man nur anzettelte, um die verlorene
Gewalt im Staate wieder zu erreichen, manche Handels⸗
und Menſchenvernichtungskriege ſind Kriege ſolcher Art
geweſen. Aber auch wo pures Pochen auf das eigene Recht
eines Staates vorliegt, wo der ganze und heilige Wille fehlt,
die Machtprobe zu wagen und die eigene Exiſtenz für ſein
Recht auf die Karte zu ſetzen, wo die Diplomaten noch
ſchwatzen, wenn allein nur mehr die Waffen freier Män⸗
ner das Wort haben ſollen fehlt faktiſch das ganze und
volle Rechtsbewußtſein; denn dieſes drängt, voll lebendig
von ſelbſt zu Tat. Nur derjenige Staat, dem es fehlte,
* 131
und der damit ſchon vor fich ſelbſt verloren wäre, könnte fich
alſo einem Schiedsſpruche unterwerfen. Wie alſo ſollten
denn die Kriegsparteien nicht, jede ihrerſeits Gott als den
höchſten Richter, den Richter in der lebendigen Tat ſelbſt
anrufen und dies wahrhaft und aus vollem Herzen, wenn
ihnen nur dieſes volle Rechtsbewußtſein nicht gebricht? Das
bedeutet durchaus nicht, Gott gleichſam auf die eigene Partei
herüberziehen. Das bedeutet vielmehr ſich ſeinem Gerichte
eben in und mit der Wucht eigener Tat, zugleich demütig
unterwerfen.
Zu dieſer Vorſtellung des Krieges als Gottesgericht führt
aber das volle Erlebnis des Krieges ſelbſt notwendig hin und
die Geſchichte, durch es erleuchtet, beſtätigt das Erlebte. Der
echte Krieg bringt alle Weſenskräfte des Volkes oder der
Nation zur Geltung, — im Gegenſatz zum Zweikampf, den
nur der Zynismus heute noch als Gottesgericht bezeichnen
könnte, mit ſeinem Zufall und ſeiner einſeitigen Meſſung
bloß phyſiſcher Kraft oder irgendeiner Waffenkunſt. — Er
mißt ihren konkreten Geſamtwert ab auf eine Weiſe, wie es
keine noch ſo ſubtilen und objektiven Urteile menſchlicher
Richter vermöchten, auch nicht mit den feinſten ethiſchen,
politiſchen und ökonomiſchen Maßmethoden. Nicht nur der
momentane Stand der Nationalkräfte, auch der Wert der
geſamten Friedensarbeit findet erſt im Kriege die volle Bewähr
ſeiner Realität. Richtig nennt H. von Treitſchke den Krieg
das „Examen rigorosum“ der Staaten.
Zu allernächſt wird nicht nur für die auswärtigen Be⸗
trachter, ſondern auch für den kriegführenden Staat ſelber
Wert und Kraft feines innerpolitiſchen Aufbaus, feiner Ver⸗
€: 32
faſſung, Rechtsform und Organiſation, wie der in ihm ent-
haltenen Gruppen⸗ und Parteikonſtellationen klarer und heller
erleuchtet, als es zehntauſend amtliche und außeramtliche En⸗
quèten im Frieden vermögen. Gruppen, die ſchon vorher nur
aus Zwang oder Not zum Staate hielten, die er ſich aus
eigener Schuld nicht zu aſſimilieren wußte, mit denen er nur
unpolitiſchen Raubbau trieb — wie die Karthager mit ihren
Eroberungen — die er lange belog oder täuſchte, fallen bei
der erſten Gelegenheit ab; ſo wie wir es jetzt in Rußland bei
einem kleinen Teile der Polen, einem Teile der Ruthenen, einem
gewiſſen Teil der Galizier und der ruſſiſchen Juden ſehen.
Umgekehrt erweiſt ſich langjähriges Mißtrauen der „ſtaats⸗
erhaltenden“ Parteien gegen gewiſſe Parteien und Gruppen
entweder auf einen nun zurück flutenden radikalen Phraſen⸗
ſchwall von Preſſe und Führer ſchaft jener Parteien, oder um:
gekehrt auf die bloße Profitgier und Stellenjägerei jener
„Staatserhaltenden“ gegründet. Wagten ſie dieſe früher mit
dem Staate zu identifizieren, fo wird jetzt dies Verhalten als
frivole Frechheit kund. Beide Momente treten jetzt in
Deutſchland und Oſterreich bei den Sozialdemokraten her⸗
vor, in Oſterreich bei den Tſchechen und Alldeutſchen, in
Deutſchland zum Teil im Elſaß und in Polen. So ſondert
ſich Freund und Feind des Staates, Echtes vom Unechten
ſcharf und klar voneinander. Jeder kleinſte Zweig der Ver⸗
waltung, das Maß von Ordnung oder Unordnung, Pünkt⸗
lichkeit und Unpünktlichkeit in ihm, der innere Wert aller
dem Verkehr und dem Nachrichtendienſt dienenden Organi⸗
ſationen, erhält jetzt ſeine haarſcharfe Beleuchtung und in die
dunkelſten Winkel des Staatslebens flutet das Licht des
133
Tages. Sofort z. B. wurde in dieſem Kriege neben der Güte
und Ordnung der Verwaltung unſeres Eiſenbahn⸗ und Trans⸗
portweſens, unſerer Kriegsinduſtrie uſw. die Mangelhaftig⸗
keit unſeres internationalen Nachrichtendienſtes klar. Das
Maß fozialpolitifcher Vorbereitung (Verſicherungs weſen
uſw.) äußert ſich haarſcharf in der inneren Kriegsbereitſchaft
der Armee und der Zahl der Freiwilligen; denn nur da ziehen
die Leute gerne ins Feld, wo ſie Familie und Kinder geborgen
wiſſen; es äußert ſich nicht weniger in der Ruhe, dem Sicher⸗
heitsgefühl der Zurückbleibenden in der Erhaltung der wäh⸗
rend eines Krieges ſo wichtigen inneren Ordnung des Staates.
Die geſamte Volkswirtſchaft, Ackerbau, Induſtrie, Börſen⸗
Bankweſen, nach Organiſation und nach den in ihr wirkſamen
moraliſchen Kräften der Nation, werden genau auf ihre Tüch⸗
tigkeit und Tragfähigkeit geprüft; aber auch jeder einzelne
auf ſeine Solidarität und Ehrlichkeit.
Man ſpricht, daß der Kriegszuſtand fo viele „trübe Fluten
erzeuge, in denen dann ſo viele Leute fiſchen gingen! Ja, das iſt
gerade feine hehre Kraft — nicht die trüben Fluten zu „erzeu⸗
gen“, wie man irrig ſagt, ſondern ſie ſichtbar zu machen und
an das Tageslicht zu ziehen. Sie waren ja ſchon vorher da —
die „trüben Fluten“, und auch der Wille zum Fiſchen iſt
nicht durch den Krieg geboren! Das iſt ja eben der Sieg der
Gerechtigkeit, über den die Engel lachen, daß der vornehme,
unnahbare Herr von geſtern, heute auch als der notoriſche
Lump herumläuft, der er iſt; daß der befreiende und heilende
Eiter ausbricht, wo tief verborgen ſittliche Krankheiten ſchlum⸗
merten. Das iſt gerade im Moraliſchen die ungemeine Be⸗
deutung des Krieges, daß er die Masken herabreißt, die der
134
Friede über jenes „Tieriſche“, „Wilde“ und „Niedrige“ der
Menſchennatur fo kunſtvoll breitet und über das die liberalen
Illuſtoniſten dann immer fo klagen, wenn fie es ſehen. Ein
moraliſcher Rückſchritt Europas, bewirkt durch die kapita⸗
liſtiſchen Lebensformen, welchen die Tieferſehenden längſt er⸗
kannt hatten, iſt durch die Formen der Kriegsführung, die das
geſamte Mittelalter an Grauſamkeit übertreffen, vor aller
Welt nun völlig klar aufgedeckt worden. Denn nur jener
konſtitutive Phariſäismus alles Friedenszuſtandes ſamt den
jetzt zurückweichenden, die echten ſittlichen Werte verſteckenden
Motiven des Geſchäftsgeiſtes und der Geſchäftsmoral ver⸗
hüllte auch jenes Tieriſche, Niedrige, Rohe, Grauſame der
menſchlichen Natur vor den Augen der Öffentlichkeit; ließ
es aber gerade um ſo ſtärker auf den vielveräſtelten Wegen
wirken und graben, die das kompliziertere, beziehungsreichere
Daſein des Friedens an die Hand gibt. Im Innern des
Staates wie innerhalb der kriegführenden Armee ſelbſt ſon⸗
dern ſich alſo jetzt ſcharf die inneren, moraliſchen, die tiefen
echten Gewiſſensbindungen des Handelns, des Egoismus, der
Habſucht, der Begierde jeder Art von jenen nur äußeren Bin⸗
dungen, die das Böſe nur zurückdrängen von der Sphäre der
Sichtbarkeit und des Bekenntniſſes; die es aber gerade hier⸗
durch ſich tiefer und tiefer in den Kern der Perſonen eingraben
ließen! Was die „Wohlfahrt“ verlieren mag, das gewinnen
jetzt die echten moraliſchen Kräfte und Werte, die nun erſt
in ihrem eigenen Glanze klar zu leuchten beginnen. Nur wer
draußen im Feindesland nicht ſtiehlt, nicht plündert, nicht die
fremde Frau verführt, wer jetzt dem Fremden ſeine Ware
bezahlt, wer jetzt zu Hauſe nicht den Preis drückt oder Gold
135
theſauriert und dem Freunde die Treue hält, nur der iſt im
moraliſchen Sinne wertvoll! Es ift dasſelbe Motivd, das
Jeſus gegen den Phariſäismus und gegen die Halbheit, Ver⸗
ſchwommenheit und das Verſteckſpiel der menſchlichen Mo⸗
five, gegen das lächerliche, ſchon im Altertum bei den Stoikern
beliebte Verſteckſpiel eben mit ſeiner tieriſchen Matur, kämpfen
läßt, das ihn auch ſagen läßt, er ſei „nicht gekommen den
Frieden zu bringen, ſondern das Schwert!“
Das Bild des ganzen, großen, umfänglichen Menſchen,
von dem der Friede nur eine kleine, graumelierte mittlere Zone
ſehen ließ — das Bild des Menſchen, wie er vor Gott ſteht,
die Füße tief im Moraſte ſeiner Tierheit, beladen mit den
Geſchwüren der Erbſünde und ſeiner eigenen Schuld, und das
Haupt im Lichte der Sonne und im Glanze der Sterne, dort
und da den Himmel berührend, dies Bild ſteht jetzt plaſtiſch
vor uns. Der Krieg erſt ermißt den Umfang, die Spann⸗
weite der menſchlichen Natur; der Menſch wird ſich feiner
ganzen Größe, ſeiner ganzen Kleinheit bewußt.
Das iſt einer der Grundfehler der naturaliſtiſchen Kriegs⸗
auffaſſung, daß ſie das geheime, unſichtbare Zuſammenweben
der geiſtigen, moraliſchen, vitalen und organiſatoriſchen Fak⸗
toren nicht zu finden vermag, die den endgültigen Sieg be⸗
ſtimmen. Daß ſie nur auf Säbel und Kanonen blickt! Sie
neigt dazu, den Krieg nur als eine Entſcheidung für die phy⸗
ſiſche Gewalt der Völker, eventuell ihre Leiſtungen für die
Heeresorganiſation, höchſtens noch für das Maß von Klug⸗
heit und Ordnung in der Organiſation der Armee und der
Volkswirtſchaft zuzugeſtehen: Eigenſchaften, die doch mit be⸗
liebigem Tiefſtand der höheren Moral und der Geiſteskultur
136
eines Volkes verbunden fein könnten. Das ift auch heute ein
weitverbreifetes Bild im neutralen Ausland, daß in unſerem
Kriege ein ganz einſeitig militariſtiſch und ökonomiſch hoch⸗
organiſierter Staat mit Völkern in den Kampf getreten ſei,
die ihn zum Teil an Geiſteskultur, Lebensform und Aus⸗
geglichenheit der Bildung hoch überragen. Das iſt ja auch
mit der Sinn des Vorwurfes von den „Barbaren“. Nietzſche
fand noch 1871 — nicht in jedem Betrachte mit Unrecht —
daß mitten im Siege Deutſchlands mit den Waffen die
franzöſiſche Kultur die unſrige in analoger Weiſe überwunden
habe, wie die helleniſche jene des Reiches Alexanders, ja ſelbſt
ſpäter Roms; wie die antike Kultur überhaupt bis zu einem
gewiſſen Grade diejenige der ihre Staatsformen zerſchlagen⸗
den germaniſchen Völker!
In der Tat gibt der Ausgang des Krieges weder über
den Wert der vorhandenen Kulturwerke und Kulturformen
noch über den Wert der in den Völkern ſchlummernden ſchöpfe⸗
riſchen Kulturkräfte irgendeine Entſcheidung. Bilder, philo⸗
ſophiſche Syſteme und mathematiſche Abhandlungen wer⸗
den nicht ſchlechter und nicht beſſer, nicht wahrer und nicht
falfcher, ob das Volk, aus dem fie hervorgingen, fiege oder
unterliege. Für die vorhandenen und ererbten Werke und
Formen kommt dem Kriege nur eine Bedeutung zu, die in⸗
des auch nicht gering anzuſchlagen iſt: Er wirkt ähnlich wie
in der Moral als der große Scheidekünſtler des Echten und
Unechten. Was nur durch die Gunſt des Staates und ſeiner
herrſchenden Schicht, durch Konvention, Mode oder vor einem
zu beſchränkten nationalen Zeitgeſchmack im beſiegten Volke
als „gut“ galt, — das geht nun verloren und nur das Echte
137
überdauert den politifchen Niedergang des Volkes! Und ana⸗
log wird im ſiegenden Volke alle Art von Kunſt, Lebensform,
die ohne echte Ergriffenheit von ihrem innewendigen Wert
nur modiſch nachgeahmt werden, als Anreiz des eigenen
Schaffens preisgegeben. So z. B. wird man nach dem Kriege
ſehen, wie weit die jungdeutſche an den franzöſiſchen Im⸗
preſſionismus anknüpfende Malerei auf ſolch echter Wert⸗
ergriffenheit beruhte und wie weit die unerhörte Angliſierung
unſeres Geiſtes und unſerer Sitten auf Gemeinſchaft des
„Stammesgefühls“ und des deutſch⸗engliſchen Kulturgeiſtes
oder auf blöder Nachäfferei beruht. Daß Tolſtoi und Doſto⸗
jewski ihre Bedeutung behalten werden, des bin ich z. B.
gewiß, wenn man auch das ſlaviſche Chaos des Gefühls und
das dem europäiſchen Weſen überhaupt Fremde in ihren
Werken deutlicher gewahren wird. Daß aber der Krieg nur
in dieſer bezeichneten Beſchränkung eines Scheidekünſtlers
in der Geſchichte auf die Kultur wirkt und ſoweit er eben
dieſe Beſchränkung einhält, dies macht gerade ſeinen edlen und
erhabenen Charakter aus; gerade dies zeigt, daß er nicht, wie
die Pazifiziſten meinen, ein Reſt des, Barbarentums“ iſt. Der
Krieg ſchafft gerade damit die denkbar vollkommenſte Kultur⸗
kritik und Kulturverteilung in Raum und Zeit im großen.
Das Allerniedrigſte iſt es daher, wenn ein Volk oder Gruppen
des Volkes ſich hinter Kulturwerke verſtecken, gleichſam Bilder
als Deckung vor dem feindlichen Schuß benützen, architek⸗
toniſch wertvolle Städte befeſtigen uſw., und damit in freoler
Weiſe das hohe Werk ihrer Ahnen zum Deckmantel ihrer
fehlenden Kräfte oder ihres fehlenden Mutes zu dem Zwecke
machen, ſpäter Anklagen gegen die „Barbaren“ erheben zu
138
können, die dieſes niedrige Sklavenreſſentiment durchſchaut
hatten und auch dann — mit vollem Rechte — die Kunſt⸗
werke nicht ſchonten. Denn wer dem Bilde die Funktion
eines Walles gab, nicht wer darauf ſchoß — hat es zerſtört!
Er tat nicht beſſer wie jene feigſten Völker, die Weiber und
Kinder in den Kampf voranſchicken, um dann den darauf
ſchießenden Feind der „Grauſamkeit“ anklagen zu können.
Dieſes niedrigſte Reſſentiment — wir haben es an Belgien
in Löwen und in Frankreich in Reims erlebt. Was nun
aber die kulturbildenden Kräfte betrifft, ſo entſcheidet der
Krieg — abgeſehen von der nicht hierhergehörigen Kraft der
durchſchnittlichen Intelligenz, Bildungshöhe und Bildungs⸗
verbreitung in einem Volke (Wert des Schulweſens) —
ſicher nicht unmittelbar über den Wert dieſer ſchöpferiſchen
Kräfte. Wir wiſſen nicht, welche Kräfte durch Verluſt poli⸗
tiſcher Selbſtändigkeit der Völker, dem ſie angehörten, durch
Tötung ihrer Träger im Kriege uſw., zur hiſtoriſchen Unwirk⸗
ſamkeit verurteilt wurden. Noch weniger vermag er da ſolche
Kräfte zu ſchaffen, wo keine ſind. Wohl aber beſtimmt
ſein Ausgang in erſter Linie und vor allen ökonomiſchen Fak⸗
foren der Beſtitzverteilung, die dies erſt in zweiter Linie tun,
welche der überhaupt vorhandenen Kräfte zu fernerer bilden⸗
der Wirkſamkeit gelangen werden. So ſeligiert der Krieg
mögliche Kultur zu wirklicher. Richtung dieſer Kräfte und
eventualer Wertinhalt ihrer Hervorbringungen, Stil und
Geſamtſtruktur des nationalen Kulturwerkes ſind und bleiben
alſo von der durch die Kriege ſich vollziehenden Machtvertei⸗
lung auf die Staaten prinzipiell völlig unabhängig. So un⸗
ſinnig die ökonomiſche Geſchichtsauffaſſung iſt, die uns auch
139
nur den Bauſtil der Kathedrale von Reims — geſchweige fie
ſelbſt — als eine abhängige Funktion von den ökonomiſchen
Verhältniſſen ihrer Erbauungszeit aufſchwatzen will, ſo un⸗
ſinnig wäre es auch zu meinen, daß die Machtverteilung und
die ſie beſtimmenden Faktoren (wie der Krieg) jemals den
eigentümlichen künſtleriſchen und religiböſen Wertgehalt dieſes
Bauwerkes verſtändlich machen können. Jedes Kulturgebiet
folgt in ſeiner Entfaltung autonomen ſpontanen Kräften
des Geiſtes nach den ihm allein immanenten Regeln der
Wertbildung und der beſonderen Geiſtes⸗, Schau⸗ und Liebes⸗
ſtrukturen der Völker. Aber das ſchließt nicht aus, daß
Macht wie ökonomiſche Beſitzverteilung die jeweiligen Durch⸗
bruchsſtellen dieſes ſpontanen, eigengerichteten ſchaffenden
Geiſtes in jene Wirklichkeitsſphäre der Geſchichte, die der
Hiſtoriker ſchon als „gegeben“ vorfindet, öffnen und ſchließen
kann. Und ebendies heißt: Sie ſeligieren möglichen (das heißt
nach dieſen Kräften möglichen) Kulturinhalt zu wirklichem.
Aber auch dieſes „Offnen“ und „Schließen“, von dem alle
wirkliche Kulturgeſtaltung ebenſowohl abhängig iſt, wie jenen
ſpontanen Geiſteskräften ihr purer idealer Gehalt entſpricht,
geſchieht nach einer beſtimmten Regel der Wirkſamkeit der
das „Offnen“ und „Schließen“ regierenden Faktoren. Und
dieſe Regel iſt, daß die Machtverteilung dieſe Selektion
„möglicher“ zu „wirklicher“ Kultur vor und unabhängig von
den ökonomiſchen Faktoren erfolgt; daß die Befigverhältniffe
alſo erſt zu ſelektiver Wirkſamkeit kommen da, wo jene erſte
Selektion ſchon erfolgt iſt.
Gerade darum iſt aber die äußerſte Anſpannung zu mili⸗
täriſcher, innerer und äußerer Kriegsbereitſchaft die erſte und
„
140
fundamentalſte Pflicht eines Staates, die er gerade gegen die
in ſeiner Bevölkerung ſchlummernden kulturbildenden Kräfte
beſitzt; und ſie iſt zehntauſendmal fundamentaler als die Pflicht,
durch ſogenannte „Kulturausgaben“, durch die er ſein Mili⸗
tärbudget über deſſen Bedarf kürzte, auf unmittelbare Weiſe
die Kultur durch ſeine Staatstätigkeit zu fördern! Es wäre
eben damit die tiefſte moraliſche Schuld gegen das, in ſeinen
Grenzen geſtaltende geiſtige Leben, der ihn der Kriegsausgang
als Gottes urteil ſchuldig ſprechen müßte, wenn er dieſer funda⸗
mentalſten Pflicht vergäße oder fie nur ungenügend erfüllte.
Der Standpunkt, wie ihn kürzlich vor dem Kriege der preu⸗
ßiſche Kriegsminiſter Herr von Falkenhayn zum Problem
Militarismus und Kultur im Reichstag einnahm, iſt
paradoxerweiſe genau derjenige, den jeder echte Liebhaber
geiſtiger und ſchöner Dinge einzunehmen hat. Gott behüte
uns vor dem ſogenannten „Kulturſtaat“ und aller unmittel⸗
baren „Staatskultur“, Gott behüte uns vor aller Er⸗
wartung, daß Ausgaben für die Univerfitäten, Laboratorien,
Inſtitute, Hoftheater, Akademien, Staatsaufträge für die
Künſtler uſw. uſw., die unſer Militärbudget über das be⸗
rechtigte Maß kürzten, das je hervorzubringen vermöchten,
was allein ein freies Geſchenk der ſpontanen Kräfte des
Genius, der ihn frei Verſtehenden, freier Kritik und hoch⸗
herziger, verſtändnisvoller Perſonen und Mäzene ſein kann
ewig ſein darf! Mit Ausnahme der kleinen Strecke von
Kant bis Herbart in Preußen, hat ſich die geſamte europäiſche
Philoſophie ſeit Descartes in allen Ländern völlig jenſeits
der ſtaatlichen Univerſttäten vorher und nachher entwickelt.
Konrad Fiedlers Schriften haben hinſichtlich der Bedeutung
141
von Akademien und ſtaatlichem Ausſtellungsweſen für die
bildende Kunſt genau dasſelbe Ergebnis.” Der Genius hat
allzeit den ruhmgekränzten Soldaten, der ſeine Freiheit ver⸗
teidigt, tiefer geliebt, als den Herrn Beamten, der ſich anmaßt,
über ihn und ſein Werk „zu befinden“. Schwert und Geiſt
können ein ſchönes, würdiges Paar bilden. Sie erklingen
miteinander in tiefer Harmonie. Geiſt und grüner Tiſch
ſchließen ſich aus und ergeben einen abſoluten Desakkord. Wer
daher unter „Kulturbefähigung“ die Kraft verſteht, weiſe,
ſchöne und bedeutende Dinge hervorzubringen, in der Philo⸗
ſophie reiner Wahrheit zu dienen, „für ſie“, wie ſchon
Schopenhauer ſagt, nicht „von ihr“ zu leben, wer nicht die
zu bloßer Ziviliſation gehörigen Fragen allgemeiner Schul⸗
bildung, exaktwiſſenſchaftliche Inſtitute zu feinſter Größen⸗
meſſung, Bibliotheken, Akademien zur Organiſation wiſſen⸗
ſchaftlicher Arbeit uſw. in dieſen Begriff einſchließt, — für
welche kulturtechniſchen Inſtitute der Staat ſelbſtverſtänd⸗
lich zu ſorgen hat — der möge das Wort „Kulturſtaat“
ſchnellſtens aus ſeinem Wörterbuch ſtreichen; er möge flugs
zur altgermaniſchen Auffaſſung zurückkehren, in der Macht
und Recht allzeit den Inhalt der Zentralaufgaben des
Staates gebildet haben. Wir Deutſche bedanken uns
für ein „Miniſterium der ſchönen Künſte“ — wie es in
Frankreich exiſtiert, und mit welchem Wert für die Kunſt, das
wiſſen die Kenner. Und Deutſche, die das Weſen von
Philo ſophie und Wiſſenſchaft verſtehen, lieben in allen Dingen
der Kultur das „Syſtem Althoff“, dieſes unſchematiſche,
auf der Beurteilung von Perſonen durch eine Perſon beruhende
Syſtem kluger Gunſt und Ungunſt, verbunden mit weiteſter
.
142
Heranziehung freien Mäzenatentums. Dies, was man „Kor⸗
ruption“ zu nennen beliebte (dieſer Bourgeoiſtephiloſophie
erſcheint ja ſchon die Exiſtenz von „Perſonen“ als eine Korrup⸗
tion eines „tranſzendentalen Vernunftſchematas“), dient im
höchſten Maße echter Kultur. Vor einer Auswahl der kultur⸗
bildenden Kräfte nach der „ſtrengen Gerechtigkeit“ der ſonſt
üblichen Schematismen, die das Aufrücken von „Beamten“
regeln ſei es auch nur der regelmäßige Vorſchlag der Fach⸗
koterien und Fakultäten — davor bewahre uns der Himmel
noch genau ſo lange als er uns bewahre, daß wir je in jenen
vollkommen „ziviliſterten!“ Zuſtand eingingen, in dem der
Reichstag oder ſonſt ein Ausſchuß durch Beſchlüſſe über Kul⸗
turwerte „befindet“ und jene „Auswahl“ beſorgt.
Die inneren Kulturbeſtrebungen eines Volkes werden durch
den Krieg, aber nicht nur in ihrer unmittelbaren Bedeutung
für den Sieg, ſondern auch nach ihrem eigenen Werte
wenigſtens in einer Richtung einer ſcharfen Kritik unter⸗
zogen. Und wieder iſt dieſe Wirkung nicht etwa Ablenkung
aus ihrer bisherigen Richtung oder Erhöhung ihres Wertes
wohl aber Reduktion ihrer vielfachen komplizierten Er⸗
ſcheinung auf ihren weſenhaften Gehalt. In den großen
Stunden der Tat vermag unſere Seele nur in jenen einfachen
großen Geſtalten und Gedanken zu leben, die irgendwie den
Sinn des Lebens komprimieren und zuſammenfaſſen. Was
in Kunſt und Philoſophie nur ſubtiler Technik, — was dem
Virtuoſentum und der bloßen Gelehrigkeit, nach einer ge⸗
gebenen Methode ein wenig fortzuſchreiten, fein Daſein ver:
dankt, — was nur durch die zweifelhafte Gunſt einer maß⸗
loſen Arbeitsteilung lebte, die den Vertreter eines jeden Faches
143
und Fächleins zwingt, die Leiſtung jedes anderen Faches und
Fächleins a priori zu beſtaunen, wenn ſie nur in der kleinen
Koterie jener Fachvertreter gelobt wird, was dem Sich⸗
emporloben der Vertreter kleiner Zirkel in Literatur und Kunſt
ſein Anſehen verdankt, was durch bloße Geſuchtheit und
Geiſtreichtum glänzte und Logik und Wahrheit verachtete, —
das alles hat nach dem Kriege ſeine Zukunft verloren. Es
war ein Mann, der in Feldlagern ſchrieb, der die vielfachen
ſubtilen Regeln der ſcholaſtiſchen Logik auf die wenigen ein⸗
fachen Sätze der „Regulae“ feines Discours zurückführte —
René Descartes. Es iſt daher wohl verſtändlich, daß der
philoſophiſche, ſynthetiſche, integrierende Geiſt nach Kriegen
ein gewiſſes Übergewicht über den Geiſt der Spezifizierung,
Analyſe und Differenzierung, die Philoſophie aber über die
Spezialwiſſenſchaften erhält — das heißt derſelbe Geiſt, aus
dem die Wiſſenſchaften geboren waren und, wo ſie neue Me⸗
thoden in ſich aufnehmen, immer aufs neue geboren werden.
Und es iſt analog zu erwarten, daß gleichzeitig auf dem Boden
der Philoſophie ſelbſt die Luſt an bloßer formaliſtiſcher Haar⸗
ſpalterei zurücktritt und nur das, was auf ſelbſtändige ori⸗
ginale Anſchauung der Welt ſich zurückzuführen vermag,
das neue Intereſſe gewinnt. Die große griechiſche Philoſophie
des Platon und Ariſtoteles iſt ohne die Perſerkriege nicht
denkbar; die Philoſophie Hegels mit ihren Stärken und
Schwächen nicht ohne die Napoleonſchen Beſtrebungen zu
einem franzöſiſchen Weltimperialismus, — wie Kuno Fiſcher
ſehr treffend dartat. (Siehe Hegels Leben und Werke.)
Iſt der Krieg nur mit dieſer Einſchränkung ein Gottes⸗
gericht über die Kultur der Völker, ſo werden aber gewiſſe
144
formale Grundeigenſchaften der Kulturgeſinnungen und Be⸗
tätigungen, die als Grundbeſtimmungen des nationalen
Geiſtes auch andere Betätigungsrichtungen mit umfaſſen —
zum Beiſpiel auch Wirtſchaft, Technik und Kriegführung
der Armee, als unmittelbare ſieg⸗ und niederlagebeſtim⸗
mende Faktoren bedeutſam. Die deutſche unvergleichliche
Standhaftigkeit in der Kriegführung und die Unermüdlich⸗
keit in der Verfolgung des Feindes bis zu feiner vollen Auf:
reibung — wie fie ſchon die Vernichtungstheorie von Clauſe⸗
witz lehrt — iſt dieſelbe Kraft, die ſich in den ungeheuren
Werken Mommſens und L. von Rankes, in dieſer unver:
gleichlichen Zähigkeit in der Verfolgung ergriffener Zwecke
und der Gründlichkeit ihrer Ausführung Form gegeben hat;
eine gewiſſe geiſtige Schwerbeweglichkeit und eine zu große Liebe
zum Methodiſchen im Gegenſatze zu jener Eigenſchaft, die
ſich in den Franzoſen in den Wiſſenſchaften als „Ingenio⸗
ſität“, im Kriege als kühner Angriffsgeiſt und Vorliebe für
die offene Feldſchlacht, aber ohne nachhaltige Kraft, einen ge⸗
wonnenen Vorteil gründlich auszunützen, äußert, charakteri⸗
ſiert Wiſſenſchaft wie Kriegführung der Deutſchen. Die
franzöſiſche Vorliebe zur Deduktion aus wenigen Prinzipien
und zur „Klarheit“, auch auf Koſten der Fülle der Realität
in den Wiſſenſchaften, beſitzt eine tiefe Analogie mit der
Tendenz der franzöſiſchen Kriegsführung, die Ereigniſſe auf
den Erfolg einer Hauptſchlacht zuzuſpitzen. Eine Maxwell⸗
ſche Abhandlung dagegen, die höchſt undurchſichtig ihre Er⸗
gebniſſe von allen möglichen getrennten Reihen von Einzel⸗
daten her gewinnt; die nicht Wahrheit, ſondern eine zweck⸗
57
10 145)
Anregungen zu erteilen“, — wie Maxwell hinſichtlich der
„Bilder“ in ſeinen Arbeiten zur Elektrizitätslehre ſagt, —
hat die tiefſte Analogie mit der alten engliſchen Kriegsführung,
die Erfolge durch Summierung vieler kleiner Erfolge an den
verſchiedenſten Punkten der Operationsbaſis zu erreichen und
dem ganzen Krieg nur einen utiliſtiſchen Zweck unterzulegen.
(Vgl. den Anhang über den engliſchen cant.) Über den Wert
eben dieſer formalen umfaſſenden geiſtigen Grundeigenſchaften,
die zuſammen mit den analogen moraliſchen den „Geiſt“ der
Völker ausmachen, ſpricht der Kriegserfolg aber gerade an
erſter Stelle ſein Urteil. Und das iſt viel wichtiger noch als
jenes Urteil, das er über Wiſſenſchaft und Technik eines
Volkes inſofern fällt, als dieſe, wie Mechanik, Ingenieur⸗
kunſt, die Kriegswiſſenſchaften ſelbſt, Befeſtigungslehre, Stra⸗
tegie, Taktik, Waffentechnik, mediziniſche Wiſſenſchaft und
Technik, unmittelbar die Ereigniſſe und den Geſamteffekt be⸗
einfluſſen. a |
Allen dieſen Faktoren, über die der Krieg zu Gericht fit,
übergeordnet ſind aber die vitalen und moraliſchen Gemüts⸗
und Willenskräfte der Nationen, — beide in letzter Linie
bedingt durch ihre religiöſe Glaubenstiefe. Wie die techno⸗
logiſche Geſchichtsauffaſſung, die den Kapitalismus aus der
Maſchine, die Denkformen einer Zeit aus ihren Arbeits⸗
formen, die religiöſen Gegenſtands⸗Ideen mit Uſener aus
dem Kult, die Kunſtſtile aus wechſelndem Material und
Technik (Semper), den Stil des Dramas aus der Theater⸗
und Regiekunſt uſw. ableitet, auf jedem Gebiete gleich ver⸗
kehrt und irrig iſt, fo iſt fie es auch da, wo fie die innere
Heeresorganiſation und ihren Wandel ſowie den Erfolg der
146
Kriege aus dem Stande der Waffentechnik reſpektiv deren
Höhe und Artung ableiten will. Das Rittertum iſt nicht durch
die Schießwaffe zugrundegegangen, wie Delbrück in ſeiner
Geſchichte der Kriegskunſt eingehend nachgewieſen hat.! Unſer
ſogenannter „großer Brummer“ iſt eine vorzügliche Sache,
aber Sieg und Niederlage entſcheidet nicht er — viel eher die
Geſamterfolge derjenigen Geſinnung, die uns ſo lange über
dieſen Beſitz ſchweigen ließ und ihn den Kapitalintereſſen der
Waffeninduſtrie zuwider, für unſer eigenes Heer aufſparte.
Allen dieſen Dingen aber, Kriegstechnik und Heeresorgani⸗
ſation geht als ſie formend voran der geſamte Vitalcharakter
und Vitalwert des Volkes oder der Nation.
Vor allen Schulmeiſtern — denen der deutſche Gelehrte
nicht nur bei „Auſterlitz“ eine allzuhohe Bedeutung anzu⸗
weiſen liebt — beſtimmen die Mütter den Ausgang der
Schlachten. N
Die römiſche Matrone — ein Typus, der im zweifachen
Gegenſatz zur griechiſchen Köchin und Gebärmaſchine wie
zur Hetäre ſteht — iſt eines der Fundamente des Imperiums
geweſen. Das Übergewicht des Fortpflanzungswillens über
den individualiſtiſchen Willen zur Luſt, das ſchon Tacitus der
deutſchen Jungfrau nachſagt, iſt eines der Fundamente aller
germaniſchen Eroberungen. Sie ſuchte „in der Wahl des
Mannes den künftigen Vater“, nicht umgekehrt im Kinde
eine bloße Erinnerung an den Geliebten wie ſo ausgeprägt
die modern⸗franzöſiſche Frau. Das Grundverhältnis zwiſchen
Mütterlichkeit und Hetärismus innerhalb des Frauentums
eines Volksganzen — und hier zuerſt der herrſchenden Schich⸗
ten — kommt ebenſo unmittelbar in Qualität und Quan⸗
*
10 147
tität des Bevölkerungswachstums mit deren fundamentaler
Bedeutung für das Heeresmaterial, wie in den moraliſchen
Eigenſchaften der Art und Tiefe der Kinderliebe ſowie der
Opferfähigkeit der Frauen zum Ausdruck, mit der fie ihre
Gatten, Geliebten, Kinder uſw. „gerne“ oder „ungerne“ in
den Krieg ziehen laſſen und ſich bei Heilung der Schäden und
Wunden, die er brachte, intenſto oder weniger intenſto be:
teiligen. Es beſteht ein tiefer innerer Zuſammenhang zwiſchen
dem franzöſiſchen Zwei- und Dreikinderſyſtem und dem Ruf
der franzöſiſchen Frauen à bas la guerre! Die franzöſtſche
Frau empfindet ſelbſt dunkel — mit dem feinen Vorgefühl
des Weibes — daß der Spruch des Krieges gegen ſte und
ihre Kinder und Gatten ausfallen muß. — Der ſittlich ſehr
hochſtehende Frauentypus der Franzöſin — wie gegen ſolche
geſagt ſei, die ſich ihren Begriff an der Pariſer Ehebruchs⸗
komödie oder auf den Boulevards zurechtgemacht haben —
iſt trotz ſeiner geradezu ſelten innigen und zärtlichen Kinder⸗
liebe weit weniger „mütterlich“ als die deutſche Frau. Es iſt
zuviel Geiz und Individualismus auch in dieſer Kinderliebe,
der Geiz und Individualismus der Schwäche und des mangeln⸗
den Fortpflanzungswillens; derfelbe Geiſt, der in Frankreich
auf ökonomiſchem Gebiete das Heer der „kleinen Sparer“,
das Kleinrentnertum, ſowie den maßloſen Andrang an die
Staatskrippe hervorbringt. Das Kind wird um des Ge⸗
liebten im Manne willen, nicht der Mann als Vater
des Kindes geliebt; und dieſe zärtliche und verzärtelnde Kinder⸗
liebe, die ganz nur auf die Individualität des Kindes ge⸗
richtet iſt, läßt der Franzöſin, wenn zwei bis drei Kinder da
ſind, ein weiteres Kind ſchon als Beraubung der vorhandenen
148
an Liebe und Erbeigentum erſcheinen. Wie könnte ſo dieſer
Typus denſelben Willen zum Opfer auch des Mannes, des
Geliebten, des Kindes hervorbringen, der die Frau kriegeriſcher
Völker auszeichnet? Die Mütter der für das Vaterland ge⸗
fallenen Spartaner feierten ein Freudenfeſt, daß es ihnen ver:
gönnt war, die Helden zu gebären, die fürs Vaterland ſterben
durften. Dies erſcheint auch uns als „barbariſch“ und im
entgegengeſetzten Sinne als unweiblich. Und doch iſt der
deritſche Typus dieſem ſpartaniſchen noch näher als dem fran⸗
zöſiſchen. Die höhere Opferkraft der deutſchen Frau iſt die
Opferkraft des größeren verſchwenderiſcheren Lebens — nicht
Kälte, Temperamentsloſigkeit oder Leidenſchaftsmangel, wie
man es ſich in Frankreich auslegt. Alſo muß auch der Krieg
über die Frau fein furchtbares Gericht halten! Und er hält
damit gleichzeitig Gericht über das Erziehungsſyſtem in der
Familie und ſekundär auch über die Schule und ihren Geiſt.
Über allen dieſen vitalen Faktoren aber zuſammen ſteht
als der letzte Faktor der Entſcheidung die Größe und Tiefe
der ſittlichen Opferkraft des Volkes oder der Nation, die ſich
für ihre Freiheit und Selbſtändigkeit einſetzt. Was alle
anderen Faktoren inſpiriert, was die Vehemenz des Angriffes,
die Standhaftigkeit in der Verteidigung beſtimmt, was auch
den ſchwächeren Willen ſtark und gerade macht, was den Geiſt
beflügelt und ökonomiſch durchhalten läßt, — das iſt ſchließlich
die Geſamtfülle der Liebe, die unter den Gliedern der Nation
gegeneinander, die zu ihrem Eigentümlichen des Landes, der
Sitte, der Geiſteskultur gegenwärtig und kräftig iſt. Von dieſer
Liebe iſt auch die Opferkraft die abhängige Funktion. Sieg
gibt der Gott der Liebe den Liebenden. Die Größe des
149
Willens zum Siege und die Tiefe des echten Glaubens und Wer:
trauens auf die eigene Kraft, die im Kriege ſo weſentliche Mit⸗
urſachen des Geglaubten werden, ſind wieder ganz abhängig von
dieſem erlebten Opfernkönnen in jeglicher Hinſicht. Dieſe Opfer⸗
macht iſt überlegen aller Vehemenz jenes vitalen Mutes, der die
Gefahr verachtet, weil er ſie nicht ſieht oder ihr Sehen ſtumpf
und automatiſch unterdrückt; überlegen auch jenem Mute, der
den mongoliſchen japaniſchen Barbaren treibt, da er noch kein
Gefühl für die Individualität und ihren ewigen Wert hat, da
ſein „Ich“ noch im „Wir“, ſeine Perſon noch im Stammes⸗
gefühl ertrinkt. Sie erſt erhöht den zuſtändlichen „Mut“ zu
geiſtesbeſeelter bewegter Kühnheit und zu ſittlicher, das heißt die
Gefahr klar ſehender und die Furcht bewußt unterdrückender,
die Dauer eines ganzen Feldzugs aushaltender Tapferkeit des
Willens. Erſt durch fie hindurch werden auch Ehrgeiz und
Ruhmbegier der Führer oder hiſtoriſcher Regimenter, die
partikular wirkend ſo häufig um den Sieg betrogen haben und
auch Söldner beſeelen können, zu fruchtbaren Motiven.“
Hier erſt wird die Idee des Krieges als Gottesgericht völlig
klar. Iſt Gott ein Gott der Liebe, ſo wird er auch dem
Volke den Sieg geben, in dem die Liebe die reichſte, die tiefſte,
die hochgeartetſte iſt!
Und eben hier wird wieder der Genius des Krieges wie von
ſelbſt zur Religion — zum Führer zu Gott. Er wird es auch
für den vorher Ungläubigen; denn die Opferkraft, die ſo aus
der Liebe geſpeiſt in der Seele emporwuchs, ſie iſt zu groß, ſie
iſt zu maßlos, als daß ſie der Verſtand aus der Summe
natürlicher begrenzter Motive voll begreifen könnte, die er
vor ſich ſteht und auf ihre Kraft hin zuſammenzählt. Das
150
erlebte Emporquellen diefer Opferkraft aus der Seele Wurzeln
lenkt das verwunderte Auge von ſelbſt auf einen tieferen und
univerſelleren Urſprung zurück als ihn das Bewußtſein der
eigenen natürlichen Kräfte und der dieſe Kräfte anziehenden
Gegenſtände und Inhalte bietet. Das Maßloſe fordert eine
maßloſe Quelle! Und indem das geiſtige Auge dem Urſprung
dieſer Quelle, in ihre Tiefe nachgeht und ihn weiter und weiter
mit dem Blicke verfolgt, gewahrt es wie von ſelbſt das
Meer von Gnade und Liebe, das die Seele ſpeiſt und in
dieſem Meere die Gottheit! Im Frieden gewahren ſie
nur wenige; und die Mehrzahl „glaubt“ nur an fie. Jetzt
aber gewahren fie viele, und viele zum erſten Male, um ihrer
nie wieder vergeſſen zu können. — Damit aber wird das
Gottesgericht des Krieges Erlebnis. |
Wenn ich hier die Wurzeln aufwies, die der echte Krieg in
das metaphyſiſche Erdreich unſeres Daſeins hineinerſtreckt,
ſo ſoll dies durchaus keinen rein hiſtoriſch⸗empiriſchen Sinn
haben, als ſei es eine Ausſage von allen Erſcheinungen der
Geſchichte, die man „Kriege“ nennt. Wir ſprachen allein von
jenem Weſen des Krieges, jener der Anſchauung zugänglichen
Idee des Krieges, die auch die Vorausſetzung des möglichen Ver⸗
ſtändniſſes aller hiſtoriſchen Kriege iſt — nicht aber eine Folge
dieſes Verſtändniſſes. Von derfelben Idee des „abſoluten Krie⸗
ges“ war die Rede, die auch Clauſewitz ſeinen Erörterungen
zugrunde legt. Dabei bleibt die Tatſache voll beſtehen, daß
der Zufall in allen wirklichen Kriegen eine ungeheure Stelle
beſitzt und noch mehr die andere: daß es neben dem „gerechten
Krieg“ auch ungerechte, ja verbrecheriſche Kriege in der Ge:
ſchichte gibt, die als Gottesgericht aufzufaſſen Sünde wäre.
151
Was den „Zufall“ als Sieg oder Niederlage beftimmen-
den Faktor betrifft, ſo iſt aber dies offenſichtlich, daß ſeine Be⸗
deutung in der Geſchichte der Entwicklung des Krieges bis
zum modernen Volks⸗ und Maſſenkrieg immer geringer und
geringer wird. Die größte Rolle ſpielt der Zufall offenbar
im Zweikampf, deſſen Ausgang als „Gottesgericht“ anzuſehen
eben deswegen frivol wäre. Er ſpielt auch eine um ſo größere
Rolle, je kleiner die Heere, je ungleichförmiger Zinilifation
und Kriegstechnik zwiſchen den Völkern verbreitet ſind, je mehr
ein einziges, reſpektive ganz wenige, nicht eine große Gruppe
verſchieden gearteter Zuſammenſtöße das Ende des Krieges ent:
ſcheiden; je eingeſchränkter der Kriegszweck, je beziehungsloſer
die Lebensfaktoren (Wirtſchaft, Kultur, Ziviliſation, Organi⸗
ſation uſw.) im Leben der Völker noch zu einander find, die
ſeinen Ausgang beſtimmen. Je mehr ſich dieſe Momente
in die Richtung der modernen Nationalkriege — wie ſie ſich
ſeit Mapoleons Auftreten geſtalteten — abändern, deſto ge⸗
ringer wird relativ die Rolle des Zufalls; deſto mehr heben
einander zugleich die noch vorhandenen „Zufälle“ bei Freund
und Feind einander auf. Das heißt aber auch: Ein deſto
gerechteres Maß wird der faktiſche Krieg für Wert und
Höhe des Ganzen der nationalen Geiſtes⸗, Gemüts⸗ und
Vitalkräfte. So „wird“ der Krieg ſelbſt im Laufe der Ge⸗
ſchichte, kraft ſeiner eigenen Entwicklung auch de facto immer
mehr die immer gerechtere Realiſierungsform einer höheren
Rechtsordnung; einer höheren, als diejenige iſt, die menſchliche
Rechtsinſtitute je verwirklichen können, — d. h. er wird em⸗
piriſch immer mehr das, was er ſeiner Idee nach iſt und
ſein ſoll.
5 2 5 5 =
Der gerechte und ungerechte Krieg
unterſchieden werden und das Recht dieſer Unterſchei⸗
dung ſowohl gegen ſolche gewahrt werden, die wie
Hegel oder in der Richtung des Schillerſchen Worres „die
Weltgeſchichte iſt das Weltgericht“ zu pantheiſtiſchen AUn-
betern des bloßen Erfolgs und zu Glorifikatoren des pofitiven
Geſchichtsverlaufs werden, als gegen ſolche, die den Krieg
überhaupt als eine „Form menſchlicher Ungerechtigkeit“ an⸗
ſehen und darum den Begriff des „gerechten Krieges“ nicht
kennen. Für jene ſind ſchließlich alle Kriege, für dieſe keiner
„gerecht“. Will man ſagen, ob ein Krieg „gerecht“ ſei,
ſo darf man indes nicht etwa die ſogenannten „Rechte der
Parteien“ abwägen und je nach Ausgang dieſer Erwägung
es gerecht oder ungerecht nennen, daß dieſe Partei ange:
griffen hat oder ſich verteidigt. Wäre dieſe Feſtſtellung
der Rechte der Parteien überhaupt vor der Kriegsentſchei⸗
dung möglich, ſo hätte ja der Pazifizismus a priori recht und
es bedürfe nicht notwendig des Krieges zur Feſtſtellung dieſer
Rechte. Ob ein Krieg gerecht oder ungerecht iſt, das iſt auch
nicht darnach zu entſcheiden, wer Angreifer und wer Vertei⸗
diger war und auf welche Weiſe es zur Erklärung des Krieges
kam. Die Urſachen der Kriegserklärung ſind niemals die Ur—
E muß aber der gerechte und der ungerechte Krieg ſcharf
153
fachen des Krieges, ſondern höchſtens die Urſachen feiner
Termin: und Zeitbeſtimmung. Wer Angreifer und Vertei⸗
diger war, läßt ſich in zahlloſen Fällen überhaupt nicht ſicher
feſtſtellen; hängt aber, wo es feſtſtellbar iſt, häufig von zu⸗
fälligen Umſtänden ab; gibt aber auch da, wo dies nicht der
Fall iſt, keineswegs das Recht, etwa generell den Angriffs⸗
krieg ungerecht, den Verteidigungskrieg gerecht zu nennen.“
Das Volk hat immer die Neigung, den Verteidigungskrieg
gerechter zu finden. Aber ohne tieferen Grund. Haben das,
im Verhältnis zu einem anderen Staate beſchleunigte An⸗
wachſen der Macht eines Staates oder der Machtniedergang,
reſpektive die innere Korruption des angegriffenen Staates, oder
haben Urſachen, die während des Friedens wirkten und die
dem angegriffenen Staate Vorteile, Gebietserweiterungen uſw.
verſchafften, die ſeiner Macht und ſeinen politiſchen Herr⸗
ſchaftskräften nicht entſprechen, eben darum aber nach höherer
Gerechtigkeit „ungerecht“ ſind — wie immer ſie das formelle
hiſtoriſche Recht für ſich in Anſpruch nehmen mögen — ſo
kann der Angriffskrieg durchaus der Gerechtigkeit entſprechen.“
Die Karthager z. B. verdienten die von ihnen im Laufe des
Fortſchritts ihrer Handelspolitik annektierten Gebiete nicht zu
behalten, da ſie keinerlei Fähigkeiten beſaßen, ſie politiſch zu
organifieren und zu verwalten und da fie keine höhere Geiſtes⸗
kultur hinter ſich hatten. Iſt andererſeits das Machtverhält⸗
nis der angegriffenen Partei zur angreifenden Partei ſchon
vor dem Kriege völlig klar, iſt ſie ſich z. B. heimlich ihrer
Ohnmacht und mangelnden Kriegsbereitſchaft gewiß, ſo kann
auch der Verteidigungskrieg als ſinn⸗ und zweckloſe Hin⸗
opferung von Menſchen ungerecht und verbrecheriſch ſein.
154
Wäre der Angriffskrieg generell ungerecht, fo müßte — da
jeder Krieg einen Angreifer vorausſetzt, — ja ſchließlich auch
jeder Krieg „ungerecht“ ſein.
Ob ein Krieg gerecht oder ungerecht iſt, bemißt ſich viel⸗
mehr allein und ausſchließlich nach zwei Maßſtäben: Nach
der Art und Natur der zum Kriege führenden Gegenſätze
und nach der Echtheit und wahren Provenienz des Willens
zum Kriege in den beteiligten Völkern, Staaten, Nationen,
Kulturkreiſen. Die Gegenſätze müſſen kriegs gewichtig fein
und es muß der Krieg den echten Gemeinwillen (der „vo-
lonte generale“, nicht der „volonte de tous“) der We
Völker und Nationen entſprechen.
Die primäre Bedingung iſt hierbei die Kriegsgewichtigkeit
der Gegenſätze. Kriegsgewichtige Gegenſätze ſind es, wenn es
ſich um die Exiſtenz, die politiſche Selbſtändigkeit und Frei⸗
heit des Staates (abſoluter Krieg)“, in zweiter Linie um um:
ſchriebene Rechte, die ſeiner faktiſchen Macht entſprechen, in
dritter Linie um Bewahrung ſeiner internationalen Ehre
und ſeines „Preſtige“ handelt (Formen des relativen Krieges).
Gegenſätze, die ſich nicht unmittelbar oder mittelbar auf dieſe
Werte beziehen, oder aber, obzwar von Hauſe aus anderer Ma⸗
tur (3. B. ökonomiſche, Raſſen⸗, Religions⸗ und Glaubens⸗
gegenſätze), im Verlauf der hiſtoriſchen Dinge die genannten
Werte in eine, ihrem Weſen entſprechende Mitleidenſchaft
ziehen, können, da ſie eine andere Form von Schlichtung der
Gegenſätze fordern wie erlauben als die kriegeriſche Form, nie⸗
mals zu „gerechten Kriegen“ Anlaß geben. So ſind generell
„ungerecht“ alle bloßen Handelskriege, alle puren Raſſenkriege
und Glaubenskriege, alle reinen Kulturkriege und generell alle
155
ſogenannten „Präventiokriege“.“ Kriege aus rein ökonomi⸗
ſchen Gründen verſuchen die Kampfform des Krieges an
Stelle der den ökonomiſchen Werten allein entſprechenden,
Kampfform der freien Konkurrenz und handels- und zoll⸗
politiſcher Maßregeln zur Erziehung der Induſtrie oder Prohi⸗
bition zu ſetzen. Sie hemmen damit die ökonomiſche Entwick⸗
lung der Menſchheit, der Grundbedingung einer ſtetigen
Befreiung des Geiſtes. Dazu widerſtreiten ſie dem evidenten
Vorzugsgeſetz, daß menſchliche Vitalwerte ſolchen des
Nutzens vorzuziehen ſind. Indes iſt natürlich nicht aus⸗
geſchloſſen, daß ökonomiſche Gegenſätze auch die kriegsge⸗
wichtigen Gegenſatzarten in weſentliche Mitleidenſchaft
ziehen. Das iſt zum Beiſpiel überall da der Fall, wo die
Armut oder die qualitativ zu partikulare Ausſtattung und
enge Begrenztheit der durch Eigenproduktion herzuſtellen⸗
den Güterarten und mengen eines Staatsterritoriums im
Verhältnis zu feiner Bevölkerungsmenge deſſen Ernährung
während eines möglichen Krieges, der durch gewichtige Gegen⸗
ſätze ausgelöſt wäre, grundſätzlich in Frage ſtellt. Da dies
z. B. für Englands Inſeln in weitem Maße zutrifft, ſo ſind
die engliſchen Handelskriege nicht generell ungerecht. Hier
nimmt die Form des Exiſtenzkrieges wie von ſelbſt häufig die
Form eines Handelskrieges an. Generell ungerecht ſind weiter
alle bloßen Glaubenskriege, alle Verſuche, alſo eine Religion
oder einen Glauben durch die Gewalt der Waffen anſtatt durch
friedliche Miſſion und Überzeugung zu verbreiten. Nur in dem
Maße, als die Staatsform ſelbſt theokratiſchen Charakter
trägt, wird der Krieg eines ſolchen Staates gerecht; und nur
ſeine Staatsform ſelber iſt dann von einer höheren Moral und
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Religion aus verwerflich. Der fogenannte „heilige Krieg“ der
mohammedaniſchen Welt iſt hiernach zu beurteilen. Nicht min⸗
der iſt der Raſſenkrieg ungerecht; er iſt es ſchon darum, da er nur
als Vernichtungskrieg einen möglichen Sinn beſitzt und jeder
Vernichtungskrieg (nicht des Staates, ſondern der Menſchen)
ungerecht iſt; er iſt es auch darum, weil er an Stelle der
Kampfform der inſtinktiven Liebeswahl und konkurrenz und
der auf ihren Wahlfaktoren beruhenden Blutmiſchung, welche
allein die, günſtigſte Miſchungen verſprechende Selektions⸗ und
Steigerungsart der Raſſenwerte darſtellt, die ganz ungeeig⸗
nete Form des Krieges ſetzt. Er iſt es endlich, weil er gleich:
zeitig Weſen und Würde des Staates prinzipiell verneint, deſſen
Aufgabe eben darin mitbeſteht, Menſchengruppen verſchiede⸗
nen Blutes zur Einheit eines geiſtigen Willens zu vereinen
und die Gewalt der bloßen Blutsgegenſätze durch ſeinen ſitt⸗
lichen Willen zu bändigen. Ungerecht wäre auch ein Kultur⸗
krieg, das heißt ein Krieg, bei dem geiſtige Kulturgegenſätze
die unmittelbar kriegsbeſtimmenden Urſachen wären und die
Gegner auf die Vernichtung der gegneriſchen Kultur abzielten.
Denn nicht der Krieg, ſondern die friedliche Solidarität im
Auf bau der Kultur (nicht alſo wie bei den ökonomiſchen
Werten die internationale Konkurrenz) iſt die Form und die
weſenhafte Kraft aller Kulturförderung. Die ökonomiſchen,
ziviliſatoriſchen und die Raſſengegenſätze laſſen ſich unter den
Begriff der „kriegsuntergewichtigen“, die Glaubens- und
Kulturgegenſätze unter den Begriff der „kriegsübergewich⸗
tigen“ Gegenſätze zuſammenfaſſen, — beides Arten der „kriegs⸗
nichtgewichtigen “ Gegenſätze. Alle mögliche Ausbildung von
internationalen Rechtsinſtituten kann nur darauf abzielen, die
157
kriegsnichtgewichtigen Gegenſätze zu ſchlichten und gleichzeitig
zu hindern, daß ſolche Gegenſätze für die Entſtehung von
Kriegen beſtimmend werden. Das heißt ſie haben nicht den
Krieg je zu erſetzen, ſondern den ungerechten Krieg zu verhüten.
Ungerecht iſt generell aber auch jeder Präventiokrieg, da aller
hiſtoriſche Hergang ein einmaliges Geſchehen iſt, alſo ſeiner
Natur nach jede Berechnung nach Naturgeſetzen ausſchließt.
Auch Fürſt Bismarck hat den Präventiofrieg mit Recht
generell als „verbrecheriſch“ verworfen. Jede Art, ihm ein
ſittliches Recht zu vindizieren, ſchlöſſe eine unſittliche Bevor⸗
rechtung des älteren Staates vor dem jungen Staate und da⸗
mit das Recht zu einer prinzipiellen Einſchränkung und Ab⸗
tötung der in der Menſchennatur gelegenen Mannigfaltig⸗
keiten von Entwicklungsmöglichkeiten in ſich und eben damit
eine ſittliche Rechtfertigung eines ſtarren, tödlichen, allgefräßi⸗
gen Konſervativismus in der Welt. Völlig verkehrt wäre es
aber andererſeits, die präventive Kriegserklärung mit dem
Präventiokrieg zu verwechſeln. Die präventive Kriegserklä⸗
rung beſtimmt ja nicht den Krieg, ſondern nur ſeinen Zeit⸗
punkt präventio und ſetzt voraus, daß man das Daſein ſchon
beſtehender kriegsgewichtiger Gegenſätze (nicht erſt künſtlich zu
ſchaffender) kenne, außerdem aber den Krieg um ihretwillen in
der Willensrichtung der beteiligten feindlichen Staaten gelegen
wiſſe. Die präventive Kriegserklärung iſt daher unter Um⸗
ſtänden ein an ſich völlig gerechtes Vorgehen. Unſer gegen⸗
wärtiger Krieg wäre alſo auch dann gerecht und „Verteidi⸗
gungskrieg“, wenn wir unſererſeits jetzt zum Kriege gedrängt
hätten; denn wir kannten die Pläne unſerer Feinde, die
franzöſiſch⸗engliſchen und belgiſchen Pläne und militäriſchen
158
Abmachungen bezüglich der Entſendung eines englifchen Ex⸗
peditionskorps nach Belgien vom Jahre 1906, ſeit Juni 1914
die engliſch⸗ruſſiſchen Oſtſeeabmachungen und die Natur des
franko⸗xuſſiſchen Bündniſſes genau; es wäre nur ein Gebot
der Klugheit geweſen, nicht auf den weiteren Ausbau des durch
den japaniſch⸗ruſſiſchen Krieg geſchwächten ruffifchen Heeres
und die Ausführung der beſchloſſenen dreijährigen Dienſt⸗
zeitgeſetze in Frankreich zu warten. |
Die zweite Bedingung für den gerechten Krieg ift der Be⸗
ſtand eines echten Gemeinwillens in den beteiligten Völkern
zum Kriege. Seit der Ausbildung der Volksheere, deren
erſtes das Revolutionsheer Napoleons war, zuerſt in Spanien,
dann in Oſterreich und Preußen (3. September 1814) iſt der
Menſchheit dieſe ſittliche Forderung klar zum Bewußtſein
gekommen. Alle Kabinettskriege im Stile des 18. Jahr⸗
hunderts, alle durch Ehrgeiz, Geld⸗ und Ländergier, militä⸗
riſche Ruhmſucht, Ableitungsabſicht einer revolutionären Be⸗
wegung im Staatsinnern ſeitens einer Dynaſtie oder einer
ſonſtigen Regierung hervorgerufenen Kriege, aller Kriege, die
bloß den Intereſſen einer Klaſſe oder bloß den politiſchen
und religiöfen Forderungen einer Partei im Staate („Milli⸗
tärparteien“) entſprechen, find alſo ungerecht. Sie find de facto
zum großen Teil nur heimliche unterirdiſche Bürger⸗ und
Klaſſenkämpfe, die nur den Beſtand echter Kriege vortäu⸗
ſchen. Sie alle verneinen wie der ſogenannte „Bürgerkrieg“
das Weſen des Staates ſelbſt in dem betreffenden Staate.
Indes beſagt die obige Anforderung an einen „gerechten“
Krieg nicht, daß die Majorität, auch nur die Majorität der
Waffenberechtigten in einem Staate, ausdrücklich für den
159
Krieg und nicht gegen denſelben öffentlich eintreten müſſe.
Der „Gemein“ wille des Volkes iſt weder notwendig der
Wille oder gar der ausdrückliche Wille „aller“, noch der
Wille und ausdrückliche Wille der Majorität ſeiner Staats⸗
bürger. Es iſt vielmehr derjenige Wille, der in der erlebten
(darum nicht notwendig „gewußten“) hiſtoriſchen Kontinni⸗
tät der faktiſchen Strebungsrichtungen (nicht „Willens⸗
zwecke“) des Volkes oder der Nation als einer realen Strebens⸗
einheit liegt;“ und es iſt die Staatsverfaſſung, die aus der⸗
ſelben Geſamtſtrebensrichtung geboren, beſtimmt, in welcher
Form dieſer Gemeinwille und ſein auf Krieg oder Nicht⸗
krieg zielender Inhalt feſtzuſtellen ſei. Nach unſerer Reichs⸗
verfaſſung iſt der Kriegserklärung durch den deutſchen Kaiſer
zugleich die prinzipielle Bedeutung vindiziert, den Gemein⸗
willen des deutſchen Volkes zum Kriege feſtzuſtellen und zu
vollziehen. Indes kann natürlich auch ein formell verfaſſungs⸗
mäßig feſtgeſtellter Gemeinwille dem wahren Gemeinwillen
des Volkes nicht entſprechen; ſei es, daß die faktiſche Ver⸗
faſſung ſelbſt dem faktiſchen Gemeinſtreben nicht mehr ent⸗
ſpricht, ſei es, weil die verfaſſungsmäßigen Rechte der zur
Kriegserklärung berechtigten Inſtanz einem Mißbrauch für
anderweitige partikulare Zwecke als zur Abwägung der
Kriegsgewichtigkeit der Gegenſätze und zur Feſtſtellung des
Gemeinwillens unterworfen wurden. All dies kann im Einzel⸗
falle nicht auf juriſtiſche Weiſe, ſondern nur hiſtoriſch und
moraliſch feſtgeſtellt werden. Nicht notwendig iſt in der For⸗
derung der Übereinftimmung des Kriegswillens mit dem Ge⸗
meinwillen eingeſchloſſen, daß der Krieg auch „populär“ ſein
müffe. Denn die ſogenannte „öffentliche Meinung“ und
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ihr Ausdruck in der Preſſe find durchaus nicht notwendig
adäquate Ausdrucksformen des echten Gemeinwillens. Wenn
die für uns ſelbſt ſo ſonnenklare Tatſache, daß auf unſerer
Seite die Führung des Krieges dem deutſchen Gemeinwillen
entſpricht, heute im geſamten Ausland mit Einſchluß der
neutralen Staaten einen ſo ſeltſam geringen Glauben findet;
wenn ſeitens der Geiſtesführer und des weit überwiegenden
Teiles der Preſſen faſt der ganzen anderen Welt fortwährend
die Behauptung ausgeſprochen wird, es ſei das deutſche Volk
wider ſeinen innerſten Willen durch eine preußiſche Kriegs⸗
und „Militärpartei“ zum Kriege gezwungen oder ſuggeriert
worden, und man müſſe nicht nur ſich ſelber, ſondern auch das
deutſche Volk „retten“ vor „Potsdam“ und dem preußiſchen
„Militarismus“, — ſo iſt es nicht ausſchließlich Böswillig⸗
keit der Gegner, was zu dieſem Vorwurfe geführt hat. Es iſt
vielmehr der prinzipielle Fehlſchluß von dem Inhalt der
„öffentlichen Meinung“ und des größten Teiles der deutſchen
Preſſe der letzten Jahre vor dem Kriegsausbruch hinſichtlich
unſerer moraliſchen Kriegsbereitſchaft und des eventualen
Kriegswillens auf die faktiſche moraliſche Kriegsbereitſchaft
und den faktiſchen deutſchen Gemeinwillen. Das Ausland
kann die Größe des Unterſchiedes der öffentlichen Meinung
vor dem Kriege und jetzt nicht begreifen: So wenig brachte
alſo Preſſe und öffentliche Meinung den Gemeinwillen des
deutſchen Volkes Jahre hindurch zu adäquatem Ausdruck!
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1. Seine Gerechtigkeit
er ruhig prüft, ob der gegenwärtige Krieg in
II dieſem ſcharf beſtimmten Sinne ein „gerechter
Krieg“ iſt, der wird ihm meiner Überzeugung
nach dieſen Titel als Einheit eines Krieges nicht verweigern
können. Nur wer ſolche Prüfung ernſthaft nicht anſtellen
will, wer nicht aufhört die Rechte (und das Rechtsbewußt⸗
ſein) der kriegführenden Parteien, die ja eben der Krieg erſt
durch Tat gottesgerichtlich entſcheiden ſoll, mit der „Ge⸗
rechtigkeit ! des Krieges, als Geſamterſcheinung, zu verwech⸗
ſeln; oder wer fälſchlich die Gerechtigkeit des Krieges mit der
Frage gleichſetzt, auf welche und ob auf rechtmäßige oder
auf unrechtmäßige Weiſe es zur Erklärung und zur zeitlichen
Terminbeſtimmung des Krieges gekommen iſt, nur der kann
meines Erachtens dieſe Frage verneinen.
Ich leſe faſt jeden Tag Reden und Erklärungen von
Männern, die man mit mehr, weniger oder gar keinem Recht
zu den deutſchen Geiſtesführern zählt, daß dieſer Krieg im
Kern ein ganz „ungerechter“ fei, da er „Intrigen und Wort⸗
brüchigkeiten einer ruſſiſchen Kriegspartei“, „engliſchem Ver⸗
rat“ uſw. fein Daſein verdanke; daß er uns wider alles Recht
„aufgezwungen“ ſei und wir — mitten im Frieden ſozuſagen
an gar nichts Böſes denkend — von unſeren Feinden „räuberiſch
überfallen“ und ſo zur „Notwehr“ gezwungen worden ſeien.
1635
Ich kann nicht finden, daß eine folche einſeitig juriſtiſche oder
ſubjektiv moraliſche Frageſtellung und Auffaſſung der Größe
und Würde des ungeheuren Ereigniſſes mit feinen beifpiel-
loſen Opfern entſpricht. Noch weniger kann ich finden, daß
fie mir und irgendeinem mir ähnlich empfindenden deutſchen
Soldaten irgendwelche höhere Befriedigung gewähren könnte.
Ich ſehe nicht, wie die klägliche, notige Lage, in die ich
durch den Überfall eines gemeinen Räubers verſetzt werde,
wie einen ſolchen „Notwehrkampf“ irgend ſo etwas wie
Begeiſterung oder auch nur das Gefühl, für eine erhabene
Sache zu kämpfen, ja irgendeine Art höherer Befriedi⸗
gung überhaupt begleiten könnte. Das klägliche Gefühl, die
Beute eines Verbrechens zu ſein, mag den unfruchtbaren
Affekt moraliſcher Entrüſtung erwecken, auch wohl ver⸗
zweifelten Widerſtand bewirken. All die erhabenen Empfin⸗
dungen, die einen ritterlichen Krieg begleiten, in deſſen Be⸗
wegung die Weltgeſchichte einen fühlbaren Schritt weiter⸗
ſchreitet, — ſchließt dies Gefühl mit Sicherheit aus. Der
Gedanke, durch jene gemeine Not, die auch die furchtſamſten
Tiere, z. B. die Wölfe, angriffsluſtig zu machen pflegt, ge⸗
zwungen zu ſein, in einem ungerechten Kriege die Waffen er⸗
greifen zu müſſen und für Erhaltung der nackten „räuberiſch“
bedrohten „Exiſtenz von Weib und Kind“ das eigene Selbſt
und ſeine Lebensarbeit aufs Spiel ſetzen zu müſſen, könnte
nur das äußerſte Gefühl der Tragik und der Sinnloſigkeit
alles Lebens in mir hervorrufen. Denn gibt es ein ſchreck⸗
licheres Gefühl als durch gemeine Not gezwungen zu ſein, ſich
an einer ganz ungerechten verbrecheriſchen Sache beteiligen zu
müſſen, die dann ja durch beſſere Staatsleiter und eine klügere
166
Diplomatie leicht hätte vermieden werden können, — alfo
auch wenn Herr Grey ein anſtändigerer Menſch und der
Zar weniger ſchwach gegen ſeine Großfürſten geweſen wäre?
Für nichts als ein „Malheur“ die ungeheuren Opfer an
Blut, Leben, Gut, Arbeit geben zu müſſen? Auch könnte es,
fühlte ich mich ſelbſt ſo engelrein wie die Engel im Himmel
ſelber, mich nur gar wenig befriedigen, die halbe Welt um
mich herum in eine Räuber⸗ und Diebsbande verwandelt,
die andere Hälfte der Welt aber zum weitaus größten Teil
zu deren Werk beifällig in die Hände klatſchend zu ſehen.
Sähe ich ſolch Ungeheures — ſelbſt die Kraft zu moraliſcher
Entrüſtung würde jenes erhabene Solidaritätsgefühl mit der
Menſchheit als eines großen Ganzen, eines Ganzen, das uns
zu Kindern eines Vaters macht, und das ſelbſt noch die ſitt⸗
liche Vorausſetzung jedes echten Krieges iſt, in mir verzehren.
Nur ein furchtbarer Zuſammenbruch alles inneren Lebens
und Glaubens, aller der Gewiſſens maße ſelbſt, nach denen ich
mich ſelbſt als engelrein und die Welt als „verbrecheriſch“
anſah, — ein Zuſammenbruch unter Weinen, Klagen, Trä⸗
nen, wäre die Folge dieſes neuen Bildes der Welt! Ja, ich
geſtehe: Ich würde in ſolchen Kampf weniger ziehen, um mein
Volk und die Meinen auch nur zu „verteidigen“, als darum,
um möglichſt raſch die erlöſende Kugel zu empfangen, die
mich aus einer Welt hinausläßt, die ſich plötzlich in eine ge⸗
meine Verbrecherhöhle umgewandelt hat.
Doch weg von dieſem traurig⸗kläglichem Traum gelehrter
Kleinbürger und Pantoffelträger, die durch den Genius des
Krieges ihren gewohnten Beſchäftigungen entriſſen nun
ihre fade moraliſche Entrüſtung in eine Welt verpuffen,
167
welche von denen, die nicht im Krieg mitwirken, nur eines
fordert: Ehrfurcht und Stille, was ſie Großes zu gebären
ſich anſchickt; die aber am allerwenigſten erlaubt, jene „höheren
Rechte Deutſchlands über die Welt und gegen feine Feinde“,
anſtatt ſie gläubig in der Seele feſtzuhalten, aus mora⸗
liſchen Lehrſätzen ſchon vorher zu deduzieren — „Rechte“, die
nur ſeine Waffen bewähren und an das Licht des Tages
bringen können. Weg, du kläglicher Philiſtertraum, un⸗
würdig eines großen, mächtigen, wachſamen, kriegeriſchen
Volkes! |
Dieſer Krieg ift — wie felten einer — ein gerechter und
darum auch ein heiliges Recht findender Krieg. Laſſen wir
die zweckmäßige Illuſion eines „räuberiſchen zufälligen An⸗
geiffs‘‘ denen, deren Herz es zwar noch erkennt und fühlt,
daß dieſer Krieg gerecht iſt und deren tatkräftiger Wille, ihn
tapfer und herzhaft zu führen, es ihnen heimlich gegen ihr
eigenes Urteil bezeugt, — die aber auf Grund ihrer gewohnten
pazifiziſtiſchen alten Träume ihre faktiſche moraliſche Willens⸗
bereitſchaft, ihn zu führen, nur noch mit dieſer Illuſion der
„Notwehr“ gegen einen „räuberiſchen Uberfall“ vor ihrem
gebrechlichen Verſtande rechtfertigen können: Uns Andere
aber laßt auch noch vor dem klaren Urteil des Bewußtſeins
die große Tatſache ſeiner Gerechtigkeit erkennen!
Ob er gerecht oder ungerecht iſt, das entſcheidet ſich ja gar
nicht nach jener oberflächlichen Entſtehungsgeſchichte ſeiner
letzten diplomatiſchen und ſonſtigen Anläffe, ſondern ent⸗
ſcheidet ſich auch hier nach Art, Größe und Kriegsgewichtig⸗
keit der Gegenſätze, die in ihm treiben und die er ordnen ſoll.
Dieſer Krieg iſt gerecht ſchon darum an erſter Stelle,
168
weil er ein durch und durch politiſcher Krieg ift — und gar
nicht an erſter Stelle durch „ökonomiſche! Urſachen beſtimmt,
wie zum Teil die letzten Kolonialkriege, — ein Krieg um die
Macht im Herzen der Welt, — ja um das Herz des Her-
zens der Welt, um die Hegemonie in Europa.“ Er iſt gerecht,
weil gleichzeitig höchſt charakteriſtiſche und große, hiſtoriſch be⸗
währte Kulturideen hinter den kämpfenden Mächten ſtehen.
Ganz und gar politiſch iſt nicht nur der öſterreichiſch⸗ſer⸗
biſche und der ruſſiſch⸗öſterreichiſch⸗-deutſche Krieg, ſondern
auch der engliſch⸗deutſche Krieg.
Die ruſſiſche Hegemonie über die Balkanſtaaten mit dem
Endziel einer Eroberung von Konſtantinopel⸗Byzanz, der
Murtterſtadt ruſſiſchen Geiſtes und ruſſiſchen Glaubens, rufft-
ſcher Geſellſchaftsverfaſſung, Kunſt und Sitte iſt wirklich
nicht der bösartige Einfall „einer kleinen brutalen Kriegs⸗
partei“, ſondern das ſeit Jahrhunderten in der Ferne ſchim⸗
mernde Ideal des geſamten echtruffifchen Volkes und aller
ſeiner großen Staatsmänner und Geiſtesführer. Seit Iwan III.
im Jahre 1483 die byzantiniſche Braut heimführte den
zweiköpfigen byzantiniſchen Adler über ſein altes Wappen
ſetzte und damit die Pflicht auf ſich nahm, alle rechtgläu⸗
bigen Völker unter ſeinen Schutz zu nehmen — gegen Muſel⸗
manen und gegen alles weſtliche ihm als ketzeriſch geltende
Chriſtentum hat kein ruſſiſcher Staatsmann, kein ruſſiſcher
Denker, der aus dem Geiſte ſeines Volkes ſchuf, bis zu F. Doſto⸗
jewski dieſes politiſch⸗religiös⸗ kulturelle Ideal verleugnet.
Im apokryphen Teſtamente Peters des Großen war das
Ziel „Konſtantinopel“ eine Hauptbeſtimmung. Im März
1877 ſchrieb Doſtojewski ſeinen Aufſatz: „Früher oder ſpäter
169
muß Konſtantinopel doch uns gehören.“ Er redet unter
anderem von der „Notwendigkeit der Standhaftigkeit Ruß⸗
lands in der Orientfrage und der energiſchen Durchführung
jener Politik, die uns unſere ganze Geſchichte zur Pflicht ge⸗
macht hat.“ „In dieſer Angelegenheit“ — ſagt er — „dürfen
wir Europa keine einzige Konzeſſion machen, denn hier handelt
es ſich für uns um Leben und Tod.“ Faſt prophetiſch aber
ſieht er voraus: „Mit einem Wort: dieſe furchtbare Orient⸗
frage — das iſt in Zukunft beinahe unſer ganzes Schickſal.
In ihr liegen geradezu alle unſere Aufgaben und — vor
allem unſere einzige Möglichkeit, in die große Geſchichte der
Menſchheit einzutreten. In ihr liegt auch unſer definitiver
Zuſammenſtoß und unſere definitive Vereinigung mit Europa,
und zwar auf neuer, mächtiger, fruchtbarer Grundlage. Wie
ſollte Europa dieſe ganze, uns vom Schickſal beſtimmte
Lebensbedeutung, die für uns in der Entſcheidung dieſer Frage
liegt, jetzt ſchon begreifen? Womit auch die gegenwärtigen,
vielleicht notwendigen diplomatiſchen Unterhandlungen und
Verträge mit Europa enden ſollten, — früher oder ſpäter
muß Konſtantinopel doch uns gehören, und ſei es auch erſt im
nächſten Jahrhundert.“ Die ruſſiſch⸗türkiſchen Kriege des
vorigen Jahrhunderts, alle unternommen unter der Debife,
mehr noch die Rechtgläubigkeit als die „Slavenbrüder“ vom
türkiſchen Joch zu befreien, begleitet Doſtojewski fortlaufend
mit ähnlichen Bemerkungen. Und in der Tat: Alles Sehnen,
alle Wirk ſamkeit der Lebensfaktoren Rußlands koinzidieren
in dem Ziele: Byzanz. Die militäriſche Forderung des Aus⸗
tritts der Kriegsflotte aus dem Schwarzen Meer durch Bos⸗
porus und Helleſpont, die durch Konſtantinopel und durch
170
Verträge geſperrt find; der Drang nach der Freiheit und
dem weiten Atem der Meere, die Abſatzbedürfniſſe der
wachſenden ſüdruſſiſchen Induſtrie, die Sicherung des Kaſpi⸗
ſchen Meeres und der Weg durch Turan nach Indien, die
natürliche Sehnſucht eines ganzen Kulturgeiſtes nach ſeinem
Mutterboden, ſeiner Mutterſtadt; weiter die gerade im ruſſt⸗
ſchen Volke ſo mächtige religiöskirchliche Sehnſucht nach
einer vollen Konſolidierung der Rechtgläubigkeit unter dem
„weißen Zaren“ als ihrem geheimen Oberherrn gegen weft:
liches „Ketzertum“ wie gegen die Welt des Iſlam. Dieſer
machtoolle Zug eines Rieſenvolkes war durch die ruſſtſch⸗
türkiſchen Kriege Schritt für Schritt gefördert worden; immer
begleitet von größeren und kleineren Zuſammenſtößen mit den
großen europäiſchen Staaten. Schon der 82 jährige Fürſt
Gortſchakoff, Bismarcks ebenbürtiger Gegner, hatte ein Jahr,
nachdem Doſtojewski dieſe Worte ſchrieb, im Jahre 1878
gelegentlich des Berliner Kongreſſes, der den auf Englands
und Oſterreichs Betreiben geführten Krieg gegen die ruſſt⸗
ſchen Wünſche beendete, geurteilt: „Konſtantinopel muß in
Berlin erobert werden.“ Erſt mit dem immer fühlbarer
werdenden notwendigen Zuſammenſtoß mit den öſterreichiſchen
Expanſtons⸗ und Handelsbeſtrebungen nach Offnung der Wege
zum Orient wurde es zum anerkannten oberſten Daueraxiom
der ruſſiſchen Politik, daß „der Weg nach Konſtantinopel nur
über Wien und Berlin“ gehe, wurde zugleich das franzöſtſch⸗
ruſſiſche Bündnis zur Folge dieſes Axioms. Dazu führte die
durch die deutſch⸗engliſche Spannung (Bagdadbahn) ver an⸗
laßte Verſtändigung Rußlands mit England über die Auf⸗
teilung Perfiens und anderer Orientfragen (1907) zur Aus:
171
ficht, die ruſſiſche Politik auf das alte Axiom neu einzuſtelleu.
Iſt etwa dieſes Axiom eine willkürliche Erfindung böſer
Diplomaten? Ach nein: Es iſt genau ſo eine welthiſtoriſche
Notwendigkeit als das entgegengeſetzte politiſche Axiom, daß
Oſterreich und Deutſchland dieſem Zuge des ruſſiſchen Volkes
notwendig entgegentreten müſſen! Es iſt auch vollkommener
Unſinn zu ſagen, nur wirtſchaftliche und partikulare Inter⸗
eſſen des ſüdöſterreichiſchen Grundbeſitzes, der Induſtrie und
des Handels hätten zu dieſem Zuſammenſtoß geführt — ver⸗
bunden mit einer überſpannten Idee von unſerer Bündnistreue
zu unſerem öſterreichiſchen Bruderſtaat. Nein: ſo groß und
alle Lebensgebiete Rußlands umfaſſend der ruffifche Drang
nach Konſtantinopel iſt, ebenſo groß und umfaſſend iſt auch die
Schickſalskraft, die uns zum Widerſtande dagegen treibt! Die
geſamte Einheit des öſterreichiſch⸗deutſchen Wirtſchaftsſyſtems,
— nicht nur „ſüdöſterreichiſche“ Intereſſen — fordert freies
Feld in den Orient, und dies um ſo mehr, je abhängiger die
Teile dieſes Syſtems mit jedem Tage voneinander wurden und
werden. Und darüber weit hinaus fordert die noch erſt end⸗
gültig zu vollziehende Aufteilung des ſüdweſtlichen Aſiens die
Macht über Konſtantinopel, dieſen Schlüſſel Aſiens, in die
Hand der europäiſchen Kernvölker. Zu der jetzt durch die
Osmanen zu erwartenden Sperrung des Suezkanals und dem
vollzogenen Einfall der uns verbündeten Osmanen in Agypten
erhält unſere Bagdadbahn eine Rechtfertigung, die weit über
unſere ökonomiſchen kleinaſtatiſchen Intereſſen hinausgeht.
Und Bündnistreue? So tief dieſes unſer Bündnis in Stammes⸗
gefühl, Sprache, Kultur gegründet ſein mag — all dies allein
genommen forderte nur vor der antieuropäiſchen Sentimentali⸗
172
tät des „Alldeutſchtums“ ein politifches Zuſammengehen: auch
wenn das deutſch⸗öſterreichiſche Bündnis gar nicht beſtanden
hätte, es hätte aus rein politiſchen Gründen, aus europäiſchen
Gründen geſchloſſen werden müſſen, um Rußland entgegenzu⸗
treten! (Vergleiche das Kapitel über „Die geiſtige Einheit
Europas“.) Die heiligen Intereſſen der auf Tat und Liebe
und nicht wie die Rechtgläubigkeit auf Chaos der Empfindung,
Quietismus und gnoſtiſche vereinſamende Kontemplation ge⸗
gründeten chriſtlichen Kirche müſſen ſich gleichfalls gegen das
ruſſiſche Streben ſperren. Und unſer iſt, nicht Englands,
dieſe große Miſſion! Englands „Weltherrſchaft“ iſt ja Eon:
ſtitutib tranſitoriſch, wie immer auch — für oder gegen Eng:
land — gerade dieſer Krieg ausgehe. Sie wird zum Atavis⸗
mus im Augenblicke, da ſeine Kolonien reif zur Selbſtändigkeit
geworden, Japaner und Mohammedaner ihre Rechte durch⸗
ſetzen die Fortſchritte der Kriegstechnik erlauben, die engliſchen
Häfen vom Lande zu beſchießen und die Unter ſeeboote die teuren
Dreadnought entwerten. Und wenn auch gegenwärtig Eng⸗
land und Frankreich dieſe ruſſiſche Politik zu unterſtützen ſchei⸗
nen (England tut es ja ſicher nur zum Scheine), ſo bleibt es
doch ein weit über alle momentanen Intereſſenkombinationen
der europäiſchen Staaten erhabener Grundſatz, daß es ein
europäiſches Gemeinintereſſe iſt, den ruſſiſchen Drang nach
Konſtantinopel aufzuhalten. Ein ruſſiſches Reich mit Kon⸗
ſtantinopel, mit freiem Feld nach dem Süden über Rumänien
hinweg, mit dann unausbleiblicher Balkanhegemonie — das
wäre der Anfang nicht einer tranſttoriſchen (wie der engliſchen),
ſondern einer dauernden Weltherrſchaft, gegen die Englands
„Weltreich“ trotz ſeiner quantitativen Geblähtheit nur ein
173
Kinderfpiel geweſen wäre. Noch gibt es kein bewußtes und
gewolltes „europäiſches Gemeinintereſſe“. Dieſer Krieg wird
es ſchaffen, in ungeahnter Weiſe. Und dann wird dieſer
Gegenſatz gegen die ruffifche Politik von Jahrhunderten einer
ſeiner wichtigſten Dauerinhalte ſein. Andererſeits können
ſchon die ungeheuren, aber von dem ruſſiſchen Koloß ſpielend
ertragenen Opfer, die er ſeit dem 17. Jahrhundert um dieſes
Ziel gebracht hat (2,79 Millionen Menſchen ſind im 18.
und 19. Jahrhundert dafür verblutet) niemals ihn auf dieſes
Ziel verzichten laſſen. Wie aber ſollte Rußland in der Situ⸗
ation, die ſich vor dieſem Kriege geſtaltet hatte, nicht dieſem
furchtbar vehementen Drang gefolgt fein? Die Erpanfion
des wachſenden Rieſen nach dem Oſten war im ruſſiſch⸗japa⸗
niſchen Kriege zurückgeworfen worden. Der Balkankrieg
hatte das welthiſtoriſche Ergebnis, die Osmanen aus Europa
zu werfen. Wenn Rußland nicht hier ſchon eingriff und ſich
gegen Oſterreich wandte, ſo war es nur, weil es auf die volle
Kriegsbereitſchaft der franzöſiſchen Verbündeten wartete. Im
Jahre 1913 hemmten wir ſeinen Einmarſch in Armenien.
Jetzt, wo ihm der Rettungsruf Serbiens Gelegenheit bot, ein⸗
zugreifen, wo es ihm die Erhaltung ſeines Preſtiges auf dem
Balkan unbedingt gebot und die Kriegsbereitſchaft der Ver⸗
bündeten erheblich geſteigert ſchien, hätte es aus Grundſätzen
einer Privatmoral heraus, die auf Völker anzuwenden Kinderei
und Poſſenſpiel iſt — um den politiſchen Mord eines verhetzten
Knaben nicht zu unterſtützen — zögern ſollen? Ja, vielleicht
hätte es dies ſollen von ſeinem Standpunkt aus — nämlich
aus Gründen der Kriegsbereitſchaft ſeiner ſelbſt und des fran⸗
zöſiſchen Verbündeten! Aus einem anderen Grunde wirklich
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nicht! Das einzige, was demgegenüber die Telegramme
zwiſchen dem Zaren und dem deutſchen Kaiſer zeigen, iſt —
nicht die „Ungerechtigkeit“ des Krieges, ſondern nur das
eine: daß der Zar ein Schwächling iſt, daß in ihm der
ruſſiſche Volksgeiſt nicht wahrhaft kulminierte, da er zu
einer Zeit noch mit Friedensideen ſpielte, als der Krieg not⸗
wendig geworden war, und die ruſſiſche Seele ihn in ihrem
tieferen Gemeinwillen machtovoll forderte; und daß die ruffi-
ſchen Großfürſten dies erkannten und den ſchwächlichen Fan⸗
taſten, der zeitlebens zwiſchen gewiſſen parfümierten Ideen
Weſteuropas (Haag) und dem Einfluß myſteriöſer Gaukler
und Mönche herumſchwankte, auf ruſſiſche Manier in ſeiner
Pflicht unterwieſen, iſt dies zu verwundern? So kam es zum
Schein eines Wortbruches von Miniſtern, der faktiſch auf
der Pflichtoergeſſenheit des Schwächlings beruhte, die ſchon
erteilte Anordnung der Mobiliſterung ſeinen Miniſtern recht⸗
zeitig mitzuteilen.
Wie das für den gerechten Krieg weſentliche Merkmal
der Kriegsgewichtigkeit der Gegenſätze hier voll gegeben iſt, ſo
alſo auch das Merkmal des Gemeinwillens zum Krieg. Denn
ob das ruſſiſche „Volk“ den Krieg „will“, oder ob er nur
das künſtliche Werk einer „ehrgeizigen Kriegspartei“ iſt und
ein Mittel, die „innere Revolution abzuleiten“ — darüber
ſind ja wirklich nicht gewiſſe revolutionäre Teile der Polen,
Ruthenen, Finnen, Juden, noch die ganz einſeitigen Bilder
zuſtändig, die wir — nachgewieſenermaßen — vor dem Kriege
durch die faſt ausſchließlich in den Händen der kapitaliſtiſchen
„Intelligenz“ gelegenen, internationalen Telegramm⸗ und
Preßvermittlungsinſtitute erhalten haben! Dafür iſt zuſtändig
175
die tiefe und lebendige Kontinuität der Idee, die das ruſſiſche
Kriegsziel und die ruſſiſche Kriegsleidenſchaft beſtimmt, die
Analogie mit Rußlands früheren Kriegen und Kriegsopfern,
die dasſelbe Ziel hatten, und die gemeinſame Ausſage der von
keinen „Klaſſen“-, Partei- und Hof- oder Militärintereſſen,
auch nicht von denen einer „Kriegspartei“, abhängigen großen
ruſſiſchen Geiſtesführer. Dieſe Loyalität des Urteils — for⸗
dert, darf fordern auch der ſchlimmſte unſerer ſchlimmen Feinde
von einem Volke, wie dem deutſchen ritterlichen Kriegervolk.
Nicht ganz ſo klar iſt die Frage nach dem gerechten Krieg
im deutſch⸗engliſchen Kriege. Daß der von England an⸗
gegebene Grund zur Kriegserklärung an uns — die Ver⸗
letzung der belgiſchen Neutralität — zwar feſte Überzeugung
der meiſten Engländer, aber gleichzeitig Humbug des engli⸗
ſchen cant ift” darüber braucht kein Wort verloren werden.
Wenn Herr Grey ſagt, England hätte auch Frankreich den
Krieg erklärt, wenn es ſeinerſeits die belgiſche Neutralität
verletzt hätte, ſo zeigt er nur, wie ſein cant nachträglich
faktiſche Abſichten umkonſtruiert. Aber für die „Gerechtig⸗
keit! des deutſch⸗engliſchen Krieges im oben definierten Sinne,
und zwar des Krieges ſelbſt — nicht ſeiner Erklärung und
Zeitbeſtimmung ſeitens Englands — iſt dies alles äußerſt
unerheblich. Die ſogenannte „Kriegserklärung“ im modernen
Volkskrieg iſt ſtets die Folge des auf Grund der angewachſenen
Spannungen im „Ausbruch“ bereits begriffenen Krieges, d. h.
die bewußte öffentliche Anerkennung dieſes Tatbeſtandes und
die öffentliche Willenserklärung des Staates — nicht ſein
davon unabhängiger Willens akt — ihn zu führen; nicht aber
iſt der Krieg die Folge der Kriegserklärung. Dieſe Folge iſt
176
nur der „juriſtiſche Tatbeſtand“ des Kriegszuſtandes zwiſchen
Staaten, der den faktiſchen Tatbeſtand des Krieges als ſeine
Grundlage vorausſetzt. Auch hier bemißt ſich die Gerechtig⸗
keit des Krieges vielmehr allein nach der inneren Natur der
Gegenſätze. Sind dieſe kriegsgewichtig oder ſind ſie es nicht?
Sie wären es ſicher nicht, wenn wirklich nichts als „Profitgier“
der engliſchen Kaufleute und unbequeme Konkurrenz auf dem
Weltmarkte zum Kriege gegen uns geführt hätte;% fie wäre
es erſt recht nicht, wenn — wie H. Münſterberg meint —
die perſönliche Antipathie König Edwards gegen den deutſchen
Kaiſer die Einkreiſungspolitik zur Folge gehabt hätte und
dieſe zur Übernahme von Verpflichtungen Englands an
Frankreich und Rußland geführt hätte, die dem engliſchen
Volke offiziell verborgen, jetzt ihre unumgängliche Einlöſung
gefordert hätte; oder wenn gar, wie E. Häckel fo naiv ver⸗
kündete, der perſönliche Ehrgeiz und die Geſinnungsniedrig⸗
keit des Herrn Grey, „des größten Verbrechers der Geſchichte“,
die Schuld dieſes Blutmeeres ganz perſönlich allein zu ver⸗
antworten hätte. Die Gegenſätze wären auch nicht kriegs⸗
gewichtig, wenn wir umgekehrt nicht aus den innerſten Not⸗
wendigkeiten unſeres nationalen Volkswachstums heraus
Kolonialpolitik zu treiben angefangen und uns in den Handel
der Welt gemiſcht hätten, dazu eine weit über den Zweck des
Küſten⸗ und Handelsſchutzes hinausgehende Flotte ausgebaut
hätten, um bei der Verteilung der noch kulturbedürftigen
Erdkugel auch unſer Teil zu erhalten und unſeren Handel
zu ſchützen, ſondern dies alles nur aus „Großmannsſucht“
unter Abfall von unſeren traditionellen nationalen hiſtoriſchen
Idealen unternommen hätten, wie man uns jenſeits des
12 177
Kanals, ja faft in der ganzen Welt vorwirft. Aber mögen
ſich oberflächliche Zeitungsleſer hüben und drüben mit ſolchen
Hin⸗ und Herargumenten begnügen — der nur ein wenig
ernſter Geſchichte Kundige wird ihnen darin nicht folgen.
Er wird alles in allem überſehen, auch dem engliſch⸗deutſchen
Kriege einen notwendigen Machtkonflikt zugrunde legen
müſſen, der aus Weſen und hiſtoriſcher Entwicklung beider
Völker notwendig hervorwuchs, den kein Edward und kein
Grey hätte willkürlich ſchaffen, kein Tirpitz hätte vermeiden
können, an dem unſere Diplomatie ſo unſchuldig iſt wie ein
Kindlein — wenn ſie auch die ſogenannte künſtlich gemachte
„Entſpannung“ weniger ernſt zu nehmen verpflichtet geweſen
wäre, als ſie ſie nahm. Nicht der Gegenſatz, — ſeine Ver⸗
tuſchung wurde künſtlich gemacht. Man kann ruhig die
Behauptung wagen, daß die Geſamtſumme der ökonomiſchen
engliſchen Privatintereſſen weit mehr gegen als für dieſen
Krieg ſprach.“ Das hatten auch während der Entſpannungs⸗
komödie hervorragende Nationalökonomen mit ungeheuren
ſtatiſtiſchen Materialien ganz richtig herausgerechnet, um
— gemäß ihrem ökonomiſchen Kriegsſchema — die Ent⸗
ſpannung zu rechtfertigen. Der deutſche und engliſche Handel
konnten — ganz abgeſehen von dem ungeheuren deutſch⸗
engliſchen Geſchäft (ein Zehntel des Geſamthandels der ver⸗
einigten Königreiche) — ſich vertragen und beide konnten zu
ihrem Vorteil kommen. Nicht in dieſen ganz richtigen
Rechnungen — in der ſelbſt allzuengliſchen „ökonomiſchen
Geſchichtsauffaſſung“ lag der Fehler!
Was vermögen die amtlichen Vertreter dieſer ſonderbaren
zweizinkigen Politik, die gleichzeitig zum Bau einer nur als
178
gegen England gerichtet aufzufaſſenden Schlachtflotte führte
und zu einer ernſten Entſpannung mit England (ſeit der Hoch⸗
ſpannung der Gegenſätze im Jahre 1911) führen ſollte, für
ihre Annahme einer ſeit dieſer Zeit eingetretenen Entſpan⸗
nung anzugeben? Etwa die ſchlechte Nachahmung jenes
engliſchen cant, mit dem ſie die einzig mögliche Richtung
dieſer Flottenpolitik unter „ökonomiſchen“ Argumenten zu ver⸗
bergen ſuchten? Das heißt doch die liebenswürdige Form, in
der engliſche Staatsmänner ſolchen Verſicherungen zu „glau⸗
ben“ pflegen, gar zu ernſt nehmen. Für die Entſpannung
führt man jetzt lauter Dinge an, welche die Spannung faktiſch
nur ſteigern konnten und die ihrer Natur nach im äußerſten
Falle das engliſche Bewußtſein ſeiner Kriegsbereitſchaft, nicht
ſeines Kriegswillens hätten vermindern können. So ſagt man,
daß England töricht genug war, uns Helgoland zu verkaufen,
und dieſe Torheit hinterher einſah; daß die Einführung der
Dreadnoughts ihm zum Nachteil ausſchlug, da fie das Zahlen⸗
verhältnis unſerer und ſeiner Großkampfſchiffe zu unſerem
Vorteil beeinflußte und den größeren älteren Schiffsbeſtand
Englands gegen unſeren kleineren relativ entwertete (2); daß es
durch die Zunahme der öffentlichen Laſten für ſeine durch
Lloyd George inaugurierte, der deutſchen Sozialgeſetzgebung
nachgeahmte geſetzliche Sozialpolitik für eine der deutſchen
Flottenrüſtung proportionale Vermehrung ſeiner Flotte in
die Lage gekommen ſei, eher eine Verſtändigung als eine
wachſende Spannung mit Deutſchland anzuſtreben; daß in
England während der Marokkokriſis und des Balkankrieges
die Einſicht reifte, der deutſche Wohlſtand ſei ſo groß, daß
man auf die durch einen Krieg früher erhoffte ökonomiſche
*
12 179
Aushungerung Deutſchlands nicht mehr rechnen könne;
daß die deutſche Luftſchiffflotte in einem Seekriege den
Operationen der deutſchen Marine ein nicht abzuſehendes
Übergewicht verſchaffen müſſe. Aber welche Naivetät mußte
dazu gehören, aus dieſen Gründen eine ernſtliche Entſpannung
der gerade in dem parlamentariſchen England ſo wichtigen
Volksleidenſchaft zu hoffen? Mußten nicht gerade dieſe
Gründe den Haß, den Neid, die Feindſeligkeit gegen Deutſch⸗
land im ſelben Maße ſteigern, als ſie dieſe Leidenſchaften
von der Schwelle öffentlicher Bemerkbarmachung durch die
offiziellen Vertreter der engliſchen Politik in die Tiefen der
Volksſeele zurückdrängten? Und glaubte man ernſtlich, daß
auf dieſe Gründe hin England ſeinen alten Anſpruch auf
Allſeegeltung und ein arbitrium mundi ruhig fallen Iaſſen und
ſich in das Unabänderliche fügen werde? Oder ließ man ſich in
dieſen Glauben dadurch wiegen, daß England mit lächelnder
cant-Miene, aber im Geheimen mit den Zähnen knirſchend,
ſchließlich nach mancherlei Zugeſtändniſſen von unſerer Seite zu
unſerer Bagdadbahn ja ſagte und unſeren Abſichten, in Weſt⸗
afrika unſeren Intereſſenſpielraum gelegentlich zu vergrößern,
nicht entgegenzutreten verſprach? Entſpricht nicht vielmehr die
ſcharfe Trennung dieſer einzelnen Fragen von der Geſamt⸗
politik des Staates und beſonders von der dazu ganz unver⸗
hältnismäßigen Kriegs⸗ und Friedensfrage allen Gepflogen⸗
heiten der engliſchen Politik? Alle dieſe Dinge, auf die man
offiziell die Annahme einer Entſpannung auf baute, berührten
den faktiſchen deutſch⸗ engliſchen Gegenſatz fo oberflächlich,
waren zugleich ſo ſehr auf die Kenntnis der ſpezifiſchen Be⸗
rufspolitiker lokaliſtert, daß man eine Wendung der öffent⸗
180
lichen Meinung nicht im entfernteſten erhoffen durfte. Dafür
waren fie ihrer Matur nach alle wohl dazu angetan, den cant
zu vergrößern, die Lippe noch freundlicher lächeln, die Rede
noch öliger fließen zu machen, der die faktiſch ſteigende Span⸗
nung verbarg — nicht aber eine Entſpannung herbeizuführen.
Faktiſch war denn auch jene gefährliche Annahme einer Ent⸗
ſpannung auf unſerer Seite weit ſtärker durch jenes alte, ſonder⸗
bare deutſch⸗liberale Gemeingefühl mit der liberalen Partei
Englands regiert, das ſeit dem Beginn der liberalen Miniſter⸗
präſidentſchaft von Asquith — trotzdem Grey im Amt blieb
— von einer liberalen Regierung keinen Krieg erwartete. Daß
eben dadurch die Abhängigkeit der Regierungsentſchlüſſe von
der öffentlichen Meinung, beſonders im mittleren Durch⸗
ſchnittskaufmann, die gerade der eigentliche Ausgangspunkt
der Spannung von je geweſen iſt, nur noch erheblich geſteigert
wurde, das zu erkennen fehlten unſeren deutſchen Bewunderern
der herrlichen „engliſchen Freiheit“ natürlich alle Organe.
Andere Faktoren emotionaler Art traten noch hinzu.
Solche Faktoren ſind für andere Entſpannungskünſtler der
Pangermanismus, der ſich genau wie der Panſlavismus als die
leere Sentimentalität, die er ſtets geweſen, nun auch vor der
Welt erwieſen hat, teils eine maßlos überſchätzte ſogenannte
„deutſch⸗engliſche Kulturgemeinſchaft“ und eingebildete „pro⸗
teſtantiſch⸗religiöſe Solidarität“. Es iſt ja faſt unglaublich,
was in den letzten drei Jahren von einem gewiſſen Typus ebenſo
repräſentativer als in der Forſchung unbedeutender Rede⸗
profeſſoren von hüben und drüben, Beſchwichtigungshofräten,
öden Schwätzern, die in der Philoſophie, die ſie einſt als neu⸗
hegelſches Kauderwelſch in Oxford traktiert, ſo langweilig und
181
unoriginell waren, wie in der Politik — nach der Art des Lord
Haldane; was andererſeits von gewiſſen proteſtantiſchen Theo⸗
logen, die ſich die völlig haltloſe Idee eines über den abgrund⸗
tiefen Gegenſätzen von Luthertum, Puritanismus, Kalbinismus
und Hochkirche ſtehen follenden liberalen Proteſtantismus —
man nannte ihn auch gerne „Tranſzendentalismus“ — gemacht
hatten, von der tiefen Notwendigkeit der deutfch-englifchen,
meiſt dazu noch amerikaniſchen Geiſtes⸗ und Kulturgemein⸗
ſchaft — gegen die geſamte übrige Welt (einfchließlich des
geſamten ſüdlichen und weſtlichen katholiſchen Deutſchlands
und Offerreichs) zuſammengeredet worden iſt. Leider find
auch Forſcher beſſeren Ranges dieſer Auffaſſung allzu nahe
gekommen. In dem hierfür äußerſt intereſſanten Brief⸗
wechſel einer Reihe engliſcher Theologen mit Adolf von
Harnack findet man ſehr charakteriſtiſche Äußerungen in
dieſer Richtung. Gelegentlich einer Wiederholung des be⸗
kannten Geredes vom belgiſchen Neutralitätsbruch, als
Grund der Kriegserklärung ſeitens Großbritanniens, das
A. v. Harnack mit gebührender Schärfe zurückweiſt, finden
ſich in dieſem engliſchen Schreiben Stellen wie: „Wir können
niemals das Geſetz an Stelle des Krieges zu ſetzen hoffen,
wenn feierliche internationale Verträge nach dem Belieben
einer beteiligten Macht zerriſſen werden können. Solche
Verpflichtungen binden aber nach unſerer Auffaſſung beſon⸗
ders ſtreng, wenn ſie die Garantie einer Neutralität betreffen.“
Nach allgemeiner geſchichtlicher Erfahrung und beſonders
derjenigen, die uns England ſeit Jahrhunderten gibt (fiehe fein
Verhalten zu Dänemark und die Beſchießung Kopenhagens)
ganz beſonders wenig ſtreng! „Denn die ſtetige Erweiterung
182
der Neutralität erſcheint uns als einer der ficherften Wege
zur fortſchreitenden Austilgung des Krieges vom Antlitz der
Erde.“ Als ſei nicht nur die Schwäche der Grund zu ſo⸗
genannter ewiger Neutralität und böten nicht gerade die⸗
jenigen ewig neutralen Staaten, die im Gegenſatz zu ſtark
bewehrten neutralen Staaten wie die Schweiz, ihre Neu⸗
tralität nicht ehrlich zu wahren wiſſen, eben den Haupt⸗
grund zur Entſtehung von Kriegen! Es hat weiter die
Herren „mit tiefſten Schmerze erfüllt, zu ſehen, wie ein
chriſtliches Volk ein Kriegsheer wurde mit kriegsheermäßiger
Moral“. Die Herren find in echt engliſcher Generaliſie⸗
rung offenbar von der ſtets minderwertigen Moral der
Kriegsführung ihrer kolonialen Räuberheere zur Vorſtellung
gekommen, daß eine chriſtliche Moral einer kriegeriſchen
(im Unterſchiede zur „Räubermoral“) Moral widerſtreite.
„Wir verabſcheuen jeden Krieg uſw.“ Ich meine, Über:
einſtimmung oder Differenzen religiös⸗ſittlicher Auffaſſungen
prinzipieller Art können ſich zehnmal beſſer als in allem
gelehrten Disput an der inneren Stellungnahme zu einem
ſo ungeheuren Vorgang in der moraliſchen Welt als ihn dieſer
Krieg darſtellt erweiſen. Und würde auch nur ein einziger
jener deutſchen Theologen, die dieſe tiefe „engliſch⸗deutſche
Geſinnungsgemeinſchaft“ vertreten und Jahre hindurch geför⸗
dert haben, ein fo unendlich oberflächlich „ pazifiziſtiſches“ Urteil
über den Krieg überhaupt teilen — ein fo unchriſtliches, ja wider⸗
chriſtliches Urteil, wie es dieſe Sätze enthalten? Nicht das
„Geſetz“ und den „Vertrag“ oder die Intereſſenſolidarität an
Stelle des Krieges, ſondern die Liebe an Stelle des Krieges —
und darum Krieg ſo lange unter den Bedingungen eines ge⸗
183
rechten Krieges, als die Liebe noch nicht zur Reife gekommen —
das iſt für denjenigen ein „chriſtliches Ideal“, der nicht in
engliſch-merkantilem cant die unter den Namen „Huma⸗
nität“ ſich verbergenden Jutereſſen engliſcher und anderer
Kaufleute und Börſen mit „‚chriftlicher Liebe“ verwechſelt;
und der auch nur auf die Kenntnis der erſten Elemente des
Evangeliums und des Alten Teſtamentes Anſpruch machen
will. Aber auch A. von Harnack ſchreibt in ſeiner übrigens aus⸗
gezeichneten Antwort auf das engliſche Schreiben, einen Satz
ſeiner Rede an die Berliner Amerikaner zitierend: „Unſere
Kultur, der Hauptſchatz der Menſchheit, war vornehmlich drei
Völkern, ja ihnen faſt allein anvertraut: Uns, den Ameri⸗
kanern und — den Engländern. Weiter ſage ich nichts. Ich
verhülle mein Haupt!“ Und ſpäter heißt es: „Wir und Groß⸗
britannien im Bunde mit Amerika konnten die Menſchheit im
friedlichen Verein auf eine höhere Stufe heben und im Frie⸗
den die Welt leiten, jedem das Seine laſſend. Wir Deutſche
kannten (I) und kennen (11) kein höheres Ideal als dieſes“.
Ich verſtehe, ich fühle mit, daß Harnacks Enttäuſchung unter
dieſen Vorausſetzungen unendlich, ja einer ſich im Verhüllen
des Hauptes zum Ausdruck kommenden Verzweiflung am
Schickſal aller höheren europäiſchen Kultur gleichkommen
muß! Wir aber teilen dieſe Verzweiflung nicht im minde⸗
ſten! Nicht nur finden wir Harnacks Sätze im Widerſtreit
mit aller derjenigen echten Kultur, Religion, Ethos, deren
Seele noch deutſch ſind, welche Seele eine gewiſſe Enge
und Borniertheit in aller engliſchen Philoſophie und
Wiſſenſchaft, dürres hochmütiges Puritanertum, engliſche
Geſchäftsmoral und engliſchen cant ſtets als giftige Fremd⸗
184
körper von fich ausſtießen oder hätten ausſtoßen ſollen; nicht
nur ſehen wir zwiſchen engliſchem Chriſtentum aller Spiel⸗
arten und deutſchem Luthertum nebſt ſeinen Fortſetzungen
eine weit tiefere Differenz als zwiſchen Luthertum, deut⸗
ſchem Proteſtantismus und der germaniſchen Form des Ka⸗
tholizismus es, — wir finden auch die tiefen Bezüge, die nicht
nur den ſüdweſtlichen Teil unſeres Landes und das uns von
nun an jedenfalls in irgendeiner Form ſo viel nähertretende
Deutſch⸗Oſterreich, die vielmehr den ganzen germaniſchen Geiſt
und ſeine hehrſten Führer mit Italien und Frankreich als Kul⸗
tureinheiten und mit der, anglo⸗amerikaniſchen Weſen am tief⸗
ſten entfremdeten Antike verbinden und ſtets verbunden haben,
hier in mehr als auffälliger Form mißachtet. Auch für Eruft
Troeltſch, dem weit überragenden Kopf in der ſyſtematiſchen
Theologie und Religionsgeſchichte des heutigen deutſchen Pro⸗
teſtantismus, iſt es „am ſchmerzlichſten“, daß unſere geiſtigen
Bande zu dem ſtammes verwandten England fo nachdrücklich zer⸗
riſſen ſind. Soweit es ſich um internationale Inſtitute gehandelt
hat und handelt, die den exakten Wiſſenſchaften dienen, auch
noch dem techniſchen Betriebe der Geiſteswiſſenſchaften, mag
man dies natürlich wie jede ſolche Zerſchneidung internatio⸗
naler Fäden tief bedauern. Soweit es ſich aber um den Geiſt,
um die tieferen Methoden der Wiſſenſchaften, der Künſte,
den Frömmigkeitsgeiſt der Religion und um das chriſtlich⸗
religiöſe Ethos handelt, die alle echte „Theologie“ erſt be⸗
dingen und geſtalten iſt es im Gegenteil im höchſten Maße
zu begrüßen, daß dies künſtliche Gemächte einer ſogenannten
„Kulturgemeinſchaft“ nunmehr einer ganz exemplariſchen
Prüfung ſeiner Echtheit und Feſtigkeit durch dieſen Krieg
185
unterzogen wird! Und was gerade Chriſtentum und Theo⸗
logie betrifft — Gott ſei Dank ſchweigen jetzt auch alle kon⸗
feſſtonellen deutſchen Kämpfe! — ſo möge es dieſem Kriege
beſchieden ſein, die Träger des deutſchen chriſtlich religiöſen
Lebens überhaupt energiſch an den gemeinſamen Beftand”
des evangeliſch⸗lutheriſchen und katholiſchen pofitiven Chriſten⸗
tums zu erinnern, — zumal bei der geographiſchen Religions⸗
gliederung jeder mögliche Zuwachs deutſcher Machtſphären,
auch nur der Macht einer tieferen Kulturbeeinfluſſung
(nicht notwendig gerade Zuwachs territorialer Macht) nur
ein Zuwachs katholiſcher Volksteile und katholiſchen Geiſtes
ſein kann. Eine gleichzeitige Verminderung des romaniſchen
Einfluſſes in der katholiſchen Kirche und eine tiefere Wür⸗
digung des Tiefen und Echten in ihr, durch die proteſtan⸗
tiſche Theologie, dürfte eine Auslöſungsfolge eines ſiegreichen
Krieges ſein, der mit der Zeit ſelbſt die „Verzweiflung“ und
den „tiefen Schmerz“ an jener eingebildeten engliſch⸗deutſchen
Geiſtesſolidarität auch in dieſer weſentlichſten Sphäre alles
echten Menſchentums verſchwinden laſſen könnte. Auch hier
iſt eben dieſer Krieg ein unerbittlicher Kritiker, und dieſe
Kritik der Tat — wenn auch ſchmerzhaft — zu empfinden,
und ihr gemäß ſeine Begriffe zu korrigieren, dürfte dem
Klagen, Jammern und dem „Verhüllen des Hauptes“ hier
ganz entſchieden vorzuziehen ſein.
Neben dem voll berechtigten Angriffsgeiſt, der jetzt in
Deutſchland gegen England wütet, iſt der davon ganz unab⸗
hängige ſpezifiſche Haß gegen England nur die Folge dieſer
weitverbreiteten Illuſtonen über unſer wahres hiſtoriſches Ver:
hältnis zu England. Aber die grundſätzliche Selbſteinkehr
186
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über dieſe Illuſionen und ihr mutiges Abtun wäre beſſer als
der ſich in fachlich ganz unmotiviertem Zurück enden englifcher
Auszeichnungen und Beſchimpfung von Perſonen bekundende
Haß, der nur anzeigt, daß dieſe Illuſionen immer noch fo
ſtark vorhanden ſind, daß ſie ſolche unmotivierte Haßakte
gebären müſſen. Der bloße um ſich herum ſchlagende Haß
des betrogenen Liebhabers wirkt auch zwiſchen Völkern mehr
komiſch als ernſthaft und iſt kein ſittlich würdiges Verhalten.
Das gilt insbeſondere auch von der deutſch⸗engliſchen „Kultur⸗
gemeinſchaft“, die ſich — von ſo alten unaktuellen übernatio⸗
nalen Figuren wie Shakeſpeare, Milton, Byron, Shelley,
Keats, Scott und dem geiſtig halbdeutſchen Carlyle ab⸗
geſehen — zu einem großen Teile nur auf die mehr als pein⸗
lichen Abhängigkeiten berufen kann, in die der deutſche Geiſt
insbeſondere in Philoſophie (Meuhumeanismus), Pſychologie
(Aſſoziationspſychologie), einem großen Teile der National⸗
ökonomie, auch wie ſchon Zöllner und Dühring beklagten
in der Phyſik ganz unverhältnismäßig aber in der Bio⸗
logie (Darwin, Spencer) entgegen ſeinem wahren Weſen
und den jüngeren deutſchen Beſtrebungen gekommen war.
Dieſe Einbildungen und falſchen Abhängigkeiten, verbunden
mit der Entſpannungsvortäuſchung und der hiſtoriſch⸗tradi⸗
tionellen Vorbildhaftigkeit Englands für unſeren geſamten
Liberalismus in Verfaſſungsfragen, Politik, Okonomiepro⸗
bleme und Moral ſind es, die heute zuſammenwirkend, ein⸗
zelnen Perſonen wie König Edward oder Grey und Chur⸗
chill und bloßen bösartigen Intrigen die Schuld des
deutſch⸗engliſchen Krieges fälſchlich beimeſſen oder auch in
völliger Unbekanntſchaft mit dem Weſen des cant, die eng⸗
187
liſchen Staatsmänner bewußter Lüge zeihen. Dieſer Haß,
der Einzelne unſeres Volkes zu den verdammenswerteſten
Schimpfworten gegen die Perſonen engliſcher Staatsmänner
und Souveräne hinriß — natürlich um das engliſche Volk
als Ganzes von aller Schuld zu entlaſten — der ſich auch in
völlig unbegründeter Zurück ſendung ſelbſt gelehrter Auszeich⸗
nungen an engliſche wiſſenſchaftliche Geſellſchaften verrät, iſt
aber nur die Enttäuſchung einer Jahrzehnte dauernden grund⸗
falſchen Art von Liebe zu engliſchem Weſen und blindeſter
Nachäffung ſeiner geweſen. Wer von all dieſen Quellen
der Täuſchung und des Mißverſtändniſſes abſieht, gewahrt
hinter dem deutſch⸗engliſchen Gegenſatz nicht bloßen Handels⸗
neid — wie es A. Wagner zu beweiſen ſucht —, nicht
„Pennyjagd“, nicht einzelne „böſe“ Staatsmänner und Für⸗
ſten, ſondern den hiſtoriſch notwendigen, in der Linie der ganzen
engliſchen Geſchichte gelegenen Exiſtenzkampf der engliſchen
Seemachtſtellung um jene dauernde Präponderanz, die Vor⸗
ausſetzung ſeiner Art von Weltmachtſtellung iſt. Auch wenn
Chamberlains großartige Pläne auf Herſtellung eines Zoll⸗
ſchutzberbandes des Mutterlandes mit den Kolonien und einer
britiſchen ökonomiſchen Autarkie in Erfüllung gegangen
wären, wäre dieſe Urſache des Krieges nicht verſchwunden.
Zu allen Zeiten ſeit dem Gewinn ſeiner Seegeltung war
England der erklärte Feind der jeweilig ſtärkſten und in ihrer
Entwickelung ausſichtsreichſten Seemacht. Zuerſt kehrte es ſich
gegen Spanien und Portugal, dann gegen Holland und ſeit
der Zeit des Colbertſchen Merkantilismus gegen Frankreich,
deſſen Feind es blieb — bis unſere Seemacht geboren war,
und ſich in kurzer Zeit bis zu einer Höhe entwickelte, die bei
188
einem Kampfe — auch wenn er ſiegreich für England aus:
ginge und die deutſche Flotte völlig vernichtet würde — die
Präponderanz der engliſchen Seemacht in der Welt in Frage
ſtellte und insbeſondere die Freiheit der engliſchen Maßnahmen
gegen Japan, den großen oſtaſtatiſchen Gegner ſeiner Welt⸗
machtſtellung in Indien und ſeiner Expanſtonspläne in China,
ſtark einſchränken müßte. Vermöge dieſer Tatſachen entſpricht
die ſogenannte „Einkreiſungspolitik“ und der jetzige Krieg
Englands gegen uns haarſcharf den alten, dauernden tradi⸗
tionellen Methoden der engliſchen Politik. Wer fie mit uns
verdammt, wende fich gegen dieſe Methoden — nicht gegen
Perſonen! Nur darüber konnte in England Streit ſein und
beſteht noch Streit, ob man nur die junge Seegeltung Deutſch⸗
lands, ſeinen Welthandel, ſeine Kolonialkonkurrenz bei erſter
Gelegenheit vernichten müſſe, oder ob auch ſeine innereuro⸗
päiſche Machtſtellung zu treffen das Ziel der engliſchen Politik
ſein müſſe. Daß man in den führenden engliſchen Kreiſen
hier nicht den radikalen Ausführungen von Homer Lea in
feinem Buche “The day of the Saxon” (Berlin 1913 auch
deutſch) gefolgt iſt, der nur in einer Renaiſſance des „kriege⸗
riſchen“ Geiſtes in dem vermerkantiliſterten England und der
vollen Vernichtung des deutſchen Reiches das engliſche Heil
ſieht, daß man auch hier der alten engliſchen Methode treu
blieb, die Kontinentalmächte gegeneinander auszuſpielen und
in dieſem Falle das deutſche Reich als Sturmbock gegen das
Indien und Perfien gefährliche Rußland zu gebrauchen ja
allenfalls es zu dieſem Zwecke zu erhalten, das duldet keinen
Zweifel. Dies hat ſeinen Grund in der Unmöglichkeit ſolcher
„Renaiſſance“, wie ſie Lea als Vorausſetzung fordert. Auch
189
die noch bleibenden Differenzen der öffentlichen Meinung
Englands und ſeiner ernſt zu nehmenden führenden Politiker
in dieſem Kriege betreffen und betrafen nicht dieſes Axiom
von der Vernichtung der deutſchen Seemacht, ſoweit ſie mehr
iſt als Küſtenſchutz und Beſchützerin des deutſchen Handels.
Hierin iſt alles einig, was Anſpruch auf politiſche Beachtung
in England hat und nicht den obengenannten Täuſchungs⸗
quellen unterliegt, die ſich auch analog auf unſerer Seite
finden. Dieſe Differenzen betreffen allein die Frage, ob auch
nur unter einem rein kontinentalen Siege Deutſchlands das
engliſche Preſtige in der Welt nicht dauernd leiden werde und
ob es zweckmäßig ſei, ſo lange als größere Erfolge der beiden
Verbündeten auf dem Lande gegen Deutſchland noch ausge⸗
blieben, und große Stücke Belgiens in unſerem Befis find,
offene entſcheidende Seekämpfe zu wagen oder ob ſo lange
nur der Kleinkrieg des Handels und des Kolonialkrieges und
der ökonomiſchen Aushungerungspolitik gegen uns zu führen
fei — ja ob man es im Falle dauernder kontinentaler Nieder⸗
lagen der durch das Expeditionskorps unterſtützten Verbün⸗
deten zu einem entſcheidenden Schlage in diefem Kriege über⸗
haupt kommen laſſen ſolle. Alles das, was unſere geheimen
enttäuſchten Englandfreunde jetzt ſo maßlos haßerfüllt Per⸗
ſonen und Intrigen zuſchreiben wollen, iſt faktiſch eine Folge
des dauernden engliſchen Weſens, der dauernden Macht⸗
bedingungen des Inſelſtaates als Spinnenleib eines „Welt⸗
reiches“, das ein Viertel der Landmaſſe und der Bevölkerung
des Erdbodens umfaßt, und der durch den deutſchen Flotten⸗
bau geſchaffenen Konſtellation. Auch dieſer Flottenbau aber
war eine Notwendigkeit. Als wir von Bismarcks Prinzi⸗
190
pien — der hierin noch ähnlich Fichte und dem älteren deut⸗
ſchen Typus dachte — abgingen, und unter den Augen
unſeres weitblickenden kaiſerlichen Herrn eine Kolonialpolitik
begannen, die uns den „Platz an der Sonne“ ſchaffen ſollte,
den allein ſchon das rapide Wachstum unſerer Bevölkerung
und das Fehlen aller Ausdehnungsſpielräume im Inlande an
unſeren Grenzen gebieteriſch forderte, da ſind wir dem Rufe
eines Schickſals gefolgt, das genau ſo ehern und feſtgefügt iſt
in der ganzen bisherigen deutſchen Geſchichte wie das Schick⸗
ſal Englands! Dieſe Schickſale beider Völker mußten zu⸗
ſammenſtoßen! Sie können nur in einem radikalen Kriege end⸗
gültig entſchieden werden. Sollte dieſer jetzige Krieg ſie nicht
entſcheiden, ſo wird es ein anderer Krieg oder eine ganze Kette
ſolcher Kriege tun. Herr Romain Rolland ſchrieb in ſeinem
Briefe an Herrn Gerhart Hauptmann: „Der Franzoſe
glaubt nicht an das Fatum, das Fatum iſt die Entſchuldi⸗
gung der Schwachen“. Er deckt mit dieſem Satze, ohne es
zu wiſſen, nur das Prinzip der frechen unheiligen Willkür
auf, das die franzöſiſche Geſchichte ſeit der franzöſiſchen Re⸗
volution, — in dem ſie klaſſiſch wurde — regiert! Umge⸗
kehrt gilt: Wie nur der ſtarke und große Menſch ein echtes
„Schickſal“ hat, ſo auch gerade das ſtarke, große vor den
inneren Notwendigkeiten ſeiner Geſchichte ehrfürchtige, und
den tiefen Weiſungen ſeiner inneren Konſtitution über
alle momentanen Opportunitätszwecke, etwaige Regierungs⸗
und Diplomatenwillkür hinaus folgende Volk. Eben die
Schick ſalsmäßigkeit des deutſch⸗engliſchen Krieges iſt es, die
den Krieg zu einem „gerechten“ Kriege macht; und vor der die
törichten Anklagen von Perſonen voll Ehrfurcht verſtummen
191
ſollten, Anklagen, die einen fo großen Raum hüben und
drüben einnehmen! .
Eine ſchwere, berechtigte Anklage gegen Perſonen iſt allein
und ausſchließlich bezüglich der unter Bülow begonnenen, dann
bis vor wenigen Wochen vor dem Kriege ſich fortſetzenden Ent⸗
ſpannungspolitik zu erheben. Daß man hier das Wahre und
Richtige ſehen konnte, das zeigt vollendet klar das Buch des
Generals Bernhardi „Deutſchland und der deutſche Krieg“,
erſchienen im Oktober 1911. Die jetzt häufig gehörte Rede⸗
wendung, das alles ſei doch, zum mindeſten von deutſcher
Seite, vollendet „gut gemeint“ und von der berechtigten Ab⸗
ſicht, den Frieden möglichſt lange zu erhalten, getragen geweſen,
iſt eine völlig falſche, ja verdammenswerte Auffaſſung. Dar⸗
um und darum allein handelt es ſich, daß wir gleichzeitig
die über Küſten⸗ und Handelsſchutz hinausgehenden Seerüſtun⸗
gen betrieben und doch jene Entſpannungspolitik betrieben —
eben hierdurch aber die von Frankreich unter Delcaffe ſchon
zu Bülows Zeit um die Jahrhundertwende gewollte und er⸗
ſtrebte Bündnisannäherung an Fraukreich ausſichtslos machten
und auch ſpätere Gelegenheiten, darunter eine ruſſiſche ver⸗
ſäumten. Ich kenne Sozialdemokraten, die im Gegenſatz
zu meiner Auffaſſung nicht dieſe Entſpannungsoerſuche,
ſondern umgekehrt den geſteigerten Flottenbau verwerfen.
Aber in der Verurteilung dieſes inneren Widerſpruchs
und der Mitſchuld der von ihm beſeelten Doppel politik
an der „Einkreiſung“ Deutſchlands, — find fie mit mir
einer Meinung. „Wohlmeinend“, „gute Abſicht“ — ja!
Aber unter der tiefſten Unkenntnis des Weſens und der
dauernden politiſchen Methoden zweier großer Nationen,
192
unter illufioniftifcher Verdrängung der Wahrheit und Wirk⸗
lichkeit an Stellen und bei öffentlichen Gelegenheiten, welche
eine Verantwortungsübernahme von einer Schwere erheiſchen,
die nur auf Grund dieſer Kenntnis und äußerſter Selbſtkritik
gegen alle außerpolitiſchen „Neigungen“ (Stammesgefühl,
liberalparlamentariſche Neigungen, evangeliſche Solidarität
uſw. uſw.) ſittlich berechtigt übernommen werden darf, ſich
auf bloße Wohlmeinendheit zu berufen, wie es jetzt beſonders
eine Reihe von Gelehrten tun, die ſich bei dieſer Mache mit⸗
beteiligten, — das iſt nicht deutſches Ethos, das iſt nicht Ethos
der „inneren“ Wahrhaftigkeit, ſondern iſt ſchlecht nach:
geahmter cant. —
Wenn es einen berechtigten und tiefen Zweifel gibt über
das Vorhandenſein der Kriterien des „gerechten Krieges“ in
dieſem Kriege, fo kann er ernſtlich allein den deutſch⸗fran⸗
zöſiſchen Teilkrieg betreffen. Daß hier Gegenſätze und
Machtkonflikte fehlen, wie fie im ruſſiſch⸗deutſch⸗öſterrei⸗
chiſchen und deutſch⸗engliſchen Kriege vorhanden ſind, —
das fieht Jeder. Intereſſengegenſätze von der Art, wie fie
in Marokko, in Sachen des Kongoſtaates und der jüng⸗
ſten franzöſiſchen Levantepolitik beſtehen, rechtfertigen einen
innereuropäiſchen Krieg felbftverftändlich nicht. Sie find
evident „unterkriegsgewichtig“. So bleiben als letzte kriegs⸗
beſtimmende Faktoren für dieſen Krieg nur die Ideen der
Wiedergewinnung Elſaß⸗Lothringens, die alte romaniſch⸗
germaniſche Raſſenfremdheit und die ſchon in ihrem Weſen
gekennzeichnete, ſeit der Kriſe von 1911 und der Ab⸗
tretung des Kongo neubefeuerte Revancheidee. Von ihnen
kann aber als „kriegsgewichtiger“ Gegenſatz nur die Wieder⸗
13 193
gewinnug des Elſaß überhaupt ernftlich in Frage geſtellt
werden.
Die Wiedergewinnung eines durch kriegeriſche Gewalt
eroberten Landesteiles, über deſſen rechtmäßige Zugehörigkeit
zu den beiden in Frage kommenden Staaten bei deſſen Be⸗
wohnern grundverſchiedene Rechtsauffaſſungen dauernd ob⸗
walten, kann — der inneren qualitativen Natur des Konfliktes
zufolge — einen kriegsgewichtigen Gegenſatz bilden. Freilich
nur unter gewiſſen Vorausſetzungen: Daß der Krieg, der zur
Einkörperung dieſes Landesteiles in den fremden Staat ge⸗
führt hat, entweder ſelbſt ein ungerechter Krieg war, reſpektive
ein ſolcher „gerechter“ Krieg, in dem der Zufall bei der Ent⸗
ſcheidung eine, eben dieſe Entſcheidung herbeiführende Rolle ge⸗
ſpielt hat — oder daß der eigentliche Kriegszuſtand faktiſch
nicht aufgehört hat, ſondern nur in Latenz ſich befunden hat,
da der befiegte Staat den Friedensſchluß nicht in einem
echten Willensakt vollzog, ſondern ſeine Bereitwilligkeit zum
Frieden ſeinerſeits nur als Waffenſtillſtand anſah, ſeine Be⸗
dingungen aber als die eines faktiſchen Waffenſtillſtandes.
Die Franzoſen haben hinſichtlich des Elſaß eine dauernde
Rechtsauffaſſung ihren Kindern in allen Schulen gelehrt,
nach der ſeit der Teilung des Reiches Karls des Großen, den
ſie als franzöſiſchen Herrſcher auffaſſen, das Reichsland nur
ein heilloſes Kampffeld für die Fürſten geweſen ſei, bis es
Ludwig XIV. aus dieſem Schickſal rettete und ihm durch Ein⸗
verleibung in ſeinen Staat die Bedingungen ruhiger Blüte
und Kultur gab. Unſere deutſche Auffaſſung iſt eine radikal
andere und es konnte nie einen anderen objektiven Richter ge⸗
ben, um hier zu entſcheiden — als den Krieg. Der gerechte Krieg
194
3
rar
von 1870 und 1871 und fein Friedensſchluß hatte aber die
Frage entſchieden. Er hatte hier eben jenes „höhere Recht“
gefunden, das bei Gegenſätzen ſolcher Natur der Krieg allein
finden kann. Oder hat man unſeren Sieg für einen Zufalls⸗
ſieg gehalten? Die an ſich bewundernswerte Einkehr des
franzöſiſchen Volkes nach dem Kriege, die Wiederkehr des
Bewußtſeins feiner tieferen Kräfte und deren baldige über-
raſchende Entwicklung, die fruchtbare Kritik, die damals frei⸗
mütig am Heere von großen Franzoſen geübt wurde, das noch
vor kurzer Zeit erfolgte Zugeſtändnis eines Forſchers wie Erneſt
Denis, der Sieg Deutſchlands ſei wohl verdient geweſen, vor
allem aber die im entgegengeſetzten Falle ganz unbegreifliche
Friedensdauer von 44 Jahren, während der man ſich zweimal
bis zur dichteſten Nähe eines deutſch⸗franzöſiſchen Bündniſſes
entgegenkam, bezeugen das offenſichtliche Gegenteil. Bezüg⸗
lich der Eventualität des latenten Krieges urteilt Kant: „Es
ſoll kein Friedensſchluß für einen ſolchen gelten, der mit dem
geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege
gemacht worden‘ (1. Präliminarartikel). Und er ſetzt er⸗
läuternd hinzu: „Denn alsdann wäre es ja ein bloßer Waffen⸗
ſtillſtand, Aufſchub der Feindſeligkeiten, nicht Friede, der
das Ende aller Hoſtilitäten bedeutet, und dem das Beiwort
„ewig“ anzuhängen ſchon ein verdächtiger Pleonasmus iſt.
Die vorhandenen, obgleich jetzt vielleicht den Paziszierenden
ſelbſt noch nicht bekannten Urſachen zum künftigen Kriege
ſind durch den Friedensſchluß insgeſamt vernichtet, ſie mögen
auch aus archivariſchen Dokumenten mit noch ſo ſcharfſichti⸗
ger Ausſpürungsgeſchicklichkeit ausgeklaubt fein.‘ Nur um
den Preis, Frankreich die Schuld eines verbrecheriſchen Frie⸗
13 198
densſchluſſes zu vindizieren, könnte man alfo die Sache des
Elſaß als einen kriegsgewichtigen Gegenſatz gelten laſſen.
Aber ſelbſt ein ſolcher beſtand faktiſch nicht. Wie wäre
ſonſt während dieſer Zeit dieſe doppelte Bündnisnähe mög⸗
lich geweſen?
Es bleibt alſo nur die, in die alte romaniſch⸗germaniſche
Raſſenfremdheit eingebettete Revancheidee, die bereits in ihrem
Weſen charakteriſtiert wurde. Nun iſt nichts klarer, als daß
ein purer „Revanchekrieg“ ein abſolutes ſittliches Monſens ift.
Die eitle, mehr und mehr zum niedrigen Rachegefühl herab⸗
geſunkene Spieleridee der Revanche — ohne neu entſtandene
oder vorher ſchon lebendige Machtgegenſätze — zum ziel-
gebenden Moment der Politik eines großen, in ſeinen Kultur⸗
leiſtungen bewunderungswürdigen Volkes zu machen, an⸗
ſtatt, da der Franzoſe nun einmal ſo eitel iſt, zu einem unter⸗
geordneten Bedürfnis, das gelegentlich einmal, wenn es ernffe
pofitive Zwecke erlauben und ſich die Sache in fie einfügt, be⸗
friedigt werden kann — das iſt und bleibt der Gipfelpunkt des
politiſchen Verbrechens. Ich vermag in Ehrfurcht auf die
großen, welthiſtoriſchen Gegenſätze zu ſehen, die zwiſchen
Deutſchland⸗Oſterreich und Rußland, Deutſchland und Eng⸗
land beſtehen; ich vermag dabei — zwar ohne Liebe — aber
doch mit dem kühlem Blicke geſchichtlich nacherlebenden Ver⸗
ſtehens auf dieſe uns feindlichen Völker zu blicken. Hier aber
ergreift ſinnloſer Schmerz meine Seele über einen beiſpielloſen
Niedergang menſchlicher und nationaler echter Größe. Trauer
und Schmerz über ein ſo verführeriſches und leicht verführtes
und mit Hilfe ſeiner eigenen Schwächen von klugen und ſkru⸗
pelloſen fremden Staatsmännern verführtes Volk und tiefſte
196
Verachtung der Perſonen, die ein ganzes Volk, die die geiſtige
Perſönlichkeit einer edlen Nation zur Sklavin ihrer eigenen
ſpieleriſchen Eitelkeit und ihres unfruchtbaren Haſſes entwür⸗
digt haben. Es gibt keine traurigere Geſchichte einer Idee
und eines Gefühls — tragiſch fie zu nennen fehlt ihr die Würde
der inneren Notwendigkeit — als die Geſchichte der franzö⸗
ſiſchen Revancheidee. Es gab eine Zeit, wo fie ſich nicht nur
einem Gefüge höherer politiſcher Zwecke wie dem des Wieder⸗
auf baues des Frankreich durch England Stück für Stück
entriſſenen Kolonialreiches auf der Grundlage der ihm noch
gebliebenen und neuerworbenen afrikaniſchen Beſitzungen unter⸗
zuordnen ſchien; wo ſie außerdem noch jenes Zuges ritterlicher
Helle, Bravour und Kühnheit nicht entbehrte, die dem Fran⸗
zoſen trotz der dieſe Tugenden begleitenden Schatten ſo wohl
anſteht und die ihrer Herkunft aus dem ritterlichen mit galli⸗
ſchem Sinn für edle „gloire“ geführtem Kampfſpiel entſpricht.
Beſchränkt vor allem auf die Armee, getragen von einer
ſtarken Seele wie der Seele Gambettas, und noch nicht in
die tieferen Schichten der Volksexiſtenz als wurmendes Reſſen⸗
timent hineingefreſſen, war ſie weder ohne jenes höhere Recht,
das eine glorreiche Geſchichte einer ritterlichen Armee gibt,
noch ohne den echt galliſchen Reiz einer gewiſſen ſchönen und
liebenswürdigen Verwegenheit. Erſt dadurch, daß ſte dieſen
ihren urſprünglichen Ort — die Armee — verließ und eine
Kette von bourgeoiſen, politiſch aller höheren Pläne baren,
in 40 Jahren Zo mal wechſelnden Regierungen anſteckte,
die bald mehr von Gnaden eines plutokratiſchen Pöbels bald
mehr von Gnaden eines, alle Grundlagen moraliſcher Autori⸗
tät zerſetzenden Maſſengeiſtes lebten, — eines Pöbels, der
197
auf alle Fälle alle großen Traditionen Frankreichs, voran
jene des Geiſtes und der Religion mit ſeinen dicken Bour⸗
geoisfüßen niederzutreten begann und dem alles, was in
Frankreich noch Geiſt, Würde und Hoheit beſaß (in Kunſt,
Literatur, Prieſtertum) ſich ſtets ſo auffällig ferne hielt, —
erſt als gleichzeitig mit dieſer Verallgemeinerung und Ver⸗
gröberung, die Revancheemotion in einer Friedenszeit faſt
eines halben Jahrhunderts ihre ritterliche Helligkeit verlor
und bis zur Ausbildung eines immer dumpferen, verhaltene⸗
ren halberſtickten Rachegefühls gleichſam in das Innere der
Volksſeele, wühlend, zerſetzend und vergiftend zurückſchlug:
erſt ſeit dieſer Zeit iſt ſie zu jener unſeligen Macht ge⸗
worden, die Frankreich ſchließlich zur willfährigen Dirne
der klugen Pläne König Eduards, der ruſſiſchen Staats⸗
männer und der in den Volksentwicklungen Rußlands und
Englands wohlgegründeten Machtintereſſen gemacht hat.
Seit Frankreich aber gar alle ſeine Rechtsforderungen auf
Agypten aufgeben mußte und das damals in Paris ſo ge⸗
ſcholtene „perfide Albion“ ſeinem großen Plane, einen Ko⸗
lonialſtaat von Senegambien quer durch Afrika bis zum
Roten Meere und Abeſſinien zu legen ſich entgegenſtemmte,
als es von Faſchoda, das den Übergang zu ſeinem öſtlichen
Beſitze bilden ſollte, durch Englands Kriegsdrohung vertrieben
wurde und dieſen Kampf um ein pofifives, großes Ziel nicht
wagte oder nicht wagen durfte, — ſeitdem fehlen feiner äußeren
Politik auch alle größeren, beherrſchenden Ziele. Nachdem die
Schmach von Faſchoda — wie vergeßlich war hier das leicht⸗
verletzliche, nachträgeriſche Frankreich! — vergeſſen war,
und König Eduard, zuerſt als überall ſich in Paris an⸗
198
ſchwatzender Lebemann, dann als König ſchon unter der
Herrſchaft der Idee der Einkreiſungspolitik alles tat, um
Frankreich zu gewinnen und die „Schmach“ Frankreich ver⸗
geſſen und unter der alten Revancheidee gegen Deutſchland er⸗
ſticken zu laſſen (1904), als gar noch England in der Marokko⸗
ſache Frankreich hilfreichen Beiſtand leiſtete, waren auch die
äußeren Dispofitionen gegeben, um den Revanchegedanken
zum Axiom ſeiner Politik zu machen. Nichts lenkt ja den
Geiſt ſo einſeitig zu unträchtigem Verweilen in der Sphäre
der Vergangenheit zurück, nichts hütet und hegt ſo ſehr
einen alten halberſtickten „Groll“ wie der Mangel großer,
das Leben beherrſchender Aufgaben. Bildung und Geiſt leben
in Frankreich ſeit langem ferne von der Sphäre ſeiner Regie⸗
rung. Erſt ſeit Aufkommen des ſogenannten „Nouveau esprit“
und Poincaré erfolgte eine leiſe Annäherung. Der Typus des
gewandten beredten Rechtsanwaltes (ſchon Auguſte Comte
nennt ihn verächtlich den „Legiſten“ und den Typus des ſchlech⸗
teſten Staatenlenkers), der Fragen der großen äußeren Politik
nach Analogie mit den Privathändeln ſeiner Aktenbündel auf⸗
zufaſſen pflegt, konnte ſolche Aufgaben nicht erſpähen; fühlte
ſich aber in ſeinem Plebejerherzen geſchmeichelt, wenn ein hoher
engliſcher oder ruſſiſcher Herr, der ihn in ſeinem Privatberuf
und auf Grund ſeiner Perſon keines Blickes gewürdigt hätte,
ihn eines Geſpräches über die Geſchicke der Welt würdigte. So
kam es zu den rieſenhaften Anleihen Frankreichs an Rußland
(17 Milliarden), unter dem feſten Druck Rußlands zu dem
Beſchluß der dreijährigen Dienſtzeit, die bis zum Jahre 1918
Frankreich in volle Kriegsbereitſchaft geſetzt hätte, zu den be⸗
kannten, trotz ihrer ſcheinbar nur militäriſch⸗techniſchen Fragen
199
dienenden Natur, verſchwöreriſchen Beſprechungen mit Eng:
land, ſo dazu, daß Frankreich wider ſeinen tieferen Gemein⸗
willen von dem ekelgewordenen, von England und Rußland
emporgefütterten Gefühl ſeiner Rache in einen Krieg ge⸗
ſchleppt wurde, der es vielleicht in eine Macht zweiten Ranges
zurückwerfen kann, auch dann noch könnte, wenn Deutſch⸗
land gegen ſeine übrigen Feinde keinen zweifelloſen Sieg
erfechten würde.
Hier und hier allein beſteht alſo das Recht, einzelnen Per⸗
ſonen und Koterien in der franzöſiſchen Regierung, ſowie ein⸗
zelnen Perſonen der engliſchen und ruffifchen Regierung und
Diplomatie (König Eduard, Grey, Iswolsky u. a.), die auf
die erſteren anfeuernd einwirkten, eine die franzöſiſche Kriegs⸗
politik mitentſcheidende Schuld moraliſcher Natur beizu⸗
meſſen, die von tragiſcher Verſchuldung notwendiger Volks⸗
entwicklungen wohl zu ſcheiden iſt.“ Hier klage man an,
hier zeige man auch moraliſche Entrüſtung! Das iſt die
ungeheure Paradoxie, die für jeden Denkenden ſo unendlich
lehrreich iſt, daß gerade in demjenigen Staatsweſen, das ſich
als der klaſſiſche Hüter der republikaniſchen Staatsform und
der Demokratie fühlt, in dem Mitglieder der radikal⸗
ſozialiſtiſchen Parteien längſt regierungsfähig ſind, über ein
Jahrzehnt hindurch die geſamte äußere Staatspolitik ſich in
Bahnen bewegen konnte, die den tieferen Gemeinwillen des
franzöſiſchen Volkes völlig entgegen waren und deren Be⸗
ſchreiten in einer Weiſe von einzelnen ehrgeizigen ſpieleriſchen
Abenteurern und deren Anhang inauguriert worden iſt, wie
dies in keinem monarchiſchen europäiſchen Staat, — nicht
einmal im autokratiſchen Rußland je möglich geweſen wäre!
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Der innere Widerfpruch einer gang monarchifch geformten,
hyperzentraliſtiſchen Verwaltung und ſtets wechfelnder Kam⸗
mermajoritäten, die fie regieren, läßt dieſen Hergang allein mög:
lich erſcheinen. Selbſt die Nachtträume eines deutſchen Kaiſers
in der Nacht bringen den Gemeinwillen des deutſchen Volkes
noch tiefer zum Ausdruck als die wachen Gedanken und Über⸗
legungen jener Männer Frankreichs. Und angeſichts dieſer
nicht nur undemokratiſchen, ſondern ethiſch antidemokratiſchen
franzöſiſchen äußeren Politik, die Frankreich an den Rand des
Abgrundes geführt und zu einem Kriege gegen den echten
Gemeinwillen des franzöſiſchen Volkes gebracht hat, wagt
man in England und Italien (fiehe das Verhalten der italie⸗
niſchen Republikaner), ja ſelbſt in Amerika zu ſagen, daß die
deutſche Sache darum gegen die „Demokratie“ der ganzen
Welt gehe, da ſie gegen Frankreich gehe, ihren „Hort“,
und daß ſelbſt Rußland noch der „Demokratie der ganzen
Welt“ diene, da es Frankreich helfe! Beginnt hier nicht
ſchon das Satyrſpiel zu jenem unſagbar tiefen Fall Frank⸗
reichs?
Auch das zweite Hauptkriterium für einen gerechten Krieg
— daß er dem echten Gemeinwillen des Volkes entſpreche,
fehlt alſo dem franzöſiſch⸗deutſchen Krieg auf franzöſiſcher
Seite. Es war das grauſige Schauſpiel, das Schwächlinge
bieten, die ein Jahrzehnt lang eine dunkle Sache mit uner⸗
müdlicher Heftigkeit betrieben haben, — im letzten Augen⸗
blick, da fie zur Verwirklichung führen ſoll, aber im er⸗
wachenden Gefühl ihrer eigenen Schuld und ihres Nicht⸗
gewachfenfeins vor der Verantwortung zurückſchandern, gleich⸗
wohl aber von den Konſequenzen ihres dunklen Treibens mit
201
der Gewalt der praktiſchen Logik gezogen, zur Tat gezwungen
werden, — das die franzöfifche Regierung bot, als fie von der
unſrigen nach Eintritt unſerer Mobiliſierungsordre gefragt
wurde, wie ſie ſich verhalten wolle. Hinter ihrer halb
trotzigen, halb ausweichenden Antwort, „ſo wie es dem
Intereſſe des franzöſiſchen Volkes gemäß“ ſei, lag der ganze
Jammer einer im Kerne unſchlüſſigen, aber durch die Logik
ihrer Politik über das, was ſie verantworten konnte, weit fort⸗
geriſſenen Regierung. Man ſieht: Es war nicht ein neuer
reſoluter Willensakt, der ſeitens der franzöſiſchen Regierung
die Führung dieſes Krieges bejahte — es war lediglich die
ſchon jetzt als furchtbar empfundene bloße Konſequenz der
eingegangenen Bündnisverpflichtungen zu Rußland ſamt der
17 Milliarden Kredit, die nun einen Entſchluß Menſchen
abrangen, die ſich zu klein für ihn fühlten. Umgekehrt lag
die Sache bei uns. Wir wollten dieſen Krieg, als er reif
und notwendig geworden war. Wir ſchrieen nicht à bas la
guerre, bevor wir nach Frankreich zogen! Aber wahrlich,
wir wollten nicht jene Politik der Eduard, Grey, Iswolsky,
Delcaffe, die ihn auch gegen Frankreich notwendig machte;
dieſe Politik, die unter dem Schein der Liebe zu Frankreich und
der ſchmeichelnden Bewunderung ſeiner Reize nur die ſuk⸗
zeffive Großfütterung des tiefſten Feindes war, den Frank⸗
reich gegen ſich ſelbſt in ſeinem Buſen barg: Seiner ihm alle
poſitiven, politiſchen Ziele verdeckenden Rachſucht. Ich kann
mich des Eindruckes nicht entſchlagen: Es iſt etwas Teuf⸗
liſches, etwas grauſig Dämoniſches in einer Politik, die durch
die Großfütterung eines, ein ganzes Volk verderbenden und
zerfreſſenden Haſſes kalt nur auf die Förderung der eigenen
202
egoiſtiſchen Zwecke durch eben dieſen Haß gerichtet iſt! Die
das eigene Gute oder für gut Gehaltene durch das Böſe und
das Selbſtmörderiſche im „Freunde“ verwirklichen laſſen
will! Ewig ſchließt dies die ſittliche Weltordnung von ſich
aus! Ewig wird die Häupter derer, die es getan, jene
Schmach bedecken, die die Schmach des Judas iſt — den
Dante in die tiefſte Tiefe der Hölle verweiſt. Auch das
ift kein ſchönes Amt, hier der vom göttlichen Richter beſtellte
Henker ſein zu müſſen; hier die ſo heillos verletzte ſittliche
Ordnung der Welt, die eine Ordnung des heiligen Gottes
iſt, wieder einrenken zu müſſen. Und das iſt nun unſeres
Amtes geworden! Aber mag es „ſchön“ oder „unſchön“
fein: Wir Deutſche find keine galliſchen Schönredner und
wir folgen hier wahrlich am wenigſten unſerer Neigung, fon:
dern dem Gebot einer furchtbaren Pflicht. Dies Amt iſt
nicht „ſchön“ — aber es iſt heilig! Selbſt das Merkmal
ewiger Dummheit, das der ſinnvolle Volksmund mit dem des
ewigen Haſſes dem „Teufel“ zuteilt, fehlt hier nicht. Denn
wie ſollte die Politik, die ein Volk innerlich tötet, auch nur
den Intereſſen der Verführer dauernd helfen? Wenn der
Kündiger der Herzen auch heute — auch jetzt in dieſem Augen⸗
blick — prüfte, bei welchen Völkern mehr echte Liebe iſt für
Frankreich, viel Liebe dabei, die ſich ſchüchtern wie vor ſich
ſelbſt verſteckt, die ſich unter dem Druck des Krieges nicht
hervorwagt, die ſich ſchämt und zittert, bei den Verbün⸗
deten, deren Heere auf ſeiner Seite kämpfen oder bei uns, die
wir jetzt ſeine Felder und Städte verwüſten und ſeine Jugend
dezimieren — und dies mit jener deutſchen Kraft und deut⸗
ſchem Angriffsgorn, der nichts weiß von giftigem Haſſe —
203
was würde er gewahren? Er würde auch — ich kenne viele
Beiſpiele — beim gemeinen Mann ſelbſt, der nichts weiß von
franzöſiſcher Form, Kultur, von klaſſiſcher Logizität und der
tiefen Schönheit franzöſiſcher Wiſſenſchaft, erſt recht nichts
von franzöſiſcher Fineſſe, hinter der empfundenen ſittlichen
Notwendigkeit, dieſen volkswidrigen Staat ebenſo furchtbar
zu ſtrafen, als ſeine Sünde furchtbar war, — er würde hinter
allem Angriffszorn und aller Angriffswut der „Barbaren“
noch eine faſt gerührte Liebe zum großen guten Kerne Frank⸗
reichs gewahren, zum Volke Frankreichs, zu all dem auch, in
dem es uns ſittlich und geiſtig komplementär zu ergänzen, in
dem es das ernſte, dunkle, unbewußte, ſchwere, erhabene, ger⸗
maniſche Leben heiterer, klarer, leichter und ſchöner zu machen
vermag. Er würde daneben überall in Deutſchland ein tiefes
Mitgefühl finden für die Mot und das Geſchick Frankreichs,
das mitzuverwirklichen uns die ewige Gerechtigkeit als ſchwer⸗
ſten Dienſt in dieſem Kriege verordnet hat.
Aber noch mehr! Sehen wir einmal von England ab.
Sein Bündnis mit Rußland iſt völlig anderer Natur, als
das Bündnis Frankreichs mit Rußland. Es entſpricht nicht,
wie das letztere, dem Wunſche, Deutſchland auch als inner⸗
europäiſche Macht in eine Macht zweiten oder dritten Ranges
zu verwandeln; es iſt nur Folge der alten Gleichgewichts⸗
methode und im Geheimen rechnete man mit einer ſtarken
Schwächung Rußlands durch die deutſchen Waffen. Dazu
find die politiſchen Lebensgeſetze des Inſelſtaates fo eigentüm⸗
liche und ſpezifiſche, daß er jedenfalls denjenigen Weſtſtaat dar:
ſtellt, der von der großen welthiſtoriſchen Auseinanderſetzung
der Oſtmächte mit den kontinentalen Weſtmächten, die ſeit
204
dem japaniſch⸗ruſſiſchen Kriege in den Geſichtskreis der Welt⸗
geſchichte getreten iſt, in ſie ein ganz neues Bewegungs⸗
element hineingetragen und — relativ — am unabhängig⸗
ſten iſt. Hätte der große Drang von Oſt nach Weſt, der
mit der Niederlage des zum Teil ſeeliſch noch immerhin
europanahen Rußlands und der Erſchütterung ſeiner Ex⸗
panfionspläne gegen den Oſten begann, und der ſich in
dieſem Kriege als Bewegung der halbaſtatiſchen Autokratie,
des Byzantinismus und der Orthodoxie, gegründet auf das
Eigentümliche und relative Aſtatiſche in der ruffifchen Welt⸗
anſchauung, aber im Gegenſatze zu der ſogenannten Euro⸗
päiſterungsbewegung in Rußland ſeit Peter dem Großen
fortſetzt, — hätte dieſer Drang welthiſtoriſchen Erfolg, wür⸗
den die weſteuropäiſchen Kontinentalmächte aus derjenigen
führenden geiſtigen und politiſchen Weltſtellung verdrängt,
durch die ſie in einem gewiſſen Sinne der ganzen menſchlichen
Kulturwelt den Stempel ihres eigentümlichen Weſens auf:
drückten, ſo würde damit das engliſche Weltreich noch relativ
am wenigſten betroffen. Die Wendung ſelbſt aber wäre
die radikalſte, die ſeit dem Untergang des Römerreiches und
dem Erſcheinen der Germanen die Geſchichte genommen hat.
Englands Exiſtenz hängt viel mehr von der techniſchen Frage
der Landungsmöglichkeit an feinen Küſten ab, als von dieſer
welthiſtoriſchen Frage. Freilich: Gelänge es dabei dem
Weſten nicht, im Sinne des weitſichtigen, ſeiner Zeit nur zu
ſehr auf die gelbe Gefahr verengten Kaiſerwortes „Europas
heiligſte Güter zu wahren“, d. h. die oſtweſtliche Bewegung
umzukehren, ſo wäre es mehr als fraglich, ob England, ſelbſt
wenn es dann noch politiſch und ökonomiſch exiſtenzfähig
205
wäre, allein auf fich geſtellt, auch die Führerſchaft der euro⸗
päiſchen geiſtigen Kultur auch nur bewahren, geſchweige dieſe
Kulturmacht führen und ſteigern könnte. Wahrſcheinlicher
iſt, daß der alte utiliſtiſche Geiſt in ihm dann noch mehr das
Übergewicht erhielte und es lediglich zum Lieferanten und
Dienſtboten der Ziviliſationsmechanismen, die für dieſe neue,
nun zur Herrſchaft gekommenen öſtlichen Kultur brauchbar
wären, herabſänke, im Banne, in den Scheuklappen ſeines jetzt
ſchon ſo ſtarken „inſulären Denkens“ aber völlig ſich geiſtig
verdunkelte. Von Newman, O. Wilde bis zu Cheſterton und
Shaw zeigt ſich immer ſtärker, daß in England der Geiſt, —
wenn nicht wie in Newman als Märtyrer — nur mehr als
Poſſenreißer Platz hat. Die ruſſiſche Gefahr kennt auch Eng⸗
land gut genug; und da es fie kennt, würde es einer Ruſſiftzie⸗
rung Europas, ſelbſt einem über Deutſchland ſiegenden Ruß⸗
land ſicher entgegentreten — wenn nur die deutſche Flotte vorher
vernichtet iſt. Das Wort des Poſſenreißers Shaw, man müſſe
zuerſt „mit Hilfe Rußlands den deutſchen Militarismus, dann
mit Hilfe Deutſchlands die ruſſiſche Autokratie treffen“, gibt —
ſo widerſpruchsvoll es iſt — die eben hier „widerſpruchsvolle“
Meinung des Inſelvolkes ganz treffend wieder. Wie ganz
anders aber iſt das franzöfifcheruffifche Bündnis, iſt die Unter⸗
ſtützung, die das arme verführte Frankreich jetzt der großen
Bewegung von Oſt nach Weſt leiſtet, zu beurteilen! Schon
in der Tatſache dieſes perverſen Zuſammengehens ſteckt auf
ſeiten Frankreichs ein geheimer Wille zur Dekadenz, eine
Wirkung eben desſelben Grundwillens, der ſich im Bevölke⸗
rungsrückgang und Zwei⸗ und Dreikinderſyſtem äußert,
eine ſo geſuchte Nichtachtung weſteuropäiſcher Kulturwürde,
/ 206
rc Be
— W — 33 * Wir, —
eine fo hyſteriſch weibiſche Preisgabe jahrhundertelangen
Staats⸗ und Kulturwollens für eigenes Rancüne⸗ und Rache⸗
gelüſt zugunſten des autokratiſchen Oſtſtaates, daß ſchon die
Tatſache des Bündniſſes — wenn man ſie allein für ſich
betrachtete — die ſtärkſte Sprache für die Wahrheit des
ſogenannten Teſtamentes Peter des Großen und jener ſlavo⸗
philen, byzantiniſchen Geſchichtsphiloſophie der Doſtojewski,
Leontjew, Soloojew, Pobjedonoszew, Tolſtoi reden würde, die
bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der Gedanken und Ziele die
Lehre von der weltgeſchichtlichen Ermüdung und Ausgelebt⸗
heit des europäiſchen Weſtens predigen und dem ruſſiſchen
Volk und Staat das ſchimmernde Ideal einer großen kultu⸗
rellen Zukunft in Weſteuropa prophezeiten. Hier darf man
wirklich einen Augenblick die ernfte Frage im Sinne jener
großen ſlaviſchen Denker ſtellen:
Iſt Weſteuropa vielleicht doch wert, zugrunde zu gehen,
da einer der zentralſten Urſprungsquellen feiner jahrhunderte⸗
langen weltorganifierenden Aktion zum willfährigen Diener
ſeines größten Dauerfeindes, des Ruſſentums und des Zaris⸗
mus, geworden iſt? Frankreich, des Weſtens Verräter! Frank⸗
reich, der Verräter aller, aber auch aller feiner eigenen Staats-,
Rechts⸗, Kulturideale, feines eigenſten Wollens, feiner eigenen
Kraft! Du edles, du klaſſiſches Frankreich des 17. Jahr⸗
hunderts, Reine, Stolze, Ritterliche du, unſerer heiligen weſt⸗
lichen antignoſtiſchen, auf Tat und Liebe gegründeten Kirche
älteſte Tochter, du Land der Klarheit des Geiſtes, der höchſten
Ingenioſttät des erfinderiſchen Denkens und der politiſchen
Freiheit — wie iſt all dein Adel und ſchließlich ſelbſt all dein Reiz
von dir abgefallen! Wie klein und gemein, wie niedrig biſt du
207
geworden — wie zerſtört dein Antlitz, ſeit Haß und Neid nur
mehr die geheimen Schöpfer deiner politiſchen Liebe wurden
und du dein eigenes Weſen, dein Selbſt dem niedrigſten
Affekte der Rache zum Opfer bringſt! Seit du nichts mehr
biſt als Reaktivität, zerwühlt und zerfreſſen von nichts als
Reſſentiment! Eine Staatengruppe, die wie diejenige Europas
durch Kulturgeiſt ſolidariſch iſt, deren Glieder aber ſich politiſch
nur mehr „lieben“ aus gemeinſamem Haß gegen ein anderes
Glied der eigenen Gruppe, und die mit Staaten außerhalb
dieſer Gruppe nur aus gemeinſamem Haß gegen ein, der eigenen
Gruppe angehöriges Glied in eine Bündnisverbindung treten,
wäre nach allen Grundgeſetzen des geiſtigen Lebens, die vom
Elementarſten ins Komplizierteſte hineinreichen, der notwen⸗
digen Auflöſung verfallen. Dies bedenke man! Man
ſtelle ſich Frankreichs Revanchegelüſte für 1870 durch einen
jetzt erfolgenden Sieg des Zweibundes geſtillt und befriedigt
vor! Vielleicht findet es dann ſein Weſen wieder! Vielleicht
kommt es dann wieder zu ſich ſelbſt. Aber — es wäre zu
ſpät! Nachdem es einmal den gemeinſamen Kulturboden
Weſteuropas, den es mit Italien als erſter gedüngt und be⸗
arbeitet hat, verraten hätte — verraten nur für ſeinen Haß —
würde es mit Schrecken in das Antlitz eines neuen Herrn
Europas ſehen, der ſchon durch die Kraft ſeiner zeugenden Lenden
allein den zierlichſten Ritter unſerer Ziviliſation zu ſchanden
machen müßte. Dieſe zuerſt nur platoniſch⸗ romantiſche
damenhafte Koketterie mit dem Zarismus, deren reale Folge
ſchon zu Beginn des Krieges der Franzoſe mit innerſtem Er⸗
ſtarren und dem kläglichen Schrei: „a bas la guerre“ gewahrte,
war mit all ihrem perverſen Reiz des Alten zum Jungen,
208
|
N
!
— — ——— — — — — ————
des Uberziviliſterten zum Roh⸗Naiven, des unfruchtbaren
Schönen zum fruchtbar Maſſigen, ja ſelbſt nur möglich, —
weil ein ſelbſtändiges nationales Deutſchland und Oſterreich
allzu derbe Annäherungen der Verliebten verwehrte. Nur
die Entfernung, das weit vom Schuß, machte den Reiz und
die Möglichkeit dieſer allzu romantiſchen Liebe aus.
Man würde daher dieſen Krieg unter einem prinzipiell
falſchen Geſichtswinkel ſehen, ſähe man nur ausſchließlich die
deutſche und öſterreichiſche Sache an ſeinen Ausgang geheftet.
Wie groß dieſe Sache und wie ſelbſtwertig ſie immer ſei, —
das, was heute auf dem Spiele ſteht, iſt faktiſch Tod oder
Sieg des lebendigen Kulturodems, der ſeit den klaſſiſchen
Griechen alle weſtliche Geſchichte und Leiſtung, allen Staat,
alles Recht bis auf deren religiös⸗metaphyſiſche Wurzeln im
weſtlichen Chriſtentum aus ſeiner Tiefe ausgehaucht hat. Und
fo weit, und doch fo charakteriſtiſch muß die Idee dieſes Kultur⸗
odems gefaßt werden, daß Hellas und Rom, ja Antike und
Mittelalter, Renaiſſance, Reformation und Nenzeit darin
ebenfo nur relativ zufällige Spielformen ausmachen, wie — erft
recht — die inneren nationalen und volklichen Sonderformen
dieſer europäiſchen Kulturbildungen, wie die Weltanſchau⸗
ungen von Gregor VII. bis Voltaire, von Thomas bis Kant,
wie alle differenten gegenwärtigen politiſchen und ſozialen
Kräfte und Ideale von Bebel bis zu Herrn von Hertling und
Herrn von Heydebrand. Alles dies und noch tauſendfältig
anderes fällt noch nicht heraus aus dem Hauche dieſes Odems,
ſondern war in ſeiner Möglichkeit noch enthalten. Aber
wahrhaft aus ihm heraus fällt — nicht etwa das Slaven⸗
tum in toto — wohl aber jener tiefe Zuſammenhang, den
14 209
griechiſche Orthodoxie, Zäſaropapismus, Byzantinismus,
religiöſer Quietismus, Knute und Schnaps, Peitſche und
Zuckerbrot, der brutale Sadismus einer rohen, niedrig ge⸗
ſtirnten Herrſcherkaſte und weibiſcher Maſochismus einer
knutenlüſternen, unorganiſchen Maſſe, den weibiſcher Ge⸗
fühlsüberſchwang und Vernunftverachtung miteinander bilden.
(Vergleiche das Kapitel: „Die geiſtige Einheit Europas“.)
Was alſo täten wir in Wahrheit, wenn wir Frankreich an
der Erreichung des Erfolges dieſer ſeiner eigenen Selbſtproſti⸗
tution und in ihr des Weſtens hindern, indem wir es nieder⸗
ringen? Wir täten — objektiv — nichts anderes, als daß wir
mit Einſatz unſerer eigenen Exiſtenz ſein beſſeres Selbſt retten
und den ſchönen Genius ſeiner Kultur für eine fernere große
Auswirkung in der Geſchichte bewahren! Ich wage zu ſagen:
wir vollzögen, indem wir jetzt vielleicht zunächſt ſein militäri⸗
ſcher Henker werden müßten, die größte Tat der Liebe auch
an ihm, die zur Zeit an ihm möglich iſt! — Und ich wage
zu ſagen: einſt wird dies Frankreich erkennen! Wird ihm
das Heil widerfahren, von uns gründlich beſiegt, ohne als
Großſtaat vernichtet zu werden, wird es damit errettet ſein von
der ewigen Schmach, durch ſeinen Verrat des weſtlichen
Kulturodems die Fahne der Kultur und Zivilifation an
Amerika abgeliefert und Europa endgültig aus ſeiner Führer⸗
ſtellung herausgedrängt zu haben, ſo wird alles Gute und
Große in dieſem edlen Volke wieder erwachen! Es wird ſeine
abenteueriſchen Rechtsanwälte, die Frankreich von einer, ſeiner
tiefſten Wurzeln, ſeiner Religion und Kirche, in der Kultgeſetz⸗
gebung (1901-1906) frech und ehrfurchtslos abzuſchneiden
ſuchten, die all ſeinen Beſitztum an Geiſt und einer edlen ritter⸗
210
lichen Heerestradition mit ihrer willkürlichen Regiererei aus
der franzöſiſchen Politik möglichſt herauszudrängen ſuchten,
die es ohne volle Kenntnis von den faktiſchen Bedingungen der
vollen Kriegsbereitſchaft eines modernen Staates in dieſes
Bündnis und in dieſen Krieg hineinlockten — es wird das
ganze Syſtem, das zur Herrſchaft dieſes Typus Menſch in
Frankreich führte, ein Typus, der ſich ſeit Jahrzehnten in
immer niedrigeren, theatraliſcheren Skandalen (Panama
1892, Dreyfusprozeß 1894, 1906, Schlachtſchiffkataſtrophen
190 und 1911, Caillauxprozeß) ſo wundervoll ſelbſt charakte⸗
riſterte, es wird dies Syſtem, deſſen erſte hiſtoriſche Keime ſchon
Balzac ſo herrlich in ſeinen lächerlichen Typen zu ſchildern
begann und dem er in der Vorrede zur Comédie humaine das
Urteil ſpricht, — zur Rechenſchaft ziehen und über den Haufen
werfen; es wird die wahre Natur ſeiner „Freunde“ erkennen
und, wie wir alle zu Gott hoffen, dann mit uns in eine
dauernde Bündnisfähigkeit gelangen.
Alſo möchte dieſer ungerechte Krieg vielleicht doch noch für
Europa zur Wurzel eines neuen höheren Rechtszuſtandes
werden? Er kann es. Aber er birgt — wie jede an ſich um:
gerechte Sache auch für uns ein hohes Maß von Wer:
führung, einer zwiefachen Verführung, der wir nicht folgen
dürfen, nicht, um keinen Preis! Die erſte Gefahr dieſer
Verſuchung beſteht darin, daß wir, von vornherein an einen
eventuellen Krieg mit Frankreich fo viel beſſer angepaßt, als
an einen Krieg mit Rußland und erſt recht mit England,
mehr dasjenige tun, was wir können als das, was wir ſollen;
dazu ſind unſere militäriſchen Operationen gegen Frankreich
ſo ſehr viel weiter fortgeſchritten als jene gegen Rußland und
14* 211
England! Die Gefahr liegt allzunahe, daß wir — eine wirk⸗
liche Austragung des echten welthiſtoriſchen Gegenſatzes
zwiſchen uns (einfchließlich Oſterreichs) und Rußland iſt in
dieſem Kriege von Hauſe aus nicht zu erwarten — ohne end⸗
gültige Auseinanderſetzung mit England zu einem zu frühen Ge⸗
ſamtfrieden gelangen würden; dann aber für die ungeheuerſten
Opfer und Unkoſten dieſes Krieges in einſeitiger Weiſe Frank⸗
reich, und Frankreich zum großen Teile auch dafür belaſteten,
was uns unſere anderen Feinde an Schaden zugefügt haben.
Dies aber müſſen wir — nach Möglichkeit — unbedingt zu
vermeiden ſuchen! Soweit es nur irgendwie angeht, müſſen
wir in den beiden gerechten Kriegen überhaupt, hier aber an
erſter Stelle mit England zu einer möglichſt endgültigen Aus⸗
tragung der großen Gegenſätze kommen. Und kein Opfer
darf uns für dieſes Ziel zu teuer ſein! Die Spannung mit
Frankreich iſt aufzuheben mit dem gegenwärtigen Typus von
franzöſiſcher Regierung; die anderen Spannungen ſind ſolche
welthiſtoriſcher Art erſter Ordnung und müſſen — ſollten ſie
nicht hinlänglich ausgetragen werden — in immer neue Kriege
hineintreiben! Iſt aber eine Austragung jener welthiſtoriſchen
Gegenſätze in dieſem Kriege, wie zweifellos die Austragung
ihrer gegenüber Rußland, nicht möglich — nun ſo müſſen wir
jedes Verfahren gegen ein befiegtes Frankreich vermeiden, das
es dauernd ausſchließt, daß die dann ſicher und notwendig noch
folgenden Kriege in einem Bündnis mit Frankreich geführt
werden. Wir müſſen weiſe ſein — wie Bismarck in Prag,
als er der „Queſtenberg im Lager“ hieß! Mit Abſicht rede
ich hier nur ſo allgemein und beſtimme nicht näher, was hier
„Austragung der Gegenſätze“ und was jenes zu „vermeidende
212
Verfahren gegen Frankreich“ im einzelnen bedeuten möchte.
Denn dazu iſt die Zeit noch nicht da! — In einem ungerechten
Krieg ziemt Großmut dem Sieger mehr wie in einem ge⸗
rechten!
2. Der Glaube an unſer höheres Recht in dieſem
Kriege
Alles Bewußtſein des höheren Rechtes eines Volkes wäh⸗
rend eines noch ſich vollziehenden Krieges, ob er an ſich
„gerecht“ iſt oder „ungerecht“, muß und darf nur — ſo
ſagte ich — die Form des Glaubensbewußtſeins haben, nicht
aber jenes vermeſſenen ſcheinbaren Wiſſens, das die lebendige
Tat der Rechtsfindung, die im Erfolg der Waffen in einem
gerechten Krieg allein nur beſtehen kann, überflüſſig machen
würde: und zwar jenes Glaubens, das nicht ein un⸗
vollkommenes Wiſſen iſt, ein Mangel an Wiſſensevidenz,
das vielmehr feine eigene Art von Evidenz hat, eben die
„Glaubensevidenz“, eine Art der Eoidenz, die ſich nur an
jenes tätige Feſthalten der Güte eines Willens und der
Wahrheit eines Gedankens im Zentrum der Perſon, an jene
Selbſtidentifizierung der Perſon mit einer Sache knüpft, die
wir „Glauben“ in jenem tiefen Sinne nennen, in dem Luther
das Wort begriff. Ein Glaube hat keine „Gründe“, die
ihn notwendig machen, wie der Schlußſatz aus den Prämiſſen
heraus notwendig iſt. Aber er hat „Grundlagen“, die ihn
rechtmäßig motivieren oder nicht motivieren — und dieſe
„Grundlagen“ ſind nicht etwa mit ſeinen ſeeliſchen Urſachen
zu verwechſeln.
Die Grundlagen des Glaubens an das höhere Recht
213
eines Volkes find aber immer und weſensnotwendig zugleich
Grundlagen des Glaubens an feinen Sieg! Denn eben der
Sieg iſt hier zugleich die Erwirkung und Bewährung auch
des höheren Rechtes! Selten war das höhere Recht eines
Volkes ſo beſtritten wie das unſrige! Noch ſeltener ward
an ſolches Recht tiefer und heiliger geglaubt! Und zwar
geglaubt auf unſere Weiſe, — ſo wie eben nur der Deutſche
an ſein Recht „glauben“ kann, glauben muß, ſo er
glaubt. Vergeſſen wir es nie, vergeſſen wir es auch nicht in
dieſen Tagen, daß eine gewiſſe tiefſte Wurzel deſſen, was
man „Kosmopolitismus“ nennen darf, ſelbſt ein Weſens⸗
merkmal des deutſchen, gerade als eines eigentümlichen natio⸗
nalen Geiſtes iſt! Das erſcheint paradox, daß jenes tiefe
Verſtehen, das mit dem Herzen und dem Geiſte Umfaſſen⸗
können von fremdem Volkstum, fremder Geiſtesart, das
unſere Geiſteswiſſenſchaften und unſere Geſchichtswiſſenſchaft
ſo groß gemacht, daß analog im Sittlichen eine tief⸗geheime
Mitoerantwortlichkeitsempfindung für das Geſchick der
ganzen Menſchheit im deutſchen Geiſte gerade die Seinsform
eines einmaligen, ganz individuellen, „nationalen Geiſtes“
angenommen haben. Aber eben dieſes Paradox iſt die Wirk⸗
lichkeit des Deutſchen! Auf eben dieſen Beſtandteil des
Deutſchtums gründet ſich an erſter Stelle mit, feine Welt⸗
beſtimmung, fein Weltberuf, feine Pflicht zum Welt ſinn all
ſeiner Tat und Arbeit. Und aus ihr folgt, daß es das
deutſche Gewiſſen ewig dem Deutſchen verbietet, ſich irgend⸗
ein Recht und irgendeine Pflicht anzumaßen, die er gegen
den Sinn jenes großen, in der Tiefe ſolidariſchen Ganzen
empfände, das wir die „Welt“, die Welt Gottes nennen!
214
..
Dieſer „Kosmopolitismus“ des deutſchen Weſens hatte im
Laufe der Zeiten gar verſchiedene Geſtalten. Fr. Meinecke
hat ſie uns innerhalb der politiſchen Sphäre jüngſt feinſinnig
mit allen ihren hiſtoriſchen Ubergängen entwickelt; darunter
auch Geſtalten, die wir allmählich als falſch, als verderblich
erkannt haben. Im 18. Jahrhundert hatte fie zu falſcher
Anpaſſung an Fremdes, bis zum Unglauben an den Wert
des eigenſten deutſchen Weſens geführt, ja noch mehr bis zur
Verſchüttung des Sinnes für unſer Eigentümliches, ſelbſt
dafür noch, daß eben der Kosmopolitismus ſelbſt gar nichts
Kosmopolitiſches, ſondern ein Eigentümliches, uns national
Eigentümliches iſt. Aber auch bei Fichte, bei Stein, Harden⸗
berg, Wilhelm von Humboldt bis herauf in den roman⸗
tiſchen Jugendkreis des Fürſten Bismarck mit ſeinen beiden
legitimiſtiſch geſinnten Freunden Gerlachs behielt der Kosmo⸗
politismus noch eine Macht neben, dann innerhalb der lang⸗
ſam ſich entfaltenden, vielgewandten deutſchen National⸗
idee ſelbſt, die noch nicht ſeine tiefſte Form darſtellt, die
er annehmen kann. Er war immer noch zu unmittelbar,
zu rationaliſtiſch, zu phyſiſch, zu politiſch! Immer noch galt
in irgendeiner Form der Gedanke, daß ſich der Deutſche
in ſeinem politiſchen Handeln nicht nur ſein eigentümliches
Beſtes, ſondern ein politiſches „Weltbeſtes“ zum Ziele
ſetzen, ja zum bewußten Zwecke zu machen habe; auch wenn,
wie in Fichtes „Reden“ dieſes „Weltbeſte“ in der deutſchen
Miſſion ſelbſt enthalten gedacht war. Der „Vernunft“
begriff jener Zeit (Fichte z. B. ſchildert in ſeinen Reden
das deutſche Volk als das Vernunftvolk) ſchloß im tiefſten
Grunde den Begriff einer „geiſtigen Individualität” aus,
215
d. h. einer ſolchen Individualität, die nicht erſt auf Grund
ihrer naturhaften, ſinnlichen Beimiſchungen und Funda⸗
mente zur Individualität bloß beſchränkt ſei, die viel⸗
mehr als rein Geiſtiges ſelbſt ſchon individuell und national
in einem pofitiven Sinne — nicht alſo in dem einer Berau⸗
bung und Beſchränkung einer allgemeinen Vernunfttätigkeit
ſei. Erſt Bismarck gab uns die in Tat und Wort ſo große,
ſo ehrliche Lehre, die einen ungeheuren Fortſchritt in der
politiſchen Moral bedeutete, daß eine „Politik für das Welt⸗
beſte“, ſei es auch nur im Sinne Fichtes oder des ganz anders⸗
artigen Gerlachſchen „Legitimismus“, für einen Staat der
Abgrund der Sünde ſei. Der Abgrund der Sünde — nicht
etwa ein „utopiſches Ziel“, das anzuſtreben nur die realen
Bedingungen alles Staatslebens verſagen! Aber dieſe große,
herrliche Lehre wurde nicht immer richtig verſtanden! An⸗
ſtatt eine Umformung und Verinnerung des deutſchen Kos⸗
mopolitismus in ihr zu ſehen, der zum Deutſchen gehört wie
die Luft zum Vogel, das Waſſer zum Fiſch, der das heilige
Element iſt, in dem die deutſche Seele allein lebt und atmet
— allein leben, atmen kann, atmen frei und ſelig im ewigen
Gegenſatz zu engliſch inſulärer Borniertheit, engliſcher Ver⸗
wechslung von Umwelt und Welt, engliſcher Sitte mit kos⸗
miſchem Geſetz, zu engliſchem Dummſtolz, aber auch zu
galliſcher Eitelkeit, allüberall die „Humanité“ zu vertreten
— ſahen gewiſſe „deutſchnationale Kreiſe“ in Bismarcks
großer Lehre einen Bruch mit der kosmopolitiſchen Idee
überhaupt. Sie wagten es, allen Kosmopolitismus „Traum“
und „Wahn“ zu nennen! Sie erdreiſteten ſich, an die Tiefe
der deutſchen Seele zu greifen, an den Kern des deuffchen.
/
216
Gewiſſens ſelbſt! Sie nannten fich „alldeutſch“ und löſchten
zuerſt ein Weſensmerkmal aus der Deutſchheit ſelbſt aus, das
ſie konſtituiert. Sie wollten alldeutſch ſein und waren noch
nicht einmal deutſch! Sie nannten fich „alldeutſch“ und —
ahmten äffiſch den engliſchen Egoismus und Jingoismus,
engliſche Endlichkeit, nur entſetzlich vergröbert, nach! Ihre
Deutſchheit war alſo nur Reſſentiment gegen England, das
ſie verdammten, indem ſie es nachahmten, das ſie nachahmten,
indem ſie es verdammten! Aber wie kann alldeutſch ſein,
wer zuerſt das Weſen des Deutſchen ſo abgrundtief verkennt?
Nein! Das iſt vielmehr die große Umformung, daß jetzt
erft — nach Bismarcks tiefer Lehre der „Kosmopolitismus“
den heiligſten Ort im Deutſchen fand, an den er hingehört,
der ſeiner Tiefe und inneren Schönheit allein ganz würdig
iſt: Den Ort der deutſchen Geſinnung, des deutſchen Ge⸗
wiſſens, des deutſchen Herzens und zwar an der Stelle, wo
dieſe drei ihre Geiſtesaugen vor dem Ewigen auftun — nicht
vor dem Irdiſch⸗Politiſchen — wo ſie ſtille und abgeſondert
von der Erde unmittelbarer Tat und Erdenarbeit vor Gott
und der Welt Gottes ſtehen. Wo ſie ſich geheimnisvoll mit
Gott als dem Genius der Welt auch über das noch beraten,
was der deutſche Staat zu tun habe, was nicht! Das iſt alſo
die Umformung, daß im 18. Jahrhundert und in gemäßigter
Form auch noch ſpäter der Kosmopolitismus ganz irdiſch
war, ja ein politiſcher Zweck, das Nationale aber umgekehrt
ganz ein halbtranszendentaler Traum in den Lüften der Dich⸗
tung und Literatur; daß nun aber die Nationalidee zur
einzigen und ausſchließlichen zweck beſtimmenden Idee des
politiſchen Handelns des deutſchen Staates wurde, das Kos⸗
217
mopolitiſche aber ganz in die Sphäre des Gewiſſens, der
Geſinnung, d. h. des metaphyſiſchen und ethiſchen Wie alles
und jedes politiſchen Handelns fiel. Alles mit Kosmopolitis⸗
mus, nichts aus Kosmopolitismus, möchte man mit einer
Transformierung des tiefen Schleiermacherwortes über die
Religion ſagen! Was Bismarck erkannt, war alſo: Ein
kosmopolitiſches Gut, irgendein Weltbeſtes als Zweck für das
Handeln eines Staates zu ſetzen iſt nicht eine ſchöne und hu⸗
mane, ſondern eine freche, unehrfürchtige Haltung, iſt un⸗
verſchämter Eingriff in die Güte, die Macht des heiligen
Gottes, der allein die Alliebe und die Allweisheit hat, für
das „Weltbeſte“ zu ſorgen! Wer ſich das anmaßt, ein
Einzelner oder ein Staat, der tut nichts anderes, hat nie ein
anderes getan, als ſeine Intereſſen unter die Idee des „Welt⸗
beſten“ zu verſtecken; d. h. er iſt ein Phariſäer und Heuchler!
Mit dieſer Unverſchämtheit hat ſchon Ludwig XIV., hat
auch Napoleon feine Eroberungsgier gedeckt, hat Talleyrand
auf dem Wiener Kongreß die Sieger betrogen und zu dieſem
Zwecke das leere Idol des „Legitimismus“ erfunden. Mit
dieſer unerhörten Frechheit gegen den lebendigen Gott im
Munde hat England bis zu den Worten des Imperialiſten
Chamberlain, „es liege zweifellos in der Vorſehung Gottes
für die Menſchheit begründet, daß der Globus künftighin
möglichſt viel engliſch Rot enthalte“, oder dem Worte
Curzons 1894, daß „das Britiſche Reich von der Vor⸗
ſehung zum größten Werkzeug für das Gute beſtimmt ſei,
das die Welt je geſehen hat“, bis zu ſeiner jetzigen Geſte,
es habe mit ſeiner Kriegserklärung an uns „für die Rechte
der überfallenen kleinen Völker, Serbien und Belgien aus
218
Gründen der Gerechtigkeit eintreten müſſen“, Vorſehung
geſpielt und allen ſeinen ungerechten Kolonialeroberungen —
zuletzt ſeinem niederträchtigen Verhalten in Agypten — die
Schmach der Lüge und die tiefere der Verleugnung und
Verläfterung des lebendigen Gottes hinzufügt! Wir Deutſchen
alſo, wir wollen nicht für das Weltbeſte, nicht für „die
Rechte fremder Nationen“ in dieſem Kriege eintreten, ſon⸗
dern ganz ſchlicht und recht für unſere eigenen Rechte, für
unſer „Beſtes“! Ja, wir halten ſchon die Moral, nach der
„gut“ iſt, was die Engländer hier „gut“ nennen, für abſolute
Unmoral! (ſ. Anhang). Nicht aber für unſer „Beſtes“ im
Sinne des engliſchen „Nutzens“, ſondern für das „Beſte“ in
uns, d. h. das eigentümlich Geiſtige und Mächtigſte in uns
und für ſeinen notwendigen Spielraum der Tat wollen wir
eintreten! Aber indem wir das tun werden, werden wir es
tun in unſerer eigenſten kosmopolitiſchen deutſchen Geſinnung,
die unſere handelnde Seele umſpült und umweht als ihr
einzig mögliches ſchönes Element! Nicht in Kontinuität mit
dem alſo, was andere Völker für ihr Wohl oder für das
„Wohl der Menſchheit“ halten, oder was wir uns ſelbſt
anmaßten, dafür zu halten, ſondern in erlebter Kontinuität
mit dem Herzen der Welt ſelbſt, in deſſen unendlicher Um⸗
hegung wir demütig das Herz unſeres eigenen Volkes pochen
fühlen, werden wir handeln und dabei werden wir nicht wiſſen
und deduzieren, wohl aber werden wir es glauben, es werde
eben auch dies für die Welt, für Gottes Welt das Beſte
ſein!
Und in dieſem Sinne „glauben“ wir es und halten es tief
in unſerer Seele feſt, daß eine Bewahrung unſerer Freiheit
219
und Selbſtändigkeit, daß zugleich eine Neugeburt des deut⸗
ſchen Staates und Oſterreichs in dieſem Kriege — obzwar
der Zweck unſeres Tuns allein nur und ausſchließlich durch
die Idee un ſeres Heiles beſtimmt ift — auch noch einen „Sinn“
beſitzen möge, der weit über unſer nationales Heil hinausgeht,
der alſo gar nicht Teil unſerer „Zwecke“ iſt, ſondern allein
Folge davon, daß wir Deutſche es ſind, die die Zwecke ſetzen,
daß es die kosmopolitiſche deutſche Seele iſt, aus der ſich die
Zwecke emporringen! —
Das erſte und zweifelloſeſte Fundament dieſes unſeres
Glaubens an unſer Recht iſt, daß wir einen Verteidigungs⸗
krieg führen, und zwar einen Verteidigungskrieg um Exiſtenz,
Selbſtändigkeit und Freiheit unſeres Staates — nicht alſo
um eines partikularen „Zweckes“ wegen, deſſen Aufgeben uns
dieſen Krieg hätte erſparen können, das Schwert ergriffen.
Und dieſer Satz ſteht feſt völlig unabhängig davon, ob wir
Oſterreichs Mote an Serbien kannten oder nicht, ob dieſe
Note den Krieg Serbiens mit Oſterreich vorausſehbar not⸗
wendig machte oder nicht, ob Oſterreich und wir Rußlands
Eingreifen bei einem ſerbiſch⸗öſterreichiſchen Kriege voraus⸗
ſahen oder nicht. Wie ſich im einzelnen dieſe Hergänge voll⸗
zogen, darüber dürfen wir vielleicht einmal nach einem Jahr⸗
zehnten ſtrengen Aufſchluß aus den Archiven erwarten. Auch
wenn unſere Verhandlungen ſo beſchaffen waren — dies
wäre ein eminentes Verdienſt unferer Diplomatie geweſen —
daß wir durch ſie unſeren Gegner moraliſch zwangen, uns
jetzt und nicht erſt zwei oder drei Jahre ſpäter anzugreifen,
ſo bleibt unſer Krieg gleichwohl ein purer Verteidigungskrieg.
Beſſer als alle Uberlegungen über die Politik unſerer Feinde
220
feit 1891 (deutſch⸗franzöſiſches Bündnis), 1904 (Einver⸗
nehmen Englands mit Frankreich) und 1907 (Einvernehmen
Englands mit Rußland), beſſer ſelbſt als die große Menge
von allzuberedten, jetzt an das Tageslicht gekommenen Tat⸗
ſachen und Einzelabmachungen zwiſchen Belgien⸗Frankreich,
Belgien⸗England, Rußland⸗England über militäriſches Zu⸗
ſammenwirken gegen uns, zeigt dies der einfache Tatbeſtand,
daß uns beſtimmte angebbare Zwecke in dieſem Kriege —
außer eben der Erhaltung unſerer politiſchen Reichsexiſtenz
ſelbſt — fehlen. Vernichtung der deutſchen Seemacht, des
deutſchen Kolonialreiches und des deutſchen Handels — even⸗
tuell Abſchneidung Deutſchlands vom Meere, Wieder⸗
gewinnung des Elſaß, Rußlands Balkanhegemonie und Kon⸗
ſtantinopel — dies ſind klar durchſchaubare „Zwecke!“ Wo
wäre auf unſerer Seite ein Gleiches? Haben wir einſt
„Zwecke“ — erſt durch dieſen Krieg, erſt in ihm wurden ſie
und werden fie geboren! Von einer innereuropäiſchen Ex⸗
panſtonspolitik konnte bei uns auch nicht im entfernteſten die
Rede ſein! Friedlich geſinnt bis zu einem Grade, der uns den
frechen Ruf der franzöſtſchen Preſſe „Il a peur, le bon Guil-
laume“ (bei Unkenntnis der Perſon unſeres Kaiſers) faſt ver:
ſtändlich machen konnte, der „reine Thor“ in dem Itnmer⸗
und Immerwiederglauben an engliſche Friedens- und Freund⸗
ſchaftsbeteuerungen, auch in unſeren ökonomiſchen und gei⸗
ſtigen Intereſſen ganz nur auf den Frieden gerichtet, konnte
es für uns einen eigentlichen pofitiven Kriegs zweck gar nicht
geben. Allein — unſere Exiſtenz, allein unſere Exiſtenz als
machtvolles, wachſendes Volk und als wachſames, auf feine
Rüſtungen bedachtes Staatsweſen war der Dorn im Ange
221
unſerer Feinde — war das dauernde Hindernis für ihre poli:
tiſchen „Zwecke“. Hier alſo eine große zuſammenhängende
nationale, ſtammesgleiche Exiſtenz⸗, Lebens⸗, Liebes⸗ und Kul⸗
tur gemeinſchaft! Dort eine künſtliche, in einen „Verband“
zuſammengewachſene, nur in der Gemeinſchaft des Haſſes ge⸗
einte Zweck geſellſchaft von Staaten! Was Italien betrifft,
ſo war der Dreibund ſeit Italiens Feldzug nach Tripolis er⸗
heblich gelockert. Und die durch dieſe Annexion noch erſchwerte
Stellung Italiens gegen England kannten wir zu gut, um
mehr als wohlwollende Neutralität erhoffen zu dürfen.
Und was konnte denn das noch Gemeinſame in den Zwecken
dieſer Geſellſchaft gegen uns ſein! Nur und nur eines: Die
Vernichtung des deutſchen Reiches als politiſcher Einheit,
die Abſprengung der Bundesſtaaten von ihrem „Kerne“,
von Preußen. Nur dieſer eine Zweck macht es, daß dieſer
Krieg nicht aus drei Kriegen beſteht, die nur zufällig in der
Zeit zuſammenträfen und bei denen ſich die Intereſſen der
verbündeten Feinde nur an gewiſſen Stellen berührten,
daß er vielmehr den Charakter einer einzigen Kollektiohand⸗
lung und eines einzigen Krieges an ſich trägt, auch an ſich
trüge, wenn man nicht — auf dem Papier — übereingekommen
wäre, nur gemeinſam einen Friedensſchluß zu machen. Und
da dieſer Krieg einer iſt, ſo verdient er auch nur einen Namen!
Dieſer eine Name kann aber vermöge des einzig Identiſchen
in den Zwecken unſerer, in ihren Intereſſen ſo unſagbar weit
auseinandergehenden Feinde nur der Name der Sache ſein,
um deren Weſen und Exiſtenz es ſich handelt: der Name
„Deutſchland“. Dieſer Krieg iſt nicht der „Weltkrieg“ —
auch Amerika gehört zur „Welt“ — trotz ſeiner europäiſchen
222
—
Bedeutung nicht der europäiſche Krieg (auch Italien, Schwe⸗
den, Spanien, Portugal, Dänemark, Norwegen, Holland,
die Schweiz uſw. gehören zu Europa) — es iſt der „Deutſche
Krieg“ ſchlechthin. Vielleicht ſehen jetzt die Parteien, die den
deutſchen „Befreiungskrieg“ von 1813 vorſchnell mit dem
Namen „Freiheitskrieg“ benannten, daß ſie dieſen Namen
als zweite Beſtimmung des Deutſchen Krieges noch aufſparen
mußten. Denn jetzt erſt handelt es ſich um die Freiheit des
deutſchen Volkes und Staates ſchlechthin — der damals noch
nicht beſtand — um die Freiheit, die nicht eine auf⸗ und ab⸗
klebbare Eigenſchaft ſeiner Exiſtenz, als einer Summe von
Menſchen, ſondern die Wurzel ſeiner geiſtig politiſchen
Exiſtenz ſelber iſt; ihr Grund und ihr Sinn zugleich! Dieſe
„Freiheit“ geht der Exiſtenz voran, ſie folgt ihr nicht! Gäbe
es nichts weiteres zu ſagen über unſeren Glauben an unſer
höheres Recht in dieſem Kriege — dies allein machte ihn zu
einem „heiligen“ Kriege. Und nicht nur zu einem heiligen
Krieg „für uns“ — nein zu einem heiligen Kriege nur durch
uns — aber für Europa! Denn nicht nur für uns, — nein
für Europa, ja durch die Europaeinheit hindurch für die
Welt, für die Welt Gottes — iſt es von unermeßlicher
Bedeutung, daß das Weltoolk, das kosmopolitiſche Volk,
das Volk, deſſen nationale Eigenart eben dieſe große welt⸗
ſammelnde Kraft, dieſe große Kraft der Liebe und des Wer:
ſtehenkönnens alles Menſchlichen, ja alles Lebendigen iſt,
geiſtig und politiſch frei bleibe, frei für ſeine kosmopolitiſche,
ihm in dieſer beſonderen eigentümlichen Eigenſchaft allein von
Gott geſetzte Aufgabe! Und wenn uns unſer Leben nichts
gälte — nichts auch das freie Leben von unſeren Kindern
223
und Enkeln, nichts unſer Land mit feinen füßen Fluren und
ſeinem geheimnisreichen Wald — unſer, unſerer geiſtigen
Eigenart entſprechendes, gottgeſetztes Werk müßte uns der
Feſthaltung der Fundamentalbedingung ſeiner möglichen Aus⸗
führung jedes nur denkbare Opfer bringen laſſen!
Haben wir zunächſt auch keinen weiteren „Zweck“ in dieſem
Kriege, als unſere über allen „Zwecken“ erhabene ihnen vor⸗
angehende Freiheit, — höher und edler als die Zwecke, die
ſich der Geiſt vor der Tat „ſetzt“, um dann Mittel für ſie
zu berechnen und zu ſuchen, ſind in allem lebendigen Geiſt
jene Zwecke, die ſich ſelbſt aus der Tat der Erkämpfung
dieſer ſeiner Freiheit aus einem Geiſtesweſen wie von ſelber
emporringen. Höher als alle „Zwecke“ überhaupt iſt der
Geſamtſinn einer Handlung. Und damit kommen wir zu
weiteren Fundamenten des Glaubens an unſer „höheres
Recht!“
Solcher ſich aus der Tat dieſes Krieges ſelbſt mit Macht
emporringender „Zweck“ iſt aber an erſter Stelle die Zurück⸗
werfung jener Bewegungskette, die mit der ruſſiſch⸗japani⸗
ſchen Niederlage einſetzte und die ſich nun in den ruſſiſch⸗öſter⸗
reichiſchen und ruſſiſch⸗deutſchen Krieg fortſetzt! Lernen wir
doch dieſe Wiederanknüpfung der Weltgeſchichte an die mon⸗
goliſchen und hunniſchen Eroberungskriege als eine einzige
dynamiſche Kette begreifen, durch die ein Strom der Be⸗
wegung hindurchläuft!
Was gab dieſem Kriege auf unſerer Seite jene abſolute
Ibereinſtimmung mit dem deutſchen Gemeinwillen, ja jene
noch dazutretende abſolute Popularität, die er bis in die Reihen
der linksſtehendſten Sozialdemokraten hinein beſitzt: erſtens,
224
daß es ein Krieg iſt um die deutſche Freiheit, zweitens, daß
es ein Krieg iſt gegen Rußland! Und wie tief und wahr
empfindet hier unfer deutſches Arbeitervolk — tiefer und wahrer
noch als es ſelbſt weiß, wenn es dieſe Haltung nur darum
einnimmt, weil es den Hort aller „Reaktion“ im ruſſiſchen
Staate ſieht, wenn es nur des dauernden Bruches der zweifel⸗
haften, dynaſtiſchen Freundſchaft zwiſchen den Hohenzollern
und den Romanows ſich freut, die ſtets in Widerſtreit zu
dem beiderſeitigen deutſchen und ruſſiſchen Volkswillen und
Volksgefühl ſtand und ſo oft jene gefährlichen Züge des
Preußentums unterſtützt und gehegt hat, durch den es vor un⸗
geiſtiger Gewalt nicht immer zurückſcheute. Das arbeitende
Volk ahnt aber hinter dieſer Abneigung noch mehr. Es ahnt
— auch noch in dieſer ſchwachen, einſeitigen Begründung
ſeiner Empfindung — daß die Zurückwerfung dieſer Be⸗
wegungskette, die aus dem äußerſten Oſten von dem längſt
auf China lüſternen Japan ihren Ausgang nimmt, auch nicht
nur ſeinen geknechteten Genoſſen in Rußland ſelbſt und aller
Weiterentwicklung, auch nur der nicht etwa „europäiſchen“,
ſondern aus der eigenen Idee Rußlands geborenen Kultur⸗
politik Rußlands notwendig iſt, ja das Schickſal aller
Idee der in Rußland möglichen politiſchen Freiheit in Ruß⸗
land mitentſcheiden wird, — es beginnt zu ahnen, daß es
völlig unabhängig von allen innereuropäiſchen Differenzen
der Weltanſchauung, der Religion, der Politik, der Klaſſe —
ja de jure der Nation, nur eine jetzt erſt klar und allfeitig er⸗
kannte weltpolitiſche Aufgabe für jeden ‚guten Europäer“ unter
der, ſchon durch ihre geographiſche Lage beiden Ländern in die
Hand gegebenen Führung Deutſchlands und Öfterreichs gibt:
15 225
diejenigen Kultur⸗ und diejenigen menſchlichen Lebensformen
auf die Dauer zu retten, welche ſelbſt für alle jene Differenzen
mit Rußland, die noch gemein ſame europäiſche Baſts für alle
europäiſchen Nationen ſind, und deren Kontinuität ſich räum⸗
lich über das heutige Berlin, Wien, Paris, Rom und
London erſtreckt, zeitlich aber von ihnen zurückreicht über
das Rom der Päpfte des Mittelalters bis in das Rom des
Julius Cäſar und das Athen des Perikles! Das iſt das
zweite Fundament für den Glauben an die Gerechtigkeit
unſerer Sache — und gerade hier, wo es kaum mehr irgend⸗
welche gemeinſame Maße für die Werte echt ruſſiſcher und
europäiſcher Ideale? überhaupt gibt, muß das Wort
„Glaube“ dreimal unterſtrichen werden. Mitten in dem
Narrentanz eines gegenüber ſeiner Solidarität als menſch⸗
liche Lebens⸗ und Kultureinheit anarchiſch gewordenen Haupt⸗
teiles Europas, deſſen Nationen nur mehr die eigenen, im
Verhältnis zur welthiſtoriſchen Miſſton Europas winzigen
Nationalintereſſen kennen und nach ihnen tanzen, ſteht Deutſch⸗
Iand⸗Oſterreich ruhig da, um mit einem faſt erhabenen Sinn
für Ordnung und Vernunft, der „einzig Nüchternen unter
Trunkenen“, möchte man mit dem Wort des Ariſtoteles
von Anaxagoras ſagen, Ordnung und Einheit zu ſchaffen
und zu bewirken zwiſchen den von Pleonerie, Neid, Rache,
Haß trunkenen europäiſchen Genoſſen und ſein Schwert ge⸗
zogen gegen die ungeheure Maſſe des andrängenden Oſtens —
ganz ein vernünftiger Richter, ganz ein furchtbarer Krieger,
einziger Hort und Wächter europäiſcher Würde! Daß
Frankreich, daß England es nicht begreifen, daß der Gegen⸗
ſatz Geſamteuropas gegen die ruſſiſche Expanſtonsflut, die
226
ſeit zwei Jahrhunderten fo erfolgreich nach allen Himmels⸗
richtungen vordrang, ein Gegenſatz ganz anderer Größen—
ordnung (wenn ich mich eines Bildes aus der Phyſtk be⸗
dienen darf) iſt als die innereuropäiſchen Gegenſätze, daß
beide Völker im Banne des Scheuleders ihrer partikularen
Intereſſen und ihres Haſſes die Solidarität der weſtlichen
Kultur verraten, das macht ihr ſonnenklares weltgeſchicht⸗
liches Unrecht in dieſem Kriege aus! Und wenn, in welchem
Maße immer, dabei England den feſten Willen in ſich
trägt, Rußland nicht zu weit nach Weſten vordringen zu
laſſen, ja ſogar heimlich hoffen mag, daß ſein unbequemer
ruſſiſcher Konkurrent in Indien und Perſten durch Deutſch⸗
land geſchwächt werden möge: auf das Können, nicht auf
das Wollen kommt es an! Der politiſche Wille eines
Staates, hinter dem keine, ſeinen Zielen angemeſſene eigene
Kraft ſteckt, iſt die Sünde der Sünden und er muß auf die
Dauer zuſchanden werden! Es gibt kein echtes „Wollen“
ohne Könnensbewußtſein; nicht den Namen Wollen, ſondern
nur den des „Wünſchens“ verdient ein Streben, dem diefes
Moment fehlt. Das eben iſt die Frevelhaftigkeit jener eng⸗
liſchen „Gleichgewichtspolitik“, daß fie in einem Medium wie
der Menſchengeſchichte, wo es keine „Berechnung“ gibt
und je geben kann und darf, nur mit auswärtigen „Kräften“
„rechnet“, „Kräften“, die es ſelbſt nicht beſitzt, die es auch
beim beſten Willen nicht lenken kann, da ſolche Unlenkbar⸗
keit von außen her die „moraliſche Kraft“ im Gegenſatz zur
mechaniſch⸗ phyſiſchen geradezu definiert! Woher hätte Eng;
land, das ſeine kriegeriſchen Inſtinkte nach Lea's treffender
Beſchreibung in einem merkantilen Leben verkümmern ließ,
1 227
15
deſſen einft fo gewaltiger Adel ſeit der Reformbill ſchon
immer mehr an Einfluß verlor und gleichzeitig ganz und gar
ſich merfantilifierte, auch durch Nachſchub reich gewordener
Kauf leute und Blutmiſchung ſich innerlich immer mehr auf:
löſte, denn die kriegeriſche Kraft, woher die militäriſche
Landmacht, die ruſſiſche Expanſtonsflut zu hemmen, — wenn
nicht wir ſie von den Grenzen Europas zurückdrängten? Und
wie hätte dieſe Kraft ohne uns Frankreich, das dazu nicht ein⸗
mal den „frommen Wunſch“ Englands gegen eine zu weite
Ausdehnung Rußlands nach Weſten für ſich anführen kann?
Es iſt eine ungeheure Naivetät, wenn England ſich einbildet,
es könne ſich auch bei einem welthiſtoriſchen Gegenſatz von
dieſer Größenordnung mit ſeiner Gleichgewichtspolitik durch
die Geſchichte hindurchſchlängeln, ſo wie es dies bisher in
Zeiten, da die europäiſchen Staaten durch die Aufgaben ihres
inneren nationalen Aufbaues und durch Verfaſſungskämpfe
von aller eigentlichen Europapolitik abgelenkt waren und ſo
viel geringere Konflikte in Frage kamen, getan hat! Dieſe
„Gleichgewichtspolitik“ hat, wenn irgend etwas, ihr Welt⸗
alter hinter ſich und iſt genau ſo wie das engliſche Vorurteil,
daß die finanzielle Übermacht (die „letzte Million“) bei
Kriegen entſcheide — ſchon der Balkankrieg hatte den Satz
von der entſcheidendſten Bedeutung des Geldes völlig wider⸗
legt — eigentlich ſchon ſeit der Entſtehung des modernen abſo⸗
luten Volkskrieges und dem Verſchwinden der nur relativen
Kabinettskriege, ein purer Anachronismus. Ein Atavismus
aus dem 18. Jahrhundert und ſeinem mechaniſtiſchen Geiſt!
Wie weit das Ziel, das in dieſem Kriege zum erſtenmal klar
als das Ziel einer deutſchen und europäiſchen Politik noch von
228
Jahrhunderten auf leuchtet, — das Ziel, das Ruſſentum auch
geographiſch nach Aſien zurückzuwerfen, es vom Schwarzen
Meer einmal dauernd zurückzudrängen, die Oſtſeeprovinzen
unſerem Staate einzuverleiben, Finnland die ihm gebührende
Freiheit zu geben, ſeine auf Byzanz gerichteten Pläne zu,
vernichten und die Balkanſtaaten, die bisherige Boheme
Europas, zu einer geordneten, von den Inſpirationen Ruß⸗
lands unabhängigen Staatenwelt zu erziehen, ein felbftändiges
Polen als Bollwerk zwiſchen Rußland und Weſteuropa zu
bilden und ſo Rußland zu zwingen, auch ſeinerſeits wieder
der Weſt⸗oſtbewegung in feiner Expanſtonspolitik nach dem
Oſten zu folgen, — wie weit von dieſem gewaltigen Ziel in
dieſem Kriege auch nur der geringſte Bruchteil erreicht wird,
— das ſteht noch ſehr dahin! Wir glauben — ehrlich geſagt
— daß von dieſem Ziele gar nichts erreicht wird, daß Erhal⸗
tung der Grenzen Deutſchlands und nicht zu große Opfer
Oſterreichs noch das beſte iſt, was wir gegen Rußland erreichen
können. Aber ein Grundelement unſerer dauernden poli⸗
tiſchen Geſinnung wird, muß durch dieſen Krieg die dauernde
Wacht gegen Rußland werden! Und eben darin zeigt ſich
nun gleichzeitig der europäiſche — und hierdurch vermittelt —
der indirekt kosmopolitiſche Sinn unſerer geiſtigen und poli⸗
tiſchen deutſchen Sendung wie unſeres geographiſch⸗hiſtoriſchen
Schickſals, daß nur durch entſchiedenen Sieg über unſeren
weſtlichen und nördlichen Feind jene Solidarität Europas, jene
dauernde Abſtellung ſeiner inneren Anarchie erreicht werden,
und das große oben bezeichnete Ziel in der Folgezeit mit ge⸗
meinſamen europäiſchen Kräften auch nur ſcharf ins Auge
gefaßt werden kann! Denn die wahre Größenordnung dieſes
229
Gegenſatzes wird fich auch in der Zeitdauer erweiſen, in der
er die Weltpolitik noch in Atem halten wird! Denn das
darf kühn geſagt werden: längſt wenn Europas Schulknaben
es mit Mühe ihrem Gedächtnis einprägen müſſen, daß es einſt
einen „Revanchekrieg“ Frankreichs gegen Deutſchland gab,
längſt, wenn die Frage der Verteilung der Seemacht zwiſchen
Deutſchland und England dauernd geklärt und das ſeinem
Weſen nach tranſttoriſche engliſche „Weltreich“ mit oder
ohne Gewalt in tauſend Winde geweht ſein wird, — wird
dieſe Frage noch zu den aktuellſten und brennendſten Fragen
der europäiſchen Politik gehören! Das ruſſiſche Reich ift —
trotz aller Revolutiönchen und Revolutionen — von einer ganz
anderen Dauerhaftigkeit als dieſer engliſche Koloß auf töner⸗
nen Füßen, dieſes ſchon allein an die Fortſchritte der Kriegs⸗
technik niemals zu dieſen Fortſchritten gemäßer mariniſtiſcher
Anpaſſung zu bringende engliſche „Weltreich“ — dieſer welt⸗
hiſtoriſche Anachronismus in effigie, der ſelbſt ſchon auf ſeinem
eigenſten Gebiete, dem des Welthandels, angefangen hatte, ein
erſtarrender Anachronismus zu werden. Wer aber da hofft,
daß der ruſſiſche Rieſe an ſeinen inneren politiſchen Wirren
ſich langſam verblute, wer hofft, daß die mangelnde Organi⸗
ſationskraft der Slaven und ihre geringeren ökonomiſchen
Tugenden und Geſchicklichkeiten eine dauernde, mächtige und
ohne das Zuſammentun aller europäiſchen Kräfte erfolgreiche
Expanſtonspolitik Rußlands nach Süden, Südweſten, Weſten
und Nordweſten ausſchließe, ja wer gar, wie jüngſt in einem
Artikel des Berliner Tageblattes Jaſtrow, auf einen Zerfall
des ruſſiſchen Reiches in einzelne kleinere ſelbſtändige Staaten
hofft — der gibt ſich jenen ganz groben Täuſchungen hin, die
230
aus der Anwendung weſteuropäiſcher Maßſtäbe auf einen
nicht nur unſere Leiſtungen — auch unſere Maßſtäbe und
hiſtoriſche Erklärungsarten a priori verneinenden Kulturkreis
ſo oft hervorgehen. Wie unberührbar hat der ruſſiſche Rieſe
im Lanfe der letzten Jahrhunderte Millionen von Menſchen
feiner ſüdlichen Expanſtonspolitik geopfert; was hat er dabei
im Laufe der Zeit alles für ſich gewonnen, ganz unvergleich-
bar einem weſtlichen Staate; wie raſch hat er ſich gegen
alle unſere europäiſchen Erwartungen aus der ökonomiſchen
Miſere erholt, die die Folge des ruſſiſch⸗japaniſchen Krieges
war — fo daß die Staatsrente in kaum einem Jahr wieder
die alte Höhe erreichte und die großzügige ruffifche Agrar⸗
politik ihr rieſenhaftes Werk errichten konnte! Dazu nehme
man die von keinem europäiſchen „Individualismus“ an⸗
gekränkelte Vermehrungstendenz dieſer Raſſe, die allein
ſchon, wenn nicht der Krieg fie aufhält (fiehe „Krieg und
organiſches Leben“), auch über alle europäifche Technik
und alle Beweglichkeit weſteuropäiſchen Verſtandes den Sieg
behalten müßte! Und was an Organiſationsſinn und ⸗talent
dieſem Volkstum mangeln mag — noch wiſſen wir nicht
genau, was hier Jugendlichkeit und Unreife, was dauern⸗
der Mangel der „Anlage“ iſt — das erſetzt es durch die
Unerſchöpflichkeit ſeiner Menſchenmaſſen, ſeine ſo reichen
und vielſeitigen Naturſchätze, aber noch mehr durch ſein
beſpiellos ſtarkes, feiner Primitivität entſprechendes Ein⸗
heitsgefühl ſeiner vor allem religiös geeinten Bevölkerung.
Ob und wie weit die Autokratie durch den Fortgang der
ruſſiſchen Revolution uſw. eine Einſchränkung erfahren wird
oder nicht - das iſt gegenüber den genannten Kräften äußerſt
231
gleichgültig. Selbſt bei Fortfall der Autokratie und bei Ein-
tritt jener unerhörten Verfaſſungsänderungen, über die der
Ruſſe im felben Maße gerne uferlos daher ſchwätzt und reflek⸗
tiert, als er unfähig iſt, auch nur innerhalb der jetzigen Ver⸗
faſſung für das Volk ein kleinſtes Pofitives im freiheitlichen
Sinne zu leiſten, würde ſich die Richtung der äußeren Politik
Rußlands und würde ſich auch der Kern ſeiner politiſchen Seele
kaum weſentlich ändern. Denn dieſe Politik iſt alles in allem
geſehen volkstümlich von Grund; ſie wird zunächſt die Auto⸗
kratie überall nur ſtärken. Ja, ſolange ihr lieben Marxiſten
eure „ökonomiſche“ Geſchichtsauffaſſung eine zu raſche Gene⸗
raliſterung eines kleinen Winkels letzter europäiſcher Geſchichte,
ja eigentlich nur eines Stückchens dieſer Geſchichte, der Ge⸗
ſchichte Englands auf die ganze Welt und auch auf die Frage
von Rußlands Zukunft und Möglichkeiten anwendet — fo
lange werdet ihr freilich auch recht zu behalten ſcheinen, wenn
ihr Rußland für einen „harmloſen Gegner Europas“ haltet,
der, im Sinne außerdeutſcher Marxiſten geſprochen, jetzt
Frankreich und damit die Sache der „Demokratie“ vor dem
Untergang durch den „preußiſchen Militarismus“ bewahrt.
Aber ſeht ihr denn nicht, daß dieſe „ökonomiſche“ Auffaſſungs⸗
form der Geſchichte ſelbſt und die Tatſachen, auf die fie fich
ſtützt, ſelbſt nur ein winziges Elementchen eben derjenigen
Kultur iſt, deren Macht und Stärke, deren inneres Recht
zugleich gegenüber der ruſſiſch⸗ſlaviſchen hier gerade in Frage
ſteht? Gerade darum iſt der Krieg hier allein „ultima ra-
tio! —, im ſtrengſten Wortſinn, weil zwiſchen Weſteuropa
und Rußland alle gemeinſamen hiſtoriſchen Erklärungs⸗
prinzipien und Wertmaßſtäbe, die über die ganz formale Ge⸗
232
ſchichtsmethodik der Quellenkritik hinausgehen, aufhören.
Kein Menſch kann es darum auch „beweiſen“, daß es „beſſer“
iſt, daß der deutſche Bauer, als daß der ruſſiſche Muſchik
den Boden Brandenburgs pflüge — daß es „beſſer“ iſt, den
Brüdern in Liebe zu dienen und tatkräftig für ſie zu arbeiten
als auf dem Berge Athos ein Mönch zu werden und Gott
und den eigenen Nabel zu beſchauen! Kein Menſch kann
es „beweiſen“, daß es „beſſer“ iſt, ein ſtrenges Leben der
Ordnung und der Vernunft zu führen, als im Chaos
der Gefühle und der Reflexion leidensgenüßlich ruſſiſch zu
ſchwelgen, „beſſer“ ein deutſcher Staatsbürger als ein „treuer
Hund“ des Zaren zu ſein und in jedem Kuß eines Beamten⸗
mantels zu vermeinen, man küſſe ein Ende von Gott. Jeder
Verſuch des Beweiſes müßte ſich gewiſſer axiomatiſcher
Prämiſſen bedienen, die die Partei, der gegenüber man „be⸗
weiſt“, die der „ruſſiſche Menſch“ von vornherein ab⸗
lehnen müßte. Hier heißt es das Rechte „einſehen“ und
an feine Miſſion „glauben“ und nur das läßt ſich hier
„beweiſen“, daß ſchließlich dieſelben Axiome, die Voraus⸗
ſetzung unſerer deutſchen politiſchen und kulturpolitiſchen
„Beweiſe“ ſind, auch die faktiſch anerkannten unſerer Feinde
im Weſten und Norden und aller jener europäiſchen und
amerikaniſchen neutralen Staaten ſind, die jetzt in ihrer Ge⸗
ſinnung unſere Gegner ſind, da ſie unſere europäiſche, unſere
kosmopolitiſche Miſſion für Europa gegen Rußland (alſo
auch für ſie ſelber noch) nicht begreifen. „Beweiſen“ läßt ſich
hier vor allem alſo eines: Daß unter all den Illuſtonen, die
nicht ſowohl (wie man meint) Urſachen als vielmehr Wir⸗
kungen des Haſſes unſerer Feinde und ihres Geſinnungs⸗
233
anhanges, nicht etwa Folgen der wahren kriegsgewichtigen
Gegenſätze find, — Illuſtonen, die das Abſchneiden unſerer
Kabel und die große Lügenfabrik der ausländiſchen Preſſe
nicht erſt hervorgebracht hat, ſondern nur nährt — keine einzige
ſo unſinnig und unbegründet iſt, als unſeren eventuellen end⸗
gültigen Sieg als eine „Niederlage der Demokratie Europas
und der ganzen Welt“ anzuſehen und das Schreckgeſpenſt
eines volks⸗ und kulturverwüſtenden „Militarismus“ für dieſen
Fall an die Wand der europäiſchen Zukunft zu malen! —
Hier ein paar Worte über die Arten diefes „Haſſes“ ſelbſt.
Das Bild der „Barbaren“, „Hunnen“ (gerade „Hunnen“,
wo wir als einzige die alte Hunnentendenz des Oſtens be⸗
kämpfen!) iſt wenigſtens auf die romaniſche Völkerwelt, die
ſich hier ein Recht auf die Kontinuität des antiken Sprach⸗
gebrauches zu haben einbildet, beſchränkt. Der Vorwurf geht
ſeiner Intention nach nicht auf eine abſchätzige Beurteilung
unſerer geiſtigen Kulturleiſtungen und unſerer perſönlichen
Geiſtesbildung, wie gewiſſe deutſche Verteidigungen ein wenig
naiv annehmen, um dann auf „Goethe, Schiller, Kant,
Beethoven“ hinzuweiſen. Er zielt auf gewiſſe Seiten unſerer
äußeren Erſcheinung auf Reiſen und in Geſellſchaft, auf
welche die feine Empfindlichkeit der romaniſchen Sinne ſo
ſtark und einſeitig eingeſtellt iſt; daneben auf gewiſſe unleug⸗
bare deutſche Mängel des Ethos der feineren Geſelligkeit, wie
ſie ſich z. B. in franzöſiſcher Herzenshöf lichkeit und Liebens⸗
würdigkeit, engliſchem Formſinn und engliſcher Diskretion
äußern. Auch das aus der deutſchen Geſchichte wohlber⸗
ſtändliche Fehlen eines inſtinktiven nationalen Geſchmacks,
der auch dem gemeinen Mann und Durchſchnittsmenſchen
in Fleiſch und Blut überging, der ihn ohne fein Verdienſt
und ſeine Arbeit auf ein beſtimmtes Niveau des Urteils über
menſchliche, literariſche, künſtleriſche Dinge, der ſcheidenden
Kritik, Wahl und einer wie felbftverftändlichen Achtung und
Liebe zur eigenen nationalen Kultur erhebt — ein Mangel,
der durch geiſtige Höchſtleiſtungen, nach abſolutem Maße
gemeſſen, nicht ausgeglichen wird, — iſt mit dem ungeeig⸗
neten Ausdruck „Barbaren“ intendiert. Man mag dieſen
ſeit Jahrhunderten wiederkehrenden Vorwurf der Romanen
gegen uns Deutſche immer in ſeine berechtigten Grenzen zurück⸗
weiſen: Aber ich meine, daß wir genug einzigartige deutſche
Vorzüge beſitzen, um gewiſſe Mängel unſeres Weſens zu:
zugeſtehen und ihn nicht ganz ſo hart zu empfinden, als er jetzt
meiſt empfunden wird; zumal dann, wenn dieſe Mängel
auch jene Vorzüge in gewiſſem Maße bedingen ſollten.
Der Deutſche lebt nun einmal ein hartes und ſchweres
Leben! Was mag es geweſen ſein, was Schiller zu ſeiner
tiefſinnigen und ganz deutſchen Definition des Schönen führte
— es ſei „Freiheit in der Erſcheinung“, Überwindung deffen,
was auch Friedrich Nietzſche den verderblichen „Geiſt der
Schwere“, den böſen Dämon der Deutſchen nannte, was
Goethe mit dem etymologiſchen Reiz des Wortes das „Nieder⸗
trächtige“, „das Mächtige“ nannte, über das ſich niemand
„beklagen“ ſoll? Ach es war die Erfahrung der Deutſchheit
und eine aus ihr geborene, ſelbſt wieder gerade echt deutſche
Sehnſucht nach jener Helle, harmloſen Güte, Froheit, Leicht⸗
heit, Klarheit — nach jenem freien Lächeln eines ſchon natür⸗
lich, aus ſich ſelbſt geformten dahinſtrömenden Lebens, das
die romaniſchen Länder wie eine, Natur und Geſellſchaft
235
gleich erfüllende glückvolle Atmoſphäre erfüllt; dieſelbe Sehn⸗
ſucht, die den Deutſchen immer wieder nach Italien trieb —
ganz unabhängig von Italiens Kunſt!
Und analog im Sittlichen und Kulturellen! Es iſt nicht
eine ganz ſo ſelbſtverſtändliche Entkräftung der uns in dieſer
Richtung gemachten Vorwürfe, als man meint, wenn wir
auf ſie immer mit Hinweis auf unſere großen Kulturleiſtungen
antworten: Wir ſeien das Volk Goethes, Kants, Beethovens!
Denn es handelt ſich hier mehr um das Sein der Menſchen
als um die ſachliche Leiſtung, und zwar um das Sein des
Menſchen des Durchſchnitts, nicht um das Sein des einzelnen
Großen, in dem ſich die Deutſchheit über alle Leiſtung hinweg
zuweilen zur Welt einer Perſönlichkeit höchſten Stiles zu⸗
ſammenſchließt; mehr auch um das Sein, das in der lebendigen
Berührung der Geſelligkeit ſich bildet, als um das einſame Sein
der Seele vor dem Gewiſſen und vor Gott! Ein wohltätiger
Strom von allgemeiner Gunſt und Güte — wenn auch durch⸗
aus nicht des tieferen Herzens und der „Geſinnung“ im deut⸗
ſchen Wortſinne — ſo doch von Ausdruck und ſichtbarer,
hör⸗ und ſpürbarer Bewegung trägt in den romaniſchen
Ländern das Beſtreben jedes Einzelnen und ſtellt Bega⸗
bung und Talent mit einer faſt automatiſchen inneren Logik
auf den ihnen gebührenden Platz. Bei uns geht alles das,
was die naturhafte Schwere der arbeitenden Menge und
den Schematismus und die Enge des Beamtentums über⸗
windet, — alles, was ſich zu irgendeiner höheren Lebensform
emporringt, erſt aus dem Kampfe gegen dieſe niederziehenden
Mächte hervor; und erſt als Leidender wird der Deutſche meiſt
bedeutend! Er ſelbſt wie ſeine Leiſtung werden dann freilich ge⸗
236
prägter, fie werden größer und herrlicher als bei den Romanen;
fie wachſen unter Umſtänden zu gigantiſcher Erhabenheit und
zum Heldentum des Märtyrers auf. Oft gibt man aber
auch mit großen Geiſtesgaben bloß nach außen eine ungeheure
Leiſtung ab, ohne dabei im Innern und als Ganzer zu wachſen
und ſich wahrhaft zu „bilden“! Und analog dazu gibt es
eine ſowohl jenſeits der „Pflicht“ als der tieferen, zentraleren
„Liebe“ liegende moraliſche Schicht von Eigenſchaften, als
da ſind „Zuvorkommenheit“, „Loyalität“, „Ritterlichkeit“,
„Freundlichkeit“, „Gunſt“, „Takt des Herzens“, „Dis:
kretion“, menſchliche Milde — deren Segen wir ſo häufig
im deutſchen Leben vermiſſen.
Aber ich frage: Muß es denn ewig dabei bleiben, daß dieſe
beiden Weſenszüge ſich nur abſtoßen; daß man ſich die Män⸗
gel hier und dort nur vorwirft und das beiderſeitige Poſitive
überſieht? Gibt es gerade hier nicht fo etwas wie harmo⸗
niſche Ergänzung zum „guten Europäer“ und Freude an dieſer
Ergänzung? Wer dies verneinen wollte, dem kann eine Tat⸗
ſache aufgezeigt werden, die — wenn auch nur en miniature
— wenigſtens die Möglichkeit ſolcher Ergänzung zwiſchen
Germaniſchem und Romaniſchem zeigt: Es iſt die tiefere
Durchdringung und das Verſtehen norddeutſch-preußiſchen
und ſüddeutſchen Weſens in unſerem Lande ſelbſt, die dieſer
Krieg — wie irrten unſere Feinde auch hier! — nicht ver:
mindern, ſondern noch gewaltig ſteigern wird. Wir Süddeutſche
und die Süd weſtdeutſchen wiſſen es natürlich ſehr gut, daß die
ungeheure Abneigung faſt der ganzen Welt, die heute deut⸗
ſches Weſen trifft, ſich durchaus nicht primär gegen uns
richtet, ſondern vielmehr gegen das ſpezifiſch „Preußiſche“
237
— auf uns aber nur mit überſtrömt. Und wir haben hier
gelitten und wir leiden wahrhaft nicht weniger an eben
derſelben Gruppe von Charakterzügen des Preußentums,
welche die Abneigung des beſonders romaniſchen Auslandes
jetzt gegen das, „Deutſche“ überhaupt hervorruft. Aber gleich⸗
wohl gerne und willig nehmen wir dieſe Abneigung auch auf
unſere Schultern, und wir wären tief unglücklich, wenn
wir ſie nicht mit unſeren preußiſchen deutſchen Brüdern mit⸗
tragen und mitverantworten dürften! Denn wir haben durch
unſere Geſchichte gelernt, etwas von unabänderlicher, aber
eben darum entrüſtungs⸗ und tadelsfreier Tragik darin zu er⸗
kennen, daß eben die Eigenſchaften des Preußentums, durch
die es allein von allen deutſchen Völkern und Stämmen der
ſtaatliche und militäriſche Bildner und Führer unſeres Deutſch⸗
land werden konnte, — Pflichtgedanke, Schlichtheit, Pünkt⸗
lichkeit, Organiſationsgeiſt uſw. — mit jenen anderen Eigen⸗
ſchaften, die uns fremd ſind und uns leiden machen, ſo unſag⸗
bar tief aneinander geknüpft ſind, daß eben vor der Erkenntnis
dieſer tragiſchen Weſensverknüpfung auch die Härte des
Leidens zergeht und zu jener echteſten, realiſtiſchen Elaffifchen
unromantiſchen Liebe einer guten Ehe wird, die ihren Gegen⸗
ſtand mit ſeinen Fehlern liebt — da ſie ſeinen Weſenskern
liebt, aus dem ſie Fehler wie Tüchtigkeiten mit gleicher
Notwendigkeit hervorfließen ſieht. Und nun frage ich:
Möchte nicht einmal im großen innerhalb der größeren
Völkerfamilie des kontinentalen Weſteuropa ſich eben derſelbe
oder ein analoger Prozeß der Verſtändigung vollziehen, der
ſeit 1870 in Deutſchland abgelaufen iſt: fo daß dieſes Fon:
tinentale Europa in Deutſchland zuerſt ſeinen feſten Schutz
238 N
und Schirm und feinen militäriſchen Führer und Einheits⸗
bildner gegen den drängenden Oſten ſähe und achtete, ein Weſen
in ihm achtete, das ſchon darum härter gefügt und härter
gepanzert ſein und bis ins bürgerliche Leben hinein noch alſo
auch einherſchreiten muß als glücklichere Völker, denen ein
blaues ſonniges Meer das Gefühl der Freiheit und Leichtheit
gibt und denen es zugleich die Notwendigkeit von Befeſtigungen
und Rüſtungen in höherem Maße abnimmt. Europa wird
noch einmal in der Bewunderung der Größe des deutſchen
kulturbildenden Geiſtes — die ja auch jetzt nur momentan
durch die Leidenſchaften des Krieges verdeckt iſt — die
Doppeltheit jener tragiſchen Verwebungen erkennen und als
ſolche empfinden, die bei Romanen Glück, Heiterkeit, Schön⸗
heit, Helle, Liebenswürdigkeit, organiſche Kulturtradition mit
dem Fehlen abſoluter Höchſtleiſtungen und abſoluter Perſon⸗
größe, bei uns Deutſchen aber ein ſchweres, ſo leicht in die
Tiefe und ins Maſſenhafte niederziehendes Leben mit oben
genannten „ſchwierigen“ Eigenſchaften, aber auch mit Er⸗
habenheit von Menſch und Leiſtung eingegangen haben.
Und verletzten die romaniſchen Völker nicht ihr eigenes, jetzt
fo ſehr von ihnen in Anſpruch genommenes Lebensgeſetz der
Urbanität und Humanität, wenn ſie gegen den Deutſchen,
der mehr leiſtet und leidet als ſie, zuweilen mehr iſt als ihre
Genien, ſo gar nichts von jenem großen menſchlichen Mit⸗
gefühl auf bringen können, das ſie uns nur abſprechen, weil es
ſich weniger unmittelbar und weniger ſchön und „liebens⸗
würdig“ zu äußern vermag? Ich meinerſeits hoffe es nicht
nur, ich glaube es aus tiefſter Seele, daß ſich in Zukunft noch
eine eigenartige Gefühlsmiſchung — auf beiden Seiten ſehr
239
verſchieden — aber doch fich in ergänzungsbedürftiger und er⸗
gänzungsfroher Liebe und Achtung deckend, einſtellen wird, die
allen jetzigen Haß, die auch den Vorwurf des „Barbaren⸗
tums“ in ſich begraben wird. Es wäre undelikat, dieſe
Miſchungen in Worte zu kleiden — hier ſind die Worte zu
roh! Nur dies: Wie das frohe Lachen über das Komiſche
in einer Erſcheinung die Bitterkeit und Kälte der ſatiriſchen
Empfindung löſt, ſo löſt die Erkenntnis der unabänderlichen
Tragik einer Verknotung guter und ſchlechter Eigenſchaften,
auch das Brennen des Schmerzes über die ſchlechten! Je
mehr wir hüben und drüben unſere guten und ſchlechten Eigen⸗
ſchaften komifizieren und tragifizieren werden, die guten frei
bewundern lernen, die Verbindung der ſchwereren, ſchlechten
aber mit ihnen als tragiſchen Tribut an die menſchliche Enge,
die leichteren als „komiſch“ zu empfinden vermögen, deſto
freier und fruchtbaren werden wir uns gegenſeitig das Leben
machen — und deſto mehr Ausſicht gewinnt auch die europäiſch⸗
kontinentale politiſche Solidarität!
Ganz anders ſteht es mit dem Vorwurf des allgefräßigen
deutſchen „Militarismus“ und der prinzipiellen Gefährlich:
keit unſeres Sieges „für die Demokratie der ganzen Welt“,
mit dem unſere Feinde jetzt ihr höheres Recht zu erhärten
ſuchen. Dieſer Vorwurf iſt weit mehr noch engliſcher und
amerikaniſcher Herkunft als romaniſcher!
Es heißt wahrlich frechen Spott der ſchwerſten Notlage
eines Volkes hinzufügen, wenn man uns unſere Rüſtun⸗
gen nach dieſer jahrelangen Einkreiſungspolitik und ihren
Früchten noch vorzuwerfen wagt. Ja, — zu einer Stunde
die Rede wagt, es müſſe das deutſche Volk ſelbſt „aus ſeinem
240
Panzer“ „zu feinem eigenen Heile“ gelöft werden, da felbft
die ſtreng antimilitariſtiſchen und republikaniſch denkenden
Kreiſe dieſes Volkes ſich von der übermächtigen Gewalt der
Logik der Tatſachen überzeugen ließen, daß dieſe Rüſtungen
— wenigſtens unter der Geſamtſituation Europas vor dem
Kriege — notwendig waren. Dieſer Vorwurf iſt nicht,
wenigſtens halbverſtändlich wie jener der „Barbaren“ er iſt
von jener paradoxen Unverſchämtheit, die faſt ſchon a priori
ſeine engliſche Herkunft bezeugt. Aber ſehen wir einmal ab
von den, in den längſt ſichtbar geweſenen Tendenzen der Ein⸗
kreiſungspolitik gelegenen ſpezifiſchen Urſachen zu dem auf
die Dauer für alle europäiſchen Nationen in der Tat uner⸗
träglichen Rüſtungsfieber der letzten Jahre, blicken wir auf
den „Militarismus“ als dauernde Einrichtung auch nach
dem Kriege, ſo gibt gerade dieſer Krieg für ſeine Not⸗
wendigkeit und ſeinen Sinn einen ganz neuen Aufſchluß;
aber auch für die Richtung ſeiner Erhaltung und Fortent⸗
wicklung eine ganz neue Gewähr. Hätte der deutſche „Mi⸗
litarismus“ als bloßer zweckfreier Ausdruck, als Seinsgeſte
jener beſtimmten Lebensform einer Gemeinſchaft, in der ſich der
höhere Rang der Werte des „Edlen“ (des duposıöcs) über die
Werte des Mützlichen und Angenehmen, der Ehre über den
Vorteil, der Macht über Intereſſe und Gewalt bekundet
und allem Volke, ja der ganzen moraliſchen Welt ſichtbar,
fühlbar, greifbar wird; hätte er weiter als das feſteſte Boll⸗
werk gegen die Überflutung durch den kapitaliſtiſchen Geiſt,
durch Reſſentimentmoral und Pleonexie, auch keinerlei, von
ſeinem politiſchen Zwecke unabhängige und allen „Zwecken“
vorgeordnete Bedeutung; wären ſelbſt alle innerweſteuro⸗
16 241
päiſchen Rüftungsmofive einmal dauernd ausgeſchaltet, gäbe
es ſo etwas wie die „Vereinigten Staaten Weſteuropas“, ſo
würde ganz allein die Vormachtſtellung Deutſchlands in
Weſteuropa gegen die oſtweſtliche Bewegung den „Mili⸗
tarismus“ dauernd notwendig machen — notwendig auch
zugunſten derjenigen Völker, die heute das deutſche Volk
von ihm „erlöſen“ wollen. Den deutſchen Militarismus
vernichten, das hieße Europa gegen Rußland und gegen
den Druck der mongoliſchen Horden abrüſten, hieße die
Fahne aller freien höchſten Kultur, deren Baſis Europa
war und iſt, Europa entreißen und dauernd Amerika über⸗
laſſen. Können unſeren „Militarismus“ unſere Nachbar⸗
völker fürderhin nur begreifen als „tragiſche“ Notwendig⸗
keit, als ein Opfer an Lebensleichtigkeit und ⸗freiheit, das
Deutſchland ſeiner, ihm durch ſeine Lage und durch ſein
inneres Weſen erteilten Miſſion ſchuldet und bringen muß,
— ſo mögen ſie dies; aber dies iſt auch das Minimum, was
ſie auch müſſen! Und die „Demokratie der Welt“! Gibt es
eine ehrliche Solidarität innerhalb der , Demokratie der Welt“,
— die auch wir, das Wort richtig verſtanden, aus Herzensgrund
bejahen, — fo müßte ſchon aus dieſem Grunde die Erhaltung des
deutſchen Militarismus einer ihrer fundamentalſten Grundſätze
ſein. Und für die deutſche Demokratie, in der das Bild eines
Krieges gegen Rußland bis zu Auguſt Bebel ſtets populär
war, gilt jedenfalls, daß durch dieſen Krieg ihr dieſe Not⸗
wendigkeit des deutſchen Militarismus auch für die Dauer
klar und hell geworden iſt. Denn die Sicht auf noch Jahr⸗
hundertelange Kämpfe gegen die oſtweſtliche Bewegung iſt
durch dieſen Krieg nicht mehr — wie vorher — eine Einſicht
242
einzelner politifcher Köpfe, fondern fie wurde und wird nun⸗
mehr zu einem Gemeingut der politifchen Bildung aller
deutſcher Parteien werden. Es kann alſo nur die Frage ſein,
welche Umformung der „Militarismus“ eben durch dieſe
ganz neue Tatſache, daß die deutſche Demokratie ſeine Not⸗
wendigkeit einzuſehen beginnt, mit zu erleiden habe und welche
Ausſichten eine ſolche Umformung beſitze. Denn dies iſt
klar: Kommt wirklich — wie wir hoffen — auch nach dem
Kriege die deutſche Demokratie zum Militarismus, ſo muß
auch der Militarismus zur deutſchen Demokratie kommen!
Das Wort „Militarismus“ bedeutet ja nun freilich noch
etwas ganz anderes als das Vorhandenſein eines ſtarken,
ſchlagkräftigen, vom Kaiſer allein geleiteten Heeres. Es be⸗
deutet — beſonders in Preußen — die Tatſache, daß der
innere Auf bau des Heeres und ſeine ſpezifiſche Berufsmoral
auch das formale Strukturvorbild für die geſamte außer⸗
militäriſche Geſellſchaft, und hier vor allem für den Auf bau
und die Wirkſamkeit der geſamten Kräfte iſt, die aus des
deutſchen Volkes Fülle heraus die Talente und Begabungen
auswählt, um ſie den notwendigen Aufgaben des geiſtigen
und materiellen Volksbedarfs zuzuführen. Das Wort „Mili⸗
tarismus“ bedeutet vor allem auch, daß die zivile Beamten⸗
ſchaft militärförmig aufgebaut iſt (Militäranwärtertum
uſw.), und häufig in einem analogen autoritativen und ſche⸗
matiſierenden Geiſt ihre Befugniſſe auffaßt, als er relativ im
Weſen jeder Armeediſziplin liegt; dazu aber mit einem dem
Offizier nachgeahmten Kommandoton ihre Pflichten erfüllt,
alſo in einem Geiſte, der im deutſchen Heere durch jedes
Heeres wichtigſtes ſittliches Fundament, die Diſziplin, und
16* 243
durch feinen Zweck jedenfalls unbedingt notwendig ift. Dieſer
„Militarismus“, nicht des Militärs, ſondern des Zioils iſt
eine nachſchleppende Tradition des vorreichsdeutſchen preußi⸗
ſchen Beamtenſtaates — weit hinaus über ſeinen urſprüng⸗
lichen Sinn und ſeine urſprüngliche Zweckmäßigkeit. Dieſer
„Militarismus“, verbunden mit der politiſchen Einfluß⸗
loſigkeit der Volksvertretung des Deutſchen Reiches, die
einfach ſchon den notwendigen Auswahlfaktoren der geiſtigen
Kräftefülle eines großen Volkes zwecks Hervorhebung der beſten
Kräfte widerſtreitet, — dieſer „Militarismus“, der Begabun⸗
gen und Kräfte mit einer häufig ebenſo großen Sicherheit da⸗
hinmäht, mit der die Armee wenigſtens die Tendenz hat, ſie
innerhalb ihres Raumes, zu den ihnen würdigen Aufgaben
gelangen zu laſſen, und der höchſtenfalls alle höheren Talente
und Begabungen in das private Wirtſchaftsleben hineindrängt
und von der Realiſterung aller überindividuellen Werte ab⸗
drängt, dadurch aber den „kapitaliſtiſchen Geift‘‘ maßlos ſtei⸗
gert, — dieſen „Militarismus“ nach dem Kriege dauernd zu
beſeitigen, das wird eine Hauptaufgabe derjenigen ſtarken,
mächtigen deutſchen Demokratie fein, welche die Notwendig⸗
keit des einzigguten Militarismus — des Militarismus des
Militärs begriffen hat. Dieſe Aufgabe wird ſie aber auch nur
dann löſen können, wenn ſie auf Grund des oben genannten
neuen Gemeingutes politiſcher Bildung mit dem Militaris⸗
mus im anderen Sinne, — als ſtarke Heeresorganiſation —
reſolut Frieden ſchließt. Erſtes Erfordernis aber für die Be⸗
ſeitigung des falſchen Militarismus iſt es dann für ſie, daß ſie
das verderbliche „militariſtiſche Vorurteil“, das im Glauben
an die notwendige Stilidentität des Auf baues der Heeres⸗
244
organiſation mit der Zivilverwaltung eines Staates — hüben
wie drüben, bei Militariſten wie Antimilitariſten ſeine letzte
Wurzel hat, reſolut aufgibt und die ſes Vorurteil nicht gerade
dadurch anerkennt und neu beſiegelt, daß fie auch eine Demo⸗
kratiſterung der Heeresverwaltung, d. h. eine unberechtigte
und dem hiſtoriſchen Weſen des deutſchen Heeres wider⸗
ſprechende Verminderung oder Einſchränkung der Armee⸗
gewalt des deutſchen Kaiſers und ſeiner wahrhaft mehr als
„wohlerworbenen“ Rechte auf die alleinige Leitung des Heeres
fordert. Das neue Vertrauen, das durch dieſen Krieg —
wie immer er ausfalle — zwiſchen Kaiſer und Volk, zwiſchen
den Führern und dem gemeinen Soldaten gerade in Hinſicht
auf die Armee ſo einzigartig geknüpft wurde und in jeder
Sekunde ſich ſteigert, darf von Niemand, von keiner Partei
nach dem Kriege mißachtet werden. Über die nähere Durch⸗
führung dieſer großen Aufgabe mag man verſchiedener Mei⸗
nung fein. Es ſoll hier mit Abſicht keine aktuelle Poli⸗
tik getrieben werden. Aber ſoviel ſollte ſelbſt unſeren Feinden
klar ſein: Das deutſche Reich iſt ſeiner Matur nach hiſtoriſch
eine demokratiſche Schöpfung gegenüber dem Fonfervativen
und dynaſtiſchen Geiſte der Einzelſtaaten. Keinerlei Einzel⸗
heiten vermögen dieſe große hiſtoriſche Tatſache zu erſchüttern.
Daß es den demokratiſchen Ausbau nicht fand, ferner daß
ſein moraliſches Gewicht gegenüber den Einzelſtaaten und
beſonders gegen Preußen nicht in dem Maße zunahm, in
dem es ſeiner geſchichtlichen Wurzel und ſeinem Weſen
entſprochen hätte, das war allem voran die Folge der —
im falſchen Sinne — antimilitariſtiſchen Haltung des
größten Teiles ſeiner bisherigen Demokratie ſamt den
248
vielen englifchen Krankheiten der geiſtigen und theoretiſchen
Grundlagen derſelben Demokratie, von denen ſchon im erſten
Teile die Rede war. Wie unſere „Alldeutſchen“ die Affen
des engliſchen Egoismus und „Imperialismus“ wurden und
ihrer Deutſchheit eben darin am meiſten vergaßen, wo ſie
dieſe ſuchten und zu ſteigern meinten, ſo wurden unſere Anti⸗
militariſten die Affen der engliſchen Lehre, daß das ſtehende,
zentralgeleitete Heer mit allgemeiner Dienſtpflicht „eine ſtän⸗
dige Gefahr für die politiſche Freiheit eines Staates“ und
die echte Demokratie ſei. Vorſtellungen über das Verhältnis
von Heer und Volk kamen ſo oft auf beiden gegneriſchen
Seiten zur Verbreitung, die dem vornapoleoniſchen Zeitalter
der Kabinettskriege entſprachen, — wo das Heer nur Werk⸗
zeug der Regierung war — nicht aber dem modernen konti⸗
nentalen Volksheer mit abſolutem Kriegszweck als welches
ſtets und ſchon von feiner Verwurzelung in dem Revolutions⸗
heer aus eine „demokratiſche“ Einrichtung war und ſein wird.
Auch das verderbliche „militariſtiſche Vorurteil“ in oben
definiertem Sinne, konnte auf Seiten der regierenden Kreiſe
eben dadurch gar nicht fallen, da es auf Seiten des größten
Teiles unſerer Demokratie ja ganz und gar geteilt und unter⸗
ſchrieben wurde. Denn auch jede entſchloſſene Preisgabe des
Geiſtes des alten preußiſchen Beamtenſtaates mußte ſo als
Beraubung der auf ſeiten der Regierung klar erkannten Not⸗
wendigkeit einer ſtarken militäriſchen Rüſtung erſcheinen.
Die tiefen, ſteigenden Gegenſätze zwiſchen Militär- und Zivil⸗
gewalt, welche die letzten Jahre, nicht nur im Falle „Zabern“,
aufgewieſen haben, die unverwiſchbare feſte Tatſache, daß in
allen Hauptfragen äußerer Politik, beſonders in Hinſicht auf
246
England (fiehe Bernhardis Buch) unfere militäriſchen Poli⸗
tiker fo gewaltig viel weiter und tiefer ſahen, als die Zivil⸗
leitung unſerer außerpolitiſchen Angelegenheiten und unſere ſo
fragwürdig gewordene Diplomatie, — Abrechnungen großen
Stils mit dieſen Übeln werden nach dem Kriege nicht ausbleiben
— die neue natürliche innere Gefühlsgemeinſchaft, die dieſer
Krieg zwiſchen militäriſchen Führern und unſerer auf den
Schlachtfeldern kämpfenden demokratiſchen Jugend heraus⸗
bilden wird — alle dieſe Kräfte wird eine wohlberatene De⸗
mokratie in Zukunft klug zu verwerten verſtehen. Die Neu⸗
geburt aber des Reichsgedankens und ſeiner innerſten demokra⸗
tiſchen Kraft durch einen Sieg im Deutſchen Kriege und das
Wachstum der Innigkeit in der Zuſammengehörigkeit der
nördlichen und ſüdlichen von Hauſe aus demokratiſcheren Teile
Deutſchlands, müſſen im Gegenſatze zur Meinung unſerer
Feinde, gerade auch die Demokratie fördern und damit auch
dieſe ihre große Aufgabe. Die beſondere Komik der Tatſachen,
daß uns dieſer Vorwurf der Antidemokratie von einem Lande
gemacht wird, das wie England ſeit langem eine ungeheure
Kriſis ſeiner Demokratie und ſeiner geſamten inneren Ver⸗
faſſung überhaupt erlebt, von einem Lande, deſſen Demokratie
ſich noch vor kurzem als ſo völlig unfähig zur Ordnung des
Kohlenſtreiks und der drängenden iriſchen Frage erwieſen hat,
daß dieſe Tatſache ſelbſt auf den Zeitpunkt der Kriegserklä⸗
rung nicht ohne Einfluß blieb; von einem anderen Lande aber,
das ſeit Jahrzehnten nach dem Urteil aller ſeiner Kenner die
Tendenz hat, von einer demokratiſchen in eine ariſtokratiſche
Republik überzugehen (den Vereinigten Staaten) und gar
noch von einem dritten (Frankreich), deſſen „Demokratie“ es
247
nicht einmal verhindern konnte, daß der Staat gegen den
Gemeinwillen des franzöſiſchen Volkes in einen Krieg geſtürzt
wurde, der das größte Nationalunglück ſeiner ganzen Ge⸗
ſchichte darſtellt, dies ſei hier nur beiläufig erwähnt. —
Doch zurück zu unſerer öſtlichen Miſſion! Wie wäre es
denn, wenn wir — beſtegt — dieſe europäiſche Miſſion gegen
den andrängenden Oſten dauernd nicht erfüllen könnten und
auch England nicht für uns als Vormacht Europas gegen
die öſtliche Flut eintreten könnte?
Ich habe ein Geſicht, das grauſigſte, das ſich die Phantaſie,
nur erſinnen kann. Dieſe herrliche Erdkugel ſchließlich auf⸗
geteilt in drei große Reiche: in ein großes mongoliſches Reich
unter Japans Führung und unter Japans Deoiſe „Aſien für
Aſien“; in ein über den Weſten expandiertes ruſſiſches Reich,
in das ſich vielleicht europäiſche Kulturd in ge, nicht fie frei
ſchaffende Kulturkräfte noch hineinretten könnten, und ein
mehr oder weniger mechanifiertes Amerika, das ohne das
europäiſche Vorbild und ohne Europas ewig mahnendes Ge⸗
wiſſen, ſich allein ſeinen ſpezifiſchen, nur allzu „ſpezifiſchen“
Begabungen überließe! England höchſtens politiſch freier
Dienſtbote eines ruffifizierten Europas! Deutſchland, Frank⸗
reich und Italien politiſch und kulturell gelähmt und auf
Stufen eines Spaniens herabgedrückt.
Wo iſt die Schönheit noch, wo die Form, wo der Geiſt,
wo das höhere Leben noch in ſolcher Welt? Wo etwas, das
berufen wäre, die großen Traditionen der alten Mittelmeer⸗
kultur und des Chriſtentums der Tat und der Liebe fortzu⸗
führen? Der Anfang und das Ende der Barbarei, die zwei
ſtreng komplementären Formen aller echten und wahren Bar⸗
248
barei, eine, die individuelle Seele für nichts achtende autori⸗
tativ⸗cãſaropapiſtiſche oder aber eine gleichwertige Maſſen⸗
herrſchaft von Slavenhorden und Gelben und eine für
dieſe Seele nicht minder tötliche hyperziviliſterte Allmechani⸗
ſierung des Lebens. — Beides ſich teilend über die Erde!
Hier Freunde laßt uns das Haupt verhüllen!
Ich ſehe ein anderes Geſicht: ein ſiegendes Deutſchland⸗
Oſterreich und ein Europa, deſſen Kontinentalmächte ſich wahr⸗
haft geeinigt haben, das endlich in ſich gegangen iſt und ſeine So⸗
lidarität gegen den Oſten unter deutſcher militäriſcher Führung
begriffen hat. Ein Europa, in dem die reichen, einzigartigen
Anlagen feiner Volksindividualitäten einträchtig und ſich er⸗
gänzend, — die großen Überlieferungen der großen Mittel⸗
meerkultur bewahrend — zum Auf bau einer Kultur der Frei⸗
heit, des Geiſtes und der Individualität zuſammenwirken;
ein Europa, das engliſch⸗amerikaniſchen Kapitalismus und
dazugehörige caloiniſtiſch⸗puritaniſche Verödung der Chriſt⸗
lichkeit aus ſeinem Blute wie ein fremdes Gift ausſcheidet und
gleichzeitig die oſt⸗weſtliche Expanſtonsbewegung in eine weſt⸗
öſtliche wieder zurückwandelt.
Ich verneine das erſte Geſicht unbedingt! Ich bejahe das
zweite Geſicht unbedingt! —
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Die geiftige Einheit Europas und ihre
politiſche Forderung“
it dieſem tieferen wirtſchaftlichen und politifchen
| Solidaritätsbewußtſein würde aber Weſteuropa
nur eine präziſere Formgeſtaltung deſſen ge⸗
winnen, was es kulturell längſt ſchon iſt. Es würde gleich⸗
zeitig die Einſicht an Macht und Ausbreitung wachſen, die
heute noch eine Einſicht ganz weniger iſt: Daß es über den
europäiſchen Nationen, aber völlig unabhängig von den for⸗
malen internationalen Intereſſen und Inſtitutionen einen
feſten europäiſchen Menſchen⸗ und Kulturtypus gibt — einen
„guten Europäer“!
Alle Urteile über Geſchichte, Politik, Wirtſchaft, Kultur
leiden ja unſagbar daran, daß unſer Denken immer noch
unter dem ganz primitiven Kategoriengegenſatz von „Natio⸗
nalismus“ und „Internationalismus“ dahinläuft — dieſer
bloßen Negation des Nationalen — oder „Kosmopolitismus“,
ein Begriff, der ſeine Herkunft aus einem Zuſammenhang
geiſtiger Intereſſen und geiſtiger Kongenialität ſo deutlich
verrät, wie der Begriff des „Internationalen“ ſeine Herkunft
aus der Sphäre der induſtriellen Arbeit und der Wertſphäre des
„Nutzens“. Denn durch das ausſchließliche Denken in dieſen
Gegenſätzen wird die Tatſache und Idee einer europäiſchen
Kultur gemeinſchaft völlig unterdrückt, und wir wer⸗
den zwiſchen einem engen chauviniſtiſchen Mationalismus oder
„Imperialismus“ und einem leeren, nivellierenden Inter⸗
253
nationalismus oder Kosmopolitismus geiſtig hin und her ge:
riſſen: Ideen, die beide die innere Lage nicht auszudrücken
vermögen, welche wir innerhalb der Gliederung der Erdbevöl⸗
kerung faktiſch einnehmen. Schauen wir aber dann über die
geiſtigen und politiſchen Grenzen unſerer Mation hinaus —
ſo meinen wir ſchon in eine Sphäre der „Welt“, der „Welt⸗
literatur“, der „Weltwirtſchaft“, „Weltpolitik“ uſw. zu
blicken, während wir doch faktiſch alle dabei, Deutſche, Fran⸗
zoſen, Italiener uſw. die „Welt“ noch durch die ſehr be⸗
ſtimmte Struktur des europäiſchen Geiſtes hindurch gewahren,
— neben der noch völlig verſchiedene Strukturen exiſtieren.
Was wir faktiſch gewahren, iſt dann meiſt nur die Euro⸗
päerwelt.
In Wirklichkeit entſpricht das ausſchließliche Denken in
dieſen Kategorien ebenſo ſehr einer völlig überwundenen Stufe
unſeres Wiſſens vom Menſchen, als einer völlig überwun⸗
denen Stufe unſerer hiſtoriſchen Lebenserfahrung. Dieſe
Denkart iſt zunächſt ein Ballaſt, den wir mitſchleppen aus
den Zeiten, da ſich die modernen europäiſchen Nationen lang⸗
farm gegen Realität und Idee eines Kaiſer⸗ und Papſttums
mit univerſalen Machtanſprüchen erhoben haben. Die ſo⸗
genannte „Univerſalität“ dieſer Anſprüche aber war im
Grunde mehr eine Folge der felbftverftändlich gewordenen
Einſchränkung des Geſichtskreiſes, in dem man die faktiſche
Erdbevölkerung und ihre Geiſtesarten begriff, als ein ernſter
auf das Ganze der Erde („Univerſum“) gerichteter Wille zur
Herrſchaft. Sie war vor allem eine Folge der Einſchränkung
auf den „Orbis terrarum“ der Alten, der ſich zur wirklichen
Erde etwa ſo verhielt, wie der aſtronomiſche Kosmos des
254
Ariſtoteles mit feinen Schalen zur Welt des Kopernikus und
G. Bruno. Selbſt die Kreuzzüge, in denen das Reich über
den Orbis hinauszuſchauen begann, waren nicht eigentlich
Eroberungskriege, die ſich auf den Anſpruch der „Univerſali⸗
tät“ ſtützten, ſondern Verteidigungskriege des Kreuzes und
Sehnen nach dem Grab des Herrn. Und will etwa ernſtlich
— nicht auf dem Papier — der römiſche Papſt, in dem ſich
dieſer alte Anſpruch heute am ſtärkſten forterbt, den Mikado
und den Dalai Lama erſetzen? Die geiſtige Korrelatidee zum
römiſchen Imperialismus, der in Papſttum und Kaiſertum
fortlebte, ſchon vorher zerbrochen in oſtrömiſches und weſt⸗
römiſches Kaiſertum und den tiefen Gegenſatz byzantiniſcher
und weſtlicher Religioſttät und Kirche — war der von den
Stoikern geſchaffene Begriff des „Kosmopolitismus“, der im
Grunde die Völker und ihr Leben nie umfaſſen, ſondern nur
eine übernationale Geiſtesgemeinſchaft der geiſtig⸗freien und
kulturſchöpferiſchen Minoritäten bezeichnen ſollte: Ein ſich
die Hand reichen der „freien Geiſter“, hinweg nicht nur über
den Raum, ſondern auch über die Zeit und Geſchichte. Aber
auch dieſer „Kosmopolitismus“ blieb in den Grenzen der
Spannweite des alten Imperiumsgedankens und des Orbis.
Niemand dachte dabei — auch in weit ſpäterem Gebrauch
— ernſtlich an die Geiſtesführer der Azteken, an die Medizin⸗
männer und Prieſter der Neger, kaum noch an Konfutſe
und Buddha. Und dieſen Faktizitäten entſprach ziemlich
genau eine beſtimmte Stufe der Erkenntnis des „Menſchen“
hinſichtlich ſeiner Einheitsform, die trotz allem inhaltlichen
Wechſel beſtehen blieb bis zur Hochblüte z. B. der deutſchen
Literatur, Philoſophie und Wiſſenſchaft im Anfang des
255
19. Jahrhunderts; eine Stufe, die nicht nur Leſſing, Goethe,
Schiller, Wilhelm von Humboldt, ſondern ſelbſt ſo genaue
Kenner der Völkerwelt wie Alexander von Humboldt und
Immanuel Kant, Herder und Hegel noch mitumfaßt. Man
darf ruhig ſagen: Von der Erzählung der Geneſts des Alten
Teſtamentes an, nach der die Menſchheit von einem Paare
und von einem Orte der Erde, dem Paradieſe, abſtammt, bis zu
den erleuchteten Vertretern dieſer unferer „Humanitätsepoche“
findet ſich in dieſem Punkte kein weſentlicher Unterſchied.
Wie ſehr ſelbſt A. von Humboldts Denken hier weniger
durch die Tatſachen als durch ein Vorurteil — faſt einen
Wunſch ſeines Zeitalters beſtimmt iſt, zeigt die Außerung,
er wolle am Monogenismus feſthalten „um der unerfreulichen
Annahme von höheren und niederen Menſchenraſſen zu wider⸗
ſtreben“. Herders Humanitätsidee iſt überall von der An⸗
nahme einer Gemeinſamkeit aller menſchlichen Raſſen und
Gruppen in der intellektuellen und ſittlichen Maturanlage, wie
von der weiteren Annahme des einheitlichen Urſprungs des
Menſchengeſchlechts geleitet; auch geiſtig ſind ihm „der
Menſchenfreſſer in Neuſeeland und Yenelon, der verworfene
Peſcheräh und Newton Geſchöpfe einer und derſelben Gat⸗
tung“. Für Leſſing, Schiller, Goethe, W. von Humboldt
iſt die Idee des „Allgemeinmenſchlichen“, — halb die Idee
einer faktiſchen gemeinſamen Berührbarkeit aller Menſchen
durch die höchſten Werte von Leben, Erkenntnis, Kunſt, halb die
Idee eines idealen Maßes, durch das die faktiſchen Menſchen
und Werke ſelbſt gemeſſen werden follen — ein mit ſtärkſten
poſitiven Wertgefühlen betonter Begriff. Immanuel Kant,
obzwar er in ſeiner Anthropologie von den Zeitgenoſſen wohl den
286
tiefſten Begriff ſowohl der Raſſengegenſätze als der MNational⸗
gegenſätze beſitzt, legt doch feiner geſamten Erkenntnistheorie
die Idee einer einheitlichen intellektuellen Organiſation des
Menſchen als erforſchbares Objekt zugrunde und ſpricht aus⸗
drücklich die Anſchauungsformen von Raum und Zeit — bei
den Verſtandesformen ſteht es anders — dem Menſchen qua
Menſchen bei. Selbſt wo man im Urteil der Theorie über
die Grenze dieſer Anſchauung hinauszugehen ſcheint, bleibt
doch für Anſchauung und Gefühl und beſonders für alle
hiſtoriſch⸗politiſchen Einſtellungen die Überzeugung von einer
einheitlichen, geiſtigen, ſpezifiſchen Geſetzmäßigkeit der Men⸗
ſchennatur und deren Unwandelbarkeit ebenſo feſt beſtehen, wie
die Lehre von ihrem einheitlichen Urſprung. Die Geſchichts⸗
philoſophen der Zeit, Herder, J. G. Fichte, Hegel, aber auch
ihre pofitisiftifchen Gegner der Franzoſe A. Comte, der Eng:
länder Buckle und ihre Schüler ſtellen „Entwickelungsziele“,
reſp. „Stadiengeſetze“ der Menſchheitsentfaltung auf, von
denen es zum Teil ſchon L. von Ranke“ offenſichtlich war,
daß fie auch da, wo fie überhaupt Außereuropäiſches heran:
ziehen — was ſelbſt nur in ſehr engen Grenzen des Materials
geſchieht — auf die naioſte Weiſe europäiſche, ja zum Teil
nur modern nordeuropäiſche Ideen und Rhythmen der hiſto⸗
riſchen Abfolge auf jenes fremde Material konſtruktio über⸗
tragen. Die europäiſche Unruhe der Arbeit und der Seele,
eine an ganz einzelnen, engen Sachgebieten, Wiſſenſchaft,
Technik, Staatsverfaſſungen uſw. (und dieſe wieder nur be⸗
ſchränkt auf das moderne Europa) abſtrahierte Idee des
menſchlichen „Fortſchrittes“, werden ebenſo auf ſeiten der
idealiſtiſchen, von J. Kant bis Fichte und Hegel weſentlich
17 257
von der Idee der politiſchen Freiheit geleiteten, wie auf feiten
der poſitiviſtiſchen, von den Ideen des Fortſchritts von exakter
Wiſſenſchaft und Technik beſtimmten Lehre auf die außer⸗
europäiſche Welt fälſchlich übertragen. Die Fortſchritts⸗
lehre unſeres Durchſchnittsliberalismus ſtammt noch aus
dieſer Zeit. Tritt aber nun neben dieſe alten univerſaliſtiſch⸗
humaniſtiſchen Ideen mit kosmopolitiſchem Geltungsanſpruch
und doch nur faktiſch europäiſchem Inhalt — freilich einem
europäiſchen Inhalt, der um ſo vager und undeutlicher iſt,
als er doch als bloßeuropäiſch nicht erkannt wird — eine
andere, gegen das 18. Jahrhundert neue geiſtige Einheits⸗
form, ſo iſt es ausſchließlich die Einheit der Nation
(oder wie bei Herder des naturgegebenen „Volkes“). —
Dies iſt ja bei der ganz einſeitigen Beſchäftigung der euro:
päiſchen Völker im 19. Jahrhundert mit ihren inneren,
nationalen Verfaſſungsangelegenheiten und dem neuen Hoch⸗
gang der nationalen Wellen in Rußland, Deutſchland, Ita⸗
lien gegen Napoleons praktiſch⸗politiſche Wiederaufnahme
der alten Imperiumsidee auch wohl begreiflich.
In dieſe Lage der Dinge aber iſt zunächſt durch die mit
den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnende
gewaltige Erweiterung der Weltwirtſchaft, der Folge
der geſteigerten Kommunikationstechnik, und den ſich an⸗
ſchließenden Austauſch geiſtiger Erzeugniſſe, Lehren und Lehr⸗
kräften eine erhebliche Breſche geſchlagen worden. Während
früher unſere Kenntnis außereuropäiſchen Weſens auf die
Beobachtungen und Mitteilungen einzelner Reiſender und
Miſſionare, für China und Tibet z. B. der Jeſuiten be⸗
ſchränkt war, lernten ſich nun die europäiſchen und außer⸗
258
europäiſchen Völker felbft in Handel und Wandel, in Ge:
ſchäft und Lebenspraxis kennen. Und gerade der Prozeß, den
man fälſchlich die „Europäiſierung“ der fremden Raſſen
und Völker genannt hat, d. h. die Übernahme der Wiſſen⸗
ſchaften, der Technik, der kapitaliſtiſchen Methoden, gewiſſer
europäiſcher Rechtsformen (z. B. Japans neues, unſerem
Bürgerlichen Geſetzbuch nachgebildetes Recht) lief überall an
ſcharf laufende Grenzen auf, die zwiſchen der dauernden
Geiſtesart des Europäers und des Mongolen, des Megers,
der osmaniſchen Welt und des Weißen Aſiens beſtehen.
Gerade die formale Internationaliſterung gewiſſer Inſtitute
(Konvention über Maße, Gewichte, Münze, Schiffahrt, Poſt,
Telegraph, internationales Privat⸗ und Völkerrecht uſw.)
hob auf deren Hintergrund gleichſam etwas, was von dem ſo
Internationaliſierbaren grundverſchieden iſt, und was dennoch
die europäiſchen Mationen als ein gemeinſames Band um⸗
faßt, als ein Band, das über dieſe formale Solidarität der
Mützlichkeitsintereſſen an Qualität weit hinausgeht, — hob
einen einheitlichen Typus des Europäertums und einer euro⸗
päiſchen Kultur ſcharf und genau ab.
Der Begriff des „Internationalen“ iſt von jenem des
„Kosmopolitiſchen“ nach Inhalt und Urſprung ganz ver⸗
ſchieden: beide aber grundverſchieden von der Erſcheinung eben
dieſes „europäiſchen“ Typus. Während das Kosmopolitiſche
nur auf die Gemeinſchaft geiſtiger Betätigung höchſtgebildeter
Minoritäten in der Löſung gewiſſer Aufgaben (Erkenntnis,
Kunſt, Philoſophie) geht, und auch eine zeitlich hiſtoriſche Er-
ſtreckung hat (Plato reicht z. B. Kepler und Kant über „die
Jahrhunderte weg“ „kosmopolitiſch“ die Hand) iſt der Ber
*
17 259
N !
griff des „Internationalen“ gerade von den unteren Volks⸗
maffen aus (ſiehe Wortverbindungen wie „internationales
Proletariat“, „internationale Arbeit“) und von gewiſſen ganz
formalen Nützlichkeitsintereſſen (internationale Kommunika⸗
tionsintereſſen, Rechtsintereſſen uſw.) gebildet, und umſpannt
dabei im Gegenſatz zum Kosmopolitiſchen nur die jeweilig gleich⸗
zeitig lebende Menſchheit. Kosmopolitismus iſt ein von „oben“
her, den „Denkern“ aus, Internationalismus ein von unten,
der Maſſe her gebildeter Begriff. „Kosmopolitiſch“ dachten
im 18. Jahrhundert gerade die Denker (Leibniz, Voltaire,
Kant uſw.), auch die Denker unter den Fürſten (Friedrich der
Große uſw.), während das „Volk“ zuerſt nur regional und
dynaſtiſch dachte, dann aber allmählich im Laufe der Selbſt⸗
behauptung gegen Napoleon „national“ zu denken lernte.
„International“ dagegen iſt ein Begriff, in dem die ſtürmiſche
Seele des neuen vierten Standes pulfierf, wogegen gerade die
geiſtigen Minoritäten im 19. Jahrhundert, wie ſie ſich aus den,
ſich allmählich durchdringenden , Ständen“, Adel und Bürger⸗
tum herausheben, vor allem den Mationalgedanken trugen. Erſt
in den letzten Jahrzehnten hat ſich dies ein wenig geändert.
Erſt in der geahnten Einheit eines „Europäismus“ (Techet)
entſtand eine — freilich bis heute — noch ſehr dünne Fläche
von Gemeinſchaft der arbeitenden Maſſen, des höheren Bürger⸗
tums und der geiſtigen Führer der Mationen. In Deutſch⸗
land traten innerhalb der Sozialdemokratie ziemlich unwillig
begrüßte Männer wie Hildebrand, Schippel und andere auf,
die den Gedanken einer weſteuropäiſchen Wirtſchafts⸗ und
Zollgemeinſchaft gegen Amerika propagierten. Andererſeit⸗
bildete Friedrich Nietzſche den Begriff des „guten Euro⸗
260
päers“ und das geiftige Zuſammenwirken der europäiſchen
Geiſtesführer, die ſteigende Literatur und Kunſtbefruchtung
der Nationen, der rege wiſſenſchaftliche Gedankenaustauſch
zwiſchen ihnen, gaben dieſem Worte eine ſtarke reale Wurzel.
— Das große, wenn auch politiſch uns zur Zeit ſeiner Aus⸗
ſprache wenig nützliche Kaiſerwort „Völker Europas wahret
eure heiligſten Güter“ gab der Idee eine politiſche Spitze
gegen die mongoliſche Welt! Kurz es wurde erkannt, daß,
wenn wir alle menſchlichen Verbindungen in die zwei Grund⸗
arten der Intereſſen und Zweckverbände und der Liebes⸗ und
Lebensgemeinſchaften einteilen, Europa trotz der in ihm liegen⸗
den nationalen Gegenſätze noch auf die Seite der Lebens:
und Liebes gemeinſchaften gehört, nicht wie die wahrhaft
„internationalen“ Verbindungen auf die Seite der Intereſſen⸗
und Zweckverbände.
Eine erhebliche Rolle ſpielte in der Ausbildung des Be⸗
griffes des Europäertums das Bild, das die Angehörigen ver⸗
ſchiedener europäiſcher Nationen dem geiſtigen Auge der
Gelben und anderer Nichteuropäer darboten. An der eigen⸗
tümlichen Einheit des Stiles und der Ausdruckseinheit dieſes
Bildes im Nichteuropäer von uns, lernte der Europäer,
deſſen Auge jahrhundertelange nationale Kämpfe nur auf
die Differenzen der Nord⸗ und Südeuropäer, der Romanen,
Germanen, Slaven, Engländer eingeſtellt hatten, ſelber erſt
die Einheit ſeines eigenen Typus ſehen und begreifen. Ver⸗
wundert bemerkte man, daß es jenſeits engliſcher Steif—
heit, ſüditalieniſchen Geſtenreichtums, deutſcher Schwer⸗
fälligkeit, franzöſiſcher Behendigkeit und Anmut ein gemein⸗
ſames europäiſches Geſicht, als Ausdrucksfeld der Geinüts⸗
10
307
bewegungen und europäiſche Geſetze der Geſten gäbe, die einen
nie in Frage gezogenen unbewußten Kanon für alles geiſtig⸗
ſeeliſche Verſtändnis innerhalb Europas bilden. Wie anders da⸗
gegen das „japaniſche Lächeln“, das ſchon kleine Kinder haben
gelegentlicher ſchmerzlicher Vorfälle! Wie anders ſchon jene
Balkanobölker (Serben, Griechen), die „ja“ und „nein“ nicht
mit Nicken und Schütteln des Kopfes, ſondern umgekehrt
ausdrücken. Wie anders die afiatifche Ruhe und Würde, oder
die komplizierte chineſiſche Indirektheit in allen Lebensformen
und Sitten bis zu Kaufen und Verkaufen von Waren. Wäh⸗
rend die geiſtigen Differenzen der europäiſchen Mationen —
fo tief fie gehen mögen erſt bei komplexeren Seelenvorgängen
und hochkomplizierten ſeeliſchen Leiſtungen beginnen, gehen
diejenigen der europäiſchen und außereuropäiſchen Völkern
häufig auf ſehr elementare ſeeliſche Grundvorgänge zurück.
Bezüglich der muſikaliſchen Grundqualitäten der Töne:
und Klangverbindungen und deren Wohlgefälligkeit zeigte
C. Stumpf und ſeine Schule, beſonders die Herren E. von
Hornboſtel und O. Abraham, Differenzen des muſtkaliſchen
Gehörs zwiſchen Europäern und Nichteuropäern auf (ins⸗
beſondere Siameſen, Japaner, Inder, um nur hochkultivierte
Gruppen zu nennen), die vordem kaum auch nur für möglich
gehalten wurden.“
Das Prinzip der fiamefifchen Tonleiter zum Beiſpiel weicht
von jenem der europäiſchen ganz ab. Man teilt die Oktave in
ſieben gleiche Stufen, ſo daß jeder Ton zum folgenden und
vorausgehenden ein überall gleichbleibendes Verhältnis hat.
„Nicht ein einziges unſerer Intervalle iſt vorhanden, weder
rein, noch in den noch für uns zuläſſigen Grenzen temperiert.
262
Es gibt keinen Unterſchied von Ganz: und Halbſtufen. Die
kleine und die große Terz ebenſo wie die kleine und die große
Sexte und Septime ſind zu einer neutralen Terz, Sexte,
Septime zuſammengezogen; die Quarte iſt erhöht, die Quinte
vertieft. Für die Herſtellung dieſer beider beſitzen die Siameſen
ein wunderbar feines Gehör.“ (C. Stumpf.) In Java finden
ſich analoge gleichſtufige Syſteme. Das ganz befremdliche dieſer
Erſcheinung iſt, daß dieſe Völker vom Prinzip der Konſonanz,
dieſem natürlichſten Prinzip aller Leiterbildungen, nur für
das Ganze der Oktave, nicht für den Oktavenraum An⸗
wendung machen. Eine harmoniſche Muſik iſt mit dieſem
Prinzip der Leiterbildung von Hauſe aus unvereinbar. Ge⸗
hört auch dieſe Eigentümlichkeit des ſiameſtſch⸗javaniſchen
Gehörs kaum ſchon der Beſonderheit ihrer äußeren Sinnes⸗
organe und ihres inneren Sinneszentrums an, ſo iſt es doch
eine ſchon ſehr elementare Variable, die dieſes ihr fehlendes
Konſonanzbewußtſein bedingt. Nicht ganz fo große Dif—
ferenzen, aber gleichfalls ſehr tiefgehende zeigt das Gehör der
Japaner. Ihr abſolutes Tongehör iſt weit unentwickelter wie
das europäiſche. Auch der japaniſchen Muſik fehlt der har⸗
moniſche Charakter, ſowie unſer Leitton; desgleichen fehlt
unſere ſcharfe europäiſche Rhythmiſierung. Die geſamte
japaniſche Muſik iſt in vier hierarchiſche Rangordnungen
eingeteilt, der vier Klaſſen von Berufsmuſikern entſprechen,
die Gakunin, die Genin, die blinden und die weiblichen Mu⸗
ſiker (Geiſ has), welch letzteren die klaſſiſche, heilige Muſtk
ganz verſagt iſt.
Die indiſche Muſikmethodik iſt abgeſehen von tiefgehen⸗
den Differenzen des Tonſyſtems durch die Geſetzmäßigkeit
263
des Räga gekennzeichnet, für das fich in der europäiſchen
Muſik überhaupt keine ſtrenge Analogie findet. Es be⸗
deutet weder Tonart, Modus noch Melodie, ſondern wäre
nach O. Abraham und Hornboſtel noch am beſten durch
den Begriff eines „Melodienſkeletts“ wiederzugeben, das für
alle heutigen Melodien normativ wurde, wenn es auch ur⸗
ſprünglich eine beſtimmte Melodie geweſen iſt. Die noch
wenig geförderten analogen Probleme für den Farbenſinn
und die Farbenbewertung, für die Wohlgefälligkeit und Be⸗
vorzugung einfachſter Raum- und Zeitgeſtalten (Rhythmen)
und Linienzüge in Auffaſſung und Bewertung, deuten analoge
Reſultate an. Aa
Ganz in die Tiefe aber greifen die Differenzen des Ethos
und die Verſchiedenheiten der Strukturen und Kategorien des
erkennenden Geiſtes, wie ſie ſich in Sprache ns und Mythos,
in Wiſſenſchaft und Religion ausdrücken. Man nehme als
Beiſpiel Japan.
Alle tieferen europäiſchen Kenner Japans ſind ebenſo wie
die ernſteren Köpfe dieſes Volkes ſelbſt heute darin einer
Meinung, daß die ſogenannte „Europäiſierung“ Japans
faktiſch nur eine Techniſterung und Kapitalifierung war,
daß die übernommenen Neuerungen dieſem Volkstum kaum
unter die äußerſte Haut gingen, und die Differenzen der
Grundeinſtellungen zu Welt, Leben, Gott, Kunſt ganz und
gar unberührt ließen. Japan wollte ſich mit abendländiſcher
Kultur nicht durchſäuern, „ſondern nur bepanzern.“ (Haus⸗
hofer.) Und überall, wo analoge Vorgänge, welche außer⸗
europäiſche Völker in den internationalen Mechanismus des
Verkehrs einbezogen, ſtattfanden, da traten in dem letzten
264
—
— —
———
Jahrzehnt konſervative Reaktionen hervor (fehr ſtark in Ja⸗
pan, s in China die ſogenannte chineſiſche Orfordbewegung, s
in der Türkei die Reaktion gegen die Jungtürken, in Ruß⸗
land die Bewegung gegen den Witteſchen Geiſt) die dieſe
Tatſache den Völkern zum klaren Bewußtſein brachten. Für
das japaniſche Ethos z. B. fehlt allen europäiſchen Völkern
gleichmäßig der „Patriotismus“. Wie natürlich iſt dieſes
Urteil! In Japan ertrinkt das Individuum vollſtändig in
einer Stammesverehrung und einem Ahnenkult, der die ja⸗
paniſche natürliche Volks⸗ und Stammeseinheit vom Stiefel⸗
putzer bis zum Mikado religiös⸗metaphyſiſch verankert. Alle
Japaner ſtammen nach dem Mythos dieſes Volkes in Linien
von verſchieden großer Direktheit vom Urahn des Volkes (dem
erſten Mikado), der ein Sohn der Gottheit iſt. Jeder iſt
nicht nur, ſondern empfindet ſich auch nur als anonymes Glied
der Generationskette“ und der japanifchen Geſamtfamilie.
Was alſo bei uns „Patriotismus“ heißt, iſt dort nur ein
ausgedehntes religiös⸗metaphyſiſch verankertes Familien⸗
gefühl. Eine perſonal⸗ individuelle Unſterblichkeit kennen fie
nicht, ſondern nur ein übernatürliches Fortwirken der ganzen
Dynamik der Generationskette auf die lebendige Geſchichte,
die eigentlich in der Hauptſache von den toten Ahnen ges
macht wird. Der letzte Japaner wäre ſterblich; denn er
wäre kein Ahn. In alle Geſchäfte, vom kleinſten bis zum
größten ſpüren ſie die Ahnen hineinwirken. Dem entſpricht
ein uns völlig unfaßbares abſolutes Gebot des elterlichen
Gehorſams, demgemäß z. B. ein Mädchen, „gut“ handelt,
wenn es ſich auf Wunſch der Eltern proſtituiert. Im ja⸗
paniſch⸗ruſſiſchen Krieg kam es z. B. (ich zitiere einen ſtreng
265
glaubwürdigen däniſchen Offizier, der den Feldzug mit⸗
machte) vor, daß ſich abgeſprengte Teile von Regimentern
töteten, damit ihre „Seelen“ raſcher zu den im Kampf ſtehen⸗
den Stamm des Regimentes zurückkommen könnten, um da
„mitzukämpfen“. Ein Zurückdenken an die Familie und
Freunde zu Hauſe, galt ihnen als ſchwerſtes Verbrechen; die
Opfertötung eines Geliebten als Mittel, die Reizurſache der
Ablenkung vom Kampf zu beſeitigen, galt als „heldiſche“ Tat.
Jeder Rückzug galt als prinzipiell falſch — welch Opfer
dieſes militäriſche Prinzip auch koſtete. Eine ungeheure Menge
Soldaten ſuchten nicht den „Sieg“, ſondern den Ruhm des
Todes. Der Mikado mußte Erlaß für Erlaß geben, um
das Heer aufmerkſam zu machen, daß es zu ſiegen — nicht zu
ſterben gelte. Die Kategorie der „Individualität“ fehlt aber
auch ihrer Liebesauffaſſung, ihrem Ethos, ihrer Kunſt. Für
„Liebe“ gibt es in der japaniſchen Sprache kein gleichſinniges
Wort. Die Beziehungen der Geſchlechter regeln ſich entweder
nach rein ſenſuell⸗äſthetiſchen Motiven, oder nach dem Willen
der Eltern, der ja auch der der Kinder ſein muß — wenn
die Kinder nur Kombinationen der Ahnenqualitäten, ihr
Sehnen vererbtes Ahnenſehnen iſt, wie es die japaniſche Liebes⸗
lehre beſagt. Die Ehe iſt ein Teil der japaniſchen Groß⸗
familie, wie dieſe ein Teil der geſamten Stammesgeſamt⸗
familie; nicht alſo iſt die individuell geſchloſſene Ehe der
Ausgangspunkt einer neuen Familie. Ihr Schamgefühl
wie das Ehrgefühl iſt vom europäiſchen grundverſchieden.
Zu dieſem Ethos bildet das Ethos der europäiſchen Völker trotz
aller tiefen Unterſchiede einen einzigen ſichtbaren Gegenſatz;
es bildet einen Gegenſatz, der einer ganz anderen Dimenſion
266
angehört oder Größenordnung, als die innereuropäiſchen na⸗
tionalethiſchen Differenzen. Es beſteht hier ein Unterſchied ſchon
der Vorzugsregeln einfachſter Wert qualitäten, nicht wie
in Europa ein ſolcher Unterſchied, der nur die Anpaſſung
dieſer hier noch gemeinſamen Regeln des Wertvorzugs auf
verfehiedene hiſtoriſche Lebenswirklichkeiten und Volksanlagen
betrifft!” Ganz analoge Unterſchiede finden ſich innerhalb
des Kunſt⸗ und Naturgefühls, der zelthaften Bauweiſe, und
dem, was bei der Nahrung für appetitlich (zum Beiſpiel rohe
Fiſche) und unappetitlich reſpektive „ekelhaft“ gilt. Gleiches
zeigt die bildende Kunſt. Der Mangel unſerer Art von
Perſpektibe auf japaniſchen Bildern iſt nicht mangelhaftes
Können — wie man lange annahm — ſondern entſpricht
einem anderen Raum — Sehen und äſthetiſchen Werten der
Welt. Ahnlich iſt vom europäiſchen Weſen grundverſchieden
der aufgeſchloſſene Sinn für die kern⸗ und ſubſtanzloſe Sen⸗
fation (Schatten, Spiegelbild der Sterne im Waſſer, ein
leiſer Duft) in der japaniſchen Lyrik und im japaniſchen
Tanze. Für die am tiefſten Verſtehenden unter den euro⸗
päiſchen Japankennern halte ich, ähnlich wie dem indiſchen
Kulturkreis gegenüber ſtets diejenigen Perſonen, die ſagen,
daß wir — für ewige Zeiten — den Kern der japaniſchen
Seele niemals verſtehen werden. Dieſe Forſcher allein ver⸗
meiden es, das Beobachtete unter europäiſche Schauformen
und Geiſteskategorien zu bringen; ſie allein gewahren wenig⸗
ſtens noch die Grenze, über die ſie eine feine Ahnung hinaus⸗
führt, die Grenze unſeres europäiſchen Geiſtes. Die dauernden
Einſchränkungen einer ſinnvollen chriſtlichen Miſſtonstätig⸗
keit, deren unbewußte Vorausſetzung ſo lange die Annahme
267
einer geiftigen Einheit der Menſchennatur geweſen war, find
feit einigen Jahren allen aufgegangen, die Japan und China
mit dieſem Intereſſe bereiſt haben. Die Rede, die vor kurzer
Zeit der ausgezeichnete Göttinger Theologe Otto auf dem
letzten internationalen Religionskongreß gehalten hat, gibt
in vorzüglicher Weiſe dieſe neue Einſicht wieder. Ein Ein⸗
dringen in den tieferen Geiſt des Chriſtentums iſt ſeitens der
Mongolen, iſt auch ſeitens der großen indiſchen Völker⸗
gruppen zu keinem, auch noch ſo entfernten Zeitpunkt zu er⸗
warten. Selbſt die Ausſicht einer ganz äußeren irreligiöſen
Konfeffionalifierung find nach allen Sachkennern in Japan
gleich null.“
Aber auch gegenüber der chriſtlichen Orthodoxie Rußlands
— und was beſonders lehrreich iſt — auch gegenüber den ruſſt⸗
ſchen ſo mannigfachen häretiſchen Gegenbewegungen gegen die
Staatskirche, alſo gegenüber den Sekten, an denen Rußland
ſo überreich iſt, ſtellt das weſtliche Chriſtentum, trotz ſeiner ſo
mannigfaltigen tiefgehenden Spaltungen in Katholizismus,
proteſtantiſche Formen der Orthodoxie und des Liberalismus,
Luthertum, Caloinismus, reformierte Lehre und allem weſt⸗
lichen Sektenweſen eine einzige charakteriſtiſche religiöſe
Lebenseinheit dar. Dieſe Einheit läßt ſich nicht im entfern⸗
teſten ausſchließlich an den dogmatiſchen und vielleicht ver⸗
gänglichen Inſtitutionen (Cäſaropapismus) ermeſſen. Auf
dieſe Differenzen iſt aber der Blick des bloßen Theologen meiſt
allzu einſeitig gerichtet. Je tiefer man in die ruſſiſch⸗orthodoxe
Religiofität eindringt — man vergleiche dabei ihre ſcharfe Um⸗
riſſenheit in Doſtojewskis „Brüder Karamaſow“ und in ſeinen
„Politiſchen Schriften“ deſto mehr wird man dies erkennen. Je
268
mehr man die hier überragende Herrſchaft des alten griechiſch⸗
gnoſtiſch gefärbten Logosgedanken über die perſönlichen Ge:
ſtalten der weſtlichen Religionsanſchauungen, je mehr man
die Herrſchaft der Idee der realen Solidarität der Individuen
in Schuld und Werdienft'” über das weſteuropäiſche Prinzip
der Selbſtverantwortlichkeit und bloß ideeller Solidarität,
je mehr man die Herrſchaft gnoſtiſcher vereinſamender Spe⸗
kulation über die weſtchriſtlichen Ideen gemeinſchaftserzeugen⸗
der Tat und Liebe, » die Herrſchaft paffiver byzantiniſcher
Devotion über aktive „Duldung“ und ſich geiſtig öffnende
weſtliche „Demut“; je mehr man die tiefe Differenz weftlich-
tätigen und ruſſiſch⸗kontemplierenden Mönchtums, je mehr
das Weſen des weſtkatholiſchen Autoritätsbegriffes, nach dem
auch „Autorität“ in ihrem ſchroffſten integralen Sinne noch —
in letzter Linie — ein im Herrſchen Dienendes, nicht ein durch den
Kult byzantiniſch als Selbſtzweck zu Verherrlichendes iſt, be⸗
greift; je mehr man ſich die ſchmerzheiſchende und liebende
ruſſiſche Opferidee — fie erfüllt wie die weltlichſten Geſtalten
der Epen Doſtojewskis auch den Geiſt der ruſſiſchen Armee —
von der weſtlichen Opferidee, nach der der Opfernde ſeinen
Blick nicht an erſter Stelle auf dem Schmerz des Opfers,
ſondern auf dem Gute weilen läßt, für das er opfert; je mehr
man in der weſtlichen Trennung von Staat und Kirche die
Gewähr aller individuellen Freiheit, in ihrer öſtlichen Ver⸗
einigung den Hort aller Unterdrückung der individuellen Seele
ſehen lernt: Deſto mehr wird ſich innerhalb der reichen Spiel⸗
formen des weſtlichen Chriſtentums dem Betrachter ein feſt⸗
begrenzter gemeinſamer Spielraum an religiöſen Grundein⸗
ſtellungen herausſtellen, innerhalb deſſen die hiſtoriſchen
269
Schwenkungen feiner dogmatiſchen, kultiſchen, moraliſchen,
inſtitutionellen Beſonderheiten allein möglich ſind. Selbſt das
Tolſtoiſche Chriſtentum iſt bei allem Rationalismus mit ſeiner
wörtlichen Auffaſſung des Satzes „Widerſtehe nicht dem
Übel“, mit feiner Eiferſucht auf heitere harmloſe Freude, mit
ſeinem bitteren Reſſentiment gegen Schönheit und Lebens⸗
fülle, mit ſeinen ſelbſt den weſtlichen Zeloten noch unfaß⸗
lichen Urteilen über Goethe, Schopenhauer, Richard Wagner,
mit ſeiner feindlichen Frontſtellung ſchon gegen die erſten Prin⸗
zipien der weſtlichen Wiſſenſchaft, mit ſeinem gnoſtiſchen
Dualismus zwiſchen Ewigem und Zeitlichem (ſiehe Tolſtoijs
Schrift über den „Sinn des Lebens“), mit ſeiner dürr wörtlichen
Auffaſſung des evangeliſchen Wortes, mit ſeinem verzweif⸗
lungsvollen Dualismus zwiſchen Geſinnung und Tat, — dem
europäiſchen Weſen fremder als ſich integraler Katholizismus
und liberaler Proteſtantismus, ja den Grundeinſtellungen nach,
liberaler Atheismus jemals werden können. Das erſcheint
nur anders, wenn man die dogmatiſchen Begriffe und Worte
wichtiger nimmt als die Struktur des religiöſen Lebenspro⸗
zeſſes, der die Häreſien und antireligiöſen Weltanſchauungen
hier wie dort noch mitumfaßt. Auch die Häreſten und Prote⸗
ſtantismen folgen eben in der Geſchichte der Religion dem
Geſetze, daß ſie an den Glaubensbeſtand, von dem ſie häre⸗
tiſch abweichen oder gegen den ſie „proteſtieren“, irgendwie in
ihrer Struktur gebunden bleiben. Auch der Verfolger zahlt
noch den Tribut geheimer Folge!
Zu den fundamentalſten Unterſchieden jener Konſtanten,
auf deren Grundlage ſich alles hiſtoriſches Leben bewegt, ge⸗
hören auch die Unterſchiede im ſeeliſchem Verhältnis von
270
E ³¹1 ⅛—öÜ—¹Lkn 2 ˙ ²ñ]
Weib und Mann. Und hier finden wir eine ſtrenge An⸗
erkennung wenigſtens der metaphyſiſchen und öffentlich
rechtlichen Perſonalität und Individualität des Weibes —
mit allen den ungemeinen Folgen dieſer Tatſache bis ins
kleinſten ausſchließlich innerhalb des europäiſchen Geiſtesſpiel⸗
raumes. In Indien hatten die Engländer mit der Witwen⸗
verbrennung hart zu kämpfen. Der Koran ſpricht dem Weibe
die höhere Perſonalität ab das religiöſe Fundament des Ha⸗
rems. In Japan iſt trotz der Überwindung des Syſtems der
Nebenfrauen und der Zeitehen, die Tradition und Sitte nicht
zur Anerkennung der Perſonalität des Weibes gelangt. Selbſt
in Rußland, in dem die chriſtliche Religion dieſe furchtbare
Lehre von der Nichtperſonalität des Weibes ausſchließt, über⸗
wiegt innerhalb der Landmaſſe der patriarchaliſche Charakter
im Verhältnis von Mann und Frau den Charakter einer ge⸗
heiligten Liebes⸗ und Lebensgemeinſchaft ſelbſtändiger Per⸗
ſonen. Wieder alſo erſcheint bei allen nationalen Verſchieden⸗
heiten innerhalb Europas in den geſchlechtlichen Beziehungen —
dieſe eine große Konſtante! Analoge Größenordnungen von
Unterſchieden beſtehen zwiſchen den, für die geſamte leiblich⸗
geiſtige Weiterbildung des Menſchengeſchlechtes fundamental⸗
ſten Vorzugsregeln der Geſchlechtswahl. Was ſoll man von
der engliſchen Einheit zwiſchen Weltanſchauung und Politik
heute ſagen, wenn Herr Grey, ein Anhänger der Frauenſtimm⸗
rechtsbewegung, politiſch mit den Japanern und dem Zaren
zuſammengeht?
Wir halten es völlig falſch, wenn man verſucht, geiſtige Ein⸗
ſtellungsunterſchiede der Art, wie wir ſie an dieſen Beiſpielen
zwiſchen Europäiſchem und Nichteuropäiſchem verdeutlichen
271
wollten, auf den bloßen Gradunterſchied verſchiedener hiſtori⸗
ſcher Entwicklungsſtadien zurückführen zu wollen; ſo etwa wie
es Sidney Gulick für Japan dartun wollte, wenn er das heutige
Japan mit dem europäiſchen Mittelalter vergleicht. Vielmehr
bedingt jede dieſer Einſtellungsarten auch eine beſondere
Richtung der hiſtoriſchen Entwickelung, die auch durch keine
Art der „Rezeption“ dauernd abgelenkt werden kann. —
Aber wie der Gegenſatz des Nationalen und Allgemein⸗
menſchlichen nicht mehr unſerer hiſtoriſchen Lebenserfahrung
entſpricht, ſo auch nicht mehr unſerer wiſſenſchaftlichen Er⸗
kenntnis des Menſchen. Die Lehre von der geiſtigen und
leiblichen Einheit der menſchlichen Matur ging auch innerhalb
der vergleichenden Anatomie und Phyſtologie der Raſſen, der
Entwicklungsgeſchichte, der Anthropologie, Ethnologie und
der Völkerpſychologie zuſehends in die Brüche. Iſt auch
zwiſchen der monophyletiſchen und polyphyletiſchen Lehre noch
viel unausgeglichenerer Streit — niemand würde es wagen,
die Frage in der Weiſe A. v. Humboldts kurzerhand zu
entſcheiden. Die pſychologiſche Raſſenlehre — ſoweit fie ſich
über lächerliche, hochmütige Idolatrie des Germanentums er⸗
hebt und ohne Wertung die Differenzen der Raſſen heraus⸗
ſtellen möchte, liegt zwar noch in den Windeln. Die Einheiten
von Zeit, Ort und Handlung aber, in denen die ältere chriſt⸗
liche Geſchichtsauffaſſung, auch weit über ſie hinaus, — die
meiſten modernen „Weltgeſchichten“ noch die Geſchichte der
Menſchheit gleich einer alten franzöſiſchen Tragödie Racines
dahinrollen ließen, ſind ſchon durch den vermutlichen Urſprung
des Menſchen hart in Frage gezogen. H. Klaatſch, der
zwiſchen den menſchenähnlichen Affenarten und den Haupt⸗
272
raſſen der Menſchen eingehende anatomiſche Vergleichungen
vorgenommen hat, hat Folgendes wahrſcheinlich gemacht:
„So wie die Menſchenaffenvorfahren bereits Verſchiedenheiten
voneinander beſaßen, als die Simiation eintrat, ſo ſind auch
die Menſchenformen nicht einander gleiche, weil ebenfalls
ſchon vor der Homination Verſchiedenheiten ſich angebahnt
hatten. Hieraus ergibt ſich zum großen Teil eine Erklärung
für die Raſſenverſchiedenheiten der Menſchen. Die Raſſen
gewinnen dadurch eine größere Bedeutung und auch die Ab⸗
neigung mancher Raſſen wird mehr verſtändlich! (H. Klaatſch
„Die Stellung des Menſchen im Naturganzen“). Hugo
de Vries führt den homo sapiens als das bekannteſte Beiſpiel
dafür an, daß Linne mehrere ſcharf geſonderte Spezies zu einer
künſtlichen Einheit verſchmolz. Ich zeigte anderenorts, daß
das, was von einer mehr als künſtlichen Einheit des „Men⸗
ſchen“, und vom „Menſchen“ im Gegenſatze zum „Tiere“
alle Sprachen ſprechen läßt, überhaupt kein pſychiſcher und phy⸗
ſiſcher Maturunterſchied iſt, ſondern nur in noetiſchen Begriffen
definiert werden kann; ja in einem gewiſſen Verſtande ſchon
die Bezugidee auf eine Gottheit vorausſetzt. Die Idee des
„Menſchen“ iſt wirklich, wie ſchon Platon, Descartes und
Malebranche lehrten, in gewiſſem Sinne ein Theomorphis⸗
mus. Die Ideen von „Vernunft“, „Sprache“, „Gewiſſen“
ſind keine induktiven Abſtraktionen an den einzelnen Gliedern
der Naturgattung „Menſchentier“. Sie werden vielmehr
an ſpezifiſchen Sach⸗ und Wertzuſammenhängen ds, ſowie
ihnen entſprechenden Aktgeſetzmäßigkeiten des Geiſtes gewonnen
— ähnlich wie die Sätze der ſogenannten Farbengeometrie,
die der Phyſik der Farbe wie der Phyſiologie des Farbenſehens
18 273
vorhergehen. Worte wie „„Wermunft‘‘, „Gewiſſen“ drücken
nur Inbegriffe derjenigen Aktgeſetzmäßigkeiten aus, (des „Den⸗
kens“, der „Werthaltung“, des „Sprechens“ des „Fühlens“,
des „Liebens“ und „Haſſens“), die einer rein ſachgültigen
Logik, Ethik und reiner Grammatik uſw. entſprechen. Und
erſt dieſe Aktinbegriffe ſind es, welche Weſen, die über die
ſubjektibe Befähigung, in ſolchen Aktgeſetzen ſich zu betätigen,
verfügen, als,, Menſchen“ in einem anderen als dem natur⸗
wiſſenſchaftlichen Sinne des Menſchentieres kenntlich machen.
Für die Naturwiſſenſchaft iſt der ſogenannte Menſch, d. h.
das Menſchentier nur eine kleine Ecke innerhalb der höchſt⸗
organiſierten Wirbeltiere — d. h. felbft ein Tier. Der Natur⸗
forſcher hat nirgends das geringſte Recht, die Begriffe
„Menſch“ und „Tier“ einander entgegenzuſetzen. Aber ob
der ſo als „Vernunftweſen“ definierte „Menſch“ faktiſch
mit dem Naturweſen „Menſchentier“ überall ſich auch in
der Sphäre des Begriffsumganges decke — das muß ſicher
zum mindeſten als ſehr fraglich angeſehen werden. Lord
Aveburn (John Lubbock) beſtritt, daß die meiſten Natur⸗
völker ein „Gewiſſen“ beſitzen, obgleich das „Gewiſſen“ als
Inbegriff der Vermögen zu gewiſſen evidenten Vorzugsregeln
zwiſchen Werten, den „Menſchen“ in einem Sinne, in dem
allein dieſer Begriff eine vom „Tier“ ſtreng getrennte Einheit
darſtellt, erſt mitdefiniert v. Es gibt ſehr tüchtige Erforſcher des
primitiven Geiſteslebens, die es beſtreiten, daß gewiſſe totemiſtiſche
Stämme gemäß dem Satze des „Widerſpruches“ denken,
wenn ſie z. B. eine ſtrenge Identität zwiſchen je einem Gliede
des Stammes und je einem Exemplar des Totemtieres an:
nehmen und behaupten. Das ſchadet natürlich dem „Satze
274
des Widerſpruches“ gar nichts. Daß dieſer durch folchen
Befund in Frage gezogen ſei, das müßten nur ſolche Logiker
annehmen, die dieſen Satz für ein pfychologifches, induktio
gefundenes Naturgeſetz halten. Wohl aber ſtellte es die
„Menſchlichkeit“ jener Stämme im Sinne des eigentlichen
Begriffes „Menſch“ in Frage; d. h. im Sinne desjenigen Be⸗
griffes , Menſch“, der eine mehr alskünſtliche Ordnungseinheit
unſeres Verſtandes iſt. In tauſend ähnlichen Fällen, die natür⸗
lich zur Frage nach der geiſtig⸗ſchöpferiſchen Begabung der
Raſſen und Völker zur Kultur⸗ und Zioiliſationsbildung
(einer „Begabung“, die man von jeder, wenn auch noch ſo
großen „Dreſſierbarkeit“ ſcharf ſcheiden möge, der ſchon die
höheren Tiere ſo weitgehend fähig ſind) einen ganz weſentlichen
Bezug haben, — müſſen wir jedenfalls auf die Dauer mit der
Möglichkeit rechnen, daß gewiſſe ſtrenge Geiſtesgeſetzmäßig⸗
keiten, deren Beſitz auch zum Auf bau aller Kultur notwen⸗
dige Vorausſetzungen ſind, nicht „allen“, ſondern nur einigen
Vertretern des natürlichen Begriffes „Menſchentier“ zu eigen
ſind. Beſonders werden wir auf das Ziel der Herſtellung
einer einzigen Weltanſchauung und „Welt“ unter den Men⸗
ſchen völlig verzichten müſſen — wobei ich unter dem Worte
„Weltanſchauung“ und „Welt“ nicht das hiſtoriſch wandel⸗
bare Produkt willkürlicher Forſcherleiſtungen wiſſenſchaftlicher
Minoritäten und deren Gegenſtände, ſondern jene letzten
Strukturen des Weltanſchauens und Weltſeins, jener Glie⸗
derungs⸗ und Geformtheitsarten der ſinnlichen Stoffe verſtehe,
von denen irgendeine Art — gleichviel welche — zum Weſen
der Weltwirklichkeit ſelbſt notwendig gehört. Die Kategorien:
tafel Immanuel Kants“, deren Kategorien Kant für „Bedin—
18* 275
gungen alles möglichen Erfahrens“ der Gegenſtände und
darum auch für Bedingungen der Gegenſtände der Erfahrung
ſelbſt hielt, erſchöpft kaum das, was man die mögliche Erfahrung
des Europäers oder die der Europäerwelt nennen kann — ge⸗
ſchweige auch nur alle Formen des vernünftigen Geiſtes der
verfchiedenen Raſſen überhaupt. Die europäiſche „Wiſſen⸗
ſchaft“, die Kant als Datum vorausſetzt, entſpricht mit allen
ihren ungeheuren Differenzen von Thales über Thomas Aqui⸗
nos bis zu Newton und H. Spencer nur einer einzigen der vor⸗
handenen und möglichen „Weltanſchauungen“, — das Wort
in unſerem Wortſinne genommen. Sie entſpricht wahrſcheinlich
nur derjenigen europäiſchen Struktur des Geiſtes, welche die
möglichen Phänomene der Natur und Seele überhaupt nach
dem Range ihrer möglichenaktiven Beherrſchbarkeit ordnet
und die jeweilig weniger beherrſchbaren zu abhängigen Funk⸗
tionen der beherrſchbarſten werden läßt (d. h. als Abhängige
von Maſſe und Bewegung). Das indiſche Denken z. B., ſo
weit und tiefſinnig es in ſeiner Art iſt hätte niemals dieſe
„Wiſſenſchaft“ und ihre Methoden hervorbringen können.
Denn der indiſche Geiſt beſitzt völlig andere Strukturformen
des Schauens und Denkens der Welt als der europäiſche.
Nur die Sätze reiner Logik, die noch nichts von Kants „Kate⸗
gorien“ und „ſynthetiſchen Prinzipien des Verſtandes“ ein⸗
ſchließen, ſind hier und dort noch identiſch. Und ſchon das
erſte Wort des nach Kant vermeintlich univerſalbernünftigen
und für „alle Vernunftweſen“ giltigen Sittengeſetzes „Handle
ſo uſw.“ iſt gegenüber dem indiſchen höchſten ethiſchen Ideal
des Nichthandelns, der puren Betrachtung der Welt und
Verſenkung in fie, ein bloß europäiſcher Imperativ während
276
gar die Kant eigene, ganz eigenartige „Pflichtidee“ nicht
einmal deutſch, ſondern nur preußiſch iſt. Je tiefer wir
in die kategoriale Struktur der Syntaxen der großen Sprach⸗
ſtämme eindringen (in der Weiſe etwa geſchieden wie ſie
nach Wilhelm 9. Humboldts Studien über die Welt⸗
anſchauung in der Sprache und die ſogenannte „innere
Sprachform“ neuerdings Finck geſondert hat), deſto mehr
wird uns klar, daß ſich auf dem Hintergrund einer das
Weſen von Wort und Sprache überhaupt umgren zenden
„reinen Grammatik!“ grundverſchiedene Gliederungsformen
des ſinnlichen Weltſtoffes vorfinden, unter denen die europäi⸗
ſchen Sprachen bei allen ihren Differenzen den gemeinſamen
Widerſchein einer Welt des Seins und der Werte gewahren
laſſen, neben der noch völlig anders geartete „Welten“
und ihnen entſprechende Erlebnisformen des Seins beſtehen.
Unterſchiede, wie ich ſie hier im Auge habe, reichen bis
in die elementarſten Kategorien des Erlebens hinein. Daß
zum Beiſpiel „Wollen“ und die dem Erlebnisinhalt des Wil⸗
lenswiderſtandes eigene phänomenale Auszeichnung, welche
„wirkliche“ Weltinhalte von „unwirklichen“, ſonſt aber
im Bildinhalt, der fenfitiven Fülle und Intenſität gleiche
Inhalte, unterſcheidet, etwas darſtellen, was dem Nicht⸗
wollen und dem Fehlen dieſer Auszeichnung der „Wirk⸗
lichkeit!“ (alfo der Unwirklichkeit des Gegenſtandes) vorzu⸗
ziehen ſei — ſagen wir populärer, daß der Wirklichkeits⸗
ſinn dem Unwirklichkeitsſinn, deſſen Höherſchätzung z. B.
auch die Idee des ſeligen, indiſch-buddhiſtiſchen Nirwana
entſpricht, vorzuziehen ſei — das iſt ein Axiom des europäiſchen
Geiſtes, ein Axiom der europäiſchen Wiſſenſchaft und Kultur.
1
277
Yan ee
Es iſt ein „Axiom“, das ganz jenſeits alles logiſch Erweis⸗
baren liegt.“ Ahnliches gilt z. B. für den Unterſchied, daß
für den Inder der Tod des Individuums, für uns ſeine Fort⸗
exiſtenz inſtinktib die Laſt des Beweiſes trägt. n“ Man kann
über ſolche Dinge, alſo über Europäer: und Inderwelt nicht
einmal ſinnvoll ſtreiten — da contra principia negantem non
est disputandum. Irgendeine noch beſtehende Gemeinſchaft
lebendiger „Tradition“ enthüllt ſich eben immer mehr in
den Geiſteswiſſenſchaften als die Vorausſetzung jedes, über
die philologiſchen Worthüllen und den logiſchen Sinnzuſam⸗
menhang hinausgehenden möglichen Verſtehens; des Ver⸗
ſtehens z. B. des altindiſchen und altchineſiſchen Schrifttums.
Da aber ohne irgend welche eigentümliche, über den Gehalt
reiner Logik hinausgehende Sach- und entſprechende Geiſtes⸗
ſtrukturen das, was wir die „Welt“ der Gegenſtände nennen,
eſſentiell gar nicht möglich iſt, ſo werden wir das, was wir
ſeit den älteſten Griechen das „Univerſum“ oder den „Kos⸗
mos“ nannten, immer mehr nur als eine Welt neben anderen
Welten anſehen müſſen. An Stelle des „Univerſum“ würde
beſſer treten, was W. James das „Multiverſum“ genannt
hat.» Denn dies „Iniverſum“ unſerer Väter, das war nur
die Europawelt. Und dieſe Europawelt iſt wirklich nichts, was
wir durch „Reiſen“ — und gingen fie bis auf den Mond — je
überwinden können. Sie läuft mit uns wie unſer Schatten, wo⸗
hin wir auch gehen und wohin ſich unſer Auge wendet. Das
gegliederte Antlitz des Seins und die Sprache der Dinge bleibt
„europäiſch“ — auch noch in den Tiefen Chinas und Afrikas
— und auch der Mond wie er auf dem Monde ſelbſt erſchiene,
könnten wir ihn beſchreiten, bliebe uns der europäiſche Mond“.
278
Daß in „dieſe Welt fo viele Welten“ hineingeſtickt find —
wie Hebbel ſagt — das gewahren wir freilich nicht, oder
gewahren es doch um ſo weniger, als wir uns begnügen,
dem Seienden nur eine bequeme Ordnung zuteil werden zu
laſſen, die uns erlaubt, die Sachen nach ihren bloß äußerlichen
Beziehungen zur Befriedigung der ſogenannten „allgemein
menſchlichen“ Bedürfniſſe, d. h. derſelben Bedürfniſſe, die
wir mit den höheren Wirbeltieren eben noch teilen — nutzbar
zu lenken. In einem Adreßbuch können wir ja auch die
menſchlichen Charaktere nicht feſtſtellen, die zu den Namen
des Buches gehören. Wem alle „Erkenntnis“ nur ein öko⸗
nomiſcher „Weltkatalog“ iſt, dem mag die Welt freilich als
eine „Einheit“ erſcheinen. Wir beneiden aber Herrn Oſtwald
und Genoſſen um dieſe „Einheit“ nicht. Aber gerade je mehr
wir uns im Geiſte den Sachen, ihrem Gehalt, ihrer Fülle
und ihrem Kern annähern und geiſtig zubewegen, je mehr wir
vom eindeutigen Ordnen der Sachen zu ihrer Erkenntnis vor⸗
dringen, zu jener Vermählung des Geiſtes mit der Sache, die
allein „Erkenntnis“ zu heißen verdient; je mehr wir von der
Mützlichkeitsziviliſation zur wahren „Kultur“ aufſteigen, —
alſo gerade je objektiver, je „ſachlicher“ wir uns verhalten und
das „Tieriſche“ unter uns laſſen — deſto mehr wird die vor⸗
gegebene Einheit der Weltwirklichkeit, an die unſere Väter
der „humaniſtiſchen“ Zeit ſo feſt glaubten, zu einer oberfläch⸗
lichen fable convenue. Deſto reicher erglänzt vor unſerem
geiſtigen Auge auf die Fülle der „Welten“, — in unſag⸗
baren Fernen.
Je mehr wir aber dieſe ferne Kälte anderer „Welten“ ge⸗
ahnt haben, deſto wärmer, deſto heimlicher und näher, deſto
279
vertrauter umſpielt uns aber auch das Fluidum Europas im
Sinne der europäiſchen Welt als ein einziger gemeinſamer
Daſeins⸗, Lebens: und Wirkraum! Unendliche hiſtoriſche
Aufgaben ſtellt die Idee möglicher Europawelt den euro⸗
päiſchen Nationen. Mur langſam können die Nationen in
ihrer Geſchichte — jede Nation wieder mit beſonderen Ein⸗
ſtellungen auf die eine Europawelt, jede auf einen beſonderen
Ausſchnitt dieſer Welt gerichtet, ihre Grenzen ausmeſſen —
und wohl in keiner endlichen Zeit je vollſtändig ermeſſen! Und
zu all jenen, zu allen Zeiten gleich notwendigen ewigen, un⸗
vergänglichen Formen der Liebe, die da heißen „Heimatliebe“,
„Vaterlandsliebe“, „Liebe zur Mation“ und zum nationalen
Staate, wird — je mehr uns dies klar wird, — nicht mehr
jene verächtliche, aus bloßem Heimats-, Vaterlands⸗, Natio⸗
nalhaß geborene Reſſentimentſcheinlieben zur „Menſchheit“
hinzu treten, die, ſoweit ſie nicht in der Liebe zu allem „Leben⸗
digen“ verſchwindet und nur ein notwendiges Element eben
dieſer Liebe zum „Allebendigen“ iſt, nur alle höchſten Men⸗
ſchenwerte nivelliert und zerſtört. Es wird ſich zu dieſen Liebes⸗
formen fügen eine neue poſttive, am gemeinſamen Zug und
Sehnen zu gewiſſen Werten und Formen geborene Liebe zur
„Europäität“ — wenn ich dieſe Wortbildung wagen darf —
und zum „guten Europäer“ in allem Menſchlichen, zum gut
Europäiſchen in allem Kosmiſchen!
Der Patriotismus Europas — er wird im Blute und
Eiſen dieſes Krieges erſt jetzt geboren! Ach fühlt ihr L empfindet
ihr, ihr Freunde, dieſe herrlichſte aller Liebesgeburten der
Weltgeſchichte ſeit urdenklich langen Zeiten? Wie ſie her⸗
vortritt aus dem, alle Geſtalten nivellierenden Nebelreich aller
N
| 280 }
„Internationalismen“, wie fie ſich aus dem kreißenden
Schoß unſerer leidenden Nationen im Feuer und Donner
der Schlachten von Erde und Waſſer und Luft, — wie in
jener heiligen Durchdringung aller beſonderen nationalen
Säfte und Kräfte, die nur der Genius des Krieges als der große
Gehilfe des Genius der Liebe bewirken kann, Glied für Glied,
Form für Form aus eurem Kampfe emporarbeitet, wächſt, ſich
bildet und ſchöner und ſüßer wird — euerer Nationen Aller
junges ſtrahlendes Kind „Europa“ — in unendlicher Weite
und Fernſicht ſein glänzendes Auge über eine neue, nun
erſt mögliche Geſchichte aufgeſchlagen — die Zeugung eures
Schwertes, aber mehr und ein Beſſeres wie ihr Zeugenden und
euer ideales Maß? Europa, das Europa des Geiſtes!
Und fühlt ihr, wie in Mitleid und verſchämter Liebe zu dem
chriſtlichen Bruder in Gott, den euch heilige Pflicht und Liebe
zum Vaterlande zu töten oder gefangen zu nehmen befahl,
wie in jenen furchtbaren „Reiſen ins Ausland“, die das
echte „Volk“ — ſonſt auf feiner feſten Scholle ſitzend — im
Gegenſatz zu Diplomaten, Luxusmenſchen, Geſchäftsmännern
und Commis Voyageurs, die auch im Frieden D-Zug ins
Ausland reiſen, nur im volksverbindenden Kriege zu machen
pflegt, ein euch ſelbſt zuerſt kaum verſtändliches, und euren
Begriffen noch ſo ſtummes unausſprechliches Gefühl in euren
Herzen auf keimen will: der erſte, blaſſe Keim für die einſt herr⸗
lich ſchwellende Liebe einer neuen Richtung, einer neuen Leiden:
ſchaft, einer neuen Idee und eines neuen Wertes ? Der Liebe
zur Scholle, der Liebe zum Geiſte und zum Weſen Europas?
Ihr deutſchen Soldaten im Felde ſeht zum erſtenmal Ko⸗
ſaken, Inder, — ihr ſeht Leute aus Kanada, Neufundland,
281
Auſtralien, Meuſeeland, ſeht Araber, Perſer, Türken, Japa⸗
ner, Maoris und ſteinewerfende Neger, ſeht gar viele ſonderbare
Leute, von denen ihr euch alle nach dem Kriege ſo viel erzählen
werdet: Schaut ſie alle genau an! Leidet auch im ſchärfſten
Kampfe ſtets den Schmerz der lebenden Kreatur mit! Achtet
den edleren Schmerz des Menſchentieres in allen euren
Gegnern, — des Menſchentieres, aus dem auch der Menſch
geboren ward! Ehret noch die „Weißen“, aus denen der
Europäer emporſtieg — aber liebet mir, nachdem ihr eurer heili⸗
geren Liebe zu eurer Nation gefolgt ſeid, den Franzoſen, Eng⸗
länder, den ſangesreichen und kriegeriſchen Serben! Und ver⸗
geſſet nie auch gegen den Ruſſen, daß er — wie mißverſtanden
immer und ferne eurem Weſen — Jeſus gehorchen will,
unſerem Herrn! Das iſt die Abſtufung der Gefühle, in der
ihr fühlen ſolltet. —
Dieſe „Europäität“ haben unſere modernen Kommuni⸗
kationsmittel, haben Freizügigkeit und Auf hebung oder Ver⸗
minderung der Zollſchranken nicht etwa „geſchaffen“, fo daß
dieſelben Kräfte, wäre dieſe Lehre des Technizismus wahr,
auch noch darüber hinaus eine „internationale“ Geſellſchaft
„ſchaffen“ könnten, deren Glieder uns Europäern gleich nahe
ſtünden wie die europäiſchen Nationen! — Dieſe Kräfte
haben die „Europäität“ nur entdeckt und gefunden, fo wie
der Aſtronom einen neuen Stern! Sie haben, indem ſie ſich
über Europa hinausbewegten und hinauswirkten, aber zu⸗
gleich das „Andere“, die Andersheit, das Außereuropäiſche
gefunden, dasjenige gefunden, was „unſer“ nicht iſt und nie fein
kann! Und eben das müſſen wir lernen, daß es nicht nur einen
europäiſchen „Geſichtspunkt“ auf die eine reale Welt gibt,
282
d. h. eine Art der ſubjektiven Einſchränkung des Sehens
der „Welt“ (im bisherigen hiſtoriſchen Wortſinne), ſondern
gerade umgekehrt eine faktiſch beſtehende Europäerwelt, die
dem Anſich der Dinge näher ſteht als andere „Welten“;
und daß gerade jene „eine“ Welt, die vorgeblich das objektiv
beſtehende Korrelat des vermeintlichen europäiſchen „Geſichts⸗
punktes auf die Welt“ wäre, faktiſch nur eine ganz ſubjek⸗
tiv menſchliche Sache internationaler und interraſſenhafter
Konbenienz iſt — nicht aber jene eine wahre Welt Gottes,
für die wir fie fo lange fälſchlich hielten. Die wahrhaftige
Welt Gottes aber, die allein wahrhaft eine Welt, iſt die
Welt, in der auch die Europäerwelt als die ihr vielleicht —
vielleicht! — nächſtkommende noch enthalten iſt!
Über dies „Vielleicht“ hinaus — führt allein der euro⸗
päiſche Glaube — nicht das Wiſſen! —
Was uns aber Ethos und Erkenntnis lehren, das lehrt
uns auch die Kunſt. Faſt unſere geſamte ältere europäiſche
Aſthetik hat Ideen von „Schönheit“, „Erhabenheit“, „An—
mut“ uſw. entwickelt, dazu ideale Maßſtäbe der Kunſt und
des Wertens des Kunſtwerkes, die fie als „allgemeinmenſch⸗
lich verbindlich“ hielt. Eine jüngere äſthetiſche Forſchung
und Kunſterkenntnis hat ſie zum größten Teil als ganz
ſpezifiſchen, europäiſchen Einſtellungen entſprechend klar er:
kannt. Riegl hat zuerſt auf die damit verbundene Torheit
hingewieſen, gewiſſe Erſcheinungen auf ein Nichtkönnen der
außereuropäiſchen Künſtler — ſchon innerhalb der ägyptiſchen
und archaiſch⸗griechiſchen Kunſt — zu ſchieben, wo ein anders⸗
artiges „Kunſtwollen“ vorliegt. Die Welt der Gegenſtände
ſelbſt, die der Künſtler ſich zum Vorwurf machte, iſt ihm
283
bier fo völlig andersartig gegeben, daß er vermeinen konnte,
die Dinge ganz „naturaliſtiſch“ treu zu geben.“ Schon
die Wertideale der Kunſtanſchauung und des triebhaften
Kunſtwollens, die ſchon vor dem Darſtellungsprozeß die ſinn⸗
lichen Stoffkomplexe zu eigentümlichen und grundverfchie-
denen Form⸗ und Werteinheiten zuſammennehmen, weichen
häufig von den europäiſchen ganz ab. Man ſah, wie grund⸗
verfchieden eine Stiländerung dieſer Dimenfion von jenen
ganz anderen Anderungen iſt, die nur die wechſelnde künſt⸗
leriſche ſubjektive Auffaſſung einer noch gemeinſam äſthetiſch
ausgezeichneten Wirklichkeit durch Perſonen oder durch
„Schulen“ betreffen. Die entgegengeſetzten Schaurichtungen
der Verlebendigung des Toten und der Vertotung, Geometri⸗
ſierung, Erſtarrung auch des Lebendigen traten ſchon für die
ägyptiſche Hochkunſt und die griechiſche Kunſt auseinander.
Die erſte Richtung, die unſere Aſthetiker wie z. B. Lipps
aller äſthetiſchen Betrachtung für weſentlich hielten, war
als etwas ſpezifiſch Europäiſches erkannt.“ Es gibt für
die bildenden Künſte als gemeinſame europäiſche Grundlage
eine gemeinſame europäiſche Art des Sehens — worin be⸗
ſchloſſen iſt eine beſtimmte Gliederung des Raumes und ins⸗
beſondere der Tiefenwerte im Verhältnis zu einer gegebenen
Eindrucksfülle, Bevorzugung gewiſſer Raumformen, Ge⸗
ſtalten und Kurvenzüge, ſchon in der Bildung der natürlichen
Wahrnehmung der Dinge, Bevorzugung des dynamiſchen?
Sehens, d. h. des Sehens in einem Zuge vor dem punktieren⸗
den und die Punkte nachträglich verbindenden Sehens, Bevor⸗
zugung gewiſſer Farbenkombinationseinheiten und beſtimmter
Gefühlswerte dieſer Kombinationen. Dieſe Art des Sehens,
284
ſtellt gegenüber der wechſelnden aktiven Aufmerk ſamkeit und
Wahl ebenſo wie gegenüber dem puren Empfindungsmaterial
des äußeren Senſoriums und den beſonderen Dingobjekten
eine ganz beſondere Variable dar.
Die anderen europäiſchen Künſte zeigen eine noch tiefere Wer:
wandtſchaft. Die höhere polyphone Muſtk iſt ein ganz ſpezifiſch⸗
europäiſches Gut, gegenüber dem ſelbſt die indiſche Muſtk, ge⸗
ſchweige die Muſik der fo muſtkaliſch begabten Schwarzen —
wie aus einer anderen Welt zu tönen ſcheinen. Die innere hiſto⸗
riſche Verflechtung der europäiſchen Nationalliteraturen, der
gemeinſame Charakter ihrer Grundformen in Lyrik, Epik, Ro⸗
man, Drama, Tragödie, Luſtſpiel, Poſſe uſw. gibt uns die Idee
einer Einheit, die gelegentliche Nachahmungen — natürlich
im europäiſchen Geiſte — ſelbſt nur orientaliſcher Poeſie wie
in Goethes weſtöſtlichen Divan, in Rückerts Verſuchen, nie⸗
mals verwiſchen können. Welche andere Welt in einem in⸗
diſchen Drama oder gar in einem japaniſchen Schauerſtück oder
einer Geiſhaaufführung! Die Goetheſche Idee einer „Welt⸗
literatur“ blieb, wenn auch nicht dem Stoffe nach, ſo doch der
Wahlkategorien nach, in denen er den Stoff ſeligierte, durch⸗
aus europäiſch gebunden. Auch hier war der „Kosmopolitis⸗
mus“ der Zeit nur vager und unbeſtimmter Europäismus.
Aber was iſt das eigentlich für eine Einheit, die wir als
die des Europäers, der europäiſchen Werte, der europäiſchen
Kultur bezeichnen? Und wo liegen ihre Grenzen, wo beginnt
das andere? Iſt es eine Einheit im geographiſchen Sinne, oder
eine Einheit des Blutes, reſpektive eine Einheit deſſen, was man
vieldeutig genug „Raſſe“ nennt — ein Wort, mit dem man
bald eine Einheit der innerhalb der Art des Menſchentieres
283
rein ſyſtematiſch und diagnoſtiſch zu ſcheidenden Varietäten
der körperlichen Organiſation, bald eine ebenſolche der ſeeliſchen
Anlagen, oft aber etwas ganz anderes, nämlich einen real zu⸗
ſammenhängenden Geſamtzug generativer Bluts⸗ und Abſtam⸗
mungseinheit bezeichnet. Dieſe Einheit beſitzt als ſeeliſches und
hiſtoriſches Korrelat einen gewiſſen Zuſammenhang ſeeliſcher
Erbqualitäten und im großen ganzen auch eine gemeinſame
„Tradition“. Mit dieſem Worte bezeichnen wir nicht die ge⸗
meinſamen hiſtoriſchen Lebensſchickſale der Erwachſenen, oder
das durch bewußte Erfahrung und Lehre Erworbene, ſondern
ausſchließlich alles das, was durch unbewußte, ſeeliſch⸗leibliche
Anſteckung, durch Mitdenken, Mitleben, Mitausdrücken,
Mittun in den erſten Kinderjahren bis zur „Mündigkeit“ in
den Menſchen an ſeeliſchen Grundeinſtellungen gebildet wird.
Daß hier von einem bloß geographiſchen Begriff nicht
die Rede fein kann, iſt wohl ſelbſtoerſtändlich. Die Bevöl⸗
kerung Nordamerikas gehört nach Sprache, Geiſt, Ab⸗
ſtammung der Spannweite dem europäiſchen Menſchen⸗
typus an. Immer noch iſt Nordamerika — bis auf un⸗
abſehbare Zeiten hinaus — eine europäiſche Kulturkolonie;
trotz ſtaatlicher Selbſtändigkeit und allmählicher Ausbildung
eines eigentümlichen nationalen Weſens. Mag Nordame⸗
rika wirtſchaftlich nicht einer europäiſchen Nation, ſondern
nur ganz Weſteuropa äquivalent ſein, mag es im Sinne der
„Nation“ aber in nicht allzulanger Zeit eine eigentümliche
nationale Geiſteseinheit darſtellen, fo liegt es doch durch:
aus innerhalb der Struktur des europäiſchen Geiſtes und hat
zur Bevölkerung des geographiſchen Weſteuropas kulturell
nur die Bedeutung einer beſonderen Nation — nicht jene
286
eines eigentümlichen Kulturkreiſes wie Rußland, Indien,
die Mongoleuländer; einer Nation, die ſogar mit Eng-
land und Deutſchland verglichen an Eigenart hinter der
Differenz der Franzoſen oder Italiener mit den Deutſchen
ganz erheblich zurückbleibt. Abgeſehen von der Größe des
Landes und der Zahl der Menſchen, auch von der Zeitdauer
ſeiner Exiſtenz und Arbeit, würde ein gedachter Ausfall der
Kulturarbeit Nordamerikas aus der geſamten Arbeit des
Menſchengeſchlechts noch immer nicht im entfernteſten ſoviel
bedeuten als der Ausfall Frankreichs oder Italiens, dies
wenigſtens, wenn man nicht aufs Quantum der Leiſtung,
ſondern Qualität und Eigenart der erfinderiſchen Produktion
ſieht. Noch viel mehr gilt dies für große Teile des ſpaniſchen
und portugieſiſchen Südamerikas und für Auſtralien. Rechnet
man Europa in geographiſchem Sinne des Wortes gen
Oſten bis zum Ural, fo hört andrerſeits die geiſtige Spann⸗
weite des Europäertums ſchon weit früher auf; und man muß
mit Hettner das ganze Oſteuropa als „Halbaſien“ anſehen. “
Nach Südoſten zu muß die Grenze der Spannweite des
Europageiſtes ausdrücklich als problematiſch bezeichnet werden.
Hier, zunächſt hinſichtlich Ungarns und Rumäniens, tobt
noch auf Jahrhunderte hinaus der Kampf. Ob das Ma⸗
gyarentum, halb mongoliſch⸗tatariſcher, halb finniſcher Her⸗
kunft und ſtark mit Osmanentum nach Blut und Sitte ge⸗
miſcht, in der jetzt ſich allmählich vollziehenden Bildung einer
ungariſchen „Nation“ mit europäifcher Grundartung auf-
gehen wird, oder trotz ſeiner Minderzahl dieſe Bildung ver⸗
hindernd, ſchließlich doch noch einmal dem ungariſchen Staate
einen Charakter aufprägen wird, der mehr aſiatiſch als euro⸗
287
päiſch zu nennen wäre, das wird ganz wefentlich von einem
Fortbeſtand des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates abhängen; oder
ſagen wir davon, ob in Oſterreich der europäiſche Geiſt, der
dieſes Staates Exiſtenz als Hauptwerkzeug ſeiner Ausbreitung
nach Oſten und Südoſten fordert, das Übergewicht behalten
wird über die Spezifität der öſterreichiſchen Nationalitäten
und damit auch des ſpezifiſch germaniſchen Geiſtes, wie er ſich
im Deutſchtum Oſterreichs darſtellt. Das eben iſt hier die
Eigenart der Lage: daß der deutſche Mationalgeiſt in Oſter⸗
reich nur als primus inter pares der Diener, nicht als Herr
der öſterreichiſchen Staatsidee ſeine europäiſche Miſſion er⸗
füllen kann — ſeine große, erhabene Miſſton zur Solidari⸗
tät und zur möglichſten Erhaltung und Ausbreitung der Spann⸗
weite des Europageiſtes über das bunte Völkermaterial ſeiner
eigenen und der angrenzenden Nationalitäten. Das möge das
Deutſchtum innerhalb des Reiches und in Oſterreich wohl be⸗
denken! Auch jene deutſchen Reichskreiſe mögen es bedenken, die
unter gewiſſen, hier nicht zu bezeichnenden Umſtänden jetzt viel⸗
leicht geneigt wären, einen Separatfrieden des Deutſchen Rei⸗
ches mit Rußland zu ſchließen — d. h. Oſterreich mehr oder
weniger preiszugeben. Eine obzwar im machiavelliftifchen
Sinne kluge, für die momentane Situation militäriſch viel⸗
leicht zweckmäßige Politik, — könnten dann, des ökonomiſchen
Vorteiles freier Ausfuhr und Einfuhr mit Rußland während
eines länger dauernden engliſchen Krieges nicht zu gedenken, doch
alle deutſchen Reſtkräfte gegen England ſofort konzentriert
werden — aber einer kurzſichtigen und antieuropäiſchen Politik,
ſteht jene andere weitſichtige europäiſche deutſche Politik gegen⸗
über, die ihren Trägern alles verbietet, was gegen die europäiſche
288
Solidarität als dem höchſten Sinne dieſes Krieges iſt. Diefer
europäiſchen Politik aber iſt ein ſelbſtändiges Oſterreich wich⸗
tiger, als Verbreiter und Erhalter des europäiſchen Geiſtes, als
die größere Bequemlichkeit und Gefühlsbefriedigug eines ein⸗
heitlichen alldeutſchen Nationalſtaates bis zur Adria (Trieſt).
Ahnlich ſteht es mit dem europäiſch⸗problematiſchen Ru⸗
mänien, das mit ſeiner ſtark wachſenden begabten, ſtandhaften,
patriotiſchen Bevölkerung von allen Balkanſtaaten die ſtärkſte
Aufnahmefähigkeit für die endgültige Gewinnung ſeiner Be⸗
völkerung für die Spannweite des europäiſchen Geiſtes auf⸗
weiſt. Solange als es mit einem ſelbſtändigen Oſterreich ſym⸗
pathiſtert, wird es für die ruſſiſchen Expanſionstendenzen (aber
auch für die einſeitig magyariſchen rumäniſchen Aſpirationen)
den ſtärkſten Riegel bilden. Ob es aber ohne dieſe Anlehnung die
Kraft beſitzen wird, durch die Expanſton des ruffifchen Rieſen
einmal endgültiger Hinausdrängung aus der europäiſchen
Geiſtesſphäre zu entgehen, das iſt mehr als fraglich. Weit
problematiſcher und in ihrer europäiſchen Fragwürdigkeit
weniger bloß an ſtaatliche Geſchicke gebunden, mehr ſchon in
ihrer Anlage für die endgültige Einbeziehung in den Kreis
der europäiſchen Geiſtesſtruktur zweifelhaft ſind die Serben,
Montenegriner, Albaner — aber auch noch das tapfere
Bauernvolk der Bulgaren. Mögen aber dieſe gleichnamigen
Nationen und Staaten als ſolche wie ſelbſtändig immer
bleiben — der Alternative können ſie nicht entgehen, ent⸗
weder ſich ſchließlich doch in die Sphäre der weſteuropäiſchen
Geiſtesſtruktur einzubilden, oder endgültig dem ruſſiſchen
Kulturkreis ſich noch vollſtändiger einzugliedern, als es bereits
auf Grund der gemeinſamen Religion und zum kleineren Teil
19 289
des ſlawiſchen Raſſegefühls der Fall if. Auch Griechenland
wird ſeinen relativ europäiſterenden Einfluß auf die Völker⸗
welt des Balkans nur dauernd ausüben können, wenn es ſich
nicht gegen Oſterreich ſtellt. Denn wer immer fich heute gegen
jenen erhabenen Staat ſtellt, der, freilich unter ſtetigen furcht⸗
baren Zuckungen ſeiner inneren Exiſtenz von der Vorſehung wie
auserſehen ſcheint, den Idealismus der europäiſchen Staats⸗
idee zu verkörpern und ihre Erhabenheit über den ungezügelten
Naturdrang des Blutes wie der bloßen Nationalität darzu⸗
ſtellen, — gegen die heroiſche Kraft dieſer Idee, die bloßen
Naturdifferenzen in die Einheit eines geiſtigen Willens zu
binden, — der ſündigt an der Heiligkeit des europäiſchen Geiſtes!
Nicht oft genug kann ja auch für die allgemeine Beurtei⸗
lung unſeres öſterreichiſchen Bruderſtaates, deſſen geheiligtes
Haupt uns jene tiefe, über alle bloße Idee eines Bündnis⸗
vertrages hinausgehende, Treue bewährt hat — auch bewährt
hat zu einer Zeit, da König Eduard mit allen Mitteln ſeiner
Schlauheit und Liebenswürdigkeit ihn, den Kaiſer Franz zu
gewinnen ſuchte — —, jene tiefe Treue, die man als leuchtendes
Exempel für den altgermaniſchen Treuegedanken, der nichts von
„Verträgen“ weiß, die,, Nibelungentreue“ genannt hat, hervor⸗
gehoben werden: Daß es der Vorſehung ewiglich zu danken
iſt, daß fie in einem Zeitalter des allgemeinen Naturalismus,
da der Weg der Völker in der Tat — wie Grillparzer ſagte
— die Richtung „Von der Humanität über Nationalität
zur Beſtialität“, d. h. bloßer Raſſengemeinſchaft einzuſchlagen
ſchien, im öſterreichiſchen Kaiſerſtaat vor der ganzen Welt
das edle heroiſche Bild der Macht, der Hoheit und Feſtigkeit
der puren, gleichſam ſtoffloſen Staatsidee aufgerichtet hielt,
290
— wie um an diefem einen Beiſpiel eine in die bloße Trieb:
haftigkeit der Natur zurückſinkende Welt immer fort zu ge:
mahnen: An die Macht des ſittlichen Willens über die bloße
Natur und das bloße Triebhafte des Menſchen! —
Daß das Osmanentum nicht nur mehr problematiſch, ſon⸗
dern trotz allem Jungtürkentum und europäiſcher Phraſen
aus der Struktur des europäiſchen Geiſtes herausfällt, braucht
nicht geſagt zu werden. Im Grunde theokratiſch und auf
einem feudalen Lehensſyſtem aufgebaut, den Byzantismus
Oſtroms nicht eigentlich aufgebend, ſondern nur ſeine
Hierarchie mit ſkythiſchem Geiſte erfüllend, ohne höhere
Verdienſte um die Kultur — die hinausgingen über einen aſta⸗
tiſchen Luxus der Sinne — ein biederes, ehrliches Reitervolk
ohne Adel des Geiſtes, höherer Freiheit und Form, iſt das
Osmanenfum über den formalen Internationalismus der
Ziviliſation und den Salon hinaus vom europäiſchen Geiſte
im Kerne unberührt geblieben. Aber gerade weil es aus
Europa völlig herausfällt, können momentane rein politiſche
und militäriſche Verbindungen mit den Osmanen auch für
den Auf bau einer politiſchen Form für die europäiſche Soli⸗
darität zweckmäßig ſein. Denn als der Feind Rußlands, des
gemeinſamen Feindes Weſteuropas und als gegenwärtiger
Eigentümer der Dardanellen, hat es — ſolange es noch dieſes
Bollwerk zu halten vermag — mit Weſteuropa ein ge⸗
meinſames Intereſſe gegen den europäiſchen Oſten. Als das
führende Volk der mohammedaniſchen Welt, im Beſttze ihrer
höchſten geiſtlichen Würde, des Kalifats und der grünen Fahne
des Propheten, vermag es den europäiſchen Außenſeiter eines
politiſch und ökonomiſch ſolidariſchen Weſteuropa, vermag es
*
19 291
Englands Tendenz, das Kalifat auf den ihm unterworfenen
Khedive von Agypten oder eine andere engliſche Puppe zu über⸗
tragen, in Schach zu halten. So vermag es mitzuwirken, durch
Aufregung, beſonders Agyptens gegen Englands Annexion
dieſes Landes, eine dem Werte der europäiſchen Nationen
entſprechendere Form der Koloniſation der von der mohamme⸗
daniſchen Welt beſtedelten Gebiete vorzubereiten. Daß die
Osmanen durch den Balkankrieg aus dem geographiſchen
Europa zum erſtenmal ſo gut wie vollſtändig hinausgedrängt
wurden, iſt für die Spannweite des europäiſchen Geiſtes nur
dann ein wirklicher Gewinn, wenn durch den Fortbeſtand
Oſterreichs und Rumäniens und deren ſüdliche Miſſton für
Geſamteuropa, die Ruffifizierung der Balkanſtaaten gehemmt
— und auf dieſer Grundlage und nur auf ihr, auch die euro⸗
päiſierende Miſſion Griechenlands in der Richtung auf Salo⸗
niki und darüber hinaus gewährleiſtet iſt. Im anderen Falle
iſt dieſe Schwächung des Osmanenreiches für den europäiſchen
Geiſt vorläufig noch ein Verluſt feiner Herrſchaftsſphäre. —
Iſt aber der Begriff des „Europäers“ kein geographiſcher
Begriff, ſo darf er ebenſowenig eine Raſſeneinheit bezeichnen
wollen. Sicher iſt er keine Raſſeneinheit in dem Sinne, in dem
Raſſe als Syſtembegriff (im Unterſchiede zum zweiten möglichen
Inhalt dieſes Begriffes, in dem die genetiſche Abſtammungs⸗
einheit vorwiegt) genommen wird. Daß er nicht mit der Sphäre
des Begriffes der weißen Raſſe zuſammenfällt, das lehrt ſchon
der bloße Hinweis auf Inder und Perſer und der weißen
Semiten, auch nicht mit den ſelbſt ſo ſchwierigen Begriff der
„Indogermanen“ der Hinweis auf Inder und Perſer. Laſſen
wir hier das vertrakte europäiſche Raſſenproblem zur Seite
292
liegen. Auf alle Fälle ſtellt der Träger des europäiſchen
Geiſtes eine generatib zuſammenhängende Miſchraſſe vorwie⸗
gend aus Kelten, Romanen, Slaven und Germanen und einer
verſchwindenden jüdiſch⸗ſemitiſchen Minderheit dar, die ſich
geographiſch betrachtet in die vagen Typen der hellen, nordiſchen,
blonden Raſſe, der alpinen und der mediterranen Raſſe
gliedern läßt. Laſſen wir auch deren Merkmale auf ſich be⸗
ruhen und ihre im einzelnen ſo überaus fragwürdige Ver⸗
breitung. Wie immer das Raſſenproblem einmal in Zukunft
ausſehe, wenn die bisherigen rohen Verſuche, mit körperlichen
Merkmalen (wie Langköpfigkeit und Rundköpfigkeit uſw.)
auch zugleich geiſtige Eigenſchaften, ja höchſte Wertqualitäten
verbunden zu denken, einmal aufgehört haben wird; — und
wenn, im hiſtoriſchen Leben allein fühlbar wirkſame und moti⸗
vierende phyſiognomiſche Einheiten des leiblichen Ausdrucks
ſowie letzte pſychiſche Einſtellungsunterſchiede, die ſich in Vor⸗
zügen und Fehlern gleich ſehr äußern, — nicht Werteigen⸗
ſchaftsunterſchiede wie Treue, Wahrhaftigkeit uſw. — zu einer
ſolchen Gliederung der europäiſchen Raſſen geführt haben
werden, die im Gegenſatz zu rein metriſchen oder anatomiſch⸗
naturwiſſenſchaftlichen Beſtimmungen für die Geiſteswiſſen⸗
ſchaften allein von irgendwelcher Bedeutung ſein kann: auf alle
Fälle iſt es nur ein Vorurteil, daß ſich die Einheit des euro⸗
päiſchen Geiſtes gerade aus der Raſſenmiſchung müſſe be⸗
greifen und ſich als ein Gemiſch von Beſtandteilen elementarer
geiſtiger Raſſenhaltungen müſſe darſtellen laſſen.
Gerade da, wo wir noch die exakteſten pſychologiſchen Nach—⸗
forſchungen zu machen vermögen (3. B. Phyſtopſychologie der
Farbe, der Geſtaltwahrnehmung) wiſſen wir, daß ſehr zu—⸗
293
ſammengeſetzten phyſiſchen und phyſtologiſchen Bedingungen
ganz einfache, unzerlegbare geiſtige Einheiten entſprechen
können. Und hier im Komplizierteſten ſollte uns die Methode
ein anderes Vorgehen gebieten? Iſt der franzöſiſche und eng⸗
liſche Geiſt nicht ein einheitlicher Typus — trotz aller verwickelten
Miſchungen von Normannen, Kelten, Romanen und der
mannigfachen germaniſchen Stämme? Und was ginge die
Geiſteswiſſenſchaft und Geſchichte überhaupt gar eine objektio
körperliche Differenz an, für deren Träger nicht methodiſch zuerſt
eine geiſtige oder eine ſolche nicht geiſtige Differenz (des Landes
z. B. feiner Geographie, Geologie) aufgewieſen iſt, die noch
in die fühlbare und als wirkſam erlebte Motivation des hiſto⸗
riſchen Menſchen hineinreicht? Ich behaupte: Nichts.
Meine Antwort auf die Frage, welcher Art Einheit denn
dann das „Europa“ iſt, oder der „Europäer“, von dem ich
rede, iſt daher dieſe: der Kern dieſer Einheit iſt eine beſtimmte
Geiſtesſtruktur, z. B. eine beſtimmte Form des Ethos, eine
beſtimmte Art des Weltanſchauens und der tätigen Welt⸗
formung. Gerade dieſer europäiſche Geiſt, den man immer
„ableiten“ möchte, ſei es aus Raſſe, Klima, Milien — iſt der
unableitbare Kern im Begriffe des Europäiſchen. Und was
gefragt werden kann, das iſt nur dies: Wie ſich die Spannweite
dieſes Kulturgedankens „Europa“ zu anderen Einheiten,
wie z. B. zu Einheiten der Bewohnerſchaft beſtimmter geo⸗
graphiſch⸗abgegrenzter Territorien oder zu den Einheiten von
Generationsraſſenzügen verhält, welche er von letzteren Ein⸗
heiten noch umfaßt, welche nicht. Nicht aber kann dieſe
Geiſtesſtruktur aus anderen Einheiten hergeleitet oder — wie
man ſagt — „erklärt“ werden! Umgekehrt iſt dieſe Struktur
294
die Vorausſetzung auch aller „Erklärungen“, die das Teil⸗
geſchöpf des europäiſchen Geiſtes, die europäiſche „Wiſſenſchaft“
von dieſem oder jenem Tatbeſtande zu geben vermag — auch
noch die vielleicht einmal exiſtierende Wiſſenſchaft von der
Raſſe und von der genetiſchen Bildung der Nationen. Und
gerade dieſe einfache, elementare Natur des europäiſchen
Geiſtes iſt es, die den Gedanken des Europäertums erſt ſeine
ganze Würde und Größe verleiht. Gerade darauf kommt es
uns hier an, daß dieſe europäiſche geiſtige Einheit und ihre
Unzerlegbarkeit, daß Europa als Liebes⸗ und Geiſtesgemein⸗
ſchaft erſt im letzten Halbjahrhundert zur Entdeckung ge⸗
kommen iſt. Gewiß hat dieſe europäiſche Geiſteseinheit auch
ihr beſonderes natürliches geographiſches Milieu ſowie ein be⸗
grenztes Raffen- und Nationalitätenmaterial je eigentümlicher
Artung zum Stoffe möglicher Bearbeitung. Der Träger diefer.
ſchon definitoriſch beſtimmten Geiſtesart kann z. B. dauernd
nicht in den Tropen gedeihen; ſeine Kinder werden unfrucht⸗
bar, ſein pſychiſcher Status verändert ſich in gewiſſen Milieus
und ſeine Kreuzungen mit gewiſſen Raſſen (z. B. Negern)
ſind wahrſcheinlich für die Erhaltung dieſer Geiſtesſtruktur
verderblich. Aber das alles ſind lediglich Fragen der Be⸗
ziehung deſſen, was den Kern und das Weſen des Euro:
päers ausmacht zu gewiſſen Natureinheiten. Um Fragen, die
ſolche „Beziehungen“ betreffen, zu löſen, muß das Weſen des
Europäiſchen als das Weſen des Trägers dieſer Geiſtesart
immer ſchon bewußt oder unbewußt vorausgeſetzt werden. Nicht
als „Anlage“ einer ſchon ſonſt naturaliſtiſch definierten Men⸗
ſcheneinheit darf das „Europäiſche“ geſucht werden, ſondern
umgekehrt ſo, daß jede andere Menſcheneinheit außer oder in
295
der Spannweite des europäiſchen Geiſtes erft in Hinſicht auf
die Träger X, Y, Z dieſer ſchau⸗ und fühlbaren Geiſtes⸗
einheit definiert wird.
Mit dem Begriff des Kulturkreiſes z. B. des Europäertums
verhält es ſich auf höherer Stufe nicht anders als mit dem bisher
ſo viel mehr und ſo viel präziſer unterſuchten Begriff der
„Nation“. Weder Volks⸗ und Rechtseinheit, weder Bluts⸗
noch Spracheinheit, weder Staatseinheit, noch eine Territorial⸗
einheit, die geologiſch, hydrographiſch, pflanzen⸗tiergeographiſch
abgrenzbar wäre, weder Glaubenseinheit noch Kultur- und Bil:
dungseinheit oder eine beſtimmt geartete Miſchung all diefer
Einheiten vermag das nur Fühl⸗ und Schaubare zu decken, was
wir die „nationalen“ Einheiten nennen. Für jeden Verſuch,
eine oder eine Kombination dieſer Einheitsmomente zur Er⸗
klärung der nationalen Einheiten zugrundezulegen, laſſen ſich
viele Ausnahmen aufdecken, Fälle, wo gerade die je bevorzugten
Momente fehlen, andere der genannten aber vorhanden ſind.
Zu Fermenten für die Ausbildung eines einheitlichen Mational⸗
bewußtſeins aber können nachweisbar alle dieſe Momente,
ſogar die Religion (wie z. B. bei den katholiſchen Kroaten,
die mit den orthodoxen Serben gleichen Stammes ſind) wer⸗
den. Niemals aber iſt die nationale Einheit aus ſolchen Unter⸗
einheiten zuſammenge ſetzt. Immer ſtehen vielmehr dieſe Unter⸗
einheiten zur Mation nur im Verhältnis der Fundamente und
Bedingungen für die nationale Lebens- und Schick ſalsgemein⸗
ſchaft, die ſchließlich ein einheitliches, einfaches und letztes
Geiſtiges iſt. Um Fundamente und Bedingungen dieſer Ein⸗
heit aber zu prüfen, müſſen wir Weſen und Sinn der kon⸗
kreten Nation immer ſchon erfaßt haben; können ſie alſo
296
nicht erſt aus den Teileinheiten als eine bloße Miſchung der-
ſelben gewinnen. Nur eine Idee genau derſelben Art, aber eine
Idee auf höherer Stufe, iſt auch jene der „Geiſtesſtruktur“
und des zugehörigen „Kulturkreiſes“, von denen unſer Europa
(geographiſch Weſteuropa) ein Beiſpiel iſt: eine Liebes und
Geiſtesgemeinſchaft, welche die europäiſchen großen Nationen,
ſo in ſich befaßt, wie dieſe einzelne Völkerſtämme, Raſſen,
Religionsgemeinſchaften, die aber dennoch als ein Eigentüm⸗
liches ſich zugleich über ſie erhebt.
Aber das iſt nun die Haupt⸗ und Grundfrage für die rich:
tige Auffaſſung des Deutſchen Krieges, wie Rußland zu
dieſem Europa fich verhält und wie England — das als Nation
ein ſelbſtoerſtändlicher Teil Europas iſt — durch die dauern⸗
den Weſenszüge ſeiner Politik zu der etwaigen politiſchen und
ökonomiſchen Formung dieſes faktiſch geiſtig⸗ſolidariſchen
Weſteuropäertums ſteht, damit aber auch zur Aufgabe der
Hervorbringung des geſteigerten Bewußtſeins dieſer Soli⸗
darität unter den Völkern Europas. —
Zwei Einſtellungen ſcheinen mir für die Feſiſtellung des
Verhältniſſes der Spannweite des europäiſches Geiſtes zum
Ruſſentum beſonders verderblich. Erſtens die Auffaſſung
Rußlands nur als einer „Nation“ unter anderen Nationen,
analog Deutſchland, Frankreich, England; zweitens die Tei⸗
lung in ein europäiſiertes und aſiatiſches mongoliſch⸗tatariſches
Rußland — eine Scheidung, die man von der harmloſen eines
europäiſchen und afiatifchen Rußlands im geographiſchen
Sinne wohl ſcheiden möge.
Was das erſte betrifft, ſo hat aber Rußland ſicher nicht nur
den Wert einer Nation, ſondern mindeſtens den Wert eines
297
Kulturkreiſes ſowie Weſteuropa als Ganzes felbft wieder einen
Kulturkreis, darſtellt. Es heißt alſo Rußland in einem Sinne
ſchon unter ſchätzen, wenn man es eine „Nation“ nennt. Aber
in einem anderen Sinne heißt es auch Rußland erheblich über⸗
ſchätzen. Vergeſſen wir nicht, daß „Nation“ ſelbſt ein Begriff
des weſteuropäiſchen, ja nur des modernen weſteuropäiſchen Kul⸗
turkreiſes iſt, und es Außereuropäiſches ſchon vergewaltigen
heißt, wenn man es unter dieſe Kategorie zu bringen ſucht. Um
eine Nation zu fein iſt Rußlands Bevölkerung — nehmen wir
allein den echt ruſſiſchen Teil, Großruſſen, Weißruſſen, Klein⸗
ruſſen, Tataren und ſehen von den Anhängen des Reiches, den
Polen, Littauen, Letten, Juden, Finnen, Eſten, Schweden, Ru⸗
mänen ab — trotz der Einheit der Sprache und Religion in
der geiſtigen Bildungshöhe viel zu tief in ſich verſchieden. Die
Trägerin der Nationalidee im Gegenſatz zum natürlichen
Volkstum aber iſt überall, wo dieſe Kategorie ſinnvoll iſt,
eine geiſtige Minorität. Die Seele beſonders der ärmeren
ländlichen Bevölkerung bleibt überall im naturgegebenen
„Volkstum“ — man denke z. B. an Bayern — beſchloſſen.
Sie erhebt ſich nur im Kriege zum Gefühl der „nationalen“
Einheit. Sieben Achtel der ruſſiſchen Geſamtbevölkerung
aber lebt auf dem flachen Lande. Eine ſolche geiſtige Mino⸗
rität, welche die eigentümliche Idee Rußlands trüge, — und
nicht bloß trüge ganz verſchiedene, meiſt Europa entſtammende
Ideengruppen, darunter auch noch die dann auf Rußland
ſekundär angewandte europäiſche Idee der „Nation“ —
gibt es aber in Rußland als Einheit nicht. Gerade die ruſ⸗
ſiſche Bildung iſt in Wirklichkeit heute noch die am meiſten
kosmopolitiſche reſpektive internationale der Welt. Nirgends
298
fpricht die „Intelligenz“ fo viele Sprachen und iſt fie fo kosmo⸗
politiſch wie in Rußland. Rußland beſteht alſo weder aus
Nationen wie Oſterreich — noch iſt es ſelbſt eine Nation.
Es iſt eine, faſt alle klimatiſchen, pflanzen⸗ und tiergeogra⸗
phiſchen Hauptzonen der Erde umfaſſende äußerſt bunte Völker⸗
miſchung, die kulturell in Religion und Sprache und einer
ebenſo eigentümlichen Geiſtesſtruktur, wie ſie Weſteuropa nur
als Ganzes aufweiſt, politiſch im Cäſaropapismus des Zaren⸗
tums ſeine Einheit hat und gleichzeitig eine dünne faſt aus⸗
ſchließlich vom Adel (darunter ſtark vom deutſchen baltiſchen
und polniſchen) und Judentum herkommende Schicht kosmo⸗
politiſcher Bildung — auch dann noch kosmopolitiſch nach
Herkunft, wenn fie fich „panſlaviſtiſch“ oder „nationaliſtiſch“
gebärdet — auf feiner ungeheuren kompakten Landmaſſe liegen
hat. Sowohl der ſogenannte „Panſſlavismus“ als der ſpezifiſch
ruſſiſche Nationalismus ſind, ſofern ſte das Blut oder die
Nation über die Orthodoxie, Byzantinismus und den Zaren
ſetzen, nachweislich weſteuropäiſcher Import.
Ebenſo irrig aber iſt, die Einheit Rußlands in ein euro-
päiſches und aſiatiſch⸗mongoliſches Element zu zerbrechen.
Rußland iſt trotz der mannigfachen Raſſemiſchungen des fIa=
viſchen Elements in den Großruſſen mit den Finnen, in den
Kleinruſſen mit den Tataren, trotz der reichen Unterſchiede
der Großruſſen von den mit dem Polentum ſtark gemiſchten
Weißruſſen und beſonders den ſüdlichen beweglichen Händlern
der Kleinruſſen und der Ukraine ein Land eines einheitlichen,
ſcharf ausgeprägten Seelenrhythmus.
Überall diefelbe gutmütig⸗tieriſch rohe Kraft vereint mit
Liebe zu einer myſtiſchen Beziehungsloſigkeit des inneren Ge⸗
299
fühls und der gedanklichen Reflexion zu den jeweiligen Zielen
diefer Kraft und den Aufgaben des Handelns. Überall diefelbe
ſonderbare Verbindung von ungeheurer Ausdauer, Trägheit
und Konſtanz in dem vom Inſtinkt Ergriffenen und vom
Mangel an europäiſcher Arbeitſamkeit, europäiſchem Ord⸗
nungsſinn, europäiſchem Fleiß, europäiſcher Pünktlichkeit und
Willensenergie. Überall das Clair⸗obſeur von Melancholie,
Weichheit, Sentimentalität, Romantik und bodenloſem Leicht⸗
ſinn. Überall das ſchon in den zärtlichen Sitten (Oſterkuß, Kuß
beim Abſchied, der Menge der Koſenamen) zum Ausdruck kom⸗
mende unperſönliche zerfloſſene Gemeinſchaftsgefühl bei gleich⸗
zeitigem Fehlen aller Willenskraft zu künſtlicher Organiſation
von Menſchenmaſſen auf ein reich gegliedertes Zweckgefüge.
Überall dieſelbe Liebe und Ehrfurcht zur „Einteilung“ um ihrer
ſelbſt willen, zu byzantiniſchem Reichtum ſtufenförmiger hier⸗
archiſcher Gliederung — aber dieſe Neigung ganz unabhängig
von jener lex parsimoniae, dem ökonomiſchen Prinzip, das in
Europa alle Teilung der Arbeit, alle wiſſenſchaftliche Klaffifi:
kation, allen Auf bau des Beamtentums leitet. Selbſt der Lehr⸗
ſtoff der Schulen wird in immer neuen Lehrbüchern immer neu
eingeteilt und der Beamtenkörper bildet eine richtige, metaphy⸗
ſiſch verankert empfundene Hierarchie im byzantiniſchen Sinne.
In der moraliſchen Sphäre kann ſich der Europäer
nicht genug wundern über das Zuſammenſpiel von Gewalt⸗
tätigkeit, Korruption und Beſtechlichkeit aller Behörden
mit einem beiſpielloſen uneuropäiſchen Opferſinn, ja einer
eigentümlichen Opferliebe, oft Opfer ſucht des Einzelnen
für feine Ideen. Die Menge und die Kühnheit der ruf-
ſiſchen Spione, der weiblichen Soldaten in dieſem Kriege
300
gab uns davon wieder aufs neue einen Begriff. Die ruſſiſche
männliche und weibliche Jugend der „Intelligenz“ (wie
charakteriſtiſch ſchon dieſer Ausdruck, der eine kleine ſcharf
abgegrenzte Gruppe gegen die ungeheure Landmaſſe ſtellt) —
welch ſchwebend gefährliches Leben zwiſchen Zarismus und
Maſſe führt ſie ſeit Jahrhunderten! Und welcher unerhörter
Opfer war ſie fähig! Und doch — wie falſch wäre es auch
nur, dieſe ſittlichen Verhältniſſe an europäiſchem Ethos zu
meſſen! Kein europäiſches Land ertrüge zwei Wochen lang
den tauſendſten Teil dieſer Korruption, ohne ſofort in voll⸗
ſtändige innere Verwirrung zu geraten. Und doch erträgt ſie
Rußland, ja gedeiht mit ihr! Gedeiht ganz anders als Nord—
amerika mit ſeiner Korruption. Der Grund dafür, iſt daß
hier das Prinzip ungeordneter geſetzloſer Gewalt durch das
Prinzip eines ebenſo ungeordneten geſetzloſen Liebespatriarcha⸗
lismus, der von aller ruſſiſchen Autoritätsidee ebenſo unab-
trennbar iſt wie das Gewaltprinzip immer wieder ausgeglichen
wird. Beides dem europäiſchen Weſen gleich unbekannt!
Gewalt, Brutalität von oben und eine Maſſe, die fie nicht
nur erträgt und duldet, — duldet für auch nur ein bißchen,
plötzlich mit weichem Gefühl gegebenes Zuckerbrot, — nein
die fie geradezu heiſcht, die trotz alles bewußten Gegenwillens
unterbewußt im Grunde ſo beherrſcht ſein will, das iſt der
ethiſche Grundaſpekt dieſer Völker! Schon in dem Schluß
des Briefes, in dem das erſte ruſſiſche Herrſchergeſchlecht, die
ſchwediſchen Ruriks, ins Land gerufen wurde, — „kommt, be⸗
herrſcht uns!“ — tritt dieſer Zug des Heiſchens der Gewalt
ſeitens der ruſſiſchen Menge ſo plaſtiſch hervor. Zärtlichkeit
und Leidensſucht, die Prügel wünſcht, dies fordert, wie die
301
Frau des Muſchiks vom Manne, ſo diefe Maſſe von ihrer
Regierung.
Der Europäer, der dies alles nach ſeiner Idee von Gerech⸗
tigkeit und der Herrſchaft des Geſetzes mißt, verkennt mit
ſeinem Schimpfen auf die ruſſiſche Knute dieſe Knutenbedürftig⸗
keit, dieſes Heiſchen nach Knute ſeitens der Maſſe, und ver-
gißt meiſt dabei die gleich darnach kommende beiſpielloſe Zärt⸗
lichkeit und Liebe, (die Geſte auch in der Anrede „Väter⸗
chen“, „Mütterchen“). Er ſieht da nur eine ſchlechte praktiſche
Moralität nach ſeinem Ethos, dem europäiſchen Ethos, wo
ein ganz anderes Ethos herrſcht. So fieht er auch in Rußland
meiſt nur „Reaktion“ und „Unfreiheit“. Und doch erſcheinen
wir Weſteuropäer dem ruſſiſchen Auge — ganz einheitlich, ob
wir Engländer, Deutſche, Franzoſen, Italiener ſind — alle⸗
ſamt ſo häufig als ganz „unfreie Philiſter“, als Monomanen
einer ſozialen Ordnungsidee, als äußerſt „eng“ in unſeren
Urteilen über das Individuum, ſeine Lebensart, ſeine Sitten;
„eng“ auch in unſerm Urteil über die uneheliche Mutter, „eng“
in unſerem Urteil über den Verbrecher. In Rußland iſt Ver⸗
brecher — einfach der „Unglück liche“. Und in der Tat: Was
Rußland an politiſcher Freiheit abgeht, das erſetzt es wieder
durch den Beſitz einer ganz eigenartigen ſozialen Freiheit des
Individuums vom Zwang der „öffentlichen Meinung“, einer
beiſpielloſen Fülle originaler Lebenstypen, die ganz nur „nach
ihrem Kopfe“ leben, träumen, ſinnen. Wie unfrei iſt z. B.
dem gegenüber der Amerikaner und Engländer bei aller „poli⸗
tiſchen ! Freiheit und „Demokratie“; wie gebunden der konven⸗
tionelle, ſchematiſche Franzoſe, der auch in der Kunſt, — man
denke an Balzac — überall Typen der menſchlichen Mena⸗
302
gerie ſieht, „die“ Frau von 30 Jahren, „die“ Kurtiſane uſw.!
Auch unſer europäiſches Maß von Bedürfnis nach Lebens⸗
ſicherheit legen wir dem Ruſſen ſo gerne unter, wenn wir das
gefährliche Leben der Intelligenz zwiſchen Maſſe, Knute,
Sibirien und Peter⸗Paulsfeſtung beklagen. Was aber erzählt
uns Th. G. Maſaryk in ſeinen Skizzen zur ruſſiſchen Reli⸗
gions⸗ und Geſchichtsphiloſophie? Es iſt nach ihm eine ganz
typiſche Erſcheinung, daß die oft lange Jahre von der ruſſiſchen
Staatspolizei wie Hunde gehetzten geiſtigen Führer der ruffi-
ſchen Revolution ſich einmal nach Ruhe, Stille, Sicherheit
der Exiſtenz ſehnen — wie der Matroſe im Sturm nach
einem Waldſpaziergang. Dieſes Gefühl, dieſe Sehnſucht
treibt ſie dann nach Europa und — gelingt es zu entkommen
— fo leben fie in Deutſchland, Frankreich, England, Ita⸗
lien, Schweiz eine Zeitlang ruhig atmend und regelhaft.
Aber nicht länger als ein bis zwei Jahre genießen ſie dieſe
Ruhe. Dann ergreift fie tiefer Abſcheu vor der europäi⸗
ſchen „Sicherheit“ und „Ordnung“ und die Sehnſucht nach
den alten Abenteuern, nach dem alten gefährlichen, ſchweben⸗
den Leben zwiſchen Autokratie und Maſſe erwacht wieder
in ihnen. Das iſt die ruſſiſche Seele! Wie prägt ſie ſich
aus in dem abenteuerlichen Leben eines Bakunin, Herzen,
Krapotkin (fiehe Selbſtbiographie), eines Leontjew, Doſto⸗
jewski uſw.! In feinem 1881 geſchriebenen Aufſatz „Was
iſt Aſien für uns?“ will Doſtojewski die Frage beantworten,
warum Europa Rußland ſo ſehr haſſe. Er antwortet: „Wir
tragen eine ganz beſondere Idee, eine andere als Europa in die
Menſchheit.“ Die „ruſſiſchen Europäer“ — fährt er fort —
„verſichern dagegen Europa, Rußland habe keine beſondere
303
Idee, es wolle nur Europa nahekommen.“ „Europa jedoch
glaubt unſeren ruſſiſchen Europäern wenigſtens dieſes eine
nicht. Es ſtimmt hier mit dem echten Ruſſentum überein.“
„Europa glaubt ganz wie die Slavophilen, daß wir eine Idee
haben, eine eigene beſondere, nicht europäiſche Idee, und daß
Rußland fähig ſei, eine Idee zu haben.“ Bis heute — trotz
allen ökonomiſchen Veränderungen, trotz Revolution, Witteſche
Periode, Duma uſw. hat Doſtojewski recht.
Der Unterſchied des Ethos wie des intellektuellen Status
Rußlands von dem Europas beſteht darin, daß das Verhält⸗
nis von „Regel“ und „Ausnahme“ ſich auf die entgegen⸗
geſetzten Inhalte und Werte verteilt. Das gilt vom Gegen⸗
ſatz von Gewalt, Liebe und Geſetz, Gerechtigkeit; von Gefahr
und Sicherheit; Abenteuer und Geordnetem Leben; es gilt
auch von Kriegszuſtand und Friedenszuſtand, von Wunder
und Naturgeſetz, von Maſſe und individuelle Seele. Rußland
hatte nach Kuropatkin, im Laufe von 200 Jahren 130 Kriegs⸗
jahre, 70 Friedensjahre, darunter 90 Jahre Eroberungskrieg.
D. h. im Grunde iſt hier der Friede trotz der religiös gefärbten
Friedensgefühlsneigung der ruſſiſchen Menge noch ein Aus⸗
nahmezuſtand. Das Wunder iſt Europa — auch noch für die
frömmſten Katholiken — eine gottgewollte Ausnahme der zu⸗
nächſt als felbftverftändlich geltenden Geſetzmäßigkeit der Matur.
Das Wunder, nicht das Geſetz trägt zum mindeſten auch
für den römiſchen Papſt, ja noch für die ſpaniſche Bauern⸗
frau das onus probandi. Der kirchliche Prieſterrationalis⸗
mus hat es ſtets auf ein Minimum zu beſchränken geſucht.
Dem ruſſiſchen Menſchen — der „altruſſiſchen Erkenntnis⸗
theorie“, wie Maſaryk zu fagen pflegt — iſt derſelbe Inhalt,
304
den wir objektiv „Wunder“ und ſubjektio puren „Glauben“
nennen, die Regel und eine Ausnahme iſt ihm das „Ge⸗
ſetz, — das Geſetz in Natur wie in Staat. Überall trägt
die Behauptung einer Geſetzmäßigkeit das onus probandi.
Dagegen ſagt es gar nichts, daß Rußland große wiſſenſchaft⸗
liche Forſcher zu den Seinen zählt. Ich fagte ſchon: erſt in
dem beſonderen Geiſte der wiſſenſchaftlichen Methoden der
Völker — nicht im Fortarbeiten in gegebenen Methoden zu
neuen Reſultaten erweiſt ſich die geiſtige Selbſtändigkeit der
Nation. Trotz aller ſogenannten „Internationalität“ der Wiſ⸗
ſenſchaft gibt es in dieſem Sinne nur eine, „die“ europäifche
Wiſſenſchaft und in ihr z. B. einen deutſchen, franzöfifchen,
englifchen, italieniſchen Methodengeiſt. Es gibt keinen ruſſt⸗
ſchen Methodengeiſt. Ruſſiſche Phyſiker und Mathematiker
arbeiten meiſt nach dem franzöſiſchen Vorbild möglichſter
Deduktion aus ganz wenigen Prinzipien. Sie haben keine
eigene Art des Erkenntnisfortſchrittes. Viel eher ſchon gibt es
eine „ruſſiſche Philoſophie“ — wenn auch die offiziellen Lehrer
meiſt ganz und gar von Kant, Fichte und Hegel, oder vom
engliſch⸗franzöſiſchen Poſitivismus, die geiſtigen Führer der
revolutionären Maſſe vom Marxismus abhängig ſind. Aber
in der Geiſtesart von Leontjew, Solobjew bis zur Einſtellung
des gegenwärtigen Petersburger Forſcher Loſſkij, ſteckt etwas,
was auf eine tiefe Weiſe mit dem mythiſchen Denken dieſes
Volkes zuſammenhängt und — was ganz unenropäiſch iſt.
Von dem tiefen Gegenſatz der Orthodoxie und der zu ihr
gehörigen Häreſien zum europäiſchen Chriſtentum wurde ſchon
früher eingehend geſprochen. Die religiöſe Einheit und ihre
Grundeinſtellungen, die auch der wechſelnden kirchlichen Ent-
20 305
wickelung von der Selbſtändigkeit der Kirche bis zu ihrer
Vereinigung mit dem Staate im Cäſaropapismus vorangeht,
die fich erſt in Peter dem Großen vollendete, iſt aber das ſtärkſte
Einheitsmoment des Ruſſentums. Auch die Autokratie würde
fie überdauern. Und auch bei den wechfelnden Inhalten, welche
die ruſſiſche Intelligenz aus Europa aufnahm — ſei es Kant,
Hegel, Poſttivismus, Marxismus — bleiben dieſe Einſtel⸗
lungen konſtant; ergreifen ſie das Fremde und bringen es in
die eigentümlichen Geſtalten ihres Rhythmus.
Iſt es mit der Kunſt anders? Trotz der unvergleichlichen
Größe eines Tolſtoi und Doſtojewski, eines Gogol und Puſch⸗
kin beſteht die Tatſache, daß der ruſſiſche Geiſt die euro-
päiſche Kategorie einer „reinen Kunſt“ gar nicht kennt. Viel⸗
leicht iſt das ein Vorzug. Ich fälle hier kein Werturteil.
Aber überall, wo dieſe „Kunſt“ wahrhaft groß iſt, iſt fie
nicht nur uneuropäiſch — ſondern überhaupt nicht „Kunſt“,
im europäiſchen Sinne. Sie iſt eine auch äſthetiſch oft un⸗
geheuer reizvolle grandioſe Prophetie, ein undifferenzierter
Mythos oder Sang von Religion, Weisheit, Politik, iſt in
den bildenden Künſten (abgeſehen von europäiſchen Nach⸗
ahmungen) entweder Schmuck (wie die alte Bauernkunſt) oder
Form und Mittel des religiöfen Kultus. Miemals aber „reine“,
ſelbſtändige Kunſt, die ſchon der Idee nach ein europäiſches
„Vorurteil“ iſt. Von der tiefen Fremdheit der Geſtalten
dieſer Kunſt, deren exotiſch anziehender Charakter uns gerade
ſo oft eben dieſe Fremdheit verbarg, ſei hier nicht die Rede.
Was beſagt nun hiergegen die ſeit Peter dem Großen fort⸗
ſchreitende ſogenannte „Europäiſierung Rußlands“? Wieder
finde ich, daß man hier entweder einen ganz von innen kommen⸗
ö 306
——— ̃ — —
den Fortgang der ruffifchen Geſellſchaft oder Folgen allgemei⸗
ner internationaler Kapitaliſterung der Wirtſchaft, wie ſich
Beides in Bauernbefreiung, Aufhebung der Leibeigenſchaft bis
zur Duma und zur jetzt ſich vollziehenden Auflöſung der altruſ⸗
ſiſchen Agrarberfaſſung, des Mir und gleichzeitiger Prole⸗
tariſterung und Induſtrialiſierung der bei der Agrarreform leer
ausgehenden Kleinbeſitzer vollzieht, fälſchlich für „Europäi⸗
ſierung“ hält. Auch jene formale Techniſierung, Eintritt
in die Arbeit exakter Wiſſenſchaft, Eintritt in die inter⸗
nationalen Verkehrsinſtitute iſt keine „Europäiſterung“. Dieſe
Erſcheinungen finden wir doch genau ebenſo in Japan, China,
bei Osmanen und Ägyptern.
Freilich: wer wie die Vertreter der ökonomiſchen Geſchichts⸗
auffaſſung „Kapitalismus“ für das Weſen, den Kern
„Europas“ hält und wer dazu noch glaubt, daß die öko⸗
nomiſchen Prozeſſe den ſogenannten geiſtigen „Überbau“ be⸗
ſtimmen, — der mag, der muß dieſe Dinge für Zeichen der
„Europäiſterung“ halten.
Der ſoll dieſe Prozeſſe der Jnternationaliſterung des Kapi⸗
talismus für Europäiſterung halten! Denen aber, die folches
tun, habe ich ehrlich und frei — ehrlich und frei auch noch
mitten in dieſem Kriege folgendes zu ſagen: Unterſtelle ich ihre
Anſicht eine Sekunde als wahr, die Anſicht als wahr, daß der
Kern Europas der Kapitalismus, der Kern des europäiſchen
Geiſtes der „kapitaliſtiſche Geiſt“ iſt, und der Bourgeois,
wie ſein Schatten der Sozialiſt, die Hochblüte und der
letzte Menſch Europas, dann ſtehe ich nicht an zu ſagen,
daß dieſer Krieg auch der Anfang vom Ende Europas
ſein wird; ja ich wage zu ſagen, ſein ſoll!
*
20 307
Er wird es fein! Denn iſt faktiſch der kapitaliſtiſche Geiſt
das Weſen des europäiſchen Geiſtes, dann kann auch nicht
mehr diejenige Macht in Europa dauernd das Lebenszentrum
dieſes Geiſtes ſein und ſeinen politiſchen Kriſtalliſationspunkt
bilden, die noch der machtvollſte Träger des antikapitaliſti⸗
ſchen, des heroiſchen, des antiindividualiſtiſchen Geiſtes und
jener antiken Staatsidee iſt, die den Staat als eine überindi⸗
viduelle Willensrealität faßt: Deutſchland! Dann ſiegen,
müſſen auf die Dauer fiegen in Europa lauwarmer eng:
liſcher Komfort und konventionelle Ziviliſation über originale
perſönliche Kultur, der Bourgeois über den Geiſt Friedrichs
des Großen, Goethes und Kants. Dann wird ſich mit innerer
Notwendigkeit jene Anarchie Europas, die vor dem Kriege
von Jahr zu Jahr anſchwoll und deren erhabener Arzt nach
unſerer Meinung dieſer Krieg iſt, fort⸗ und weiterfreſſen
und eben mit dem, was hiernach „Europäiſterung der Welt“
genannt werden müßte, müßte Europa als eigentümlicher
Kulturkreis von der Erde verſchwinden. Eben dieſer Europas
vermeintliche Sieg — wäre ſein Fall! Ein Europa als ein
bloß techniſch⸗ökonomiſcher Dienſtbote fremder eigentümlicher
Geiſtes⸗ und Kulturartungen, ein ſolches Europa hätte auch
kein Anrecht mehr auf politiſche Selbſtändigkeit ſeiner Teile,
und keine Macht fie dauernd aufrecht zu erhalten. —
Das iſt die ganze Größe der welthiſtoriſchen Situation:
Daß dieſer unerhörte Krieg entweder der Beginn der Neu—
geburt Europas oder der Beginn ſeines Abſterbens
iſt! Es gibt kein Drittes! —
Und noch mehr: Wenn Kapitalismus Kern und Weſen
Europas ausmacht — „ſoll“ Europa auch die Führung
308
in der Geſchichte der Menſchheit, die es ſeit der Antike inne
hatte, verlieren und es ſollen ſich bewahrheiten die Ideale
der größten und tiefſten Geiſter Rußlands. Dann, ja dann
ſchlöſſe ich mich den Worten Leontjews, des Lehrers ſo vieler
ruſſiſcher Geiſtesführer der neueſten Zeit, des tiefſinnigen
Lehrers auch des flachen Pobjedonoscew an: „Wäre es nicht
fürchterlich und beleidigend zu denken, daß Moſes den Sinai
beſtiegen, daß die Griechen ihre ſchönen Akropolen errichtet,
die Römer die puniſchen Kriege führten, daß der geniale
ſchöne Alexander in ſeinem federwallenden Helm den Grani⸗
kus überſchritt und bei Arbela kämpfte, daß die Apoſtel pre⸗
digten, die Märtyrer litten, die Dichter ſangen, die Maler
malten und die Ritter auf den Turnieren glänzten, — nur
deshalb allein, daß der franzöſtſche, deutſche oder ruſſiſche
Bourgeois in ſeinem häßlichen Gewande auf den Ruinen all
dieſer Herrlichkeiten ‚individuell‘ und Kollektio“ ſich 1
befinden möchte?“
Aber Leontjew — macht ja denfelben Grundfehler wie
unſere Vertreter der „ökonomiſchen“ Geſchichtsauffaſſung.
Er hält den Kapitalismus für den Kern Europas!
Wie wir anderen an eine eigentümliche urſprüngliche
Geiſteseinheit Europas glauben, ſo halten wir es auch mit
Doſtojewski und der beſonderen „Idee“ Rußlands. Wir find
dabei weit entfernt, dieſe Idee zu mißachten. Unſere inneren
Zweifel ſind ungeheuer groß, ſie auch nur voll zu verſtehen.
Denn die gefühlte und geahnte Differenz iſt hier ja ſo uner⸗
meßlich viel größer als die begriffene, in Worten ausdrück⸗
bare. Aber deswegen fordern wir, — im Gegenſatz zur öko⸗
nomiſchen Geſchichtslehre — daß die autonome Kulturſoli⸗
309
darität Europas in ihrer, hinter allem internationalen
Kapitalismus gelegenen pofifiven Eigenart auch ihre zugehörige
wirtſchaftliche Autarkie und ihre politiſche Form finde, daß
die Masken von Gleichförmigkeiten, die der Friede, die das
Geſchäft, die Salon⸗ und Hotel⸗„Kultur“, die Nachahmung
und Mimikry über die tiefen Organiſationsverſchiedenheiten
des europäiſchen und ruſſiſchen Weſens ſtülpten, jetzt endlich
fallen! Und nicht um ſogenannte „panſlaviſtiſche Tendenzen“
— die ſich auch gegenwärtig in Böhmen nur als phantaſtiſch⸗
ſentimentale Vorwände einer einſeitig nationaliſtiſchen gegen
Oſterreich gerichteten Tſchechenpolitik (zum Teil aber auch als
ſelbſtgemachten „Feind“ des Alldeutſchtums) erweiſen — han⸗
delt es ſich hier. Es handelt ſich überhaupt nicht um Raſſen⸗
begriffe, ſondern allein um den Gegenſatz Europa und Ruß⸗
land als zweier Einheiten von geiſtigen Erlebnisformen der
Welt. So begeiſtert wie es uns die Preſſe ſchilderte, gehen
ja nach dem Urteil genaueſter Sachkenner die Tſchechen durch⸗
aus nicht gegen Rußland mit. Aber auch dieſe Kühle folgt
nicht aus „panſlaviſtiſcher“ Gefühlseinheit mit dem Ruſſen⸗
tum, ſondern aus dem Streben nach einem ſelbſtändigen
Königreich Böhmen. Nur ein Teil der tſchechiſchen Sozial⸗
demokraten hat das Verdienſt, für den anationalen euro⸗
päiſchen Vormachtſtaat Oſterreich ernſthaft einzutreten. Auch
auf tſchechiſcher Seite — genau wie bei den ſogenannten „All⸗
deutſchen“ im Reich und Dfterreich, überflutet ein ſchranken⸗
loſer Nationalismus die Idee der europäiſchen Solidarität,
die eine Erhaltung des heroiſchen Kaiſerſtaates fordert.
Wer aber iſt, nicht wie Frankreich der momentane — nein
der konſtitutibe Feind dieſer politiſchen Bewußtwerdung und
310
politiſchen Formung der europäiſchen Solidarität? Diefer
Feind iſt England! Diefer Staat kann, ſolange er das Ge⸗
füge ſeiner, ſeit dem 17. Jahrhundert erwachſenen dauernden,
politiſchen Prinzipien und Methoden beibehält, — d. h. ſeit dem
Beginn der Aſpirationen, die in ſeinem Marinismus, ſeinem
Anſpruch auf Allgeltung zur See endeten, — nie und nimmer⸗
mehr ein ehrliches Mitglied der europäiſchen Staatengeſell⸗
ſchaft werden. Genau fo lange, als England ſeine All⸗
ſeegeltung behält, genau ſo lange muß es das Geſchick jedes
einzelnen europäiſchen Staates, ja — trotz aller Geiſtes⸗ und
Kulturzuſammengehörigkeit mit Weſteuropa, — das ganze
Weſteuropa außer ſich ſelbſt in feine politiſche Weltrechnung
nicht anders einſtellen, wie jeden außereuropäiſchen Staat.
Genau ſo lange trägt es den radikalen Exiſtenzwiderſpruch
in fich, zugleich ein kulturelles Glied und ein politiſcher Außen⸗
ſeiter der europäiſchen Staatengeſellſchaft zu ſein. Es kann,
ſolange es an allen möglichen Punkten der Welt ſo überragend
und über alle europäiſchen Staaten weit hinaus engagiert iſt,
nie und nimmer Europas „heiligſte Güter“ wahren! Es muß
für ſeine Weltintereſſen jeden winkenden Vorteil in ſeinem
„Weltreich“ preisgeben und auch alle anderen europäiſchen
Staaten auf dem Stadium jener anarchiſchen Form von Welt⸗
politik fixieren, welches die letzte Wurzel auch dieſes Krieges
iſt. Ginge es das nächſtemal zufällig einmal mit Deutſchland
und etwa gegen Rußland, weil es das für ſeine Herrſchaft in
Indien oder Perſien nötig hat, oder auch gegen Japan, das
änderte an dieſer Prinzipienfrage nicht das mindeſte. Erſt wenn
England ſo weit in ſeiner Allſeegeltung beſchränkt würde, daß
es keinen weltpolitiſchen Schritt unternehmen kann, ehe es das
311
Einverſtändnis der europäiſchen Mächte erreicht hat, könnte
ſich dieſe ſeine Außenſeiterſtellung in die Stellung eines Glie⸗
des innerhalb der europäiſchen Staatengeſellſchaft verwandeln.
Das Prinzip der „Gleichgewichtsmethode“, das Englands cant
ſeit einem Jahrhundert und mehr trotz des vielfachen Wider⸗
ſpruches ſeiner Liberalen gegen dieſes Prinzip, als die Garantie
der „Ruhe und des Friedens in Europa“ erklärt, iſt faktiſch
das für Europas Schickſal auf die Dauer abſolut tödliche Prin⸗
zip. Denn nicht eine von England hervorzubringende mecha⸗
niſche Einheit, oder ein „Gleichgewicht“ von Intereſſenver⸗
bänden — ſondern eine Liebeseinheit iſt Europa ſeinem kulturellen
Weſen nach (mit Einſchluß Englands), und ſoll es auch wirt⸗
ſchaftlich durch eine europäiſche Autarkie und politiſch durch
ein dauerndes ſtetig weiter greifendes Staatenbündnis werden.
Was England „Liebe zum Schwachen“ nennt, das iſt aber
faktiſch nur ein heuchleriſcher Name für „Haß auf den Star⸗
ken“, den es jeweilig um ſo mehr fürchtet, je mehr es erwartet,
daß er ſeine politiſche Außenſeiterſtellung gegen Europas Soli⸗
darität durch ſeine eigene wachſende Seegeltung gefährden
könnte. „Gleichgewicht der Kräfte“ iſt ideell ja das gerade
Gegenteil von Solidarität. Dort mechaniſche Aufhebung zweier
entgegengeſetzt gerichteter Kräfte — hier eine einzige Kraft der
Liebe und des Willens in mehreren Einheiten, eine Kraft der⸗
ſelben Richtung. Nicht das machen wir hier England an erſter
Stelle zum Vorwurf, daß es in gegenwärtiger Konſtellation
Rußland unterſtützt und ſich des japaniſchen Ehrgeizes und ſeiner
aſtatiſchen Expanſtonstendenzen auf China gegen Deutſchland
bedient. Momentane politiſch⸗militäriſche Verbindungen euro⸗
päifcher Staaten mit außereuropäiſchen find, ehe die Solidarität
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Europas eine politiſche Form gefunden hat — ſchwer ganz
zu vermeiden. Auch wir gehen in dieſem eng begrenzten
Sinne zurzeit mit den Osmanen, und die Ehrlichkeit gebietet
zu ſagen, daß wir eine Wendung Japans nicht nur gegen
Rußland, ſondern auch gegen England nicht ungern geſehen,
ja unterſtützt hätten, wäre fie — wie Unkenntnis der hiſto⸗
riſchen Tatſachen ſeit dem japanifch-ruffifchen Kriege und
Torheit anfänglich vermutete — eingetreten. Ein deutſch⸗
engliſch⸗japaniſches Bündnis mit der Spitze gegen Rußland,
wie es uns ſeinerzeit Chamberlain nach Englands Schwächung
durch den Burenkrieg unter Bedingungen anbot, die wir Gott
ſei Dank ablehnten, könnte bei einer neuen politiſchen Kon⸗
ſtellation die Solidarität Europas nicht weniger gefährden.
Darum handelt es ſich vielmehr, daß Englands dauernde poli⸗
tiſche Methodik die Anarchie Europas in Permanenz erhalten
muß, und daß es nur ein einziges Mittel gibt, die dauernde und
konſtitutive Hemmung der europäifch-politifchen Solidarität
gegen den Oſten zu beſeitigen: das Zerbrechen des Anſpruchs
Englands auf Allſeegeltung und die daraus folgende Erzwin—
gung der Preisgabe dieſer Methodik! Will England — wenn
dies geſchehen iſt — ein ehrliches Mitglied der europäiſchen
Staatengeſellſchaft werden, fo fei es mit Freuden in dieſe auf:
genommen und dies genau nach demjenigen Anſpruche, die der
Wert feiner eigentümlichen Spielform europäiſcher Kultur und
ſeine eigenartige Stellung als Inſelſtaat, ihm auf ein Mit⸗
handeln in der Politik der europäiſchen Staatengeſellſchaft und
auf Kolonifierung außereuropäiſcher Länder, der faktiſche Wert
ſeiner Ware aber ihm Anteil an dem Welthandel erteilt.
Nicht wir ſind es, die England aus der Einheit Europas aus⸗
313
ſchließen wollen, ſondern es ſelbſt iſt es, das ſich durch feine
politiſchen Methoden politiſch daraus ausſchließt; und
wir ſind es, die es auch zum Heile Geſamteuropas zwingen
müſſen, ſich auch politiſch auf den Standpunkt des „guten
Europäers“ zu ſtellen, anſtatt ſich als eine übereuropäiſche
Weltmacht „imperialiſtiſch“ aufzuſpielen, die mit Europa nur
als einem Faktor unter anderen Faktoren in ſeiner großen
ökonomiſch⸗-politiſchen Weltrechnung rechnet. Daß dieſer
Zwang erfolge, das iſt im Gemeinintereſſe aller europäiſchen
kontinentalen Staaten, und iſt ſogar noch das Intereſſe Eng⸗
lands als eines Gliedes von Europas ſelbſt, das es kulturell
ja zweifellos iſt. Solange England ſeine Allſeegeltung und
jene einſeitigen Hirten⸗ und Weidenmethoden gegenüber einem
ſo großen Teile der Erdkugel aufrecht erhalten kann, die ſein
cant Lehr⸗, Miſſions⸗ und Kulturmethoden nennt, ſo lange
muß es ſtets zu künſtlichen Bündniſſen, künſtlichen Neutrali⸗
täten unter den europäiſchen Staaten Anlaß geben, die weder
deren beſonderen Nationalintereſſen noch dem ſolidariſchen
Intereſſe Europas entſprechen. So hält es jetzt Italien
durch deſſen natürliche Angſt vor der Verletzung ſeiner
Mittelmeerintereſſen und ſeiner afrikaniſchen Kolonien durch
die engliſche Flotte in Schach und ſucht es zu einem Auf⸗
geben feiner Meutralität und zum Krieg gegen Oſterreich zu
drängen; ſo hat es Portugal ſchon durch deſſen Intereſſen
im afrikaniſchen Angola auf ſeine Seite gezogen; ſo wirkt
es aufwiegelnd auf Dänemark, das es 1864 auf ein paar
Worte Bismarcks hin preisgab, ſo auch ökonomiſch vergewal⸗
tigend auf Norwegen und Schweden. Gelänge es ihm,
Deutſchland zu einem Binnenſtaate zu machen und, wie
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man es ſchon englifcherfeits als Ziel des englifchen Krieges
gegen uns bezeichnet hat, den Nordoſtſeekanal zu „neutrali⸗
ſieren “ — wir haben es ja auch in dieſem Kriege gelernt, was
England unter „Neutralität“ im Seerecht verſteht — welches
Schickſal würde dieſen nordiſchen Völkern erblühen?
Analoges aber gilt auch für die Erreichung des höchſten
Zieles, das ſich die europäiſche Wirtſchaftspolitik zu ſetzen
hat: die ökonomiſche Autarkie Weſteuropas ſamt der ihm
angegliederten Kolonien gegen den Oſten und Amerika, ver⸗
mittelt durch eine zunächſt herzuſtellende mitteleuropäiſche
Wirtſchaftsgemeinſchaft, wie ſie Julius Wolf und Andere
längſt gefordert haben. Auch die Erreichung dieſes Zieles iſt
durch Englands Allſeegeltung dauernd gehemmt. Nur zwei
prinzipielle Wege kann die britiſche Wirtſchaftspolitik ein⸗
ſchlagen: entweder den Weg mehr oder weniger reinen, wahl⸗
loſen Freihandels, jedenfalls ohne Berückſichtigung der ſpezi⸗
fiſchen Einheit Europas oder jenen Weg, den feiner Zeit
Chamberlain gehen wollte: Maximale ökonomiſche Autarkie
des britiſchen Geſamtreiches, ſtarke Vorzugszölle zwiſchen
Mutterland und Kolonien und Abſperrung nach außen.
Beides aber verhindert die Erreichung jenes oben bezeichneten
höchſten Zieles unbedingt. Beides verhindert aber auch dauernd
die Erlöſung Deutſchlands vom kapitaliſtiſchen Geiſte engliſcher
Provenienz vermittels ſeiner Loslöſung von dem Zwange, mit
England in Formen konkurrieren zu müſſen, die der engliſche
Geiſt des Hochkapitalismus — nicht der deutſche — vorher
zum europäiſchen Wirtſchaftsgeiſt überhaupt gemacht hat.
Und wieder ſehe ich nur in dem Zuſammenwirken beider
Richtungen der Politik — der Richtung auf die europäiſche
315
politiſche Solidarität ſowie auf die ökonomiſche Autarkie und
auf Brechung der engliſchen Allſeegeltung eine mögliche Aus⸗
ſicht auf endgültige Ausſtoßung des Giftes des ſeiner Haupt⸗
provenienz nach engliſchen kapitaliſtiſchen Geiſtes aus Europa.
Vermöchten wir auch die engliſche Allſeegeltung zu zerbrechen,
aber ohne mit der deutſch⸗nationalen eine mindeſtens mittel⸗
europäiſche Wirtſchaftspolitik zu vereinigen, fo wäre dieſe
hohe Ausſicht darum nicht gefördert, weil uns der Zwang,
mit Nordamerika, (das ökonomiſch dem ganzen Weſteuropa,
nicht einer einzelnen Nation gleichwertig iſt) in den Formen
engliſchen Geiſtes zu konkurrieren, ſofort wieder in die
Fangarme des „kapitaliſtiſchen Geiſtes“ hineinſtürzen würde.
Würden wir aber auf Grundlage einer deutſchen ſogenannten
imperialiſtiſchen Politik analog wie ſeiner Zeit Chamberlain
für das britiſche Reich eine deutſche ökonomiſche Autarkie an⸗
ſtreben, ſo hieße dies entweder ein Unmögliches erſtreben, oder
es hieße uns zu einem ganz reaktionären Gegner auch des In⸗
duſtrialismus machen, der mit dem „kapitaliſtiſchen“ Geiſt
durchaus nichts zu tun hat. Im erſten Falle würden wir nur
wieder — ganz undeutſch — England ebenſo ſervil nachahmen,
wie wir es ſeit ſo langer Zeit getan haben. Auf alle Fälle
aber hieße es die Anarchie Europas auch politiſch verewigen
und es einſchließlich unſerer eigenen Exiſtenz ſchließlich an die
ruſſiſche Expanſtonspolitik der nächſten Jahrhunderte preis⸗
geben. Denn nur unter Vorausſetzung einer „imperialiſtiſchen“
deutſchen Welt⸗ und Raubpolitik größten Stils könnte dieſes
Ziel deutſcher Autarkie ohne ökonomiſche Reaktion der ökono⸗
miſchen Betriebsformen auch nur ernſtlich aufgeſtellt werden.
Nur durch den ſchließlichen Zwang, daß auch England ſich
316,
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endlich — wie weit dies Ziel auch immer noch entfernt fei,
einem europäiſchen Zollverband gegen Amerika, unter er⸗
heblicher Dezimierung ſeines jetzigen Weltbeſitzes eines Viertels
der Erdoberfläche, eingliedert, iſt es möglich, der kapitaliſtiſchen
geiſtigen Angliſterung Europas dauernd und kräftig in den
Weg zu treten und das aufgenommene Gift wieder aus dem
Körper Europas, voran unſeres Deutſchlands, herauszuſtoßen.
Dazu aber iſt Zerbrechen der engliſchen Allſeegeltung die
allerfundamentalſte Bedingung! —
Aber ich kann dieſes Kapitel über die Solidarität Europas
nicht beſchließen, ohne des ſchmerzlichſten Anblicks zu gedenken,
den dieſer Krieg für den „guten Europäer“ bietet, für jeden
bieten muß, welcher Nation er auch gehöre. Dies iſt der
Anblick nicht nur der beiſpiellos niedrigen, unritterlichen
Kriegsführung und Verlogenheit unſerer Gegner, ſamt der
tragiſchen unſer edles Heer verrohenden Gegenmaßregeln, die
ſie notwendig machen müſſen, — es iſt für mich der noch
ſchmerzlichere Anblick des beiſpielloſen Verſagens aller euro⸗
päiſchen Kulturträger und faſt aller übernationaler euro⸗
päiſcher religiös⸗moraliſcher Mächte und Autoritäten. Die
Preisgabe auch ſchon alles gemeinſamen europäiſchen Kapitals
an ſittlichen Maßſtäben und Prinzipien zur Beurteilung der
ungeheuren Vorkommniſſe in der moraliſchen Welt, wie fie
dieſer Krieg mit ſich führt, ſcheint nicht mehr zu übertreffen
zu ſein. Daß Europa keine übernationale, ſpirituell moraliſche
gemeinſam anerkannte Autorität mehr beſitzt, die Bedeutung
dieſer Tatſache nicht nur die beklagenswerte Uberſchwemmung
aller Grenzen des Völkerrechts, — trat ſeit dem Niedergang
des mittelalterlichen Papſttums, der letzten Form ſolcher all⸗
317
verehrter Autorität, noch niemals mit fo furchtbarer greller
Deutlichkeit in der weſteuropäiſchen Geſchichte hervor, wie
während dieſes Krieges. Aber damit auch gleich das andere:
wie ephemer, wie windig und nichtig der Anſpruch der ſo⸗
genannten „vorausſetzungsloſen“, — alſo wohl auch national
„vorausſetzungsloſen“ — Wiffenfchaft geweſen iſt, eine ſolche
ſpirituelle, durch ihr moraliſches Gewicht und ihre geheiligte
Tradition mitwirkende europäiſche Autorität zu erſetzen. Mit
einer geradezu erſchreckenden Plaſtik und Klarheit traten die
Folgen jenes grenzenloſen Subjektivismus hervor, der die ver⸗
borgene Seele jener ſpezifiſch modernen Abart der ſo „objektiv“
tuenden Wiſſenſchaft und ihrer Vertreter iſt, die Naturalismus
und Poſttivismus an die Stelle zuerſt echter „Philoſophie“,
dann gar an die Stelle einer mit Autorität ausgerüſteten über⸗
nationalen religiöſen Gemeinſchaft zu ſetzen, ſich vermeſſen
wollten. Es muß geſagt werden: die Außerungen aller Art,
die mannigfachen Briefwechſel der Gelehrten verſchiedener
europäiſcher Nationen über Krieg und Kriegführung wieſen
einen intellektuellen und moraliſchen Tiefſtand auf, eine Ver⸗
dumpfung des Urteils, ein Sehen aller Dinge durch Maſſen⸗
affekte, genährt durch eine teils pofitio lügneriſche, teils alle
Wahrheit unterdrückende Preſſe, bis ins Groteske geſteigert
durch jeden Mangel an Fähigkeit, ſich auch nur weſteuropäiſch⸗
gemeinſam anerkannter Grundſätze im Gedankenaustauſch, vor
der Hin⸗ und Herrede zu verſichern ganz zu ſchweigen von der
Befriedigung des Anſpruchs auf jene faſt überirdiſche Sachlich⸗
keit und „Vorausſetzungsloſigkeit“, auf welche dieſelben Herren
ſonſt für das, was ſie „Wiſſenſchaft“ nennen, Anſpruch zu
machen pflegen, daß ſelbſt der Gegner jenes radikalen Ratio⸗
318
nalismus und Szientifismus, der dem größten Teil unferer
europäiſchen Gelehrten zum Unheil aller echter Wiſſenſchaft
eigen iſt, nur mit — ich finde kein anderes Wort — mit Ent:
ſetzen dieſen Zuſammenbruch auch der wohlberechtigten Würde
der wiſſenſchaftlichen Vernunft gewahren konnte. Selbſt die
Preſſe mußte die „Wiſſenſchaft“ korrigieren. Mur darum
nenne ich keine Namen, weil ich die betreffenden Perſonen an
dieſer Tatſache für ganz unſchuldig erachte. Sie waren ſo
„gewiſſenhaft“, als ſie ſein konnten. Nur das iſt das Be⸗
klagenswerte, daß ſie das Prinzip hatten, keine andere Er⸗
kenntnisquelle des an ſich und evident Rechten und Guten
anzuerkennen, als ausſchließlich ihr ſubjektives, ſo unendlich
relatives enges, kleines, verdumpftes „Gewiſſen“. Oft konnte
einem zumute fein — und ich kenne viele, denen es fo erging —
als ſchlügen die Wellen des Chauvinismus, dieſes Feindes
aller geordneten Liebe, auch der geordneten Liebe zum Vater⸗
lande, bis an die Grenzen eines Wahnſinnes, der ſelbſt die
primitioſten Iogifchen und ſittlichen Wahrheiten nicht mehr
ſieht und achtet. Auch in den zum Teil vornehmen und ge⸗
mäßigten Auseinanderſetzungen zwiſchen den Oxforder Pro-
feſſoren und deutſchen Akademikern öffnete ſich eine Kluft,
ſchon in den gemeinſam anerkannten Prinzipien von Recht,
Moral, Staatsidee, Kriegsauffaſſung, Geſchichtsauffaſſung,
die jeden erſchauern laſſen mußte, der im Gegenſatze zu einem
ſeichten nationalen und hiſtoriſtiſchen „Relativismus“ an ab⸗
ſolute evidente Prinzipien in Logik, Ethik, Recht glaubt. Wer
nicht wie der Schreiber dieſer Zeilen ſeine Exiſtenz im letzten
Grunde in den Tiefen einer überweltlichen Macht verankert
hatte, die gelaſſen, allweiſe und allgerecht auf die menſchlichen
319
Engen, Täuſchungen und Irrtümer herabblickt, der konnte —
der mußte bei dieſer radikalen Zerſprengung aller Bande der
höheren Kultur und Moral, unter ſeinen Augen einen nie ge⸗
ahnten Abgrund, ein nie geſehenes Chaos ſich öffnen ſehen;
ein unförmliches hölliſches Etwas, von dem er ſich ſagen
mußte: es kann eimmal die europäiſche Kultur bis hinein in
ihre tiefſten geiſtigen Wurzeln verſchlingen. — Es muß es
auf die Dauer — wenn ſich Geiſt und Gewiſſen Europas nicht
ermannt. Ich kenne viele edle und dennoch wirklichkeitstapfere
Seelen, die es tränenden Auges ſahen. Nicht nur das gilt,
was der deutſche Kaiſer in ſeinem Appell an den amerika⸗
niſchen Präſidenten Wilſon wörtlich hervorhob, daß die Krieg⸗
führung auf „eine Stufe hinter das Mittelalter zurückge⸗
ſunken“ ſei; für den „Gedankenaustauſch“ der gegenwärtigen
europäiſchen Kulturträger gilt, daß es uns iſt, als träten wir
aus muffiger dumpfer Gefängnisluft in eine weite ſonnenhelle
Halle, wenn wir den Zuſtand von europäiſcher Kultur und
Ethos bei analogen Anläſſen auf der Höhe des Mittelalters
mit dieſem Zurückſinken in roheſte Trieberſchlaffung ver⸗
gleichend betrachten. Wie erhaben über Erörterungen, wie fie
z. B. zwiſchen Romain Rolland und Gerhart Hauptmann,
zwiſchen Maeterlinck und den deutſchen Antworten auf ſeine
ungezügelten Ausfälle möglich waren, iſt auch noch ein Brief⸗
wechſel, wie jener von ſo mittelmäßigen Perſonen wie David
Friedrich Strauß und Ernſt Renan über das Elſaß im 1870er
Krieg! Daß unſer Kaiſer, daß auch andere europäiſche Mächte
ſich gezwungen ſahen und waren fie etwa nicht gezwungen? —
den Präſidenten von Nordamerika zum Gegenſtande eines mora⸗
liſchen Appells über die Kriegführung europäiſcher Staaten
320
zu wählen, welche tiefe Schande für die geiſtige Würde und
den Beſtand von moraliſcher Autorität in Europa! Wahr⸗
lich nicht wegen der Perſönlichkeit des Präſidenten, die durch⸗
aus verehrungswürdig iſt — nein, wegen des damit zugeſtan⸗
denen Mangels einer ebenſo verehrungswürdigen Perſönlichkeit
in Europa. Präſident Wilſon hat mit jener Vornehumheit,
Schlichtheit und Demut geantwortet, die dem Oberhaupt eines
großen Staates in allgemein⸗moraliſchen Dingen, gerade
wegen der notwendigen Inkompetenz eines Staatsoberhauptes
für Fragen dieſer Art geziemt und allein geziemen ſoll. Er
wies jedes Richteramt ab; er verwies die appellierenden Par⸗
teien an die göttliche Gerechtigkeit und auf ſpätere Ausein⸗
anderſetzungen zwiſchen den großen Kulturſtaaten Europas.
Er verwies die gegeneinander Proteſtierenden mit Würde auf
ſich ſelbſt zurück; er tat es, ohne daß ſie in Scham erglühten.
Innerhalb Europas ſtellt ſich uns als letzter Reſt einer über⸗
nationalen ſpirituell⸗moraliſchen Autorität das Papſttum dar.
Für den Papſt war es bei der Beteiligung katholiſcher
Völker — die franzöſiſche Regierung ſuchte die Katholiken
und den Papſt durch Abſchaffung der antikirchlichen Kult⸗
geſetzgebung gleich zu Beginn des Krieges zu gewinnen —
auf beiden feindlichen Parteien einen moralifch-fpirituellen
Rat zu erteilen, nicht ohne Schwierigkeit. Der Papſt erteilte
gleichwohl einen ſolchen Rat in einer Enzyklika, die wir trotz
aller Bemühung noch nicht zu Geſicht bekamen und trat
außerdem entſchieden für die Neutralität Italiens ein. Bei
der faktiſchen modernen Begrenztheit der päpſtlichen Autorität
konnte freilich auch der Widerhall der päpſtlichen Worte
nur ein ſehr begrenzter ſein.
21 321
Iſt zu erwarten, daß fich die kirchliche moraliſch⸗ſpirituelle
Autorität über Europa, — der letzte Reſt einer übernationalen
ſpirituellen Autorität in Europa überhaupt nach dieſem Kriege
hebe? Für die katholiſche Kirche find große und heilige Inter⸗
eſſen mit dieſem Kriege und ſeinem Ausgange verknüpft. Der
franzöſiſchen Regierung iſt fie für die Abſchaffung der anti⸗
kirchlichen Kulturgeſetzgebung wahrlich keinen Dank ſchuldig.
Sie geſchah nur, um die Katholiken momentan für den Krieg
auch innerlich zu gewinnen, oder ihnen wenigſtens den Gewiſſens⸗
fErupel zu nehmen, für eine irreligiöſe und kirchenfeindliche
Regierung kämpfen zu müſſen. Siegte Frankreich und in ihm
die jetzige Form der Republik, ſo würde dieſe Geſetzgebung als⸗
bald wieder aufgerichtet. Unterliegt Frankreich, ſo würde ſie
durch eine neue vermutlich bonapartiſtiſche Regierung ſowieſo
ſicher gefallen ſein. Das franzöſiſche Patronat über die
katholiſchen Chriſten Kleinaſtens würde im Falle einer
Niederlage Frankreichs erheblich in Frage geſtellt ſein.
Die kirchenfreundliche Gegenrevolution in Portugal da⸗
gegen, die noch mehr zum bewaffneten Eintreten für
England zu neigen ſcheint, als die jetzige antikirchliche
Regierung, vielleicht auch die Idee der Erhaltung eines ſelb⸗
ſtändigen Belgien, gibt der Kirche ein gewiſſes Maß vom
gemeinſamen Intereſſe mit dem Dreiverband. Dem ſtehen
aber ganz unverhältnismäßig ſtärkere Intereſſen, die ſie mit
einem Sieg der kontinentalen Zentralmächte teilt, gegenüber.
An erſter Stelle eine Zurückwerfung der Orthodoxie auf dem
Balkan und gegen den Oſten überhaupt; die Erhaltung eines
ſelbſtändigen öſterreichiſchen Kaiſerſtaates und des katholiſchen
Glaubens in der ſüdſlaviſchen Welt; die eventuelle Ausſicht
322
9
1
auf ein mögliches ſelbſtändiges Polen mit einem katholiſchen
König. Dazu muß jeder Sieg Deutſchlands, der eine etwaige
Erpanfion des Deutſchen Reiches in irgendeiner Richtung zur
Folge hätte, die katholiſche Bevölkerungsteile in die Majori⸗
tät gegenüber den evangeliſchen bringen — unter gleichzeitiger
Schwächung der evangeliſchen Solidarität mit England. Für
eine evenfuelle Annexion Belgiens iſt dies ohne weiteres offen⸗
ſichtlich. Andererſeits müßte ein entſchiedener Sieg der Zentral⸗
mächte das Gewicht der germaniſchen tieferen, innigeren und
religiöferen Form des Katholizismus erheblich ſteigern. Eine
innere (nicht dogmatiſche) Reform der katholiſchen Kirche,
die ihr über ihre gegenwärtige lateiniſche Partikulariſterung,
die Anwartſchaft auf eine allſeitigere ſpirituelle Leitung Euro⸗
pas vielleicht wieder zurückgeben könnte, möchte nur unter
dieſer Bedingung einige Ausſicht auf Erfolg gewinnen.
Ehe ſolche Reform in die Erſcheinung treten wird, bleibt
es bei dem Furchtbaren, das dieſer Krieg zur Erſcheinung
brachte: Daß es in Europa zurzeit keinen Mann, keine
Stelle, keine Autorität mehr gibt, die der, ihre Ausſprache
unwirkſam machenden Gefahr der Parteilichkeit ſo ſehr durch
ihre innere Würde und durch ihr moraliſches Gewicht überhoben
wäre, die zugleich jenes Maß gemeinſamer Ehrfurcht und ge⸗
meinſamer Anerkennung genöſſe, daß ihr Wort über die natio⸗
nalen Gebundenheiten des Geiſtes hinweg in das Herz Europas
hineinſchallte. Das iſt der Aſpekt der Zeit: Jeglicher iſt frag⸗
würdig geworden; über jeden herrſcht eine unbegrenzte Zahl ent⸗
gegengeſetzter Meinungen und nur die Maſſe und die Gewalt
geben noch einige Bedeutung. Lieber alter Auguſte Comte:
Du fühlteſt das Bedürfnis, das jetzt heißer wie je in jedes Euro⸗
21 323
päers Herzen pocht, du wollteſt an Stelle der alten kirchlichen
übernationalen Autorität eine europäiſche „pouvoir spirituelle“
aufrichten, die aus einem Senat von poſitiviſtiſchen Gelehrten
beſtehen ſollte. Hätteſt du deine an ſich große — nur auf eine
falſche Philoſophie gepfropfte, darum unfruchtbare — Idee
angeſichts des gegenwärtigen Zerfalles aller gemeinſamen
ſpirituellen Bande Europas wohl feſtgehalten? Und des Zer⸗
falles der „wiſſenſchaftlichen“ vor dem Zerfall aller anderen?
Nicht minder ſchwach als die wiſſenſchaftliche, ja geradezu als
kläglich unwirkſam erwies ſich die evangeliſche Solidarität, wie
ſie noch kurz vor dem Kriege auf der internationalen evangeli⸗
ſchen Weltmiſſtonskonferenz ſich äußerlich dargeſtellt hatte. —
Zu all dieſen beklagenswerten Erſcheinungen, die zuſammen⸗
genommen einen nun offenſichtlich gewordenen erheblichen
moraliſchen Rückſchritt der gegenwärtigen europäiſchen
Menſchheit — trotz aller „Fortſchritte“ von Wiſſenſchaft und
Technik — repräſentieren und die vor dem Auge ſämtlicher
außereuropäiſchen Völker eine ſo tiefe Schande implizieren,
daß das europäiſche Preſtige auf eine Stufe geſunken iſt, die
ſeinen Tiefſtand durch das Verhalten Europas während der
Balkankriege noch gewaltig überbietet, finde ich indes häufig
ſchon jetzt eine Stellung eingenommen, die im Keime als
grundirrig zu bekämpfen iſt.
Sehen wir ab von jenem niedrigſten Chauvinismus und
Moral⸗ und Rechtsrelativismus, der ſich heute frech und
zyniſch jauchzend freut, daß ſich alle volksverbindenden geiſtigen
Mächte, daß ſich Moral und Recht als „ganz ſubjektiv“ und
„relativ“ erwieſen haben, daß alles Völkerrecht nur „papiernes
Recht! fei, fo finde ich gerade bei den wohlberechtigten Gegnern
324
diefer wüſten Beſtienmoral faft ausſchließlich den Krieg felbft
und den europäiſchen Militarismus vor dem Kriege für
dieſen inneren Zuſtand Europas in die Anklage erhoben.
Nichts aber erſcheint mir irriger und auch für das künftige
Schickſal der europäiſchen Geiſtesſolidarität verderblicher als
dieſe Behauptung. Was? Den diagnoſtizierenden aufdecken⸗
den und — wie zu hoffen — den erhabenen, heilenden Arzt
für die inneren Fäulnisprozeſſe des moraliſchen Europa der
letzten vierzig Jahre haltet ihr für die Urſache der Fäulnis
und der Krankheit? Wie ungerecht, wie undankbar für die
bittere, heilende Arznei, für die gütige Hand Gottes, die euch
in dieſer ſo wunderbaren, wie ſchrecklichen Offenbarung eures
wahren Weſens noch einmal in ganz großem Stile zeigen
will, was aus euch geworden iſt, indem ſie euch züchtigt! Wie
unheilbar die Seele, die den Arzt für die Krankheit hält!
Nein! Nicht dem Kriege fällt dieſe Art der Kriegsführung,
fällt der ſich darin bekundende moraliſche Niedergang zur
Laſt. Umgekehrt iſt die pure Tatſache dieſes heilvollen und
ſittlich heilenden Krieges vielleicht noch das einzige, was ſelbſt
noch dieſe niedrige Dum⸗Dumkriegsführung, die Grauſam⸗
keiten aller Art relatib rechtfertigt, den ſinnloſen Haß aller
Art — rechtfertigt; rechtfertigt wenigſtens als Symptom, als
heilende Offenbarwerdung der beiſpielloſen inneren moraliſchen
Fäulnis des vorangegangenen europäiſchen „Friedens“.
Und iſt etwa der beiſpielloſe Haß, iſt Menſchen⸗ und
Bürgerhaß, Haß der regierenden Perſonen und Staatsober⸗
häupter der jeweilig feindlichen Staaten, Affekte, die dieſen
Krieg, deſſen ſittliche Seele wie die Seele jedes Krieges Ritter⸗
lichkeit und Achtung des Feindes iſt und ſein ſollte, unaustilgbar
325
beſchmutzten und in die Goſſe gezogen haben, ift dieſer Haß
eine Folge der in Europa noch nachglühenden kriegeriſchen und
militäriſchen Moral oder iſt er umgekehrt die Folge der lang⸗
ſamen Überwindung der kriegeriſchen von der pazifiziſtiſch
utilitariſchen Moral in Europa, d. h. der Voranſtellung des
Nützlichen vor dem Edlen? Schon die Frage enthält die
Antwort. Der Antwort der ſittlichen Einſicht entſprechen
die Tatſachen. Wo wird denn am meiften gehaßt ?
Mit welchen Eigenſchaften der Gruppen ſteigt und ſinkt
der Haß in dieſem Kriege? Am meiſten haßten unter
Völkern diejenigen, die am unkriegeriſchſten ſind — die⸗
jenigen, die relativ am meiſten Geld und am wenigſten
Macht beſitzen. Allen voran die ſinnlichen, in Weichlichkeit
und Uppigkeit erſtickenden Belgier, deren Staat ewige Neu⸗
tralität garantiert war, die aufrecht zu halten er zu ſchwach
war und der von parfümierten Rechtsanwälten regiert wird.
Und in den Völkern — welche Gruppen? Am meiſten haßten
unter ihnen nicht die kämpfenden Armeen, ſondern die Zurück⸗
gebliebenen, die nichts zu tun haben, reſpektive diejenigen, die
ſich wider alles Völkerrecht am Kampfe als Franktireurs
beteiligten. Und hat etwa das relativ kriegeriſchſte Volk unter
unſeren Feinden, hat Rußland Dum⸗Dumkugeln? Nein es hat
die bei Wunden gleicher Art am wenigſten lebengefährdenden
Kugeln. Aber das kommerzielle England, das — ſchießt
mit dieſen Kugeln. Gerade die pazifiziſtiſche Lehre, Krieg fei
„Maſſenmord“, iſt es, die in dieſem Kriege den Mord gegen⸗
über ritterlicher Kriegsführung rechtfertigt. Daß dieſer Krieg
aber überhaupt noch möglich war, möglich war als heilender
Ausbruch jener tiefen Krankheitsprozeſſe des europäiſchen mora⸗
326
liſchen Status, die ich andernorts zu ſchildern ſuchte, das, und
nur das iſt noch die einzige, die letzte Hoffnung darauf, daß
Europa noch einmal geneſe — noch einmal an Deutſchland
als Ganzes geneſe, d. h. an ſeinem noch innerlich geſündeſten
unter ſeinen edlen Organen. Was dieſer geiſtig ſittliche Zerfall
anzeigt, was die Rückkehr zu einer Kriegführung hinter jene
der ſchlimmſten Kolonialkriege Englands — das iſt allein die
tiefe Demoralifierung, welche die kapitaliſtiſchen bourgeoiſen
Lebensformen, eine maßloſe allgemeine Pleonexie, die damit
einhergehende Verweichlichung und Materialiſierung des Lebens
in Europa als Europas hiſtoriſch typiſchen, freilich über die
Länder, Klaſſen, Berufe, Stände ſehr verſchieden verbreiteten
Lebensſtil geſchaffen hatten. Ich habe den Prozeß dieſer Demo⸗
raliſterung, das Weſen und die Urſachen des Wandels der ethi⸗
ſchen Ideale und Vorzugsregeln — nicht nur ihrer Betätigung
— in meinen Abhandlungen „Das Reſſentiment im Auf bau
der Moralen“ und „Der Bourgeois“ eingehend geſchildert.
Das nun auch für den bisher Blinden ſichtbar gewordene Er⸗
gebnis dieſes Wandels iſt der ungeheure moraliſche Rückſchritt
wie er ſich in der Führung dieſes Krieges und den Verhand—
lungen über ihn, wie er ſich in der bald mehr lügneriſchen, bald
mehr feigen und ſervilen Preſſe Europas offenbarte. Aber ich
habe in dem Aufſatz „Die Zukunft des Kapitalismus“ auch an⸗
gedeutet, wie und wodurch eine innere Reform des Lebens⸗
ſtiles des europäiſchen Menſchen als Vorausſetzung jeder
anderen äußeren Reform zu erwarten iſt.
Auf jener neuen Jugend Europas, an die in dieſen Arbeiten
appelliert ward, auf jener Jugend, die jetzt im Felde kämpft, auf
ihres Schwertes Spitze ſteht auch der neue menſchliche Typus,
327
der „Ethos“ und „Geiſt“ des Kapitalismus überwinden kann —
überwinden muß. Noch im äußerſten Kampf gegeneinander iſt
dieſe europäiſche Jugend gegen ihre Friedensväter ſolidariſch in
dieſer einen Richtung: in der Richtung auf eine Beſeitigung des
moraliſchen Umſturzes, der den kapitaliſtiſchen Geiſt charakteri⸗
ſtert. Und wenn der deutſchen Jugend hier eine ausgezeichnete
Stelle zukommt, fo iſt es darum, weil dies Land des „Mili⸗
tarismus“, — des Volksmilitarismus — noch relativ am we⸗
nigſten von jenem Umſturz angeſteckt war, der die Religion
und ihre Inſpirationen aus der Führung der öffentlichen An⸗
gelegenheiten ausſchaltet, der wie Frankreichs regierende Rechts⸗
anwälte alles Heilige beſpeit, der die geiſtigen Kulturwerte zur
Ware erniedrigte und das national und international Mütz⸗
liche dem national und europäiſch Edlen vorzieht wie Eng⸗
land: das Mutterland des modernen Kapitalismus, das Europa
allzulange nachgeahmt hat.
Alſo fort mit der Greinerei ſo vieler Leute über die ab⸗
geriſſenen Fäden der internationalen wiſſenſchaftlichen Ver⸗
bindungen, Organiſationen, Freundſchaften uſw. Iſt das
Band des Geiſtes nicht feſt genug geweſen, die nationalen Leiden⸗
ſchaften des Krieges zu überdauern — dann war es nicht des
Geiſtes Band, das hier knüpfte. Dann bewirkte der Krieg nicht
die Anarchie der Kultur — ſondern er enthüllte ſie nur und riß
dem bloßen Nutzintereſſe, das hier band, die gleißneriſche Maske
des Geiſtes und der höheren Liebe zu Wahrheit, Recht, Schön⸗
heit vom blinzelnden Geſicht. Dann wird es nach dem Kriege
Sache der Jugend ſein, echtere und haltbarere Bänder, wahr⸗
haft „geiſtige“ Bänder um die geiſtigen Minoritäten der euro:
päiſchen Nationen zu ſchlingen und wahre „Freundſchaft“
328
unterſcheiden zu lernen von „internationalem“ Komödienſpiel
und von Intereſſengemeinſchaft, die ſich als ſolche der Kultur,
des Geiſtes und der Religion aufzuſpielen die Frechheit hatte. —
So ergeben uns alſo die Unterſuchung über die Struktur⸗
einheit des europäiſchen Geiſtes und des gegenwärtigen Aus⸗
drucks dieſer Einheit innerhalb der gegenwärtig zerriſſenen euro⸗
päiſchen Kulturgemeinſchaft völlig entgegengeſetzte Reſultate.
Europa iſt eine Liebes⸗ und Geiſteseinheit, ob es dieſe Tatſache
weiß oder nicht weiß. Europa beträgt ſich aber in ſeinen offi⸗
ziellen Kulturführern wie eine zänkiſche Familie, deren Glieder
in ihrer Wut gegeneinander vergeſſen, daß ſelbſt dieſe Wut
nur auf Grund der gemeinſamen geiſtigen Einſtellungen mög⸗
lich ift, die fie verbinden — noch mehr aber vergeſſen, welches
entſetzliche Bild fie dabei MNichteuropäern bieten, der mongoli⸗
ſchen, der mohammedaniſchen, der altruſſiſchen Welt; Welten
bieten, deren ſtärkſte, jahrhundertwährende Leidenſchaften die
europäiſchen Nationen jetzt ſo unſäglich leichtfertig vor ihre
beſonderen Intereſſen zu ſpannen wagen — ohne mögliche Ab⸗
meſſung, wohin einſt dieſe entfeſſelten Leidenſchaften führen
werden. Wer wird den neu entfeſſelten Ehrgeiz Japans, wer
den Fanatismus der mohammedaniſchen Welt im heiligen Krieg,
wer den durch ihm bewirkten orthodoxen Gegenfanatismus
der ruſſiſchen Welt, lenken und dämmen können, wenn dieſe
gefährlichen Kräfte die Intereſſen der europäiſchen Nationen
bis zu demjenigen Punkte gefördert haben werden, bis zu wel⸗
chem jene Intereſſen reichen? — Mit welchen furchtbaren
Feuern ſpielt das leichtſinnige, das allzu ſelbſtbertrauende Kind?
Und doch iſt die Frage: „Wo iſt heute die Einheit des
Europageiſtes“ eine Frage, die der Frage deſſen gleicht, der
329
nach feiner Brille ſucht, — die er auf der Naſe hat. Die
wahre, die echte Einheit des Europageiſtes, die einzige zu⸗
gleich, die für die Zukunft die Gewähr bietet, daß einmal aus
ihr heraus, fich jene echteren, haltbareren Geiſtesverknüpfungen
bilden, die der aufgewieſenen Struktureinheit des Europageiſtes
auch Ausdruck und Realität in Geſinnung und Werk zu geben
vermögen, dieſe Einheit iſt — fo paradox es klingen mag — gegen
wärtig nicht über dem Kriege, ſondern befindet fich in ihm ſelbſt.
Dieſe Geiſteseinheit iſt der noch intakte, noch nicht kapitaliſtiſch
angefaulte edle kriegeriſche Geiſt der europäiſchen Jugend.
Nur in ihm, in dieſem gemeinſamen Idealismus, der alle
Kämpfe der Nationen durchſchneidet, der ſich gegenſeitig ehrt
und achtet, liegt die Gewähr, daß dieſe in ihre Länder und
Städte zurückkehrende Jugend alle Gebiete des Lebens, Wirt⸗
ſchaft, Politik, Kunſt und Wiſſenſchaft mit ihrem Weſen
durchſäure und ſo das alte materialiſtiſch und merkantil zer⸗
morſchte Europa langſam beſtatte. Schon jetzt klingen die
Feldbriefe fo morgendlich, fo anders als das vielfache Gewinfel
der Zurückgebliebenen! Auch einen europäiſchen Generations⸗
ſinn — fo ſagte ich ſchon — hat gerade dieſer Krieg im höchſten
Maße. Und dieſer Sinn iſt im letzten Grunde weſentlicher und
wichtiger noch als alle beteiligten nationalpolitiſchen Intereſſen.
Selbſt auf engliſcher Seite kämpft die edelſte Jugend Englands
aus Oxford und Cambridge gegen die Gewohnheit der Väter
— mit auf den Schlachtfeldern. Alles, Alles wird aber bei der
Neuknüpfung der echten geiſtigen Bänder um die europäiſchen
Nationen, Alles ſelbſt für die innere Lebenserneuerung der
europäiſchen Völker innerhalb ihrer nationalen Grenzen darauf
ankommen, daß nicht die alten, jetzt meiſt zurückgebliebenen
330
eingefahrenen Partei: und Schulgehirne, die Nichts mehr
lernen wollen oder können, die Zügel in den öffentlichen An⸗
gelegenheiten behalten, Zügel, die fie fo fehr im Sande ſchleifen
ließen; ſondern eben diejenigen ſie erfaſſen, die ſich in dieſem
Kriege zu einer neuen und echteren Europaliebe zuſammen⸗
gekämpft haben; ja deren längſt vor dem Kriege kundgewor⸗
dener neuer Geiſt und deren neue ſittliche Haltung in dieſem
Kriege ihre tiefſte Erfüllung heimlich geſucht und nun gefun⸗
den haben.
Dieſe Forderung gilt in gleicher Schärfe für die geiſtige
Führerſchaft innerhalb der politiſchen Sphäre wie für jene
innerhalb der höchſten Gebiete des Kulturſchaffens. Warum
haben nicht nur Angehörige der Sozialdemokratie, ſondern
Mitglieder aller Parteien den Heldentod des freiwillig zu den
Fahnen eilenden Reichstagsabgeordneten Frank ſo tief be
klagt? Es geſchah darum, weil man in dieſem treff lichen
Manne, weit hinaus über den Verluſt eines klugen, ernſten
Kopfes, der unſerer verdoktrinariſterten Demokratie eine poſi⸗
tive und ſchöpferiſche Richtung hätte einhauchen und das nun
flüſſig gewordene Erz unſerer Parteibildungen neu hätte ſchmie⸗
den helfen können, in dem Gefallenen ein Beiſpiel des Typus
des deutſchen und europäiſchen Menſchen ſah, wie wir ihn
eben nach dem Kriege auf allen Gebieten ſo notwendig haben
werden wie das tägliche Brot.
Schon jetzt machen ſich bei den Zurückgebliebenen auf allen
Gebieten allzulaute Stimmen bemerkbar, die anſtatt durch dieſen
Krieg eine Erweiterung und Neubefruchtung des deutſchen
Kulturgenius in einem vertieften europäiſchen Sinne zuerhoffen,
uns in ein verdumpftes, gewolltes, reflektiertes Deutſchtum
331
fürderhin einfperren wollen; die dazu, anſtatt ehrfurchtsvoll zu
warten, welche Art Befruchtung der neue gemeinſame euro⸗
päiſche kriegeriſche Geiſt unſeren beſten deutſchen Schaffens⸗
kräften in Malerei, Bildnerei, Muſik Philoſophie bringen
werde, ſchulmeiſterliche Programme, geleitet von einem
nationaliſtiſchen Purismus, in abgeleiteten Kategorien auf⸗
zuſtellen ſich anſchicken, deren Zerbrechung die wichtigſte
Wirkung dieſes Krieges ſein wird. Da vertritt ein Profeſſor
der Kunſtgeſchichte nach einigen ſehr treffenden Worten
gegen ein genüßliches Aſthetentum, das bald byzantiniſche
Moſaiken, bald japaniſche Holzſchnitte einſchlürft, einen
völligen Abſchluß der deutſchen Malerei in ſich ſelber; ein
Rückgehen auf Cornelius und Schwind, einen antiromaniſchen
Haß des Farbenreizes und eine bewußte Einſtellung auf, zuerſt
vermöge der hiſtoriſchen Reflexion als „deutſch“ auch akade⸗
miſch feſtgeſtellter Gemütswerte. Der Internationalismus
der Sozialdemokratie, den er für die Idee einer übernationalen
Kunſt verantwortlich macht, iſt demſelben Hiſtoriker ein Reſt
des Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts (J). Alle klaſſiſche
Kunſt ſteht ihm auf der Stufe des „Diplomatenfranzöſiſch“.
Das Graziöſe, das er — verwunderlich genug — mit den
niedrigen Werten des „Schicken“ und „Puppenhaften“ in
einem Atem nennt, ſoll aus dem deutſchen Weſen und
feinem Kunſtſtil radikal ausgerottet werden, „Ernſte tüch⸗
tige“ Deutſche aber, die gegenwärtig einen „heiligen Zorn
gegen Kunſt überhaupt“ in ſich auf bringen, „als ſei Kunſt
nichts Anderes als Sybaritismus, ein Verweichlichungs⸗
prozeß, der der Nation das Mark aus den Gliedern ſauge,
alle ihre guten Kräfte annage, alſo eine Krankheit, die
nr
man vom blühenden Leib der Nation fernhalten müſſe“,
irren zwar, „indem ſie glauben, in einer Zeit, die ſtärkſte
Nerven fordert, ſei für Kunſt kein Platz weiter. Aber dieſe
Urteile „ſind ehrlich und treffen eine Art von Wahrheit“.
Ahnliche Stimmen hörten wir für die deutſche Muſik, gegen
die ſich ein ausgezeichneter Feldpoſtbrief von Paul Bekker in
Nr. 331 der „Frankfurter Zeitung“ wendet. (Natürlich
ein Feldpoſtbrief!, die einzige „Poſt“, von der man zurzeit
Sinnvolles zu erwarten hat.) Innerhalb der Philoſophie
nennen für Beurteilung philoſophiſcher Dinge völlig inkom⸗
petente Perſonen H. Bergſon einen „Feuilletoniſten“, da er
ſich nach der ungeprüften Nachricht des „Petit Pariſten“ eine
unſagbare Plattheit über deutſchen „Zynismus und Bar⸗
barei“ entſchlüpfen ließ; Andere argumentieren gegen den
philoſophiſchen Senſualismus, er ſei engliſch und darum irrig.
In all dieſen Argumentationen iſt durchaus nicht falſch, daß
alle höchſte Kultur auf europäiſchem Boden, gerade je vollen⸗
deter ſie iſt, auf dem Hintergrunde der gemeinſamen europäiſchen
Kunſtideale für den nachträglich hinzutretenden Betrachter
ein eigentümliches nationales Gepräge befißen müſſe, ſtets
beſeſſen habe und beſitze. Falſch aber und dazu noch undeutſch,
ja antideutſch, iſt die ſich in all dieſen Beſtrebungen ver⸗
ratende Doppeltendenz, für jedes der großen Kulturſachgebiete
eine ihm jeweilig allein entſprechende innere Logik ſeiner Werte
und ſeines Aufbaus, und eine Eigenform ſeines beſonderen
und von dem Wachstum anderer Gebiete unabhängigen ge-
ſchichtlichen Wachstums und Niedergangs zu leugnen, in
deren Grenzen erſt ſich der beſondere Duft des Kulturkreiſes
und des Nationalen einzeichnet; außerdem aber dieſes „Natio⸗
333
nale“ zu einem bewußt intendierten und reflektiertem Zweck der
ſchaffenden Genien machen zu wollen. Alles aber, was in Kunſt
und Philoſophie als deutſch „gewollt“ wird, iſt ſchon darum
falſch und undeutſch, weil es „als“ deutſch „gewollt“ wird.
Dieſer „Wille“ ſchließt ewig aus, daß das Werk deutſch auch
werde, deutſch wachſe und deutſch ſe i. Denn am allermeiſten
undeutſch, — weit undeutſcher noch als impreſſtoniſtiſcher Far⸗
benreiz, als alle „Verdebüßyrung“ der Muſik, iſt alles das⸗
jenige, was auf dieſem Boden der Kulturſchöpfung nicht ſtille
geworden und gewachſen iſt, ſondern „gemacht“ wurde, und ſei
es „als deutſches ! gemacht. Die Herren Hiſtoriker der nächſten
Jahrhunderte werden alſo nur dann für ihre Arbeit einen
möglichen Stoff echt deutſcher Kunſt und Philoſophie und
dadurch überhaupt ein ferneres Exiſtenzrecht haben, wenn gegen⸗
wärtig die auf dieſen Gebieten Schaffenden ſo geartete Rat⸗
ſchläge wie Feuer meiden und wenn ſie fortfahren, in ehrlicher
Auseinanderſetzung mit allen nicht deutſchnationalen Werten
allüberall das ab ſolut Künſtleriſche, das abſolut Wahre,
das Gute zu ſuchen.
Und dieſen Geiſt für das Vollkommene — im Gegen⸗
ſatze zur hiſtoriſtiſchen Gebrochenheit und Geiſtesverkrüppe⸗
lung vieler unſerer lieben Väter — ernſthaft zum Gemeingut
Europas zu machen, dazu helfe uns die aus dem Kriege zurück⸗
kehrende Jugend! —
Los von England!
ie aber nähern wir uns dem zweiten Geſicht, von
IT dem ich gefprochen hatte — wie der Verwirk⸗
lichung dieſes Glaubens an unſer höheres Recht
und unſere europäiſch und eben hierdurch kosmopolitiſch emp⸗
fundene deutſche Miſſton? Ich antworte: Nicht dadurch,
daß wir vermeinen, eine Aufgabe, die wie die endgültige Zu⸗
rückdrängung der ruſſiſchen Expanſton eine ſolche von Jahr⸗
hunderten ſein wird, mit dieſem einen Kriege löſen zu können,
und etwa gar andere gegenwärtig weit dringlichere Aufgaben
darüber verſäumen. Das kann ja keine Frage fein, daß in der
Größenordnung der Gewichtigkeit der Gegenſätze, die zu dieſem
Kriege geführt haben, dem engliſch⸗deutſchen Gegenſatz nur die
zweite Stelle eingeräumt werden kann. Aber das ſchließt nicht
aus, daß der möglichſten Beſeitigung des kriegsbeſtimmenden
Gegenſatzes zu England in der Zeitfolge unſerer und der euro⸗
päiſchen Kriegsaktionen der Zukunft die erſte Stelle gebührt.
Ja in einem Falle wäre dies ſogar notwendig: Wenn eine
Beſeitigung dieſer Gegenſätze auch die Bedingung dafür wäre,
daß die ihrer Matur nach tieferen und dauernderen zu Ruß⸗
land einmal beſeitigt werden können. Dies aber ſcheint mir bei
dem zweiten der kriegsgewichtigen Gegenſätze, in dem ge⸗
rechten Kriege von Deutſchland und England in der Tat der
335
Fall zu fein. Nehmen wir einmal an, wir müßten uns dies⸗
mal begnügen, Rußland in ſeine Grenzen zurückzuweiſen, wir
nähmen ihm durch militäriſche und ökonomiſche Schwächung
auf eine gewiſſe Zeitdauer die Luſt, ſeine alten hiſtoriſchen
Expanſionspläne nach Weſten und Südweſten wieder aufzu⸗
nehmen; nehmen wir an, wir wären auf Grund unſerer mili⸗
täriſchen Operationen in der Lage, Frankreich ſo in die Knie
zu zwingen, daß wir ihm die Hauptlaſten dieſes Krieges —
allzuviel Geld dürfen wir von Rußland auf keinen Fall er⸗
warten — auf die Schultern wälzen könnten; und auch in der
Lage wären, durch Annexionen der militäriſch wichtigſten
feſten Plätze Frankreich militäriſch zu desarmieren. Nehmen
wir — wie unter dieſen beiden Vorausſetzungen zu erwarten
ift — an, daß England nach dieſen Enttäuſchungen auf dem
Kontinent Neigung zum Frieden verriete, auf alle Fälle
aber ſich dem dann in Ausſicht ſtehenden Kontinentalfrieden
anſchließen möchte, und es bis zu dem Zeitpunkt dieſer Ent⸗
ſcheidungen vermiede, ſeine Schlachtflotte zu größeren Macht⸗
proben zu ſtellen; und daß wir, die wir ja ſo lange, — ſo un⸗
faßbar lange — engliſchen Verſprechungen getraut haben,
dieſen Krieg ohne kriegeriſche Beſeitigung der deutſch-engli⸗
ſchen Machtgegenſätze beendeten. Was wäre die Folge?
Die erſte Folge wäre, daß wir dem eigentlichen Einfädler
derjenigen Politik, die zum Kriege führte und dem Verführer
Belgiens, ohne ihm dauernd zu ſchaden, einen gewaltigen
Dienſt durch die Schwächung Rußlands, einen noch größeren
durch unſere eigene ökonomiſche Schwächung geleiſtet hätten,
die ſich naturgemäß auch in einer erheblichen Herabſetzung
unſeres Flottenbudgets für die folgenden Jahre bekunden müßte;
336
daß es durch den Beſitz des größten Teiles unſerer Kolonien
gleichzeitig vorzüglich in der Lage wäre, uns beim Friedens⸗
ſchluß weitgehende Vorſchriften in allen, Belgien und die
fernere deutſche Weltpolitik betreffenden Fragen zu machen;
daß dabei der wahre Grund zur engliſch⸗deutſchen Spannung
aber völlig unvermindert fortbeſtünde, unechte Bündnis⸗
komödien aufs neue Platz griffen — und daß dazu Frankreich
in eine Lage gedrängt wäre, die unſerer verzweifelten Lage
gegen Napoleon vor und während der Befreiungskriege erheb—
lich ähnelte. Das heißt aber: Keine einzige der eigentlichen
Quellen diefes Krieges wäre völlig verſtopft — die des eng—
liſchen Krieges gar nicht, die des ruſſiſchen wie von vorn⸗
herein zu erwarten nur auf eine gewiſſe Zeit abgelenkt. Die
deutſch⸗ franzöſiſchen Gegenſätze wären auf Jahrhunderte
hinaus gewaltig und bis zum verzweifelten Widerſtande
Frankreichs geſteigert. Die Hauptſache: Jede Bildung einer
Solidarität des kontinentalen Europa gegen den Expanſions⸗
drang vom Oſten her wäre unmöglich gemacht. Möchten
wir ſelbſt auf dieſe Weiſe genügende augenblickliche Ent⸗
ſchädigungen für unſere Kriegsopfer gewinnen, dabei —
bei jahrelanger Anweſenheit unſerer Armee — Frankreich
ökonomiſch ausſaugen und militäriſch ſo gewaltig ſchwächen,
daß es in abſehbarer Zeit nicht in der Lage wäre, uns eruſt⸗
lich zu bedrohen, fo wäre doch unſere politiſche Geſamtſituation
nicht verbeſſert, ſondern im Verhältnis zu der Situation vor
dem Kriege ganz erheblich verſchlechtert. Nichts durfte Eng⸗
land in der Zeit vor dem Kriege mehr fürchten als das Zu—
ſtandekommen eines deutſch⸗franzöſiſchen Bündniſſes — am
meiſten in dem kritiſchen Moment der Jahrhundertwende
22 337
nach Faſchoda. Dieſer Furcht wäre es nun, wenn Frank⸗
reich durch unſer Vorgehen ſelbſt als möglicher Bundesgenoſſe
Deutſchlands entwertet iſt, ein für allemal enthoben. Es würde
völlig frei fein, feine oſtaſtatiſche Politik — nach Gewohnheit
völlig unabhängig von dem europäiſchen Geſamtintereſſe — zu
betreiben; und indem es aus ſeinem Einzelintereſſe heraus das ſo
ſtark aufſtrebende Japan zunächſt noch in ſeiner chineſiſchen Po⸗
litik unterſtützte, würde es den Geſamtdruck des Oſtens gegen
den Weſten ſogar noch erheblich ſteigern; alſo auch die für uns
allein erlöſende Expanſtion Rußlands gegen den Oſten und
den Süden nach Möglichkeit hemmen. Das heißt aber:
Der ruſſiſch⸗deutſche Gegenſatz, der zugleich ein ruſſtſch⸗weſt⸗
europäiſcher iſt, würde durch ſolche Löſung gleichzeitig ver⸗
ſchärft und dazu noch jede, zu feiner dauernden Auf löſung
notwendige Solidarität des kontinentalen Europa dauernd
möglich gemacht. Alſo würde durch eine ſolche Löſung uns
vollſtändig die Möglichkeit genommen, dem zu folgen, was
ich unſere und Oſterreichs europäiſche Miſſton gegen den Oſten
genannt habe und damit auch den europäiſchen Sinn dieſes gan⸗
zen Krieges. Ja, könnte einem Kriege überhaupt noch irgendein
höherer hiſtoriſcher Sinn beigelegt werden, bei deſſen Abſchluß
die wahrhaft kriegsgewichtigen Gegenſätze, die zu ihm führten,
im Kern ziemlich unvermindert beſtehen blieben, und nur dort
der allein entſcheidende Kriegserfolg — die Niederwerfung der
feindlichen Heeresmacht — erzielt würde, wo faktiſch keine
kriegsgewichtigen Gegenſütze beſtanden hatten und nur Irrtum
und vermeidbare Schuld von Regierungen und Perſonen, wider
den beiderſeitigen Gemeinwillen der Völker den Krieg herbei⸗
führten? Einem Kriege, deſſen „gerechte“ Teilkriege nicht
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die rechtsfindende Kraft bewähren können, die wir dem „ge⸗
rechten Kriege“ beilegen mußten, da fie nicht zu endgültigen
Entſcheidungen gelangen, und deſſen notoriſch „ungerechter“
Teilkrieg dieſe Kraft ebenſo wenig bewähren kann, weil eben
der ganze Krieg ungerecht war? Ich will nicht reden von
der furchtbaren (objektiven) Verletzung aller und jeder Idee
von Gerechtigkeit, die ſchon darin läge, daß die Ver⸗
führer und voran der Hauptverführer Frankreichs, daß —
England den Vorteil des Ganzen hätte, ein von einer ſchlechten
Regierung verführtes Volk aber den Schaden des Ganzen.
Ich will nicht von dieſer furchtbaren Tatſache reden, die das
ſittliche Gefühl jedes Ehrlichen in der ganzen Welt und
Nachwelt aufs tiefſte verletzen muß. Denn nicht wir ſind —
wie geſagt — dazu da, Vorſehung zu fpielen und ein univer⸗
ſales Richteramt zu üben. Dies iſt Gottes! Aber das iſt
unſere Sache, dieſem Kriege diejenige Richtung zu erteilen, die
unſerem dauernden deutſchen Heile gemäß iſt und die jenen
europäiſchen und kosmopolitiſchen Sinn unſeres ſtaatlichen
Handelns wenigſtens nicht direkt ausſchließt, deſſen Vernich⸗
tung wir auf ewige Zeiten als einen Schlag ins Geſicht gegen
unſer nationales Weſen und Gewiſſen empfinden müßten.
Wie wir für den Fall, daß wir nach Beſeitigung unſerer
nationalen Exiſtenzgefahr durch die uns feindlichen Kontinen⸗
talmächte, nicht nur mit dieſen Mächten, ſondern auch gleich⸗
zeitig mit England einen Frieden ſchließen würden — dies zu
erreichen, ſoll es ſchon jetzt die geſchickte engliſche Diplomatie
an keiner Anſtrengung fehlen laſſen — gar für unſere unge⸗
heuren Kriegsopfer Entſchädigung von auch nur einiger An⸗
gemeſſenheit finden ſollten, ohne wie geſagt Frankreich dauernd
22*
339
für jedes Bündnis mit uns wertlos zu machen, iſt gar nicht
auszudenken. Auch unſer Beſitz von Belgien würde uns dann
wenig nützen, da ein großer Teil unſerer Erwerbungen darauf
gehen müßte, als Kompenſationsobjekt für unſere Kolonial⸗
vberluſte zu dienen. Was Öfterreich in Serbien aber erreicht
hat, das würde ſchon bei dem Friedenſchluß mit Rußland
kaum ausreichen, um ſeine Verluſte in Galizien zu kompen⸗
ſieren.
Und darum ſage ich: Der Deutſche Krieg hat auch als der
„heilige“ Krieg, der er allein gegen Rußland genannt werden
kann denn „heilig“ iſt uns der Geiſt der weſteuropäiſchen Kultur
nur dann jene höchſte Bedeutung, die er haben kann, die Be⸗
deutung, das erſte Glied notwendiger und fruchtbarer Aktionen
Weſteuropas gegen die oſtweſtliche Bewegung zu fein, wenn
er reſolut und ohne jede Rück ſicht, ob ſich England ſtellen will
oder nicht, gegen England geführt wird; und wenn wir gleich⸗
zeitig nach einem unumgänglichen Friedensſchluß mit Ruß⸗
land, den Rußland ſchon die trotz japaniſcher Unterſtützung
ſteigende Begrenztheit feiner Rriegsmittel, die türkiſchen Er⸗
folge und der ſteigende Mangel an geeigneter Führung bald
nahe legen dürfte, gegen Frankreich, das mit ſeinem Vertrauen
auf Rußlands Stoßkraft für dieſen Fall ſeiner ferneren Bereit⸗
ſchaft zur Fortführung des Krieges wohl beraubt wäre, ſo ver⸗
fahren, daß ein Bündnis mit ihm möglich bleibt; Frankreichs
Armee aber, die ſich jetzt mit ſo bewundernswertem Helden⸗
mut ſchlägt, in der weiteren Kette von Kriegen, welche die
nach dieſem Krieg noch nicht ausgeglichenen kriegsgewichtigen
Gegenſätze eventuell notwendig machen, — mit uns und auf
unſerer Seite kämpfte.
340
Schon jetzt iſt Frankreich mannigfach enttäuſcht über Eng-
land; ſchon jetzt iſt es innerlich ſchwankender geworden in
ſeinem Vertrauen auf Rußlands Siege, als es zugibt. Das
ungleiche Paar der älteren, zum Teil monarchiſtiſchen Natio⸗
naliſten, die niemals voll an Frankreichs moraliſche und mili⸗
täriſche Kriegsbereitſchaft geglaubt haben, und der Syndika⸗
liſten, dazu noch ein erheblicher Teil der Sozialiſten wollen
baldigen Frieden und drängen in dieſelbe Richtung! Iſt die
Hoffnung Frankreichs auf Rußlands Siege durch Friedens⸗
ausſicht Rußlands mit uns und Hſterreich zerſtört, iſt unſere
Übermacht gegen Frankreich auch ohne Vernichtung ſeiner
Heeresmacht ſo klar an den Tag gekommen, daß Verhand—
lungen uns nicht mehr als Schwäche ausgelegt werden können,
dann iſt der Moment gekommen, Frankreich von unſerer
Seite her die Hand zu einem Separatfrieden zu bieten: zu
einem Frieden deutſcher Großmut und europäiſcher Weisheit,
der alten Haß begräbt und die Wunden Europas heilt.
Noch immer (ich füge dieſen Satz am 6. Dezember dem
ſchon vor Wochen Geſchriebenen bei) ſind die militäriſchen
Operationen noch nicht ſoweit fortgeſchritten, daß über das
Wie dieſes Friedensſchluſſes auch nur eine beſtimmte Ver⸗
mutung geäußert werden könnte. Daß ſich (wie wir gemäß
den obigen Sätzen ſchon vor Wochen erwarteten) das Haupt⸗
gewicht der Kontinentalkämpfe nach dem öſtlichen Kriegs⸗
ſchauplatz verlegt hat, iſt offenkundig geworden. Ein kon⸗
tinentaler Friedensſchluß dürfte auch darum von beginnenden
Verhandlungen mit Rußland ſeinen Ausgang nehmen. Ruß⸗
land beſitzt auch nicht das Maß von Verpflichtung, das
Frankreich beſitzt, nur in Gemeinſchaft mit England einen
341
Frieden zu ſchließen, wobei außerdem eine Schwächung Eng:
lands ſeinen Intereſſen ebenſoſehr entgegenkommen würde,
als Englands Intereſſen die möglichſte Schwächung Ruß⸗
lands entgegenkäme. Würde Rußland nach ferneren glück⸗
lichen Operationen unſerer gemeinſamen Heere zu einem für uns
würdigen Frieden geneigt ſein, ſo hätte es nicht nur den momen⸗
tanen militäriſchen Zweck Frankreichs gegen uns, der über eine
Rußland entlaſtende Fixierung unſerer weſtlichen Teilarmee
kaum mehr erheblich hinausgeht, überflüffig gemacht, fondern
auch Frankreich in dem ihm traditionell ſo bedeutſamen point
d’honneur eine Gelegenheit gegeben, die Schließung eines mit
Rußland gemeinſamen Separatfriedens mit uns und Offer:
reich England gegenüber triftig zu begründen. Da der Krieg
nach Treitſchkes treffenden Worten (vergleiche auch die tief⸗
ſinnigen Ausführungen von Clauſewitz über das Verhältnis
von Krieg und Politik) nur erweiterte Politik iſt, ſo darf
auch die Politik im Kriege keine Sekunde ausſetzen. Es wird
nach abzuwartenden militäriſchen Entſcheidungen von der Ge⸗
ſchicklichkeit zunächſt der deutſch-öſterreichiſchen Verhand⸗
lungen mit Rußland, in zweiter Linie von dem Erfolg des
entgegengeſetzt gerichteten Druckes, den ruffifche und eng⸗
liſche Diplomatie auf Frankreich in dieſer Sache dann üben
wird, Erhebliches abhängen, ob ein fo gearteter Kontinental-
friede erreicht wird oder nicht.
Allem voran aber wird es abhängen von unſerer eigenen
moraliſchen Kraft, den Sinn dieſes ganzen Krieges durch ein
Nachgeben an die engliſchen Anſtrengungen, an dem Konti⸗
nentalfrieden teilzunehmen, nicht preiszugeben; von unſerer
fittlichen Kraft, die Erfüllung der Pflicht zu einem radikalen,
342
Europa Freiheit und politifche Autonomie zurückgebenden
Kriege gegen England mehr zu lieben als das Glück und die
Sicherheit eines baldigen allſeitigen Friedens.
Mit jedem Tage dringender wird die Situation unſere Ent⸗
ſcheidung fordern, ob in der noch zu erwartenden Kriegsperiode
Rußland oder England unſer hauptſächlichſter Gegner ſein
ſoll. Gleich große Anſtrengungen in beiden Richtungen ſchließt
die Okonomie unſerer Kräfte aus.
Und hier gibt es für denjenigen, der uns auch nur der
Hauptſache nach bisher gefolgt iſt, nur eine ſinnvolle Ent⸗
ſcheidung: ſie heißt: gegen England und dauere der Krieg
auch noch ein oder zwei Jahre!
Sehe ich um mich, ſo gewahre ich innerhalb unſeres Volkes
mehr und mehr drei Stimmen ſich immer deutlicher von ein⸗
ander abſondern — merkwürdigerweiſe nicht ſo, daß dieſe
Stimmen auf politiſche Parteieinheiten klar verteilt werden
können. Oft durchſchneiden die Stimmen die Parteien bis
hinein in die Sozialdemokratie.
Die erſte Stimme iſt hell, groß und kühn. Sie tönt etwa
in der Richtung: wir Deutſche ſind ſtark genug, alle unſere
Feinde gleichmäßig zu Paaren zu treiben! An der Erhaltung
einer Bündnisfähigkeit mit einem Teile unſerer Feinde braucht
uns überhaupt nichts gelegen zu ſein. Wir wollen volle Ent⸗
ſchädigung für unſere Kriegsopfer — zunächſt durch die greif-
barſten Schuldner Frankreich und Belgien — wir wollen
Frankreichs dauernde militäriſche Entmächtigung durch Ab⸗
tretung aller militäriſch wichtigen Punkte der Maaslinie;
wohl auch weitgehende Annexion Belgiens für das Reich oder
für Preußen; wir wollen aber auch reſoluten Kampf gegen
343
England, womöglich dauernde Reduzierung feiner Seemacht⸗
ſtellung und Weltgeltung. Kommt der ruſſiſch-deutſche
Gegenſatz nicht zur vollen Auflöſung, ſo werden wir wenig⸗
ſtens allein ſtark genug ſein, Rußland in Zukunft zu be⸗
gegnen. Auch die engliſche Einfuhr, der ſo unklare Gedanke
des deutſchen „Imperialismus“ miſcht ſich meiſt in dieſe
Stimmen hinein. Zuweilen auch der gefährliche „alldeutſche“
Gedanke eines deutſchen Separatfriedens mit Rußland —
ohne Oſterreich.
Die zweite Stimme iſt jene, die eine ernſte Auseinander⸗
ſetzung mit England nicht will, die alle Laſten dieſes Krieges
auf Frankreichs Schultern wälzen will, die — offener oder
geheimer — ſchon jetzt nach einem baldigen Frieden mit Eng⸗
land ſchielt. Die dritte iſt jene, die im allgemeinen auch un⸗
ſere Ausführungen beherrſcht.
Was die erſte dieſer Stimmen betrifft, ſo mag ſie, — was
unſere militäriſche Stärke, unſere finanzielle und ökonomiſche
Fähigkeit zur Weiterführung des Krieges und was die Be⸗
rechtigung unferer Siegeshoffnungen betrifft — vielleicht durch⸗
aus im Rechte ſein. Vielleicht! — Ich will dies hier nicht
unterſuchen. Dennoch mangelt ihr alle jene Weisheit, Vor⸗
ſicht, Gerechtigkeit — vor allem aber jene Vorſchau in die
Zukunft Europas und auf unſere Aufgaben in ihr, die Bis⸗
marck 1866 fo ſehr ausgezeichnet haben. Was fie will —
das iſt vielleicht möglich; aber der Erfolg hätte keinerlei
Gewähr der Dauer in ſich. Würden wir ſolche größeren
Annexionen in Frankreich und Belgien ohne gleichwertige
Rekompenſationen vornehmen, weiter eine ſolche ökonomiſche
Ausſaugung der beiden Länder bewirken, wie es in der Kon⸗
344
ru a use
un spe et
ſequenz dieſer Stimmen läge; dazu noch nach einer eventuellen
Beſiegung Englands unſere Hände nach Teilen des engliſchen
Weltreiches ausſtrecken, ſo würden wir eine Reaktion in
den Staaten der annektierten Landesteile erleben, die ſelbſt
dann, wenn wir ſie auf die Dauer niederhalten könnten, wenn
wir auch die annektierten Provinzen und Gebiete ohne zu große
Reibungen (weit größer als diejenigen, die ſich im Elſaß und
in Polen ergaben, würden fie natürlich fein!) verwalten
könnten, jede Entfaltung unſerer inneren Kräfte, beſonders
unſerer geiſtigen Kräfte vollſtändig ausſchlöſſe; die uns wahr⸗
ſcheinlich von Verfaſſungskonflikt zu Verfaſſungskonflikt
treiben müßte, und die auf die Dauer die innere Anarchie
Europas — die größte Gefahr für feine dauernde Führerſchaft
in der Welt — anſtatt vermindern oder beilegen, noch ge—
waltig ſteigern müßte. Nein! Dieſe Stimme ermangelt
nicht nur jener deutſchen Ehrfurcht vor der Größe und Yu:
kunftsweite unſerer deutſchen Miſſton, die Augenblickserfolge
hinzugeben weiß — fie enthält auch eine allzu ſchroffe Leug⸗
nung eben desſelben Nationalprinzips, auf das wir uns zeit
unſeres hiſtoriſchen Seins und Wachstums ſelbſt berufen und
geſtellt haben, um unſer, unſerem Werte und unſerer Macht
entſprechendes Recht in der Welt zu ſuchen. Auch hier müſſen
wir uns hüten — England nachahmen zu wollen — ja ſelbſt
noch gegen England ſelbſt.
Damit ſoll nicht im entfernteſten geſagt fein, daß der bel-
giſche Staat — dieſe künſtliche Schöpfung Frankreichs, Eng⸗
lands, Preußens und Hollands — erhalten bleiben ſolle. Diefer
Staat hat gerade in feiner Unfähigkeit zu ehrlicher Neu—
tralität und in feiner Eonftitutiven Abhängigkeit von England
345
und Frankreich dokumentiert, daß ihm jedes tiefere Recht auf
ſelbſtändige Exiſtenz gebricht. Aber es läßt ſich eine Ver⸗
teilung des belgiſchen Staatsgebietes — gemäß der in ihm
vorherrſchenden Nationalitäten — an Frankreich (gegen mili⸗
färifch wichtige Kompenſationsobjekte im Südoſten und auf
dem afrikaniſchen Kolonialgebiet), an Holland (gegen Ein⸗
tritt Hollands in die längſt ökonomiſch geforderte deutſche
Zoll⸗ und Wirtſchaftsgemeinſchaft), an Luxemburg und nur
bezüglich einiger maritim und militäriſch wichtiger Punkte
an Deutſchland denken, die ſehr wohl geeignet wäre, künf⸗
tige Reibungen zu verringern. Es läßt ſich für den Fall,
daß Holland aus Angſt, ſeine Selbſtändigkeit zu verlieren,
diefen Eintritt in eine engere Zollberbindung mit Deutſch⸗
land ablehnt, auch an eine Annexion des öſtlichen Teiles
Belgiens einſchließlich Antwerpens und der militäriſch wich⸗
tigſten Punkte Belgiens denken, mit gleichzeitiger Abtre⸗
tung der walloniſchen Provinzen an Frankreich und Luxem⸗
burg — natürlich das letztere für gleichwertige Rekompenſa⸗
tionen militäriſchen Wertes und ſolcher kolonialer Gebiete,
die wir für die Abrundung unſeres afrikaniſchen Befisftandes
nötig haben. Erfolgte dieſe Annexion für Preußen, ſo müßten
Baden und Bayern natürliche beſtimmte Uquivalente er⸗
halten.
Die zweite — nach Zahl kleinere, nach Geltung der Per⸗
ſonen weit mächtigere Stimme aber iſt es, der meinerſeits der
ſchärfſte, entſchiedenſte Kampf und Proteſt zu gelten hat.
Und dies um ſo mehr, als merkwürdigerweiſe gerade ein heftig
zum Ausdruck gelangender Haß gegen Perſonen der engliſchen
Politik, auch gegen Inſtitutionen, die man für wandelbar
346
hält (Zuſammenſetzung des Unterhauſes und fein ſtaatsrecht⸗
liches und faktiſches Verhältnis zum Oberhaus), als endlich
gerade die für England ſcheinbar fo herabwürdigende An:
ſchauung, England führe einen puren Handels⸗ und „Penny“
krieg — und dies nicht einmal aus wahrer Einſicht in ſeine
faktiſchen ökonomiſchen Intereſſen und die faktiſchen weltöko⸗
nomiſchen Zuſammenhänge, ſondern eigentlich nur aus un⸗
fruchtbarem „Neid“ und mangelhafter nationalökonomiſcher
Bildung, — als gerade dieſe ſcheinbar ſo ſchroffen Haltungen
gegen England und das dabei aufgewandte Moralpathos,
die wahre Richtung dieſer England im Grunde freundlichen
Stimme ſo klug zu verbergen und zu verſchleiern weiß.
Denn: find es nur Perſonen, — man kann fie beim Frie⸗
densſchluß entlaſſen. Iſt es nur die Tatſache, daß die gegen⸗
wärtige Verfaſſung dem Unterhaus nicht die Möglichkeit
gibt, den engliſchen Gemeinwillen auszudrücken — man kann
die Verfaſſung ändern. Führt England einen Handelskrieg
wider ſein wahres ökonomiſches Intereſſe, die Erfahrungen im
Kriege ſelbſt werden ſeine mangelhafte Nationalökonomie
korrigieren und unſere deutſchen Leuchten der nationalökono⸗
miſchen Wiſſenſchaft können vielleicht Englands heilloſe Un⸗
wiſſenheit, Rechenfehler und ſyllogiſtiſche Fehler ausbeſſern.
Hinter all dieſen, ſich meiſt ſo moralpathetiſch gebenden Reden
man ſehe ſich darauf hin z. B. die „Internationale Monats⸗
ſchrift ! an — ſehe ich nur eines ſtehen: die alte Englandfreund⸗
ſchaft, den geheimen Willen zu baldigem Frieden mit England
ohne Austragung der wahren Gegenſätze; ich ſehe genau die:
ſelben Kräfte wirkſam, die zur Entſpannungskomödie getrieben
haben“; ich ſehe eine giftige Tradition, deren Vertreter zum
347
Teil ſich jetzt nicht gerne felbft ,desavouieren“ wollen, d. h. in
nichtamtlicher Form geredet, nichts Echtes in der lebendigen Tat
der Geſchichte lernen wollen, ihr gefährliches Weſen weiter⸗
treiben. All das iſt ja nicht wahr, nicht wirklich, wie ich zeigte.
Wedder iſt der engliſche Krieg gegen uns ein purer Handelskrieg,
noch iſt es wahr, daß ein erfolgreicher engliſcher Krieg gegen uns
nicht als Folge (d. h. alſo nicht, als Motio, wie der Ausdruck
„Handelskrieg“ nahelegt) auch demengliſchen Handel noch einen
ungeheuren Nutzen und noch weitere Ausbreitung brächte. Der
engliſche Krieg geht vielmehr auf die Erhaltung feiner Allgel⸗
tung zur See, auf die England ein ewiges Recht zu haben glaubt,
jener ſeiner Seehegemonie, die alle Ausbildung des Seerechts
bisher in jeder dem Landrecht würdigen Entfaltung hemmte —
eines Anſpruches, der uns auf die Dauer abſolut unerträglich
ſein muß, eines Anſpruchs, der nicht nur unſeren ſondern jeden
Kolonialbeſitz anderer europäiſcher Völker dauernd gefährdet
und jede ſinnvolle und gerechte Aufteilung der Erdkugel, ent⸗
ſprechend dem inneren Wert der durch ſie zur Vertretung kom⸗
menden Nationalkulturen dauernd hemmen muß; die aber, was
den Handel betrifft zugleich jede Geltung der Ware nach ihrem
inneren Werte der Brauchbarkeit und Qualität im Welt⸗
handel unmöglich macht — und trotzdem die engliſche Ware
nachweislich ſo bedeutend an Wert verloren hat (ſchon durch
die mangelnde Anpaſſungsfähigkeit der Engländer an fremde
Bedürfniſſe) ſie dauernd über ihren Wert hinaus monopoli⸗
ſieren will. Über den Unſinn, nur Perſonen anzuklagen und
den Krieg als gegen den engliſchen Gemeinwillen darzuſtellen,
wurde ſchon geſprochen.
Ziel dieſes Krieges muß alſo ſein — nicht „Zerſtörung des
348
c
engliſchen Weltreiches“, nicht deutſcher,, Imperialismus“ ſtatt
engliſchen — aber endgültige Zerſtörung jenes Anſpruchs Eng⸗
lands auf ſeine Allgeltung zur See und des ihr entſprechenden
Preſtiges in der Welt. Alles weitere überlaſſe man der Ent⸗
wicklung der Dinge ſelbſt in den Kolonien, überlaſſe man dem
deutſchen Fleiße und deutſcher Tüchtigkeit im friedlichen Kon⸗
kurrenzkampf des deutſchen und engliſchen Handels!
Auch hier alſo hat unſer Krieg zwar keinen kosmopoliti⸗
ſchen Zweck, aber einen europäiſchen und hierdurch vermittelt,
kosmopolitiſchen Sinn: denn nicht nur uns, alle europäiſchen
Nationen drückt dieſer (man denke allein nur an Italien!),
der Wirklichkeit nicht mehr angepaßte engliſche Anſpruch —
bis zur Beengung des nationalen Atems. Alle können von
ihm durch unſere Tat mit erlöſt werden!
Könnte dieſes Ziel aber nicht erreicht werden in dieſem Kriege,
nicht aus mangelndem Wollen, ſondern weil es uns nicht ge⸗
länge, England zur Stellung ſeiner Schlachtflotte zu vermögen
— nicht auch gelänge, ihm noch ein wenig näher zu kommen, als
dies die Mehrheit der Stimmen für möglich zu halten geneigt
iſt, — ſo bleibe man ſich dann wenigſtens eingedenk, daß noch
fernere kriegeriſche Auseinanderſetzungen mit England notwen⸗
dig folgen werden, folgen müſſen. Man vermeide alſo auf alle
Fälle innerlich unwahre Bündisbeſtrebungen mit England
und jene einſeitige Belaſtung Frankreichs, die unſere England—
verehrer wünſchen! Denn dann brauchen wir Frankreich in
Zukunft — in Kürze — erſt recht gegen England und ſei es
nur als echt neutrale Macht, — alſo nicht nur gegen Rußland.
Sehe ich auf den Ausgangspunkt der zweiten Stimme, ſo
finde ich Kreiſe, — buntſcheckig verſchieden genug! Ich ſehe
349
hohe Finanz⸗ und Induſtrieleute unſeres Nordens, die mit
England mehr Geſchäfte machen als mit Frankreich und
deren ökonomiſcher Einfluß ſich mit der Dauer des Krieges —
begreiflich — leicht ſteigern kann. Ich ſehe den Geiſt eines
Teiles unſerer Reichsämter und anderer höherer Beamten⸗
ſchaft und Diplomatie, welche die Konſequenz einer politiſchen
Tradition zwingt, ſich nicht allzu ſehr zu „desavouieren“.
Ich ſehe auch ſolche, außer Amtes und im Amte, die bei
einer ernſten Wendung der Dinge in der Richtung unſerer
Hoffnungen, auch ſchwere politiſche Abrechnungen mit
Handlungen und Unterlaſſungen nach dem Kriege gewär⸗
tigen müſſen, die unſerer Englandpartei in Zeiten mehrmals
zur Laſt fallen ſollen — „ſollen“ ſage ich, denn Archivali⸗
ſches iſt uns nicht bekannt — zu denen uns Frankreich die
Hand zum Bündnis ernſthaft entgegengeſtreckt haben foll.
Auf Details in dieſer Richtung einzugehen iſt jetzt nicht der
Zeitpunkt. Ich ſehe weiter das „engliſch⸗deutſche Stammes⸗
gefühl“, die „evangeliſche Solidarität“, die „engliſch⸗deutſche
Kulturgemeinſchaft“, von deren innerer Unechtheit und Un⸗
fruchtbarkeit ſchon vorher die Rede war — die ſich außer dem
alle Süddeutſchen, Südweſtdeutſchen, Oſterreicher, desgleichen
alle deutſchen Katholiken und Juden als politiſche Motive
in dieſem Kriege ganz ernſtlich und energiſch verbitten dürfen.
Alle diejenigen, die meinen Ausführungen gefolgt ſind,
mögen ermeſſen, ein wie großes Mißtrauen man dieſer
Gruppe ſchuldet, nicht natürlich ihrem guten deutſchen Willen,
der für mich nicht in Frage kommt, und den ich auf allen
Seiten über allen Preis erhaben vorausſetze, wohl aber
ſchärfſtes Mißtrauen ihrer mangelnden politiſchen Bildung,
350
r
ſchärfſtes Mißtrauen der Kraft der ihr Denken unbewußt
leitenden Intereſſen, ſchärfſtes Mißtrauen ihren Engen und
Vorurteilen und ihrem Mangel an politiſcher Fernſicht!
Aber noch weit ſtärker in dieſer Richtung wirkt das
Ganze der im erſten Teile und durch dieſe ganze Schrift
hindurch gekennzeichnete Tatſache, daß ein ſo unverhältnis⸗
mäßig großer Teil unſerer deutſchen Wiſſenſchaft, Bildung
und zumal ethiſcher und politiſch⸗ökonomiſcher Bildung in
den Kategorien, in den Strukturformen des engliſchen Den⸗
keus denkt. In den „Kategorien engliſchen Denkens denken“
das heißt nicht etwa unkritiſch das für „wahr“ halten, was
Engländer behauptet haben; es heißt auch nicht engliſche In⸗
halte und Probleme als Gegenſtände des Denkens bevorzugen;
am wenigſten heißt es zu „Gunſten Englands denken“. Man
kann England ehrlich „haſſen“ — und doch dabei ganz „eng⸗
liſch denken“. Man kann über Inhalte denken, an die noch kein
einziger Engländer gedacht und geſchrieben hat und doch in
engliſchen Kategorien und Denkregeln dieſe Inhalte formen
und gliedern. Man könnte auch — prinzipiell — alle Sätze
und Behauptungen aller Engländer für falſch halten und
ſie nach beliebig ſcharfer Kritik durch andere erſetzen: man
könnte dabei doch das tun, was ich in „engliſchen Kategorien
denken“ nannte. Aber man könnte auch alle dieſe Behaup⸗
tungen für wahr halten — ohne doch engliſch zu denken. Wohl
aber gilt, daß jeder, der in englifchen Kategorien denkt — ſei es
als Darwiniſt, als Freihändler aus Prinzip (nicht als Frei⸗
händler im Sinne eines freiwilligen pofitiven Sichenthaltens des
Staates, in die wirtſchaftlichen Beziehungen einer beſtimmten
hiſtoriſchen Situation einzugreifen), ſei es als Vertreter ökono⸗
351
miſcher Geſchichtsauffaſſung, ſei es als engliſcher Pazifiziſt oder
ethiſcher Utilitarier — daß jeder, der in dieſem Sinne „engliſch
denkt“, ohne davon die mindeſte Ahnung haben zu müſſen,
auch ohne Ahnung vielleicht von der hiſtoriſchen Herkunft
ſeiner Gedankenformen, im objektiven Sinne „für“ Eng⸗
land denkt, für fein dauerndes Gefamtintereffe!° Denn die
„Struktur“ eines nationalen Denkens entſpricht eben den
ſpezifiziſchen Exiſtenzbedingungen dieſer Nation, — dazu hier
nachweisbar vieles den Exiſtenzbedingungen eines möglichen
Inſelſtaates überhaupt. Wie groß allein aber die Abhängig⸗
keit unſeres politiſchen Liberalismus und gerade in ſeinen for⸗
malen politiſch⸗ökonomiſchen Kategorien von Englands Denk⸗
ſtruktur iſt, das iſt gar nicht zu ſagen und wurde noch durch
keine hiſtoriſche Unterſuchung ernſthaft ausgemeſſen. Je größer
ſolche Abhängigkeit, ſagt ein Geſetz der Seele, deſto geringer das
Wiſſen um fie! Der Suggerierte meint ſtets — im Gegenſatz
zum Gehorchenden — ſelbſt aus ſich heraus zu wollen, ſelbſt zu
denken, was ihm faktiſch jener ſuggeriert. Wie groß aber die
Abhängigkeit unſeres heutigen deutſchen Denkens, z. B. auch
unferer „Imperialiſten“ — das Wort iſt engliſch, — ja unferer
Alldeutſchen, aber auch ihres Gegenteiles, z. B. der Mehrzahl
unſerer ſozialiſtiſchen Theoretiker, von den Kategorien des
engliſchen Denkens iſt, das wird uns allen erſt klar wer⸗
den, wenn wir uns einmal von ihm ernſthaft losgelöſt haben
werden. Meint man denn etwa, das deutſche 18. Jahr⸗
hundert hätte gewußt, auch nur geahnt, wie tief es fran⸗
zöfifiert war? Das ſah Deutſchland erſt von der Warte
einer originären deutſchen Nationalliteratur, von der Warte
Leſſings, Goethes und Schillers uſw. aus. Der Krieg helfe
352
uns, das Analoge hinſichtlich Englands langſam ſehen zu
lernen!?“ —
Ich kehre zurück zu meinen beiden Geſichten. Hier das
erſte Geſicht das furchtbare Geſicht, das von den drei
Reichen: Mongolenreich, Ruſſenreich, Amerika! Es rückt
mir näher und näher, wenn ich denke, die Stimme der
Englandfreumde möchte ſiegen. Aber es entfernt ſich wieder
— es flieht wie die Schatten eines ſchweren Traumes, — es
nähert ſich das zweite Geſicht, das Geſicht eines ſolidariſchen
Kontinentaleuropa unter Deutſchlands militäriſcher Führung
gegen den Oſten, eines Europa, das die geiſtige Führung der
Welt dauernd behält und die edlen, denkwürdigen Traditionen
der alten Mittelmeerkultur weiterführend, eine neue und
größere Kultur des germaniſchen und romaniſchen Geiſtes
ſchafft: militäriſch gegründet auf ein machtvolles Deutſchland⸗
Oſterreich und auf die ſinnvolle und fo notwendige Ergänzung
des germaniſchen und romaniſchen Weſens und Geiſtes! —
Es iſt wahr: es iſt paradox, ſelbſt während eines Krieges
mit England noch „Los von England“ rufen zu müſſen.
Aber vielleicht iſt es notwendiger, als man glaubt! —
zZ
23
3
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* Diefe Vorſtellung H. Spencers und anderer feßf die Wahrheit
der mechaniſtiſchen Biologie voraus. Ich wies ſie mit eingehender
Begründung zurück in meiner Arbeit „Das Reſſentiment im Aufbau
der Moralen“; ſ. „Geſammelte Aufſätze“, Leipzig 1914. Abſchnitt
„Drgan und Werkzeug“. Werkzeug wie Waffe ſind einerſeits Folgen
ſtagnierender Entfaltungsfähigkeit des organiſchen Lebens, andererſeits
nachträgliche Nutzbarmachung von Werken einer frei⸗ſpontanen ge
befäfigung. S. auch den Aufſatz: „Zur Idee des Menſchen“.
„Geſ. Aufſätze“.
2 Daß der Begriff „Menſch“ (im Gegenſatz zum Begriff „Ter⸗)
erſt als „Träger“ einer ſchon definierten „Vernunft“ ſelbſt als Einheit
abgrenzbar wird, iſt eingehend gezeigt in dem Aufſatz „Zur Idee des
Menſchen“. S. Geſ. Aufſätze.
3 Die Scheidung von Intereſſen⸗ und Zweckgeſellſchaften und Liebes⸗
gemeinſchaften iſt eingehend philoſophiſch begründet in meinem Buche
„Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von
Liebe und Haß“, Halle 1913. Hier iſt gezeigt, daß weder das Mit⸗
gefühl noch die Liebe genetiſch auf irgendeine Form der Intereſſen⸗
ſolidarität zurückgeführt werden kann — ſo wie es Bain, Darwin,
Spencer u. a. verſucht haben (S. 81 ff.). Im ſelben Buche findet
ſich auch die genaue Beſtimmung des Liebesbegriffs ſelbſt und der
Verſuch einer Weſens⸗ und Wertbeſtimmung der „Heimatliebe“,
„Vaterlandsliebe“, „Liebe zum Staat“ im Verhältnis zur „Liebe zur
Menſchheit“. Für ein letztes Verſtändnis des hier Geſagten iſt das
dort Erwieſene Vorausſetzung.
Über das Fundament des Machtbegriffs im Erlebnis des Könnens
(Wollen⸗Könnens, Tun⸗Könnens) und über die Unzurückführbarkeit
des Könnenserlebniſſes auf die Willensdispoſition ſiehe meine eingehen⸗
den Unterſuchungen im „Jahrbuch für Philoſophie und phänomeno⸗
logiſche Forſchung“, I. Bd., Teil II, S. 528 u. II. Bd., Abſchn.
„Können und Sollen“.
357
s Treffend findet ſich dieſer Weſensunterſchied der tieriſchen Daſeins⸗
kämpfe und der menſchlichen bloßen Konkurrenzkämpfe hervorgehoben
in dem Buche Lloyd Morgans „Inſtinkt und Gewohnheit“. Teubner
1909.
6 So erſcheint für H. Spencers Ethik, Soziologie und Geſchichts⸗
lehre der Krieg und die Schätzung kriegeriſcher Tugenden nur als ein
„Atavismus“ in der Entwickelung des ſozialen Lebens in die Richtung
des „ſozialen Gleichgewichts“, einer vollkommenen Solidarität der
Intereſſen aller, bei deren Erſcheinen die Ideen des „Sollens“, der
„Pflicht“, der „Liebe“, des „Opfers“, weil „überflüſſig“ geworden, ab⸗
ſterben werden.
7 Vgl. hierzu die von mir entwickelte Lehre vom Weſen und Ur⸗
ſprung des Willens und der Willens motivation im „Jahrbuch für
Philoſophie und phänomenolog. Forſchung“, I. Bd., Teil II, S. 513 ff.
ſowie meine Kritik der Lehre, die Zivilifationg- und Kulturbildung auf
die ſog. „Bedürfnisbefriedigung“ zurückführt im II. Bd. des Jahrbuchs.
Vielfach Zuſtimmendes und Ergänzendes auch bei P. Meſſer, „Pſycho⸗
logie“, 1914, S. 310 ff.
8 Die auf mechaniſche Reflexe oder ſog. Tropismen unzurückführ⸗
baren „Probierbewegungen“ finden wir nach Jennings („Das Ver⸗
halten der niederen Organismen“, Teubner 1910) ſchon auf den aller⸗
elementarſten Stufen des Lebens, z. B. bei Paramaecium.
9 Vgl. meine Grundlegung der Ethik im obigen Jahrbuch, Bd. II.
10 Alle dieſe Theorien ſind engliſcher Herkunft. Die Arbeitstheorie
des Eigentums ſtammt von John Locke. Siehe meine Kritik und
pſychologiſche Herkunftslehre derſelben im Aufſatz „Das Reſſentiment
im Aufbau der Moralen“, IV. „Geſ. Aufſätze“.
rr Wie das Folgende zeigt, find wir weit entfernt, dieſem ſtarken,
leidenſchaftlichen, aber in vieler Hinſicht auch engen Menſchen in
allem zu folgen, was Staat und Krieg betrifft. Aber der Ruhm gebührt
ihm, den Krieg wieder als das gelehrt zu haben, als was ihn ſchon
Schiller bezeichnet, mit den Worten des Chores in der Braut von
Meſſina: „Aber der Krieg auch hat ſeine Ehre — der Beweger des
Menſchengeſchicks.“ |
2 Die Idee der Rechtsordnung und auch die Idee des Vertrages
fordert indes nicht — wie Treitſchke annimmt — die Vorausſetzung
einer ſie ev. erzwingenden Autorität und Herrſchgewalt; ja dieſe Idee iſt
358
**
felbft von der Exiſtenz des Menſchen unabhängig. ©. A. Reinachs
eingehende Klarſtellung der Idee von „Verſprechen“ und „Vertrag“ in
ſeiner Arbeit: „Die aprioriſchen Grundlagen des bürgerlichen Rechts“,
„Jahrbuch f. Phil. u. phän. Forſchung“, I. Bd. Teil II, S. 726 ff.
1 Vgl. meine Analyſe von W. Diltheys Geſchichtstheorie im Auf:
ſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ in „Geſammelte Aufſätze“.
4 Vgl. das Kapitel über den „gerechten“ und „ungerechten“ Krieg.
5 Dieſer lautet: „Die bürgerliche Verfaſſung in jedem Staate ſoll
republikaniſch fein“. Da Kant die Vertragstheorie des Staaten⸗
urſprunges (nicht hiſtoriſch genetiſch, aber dem Weſen und Sinn des
„Staates“ nach) vorausſetzt, hält er fälſchlich dieſe Verfaſſung für die
einzige“, die aus dem „reinen Quell des Rechtsbegriffes entſprungen iſt.“
16 Eine vorzügliche Schilderung des Weſens dieſer Kabinettskriege
im Unterſchiede vom modernen abſoluten Volkskrieg — wie überhaupt
der hiſtoriſchen Stufen der Kriegsformen — gibt Clauſewitz in ſeinem
herrlichen Buche „Vom Kriege“.
7 In welchem äußerſten Gegenſatze indes Kant zu jenem Pazifizis⸗
mus ſteht, der — engliſcher Herkunft — den Krieg wegen der durch
ihn ſtattfindenden Opfer an allgemeiner Wohlfahrt verwirft, möge die
folgende Stelle bezeugen: „Der Krieg, wenn er mit Ordnung und
Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Er⸗
habenes an ſich und macht zugleich die Denkungsart des Volkes,
welche ihn auf dieſe Art führt, nur um deſto erhabener, je mehreren
Gefahren es ausgeſetzt war und ſich mutig darunter hat behaupten
können: da hingegen ein langer Friede den bloßen Handlungsgeiſt, mit
ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrſchend
zu machen und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt.“
18 Die falſche philoſophiſch letzte Wurzel aller Art von „Vertrags⸗
theorien“ des Staates und analoger Konventionstheorien für Sprache,
Gemütsausdruck, Moral uſw. habe ich in meinem „Anhang“ zum
Buche über die Sympathiegefühle in der falſchen Lehre vom Grund
des Wiſſens von der Exiſtenz fremder Perſonen, die dieſes „Wiſſen“ auf
Analogieſchluß oder Nachahmung und Einfühlung zurückführt, ein⸗
gehend aufgewieſen. Faktiſch wird das fremde Icherleben im Ausdrucks⸗
phänomen in genau demſelben Sinne urſprünglich „wahrgenommen“
wie in ſeiner Erſcheinung das Körperding.
9 Mit dieſer ſtreng deduktiven Theorie des Freihandels aus letzten
359
Prinzipien der menfchlichen Natur verwechſle man nicht einen Frei⸗
handelsſtandpunkt auf Grund ganz beſtimmter hiſtoriſcher Situationen
eines Staates, der natürlich ganz berechtigt ſein kann. Hätte Smith
geſagt, daß es für eine Inſel, die ſich nicht ernähren kann, richtig ift,
das Prinzip des Freihandels zu vertreten — ſolange nicht beſondere
pofifive Gründe dagegen ſprechen, fo hätte er recht gehabt. Aber —
er verwechſelt den Bewohner Englands mit dem „Menſchen“ und eben
darin beſteht der cant ſeiner Theorie.
20 Die Spencerſche Lehre vom Ideal des „ſozialen Gleichgewichts“
überhaupt iſt nur eine Univerſaliſierung dieſes engliſchen politiſchen
Grundprinzips vom „politiſchen Gleichgewicht“.
22 Hier wie in allem Folgenden ſetze ich diejenige, an ſich gültige
Rangordnung der Werte voraus, die ich in meiner Grundlegung der
Wertlehre und Ethik ſtreng entwickelt habe. S. „Jahrbuch f. Phil. und
phän. Forſchung“, Bd. I u. II. Ganz kurz und ohne ſtrenge Beweis⸗
führung f. auch meinen Artikel, Ethik“ in „Jahrbüchern der Philoſophie“,
hrsg. von Friſcheiſen-Köhler, I. Jahrgang, Berlin 1913.
22 Vgl. den Anhang über das Ethos der Engländer und den cant.
23 Vgl. den Abſchluß dieſes Buches über die Angliſierung des deut⸗
ſchen Geiſtes.
4 Vgl. meine eingehende Unterſuchung des Begriffes „Umwelt“
im „Jahrbuch für Phil. u. phän. Forſchung“, S. 543 ff., desgl. den
Aufſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ in „Gef. Aufſätze“.
Vgl. auch die treffenden kritiſchen Sätze bei Uxküll in feinem Buche
„Bauſteine zu einer biologiſchen Weltanſchauung“ und „Innenwelt und
Umwelt der Tiere“, desgl. H. Drieſch, „Die Philoſophie des Orga⸗
niſchen“.
25 Der „Inſtinkt“ iſt alſo von Gewohnheit oder etwa vererbten
Mechanismen, die das Ergebnis von Erwerbung und Übung gewiſſer
Handlungsarten der Ahnen wären, im Prinzip unabhängig. Wie ab⸗
ſurd es iſt, das Mitgefühl mit Darwin und Spencer aus „ſozialen In⸗
ſtinkten“ abzuleiten, habe ich in meinem Buche über „Sympathiegefühle“
eingehend gezeigt.
26 S. G. von Bunge: „Lehrbuch der Phyſiologie des Menſchen“,
I. Bd. 1. Vortrag. Vgl. auch das viele Treffende bei W. Stern,
„Perſon und Sache“, Leipzig.
Siehe hierzu die lehrreichen Ausführungen von Otto Ribbert in
360
jeinem Buche „Das Weſen der Krankheit“ über den „Wachstums:
reiz! und die diesbezügliche Lehre Virchows.
28 S. das Treffende bei Ürküll, „Innenwelt und Umwelt der Tiere“
und W. Stern, „Perſon und Sache“.
29 S. L. Hartmanns Hinweis auf die Forſchungen des Geographen
E. Hanslick, der in einer Arbeit über „Kulturgeographie der deutſch—
ſlawiſchen Sprachgrenze“ nachweiſen will, daß die Geſchichte Europas
nur gegebene Naturgrenzen herausarbeite; desgl. auf Wettſteins
Beobachtungen, der an den Pflanzenarten zu ſehen meinte, ob er ſich
in einer deutſchen oder tſchechiſchen Gegend befände. S. „Die Nation
als politiſcher Faktor“, „Verh. des Zweiten Deutſchen Soziologen—
tages“, Tübingen 1913.
30 Vgl. hierzu meinen Artikel „Ethik“ in den „Jahrbüchern der Philo—
ſophie“, hrsg. von Friſcheiſen-Köhler, Berlin 1914.
1 Vgl. hierzu meinen Aufſatz „Das Reſſentiment im Aufbau der
Moralen“, „Geſ. Aufſätze“.
32 S. Galileis „Discorſi“, wo er feine Erörterungen mit einem Ge-
ſpräch über die Bruchfeſtigkeit von Balken beginnt. Vgl. E. Machs
„Geſchichte der Mechanik“.
33 Vgl. das vorletzte Kapitel: „Der gute Europäer und die Soli⸗
darität Europas“.
Siehe das Kapitel „Über den gerechten und ungerechten Krieg“.
35 Aus dieſem Grunde glaubt daher ſchon Darwin felbft den Krieg
biologiſch verurteilen zu müſſen. S. „Abſtammung des Menſchen“.
36 Vgl. das vorletzte Kapitel
37 Die nachfolgenden Ausführungen ſetzen jene abſolute Ethik vor⸗
aus, die ihre Grundlage in einer evidenten Rangordnung und ſtreng
einſichtigen Geſetzen des Vorziehens von Werten hat. Ich habe ſie im
„Jahrbuche f. Philoſophie und phänomenologiſche Forſchung“, Bd. I,
Teil II, S. 488—513, zu entwickeln verſucht.
38 Siehe meine Weſenscharakteriſtik der „reinen Perſontypen“, des
Heiligen, des Genius, des Helden, des führenden Geiſtes, des Künſtlers
des Genuſſes, — deren Wertrangordnung eine abſteigende iſt, in
Bd. II obigen Jahrbuchs, Schlußteil.
39 Dies ſehen zumeiſt nur die bloßen Hiſtoriker der „Helden“ nicht
ein. Die echten „Helden“ ſelbſt haben es ſtets eingeſehen. „Der Name
des Ariſtoteles wird öfter in den Schulen genannt als der des Alexander.
361
Man lieſt den Cicero und wiederholt die Lektüre desſelben öfter als
die der Kommentare Cäſars. Die guten Schriftſteller des letzten Jahr⸗
hunderts haben das Jahrhundert Ludwigs XIV. berühmter gemacht als
die Siege des Eroberers. Die Namen Fra-Paolo, Kardinal Bembo,
Taſſo, Arioſt haben den Vorzug vor denen Karls V. und Leos X., ſo
ſehr der letztere auch behauptete Vize⸗Gott zu fein. Man ſpricht hun⸗
dertmal von Vergil, Horaz, Ovid, gegenüber einmal von Auguſtus,
und noch dazu geſchieht dies ſelten zu ſeinem Ruhm. Handelt es ſich
um England, ſo iſt man neugieriger auf Anekdoten, welche von Män⸗
nern wie Newton, Locke, Shaftesbury, Milton, Bolingbroke handeln,
als auf ſolche von dem weichlichen und genußſüchtigen Hofe Karls II.,
von dem feigen Aberglauben Jakobs II. und alle den elenden Intriguen,
welche die Regierung der Königin Anna beunruhigten; demnach wird,
wenn Lehrer des menſchlichen Geſchlechtes wie Sie nach Ruhm trachten,
Ihre Erwartung erfüllt, während wir in unſeren Hoffnungen uns oft
getäuſcht ſehen, weil wir nur für unſere Zeitgenoſſen, Sie aber für alle
Zeitalter arbeiten.“ (Friedrich der Große an Voltaire 3. Jan. 1773.)
40 Dies etwa iſt die Grundeinſtellung W. Oſtwalds.
+: Eine gute Schilderung dieſer Zeit gab Richard M. Meyer in
feiner „Literaturgeſchichte des 19. Jahrhunderts“.
4 Vorzüglich ſchildert Rudolf Eucken in ſeiner Schrift „Die welt⸗
geſchichtliche Bedeutung des deutſchen Geiſtes“ (ſ. 8. Heft der „Poli⸗
tiſchen Flugſchriften“, hrsg. von E. Jäckh), die Tatſachengruppen,
welche zeigen, daß der deutſche Geiſt durch feine politiſch⸗realiſtiſche
Wendung ſeit den Zoer Jahren des 19. Jahrhunderts durchaus nicht
von ſeinem Weſen abgefallen iſt; wie unſere Feinde behaupten. Wir
haben nur „eine Seite des Gegenſatzes, den wir von Hauſe aus in uns
trugen, wieder neu belebt.“
43 S. J. G. Fichtes Aufſatz über den „Principe des Macchivelli“.
S. R. Roethes Göttinger Rektoratsrede über das Deutſche Publi⸗
kum.
45 Wie dieſe Spannungsbildung ſchon mit dem Deutſchen Zollverein
begann und die Phaſen ihrer allmählichen Steigerung ſchildert ein⸗
gehend Adolf Wagner in ſeiner Schrift: „Gegen England“, Berlin 1914.
46 Ich rede vom Kapitalismus — nicht vom Induſtrialismus.
Jener iſt ein beſtimmter Geiſt (f. meinen Aufſatz über den „Bourgeois“
in „Geſ. Aufſ.“), dieſer eine Betriebsform. Induſtrialismus ift eine
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Betriebsform, der gerade der deutſche Geiſt durch feinen Ordnungs—
ſinn, durch ſeine Pünktlichkeit, ſeine Präziſion und ſeine einzigartige
Organiſationskraft — Kräfte, die ſamt und ſonders zuerſt an der
deutſchen Heeresorganiſation gebildet und geübt wurden, ganz hervor:
ragend angepaßt iſt.
47 S. meinen Aufſatz: „Die Zukunft des Kapitalismus“ in „Gef.
Aufſätze“.
48 Eine eingehende Analyſe des Begriffes „Mord“ und des Be—
griffes „Perſon“ findet ſich in meiner Grundlegung der Ethik im
„Jahrbuch für Philoſophie und phän. Forſchung“, Bd. II.
49 Vgl. meine eingehende Charakteriſtik der chriſtlichen Liebesidee
im Gegenſatz zur (modernen) „allgemeinen Menſchenliebe“ und meine
Ausführungen über die pfychologifche und hiſtoriſche Herkunft dieſer
letzteren Idee in dem Aufſatz: „Das Reſſentiment im Aufbau der
Moralen“. Vgl. jetzt auch die hoch über die herkömmliche falſche Ber:
miſchung beider Ideen — auch bei dem Hauptteil unſerer Theologie —
hinausgehenden Ausführungen von E. Troeltſch, „Die Soziallehren
der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“, I. Bd., S. 134ff.
5° Vgl. die Stellungnahme des Thomas von Aquino, „de bello“ in
„Summa Theologiae“, 2. 29. 40 a. Der thomiſtiſche Begriff eines
„bellum punitionis“, den Kant mit Recht verwirft, dürfte unhaltbar fein.
Vgl. übrigens: M. Reichmann: „Der hl. Thomas und der Krieg“ in
Stimmen der Zeit (Maria Laach), Oktober 1914. S. Luthers Schrift:
„Db Kriegsleute auch im ſeligen Stand ſein können“, 1526. Calvins
Lehre vom Krieg iſt auseinandergeſetzt in „Institutiones“ IV. 20., 11
u. 12. Wie ſich im ſpäteren angelſächſiſchen Calvinismus allmählich
das pazifiziſtiſche Prinzip durchringt, dazu vgl. E. Troeltſch: „Die
Soziallehren der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“, II. Hälfte, S. 728.
Desgl. über die pazifiziſtiſchen Sekten S. 807, 814, 910, 914.
5: S. über dieſe falſche pſychologiſche Auffaſſung der Liebe als
„ein Gefühl, das zum Wohltun disponiert“ oder als „Wohlwollen“
meine Analyſen in dem Buche „Zur Phänomenologie der Sympathie—
gefühle“ uſw. und zum diesbezüglichen Gegenſatz der chriſtlichen und
der poſitiviſtiſchen Liebesidee meinen Aufſatz: „Das Reſſentiment im
Aufbau der Moralen“, „Geſ. Aufſätze“.
52 Vgl. meine Analyſe der Gerechtigkeitsidee in meiner Grundlegung
der Ethik „Jahrbuch f. Philoſophie u. phänom. Forſchung“, II. Bd.
363
53 Über das Berhältnis von Liebe und Wert vgl. „Sympathiegefühle “.
54 Man muß natürlich die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eines
Geſetzes ſelbſt von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ſeiner Anwen⸗
dung unterſcheiden. Niemals aber geht es an, die Idee der „Gerechtig⸗
keit“ auf bloße Geſetzlichkeit zurückzuführen, auch nicht auf innere,
moraliſche, rein formale Geſetzlichkeit des Wollens wie ſie Kant zur
Grundlage der Ethik machen will. Vgl. meine eingehende Kritik der
Ethik J. Kants im „Jahrbuch f. Philoſophie und phän. Forſchung“,
I. Bd. 2.
5s Für die Ethik J. Kants habe ich dieſes eingehend nachgewieſen
im „Jahrbuch für Philoſophie und Phänomenologie“, Halle 1913.
56 Über die Irrung, es ſei die höhere Liebe die Liebe zum größeren
Kreis vgl. „Sympathiegefühle“, S. 91-95. Über die pſychologiſche
Wurzel dieſer Irrung vgl. den Aufſatz über das „Reſſentiment uſw.“
57 Nicht die wahre und ſtrenge Idee der Gerechtigkeit ſelbſt, beruht
— wie W. Rathenau in feinen Reflexionen ſagt — „auf dem Neide“.
Wohl aber beruht jene Fälſchung der Gerechtigkeitsidee auf dem Reſſen⸗
timent der Schwachen, welche bei der Forderung gleicher Vorteile und
Nachteile unter gleichwertigen Umſtänden die Bedingung der Gleich⸗
wertigkeit der Subjekte fortläßt. Gegen den Geſetzesgedanken, der aus
dieſer gefälſchten „Gerechtigkeit“ abgeleitet iſt, gelten dann auch die tiefen
Worte Schillers:
„Denn der Menſch verkümmert im Frieden,
Müßige Ruh iſt das Grab des Muts.
Das Geſetz iſt der Freund des Schwachen,
Alles will es nur eben machen,
Möchte gerne die Welt verflachen,
Aber der Krieg läßt die Kraft erſcheinen,
Alles hebt er zum Ungemeinen,
Selbſt dem Feigen erzeugt er den Mut“.
58 Auf die abgrundtiefe Komik, ſich bei den in dieſem Kriege in
Frage kommenden Gegenſätzen und der Überzahl der uns feindlichen
Staaten, ein „Schiedsgericht“ auch nur vorzuſtellen, hat H. Münſter⸗
berg in einer Rede in Amerika jüngſt treffend hingewieſen.
59 Vgl. die Begründung dieſes Satzes in meiner Grundlegung der
thik, „Jahrb. f. Phil. u. phän. Forſchung“, II. Teil, Abſchnitt über
den Relativismus.
y
\ 364)
2
so Der „echten“, nicht der durch Reſſentiment verdorbenen, wie fie
Fr. Nietzſche aufgefaßt hat. Vgl. meine Kritik der Aufſtellungen
Nietzſches über die chriſtliche Liebesethik in dem Aufſatz: „Das Reffen:
timent im Aufbau der Moralen“, (Geſammelte Auffäge).
6: S. beſ. Walter Rathenau, „Zur Mechanik des Geiſtes“ und „Zur
Kritik der Zeit“.
62 S. meine Kritik von Schopenhauers Mitleidslehre und aller
jener pantheiſtiſchen Liebeslehren, die im Liebesgefühl eine Erkenntnis
der Scheinhaftigkeit der Individualität und der metaphyſiſchen Ein—
heit des Seins ſehen wollen, in dem Buche über Sympathiegefühle.
Der Buddhismus, der dieſe Auffaſſung der Liebe und des Mitleides
teilt, kommt konſequent und im äußerſten Gegenſatze zur chriſtlichen
Moral, zum Pazifizismus.
63 Vgl. hierzu den I. Teil meiner Arbeit über „Das Reſſentiment uſw.“
64 „Ich hatte eine ganze Reihe nervenſchwacher Jünglinge im Lauf
des letzten Jahres und zur Zeit des Ausbruches des Krieges in Be—
handlung: ängſtliche, kleinmütige, zaudernde, willensſchwache Men—
ſchenkinder, deren Bewußtſeins⸗ und Gefühlsinhalt nur durch das eigene
Ich beſtimmt war und die in Klagen über körperliches und ſeeliſches
Weh ſich erſchöpften. Da kam der Krieg. Das Krankhafte fiel wie
mit einem Schlage von ihnen ab, ſie meldeten ſich bei der Truppe und
— was mir noch merkwürdiger erſcheint —, fie haben ſich alle, bis auf
eine einzige Ausnahme, bis zum heutigen Tage bewährt, und dieſe
einzige Ausnahme iſt nicht ſeeliſch, ſondern körperlich zuſammen—
gebrochen. Alſo ſelbſt bei dieſen angekränkelten Naturen hat der große
Reiniger ‚Krieg‘ fein Werk getan.“ (Prof. D. Binswanger: „Die
ſeeliſchen Wirkungen des Krieges“, Der Deutſche Krieg, 12. Heft.)
6s Nur zum kleinſten Teil waren umgekehrt die „Illuſionen“ Ur:
ſachen des Haſſes.
66 Siehe hierzu die in dieſer Richtung intereſſante Gedichteſamm⸗
lung: „Das Neue Pathos“, und Franz Werfels Gedichte.
7 Von größtem Intereſſe find hier die Schriften des edlen, jüngft
gefallenen Franzoſen Charles Péguy.
8 Ein Beiſpiel für ſolche mangelnde moraliſche Aſſimilationskraft
und höhere Verwaltungskunſt geben die ſeekühnen Phöniker und Kar⸗
thager im Vergleich zu den Römern. (S. dazu Mommſens „Römiſche
Geſchichte“, Bd. I, III. Buch.)
365
— et
—
69 Zur Pſychologie der Racheemotion vergleiche den Aufſatz „Das
Reſſentiment im Aufbau der Moralen“, 1. Abſchnitt in „Gef. Auffäge‘
u. „Jahrb. f. Phil. u. phän. Forſchung“, Bd. II.
70 So kam es in den Kriegen Ludwigs XIV. mit England vor, daß
die Schlacht geradezu einen Turnierſtil annahm; daß die franzöſiſchen
und engliſchen führenden Offiziere ſich, man möchte faſt ſagen „galant“,
ſtritten, wer für den erſten Schuß den Vortritt haben ſollte.
7 Fr. Nietzſche nannte das „Prinzip des möglichſt kleinſten Kraft⸗
maßes im Denken“ (Avenarius) oder das „Prinzip der Dfonomie“
derer, die damit die Logik überflüfjig zu machen meinten, das Prinzip
größtmöglicher Dummheit“. Das ethiſche Prinzip derer, die durch
bloße Okonomie und Verzahnung der Intereſſen die Ethik überflüffig
machen wollen (wie H. Spencer) könnte man als das Prinzip „groͤßt⸗
möglicher Gemeinheit“ bezeichnen.
7² Siehe das Kapitel von der Solidarität Europas.
73 Hier bitte ich das ſpäter folgende Kapitel von der Solidarität
Europas ergänzend heranzuziehen.
74 Eine ſtreng wiſſenſchaftliche Begründung dieſer hierher angezo⸗
genen Grundſätze der Erkenntnislehre findet der Leſer in meinem dem⸗
nächſt bei Niemeyer⸗Halle erſcheinenden Buche: „Phänomenologie und
Erkenntnistheorie“. Ihr Gegenſatz zu allem ſog. „Kritizismus“, der
überall die Kriteriumsfrage der Frage nach der Selbſtgegebenheit und
Evidenz eines Seins und Wiſſens fälſchlich voranſtellt, iſt bereits in dem
Aufſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ (f. „Geſ. Aufſätze“)
angedeutet.
7s Ich habe die Grundarten dieſer Täuſchungen eingehend entwickelt
in meinem Aufſatz „Die Idole der inneren Wahrnehmung“, f. „Gef.
Aufſätze“.
7° Vgl. meine Theorie von der Erkenntnis des fremden Ich im An⸗
hang zu den Sympathiegefühlen.
77 S. meine eben im gleichen Verlag erſcheinende Schrift: „Vom
Tode und vom Fortleben“.
78 In keiner Perſon ſtellt ſich dieſe Einheit fo tief dar, als in Platon,
der die Einheit des geiſtigen Aufſchwunges des ganzen Menſchen, die
der echten Metaphyſik (nicht der ſo ſich nennenden Scheinwiſſenſchaft
der Gelehrtenſchulen) wie dem Heldentum zugrunde liegt, ſo ſcharf ge⸗
ſehen und überall in ſeinen Dialogen gekennzeichnet hat. Wie Helden⸗
366
tum und Philoſophie in der Zeit der deutſchen Befreiungskriege ſich
durchdrangen, hat neuerdings Karl Joel in feinem Buche „Antibar⸗
barus“ (f. das Kapitel „Das heroiſche Zeitalter“) plaſtiſch geſchildert.
Die Auffaſſung der „Spekulation“ als „Wagnis des Gedankens“ findet
ſich auch bei dem in mancher Hinſicht leſenswerten Jean Marie Guyau,
„Sittlichkeit ohne Sanktion und Verpflichtung“.
79 S. „Jahrbuch f. Phil. u. phän. Forſchung“, Bd. II, Abſchnitt:
„Können und Sollen“.
80 Vgl. den Schluß des Kapitels zur Solidarität Europas.
8: S. Konrad Fiedler, „Geſammelte Schriften über Kunſt“, hrsg.
von Hans Marbach, Leipzig 1896. ©. bef. „Über Kunſtintereſſen
und deren Förderung“.
8 Vgl. die Zuſammenfaſſung der Reſultate Hans Delbrücks in
feiner Rede „Über den kriegeriſchen Charakter des deutſchen Volkes“
in „Deutſche Reden aus ſchwerer Zeit.“ S. 910 urteilt Delbrück:
„Mit der Abſchaffung des Rittertums hat alſo die Erfindung der
Feuerwaffe ſelber nichts zu tun, ſondern im Gegenteil das Merkwürdige
iſt: Als die Ritterheere ihre großen Niederlagen erlitten, da hatten ſie
ihrerſeits Feuerwaffen an ihrer Seite, während die, die ihnen Nieder—
lagen beigebracht hatten, ſie nicht in dem Maße hatten.“
83 Über die moraliſchen Faktoren, die den Sieg entſcheiden, — bei
Führern wie Geführten — vergleiche die pfychologiſch wie ethiſch
meiſterhaften Ausführungen von Clauſewitz in dem Kapitel „Der Eriege-
riſche Genius“ ſeines Werkes „Vom Kriege“.
84 Auch Luther verfällt in feiner Schrift „Ob Kriegsleute im ſeeligen
Stand ſein können“ dieſem Fehler.
es Vgl. das Urteil Carlyles über den Angriff Friedrichs des Großen
auf Schleſien und ſeine Verletzung der Pragmatiſchen Sanktion in
ſeinem Werke über „Friedrich der Große“.
86 Hier iſt die Wortverbindung „Abſoluter Krieg“ natürlich anders
gebraucht als da, wo es ſich um den „abſoluten Krieg“ = Idee oder
Weſen des Krieges handelt.
87 Der Ausdruck „Bürgerkrieg“ iſt im Grunde ein Widerſpruch in
ſich ſelbſt und nur eine ſchwächliche Analogiebildung. Revolution iſt
kein Krieg, — fo „gerecht“ Revolution auch moraliſch fein kann. Der
Begriff gerechter Widerrechtlichkeit iſt eben ein durchaus notwendiger
und ſinnvoller, ſo die ſittliche Ordnung der Rechtsordnung Fundament
367
ift. Dahingegen iſt ein „Recht auf Revolution“ eine unzuläſſige Be:
griffsbildung. 0
88 Die Einrichtung eines „heiligen Krieges“ zwecks gewaltſamer
Verbreitung des Glaubens kennt die chriſtliche Welt im Grunde nicht,
wenn ſich auch die von Rußland unternommenen Kriege im Namen
des „Weißen Zaren“ zuweilen dieſer Form anzunähern ſcheinen. Die
Kreuzzüge hatten einen partikularen Zweck und ſind nicht Beiſpiele
für eine religiöfe Einrichtung. Die übrigen europäiſchen Glaubens⸗
kriege waren nie als heilige Kriege empfunden, da ſie erſt dadurch zu⸗
ſtande kamen, daß Staaten und ihre Regierungen ſpontan — nicht
aber um das Gebot einer Religion zu erfüllen, für einen beſtimmten
Glauben eintreten. Näheres zu Natur und Weſen des „heiligen Krieges“
findet ſich in dem Aufſatz von Prof. J. Hell, „Der heilige Krieg“
Frankf. Ztg. Nr. 319, 17. Nov. 1914.
89 S. hierzu Heinrich Rickert, „Die Grenzen der naturwiſſenſchaft⸗
lichen Begriffsbildung“, 1. Aufl. 1902, 2. Aufl. 1914.
90 Über Strebensrichtung und Willenszweck vgl. meine Unter⸗
ſuchungen im „Jahrbuch f. Phil. u. phänomenologiſche Forſchung“,
Bd. I, 2, S. 340.
or Vgl. hier das folgende Kapitel über „Die geiſtige Einheit
Europas“.
92 S. den Anhang, der dieſen ſcheinbaren Widerſpruch auflöſt.
93 Vgl. hierzu A. Wagners „Gegen England“ und die anſchaulichen
Schilderungen M. Hardens in ſeinem Aufſatz „An die Engländer“,
„Die Zukunft“ vom 31. Oktober 1914. Wenn aber Herr Harden dieſen
welthiſtoriſchen Kampf unter das Bild des Konkurrenzſtreites einer
„vornehmen, uralten, in Wohlſtand verfetteten Firma, die nur ihre be⸗
haglichen Geſchäfte macht und von der Kundſchaft Anpaſſung an den
Hausgebrauch verlangt mit einer jungen, aufſtrebenden Warenhaus⸗
firma vergleicht, die ſich in die Nähe des alten Geſchäfts poſtierte“, ſo
iſt dies Bild weder klärend, noch wahr. Das iſt ein ſchönes Beiſpiel,
wie man „engliſch denken“ kann, wenn auch gegen England und in
deutſchem Intereſſe. S. Anhang.
% In den letzten zwanzig, dreißig Jahren iſt die deutſche Kohlen:
gewinnung zwar von einem Drittel auf zwei Drittel der britiſchen ge⸗
ſtiegen. In der Roheiſenproduktion erreichten wir noch vor zwanzig
Jahren nicht die Hälfte der britiſchen, find ihr aber ſeit 1903 beſtändig
368
und wachſend überlegen, z. B. 1911 / 12 ſchon um fiebzig Prozent und
analog in der Stahlgewinnung. Bis zum Jahre 1912 hat der deutſche
Außenhandel drei Viertel des abſoluten Betrages des britiſchen erreicht.
Aber andererſeits war die amerikaniſche Konkurrenz dem britiſchen
Handel kaum weniger gefährlich und haben bis zum Jahre 1914 eng⸗
liſche Induſtrie, Handel, Reederei, Schiffahrt, Kredit⸗ und Geldmarkt
unſere Konkurrenz auf dem Weltmarkt immer wieder eingeholt; ja das
Gefchäft hat ſich in den letzten zwei Jahren faſt überall etwas zugunſten
Englands wieder verſchoben. Genaueres über die hiſtoriſche handels
politiſche Entwicklung beider Länder gibt Adolph Wagner „Gegen
England“, Berlin 1914. Doch kann ich A. Wagner nicht zuſtimmen,
wenn er in dieſer wachſenden Konkurrenz Deutſchlands mit England
„den Hauptgrund“ der feindſeligen Stellung Englands gegen uns ſieht.
(S. S. 36 o. Schrift).
95 Vgl. hierzu die klaſſiſchen Ausführungen von Möhler in feiner
„Symbolik der chriſtlichen Glaubensgegenſätze“; bef. fein Urteil über
Luther.
96 In feinen reichen und bedeutenden Unterſuchungen über die „So⸗
ziallehren der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“ kommt E. Troeltſch
(2. Hälfte, S. 774) bezüglich des deutſchen Luthertums im Verhältnis
zum Neucalvpinismus engliſch-amerikaniſcher Prägung zu dem Reful-
tat: „Heute liegt der ganze Kontinent unter dem ſtärkſten Einfluß
angelſächſiſch⸗pietiſtiſch⸗methodiſtiſchen Weſens“. Was dieſer Satz be:
deutet, das iſt aus den vorhergehenden Abſchnitten desſelben Bandes
über die Geſchichte des Calvinismus, insbeſondere über ſein Verhältnis
zum modernen engliſchen Kapitalismus, zur Demokratie, über ſeine
„Vereinigung“ von chriſtlicher Ethik und Ltilitarismus (i. e. „cant“ ),
Pazifizismus und kapitaliſtiſche Wirtſchaftsgeſinnung zu entnehmen.
„Für unſer Thema“ — ſagt Troeltſch — „iſt das Bedeutende und Wich⸗
tige, daß bei dieſen chriſtlichen Gruppen und bei ihnen allein, der modern
wirtſchaftliche Betrieb mit dem chriſtlichen Denken vereinbart wurde,
daß er hier bis heute mit einem guten Gewiſſen möglich ift“. „Man
braucht ſich nur der Umſchweife zu erinnern, mit denen der Katholizis⸗
mus dieſe moderne Wirtſchaftsform erträglich macht und im Grunde
immer wieder zu hemmen verſucht, oder der Abneigung, mit der das
alte Luthertum und der heutige deutſche Konſervativismus den Kapi⸗
talismus offiziell betrachtet. Dann wird die Bedeutung dieſer neuen
— 369
calviniſtiſchen Form des Chriſtentums für die geſamte moderne Ent:
wickelung und beſonders für die Stellung des Proteſtantismus in ihr
verſtändlich“ (ſ. I. Bd. S. 718). Wir ſchließen hieraus: Alſo moͤglichſt
raſch dieſes chriſtlich⸗-präparierte cant⸗Gift heraus aus unſerem Blute!
97 Vgl. meinen Aufſatz über das „Phänomen des Tragiſchen“ in
„Geſammelte Aufſätze“.
98 Eingehendes über den Begriff der „geiftigen Individualitãt“ gibt
der Abſchnitt über „Perſon“ (ſ. beſ. „Vernunft und Perfon“) im
II. Teil meiner der Grundlegung der Ethik gewidmeten Unterſuchungen
im „Jahrb. für Philoſophie und phänomen. Forſchung“, II. Bd.
99 Vgl. das Kapitel über „Die geiſtige Einheit Europas“.
ro Eine gute Einführung in das Problem der Einheit des euro⸗
päiſchen Typus gibt das Buch von Carl Techet, „Völker, Vaterländer
und Fürſten“, München 1913. Das genannte Werk (vgl. meine An⸗
zeige in der „Neuen Rundſchau“, Oktober 1914) hat uns für das
Folgende manche Anregung gegeben.
Die Folgen des neuen europäiſchen Einheitsbewußtſeins für die
Geſtaltung der deutſchen Politik, ja der Politik der europäifchen Groß⸗
mächte überhaupt, ſind noch nicht gefunden, geſchweige formuliert
worden. Was die deutſche Politik betrifft, ſo hat ein deutſcher Diplo⸗
mat (unter dem Pſeudonym Ruedorffer) in einem Buche „Grundzüge
der Weltpolitik in der Gegenwart“ treffend zwei Phaſen unterſchieden:
die Phaſe (zu der noch Bismarck gehört), in der die kontinentalen Pro⸗
bleme das Übergewicht über die fog. „weltpolitiſchen“ behaupteten und
die Phaſe, (die nach Ruedorffer mit unſerer Marokkounternehmung
gegen den franzöfifchen Expanſionsdrang im J. 1904 beginnt), in der
die Kontinentalpolitik von den Rückſchlägen abhängig wird, die unſere
„weltpolitiſchen“ Unternehmungen bewirken (3. B. Bagdadbahnprojekt,
das mithalf, Rußland und England gegen uns bis zur Teilung Perſiens
im Jahre 1907 zuſammenzudrängen). Von Bismarck ſagt Ruedorffer:
„Um Frankreichs Blicke von der Rheingrenze abzulenken, begünſtigte
er, ſo ſehr er konnte, die franzöſiſche Expanſion in Aſien und Afrika.
Als er gegen Ende ſeiner Tätigkeit daran ging, einer zukünftigen ko⸗
lonialen Tätigkeit Deutſchlands einige übriggebliebene Stücke Afrikas
zu ſichern, vermied er es ſorgſam, weiter zu gehen, als das engliſche
Intereſſe vertragen konnte. Er vermied es, von Deutſch⸗Südweſtafrika
aus auf das Hinterland der Kapkolonie, das heutige Rhodeſien, über⸗
370
zugreifen. Bismarck hielt die deutſche Weltpolitik in den Grenzen, die
die Rückſicht auf die Kontinentalpolitik nach ſeiner Anſicht ziehen mußte,
ſtellte die Kontinentalpolitik in jeder Hinſicht über die Weltpolitik und
ließ dieſer nur zukommen, was jene geſtattete.“ Analog vermied es
Bismarck ängſtlich, Deutſchland zu Rußland in einen Gegenſatz zu
bringen durch Unterſtützung der öſterreichiſchen Expanſionstendenzen
nach der Balkanwelt. Man denke an ſein Wort von den „Knochen
des pommeriſchen Musketiers“ gelegentlich der projektierten Ehe Fer⸗
dinands von Bulgarien mit einer preußiſchen Prinzeſſin. Die Umkehr
der Gewichts⸗ und der gegenſeitigen Abhängigkeit von Kontinental⸗
und „Weltpolitik“ iſt für die Folgezeit offenſichtlich. Bei allen ſeinen
Unternehmungen in der Türkei, in Perſien, in China begegnete das
Deutſche Reich ruſſiſchen, in Meſopotamien engliſchen Intereſſen, im
Bagdadprojekt ruſſiſchen und engliſchen zugleich, in Marokko⸗Kongo
franzöͤſiſchen und belgiſchen, Zuſammenſtöße, die auf die kontinentale
Mächtegruppierung nicht nur mehr mitbedingend, ſondern gradezu
poſitiv geſtaltend zurückwirkten. Auch für die engliſche Politik kann
man fragen, ob die deutſch⸗engliſche Seemachtſpannung ſtärker auf ſeine
Verſtändigung mit Rußland bezüglich ſeiner Orientpolitik im Jahre
1907 hinwirkte oder ob umgekehrt dieſe Verſtändigung (nach unſerer
Ablehnung eines deutſch⸗engliſchen Zuſammengehens gegen Rußland)
es war, die England in eine Abhängigkeit vom frankoruſſiſchen
Bündnis brachte, die ſeine Freundſeitigkeit gegen uns erſt bewirkte.
Ruedorffer kommt ſchließlich zu dem Ergebnis: „In dieſem Zuſammen—
hang zwiſchen Welt⸗ und Kontinentalpolitik liegt, wenn man fo will,
der Circulus vitiosus der auswärtigen Politik des Deutſchen Reichs.
Weltpolitiſche Unternehmungen haben Rückwirkungen auf die Konti⸗
nentalpolitik, unter deren Einfluß das Deutſche Reich ſich weltpolitiſch
beſchränken muß.“
Nun aber frage ich: Muß es bei dieſem „Zirkel“, d. h. bei dieſer
anarchoeuropäifchen Phaſe der deutſchen nicht nur, nein der Welt:
politit aller europäifchen Nationen überhaupt, auf die Dauer bleiben?
Und kann es das, ohne daß das Geſamtpreſtige Europas in einem
Maße leidet und ſich gleichzeitig die europäiſchen Großmächte ſelbſt
gegenſeitig fo ſehr ſchwächen, daß ſchließlich alle „Weltpolitik“ unmög⸗
lich wird? Weder der reaktionäre Gedanke einer Rückkehr zur Bis⸗
marckiſchen nationalen Kontinentalpolitik, den ſchon unſere jährlich
24* 371
um 8—900 000 Menſchen wachſende Bevölkerung ausſchließt, noch
der Gedanke des pangermaniſtiſchen Imperialismus, der die Weltpoli⸗
tik aller europäiſchen Großmächte in einfache Abhängigkeit von der
deutſchen Weltpolitik bringen will, noch endlich die in der vielbeſpro⸗
chenen Schrift eines deutſchen Diplomaten „Weltpolitik und kein Krieg“
nahegelegte ſchwächliche Opportunitätshaltung, kann irgendeinen
dauernden Erfolg verſprechen.
Einen ſolchen Erfolg kann nur verſprechen eine neue, dritte Phaſe
nicht nur der deutſchen, ſondern der europäiſchen Weltpolitik über⸗
haupt, die ich gegenüber den Phaſen der „überwiegenden Kontinental⸗
politił“ und der anarchoeuropäiſchen Weltpolitik als die Phaſe der
„geordneten europäiſchen Weltpolitik“ bezeichnen möchte.
Der Eintritt in dieſe Phaſe kann durch dieſen Krieg erreicht werden.
Sie wird erreicht werden, wenn nach einer baldigen Friedens verſtändi⸗
gung auf dem Kontinent, zunächſt mit Rußland (ohne Bündnis), dann
mit Frankreich das fundamentalſte Hemmnis des Eintritts dieſer Phaſe,
der engliſche Allſeegeltungsanſpruch und das weltpolitiſche prinzipielle
Außenſeitertum Englands gegenüber den weltpolitiſchen Intereſſen der
Kolonialmächte dauernd gebrochen wird, wenn England gezwungen
wird, für jeden Teil ſeines jetzigen Beſitztums zu ſcheiden, was es vom
moraliſchen Zuſammengehörigkeitsgefühl feiner unterworfenen Bevöl⸗
kerungen mit dem Mutterlande und was es ausſchließlich der Zwangs⸗
gewalt ſeines Allmarinismus verdankt, wenn es gleichzeitig gezwungen
wird, zur bundesſtaatlichen Verfaſſung ſeines dann noch reſtierenden
Weltreiches überzugehen und alle ſeine weltpolitiſchen Schritte unter
gemeinſamer Verſtändigung mit einem wenigſtens weltpolitiſch ſolida⸗
riſchen Weſteuropa zu unternehmen. Hierbei nehmen wir durchaus
nicht an, es ſei der moraliſche Zuſammenhalt der engliſchen Kolonien
mit dem Mutterlande ſo gering, wie er gemeinhin bei uns gegenwärtig
gehalten wird. Den Satz Ruedorffers zwar, daß das engliſche Reich,
ſelbſt wenn die Kriegsflotte im Meere verſinken würde, ſich auf Grund
ſeines Kulturzuſammenhanges über Waſſer halten könnte, halten wir
für eine jener Übertreibungen, die der alles Engliſche anbetende Geiſt
der deutſchen Diplomatie vor dem Kriege ſo ſehr verſchuldet, daß der
Einzelne dadurch entlaſtet wird. Für Auſtralien (zumal bei der eng⸗
liſchen Japanpolitik!), für Kanada, das längſt nach den Vereinigten
Staaten ſchielt, iſt dies erheblich zweifelhaft. Agyptens Verbleib in
372
engliſchen Händen wird von den militäriſchen Fortſchritten der Türkei
abhängen. Völlig geſichert aber halten wir vorerſt Indien für Eng⸗
land. Die jetzt vielverbreitefe Meinung, es würden die 70 Millionen
Mohammedaner Indiens dem Gebot des osmaniſchen Kalifen folgen
(etwa durch die Vermittlung der Gefolgſchaft der Afghanen), halten
wir für ganz ungeſtützt. Daß Indien ſich ſelbſt regiere, ſchließen die
inneren Gegenſätze dieſes Landes dauernd aus. So hätten die indiſchen
führenden Politiker nur die Wahl zwiſchen einer Herrſchaft Rußlands
und Japans, das ſicher nur darauf wartet, ſich in etwaige indiſche
Händel und Revolutionen über Südchina hineinzuſtürzen. Beide Even⸗
tualitäten liegen weder im indiſchen noch geſamteuropäiſchen Intereſſe.
Nur unter Vorausſetzung einer ſolch neuen Phaſe und ſolch neuen
Geiſtes der europäiſchen Weltpolitik hätten aber auch die großen Auf:
gaben innerer ſozialer Reformen, die aller europäiſchen Staaten noch
warten und die neuerdings in England mit ſo weiten Perſpektiven von
Lloyd George unternommen wurden (Schaffung eines Kleinbauern—
ſtandes, Sozialpolitiſche Geſetzgebung im Sinne des deutſchen Borbil-
des, Beſchneidung der Rieſenvermögen der „Herzöge“ uſw. durch
Steuerreform uſw.), Ausſicht auf einen ruhigen Fortgang. Jeder
einſeitige „Imperialismus“ eines ſiegenden europäiſchen Staates mit
Mißachtung der europäiſchen Solidarität müßte dieſe Linie der Ent:
wickelung in allen Staaten dauernd hemmen. —
101 S. L. von Ranke, „Über die Epochen der neueren Geſchichte“,
hrsg. von A. Dove, Leipzig 1906, 1. Vortrag: „Allein es gibt in der
Menſchheit überhaupt doch nur ein Syſtem von Bevölkerungen, welche
an dieſer allgemeinen hiſtoriſchen Bewegung teilnehmen, dagegen andere
Syſteme, die davon ausgeſchloſſen ſind. Wenden wir z. B. unſer
Augenmerk auf Aſien, ſo ſehen wir, daß dort die Kultur entſprungen
iſt, und daß dieſer Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein
dort iſt die Bewegung im Ganzen eher eine rückgängige geweſen; denn
die älteſte Epoche der aſiatiſchen Kultur war die blühendſte; die zweite
und dritte Epoche, in denen das römiſche und griechiſche Element
dominierten, war ſchon nicht mehr jo bedeutend — und mit dem Ein⸗
brechen der Barbaren — der Mongolen — fand die Kultur in Aſien
vollends ein Ende. Man hat ſich dieſer Tatſache gegenüber mit der
Hypotheſe geographiſchen Fortſchreitens behelfen wollen; allein ich
muß es von vornherein für eine leere Behauptung erklären, wenn man
373
annimmt, — wie z. B. Peter der Große — die Kultur machte die Runde
um den Erdball, ſie ſei von Oſten gekommen und kehre wieder nach
dem Oſten zurück.
02 S. Carl Stumpf, „Tonſyſtem und Muſik der Giamefen“ („Bei⸗
träge zur Akuſtik und Muſikwiſſenſchaft“, Heft III); O. Abraham
u. E. von Hornboſtel, „Studien über das Tonſyſtem und die Muſik
der Japaner“, f. Schriften der „Internationalen Muſikgeſellſchaft“,
Jahrg. IV, Heft 2; O. Abraham u. E. von Hornboſtel, „Phonogra⸗
phierte indiſche Melodien“, Jahrg. V, Heft 3.
03 Wie weit ſich von einem einheitlichen Typus des Sprachenbaus
der europäiſchen Sprachen — nicht im Sinne der hiſtoriſchen Geneſis
aus den ſog. Sprachſtämmen (ſiehe hierzu F. N. Finck, „Die Sprach⸗
ſtämme des Erdkreiſes“, „Aus Natur und Geiſteswelt“, Teubner 1909)
— ſondern im Sinne beſonderer Weiſen des Auffaſſens, Scheidens,
Verbindens, Gliederns der Eindrücke reden läßt, iſt trotz der trefflichen
Vorarbeiten F. N. Fincks (ſiehe „Die Haupttypen des menſchlichen
Sprachenbaus“, „Aus Natur und Geiſteswelt“, Teubner) noch nicht
genügend feſtgeſtellt.
ros Vgl. auch die hierfür typiſche kleine Geſchichte L. Hearns in
Kokoro „Ein Konſervativer“.
05 Vgl. das bei E. Diederichs erſchienene Buch von Ku Hung⸗Ming:
„Chinas Verteidigung gegen europäiſche Ideen“, Jena 1911.
106 Auch in der Perſonbenennung „Sohn des X“ drückt ſich dies aus.
07 Vgl. meine eingehende „Lehre von den Dimenſionen ethiſcher
Differenzen“ im „Jahrb. f. Philoſ. u. phän. Forſchung“, II.
ros Nur als ein Zeichen äußerſter anthropologiſcher und politiſcher
Unbildung können wir es anſehen, daß der deutſche Haß gegen Japan
fo maßloſe Formen angenommen hat. Denn dieſer Haß, der ſich ge:
legentlich zu Ausdrücken wie „Halbaffen“ in führenden deutſchen
Zeitungen verſtieg, hat ſelbſtverſtändlich gar nichts zu tun mit der
höchſten Bewunderung unſerer Beſatzung von Tſingtau, dieſer helden:
müfigen Schar von Männern, die ohne jede Ausſicht auf den mili⸗
täriſchen Erfolg, Kiautſchou durch Waffengewalt uns zu erhalten, und
ſich (bei vielen ihrer Mitglieder wenigſtens dürfte es fo geweſen fein) be⸗
wußt, das Opfer einer wenig glücklichen deutſchen Japanpolitik zu ſein,
rein nur um der Ehre des deutſchen Namens und der deutſchen Waffen
wegen, in der Geſinnung der Griechen von Thermopylä dem Feinde
374
bis „aufs Außerſte“ ſtandgehalten hat. Doch wozu fo maßloſer Haß
gegen das japaniſche Volk und Regierung? Welche ſonderbare Art „von
Gleichförmigkeit der Menſchennatur“ muß man vorausſetzen, um einem
mongoliſchen Volke von der feſtgeprägten kriegeriſchen Eigenart der Ja⸗
paner, das längſt den Satz „Aſien für Aſien“ (hierin der amerikaniſchen
Monroedoktrin folgend) zum erklärten Axiom feiner Politik gemacht
hat, zuzumuten, es werde in irgendeiner anderen Richtung als der—
jenigen der nach ſeiner Anſicht beſtehenden Intereſſen handeln? Man
ſprach von Pflichten der „Dankbarkeit“ Japans für feine deutſchen Lehrer
in Recht, Militär, Technik, Wiſſenſchaft uſw. Abgeſehen von der darin
liegenden Verwechſlung von Privatmoral und Staatsmoral, müßte
doch das politiſche Verhalten des Deutſchen Reiches gegen Japan hier
zuerſt herangezogen werden. Und hier liegen die Dinge ſo: Im Jahre
1895, am Schluſſe des japaniſch-chineſiſchen Krieges waren Li-Hung⸗
Tſchang und Marquis Ito in Tokio bereits vollſtändig überein⸗
gekommen, daß China die Halbinſel Liautung an Japan abtrete. Da
erfolgte die, durch eine ergiebige Flottendemonſtration Rußlands,
Frankreichs und Deutſchlands unterſtützte Intervention der genannten
europäifchen Mächte, die Japan gegen gemeinſame Kriegsdrohung die
Annahme der ſeitens China ſchon abgetretenen Halbinſel unterſagte.
Japan gab „zähneknirſchend“, wie es damals hieß, nach. Zu dieſer
Intervention mochte Rußland noch ein, aus ſeiner geographiſchen Lage
und der Sorge, den japaniſchen Nachbar nicht zu mächtig werden zu
laſſen, verſtändliches Motiv haben, Frankreich ein gleiches, um ſich dem
Verbündeten (1891) gefällig zu erweiſen. Dem Deutſchen Reiche fehlte
ein der Größe feiner oſtaſiatiſchen Intereſſen angemeſſenes Motiv durch-
aus. Aber auch im Jahre 1905, als der ruſſiſch-japaniſche Krieg feinen
Abſchluß erhielt, fand Japan England, nicht aber das damals noch ruſſen⸗
freundliche Deutſchland, gelegentlich der Grenzregulierung auf ſeiner
Seite. Auch diesmal hinderte die deutſche Diplomatie Japan, die
Früchte ſeines mit ungeheuren Opfern erkauften Sieges zu pflücken.
Das engliſch⸗japaniſche Bündnis, das auch durch die folgenden Schieds—
gerichts verträge Englands mit Amerika bezüglich chineſiſcher Angelegen—
heiten nicht inhaltlich geändert wurde, (insbeſondere nicht dahin, daß
nun — wie zu erwarten geweſen wäre — die Verpflichtung Japans,
einen etwaigen Aufſtand in Indien gegen England niederzuwerfen,
weggefallen wäre), das wohl aber hierdurch etwas in ſeinem Gewichte
375
geſchwächt wurde, mußte freilich nicht fo ausgelegt werden, daß
Japan jetzt gegen uns mit ſeinem Ultimatum vorging. Aber jeder,
der die vorhergegangenen Tatſachen der Geſchichte und die inner=
politiſche Entwickelung Japans kannte, die Herrn Kato, den lang⸗
jährigen japaniſchen Botſchafter in London und nahen Freund Greys,
an die Spitze der Führung der auswärtigen japanifchen Angelegen—
heiten brachte, unſere alten Freunde dortſelbſt aber zur Seite drängte,
mußte angeſichts der weiteren Kenntnis der Art und Weiſe, wie wir
durch den bekannten „Pachtvertrag“ mit China — ganz unter dem
methodiſchen Einfluß engliſcher Kolonialpolitik ſegelnd — Kiautſchou
ſeiner Zeit ziemlich unmotiviert erwarben, erwarten, daß Japan eine
Auslegung bevorzugen werde, die ihm ſeine bisherigen Erfahrungen
mit Deutſchland und ſein politiſches Axiom „Aſien für Aſien“ für die
Wahrung ſeiner Intereſſen an die Hand gaben. Wie ich aus ſicher⸗
ſten Quellen weiß, verurteilt gleichwohl die öffentliche Meinung
der Gebildeten nicht den Schritt Japans an ſich, wohl aber die Wahl
des Zeitpunktes bei der gegenwärtigen Bedrängnis Deutſchlands. In⸗
ſofern entſpricht Japans Vorgehen auch in der Tat ſeinem eigenen
Ethos nicht, nicht dem ritterlichen Gebot des „buſchido“. Den Deut⸗
ſchen geht es in Japan, wie wir ſicher wiſſen, ganz vortrefflich und
Japans echt kriegeriſche und ritterliche Art hätte ſchon durch die
Form, wie es die Ruſſen bei ſich zu Haufe im japaniſch-ruſſiſchen
Kriege behandelte, den europäiſchen Nationen, die jetzt unter ſich
mehr wie je ritterlichen Krieg von Staaten und Kampf gegen Bürger
und von Bürgern zu unterſcheiden verlernt haben, als Vorbild dienen
können. Daß Japan weiter ſchon gleich nach dem ruſſiſch-japaniſchen
Feldzug eine erhebliche Annäherung an Rußland vollzog und ein, uns
zu Hilfe kommender Angriff Japans auf Rußland gar nicht in Frage
kam, wußte jeder politiſch Gebildete. Trotzdem trug man hier in
Berlin zu Beginn des Krieges Japaner wider ihren Willen in dieſer
Illuſion auf den Händen herum, um ſich dann gleichzeitig für das
plötzliche Entſchwinden dieſer Illuſion durch Haß und Schimpf an
Japan zu rächen und England vorzuwerfen, daß es ein gelbes Volk
gegen uns aufgerufen habe. Daß Englands Ermunterung möglich
war, das freilich iſt ebenſo bedauerlich wie die Tatſache, daß wir
noch der Osmanen gegen England bedürfen — beides ein Symptom
der noch beſtehenden Anarchie Europas. Immerhin hat unſer, Japan
376
betreffender Haß gegen Englands Verführung einen weit tieferen Sinn
als der analoge Englands gegen uns wegen unſerer Antreibung der
Dsmanen, da Europas Solidarität durch Japan weit ſtärker gefähr⸗
det iſt als durch die Osmanen. Darum ſteigere man ſich nicht — fo=
fern Japan nicht weiter geht, als es bisher ging und beſonders nicht
japaniſche Truppen nach Europa ſendet — in die verkehrte Idee
eines Raſſenkrieges gegen Japan hinein, ſondern ſchreibe Kiautſchou
im Falle eines Sieges gegen England auch England auf die Rechnung!
Was ſonſtige „Dankbarkeit“ betrifft, ſo möge man doch auch ſelbſt
Japanern nicht zumuten, daß ſie Dinge wie die Abſatzintereſſen eines
felbftmörderifchen Kapitalismus zur Verbreitung ſeiner Maſchinen
und techniſchen Methoden in ihrem Lande, weiter das Motiv junger
oder alter Gelehrter gegen Gehälter, die diejenigen der opferfreudigen
japaniſchen Lehrer ſtets unverhältnismäßig überſteigen, fremde eigen:
artige Länder und Menſchen zu ſehen, und dabei ihre oft unverſtandene
Weisheit anzubringen, für reine Liebe zu nehmen, für die auch wo ſie
ſtattfindet, nur perſönliche Dankbarkeit Pflicht wäre. Die deutſchen
Gelehrtenwanderungen nach dem außereuropäiſchen Auslande, die ſo
reichen Nutzen für das wahre Verſtändnis der Völker abwerfen
könnten, werden, ſofern fie nicht beſtehende Gleichförmigkeiten des
Fühlens und Denkens durch „repräſentative“ Oberflächlichkeit und
Rede vortäuſchen, nachgerade eher Mittel, um das Weſen der Völker
vor ſich ſelbſt gegeneinander zu verſtecken.
109 Vgl. hierzu die Aufzeichnungen des Staretz in den „Brüdern
Karamafom“.
20 Eine Liebe „zu Gott“ oder „in Gott“, die nicht weſensnotwendig
zugleich ein Mitlieben des Menſchen mit der unendlichen Liebe Gottes
zum Menſchen wäre, kennt das europäiſche Chriſtentum nicht.
n Zum Beiſpiel tanzt innerhalb Aſiens die Frau dem Mann vor.
Ein Zuſammentanzen gilt als äußerſte Entwürdigung des Mannes.
12 Siehe in meinen „Geſammelten Aufſätzen“ den Aufſatz über „Die
Idee des Menſchen“ und meine Ausführungen über die Idee der
„humanen Ethik“ im „Jahrbuch für Phil. u. phänomen. Forſchung“,
Bd. II.
13 So die Idee der „Vernunft“ an den reinen Sätzen über die
Idee des Gegenſtandes; das „Gewiſſen“ an den reinen Geſetzen des
Höherſeins von Werten, wie ich ſie im Jahrbuch entwickelt habe; die
374
Idee der „Sprache“ am Weſen und der Idee des „Wortes“ im Gegen⸗
ſatz zum Zeichen und zur Bezeichnung.
114 Vgl. hierzu mein Buch: „Geſammelte Aufſätze“ „Idee des
Menſchen“ und Jahrbuch für Phil. u. phänomen. Forſchung, II. Bd.
und C. Stumpf, „Über den ethiſchen Skeptizismus“.
rs Während die Idee des „Wirkens“, des ſchaubaren „Überganges“
und Eingreifens eines Dinges in die Seinsſphäre eines anderen zweifel⸗
los eine, die Weltanſchauung des „Menſchen“ (vielleicht ſchon des
Tieres) mitdefinierende Kategorie iſt, desgleichen eine ganz formale Idee
der gegenſeitigen Abhängigkeit in der Variation der Erſcheinungen,
eine eben ſolche Kategorie, iſt jener Gedanke der „geſetzmäßigen Zeit⸗
folge der Erſcheinungen“, den Immanuel Kant als „Bedingung aller
möglichen Erfahrung der Gegenſtände“ und nach ſeinem berühmten
(falſchen) Prinzip, daß ſich die Gegenſtände nach dem Verſtande rich⸗
ten, auch der „Gegenſtände der Erfahrung ſelbſt“ behauptet, ſicher nur
ein a priori der europäifchen Weltanſchauung und der europäiſchen
„Welt“. Ihr ſteht eine Einſtellung gegenüber, in der gerade das, was
Kant „Gefetz“ nennt, als „Wunder“ gegeben iſt, nicht wie bei unſerem
weſteuropäiſchen Wunderbegriff „die Ausnahme des Geſetzes“. Auch
das „Wunder“ iſt als ein Gewirktes oder als Wirkung einer Urſache
gegeben — nur eben keiner folcyen, die nach einer feſten Regel der Zeit⸗
folge wirkte.
26 Siehe Edm. Huſſerl, „Logiſche Unterfuchungen“, 2. Aufl.,
Bd. I.
* Warum es „beſſer“ ſei, „Wirkliches“ zu ſehen als dem orien⸗
taliſchen Märchenerzähler zu horchen, als zu träumen, als Haſchiſch
und Opium zu rauchen und dabei wunderbare Dinge zu träumen —
oder im Traume Opium zu rauchen und dabei ſich nur einzubilden,
die Wirklichkeit zu fehen und handelnd darin zu leben, — welcher euro⸗
päifche Philofoph, er fei fo tiefſinnig, wie er wolle, will es „bemeifen“?
Welcher Inder aber das Gegenteil?
8 Siehe Pifchels „Buddha“ in „Natur und Geiſteswelt“.
19 Siehe W. James, „Das pluraliftifche Univerſum“, deutſch von
Jul. Goldſtein, Leipzig 1914. Dem „Pragmatismus“ dieſes Philo⸗
ſophen folgen wir nicht. Aber das Richtige, was ſeine Lehre vom
„Multiverſum“ in ſich einſchließt, erhält auch bei Annahme einer letzten
„Einheit“ der Welt — als der „Welt Gottes“ — ſein Recht.
20 Siehe meinen Nachweis der pfychologifchen Herkunft der mo—
dernen „Liebe zur Menſchheit“ aus Reſſentiment in meinem Aufſatz
„Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“. „Gef. Aufſätze“, Bd. J,
Leipzig 1914.
rar Richtig urteilt Emil Utitz in ſeiner „Grundlegung der allgemeinen
Kunſtwiſſenſchaft“, (Stuttgart 1914) Seite 197: „Das Kind und der
Mann, der Eskimo und Europäer, der paläolithiſche Jäger und der
durchgebildete Renaiſſancemenſch ſtehen einer anderen ‚Wirklichkeit‘
gegenüber (d. h. haben nicht bloß andere Eindrücke derſelben Wirklich⸗
keit); es iſt dies ja eine Anſchauung, welche immer mehr in den Arbeiten
junger Kunſtwiſſenſchaft Wurzel faßt; ſie iſt das Quellgebiet, dem eine
richtige Stilwiſſenſchaft entſpringen kann“.
22 Vgl. W. Worringer, „Abſtraktion und Einfühlung“.
123 Wenn Kant ſagt: Um eine Linie wahrzunehmen, müſſen wir fie
ziehen, ſo beſchreibt er hier nur die Art des europäiſchen Sehens, der
das punktuelle Sehen und das nachträgliche Verbinden der Punkte
gegenüberſteht. Dieſem Unterſchiede entſprechen gewiſſe Unterſchiede
im Typus des Sprachbaus, wie ſie Finck in ſeinen „Haupttypen des
menſchlichen Sprachbaus“ beſchreibt.
24 Vgl. hierzu Carl Techet, „Völker, Vaterländer und Fürſten“,
S. 174 (München 1913).
ras Die erfolgte Erklärung des „heiligen Krieges“ wird die 70 Millionen
indiſcher Mohammedaner ganz kalt laſſen. Wäre die Erklärung ſtreng
dogmatiſch gemeint, ſo ſehe ich nicht, wie es vermieden werden könnte,
daß in dieſem Falle auch Holland (in feinen Kolonien) und Italien (Tri⸗
polis uſw.) in die kriegeriſchen Verwickelungen hereingezogen würden.
26 Vgl. zu dem hier Geſagten die für die Frage nach dem Weſen
der „Nation“ ſo inſtruktiven Vorträge und Verhandlungen des
Deutſchen Soziologentages vom Jahre 1912, Tübingen 1913. Be⸗
ſonders die Ausführungen Max Webers in der Debatte. Vgl. auch
die einleitenden Abſchnitte von Fr. Meineckes „Weltbürgertum und
Nationalſtaat“, München 1908.
127 Daß der Nationalismus wie die panſlawiſtiſche Raſſenidee nur
europäiſcher, dem Geiſte des echten Ruſſentums fremder Import ſind,
das haben ſchon Lontjew, Solopjew, im Grunde auch Doſtojewski,
der die Einheit des Ruſſentums durchaus religiös zentriert, hervor—
gehoben. Zum gleichen Ergebnis kommt auch der von dieſen Denkern
379
weit abweichende Maſaryk in feinen „Studien zur rufjifchen Religions⸗
und Geſchichtsphiloſophie“, Jena, 1913.
128 Eine geradezu lächerliche Überfchägung ſolcher „Konferenzen“ —
außerdem Englands überhaupt, bei allem Haß gegen England — findet
ſich in dem Artikel „Die deutſche Erweckung“ aus der Feder des Theo⸗
logen Adolf Deißmann. Deißmann hat die Geſchmackloſigkeit, dieſe
Zuſammenkunft mit nichts Geringerem zu vergleichen als mit der —
Schlacht von Waterloo!! Er ſagt: „Die britiſche Hybris, welche
die eine der beiden am dritten Schöpfungstag allen Menſchen ge:
ſchenkten Provinzen Gottes für ſich allein als Herrſcherin beanſprucht,
hat 1914, im fernen Oſten die Gelben auf unſere blühenden Felder
hetzend und das dem Evangelium offene Afrika mit dem Kampf von
Weiß gegen Weiß erfüllend, nicht bloß Waterloo annulliert, ſondern
auch — Edinburgh“. Auch ſonſt iſt die maßloſe Uberſchätzung der Be⸗
deutung Englands in dieſem Artikel charakteriſtiſch. „An England hing
der Weltfriede; Frankreich und Rußland waren nur Puppen in ſeiner
Hand“ (S. 118). „Unermeßliche Werte des geiſtigen Lebens hat Eng⸗
land, als es uns den Krieg erklärte, gefährdet“. Ich ſehe keinen ein⸗
zigen ſolcher Werte! Aber nur — ſetzt der Verfaſſer, der „Freund der
deutſchfreundlichen führenden britiſchen Theologen und Kirchenmän⸗
ner, an ihrer Spitze der Primas der Kirche von England“ (S. 118)
vorſichtig hinzu — „gefährdet“! Denn immer noch „ſträubt ſich alles
in mir, an die völlige Aufhebung unſerer chriſtlichen Gemeinbürger⸗
ſchaft und unſerer kulturellen Beziehungen mit England zu glauben“.
Wirklich immer noch, trotz der Dum-Dum⸗Kugeln des chriſtlichen
Bruderlandes und ſeiner beiſpiellos gehäſſigen Kriegsführung? Die
deuffchzenglifche evangeliſche Solidarität — wo wäre der englifche
Widerhall? — ſcheint ja gute Nerven zu haben! — Noch ein Wort
über „die Internationale Monatsſchrift“. Nach Herrn Deißmann
hatte ſich dieſes Organ „lebhaft und mit innerer Freudigkeit an den
Bemühungen beteiligt, auf dem Wege des Kulturaustauſches und der
perſönlichen Verſtändigung England und Deutſchland näher zu bringen
und damit dem Weltfrieden zu dienen“. Obzwar nun neben ſehr vielem
von ähnlichem Ton auch manches ganz Vortreffliche in den letzten
Nummern dieſes Organs ſteht, dürfte doch die Frage geſtattet ſein,
ob es nicht geſchmackvoller geweſen wäre, wenn das Organ jetzt eine
Zeit lang vom Bilde der deutſchen Bffentlichkeit verſchwunden wäre,
380
anſtatt immer aufs neue wenig würdige Lamentos über die „engliſch⸗
deutſche Kulturgemeinſchaft“ anzuſtimmen.
29 So ſchrieb Fürſt Bülow in einem Aufſatz über „Deutſche Poli⸗
tik“: „Es wäre töricht, die engliſche Politik mit dem zum Tode gehetzten
Worte des perfiden Albion“ abtun zu wollen. In Wahrheit iſt dieſe
angebliche Perfidie nur ein geſunder und berechtigter nationaler Egois⸗
mus, an dem ſich andere Volker, ebenſo wie an anderen großen Eigen⸗
ſchaften des engliſchen Volkes, ein Beiſpiel nehmen können“. So
ſprachen John Morley, ſo tönte es von Lord Lonsdales nach einem
Weihnachtsbeſuche in Berlin über den Deutſchen Kaiſer, ſo klang es
weiter aus dem Munde des Fürſten Lichnowsky bei den bekannten
Bratenreden bis zum Kieler Flottenbeſuch, fünf Monate vor Kriegs⸗
beginn, da die „Entſpannung“ ihren Höhepunkt gefunden hatte.
130 Einen beſonderen Beſtandteil des englifchen (ethiſchen) Denkens
beſchreibt der Anhang dieſes Buches „Über den engliſchen cant“.
232 Uberall, wohin ich blicke, ſehe ich dieſe Angliſierung: Ich ſehe fie
in der Nachahmung engliſch⸗ lauwarmen „Komforts“ in unſeren Wohn:
räumen, in den neueſten Ulbertreibungen des Sports, in einer einſeitigen
unechten Willens⸗ und „Charakter“ bildung, innerhalb der Mehrzahl
der England nachgeahmten „Landerziehungsheimen“, welche, Kultur
und Schule auseinanderreißend, einen blöden ehrfurchtsloſen engliſchen
Boygeiſt und „Individualismus“ züchteten, ſehe fie in der päda—
gogiſchen Richtung der pragmatiſtiſchen Münchner „Arbeitsſchule“
gegen die „Bildungsſchule“, in dem Kampf gegen das humaniſtiſche
Gymnaſium, in der peinlichen Viriliſierung der Damenmode, ſehe ſie
(wie ſchon Bismarck) in den ſtaatsrechtlichen Grundfägen des deutſchen
Liberalismus, ſehe ſie in ſo grundverſchiedenen Dingen wie dem ſog.
deutſchen „Imperialismus“, in der ökonomiſchen Geſchichtsauffaſſung
der Marxiſten trotz alles Hegelſchen und hiſtoriſch⸗deutſchen Einſchlags,
im undeutſchen ſog. Alldeutſchtum (dieſem undeutſchen Verſuch, engliſche
Borniertheit und engliſches Jingotum bei uns anzupflanzen), im Pazi⸗
fizismus der Intereſſenſolidarität, ſehe ſie in der Calviniſierung unſeres
deutſchen Luthertums und des übrigen Proteſtantismus (ſ. Troeltſch), in
der doppelten Wahrheitslehre der Rietſchelſchen Theologie, ſehe ſie ganz
beſonders in den Wiſſenſchaften, der Philoſophie (Neuhumeanismus,
Senſualismus, Aſſoziationspſychologie, Dfonomieprinzip als Erſatz der
Logik), der Nationalökonomie (Übertreibung des bourgeoifen Gewerk—
381
ſchaftsgedankens, extreme Freihandelslehre, Malthuſianismus), der Phy⸗
ſik (Maxwellſche Methodik), der Biologie (Darwinismus und mechani⸗
ſtiſche Lebensauffaſſung), — ſah fie (hoffentlich) in den neuen Lebens⸗
formen der deutſchen vornehmſten Gefellfchaft, — ſehe fie in ſchlechten
Nachahmungen der fog. engliſchen Weltpolitik ſeit der Erwerbung
von Kiautſchou, ſehe ſie beim höfiſchen Hochadel, (Gott dank beim ein⸗
fachen Landadel noch am wenigſten), bei Bürgern, welche die „ſchöne
engliſche Freiheit“ (d. h. äußerſte ſoziale cant⸗ Bevormundung aller gut⸗
gewachſenen Individualität und Originalität) ſuchen, bei Arbeitern,
die von rein ökonomiſchen Umwälzungen eine ſolche der ganzen
Kultur erwarten, ſah ſie in Stil und Manieren unſeres Auswärtigen
Amtes, in der Internationalen Monatsſchrift unſerer Akademiker, in
einer ungeheuren Menge höchſt komiſcher ganz angliſierter Menſchen⸗
figuren, die kaum ordentlich mehr deutſch reden können. Faſt wäre es
einfacher zu ſagen, wo man ſie noch nicht ſieht.
**
Hin
3 X
. 1 Ki
ö Ze u 1
Zur Pſychologie des engliſchen Ethos
und des cant.
ir Deutſche müſſen uns heute eine Frage vor⸗
Weben. Wieſo war das ungeheure Mißoerſtänd⸗
nis deſſen möglich, was ich mir die engliſche Ent:
ſpannungskomödie zu nennen erlaubt habe? Wie jene Komödie,
die faſt ebenſo groß war, als es heute der Haß einer enttäuſchten
Liebe ſeitens unſerer Entſpannungskünſtler und ihres Anhangs
gegen England iſt? Wie war es möglich, daß ſelbſt unſere
oberſten Behörden bei Sir Goſchens Kriegserklärung (S.
Goſchens Schilderung im engliſchen Blaubuch) nicht nur jene
Überraſchung zur Schau trugen, deren Ausdruck für den
Diplomaten zuweilen auch bei Ereigniſſen, die er vorherſteht,
nicht unzweckmäßig ſein kann, daß ſie, wie wir fürchten
müſſen, vielmehr eine wirkliche und echte Überraſchung
war? Daß Berlin aufſchrie, ſo wie der heißliebende Freund,
wenn der für getreu gehaltene Freund ſich als Verräter
entpuppt? Ganz Deutſchland aufſchrie bis auf die ganz
verſchwindende Minorität, — die England kannte? Man
mag, man muß dieſe ſonderbare Tatſache im einzelnen unter⸗
ſuchen, an der Hand des Weiß⸗Blau⸗Orangebuches, ſpäter
an der Hand neuerſchloſſener Archive und der hiſtoriſchen Er⸗
kenntnis aller Vorgeſchichten und beteiligten Perſonen. Das
25 385
ift hier nicht meine Sache. Das iſt auch nicht an der Zeit. Aber
es iſt mir, als läge über den hiſtoriſchen Urſachen hinaus noch
ein ganz allgemeiner Grund ſchon für die Möglichkeit dieſer
Erſcheinung in einem tiefen deutſchen Mißverſtehen und in
einer radikalen Unkenntnis des Ethos, ja der verborgeneren
Seele des Inſelvolkes: in einer Unkenntnis, die deutſcher Ehr⸗
lichkeit und Biederkeit vielleicht zum Verdienſte angerechnet
werden muß, ſicher aber nicht zum Verdienſte deutſcher Pſycho⸗
logie gereicht. Sollte der Leſer dieſe meine beſcheidene Meinung
nicht teilen, ſo bitte ich das Folgende nur als einen ſchlichten
Beitrag zur Seelenlehre der intereſſanteren Völker anzuſehen.
In dem von Oxforder Gelehrten herausgegebenen Buche:
„Why we are at war?“ weiſen die Verfaſſer in einem Kapitel
über die deutſche Staatsauffaſſung den deutſchen Vorwurf
der engliſchen „Hypokriſte“ zurück. Es iſt ſehr witzig, ſehr
— cant, daß ſie dieſes griechiſche Wort, nicht das Wort
cant gebrauchen. Nachdem fie die „Machtſtaatstheorie“
Heinrich von Treitſchkes als „die Philoſophie der deutſchen
Regierung“ geſchildert und feſtgeſtellt haben, daß im engliſch⸗
deutſchen Krieg eigentlich zwei „Prinzipien“ im Kampfe lägen,
deren erſtes (engliſches) als höchſtes Ziel aller Politik „die
Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und der völkerrechtlichen
Verträge Europas“ — „Europas“, wie fie vorſichtig, an ihre
Vergewaltigung des Völkerrechts in Indien und Agypten
denkend ſagen —, deren zweites die Wahrung von Heil und
Macht des eigenen nationalen Staates gebiete („salus publici
suprema lex“), verwahren fie ſich gegen unſeren Vorwurf, es
fei das engliſche Vorgeben nur „Hypokriſte“, daß England
die Rechte Belgiens und Serbiens mit dieſem Kriege ſchützen
386
— daneben noch das arme außerpreußiſche Deutſchland von
„Goethe und Schiller“ vom Joche des preußiſchen Milita⸗
rismus erlöſen wolle, mit folgenden, lapidaren und köſtlichen
Worten: „It is true, that we are fighting for our own inter-
est. But what is our interest? We are fighting for Right,
because Right is our supreme interest.“ (Seite 116.) Gewiß
hätten fie — fo fahren fie weiter — auch viele und reiche Vor:
teile aus dieſem Kriege zu erwarten, wenn er für ſie ſiegreich
ausgehe. Sollten ſie — ſo fragen die Verfaſſer — den Krieg
etwa deswegen unterlaſſen? Aber nicht ihr Intereſſe ſei es,
das ſie, wie wir Deutſche ungerecht ſagten, zum Rechte Euro⸗
pas emporheuchelten, ſondern dies ſei eben einer der älteſten
engliſchen moraliſchen Gedanken, daß das Recht der Welt
auch das engliſche Intereſſe ſei. Wie durchaus richtig dieſe Be⸗
merkung vom „älteſten moralich⸗politiſchen Gedanken“ Eng:
lands iſt, haben wir früher geſehen. Völlig irrig wäre es auch,
der Feſtigkeit des Glaubens der Herren Verfaſſer an dieſe
Grundſätze zu mißtrauen, oder gar in die Ehrlichkeit ihrer
Worte irgendeinen Zweifel zu ſetzen. Aber wie konnte dieſer
„alte engliſche Gedanke“ („the old — the very old — English
political theory“) — wie diefer Glaube entſtehen? Wie Dauer
gewinnen, wie in England herrſchen?
Die Gottheit ſelbſt mit der Annahme zu bemühen, daß ſie
es ſei, die es ſeit Ewigkeit ſo gefügt habe, daß eine präſtabilierte
ewige Harmonie zwiſchen den Forderungen der ewigen Rechts⸗
ordnung und den Intereſſen dieſer Inſel beſtehe, verbietet uns
das gerade in England ſtets — nur allzu ſehr — anerkannte
„Prinzip der Okonomie“ und der Erſparnis der Urſachen.
Wie aber löſt ſich das Rätſel dieſes Glaubens dann?
25" 1
Es löſt ſich durch die Pſychologie einer bei uns ebenſo oft
genannten als nur äußerſt ſpärlich bekannten und voll ver⸗
ſtandenen ethiſchen Grundhaltung des engliſchen Geiſtes: durch
die Pſychologie des engliſchen cant.
Der cant iſt ein ſeeliſches Gewächs, das zwar Beſtandteile
in ſich birgt, die auch anderweitig in der Welt zu Hauſe ſind
als da ſind Lüge, Phariſäismus, Formalismus, Scheinheilig⸗
keit, Heuchelei, ſozialer Illuſionismus bezüglich öffentlicher,
ſittlich verdammenswerter Zuſtände, das aber in ſeiner eigen⸗
artigen Ganzheit und in ſeinem einzigartigen Duft nur
in England gedeiht. Der amerikaniſche Abkömmling davon
verhält ſich dazu wie Wildling und Edelraſſe. Eine um⸗
faſſende Definition des cant läßt ſich kaum geben. Man kann
nur nach und nach dieſes ſonderbare Syſtem des Denkens,
Fühlens und Wollens des Inſelvolkes entwickeln.
„Cant“ — das iſt zunächſt ein eigenartiger Zuſtand des Be⸗
wußtſeins, der es erlaubt, alles dasjenige, was andere, denen
dieſer Zuſtand fehlt, nur in der Form der Lüge und mit
„ſchlechtem“ Gewiſſen ſagen und tun können ohne dieſe
Form und nicht nur mit dem Tone der Biederkeit, deſſen ſich
auch der gemeine Lügner bedienen kann — nein auch mit dem
Erlebnis und der Überzeugung des „guten Gewiſſens“ und all
ſeinen eigentümlichen Ausdruckserſcheinungen zu ſagen und zu
tun. Oder auch: cant iſt die zu einem feelifchen Habitus ge⸗
wordene Kunſt, alle Vorteile einzuheimſen, die eine Verletzung
ſittlicher und moraliſcher Grundſätze zuweilen mit ſich bringen
kann, ohne doch dem peinigenden und die Tatkraft hemmen⸗
den Gefühle zu unterliegen, daß man dieſe Grundſätze verletzte.
Cant — iſt ein „Lügenäquivalent mit gutem Gewiſſen“.
388
n
Er
EEE TEN NED ELITE Ten
Nun mag es auf den erſten Blick freilich ſcheinen, als ob
der ſo definierte „cant“ ein vollſtändiges pſychologiſches und
logiſches Paradoxon darſtellte. Denn wie kann man lügen,
ohne zu wiſſen, daß man lügt? Es ſcheint doch die Definition
der Lüge zu ſein, daß man gleichzeitig, indem man eine Un⸗
wahrheit äußert, die Wahrheit über den betreffenden Sach⸗
verhalt kennt. Es iſt doch die Definition des unmoraliſchen
Verhaltens, daß man weiß, was gut oder das Beſſere iſt, in⸗
dem man das Schlechte oder das Schlechtere tut.
Aber unſere Bewußtſeinszuſtände richten ſich niemals nach
ſo rigiden Definitionen.
Um das ſcheinbar Unmögliche, den cant, hervorzubringen,
verfügt die Seele über mehr als eine Methode. Was Lüge
und Heuchelei betrifft, ſo muß man unterſcheiden zwiſchen der
gemeinen Lüge und der Verlogenheit im Sinne einer Form
und Konſtitution der Seele. Es gibt freilich auch eine „Ver⸗
logenheit“, die nur eine Gewohnheit zu lügen darſtellt. Dieſe
iſt hier nicht gemeint. Jene tiefere organiſche Verlogenheit,
die ein Beſtandteil des cant iſt, beſteht nicht darin, daß Tat⸗
beſtände, die wir kennen — in Form von Vorſtellungen, Ur⸗
teilen, Erinnerungen uſw. — in der Ausſage gefälſcht werden,
oder daß ſolche Fälſchungstätigkeit in der Ausſage zu einer
„Gewohnheit“ geworden wäre; ſie beſteht darin, daß ſchon
der Prozeß der Wahrnehmungs-, Vorſtellungs- und Urteils⸗
bildung, in dem die Tatbeſtände erſt zum klaren Bewußtſein
kommen, der eigentümlichen Richtung folgt, daß Erwünſchtes
oder den eigenen Intereſſen Gemäßes unterſtrichen und in der
Tendenz von Wunſch und Intereſſe fortgebildet und um⸗
geformt, Unerwünſchtes und den Intereſſen Zuwiderlaufen⸗
389
des unterdrückt oder in dieſer Tendenz verändert wird. Ins⸗
beſondere wird das aus dem Gedächtnis hervorgeholt, worauf
das Gewiſſen poſitiv, das aber für die Bewußtwerdung unter⸗
drückt, worauf das Gewiſſen negativ reagieren würde. „Mein
Stolz ſprach zu meinem Gedächtnis: das kannſt du nicht
getan haben. Da gab das Gedächtnis nach. Alſo habe ich
es nicht getan.“ Dieſes Wort Nietzſches iſt für alle eng⸗
liſche Geſchichtsauffaſſung ebenſo charakteriſtiſch wie für das
Verhalten jedes einzelnen Vertreters des ſtolzen Inſelbvolkes.
Gerade weil hier die Fälſchung des Tatbeſtandes ſchon durch
den Prozeß der Bildung der Vorſtellungen automatiſch
geleiſtet iſt, nicht aber an Stelle ſchon fertig gebildeter Vor⸗
ſtellungen andere willkürlich zwecks Ausſage erdichtet werden,
fehlt hier der Tatbeſtand der eigentlichen „Lüge“. Die Aus⸗
ſage oder das Verhalten decken ſich vielmehr mit Urteil oder
Abſicht genau fo wie in der wahrhaftigen Außerung; der Ton
iſt derſelbe Ton der „heiligen Überzeugung“; das Geſicht hat
denſelben Ausdruck der Offenheit, Biederkeit und Sicherheit!
Das peinliche Gefühl zu lügen fehlt, das unſer Selbſtgefühl,
bei den Engländern den ſo ſtark ausgebildeten ſtarren „Stolz“,
erniedrigt; ebenſo fehlt ſeine gefährliche Folge des Schwan⸗
kens, Zögerns, der Zeichen der Beſchämung, des ſchnellen und
rhythmiſch veränderten Atmens, die den Lügner ſo leicht ver⸗
raten. Obzwar vom organiſch Verlogenen genau dasſelbe
geleiſtet iſt (für ſeinen Vorteil oder für ſein ehrlich daſtehen⸗
des Bild im Zuſchauer) was die nicht oder weniger organiſch
verlogene Seele nur in der Form der bewußten Lüge zu leiſten
vermag, hat ihm die automatiſche Form des Prozeſſes jener
Leiſtung das surplus des „guten Gewiſſens“ und aller ihm
390
entſprechenden Zeichen der Glaubwürdigkeit zu dieſer Leiſtung
dazu erkauft. So iſt das „Geſchäft“, das er gemacht hat,
zwiefach beſſer als das des gemeinen Lügners. Er hat den
Vorteil; dazu ein gutes Gewiſſen und — man glaubt ihm!
Ja, im Maße als ein Subjekt in dieſem Wortſinne „ver⸗
logen“ iſt, braucht es nicht nur, es kann auch gar nicht im
gemeinen Sinne „lügen“. Die Wahrhaftigkeit wird für
den Menſchen des cant von einer ſittlichen Pflicht — zu dem
Naturgeſetz: „Der Gentleman lügt nicht.“ Denn woher
kämen hier auch nur die möglichen Motivde zur Lüge, die ja
gerade die organiſche Wahrhaftigkeit, d. h. die von den
Intereſſen und von der Angſt, ſich moraliſch anklagen zu
müſſen, unbeeinflußte Vorſtellungs⸗ und Urteilsbildung ſchon
vorausſetzen? Es iſt daher das ſcheinbare Paradox völlig be⸗
greif lich, daß das Volk des cant das Lügen von allen Völkern
am ſtrengſten verwirft und am ſchärfſten ahndet; nicht etwa
nur aus „Scheinheiligkeit“, ſondern völlig ernſt! „Der Gentle—
man lügt — wirklich — nicht.! Denn er wäre kein „Gentleman“,
beſäße er nicht genug cant, um der gemeinen Lüge entraten zu
können. Wie die Strenge des engliſchen Moralismus und
wie die ſo ſcharf ausgeprägte Empfindlichkeit des engliſchen
Sittenſtolzes überhaupt, ſo ſind gerade dieſe ſtrenge ſittliche
Verwerfung und Ahndung der gemeinen Lüge, iſt die ſtarke
Aoerſion des engliſchen Stolzes gegen die in jeder ſolchen Lüge
liegende Unterwerfung des eigenen Selbſt unter fremde Wert⸗
ſchätzung und Intereſſen, eine ſtarke Miturſache für die Aus⸗
bildung des cant. Was der Engländer daher an der Lüge
ſo ſcharf tadelt — das iſt eben der unerhörte Mangel ihres
Urhebers an dem engliſchen Nationalethos, d. h. an cant, der
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den gewöhnlichen Lügner zum täppifchen Ausweg der bewußten
Lüge zwang. Es iſt alſo geradezu die Angſt vor der gemeinen
Lüge, die ſeeliſche Vorwirkung des keimenden Stolzes, der es
abweiſen würde, ſich ihrer zu bedienen, was zur Miturſache
jener organiſchen Verlogenheit wird, welche, indem ſie die
Lüge überflüffig macht und Lügen ſpart, diefen Zuſammenſtoß
des Verhaltens mit dem eigenen Stolz und mit der ſittlichen
Verwerfung vermeidet. Ein Engländer braucht dies „Ge⸗
ſchäft !, das der cant macht, nicht mehr zu berechnen. Die
Seele berechnet hier ſchon automatiſch, und die Mühe der
Berechnung entfällt.
Derſelbe Effekt wird aber noch auf eine andere Weiſe er⸗
zielt. Dies geſchieht durch eine eigentümliche Loslöfung der ſee⸗
liſchen Reihen und Komplexe voneinander, von denen die einen
das Handeln, die anderen das Urteil über das Handeln und
die das Urteil fundierenden Regungen des Gewiſſens beſtimmen.
Der Menſch des cant leidet an einer Art von moraliſchem
Doppelich. Er bezieht die ſittlichen Grundſätze, die er laut und
durchaus ehrlich — durchaus nicht nur vorgebend — bekennt,
auf alles, nur nicht auf ſeine eigenen Handlungen im Momente
des Handelns. Das praktiſch tätige und das ſittlich fühlende
und beurteilende Ich bilden im Ganzen der Perſönlichkeit zwei
ſcharf getrennte Provinzen, von denen die Aktualiſierung der
einen Provinz die Regung der anderen automatiſch aus dem
Bewußtſein ausſchaltet. Wie ſagt doch B. Shaws Tanner
in „Menſch und Übermenſch“: „Mein lieber Taoy, deine
fromme engliſche Gewohnheit, in der Welt ein moraliſches
Gymnaſtum zu ſehen, das eigens zu dem Zwecke eingerichtet
wurde, deinen moraliſchen Charakter zu feſtigen, führt dich
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gelegentlich dazu, über deine eigenen verdammten Grund ſate
immer in dem Augenblick nachzudenken, in dem du über an⸗
derer Leute Bedürfniffe nachdenken ſollteſt (S. 121). Da
das Erlebnis des ſchlechten Gewiffens‘ aber durchaus an die
lebendige Syntheſe und Einheit dieſer beiden Ichs, an die be⸗
faß oder Gewiſſensregung gefnüpft if, fo sermag es hier zu
einem „ ſchlechten Gewifjen“ überhaupt ſchwer zu kommen
Falschen alfo nicht Winſch and Antereffe den Hergang
der Wahrnehmungs⸗ Urteils und Vorſtellungsbildung in
entfprechenden Weiſe („ih bin gut“), fo serdrängt der
regung ſtets gerade in dem Augenblick, da fie als aktives
Motiv in das Wollen und Handeln einzugehen sermöchte.
Hier iſt wirklich — im Gimme des Goetheſchen Wortes
angefihts Hamlets „der Handelnde immer gewifienlos“.
Durch ſolche Abfpaltung ganzer Bewußtfeinszentren son-
einander entſtehen jene ganz eigenartigen dualiſtiſchen Lebens-
formen, die Leben, Dichtung und Pbilsfopbie des Jafelvolfes
durchziehen. So der Gegenſatz der Haumletnatur (Hamlet if
eine echt engliſche Geſtalt ), des ũbergewiſſenhaften grüble-
riſchen Träumers und Idenliſten“, den gerade die als fe
drängend empfundene Aufgabe der Gewiſſen wertung mõg⸗
licher Handlungen nicht zum Handeln ſelbſt kommen läßt und
des rüficheslofen Draufgängers, derm umgekehrt das Handeln
nicht zur WSertfchäsung und zur Prüfung der eigenen Motise
zu gelangen erlaubt — ein Top, der ſich im , rück ichesloſen
engliſchen Keleniften fo ſcharf ausprägt. So entſpringt auch
393
der ſchon von Kant hervorgehobene ſtets empfundene englifche
Dualismus von Privatmoral und Staatsmoral. Während
der einzelne Engländer ehrlich, verläßlich, treu, und da, wo er
Freund geworden, auch rückſichtsvoll und hervorragend opfer⸗
fähig iſt — iſt die engliſche Politik ſtets von dieſem allen das
gerade Gegenteil geweſen. Und dieſer Dualismus herrſcht in
einem Maße, das gewaltig hinausgeht über die bei allen
Völkern konſtante, in der Natur der Sache gelegene Ab⸗
weichung von privater und Staatsmoral. Es iſt der ſo
charakteriſtiſche engliſche Individualismus, die Wurzel der
früher gekennzeichneten engliſchen Vertragslehre, der es hier mit
ſich bringt, daß das Gewiſſen in England niemals zu einer
öffentlichen Macht werden kann, fondern ganz auf die Einzel⸗
ſeele lokaliſiert bleibt. Und was ſich im Verhältnis zu anderen
Völkern im Großen ſpiegelt, das äußert ſich innerhalb des
engliſchen Lebens in dem ſchroffen Gegenſatz einer formal
ſehr präzis und korrekt geordneten, aber nach innerem Motio
und Zweck angeſehen, maßlos brutalen und rückſichtsloſen
Geſchäftsmoral; eines ungezügelten merkantilen Geiſtes und
einer tiefen, feinen, grübleriſch⸗romantiſchen Religioſität, ver⸗
bunden mit feinſter ſittlicher Empfindung gegen Freunde,
Familie, kurz gegen alle Perſonen, die den gewaltigen
Trennungsſtrich überſchritten haben, der das engliſche „castle
— house“ (das Bild der „Feſtung“ iſt von einzigartiger
Plaſtik für das engliſche Haus) von aller öffentlichen
Sphäre trennt. Wie mit Caloinismus und Puritanismus,
für die jeder Menſch eine mit Forts und Kanonen befeſtigte
Seelen⸗Inſel — ein kleines England — iſt, und keiner dem
anderen Vertrauen ſchenken darf, da jedes Vertrauen von
304
ee
Menſch zu Menſch, jenſeits rechtlich und vertraglich fundierter
Erwartungen, ſchon als irreligiöſe Verminderung und Be⸗
ſchränkung des wahren Gottvertrauens gilt, dieſen Dualismus
gefördert haben, oder ob umgekehrt, dieſe engliſche Volks⸗
eigenſchaft die puritaniſch-ethiſche Färbung erſt in den Cal⸗
vinismus hineingetragen hat, ſei hier nicht unterſucht. Ein
einziges großes „castle“ iſt aber auch die ganze Inſel ſelbſt für
alle Ausländer. „Für ſeine Landesgenoſſen“ — ſo ſagt ſchon
Kant — „errichtet der Engländer große und allen anderen
Völkern unerhört wohltätige Stiftungen. Der Fremde
aber, der durch das Schickſal auf jenes ſeinen Boden ver⸗
ſchlagen und in große Not geraten iſt, kann immer auf dem
Miſthaufen umkommen, weil er kein Engländer, das iſt kein
Menſch iſt“.
Und wieder entſpricht dieſem doppelten Dualismus jener,
bei dem ſich Gewiſſens⸗ und Handelszentrum auf jene beiden
Ichs verteilt, die W. James das „intime Ich“ und das
„ſoziale Ich“ genannt hat — und zwar fo, daß das Ge:
wiſſenszentrum ganz in das ſoziale Ich des Individuums fällt;
das heißt in England in den „Gentleman“. Der Franzoſe
verſchwindet faſt völlig in feinem „ſozialen Ich“, in feiner
ſozialen „Rolle“. Konverſation und Geſelligkeit iſt der
Wurzelboden auch für das Werden ſeiner Literatur, Kunſt
und Philoſophie. Dieſe ſind immer ein verdichteter Dialog,
eine geronnene Kauſerie. Der Deutſche neigt eher zum Gegen⸗
teil. Er ſetzt an die Leerſtelle ſeines „ſozialen Ich“ Titel und
Amt. Seine Literatur, Kunſt, Philoſophie iſt im weſent—
lichen Werk einzelner, einſam ringender Seelen. Nur im
Engländer bewahren beide Ichs die gleiche Feſtigkeit der
395
Exiſtenz, geraten aber auch bis zur völligen Berührungsloſig⸗
keit auseinander. Das „ſoziale Ich“ ſind ja nicht etwa die
Vorſtellungen und Wertſchätzungen, die andere von uns
haben. Das ſoziale Ich iſt das von jedem erlebte ſoziale
Aktionsich des „Gentleman“ ſelbſt, das für den Engländer
wie eine feſte Subſtanz neben und außer ſeinem intimen
Lebenszentrum ſchwebt. Gerade nach fremden Urteilen und
Bewertungen frägt der „ſtolze“ Engländer äußerſt wenig
— und insbeſondere viel weniger als der ſo gerne herum⸗
horchende Deutſche. Verteilt ſich nun aber Handlungs⸗ und
Gewiſſenszentrum auf dieſe beiden Ichs, fo entftehen fo ein-
zigarfig=englifche cant⸗Figuren, wie fie uns Oskar Wilde
— das tragiſche Opfer des ſich ſelbſt durchſchauenden cants
— in feinem „Dorian Grey“ und in feinem Luſtſpiel „Ernſt“
in den Figuren Dorians und des Lord Pemburry gemalt
hat: Menſchen, die ſchließlich geradezu ein Doppelleben
führen, ein höchſt ehrſames, würdiges, formgebundenes Leben
in der großen Geſellſchaft oder wie Lord Pemburry auf dem
Lande, als Junker und Kirchenvorſtand, und ein Leben in dunk⸗
len Laſterhöhlen Londons — beide Leben aber als gleich echt
empfunden und jedes in ſeinem eigenen regelhaften Stil. Was
aber hier in der Form der poetiſchen Satire und Karikatur als
ſtatiſche Zweiheit vor uns ſteht, das zeigen auch die ganz einzig⸗
artigen zeitlichen Ubergangsrhythmen, wenn eine eben noch ganz
ſteife engliſche Herren⸗ und Damengeſellſchaft „unter ſich luſtig
und ausgelaſſen“ wird. Hinter dem eben noch regierenden
Geſetz einer ſteifen Würde, die ſchon das Geſicht eines jeden
echten Engländers zu einem ſelbſtgeprägten Werk einer langen
Gewolltheit und ſchließlichen Gewohnheit macht, taucht plötz⸗
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ER (KKK ˖0————————
lich ein beifpiellofer Infantilismus, eine Albernheit hervor,
die uns anzeigen, wie ſehr das intime Ich hinter dem ſozialen
des „Gentleman“ in der Entfaltung zurückblieb, und wie
ſehr die engliſche Moral ganz einſeitig eben nur im „Gentle⸗
man“ lokaliſtert iſt. Und derſelbe Dualismus kehrt im großen
wieder im Leben der engliſchen Stadt, allen voran in Lon⸗
don, ſeinem ſchroffen Wechſel von Tugend und Reichtum
mit beiſpielloſem Laſter und Armut und in der faſt unglaub⸗
lichen Art, wie in der erſten dieſer Welten ſchon die bloße
Ex iſtenz jener zweiten Welt und die Regeln ihrer Lebensfüh⸗
rung verleugnet und ignoriert wird. Genau ſo wenig man
in einer Geſellſchaft „Hoſe“ ſagen oder erwähnen darf, daß
dem King irgendwo und irgendwann Illenfchliches nicht
fremd blieb (bei dem Lebemann Eduard VII. war der Gegen⸗
ſatz beſonders poſſierlich), genau fo wenig darf die Exiſtenz der
rieſenhaften Londoner Proſtitution, ſtatiſtiſch die größte der
Welt, und alles, was nur im entfernteſten damit zu tun hat,
öffentlich in Parlament und Preſſe zugegeben und erwähnt
werden. Sie iſt nicht oöx zy aber pn dv. Die dem cant fo eigen⸗
artige Haltung des „Shocking“, die im Gegenſatze zum deut⸗
ſchen „Pfui“ oder dem galliſchen „Fi donc!“ ſchon beim erſten
Geruche, beim erſten Wertparfüm von etwas für die öffentliche
„Moral“ Fragwürdigem es gar nicht zur Wahrnehmung und
Vorſtellung, zum Bilde geſchweige gar zur urteilsmäßigen
Konſtatierung ſeiner Exiſtenz gelangen läßt, durchwaltet wie
den einzelnen auch Preſſe und öffentliche Meinung. Nur
darum haben die ſeltenen engliſchen Geſellſchaftsſkandale
eine fo ungeheuerliche Größe und Entſetzlichkeit, weil die
Kraft des cant die Skandalſchwelle unlauterer Vorgänge
397
fo gewaltig in die Höhe treibt, daß nur die allerſchwerſten
Fälle die Hemmkraft des cant ſprengen und zur Exploſion
zu bringen vermögen. Dazu unterbindet das engliſche Geſetz
bei Beleidigungsprozeſſen nicht nur den Wahrheitsbeweis in
einem für uns Kontinentale unerhörten Maße, ſondern es
gilt überdies in Rechtſprechung und Leben der engliſche Grund⸗
ſatz: „The greater the truth, the greater the libel“. Wird
dieſer dem kontinentalen Ethos widerſprechende Grundſatz nun
gar noch auf diejenige Beleidigung angewandt, die im Vor⸗
wurf der Lüge ſteckt, ſo beſagt dies, man ſei um ſo mehr ver⸗
pflichtet den Schein zu vermeiden, daß man dem Anderen
keinen Glauben ſchenke, je mehr man zur Annahme geneigt
ſei, daß er lüge. Erſpart alſo der cant des Redenden ihm
nicht ſchon die Lüge, ſo hat doch zum wenigſten der cant des
Angeredeten jeden möglichen Vorwurf oder jede Feſtſtellung
einer Lüge auszuſchließen. So wird der „gute Glaube“ hier
ſelber zum Inhalt einer ſelbſtverſtändlichen ſozialen Konven⸗
tion. Die Annahme der Wahrhaftigkeit wird zur „konven⸗
tionellen Lüge“. Je mehr aber dieſer beiſpielloſe ſoziale
Illuſionismus die öffentliche Luft Englands als „rein“, alle
ſozialen Zuſtände als „wohlgeordnet“ erſcheinen läßt, ſo ſehr
nimmt er Kraft und Energie — wie jeder Illuſionismus —
die betreffenden verſteckten Übel tatkräftig zu bekämpfen.
Möchte ſelbſt der allgemein menſchlichen Tatſache, daß die
öffentliche Moral ſtets weit ſtrenger und enger iſt, als Hand⸗
lung und Urteil des Einzelnen, eine gewiſſe ſoziale Zweck⸗
mäßigkeit nicht abgeſprochen werden, der engliſche cant, der
dieſe Differenz ins äußerſte Extrem ſteigert, wendet ſelbſt
dieſen konſtitutionellen Phariſäismus allen „ſozialer“ Moral
398
in Unzweckmäßigkeit um. Er bewirkt jene äußerſt fonder-
baren — sit venia verbo — Verſtopfungserſcheinungen, an
denen nicht nur die engliſche Verdauung, an dem auch die eng⸗
liſche Seele und Geſchichte fo auffällig leiden. In Indivi⸗
duum, Familie, Gemeinde, Staat freſſen die Übel, welche
die Illuſtonskraft des cant verdunkelt, weiter und weiter —
nur weil der Angriff, fie abzuwenden eine momentane Über⸗
windung des cant, ſchon als Vorausſetzung der zu ihrer Ab⸗
wehr nötigen Anerkennung ihrer Exiſtenz fordern würde.
Und es iſt wieder derſelbe cant, der in der engliſchen Ver⸗
faſſungsgeſchichte zu analogen Erſcheinungen führt: zur Un⸗
fähigkeit, Altes, Überlebtes, z. B. einzelne Geſetze und Ge⸗
wohnheitsrechte, ſo vieles die lebendige Tätigkeit des Staats⸗
oder Gruppenorganismus nur Belaſtendes auszuſcheiden; zu
all jener Erhaltung und Galvaniſterung leerer Formen im
Staats-, Gemeinde⸗ und privaten Rechte, z. B. im Ver:
hältnis des Königs zum Volke, — Formen, die längſt über⸗
flüſſig geworden ſind. Noch heute gebietet, — trotzdem
England eher Republik als Monarchie iſt — der cant des
engliſchen Volkes dem auch im König wieder ſtillſchweigend
vorausgeſetzten cant, daß ſich der König in Formen verehren
und etikettieren laſſe, die nur dem alten vorrevolutionären
abſoluten Monarchen anſtanden. Der König muß ſich
mit feinen mageren Revenüen ſcheinbar zufrieden geben und
doch beiſpielloſen Reichtum und Freigebigkeit heucheln.
Noch heute ſpielt der Richter in feiner uralten roten AUmts-
tracht mit der Perücke auf dem Kopf die ſeiner Bedeutung
längſt nicht mehr angemeſſene Rolle eines römiſchen Prä⸗
tors. Aber eben nur in der Form des cant wird dieſer eng:
399
liſche Traditionalismus, dieſer Gewohnheitsglaube, der auch
die geſamte engliſche Moralphiloſophie bis zu Bain, Mill
und Spencer durchzieht, — der einen David Hume nicht davor
zurück ſcheuen ließ, felbft die Kauſalverknüpfung auf „Gewohn⸗
heit“ zurückzuführen, dem faktiſch ſo tatkräftigen und dem
Rufe der Stunde folgenden Engländer erträglich. Denn
dieſer Traditionalismus ſchleppt nur die entleerte Form ſo
pietätvoll und verehrungsvoll im Scheine weiter, überläßt aber
die faktiſche Zweckſetzung des Willens um ſo mehr einer ganz
prinziploſen opportuniſtiſchen, klugen und geſchickten Anpaſſung
an die momentane Realität.
Von einer beiſpielloſen Wirkung, die noch viel zu wenig
beachtet wurde, war der cant in der Geſchichte der engliſchen
Philoſophie. Die durch das ganze ſpätere Mittelalter gehende
Lehre von einer „zwiefachen oder doppelten Wahrheit“ — ihr
Urſprung, wahrſcheinlich in Italien iſt noch nicht genau feſt⸗
geſtellt — hat nirgend eine ſo große Bedeutung und Aus⸗
breitung gewonnen als in der Philoſophie und Denkweiſe des
Inſelvolkes. Bald iſt es der Gegenſatz einer „natürlichen“
und „geoffenbarten“, bald jener einer „theoretiſchen !“ und
„praktiſchen“ Wahrheit, der die engliſchen Gedankenſyſteme
ſchon ſeit Roger Bacon und Franz Bacon wie ein roter
Faden durchzieht. Der franziskaniſche Skotismus und Okka⸗
mismus, der das Gute auf autoritäre, grundloſe Willensakte
Gottes zurückführt — das Gute alſo aus dem „Weſen“ der Gott⸗
heit herausverlegt — wird bald in dieſer religiöfen Form, bald
in der naturaliſtiſchen des Hobbes, bei dem an Stelle Gottes
für die Logik die konventionelle Setzung und Definition, für die
Ethik der Wille des Staatsſouveräns tritt, geradezu ein Erb⸗
400
gut in der Hauptkette der engliſchen Denker. In diefen Lehren
rechtfertigt ſich der Konventionalismus, die bloße Form⸗ und
Scheinhaftigkeit, die ſoziale Idolatrie der engliſchen,, Moral“
auch vor dem philoſophiſchen Bewußtſein. Hier ſchon tritt
jene ganz eigenartige Hypoſtaſterung einer wie in der Luft
ſchwebenden „Moral“ zu einer bösartigen alten Tante hervor,
die man um keinen Preis „verletzen“ darf — und die dabei doch
niemand hat oder zu haben braucht. Dieſer Konventionalis⸗
mus theologiſch oder weltlich gewandt, findet ſich bei den beiden
Bacons, bei John Locke, Thomas Hobbes, Berkeley und bei
Daoid Hume. Er erhält auch im Denken des Volkes durch
die calbiniſtiſche Religioſttät und Theologie, die in Gott ganz
einſeitig den ſouberänen grundloſen Machtwillen verkörpert
ſieht, eine ſtarke Stütze. Vor allem aber tritt die doppelte
Moral wie der Konventionalismus in der zweidentigen Hal⸗
tung hervor, die faſt alle engliſchen Denker der Religion
gegenüber, bis zu Darwin und A. James Balfour einnehmen.
Senſualiſtiſche Untergrabung der geiſtigen Wurzeln aller
echten Religion findet ſich verbunden mit Verbeugungen vor der
Offenbarung, die in der inneren Logik der Gedankenſyſteme keine
Wurzel haben. Häufig geſellt ſich dazu eine erhebliche Erwei⸗
terung der Kompetenz der Offenbarung auf Fragen, für deren
Löſung man zuerſt die Vernunft und die Anſchauung als in⸗
kompetent glaubt nachgewieſen zu haben. Iſt dieſe Haltung
ſchon bei Bacon und John Locke ganz und gar durch jenen
cant geleitet, der ſichtbarlich die Religion nur als notwendigen
Beſtandteil einer ſozialen Konvention und als Grundlage der
ſozialen Inſtitutionen ſchätzt, ſo wird ſie bei David Hume
geradezu widerlich. Für Hume beruht ſelbſt der Glaube an
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die Außenwelt, an das Ich, an die Subſtanz und Kauſalität
nur auf einem zweckmäßigen cant unſeres Bewußtſeins; auf
einem Syſtem biolog zweckmäßiger Selbſttäuſchungen. So
z. B. ſoll unſer Glaube an einen von dem Inhalt der
Wahrnehmung verſchiedenen dauernden Gegenſtand auf zwei
Täuſchungen beruhen: die erſte Täuſchung führe uns dazu,
ein zeitlich dauerndes und kontinuierliches Sein dem Inhalte
zuzuſchreiben. Dieſe Annahme aber führe uns — indem wir
den zeitlichen Wechſel der Perzeptionen wieder bemerken, den
wir vorher überſahen, zum Widerſpruch, daß ein und dasſelbe
Etwas kontinuierlich exiſtiere und nicht kontinuierlich exiſtiere.
Dieſen Widerſpruch löſten wir durch eine zweite Täuſchung,
der Scheidung einer Vorſtellung und einer von ihr abgetrenn⸗
ten Subſtanz. (Traktat, Teil 2, 6. Abſchnitt.) Wäre auf
dieſe Gedankenkette — deren fachlicher Wert hier unberück⸗
ſichtigt ſei — ein franzöſiſcher Forſcher gekommen, er würde
uns mit aller Beredſamkeit ermahnen, daß wir uns doch von
dieſen Täuſchungen frei machen ſollen. Ganz anders der cant
Humes. Es fällt ihm gar nicht ein, dieſen für das „Leben
zweckmäßigen Glauben“ erſchüttern zu wollen. Nein! „Sorg⸗
loſigkeit und Nichtachten auf die Zweifelsgründe, das allein
kann uns heilen. Auf fie baue ich hier denn ganz und gar;
ich ſetze demnach aufs beſtimmteſte voraus, daß jeder meiner
Leſer, was immer ſeine Anſchauung im gegenwärtigen Augen⸗
blick ſein mag, nach einer Stunde überzeugt ſein wird, es gäbe
eine äußere und innere Welt. Dies iſt auch die Vorausſetzung
von der ich ausgehe“ (Seite 287 in der Überfegung von
Lipps). Oder Bain will uns zeigen, daß das Mitleid auf
der momentanen Gefühlsilluſton beruhe, der Zuſchauer leide
402
felber den Schmerz, den er leiden ſieht; J. St. Mill, daß
„Liebe zum Guten um feiner felbft willen“ — ähnlich wie der
Geiz — auf einem Vergeſſen der egoiſtiſchen Luſtprämien be⸗
ruhe, die in einem früheren Entwickelungsſtadium dieſelben
Handlungen beſaßen. Auch Männer, wie Larochefoncauld
oder der Deutſche Paul Nee geraten auf ähnliche Gedanken⸗
gänge. (Siehe ihre ſachliche Widerlegung in meinem Buch
über Sympathiegefühle.) Aber das iſt der Unterſchied, daß der
Deutſche und der Franzoſe, wenn fie ſolches annehmen, den
Kampf gegen dieſe „Illuſton“, gegen diefe „Vergeßlichkeit“
der Zwecke über die Mittel predigen, wogegen die Herren Eng⸗
länder den cant von uns fordern, dieſe illuſtonäre Selbſtverwechſ—
lung und dieſe Vergeßlichkeit auch nach vollzogener beſſerer
Einſicht weiterzutreiben und uns ſelbſt dabei noch „gut“ vorzu⸗
kommen. Hier iſt der Bruch in dieſem keltoromaniſch⸗germa⸗
niſchen Miſchgewiſſen des Engländers. Aber erſt in der Gegen⸗
wart hat der cant auch in dieſer Linie ſeinen vollen Sieg er⸗
rungen. Werke wie die „Soziale Evolution“ von Kidd,
der den Glauben als notwendiges Mittel im Daſeinskampf
der menſchlichen Gruppen feiert, oder wie A. J. Balfours
„Grundlagen des Glaubens“, der auf eine ganz billige Er⸗
kenntnistheorie eines wurmſtichigen Skeptizismus die Fahne
der „Autorität“ und der „Gewohnheit“ der Hochkirche auf—
pflanzen will, ſind die äußerſten Ausgeburten der Zweiwahr⸗
heitslehre des cant, die ſich nur denken laſſen. Auf die deutſche
proteſtantiſche Theologie hat dieſer cant ſchon merkbar genug
abgefärbt, beſonders auf die Schule A. Ritſchls. Ritſchl's
Lehre von den „religiöſen Werturteilen“, die dem Prediger
erlaubt zur Gemeinde zu ſagen: „Chriſtus iſt wahrhaftiger
26* 403
Gott! aber mit der reservatio mentalis „dem Werte nach“,
geſtattet auf wunderbare Weiſe eine nicht beſtehende Ein⸗
ſtimmigkeit zwiſchen Prediger und Gemeinde vorzutäuſchen.
Wie zum engliſchen Stolze, der das Hilfsmittel des
cant erwählt, um ſich gegen peinliche hiſtoriſche Erinner⸗
ungen zu ſchützen, hat der cant auch ſehr tiefe Beziehungen
zu dem, was man in England „Glauben“ (belief) und
„Charakter“ nennt. Beides zuſammen bildet einen eigenar⸗
tigen ſeeliſchen Zuſammenhang mit der ſprichwörtlichen „Bor⸗
niertheit“ des Inſelvolkes. „Borniertheit“, die man ebenſo
wohl von Dummheit als von dem außerintellektualen „Eigen⸗
ſinn! unterſcheiden möge, kommt den Engländern wie keinem
anderen Volke zu. Wendungen wie „Glauben Sie an
dieſes techniſche Verfahren“, „Glauben Sie an dieſe Medi⸗
zin“, „Glauben Sie an Scszialismus“ treten dem Deut⸗
ſchen zu feiner Verwunderung in allen Klaſſen der Gefell-
ſchaft entgegen. Solche Fragen, bezogen auf ganze Gebiete
von Wiſſen und Leben und in dieſer Häufung wiederholt,
erſcheinen anderen Völkern darum ſo unfaßlich, weil es uns
Allen ſelbſtverſtändlich iſt, daß hier doch allein Erfahrung
und Wiſſen entſcheiden könne und wir uns des Urteils eben
zu enthalten pflegen, wo uns dieſe Baſis fehlt. Anders der
Engländer: er will weniger die Welt erkennen als ſich mit ihr
abfinden. Darum heißt es gerade bei ihm fo leicht „stat pro
ratione voluntas“. „Stellungnahme“, „Überzeugung“ (be-
lief) in allen Dingen — auch wo man nichts weiß und ver⸗
ſteht — frühe feſte Abrundung ſeines Weltbildes in ſeiner
Geiſtesentwickelung, wenn auch um den Preis größter Geiſtes⸗
enge, gilt ihm als Erfordernis des „Charakters“. „Der
404
Charakter der Engländer — urteilt ſchon Kant äußerſt fein —
dürfte nichts anderes bedeuten als den durch frühe Lehre und Bei⸗
fpiel erlernten Grund ſatz, er müſſe ſich einen ſolchen machen,
d. i. einen zu haben affektieren; indem ein ſteifer Sinn, auf
einem freiwillig angenommenen Prinzip zu beharren, einem
Manne die Wichtigkeit gibt, daß man ſicher weiß, weſſen
man ſich von ihm und er ſich von anderen zu gewärtigen hat“.
Die engliſche „Borniertheit“ iſt im Gegenſatze zur „Dumm⸗
heit“, d. h. zu ſchlechter intellektualer Anlage, die wir dem
Engländer durchaus nicht nachfagen dürfen, und im Gegen-
ſatze zu mangelnder Bildung und Wiſſen eben die Folge⸗
erſcheinung jenes ſyſtematiſchen und gewollten Sichverſchließens
gegen neue Erkenntnisinhalte und gegen jede reine, hingebungs⸗
volle und liebevolle Aufnahme des großen Bildes der Welt. Ein-
grenzung des Geiſtes in die praktiſch⸗merkantilen Kategorien
des „common sense“ iſt aber nur die andere Seite, — gleich⸗
ſam das Negativ zum moraliſchen cant. Beide beruhen auf
derſelben organiſchen Uberbetonung des in die Intereſſen⸗ und
Wunſchſphären „paſſenden“ Weltinhalts und auf organifcher
Unterdrückung des „Unpaſſenden“. Für den reiſenden Eng⸗
länder behalten auch die Alpen, der Lago Maggiore, das
Gangesufer oder die Wüſte genau das Relief jener möglichen
praktiſchen Verwertbarkeitseinheiten, die ihm zu Hauſe in
London die Auslage eines Kauf hauſes oder der Blick auf
die Themſe bieten. All dies iſt ihm mögliche Induſtrie.
Fehlen aber ſpezifiſchere Intereſſen am Geſehenen, ſo über⸗
hebt ihn das Vergnügen, die Identität jener Dafe oder
jenes Berggipfels mit der vollendeten Ordnung dieſer Dinge
auf ſeiner Landkarte oder in ſeinem Baedeker feſtgeſtellt zu
405
haben, des weiteren Vergnügens, ſich dieſe Dinge auch
noch anzuſehen. Auch dieſe Züge des engliſchen Weſens
ſpiegelt die engliſche Philoſophie ſehr inftruftio ab. Die
philoſophiſche Theorie des Urteils hat am Urteil von jeher, bis
zu J. St. Mill ganz einſeitig das Moment der „ÜUberzeu⸗
gung“ oder des „Glaubens“ (belief) hervorgehoben. Seine ob⸗
jeftive Seite, ſowie die in ihm enthaltenen gedanklichen Be⸗
ziehungen wurden vernachläſſigt. Auch theoretiſch kommt dem
Engländer das Urteil in die nächſte Machbarſchaft einer Art
vou Willensentſcheidung und „Stellungnahme“. Macht
Adam Smith die Bemerkung, daß ſich die Weltanſchauung
der Menſchen nicht nach Einſicht und Gründen, ſondern ganz
und gar nach ihren vorherrſchenden Intereſſen und Arbeits⸗
richtungen (Berufen uſw.) beſtimme, fo gibt er natürlich nur
eine vorwiegend engliſche Beobachtung wieder. Eine gewollt
bornierte Genügſamkeit in der Erkenntnis aber iſt ſeit Bacon
das Hauptkennzeichen aller engliſchen Philoſophie. Bacon
hält die Aſtronomie für eine „eitle Sache“, da fie zur Herr⸗
ſchaft über die Erde nichts beitrage. Die Aſtronomie des Fix⸗
ſternhimmels will er ganz verwerfen, da die Fixſterne zu weit
weg ſeien, um noch unſer Intereſſe zu verdienen. John Locke
hebt in ſeinem „Verſuche über den menſchlichen Verſtand“
immer wieder hervor, daß wir die Welt nur ſoweit erkennen
follen, als dadurch das „menſchliche Glück“ noch berührt werde,
als fie unſere Umgebung ſei — und alles darüber hinaus ſollen
wir dahingeſtellt ſein laſſen oder der Offenbarung überlaſſen.
Die engliſchen Denker, die über die „menſchliche Natur“ Trak⸗
tate ſchrieben, beſchreiben im Intellektuellen wie Sittlichen
durchaus nur typiſche Durchſchnittsbilder des Engländers — fo
406
daß das Wort, das Shaw in feinem Luſtſpiel „Cäſar und Cleo
patra“ Cäſar in den Mund legt, Cäſars Sekretär, Britan⸗
nicus, „verwechſle die Sitten feiner Inſel mit Naturgeſetzen“
hier buchſtäblich wahr wird. David Humes Traktat und
ſeine Geſchichte Englands ſind einzigartige Beiſpiele für dieſe
„Borniertheit“. Man beachte z. B. nur ſeine merkantile Ab⸗
leitung der Ehre als Steigerung der Kreditfähigkeit im zwei⸗
ten Teil des Traktats und ſeine köſtlich bornierte Schilderung
der deutſchen Reformation, beſonders der Perſon Luthers, den
er zu einem eitlen Schulmeiſter macht, der aus Philologen⸗
ehrgeiz die beſte Bibelüberſetzung liefern wollte, dann aber
über ſeinen urſprüng lichen Zweck immer weiter hinausgetrieben
wurde — bis zum Bruch mit dem Papſttum. Darwin und
Spencer verfallen — auf höherem Stockwerk — genau der⸗
ſelben Bornierheit, wenn fie das Milieu der menſchlichen Dr-
ganiſation auch dem geſamten organiſchen Leben zugrunde⸗
legen und die Organiſationsmerkmale der Arten auf kumu⸗
lierte Anpaſſungsmerkmale an — das Menſchenmilien zu⸗
rück führen wollen. Überall zeichnet fo der Engländer einen
gewollt engen Daſeinsraum um ſich herum. Er macht das
Sein zur Natur, die große Natur zur kleinen Natur der
menſchlichen „Umwelt“, dieſe ſelbſt wieder zur menſchlichen
Vorſtellung und Senſation von ihr, die Erde zu ſeiner Inſel
und den Menſchen — wie Kant fo treffend ſagt — „zum
Engländer“.
Eine wundervolle Verbindung von cant, Borniertheit, Ge⸗
wohnheitsglaube und Mützlichkeitsgeiſt aber iſt der ſeit einigen
Jahren in Mode gekommene engliſch⸗amerikaniſche ſogenannte
Pragmatismus, der gewiſſe ſchon ſtark mit cant verſetzte Metho⸗
407
den der engliſchen Phyſiker des 19. Jahrhunderts zu dem erwei⸗
tern wollte, was die Engländer für eine „Weltanſchauung“
halten. Der cant jener phyſikaliſchen Methode beſtand darin, daß
man die Phyſik bewußt von der Aufgabe entband, die Reali⸗
tät der Natur zu erkennen und damit das, was man früher
„Hypotheſe“ nannte (eine wahrſcheinliche Annahme über die
Realität) zu einer zwiſchen Sein und Nichtſein ſchwebenden
opportuniſtiſchen ſogenannten Hilfsvorſtellung oder einem
„mechaniſchen Bild“ (Maxwell, Lord Kelvin) machte — zu
einem „Bilde“, das nur „eine momentane Zuſammenfaſſung
der Tatſachen“ ſein und nicht Wahrheit geben, ſondern den
„Fortſchritt der Wiſſenſchaft bewirken“ ſollte (Maxwell).
Nachdem dieſe Methode eine Zeitlang auch bei uns ſtark in
Schwang kam (Machſche Schule), iſt gegenwärtig der ge⸗
ſunde Geiſt unſerer Forſcher — beſonders Planck hat fie ſcharf
bekämpft — daran, ſie auszuſcheiden. Der ſogenannte „Prag⸗
matismus“ aber erhob jenen Verſuch, an Stelle echter Er⸗
kenntnis der Natur gewiſſe kluge Manöver zu ihrer momen⸗
tanen Beherrſchung und Ordnung zu ſetzen, ſogar bis zur
ſyſtematiſchen Umdeutung der Idee „Wahrheit“ zu „Brauch⸗
barkeit“. Der Pragmatismus wurde damit aber freilich nur
zum enfant terrible der engliſchen Erkenntnistheorie überhaupt
— auch eines großen Teiles der Erkenntnismethoden der älteren
Forſcher, die noch für „Wahrheit“ (im alten Sinne) aus⸗
gaben, was faktiſch nur brauchbar war. Der cant dieſer
Richtung beſteht nicht darin, daß ſie Fiktionen und gewiſſe
„Bilder“ als für die exakte Forſchung zweckmäßig aufweiſt.
Er liegt darin, daß ſie alle Wahrheit in ſolcher Zweckmäßig⸗
keit beſtehen läßt. Es iſt ein gewaltiger Unterſchied, wenn
408
Friedrich Nietzſche die ſynthetiſchen Urteile a priori als „lebens⸗
fördernde Lügen a priori“ aufdecken will und Vaihinger in
ſeinem Buche „Die Philoſophie des Als Ob“ eine bewußte
Theorie der Fiktion begründen will, d. h. den Wert der be⸗
wußten Fiktion in den Wiſſenſchaften herauszuſtellen ſucht
(obzwar wir dem Verſuche Vaihingers philoſophiſch nicht
folgen können). Denn eben indem dieſe Forſcher von „Lüge“
und „Fiktion“ reden, zeigen ſie, daß ſie die Idee der Wahr⸗
heit dieſen Dingen entgegenſetzen. Der cant beſteht darin,
den cant der Fiktion als bloßen cant zu leugnen und zu ſagen,
es gäbe gar keine andere „Wahrheit“.
Aber viel leichter ſichtbar noch iſt der cant in der engliſchen
Moralphiloſophie, deren ſeltene Fülle und Feinheit der
Menſchenbeobachtung noch erheblich gewänne, wenn nicht
auch ſie gar zu leicht den Engländer mit dem Menſchen
verwechſelte. Niemand hat dies klarer erkannt als Friedrich
Nietzſche. In ſeinem „Jenſeits von Gut und Böſe“ und
ſchon in der „Genealogie der Moral“ kommt er immer
wieder darauf zurück, daß ſich „in die engliſche Morallehre
jenes alte engliſche Laſter eingeſchlichen hat, das cant heißt
und moraliſche Tartüfferie iſt, diesmal unter die Form der
Wiſſenſchaft verſteckt“. Ein Adam Smith bemerkt gar
nicht, daß er nicht das Gewiſſen, ſondern nur ſein engliſches
Surrogat, den cant, in ſeiner Lehre von den moraliſchen
Empfindungen beſchreibt. Lob und Tadel des eigenen Ge⸗
wiſſens ſoll nach Smith dadurch entſtehen, daß ein A, der
einen B ſchädigt (ſchlägt, beſtiehlt, beraubt), die ſympathetiſche
Mitempfindung des „unbeteiligten Zuſchauers“ mit dem
Rachegefühl des B gegen A und den darauf folgenden Tadel
409
des Zuſchauers gegen A felbft wieder ſympathetiſch (durch
ſogenannte „reflexive Sympathie“) mitempfindet — alſo
durch dieſe pſychiſche Anſteckung ſeitens des Zuſchauers ſich
ſelbſt tadelt. Natürlich wird hierbei das echte „Gewiſſen“
nicht abgeleitet, ſondern vorausgeſetzt. Wohl aber wird das
Streben, einem „unbeteiligten Zuſchauer “ ein ſittlich günſtiges
Bild darzubieten und die echt engliſche Neigung, auch im
einſamen Verhalten zu ſich ſelbſt ſich „vor dem Auge“ der
„öffentlichen Meinung“ zu gewahren, das heißt eine ganz ſpe⸗
zifiſche Form des cant, hierdurch verſtändlich gemacht. Das
Gewiſſen ſoll erklärt werden — und ſein engliſches Surrogat
der cant wird faktiſch erklärt.
Nicht ſo ganz richtig iſt Nietzſches Bemerkung, wenn
er in dem engliſchen Moralutilitarismus (er nennt Bentham)
cant findet. Zwar hat er darin recht, daß der engliſche
Moralutilitarismus nur auf Grund des engliſchen cant als
des engliſchen Volksethos begreifbar iſt. Und doch iſt der
cant gerade der eigentliche Gegner des Utilitarismus, — ein
Gegner freilich, der zugleich den moraliſchen Geſichtskreis
des Utilitariſten bedingt und bindet, und nur inſofern auch
wieder im Utilitarier ſelber ſteckt.
Wer den jahrhundertelangen Kampf des aufkläreriſchen
engliſchen Moralutilitarismus und des meiſt religiös chriſtlich⸗
puritaniſch oder quäkeriſch fundierten cant ganz durchſchaut
hat, der hat eine welthiſtoriſche Moral-Poſſe kennen gelernt,
die ihresgleichen ſucht. Die Poſſe beſteht auf dürre Formeln
und von jener Heiterkeit entkleidet, die ihr nur die An⸗
ſchauung des Lebens ſelbſt zu geben vermag, gebracht in
folgendem. Der Phariſäer des cant ſagt nicht: „Das Gute
410
ift das Mützliche!“ Ach nein, beileibe nicht! Wohl trifft
er mit ſeinem lebendigen Urteil in concreto, wo er „gut“
ſagt — merkwürdigerweiſe — immer gerade das Mützliche!
Aber er „meint“ es nicht — und er ſagt es auch — beileibe
nicht. Er „meint“ vielmehr das „Gute“ ſelbſt, das „Gute
an ſich“, das gerade der Menſch des cant am bedacht:
ſamſten von dem „gemeinen“ Mützlichen und von den eigenen
Intereſſen unterſcheidet. Dieſes Gute iſt ihm das „oft:
gewollte“ oder das durch eine ewige Sanktion des Gewiſſens
unmittelbar Einleuchtende, einer ewigen Ordnung des Rechten
Eutſprechende. Denn — und hier iſt der Springpunkt ſeines
cant es iſt ja durchaus nicht nützlich, dasjenige nur „nützlich“
für ſich ſelbſt anzuſehen und gar auch zu nennen, was faktiſch
nur nützlich iſt. Im Gegenteil, gerade das zu tun, iſt äußerſt
ſchädlich! Es iſt ſchädlich, da das Zugeſtändnis, dieſer Mann
fei einem nützlich oder die Handlung jenes Mannes fei einem
„nützlich“, ja den ſtillſchweigenden Verzicht einſchließt, daß
dieſer Mann und dieſe Handlung auch von allem anderen,
was Menſchengeſicht trägt, gelobt, geliebt und gefördert
werde. Denn nur im „ſittlich Guten“ oder doch als ſolchem
Vorgeſtelltem ſteckt dieſe Forderung nach unbedingter all:
gemeiner Anerkennung und Förderung von Hauſe aus.
Außerſt nützlich aber iſt es, dasjenige, was einem ſelber
nützlich iſt, — nicht etwa „nützlich“, ſondern gerade „ſitt⸗
lich gut“ zu nennen. Denn dieſes Verfahren ſtellt urbi et
orbi, ſtellt die ganze Welt, bis hinauf zu den Engeln und
zu Gott in den ſelbſtverſtändlichen Dienſt der partikularen
Intereſſen des Redenden. Und auch das iſt äußerſt nützlich,
ſich ſelbſt zu verbergen, daß man nur in der Richtung des
411
Nützlichen und feiner Intereſſen handele. Es iſt nützlich,
wenigſtens unter dem Schein des Guten zu handeln: denn
dies erteilt eine ganz andere Energie und Kraft des Handelns
und eine weit höhere Glaubwürdigkeit. Gerade in der Kunſt,
fein Handeln nur vom Nützlichen bewegen zu laſſen — aber
es zugleich mit „heiliger Überzeugung“ niemals und um keinen
Preis „nützlich“ ſondern gerade gut und gottgewollt zu nennen,
ja es felber wohl noch fo anſehen zu können — darin gerade be⸗
ſteht der eigentliche cant. Denken wir uns nun in einem Volke,
in dem dieſer cant zur inneren Konſtitution ſeiner ethiſchen
Verfaſſung geworden iſt, einige kluge, ehrliche dürrproſaiſche
Männer herumgehen, die dieſes Treiben objektiv — wie von
außen — beobachten. Sie machen gleichſam in einem Notiz⸗
buch Aufzeichnungen darüber, welche Handlungen denn
eigentlich in dieſem Volke „gut“ und „böſe“ genannt werden.
Schotten wie A. Smith, David Hume, James und John
Mill, eignen ſich ſchon beſſer dazu als Engländer — und
noch beſſer eignen ſich dazu Iren wie Bernard Shaw.
Was werden dieſe Herren finden? Sie werden finden, daß
der einheitliche objektive Begriff und der Oberſatz, unter
welche die hier „gut“ genannten Handlungen und Maximen
zu bringen ſind, das „Nützliche“ iſt, die „böſe“ genannten das
jeweilig „Schädliche“. Nun auf eben dieſe Weiſe entſtand
der engliſche Moralutilitarismus. — Er iſt nicht ſelbſt cant,
wie Nietzſche meint. Er iſt im Gegenteil das enfant terrible
des cant, das fein Geheimnis ausſchwatzt. Der Utilitarift iſt
alſo der ehrliche, aber durch Generaliſierung des in England
Beobachteten auf die „menſchliche Natur“, durch Generali⸗
ſierung engliſcher Sitten zu uniberſalen Geſetzen freilich ſehr
412
oberflächliche und eben durch den Gegenſtand feiner Kritik
ſelbſt ſehr bornierte Verräter des cant. Der engliſche Utili⸗
tariſt enthüllt das Geheimnis des engliſchen cant — würdigt
aber freilich, da er ſeine Idee des Menſchen zum Engländer
verengte, die Moral ſelbſt zum Nützlichen herab. Aber daß
er ſo den cant enthüllt, — das iſt nicht cant, das iſt ſein
Gegenteil. Wohl aber wird der Utilitarier durch ſein Ver⸗
fahren in einen faſt burlesken logiſchen Widerſpruch ge⸗
trieben, den der logiſch konſequentere Menſch des cant
gerade vermeidet. Dieſer Widerſpruch beſteht darin, daß
er ſelbſt ſeinem eigenen utiliſtiſchen Prinzip praktiſch wider⸗
ſtreitet. Und gerade darin widerſtreitet er ihm, indem er den
Akt der Aufſtellung der Theſe des Utilitarismus öffentlich
vollzieht. Der Theſe: „das Gute iſt das Mützliche“. Denn
nicht nützlich, ſondern ſchädlich iſt es ja, das faktiſch Nütz⸗
liche nur „nützlich!“ — und nicht wie der Menſch des cant,
gerade es „gut“ und „gottgewollt“ zu nennen. So handelt
zwar der Utilitariſt noch im echten Sinne „gut“, indem er
dieſe Theſe aufſtellt — aber er widerſtreitet damit zugleich
ſeinem Prinzip, indem er ja eben äußerſt „Schädliches“ tut.
Alſo bilden der Menſch des cant und der Uttilitariſt, jeder
des anderen wundervolles Pendant! Ein Paar, das ſich gegen⸗
ſeitig bedingt — beide engliſch, beide borniert — aber doch
jeder das Negativ vom anderen. Der Menſch des cant
hat theoretiſch recht. Das Gute iſt wirklich nicht das
Mützliche. Aber er iſt praktiſch unanſtändig, da er nur das
Mützliche tut und das Gute zu tun nur vorgibt. Der Uti⸗
litarier irrt theoretiſch, wenn er meint, „das Gute iſt das Mütz⸗
liche“. Aber er iſt ein praktiſch höchſt anſtändiger Menſch,
413
der zu feinem Irrtum nur darum kommt, weil er im Volke
des cant lebt und ſein Nachdenken auf dieſes Material be⸗
ſchränkt. Nicht der engliſche Utilitarismus iſt alſo anzu⸗
klagen, wie ſo oft unſere deutſchen idealiſtiſchen Philoſophen
in ihren Schulbüchern wimmern. Die engliſchen Utilitariſten
— Männer wie Jeremias Bentham, die Mills uſw. — waren
nachweisbar die anſtändigſten, verdienſtvollſten Männer ihres
Landes. Klage verdient vielmehr das düſtere Schickſal, in
einem Volke zu leben, in dem der platte Utilitarismus die
einzig mögliche Form iſt, um ein anſtändiger Menſch und zu⸗
gleich ein Patriot zu ſein.
Nicht vom „Utilitarismus“, — ſondern vom cant war aber
auch die engliſche Politik ſtets geleitet. Sie iſt das gerade
(aber nicht beſſere, ſondern ſchlimmere) Gegenteil derjenigen
Form der Politik, die man die kyniſche nennen könnte,
d. h. des Machiavellismus, des ausgeſprochenen politiſchen
Machtegoismus. Daß Machiavelli trotz ſeiner tiefen ſitt⸗
lichen Irrungen, die ſchon Friedrich der Große geißelte, einen
gewaltigen Fortſchritt der politiſchen Moral in einem Punkte
bedeutete — dies hat man in England trotz Th. Hobbes nie
begriffen. Dieſer eine Punkt iſt die Trennung von Privat⸗
und Staatsmoral. Die engliſche Politik hat zu allen Zeiten
im Gegenſatz zum Bismarck ſchen Prinzip der politiſchen
Ehrlichkeit, — ein Prinzip, das gleichwohl der Moral des
„principe“ fo unendlich ferne ſteht wie dem cant daß jeder
Staat nur für ſein eigenes Heil zu ſorgen habe und nie für
das „Weltbeſte“, das Prinzip des cant vertreten: das Prin⸗
zip, daß es für das „Weltbeſte“, zur „Verbreitung der Kul⸗
tur“, für „die Rechte fremder Völker“ (jetzt Serbiens und
414
Belgiens) feine Kriege führe; ja jetzt gar nur deshalb, um dem
armen Deutſchland den chriſtlichen Liebesdienſt zu tun, es vom
preußiſchen Militarismus zu befreien. Analog lehrte es im
18. Jahrhundert die Welt das für eine Inſel, die ſich nicht
ernähren kann, gemeinhin nützliche Freihandelsprinzip — trieb
aber ſelbſt dabei nachweislich Schutzzollpolitik. Die engliſche
Kunſt, fremde Völker für Englands Intereſſen arbeiten zu
laſſen, fie aber zugleich mit der feſten Überzeugung zu durch⸗
dringen, daß fie dabei nicht für England, ſondern für die
eigenen Intereſſen und am göttlichen Weltplan arbeiteten,
war ſowohl den kontinentalen Staaten (Gleichgewichts⸗
methode) als den von ihm unterjochten Kolonialvölkern
gegenüber ſtets von bewunderungswerter Feinheit und gleich⸗
zeitig genau der oben gegebenen Formel des „cant“ folgend.
Es iſt dabei ganz richtig, daß es bei ſeiner Koloniſation —
wie man ſagt — „die Freiheit der fremden Völker zu ſchonen“
verſtand. Man denke nur an die kluge Behandlung der indi⸗
ſchen Fürſten. Es iſt ganz richtig, daß ſeine Kunſt kalmierender
Verwaltung unerreicht daſteht und daß es die Idee des eng⸗
liſchen geheiligten Hauſes, in dem jeder ſicher iſt und tun
kann, was ihm beliebt, bei dieſer Gelegenheit in alle Fernen
trug. Aber es iſt nur wieder der alte cant, wenn der Eng⸗
länder dies Verfahren wahrhafte „Kulturverbreitung“ nennt.
Umgekehrt enthält dieſe Methode den prinzipiellen Verzicht
auf die Verbreitung echter Kultur, iſt ſie das ſyſtematiſche Ge⸗
nügen daran, die Völker nach ihrer eigenen roh⸗naturgegebenen
Art, aber unter Verbreitung eines gewiſſen allgemeinen Wohl⸗
gefühles unter ihnen wie eine nützliche Schaf herde weiterexiſtie⸗
ren zu laſſen und ſinnig zu weiden. Dieſer ſyſtematiſche Ver⸗
415
zicht auf Kulturformung der Welt war es, was die großen eng⸗
liſchen Koloniſationserfolge zeitigte. Nur dieſe Tatſache er⸗
klärt auch die Paradorie, daß der Engländer trotz feiner Starr⸗
heit, trotz ſeiner einzigartigen Unfähigkeit fremdes Volkstum
ſeeliſch zu verſtehen, trotz ſeiner geiſtigen Enge und inſularer Ge⸗
bundenheit der ausgezeichnete „Verwalter“ iſt, — der er iſt. Er
lehrt die fremden Völker dabei genau ſo wenig als er von ihnen
lernt. Da er die Borniertheit, Spezifität und Enge ſeiner
eigenen hyper⸗charakteriſtiſchen! Geiſtesart fremdem Volks⸗
tum a priori nicht aufprägen kann und will, da er aber auch
nicht wie der Deutſche im ſokratiſchen Sinne der mäeutiſchen
„Erziehung“ die fremde Anlage nach den ihr immanenten
höchſten Zielrichtungen entwickeln und ſelbſt dabei in dieſem
Erziehen geiſtig gewinnen und wachſen kann, ſo begnügt
er ſich im Sinne des cant, den fremden Völkern die wahre
Freiheit durch Überlaffung ihrer äußerlichen Formen zu
ſuggerieren, die ökonomiſche Energie der Völker aber um
ſo mehr für ſeine Intereſſen auszuſchlachten. Er iſt nicht
ein guter „Lehrer“; er iſt nicht ein guter „Erzieher“ der
Völker! Er iſt nur ein guter Züchter und ein guter Hirt!
Dies aber unter dem Schein des Lehrers und Erziehers!
Des „Verbreiters der Kultur!“
Mit dem cant hängt aber auch zuſammen — die ſo viel⸗
verehrte „ſchöne engliſche Freiheit“, die wir auf den Juſeln
ſelber finden.
Selbſt in dieſer Zeit ſchärfſter Kritik alles Engliſchen
finde ich vielfach einen Zug engliſchen Lebens der Kritik
ausdrücklich entnommen: die „engliſche Freiheit“ oder wie
man gerne ſagt, die „ſchöne engliſche Freiheit“. Mit dieſen
416
Worten meint man nicht nur die Tatſache, daß Eng;
lands Volk ſchon vor zirka 680 Jahren von König Johann
die Magna Charta ertrotzte, daß ſeine parlamentariſche
Verfaſſung Vorbild faſt aller europäiſchen Staaten wurde,
daß ſein Nationalphiloſoph John Locke dem parlamenta⸗
riſchen Syſtem die erſten philoſophiſchen Grundlagen gab.
Das iſt mehr Folge dieſer „Freiheit“ als ſie ſelbſt. Auch
Frankreich hat das parlamentariſche Syſtem, — fogar auf
rein republikaniſcher Grundlage — und doch fehlt ihm die
„ſchöne engliſche Freiheit“. Die vielbeneidete engliſche Frei—
heit iſt vielmehr jene beſondere Lebensluft, die es z. B. jetzt
mitten im Kriege erlaubt, daß die Schritte Churchills oder
Greys von jedem „Gentleman“ (feier Lord oder Ladenjüngling)
einer öffentlichen Kritik unterzogen werden können; daß jeder
ſeine Vorſchläge zur Kriegsführung machen darf; ja daß es
nicht ausgeſchloſſen iſt, es erkläre jemand, das Recht Deutſch⸗
lands ſei ihm einſichtiger klar wie Englands Recht in dieſem
Kriege. Das iſt ſicher bei uns nicht ſo. Es iſt auch in
Frankreich trotz Republik und Demokratie nicht ſo. Auch
der „befreiende Humor“ des neueſten engliſchen Soldaten⸗
liedchen, in dem die Soldaten ſcherzhaft bitten, man möge ein
„Buben⸗ und Mädelheer“ ausrüſten, darin „meine Mutter,
meine Schweſter, meine Brüder — nur ich nicht“ kämpfen
ſollen, fehlt dem ſchweren gebundenen deutſchen Ernſt. Unſe⸗
rem Ethos würde ſolche Kritik gleichzeitig als unerhörter
Dilettantismus und als ſchuldhaftes Mißtrauen in unſere
militäriſche Führung erſcheinen, ſolch Liedchen aber als Frivo—
lität. Umgekehrt meinen die Engländer von ihrem Ethos
aus unſere Haltung als ſervil, dienerhaft auffaſſen zu müſſen,
27 417
—
als eine Folge militariſtiſcher „Unterdrückung“ aller ſelb⸗
ſtändigen Regſamkeit der Geiſteskräfte.
Aber wie tief irren die Engländer und wie einſeitig urteilen
jene unter uns, die „engliſche Freiheit“ ſchrankenlos bewun⸗
dern! Wir Deutſche ſind ein ganz ſachhaft denkendes wie
wollendes Volk; wir arbeiten nicht um zu verdienen und um
ſchon am Freitag aufs Land zu Tennis⸗ und Golfſpiel zu
fahren, ſondern aus Freude an der Sache. Demgemäß glau⸗
ben wir auch feſt, daß überall nur Sachkunde entſcheiden ſolle
und daß es ein ganz verfehlter Weg ſei, die Wahrheit oder
das Rechte in irgendeiner Angelegenheit nur dadurch finden zu
wollen, daß A behauptet, B widerſpricht, C ergänzt uſw. Auch
unſere ſchroffſten Demokraten ſind es nur politiſch, nicht aus In⸗
ſtinkt und nicht im Sinne eines volksphiloſophiſchen Axioms.
Aus ſeinen tiefſten philoſophiſchen Konzeptionen über die Idee
der Wahrheit und des Wiſſens heraus, — nicht aus zufälliger
Zugehörigkeit zur ariſtokratiſchen Partei — behauptete Sokra⸗
tes auch für das geſamte Staatsleben, für die Geſtaltung ſeines
Aufbaus und für ſeine Führung den Primat der Sachkunde vor
dem ſophiſtiſchen Prinzip der Erwählung der Führer und
Staatsleiter durch die Stimmenmehrheit, die ſich aus der poli⸗
tiſchen Dialektik der Volksverſammlung in Hin- und Wieder⸗
rede, in Ergänzung und Kritik jeweilig herausbildet. Wir
Deutſche find — welcher Parteirichtung wir auch angehören —
mit Sokrates gegen die griechiſchen Sophiſten eben hierin einer
Meinung. Wir ſind es aus Inſtinkt. Sachkunde, nicht Stim⸗
menmehrheit ſolle, ſo meinen auch wir, in Fragen von Wahrheit
und Recht entſcheiden. Nach dem Axiom, das unſer Denken
bewegt, kann ein einziger eine Sachkunde haben, die ſonſt
418 ö
keiner hat. Und dann haben alle dieſem einen zu folgen. Da
wir ſo denken, haben wir Vertrauen in ſolche, die wir für
Sachkenner halten, d. h. aber gar nicht notwendig in die
„Regierung“; auch in dieſe nur, wenn wir ſie eben für
ſachkundig halten. Täuſchen wir uns einmal in dieſer An⸗
nahme, ſo geht es uns vielleicht übler wie den Engländern;
denn wir haben dann gegen dieſe Täuſchung keinerlei Gegen-
gewicht. Aber das ſchädigt nicht unſer Prinzip; es ſchädigt
auch nicht ſeine durchſchnittliche Fruchtbarkeit.
Ganz anders der Engländer: er ſtellt nicht wie wir Wahr⸗
heit und Sachkunde der Freiheit des Urteils voran; er glaubt
nicht, daß „nur die Wahrheit euch frei“ mache — wie es
im Evangelium heißt. Er hält die „Wahrheit“ für eine
bloße Reſultante der freien Konkurrenz der Meinungsäuße⸗
rungen vieler; er glaubt oder verhält ſich ſo, als ob er glaube,
Wahrheit ſei das unbekannte X, das ſich durch, wenn auch
noch ſo „dilettantiſchen“, von Sachkenntnis weit entfernten
Gedankenaustauſch, Kritik, Ergänzung ſchließlich herausſtellte.
Natürlich muß er unſer freies, fittliches Vertrauen für Per⸗
ſonen, die wir für Sachkenner halten — von ſeiner Denk⸗
weiſe her — als „blinden Servilismus“ auswerten. In
England — das iſt, wie ich ſagte, ein Erfordernis deſſen, was
man dort „Charakter“ nennt — muß jeder in jeder Sache
einen „Glauben“, eine „feſte Überzeugung‘ haben. Man
denke wieder an die ſonderbare Rede: „Glauben Sie an Me⸗
dizin, an die Technik, an Luftſchiffahrt?“ Das aber iſt es,
was zur engliſchen Borniertheit, d. h. zum voreiligen dilettan⸗
tiſchen Abſchluß des Weltbildes durch bloße Willensentſchei⸗
dung führt ohne eine Baſis von Sachkunde und Gründen
*
27 419
stat pro ratione voluntas — oder der „Charakter“. Alle eng-
liſche Erziehung zielt vor allem auf ſolchen „Charakter“ ab.
Ein notwendiger Schatten jener „ſchönen engliſchen Freiheit“
iſt alſo jene tiefe, trieb⸗ und intereſſengebundene geiſtige Unfrei⸗
heit, die wir im Intellektuellen „Borniertheit“, im Sittlichen
„cant“ nennen, d. h. organiſche triebhafte Befangenheit des
Gewiſſens und Verſtandes durch das Mützlichkeitsintereſſe ohne
klares Wiſſen davon. Dieſes Geſetz bindet ſchon von Hauſe
aus alle geiſtigen Prozeſſe des Engländers und gibt ihnen die
Richtung auf „Sagenkönnen“. Die auch nur mögliche
Korrektur des Forums, der von den Engländern entdeckten,
von John Locke begrifflich formulierten „öffentlichen Mei⸗
nung“ regiert die engliſche Seele bis in ihre intimſten Vor⸗
gänge; regiert auch die ſteife Form im Kreiſe der Familie beim
Eſſen uſw. (Frack uſw.). „Wahrhaftigkeit“ im deutſchen
Sinne heißt: Sagen, Bekennen, was man denkt und glaubt.
Ja, es iſt unſere Überzeugung, daß der echte Glaube auch die
Zunge ſprengen müſſe, daß jener noch nicht echt und wahr⸗
haft glaubt, der nicht bekennt. Im engliſchen Sinne heißt
„Wahrhaftigkeit“ dagegen: nichts glauben, nichts denken, was
man nicht auch ſa gen kann. Bis in das einſame Liegen im
Bette, fühlt ſich der Engländer wie vor einem öffentlichen
Forum. Der deutſche Geiſt ſetzt Einſicht, Sachkunde, Wahr⸗
heit allüberall der Freiheit des Urteilsaktes voran. Darum
hat der Deutſche auch einen ſtarken Glauben an Autoritäten
und im ſozialen und politiſchen Leben an das „Fach“ in
den Wiſſenſchaften. Überall beſteht dieſer Glaube, wo das
genaue deutſche Pflichtgefühl und die deutſche Gewiſſen⸗
haftigkeit annehmen darf, daß die betreffenden Perſonen
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ebenſo gewiſſenhaft wie derjenige, der das Vertrauen ſchenkt,
der nötigen Sachkunde erfüllt ſeien. Aber dieſes freie Ver—
trauen auf die Autorität hat gar nichts zu tun mit blindem
Autoritätsglauben. Denn genau ſo, wie bei uns derjenige,
der einen Andern für ſachkundig hält, ſich ihm leicht unter⸗
wirft, genau ſo beanſprucht er auch, daß man ſich ihm ſelber
unterwerfe, wo er ſich als ſachkundig weiß.
Eine Methode wie die deutſche bringt in den komplizierten
Verhältniſſen der hiſtoriſchen Wirklichkeit freilich leicht auch
jenen Geiſt hervor, den man den deutſchen „Glauben an die
gottgewollten Abhängigkeiten“ genannt und dem engliſchen
Syſtem entgegengeſetzt hat. Dieſer Geiſt durchdringt — charak⸗
teriſtiſch genug — auch die deutſchen religiöfen Lebensformen
in Katholizismus wie Luthertum. Wenn auch nicht mehr wie
einſt auf dem Aufbau der Stände und Klaſſen, ſo doch auf dem
Aufbau des Beamtentums, der Organiſationen der Wiſſen⸗
ſchaft und der großen wirtſchaftlichen Organiſationen liegt
bei uns eine Art religiöſer Weihe, welche vorſchnelle, zu—
weilen auch berechtigte, Kritik zurückhält. Aber jedes Syſtem
hat ſeine eigenen Fehler. Hier gilt es, Vorzüge und Fehler
beider Syſteme aus dem verſchiedenen Geiſte der Na—
tionen zu begreifen. Wer ſähe nicht, daß der deutſche, in
ſeiner Art einzigartige Sinn für Organiſation auf dieſen
beiden Grundpfeilern des deutſchen Weſens beruht: dem un⸗
bedingten Primat rationeller Sachkunde und dem gegen—
ſeitigen Sich⸗Vertrauen aller in der Organiſation tätigen
Perſonen? Freilich kann man bei uns Herrn Tirpitz nicht wie
in England Herrn Churchill öffentlich kritiſteren. Wie aber
hätte bei uns auch eine ſo abenteuerliche Geſtalt wie Herr
421
Churchill das Oberſtkommando der Marine erhalten können ?
Mit dem Worte Vertrauen deute ich einen weiteren Schat⸗
ten der „ſchönen enalifi chen Freiheit“ an. Die ſchöne engliſche
Freiheit beruht nämlich ganz weſentlich auf jener prinzipiellen
Mißtrauenseinſtellung von Menſch zu Menſch, die ge⸗
ſteigert durch die puritaniſche Form des Calvinismus, zum Teil
ſchon durch den Calvinismus ſelbſt zur Grundhaltung des eng⸗
liſchen Sozialverhältniſſes geworden iſt. Nicht nur Miß⸗
trauen in Staat und Regierung als einer Sache über den
Parteien iſt der Grundaffekt alles engliſchen Liberalismus
(einſchließlich der Gegenmaßregeln eines ungeheuren cant, den
ſeitens der Regierungen dieſes Verhalten hervorruft); Miß⸗
trauen in die Urteilsfähigkeit des Anderen iſt auch der herr⸗
ſchende ſoziale Affekt. Nur durch die reſtloſe Freiheit der
Meinungsäußerung kann dieſes prinzipielle, nicht erſt auf be⸗
ſondere Gründe hin erwachſende Mißtrauen ſoweit kontre⸗
balanziert werden, daß die Geſellſchaft das nötige Maß von
Sicherheitsgefühl und Friede erhält. Und eben darum ent⸗
behrt auch die puritaniſch calviniſtiſche Form der Religioſität
völlig jenes deutſchen Glaubens an die „gottgewollten Ab⸗
hängigkeiten“.
Ein dritter Schatten dieſer Freiheit aber iſt die geiſtige
Unfreiheit des engliſchen Weſens. Nur ſie garantiert jene
Gleichförmigkeit von Meinung und Wille, ohne die es keine
Geſellſchaft gibt. In Deutſchland iſt nicht nur der Pro:
feſſor ein „Mann, der ſeine eigene Meinung hat“. Nur
Borniertheit und cant machen alſo zuſammenwirkend dieſe
ſchöne ſoziale Freiheit überhaupt möglich. Umgekehrt iſt unſere
Unfähigkeit zum Parlamentarismus engliſcher Prägung, unſere
422
een
——
Neigung zum „Glauben an die Autorität“, an den Beautten,
in der Wiſſenſchaft an das „Fach“ Nichts als das not⸗
wendige Gegengewicht gegen die innere Freiheit unſeres
geiſtigen Organismus. In England iſt nur der „Gentleman“
frei, d. h. die gleichförmige ſoziale Figur des Engländers —
der innere Menſch iſt ganz unfrei. Auch der König iſt es nur
als „der erſte Gentleman der Nation“, nicht als eine indivi⸗
duelle lebendige Perſon, wie unſer „Deutſcher Kaiſer“.
Ein weiterer Schatten der „ſchönen engliſchen Freiheit“ iſt
der engliſche Todhaß auf alle Individualität, Originalität,
eine Haltung, die ſchon John Stuart Mill in ſeinem ſchönen
Buche „Über die Freiheit“ (Reclam) ſo tief beklagte. Man
denke an Shelleys, an Byrons, an Oskar Wildes Schick⸗
ſal; man denke an alle leeren Formen und Etiketten in Recht,
Staatsleben, Geſellſchaft, an die Enge der engliſchen „Prü⸗
derie“, an die Gleichförmigkeit der Geſichter, der Sitten, der
Moden, an das auffällige Fehlen faſt aller individuellen Geiſtes⸗
bildung in den höheren Ständen; an die alles Leben durch⸗
dringende Gewalt der Konvention, an die beiſpielloſe engliſche
Unfähigkeit, fremde Volksindividualitäten zu verſtehen und ſich
bis hinein in die Warenproduktion ihren Bedürfniſſen frei an⸗
zupaſſen. Jene maßloſe Knechtung der Freiheit des Indivi⸗
duums als Individuum und der mangelnde Sinn für fremde
Individualität — das iſt alfo wieder ein neuer Schatten der
„ſchönen engliſchen Freiheit“, d. h. der Freiheit des Men⸗
ſchen als bloßes Gentlemanexemplar. Im Lande der größten
politiſchen Unfreiheit, in Rußland ſelbſt, ach wie gewaltig viel
größer iſt doch da dieſe Freiheit — die Freiheit des Indivi⸗
duums! Man ſehe nur auf die Literatur beider Völker, auf
423
das ſo reich differenzierte Sektenweſen in Rußland, dem gegen-
über die engliſchen Sekten ein weit einförmigeren Stil auf⸗
weiſen.
Nur dieſe tiefe Unfreiheit des geiſtigen Innenorganismus
des Engländers, verbunden mit maßloſer Geiſtesgebundenheit
durch Gewohnheit, Tradition, öffentliche Meinung verbürgt
nun aber auch unter der Herrſchaft des Prinzips jener ſchönen
ſozialen Freiheit dasjenige Maß von Übereinſtimmung von
Meinung und Wille, ohne das alles öffentliche Leben aus⸗
einander fiele. Bei deutſcher innerer Geiſtes⸗ und Gewiſſens⸗
freiheit wäre die ſoziale Freiheit Englands ſchon darum aus⸗
geſchloſſen, weil unter ihrer Herrſchaft dieſes Mindeſtmaß
von Übereinſtimmung niemals erreichbar wäre.
Die ſchöne engliſche Freiheit hat alſo viele Schatten; ſie
iſt mit Dilettantismus, cant, Borniertheit, Mißtrauen, indi⸗
vidueller Unfreiheit, etwas teuer bezahlt; für uns Deutſche
ſo teuer, daß wir in ihrer Bewunderung wirklich ein wenig
vorſichtiger ſein ſollten.
Doch kehren wir zum cant in der ſozialen Sphäre zurück,
um hier ſeinen ſeeliſchen Urſprung zu ſtudieren. Eine eigen⸗
tümliche Hilfsidee des cant iſt eine gewiſſe Art von Perſoni⸗
fizierung deſſen, was der Engländer „die Moral“ nennt —
jene „Moral“, die man um keinen Preis „verletzen“ darf —,
wie wenig man auch ſelbſt davon beſitze und wie ſehr man
dabei auch fremde Menſchen, fremde Rechte uſw. verletze.
Es iſt ein alter tiefſinniger Satz, daß auch die „Heuchelei
eine Art Verehrung der Tugend ausdrückt“. Eben dieſe
„Verehrung“ beſitzt der Engländer im höchſten Maße.
In ihr iſt er von äußerſter Subtilität und Feinheit der Bil⸗
424
dung. Ja, eben die Haltung der Verehrung einer hypo—
ſtaſterten „Moral“, das anbetend zu ihr als einem Syſtem
geheiligter Regeln aufgeſchlagene Auge wird ihm zum proba-
teſten Mittel, ſich dieſelbe Moral ferne und vom Leibe zu
halten und um ſo mehr nach ſeinen Intereſſen ſeinen Weg
zu gehen. Er verehrt die Moral zu ſehr, als daß er ihr
erlauben möchte, in die Roheit und Gemeinheit des „Wirk—
lichen“ einzugehen. Eben dieſe Haltung macht zugleich ſeinen
Moralismus und ſeine unvergleichlich tiefe perſönliche Im—
moralität aus. Nur das eigentümliche Zuſammentreffen der
ſo ungemein feinen ſittlichen Bildung des Engländers, das
heißt feines Reichtums an präziſer Unterſcheidungskraft ſitt⸗
licher Qualitäten, und die einzige Genauigkeit des Herzens in
dieſer Diſtinktion — faſt unendlich ſtehen ihm andere Völker
in dieſer „Bildung“ nach — nur das Zuſammentreffen
der ausnehmend großen Verehrung für das Moraliſche als
vom Menſchen abgelöſter „Regel“ mit einem ganz unbild⸗
ſamen, ſtarken, rohen und jeder Vergeiſtigung unzugäng—
lichen Triebnaturell, konnte das ſublime innere Kunſtwerk
der Seele hervorbringen, das cant heißt. Eben da es ſeine
Triebe von allen Völkern am wenigſten zu vergeiſtigen weiß,
iſt das engliſche Volk vielleicht das unchriſtlichſte Volk der
Erde. Es könnte dies nach den heiligen prophetiſchen Worten
der Evangelien nicht ſein, wenn es nicht mit dem Munde zu⸗
gleich das allerchriftlichfte wäre. Die engliſche Haltung iſt da:
bei freilich das abſolute Gegenteil zu jener, die wir „zyniſch“
und „frivol“ nennen, das Gegenteil zu jener Haltung, die bei-
ſpielsweiſe die franzöſiſche Geſellſchaft des ancien regime be-
herrſchte. Die Menſchen des ancien regime neigten dazu, das
425
ſittliche Prinzip zur niedrigen Wirklichkeit ihrer unſittlichen
Lebensführung herabzuziehen und das Prinzip für offen aus⸗
geſprochene, ja oft lauter als es der Wirklichkeit entſprach aus⸗
geſprochene, die Moral luſtig auf den Kopf ſtürzende Maximen
preiszugeben. Der Franzoſe hat ſchon ſeit den älteſten Zeiten,
von dem provencaliſchen Roman an bis zu Baudelaire weit
unmoraliſcher geredet, als er gelebt hat. Er war immer ein
wenig Maulhure. Die Logik des cant dagegen fordert, ein
Prinzip unbedingt feſt und „hoch“ zu halten, es niemals mit
der Realität, wenn auch noch ſo leiſe, ſinken zu laſſen; wohl
aber die Realität ſtets fo an zu ſehen und anzuſchielen, oder
von ihr illuſtoniſtiſch wegzuſehen, daß fie mit ihm in Überein-
ſtimmung zu ſein ſcheint. Schon ein dreijähriges engliſches
Kind ſieht auf der Straße weg, wenn es einen Betrunkenen
oder einen unziemlichen Vorfall fieht, deſſen „Unziemlichkeit“
es ſchon empfindet, ehe die Wahrnehmung des Vorgangs
zur Reife kam. Man ſehe, wie abnegierend im großen
Oskar Wilde auf Zola in ſeinem „Verfall der Lüge“
reagiert. Oder man ſehe ſich die bekannten engliſchen Bilder
und Stiche an, auf denen mit einer ſo einzigartig öligen
Braoheit Verlobte, Jungverheiratete, der nach Hauſe kom⸗
mende Jäger, den die Gattin empfängt, ſpielende und meiſt
nur allzuſüße Kinder uſw. dargeſtellt werden; dazu 9%.
des engliſchen Durchſchnittsleſeromans. Oder man höre
folgenden kleinen Vorgang! Vor kurzer Zeit erſcheint
eine führende Perſon der engliſchen Regierung (der Name
ſei hier unterdrückt) im Unterhaus, ein paar Flaſchen
franzöſiſchen Sekt im Magen. Nirgends wird bekanntlich
ſo viel getrunken als in der erſten engliſchen Geſellſchaft, im
426
Lande der Heilsarmee, die nicht umſonſt die Bekämpfung der
Trunkſucht ſich zum Ziele ſetzen mußte. In Flacons mit
kölniſchem Waſſer, in eigens dazu hergerichteten Stöcken,
die man oben öffnen kann, birgt ſich, fromm verſteckt das ſüße
Naß des Whisky. Ein politiſcher Gegner jenes öffentlich ebenſo
allverebrten als heimlich viel bekämpften Führers der liberalen
Partei bemerkt ſeinen Zuſtand an der Röte ſeines Geſichtes
und ſtellt ihm ein paar peinliche Zuſatzfragen zu 24 Stunden
vorher geſtellten Fragen, deren Beantwortung im Unterhaus
beſonders ſchwierig und darum möglichſt kurz zu ſein pflegt,
da jede Belaſtung mit „Konſequenzen“ zu vermeiden iſt.
Jene Perſon erhebt ſich, fängt an zu antworten — ſetzt ſich
aber bald darauf wieder — um das Taſchentuch an den
Mund zu halten. Als der Gegner des hohen Herrn wieder
beginnen will, erhebt ſich J. Balfour, der bekannte konſer⸗
vative Führer und ſagt, nachdem er ums Wort gebeten, nur
das eine Wörtchen: „Honour!“ Worauf ſofort der Gegenſtand
verlaffen wird und der Gegner des betrunkenen Herrn ſich noch
— entſchuldigt. Das iſt die Zucht des cant. Bei uns hätte man
ſich über einen betrunkenen Staatsmann im Parlament laut
moraliſch entrüſtet und der „Skandal“ wäre unausbleiblich
geweſen. Gewiß dies wäre dümmer geweſen als man in Eng⸗
land zu ſein pflegt — und ſicher iſt, daß unſere parlamenta⸗
riſchen Formen beſſere ſein könnten, auch ohne daß die deutſche
Wahrhaftigkeit dabei leiden müßte. Hier genügte der bloße
Fingerzeig auf das „Dekorum“, auf „die“ Moral, um ſo⸗
fort nicht nur alles ſchweigen zu laſſen, ſondern auch, um
den wohl berechtigten Mahner zu vermögen, ſeinerſeits eine
Schuld auf ſich zu nehmen, die ſicher nicht ſeine war.
427
Eine folche „Moral“ beſitzt aber nun auch jeder befondere
Geſellſchaftskreis in England und alle dieſe Moralen ſind
der einen engliſchen Geſamtmoral eingeordnet. Als ein eng⸗
liſcher Herzog von ſeinem Kammerdiener gefragt wurde, ob
man Zahnſtocher benützen dürfe, antwortet er nach einigem
Nachdenken: Ja, aber nicht in ſchlechter Geſellſchaft. Man
kann aus all dem ermeſſen, wie ein ehrliches echt deutſches Zu⸗
geſtändnis wie das unſeres Kanzlers am 4. Auguſt gelegentlich
der Verletzung der belgiſchen Neutralität auf den Engländer
wirken muß. In einem Lande, wo die Moral zu einer ſub⸗
tilen Jurisprudenz geworden iſt, wo die allgemeine „menſchliche
Sündhaftigkeit“ in ebenſo hohen Tönen bekannt wird, als
es jeder ängſtlich vermeidet, auch nur das kleinſte Stückchen
der großen Erblaſt auf ſich zu nehmen, und wo man das
deutſche Bewußtſein der Endlichkeit allen Rechts und ſeiner
Nichtigkeit vor dem Gebote des Gewiſſens nicht begreift, mußte
dies Verfahren ganz unbegreiflich fein. Wie die „Moral“ hier
ein außerperſonales Etwas iſt, deſſen Nichtverletzung alle Ver⸗
letzung perſönlicher Rechte geſtattet, fo iſt auch das „Böſe“
etwas Außerperſonales, das, je größer es iſt, doch — Miemand
hat. Der Deutſche kann ſich das „Böſe“ und „Gute“ gar
nicht anders denken, denn als ein Perſonales, in zweiter Linie
als eine Eigenſchaft der Geſinnung und der Willensabſicht.
Die wenn auch noch ſo ſtrenge und äſthetiſch feine Einhaltung
einer beſtimmten Form in der Außerung von Geſinnung und
Abſicht iſt ihm gleichgültig, wenn er die ſchlechte Abſicht da⸗
hinter gewahrt. Er brauſt auf, er zürnt — er gerät in ſeinen
„deutſchen Zorn!“ Warum tut er das?
Er tut es, weil er an die Möglichkeit der inneren Güte,
428
—
der Geſinnungsgüte des Menſchen glaubt. Und warum
iſt der Engländer der Menſch des cant? Er iſt es, weil er
prinzipiell auf die auch nur mögliche innere Güte des Allen:
ſchen Verzicht getan hat — ein für allemal Verzicht getan
hat. Er meint es tief in ſich zu wiſſen — was ihn auch alle
Spielformen feiner caloiniſtiſchen Religion gelehrt haben,
die den Menſchen durch den „Fall“ als abſolut korrumpiert
ſchildern — er ſei eigentlich des Teufels; und alle anderen
mit ihm des Teufels, je tiefer man in ihrer Seelen Wurzeln
hineinſteigt. Er glaubt, was er in ſich irgendwann ſah, von
allen anderen Menſchen. Er glaubt, daß der Menſch in
ſeinem Inneren ein abſolut unbildſames Chaos von Trieben
iſt. — Aber er weiß zugleich, daß alle menſchliche ſoziale Ord⸗
nung wenigſtens den Schein eines anderen, eines Entgegen—
geſetzten notwendig verlangt. Das iſt die metaphyſiſche Ver⸗
zweiflung an ſeiner Seele, das iſt das tragiſche Bewußtſein
ſeiner inneren ſubſtanziellen Verlorenheit, die jene feine
tiefe Ordnung der Lebensformen des cant ſelbſt aus ſich ge-
biert. Genau ſo entfaltet ſeine tiefe eſſentielle Unſicherheit
feinen gewollten, ſteifen, — die Chriſten ſagen „teufliſchen“ —
Stolz. Gewiß, es mag jene „Diskretion“ des cant, die es
vermeidet, hinter die Falten der Geſichter in die Seele des
Menſchen vermeſſen hineinblicken zu wollen, anſtatt ſich bei
einer gewiſſen Regelhaftigkeit der ſichtbaren Lebensführung zu
beruhigen, etwas Anziehendes gegenüber der vorlauten deut⸗
ſchen Frageart beſitzen — „wer“ denn dieſer Ankömmling
ſei, der hier im Hotel ißt und „was er hier wolle“. Aber die
engliſche „Diskretion“ iſt nur die Angſt vor einer ſchon a
priori feſtſtehenden furchtbaren Wahrheit menſchlicher ewiger
429
Verdorbenheit. Auf dieſem ſtets vorausgeſetzten dunklen
Chaos in der Seele des anderen tanzt der cant ſein elegantes,
ſo rationelles, ſüßliches Formenſpiel; ſein teufliſches, ſchein⸗
chriſtliches, öliges Spiel. Ich weiß nicht, wann und wo das
engliſche Volk ſich die Veredlung und Vergeiſtigung des
Menſchen einmal für immer und ewig abgeſchworen, und
dem Teufel ſich zugeſchworen hat: Um das Volk des Mam⸗
mons, der kunſtvollſten Politik und der einlullendſten Ver⸗
waltung zu werden; um den cant als Geſchenk des Teufels
für ſeine Seele einzutauſchen. Aber „einſt“ und „irgendwo“
geſchah es. Und ſeit dieſer Zeit iſt es — metaphyſiſch —
heimatlos, der „Herr der Welt“ und das Urvolk des Kapi⸗
talismus. Seit dieſer Zeit iſt es — genau wie die Evange⸗
lien es verkünden, wenn ſie den Antichriſt in Form des Chriſtus
erſcheinen laſſen, des Erlöſers der Menſchheit — das einzig
vollſtändig widerchriſtliche Wolk. —
Ein kluger angliſierter Freund — eines der vielen deutſchen
Opfer des heutigen Anglismus — hat mir geſagt, daß ſich
eben in dieſem abſoluten Unglauben an die mögliche Güte
des inneren Menſchen, nicht die innere Verlorenheit dieſer
merkantilen Raſſe, ſondern nur die tiefere und reichere Er⸗
fahrung und Erkenntnis über die „menſchliche Natur“, die
feinere Optik in die, dem blöden deutſchen und romaniſchen
Auge verſchloſſenen Faltungen des menſchlichen Herzens und
in ſeinen unbeſtegbaren Egoismus bekunde. Aber wir kennen
durch eine Literatur von Jahrhunderten dieſen ſelbſt cant-
geborenen Einwand des engliſch⸗proteſtantiſchen Reſſentiment,
der die Roheit der eigenen Triebe und die Ohnmacht des
eigenen geiſtigen Willens als eine Form tieferer Erkenntnis
430
e
und feinerer Gewiſſensſchärfe des Menſchen auszulegen weiß.
Der cant gebietet natürlich, das nicht wollen zu „können“ —
was man nur nicht tun kann. Das Chaos, das der cant
ſo klug und mit ſo großem Aufwand von gezüchteter Selbſt⸗
beherrſchung und „Charakter“ verbirgt, das iſt faktiſch nur
das engliſche Chaos — und iſt es allein! Die „partie hon-
teuse“ der menſchlichen Natur — wie Friedrich Nietzſche
das, was der engliſche Pſychologe zumeiſt erforſcht, genannt
hat, hat ſtets, wenn auch nur unter den matten Ausdrücken
von „Gewohnheit“, „Nützlichkeit“ „Vergeſſen des Mütz⸗
lichen“ verborgen — nicht umſonſt und nicht aus einer tieferen
Einſicht heraus, ſondern aus der Struktur des engliſchen
Seins heraus, das beſondere Intereſſe des engliſchen Mora⸗
liſten erregt.
Wie zwiſchen dem cant und der engliſchen Freiheit, ſo gibt
es auch zwiſchen dem cant und dem berühmten engliſchen
Humor eine unterirdiſche pſychologiſche Brücke. Ich will hier
nicht unter ſuchen, ob und wie weit nicht der ſog. Humor, im
Unterſchied zur allmenſchlichen Erſcheinung des Sinnes fürs
Komiſche, weiter zu Scherz, Satire, Witz, Ironie, überhaupt
eine fpezififch angelſächſiſche Tatſache iſt; ob es wirklich er⸗
laubt iſt, den Begriff „Humor“ auch nur ſoweit zu faſſen,
daß unſere Deutſchen Lichtenberg, Jean Paul, G. Keller,
W. Raabe, W. Buſch, Fritz Reuter, von Scheffel uſw., noch
darunter fallen; geſchweige, wie es oft zu Unrecht geſchieht
ſoweit, daß man ſinnvoll auch von „antikem Humor“ oder von
„romaniſchem Humor“ reden könnte. Gibt es überhaupt einen
außerengliſchen Humor, der nicht irgendwie England nach⸗
gemacht iſt, was man billig ebenſowohl bezweifeln kann, wie
431
es gäbe eine Tragödie außer der griechiſchen, fo iſt jedenfalls
der engliſche Humor der Sterne, Dickens, Thakeray, der
humorvollſte Humor, den es auf der Welt gibt. Humor,
dies Schweben des Gemütes zwiſchen einem lachenden und
einem feuchten Auge, dieſe ſüß⸗bittere Stimmung, dieſes Ein⸗
gekeiltſein in das Leben, in ſeine Engen und zwiſchen ſeine
Härten bei einem gleichzeitigen freiſeinſollenden Blick darüber
hinweg, einen Blick, der dieſe Situation noch als wie eine
fremde Szene mit anſehen und darüber lachen kann, hat den⸗
ſelben Dualismus der handelnden, bezw. leidenden und der
urteilenden Matur zur Grundlage, der auch Vorausſetzung des
cant iſt. Dieſer Humor iſt in gewiſſem Sinne geradezu der
cant der Luſtigkeit und des Lachens. Jene „Befreiung“,
die er ſprichwörtlich bringt, bezahlt er mit der inneren Ver⸗
zweif lung, aus der er hervorſprießt — derſelben, wenn auch
weniger tiefen Verzweiflung, welche die Wurzel des ge:
ſteigerten engliſchen Sinnes für die moraliſche Form iſt.
Hat nicht aller „Humor“ etwas in ſich, das geſteigert „Gal⸗
genhumor“ heißt? —
Wie der cant alle engliſchen Lebensgebiete durchdringt, ſo
beherrſcht er auch in ganz beſonderem Maße die ſexuelle und
erotiſche Sphäre in Geſellſchaft und Erziehung. Hier hat er
auf der einen Seite die ſo typiſche Form innerer Schamloſig⸗
keit zur Folge, die wir die „engliſche Prüderie“ nennen, auf
der anderen jene Tartüfferie der ſinnlichen Empfindung, die
im Flirt — und auf etwas vergeiſtigterer Stufe, in der eng⸗
liſchen Sentimentalität und erotiſchen Romantik, ſich Form
gegeben haben. Was iſt denn Prüderie? Sie iſt nicht etwa
eine geſteigerte Schamhaftigkeit, die, iſt ſie nur echt, nie⸗
432
4 Be re
mals tief und groß genug fein kann. Stets iſt fie gut — ſtets
liebenswert. Prüderie iſt vielmehr die Miſchung einer Art
des geiſtigen Geſchlechtsgenuſſes in der Form und Maske
einer rigiden Abwehr und eines entrüſteten „shocking“! gegen
noch ſichtbare Symptome dieſer Sphäre, mit der beſonders
gefärbten Luſt ſittlicher Entrüſtung, — beides aber verbunden
mit der automatiſchen, dem Subjekt unbewußten Tendenz,
Gelegenheiten für dieſe genußreich entrüſtete Abwehrreaktion
immer wieder aufzuſuchen. Aber die Prüderie wertet ſich
ſelbſt dabei — per cant — als echtes Schamgefühl, indem fie
eine ſehr feſte, leere, überlieferte Form des bloßen äußeren
Ausdrucks der Schamhaftigkeit, die im Gegenſatz zu Scham
die Form des „Anſtandes“ heißt — ohne die lebendige echte
Schamerfüllung dieſer Form — aufs äußerſte übertreibt; und
gerade darum übertreibt und ſo regelhaft geſtaltet, weil hier
die natürliche Regulation des Betragens durch das echte leben⸗
dige Schamgefühl mangelt. Die Härte und Schärfe der
Geſchlechtsmoral einer Geſellſchaft ſteht — ceteris paribus
— mit der natürlichen Anlage zur Schamhaftigkeit und der
Größe und Feinheit dieſer Anlage, ſtets in umgekehrtem
Verhältnis. Was das natürliche Schamgefühl nicht leiſtet,
das muß die Regel und die Feſtigkeit der Anſtandsform
wieder einholen. Darum darf man von der Härte und
Schärfe der engliſchen Geſchlechtsmoral allein ſchon auf die
geringe natürliche Schamhaftigkeit dieſes Volkes ſchließen.
Und es iſt nicht wunderlich, ſondern vielmehr nur zu er⸗
warten, daß die beiden Völker, bei denen der cant am ſtärkſten
iſt und die Lebensbeziehungen der Geſchlechter das höchſte
Maß von Indirektheit und Symbolik angenommen haben,
28 433
die Engländer und die Chineſen, auch eine Literatur und
Kunſt ſo obſzön hervorbrachten, wie ſie durch italieniſche
Zynismen und galliſche Verdorbenheit niemals erreicht wer⸗
den konnte. Nur im Lande der Prüderie konnte das Ob⸗
ſzöne feinen Aubrey Beardsley finden. In Frankreich ge:
deiht faſt nur das Frivole; in Italien und Deutſchland
überwiegt in dieſer Sphäre das Zyniſche. England iſt das
Land des Obſzönen. Das Obſzöne, das iſt der bewußte als
reizvoll erlebte Schlag gegen die ſchon vorausgeſetzte Prü⸗
derie. Prüderie mag in irgendeinem Maße überall vorkom⸗
men. Aber während ſich die Prüderie außer England auf
das Geſchlechtsreſſentiment alter Jungfern zu beſchränken
pflegt, iſt eben jene Vorbildhaftigkeit der Gouvernantenmoral
für die ganze engliſche Geſchlechtsmoral der ſpezifiſch engliſche
Zug. Die Rache einer virilen Frauenſchicht an Lebensfülle
und Schönheit, die durch Hochzüchtung durch den engliſchen
Induſtrialismus und gleichzeitigen Abwurf der weiblichen
Individuen mit ausgeprägteren ſeeliſchen und leiblichen ſekun⸗
dären Geſchlechtsmerkmalen in die Richtung der Proſtitution,
für das engliſche Urteil exemplariſch wurde, hat erſt jüngſt
durch die Zerſtörung der Venus von Tizian durch jene famoſe
Suffragette — die damit den „ſchönſten Charakter der Ge⸗
ſchichte! verherrlichen wollte — ihr äußerſtes Symbol gefun⸗
den. Die Hieb⸗ und Stichfeſtigkeit, welche die engliſche
Damenehre kraft dieſer kurioſen Moral erhält, hat niemand
beſſer wie B. Shaw charakteriſiert, wenn er in feinem, dem
engliſchen Geſchlechtscant gewidmetem Buche „Menſch und
Übermenſch“ Tanner im Augenblick, als der weibliche Don
Juan, der hier als das wohlerzogene junge Mädchen Ann er⸗
434
ſcheint, den Arm um feinen, ihres Vormundes, Hals legt, ſagen
läßt: „Wundervolle Frechheit“. (Sie lacht und tätſchelt ihn
auf die Wange.) Wenn ich bedenke, daß mir dieſe Epiſode
keine Seele glauben würde, von den Leuten abgeſehen, die
mich dafür ſchnitten, daß ich ſie erzähle, während andererſeits
meinem Leugnen niemand Glauben ſchenken möchte, wenn
Sie mich deswegen anklagten!“ ... (Seite 128). Es gibt kein
Land der Welt, in dem ſich die erotiſche Empfindung ſo ſubtil
hinter andersartige, nichterotiſche Beziehungen wie Kamerad⸗
ſchaft, Freundſchaft, Verwandtſchaftsarten aller Grade,
Formen des Dienſtes, Lehr: und Schülerverhältnis, ſcheinbar
harmloſem Spiel von boy und girl, nicht nur für die
Außenwelt, ſondern für die Beteiligten ſelbſt noch zu mas⸗
kieren und die Schutzfarben dieſer Beziehungen anzunehmen
weiß; wo dieſe Maske hartnäckiger, dauernder und bis zu
höheren Graden der erotiſchen Nähe von beiden Seiten feſt⸗
gehalten und wo gleichzeitig eben dieſe Maskerade noch als
ein Plus zur bloßen Materie der Senſation hinzu heimlich
genoſſen wird, als dieſes Land, in dem ſelbſt die beſſeren Ko⸗
kotten wie Püppchen und Porzellanengelchen ausſehen müſſen,
um begehrt und bezahlt zu werden. Man wäre, wüßte man
nicht, wie falſch und unſinnig die Theorien des Herrn Freud
für die menſchliche Natur in genere find, hier zuweilen ernſt⸗
lich verſucht, Freudianer zu werden und an ſeine Lehre von
den „Symbolhandlungen“ zu glauben. Der berühmte „Flirt“
— erſt Amerika war fo cant:verlaffen, der alten engliſchen
Tatſache das Skandalon eines beſonderen Namens an-
zuhängen — dieſe in der Form harmloſeſter Geſelligkeit fich
gebende Elektrizität der Beziehungen bedeuten aber nur das—
28* 435
felbe, was auf entwickelterer Stufe und in höherem Alter die
Prüderie iſt. Der Flirt iſt der feinveräſtelte Ausweg, den die
Seele aus den harten Zäunen der traditionellen puritaniſchen
Geſchlechtsmoral nimmt. Mit ſteigendem Alter der Be⸗
teiligten verwandelte ſich dann meiſt die Summe flüchtiger
Senſationen, die der ſogenannte „Charakter“ und der merkan⸗
tile „Ernſt“ des Lebens den Seelchen noch erlaubt, in jene ein
wenig blaſſe und dünne Sentimentalität und Romantik, die
aus dem engliſchen Volksliebeslied hervorſeufzt, und die im
Inſelvolke die Stelle deutſcher Innigkeit und romanifcher
Leidenſchaft beſetzt. Aus dem Flirt der Berührung von Arm
und Hand wird nun der Flirt der Seelchen. Wie dieſe Ge⸗
ſchlechtsmoral auf Drama und Schauſpielkunſt wirkt, be⸗
ſchreibt B. Shaw mit koſtbarer Ironie: „Die Heldin, welche
die engliſche Schauſpielerin verkörpert, darf die elementaren
Beziehungen zwiſchen Männern und Frauen nicht beſprechen;
all ihr romantiſches Geſchwätz über romanhafte Liebe
verfehlt vollſtändig den Weg zu unſerem Herzen und quält
unſeren Geiſt. Um uns aber zu tröſten, brauchen wir uns die
Darſtellerin bloß anzuſehen. Wir tun es — und ihre Schön⸗
heit labt unſere verhungernden Gefühle. Zuweilen murren
wir ungalant über die Dame, weil ſie nicht ebenſo gut ſpielt,
wie ſie ausſieht. Aber in einem Drama, das trotz all ſeiner
Beſchäftigung mit dem Geſchlecht von geſchlechtlichem Inter⸗
eſſe gänzlich unberührt bleibt, iſt — hübſches Ausſehen er⸗
wünſchter als ſchauſpieleriſche Tätigkeit“. Was die engliſche
Moral der Figur der in künſtleriſcher Einſtellung gegebenen
äſthetiſchen Welt des Dramas ſo hart verſagt, das nimmt
ſich der rohe Trieb, der im Theater ſchon mit der unkünſt⸗
436
leriſchen Einſtellung auf die bloße Wirklichkeit rechnet, aus
dieſer Wirklichkeit von Brettern und Kuliſſen, von Fleiſch
und Bein heimlich zurück.
Aber iſt der cant Ethos und Laſter Englands zugleich, ſo
iſt ſeine künſtleriſche Durchſchauung ſeitens eines Menſchen
des Inſelvolkes die Tragödie der Tragödien. Nicht ganz fo
ſchlimm iſt es noch, wenn man ein Ire iſt wie Shaw und
den cant in der Diſtanzierung durchſchaut, die Irentum oder
die geiſtige Weite des Katholizismus geſtatten. Dann muß
man freilich das immerhin auch nicht verächtliche Opfer
bringen und die Maske eines Poſſenreißer's annehmen, wenn
auch eines „Poſſenreißer's“ in höherem Verſtande. Schon
der ſchöne arme Byron war zuweilen auf dieſem Wege.
Daß man dabei — wenigſtens heute nicht mehr — Märtyrer
werden muß wie ſo viele ältere engliſche Große, das iſt ein
Verdienſt des Wachstums des cant ſeit dieſer Zeit. Selbſt
dem Vorwurf des cant begegnet dieſer dem heutigen England
neu hinzugewachſene cant mit neuem cant: der Engländer der
Gegenwart ärgert ſich nicht mehr, er lacht heute über Shaw
und bewundert ihn ſogar ein wenig, analog wie die Damen und
Herren am Hofe Louis XVI. Rouffeaus „Contrat sozial“, kurz
bevor ihre Köpfe in den Staub rollten, ſehr witzig fanden.
Der heutige Engländer lacht über dieſen witzigen phantaſtiſchen
Mann B. Shaw, der Dinge ſchildert, die es doch — in aller
Welt nicht gibt, — am wenigſten in England. Andererſeits
freilich zwingt der cant jede höhere moraliſche und geiſtige
Begabung etwaige ihm unerträgliche Wahrheiten in die
Form der verantwortungsloſen Poſſe zu verſtecken. Und nur
in der Schutzfarbe eines Narren, der die Inſel Nirgendwo
437
ſchildert, wird — wie ſchon bei Shakeſpeare zuweilen —
die Weisheit noch in Leuten wie Shaw und in dem Katho⸗
liken Cheſterton bei dieſen gewalttätigen Kaufleuten geduldet.
Aber den höchſten Punkt erklimmt die Tragödie in engliſchen
Menſchen, die nicht wie Shaw oder Cheſterton den cant
ſo diſtanziert durchſchauen können, deren Bildung, Seele,
Weſen vielmehr ſelbſt ſchon cant iſt, und die ein ſonderbarer
Überfluß von Bewußtſein fremden wie eigenen cant nun
dennoch durchblicken läßt. An dieſem Punkte ſtand Oskar
Wilde —, das Spiegelbild aller engliſchen Spiegelbilder —
der Schatten der cant-Träume aller Schatten von Gentle⸗
mens! Ein ſelbſt nur cant⸗ geborener, das Bild einer höhe⸗
ren Moral nur per cant nachahmender Widerſpruch gegen
den cant ſeines Landes ward O. Wildes Lebensform, —
ein Widerſpruch alſo gegen denſelben cant, der ſein eigenes
weſenloſes Weſen war. In Wilde wurde das moraliſche
Nichts ſelber noch ſichtbar. Und eine ungeheure Symbolik
für Englands Schickſal wird vielleicht noch gewinnen ſein
Leben, ſein Leiden, ſein Tod, ſein Tod in dem kleinen Winkel
in Paris, das er einſt, wie King Edward mit ſeiner Liebens⸗
würdigkeit eroberte. —
Um den ewigen Mißoerſtändniſſen ſteuern zu helfen, die
zwiſchen Engländern und Deutſchen exiſtieren und ſo lange
immer neu entſpringen müſſen, als man ſich von dem Katego⸗
rialgefüge, der Struktur, in der das engliſche Denken und
Fühlen verläuft, keinen hinlänglichen Begriff gemacht hat,
ſei es mir hier am Schluſſe noch erlaubt, eine Art Kategorien⸗
tafel des engliſchen Denkens zu entwerfen. Ich ſammle dabei
gleichzeitig eine Reihe von Ergebniſſen dieſes Buches zu einer
438
überfichtlichen Einheit zuſammen. Mit Hilfe diefer oder einer
noch verbeſſerten ähnlichen Tafel ift es vielleicht einmal mög⸗
lich, Sinn und Sinnzuſammenhang einer engliſchen Rede
in deutſchen Sinn und Sinnzuſammenhang jeweilig zu über⸗
ſetzen (was natürlich mit der rein ſprachlichen Überfegung
nichts zu tun hat). Indem wir die jeweilig rechtsſtehenden
Begriffe, die in einer engliſchen Rede vorkommen, durch die
linksſtehenden erſetzen (freilich ſtets cum grano salis) wird es
möglich ſein, den wahren Sinn der engliſchen Rede zu ent⸗
ziffern.
Außer dem Zwecke der Verſtändigung mag dieſe Tafel
noch einem zweiten Zwecke dienen: einer Art Geiſtes⸗ und Ge⸗
mütskur für den deutſchen Geiſt, ſoferne er heute — wie ich
ſchon vorher mannigfach zeigte — einer ganz gewaltigen Angli⸗
ſierung verfallen iſt. Es wäre ein ganz großer Irrtum, an⸗
zunehmen, daß dieſe geiſtige Anſteckung, ein Werk von Jahr⸗
zehnten, durch den bloßen Krieg gegen England mit Einſchluß
des ungeheuren deutſchen Haſſes gegen England zerſtört werden,
und dieſe Kräfte das umgekehrte Werk der Entangliſterung des
deutſchen Geiſtes vollbringen könnten. Der Krieg kann höchſtens
zum Beginn des Prozeſſes der Entangliſterung Anlaß geben.
Dieſer Prozeß ſelbſt wird aber ſicherlich ebenſo lange Zeit dauern,
als der Prozeß jener nationalen Suggeſtion im Großen gedauert
hat. Was gar den Haß und die aus ihm hervorgehenden Folgen
der Oppoſition gegen engliſches Weſen betrifft, ſo iſt er weit
mehr Symptom der Angliſterung, als Arznei gegen ſie. Sol⸗
cher Haß bindet die Beteiligten nicht weniger ſtark wie ihre
frühere Liebe fie band. Indem die Oppoſition gar meiſt ſelber in
Kategorien und Strukturformen des engliſchen Denkens er-
439
folgt und fich nur gegen beſtimmte bejahende und verneinende
engliſche The ſen richtet, ſtärkt fie ſogar nur das engliſche Den⸗
ken unter uns, da die mit dem Widerſpruch gegen die engliſche
Theſe verbundene Befriedigung, mim endlich einmal deutſch zu
ſein und deutſch zu fühlen gerade verdeckt, daß man nur Deut⸗
ſches denkt und fühlt, nicht aber deut ſch denkt und fühlt, d. h.
daß man eben da am meiſten Knecht iſt, wo man ſich am
freieſten empfindet. Zu einem echten geiſtigen Befreiungskampf
von England kann nur jene Haltung der Kühle, der Gleich⸗
gültigkeit, verbunden mit dem tiefen Beſitzbewußtſein eines
eigentümlichen, jetzt noch vielfach uns ſelbſt verborgenen
deutſchen Geiſtes führen, der von ſelbſt emportauchen
wird, wenn man die Kruſten ſeiner zurzeit beſtehenden Ang⸗
liſterung langſam, kühl, ruhig gleich dem arbeitenden Arzte,
abſchabt.
Der Kurgebrauch unſerer Tafel iſt ſo zu denken, daß
man eine ernſtliche Selbſtprüfung ſowie eine Prüfung ſeiner
Freunde im ſokratiſchen Sinne ſyſtematiſch vornimmt, ob man
nicht da und dort in ſeinem Bewußtſein Neigungen zu ana⸗
logen Verwechslungen von Begriffen und Werten wahr⸗
nimmt, wie ſie dieſe Tafel ſyſtematiſch vorführt. Auf die Be⸗
griffe, nicht auf die Sätze kommt es hier an, oder noch beſſer
auf jene urſprünglichſten Einheitsbildungen des Denkens an der
Weltgegebenheit, die ebenſo wohl allen künſtlichen Begriffs⸗
bildungen durch Definition als allen bloßen Sätzen vorher⸗
gehen. Findet man ſolche Neigungen vor, ſo verwerfe man
ſie nicht einfach oder kämpfe gegen ſie an; engliſches Denken
kann ja da und dort mit rein vernünftigem Denken oder doch
mit der beſonderen Anlage der betreffenden Perſon überein⸗
—
44⁰
ſtimmen. Aber man prüfe in dieſem Falle genau zuerſt die ſach⸗
lichen Anſchauungsgrundlagen der betreffenden ſuſpekten Be⸗
griffe; dann aber — zumal wenn man keine ſolchen von ge⸗
nügender Klarheit vorfindet, überlege man ſich, auf welche
hiſtoriſche Weiſe man wohl zur Neigung, engliſch zu denken,
gekommen ſei. Dieſe Erkenntnis wird damn jeweilig befreiend
und entlaſtend wirken.
Als Methode zur Herſtellung einer ſolchen Tafel, — deren
viele denkbar ſind —, wähle ich das Schema der Rede, mit
der Schiller einmal eine deutſche Neigung, einen Wert mit
einem Unwert zu verwechſeln, rügt: „Im Deutſchen lügt
man, wenn man höflich iſt.“ Das Beiſpiel zeigt zugleich,
daß wohl für alle Nationalcharaktere eine ſolche Tafel
aufzuſtellen wäre, wenn ſie auch bei uns Deutſchen wegen
der mangelnden Homogenität des Weſens der deutſchen
Stämme erheblich ſchwieriger zu gewinnen wäre. Die
linksſtehenden Begriffe auf der Tafel find jeweilig die⸗
jenigen, die Höherwertiges bedeuten und die der engliſche
Geiſt mit den rechtsſtehenden gleichzuſetzen die Neigung hat.
Die Tafel kann natürlich noch beliebiger Verbeſſerung unter⸗
liegen.
Kategorientafel des engliſchen Denkens
Es beſteht die Tendenz, zu verwechſeln:
Kultur mit
Den Lehrer mit dem
Den Krieger mit dem
Denken mit
Wahrheiten mit
Wahres Weltbild mit
Sachkunde mit
Vernunft mit
Axiom mit
Grund und Folge mit
Urteil mit
Begriff mit
Erklärung mit
Wiſſenſchaftliche Methode mit
Charakter mit
Gottes ewige Rechtsordnung mit
Gottes Vorſehung mit
Das Gute mit dem
Verehrung der Tugend mit
Stärke der ſozialen Konvention mit
Bildung | mit
Ehrlichkeit und Biederkeit mit
Verſprechen mit
Treue mit
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Komfort
Hirten
Räuber
Rechnen
Tatſachen (ſo ſchon O. Wilde)
zweckmäßigem Weltbild
Unbeſtreitbarkeit durch andere
Dfonomie [Leute
Definition |
Gewohnheit
Abbruch eines verwickelten Ge⸗
dankengangs mit einem Glau⸗
bens⸗ oder Willensakt
Wahrnehmungserſparnis
Klaſſifikation
Induktiver Methode
Borniertheit
den Intereſſen Englands
Politik Englands
Nützlichen
cant
Geiſtes⸗ und Redefreiheit
geiſtiger Abgeſchloſſenheit
organiſcher Verlogenheit, welche
das Lügen überflüfjig macht
gegenſeitiger Vertragsbindung
Genauigkeit in der Einhaltung von
Verträgen
Sittlichkeit mit
Wahrhaftigkeit mit
Schamhaftigkeit mit
Anſtand mit
Ritterliches Spiel mit
Ehrgefühl mit
Macht mit
Welt mit
Adel mit
Menſchliche Natur mit
Naturgeſetz mit
Perſon mit
Chriſtliche Liebe mit
Friedfertigkeit mit
Liebe mit
Sympathie mit
Demokratie mit
Gemeinſchaft mit
Moraliſche Geſinnung mit
Güte der Menſchen mit
Liebe zu den Schwachen mit
Gewiſſensurteil mit
Stimme Gottes mit
Europäifche Gemeinſchaft mit
Leben mit
Das Gute um ſeiner ſelbſt willen mit
Sinn für Komik mit
Gemüt mit
Frömmigkeit mit
Wahrhaftigkeit der gefragten Per⸗
ſon mit
Recht
nichts denken und glauben, was
man nicht ſagen kann
Anſtand
Prüderie
Sport
Sinn für ee
Nützlichkeit
Umwelt
Reichtum, deſſen Provenienz ver⸗
geſſen wurde
Engländer
Sitten und Gewohnheiten in Eng⸗
Gentleman and
Humanität
Pazifizismus
Intereſſenſolidarität
ſich ſelber mit einem andern Ich
verwechſeln
Mißtrauen aller mit allen, die
ſich gegenſeitig hierdurch in
Schach halten
Geſellſchaft
Korrektheit
Intaktheit der „Moral“
Haß auf die Starken
möglichem Urteil des Zuſchauers
öffentlicher Meinung Englands
europäiſchem Gleichgewicht
Anpaſſung innerer Beziehungen
an äußere
Vergeſſen des Nutzens einer Hand⸗
Humor [lung
Sentimentalität
Bigotterie
Höflichkeitspflicht der anredenden
Perſon, ihr Glauben zu ſchenken.
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Berichtigung
Seite 16 Zeile 14 lies anſtatt bei der — „beider“.
Seite 23 Zeile 14 lies anſtatt Bahnen — „Außen“.
Seite 441 Zeile 10 lies anſtatt Schiller — „Goethe“.
Im Verlag der Weißen Bücher / Leipzig iſt erſchienen
und durch alle Buchhandlungen zu beziehen
Max Scheler
Abhandlungen und Aufſätze
Zwei Bände im Umfang von 49 Bogen
Geheftet M 12.—, gebunden M 18.—
Aus dem Inhalt:
Zur Rehabilitierung der Tugend. Das
Reſſentiment im Aufbau der Moralen.
Zum Phänomen des Tragiſchen. Zur
Idee des Menſchen. Die Idole der Selbſt⸗
erkenntnis. Verſuche einer Philoſophie des
Lebens. Die Pſychologie der ſogenannten
Rentenhyſterie und der rechte Kampf gegen
das Übel. Zum Sinn der Frauenbewegung.
Der Bourgeois. Der Bourgeois und die
religiöfen Mächte. Die Zukunft des
Kapitalismus.
Im gleichen Verlag beginnen zu erfcheinen
Friedrich Theodor Viſchers
Aſthetik
oder: Die Wiſſenſchaft des Schönen
und
Friedrich Theodor Viſchers
Kritiſche Gänge
herausgegeben von
Robert Viſcher
Vollſtändig in je vier Bänden Groß-⸗Oktaoformat.
Subſkriptionspreis geheftet je Meg. —, einfach gebunden
je M' 10.—, in Liebhaberhalbfranzband je M 12.—.
Der billige Subſkriptionspreis bleibt noch bis zum
Herbſt 1915 beſtehen, wo dann der erhöhte Ladenpreis
in Kraft treten wird, der geheftet M 1x. 50, einfach
gebunden IN 12.0, in Liebhaber ⸗Halbfranzband
M 14.50 für jeden Band betragen wird.
Außerdem werden in Kürze in einer Geſamtausgabe erfcheinen
Fr. Theod. Viſchers Dichteriſche Werke
Lyriſche Gänge — Auch Einer — Fauſt, der
Tragödie dritter Teil — Novellen, Gedichte uſw.
Vollſtändig in fünf Bänden
Gebunden IM 20.—, in Ganzleder gebunden M 30.—
Als im vorigen Jahre der Kongreß der Aſthetiker in Berlin
tagte, da wurde unter allen Vorkämpfern der jungen Kunſt⸗
wiſſenſchaft der Name Friedrich Theodor Viſcher mit am
freudigſten und lauteſten genannt. Viſcher war nicht nur
ein Gelehrter von umfaſſendem Wiſſen, eine für alles Schöne
begeiſterte, feurige Natur, er war vor allen Dingen eine
Perſönlichkeit, und feine mannigfaltigen Schriften find zu⸗
gleich leidenſchaftliche Bekenntniſſe, die ſchon darum unſterb⸗
lich ſind, weil ſie im tiefſten Grunde empfundene Erkenntnis,
gefühlte Wiſſenſchaft enthalten. Der Dichter Friedrich Theo⸗
dor Viſcher iſt ja niemals dem Geſichtskreis des deutſchen
Volkes ganz entſchwunden, wenn er ſich ſelber auch gern unter
allerlei Masken und Namen verſteckt hat. „Auch Einer“
hat immer zu den klaſſiſchen Werken unſerer Erzählerkunſt
gehört. Viſcher war aber auch ein Klaſſiker der Wiſſen⸗
ſchaft, ein Mann, von dem ein breiter, befruchtender Strom
der Anregung ausging. Die Beſten unſeres Volkes, Männer
wie Gottfried Keller, Heinrich von Treitſchke, Ludwig Spei⸗
del, haben ihn wiederholt in den Ausdrücken höchſter Be⸗
wunderung anerkannt.
Als der „Praeceptor Germaniae, als der große Repetent
deutſcher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und
Wahre“, iſt er von Meiſter Gottfried gefeiert worden.
Und über Viſchers Aſthetik ſchreibt Treitſchke:
„Viſcher bin ich für ſein herrliches, von Unzähligen heim⸗
lich benutztes und nie genanntes Werk unendlich dankbar.“
Dieſen Klaſſiker unſerer Wiſſenſchaft gilt es für den
großen Kreis des deutſchen Leſepublikums zurückzuerobern.
Bisher wurde er mehr genannt als gekannt, mehr geprieſen
als geleſen. Heute, wo der Kreis des Kunſtſchaffens wie des
Kunſtgenießens ſich immer mehr erweitert, wird eine Orien⸗
tierung auf dem Gebiete des Schönen auch für den Laien zu
gebieteriſcher Notwendigkeit. Die Schriften von Friedrich
Theodor Viſcher ſind Bauſteine am Fundament der geſamten
Aſthetik und als ſolche Großtaten des deutſchen Geiſtes.
Viſcher war einer der erſten, die die Führung in dieſer
Wiſſenſchaft dem deutſchen Volke errangen.
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497135
Der Genius des Krieges und der Deutsche
Scheler, Max Ferdinand
Krieg,
University of Toronto
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