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HARVARD LAW SCHOOL
LIBRARY
Receiyed |yyi ^ g 1942
\,
HARVARD LAW SCHOOL
LIBRARY
Received H/^l l g \^2
1
Wiener Staatswissensehaftllclie Studien
herausgegeben von
Edmond Bematzik und Engen von PMlippoTloli
in Wien.
Dritter Band. Zweites Heft.
Der
Oetreidehandel und seine Technik
^ in Wien.
Victor Heller.
Töbingea und Leipzig.
Verlag von J. C. B. Mohr {Paul Siebeck}
1901.
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
Drnek der Union Dentsche YerlagsgeseUschafl in Stnttgart.
HEEßN HOFRAT PROFESSOR
Dß- EUGEN VON PHILIPPOVIGH
IN DANKBARKEIT UND VEREHRUNG GEWIDMET
VOM VERPASSEB
Vorwort.
Die Aufgabe, welche sich der Verfasser in der yorUegenden
Scbrifk gestellt hat, war in Anbetracht der Vielseitigkeit der zu
bearbeitenden Materie nicht immer einfach. Liebenswürdige Unter-
stützung aber hat ihm die Arbeit wesentlich erleichtert, und der
Verfasser nimmt gerne Gelegenheit, den zahlreichen Herren zu
danken, welche ihm mit Bereitstellung yon Aktenmateriale oder
mit Informationen aus dem Schatze ihrer Erfahrung an die Hand
gegangen sind. Unter den ersteren fühlt sich der Verfasser ins-
besondere Herrn Ministerialsekretär Dr. Eaützey im k. k. Handels-
ministerium und Herrn Marktdirektor kaiserl. Bat Kainz, unter den
letzteren dem Direktor des städtischen Lagerhauses Herrn Eduard
Strasse», dem Direktor der ersten österreichischen Aktiengesellschaft
für öffentliche Lagerhäuser Herrn kaiserl. Bat Wolfbaüeb, dem
Direktor des allgemeinen Verbandes ländlicher Genossenschaften in
esterreich Herrn Abgeordneten Dr. Stefan Bighteb, dem Obmann
des Verbandes ländlicher Genossenschaften in Niederösterreich Herrn
Landesrat Fasohingbaüeb, dem Vizepräsidenten der Börse für land-
wirtschaftliche Produkte in Wien Herrn kaiserl. Bat Weil und
Herrn Grosshändler B. Stbasseb, sowie Herrn Generalsekretär
Dr. HoBOYiTz zu Dank verbunden. Auch im k. k. Handelsministe-
rium, im Marktamt und in der Bibliothek der Stadt Wien, im
Sekretariat der Börse für landwirtschaftliche Produkte in Wien, in
der Donau-Begulierungskommission und in der Direktion der ersten
k, k. privilegierten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft hat der Ver-
VI Vorwort. [VI
fasser freundlichstes Entgegenkommen gefunden. Dagegen ist die
Benutzung des Archivs der Stadt Wien, bezw. die Einsichtnahme
in jene Akten, welche die Stellung der Gemeinde zu den einst
bestandenen Mehl- und Fruchtm'ärkten und zur Entwickelung der
Getreidebörse in Wien betreffen, dem Verfasser vom Wiener Stadt-
rat nicht gestattet worden, weshalb eine eingehendere Darstellung
in dieser Beziehung leider nicht möglich war.
Zu tief gefühltem Dank ist der Verfasser noch insbesondere
Herrn Hofrat Professor Dr. v. Philippovich verpflichtet, welcher
sich der Arbeit des Verfassers nach jeder Richtung in liebens-
würdigster Weise angenommen und ihr andauernd Mühe und Zeit
geopfert hat.
Herrn Sektionsrat Dr. Kabl ScHsiMPFLua im k. k. Ackerbau-
ministerium dankt der Verfasser für nützliche Anregungen, für
freundliche Aufmunterung Herrn Professor Dr. Karl Grimbebg.
V- Heller.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung 1
Erstes Kapitel.
Die Entwiekeliingr Wiens zn einem Stapelplatz des
Getreidehandels.
1. Der Wiener Getreidehandel bis zur Errichtung der städtischen
Fracht- und Mehlbörse 8
2. Die Entstehung der autonomen Fracht- und Mehlbörse 1869
und ihre Entwickelung bis zur Gegenwart 20
3. Die Entwickelang des Wiener Getreidehandels seit Entstehung
. der autonomen Börse 29
Zweites Kapitel.
Der Wiener Getreidehandel nnd seine Technik in der
Gegenwart.
L Die Produktenbörse 84
1. Die Verfassung der Produktenbörse 84
2. Der Getreideterminhandel 40
IL Die Lagerhäuser 57
1. Das Wesen und die Bedeutung der Lagerhäuser im allgemeinen 57
a) Die Bedeutung der Lagerhäuser 57.
b) Die rechtliche Ordnung der Lagerhäuser in Oesterreich . . 60
c) Der Lagerschein 66
d) Die Lagerhaustechnik im allgemeinen 75
2. Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien 78
a) Die Lagerhäuser der ersten österreichischen Aktiengesellschaft
für öffentliche Lagerhäuser in Wien 78
b) Die Lagerhäuser der Stadt Wien 82
c) Die Technik der Wiener Lagerhäuser 87
3. Die Privatdepots. Die Magazine der Transportuntemehmungen 90
4. Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser 91
a) Technische Mängel 91
b) Die Arbeiterverhältnisse 95
c) Das Lagerhausgesetz 100
yill Inhaltsverzeichnis. [VIH
Seite
III. Die Verkehrseinrichtnngen im Dienste des Getreide-
handels 108
IV. Die Träger des Getreidehandels 120
1. Die Getreidehändler und ihr Geschäfts varkehr 120
2. Die Lagerhaasgenossenschaften 130
a) Die Lagerhansgenossenschaften und ihre Stellung im Ge-
treidehandel 130
b) Die Grenzen der genossenschaftlichen Organisation des Ge-
treidehandels in Oesterreich 139
y. Reformbestrebungen und Reform vorschlage .... 145
1. Die Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens 145
2. Die Reform der Produktenbörse und des Geschäftsverkehrs . 153
3. Die Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide . 155
87J 1
Einleitung.
Die ausschlaggebende Bedeutung, welche der Ecfrnerbau noch
immer für den landwirtschaftlichen Betrieb besitzt, bringt es mit
si<?h, da^s die Forderung nach einer für die Landwirtschaft günstigen
Organisation des Getreidehandels immer von neuem erhoben wird*
Insbesondere sswei Versuche treten dabei in der Gegenwart hervor.
Einesteils das Bestreben, den Landwirten selbst den Verkauf ihrer
Produkte zu sichern, sie unabhängig zu machen von Zwischenhänd-
lern in der Organisation der genossenschaftlichen Lagerhäuser f&r
den Getreideabsatz, andererseits der Versuch, den Einfiuss der
grossen Zentralmärkte des Getreidehandels, der Getreidebörsen, auf
die Preisbildung abzuschwächen, insbesondere durch Beseitigung des
Terminhandels in Getreide. Zwischen diesen beiden Thatsachen,
Terminhandel und Lagerhäuser, stellt die agrarische Agitation einen
Zusammenhang her, den wir für irrig halten, der aber einer formal-
logischen Eonsequenz nicht entbehrt. Von dem Gedanken ausgehend,
dass die Landwirte den Handel mit ihren Produkten selbst in der
Hand behalten sollen, hat man die Lagerhäuser errichtet. Ihre
Entwickelung entspricht nicht immer den Erwartunge^n. Das Ge-
schäft erscheint schwierig und gefahrvoll, insbesondere von der
kaufmännischen Seite her, eine Beeinflussung der Preise im Inter*
esse der Landwirte ist den Lagerhäusern nicht möglich, ebensowenig
eine grosse Organisation zur Selbstversorgung des staatlichen Ge-
bietes mit Brotfrüchten.
Hier tritt ihnen der zentral(ß Getreidemarkt mit seiner preis-
bildenden Eraft und auf ihm wieder vor allem der Termizihandel
mit seinen Auswüchsen und seiner geheimnisvoJUen, aus dem Nichts,
den 31ankoverkäufen und -kaufen, geschaffenen Bewegung entgegen.
Was Wunder, wenn man meint, zuerst diesen Feind bekämpfen zu
müssen, der mit lähmender Eraft die freie Bewegung und die reellen
Handelsgeschäfte der Lagerhäuser der Landwirte zu hemmen scheint.
So begegnen wir auf der einen Seite einer sehr bemerkenswerten
Wiener Studien. III. Bd., «. Heft. 1 [7]
2 Einleitung. [88
Organisations- und Selbsthilfethätigkeit der Landwirte, auf der
anderen einer durch Schlagworte und politische Interessen immer
von neuem genährten Agitation, um das Verbot des Getreidetermin-
handels durchzusetzen. Die Aufregung ist gross. Der Worte und
der Druckerschwärze ist schon gar viel aufgewendet worden. Es
gibt kaum eine öffentliche Körperschaft und eine politische Debatte^
in der nicht über den Getreidehandel gesprochen, das Verbot des
Terminhandels verlangt oder bekämpft wurde. Aber das Einfachste
ist noch nicht geschehen, um die Frage, wie denn der Getreide-
handel in Wien organisiert ist, welche Bedeutung er besitzt, welchen
Zwecken und Interessen er dient, welche Einrichtungen mit ihm
zusammenhängen, haben sich nur wenige gekümmert. Diese Lücke
auszufüllen oder doch einen Beitrag zur Erkenntnis der Lage und
Bedeutung des Wiener Getreidehandels zu geben, ist der Zweck der
folgenden Darstellung. Sie will vor allem schildern. Die Entstehung,
die Organisation und die technischen Einrichtungen des Wiener Ge-
treidehandels sollen dem Leser in einfachen Umrissen, möglichst
durchsichtig und klar vorgeführt werden, damit er erkennt, welche
grosse Aufgaben hier noch der inneren Getreidehandelspolitik vom
Standpunkte Wiens und Oesterreichs aus gestellt sind. Das Ver-
ständnis soll geweckt werden für die Bedeutung eines grossen, mit
den modernen Mitteln der Verkehrstechnik und der kaufmännischen
Technik arbeitenden Getreidehandels, mag er nun in der Zukunft,
wie jetzt, in den Händen privater Eaufleute oder in den Händen
der ländlichen Genossenschaften liegen.
Wien ist im Laufe der Zeit ein Stapelplatz des Getreidehandels
geworden und darf sich die Vorteile eines solchen nicht mehr ent-
gehen lassen. Die Industrie, die Konsumenten, die Verkehrsanstalten,
der Handel und endlich die Landwirte selbst sind daran interessiert.
Es wird genügen, wenn wir die Bedeutung eines solchen Handels-
zentrums in einigen Punkten nachweisen.
Da steht Allem voran die Entlastung der industriellen Pro-
duktion von dem Geschäfte der Vorratbildung, auf deren Wichtig-
keit von vielen Nationalökonomen, besonders überzeugend, wie wir
glauben^ von Mabx in seiner profunden Analyse des kapitalistischen
Produktionsprozesses, hingewiesen worden ist. Nur auf niederer
Stufe der Produktion, d. h. dort, wo die Produktion noch wenig
differenziert und wesentlich auf die Befriedigung des Selbstbedarfs
gerichtet ist, wo das Produkt wenig oder gar nicht die Form der
Ware annimmt, gewerbliche Produktion und Urproduktion oft noch
miteinander verbunden sind, etwa in der Naturalwirtschaft, ist auch
89] Einleitung. 3
die Vorratsbildung ein Geschäft der Produktion und kann sie es^
ohne Hemmung derselben sein. Man denke aber, dass der moderne
Kapitalist den gesamten Vorrat an Eloh- und Hilfsstoffen für eine
Produktionsperiode hinlegen wollte ! Welch riesige Summen müsste
zum Beispiel eine grosse Dampftnühle, deren Yermahlungsfähigkeit
etwa 200 000 Meterzentner halbjährig ist — ein nicht allzu seltener
Fall — investieren, oder eine grosse Baumwollspinnerei! Wie
grosse Summen müssten in jedem einzelnen Falle für den Bau
von Speichern, für die Besoldung des für die Verwaltung und
Konservierung des Vorrates nötigen Personals ausgegeben werden,
und wie unökonomisch wären diese Ausgaben, wenn man be-
denkt, dass die Produktion oft nur eineiv Teil des Jahres über
mit solcher Intensität betrieben wird, dass der Apparat zur Vor-
ratsbildung voll ausgenutzt werden kann! Und doch ist für den
industriellen Kapitalisten die Sorge des steten Vorhandenseins von
Roh- und Hilfsstoffen ungleich wichtiger, als für den Produzenten
jener primitiven Stufe ; die Werkzeuge des Handwerkers verdarben
nicht und es stürzte seine Kalkulation nicht um, wenn einmal,
etwa infolge Mangels an Rohprodukt, eine kurze Unterbrechung
der Produktion eintreten musste; ja oft handelte es sich überhaupt
nur um die Aufarbeitung eines bestimmten Vorrates, etwa des
eingeernteten Flachses. Anders im kapitalistischen Grossbetriebe,
Jeder Tag, den die Maschinen stille stehen, ist Raub am Kapital;
die Kontinuität der Produktion muss womöglich aufrecht erhalten
werden.
Darum kann der Kapitalist aber auch nicht auf Bestellung,
sondern muss „für den Markt' produzieren, wodurch der faktische
Umschlag des Kapitals oft eine längere Periode in Anspruch nimmt
und ein weiterer Teil seines Kapitals der Produktion, der Veraus-
gabung für Arbeitslöhne, Maschinen etc. entzogen und in Vorräten
fertigen Produkts festgelegt werden muss.
Aus diesem Dilemma führt nur die Trennung der Funktion
der Vorratbildung von dem eigentlichen Geschäfte der Produktion
und ihre Uebernahme durch den Handel. Je kräftiger dieser ist,
je mehr der gesellschaftliche Vorrat sich in seinen Händen kon-
zentriert, desto geringer kann derselbe sein in der Hand des in-
dustriellen Kapitalisten. Der Anteil^ des von der Vorratbildung
gebundenen Kapitals wird umgekehrt proportional sein „zur Ge-
schwindigkeit, Regelmässigkeit und Sicherheit, womit die nötige
^ Marx, Kapital, Bd. II, S. 113.
4 Einleitung. [90
Masse von Rohstoff stets so zugeführt werden kann, dass nie Unter-
brechung entsteht* und — wie wir hinzufügen wollen — zur Ge-
schwindigkeit, Begelmässigkeit und Sicherheit, womit auf der anderen
Seite die Fabrikate stets so abgestossen werden können, dass der
Fabrikant immer die zur Bezahlung der Rohstoffe und Arbeitslöhne
notwendigen Mittel flüssig hat.
Nur die Möglichkeit, das Getreide, das sie braucht, durch den
Wiener Handel in jedem Momente rasch heranzuziehen, gestattet
der kleinen Mühle auf dem Lande, „von der Hand in den Mund*
zu kaufen, wie es in der Vulgärsprache des Handels heisst. Und
andererseits ist ein kräftiger und gut organisierter Handel stets in
der Lage, der Produktion ihre Erzeugung abzunehmen, was in
unserem Falle gleichbedeutend ist mit der Sicherheit für die Land-
wirte, auf einem ordnungsgemäss funktionierenden Zentralmarkt stets
einen Abnehmer für ihr Getreide zu finden.
Ein weiterer Vorteil, den der Stapelhandelsplatz für sich und
sein Staatsgebiet auszunutzen vermag, ist der Einfluss, den er auf
die Preisbildung auch dann gewinnt, wenn es sich, wie beim Ge-
treidehandel in Wien, um eine Ware handelt, die eingeführt wird.
Die Annahme, dass die Preise eines Importlandes unvermeidlich
vom Auslande diktiert werden, ist falsch. Nicht nur kann das Im-
portland sich einen bedeutenden Einfluss auf die Preisbildung sichern,
es kann, wenn es sich des Handels dortselbst zu bemächtigen weiss,
sogar umgekehrt dem Exportlande die Preise vorschreiben. Wir
verweisen auf Argentinien. Welche RoUe dieses Land im Getreide-
import Europas spielt, ist bekannt; und doch ist die Preisbildung
dort eine durchaus unselbständige.
Die grossen Importfirmen der belgischen, englischen und deut-
schen Stapelplätze haben sich von allem Anfang an durch Errichtung
von Einkaufsfilialen in Argentinien des argentinischen Getreide-
exporthandels bemächtigt, und der deutsche Konsul Eabgeb schreibt:
„Der Preis des Exportgetreides wird niemals an der hiesigen Börse
(Buenos Aires. Anm. d. Verf.) festgesetzt, sondern ausnahmslos von
drüben her diktiert, und, es existiert daher überhaupt kein Speku-
lationsgeschäft in Getreide ^.^
Durch gut organisierte Stapelplätze kann ein Staatsgebiet den
Handel für andere an sich ziehen; dasselbe Verhältnis, in welchem
sich der einzelne Produzent dem Handel gegenüber befindet, kann
*) Professor Dr. Karger, landwirtschaftlicher Sachverständiger in Buenos
Aires, Landwirtschaft und Kolonisation im spanischen Amerika. Leipzig 1901,
S. 350.
91] Einleitung. 5
sich auf grosser Stufenleiter zwischen Ländern reproduzieren; wir
verweisen auf Holland, welches enorme Reichtümer aus dem Durch-
fuhrhandel zieht. Die staatswirtschaftliche Bedeutung des Durch-
fuhrhandels könnte nicht eindringlicher zum Ausdruck gebracht
werden, als dies in dem Berichte der amerikanischen Kommission
zum Studium des europäischen Lagerhauswesens der Fall ist.
„Es ist die Frage von grosser Bedeutung, in welchem Lande
lagern hauptsächlich die Austauschprodukte und Fabrikate der Welt
während der Periode zwischen ihrer Entstehung und dem Konsum ;
welches Land wird dieses grosse Geschäft vermitteln; wer soll den
Genuss des Transportgeschäftes haben; wessen Maschinen und Ar-
beiter sollen die Lagerhäuser, Docks und Bassins versorgen ; wessen
Eaufleute die Lagerhausgebühren erhalten; wer soll die Yersiche-
rungs-, wer die Kommissionsgebühren und den Gewinn des Verkaufs
sowie der Verschiffung erhalten^?**
Für die Transportanstalten sind die Stapelplätze von grossem
Vorteil, da die Konzentration des Güterverkehrs eine Oekonomie in
der Verwendung der Transportmittel ermöglicht, die um so be-
deutender sein wird, je rascher die Ent- bezw. Beladung des Trans-
portmittels erfolgen kann. '
Dass die Konsumenten an einer Konzentration des Güterverkehrs
an den Stapelplätzen sehr lebhaft interessiert sind, leuchtet schon
ein, wenn man überlegt, dass in der heutigen privatwirtschaftlich
arbeitsteiligen Produktionsweise ein Gut oft drei-, viermal und öfter
die Form der Ware, des Tauschwertes, annehmen muss, ehe es
seinen endgültigen Verbraucher erreicht. Der Gesamtzirkulations-
prozess, den jedes einzelne Gut durchmachen muss, ehe es gebrauchs-
wert wird, setzt sich so zusammen aus einer ganzen Kette von
Zirkulationsprozessen; diese Teilprozesse an einem Orte zu kon-
zentrieren und dadurch die Kosten des Gesamtzirkulationsprozesses
zu verringern, ist eine der wichtigsten Funktionen der Stapelplätze.
Sie sind für den Konsum aber von besonderer Bedeutung in einem
Importlande dadurch, dass sie durch einen steten Zusammenfluss von
Ware eine regelmässige Versorgung des Konsums ermöglichen.
Um ihre Funktionen in wirksamer Weise erfüllen zu können,
bedürfen die Stapelplätze einer entsprechenden Organisation, sicherer
Häfen, Landungsplätze, Einrichtungen für die Ent- und Beladung
der Transportmittel, Banken, welche die Geldmittel für den Einkauf
billig zur Verfügung stellen, und einer zweckdienlichen Organisation
* Citiert bei Dr. Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884, S. 34.
6 Einleitung. [92
des Geschäftsverkehrs, die je nach den Verhältnissen nnd je nach
der historischen Entwickelung im Rahmen der allgemeinen oder
im Rahmen besonderer Warenbörsen erfolgen und zweckdienlich
sein wird.
Oesterreich ist seit langem ein Oetreide importierendes Land.
Nicht nur vermag es den Brotbedarf für seine. Bevölkerung nicht
zu decken, es müssen auch alljährlich ganz enorme Quantitäten
Futtergetreide für die Landwirtschaft importiert werden, ja dieser
Import erreicht an Bedeutung heute fast schon den von Brotgetreide,
welcher immer mehr durch den Import von Mehl zurückgedrängt
wird ^. Und der Import von Futtergetreide wird immer wichtiger
in dem Masse, als die geringe Rentabilität des Eörnerbaus die
Landwirte zwingt, in intensiverer Yiehwirtschaft eine Kompensation
zu suchen.
Wien ist durch die natürliche Lage dazu prädestiniert, diesen
Importhandel zu besorgen und gleichzeitig Oesterreich einen ent-
sprechenden Anteil am Getreidewelthandel zu erobern. Gleichwohl ist
diese Aufgabe Wien nicht leicht geworden. Länger als an anderen
Orten dauerte es in Wien, bis erbgesessene Vorurteile verschwanden,
eine moderne AuffassuRg der wirtschaftlichen Funktion des Getreide-
handels bei den städtischen Verwaltungsbehörden Eingang fand, und
noch länger, bis die für einen Getreidegrosshandel unerlässlichen
Verkehrseinrichtungen, Landungsplätze und Lagerhäuser geschaffen
waren, Während im Grossherzogtum Baden der Staat es sich viele
Millionen kosten Hess, um aus Mannheim einen grossen Getreide-
stapelplatz zu machen, obwohl der Getreidehandel Mannheims für
Baden lange nicht die unmittelbare Bedeutung hat, wie der Wiens
für Oesterreich, so sehen wir in Wien das umgekehrte Schauspiel,
ein fast teilnahmsloses, zumindest aber sehr "unaufmerksames Ver-
halten der öffentlichen Verwaltung und der Transportuntemehmungen,
dessen drückende Wirkungen durch Missgriffe der Gesetzgebung noch
verstärkt wurden.
Mit der Gunst der natürlichen Verhältnisse ist in Wien ge-
wissermassen Raubbau getrieben worden, dessen Eonsequenz der
Niedergang eines einst blühenden Handelszweiges ist. Und schon
beobachten wir, dass die benachbarten ungarischen Stapelplätze den
\ Nach den Ergebnissen der Zwischenverkehrsstatistik pro 1900 beträgt die
Einfuhr aus Ungarn allein : Mais 2 879 952 Meterzentner, Hafer 2 543436 Meter-
zentner, wozu in Mais speziell noch die bedeutende Einfuhr aus den Balkan-
ländem kommt, die jedoch nur in den Ziffern der gemeinsamen Einfuhr des
Österreich-ungarischen Zollgebietes zum Ausdruck kommt,
93] Einleitung. 7
augenblicklichen Stillstand in der Entwickelang des Getreidehandels
in Wien kräftig zu nutzen suchen.
In Raab ist ein grosses, modern eingerichtetes Getreidelager-
haus erbaut, in Pressburg ein Winterhafen eröffnet worden, der
zu einem Handelshafen umgestaltet und mit Lagerhäusern ausge-
rüstet werden soll, um den Exporthandel aus Nordungarn über
Pressburg zu lenken. Die ungarische Regierung hat dazu bereits
ihre Unterstützung geliehen durch Erstellung eines direkten kom-
binierten Tarifes mit Süddeutschland. Auch in Budapest soll ein
neuer grosser Handelshafen gebaut werden. Budapest hat Wien,
Fiume Triest den Gersteverkehr allen Anstrengungen des öster-
reichischen Handels zum Trotz abwendig machen können, nur weil
weder der eine noch der andere Platz die zur Herrichtung für den
Export nötigen maschinellen Vorrichtungen besitzt.
Es ist ein eigentümHcher, um nicht zu sagen unverständlicher
Kontrast, dass viele Millionen ausgegeben werden, um den Verkehr
Wiens durch den Donau-Oderkanal zu heben, während auf der
anderen Seite für einen bedeutenden Verkehr, den man schon hat,
nicht ein Bruchteil dieser Opfer aufzubringen ist, obwohl dessen
Nützlichkeit für die gesamte Volkswirtschaft noch weit fragloser ist,
als die aus der Anlage jener Millionen.
Rasche und gründliche Abhilfe der vorhandenen Uebelstände,
eine dauernde Beseitigung jener Hemmnisse, welche der Ent Wicke-
lung Wiens zu einem bedeutenden Getreidestapelplatze im Wege sind,
liegt aber nicht allein im Interesse der gesamten Volkswirtschaft
und innerhalb derselben ganz speziell der Landwirtschaft, sondern
speciell auch des Landes Niederösterreich und der Stadt Wien.
Dies wird, wie wir hoflFen, die folgende Darstellung darthun.
Sie soll, soweit uns eine geschichtliche Darstellung bei dem Mangel
an jeglicher Vorarbeit möglich war, zeigen, wie diese Organisation
geworden ist und warum sie gerade so geworden ist, wie sie ist,
und nicht anders. Denn nur so kann es geUngen, das Zufällige,
Entbehrliche vom Notwendigen, Unentbehrlichen zu unterscheiden.
Sie soll aber auch zeigen, in welchen Punkten die Beformbewegung
einzusetzen hat, um Missstände und Hindernisse emer aufsteigenden
Entwickelung unseres Getreidehandels zu beseitigen.
8 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [94
Erstes Kapitel.
Die Entwickelung Wiens zu einem Stapelplatz dea
Getreidehandels.
1.
Der Wiener Qetreidehandel bis zur Errichtung der städtischen
Frucht- und Hehlbörse.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wies der Qetreidehandel
in Wien im wesentlichen noch jene Züge auf, die ihm durch die
Stadt- und territorialwirtschaftliche Politik der früheren Jahrhunderte
aufgeprägt waren.
In einem Umkreise von vier Meilen um Wien, der sog. Bann-*
meile, war der Aufkauf von Getreide zum Zwecke der Wiederver-
äusserung strenge verboten, der Verkauf in Wien war nur auf den
eigens hiefür angewiesenen Fruchtmarktplätzen gestattet, deren in
Wien drei bestanden: die „ Landmärkte '^ an der Stelle des heutigen
„ Getreidemarkt '^ und des „ Mehlmarkt '^, wo die Landzufuhren, und
der „Wasser körnermarkt ^ am stadtseitigen Ufer des Donaukanals, wo
die Zufuhren auf der Donau zum Verkaufe gelangten. Der Getreide-
handel zwischen den einzelnen Provinzen war im allgemeinen ver-
boten, Ausfuhr und Durchfuhr mit schweren Zöllen belegt, die
erstere häufig zeitweilig ebenfalls verboten.
Aus dem zähen Kampf, welchen die öffentliche Gewalt die
Jahrhunderte hindurch gegen den mit der allgemeinen wirtschaft-
lichen Entwickelung in der Form des Schleichhandels immer üppiger
werdenden Zwischenhandel geführt hatte, einem Kampf, der sich in
zahllosen Verordnungen, Einschärfungen und Strafanordnungen wider-
spiegelt, musste aber der Zwischenhandel schliesslich als Sieger
hervorgehen.
Die strenge Reglementierung des Getreidehandels hatte ihre
soziale Bedeutung, die darin bestanden hatte, die Entwickelung des
Städtetums, die Arbeitsteilung zwischen gewerblicher und landwirt«-
schaftlicher Produktion zu fördern, verloren, weil einerseits diese
Arbeitsteilung soweit durchgeführt war, dass sie einer treibhaus-
mässigen Züchtung nicht mehr bedurfte, und weil andererseits der
Regierung die Entwickelung des Manufakturen- und Fabriksystems
auf dem fachen Lande sehr am Herzen lag. Eine Vergewaltigung
95] Der Wiener Getreidehandel etc. 9
der Urproduktion, wie diese Verbotsgesetze und insbesondere der
Marktbann sie vorstellten, passte aber auch nicht m^hr zu den
bäuerlichen Sozialreformen der theresianisch-josephinischen Epoche.
Die ängstliche Bureaukratie konnte sich nicht entschliessen
den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen und erst die
Initiative des gegen den Konservatismus auf allen Gebieten der
Staatswirtschaft rücksichtslos anstürmenden Joseph II. führte eine
freiere Gestaltung des Getreidehandels herbei. Als der Rat der
Hofkanzlei im Jahre 1789 wieder verlangte, dass gegen die «Körner-
vorkäuflerei** etwas unternommen werden solle, erwiderte Joseph II.
in der ihm eigentümlichen drastischen Weise: Jch begnehmige
das Einraten der mehreren Stimmen, die allein zweckmässig und
anpassend, die minderen aber enthalten nur gewöhnliche, verderb-
liche Vorschläge, welche von Kuchelbüchern hergeleitet und auf
die Staatsverwaltung wollen ausgedehnt werden** \ So war das
Notwendige, wenn auch noch immer nicht erlaubt, doch geduldet.
Noch einmal sollte es jedoch mit den , Kuchelbüchern* probiert
werden. Von der allgemeinen Reaktion, welche nach dem Tode
Josephs IL eintrat, blieb auch dieses Gebiet der Staatswirtschaft
nicht verschont. Teuerung des Getreides bot der Reaktion will-
kommenen Anlass zu einem Vorstoss gegen den verhassten Vorkauf,
und der Mangel einer ordentlichen Statistik über Produktion, Konsum,
Aus- und Einfuhr machte es leicht, den Vorkauf als die alleinige
Ursache der Teuerung hinzustellen.
Eine von Leopold IL eingesetzte Wohlfeilheitskommission stellte
dies sogar ausdrücklich fest und auch die Hofkanzlei spricht von
„unseligen Verfügungen der Regierung" und verlangt Wiederein-
führung des Vorkaufs Verbotes in einem Umkreise von vier Meilen
um Wien*
Die humane Agrarpolitik Josephs IL ganz zu verleugnen,
konnte sich sein Nachfolger indes nicht entschliessen« Leopold IL
gab den Gegnern des Vorkaufs nach, wieis aber gleichzeitig auf
die Gefahren einer allzu engherzigen Handhabung der Marktvor-
schriften hin und bemerkte, dass „a) zwar Ordnung aber nicht Zwang
herrschen solle, b) dass das flache Land nicht als wäre
solches der Hauptstadt zinsbar behandelt werden darf, und
dass für das Eigentum des Erzielers durchaus Achtung getragen
werden muss" ^.
^ Alexander Gigl, Geschichte der Wiener Marktordnung. Wien 1865, S. 38.
^ KaiserL Handbillet vom 9. August 1791, abgedruckt bei Gigl S. 207.
10 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandeh. [96
Der Bückschlag war nur von kurzer Wirksamkeit. Die Wieder-
einsetzung der Yerbotsgesetze hatte nicht den geringsten Erfolg;
die Getreidepreise stiegen fortwährend, da die Ursache der Preis*
Steigerung eben nicht im Vorkauf, sondern hauptsächlich in der
durch die Bankozettelwirtschaft stark verminderten Kaufkraft des
Geldes gelegen war \ Ebensowenig hatte sie die Abnahme der
Zufuhren auf die ^Landmärkte* aufhalten können. Um so mehr
musste man darauf bedacht sein, den Handel zu animieren, Ge-
treide aus den entfernteren Gebieten Ungarns, insbesondere aus
(dem fruchtbaren Banat, auf der Donau heranzubringen. In diesem
Sinne schritt man 1807 an eine Reorganisation des Wasserkömer-
marktes, als deren Zweck das sie verfügende Hofkanzleidekret ^
ausdrücklich bezeichnet: „Erzeuger und Händler durch einen billigen
und lohnenden Absatz zu begünstigen und zu den ausgedehntesten
Unternehmungen aufzumuntern, einen Zusammenfluss der Früchte
zu bewirken und so die Vorräte der Verkäufer mit jenen des
kaufenden Publikums in eine wohlthätige Verbindung zu bringen."
Diesen Intentionen entsprechend wurden für grosse Schiffsladungen
gewisse Gebührenerleichterungen zugestanden und wird auf dem
ehemals Czerninschen Gartengrund ein Magazinsgebäude errichtet,
^wo für Ordnung durch die daselbst bestehende Magazinsverwaltung
und für Sicherheit durch die daselbst aufgestellte Militärwache in
vollem Masse gesorgt ist." Gleichzeitig wurde das bis dahin be*-
standene Verbot, Getreide in Privatmagazine einzulagern, aufgehoben.
Für die Ausladung der Schiffe und zu sonstigen Manipulationen
wurden vom Magistrat Sackträger beigestellt, welche nach einem
bestimmten affigierten Tarif zu bezahlen waren; es blieb dem
Einzelnen indes unbenommen, seine eigenen Leute zu verwenden.
Im übrigen war der Handelsverkehr in derselben Weise geregelt,
wie auf den anderen Fruchtmärkten. Ein Metzenleihamt war mit
dem Magazine verbunden und die Zumessung des Getreides durfte,
Tim Uebervorteilungen zu verhüten, wohl auch wegen Kontrolle der
Verzehrungssteuer, nur durch den dazu bestellten „magistratischen
Körnerabmesser" erfolgen. Dieser kam dabei auch in die Lage,
Umsatz und Preise festzustellen, da bezüglich der letzteren Käufer
sowohl als Verkäufer „bei strenger Ahndung" verhalten waren,
dem Körnerabmesser wahrhafte Angaben zu machen. Zur Schlichtung
^ Dr. Karl Grünberg, Die Grundeigentumsföhigkeit in den böhmischen
Ländern vor 1848, S. 131 ff., in , Studien zur österreichischen Agrargeschichte",
Leipzig 1901.
* Citiert bei Barth-Barthenheim, Gewerbegesetzkunde, S. 17S. Ohne Datum.
97] I^er Wiener Getreidehandel etc. 11
von Streitigkeiten war ein Marktrichter bestellt. Diese Funktionäre
scheinen übrigens häufig die Gelegenheit wahrgenommen zu haben,
sich durch Maklergeschäfte ein Nebeneinkommen zu verschaffen,
wenigstens trägt .das citierte Dekret ihnen auf, »sich auf keine Weise
in den Handel und die Bestimmung der Preise zu mengen.*
Die fortschreitende Zerrüttung des Geldwesens infolge der
Bankozettelwirtschaft liess in den folgenden Jahren die Unhaltbarkeit
der bisherigen Getreidehandelspolitik nur um so schärfer hervortreten
und drängte die Regierung auf der einmal betretenen Bahn weiter.
Im Jahre 1817 erfolgte ein entscheidender Schritt, indem alle den
inneren Getreidehandel beschränkenden Gesetze und Bestimmungen
in der Erwägung aufgehoben wurden, „dass nach dem Resultate
aller Erfahrungen die Freiheit des Verkehrs im Innern zur Erhebung
der Kultur und zur Erreichung des wahren und natürlichen Preises
der Lebensmittel wesentlich einwirkt" ^. Ebenso wurde das Verbot
des Getreide- und ßohproduktenhandels für die Juden beseitigt;
bis dahin war denselben nur der Verkauf ihrer eigenen Fechsung
gestattet 2, welche als solche durch eine ortsobrigkeitliche Be-
scheinigung ausgewiesen sein musste. Thatsächlich war das Verbot
nie wirksam gewesen; die Ausstellung von „Landjudencertifikaten*
■ — wie diese amtlichen Bescheinigungen genannt wurden — wurde
nur zu einer ergiebigen Einnahmequelle der Ortsobrigkeiten; anderer-
seits mussten die kaiserlichen Verpflegs- und Proviantämter, trotz
wiederholter Ermahnungen durch Hofdekrete, grössere Rigorosität
rücksichtlich dieser Gertifikate walten zu lassen, ein Auge zudrücken,
weil ihnen die jüdischen Lieferanten unentbehrlich waren. Darum
war auch schon früher, in Eriegszeiten das Verbot des Getreide-
handels für Juden zeitweilig sistiert worden, so 1810. Für die end-
gültige Freigabe des Getreide- und Landesproduktenhandels an die
Juden war übrigens auch die Absicht mitbestimmend, sie dadurch
besser von den zünftig organisierten Beschäftigungen abzuhalten,
Dieser Umschwung in der Getreidehandelspolitik führte natürlich
eine gründliche Aenderung der Organisationsformen des Getreide-
handels herbei: nun stand dem freien Zug des Getreides innerhalb
der Grenzen des Kaisertums nichts mehr im Wege; das Getreide
wurde dort verkauft, wo es sich aim besten verwertete, und Getreide-
märkte konnten sich überall bildßn, wo ein Bedürfnis darnach
* Hofdekret 1817, citiert bei Barth-Barthenheim ,' Oesterr. Gewerbegesetz-
kunde S. 256. Datam unbekannt.
* Grund und Boden durften die Juden nicht besitzen ; sie konnten die
Landwirtschaft nur pachtweise betreiben.
12 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [98
bestand. Auch brauchte man das Getreide, um es zu verkaufen,
nicht mehr aufs Geratewohl auf den Markt zu fahren, der Getreide-
handel nach Muster war allgemein möglich geworden. Damit
war der gänzliche Verfall des städtischen Fruchtmarktes um so
unaufhaltsamer, als er auch den Bedürfnissen der Getreide verarbei-
tenden Gewerbe nicht mehr zu genügen vermochte, insbesondere
nicht der Müllerei und der Brauerei.
Die Struktur des Mühlengewerbes war bis zu Anfang des
Jahrhunderts eine ziemlich gleichmässig kleingewerbliche, die Mül-
lerei fast durchwegs Lohnmüllerei gewesen. Erst von den zwanziger
Jahren ab beginnt unter dem Einflüsse technischer Verbesserungen
eine Differenzierung zwischen kleineren und grösseren Betrieben
und mit ihr die Entstehung der grossen Handelsmühlen. Die erste
dieser Verbesserungen bezog sich darauf, dass es ermöglicht wurde,
mit einem Wellbaum mehrere Mahlgänge gleichzeitig in Be-
wegung zu setzen. Ihr folgte die Erfindung der Kunstmüllerei
mit Walzensystem und schliesslich die Verwendung der Dampf-
kraft. Im Jahre 1841 war die erste grosse Dampfmühle Oester-
reichs und der Monarchie überhaupt in Wien mit einem Aktien-
kapital von fl. 200,000 C. M. am Donaukanal errichtet worden.
Es war dies die Mühle der k. k. priv. Dampftnühlaktiengesellschafb^
Das Etablissement besass 3 Dampfmaschinen von 126 Pferdekräften,
stand Tag und Nacht im Betrieb und erzeugte jährlich aus Banater
Weizen 220,000 M.-C. Mehl und Gries \ Im Jahre 1852 erhielt
sie die Begünstigung jene Getreidemengen, wovon das Mehl nicht
in Wien konsumiert wurde, zum Behufe des blossen Vermahlens
verzehrungssteuerfrei beziehen zu dürfen^. Wir haben es also hier
bereits mit einem respektablen Grossbetrieb zu thun.
Auch in der Bierbrauerei hatte eine starke Konzentration
des Kapitals stattgefunden und war der Gerstebedarf stark ge-
stiegen.
Diesen Grossbetrieben konnte der lokale Pruchtmarkt jene Quan-
titäten Rohprodukts von einheitlicher Qualität, deren sie bedurften,
nicht liefern, und selbst umherzureisen und einzukaufen, hatte der
Unternehmer nicht die Zeit; er musste darum das Geschäft des
Einkaufs dem Händler übertragen. Und auch noch aus einer
anderen Ursache zog er es vor, von diesem oder durch seine Ver-
mittelung zu kaufen.
* Brodhübeä, Industrie und Handel in Oesterreich. Wien 1861, S. 50.
^ Bericht der n.-ö. Handelskammer 1852, S. 135.
99] I^er Wiener Getreidehandel etc. 13
Der grossindustriell^kapitalistische Betrieb gestattet, wie bereits
erwähnt wurde, keine Unterbrechung der Produktion, weil diese
einem efiPektiyen Kapitalsverluste gleichkommt. Auf der einen Seite
wird so ununterbrochener Zustrom von Rohprodukt notwendig, wäh-
rend auf der anderen Seite die Umschlagsperiode des Kapitals sich
verlängert. Der Kauf auf dem Fruchtmarkte erheischte aber so-
fortige Barzahlung, da man es hier mit kleinen Produzenten zu
thun hatte, welche das Geldbedürfnis auf den Markt trieb; nur der
Händler gab Kredit.
In dem Bedürfnis nach dem Zwischenhandel begegneten sich
also gleicherweise die Interessen der Produktion und des Konsums,
an die Stelle des Fruchtmarktverkehrs in Wien trat der Verkehr
der Händler mit den Konsumenten, der Börse verkehr, der vorerst
allerdings noch nicht das Ansehen eines solchen hatte und der
behördlichen Sanktion entbehrte. Es waren regellose Zusammen-
künfte von Produzenten, Händlern, Brauern, Müllern, die all-
wöchentlich an den Wochenmarkttagen, Mittwoch und Samstags
in dem Mehringerschen Kaffeehanse »zur Mehlgrube^ statt-
fanden, wo auch früher schon der Sammelpunkt der Interessenten
des Getreide- und Mehlhandels gewesen war. Ein „ Marktbeschauer ^
hatte für die Feststellung der Preise, ein Marktkommissär für die
Aufirechterhaltung der Ordnung zu sorgen.
Trotz der, wie erwähnt, mangelnden Regelung und Sanktion
spricht der Amtsstil von diesen Zusammenkünften bereits als yOn
der „Körnerbörse*^, und die auf derselben erhobenen Preise
werden von der oflFentlichen Verwaltung als authentisch und mass-
gebend angesehen. Ein Ministerialerlass vom 8. September 1848
hatte das Marktkommissariat angewiesen, dem Ministerium c^alle
Sonnabende die Mittelpreise der hiesigen Fruchtbörse nebst einem
förmlichen Bericht über die Ergebnisse des jeweiligen Wochen-
marktes vorzulegen und ein gleiches Verzeichnis der Redaktion der
, Wiener Zeitung' mitzuteilen". Ebenso war auf Ersuchen der
Bäckerinnung die städtische Buchhaltung vom Magistrat beauf-
tragt worden, „die auf der sog. Körnerbörse amtlich erhobenen
Brotfruchtpreise bei der Feststellung der Brotsatzung, durch welche
allwöchentlich die Preise und Gewichtsverhältniss^ des Gebäcks
obrigkeitlich festgesetzt wurden, zu berücksichtigen". Die Bäcker
hatten ein begreifliches Interesse daran, dass nicht die Preise der
Landmärkte unter Zurechnung der Frachtspesen nach Wien, sondern
die Börsenpreise der Satzung zu Grunde gelegt wurden.
In Wien selbst waren fast keine Getreidehändler und die aus-
14 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [100
wärtigen Getreidehändler kamen auf diese Privatbörse nicht sehr
regelmässig, so dass von einer regulären Preisbildung in Wien
nicht die Bede sein konnte, sondern die Preise der Körnerbörse ge-
wöhnlich unverhältnismässig höher standen, als die Provinzpreise;
auch Beeinflussungen der Getreidepreise zum Zwecke der Her-
beiführung einer höheren amtlichen Notierung waren nicht unbe-
kannt. Der Zustand bedrückte das konsumierende Publikum um-
somehr, als die Bäckerzunft gleichzeitig sich eifersüchtig gegen den
Verkauf von Landbrot zur Wehr setzte, zu dessen Beschränkung
sie auch ein Hausierverbot durchsetzte. Mit Magistratserlass
vom 10. November 1849 wird einem Franz Weinbacher, Viktualien-
händler, bedeutet, „dass derselbe sich bei sonstiger strenger Ahn-
dung des Austragens des Brotes an Partheyen, in deren Wohnungen
zu enthalten habe^ ^
Auch zu unmässigen Zwischengewinnen gab die Desorganisation
und Dezentralisation der Preisbildung reichlich Gelegenheit.
Die Preisbildung faktisch in den Hauptabsatzort, nach Wien, zu
verlegen, gab es nur ein Mittel: ihre Funktionäre, die Händler, in
Wien sesshaft zu machen. Dazu war die noch immer vom Mittelalter
beherrschte Politik der städtischen Behörden freilich wenig geeignet.
Strafmassregeln sollten bewirken, was nur durch organisatorische
Reformen zu erreichen war. So meldet uns ein Magistratserlass vom
10. September 1848 «die Ausweisung eines sicheren Moritz Hirschl,
eines nach Pressburg gehörigen Israeliten, welcher seit einiger Zeit
bedeutende Getreideeinkäufe bei mehreren Schiffmeistern und ihren
Bestellten auf hiesigem Platze mit fl. 10. 24 pr. W. M. gemacht
und die so behandelten Brotfrüchte gleich wiederumben mit fl. 13. 30
— fl. 14. — pr. Metzen, sonach mit einem wucherischen Gewinne
an Müller und Getreidehäi\dler veräussert habe^.
Ferner versuchte man durch einen Deklarationszwang
dem Getreidehandel mehr Oeffentlichkeit zu verleihen, musste diesen
^ Ein derartiges Hausierverbot soll übrigens heute wieder aufleben. Auf
Antrag der Wiener christlich-sozialen Partei ist im österreichischen Abgeord-
netenhause ein Gesetz zur Annahme gelangt (Abänderung der §§ 59 und 60 der
Gewerbeordnung) , worin sich ein Paragraph (§ 60 a) folgenden Wortlautes
findet:
„Das Feilbieten von Brot und sonstigen Bäckerwaren von Haus zu
Haus oder auf der Strasse ist verboten. Die Zustellung von Brot und
sonstigen Bäckerwaren an die Kunden des Bäckers ist nur auf Be-
stellung durch ihn selbst, seine Angehörigen, sowie durch die bei ihm
im Lohn- oder Lehrverhältnis stehenden Hilfsarbeiter zulässig/
101] Der Wiener Getreidehandel etc. 15
aber bald fallen lassen, da die einzige Wirkung desselben die war;
dass die Leate ihre Geschäfte an anderen Orten abmachten. Glück-
licher war schon der Gedanke, den das n.-ö. Landespräsidium in
der Antwort auf eine Zuschrift des Magistrates ^ äusserte, worin der-
selbe offenbar über den Misserfolg des Deklariemngszwanges klagt
und um Abhilfe bittet; es heisst da, dass dieser Zustand wohl
kaum sich ändern dürfte, solange nicht den amtlich protokollierten
Käufen irgendwelche Rechts wohlthat zugewendet werden wird,
welche nach der laut gewordenen Meinung darin bestehen dürfte,
dass bei streitigen Fällen nur jenen auf der Pruchtbörse ab-
geschlossenen Käufen ein gültiges Klagerßcht zugestanden werden
soll, welche amtlich protokolliert sind^
Am 19. April 1851 kündigte ein Magistratserlass an, «dass die
bisher in einigen Lokalitäten des Mehringerschen Kaffeehauses am
neuen Markt als Privatinstitut bestehende, sog. Fruchtbörse, vom
nächsten Mittwoch den 23. an in die von den Müllern gemieteten
ehemaligen Linserschen Kaffeehauslokalitäten in der Grünangergasse
im 1. Stock übertragen werden; es werden dort die Müller, Frucht-
händler und Bäcker regelmässig alle Wochen am Mittwoch und
Samstag, wie bisher ihre Geschäfte miteinander besorgen*. Von
hier übersiedelte dann die Börse — immer noch als Privatbörse —
in die Lokalitäten des Bürgerspitals.
Erst 1853 erfolgte die unabweisliche Regelung dieses Ver-
kehres, freilich nicht auf autonomer Basis, sondern durch den
Magistrat, welcher das Institut lediglich als Hilfsmittel für die
Approvisionierung der Stadt auffasste. Da zufolge Gemeinde-
ordnung vom 6. März 1850 der Stadtverwaltung als «natürlicher
Wirkungskreis alles zugewiesen wird, was die Interessen der Ge-
meinde zunächst berührt und innerhalb ihrer Grenzen vollständig
durchführbar ist, insbesondere die Handhabung der Marktpolizei und
die Fürsorge für die Approvisionierung Wiens*, so betrachtete sie
^ Normalienbücher des Wiener Magistrats, Jahrgang 1848.
^ In diesem Ideengang findet sich bereits das Prinzip vorgebildet, welches
fOr die Organisation des Wiener Getreidehandels und der Produktenbörse rich-
tunggebend geworden und geblieben ist, wenn auch nicht in seiner ganzen
Konsequenz. Die heutige Schiedsgerichtsordnung der Produktenbörse knüpft
die Rechtswohlthat nicht an eine Deklarationspflicht, wohl aber daran, dass
die Geschäfte an einem bestimmten Orte, an der Börse abgeschlossen werden^
womit die Publizität, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar dadurch
erreicht wird, dass der Verkehr an einem bestimmten Orte konzentriert, die
Eontrolle und die Feststellung richtiger Preise erleichtert wird.
16 Entwickelung Wiens 2um Stapelplatz des Getreidehandels. [102
auch die Organisation des Getreidehandels ausschliesslich nur als
eine Angelegenheit des Magistrates.
In der Sitzung des Geraeinderates vom 7. Dezember 1858 wurde
die Eömmunalisirung des Institutes beschlossen und die Börse ging
in die Verwaltung des Magistrates über, welcher die Börselokali-
täten in Miete nahm und den Verkehr in denselben auf Grund einer
Börseprdnung regelte. Die Mitglieder der Börse nahmen an ihrer
Verwaltung nur insoferne teil, als ein aus ihrer Mitte gewähltes
beratendes Comite dem Marktkommissär, unter dessen Aufsicht
die Börse gestellt war, zur Seite stand.
Für die verwickelten Fragen des modernen Getreidehandels, in
dessen Anfangen wir bereits stehen, reichte aber die kaufmännische
Einsicht der Amtsobrigkeit nicht aus, zumal sie vielfach im Banne
des Volksvorurteils stand, welches den Getreidehandel noch immer
als Wucher betrachtete und strenge Beaufsichtigung verlangte.
So liess, als im Juli des Jahres 1853 infolge ungünstiger Ernte-
aussichten die Getreidepreise plötzlich hinaufschnellten, der Magistrat
an der Börse eine Kundmachung affichieren, worin es u. a. hiess:
„Die Müller mögen sich nicht irreführen lassen, die Preiserhöhung
ist durch die Verhältnisse nicht gerechtfertigt, sondern sie ist der
Ausfiuss schändlicher Machinationen^ u. s. f.; als das nichts
half, mussten alle Juden, welche in Wien nicht zuständig waren
und daselbst mit Getreide handelten, die Stadt innerhalb 24 Stunden
verlassen. Da die Preissteigerung durch die Verhältnisse gerecht-
fertigt war, so half natürlich auch das nichts und die Judenaus-
weisung wurde bald darauf wieder zurückgenommen.
Diese Politik verschlimmerte das üebel, statt es zu mildern.
Die Zahl der in Wien selbst ansässigen Getreidehändler war ausser-
ordentlich gering. Sie wird von der Handelskammer für das Jahr
1852 auf 11 angegeben, welche, nach ihrer Gesamtsteuerleistung
von 1152 Gulden C. M. zu schliessen, nicht eigentlich Grosshändler,
sondern Vermittler gewesen sein dürften. „In Bezug auf den Ge-
treidehandel", heisst es in einer Publikation, welche sich mit den
Ursachen der in den fünfziger Jahren in Wien herrschenden Teue-
rung des Getreides und Brennbolzes beschäftigt, „fehlt die Klasse
der Geschäftsleute, welche den Holzhändlern entspricht, gänzlich;
es gibt in Wien keine Getreidemagazine und Getreide Vorräte analog
den Holzplätzen der Wiener Holzhändler** ^. Der Getreidegross-
* Die Teuerung des Getreides und Brennholzes im Verkehrsgebiete von
Wien, deren Ursache und Hilfsmittel dagegen. Wien 1857, S. 87. Verfasser
unbekannt.
103] I)er Wiener Getreidehandel etc. 17
handel siedelte sich in dem benachbarten ungarischen Markt-
flecken an, wo er seine Angelegenheiten selbst regeln konnte.: Von
hier aus machten die Getreidehändler ihre Geschäfte mit den Öster-
reichischen Konsumenten im Eorrespondenzwege ab oder die letz-
teren besuchten die ungarischen Märkte. Soweit man aber in Wien
zusammenkam , mied man die Börse womöglich und machte den
Handel in Kaffeehäusern ab.
Die Preisbildung vollzog sich also ^ausserhalb ded Kontrolle-
Bereichs der Wiener Marktaufsicht an: den ungariachen Stapel-
plätzen und so war man in Wien nicht in der Lage, die Ursachen
plötzlich eintretender Preissteigerungen : zu kontrollieren und wirk-
lichen Machinationen gegenüber machtlos, weil der Handel in den
entfernten Handelsplätzen der Beobachtung entrückt war. That-
sächlich waren aber Verabredungen der Händler zum Zwecke der
Preissteigerung des Getreides,, war „Getreidewucher*, damals noch
möglich. Der gesamte Getreidehandel aus Ungarn yrar in den
Händen weniger, sehr kapitalkräftiger JPirmen konzentriert.. Diesen
fiel zunächst auch das Konsignations? und Kommissionsgeschäft aus
jenen entfernten Produktionsgebieten zu, welche durch die Ent-
wickelung der Verkehrsmittel fast mit einem Schlage nahe ai;t die
getreidebedürftdgen Gebiete herangerückt waren, weil bei diesen Ge-
schäftsformen der Verkäufer seinem Vermittler die Ware anver-
trauen oder doch das Reviremei^t durch ihn bcBOrgen lassen muss ;
da im Getreidehandel sehr hohe Wertsummen in Frage kommen,
kann sieh der Verkäufer nur an einen wohlakkreditierten Vermittler
wenden. ,
Wien ^ar abe^r nicht allein kein Preisbildungsplatz, auch die
Voraussetzungen dafür, dass es ein Getreidestapelplatz, werden konnte,
fehlten noch völlig — Hafenanlagen, Landungsplätze und vor allem
Lagerhäuser. . -
Am empfindlichsten war^ der zuletzt erwähnte Mangel. Man
musste sich mit von Fall zu Fall gemieteten Bäumen bebelfen, die
nur ebenso, wie Wohn- oder Geschäftsräume gegen Viertel- oder
Halbjahrsköntrakt zu haben waren, w^rend es sich dem Kauf-
manne in der Regel nur um eine Unterbringung der Waren für
kurze Frist handelt. Auch war es nicht immer leicht , derartige
Lokalitäten zu bekommen, und oft ioiusste das Vorurteil, gegen den
Getreidehandel mit teuerem Gelde aufgewogen werden K
^ Die Teuerung des Getreides nnd Brennholzes im Verkehrsgebiete von
Wien, deren Ursachen und Hilfsmittel dagegen. Wien 1857, S 125.
Wiener Studien. HI. Bd., 2. Heft. 2 [8]
18 £ntwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [104
Dabei war die Beschaffenheit der Räume äusserst mangelhaft;
es waren meist Eellerräume, wo das Getreide dem Verderben durch
Feuchtigkeit ausgesetzt war.
Dass diese Verhältnisse auf die Approvisionierung Wiens den
ungunstigsten Einfluss ausüben mussten, ist eigentlich selbstver-
ständlich ; es wird darüber geklagt, dass die Getreidepreise in Wien
unverhältnismässig höher stehen als an anderen Orten.
Besonders schlecht stand es um die Versorgung Wiens mit
Hafer. Nicht uninteressant ist die Schilderung, welche ein Getreide«
händler von damals über den Haferhandel Wieselburgs mit Wien
entwirft:^ »Der Umsatz in Wieselburg beträgt ca. 40000 Hetzen
per Woche und nicht viel weniger wechselten die Hände unter den
Händlern und Spekulanten und alles wurde nach geschehener lieber-
nähme bar bezahlt. Das Geschäft wickelte sich demnach in Wiesel-
burg in der angenehmsten Weise ab, dafür hatten aber die Wiener
Konsumenten weit weniger Ursache, mit ihren Lieferanten zufrieden
zn sein. Alle die Unarten, welche sich mehr oder weniger bei
jedem Kleinhandel einschleichen, standen auch da in voller Blüte.
Diese Bauern machten sich gegenseitig als Händler soweit Konkur-
renz, dass sie den Hafer in Wien um denselben Preis abgaben, als
sie dafür in Wieselburg bezahlt hatten. Die ganze Fracht und die
sonstigen Spesen mussten demnach in anderer Weise eingebracht
werden. Diese Kleinhändler waren nämlich bestrebt, aus wenigen
Metzen möglichst viele zu machen und um diesen Zweck zu er-
reichen, wurde der Hafer durch heisses Wasser in wahrhaft kunst-
fertiger Weise geschwellt, 20 und mehr Prozent Uebermass war
das Resultat dieser Manipulation, Wien bekam dadurch trotz Markt-
polizei keinen aufbewahrungsfähigen Hafer, bloss die einsichtsvollen
Konsumenten, welche sich durch die billigen Preise nicht verleiten
Hessen, sondern sich direkt an den Grosshandel in Wieselburg
wendeten, fanden dort jederzeit die schnellste Bedienung.^
Einsichtige Männer im Gemeinderate der Stadt /Wien drangen
auf die Errichtung von Magazinen aus kommunalen Mitteln, welche.
1853, in demselben Jahre, in welchem die Kommunalisierung der
Produktenbörse durchgeführt worden war, auch beschlossen wurde.
Eine Kommission mit dem damaligen Bürgermeister Dr. Seiller an
der Spitze, unternahm im Juli desselben Jahres die Besichtigung
der Pruchtkammern in Pest, Raab, Pressburg und Wieselburg, aber
^ Der österreichisch-ungarische Getreidehandel und Vorschläge zur Hebung
desselben von Johann Treyer. Wien 1875.
105] ^^^ Wiener Getreidehandel etc. 19
zur Errichtung von Lagerhäusern sollte es zunächst noch lange
nicht kommen. Und noch länger sollte es dauern, bis Wien zu
regelrechten, in der Nähe der Stadt gelegenen Landungsplätzen
kam. Die natürlichste und billigste Transportstrasse für den Ge-
treideexport aus Ungarn, die Donau, zog damals nicht wie jetzt in
einem ruhigen breiten Arm an der Stadt selbst, sondern sehr un-
gebärdig in zahllose Seitenarme zersplittert, in stundenweiser Ent-
fernung vom Zentrum des Verkehres vorbei. Die Schiffe der Donau-
dampfschiffahrtsgeseUschaft mussten, wann und soweit es ihnen
damals überhaupt gelang, auf dem unregulierten, allen möglichen
Wechselfällen unterworfenen Strom, bis Wien vorzudringen, an ent-
legenen, ganz primitiven Landungsstellen, ;,die weder unter sich,
noch mit den Wiener Bahnhöfen in Verbindung standen^ \ ihre Ladung
löschen. Solcher Landungsstellen gab es mehrere, eine in Nussdorf,
das damals ausserhalb der Verzehrungssteuerlinie liegend, gleichsam
den Dienst eines Depot- und Warenmagazins versah, am Spitz und
bei den Kaisermühlen, wo die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft
einen rohen Holzbau errichtet hatte, in dem die Waren notdürftig
untergebracht werden konnten; die Errichtung steinerner Gebäude
hatte der Besitzer dieser Gründe merkwürdig genug untersagt^.
Der Strom war bis zur zeitweisen Unfahrbarkeit verwahrlost.
Während noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts Zugschiffe mit je
8000 Hetzen Hafer beladen, also mindestens P/s m Tiefgang^ aus
Ungarn stromaufwärts nach Wien kamen, verschlechterten sich zu
Beginn unseres Jahrhunderts Fahrbahn und Leinpfad derart, dass
die Zugschiffahrt mit derlei tiefgehenden Fahrzeugen bis Wien herauf
unmöglich wurde. Die Schiffe fuhren bis Baab, hier wurde das
Getreide in kleinere, leichtere Schiffe umgeladen, die es nach Wiesel-
burg brachten, von wo es dann per Achse nach Wien transportiert
wurde. In Raab und vornehmlich in Wieselburg konzentrierte
sich daher damals der Getreideverkehr. In den Magazinen Wiesel-
burgs waren 1844 insgesamt 5250000 Hetzen, ein für damalige
Verhältnisse geradezu enormes Quantum, eingelagiBrt ^.
Hit der Entwickelung der Dampfschiffahrt trat eine Verschie-
bung der Handelsverhältnissß dadurch ein, dass die Datnpfschiffe
direkt bis Wien fuhren, wodurch der Umschlag in Wieselburg und
^ J. Winkler, Der Wiener Donauhandel. Wien 1874, S. 10.
^ Denkschrift der Donaudampfsohififahrtsgesellschaft, herausgegeben an<
lässlich der Feier des 50jährigen Bestandes.
' WlNKLER a. a. 0.
* Bericht der n.ö. Handelskammer 1851, S. 99.
20 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [106
der teure Achsentransport erspart werden konnte, allerdings nur
dann, wenn die Stromverhältnisse den Schiffen erlaubten, bis Wien
zu kommen. Da die Stromstrecke Pressburg -Wien in einem arg
verwilderten Zustande sich befand, war das freilich oft genug, und
gerade in der für den Getreideverkehr kritischsten Zeit, im Herbst,
nicht der Fall. Die Schiffe fuhren dann bis Raab, von wo das Ge-
treide mit der 1851 eröffneten Raab- Wiener-Bahn nach Wien ver-
frachtet wurde. Dadurch verlor Wieselburg seine Bedeutung an
Raab, dessen Verkehr einen bedeutenden Umfang annahm. Die
Verfrachtungen von Körnerfrüchten mittels Zugschiffahrt Donau-
aufwärts nach Raab werden
1868—1862 auf 22 640 313 n.-ö. Hetzen,
1862—1867 „ 12 640 099 , ,
1868—1872 , 16 516 203 , ,
zusammen 51 796 615 n.-ö. Hetzen
angegeben ^. Der Getreideverkehr Budapests, der heute dem Um-
sätze nach die erste Stelle unter den Getreidehandelsplätzen der
Monarchie einnimmt, war damals noch verhältnismässig geringfügig,
und belief sich in derselben Periode auf 28610487 n.-Ö. Hetzen. Der
Lage nach war Budapest zur Konzentration des Exporthandels nach
esterreich und nach Westeuropa weniger geeignet als das westlicher
gelegene Raab. Ein grosser Getreidehandelsplatz ist Budapest erst
nach 1866 geworden, durch den gewaltigen Aufschwung der Gross-
mühlenindustrie ^ daselbst und durch die Einführung des börsen-
mässigen Terminhandels, welche ungefähr gleichzeitig stattfand.
2.
Die Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869
und ihre Entwickelung bis zur Gegenwart.
Die Abhängigkeit von den fremden Märkten und ihre. Eon-
sequenzen wurden in Wien und Niederösterreich um so drückender
^ In der im Frühjahre 1901 in Wien abgehaltenen Terminhandelsenquete
wurde von einem Eommissionsmitgliede die Einführung des börsenmässigen
Terminhandels in Zusammenhang gebracht mit der Errichtung einer Filiale in
Raab durch die Kreditanstalt für Handel imd Gewerbe in Wien (Stenographische
Protokolle Bd. III, 8. 362). Unseren Erhebungen zufolge hat die Kreditanstalt
niemals eine Filiale in Raab besessen.
* Während sich zu Anfang der sechziger Jahre in Budapest nur 5 grössere
Etablissements befanden, die zusammen höchstens IV2 Millionen Hetzen ver-
mählen konnten, nahm die Pester Mühlenindustrie nach 1866 eine rapide Ent-
wickelung, so dass es 1870 schon 14 grössere Etabliss^m^nt^ , mit einer Mahl-
fähigkeit von 14 Millionen Metzen besass.
107] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 21
empfunden, je mehr in den folgenden Jahrzehnten, mit dem Wachs-
tum der Bevölkerung und mit der Entwickelung der Getreide yer-
arbeitenden Industrien S der Importbedarf Wiens und Niederöster-
reichs stieg. Durch den Mangel eines eigenen grossen Getreide-
handelsplatzes erlitt die Volkswirtschaft Oesterreichs aber auch noch
in anderer Beziehung eine Einbusse,
Begünstigt durch hohe Getreidepreise in Süddeutschland, niedrigen
Yalutastand in esterreich, der zur Spekulation ermunterte, durch
die Abschaffung der Ausfuhrzölle auf Getreide (1853) und ins-
besondere durch die Ausgestaltung der Schienen- und Wasserwege^
und die Yerbilligung der Frachtraten, hatte sich seit der Mitte der
fünfziger Jahre der Getreideexport aus Ungarn nach Süddeutsch-
land lebhaft gesteigert.
^) Die Biererzeugung in Wien und Umgebung (Die österreichische
Brauindustrie von 1848 — 1898 von Dr. Rudolf Sonndorfer, in »Geschichte der
österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien". Wien 1898)
belief sich:
1848 in 39 Brauereien auf 672 710 hl Bier
1855 , 36 , „ 903 257 , ,
1865 ,28 „ , 1 613 809 , ,
1870 ,24 , , 2 632 868 , „
Der Mehlversand von Wien nach den österreichischen Provinzen ge-
wann von Jahr zu Jahr und hielt sich auch in Jahren befriedigender Ernten
auf ansehnlicher Höhe, weil man sich in jenen Gegenden an das Mehl aus
Banater Weizen, wie es die Wiener Müller erzeugten, gewöhnt hatte (Handels-
kammerbericht 1857).
^) In den vierziger Jahren waren erst wenige Eisenbahnverbindungen mit
Ungarn in Betrieb; es waren hauptsächlich diejenigen mit Oberungam, Im
Jahre 1846 und in den folgenden Jahren waren von Staatsbahnen die Strecken
Pest-Waizen, Wien-Bruck und einige kleine Lokalstrecken in der Theissgegend
eröfEhet worden, 1847 die Südbahn bis Oedenburg, 1848 die Linie Marchegg-
Pressburg, die gleichzeitig bei Marchegg an die Nordbahn angeschlossen wurde,
1850 die Strecke Waizen-Gran-Pressburg. Von da ab wurden in raschem Tempo
die in die getreidereichen Gegenden Ungarns, in das Banat und in die Theiss^
gegend führenden Eisenbahnen ausgebaut und dem Verkehre übergeben; 1854
die Strecke Felegyhäza-Szegedin-Bruck , 1857 nach Temesvar, 1857 — 1860 ein
grosser Teil der Theissbahnen. Von besonderer Bedeutung für Wien speziell
war die 1857 erfolgte Eröffnung der Verbindungsbahn von der Staatsbahn zum
Hauptzollamt.
Einige Ziffern werden die Gesamtentwickelung des Verkehrs illustrieren.
Es standen Eisenbahnlinien in Oesterreich-Ungam im Betriebe:
1848 .... 1071 km
1858 .... 2401 „
1863 .... 3514 ,
1867 .... 4145 „
22 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [108
Die Schiffe, die Eisenbahn'waggons, welche das Getreide aus
Ungarn hinausführten, zogen an Wien vorbei — der Handel wurde
in Ungarn abgeschlossen, die reichen Profite aus dem Export-
geschäft fielen der ungarischen Volkswirtschaft zu.
Die Wiener Handelskammer liess es an Vorschlägen nicht
fehlen; der Referent einer von ihr eingesetzten Kommission zur
Untersuchung der Verhältnisse des Verkehrs mit Getreide, Mehl
und Brot in den Jahren 1846 — 1858 und über die Ursachen, welche
der Teuerung dieser Konsumtibilien zu Grunde liegen, erfasst die
Situation mit richtigem Blick, indem er ausführt: ,Für den öster-
reichischen Exporthandel mit Getreide könnte Wien durch Errich-
tung von Magazinen hierselbst zu einem bedeutenden Stapelplatze
gemacht werden. Es hängt dies jedoch mit der Frage der Donau-
regulierung, der Anlage eines Donauhafens in Wien u. s. w.,
also mit Gegenständen zusammen, deren Erledigung noch nicht in
naher Aussicht steht. Der Getreidehandel soll die grösstmöglichste
Freiheit gemessen, wodurch am besten der Teuerung entgegen-
gewirkt wird. Die Errichtung einer Getreidehalle in Wien
stelle sich mit Rücksicht auf die eigentümliche Organisation des
Eornhandels und bei dem Umstände, als die k. k. priv. Kredit-
anstalt für Handel und Gewerbe ohnehin Vorschüsse auf Getreide
gebe, nicht als Bedürfnis dar, abgesehen von den prinzipiellen
Gründen gegen solche Anstalten. Es sei zu wünschen, dass jähr-
lich, gleich nach der Ernte, genaue und verlässliche Ausweise über
Ernteergebnisse in den Kronländern veröffentlicht werden, um der
unbegründeten Furcht vor Mangel vorzubeugen und dem Getreide-
handel sichere Anhaltspunkte zu geben." Die Realisierung dieses
Programmes sollte ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen und
sie erfolgte so wenig planmässig, so langsam und unzulänglich, dass
sie ihre Bedeutung dadurch teilweise verliert.
Indes machte sich auch in vielen anderen Zweigen des Roh-
produktenhandels das Bedürfnis nach Zentralisation des Marktes
geltend. War bei der früheren Unzulänglichkeit der Verkehrsmittel
der Kreis der in Austauschbeziehungen zu einander tretenden Indi-
viduen verhältnismässig eng gezogen, so hatte sich derselbe nun zu
einem für den Einzelnen unübersehbaren Umfange erweitert; die
Transportmittel der Donaudampfschiffahrtgesellschaft:
1855 ... 91 Dampfboote, 306 Schlepper
1860 ... 119 « 469 ,
1865 ... 134 , 523
1870 ... 155 , 547
109] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 23
vielen kleinen Zirkülf^tions- und Preisbildungszentren mussten ersetzt
werden durch einen grossen, womöglich dem ganzen Wirtschaftskom-
plex gemeinsamen. Der gesamte Zirkulationsprozess der Ware musste
möglichst abgekürzt, seine Kosten mussten reduziert werden, indem
man den Handelsverkehr an einzelnen grossen Orten zu konzentrieren
trachtete, als welche sich von selbst jene ergaben, die den stärk-
sten Eigen konsum hatten. Schon 1858 war, auf Anregung der
niederösterreichischen Handelskammer, die Gründung einer Waren*
börse von der Wiener Kaufmannschaft auf Grund des Vereins-
gesetzes — das Gesetz über die Organisation der Warenbörsen er-
schien erst 1860 — versucht worden, zur wirklichen SchafFung der*
selben kam es aber erst 1873, aus Gründen, auf die wir hier nicht
näher eingehen können '.
Ebensowenig rückte die Reorganisation der Fruchtbörse von der
Stelle, trotzdem sie für die Stadt selbst, aus Approvisionierungs-
rücksichten, eine unabweisliche Notwendigkeit war.
Der Getreidehandel blieb daher vorerst weiter in die Formen
der Stadtwirtschaft eingezwängt, in denen er sich nicht entwickeln
konnte. Das Marktkommissariat selbst sah sich, um den gänzlichen
^ In anderen Städten, z. B. in Prag, ist diese Organisation des Waren-
verkehrs in den fünfziger Jahren in Form einer Privatuntemehmung , der sog.
Produktenhalle, versucht worden, welche mit einem Aktienkapital von
750 000 fl. errichtet wurde und als ein grossartiges , alle Produktions- und
Handelszweige umfassendes Kommissionsgeschäft in Verbindung mit einer Börse
gedacht war. Unter Mitwirkung der Handelskammer wurde eine Geld-, Waren-
und Fruchtbörse gegründet, die indes schon nach einem Jahre aus Mangel an
Teilnehmern geschlossen werden musste. Insofeme diese Produktenh9.11en auch
Lagerräume besassen und die Aufbewahrung und Bevorschussung von Waren
geschäftsmässig betrieben, können sie als unmittelbare Vorläufer der öffentlichen
Lagerhausunternehmungen angesehen werden; ihrer wirtschaftlichen Funktion
nach verhielten sie sich zu derselben etwa wie der Wucher zum kaufmännischen
Kredit. Die Lagergebühren waren, an den heutigen Verhältnissen gemessen,
geradezu enorm hoch. Sie betrugen für den Zollzentner bei gewöhnlichen
Waren 7 Neukreuzer per Woche und für den ersten Monat und 5 Neukreuzer
für die folgenden Monate. Güter, welche einen grossen Umfang einnehmen,
wie Wolle, Leder, per Zollzentner und Monat um 2 Kreuzer mehr; Körner-
früchte zahlten per n.-ö. Motzen von 10 zu 10 Tagen 2 Neukreuzer. (Die
Handels- und Gewerbekammer in Prag in den ersten 50 Jahren ihres Bestandes
1850—1900. Prag 1900, S. 56.)
Auch in Wien waren wiederholt Projekte zur Gründung derartiger Pro^
duktenhallen aufgetaucht. So lag in den ersten fünfziger Jahren dem Magistrat
der ausgearbeitete Entwurf einer Mehlhalle vor, welche unter .Aufsicht fach-
kundiger Männer den Produzenten Gelegenheit geben solle, ihre Waren billig
einzulagern und auch allenfalls einen Vorschuss darauf zu erlangen. Zur Aus-
führung kam es aber nicht.
24 Entwickelang Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [110
Verfall der Fruchtbörse aufzuhalten, veranlasst, im Gemeinderate zu
beantragen, dass den Eauflenten ein grösserer Einfluss auf die Or-
ganisation des Verkehres und die Ordnung ihrer Angelegenheiten
eingeräumt werde. In der Sitzung des Gemeinderates am 26. April
1861 wurde daraufhin „die schon vom früheren Gemeinderate an-
gestrebte Regulierung der Frucht- und Mehlbörse* beschlossen^
und ein eigenes Beorganisationskomitee eingesetzt. Die Mehrheit
in der Gemeindevertretung hielt indes mit grosser Zähigkeit an
den veralteten Zuständen fest und erst nach langem und hartem
Kampf and schlimmen Erfahrungen sollte eine bessere Einsicht
Platz greifen.
Als die ungeduldigen Besucher der Frucht- und Mehlbörse im
Oktober desselben Jahres an den Magistrat die Bitte um Kenntnis-
nahme der vorzunehmenden Wahl eines Komitees und der Ausschuss-
männer richteten, wurden sie von diesem schroff abgewiesen, mit
dem Bedeuten, dass die Approvisionierung Wiens und somit auch
die Handhabung der Marktpolizei und die Verwaltung der Mehl-
und Fruchtbörse zu den gesetzlichen Obliegenheiten der Kommune
gehöre und das Ansuchen der Börsenmitglieder ein ganz unbefugtes
Eingreifen in den Wirkungskreis der Gemeinde darstelle.
Schliesslich wurden aber doch auf Antrag des Marktreferenten
eine Anzahl aus freier Wahl der Börsenbesucher hervorgegangener
Börsenmitglieder zum Gemeinderate berufen, um hier an der Aus-
arbeitung eines neuen Statuts mitzuwirken. Sie , beendigten ihre
beschwerliche Arbeit in 30 Sitzungen* dahin, dass sie einen Organi-
sationsentwurf lieferten, Statut, Usancen und Schiedsgerichtsordnung
enthaltend. Einen ebensolchen lieferte das Marktkommissariat und
schliesslich war der Marktreferent vom Gemeinderate angewiesen
worden, auf Grund der unter Mitwirkung der Kaufleute ausgear-
beiteten Vorlage eine möglichst vollkommene Börsenordnung, all-
gemeine Usancen und eine Schiedsgerichtsordnung auszuarbeiten,
wobei ihm die möglichste Wahrung des Einflusses der Kommune,
soweit derselbe ohne Hemmung des freien Verkehres Platz greifen
kann, empfohlen wurde.
Diese drei Referate wurden in der Sitzung des Gemeinderates
vom 4. August 1863 voiji Marktreferenten vorgelegt. Die Reorgani-
sationskommission hatte sich aber engherzigerweise zu einer modernen
Auffassung des Getreidehandels nicht aufschwingen können und ver-
trat die Meinung des Marktreferenten, „dass das von den Kauf*
^ Sitzungsprotokolie des Gemeinderata 1861, III, S. 682.
111] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 25
leuten vorgelegte Statut ^als zu weit gehend in die Rechte der
Kommune eingreife*' und der Kommune nur ^einen winzigen Einfluss'^
lassen würde, was nicht nur unter der Würde der Kommune wäre,
sondern auch gegen die gesetzlichen Bestimmungen Verstösse''. Da
umgekehrt eine grosse Anzahl von Gemeinderäten sich gegen das
Statut des üarktreferenten aussprach, »weil es den Handel wieder
knebeln würde ''f so wurden die gesamten Elaborate an die Kom-
mission zurückgewiesen.
Nun schlief die Angelegenheit wieder einige Jahre; Wien blieb
der Entwicklung des Getreidewelthandels gegenüber weiter unthätig.
Ohne Zuthun, fast wider den Willen der öffentlichen Verwaltung,
entwickelten sich in Wien die ersten Keime eines Getreideexport-
handeb. In den Exportjahren 1868 — 1869 kamen die Mannheimer
Kaufleute auch nach Wien, um Getreide einzukaufen. Da der
Handel lebhaft, die Kommissionssätze infolge der noch geringen
Konkurrenz unter den Händlern ziemlich hohe waren, so fand
mancher der in Wien ansässigen Agenten und Kommissionäre Ge-
legenheit, ein schönes Stück Geld zu verdienen und den Uebergang
zum Proprehandel zu machen.
Von dieser Zeit ab trat eine Spezialisierung im Wiener
Getreidehandel in der Richtung ein, dass einzelne Kommissionäre
auch weiterhin hauptsächlich die Pflege der mit den ausländischen
Importeuren angeknüpften Beziehungen sich angelegen sein liessen,
sich zu Exporteuren qualifizierten.
Die städtische Fruchtbörse hatte von dieser Steigerung des
Handelsverkehrs wenig Gewinn. Sie wurde womöglich gemieden
und die Thatsache, dass die amtlich veröffentlichten Umsätze und
Preise gewöhnlich unrichtig waren ^, trug vollends dazu bei, sie zu
diskreditieren.
Die Zahl der Besucher und damit das Erträgnis der Eintritts-
gebühren verminderten sich statt zu steigen. Von 1014 Besuchern
und einem Eintrittsgebührenerträgnis von 6483 fl. im Jahre 1861
waren bis sum Jahre 1866 Besucherzahl und Erträgnis successive
auf 862 bezw. auf 4650 fl. herabgesunken^. Im Cafö „Stierböck*
in der Nähe der Ferdinands-Brücke war eine Winkelbörse ent-
standen, deren Verkehr bald lebhafter war als der an der Frucht-
börse. Hier suchten die Ausländer die wenigen Getreidehändler
und Vermittler auf, die damals in Wien sesshaft waren. Vom
^ Statistik der Volkswirtschaft für Niederösterreich von 1855 — 1866,
herausgegeben von der Wiener Handelskammer, S. 781.
26 Entwickelang Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [112
Jahre 1852 bis 1866 hatte sich die Zahl der Oetreidehändler in
Wien nur um 7, nämlich auf 18 vermehrt. Die ungarischen Pro-
vinzexporteure zogen es, seitdem in Budapest für den, Getreidehandel
die autonomen Börsenorganisationen der Produktenhalle und des
Lloyd entstanden waren, vor, ihre Geschäfte dort und unter Inter-
vention des Budapester Handels abzuwickeln. Zweifellos trug auch
die Einführung des börsenmässigen Terminhandels in Budapest dazu
bei, den Handel von Wien abzuziehen. Den Zwischennutzen des
Budapester Exporteurs musste der österreichische Konsument natür-
lieh bezahlen, was in den nnverhältnismässig hohen Getreidepreisen
in Wien zum Ausdruck kam.
Vielleicht hätte man noch länger mit der Freigabe der Markt-
organisation für den Getreidehandel gezögert, wenn die Verwaltung
der Fruchtbörse nicht ein Defizit ergeben hätte. Die Verwaltungs-
kosten wurden hauptsächlich aus den Eintrittsgebühren bestritten
und der Ausfall, den der verminderte Besuch der Börse von Seiten
der Händler herbeiführte, war um so empfindlicher, als jene Bäcker
vom flachen Lande, welche bei der Wiener Bäckergenossenschafb
intabuliert waren, gegen ein Pauschale von 40 fl. freien Zutritt
hatten.
Dieser finanzielle Misserfolg machte die Unhaltbarkeit des
bestehenden Zustandes handgreiflich, und im Gemeinderate, wo in-
zwischen die Anhänger des alten Systems dem mächtig aufge-
schossenen Liberalismus gegenüber in die Minorität gekommen
waren, gelangte der Entschluss zum Durchbruche, die Börse dem
Handel freizugeben.
Trotzdem noch immer nicht nur seitens vieler Begierungs- und
Marktorgane, sondern auch von Seiten vieler Börsenbesucher Ein-
wendungen erhoben wurden, welche die Kosten der Börse, die
Preisbildung, die für nötig erachtete marktpolizeiliche Ueberwachung
der Qualität der Brotfrüchte und des Mehles, den Einfluss der nicht
in Wien ansässigen Mitglieder auf die Gebarung der Börse, die
Rechtspflege an derselben u. a. m« betrafen, wurde mit Gemeinde-
ratsbeschluss vom 15. Mai 1868 anerkannt:
1. Die Mehl- und Fruchtbörse kann nur dann ihren Zweck als
Beförderungsanstalt für den Frucht- und Mehlhandel erreichen,
wenn dieselbe aufhört, ein kommunales Institut zu sein.
2. Wenn sie der autonomen Leitung und Verwaltung der
Börsenbesucher überlassen wird und der rein kaufmännische Cha-
rakter streng bewahrt.
3. Dass es zur Wahrung der Interessen der Kommune hin-
113] Entwickelnng des Wiener Getreidehandels etc* 27
reichend ist, wenn dieselbe durch einen Delegierten sich Kenntnis
vom jeweiligen Geschäftsgänge, von den Zufuhren und Verkäufen,
von den Preisen etc. zu verschaffen in die Lage gesetzt sein wird.
Der Magistrat wurde beauftragt, die Börsenbesucher von diesen
Beschlüssen mit der Aufforderung zu verständigen, aus ihrer Mitte
ein Komitee zu wählen, welches ein Gutachten über die Umgestal-
tung der Frucht- und Mehlbörse zu erstatten und seine Vorschläge
dem Qemeinderate zur weiteren Beschlussfassung vorzulegen.
Auf Grund eines von der Regierung, im Einvernehmen mit der
Gemeinde genehmigten Vereinsstatutes wurde am 15. September 1869
die autonome Börse eröffnet, ein 29gliedriger Vorstand, bestehend
aus Müllern, Bäckern und Brauern und Getreidehändlem, und von
diesem Herr Roman Uhl, der damalige Eigentümer der Wiener
Bäckerdampfmühle, zum Präsidenten und Herr Moriz Leinkauf zum
Generalsekretär gewählt.
Die nächste Entwickelungsetappe in der Organisation des Wiener
Getreidehandels, welche der Freigebung der Börse folgte, war 1873
die durch Herrn Leinkauf angeregte Einführung der internationalen
Saatenmärkte, wie sie an anderen Orten bereits bestanden. Sie
hatten sich zuerst in Budapest, dann in Leipzig gebildet und
charakterisieren eine Epoche geringerer Entwickelnng und lücken-
hafter Organisation des Getreidewelthandels und der Getreide-
statistik.
Die Saatenmärkte vereinigten alljährlich nach der Ernte — sie
fanden gewöhnlich Ende August statt — Kaufleute aus ganz Europa
in Wien; damals galt Ungarn als „Kornkammer" Europas, von dem
Ausfall seiner Ernte wurde die Gestaltung der europäischen Ge-
treidepreise sehr wesentUch beeinflusst, und man kam, wenn schon
nicht um Einkäufe zu besorgen, so doch um sich über die Gestaltung
der Marktlage zu orientieren. Von Seite der Pruchtbörse wurden
Schätzungen der Welternte publiziert, welche, grossenteils auf
privaten Informationen kaufmännischer Korrespondenten beruhend,
allerdings wenig zuverlässig sein konnten, immerhin aber ein
schätzenswertes Surrogat für die mangelnde amtliche Welternte-
statistik bildeten. Die Umsätze auf diesen Saatenmärkten waren
bis zum Ende der achtziger Jahre sehr bedeutend, effektive Ware
und Termin zusammengenommen, nach den Schätzungen der Saaten-
marktkommission 500 000—800 000 Meterzentner, und auch an
äusserem Glanz fehlte es diesen Veranstaltungen nicht, da die Er-
öffnung der Saatenmärkte in der Regel durch den Handelsminister
selbst geschah.
28 Entwiokelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [114
Gegen die Abhaltung dieser Saatenmärkte machte sich aber
seitens der Getreideexporteure Widerstand geltend, weil auf dencielben
die Kontrahenten, zwischen welche bisher ihre Thätigkeit vermittelnd
sich eingeschoben hatte, in direkte Verbindung miteinander traten
und dann auch weiterhin blieben. Der Kaufmann ist bei Anknüpfung
neuer Beziehungen ein Zauderer, aber auch hier gilt das Wort:
ce n^est que le premier pas qui coüte. Der Widerstand innerhalb
der Kaufmannschaft selbst erhielt — merkwürdig genug — Succurs
gerade von den Anhängern jener Wirtschaftspolitik, in deren Pro-
gramm das Schlagwort von der Eliminierung des Zwischenhandels an
erster Stelle steht; so wurde die Institution, deren Wert übrigens
infolge der Entwickelung des Getreidehandels und der Getreide-
statistik und seit dem Rückgänge des Exports ohnedies nur mehr
ein dekorativer war, vor 2 Jahren fallen gelassen.
Ein wichtiges Jahr in der Entwickelungsgeschichte der Wiener
Produktenbörse war das Jahr 1876. In dieses Jahr fiel die Neu-
konstituierung der Fruchtbörse auf Grund des Börsengesetzes
vom 1. April 1875, welches dem Verkehr an der Fruchtbörse endlich
die nötige sichere Rechtsbasis verlieh, welche die Börsenordnung
vom 11. Juli 1854 und das Warenbörsengesetz vom Jahre 1860 von
allem Anfange nicht hatten bieten können. Durch diese Gesetze
war namentlich der Wirkungskreis des Schiedsgerichtes in einer
dem Verkehr unzuträglichen Weise eingeengt, indem die Kompetenz
desselben, auch für die an der Börse abgeschlossenen Geschäfte,
an die Voraussetzung geknüpft war, dass die Parteien einen schrift-
lichen Schiedsvertrag errichtet hätten.
Das neue Gesetz dehnte die Kompetenz des Schiedsgerichtes
auf alle Bechtsstreitigkeiten aus sog. technischen Börsengeschäften
aus, d.h. aus solchen Geschäften, die im öffentlichen Börsenlokale,
zur Börsenzeit über Verkehrsgegenstände dieser Börse abgeschlossen
wurden, ausgenommen den Fall, dass die Parteien diese Zuständig-
keit von vorneherein schriftlich ausgeschlossen hatten. Für diese
technischen Börsengeschäfte wurden ferner, um die Unsicherheit aus
dem Börsenverkehr zu bannen und unter der Nachwirkung der
bösen Erfahrungen, welche man gelegentlich der Krise des Jahres
1873 gemacht hatte, der Einwand von Spiel und Wette ausge-
schlossen. Schliesslich verlieh das neue Gesetz den Erkenntnissen
des Schiedsgerichtes eine raschere Vollstreckbarkeit durch die Be-
stimmung, dass auch eine Klage auf Ungültigkeit des Schieds-
gerichtsspruches dessen Exequierbarkeit nicht hemmen sollte.
Eine Ausdehnung der Kompetenz der Börsenschiedsgerichte auf
115] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 29
ausserhalb der Börse über deren Yerkehrsgegenstände abgeschlossene
Geschäfte, wie sie von der Eanfinannschafb angestrebt wurde, sta-
tuierte das Gesetz wohl nicht ausdrücklich, aber implicite. Das
Statut der Fruchtbörse enthielt eine diesen erweiterten Wirkungs-
kreis zulassende Bestimmung, auf Grund welcher das Börsen-
schiedsgericht auch über Streitigkeiten aus ausserhalb der Börse
geschlossenen Geschäften entscheiden konnte, sofern die Parteien
bei dem . Abschlüsse oder der Abwickelung des Geschäftes einen
schriftlichen Schiedsvertrag errichtet hatten. Von da ab er-
fährt die Frequenz der Börse und ihres Schiedsgerichtes eine rapide
Steigerung. Die Anzahl der bei demselben anhängig gemachten
Streitsachen stieg von 237 im Jahre 1874 auf 934 im Jahre 1876
und 1649 im Jahre 1877. Sie erreichte ihren Kulminationspunkt
im Jahre 18&4 mit 4565 FäUen..
Bei der Umarbeitung, welche gelegentlich der Neukonstituie-
rung der Börse die Usancen erfuhren, wurden zum erstenmal auch
Normen für den Terminhandel in ähnlicher Weise börse-
mässig kodifiziert, wie dies schon früher in Berlin und Buda-
pest geschehen war.
Im Jahre 1896 fand eine Erweiterung der Verkehrsgegen-
stände der Fruchtbörse statt, indem die Regierung die vom Wiener
Gemeinderat bereits im Jahre 1887 beim Handelsministerium an-
gesuchte Einbeziehung anderer landwirtschaftlicher Produkte, Spiritus,
Rüböl, Oelkuchen, Pflaumen und Pflaumenmus, Heu und Stroh in
den Verkehr der Börse bewilligte, die nun den Titel ^ Börse für
landwirtschaftliche Produkte^ annahm. Im Jahre 1898 übersiedelte
sie aus den gemieteten Lokalitäten am Schottenring, die für den
stark angewachsenen Verkehr, für die Beherbergung des Schieds-
gerichtes und des Beamtenkörpers längst zu enge geworden wahren,
in das, aus ihren eigenen Fonds und aus den Mitteln eines eigens
zu diesem Zwecke aufgenommenen Anleihens, in der Leopoldstadt
errichtete Gebäude, das in seiner Art wohl eines der prächtigsten
und zweckmässigst eingerichteten der Welt ist.
3.
Die Entwickelung des Wiener Oetreidehandels seit Entstehung
der autonomen Börse.
Der Verkehr schnellte mit dem Wachstum der Produktenbörse
mächtig hinauf. Ihn in seiner Gesamtheit darzustellen ist uns nicht
möglich, weil die Ausweise der Eisenbahnen über den Getreideverkehr
30 EntwickeluDg Wiens zum Stapelplatz des Getreidebandeis. [116
Wiens unvoUständig sind. Aber der Donauverkehr Wiens in Getreide
allein, illustriert diese Entwickelung genügend. Von 8 474 000 W. C.
= ca. 4 237 000 Meterzentner im Quinquennium 1870 — 1874 war
derselbe auf ca. 13 320 000 Meterzentner im Quinquennium 1876
bis 1880, also um ca. 865 ^/o hinaufgeschnellt, wobei der Transit-
verkehr, der für diesen Zeitraum ebenfalls ca. 3300000 Meterzentner
ausmacht, nicht mitgerechnet ist. Auch in den folgenden Quin-
quennien hielt diese Steigerung — trotz , wie wir sehen werden,
ungünstigster Verhältnisse — weiter an.
Der durch die verschiedenen Schiffahrten ^ nach Wien vermittelte
Getreideverkehr beträgt rund Meterzentner:
In den Zeit- Insgesamt Davon Transitverkehr der
räumen Donaudampfsch.-Ges.
1881—1885 15 388 000 2 769 000
1886—1890 20 948 000 6 510 000
1891-1897 30489 000 10 680 381
Bis zu Ende der achtziger Jahre waren die handelspolitischen
Verhältnisse in Europa einem lebhaften Getreidehandel aus und nach
Oesterr eich- Ungarn auch durchaus günstig. Die Zollpolitik Europas
war freihändlerisch, die Konkurrenz Amerikas war noch nicht voll
entwickelt und der Import in die grossen Eonsumgebiete Europas
war durch keine Schutzzölle gehemmt. Deutschland z. B. hob von
1865 — 1879 überhaupt keine Getreideeinfuhrzölle ein und erst 1880
trat der verhältnismässig geringfügige Zoll von 1 Mark pro Meter-
zentner auf Weizen und Boggen, von 50 Pfennigen auf Gerste und
Puttergetreide in Erafb. Ebensowenig war der Eintritt fremden
Getreides nach Oesterr eich-Ungarn durch Zölle aufgehalten; bis zum
Jahre 1887 bestanden keine Schutzzölle, sondern blosse Finanz-
zölle, 40 Ereuzer auf Weizen, 30 auf Boggen, 20 auf Gerste und
Futtergetreide bis zum Jahre 1882, von da ab trat eine unbedeu-
tende Erhöhung ein.
Dadurch war allgemein eine sehr rationelle und wirtschaftliche
Verwertung des Getreides möglich, namentlich der Hauptbrotfrucht-
gattung Weizen; Ungarn beispielsweise exportierte mehr als seinen
faktischen TJeberschuss und zog dafür aus den Ländern an der un-
teren Donau Weizen heran. Für seinen ausserordentlich kleber-
reichen Weizen bekam es im 'Auslande gute Preise und der mehl-
reiche, wenn auch weniger feine Balkanweizen gab mit dem unga-
^ Donaudampfschiffahrtsgesellschaft, Ungarische Fluss- und Seeschiffahrt-
gesellschaft , Süddeutsche Dampfschiffahrtgesellschaft, zusammengestellt nach
den Jahrbüchern der Stadt Wien.
117] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 31
Tischen gemischt ein so vortreffliches Mehl, dass es unwirtschaftlich
gewesen wäre, den einheimischen Konsum mit ausschliesslich aus
ungarischem Weizen hergestellten Mehl zu befriedigen.
Die Zahl der Getreidehändler in Wien wuchs nun rasch, denn
es gab lohnende Arbeit für viele Hände. Anfangs der siebziger
Jahre übersiedelten zahlreiche Exporteure von den ungarischen
Stapelplätzen nach Wien, Proprehändler und kleine Agenten und
Kommissionäre, welche durch die Rührigkeit, mit der sie das frucht*
bare Feld bewirtschafteten, in verhältnismässig wenigen Jahren sich
zu Proprehändlem emporarbeiteten. Mühe und Kosten wurden nicht
gespart, um die Beziehungen zum Auslande auszudehnen, Reisen
dahin unternommen, um die Importeure aufzusuchen, ihr Vertrauen
und ihre Kundschaft zu gewinnen.
Gelegentlich der stärkeren Importe rumänischen Getreides und
des lebhafteren Transitverkehrs darin in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre sahen sich die rumänischen Importfirmen, welche
bis dahin ihre Geschäfte von Budapest aus und unter Intervention
des Budapester Handels betrieben hatten, veranlasst, Niederlassungen
in Wien zu gründen, wobei zwischen dieser und dem Stammhause
eine Arbeitsteilung durchgeführt wurde ; dem letzteren oblag haupt-
sächlich der Einkauf im Produktionslande und der Import nach
Ungarn; der Import nach esterreich und hauptsächlich die Pflege
des Transithandels nach Westeuropa dagegen der Wiener Filiale,
weil sie dem ausländischen Absatzgebiete näher lag und der Wiener
Handel bei den ausländischen Importeuren sich in ein derartiges
Vertrauen gesetzt hatte, dass diese seine Intervention jeder anderen
vorzogen.
Die früher geschilderten Handelsverhältnisse brachten auch eine
ausserordentlich starke Frequenz des Terminmarktes durch den
Getreidehandel und zwar auch durch den ausländischen mit sich.
Die Entwickelung des Transportwesens hatte aus ganz Westeuropa
gleichsam ein einziges Produktions- und Konsumgebiet für Getreide
gemacht, in welchem, unbehindert von Zollschranken, die internatio-
nale Terminarbitrage eine Nivellierang der Preise herbeiführte.
Die ausländischen Importeure und die ungarischen Exporteure
liessen ihre Terminoperationen durch dieselben Firmen ausführen,
mit welchen sie in effektiver Geschäftsverbindung standen; so ergab
es sich von selbst, dass der sehr einträgliche Terminkommissions-
handel vielfach neben dem Effektivhandel betrieben wurde. Aber
auch Spezialisirung auf das Terminkommissionsgeschäft war nicht
selten, leider auch in einer sehr bösartigen Richtung — es instal-
32 Entwickelung Wienfi zum Stapelplatz des Getreidehandels. [118
lierten sich Firmen an der Frachtbörse, welche das Privatpublikum
in skrupellosester Weise zum Differenzspiel in Getreide heranzogen
und zeitweilig den Markt in einer Weise beherrschten und derou-
tierten, dass die Börsekammer im Interesse des legitimen Handels
einige Versuche machte, dem Uebel zu steuern. Dieselben blieben
erfolglos und die Folge war, dass das Odium der von den Spiel-
häusern begangenen Ausschreitungen auf die ganze Organisation
zurückfiel, innerhalb welcher sie vorkamen.
Binnen relativ wenigen Jahren war so Wien ein Getreide-
handelsplatz von europäischer Bedeutung geworden, trotzdem die
Entwickelung noch immer mit schweren natürlichen Widrigkeiten
zu kämpfen hatte. Die wichtigsten Strecken der Donau waren noch
immer unreguliert; vor der Felsenenga des „Eisernen Thores"
mussten die, in Rumänien mit Getreide beladenen Schiffe ofb
monatelang warten, bis günstige Wasserstands Verhältnisse ihnett
die Passierung der geföhrlichen Stelle ermöglichten. Waren sie
endlich über Budapest hinaus gekommen, so kam eine zweite kri-
tische Passage . — die Strecke Pressburg- Wien. Zur Zurücklegung
dieser Strecke, welche unter normalen Verhältnissen kaum zwei
Tage in Anspruch nimmt, braachten bei halbwegs ungünstigen
Wasserstandsverhältnissen die Schiflfe 8 — 14 Tage und länger. Ge-
wöhnlich musste, um den Tiefgang des Fahrzeuges zu verringern,
ein Teil der Ladung in kleinere Schiffe, sog. »Schiffter** -Schleppe
umgeladen werden, wodurch zu dem Zeit- und Zinsenverlust gewöhn-
lich auch noch ein effektiver Gewichtsverlust trat. .Der stets eifer-
süchtige Nachbar in Trans trachtete natürlich die Regulierungs-
arbeiten möglichst hinauszuziehen.
Mitte der achtziger Jahre trat ein Umschwung in der euro-
päischen Getreidehandels- und Agrarpolitik ein, der nicht ohne
pachhaltige Rückwirkungen auf den Wiener Gietreidehandel blieb.
Unter dem Einfluss der wachsenden Konkurrenz Amerikas brachte
zuerst Frankreich, dann Deutschland (1887) und gleichzeitig Oester-
reich-Ungarn seine Getreidezölle auf die Höhe wirklicher Schutzzölle.
Durch die amerikanische Konkurrenz schon früher hart bedrängt,
erlitt der Getreideexport Oesterreich-Ungarns nun auch durch die
schutzzöllnerische Politik Deutschlands Abbruch. Besonders der
Export an Brot&üchten sank rapid. Die gelegentlich des Abschlusses
der Handelsverträge im Jahre 1892 eingetretene Ermässigung, der
deutschen Getreidezölle vermochte diesen Rückgang nicht aufzuhalten.
Der Wert dieser Zollermässigungen, die mit nicht unbeträchtlichen
Zugeständnissen rücksichtlich der österreichischen Industriezölle er-
119] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 33
kauft worden waren, wurde dadurch illusorisch, dass sie infolge der
Meistbegünstigungsverträge Deutschlands auch Amerika und Buss*-
land zu gute kamen. ,
Der Getreideexport Oesterreich-Ungarns belief sich im Jahres-
durchschnitt (in Tausenden von Meterzentnern) auf:
In den
Davon
Zeiträumen
Insgesamt
Gerste
Malz
1875-1879
8 036
2 492
—
1880—1884
7 756
2 579
662
1885-1889
7 854
3 407
926
1890—1894
7 587
3 936
1310
1895—1899
5 800
3 600
1622
Auch der Transithandel ging zurück. Die VerbiUigung der
Rhein- und Seefrachten lenkte den Getreidestrom aus Rumänien und
Bulgarien donauabwärts via mare und Rhein über Mannheim nach
Süddeutschland und der Schweiz, wohl auch durch das Mittelmeer
nach und über Italien. Die Donauschiffahrten konnten in der Herab-
setzung der Frachtraten den Rheinschiffahrten nicht folgen, weil sie
keine Rückfracht haben, wozu noch der Umstand kommt, dass
die widrigen Stromverh'ältnisse sie zu kleinen, irrationellen Schiffs-
typen von 2000 — 4000 Meterzentnern Fassungsraum zwangen; erst
neuestens können dank der fortgeschrittenen Regulierung auf der
Donau auch grössere Fahrzeuge bis zu 6000 Meterzentner verwendet
werden, während auf dem Rhein Schiffe mit 10000— 15000 Meter-
zentner Fassungsraum verkehren. Ueberdies kann auf dem Rhein
teilweise der Wind als Fortbewegungsmotor verwendet werden. Die
Belastung der Getreideschiffe mit einer Kanalgebühr von ca. 10 Kreu-
zern per 100kg, welche seit Eröffnung des Kanals am „Eisernen Thor*
von der ungarischen Regierung eingehoben wird, trug natürlich auch
nicht zur Förderung des Transithandels bei. Auch die Aufhebung
des Mahlverkehres that demselben Abbruch. Während des Mahl-
verkehres fand ein fast ununterbrochener Zustrom von Getreide
aus den Donauländern nach Budapest statt, dessen Mühlenindustrie
denselben hauptsächlich benutzte, und um eine Absatzchance für
rumänisches Getreide in Süddeutschland rasch auszunutzen, brauchte
man nur auf diese Konsignationen zu greifen.
Gleichwohl stieg die Bedeutung Wiens als Getreidestapelplatz,
wie die eingangs mitgeteilten Ziffern zeigen, auch in den folgenden
Jahren noch.
Wie gross der Entgang ist, den Wien während dieser Periode
durch die Vernachlässigung der Verkehrseinrichtungen, durch die
Wiener Studien. III. Bd., 2. Heft. 3 [9]
34 ^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [120
Eisenbahnpolitik and durch sonstige Mängel der Organisation seines
äetreidehandels erlitten hat, lässt sich ziffernmässig nicht feststellen ;
aber zweifellos ist derselbe sehr gross. Und er ist nm so empfind-
licher, als auf der anderen Seite der Getreidehandel Wiens eine
ganz natürliche Schmälerang dadurch erföhrt, dass, wo er erst ein-
mal die Wege geebnet hat, vielfach Konsumenten und Produzenten
miteinander in direkte Verbindung treten.
Das schwerste Entwickelungshindernis bildete die bestehende
Desorganisation des Lagerhauswesens und gewisse Mängel der Yer-
kehrseinrichtungen. Nicht nur beeinträchtigen sie Wien als Ge-
treidestapelplatz, sie wirken auch auf die Yerkehrsformen in
nachteiliger Weise zurück. Ein gut Teil der der heutigen Organi-
sation des Terminhandels an der Wiener Produktenbörse anhaften-
den Mängel, manches derzeitig notwendige Uebel im Geschäfts-
verkehr überhaupt könnte beseitigt werden oder würde von selbst
wegfallen, wenn hier Wandel geschaffen würde. Grund genug, dass
wir den breitesten Baum in unserer Darstellung dem Lagerhaus-
und Tarifwesen widmen.
Vorher aber wollen wir die kaufmännische Organisation des
Wiener Getreidehandels, die Produktenbörse, einer kurzen Betrach-
tung unterziehen.
Zweites Kapitel.
Der Wiener Getreidehandel und seine Technik in der
Gegenwart.
I.
Die Produktenbärse.
1.
Die Verfassung der Produkt^börse.
Die Börse für landwirtschaftliche Produkte in Wien ist eine
autonome Börsenorganisation im Sinne des Börsengesetzes vom
1. April 1875, untersteht jedoch unmittelbar der Aufsicht des
Handelsministeriums, welche durch einen eigens dazu bestellten
Börsenkommissär im Sinne des § 4 des Börsengesetzes ^ aus-
geübt wird.
^ ,Bei jeder Börse wird ein Börsenkommissar bestellt, welcher die Ober-
aufsicht an der Börse führt, die Ausführung aller Börsenvorschriften überwacht.
121] Die Produktenbörw. 35
Die autonome Verfassung der Börse ist durch ein Statut \
welches der Genehmigung des Handelsministeriums unterliegt,
folgenderweise geregelt: Es wird unterschieden zwischen Börsen-
mitgliedern und Börsenbesuchern. Börsenbesucher ist, wer im
Besitze einer entgeltlichen Jahreseintrittskarte ist, die Mitgliedschaft
erwirbt, wer länger als ein Jahr Börsenbesucher ist. Eine Jahres*
karte kann jedermann erhalten, der vom Börsenbesuche nicht nach
§ 5 des Gesetzes vom 1. April 1875 ausgeschlossen ist^.
Ausserdem werden an Personen, welche die Börse nur fCir einen
Tag zu besuchen wünschen, wenn sie von zwei Börsenmitgliedern
eingeföhrt werden, sog. Gastkarten ausgegeben, die für einen
Börsentag gültig sind. Diese Einrichtung ist mit Bücksicht auf jene
sehr zaUreichen Getreidehandelsinteressenten nötig, welche, ohne an
einem regelmässigen Besuch der Börse interessiert zu sein, nur zeit-
weilig dort Geschäfte zu besorgen haben, etwa nach der Ernte.
Jedermann, der im Besitze einer Jahres- oder Gastkarte ist, hat
Zutritt zu den Börsenversammlungen, deren täglich zwei statt-
finden: eine Vormittags- und eine Nachmittagsbörse; technische^
Börsengeschäfte jedoch können von Gästen nicht geschlossen werden^.
Die Leitung und Verwaltung der Börsenangelegenheiten obliegt
einem von den Börsenmitgliedern fireigewählten SOgliedrigen Aus-
schuss, welcher den Titel .Kammer der Börse für landwirt-
schaftliche Produkte^ führt. Das aktive Wahlrecht besitzt
jedes Börsenmitglied, wobei Inhaber von Tisch- oder Schranken-
plätzen ausser der Stimme auf Grund ihrer Jahreskarte noch so
viele Stimmen haben, als der Inhaber für die von ihm bezahlten
Tisch- oder Schrankenplatzgebühren Jahreskarten der höchsten
Klasse hätte lösen können. Das passive Wahlrecht besitzen nur in
Niederösterreich domizilierende Börsenmitglieder; und mindestens
Missbräuche zu rügen und, wenn nicht sogleich Abhilfe erfolgt, deren Beseiti-
gung im Wege der politischen Landesbehörde zu erwirken hat.
Der Kommissär hat insbesondere auch allen Beratungen der Börsenleitong
beizuwohnen und Beschlüsse, welche er wider die bestehenden Gesetze oder das
Börsenstatut gefasst erachtet, bis zu der im Wege der politischen Landesbehörde
einzuholenden höheren Entscheidimg zu sistieren."
^ Das letzte Statut ist vom 9. Juni 1898.
3 Jahreskarten können insbesondere nicht erteilt werden Personen, welche
im Konkurs sind oder sonst ihren YerpflichtuDgen nicht nachgekommen sind,
oder welche wegen Verbreitung falscher Nachrichten von der Börse ausgeschlossen
worden sind u. s. f.
» Vgl. S. 28. ^
^ Stenogr. Prot, der Enquete betreffend den börsenmässigen Terminhandel
mit landwirtschaftlichen Produkten, III, S. 399, 767.
36 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [122
20 von den Börsenräten müssen — mit Bücksicht auf die Amts-
pflichten, welche einem Börsenrat zufallen — ihren ständigen Wohn-
sitz in Wien haben. Das Amt eines Börs^nrates ist ein Ehrenamt
und mit keinerlei Emolumenten verbunden. Die Börsenkammer,
deren jeweilige Funktionsdauer drei Jahre ist, wählt aus ihrer Mitte
einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, welchen die Leitung
der Geschäfte auf Grund einer Geschäftsordnung obliegt, die von
der niederösterreichischen k. k. Statthalter^i genehmigt sein muss.
Die Bureaugeschäfte der Böi^se sowie die des ständigen Schieds-
gerichtes werden durch einen Beamtenkörper besorgt, an dessen
Spitze der Generalsekretär bezw. dessen Stellvertreter steht. Die
Börsenkammer hat insbesondere folgende Funktionen:
a) Sie erstattet die ihr von den Behörden abverlangten Gut-
achten.
b) Sie erlässt die Normen zur Regelung des Börsenverkehrs
(Usancen).
c) Sie besorgt die amtliche Ausmittelung der Kurse (Preise)
nach einem von ihr aufgestellten besonderen Regulativ.
d) Sie bildet das ständige Schiedsgerichtskollegium.
Zur Regelung und Vereinfachung des Verkehrs bestehen an der
Börse für landwirtschaftliche Produkte, wie an jeder anderen Börse,
sog. Usancen, eine Sammlung von Geschäfbsnormen, welche von der
Börsenkammer herausgegeben werden. Diese Normen können in
zwei Arten unterschieden werden: Erstens Usancen, welche die
Technik des Verkehrs betreflPen, wobei wir wieder unterscheiden
können zwischen solchen, die aus dem täglichen Geschäftsverkehr
heraus sich entwickelt haben, gleichsam nur die Formulierung eines
faktisch bereits bestandenen Zustandes bilden, und solchen, die den
Verkehr erst in bestimmte Formen lenken. Zweitens Usancen,
welche den Geschäftsverkehr nach seiner rechtlichen Seite hin
regeln. In Wirklichkeit findet eine Gruppierung nach diesen Ge-
sichtspunkten nicht statt und wäre wohl auch schwer durchführbar,
da . die Grenzen fliessende sind. Die Grundlage für die Schaffung
neuer oder Abänderung bestehender Usancen bildet ein vom Sekretär
des Schiedsgerichtes geführtes Spruchrepertorium, in welches alle
grundsätzlich wichtigen Entscheidungen eingetragen werden.
Die Berufung auf die Usancen enthebt die vertragschliessenden
Teile der Notwendigkeit, gewisse allgemeine Konditionen, die regel-
mässig sich wiederholen, bei jedem Vertragsschlusse ausdrücklich zu
stipulieren. So ist z. B. durch die Usancen ein für allemal be-
stimmt, wer die Emballage zur Verpackung des erkauften Getreides
123] Die Produktenbörse. 37
beizustellen hat, und innerhalb welcher Frist, wann eine Ware ge-
liefert werden muss, die einfach mit der Bezeichnung „per Früh-
jahr* verkauft wurde, wer die Verladespesen zu tragen hat, wenn
mit der Bezeichnung »ab Wien* verkauft wurde u. s, w. Wenn
ein Geschäft über Yerkehrsgegenstände der Börse und unter Börsen-
mitgliedern abgeschlossen wird, also bei technischen Börsengeschäften,
werden die Usancen für den Vertragsschluss, auch wenn eine aus-
drückliche Berufung auf sie nicht erfolgt, für den Vertragsschluss
rechtskräftig, mit jenen Einschränkungen, welche sie durch etwa
getroffene besondere Vereinbarungen erfahren. Denn die Unter-
werfung unter die Usancen der Börse ist nicht obligatorisch, a^uch
bei technischen Börsengeschäften nicht.
Für die Austragung von Streitigkeiten aus kaufinännischen Ge-
schäften bietet das Börsenschiedsgericht eine anerkannt zuver-
lässige und prompte fachmännische Justiz. Es wird gebildet aus
dem Schiedsrichterkollegium, dem sämtliche gewählten Börsenräte
angehören und an dessen Spitze der von ihm gewählte Präsident
und zwei Vizepräsidenten stehen. Personen, welche nicht Mitglieder
oder Besucher der Börse sind, haben das Recht, Personen als
Schiedsrichter zu bestellen, die der Börse nicht angehören, die sog.
Listenrichter, welche dem Stande der Produzenten und Con-
sumenten entnommen werden. Sie werden ernannt, und zwar
vom Handelsministerium auf Vorschlag der Handels- und Gewerbe-
kammer. Von dem Rechte der Wahl eines Listenrichters wird
verhältnismässig sehr geringer Gebrauch gemacht. Dem Schieds-
richterkollegium ist eine Anzahl von Sekretären beigegeben, die
zur Ausübung des Richteramtes befähigt sein müssen. Sie sind
Börsenbeamte, müssen aber vom Finanzministerium im Einvernehmen
mit dem Justizministerium beseitigt sein.
Das Verfahren vor dem Schiedsgerichte selbst ist im
wesentlichen folgendes \ Die Klagen sind> entweder mündlich öder
schriftlieh beim Sekretär des Schiedsgerichtes vorzubringen. Ueber
die Klage wird eine Tagsatzung, zur mündlichen Verhandlung an-
beraumt, zu welcher beide Parteien geladen werden. Die münd-
liche Verhandlung ist öffentlich und die Parteien sind berechtigt,
sich durch Bevollmächtigte vor dem Schiedsgerichte vertreten zu
lassen. Das Schiedsgericht besteht in jedem einzelnen Falle aus
drei oder fUnf Schiedsrichtern , je nachdem jeder der Streitteile
einen oder zwei Richter wählt. Die gewählten Richter bestimmen
^) Siehe auch Sonndohper, Die Warenbörsen. Wien 1899, S. 38 ff.
38 ^6r Wiener Getreidehande] und seine Technik. [124
aus ihrer Mitte den Obmann, der die Verhandlung leitet. Die
nötigen protokollarischen Aufzeichnungen werden durch die Sekretäre
besorgt, welche auch in die Verhandlung eingreifen und an den
Beschlussfassungen des Schiedsgerichtes mit beratender Stimme teil-
nehmen. Bei Beginn der Verhandlung hat das Schiedsgericht einen
Vergleich zwischen den Parteien zu versuchen. Die abgeschlossenen
Vergleiche sind nur dann gültig, wenn sie von beiden Parteien
unterfertigt sind. Gelingt der Vergleich nicht, so nimmt das Schieds-
gericht die mündliche Verhandlung auf. Das Urteil verkündet der
Obmann des Schiedsgerichtes laut, unter Bekanntgabe der Ent-
scheidungsgründe; diese sind auch der Urteilsausfertigung beizu-
setzen. Gegen die Urteilssprüche des Schiedsgerichtes ist keinerlei
Appellation zulässig, wohl aber, wenn das Urteil rechtswidrig er-
folgt ist, eine Nichtigkeitsbeschwerde.
Die Kompetenz des Schiedsgerichtes hat durch die neue
Zivilprozessordnung eine wesentliche Modifikation erfahren, einerseits
eine Erweiterung, andererseits eine Einschränkung. Der Wirkungs-
kreis des Börsenschiedsgerichtes ist nun gesetzlich über den Um-
fang der technischen Börsengeschäfte hinaus statuiert, gleichzeitig
aber das Gebiet genau abgegrenzt, auf welches sich die Wirksam-
keit der Börsenschiedsgerichte erstrecken darf, und jene Personen-
kategorien bestimmt , welche vermöge ihres geschäftlichen
Interesses an dem Börsenverkehre sich dem Börsenschiedsgerichte
unterwerfen können. Die Zuständigkeit für Streitigkeiten aus tech-
nischen Börsengeschäften blieb ungeschmälert, dagegen wurde die
Zulässigkeit der kompromissorischen Unterwerfungen hauptsächlich
von der Voraussetzung abhängig gemacht, dass sich jeder der Streit-
teile berufsmässig mit dem Handel, der Produktion oder Ver*
arbeitung des dem Streitgegenstande zu Grunde liegenden Verkehrs-
artikels der Börse befasse, während für protokollierte Eaufleute
und Börsemitglieder schon die unbeanstandet gebliebene Annahme
eines die Eompromissklausel enthaltenden Schlussbriefes zur Be-
gründung der börsenschiedsgerichtlichen Kompetenz genügt. Inkom-
petent ist das Börsenschiedsgericht namentlich dann, wenn das
Warengeschäft, das den Gegenstand des Streites bildet, in offen-
barem Missverhältnis zum landwirtschaftlichen Betriebe der be-
treffenden Partei steht.
Ueber den Geschäftsverkehr der Börse wird täglich ein Kurs-
bulletin von der Börsenkammer ausgegeben. Die Kursfestsetzung
erfolgt nach dem dafür aufgestellten Regulativ, durch eine von der
Börsenkammer gewählte siebengliedrige Kommission ,,auf Grund der
125] I>ie Produktenbörse. 39
Yon den beeideten Börsensensalen abgeschlossenen Geschäfte ^ der
diesen in Ausübung ihres Amtes bekannt gewordenen anderen Ge-
schäftsabschlüsse und sonstiger Daten und unter genauer Beachtung
und Berücksichtigung aller sonstigen Geschäftsabschlüsse und Kauf-
umstände/ unter Aufsicht des Börsenkommissärs; diese wird in
der Weise ausgeübt, dass der Kommissär bei der Kursfestsetzung
zugegen ist.
Die Methode der Preisermittelung und Kursfestsetzung ist für
das Termingeschäft und für das Effektivgeschäft verschieden. Für
ersteres erfolgt sie auf Grund der sämtlichen wirklich vorgefaUenen
Schlüsse. £in Börsebeamter notiert auf einem Tableaa die vor-
kommenden Kurse, nach eigener Wahrnehmung, und in das Kurs-
blatt kommen dann der niederste und der höchste der vorgekommenen
Kurse. Die auf dem Tableau notierten Kurse werden von Börsen-
beamten in ein separates Kursbuch übertragen. Kurse, welchen
Geschäfte zu Grunde liegen, die, wenn auch wirklich durchgeführt,
mit der momentanen Marktlage offensichüich nicht übereinstimmen,
also fingierte Kurse werden bei der Kursfestsetzung nicht berück-
sichtigt, wohl aber gleich den anderen in das bewusste Buch mit
der Anmerkung übertragen, dass der Kurs beanstandet wurde \ weil
das Kursbuch im Falle eines Streites dem Schiedsgerichte die Mög-
lichkeit geben soll, . festzustellen, ob ein bestimmter Kurs an einem
bestimmten Tage vorgefallen ist und ob er auf reelle Weise zu
stände gekommen ist.
Komplizierter sind Kursermittelung und Kursfestsetzung beim
Effektivgeschäft, weil die Abschlüsse, nicht durchwegs an der
Börse, sondern grossenteils auch von den Kontors aus erfolgen und
weil, soweit sie an der Börse erfolgen, dies auch nicht laut und
öffentlich geschieht und der Verkehr nicht wie der Terminverkehr
örtlich konzentriert ist. Die Ermittelung der Preise muss also
durch Umfrage erfolgen, welche sich auch auf die ausserhalb der
Börse geschlossenen Geschäfte erstrecken muss. Aus den so er-
hobenen Preisen kann ein Massstab nun nicht in so mechani-
scher Weise gewonnen werden wie beim Termingeschäfte, denn
hier haben wir es im Gegensatze zu letzterem mit sehr indivi-
dualisierten Preisen zu thun.. Der Preis für ein und dieselbe
Gattung Weizen von gleichem spezifischen Gewicht ist verschieden,
je nachdem die Farbe desselben mehr rot oder mehr gelb, je nach-
dem das Korn mehr oder weniger gedrückt ist, je nach den Zahlungs-
^ Stenogr. Prot der Terminhandelsenquete III, S. 183. Exporte Weil.
40 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [126
und LiefemngsbedingaDgen, endlicli und um yergleichen und einen
Tagesdurchschnittspreis feststellen zu können, muss das Kurser-
mittelongskomitee diese qualifizierten Preise im Wege der Schätzung
und Yergleichung mit den anderen Preisen auf das Mass eines
allgemeinen Preises reduzieren, sie entindividualisieren , was eine
genaue Kenntnis der Geschäftsverhältnisse bei den Mitgliedern des
Kursermittelungskomitees voraussetzt. Dieser allgemeine Preis ist
der Kassapreis, ohne sonstige zu Lasten des Verkäufers gehende
Nebenkonditionen. Erfolgt in einer der in dem Schema des Kurs-
blattes notierten Warengattungen an einem Tage kein Abschluss,
so wird, solange noch ein regulärer Handel in der Ware besteht,
der Kurs ,,zum Teile nach den Wahrnehmungen, die aus dem
Verkehre geschöpft sind, zum Teil aus Konklusionen aus dem
Verkehre und zum Teil nach Schätzungen^ festgestellt. Es handelt
sich also bei der Festsetzung der Kurse für das Geschäft in Effektiv-
getreide in allen Fällen notwendigerweise nicht um eine eigentliche
Preiserhebung, sondern um eine Festsetzung von Preisgrenzen, nach
bestem Wissen und Gewissen und nach Schätzung der beteiligten
Kreise ^.
2.
Der QetreideterminliandeL
Das börsenmässige Zeit- oder Termingeschäft ist dadurch
als solches charakterisiert und von dem gewöhnlichen handelsrecht-
lichen Lieferungsgeschäft unterschieden, dass es nach den von der
Börse aufgestellten, obligatorisch die Qualität, die Schlussein-
heit und den Erfüllungsort regelnden Bestimmungen geschlossen
wird, so dass es zwischen den Kontrahenten einer besonderen Ver-
einbarung nur mehr hinsichtlich des Preises, des Liefertermins und
der Anzahl der von der Börse fixierten Schlusseinheiten bedarf.
Auf diesen Formen beruht die technische Funktion des
börsemässigen Terminhandels, die einerseits darin besteht, «dass die
primitiven Formen der Getreidespekulation, das Aufkaufen und
Einlagern in Erwartung steigender Preise (eine Form, die nur
ä la hausse zu spekulieren gestattet und wegen der ungeheuren
festzulegenden E^apitalsbeträge die Spekulation zum Monopol der
Stärksten macht) verdrängt werden durch die moderne Form der
Eskomptierung künftiger Preischancen: bei welcher die Speku-
lanten in der Gegenwart nicht Ware und Geld leisten, sondern
^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 452.
127] ^^f Geireideterzninliandel. 41
nur Lieferung und Zahlung für einen Zukunftsaeitpunkt versprechen
und dadurch Müsse gewinnen, bis zum Herankommen des Termins
die übernommenen Verbindlichkeiten auf dein Markt durch Ab-
schluss eines Gegengeschäftes zu realisieren'^ \ andererseits in der
Verringerung der beim Getreidehandel im Vergleich zu anderen
Handelszweigen unverhältnismässig grösseren Risken. Der börsen-
mässige Terminhandel macht nämlich die Gleichzeitigkeit der
kaufmännischen Operationen Kauf und Verkauf fast momentan
möglich, indem zu jeder Position auf dem Effektivmarkte bis zur
Abwickelung derselben interimsweise eine Gegenposition im Termin-
markte geschaffen wird.
Hier begegnen wir dem Importeur, der eben einen Posten
Weizen erstanden, aber noch keinen Käufer dafQr gefunden hat; er
verkauft dagegen Usanceweizen; natürlich denkt er nicht daran,
seinen effektiven Weizen, wenn dessen Handels wert höher ist, als
der des Usaneeweizens, auf Usanceschluss abzuliefern; er wünscht
nur eine Gegenposition, um gegen Verlust durch Preisrückgang
geschützt zu sein; hat er den Käufer für seine Ware gefunden,
so löst er die »Arbitrage* wieder auf, d. h. er wickelt das Termin-
engagement durch Rückkauf eines gleich grossen Quantums Usance-
ware ab.
Dort tritt der Müller als Käufer von Usanceweizen auf;
auch er denkt oft nicht daran, denselben zu beziehen; er hat nur
eben Mehl aaf einen längeren Termin hinaus verschlossen und
sichert sich den gegenwärtigen Preis, welcher die Basis seiner
Kalkulation gebildet hat, für den späteren Einkauf des zur Her-
stellui^ des verschlossenen Mehles geeigneten Rohmaterials.
Der Exporteur erhält vom Auslande ein telegraphisches
Angebot auf ein grösseres Quantum Weizen bestimmter Provenienz
und Beschaffenheit. Es ist ein entsprechendes Offert momentan
nicht im Markte, er vergleicht den gebotenen Preis mit dem Preise
der Usanceware und weiss nach seiner Kenntnis der Marktlage,
dass der gewünschte Weizen nur um so viel höher zu stehen kommen
wird, als die Usanceware, dass ihm bei dem gebotenen Preise
noch ein bürgerlicher Nutzen bleibt; er sichert sich die Einkäufs-
basis durch Kauf von Terminweizen und depeschiert seinem Ge-
schäftsfreunde: „Geschlossen*. Der Importeur erhält von seinen
Einkäufern auf den Stationen die Nachricht, dass die Zufuhren
^ Dr. Walter BoRGiüs, Mannheim und die Entwickelung des Südwest-
deutschen Getreidehandels, I. Teil, S. 45.
42 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [128
derzeit ungenügend sind; er kann seinen Kunden Müller, der sich
decken will, nicht abweisen, sagt also, trotzdem er die Ware noch
nicht effektiv hat, zu und deckt sich seinerseits einstweilen durch
Kauf von Usaneegetreide, bis günstigere Einkaufschancen kommen.
Seiner Nachfrage begegnet das Angebot eines anderen Importeurs,
der von seinen Einkaufsstationen die entgegengesetzten Meldungen
hat und mit den Käufen, die ihm seine Einkäufer anzeigen, nicht
blank spekulieren will. So ist der Terminmarkt thatsächlich der
Brennpunkt des Getreidehandels und der Terminkurs orientierend
für die allgemeine Marktlage, ein verhältnismässig sicherer Kalku-
lations- und Wertmassstab. Ein derartiger Wertmassstab ist einem
Getreidehandel, der es mit so mannigfaltigen Qualitäten zu thun
hat, wie der unsere, ein so unentbehrlicher technischer Behelf,
dass derselbe, wenn er nicht schon bestünde, erst erfunden werden
müsste. Verhältnismässig wenige der im Handel vorkommenden
Weizenvarietäten zum Beispiel sind quantitativ bedeutend genug,
um einen regulären Handel darin zu unterhalten. Der Grosshändler
wird, dank seiner Warenkenntnis, dank dem Ueberblicke, den er
durch seinen grossen Geschäftsverkehr und durch die Nachrichten,
die täglich früh morgens schon von seinen Geschäftsfreunden oft
aus allen Gegenden der Welt einlaufen, trotzdem in der Lage
sein, den Wert der Ware ungefähr zu kombinieren; aber schon
der kleinere Händler und vollends der Landwirt ist in Verlegenheit,
wenn ein Börsekurs für die betreffende Ware seit längerer Zeit
nicht notiert worden ist; nach den amtlichen Kursnotizen über
Effektivgetreide kann er wohl die Wertschwankungen verfolgen,
nicht aber den effektiven Marktwert der Ware halbwegs genau
taxieren K
Die Benützung des Terminmarktes für die geschilderten handels-
technischen Zwecke ist allerdings an die Voraussetzung geknüpft,
dass die Preise der effektiven Ware und die Terminpreise in
direkter Wechselbeziehung miteinander stehen, die Schwan-
kungen annähernd gleich stark sind, so dass der Gewinn aus der
einen Position den Verlust aus der anderen ungefähr ausgleicht,
oder doch keine wesentliche Differenz entsteht. Diese Wechsel-
beziehung besteht nur zwischen dem Terminmarkt und dem Getreide
aus solchen Produktionsgegenden, die nach dem Stapelplatze, bezw.
nach dem Importlande gravitieren. So können jene Firmen, welche den
^ Auch aus diesem Grunde muss der Mangel eines börsenmässigen Termin-
handels die Ueberlegenheit des Grosskapitals im Getreidehandel zur Geltung
bringen.
129] ^^T^ Getreideierminhandel. 43
Transiihandel aus Ramänien und Serbien betreiben, seit Aufhebung
des Mahlverkehrs den Wiener Terminmarkt für die Zwecke der
Arbitrage in Weizen speziell nur in jenen seltenen Momenten be-
nützen, wo ein stärkerer Importbedarf für den Verbrauch der
Monarchie selbst eintritt. Die regulären Absatzmärkte dieses Ge-
treides liegen in England, Belgien, der Schweiz etc. Die Konse-
quenz davon dürfte eine weitere Konzentration des Orientgeschäfts in
den Händen weniger sehr kapitalkräftiger Firmen sein, da nur ein
sehr grosser Geschäftsbetrieb seine Sicherung in sich selbst finden
kann.
Damit der börsenmässige Terminhandel die geschilderten tech-
nischen Funktionen erfüllen könne , muss die Lieferungsqualität so
festgesetzt sein, dass sie einen im Lande in hinlänglichen Mengen
vorkommenden Getreidetypus repräsentiert. In Nordamerika boten
sich dafür von selbst die durch das Gradierungssystem geschaffenen
Typen des Effektivhandels, durch welche das Getreide zu einer
in hohem Grade vertretbaren Ware gemacht wird, d. h. zu einer
Ware, welche nach Mass und Gewicht gehandelt werden kann.
Dieses Gradierungssystem hat sich in Amerika ausgebildet im An-
schlüsse an die Bedürfnisse des Verkehrs und der Technik des
Exporthandels und dank einer grossen Gleichförmigkeit, die in den
amerikanischen Anbau- und Produktionsverhältnissen herrscht ^. Die
amerikanische Getreideproduktion ist von vornherein Weltmarkt-
produktion gewesen, und da in den grossen Dampfern, in welchen
das Getreide nach Europa verladen wird, ein Transport verschiedener
Qualitäten unter Wahrung der Identität nur unter grossem Kosten-
aufwande möglich gewesen wäre, musste man darauf bedacht sein,
das Prinzip der losen Schüttung in den Verkehrseinrichtungen
möglichst konsequent durchzuführen. Das konnte nur geschehen,
wenn man die individuellen Charaktere des Getreides durch Zusammen-
fassung grosser, wesentlich gleichartiger Massen zu Typen verwischte.
Diese musste der Exporthandel auch deshalb verlangen, weil ein
Handel nach Muster, auf Entfernungen, wie sie hier in Betracht
kommen, im Getreidehandel mit seinen rasch wechselnden Kon-
junkturen unmöglich ist; ein Wort, ein Zeichen in der Depesche
mus& genügen, um das Unterhandlungsobjekt genau zu umschreiben.
In Mitteleuropa konnte nach der ganzen historischen Ent-
wickelung des Getreidebaus und des Getreidehandels, und nach den
* Otto Böhm, Die Kornhäuser. Stuttgart 1898. — Borgius, Mannheim und
die Entwickelung des südwestdeutschen Getreidehandels. Tübingen 1899, IT. Teil,
S. 52 ff.
44 ^^T^ Wiener Getreidehandel and seine Technik. [130
natürlichen Verhältnissen ein Ghradierungswesen nicht entstehen.
Der Getreideproduktion kleben überall noch gewissermassen die
Eierschalen der alten Naturalwirtschaft an, und dem ungeheuren
Individualismus des Anbaus, welchen diese auf die moderne Ge*
treideproduktion vererbte, stand der Handel ohnmächtig gegenüber;
erst in den letzten Jahren vollzieht sich, teilweise unter dem Ein-
flüsse des Genossenschaftswesens, eine Anpassung auch der euro-
päischen Getreideproduktion an die Formen der modernen Yerkehrs-
wirtschaft und an die Bedürfiiisse der Grossindustrie. In vielen
Ländern wurden die Schwierigkeiten, welche der Einführung eines
Gradierungswesens entgegenstanden, noch dadurch vermehrt, dass
auch die verschiedensten exotischen Getreidearten in den Handel
kommen.
Da man also eine Lieferungsqualität, welche ein Handelsgut
mittlerer Art und Güte repräsentiert, wie die für den amerikanischen
Terminhandel gültige, nicht konkret vorfand, so musste man sie
für den Terminhandel rechnerisch feststellen, indem man von allen
individuellen Merkmalen absehend, gewisse allen Qualitäten gemein-
same Merkmale als Kriterien der Lieferfähigkeit aufstellte. Als
solche boten sich dar das spezifische Gewicht und die Reinheit des
Getreides. Dafür wurden Minimalerfordernisse aufgestellt. Dabei
konnte auch auf die Herkunft des Getreides keine Rücksicht ge-
nommen werden, da die meisten europäischen Länder Importländer
sind und die Getreideproduktion der fremden Länder, die durch
Schutzzölle herbeigeführten Korrekturen abgerechnet, mitbestimmend
ist für die Bildung ihrer Getreidepreise, daher ihnen auch der
Zutritt auf den Terminmarkt nicht verwehrt werden kann. Zu
der Zeit, wo der Terminhandel in Wien eingeführt worden ist und
noch bis zu Ende der achtziger Jahre bestand aber, wie wir ge-
sehen haben, ausserdem ein sehr lebhafter Getreideverkehr unter
den europäischen Ländern und fanden aus handeis- und industrie-
technischen Gründen bedeutende Importe auch nach jenen Ländern
statt, welche ihren Konsumbedarf selbst deckten. So ist die euro-
päische Terminhandelstype ihrer Struktur und Tendenz n^ch not-
wendigerweise international, während die amerikanische durch die
Anlehnung an die konkret bestimmte heimische Type national ist,
was dort auch wirtschaftlich berechtigt ist, weil Amerika nicht nur
rücksichtlich seines Konsumbedarfs vollständig auf sich selbst gestellt
ist, sondern ein Getreideexportgebiet grössten Stils ist.
Auf die Entstehungsursachen des börsemässigen Terminhandels
im allgemeinen kann hier nicht naher eingegangen werden, weil das
131] Der Getreideterminhandel. 45
ZU weit führen würde ; sie liessen sich im Rahmen der vorliegenden
Monographie auch schwer zurückverfolgen , da Wien anfing ein
Oetreidehandelsplatz zu werden, als die Entwickelung des Getreide-
weltverkehrs bereits in vollem Gange war. Aus diesem und mit ihm
aber hat sich der börsenmässige Terminhandel zweifellos organisch
und notwendigerweise entwickelt. Das zeigt auch eine Vergleichung
der in den ersten Kapiteln dieses Buches gegebenen Daten über
die Entwickelung der Dampfschiffahrt und des Eisenbahnwesens
mit dem Entstehungsdatum des börsenmässigen Terminhandels in
Budapest, welches in die Mitte der sechziger Jahre fallt ^. Im
Anschluss an den Verkauf schwimmender oder erst zu verladender
Ware ist das Termingeschäft entstanden, worauf schon der Umstand
hindeutet, dass die ursprüngliche Schlusseinheit im börsenmässigen
Terminhandel 2500 Meterzentner betrug (ungefähr eine Schleppladung)
und vom Käufer ganz wie beim Effektivgeschäft ein Angeld ge-
leistet werden musste, welches später (1886) abgeschafft wurde ^,
weil es Anlass zu finanziellen Missbräuchen gegeben hat; geld-
bedürftige Firmen machten sich dadurch, dass sie als Verkäufer
von Terminware auftraten, Geld*. In Wien beginnt der börsen-
mässige Terminhandel, soweit sich sicher feststellen lässt, im Herbste
des Jahres 1875^, wo die ersten K41ndigungen unter Intervention
des Sekretariats der Börse erfolgten. Diese Kündigungen lassen noch
deutlich den Zusammenhang des börsenmässigen Termingeschäftes
mit dem handelsrechüichen Lieferungsgeschäfte erkennen , in dem
nicht bloss runde Einheiten, sondern verschiedene Quantitäten und
nicht nur Meterzentner, sondern auch Zollzentner, Metzen u. s. w.
gekündigt wurden. Das war vor der börsenmässigen Kodifikation
des Terminhandels; auf die Entstehung des börsenmässigen Termin-
handels können also die Usancen keinen urheberischen Ein-
fluss genommen haben. Sie haben bloss seine Technik vereinfacht,
und erst diese vereinfachte Technik gestattete die Verwendung
deis börsenmässigen Terminhandels, zu den Hilfsgeschäften, welche
später geschildert werden sollen und durch deren Möglichkeit
der Terminhandelsplatz eine Ueberlegenheit über den benachbarten
Handelsplatz gewinnt, welche dieser nur wettmachen kann, indem
er gleichfalls den börsenmässigen Terminhandel einführt. That-
sächlich war dies auch der unmittelbare Anlass zur Einführung
* Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete. Experte Horovitz, I, S. 214.
' Ebenda. Exp. Vidkky, I, S. 273, 274.
» Ebenda. Exp. Horovitz, I, S. 207, 208.
* Ebenda. Exp. Horovitz, I, S. 207, 211, 220.
46 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [132
der börsenmässigen Regelung des Terminhandels in Wien. Die
Thatsache, dass der grösste Teil, nahezu 80 Prozent, des Hafers,
welcher für den Wiener Konsum bestinunt war, in Budapest
mit dem Lieferungsorte in Raab gehandelt wurde, bewog einen
der grösseren Getreidehändler \ zunächst die Einführung eines
börsenmässigen Terminhandels in Hafer anzuregen, welchem dann
successive der Terminhandel in Mais, später in Weizen, wieder
einige Jahre später in Roggen und zuletzt in Raps folgte. Die
, marktbildende'' Kraft des Terminhandels wurde hier allerdings
nicht in dem Sinne zu Hilfe gerufen, dass sie aus Wien einen
grossen Getreidehandelsplatz machen sollte, sie sollte Wien bloss
ermöglichen, die vorhandenen reichen Anlagen dazu gegen einen
nur durch den Terminhandel überlegenen Rivalen zu entwickeln.
Mitbestimmend für die Einführung des börsenmässigen Terminhandels
in Wien war auch der Wunsch, jene ^tausende und abertausende
Gulden von Provisionen** *, welche von Wien nach Budapest und
an die ausländischen Terminbörsen Paris, Berlin, Köln u. s. w.
wanderten, im Lande zu behalten.
Auf die Organisation des börsenmässigen Terminhandels in
Wien eingehend wollen wir uns zunächst die Bestimmungen über
die Lieferungsqualität ansehen.
Als lieferbar gilt ns^h den Börsenusancen über den Termin-
handel gesundes, zeitgemäss trockenes, den Handelserfordernissen
entsprechend gereutertes Getreide letzter Fechsung jeder Pro-
venienz. Nicht lieferbar sind hauptsächlich
1. Weizen, welche weniger als 76 kg per Hektoliter wiegen,
entschieden spitzbrandige Rivets und Kubankaweizen , aUe Weizen,
welche im Handel unter dem Namen Hartweizen vorkommen oder
mit demselben vermengt sind, sowie Weizen, welcher mehr als 5 ^/o
Weissweizen oder mehr als 1 V^ ^/o ausgewachsene Körner oder
4 Zählprozent ^ Beimengung enthalten;
2. Roggen, welcher weniger als 70 ^/^ kg wiegt, mehr als
4 Zählprozent Beimengungen, oder mehr als 4 ^/o Weiss weizen-
besatz enthält. Mutterkorn darf bis auf durch die landwirtschaft-
liche Manipulation nicht zu beseitigende Bruchstücke weder im
Weizen noch im Roggen vorhanden sein,
3. Hafer, welcher weniger als 40kg per Hektoliter wiegt, mehr
^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 54, 55. Exp. Sghwilzkr.
* Stenogr. Prot. III, S. 126, 127. Exp. Weil.
^ Anzahl der AuswuchskSrner auf je 100 gezählte Kömer.
133] ^^^ Getreideterminhandel. 47
als 3 Gewichtsprozent ^ fremde Beimengungen oder mehr als 2 ^/o
Gerstenzusatz oder mehr als 4^/o ausgewachsener Körner enthält;
4. Mais, welcher nicht mehr als 8 Zählprozent Zahnmais enthält.
In Gerste besteht ein börsenmässiger Terminhandel bezw. eine
Type nicht.
Die Schlusseinheit ist mit 500 Meterzentner festgesetzt.
Eine Herabsetzung der Schlusseinheit würde sich bei Hafer und
specieU bei Mais durchaus empfehlen, um den kleinen Konsumenten
die Vorteile der Versorgung durch den börsenmässigen Termin-
handel leicht zugänglich zu machen.
Lieferungstermine sind 1. der Frühjahrstermin, welcher vom
15. März bis 15. Mai, 2. der Herbsttermin, welcher vom 1. Sep-
tember bis 31. Oktober dauert.
Eine Vorschrift, von welchem Zeitpunkte ab Terminschlüsse
für einen dieser Termine gemacht werden dürfen, besteht nicht, sie
erfolgen daher oft sehr viele Monate vor Beginn des Termins.
Ausser diesen usancemässigen Hauptterminen kennt der Handel
noch eine Reihe von Zwischenterminen, so der Mai-Juni-, der Juli-
August-Termin, auf welche sich hauptsächlich der Terminhandel in
Mais konzentriert. Die Erfüllung der Geschäfte hat in Wien nach
5 Tage früher erfolgter Kündigung zu geschehen. Kündigungs-
berechtigt ist der Verkäufer.
Wer eine Kündigung erfolgen lassen will, ist verpflichtet,
das im Sekretariate der Börse zu erhebende Blankett auszufüllen,
eigenhändig oder durch einen dem Sekretariate der Börse namhaft
zu machenden Bevollmächtigten, zu fertigen und im Sekretariate
der Börse, behufs Protokollierung, bis längstens 10 Uhr vormittags
einzureichen. Bei Eröffnung der Börse, die um ^/all Uhr erfolgt,
lässt dann das Sekretariat die gekündigten Quantitäten affichieren.
Um 11 Uhr wird in einem besonderen Saal der Kündigungsakt voll-
zogen. Jeder, der ein Terminengagement ^ach den Usancen der
Börse besitzt, ist verpflichtet, während der Dauer des Termins bis
zur erfolgten Abwickelung des Schlusses, behufs eventueller Ent-
gegennahme der Kündigung in der von der Börse festgesetzten Zeit
(gegenwärtig von 11 — 12^/2 Uhr) an der Börse anwesend, oder da-
selbst durch einen ; dem Sekretariate der Börse bekanntzugebenden
Bevollmächtigten vertreten zu sein, widrigenfalls der Kündigungs-
schein im Sekretariate der Börse für ihn erlegt wird und er als
Uebernehmcr der gekündigten Ware zu gelten hat. Die Namen
* Gewicht des auf einen Liter entfallenden Beisatzes in Prozenten.
48 l^er Wiener Getreideliandel und seine Technik. [134
derjenigen, an welche die Kündigungen lauten, werden yon dem
hiezu designierten Börsenbeamten laut ausgerufen und ihnen die
Blankette ausgehändigt. Hat nun B., welchem A. den Weizen ge-
kündigt hat, denselben an einen Dritten, an C, verkauft;, so giriert
er diesem das Blankett, dieser eventuell wieder an D. u. s. f., bis
die Ware ihren letzten Käufer erreicht. Dieser »steckt* den Bogen
ein, d. h« er übergibt ihn dem diensthabenden Beamten, welcher
den Akt sofort zu Protokoll nimmt und durch ein Glockenzeichen
die Beendigung des Kündigungsaktes bekanntgibt. Damit ist der
Kündigungsakt indes noch nicht vollständig geschlossen. Denn da
B. an G. zu einem anderen Kurse verkauft hat, als er von A. kaufte,
C. wiederum an D. zu einem anderen Preise, und dementsprechend
die Kündigung zu verschiedenen Preisen erfolgt, so ist eine Ver-
rechnung dieser Kursunterschiede zwischen den Kontrahenten nötig,
welche durch das Sekretariat der Börse in der Weise durchgeführt
wird, dass die Preisunterschiede berechnet und an dem der Kündi-
gung folgenden Tage sämtUchen Kontrahenten mit der Aufforderung
bekanntgegeben werden, zu einer ihnen bestimmten Zeit mit den
Schlussbriefen, behufs Austausch derselben und behufs Regelung der
Guthaben, im Liquidationsbureau der Börse zu erscheinen. Wer bei
der anberaumten Liquidation den schuldigen Betrag nicht erlegt,
kann für insolvent erklärt werden. Nach erfolgter Liquidation wird
an den letzten Giratar des Kündigungsscheines ein Legitimations-
schein ausgestellt, welcher ihn zur üebernahme der gekündigten
Ware berechtigt und verpflichtet.
Die zu liefernde Ware ist auf Verlanjren ledem Inhaber des
Bestätigung über den Empfang des von allen Beteiligten ausgefüllten
Kündigungsscheines, an dem der Üebernahme vorhergehenden Tage
von zwölf Uhr mittags ab, zur Besichtigung vorzulegen und ihm
eventuell die Entnahme eines Musters zu gestatten.
Die Zuweisung der Ware kann erfolgen
a) in allen Magazinen der Bezirke I — IX,
b) in allen öffentlichen Lagerhäusern,
c) an den Frachtbahnhöfen der verschiedenen in Wien ein-
mündenden Eisenbahnen, ferner der Stationen Penzing
und Matzleinsdorf,
d) ab Schiff und Ufer an den Landungsplätzen des Prater-
quai und des Donaukanales.
Die Spesen der Uebergabe sind zur Hälfte vom Verkäufer, zur
Hälfte vom Käufer zu tragen.
135] ^ör Getreideterminhandel. 49
Die gekündigte Ware muss innerhalb 5 Tagen bezahlt und
übernommen werden. Der Uebernehmer ist, wenn die Ware nicht
äusserlich erkennbare Mängel hat, nicht sofort in der Lage, zu
konstatieren, ob dieselbe usancemässig ist. Er lässt sich erst
Muster auf sein Kontor kommen, zählt den Prozentsatz an fremden
Beimengungen aus und wiegt die Ware auf seiner Getreidewage
nach. Ergibt sich, dass die Ware unkontraktlich geliefert worden
ist, so hat der Uebernehmer zunächst eine Formalität zu erfüllen:
den durch die Usancen vorgeschriebenen Protest zur Wahrung
seiner Rechte zu erheben. In der Regel wird diese mit Kosten
verbundene Formalität aber in der Weise umgangen, dass der
Uebernehmer den Lieferer um Enthebung von der Protestpflicht
ersucht, welche gewöhnlich anstandslos bewilligt wird, da der
Ausgang des Streites ungewiss ist und Kostenersparnis daher in
beiderseitigem Interesse liegt. Bildet bloss das spezifische Gewicht
den Grund der Beanstandung, so wird eine schiedsgerichtliche Aus-
tragung nicht in Anspruch genommen, sondern Käufer und Ver-
käufer lassen durch ihre Bevollmächtigten gemeinsam oder durch
den Börsenbeamten, der Ware einen Hektoliter entnehmen und auf
die im Börsengebäude aufgestellte amtliche Normalwage bringen.
Das Ergebnis der Abwäge ist dann für beide Teile massgebend.
Im übrigen wird in den meisten Fällen die Intervention des Schieds-
gerichtes in Anspruch genommen, die in diesem Falle einfach in
einer sog. Expertise besteht, d. h. in der Prüfung der Ware auf
ihre Usancefähigkeit. Hat die Expertise ergeben, dass die Ware
in unkontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so ist der Ver-
käufer zu einer zweiten Vorlage innerhalb 5 Tagen berechtigt und
verpflichtet, bezw. wenn die Frist bis zum Ablauf des Termins
kürzer ist, innerhalb dieser kürzeren Frist. Ist auch die Ersatzliefe-
rung unkontraktlich, oder erfolgt eine unkontraktliche erste Vorlage
am Schlüsse des Termins, so kommt der Verkäufer in Erfüllungs-
verzug und hat dem Käufer die Differenz des Kaufpreises, auf den
vom Schiedsgericht auszusprechenden Begulirungskurs herauszu-
zahlen. Ebenso tritt Erfüllungsverzug und Differenzregulierung ein,
wenn der Verkäufer überhaupt nicht liefert.
Wenden wir uns nun den im Terminverkehr der Börse für
landwirtschaftliche Produkte vorkommenden Geschäftsformen zu.
Der Zusammenfassung der diesbezüglichen Resultate der Termin-
handelsenquete durch den Vorsitzenden^ derselben folgend, können
* Stenogr. Prot der Terminhandelsenquete I, S. 363,364. Vorsitzender v. Beck.
Wiener Studien. III. Bd., 2. Heft. 4 [10]
50 ^^T^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [136
wir dieselben ihrer Zweckabsiebt nach in drei Kategorien einteilen:
1. in Effektivgeschäfte, d. h. solche, die von vorneherein auf effek-
tive Lieferung berechnet sind; 2. in solche Geschäfte, welche man
als Meinungsgeschäfte, ferner als Hilfsgeschäfte bezeichnen könnte,
nämlich Arbitrage, Report- und Deckungsgeschäfte, welche, obwohl
nicht von vorneherein auf effektive Lieferung gerichtet, doch in
einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit anderen Ge-
schäften stehen; 3. Spekulations-Spielgeschäfte, wo nicht die Absicht
besteht, zu liefern und zu tibernehmen, sondern nur am Kurse zu
gewinnen.
Der Prozentsatz der ersten Kategorie von Geschäften ist bei
Weizen und Roggen je nach dem qualitativen Ausfall der Ernte in
Ungarn — ca. 95 ^/o des an der Börse für landwirtschaftliche Pro-
dukte gehandelten Getreides sind ungarischer Provenienz ^ — sehr
verschieden. In Jahren, wo die Mittelqualitäten überwiegen, wird
sie gross sein, in anderen, wo nur sehr gute oder sehr untergeord-
nete Qualitäten gefechst wurden, ist der Handel zumeist auf den
Weg des handelsrechtlichen Lieferungsgeschäftes gewiesen. Im Mais-
Terminhandel ist der Prozentsatz regelmässig ein sehr bedeutender,
den des handelsrechtlichen Lieferungsgeschäftes überragender, weil
hier dank der Gleichförmigkeit in der Produktion dieses Artikels die
börsemässige Üsancetype mit einer Jahr für Jahr ziemlich gleich-
massigen effektiven zusammenfallt; in geringerem Grade ist das bei
dem Artikel Hafer der Fall.
Von der zweiten Kategorie von Termingeschäften, den Hilfs-
geschäften, haben wir eine Abart, die sog. Sicherungsarbitrage be-
reits geschildert. Daneben haben wir die Arbitrage zwischen zwei
Börsenplätzen. Sie dient volkswirtschaftlich der Ausgleichung der
Preisunterschiede, was privatwirtschaftlich sich so darstellt, dass der
Händler die Kursunterschiede zu seinem Vorteile auszunützen sucht.
Wir hatten schon früher Gelegenheit, daraufhinzuweisen, dass diese
Arbitragegeschäfte nur möglich sind, wenn die betreffenden Länder
in effektiven Austauschbeziehungen zu einander stehen, weil die
Kalkulation der Arbitrage sich auf die Verhältnisse des Effektiv-
geschäftes stützt, und es müssen die üsancebestimmungen der Plätze
wesentlich gleich sein, weil nur zwischen gleichartigen Positionen
eine Arbitrage möglich ist. Es werden daher, da Oesterreich-
Ungarn durch seine Schutzzölle vom Auslande ziemlich vollständig
isolirt ist, heute fast nur mehr Arbitragen zwischen Budapest und
* Stenogf. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 63. Exp. Schwitzer.
137] ^6r Getreideterminhandel. 51
Wien häufig und zwar vom Terminmarkt Budapest zum Termin-
markt Wien und umgekehrt gemacht^. Wenn z. B. die Differenz
zwischen dem Kurse des Frühjahrweizens in Budapest und dem
Kurse des Frühjahrweizens in Wien grösser ist als die effektiven
Transportspesen zwischen beiden Plätzen, so wird es sich lohnen,
in Budapest Frühjahrweizen zu kaufen und in Wien zu verkaufen,
um an dieser durch die thatsächlichen Verhältnisse nicht gerecht-
fertigten hohen Spannung zu profitieren.
Das ist die der Richtung nach normale Arbitrage — der Kauf
im Produktionsland, der Verkauf im Konsumtionsland. Daneben
gibt es auch sog. verkehrte Arbitragen, wobei der Verkauf auf dem
Budapester, der Kauf auf dem Wiener Terminmarkt vorgenommen
wird, natürlich nicht in der Absicht, das Getreide in Wien zu über^-
nehmen und nach Budapest zu führen, sondern um an der Arbi-
trage einen Kursgewinn zu erzielen. Diese ^Meinnngs* -Arbitrage,
wie wir sie nennen wollen, wird z. B. dann gemacht, wenn der
Preis in Budapest, gegen das Normale, ebenso teuer oder nur wenig
billiger ist als in Wien und der Händler nach seiner Uebersicht der
Marktverhältnisse die Ueberzeugung gewinnt, dass der verhältnis-
mässig hohe Kursstand in Budapest ungerechtfertigt ist und die
Spannung durch Rückgang des Preises dortselbst sich vergrössern
wird ^.
Selbstverständlich wird dabei nur auf einen relativen Rück-
gang gerechnet, denn die Grundtendenz ist auf den beiden Märkten
immer dieselbe ; es sind nur die graduellen Verschiedenheiten, welche
dabei ausgenützt werden können. Diese Form der Arbitrage be-
sitzt schon einen ziemlich spekulativen Charakter und ist im Gegen-
satz zu der zuerst geschilderten nicht gefahrlos für den Arbitrageur.
Eine noch wichtigere Funktion für die Getreideverteilung versieht
das Report- oder Prolongationsgeschäft, welches darin besteht, dass
der laufende Termin gekauft und gleichzeitig der nächste Termin
verkauft wird bezw. umgekehrt. Der Reporteur macht eine Arbi-
trage zwischen zwei Terminen, übernimmt die Ware des laufenden
Termins und bewahrt sie, vor Preisrückgängen durch seine Abgaben
auf den nächsten Termin gesichert, bis zur Herankunft desselben
auf, wo er sie dann abliefert. Die Gelegenheit zu derartigen
Reportgeschäften ergibt sich, wenn starken Zufuhren und Ab-
lieferungen nur geringe Nachfrage gegenübersteht. Der Preis des
^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 639, 640. Exp. Kaudkrs.
' Ebenda I, S. 640. Exp. Kaudkrs.
52 ^^i" Wiener Getreidehandel und seine Technik. [138
laufenden Termins — nehmen wir an, es sei Herbstweizen — wird
dadurch derart gedrückt, dass die Differenz auf den Kurs des Früh-
jahrweizens den Betrag für Lagerspesen und Zinsen, um welchen
der letztere normalerweise höber sein muss, um einige Kreuzer über*
steigt, um diese zu verdienen, springt der Reporteur in die Bresche
und nimmt das Ueberangebot an Promptweizen auf. Je nach den
Qeschäftskonjunkturen wird dieses Eingreifen des Reporteurs einmal
erst bei einer grösseren, ein andermal schon bei einer geringeren
Superdifferenz oder oft selbst ohne dieselbe erfolgen, das letztere
namentlich dann, wenn der Reporteur Grund zu der Annahme hat,
dass die Geschäftschance, die er durch den Besitz der effektiven
Ware erwirbt, sich realisieren werde, etwa infolge einer grösseren
Knappheit, die sich im Laufe des Winters einstellt.
Die sog. Schiebungsgeschäfte sind nur Reportgeschäfte vom
Standpunkte des Promptverkäufers aus gesehen, das „Schiebegeld^
der Reportsatz. Dieser Promptverkäufer gibt seine Ware nämlich
oft nur hin, weil er den in ihr steckenden Wert realisieren muss,
Geld braucht oder weil er die Ware momentan nicht braucht und
sich nicht mit den Qualitätsrisken der Aufbewahrung bis zu
dem Zeitpunkte, wo dies der Fall sein wird, belasten will; er
möchte die Ware behalten, nur ohne Geld und Lagerräume, ohne
das Risiko der Qualität und für eine spätere Sicht; allerdings, er
könnte ja die Ware lombardieren, wird man einwenden; aber da
ist ein einschneidender Unterschied. Bei der Lombardirung be-
kommt er nicht den vollen Wert der Ware, sondern nur 60 — 70 ^/o
und trägt das Risiko der Qualität. In dem letzteren Umstände
liegt auch der materielle Unterschied des Warenlombard geschäftes
gegen das ihm äusserlich verwandte Effektenkostgeschäft. Man kauft
also lieber in dem Momente, wo man Herbstweizen verkauft, ein
gleiches Quantum Frühjahrweizen.
Zu den Spekulations- und Spielgeschäften gehört bereits das
sog. Deportgeschäft, d. h. der Kauf eines früheren höheren, unter
gleichzeitigem Verkauf eines späteren niedriger notierenden Ter-
mins. Deportgeschäfte sind selten und betreffen in der Regel die
Prolongation eines unglücklichen Baissegeschäftes ; denn es ist sinn-
widrig, einen späteren Termin billiger zu verkaufen als einen
prompten. Die Zahl der reinen Spiel- und Spekulationsgeschäfte
an der Börse für landwirtschaftliche Produkte wird von einem Ex-
perten auf höchstens 25 ^/o geschätzt ^.
^ Stonogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 688, 639. Exp. Käüders.
139] ^^^ Getreideteimixihandel. 53
Nieht jedes Differenzgeschäft ist ein Spekulations* oder Spiel-
geschäft. Die Grenzen sind ansserordentlich fliessende. Ans einem
Termingeschäfte, welches auf effektive Lieferung berechnet ist, wird
im Handumdrehen ein scheinbares Differenzgeschäft, wenn der
Warenbesitzer Gelegenheit findet, seine Ware ausserhalb des Termin*
marktes günstiger zu verwerten. Oder auch, es kann dem Bepor-
teur vorteilhafter erscheinen, ein Reportgeschäft, welches er in der
Absicht gemacht hat, die Ware auf den früheren Termin effektiv
zu übernehmen, um sie auf den späteren abzuliefern, früher im
Differenzwege abzuwickeln, wenn nämlich der Report zusanunen-
schrumpft; denn der privat wirtschaftliche Zweck der Operation ist
erfüllt, wenn der Mann daran verdient; der volkswirtschaftliche
leidet aber durch die Differenzauflösung keinen Abbruch, denn die
Ausgleichung zwischen einem zu niedrig notierten nahen und
einem im Verhältnis zu hoch notierten entfernten Terminkurs hat
sich vollzogen.
Was das Verhältnis betrifft, in welchem die früher aufgezählten
Personenkategorien sich am Terminhandel beteiligen, so nimmt
ihn am stärksten der Importhandel in Anspruch.
Von den Mühlen bezeichneten die grossen Handelsmühlen ihn
als unentbehrlich für ihren Geschäftsbetrieb, einerseits weil ihnen
derselbe bei Benützung desselben die Vorverkäufe auf viele Monate,
zu welchen sie durch die Ansprüche des Eonsums gezwungen sind,
erleichtert, andererseits weil sie immer grössere Quantitäten effektiven
Robprodukts vorrätig haben, mit denen sie, ohne die Möglichkeit
einer Sicherungsoperation auf dem T|erminmarkte, blank spekulieren
müssten. Die Beteiligung der kleinen und mittleren Mühlen am
Terminhandel wurde in der Terminhandelsenquete von verschie*
denen Experten verschieden geschätzt ; jedenfalls ist sie relativ und
absolut geringfügiger als die der übrigen Faktoren.
Reine Terminhändler gibt es heute an der Börse für landwirt^^
schaftliche Produkte nicht. Wie schon an anderer Stelle hervor-
gehoben wurde, fällt das Termingeschäft, soweit es Kommissions-
geschäft ist, natumotwendig dem Effektivgetreidehandel zu.
Die Spekulanten und Spielhäuser, deren Geschäftsbasis die
Heranziehung des Privatpublikums zum Börsenspiel bildete, sind von
der Börse verschwunden; die neue Givilprozessordnung hat den
Boden für derlei Existenzen untergraben.
Wohl aber gibt es an der Börse eine Gruppe von Tages-
spekulanten, die sog. Coulissiers; ihre Thätigkeit werden wir
besser begreifen, wenn wir den Kommissionär bei der Ausführung
54 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [140
eines Auftrages beobachten. Er wird zum Telephon gerufen. Der
Kommittent fragt ihn um die Marktlage; er gibt Auskunft, nennt
Oeld- und Warenkurs und. den zuletzt effektiv vorgekommenen Ab-
schlusskurs, wobei er in seinem eigenen Interesse trachten muss,
möglichst genaue Angaben zu machen, da er nicht weiss, ob sein
Kommittent kaufen oder verkaufen wird. Auf die Frage des Kom-
mittenten, welche dann gewöhnlich erfolgt, zu welchem Kurse der
Kommissionär ^fix' geben oder nehmen wolle, nennt dieser, je
nachdem der Markt ruhig oder bewegt ist, einen um 1 — 2 Heller
höheren oder tieferen Kurs; das ist der Vorsprung, der ihn gegen
Verluste aus Fluktuationen, die etwa während der Gesprächszeit
vorgehen, schützen sollen.
Der Kommittent zieht diese Fixgeschäfte dem regulären Kom-
missionsgeschäfte vor. Die sofortige Ausführung seiner Operation
ist ihm oft wichtig, und wenn er dem Kommissionär ein Limit
aufgibt, so ist er bei den immer variierenden Kursen der Ausführung
nicht gewiss.
Hat der Kommittent acceptiert, so eilt der Kommissionär, wenn
er nicht gerade durch eine bei ihm erliegende Gegenordre in der
Lage ist, das Geschäft „in sich^ zu machen, aus der Telephonkammer
in die ,,Goulisse^, die als eine Gruppe von Terminzwischenhändlern
bezeichnet werden kann.
Der Coulissier nimmt hier ein Quantum Termingetreide zum
bestehenden Kurse plus einer kleinen Provision fix auf, um es, wo-
möglich Sekunden später, mit kleinem Nutzen weiterzugeben. Er
ist ein Interimsproprehändler , wenn wir uns so ausdrücken dürfen,
und wird von den Gegenkontrahenten auch als solcher behandelt,
d. h. er muss denselben auf Verlangen noch am selben Tage den
wirklichen Käufer aufgeben. So lange höchstens hat er Zeit, zu
spekulieren. Seine Thätigkeit ist also, obwohl sie abstrakt äusserlich
als Eigenhandel sich vorstellt, nur eine vermittelnde, der Gewinn,
den er einerntet, ein Vermittlerhonorar. Er ist ein notwendiges
Zwischenglied des Terminhandels, weil er durch seine stete Bereit-
schaft zu Kauf und Verkauf die regelmässige Funktion des Marktes
ermöglicht, ohne welche derselbe wertlos werden würdet Der
Terminagent bezw. der Coulissier wird vom Getreidehändler aber
noch aus einer anderen Ursache in Anspruch genommen. - Mit dem
Abschlüsse eines Termingeschäftes ist ein langsichtiger Kredit ver-
* Exp. Wkishut wünscht mit Rücksicht darauf sogar eine besonders niedrige
Besteuerung der Coulisse. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete IIl, S. 366.
141] Der Getreidetenninhandel. 55
banden und die abschliessenden Teile müssen darauf bedacht sein,
dass der Gegenkontrahent in der Lage sei, die bis zur Erfüllung
eintretenden Schwankungen auszuhalten ^. Ein Aussuchen ist ihm
aber im offenen Markte nicht möglich, der Getreidehändler muss
das Geschäft mit demjenigen machen, der ihn ,beim Wort nimmt*',
denn auf der Strenggiltigkeit des gesprochenen Wortes beruht der
ganze Börsenverkehr, durch sie ist er erst möglich. Um diesem
Zwang auszuweichen, bedient man sich der Zwischenhand.
In der Frage des börsenmässigen Terminhandels stehen heute
zwei Lager einander schroff gegenüber. Auf der einen Seite die
Grossindustrie und der Handel, auf der anderen Seite die Landwirte
und die kleinen und mittleren Mühlen Niederösterreichs, Böhmens
und der Alpenländer; die Landwirte schreiben dem Terminhandel
eine preisdrückende Wirkung zu, die Mühlen erblicken in ihm die
Ursache ihrer prekären Lage; beide verlangen das Verbot des
Terminhandels. Eine Untersuchung des von den Landwirten geltend
gemachten Argumentes muss unterbleiben, weil sie den Rahmen
dieser Arbeit weit überschreiten würde; wir beschränken uns auf
die Eonstatierung, dass die sehr gründliche und weitläufige Enquete
die Richtigkeit derselben nicht bewiesen, wohl aber anderweitig
genügende Erklärung für den Preissturz des Getreides, der in den
letzten Jahren eingetreten ist, nachgewiesen hat. Die Wirkung
des börsenmässigen Terminhandels ist eine preisausgleichende, nivel-
lierende; als preisdrückend erscheint sie nur dem nach den Ver-
hältnissen des lokalen Marktes urteilenden Landwirt, und was in
dem Verlangen nach Abschaffung des börsenmässigen Terminhandels
zum Ausdruck kommt, scheint, wie die Protokolle der Terminhandels-
enquete lehren, thatsächlich der Wunsch zu sein, dass die Preise
des Lokalmarktes bezw. des Inlandmarktes für die Preisbildung allein
bestimmend sein mögen, die Forderung nach dem nationalen Ge-
treidepreis. Was die kleinen und mittleren Mühlen betrifft, so ist
ihre Situation seit Jahren eine prekäre. In der Mühlenindustrie
vollzieht sich, wie auf allen Gebieten der Produktion, die der Bewirt-
schaftung durch das Grosskapital zugänglich sind, unaufhaltsam die
Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Grossbetrieb. Die billige
Wasserkraft, die diesen Klein- und Mittelbetrieben meist zur Ver-
fügung steht, machte sie wohl etwas widerstandsfähiger, vermag aber,
von der technischen Ueberlegenheit des Grossbetriebes über den Klein-
betrieb abgesehen, den kommerziellen Vorteil nicht auszugleichen.
^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 366.
56 ^e^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [142
in welchem sich die Grossmühlenindnstrie ihnen gegenüber dadurch
befindet, dass sie meist an den Stapelplätzen der grossen Flussläufe,
oder auf den Börseplätzen selbst ansässig ist. unsere Mühlen
vermählen, da das einheimische Getreide wegen der meist geringen
Qualität und derEleberarmut nur zu Mischzwecken geeignet ist, zumeist
ungarisches Getreide. Die Provinzmühlen müssen es vom Stapelplatze
per Eisenbahn beziehen, die Grossmühle auf dem Stapelplatze erspart
den Eisenbahntransport. Sie kauft billiger ein, ist mit dem Markte
in unmittelbarer Fühlung und kann jede Konjunktur momentan aus-
nützen; ehe der Provinzmüller davon erfährt, ist sie vorüber. Die
Ueberlegenheit der Grossmühlen auf dem Börseplatz ist also gegeben,
bevor wir noch den börsenmässigen Terminhandel ins Ange fassen.
Richtig ist nar, dass sie auch im Terminhandel zum Ausdrucke
kommt, gerade so wie die Ueberlegenheit des Händlers am Börse-
platze dem Provinzhändler gegenüber. Sie bezahlen für Benützung
des Terminmarktes, eine geringere Provision \ weil ihr Kredit
grösser und unmittelbar kontrollierbar ist; sie können sich jeden
Moment über die geltenden Kurse informieren und sie ausnützen
und die gewissenhafte Ausführung ihrer Aufträge unmittelbar kon-
trollieren.
Nach Massgabe der Ausbreitung des Telephons wird aber auch die
Provinz dem Terminmarkt näher gertickt und befähigt, seine Vorteile
ebenso auszunutzen wie der Börsenplatz. Uebrigens zeigt schon ein
Blick auf die rheinische Mühlenindustrie, dass der Bestand oder Nicht-
bestand des börsenmässigen Terminhandels für die Frage der Klein-
mühlenindustrie ziemlich bedeutungslos ist. Auch im Grossherzogtum
Baden bricht die Kleinmühlenindustrie unter der Konkurrenz der
grossen Rheinmühlen werke, insbesondere der Mannheimer^, zusammen,
trotzdem auch dort Reichtum an billigen Wasserkräften die Klein-
mühlen begünstigt. Dort wie hier klagen die kleinen Müller über
die langen Vorverkäufe der Grossmüller, und der einzige Unter-
schied, den der Mangel eines Terminmarktes herbeigeführt zu haben
scheint, ist der, dass dort die Konzentration des Mühlenbetriebes
noch stärker fortgeschritten ist als bei uns; die Rheinmühlenwerke
sind Riesenetablissements. Aber angenommen selbst, die Annahme
unserer Müller wäre begründet, so würde ihnen die Aufhebung des
Terminhandels nichts nützen, denn die Grossmtihlen, unter deren
erdrückender Konkurrenz sie leiden, liegen — in Ungarn, in Budapest
* Exp. Karlik. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 471.
2 BoRGius, Mannheim II, S. 88 ff.
143] I^ie Lagerhäuser. 57
vor allem. Die Vorteile des Grossbetriebs, die wir früher aufgezählt
haben, werden hier noch potenziert durch die Lage nahe an oder
mitten in den Produktionsgebieten des besten Rohproduktes — des
ungarischen Weizens und des billigsten Mischweizens — des rumäni-
schen und serbischen Weizens — durch eine Tarif- und Steuerpolitik,
welcher anscheinend keine Opfer zu gross sind, um diese Mühlen-
industrie exportfähig zu erhalten. Auf diesem Gebiete und vielleicht
auf dem der Einkaufsassociation läge auch die einzige vernünftige
Möglichkeit, die Lage der österreichischen Mühlenindustrie einiger-
massen zu bessern und Bemühungen in dieser Richtung scheinen des
Schweisses eher wert zu sein, den die Agitation für die Aufhebung
des Mahlverkehres kostete. Denn man kann heute nach mehr als
einem Jahre nicht behaupten, dass die Aufhebung des Mahlver-
kehres die Lage der "österreichischen Mühlenindustrie gebessert habe,
im Gegenteil, im Effekt bezüglich der österreichischen Mühlen-
industrie ist sie vielmehr gleich demjenigen, den der seinerzeitige
Missbrauch des Mahlverkehres durch die ungarischen Mühlen auf
die Lage der österreichischen Mühlen hatte.
II.
Die Lagerhäuser.
1.
Das Wesen und die Bedeutung der Lagerhäuser im
allgemeinen K
a) Die Bedeutung der Lagerhäuser.
Ebensowenig wie die modernen Stapelplätze mit den alten,
stehen die modernen öffentlichen Lagerhäuser mit den Hallen und
Magazinen der Stadtwirtschaft oder des Merkantilsystemes in einem
organischen Zusammenhange. Sie sind zuerst da entstanden, wo der
Wunsch, am Welthandel teilzunehmen, zu einem Kompromiss zwischen
^ Haupteächlich benutzte Litteratur:
Professor Dr. Karl Adler, Das österreichische Lagerhausgesetz. Wien 1892.
(Daselbst ausführliches Litteraturverzeichnis.)
Dr. Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884.
MoRiz Wertheimer, Das Lagerhaus und die Lagerhausbenutzung. Wien 1886.
Otto Böhm, Die Kornhäuser. Stuttgart 1898.
Adolf Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas. Leipzig 1887.
Qahp, Der landwirtschaftliche Kredit. Berlin 1883.
58 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [144
den Bedürfnissen des internationalen Transitoverkehres und den seine
Entwickelung hemmenden Zollschranken führte.
Waren, welche nicht für den inländischen Konsum, sondern zur
Weiteryersendung bestimmt waren, mussten, solange sie im Inlande
sich befanden, der Eontrolle und Aufsicht der Zollbehörde unter-
worfen werden ; sollte diese bei jedem Eaufmanne einzeln in dessen
Privatspeicher durchgeführt werden, so war das natürlich sehr kost-
spielig. Man errichtete daher besondere Transitlager, d. h. Räum-
lichkeiten, wo jedermann derartige Waren unter Aufsicht der Zoll-
behörde lagern und eventuelle Manipulationen (Teilung, Verpackung
und anderes) vornehmen konnte. Dass der Handel lieber dorthin
ging, wo derartige Transitlager sich befanden, als an Handelsp^tze,
wo er sich mit Privatspeichern behelfen musste, ist klar, und daher
errichteten in manchen Seehandel treibenden Ländern die Regierungen
selbst aus öffentlichen Mitteln derartige Lagerhäuser, so im 18. Jahr-
hundert die holländische in Amsterdam, die sog. Rijks Entrepots.
In England wurden Lagerhäuser (docks) hauptsächlich von den
grossen Handelsgesellschaften, welche den Seehandel betrieben, er-
richtet.
Das Prinzip, das diese Lagerhäuser nur für Waren des Durch-
fuhrhandels bestimmte, war indessen von allem Anfange an insoweit
durchbrochen worden, als die Handelskonjunktur oft für die ins
Ausland bestimmte Ware im Inlande eine günstigere Verkaufschance
ergab und sie daher nachträglich verzollt wurde. Die Steigerung
des allgemeinen Warenverkehres brachte es dann mit sich, dass
diese Lagerhäuser überhaupt für Waren des freien Verkehres benutzt
wurden, und schliesslich Lagerhäuser nur für die letzteren errichtet
wurden; es vollzog sich:
1. die Verselbständigung einer Funktion des Handels, der
Lagerung, wie schon früher die einer anderen, des Trans-
portes;
2. die Zentralisierung dieser bisher privatim vorgenommenen
Thätigkeit zum öffentlich benutzbaren Grossbetriebe.
Die Vorteile des öffentlichen zentralisierten Lagerhausbetriebes
seien hier, unter Hinweis auf die Speziallitteratur, nur kurz zu-
sammengefasst. Sie lassen sich hauptsächlich nach folgenden Ge-
sichtspunkten gruppieren :
1. Vorteile, welche der Grossbetrieb gegenüber dem Klein-
betriebe hat. Der Einlagerer zahlt nur die ihm wirklich
geleistete Arbeit, die Miete nur für den von ihm wirklich
benutzten Raum, während er bei eigenen Speichern, eigenem
I4:b] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 59
Arbeitspersonal vielleicht selten in der Lage wäre, dieselben
voll auszunutzen, wodurch sein Betrieb eine dauernde Be-
lastung erfahren würde. Die Konservierung, die Reinigung
der Ware von fremden Bestandteilen, Putzen, Verpacken,
Sortieren, Abwägen u. s. f. kann natürlich billiger sein, weil
erst die Konzentration dieser Manipulationen, die grosse
Masse der Waren, die ihnen gleichzeitig unterzogen werden
soll, die Verwendung von maschinellen Hilfskräften rentabel
macht.
2. Vorteile, die aus der Lage des öffentlichen Speichers an
der zweckmässigsten Stelle des Hafen- und Bahngebietes
und seiner wirtschaftlichen Verbindung mit diesen Anlagen
entspringen. Vermeidung von unnützen Einzeltransporten
nach und von den dezentralisierten Privatspeichern, der
Unbequemlichkeiten der Kontrolle und Aufsicht, des Wartens
auf Recepisse, Scheine u. s. f., also £rsparung an Zeit und
Geld für den Kaufmann. Hierher gehört ferner die sog.
Reexpeditionsbegünstigung, die Gewährung von direkten
Frachtsätzen auch bei gebrochenem Verkehre, die erst da-
durch möglich wird, dass das öffentliche Lagerhaus als
Vertrauensperson die Bürgschaft für die Identität der re-
expedierten mit der in .das Lagerhaus gelangten Ware
übernimmt.
Diese Reexpeditionsbegünstigung ist für den Kaufmann von
grossem Werte. Sie ermöglicht ihm , das anonyme Lagerhaus zwi-
schen Bezugs- und Absatzquelle einzuschieben und so zu verhüten,
dass dieselben gegenseitig bekannt werden und Qualitätskontrolle vor
Absendung der Ware an den Empfänger zu üben, ohne kostspielige
Reisen nach den Verladestationen machen zu müssen, Waren, deren
Bestimmung noch nicht ganz feststehend ist, an das Lagerhaus zu
dirigieren, um dieselben von hier aus, wenn ein endgültiger Bestim-
mungsort sich mittlerweile ergeben hat, sofort weiterzuleiten oder,
wenn dies nicht der Fall ist, die Ware einzulagern, ohne dadurch der
Berechnung des direkten Frachtsatzes seitens der Eisenbahn verlustig
zu gehen. Manche Geschäfte werden dadurch erst ermöglicht ; so z. B.
die Abnahme eines grossen Quantums Getreide, dessen Bestimmung
noch nicht feststehend ist ; das Getreide wird vorläufig , bis eine
solche sich ergeben hat, in das Lagerhaus expediert, wo der Käufer
überdies Gelegenheit hat, den späteren Verkauf der Ware durch
Lombardierung zu antizipieren, sein Kapital bis auf einen Bruchteil
wieder mobil zu machen. So wird durch das Reexpeditionsverfahren
60 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [146
der Handel spekulations- und kaufkräftiger, fähig, grössere Lager
anzusammeln.
3. Vorteile, welche aus dem ö£rentlich- rechtlichen Charakter
der Lagerhausunternehmung sich ergeben, der für ester-
reich durch das Lagerhausgesetz vom 1. April 1889 in einer
— mit geringen Einschränkungen — sehr präzisen Weise
geregelt ist.
Das hohe Mass von Garantie und öffentlichem Olauben, welches
infolge dieser Regelung die öffentlichen Lagerhäuser gemessen,
die Neutralität, welche sie verbürgen, gestatten dem Kaufraanne
weitere Vereinfachung der Handelstechnik und grössere Bequemlich-
keit, weil rücksichtlich .der Unparteilichkeit, Verlässlichkeit, fach-
männischen Ausführung und kaufmännischen Sorgfalt der Lager-
hausunternehmung beim Messen, Wägen, Musterziehen, Ermitteln
der Qualität solche Zweifellosigkeit herrscht, dass niemand es für
nötig zu finden braucht, diese Funktionen selbst oder durch eigene
Beamte auszuüben, und den diesbezüglichen Bescheinigungen der
Lagerhausunternehmung allgemein unbedingter Glaube beigemessen
werden kann.
4. kann Ware, die in einem öffentlichen Lagerhause auf-
bewahrt wird, dank dem Vertrauen, welches das öffentliche
Lagerhaus als Depositar geniesst, ohne Ortsveränderung
leicht verpfändet beziehungsweise in anderen Besitz über-
geben werden.
Schliesslich wäre noch die Bedeutung zu erwähnen, welche die
öffentlichen Lagerhäuser für die Handelsstatistik dadurch haben,
dass die Lagerbestände von Zeit zu Zeit öffentlich ausgewiesen
werden.
b) Die rechtliche Ordnung der Lagerhäuser in
Oesterreich.
Die Zentralisation der Lagerung und ihre Verselbständigung
zu einem besonderen kaufmännischen Unternehmen stellt an die
Gesetzgebung besondere Aufgaben, deren Lösung nicht immer und
überall auch durch ein besonderes Gesetz erfolgt ist. Wo das Lager-
hauswesen allmählich im Anschlüsse an den Seehandel sich ent-
wickelt hat, wie in seinen Heimatländern England und Holland,
erfolgte die Regelung der R^chtsbeziehungen allmählich und im
Rahmen der vorhandenen handelsgesetzlichen oder öffentlichrecht-
lichen Bestimmungen, und sie hat in diesen Ländern nicht bestim-
147] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. gl
mend in die formale Entwickelung eingegriffen, sondern sieb darauf
beschränkt, jene Rechtsbasis, welche die kaufmännische Gepflogen*
heit für das Lagergeschäft geschaffen hatte, zu legalisieren; sehr
zum Vorteile der Entwickelung, welche in diesen Ländern weitaus
am Yorgeschrittensten ist.
Anders in den europäischen Eontinentalstaaten. Hier war die
Institution der öffentlichen Lagerhäuser nicht das Resultat schritt*
weiser Entwickelung, sondern einer ganz plötzlichen vehementen
Steigerung des Verkehres, welche die Ausgestaltung der Schienen-
wege und die Steigerung der Produktion herbeiführten. Demgemäss
musste auch die Gesetzgebung gewissermassen unvorbereitet, ohne
Erfahrungen auf heimischem Boden und ohne genaue Kenntnis der
Bedürfnisse des einheimischen Handels, eingreifen. Zuerst erfolgte
diese Regelung in Frankreich, wo am frühesten die moderne Ent-
wickelung der Wirtschaft das Bedürfnis nach öffentlichen Lager-
häusern hervorrief; die hier aufgestellten Prinzipien haben dann in
verschiedenster Modifikation in die Gesetzgebung der übrigen Länder
— Deutschland ausgenommen — Eingang gefunden, auch in die
Oesterreichs.
Die erste gesetzliche Regelung des öffentlichen Lagerhauswesens
in Oesterreich erfolgte durch die Ministerialverordnung vom 19. Juni
1866 (R.G.Bl. Nr. 86), welche die öffentlichen Lagerhäuser als
konzessionierte Unternehmungen bezeichnet, die zur Aufbewahrung
zoll- und steuerfreier oder bereits verzollter und versteuerter Waren
dienen, und ihnen das Recht erteilt, an Ordre lautende Lager-
scheine (Warrants) auszustellen. Weder die Rechte der Lager-
hausunternehmung noch jene der Einlagerer waren durch das Gesetz
in präziser Weise geregelt, namentlich fehlten genaue Bestimmungen
über die Haftpflicht der Lagerhausunternehmung fast gänzlich. Es
lag also für die Regierung sehr nahe, die Ursache der sehr geringen
Verbreitung, welche bis in den Anfang der achtziger Jahre die
öffentlichen Lagerhäuser in Oesterreich gefunden hatten, hauptsäch*
lieh in den mangelhaften Bestimmungen des Gesetzes zu erblicken,
um so mehr, als es an grundlegenden theoretischen Darstellungen
des Lagerhauswesens, woraus die Entwickelungsbedingungen hätten
erkannt werden können, damals noch fast überhaupt gebrach; die
vortreffliche Darstellung Hechts \ welche auch heute noch das
Erschöpfendste in dieser Richtung bietet, erschien erst 1884. Die
Regierung veranstaltete zunächst eine schriftliche Enquete. Mit
* Dv Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884.
62 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [148
Erlass vom 27. Oktober 1882 (R.G.BL Nr. 35 S. 730) wendete sie
sich an Konsulate, Handelskammern und Bezirkshauptmannschaften
mit der Frage, woran es liege, dass die dem Handel so forderlichen
Lagerhäuser bei uns so wenig prosperieren, während sie sich im
Auslande steter Vermehrung erfreuen, und ob eine Abänderung der
gesetzlichen Bestimmungen über die Lagerhäuser wünschens-
wert sei.
Wertheimer ^ schildert die Ergebnisse dieser Enquete wie
folgt :
„Die Konsulate antworteten mit einer Schilderung einzelner in
Blüte stehenden ausländischen Lagerhäuser und der . unschätzbaren
Dienste, welche dieselben dem Verkehre tagtäglich erweisen. Die
Handelskammern berichteten, dass die bestehenden österreichischen
Lagerhäuser wegen des von denselben gleichzeitig betriebenen
Warenhandels, besonders aber wegen der monopolistischen Selbst-
belehnung unpopulär seien. Und die Bezirkshauptmannschaften
meldeten, dass der Betrieb wenig rentabel sei und deshalb sich
Unternehmungen für dieselben nicht leicht finden liessen.**
Nach dieser Darstellung würden allerdings gewisse harte Be-
stimmungen — an deren Abfassung Wertheimer mitgewirkt hat —
einigermassen gerechtfertigt erscheinen ; sie entspricht aber nur
teilweise und in sehr bedingtem Sinne den Thatsachen, welche wir
auf Orund einer Einsicht in die Akten, die uns das hohe k. k.
Handelsministerium gütigst gestattet hat, feststellen konnten.
Soweit es auf die auswärtigen Konsulate ankam, waren die
Ergebnisse natürlich äusserst dürftig. Derartige Fragen können
nicht nebenher, wie viele andere Konsulatsgeschäfte, erledigt werden,
sondern nur auf Grund persönlicher Erhebungen und Studien, für
welche die in der Materie gewiss fremden Konsuln weder den Blick
und das Verständnis, noch die Zeit besassen. In anderen Ländern
hat man daher, als es sich um Direktiven für die Einführung des
Lagerhauswesens handelte, eigene Lagerhauskommissionen zum Stu-
dium der Einrichtungen anderer, auf diesem Gebiete mustergültiger
Länder entsandt; denselben Weg hatte schon früher einmal, wie
wir gesehen haben, die Kommune Wien eingeschlagen. Auf die
allgemeine Frage antworteten die Konsulate wieder allgemein, einzelne
sandten die Reglements and Pläne der Lagerhäuser ihres Konsular-
bezirkes; ein Bild der Entwickelung oder gar eine Kenntnis der
^ MoRiz Wertheimer, Das österreichische Lagerhausgesetz. Prag, Mercys
Verlag, 1889.
149] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 63
Gesetzgebung tmd der Entwickelungsbedingungen des Lagerhaus-
wesens in anderen Ländern war aus diesen Antworten nicht zu ge-
winnen. Viele Konsulate antworteten auch, dass in ihrem Konsulär-
bezirke die Organisation des Lagerhauswesens noch im Stadium der
ersten Entwickelung sich befinde und sie daher nichts sagen könnten.
Die Gutachten der Handelskammern berichteten über die grossen
Hindernisse, welche teils das geringe Verständnis des Publikums
für den wirtschaftlichen Wert der Lagerhäuser, teils direkte Vor-
urteile der Entwickelung derselben entgegenstellten. Sie hoben
hervor, dass die Lagerhäuser meist im Besitze von Banken seien,
welche auf die eingelagerten Waren auch Vorschüsse erteilten,
und dadurch in der Kaufmannswelt die irrige Meinung genährt
würde, dass auf eingelagerte Waren regelmässig Vorschüsse genom-
men werden müssen, ja dass Güter überhaupt' nur gegen Verpföndung
zur Einlagerung zugelassen werden. Da aber die Einlagerung in
einem öffentlichen Lagerhause stets mit einer grösseren Publizität
verknüpft ist, so besorgte mancher Kaufmann, durch Hinterlegung
seiner Waren in öffentlichen Lagerhäusern seinen Kredit zu erschüt-
tern. Mit Rücksicht darauf, dass diese Banken den Warenkommis-
sionshandel betrieben, fürchte der Kaufmann wohl auch, nicht jene
Neutralität zu finden, deren er bei dem Einblicke, welchen die
Lagerhausunternehmungen naturgemäss in die Geschäfte des Ein-
lagerers gewinnen, unbedingt sicher sein müsste.
Das Lagerhausgesetz war de von den Handelskammern überein-
stimmend als unzulänglich und einer gründlichen Reform bedürftig
bezeichnet. Diese sollte hauptsächlich auch die Einführung des
Zweischeinsystems umfassen, von dem man damals allgemein sich
eine grössere Wirkung versprach, als von dem geltenden Einschein-
system. Doch bemerkten die Handelskammern, dass der grös-
seren oder geringeren Vollkommenheit der gesetzlichen
Bestimmungen eine entscheidende Rolle in der Ent-
wickelung des Lagerhauswesens nicht zugeschrieben
werden könne, das Hauptgewicht vielmehr auf eine entgegen-
kommendere Behandlung von Seite der Eisenbahnen im Punkte der
Reexpedition gelegt werden müsse.
Die seitherige Entwickelung des Lagerhauswesens bewies die
Richtigkeit dieser Anschauung. Seit der Mitte der achtziger Jahre
gewann das Lagerhauswesen eine für österreichische Verhältnisse
nicht unansehnliche Verbreitung, Während bis zum Jahre 1882,
also in den 16 Jahren seit Erlass der Verordnung von 1866^ bloss
fünf öffentliche Lagerhäuser entstanden waren, kamen bis zum Jahre
64 ^^^ Wiener Getreidehandei und seine Technik. [150
1889 weitere zwölf hinzu. Diese Verbreitung war begünstigt worden
einerseits durch die entgegenkommendere Handhabung des Reexpe-
ditions Verfahrens, das als die bessere Frucht^ der Enquete bezeich-
net werden kann, und sie erfolgte trotz oder vielmehr gerade
begünstigt durch die Mangelhaftigkeit des Gesetzes. Die geringe
Präzision der auch in diesem Gesetze schon enthaltenen Verbots-
bestimmungen, welche wir später kennen lernen werden, liess der
kommerziellen Entwickelung der Lagerhäuser einen ziemlich fireien
Spielraum.
Das neue Lagerhausgesetz, welches nach einem vierjährigen
Stadium der Vorbereitung 1889 endlich zustande kam, räumte mit
diesen Freiheiten auf. Der wesentlichste Inhalt des Gesetzes vom
1. April 1889 ist folgender:
Oeffentliche Lagerhäuser sind jene Unternehmungen, welche
auf Grund einer besonderen Konzession die Aufbewahrung von
Waren für fremde Rechnung geschäftsmässig betreiben und in-
dossable Lagerscheine auszustellen berechtigt sind. Unter meh-
reren Konzessionsbewerbern haben bei gleichen Bedingungen die
öffentlichen Körperschaften (Länder, Bezirke, Gemeinden, Er-
werbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und Vorschusskassen, wenn
sie mindestens drei Jahre bestehen) den Vorzug.
Die zum Geschäftsbetriebe der öffentlichen Lagerhäuser gehören-
den Geschäfte gelten im Sinne des Handelsgesetzbuches als Handels-
geschäfte, die Lagerhausunternehmungen selbst als Kaufleute;
als solche haften sie für die ihnen übergebenen Waren mit der
Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns. Die Beweislast für die
Sorgfalt fällt aber der Lagerhausunternehmung zu.
Der Unternehmung öffentlicher Lagerhäuser ist es bei sonstigem
Verluste der Konzession untersagt, mit Waren, welche nach ihrer
Gattung zur Aufnahme in die Lagerhäuser geeignet wären, für
eigene oder fremde Rechnung Handel zu treiben, sowie im eigenen
Lagerhause eingelagerte Waren für eigene oder fremde Rechnung
zu belehnen. Die Lagerhausunternehmung hat die Verpflichtung,
die Rechte des Einlagerers gegenüber dem Schiffer und Frachtführer
wahrzunehmen, sowie die Beweissicherung und sofortige Benach-
richtigung desselben bei erkennbaren Mängeln des eingelieferten
Gutes, ferner zur Versicherung gegen Feuersbrunst. Sie hat die
Entnahme von Proben bezw. Besichtigung der Ware dem Einlagerer
während der Geschäftsstunden zu gestatten, und geniesst im Falle
der Verzögerung oder Verweigerung der Abnahme oder bei drohen-
dem Verderben der Ware das Recht des Selbsthilfeverkaufs ; ferner
151] Wesen tmd Bedeutung der Lagerhäuser. 65
steht ihr für die Sicherung der Lagergebühren und eventueller für
Rechnung des Hinterlegers bestrittener Auslagen ein Pfandreeist län
der Ware zu. •
Das Belehnungsverbpt war, teils unter dem Einflüsse der ?on
einigen Handelskammern abgegebenen abfalligen Gutachten rück-
sichtlich der selbst belehnenden Lagerhäuser, teils auf Wunsch der
den Vorberatungen zugezogenen Vertreter des Wiener und Triester
Handels und dessen parlamentarischer Vertretung, mit der Moti-
Yierung erfolgt, dass sonst die Lagerhäuser zu Leihhäusern werden
und die für den Warenbesitzer so notwendige Freiheit, seine Ware
von beliebigen Geldgebern belehnen zu laissen, verkümmert werden
könnte, und aus Besorgnis, dass die Lagerhausunternehmung ein
spezielles Nebeninteresse an den Angaben haben könnte, welche in
dem Lagerscheine enthalten sind und welche auf die Einschätzung
der Ware bei der Lombardierung massgebenden Einfluss nehmen ^.
Die Ueberlegenheit, welche die Banken im Warenkommissions-
geschäft durch ihre Lagerhäuser erhielten, hatte auch die Eifersucht
des Handels rege gemacht. Entscheidend war besonders der zähe
Widerstand, den die parlamentarische Vertretung der Stadt Triest
dem Belehnungsrechte aus egoistischen Motiven entgegensetzte: der
Stadtgemeinde Triest, die zu dieser Zeit gemeinsam mit der Handels-
kammer die Triester Lagerhäuser betrieb, passte es nicht, Waren zu
belehnen.
Eine Eigentümlichkeit des österreichischen Gesetzes bilden die
Bestimmungen über die Beziehungen öffentlicher Lagerhäuser zu
den Eisenbahnen und die Bevorrechtung, welche in dieser Beziehung
sowie durch das alleinige Recht der Ausgabe von indossabeln Lager-
scheinen der öffentlichen Lagerhausuntemehmung vor der privaten
in der offenbaren Absicht zu teil wird, die Entstehung öffentlicher
Lagerhäuser zu begünstigen.
Auf Grundstücken öffentlicher Eisenbahnen wird der Errichtung
öffentlicher Lagerhäuser vor jener von Privatlagerhäusern der Vor-
zug eingeräumt. Geleiseverbindungen, welche zwischen einem öffent-
lichen Lagerhause und einer öffentlichen Eisenbahn oder einem an
einer schiffbaren Wasserstrasse gelegenen Umschlagsplätze hergestellt
werden sollen, sind als gemeinnützig anzusehen. Bezüglich der
Ordnung der wechselseitigen Verkehrsverhältnisse zwischen der
Eisenbahnuntemehmung und dem öffentlichen Lagerhause, insbeson-
^ Rede des Handelsministers Marquis Baqüehem in der 290. Sitzung der
X. Session des Abgeordnetenhauses.
Wiener Studien. ÜI. Bd., 2. Heft. 5 [11]
66 I>er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [152
dere auch bezüglich der Aifwendung der dem öffentlichen Lager-
hanse zugestandenen Reexpeditionsbegünstigungen, steht bei
mangekidem Einverständnisse zwischen den Beteiligten dem Han-
delsministerium die Entscheidung zu.
Von dem praktischen Effekt dieser Bestimmungen wird noch
die Bede sein.
c) Der Lagerschein.
Andeutungsweise wurde bereits früher der hervorragenden Be-
deutung erwähnt, welche den öffentlichen Lagerhäusern als Stütze
des Warenlombards zukommt.
Wie das Beexpeditionsverfahren, erhöht auch ein gut organisierter
Lombardkredit die Kaufkraft des Stapelplatzes und seine Konkurrenz-
fähigkeit; denn je grösser der Umsatz ist, je leichter und billiger
das Leihkapital zugänglich ist, desto billiger kann der Handel im
Verkauf sein.
Das wichtigste Instrument des Lombardkredits ist der Lager-
schein oder Warrant. Ein kurzer RückbUck auf die Entwickelung
des Warenlombards wird uns die Funktion des Lagerscheins am
besten illustrieren.
Die Heranziehung von Leihkapital für den kaufmännischen
Betrieb erfolgt in der Regel in der Form des Personalkredits,
des Kontokorrent und Wechselkredits, dessen Umfang bestimmt
wird durch die Grösse und eingeschätzte Rentabilität des kredit-
werbenden Geschäftsbetriebes, durch das Mass von Vertrauen,
welches die Person seines Inhabers geniesst. Mit diesem Personal-
kredit muss unter normalen Verhältnissen ein normaler Geschäfts-
betrieb das Auslangen finden; wenn eine Manufakturwarenfirma
Waren verpfändet, so wird das in der Regel böse Schlüsse auf
ihren Kredit rechtfertigen und man wird richtiger von einem Pfand-
leihgeschäft, als von einem kaufmännischen Lombardgeschäft sprechen.
Anders im Handel mit Roh- und Massenprodukten, wie Getreide.
Hier ist für den nicht sehr kapitalkräftigen Kaufmann der Fersonal-
kredit auch unter normalen Verhältnissen unzulänglich ; Getreide ist
ein Massengut von hohem Werte und der Bedarf an Leihkapital
wächst mit der Ausdehnung des Handelsbetriebes unvergleichUch
stärker als in anderen Handelszweigen, während in Anbetracht der
Preisschwankungen, welchen diese Ware ausgesetzt ist und der
grösseren Risken, welche infolgedessen der Kreditgeber in Kalkül
ziehen muss, der Personalkredit nur sehr langsam und unter Schwierig-
keiten ausgedehnt werden kann, insbesondere dann, wenn, was an
158] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser« 67
Terminhandelsplätzeii h'änfig der FaU ist, der Ereditwerber mit dem
Effektivhandel auch das Eommissionsgeschäft in Termingetreide
verbindet.
Das Bedürfnis nach einer Ergänzung des kaufinännischen
Kredits führte dazu, dass man jene Kreditform, die der Privatkredit
bereits kannte, mid welche dem Kreditgeber ein hohes Mass von
Sicherheit gewährleistet, dass man den Pfandkredit auch für
kaufmännische Zwecke auszugestalten suchte. Doch galt es vorher
einige Schwierigkeiten zu überwinden. Nach dem allgemeinen
Gebrauch und nach den in fast allen Ländern bestandenen gesetz-
lichen Normen konnte die Bestellung eines Faustpfandes nur in
der Weise geschehen, dass der Verpfänder die Ware körperlich
in die Verwahrung des Pfandleihers übergab. Für den Pfandleih-
kredit passte das, weil es sich meist um Luxusgüter oder nicht
allzu voluminöse Gebrauchsgegenstände handelte. Für die Ver-
pfändung von Handelsgütern oder gar Massengütern war, ab-
gesehen von der Verteuerung des Kredits durch die Kosten des
Zu- und Abtransportierens , diese Form umso unmöglicher, als die
Aufbewahrung der Waren nicht nur grosse, gewissen Anforderungen
entsprechende Räumlichkeiten, sondern, wie z. B. bei Getreide,
auch eine sorgfältige und fachmännische Konservierung erfordert.
Aus diesem Grande gehen jene Personen oder Institute, welche aus
einem oder dem anderen Interesse den Warenlombard gewerbsmässig
zu betreiben gewillt sind, zunächst an die Errichtung eigener Lager-
häuser. Das war nun wohl ein Schritt nach vorwärts. Aber die
Besitzer dieser Lagerhäuser sind in der Regel Kommissionäre, welche
durch sie Kunden anziehen und an sich fesseln wollen. So finden
wir in Liverpool zahlreiche »Brokers" im Besitze von Lager-
häusern.
Dem Warenbesitzer ist es oft nur um den Vorschuss, nicht
auch um den Vermittler zu thun, während hier, vermöge des Lager-
hauses, das Belehnungsgeschäft zu einem Monopol des Kommissionärs
wird. An jenen viel grösseren Kreis von Personen, welche, ohne
die Warenbelehnung gewerbsmässig zu betreiben, sie doch gerne
zu vorübergehender Kapitalsanlage zu benützen gewillt sind, an den
„offenen Kapitalmarkt** konnte der Vorschusswerber der technischen
Hindemisse wegen nicht herantreten.
Dies war möglich, wenn die Ware bei einem Depositar hinter-
legt wurde, dessen Sicherheit und Neutralität unzweifelhaft war;
und der die Aufbewahrung von Waren gewerbsmässig und ohne
Rücksicht darauf betrieb, ob dieselben durch ihn verkauft oder
68 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [154
belehnt wurden ; als solcher bot sich das öffentliche Lagerhaus dar.
Der Fortschritt war bedeutend. Aber noch immer waren da die
pfandrechtlichen Bestimmungen, welche verfügten, dass die Er-
werbung eines Faustpfandes nur möglich war, wenn die Ware
körperlich in die Verwahrung des Pfandleihers überging. Ihre
kostspieligen Eonsequenzen entfielen nun wohl; die Ware brauchte
sich, damit dieser Vorschrift Genüge geleistet wurde, nicht vom
Flecke zu rühren, der Einlagerer beauftragte das Lagerhaus einfach,
die Ware auf den Namen des Vorschussgebers zu überschreiben. Das
hatte aber noch immer zwei Nachteile. Die Umschreibung des
Eigentumsrechtes auf den Namen des Vorschussgebers und die
Bückbuchung bei Wiedererstattung des Vorschusses erfolgt natürlich
nicht kostenlos. Und überdies gab der Eigentümer die Ware voll-
ständig in die Verfügung und in das Eigentum des Vorschussgebers,
den der Pfandvertrag, der nebenher errichtet wurde, natürlich nicht
hinderte, mit der Ware nach Gutdünken zu schalten, da dem Lager-
hause gegenüber er als unumschränkter Besitzer derselben figurierte.
Der krediteinräumende TeU war nicht der Vorschussgeber, der ja
für seinen Vorschuss durch die Ware überdeckt ist, sondern der Vor-
schussnehmer, der einen Teil des Warenwertes unbedeckt dem
ersteren anzuvertrauen gezwungen ist. Der Ereditwerber muss sich
daher den Ereditgeber daraufhin ansehen, ob derselbe ein solches
Vertrauen rechtfertigt; er wird sich auf die öffentlichen Lager-
hausunternehmungen, welche selbst belehnen und auf Banken von
unzweifelhafter Solidität beschränken müssen; hat sich der Eredit-
markt für den Vorschusswerber auch erweitert, begrenzt ist er
noch immer.
Erst der indossable Lagerschein mit stellvertretendem Charakter
beseitigt diese UnvoUkommenheiten des Realkredits. Die ursprüng-
liche Form, aus welcher der Lagerschein sich entwickelte, ist die
Empfangsbescheinigung, welche die Lagerhausunternehmung dem
Einlieferer der Ware gibt. Sie stellt nur eine Beweisurkunde vor
und repräsentiert die Ware nicht; ein Dritter erwirbt durch ihren
Besitz kein Recht auf die Ware; zum Lagerschein, zum Reprä-
sentanten der Ware wird sie erst durch die Ausstattung mit ding-
lichen Rechten. Durch die gesetzliche Bestimmung, dass der Besitz
des Lagerscheins nicht bloss ein Forderungsrecht der Lagerhaus-
unternehmung gegenüber, sondern ein unmittelbares Recht an der
Ware selbst verleiht, ist die Möglichkeit gegeben, das Dokument
zur Uebertragung, beziehungsweise zur Verpfändung der Ware zu
verwenden.
1551 Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 69
Die Entstehnngs- und Entwickelnngsgeschichte des indossablen
Lagerscheins ist nnn in verschiedenen Ländern verschieden.
In jenen Ländern, wo Tom Lagerschein der allerweiteste Ge-
brauch gemacht wird, in England und Holland, ist diese Aus-
gestaltung in allmählicher Anpassung an die Gepflogenheiten des
kaufmännischen Verkehrs ausgebildet worden. Die Gesetzgebung
hat sich darauf beschränkt, den Rechtsboden für die Entwickelung
des Lagerscheins zu schaffen, seinen dinglichen Charakter anzu-
erkennen, ihn anderen Handelspapieren, wie dem Konnossement und
dem Auslieferungsschein rechtlich gleichzustellen und die pfand-
rechtlichen Bestimmungen entsprechend auszugestalten^. Yerwen-
dungsweise und Formen dagegen blieben vollständig frei dem kauf-
männischen Verkehre überlassen.
In England lautet der Lagerschein an Ordre, in Holland auf den
Inhaber; er ist ein einfaches Dokument, welches sowohl zur Verpfan-
dung als zur Besitzübertragung der Ware verwendet wird und gilt in
allen seinen Beziehungen und Verwendungen, rechtlich und praktisch
nur als das, was er ist, als Repräsentant der Ware. Das Instrument, das
der erste gesetzgeberische Versuch in Bezug auf das Warrantwesen,
die Verordnung vom Jahr 1866, in Oesterreich geschaffen hatte, war,
soweit die Voraussetzungen für einen Warrantverkehr überhaupt
gegeben waren, wenig geeignet, denselben zu ermöglichen, weil der
Rechtsboden dafür ein für den Darlehensgeber zu unsicherer war.
So fehlte die in dem geltenden Gesetze (§ 23) enthaltene wichtige
Bestimmung, dass wenn ein Lagerschein ausgestellt ist, die Ueber-
gabe der Ware in anderer Weise als durch XJebergabe des indossierten
Lagerscheins nicht stattfinden kann, und dass nicht die Ware,
sondern der Lagerschein ausschliesslich der Gegenstand von Exe-
kutions- und Sicherungsmassregeln sein kann. Der Warrantinhaber
hatte infolgedessen keine Gewähr dafür, dass nicht ein^s Tages ein
anderer die Ware pfändete, wenn z. B. der Warenbesitzer in
Eonkurs verfiel. Es ist nicht unwichtig, dies hervorzuheben, weil
die Mitarbeiter und Berater des geltenden Gesetzes die Gering"^
fügigkeit des Warrantverkehrs grossenteils anderen Momenten zu-
geschrieben haben, so namentlich dem Belehnungsrecht der Lager-
hausunternehmung.
Das geltende österreichische Lagerhausgesetz strebt in An-
lehnung an das französische die möglichst weitgehende Ausnützung
der beiden Verwendungsmöglichkeiten des Lagerscheines: zur Besitz^
1 Vgl. MiTTBRMAiER in Zeitschrift für Handelsrecht Bd. XXXVIII, S. 131 ff.
70 ^^^ Wiener Getreidehandel and seine Technik. [156
Übertragung und zur Verpfandung durch ein obligatorisches Zwei-
scheinsystem an. Die öffentlichen Lagerhausunternehmungen sind
zur AussteUung von Lagerscheinen in zwei TeUen berechtigt und
verpflichtet. Der eine Teil, der Lagerbesitzschein, dient zur Besitz-
übertragung, der andere, der Lagerpfandschein, zur Verpfandung der
Ware, so dass dem Warenbesitzer die Vornahme beider Akte gleich-
zeitig möglich sein und ihm im Falle der Verpfandung der Ware,
dadurch dass er den Besitzschein behalt, die Verfügung über die
Ware unbeschadet des bestellten Faustpfandes erleichtert sein soU.
Dies macht eine Abgrenzung der Rechtsfolgen des einzelnen Aktes
notwendig, welche durch die folgenden Bestimmungen des Gesetzes
gegeben wird. Die üebergabe des indossierten Besitzscheines an
den Indossatar hat für den Erwerb der von der Üebergabe der
Ware abhängigen Rechte dieselben rechtlichen Wirkungen, wie die
Üebergabe der Ware selbst (§ 23 Abs. 1). Wird der Besitzschein
ohne Warrant übertragen, so tritt der Rechtserwerb des Lidossatars
des Besitzscheines nur mit Beschränkung durch die infolge der
abgesonderten Indossierung des Warrants entstandenen Rechte ein
(§ 24). Zur Bestellung eines Faustpfandes an der hinterlegten
Ware ist, wenn ein Lagerschein ausgestellt ist, die Üebergabe des
unter Beobachtung der im § 20 enthaltenen Bestimmungen indossierten
Warrants an den Indossatar erforderlich. Den in dem erwähnten
§ 20 enthaltenen Bestimmungen zufolge muss, wenn der Warrant
abgesondert übertragen, also ein Pfand an der Ware bestellt wird,
das erste die abgesonderte Uebertragung bezweckende Indossament,
um rechtskräftig zu sein, enthalten:
1. Den Namen und Wohnort des Indossatars des Warrants;
2. die Angabe der Geldsumme samt allfälligen Zinsen, für
welche das Pfandrecht an der eingelagerten Ware eingeräumt
werden soll;
3. den Verfallstag der Pfandsumme und muss yollinhalÜich und
unter Angabe des Datums in das Lagerbuch der Unternehmung
eingetragen werden.
Dieser strenge Formalismus ist die unvermeidliche Folge der
Auffassxmg der durch die Belehnung des Warrants kreierten For-
derung als einer wechselmässigen und der Bezugnahme des
Gesetzes auf die Bestimmungen der allgemeinen Wechselordnung,
für den Fall, als die Pfandsumme nicht oder nicht rechtzeitig rück-
erstattet wird.
Diese Auffassung, die mit solcher Eonsequenz durchgeführt ist,
dass das Pfandindossament, auch der Stempelpflicht nach Scala II
157] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 71
unterworfen ist, ist ans dem französischen Gesetz, in der gleichen
Absicht herübergenommen worden, welche dort zu ihrer Entstehung
geführt hat; die Mittel der Notenbank sollten dem Waren« bezw.
Warrantlombard zugänglich gemacht werden, ohne das Bankstatut
einer prinzipiellen Aenderung zu unterwerfen. Das Statut der öster-
reichisch*ungarischen Bank schreibt, wie das der meisten Noten-
banken vor, dass die Anlage der durch Banknoten aufgebrachten,
nicht in barem öelde reservierten Fonds in bankmässiger Weise,
d. h. so zu geschehen habe, dass in kurzer Frist die Einziehung
derselben erfolgen kann, eine Yorschrifb, die ihren Grund in der
Erwägung findet, dass eintretende Krisen oder Geschäftsstockungen
die Ansprüche an die Bank unvermutet steigern können. Die vor-
zugsweise bankmässige Anlage ist die Diskontierung von guten,
mit mehreren (gewöhnlich drei) soliden Unterschriften versehenen
Handelspapieren, von kurzfalligen Wechseln insbesondere. „Jene
Notenbanken, welche auf Warrants Kredit gewähren, stellen daher
bei der Kreditgewährung dieselben Anforderungen, welche für den
Escompte von Wechseln massgebend sind. So wie sie Wechsel mit
einer Unterschrift nicht annehmen, so stellen sie auch für die Kredit-
gewährung auf Warrants grundsätzliche Bedingungen auf, dass sie
mindestens zwei Indossamente tragen müssen^/ An Stelle der dritten
Unterschrift wird die Sicherheit angenommen, welche die Ware
bietet.
Bei diesem Systeme kann demnach die Beteiligung der Bank
am Warenlombard nur eine indirekte sein. „Die Notenbanken geben
niemals dem ursprünglichen Eigentümer der warrantierten Ware
einen Yorschuss, sondern sie nehmen den Warrant erst aus der
Hand eines zweiten an, der seinerseits bereits auf den Warrant
einen Yorschuss geleistet hat. Sie beleihen daher nicht direkt die
in dem Warrant repräsentierte Ware, sondern sie lösen die Forde-
rung an sich, welche ein anderer Geldgeber, der zweite Indossant,
gegenüber dem Eigentümer der Ware erworben hat, und für welche
die warrantierte Ware als Bealpfand dient. Da hierbei überdies
auch der 'Personalkredit des forderungsberechtigten zweiten Indos-
santen in Betracht gezogen wird^ „so stellt sich in dieser Form die
Kreditgewährung als eine Escomptierung wechselmässiger Forde-
rungen dar, die in dem Personalkredite des unmittelbaren Indos-
santen und in der verpfändeten Ware ihre Sicherstellung finden^ ^.
^ Gustav Leonhard, Der Warrant als Bankpapier. Wien 1886, S. 14.
2 Derselbe S. 15.
72 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [158
Nicht der Wd;tbewerb mit anderen Kreditgebern, Banken und
PrivaÜiiapital^ sondern die Ermunterung des privaten Leihkapitals
zum- Warrant wird also angestrebt« Die Bank tritt mit dem privaten
Leihkapital nicht in Wettbewerb auf dem Lombardmarkt. Die
Förderung des Lombardkredits durch sie ist so gedacht, dass die
Mi)glichkeit, den Warrant bei der Notenbank reeskomptieren zu
lassen und sich dadurch Geld zu bescha£Pen, das Leihkapital er«
muntern soU, sich dem Belehnungsgeschäfte zuzuwenden.
In seiner anderen Eigenschaft, als Zirkulationsmittel, hat
der Lagerschein im Wiener Getreidehandel, wie im europäischen
Getreidehandel überhaupt, keinerlei Bedeutung gewinnen können.
Der Lagerschein muss, um zirkulationsföhig zu sein, die Ware nicht
nur in rechtlicher Beziehung, sondern auch qualitativ voll und
ganz repräsentieren. Der Käufer muss durch einen Blick auf den
Warrant genau informiert sein, welchen Konsumwert die durch ihn
repräsentierte Ware besitzt. Die Voraussetzung dafür ist die Pungi-
bilität der Ware, welche bei Getreide, wie schon erörtert wurde,
nur durch ein Gradierungssystem effektiv hergestellt werden kann.
Nur im amerikanischen Getreidehandel hat daher der Lagerschein
als Zirkulationsmittel grosse Bedeutung erlangen können. Und wenn
der Eisenhandel in Glasgow sich in Warrants, der Getreidetermin-
handel Liverpools sich ohne Warrants vollzieht, so ist die Ursache
nicht, wie ein in dem Werke „Das Getreide im Weltverkehr* öfter
citierter Herr Charles W. Smith annimmt die, „dass der Glasgower
Terminhandel mit Bücksicht auf die Zeit seines Entstehens sich be-
müssigt gesehen habe, die in England zwei Jahre vor der Auf-
hebung der Kornzölle im Jahre 1844 gegen die Produktenspekulation
gerichteten Verbotsgesetze zu berücksichtigen^**, sondern die, dass
im englischen Roheisenhandel eine ähnliche Gradierung besteht, wie
im nordamerikanischen Getreidehandel, dass Roheisen eine fungible
Ware ist und Getreide in England es nicht ist.
Zwei Formen des Warrants, die in fremden Ländern in Geltung
sind, glauben wir eine spezielle kurze Schilderung widmen zu sollen,
da uns die eine dem kommerziellen, die andere dem landwirtschaft-
lichen Lombardkredit im Getreidehandel grosse Dienste zu leisten
geeignet erscheint^
Die erstere ist das in England gebräuchliche Zweischeinsystem,
der Warrant mit Weight-note. Der Warrant mit Weight-note
^ Das Getreide im Weltverkehr. Wien 1900, Bd. III: Erläuternde Be-
merkungen S. 116.
1591 Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 73
ist ein Lagerschein, der aus zwei gleichlautenden zusammenhängenden
Teilen besteht. Dieser Lagerschein wird in England als Unterlage
für Kaufkontrakte über Waren, die in öffentlichen Lagerhäusern
liegen, verwendet, wenn der Käufer die Ware erst nach einer ge-
wissen Frist zu beziehen hat und vorerst nur ein Angeld leistet.
Der Verkäufer lässt von der Lagerhausunternehmung einen der-
artigen Warrant ausstellen, — die Ausgabe von Lagerscheinen steht
in England übrigens jedermann frei — merkt die geleistete An-
zahlung auf beiden Teilen vor, gibt die Weight-note dem Käufer
und behält selbst den Warrant so lange, bis der Restkaufpreis für
die Ware erlegt wird. Diese Form des Lagerscheins und ihre Ver-
wendung hat sich in England zuerst im Anschlüsse an die öffent-
lichen Auktionen der grossen Seehandelsgesellschafben ausgebildet,
weil hier die Einräumung eines Bezugstermins gegen Angeld usuell
war. Sie bietet gegenüber der sonst üblichen Uebertragung mit obli-
gatorischer Wirkung unter Austausch von Schlussbriefen dem Käufer
den Vorteil, dass er an Stelle eines blossen Forderungsrechtes ein
dingliches Recht erwirbt, welches ganz unabhängig ist von dem
Kredit des Verkäufers. Keiner der beiden Kontrahenten braucht
d«m anderen einen Personalkredit einzuräumen, beiden Teilen haftet
die Ware, über die keiner ohne den anderen verfügen kann, weil
die Lagerhausuntemehmung im Falle als ein Warrant mit Weight-
note ausgegeben worden ist, die Ware nur dem Ueberbringer beider
Teile des Lagerscheines ausfolgt. Auch die Vorschussgeschäfte
zwischen Kommissionär und Kommittenten werden auf Grundlage
solcher Warrants entriert, wodurch der ganze Akt wesentlich auf
die Basis des Realkredits gestellt wird, während er bei uns aus-
nahmslos im Wege des Personalkredits, des Kontokorrentkredits sich
abspielt. Dadurch wird die Kapitalskonzentration im Handel geför-
dert, weil der Warenbesitzer sich nur an einen Kommissionär wenden
kann, der ausgesprochen „«prima'' ist, während man auf der in Eng-
land gebräuchlichen Basis die Lombardtransaktion unbedenklich auch
durch den kleinen Kommissionär oder den Agenten., den »broker^,
machen kann. Und dieser braucht, um seinen Kommittenten Vor-
schüsse geben zu können, nicht Kapital, sondern nur einen Bankier,
der ihm auf den Warrant Geld vorschiesst« Der Verpfänder ist
aber nicht nur in materieller, sondern auch in formeller Weise be-
friedigt; er will nicht bloss Vorschuss haben, sondern er will ihn
auf diskrete Weise haben. Verbürgt ist aber das Geheimnis der
Verpfändung, wenn, wie hier, ein Dritter eingeschoben ist. Wenden
wir uns nun der zweien Warrantin stitution zu.
74 I>er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [160
Die andere Form, welche, wie erwähnt, für die Landwirtschaft
von grossem Interesse ist, ist der durch das Gesetz vom 18. Juli 1898
in Frankreich eingeführte Warrant agricole, mit welchem Frankreich
in der Frage des landwirtschaftlichen Mobiliarkredits einen
bedeutenden Schritt nach vorwärts unternommen hat.
Der einzige Weg, auf welchem der landwirtschaftliche Mobiliar-
kredit bisher kultiviert werden konnte, ist der durch das genossen-
schaftUche Lagerhaus. Die Errichtungs- und Verwaltungskosten
dieser Lagerhäuser sind relativ hoch und es muss, um die Ver-
zinsung des zum Teil durch Darlehenssubventionen beschafften An-
lagekapitals herauszubringen, von den Oenossenschaftem ein Regie-
beitrag eingehoben werden, der absolut und im Verhältnis zu den
Durchschnittsprofiten des Handels sehr bedeutend genannt werden
muss; es sind 30 — 40 Heller pro 100 kg und wo nicht durch die
Behandlung der Ware im Lagerhause eine Erhöhung ihres Handels-
wertes zu gewärtigen ist, durch welche ein Teil dieser Kosten
hereingebracht wird, wäre die Prämie für den Lombardkredit eine
ziemlich hohe. Es sind aber ausserdem die Bedingungen für die
Errichtung genossenschaftlicher Lagerhäuser nicht überall gegeben.
Man ist daher in Frankreich auf den Gedanken gekommen, ein
Ereditinstrument zu schaffen, welches die Belehnung der landwirt-
schaftlichen Produkte ermöglichen soll, auch wenn sie in Verwah-
rung des Grundbesitzers bleiben. Das ist geschehen durch das
Gesetz vom 18. Juli 1898 über den Warrant agricole^.
Jeder Grundbesitzer und Produzent kann warrantieren. Der
wesentliche Inhalt des Gesetzes ist folgender: Seitens des Grund-
besitzers und Produzenten können warrantiert werden: alle Getreide-
gattungen in Garben oder gedroschen, getrocknetes Viehfutter, ge-
trocknete Medizinalpflanzen, getrocknetes Gemüse, gedörrtes Obst,
Mehl, tierische und vegetabilische Webstoffe, ölhaltige Samen, alle
Samen zur Aussaat, Weine, Apfelweine, Spirituosen und Alkohole
jeder Art, die Seidencocons, Holz geschnitten, gesägt oder in
Stämmen, Lohe, Harz, Käse, Honig und Wachs, alle vegetabilischen
Oele und Seesalz. Die Warrants sind seitens des warrantierenden
Produzenten Stempel- und gebührenfrei.
Die Ausstellung des Warrants erfolgt durch den Maire des
Ortes, nach dem Diktat des Warenbesitzers in zwei Formularen,
deren eines als Juxta in dem Heft des Friedensrichters zurückbleibt.
^ Siehe Mus^e sociale , [Annöe 1899, S. 495 ff., Le Warrantage des pro-
daits agricoles.
161] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 75
in welches jedermann, der vom Warenbesitzer dazn autorisiert ist,
Einsicht nehmen kann, während das andere der Partei ausgehändigt
wird. Wenn der Warenbesitzer nicht zugleich der Grundbesitzer,
sondern nur Pächter ist, so kann er die Warrantierung nur mit
Einwilligung des Grundbesitzers vornehmen, welche dieser zu ver-
weigern berechtigt ist, wenn der Pächter auch nur mit einer Pacht-
zinsrate im Verzuge ist. Hat der Warenbesitzer auf den Warrant
ein Darlehen aufgenommen, so spielt er dem Gesetze zufolge für
die Dauer der Belehnung die Bolle eines Depositars. Die Bank
von Frankreich ist durch das Gesetz autorisiert, diese Warrants
gleich den kaufmännischen an Stelle der dritten Unterschrift an-
zunehmen. Das System hat ein theoretisches Bedenken gegen sich ;
das hohe Mass von Vertrauen, welches dabei in den Warranteur
gesetzt werden muss. Nehmen wir aber als ersten Darlehensgeber
die Baiffeisenkassen an, so fallt dieses Bedenken. Denn den Ge-
nossen sind ihre Verhältnisse, ihre Vertrauenswürdigkeit gegenseitig
genau bekannt und sie stehen unter gegenseitiger Kontrole.
d) Die Lagerhaustechnik im allgemeinen.
In den folgenden Blättern haben wir es mit jenem Komplex
von Manipulationen zu thun, welche bei der Ein- und Auslagerung,
Beinigung, Wägung, Expedition und insbesondere bei der Eonser-
vierung des Getreides angewendet werden müssen und welche
wir unter den Begriff Lagertechnik zusammenfassen können.
Wir haben dabei zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen
Systemen zu unterscheiden, deren eines, das Silo-, auch Elevatoren-
system genannt, auf dem Prinzip der Fungibilität des Getreides
beruht, während das andere, das Bodenspeichersystem, das entgegen-
gesetzte Prinzip, nämlich das der Wahrung der Identität des ein-
gelagerten Getreides vertritt. Betrachten wir zunächst den Silo.
Der Silospeicher hat das Ansehen eines quadratischen oder
rechteckigen Kastens und ist im Innern durch vertikale Wände in
eine Anzahl schmaler Schächte eingeteilt, welche nach unten zu in
einen Kegel oder in eine Pyramide verlaufen und einen verstell-
baren Boden haben. Das in loser Schüttung im Waggon oder Schiff
anlangende Getreide wird durch eine sinnreiche Vorrichtung, den
sog. Elevator, von oben in den Silo eingeschüttet. In einem meist
hölzernen Bohr läuft oben und unten über Scheiben ein Gurt ohne
Ende, an welchem Becher befestigt sind, die das Getreide auf-
schöpfen, ähnlich wie eine Baggermaschine den Schotter, und es,
76 I^er Wiener Getreidehandel and seine Technik. [162
oben angelangt, umkippend in den Silo oder in eine Schnecke
schütten, welche das Getreide über eine automatische Wage, even-
tuell auch noch über Reinigungsapparate in den Silo leitet. Von
dieser Ausladevorrichtung, die mit Dampf oder mit Elektricität be*
trieben wird und je nach dem Landungsorte des Fahrzeuges ver-
stellbar ist, hat das ganze System seinen Namen. Die Entleerung
des Silo erfolgt in der denkbar einfachsten Weise, durch Oeffnung
des Schachtbodens. Das Getreide wird durch ein System von Trans-
portbändern an das untere Ende eines Elevators gebracht, und von
hier wieder über die Wage in den Waggon geleitet. Auf den
Stapelplätzen ist der Silo gewöhnlich so angelegt, dass er mit der
einen Längsseite knapp am Wasser steht, während auf der anderen
Seite die Eisenbahngeleise laufen, so dass Einlagerung in den Silo
und Verladung der Ware aus dem Schiff in den Waggon in
direkter und bequemer Weise erfolgen kann, indem man gewöhn-
lich die ganze Ladung des Schiffes, ohne Rücksicht darauf, ob und
wieviel davon zur Weiterverladung per Eisenbahn kommt, vorerst
in den Silo laufen lässt, da ja infolge der geschilderten Einfachheit
der Manipulation die Entnahme aus dem Silo keinen besonderen
Arbeitsaufwand — id est Kostenaufwand — verursacht. In dieser
Vereinfachung des Umschlages liegt vielleicht die grösste Oekonomie
des Silosystems. An Stapelplätzen wird dem Silo, um ihn für den
Umschlag besser ausnützen zu können, gewöhnlich der Grundriss
eines Rechteckes gegeben, wodurch die gleichzeitige Anstellung
einer grösseren Anzahl von Schiffen beim Speicher möglich ist,
während sonst, z. B. an blossen Eisenbahnstationen, die Quadratform
vorgezogen wird, weil sie eine grössere Raumökonomie gestattet.
Die Konservierung der Ware erfolgte beim Silosystem ursprüng'lich
nach dem Prinzip der hermetischen Abschliessung, wie es in primi-
tiver Form (Erdgruben) schon bei den alten Völkern im Gebrauch
war und bei Völkern auf niederer Kulturstufe heute noch gebräuch-
lich ist. Diese Methode ist aber nur dort rationell , wo das Ge-
treide von Natur aus einen hohen Trockenheitsgrad besitzt. Wo
dies nicht der Fall, muss das entgegengesetzte Prinzip angewendet
werden, beständige Berührung mit frischer Luft. Bei den mo-
dernen Silo werden gewöhnlich beide Prinzipien vereinigt, indem
das Getreide von Zeit zu Zeit in neue Schächte geleitet wird, wobei
eine Durchlüftung desselben stattfindet; oder es wird durch eigene
Ventilatoren Luft durch die Schächte hindurchgepresst.
Dem Silosystem gegenüber erscheint das Bodenspeichersystem
sehr unökonomisch. Nicht nur ist, wie an den Wiener Lagerhäusern
163] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 77
exemplifiziert werden wird, die Lager- und Eonservierungstechnik
langsam, kompliziert und teuer, es findet auch eine grosse Baum-
verschwendung für Treppen, Rutschen, Gänge, für Aufbewahrung
von Säcken, von Wiege-, Mess- und Beinigungsapparaten dtatt,
welch letztere noch dazu nur äusserst primitiv sein können.
Dafür, dass trotzdem das letztere in Europa allgemein ist, gibt
SoHUMACHEB^ ciuc Sehr einleuchtende Erklärung: ,In den europäi-
schen Ländern und insbesondere in Deutschland haben sich die
Technik und Organisation des Handels der Massengüter in ihren
Grundzügen bereits zu einer Zeit ausgebildet, als die Massengüter,
noch fast ganz auf den Lokalmarkt beschränkt, nur in bescheidenem
Masse Gegenstand des Austausches unter Völkern geworden, waren.
Im grossen internationalen Handel, soweit von diesem die Bede
sein konnte, herrschten die Waren hohen Wertes und geringen
Volumens vor, die die grossen Kosten des meist langwierigen,
mühseligen Transportes zu tragen vermochten. Diese hochwertigen
Güter erscheinen auf dem Markte, ihrer materiellen Natur, inten-
siven Wertigkeit und meist geringen Ausdehnung entsprechend, in
EoUiform, in Ballen, Fässern, Eisten, Paketen. Nach dieser Ver-
packungsart bildete sich die Technik des Handels- und Transport-
gewerbes aus; sie ist in den Beft^rderungsmitteln, in den Hebe-
vorrichtungen, in den Laderäumen berechnet auf ein dauernd und
allseitig fest abgegrenztes Gut. Als nun der Handel mit Massen-
gütern, insbesondere Getreide, allmählich sich entwickelte, um in
unserer Zeit, beinahe plötzlich und unerwartet, in die fast vorderste
Beihe des Weltgrosshandels zu treten, da reihte sich dieser neu er-
blühende Handelszweig in Europa ganz selbstverständlich und un-
bewusst und wirtschaftlich völlig korrekt als ein Glied in die be-
stehende Handels- und Transportorganisation ein. Zu diesem Zwecke
musste das bjjl und für sich fester Formen entbehrende Getreide der
Eolliform angepasst werden und das geschah, indem man das Ge-
treide in Säcke füllte, wie man zu diesem Zwecke Flüssigkeiten,
insbesondere Petroleum in Fässer goss. Dieser äusserlich techni-
schen Absonderung des Getreides entspricht auch eine ideelle,
juristische . . . Abgesehen von einzelnen modernen Börseneinrich-
tungen haben daher die Bechtsgeschäfte, insbesondere Kauf, Verkauf,
Verpfandung, Depositum, im europäischen Getreidehandel dieselben
Be<5htsformen wie hochwertige Eolliwaren; sie sind berechnet auf
* Der Getreidehandel in den Ver. Staaten von Amerika und seine Organi-
sation. Jabrb. für Nat.-Oekon. und Stat., III. Folge, Bd. X, S. 362.
78 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [164
eine juristische Species und entbehren — mit nur unwesentlichen
Ausnahmen — jeder dem Getreidehandel besonderen Eigenart/
Ganz anders waren, wie wir gesehen haben, die Entwickelnngs-
bedingungen in Amerika. Hier wurde von allem Anfange an die
Eigenschaft der sogen. Trockenflüssigkeit des Getreides, d. i. der
Eigentümlichkeit, dass es, obwohl hart und trocken, ohne Substanz-
veränderung oder Wertverringerung beliebig geteüt oder zusammen-
geschüttet werden kann, konsequent ausgenutzt. Von der Dresch-
maschine weg bis zum Seehafen vollziehen sich Transport und
Lagerung des Getreides im Zustande loser Schüttung, und dieses
Prinzip wird zur grössten Wirkung gesteigert durch das Gradierungs-
system, welches die kumulative Lagerung der verschiedenen Parteien
gehörigen Getreidequantitäten und mithin grösste Raumökonomie
gestattet.
2.
Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien.
a) Die Lagerhäuser der ersten österreichischen Aktien-
gesellschaft für öffentliche Lagerhäuser in Wien.
Das erste öffentliche Lagerhaus in Wien und Oesterreich über-
haupt wurde 1869, drei Jahre nach Erlass der Verordnung über die
Errichtung öffentlicher Lagerhäuser, errichtet. Dass die Gründung
nicht durch die zunächst berufenen Handolskreise, sondern durch
ein Bankinstitut erfolgte, war wohl durch den allgemeinen Zu-
stand der Volkswirtschaft begründet. Lagerhäuser, welche auf das
reine Lagerhausgeschäft beschränkt sind, werfen, wie die Erfahrungen
in anderen Ländern zeigen, selbst bei grösster Frequenz in der
Regel nur ein Erträgnis von 3— 4^/o ab, weil sie nu^ durch grösste
Billigkeit des Lagerzinses und der Manipulation den Handel be-
stimmen können, sich ihrer zu bedienen. Ein solches Erträgnis
war nach der damaligen Lage des österreichischen Kapitalmarktes
um so weniger geeignet, das Privatkapital zur Lagerhausunter-
nehmung zu reizen, als dieselbe ein mühsames und verantwortungs-
volles Geschäft ist. Für die Banken dagegen bot die Lagerhaus-
unternehmung Gelegenheit, ihre jeweiligen verfügbaren Ueberschüsse
im Warenlombard zu fruktifizieren und dadurch, sowie durch 'den
gleichzeitigen Betrieb des Warenkommissionshandels indirekt das
Erträgnis der Lagerhausunternehmung zu steigern. Auch war da-
mals — und nicht nur in Oesterreich — in den Banken das grösste
165] I)ie öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 79
Mass Yon TJntemelimungslust und vor allem eine yerhältnismässig
grosse Menge ungebundenen Kapitales vereinigt, für die man An-
lage in Handel und Verkehr fördernden Unternehmungen suchte.
Gerade ein Lagerhaus schien aber von vorneherein die Verbindung
mit einem kapitalkräftigen Institut zu erfordern, da Warendepots
und Warenkredit unzweifelhaft zusammengehören. So entstand das
Projekt einer Handelsbank in Wien, welches 1869 auch realisiert wurde.
Das neue Institut bezeichnete es als seine Aufgabe, vor allem
die Bedingungen zu schaffen, welche es ihm ermöglichen sollen,
fördernd und unterstützend auf den Warenhandel Wiens einzu-
wirken und namentlich durch die Errichtung von Entrepots dem
Transithandel mächtige Impulse zu geben ^. Demzufolge wurde eine
Bank-, eine Lagerhaus- und eine Warenabteilung errichtet und
sollten die in ersterer einfliessenden Gelder ihre „höhere Verwertung'^
in den beiden anderen Abteilungen finden. Um nicht sofort mit
grossen Investionen beginnen zu müssen, hatte die Bank die Macksche
Zuckerfabrik am Schüttel erworben und diese zu einem Waren-
magazine adaptiert.
Nach den damaligen Wiener Verkehrsverhältnissen musste die
örtliche Lage des Magazins als eine sehr günstige erscheinen, der
Schüttel bildete einen Teil des „Wasserkörnermarktes'', der die
ganzen Länden des Donaukanales umfasste, wo übrigens ein lebhafter
Verkehr nicht nur in Feldfrüchten, sondern bis zur EröflEhung des
Donaudurchstiches im Jahre 1876 auch ein grosser Teil des Verkehrs
in Kaufmannsgütem siph abspielte. Ausserdem liegt das Objekt an
der Wiener Verbindungsbahn.
Die Frequenz des neuen Lagerhauses bewies sofort, dass die
Unternehmung eine gedeihliche war. Die Räume waren das ganze
Jahr über mit Waren der verschiedensten Art gefüllt, wie Baum-
wolle, Kaffee, Reis, Südfrüchte, vor allem aber mit Getreide und
Mehlprodukten, die den weitaus überwiegenden TeU, nämlich zu-
sammen ca. 50 ^/o des Verkehrs ausmachten.
Die Bank gab auf die eingelagerten Waren Vorschüsse; da sie
selbst den Warenhandel betrieb, war sie in der Lage, den Wert
der Waren richtig und sicher zu taxieren und mit der Belehnungs-
quote ziemlich hoch hinaufzugehen , um so mehr, als ja die Waren in
ihrer Verwahrung blieben; auch sonst ging die Verpfändung rasch
und glatt von statten. Die Belehnung wickelte sich im Eonto-
korrentverkehr mit dem Einlagerer ab.
* Jahresberichte 1869.
80 ^6^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [166
Infolge der Bequemlichkeiten, welche das öffentliche Lagerhaus
der Warenspekulation in Wien bot, schoss diese plötzlich üppig in
die Halme und das Spekulation3fieber, welches die^e Epoche des
Gründertums, in der wir uns befinden, allgemein beherrschte, griff
auch auf den Warenhandel über. Es entspricht nur den al^e-
meinen wirtschaftlichen Tendenzen und Anschauungen der damaligen
Epoche, wenn die Bank, als «die gesunde Grundlage des Yorschuss-
geschäftes^ die Spekulation bezeichnet, während ihr die Verpfan-
dung von Waren durch den regulären Handel als Symptom unge-
sunder Wirtschaftsverhältnisse erscheint; thatsächlich benützte der
damals noch sehr unentwickelte Handel den Lombardkredit haupt^
sächlich nur, wenn die Not einer Krise ihn dazu drängte, in nor-
malen Zeiten behalf man sich mit dem Personalkredit allein. In-
folgedessen bildete sich in Eaufmannskreisen mit der Zeit die An-
schauung heraus, dass die Lombardierung ein Zeichen abnormalen
Zustandes des ihn benutzenden kaufmännischen Betriebes sei, dass
sie kein kaufmännischer Akt, sondern ein Pfandleihgeschäft sei, was
in dieser Allgemeinheit, wie wir noch erörtern werden, natürHch ein
Vorurteil war.
So wurde das Lagerhaus vom Handel hauptsächlich nur zur
Lagerung benützt, und der Rechenschaftsbericht der Bank weist mit
Genugthuung auf die „dauernde Zunahme der unbevorschussten
Lager '^ als einen Beweis dafür hin, einem wie lebhaften Bedürf-
nisse des Handels das neue Lagerhaus entspreche. Das Wachstum
der Lagerbewegung war in den. ersten Jahr.en rapid.
Von 269 229 Zollzentnern im ersten Betriebsjahre hatte sich der
Verkehr des Lagerhauses, das auch mit Spiritusreservoiren aus-
gestattet war,
1870 auf 573135 Zollzentner und 1135 905 «/o Spiritus,
1871 „ 868054 , . , 1458 271^/0 ^
gehoben, im Jahre 1872 wieder um 20®/o, und die Bank konnte
mit Zu- und Neubauten der Steigerung des Warenandrangs kaum
Herr werden.
Als in der Krise von 1873 die Manufakturbranche um Lom-
bardkredit an die Bank herangetreten war, wurde der Bau eines
Magazins fQr Manufakturwaren, Schafwolle und Felle, mit dem Fort-
schreiten der DonaureguHerungsarbeiten die Errichtung von Maga-
zinen auf den neuen Regulierungsgründen an der Donau selbst in
Aussicht genommen. Verhandlungen mit der Donanregulierung«-
kommission wurden gepflogen und ein Grund gepachtet. Indes ixug
die Handelsbank damals schon den Todeskeim in sich; sie hatte
167] ^io öffentlichen Lagerhäuser in Wien. gl
sich in Warenspekulationen für eigene Rechnung in grossem Um-
fange eingelassen und Verluste erlitten. Im Jahre 1876 liquidierte
sie und das Lagerhaus ging in den Besitz der Unionbank über,
welche auch das Warenkommissionsgeschäft der Handelsbank über*
nahm.
Durch die Eröffnung des Donaudurchstichs erlitt das Lager«
haus eine Einbusse, indem der Wasserverkehr an den neuen Landungs*
platzen sich konzentrierte und der Kanal gänzlich yerödete. Von
der Errichtung von Lagerhäusern am Donaudurchstich nahm die
Bank Abstand, da die Stadtgemeinde selbst daran ging. Um aber
doch auch an dem durch die Donau yermittelten Getreideverkehr
teilnehmen zu können, pachtete sie von der Dampfschiffahrt zwei der
von dieser errichteten Magazine mit einem Gesamtfassungsraume von
115000 Meterzentnern, während die Lagerhäuser in der Franzens-
brückenstrasse fortab fast ausschliesslich Eaufmannsgüter beher-
bergten, wozu sie durch ihre günstige Lage (an der Verbindungs-
bahn) wiederum besser geeignet waren, als die von den Bahnhöfen
entlegeneren Lagerhäuser an der Donau.
Im Jahre 1889 wandelte die Unionbank, um sich ihres Waren-
kommissionsgeschäftes , welches nach dem neuen Lagerhausgesetz
mit der Lagerhausunternehmung unvereinbar war, nicht begeben zu
müssen, das Unternehmen in eine ,» Aktiengesellschaft für
öffentliche Lagerhäuser'' um.
Unter dieser Firma wird das Unternehmen heute noch betrieben
und bildet das grösste und in seiner Art bestorganisierte Wiens.
Die der Lagerhausunternehmung gehörigen Objekte in der
Franzensbrückenstrasse erheben sich auf einer Grundfläche von
13 996 qm und besitzen eine Belegfläche von 22 237 qm. Es sind
Rohziegelgebäude mit Stock und Dachgeschoss, manche auch zwei-
und mehrstöckig; Aufzüge stellen die Verbindung zwischen dem
Boden und den Etagen her. Neuestens hat die Gesellschaft auch
ein grosses, modern eingerichtetes Kühlhaus mit einer Fassungs-
fähigkeit für 32 000 Meterzentner eröffnet. Die Tarife für Getreide-
lagerung und Manipulation sind denen des städtischen Lagerhauses
gleich. Für den Getreideverkehr können die Anlagen in der
Franzensbrückenstrasse wieder erhöhte Bedeutung gewinnen, wenn
der Kanal, wie die Techniker versprechen, durch die Regulierung
thatsächlich für grössere Schiffe praktikabel wird.
Wiener Stuäien. III. Bd. 2. Heft. 6 [12]
82 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [168
b) Die Lagerhäuser der Stadt Wien.
Dank der geschilderten Entwickelung seiner Organisation, nahm
der Wiener Getreidehandel von den siebziger Jahren ab einen
mächtigen Aufschwung, zu welchem insbesondere die Erö£Fnung des
neuen Donaudurchstichs im Jahre 1876, durch welche Wien un-
mittelbar an der Donau und doch nahe an der Stadt gelegene
Landungsplätze erhielt, und die Errichtung von Lagerhäusern auf
denselben beigetragen hat. Als zuerst die Donaudampfschiffahrts-
gesellschafb Magazine in grösserem Stile errichtet hatte, trat so-
fort eine lebhaftere Bewegung im Getreideverkehr ein und der
Hinweis darauf machte die Kommune der durch die Fruchtbörse
gegebenen Anregung des Getreidehandels geneigt, die günstige
Gelegenheit, welche durch das Vorhandensein eines zu billigen
Bedingungen erwerbbaren, für Lagerhauszwecke sehr geeigneten
Objektes, der von der Weltausstellung her übriggebliebenen grossen
Maschinenhalle, gegeben war, für die Errichtung eines öffentlichen
Lagerhauses wahrzunehmen.
In der Sitzung vom 7. Januar 1876 beschloss der Gemeinde-
rat, ein kaufmännisches Institut — das Lagerhaus der Stadt Wien —
zu gründen, und nahm für diesen Zweck die von den Weltausstellungs-
bauten herrührende Maschinenhalle in Aussicht.
Die Gemeinde fand bei allen in Betracht kommenden Faktoren
weitgehende Unterstützug. Das Hofärar gestattete die Benützung
der ihm gehörigen Grundfläche, auf welcher der grösste Teil der
Maschinenhalle sich erhebt. Den restlichen Teil der Grundfläche,
sowie die zur Herstellung einer Bahnverbindung zum Donauufer
und die für einen Landungsplatz nötigen Territorien überliess die
Donauregulierungskommission der Gemeinde gegen einen massigen
Pacht; ebenso überliess ihr das Handelsministerium die ihm ge-
hörige Maschinenhalle gegen einen billigen Pachtzins.
Am 16. August 1876 wurde mit der Adaptierung der Maschinen-
halle und mit dem Bau der Geleiseanlagen begonnen; Reglement
und Tarife wurden festgestellt, das Lagerhaus als eine Bahnstation
erklärt, eine Telegraphenlinie zu demselben gelegt und eine Tele-
grapheustation , sowie eine Expositur des Hauptzollamtes darin
errichtet, nachdem die Eonzession, welche dem neuen Lager-
hause mit Erlass des Handelsministeriums vom 30. September 1876
erteilt wurde, auch den Betrieb eines Freilagers umfasste. Am
23. Oktober 1876 wurde das neue Lagerhaus eröffnet. Das Lager-
haus der Stadt Wien besteht aus zwei, durch Schienenstränge mit
169] Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 83
einander verbundenen Komplexen, aus der Prateranlage mit der
Maschinenhalle und aus der Quaianlage, mit dem Landungsplatze
an der Donau.
Die Maschinenhalle war 1873 gelegentlich der Weltausstellung
und f&r die Zwecke derselben mit einem Kostenaufwand von
1448000 Gulden errichtet worden und ist in ihrer Art eines der
grossartigsten Gebäude der Welt. Bei einer Länge von rund 800
und einer Breite von rund 50 Metern bedeckt sie eine Fläche von
40000 Quadratmeter, ist durch, vier massive Brandmauern in fünf
Abteilungen (Magazine I, II, III, lY, V) geteilt und besteht aus
einem 28 Meter breiten Mittelschiffe von 20 Meter Firsthöhe und
zwei Seitenschiffen, welche durch vier Pfeilerreihen zu je 110 Pfeilern
gebildet sind. An den vier Ecken der Halle sind die Kanzleien der
Verwaltung, sowie jene des Zoll- und Bahnamtes und die Wohn-
räume für die Finanzwache und das Hauspersonale eingebaut; ausser-
halb derselben befinden sich ein Portier- und ein Waghaus, ein
einstöckiges Administrationsgebäude und die Restaurationslokalitäten.
An der Südseite der Halle ist die Zufahrtsstrasse, an der Nord-*
Seite derselben der Bahnhof angelegt ; dieser wird von fünf Längen-
geleisen durchzogen, wovon über Drehscheiben acht Quergeleise in
die Halle einmünden und ermöglicht die gleichzeitige Ladung von
70 Waggons in gedecktem Räume und einer ebenso grossen Anzahl
längs der äusseren Rampen, die auf Achsenhöhe der Waggons
gehoben sind. Von dem Hauptstrange gehen Seitengeleise aus,
welche die Verbindung mit der Donauuferbahn in der Richtung
gegen die österreichisch-ungarische Staatseisenbahn (östlich) und der
Nordbahn (westlich) sowie mit dem Landungsplätze an der Donau
herstellen.
Die Ausführung des ganzen vom Stadtbauamte ausgearbeiteten
Projektes der Adaptierung der Maschinenhalle und Herstellung der
Bahnanlage erforderte einen Kostenaufwand von fl. 411524. Die
Magazine der Maschinenhalle werden infolge ihrer entfernten Lage
vom Strome hauptsächlich zur Aufnahme bahnanlangender Waren
verwendet, verschiedener Kaufmannsgüter und Gerste, welche Frucht
zumeist mittels Eisenbahn in den Verkehr kommt.
Um Waren, welche einer gleichmässigen Temperatur bedürfen,
rationell unterbringen zu können, wurde im Jahre 1877 ein amerika-
nischer Keller (Magazin VI) aus doppelten Holzwänden, mit eisernen
Gerippen und Dachpappedeckung im Kostenbetrage von ca. fl. 8683
hergestellt. Das Magazin dient heute als Säckemagazin.
Nachdem gleich anfangs die Frequenz des neuen Lagerhauses
84 Der Wiener Geireidehanddl und seine Technik. [170
SO stark war, dass die Yorhandenen Lagerräume nicht ausreichten,
gelangten im Jahre 1878 auf dem schon ursprünglich dafür in
Aussicht genommenen Landungsplatze am Donauufer zwei neue
massive Gebäude (Magazine VIII und IX) zur Errichtung, deren
jedes 133 m lang, 12,20 m breit durch eine Brandmauer abgeteilt
und etagiert ist. Die gesamten Baukosten, inklusive eines Admini-
strationsgebäudes und eines Waghauses, welche am Eingange der
Anlage errichtet wurden, beliefen sich auf fl. 19485961.
Auch diese Zubauten genügtßn nicht zur Bewältigung des
Verkehrs, so dass wiederholt in Zeiten stärkeren Warenandrangs
die Weltausstellungsrotunde von der Gemeinde in Miete genommen
werden musste.
Im Jahre 1883 wurde daher ein grosses Magazin (X) am
Landungsplatze mit einem Eostenaufwande von Q. 5715317 er-
richtet, welches 200 X 30 m misst und ein mit Dachpappe gedeckter,
in Perronhöhe auf Pfählen ruhender Holzbau ist.
Auch die Magazine II, III und IV der Maschinenhalle waren
nach und nach auf Perronhöhe gehoben worden.
Im Jahre 1884 erhielt auch die Prateranlage zwei neue kleine
Magazine aus Holz (VII 182 m^ und XII mit Unterteilung und
Keller versehen 384,50 m^) sowie ein Material- und Spritzendepot.
Das Magazin XII wurde späterhin untermauert und damit ausser
der vollen Sicherheit für das Magazin noch ein Eellerraum im
Ausmasse von nahezu 400 m^ geschaffen.
Ferner wurden im Jahre 1887 auf Anregung der Wiener Frucht-
und Mehlbörse Reservoirs zur Einlagerung von Spiritus erbaut.
Fünf cylinderförmige Reservoirs, sowie die dazu gehörigen Ein- und
Ausgangsbassins stehen in einem isolierten, in Rohbau ausgeführten
mit Wellblech gedeckten Gebäude von 37 m Länge, 17,50 m Breite
und 15,60 bezw. 14,40 'm Höhe; die Reservoirs ruhen auf mit
Eisentraversen tiberlegten, gemauerten Pfeilern und besitzen bei
6 m Durchmesser und 7,20 m Höhe eine Fassungsfahigkeit fUr je
200000, zusammen für 1 Million Liter. Sie sind ganz aus Eisen
konstruiert, mit modernen Manipulationseinrichtungen ausgestattet
und erforderten einen Eostenaufwand von fl. 52957,73.
Im Jahre 1889 erwarb die Oemeinde die Lagerhauskonzession
auf Orund des neuen Lagerhausgesetzes vom 1. April 1889.
Das städtische Lagerhaus besass damals eine Gesamtgrundfläche
von 218 309,60 m^ wovon 55409 m^ verbaut waren. Die innere
Belegfläche betrug im Prater und am Quai zusammen 55870 m'
der ungefähre Fassungsraum 400000 — 500000 Meterzentner.
171] IWe öflPentlichen Lagerhäuser in Wien. 85
Seit der Mitte der achtziger Jahre wurden nur noch folgende
Erweiterungen und Verbesserungen durchgeführt.
Im Jahre 1893 bekam die Gemeinde durch Vermittelung des
k. k. Handelsministeriums den an ihre Lagerhauslände anstossenden
ehemals Pfeifferschen Holzplatz, für welchen die Donaudampfschiff-
fahrtsgesellschafb bis dahin einen Pachtzins von fl. 7175 entrichtet
hatte, um den Anerkennungszins von fl. 20 jährlich von der Donau-
regulierungskommission in Pacht und erweiterte dadurch ihren
Landungsplatz von 626 auf 1031,50 m. Durch Schienenstränge
wurde der neue Landungsplatz mit dem alten und mit der Donau-
uferbahn verbunden. Die Schienenstränge der beiden Landungs-
plätze erreichten damit eine Gesamtlänge von 4930 m und sind
mit 25 Weichen, 5 Drehscheiben, 2 Geleisdurchschneidungen und
2 Waggonbrücken versehen; bei Freilassung je eines Oeleises für
die Ein- und Ausfahrt der Züge gestatten sie die gleichzeitige
Aufstellung und Verschiebung von insgesamt 220 leeren und be-
ladenen Eisenbahnwaggons, wobei noch einiger Raum für die Zu-
und Abfuhr von Waren mittels Strassenf Uhrwerken bleibt.
Die k. k. priv. Staatseisenbahngesellschaft unterhält im Lager-
hause der Stadt Wien eine Station, für deren Erhaltung das Lager-
haus eine jährliche Pauschalvergütung zu leisten hat. Den Bahn-
dienst muss das Lagerhaus in eigener Regie besorgen. Das Pauschale
und die Kosten des Bahndienstes sind in Form einer Waggonbei-
stellungsgebühr von 2 Er. pr. Waggon auf das Publikum übergewälzt.
Nachdem das fast alljährlich bei Wien eintretende Hochwasser die
in den Pratermagazinen eingelagerten Waren nicht nur gefährdet,
sondern wiederholt den Fussboden der Magazine erreicht und die
eingelagerten Waren beschädigt hatte, wurde die Fussbodensohle
einiger Magazine so weit gehoben, dass nun sämtliche Magazine der
Quaianlage 6 m über dem örtlichen Nullpunkte des Douauwasser-
spiegels liegen. Aber selbst das geschah erst, nachdem zu wieder-
holten Malen das Hochwasser die eingelagerten Waren der Eauf-
leute gefährdet und teilweise beschädigt hatte.
Der Verkehr des städtischen Lagerhauses beschränkt sich nicht
prinzipiell auf Getreide; faktisch aber macht der Oetreideverkefar
des städtischen Lagerhauses mehr als neunzig Perzent seines
Gesamtverkehrs aus; an dieser Einseitigkeit des Verkehrs tragen
die später zu berührenden Tarifverhältnisse und das Belehnungs-
verbot Schuld.
Der Getreideverkehr zeigt seit der Eröffnung des Lagerhauses
eine kontinuierliche Steigerung, welche besonders lebhaft wurde.
gg Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [172
als im Jahre 1884 das Lagerhaus die Beexpeditionsbegünstigung
erhielt.
Es betrug im Jahresdurchschnitt der Qinquennien in Meter-
zentnern :
In den Jahren dei
1877-1881
1882—1886
1887—1891
1892—1896
1897—1901 »)
Der Anteil der verschiedenen Getreidegattungen an diesem
Verkehr hat im Laufe der Jahre einige Verschiebungen erfahren,
welche die folgende Uebersicht zeigt.
An dem Oesamtverkehr partizipierte:
Sesamtyerkehr
die mittlere
Tagesbewes^g
1 227 060
4150
2 258 755
7 500
3 427 018
11428
4 382 660
14 608
4 944009
16461
In den Jahren
Weizen
Roggen
Gerste
Futtergetreide
mit Prozenten
1877—1881
29,81
9,33
10,42
81,68
1881—1886
82,79
7,46
17,48
23,90
1887-1891
34,48
8,61
18,22
27,61
1892-1896
24,89
13,35
13,25
85,94
1897—1901
17,46
18,83
11,51
46,40
Auffallend ist der Rückgang des Weizen- und des Oerste-
Verkehrs. Der erstere ist auf die Verringerung des Weizengeschäftes
in Wien zurückzuftthreu, eine Folge der durch die Konkurrenz der
ungarischen Mühlenindustrie bewirkten starken Beeinträchtigung der
Mahlthätigkeit der österreichischen Mühlenindustrie. Die stärkere
Pflege, welche dagegen der Roggenmüllerei gewidmet wurde, kam,
wie die obigen Ziffern zeigen, dem Roggenverkehr des Lagerhauses
zu statten. Der Rückgang des Gersteverkehrs trotz des steigenden
Oersteexports ist durch den Mangel zweckentsprechender Einrich-
tungen verschuldet, wovon später die Rede sein wird. Ein Licht-
punkt in der Verkehrsstatistik des städtischen Lagerhauses ist der
Verkehr in Futtergetreide. Der steigende Import von Futtergetreide
aus Ungarn und den Donaustaaten kommt hauptsächlich Wien zu
statten, weil derselbe die Eisenbahnfracht nicht verträgt und die
Wasserstrasse benutzt.
Nach Verkehrsarten spezifiziert entfällt im Eingangsverkehr
des Lagerhauses auf die Schiffahrt ein beträchtlich grösserer Anteil
als auf die Eisenbahn und vollends als auf das Fuhrwerk, wenn
^ Der Verkehr des Jahres 1901 ist nach dem Durchschnitt des voran-
gegangenen Quinquenniums berechnet.
173] ^i® öffentlichen Lagerhäuser in Wien. g7
anch das Verhältnis der Anteile schwankt, je nachdem mehr die an
den Eisenbahnstrecken oder die an den Wasserstrassen gelegenen
Getreideexportgebiete nach Wien gravitieren. Im Ausgangs-
verkehr dagegen figuriert in erster Beihe die Eisenbahn, dann
das Strassenfuhrwerk , die Schiffahrt nur mit einem verschwindend
geringen Perzentsatz. Im Quinquennium 1896 — 1900 beträgt der
Anteil der einzelnen Verkehrsarten in Prozenten:
per Bahn per Fuhre per Schiff
Eingang 37,85 2,08 58,25
Ausgang 67,45 30,26 2,27
Manche dieser Anteile haben übrigens im Laufe der Jahre
interessante Veränderungen erfahren. So beträgt im Eingangs verkehr
der Anteil des Fuhrwerkes, welcher im Durchschnitt des Quin-
quenniums 1877 — 1881 noch auf 14,84 Prozent sich belief, im Quin-
quennium 1896 — 1900 nur mehr 2,08 Prozent; die Zufuhren aus
der Umgebung Wiens waren früher stärker.
Das bisherige finanzielle Ergebnis der städtischen Lagerhaus*
Unternehmung war relativ und absolut ein durchaus günstiges für
die Kommune und zu weiterer Unternehmung aufmunternd. Die
Erträgnisse sind infolge der Abhängigkeit des Qetreideverkehres
von den Geschäftskonjunkturen stark schwankende, doch ist seit
dem Jahre 1884 der Oebarungsüberschuss des Lagerhauses, welcher
für Amortisation und Verzinsung erübrigte nie unter 4,17 ^/o ge-
sunken und erreichte in einem Jahre sogar 13 ^/o. Im Durchschnitt
1885 — 1900 ergab sich ein U.eberschuss für Amortisation und Ver-
zinsung von durchschnittlich 6,06 ^/o.
Das gesamte Anlagekapital des Lagerhauses war 1896 bereits
vollständig getilgt. Die Ueberschüsse, welche seither erzielt werden,
stellen reinen Profit dar, im ganzen bisher 689260 Kronen.
Es soll indes nicht unerwähnt bleiben, dass dieses günstige Er-
gebnis wesentlich auch dadurch bedingt war, dass die Errichtung des
grössten Objektes, der Maschinenhalle, die Lagerhausunternehmung
nichts gekostet hat, also keine Verzinsung des darin investierten
Kapitals aufzubringen war.
c) Die Technik der Wiener Lagerhäuser.
Die Wiener Getreidelagerhäuser sind nach Schüttboden-
system eingerichtet. Die Magazine sind durch horizontale Böden
in Etagen geteilt, die durch Stiegen miteinander verbunden sind.
Luken und Fenster lassen Licht und Luft zutreten. Das Getreide
wird auf den Boden aufgeschüttet oder in Säcken aufgeschichtet;
gg Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [174
letzteres aber gewöhnlich nur dann, wenn es sich um kleinere
Quantitäten und eine Töraussichtlich kurze Dauer der Lagerung
handelt, weil sonst oft nachträglich das Getreide doch noch auf-
geschüttet werden muss. Die Konservierung geschieht hier näm-
lich durch häufiges , Umstechen ** ; das Getreide wird mit Schaufeln
umgeworfen, so dass die unten lagernden Schichten empor- und in
Berührung mit der frischen Luft kommen.
In den Schi£Een langt das Getreide zumeist in loser Schüttung
an. Die zahlreich vertretenen Schiffe älterer Bauart bereiten der
Ausladung grosse Schwierigkeiten. So sind insbesondere die sog.
9 Dachschlepper ^ gefürchtet. Die Bedachung derselben bildet kein
flaches Verdeck, sondern steigt von beiden Seiten schräg an, oben
in eine Kante verlaufend. Steht in der mittleren Reihe — die zur
Ausladung bestimmten Schlepper sind in mehreren Reihen hinter-
einander aufgestellt — ein derartiger Schlepper, so kann der Träger
nicht — wie bei Verdeckschleppern — durch üeberschreiten der
Dächer der vorne stehenden Schlepper zu den dahinter stehenden
gelangen.
Ein- und Auslagerung des Getreides geschehen durch Sack-
träger. Eine Gilde von Schiffsausladern wie an anderen Stapel-
plätzen gibt es in Wien nicht, nur vereinzelt finden sich Unter-
nehmer, welche die Ausladung in Generalakkord nehmen. Ihre
Dienste werden insbesondere dann in Anspruch genommen, wenn
die Ausladung des Schiffes nicht bei einem öffentlichen Lagerhaus^
erfolgt, und demzufolge der Kaufmann die Uebergabe überwachen
lassen muss.
In der Regel wird mit dem Umschlag der Ware ein öffentliches
Lagerhaus oder die Schiffahrtunternehmung betraut; nur diejenigen
Grosskauf leute, welche ihre Privatspeicher haben, besorgen denselben
in eigener Regie.
Die Sackträger fassen das Getreide, soweit es nicht schon sackiert
ankommt, in Säcke auf und bringen jeden einzelnen Sack auf die
am Ufer aufgestellte Dezimalwage. Das Abwägen wird seitens der
Transportunternehmung durch den Steuermann, seitens des Em-
pföngers durch eine Vertrauensperson kontrolliert; wenn die Aus-
ladung durch ein öffentliches Lagerhaus erfolgt, ersetzt das von der
Lagerhausuntemehmung aufgestellte Ueberwachungsorgan, gewöhn-
lich ein Arbeiter höherer Kategorie, beiden Teilen das Kontrolle-
organ.
Oft muss beim Abwägen eine sog. „Egalisierung^ yor-
genommen, d. h. der Inhalt aller Säcke auf ein bestimmtes, von den
175] I^i® öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 89
Parteien vorgeschriebenes Gewicht reguliert werden, was die Aus-
ladung verzögert. Diese Egalisierung wird insbesondere von den
kleinen Mühlen, an welche das Getreide von Wien aus versendet
wird, aus betriebstechnischen Gründen verlangt; sie ersetzt ihnen
bei Zusammenstellung des Mahlgutes die Wage, andererseits ist sie
Folgeübel eines später zu berührenden Missstandes.
Nach erfolgtem Abwägen wird der Sack zugebunden, der Last-
träger hebt ihn auf seine Schultern und keucht damit über ein
schmales Brett, welches vom Schiff auf das Ufer gelegt ist, zu dem
Waggon oder zu dem Fuhrwerk oder in das Magazin, wo er, wenn
das Getreide in einer der oberen Etagen gelagert wird, die hölzerne
oder eiserne Treppe hinauf klimmt, was nicht gefahrlos ist, da die
auf den Stufen ausgestreuten Körner leicht ein Ausgleiten herbei-
führen. Da die Lagerung immer nur eine Unterbrechung des Trans-
portprozesses ist und der Transport vorwiegend in Säcken erfolgt,
so wäre es * ökonomisch , das in Säcken aufgefasste Getreide nun
bis zur Verladung auch darin aufzuschichten; das geht, wie wir
wissen, mit Rücksicht auf die Eonservierung nicht an; das Getreide
muss zunächst wieder ausgeschüttet werden und, um in einem
Magazine verschiedene Getreideposten unter Wahrung der Identität
unterbringen zu können, werden dieselben durch improvisierte Bretter-
wände vpneinander abgesondert. Soll das Getreide aus dem Lager-
hause expediert werden, so muss es zunächst wieder in Säcke auf-
gefasst werden, selbst dann, wenn der Transport in einem rinfusa-
Waggon erfolgt, weil es anders nicht in den Waggon gebracht
werden kann. Daher sind die Manipulatipnsgebühren auch bei
rinfusa-Verladung nicht billiger, die Oekonomie des Transportes in
loser Schüttung illusorisch.
Einfacher ist die Ein- und Ausladung bei Eisenbahnwaggons.
Auf Geleisen, die in das Innere der Magazine führen, rollt der
Waggon auf eine automatische Brücken wage, wo er samt dem In-
halte gewogen wird. Durch Abzug des auf der Aussenfläche des
Waggons angeschriebenen Eigengewichtes desselben wird dann das
Gewicht der Ware festgestellt. Der Fussboden des Magazins-Parterre
ist gewöhnlich auf Rampenhöhe gehoben, so dass die Träger leicht zu
dem Waggon gelangen können. Wie unrationell das Bodenspeicher-
system an und für sich ist, soweit die Manipulation von geschüttetem
Getreide in Betracht kommt, geht aus der Höhe der Gebühren
beim städtischen Lagerhause (bei den anderen sind sie so ziemlich
dieselben) hervor. Die Manipulationsgebühr für die Einlagerung
beträgt :
90 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [176
aus dem Waggon (also für sackierte Ware) 4 Heller
per 100 kg,
aus dem Schiffe (für rinfusa-Ware) 12 — 14 Heller
per 100 kg.
Für geschüttetes Getreide ist eben nur der Silo mit Elevator
rationell.
3.
Die Privatdepots.
Die Magazine der Transportunternehmungen.
Ausser den öffentlichen Lagerhäusern haben wir in Wien für
den Oetreideverkehr noch eine Anzahl von Privatmagazinen, welche
nur den Bedürfnissen einzelner Eaufleute dienen, und die Magazine
der Transportanstalten, welche als Privatlagerhäuser im Sinne des
Gesetzes vom 1. April 1875 aufzufassen sind.
Grössere Privatmagazine für den Getreideverkehr in Wien sind
vorhanden am Praterquai. Zunächst die Magazine der Donau dampf-
schiffahrtsgesellschaft. Es sind sieben in Ziegelmauerwerk auf-
geführte Gebäude bestehend aus einem Parterregeschoss, einem ersten
Stock und in der Regel noch einem Dachboden, welche durch
hölzerne oder eiserne Stiegen miteinander verbunden sind.
Der Parterrefussboden liegt über der höchsten Hochwassercote.
Sechs von diesen Magazinen befinden sich am Praterquai, eines in
Zwischenbrücken. Ihre Gesamtbelagfiäche beträgt 26300 m^ mit
einem Fassungsraum von 1375000 Meterzentner, und ihre Er-
richtung verursachte einen Kostenaufwand von 1056662 Kronen.
Innere maschinelle Einrichtungen wie Aufzüge etc. sind nicht
vorhanden, das Getreide wird von den Arbeitern in Säcken über
die Stiegen getragen.
Der grössere Teil dieser Magazine ist an einzelne Kaufleute
und an die Aktiengesellschaft für öffentliche Lagerhäuser verpachtet.
Die ungarische Fluss- und Seeschiffahrtsgesellschaft
besitzt zwei Magazine mit einem Fassungsraum von ca. 30 000 Meter-
zentner.
Die süddeutsche Donaudampfschiffahrtsgesellschaft
besitzt ein kleineres Magazin mit ca. 16000 Meterzentner Fassungs-
fähigkeit.
Die Getreidemagazine der k. k. Staatsbahnen in Penzing
haben eine Belegfläche von 1550 m^ und einen Fassungsraum von
140000 Meterzentner.
177] I^id Mängel der öfifentlichen Lagerhauser. 91
Auf dea übrigen Bahnhöfen dienen die Güterschuppen des all-
gemeinen Güterverkehrs auch dem Getreideverkehr; infolgedessen
ist eine Einlagerung in der Regel nur in Säcken möglich.
Die Gebühren in diesen Privatlagerhäusern der Eisenbahnen
sind ungefähr dieselben wie in den öffentlichen.
4.
Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser.
a) Technische Mängel.
Die am Wiener Praterquai vorhandenen Lagerräume sind für
den Verkehr unzulänglich. Bereits in der mehrerwähnten Enquete
des Jahres 1890 bezeichneten die Kaufleute den Zubau von Lager-
räumen für mindestens ein- bis anderthalb Millionen Meterzentner
als unaufschiebbar. Bei halbwegs stärkerer Inanspruchnahme der
Lagerung, wie sie die Konjunktur des Geschäftes öfter mit sich
bringt, sind die Lagerräume bald überfüllt und man ist genötigt,
mit neuanlangender Ware fremde Lagerplätze aufzusuchen, woraus
dem Kaufmann grössere oder geringere materielle Nachteile, in
jedem Falle aber Sorge, Unbequemlichkeiten und Yerdruss mit den
Kunden erwachsen.
In ihrer Einrichtung entsprechen weder die am Praterquai be-
findlichen Privatlagerhäuser noch das Lagerhaus der Stadt Wien
den technischen Anforderungen des Getreidehandels.
Sie enthalten keinerlei maschinelle Einrichtungen für die Reini-
gung des Getreides, dieselbe wird mit Handreutern durchgeführt
und erfordert ebensoviele Tage, als an anderen Orten Stunden.
Der Gersteverkehr musste von Wien abfallen, weil es hier an
einer mechanischen Gersteputzerei zur Herrichtung der Ware für
den Export, wie solche in anderen, selbst in kleinen Lagerhäusern
vorhanden sind, zum Beispiel in Marburg, gebrach, ja selbst
an Raum zu den gewöhnlichsten Manipulationen. In Ungarn war
man beflissen, den Handel, den Wien so unaufmerksam behandelte,
heimisch zu machen. In Budapest wurde 1893 im Elevator eine
grosse Getreidedampfputzerei eingerichtet. Die Wirkung stellte sich
sofort ein, wie die nachfolgende Vergleichung zeigt. Es wurden
eingelagert
1891 1892 1893
Gerste Meterzentner 163619 183803 465678
92 Der Wiener Getxeidehandel und seine Technik. [17g
nnd umgekehrt hat das Lagerhaus der Stadt Wien, welches keinerlei
maschinelle Vorrichtungen zur Reinigung von Gerste besitzt, von
der Steigerung des Gersteexports nicht nur nicht profitiert, sein
Gersteverkehr hat sogar einen Rückgang erlitten.
Die Eonservierungstechnik ist primitiv und langsam. An
manchen Orten, wo Speichersystem besteht, hat man eine vernünftige
Vereinfachung der Konservierungsmethode durch sog. Ries elanlagen
herbeigeführt. In dem Boden der Etage des Magazins sind in ge-
wissen gleichmässigen Abständen verschliessbare Luken angebracht,
durch welche man das Getreide herabrieseln lassen kann, wobei alle
Körner mit der Luft in Berührung kommen.
Dazu gehören dann allerdings Elevatoren, welche das Getreide
wieder emporheben. An solchen gebricht es in den Wiener Maga-
zinen vollständig, ebenso an Aufzügen, die Lagerhäuser der Aktien-
gesellschaft in der Franzensbrückenstrasse ausgenommen. Infolge*
dessen müssen die Säcke über die Treppen hinaufgetragen werden.
Ebenso irrationell ist die Ausladung der Schiffe auf manuellem
Wege. Die Einführung des Maschinenbetriebes bei der Ausladung,
von Elevatoren, wird von der Kaufmannschaft seit Jahren ver-
langt. Selbst wenn die Manipulationsgebühren sich dabei nicht
verbilligen würden, was übrigens kaum anzunehmen ist, so wäre
die grössere Raschheit der Ausladung allein schon ein genügender
Gewinn.
Fühlbar ist ferner der Mangel an Silospeichern mit Eleva-
torenbetrieb. Dass ein ausschliessliches Silosystem an den europäi-
schen Getreidestapelplätzen nicht durchführbar ist, haben wir selbst
hervorgehoben. Dagegen wird vielfach ein sog. gemischtes System
in Anwendung gebracht, neben Bodenspeichern auch Silolagerhäuser,
und dieses System würde sich auch in Wien zweifellos bewähren.
Bei der Lagerung von Mais z. B. werden oft mehrere Schlepp-
ladungen auf einen Haufen bis zu 20000 Meterzentnern und darüber
zusammengeschüttet, weil diese Fruchtgattung eine grosse Gleich-
mässigkeit der Beschaffenheit zeigt und an der Aufrechterhaltung
der Identität der einzelnen Ladungen oft nichts gelegen ist. Da
es aber der Hauptverkehrsartikel z. B. des städtischen Lagerhauses
ist, so wäre dadurch allein die rationelle Ausnützung des Schacht-
systems verbürgt. Aber auch in den anderen Fruchtgattungen
kommen nicht selten grosse Mengen auf einmal zur Einlagerung,
2000 — 6000 Meterzentner, und man wird selbst bei geringerer
Bequemlichkeit gerne den Silo benützen, wenn man dabei eine
Kleinigkeit billiger fährt. Uebrigens können die Schächte in be-
179] I>ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 93
liebiger Grösse, auch für 500 — 1000 Mefcerzentner , hergestellt
werden.
Es ist nicht ohne Nutzen, dem Bilde, das wir von den Wiener
Umschlageinricbtungen entwerfen mussten, das einer ausländischen
Einrichtung gleicher Art gegenüberzustellen. Wir schildern im fol-
genden, nachdem mehrfach erwähnten Buche von Boroiüb, die Anlagen
in Mannheim. Bereits in den fünfziger Jahren verfügte dieses über
zwei Häfen, den alten Neckarhafen und einen geräumigen mit Quai-
mauern versehenen Hafen am Rhein. Im Jahre 1866 wurde am Rhein
eine grosse Werftuferanlage hergestellt. In den siebziger Jahren er-
folgte die künstliche Verlegung der Neckarmündung mittels des sog.
„Friesenheimer Durchstichs^, wodurch man einen Handelshafen für
Rhein- und Neckarschiffe und zugleich durch Absperrung des oberen
Einlaufs des alten Rhein einen trefflichen gegen Eis und Hoch-
wasser völlig geschützten Flosshafen erhielt, ferner 1874 die Er-
öffnung eines Zentralgüterbahnhofes, welcher durch prinzipielle
Verflechtung mit dem Hafengebiet die besonderen Speditionen
am Rhein und Neckar überflüssig machte. Dieser Bahnhof umfasst
heute ein Gebiet von 2580x150 m, hat über 50 km Schienengeleise
mit 219 Weichen und 6 Dampfschiebekähnen, verschiedene grosse
Schuppen und 6 Werfthallen. Im nächsten Jahre bereits, 1875,
wurde ein weiterer Hafen, der Mühlauhafen, eröffnet, der eine
Wasserfläche von 2100x120 m und 2090 m Quaimauer (auf Beton
gegründet, der Meter zu 540 Mark) besass. 1875 wurde ein Kanal
eröffnet, der diesen Hafen mit dem Neckar verband. Um dem
Mangel an Lagerplätzen abzuhelfen wurden 1883 — 1887 auf dem
Terrain zwischen Mühlau, Neckar und Verbindungskanal zwei neue
hufeisenft^rmig verbundene Hafenkanäle mit zusammen 2700 m Ver-
ladeufer hergestellt und mit dem Rangier- und dem Zentralbahnhof
verbunden. Ca. 180000 qm Uferlagerplätze kamen dadurch neu in
den Besitz Mannheims. Sie waren binnen wenigen Jahren besetzt.
Man musste weiter Vorsorgen. 1891 begann man mit der Her-
stellung einer Quaianlage am offenen Rhein, welche 1894 eröffiiet
wurde und 2490 m Länge V^ladeufer aufweist, wovon 2025 m mit
Quaimauern versehen sind, das laufende Meter zu 1280 Mark.
Die Gesamtkosten dieser neueren Hafenanlagen belaufen sich
auf weit über 30 Millionen Mark, ihre jährliche Instandhaltung
kostet ca. 20000 — 30000 Mark, die Unterhaltung des Betriebs sogar
150000 Mark, wobei die Anlagen zur Erzeugung der Elektrizität
für die Motorkraft und die nach Tausenden zählenden Bogenlampen
noch nicht einmal mitgezählt sind!
94 ^er Wiener Getreidehandel \md seine Technik. [180
Das alles wurde und wird noch vollständig aus Staats-
mitteln bestritten!
Nach dem derzeitigen Stande umfasst das Gesamtareal
21850 a Wasserfläche,
19800 m Verladeufer, davon
18155 m Eisenbahngeleise,
4815 m Quaimauer haben
95000 m Schienengeleise mit
436 Weichen,
9 Dampfschiebebühnen und
6 elektrischen Schiebebühnen.
4 Eisenbahndrehbrücken und
2 Strassendrehbrücken, über
60 Kranen, worunter ein schwimmender, die übrigen
grösstenteils auf Schienen fahrbar und wovon über
40 mit Dampf und j
6 elektrisch betrieben werden, 1
3 durch Elektrizität betriebene Elevatoren,
2 ^ Dampf , «
1 ^ öas , n
110 Speicher und Lagerhäuser (worunter 3 Silos),
17 Petroleumtanks,
14 feuerfeste Kellerspeicher.
Die grössten öffentlichen Speicher befinden sich im Besitze der
Mannheimer Lagerhausgesellschaft, deren Errichtung von der Regie-
rung durch billige Ueberlassung der Baugründe unterstützt wurde,
während die Bahnhofverwaltung das Lagerhaus auf ihre Kosten
mit einer auch von ihr in Stand gehaltenen Quaimauer versah. Die
«Mannheimer Getreidelagerhausgesellschafb'^, welche sich aus der
Vereinigung Mannheimer Oetreidehändler bildete, steht der „ Lager-
hausgesellschaft « an Bedeutung kaum nach. Insgesamt können in
Mannheim gelagert werden 15000000 Meterzentner Getreide. Die
Gebühren sind ausserordentlich billig.
Die hohen Ausgaben, welche die Regierung für den Handel
Mannheims gemacht hat, haben sich, wie wir im folgenden Kapitel
sehen werden, glänzend fruktifiziert, während andererseits die Ver-
schleppung der Reorganisation des Wiener Donauumschlags zum
Verfall des Wiener Getreidehandels wesentlich beigetragen hat und
die Ansiedelung neuer Zweige des Grosshandels, soweit sie den fak-
tischen Verhältnissen nach denkbar war, direkt verhindert. Der
Getreideumsatz Mannheims dürfte den Wiens heute wohl um ein
181] Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 95
Vielfaches übertreffen — ein zifFernmässiger Vergleich ist wegen
mangelnder Anhaltspunkte in den statistischen Publikationen unserer
Staatseisenbahngesellschaft nicht möglich — war aber, selbst wenn
wir dem Oesamtverkehr Mannheims bloss den durch die Donau
yermittelten Getreideverkehr Wiens gegenüberstellen, wie die fol-
gende Vergleichung zeigt, bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein
geringer.
Mannheim Wien
Jahr Hafenverkehr Eisenbahnverkehr Hafenverkehr in Getreide
1877 575 088 742 650 2 564041
1880 1466 544 1670 360 2438248
1885 2 298 826 2 201160 2 762 369
Gleichwohl besass Mannheim, wie das obige Entwickelungsbild
zeigt, damals bereits einen tüchtigen, dem des Wiener Getreide-
handels umfänglich und technisch weitaus überlegenen Apparat.
b) Die Arbeiterverhältnisse.
Dass wir in einer volkswirtschaftlichen Studie, das Gebiet der
Sozialpolitik streifend, uns mit den Verhältnissen der Quai- und
Lagerhausarbeiter beschäftigen, bedarf nach der vorangegangenen
Darstellung wohl keiner Rechtfertigung. Wenn schon nicht aus
sozialpolitischen und humanitären Beweggründen, so ist im Inter-
esse der ungestörten Abwickelung des Handelsverkehrs die endliche
Regelung der Verhältnisse der Quai- und Lagerhausarbeiter eine
unaufschiebbare Notwendigkeit. Ungeachtet der womöglich noch
schlechteren Verhältnisse bei anderen Verkehrsunternehmungen,
werden uns hier nur die Verhältnisse beim städtischen Lagerhause
interessieren, weil dasselbe die grösste Zahl von Arbeitern be-
schäftigt und seine Arbeits Verfassung massgebend ist für die übrigen
Unternehmer. Es fordern aber auch die Verhältnisse beim städtischen
Lagerhause zu einer Kritik am meisten heraus, weil es das Unter-
nehmen einer öffentlichen Verwaltung ist und diese mit strengerem
Masse gemessen werden muss, als der Privatunternehmer. Der
öffentlichen Verwaltung als Arbeitgeberin, führt v. Philippovich aus,
ist es nicht gestattet, die Arbeiter nach rein privatwirtschafblichen
Grundsätzen aufzunehmen, zu entlassen und zu entlohnen, vielmehr
entspricht es ihrer allgemeinen Pflicht, , Führerin ** des sozialen Fort-
schrittes zu sein, und ,über das Mass des Arbeitsvertrages und der
gesetzliehen Verpflichtung hinaus , für die von ' ihr beschäftigten
Arbeiter Sorge zu tragen durch Verwirklichung von Wohl-
fahrtseinrichtungen'.
96 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [1^2
Die Arbeiter des städtischen Lagerhauses bilden rücksichtlich
ihrer Verwendung nur eine Kategorie; hinsichtlich ihrer Ent-
lohnung werden sie in drei Kategorien unterschieden: in Wochen-
arbeiter mit 14tägiger Kündigungsfrist, in Taglöhner und Akkord-
arbeiter, welche sofort entlassen werden können. Die Zahl der
Beschäftigten schwankt, namentlich in den beiden letzteren Kategorien,
mit der Yerkehrskonjunktur. So waren durchschnittlich per Tag
beschäftigt
Im Jahre Wochenarbeiter Taglöhner Stücklöhner
1898 85 216 93
1899 87 186 89
ausserdem eine Anzahl Frauen, welche hauptsächlich in den Maga-
zinen (mit Säckefiicken , Putzen , Umstechen des Getreides u. s. f.)
beschäftigt sind.
Die Arbeit dauert in den Wintermonaten (vom 1. Oktober bis
31. März) von 8 — 12 Uhr vormittags und von 1 — 5 Uhr nach-
mittags ohne Unterbrechung. In den Sommermonaten (1. April bis
30. September) von 7 Uhr früh bis 12 Uhr mittags und 1 Uhr
nachmittags bis 6 Uhr abends mit je einer halbstündigen Frühstücks«-
und Mittagspause. Die eine Mehrstunde im Sommer wird als U eber-
stunde vergütet. Die Arbeitszeit mag, mit der in anderen Betrieben
verglichen, nicht übermässig lang erscheinen, doch ist zu berück-
sichtigen, dass die schwerste Arbeit, insbesondere das Ausladen der
Schiffe, im Freien verrichtet werden muss, wobei die Arbeiter in
der nach allen Seiten offenen Gegend allen Unbilden der Witterung
und beim Aus- und Eintritt in die Magazine den verderblichen Ein-
flüssen eines jähen Temperaturwechsels ausgesetzt sind, um so mehr,
als mit nacktem Oberkörper gearbeitet . wird. Auch gefahrlos ist
die Arbeit nicht und es ist wiederholt vorgekommen, dass Sack-
träger von dem schmalen Laufbrett herabfielen und ertranken.
Weniger schwer sind wohl die Arbeiten in den Magazinen, aber
da das Getreide immer mehr oder weniger Staub und Mist führt,
so sind die mit Reinigung oder Eonservierung der Ware beschäf-
tigten Menschen immer in eine dichte Staubwolke gehüllt.
Die Manipulationsarbeiten (Schaufeln, Beinigen etc.) werden
meist von den Wochenarbeitern verrichtet. Der Lohn für dieselben
beträgt
in der ersten Stufe fl. 8. —
in der zweiten Stufe „ 9. —
in der dritten Stufe . 10. —
183] I^ie Mängel der öflfentliohen Lagerhäuser. 97
„Wer sich verwendbar und ordentlich erweist, kann schon nach
einem Jahre, sonst nach zwei, spätestens aber nach drei Dienst-
jahren in die zweite Stufe mit 9 öulden vorrücken* heisst es in
der Arbeitsordnung. Im fünften Dienstjahre rücken jene Wochen-
arbeiter in die dritte Stufe mit 10 Gulden vor, die sich für den
gesamten Magazinsdienst und zu deh kleinen Schreibarbeiten oder
im Haus- und Bahndienste als selbständige Arbeiter geeignet er-
weisen. Ausserdem wird nach zehn Dienstjahren eine Alterszulage
von einem Gulden die Woche und nach je weiteren fünf Dienst-
jahren eine weitere Zulage von 50 Kreuzern, unabhängig von der
Lohnstufe, gewährt. (Der Taglohn für männliche Arbeiter beträgt
im Winter und im Sommer fl. 1.20, für weibliche etwa 70 Kreuzer.)
In den Öenuss dieses bescheidenen Avancements können aber nur
die nicht allzuvielen Arbeiter kommen, welche ständige Be-
schäftigung^ beim Lagerhause finden Und die für das Avancement
vorgeschriebene Dienstzeit zu erreichen in der Lage sind, und auch
dann noch ist es dem Belieben der Unternehmung überlassen: »wer
verwendbar ist, kann .... vorrücken*.
So kommt es, dass die grosse Mehrzahl der beim Lagerhause
beschäftigten Arbeiter Taglöhner oder Akkordarbeiter sind. Dem
unbeständigen Charakter der Arbeit entsprechend rekrutieren sich
diese Taglöhner überwiegend aus fluktuierenden Elementen, Arbeits-
losen, die in der Lagerhausarbeit einen vorübergehenden Erwerb
suchen, wohl auch aus unsteten herabgekommenen Elementen, welche
diese Arbeit gerade wegen ihres irregulären Charakters bevorzugen
und, wenn sie einige Oulden verdient haben, feiern, bis dieselben
verzehrt sind.
Trotz der bekanntlich enormen Steigerung der Lebensmittel-
und Mietzinspreise , welche in den letzten 10 Jahren in Wien ein-
getreten ist, hat seit dem Jahre 1890 in keiner der erwähnten Lohn-
kategorien, wenn wir von der Vergütung der einen Mehrstunde im
Sommer als üeberstunde absehen, eine Lohnaufbesserung statt-
gefunden.
Die Folge davon ist eine ungemein elende Lebenshaltung der
Mehrzahl der Arbeiter; der totale Mangel an Wohlfahrtsein-
richtungen in den städtischen Lagerhäusern macht die Verhältnisse
noch drückender. Vor allem steht es um die Verproviantierung
schlimm. Da die Leute von ihrem geringen Einkommen die hohen
Mietzinse in den inneren Bezirken nicht erschwingen können, wohnen
sie meist in sehr entlegenen Vorstädten, und die einstündige Mittags-
pause gestattet ihnen nicht, ihr Heim aufzusuchen. Wo der Mann
Wiener Studien. III. Bd., 8. Heft. 7 [18]
98 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [184
nicht in der glücklichen Lage ist, sich das Essen etwa durch sein
Kind von daheim bringen lassen zi; können, muss er seine Mahl-
zeit in der Nähe des Arbeitsplatzes kaufen. In den Prateranla^en
ist das noch relativ leicht möglich. Innerhalb des Territoriums auf
dem die Maschinenhalle steht, befindet sich eine der Kommune ge-
hörige Kantine, und in der Umgebung des Lagerhauses einige
Wirtshäuser, Die Kantine wird aber von der Kommune nicht in
eigener Regie gef&hrt, sondern ist für einen Pachtschilling von
1800 Gulden an einen Privatunternehmer vergeben.
ungünstiger sind die Verhältnisse in den Quaianlagen, wo in
der Saison die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter thätig ist. Hier
steht nur die sog. Quaikantine zur Verfügung, eine primitive und
ziemlich defekte Holzbaracke, in welcher wegen der Feuersgefahr
ein Ofen nicht aufgestellt werden darf. Der Kantineur muss daher
das Essen aus der Prateranlage hinüberschaffen, wobei dasselbe oft
kalt wird.
Wie immer bei ungenügender und mangelhafter Ernährung
wird der Alkohol stark herangezogen und der vollständige Mangel
an Räumlichkeiten, in welchen die Arbeiter die Erholungspausen
verbringen könnten, nötigt dieselben, namentlich bei rauhem Wetter,
in die umliegenden Wirtshäuser, übt also indirekt einen Trinkzwang
aus. Selbst in kapitalistischen Privatunternehmungen ist besser
vorgesorgt. In dem Jahresbericht der ungarischen Eskompte- und
Wechslerbank pro 1899, also eines auf Gewinn berechneten Privat-
unternehmens, heisst es: „Um unseren zahlreichen Arbeitern vor
Antritt der Arbeit und während der Arbeitspausen eine entsprechende
Qnterkunft zu schaffen, haben wir innerhalb der Lagerhausanlage
einen Arbeitersaal errichtet" !
Die Errichtung eines derartigen gut ventiUerten Baumes, in
welchem die Arbeiter die Erholungspause verbringen und das ihnen
von zu Hause geschickte oder von dort mitgebrachte Mahl verzehren
können, auch in den städtischen Anlagen, ist ein Öebot der Humiä-
nität; gleichzeitig müsste den Arbeitern zu dem geringen Lohn eine
Zübusse wenigstens in der Form geleistet werden, dass die Gemeinde
durch Uebernahme der Kantine in eigene Regie den Arbeitern einen
kräftigen und billigen Mittagstisch verschafft.
Was die Löhne betrifft, so hat die Lagerhausunternehmung
allerdings keine Möglichkeit, sich für eine Lohnerhöhung durch
Erhöhung der Gebühren zu regressieren, denn das würde die Fre-
quenz des Lagerhauses beeinträchtigen und dem Handel schaden.
Sie würde also möglicherweise eine Schmälerung herbeiführen, für
1851 ^^^ Mängel der öffentlichen Lagerhäuser, 99
einen Privatunternehmer vielleicht Örund genug, sie zu unterlassen,
nicht für die städtische Lagerhausunternehmung; denn sie ist ein
gemeinnütziges Institut und dieser Charakter ist auch durch Ge-
meinderatsbeschluss vom 20. Dezember 1879, Z. 5259, ausgesprochen
worden. Diesem Beschlüsse zufolge haben die Erträgnisse des
Lagerhauses nicht zur Verzinsung, sondern zur Abschreibung
des Anlagekapitals verwendet zu werden.
Eine Schmälerung des Erträgnisses braucht indes trotz Lohn-
regulierung nicht einzutreten, wenn das Lagerhaus so ausgestaltet
und auf jene Leistungsfähigkeit gebracht würde, welche der Handel
von ihm verlangt. Auch wäre dann trotz Einführung des Maschinen-
betriebes die Beschäftigung einer grösseren Zahl von Arbeitern
möglich. Damit dieselben regelmässiger beschäftigt werden
können, müssen allerdings Hindernisse beseitigt werden, die ausser-
halb der Ingerenz der Lagerhausunternehmungen liegen. Von diesen
wird später die Bede sein.
Wir schliessen unsere Untersuchungen damit ab, dass wir dem
eben gegebenen Bilde die Arbeitsverfassung eines anderen, einer
öffentlichen Korporation in esterreich gehörigen öffentlichen Lager-
hauses zum Vergleich gegenüberstellen: wir meinen die staatlichen
Lagerhäuser in Triest.
In den k. k. Triester Lagerhäusern \ welche unmittelbar dem
k. k. Handelsministerium unterstehen, sind — ähnlich wie in den
grossen holländischen Hafenplätzen — die Arbeiten mit General-
akkord an das sog. „ Geschworenenmittel '^ (es ist d^s ein Verein
amtlich aufgenommener und verpflichteter Träger bei den im alten
Hafen von Triest und im Canal grande liegenden Exposituren des
Hauptzollamtes) übertragen. Jeder Geschworene hat eine Kaution
von 500 fl., jeder Tarierer von 50 fl. zu leisten. Die Geschworenen
und Tarierer entsprechen ihrer Stellung nach gewissen Gruppen von
ünterbeamten und Aufsehern, Wägmeistern etc. in den städtischen
Lagerhäusern. Dem Geschworenenmittel obliegt die Aufnahme des
übrigen Arbeitspersonals, jedoch ist das Geschworenenmittel ver-
pflichtet, dem Hauptzollamte über die Gebarung mit den Einnahmen
vollständig Rechnung zu legen, und hat das genannte Amt das
Recht des Einflusses auf die Bestimmungen der Besoldungen und
Löhne.
Die Verteilung der Betriebsüberschüsse, welche das Geschwo-
^ Die Triester Lagerhäuser. In „ Soziale Verwaltung in Oesterreich am
Ende des 19. Jahrhunderts". Wien 1901, V. Heft.
100 ^6^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [186
renenmittel erzielt, ist durch ein besonderes staatliches Reglement
wie folgt geregelt.
Die erzielten Betriebsüberschüsse sind insolange gänzlich zu-
rückzulegen , bis eine Summe von 4000 fl. f&r den Reservefonds
erreicht ist. Zur Ergänzung desselben auf 20 000 fl. sind von den
weiteren Betriebsüberschüssen immer 25®/o zur Bildung eines Pro-
visions- und Aushilfsfonds f&r arbeitsunfähige oder im Dienste ver-
unglückte Geschworene, Tarierer und Arbeiter zu verwenden, der
Rest nach einem bestimmten Schlüssel an Öeschworene und Tarierer
als Arbeitsdividende zu verteilen.
Die stabil Angestellten und die Angestellten des Oeneralakkords
haben nach Ablauf einer ununterbrochenen Dienstzeit von 10 Jahren
bei den k. k. Lagerhäusern oder dem Generalakkord und nach voll-
endetem 35. Lebensjahre im Falle der staätsärztlichen Eonstatierung
voller Dienstuntauglichkeit oder ohne ihr Verschulden erfolgter
Dienstesenthebung Anspruch auf fortlaufende Ruhegenüsse, die bei
den Geschworenen zwei Drittel des letzten Jahresgehaltes, bei den
Tarieren! und stabüen Arbeitern zwei Drittel des zweiundfünfzig-
fachen Wochenlohnes, bei nicht stabilen Arbeitern drei Fünftel des
dreihundertfachen letzten Taglohnes oder des zweiundfünfzigfachen
Wochenlohnes beträgt. Ebenso ist die Witwen- und Waisenver-
sorgung geregelt und sind Lebensmittelmagazine für die Arbeiter in
staatlicher Regie errichtet worden.
Die Lagerhäuser der Stadt Triest, welche früher, als sie noch
in der Verwaltung der Kommune und der Handelskammer sich be-
fanden, ein arges Defizit hatten, werfen jetzt durch die infolge der
seitherigen Ausgestaltung der Anlagen herbeigeführten Steigerung
des Verkehrs bereits ein, wenn auch nicht bedeutendes, Erträg-
nis ab.
c) Das Lagerhausgesetz.
Das Lagerhausgesetz vom 1. April 1889 muss im grossen
Ganzen als ein Missgriff der Gesetzgebung bezeichnet werden. Es
hat, wie die Entwickelung des Lagerhauswesens in esterreich über-
haupt, auch die des Wiener nicht gefördert, sondern gehemmt oder
mindestens zum Stillstande gebracht.
Die rechtlichen Beschränkungen, welche dieses Gesetz
der Lagerhausunternehmung auferlegt, auf der einen Seite, die
fast drakonischen Haftpflichtbestimmungen auf der anderen
Seite, waren selbstverständlich nicht aufmunternd zur Erweiterung
187] ^i® Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 101
schon bestehender und vollends nicht zur Neugründung von Lager-
hausuntemehmungen.
Wenn das frühere Gesetz den Einlagerer dem Belieben der
Lagerhausunternehmung anheimgab, so bietet umgekehrt in dem
geltenden Gesetz die Bestimmung, dass die Lagerhausuntemehmung
die Sorgfalt zu beweisen habe, den Einlageren! Handhabe zu
Ghikanen und Benachteiligungen der Lagerhausuntemehmung.
Die Gesetzgeber hatten die üblen Rückwirkungen, welche dieses
Gesetz auf die Beteiligung des Privatkapitals an der Lagerhausunter-
nehmung ausüben musste, wohl teilweise selbst eingesehen, setzten
aber ihre Hoffiiungen einerseits auf die eisenbahnrechtlichen Be-
stimmungen des Gesetzes, andererseits auf die öffentlichen Korpora-
tionen, besonders auf die Stadtverwaltungen, und auf das alleinige
Recht der Warrantausgabe, dessen Wirkung auf die Frequenz der
öffentlichen Lagerhäuser von ihnen so hoch taxiert wurde, dass sie
dieselben durch dieses Monopol für die ihnen auferlegten Beschrän-
kungen entschädigt hielten, was, ebenso wie die Einführung des
Lagerpfandscheinsystems, um so merkwürdiger war, als der Misserfolg
desselben in anderen Ländern damals bereits notorisch war.
Von diesen Hoffnungen hat sich, wenigstens was Wien und die
Getreidelagerhäuser betrifft, keine erfüllt. Die wichtigsten eisen-
bahnrechtlichen Bestimmungen, Tariffragen betreffend, blieben
zumeist auf dem Papier, weil grosse Hauptbahnen vom Privatkapital
bewirtschaftet werden, dem gegenüber der Staat ziemlich macht-
los ist.
Die Stadtverwaltung ist als kaufmännischer Unternehmer nicht
auf der Höhe der Situation gestanden. Ihre Lagerhauspolitik ist
über die ursprünglichen rein stadtwirtschaftlichen Gesichtspunkte,
der Sorge um die Approyisionierung Wiens, nicht hinausgekommen \
und sie behandelt, seit dieses Interesse mehr und mehr erloschen ist,
die Lagerhausuntemehmung wie ein Privatunternehmer, d. h. die
Bücksicht auf eine günstige Fruktifizierung des darin investierten
Kapitals steht in erster, die gemein wirtschaftliche Aufgabe erst in
zweiter Reihe.
^ Uebrigens sind auch sonst überall in Oeäterreich, wo Lagerhäuser von
öffentlichen Korporationen errichtet werden, meist die Approvisionierungs-
rücksichten massgebend gewesen; es handelt sich gewöhnlich um Getreide-
lagerhäuser. Eine Ausnahme bildet die Stadt Triest, welche seinerzeit gemein-
sam mit der Handelskammer Lagerhäuser errichtete, um* den Handel zu heben;
hier aber erwiesen sich wieder die Kräfte der öffentlichen Korporation für eine
grosse Unternehmung als zu schwach.
102 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [188
Das Recht der Warrantausgabe aber konnte auf die materielle
Entwickelung der öffentlichen Lagerhäuser deshalb nicht fordernd
zurückwirken, weil das französische Zweischeinsystem mit seinen
wechselrechtlichen Konstruktionen sich in der Eredittechnik des
Getreidehandels, des einzigen Handelszweiges in Wien, der für den
Warrantlombard in Betracht kommen kann, ebensowenig einzu-
bürgern vermochte, als in anderen Ländern, wo der Versuch damit
gemacht worden ist.
Der Warrant ist kein Bedürfnis des Handels geworden und
der Warrantrerkehr der Wiener Lagerhäuser hat sich unter dem
neuen Gesetz nicht nur nicht gehoben, sondern hat eher noch eine
Abnahme erfahren.
Die Bestimmungen über den Warrant haben ihren Zweck
verfehlt, nicht bloss soweit sie die Förderung des Lagerhauswesens
anstrebten, sondern auch soweit sie die Handelstechnik in Be-
ziehung auf das Lagerhauswesen durch das Lagerpfandscheinsystem
in Verbindung mit dem Belehnungsverbote zu vervollkommnen
meinten.
Vom Pfandindossament in den von dem Gesetze vorgesehenen
Formen wird nur selten Gebrauch gemacht, obwohl im Wiener Ge-
treidehandel die Lagerscheine für die Besitzübertragung nicht ver-
wendet werden, also offenbar nur zum Zwecke der Verpfändung der
Ware genommen werden; im Durchschnitte der letzten fünf Jahre
ist nur bei 7,5 Prozent der ausgegebenen Lagerscheine ein Pfand
in den Büchern des städtischen Lagerhauses zur Vormerkung ge-
langt. Die Lombardierung wird ebenso wie früher in der Weise
durchgeführt, dass der Vorschussnehmer dem Gläubiger das Besitz-
recht an der Ware überträgt, entweder indem er ihm den ganzen
Lagerschein in bianco überträgt, oder noch lieber indem er die
Ware auf seinen Namen überschreiben lässt; daneben wird ein
Pfandvertrag in Form eines einfachen Briefes errichtet.
Diese Form ist wirtschaftlich und technisch vorteilhafter für
beide Teile als die im Gesetz vorgesehene. Bei Verpfandung mittelst
Lagerpfandschein muss eine Skadenz angegeben sein. Wird die
Ware früher aus dem Pfand gelöst, so verliert man mindestens einen
Teil der für die ganze Laufzeit im vorhinein zu entrichtenden Zinsen.
Wird die Erneuerung des Vorschusses übersehen, so ist der Schuld-
ner der Gefahr eines Protestes mit seinen verlustbringenden Kon-
sequenzen ausgesetzt. Aber auch der Vorschussgeber scheut die
Formalitäten, zu denen er durch Pfandindossament gezwungen ist.
Der Verpfändungsakt selbst ist sehr unbequem und mit Formalitäten
189] I^ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 103
verbunden, welche, mögen sie theoretisch betrachtet auch gering-
fügig scheinen, dem kaufmännischen Verkehre widerstreben; wir
meinen die Bemüssigung, das Pfandindossament in die Lagerhaus-
register eintragen zu lassen.
unbequem und umständlich ist ferner die BOcklösung des
Pfandes in Teilquantitäten yor Verfall; im Kontokorrentlombard
vollzieht sie sich rasch und einfach, indem der Vorschussgläubiger
dem Schuldner gegen Erlag des entfallenden Betrages eine Ausfolge-
anweisung an das Lagerhaus gibt.
Ebenso unterliegt der Austausch eines in Pfand befindlichen
Warrants gegen einen anderen keinem Anstände ; die Ware kann so
statt mit Geld ohne Formalitäten mit Ware aus dem Pfand gelost
werden. Das ist fQr den Kaufmann von grösster Wichtigkeit.
Ein nicht zu unterschätzender Abhaltungsgrund für die Be-
nutzung des Lagerpfandscheins ist übrigens auch die hohe Stempel-
gebühr, mit welcher das Pfandindossament belastet ist.
Von verschiedenen Seiten, auch von Professor Adlbb \ ist der
Meinung Ausdruck gegeben worden, dass die Eintragung des Namens
des ersten Pfandindossanten in die Register des Lagerhauses ein
Abschreckungsgrund sei, weil der Indossant seinen persönlichen
Kredit zu gefährden fürchte, und dass die Unterlassung dieser Ein-
tragung eine Hebung des Warrantverkehrs herbeiführen würde.
Auch der Direktor der Triester Lagerhäuser gibt in einem durch
die freundliche Vermittlung des niederösterreichischen Gewerbe -
Vereins uns zugekommenen Gutachten dieser Meinung Ausdruck.
Dem steht aber das Faktum gegenüber, dass, wie die folgende
Statistik zeigt, die Zahl der Eintragungen von Pfandindossamenten
in die Register der städtischen Lagerhäuser vor 1889, wo dieselbe
nicht obligatorisch gewesen ist, grösser war, als unter dem gelten-
den Gesetze ^.
Ausgegeben wurden:
In den Jahren
Stück
Prozent der
Vorschuss
Prozent
Eingangsposten
vorgemerkt
auf Stück
der Gesamt-
zahl
1880—1884
350
10,01
237
68
1885—1889
426
6,19
181
42
1890—1894
351
3,36
86
24,5
1895—1899
279
2,43
24
9
^ Handwörterbuch der Staatsw. I. Aufl. Aufsatz Warrant.
^ Die von Professor Adler empfohlene Geheimhaltung des Namens des
Verpfänders unter Eintragung des übrigen Indossamentinhaltes in die Lager-
haasregister wäre übrigens praktisch von durchaus problematischem Werte.
104 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [190
Als Grund für die Scheu vor der Benutzung des Lagerpfand-
scbeins bezeichnet Professor Adleb ^ auch, dass es der Einklagung
des Ausfalles, wenn das Pfand exekutiv verkauft worden ist, als
einer nicht von vornherein ersichtlichen Summe, au prozessualer
Schneidigkeit fehlte. In der Terminhandelsenquete ist das vom
Dozenten Dr, Landesbbbgsb an der Hand eines praktischen Falles
bestätigt worden^.
Professor Adleb schlägt zur Verbesserung vor ^ :
1. Einführung des englisch- belgischen Systems, wonach der
Inhaber des Besitzscheines im Falle der Nichtzahlung bei
Verfall jeden Anspruch auf die Ware verliert;
2. prinzipale wechselmässige Haftung der Pfandschein-
indossanten. Dieselben sollen neben, nicht wie jetzt hinter
der Ware haften, und es soll dem Warrantgläubiger frei-
stehen, sich nach Belieben an die Ware oder an den Ver-
pflichteten zu halten, wogegen der Zahlende alle Rechte
an der etwa noch unverkauften Ware erwirbt.
Indes zweifeln wir, dass selbst mit diesen Verbesserungen das
Lagerpfandscheinsystem den Bedürfnissen des Handels entsprechen
würde.
Das wesentlichste prinzipielle Bedenken, welches seine Unpopu-
larität im Handel verschuldet, bliebe von diesen Beformen unberührt.
Dem ganzen Wesen des kaufmännischen Lombardkredits widerstrebt
die Fiktion, auf der das Lagerpfandscheinsystem aufgebaut ist, dass
nämlich die durch die Verpfändung begründete Forderung, gleich
der Wechselforderung , . eine ein für allemal in einer bestimmten
Höhe feststehende sei. Der Vorschussgläubiger leiht niemals einen
bestimmten Betrag, sondern stets nur einen bestimmten, je nach
dem Grade der Wertbeständigkeit des betreffenden Gutes grösse-
ren oder geringeren Prozentsatz des Tages wertes der Ware,
und muss sich daher die Möglichkeit wahren, bei eintretender Wert-
verminderung einen entsprechenden Teil des Vorschusses zurückzu-
fordern \ Dabei fährt aber nicht nur der Vorschussgeber besser als
Wenigstens was das Getreidegeschäfb betrifft, können wir konstatieren, dass die
Wahrung des Belehnungsgeheimnisses bei Benutzung eines öffentlichen Yer-
kehrsinstitutes , wo die Konkurrenz aus- und eingeht, unter den im Getreide-
handel gegebenen Verhältnissen unmöglich wäre.
^ Handwörterbuch a. a. 0.
2 Stenogr. Prot. II, S. 175.
* Handwörterbuch a, a. 0.
^ Wir können uns daher der Meinung Professor Adlers, dass die Bank
191] Die Mangel der öffentlichen Lagerhäuser. 105
beim Lagerpfandscheinsystem, sondern auch der Yorschxissnehmer,
weü der erstere in der Lage ist, dem letzteren eine dem Tageswerte der
Ware sehr nahe kommende Vorschussquote auch auf solche Waren
zu gewähren, deren Preise stärkeren Schwankungen unterworfen
sind. Das Lagerpfandscheinsystem dagegen stellt zwei Alternativen,
bei deren einer der Verpfänder, bei deren anderer der Vorsehuss-
geber notwendigerweise ungünstig fahren muss: entweder begibt
sich der erstere für die Dauer der Verpfandung des Besitzrechtes
an der Ware, indem er dem Vorschussgläubiger den ganzen Lager-
schein in bianco giriert, oder der Pfandgläubiger entschliesst sich,
dem Darlehenswerber ein Kapital in jener Form vorzuschiessen, wie
sie das Gesetz vorsieht, d. h. in einer innerhalb einer gewissen im
vorhinein bestimmten Frist unveränderlichen Höhe und innerhalb
dieser Frist unkündbar zu gewähren. Das hebt auch die wirtschaft-
liche Funktion des Lagerscheins teilweise auf. Der Lagerschein
soll eine Entlastung des Personalkredits durch den Realkredit ermög-
lichen; hier räumt aber thatsächlich der Vorschussgeber dem Ver-
pfänder einen gewissen Personalkredit ein. Da der wirtschaftlich
stärkere Teil der Darlehensgeber ist, so begibt natürlich nicht dieser
sich in die ungünstige Situation, sondern zwingt den anderen dazu.
Infolge der geringen Verwendung des Lagerpfandscheins ist es
natürlich auch zu einem Reeskompte bei der Österreich-ungarischen
Bank nur in wenigen Fällen gekommen.
Seitdem die Österreich-ungarische Bank den Warranteskompte
aufgenommen hat, also seit dem Jahre 1891, sind zum Eskompte
gelangt :
In JjQSgesamt Davon in
den Jahren Stück Wien Innsbruck Krakau Lemberg Budapest
1891 100 — 4 63 — 33
1892 38 —
1893 24 —
1894 28 3
1895 24 —
1896 37 —
1897 15 —
1898 1 -
1899 562- — - — — 562
1900 197 — _ _ _ 197
Nun weist Professor Adler zur Verteidigung des französischen
Lagerpfandscheinsystems auf Erfolge desselben in Frankreich hin.
4
63
23
13
23
23
Ol
37
15
1
bei prinzipaler Haftung der Giranten sieb mit einer ünterscbrift zu begnügen
in der Lage wäre, nicbt anscbliessen.
106 ^^^ Wiener Getareidehandel und seine Technik. [192
Aber bis zum Jahre 1879 war dasselbe auch dort unbeachtet und
erst die Aufhebung des Belehnungsverbotes für die öffent-
lichen Lagerhäuser, welche in dem genannten Jahre erfolgt ist,
vermochte es zu einiger Wirkung zu bringen. Die Lagerhausunter-
nehmung kann auf Lagerpfandscheine unbedenklicher fixe Vorschüsse
erteilen, weil sie das Pfand körperlich in Verwahrung hat, den
Wert derselben genau zu taxieren weiss, weil für den Vorschuss
und für die auf der Ware haftenden Öebühren und Spesen nur
ein Pfandgläubiger existiert, die Lagerhausunternehmung, und
weil ihr zudem die Verhältnisse des Vorschusswerbers genau be-
kannt sind; denn niemand gewinnt einen besseren Einblick in
die Geschäftsverhältnisse des Kaufmannes, als die Lagerhausunter-
nehmung.
Thatsächlich zeigt uns die früher aufgestellte Statistik auch in
Ungarn, wo kein Belehnungsverbot existiert, wenigstens zeitweise
einen lebhafteren Warrantreeskompte ; ebenso dürfte der verhältnis-
mässig etwas lebhaftere Beeskompte durch die Innsbrucker Filiale
der Österreich-ungarischen Bank darauf zurückzuführen sein, dass
das dortige dem Lande gehörige Lagerhaus die Warrants selbst
belehnt \
Die Erfolge, die das französische Lagerpfandscheinsystem in
Frankreich angeblich aufzuweisen hat — wir müssen sie übrigens,
da Professor Adler nur ein Jahr, das Jahr 1894, herausgreift,
und es leicht möglich ist, dass gewisse irreguläre Marktverhältnisse
vorübergehend eine stärkere Benutzung des Warrants veranlasst
haben, wie in Budapest, mit Reserve au&ehmen — scheinen uns
gerade gegen das System zu sprechen : ein Warrantsystem, das nur
durch das selbstbelehnende Lagerhaus und nur soweit selbstbelehnende
Lagerhäuser vorhanden sind, wirksam werden kann, ist nicht geeig-
net, den Bedürfnissen des kaufmännischen Verkehrs zu entsprechen,
und wir glauben nicht, dass der deutsche Juristentag, wenn er
heute über das französische Warrantsystem zu urteilen hätte, es
nicht ebenso verwerfen würde als vor 8 Jahren.
Wir dürfen unsere Kritik des Lagerhausgesetzes nicht schliessen,
ohne des implicite im Gesetz enthaltenen Verbotes der Ausgabe
^ Die Regierung hat dem Innsbrucker Lagerhaus diese Konzession gemacht,
weil ohne dieselbe der Bestand desselben bedroht gewesen wäre; ein Haupt-
verkehrsmittel des Innsbrucker Lagerhauses ist Wein, und es ist zweifellos, dass
es von den zumeist wenig kapitalkräftigen Weinproduzenten Tirols darum
gerne frequentiert wird, weil sie dadurch die Möglichkeit finden, zu billigem
Zinse Geld auf ihre Ware zu bekommen.
193] I^ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 107
indossabler Lagerscheine für die Privatlagerhäuser zu ge-
denken.
Die Begriffe „Privatlagerhaus* und , öffentliches Lagerhaus'^,
wie sie das Gesetz auffasst, decken sich nicht mit dem wirtschaft-
lichen; für das Gesetz ist nicht die Funktion, sondern der formale
Charakter das bestimmende Kriterium; öffentliche Lagerhäuser sind
konzessionierte Lagerhäuser. Diese Auffassung hat zu dem Wider-
sinne geführt, dass eine Anzahl von Lagerhäusern, welche, ohne
konzessioniert zu sein, doch als öffentliche funktionieren, dem Handel
die Dienste einer öffentlichen Lagerhausunternehmung in kredit-
lechnischer Beziehung nicht zu leisten in der Lage sind; wir
meinen da in erster Reihe die Lagerhäuser der Transportunter-
nehmungen, z. B. der Schiffahrtsgesellschaften. Würden die von
den kleineren Lagerhausunternehmungen ausgegebenen Lagerscheine
yielleicht auch nicht von der Österreich-ungarischen Bank genom-
men — obwohl ein ausschliessender Grund dafür eigentlich nicht
besteht — , im Privatlombard fänden sie zweifellos Aufnahme.
Warum der Kaufmann, welchen Raummangel im städtischen
Lagerhause zwingt, in einem dieser Magazine für seine Ware Unter-
kunft zu suchen, dadurch der Möglichkeit beraubt sein soll, sie be-
lehnen zu lassen, und warum diese Lagerhäuser durch die Yor-
enthaltung des Rechtes der Warrantausgabe in ihrer Prosperität
gehindert sein sollen, ist nicht erfindlich.
Ebenso sind die genossenschaftlichen Lagerhäuser der
Landwirte der Wohlthaten des Lagerscheines beraubt, trotzdem
gerade hier derselbe eine Rolle spielen könnte und der Knappheit
an Belehnungsmitteln , über welche geklagt wird ^, wirksamer und
billiger abzuhelfen geeignet wäre, als die verlangte Schaffung von
Betriebsreserven aus Landesmitteln.
Die Mittel für den Lombard in diesen Lagerhäusern müssen
von den kreditgenossenschaftlichen Organisationen innerhalb der
Landwirtschaft selbst aufgebracht werden, von den Raiffeisen-Kassen,
bezw. von dem Zentralverbande derselben, und in den Lagerhaus-
beschlüsaen des böhmischen Landtages wird darauf hingewiesen, dass
bei der weiteren Entwickelung weder einzelne Kreditinstitute, Lager-
häuser, noch auch die Zentralkassen der Spar- und Darlehenskassen-
vereine im Stande sein werden, das Kreditbedürfnis der Lagerhaus-
genossenschaften zu befriedigen und dass „für die Genossenschafts-
^ Stefan Richter, Die Organisation des gemeinsamen Bezuges und Ab-
satzes in Oesterreich, In „Soziale Verwaltung in Oesterreich*, I. Bd., III. Heft,
S. 113.
108 ^®r Wiener Getreidehandel und seine Technik. [194
zentralkassen, welche nur über geringe eigene Mittel verfügen und
hauptsächlich mit den Geldern der Spar- und Darlehenskassenvereine
arbeiten, wenn sie einen grösseren Teil ihrer von den Spar- und
Darlehenskassen herrührenden Bestände den Lagerhausgenossen-
schaften zur Verfügung stellen, überdies die Oefahr entsteht, dass
grösseren Geldanforderungen der Spar- und Darlehenskassenvereine,
welchen die Genossenschafbszentralkassen in erster Beihe zu dienen
haben, nicht entsprochen werden könnte".
m.
Die Yerkehrseinrichtangen im Dienste des Getreidehandels.
Eigentliche Hafenanlagen gab es bis vor einem Jahre in Wien
nicht. Wohl war schon bei der ersten Donauregulierung in Wien,
im Jahre 1869, die Einrichtung eines Hafens in dem abgebauten
Stromteile zwischen dem Weidenhaufendurchstich und dem ver-
längerten Wiener Donaukanal östlich vom Freudenauer Wettrenn-
platz beabsichtigt. Damals wurde jedoch davon abgesehen, weil
man das Becken für nicht hochwassersicher hielt.
In der Mündungsstrecke des Fischaflusses in die Donau, unter-
halb Fischamend, befindet sich wohl ein sehr geräumiger und ge-
sicherter Winterhafen, in welchem für die Ueberwinterung von
mehr als 200 Schiffen Raum ist. Aber dieser Hafen ist für den
Handel von geringem Wert, weil er 1. von Wien sehr entfernt ist,
2. keine Bahnverbindung besitzt, ein Umschlag dort also nicht oder
nur unter sehr kostspieligen und schwierigen Verhältnissen statt-
finden kann. Die Getreideschiffe, die ein plötzlich eintretender Eis-
gang zwingt, dort Zuflucht zu nehmen, müssen ihre Ladung bis
zum Frühjahre an Bord behalten, was leicht die Beschädigung der
empfindlichen Ware zur Folge hat. Auch ist der Hafen, da er im
Pacht der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft sich befindet, für Schiffe
anderer Gesellschaften nicht zugänglich.
Als gelegentlich der Einbeziehung der Vororte zur Gemeinde
Wien neben mannigfaltigen Verkehrsanlagen auch die Umwand-
lung des Donaukanals in einen Schutz- und Handelshafen für den
Lokalverkehr und die Eleinschiffahrt beschlossen worden war, machte
sich der Wunsch nach einem geräumigen, in Wien gelegenen, stets
offenen und hochwassersicheren Schutzhafen für die Grossschiffahrt
seitens der Handelswelt wieder geltend und zwar um so dringender,
als sonst durch den damals bereits beschlossenen Bau eines Winter-
195] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 109
hafens in Pressburg dem Handel Wiens ein neuerlicher Abbruch
drohte.
So tauchte das alte Projekt wieder auf, das jetzt auch viel
günstiger sich darstellte; denn durch die Erbauung der Donauufer*
bahn war das Freudenauer Becken in zwei Teile geteilt worden,
wovon der vielfach grössere Teil durch diesen Bahndamm in eine
völlig geschützte Lage gegen Eisgefahr gekommen war.
Nach dem Bauprogramme zu dem Gesetz über die Vollendung
der Donauregulierung in Oesterreich u. d. E. vom 4. Januar 1899
R.-G.-B1* Nr. 5, wurde 1899 mit dem Bau des Hafens begonnen;
gegenwärtig ist derselbe bereits als Schutzhafen benutzbar und im
Laufe dieses Jahres soll der Bau beendet sein.
Der Hafen ist folgendermassen gegliedert:
Durch die Ueberbrückung der Donauuferbahn ist der Hafen in
zwei Teile geteilt. Der untere, kleinere, dem Strome näher lie-
gende Teil bildet den sog. Vor- oder Manövrierhafen, während der
grössere Teil oberhalb der genannten Bahnverbindung vor Eis-
gängen mehr geschützt den eigentUchen Hafen, den Innenhafen
bildet.
Der Innenhafen zerfallt wieder in den eigentlichen Mittelhafen,
der an seinem obersten Ende in einen Werfthafen ausläuft und in
zwei Seitenhäfen, zwischen welche zungenformige Qais von 70 m
Eronenbreite angeordnet sind.
Bezüglich dieses Werfthafens bestand seitens der Donaudampf-
schiffahrtsgesellschaft die Absicht der Errichtung einer neuen, mo-
dernen Werftanlage mit einer Arbeiterkolouie.
Die Hafenplateaux liegen 4,2 und 5,5 m über dem Nullwasser-
stande des Hafenmundes und sind mittels eines 6,32 m Über dem
jeweiligen örtlichen Nullwasser hoch gelegenen breiten und ab-
gepflasterten Schutzdanmies gegen die grössten Hochwasser ge-
sichert.
Die Hafensohle liegt 5 m unter Null, so dass selbst bei nieder-
stem Wasserstande die beladenen Schlepper, selbst mit grösstem
Tiefgange, noch immer die genügende Fahrtiefe vorfinden. Die
Wasserfläche des Hafens misst 344000 m*, die Uferlänge in den
beiden Häfen 8082 m und haben in demselben 300 Schiffe grössten
Kalibers Raum. Die gleichzeitig durchgeführte Regulierung des
Donaustroms auf Niedrigwasser, in strombautechnischer Beziehung
eine der schwierigsten Aufgaben, deren sich die Donauregulie-
rungskommission mit Glück entledigt hat, schützt den Hafenmund
vor Versandung. Magazine und Preilagerplätze sind reichlich vor-
110 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. ("196
gesehen; eine gute Zufahrtsstrasse fttr schweres Lastfuhrwerk ver-
bindet den Hafen mit der Stadt, die notwendigen Geleiseanlagen za
den verschiedenen Bahnhöfen sind projektiert und sollen nach und
nach gelegt werden; in fernerer Zukunft ist dann die Verbindung
des Hafens mit dem Donaukanal geplant, wodurch es möglich würde,
Getreide, Mehl, Baumaterialien etc. auch im Winter der inneren
Stadt per Wasser zuzuführen.
Dadurch und durch die eben im Werke befindliche Regulie-
rung des Donaukanals und die Ausweitung einer Stelle desselben
zu einem Hafen, dürfte es in der Folge auch möglich und zweck-
mässig werden, den Lokal verkehr in Getreide unmittelbar in die
Stadt selbst zu verlegen und dadurch den teuren Achsentransport
abzukürzen.
Der Hafen untersteht der sicherheits- und schiffahrtspolizei-
lichen Hoheit und Aufsicht der Staatsverwaltung, welche durch ein
besonderes Hafenkommando ausgeübt werden soll. Er ist den Be-
stimmungen des citierten Gesetzes zufolge ^ öffentlich und jeder-
mann zugänglich. Nach Tilgung des von der Donauregulierungs-
kommission zur Durchführung der Regulierungsarbeiten aufgenom-
menen Darlehens geht die ganze Anlage in den Besitz der Stadt
Wien über.
Gegenwärtig ist der Schiffsverkehr Wiens in Getreide auf die
Landungsplätze am Donaudurchstich beschränkt, welcher in einer
Länge von 15 km von Nussdorf bis zur Stadlauerbrücke reichend,
den Strom unmittelbar an der Stadt vorüberleitet und durch eine
Bahn, die das ganze Ufer entlang läuft, die sog. „ Donauuferbahn '^
mit allen Eisenbahnen in Verbindung steht.
In der unglücklichen Anlage dieses Donaudurchstichs wurzeln
zum grossen Teile die schweren Verkehrsstörungen, mit welchen
der Wiener Getreidehandel Jahr für Jahr zu kämpfen hat.
Der Donauumschlag ist nämlich in Wien wohl insoferne ein-
facher als der Umschlagverkehr an anderen Handelsplätzen, als er
fast nur von Schiff zu Land, nicht auch in umgekehrter Richtung
stattfindet. Die Donaustrasse ist thalwärts leider so gut wie un-
benutzt. Wohl ist wiederholt, zuletzt noch gelegentlich der Er-
höhung der Levantetarife seitens des Lloyd, das Projekt ventiliert
worden, den Zuckerexport nach der Levante auf die Donau zu
lenken, aber immer wieder eingeschlafen. Welche Aenderung in
diesem Punkte etwa durch die Kanäle herbeigeführt werden wird,
§§ 9 und 12.
197] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. Hl
lässt sich heute noch nicht absehen. Ferner umfasst er vornehmlich
nur eine Warengattung: Getreide. DafQr verteilt sich dieser Um-
schlag des Getreides auf drei Yerkehrsrichtungen: den Versand, den
Lokalkonsum und die Lagerung, und wir haben daher
1. den Umschlag des für den Versand bestimmten Getreides
von Schiflf zu Waggon,
2. den Umschlag des für den Locokonsum bestimmten Ge-
treides vom Schiff auf das Achsfuhrwerk,
3. den Umschlag vom Schiff zum Lager.
Etwa 60 ^/o der anlangenden Schiffe, insbesondere die der Donau-
dampfschiffahrtsgesellschafty führen nun eine sog. geteilte Ladung,
d. h. eine aus Getreide und Eaufmannsgütem bestehende. Der lange
Zwang, mit kleinen Schiffstypen zu rechnen, wie ihn die früheren
Verhältnisse auf der Donau mit sich brachten, verwandelte sich
schliesslich in Gewöhnung, die nicht so schnell abgestreift werden
kann, während die neueren Schiffstypen wesentlich grösser sind aU
die früheren Konstruktionen. Die Schiffahrtsgesellschaften finden
nicht immer Kunden, welche diese Schlepper mit Getreide voll be-
frachten, und müssen daher den übrigen Raum mit Kaufmannsgütern
verschiedener Art und Verpackung komplettieren. Aber selbst dann,
wenn die Ladung des Schiffes ganz aus Getreide besteht, ist nicht
viel geholfen, weil ca. 90*^/o der Getreideladung eine sog. ge-
mischte Manipulation erfordern, d. h. der Umschlag nach zwei
oder gar nach allen drei angegebenen Verkehrsrichtungen erfolgen
muss; ein Teil der Ladung ist vielleicht für Industrieetablissements in
Wien, ein anderer. Teil für eine Mühle in Pilsen, ein dritter zur
Einlagerung bestimmt.
Zur glatten Abwickelung eines so vielverzweigten Umschlages
wären nun sehr breite Ufer erforderUch, die es ermöglichten, Lager-
häuser, Waggongeleise und Baum für die Aufstellung von Fuhr-
werken möglichst hintereinander oder doch in enger Aneinander-
rückung anzuordnen, so dass der Umschlag nach allen drei Bich-
tungen aus einem und demselben Schiffe möglichst gleichzeitig oder
doch in rascher Aufeinanderfolge und ohne Verstellung des Schiffes
unschwierig möglich sei. Thatsächlich ist aber die Uferbreite am
Donaudurchstich gering, sie beträgt nur 62 m. Die Donauregulierungs-
kommission trachtete seinerzeit aus finanziellen Rücksichten möglichst
viel für die hinter den Uferplätzen gelegenen und für die Errichtung
von Wohngebäuden bestimmten Flächen zu gewinnen, und man blieb
nur in alten Geleisen, wenn man damals von einer „Vülenstadt'^ am
Donaudurchstich träumte, während in anderen Städten der Handel
112 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [198
einer geradezu treibhausmässigen Kultur sich erfreute. Dem damaligen
Umfange des Wiener Donauverkehres gemäss mochte man auchdenken,
mit dieser Breite das Auslangen zu finden. Aber die Donaudampf-
schiffahrtsgesellschaft, die auf Qrund einer langen Erfahrung, die sie
in ihrem Geschäfte gesammelt hatte, wusste, dass tiberall, wo die
technische Organisation verbessert wurde, auch der Umschlagver-
kebr sich hob, sah, dass für Wien ein Gleiches mit um so mehr
Berechtigung vorauszusetzen war, als nur der Mangel an Ufer-
plätzen bisher die Hebung des Donauverkehres verhindert hatte.
Und da eine glatte und rasche Abwickelung des Donauumschlages
wesentlich auch in ihrem eigenen Interesse gelegen war, weil sie
dadurch ihre Schiffe früher frei bekommt, wendete sie sich, noch
während der Bau des Durchstiches in Angriff genommen wurde, mit
einer Eingabe an das Handelsministerium, worin es heisst: „Die
Bestimmung (der so geringen Breite), an welcher die Donauregu-
Uerungskommission bisher mit Hartnäckigkeit festhält, ist aber in der
That em Missgriff, dessen unabsehbare Folgen sich in wenigen Jahren,
wenn Handel und Verkehr am neuen Donaudurchstich einmal zur Ent-
faltung kommen sollen, woran doch gewiss nicht gezweifelt wird,
aufs empfindlichste geltend machen wird/ Das Handelsministerium
veranstaltete eine Enquete, in welcher auch von seiten des Direktors
des Aktienlagerhauses Vorstellungen erhoben wurden. Das Resultat
war, dass die Wünsche der Donaudampfschiffahrtsgesellschafb abge-
wiesen und die Ufer in der projektierten Breite ausgeführt wurden ^.
Die geringe Uferbreite zwang den Umschlagverkehr zur Expansion in
die Länge, zu einer irrationellen Dezentralisation. Selbst eine engere
wirtschaftliche Verbindung der Landungsplätze ist durch den charak-
teristischen Umstand erschwert, dass in unmittelbarer Nähe des-
jenigen Teiles des Donaudurchstiches, welcher dem Umschlagver-
kehre dient, drei grosse Badeanstalten errichtet worden sind,
welche die Entwicklung der Geleiseanlagen ausserordentlich hemmen;
man wird unter den Binnenstapelplätzen der Welt ein Analogon
dafür kaum mit Erfolg suchen I
Durch die Dezentralisation des Umschlags erfährt das Spesen-
^ Die unmittelbare Folge davon war die, dass die Donaudampfschiffahrts-
gesellschaft ihre Absicht, öffentlichb Lagerhäuser in Wien zu errichten, fallen
liess, was im Interesse des Getreidehandels bedauert werden muss, da die
wirtschaftliche Verbindung von Transport, Umschlag und Lagerung eine Herab-
minderung der Gesamtkosten ermöglicht und die Donaudampfschiffahrtsgesell-
schaft als kaufmännisches Institut mit den Bedürfnissen des Handels beständig
Fühlung hat.
199] Die Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 113
konto des Wiener Eaufmannes eine erhebliche Belastung, weil es
in der Geschäftssaison gar kein ungewöhnlicher Fall ist, dass ihm
6 — 8 Schiffe gleichzeitig eintreffen; soweit er mit der Ware nicht
in einem öffentlichen Lagerhause auf Lager gehen will, muss er sie
an den Länden der verschiedenen Transportgesellschaften, denen die
Schiffe gehören, umschlagen lassen, weil die geschilderten Uferver-
hältnisse für jede einzelne Landungsstelle ein nicht überschreitbares
Maximum der Leistung bedingen, welches allerdings nirgends voll
ausgenützt ist. Insoweit nun die Ausladung des Schiffes nicht durch
ein öffentliches Lagerhaus erfolgt, lässt der Kaufmann die Abwäge
durch seinen Vertrauensmann kontrollieren, wenn es sich, wie sehr
häufig, um Kommissionsware handelt, schon wegen der Ausweis*
leistung dem Kommittenten gegenüber. In jedem Falle aber — er-
folge nun die Ausladung durch ein öffentliches Lagerhaus oder wo
immer — ist es nötig, dass während der Ausladung öfter nach der
Ware gesehen wird, weil es nur nach Massgabe, wie die einzelnen
Schichten zur Wage gelangen, zu konstatieren möglich ist, ob die
Lieferung kontraktlich ist. Die Dezentralisation des Donauumschlages
stellt also stärkere Ansprüche an den Apparat des Kaufmannes, legt
ihm höhere Personalspesen auf.
Anlage und Beschaffenheit der nach Wien führenden Verkehrs-
wege waren von jeher wenig günstig. Die für den Getreide verkehr
wichtigste Transportstrasse, die Donau, ist noch immer nicht aus-
reguliert, wenn auch eine erhebliche Besserung gegen den früher
dargestellten Zustand eingetreten ist. So ist das Schiffahrthindemis
am ^Eisernen Thor* durch die Herstellung eines Kanales ziemlich
behoben worden; der Vorteil dieser Verbesserung wird allerdings
dadurch eingeschränkt, dass die ungarische Regierung eine sehr hohe
Kanalgebühr, beiläufig 10 Kreuzer per 100 kg, einhebt, was dazu
beiträgt, den Verkehr aus dem Balkan von der Donau über Wien
ab- und seewärts zu drängen. Andererseits bleibt noch abzuwarten,
wie der Kanal bei stärkerem Verkehr sich bewähren wird; die
Strömung ist sejir stark und die Schlepper müssen durch eigens
konstruierte Kettenschiffe über den Kanal gebracht werden.
Speziell die wichtigste Strecke, Pressburg- Wien, bereitet dank
der Eifersucht Ungarns auf die Handelsinteressen Wiens der Schiff-
fahrt noch immer grosse Hindernisse, welche den Vorteil der Lage
an der Wasserstrasse für Wien teilweise illusorisch machen und
Budapest gegenüber Wien in Vorteil setzen. Die Frachtsätze der
Schiffahrtunternehmungen nach Wien sind infolge dieser Schwierig-
keiten verhältnismässig höher als nach Budapest.
Wiener Studien. HI. Bd., 2. Heft. 8 [14]
114 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [200
Die Anlage der Eisenbahnwege bietet Wien keine Eompen-*
sation für diese Widrigkeiten. Im Gegensätze zu Ungarn, wo der
Bau der Eisenbahnen von vorneherein systematisch so erfolgte, dass
die Hauptstadt den Knotenpunkt aller Hauptlinien bildet , ist bei
uns durch das System der Privatbahnen diese Planmässigkeit nicht
zur Geltung gekommen, und manche für den Getreidehahdel ausser-
ordentlich wichtige Eisenbahnlinien ziehen in weitem Bogen an
Wien vorbei.
Die geschilderten Mängel der Verkehrsanlagen in Verbindung
mit jenen, welche dem Lagerhauswesen durch das Lagerhausgesetz
aufgezwungen und durch die zurückgebliebene Lagertechnik ver-
schuldet werden, wurden an und für sich schon genügen, die Ent-
wickelung des Lagerhauswesens und des Getreidehandels in Wien
zu hemmen. Ihre schlimmen Wirkungen werden aber noch weit-
aus übertroffen von jenen, welche das Verhalten der Eisenbahnen
den Lagerhäusern und dem Handel gegenüber nach sich zieht. Die
Eisenbahnpolitik, wenn anders der Ausdruck Politik hier anwendbar
ist, ist der wundeste Punkt des ganzen kommerziellen Getriebes
und in ihr zeitigt die eigenartige Unterscheidung des österreichi-
schen Lagerhausgesetzes zwischen „öffentlichen^ und «privaten*^
Lagerhäusern die bösesten Früchte. Es entspricht nur dem Geist
dieses Gesetzes, wenn die Eisenbahnen, die ja auch gegen das
städtische Lagerhaus nicht sehr entgegenkommend sind, die Ver-
kehrseinrichtungen und Lagerhäuser des Privatkapitals, trotzdem
ihre Funktion eine öffentliche ist, vollständig ignorieren.
Das bedeutendste Entwickelungshindernis des Lagerhauswesens
und des Getreide Verkehrs am Praterquai sind die Verbindungsbahn-
sätze von den verschiedenen Frachtbahnhöfen zum Praterquai und
zum Lagerhause. Es muss als unverständiger Egoismus der Privat-
bahnen bezeichnet werden, wenn im Zeitalter der Zonentarife für
Distanzunterschiede von einigen hundert Metern Frachtsätze von
4 Hellern per 100 kg eingehoben werden. Zum Lagerhaus der
Stadt Wien beträgt die Fracht um 4 Heller per 100 kg mehr, als
zu dem nur wenige hundert Schritt entfernten Nordbahnhof oder
zum Bahnhof der Staatseisenbahngesellschaft, trotzdem die faktische
kflometrische Entfernung von vielen ungarischen Stationen zum
Praterquai erwiesenermassen geringer ist, als die zum Staatsbahnhof ^.
In Budapest besteht rücksichtlich einer fünfmal längeren Distanz
von den Lagerhäusern, zum Staatsbahnhof, als der zwischen Staats-
^ N'ämlich bei allen über die Stadlauerbrücke anlangenden Sendungen.
201] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 115
bahnhof und Praterquai in Wien, keine Disparität. Die Verbindungs-
bahngebühr zwischen Staatsbahn und Praterquai wird vom Handel
drückender empfunden als alle anderen, selbst als die enorm hohe
von 12 Heller zwischen Südbahnhof und Praterquai, weil auf den
Linien der Staatseisenbahngesellschaft der Hauptverkehr sich ab-
wickelt.
Um hier anknüpfend das Verhalten der Bahnverwaltungen zu
dem grössten, dem Getreideyerkehr dienenden Institute auch in den
übrigen Fragen zu erörtern, sei vor allem eine Massregel erwähnt,
welche den Wert des Beexpeditionsyerfahrens , dessen Wichtigkeit
für den Getreidehandel Wiens wiederholt hervorgehoben wurde, fast
iUusorisch macht: es ist die sog. symbolische Uebergabe.
Von der Fiktion ausgehend; dass durch die angebliche Ueber-
nahme der Sendung im Lagerhause der Stadt Wien der ursprüng-
liche Frachtvertrag erloschen sei, lehnen die Bahnverwaltungen,
selbst im Falle als eine Sendung ohne Umladung hier weiterrollt,
die weitere Gewichtsgarantie auf Grund der inrsprünglichen amt-
lichen Abwäge der Verladestation ab, wodurch
1. der Begress für ein auf dem Wege von der ürsprungs-
station nach Wien eventuell entstandenes Manko erlischt,
weil die Sendung hier bei der „Uebernahme' im Sinne der
erwälmten Bechtsfiktion nicht verwogen wurde, und
2. aus demselben Grunde selbstverständlich auch kein Begress-
•recht für ein auf dem Wege von Wien zur Bestimmungs-
station entstandenes, wenn auch noch so grosses Manko
besteht ^.
So wurde von einer Firma nachgewiesen, dass sie bei einer
einzigen Waggonladung ihrem Adressaten ein Manko von 17 Säcken
im Gewichte von 1302 kg (die ganze Waggonladung hat 10 000 kg)
vergüten musste, wofür die Bahn jedweden Ersatz ablehnte.
Diese Auffassung steht im Widerspruche mit dem XJeberein-
kommen zum Betriebsreglement des Vereins Deutscher Eisenbahn-
verwaltungen ^ und bildet ein Spezifikum, um nicht zu sagen eine
^ Bis vor kurzem wurde in den Frachtbriefen über reexpedierte Sendungen
seitens des Lagerhauses mittelst Stampiglie der Vermerk angebracht: „Nur
symbolisch übernommen. Der Auftraggeber haftet für die Richtigkeit der
Sendung, der Anzahl und der Beschaffenheit der Kolli, des Inhaltes und Ge-
wichtes. Lagerhaus der Stadt Wien", was die Empfänger natürlich zu Miss-
bräuchen direkt herausforderte.
2 Giltig vom 1. Jänner 1899. Artikel 23, Absatz 7 lautet: »Für Verlust,
Minderung und Beschädigung bei Sendungen in Wagenladungen, welche ohne
116 -Der Wiener Getreidehandel nnd seine Technik. [202
Spezialität, des Wiener Verkehrs K Und sie ist um so unmotivierter,
als die Waggons hier nur zum Zwecke der Musterentnahme geöff-
net und sodann sofort wieder mit amtlicher Plombe verschlossen
werden.
Die Wirkung dieses Missstandes ist gleich der einer teilweisen
Aufhebung des Reexpeditionsverfahrens. Der Gefahr eines Gewichts-
verlustes wie des oben geschilderten gegenüber erscheint es dem
Kaufmann als das kleinere Uebel, die Ware unbesehen direkt von
der Ursprungs- an die Bestimmungsstation gehen zu lassen. Natür-
lich kommt auch das Lagerhaus dabei zu Schaden, weil es den
Transitverkehr verliert.
Ein weiteres Uebel, der chronische Waggonmangel am
Praterquai, muss teilweise ebenfalls der Unaufmerksamkeit der
Eisenbahnverwaltungen insbesondere der Staatseisenbahnverwaltung
den Bedürfnissen des Getreidehandels gegenüber zur Last gelegt
werden. Als in der mehrfach erwähnten Enquete über den Donau-
umschlag darüber Klage geführt wurde, stellte die Staatseisenbahn-
gesellschaft alles in Abrede und mit knapper Not entgingen die
Beschwerdeführer einem Verweis seitens des Vorsitzenden der En-
quete. Dem stellen wir hier die neun Jahre später datierenden
Aeusserungen des Direktors des städtischen Lagerhauses, eines gewiss
unverfänglichen Zeugen, gegenüber. Es heisst da^: „dass das k. k.
Umladung mit neuen Frachtbriefen weiter befördert werden, haftet, ftlls nicht
erwiesen wird, dass der Schaden aus dem Verschulden einer bestimmten Ver-
waltung entstanden ist, nach den vorstehenden Grundsätzen die an der ganzen
Beförderungsstrecke beteiligten Bahnen untereinander ebenso, als ob der ganze
Eisenbahntransport auf Grund eines Frachtvertrages ausgeführt worden wäre.
In diesem Falle treten in engeren Verbänden vereinbarte Bestimmungen nur
dann in Wirksamkeit, wenn sie sich auf die ganze Beförderungsstrecke be-
ziehen."
^ Festgestellt worden ist das durch die von einer Wiener Getreidefirma
veranstaltete Umfrage, auf deren Ergebnisse auch von der städtischen Lagerhaus-
verwaltung in einer Eingabe an das Eisenbahnministerium verwiesen worden ist.
Es wurden Anfragen gerichtet an die Lagerhäuser der Ungarischen Eskompte-
und Wechslerbank in Budapest, an das Nyregyhazaer Getreide- und Waren-
lagerhaus in Nyregyhaza, an die Lagerhäuser der Steiermärkischen Eskompte-
bank in Marburg a. D. , an die Lagerhäuser der Bayerischen Handelsbank in
München und noch einige andere süddeutsche und schweizerische öffentliche
Lagerhäuser. Die Antwort lautete übereinstimmend, dass überall die bahnseitige
Gewichtsgarantie auf Grund der bahnamtlichen Abwäge der Ursprungsstation
bis zur thatsächlichen Endbestimmungstation aufrecht bleibt, wenn die Sendung
an eines dieser Lagerhäuser adressiert war und ohne Umladung weiterrollte.
^ Rechenschaftsbericht des städtischen Lagerhauses pro 1899.
203] ^i^ Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 117
Bahnstationsamt im Lagerhause der Stadt Wien von neuen Ein-
führu4gen im Tarifwesen, sowie von Aenderungen in den
Wegleitungen oder in der Wagenverwendung vielfach
verspätet oder unzureichend Kenntnis erhält und nicht die Befugnis
besitzt, in solchen Fällen selbständig sofortige Abhilfe zn treffen, wie
es die kaufmännische Beweglichkeit erheischen würde/ Und weiter;
»Leider begegnet das städtische Unternehmen nicht immer
der geeigneten Berücksichtigung bei den Bahnen, um ihm die Er-
füllung seiner wirtschaftlichen Aufgaben zu erleichtern. Bezeichnend
flir die ungünstige Behandlung und die dem Handel daraus ent-
stehenden Nachteile erscheint die Thatsache, dass Sendungen, die
wegen Wagenmangels vom Lagerhause der Stadt Wien aus nicht
mit der Bahn abbefordert werden konnten, auf anderen Wiener
Bahnhöfen — wenn sie auf dem kostspieligen Wege der Strassen-
zufuhr dahin gebracht wurden — leere Wagen vorfanden und ohne
Verzug abrollten."
Um die Verhältnisse vollends unerträglich zu machen, werden
regelmässig gerade zu der für den Getreide verkehr, namentlich in
einem Getreideexportland wichtigsten Zeit, die Waggons von der
Militärverwaltung für Manöverzwecke in Anspruch genommen, wo-
durch der am Wiener Praterquai ohnedies chronische Waggon-
mangel ganz ungeheuerliche Dimensionen annimmt; und endlich
wählen die Lagerhausarbeiter für die infolge der Nichtbefriedigung
ihrer Ansprüche immer wieder sich erneuernden Ausstände, natür-
licherweise die Zeiten stärkeren Verkehrs, wo die Aussichten für
eine Lohnbewegung die günstigsten sind.
Infolge dieser Verhältnisse stauen sich bei stärkerem Verkehr,
wie er im Getreidegeschäft zu gewissen Jahreszeiten — Herbst und
Frühjahr — regelmässig eintritt, oft hundert und mehr Getreide-
schlepper am Praterquai an, welche oft wochenlang der Entladung
harren, und der Kaufmann kann von Glück sagen, wenn die Ware bei
der langen Lagerung in eingeschlossenem Zustande nicht Schaden
leidet und er mit Zeit- und Zinsenverlusten und einer unerquick-
lichen Korrespondenz mit seinen Kunden davonkommt. Denn be-
greiflicherweise ist der kleine Wassermüller nicht erbaut, wenn di^
Spanne Zeit, die sein Motor, das Wasser, voll arbeitet, nicht aus-
genützt werden kann und ebenso wenig der Mälzer, der befürchten
muss, dass die Konkurrenz auf den ausländischen Märkten ihm zu-
vorkommt. Der natürliche Vorteil, den Oesterreich-Ungarn im
Wettbewerb auf dem Getreideweltmarkt dadurch vor anderen Ländern
voraus hat, dass in Europa Ungarn am frühesten seine Ernte ein-
118 I)er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [204
bringt, wird durch die geschilderten Verhältnisse beinahe illusorisch
gemacht, und »wir übertreiben nicht, wenn wir den Schaden, der
der Volkswirtschaft Oesterreichs dadurch bisher zugefügt wurde, auf
eine ziemlich bedeutende Anzahl von Millionen Kronen veranschlagen.
Lässt schon dem städtischen Lagerhause gegenüber das Ver-
halten der Eisenbahnen alles zu wünschen übrig, so ist es noch
schlimmer um die privaten Verkehrsanlagen bestellt. Zu den bereits
erwähnten üebelständen treten hier noch andere drückende hinzu.
Auf dem Umschlagplatze der Donaudampfschiffahrtgesellschaft,
der ein überaus wichtiger Paktor des Wiener öetreidehandels ist
und wo jährlich viele tausende Waggons Getreide zum Umschlag
kommen, gibt es keine bahnamtliche Abwäge, weil die Eisen-
bahnverwaltungen sich nicht veranlasst sehen, hier ein Stationsamt zu
unterhalten. Die hier aufgegebenen Getreidesendungen gemessen
also keinerlei Gewichtsgarantie für die verladene Ware ^ Von seite
der Kaufmannschaft gegebene Initiativen auf Beistellung bahnseitig
beeideter Wäger zur Kontrolle der Verwägungen gegen Einhebung
einer kleinen Wägegebühr zur Deckung der Besoldungskosten für
die Bahnorgane, sowie Anträge, die beladen abgehenden Waggons
auf Brückenwagen amtlich wägen zu lassen, wie es auch bei der
Abfuhr mit Strasstfnfuhrwerken geschieht, blieben vollständig un-
berücksichtigt.
Die Folge dieses Mangels ist, dass die für den Getreidehandel
rationellste Art des Transportes, die in loser Schüttung, auch
dort, wo sie möglich ist, bei Mais z. B., unterbleiben und der
Kaufmann der teuersten sich bedienen muss, der in Säcken
unter gleichzeitiger Egalisierung des Gewichts, weil diese Art
der Expedition ihm wenigstens einigen Schutz bietet gegen eine Aus-
beutung des Zustandes der Wehrlosigkeit, in welchen ihn die Eisen-
bahnverwaltung gegenüber Uebervorteilungen seitens der Empfänger
versetzt. Natürlich wird mindestens ein Teil dieser Mehrkosten,
die man — Säckefracht und Abnützung, Egalisierungsarbeit — mit
zusammen 60 — 80 Kronen pro Waggonladung nicht zu hoch ver-
anschlagt, auf den Käufer überwälzt, und wenn man bedenkt, dass
es sich hier hauptsächlich um grosse Massen Futtergetreide handelt,
so wird man unsere eingangs aufgestellte Behauptung würdigen, dass
die Landwirtschaft an einer rationellen Bewirtschaftung des
Wiener Getreidehandels sehr stark interessiert ist.
^ Auf dem Umschlagplatze der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft in Linz,
welcher nicht annähernd die Bedeutung des Wiener XJmschlagplatzes hat, erfolgt
diese Abwäge anstandslos.
2051 ^i^ Yerkehrsemrichtuiigen im DienBte des Getreidehandels. 119
Für die Privatunternehmungen existieren auch die kleinen Zu-
geständnisse nicht, welche von einzelnen Bahnverwaltungen dem
städtischen Lagerhause unter dem Titel der Rückvergütung der
Manipulationsgebühren gemacht worden sind. Die k. k. Staats-
bahnverwaltungen, die Nordwestbahn und die k. k. priv. Südbahn-
gesellschaft vergüten bei Expedition von Sendungen ab Lagerhaus
der Stadt Wien nach Stationen der erwähnten Eisenbahnverwaltungen
einen Teil der in den Tarifen eingerechneten Manipulationsgebühr,
welche die Bahnverwaltungen dadurch ersparen, dass das Lagerhaus
die Verladung selbst besorgt. Auch die privaten Unternehmer be-
sorgen diese Verladung selbst, trotzdem werden ihnen die Mani-
pulationsgebühren nicht rückvergütet.
Nun haben wir aber noch eines Uebelstandes zu gedenken,
der wohl zu den krassesten gehört, die auf einem Handelsplatze
denkbar sind, und kaum in einer Stadt, wo Handel getrieben wird,
seinesgleichen finden dürfte; es ist der unter dem Titel der «zoll-
samtlichen Hausbeschau* berüchtigte und von den Eaufleuten
gefürchtete. Auf dem Praterquai gibt es ebenso wie keine eigene
Bahnstation keine eigene Zollexpositur. Will der Exporteur unter ZoU-
verschluss anlangendes Oetreide, welches für das Ausland bestimmt
ist, besichtigen, um Qualitätskontrolle vor Abgang desselben nach dem
Bestimmungsort zu üben, so muss er dazu vom Hauptzollamt die
Delegierung eines Finanzorgans verlangen und ausser den Gebühren
eine Pauschalvergütung für Diäten leisten, so dass ihn die Entnahme
eines einfachen Musters auf 10 — 20 Kronen kommt! Wird die Ware
aber am Praterquai in Wien umgeschlagen, so muss das Finanz-
organ während der ganzen Dauer des Umschlages zugegen sein,
wodurch sich die Kosten des Kaufmanns ins Unkalkulierbare steigern,
weü bei grossem Warenandrang oder bei ungünstiger Witterung die
Ausladung der Ware sich sehr verzögert. Der kalkulierte Profit
kann so unversehens verschlungen werden«
Infolge der gekennzeichneten Nachteile der privaten Verkehrs-
untemehmungen drängt alles zur Lände des städtischen Lager-
hauses, welches bei seiner mangelhaften Organisation insbesondere
bei lebhaftem Saisonverkehre nicht in der Lage ist, die Arbeit zu
bewältigen.
Alle diese Uebelstände datieren nicht von heute, sondern Jahre
her und haben ungezählte und — beinahe möchten wir sagen selbst-
verständlich — erfolglose Petitionen veranlasst.
120 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [206
IV.
Die Träger des Getreidehandels.
1,
Die Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr.
Im Anschlüsse an die in den früheren Abschnitten gegebenen
Darstellungen wollen wir uns nun den Trägem unseres Getreide-
handels ein wenig zuwenden, sie in ihrer Thätigkeit beobachten und
sehen, inwieweit sich dabei die geschilderte Organisation zweck-
mässig erweist oder nicht.
Dabei haben wir es zunächst mit den Trägern des Handels-
kapitals im Wiener Getreidehandel zu thun.
Der Mannigfaltigkeit der durch den Wiener Getreidehandel
bewirtschafteten Verkehrsrichtungen entsprechend zeigt derselbe eine
ziemlich reiche Gliederung. Da haben wir selbständige Import-
häuser und selbständige Exporthäuser, Vertretungen ausländischer
Exporteure (Ungarn ebenfalls als Ausland aufgefasst), Vertretungen
ausländischer Importeure , Niederlassungen ausländischer Export-
häuser und Niederlassungen ausländischer Importhäuser, Kommissio-
näre, Agenten, beeidete Makler.
In der Praxis ist die Scheidung wohl keine so strenge. Per-
sonalunion zwischen Import- und Exportgeschäft, sei es in der Form,
dass die Wiener Importeure Einkaufsfilialen in Ungarn unterhalten,
oder umgekehrt Budapester Firmen in Wien Verkaufsfilialen, ist
ziemlich häufig.
Der Einkauf durch Einkaufsfilialen, also aus erster Hand, spielt
sich in folgender Weise ab.
Von dem Eontor der Firma gehen allabendlich Depeschen an
die Einkäufer ab, welche dieselben über die Tendenz des Marktes
unterrichten, sie zum Einkauf oder zur Enthaltung von demselben
beauftragen, bezw. ihnen Einkaufslimite vorschreiben, welche in der
Regel auf Grund des Terminkurses berechnet werden.
Zeithch morgens erreicht diese Depesche ihren Adressaten, der
sich nun auf den Markt begibt, welcher in den Frühstunden abge-
balten wird, oder zu den einzelnen Landwirten und Gutsbesitzern,
mit welchen er gerade in Unterhandlung steht.
Ueber den Verlauf des Marktes und seine Käufe berichtet er
sofort nach Marktschluss, in bewegten Zeiten oft noch während des-
207] Die Träger des Getreidehandels. 121
selben, telegraphisch an seine Firma, welche auf Kaufsanzeigen
sofort die Sicherungsarbitrage im Terminmarkt vorninmit. An einen
sofortigen Verkauf der Ware ist oft darum nicht zu denken, weil
es geraume Zeit dauert, bis aus den verschiedenen kleinen Partien
handelsfähige Ware hergestellt und ein verlässliches Yerkaufsmuster
erhältlich ist.
Diese Form des Importhandels, deren volkswirtschaftliche Be-
deutung in der Einleitung gewürdigt worden ist, konnte in Wien nur
wenig Boden fassen. Die Errichtung von Einkaufsfilialen rentiert
nur dann, wenn die betreffende Produktionsgegend regelmässig
nach dem Stapelplatze rentiert, wo die Firma ansässig ist.
In Beziehung auf Wien ist das nun nur bezüglich Oberunngarns
der Fall, aber gerade mit diesem fehlt Wien die wirtschaftliche
Verbindung durch das Reexpeditionsverfahren, wodurch die Vorteile
der öffentlichen Lagerhäuser, des billigen Kredits, des Terminhandels
dem Produktionsgebiet gegenüber nicht zur Geltung gebracht werden
können. Der Exporthandel aus Oberungarn ist wesentlich in den
Händen ungarischer Provinzkommissionäre geblieben und dadurch hat
der Wiener Getreidehandel seinen Wochenmarktscharakter auch in
der Gegenwart beibehalten, indem an den früheren Wochenmarkt-
tagen diese Provinzexporteure mit den österreichischen Konsumenten,
welche aus der Umgebung zureisen, an der Wiener Börse zusammen-
treffen. Hier entspringt aus der Dezentralisation des Ge-
treidehandels das Bedürfnis der börsemässigen Organisation des
Getreidehandels, während für den durch seine Verbindungen wohl-
unterrichteten Grosshandel — wenn wir vom börsenmässigen Termin-
handel absehen — das Interesse an derselben ganz entfällt, ja ihm
sogar zuwiderläuft, weil sie sein Geschäft aus dem Geheimnis des
Kontors an die Oeffentlichkeit bringt. In Mannheim hat die Ge-
treidebörse einen rein dekorativen Charakter. Börsemässiger Termin-
handel existiert nicht und die wenigen Millionenfirmen, in deren
Händen der Mannheimer Importhandel sich konzentriert, wickeln
ihre Geschäfte brieflich und telegraphisch von ihren Kontoren und
durch ihre Reisenden ab.
Der Exporthandel aus den übrigen Teilen Ungarns ist zumeist
in den Händen der grossen Budapester Firmen zentralisiert. Neben
dem Terminhandel hat in hervorragendem Masse der ausgiebige
Gebrauch, den der Budapester Getreidehandel vom Lombardkredit
macht, dazu beigetragen. Im Wiener Getreidehandel wird merk-
würdigerweise mit dem Begriffe der kaufmännischen Solidität die
Vorstellung verbunden, dass der Kaufmann das Geschäft im Rahmen
]22 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. £208
seiner eigenen Mittel betreibe, was teilweise darauf zurückzuführen
sein mag, dass im Gegensatze zu Budapest, wo grosse Banken sich
der Lagerhausunternehmung und der Belehnung des Getreides wid-
men und wo die Verbindung der beiden Geschäfte zulässig ist, die
Ereditorganisation des Wiener Getreidehandels eine sehr unzweck-
mässige und unbequeme ist, so dass mit der Zeit aus der Not eine
Tugend wurde.
Im Verkehre der Wiener Importeure mit den Budapester Ex-
porteuren hat sich, begünstigt durch die börsemässige Konzentra-
tion des Geschäftsverkehrs und durch die telephonische Verbindung
der beiden Börsen, eine eigentümliche Form der Agentur, die sog.
Zwischenagentur, herausgebildet. Die Wiener Agentur besitzt
eine Vertretung in Budapest, welche die Offerten von den Expor-
teuren einsammelt und nach Wien zur Bearbeitung sendet. An die
Stelle des schriftlichen Verkehrs mit der Wiener Vertretung tritt
hier für den Exporteur der mündliche Verkehr mit der Zwischen-
agentur in Budapest, die um dieser Bequemlichkeit willen von den
Exporteuren gerne in Anspruch genommen wird. Der telephonische
Verkehr durch den Zwischenagenten, die räumliche Konzentration
des Geschäftsverkehrs in Budapest und Wien durch die Börse
ermöglicht den so organisierten Agenturen , auf beiden Seiten eine
grosse Anzahl von Klienten gleichzeitig zu bedienen und beide Teile
besser zu befriedigen, als der Einzelvertreter dies vermag; das
reiche Assortiment an Offerten bringt den Zwischenagenten einen
grösseren Kundenzulauf, der grosse Kundenzulauf setzt sie in die
Lage, den Exporteuren stets prompt mit Angeboten dienen za
können.
Einzelne Budapester Exportfirmen besitzen Niederlassungen in
Wien und bereiten durch diese den Importeuren, welche ihr Geschäft
in der zuletzt geschilderten Form, durch Kauf vom ungarischen Ex-
porteur, betreiben, eine gefährliche Konkurrenz, weil sie von der
ersten an die letzte Hand gehen ; durch ihre Einkaufsfilialen nehmen
sie das Getreide direkt vom Produzenten auf, durch die Beisenden
der Wiener Niederlassung geben sie es an die letzte Hand ab.
Dabei bewirtschaften sie gleichzeitig zwei grosse Märkte und können,
jede Veränderung der Konjunktur momentan wahrnehmend, ihre
Operationen auf dem einen oder auf dem anderen ausführen.
Der Exporthandel ist heute in Wien nur mehr in einer
Fruchtgättung umfänglicher, in Braugerste. Dieser wird zumeist
nicht für eigene Rechnung, sondern in Kommission durchgeführt.
Der Wiener Kommissionär sendet seinem ausländischen Kommittenten
209] I^ie Getreidehandler und ihr Geschäftsverkehr. 123
die OflFerten, die er von den Vertretern der ungarischen Exporteure
einsammelt, und kauft nur dann, wenn er einen festen Auftrag
erhält oder Grund hat, einen solchen zu erwarten.
Dieses Geschäft erfordert Mühe, Umsicht und Ausdauer, da
oft viele Hunderte von Mustern und Briefen, die in der Saison
tagtäglich von der Firma versendet werden, nicht einen einzigen
Auftrag einbringen. Eine grosse Schwierigkeit des Geschäftes liegt
auch darin, dass der Exporteur für die Qualität der Ware bis zur
Bestimmungsstation im Auslande garantieren muss; die Verkäufer
lehnen eine weitgehende Haftung gewöhnlich ab, ja sie sind ihrer
von vorneherein enthoben, wenn sie das Geschäft unter Berufung
auf die Börsenusancen schliessen, weil sie diesen zufolge für die
Qualität nur „innerhalb der Grenzen der Monarchie' haften.
Ein bedeutender Teil des Exporthandels in Gerste wickelt sich
übrigens heute schon direkt zwischen den ungarischen Exporteuren
und den deutschen Importeuren und Industrieetablissements ab.
Manche von ihnen haben sogar Einkaufsfilialen in Ungarn.
Im Transithandel besteht Arbeitsteilung zwischen solchen
Firmen, die Beziehungen mit den Verkaufsländern an der Donau
(Rumänien, Bulgarien, Serbien) und solchen, die Beziehungen mit
den Absatzgebieten unterhalten ; erstere besorgen den Einkauf, letz-
tere den Verkauf.
Der Einkauf vollzieht sich nach dem zuerst geschilderten
System des Importhandels durch eigene Einkaufsfilialen; nur ist
die Sicherungstechnik eine von der früher betrachteten verschie-
dene. Nachdem direkte Wechselbeziehungen zwischen den Wiener
Terminkursen und den genannten Getreideproduktionsgebieten aus
dem Grunde nicht immer bestehen, weil deren Hauptabsatzgebiet
für gewöhnlich nicht esterreich - Ungarn, sondern Westeuropa
und England ist, so kann auch der Terminmarkt nicht immer zur
Sicherung benutzt werden. Als Sicherung gegen Preisschwankun-
gen nimmt hier der Importeur beim Einkauf eine bedeutende
Bisikoprämie in Anspruch, einen »Vorsprung* von 2 — 3 Franken,
während beim Terminarbitrageur der .Vorsprung« inclusive des
Profites und der Spesen durchschnittlich 50 — 80 Heller beträgt.
Aber auch durch diese grössere Risikoprämie ist der Importeur
noch nicht genügend gesichert; er muss eine weitere Sicherung
„in sich selbst durchführen*, das heisst bei weichender Tendenz
Ware abzustossen, bei steigender zuzukaufen trachten, wobei die
Transaktion für ihn abwechselnd mit einem Gewinn oder einem
Verlust endet. An die Spekulationskraft dieses Handels sind daher
124 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. r210
sehr hohe Anforderungen gestellt und die Folge davon ist, dass
derselbe sich in den Händen weniger sehr kapitalkräftiger Firmen
konzentriert hat.
Der Handel erfolgt in Weizen fast ausnahmslos nach Probe.
Im Roggenhandel lässt man es schon öfter bei der Angabe der
Ursprungsstation und der Garantie eines Minimalgewichtes bewenden.
Sehr häufig wird bloss die Bezeichnung „usancemässig* dem Eon-
traktschlusse über effektive Ware zu Grunde gelegt.
Gerste wird nur nach gesiegeltem Muster gehandelt, weil hier
jede Nuance in Farbe und Griflf den Eonsumwert der Ware tangiert.
Unter dem Einflüsse des Exports und begünstigt durch die grössere
Gleichförmigkeit der Qualität, in welcher dieses Produkt wächst,
hat sich in manchen Produktionsgebieten eine Art Elassifikations-
system herausgebildet, welches zur Vereinfachung des Handelsver-
kehrs wesentlich beiträgt. An den Einkaufsstationen, seltener auch
erst an den Stapelplätzen, führt der Handel eine Sortierung, ge-
wöhnlich nach drei Qualitätsklassen, durch. Das einmal einem Ab-
schlüsse in einer dieser Typen zu Grunde gelegte Muster kann daher
auch fUr alle weiteren Geschäfte die Abschlussbasis bilden.
Beim Abschlüsse wird das Verkaufsmuster vom Verkäufer ent-
weder im Beisein des Käufers gesiegelt oder auch in offenem Zu-
Stande diesem übergeben. Die Uebergabe eines gesiegelten
Musters verpflichtet, den Usancenbestimmungen zufolge, den Ver-
käufer zu streng musterkonformer Lieferung bei sonstiger Kontrakt-
brüchigkeit.
Beim Verkaufe nach offenem Muster sind Abweichungen
vom Verkaufsmuster bis zu einer gewissen Grenze gegen eine durch
das Schiedsgericht festzusetzende Vergütung des Minderwertes
zulässig.
In Weizen, B.oggen und Hafer wird bei Abschluss nach ge-
siegeltem Muster die Klausel in den Abschlusskontrakt aufgenommen :
9 Bei eventueller Qualitätsdifferenz mit dem vom Schiedsgericht zu
bestimmenden Minder werte zu übernehmen*; häuflger aber wird das
Muster in offenem Zustande dem Käufer übergeben, wobei dann die
Bedingung des Minder wertes nicht speziell in den Kontrakt aufge-
nommen zu werden braucht, sondern nach den Usancen sich von
selbst versteht; nur gilt hier eine minder strenge Beurteilung des
Min der wertes als bei Verkauf nach gesiegelter Probe.
Mais wird sehr häufig ohne Muster gehandelt, nur mit der
Garantie »usancefähig**. Gelegentlich wird auch zwischen grob-
körniger und kleinkörniger Ware unterschieden.
211] Bie Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr. 125
Will der Exporteur einen Posten Waren verkaufen, so sendet
er seinem Mandatar in Wien, Kommissionär oder Agenten, Muster
der Ware und teilt ihm gleichzeitig in einem Briefe seine Forde-
rung mit, wobei er, wenn das Offert als ein für ihn bindendes gelten
soll, das Wörtchen »fest*, sonst die Bezeichnung »freibleibend*
hinzufügt. Wenn aber der Importeur über den Wert der Ware nicht
recht im Klaren ist, so verlangt er vorsichtigerweise erst eine
»Taxation* von seinem Agenten, d.h. dieser soll ihm den Marktwert
der Ware, der natürlich nur nach der Situation des Zentralmarktes
bemessen werden kann, mitteilen. Das ist nun eine schwierige und
heikle Aufgabe, und hier muss der Agent zeigen, was er zu leisten
vermag. Denn in einem solchen Falle entspinnt sich zwischen Ge-
treidekäufer und Getreideverkäufer ein kleines Geplänkel; wie der
letztere, so will auch der erstere mit der Sprache nicht heraus-
rücken, jeder verlangt, dass der andere eine Unterhandlungsbasis
gebe. Der Agent wird also oft nur durch Kombination ver-
schiedener Momente, nach TJebersicht der Marktlage, nach der
Stimmung des Käufers, nach anderen Abschlüssen sich ein Urteil
bilden können und dieses seinem Klienten mitteilen. Er muss dabei
sorgföltigst abwägen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen
trachten; denn greift er seine* Taxation zu niedrig, so gibt er der
Konkurrenz, die ihm stets auf den Fersen ist, Gelegenheit, ihn bei
seinem Klienten auszustechen; greift er sie zu hoch und erhält er
dann einen Auftrag, so kann er ihn nicht ausführen und hat sich
das Geschäft verdorben.
Noch schwieriger ist die Situation für den Agenten, wenn ihm
der Kommittent eine »Vertrauensordre* gibt, d. h. ihn beauftragt,
die Ware so gut als möglich zu verkaufen, was namentlich an den
Wochenmarkttagen und bei grösseren Entfernungen, die einen raschen
Depeschenwechsel erschweren, häufig der Fall ist. Selten erntet er
Lob, häufig aber Vorwürfe von den nie zufriedenen Auftraggebern.
Bekommt der Vertreter mit der Morgenpost ein festes Offert,
so wartet er damit in der Regel den Beginn der Börse ab. Den
Käufeir auf dessen Kontor aufzusuchen hätte wenig Zweck, weil
derselbe auch dann, wenn er die angebotene Ware zu kaufen beab-
sichtigt, ein Gebot erst an der Börse macht, sobald der Terminmarkt
in Funktion ist und er die gewohnte Kalkulations- und Operations-
basis hat. Aber auch dem Vertreter ist oft das Geschäft nicht
früher möglich. Der Weizen ist vielleicht in der früher geschil-
derten Weise gegen Termin arbitragiert worden und der Vertreter,
durch den die Arbitrage ausgeführt wurde, erhält den Auftrag, die
126 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [212
Ware nur, wenn gleichzeitig Lösung der Arbitrage in einem gewissen
Verhältnisse möglich ist, zu verkaufen.
Je nach der Tendenz des Terminmarktes und je nach den
Offerten, die ihm vielleicht von anderer Seite gemacht werden, ent-
scheidet sich dann der Importeur für die feste Abnahme oder fiir
ein Gegengebot, welches der Agent seinem Auftraggeber telephoniert
oder telegraphiert. Wird man handeleins, so füllt der Agent zwei
Schlussscheine mit den Eontraktbedingungen aus, übergibt einen
dem Käufer und sendet den anderen seiaem Kommittenten. Für
die Form dieser Schlussscheine bestehen keine Yorschrifben. Sie
haben indes übereinstimmend eine Formel von ungefähr folgendem
Wortlaut aufgedruckt: »Auf Grund der Usancen der Börse für
landwirtschaftliche Produkte in Wien und unter Anerkennung der
Kompetenz der inappellablen und exekutionsfähigen Entscheidung
des Schiedsgerichtes derselben.*
Wenn die Ware nicht bereits in rollendem oder schwimmendem
Zustande sich befindet, so hat bei Verkäufen loco Wien der Ver-
käufer für die Beistellung des Transportmittels Sorge zu tragen,
wogegen die zur Emballage der Waren notwendigen Säcke der
Käufer beizustellen hat. Bei Verkäufen ab Wasserstation da-
gegen hat der Käufer innerha.lb der bestimmten Frist ein Schiff
zu chartern und für die rechtzeitige Anstellung desselben am Ver-
ladeorte Sorge zu tragen.
Die Verladung der Ware ist Aufgabe des Exporteurs, da der
Kontraktschluss »frei ins Schiff gelegt* erfolgt. Während der Ver-
ladung zieht der Exporteur eine grosse Probe, das sog. „Ausfall-,
Ablade- oder Stückmuster*. Stimmt dasselbe mit dem Kaufmuster
nicht überein, so kann der Käufer gegen den Verkäufer doch nichts
unternehmen, sondern muss erst die Ankunft der Ware abwarten.
Auf Grund des Ausfallmusters trachtet der Importeur die Ware
noch w|ihrend des Heranschwimmens zu verkaufen.
Die Zahlung erfolgt entweder bei Ankunft der Ware in
Wien oder gegen Rezepisse der Transportunternehmung. In letz-
terem Falle sendet der Exporteur sofort nach erfolgter Verladung
seinem Vertreter das Rezepisse zur Präsentation beim Käufer, wel-
cher, wenn kein Anstand bezüglich der Rechtzeitigkeit der Lieferung
vorliegt, drei Viertel bis sieben Achtel des Kaufpreises dem Ver-
käufer zu überweisen hat, während er den Rest zur Sicherung für
etwaige Qualitätsdifferenzen bis zur Ankunft der Ware zurückhält.
Ist er geldknapp, so überträgt er seinem Bankier das Pfandrecht
an der Ware, indem er das Rezepisse an dessen Adresse ausstellen
213] I^ie Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr. 127
und ihn als Aufgeber figurieren lässt, wogegen der Bankier für
ihn die kontraktlich bedungene Zahlung leistet. Unter Umständen
begnügt sich derselbe auch mit der blossen Girierung des auf den
Käufer ausgestellten Rezepisses.
Die Ware triflFt in Wien entweder an einem der F^achtbahn-
höfe oder an der Lände eines öffentlichen Lagerhauses bezw. einer
der öffentlichen Schiffahrtsgesellschaften in Wien ein und wird Ton
der Stationsleitung bezw. Ton der Lagerhausunternehmung oder 7on
der Agentur der betreffenden Transportuntemehmung dem Adressaten
avisiert. Dieser hat zunächst die Fracht zu bezahlen und begibt
sich entweder selbst an Ort und Stelle; um die Ware zu besichtigen,
oder er beauftragt das Lagerhaus, ihm Muster zu senden, oder end-
lich er entsendet zu diesem Zwecke einen Beamten. Ergibt eine
Vergleichung des gezogenen Stückmusters mit dem Eaufsmuster
(bei Abschluss nach gesiegeltem Muster reserviert der Käufer für
diesen Zweck einen Teil der Kaufprobe in offener Düte), dass die
Ware in kontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so verfügt
der Käufer je nach den Umständen deren Beexpedition bezw. den
Umschlag oder die Einlagerung; er hat dazu nur einer der öffent-
lichen Lagerhausverwaltungen oder einer der Transportunterneh-
mungen, die öffentliche Magazine besitzen, den entsprechenden Auf-
trag zu erteilen. Die Lagerhausunternehmung gibt ihm über die
eingelagerte Ware eine Empfangsbescheinigung.
Stellt sich aber bei Vergleichung mit dem Kaufmuster heraus,
dass die Ware in unkontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so
muss der Käufer zunächst zur Wahrung seiner Regressrechte den
Protest beim Börsensekretariate zu Protokoll geben, welchen Vorgang
die Usancen dem Vertragstreuen Teile, bei sonstiger Verwirkung
seiner Rechte, bei jeder Nichterfüllung eines Vertrages zur Pflicht
machen. Gleichzeitig verständigt er seinen Lieferanten, wenn dieser
auswärts ansässig ist, telegraphisch von dem erhobenen Anstand
und fordert denselben auf, einen Vertreter zur Austragung der
Differenz zu nominieren. Ist dies geschehen, so entnimmt der
Käufer mit dem Vertreter gemeinschaftlich der Ware ein Muster,
das sog. Kompromissmuster, welches an Ort und Stelle versiegelt
und zum Schiedsgerichte geschickt wird und hier später die Grund-
lage der Expertise bildet. Die Entnahme des Kompromissmusters
kann aber auch durch das Börsensekretariat erfolgen.
Wenn einmal das Kompromissmuster gezogen ist, so braucht in
jenen Fällen, wo nur die Bestimmung eines Minderwertes in Frage
kommen kann, die Verfügung über den Schlepp, unbeschadet des
128 Per Wiener Getreidehandel und seine Technik. [214
späteren schiedsgerichtlichen Erkenntnisses, keine weitere Verzöge*
rung zu erleiden, wenn beide Parteien sich verständigen; die Ware
kann ihre Beise fortsetzen, eingelagert oder umgeschlagen werden.
Anders wenn laut gesiegeltem Muster verkauft wurde. In diesem
Falle muss der Käufer z. B. das SchüBP so lange zurückhalten, bis
festgestellt ist, ob die Ware kontraktlich ist; und hier speziell ist
das Börsenschiedsgericht eine wahre Wohlthat für den Handel;
wenn die Klienten die Sache betreiben, so kann, sobald die Klage
überreicht und das Muster beim Schiedsgerichte ist, die Expertise
stattfinden, Zinsen- und Zeitverluste, Stehgebühren sind vermieden.
Das Absatzgebiet für den Wiener Getreidehandel sind die
nördlichen und teilweise auch die westlichen Provinzen Oesterreichs,
Niederösterreich, Böhmen, Mähren, Schlesien, Oberösterreich, Salz-
burg, Tirol, ferner im Auslande hauptsächlich nur das angrenzende
Süddeutschland, während die Beziehungen zur Schweiz, zu Holland,
Belgien, England und Frankreich wohl nicht vollständig aufgehört,
aber starken Abbruch erlitten haben und sich wesentlich nur auf
den Absatz von Braugerste beschränken.
Abnehmer sind die Getreide verarbeitenden Industrien, Mühlen,
Brauereien, Brennereien, Mälzereien, ferner Viehzüchter und Vieh-
inäster. Die einheimischen Mühlen sind, soweit es Handelsmühlen
sind, ohne Bücksicht auf ihren Betriebsumfang auf den Bezug unga-
rischen Weizens angewiesen, weil der einheimische, gewisse Sorten
niederösterreichischen und allenfalls mährischen Weizens ausgenom-
men, kein genügetid backfähiges Mehl gibt; er ist zu kleberarm;
aus diesem Grund muss der einheimische mit ungarischem Weizen
gemischt werden und wo nicht der Müller Gelegenheit hat, diese
Mischung vorzunehmen, muss der Bäcker oder der Konsument nach-
träglich selbst die Mischung mit ungarischem Mehl vornehmen.
Der Abschluss vollzieht sich an der Börse oder durch Reisende,
durch Verkaufsagenturen des Importhauses in den Hauptabsatzplätzen
der betreffenden Provinzen, schliesslich durch Briefpost, Telegraph
und Telephon. Die zuletzt genannte Verkehrsform scheint berufen,
alle anderen überflüssig zu machen und die Konzentration des Ge-
treidehandels bei den grossen kapitalkräftigen Firmen zu beschleu-
nigen, welche bedeutende Telepbonspesen auch auf die kleinsten
Geschäfte nicht scheuen, weil sie durch die Masse des Umsatzes
ihre Bechnung trotzdem finden.
Die Verschiedenheit der Kredit- und Betriebsverhältnisse lässt
neben dem Grosshandel noch oft Baum genug für den sich ihnen
anpassenden Zwischenhandel. Namentlich Futtermittel finden
2151 ^^^ Getreideliand]er und ihr Geschäftsy erkehr. 129
ihren Weg in den Konsum durch den Zwischenhandel, weil es sich
hier um Repartierung grosser Quantitäten an kleine und kleinste
Konsumenten handelt.
Wie der Einkauf so erfolgt auch der Verkauf grösstenteils auf
Orund von Mustern; doch kommt es nicht selten vor, dass der
Müller, wenn er die Reellität des Händlers erprobt hat, sich in der
Folge bei Bestellungen bloss auf frühere Lieferungen bezieht oder
umgekehrt der Händler auf frühere Offerten, und dass das Geschäft
ohne Muster, einfach auf Treu und Glauben gemacht wird.
Die Versendung der Ware von Wien aus erfolgt, da praktikable
Wasserstrassen in die Absatzgebiete nicht existieren, ausnahmslos
per Eisenbahn in Säcken, welche der Käufer rechtzeitig beizustellen
hat. Sobald der Händler vom Lagerhause, welches er mit der
Expedition der Ware beauftragt hat, das Aufgaberezepisse erhält,
verständigt er seinen Kunden von der erfolgten Verladung unter
gleichzeitiger Uebersendung des Rezepisses und der Faktura. Ist
der Käufer selbst Händler, so ist die Vereinbarung gewöhnlich so
getroffen, dass gegen dieses Rezepisse bare Zahlung des Gegenwertes
zu erfolgen hat bis auf einen Bruchteil, welchen der Käufer zur Be-
deckung für etwaige Qualitätsdifferenzen zurückzuhalten kontraktlich
berechtigt ist. Mühlen erhalten die Ware auf 4 — 8 Wochen Ziel,
d. h. auf offenen Buchkredit; häufiger wird aber mit der Faktura
eine vom Verkäufer auf den Käufer gezogene Tratte eingeschickt,
welche der letztere mit seinem Accept versehen retourniert. Die
Laufzeit dieser Wechsel ist verschieden : 3 — 4 Monate bei grösseren
Etablissements, bei kleineren bis zu 6 Monaten.
Etwaige Anstände gegen die Qualität der Ware müssen auch
hier in der schon früher — bei Darstellung des Einkaufs — ge-
schilderten Form erhoben werden; an einem kleineren Orte, wo
weder Gericht noch Notar vorhanden sind, verursacht dieselbe natür-
lich grössere Schwierigkeiten und grössere Kosten.
Wenn auch der Verkäufer den Käufer des Protestes enthebt,
die Eniinahme eines Musters zur Beurteilung des Minderwertes ^ muss
^ Die von den Vertretern der kleinen Müller in der Enquete heftig an-
gefochtene Minderwertsklausel ist ein durch die Dezentralisation des
Verkehrs notwendig gewordenes Uebel. Der Verkäufer, der nicht in der Lage
ist, die Ware vor Ablieferung in Wien zu besichtigen, kann nicht verhüten,
dass einmal eine unkontraktliche Lieferung erfolgt und ist dem ausgesetzt, dass
ihm die Ware an einer kleinen ßtation, wo deren Verwertung grosse Verlegen-
heiten bereitet und nur mit grossen Opfern möglich ist, zur Verfugung gestellt
wird. Andererseits ist es richtig, dass die kleine Mühle eine nicht exakte
Wiener Stadien. lU. Bd., 2. Heft. 9 [15]
130 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [216
in jedem Falle durch den Notar erfolgen ; auch hier ist Verteuerung
des Handels die Folge der Dezentralisation, denn in Wien kann die
Musterentnahme durch die Parteien selbst oder durch ihre Vertreter,
die Agenten, erfolgen, welche dafür keine besondere Vergütung
erhalten.
2.
Die Lagerhausgeuossenschafteu.
a) Die Lagerhausgenossenschaften und ihre Stellung
im GetreidehandeP.
Zu den schwierigsten genossenschaftlichen Problemen gehört das
des gemeinsamen Verkaufes. Deshalb tritt auch der gemeinsame
Getreideverkauf erst in einer höheren Entwickelungsstufe des land-
wirtschaftlichen Genossenschaftswesens auf. Um den gemeinsamen
Getreideverkauf erfolgreich in die Wege zu leiten, waren und sind
besondere Einrichtungen notwendig, welche in den genossenschaft-
lichen Lagerhäusern geschafifen wurden. Das k. k. Ackerbaumini-
sterium selbst hat dazu die Initiative ergriffen, indem es in seinem
Genossenschaftsprogramm vom Jahre 1898 die „Errichtung von
Getreideverkaufs- und Lagerhausgeuossenschafteu das aktuellste und
wichtigste Problem auf dem Gebiete der Organisation des Absatzes '^
genannt und für die Lösung dieses Problems die leitenden Grund-
sätze aufgestellt hat. An den einzelnen genossenschaftlichen Landes-
organisationen und Landesvertretungen war es, auf diese Grundsätze
verständnisvoll einzugehen und ihnen zur praktischen Durchführung
zu verhelfen.
In vollem Umfange geschah dies zunächst in Böhmen, wo der
Landtag auf Bericht und Antrag des Abgeordneten Stefan Richter
am 1. Mai 1900 für die Errichtung und den Betrieb der landwirt-
schaftlichen Lagerhausgenossenschaften erkannte und beschloss:
1. Getreidelagerbäuser, bestimmt, das eigene Getreide der Mitglieder auf
den Markt zu bringen, ermöglichen einen zweckmässigen Verkehr zwischen
Lieferung leichter in Verlegenheit bringt, als die Grossmühle, da sie nicht
immer den geeigneten Mischweizen auf Lager hat.
^ Die folgende Darstellung verdanken wir einer gütigen Mitteilung des
Herrn Stefan Richter , der seit Jahren an der Spitze der Bewegung für die
genossenschaftliche Organisation der Landwirte, insbesondere der Absatzorgani-
sationen steht und wie kein anderer in Oesterreich in der Lage ist, ihre Be-
deutung auch für den Getreideverkauf zu beurteilen. Einige kritische Bemer-
kungen wollen wir in dem nächsten Abschnitt anfügen.
2171 ^i® Lagerhaasgenossenschaften. 131
Prodnzenten nnd Konsumenten, machen es insbesondere auch dem kleinen und
mittleren Grundbesitzer möglich, an den Vorteilen des grossen Marktes teilzu*
nehmen, xmd durch Erzielung höherer Preise eine bessere Verwertung des Ge-
treides herbeizuführen.
Es erscheint die Errichtung derartiger Lagerhäuser der Produzenten im
Interesse der Landwirtschaft im allgemeinen und zur Gesundung der Getreide-
marktverhältnisse insbesondere daher im hohen Grade wünschenswert.
2. Für den Umfang und die Anzahl der zu errichtenden Lagerhäuser
ist — unter Beobachtung der grössten Vorsicht — die Bedürfhisfrage ent-
scheidend; und sind zur Beurteilung derselben die Verhältnisse der Produktion
des Lagerhaussprengeis ebenso in Rücksicht zu ziehen, wie die Verhältnisse des
Marktes.
3. Die Lagerhäuser sollen als Schöpfungen der Selbsthilfe auf Grund des
Gesetzes vom 9. April 1873, R.-G.-B1. Nr. 71, als eingetragene Genossenschaften
mit beschränkter Haftung entstehen und einen Teil der für ihre Errichtung
erforderlichen Mittel in erster Linie durch die Geschäftsanteile ihrer Mitglieder
aufbringen.
4. Es wird als wünschenswert und zweckdienlich erkannt, dass die
Höhe der Geschäftsanteile und die auf Grund derselben zu übernehmende
Haftung nicht zu gering bemessen werden, und dass durch Geschäftsanteile
und Subventionen lokaler Faktoren (eigene Mittel) annähernd ein Drittel des
ganzen für Bau und maschinelle Einrichtung erforderlichen Aufwandes aufge-
bracht wird.
5. Darüber hinaus erscheint für das Gedeihen der genossenschaftlichen
Lagerhäuser die Unterstützung derselben durch Subventionen und unverzinsliche
Darlehen durch Staat und Land dringlich und unbedingt erforderlich.
6. Die Beiträge des Staates und Landes mögen einheitlich nach einem
bestimmten prozentualen Anteile des gesamten, für Bau und Investition erforder-
lichen Aufwandes bemessen werden und mindestens je 25 */o ^^^ letzteren be-
tragen.
7. Es wird als zweckmässig und erforderlich erkannt, dass von obigen
25 7o j® 15 7o als Subvention und je 10 ^lo als unverzinsliches Darlehen gegeben
werden.
8. Die unverzinslichen Darlehen sind in der Regel vom Beginn des dritten
Jahres ab nach einem bestimmten, von den Darlehensgebern festzusetzenden
Modus zurückzuzahlen, um wieder anderen Genossenschaften für gleiche Zwecke
zugeführt zu werden.
9. Unter Festhaltung dieser Beitragsleistung erscheinen für die im König-
reiche Böhmen bereits bestehenden und im Jahre 1900 noch zu erbauenden
genossenschaftlichen Lagerhäuser aus Landesmitteln erforderlich:
für Subventionen 200 000 Kronen,
für unverzinsliche Darlehen .... 100000 Kronen.
Die gleichen Beträge wären für 1900 aus Staatsmitteln anzusprechen und
sicherzustellen.
10. Die Zuerkennung der Subventionen und unverzinslichen Darlehen
erfolgt nur auf Grund des von der Begutachtungskommission abgegebenen
Votums.
11. Die Lagerhausgenossenschaften haben keine Propregeschäfte zu be-
treiben, sondern sich auf den kommissionsweisen Ein- und Verkauf zu beschränken.
132 J^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [218
Spekulationsgeschäfte sind grundsätzlich ausgeschlossen. Nur ausnahmsweise
kann die Genossenschaft auf feste Rechnung kaufen und auf eigenes Risiko
weiterverkaufen; die Regel aber bleibt wohl der Verkauf auf eigene Rech-
nung, jedoch zu Gunsten und auf Gefahr der betre£Fenden Genossenschafter,
deren im Lagerhause angefahrenes Getreide die Genossenschaft auf den Markt
bringt.
12. Da die Lagerhausgenossenschafb das angefahrene Getreide sonach in
der Regel nicht auf feste Rechnung kauft, der Landwirt in der Regel aber,
wenn er sein Getreide abführt, auch schon Geld braucht, erscheint die Belehnung
des im Lagerhause eingelagerten Getreides erforderlich.
13. Da zur Belehnung der Lagerhausbestände grosse Geldmittel erforder-
lich sind, für welche die Genossenschaft aus sich selbst nicht aufkommen kann,
ist das Vorhandensein von Kreditinstituten, welche den Lagerhausgenossenschaften
den erforderlichen Lombardkredit einräumen, eine der ersten Existenzbedingungen
für genossenschaftliche Lagerhäuser.
14. Aus diesem Grunde ist im allgemeinen auch ein kredit-genossenschaft-
licher Unterbau eine wesentliche Voraussetzung für den erfolgreichen Bestand
genossenschaftlicher Lagerhäuser, und haben sich in dieser Beziehung die Raiff-
eisenschen Spar- und Darlehenskassenvereine in ihrem zentralen > Zusammen-
schlüsse (Zentralverband), durch den das erforderliche Betriebskapital aufgebracht
wird, bestens bewährt.
15. Da wo Spar- und Darlehenskassenvereine in genügender Zahl im
Lagerhausgenossenschaftssprengel nicht bestehen, empfiehlt es sich, dass die
Lagerhausgenossenschaften behufs Erlangung des erforderlichen Lombardkredites
mit anderen Kreditinstituten, vor allem mit den landwirtschaftlichen Bezirks-
vorschusskassen, in Verbindung treten, welche am Sitze der Lagerhausgenossen-
schaft selbst bestehen.
Es erscheint in hohem Grade wünschenswert, dass die Geldgebarung
vom Lagerhausbetriebe selbst vollständig getrennt wird und daher auch die
Belehnung der Lagerhausscheine nicht im Lagerhause selbst, sondern bei dem-
selben Kreditinstitute erfolgt, welches den Lombardkredit einräumt. An dasselbe
Institut sind auch alle Zahlungen für das aus dem Lagerhause verkaufte Getreide
zu leisten.
Punkt 16 und 17 erklären die Schaffung von Betriebsreserven für die
Lagerhausgenossenschaften für unumgänglich nötig und nehmen dazu Kapital-
bestände gewisser öffentlicher Kreditorgnisationen in Anspruch.
Punkt 18—20 verlangen die Förderung der Lagerhausgenossenschaften
durch Deckung des Heeresbedarfes und des Bedarfes der Landesanstalten bei
ihnen, sowie durch besonderes Entgegenkommen der Eisenbahnen bei Herstel-
lung der Anschlussgeleise.
21. Als eine der wichtigsten und un erlässlichsten Schutz- und Förderungs-
massregeln der genossenschaftlichen Lagerhausuntemehmungen muss die unver-
zügliche, schon so oft verlangte Aufhebung des Blankoterminhandels in Getreide
erkannt und diese Forderung mit allem Nachdrucke wiederholt werden.
In dem ersten der genannten Beschlüsse ist kurz und bündig
ausgesprochen , was durch die Lagerhausgenossenschaften erzielt
werden soll. Ihre Hauptbedeutung liegt wohl darin, dass sie, indem
sie die naturelle Ware aus dem Genossenschaftssprengel sammeln
219] ^16 Lagerhansgenossenschafken. 133
und marktföhig machen, auch den kleinen und mittleren Grundbesitz
befähigen, mit seiner Getreideproduktion auf den grossen Markt,
direkt bis an den grossen Konsumenten heranzutreten, und so durch
die Ausnutzung des weiteren Marktes eine bessere Verwertung zu
erzielen. Absatzverlegenheiten auf dem Getreidemarkte sollen be-
seitigt, Auswüchse des Zwischenhandels, da wo sie sich vorfinden,
durch die Lagerhausgenossenschaften bekämpft und, indem der
Landwirt die direkte Verbindung mit den Konsumenten sucht, ein
überflüssiger Zwischenhandel überhaupt beseitigt werden.
Die Lagerhäuser bringen grosse Mengen gut gereinigter und
trockener, gleichmässiger Ware auf den Markt, und ein solches
Produkt erreicht an und für sich schon bessere Preise. Die Lager-
häuser wollen aber auch mit der heute üblichen Art der Einlagerung
des Getreides auf ebensovielen Schüttböden, als das Dorf Höfe hat,
brechen; es soll durch sie gebrochen werden mit der heute in den
meisten Bauernhöfen noch üblichen Art der Behandlung des Ge-
treides vom Drusch bis zum Verkauf, welche vielfach unrationell
und zu kostspielig ist. An Stelle des zersplitterten Angebotes tritt
durch die Lagerhausorganisation die Konzentration der vielen kleinen
Angebote der Produzenten, und daraus erwächst eine für die Ge-
samtheit bessere kaufmännische Position. Indem die Lagerhäuser
aber das Getreide der zahlreichen kleinen Produzenten dem grossen
Konsum überhaupt erst zuführen, für den grossen Konsum erst auf-
nahmsfahig machen, dienen sie den Bedürfnissen des Grosshandels
ebenso wie den Bedürfnissen des Grosskonsums. Wie die Getreide-
marktverhältnisse vor der Organisation des Lagerhauswesens lagen
und zum grossen Teile ja noch heute liegen, war und ist es den
Händlern oft leichter, Importgetreide waggonweise einzukaufen, als
auf dem Inlandsmarkte das vorhandene Getreide von kleinen Pro-
duzenten in einer für den Markt brauchbaren Form waggonweise
zu sammeln. Wenn die Herstellung der Marktfähigkeit und die
Sammlung dieses marktfähigen Getreides die Landwirte in ihrer
Vereinigung im Lagerhause nun selbst übernehmen, wird mit dem
Konsum auch der Grosshandel mehr inländisches Getreide aufnehmen
und entsprechend verwerten können.
Die ersten genossenschaftlichen Lagerhäuser mit den vorstehend
umschriebenen Aufgaben wurden in Oesterreich im Jahre 1898 in
Böhmen und in Niederösterreich errichtet; in Böhmen in Bilin, in
Niederösterreich in Pöchlarn. Diesen ersten beiden Lagerhäusern
sind im Laufe der letzten Jahre in Böhmen und Niederösterreich
zahlreiche andere nachgefolgt, und auch in Steiermark und Kärnten
134 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [220
wurde mit der Errichtung genossenschaftlicher Lagerhäuser bereits
begonnen.
In Niederösterreich standen im Sommer 1901 15 genossen-
schaftliche Lagerhäuser in Thätigkeit. Dieselben wurden alle unter
der Patronanz des niederösterreichischen Landesausschusses errichtet
und der niederösterreichische Landtag hat die Errichtung durch
entsprechende Subventionen gefördert. Bau und Einrichtung der
genossenschaftUchen Lagerhäuser in Niederösterreich führt der
Landesausschuss in eigener Regie durch. Zum Unterschiede von
den Lagerhäusern in Böhmen, welche zumeist auf einen grösseren
Umsatz eingerichtet sind, hat Niederösterreich kleinere Lagerhäuser
mit einem Fassungsraum von in der Regel 50 — 100 Waggons und
einem Kostenaufwand von 40 000 — 70 000 Kronen für Bau und
maschinelle Einrichtung errichtet. Den Verkauf des in den Lager-
häusern angeführten und dort marktfähig gemachten Getreides be-
sorgt der „Verband ländlicher Genossenschaften in Niederösterreich*.
In dem Geschäftsjahre 1899/1900 betrugen die für die Lagerhäuser
in Niederösterreich verkauften Getreidemengen 152382 Meterzentner.
Ausser Getreide wurden für Rechnung der Mitglieder auch Kartoffeln,
Kleesamen, Linsen, Heu und Stroh verkauft. Im ganzen besorgte
der Verband den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte im Werte
von 1901330 Kronen.
Durch die genossenschaftlichen Lagerhäuser kam der Verband
der ländlichen Genossenschaften in Niederösterreich in die Lage,
die direkten Heereslieferungen aufzunehmen, und hat derselbe im
Jahre 1900 den ganzen Bedarf der Intendanz des IL Korps an
Weizen, den grössten Teil des Kornbedarfes und einen kleineren
Teil des Hafer- und des Heubedarfes gedeckt. Im ganzen wurden
an das Militärärar 56550 Meterzentner an Weizen, Hafer, Roggen
und Heu abgeliefert.
Nach dem erfolgreichen Beispiel von Bilin wurden zunächst in
den deutschen Landesteilen Böhmens weitere genossenschaftliche
Lagerhäuser errichtet; im Sommer 1901 bestanden in Deutschböhmen
9 Lagerhäuser. Dieselben haben einen Fassungsraum von 100 bis
150 Waggons und sind mit einem Kostenaufwand für Bau und
maschinelle Einrichtungen bis zu 150000 Kronen erbaut. Die Lager-
hausgenossenschaften in den deutschen Landesteilen Böhmens gehören
dem „Zentralverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossen-
schaften Böhmens* an, welch letzterer in Verbindung mit dem
„Allgemeinen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in Oester-
reich'' zur Campagne 1901/1902 für die Lagerhausgenossenschaften
221] ^^'^ Lagerhaosgenossenschafteii. 135
auch den Getreideverkauf in die Hand genommen hat. Bis dahin
haben die Lagerhansgenossenschaften selbständig nnd vereinzelt den
Oetreideverkauf besorgt.
In den tschechischen Landesteilen Böhmens wurden erst im
abgelaufenen Jahre genossenschaftliche Lagerhäuser, im ganzen 5,
errichtet. — In den deutschen Landesteilen Mährens bestehen gegen-
wärtig 4 Lagerhausgenossenschaften, welche dem , Zentralverband
der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften Mährens in Brunn"
angehören; in den tschechischen Landesteilen Mährens 3 Lagerhaus-
genossenschaften. Oberösterreich und Steiermark haben je eine
Lagerhausgenossenschaft, in Kärnten bestehen zwei deutsche und
eine slovenische.
Im ganzen bestehen sonach im Sommer 1901 in ganz ester-
reich 41 Lagerhausgenossenschaften, von denen 15 allein auf Nieder-
österreich und 14 auf Böhmen entfallen.
Die Getreidemenge, welche bei allen diesen Lagerhausgenossen-
schaften angeliefert und durch diese auf den Markt gebracht werden
kann, dürfte auf mehr als 1 000 000 Meterzentner zu veranschlagen sein.
Es ist vielfach die Auffassung verbreitet, dass beim Verkaufe
des im Lagerhause befindlichen Getreides jeder einzelne Genossen-
schafter, der sein Getreide dorthin abgeliefert hat, mitspricht, wes-
halb dieser Verkauf auch ein sehr schwieriger sei. Diese Auffassung
ist eine durchaus irrige. Mit dem Momente der Ablieferung des
Getreides geht das Sondereigentum des einzelnen Genossenschafters
auf das von ihm angefahrene Getreide ebenso verloren, wie der
Einfluss des einzelnen Genossenschafters auf den Verkauf. Der Ge-
nossenschafter gibt sein Sondereigentum gegen den Anspruch auf die
gleich grosse Menge von der gleichen Qualität auf, und er überlässt
der Lagerhausverwaltung den Verkauf in dem Vertrauen, dass die-
selbe auch in der Lage sein wird, die besten Preise herauszuholen.
Die Grundsätze für den geschäftlichen Betrieb der Lagerhäuser
und das Verhältnis der einzelnen Genossenschafter zu dem Lager-
hause sind in der Hauptsache in den Lagerhausordnungen nieder-
gelegt, und führen wir als typisches Beispiel nachstehend die Lager-
hausordnung der «Ersten Deutschen Lagerhaus- Genossenschaft in
Bilin'' an. Dieselbe bestimmt:
1. Die von der Lagerhausgenossenschaft errichteten Lagerhäuser können
von allen Mitgliedern der Genossenschaft g^en Einhaltung der Lagerhausord-
nung benutzt werden.
2. Es darf nur Getreide (selbstgebautes) in gesundem, trockenem Zustande
angefahren werden. Getreide in feuchtem, verdorbenem Zustande wird zurück-
gewiesen.
136 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [222
8. Die Genossenschafter können ihr Getreide jeden Tag — mit Ausnahme
der Sonn- und Feiertage — beim Lagerhause anfahren.
4. Für die Einlagerung des Getreides zahlt der Genossenschafter die all-
jährlich von der Hauptversammlung festgesetzte Lagerhausgebühr (gegenwärtig
10 Kreuzer pro Meterzentner).
5. Beim Anfahren des Getreides kommt jeder Sack sofort auf die Wage.
Hierauf wird das Getreide in den im Lagerhause aufgestellten Maschinen einer
sorgfältigen Reinigung unterzogen. Nach der Reinigung wird der Abfall mit
sämtlichen Säcken wieder gewogen. Der Unterschied ergibt das Gewicht des
eingelagerten Getreides. Angefahren kann jedes Quantum werden. Das Abfall-
getreide darf jeder zum Hausgebrauch wieder zurücknehmen oder im Lager-
hause für sich verschroten lassen.
Für Verstäubung wird 1 7« abgeschrieben.
6. Auf Grund des Reingewichtes erhält jeder Lieferant seinen Lagerhaus-
schein.
7. Für eingelagertes und erst später verkauftes Getreide erhält jedes Mit-
glied in seinem Lagerhausscheine den Tagespreis vom Tage der Einlagerung
eingetragen. Der im Lagerhausscheine eingetragene Preis wird als Grundlage
der Belehnung genommen und werden darauf 80 7» ausgefolgt. Was beim Ver-
kauf mehr erzielt wird, wird nach Abschlag der eigenen Regie im Wege der
Abrechnung mit den einzelnen Raiffeisen- Vereinen, welche das eingelagerte Ge-
treide auf Grund der Lagerhausscheine belehnt haben , den Mitgliedern nach-
gezahlt *.
8. Auf Grund des Lagerhaussebeines zahlen die Raiffeisen-Kassen sofort
jedem ihrer Mitglieder den angewiesenen Betrag aus.
9. Für die Mitglieder aus denjenigen Ortschaften, die keinem Raiffeisen-
Gebiet zugeteilt sind, wird die Belehnung und schliessliche Abrechnung im
Lagerhause selbst von der Lagerhausgenossenschaft vorgenommen.
10. Die Lagerhausgenossenschaft übernimmt die Garantie für die Erhal-
tung des gelagerten Getreides. Es ist jederzeit entsprechend versichert. Die
Genossenschaft stellt die Säcke zur Verfügung und vermittelt den Verkauf. Die
Genossenschaft übernimmt auch alle Arbeiten für Reinigung, Wiegen, Verladen^
Transportkosten und Portoauslagen.
11. Die Mitglieder können auch ihr Saatgetreide im Lagerhause reinigen
oder auch Getreide nur schroten lassen. Hierfür ist ebenfalls nur die alljähr^
lieh festgesetzte Lagerhausgebühr zu entrichten (derzeit für das Reinigen des
Saatgetreides 5 Kreuzer, für das Schroten 30 Kreuzer per Meterzentner).
^ Die Lagerhausgenossenscbaft handelt wohl auf eigene Rechnung, aber
zu Gunsten und auf Gefahr des betreffenden Genossenschafters, dessen Getreide
sie auf den Markt bringt; sie besorgt also im Grunde doch nur den kommis-
sionsweisen Verkauf, der für die Genossenschaft selbst jedes Risiko ausschliesst,
dem einzelnen Genossenschafter aber den jeweilig erreichbaren besten Tages-
preis sichert. Und eben darin liegt die Sicherheit und Reellität der ganzen
Gebarung. Spekulationsgeschäfte sind dabei ganz ausgeschlossen, und damit
ausgeschlossen auch die Verluste, die einzelne gross angelegte Lagerhaus-
genossenschaften in Deutschland, welche Propregeschäfte betreiben, leider zu
verzeichnen haben.
223] ^16 Lagerhausgenossenschaften. 137
12. Der aufgestellte Magazineur arbeitet nach den mit der Lagerhaas-
Verwaltung vereinbarten Lohngebühren (derzeit 8 Kreuzer per Meterzentner ge-
reinigten Getreides). Trinkgelder an denselben zu verabreichen, ist unstatthaft
und wird gegebenen Falles verfolgt.
Die zur Belehnung der Lagerbestände erforderlichen Gelder
erhalten die Lagerhausgenossenschaften, bezw. die Raiffeisen-Yereine,
von ihrer Genossenschafitszentrale im Lande, der Zentralkassa der
Spar- und Darlehenskassenvereine, und zwar im Kontokorrentverkehr.
Als Grundlage dieser Belehnung dienen lediglich die Ausweise über
die Lagerbestände, welche die Lagerhausgenossenschaften allwöchent-
lich der Genossenschaftszentrale einsenden. Wenn nicht die Ge-
nossenschaftszentrale selbst den Verkauf des Getreides durchführt,
so erfolgen die Zahlungen für das von den Lagerhausgenossenschaften
yerkaufte Getreide doch direkt bei der zuständigen Genossenschafbs-
zentralkasse für Rechnung der betreffenden Lagerhausgenossenschaft,
so dass der von der Lagerhausgenossenschaft in Anspruch genom-
mene Lombardkredit bei jedem effektiven Verkaufe gleich wieder
abgestossen wird.
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Lager-
hausgenossenschaften, so gut ihre Ware und ihr Bestreben ist, doch
vielfachen Anfeindungen, namentlich aus Händlerkreiseu, ausgesetzt
sind, und auch die Eonsumentenkreise stehen denselben nicht immer
freundlich gegenüber, indem auch diese in den Lagerhausgenossen-
schaften einen preisregulierenden Faktor, wenigstens auf dem lokalen
Markte erkennen. Vermöge der besseren Getreidequalität, welche
die Lagerhausgenossenschaften auf den Markt bringen, erzielen die-
selben in der Regel ja einen etwas besseren Preis. Sie tragen aber
auch dazu bei, dass die Handelskonkurrenz in dem Gebiete, welches
die Lagerhausgenossenschaft kommerziell bearbeitet, bessere Preise
bewilligt, um überhaupt ins Geschäft zu kommen und Getreide, das
sonst seinen Weg durch das Lagerhaus nimmt, an sich zu ziehen.
Der Endeffekt ist in der Regel eine kleine allgemeine Preissteige-
rung auf dem lokalen Markte, und das ist der Grund, warum auch
manche Eonsumentenkreise sich den Genossenschaften gegenüber
ablehnend verhalten. Andere hingegen haben die Verbindung mit
den Lagerhausgenossenschaften wieder gerne aufgenommen und halten
dieselbe, da sie gut bedient werden, auch aufrecht.
Abgesehen von den Schwierigkeiten, welche sich aus den ge-
nannten Gründen beim Absätze des Lagerhausgetreides ergeben,
Terfügen die einzelnen Lagerhausgenossenschaften aber auch nicht
immer über die zu einer erfolgreichen Bearbeitung des Marktes
138 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [224
erforderlichen kaufmännischen Kräfte. Es fällt der einzelnen
Genossenschaft insbesondere schwer, Beziehungen auf dem fernen
Markte anzuknüpfen und diese Beziehungen auch entsprechend und
nachhaltig zu pflegen. Dazu ist es vorgekommen, dass die Vertreter
einzelner Lagerhausgenossenschaften, so lange diese selbst und ver-
einzelt auf den Markt gingen, oft auf demselben Platze sich be-
gegnet und dort, natürlich nicht zum Nutzen der Lagerhausgenossen-
schaften, Konkurrenz gemacht haben, und dieselbe Konkurrenz,
nur in erhöhtem Masse, müssen sich die Lagerhäuser machen, auch
wenn sie ihr Getreide durch ihre Landesorganisationen auf den
Markt bringen. Die genossenschaftlichen Landesorganisationen sind
in den einzelnen Ländern Oesterreichs aber auch sehr verschieden
ausgebildet und nicht jede Landesorganisation verfügt über die
erforderlichen Mittel und Kräfte zu einer erfolgreichen Bearbeitung
des Getreidemarktes. Man denkt in neuester Zeit deshalb daran,
den „Allgemeinen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in
Wien**, welcher seit dem Vorjahre für die ihm angehörigen Landes-
organisationen auf dem Gebiete des gemeinsamen Einkaufes ein
kommerzielles Zentrum geworden ist, auch zu einem kommerziellen
Zentrum für den Getreideabsatz zu machen, und durch diesen
, Allgemeinen Verband" auch den Getreideverkauf für die Lager-
hausgenossenschaften in den einzelnen Ländern einzuleiten und
durchzuführen. Ausgenommen hiervon sind vorläufig nur die Lager-
hausgenossenschaften in Niederösterreich, weil dieselben in ihrem
Landesverbände bereits eine eigene Verkaufsstelle besitzen.
Die Einleitungen zur Bearbeitung des Getreidemarktes durch
den „Allgemeinen Verband* sind bereits getroffen, zahlreiche ge-
schäftliche Beziehungen wurden angeknüpft, und anfangs September
laufenden Jahres waren beim „Allgemeinen Verband* vornehmlich
aus Böhmen und Mähren an 300 Waggons Gerste bemustert. Damit
geht der „Allgemeine Verband" nun auf den Markt, wobei er
namentlich für la Qualitäten in erster Linie den besser lohnenden
Auslandsmarkt ins Aage fasst, während mindere Qualitäten auf
dem Inlandsmarkte placiert werden sollen. Im übrigen ist für die
Anstellung ja insbesondere auch die Frachtlage entscheidend, wes-
halb bei günstiger Relation gute Qualitäten auch auf dem Inlands-
markte oft entsprechend placiert werden können. Der Versuch der
Zentralisation des Getreideabsatzes, welchen der „Allgemeine Ver-
band landwirtschaftlicher Genossenschaften in Oesterreich'' soeben
macht, ist jedenfalls der Beachtung wert, und darf man der weiteren
Entwickelung mit Interesse entgegensehen. Gelingt es dem „All-
225] I^ie Lagerhausgenossenschaften. 139
gemeinen Verband", für das Getreide der seinen Landesorganisationen
angeschlossenen Lagerhausgenossenschaften neue Absatzwege zu er-
schliessen und günstige Preise zu erzielen, dann ist den Lagerhaus-
genossenschaften und ihren Landesorganisationen die kommerzielle
Sorge, wenn nicht ganz abgenommen, so doch wesentlich erleichtert,
und eine feste Bürgschaft für die Prosperität der Lagerhausgenossen-
schaften gegeben, welche auch nach ihrer vortrefflichen technischen
Einrichtung zu erwarten ist. Dem Konsum aber werden durch die
allen Lagerhausgenossenschaften gemeinsame Zentralstelle von Jahr
zu Jahr immer grössere Getreidemengen in bester Qualität angeboten
werden können, eine Konzentration des Angebotes, welche auch den
grossen Konsumenten die Eindeckung ihres Bedarfes nur erleichtern
und verbilligen kann. Es erscheint die Weiterentwickelung der
genossenschaftlichen Lagerhäuser mit der ins Auge gefassten Zen-
tralisation des Getreideverkaufes daher auch vom Standpunkte der
grossen Konsumenten nur wünschenswert.
b) Die Grenzen der genossenschaftlichen Organisation
des Getreideverkaufs in Oesterreich.
Die vorstehend geschilderte Entwickelung des genossenschaft-
lichen Getreideabsatzes in Oesterreich berechtigt zu guten Hoff-
nungen für die Getreideproduzenten und für die Volkswirtschaft,
wenn wir uns auch vor Augen halten wollen , dass die Bürgschaft
für ihre Verwirklichung, eine tüchtige kommerzielle Organisation,
erst noch geschaffen werden muss.
Das Getreidegeschäft ist heute ein ausserordentlich schwieriges
Geschäft; es erfordert wie vielleicht wenige andere Warenkenntnis,
Intelligenz und kaufmännischen Weitblick und eine Vertrautheit mit
den Marktverhältnissen und Handelsgepflogenheiten, welche man nur
durch jahrelange Uebung erwirbt. Es braucht also tüchtiger, kauf-
männischer Kräfte, die, so lange sie nicht innerhalb der Organisation
selbst heranwachsen, vom Handel herübergenommen werden müssen.
Mit untergeordneten Kräften ist aber dabei nicht gedient, es müssen
Persönlichkeiten in den Dienst der Genossenschaften gestellt werden,
die in ihrem Erwerbszweige zu den besten gehören, denn es soll
ja in der Konkurrenz mit den privaten Händlern der Sieg errungen
werden. Dass die einzelne Genossenschaft die Mittel nicht aufzu-
bringen in der Lage ist, um derartige Kräfte zu besolden, ist klar;
und der Erfolg der ganzen Bewegung wird daher wesentlich davon
bedingt sein, in welchem umfange die Zentralisation des Verkaufs
wird durchgeführt werden können.
140 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [226
Dass jemand ein tüchtiger Landwirt und ein gewissenhafter
Oenossenschafts- oder Yerbandsobmann ist, macht noch nicht, dass
er die Eigenschaft für die mit dem Amte verbundenen Aufgaben
besitze, und es ist nicht sehr verwunderlich, wenn die Handelskreise
von den Absatzschwierigkeiten der genossenschaftlichen Lagerhäuser
zu erzählen wissen. Es ist heute kein allzu seltener Fall, dass^
nachdem vergeblich der direkte Absatz der Ware an den Gross-
konsum versucht und darüber die Konjunktur versäumt worden ist,
schliesslich doch die Intervention des Berufshändlers in Anspruch
genommen werden muss, und dieser Umstand mag auch den von
den Handelskreisen bei Gelegenheit der Terminhandelsenquete ge-
äusserten Skeptizismus bezüglich des genossenschaftlichen Getreide-
verkaufs Nahrung gegeben haben.
Das ist aber keineswegs die einzige Schwierigkeit, die zu über-
winden ist; eine kaum minder ernste ergibt sich aus der Qualität
der österreichischen Getreidekonsumenten.
Die Lagerhausgenossenscfaaften werden nicht allenthalben in
der Heeresverwaltung einen so guten Abnehmer für ihr Getreide
finden können, wie in Niederösterreich. Wir wollen davon absehen,
dass auch die Aufnahmsfäfaigkeit der Heeresverwaltung eine be-
grenzte ist. Man wird aber nicht vergessen dürfen, dass speziell,
was Brotfrüchte betrifft, die niederösterreicfaische Produktion zumeist
eine Qualität erster Güte liefert — wir erinnern nur an den March-
felder Weizen, der manchem Banater nicht nachsteht, — was haupt-
sächlich auf natürliche Verhältnisse zurückzuführen ist. In den
übrigen Landesteilen ist die natürliche innere Beschaffenheit grosser
Quantitäten eine derartige, dass sie unbedingt einer Aufbesserung
durch importierten ungarischen Weizen bedürfen ^. Sie können daher
nur von wirklichen Industrieetablissements aufgenommen werden,
die diesem Geschäfte, das weder technisch noch kommerziell em
sehr einfaches ist, gewachsen sind. Der ärarische Betrieb ist nicht
darauf zugeschnitten. Die Hauptabnehmer werden also doch die
privaten Konsumenten bleiben; für Braugerste sind sie die aus-
schliesslichen Abnehmer. Industrieetablissements, Mühlen und Braue-
reien, Spiritusfabriken, Stärkefabriken etc. sind also die Kunden.
Diese verlangen aber langfristige Kredite, wie sie ihnen der
Handel einräumt und wie sie ihnen unentbehrlich sind, da sie auch
ihrerseits ihren Abnehmern lange Kredite zu gewähren gezwungen
^ Die Lagerhausgenossenschaften können zur Verbesserung der Qualität
wesentlich nur beitragen, was Reinheit, Gewicht und Trockenheit des Getreides
betrifft; die natürlichen Eigenschaften sind kaum in Jahren stärker veränderlich.
227] ^i® LagerhausgenoBsensehaften. 141
sind, insbesondere die Müller den Bäckern. Nur sehr grosse und
kapitalkräftige Industrieetablissements pflegen neben dem Kredit-
kauf den Barkauf. Es ist uns aber aus früheren Darlegungen be-
kannt, dass die österreichische Müfalenindustrie überwiegend Klein-
industrie ist. Nach der Aussage, die ein Experte aus Müllerkreisen
in der Terminhandelsenquete ^ gemacht hat, wären in Oesterreich
25 000 kleine und mittlere Mühlen vorhanden. Diese nehmen Kredite
von 8 Wochen bis zu 6 Monaten in Anspruch, teils offene Buch-,
teils Wechselkredite. Auf so lange muss man Geld vorstrecken
können, wenn man das Geschäft dem Handel abnehmen will. Ausser-
dem machen auch diese Verhältnisse wieder tüchtige kaufmännische
Leitung, welche sich der Gefahren dieses Geschäftes bewussi ist,
die einzuräumenden Kredite, die Solvenz der einzelnen Käufer sorg-
fältig in Erwägung zieht, zu einer Lebensfrage für den genossen-
schaftlichen Getreideverkauf. Wenn auch vorweg bemerkt werden
soU, dass die österreichische Mühlenindustrie im allgemeinen in dem
Bufe grosser Solidität steht, so sind doch die Verhältnisse in der-
selben unter der Einwirkung der ungarischen Konkurrenz andauernd
krisenhaft.
Auf der anderen Seite ist aber auch der Lombardkredit, welchen
die Genossenschaft dem einzelnen Genossenschafter auf das ein-
gelagerte Getreide gibt, nicht gefahrlos.
Es besteht im allgemeinen die Tendenz, die Vorschussquote
dem Tageswert der Ware möglichst anzunähern ; zumeist werden
90 ^/o desselben vorgeschossen. Dass ein grösserer Preissturz die
Genossenschaft leicht gefährden kann, ist wohl kein müssiges Be-
denken, wenn man im Auge hält, dass z. B. bei Gerste oft noch
Wochen nach der. Ernte die Preisbasis eine wenig stabile und sichere
ist. Selbst gewiegte und wohlorientierte Händler sind oft nicht in
der Lage, zuverlässige Taxationen des Wertes zu geben, und es ist
bei Gerste nichts Seltenes, dass der Abstand zwischen Forderung und
Taxation 2 — 5 Kronen pro 100 kg beträgt. Die Lagerhausgenossen-
schaft ist aber hier in einer weit schwierigeren Situation als der
Händler, ein öffentlicher Wertmassstab, wie ihn für die übrigen Ge-
treidegattungen der Preis des Usaneegetreides gibt, existiert nicht
und ausserdem ist zur Beurteilung der künftigen Preisgestaltung
bei Gerste die genaue Kenntnis der ausländischen Marktverhältnisse
unerlässlich, da wir mit dieser Fruchtgattung auf den Export an-
gewiesen sind. Vielleicht wird aber auch diese Schwierigkeit durch
Amand Fuhrich, Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 9.
142 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [228
die Erhöhung der kommerziellen Tüchtigkeit der Zentralbureans
auf den grossen Märkten des Oetreidehandels gemildert werden
können. Dieses wenigstens muss in der Lage sein, sich auf dem
Markte rasch zurechtzufinden, was bei einem Massengut, dessen
Handelsbewegung, in Europa wenigstens, statistisch noch nicht erfasst
ist, ausschliesslich durch kaufmännische Intuition geschehen kann.
Sind wir nun auch, ungeachtet der besprochenen Schwierig-
keiten, weit entfernt davon, die volkswirtschaftliche Bedeutung des
genossenschaftlichen Getreideverkaufs und die Rolle, welche derselbe
in der künftigen Entwickelung des Getreidehandels zu spielen berufen
sein wird, zu unterschätzen, so halten wir es im Hinblick auf die
Schlag Worte der politischen Agitation doch für nötig, die Grenzen
dieser Bedeutung zu erörtern. Den Schlagworten zufolge möchte
es scheinen, dass neben der genossenschaftlichen Organisation des
Getreideverkaufs die kapitalistische ihre Rolle ausgespielt habe oder
doch in absehbarer Zeit ausgespielt haben werde, und dass ins-
besondere die grossen zentralen Märkte durch die genossenschaft-
liche Organisation des Getreideverkaufs ihre Bedeutung einbüssen
werden. Das ist aber wenigstens für Oesterreich und Wien irrig
und unzutreffend. Wenn von Deutschland unter Hinweis auf frühere
Zeiten noch mit einem Schatten von Wahrscheinlichkeit behauptet
werden kann, dass es unter gewissen Verhältnissen seinen Getreide-
bedarf selbst hervorzubringen vermag, so trifft dies für Oesterreich
(»die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder*) durchaus
nicht zu. Ob die Gemeinsamkeit des Zollgebietes mit Ungarn,
welche diese Thatsache mildert, aufrecht bleibt, ist im Momente
wenigstens ungewiss. Aber selbst in diesem Falle ist zu bedenken,
dass auch Ungarn in dem Masse, als es sich industriell entwickelt
und seine Bevölkerung wächst, immer weniger Getreide für Oester-
reich verfügbar haben wird.
So sehr es unseren Landwirten, die unter der Agrarkrise ge-
wiss empfindlich leiden, zu gönnen /st, wenn sie durch die gescSl-
derte Organisation zu einer besseren Verwertung ihres Getreides
gelangen, so kann doch darum nicht die Beseitigung jener Organi-
sation verlangt werden, die der Versorgung der Millionen Menschen
dient, welche die heimische Produktion nicht mit Brot zu versorgen
vermag. Das Vorhandensein selbst eines dichten Netzes von ge-
nossenschaftlichen Lagerhäusern und einer tüchtigen kommerziellen
Organisation des genossenschaftlichen Getreideverkaufes, was beides
noch in Zukunft steht, kann den Importhandel nicht überflüssig
machen.
229] ^io Lagerhaasgenossenschaften. 143
Die Absatzorganisationen der Landwirte sind aber auch materiell
nicht ausreichend, um eine entscheidende Rolle in der Getreide-
yersorgung Oesterreichs zu spielen. Wir haben erfahren, dass der
Gesamtumsatz sämtlicher Lagerhausgenossenschaften in Oesterreich
gegenwärtig auf 1 000 000 Meterzentner geschätzt werden darf. Es
beträgt aber die Ernte Oesterreichs im Durchschnitt der Jahre
1890 — 1899 in Millionen Meterzentner jährlich:
Weizen 11,9
Roggen 19,2
Gerste . . , 13,1
Hafer 17,2
Mais 4,3
Zusammen 65,7
Mag man immerhin der Anschauung sein — und wir selbst
teilen sie — , dass in der Folge noch ein erheblicherer Teil dieser
Getreidemengen von der genossenschaftlichen Organisation erfasst
werden dürfte, so wird dieses Wachstum doch nur allmählich statt-
finden können und seine natürlichen Grenzen finden, in den topo-
graphischen Verhältnissen und in der Grundbesitzverteilung.
Die Lagerhausgenossenschaften sind also und können aller
Voraussicht nach immer nur sein ein Glied, und ein sehr nützliches
Glied in der Organisation des österreichischen Getreidehandels, aber
eben nur ein Glied, und einer der eifrigsten Freunde der genossen-
schaftlichen Organisation des Getreideabsatzes, Wygodzinsky ^, sagt
mit Bezug auf die süddeutschen Lagerhausgenossenschaften, deren
Struktur und Entwickelungsbedingungen denen unserer sehr ähnlich
sind, es sei „ausgeschlossen, dass auf die Mitwirkung des Handels
verzichtet werden kann. Wir können mit dem Handel nur innerhalb
gewisser Grenzen konkurrieren" und eine Einwirkung auf die Preise
sei also nicht möglich, selbst wenn alles in der Rheinprovinz erzeugte
Getreide genossenschaftlich verkauft würde. Was lediglich erreicht
werden könne, sei eine Verkürzung des Weges vom Produzenten zum
Konsumenten, eine Ausschaltung überflüssiger Mittelspersonen.
I Soweit unsere Landwirte Konsumenten von ausländischem Futter-
I getreide sind — und das sind sie, wie wir dargethan haben, in
immer steigendem umfange — , haben die Lagerhausgenossenschaften
selbst ein starkes Interesse an der Förderung der kapitalistischen
Organisation des Handels. Wenn wir es auch nicht als durchaus
utopisch bezeichnen wollen, dass speziell dieser Teil des Import-
^ Bar. Wygodzinsky, Der gemeinsame Absatz landwirtschaftlicher Erzeug-
nisse. Offenbach 1895.
144 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [230
handeis dereinst in die Hände der Lagerhausgenossenschaften über-
gehen wird, so ist die Entwickelung, wie wir gesehen haben, heute
noch sehr weit davon entfernt. Selbst wenn die genossenschaftliche
Organisation des Getreidehandels die Bedingungen in sich trüge,
die Erbschaft nach der kapitalistischen Organisation des Getreide-
handels anzutreten, reif dazu ist sie heute auf keinen Fall und wird
es noch lange nicht sein.
Aber wie den Einkauf so können die Lagerhausgenossen-
schaften auch den Verkauf des eigenen Getreides heute nicht unter
Ausserachtlassung und mit gänzlicher Umgehung der kapitalistischen
Organisation und insbesondere des Zentralmarktes Wien durch-
führen. Denn hier konzentriert sich noch immer der bedeutendste
Teil des österreichischen Getreidehandels, und hier findet die Preis-
bildung statt, nicht kraft eines äusseren Zwanges, sondern kraft
der historischen Entwicklung, die wir kennen gelernt haben und
auf Grund von Beziehungen zu den Eonsumentenkreisen und Märkten
des In- und Auslandes, welche in fünfundzwanzigjähriger Arbeit
allmählich erst erworben und gefestigt werden konnten, wie sie
auch die Lagerhausgenossenschaften nur allmählich werden erwerben
können. So lange ist für sie der ordnungsgemäss funktionierende
Zentralmarkt in Wien nicht minder wichtig als für die Brotkon-
sumenten, und dass man sich dieser Erkenntnis in praxi keineswegs
yerschliesst, beweist die Thatsache, dass die gemeinsamen Yer-
kaufsbureaus in Wien errichtet werden und dass speziell der nieder-
österreichische Verband sich an der Börse für landwirtschaftliche
Produkte direkt vertreten lässt.
Die Unterdrückung oder Zerstörung der gegenwärtigen Organi-
sation des Getreidehandels oder auch nur die Herabminderung ihrer
Bedeutung und Leistungsfähigkeit muss daher füglich als eine den
Interessen der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Bevöl-
kerung, der Landwirte mit inbegriflFen, zuwiderlaufende unwirtschaft-
liche und mit Rücksicht auf das unsichere handelspolitische Ver-
hältnis zu Ungarn gefährliche bezeichnet werden. Speziell die
Konstruktion eines Gegensatzes zwischen der Entwickelung der
Lagerhausgenossenschaften und der des Zentralmarktes Wiens ist
um so demagogischer, als der letztere für inländisches Getreide
kaum eine Rolle spielt. Nur niederösterreichisches Getreide findet
zu einem Teile seinen Weg in den Konsum durch die Wiener
Produktenbörse, 95 ^/o des in Wien gebändeltes Getreide sind, wie
schon an anderer Stelle erwähnt wurde, ungarischer und auslän-
discher Provenienz, zum Teile für den Transit, zum Teile für den
231] ^ie Beform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 145
Import bestimmt. Läge aber auch die Führung des Importhandels
in den Händen der Lagerhausgenossenschaften, dann wären diese
eben nicht mehr Getreide verkaufende Produzenten , sondern —
kapitalistische Handelsunternehmungen, die sich derselben Yerkehrs-
formen bedienen müssten, wie heute der private Handel.
Wir kommen daher zu dem Schlüsse, dass der Grundsatz einer
Ternünfligen Getreidehandelspolitik sein müsse: kräftigste Förderung
der genossenschafüichen Organisation des Getreideverkanfs nnd zwar
auch durch materielle Unterstützung auf der einen Seite, reforma-
torischer Konservatismus in Bezug auf die gegenwärtige Organi-
sation auf der anderen Seite.
V.
Beformbestrebnngen nnd Beformvorschläge.
1.
Die Beform des Lagerhaus- und Verkehrswesens.
Unter den Ursachen der nordamerikanischen Getreidekonkurrenz
ist eine ausserordentlich bedeutsame, die in Europa bisher nicht
genügend gewürdigt worden ist: die überlegene Verkehrstechnik.
Insbesondere dort, wo es sich um das Ersparen menschlicher Arbeit
und Beschleunigung des Verkehrs handelt, ist der Fortschritt in den
Vereinigten Staaten ein gewaltiger und noch immer bringen neue
Ergebnisse der angewandten Mechanik Einrichtungen zum Einladen
und Umladen von Massenprodukten auf den Stapelplätzen, welche
eine geradezu verblüflFende Vereinfachung und Verbilligung des Ver-
kehrs ermöglichen \ Dass die Farmer der Vereinigten Staaten heute
trotz der nicht eben unbedeutenden Konkurrenz Argentiniens ihre
^ Im Jahre 1872 berichtet der Güterverkehrsdirektor der Baltimore-Ohio*
Bahn, dass im Januar dieses Jahres allein das Umladen des Getreides vom
Eisenbahnwagen ins Schiff, durch Menschenkraft vollzogen^ etwa 4 — 5 Cents
per Bushel gekostet hat, dass aber bald darauf, nach der Eröfihung eines
600 000 Busheis fassenden Elevators, die Gebühr fär Umladung, Wiegen und
Reinigen, sowie für zehntägige Lagerung auf 1,75 Gents festgesetzt worden ist
und dass sich die zur Umladung eines Schiffes nötige Zeit von 5 — 10 Tagen
alsobald auf ebensoviele Stunden ermässigt hat (Archiv für Eisenbahnwesen,
herausgeg. vom preuss. Ministerium für Öffentl. Arbeiten, Jahrg. 1901, Heft 1,
S. 93.) Die Calumet- und Hekla-Minen-Aktiengesellschaft hat 1898 fünf hydrau-
lische Eohlenaufzüge bauen lassen, wodurch sich die Kosten der Eohlenumladung
von 27 Cents auf nicht weniger als 1 Cent per Tonne verminderten. (Sartorius,
Die Handelsbilanz der Vereinigten Staaten. Berlin 1901, S. 18.)
Wiener Studien. III. Bd., 8. Heft. 10 [16]
146 JE)er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [232
Position auf dem Weltmarkte behaupten, danken sie neben der Ver-
billigung der einbeimischen Getreidetarife ^ zu welcher der Bau von
Kanälen nicht wenig beigetragen hat, in erster Reihe dieser Ueber-
legenheit der Verkehrstechnik.
Dass insbesondere bei uns auf diesem Gebiete noch sehr viel
nachzuholen ist, hoffen wir klargestellt zu haben und es erübrigt
uns nur noch zu erörtern, in welcher Richtung der Hebel des Fort-
schrittes zunächst angesetzt werden muss.
Die vorangegangene Darstellung dürfte von selbst die Erkenntnis
aufgedrängt haben, dass vor allem eine prinzipielle Aenderung der
Lagerhauspolitik in allen Fragen in dem Sinne notwendig ist, dass
für die freie Entwickelung Raum geschaffen wird.
Der Anfang muss daher mit einer Aenderung des Lagerhaus-
gesetzes gemacht werden, welche wesentlich folgende Reformen
umfassen müsste.
Das Konzessionssystem wäre zu beseitigen. Wie in Frankreich
soll die Anmeldung bei der Gewerbebehörde und der Erlag der vor-
geschriebenen Kaution zur Errichtung eines öffentlichen Lagerhauses
genügen. Die Belehnung durch das öffentliche Lagerhaus wäre zu
gestatten, gleichzeitig aber wäre, um einer etwaigen Monopolisierung
der Belehnung durch dasselbe vorzubeugen, ihm die Pflicht zur Aus-
gabe von Lagerscheinen präzise aufzuerlegen und die Umgehung
derselben mit Geldbussen bezw. Einstellung des Betriebes zu be-
drohen. Auch soll, wie in Frankreich, der Lagerhausunternehmung
die Belehnung nur gegen Lagerschein gestattet sein, nicht in blossem
Kontokorrentverkehr, weil dies zur Einbürgerung des Instrumentes
wesentlich beizutragen geeignet ist, ohne den Verkehr zu erschweren.
Das Recht zur Ausgabe indossabler Lagerscheine sollen zumindest
alle öffentlichen Lagerhäuser, die genossenschaftlichen Lagerhäuser
und alle öffentlichen Transportanstalten für die in ihren Magazinen
eingelagerten Waren haben.
Das Warrantsystem wäre prinzipiell auf die Basis jener Auf-
fassung zu stellen, welche der deutsche Juristentag von 1892 zu der
seinigen gemacht hat und welche auch die Grundlage der auf den
Lagerschein bezügUchen Bestimmungen des neuen deutschen Handels-
gesetzbuches und des neuen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches
bilden. Danach sind an die üebergabe des Lagerscheines zu knüpfen:
^ Vgl. Aufsatz «Getreidetransport und Eisenbahn wesen in Amerika'' von
Kurt Wieuenfeld im , Archiv für Eisenbahnwesen*, herausgeg. vom preussischen
Ministerium für öffentliche Arbeiten, Jahrg. 1901, Heft 1.
233] I^ie Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 147
a) der üebergang aller Rechte aus dem indossierten Papier
gegen das Lagerhaus;
b) dieselben rechtlichen Wirkungen, welche an die Uebergabe
der Güter selbst sich anknüpfen würden.
Wir yerschliessen uns aber nicht der Einsicht, dass das Lager*
pfandscheinsystem entsprechend reformiert, spezieU für den landwirt-
schaftlichen Mobiliarkredit immerhin Bedeutung gewinnen mag. Die
Lagerhausgenossen z. B. kostet die zweite Unterschrift nichts, denn
sie wird von dem Genossenschafkszentralverband gegeben, und dem
bäuerlichen Yerpfönder wäre es so thatsächlich möglich, wie es die
Absicht des Gesetzgebers gewesen ist, Geld auf seine Ware zu dem-
selben Zinsfusse zu bekommen, welchen die Bank für gute Wechsel
berechnet, also zu dem billigsten, der im Geldmarkte überhaupt
möglich ist.
Wir glauben daher nicht, dass das Lagerpfandscheins jstem über-
haupt beseitigt werden soll; nur die Beschränkung des Handels mit
seinen vielfach anderen und wechselnden Bedürfnissen auf dieses
System soll entfallen. Im Gesetze wären neben der Ausgabe von
einfachen Lagerscheinen im Sinne des deutschen Gesetzes, die von
Lagerpfandscheinen und' endlich die von Lagerscheinen nach dem
Muster des englischen Zweischeinsystems zu regeln und es wären
die öffentlichen Lagerhäuser zu verpflichten, dem Einlagerer den
Warrant in derjenigen Form auszustellen, in der er dies verlangt. Die
österreichisch-ungarische Bank aber wäre zu autorisieren, einfache
Warrants über Waren, die einen Börsenkurs besitzen, zum Lom-
bard zuzulassen. Mit Becht weist Gamp ^ darauf hin, dass die Risken
der Bank bei der Effektenlombardierung, die sie anstandslos unter-
nimmt, viel grösser sind als bei der Lombardierung gewisser Waren-
gattungen. Wenn die Bank Getreide beispielsweise mit 80®/o des
Wertes bevorschusst, so bleibt ihr bei dem gegenwärtigen Durch-
schnittspreisstande von 8 Kronen eine Marge für Preisschwankungen
von 1,60 Krone, wobei ihr im Falle der Wertverminderung, die
bei börsenmässig gehandelten Waren leicht kontrollierbar ist, un-
benomimen bleibt, Verstärkung des Pfandes zu verlangen. Für das
immerhin grössere Bisiko, mit dem die Lombardierung dem Wechsel-
bezw. Warrantescompte gegenüber verbunden ist, wäre — nach dein
Vorschlage Gamps — die Bank durch eine kleine Provisioii ent-
schädigt.
Eine derartige Ausgestaltung des Warrantwesens, welche den
1 Gamp, Der landwirtschaftliche Kredit. Berlin 1894, S. 164 ff.
J48 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [234
yerschiedensten Bedürfnissen Rechnung trägt, müsste auf den Handels-
verkehr ausserordentlich belebend zurückwirken und wäre ein Gewinn
für die gesamte Volkswirtschaft.
Wie im Gesetz, so müssten auch in tarif arisch er Beziehung
alle Sonderbegünstigungen dadurch verschwinden gemacht werden,
dass die für das städtische Lagerhaus bestehenden auf alle Unter-
nehmungen ausgedehnt werden, damit die Privatthätigkeit nicht ge-
hemmt ist. Wenn das städtische Lagerhaus reorganisiert würde,
könnte es wohl einen grösseren Verkehr des ümschlagdienstes und
des Lagergeschäftes besorgen, wäre aber auch dann nicht in der
Lage, den ganzen Verkehr zu bewältigen, insbesondere in den Herbst-
monaten unmittelbar nach der Ernte. Auch können die ferneren
Schicksale des Handels in Wien nicht länger von den Wechselfällen
und Zufälligkeiten der Gemeindepolitik abhängig bleiben.
Für eine Reorganisation des Donauumschlags im Jahre
1890 waren zu der Zeit, als sie das erste Mal erwogen wurde, zwei
Alternativen vorhanden. Die eine, die freie Konkurrenz begünstigende,
war die Ausrüstung eines vom städtischen Lagerhause unabhängigen,
jedermann frei zugänglichen Landungsplatzes für den Umschlag, die
andere eine Erweiterung der städtischen Lägerhausanlagen.
Die erstere Alternative, obwohl die im Interesse der allgemeinen
Entwickelung vorteilhaftere, konnte, teils wegen der Zerstückelung
der Uferplätze, teils deshalb praktisch nicht in Betracht kommen,
weil weder die Donauregulierungskommission noch die Regierung
die Neigung bekundeten, die notwendigen Investitionen vorzunehmen.
Die Donaudampfschiffahrtgesellschaft, welche als die an einer glatten
Abwickelung des Donauumschlags meistbeteiligte Partei am ehesten
berufen gewesen wäre, diesbezüglich Einrichtungen zu treffen, gab
wohl ein umfassendes Reorganisationsprojekt zum besten, lehnte aber
selbst dessen Ausführung ab.
Diese Investitionen vorzunehmen war aber unter allen am Prater-
quai vertretenen Verkehrsinstituten das städtische Lagerhaus, als das
bedeutendste und für den Handel wichtigste, nicht nur in erster
Reihe berufen ^ sondern dank kleiner Privilegien und der grösseren
Unterstützung, die ihm als dem Institut einer öffentlichen Korpora-
tion seitens der öffentlichen Verwaltung und der Eisenbahnen vor
dem Privatkapital sicher war, in finanzieller Beziehung am ehesten
in der Lage. Denn es kamen selbst nur für die Aufstellung von
Elevatoren bedeutende Investitionen in Frage, weil der Unternehmer
erst an Stelle der geböschten Ufer senkrechte, steinerne Quaimauern
herstellen muss, was sonst überall bereits bei der Anlage des Hafens
235] ^16 Reform des Lagerhaus- nnd Verkehrswesens. I49
zu geschehen pflegt. Auf geböschten Ufern ist die Einrichtung eines
rationellen Maschinenbetriebs unmöglich, weil z. B. am Donaudurch-
stich bei Niedrigwasser die Schiffe 16 m von der Böschungskante
abstehen. Bei dieser Distanz, die gegenwärtig schon eine Arbeits-
Verschwendung im Gefolge hat, indem sie der Arbeiter mit jedem
einzelnen Sacke durchlaufen muss, müssten Erahne und Elevatoren,
um bis zur Mitte der Schleppe zu reichen, eine Ausladung von
20 m haben, was das Doppelte der allgemein üblichen Ausladung ist,
wodurch der Effekt des Maschinenbetriebs natürlich aufgehoben
werden würde.
Die Hoffnungen der Eaufleute blieben also auf das städtische
Lagerhaus beschränkt. Der Direktor desselben, dem es an Einsicht
in die Bedürfnisse des Handels und an üuternehmungssinn nicht zu
fehlen scheint , wies auch bereits Ende der achtziger Jahre ^ auf
die Notwendigkeit einer neuerlichen bedeutenden Erweiterung der
Lagerhausanlagen, der Einführung des Maschinenbetriebs, sowie der
Aufstellung mechanischer Reinigungsvorrichtungen hin. Aber der
Direktor ist nur ein Beamter der Kommune — und die Kommune
that nichts.
Die Kaufmannschaft appellierte an die Regierung, worauf diese
im Jahre 1887 der Wiener Handelskammer ein Elaborat über die
Reorganisation der Wiener Landungsplätze abforderte. Nach weiteren
drei Jahren, während welcher die Klagen der Kaufleute immer
dringlicher wurden, veranstaltete das Handelsministerium im No-
vember des Jahres 1890 unter dem Vorsitze des Sektionschefs Ritter
V. Bazant die mehrfach citierte Enquete unter Zuziehung von Ver-
tretern sämtlicher am Donauumschlag interessierter Korporationen,
der kaufmännischen sowohl als der Transportunternehmungen. Die
geschilderten Uebelstände wurden nun aktenmässig festgestellt;
aber heute noch, elf Jahre nach Veranstaltung dieser Enquete,
befindet sich der Wiener Donauumschlag, von einigen un-
zureichenden Verbesserungen und Erweiterungen ab-
gerechnet, in derselben Verfassung wie damals! Eine
Besserung der Verhältnisse beim städtischen Lagerhause war 1892
dadurch herbeigeführt worden, dass die Donaudampfschiffahrtsgesell-
schaft auf die Mitbenutzung der Station „Wien-Lagerhaas* ver-
zichten konnte, da sie die Errichtung einer eigenen Station „Wien-
Praterquai* für ihren Bahnverkehr erwirkt hatte, mit jenen Be-
schränkungen allerdings, welche früher gekennzeichnet wurden.
1 Rechenschaftsberichte 1886, 1887, 1888.
150 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [236
Im Jahre 1893 endlich schien eine günstige Wendung eintreten
zu sollen. Der damalige Bürgermeister Grübl setzte sich wegen
Reorganisierung des städtischen Lagerhauses mit dem k. k. Handels-
ministerium ins Einvernehmen. Durch Intervention desselben und
durch das Entgegenkommen der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft
konnte es einen bis dahin von der letzteren okkupierten, an ihre
Lände angrenzenden Landungsplatz unter günstigen Bedingungen
pachten und dadurch seine Leistungsfähigkeit für den Umschlag-
verkehr erheblich steigern. Während früher nur 9 Schiffe angestellt
werden konnten, war jetzt die Anstellung von 14 Schiffen möglich
und konnten 100 — 140 Waggons gegen früher 70 — 100 täglich um-
geschlagen werden.
Gleichzeitig wurden Schritte zu einer Ausgestaltung der Magazins-
anlagen und zur Einführung des Maschinenbetriebes eingeleitet. Unter
dem 21. Juli 1894 richtete der Bürgermeister an das Handelsmini-
sterium eine Eingabe ^, worin die Gemeindevertretung sich bereit
erklärte, mit einem Kostenaufwand von 1400000 fl. Lagerhäuser zu
erbauen, unter der Voraussetzung, dass die Regierung auf 50 bis
60 Jahre folgende Begünstigungen gewähre:
1. Auflassung des Pachtzinses für die Maschinenhalle per 4000 fi.
und Erneuerung des mit 31. Dezember 1895 ablaufenden Pacht-
vertrages über dieses Gebäude.
2. Auflassung des Pachtzinses für die Donauregulierungsgründe
per 6000 fl. und Verlängerung des bezüglichen mit 1. März 1904
ablaufenden Pachtvertrages.
3. Auflassung der Kosten für die Zollamtsexpositur im Lager-
hause per 2800 fl.
4. Auflassung der Kosten für die Expositur der k. k. Staats-
bahnen itn Lagerhause per 5000 fl.
5. Gleichstellung der Frachtsätze für Wagenladungssendungen
von und nach Wien städtisches Lagerhaus mit jenen von und nach
Wien Nord-, Nordwest- und Staatsbahnhof, sowie entsprechende
Ermässigung der Frachtsätze im Verkehre von und nach Wien Süd-
und Westbahnhof, unter ausschliesslicher Geltung dieser tarifari-
schen Begünstigungen für das städtische Lagerhaus, sowie für jedes
andere Unternehmen, welches Neuanlagen für Lagerhäuser und Um-
schlagzwecke in Wien um den Betrag von mindestens einer Million
Gulden macht.
Amtsblatt der Stadt Wien, 15. März 1895.
237] I^iß Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 151
6. Stempel- und Gebührenfreiheit für ein etwa aufzunehmendes
besonderes Lagerhausanlehen.
7. Befreiung von der Hauszins-, Erwerb- und Einkommensteuer.
Gleichzeitig schickte der Qemeinderat zwei Beamte auf eine
Reise zum Studium der ausländischen Lagerhaus- und ümschlags-
einrichtungen.
Am 28. Februar 1895 erfolgte die Antwort des Handelsministers,
derzufolge der Gemeinde für den Fall der geplanten Investition
folgende Eonzessionen gemacht wurden:
Das Handelsministerium bewilligt die Herabminderung des Pacht-
zinses auf einen Anerkennungszins von 100 fl. jährlich.
Die Donauregulierungskommission überlässt der Gemeinde Wien
die Grundstücke, auf denen die Lagerhäuser sich befinden, den Lan-
dungsplatz und die von der Verbindungsbahn bedeckte Fläche un-
entgeltlich als Eigentum unter der Bedingung, dass die Gemeinde
Wien unverzüglich der genannten Kommission die Möglichkeit der
Verwertung der bisher durch den provisorischen Bestand der Lager-
hausanlage unverbaubaren Ufergründe durch Bestimmung der Bau-
linien und Erteilung der Parzellierungsbewilligung hierfür sichere.
Das Zehrgelderpanschale für die Zollamtsexpositur wurde auf
800 fl. ermässigt.
In zwei wichtigen Punkten aber lautete der Bescheid un-
befriedigend. Das Finanzministerium verweigerte die Steuer- und
Gebührenfreiheit mit der Begründung, dass dies der seit Jahren be-
stehenden üebung zuwiderlaufe und ein Präjudiz für künftige ähn-
liche Fälle schaffen würde und die Verwaltung der für den Getreide-
verkehr und somit für den Verkehr des Lagerhauses wichtigsten
Eisenbahn, der Staatseisenbahngesellschaft, machte überhaupt keine
Zugeständnisse. Dadurch schien der Gemeinde die Möglichkeit
der Heranziehung des Eisenbahnverkehrs nicht in jenem Umfange
verbürgt, welcher eine angemessene Verzinsung des zu investie-
renden Kapitals ermöglichen konnte. Dazu kam noch, dass das
Ersuchen der Gemeinde um Festlegung des bisher immer nur auf
10 Jahre abgeschlossenen Pachtvertrages auf 50 — 60 Jahre vom
Handelsministerium abschlägig beschieden wurde. Die Maschinenhalle
wäre im Falle einer Rekonstruktion dazu ausersehen gewesen, eine
grosse Dampfputzerei zu beherbergen, und es ist begreiflich, dass
man sich nicht gerne in einem Hause kostspielig installiert, in dem
man bloss zu Gaste ist, wenn auch eine Aufkündigung der Gastfreund-
schaft in diesem Falle nicht wahrscheinlich war. Der Mangel an Ent-
gegenkommen, den das Handelsministerium in einem Falle bekundete.
152 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [238
WO es sich um Interessen handelte, die zu fördern es berufen ist,
erscheint aber um so unbegreiflicher, als die Möglichkeit einer ander-
weitigen nützlicheren Verwendung für die Maschinenhalle anscheinend
nicht bestand.
Auf die Entscheidung des Handelsministeriums reagierte die
Kommune daher am 1. April 1895 mit einer Eingabe, worin sie
erklärte, ohne die vorerwähnten Begünstigungen auf die Errichtung
der beabsichtigten , kostspieligen und nur geringen Ertrag yerheis-
senden Neuanlagen' sich nicht einlassen zu können. Die Antwort
des Handelsministeriums erfolgte sehr prompt, schon am 13. April
1896; das Handelsministerium erklärte, nicht weiter gehen zu kön-
nen. Inzwischen war der Regimewechsel im Gemeinderate erfolgt
und nun verfiel die Sache wieder vollständig; sogar die Pläne, die
auf Grund des reichen Materials, welches die beiden Beamten von
ihrer Studienreise heimgebracht hatten, ausgearbeitet worden waren,
sollen in Verstoss gekommen sein.
Die Gemeinde beschränkte sich darauf, mit dem k. k. Oberst-
hofmeisteramt die Vereinbarung wegen Benützung der hofararischen
Grundflächen und mit dem k. k. Handelsministerium den Vertrag
wegen üeberlassung der Maschinenhalle unter den alten Bedingungen
auf die Dauer von 15 Jahren bis 31. Dezember 1911 zu erneuern.
Seither wiederholt der Direktor des städtischen Lagerhauses
Jahr für Jahr dringlicher seinen Appell zur Reorganisation des
Lagerhauses, jedoch erfolglos. So ist die kostbarste Zeit, die Zeit
eines ungeheuren Verkehrsaufschwungs, welchen man für das städtische
Lagerhaus fast konkurrenzlos hätte ausnützen können, versäumt,
d. h. nicht genützt worden.
Inzwischen ist durch den Bau des Freudenauer Winterhafens
eine neue Situation entstanden, welche eine Initiative der Kommune
noch viel weniger erhoffen lässt; denn selbstverständlich kann niemand
der Gemeinde die Garantie dafür bieten, dass nicht im Hafen Eon-
kurrenzuuternehmungen entstehen. Nunmehr wird es die Aufgabe
der öffentlichen Verwaltung sein, den Handel nicht länger auf ihre
so schwerfällig erfolgenden Entschlüsse in Fragen der Handelsförde-
rung warten zu lassen, sondern mit allen Mitteln die Ausgestaltung
des Hafens zu einem Handelshafen zu fördern und dies um so rascher,
als anders die Eonkurrenzbestrebungen der ungarischen Stapelplätze
nicht durchkreuzt werden können. Vorerst rückt diese Ausgestaltung
nur sehr langsam von der Stelle und es scheint fast, als ob die Ent-
wickelung auch hier vielfach von denselben Hemmnissen aufgehalten
werden sollte, als die des städtischen Lagerhauses.
239] 1^6 Reform der Produktenbörse und des Geschäftsverkehrs. 153
Um dem vorzabeugen, erscheint es uns als unerlässlich, dass
eine Permanenzkommission f&r den Donannmschlag in Wien
aus Vertretern sämtlicher an demselben beteiligter Korporationen,
Vertretern der Kaufmannschaft, Transport- und Lagerhausunter-
nehmungen und der Ressortministerien, gebildet werde, damit ein
enger Kontakt das unleidliche langwierige bureaukratische Markten
der öffentlichen Verwaltung mit den Unternehmungen und den Kauf-
leuten überflüssig mache und die erstere Fühlung mit den Bedürf-
nissen des Tages behalte.
2.
Die Beform der Produktenbörse und des Qeschäftsverkehrs.
Eine allgemeine Untersuchung über die notwendigen Beformen
der Produktenbörse und ihrer Einrichtungen kann natürlich nicht
in den Bahmen dieser Arbeit fallen. Es sei uns indes gestattet, die
wesentlichsten Fragen, die diesbezüglich in der Terminhandelsenquete
zur Sprache gebracht worden sind, zu berühren, und die Art ihrer
Lösung, die wir für zweckmässig halten, mit wenigen Worten an-
zudeuten.
Was die Konstitution der Börse betrifft, so erscheint uns eine
Verstärkung des schon bestehenden Einflusses der Begierung auf die
Angelegenheiten der Börse wünschenswert und im allgemeinen Inter-
esse gelegen; so namentlich in Beziehung auf die Usancen. Die
Wohlthat, welche die Börsensancen im allgemeinen für den Verkehr
bedeuten, ist unbestritten; aber unleugbar haben sie gewisse Ge-
fahren. Es triflt, wenn auch formell, doch nicht immer faktisch zu,
dass die Unterwerfung unter die Börsensancen eine freiwillige ist;
faktisch bleibt dem Käufer oder dem Verkäufer oft nur die Wahl,
entweder das Geschäft unter Berufung auf die Börsensancen abzu-
schliessen oder auf die Benützung eines heute noch immer unent-
behrlichen Apparates des zentralen Handels zu yerzicbten. Denn
der Händler auf dem Börsenplatze kann einfach nur erklären, dass
er das Geschäft anders als auf Grund der Börseusancen nicht mache.
Es wird daher zu erwägen sein, ob die bestehenden Garantien dafür,
dass bei Abfassung der Usancen alle am Getreidehandel interessierten
Wirtschaftskreise gleichmässig berücksichtigt werden, nicht zu ver-
stärken seien. Ein Genehmigungsrecht der Begierung rücksichtlich
neuer Usancebestimmungen halten wir für unzweckmässig, weil damit
der Verkehr Hemmungen durch den langsamen Bureaukratismus in
154 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [240
einer ihm unzuträglichen Weise ausgesetzt wäre \ Das Bedürfnis
nach Einführung einer neuen oder Abänderung einer bestehenden
Usance ergibt sich oft aus solchen Bedürfnissen, welche momentan
befriedigt werden wollen, so bezüglich solcher Usancen, welche nicht,
wie die Bestimmung, dass der nicht rechtzeitig erhobene Protest
Rechtswirkung nach sich ziehe, abstrakt-rechtlichen Charakters sind,
sondern auf faktische Verkehrsgebräuche sich beziehen und be-
stehenden Verhältnissen in den Verkehrseinrichtungen angepasst sind,
wie etwa die Bestimmung der ertlichkeiten, wo Usanceware im
Termin vorgelegt werden darf.
Mehr empfehlen würde sich noch die von den Börsenexperten
angeregte Einführung eines Vetorechts der Regierung rücksichtlich
solcher Usancen, welche gegen den Grundsatz von Treu und Glauben,
oder gegen die bestehenden Gesetze Verstössen. Jedenfalls wäre,
wie von einem Börsenexperten vorgeschlagen wurde ^, der Börse
rücksichtlich der Einführung neuer Usancen weitgehende Publi-
zierungspflicht aufzuerlegen und eine Publizierungsfrist von 4 bis
8 Wochen einzuführen, welche den Interessenten Gelegenheit geben
soll, Beschwerden gegen die Einführung der Usance vorzubringen.
Das sofortige Inkrafttreten der Usancen aber könnte an ein bestimmtes
Majoritätsverhältnis bei der Beschlussfassung geknüpft werden.
Was die Verfassung der Börse betriflft, so wird sich zunächst
die Notwendigkeit ergeben, eine Form für eine entsprechende Ver-
tretung der Landwirtschaft in der Börsenverwaltung zu finden, ohne
die Gerechtsame der Börse anzutasten. Hier liegt ein ähnlicher Fall
vor wie bei den Usancen, Das heutige Statut bietet den einzelnen
Landwirten formell die Möglichkeit einer Vertretung. Die Land-
wirte können Börsenmitglieder werden und haben als solche das
Wahlrecht. Aber der einzelne Landwirt hat zum Besuche der Börse
weder Zeit, noch Geld, noch auch ein direktes Interesse daran.
Soweit er Verkäufer von Getreide ist, kommt er mit dem Wiener
Handel meist nicht in Berührung, soweit er Käufer von Futtergetreide
ist, erhält er dasselbe durch den Zwischenhandel, oder durch die
Genossenschaft. Die Landwirtschaft kann daher nur kurialmässig
als Landwirtschaft im Börsenvorstande vertreten sein^.
Diese Kurialvertretung dürfte nach Gesetzwerdung der Vorlage
^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 511 ff. —
Exp. ScHwiTZKR. Ebenda III, S. 536.
^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete S. 597 ff. Der-
selbe, ebenda S. 632.
^ Exp. Landesberger. Stenogr. Prot. II, S. 178.
241] I^ie Reform des börseninässigen Terminhandels in Getreide. 155
über die landwirtschaftlichen Bemfsgenossenschaften wohl am besten
dem Zentralverbande derselben entnommen werden; es wird aber
gleichzeitig eine Form gefunden werden müssen, in welcher die
Landwirtschaft ebenso wie gegenwärtig die Industrie- und Handels-
kreise, zur Erhaltung der Institution, die sie benützt, beiträgt, sei
es durch Leistung eines Pauschales, sei es, dass der Staat für sie
einen Beitrag zu den Unterhaltungskosten liefert.
Gegen die Institution des Schiedsgerichtes der Börse sind
prinzipielle Beschwerden nicht erhoben worden. Dasselbe funktioniert
heute zur Befriedigung aller Parteien und ist eine dem Handel wirk-
lich unentbehrliche Institution. Von prinzipieller Bedeutung ist unter
den angeregten Reformen des Schiedsgerichtes nur die Professor
Adlers, dass das Amt eines Börsenrates von dem eines Schieds-
richters getrennt sein solle, und dass, wenn Schiedsrichter Klienten
sind, nur Listenrichter ^ als Schiedsrichter fungieren sollen. Der erste
Vorschlag ist im Börsenrate angeblich wiederholt erwogen, aber ab-
gelehnt worden, weil bei dem kleinen Kreise des Wiener Geschäftes
sich nicht genug Persönlichkeiten finden und gerade die Personen-
frage beim Schiedsrichteramte massgebend ist'; die Einführung der
zweiten Massregel würde die Vorteile des Schiedsgerichtes in jener
überwiegenden Zahl der Fälle illusorisch machen, wo es sich um
Warenexpertisen handelt.
3.
Die Beform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide.
Die Terminhandelsenquete hat in der gegenwärtigen Organi-
isation des Getreideterminhandels an der Börse für landwirtschaftliche
Produkte eine Reihe von Gebrechen aufgezeigt, deren Beseitigung
unerlässlich ist, damit der Terminhandel seine handelstechnischen
Funktionen in zweckentsprechender Weise erfülle. Möglich aber
wird, wie die folgende Untersuchung zeigen wird, diese Beseitigung
zum überwiegenden Teile nur werden durch die Reorganisation des
Lagerhauswesens.
Wenn wir die Gebrechen Punkt für Punkt in den Kreis unserer
Betrachtung ziehen, in der Reihenfolge, wie sie der den Experten
in der Terminhandelsenquete vorgelegte Fragebogen aufweist, so
haben wir zunächst die Kriterien der Lieferungsqualität,
welche die Börseusancen aufstellen, zu überprüfen. Rücksichtlich
^ Eaufleute, die nicht dem Stande der Börsenbesucher angehören.
* Exp. Weiss. Stenogr. Prot. II, S. 636.
156 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [242
der Mais- und der Hafertype ist eine nennenswerte Beschwerde
nicht geführt worden. Dagegen war die Weizentype der Gegen-
stand heftiger Klagen Ton Seite der kleinen Müller.
Das Schlagwort, dass der Usance weizen nicht mahlfähig sei,
muss indes nach den Ergebnissen der Enquete als unrichtig be-
zeichnet werden ; eine Reihe von authentischen XJsanceweizenproben^
welche in der Enquete untersucht worden sind, haben sämtlich ein
Handelsgut mittlerer Art und öüte, wie es den Bestimmungen des
Handelsrechtes entspricht, ergeben, und die von den Usancen auf-
gestellten Kriterien entsprechen dem Durchschnitt der österreichi-
schen Weizenproduktion, wo sie ihn nicht noch übertrefiFen K
Dafür, dass sie auch dem Durchschnitte des ungarischen Getreides
entsprechen, wurde die Thatsache angeführt, dass die ungarischen
Grossgrundbesitzer bei Vorverkäufen niemals mehr als Usancequalität
garantieren. Aber eines ist richtig! Die durch die Usancen auf-
gestellten Kriterien des Hektolitergewichtes und der Zusatzmenge
sind nicht die für den Kons um wert des Weizens entscheidenden;
der Klebergehalt, die Glasigkeit, die Stärke der Schale, die Back-
föhigkeit sind es. Bei vorhandenem Gradierungswesen sind diese
Eigenschaften gewissermassen öfiFentlich und notorisch durch die
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Grade bestimmt. Unter unseren
Verhältnissen können sie immer nur von Fall zu Fall auf Grund-
lage eines Musters und der Provenienz oder einer Mahlprobe in-
dividuell bestimmt werden. Wer Terminweizen kauft, weiss nie^
wie derselbe effektiv aussehen, welche spezifischen Eigenschaften^
welchen Grad der Backfähigkeit er besitzen wird; dazu kommt,
dass der Verkäufer, da er den Weizen nicht immer in genau der
den Usancen entsprechenden Kondition vorfindet, um seinen Liefe-
rungsverbindlichkeiten nachkommen zu können, oft genötigt ist, den
minderen Weizen durch Mischung mit besserem usancefahig zu
machen ^; es kann aber auch umgekehrt vorkommen, dass er zu
besserem, den er schon hat, minderen hinzukauft und mischt, weil
niemand mehr liefert als er muss. Durch die Mischung verschiedener
Provenienzen kann aber die Mahl- und Backfähigkeit des Weizens
beeinträchtigt werden, und nicht einmal, wenn ihm die Usanceware
bereits zugekündigt worden ist, ist der Müller in der Lage, den Grad
der Mahlföhigkeit zu bestimmen, da der einzige Anhaltspunkt für
«
^ Eommissionsmitglied der Terminhandelsenquete Hofrat Juraschek. Ste-
nogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 94 95. — Exp. Führich. Ebenda II,
S. 384, 385.
* Exp. Schwitzer. Ebenda S. 37.
248] ^^^ Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 157
eine momentane Bestimmung, die Kenntnis der Provenienz, fehlt.
So kann er erst, wenn der Weizen in seiner Mühle ist und er eine
Mahlprobe davon gemacht hat, sehen, wie er daran ist. Eine rationelle
Verwertung der untergeordneten Weizenqualitäten ist aber nur in
den örossbetrieben möglich, wo dieselben dem Mahlgute, welches
von Fall zu Fall aus dem reichen Assortiment verschiedener Quali-
täten, das die Grossmühle stets auf Lager hat, zusammengemischt
werden muss, in kleinen Partien beigemischt wird. Eine kleine
Mühle dagegen wird sich damit oft schwer zu helfen wissen.
Während in Amerika durch die gemeinsame Grundlage des
Gradierungswesens für das Effektivgeschäft und das Termingeschäft
ein enger Zusammenhang zwischen effektivem Handel und Speku-
lation hergestellt ist, besteht so bei uns ein gewisser Gegensatz
zwischen diesen beiden Elementen des Getreidehandels : der börsen-
mässige Terminhandel in Weizen kann immer nur wesentlich handels-
technische Funktionen erfüllen, soweit ein konkretes, individuell
bestimmtes Warenbedürfnis in Frage kommt, ist seine Leistungs-
fähigkeit begrenzt, wenn er nicht überhaupt versagt. Das ist eine
Thatsache, die man nicht ändern kann, mit der man sich um der
grossen Vorteile willen, welche der börsenmässige Terminhandel
auch in dieser Begrenztheit seiner Leistungsfähigkeit bietet, ab-
finden und der man sich anzupassen suchen muss. Ein vernünftiger
Müller, bemerkte ein Experte aus den Kreisen der Grossmühlen-
industrie ^^ , kommt nicht in die Lage, ihn (den XJsanceweizen) zu
beziehen, sondern nur ihn schuldig zu sein oder ihn zu decken;
bezieht er ihn aber, so wird er sich um die heurige Provenienz
des Terminweizens erkundigen, was am Markte wohl zu erfahren
ist.* Erleichternd würde aber vielleicht die Einführung wirken,
dass bei Kündigung der Ware die Provenienz derselben, soweit sie
dem Kündiger bekannt ist, wahrhaft angegeben wird, wodurch der
Müller in die Lage gesetzt wird, sein Engagement eventuell recht-
zeitig zu realisieren. Daneben wäre vielleicht eine grössere In-
dividualisierung der Type dadurch herbeizuführen, dass nach dem
Vorschlage des Direktors der k. k. Samenkontrollestation ^ neben
dem Effektivgewicht, dem Hektolitergewicht, auch das absolute
Korngewicht unter die Kriterien der Usancefähigkeit aufgenommen
wird, da auch dieses wertbestimmend ist. Das zulässige Minimum
des Zusatzes würde, statt wie gegenwärtig in Zählprozenten, rich-
^ Exp. Das. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 434.
^ Eommissionsmitglied der Terminhandelsenquete Ritter v. Weinzierl.
Ebenda I, S. 409, 410.
158 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [244
tiger in Qewichtsprozenten unter Spezialisierung der Beisatzarten
ausgedrückt werdend Bei Hafer besteht diese Fixierung nach
Gewichtsprozenten bereits uud hat sich bewährt. Mit den ver-
schiedenen Vorschlägen, die Aufstellung mehrerer Typen oder von
Typenskalen betrefiPend, befassen wir uns nicht, da sie, selbst wenn
ihre Aufstellung ohne Gradierungswesen durchführbar ist ^, was wir
in Anbetracht der Mannigfaltigkeit der Spielarten bei uns bezweifeln,
für praktisch bedeutungslos. Wer eine spekulative Operation aus-
zuführen hat, wird sie immer nur in jener Lieferungsqualität aus-
führen, die er im Ernstfalle leicht zu beschaffen sicher sein kann,
das ist die fungible Durchschnittstype; und wer Gharakterweizen
braucht, kann dieses Bedürfnis im Wege des handelsrechtlichen
Lieferungsgeschäftes befriedigen. Der Terminhandel wird sich also
nach wie vor auf eine Type verlegen.
Erwägenswerter ist, ob nicht das Effektivgewicht je nach dem
Ausfall der Ernte alljährlich neu festgesetzt werden solle, um der
Gefahr zu begegnep, dass durch ein zu niedrig angenommenes
Qualitätsgewicht der Wert der besseren Ware herabgedrückt wird,
obwohl bei dem Umstände, als 95 ^/o des an der Wiener Börse ge-
handelten Getreides ungarischer Provenienz importiert sind, unsere
Volkswirtschaft, die Landwirtschaft mit inbegriffen, davon nur
profitieren könnte. Thatsächlich war diese jährliche Festsetzung an
der Produktenbörse bereits in Uebung, wurde aber wegen der
Angriffe, welche sie den Börsenräten jedesmal von Seite derjenigen
eintrug, die durch die Festsetzung sich benachteiligt fühlten, wieder
aufgegeben ^.
Was die übrigen Getreidegattungen betrifft, so gilt das von
der Weizentype Gesagte von der Roggentype nur mehr in sehr
geringem Grade, von der Mais- und Hafertype aber überhaupt nicht
mehr. In diesen beiden Getreidegattungen besteht die hervor-
gehobene Trennung zwischen Spekulation und Handel nicht mehr
in so hohem Grade und es werden speziell in der ersteren Waren-
gattung mehr als 50 ^/o des effektiven Bedarfs direkt im Wege des
börsemässigen Termingeschäftes befriedigt.
Rücksichtlich der Lieferfristen würde sich eine Verkürzung
^ Weinzierl. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 412, 413.
^ Man darf da nicht auf England verweisen ; den Londoner Standardtjpen
liegt, 80 weit amerikanisches Getreide in Betracht kommt, das amerikanische
Gradierungswesen, för indisches und russisches Getreide die Nummerierung des
Exporthandels zu Grunde.
' Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete 11, S. 154.
245] I^iß Reform des börsenmäsaigen Terminhandels in Getreide. 15&
der zweimonatlichen Lieferfrist empfehlen, weil dieselbe, wenn auch
unabsichtlich, auf eine Begünstigung des Verkäufers hinausläuft.
Sie ist unter dem Zwang der geschilderten Transportschwierigkeiten
entstanden, welche das EintrefiFen der Ware fast unberechenbar
machten ; wenn aher auch die Schwierigkeiten auf der Donaustrecke
Budapest - Wien , speziell von Pressburg aufwärts, noch immer
gross sind, so ist .es doch gewiss, dass seit der Fixierung der zwei-
monatlichen Lieferfrist für den Verkäufer die Transportyerhältnisse
im allgemeinen sich genügend gebessert haben, dass der Versuch
einer Verkürzung der Lieferfrist nicht gerade sehr gewagt sein
dürfte.
Eine ganze Reihe gewichtiger Beschwerden und Beschuldigungen
gegen den börsemässigen Terminhandel würde gegenstandslos, wenn
objektive Garantien gegen die Kündigung unkontraktlicher
Ware und gegen die sog. Scheinkündigungen geschaffen
würden, d. h. Kündigungen, welche erfolgen, ohne dass der Kündiger
über Ware verfügt und durch Aufstellung eines scheinbaren Em-
pfangers, eines Strohmannes, wieder zurückgezogen werden.
Was die Abstellung des ersten Mangels betrifft, so wäre er in
zuverlässiger Weise nur möglich, wenn nach dem Muster der an
der Pariser Bourse du commerce üblichen expertise de qualite^
eine amtliche Prüfung der Ware vor Abkündigung stattfindet. Da
bis zur Uebernahme die Ware schadhaft werden kann, so findet in
Paris ausserdem noch eine zweite Feststellung bei Uebernahme statt,
die sog. Expertise de conservation. Auch die Aeltesten der Berliner
Kaufmannschaft haben, um das Verbot des Terminhandels aufzu-
halten, diese Vorexpertise angeboten ^. Die Einführung dieser Vor-
expertise wäre freilich mit unwirtschaftlichen Spesen für den Handel
verbunden. Das Gros der Ware langt in Schiffen an; eine end-
gültige Prüfung der Ware ist, solange dieselbe im Schiff sich be-
findet, schwer möglich, da sich Mängel oft erst bei der Ausladung
nach Massgabe, wie die einzelnen Schichten zu Tage gefördert
werden, zeigen. Das zu kündigende Getreide müsste also ausnahms-
los erst zu Lager gebracht werden, während es sonst oft, insbesonders
Mais, direkt aus dem Schiff in den Waggon umgeschlagen und ver-
sendet wird. Aber andererseits wäre gerade durch diesen Lager-
zwang die sicherste Garantie gegen Scheinkündigungen geboten.
Der Kündiger wäre dann in der Lage und dazu zu verhalten, dem
* Referent Scheimpflug. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 163.
^ Referent Scheimpflug. Ebenda I, S. 164.
IgO ^61^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [246
Kündigungsbogen den Lagerschein eines öffentlichen Lagerhauses
oder einer Transportunternehmung, oder wenn die Ware in einem
Privatdepot liegt, eine Bescheinigung des Börsenamtes, welches sich
durch einen Beamten von dem Vorhandensein der Ware überzeugt,
anzuheften.
Das Börsesekretariat wiederum wäre auf Grund der Registrierung
dieser Warrants auch in der Lage, einem Missbrauch, der mit den
Yon ihr ausgegebenen EündigungsbuUetins Ton einem gut Infor-
mierten einem weniger gut Informierten gegenüber derzeit möglich
war, Torzubeugen. Es kann nämlich ein und dieselbe Warenpost
während eines Liefertermins in ganz legitimer Weise wiederholt zur
Kündigung kommen, wodurch die durch die Kündigungsstatistik des
Sekretariats ausgewiesene Warenbewegung das Quantum effektiver
Ware, welches ihr zu Grunde liegt, oft um ein Vielfaches übersteigt.
Dadurch kann bei dem mit dem wirklichen Zusammenhange nicht
Vertrauten, und das ist in diesem Falle der ausserhalb des Börsen-
platzes Ansässige oder zum Getreidehandel nur fallweise in Beziehung
Tretende, wie z. B. der Oekonom in der Regel, ein unrichtiges Bild
der Marktlage hervorgerufen werden.
Die Voraussetzung der Einführung dieses indirekten Lager-
zwanges durch die Vorexpertise ist aber allerdings die Aenderung
des Lagerhausgesetzes in dem Sinne, dass auch die sog. Priyatlager-
häuser Lagerscheine ausgeben dürfen, und zweitens — und das ist
die Grundvoraussetzung — eine Reorganisation des Lagerhauswesens,
die eine rasche Einlagerung der zur Kündigung bestimmten Waren
ermöglicht und genügenden Raum zur Aufnahme derselben schafft
Inzwischen aber würde es sich vielleicht empfehlen, das Kündigungs-
wesen auf die Basis zu stellen, auf der es in Berlin gestanden hat \
Die Kündigungsblankette mussten dort enthalten:
a) bei Lieferung vom Schiff: den Namen des Schiffers, der
auch in das an der Börse aufgelegte Verzeichnis eingetragen
war, Nummer und Standort des Schleppers, wo derselbe
zur Zeit der Besichtigung bereits angekommen sein musste,
den Ort der Abladung und die Menge der Ladung;
b) bei Lieferungen vom Magazin: die genaue Bezeichnung des
Postens Getreide nach Lagerraum und Menge.
Gegen die Freiheit, welche die Usancen dem Verkäufer rück-
sichtlich der Wahl des Ortes, wo er die gekündigte Ware andienen
1 Pfleger u. Gsqwindt , Die Börsenreform in Deutschland. Stuttgart 1898,
IL Abschn., S. 16.
247] ^^6 Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 161
will, einräumen, wurde die Beschwerde erhoben, dass sie Baisse-
operationen erleichtere; und thatsächlich bieten die Usancen dem
Verkäufer die Möglichkeit, den Käufer durch Vorlage der Ware an
einem abgelegeneren Orte, von wo die Kosten des Abtransportierens
oder die Eisenbahntarife höher sind, zu chikanieren.
Hier kann nur eine gründliche Aenderung der Tarifpolitik der
Eisenbahnen Wandel schaffen, welche die Frachtdisparitäten der ver-
schiedenen Lager- und Landungsplätze beseitigt oder doch mindert.
Von Wichtigkeit schliesslich ist eine Reform in der Methode
der Kursnotierung. Der Terminkurs bedarf für den der Börse
Femstehenden einer Differenzierung, welche das Verhältnis des
Terminkurses zu dem jeweiligen Preisstande der prompten effektiven
üsanceware zum Ausdruck bringt, um zu verhüten, dass von jemandem,
der dieses Verhältnis aus der Erfahrung kennt, einem anderen gegen-
über, der dieses Verhältnis nicht kennt, der Terminkurs schlecht-
hin, als Preismassstab für prompte Ware ausgegeben wird. Die
gleichzeitige Notierung des Kurses, zu welchem usancefähige Ware
prompt beschafft werden kann, und die Notierung der Reportsätze
wäre hier zweckmässig, wenn auch vielleicht nicht ganz leicht durch-
führbar.
Schliesslich haben wir noch die Massregeln zur Fernhaltung
berufsfremder Elemente von der Getreidespekulation und gegen die
Verleitung dazu ins Auge zu fassen; denn nur diese, nicht eine
Unterdrückung der Spekulation überhaupt kann vernünftigerweise
in Frage kommen.
In Rohprodukten des Welthandels ist heute ein Handel ohne
Spekulation undenkbar. Mag sein, dass wir einmal durch die Aus-
gestaltung der Vorrats- und Konsumstatistik zu einer so genauen
üebersicht über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage kommen,
dass die Spekulation, die ja nichts anderes ist, als eine private
Schätzung dieses Verhältnisses, entbehrlich wird — heute und auf
unabsehbare Zeit hinaus ist sie es nicht. Braucht man aber die
Spekulation, so ist es unlogisch, ihr den wichtigsten technischen
Behelf, den Terminhandel, zu nehmen.
Es darf sich daher nur darum handeln, die sog. , Blanko* -
Spekulation möglichst einzuschränken. Diese ist aber nicht objektiv,
sondern nur subjektiv zu fassen. Auch der reelle Kaufmann ist zu
Blankospekulationen im weiteren Sinne des Wortes gezwungen. Bei
ihm sind sie aber wirtschaftlich gerechtfertigt, weil sie ihre Basis
in den realen Marktverhältnissen und in dem Geschäftsbetriebe des
Kaufmanns finden, gemeinwirtschaftlich betrachtet nicht Selbstzweck,
Wiener StucUen. HI. Bd., «. Heft. 11 [17]
162 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [248
sondern Mittel zum Zwecke der Güter Verteilung sind. Wirtschaft-
lich ungerechtfertigt sind nur jene Blankospekulationen , bei denen
dieselben Selbstzweck sind. Ob man es aber mit der einen oder der
anderen Art der Blankospekulation zu thun hat, kann nur nach
subjektiven Momenten beurteilt werden, nach der Person, dem Beruf,
den Yermögensverhältnissen des Spekulanten.
Die neue Givilprozessordnung, bezw. das Einführungsgesetz dazu,
hat im Sinne dieser Auffassung bereits sehr günstig gewirkt. Pro-
zesse gegen Outsiders kommen vor dem Börsenschiedsgerichte nicht
mehr vor. Die Zahl der Klagen aus DifiFerenzgeschäften, welche
im ersten Jahre des Inkrafttretens noch 6 ^/o betrug, ist auf 1,2 ^/o
heruntergesunken.
Der Vorschlag des Experten Professor Schullben, den Ar-
tikel XIII des Börsengesetzes vom 1. April 1875, welcher den DifiFe-
renzeinwand zwischen Börsenmitgliedern ausschliesst, aufzuheben,
kann nicht ernst genommen werden.
Erwägenswert erscheint dagegen der Vorschlag des Experten
Landesbebgeb \ dass bei Geschäften, welche in offenbarem Miss-
verhältnisse zum landwirtschaftlichen Betriebe des Besitzers stehen,
die Einwendung nicht wie jetzt prozessual zu sein brauche, son-
dern von vorneherein ungültig sein soll, was darauf abzielt, den
demoralisierenden Differenzeinwand überflüssig zu machen.
Gegen die allgemeine Aufhebung der Zuschussklausel, welche
von dem Experten Landbsbebgee verlangt wurde, weil sie den Kom-
mittenten dem Kommissionär preisgebe ^, ist mit Becht eingewendet
worden, dass dieselbe einerseits gleichbedeutend wäre mit einer
gesetzlichen Vorschubleistung der Unsolidität und andererseits mit
einer Restriktion der Benützungsmöglichkeit des Terminmarktes
gerade für die kapitalschwächeren Elemente des Getreidehandels,
indem dann der Kommissionär Termingeschäfte nur mit Firmen
machen könnte, die anerkannt prima sind ^.
Gegen Ringbildungen hat das Schiedsgericht das Mittel der
abstrakten Schadensberechnung in der Hand und auch schon in
Anwendung gebracht ^. Darnach hat im Falle der Nichtlieferung der
Haussier nur Anspruch auf den Preis, welcher durch die Verhält-
nisse des Effektivmarktes gerechtfertigt ist, während er bei der
konkreten Schadensberechnung sich im Terminmarkt decken konnte,
* Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 81.
» Ebenda II, S. 172.
8 Exp. HoRoviTZ. Ebenda I, S. 584, 585.
^ Exp. Wei$s, Ebenda I, S. 492. Exp. Kauders. Ebenda I, S. 625.
249] I^ie Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 163
also zu einem willkürlich hohen Kurse, da der Terminmarkt in seiner
Hand war. Mit dieser abstrakten Schadensberechnung sind die
Börsenschiedsgerichte in nachahmenswerter Weise den ordentlichen
Gerichten vorangegangen.
Eine Reform des Kommissionsgeschäftes nach dem Muster des
neuen deutschen Handelsgesetzbuches würde zweifellos auch dazu
beitragen, den Terminhandel von Missbräuchen zu reinigen, die, wie
der Kursschnitt und die Spekulation gegen den Kommittenten, der
Provinz die Frequenz des Terminmarktes erschweren. Da aber
diese Beform nicht die Produktenbörse allein betreffen kann, sondern
allgemeiner Natur ist , so dürfen wir uns hier auf die blosse An-
deutung derselben beschränken.
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