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Full text of "Der Getreidehandel und seine Technik in Wien"

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HARVARD LAW SCHOOL 
LIBRARY 



Receiyed |yyi ^ g 1942 





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HARVARD LAW SCHOOL 
LIBRARY 



Received H/^l l g \^2 




1 



Wiener Staatswissensehaftllclie Studien 

herausgegeben von 

Edmond Bematzik und Engen von PMlippoTloli 

in Wien. 
Dritter Band. Zweites Heft. 



Der 

Oetreidehandel und seine Technik 

^ in Wien. 

Victor Heller. 



Töbingea und Leipzig. 

Verlag von J. C. B. Mohr {Paul Siebeck} 

1901. 









ALLE RECHTE VORBEHALTEN. 



Drnek der Union Dentsche YerlagsgeseUschafl in Stnttgart. 



HEEßN HOFRAT PROFESSOR 



Dß- EUGEN VON PHILIPPOVIGH 



IN DANKBARKEIT UND VEREHRUNG GEWIDMET 



VOM VERPASSEB 



Vorwort. 



Die Aufgabe, welche sich der Verfasser in der yorUegenden 
Scbrifk gestellt hat, war in Anbetracht der Vielseitigkeit der zu 
bearbeitenden Materie nicht immer einfach. Liebenswürdige Unter- 
stützung aber hat ihm die Arbeit wesentlich erleichtert, und der 
Verfasser nimmt gerne Gelegenheit, den zahlreichen Herren zu 
danken, welche ihm mit Bereitstellung yon Aktenmateriale oder 
mit Informationen aus dem Schatze ihrer Erfahrung an die Hand 
gegangen sind. Unter den ersteren fühlt sich der Verfasser ins- 
besondere Herrn Ministerialsekretär Dr. Eaützey im k. k. Handels- 
ministerium und Herrn Marktdirektor kaiserl. Bat Kainz, unter den 
letzteren dem Direktor des städtischen Lagerhauses Herrn Eduard 
Strasse», dem Direktor der ersten österreichischen Aktiengesellschaft 
für öffentliche Lagerhäuser Herrn kaiserl. Bat Wolfbaüeb, dem 
Direktor des allgemeinen Verbandes ländlicher Genossenschaften in 
esterreich Herrn Abgeordneten Dr. Stefan Bighteb, dem Obmann 
des Verbandes ländlicher Genossenschaften in Niederösterreich Herrn 
Landesrat Fasohingbaüeb, dem Vizepräsidenten der Börse für land- 
wirtschaftliche Produkte in Wien Herrn kaiserl. Bat Weil und 
Herrn Grosshändler B. Stbasseb, sowie Herrn Generalsekretär 
Dr. HoBOYiTz zu Dank verbunden. Auch im k. k. Handelsministe- 
rium, im Marktamt und in der Bibliothek der Stadt Wien, im 
Sekretariat der Börse für landwirtschaftliche Produkte in Wien, in 
der Donau-Begulierungskommission und in der Direktion der ersten 
k, k. privilegierten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft hat der Ver- 



VI Vorwort. [VI 

fasser freundlichstes Entgegenkommen gefunden. Dagegen ist die 
Benutzung des Archivs der Stadt Wien, bezw. die Einsichtnahme 
in jene Akten, welche die Stellung der Gemeinde zu den einst 
bestandenen Mehl- und Fruchtm'ärkten und zur Entwickelung der 
Getreidebörse in Wien betreffen, dem Verfasser vom Wiener Stadt- 
rat nicht gestattet worden, weshalb eine eingehendere Darstellung 
in dieser Beziehung leider nicht möglich war. 

Zu tief gefühltem Dank ist der Verfasser noch insbesondere 
Herrn Hofrat Professor Dr. v. Philippovich verpflichtet, welcher 
sich der Arbeit des Verfassers nach jeder Richtung in liebens- 
würdigster Weise angenommen und ihr andauernd Mühe und Zeit 
geopfert hat. 

Herrn Sektionsrat Dr. Kabl ScHsiMPFLua im k. k. Ackerbau- 
ministerium dankt der Verfasser für nützliche Anregungen, für 
freundliche Aufmunterung Herrn Professor Dr. Karl Grimbebg. 



V- Heller. 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

Einleitung 1 

Erstes Kapitel. 

Die Entwiekeliingr Wiens zn einem Stapelplatz des 

Getreidehandels. 

1. Der Wiener Getreidehandel bis zur Errichtung der städtischen 
Fracht- und Mehlbörse 8 

2. Die Entstehung der autonomen Fracht- und Mehlbörse 1869 

und ihre Entwickelung bis zur Gegenwart 20 

3. Die Entwickelang des Wiener Getreidehandels seit Entstehung 

. der autonomen Börse 29 

Zweites Kapitel. 

Der Wiener Getreidehandel nnd seine Technik in der 

Gegenwart. 

L Die Produktenbörse 84 

1. Die Verfassung der Produktenbörse 84 

2. Der Getreideterminhandel 40 

IL Die Lagerhäuser 57 

1. Das Wesen und die Bedeutung der Lagerhäuser im allgemeinen 57 

a) Die Bedeutung der Lagerhäuser 57. 

b) Die rechtliche Ordnung der Lagerhäuser in Oesterreich . . 60 

c) Der Lagerschein 66 

d) Die Lagerhaustechnik im allgemeinen 75 

2. Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien 78 

a) Die Lagerhäuser der ersten österreichischen Aktiengesellschaft 

für öffentliche Lagerhäuser in Wien 78 

b) Die Lagerhäuser der Stadt Wien 82 

c) Die Technik der Wiener Lagerhäuser 87 

3. Die Privatdepots. Die Magazine der Transportuntemehmungen 90 

4. Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser 91 

a) Technische Mängel 91 

b) Die Arbeiterverhältnisse 95 

c) Das Lagerhausgesetz 100 



yill Inhaltsverzeichnis. [VIH 

Seite 

III. Die Verkehrseinrichtnngen im Dienste des Getreide- 
handels 108 

IV. Die Träger des Getreidehandels 120 

1. Die Getreidehändler und ihr Geschäfts varkehr 120 

2. Die Lagerhaasgenossenschaften 130 

a) Die Lagerhansgenossenschaften und ihre Stellung im Ge- 
treidehandel 130 

b) Die Grenzen der genossenschaftlichen Organisation des Ge- 
treidehandels in Oesterreich 139 

y. Reformbestrebungen und Reform vorschlage .... 145 

1. Die Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens 145 

2. Die Reform der Produktenbörse und des Geschäftsverkehrs . 153 

3. Die Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide . 155 



87J 1 



Einleitung. 

Die ausschlaggebende Bedeutung, welche der Ecfrnerbau noch 
immer für den landwirtschaftlichen Betrieb besitzt, bringt es mit 
si<?h, da^s die Forderung nach einer für die Landwirtschaft günstigen 
Organisation des Getreidehandels immer von neuem erhoben wird* 
Insbesondere sswei Versuche treten dabei in der Gegenwart hervor. 
Einesteils das Bestreben, den Landwirten selbst den Verkauf ihrer 
Produkte zu sichern, sie unabhängig zu machen von Zwischenhänd- 
lern in der Organisation der genossenschaftlichen Lagerhäuser f&r 
den Getreideabsatz, andererseits der Versuch, den Einfiuss der 
grossen Zentralmärkte des Getreidehandels, der Getreidebörsen, auf 
die Preisbildung abzuschwächen, insbesondere durch Beseitigung des 
Terminhandels in Getreide. Zwischen diesen beiden Thatsachen, 
Terminhandel und Lagerhäuser, stellt die agrarische Agitation einen 
Zusammenhang her, den wir für irrig halten, der aber einer formal- 
logischen Eonsequenz nicht entbehrt. Von dem Gedanken ausgehend, 
dass die Landwirte den Handel mit ihren Produkten selbst in der 
Hand behalten sollen, hat man die Lagerhäuser errichtet. Ihre 
Entwickelung entspricht nicht immer den Erwartunge^n. Das Ge- 
schäft erscheint schwierig und gefahrvoll, insbesondere von der 
kaufmännischen Seite her, eine Beeinflussung der Preise im Inter* 
esse der Landwirte ist den Lagerhäusern nicht möglich, ebensowenig 
eine grosse Organisation zur Selbstversorgung des staatlichen Ge- 
bietes mit Brotfrüchten. 

Hier tritt ihnen der zentral(ß Getreidemarkt mit seiner preis- 
bildenden Eraft und auf ihm wieder vor allem der Termizihandel 
mit seinen Auswüchsen und seiner geheimnisvoJUen, aus dem Nichts, 
den 31ankoverkäufen und -kaufen, geschaffenen Bewegung entgegen. 
Was Wunder, wenn man meint, zuerst diesen Feind bekämpfen zu 
müssen, der mit lähmender Eraft die freie Bewegung und die reellen 
Handelsgeschäfte der Lagerhäuser der Landwirte zu hemmen scheint. 
So begegnen wir auf der einen Seite einer sehr bemerkenswerten 

Wiener Studien. III. Bd., «. Heft. 1 [7] 



2 Einleitung. [88 

Organisations- und Selbsthilfethätigkeit der Landwirte, auf der 
anderen einer durch Schlagworte und politische Interessen immer 
von neuem genährten Agitation, um das Verbot des Getreidetermin- 
handels durchzusetzen. Die Aufregung ist gross. Der Worte und 
der Druckerschwärze ist schon gar viel aufgewendet worden. Es 
gibt kaum eine öffentliche Körperschaft und eine politische Debatte^ 
in der nicht über den Getreidehandel gesprochen, das Verbot des 
Terminhandels verlangt oder bekämpft wurde. Aber das Einfachste 
ist noch nicht geschehen, um die Frage, wie denn der Getreide- 
handel in Wien organisiert ist, welche Bedeutung er besitzt, welchen 
Zwecken und Interessen er dient, welche Einrichtungen mit ihm 
zusammenhängen, haben sich nur wenige gekümmert. Diese Lücke 
auszufüllen oder doch einen Beitrag zur Erkenntnis der Lage und 
Bedeutung des Wiener Getreidehandels zu geben, ist der Zweck der 
folgenden Darstellung. Sie will vor allem schildern. Die Entstehung, 
die Organisation und die technischen Einrichtungen des Wiener Ge- 
treidehandels sollen dem Leser in einfachen Umrissen, möglichst 
durchsichtig und klar vorgeführt werden, damit er erkennt, welche 
grosse Aufgaben hier noch der inneren Getreidehandelspolitik vom 
Standpunkte Wiens und Oesterreichs aus gestellt sind. Das Ver- 
ständnis soll geweckt werden für die Bedeutung eines grossen, mit 
den modernen Mitteln der Verkehrstechnik und der kaufmännischen 
Technik arbeitenden Getreidehandels, mag er nun in der Zukunft, 
wie jetzt, in den Händen privater Eaufleute oder in den Händen 
der ländlichen Genossenschaften liegen. 

Wien ist im Laufe der Zeit ein Stapelplatz des Getreidehandels 
geworden und darf sich die Vorteile eines solchen nicht mehr ent- 
gehen lassen. Die Industrie, die Konsumenten, die Verkehrsanstalten, 
der Handel und endlich die Landwirte selbst sind daran interessiert. 
Es wird genügen, wenn wir die Bedeutung eines solchen Handels- 
zentrums in einigen Punkten nachweisen. 

Da steht Allem voran die Entlastung der industriellen Pro- 
duktion von dem Geschäfte der Vorratbildung, auf deren Wichtig- 
keit von vielen Nationalökonomen, besonders überzeugend, wie wir 
glauben^ von Mabx in seiner profunden Analyse des kapitalistischen 
Produktionsprozesses, hingewiesen worden ist. Nur auf niederer 
Stufe der Produktion, d. h. dort, wo die Produktion noch wenig 
differenziert und wesentlich auf die Befriedigung des Selbstbedarfs 
gerichtet ist, wo das Produkt wenig oder gar nicht die Form der 
Ware annimmt, gewerbliche Produktion und Urproduktion oft noch 
miteinander verbunden sind, etwa in der Naturalwirtschaft, ist auch 



89] Einleitung. 3 

die Vorratsbildung ein Geschäft der Produktion und kann sie es^ 
ohne Hemmung derselben sein. Man denke aber, dass der moderne 
Kapitalist den gesamten Vorrat an Eloh- und Hilfsstoffen für eine 
Produktionsperiode hinlegen wollte ! Welch riesige Summen müsste 
zum Beispiel eine grosse Dampftnühle, deren Yermahlungsfähigkeit 
etwa 200 000 Meterzentner halbjährig ist — ein nicht allzu seltener 
Fall — investieren, oder eine grosse Baumwollspinnerei! Wie 
grosse Summen müssten in jedem einzelnen Falle für den Bau 
von Speichern, für die Besoldung des für die Verwaltung und 
Konservierung des Vorrates nötigen Personals ausgegeben werden, 
und wie unökonomisch wären diese Ausgaben, wenn man be- 
denkt, dass die Produktion oft nur eineiv Teil des Jahres über 
mit solcher Intensität betrieben wird, dass der Apparat zur Vor- 
ratsbildung voll ausgenutzt werden kann! Und doch ist für den 
industriellen Kapitalisten die Sorge des steten Vorhandenseins von 
Roh- und Hilfsstoffen ungleich wichtiger, als für den Produzenten 
jener primitiven Stufe ; die Werkzeuge des Handwerkers verdarben 
nicht und es stürzte seine Kalkulation nicht um, wenn einmal, 
etwa infolge Mangels an Rohprodukt, eine kurze Unterbrechung 
der Produktion eintreten musste; ja oft handelte es sich überhaupt 
nur um die Aufarbeitung eines bestimmten Vorrates, etwa des 
eingeernteten Flachses. Anders im kapitalistischen Grossbetriebe, 
Jeder Tag, den die Maschinen stille stehen, ist Raub am Kapital; 
die Kontinuität der Produktion muss womöglich aufrecht erhalten 
werden. 

Darum kann der Kapitalist aber auch nicht auf Bestellung, 
sondern muss „für den Markt' produzieren, wodurch der faktische 
Umschlag des Kapitals oft eine längere Periode in Anspruch nimmt 
und ein weiterer Teil seines Kapitals der Produktion, der Veraus- 
gabung für Arbeitslöhne, Maschinen etc. entzogen und in Vorräten 
fertigen Produkts festgelegt werden muss. 

Aus diesem Dilemma führt nur die Trennung der Funktion 
der Vorratbildung von dem eigentlichen Geschäfte der Produktion 
und ihre Uebernahme durch den Handel. Je kräftiger dieser ist, 
je mehr der gesellschaftliche Vorrat sich in seinen Händen kon- 
zentriert, desto geringer kann derselbe sein in der Hand des in- 
dustriellen Kapitalisten. Der Anteil^ des von der Vorratbildung 
gebundenen Kapitals wird umgekehrt proportional sein „zur Ge- 
schwindigkeit, Regelmässigkeit und Sicherheit, womit die nötige 



^ Marx, Kapital, Bd. II, S. 113. 



4 Einleitung. [90 

Masse von Rohstoff stets so zugeführt werden kann, dass nie Unter- 
brechung entsteht* und — wie wir hinzufügen wollen — zur Ge- 
schwindigkeit, Begelmässigkeit und Sicherheit, womit auf der anderen 
Seite die Fabrikate stets so abgestossen werden können, dass der 
Fabrikant immer die zur Bezahlung der Rohstoffe und Arbeitslöhne 
notwendigen Mittel flüssig hat. 

Nur die Möglichkeit, das Getreide, das sie braucht, durch den 
Wiener Handel in jedem Momente rasch heranzuziehen, gestattet 
der kleinen Mühle auf dem Lande, „von der Hand in den Mund* 
zu kaufen, wie es in der Vulgärsprache des Handels heisst. Und 
andererseits ist ein kräftiger und gut organisierter Handel stets in 
der Lage, der Produktion ihre Erzeugung abzunehmen, was in 
unserem Falle gleichbedeutend ist mit der Sicherheit für die Land- 
wirte, auf einem ordnungsgemäss funktionierenden Zentralmarkt stets 
einen Abnehmer für ihr Getreide zu finden. 

Ein weiterer Vorteil, den der Stapelhandelsplatz für sich und 
sein Staatsgebiet auszunutzen vermag, ist der Einfluss, den er auf 
die Preisbildung auch dann gewinnt, wenn es sich, wie beim Ge- 
treidehandel in Wien, um eine Ware handelt, die eingeführt wird. 

Die Annahme, dass die Preise eines Importlandes unvermeidlich 
vom Auslande diktiert werden, ist falsch. Nicht nur kann das Im- 
portland sich einen bedeutenden Einfluss auf die Preisbildung sichern, 
es kann, wenn es sich des Handels dortselbst zu bemächtigen weiss, 
sogar umgekehrt dem Exportlande die Preise vorschreiben. Wir 
verweisen auf Argentinien. Welche RoUe dieses Land im Getreide- 
import Europas spielt, ist bekannt; und doch ist die Preisbildung 
dort eine durchaus unselbständige. 

Die grossen Importfirmen der belgischen, englischen und deut- 
schen Stapelplätze haben sich von allem Anfang an durch Errichtung 
von Einkaufsfilialen in Argentinien des argentinischen Getreide- 
exporthandels bemächtigt, und der deutsche Konsul Eabgeb schreibt: 
„Der Preis des Exportgetreides wird niemals an der hiesigen Börse 
(Buenos Aires. Anm. d. Verf.) festgesetzt, sondern ausnahmslos von 
drüben her diktiert, und, es existiert daher überhaupt kein Speku- 
lationsgeschäft in Getreide ^.^ 

Durch gut organisierte Stapelplätze kann ein Staatsgebiet den 
Handel für andere an sich ziehen; dasselbe Verhältnis, in welchem 
sich der einzelne Produzent dem Handel gegenüber befindet, kann 

*) Professor Dr. Karger, landwirtschaftlicher Sachverständiger in Buenos 
Aires, Landwirtschaft und Kolonisation im spanischen Amerika. Leipzig 1901, 
S. 350. 



91] Einleitung. 5 

sich auf grosser Stufenleiter zwischen Ländern reproduzieren; wir 
verweisen auf Holland, welches enorme Reichtümer aus dem Durch- 
fuhrhandel zieht. Die staatswirtschaftliche Bedeutung des Durch- 
fuhrhandels könnte nicht eindringlicher zum Ausdruck gebracht 
werden, als dies in dem Berichte der amerikanischen Kommission 
zum Studium des europäischen Lagerhauswesens der Fall ist. 

„Es ist die Frage von grosser Bedeutung, in welchem Lande 
lagern hauptsächlich die Austauschprodukte und Fabrikate der Welt 
während der Periode zwischen ihrer Entstehung und dem Konsum ; 
welches Land wird dieses grosse Geschäft vermitteln; wer soll den 
Genuss des Transportgeschäftes haben; wessen Maschinen und Ar- 
beiter sollen die Lagerhäuser, Docks und Bassins versorgen ; wessen 
Eaufleute die Lagerhausgebühren erhalten; wer soll die Yersiche- 
rungs-, wer die Kommissionsgebühren und den Gewinn des Verkaufs 
sowie der Verschiffung erhalten^?** 

Für die Transportanstalten sind die Stapelplätze von grossem 
Vorteil, da die Konzentration des Güterverkehrs eine Oekonomie in 
der Verwendung der Transportmittel ermöglicht, die um so be- 
deutender sein wird, je rascher die Ent- bezw. Beladung des Trans- 
portmittels erfolgen kann. ' 

Dass die Konsumenten an einer Konzentration des Güterverkehrs 
an den Stapelplätzen sehr lebhaft interessiert sind, leuchtet schon 
ein, wenn man überlegt, dass in der heutigen privatwirtschaftlich 
arbeitsteiligen Produktionsweise ein Gut oft drei-, viermal und öfter 
die Form der Ware, des Tauschwertes, annehmen muss, ehe es 
seinen endgültigen Verbraucher erreicht. Der Gesamtzirkulations- 
prozess, den jedes einzelne Gut durchmachen muss, ehe es gebrauchs- 
wert wird, setzt sich so zusammen aus einer ganzen Kette von 
Zirkulationsprozessen; diese Teilprozesse an einem Orte zu kon- 
zentrieren und dadurch die Kosten des Gesamtzirkulationsprozesses 
zu verringern, ist eine der wichtigsten Funktionen der Stapelplätze. 
Sie sind für den Konsum aber von besonderer Bedeutung in einem 
Importlande dadurch, dass sie durch einen steten Zusammenfluss von 
Ware eine regelmässige Versorgung des Konsums ermöglichen. 

Um ihre Funktionen in wirksamer Weise erfüllen zu können, 
bedürfen die Stapelplätze einer entsprechenden Organisation, sicherer 
Häfen, Landungsplätze, Einrichtungen für die Ent- und Beladung 
der Transportmittel, Banken, welche die Geldmittel für den Einkauf 
billig zur Verfügung stellen, und einer zweckdienlichen Organisation 



* Citiert bei Dr. Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884, S. 34. 



6 Einleitung. [92 

des Geschäftsverkehrs, die je nach den Verhältnissen nnd je nach 
der historischen Entwickelung im Rahmen der allgemeinen oder 
im Rahmen besonderer Warenbörsen erfolgen und zweckdienlich 
sein wird. 

Oesterreich ist seit langem ein Oetreide importierendes Land. 
Nicht nur vermag es den Brotbedarf für seine. Bevölkerung nicht 
zu decken, es müssen auch alljährlich ganz enorme Quantitäten 
Futtergetreide für die Landwirtschaft importiert werden, ja dieser 
Import erreicht an Bedeutung heute fast schon den von Brotgetreide, 
welcher immer mehr durch den Import von Mehl zurückgedrängt 
wird ^. Und der Import von Futtergetreide wird immer wichtiger 
in dem Masse, als die geringe Rentabilität des Eörnerbaus die 
Landwirte zwingt, in intensiverer Yiehwirtschaft eine Kompensation 
zu suchen. 

Wien ist durch die natürliche Lage dazu prädestiniert, diesen 
Importhandel zu besorgen und gleichzeitig Oesterreich einen ent- 
sprechenden Anteil am Getreidewelthandel zu erobern. Gleichwohl ist 
diese Aufgabe Wien nicht leicht geworden. Länger als an anderen 
Orten dauerte es in Wien, bis erbgesessene Vorurteile verschwanden, 
eine moderne AuffassuRg der wirtschaftlichen Funktion des Getreide- 
handels bei den städtischen Verwaltungsbehörden Eingang fand, und 
noch länger, bis die für einen Getreidegrosshandel unerlässlichen 
Verkehrseinrichtungen, Landungsplätze und Lagerhäuser geschaffen 
waren, Während im Grossherzogtum Baden der Staat es sich viele 
Millionen kosten Hess, um aus Mannheim einen grossen Getreide- 
stapelplatz zu machen, obwohl der Getreidehandel Mannheims für 
Baden lange nicht die unmittelbare Bedeutung hat, wie der Wiens 
für Oesterreich, so sehen wir in Wien das umgekehrte Schauspiel, 
ein fast teilnahmsloses, zumindest aber sehr "unaufmerksames Ver- 
halten der öffentlichen Verwaltung und der Transportuntemehmungen, 
dessen drückende Wirkungen durch Missgriffe der Gesetzgebung noch 
verstärkt wurden. 

Mit der Gunst der natürlichen Verhältnisse ist in Wien ge- 
wissermassen Raubbau getrieben worden, dessen Eonsequenz der 
Niedergang eines einst blühenden Handelszweiges ist. Und schon 
beobachten wir, dass die benachbarten ungarischen Stapelplätze den 

\ Nach den Ergebnissen der Zwischenverkehrsstatistik pro 1900 beträgt die 
Einfuhr aus Ungarn allein : Mais 2 879 952 Meterzentner, Hafer 2 543436 Meter- 
zentner, wozu in Mais speziell noch die bedeutende Einfuhr aus den Balkan- 
ländem kommt, die jedoch nur in den Ziffern der gemeinsamen Einfuhr des 
Österreich-ungarischen Zollgebietes zum Ausdruck kommt, 




93] Einleitung. 7 

augenblicklichen Stillstand in der Entwickelang des Getreidehandels 
in Wien kräftig zu nutzen suchen. 

In Raab ist ein grosses, modern eingerichtetes Getreidelager- 
haus erbaut, in Pressburg ein Winterhafen eröffnet worden, der 
zu einem Handelshafen umgestaltet und mit Lagerhäusern ausge- 
rüstet werden soll, um den Exporthandel aus Nordungarn über 
Pressburg zu lenken. Die ungarische Regierung hat dazu bereits 
ihre Unterstützung geliehen durch Erstellung eines direkten kom- 
binierten Tarifes mit Süddeutschland. Auch in Budapest soll ein 
neuer grosser Handelshafen gebaut werden. Budapest hat Wien, 
Fiume Triest den Gersteverkehr allen Anstrengungen des öster- 
reichischen Handels zum Trotz abwendig machen können, nur weil 
weder der eine noch der andere Platz die zur Herrichtung für den 
Export nötigen maschinellen Vorrichtungen besitzt. 

Es ist ein eigentümHcher, um nicht zu sagen unverständlicher 
Kontrast, dass viele Millionen ausgegeben werden, um den Verkehr 
Wiens durch den Donau-Oderkanal zu heben, während auf der 
anderen Seite für einen bedeutenden Verkehr, den man schon hat, 
nicht ein Bruchteil dieser Opfer aufzubringen ist, obwohl dessen 
Nützlichkeit für die gesamte Volkswirtschaft noch weit fragloser ist, 
als die aus der Anlage jener Millionen. 

Rasche und gründliche Abhilfe der vorhandenen Uebelstände, 
eine dauernde Beseitigung jener Hemmnisse, welche der Ent Wicke- 
lung Wiens zu einem bedeutenden Getreidestapelplatze im Wege sind, 
liegt aber nicht allein im Interesse der gesamten Volkswirtschaft 
und innerhalb derselben ganz speziell der Landwirtschaft, sondern 
speciell auch des Landes Niederösterreich und der Stadt Wien. 

Dies wird, wie wir hoflFen, die folgende Darstellung darthun. 
Sie soll, soweit uns eine geschichtliche Darstellung bei dem Mangel 
an jeglicher Vorarbeit möglich war, zeigen, wie diese Organisation 
geworden ist und warum sie gerade so geworden ist, wie sie ist, 
und nicht anders. Denn nur so kann es geUngen, das Zufällige, 
Entbehrliche vom Notwendigen, Unentbehrlichen zu unterscheiden. 
Sie soll aber auch zeigen, in welchen Punkten die Beformbewegung 
einzusetzen hat, um Missstände und Hindernisse emer aufsteigenden 
Entwickelung unseres Getreidehandels zu beseitigen. 



8 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [94 



Erstes Kapitel. 

Die Entwickelung Wiens zu einem Stapelplatz dea 

Getreidehandels. 

1. 

Der Wiener Qetreidehandel bis zur Errichtung der städtischen 

Frucht- und Hehlbörse. 

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wies der Qetreidehandel 
in Wien im wesentlichen noch jene Züge auf, die ihm durch die 
Stadt- und territorialwirtschaftliche Politik der früheren Jahrhunderte 
aufgeprägt waren. 

In einem Umkreise von vier Meilen um Wien, der sog. Bann-* 
meile, war der Aufkauf von Getreide zum Zwecke der Wiederver- 
äusserung strenge verboten, der Verkauf in Wien war nur auf den 
eigens hiefür angewiesenen Fruchtmarktplätzen gestattet, deren in 
Wien drei bestanden: die „ Landmärkte '^ an der Stelle des heutigen 
„ Getreidemarkt '^ und des „ Mehlmarkt '^, wo die Landzufuhren, und 
der „Wasser körnermarkt ^ am stadtseitigen Ufer des Donaukanals, wo 
die Zufuhren auf der Donau zum Verkaufe gelangten. Der Getreide- 
handel zwischen den einzelnen Provinzen war im allgemeinen ver- 
boten, Ausfuhr und Durchfuhr mit schweren Zöllen belegt, die 
erstere häufig zeitweilig ebenfalls verboten. 

Aus dem zähen Kampf, welchen die öffentliche Gewalt die 
Jahrhunderte hindurch gegen den mit der allgemeinen wirtschaft- 
lichen Entwickelung in der Form des Schleichhandels immer üppiger 
werdenden Zwischenhandel geführt hatte, einem Kampf, der sich in 
zahllosen Verordnungen, Einschärfungen und Strafanordnungen wider- 
spiegelt, musste aber der Zwischenhandel schliesslich als Sieger 
hervorgehen. 

Die strenge Reglementierung des Getreidehandels hatte ihre 
soziale Bedeutung, die darin bestanden hatte, die Entwickelung des 
Städtetums, die Arbeitsteilung zwischen gewerblicher und landwirt«- 
schaftlicher Produktion zu fördern, verloren, weil einerseits diese 
Arbeitsteilung soweit durchgeführt war, dass sie einer treibhaus- 
mässigen Züchtung nicht mehr bedurfte, und weil andererseits der 
Regierung die Entwickelung des Manufakturen- und Fabriksystems 
auf dem fachen Lande sehr am Herzen lag. Eine Vergewaltigung 



95] Der Wiener Getreidehandel etc. 9 

der Urproduktion, wie diese Verbotsgesetze und insbesondere der 
Marktbann sie vorstellten, passte aber auch nicht m^hr zu den 
bäuerlichen Sozialreformen der theresianisch-josephinischen Epoche. 

Die ängstliche Bureaukratie konnte sich nicht entschliessen 
den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen und erst die 
Initiative des gegen den Konservatismus auf allen Gebieten der 
Staatswirtschaft rücksichtslos anstürmenden Joseph II. führte eine 
freiere Gestaltung des Getreidehandels herbei. Als der Rat der 
Hofkanzlei im Jahre 1789 wieder verlangte, dass gegen die «Körner- 
vorkäuflerei** etwas unternommen werden solle, erwiderte Joseph II. 
in der ihm eigentümlichen drastischen Weise: Jch begnehmige 
das Einraten der mehreren Stimmen, die allein zweckmässig und 
anpassend, die minderen aber enthalten nur gewöhnliche, verderb- 
liche Vorschläge, welche von Kuchelbüchern hergeleitet und auf 
die Staatsverwaltung wollen ausgedehnt werden** \ So war das 
Notwendige, wenn auch noch immer nicht erlaubt, doch geduldet. 

Noch einmal sollte es jedoch mit den , Kuchelbüchern* probiert 
werden. Von der allgemeinen Reaktion, welche nach dem Tode 
Josephs IL eintrat, blieb auch dieses Gebiet der Staatswirtschaft 
nicht verschont. Teuerung des Getreides bot der Reaktion will- 
kommenen Anlass zu einem Vorstoss gegen den verhassten Vorkauf, 
und der Mangel einer ordentlichen Statistik über Produktion, Konsum, 
Aus- und Einfuhr machte es leicht, den Vorkauf als die alleinige 
Ursache der Teuerung hinzustellen. 

Eine von Leopold IL eingesetzte Wohlfeilheitskommission stellte 
dies sogar ausdrücklich fest und auch die Hofkanzlei spricht von 
„unseligen Verfügungen der Regierung" und verlangt Wiederein- 
führung des Vorkaufs Verbotes in einem Umkreise von vier Meilen 
um Wien* 

Die humane Agrarpolitik Josephs IL ganz zu verleugnen, 
konnte sich sein Nachfolger indes nicht entschliessen« Leopold IL 
gab den Gegnern des Vorkaufs nach, wieis aber gleichzeitig auf 
die Gefahren einer allzu engherzigen Handhabung der Marktvor- 
schriften hin und bemerkte, dass „a) zwar Ordnung aber nicht Zwang 
herrschen solle, b) dass das flache Land nicht als wäre 
solches der Hauptstadt zinsbar behandelt werden darf, und 
dass für das Eigentum des Erzielers durchaus Achtung getragen 
werden muss" ^. 



^ Alexander Gigl, Geschichte der Wiener Marktordnung. Wien 1865, S. 38. 
^ KaiserL Handbillet vom 9. August 1791, abgedruckt bei Gigl S. 207. 



10 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandeh. [96 

Der Bückschlag war nur von kurzer Wirksamkeit. Die Wieder- 
einsetzung der Yerbotsgesetze hatte nicht den geringsten Erfolg; 
die Getreidepreise stiegen fortwährend, da die Ursache der Preis* 
Steigerung eben nicht im Vorkauf, sondern hauptsächlich in der 
durch die Bankozettelwirtschaft stark verminderten Kaufkraft des 
Geldes gelegen war \ Ebensowenig hatte sie die Abnahme der 
Zufuhren auf die ^Landmärkte* aufhalten können. Um so mehr 
musste man darauf bedacht sein, den Handel zu animieren, Ge- 
treide aus den entfernteren Gebieten Ungarns, insbesondere aus 
(dem fruchtbaren Banat, auf der Donau heranzubringen. In diesem 
Sinne schritt man 1807 an eine Reorganisation des Wasserkömer- 
marktes, als deren Zweck das sie verfügende Hofkanzleidekret ^ 
ausdrücklich bezeichnet: „Erzeuger und Händler durch einen billigen 
und lohnenden Absatz zu begünstigen und zu den ausgedehntesten 
Unternehmungen aufzumuntern, einen Zusammenfluss der Früchte 
zu bewirken und so die Vorräte der Verkäufer mit jenen des 
kaufenden Publikums in eine wohlthätige Verbindung zu bringen." 
Diesen Intentionen entsprechend wurden für grosse Schiffsladungen 
gewisse Gebührenerleichterungen zugestanden und wird auf dem 
ehemals Czerninschen Gartengrund ein Magazinsgebäude errichtet, 
^wo für Ordnung durch die daselbst bestehende Magazinsverwaltung 
und für Sicherheit durch die daselbst aufgestellte Militärwache in 
vollem Masse gesorgt ist." Gleichzeitig wurde das bis dahin be*- 
standene Verbot, Getreide in Privatmagazine einzulagern, aufgehoben. 
Für die Ausladung der Schiffe und zu sonstigen Manipulationen 
wurden vom Magistrat Sackträger beigestellt, welche nach einem 
bestimmten affigierten Tarif zu bezahlen waren; es blieb dem 
Einzelnen indes unbenommen, seine eigenen Leute zu verwenden. 
Im übrigen war der Handelsverkehr in derselben Weise geregelt, 
wie auf den anderen Fruchtmärkten. Ein Metzenleihamt war mit 
dem Magazine verbunden und die Zumessung des Getreides durfte, 
Tim Uebervorteilungen zu verhüten, wohl auch wegen Kontrolle der 
Verzehrungssteuer, nur durch den dazu bestellten „magistratischen 
Körnerabmesser" erfolgen. Dieser kam dabei auch in die Lage, 
Umsatz und Preise festzustellen, da bezüglich der letzteren Käufer 
sowohl als Verkäufer „bei strenger Ahndung" verhalten waren, 
dem Körnerabmesser wahrhafte Angaben zu machen. Zur Schlichtung 

^ Dr. Karl Grünberg, Die Grundeigentumsföhigkeit in den böhmischen 
Ländern vor 1848, S. 131 ff., in , Studien zur österreichischen Agrargeschichte", 
Leipzig 1901. 

* Citiert bei Barth-Barthenheim, Gewerbegesetzkunde, S. 17S. Ohne Datum. 



97] I^er Wiener Getreidehandel etc. 11 

von Streitigkeiten war ein Marktrichter bestellt. Diese Funktionäre 
scheinen übrigens häufig die Gelegenheit wahrgenommen zu haben, 
sich durch Maklergeschäfte ein Nebeneinkommen zu verschaffen, 
wenigstens trägt .das citierte Dekret ihnen auf, »sich auf keine Weise 
in den Handel und die Bestimmung der Preise zu mengen.* 

Die fortschreitende Zerrüttung des Geldwesens infolge der 
Bankozettelwirtschaft liess in den folgenden Jahren die Unhaltbarkeit 
der bisherigen Getreidehandelspolitik nur um so schärfer hervortreten 
und drängte die Regierung auf der einmal betretenen Bahn weiter. 
Im Jahre 1817 erfolgte ein entscheidender Schritt, indem alle den 
inneren Getreidehandel beschränkenden Gesetze und Bestimmungen 
in der Erwägung aufgehoben wurden, „dass nach dem Resultate 
aller Erfahrungen die Freiheit des Verkehrs im Innern zur Erhebung 
der Kultur und zur Erreichung des wahren und natürlichen Preises 
der Lebensmittel wesentlich einwirkt" ^. Ebenso wurde das Verbot 
des Getreide- und ßohproduktenhandels für die Juden beseitigt; 
bis dahin war denselben nur der Verkauf ihrer eigenen Fechsung 
gestattet 2, welche als solche durch eine ortsobrigkeitliche Be- 
scheinigung ausgewiesen sein musste. Thatsächlich war das Verbot 
nie wirksam gewesen; die Ausstellung von „Landjudencertifikaten* 
■ — wie diese amtlichen Bescheinigungen genannt wurden — wurde 
nur zu einer ergiebigen Einnahmequelle der Ortsobrigkeiten; anderer- 
seits mussten die kaiserlichen Verpflegs- und Proviantämter, trotz 
wiederholter Ermahnungen durch Hofdekrete, grössere Rigorosität 
rücksichtlich dieser Gertifikate walten zu lassen, ein Auge zudrücken, 
weil ihnen die jüdischen Lieferanten unentbehrlich waren. Darum 
war auch schon früher, in Eriegszeiten das Verbot des Getreide- 
handels für Juden zeitweilig sistiert worden, so 1810. Für die end- 
gültige Freigabe des Getreide- und Landesproduktenhandels an die 
Juden war übrigens auch die Absicht mitbestimmend, sie dadurch 
besser von den zünftig organisierten Beschäftigungen abzuhalten, 

Dieser Umschwung in der Getreidehandelspolitik führte natürlich 
eine gründliche Aenderung der Organisationsformen des Getreide- 
handels herbei: nun stand dem freien Zug des Getreides innerhalb 
der Grenzen des Kaisertums nichts mehr im Wege; das Getreide 
wurde dort verkauft, wo es sich aim besten verwertete, und Getreide- 
märkte konnten sich überall bildßn, wo ein Bedürfnis darnach 

* Hofdekret 1817, citiert bei Barth-Barthenheim ,' Oesterr. Gewerbegesetz- 
kunde S. 256. Datam unbekannt. 

* Grund und Boden durften die Juden nicht besitzen ; sie konnten die 
Landwirtschaft nur pachtweise betreiben. 



12 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [98 

bestand. Auch brauchte man das Getreide, um es zu verkaufen, 
nicht mehr aufs Geratewohl auf den Markt zu fahren, der Getreide- 
handel nach Muster war allgemein möglich geworden. Damit 
war der gänzliche Verfall des städtischen Fruchtmarktes um so 
unaufhaltsamer, als er auch den Bedürfnissen der Getreide verarbei- 
tenden Gewerbe nicht mehr zu genügen vermochte, insbesondere 
nicht der Müllerei und der Brauerei. 

Die Struktur des Mühlengewerbes war bis zu Anfang des 
Jahrhunderts eine ziemlich gleichmässig kleingewerbliche, die Mül- 
lerei fast durchwegs Lohnmüllerei gewesen. Erst von den zwanziger 
Jahren ab beginnt unter dem Einflüsse technischer Verbesserungen 
eine Differenzierung zwischen kleineren und grösseren Betrieben 
und mit ihr die Entstehung der grossen Handelsmühlen. Die erste 
dieser Verbesserungen bezog sich darauf, dass es ermöglicht wurde, 
mit einem Wellbaum mehrere Mahlgänge gleichzeitig in Be- 
wegung zu setzen. Ihr folgte die Erfindung der Kunstmüllerei 
mit Walzensystem und schliesslich die Verwendung der Dampf- 
kraft. Im Jahre 1841 war die erste grosse Dampfmühle Oester- 
reichs und der Monarchie überhaupt in Wien mit einem Aktien- 
kapital von fl. 200,000 C. M. am Donaukanal errichtet worden. 
Es war dies die Mühle der k. k. priv. Dampftnühlaktiengesellschafb^ 
Das Etablissement besass 3 Dampfmaschinen von 126 Pferdekräften, 
stand Tag und Nacht im Betrieb und erzeugte jährlich aus Banater 
Weizen 220,000 M.-C. Mehl und Gries \ Im Jahre 1852 erhielt 
sie die Begünstigung jene Getreidemengen, wovon das Mehl nicht 
in Wien konsumiert wurde, zum Behufe des blossen Vermahlens 
verzehrungssteuerfrei beziehen zu dürfen^. Wir haben es also hier 
bereits mit einem respektablen Grossbetrieb zu thun. 

Auch in der Bierbrauerei hatte eine starke Konzentration 
des Kapitals stattgefunden und war der Gerstebedarf stark ge- 
stiegen. 

Diesen Grossbetrieben konnte der lokale Pruchtmarkt jene Quan- 
titäten Rohprodukts von einheitlicher Qualität, deren sie bedurften, 
nicht liefern, und selbst umherzureisen und einzukaufen, hatte der 
Unternehmer nicht die Zeit; er musste darum das Geschäft des 
Einkaufs dem Händler übertragen. Und auch noch aus einer 
anderen Ursache zog er es vor, von diesem oder durch seine Ver- 
mittelung zu kaufen. 



* Brodhübeä, Industrie und Handel in Oesterreich. Wien 1861, S. 50. 
^ Bericht der n.-ö. Handelskammer 1852, S. 135. 



99] I^er Wiener Getreidehandel etc. 13 

Der grossindustriell^kapitalistische Betrieb gestattet, wie bereits 
erwähnt wurde, keine Unterbrechung der Produktion, weil diese 
einem efiPektiyen Kapitalsverluste gleichkommt. Auf der einen Seite 
wird so ununterbrochener Zustrom von Rohprodukt notwendig, wäh- 
rend auf der anderen Seite die Umschlagsperiode des Kapitals sich 
verlängert. Der Kauf auf dem Fruchtmarkte erheischte aber so- 
fortige Barzahlung, da man es hier mit kleinen Produzenten zu 
thun hatte, welche das Geldbedürfnis auf den Markt trieb; nur der 
Händler gab Kredit. 

In dem Bedürfnis nach dem Zwischenhandel begegneten sich 
also gleicherweise die Interessen der Produktion und des Konsums, 
an die Stelle des Fruchtmarktverkehrs in Wien trat der Verkehr 
der Händler mit den Konsumenten, der Börse verkehr, der vorerst 
allerdings noch nicht das Ansehen eines solchen hatte und der 
behördlichen Sanktion entbehrte. Es waren regellose Zusammen- 
künfte von Produzenten, Händlern, Brauern, Müllern, die all- 
wöchentlich an den Wochenmarkttagen, Mittwoch und Samstags 
in dem Mehringerschen Kaffeehanse »zur Mehlgrube^ statt- 
fanden, wo auch früher schon der Sammelpunkt der Interessenten 
des Getreide- und Mehlhandels gewesen war. Ein „ Marktbeschauer ^ 
hatte für die Feststellung der Preise, ein Marktkommissär für die 
Aufirechterhaltung der Ordnung zu sorgen. 

Trotz der, wie erwähnt, mangelnden Regelung und Sanktion 
spricht der Amtsstil von diesen Zusammenkünften bereits als yOn 
der „Körnerbörse*^, und die auf derselben erhobenen Preise 
werden von der oflFentlichen Verwaltung als authentisch und mass- 
gebend angesehen. Ein Ministerialerlass vom 8. September 1848 
hatte das Marktkommissariat angewiesen, dem Ministerium c^alle 
Sonnabende die Mittelpreise der hiesigen Fruchtbörse nebst einem 
förmlichen Bericht über die Ergebnisse des jeweiligen Wochen- 
marktes vorzulegen und ein gleiches Verzeichnis der Redaktion der 
, Wiener Zeitung' mitzuteilen". Ebenso war auf Ersuchen der 
Bäckerinnung die städtische Buchhaltung vom Magistrat beauf- 
tragt worden, „die auf der sog. Körnerbörse amtlich erhobenen 
Brotfruchtpreise bei der Feststellung der Brotsatzung, durch welche 
allwöchentlich die Preise und Gewichtsverhältniss^ des Gebäcks 
obrigkeitlich festgesetzt wurden, zu berücksichtigen". Die Bäcker 
hatten ein begreifliches Interesse daran, dass nicht die Preise der 
Landmärkte unter Zurechnung der Frachtspesen nach Wien, sondern 
die Börsenpreise der Satzung zu Grunde gelegt wurden. 

In Wien selbst waren fast keine Getreidehändler und die aus- 



14 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [100 

wärtigen Getreidehändler kamen auf diese Privatbörse nicht sehr 
regelmässig, so dass von einer regulären Preisbildung in Wien 
nicht die Bede sein konnte, sondern die Preise der Körnerbörse ge- 
wöhnlich unverhältnismässig höher standen, als die Provinzpreise; 
auch Beeinflussungen der Getreidepreise zum Zwecke der Her- 
beiführung einer höheren amtlichen Notierung waren nicht unbe- 
kannt. Der Zustand bedrückte das konsumierende Publikum um- 
somehr, als die Bäckerzunft gleichzeitig sich eifersüchtig gegen den 
Verkauf von Landbrot zur Wehr setzte, zu dessen Beschränkung 
sie auch ein Hausierverbot durchsetzte. Mit Magistratserlass 
vom 10. November 1849 wird einem Franz Weinbacher, Viktualien- 
händler, bedeutet, „dass derselbe sich bei sonstiger strenger Ahn- 
dung des Austragens des Brotes an Partheyen, in deren Wohnungen 
zu enthalten habe^ ^ 

Auch zu unmässigen Zwischengewinnen gab die Desorganisation 
und Dezentralisation der Preisbildung reichlich Gelegenheit. 

Die Preisbildung faktisch in den Hauptabsatzort, nach Wien, zu 
verlegen, gab es nur ein Mittel: ihre Funktionäre, die Händler, in 
Wien sesshaft zu machen. Dazu war die noch immer vom Mittelalter 
beherrschte Politik der städtischen Behörden freilich wenig geeignet. 
Strafmassregeln sollten bewirken, was nur durch organisatorische 
Reformen zu erreichen war. So meldet uns ein Magistratserlass vom 
10. September 1848 «die Ausweisung eines sicheren Moritz Hirschl, 
eines nach Pressburg gehörigen Israeliten, welcher seit einiger Zeit 
bedeutende Getreideeinkäufe bei mehreren Schiffmeistern und ihren 
Bestellten auf hiesigem Platze mit fl. 10. 24 pr. W. M. gemacht 
und die so behandelten Brotfrüchte gleich wiederumben mit fl. 13. 30 
— fl. 14. — pr. Metzen, sonach mit einem wucherischen Gewinne 
an Müller und Getreidehäi\dler veräussert habe^. 

Ferner versuchte man durch einen Deklarationszwang 
dem Getreidehandel mehr Oeffentlichkeit zu verleihen, musste diesen 



^ Ein derartiges Hausierverbot soll übrigens heute wieder aufleben. Auf 
Antrag der Wiener christlich-sozialen Partei ist im österreichischen Abgeord- 
netenhause ein Gesetz zur Annahme gelangt (Abänderung der §§ 59 und 60 der 
Gewerbeordnung) , worin sich ein Paragraph (§ 60 a) folgenden Wortlautes 
findet: 

„Das Feilbieten von Brot und sonstigen Bäckerwaren von Haus zu 
Haus oder auf der Strasse ist verboten. Die Zustellung von Brot und 
sonstigen Bäckerwaren an die Kunden des Bäckers ist nur auf Be- 
stellung durch ihn selbst, seine Angehörigen, sowie durch die bei ihm 
im Lohn- oder Lehrverhältnis stehenden Hilfsarbeiter zulässig/ 



101] Der Wiener Getreidehandel etc. 15 

aber bald fallen lassen, da die einzige Wirkung desselben die war; 
dass die Leate ihre Geschäfte an anderen Orten abmachten. Glück- 
licher war schon der Gedanke, den das n.-ö. Landespräsidium in 
der Antwort auf eine Zuschrift des Magistrates ^ äusserte, worin der- 
selbe offenbar über den Misserfolg des Deklariemngszwanges klagt 
und um Abhilfe bittet; es heisst da, dass dieser Zustand wohl 
kaum sich ändern dürfte, solange nicht den amtlich protokollierten 
Käufen irgendwelche Rechts wohlthat zugewendet werden wird, 
welche nach der laut gewordenen Meinung darin bestehen dürfte, 
dass bei streitigen Fällen nur jenen auf der Pruchtbörse ab- 
geschlossenen Käufen ein gültiges Klagerßcht zugestanden werden 
soll, welche amtlich protokolliert sind^ 

Am 19. April 1851 kündigte ein Magistratserlass an, «dass die 
bisher in einigen Lokalitäten des Mehringerschen Kaffeehauses am 
neuen Markt als Privatinstitut bestehende, sog. Fruchtbörse, vom 
nächsten Mittwoch den 23. an in die von den Müllern gemieteten 
ehemaligen Linserschen Kaffeehauslokalitäten in der Grünangergasse 
im 1. Stock übertragen werden; es werden dort die Müller, Frucht- 
händler und Bäcker regelmässig alle Wochen am Mittwoch und 
Samstag, wie bisher ihre Geschäfte miteinander besorgen*. Von 
hier übersiedelte dann die Börse — immer noch als Privatbörse — 
in die Lokalitäten des Bürgerspitals. 

Erst 1853 erfolgte die unabweisliche Regelung dieses Ver- 
kehres, freilich nicht auf autonomer Basis, sondern durch den 
Magistrat, welcher das Institut lediglich als Hilfsmittel für die 
Approvisionierung der Stadt auffasste. Da zufolge Gemeinde- 
ordnung vom 6. März 1850 der Stadtverwaltung als «natürlicher 
Wirkungskreis alles zugewiesen wird, was die Interessen der Ge- 
meinde zunächst berührt und innerhalb ihrer Grenzen vollständig 
durchführbar ist, insbesondere die Handhabung der Marktpolizei und 
die Fürsorge für die Approvisionierung Wiens*, so betrachtete sie 



^ Normalienbücher des Wiener Magistrats, Jahrgang 1848. 

^ In diesem Ideengang findet sich bereits das Prinzip vorgebildet, welches 
fOr die Organisation des Wiener Getreidehandels und der Produktenbörse rich- 
tunggebend geworden und geblieben ist, wenn auch nicht in seiner ganzen 
Konsequenz. Die heutige Schiedsgerichtsordnung der Produktenbörse knüpft 
die Rechtswohlthat nicht an eine Deklarationspflicht, wohl aber daran, dass 
die Geschäfte an einem bestimmten Orte, an der Börse abgeschlossen werden^ 
womit die Publizität, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar dadurch 
erreicht wird, dass der Verkehr an einem bestimmten Orte konzentriert, die 
Eontrolle und die Feststellung richtiger Preise erleichtert wird. 



16 Entwickelung Wiens 2um Stapelplatz des Getreidehandels. [102 

auch die Organisation des Getreidehandels ausschliesslich nur als 
eine Angelegenheit des Magistrates. 

In der Sitzung des Geraeinderates vom 7. Dezember 1858 wurde 
die Eömmunalisirung des Institutes beschlossen und die Börse ging 
in die Verwaltung des Magistrates über, welcher die Börselokali- 
täten in Miete nahm und den Verkehr in denselben auf Grund einer 
Börseprdnung regelte. Die Mitglieder der Börse nahmen an ihrer 
Verwaltung nur insoferne teil, als ein aus ihrer Mitte gewähltes 
beratendes Comite dem Marktkommissär, unter dessen Aufsicht 
die Börse gestellt war, zur Seite stand. 

Für die verwickelten Fragen des modernen Getreidehandels, in 
dessen Anfangen wir bereits stehen, reichte aber die kaufmännische 
Einsicht der Amtsobrigkeit nicht aus, zumal sie vielfach im Banne 
des Volksvorurteils stand, welches den Getreidehandel noch immer 
als Wucher betrachtete und strenge Beaufsichtigung verlangte. 

So liess, als im Juli des Jahres 1853 infolge ungünstiger Ernte- 
aussichten die Getreidepreise plötzlich hinaufschnellten, der Magistrat 
an der Börse eine Kundmachung affichieren, worin es u. a. hiess: 
„Die Müller mögen sich nicht irreführen lassen, die Preiserhöhung 
ist durch die Verhältnisse nicht gerechtfertigt, sondern sie ist der 
Ausfiuss schändlicher Machinationen^ u. s. f.; als das nichts 
half, mussten alle Juden, welche in Wien nicht zuständig waren 
und daselbst mit Getreide handelten, die Stadt innerhalb 24 Stunden 
verlassen. Da die Preissteigerung durch die Verhältnisse gerecht- 
fertigt war, so half natürlich auch das nichts und die Judenaus- 
weisung wurde bald darauf wieder zurückgenommen. 

Diese Politik verschlimmerte das üebel, statt es zu mildern. 
Die Zahl der in Wien selbst ansässigen Getreidehändler war ausser- 
ordentlich gering. Sie wird von der Handelskammer für das Jahr 
1852 auf 11 angegeben, welche, nach ihrer Gesamtsteuerleistung 
von 1152 Gulden C. M. zu schliessen, nicht eigentlich Grosshändler, 
sondern Vermittler gewesen sein dürften. „In Bezug auf den Ge- 
treidehandel", heisst es in einer Publikation, welche sich mit den 
Ursachen der in den fünfziger Jahren in Wien herrschenden Teue- 
rung des Getreides und Brennbolzes beschäftigt, „fehlt die Klasse 
der Geschäftsleute, welche den Holzhändlern entspricht, gänzlich; 
es gibt in Wien keine Getreidemagazine und Getreide Vorräte analog 
den Holzplätzen der Wiener Holzhändler** ^. Der Getreidegross- 

* Die Teuerung des Getreides und Brennholzes im Verkehrsgebiete von 
Wien, deren Ursache und Hilfsmittel dagegen. Wien 1857, S. 87. Verfasser 
unbekannt. 



103] I)er Wiener Getreidehandel etc. 17 

handel siedelte sich in dem benachbarten ungarischen Markt- 
flecken an, wo er seine Angelegenheiten selbst regeln konnte.: Von 
hier aus machten die Getreidehändler ihre Geschäfte mit den Öster- 
reichischen Konsumenten im Eorrespondenzwege ab oder die letz- 
teren besuchten die ungarischen Märkte. Soweit man aber in Wien 
zusammenkam , mied man die Börse womöglich und machte den 
Handel in Kaffeehäusern ab. 

Die Preisbildung vollzog sich also ^ausserhalb ded Kontrolle- 
Bereichs der Wiener Marktaufsicht an: den ungariachen Stapel- 
plätzen und so war man in Wien nicht in der Lage, die Ursachen 
plötzlich eintretender Preissteigerungen : zu kontrollieren und wirk- 
lichen Machinationen gegenüber machtlos, weil der Handel in den 
entfernten Handelsplätzen der Beobachtung entrückt war. That- 
sächlich waren aber Verabredungen der Händler zum Zwecke der 
Preissteigerung des Getreides,, war „Getreidewucher*, damals noch 
möglich. Der gesamte Getreidehandel aus Ungarn yrar in den 
Händen weniger, sehr kapitalkräftiger JPirmen konzentriert.. Diesen 
fiel zunächst auch das Konsignations? und Kommissionsgeschäft aus 
jenen entfernten Produktionsgebieten zu, welche durch die Ent- 
wickelung der Verkehrsmittel fast mit einem Schlage nahe ai;t die 
getreidebedürftdgen Gebiete herangerückt waren, weil bei diesen Ge- 
schäftsformen der Verkäufer seinem Vermittler die Ware anver- 
trauen oder doch das Reviremei^t durch ihn bcBOrgen lassen muss ; 
da im Getreidehandel sehr hohe Wertsummen in Frage kommen, 
kann sieh der Verkäufer nur an einen wohlakkreditierten Vermittler 
wenden. , 

Wien ^ar abe^r nicht allein kein Preisbildungsplatz, auch die 
Voraussetzungen dafür, dass es ein Getreidestapelplatz, werden konnte, 
fehlten noch völlig — Hafenanlagen, Landungsplätze und vor allem 
Lagerhäuser. . - 

Am empfindlichsten war^ der zuletzt erwähnte Mangel. Man 
musste sich mit von Fall zu Fall gemieteten Bäumen bebelfen, die 
nur ebenso, wie Wohn- oder Geschäftsräume gegen Viertel- oder 
Halbjahrsköntrakt zu haben waren, w^rend es sich dem Kauf- 
manne in der Regel nur um eine Unterbringung der Waren für 
kurze Frist handelt. Auch war es nicht immer leicht , derartige 
Lokalitäten zu bekommen, und oft ioiusste das Vorurteil, gegen den 
Getreidehandel mit teuerem Gelde aufgewogen werden K 



^ Die Teuerung des Getreides nnd Brennholzes im Verkehrsgebiete von 
Wien, deren Ursachen und Hilfsmittel dagegen. Wien 1857, S 125. 
Wiener Studien. HI. Bd., 2. Heft. 2 [8] 



18 £ntwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [104 

Dabei war die Beschaffenheit der Räume äusserst mangelhaft; 
es waren meist Eellerräume, wo das Getreide dem Verderben durch 
Feuchtigkeit ausgesetzt war. 

Dass diese Verhältnisse auf die Approvisionierung Wiens den 
ungunstigsten Einfluss ausüben mussten, ist eigentlich selbstver- 
ständlich ; es wird darüber geklagt, dass die Getreidepreise in Wien 
unverhältnismässig höher stehen als an anderen Orten. 

Besonders schlecht stand es um die Versorgung Wiens mit 
Hafer. Nicht uninteressant ist die Schilderung, welche ein Getreide« 
händler von damals über den Haferhandel Wieselburgs mit Wien 
entwirft:^ »Der Umsatz in Wieselburg beträgt ca. 40000 Hetzen 
per Woche und nicht viel weniger wechselten die Hände unter den 
Händlern und Spekulanten und alles wurde nach geschehener lieber- 
nähme bar bezahlt. Das Geschäft wickelte sich demnach in Wiesel- 
burg in der angenehmsten Weise ab, dafür hatten aber die Wiener 
Konsumenten weit weniger Ursache, mit ihren Lieferanten zufrieden 
zn sein. Alle die Unarten, welche sich mehr oder weniger bei 
jedem Kleinhandel einschleichen, standen auch da in voller Blüte. 
Diese Bauern machten sich gegenseitig als Händler soweit Konkur- 
renz, dass sie den Hafer in Wien um denselben Preis abgaben, als 
sie dafür in Wieselburg bezahlt hatten. Die ganze Fracht und die 
sonstigen Spesen mussten demnach in anderer Weise eingebracht 
werden. Diese Kleinhändler waren nämlich bestrebt, aus wenigen 
Metzen möglichst viele zu machen und um diesen Zweck zu er- 
reichen, wurde der Hafer durch heisses Wasser in wahrhaft kunst- 
fertiger Weise geschwellt, 20 und mehr Prozent Uebermass war 
das Resultat dieser Manipulation, Wien bekam dadurch trotz Markt- 
polizei keinen aufbewahrungsfähigen Hafer, bloss die einsichtsvollen 
Konsumenten, welche sich durch die billigen Preise nicht verleiten 
Hessen, sondern sich direkt an den Grosshandel in Wieselburg 
wendeten, fanden dort jederzeit die schnellste Bedienung.^ 

Einsichtige Männer im Gemeinderate der Stadt /Wien drangen 
auf die Errichtung von Magazinen aus kommunalen Mitteln, welche. 
1853, in demselben Jahre, in welchem die Kommunalisierung der 
Produktenbörse durchgeführt worden war, auch beschlossen wurde. 
Eine Kommission mit dem damaligen Bürgermeister Dr. Seiller an 
der Spitze, unternahm im Juli desselben Jahres die Besichtigung 
der Pruchtkammern in Pest, Raab, Pressburg und Wieselburg, aber 



^ Der österreichisch-ungarische Getreidehandel und Vorschläge zur Hebung 
desselben von Johann Treyer. Wien 1875. 



105] ^^^ Wiener Getreidehandel etc. 19 

zur Errichtung von Lagerhäusern sollte es zunächst noch lange 
nicht kommen. Und noch länger sollte es dauern, bis Wien zu 
regelrechten, in der Nähe der Stadt gelegenen Landungsplätzen 
kam. Die natürlichste und billigste Transportstrasse für den Ge- 
treideexport aus Ungarn, die Donau, zog damals nicht wie jetzt in 
einem ruhigen breiten Arm an der Stadt selbst, sondern sehr un- 
gebärdig in zahllose Seitenarme zersplittert, in stundenweiser Ent- 
fernung vom Zentrum des Verkehres vorbei. Die Schiffe der Donau- 
dampfschiffahrtsgeseUschaft mussten, wann und soweit es ihnen 
damals überhaupt gelang, auf dem unregulierten, allen möglichen 
Wechselfällen unterworfenen Strom, bis Wien vorzudringen, an ent- 
legenen, ganz primitiven Landungsstellen, ;,die weder unter sich, 
noch mit den Wiener Bahnhöfen in Verbindung standen^ \ ihre Ladung 
löschen. Solcher Landungsstellen gab es mehrere, eine in Nussdorf, 
das damals ausserhalb der Verzehrungssteuerlinie liegend, gleichsam 
den Dienst eines Depot- und Warenmagazins versah, am Spitz und 
bei den Kaisermühlen, wo die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft 
einen rohen Holzbau errichtet hatte, in dem die Waren notdürftig 
untergebracht werden konnten; die Errichtung steinerner Gebäude 
hatte der Besitzer dieser Gründe merkwürdig genug untersagt^. 

Der Strom war bis zur zeitweisen Unfahrbarkeit verwahrlost. 
Während noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts Zugschiffe mit je 
8000 Hetzen Hafer beladen, also mindestens P/s m Tiefgang^ aus 
Ungarn stromaufwärts nach Wien kamen, verschlechterten sich zu 
Beginn unseres Jahrhunderts Fahrbahn und Leinpfad derart, dass 
die Zugschiffahrt mit derlei tiefgehenden Fahrzeugen bis Wien herauf 
unmöglich wurde. Die Schiffe fuhren bis Baab, hier wurde das 
Getreide in kleinere, leichtere Schiffe umgeladen, die es nach Wiesel- 
burg brachten, von wo es dann per Achse nach Wien transportiert 
wurde. In Raab und vornehmlich in Wieselburg konzentrierte 
sich daher damals der Getreideverkehr. In den Magazinen Wiesel- 
burgs waren 1844 insgesamt 5250000 Hetzen, ein für damalige 
Verhältnisse geradezu enormes Quantum, eingelagiBrt ^. 

Hit der Entwickelung der Dampfschiffahrt trat eine Verschie- 
bung der Handelsverhältnissß dadurch ein, dass die Datnpfschiffe 
direkt bis Wien fuhren, wodurch der Umschlag in Wieselburg und 



^ J. Winkler, Der Wiener Donauhandel. Wien 1874, S. 10. 
^ Denkschrift der Donaudampfsohififahrtsgesellschaft, herausgegeben an< 
lässlich der Feier des 50jährigen Bestandes. 
' WlNKLER a. a. 0. 
* Bericht der n.ö. Handelskammer 1851, S. 99. 



20 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [106 

der teure Achsentransport erspart werden konnte, allerdings nur 
dann, wenn die Stromverhältnisse den Schiffen erlaubten, bis Wien 
zu kommen. Da die Stromstrecke Pressburg -Wien in einem arg 
verwilderten Zustande sich befand, war das freilich oft genug, und 
gerade in der für den Getreideverkehr kritischsten Zeit, im Herbst, 
nicht der Fall. Die Schiffe fuhren dann bis Raab, von wo das Ge- 
treide mit der 1851 eröffneten Raab- Wiener-Bahn nach Wien ver- 
frachtet wurde. Dadurch verlor Wieselburg seine Bedeutung an 
Raab, dessen Verkehr einen bedeutenden Umfang annahm. Die 
Verfrachtungen von Körnerfrüchten mittels Zugschiffahrt Donau- 
aufwärts nach Raab werden 

1868—1862 auf 22 640 313 n.-ö. Hetzen, 

1862—1867 „ 12 640 099 , , 

1868—1872 , 16 516 203 , , 

zusammen 51 796 615 n.-ö. Hetzen 
angegeben ^. Der Getreideverkehr Budapests, der heute dem Um- 
sätze nach die erste Stelle unter den Getreidehandelsplätzen der 
Monarchie einnimmt, war damals noch verhältnismässig geringfügig, 
und belief sich in derselben Periode auf 28610487 n.-Ö. Hetzen. Der 
Lage nach war Budapest zur Konzentration des Exporthandels nach 
esterreich und nach Westeuropa weniger geeignet als das westlicher 
gelegene Raab. Ein grosser Getreidehandelsplatz ist Budapest erst 
nach 1866 geworden, durch den gewaltigen Aufschwung der Gross- 
mühlenindustrie ^ daselbst und durch die Einführung des börsen- 
mässigen Terminhandels, welche ungefähr gleichzeitig stattfand. 

2. 

Die Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 
und ihre Entwickelung bis zur Gegenwart. 

Die Abhängigkeit von den fremden Märkten und ihre. Eon- 
sequenzen wurden in Wien und Niederösterreich um so drückender 



^ In der im Frühjahre 1901 in Wien abgehaltenen Terminhandelsenquete 
wurde von einem Eommissionsmitgliede die Einführung des börsenmässigen 
Terminhandels in Zusammenhang gebracht mit der Errichtung einer Filiale in 
Raab durch die Kreditanstalt für Handel imd Gewerbe in Wien (Stenographische 
Protokolle Bd. III, 8. 362). Unseren Erhebungen zufolge hat die Kreditanstalt 
niemals eine Filiale in Raab besessen. 

* Während sich zu Anfang der sechziger Jahre in Budapest nur 5 grössere 
Etablissements befanden, die zusammen höchstens IV2 Millionen Hetzen ver- 
mählen konnten, nahm die Pester Mühlenindustrie nach 1866 eine rapide Ent- 
wickelung, so dass es 1870 schon 14 grössere Etabliss^m^nt^ , mit einer Mahl- 
fähigkeit von 14 Millionen Metzen besass. 



107] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 21 

empfunden, je mehr in den folgenden Jahrzehnten, mit dem Wachs- 
tum der Bevölkerung und mit der Entwickelung der Getreide yer- 
arbeitenden Industrien S der Importbedarf Wiens und Niederöster- 
reichs stieg. Durch den Mangel eines eigenen grossen Getreide- 
handelsplatzes erlitt die Volkswirtschaft Oesterreichs aber auch noch 
in anderer Beziehung eine Einbusse, 

Begünstigt durch hohe Getreidepreise in Süddeutschland, niedrigen 
Yalutastand in esterreich, der zur Spekulation ermunterte, durch 
die Abschaffung der Ausfuhrzölle auf Getreide (1853) und ins- 
besondere durch die Ausgestaltung der Schienen- und Wasserwege^ 
und die Yerbilligung der Frachtraten, hatte sich seit der Mitte der 
fünfziger Jahre der Getreideexport aus Ungarn nach Süddeutsch- 
land lebhaft gesteigert. 



^) Die Biererzeugung in Wien und Umgebung (Die österreichische 
Brauindustrie von 1848 — 1898 von Dr. Rudolf Sonndorfer, in »Geschichte der 
österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien". Wien 1898) 
belief sich: 

1848 in 39 Brauereien auf 672 710 hl Bier 
1855 , 36 , „ 903 257 , , 

1865 ,28 „ , 1 613 809 , , 

1870 ,24 , , 2 632 868 , „ 

Der Mehlversand von Wien nach den österreichischen Provinzen ge- 
wann von Jahr zu Jahr und hielt sich auch in Jahren befriedigender Ernten 
auf ansehnlicher Höhe, weil man sich in jenen Gegenden an das Mehl aus 
Banater Weizen, wie es die Wiener Müller erzeugten, gewöhnt hatte (Handels- 
kammerbericht 1857). 

^) In den vierziger Jahren waren erst wenige Eisenbahnverbindungen mit 
Ungarn in Betrieb; es waren hauptsächlich diejenigen mit Oberungam, Im 
Jahre 1846 und in den folgenden Jahren waren von Staatsbahnen die Strecken 
Pest-Waizen, Wien-Bruck und einige kleine Lokalstrecken in der Theissgegend 
eröfEhet worden, 1847 die Südbahn bis Oedenburg, 1848 die Linie Marchegg- 
Pressburg, die gleichzeitig bei Marchegg an die Nordbahn angeschlossen wurde, 
1850 die Strecke Waizen-Gran-Pressburg. Von da ab wurden in raschem Tempo 
die in die getreidereichen Gegenden Ungarns, in das Banat und in die Theiss^ 
gegend führenden Eisenbahnen ausgebaut und dem Verkehre übergeben; 1854 
die Strecke Felegyhäza-Szegedin-Bruck , 1857 nach Temesvar, 1857 — 1860 ein 
grosser Teil der Theissbahnen. Von besonderer Bedeutung für Wien speziell 
war die 1857 erfolgte Eröffnung der Verbindungsbahn von der Staatsbahn zum 
Hauptzollamt. 

Einige Ziffern werden die Gesamtentwickelung des Verkehrs illustrieren. 
Es standen Eisenbahnlinien in Oesterreich-Ungam im Betriebe: 

1848 .... 1071 km 
1858 .... 2401 „ 
1863 .... 3514 , 
1867 .... 4145 „ 



22 Entwickelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [108 

Die Schiffe, die Eisenbahn'waggons, welche das Getreide aus 
Ungarn hinausführten, zogen an Wien vorbei — der Handel wurde 
in Ungarn abgeschlossen, die reichen Profite aus dem Export- 
geschäft fielen der ungarischen Volkswirtschaft zu. 

Die Wiener Handelskammer liess es an Vorschlägen nicht 
fehlen; der Referent einer von ihr eingesetzten Kommission zur 
Untersuchung der Verhältnisse des Verkehrs mit Getreide, Mehl 
und Brot in den Jahren 1846 — 1858 und über die Ursachen, welche 
der Teuerung dieser Konsumtibilien zu Grunde liegen, erfasst die 
Situation mit richtigem Blick, indem er ausführt: ,Für den öster- 
reichischen Exporthandel mit Getreide könnte Wien durch Errich- 
tung von Magazinen hierselbst zu einem bedeutenden Stapelplatze 
gemacht werden. Es hängt dies jedoch mit der Frage der Donau- 
regulierung, der Anlage eines Donauhafens in Wien u. s. w., 
also mit Gegenständen zusammen, deren Erledigung noch nicht in 
naher Aussicht steht. Der Getreidehandel soll die grösstmöglichste 
Freiheit gemessen, wodurch am besten der Teuerung entgegen- 
gewirkt wird. Die Errichtung einer Getreidehalle in Wien 
stelle sich mit Rücksicht auf die eigentümliche Organisation des 
Eornhandels und bei dem Umstände, als die k. k. priv. Kredit- 
anstalt für Handel und Gewerbe ohnehin Vorschüsse auf Getreide 
gebe, nicht als Bedürfnis dar, abgesehen von den prinzipiellen 
Gründen gegen solche Anstalten. Es sei zu wünschen, dass jähr- 
lich, gleich nach der Ernte, genaue und verlässliche Ausweise über 
Ernteergebnisse in den Kronländern veröffentlicht werden, um der 
unbegründeten Furcht vor Mangel vorzubeugen und dem Getreide- 
handel sichere Anhaltspunkte zu geben." Die Realisierung dieses 
Programmes sollte ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen und 
sie erfolgte so wenig planmässig, so langsam und unzulänglich, dass 
sie ihre Bedeutung dadurch teilweise verliert. 

Indes machte sich auch in vielen anderen Zweigen des Roh- 
produktenhandels das Bedürfnis nach Zentralisation des Marktes 
geltend. War bei der früheren Unzulänglichkeit der Verkehrsmittel 
der Kreis der in Austauschbeziehungen zu einander tretenden Indi- 
viduen verhältnismässig eng gezogen, so hatte sich derselbe nun zu 
einem für den Einzelnen unübersehbaren Umfange erweitert; die 

Transportmittel der Donaudampfschiffahrtgesellschaft: 

1855 ... 91 Dampfboote, 306 Schlepper 
1860 ... 119 « 469 , 

1865 ... 134 , 523 

1870 ... 155 , 547 



109] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 23 

vielen kleinen Zirkülf^tions- und Preisbildungszentren mussten ersetzt 
werden durch einen grossen, womöglich dem ganzen Wirtschaftskom- 
plex gemeinsamen. Der gesamte Zirkulationsprozess der Ware musste 
möglichst abgekürzt, seine Kosten mussten reduziert werden, indem 
man den Handelsverkehr an einzelnen grossen Orten zu konzentrieren 
trachtete, als welche sich von selbst jene ergaben, die den stärk- 
sten Eigen konsum hatten. Schon 1858 war, auf Anregung der 
niederösterreichischen Handelskammer, die Gründung einer Waren* 
börse von der Wiener Kaufmannschaft auf Grund des Vereins- 
gesetzes — das Gesetz über die Organisation der Warenbörsen er- 
schien erst 1860 — versucht worden, zur wirklichen SchafFung der* 
selben kam es aber erst 1873, aus Gründen, auf die wir hier nicht 
näher eingehen können '. 

Ebensowenig rückte die Reorganisation der Fruchtbörse von der 
Stelle, trotzdem sie für die Stadt selbst, aus Approvisionierungs- 
rücksichten, eine unabweisliche Notwendigkeit war. 

Der Getreidehandel blieb daher vorerst weiter in die Formen 
der Stadtwirtschaft eingezwängt, in denen er sich nicht entwickeln 
konnte. Das Marktkommissariat selbst sah sich, um den gänzlichen 

^ In anderen Städten, z. B. in Prag, ist diese Organisation des Waren- 
verkehrs in den fünfziger Jahren in Form einer Privatuntemehmung , der sog. 
Produktenhalle, versucht worden, welche mit einem Aktienkapital von 
750 000 fl. errichtet wurde und als ein grossartiges , alle Produktions- und 
Handelszweige umfassendes Kommissionsgeschäft in Verbindung mit einer Börse 
gedacht war. Unter Mitwirkung der Handelskammer wurde eine Geld-, Waren- 
und Fruchtbörse gegründet, die indes schon nach einem Jahre aus Mangel an 
Teilnehmern geschlossen werden musste. Insofeme diese Produktenh9.11en auch 
Lagerräume besassen und die Aufbewahrung und Bevorschussung von Waren 
geschäftsmässig betrieben, können sie als unmittelbare Vorläufer der öffentlichen 
Lagerhausunternehmungen angesehen werden; ihrer wirtschaftlichen Funktion 
nach verhielten sie sich zu derselben etwa wie der Wucher zum kaufmännischen 
Kredit. Die Lagergebühren waren, an den heutigen Verhältnissen gemessen, 
geradezu enorm hoch. Sie betrugen für den Zollzentner bei gewöhnlichen 
Waren 7 Neukreuzer per Woche und für den ersten Monat und 5 Neukreuzer 
für die folgenden Monate. Güter, welche einen grossen Umfang einnehmen, 
wie Wolle, Leder, per Zollzentner und Monat um 2 Kreuzer mehr; Körner- 
früchte zahlten per n.-ö. Motzen von 10 zu 10 Tagen 2 Neukreuzer. (Die 
Handels- und Gewerbekammer in Prag in den ersten 50 Jahren ihres Bestandes 
1850—1900. Prag 1900, S. 56.) 

Auch in Wien waren wiederholt Projekte zur Gründung derartiger Pro^ 
duktenhallen aufgetaucht. So lag in den ersten fünfziger Jahren dem Magistrat 
der ausgearbeitete Entwurf einer Mehlhalle vor, welche unter .Aufsicht fach- 
kundiger Männer den Produzenten Gelegenheit geben solle, ihre Waren billig 
einzulagern und auch allenfalls einen Vorschuss darauf zu erlangen. Zur Aus- 
führung kam es aber nicht. 



24 Entwickelang Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [110 

Verfall der Fruchtbörse aufzuhalten, veranlasst, im Gemeinderate zu 
beantragen, dass den Eauflenten ein grösserer Einfluss auf die Or- 
ganisation des Verkehres und die Ordnung ihrer Angelegenheiten 
eingeräumt werde. In der Sitzung des Gemeinderates am 26. April 
1861 wurde daraufhin „die schon vom früheren Gemeinderate an- 
gestrebte Regulierung der Frucht- und Mehlbörse* beschlossen^ 
und ein eigenes Beorganisationskomitee eingesetzt. Die Mehrheit 
in der Gemeindevertretung hielt indes mit grosser Zähigkeit an 
den veralteten Zuständen fest und erst nach langem und hartem 
Kampf and schlimmen Erfahrungen sollte eine bessere Einsicht 
Platz greifen. 

Als die ungeduldigen Besucher der Frucht- und Mehlbörse im 
Oktober desselben Jahres an den Magistrat die Bitte um Kenntnis- 
nahme der vorzunehmenden Wahl eines Komitees und der Ausschuss- 
männer richteten, wurden sie von diesem schroff abgewiesen, mit 
dem Bedeuten, dass die Approvisionierung Wiens und somit auch 
die Handhabung der Marktpolizei und die Verwaltung der Mehl- 
und Fruchtbörse zu den gesetzlichen Obliegenheiten der Kommune 
gehöre und das Ansuchen der Börsenmitglieder ein ganz unbefugtes 
Eingreifen in den Wirkungskreis der Gemeinde darstelle. 

Schliesslich wurden aber doch auf Antrag des Marktreferenten 
eine Anzahl aus freier Wahl der Börsenbesucher hervorgegangener 
Börsenmitglieder zum Gemeinderate berufen, um hier an der Aus- 
arbeitung eines neuen Statuts mitzuwirken. Sie , beendigten ihre 
beschwerliche Arbeit in 30 Sitzungen* dahin, dass sie einen Organi- 
sationsentwurf lieferten, Statut, Usancen und Schiedsgerichtsordnung 
enthaltend. Einen ebensolchen lieferte das Marktkommissariat und 
schliesslich war der Marktreferent vom Gemeinderate angewiesen 
worden, auf Grund der unter Mitwirkung der Kaufleute ausgear- 
beiteten Vorlage eine möglichst vollkommene Börsenordnung, all- 
gemeine Usancen und eine Schiedsgerichtsordnung auszuarbeiten, 
wobei ihm die möglichste Wahrung des Einflusses der Kommune, 
soweit derselbe ohne Hemmung des freien Verkehres Platz greifen 
kann, empfohlen wurde. 

Diese drei Referate wurden in der Sitzung des Gemeinderates 
vom 4. August 1863 voiji Marktreferenten vorgelegt. Die Reorgani- 
sationskommission hatte sich aber engherzigerweise zu einer modernen 
Auffassung des Getreidehandels nicht aufschwingen können und ver- 
trat die Meinung des Marktreferenten, „dass das von den Kauf* 



^ Sitzungsprotokolie des Gemeinderata 1861, III, S. 682. 



111] Entstehung der autonomen Frucht- und Mehlbörse 1869 etc. 25 

leuten vorgelegte Statut ^als zu weit gehend in die Rechte der 
Kommune eingreife*' und der Kommune nur ^einen winzigen Einfluss'^ 
lassen würde, was nicht nur unter der Würde der Kommune wäre, 
sondern auch gegen die gesetzlichen Bestimmungen Verstösse''. Da 
umgekehrt eine grosse Anzahl von Gemeinderäten sich gegen das 
Statut des üarktreferenten aussprach, »weil es den Handel wieder 
knebeln würde ''f so wurden die gesamten Elaborate an die Kom- 
mission zurückgewiesen. 

Nun schlief die Angelegenheit wieder einige Jahre; Wien blieb 
der Entwicklung des Getreidewelthandels gegenüber weiter unthätig. 
Ohne Zuthun, fast wider den Willen der öffentlichen Verwaltung, 
entwickelten sich in Wien die ersten Keime eines Getreideexport- 
handeb. In den Exportjahren 1868 — 1869 kamen die Mannheimer 
Kaufleute auch nach Wien, um Getreide einzukaufen. Da der 
Handel lebhaft, die Kommissionssätze infolge der noch geringen 
Konkurrenz unter den Händlern ziemlich hohe waren, so fand 
mancher der in Wien ansässigen Agenten und Kommissionäre Ge- 
legenheit, ein schönes Stück Geld zu verdienen und den Uebergang 
zum Proprehandel zu machen. 

Von dieser Zeit ab trat eine Spezialisierung im Wiener 
Getreidehandel in der Richtung ein, dass einzelne Kommissionäre 
auch weiterhin hauptsächlich die Pflege der mit den ausländischen 
Importeuren angeknüpften Beziehungen sich angelegen sein liessen, 
sich zu Exporteuren qualifizierten. 

Die städtische Fruchtbörse hatte von dieser Steigerung des 
Handelsverkehrs wenig Gewinn. Sie wurde womöglich gemieden 
und die Thatsache, dass die amtlich veröffentlichten Umsätze und 
Preise gewöhnlich unrichtig waren ^, trug vollends dazu bei, sie zu 
diskreditieren. 

Die Zahl der Besucher und damit das Erträgnis der Eintritts- 
gebühren verminderten sich statt zu steigen. Von 1014 Besuchern 
und einem Eintrittsgebührenerträgnis von 6483 fl. im Jahre 1861 
waren bis sum Jahre 1866 Besucherzahl und Erträgnis successive 
auf 862 bezw. auf 4650 fl. herabgesunken^. Im Cafö „Stierböck* 
in der Nähe der Ferdinands-Brücke war eine Winkelbörse ent- 
standen, deren Verkehr bald lebhafter war als der an der Frucht- 
börse. Hier suchten die Ausländer die wenigen Getreidehändler 
und Vermittler auf, die damals in Wien sesshaft waren. Vom 



^ Statistik der Volkswirtschaft für Niederösterreich von 1855 — 1866, 
herausgegeben von der Wiener Handelskammer, S. 781. 



26 Entwickelang Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [112 

Jahre 1852 bis 1866 hatte sich die Zahl der Oetreidehändler in 
Wien nur um 7, nämlich auf 18 vermehrt. Die ungarischen Pro- 
vinzexporteure zogen es, seitdem in Budapest für den, Getreidehandel 
die autonomen Börsenorganisationen der Produktenhalle und des 
Lloyd entstanden waren, vor, ihre Geschäfte dort und unter Inter- 
vention des Budapester Handels abzuwickeln. Zweifellos trug auch 
die Einführung des börsenmässigen Terminhandels in Budapest dazu 
bei, den Handel von Wien abzuziehen. Den Zwischennutzen des 
Budapester Exporteurs musste der österreichische Konsument natür- 
lieh bezahlen, was in den nnverhältnismässig hohen Getreidepreisen 
in Wien zum Ausdruck kam. 

Vielleicht hätte man noch länger mit der Freigabe der Markt- 
organisation für den Getreidehandel gezögert, wenn die Verwaltung 
der Fruchtbörse nicht ein Defizit ergeben hätte. Die Verwaltungs- 
kosten wurden hauptsächlich aus den Eintrittsgebühren bestritten 
und der Ausfall, den der verminderte Besuch der Börse von Seiten 
der Händler herbeiführte, war um so empfindlicher, als jene Bäcker 
vom flachen Lande, welche bei der Wiener Bäckergenossenschafb 
intabuliert waren, gegen ein Pauschale von 40 fl. freien Zutritt 
hatten. 

Dieser finanzielle Misserfolg machte die Unhaltbarkeit des 
bestehenden Zustandes handgreiflich, und im Gemeinderate, wo in- 
zwischen die Anhänger des alten Systems dem mächtig aufge- 
schossenen Liberalismus gegenüber in die Minorität gekommen 
waren, gelangte der Entschluss zum Durchbruche, die Börse dem 
Handel freizugeben. 

Trotzdem noch immer nicht nur seitens vieler Begierungs- und 
Marktorgane, sondern auch von Seiten vieler Börsenbesucher Ein- 
wendungen erhoben wurden, welche die Kosten der Börse, die 
Preisbildung, die für nötig erachtete marktpolizeiliche Ueberwachung 
der Qualität der Brotfrüchte und des Mehles, den Einfluss der nicht 
in Wien ansässigen Mitglieder auf die Gebarung der Börse, die 
Rechtspflege an derselben u. a. m« betrafen, wurde mit Gemeinde- 
ratsbeschluss vom 15. Mai 1868 anerkannt: 

1. Die Mehl- und Fruchtbörse kann nur dann ihren Zweck als 
Beförderungsanstalt für den Frucht- und Mehlhandel erreichen, 
wenn dieselbe aufhört, ein kommunales Institut zu sein. 

2. Wenn sie der autonomen Leitung und Verwaltung der 
Börsenbesucher überlassen wird und der rein kaufmännische Cha- 
rakter streng bewahrt. 

3. Dass es zur Wahrung der Interessen der Kommune hin- 



113] Entwickelnng des Wiener Getreidehandels etc* 27 

reichend ist, wenn dieselbe durch einen Delegierten sich Kenntnis 
vom jeweiligen Geschäftsgänge, von den Zufuhren und Verkäufen, 
von den Preisen etc. zu verschaffen in die Lage gesetzt sein wird. 

Der Magistrat wurde beauftragt, die Börsenbesucher von diesen 
Beschlüssen mit der Aufforderung zu verständigen, aus ihrer Mitte 
ein Komitee zu wählen, welches ein Gutachten über die Umgestal- 
tung der Frucht- und Mehlbörse zu erstatten und seine Vorschläge 
dem Qemeinderate zur weiteren Beschlussfassung vorzulegen. 

Auf Grund eines von der Regierung, im Einvernehmen mit der 
Gemeinde genehmigten Vereinsstatutes wurde am 15. September 1869 
die autonome Börse eröffnet, ein 29gliedriger Vorstand, bestehend 
aus Müllern, Bäckern und Brauern und Getreidehändlem, und von 
diesem Herr Roman Uhl, der damalige Eigentümer der Wiener 
Bäckerdampfmühle, zum Präsidenten und Herr Moriz Leinkauf zum 
Generalsekretär gewählt. 

Die nächste Entwickelungsetappe in der Organisation des Wiener 
Getreidehandels, welche der Freigebung der Börse folgte, war 1873 
die durch Herrn Leinkauf angeregte Einführung der internationalen 
Saatenmärkte, wie sie an anderen Orten bereits bestanden. Sie 
hatten sich zuerst in Budapest, dann in Leipzig gebildet und 
charakterisieren eine Epoche geringerer Entwickelnng und lücken- 
hafter Organisation des Getreidewelthandels und der Getreide- 
statistik. 

Die Saatenmärkte vereinigten alljährlich nach der Ernte — sie 
fanden gewöhnlich Ende August statt — Kaufleute aus ganz Europa 
in Wien; damals galt Ungarn als „Kornkammer" Europas, von dem 
Ausfall seiner Ernte wurde die Gestaltung der europäischen Ge- 
treidepreise sehr wesentUch beeinflusst, und man kam, wenn schon 
nicht um Einkäufe zu besorgen, so doch um sich über die Gestaltung 
der Marktlage zu orientieren. Von Seite der Pruchtbörse wurden 
Schätzungen der Welternte publiziert, welche, grossenteils auf 
privaten Informationen kaufmännischer Korrespondenten beruhend, 
allerdings wenig zuverlässig sein konnten, immerhin aber ein 
schätzenswertes Surrogat für die mangelnde amtliche Welternte- 
statistik bildeten. Die Umsätze auf diesen Saatenmärkten waren 
bis zum Ende der achtziger Jahre sehr bedeutend, effektive Ware 
und Termin zusammengenommen, nach den Schätzungen der Saaten- 
marktkommission 500 000—800 000 Meterzentner, und auch an 
äusserem Glanz fehlte es diesen Veranstaltungen nicht, da die Er- 
öffnung der Saatenmärkte in der Regel durch den Handelsminister 
selbst geschah. 



28 Entwiokelung Wiens zum Stapelplatz des Getreidehandels. [114 

Gegen die Abhaltung dieser Saatenmärkte machte sich aber 
seitens der Getreideexporteure Widerstand geltend, weil auf dencielben 
die Kontrahenten, zwischen welche bisher ihre Thätigkeit vermittelnd 
sich eingeschoben hatte, in direkte Verbindung miteinander traten 
und dann auch weiterhin blieben. Der Kaufmann ist bei Anknüpfung 
neuer Beziehungen ein Zauderer, aber auch hier gilt das Wort: 
ce n^est que le premier pas qui coüte. Der Widerstand innerhalb 
der Kaufmannschaft selbst erhielt — merkwürdig genug — Succurs 
gerade von den Anhängern jener Wirtschaftspolitik, in deren Pro- 
gramm das Schlagwort von der Eliminierung des Zwischenhandels an 
erster Stelle steht; so wurde die Institution, deren Wert übrigens 
infolge der Entwickelung des Getreidehandels und der Getreide- 
statistik und seit dem Rückgänge des Exports ohnedies nur mehr 
ein dekorativer war, vor 2 Jahren fallen gelassen. 

Ein wichtiges Jahr in der Entwickelungsgeschichte der Wiener 
Produktenbörse war das Jahr 1876. In dieses Jahr fiel die Neu- 
konstituierung der Fruchtbörse auf Grund des Börsengesetzes 
vom 1. April 1875, welches dem Verkehr an der Fruchtbörse endlich 
die nötige sichere Rechtsbasis verlieh, welche die Börsenordnung 
vom 11. Juli 1854 und das Warenbörsengesetz vom Jahre 1860 von 
allem Anfange nicht hatten bieten können. Durch diese Gesetze 
war namentlich der Wirkungskreis des Schiedsgerichtes in einer 
dem Verkehr unzuträglichen Weise eingeengt, indem die Kompetenz 
desselben, auch für die an der Börse abgeschlossenen Geschäfte, 
an die Voraussetzung geknüpft war, dass die Parteien einen schrift- 
lichen Schiedsvertrag errichtet hätten. 

Das neue Gesetz dehnte die Kompetenz des Schiedsgerichtes 
auf alle Bechtsstreitigkeiten aus sog. technischen Börsengeschäften 
aus, d.h. aus solchen Geschäften, die im öffentlichen Börsenlokale, 
zur Börsenzeit über Verkehrsgegenstände dieser Börse abgeschlossen 
wurden, ausgenommen den Fall, dass die Parteien diese Zuständig- 
keit von vorneherein schriftlich ausgeschlossen hatten. Für diese 
technischen Börsengeschäfte wurden ferner, um die Unsicherheit aus 
dem Börsenverkehr zu bannen und unter der Nachwirkung der 
bösen Erfahrungen, welche man gelegentlich der Krise des Jahres 
1873 gemacht hatte, der Einwand von Spiel und Wette ausge- 
schlossen. Schliesslich verlieh das neue Gesetz den Erkenntnissen 
des Schiedsgerichtes eine raschere Vollstreckbarkeit durch die Be- 
stimmung, dass auch eine Klage auf Ungültigkeit des Schieds- 
gerichtsspruches dessen Exequierbarkeit nicht hemmen sollte. 
Eine Ausdehnung der Kompetenz der Börsenschiedsgerichte auf 



115] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 29 

ausserhalb der Börse über deren Yerkehrsgegenstände abgeschlossene 
Geschäfte, wie sie von der Eanfinannschafb angestrebt wurde, sta- 
tuierte das Gesetz wohl nicht ausdrücklich, aber implicite. Das 
Statut der Fruchtbörse enthielt eine diesen erweiterten Wirkungs- 
kreis zulassende Bestimmung, auf Grund welcher das Börsen- 
schiedsgericht auch über Streitigkeiten aus ausserhalb der Börse 
geschlossenen Geschäften entscheiden konnte, sofern die Parteien 
bei dem . Abschlüsse oder der Abwickelung des Geschäftes einen 
schriftlichen Schiedsvertrag errichtet hatten. Von da ab er- 
fährt die Frequenz der Börse und ihres Schiedsgerichtes eine rapide 
Steigerung. Die Anzahl der bei demselben anhängig gemachten 
Streitsachen stieg von 237 im Jahre 1874 auf 934 im Jahre 1876 
und 1649 im Jahre 1877. Sie erreichte ihren Kulminationspunkt 
im Jahre 18&4 mit 4565 FäUen.. 

Bei der Umarbeitung, welche gelegentlich der Neukonstituie- 
rung der Börse die Usancen erfuhren, wurden zum erstenmal auch 
Normen für den Terminhandel in ähnlicher Weise börse- 
mässig kodifiziert, wie dies schon früher in Berlin und Buda- 
pest geschehen war. 

Im Jahre 1896 fand eine Erweiterung der Verkehrsgegen- 
stände der Fruchtbörse statt, indem die Regierung die vom Wiener 
Gemeinderat bereits im Jahre 1887 beim Handelsministerium an- 
gesuchte Einbeziehung anderer landwirtschaftlicher Produkte, Spiritus, 
Rüböl, Oelkuchen, Pflaumen und Pflaumenmus, Heu und Stroh in 
den Verkehr der Börse bewilligte, die nun den Titel ^ Börse für 
landwirtschaftliche Produkte^ annahm. Im Jahre 1898 übersiedelte 
sie aus den gemieteten Lokalitäten am Schottenring, die für den 
stark angewachsenen Verkehr, für die Beherbergung des Schieds- 
gerichtes und des Beamtenkörpers längst zu enge geworden wahren, 
in das, aus ihren eigenen Fonds und aus den Mitteln eines eigens 
zu diesem Zwecke aufgenommenen Anleihens, in der Leopoldstadt 
errichtete Gebäude, das in seiner Art wohl eines der prächtigsten 
und zweckmässigst eingerichteten der Welt ist. 

3. 

Die Entwickelung des Wiener Oetreidehandels seit Entstehung 

der autonomen Börse. 

Der Verkehr schnellte mit dem Wachstum der Produktenbörse 
mächtig hinauf. Ihn in seiner Gesamtheit darzustellen ist uns nicht 
möglich, weil die Ausweise der Eisenbahnen über den Getreideverkehr 



30 EntwickeluDg Wiens zum Stapelplatz des Getreidebandeis. [116 

Wiens unvoUständig sind. Aber der Donauverkehr Wiens in Getreide 
allein, illustriert diese Entwickelung genügend. Von 8 474 000 W. C. 
= ca. 4 237 000 Meterzentner im Quinquennium 1870 — 1874 war 
derselbe auf ca. 13 320 000 Meterzentner im Quinquennium 1876 
bis 1880, also um ca. 865 ^/o hinaufgeschnellt, wobei der Transit- 
verkehr, der für diesen Zeitraum ebenfalls ca. 3300000 Meterzentner 
ausmacht, nicht mitgerechnet ist. Auch in den folgenden Quin- 
quennien hielt diese Steigerung — trotz , wie wir sehen werden, 
ungünstigster Verhältnisse — weiter an. 

Der durch die verschiedenen Schiffahrten ^ nach Wien vermittelte 
Getreideverkehr beträgt rund Meterzentner: 

In den Zeit- Insgesamt Davon Transitverkehr der 

räumen Donaudampfsch.-Ges. 

1881—1885 15 388 000 2 769 000 

1886—1890 20 948 000 6 510 000 

1891-1897 30489 000 10 680 381 

Bis zu Ende der achtziger Jahre waren die handelspolitischen 
Verhältnisse in Europa einem lebhaften Getreidehandel aus und nach 
Oesterr eich- Ungarn auch durchaus günstig. Die Zollpolitik Europas 
war freihändlerisch, die Konkurrenz Amerikas war noch nicht voll 
entwickelt und der Import in die grossen Eonsumgebiete Europas 
war durch keine Schutzzölle gehemmt. Deutschland z. B. hob von 
1865 — 1879 überhaupt keine Getreideeinfuhrzölle ein und erst 1880 
trat der verhältnismässig geringfügige Zoll von 1 Mark pro Meter- 
zentner auf Weizen und Boggen, von 50 Pfennigen auf Gerste und 
Puttergetreide in Erafb. Ebensowenig war der Eintritt fremden 
Getreides nach Oesterr eich-Ungarn durch Zölle aufgehalten; bis zum 
Jahre 1887 bestanden keine Schutzzölle, sondern blosse Finanz- 
zölle, 40 Ereuzer auf Weizen, 30 auf Boggen, 20 auf Gerste und 
Futtergetreide bis zum Jahre 1882, von da ab trat eine unbedeu- 
tende Erhöhung ein. 

Dadurch war allgemein eine sehr rationelle und wirtschaftliche 
Verwertung des Getreides möglich, namentlich der Hauptbrotfrucht- 
gattung Weizen; Ungarn beispielsweise exportierte mehr als seinen 
faktischen TJeberschuss und zog dafür aus den Ländern an der un- 
teren Donau Weizen heran. Für seinen ausserordentlich kleber- 
reichen Weizen bekam es im 'Auslande gute Preise und der mehl- 
reiche, wenn auch weniger feine Balkanweizen gab mit dem unga- 



^ Donaudampfschiffahrtsgesellschaft, Ungarische Fluss- und Seeschiffahrt- 
gesellschaft , Süddeutsche Dampfschiffahrtgesellschaft, zusammengestellt nach 
den Jahrbüchern der Stadt Wien. 



117] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 31 

Tischen gemischt ein so vortreffliches Mehl, dass es unwirtschaftlich 
gewesen wäre, den einheimischen Konsum mit ausschliesslich aus 
ungarischem Weizen hergestellten Mehl zu befriedigen. 

Die Zahl der Getreidehändler in Wien wuchs nun rasch, denn 
es gab lohnende Arbeit für viele Hände. Anfangs der siebziger 
Jahre übersiedelten zahlreiche Exporteure von den ungarischen 
Stapelplätzen nach Wien, Proprehändler und kleine Agenten und 
Kommissionäre, welche durch die Rührigkeit, mit der sie das frucht* 
bare Feld bewirtschafteten, in verhältnismässig wenigen Jahren sich 
zu Proprehändlem emporarbeiteten. Mühe und Kosten wurden nicht 
gespart, um die Beziehungen zum Auslande auszudehnen, Reisen 
dahin unternommen, um die Importeure aufzusuchen, ihr Vertrauen 
und ihre Kundschaft zu gewinnen. 

Gelegentlich der stärkeren Importe rumänischen Getreides und 
des lebhafteren Transitverkehrs darin in der zweiten Hälfte der 
siebziger Jahre sahen sich die rumänischen Importfirmen, welche 
bis dahin ihre Geschäfte von Budapest aus und unter Intervention 
des Budapester Handels betrieben hatten, veranlasst, Niederlassungen 
in Wien zu gründen, wobei zwischen dieser und dem Stammhause 
eine Arbeitsteilung durchgeführt wurde ; dem letzteren oblag haupt- 
sächlich der Einkauf im Produktionslande und der Import nach 
Ungarn; der Import nach esterreich und hauptsächlich die Pflege 
des Transithandels nach Westeuropa dagegen der Wiener Filiale, 
weil sie dem ausländischen Absatzgebiete näher lag und der Wiener 
Handel bei den ausländischen Importeuren sich in ein derartiges 
Vertrauen gesetzt hatte, dass diese seine Intervention jeder anderen 
vorzogen. 

Die früher geschilderten Handelsverhältnisse brachten auch eine 
ausserordentlich starke Frequenz des Terminmarktes durch den 
Getreidehandel und zwar auch durch den ausländischen mit sich. 
Die Entwickelung des Transportwesens hatte aus ganz Westeuropa 
gleichsam ein einziges Produktions- und Konsumgebiet für Getreide 
gemacht, in welchem, unbehindert von Zollschranken, die internatio- 
nale Terminarbitrage eine Nivellierang der Preise herbeiführte. 

Die ausländischen Importeure und die ungarischen Exporteure 
liessen ihre Terminoperationen durch dieselben Firmen ausführen, 
mit welchen sie in effektiver Geschäftsverbindung standen; so ergab 
es sich von selbst, dass der sehr einträgliche Terminkommissions- 
handel vielfach neben dem Effektivhandel betrieben wurde. Aber 
auch Spezialisirung auf das Terminkommissionsgeschäft war nicht 
selten, leider auch in einer sehr bösartigen Richtung — es instal- 



32 Entwickelung Wienfi zum Stapelplatz des Getreidehandels. [118 

lierten sich Firmen an der Frachtbörse, welche das Privatpublikum 
in skrupellosester Weise zum Differenzspiel in Getreide heranzogen 
und zeitweilig den Markt in einer Weise beherrschten und derou- 
tierten, dass die Börsekammer im Interesse des legitimen Handels 
einige Versuche machte, dem Uebel zu steuern. Dieselben blieben 
erfolglos und die Folge war, dass das Odium der von den Spiel- 
häusern begangenen Ausschreitungen auf die ganze Organisation 
zurückfiel, innerhalb welcher sie vorkamen. 

Binnen relativ wenigen Jahren war so Wien ein Getreide- 
handelsplatz von europäischer Bedeutung geworden, trotzdem die 
Entwickelung noch immer mit schweren natürlichen Widrigkeiten 
zu kämpfen hatte. Die wichtigsten Strecken der Donau waren noch 
immer unreguliert; vor der Felsenenga des „Eisernen Thores" 
mussten die, in Rumänien mit Getreide beladenen Schiffe ofb 
monatelang warten, bis günstige Wasserstands Verhältnisse ihnett 
die Passierung der geföhrlichen Stelle ermöglichten. Waren sie 
endlich über Budapest hinaus gekommen, so kam eine zweite kri- 
tische Passage . — die Strecke Pressburg- Wien. Zur Zurücklegung 
dieser Strecke, welche unter normalen Verhältnissen kaum zwei 
Tage in Anspruch nimmt, braachten bei halbwegs ungünstigen 
Wasserstandsverhältnissen die Schiflfe 8 — 14 Tage und länger. Ge- 
wöhnlich musste, um den Tiefgang des Fahrzeuges zu verringern, 
ein Teil der Ladung in kleinere Schiffe, sog. »Schiffter** -Schleppe 
umgeladen werden, wodurch zu dem Zeit- und Zinsenverlust gewöhn- 
lich auch noch ein effektiver Gewichtsverlust trat. .Der stets eifer- 
süchtige Nachbar in Trans trachtete natürlich die Regulierungs- 
arbeiten möglichst hinauszuziehen. 

Mitte der achtziger Jahre trat ein Umschwung in der euro- 
päischen Getreidehandels- und Agrarpolitik ein, der nicht ohne 
pachhaltige Rückwirkungen auf den Wiener Gietreidehandel blieb. 
Unter dem Einfluss der wachsenden Konkurrenz Amerikas brachte 
zuerst Frankreich, dann Deutschland (1887) und gleichzeitig Oester- 
reich-Ungarn seine Getreidezölle auf die Höhe wirklicher Schutzzölle. 

Durch die amerikanische Konkurrenz schon früher hart bedrängt, 
erlitt der Getreideexport Oesterreich-Ungarns nun auch durch die 
schutzzöllnerische Politik Deutschlands Abbruch. Besonders der 
Export an Brot&üchten sank rapid. Die gelegentlich des Abschlusses 
der Handelsverträge im Jahre 1892 eingetretene Ermässigung, der 
deutschen Getreidezölle vermochte diesen Rückgang nicht aufzuhalten. 
Der Wert dieser Zollermässigungen, die mit nicht unbeträchtlichen 
Zugeständnissen rücksichtlich der österreichischen Industriezölle er- 



119] Entwickelung des Wiener Getreidehandels etc. 33 

kauft worden waren, wurde dadurch illusorisch, dass sie infolge der 
Meistbegünstigungsverträge Deutschlands auch Amerika und Buss*- 
land zu gute kamen. , 

Der Getreideexport Oesterreich-Ungarns belief sich im Jahres- 
durchschnitt (in Tausenden von Meterzentnern) auf: 



In den 






Davon 


Zeiträumen 


Insgesamt 


Gerste 


Malz 


1875-1879 


8 036 


2 492 


— 


1880—1884 


7 756 


2 579 


662 


1885-1889 


7 854 


3 407 


926 


1890—1894 


7 587 


3 936 


1310 


1895—1899 


5 800 


3 600 


1622 



Auch der Transithandel ging zurück. Die VerbiUigung der 
Rhein- und Seefrachten lenkte den Getreidestrom aus Rumänien und 
Bulgarien donauabwärts via mare und Rhein über Mannheim nach 
Süddeutschland und der Schweiz, wohl auch durch das Mittelmeer 
nach und über Italien. Die Donauschiffahrten konnten in der Herab- 
setzung der Frachtraten den Rheinschiffahrten nicht folgen, weil sie 
keine Rückfracht haben, wozu noch der Umstand kommt, dass 
die widrigen Stromverh'ältnisse sie zu kleinen, irrationellen Schiffs- 
typen von 2000 — 4000 Meterzentnern Fassungsraum zwangen; erst 
neuestens können dank der fortgeschrittenen Regulierung auf der 
Donau auch grössere Fahrzeuge bis zu 6000 Meterzentner verwendet 
werden, während auf dem Rhein Schiffe mit 10000— 15000 Meter- 
zentner Fassungsraum verkehren. Ueberdies kann auf dem Rhein 
teilweise der Wind als Fortbewegungsmotor verwendet werden. Die 
Belastung der Getreideschiffe mit einer Kanalgebühr von ca. 10 Kreu- 
zern per 100kg, welche seit Eröffnung des Kanals am „Eisernen Thor* 
von der ungarischen Regierung eingehoben wird, trug natürlich auch 
nicht zur Förderung des Transithandels bei. Auch die Aufhebung 
des Mahlverkehres that demselben Abbruch. Während des Mahl- 
verkehres fand ein fast ununterbrochener Zustrom von Getreide 
aus den Donauländern nach Budapest statt, dessen Mühlenindustrie 
denselben hauptsächlich benutzte, und um eine Absatzchance für 
rumänisches Getreide in Süddeutschland rasch auszunutzen, brauchte 
man nur auf diese Konsignationen zu greifen. 

Gleichwohl stieg die Bedeutung Wiens als Getreidestapelplatz, 
wie die eingangs mitgeteilten Ziffern zeigen, auch in den folgenden 
Jahren noch. 

Wie gross der Entgang ist, den Wien während dieser Periode 
durch die Vernachlässigung der Verkehrseinrichtungen, durch die 

Wiener Studien. III. Bd., 2. Heft. 3 [9] 



34 ^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [120 

Eisenbahnpolitik and durch sonstige Mängel der Organisation seines 
äetreidehandels erlitten hat, lässt sich ziffernmässig nicht feststellen ; 
aber zweifellos ist derselbe sehr gross. Und er ist nm so empfind- 
licher, als auf der anderen Seite der Getreidehandel Wiens eine 
ganz natürliche Schmälerang dadurch erföhrt, dass, wo er erst ein- 
mal die Wege geebnet hat, vielfach Konsumenten und Produzenten 
miteinander in direkte Verbindung treten. 

Das schwerste Entwickelungshindernis bildete die bestehende 
Desorganisation des Lagerhauswesens und gewisse Mängel der Yer- 
kehrseinrichtungen. Nicht nur beeinträchtigen sie Wien als Ge- 
treidestapelplatz, sie wirken auch auf die Yerkehrsformen in 
nachteiliger Weise zurück. Ein gut Teil der der heutigen Organi- 
sation des Terminhandels an der Wiener Produktenbörse anhaften- 
den Mängel, manches derzeitig notwendige Uebel im Geschäfts- 
verkehr überhaupt könnte beseitigt werden oder würde von selbst 
wegfallen, wenn hier Wandel geschaffen würde. Grund genug, dass 
wir den breitesten Baum in unserer Darstellung dem Lagerhaus- 
und Tarifwesen widmen. 

Vorher aber wollen wir die kaufmännische Organisation des 
Wiener Getreidehandels, die Produktenbörse, einer kurzen Betrach- 
tung unterziehen. 



Zweites Kapitel. 

Der Wiener Getreidehandel und seine Technik in der 

Gegenwart. 

I. 
Die Produktenbärse. 

1. 
Die Verfassung der Produkt^börse. 

Die Börse für landwirtschaftliche Produkte in Wien ist eine 
autonome Börsenorganisation im Sinne des Börsengesetzes vom 
1. April 1875, untersteht jedoch unmittelbar der Aufsicht des 
Handelsministeriums, welche durch einen eigens dazu bestellten 
Börsenkommissär im Sinne des § 4 des Börsengesetzes ^ aus- 
geübt wird. 

^ ,Bei jeder Börse wird ein Börsenkommissar bestellt, welcher die Ober- 
aufsicht an der Börse führt, die Ausführung aller Börsenvorschriften überwacht. 



121] Die Produktenbörw. 35 

Die autonome Verfassung der Börse ist durch ein Statut \ 
welches der Genehmigung des Handelsministeriums unterliegt, 
folgenderweise geregelt: Es wird unterschieden zwischen Börsen- 
mitgliedern und Börsenbesuchern. Börsenbesucher ist, wer im 
Besitze einer entgeltlichen Jahreseintrittskarte ist, die Mitgliedschaft 
erwirbt, wer länger als ein Jahr Börsenbesucher ist. Eine Jahres* 
karte kann jedermann erhalten, der vom Börsenbesuche nicht nach 
§ 5 des Gesetzes vom 1. April 1875 ausgeschlossen ist^. 

Ausserdem werden an Personen, welche die Börse nur fCir einen 
Tag zu besuchen wünschen, wenn sie von zwei Börsenmitgliedern 
eingeföhrt werden, sog. Gastkarten ausgegeben, die für einen 
Börsentag gültig sind. Diese Einrichtung ist mit Bücksicht auf jene 
sehr zaUreichen Getreidehandelsinteressenten nötig, welche, ohne an 
einem regelmässigen Besuch der Börse interessiert zu sein, nur zeit- 
weilig dort Geschäfte zu besorgen haben, etwa nach der Ernte. 

Jedermann, der im Besitze einer Jahres- oder Gastkarte ist, hat 
Zutritt zu den Börsenversammlungen, deren täglich zwei statt- 
finden: eine Vormittags- und eine Nachmittagsbörse; technische^ 
Börsengeschäfte jedoch können von Gästen nicht geschlossen werden^. 

Die Leitung und Verwaltung der Börsenangelegenheiten obliegt 
einem von den Börsenmitgliedern fireigewählten SOgliedrigen Aus- 
schuss, welcher den Titel .Kammer der Börse für landwirt- 
schaftliche Produkte^ führt. Das aktive Wahlrecht besitzt 
jedes Börsenmitglied, wobei Inhaber von Tisch- oder Schranken- 
plätzen ausser der Stimme auf Grund ihrer Jahreskarte noch so 
viele Stimmen haben, als der Inhaber für die von ihm bezahlten 
Tisch- oder Schrankenplatzgebühren Jahreskarten der höchsten 
Klasse hätte lösen können. Das passive Wahlrecht besitzen nur in 
Niederösterreich domizilierende Börsenmitglieder; und mindestens 

Missbräuche zu rügen und, wenn nicht sogleich Abhilfe erfolgt, deren Beseiti- 
gung im Wege der politischen Landesbehörde zu erwirken hat. 

Der Kommissär hat insbesondere auch allen Beratungen der Börsenleitong 
beizuwohnen und Beschlüsse, welche er wider die bestehenden Gesetze oder das 
Börsenstatut gefasst erachtet, bis zu der im Wege der politischen Landesbehörde 
einzuholenden höheren Entscheidimg zu sistieren." 

^ Das letzte Statut ist vom 9. Juni 1898. 

3 Jahreskarten können insbesondere nicht erteilt werden Personen, welche 
im Konkurs sind oder sonst ihren YerpflichtuDgen nicht nachgekommen sind, 
oder welche wegen Verbreitung falscher Nachrichten von der Börse ausgeschlossen 
worden sind u. s. f. 

» Vgl. S. 28. ^ 

^ Stenogr. Prot, der Enquete betreffend den börsenmässigen Terminhandel 
mit landwirtschaftlichen Produkten, III, S. 399, 767. 



36 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [122 

20 von den Börsenräten müssen — mit Bücksicht auf die Amts- 
pflichten, welche einem Börsenrat zufallen — ihren ständigen Wohn- 
sitz in Wien haben. Das Amt eines Börs^nrates ist ein Ehrenamt 
und mit keinerlei Emolumenten verbunden. Die Börsenkammer, 
deren jeweilige Funktionsdauer drei Jahre ist, wählt aus ihrer Mitte 
einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, welchen die Leitung 
der Geschäfte auf Grund einer Geschäftsordnung obliegt, die von 
der niederösterreichischen k. k. Statthalter^i genehmigt sein muss. 
Die Bureaugeschäfte der Böi^se sowie die des ständigen Schieds- 
gerichtes werden durch einen Beamtenkörper besorgt, an dessen 
Spitze der Generalsekretär bezw. dessen Stellvertreter steht. Die 
Börsenkammer hat insbesondere folgende Funktionen: 

a) Sie erstattet die ihr von den Behörden abverlangten Gut- 
achten. 

b) Sie erlässt die Normen zur Regelung des Börsenverkehrs 
(Usancen). 

c) Sie besorgt die amtliche Ausmittelung der Kurse (Preise) 
nach einem von ihr aufgestellten besonderen Regulativ. 

d) Sie bildet das ständige Schiedsgerichtskollegium. 

Zur Regelung und Vereinfachung des Verkehrs bestehen an der 
Börse für landwirtschaftliche Produkte, wie an jeder anderen Börse, 
sog. Usancen, eine Sammlung von Geschäfbsnormen, welche von der 
Börsenkammer herausgegeben werden. Diese Normen können in 
zwei Arten unterschieden werden: Erstens Usancen, welche die 
Technik des Verkehrs betreflPen, wobei wir wieder unterscheiden 
können zwischen solchen, die aus dem täglichen Geschäftsverkehr 
heraus sich entwickelt haben, gleichsam nur die Formulierung eines 
faktisch bereits bestandenen Zustandes bilden, und solchen, die den 
Verkehr erst in bestimmte Formen lenken. Zweitens Usancen, 
welche den Geschäftsverkehr nach seiner rechtlichen Seite hin 
regeln. In Wirklichkeit findet eine Gruppierung nach diesen Ge- 
sichtspunkten nicht statt und wäre wohl auch schwer durchführbar, 
da . die Grenzen fliessende sind. Die Grundlage für die Schaffung 
neuer oder Abänderung bestehender Usancen bildet ein vom Sekretär 
des Schiedsgerichtes geführtes Spruchrepertorium, in welches alle 
grundsätzlich wichtigen Entscheidungen eingetragen werden. 

Die Berufung auf die Usancen enthebt die vertragschliessenden 
Teile der Notwendigkeit, gewisse allgemeine Konditionen, die regel- 
mässig sich wiederholen, bei jedem Vertragsschlusse ausdrücklich zu 
stipulieren. So ist z. B. durch die Usancen ein für allemal be- 
stimmt, wer die Emballage zur Verpackung des erkauften Getreides 



123] Die Produktenbörse. 37 

beizustellen hat, und innerhalb welcher Frist, wann eine Ware ge- 
liefert werden muss, die einfach mit der Bezeichnung „per Früh- 
jahr* verkauft wurde, wer die Verladespesen zu tragen hat, wenn 
mit der Bezeichnung »ab Wien* verkauft wurde u. s, w. Wenn 
ein Geschäft über Yerkehrsgegenstände der Börse und unter Börsen- 
mitgliedern abgeschlossen wird, also bei technischen Börsengeschäften, 
werden die Usancen für den Vertragsschluss, auch wenn eine aus- 
drückliche Berufung auf sie nicht erfolgt, für den Vertragsschluss 
rechtskräftig, mit jenen Einschränkungen, welche sie durch etwa 
getroffene besondere Vereinbarungen erfahren. Denn die Unter- 
werfung unter die Usancen der Börse ist nicht obligatorisch, a^uch 
bei technischen Börsengeschäften nicht. 

Für die Austragung von Streitigkeiten aus kaufinännischen Ge- 
schäften bietet das Börsenschiedsgericht eine anerkannt zuver- 
lässige und prompte fachmännische Justiz. Es wird gebildet aus 
dem Schiedsrichterkollegium, dem sämtliche gewählten Börsenräte 
angehören und an dessen Spitze der von ihm gewählte Präsident 
und zwei Vizepräsidenten stehen. Personen, welche nicht Mitglieder 
oder Besucher der Börse sind, haben das Recht, Personen als 
Schiedsrichter zu bestellen, die der Börse nicht angehören, die sog. 
Listenrichter, welche dem Stande der Produzenten und Con- 
sumenten entnommen werden. Sie werden ernannt, und zwar 
vom Handelsministerium auf Vorschlag der Handels- und Gewerbe- 
kammer. Von dem Rechte der Wahl eines Listenrichters wird 
verhältnismässig sehr geringer Gebrauch gemacht. Dem Schieds- 
richterkollegium ist eine Anzahl von Sekretären beigegeben, die 
zur Ausübung des Richteramtes befähigt sein müssen. Sie sind 
Börsenbeamte, müssen aber vom Finanzministerium im Einvernehmen 
mit dem Justizministerium beseitigt sein. 

Das Verfahren vor dem Schiedsgerichte selbst ist im 
wesentlichen folgendes \ Die Klagen sind> entweder mündlich öder 
schriftlieh beim Sekretär des Schiedsgerichtes vorzubringen. Ueber 
die Klage wird eine Tagsatzung, zur mündlichen Verhandlung an- 
beraumt, zu welcher beide Parteien geladen werden. Die münd- 
liche Verhandlung ist öffentlich und die Parteien sind berechtigt, 
sich durch Bevollmächtigte vor dem Schiedsgerichte vertreten zu 
lassen. Das Schiedsgericht besteht in jedem einzelnen Falle aus 
drei oder fUnf Schiedsrichtern , je nachdem jeder der Streitteile 
einen oder zwei Richter wählt. Die gewählten Richter bestimmen 



^) Siehe auch Sonndohper, Die Warenbörsen. Wien 1899, S. 38 ff. 



38 ^6r Wiener Getreidehande] und seine Technik. [124 

aus ihrer Mitte den Obmann, der die Verhandlung leitet. Die 
nötigen protokollarischen Aufzeichnungen werden durch die Sekretäre 
besorgt, welche auch in die Verhandlung eingreifen und an den 
Beschlussfassungen des Schiedsgerichtes mit beratender Stimme teil- 
nehmen. Bei Beginn der Verhandlung hat das Schiedsgericht einen 
Vergleich zwischen den Parteien zu versuchen. Die abgeschlossenen 
Vergleiche sind nur dann gültig, wenn sie von beiden Parteien 
unterfertigt sind. Gelingt der Vergleich nicht, so nimmt das Schieds- 
gericht die mündliche Verhandlung auf. Das Urteil verkündet der 
Obmann des Schiedsgerichtes laut, unter Bekanntgabe der Ent- 
scheidungsgründe; diese sind auch der Urteilsausfertigung beizu- 
setzen. Gegen die Urteilssprüche des Schiedsgerichtes ist keinerlei 
Appellation zulässig, wohl aber, wenn das Urteil rechtswidrig er- 
folgt ist, eine Nichtigkeitsbeschwerde. 

Die Kompetenz des Schiedsgerichtes hat durch die neue 
Zivilprozessordnung eine wesentliche Modifikation erfahren, einerseits 
eine Erweiterung, andererseits eine Einschränkung. Der Wirkungs- 
kreis des Börsenschiedsgerichtes ist nun gesetzlich über den Um- 
fang der technischen Börsengeschäfte hinaus statuiert, gleichzeitig 
aber das Gebiet genau abgegrenzt, auf welches sich die Wirksam- 
keit der Börsenschiedsgerichte erstrecken darf, und jene Personen- 
kategorien bestimmt , welche vermöge ihres geschäftlichen 
Interesses an dem Börsenverkehre sich dem Börsenschiedsgerichte 
unterwerfen können. Die Zuständigkeit für Streitigkeiten aus tech- 
nischen Börsengeschäften blieb ungeschmälert, dagegen wurde die 
Zulässigkeit der kompromissorischen Unterwerfungen hauptsächlich 
von der Voraussetzung abhängig gemacht, dass sich jeder der Streit- 
teile berufsmässig mit dem Handel, der Produktion oder Ver* 
arbeitung des dem Streitgegenstande zu Grunde liegenden Verkehrs- 
artikels der Börse befasse, während für protokollierte Eaufleute 
und Börsemitglieder schon die unbeanstandet gebliebene Annahme 
eines die Eompromissklausel enthaltenden Schlussbriefes zur Be- 
gründung der börsenschiedsgerichtlichen Kompetenz genügt. Inkom- 
petent ist das Börsenschiedsgericht namentlich dann, wenn das 
Warengeschäft, das den Gegenstand des Streites bildet, in offen- 
barem Missverhältnis zum landwirtschaftlichen Betriebe der be- 
treffenden Partei steht. 

Ueber den Geschäftsverkehr der Börse wird täglich ein Kurs- 
bulletin von der Börsenkammer ausgegeben. Die Kursfestsetzung 
erfolgt nach dem dafür aufgestellten Regulativ, durch eine von der 
Börsenkammer gewählte siebengliedrige Kommission ,,auf Grund der 



125] I>ie Produktenbörse. 39 

Yon den beeideten Börsensensalen abgeschlossenen Geschäfte ^ der 
diesen in Ausübung ihres Amtes bekannt gewordenen anderen Ge- 
schäftsabschlüsse und sonstiger Daten und unter genauer Beachtung 
und Berücksichtigung aller sonstigen Geschäftsabschlüsse und Kauf- 
umstände/ unter Aufsicht des Börsenkommissärs; diese wird in 
der Weise ausgeübt, dass der Kommissär bei der Kursfestsetzung 
zugegen ist. 

Die Methode der Preisermittelung und Kursfestsetzung ist für 
das Termingeschäft und für das Effektivgeschäft verschieden. Für 
ersteres erfolgt sie auf Grund der sämtlichen wirklich vorgefaUenen 
Schlüsse. £in Börsebeamter notiert auf einem Tableaa die vor- 
kommenden Kurse, nach eigener Wahrnehmung, und in das Kurs- 
blatt kommen dann der niederste und der höchste der vorgekommenen 
Kurse. Die auf dem Tableau notierten Kurse werden von Börsen- 
beamten in ein separates Kursbuch übertragen. Kurse, welchen 
Geschäfte zu Grunde liegen, die, wenn auch wirklich durchgeführt, 
mit der momentanen Marktlage offensichüich nicht übereinstimmen, 
also fingierte Kurse werden bei der Kursfestsetzung nicht berück- 
sichtigt, wohl aber gleich den anderen in das bewusste Buch mit 
der Anmerkung übertragen, dass der Kurs beanstandet wurde \ weil 
das Kursbuch im Falle eines Streites dem Schiedsgerichte die Mög- 
lichkeit geben soll, . festzustellen, ob ein bestimmter Kurs an einem 
bestimmten Tage vorgefallen ist und ob er auf reelle Weise zu 
stände gekommen ist. 

Komplizierter sind Kursermittelung und Kursfestsetzung beim 
Effektivgeschäft, weil die Abschlüsse, nicht durchwegs an der 
Börse, sondern grossenteils auch von den Kontors aus erfolgen und 
weil, soweit sie an der Börse erfolgen, dies auch nicht laut und 
öffentlich geschieht und der Verkehr nicht wie der Terminverkehr 
örtlich konzentriert ist. Die Ermittelung der Preise muss also 
durch Umfrage erfolgen, welche sich auch auf die ausserhalb der 
Börse geschlossenen Geschäfte erstrecken muss. Aus den so er- 
hobenen Preisen kann ein Massstab nun nicht in so mechani- 
scher Weise gewonnen werden wie beim Termingeschäfte, denn 
hier haben wir es im Gegensatze zu letzterem mit sehr indivi- 
dualisierten Preisen zu thun.. Der Preis für ein und dieselbe 
Gattung Weizen von gleichem spezifischen Gewicht ist verschieden, 
je nachdem die Farbe desselben mehr rot oder mehr gelb, je nach- 
dem das Korn mehr oder weniger gedrückt ist, je nach den Zahlungs- 



^ Stenogr. Prot der Terminhandelsenquete III, S. 183. Exporte Weil. 



40 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [126 

und LiefemngsbedingaDgen, endlicli und um yergleichen und einen 
Tagesdurchschnittspreis feststellen zu können, muss das Kurser- 
mittelongskomitee diese qualifizierten Preise im Wege der Schätzung 
und Yergleichung mit den anderen Preisen auf das Mass eines 
allgemeinen Preises reduzieren, sie entindividualisieren , was eine 
genaue Kenntnis der Geschäftsverhältnisse bei den Mitgliedern des 
Kursermittelungskomitees voraussetzt. Dieser allgemeine Preis ist 
der Kassapreis, ohne sonstige zu Lasten des Verkäufers gehende 
Nebenkonditionen. Erfolgt in einer der in dem Schema des Kurs- 
blattes notierten Warengattungen an einem Tage kein Abschluss, 
so wird, solange noch ein regulärer Handel in der Ware besteht, 
der Kurs ,,zum Teile nach den Wahrnehmungen, die aus dem 
Verkehre geschöpft sind, zum Teil aus Konklusionen aus dem 
Verkehre und zum Teil nach Schätzungen^ festgestellt. Es handelt 
sich also bei der Festsetzung der Kurse für das Geschäft in Effektiv- 
getreide in allen Fällen notwendigerweise nicht um eine eigentliche 
Preiserhebung, sondern um eine Festsetzung von Preisgrenzen, nach 
bestem Wissen und Gewissen und nach Schätzung der beteiligten 
Kreise ^. 

2. 
Der QetreideterminliandeL 

Das börsenmässige Zeit- oder Termingeschäft ist dadurch 
als solches charakterisiert und von dem gewöhnlichen handelsrecht- 
lichen Lieferungsgeschäft unterschieden, dass es nach den von der 
Börse aufgestellten, obligatorisch die Qualität, die Schlussein- 
heit und den Erfüllungsort regelnden Bestimmungen geschlossen 
wird, so dass es zwischen den Kontrahenten einer besonderen Ver- 
einbarung nur mehr hinsichtlich des Preises, des Liefertermins und 
der Anzahl der von der Börse fixierten Schlusseinheiten bedarf. 

Auf diesen Formen beruht die technische Funktion des 
börsemässigen Terminhandels, die einerseits darin besteht, «dass die 
primitiven Formen der Getreidespekulation, das Aufkaufen und 
Einlagern in Erwartung steigender Preise (eine Form, die nur 
ä la hausse zu spekulieren gestattet und wegen der ungeheuren 
festzulegenden E^apitalsbeträge die Spekulation zum Monopol der 
Stärksten macht) verdrängt werden durch die moderne Form der 
Eskomptierung künftiger Preischancen: bei welcher die Speku- 
lanten in der Gegenwart nicht Ware und Geld leisten, sondern 

^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 452. 



127] ^^f Geireideterzninliandel. 41 

nur Lieferung und Zahlung für einen Zukunftsaeitpunkt versprechen 
und dadurch Müsse gewinnen, bis zum Herankommen des Termins 
die übernommenen Verbindlichkeiten auf dein Markt durch Ab- 
schluss eines Gegengeschäftes zu realisieren'^ \ andererseits in der 
Verringerung der beim Getreidehandel im Vergleich zu anderen 
Handelszweigen unverhältnismässig grösseren Risken. Der börsen- 
mässige Terminhandel macht nämlich die Gleichzeitigkeit der 
kaufmännischen Operationen Kauf und Verkauf fast momentan 
möglich, indem zu jeder Position auf dem Effektivmarkte bis zur 
Abwickelung derselben interimsweise eine Gegenposition im Termin- 
markte geschaffen wird. 

Hier begegnen wir dem Importeur, der eben einen Posten 
Weizen erstanden, aber noch keinen Käufer dafQr gefunden hat; er 
verkauft dagegen Usanceweizen; natürlich denkt er nicht daran, 
seinen effektiven Weizen, wenn dessen Handels wert höher ist, als 
der des Usaneeweizens, auf Usanceschluss abzuliefern; er wünscht 
nur eine Gegenposition, um gegen Verlust durch Preisrückgang 
geschützt zu sein; hat er den Käufer für seine Ware gefunden, 
so löst er die »Arbitrage* wieder auf, d. h. er wickelt das Termin- 
engagement durch Rückkauf eines gleich grossen Quantums Usance- 
ware ab. 

Dort tritt der Müller als Käufer von Usanceweizen auf; 
auch er denkt oft nicht daran, denselben zu beziehen; er hat nur 
eben Mehl aaf einen längeren Termin hinaus verschlossen und 
sichert sich den gegenwärtigen Preis, welcher die Basis seiner 
Kalkulation gebildet hat, für den späteren Einkauf des zur Her- 
stellui^ des verschlossenen Mehles geeigneten Rohmaterials. 

Der Exporteur erhält vom Auslande ein telegraphisches 
Angebot auf ein grösseres Quantum Weizen bestimmter Provenienz 
und Beschaffenheit. Es ist ein entsprechendes Offert momentan 
nicht im Markte, er vergleicht den gebotenen Preis mit dem Preise 
der Usanceware und weiss nach seiner Kenntnis der Marktlage, 
dass der gewünschte Weizen nur um so viel höher zu stehen kommen 
wird, als die Usanceware, dass ihm bei dem gebotenen Preise 
noch ein bürgerlicher Nutzen bleibt; er sichert sich die Einkäufs- 
basis durch Kauf von Terminweizen und depeschiert seinem Ge- 
schäftsfreunde: „Geschlossen*. Der Importeur erhält von seinen 
Einkäufern auf den Stationen die Nachricht, dass die Zufuhren 



^ Dr. Walter BoRGiüs, Mannheim und die Entwickelung des Südwest- 
deutschen Getreidehandels, I. Teil, S. 45. 



42 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [128 

derzeit ungenügend sind; er kann seinen Kunden Müller, der sich 
decken will, nicht abweisen, sagt also, trotzdem er die Ware noch 
nicht effektiv hat, zu und deckt sich seinerseits einstweilen durch 
Kauf von Usaneegetreide, bis günstigere Einkaufschancen kommen. 
Seiner Nachfrage begegnet das Angebot eines anderen Importeurs, 
der von seinen Einkaufsstationen die entgegengesetzten Meldungen 
hat und mit den Käufen, die ihm seine Einkäufer anzeigen, nicht 
blank spekulieren will. So ist der Terminmarkt thatsächlich der 
Brennpunkt des Getreidehandels und der Terminkurs orientierend 
für die allgemeine Marktlage, ein verhältnismässig sicherer Kalku- 
lations- und Wertmassstab. Ein derartiger Wertmassstab ist einem 
Getreidehandel, der es mit so mannigfaltigen Qualitäten zu thun 
hat, wie der unsere, ein so unentbehrlicher technischer Behelf, 
dass derselbe, wenn er nicht schon bestünde, erst erfunden werden 
müsste. Verhältnismässig wenige der im Handel vorkommenden 
Weizenvarietäten zum Beispiel sind quantitativ bedeutend genug, 
um einen regulären Handel darin zu unterhalten. Der Grosshändler 
wird, dank seiner Warenkenntnis, dank dem Ueberblicke, den er 
durch seinen grossen Geschäftsverkehr und durch die Nachrichten, 
die täglich früh morgens schon von seinen Geschäftsfreunden oft 
aus allen Gegenden der Welt einlaufen, trotzdem in der Lage 
sein, den Wert der Ware ungefähr zu kombinieren; aber schon 
der kleinere Händler und vollends der Landwirt ist in Verlegenheit, 
wenn ein Börsekurs für die betreffende Ware seit längerer Zeit 
nicht notiert worden ist; nach den amtlichen Kursnotizen über 
Effektivgetreide kann er wohl die Wertschwankungen verfolgen, 
nicht aber den effektiven Marktwert der Ware halbwegs genau 
taxieren K 

Die Benützung des Terminmarktes für die geschilderten handels- 
technischen Zwecke ist allerdings an die Voraussetzung geknüpft, 
dass die Preise der effektiven Ware und die Terminpreise in 
direkter Wechselbeziehung miteinander stehen, die Schwan- 
kungen annähernd gleich stark sind, so dass der Gewinn aus der 
einen Position den Verlust aus der anderen ungefähr ausgleicht, 
oder doch keine wesentliche Differenz entsteht. Diese Wechsel- 
beziehung besteht nur zwischen dem Terminmarkt und dem Getreide 
aus solchen Produktionsgegenden, die nach dem Stapelplatze, bezw. 
nach dem Importlande gravitieren. So können jene Firmen, welche den 

^ Auch aus diesem Grunde muss der Mangel eines börsenmässigen Termin- 
handels die Ueberlegenheit des Grosskapitals im Getreidehandel zur Geltung 
bringen. 






129] ^^T^ Getreideierminhandel. 43 

Transiihandel aus Ramänien und Serbien betreiben, seit Aufhebung 
des Mahlverkehrs den Wiener Terminmarkt für die Zwecke der 
Arbitrage in Weizen speziell nur in jenen seltenen Momenten be- 
nützen, wo ein stärkerer Importbedarf für den Verbrauch der 
Monarchie selbst eintritt. Die regulären Absatzmärkte dieses Ge- 
treides liegen in England, Belgien, der Schweiz etc. Die Konse- 
quenz davon dürfte eine weitere Konzentration des Orientgeschäfts in 
den Händen weniger sehr kapitalkräftiger Firmen sein, da nur ein 
sehr grosser Geschäftsbetrieb seine Sicherung in sich selbst finden 
kann. 

Damit der börsenmässige Terminhandel die geschilderten tech- 
nischen Funktionen erfüllen könne , muss die Lieferungsqualität so 
festgesetzt sein, dass sie einen im Lande in hinlänglichen Mengen 
vorkommenden Getreidetypus repräsentiert. In Nordamerika boten 
sich dafür von selbst die durch das Gradierungssystem geschaffenen 
Typen des Effektivhandels, durch welche das Getreide zu einer 
in hohem Grade vertretbaren Ware gemacht wird, d. h. zu einer 
Ware, welche nach Mass und Gewicht gehandelt werden kann. 
Dieses Gradierungssystem hat sich in Amerika ausgebildet im An- 
schlüsse an die Bedürfnisse des Verkehrs und der Technik des 
Exporthandels und dank einer grossen Gleichförmigkeit, die in den 
amerikanischen Anbau- und Produktionsverhältnissen herrscht ^. Die 
amerikanische Getreideproduktion ist von vornherein Weltmarkt- 
produktion gewesen, und da in den grossen Dampfern, in welchen 
das Getreide nach Europa verladen wird, ein Transport verschiedener 
Qualitäten unter Wahrung der Identität nur unter grossem Kosten- 
aufwande möglich gewesen wäre, musste man darauf bedacht sein, 
das Prinzip der losen Schüttung in den Verkehrseinrichtungen 
möglichst konsequent durchzuführen. Das konnte nur geschehen, 
wenn man die individuellen Charaktere des Getreides durch Zusammen- 
fassung grosser, wesentlich gleichartiger Massen zu Typen verwischte. 
Diese musste der Exporthandel auch deshalb verlangen, weil ein 
Handel nach Muster, auf Entfernungen, wie sie hier in Betracht 
kommen, im Getreidehandel mit seinen rasch wechselnden Kon- 
junkturen unmöglich ist; ein Wort, ein Zeichen in der Depesche 
mus& genügen, um das Unterhandlungsobjekt genau zu umschreiben. 

In Mitteleuropa konnte nach der ganzen historischen Ent- 
wickelung des Getreidebaus und des Getreidehandels, und nach den 

* Otto Böhm, Die Kornhäuser. Stuttgart 1898. — Borgius, Mannheim und 
die Entwickelung des südwestdeutschen Getreidehandels. Tübingen 1899, IT. Teil, 
S. 52 ff. 



44 ^^T^ Wiener Getreidehandel and seine Technik. [130 

natürlichen Verhältnissen ein Ghradierungswesen nicht entstehen. 
Der Getreideproduktion kleben überall noch gewissermassen die 
Eierschalen der alten Naturalwirtschaft an, und dem ungeheuren 
Individualismus des Anbaus, welchen diese auf die moderne Ge* 
treideproduktion vererbte, stand der Handel ohnmächtig gegenüber; 
erst in den letzten Jahren vollzieht sich, teilweise unter dem Ein- 
flüsse des Genossenschaftswesens, eine Anpassung auch der euro- 
päischen Getreideproduktion an die Formen der modernen Yerkehrs- 
wirtschaft und an die Bedürfiiisse der Grossindustrie. In vielen 
Ländern wurden die Schwierigkeiten, welche der Einführung eines 
Gradierungswesens entgegenstanden, noch dadurch vermehrt, dass 
auch die verschiedensten exotischen Getreidearten in den Handel 
kommen. 

Da man also eine Lieferungsqualität, welche ein Handelsgut 
mittlerer Art und Güte repräsentiert, wie die für den amerikanischen 
Terminhandel gültige, nicht konkret vorfand, so musste man sie 
für den Terminhandel rechnerisch feststellen, indem man von allen 
individuellen Merkmalen absehend, gewisse allen Qualitäten gemein- 
same Merkmale als Kriterien der Lieferfähigkeit aufstellte. Als 
solche boten sich dar das spezifische Gewicht und die Reinheit des 
Getreides. Dafür wurden Minimalerfordernisse aufgestellt. Dabei 
konnte auch auf die Herkunft des Getreides keine Rücksicht ge- 
nommen werden, da die meisten europäischen Länder Importländer 
sind und die Getreideproduktion der fremden Länder, die durch 
Schutzzölle herbeigeführten Korrekturen abgerechnet, mitbestimmend 
ist für die Bildung ihrer Getreidepreise, daher ihnen auch der 
Zutritt auf den Terminmarkt nicht verwehrt werden kann. Zu 
der Zeit, wo der Terminhandel in Wien eingeführt worden ist und 
noch bis zu Ende der achtziger Jahre bestand aber, wie wir ge- 
sehen haben, ausserdem ein sehr lebhafter Getreideverkehr unter 
den europäischen Ländern und fanden aus handeis- und industrie- 
technischen Gründen bedeutende Importe auch nach jenen Ländern 
statt, welche ihren Konsumbedarf selbst deckten. So ist die euro- 
päische Terminhandelstype ihrer Struktur und Tendenz n^ch not- 
wendigerweise international, während die amerikanische durch die 
Anlehnung an die konkret bestimmte heimische Type national ist, 
was dort auch wirtschaftlich berechtigt ist, weil Amerika nicht nur 
rücksichtlich seines Konsumbedarfs vollständig auf sich selbst gestellt 
ist, sondern ein Getreideexportgebiet grössten Stils ist. 

Auf die Entstehungsursachen des börsemässigen Terminhandels 
im allgemeinen kann hier nicht naher eingegangen werden, weil das 



131] Der Getreideterminhandel. 45 

ZU weit führen würde ; sie liessen sich im Rahmen der vorliegenden 
Monographie auch schwer zurückverfolgen , da Wien anfing ein 
Oetreidehandelsplatz zu werden, als die Entwickelung des Getreide- 
weltverkehrs bereits in vollem Gange war. Aus diesem und mit ihm 
aber hat sich der börsenmässige Terminhandel zweifellos organisch 
und notwendigerweise entwickelt. Das zeigt auch eine Vergleichung 
der in den ersten Kapiteln dieses Buches gegebenen Daten über 
die Entwickelung der Dampfschiffahrt und des Eisenbahnwesens 
mit dem Entstehungsdatum des börsenmässigen Terminhandels in 
Budapest, welches in die Mitte der sechziger Jahre fallt ^. Im 
Anschluss an den Verkauf schwimmender oder erst zu verladender 
Ware ist das Termingeschäft entstanden, worauf schon der Umstand 
hindeutet, dass die ursprüngliche Schlusseinheit im börsenmässigen 
Terminhandel 2500 Meterzentner betrug (ungefähr eine Schleppladung) 
und vom Käufer ganz wie beim Effektivgeschäft ein Angeld ge- 
leistet werden musste, welches später (1886) abgeschafft wurde ^, 
weil es Anlass zu finanziellen Missbräuchen gegeben hat; geld- 
bedürftige Firmen machten sich dadurch, dass sie als Verkäufer 
von Terminware auftraten, Geld*. In Wien beginnt der börsen- 
mässige Terminhandel, soweit sich sicher feststellen lässt, im Herbste 
des Jahres 1875^, wo die ersten K41ndigungen unter Intervention 
des Sekretariats der Börse erfolgten. Diese Kündigungen lassen noch 
deutlich den Zusammenhang des börsenmässigen Termingeschäftes 
mit dem handelsrechüichen Lieferungsgeschäfte erkennen , in dem 
nicht bloss runde Einheiten, sondern verschiedene Quantitäten und 
nicht nur Meterzentner, sondern auch Zollzentner, Metzen u. s. w. 
gekündigt wurden. Das war vor der börsenmässigen Kodifikation 
des Terminhandels; auf die Entstehung des börsenmässigen Termin- 
handels können also die Usancen keinen urheberischen Ein- 
fluss genommen haben. Sie haben bloss seine Technik vereinfacht, 
und erst diese vereinfachte Technik gestattete die Verwendung 
deis börsenmässigen Terminhandels, zu den Hilfsgeschäften, welche 
später geschildert werden sollen und durch deren Möglichkeit 
der Terminhandelsplatz eine Ueberlegenheit über den benachbarten 
Handelsplatz gewinnt, welche dieser nur wettmachen kann, indem 
er gleichfalls den börsenmässigen Terminhandel einführt. That- 
sächlich war dies auch der unmittelbare Anlass zur Einführung 



* Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete. Experte Horovitz, I, S. 214. 
' Ebenda. Exp. Vidkky, I, S. 273, 274. 

» Ebenda. Exp. Horovitz, I, S. 207, 208. 

* Ebenda. Exp. Horovitz, I, S. 207, 211, 220. 



46 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [132 

der börsenmässigen Regelung des Terminhandels in Wien. Die 
Thatsache, dass der grösste Teil, nahezu 80 Prozent, des Hafers, 
welcher für den Wiener Konsum bestinunt war, in Budapest 
mit dem Lieferungsorte in Raab gehandelt wurde, bewog einen 
der grösseren Getreidehändler \ zunächst die Einführung eines 
börsenmässigen Terminhandels in Hafer anzuregen, welchem dann 
successive der Terminhandel in Mais, später in Weizen, wieder 
einige Jahre später in Roggen und zuletzt in Raps folgte. Die 
, marktbildende'' Kraft des Terminhandels wurde hier allerdings 
nicht in dem Sinne zu Hilfe gerufen, dass sie aus Wien einen 
grossen Getreidehandelsplatz machen sollte, sie sollte Wien bloss 
ermöglichen, die vorhandenen reichen Anlagen dazu gegen einen 
nur durch den Terminhandel überlegenen Rivalen zu entwickeln. 
Mitbestimmend für die Einführung des börsenmässigen Terminhandels 
in Wien war auch der Wunsch, jene ^tausende und abertausende 
Gulden von Provisionen** *, welche von Wien nach Budapest und 
an die ausländischen Terminbörsen Paris, Berlin, Köln u. s. w. 
wanderten, im Lande zu behalten. 

Auf die Organisation des börsenmässigen Terminhandels in 
Wien eingehend wollen wir uns zunächst die Bestimmungen über 
die Lieferungsqualität ansehen. 

Als lieferbar gilt ns^h den Börsenusancen über den Termin- 
handel gesundes, zeitgemäss trockenes, den Handelserfordernissen 
entsprechend gereutertes Getreide letzter Fechsung jeder Pro- 
venienz. Nicht lieferbar sind hauptsächlich 

1. Weizen, welche weniger als 76 kg per Hektoliter wiegen, 
entschieden spitzbrandige Rivets und Kubankaweizen , aUe Weizen, 
welche im Handel unter dem Namen Hartweizen vorkommen oder 
mit demselben vermengt sind, sowie Weizen, welcher mehr als 5 ^/o 
Weissweizen oder mehr als 1 V^ ^/o ausgewachsene Körner oder 
4 Zählprozent ^ Beimengung enthalten; 

2. Roggen, welcher weniger als 70 ^/^ kg wiegt, mehr als 
4 Zählprozent Beimengungen, oder mehr als 4 ^/o Weiss weizen- 
besatz enthält. Mutterkorn darf bis auf durch die landwirtschaft- 
liche Manipulation nicht zu beseitigende Bruchstücke weder im 
Weizen noch im Roggen vorhanden sein, 

3. Hafer, welcher weniger als 40kg per Hektoliter wiegt, mehr 



^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 54, 55. Exp. Sghwilzkr. 

* Stenogr. Prot. III, S. 126, 127. Exp. Weil. 

^ Anzahl der AuswuchskSrner auf je 100 gezählte Kömer. 



133] ^^^ Getreideterminhandel. 47 

als 3 Gewichtsprozent ^ fremde Beimengungen oder mehr als 2 ^/o 
Gerstenzusatz oder mehr als 4^/o ausgewachsener Körner enthält; 

4. Mais, welcher nicht mehr als 8 Zählprozent Zahnmais enthält. 

In Gerste besteht ein börsenmässiger Terminhandel bezw. eine 
Type nicht. 

Die Schlusseinheit ist mit 500 Meterzentner festgesetzt. 
Eine Herabsetzung der Schlusseinheit würde sich bei Hafer und 
specieU bei Mais durchaus empfehlen, um den kleinen Konsumenten 
die Vorteile der Versorgung durch den börsenmässigen Termin- 
handel leicht zugänglich zu machen. 

Lieferungstermine sind 1. der Frühjahrstermin, welcher vom 
15. März bis 15. Mai, 2. der Herbsttermin, welcher vom 1. Sep- 
tember bis 31. Oktober dauert. 

Eine Vorschrift, von welchem Zeitpunkte ab Terminschlüsse 
für einen dieser Termine gemacht werden dürfen, besteht nicht, sie 
erfolgen daher oft sehr viele Monate vor Beginn des Termins. 
Ausser diesen usancemässigen Hauptterminen kennt der Handel 
noch eine Reihe von Zwischenterminen, so der Mai-Juni-, der Juli- 
August-Termin, auf welche sich hauptsächlich der Terminhandel in 
Mais konzentriert. Die Erfüllung der Geschäfte hat in Wien nach 
5 Tage früher erfolgter Kündigung zu geschehen. Kündigungs- 
berechtigt ist der Verkäufer. 

Wer eine Kündigung erfolgen lassen will, ist verpflichtet, 
das im Sekretariate der Börse zu erhebende Blankett auszufüllen, 
eigenhändig oder durch einen dem Sekretariate der Börse namhaft 
zu machenden Bevollmächtigten, zu fertigen und im Sekretariate 
der Börse, behufs Protokollierung, bis längstens 10 Uhr vormittags 
einzureichen. Bei Eröffnung der Börse, die um ^/all Uhr erfolgt, 
lässt dann das Sekretariat die gekündigten Quantitäten affichieren. 
Um 11 Uhr wird in einem besonderen Saal der Kündigungsakt voll- 
zogen. Jeder, der ein Terminengagement ^ach den Usancen der 
Börse besitzt, ist verpflichtet, während der Dauer des Termins bis 
zur erfolgten Abwickelung des Schlusses, behufs eventueller Ent- 
gegennahme der Kündigung in der von der Börse festgesetzten Zeit 
(gegenwärtig von 11 — 12^/2 Uhr) an der Börse anwesend, oder da- 
selbst durch einen ; dem Sekretariate der Börse bekanntzugebenden 
Bevollmächtigten vertreten zu sein, widrigenfalls der Kündigungs- 
schein im Sekretariate der Börse für ihn erlegt wird und er als 
Uebernehmcr der gekündigten Ware zu gelten hat. Die Namen 



* Gewicht des auf einen Liter entfallenden Beisatzes in Prozenten. 



48 l^er Wiener Getreideliandel und seine Technik. [134 

derjenigen, an welche die Kündigungen lauten, werden yon dem 
hiezu designierten Börsenbeamten laut ausgerufen und ihnen die 
Blankette ausgehändigt. Hat nun B., welchem A. den Weizen ge- 
kündigt hat, denselben an einen Dritten, an C, verkauft;, so giriert 
er diesem das Blankett, dieser eventuell wieder an D. u. s. f., bis 
die Ware ihren letzten Käufer erreicht. Dieser »steckt* den Bogen 
ein, d. h« er übergibt ihn dem diensthabenden Beamten, welcher 
den Akt sofort zu Protokoll nimmt und durch ein Glockenzeichen 
die Beendigung des Kündigungsaktes bekanntgibt. Damit ist der 
Kündigungsakt indes noch nicht vollständig geschlossen. Denn da 

B. an G. zu einem anderen Kurse verkauft hat, als er von A. kaufte, 

C. wiederum an D. zu einem anderen Preise, und dementsprechend 
die Kündigung zu verschiedenen Preisen erfolgt, so ist eine Ver- 
rechnung dieser Kursunterschiede zwischen den Kontrahenten nötig, 
welche durch das Sekretariat der Börse in der Weise durchgeführt 
wird, dass die Preisunterschiede berechnet und an dem der Kündi- 
gung folgenden Tage sämtUchen Kontrahenten mit der Aufforderung 
bekanntgegeben werden, zu einer ihnen bestimmten Zeit mit den 
Schlussbriefen, behufs Austausch derselben und behufs Regelung der 
Guthaben, im Liquidationsbureau der Börse zu erscheinen. Wer bei 
der anberaumten Liquidation den schuldigen Betrag nicht erlegt, 
kann für insolvent erklärt werden. Nach erfolgter Liquidation wird 
an den letzten Giratar des Kündigungsscheines ein Legitimations- 
schein ausgestellt, welcher ihn zur üebernahme der gekündigten 
Ware berechtigt und verpflichtet. 

Die zu liefernde Ware ist auf Verlanjren ledem Inhaber des 

Bestätigung über den Empfang des von allen Beteiligten ausgefüllten 
Kündigungsscheines, an dem der Üebernahme vorhergehenden Tage 
von zwölf Uhr mittags ab, zur Besichtigung vorzulegen und ihm 
eventuell die Entnahme eines Musters zu gestatten. 
Die Zuweisung der Ware kann erfolgen 

a) in allen Magazinen der Bezirke I — IX, 

b) in allen öffentlichen Lagerhäusern, 

c) an den Frachtbahnhöfen der verschiedenen in Wien ein- 
mündenden Eisenbahnen, ferner der Stationen Penzing 
und Matzleinsdorf, 

d) ab Schiff und Ufer an den Landungsplätzen des Prater- 
quai und des Donaukanales. 

Die Spesen der Uebergabe sind zur Hälfte vom Verkäufer, zur 
Hälfte vom Käufer zu tragen. 



135] ^ör Getreideterminhandel. 49 

Die gekündigte Ware muss innerhalb 5 Tagen bezahlt und 
übernommen werden. Der Uebernehmer ist, wenn die Ware nicht 
äusserlich erkennbare Mängel hat, nicht sofort in der Lage, zu 
konstatieren, ob dieselbe usancemässig ist. Er lässt sich erst 
Muster auf sein Kontor kommen, zählt den Prozentsatz an fremden 
Beimengungen aus und wiegt die Ware auf seiner Getreidewage 
nach. Ergibt sich, dass die Ware unkontraktlich geliefert worden 
ist, so hat der Uebernehmer zunächst eine Formalität zu erfüllen: 
den durch die Usancen vorgeschriebenen Protest zur Wahrung 
seiner Rechte zu erheben. In der Regel wird diese mit Kosten 
verbundene Formalität aber in der Weise umgangen, dass der 
Uebernehmer den Lieferer um Enthebung von der Protestpflicht 
ersucht, welche gewöhnlich anstandslos bewilligt wird, da der 
Ausgang des Streites ungewiss ist und Kostenersparnis daher in 
beiderseitigem Interesse liegt. Bildet bloss das spezifische Gewicht 
den Grund der Beanstandung, so wird eine schiedsgerichtliche Aus- 
tragung nicht in Anspruch genommen, sondern Käufer und Ver- 
käufer lassen durch ihre Bevollmächtigten gemeinsam oder durch 
den Börsenbeamten, der Ware einen Hektoliter entnehmen und auf 
die im Börsengebäude aufgestellte amtliche Normalwage bringen. 
Das Ergebnis der Abwäge ist dann für beide Teile massgebend. 
Im übrigen wird in den meisten Fällen die Intervention des Schieds- 
gerichtes in Anspruch genommen, die in diesem Falle einfach in 
einer sog. Expertise besteht, d. h. in der Prüfung der Ware auf 
ihre Usancefähigkeit. Hat die Expertise ergeben, dass die Ware 
in unkontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so ist der Ver- 
käufer zu einer zweiten Vorlage innerhalb 5 Tagen berechtigt und 
verpflichtet, bezw. wenn die Frist bis zum Ablauf des Termins 
kürzer ist, innerhalb dieser kürzeren Frist. Ist auch die Ersatzliefe- 
rung unkontraktlich, oder erfolgt eine unkontraktliche erste Vorlage 
am Schlüsse des Termins, so kommt der Verkäufer in Erfüllungs- 
verzug und hat dem Käufer die Differenz des Kaufpreises, auf den 
vom Schiedsgericht auszusprechenden Begulirungskurs herauszu- 
zahlen. Ebenso tritt Erfüllungsverzug und Differenzregulierung ein, 
wenn der Verkäufer überhaupt nicht liefert. 

Wenden wir uns nun den im Terminverkehr der Börse für 
landwirtschaftliche Produkte vorkommenden Geschäftsformen zu. 
Der Zusammenfassung der diesbezüglichen Resultate der Termin- 
handelsenquete durch den Vorsitzenden^ derselben folgend, können 



* Stenogr. Prot der Terminhandelsenquete I, S. 363,364. Vorsitzender v. Beck. 
Wiener Studien. III. Bd., 2. Heft. 4 [10] 



50 ^^T^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [136 

wir dieselben ihrer Zweckabsiebt nach in drei Kategorien einteilen: 
1. in Effektivgeschäfte, d. h. solche, die von vorneherein auf effek- 
tive Lieferung berechnet sind; 2. in solche Geschäfte, welche man 
als Meinungsgeschäfte, ferner als Hilfsgeschäfte bezeichnen könnte, 
nämlich Arbitrage, Report- und Deckungsgeschäfte, welche, obwohl 
nicht von vorneherein auf effektive Lieferung gerichtet, doch in 
einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit anderen Ge- 
schäften stehen; 3. Spekulations-Spielgeschäfte, wo nicht die Absicht 
besteht, zu liefern und zu tibernehmen, sondern nur am Kurse zu 
gewinnen. 

Der Prozentsatz der ersten Kategorie von Geschäften ist bei 
Weizen und Roggen je nach dem qualitativen Ausfall der Ernte in 
Ungarn — ca. 95 ^/o des an der Börse für landwirtschaftliche Pro- 
dukte gehandelten Getreides sind ungarischer Provenienz ^ — sehr 
verschieden. In Jahren, wo die Mittelqualitäten überwiegen, wird 
sie gross sein, in anderen, wo nur sehr gute oder sehr untergeord- 
nete Qualitäten gefechst wurden, ist der Handel zumeist auf den 
Weg des handelsrechtlichen Lieferungsgeschäftes gewiesen. Im Mais- 
Terminhandel ist der Prozentsatz regelmässig ein sehr bedeutender, 
den des handelsrechtlichen Lieferungsgeschäftes überragender, weil 
hier dank der Gleichförmigkeit in der Produktion dieses Artikels die 
börsemässige Üsancetype mit einer Jahr für Jahr ziemlich gleich- 
massigen effektiven zusammenfallt; in geringerem Grade ist das bei 
dem Artikel Hafer der Fall. 

Von der zweiten Kategorie von Termingeschäften, den Hilfs- 
geschäften, haben wir eine Abart, die sog. Sicherungsarbitrage be- 
reits geschildert. Daneben haben wir die Arbitrage zwischen zwei 
Börsenplätzen. Sie dient volkswirtschaftlich der Ausgleichung der 
Preisunterschiede, was privatwirtschaftlich sich so darstellt, dass der 
Händler die Kursunterschiede zu seinem Vorteile auszunützen sucht. 
Wir hatten schon früher Gelegenheit, daraufhinzuweisen, dass diese 
Arbitragegeschäfte nur möglich sind, wenn die betreffenden Länder 
in effektiven Austauschbeziehungen zu einander stehen, weil die 
Kalkulation der Arbitrage sich auf die Verhältnisse des Effektiv- 
geschäftes stützt, und es müssen die üsancebestimmungen der Plätze 
wesentlich gleich sein, weil nur zwischen gleichartigen Positionen 
eine Arbitrage möglich ist. Es werden daher, da Oesterreich- 
Ungarn durch seine Schutzzölle vom Auslande ziemlich vollständig 
isolirt ist, heute fast nur mehr Arbitragen zwischen Budapest und 



* Stenogf. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 63. Exp. Schwitzer. 



137] ^6r Getreideterminhandel. 51 

Wien häufig und zwar vom Terminmarkt Budapest zum Termin- 
markt Wien und umgekehrt gemacht^. Wenn z. B. die Differenz 
zwischen dem Kurse des Frühjahrweizens in Budapest und dem 
Kurse des Frühjahrweizens in Wien grösser ist als die effektiven 
Transportspesen zwischen beiden Plätzen, so wird es sich lohnen, 
in Budapest Frühjahrweizen zu kaufen und in Wien zu verkaufen, 
um an dieser durch die thatsächlichen Verhältnisse nicht gerecht- 
fertigten hohen Spannung zu profitieren. 

Das ist die der Richtung nach normale Arbitrage — der Kauf 
im Produktionsland, der Verkauf im Konsumtionsland. Daneben 
gibt es auch sog. verkehrte Arbitragen, wobei der Verkauf auf dem 
Budapester, der Kauf auf dem Wiener Terminmarkt vorgenommen 
wird, natürlich nicht in der Absicht, das Getreide in Wien zu über^- 
nehmen und nach Budapest zu führen, sondern um an der Arbi- 
trage einen Kursgewinn zu erzielen. Diese ^Meinnngs* -Arbitrage, 
wie wir sie nennen wollen, wird z. B. dann gemacht, wenn der 
Preis in Budapest, gegen das Normale, ebenso teuer oder nur wenig 
billiger ist als in Wien und der Händler nach seiner Uebersicht der 
Marktverhältnisse die Ueberzeugung gewinnt, dass der verhältnis- 
mässig hohe Kursstand in Budapest ungerechtfertigt ist und die 
Spannung durch Rückgang des Preises dortselbst sich vergrössern 
wird ^. 

Selbstverständlich wird dabei nur auf einen relativen Rück- 
gang gerechnet, denn die Grundtendenz ist auf den beiden Märkten 
immer dieselbe ; es sind nur die graduellen Verschiedenheiten, welche 
dabei ausgenützt werden können. Diese Form der Arbitrage be- 
sitzt schon einen ziemlich spekulativen Charakter und ist im Gegen- 
satz zu der zuerst geschilderten nicht gefahrlos für den Arbitrageur. 
Eine noch wichtigere Funktion für die Getreideverteilung versieht 
das Report- oder Prolongationsgeschäft, welches darin besteht, dass 
der laufende Termin gekauft und gleichzeitig der nächste Termin 
verkauft wird bezw. umgekehrt. Der Reporteur macht eine Arbi- 
trage zwischen zwei Terminen, übernimmt die Ware des laufenden 
Termins und bewahrt sie, vor Preisrückgängen durch seine Abgaben 
auf den nächsten Termin gesichert, bis zur Herankunft desselben 
auf, wo er sie dann abliefert. Die Gelegenheit zu derartigen 
Reportgeschäften ergibt sich, wenn starken Zufuhren und Ab- 
lieferungen nur geringe Nachfrage gegenübersteht. Der Preis des 



^ Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 639, 640. Exp. Kaudkrs. 
' Ebenda I, S. 640. Exp. Kaudkrs. 



52 ^^i" Wiener Getreidehandel und seine Technik. [138 

laufenden Termins — nehmen wir an, es sei Herbstweizen — wird 
dadurch derart gedrückt, dass die Differenz auf den Kurs des Früh- 
jahrweizens den Betrag für Lagerspesen und Zinsen, um welchen 
der letztere normalerweise höber sein muss, um einige Kreuzer über* 
steigt, um diese zu verdienen, springt der Reporteur in die Bresche 
und nimmt das Ueberangebot an Promptweizen auf. Je nach den 
Qeschäftskonjunkturen wird dieses Eingreifen des Reporteurs einmal 
erst bei einer grösseren, ein andermal schon bei einer geringeren 
Superdifferenz oder oft selbst ohne dieselbe erfolgen, das letztere 
namentlich dann, wenn der Reporteur Grund zu der Annahme hat, 
dass die Geschäftschance, die er durch den Besitz der effektiven 
Ware erwirbt, sich realisieren werde, etwa infolge einer grösseren 
Knappheit, die sich im Laufe des Winters einstellt. 

Die sog. Schiebungsgeschäfte sind nur Reportgeschäfte vom 
Standpunkte des Promptverkäufers aus gesehen, das „Schiebegeld^ 
der Reportsatz. Dieser Promptverkäufer gibt seine Ware nämlich 
oft nur hin, weil er den in ihr steckenden Wert realisieren muss, 
Geld braucht oder weil er die Ware momentan nicht braucht und 
sich nicht mit den Qualitätsrisken der Aufbewahrung bis zu 
dem Zeitpunkte, wo dies der Fall sein wird, belasten will; er 
möchte die Ware behalten, nur ohne Geld und Lagerräume, ohne 
das Risiko der Qualität und für eine spätere Sicht; allerdings, er 
könnte ja die Ware lombardieren, wird man einwenden; aber da 
ist ein einschneidender Unterschied. Bei der Lombardirung be- 
kommt er nicht den vollen Wert der Ware, sondern nur 60 — 70 ^/o 
und trägt das Risiko der Qualität. In dem letzteren Umstände 
liegt auch der materielle Unterschied des Warenlombard geschäftes 
gegen das ihm äusserlich verwandte Effektenkostgeschäft. Man kauft 
also lieber in dem Momente, wo man Herbstweizen verkauft, ein 
gleiches Quantum Frühjahrweizen. 

Zu den Spekulations- und Spielgeschäften gehört bereits das 
sog. Deportgeschäft, d. h. der Kauf eines früheren höheren, unter 
gleichzeitigem Verkauf eines späteren niedriger notierenden Ter- 
mins. Deportgeschäfte sind selten und betreffen in der Regel die 
Prolongation eines unglücklichen Baissegeschäftes ; denn es ist sinn- 
widrig, einen späteren Termin billiger zu verkaufen als einen 
prompten. Die Zahl der reinen Spiel- und Spekulationsgeschäfte 
an der Börse für landwirtschaftliche Produkte wird von einem Ex- 
perten auf höchstens 25 ^/o geschätzt ^. 



^ Stonogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 688, 639. Exp. Käüders. 



139] ^^^ Getreideteimixihandel. 53 

Nieht jedes Differenzgeschäft ist ein Spekulations* oder Spiel- 
geschäft. Die Grenzen sind ansserordentlich fliessende. Ans einem 
Termingeschäfte, welches auf effektive Lieferung berechnet ist, wird 
im Handumdrehen ein scheinbares Differenzgeschäft, wenn der 
Warenbesitzer Gelegenheit findet, seine Ware ausserhalb des Termin* 
marktes günstiger zu verwerten. Oder auch, es kann dem Bepor- 
teur vorteilhafter erscheinen, ein Reportgeschäft, welches er in der 
Absicht gemacht hat, die Ware auf den früheren Termin effektiv 
zu übernehmen, um sie auf den späteren abzuliefern, früher im 
Differenzwege abzuwickeln, wenn nämlich der Report zusanunen- 
schrumpft; denn der privat wirtschaftliche Zweck der Operation ist 
erfüllt, wenn der Mann daran verdient; der volkswirtschaftliche 
leidet aber durch die Differenzauflösung keinen Abbruch, denn die 
Ausgleichung zwischen einem zu niedrig notierten nahen und 
einem im Verhältnis zu hoch notierten entfernten Terminkurs hat 
sich vollzogen. 

Was das Verhältnis betrifft, in welchem die früher aufgezählten 
Personenkategorien sich am Terminhandel beteiligen, so nimmt 
ihn am stärksten der Importhandel in Anspruch. 

Von den Mühlen bezeichneten die grossen Handelsmühlen ihn 
als unentbehrlich für ihren Geschäftsbetrieb, einerseits weil ihnen 
derselbe bei Benützung desselben die Vorverkäufe auf viele Monate, 
zu welchen sie durch die Ansprüche des Eonsums gezwungen sind, 
erleichtert, andererseits weil sie immer grössere Quantitäten effektiven 
Robprodukts vorrätig haben, mit denen sie, ohne die Möglichkeit 
einer Sicherungsoperation auf dem T|erminmarkte, blank spekulieren 
müssten. Die Beteiligung der kleinen und mittleren Mühlen am 
Terminhandel wurde in der Terminhandelsenquete von verschie* 
denen Experten verschieden geschätzt ; jedenfalls ist sie relativ und 
absolut geringfügiger als die der übrigen Faktoren. 

Reine Terminhändler gibt es heute an der Börse für landwirt^^ 
schaftliche Produkte nicht. Wie schon an anderer Stelle hervor- 
gehoben wurde, fällt das Termingeschäft, soweit es Kommissions- 
geschäft ist, natumotwendig dem Effektivgetreidehandel zu. 

Die Spekulanten und Spielhäuser, deren Geschäftsbasis die 
Heranziehung des Privatpublikums zum Börsenspiel bildete, sind von 
der Börse verschwunden; die neue Givilprozessordnung hat den 
Boden für derlei Existenzen untergraben. 

Wohl aber gibt es an der Börse eine Gruppe von Tages- 
spekulanten, die sog. Coulissiers; ihre Thätigkeit werden wir 
besser begreifen, wenn wir den Kommissionär bei der Ausführung 



54 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [140 

eines Auftrages beobachten. Er wird zum Telephon gerufen. Der 
Kommittent fragt ihn um die Marktlage; er gibt Auskunft, nennt 
Oeld- und Warenkurs und. den zuletzt effektiv vorgekommenen Ab- 
schlusskurs, wobei er in seinem eigenen Interesse trachten muss, 
möglichst genaue Angaben zu machen, da er nicht weiss, ob sein 
Kommittent kaufen oder verkaufen wird. Auf die Frage des Kom- 
mittenten, welche dann gewöhnlich erfolgt, zu welchem Kurse der 
Kommissionär ^fix' geben oder nehmen wolle, nennt dieser, je 
nachdem der Markt ruhig oder bewegt ist, einen um 1 — 2 Heller 
höheren oder tieferen Kurs; das ist der Vorsprung, der ihn gegen 
Verluste aus Fluktuationen, die etwa während der Gesprächszeit 
vorgehen, schützen sollen. 

Der Kommittent zieht diese Fixgeschäfte dem regulären Kom- 
missionsgeschäfte vor. Die sofortige Ausführung seiner Operation 
ist ihm oft wichtig, und wenn er dem Kommissionär ein Limit 
aufgibt, so ist er bei den immer variierenden Kursen der Ausführung 
nicht gewiss. 

Hat der Kommittent acceptiert, so eilt der Kommissionär, wenn 
er nicht gerade durch eine bei ihm erliegende Gegenordre in der 
Lage ist, das Geschäft „in sich^ zu machen, aus der Telephonkammer 
in die ,,Goulisse^, die als eine Gruppe von Terminzwischenhändlern 
bezeichnet werden kann. 

Der Coulissier nimmt hier ein Quantum Termingetreide zum 
bestehenden Kurse plus einer kleinen Provision fix auf, um es, wo- 
möglich Sekunden später, mit kleinem Nutzen weiterzugeben. Er 
ist ein Interimsproprehändler , wenn wir uns so ausdrücken dürfen, 
und wird von den Gegenkontrahenten auch als solcher behandelt, 
d. h. er muss denselben auf Verlangen noch am selben Tage den 
wirklichen Käufer aufgeben. So lange höchstens hat er Zeit, zu 
spekulieren. Seine Thätigkeit ist also, obwohl sie abstrakt äusserlich 
als Eigenhandel sich vorstellt, nur eine vermittelnde, der Gewinn, 
den er einerntet, ein Vermittlerhonorar. Er ist ein notwendiges 
Zwischenglied des Terminhandels, weil er durch seine stete Bereit- 
schaft zu Kauf und Verkauf die regelmässige Funktion des Marktes 
ermöglicht, ohne welche derselbe wertlos werden würdet Der 
Terminagent bezw. der Coulissier wird vom Getreidehändler aber 
noch aus einer anderen Ursache in Anspruch genommen. - Mit dem 
Abschlüsse eines Termingeschäftes ist ein langsichtiger Kredit ver- 



* Exp. Wkishut wünscht mit Rücksicht darauf sogar eine besonders niedrige 
Besteuerung der Coulisse. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete IIl, S. 366. 



141] Der Getreidetenninhandel. 55 

banden und die abschliessenden Teile müssen darauf bedacht sein, 
dass der Gegenkontrahent in der Lage sei, die bis zur Erfüllung 
eintretenden Schwankungen auszuhalten ^. Ein Aussuchen ist ihm 
aber im offenen Markte nicht möglich, der Getreidehändler muss 
das Geschäft mit demjenigen machen, der ihn ,beim Wort nimmt*', 
denn auf der Strenggiltigkeit des gesprochenen Wortes beruht der 
ganze Börsenverkehr, durch sie ist er erst möglich. Um diesem 
Zwang auszuweichen, bedient man sich der Zwischenhand. 

In der Frage des börsenmässigen Terminhandels stehen heute 
zwei Lager einander schroff gegenüber. Auf der einen Seite die 
Grossindustrie und der Handel, auf der anderen Seite die Landwirte 
und die kleinen und mittleren Mühlen Niederösterreichs, Böhmens 
und der Alpenländer; die Landwirte schreiben dem Terminhandel 
eine preisdrückende Wirkung zu, die Mühlen erblicken in ihm die 
Ursache ihrer prekären Lage; beide verlangen das Verbot des 
Terminhandels. Eine Untersuchung des von den Landwirten geltend 
gemachten Argumentes muss unterbleiben, weil sie den Rahmen 
dieser Arbeit weit überschreiten würde; wir beschränken uns auf 
die Eonstatierung, dass die sehr gründliche und weitläufige Enquete 
die Richtigkeit derselben nicht bewiesen, wohl aber anderweitig 
genügende Erklärung für den Preissturz des Getreides, der in den 
letzten Jahren eingetreten ist, nachgewiesen hat. Die Wirkung 
des börsenmässigen Terminhandels ist eine preisausgleichende, nivel- 
lierende; als preisdrückend erscheint sie nur dem nach den Ver- 
hältnissen des lokalen Marktes urteilenden Landwirt, und was in 
dem Verlangen nach Abschaffung des börsenmässigen Terminhandels 
zum Ausdruck kommt, scheint, wie die Protokolle der Terminhandels- 
enquete lehren, thatsächlich der Wunsch zu sein, dass die Preise 
des Lokalmarktes bezw. des Inlandmarktes für die Preisbildung allein 
bestimmend sein mögen, die Forderung nach dem nationalen Ge- 
treidepreis. Was die kleinen und mittleren Mühlen betrifft, so ist 
ihre Situation seit Jahren eine prekäre. In der Mühlenindustrie 
vollzieht sich, wie auf allen Gebieten der Produktion, die der Bewirt- 
schaftung durch das Grosskapital zugänglich sind, unaufhaltsam die 
Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Grossbetrieb. Die billige 
Wasserkraft, die diesen Klein- und Mittelbetrieben meist zur Ver- 
fügung steht, machte sie wohl etwas widerstandsfähiger, vermag aber, 
von der technischen Ueberlegenheit des Grossbetriebes über den Klein- 
betrieb abgesehen, den kommerziellen Vorteil nicht auszugleichen. 



^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 366. 



56 ^e^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [142 

in welchem sich die Grossmühlenindnstrie ihnen gegenüber dadurch 
befindet, dass sie meist an den Stapelplätzen der grossen Flussläufe, 
oder auf den Börseplätzen selbst ansässig ist. unsere Mühlen 
vermählen, da das einheimische Getreide wegen der meist geringen 
Qualität und derEleberarmut nur zu Mischzwecken geeignet ist, zumeist 
ungarisches Getreide. Die Provinzmühlen müssen es vom Stapelplatze 
per Eisenbahn beziehen, die Grossmühle auf dem Stapelplatze erspart 
den Eisenbahntransport. Sie kauft billiger ein, ist mit dem Markte 
in unmittelbarer Fühlung und kann jede Konjunktur momentan aus- 
nützen; ehe der Provinzmüller davon erfährt, ist sie vorüber. Die 
Ueberlegenheit der Grossmühlen auf dem Börseplatz ist also gegeben, 
bevor wir noch den börsenmässigen Terminhandel ins Ange fassen. 
Richtig ist nar, dass sie auch im Terminhandel zum Ausdrucke 
kommt, gerade so wie die Ueberlegenheit des Händlers am Börse- 
platze dem Provinzhändler gegenüber. Sie bezahlen für Benützung 
des Terminmarktes, eine geringere Provision \ weil ihr Kredit 
grösser und unmittelbar kontrollierbar ist; sie können sich jeden 
Moment über die geltenden Kurse informieren und sie ausnützen 
und die gewissenhafte Ausführung ihrer Aufträge unmittelbar kon- 
trollieren. 

Nach Massgabe der Ausbreitung des Telephons wird aber auch die 
Provinz dem Terminmarkt näher gertickt und befähigt, seine Vorteile 
ebenso auszunutzen wie der Börsenplatz. Uebrigens zeigt schon ein 
Blick auf die rheinische Mühlenindustrie, dass der Bestand oder Nicht- 
bestand des börsenmässigen Terminhandels für die Frage der Klein- 
mühlenindustrie ziemlich bedeutungslos ist. Auch im Grossherzogtum 
Baden bricht die Kleinmühlenindustrie unter der Konkurrenz der 
grossen Rheinmühlen werke, insbesondere der Mannheimer^, zusammen, 
trotzdem auch dort Reichtum an billigen Wasserkräften die Klein- 
mühlen begünstigt. Dort wie hier klagen die kleinen Müller über 
die langen Vorverkäufe der Grossmüller, und der einzige Unter- 
schied, den der Mangel eines Terminmarktes herbeigeführt zu haben 
scheint, ist der, dass dort die Konzentration des Mühlenbetriebes 
noch stärker fortgeschritten ist als bei uns; die Rheinmühlenwerke 
sind Riesenetablissements. Aber angenommen selbst, die Annahme 
unserer Müller wäre begründet, so würde ihnen die Aufhebung des 
Terminhandels nichts nützen, denn die Grossmtihlen, unter deren 
erdrückender Konkurrenz sie leiden, liegen — in Ungarn, in Budapest 



* Exp. Karlik. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 471. 
2 BoRGius, Mannheim II, S. 88 ff. 



143] I^ie Lagerhäuser. 57 

vor allem. Die Vorteile des Grossbetriebs, die wir früher aufgezählt 
haben, werden hier noch potenziert durch die Lage nahe an oder 
mitten in den Produktionsgebieten des besten Rohproduktes — des 
ungarischen Weizens und des billigsten Mischweizens — des rumäni- 
schen und serbischen Weizens — durch eine Tarif- und Steuerpolitik, 
welcher anscheinend keine Opfer zu gross sind, um diese Mühlen- 
industrie exportfähig zu erhalten. Auf diesem Gebiete und vielleicht 
auf dem der Einkaufsassociation läge auch die einzige vernünftige 
Möglichkeit, die Lage der österreichischen Mühlenindustrie einiger- 
massen zu bessern und Bemühungen in dieser Richtung scheinen des 
Schweisses eher wert zu sein, den die Agitation für die Aufhebung 
des Mahlverkehres kostete. Denn man kann heute nach mehr als 
einem Jahre nicht behaupten, dass die Aufhebung des Mahlver- 
kehres die Lage der "österreichischen Mühlenindustrie gebessert habe, 
im Gegenteil, im Effekt bezüglich der österreichischen Mühlen- 
industrie ist sie vielmehr gleich demjenigen, den der seinerzeitige 
Missbrauch des Mahlverkehres durch die ungarischen Mühlen auf 
die Lage der österreichischen Mühlen hatte. 

II. 
Die Lagerhäuser. 

1. 

Das Wesen und die Bedeutung der Lagerhäuser im 

allgemeinen K 

a) Die Bedeutung der Lagerhäuser. 

Ebensowenig wie die modernen Stapelplätze mit den alten, 
stehen die modernen öffentlichen Lagerhäuser mit den Hallen und 
Magazinen der Stadtwirtschaft oder des Merkantilsystemes in einem 
organischen Zusammenhange. Sie sind zuerst da entstanden, wo der 
Wunsch, am Welthandel teilzunehmen, zu einem Kompromiss zwischen 



^ Haupteächlich benutzte Litteratur: 

Professor Dr. Karl Adler, Das österreichische Lagerhausgesetz. Wien 1892. 

(Daselbst ausführliches Litteraturverzeichnis.) 
Dr. Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884. 

MoRiz Wertheimer, Das Lagerhaus und die Lagerhausbenutzung. Wien 1886. 
Otto Böhm, Die Kornhäuser. Stuttgart 1898. 

Adolf Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas. Leipzig 1887. 
Qahp, Der landwirtschaftliche Kredit. Berlin 1883. 



58 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [144 

den Bedürfnissen des internationalen Transitoverkehres und den seine 
Entwickelung hemmenden Zollschranken führte. 

Waren, welche nicht für den inländischen Konsum, sondern zur 
Weiteryersendung bestimmt waren, mussten, solange sie im Inlande 
sich befanden, der Eontrolle und Aufsicht der Zollbehörde unter- 
worfen werden ; sollte diese bei jedem Eaufmanne einzeln in dessen 
Privatspeicher durchgeführt werden, so war das natürlich sehr kost- 
spielig. Man errichtete daher besondere Transitlager, d. h. Räum- 
lichkeiten, wo jedermann derartige Waren unter Aufsicht der Zoll- 
behörde lagern und eventuelle Manipulationen (Teilung, Verpackung 
und anderes) vornehmen konnte. Dass der Handel lieber dorthin 
ging, wo derartige Transitlager sich befanden, als an Handelsp^tze, 
wo er sich mit Privatspeichern behelfen musste, ist klar, und daher 
errichteten in manchen Seehandel treibenden Ländern die Regierungen 
selbst aus öffentlichen Mitteln derartige Lagerhäuser, so im 18. Jahr- 
hundert die holländische in Amsterdam, die sog. Rijks Entrepots. 
In England wurden Lagerhäuser (docks) hauptsächlich von den 
grossen Handelsgesellschaften, welche den Seehandel betrieben, er- 
richtet. 

Das Prinzip, das diese Lagerhäuser nur für Waren des Durch- 
fuhrhandels bestimmte, war indessen von allem Anfange an insoweit 
durchbrochen worden, als die Handelskonjunktur oft für die ins 
Ausland bestimmte Ware im Inlande eine günstigere Verkaufschance 
ergab und sie daher nachträglich verzollt wurde. Die Steigerung 
des allgemeinen Warenverkehres brachte es dann mit sich, dass 
diese Lagerhäuser überhaupt für Waren des freien Verkehres benutzt 
wurden, und schliesslich Lagerhäuser nur für die letzteren errichtet 
wurden; es vollzog sich: 

1. die Verselbständigung einer Funktion des Handels, der 
Lagerung, wie schon früher die einer anderen, des Trans- 
portes; 

2. die Zentralisierung dieser bisher privatim vorgenommenen 
Thätigkeit zum öffentlich benutzbaren Grossbetriebe. 

Die Vorteile des öffentlichen zentralisierten Lagerhausbetriebes 
seien hier, unter Hinweis auf die Speziallitteratur, nur kurz zu- 
sammengefasst. Sie lassen sich hauptsächlich nach folgenden Ge- 
sichtspunkten gruppieren : 

1. Vorteile, welche der Grossbetrieb gegenüber dem Klein- 
betriebe hat. Der Einlagerer zahlt nur die ihm wirklich 
geleistete Arbeit, die Miete nur für den von ihm wirklich 
benutzten Raum, während er bei eigenen Speichern, eigenem 



I4:b] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 59 

Arbeitspersonal vielleicht selten in der Lage wäre, dieselben 
voll auszunutzen, wodurch sein Betrieb eine dauernde Be- 
lastung erfahren würde. Die Konservierung, die Reinigung 
der Ware von fremden Bestandteilen, Putzen, Verpacken, 
Sortieren, Abwägen u. s. f. kann natürlich billiger sein, weil 
erst die Konzentration dieser Manipulationen, die grosse 
Masse der Waren, die ihnen gleichzeitig unterzogen werden 
soll, die Verwendung von maschinellen Hilfskräften rentabel 
macht. 
2. Vorteile, die aus der Lage des öffentlichen Speichers an 
der zweckmässigsten Stelle des Hafen- und Bahngebietes 
und seiner wirtschaftlichen Verbindung mit diesen Anlagen 
entspringen. Vermeidung von unnützen Einzeltransporten 
nach und von den dezentralisierten Privatspeichern, der 
Unbequemlichkeiten der Kontrolle und Aufsicht, des Wartens 
auf Recepisse, Scheine u. s. f., also £rsparung an Zeit und 
Geld für den Kaufmann. Hierher gehört ferner die sog. 
Reexpeditionsbegünstigung, die Gewährung von direkten 
Frachtsätzen auch bei gebrochenem Verkehre, die erst da- 
durch möglich wird, dass das öffentliche Lagerhaus als 
Vertrauensperson die Bürgschaft für die Identität der re- 
expedierten mit der in .das Lagerhaus gelangten Ware 
übernimmt. 
Diese Reexpeditionsbegünstigung ist für den Kaufmann von 
grossem Werte. Sie ermöglicht ihm , das anonyme Lagerhaus zwi- 
schen Bezugs- und Absatzquelle einzuschieben und so zu verhüten, 
dass dieselben gegenseitig bekannt werden und Qualitätskontrolle vor 
Absendung der Ware an den Empfänger zu üben, ohne kostspielige 
Reisen nach den Verladestationen machen zu müssen, Waren, deren 
Bestimmung noch nicht ganz feststehend ist, an das Lagerhaus zu 
dirigieren, um dieselben von hier aus, wenn ein endgültiger Bestim- 
mungsort sich mittlerweile ergeben hat, sofort weiterzuleiten oder, 
wenn dies nicht der Fall ist, die Ware einzulagern, ohne dadurch der 
Berechnung des direkten Frachtsatzes seitens der Eisenbahn verlustig 
zu gehen. Manche Geschäfte werden dadurch erst ermöglicht ; so z. B. 
die Abnahme eines grossen Quantums Getreide, dessen Bestimmung 
noch nicht feststehend ist ; das Getreide wird vorläufig , bis eine 
solche sich ergeben hat, in das Lagerhaus expediert, wo der Käufer 
überdies Gelegenheit hat, den späteren Verkauf der Ware durch 
Lombardierung zu antizipieren, sein Kapital bis auf einen Bruchteil 
wieder mobil zu machen. So wird durch das Reexpeditionsverfahren 



60 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [146 

der Handel spekulations- und kaufkräftiger, fähig, grössere Lager 
anzusammeln. 

3. Vorteile, welche aus dem ö£rentlich- rechtlichen Charakter 
der Lagerhausunternehmung sich ergeben, der für ester- 
reich durch das Lagerhausgesetz vom 1. April 1889 in einer 
— mit geringen Einschränkungen — sehr präzisen Weise 
geregelt ist. 

Das hohe Mass von Garantie und öffentlichem Olauben, welches 
infolge dieser Regelung die öffentlichen Lagerhäuser gemessen, 
die Neutralität, welche sie verbürgen, gestatten dem Kaufraanne 
weitere Vereinfachung der Handelstechnik und grössere Bequemlich- 
keit, weil rücksichtlich .der Unparteilichkeit, Verlässlichkeit, fach- 
männischen Ausführung und kaufmännischen Sorgfalt der Lager- 
hausunternehmung beim Messen, Wägen, Musterziehen, Ermitteln 
der Qualität solche Zweifellosigkeit herrscht, dass niemand es für 
nötig zu finden braucht, diese Funktionen selbst oder durch eigene 
Beamte auszuüben, und den diesbezüglichen Bescheinigungen der 
Lagerhausunternehmung allgemein unbedingter Glaube beigemessen 
werden kann. 

4. kann Ware, die in einem öffentlichen Lagerhause auf- 
bewahrt wird, dank dem Vertrauen, welches das öffentliche 
Lagerhaus als Depositar geniesst, ohne Ortsveränderung 
leicht verpfändet beziehungsweise in anderen Besitz über- 
geben werden. 

Schliesslich wäre noch die Bedeutung zu erwähnen, welche die 
öffentlichen Lagerhäuser für die Handelsstatistik dadurch haben, 
dass die Lagerbestände von Zeit zu Zeit öffentlich ausgewiesen 
werden. 

b) Die rechtliche Ordnung der Lagerhäuser in 

Oesterreich. 

Die Zentralisation der Lagerung und ihre Verselbständigung 
zu einem besonderen kaufmännischen Unternehmen stellt an die 
Gesetzgebung besondere Aufgaben, deren Lösung nicht immer und 
überall auch durch ein besonderes Gesetz erfolgt ist. Wo das Lager- 
hauswesen allmählich im Anschlüsse an den Seehandel sich ent- 
wickelt hat, wie in seinen Heimatländern England und Holland, 
erfolgte die Regelung der R^chtsbeziehungen allmählich und im 
Rahmen der vorhandenen handelsgesetzlichen oder öffentlichrecht- 
lichen Bestimmungen, und sie hat in diesen Ländern nicht bestim- 



147] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. gl 

mend in die formale Entwickelung eingegriffen, sondern sieb darauf 
beschränkt, jene Rechtsbasis, welche die kaufmännische Gepflogen* 
heit für das Lagergeschäft geschaffen hatte, zu legalisieren; sehr 
zum Vorteile der Entwickelung, welche in diesen Ländern weitaus 
am Yorgeschrittensten ist. 

Anders in den europäischen Eontinentalstaaten. Hier war die 
Institution der öffentlichen Lagerhäuser nicht das Resultat schritt* 
weiser Entwickelung, sondern einer ganz plötzlichen vehementen 
Steigerung des Verkehres, welche die Ausgestaltung der Schienen- 
wege und die Steigerung der Produktion herbeiführten. Demgemäss 
musste auch die Gesetzgebung gewissermassen unvorbereitet, ohne 
Erfahrungen auf heimischem Boden und ohne genaue Kenntnis der 
Bedürfnisse des einheimischen Handels, eingreifen. Zuerst erfolgte 
diese Regelung in Frankreich, wo am frühesten die moderne Ent- 
wickelung der Wirtschaft das Bedürfnis nach öffentlichen Lager- 
häusern hervorrief; die hier aufgestellten Prinzipien haben dann in 
verschiedenster Modifikation in die Gesetzgebung der übrigen Länder 
— Deutschland ausgenommen — Eingang gefunden, auch in die 
Oesterreichs. 

Die erste gesetzliche Regelung des öffentlichen Lagerhauswesens 
in Oesterreich erfolgte durch die Ministerialverordnung vom 19. Juni 
1866 (R.G.Bl. Nr. 86), welche die öffentlichen Lagerhäuser als 
konzessionierte Unternehmungen bezeichnet, die zur Aufbewahrung 
zoll- und steuerfreier oder bereits verzollter und versteuerter Waren 
dienen, und ihnen das Recht erteilt, an Ordre lautende Lager- 
scheine (Warrants) auszustellen. Weder die Rechte der Lager- 
hausunternehmung noch jene der Einlagerer waren durch das Gesetz 
in präziser Weise geregelt, namentlich fehlten genaue Bestimmungen 
über die Haftpflicht der Lagerhausunternehmung fast gänzlich. Es 
lag also für die Regierung sehr nahe, die Ursache der sehr geringen 
Verbreitung, welche bis in den Anfang der achtziger Jahre die 
öffentlichen Lagerhäuser in Oesterreich gefunden hatten, hauptsäch* 
lieh in den mangelhaften Bestimmungen des Gesetzes zu erblicken, 
um so mehr, als es an grundlegenden theoretischen Darstellungen 
des Lagerhauswesens, woraus die Entwickelungsbedingungen hätten 
erkannt werden können, damals noch fast überhaupt gebrach; die 
vortreffliche Darstellung Hechts \ welche auch heute noch das 
Erschöpfendste in dieser Richtung bietet, erschien erst 1884. Die 
Regierung veranstaltete zunächst eine schriftliche Enquete. Mit 



* Dv Felix Hecht, Die Warrants. Stuttgart 1884. 



62 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [148 

Erlass vom 27. Oktober 1882 (R.G.BL Nr. 35 S. 730) wendete sie 
sich an Konsulate, Handelskammern und Bezirkshauptmannschaften 
mit der Frage, woran es liege, dass die dem Handel so forderlichen 
Lagerhäuser bei uns so wenig prosperieren, während sie sich im 
Auslande steter Vermehrung erfreuen, und ob eine Abänderung der 
gesetzlichen Bestimmungen über die Lagerhäuser wünschens- 
wert sei. 

Wertheimer ^ schildert die Ergebnisse dieser Enquete wie 
folgt : 

„Die Konsulate antworteten mit einer Schilderung einzelner in 
Blüte stehenden ausländischen Lagerhäuser und der . unschätzbaren 
Dienste, welche dieselben dem Verkehre tagtäglich erweisen. Die 
Handelskammern berichteten, dass die bestehenden österreichischen 
Lagerhäuser wegen des von denselben gleichzeitig betriebenen 
Warenhandels, besonders aber wegen der monopolistischen Selbst- 
belehnung unpopulär seien. Und die Bezirkshauptmannschaften 
meldeten, dass der Betrieb wenig rentabel sei und deshalb sich 
Unternehmungen für dieselben nicht leicht finden liessen.** 

Nach dieser Darstellung würden allerdings gewisse harte Be- 
stimmungen — an deren Abfassung Wertheimer mitgewirkt hat — 
einigermassen gerechtfertigt erscheinen ; sie entspricht aber nur 
teilweise und in sehr bedingtem Sinne den Thatsachen, welche wir 
auf Orund einer Einsicht in die Akten, die uns das hohe k. k. 
Handelsministerium gütigst gestattet hat, feststellen konnten. 

Soweit es auf die auswärtigen Konsulate ankam, waren die 
Ergebnisse natürlich äusserst dürftig. Derartige Fragen können 
nicht nebenher, wie viele andere Konsulatsgeschäfte, erledigt werden, 
sondern nur auf Grund persönlicher Erhebungen und Studien, für 
welche die in der Materie gewiss fremden Konsuln weder den Blick 
und das Verständnis, noch die Zeit besassen. In anderen Ländern 
hat man daher, als es sich um Direktiven für die Einführung des 
Lagerhauswesens handelte, eigene Lagerhauskommissionen zum Stu- 
dium der Einrichtungen anderer, auf diesem Gebiete mustergültiger 
Länder entsandt; denselben Weg hatte schon früher einmal, wie 
wir gesehen haben, die Kommune Wien eingeschlagen. Auf die 
allgemeine Frage antworteten die Konsulate wieder allgemein, einzelne 
sandten die Reglements and Pläne der Lagerhäuser ihres Konsular- 
bezirkes; ein Bild der Entwickelung oder gar eine Kenntnis der 



^ MoRiz Wertheimer, Das österreichische Lagerhausgesetz. Prag, Mercys 
Verlag, 1889. 



149] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 63 

Gesetzgebung tmd der Entwickelungsbedingungen des Lagerhaus- 
wesens in anderen Ländern war aus diesen Antworten nicht zu ge- 
winnen. Viele Konsulate antworteten auch, dass in ihrem Konsulär- 
bezirke die Organisation des Lagerhauswesens noch im Stadium der 
ersten Entwickelung sich befinde und sie daher nichts sagen könnten. 

Die Gutachten der Handelskammern berichteten über die grossen 
Hindernisse, welche teils das geringe Verständnis des Publikums 
für den wirtschaftlichen Wert der Lagerhäuser, teils direkte Vor- 
urteile der Entwickelung derselben entgegenstellten. Sie hoben 
hervor, dass die Lagerhäuser meist im Besitze von Banken seien, 
welche auf die eingelagerten Waren auch Vorschüsse erteilten, 
und dadurch in der Kaufmannswelt die irrige Meinung genährt 
würde, dass auf eingelagerte Waren regelmässig Vorschüsse genom- 
men werden müssen, ja dass Güter überhaupt' nur gegen Verpföndung 
zur Einlagerung zugelassen werden. Da aber die Einlagerung in 
einem öffentlichen Lagerhause stets mit einer grösseren Publizität 
verknüpft ist, so besorgte mancher Kaufmann, durch Hinterlegung 
seiner Waren in öffentlichen Lagerhäusern seinen Kredit zu erschüt- 
tern. Mit Rücksicht darauf, dass diese Banken den Warenkommis- 
sionshandel betrieben, fürchte der Kaufmann wohl auch, nicht jene 
Neutralität zu finden, deren er bei dem Einblicke, welchen die 
Lagerhausunternehmungen naturgemäss in die Geschäfte des Ein- 
lagerers gewinnen, unbedingt sicher sein müsste. 

Das Lagerhausgesetz war de von den Handelskammern überein- 
stimmend als unzulänglich und einer gründlichen Reform bedürftig 
bezeichnet. Diese sollte hauptsächlich auch die Einführung des 
Zweischeinsystems umfassen, von dem man damals allgemein sich 
eine grössere Wirkung versprach, als von dem geltenden Einschein- 
system. Doch bemerkten die Handelskammern, dass der grös- 
seren oder geringeren Vollkommenheit der gesetzlichen 
Bestimmungen eine entscheidende Rolle in der Ent- 
wickelung des Lagerhauswesens nicht zugeschrieben 
werden könne, das Hauptgewicht vielmehr auf eine entgegen- 
kommendere Behandlung von Seite der Eisenbahnen im Punkte der 
Reexpedition gelegt werden müsse. 

Die seitherige Entwickelung des Lagerhauswesens bewies die 
Richtigkeit dieser Anschauung. Seit der Mitte der achtziger Jahre 
gewann das Lagerhauswesen eine für österreichische Verhältnisse 
nicht unansehnliche Verbreitung, Während bis zum Jahre 1882, 
also in den 16 Jahren seit Erlass der Verordnung von 1866^ bloss 
fünf öffentliche Lagerhäuser entstanden waren, kamen bis zum Jahre 



64 ^^^ Wiener Getreidehandei und seine Technik. [150 

1889 weitere zwölf hinzu. Diese Verbreitung war begünstigt worden 
einerseits durch die entgegenkommendere Handhabung des Reexpe- 
ditions Verfahrens, das als die bessere Frucht^ der Enquete bezeich- 
net werden kann, und sie erfolgte trotz oder vielmehr gerade 
begünstigt durch die Mangelhaftigkeit des Gesetzes. Die geringe 
Präzision der auch in diesem Gesetze schon enthaltenen Verbots- 
bestimmungen, welche wir später kennen lernen werden, liess der 
kommerziellen Entwickelung der Lagerhäuser einen ziemlich fireien 
Spielraum. 

Das neue Lagerhausgesetz, welches nach einem vierjährigen 
Stadium der Vorbereitung 1889 endlich zustande kam, räumte mit 
diesen Freiheiten auf. Der wesentlichste Inhalt des Gesetzes vom 
1. April 1889 ist folgender: 

Oeffentliche Lagerhäuser sind jene Unternehmungen, welche 
auf Grund einer besonderen Konzession die Aufbewahrung von 
Waren für fremde Rechnung geschäftsmässig betreiben und in- 
dossable Lagerscheine auszustellen berechtigt sind. Unter meh- 
reren Konzessionsbewerbern haben bei gleichen Bedingungen die 
öffentlichen Körperschaften (Länder, Bezirke, Gemeinden, Er- 
werbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und Vorschusskassen, wenn 
sie mindestens drei Jahre bestehen) den Vorzug. 

Die zum Geschäftsbetriebe der öffentlichen Lagerhäuser gehören- 
den Geschäfte gelten im Sinne des Handelsgesetzbuches als Handels- 
geschäfte, die Lagerhausunternehmungen selbst als Kaufleute; 
als solche haften sie für die ihnen übergebenen Waren mit der 
Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns. Die Beweislast für die 
Sorgfalt fällt aber der Lagerhausunternehmung zu. 

Der Unternehmung öffentlicher Lagerhäuser ist es bei sonstigem 
Verluste der Konzession untersagt, mit Waren, welche nach ihrer 
Gattung zur Aufnahme in die Lagerhäuser geeignet wären, für 
eigene oder fremde Rechnung Handel zu treiben, sowie im eigenen 
Lagerhause eingelagerte Waren für eigene oder fremde Rechnung 
zu belehnen. Die Lagerhausunternehmung hat die Verpflichtung, 
die Rechte des Einlagerers gegenüber dem Schiffer und Frachtführer 
wahrzunehmen, sowie die Beweissicherung und sofortige Benach- 
richtigung desselben bei erkennbaren Mängeln des eingelieferten 
Gutes, ferner zur Versicherung gegen Feuersbrunst. Sie hat die 
Entnahme von Proben bezw. Besichtigung der Ware dem Einlagerer 
während der Geschäftsstunden zu gestatten, und geniesst im Falle 
der Verzögerung oder Verweigerung der Abnahme oder bei drohen- 
dem Verderben der Ware das Recht des Selbsthilfeverkaufs ; ferner 



151] Wesen tmd Bedeutung der Lagerhäuser. 65 

steht ihr für die Sicherung der Lagergebühren und eventueller für 
Rechnung des Hinterlegers bestrittener Auslagen ein Pfandreeist län 
der Ware zu. • 

Das Belehnungsverbpt war, teils unter dem Einflüsse der ?on 
einigen Handelskammern abgegebenen abfalligen Gutachten rück- 
sichtlich der selbst belehnenden Lagerhäuser, teils auf Wunsch der 
den Vorberatungen zugezogenen Vertreter des Wiener und Triester 
Handels und dessen parlamentarischer Vertretung, mit der Moti- 
Yierung erfolgt, dass sonst die Lagerhäuser zu Leihhäusern werden 
und die für den Warenbesitzer so notwendige Freiheit, seine Ware 
von beliebigen Geldgebern belehnen zu laissen, verkümmert werden 
könnte, und aus Besorgnis, dass die Lagerhausunternehmung ein 
spezielles Nebeninteresse an den Angaben haben könnte, welche in 
dem Lagerscheine enthalten sind und welche auf die Einschätzung 
der Ware bei der Lombardierung massgebenden Einfluss nehmen ^. 

Die Ueberlegenheit, welche die Banken im Warenkommissions- 
geschäft durch ihre Lagerhäuser erhielten, hatte auch die Eifersucht 
des Handels rege gemacht. Entscheidend war besonders der zähe 
Widerstand, den die parlamentarische Vertretung der Stadt Triest 
dem Belehnungsrechte aus egoistischen Motiven entgegensetzte: der 
Stadtgemeinde Triest, die zu dieser Zeit gemeinsam mit der Handels- 
kammer die Triester Lagerhäuser betrieb, passte es nicht, Waren zu 
belehnen. 

Eine Eigentümlichkeit des österreichischen Gesetzes bilden die 
Bestimmungen über die Beziehungen öffentlicher Lagerhäuser zu 
den Eisenbahnen und die Bevorrechtung, welche in dieser Beziehung 
sowie durch das alleinige Recht der Ausgabe von indossabeln Lager- 
scheinen der öffentlichen Lagerhausuntemehmung vor der privaten 
in der offenbaren Absicht zu teil wird, die Entstehung öffentlicher 
Lagerhäuser zu begünstigen. 

Auf Grundstücken öffentlicher Eisenbahnen wird der Errichtung 
öffentlicher Lagerhäuser vor jener von Privatlagerhäusern der Vor- 
zug eingeräumt. Geleiseverbindungen, welche zwischen einem öffent- 
lichen Lagerhause und einer öffentlichen Eisenbahn oder einem an 
einer schiffbaren Wasserstrasse gelegenen Umschlagsplätze hergestellt 
werden sollen, sind als gemeinnützig anzusehen. Bezüglich der 
Ordnung der wechselseitigen Verkehrsverhältnisse zwischen der 
Eisenbahnuntemehmung und dem öffentlichen Lagerhause, insbeson- 



^ Rede des Handelsministers Marquis Baqüehem in der 290. Sitzung der 
X. Session des Abgeordnetenhauses. 

Wiener Studien. ÜI. Bd., 2. Heft. 5 [11] 



66 I>er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [152 

dere auch bezüglich der Aifwendung der dem öffentlichen Lager- 
hanse zugestandenen Reexpeditionsbegünstigungen, steht bei 
mangekidem Einverständnisse zwischen den Beteiligten dem Han- 
delsministerium die Entscheidung zu. 

Von dem praktischen Effekt dieser Bestimmungen wird noch 
die Bede sein. 

c) Der Lagerschein. 

Andeutungsweise wurde bereits früher der hervorragenden Be- 
deutung erwähnt, welche den öffentlichen Lagerhäusern als Stütze 
des Warenlombards zukommt. 

Wie das Beexpeditionsverfahren, erhöht auch ein gut organisierter 
Lombardkredit die Kaufkraft des Stapelplatzes und seine Konkurrenz- 
fähigkeit; denn je grösser der Umsatz ist, je leichter und billiger 
das Leihkapital zugänglich ist, desto billiger kann der Handel im 
Verkauf sein. 

Das wichtigste Instrument des Lombardkredits ist der Lager- 
schein oder Warrant. Ein kurzer RückbUck auf die Entwickelung 
des Warenlombards wird uns die Funktion des Lagerscheins am 
besten illustrieren. 

Die Heranziehung von Leihkapital für den kaufmännischen 
Betrieb erfolgt in der Regel in der Form des Personalkredits, 
des Kontokorrent und Wechselkredits, dessen Umfang bestimmt 
wird durch die Grösse und eingeschätzte Rentabilität des kredit- 
werbenden Geschäftsbetriebes, durch das Mass von Vertrauen, 
welches die Person seines Inhabers geniesst. Mit diesem Personal- 
kredit muss unter normalen Verhältnissen ein normaler Geschäfts- 
betrieb das Auslangen finden; wenn eine Manufakturwarenfirma 
Waren verpfändet, so wird das in der Regel böse Schlüsse auf 
ihren Kredit rechtfertigen und man wird richtiger von einem Pfand- 
leihgeschäft, als von einem kaufmännischen Lombardgeschäft sprechen. 
Anders im Handel mit Roh- und Massenprodukten, wie Getreide. 
Hier ist für den nicht sehr kapitalkräftigen Kaufmann der Fersonal- 
kredit auch unter normalen Verhältnissen unzulänglich ; Getreide ist 
ein Massengut von hohem Werte und der Bedarf an Leihkapital 
wächst mit der Ausdehnung des Handelsbetriebes unvergleichUch 
stärker als in anderen Handelszweigen, während in Anbetracht der 
Preisschwankungen, welchen diese Ware ausgesetzt ist und der 
grösseren Risken, welche infolgedessen der Kreditgeber in Kalkül 
ziehen muss, der Personalkredit nur sehr langsam und unter Schwierig- 
keiten ausgedehnt werden kann, insbesondere dann, wenn, was an 



158] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser« 67 

Terminhandelsplätzeii h'änfig der FaU ist, der Ereditwerber mit dem 
Effektivhandel auch das Eommissionsgeschäft in Termingetreide 
verbindet. 

Das Bedürfnis nach einer Ergänzung des kaufinännischen 
Kredits führte dazu, dass man jene Kreditform, die der Privatkredit 
bereits kannte, mid welche dem Kreditgeber ein hohes Mass von 
Sicherheit gewährleistet, dass man den Pfandkredit auch für 
kaufmännische Zwecke auszugestalten suchte. Doch galt es vorher 
einige Schwierigkeiten zu überwinden. Nach dem allgemeinen 
Gebrauch und nach den in fast allen Ländern bestandenen gesetz- 
lichen Normen konnte die Bestellung eines Faustpfandes nur in 
der Weise geschehen, dass der Verpfänder die Ware körperlich 
in die Verwahrung des Pfandleihers übergab. Für den Pfandleih- 
kredit passte das, weil es sich meist um Luxusgüter oder nicht 
allzu voluminöse Gebrauchsgegenstände handelte. Für die Ver- 
pfändung von Handelsgütern oder gar Massengütern war, ab- 
gesehen von der Verteuerung des Kredits durch die Kosten des 
Zu- und Abtransportierens , diese Form umso unmöglicher, als die 
Aufbewahrung der Waren nicht nur grosse, gewissen Anforderungen 
entsprechende Räumlichkeiten, sondern, wie z. B. bei Getreide, 
auch eine sorgfältige und fachmännische Konservierung erfordert. 
Aus diesem Grande gehen jene Personen oder Institute, welche aus 
einem oder dem anderen Interesse den Warenlombard gewerbsmässig 
zu betreiben gewillt sind, zunächst an die Errichtung eigener Lager- 
häuser. Das war nun wohl ein Schritt nach vorwärts. Aber die 
Besitzer dieser Lagerhäuser sind in der Regel Kommissionäre, welche 
durch sie Kunden anziehen und an sich fesseln wollen. So finden 
wir in Liverpool zahlreiche »Brokers" im Besitze von Lager- 
häusern. 

Dem Warenbesitzer ist es oft nur um den Vorschuss, nicht 
auch um den Vermittler zu thun, während hier, vermöge des Lager- 
hauses, das Belehnungsgeschäft zu einem Monopol des Kommissionärs 
wird. An jenen viel grösseren Kreis von Personen, welche, ohne 
die Warenbelehnung gewerbsmässig zu betreiben, sie doch gerne 
zu vorübergehender Kapitalsanlage zu benützen gewillt sind, an den 
„offenen Kapitalmarkt** konnte der Vorschusswerber der technischen 
Hindemisse wegen nicht herantreten. 

Dies war möglich, wenn die Ware bei einem Depositar hinter- 
legt wurde, dessen Sicherheit und Neutralität unzweifelhaft war; 
und der die Aufbewahrung von Waren gewerbsmässig und ohne 
Rücksicht darauf betrieb, ob dieselben durch ihn verkauft oder 



68 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [154 

belehnt wurden ; als solcher bot sich das öffentliche Lagerhaus dar. 
Der Fortschritt war bedeutend. Aber noch immer waren da die 
pfandrechtlichen Bestimmungen, welche verfügten, dass die Er- 
werbung eines Faustpfandes nur möglich war, wenn die Ware 
körperlich in die Verwahrung des Pfandleihers überging. Ihre 
kostspieligen Eonsequenzen entfielen nun wohl; die Ware brauchte 
sich, damit dieser Vorschrift Genüge geleistet wurde, nicht vom 
Flecke zu rühren, der Einlagerer beauftragte das Lagerhaus einfach, 
die Ware auf den Namen des Vorschussgebers zu überschreiben. Das 
hatte aber noch immer zwei Nachteile. Die Umschreibung des 
Eigentumsrechtes auf den Namen des Vorschussgebers und die 
Bückbuchung bei Wiedererstattung des Vorschusses erfolgt natürlich 
nicht kostenlos. Und überdies gab der Eigentümer die Ware voll- 
ständig in die Verfügung und in das Eigentum des Vorschussgebers, 
den der Pfandvertrag, der nebenher errichtet wurde, natürlich nicht 
hinderte, mit der Ware nach Gutdünken zu schalten, da dem Lager- 
hause gegenüber er als unumschränkter Besitzer derselben figurierte. 
Der krediteinräumende TeU war nicht der Vorschussgeber, der ja 
für seinen Vorschuss durch die Ware überdeckt ist, sondern der Vor- 
schussnehmer, der einen Teil des Warenwertes unbedeckt dem 
ersteren anzuvertrauen gezwungen ist. Der Ereditwerber muss sich 
daher den Ereditgeber daraufhin ansehen, ob derselbe ein solches 
Vertrauen rechtfertigt; er wird sich auf die öffentlichen Lager- 
hausunternehmungen, welche selbst belehnen und auf Banken von 
unzweifelhafter Solidität beschränken müssen; hat sich der Eredit- 
markt für den Vorschusswerber auch erweitert, begrenzt ist er 
noch immer. 

Erst der indossable Lagerschein mit stellvertretendem Charakter 
beseitigt diese UnvoUkommenheiten des Realkredits. Die ursprüng- 
liche Form, aus welcher der Lagerschein sich entwickelte, ist die 
Empfangsbescheinigung, welche die Lagerhausunternehmung dem 
Einlieferer der Ware gibt. Sie stellt nur eine Beweisurkunde vor 
und repräsentiert die Ware nicht; ein Dritter erwirbt durch ihren 
Besitz kein Recht auf die Ware; zum Lagerschein, zum Reprä- 
sentanten der Ware wird sie erst durch die Ausstattung mit ding- 
lichen Rechten. Durch die gesetzliche Bestimmung, dass der Besitz 
des Lagerscheins nicht bloss ein Forderungsrecht der Lagerhaus- 
unternehmung gegenüber, sondern ein unmittelbares Recht an der 
Ware selbst verleiht, ist die Möglichkeit gegeben, das Dokument 
zur Uebertragung, beziehungsweise zur Verpfändung der Ware zu 
verwenden. 



1551 Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 69 

Die Entstehnngs- und Entwickelnngsgeschichte des indossablen 
Lagerscheins ist nnn in verschiedenen Ländern verschieden. 

In jenen Ländern, wo Tom Lagerschein der allerweiteste Ge- 
brauch gemacht wird, in England und Holland, ist diese Aus- 
gestaltung in allmählicher Anpassung an die Gepflogenheiten des 
kaufmännischen Verkehrs ausgebildet worden. Die Gesetzgebung 
hat sich darauf beschränkt, den Rechtsboden für die Entwickelung 
des Lagerscheins zu schaffen, seinen dinglichen Charakter anzu- 
erkennen, ihn anderen Handelspapieren, wie dem Konnossement und 
dem Auslieferungsschein rechtlich gleichzustellen und die pfand- 
rechtlichen Bestimmungen entsprechend auszugestalten^. Yerwen- 
dungsweise und Formen dagegen blieben vollständig frei dem kauf- 
männischen Verkehre überlassen. 

In England lautet der Lagerschein an Ordre, in Holland auf den 
Inhaber; er ist ein einfaches Dokument, welches sowohl zur Verpfan- 
dung als zur Besitzübertragung der Ware verwendet wird und gilt in 
allen seinen Beziehungen und Verwendungen, rechtlich und praktisch 
nur als das, was er ist, als Repräsentant der Ware. Das Instrument, das 
der erste gesetzgeberische Versuch in Bezug auf das Warrantwesen, 
die Verordnung vom Jahr 1866, in Oesterreich geschaffen hatte, war, 
soweit die Voraussetzungen für einen Warrantverkehr überhaupt 
gegeben waren, wenig geeignet, denselben zu ermöglichen, weil der 
Rechtsboden dafür ein für den Darlehensgeber zu unsicherer war. 
So fehlte die in dem geltenden Gesetze (§ 23) enthaltene wichtige 
Bestimmung, dass wenn ein Lagerschein ausgestellt ist, die Ueber- 
gabe der Ware in anderer Weise als durch XJebergabe des indossierten 
Lagerscheins nicht stattfinden kann, und dass nicht die Ware, 
sondern der Lagerschein ausschliesslich der Gegenstand von Exe- 
kutions- und Sicherungsmassregeln sein kann. Der Warrantinhaber 
hatte infolgedessen keine Gewähr dafür, dass nicht ein^s Tages ein 
anderer die Ware pfändete, wenn z. B. der Warenbesitzer in 
Eonkurs verfiel. Es ist nicht unwichtig, dies hervorzuheben, weil 
die Mitarbeiter und Berater des geltenden Gesetzes die Gering"^ 
fügigkeit des Warrantverkehrs grossenteils anderen Momenten zu- 
geschrieben haben, so namentlich dem Belehnungsrecht der Lager- 
hausunternehmung. 

Das geltende österreichische Lagerhausgesetz strebt in An- 
lehnung an das französische die möglichst weitgehende Ausnützung 
der beiden Verwendungsmöglichkeiten des Lagerscheines: zur Besitz^ 



1 Vgl. MiTTBRMAiER in Zeitschrift für Handelsrecht Bd. XXXVIII, S. 131 ff. 



70 ^^^ Wiener Getreidehandel and seine Technik. [156 

Übertragung und zur Verpfandung durch ein obligatorisches Zwei- 
scheinsystem an. Die öffentlichen Lagerhausunternehmungen sind 
zur AussteUung von Lagerscheinen in zwei TeUen berechtigt und 
verpflichtet. Der eine Teil, der Lagerbesitzschein, dient zur Besitz- 
übertragung, der andere, der Lagerpfandschein, zur Verpfandung der 
Ware, so dass dem Warenbesitzer die Vornahme beider Akte gleich- 
zeitig möglich sein und ihm im Falle der Verpfandung der Ware, 
dadurch dass er den Besitzschein behalt, die Verfügung über die 
Ware unbeschadet des bestellten Faustpfandes erleichtert sein soU. 
Dies macht eine Abgrenzung der Rechtsfolgen des einzelnen Aktes 
notwendig, welche durch die folgenden Bestimmungen des Gesetzes 
gegeben wird. Die üebergabe des indossierten Besitzscheines an 
den Indossatar hat für den Erwerb der von der Üebergabe der 
Ware abhängigen Rechte dieselben rechtlichen Wirkungen, wie die 
Üebergabe der Ware selbst (§ 23 Abs. 1). Wird der Besitzschein 
ohne Warrant übertragen, so tritt der Rechtserwerb des Lidossatars 
des Besitzscheines nur mit Beschränkung durch die infolge der 
abgesonderten Indossierung des Warrants entstandenen Rechte ein 
(§ 24). Zur Bestellung eines Faustpfandes an der hinterlegten 
Ware ist, wenn ein Lagerschein ausgestellt ist, die Üebergabe des 
unter Beobachtung der im § 20 enthaltenen Bestimmungen indossierten 
Warrants an den Indossatar erforderlich. Den in dem erwähnten 
§ 20 enthaltenen Bestimmungen zufolge muss, wenn der Warrant 
abgesondert übertragen, also ein Pfand an der Ware bestellt wird, 
das erste die abgesonderte Uebertragung bezweckende Indossament, 
um rechtskräftig zu sein, enthalten: 

1. Den Namen und Wohnort des Indossatars des Warrants; 

2. die Angabe der Geldsumme samt allfälligen Zinsen, für 
welche das Pfandrecht an der eingelagerten Ware eingeräumt 
werden soll; 

3. den Verfallstag der Pfandsumme und muss yollinhalÜich und 
unter Angabe des Datums in das Lagerbuch der Unternehmung 
eingetragen werden. 

Dieser strenge Formalismus ist die unvermeidliche Folge der 
Auffassxmg der durch die Belehnung des Warrants kreierten For- 
derung als einer wechselmässigen und der Bezugnahme des 
Gesetzes auf die Bestimmungen der allgemeinen Wechselordnung, 
für den Fall, als die Pfandsumme nicht oder nicht rechtzeitig rück- 
erstattet wird. 

Diese Auffassung, die mit solcher Eonsequenz durchgeführt ist, 
dass das Pfandindossament, auch der Stempelpflicht nach Scala II 



157] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 71 

unterworfen ist, ist ans dem französischen Gesetz, in der gleichen 
Absicht herübergenommen worden, welche dort zu ihrer Entstehung 
geführt hat; die Mittel der Notenbank sollten dem Waren« bezw. 
Warrantlombard zugänglich gemacht werden, ohne das Bankstatut 
einer prinzipiellen Aenderung zu unterwerfen. Das Statut der öster- 
reichisch*ungarischen Bank schreibt, wie das der meisten Noten- 
banken vor, dass die Anlage der durch Banknoten aufgebrachten, 
nicht in barem öelde reservierten Fonds in bankmässiger Weise, 
d. h. so zu geschehen habe, dass in kurzer Frist die Einziehung 
derselben erfolgen kann, eine Yorschrifb, die ihren Grund in der 
Erwägung findet, dass eintretende Krisen oder Geschäftsstockungen 
die Ansprüche an die Bank unvermutet steigern können. Die vor- 
zugsweise bankmässige Anlage ist die Diskontierung von guten, 
mit mehreren (gewöhnlich drei) soliden Unterschriften versehenen 
Handelspapieren, von kurzfalligen Wechseln insbesondere. „Jene 
Notenbanken, welche auf Warrants Kredit gewähren, stellen daher 
bei der Kreditgewährung dieselben Anforderungen, welche für den 
Escompte von Wechseln massgebend sind. So wie sie Wechsel mit 
einer Unterschrift nicht annehmen, so stellen sie auch für die Kredit- 
gewährung auf Warrants grundsätzliche Bedingungen auf, dass sie 
mindestens zwei Indossamente tragen müssen^/ An Stelle der dritten 
Unterschrift wird die Sicherheit angenommen, welche die Ware 
bietet. 

Bei diesem Systeme kann demnach die Beteiligung der Bank 
am Warenlombard nur eine indirekte sein. „Die Notenbanken geben 
niemals dem ursprünglichen Eigentümer der warrantierten Ware 
einen Yorschuss, sondern sie nehmen den Warrant erst aus der 
Hand eines zweiten an, der seinerseits bereits auf den Warrant 
einen Yorschuss geleistet hat. Sie beleihen daher nicht direkt die 
in dem Warrant repräsentierte Ware, sondern sie lösen die Forde- 
rung an sich, welche ein anderer Geldgeber, der zweite Indossant, 
gegenüber dem Eigentümer der Ware erworben hat, und für welche 
die warrantierte Ware als Bealpfand dient. Da hierbei überdies 
auch der 'Personalkredit des forderungsberechtigten zweiten Indos- 
santen in Betracht gezogen wird^ „so stellt sich in dieser Form die 
Kreditgewährung als eine Escomptierung wechselmässiger Forde- 
rungen dar, die in dem Personalkredite des unmittelbaren Indos- 
santen und in der verpfändeten Ware ihre Sicherstellung finden^ ^. 



^ Gustav Leonhard, Der Warrant als Bankpapier. Wien 1886, S. 14. 
2 Derselbe S. 15. 



72 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [158 

Nicht der Wd;tbewerb mit anderen Kreditgebern, Banken und 
PrivaÜiiapital^ sondern die Ermunterung des privaten Leihkapitals 
zum- Warrant wird also angestrebt« Die Bank tritt mit dem privaten 
Leihkapital nicht in Wettbewerb auf dem Lombardmarkt. Die 
Förderung des Lombardkredits durch sie ist so gedacht, dass die 
Mi)glichkeit, den Warrant bei der Notenbank reeskomptieren zu 
lassen und sich dadurch Geld zu bescha£Pen, das Leihkapital er« 
muntern soU, sich dem Belehnungsgeschäfte zuzuwenden. 

In seiner anderen Eigenschaft, als Zirkulationsmittel, hat 
der Lagerschein im Wiener Getreidehandel, wie im europäischen 
Getreidehandel überhaupt, keinerlei Bedeutung gewinnen können. 
Der Lagerschein muss, um zirkulationsföhig zu sein, die Ware nicht 
nur in rechtlicher Beziehung, sondern auch qualitativ voll und 
ganz repräsentieren. Der Käufer muss durch einen Blick auf den 
Warrant genau informiert sein, welchen Konsumwert die durch ihn 
repräsentierte Ware besitzt. Die Voraussetzung dafür ist die Pungi- 
bilität der Ware, welche bei Getreide, wie schon erörtert wurde, 
nur durch ein Gradierungssystem effektiv hergestellt werden kann. 
Nur im amerikanischen Getreidehandel hat daher der Lagerschein 
als Zirkulationsmittel grosse Bedeutung erlangen können. Und wenn 
der Eisenhandel in Glasgow sich in Warrants, der Getreidetermin- 
handel Liverpools sich ohne Warrants vollzieht, so ist die Ursache 
nicht, wie ein in dem Werke „Das Getreide im Weltverkehr* öfter 
citierter Herr Charles W. Smith annimmt die, „dass der Glasgower 
Terminhandel mit Bücksicht auf die Zeit seines Entstehens sich be- 
müssigt gesehen habe, die in England zwei Jahre vor der Auf- 
hebung der Kornzölle im Jahre 1844 gegen die Produktenspekulation 
gerichteten Verbotsgesetze zu berücksichtigen^**, sondern die, dass 
im englischen Roheisenhandel eine ähnliche Gradierung besteht, wie 
im nordamerikanischen Getreidehandel, dass Roheisen eine fungible 
Ware ist und Getreide in England es nicht ist. 

Zwei Formen des Warrants, die in fremden Ländern in Geltung 
sind, glauben wir eine spezielle kurze Schilderung widmen zu sollen, 
da uns die eine dem kommerziellen, die andere dem landwirtschaft- 
lichen Lombardkredit im Getreidehandel grosse Dienste zu leisten 
geeignet erscheint^ 

Die erstere ist das in England gebräuchliche Zweischeinsystem, 
der Warrant mit Weight-note. Der Warrant mit Weight-note 



^ Das Getreide im Weltverkehr. Wien 1900, Bd. III: Erläuternde Be- 
merkungen S. 116. 



1591 Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 73 

ist ein Lagerschein, der aus zwei gleichlautenden zusammenhängenden 
Teilen besteht. Dieser Lagerschein wird in England als Unterlage 
für Kaufkontrakte über Waren, die in öffentlichen Lagerhäusern 
liegen, verwendet, wenn der Käufer die Ware erst nach einer ge- 
wissen Frist zu beziehen hat und vorerst nur ein Angeld leistet. 
Der Verkäufer lässt von der Lagerhausunternehmung einen der- 
artigen Warrant ausstellen, — die Ausgabe von Lagerscheinen steht 
in England übrigens jedermann frei — merkt die geleistete An- 
zahlung auf beiden Teilen vor, gibt die Weight-note dem Käufer 
und behält selbst den Warrant so lange, bis der Restkaufpreis für 
die Ware erlegt wird. Diese Form des Lagerscheins und ihre Ver- 
wendung hat sich in England zuerst im Anschlüsse an die öffent- 
lichen Auktionen der grossen Seehandelsgesellschafben ausgebildet, 
weil hier die Einräumung eines Bezugstermins gegen Angeld usuell 
war. Sie bietet gegenüber der sonst üblichen Uebertragung mit obli- 
gatorischer Wirkung unter Austausch von Schlussbriefen dem Käufer 
den Vorteil, dass er an Stelle eines blossen Forderungsrechtes ein 
dingliches Recht erwirbt, welches ganz unabhängig ist von dem 
Kredit des Verkäufers. Keiner der beiden Kontrahenten braucht 
d«m anderen einen Personalkredit einzuräumen, beiden Teilen haftet 
die Ware, über die keiner ohne den anderen verfügen kann, weil 
die Lagerhausuntemehmung im Falle als ein Warrant mit Weight- 
note ausgegeben worden ist, die Ware nur dem Ueberbringer beider 
Teile des Lagerscheines ausfolgt. Auch die Vorschussgeschäfte 
zwischen Kommissionär und Kommittenten werden auf Grundlage 
solcher Warrants entriert, wodurch der ganze Akt wesentlich auf 
die Basis des Realkredits gestellt wird, während er bei uns aus- 
nahmslos im Wege des Personalkredits, des Kontokorrentkredits sich 
abspielt. Dadurch wird die Kapitalskonzentration im Handel geför- 
dert, weil der Warenbesitzer sich nur an einen Kommissionär wenden 
kann, der ausgesprochen „«prima'' ist, während man auf der in Eng- 
land gebräuchlichen Basis die Lombardtransaktion unbedenklich auch 
durch den kleinen Kommissionär oder den Agenten., den »broker^, 
machen kann. Und dieser braucht, um seinen Kommittenten Vor- 
schüsse geben zu können, nicht Kapital, sondern nur einen Bankier, 
der ihm auf den Warrant Geld vorschiesst« Der Verpfänder ist 
aber nicht nur in materieller, sondern auch in formeller Weise be- 
friedigt; er will nicht bloss Vorschuss haben, sondern er will ihn 
auf diskrete Weise haben. Verbürgt ist aber das Geheimnis der 
Verpfändung, wenn, wie hier, ein Dritter eingeschoben ist. Wenden 
wir uns nun der zweien Warrantin stitution zu. 



74 I>er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [160 

Die andere Form, welche, wie erwähnt, für die Landwirtschaft 
von grossem Interesse ist, ist der durch das Gesetz vom 18. Juli 1898 
in Frankreich eingeführte Warrant agricole, mit welchem Frankreich 
in der Frage des landwirtschaftlichen Mobiliarkredits einen 
bedeutenden Schritt nach vorwärts unternommen hat. 

Der einzige Weg, auf welchem der landwirtschaftliche Mobiliar- 
kredit bisher kultiviert werden konnte, ist der durch das genossen- 
schaftUche Lagerhaus. Die Errichtungs- und Verwaltungskosten 
dieser Lagerhäuser sind relativ hoch und es muss, um die Ver- 
zinsung des zum Teil durch Darlehenssubventionen beschafften An- 
lagekapitals herauszubringen, von den Oenossenschaftem ein Regie- 
beitrag eingehoben werden, der absolut und im Verhältnis zu den 
Durchschnittsprofiten des Handels sehr bedeutend genannt werden 
muss; es sind 30 — 40 Heller pro 100 kg und wo nicht durch die 
Behandlung der Ware im Lagerhause eine Erhöhung ihres Handels- 
wertes zu gewärtigen ist, durch welche ein Teil dieser Kosten 
hereingebracht wird, wäre die Prämie für den Lombardkredit eine 
ziemlich hohe. Es sind aber ausserdem die Bedingungen für die 
Errichtung genossenschaftlicher Lagerhäuser nicht überall gegeben. 

Man ist daher in Frankreich auf den Gedanken gekommen, ein 
Ereditinstrument zu schaffen, welches die Belehnung der landwirt- 
schaftlichen Produkte ermöglichen soll, auch wenn sie in Verwah- 
rung des Grundbesitzers bleiben. Das ist geschehen durch das 
Gesetz vom 18. Juli 1898 über den Warrant agricole^. 

Jeder Grundbesitzer und Produzent kann warrantieren. Der 
wesentliche Inhalt des Gesetzes ist folgender: Seitens des Grund- 
besitzers und Produzenten können warrantiert werden: alle Getreide- 
gattungen in Garben oder gedroschen, getrocknetes Viehfutter, ge- 
trocknete Medizinalpflanzen, getrocknetes Gemüse, gedörrtes Obst, 
Mehl, tierische und vegetabilische Webstoffe, ölhaltige Samen, alle 
Samen zur Aussaat, Weine, Apfelweine, Spirituosen und Alkohole 
jeder Art, die Seidencocons, Holz geschnitten, gesägt oder in 
Stämmen, Lohe, Harz, Käse, Honig und Wachs, alle vegetabilischen 
Oele und Seesalz. Die Warrants sind seitens des warrantierenden 
Produzenten Stempel- und gebührenfrei. 

Die Ausstellung des Warrants erfolgt durch den Maire des 
Ortes, nach dem Diktat des Warenbesitzers in zwei Formularen, 
deren eines als Juxta in dem Heft des Friedensrichters zurückbleibt. 



^ Siehe Mus^e sociale , [Annöe 1899, S. 495 ff., Le Warrantage des pro- 
daits agricoles. 



161] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 75 

in welches jedermann, der vom Warenbesitzer dazn autorisiert ist, 
Einsicht nehmen kann, während das andere der Partei ausgehändigt 
wird. Wenn der Warenbesitzer nicht zugleich der Grundbesitzer, 
sondern nur Pächter ist, so kann er die Warrantierung nur mit 
Einwilligung des Grundbesitzers vornehmen, welche dieser zu ver- 
weigern berechtigt ist, wenn der Pächter auch nur mit einer Pacht- 
zinsrate im Verzuge ist. Hat der Warenbesitzer auf den Warrant 
ein Darlehen aufgenommen, so spielt er dem Gesetze zufolge für 
die Dauer der Belehnung die Bolle eines Depositars. Die Bank 
von Frankreich ist durch das Gesetz autorisiert, diese Warrants 
gleich den kaufmännischen an Stelle der dritten Unterschrift an- 
zunehmen. Das System hat ein theoretisches Bedenken gegen sich ; 
das hohe Mass von Vertrauen, welches dabei in den Warranteur 
gesetzt werden muss. Nehmen wir aber als ersten Darlehensgeber 
die Baiffeisenkassen an, so fallt dieses Bedenken. Denn den Ge- 
nossen sind ihre Verhältnisse, ihre Vertrauenswürdigkeit gegenseitig 
genau bekannt und sie stehen unter gegenseitiger Kontrole. 

d) Die Lagerhaustechnik im allgemeinen. 

In den folgenden Blättern haben wir es mit jenem Komplex 
von Manipulationen zu thun, welche bei der Ein- und Auslagerung, 
Beinigung, Wägung, Expedition und insbesondere bei der Eonser- 
vierung des Getreides angewendet werden müssen und welche 
wir unter den Begriff Lagertechnik zusammenfassen können. 

Wir haben dabei zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen 
Systemen zu unterscheiden, deren eines, das Silo-, auch Elevatoren- 
system genannt, auf dem Prinzip der Fungibilität des Getreides 
beruht, während das andere, das Bodenspeichersystem, das entgegen- 
gesetzte Prinzip, nämlich das der Wahrung der Identität des ein- 
gelagerten Getreides vertritt. Betrachten wir zunächst den Silo. 

Der Silospeicher hat das Ansehen eines quadratischen oder 
rechteckigen Kastens und ist im Innern durch vertikale Wände in 
eine Anzahl schmaler Schächte eingeteilt, welche nach unten zu in 
einen Kegel oder in eine Pyramide verlaufen und einen verstell- 
baren Boden haben. Das in loser Schüttung im Waggon oder Schiff 
anlangende Getreide wird durch eine sinnreiche Vorrichtung, den 
sog. Elevator, von oben in den Silo eingeschüttet. In einem meist 
hölzernen Bohr läuft oben und unten über Scheiben ein Gurt ohne 
Ende, an welchem Becher befestigt sind, die das Getreide auf- 
schöpfen, ähnlich wie eine Baggermaschine den Schotter, und es, 



76 I^er Wiener Getreidehandel and seine Technik. [162 

oben angelangt, umkippend in den Silo oder in eine Schnecke 
schütten, welche das Getreide über eine automatische Wage, even- 
tuell auch noch über Reinigungsapparate in den Silo leitet. Von 
dieser Ausladevorrichtung, die mit Dampf oder mit Elektricität be* 
trieben wird und je nach dem Landungsorte des Fahrzeuges ver- 
stellbar ist, hat das ganze System seinen Namen. Die Entleerung 
des Silo erfolgt in der denkbar einfachsten Weise, durch Oeffnung 
des Schachtbodens. Das Getreide wird durch ein System von Trans- 
portbändern an das untere Ende eines Elevators gebracht, und von 
hier wieder über die Wage in den Waggon geleitet. Auf den 
Stapelplätzen ist der Silo gewöhnlich so angelegt, dass er mit der 
einen Längsseite knapp am Wasser steht, während auf der anderen 
Seite die Eisenbahngeleise laufen, so dass Einlagerung in den Silo 
und Verladung der Ware aus dem Schiff in den Waggon in 
direkter und bequemer Weise erfolgen kann, indem man gewöhn- 
lich die ganze Ladung des Schiffes, ohne Rücksicht darauf, ob und 
wieviel davon zur Weiterverladung per Eisenbahn kommt, vorerst 
in den Silo laufen lässt, da ja infolge der geschilderten Einfachheit 
der Manipulation die Entnahme aus dem Silo keinen besonderen 
Arbeitsaufwand — id est Kostenaufwand — verursacht. In dieser 
Vereinfachung des Umschlages liegt vielleicht die grösste Oekonomie 
des Silosystems. An Stapelplätzen wird dem Silo, um ihn für den 
Umschlag besser ausnützen zu können, gewöhnlich der Grundriss 
eines Rechteckes gegeben, wodurch die gleichzeitige Anstellung 
einer grösseren Anzahl von Schiffen beim Speicher möglich ist, 
während sonst, z. B. an blossen Eisenbahnstationen, die Quadratform 
vorgezogen wird, weil sie eine grössere Raumökonomie gestattet. 
Die Konservierung der Ware erfolgte beim Silosystem ursprüng'lich 
nach dem Prinzip der hermetischen Abschliessung, wie es in primi- 
tiver Form (Erdgruben) schon bei den alten Völkern im Gebrauch 
war und bei Völkern auf niederer Kulturstufe heute noch gebräuch- 
lich ist. Diese Methode ist aber nur dort rationell , wo das Ge- 
treide von Natur aus einen hohen Trockenheitsgrad besitzt. Wo 
dies nicht der Fall, muss das entgegengesetzte Prinzip angewendet 
werden, beständige Berührung mit frischer Luft. Bei den mo- 
dernen Silo werden gewöhnlich beide Prinzipien vereinigt, indem 
das Getreide von Zeit zu Zeit in neue Schächte geleitet wird, wobei 
eine Durchlüftung desselben stattfindet; oder es wird durch eigene 
Ventilatoren Luft durch die Schächte hindurchgepresst. 

Dem Silosystem gegenüber erscheint das Bodenspeichersystem 
sehr unökonomisch. Nicht nur ist, wie an den Wiener Lagerhäusern 



163] Wesen und Bedeutung der Lagerhäuser. 77 

exemplifiziert werden wird, die Lager- und Eonservierungstechnik 
langsam, kompliziert und teuer, es findet auch eine grosse Baum- 
verschwendung für Treppen, Rutschen, Gänge, für Aufbewahrung 
von Säcken, von Wiege-, Mess- und Beinigungsapparaten dtatt, 
welch letztere noch dazu nur äusserst primitiv sein können. 

Dafür, dass trotzdem das letztere in Europa allgemein ist, gibt 
SoHUMACHEB^ ciuc Sehr einleuchtende Erklärung: ,In den europäi- 
schen Ländern und insbesondere in Deutschland haben sich die 
Technik und Organisation des Handels der Massengüter in ihren 
Grundzügen bereits zu einer Zeit ausgebildet, als die Massengüter, 
noch fast ganz auf den Lokalmarkt beschränkt, nur in bescheidenem 
Masse Gegenstand des Austausches unter Völkern geworden, waren. 
Im grossen internationalen Handel, soweit von diesem die Bede 
sein konnte, herrschten die Waren hohen Wertes und geringen 
Volumens vor, die die grossen Kosten des meist langwierigen, 
mühseligen Transportes zu tragen vermochten. Diese hochwertigen 
Güter erscheinen auf dem Markte, ihrer materiellen Natur, inten- 
siven Wertigkeit und meist geringen Ausdehnung entsprechend, in 
EoUiform, in Ballen, Fässern, Eisten, Paketen. Nach dieser Ver- 
packungsart bildete sich die Technik des Handels- und Transport- 
gewerbes aus; sie ist in den Beft^rderungsmitteln, in den Hebe- 
vorrichtungen, in den Laderäumen berechnet auf ein dauernd und 
allseitig fest abgegrenztes Gut. Als nun der Handel mit Massen- 
gütern, insbesondere Getreide, allmählich sich entwickelte, um in 
unserer Zeit, beinahe plötzlich und unerwartet, in die fast vorderste 
Beihe des Weltgrosshandels zu treten, da reihte sich dieser neu er- 
blühende Handelszweig in Europa ganz selbstverständlich und un- 
bewusst und wirtschaftlich völlig korrekt als ein Glied in die be- 
stehende Handels- und Transportorganisation ein. Zu diesem Zwecke 
musste das bjjl und für sich fester Formen entbehrende Getreide der 
Eolliform angepasst werden und das geschah, indem man das Ge- 
treide in Säcke füllte, wie man zu diesem Zwecke Flüssigkeiten, 
insbesondere Petroleum in Fässer goss. Dieser äusserlich techni- 
schen Absonderung des Getreides entspricht auch eine ideelle, 
juristische . . . Abgesehen von einzelnen modernen Börseneinrich- 
tungen haben daher die Bechtsgeschäfte, insbesondere Kauf, Verkauf, 
Verpfandung, Depositum, im europäischen Getreidehandel dieselben 
Be<5htsformen wie hochwertige Eolliwaren; sie sind berechnet auf 



* Der Getreidehandel in den Ver. Staaten von Amerika und seine Organi- 
sation. Jabrb. für Nat.-Oekon. und Stat., III. Folge, Bd. X, S. 362. 



78 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [164 

eine juristische Species und entbehren — mit nur unwesentlichen 
Ausnahmen — jeder dem Getreidehandel besonderen Eigenart/ 

Ganz anders waren, wie wir gesehen haben, die Entwickelnngs- 
bedingungen in Amerika. Hier wurde von allem Anfange an die 
Eigenschaft der sogen. Trockenflüssigkeit des Getreides, d. i. der 
Eigentümlichkeit, dass es, obwohl hart und trocken, ohne Substanz- 
veränderung oder Wertverringerung beliebig geteüt oder zusammen- 
geschüttet werden kann, konsequent ausgenutzt. Von der Dresch- 
maschine weg bis zum Seehafen vollziehen sich Transport und 
Lagerung des Getreides im Zustande loser Schüttung, und dieses 
Prinzip wird zur grössten Wirkung gesteigert durch das Gradierungs- 
system, welches die kumulative Lagerung der verschiedenen Parteien 
gehörigen Getreidequantitäten und mithin grösste Raumökonomie 
gestattet. 

2. 
Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 

a) Die Lagerhäuser der ersten österreichischen Aktien- 
gesellschaft für öffentliche Lagerhäuser in Wien. 

Das erste öffentliche Lagerhaus in Wien und Oesterreich über- 
haupt wurde 1869, drei Jahre nach Erlass der Verordnung über die 
Errichtung öffentlicher Lagerhäuser, errichtet. Dass die Gründung 
nicht durch die zunächst berufenen Handolskreise, sondern durch 
ein Bankinstitut erfolgte, war wohl durch den allgemeinen Zu- 
stand der Volkswirtschaft begründet. Lagerhäuser, welche auf das 
reine Lagerhausgeschäft beschränkt sind, werfen, wie die Erfahrungen 
in anderen Ländern zeigen, selbst bei grösster Frequenz in der 
Regel nur ein Erträgnis von 3— 4^/o ab, weil sie nu^ durch grösste 
Billigkeit des Lagerzinses und der Manipulation den Handel be- 
stimmen können, sich ihrer zu bedienen. Ein solches Erträgnis 
war nach der damaligen Lage des österreichischen Kapitalmarktes 
um so weniger geeignet, das Privatkapital zur Lagerhausunter- 
nehmung zu reizen, als dieselbe ein mühsames und verantwortungs- 
volles Geschäft ist. Für die Banken dagegen bot die Lagerhaus- 
unternehmung Gelegenheit, ihre jeweiligen verfügbaren Ueberschüsse 
im Warenlombard zu fruktifizieren und dadurch, sowie durch 'den 
gleichzeitigen Betrieb des Warenkommissionshandels indirekt das 
Erträgnis der Lagerhausunternehmung zu steigern. Auch war da- 
mals — und nicht nur in Oesterreich — in den Banken das grösste 



165] I)ie öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 79 

Mass Yon TJntemelimungslust und vor allem eine yerhältnismässig 
grosse Menge ungebundenen Kapitales vereinigt, für die man An- 
lage in Handel und Verkehr fördernden Unternehmungen suchte. 
Gerade ein Lagerhaus schien aber von vorneherein die Verbindung 
mit einem kapitalkräftigen Institut zu erfordern, da Warendepots 
und Warenkredit unzweifelhaft zusammengehören. So entstand das 
Projekt einer Handelsbank in Wien, welches 1869 auch realisiert wurde. 

Das neue Institut bezeichnete es als seine Aufgabe, vor allem 
die Bedingungen zu schaffen, welche es ihm ermöglichen sollen, 
fördernd und unterstützend auf den Warenhandel Wiens einzu- 
wirken und namentlich durch die Errichtung von Entrepots dem 
Transithandel mächtige Impulse zu geben ^. Demzufolge wurde eine 
Bank-, eine Lagerhaus- und eine Warenabteilung errichtet und 
sollten die in ersterer einfliessenden Gelder ihre „höhere Verwertung'^ 
in den beiden anderen Abteilungen finden. Um nicht sofort mit 
grossen Investionen beginnen zu müssen, hatte die Bank die Macksche 
Zuckerfabrik am Schüttel erworben und diese zu einem Waren- 
magazine adaptiert. 

Nach den damaligen Wiener Verkehrsverhältnissen musste die 
örtliche Lage des Magazins als eine sehr günstige erscheinen, der 
Schüttel bildete einen Teil des „Wasserkörnermarktes'', der die 
ganzen Länden des Donaukanales umfasste, wo übrigens ein lebhafter 
Verkehr nicht nur in Feldfrüchten, sondern bis zur EröflEhung des 
Donaudurchstiches im Jahre 1876 auch ein grosser Teil des Verkehrs 
in Kaufmannsgütem siph abspielte. Ausserdem liegt das Objekt an 
der Wiener Verbindungsbahn. 

Die Frequenz des neuen Lagerhauses bewies sofort, dass die 
Unternehmung eine gedeihliche war. Die Räume waren das ganze 
Jahr über mit Waren der verschiedensten Art gefüllt, wie Baum- 
wolle, Kaffee, Reis, Südfrüchte, vor allem aber mit Getreide und 
Mehlprodukten, die den weitaus überwiegenden TeU, nämlich zu- 
sammen ca. 50 ^/o des Verkehrs ausmachten. 

Die Bank gab auf die eingelagerten Waren Vorschüsse; da sie 
selbst den Warenhandel betrieb, war sie in der Lage, den Wert 
der Waren richtig und sicher zu taxieren und mit der Belehnungs- 
quote ziemlich hoch hinaufzugehen , um so mehr, als ja die Waren in 
ihrer Verwahrung blieben; auch sonst ging die Verpfändung rasch 
und glatt von statten. Die Belehnung wickelte sich im Eonto- 
korrentverkehr mit dem Einlagerer ab. 



* Jahresberichte 1869. 



80 ^6^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [166 

Infolge der Bequemlichkeiten, welche das öffentliche Lagerhaus 
der Warenspekulation in Wien bot, schoss diese plötzlich üppig in 
die Halme und das Spekulation3fieber, welches die^e Epoche des 
Gründertums, in der wir uns befinden, allgemein beherrschte, griff 
auch auf den Warenhandel über. Es entspricht nur den al^e- 
meinen wirtschaftlichen Tendenzen und Anschauungen der damaligen 
Epoche, wenn die Bank, als «die gesunde Grundlage des Yorschuss- 
geschäftes^ die Spekulation bezeichnet, während ihr die Verpfan- 
dung von Waren durch den regulären Handel als Symptom unge- 
sunder Wirtschaftsverhältnisse erscheint; thatsächlich benützte der 
damals noch sehr unentwickelte Handel den Lombardkredit haupt^ 
sächlich nur, wenn die Not einer Krise ihn dazu drängte, in nor- 
malen Zeiten behalf man sich mit dem Personalkredit allein. In- 
folgedessen bildete sich in Eaufmannskreisen mit der Zeit die An- 
schauung heraus, dass die Lombardierung ein Zeichen abnormalen 
Zustandes des ihn benutzenden kaufmännischen Betriebes sei, dass 
sie kein kaufmännischer Akt, sondern ein Pfandleihgeschäft sei, was 
in dieser Allgemeinheit, wie wir noch erörtern werden, natürHch ein 
Vorurteil war. 

So wurde das Lagerhaus vom Handel hauptsächlich nur zur 
Lagerung benützt, und der Rechenschaftsbericht der Bank weist mit 
Genugthuung auf die „dauernde Zunahme der unbevorschussten 
Lager '^ als einen Beweis dafür hin, einem wie lebhaften Bedürf- 
nisse des Handels das neue Lagerhaus entspreche. Das Wachstum 
der Lagerbewegung war in den. ersten Jahr.en rapid. 

Von 269 229 Zollzentnern im ersten Betriebsjahre hatte sich der 
Verkehr des Lagerhauses, das auch mit Spiritusreservoiren aus- 
gestattet war, 

1870 auf 573135 Zollzentner und 1135 905 «/o Spiritus, 

1871 „ 868054 , . , 1458 271^/0 ^ 
gehoben, im Jahre 1872 wieder um 20®/o, und die Bank konnte 
mit Zu- und Neubauten der Steigerung des Warenandrangs kaum 
Herr werden. 

Als in der Krise von 1873 die Manufakturbranche um Lom- 
bardkredit an die Bank herangetreten war, wurde der Bau eines 
Magazins fQr Manufakturwaren, Schafwolle und Felle, mit dem Fort- 
schreiten der DonaureguHerungsarbeiten die Errichtung von Maga- 
zinen auf den neuen Regulierungsgründen an der Donau selbst in 
Aussicht genommen. Verhandlungen mit der Donanregulierung«- 
kommission wurden gepflogen und ein Grund gepachtet. Indes ixug 
die Handelsbank damals schon den Todeskeim in sich; sie hatte 



167] ^io öffentlichen Lagerhäuser in Wien. gl 

sich in Warenspekulationen für eigene Rechnung in grossem Um- 
fange eingelassen und Verluste erlitten. Im Jahre 1876 liquidierte 
sie und das Lagerhaus ging in den Besitz der Unionbank über, 
welche auch das Warenkommissionsgeschäft der Handelsbank über* 
nahm. 

Durch die Eröffnung des Donaudurchstichs erlitt das Lager« 
haus eine Einbusse, indem der Wasserverkehr an den neuen Landungs* 
platzen sich konzentrierte und der Kanal gänzlich yerödete. Von 
der Errichtung von Lagerhäusern am Donaudurchstich nahm die 
Bank Abstand, da die Stadtgemeinde selbst daran ging. Um aber 
doch auch an dem durch die Donau yermittelten Getreideverkehr 
teilnehmen zu können, pachtete sie von der Dampfschiffahrt zwei der 
von dieser errichteten Magazine mit einem Gesamtfassungsraume von 
115000 Meterzentnern, während die Lagerhäuser in der Franzens- 
brückenstrasse fortab fast ausschliesslich Eaufmannsgüter beher- 
bergten, wozu sie durch ihre günstige Lage (an der Verbindungs- 
bahn) wiederum besser geeignet waren, als die von den Bahnhöfen 
entlegeneren Lagerhäuser an der Donau. 

Im Jahre 1889 wandelte die Unionbank, um sich ihres Waren- 
kommissionsgeschäftes , welches nach dem neuen Lagerhausgesetz 
mit der Lagerhausunternehmung unvereinbar war, nicht begeben zu 
müssen, das Unternehmen in eine ,» Aktiengesellschaft für 
öffentliche Lagerhäuser'' um. 

Unter dieser Firma wird das Unternehmen heute noch betrieben 
und bildet das grösste und in seiner Art bestorganisierte Wiens. 

Die der Lagerhausunternehmung gehörigen Objekte in der 
Franzensbrückenstrasse erheben sich auf einer Grundfläche von 
13 996 qm und besitzen eine Belegfläche von 22 237 qm. Es sind 
Rohziegelgebäude mit Stock und Dachgeschoss, manche auch zwei- 
und mehrstöckig; Aufzüge stellen die Verbindung zwischen dem 
Boden und den Etagen her. Neuestens hat die Gesellschaft auch 
ein grosses, modern eingerichtetes Kühlhaus mit einer Fassungs- 
fähigkeit für 32 000 Meterzentner eröffnet. Die Tarife für Getreide- 
lagerung und Manipulation sind denen des städtischen Lagerhauses 
gleich. Für den Getreideverkehr können die Anlagen in der 
Franzensbrückenstrasse wieder erhöhte Bedeutung gewinnen, wenn 
der Kanal, wie die Techniker versprechen, durch die Regulierung 
thatsächlich für grössere Schiffe praktikabel wird. 



Wiener Stuäien. III. Bd. 2. Heft. 6 [12] 



82 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [168 

b) Die Lagerhäuser der Stadt Wien. 

Dank der geschilderten Entwickelung seiner Organisation, nahm 
der Wiener Getreidehandel von den siebziger Jahren ab einen 
mächtigen Aufschwung, zu welchem insbesondere die Erö£Fnung des 
neuen Donaudurchstichs im Jahre 1876, durch welche Wien un- 
mittelbar an der Donau und doch nahe an der Stadt gelegene 
Landungsplätze erhielt, und die Errichtung von Lagerhäusern auf 
denselben beigetragen hat. Als zuerst die Donaudampfschiffahrts- 
gesellschafb Magazine in grösserem Stile errichtet hatte, trat so- 
fort eine lebhaftere Bewegung im Getreideverkehr ein und der 
Hinweis darauf machte die Kommune der durch die Fruchtbörse 
gegebenen Anregung des Getreidehandels geneigt, die günstige 
Gelegenheit, welche durch das Vorhandensein eines zu billigen 
Bedingungen erwerbbaren, für Lagerhauszwecke sehr geeigneten 
Objektes, der von der Weltausstellung her übriggebliebenen grossen 
Maschinenhalle, gegeben war, für die Errichtung eines öffentlichen 
Lagerhauses wahrzunehmen. 

In der Sitzung vom 7. Januar 1876 beschloss der Gemeinde- 
rat, ein kaufmännisches Institut — das Lagerhaus der Stadt Wien — 
zu gründen, und nahm für diesen Zweck die von den Weltausstellungs- 
bauten herrührende Maschinenhalle in Aussicht. 

Die Gemeinde fand bei allen in Betracht kommenden Faktoren 
weitgehende Unterstützug. Das Hofärar gestattete die Benützung 
der ihm gehörigen Grundfläche, auf welcher der grösste Teil der 
Maschinenhalle sich erhebt. Den restlichen Teil der Grundfläche, 
sowie die zur Herstellung einer Bahnverbindung zum Donauufer 
und die für einen Landungsplatz nötigen Territorien überliess die 
Donauregulierungskommission der Gemeinde gegen einen massigen 
Pacht; ebenso überliess ihr das Handelsministerium die ihm ge- 
hörige Maschinenhalle gegen einen billigen Pachtzins. 

Am 16. August 1876 wurde mit der Adaptierung der Maschinen- 
halle und mit dem Bau der Geleiseanlagen begonnen; Reglement 
und Tarife wurden festgestellt, das Lagerhaus als eine Bahnstation 
erklärt, eine Telegraphenlinie zu demselben gelegt und eine Tele- 
grapheustation , sowie eine Expositur des Hauptzollamtes darin 
errichtet, nachdem die Eonzession, welche dem neuen Lager- 
hause mit Erlass des Handelsministeriums vom 30. September 1876 
erteilt wurde, auch den Betrieb eines Freilagers umfasste. Am 
23. Oktober 1876 wurde das neue Lagerhaus eröffnet. Das Lager- 
haus der Stadt Wien besteht aus zwei, durch Schienenstränge mit 



169] Die öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 83 

einander verbundenen Komplexen, aus der Prateranlage mit der 
Maschinenhalle und aus der Quaianlage, mit dem Landungsplatze 
an der Donau. 

Die Maschinenhalle war 1873 gelegentlich der Weltausstellung 
und f&r die Zwecke derselben mit einem Kostenaufwand von 
1448000 Gulden errichtet worden und ist in ihrer Art eines der 
grossartigsten Gebäude der Welt. Bei einer Länge von rund 800 
und einer Breite von rund 50 Metern bedeckt sie eine Fläche von 
40000 Quadratmeter, ist durch, vier massive Brandmauern in fünf 
Abteilungen (Magazine I, II, III, lY, V) geteilt und besteht aus 
einem 28 Meter breiten Mittelschiffe von 20 Meter Firsthöhe und 
zwei Seitenschiffen, welche durch vier Pfeilerreihen zu je 110 Pfeilern 
gebildet sind. An den vier Ecken der Halle sind die Kanzleien der 
Verwaltung, sowie jene des Zoll- und Bahnamtes und die Wohn- 
räume für die Finanzwache und das Hauspersonale eingebaut; ausser- 
halb derselben befinden sich ein Portier- und ein Waghaus, ein 
einstöckiges Administrationsgebäude und die Restaurationslokalitäten. 

An der Südseite der Halle ist die Zufahrtsstrasse, an der Nord-* 
Seite derselben der Bahnhof angelegt ; dieser wird von fünf Längen- 
geleisen durchzogen, wovon über Drehscheiben acht Quergeleise in 
die Halle einmünden und ermöglicht die gleichzeitige Ladung von 
70 Waggons in gedecktem Räume und einer ebenso grossen Anzahl 
längs der äusseren Rampen, die auf Achsenhöhe der Waggons 
gehoben sind. Von dem Hauptstrange gehen Seitengeleise aus, 
welche die Verbindung mit der Donauuferbahn in der Richtung 
gegen die österreichisch-ungarische Staatseisenbahn (östlich) und der 
Nordbahn (westlich) sowie mit dem Landungsplätze an der Donau 
herstellen. 

Die Ausführung des ganzen vom Stadtbauamte ausgearbeiteten 
Projektes der Adaptierung der Maschinenhalle und Herstellung der 
Bahnanlage erforderte einen Kostenaufwand von fl. 411524. Die 
Magazine der Maschinenhalle werden infolge ihrer entfernten Lage 
vom Strome hauptsächlich zur Aufnahme bahnanlangender Waren 
verwendet, verschiedener Kaufmannsgüter und Gerste, welche Frucht 
zumeist mittels Eisenbahn in den Verkehr kommt. 

Um Waren, welche einer gleichmässigen Temperatur bedürfen, 
rationell unterbringen zu können, wurde im Jahre 1877 ein amerika- 
nischer Keller (Magazin VI) aus doppelten Holzwänden, mit eisernen 
Gerippen und Dachpappedeckung im Kostenbetrage von ca. fl. 8683 
hergestellt. Das Magazin dient heute als Säckemagazin. 

Nachdem gleich anfangs die Frequenz des neuen Lagerhauses 



84 Der Wiener Geireidehanddl und seine Technik. [170 

SO stark war, dass die Yorhandenen Lagerräume nicht ausreichten, 
gelangten im Jahre 1878 auf dem schon ursprünglich dafür in 
Aussicht genommenen Landungsplatze am Donauufer zwei neue 
massive Gebäude (Magazine VIII und IX) zur Errichtung, deren 
jedes 133 m lang, 12,20 m breit durch eine Brandmauer abgeteilt 
und etagiert ist. Die gesamten Baukosten, inklusive eines Admini- 
strationsgebäudes und eines Waghauses, welche am Eingange der 
Anlage errichtet wurden, beliefen sich auf fl. 19485961. 

Auch diese Zubauten genügtßn nicht zur Bewältigung des 
Verkehrs, so dass wiederholt in Zeiten stärkeren Warenandrangs 
die Weltausstellungsrotunde von der Gemeinde in Miete genommen 
werden musste. 

Im Jahre 1883 wurde daher ein grosses Magazin (X) am 
Landungsplatze mit einem Eostenaufwande von Q. 5715317 er- 
richtet, welches 200 X 30 m misst und ein mit Dachpappe gedeckter, 
in Perronhöhe auf Pfählen ruhender Holzbau ist. 

Auch die Magazine II, III und IV der Maschinenhalle waren 
nach und nach auf Perronhöhe gehoben worden. 

Im Jahre 1884 erhielt auch die Prateranlage zwei neue kleine 
Magazine aus Holz (VII 182 m^ und XII mit Unterteilung und 
Keller versehen 384,50 m^) sowie ein Material- und Spritzendepot. 
Das Magazin XII wurde späterhin untermauert und damit ausser 
der vollen Sicherheit für das Magazin noch ein Eellerraum im 
Ausmasse von nahezu 400 m^ geschaffen. 

Ferner wurden im Jahre 1887 auf Anregung der Wiener Frucht- 
und Mehlbörse Reservoirs zur Einlagerung von Spiritus erbaut. 
Fünf cylinderförmige Reservoirs, sowie die dazu gehörigen Ein- und 
Ausgangsbassins stehen in einem isolierten, in Rohbau ausgeführten 
mit Wellblech gedeckten Gebäude von 37 m Länge, 17,50 m Breite 
und 15,60 bezw. 14,40 'm Höhe; die Reservoirs ruhen auf mit 
Eisentraversen tiberlegten, gemauerten Pfeilern und besitzen bei 
6 m Durchmesser und 7,20 m Höhe eine Fassungsfahigkeit fUr je 
200000, zusammen für 1 Million Liter. Sie sind ganz aus Eisen 
konstruiert, mit modernen Manipulationseinrichtungen ausgestattet 
und erforderten einen Eostenaufwand von fl. 52957,73. 

Im Jahre 1889 erwarb die Oemeinde die Lagerhauskonzession 
auf Orund des neuen Lagerhausgesetzes vom 1. April 1889. 

Das städtische Lagerhaus besass damals eine Gesamtgrundfläche 
von 218 309,60 m^ wovon 55409 m^ verbaut waren. Die innere 
Belegfläche betrug im Prater und am Quai zusammen 55870 m' 
der ungefähre Fassungsraum 400000 — 500000 Meterzentner. 



171] IWe öflPentlichen Lagerhäuser in Wien. 85 

Seit der Mitte der achtziger Jahre wurden nur noch folgende 
Erweiterungen und Verbesserungen durchgeführt. 

Im Jahre 1893 bekam die Gemeinde durch Vermittelung des 
k. k. Handelsministeriums den an ihre Lagerhauslände anstossenden 
ehemals Pfeifferschen Holzplatz, für welchen die Donaudampfschiff- 
fahrtsgesellschafb bis dahin einen Pachtzins von fl. 7175 entrichtet 
hatte, um den Anerkennungszins von fl. 20 jährlich von der Donau- 
regulierungskommission in Pacht und erweiterte dadurch ihren 
Landungsplatz von 626 auf 1031,50 m. Durch Schienenstränge 
wurde der neue Landungsplatz mit dem alten und mit der Donau- 
uferbahn verbunden. Die Schienenstränge der beiden Landungs- 
plätze erreichten damit eine Gesamtlänge von 4930 m und sind 
mit 25 Weichen, 5 Drehscheiben, 2 Geleisdurchschneidungen und 
2 Waggonbrücken versehen; bei Freilassung je eines Oeleises für 
die Ein- und Ausfahrt der Züge gestatten sie die gleichzeitige 
Aufstellung und Verschiebung von insgesamt 220 leeren und be- 
ladenen Eisenbahnwaggons, wobei noch einiger Raum für die Zu- 
und Abfuhr von Waren mittels Strassenf Uhrwerken bleibt. 

Die k. k. priv. Staatseisenbahngesellschaft unterhält im Lager- 
hause der Stadt Wien eine Station, für deren Erhaltung das Lager- 
haus eine jährliche Pauschalvergütung zu leisten hat. Den Bahn- 
dienst muss das Lagerhaus in eigener Regie besorgen. Das Pauschale 
und die Kosten des Bahndienstes sind in Form einer Waggonbei- 
stellungsgebühr von 2 Er. pr. Waggon auf das Publikum übergewälzt. 
Nachdem das fast alljährlich bei Wien eintretende Hochwasser die 
in den Pratermagazinen eingelagerten Waren nicht nur gefährdet, 
sondern wiederholt den Fussboden der Magazine erreicht und die 
eingelagerten Waren beschädigt hatte, wurde die Fussbodensohle 
einiger Magazine so weit gehoben, dass nun sämtliche Magazine der 
Quaianlage 6 m über dem örtlichen Nullpunkte des Douauwasser- 
spiegels liegen. Aber selbst das geschah erst, nachdem zu wieder- 
holten Malen das Hochwasser die eingelagerten Waren der Eauf- 
leute gefährdet und teilweise beschädigt hatte. 

Der Verkehr des städtischen Lagerhauses beschränkt sich nicht 
prinzipiell auf Getreide; faktisch aber macht der Oetreideverkefar 
des städtischen Lagerhauses mehr als neunzig Perzent seines 
Gesamtverkehrs aus; an dieser Einseitigkeit des Verkehrs tragen 
die später zu berührenden Tarifverhältnisse und das Belehnungs- 
verbot Schuld. 

Der Getreideverkehr zeigt seit der Eröffnung des Lagerhauses 
eine kontinuierliche Steigerung, welche besonders lebhaft wurde. 



gg Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [172 

als im Jahre 1884 das Lagerhaus die Beexpeditionsbegünstigung 
erhielt. 

Es betrug im Jahresdurchschnitt der Qinquennien in Meter- 
zentnern : 

In den Jahren dei 

1877-1881 
1882—1886 
1887—1891 
1892—1896 
1897—1901 ») 

Der Anteil der verschiedenen Getreidegattungen an diesem 
Verkehr hat im Laufe der Jahre einige Verschiebungen erfahren, 
welche die folgende Uebersicht zeigt. 

An dem Oesamtverkehr partizipierte: 



Sesamtyerkehr 


die mittlere 




Tagesbewes^g 


1 227 060 


4150 


2 258 755 


7 500 


3 427 018 


11428 


4 382 660 


14 608 


4 944009 


16461 



In den Jahren 


Weizen 


Roggen 


Gerste 


Futtergetreide 






mit Prozenten 




1877—1881 


29,81 


9,33 


10,42 


81,68 


1881—1886 


82,79 


7,46 


17,48 


23,90 


1887-1891 


34,48 


8,61 


18,22 


27,61 


1892-1896 


24,89 


13,35 


13,25 


85,94 


1897—1901 


17,46 


18,83 


11,51 


46,40 



Auffallend ist der Rückgang des Weizen- und des Oerste- 
Verkehrs. Der erstere ist auf die Verringerung des Weizengeschäftes 
in Wien zurückzuftthreu, eine Folge der durch die Konkurrenz der 
ungarischen Mühlenindustrie bewirkten starken Beeinträchtigung der 
Mahlthätigkeit der österreichischen Mühlenindustrie. Die stärkere 
Pflege, welche dagegen der Roggenmüllerei gewidmet wurde, kam, 
wie die obigen Ziffern zeigen, dem Roggenverkehr des Lagerhauses 
zu statten. Der Rückgang des Gersteverkehrs trotz des steigenden 
Oersteexports ist durch den Mangel zweckentsprechender Einrich- 
tungen verschuldet, wovon später die Rede sein wird. Ein Licht- 
punkt in der Verkehrsstatistik des städtischen Lagerhauses ist der 
Verkehr in Futtergetreide. Der steigende Import von Futtergetreide 
aus Ungarn und den Donaustaaten kommt hauptsächlich Wien zu 
statten, weil derselbe die Eisenbahnfracht nicht verträgt und die 
Wasserstrasse benutzt. 

Nach Verkehrsarten spezifiziert entfällt im Eingangsverkehr 
des Lagerhauses auf die Schiffahrt ein beträchtlich grösserer Anteil 
als auf die Eisenbahn und vollends als auf das Fuhrwerk, wenn 



^ Der Verkehr des Jahres 1901 ist nach dem Durchschnitt des voran- 
gegangenen Quinquenniums berechnet. 



173] ^i® öffentlichen Lagerhäuser in Wien. g7 

anch das Verhältnis der Anteile schwankt, je nachdem mehr die an 

den Eisenbahnstrecken oder die an den Wasserstrassen gelegenen 

Getreideexportgebiete nach Wien gravitieren. Im Ausgangs- 

verkehr dagegen figuriert in erster Beihe die Eisenbahn, dann 

das Strassenfuhrwerk , die Schiffahrt nur mit einem verschwindend 

geringen Perzentsatz. Im Quinquennium 1896 — 1900 beträgt der 

Anteil der einzelnen Verkehrsarten in Prozenten: 

per Bahn per Fuhre per Schiff 

Eingang 37,85 2,08 58,25 

Ausgang 67,45 30,26 2,27 

Manche dieser Anteile haben übrigens im Laufe der Jahre 
interessante Veränderungen erfahren. So beträgt im Eingangs verkehr 
der Anteil des Fuhrwerkes, welcher im Durchschnitt des Quin- 
quenniums 1877 — 1881 noch auf 14,84 Prozent sich belief, im Quin- 
quennium 1896 — 1900 nur mehr 2,08 Prozent; die Zufuhren aus 
der Umgebung Wiens waren früher stärker. 

Das bisherige finanzielle Ergebnis der städtischen Lagerhaus* 
Unternehmung war relativ und absolut ein durchaus günstiges für 
die Kommune und zu weiterer Unternehmung aufmunternd. Die 
Erträgnisse sind infolge der Abhängigkeit des Qetreideverkehres 
von den Geschäftskonjunkturen stark schwankende, doch ist seit 
dem Jahre 1884 der Oebarungsüberschuss des Lagerhauses, welcher 
für Amortisation und Verzinsung erübrigte nie unter 4,17 ^/o ge- 
sunken und erreichte in einem Jahre sogar 13 ^/o. Im Durchschnitt 
1885 — 1900 ergab sich ein U.eberschuss für Amortisation und Ver- 
zinsung von durchschnittlich 6,06 ^/o. 

Das gesamte Anlagekapital des Lagerhauses war 1896 bereits 
vollständig getilgt. Die Ueberschüsse, welche seither erzielt werden, 
stellen reinen Profit dar, im ganzen bisher 689260 Kronen. 

Es soll indes nicht unerwähnt bleiben, dass dieses günstige Er- 
gebnis wesentlich auch dadurch bedingt war, dass die Errichtung des 
grössten Objektes, der Maschinenhalle, die Lagerhausunternehmung 
nichts gekostet hat, also keine Verzinsung des darin investierten 
Kapitals aufzubringen war. 

c) Die Technik der Wiener Lagerhäuser. 

Die Wiener Getreidelagerhäuser sind nach Schüttboden- 
system eingerichtet. Die Magazine sind durch horizontale Böden 
in Etagen geteilt, die durch Stiegen miteinander verbunden sind. 
Luken und Fenster lassen Licht und Luft zutreten. Das Getreide 
wird auf den Boden aufgeschüttet oder in Säcken aufgeschichtet; 



gg Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. [174 

letzteres aber gewöhnlich nur dann, wenn es sich um kleinere 
Quantitäten und eine Töraussichtlich kurze Dauer der Lagerung 
handelt, weil sonst oft nachträglich das Getreide doch noch auf- 
geschüttet werden muss. Die Konservierung geschieht hier näm- 
lich durch häufiges , Umstechen ** ; das Getreide wird mit Schaufeln 
umgeworfen, so dass die unten lagernden Schichten empor- und in 
Berührung mit der frischen Luft kommen. 

In den Schi£Een langt das Getreide zumeist in loser Schüttung 
an. Die zahlreich vertretenen Schiffe älterer Bauart bereiten der 
Ausladung grosse Schwierigkeiten. So sind insbesondere die sog. 
9 Dachschlepper ^ gefürchtet. Die Bedachung derselben bildet kein 
flaches Verdeck, sondern steigt von beiden Seiten schräg an, oben 
in eine Kante verlaufend. Steht in der mittleren Reihe — die zur 
Ausladung bestimmten Schlepper sind in mehreren Reihen hinter- 
einander aufgestellt — ein derartiger Schlepper, so kann der Träger 
nicht — wie bei Verdeckschleppern — durch üeberschreiten der 
Dächer der vorne stehenden Schlepper zu den dahinter stehenden 
gelangen. 

Ein- und Auslagerung des Getreides geschehen durch Sack- 
träger. Eine Gilde von Schiffsausladern wie an anderen Stapel- 
plätzen gibt es in Wien nicht, nur vereinzelt finden sich Unter- 
nehmer, welche die Ausladung in Generalakkord nehmen. Ihre 
Dienste werden insbesondere dann in Anspruch genommen, wenn 
die Ausladung des Schiffes nicht bei einem öffentlichen Lagerhaus^ 
erfolgt, und demzufolge der Kaufmann die Uebergabe überwachen 
lassen muss. 

In der Regel wird mit dem Umschlag der Ware ein öffentliches 
Lagerhaus oder die Schiffahrtunternehmung betraut; nur diejenigen 
Grosskauf leute, welche ihre Privatspeicher haben, besorgen denselben 
in eigener Regie. 

Die Sackträger fassen das Getreide, soweit es nicht schon sackiert 
ankommt, in Säcke auf und bringen jeden einzelnen Sack auf die 
am Ufer aufgestellte Dezimalwage. Das Abwägen wird seitens der 
Transportunternehmung durch den Steuermann, seitens des Em- 
pföngers durch eine Vertrauensperson kontrolliert; wenn die Aus- 
ladung durch ein öffentliches Lagerhaus erfolgt, ersetzt das von der 
Lagerhausuntemehmung aufgestellte Ueberwachungsorgan, gewöhn- 
lich ein Arbeiter höherer Kategorie, beiden Teilen das Kontrolle- 
organ. 

Oft muss beim Abwägen eine sog. „Egalisierung^ yor- 
genommen, d. h. der Inhalt aller Säcke auf ein bestimmtes, von den 



175] I^i® öffentlichen Lagerhäuser in Wien. 89 

Parteien vorgeschriebenes Gewicht reguliert werden, was die Aus- 
ladung verzögert. Diese Egalisierung wird insbesondere von den 
kleinen Mühlen, an welche das Getreide von Wien aus versendet 
wird, aus betriebstechnischen Gründen verlangt; sie ersetzt ihnen 
bei Zusammenstellung des Mahlgutes die Wage, andererseits ist sie 
Folgeübel eines später zu berührenden Missstandes. 

Nach erfolgtem Abwägen wird der Sack zugebunden, der Last- 
träger hebt ihn auf seine Schultern und keucht damit über ein 
schmales Brett, welches vom Schiff auf das Ufer gelegt ist, zu dem 
Waggon oder zu dem Fuhrwerk oder in das Magazin, wo er, wenn 
das Getreide in einer der oberen Etagen gelagert wird, die hölzerne 
oder eiserne Treppe hinauf klimmt, was nicht gefahrlos ist, da die 
auf den Stufen ausgestreuten Körner leicht ein Ausgleiten herbei- 
führen. Da die Lagerung immer nur eine Unterbrechung des Trans- 
portprozesses ist und der Transport vorwiegend in Säcken erfolgt, 
so wäre es * ökonomisch , das in Säcken aufgefasste Getreide nun 
bis zur Verladung auch darin aufzuschichten; das geht, wie wir 
wissen, mit Rücksicht auf die Eonservierung nicht an; das Getreide 
muss zunächst wieder ausgeschüttet werden und, um in einem 
Magazine verschiedene Getreideposten unter Wahrung der Identität 
unterbringen zu können, werden dieselben durch improvisierte Bretter- 
wände vpneinander abgesondert. Soll das Getreide aus dem Lager- 
hause expediert werden, so muss es zunächst wieder in Säcke auf- 
gefasst werden, selbst dann, wenn der Transport in einem rinfusa- 
Waggon erfolgt, weil es anders nicht in den Waggon gebracht 
werden kann. Daher sind die Manipulatipnsgebühren auch bei 
rinfusa-Verladung nicht billiger, die Oekonomie des Transportes in 
loser Schüttung illusorisch. 

Einfacher ist die Ein- und Ausladung bei Eisenbahnwaggons. 
Auf Geleisen, die in das Innere der Magazine führen, rollt der 
Waggon auf eine automatische Brücken wage, wo er samt dem In- 
halte gewogen wird. Durch Abzug des auf der Aussenfläche des 
Waggons angeschriebenen Eigengewichtes desselben wird dann das 
Gewicht der Ware festgestellt. Der Fussboden des Magazins-Parterre 
ist gewöhnlich auf Rampenhöhe gehoben, so dass die Träger leicht zu 
dem Waggon gelangen können. Wie unrationell das Bodenspeicher- 
system an und für sich ist, soweit die Manipulation von geschüttetem 
Getreide in Betracht kommt, geht aus der Höhe der Gebühren 
beim städtischen Lagerhause (bei den anderen sind sie so ziemlich 
dieselben) hervor. Die Manipulationsgebühr für die Einlagerung 
beträgt : 



90 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [176 

aus dem Waggon (also für sackierte Ware) 4 Heller 

per 100 kg, 
aus dem Schiffe (für rinfusa-Ware) 12 — 14 Heller 

per 100 kg. 
Für geschüttetes Getreide ist eben nur der Silo mit Elevator 
rationell. 

3. 

Die Privatdepots. 

Die Magazine der Transportunternehmungen. 

Ausser den öffentlichen Lagerhäusern haben wir in Wien für 
den Oetreideverkehr noch eine Anzahl von Privatmagazinen, welche 
nur den Bedürfnissen einzelner Eaufleute dienen, und die Magazine 
der Transportanstalten, welche als Privatlagerhäuser im Sinne des 
Gesetzes vom 1. April 1875 aufzufassen sind. 

Grössere Privatmagazine für den Getreideverkehr in Wien sind 
vorhanden am Praterquai. Zunächst die Magazine der Donau dampf- 
schiffahrtsgesellschaft. Es sind sieben in Ziegelmauerwerk auf- 
geführte Gebäude bestehend aus einem Parterregeschoss, einem ersten 
Stock und in der Regel noch einem Dachboden, welche durch 
hölzerne oder eiserne Stiegen miteinander verbunden sind. 

Der Parterrefussboden liegt über der höchsten Hochwassercote. 
Sechs von diesen Magazinen befinden sich am Praterquai, eines in 
Zwischenbrücken. Ihre Gesamtbelagfiäche beträgt 26300 m^ mit 
einem Fassungsraum von 1375000 Meterzentner, und ihre Er- 
richtung verursachte einen Kostenaufwand von 1056662 Kronen. 

Innere maschinelle Einrichtungen wie Aufzüge etc. sind nicht 
vorhanden, das Getreide wird von den Arbeitern in Säcken über 
die Stiegen getragen. 

Der grössere Teil dieser Magazine ist an einzelne Kaufleute 
und an die Aktiengesellschaft für öffentliche Lagerhäuser verpachtet. 

Die ungarische Fluss- und Seeschiffahrtsgesellschaft 
besitzt zwei Magazine mit einem Fassungsraum von ca. 30 000 Meter- 
zentner. 

Die süddeutsche Donaudampfschiffahrtsgesellschaft 
besitzt ein kleineres Magazin mit ca. 16000 Meterzentner Fassungs- 
fähigkeit. 

Die Getreidemagazine der k. k. Staatsbahnen in Penzing 
haben eine Belegfläche von 1550 m^ und einen Fassungsraum von 
140000 Meterzentner. 



177] I^id Mängel der öfifentlichen Lagerhauser. 91 

Auf dea übrigen Bahnhöfen dienen die Güterschuppen des all- 
gemeinen Güterverkehrs auch dem Getreideverkehr; infolgedessen 
ist eine Einlagerung in der Regel nur in Säcken möglich. 

Die Gebühren in diesen Privatlagerhäusern der Eisenbahnen 
sind ungefähr dieselben wie in den öffentlichen. 



4. 
Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 

a) Technische Mängel. 

Die am Wiener Praterquai vorhandenen Lagerräume sind für 
den Verkehr unzulänglich. Bereits in der mehrerwähnten Enquete 
des Jahres 1890 bezeichneten die Kaufleute den Zubau von Lager- 
räumen für mindestens ein- bis anderthalb Millionen Meterzentner 
als unaufschiebbar. Bei halbwegs stärkerer Inanspruchnahme der 
Lagerung, wie sie die Konjunktur des Geschäftes öfter mit sich 
bringt, sind die Lagerräume bald überfüllt und man ist genötigt, 
mit neuanlangender Ware fremde Lagerplätze aufzusuchen, woraus 
dem Kaufmann grössere oder geringere materielle Nachteile, in 
jedem Falle aber Sorge, Unbequemlichkeiten und Yerdruss mit den 
Kunden erwachsen. 

In ihrer Einrichtung entsprechen weder die am Praterquai be- 
findlichen Privatlagerhäuser noch das Lagerhaus der Stadt Wien 
den technischen Anforderungen des Getreidehandels. 

Sie enthalten keinerlei maschinelle Einrichtungen für die Reini- 
gung des Getreides, dieselbe wird mit Handreutern durchgeführt 
und erfordert ebensoviele Tage, als an anderen Orten Stunden. 

Der Gersteverkehr musste von Wien abfallen, weil es hier an 
einer mechanischen Gersteputzerei zur Herrichtung der Ware für 
den Export, wie solche in anderen, selbst in kleinen Lagerhäusern 
vorhanden sind, zum Beispiel in Marburg, gebrach, ja selbst 
an Raum zu den gewöhnlichsten Manipulationen. In Ungarn war 
man beflissen, den Handel, den Wien so unaufmerksam behandelte, 
heimisch zu machen. In Budapest wurde 1893 im Elevator eine 
grosse Getreidedampfputzerei eingerichtet. Die Wirkung stellte sich 
sofort ein, wie die nachfolgende Vergleichung zeigt. Es wurden 
eingelagert 

1891 1892 1893 

Gerste Meterzentner 163619 183803 465678 



92 Der Wiener Getxeidehandel und seine Technik. [17g 

nnd umgekehrt hat das Lagerhaus der Stadt Wien, welches keinerlei 
maschinelle Vorrichtungen zur Reinigung von Gerste besitzt, von 
der Steigerung des Gersteexports nicht nur nicht profitiert, sein 
Gersteverkehr hat sogar einen Rückgang erlitten. 

Die Eonservierungstechnik ist primitiv und langsam. An 
manchen Orten, wo Speichersystem besteht, hat man eine vernünftige 
Vereinfachung der Konservierungsmethode durch sog. Ries elanlagen 
herbeigeführt. In dem Boden der Etage des Magazins sind in ge- 
wissen gleichmässigen Abständen verschliessbare Luken angebracht, 
durch welche man das Getreide herabrieseln lassen kann, wobei alle 
Körner mit der Luft in Berührung kommen. 

Dazu gehören dann allerdings Elevatoren, welche das Getreide 
wieder emporheben. An solchen gebricht es in den Wiener Maga- 
zinen vollständig, ebenso an Aufzügen, die Lagerhäuser der Aktien- 
gesellschaft in der Franzensbrückenstrasse ausgenommen. Infolge* 
dessen müssen die Säcke über die Treppen hinaufgetragen werden. 

Ebenso irrationell ist die Ausladung der Schiffe auf manuellem 
Wege. Die Einführung des Maschinenbetriebes bei der Ausladung, 
von Elevatoren, wird von der Kaufmannschaft seit Jahren ver- 
langt. Selbst wenn die Manipulationsgebühren sich dabei nicht 
verbilligen würden, was übrigens kaum anzunehmen ist, so wäre 
die grössere Raschheit der Ausladung allein schon ein genügender 
Gewinn. 

Fühlbar ist ferner der Mangel an Silospeichern mit Eleva- 
torenbetrieb. Dass ein ausschliessliches Silosystem an den europäi- 
schen Getreidestapelplätzen nicht durchführbar ist, haben wir selbst 
hervorgehoben. Dagegen wird vielfach ein sog. gemischtes System 
in Anwendung gebracht, neben Bodenspeichern auch Silolagerhäuser, 
und dieses System würde sich auch in Wien zweifellos bewähren. 
Bei der Lagerung von Mais z. B. werden oft mehrere Schlepp- 
ladungen auf einen Haufen bis zu 20000 Meterzentnern und darüber 
zusammengeschüttet, weil diese Fruchtgattung eine grosse Gleich- 
mässigkeit der Beschaffenheit zeigt und an der Aufrechterhaltung 
der Identität der einzelnen Ladungen oft nichts gelegen ist. Da 
es aber der Hauptverkehrsartikel z. B. des städtischen Lagerhauses 
ist, so wäre dadurch allein die rationelle Ausnützung des Schacht- 
systems verbürgt. Aber auch in den anderen Fruchtgattungen 
kommen nicht selten grosse Mengen auf einmal zur Einlagerung, 
2000 — 6000 Meterzentner, und man wird selbst bei geringerer 
Bequemlichkeit gerne den Silo benützen, wenn man dabei eine 
Kleinigkeit billiger fährt. Uebrigens können die Schächte in be- 



179] I>ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 93 

liebiger Grösse, auch für 500 — 1000 Mefcerzentner , hergestellt 
werden. 

Es ist nicht ohne Nutzen, dem Bilde, das wir von den Wiener 
Umschlageinricbtungen entwerfen mussten, das einer ausländischen 
Einrichtung gleicher Art gegenüberzustellen. Wir schildern im fol- 
genden, nachdem mehrfach erwähnten Buche von Boroiüb, die Anlagen 
in Mannheim. Bereits in den fünfziger Jahren verfügte dieses über 
zwei Häfen, den alten Neckarhafen und einen geräumigen mit Quai- 
mauern versehenen Hafen am Rhein. Im Jahre 1866 wurde am Rhein 
eine grosse Werftuferanlage hergestellt. In den siebziger Jahren er- 
folgte die künstliche Verlegung der Neckarmündung mittels des sog. 
„Friesenheimer Durchstichs^, wodurch man einen Handelshafen für 
Rhein- und Neckarschiffe und zugleich durch Absperrung des oberen 
Einlaufs des alten Rhein einen trefflichen gegen Eis und Hoch- 
wasser völlig geschützten Flosshafen erhielt, ferner 1874 die Er- 
öffnung eines Zentralgüterbahnhofes, welcher durch prinzipielle 
Verflechtung mit dem Hafengebiet die besonderen Speditionen 
am Rhein und Neckar überflüssig machte. Dieser Bahnhof umfasst 
heute ein Gebiet von 2580x150 m, hat über 50 km Schienengeleise 
mit 219 Weichen und 6 Dampfschiebekähnen, verschiedene grosse 
Schuppen und 6 Werfthallen. Im nächsten Jahre bereits, 1875, 
wurde ein weiterer Hafen, der Mühlauhafen, eröffnet, der eine 
Wasserfläche von 2100x120 m und 2090 m Quaimauer (auf Beton 
gegründet, der Meter zu 540 Mark) besass. 1875 wurde ein Kanal 
eröffnet, der diesen Hafen mit dem Neckar verband. Um dem 
Mangel an Lagerplätzen abzuhelfen wurden 1883 — 1887 auf dem 
Terrain zwischen Mühlau, Neckar und Verbindungskanal zwei neue 
hufeisenft^rmig verbundene Hafenkanäle mit zusammen 2700 m Ver- 
ladeufer hergestellt und mit dem Rangier- und dem Zentralbahnhof 
verbunden. Ca. 180000 qm Uferlagerplätze kamen dadurch neu in 
den Besitz Mannheims. Sie waren binnen wenigen Jahren besetzt. 
Man musste weiter Vorsorgen. 1891 begann man mit der Her- 
stellung einer Quaianlage am offenen Rhein, welche 1894 eröffiiet 
wurde und 2490 m Länge V^ladeufer aufweist, wovon 2025 m mit 
Quaimauern versehen sind, das laufende Meter zu 1280 Mark. 

Die Gesamtkosten dieser neueren Hafenanlagen belaufen sich 
auf weit über 30 Millionen Mark, ihre jährliche Instandhaltung 
kostet ca. 20000 — 30000 Mark, die Unterhaltung des Betriebs sogar 
150000 Mark, wobei die Anlagen zur Erzeugung der Elektrizität 
für die Motorkraft und die nach Tausenden zählenden Bogenlampen 
noch nicht einmal mitgezählt sind! 



94 ^er Wiener Getreidehandel \md seine Technik. [180 

Das alles wurde und wird noch vollständig aus Staats- 
mitteln bestritten! 

Nach dem derzeitigen Stande umfasst das Gesamtareal 
21850 a Wasserfläche, 
19800 m Verladeufer, davon 
18155 m Eisenbahngeleise, 
4815 m Quaimauer haben 
95000 m Schienengeleise mit 
436 Weichen, 

9 Dampfschiebebühnen und 
6 elektrischen Schiebebühnen. 
4 Eisenbahndrehbrücken und 

2 Strassendrehbrücken, über 

60 Kranen, worunter ein schwimmender, die übrigen 
grösstenteils auf Schienen fahrbar und wovon über 
40 mit Dampf und j 

6 elektrisch betrieben werden, 1 

3 durch Elektrizität betriebene Elevatoren, 
2 ^ Dampf , « 

1 ^ öas , n 

110 Speicher und Lagerhäuser (worunter 3 Silos), 

17 Petroleumtanks, 

14 feuerfeste Kellerspeicher. 
Die grössten öffentlichen Speicher befinden sich im Besitze der 
Mannheimer Lagerhausgesellschaft, deren Errichtung von der Regie- 
rung durch billige Ueberlassung der Baugründe unterstützt wurde, 
während die Bahnhofverwaltung das Lagerhaus auf ihre Kosten 
mit einer auch von ihr in Stand gehaltenen Quaimauer versah. Die 
«Mannheimer Getreidelagerhausgesellschafb'^, welche sich aus der 
Vereinigung Mannheimer Oetreidehändler bildete, steht der „ Lager- 
hausgesellschaft « an Bedeutung kaum nach. Insgesamt können in 
Mannheim gelagert werden 15000000 Meterzentner Getreide. Die 
Gebühren sind ausserordentlich billig. 

Die hohen Ausgaben, welche die Regierung für den Handel 
Mannheims gemacht hat, haben sich, wie wir im folgenden Kapitel 
sehen werden, glänzend fruktifiziert, während andererseits die Ver- 
schleppung der Reorganisation des Wiener Donauumschlags zum 
Verfall des Wiener Getreidehandels wesentlich beigetragen hat und 
die Ansiedelung neuer Zweige des Grosshandels, soweit sie den fak- 
tischen Verhältnissen nach denkbar war, direkt verhindert. Der 
Getreideumsatz Mannheims dürfte den Wiens heute wohl um ein 



181] Die Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 95 

Vielfaches übertreffen — ein zifFernmässiger Vergleich ist wegen 
mangelnder Anhaltspunkte in den statistischen Publikationen unserer 
Staatseisenbahngesellschaft nicht möglich — war aber, selbst wenn 
wir dem Oesamtverkehr Mannheims bloss den durch die Donau 
yermittelten Getreideverkehr Wiens gegenüberstellen, wie die fol- 
gende Vergleichung zeigt, bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein 
geringer. 

Mannheim Wien 

Jahr Hafenverkehr Eisenbahnverkehr Hafenverkehr in Getreide 

1877 575 088 742 650 2 564041 

1880 1466 544 1670 360 2438248 

1885 2 298 826 2 201160 2 762 369 

Gleichwohl besass Mannheim, wie das obige Entwickelungsbild 
zeigt, damals bereits einen tüchtigen, dem des Wiener Getreide- 
handels umfänglich und technisch weitaus überlegenen Apparat. 

b) Die Arbeiterverhältnisse. 

Dass wir in einer volkswirtschaftlichen Studie, das Gebiet der 
Sozialpolitik streifend, uns mit den Verhältnissen der Quai- und 
Lagerhausarbeiter beschäftigen, bedarf nach der vorangegangenen 
Darstellung wohl keiner Rechtfertigung. Wenn schon nicht aus 
sozialpolitischen und humanitären Beweggründen, so ist im Inter- 
esse der ungestörten Abwickelung des Handelsverkehrs die endliche 
Regelung der Verhältnisse der Quai- und Lagerhausarbeiter eine 
unaufschiebbare Notwendigkeit. Ungeachtet der womöglich noch 
schlechteren Verhältnisse bei anderen Verkehrsunternehmungen, 
werden uns hier nur die Verhältnisse beim städtischen Lagerhause 
interessieren, weil dasselbe die grösste Zahl von Arbeitern be- 
schäftigt und seine Arbeits Verfassung massgebend ist für die übrigen 
Unternehmer. Es fordern aber auch die Verhältnisse beim städtischen 
Lagerhause zu einer Kritik am meisten heraus, weil es das Unter- 
nehmen einer öffentlichen Verwaltung ist und diese mit strengerem 
Masse gemessen werden muss, als der Privatunternehmer. Der 
öffentlichen Verwaltung als Arbeitgeberin, führt v. Philippovich aus, 
ist es nicht gestattet, die Arbeiter nach rein privatwirtschafblichen 
Grundsätzen aufzunehmen, zu entlassen und zu entlohnen, vielmehr 
entspricht es ihrer allgemeinen Pflicht, , Führerin ** des sozialen Fort- 
schrittes zu sein, und ,über das Mass des Arbeitsvertrages und der 
gesetzliehen Verpflichtung hinaus , für die von ' ihr beschäftigten 
Arbeiter Sorge zu tragen durch Verwirklichung von Wohl- 
fahrtseinrichtungen'. 



96 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [1^2 

Die Arbeiter des städtischen Lagerhauses bilden rücksichtlich 
ihrer Verwendung nur eine Kategorie; hinsichtlich ihrer Ent- 
lohnung werden sie in drei Kategorien unterschieden: in Wochen- 
arbeiter mit 14tägiger Kündigungsfrist, in Taglöhner und Akkord- 
arbeiter, welche sofort entlassen werden können. Die Zahl der 
Beschäftigten schwankt, namentlich in den beiden letzteren Kategorien, 
mit der Yerkehrskonjunktur. So waren durchschnittlich per Tag 
beschäftigt 

Im Jahre Wochenarbeiter Taglöhner Stücklöhner 

1898 85 216 93 

1899 87 186 89 

ausserdem eine Anzahl Frauen, welche hauptsächlich in den Maga- 
zinen (mit Säckefiicken , Putzen , Umstechen des Getreides u. s. f.) 
beschäftigt sind. 

Die Arbeit dauert in den Wintermonaten (vom 1. Oktober bis 
31. März) von 8 — 12 Uhr vormittags und von 1 — 5 Uhr nach- 
mittags ohne Unterbrechung. In den Sommermonaten (1. April bis 
30. September) von 7 Uhr früh bis 12 Uhr mittags und 1 Uhr 
nachmittags bis 6 Uhr abends mit je einer halbstündigen Frühstücks«- 
und Mittagspause. Die eine Mehrstunde im Sommer wird als U eber- 
stunde vergütet. Die Arbeitszeit mag, mit der in anderen Betrieben 
verglichen, nicht übermässig lang erscheinen, doch ist zu berück- 
sichtigen, dass die schwerste Arbeit, insbesondere das Ausladen der 
Schiffe, im Freien verrichtet werden muss, wobei die Arbeiter in 
der nach allen Seiten offenen Gegend allen Unbilden der Witterung 
und beim Aus- und Eintritt in die Magazine den verderblichen Ein- 
flüssen eines jähen Temperaturwechsels ausgesetzt sind, um so mehr, 
als mit nacktem Oberkörper gearbeitet . wird. Auch gefahrlos ist 
die Arbeit nicht und es ist wiederholt vorgekommen, dass Sack- 
träger von dem schmalen Laufbrett herabfielen und ertranken. 
Weniger schwer sind wohl die Arbeiten in den Magazinen, aber 
da das Getreide immer mehr oder weniger Staub und Mist führt, 
so sind die mit Reinigung oder Eonservierung der Ware beschäf- 
tigten Menschen immer in eine dichte Staubwolke gehüllt. 

Die Manipulationsarbeiten (Schaufeln, Beinigen etc.) werden 
meist von den Wochenarbeitern verrichtet. Der Lohn für dieselben 
beträgt 

in der ersten Stufe fl. 8. — 

in der zweiten Stufe „ 9. — 

in der dritten Stufe . 10. — 



183] I^ie Mängel der öflfentliohen Lagerhäuser. 97 

„Wer sich verwendbar und ordentlich erweist, kann schon nach 
einem Jahre, sonst nach zwei, spätestens aber nach drei Dienst- 
jahren in die zweite Stufe mit 9 öulden vorrücken* heisst es in 
der Arbeitsordnung. Im fünften Dienstjahre rücken jene Wochen- 
arbeiter in die dritte Stufe mit 10 Gulden vor, die sich für den 
gesamten Magazinsdienst und zu deh kleinen Schreibarbeiten oder 
im Haus- und Bahndienste als selbständige Arbeiter geeignet er- 
weisen. Ausserdem wird nach zehn Dienstjahren eine Alterszulage 
von einem Gulden die Woche und nach je weiteren fünf Dienst- 
jahren eine weitere Zulage von 50 Kreuzern, unabhängig von der 
Lohnstufe, gewährt. (Der Taglohn für männliche Arbeiter beträgt 
im Winter und im Sommer fl. 1.20, für weibliche etwa 70 Kreuzer.) 
In den Öenuss dieses bescheidenen Avancements können aber nur 
die nicht allzuvielen Arbeiter kommen, welche ständige Be- 
schäftigung^ beim Lagerhause finden Und die für das Avancement 
vorgeschriebene Dienstzeit zu erreichen in der Lage sind, und auch 
dann noch ist es dem Belieben der Unternehmung überlassen: »wer 
verwendbar ist, kann .... vorrücken*. 

So kommt es, dass die grosse Mehrzahl der beim Lagerhause 
beschäftigten Arbeiter Taglöhner oder Akkordarbeiter sind. Dem 
unbeständigen Charakter der Arbeit entsprechend rekrutieren sich 
diese Taglöhner überwiegend aus fluktuierenden Elementen, Arbeits- 
losen, die in der Lagerhausarbeit einen vorübergehenden Erwerb 
suchen, wohl auch aus unsteten herabgekommenen Elementen, welche 
diese Arbeit gerade wegen ihres irregulären Charakters bevorzugen 
und, wenn sie einige Oulden verdient haben, feiern, bis dieselben 
verzehrt sind. 

Trotz der bekanntlich enormen Steigerung der Lebensmittel- 
und Mietzinspreise , welche in den letzten 10 Jahren in Wien ein- 
getreten ist, hat seit dem Jahre 1890 in keiner der erwähnten Lohn- 
kategorien, wenn wir von der Vergütung der einen Mehrstunde im 
Sommer als üeberstunde absehen, eine Lohnaufbesserung statt- 
gefunden. 

Die Folge davon ist eine ungemein elende Lebenshaltung der 
Mehrzahl der Arbeiter; der totale Mangel an Wohlfahrtsein- 
richtungen in den städtischen Lagerhäusern macht die Verhältnisse 
noch drückender. Vor allem steht es um die Verproviantierung 
schlimm. Da die Leute von ihrem geringen Einkommen die hohen 
Mietzinse in den inneren Bezirken nicht erschwingen können, wohnen 
sie meist in sehr entlegenen Vorstädten, und die einstündige Mittags- 
pause gestattet ihnen nicht, ihr Heim aufzusuchen. Wo der Mann 

Wiener Studien. III. Bd., 8. Heft. 7 [18] 



98 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [184 

nicht in der glücklichen Lage ist, sich das Essen etwa durch sein 
Kind von daheim bringen lassen zi; können, muss er seine Mahl- 
zeit in der Nähe des Arbeitsplatzes kaufen. In den Prateranla^en 
ist das noch relativ leicht möglich. Innerhalb des Territoriums auf 
dem die Maschinenhalle steht, befindet sich eine der Kommune ge- 
hörige Kantine, und in der Umgebung des Lagerhauses einige 
Wirtshäuser, Die Kantine wird aber von der Kommune nicht in 
eigener Regie gef&hrt, sondern ist für einen Pachtschilling von 
1800 Gulden an einen Privatunternehmer vergeben. 

ungünstiger sind die Verhältnisse in den Quaianlagen, wo in 
der Saison die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter thätig ist. Hier 
steht nur die sog. Quaikantine zur Verfügung, eine primitive und 
ziemlich defekte Holzbaracke, in welcher wegen der Feuersgefahr 
ein Ofen nicht aufgestellt werden darf. Der Kantineur muss daher 
das Essen aus der Prateranlage hinüberschaffen, wobei dasselbe oft 
kalt wird. 

Wie immer bei ungenügender und mangelhafter Ernährung 
wird der Alkohol stark herangezogen und der vollständige Mangel 
an Räumlichkeiten, in welchen die Arbeiter die Erholungspausen 
verbringen könnten, nötigt dieselben, namentlich bei rauhem Wetter, 
in die umliegenden Wirtshäuser, übt also indirekt einen Trinkzwang 
aus. Selbst in kapitalistischen Privatunternehmungen ist besser 
vorgesorgt. In dem Jahresbericht der ungarischen Eskompte- und 
Wechslerbank pro 1899, also eines auf Gewinn berechneten Privat- 
unternehmens, heisst es: „Um unseren zahlreichen Arbeitern vor 
Antritt der Arbeit und während der Arbeitspausen eine entsprechende 
Qnterkunft zu schaffen, haben wir innerhalb der Lagerhausanlage 
einen Arbeitersaal errichtet" ! 

Die Errichtung eines derartigen gut ventiUerten Baumes, in 
welchem die Arbeiter die Erholungspause verbringen und das ihnen 
von zu Hause geschickte oder von dort mitgebrachte Mahl verzehren 
können, auch in den städtischen Anlagen, ist ein Öebot der Humiä- 
nität; gleichzeitig müsste den Arbeitern zu dem geringen Lohn eine 
Zübusse wenigstens in der Form geleistet werden, dass die Gemeinde 
durch Uebernahme der Kantine in eigene Regie den Arbeitern einen 
kräftigen und billigen Mittagstisch verschafft. 

Was die Löhne betrifft, so hat die Lagerhausunternehmung 
allerdings keine Möglichkeit, sich für eine Lohnerhöhung durch 
Erhöhung der Gebühren zu regressieren, denn das würde die Fre- 
quenz des Lagerhauses beeinträchtigen und dem Handel schaden. 
Sie würde also möglicherweise eine Schmälerung herbeiführen, für 



1851 ^^^ Mängel der öffentlichen Lagerhäuser, 99 

einen Privatunternehmer vielleicht Örund genug, sie zu unterlassen, 
nicht für die städtische Lagerhausunternehmung; denn sie ist ein 
gemeinnütziges Institut und dieser Charakter ist auch durch Ge- 
meinderatsbeschluss vom 20. Dezember 1879, Z. 5259, ausgesprochen 
worden. Diesem Beschlüsse zufolge haben die Erträgnisse des 
Lagerhauses nicht zur Verzinsung, sondern zur Abschreibung 
des Anlagekapitals verwendet zu werden. 

Eine Schmälerung des Erträgnisses braucht indes trotz Lohn- 
regulierung nicht einzutreten, wenn das Lagerhaus so ausgestaltet 
und auf jene Leistungsfähigkeit gebracht würde, welche der Handel 
von ihm verlangt. Auch wäre dann trotz Einführung des Maschinen- 
betriebes die Beschäftigung einer grösseren Zahl von Arbeitern 
möglich. Damit dieselben regelmässiger beschäftigt werden 
können, müssen allerdings Hindernisse beseitigt werden, die ausser- 
halb der Ingerenz der Lagerhausunternehmungen liegen. Von diesen 
wird später die Bede sein. 

Wir schliessen unsere Untersuchungen damit ab, dass wir dem 
eben gegebenen Bilde die Arbeitsverfassung eines anderen, einer 
öffentlichen Korporation in esterreich gehörigen öffentlichen Lager- 
hauses zum Vergleich gegenüberstellen: wir meinen die staatlichen 
Lagerhäuser in Triest. 

In den k. k. Triester Lagerhäusern \ welche unmittelbar dem 
k. k. Handelsministerium unterstehen, sind — ähnlich wie in den 
grossen holländischen Hafenplätzen — die Arbeiten mit General- 
akkord an das sog. „ Geschworenenmittel '^ (es ist d^s ein Verein 
amtlich aufgenommener und verpflichteter Träger bei den im alten 
Hafen von Triest und im Canal grande liegenden Exposituren des 
Hauptzollamtes) übertragen. Jeder Geschworene hat eine Kaution 
von 500 fl., jeder Tarierer von 50 fl. zu leisten. Die Geschworenen 
und Tarierer entsprechen ihrer Stellung nach gewissen Gruppen von 
ünterbeamten und Aufsehern, Wägmeistern etc. in den städtischen 
Lagerhäusern. Dem Geschworenenmittel obliegt die Aufnahme des 
übrigen Arbeitspersonals, jedoch ist das Geschworenenmittel ver- 
pflichtet, dem Hauptzollamte über die Gebarung mit den Einnahmen 
vollständig Rechnung zu legen, und hat das genannte Amt das 
Recht des Einflusses auf die Bestimmungen der Besoldungen und 
Löhne. 

Die Verteilung der Betriebsüberschüsse, welche das Geschwo- 



^ Die Triester Lagerhäuser. In „ Soziale Verwaltung in Oesterreich am 
Ende des 19. Jahrhunderts". Wien 1901, V. Heft. 



100 ^6^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [186 

renenmittel erzielt, ist durch ein besonderes staatliches Reglement 
wie folgt geregelt. 

Die erzielten Betriebsüberschüsse sind insolange gänzlich zu- 
rückzulegen , bis eine Summe von 4000 fl. f&r den Reservefonds 
erreicht ist. Zur Ergänzung desselben auf 20 000 fl. sind von den 
weiteren Betriebsüberschüssen immer 25®/o zur Bildung eines Pro- 
visions- und Aushilfsfonds f&r arbeitsunfähige oder im Dienste ver- 
unglückte Geschworene, Tarierer und Arbeiter zu verwenden, der 
Rest nach einem bestimmten Schlüssel an Öeschworene und Tarierer 
als Arbeitsdividende zu verteilen. 

Die stabil Angestellten und die Angestellten des Oeneralakkords 
haben nach Ablauf einer ununterbrochenen Dienstzeit von 10 Jahren 
bei den k. k. Lagerhäusern oder dem Generalakkord und nach voll- 
endetem 35. Lebensjahre im Falle der staätsärztlichen Eonstatierung 
voller Dienstuntauglichkeit oder ohne ihr Verschulden erfolgter 
Dienstesenthebung Anspruch auf fortlaufende Ruhegenüsse, die bei 
den Geschworenen zwei Drittel des letzten Jahresgehaltes, bei den 
Tarieren! und stabüen Arbeitern zwei Drittel des zweiundfünfzig- 
fachen Wochenlohnes, bei nicht stabilen Arbeitern drei Fünftel des 
dreihundertfachen letzten Taglohnes oder des zweiundfünfzigfachen 
Wochenlohnes beträgt. Ebenso ist die Witwen- und Waisenver- 
sorgung geregelt und sind Lebensmittelmagazine für die Arbeiter in 
staatlicher Regie errichtet worden. 

Die Lagerhäuser der Stadt Triest, welche früher, als sie noch 
in der Verwaltung der Kommune und der Handelskammer sich be- 
fanden, ein arges Defizit hatten, werfen jetzt durch die infolge der 
seitherigen Ausgestaltung der Anlagen herbeigeführten Steigerung 
des Verkehrs bereits ein, wenn auch nicht bedeutendes, Erträg- 
nis ab. 

c) Das Lagerhausgesetz. 

Das Lagerhausgesetz vom 1. April 1889 muss im grossen 
Ganzen als ein Missgriff der Gesetzgebung bezeichnet werden. Es 
hat, wie die Entwickelung des Lagerhauswesens in esterreich über- 
haupt, auch die des Wiener nicht gefördert, sondern gehemmt oder 
mindestens zum Stillstande gebracht. 

Die rechtlichen Beschränkungen, welche dieses Gesetz 
der Lagerhausunternehmung auferlegt, auf der einen Seite, die 
fast drakonischen Haftpflichtbestimmungen auf der anderen 
Seite, waren selbstverständlich nicht aufmunternd zur Erweiterung 



187] ^i® Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 101 

schon bestehender und vollends nicht zur Neugründung von Lager- 
hausuntemehmungen. 

Wenn das frühere Gesetz den Einlagerer dem Belieben der 
Lagerhausunternehmung anheimgab, so bietet umgekehrt in dem 
geltenden Gesetz die Bestimmung, dass die Lagerhausuntemehmung 
die Sorgfalt zu beweisen habe, den Einlageren! Handhabe zu 
Ghikanen und Benachteiligungen der Lagerhausuntemehmung. 

Die Gesetzgeber hatten die üblen Rückwirkungen, welche dieses 
Gesetz auf die Beteiligung des Privatkapitals an der Lagerhausunter- 
nehmung ausüben musste, wohl teilweise selbst eingesehen, setzten 
aber ihre Hoffiiungen einerseits auf die eisenbahnrechtlichen Be- 
stimmungen des Gesetzes, andererseits auf die öffentlichen Korpora- 
tionen, besonders auf die Stadtverwaltungen, und auf das alleinige 
Recht der Warrantausgabe, dessen Wirkung auf die Frequenz der 
öffentlichen Lagerhäuser von ihnen so hoch taxiert wurde, dass sie 
dieselben durch dieses Monopol für die ihnen auferlegten Beschrän- 
kungen entschädigt hielten, was, ebenso wie die Einführung des 
Lagerpfandscheinsystems, um so merkwürdiger war, als der Misserfolg 
desselben in anderen Ländern damals bereits notorisch war. 

Von diesen Hoffnungen hat sich, wenigstens was Wien und die 
Getreidelagerhäuser betrifft, keine erfüllt. Die wichtigsten eisen- 
bahnrechtlichen Bestimmungen, Tariffragen betreffend, blieben 
zumeist auf dem Papier, weil grosse Hauptbahnen vom Privatkapital 
bewirtschaftet werden, dem gegenüber der Staat ziemlich macht- 
los ist. 

Die Stadtverwaltung ist als kaufmännischer Unternehmer nicht 
auf der Höhe der Situation gestanden. Ihre Lagerhauspolitik ist 
über die ursprünglichen rein stadtwirtschaftlichen Gesichtspunkte, 
der Sorge um die Approyisionierung Wiens, nicht hinausgekommen \ 
und sie behandelt, seit dieses Interesse mehr und mehr erloschen ist, 
die Lagerhausuntemehmung wie ein Privatunternehmer, d. h. die 
Bücksicht auf eine günstige Fruktifizierung des darin investierten 
Kapitals steht in erster, die gemein wirtschaftliche Aufgabe erst in 
zweiter Reihe. 



^ Uebrigens sind auch sonst überall in Oeäterreich, wo Lagerhäuser von 
öffentlichen Korporationen errichtet werden, meist die Approvisionierungs- 
rücksichten massgebend gewesen; es handelt sich gewöhnlich um Getreide- 
lagerhäuser. Eine Ausnahme bildet die Stadt Triest, welche seinerzeit gemein- 
sam mit der Handelskammer Lagerhäuser errichtete, um* den Handel zu heben; 
hier aber erwiesen sich wieder die Kräfte der öffentlichen Korporation für eine 
grosse Unternehmung als zu schwach. 



102 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [188 

Das Recht der Warrantausgabe aber konnte auf die materielle 
Entwickelung der öffentlichen Lagerhäuser deshalb nicht fordernd 
zurückwirken, weil das französische Zweischeinsystem mit seinen 
wechselrechtlichen Konstruktionen sich in der Eredittechnik des 
Getreidehandels, des einzigen Handelszweiges in Wien, der für den 
Warrantlombard in Betracht kommen kann, ebensowenig einzu- 
bürgern vermochte, als in anderen Ländern, wo der Versuch damit 
gemacht worden ist. 

Der Warrant ist kein Bedürfnis des Handels geworden und 
der Warrantrerkehr der Wiener Lagerhäuser hat sich unter dem 
neuen Gesetz nicht nur nicht gehoben, sondern hat eher noch eine 
Abnahme erfahren. 

Die Bestimmungen über den Warrant haben ihren Zweck 
verfehlt, nicht bloss soweit sie die Förderung des Lagerhauswesens 
anstrebten, sondern auch soweit sie die Handelstechnik in Be- 
ziehung auf das Lagerhauswesen durch das Lagerpfandscheinsystem 
in Verbindung mit dem Belehnungsverbote zu vervollkommnen 
meinten. 

Vom Pfandindossament in den von dem Gesetze vorgesehenen 
Formen wird nur selten Gebrauch gemacht, obwohl im Wiener Ge- 
treidehandel die Lagerscheine für die Besitzübertragung nicht ver- 
wendet werden, also offenbar nur zum Zwecke der Verpfändung der 
Ware genommen werden; im Durchschnitte der letzten fünf Jahre 
ist nur bei 7,5 Prozent der ausgegebenen Lagerscheine ein Pfand 
in den Büchern des städtischen Lagerhauses zur Vormerkung ge- 
langt. Die Lombardierung wird ebenso wie früher in der Weise 
durchgeführt, dass der Vorschussnehmer dem Gläubiger das Besitz- 
recht an der Ware überträgt, entweder indem er ihm den ganzen 
Lagerschein in bianco überträgt, oder noch lieber indem er die 
Ware auf seinen Namen überschreiben lässt; daneben wird ein 
Pfandvertrag in Form eines einfachen Briefes errichtet. 

Diese Form ist wirtschaftlich und technisch vorteilhafter für 
beide Teile als die im Gesetz vorgesehene. Bei Verpfandung mittelst 
Lagerpfandschein muss eine Skadenz angegeben sein. Wird die 
Ware früher aus dem Pfand gelöst, so verliert man mindestens einen 
Teil der für die ganze Laufzeit im vorhinein zu entrichtenden Zinsen. 
Wird die Erneuerung des Vorschusses übersehen, so ist der Schuld- 
ner der Gefahr eines Protestes mit seinen verlustbringenden Kon- 
sequenzen ausgesetzt. Aber auch der Vorschussgeber scheut die 
Formalitäten, zu denen er durch Pfandindossament gezwungen ist. 
Der Verpfändungsakt selbst ist sehr unbequem und mit Formalitäten 



189] I^ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 103 

verbunden, welche, mögen sie theoretisch betrachtet auch gering- 
fügig scheinen, dem kaufmännischen Verkehre widerstreben; wir 
meinen die Bemüssigung, das Pfandindossament in die Lagerhaus- 
register eintragen zu lassen. 

unbequem und umständlich ist ferner die BOcklösung des 
Pfandes in Teilquantitäten yor Verfall; im Kontokorrentlombard 
vollzieht sie sich rasch und einfach, indem der Vorschussgläubiger 
dem Schuldner gegen Erlag des entfallenden Betrages eine Ausfolge- 
anweisung an das Lagerhaus gibt. 

Ebenso unterliegt der Austausch eines in Pfand befindlichen 
Warrants gegen einen anderen keinem Anstände ; die Ware kann so 
statt mit Geld ohne Formalitäten mit Ware aus dem Pfand gelost 
werden. Das ist fQr den Kaufmann von grösster Wichtigkeit. 

Ein nicht zu unterschätzender Abhaltungsgrund für die Be- 
nutzung des Lagerpfandscheins ist übrigens auch die hohe Stempel- 
gebühr, mit welcher das Pfandindossament belastet ist. 

Von verschiedenen Seiten, auch von Professor Adlbb \ ist der 
Meinung Ausdruck gegeben worden, dass die Eintragung des Namens 
des ersten Pfandindossanten in die Register des Lagerhauses ein 
Abschreckungsgrund sei, weil der Indossant seinen persönlichen 
Kredit zu gefährden fürchte, und dass die Unterlassung dieser Ein- 
tragung eine Hebung des Warrantverkehrs herbeiführen würde. 

Auch der Direktor der Triester Lagerhäuser gibt in einem durch 
die freundliche Vermittlung des niederösterreichischen Gewerbe - 
Vereins uns zugekommenen Gutachten dieser Meinung Ausdruck. 

Dem steht aber das Faktum gegenüber, dass, wie die folgende 
Statistik zeigt, die Zahl der Eintragungen von Pfandindossamenten 
in die Register der städtischen Lagerhäuser vor 1889, wo dieselbe 
nicht obligatorisch gewesen ist, grösser war, als unter dem gelten- 
den Gesetze ^. 

Ausgegeben wurden: 



In den Jahren 


Stück 


Prozent der 


Vorschuss 


Prozent 






Eingangsposten 


vorgemerkt 
auf Stück 


der Gesamt- 
zahl 


1880—1884 


350 


10,01 


237 


68 


1885—1889 


426 


6,19 


181 


42 


1890—1894 


351 


3,36 


86 


24,5 


1895—1899 


279 


2,43 


24 


9 



^ Handwörterbuch der Staatsw. I. Aufl. Aufsatz Warrant. 

^ Die von Professor Adler empfohlene Geheimhaltung des Namens des 
Verpfänders unter Eintragung des übrigen Indossamentinhaltes in die Lager- 
haasregister wäre übrigens praktisch von durchaus problematischem Werte. 



104 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [190 

Als Grund für die Scheu vor der Benutzung des Lagerpfand- 
scbeins bezeichnet Professor Adleb ^ auch, dass es der Einklagung 
des Ausfalles, wenn das Pfand exekutiv verkauft worden ist, als 
einer nicht von vornherein ersichtlichen Summe, au prozessualer 
Schneidigkeit fehlte. In der Terminhandelsenquete ist das vom 
Dozenten Dr, Landesbbbgsb an der Hand eines praktischen Falles 
bestätigt worden^. 

Professor Adleb schlägt zur Verbesserung vor ^ : 

1. Einführung des englisch- belgischen Systems, wonach der 
Inhaber des Besitzscheines im Falle der Nichtzahlung bei 
Verfall jeden Anspruch auf die Ware verliert; 

2. prinzipale wechselmässige Haftung der Pfandschein- 
indossanten. Dieselben sollen neben, nicht wie jetzt hinter 
der Ware haften, und es soll dem Warrantgläubiger frei- 
stehen, sich nach Belieben an die Ware oder an den Ver- 
pflichteten zu halten, wogegen der Zahlende alle Rechte 
an der etwa noch unverkauften Ware erwirbt. 

Indes zweifeln wir, dass selbst mit diesen Verbesserungen das 
Lagerpfandscheinsystem den Bedürfnissen des Handels entsprechen 
würde. 

Das wesentlichste prinzipielle Bedenken, welches seine Unpopu- 
larität im Handel verschuldet, bliebe von diesen Beformen unberührt. 
Dem ganzen Wesen des kaufmännischen Lombardkredits widerstrebt 
die Fiktion, auf der das Lagerpfandscheinsystem aufgebaut ist, dass 
nämlich die durch die Verpfändung begründete Forderung, gleich 
der Wechselforderung , . eine ein für allemal in einer bestimmten 
Höhe feststehende sei. Der Vorschussgläubiger leiht niemals einen 
bestimmten Betrag, sondern stets nur einen bestimmten, je nach 
dem Grade der Wertbeständigkeit des betreffenden Gutes grösse- 
ren oder geringeren Prozentsatz des Tages wertes der Ware, 
und muss sich daher die Möglichkeit wahren, bei eintretender Wert- 
verminderung einen entsprechenden Teil des Vorschusses zurückzu- 
fordern \ Dabei fährt aber nicht nur der Vorschussgeber besser als 



Wenigstens was das Getreidegeschäfb betrifft, können wir konstatieren, dass die 
Wahrung des Belehnungsgeheimnisses bei Benutzung eines öffentlichen Yer- 
kehrsinstitutes , wo die Konkurrenz aus- und eingeht, unter den im Getreide- 
handel gegebenen Verhältnissen unmöglich wäre. 

^ Handwörterbuch a. a. 0. 

2 Stenogr. Prot. II, S. 175. 

* Handwörterbuch a, a. 0. 

^ Wir können uns daher der Meinung Professor Adlers, dass die Bank 



191] Die Mangel der öffentlichen Lagerhäuser. 105 

beim Lagerpfandscheinsystem, sondern auch der Yorschxissnehmer, 
weü der erstere in der Lage ist, dem letzteren eine dem Tageswerte der 
Ware sehr nahe kommende Vorschussquote auch auf solche Waren 
zu gewähren, deren Preise stärkeren Schwankungen unterworfen 
sind. Das Lagerpfandscheinsystem dagegen stellt zwei Alternativen, 
bei deren einer der Verpfänder, bei deren anderer der Vorsehuss- 
geber notwendigerweise ungünstig fahren muss: entweder begibt 
sich der erstere für die Dauer der Verpfandung des Besitzrechtes 
an der Ware, indem er dem Vorschussgläubiger den ganzen Lager- 
schein in bianco giriert, oder der Pfandgläubiger entschliesst sich, 
dem Darlehenswerber ein Kapital in jener Form vorzuschiessen, wie 
sie das Gesetz vorsieht, d. h. in einer innerhalb einer gewissen im 
vorhinein bestimmten Frist unveränderlichen Höhe und innerhalb 
dieser Frist unkündbar zu gewähren. Das hebt auch die wirtschaft- 
liche Funktion des Lagerscheins teilweise auf. Der Lagerschein 
soll eine Entlastung des Personalkredits durch den Realkredit ermög- 
lichen; hier räumt aber thatsächlich der Vorschussgeber dem Ver- 
pfänder einen gewissen Personalkredit ein. Da der wirtschaftlich 
stärkere Teil der Darlehensgeber ist, so begibt natürlich nicht dieser 
sich in die ungünstige Situation, sondern zwingt den anderen dazu. 

Infolge der geringen Verwendung des Lagerpfandscheins ist es 
natürlich auch zu einem Reeskompte bei der Österreich-ungarischen 
Bank nur in wenigen Fällen gekommen. 

Seitdem die Österreich-ungarische Bank den Warranteskompte 
aufgenommen hat, also seit dem Jahre 1891, sind zum Eskompte 
gelangt : 

In JjQSgesamt Davon in 

den Jahren Stück Wien Innsbruck Krakau Lemberg Budapest 

1891 100 — 4 63 — 33 

1892 38 — 

1893 24 — 

1894 28 3 

1895 24 — 

1896 37 — 

1897 15 — 

1898 1 - 

1899 562- — - — — 562 

1900 197 — _ _ _ 197 

Nun weist Professor Adler zur Verteidigung des französischen 
Lagerpfandscheinsystems auf Erfolge desselben in Frankreich hin. 



4 


63 


23 


13 


23 




23 

Ol 




37 




15 




1 





bei prinzipaler Haftung der Giranten sieb mit einer ünterscbrift zu begnügen 
in der Lage wäre, nicbt anscbliessen. 



106 ^^^ Wiener Getareidehandel und seine Technik. [192 

Aber bis zum Jahre 1879 war dasselbe auch dort unbeachtet und 
erst die Aufhebung des Belehnungsverbotes für die öffent- 
lichen Lagerhäuser, welche in dem genannten Jahre erfolgt ist, 
vermochte es zu einiger Wirkung zu bringen. Die Lagerhausunter- 
nehmung kann auf Lagerpfandscheine unbedenklicher fixe Vorschüsse 
erteilen, weil sie das Pfand körperlich in Verwahrung hat, den 
Wert derselben genau zu taxieren weiss, weil für den Vorschuss 
und für die auf der Ware haftenden Öebühren und Spesen nur 
ein Pfandgläubiger existiert, die Lagerhausunternehmung, und 
weil ihr zudem die Verhältnisse des Vorschusswerbers genau be- 
kannt sind; denn niemand gewinnt einen besseren Einblick in 
die Geschäftsverhältnisse des Kaufmannes, als die Lagerhausunter- 
nehmung. 

Thatsächlich zeigt uns die früher aufgestellte Statistik auch in 
Ungarn, wo kein Belehnungsverbot existiert, wenigstens zeitweise 
einen lebhafteren Warrantreeskompte ; ebenso dürfte der verhältnis- 
mässig etwas lebhaftere Beeskompte durch die Innsbrucker Filiale 
der Österreich-ungarischen Bank darauf zurückzuführen sein, dass 
das dortige dem Lande gehörige Lagerhaus die Warrants selbst 
belehnt \ 

Die Erfolge, die das französische Lagerpfandscheinsystem in 
Frankreich angeblich aufzuweisen hat — wir müssen sie übrigens, 
da Professor Adler nur ein Jahr, das Jahr 1894, herausgreift, 
und es leicht möglich ist, dass gewisse irreguläre Marktverhältnisse 
vorübergehend eine stärkere Benutzung des Warrants veranlasst 
haben, wie in Budapest, mit Reserve au&ehmen — scheinen uns 
gerade gegen das System zu sprechen : ein Warrantsystem, das nur 
durch das selbstbelehnende Lagerhaus und nur soweit selbstbelehnende 
Lagerhäuser vorhanden sind, wirksam werden kann, ist nicht geeig- 
net, den Bedürfnissen des kaufmännischen Verkehrs zu entsprechen, 
und wir glauben nicht, dass der deutsche Juristentag, wenn er 
heute über das französische Warrantsystem zu urteilen hätte, es 
nicht ebenso verwerfen würde als vor 8 Jahren. 

Wir dürfen unsere Kritik des Lagerhausgesetzes nicht schliessen, 
ohne des implicite im Gesetz enthaltenen Verbotes der Ausgabe 



^ Die Regierung hat dem Innsbrucker Lagerhaus diese Konzession gemacht, 
weil ohne dieselbe der Bestand desselben bedroht gewesen wäre; ein Haupt- 
verkehrsmittel des Innsbrucker Lagerhauses ist Wein, und es ist zweifellos, dass 
es von den zumeist wenig kapitalkräftigen Weinproduzenten Tirols darum 
gerne frequentiert wird, weil sie dadurch die Möglichkeit finden, zu billigem 
Zinse Geld auf ihre Ware zu bekommen. 



193] I^ie Mängel der öffentlichen Lagerhäuser. 107 

indossabler Lagerscheine für die Privatlagerhäuser zu ge- 
denken. 

Die Begriffe „Privatlagerhaus* und , öffentliches Lagerhaus'^, 
wie sie das Gesetz auffasst, decken sich nicht mit dem wirtschaft- 
lichen; für das Gesetz ist nicht die Funktion, sondern der formale 
Charakter das bestimmende Kriterium; öffentliche Lagerhäuser sind 
konzessionierte Lagerhäuser. Diese Auffassung hat zu dem Wider- 
sinne geführt, dass eine Anzahl von Lagerhäusern, welche, ohne 
konzessioniert zu sein, doch als öffentliche funktionieren, dem Handel 
die Dienste einer öffentlichen Lagerhausunternehmung in kredit- 
lechnischer Beziehung nicht zu leisten in der Lage sind; wir 
meinen da in erster Reihe die Lagerhäuser der Transportunter- 
nehmungen, z. B. der Schiffahrtsgesellschaften. Würden die von 
den kleineren Lagerhausunternehmungen ausgegebenen Lagerscheine 
yielleicht auch nicht von der Österreich-ungarischen Bank genom- 
men — obwohl ein ausschliessender Grund dafür eigentlich nicht 
besteht — , im Privatlombard fänden sie zweifellos Aufnahme. 

Warum der Kaufmann, welchen Raummangel im städtischen 
Lagerhause zwingt, in einem dieser Magazine für seine Ware Unter- 
kunft zu suchen, dadurch der Möglichkeit beraubt sein soll, sie be- 
lehnen zu lassen, und warum diese Lagerhäuser durch die Yor- 
enthaltung des Rechtes der Warrantausgabe in ihrer Prosperität 
gehindert sein sollen, ist nicht erfindlich. 

Ebenso sind die genossenschaftlichen Lagerhäuser der 
Landwirte der Wohlthaten des Lagerscheines beraubt, trotzdem 
gerade hier derselbe eine Rolle spielen könnte und der Knappheit 
an Belehnungsmitteln , über welche geklagt wird ^, wirksamer und 
billiger abzuhelfen geeignet wäre, als die verlangte Schaffung von 
Betriebsreserven aus Landesmitteln. 

Die Mittel für den Lombard in diesen Lagerhäusern müssen 
von den kreditgenossenschaftlichen Organisationen innerhalb der 
Landwirtschaft selbst aufgebracht werden, von den Raiffeisen-Kassen, 
bezw. von dem Zentralverbande derselben, und in den Lagerhaus- 
beschlüsaen des böhmischen Landtages wird darauf hingewiesen, dass 
bei der weiteren Entwickelung weder einzelne Kreditinstitute, Lager- 
häuser, noch auch die Zentralkassen der Spar- und Darlehenskassen- 
vereine im Stande sein werden, das Kreditbedürfnis der Lagerhaus- 
genossenschaften zu befriedigen und dass „für die Genossenschafts- 

^ Stefan Richter, Die Organisation des gemeinsamen Bezuges und Ab- 
satzes in Oesterreich, In „Soziale Verwaltung in Oesterreich*, I. Bd., III. Heft, 
S. 113. 



108 ^®r Wiener Getreidehandel und seine Technik. [194 

zentralkassen, welche nur über geringe eigene Mittel verfügen und 
hauptsächlich mit den Geldern der Spar- und Darlehenskassenvereine 
arbeiten, wenn sie einen grösseren Teil ihrer von den Spar- und 
Darlehenskassen herrührenden Bestände den Lagerhausgenossen- 
schaften zur Verfügung stellen, überdies die Oefahr entsteht, dass 
grösseren Geldanforderungen der Spar- und Darlehenskassenvereine, 
welchen die Genossenschafbszentralkassen in erster Beihe zu dienen 
haben, nicht entsprochen werden könnte". 



m. 

Die Yerkehrseinrichtangen im Dienste des Getreidehandels. 

Eigentliche Hafenanlagen gab es bis vor einem Jahre in Wien 
nicht. Wohl war schon bei der ersten Donauregulierung in Wien, 
im Jahre 1869, die Einrichtung eines Hafens in dem abgebauten 
Stromteile zwischen dem Weidenhaufendurchstich und dem ver- 
längerten Wiener Donaukanal östlich vom Freudenauer Wettrenn- 
platz beabsichtigt. Damals wurde jedoch davon abgesehen, weil 
man das Becken für nicht hochwassersicher hielt. 

In der Mündungsstrecke des Fischaflusses in die Donau, unter- 
halb Fischamend, befindet sich wohl ein sehr geräumiger und ge- 
sicherter Winterhafen, in welchem für die Ueberwinterung von 
mehr als 200 Schiffen Raum ist. Aber dieser Hafen ist für den 
Handel von geringem Wert, weil er 1. von Wien sehr entfernt ist, 
2. keine Bahnverbindung besitzt, ein Umschlag dort also nicht oder 
nur unter sehr kostspieligen und schwierigen Verhältnissen statt- 
finden kann. Die Getreideschiffe, die ein plötzlich eintretender Eis- 
gang zwingt, dort Zuflucht zu nehmen, müssen ihre Ladung bis 
zum Frühjahre an Bord behalten, was leicht die Beschädigung der 
empfindlichen Ware zur Folge hat. Auch ist der Hafen, da er im 
Pacht der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft sich befindet, für Schiffe 
anderer Gesellschaften nicht zugänglich. 

Als gelegentlich der Einbeziehung der Vororte zur Gemeinde 
Wien neben mannigfaltigen Verkehrsanlagen auch die Umwand- 
lung des Donaukanals in einen Schutz- und Handelshafen für den 
Lokalverkehr und die Eleinschiffahrt beschlossen worden war, machte 
sich der Wunsch nach einem geräumigen, in Wien gelegenen, stets 
offenen und hochwassersicheren Schutzhafen für die Grossschiffahrt 
seitens der Handelswelt wieder geltend und zwar um so dringender, 
als sonst durch den damals bereits beschlossenen Bau eines Winter- 



195] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 109 

hafens in Pressburg dem Handel Wiens ein neuerlicher Abbruch 
drohte. 

So tauchte das alte Projekt wieder auf, das jetzt auch viel 
günstiger sich darstellte; denn durch die Erbauung der Donauufer* 
bahn war das Freudenauer Becken in zwei Teile geteilt worden, 
wovon der vielfach grössere Teil durch diesen Bahndamm in eine 
völlig geschützte Lage gegen Eisgefahr gekommen war. 

Nach dem Bauprogramme zu dem Gesetz über die Vollendung 
der Donauregulierung in Oesterreich u. d. E. vom 4. Januar 1899 
R.-G.-B1* Nr. 5, wurde 1899 mit dem Bau des Hafens begonnen; 
gegenwärtig ist derselbe bereits als Schutzhafen benutzbar und im 
Laufe dieses Jahres soll der Bau beendet sein. 

Der Hafen ist folgendermassen gegliedert: 

Durch die Ueberbrückung der Donauuferbahn ist der Hafen in 
zwei Teile geteilt. Der untere, kleinere, dem Strome näher lie- 
gende Teil bildet den sog. Vor- oder Manövrierhafen, während der 
grössere Teil oberhalb der genannten Bahnverbindung vor Eis- 
gängen mehr geschützt den eigentUchen Hafen, den Innenhafen 
bildet. 

Der Innenhafen zerfallt wieder in den eigentlichen Mittelhafen, 
der an seinem obersten Ende in einen Werfthafen ausläuft und in 
zwei Seitenhäfen, zwischen welche zungenformige Qais von 70 m 
Eronenbreite angeordnet sind. 

Bezüglich dieses Werfthafens bestand seitens der Donaudampf- 
schiffahrtsgesellschaft die Absicht der Errichtung einer neuen, mo- 
dernen Werftanlage mit einer Arbeiterkolouie. 

Die Hafenplateaux liegen 4,2 und 5,5 m über dem Nullwasser- 
stande des Hafenmundes und sind mittels eines 6,32 m Über dem 
jeweiligen örtlichen Nullwasser hoch gelegenen breiten und ab- 
gepflasterten Schutzdanmies gegen die grössten Hochwasser ge- 
sichert. 

Die Hafensohle liegt 5 m unter Null, so dass selbst bei nieder- 
stem Wasserstande die beladenen Schlepper, selbst mit grösstem 
Tiefgange, noch immer die genügende Fahrtiefe vorfinden. Die 
Wasserfläche des Hafens misst 344000 m*, die Uferlänge in den 
beiden Häfen 8082 m und haben in demselben 300 Schiffe grössten 
Kalibers Raum. Die gleichzeitig durchgeführte Regulierung des 
Donaustroms auf Niedrigwasser, in strombautechnischer Beziehung 
eine der schwierigsten Aufgaben, deren sich die Donauregulie- 
rungskommission mit Glück entledigt hat, schützt den Hafenmund 
vor Versandung. Magazine und Preilagerplätze sind reichlich vor- 



110 Der Wiener Getreidehandel und seine Technik. ("196 

gesehen; eine gute Zufahrtsstrasse fttr schweres Lastfuhrwerk ver- 
bindet den Hafen mit der Stadt, die notwendigen Geleiseanlagen za 
den verschiedenen Bahnhöfen sind projektiert und sollen nach und 
nach gelegt werden; in fernerer Zukunft ist dann die Verbindung 
des Hafens mit dem Donaukanal geplant, wodurch es möglich würde, 
Getreide, Mehl, Baumaterialien etc. auch im Winter der inneren 
Stadt per Wasser zuzuführen. 

Dadurch und durch die eben im Werke befindliche Regulie- 
rung des Donaukanals und die Ausweitung einer Stelle desselben 
zu einem Hafen, dürfte es in der Folge auch möglich und zweck- 
mässig werden, den Lokal verkehr in Getreide unmittelbar in die 
Stadt selbst zu verlegen und dadurch den teuren Achsentransport 
abzukürzen. 

Der Hafen untersteht der sicherheits- und schiffahrtspolizei- 
lichen Hoheit und Aufsicht der Staatsverwaltung, welche durch ein 
besonderes Hafenkommando ausgeübt werden soll. Er ist den Be- 
stimmungen des citierten Gesetzes zufolge ^ öffentlich und jeder- 
mann zugänglich. Nach Tilgung des von der Donauregulierungs- 
kommission zur Durchführung der Regulierungsarbeiten aufgenom- 
menen Darlehens geht die ganze Anlage in den Besitz der Stadt 
Wien über. 

Gegenwärtig ist der Schiffsverkehr Wiens in Getreide auf die 
Landungsplätze am Donaudurchstich beschränkt, welcher in einer 
Länge von 15 km von Nussdorf bis zur Stadlauerbrücke reichend, 
den Strom unmittelbar an der Stadt vorüberleitet und durch eine 
Bahn, die das ganze Ufer entlang läuft, die sog. „ Donauuferbahn '^ 
mit allen Eisenbahnen in Verbindung steht. 

In der unglücklichen Anlage dieses Donaudurchstichs wurzeln 
zum grossen Teile die schweren Verkehrsstörungen, mit welchen 
der Wiener Getreidehandel Jahr für Jahr zu kämpfen hat. 

Der Donauumschlag ist nämlich in Wien wohl insoferne ein- 
facher als der Umschlagverkehr an anderen Handelsplätzen, als er 
fast nur von Schiff zu Land, nicht auch in umgekehrter Richtung 
stattfindet. Die Donaustrasse ist thalwärts leider so gut wie un- 
benutzt. Wohl ist wiederholt, zuletzt noch gelegentlich der Er- 
höhung der Levantetarife seitens des Lloyd, das Projekt ventiliert 
worden, den Zuckerexport nach der Levante auf die Donau zu 
lenken, aber immer wieder eingeschlafen. Welche Aenderung in 
diesem Punkte etwa durch die Kanäle herbeigeführt werden wird, 



§§ 9 und 12. 



197] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. Hl 

lässt sich heute noch nicht absehen. Ferner umfasst er vornehmlich 
nur eine Warengattung: Getreide. DafQr verteilt sich dieser Um- 
schlag des Getreides auf drei Yerkehrsrichtungen: den Versand, den 
Lokalkonsum und die Lagerung, und wir haben daher 

1. den Umschlag des für den Versand bestimmten Getreides 
von Schiflf zu Waggon, 

2. den Umschlag des für den Locokonsum bestimmten Ge- 
treides vom Schiff auf das Achsfuhrwerk, 

3. den Umschlag vom Schiff zum Lager. 

Etwa 60 ^/o der anlangenden Schiffe, insbesondere die der Donau- 
dampfschiffahrtsgesellschafty führen nun eine sog. geteilte Ladung, 
d. h. eine aus Getreide und Eaufmannsgütem bestehende. Der lange 
Zwang, mit kleinen Schiffstypen zu rechnen, wie ihn die früheren 
Verhältnisse auf der Donau mit sich brachten, verwandelte sich 
schliesslich in Gewöhnung, die nicht so schnell abgestreift werden 
kann, während die neueren Schiffstypen wesentlich grösser sind aU 
die früheren Konstruktionen. Die Schiffahrtsgesellschaften finden 
nicht immer Kunden, welche diese Schlepper mit Getreide voll be- 
frachten, und müssen daher den übrigen Raum mit Kaufmannsgütern 
verschiedener Art und Verpackung komplettieren. Aber selbst dann, 
wenn die Ladung des Schiffes ganz aus Getreide besteht, ist nicht 
viel geholfen, weil ca. 90*^/o der Getreideladung eine sog. ge- 
mischte Manipulation erfordern, d. h. der Umschlag nach zwei 
oder gar nach allen drei angegebenen Verkehrsrichtungen erfolgen 
muss; ein Teil der Ladung ist vielleicht für Industrieetablissements in 
Wien, ein anderer. Teil für eine Mühle in Pilsen, ein dritter zur 
Einlagerung bestimmt. 

Zur glatten Abwickelung eines so vielverzweigten Umschlages 
wären nun sehr breite Ufer erforderUch, die es ermöglichten, Lager- 
häuser, Waggongeleise und Baum für die Aufstellung von Fuhr- 
werken möglichst hintereinander oder doch in enger Aneinander- 
rückung anzuordnen, so dass der Umschlag nach allen drei Bich- 
tungen aus einem und demselben Schiffe möglichst gleichzeitig oder 
doch in rascher Aufeinanderfolge und ohne Verstellung des Schiffes 
unschwierig möglich sei. Thatsächlich ist aber die Uferbreite am 
Donaudurchstich gering, sie beträgt nur 62 m. Die Donauregulierungs- 
kommission trachtete seinerzeit aus finanziellen Rücksichten möglichst 
viel für die hinter den Uferplätzen gelegenen und für die Errichtung 
von Wohngebäuden bestimmten Flächen zu gewinnen, und man blieb 
nur in alten Geleisen, wenn man damals von einer „Vülenstadt'^ am 
Donaudurchstich träumte, während in anderen Städten der Handel 



112 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [198 

einer geradezu treibhausmässigen Kultur sich erfreute. Dem damaligen 
Umfange des Wiener Donauverkehres gemäss mochte man auchdenken, 
mit dieser Breite das Auslangen zu finden. Aber die Donaudampf- 
schiffahrtsgesellschaft, die auf Qrund einer langen Erfahrung, die sie 
in ihrem Geschäfte gesammelt hatte, wusste, dass tiberall, wo die 
technische Organisation verbessert wurde, auch der Umschlagver- 
kebr sich hob, sah, dass für Wien ein Gleiches mit um so mehr 
Berechtigung vorauszusetzen war, als nur der Mangel an Ufer- 
plätzen bisher die Hebung des Donauverkehres verhindert hatte. 
Und da eine glatte und rasche Abwickelung des Donauumschlages 
wesentlich auch in ihrem eigenen Interesse gelegen war, weil sie 
dadurch ihre Schiffe früher frei bekommt, wendete sie sich, noch 
während der Bau des Durchstiches in Angriff genommen wurde, mit 
einer Eingabe an das Handelsministerium, worin es heisst: „Die 
Bestimmung (der so geringen Breite), an welcher die Donauregu- 
Uerungskommission bisher mit Hartnäckigkeit festhält, ist aber in der 
That em Missgriff, dessen unabsehbare Folgen sich in wenigen Jahren, 
wenn Handel und Verkehr am neuen Donaudurchstich einmal zur Ent- 
faltung kommen sollen, woran doch gewiss nicht gezweifelt wird, 
aufs empfindlichste geltend machen wird/ Das Handelsministerium 
veranstaltete eine Enquete, in welcher auch von seiten des Direktors 
des Aktienlagerhauses Vorstellungen erhoben wurden. Das Resultat 
war, dass die Wünsche der Donaudampfschiffahrtsgesellschafb abge- 
wiesen und die Ufer in der projektierten Breite ausgeführt wurden ^. 
Die geringe Uferbreite zwang den Umschlagverkehr zur Expansion in 
die Länge, zu einer irrationellen Dezentralisation. Selbst eine engere 
wirtschaftliche Verbindung der Landungsplätze ist durch den charak- 
teristischen Umstand erschwert, dass in unmittelbarer Nähe des- 
jenigen Teiles des Donaudurchstiches, welcher dem Umschlagver- 
kehre dient, drei grosse Badeanstalten errichtet worden sind, 
welche die Entwicklung der Geleiseanlagen ausserordentlich hemmen; 
man wird unter den Binnenstapelplätzen der Welt ein Analogon 
dafür kaum mit Erfolg suchen I 

Durch die Dezentralisation des Umschlags erfährt das Spesen- 



^ Die unmittelbare Folge davon war die, dass die Donaudampfschiffahrts- 
gesellschaft ihre Absicht, öffentlichb Lagerhäuser in Wien zu errichten, fallen 
liess, was im Interesse des Getreidehandels bedauert werden muss, da die 
wirtschaftliche Verbindung von Transport, Umschlag und Lagerung eine Herab- 
minderung der Gesamtkosten ermöglicht und die Donaudampfschiffahrtsgesell- 
schaft als kaufmännisches Institut mit den Bedürfnissen des Handels beständig 
Fühlung hat. 



199] Die Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 113 

konto des Wiener Eaufmannes eine erhebliche Belastung, weil es 
in der Geschäftssaison gar kein ungewöhnlicher Fall ist, dass ihm 
6 — 8 Schiffe gleichzeitig eintreffen; soweit er mit der Ware nicht 
in einem öffentlichen Lagerhause auf Lager gehen will, muss er sie 
an den Länden der verschiedenen Transportgesellschaften, denen die 
Schiffe gehören, umschlagen lassen, weil die geschilderten Uferver- 
hältnisse für jede einzelne Landungsstelle ein nicht überschreitbares 
Maximum der Leistung bedingen, welches allerdings nirgends voll 
ausgenützt ist. Insoweit nun die Ausladung des Schiffes nicht durch 
ein öffentliches Lagerhaus erfolgt, lässt der Kaufmann die Abwäge 
durch seinen Vertrauensmann kontrollieren, wenn es sich, wie sehr 
häufig, um Kommissionsware handelt, schon wegen der Ausweis* 
leistung dem Kommittenten gegenüber. In jedem Falle aber — er- 
folge nun die Ausladung durch ein öffentliches Lagerhaus oder wo 
immer — ist es nötig, dass während der Ausladung öfter nach der 
Ware gesehen wird, weil es nur nach Massgabe, wie die einzelnen 
Schichten zur Wage gelangen, zu konstatieren möglich ist, ob die 
Lieferung kontraktlich ist. Die Dezentralisation des Donauumschlages 
stellt also stärkere Ansprüche an den Apparat des Kaufmannes, legt 
ihm höhere Personalspesen auf. 

Anlage und Beschaffenheit der nach Wien führenden Verkehrs- 
wege waren von jeher wenig günstig. Die für den Getreide verkehr 
wichtigste Transportstrasse, die Donau, ist noch immer nicht aus- 
reguliert, wenn auch eine erhebliche Besserung gegen den früher 
dargestellten Zustand eingetreten ist. So ist das Schiffahrthindemis 
am ^Eisernen Thor* durch die Herstellung eines Kanales ziemlich 
behoben worden; der Vorteil dieser Verbesserung wird allerdings 
dadurch eingeschränkt, dass die ungarische Regierung eine sehr hohe 
Kanalgebühr, beiläufig 10 Kreuzer per 100 kg, einhebt, was dazu 
beiträgt, den Verkehr aus dem Balkan von der Donau über Wien 
ab- und seewärts zu drängen. Andererseits bleibt noch abzuwarten, 
wie der Kanal bei stärkerem Verkehr sich bewähren wird; die 
Strömung ist sejir stark und die Schlepper müssen durch eigens 
konstruierte Kettenschiffe über den Kanal gebracht werden. 

Speziell die wichtigste Strecke, Pressburg- Wien, bereitet dank 
der Eifersucht Ungarns auf die Handelsinteressen Wiens der Schiff- 
fahrt noch immer grosse Hindernisse, welche den Vorteil der Lage 
an der Wasserstrasse für Wien teilweise illusorisch machen und 
Budapest gegenüber Wien in Vorteil setzen. Die Frachtsätze der 
Schiffahrtunternehmungen nach Wien sind infolge dieser Schwierig- 
keiten verhältnismässig höher als nach Budapest. 

Wiener Studien. HI. Bd., 2. Heft. 8 [14] 



114 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [200 

Die Anlage der Eisenbahnwege bietet Wien keine Eompen-* 
sation für diese Widrigkeiten. Im Gegensätze zu Ungarn, wo der 
Bau der Eisenbahnen von vorneherein systematisch so erfolgte, dass 
die Hauptstadt den Knotenpunkt aller Hauptlinien bildet , ist bei 
uns durch das System der Privatbahnen diese Planmässigkeit nicht 
zur Geltung gekommen, und manche für den Getreidehahdel ausser- 
ordentlich wichtige Eisenbahnlinien ziehen in weitem Bogen an 
Wien vorbei. 

Die geschilderten Mängel der Verkehrsanlagen in Verbindung 
mit jenen, welche dem Lagerhauswesen durch das Lagerhausgesetz 
aufgezwungen und durch die zurückgebliebene Lagertechnik ver- 
schuldet werden, wurden an und für sich schon genügen, die Ent- 
wickelung des Lagerhauswesens und des Getreidehandels in Wien 
zu hemmen. Ihre schlimmen Wirkungen werden aber noch weit- 
aus übertroffen von jenen, welche das Verhalten der Eisenbahnen 
den Lagerhäusern und dem Handel gegenüber nach sich zieht. Die 
Eisenbahnpolitik, wenn anders der Ausdruck Politik hier anwendbar 
ist, ist der wundeste Punkt des ganzen kommerziellen Getriebes 
und in ihr zeitigt die eigenartige Unterscheidung des österreichi- 
schen Lagerhausgesetzes zwischen „öffentlichen^ und «privaten*^ 
Lagerhäusern die bösesten Früchte. Es entspricht nur dem Geist 
dieses Gesetzes, wenn die Eisenbahnen, die ja auch gegen das 
städtische Lagerhaus nicht sehr entgegenkommend sind, die Ver- 
kehrseinrichtungen und Lagerhäuser des Privatkapitals, trotzdem 
ihre Funktion eine öffentliche ist, vollständig ignorieren. 

Das bedeutendste Entwickelungshindernis des Lagerhauswesens 
und des Getreide Verkehrs am Praterquai sind die Verbindungsbahn- 
sätze von den verschiedenen Frachtbahnhöfen zum Praterquai und 
zum Lagerhause. Es muss als unverständiger Egoismus der Privat- 
bahnen bezeichnet werden, wenn im Zeitalter der Zonentarife für 
Distanzunterschiede von einigen hundert Metern Frachtsätze von 
4 Hellern per 100 kg eingehoben werden. Zum Lagerhaus der 
Stadt Wien beträgt die Fracht um 4 Heller per 100 kg mehr, als 
zu dem nur wenige hundert Schritt entfernten Nordbahnhof oder 
zum Bahnhof der Staatseisenbahngesellschaft, trotzdem die faktische 
kflometrische Entfernung von vielen ungarischen Stationen zum 
Praterquai erwiesenermassen geringer ist, als die zum Staatsbahnhof ^. 
In Budapest besteht rücksichtlich einer fünfmal längeren Distanz 
von den Lagerhäusern, zum Staatsbahnhof, als der zwischen Staats- 



^ N'ämlich bei allen über die Stadlauerbrücke anlangenden Sendungen. 



201] I^ie Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 115 

bahnhof und Praterquai in Wien, keine Disparität. Die Verbindungs- 
bahngebühr zwischen Staatsbahn und Praterquai wird vom Handel 
drückender empfunden als alle anderen, selbst als die enorm hohe 
von 12 Heller zwischen Südbahnhof und Praterquai, weil auf den 
Linien der Staatseisenbahngesellschaft der Hauptverkehr sich ab- 
wickelt. 

Um hier anknüpfend das Verhalten der Bahnverwaltungen zu 
dem grössten, dem Getreideyerkehr dienenden Institute auch in den 
übrigen Fragen zu erörtern, sei vor allem eine Massregel erwähnt, 
welche den Wert des Beexpeditionsyerfahrens , dessen Wichtigkeit 
für den Getreidehandel Wiens wiederholt hervorgehoben wurde, fast 
iUusorisch macht: es ist die sog. symbolische Uebergabe. 

Von der Fiktion ausgehend; dass durch die angebliche Ueber- 
nahme der Sendung im Lagerhause der Stadt Wien der ursprüng- 
liche Frachtvertrag erloschen sei, lehnen die Bahnverwaltungen, 
selbst im Falle als eine Sendung ohne Umladung hier weiterrollt, 
die weitere Gewichtsgarantie auf Grund der inrsprünglichen amt- 
lichen Abwäge der Verladestation ab, wodurch 

1. der Begress für ein auf dem Wege von der ürsprungs- 
station nach Wien eventuell entstandenes Manko erlischt, 
weil die Sendung hier bei der „Uebernahme' im Sinne der 
erwälmten Bechtsfiktion nicht verwogen wurde, und 

2. aus demselben Grunde selbstverständlich auch kein Begress- 
•recht für ein auf dem Wege von Wien zur Bestimmungs- 
station entstandenes, wenn auch noch so grosses Manko 
besteht ^. 

So wurde von einer Firma nachgewiesen, dass sie bei einer 
einzigen Waggonladung ihrem Adressaten ein Manko von 17 Säcken 
im Gewichte von 1302 kg (die ganze Waggonladung hat 10 000 kg) 
vergüten musste, wofür die Bahn jedweden Ersatz ablehnte. 

Diese Auffassung steht im Widerspruche mit dem XJeberein- 
kommen zum Betriebsreglement des Vereins Deutscher Eisenbahn- 
verwaltungen ^ und bildet ein Spezifikum, um nicht zu sagen eine 



^ Bis vor kurzem wurde in den Frachtbriefen über reexpedierte Sendungen 
seitens des Lagerhauses mittelst Stampiglie der Vermerk angebracht: „Nur 
symbolisch übernommen. Der Auftraggeber haftet für die Richtigkeit der 
Sendung, der Anzahl und der Beschaffenheit der Kolli, des Inhaltes und Ge- 
wichtes. Lagerhaus der Stadt Wien", was die Empfänger natürlich zu Miss- 
bräuchen direkt herausforderte. 

2 Giltig vom 1. Jänner 1899. Artikel 23, Absatz 7 lautet: »Für Verlust, 
Minderung und Beschädigung bei Sendungen in Wagenladungen, welche ohne 



116 -Der Wiener Getreidehandel nnd seine Technik. [202 

Spezialität, des Wiener Verkehrs K Und sie ist um so unmotivierter, 
als die Waggons hier nur zum Zwecke der Musterentnahme geöff- 
net und sodann sofort wieder mit amtlicher Plombe verschlossen 
werden. 

Die Wirkung dieses Missstandes ist gleich der einer teilweisen 
Aufhebung des Reexpeditionsverfahrens. Der Gefahr eines Gewichts- 
verlustes wie des oben geschilderten gegenüber erscheint es dem 
Kaufmann als das kleinere Uebel, die Ware unbesehen direkt von 
der Ursprungs- an die Bestimmungsstation gehen zu lassen. Natür- 
lich kommt auch das Lagerhaus dabei zu Schaden, weil es den 
Transitverkehr verliert. 

Ein weiteres Uebel, der chronische Waggonmangel am 
Praterquai, muss teilweise ebenfalls der Unaufmerksamkeit der 
Eisenbahnverwaltungen insbesondere der Staatseisenbahnverwaltung 
den Bedürfnissen des Getreidehandels gegenüber zur Last gelegt 
werden. Als in der mehrfach erwähnten Enquete über den Donau- 
umschlag darüber Klage geführt wurde, stellte die Staatseisenbahn- 
gesellschaft alles in Abrede und mit knapper Not entgingen die 
Beschwerdeführer einem Verweis seitens des Vorsitzenden der En- 
quete. Dem stellen wir hier die neun Jahre später datierenden 
Aeusserungen des Direktors des städtischen Lagerhauses, eines gewiss 
unverfänglichen Zeugen, gegenüber. Es heisst da^: „dass das k. k. 



Umladung mit neuen Frachtbriefen weiter befördert werden, haftet, ftlls nicht 
erwiesen wird, dass der Schaden aus dem Verschulden einer bestimmten Ver- 
waltung entstanden ist, nach den vorstehenden Grundsätzen die an der ganzen 
Beförderungsstrecke beteiligten Bahnen untereinander ebenso, als ob der ganze 
Eisenbahntransport auf Grund eines Frachtvertrages ausgeführt worden wäre. 
In diesem Falle treten in engeren Verbänden vereinbarte Bestimmungen nur 
dann in Wirksamkeit, wenn sie sich auf die ganze Beförderungsstrecke be- 
ziehen." 

^ Festgestellt worden ist das durch die von einer Wiener Getreidefirma 
veranstaltete Umfrage, auf deren Ergebnisse auch von der städtischen Lagerhaus- 
verwaltung in einer Eingabe an das Eisenbahnministerium verwiesen worden ist. 
Es wurden Anfragen gerichtet an die Lagerhäuser der Ungarischen Eskompte- 
und Wechslerbank in Budapest, an das Nyregyhazaer Getreide- und Waren- 
lagerhaus in Nyregyhaza, an die Lagerhäuser der Steiermärkischen Eskompte- 
bank in Marburg a. D. , an die Lagerhäuser der Bayerischen Handelsbank in 
München und noch einige andere süddeutsche und schweizerische öffentliche 
Lagerhäuser. Die Antwort lautete übereinstimmend, dass überall die bahnseitige 
Gewichtsgarantie auf Grund der bahnamtlichen Abwäge der Ursprungsstation 
bis zur thatsächlichen Endbestimmungstation aufrecht bleibt, wenn die Sendung 
an eines dieser Lagerhäuser adressiert war und ohne Umladung weiterrollte. 

^ Rechenschaftsbericht des städtischen Lagerhauses pro 1899. 



203] ^i^ Verkehrseinrichtungen im Dienste des Getreidehandels. 117 

Bahnstationsamt im Lagerhause der Stadt Wien von neuen Ein- 
führu4gen im Tarifwesen, sowie von Aenderungen in den 
Wegleitungen oder in der Wagenverwendung vielfach 
verspätet oder unzureichend Kenntnis erhält und nicht die Befugnis 
besitzt, in solchen Fällen selbständig sofortige Abhilfe zn treffen, wie 
es die kaufmännische Beweglichkeit erheischen würde/ Und weiter; 

»Leider begegnet das städtische Unternehmen nicht immer 
der geeigneten Berücksichtigung bei den Bahnen, um ihm die Er- 
füllung seiner wirtschaftlichen Aufgaben zu erleichtern. Bezeichnend 
flir die ungünstige Behandlung und die dem Handel daraus ent- 
stehenden Nachteile erscheint die Thatsache, dass Sendungen, die 
wegen Wagenmangels vom Lagerhause der Stadt Wien aus nicht 
mit der Bahn abbefordert werden konnten, auf anderen Wiener 
Bahnhöfen — wenn sie auf dem kostspieligen Wege der Strassen- 
zufuhr dahin gebracht wurden — leere Wagen vorfanden und ohne 
Verzug abrollten." 

Um die Verhältnisse vollends unerträglich zu machen, werden 
regelmässig gerade zu der für den Getreide verkehr, namentlich in 
einem Getreideexportland wichtigsten Zeit, die Waggons von der 
Militärverwaltung für Manöverzwecke in Anspruch genommen, wo- 
durch der am Wiener Praterquai ohnedies chronische Waggon- 
mangel ganz ungeheuerliche Dimensionen annimmt; und endlich 
wählen die Lagerhausarbeiter für die infolge der Nichtbefriedigung 
ihrer Ansprüche immer wieder sich erneuernden Ausstände, natür- 
licherweise die Zeiten stärkeren Verkehrs, wo die Aussichten für 
eine Lohnbewegung die günstigsten sind. 

Infolge dieser Verhältnisse stauen sich bei stärkerem Verkehr, 
wie er im Getreidegeschäft zu gewissen Jahreszeiten — Herbst und 
Frühjahr — regelmässig eintritt, oft hundert und mehr Getreide- 
schlepper am Praterquai an, welche oft wochenlang der Entladung 
harren, und der Kaufmann kann von Glück sagen, wenn die Ware bei 
der langen Lagerung in eingeschlossenem Zustande nicht Schaden 
leidet und er mit Zeit- und Zinsenverlusten und einer unerquick- 
lichen Korrespondenz mit seinen Kunden davonkommt. Denn be- 
greiflicherweise ist der kleine Wassermüller nicht erbaut, wenn di^ 
Spanne Zeit, die sein Motor, das Wasser, voll arbeitet, nicht aus- 
genützt werden kann und ebenso wenig der Mälzer, der befürchten 
muss, dass die Konkurrenz auf den ausländischen Märkten ihm zu- 
vorkommt. Der natürliche Vorteil, den Oesterreich-Ungarn im 
Wettbewerb auf dem Getreideweltmarkt dadurch vor anderen Ländern 
voraus hat, dass in Europa Ungarn am frühesten seine Ernte ein- 



118 I)er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [204 

bringt, wird durch die geschilderten Verhältnisse beinahe illusorisch 
gemacht, und »wir übertreiben nicht, wenn wir den Schaden, der 
der Volkswirtschaft Oesterreichs dadurch bisher zugefügt wurde, auf 
eine ziemlich bedeutende Anzahl von Millionen Kronen veranschlagen. 

Lässt schon dem städtischen Lagerhause gegenüber das Ver- 
halten der Eisenbahnen alles zu wünschen übrig, so ist es noch 
schlimmer um die privaten Verkehrsanlagen bestellt. Zu den bereits 
erwähnten üebelständen treten hier noch andere drückende hinzu. 

Auf dem Umschlagplatze der Donaudampfschiffahrtgesellschaft, 
der ein überaus wichtiger Paktor des Wiener öetreidehandels ist 
und wo jährlich viele tausende Waggons Getreide zum Umschlag 
kommen, gibt es keine bahnamtliche Abwäge, weil die Eisen- 
bahnverwaltungen sich nicht veranlasst sehen, hier ein Stationsamt zu 
unterhalten. Die hier aufgegebenen Getreidesendungen gemessen 
also keinerlei Gewichtsgarantie für die verladene Ware ^ Von seite 
der Kaufmannschaft gegebene Initiativen auf Beistellung bahnseitig 
beeideter Wäger zur Kontrolle der Verwägungen gegen Einhebung 
einer kleinen Wägegebühr zur Deckung der Besoldungskosten für 
die Bahnorgane, sowie Anträge, die beladen abgehenden Waggons 
auf Brückenwagen amtlich wägen zu lassen, wie es auch bei der 
Abfuhr mit Strasstfnfuhrwerken geschieht, blieben vollständig un- 
berücksichtigt. 

Die Folge dieses Mangels ist, dass die für den Getreidehandel 
rationellste Art des Transportes, die in loser Schüttung, auch 
dort, wo sie möglich ist, bei Mais z. B., unterbleiben und der 
Kaufmann der teuersten sich bedienen muss, der in Säcken 
unter gleichzeitiger Egalisierung des Gewichts, weil diese Art 
der Expedition ihm wenigstens einigen Schutz bietet gegen eine Aus- 
beutung des Zustandes der Wehrlosigkeit, in welchen ihn die Eisen- 
bahnverwaltung gegenüber Uebervorteilungen seitens der Empfänger 
versetzt. Natürlich wird mindestens ein Teil dieser Mehrkosten, 
die man — Säckefracht und Abnützung, Egalisierungsarbeit — mit 
zusammen 60 — 80 Kronen pro Waggonladung nicht zu hoch ver- 
anschlagt, auf den Käufer überwälzt, und wenn man bedenkt, dass 
es sich hier hauptsächlich um grosse Massen Futtergetreide handelt, 
so wird man unsere eingangs aufgestellte Behauptung würdigen, dass 
die Landwirtschaft an einer rationellen Bewirtschaftung des 
Wiener Getreidehandels sehr stark interessiert ist. 

^ Auf dem Umschlagplatze der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft in Linz, 
welcher nicht annähernd die Bedeutung des Wiener XJmschlagplatzes hat, erfolgt 
diese Abwäge anstandslos. 



2051 ^i^ Yerkehrsemrichtuiigen im DienBte des Getreidehandels. 119 

Für die Privatunternehmungen existieren auch die kleinen Zu- 
geständnisse nicht, welche von einzelnen Bahnverwaltungen dem 
städtischen Lagerhause unter dem Titel der Rückvergütung der 
Manipulationsgebühren gemacht worden sind. Die k. k. Staats- 
bahnverwaltungen, die Nordwestbahn und die k. k. priv. Südbahn- 
gesellschaft vergüten bei Expedition von Sendungen ab Lagerhaus 
der Stadt Wien nach Stationen der erwähnten Eisenbahnverwaltungen 
einen Teil der in den Tarifen eingerechneten Manipulationsgebühr, 
welche die Bahnverwaltungen dadurch ersparen, dass das Lagerhaus 
die Verladung selbst besorgt. Auch die privaten Unternehmer be- 
sorgen diese Verladung selbst, trotzdem werden ihnen die Mani- 
pulationsgebühren nicht rückvergütet. 

Nun haben wir aber noch eines Uebelstandes zu gedenken, 
der wohl zu den krassesten gehört, die auf einem Handelsplatze 
denkbar sind, und kaum in einer Stadt, wo Handel getrieben wird, 
seinesgleichen finden dürfte; es ist der unter dem Titel der «zoll- 
samtlichen Hausbeschau* berüchtigte und von den Eaufleuten 
gefürchtete. Auf dem Praterquai gibt es ebenso wie keine eigene 
Bahnstation keine eigene Zollexpositur. Will der Exporteur unter ZoU- 
verschluss anlangendes Oetreide, welches für das Ausland bestimmt 
ist, besichtigen, um Qualitätskontrolle vor Abgang desselben nach dem 
Bestimmungsort zu üben, so muss er dazu vom Hauptzollamt die 
Delegierung eines Finanzorgans verlangen und ausser den Gebühren 
eine Pauschalvergütung für Diäten leisten, so dass ihn die Entnahme 
eines einfachen Musters auf 10 — 20 Kronen kommt! Wird die Ware 
aber am Praterquai in Wien umgeschlagen, so muss das Finanz- 
organ während der ganzen Dauer des Umschlages zugegen sein, 
wodurch sich die Kosten des Kaufmanns ins Unkalkulierbare steigern, 
weü bei grossem Warenandrang oder bei ungünstiger Witterung die 
Ausladung der Ware sich sehr verzögert. Der kalkulierte Profit 
kann so unversehens verschlungen werden« 

Infolge der gekennzeichneten Nachteile der privaten Verkehrs- 
untemehmungen drängt alles zur Lände des städtischen Lager- 
hauses, welches bei seiner mangelhaften Organisation insbesondere 
bei lebhaftem Saisonverkehre nicht in der Lage ist, die Arbeit zu 
bewältigen. 

Alle diese Uebelstände datieren nicht von heute, sondern Jahre 
her und haben ungezählte und — beinahe möchten wir sagen selbst- 
verständlich — erfolglose Petitionen veranlasst. 



120 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [206 

IV. 
Die Träger des Getreidehandels. 

1, 
Die Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr. 

Im Anschlüsse an die in den früheren Abschnitten gegebenen 
Darstellungen wollen wir uns nun den Trägem unseres Getreide- 
handels ein wenig zuwenden, sie in ihrer Thätigkeit beobachten und 
sehen, inwieweit sich dabei die geschilderte Organisation zweck- 
mässig erweist oder nicht. 

Dabei haben wir es zunächst mit den Trägern des Handels- 
kapitals im Wiener Getreidehandel zu thun. 

Der Mannigfaltigkeit der durch den Wiener Getreidehandel 
bewirtschafteten Verkehrsrichtungen entsprechend zeigt derselbe eine 
ziemlich reiche Gliederung. Da haben wir selbständige Import- 
häuser und selbständige Exporthäuser, Vertretungen ausländischer 
Exporteure (Ungarn ebenfalls als Ausland aufgefasst), Vertretungen 
ausländischer Importeure , Niederlassungen ausländischer Export- 
häuser und Niederlassungen ausländischer Importhäuser, Kommissio- 
näre, Agenten, beeidete Makler. 

In der Praxis ist die Scheidung wohl keine so strenge. Per- 
sonalunion zwischen Import- und Exportgeschäft, sei es in der Form, 
dass die Wiener Importeure Einkaufsfilialen in Ungarn unterhalten, 
oder umgekehrt Budapester Firmen in Wien Verkaufsfilialen, ist 
ziemlich häufig. 

Der Einkauf durch Einkaufsfilialen, also aus erster Hand, spielt 
sich in folgender Weise ab. 

Von dem Eontor der Firma gehen allabendlich Depeschen an 
die Einkäufer ab, welche dieselben über die Tendenz des Marktes 
unterrichten, sie zum Einkauf oder zur Enthaltung von demselben 
beauftragen, bezw. ihnen Einkaufslimite vorschreiben, welche in der 
Regel auf Grund des Terminkurses berechnet werden. 

Zeithch morgens erreicht diese Depesche ihren Adressaten, der 
sich nun auf den Markt begibt, welcher in den Frühstunden abge- 
balten wird, oder zu den einzelnen Landwirten und Gutsbesitzern, 
mit welchen er gerade in Unterhandlung steht. 

Ueber den Verlauf des Marktes und seine Käufe berichtet er 
sofort nach Marktschluss, in bewegten Zeiten oft noch während des- 



207] Die Träger des Getreidehandels. 121 

selben, telegraphisch an seine Firma, welche auf Kaufsanzeigen 
sofort die Sicherungsarbitrage im Terminmarkt vorninmit. An einen 
sofortigen Verkauf der Ware ist oft darum nicht zu denken, weil 
es geraume Zeit dauert, bis aus den verschiedenen kleinen Partien 
handelsfähige Ware hergestellt und ein verlässliches Yerkaufsmuster 
erhältlich ist. 

Diese Form des Importhandels, deren volkswirtschaftliche Be- 
deutung in der Einleitung gewürdigt worden ist, konnte in Wien nur 
wenig Boden fassen. Die Errichtung von Einkaufsfilialen rentiert 
nur dann, wenn die betreffende Produktionsgegend regelmässig 
nach dem Stapelplatze rentiert, wo die Firma ansässig ist. 

In Beziehung auf Wien ist das nun nur bezüglich Oberunngarns 
der Fall, aber gerade mit diesem fehlt Wien die wirtschaftliche 
Verbindung durch das Reexpeditionsverfahren, wodurch die Vorteile 
der öffentlichen Lagerhäuser, des billigen Kredits, des Terminhandels 
dem Produktionsgebiet gegenüber nicht zur Geltung gebracht werden 
können. Der Exporthandel aus Oberungarn ist wesentlich in den 
Händen ungarischer Provinzkommissionäre geblieben und dadurch hat 
der Wiener Getreidehandel seinen Wochenmarktscharakter auch in 
der Gegenwart beibehalten, indem an den früheren Wochenmarkt- 
tagen diese Provinzexporteure mit den österreichischen Konsumenten, 
welche aus der Umgebung zureisen, an der Wiener Börse zusammen- 
treffen. Hier entspringt aus der Dezentralisation des Ge- 
treidehandels das Bedürfnis der börsemässigen Organisation des 
Getreidehandels, während für den durch seine Verbindungen wohl- 
unterrichteten Grosshandel — wenn wir vom börsenmässigen Termin- 
handel absehen — das Interesse an derselben ganz entfällt, ja ihm 
sogar zuwiderläuft, weil sie sein Geschäft aus dem Geheimnis des 
Kontors an die Oeffentlichkeit bringt. In Mannheim hat die Ge- 
treidebörse einen rein dekorativen Charakter. Börsemässiger Termin- 
handel existiert nicht und die wenigen Millionenfirmen, in deren 
Händen der Mannheimer Importhandel sich konzentriert, wickeln 
ihre Geschäfte brieflich und telegraphisch von ihren Kontoren und 
durch ihre Reisenden ab. 

Der Exporthandel aus den übrigen Teilen Ungarns ist zumeist 
in den Händen der grossen Budapester Firmen zentralisiert. Neben 
dem Terminhandel hat in hervorragendem Masse der ausgiebige 
Gebrauch, den der Budapester Getreidehandel vom Lombardkredit 
macht, dazu beigetragen. Im Wiener Getreidehandel wird merk- 
würdigerweise mit dem Begriffe der kaufmännischen Solidität die 
Vorstellung verbunden, dass der Kaufmann das Geschäft im Rahmen 



]22 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. £208 

seiner eigenen Mittel betreibe, was teilweise darauf zurückzuführen 
sein mag, dass im Gegensatze zu Budapest, wo grosse Banken sich 
der Lagerhausunternehmung und der Belehnung des Getreides wid- 
men und wo die Verbindung der beiden Geschäfte zulässig ist, die 
Ereditorganisation des Wiener Getreidehandels eine sehr unzweck- 
mässige und unbequeme ist, so dass mit der Zeit aus der Not eine 
Tugend wurde. 

Im Verkehre der Wiener Importeure mit den Budapester Ex- 
porteuren hat sich, begünstigt durch die börsemässige Konzentra- 
tion des Geschäftsverkehrs und durch die telephonische Verbindung 
der beiden Börsen, eine eigentümliche Form der Agentur, die sog. 
Zwischenagentur, herausgebildet. Die Wiener Agentur besitzt 
eine Vertretung in Budapest, welche die Offerten von den Expor- 
teuren einsammelt und nach Wien zur Bearbeitung sendet. An die 
Stelle des schriftlichen Verkehrs mit der Wiener Vertretung tritt 
hier für den Exporteur der mündliche Verkehr mit der Zwischen- 
agentur in Budapest, die um dieser Bequemlichkeit willen von den 
Exporteuren gerne in Anspruch genommen wird. Der telephonische 
Verkehr durch den Zwischenagenten, die räumliche Konzentration 
des Geschäftsverkehrs in Budapest und Wien durch die Börse 
ermöglicht den so organisierten Agenturen , auf beiden Seiten eine 
grosse Anzahl von Klienten gleichzeitig zu bedienen und beide Teile 
besser zu befriedigen, als der Einzelvertreter dies vermag; das 
reiche Assortiment an Offerten bringt den Zwischenagenten einen 
grösseren Kundenzulauf, der grosse Kundenzulauf setzt sie in die 
Lage, den Exporteuren stets prompt mit Angeboten dienen za 
können. 

Einzelne Budapester Exportfirmen besitzen Niederlassungen in 
Wien und bereiten durch diese den Importeuren, welche ihr Geschäft 
in der zuletzt geschilderten Form, durch Kauf vom ungarischen Ex- 
porteur, betreiben, eine gefährliche Konkurrenz, weil sie von der 
ersten an die letzte Hand gehen ; durch ihre Einkaufsfilialen nehmen 
sie das Getreide direkt vom Produzenten auf, durch die Beisenden 
der Wiener Niederlassung geben sie es an die letzte Hand ab. 
Dabei bewirtschaften sie gleichzeitig zwei grosse Märkte und können, 
jede Veränderung der Konjunktur momentan wahrnehmend, ihre 
Operationen auf dem einen oder auf dem anderen ausführen. 

Der Exporthandel ist heute in Wien nur mehr in einer 
Fruchtgättung umfänglicher, in Braugerste. Dieser wird zumeist 
nicht für eigene Rechnung, sondern in Kommission durchgeführt. 
Der Wiener Kommissionär sendet seinem ausländischen Kommittenten 



209] I^ie Getreidehandler und ihr Geschäftsverkehr. 123 

die OflFerten, die er von den Vertretern der ungarischen Exporteure 
einsammelt, und kauft nur dann, wenn er einen festen Auftrag 
erhält oder Grund hat, einen solchen zu erwarten. 

Dieses Geschäft erfordert Mühe, Umsicht und Ausdauer, da 
oft viele Hunderte von Mustern und Briefen, die in der Saison 
tagtäglich von der Firma versendet werden, nicht einen einzigen 
Auftrag einbringen. Eine grosse Schwierigkeit des Geschäftes liegt 
auch darin, dass der Exporteur für die Qualität der Ware bis zur 
Bestimmungsstation im Auslande garantieren muss; die Verkäufer 
lehnen eine weitgehende Haftung gewöhnlich ab, ja sie sind ihrer 
von vorneherein enthoben, wenn sie das Geschäft unter Berufung 
auf die Börsenusancen schliessen, weil sie diesen zufolge für die 
Qualität nur „innerhalb der Grenzen der Monarchie' haften. 

Ein bedeutender Teil des Exporthandels in Gerste wickelt sich 
übrigens heute schon direkt zwischen den ungarischen Exporteuren 
und den deutschen Importeuren und Industrieetablissements ab. 
Manche von ihnen haben sogar Einkaufsfilialen in Ungarn. 

Im Transithandel besteht Arbeitsteilung zwischen solchen 
Firmen, die Beziehungen mit den Verkaufsländern an der Donau 
(Rumänien, Bulgarien, Serbien) und solchen, die Beziehungen mit 
den Absatzgebieten unterhalten ; erstere besorgen den Einkauf, letz- 
tere den Verkauf. 

Der Einkauf vollzieht sich nach dem zuerst geschilderten 
System des Importhandels durch eigene Einkaufsfilialen; nur ist 
die Sicherungstechnik eine von der früher betrachteten verschie- 
dene. Nachdem direkte Wechselbeziehungen zwischen den Wiener 
Terminkursen und den genannten Getreideproduktionsgebieten aus 
dem Grunde nicht immer bestehen, weil deren Hauptabsatzgebiet 
für gewöhnlich nicht esterreich - Ungarn, sondern Westeuropa 
und England ist, so kann auch der Terminmarkt nicht immer zur 
Sicherung benutzt werden. Als Sicherung gegen Preisschwankun- 
gen nimmt hier der Importeur beim Einkauf eine bedeutende 
Bisikoprämie in Anspruch, einen »Vorsprung* von 2 — 3 Franken, 
während beim Terminarbitrageur der .Vorsprung« inclusive des 
Profites und der Spesen durchschnittlich 50 — 80 Heller beträgt. 
Aber auch durch diese grössere Risikoprämie ist der Importeur 
noch nicht genügend gesichert; er muss eine weitere Sicherung 
„in sich selbst durchführen*, das heisst bei weichender Tendenz 
Ware abzustossen, bei steigender zuzukaufen trachten, wobei die 
Transaktion für ihn abwechselnd mit einem Gewinn oder einem 
Verlust endet. An die Spekulationskraft dieses Handels sind daher 



124 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. r210 

sehr hohe Anforderungen gestellt und die Folge davon ist, dass 
derselbe sich in den Händen weniger sehr kapitalkräftiger Firmen 
konzentriert hat. 

Der Handel erfolgt in Weizen fast ausnahmslos nach Probe. 
Im Roggenhandel lässt man es schon öfter bei der Angabe der 
Ursprungsstation und der Garantie eines Minimalgewichtes bewenden. 
Sehr häufig wird bloss die Bezeichnung „usancemässig* dem Eon- 
traktschlusse über effektive Ware zu Grunde gelegt. 

Gerste wird nur nach gesiegeltem Muster gehandelt, weil hier 
jede Nuance in Farbe und Griflf den Eonsumwert der Ware tangiert. 
Unter dem Einflüsse des Exports und begünstigt durch die grössere 
Gleichförmigkeit der Qualität, in welcher dieses Produkt wächst, 
hat sich in manchen Produktionsgebieten eine Art Elassifikations- 
system herausgebildet, welches zur Vereinfachung des Handelsver- 
kehrs wesentlich beiträgt. An den Einkaufsstationen, seltener auch 
erst an den Stapelplätzen, führt der Handel eine Sortierung, ge- 
wöhnlich nach drei Qualitätsklassen, durch. Das einmal einem Ab- 
schlüsse in einer dieser Typen zu Grunde gelegte Muster kann daher 
auch fUr alle weiteren Geschäfte die Abschlussbasis bilden. 

Beim Abschlüsse wird das Verkaufsmuster vom Verkäufer ent- 
weder im Beisein des Käufers gesiegelt oder auch in offenem Zu- 
Stande diesem übergeben. Die Uebergabe eines gesiegelten 
Musters verpflichtet, den Usancenbestimmungen zufolge, den Ver- 
käufer zu streng musterkonformer Lieferung bei sonstiger Kontrakt- 
brüchigkeit. 

Beim Verkaufe nach offenem Muster sind Abweichungen 
vom Verkaufsmuster bis zu einer gewissen Grenze gegen eine durch 
das Schiedsgericht festzusetzende Vergütung des Minderwertes 
zulässig. 

In Weizen, B.oggen und Hafer wird bei Abschluss nach ge- 
siegeltem Muster die Klausel in den Abschlusskontrakt aufgenommen : 
9 Bei eventueller Qualitätsdifferenz mit dem vom Schiedsgericht zu 
bestimmenden Minder werte zu übernehmen*; häuflger aber wird das 
Muster in offenem Zustande dem Käufer übergeben, wobei dann die 
Bedingung des Minder wertes nicht speziell in den Kontrakt aufge- 
nommen zu werden braucht, sondern nach den Usancen sich von 
selbst versteht; nur gilt hier eine minder strenge Beurteilung des 
Min der wertes als bei Verkauf nach gesiegelter Probe. 

Mais wird sehr häufig ohne Muster gehandelt, nur mit der 
Garantie »usancefähig**. Gelegentlich wird auch zwischen grob- 
körniger und kleinkörniger Ware unterschieden. 



211] Bie Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr. 125 

Will der Exporteur einen Posten Waren verkaufen, so sendet 
er seinem Mandatar in Wien, Kommissionär oder Agenten, Muster 
der Ware und teilt ihm gleichzeitig in einem Briefe seine Forde- 
rung mit, wobei er, wenn das Offert als ein für ihn bindendes gelten 
soll, das Wörtchen »fest*, sonst die Bezeichnung »freibleibend* 
hinzufügt. Wenn aber der Importeur über den Wert der Ware nicht 
recht im Klaren ist, so verlangt er vorsichtigerweise erst eine 
»Taxation* von seinem Agenten, d.h. dieser soll ihm den Marktwert 
der Ware, der natürlich nur nach der Situation des Zentralmarktes 
bemessen werden kann, mitteilen. Das ist nun eine schwierige und 
heikle Aufgabe, und hier muss der Agent zeigen, was er zu leisten 
vermag. Denn in einem solchen Falle entspinnt sich zwischen Ge- 
treidekäufer und Getreideverkäufer ein kleines Geplänkel; wie der 
letztere, so will auch der erstere mit der Sprache nicht heraus- 
rücken, jeder verlangt, dass der andere eine Unterhandlungsbasis 
gebe. Der Agent wird also oft nur durch Kombination ver- 
schiedener Momente, nach TJebersicht der Marktlage, nach der 
Stimmung des Käufers, nach anderen Abschlüssen sich ein Urteil 
bilden können und dieses seinem Klienten mitteilen. Er muss dabei 
sorgföltigst abwägen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen 
trachten; denn greift er seine* Taxation zu niedrig, so gibt er der 
Konkurrenz, die ihm stets auf den Fersen ist, Gelegenheit, ihn bei 
seinem Klienten auszustechen; greift er sie zu hoch und erhält er 
dann einen Auftrag, so kann er ihn nicht ausführen und hat sich 
das Geschäft verdorben. 

Noch schwieriger ist die Situation für den Agenten, wenn ihm 
der Kommittent eine »Vertrauensordre* gibt, d. h. ihn beauftragt, 
die Ware so gut als möglich zu verkaufen, was namentlich an den 
Wochenmarkttagen und bei grösseren Entfernungen, die einen raschen 
Depeschenwechsel erschweren, häufig der Fall ist. Selten erntet er 
Lob, häufig aber Vorwürfe von den nie zufriedenen Auftraggebern. 

Bekommt der Vertreter mit der Morgenpost ein festes Offert, 
so wartet er damit in der Regel den Beginn der Börse ab. Den 
Käufeir auf dessen Kontor aufzusuchen hätte wenig Zweck, weil 
derselbe auch dann, wenn er die angebotene Ware zu kaufen beab- 
sichtigt, ein Gebot erst an der Börse macht, sobald der Terminmarkt 
in Funktion ist und er die gewohnte Kalkulations- und Operations- 
basis hat. Aber auch dem Vertreter ist oft das Geschäft nicht 
früher möglich. Der Weizen ist vielleicht in der früher geschil- 
derten Weise gegen Termin arbitragiert worden und der Vertreter, 
durch den die Arbitrage ausgeführt wurde, erhält den Auftrag, die 



126 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [212 

Ware nur, wenn gleichzeitig Lösung der Arbitrage in einem gewissen 
Verhältnisse möglich ist, zu verkaufen. 

Je nach der Tendenz des Terminmarktes und je nach den 
Offerten, die ihm vielleicht von anderer Seite gemacht werden, ent- 
scheidet sich dann der Importeur für die feste Abnahme oder fiir 
ein Gegengebot, welches der Agent seinem Auftraggeber telephoniert 
oder telegraphiert. Wird man handeleins, so füllt der Agent zwei 
Schlussscheine mit den Eontraktbedingungen aus, übergibt einen 
dem Käufer und sendet den anderen seiaem Kommittenten. Für 
die Form dieser Schlussscheine bestehen keine Yorschrifben. Sie 
haben indes übereinstimmend eine Formel von ungefähr folgendem 
Wortlaut aufgedruckt: »Auf Grund der Usancen der Börse für 
landwirtschaftliche Produkte in Wien und unter Anerkennung der 
Kompetenz der inappellablen und exekutionsfähigen Entscheidung 
des Schiedsgerichtes derselben.* 

Wenn die Ware nicht bereits in rollendem oder schwimmendem 
Zustande sich befindet, so hat bei Verkäufen loco Wien der Ver- 
käufer für die Beistellung des Transportmittels Sorge zu tragen, 
wogegen die zur Emballage der Waren notwendigen Säcke der 
Käufer beizustellen hat. Bei Verkäufen ab Wasserstation da- 
gegen hat der Käufer innerha.lb der bestimmten Frist ein Schiff 
zu chartern und für die rechtzeitige Anstellung desselben am Ver- 
ladeorte Sorge zu tragen. 

Die Verladung der Ware ist Aufgabe des Exporteurs, da der 
Kontraktschluss »frei ins Schiff gelegt* erfolgt. Während der Ver- 
ladung zieht der Exporteur eine grosse Probe, das sog. „Ausfall-, 
Ablade- oder Stückmuster*. Stimmt dasselbe mit dem Kaufmuster 
nicht überein, so kann der Käufer gegen den Verkäufer doch nichts 
unternehmen, sondern muss erst die Ankunft der Ware abwarten. 
Auf Grund des Ausfallmusters trachtet der Importeur die Ware 
noch w|ihrend des Heranschwimmens zu verkaufen. 

Die Zahlung erfolgt entweder bei Ankunft der Ware in 
Wien oder gegen Rezepisse der Transportunternehmung. In letz- 
terem Falle sendet der Exporteur sofort nach erfolgter Verladung 
seinem Vertreter das Rezepisse zur Präsentation beim Käufer, wel- 
cher, wenn kein Anstand bezüglich der Rechtzeitigkeit der Lieferung 
vorliegt, drei Viertel bis sieben Achtel des Kaufpreises dem Ver- 
käufer zu überweisen hat, während er den Rest zur Sicherung für 
etwaige Qualitätsdifferenzen bis zur Ankunft der Ware zurückhält. 
Ist er geldknapp, so überträgt er seinem Bankier das Pfandrecht 
an der Ware, indem er das Rezepisse an dessen Adresse ausstellen 



213] I^ie Getreidehändler und ihr Geschäftsverkehr. 127 

und ihn als Aufgeber figurieren lässt, wogegen der Bankier für 
ihn die kontraktlich bedungene Zahlung leistet. Unter Umständen 
begnügt sich derselbe auch mit der blossen Girierung des auf den 
Käufer ausgestellten Rezepisses. 

Die Ware triflFt in Wien entweder an einem der F^achtbahn- 
höfe oder an der Lände eines öffentlichen Lagerhauses bezw. einer 
der öffentlichen Schiffahrtsgesellschaften in Wien ein und wird Ton 
der Stationsleitung bezw. Ton der Lagerhausunternehmung oder 7on 
der Agentur der betreffenden Transportuntemehmung dem Adressaten 
avisiert. Dieser hat zunächst die Fracht zu bezahlen und begibt 
sich entweder selbst an Ort und Stelle; um die Ware zu besichtigen, 
oder er beauftragt das Lagerhaus, ihm Muster zu senden, oder end- 
lich er entsendet zu diesem Zwecke einen Beamten. Ergibt eine 
Vergleichung des gezogenen Stückmusters mit dem Eaufsmuster 
(bei Abschluss nach gesiegeltem Muster reserviert der Käufer für 
diesen Zweck einen Teil der Kaufprobe in offener Düte), dass die 
Ware in kontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so verfügt 
der Käufer je nach den Umständen deren Beexpedition bezw. den 
Umschlag oder die Einlagerung; er hat dazu nur einer der öffent- 
lichen Lagerhausverwaltungen oder einer der Transportunterneh- 
mungen, die öffentliche Magazine besitzen, den entsprechenden Auf- 
trag zu erteilen. Die Lagerhausunternehmung gibt ihm über die 
eingelagerte Ware eine Empfangsbescheinigung. 

Stellt sich aber bei Vergleichung mit dem Kaufmuster heraus, 
dass die Ware in unkontraktlicher Qualität geliefert worden ist, so 
muss der Käufer zunächst zur Wahrung seiner Regressrechte den 
Protest beim Börsensekretariate zu Protokoll geben, welchen Vorgang 
die Usancen dem Vertragstreuen Teile, bei sonstiger Verwirkung 
seiner Rechte, bei jeder Nichterfüllung eines Vertrages zur Pflicht 
machen. Gleichzeitig verständigt er seinen Lieferanten, wenn dieser 
auswärts ansässig ist, telegraphisch von dem erhobenen Anstand 
und fordert denselben auf, einen Vertreter zur Austragung der 
Differenz zu nominieren. Ist dies geschehen, so entnimmt der 
Käufer mit dem Vertreter gemeinschaftlich der Ware ein Muster, 
das sog. Kompromissmuster, welches an Ort und Stelle versiegelt 
und zum Schiedsgerichte geschickt wird und hier später die Grund- 
lage der Expertise bildet. Die Entnahme des Kompromissmusters 
kann aber auch durch das Börsensekretariat erfolgen. 

Wenn einmal das Kompromissmuster gezogen ist, so braucht in 
jenen Fällen, wo nur die Bestimmung eines Minderwertes in Frage 
kommen kann, die Verfügung über den Schlepp, unbeschadet des 



128 Per Wiener Getreidehandel und seine Technik. [214 

späteren schiedsgerichtlichen Erkenntnisses, keine weitere Verzöge* 
rung zu erleiden, wenn beide Parteien sich verständigen; die Ware 
kann ihre Beise fortsetzen, eingelagert oder umgeschlagen werden. 
Anders wenn laut gesiegeltem Muster verkauft wurde. In diesem 
Falle muss der Käufer z. B. das SchüBP so lange zurückhalten, bis 
festgestellt ist, ob die Ware kontraktlich ist; und hier speziell ist 
das Börsenschiedsgericht eine wahre Wohlthat für den Handel; 
wenn die Klienten die Sache betreiben, so kann, sobald die Klage 
überreicht und das Muster beim Schiedsgerichte ist, die Expertise 
stattfinden, Zinsen- und Zeitverluste, Stehgebühren sind vermieden. 

Das Absatzgebiet für den Wiener Getreidehandel sind die 
nördlichen und teilweise auch die westlichen Provinzen Oesterreichs, 
Niederösterreich, Böhmen, Mähren, Schlesien, Oberösterreich, Salz- 
burg, Tirol, ferner im Auslande hauptsächlich nur das angrenzende 
Süddeutschland, während die Beziehungen zur Schweiz, zu Holland, 
Belgien, England und Frankreich wohl nicht vollständig aufgehört, 
aber starken Abbruch erlitten haben und sich wesentlich nur auf 
den Absatz von Braugerste beschränken. 

Abnehmer sind die Getreide verarbeitenden Industrien, Mühlen, 
Brauereien, Brennereien, Mälzereien, ferner Viehzüchter und Vieh- 
inäster. Die einheimischen Mühlen sind, soweit es Handelsmühlen 
sind, ohne Bücksicht auf ihren Betriebsumfang auf den Bezug unga- 
rischen Weizens angewiesen, weil der einheimische, gewisse Sorten 
niederösterreichischen und allenfalls mährischen Weizens ausgenom- 
men, kein genügetid backfähiges Mehl gibt; er ist zu kleberarm; 
aus diesem Grund muss der einheimische mit ungarischem Weizen 
gemischt werden und wo nicht der Müller Gelegenheit hat, diese 
Mischung vorzunehmen, muss der Bäcker oder der Konsument nach- 
träglich selbst die Mischung mit ungarischem Mehl vornehmen. 

Der Abschluss vollzieht sich an der Börse oder durch Reisende, 
durch Verkaufsagenturen des Importhauses in den Hauptabsatzplätzen 
der betreffenden Provinzen, schliesslich durch Briefpost, Telegraph 
und Telephon. Die zuletzt genannte Verkehrsform scheint berufen, 
alle anderen überflüssig zu machen und die Konzentration des Ge- 
treidehandels bei den grossen kapitalkräftigen Firmen zu beschleu- 
nigen, welche bedeutende Telepbonspesen auch auf die kleinsten 
Geschäfte nicht scheuen, weil sie durch die Masse des Umsatzes 
ihre Bechnung trotzdem finden. 

Die Verschiedenheit der Kredit- und Betriebsverhältnisse lässt 
neben dem Grosshandel noch oft Baum genug für den sich ihnen 
anpassenden Zwischenhandel. Namentlich Futtermittel finden 



2151 ^^^ Getreideliand]er und ihr Geschäftsy erkehr. 129 

ihren Weg in den Konsum durch den Zwischenhandel, weil es sich 
hier um Repartierung grosser Quantitäten an kleine und kleinste 
Konsumenten handelt. 

Wie der Einkauf so erfolgt auch der Verkauf grösstenteils auf 
Orund von Mustern; doch kommt es nicht selten vor, dass der 
Müller, wenn er die Reellität des Händlers erprobt hat, sich in der 
Folge bei Bestellungen bloss auf frühere Lieferungen bezieht oder 
umgekehrt der Händler auf frühere Offerten, und dass das Geschäft 
ohne Muster, einfach auf Treu und Glauben gemacht wird. 

Die Versendung der Ware von Wien aus erfolgt, da praktikable 
Wasserstrassen in die Absatzgebiete nicht existieren, ausnahmslos 
per Eisenbahn in Säcken, welche der Käufer rechtzeitig beizustellen 
hat. Sobald der Händler vom Lagerhause, welches er mit der 
Expedition der Ware beauftragt hat, das Aufgaberezepisse erhält, 
verständigt er seinen Kunden von der erfolgten Verladung unter 
gleichzeitiger Uebersendung des Rezepisses und der Faktura. Ist 
der Käufer selbst Händler, so ist die Vereinbarung gewöhnlich so 
getroffen, dass gegen dieses Rezepisse bare Zahlung des Gegenwertes 
zu erfolgen hat bis auf einen Bruchteil, welchen der Käufer zur Be- 
deckung für etwaige Qualitätsdifferenzen zurückzuhalten kontraktlich 
berechtigt ist. Mühlen erhalten die Ware auf 4 — 8 Wochen Ziel, 
d. h. auf offenen Buchkredit; häufiger wird aber mit der Faktura 
eine vom Verkäufer auf den Käufer gezogene Tratte eingeschickt, 
welche der letztere mit seinem Accept versehen retourniert. Die 
Laufzeit dieser Wechsel ist verschieden : 3 — 4 Monate bei grösseren 
Etablissements, bei kleineren bis zu 6 Monaten. 

Etwaige Anstände gegen die Qualität der Ware müssen auch 
hier in der schon früher — bei Darstellung des Einkaufs — ge- 
schilderten Form erhoben werden; an einem kleineren Orte, wo 
weder Gericht noch Notar vorhanden sind, verursacht dieselbe natür- 
lich grössere Schwierigkeiten und grössere Kosten. 

Wenn auch der Verkäufer den Käufer des Protestes enthebt, 
die Eniinahme eines Musters zur Beurteilung des Minderwertes ^ muss 



^ Die von den Vertretern der kleinen Müller in der Enquete heftig an- 
gefochtene Minderwertsklausel ist ein durch die Dezentralisation des 
Verkehrs notwendig gewordenes Uebel. Der Verkäufer, der nicht in der Lage 
ist, die Ware vor Ablieferung in Wien zu besichtigen, kann nicht verhüten, 
dass einmal eine unkontraktliche Lieferung erfolgt und ist dem ausgesetzt, dass 
ihm die Ware an einer kleinen ßtation, wo deren Verwertung grosse Verlegen- 
heiten bereitet und nur mit grossen Opfern möglich ist, zur Verfugung gestellt 
wird. Andererseits ist es richtig, dass die kleine Mühle eine nicht exakte 
Wiener Stadien. lU. Bd., 2. Heft. 9 [15] 



130 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [216 

in jedem Falle durch den Notar erfolgen ; auch hier ist Verteuerung 
des Handels die Folge der Dezentralisation, denn in Wien kann die 
Musterentnahme durch die Parteien selbst oder durch ihre Vertreter, 
die Agenten, erfolgen, welche dafür keine besondere Vergütung 
erhalten. 

2. 
Die Lagerhausgeuossenschafteu. 

a) Die Lagerhausgenossenschaften und ihre Stellung 

im GetreidehandeP. 

Zu den schwierigsten genossenschaftlichen Problemen gehört das 
des gemeinsamen Verkaufes. Deshalb tritt auch der gemeinsame 
Getreideverkauf erst in einer höheren Entwickelungsstufe des land- 
wirtschaftlichen Genossenschaftswesens auf. Um den gemeinsamen 
Getreideverkauf erfolgreich in die Wege zu leiten, waren und sind 
besondere Einrichtungen notwendig, welche in den genossenschaft- 
lichen Lagerhäusern geschafifen wurden. Das k. k. Ackerbaumini- 
sterium selbst hat dazu die Initiative ergriffen, indem es in seinem 
Genossenschaftsprogramm vom Jahre 1898 die „Errichtung von 
Getreideverkaufs- und Lagerhausgeuossenschafteu das aktuellste und 
wichtigste Problem auf dem Gebiete der Organisation des Absatzes '^ 
genannt und für die Lösung dieses Problems die leitenden Grund- 
sätze aufgestellt hat. An den einzelnen genossenschaftlichen Landes- 
organisationen und Landesvertretungen war es, auf diese Grundsätze 
verständnisvoll einzugehen und ihnen zur praktischen Durchführung 
zu verhelfen. 

In vollem Umfange geschah dies zunächst in Böhmen, wo der 
Landtag auf Bericht und Antrag des Abgeordneten Stefan Richter 
am 1. Mai 1900 für die Errichtung und den Betrieb der landwirt- 
schaftlichen Lagerhausgenossenschaften erkannte und beschloss: 

1. Getreidelagerbäuser, bestimmt, das eigene Getreide der Mitglieder auf 
den Markt zu bringen, ermöglichen einen zweckmässigen Verkehr zwischen 



Lieferung leichter in Verlegenheit bringt, als die Grossmühle, da sie nicht 
immer den geeigneten Mischweizen auf Lager hat. 

^ Die folgende Darstellung verdanken wir einer gütigen Mitteilung des 
Herrn Stefan Richter , der seit Jahren an der Spitze der Bewegung für die 
genossenschaftliche Organisation der Landwirte, insbesondere der Absatzorgani- 
sationen steht und wie kein anderer in Oesterreich in der Lage ist, ihre Be- 
deutung auch für den Getreideverkauf zu beurteilen. Einige kritische Bemer- 
kungen wollen wir in dem nächsten Abschnitt anfügen. 



2171 ^i® Lagerhaasgenossenschaften. 131 

Prodnzenten nnd Konsumenten, machen es insbesondere auch dem kleinen und 
mittleren Grundbesitzer möglich, an den Vorteilen des grossen Marktes teilzu* 
nehmen, xmd durch Erzielung höherer Preise eine bessere Verwertung des Ge- 
treides herbeizuführen. 

Es erscheint die Errichtung derartiger Lagerhäuser der Produzenten im 
Interesse der Landwirtschaft im allgemeinen und zur Gesundung der Getreide- 
marktverhältnisse insbesondere daher im hohen Grade wünschenswert. 

2. Für den Umfang und die Anzahl der zu errichtenden Lagerhäuser 
ist — unter Beobachtung der grössten Vorsicht — die Bedürfhisfrage ent- 
scheidend; und sind zur Beurteilung derselben die Verhältnisse der Produktion 
des Lagerhaussprengeis ebenso in Rücksicht zu ziehen, wie die Verhältnisse des 
Marktes. 

3. Die Lagerhäuser sollen als Schöpfungen der Selbsthilfe auf Grund des 
Gesetzes vom 9. April 1873, R.-G.-B1. Nr. 71, als eingetragene Genossenschaften 
mit beschränkter Haftung entstehen und einen Teil der für ihre Errichtung 
erforderlichen Mittel in erster Linie durch die Geschäftsanteile ihrer Mitglieder 
aufbringen. 

4. Es wird als wünschenswert und zweckdienlich erkannt, dass die 
Höhe der Geschäftsanteile und die auf Grund derselben zu übernehmende 
Haftung nicht zu gering bemessen werden, und dass durch Geschäftsanteile 
und Subventionen lokaler Faktoren (eigene Mittel) annähernd ein Drittel des 
ganzen für Bau und maschinelle Einrichtung erforderlichen Aufwandes aufge- 
bracht wird. 

5. Darüber hinaus erscheint für das Gedeihen der genossenschaftlichen 
Lagerhäuser die Unterstützung derselben durch Subventionen und unverzinsliche 
Darlehen durch Staat und Land dringlich und unbedingt erforderlich. 

6. Die Beiträge des Staates und Landes mögen einheitlich nach einem 
bestimmten prozentualen Anteile des gesamten, für Bau und Investition erforder- 
lichen Aufwandes bemessen werden und mindestens je 25 */o ^^^ letzteren be- 
tragen. 

7. Es wird als zweckmässig und erforderlich erkannt, dass von obigen 
25 7o j® 15 7o als Subvention und je 10 ^lo als unverzinsliches Darlehen gegeben 
werden. 

8. Die unverzinslichen Darlehen sind in der Regel vom Beginn des dritten 
Jahres ab nach einem bestimmten, von den Darlehensgebern festzusetzenden 
Modus zurückzuzahlen, um wieder anderen Genossenschaften für gleiche Zwecke 
zugeführt zu werden. 

9. Unter Festhaltung dieser Beitragsleistung erscheinen für die im König- 
reiche Böhmen bereits bestehenden und im Jahre 1900 noch zu erbauenden 
genossenschaftlichen Lagerhäuser aus Landesmitteln erforderlich: 

für Subventionen 200 000 Kronen, 

für unverzinsliche Darlehen .... 100000 Kronen. 
Die gleichen Beträge wären für 1900 aus Staatsmitteln anzusprechen und 
sicherzustellen. 

10. Die Zuerkennung der Subventionen und unverzinslichen Darlehen 
erfolgt nur auf Grund des von der Begutachtungskommission abgegebenen 
Votums. 

11. Die Lagerhausgenossenschaften haben keine Propregeschäfte zu be- 
treiben, sondern sich auf den kommissionsweisen Ein- und Verkauf zu beschränken. 



132 J^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [218 

Spekulationsgeschäfte sind grundsätzlich ausgeschlossen. Nur ausnahmsweise 
kann die Genossenschaft auf feste Rechnung kaufen und auf eigenes Risiko 
weiterverkaufen; die Regel aber bleibt wohl der Verkauf auf eigene Rech- 
nung, jedoch zu Gunsten und auf Gefahr der betre£Fenden Genossenschafter, 
deren im Lagerhause angefahrenes Getreide die Genossenschaft auf den Markt 
bringt. 

12. Da die Lagerhausgenossenschafb das angefahrene Getreide sonach in 
der Regel nicht auf feste Rechnung kauft, der Landwirt in der Regel aber, 
wenn er sein Getreide abführt, auch schon Geld braucht, erscheint die Belehnung 
des im Lagerhause eingelagerten Getreides erforderlich. 

13. Da zur Belehnung der Lagerhausbestände grosse Geldmittel erforder- 
lich sind, für welche die Genossenschaft aus sich selbst nicht aufkommen kann, 
ist das Vorhandensein von Kreditinstituten, welche den Lagerhausgenossenschaften 
den erforderlichen Lombardkredit einräumen, eine der ersten Existenzbedingungen 
für genossenschaftliche Lagerhäuser. 

14. Aus diesem Grunde ist im allgemeinen auch ein kredit-genossenschaft- 
licher Unterbau eine wesentliche Voraussetzung für den erfolgreichen Bestand 
genossenschaftlicher Lagerhäuser, und haben sich in dieser Beziehung die Raiff- 
eisenschen Spar- und Darlehenskassenvereine in ihrem zentralen > Zusammen- 
schlüsse (Zentralverband), durch den das erforderliche Betriebskapital aufgebracht 
wird, bestens bewährt. 

15. Da wo Spar- und Darlehenskassenvereine in genügender Zahl im 
Lagerhausgenossenschaftssprengel nicht bestehen, empfiehlt es sich, dass die 
Lagerhausgenossenschaften behufs Erlangung des erforderlichen Lombardkredites 
mit anderen Kreditinstituten, vor allem mit den landwirtschaftlichen Bezirks- 
vorschusskassen, in Verbindung treten, welche am Sitze der Lagerhausgenossen- 
schaft selbst bestehen. 

Es erscheint in hohem Grade wünschenswert, dass die Geldgebarung 
vom Lagerhausbetriebe selbst vollständig getrennt wird und daher auch die 
Belehnung der Lagerhausscheine nicht im Lagerhause selbst, sondern bei dem- 
selben Kreditinstitute erfolgt, welches den Lombardkredit einräumt. An dasselbe 
Institut sind auch alle Zahlungen für das aus dem Lagerhause verkaufte Getreide 
zu leisten. 

Punkt 16 und 17 erklären die Schaffung von Betriebsreserven für die 
Lagerhausgenossenschaften für unumgänglich nötig und nehmen dazu Kapital- 
bestände gewisser öffentlicher Kreditorgnisationen in Anspruch. 

Punkt 18—20 verlangen die Förderung der Lagerhausgenossenschaften 
durch Deckung des Heeresbedarfes und des Bedarfes der Landesanstalten bei 
ihnen, sowie durch besonderes Entgegenkommen der Eisenbahnen bei Herstel- 
lung der Anschlussgeleise. 

21. Als eine der wichtigsten und un erlässlichsten Schutz- und Förderungs- 
massregeln der genossenschaftlichen Lagerhausuntemehmungen muss die unver- 
zügliche, schon so oft verlangte Aufhebung des Blankoterminhandels in Getreide 
erkannt und diese Forderung mit allem Nachdrucke wiederholt werden. 

In dem ersten der genannten Beschlüsse ist kurz und bündig 
ausgesprochen , was durch die Lagerhausgenossenschaften erzielt 
werden soll. Ihre Hauptbedeutung liegt wohl darin, dass sie, indem 
sie die naturelle Ware aus dem Genossenschaftssprengel sammeln 



219] ^16 Lagerhansgenossenschafken. 133 

und marktföhig machen, auch den kleinen und mittleren Grundbesitz 
befähigen, mit seiner Getreideproduktion auf den grossen Markt, 
direkt bis an den grossen Konsumenten heranzutreten, und so durch 
die Ausnutzung des weiteren Marktes eine bessere Verwertung zu 
erzielen. Absatzverlegenheiten auf dem Getreidemarkte sollen be- 
seitigt, Auswüchse des Zwischenhandels, da wo sie sich vorfinden, 
durch die Lagerhausgenossenschaften bekämpft und, indem der 
Landwirt die direkte Verbindung mit den Konsumenten sucht, ein 
überflüssiger Zwischenhandel überhaupt beseitigt werden. 

Die Lagerhäuser bringen grosse Mengen gut gereinigter und 
trockener, gleichmässiger Ware auf den Markt, und ein solches 
Produkt erreicht an und für sich schon bessere Preise. Die Lager- 
häuser wollen aber auch mit der heute üblichen Art der Einlagerung 
des Getreides auf ebensovielen Schüttböden, als das Dorf Höfe hat, 
brechen; es soll durch sie gebrochen werden mit der heute in den 
meisten Bauernhöfen noch üblichen Art der Behandlung des Ge- 
treides vom Drusch bis zum Verkauf, welche vielfach unrationell 
und zu kostspielig ist. An Stelle des zersplitterten Angebotes tritt 
durch die Lagerhausorganisation die Konzentration der vielen kleinen 
Angebote der Produzenten, und daraus erwächst eine für die Ge- 
samtheit bessere kaufmännische Position. Indem die Lagerhäuser 
aber das Getreide der zahlreichen kleinen Produzenten dem grossen 
Konsum überhaupt erst zuführen, für den grossen Konsum erst auf- 
nahmsfahig machen, dienen sie den Bedürfnissen des Grosshandels 
ebenso wie den Bedürfnissen des Grosskonsums. Wie die Getreide- 
marktverhältnisse vor der Organisation des Lagerhauswesens lagen 
und zum grossen Teile ja noch heute liegen, war und ist es den 
Händlern oft leichter, Importgetreide waggonweise einzukaufen, als 
auf dem Inlandsmarkte das vorhandene Getreide von kleinen Pro- 
duzenten in einer für den Markt brauchbaren Form waggonweise 
zu sammeln. Wenn die Herstellung der Marktfähigkeit und die 
Sammlung dieses marktfähigen Getreides die Landwirte in ihrer 
Vereinigung im Lagerhause nun selbst übernehmen, wird mit dem 
Konsum auch der Grosshandel mehr inländisches Getreide aufnehmen 
und entsprechend verwerten können. 

Die ersten genossenschaftlichen Lagerhäuser mit den vorstehend 
umschriebenen Aufgaben wurden in Oesterreich im Jahre 1898 in 
Böhmen und in Niederösterreich errichtet; in Böhmen in Bilin, in 
Niederösterreich in Pöchlarn. Diesen ersten beiden Lagerhäusern 
sind im Laufe der letzten Jahre in Böhmen und Niederösterreich 
zahlreiche andere nachgefolgt, und auch in Steiermark und Kärnten 



134 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [220 

wurde mit der Errichtung genossenschaftlicher Lagerhäuser bereits 
begonnen. 

In Niederösterreich standen im Sommer 1901 15 genossen- 
schaftliche Lagerhäuser in Thätigkeit. Dieselben wurden alle unter 
der Patronanz des niederösterreichischen Landesausschusses errichtet 
und der niederösterreichische Landtag hat die Errichtung durch 
entsprechende Subventionen gefördert. Bau und Einrichtung der 
genossenschaftUchen Lagerhäuser in Niederösterreich führt der 
Landesausschuss in eigener Regie durch. Zum Unterschiede von 
den Lagerhäusern in Böhmen, welche zumeist auf einen grösseren 
Umsatz eingerichtet sind, hat Niederösterreich kleinere Lagerhäuser 
mit einem Fassungsraum von in der Regel 50 — 100 Waggons und 
einem Kostenaufwand von 40 000 — 70 000 Kronen für Bau und 
maschinelle Einrichtung errichtet. Den Verkauf des in den Lager- 
häusern angeführten und dort marktfähig gemachten Getreides be- 
sorgt der „Verband ländlicher Genossenschaften in Niederösterreich*. 
In dem Geschäftsjahre 1899/1900 betrugen die für die Lagerhäuser 
in Niederösterreich verkauften Getreidemengen 152382 Meterzentner. 
Ausser Getreide wurden für Rechnung der Mitglieder auch Kartoffeln, 
Kleesamen, Linsen, Heu und Stroh verkauft. Im ganzen besorgte 
der Verband den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte im Werte 
von 1901330 Kronen. 

Durch die genossenschaftlichen Lagerhäuser kam der Verband 
der ländlichen Genossenschaften in Niederösterreich in die Lage, 
die direkten Heereslieferungen aufzunehmen, und hat derselbe im 
Jahre 1900 den ganzen Bedarf der Intendanz des IL Korps an 
Weizen, den grössten Teil des Kornbedarfes und einen kleineren 
Teil des Hafer- und des Heubedarfes gedeckt. Im ganzen wurden 
an das Militärärar 56550 Meterzentner an Weizen, Hafer, Roggen 
und Heu abgeliefert. 

Nach dem erfolgreichen Beispiel von Bilin wurden zunächst in 
den deutschen Landesteilen Böhmens weitere genossenschaftliche 
Lagerhäuser errichtet; im Sommer 1901 bestanden in Deutschböhmen 
9 Lagerhäuser. Dieselben haben einen Fassungsraum von 100 bis 
150 Waggons und sind mit einem Kostenaufwand für Bau und 
maschinelle Einrichtungen bis zu 150000 Kronen erbaut. Die Lager- 
hausgenossenschaften in den deutschen Landesteilen Böhmens gehören 
dem „Zentralverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossen- 
schaften Böhmens* an, welch letzterer in Verbindung mit dem 
„Allgemeinen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in Oester- 
reich'' zur Campagne 1901/1902 für die Lagerhausgenossenschaften 



221] ^^'^ Lagerhaosgenossenschafteii. 135 

auch den Getreideverkauf in die Hand genommen hat. Bis dahin 
haben die Lagerhansgenossenschaften selbständig nnd vereinzelt den 
Oetreideverkauf besorgt. 

In den tschechischen Landesteilen Böhmens wurden erst im 
abgelaufenen Jahre genossenschaftliche Lagerhäuser, im ganzen 5, 
errichtet. — In den deutschen Landesteilen Mährens bestehen gegen- 
wärtig 4 Lagerhausgenossenschaften, welche dem , Zentralverband 
der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften Mährens in Brunn" 
angehören; in den tschechischen Landesteilen Mährens 3 Lagerhaus- 
genossenschaften. Oberösterreich und Steiermark haben je eine 
Lagerhausgenossenschaft, in Kärnten bestehen zwei deutsche und 
eine slovenische. 

Im ganzen bestehen sonach im Sommer 1901 in ganz ester- 
reich 41 Lagerhausgenossenschaften, von denen 15 allein auf Nieder- 
österreich und 14 auf Böhmen entfallen. 

Die Getreidemenge, welche bei allen diesen Lagerhausgenossen- 
schaften angeliefert und durch diese auf den Markt gebracht werden 
kann, dürfte auf mehr als 1 000 000 Meterzentner zu veranschlagen sein. 

Es ist vielfach die Auffassung verbreitet, dass beim Verkaufe 
des im Lagerhause befindlichen Getreides jeder einzelne Genossen- 
schafter, der sein Getreide dorthin abgeliefert hat, mitspricht, wes- 
halb dieser Verkauf auch ein sehr schwieriger sei. Diese Auffassung 
ist eine durchaus irrige. Mit dem Momente der Ablieferung des 
Getreides geht das Sondereigentum des einzelnen Genossenschafters 
auf das von ihm angefahrene Getreide ebenso verloren, wie der 
Einfluss des einzelnen Genossenschafters auf den Verkauf. Der Ge- 
nossenschafter gibt sein Sondereigentum gegen den Anspruch auf die 
gleich grosse Menge von der gleichen Qualität auf, und er überlässt 
der Lagerhausverwaltung den Verkauf in dem Vertrauen, dass die- 
selbe auch in der Lage sein wird, die besten Preise herauszuholen. 

Die Grundsätze für den geschäftlichen Betrieb der Lagerhäuser 
und das Verhältnis der einzelnen Genossenschafter zu dem Lager- 
hause sind in der Hauptsache in den Lagerhausordnungen nieder- 
gelegt, und führen wir als typisches Beispiel nachstehend die Lager- 
hausordnung der «Ersten Deutschen Lagerhaus- Genossenschaft in 

Bilin'' an. Dieselbe bestimmt: 

1. Die von der Lagerhausgenossenschaft errichteten Lagerhäuser können 
von allen Mitgliedern der Genossenschaft g^en Einhaltung der Lagerhausord- 
nung benutzt werden. 

2. Es darf nur Getreide (selbstgebautes) in gesundem, trockenem Zustande 
angefahren werden. Getreide in feuchtem, verdorbenem Zustande wird zurück- 
gewiesen. 



136 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [222 

8. Die Genossenschafter können ihr Getreide jeden Tag — mit Ausnahme 
der Sonn- und Feiertage — beim Lagerhause anfahren. 

4. Für die Einlagerung des Getreides zahlt der Genossenschafter die all- 
jährlich von der Hauptversammlung festgesetzte Lagerhausgebühr (gegenwärtig 
10 Kreuzer pro Meterzentner). 

5. Beim Anfahren des Getreides kommt jeder Sack sofort auf die Wage. 
Hierauf wird das Getreide in den im Lagerhause aufgestellten Maschinen einer 
sorgfältigen Reinigung unterzogen. Nach der Reinigung wird der Abfall mit 
sämtlichen Säcken wieder gewogen. Der Unterschied ergibt das Gewicht des 
eingelagerten Getreides. Angefahren kann jedes Quantum werden. Das Abfall- 
getreide darf jeder zum Hausgebrauch wieder zurücknehmen oder im Lager- 
hause für sich verschroten lassen. 

Für Verstäubung wird 1 7« abgeschrieben. 

6. Auf Grund des Reingewichtes erhält jeder Lieferant seinen Lagerhaus- 
schein. 

7. Für eingelagertes und erst später verkauftes Getreide erhält jedes Mit- 
glied in seinem Lagerhausscheine den Tagespreis vom Tage der Einlagerung 
eingetragen. Der im Lagerhausscheine eingetragene Preis wird als Grundlage 
der Belehnung genommen und werden darauf 80 7» ausgefolgt. Was beim Ver- 
kauf mehr erzielt wird, wird nach Abschlag der eigenen Regie im Wege der 
Abrechnung mit den einzelnen Raiffeisen- Vereinen, welche das eingelagerte Ge- 
treide auf Grund der Lagerhausscheine belehnt haben , den Mitgliedern nach- 
gezahlt *. 

8. Auf Grund des Lagerhaussebeines zahlen die Raiffeisen-Kassen sofort 
jedem ihrer Mitglieder den angewiesenen Betrag aus. 

9. Für die Mitglieder aus denjenigen Ortschaften, die keinem Raiffeisen- 
Gebiet zugeteilt sind, wird die Belehnung und schliessliche Abrechnung im 
Lagerhause selbst von der Lagerhausgenossenschaft vorgenommen. 

10. Die Lagerhausgenossenschaft übernimmt die Garantie für die Erhal- 
tung des gelagerten Getreides. Es ist jederzeit entsprechend versichert. Die 
Genossenschaft stellt die Säcke zur Verfügung und vermittelt den Verkauf. Die 
Genossenschaft übernimmt auch alle Arbeiten für Reinigung, Wiegen, Verladen^ 
Transportkosten und Portoauslagen. 

11. Die Mitglieder können auch ihr Saatgetreide im Lagerhause reinigen 
oder auch Getreide nur schroten lassen. Hierfür ist ebenfalls nur die alljähr^ 
lieh festgesetzte Lagerhausgebühr zu entrichten (derzeit für das Reinigen des 
Saatgetreides 5 Kreuzer, für das Schroten 30 Kreuzer per Meterzentner). 



^ Die Lagerhausgenossenscbaft handelt wohl auf eigene Rechnung, aber 
zu Gunsten und auf Gefahr des betreffenden Genossenschafters, dessen Getreide 
sie auf den Markt bringt; sie besorgt also im Grunde doch nur den kommis- 
sionsweisen Verkauf, der für die Genossenschaft selbst jedes Risiko ausschliesst, 
dem einzelnen Genossenschafter aber den jeweilig erreichbaren besten Tages- 
preis sichert. Und eben darin liegt die Sicherheit und Reellität der ganzen 
Gebarung. Spekulationsgeschäfte sind dabei ganz ausgeschlossen, und damit 
ausgeschlossen auch die Verluste, die einzelne gross angelegte Lagerhaus- 
genossenschaften in Deutschland, welche Propregeschäfte betreiben, leider zu 
verzeichnen haben. 



223] ^16 Lagerhausgenossenschaften. 137 

12. Der aufgestellte Magazineur arbeitet nach den mit der Lagerhaas- 
Verwaltung vereinbarten Lohngebühren (derzeit 8 Kreuzer per Meterzentner ge- 
reinigten Getreides). Trinkgelder an denselben zu verabreichen, ist unstatthaft 
und wird gegebenen Falles verfolgt. 

Die zur Belehnung der Lagerbestände erforderlichen Gelder 
erhalten die Lagerhausgenossenschaften, bezw. die Raiffeisen-Yereine, 
von ihrer Genossenschafitszentrale im Lande, der Zentralkassa der 
Spar- und Darlehenskassenvereine, und zwar im Kontokorrentverkehr. 
Als Grundlage dieser Belehnung dienen lediglich die Ausweise über 
die Lagerbestände, welche die Lagerhausgenossenschaften allwöchent- 
lich der Genossenschaftszentrale einsenden. Wenn nicht die Ge- 
nossenschaftszentrale selbst den Verkauf des Getreides durchführt, 
so erfolgen die Zahlungen für das von den Lagerhausgenossenschaften 
yerkaufte Getreide doch direkt bei der zuständigen Genossenschafbs- 
zentralkasse für Rechnung der betreffenden Lagerhausgenossenschaft, 
so dass der von der Lagerhausgenossenschaft in Anspruch genom- 
mene Lombardkredit bei jedem effektiven Verkaufe gleich wieder 
abgestossen wird. 

Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Lager- 
hausgenossenschaften, so gut ihre Ware und ihr Bestreben ist, doch 
vielfachen Anfeindungen, namentlich aus Händlerkreiseu, ausgesetzt 
sind, und auch die Eonsumentenkreise stehen denselben nicht immer 
freundlich gegenüber, indem auch diese in den Lagerhausgenossen- 
schaften einen preisregulierenden Faktor, wenigstens auf dem lokalen 
Markte erkennen. Vermöge der besseren Getreidequalität, welche 
die Lagerhausgenossenschaften auf den Markt bringen, erzielen die- 
selben in der Regel ja einen etwas besseren Preis. Sie tragen aber 
auch dazu bei, dass die Handelskonkurrenz in dem Gebiete, welches 
die Lagerhausgenossenschaft kommerziell bearbeitet, bessere Preise 
bewilligt, um überhaupt ins Geschäft zu kommen und Getreide, das 
sonst seinen Weg durch das Lagerhaus nimmt, an sich zu ziehen. 
Der Endeffekt ist in der Regel eine kleine allgemeine Preissteige- 
rung auf dem lokalen Markte, und das ist der Grund, warum auch 
manche Eonsumentenkreise sich den Genossenschaften gegenüber 
ablehnend verhalten. Andere hingegen haben die Verbindung mit 
den Lagerhausgenossenschaften wieder gerne aufgenommen und halten 
dieselbe, da sie gut bedient werden, auch aufrecht. 

Abgesehen von den Schwierigkeiten, welche sich aus den ge- 
nannten Gründen beim Absätze des Lagerhausgetreides ergeben, 
Terfügen die einzelnen Lagerhausgenossenschaften aber auch nicht 
immer über die zu einer erfolgreichen Bearbeitung des Marktes 



138 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [224 

erforderlichen kaufmännischen Kräfte. Es fällt der einzelnen 
Genossenschaft insbesondere schwer, Beziehungen auf dem fernen 
Markte anzuknüpfen und diese Beziehungen auch entsprechend und 
nachhaltig zu pflegen. Dazu ist es vorgekommen, dass die Vertreter 
einzelner Lagerhausgenossenschaften, so lange diese selbst und ver- 
einzelt auf den Markt gingen, oft auf demselben Platze sich be- 
gegnet und dort, natürlich nicht zum Nutzen der Lagerhausgenossen- 
schaften, Konkurrenz gemacht haben, und dieselbe Konkurrenz, 
nur in erhöhtem Masse, müssen sich die Lagerhäuser machen, auch 
wenn sie ihr Getreide durch ihre Landesorganisationen auf den 
Markt bringen. Die genossenschaftlichen Landesorganisationen sind 
in den einzelnen Ländern Oesterreichs aber auch sehr verschieden 
ausgebildet und nicht jede Landesorganisation verfügt über die 
erforderlichen Mittel und Kräfte zu einer erfolgreichen Bearbeitung 
des Getreidemarktes. Man denkt in neuester Zeit deshalb daran, 
den „Allgemeinen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in 
Wien**, welcher seit dem Vorjahre für die ihm angehörigen Landes- 
organisationen auf dem Gebiete des gemeinsamen Einkaufes ein 
kommerzielles Zentrum geworden ist, auch zu einem kommerziellen 
Zentrum für den Getreideabsatz zu machen, und durch diesen 
, Allgemeinen Verband" auch den Getreideverkauf für die Lager- 
hausgenossenschaften in den einzelnen Ländern einzuleiten und 
durchzuführen. Ausgenommen hiervon sind vorläufig nur die Lager- 
hausgenossenschaften in Niederösterreich, weil dieselben in ihrem 
Landesverbände bereits eine eigene Verkaufsstelle besitzen. 

Die Einleitungen zur Bearbeitung des Getreidemarktes durch 
den „Allgemeinen Verband* sind bereits getroffen, zahlreiche ge- 
schäftliche Beziehungen wurden angeknüpft, und anfangs September 
laufenden Jahres waren beim „Allgemeinen Verband* vornehmlich 
aus Böhmen und Mähren an 300 Waggons Gerste bemustert. Damit 
geht der „Allgemeine Verband" nun auf den Markt, wobei er 
namentlich für la Qualitäten in erster Linie den besser lohnenden 
Auslandsmarkt ins Aage fasst, während mindere Qualitäten auf 
dem Inlandsmarkte placiert werden sollen. Im übrigen ist für die 
Anstellung ja insbesondere auch die Frachtlage entscheidend, wes- 
halb bei günstiger Relation gute Qualitäten auch auf dem Inlands- 
markte oft entsprechend placiert werden können. Der Versuch der 
Zentralisation des Getreideabsatzes, welchen der „Allgemeine Ver- 
band landwirtschaftlicher Genossenschaften in Oesterreich'' soeben 
macht, ist jedenfalls der Beachtung wert, und darf man der weiteren 
Entwickelung mit Interesse entgegensehen. Gelingt es dem „All- 



225] I^ie Lagerhausgenossenschaften. 139 

gemeinen Verband", für das Getreide der seinen Landesorganisationen 
angeschlossenen Lagerhausgenossenschaften neue Absatzwege zu er- 
schliessen und günstige Preise zu erzielen, dann ist den Lagerhaus- 
genossenschaften und ihren Landesorganisationen die kommerzielle 
Sorge, wenn nicht ganz abgenommen, so doch wesentlich erleichtert, 
und eine feste Bürgschaft für die Prosperität der Lagerhausgenossen- 
schaften gegeben, welche auch nach ihrer vortrefflichen technischen 
Einrichtung zu erwarten ist. Dem Konsum aber werden durch die 
allen Lagerhausgenossenschaften gemeinsame Zentralstelle von Jahr 
zu Jahr immer grössere Getreidemengen in bester Qualität angeboten 
werden können, eine Konzentration des Angebotes, welche auch den 
grossen Konsumenten die Eindeckung ihres Bedarfes nur erleichtern 
und verbilligen kann. Es erscheint die Weiterentwickelung der 
genossenschaftlichen Lagerhäuser mit der ins Auge gefassten Zen- 
tralisation des Getreideverkaufes daher auch vom Standpunkte der 
grossen Konsumenten nur wünschenswert. 

b) Die Grenzen der genossenschaftlichen Organisation 
des Getreideverkaufs in Oesterreich. 

Die vorstehend geschilderte Entwickelung des genossenschaft- 
lichen Getreideabsatzes in Oesterreich berechtigt zu guten Hoff- 
nungen für die Getreideproduzenten und für die Volkswirtschaft, 
wenn wir uns auch vor Augen halten wollen , dass die Bürgschaft 
für ihre Verwirklichung, eine tüchtige kommerzielle Organisation, 
erst noch geschaffen werden muss. 

Das Getreidegeschäft ist heute ein ausserordentlich schwieriges 
Geschäft; es erfordert wie vielleicht wenige andere Warenkenntnis, 
Intelligenz und kaufmännischen Weitblick und eine Vertrautheit mit 
den Marktverhältnissen und Handelsgepflogenheiten, welche man nur 
durch jahrelange Uebung erwirbt. Es braucht also tüchtiger, kauf- 
männischer Kräfte, die, so lange sie nicht innerhalb der Organisation 
selbst heranwachsen, vom Handel herübergenommen werden müssen. 
Mit untergeordneten Kräften ist aber dabei nicht gedient, es müssen 
Persönlichkeiten in den Dienst der Genossenschaften gestellt werden, 
die in ihrem Erwerbszweige zu den besten gehören, denn es soll 
ja in der Konkurrenz mit den privaten Händlern der Sieg errungen 
werden. Dass die einzelne Genossenschaft die Mittel nicht aufzu- 
bringen in der Lage ist, um derartige Kräfte zu besolden, ist klar; 
und der Erfolg der ganzen Bewegung wird daher wesentlich davon 
bedingt sein, in welchem umfange die Zentralisation des Verkaufs 
wird durchgeführt werden können. 



140 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [226 

Dass jemand ein tüchtiger Landwirt und ein gewissenhafter 
Oenossenschafts- oder Yerbandsobmann ist, macht noch nicht, dass 
er die Eigenschaft für die mit dem Amte verbundenen Aufgaben 
besitze, und es ist nicht sehr verwunderlich, wenn die Handelskreise 
von den Absatzschwierigkeiten der genossenschaftlichen Lagerhäuser 
zu erzählen wissen. Es ist heute kein allzu seltener Fall, dass^ 
nachdem vergeblich der direkte Absatz der Ware an den Gross- 
konsum versucht und darüber die Konjunktur versäumt worden ist, 
schliesslich doch die Intervention des Berufshändlers in Anspruch 
genommen werden muss, und dieser Umstand mag auch den von 
den Handelskreisen bei Gelegenheit der Terminhandelsenquete ge- 
äusserten Skeptizismus bezüglich des genossenschaftlichen Getreide- 
verkaufs Nahrung gegeben haben. 

Das ist aber keineswegs die einzige Schwierigkeit, die zu über- 
winden ist; eine kaum minder ernste ergibt sich aus der Qualität 
der österreichischen Getreidekonsumenten. 

Die Lagerhausgenossenscfaaften werden nicht allenthalben in 
der Heeresverwaltung einen so guten Abnehmer für ihr Getreide 
finden können, wie in Niederösterreich. Wir wollen davon absehen, 
dass auch die Aufnahmsfäfaigkeit der Heeresverwaltung eine be- 
grenzte ist. Man wird aber nicht vergessen dürfen, dass speziell, 
was Brotfrüchte betrifft, die niederösterreicfaische Produktion zumeist 
eine Qualität erster Güte liefert — wir erinnern nur an den March- 
felder Weizen, der manchem Banater nicht nachsteht, — was haupt- 
sächlich auf natürliche Verhältnisse zurückzuführen ist. In den 
übrigen Landesteilen ist die natürliche innere Beschaffenheit grosser 
Quantitäten eine derartige, dass sie unbedingt einer Aufbesserung 
durch importierten ungarischen Weizen bedürfen ^. Sie können daher 
nur von wirklichen Industrieetablissements aufgenommen werden, 
die diesem Geschäfte, das weder technisch noch kommerziell em 
sehr einfaches ist, gewachsen sind. Der ärarische Betrieb ist nicht 
darauf zugeschnitten. Die Hauptabnehmer werden also doch die 
privaten Konsumenten bleiben; für Braugerste sind sie die aus- 
schliesslichen Abnehmer. Industrieetablissements, Mühlen und Braue- 
reien, Spiritusfabriken, Stärkefabriken etc. sind also die Kunden. 

Diese verlangen aber langfristige Kredite, wie sie ihnen der 
Handel einräumt und wie sie ihnen unentbehrlich sind, da sie auch 
ihrerseits ihren Abnehmern lange Kredite zu gewähren gezwungen 

^ Die Lagerhausgenossenschaften können zur Verbesserung der Qualität 
wesentlich nur beitragen, was Reinheit, Gewicht und Trockenheit des Getreides 
betrifft; die natürlichen Eigenschaften sind kaum in Jahren stärker veränderlich. 



227] ^i® LagerhausgenoBsensehaften. 141 

sind, insbesondere die Müller den Bäckern. Nur sehr grosse und 
kapitalkräftige Industrieetablissements pflegen neben dem Kredit- 
kauf den Barkauf. Es ist uns aber aus früheren Darlegungen be- 
kannt, dass die österreichische Müfalenindustrie überwiegend Klein- 
industrie ist. Nach der Aussage, die ein Experte aus Müllerkreisen 
in der Terminhandelsenquete ^ gemacht hat, wären in Oesterreich 
25 000 kleine und mittlere Mühlen vorhanden. Diese nehmen Kredite 
von 8 Wochen bis zu 6 Monaten in Anspruch, teils offene Buch-, 
teils Wechselkredite. Auf so lange muss man Geld vorstrecken 
können, wenn man das Geschäft dem Handel abnehmen will. Ausser- 
dem machen auch diese Verhältnisse wieder tüchtige kaufmännische 
Leitung, welche sich der Gefahren dieses Geschäftes bewussi ist, 
die einzuräumenden Kredite, die Solvenz der einzelnen Käufer sorg- 
fältig in Erwägung zieht, zu einer Lebensfrage für den genossen- 
schaftlichen Getreideverkauf. Wenn auch vorweg bemerkt werden 
soU, dass die österreichische Mühlenindustrie im allgemeinen in dem 
Bufe grosser Solidität steht, so sind doch die Verhältnisse in der- 
selben unter der Einwirkung der ungarischen Konkurrenz andauernd 
krisenhaft. 

Auf der anderen Seite ist aber auch der Lombardkredit, welchen 
die Genossenschaft dem einzelnen Genossenschafter auf das ein- 
gelagerte Getreide gibt, nicht gefahrlos. 

Es besteht im allgemeinen die Tendenz, die Vorschussquote 
dem Tageswert der Ware möglichst anzunähern ; zumeist werden 
90 ^/o desselben vorgeschossen. Dass ein grösserer Preissturz die 
Genossenschaft leicht gefährden kann, ist wohl kein müssiges Be- 
denken, wenn man im Auge hält, dass z. B. bei Gerste oft noch 
Wochen nach der. Ernte die Preisbasis eine wenig stabile und sichere 
ist. Selbst gewiegte und wohlorientierte Händler sind oft nicht in 
der Lage, zuverlässige Taxationen des Wertes zu geben, und es ist 
bei Gerste nichts Seltenes, dass der Abstand zwischen Forderung und 
Taxation 2 — 5 Kronen pro 100 kg beträgt. Die Lagerhausgenossen- 
schaft ist aber hier in einer weit schwierigeren Situation als der 
Händler, ein öffentlicher Wertmassstab, wie ihn für die übrigen Ge- 
treidegattungen der Preis des Usaneegetreides gibt, existiert nicht 
und ausserdem ist zur Beurteilung der künftigen Preisgestaltung 
bei Gerste die genaue Kenntnis der ausländischen Marktverhältnisse 
unerlässlich, da wir mit dieser Fruchtgattung auf den Export an- 
gewiesen sind. Vielleicht wird aber auch diese Schwierigkeit durch 



Amand Fuhrich, Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 9. 



142 I^ör Wiener Getreidehandel und seine Technik. [228 

die Erhöhung der kommerziellen Tüchtigkeit der Zentralbureans 
auf den grossen Märkten des Oetreidehandels gemildert werden 
können. Dieses wenigstens muss in der Lage sein, sich auf dem 
Markte rasch zurechtzufinden, was bei einem Massengut, dessen 
Handelsbewegung, in Europa wenigstens, statistisch noch nicht erfasst 
ist, ausschliesslich durch kaufmännische Intuition geschehen kann. 

Sind wir nun auch, ungeachtet der besprochenen Schwierig- 
keiten, weit entfernt davon, die volkswirtschaftliche Bedeutung des 
genossenschaftlichen Getreideverkaufs und die Rolle, welche derselbe 
in der künftigen Entwickelung des Getreidehandels zu spielen berufen 
sein wird, zu unterschätzen, so halten wir es im Hinblick auf die 
Schlag Worte der politischen Agitation doch für nötig, die Grenzen 
dieser Bedeutung zu erörtern. Den Schlagworten zufolge möchte 
es scheinen, dass neben der genossenschaftlichen Organisation des 
Getreideverkaufs die kapitalistische ihre Rolle ausgespielt habe oder 
doch in absehbarer Zeit ausgespielt haben werde, und dass ins- 
besondere die grossen zentralen Märkte durch die genossenschaft- 
liche Organisation des Getreideverkaufs ihre Bedeutung einbüssen 
werden. Das ist aber wenigstens für Oesterreich und Wien irrig 
und unzutreffend. Wenn von Deutschland unter Hinweis auf frühere 
Zeiten noch mit einem Schatten von Wahrscheinlichkeit behauptet 
werden kann, dass es unter gewissen Verhältnissen seinen Getreide- 
bedarf selbst hervorzubringen vermag, so trifft dies für Oesterreich 
(»die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder*) durchaus 
nicht zu. Ob die Gemeinsamkeit des Zollgebietes mit Ungarn, 
welche diese Thatsache mildert, aufrecht bleibt, ist im Momente 
wenigstens ungewiss. Aber selbst in diesem Falle ist zu bedenken, 
dass auch Ungarn in dem Masse, als es sich industriell entwickelt 
und seine Bevölkerung wächst, immer weniger Getreide für Oester- 
reich verfügbar haben wird. 

So sehr es unseren Landwirten, die unter der Agrarkrise ge- 
wiss empfindlich leiden, zu gönnen /st, wenn sie durch die gescSl- 
derte Organisation zu einer besseren Verwertung ihres Getreides 
gelangen, so kann doch darum nicht die Beseitigung jener Organi- 
sation verlangt werden, die der Versorgung der Millionen Menschen 
dient, welche die heimische Produktion nicht mit Brot zu versorgen 
vermag. Das Vorhandensein selbst eines dichten Netzes von ge- 
nossenschaftlichen Lagerhäusern und einer tüchtigen kommerziellen 
Organisation des genossenschaftlichen Getreideverkaufes, was beides 
noch in Zukunft steht, kann den Importhandel nicht überflüssig 
machen. 



229] ^io Lagerhaasgenossenschaften. 143 

Die Absatzorganisationen der Landwirte sind aber auch materiell 
nicht ausreichend, um eine entscheidende Rolle in der Getreide- 
yersorgung Oesterreichs zu spielen. Wir haben erfahren, dass der 
Gesamtumsatz sämtlicher Lagerhausgenossenschaften in Oesterreich 
gegenwärtig auf 1 000 000 Meterzentner geschätzt werden darf. Es 
beträgt aber die Ernte Oesterreichs im Durchschnitt der Jahre 
1890 — 1899 in Millionen Meterzentner jährlich: 

Weizen 11,9 

Roggen 19,2 

Gerste . . , 13,1 

Hafer 17,2 

Mais 4,3 

Zusammen 65,7 

Mag man immerhin der Anschauung sein — und wir selbst 
teilen sie — , dass in der Folge noch ein erheblicherer Teil dieser 
Getreidemengen von der genossenschaftlichen Organisation erfasst 
werden dürfte, so wird dieses Wachstum doch nur allmählich statt- 
finden können und seine natürlichen Grenzen finden, in den topo- 
graphischen Verhältnissen und in der Grundbesitzverteilung. 

Die Lagerhausgenossenschaften sind also und können aller 
Voraussicht nach immer nur sein ein Glied, und ein sehr nützliches 
Glied in der Organisation des österreichischen Getreidehandels, aber 
eben nur ein Glied, und einer der eifrigsten Freunde der genossen- 
schaftlichen Organisation des Getreideabsatzes, Wygodzinsky ^, sagt 
mit Bezug auf die süddeutschen Lagerhausgenossenschaften, deren 
Struktur und Entwickelungsbedingungen denen unserer sehr ähnlich 
sind, es sei „ausgeschlossen, dass auf die Mitwirkung des Handels 
verzichtet werden kann. Wir können mit dem Handel nur innerhalb 
gewisser Grenzen konkurrieren" und eine Einwirkung auf die Preise 
sei also nicht möglich, selbst wenn alles in der Rheinprovinz erzeugte 
Getreide genossenschaftlich verkauft würde. Was lediglich erreicht 
werden könne, sei eine Verkürzung des Weges vom Produzenten zum 
Konsumenten, eine Ausschaltung überflüssiger Mittelspersonen. 
I Soweit unsere Landwirte Konsumenten von ausländischem Futter- 

I getreide sind — und das sind sie, wie wir dargethan haben, in 

immer steigendem umfange — , haben die Lagerhausgenossenschaften 
selbst ein starkes Interesse an der Förderung der kapitalistischen 
Organisation des Handels. Wenn wir es auch nicht als durchaus 
utopisch bezeichnen wollen, dass speziell dieser Teil des Import- 

^ Bar. Wygodzinsky, Der gemeinsame Absatz landwirtschaftlicher Erzeug- 
nisse. Offenbach 1895. 



144 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [230 

handeis dereinst in die Hände der Lagerhausgenossenschaften über- 
gehen wird, so ist die Entwickelung, wie wir gesehen haben, heute 
noch sehr weit davon entfernt. Selbst wenn die genossenschaftliche 
Organisation des Getreidehandels die Bedingungen in sich trüge, 
die Erbschaft nach der kapitalistischen Organisation des Getreide- 
handels anzutreten, reif dazu ist sie heute auf keinen Fall und wird 
es noch lange nicht sein. 

Aber wie den Einkauf so können die Lagerhausgenossen- 
schaften auch den Verkauf des eigenen Getreides heute nicht unter 
Ausserachtlassung und mit gänzlicher Umgehung der kapitalistischen 
Organisation und insbesondere des Zentralmarktes Wien durch- 
führen. Denn hier konzentriert sich noch immer der bedeutendste 
Teil des österreichischen Getreidehandels, und hier findet die Preis- 
bildung statt, nicht kraft eines äusseren Zwanges, sondern kraft 
der historischen Entwicklung, die wir kennen gelernt haben und 
auf Grund von Beziehungen zu den Eonsumentenkreisen und Märkten 
des In- und Auslandes, welche in fünfundzwanzigjähriger Arbeit 
allmählich erst erworben und gefestigt werden konnten, wie sie 
auch die Lagerhausgenossenschaften nur allmählich werden erwerben 
können. So lange ist für sie der ordnungsgemäss funktionierende 
Zentralmarkt in Wien nicht minder wichtig als für die Brotkon- 
sumenten, und dass man sich dieser Erkenntnis in praxi keineswegs 
yerschliesst, beweist die Thatsache, dass die gemeinsamen Yer- 
kaufsbureaus in Wien errichtet werden und dass speziell der nieder- 
österreichische Verband sich an der Börse für landwirtschaftliche 
Produkte direkt vertreten lässt. 

Die Unterdrückung oder Zerstörung der gegenwärtigen Organi- 
sation des Getreidehandels oder auch nur die Herabminderung ihrer 
Bedeutung und Leistungsfähigkeit muss daher füglich als eine den 
Interessen der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Bevöl- 
kerung, der Landwirte mit inbegriflFen, zuwiderlaufende unwirtschaft- 
liche und mit Rücksicht auf das unsichere handelspolitische Ver- 
hältnis zu Ungarn gefährliche bezeichnet werden. Speziell die 
Konstruktion eines Gegensatzes zwischen der Entwickelung der 
Lagerhausgenossenschaften und der des Zentralmarktes Wiens ist 
um so demagogischer, als der letztere für inländisches Getreide 
kaum eine Rolle spielt. Nur niederösterreichisches Getreide findet 
zu einem Teile seinen Weg in den Konsum durch die Wiener 
Produktenbörse, 95 ^/o des in Wien gebändeltes Getreide sind, wie 
schon an anderer Stelle erwähnt wurde, ungarischer und auslän- 
discher Provenienz, zum Teile für den Transit, zum Teile für den 



231] ^ie Beform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 145 

Import bestimmt. Läge aber auch die Führung des Importhandels 
in den Händen der Lagerhausgenossenschaften, dann wären diese 
eben nicht mehr Getreide verkaufende Produzenten , sondern — 
kapitalistische Handelsunternehmungen, die sich derselben Yerkehrs- 
formen bedienen müssten, wie heute der private Handel. 

Wir kommen daher zu dem Schlüsse, dass der Grundsatz einer 
Ternünfligen Getreidehandelspolitik sein müsse: kräftigste Förderung 
der genossenschafüichen Organisation des Getreideverkanfs nnd zwar 
auch durch materielle Unterstützung auf der einen Seite, reforma- 
torischer Konservatismus in Bezug auf die gegenwärtige Organi- 
sation auf der anderen Seite. 

V. 
Beformbestrebnngen nnd Beformvorschläge. 

1. 

Die Beform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 

Unter den Ursachen der nordamerikanischen Getreidekonkurrenz 
ist eine ausserordentlich bedeutsame, die in Europa bisher nicht 
genügend gewürdigt worden ist: die überlegene Verkehrstechnik. 
Insbesondere dort, wo es sich um das Ersparen menschlicher Arbeit 
und Beschleunigung des Verkehrs handelt, ist der Fortschritt in den 
Vereinigten Staaten ein gewaltiger und noch immer bringen neue 
Ergebnisse der angewandten Mechanik Einrichtungen zum Einladen 
und Umladen von Massenprodukten auf den Stapelplätzen, welche 
eine geradezu verblüflFende Vereinfachung und Verbilligung des Ver- 
kehrs ermöglichen \ Dass die Farmer der Vereinigten Staaten heute 
trotz der nicht eben unbedeutenden Konkurrenz Argentiniens ihre 



^ Im Jahre 1872 berichtet der Güterverkehrsdirektor der Baltimore-Ohio* 
Bahn, dass im Januar dieses Jahres allein das Umladen des Getreides vom 
Eisenbahnwagen ins Schiff, durch Menschenkraft vollzogen^ etwa 4 — 5 Cents 
per Bushel gekostet hat, dass aber bald darauf, nach der Eröfihung eines 
600 000 Busheis fassenden Elevators, die Gebühr fär Umladung, Wiegen und 
Reinigen, sowie für zehntägige Lagerung auf 1,75 Gents festgesetzt worden ist 
und dass sich die zur Umladung eines Schiffes nötige Zeit von 5 — 10 Tagen 
alsobald auf ebensoviele Stunden ermässigt hat (Archiv für Eisenbahnwesen, 
herausgeg. vom preuss. Ministerium für Öffentl. Arbeiten, Jahrg. 1901, Heft 1, 
S. 93.) Die Calumet- und Hekla-Minen-Aktiengesellschaft hat 1898 fünf hydrau- 
lische Eohlenaufzüge bauen lassen, wodurch sich die Kosten der Eohlenumladung 
von 27 Cents auf nicht weniger als 1 Cent per Tonne verminderten. (Sartorius, 
Die Handelsbilanz der Vereinigten Staaten. Berlin 1901, S. 18.) 

Wiener Studien. III. Bd., 8. Heft. 10 [16] 



146 JE)er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [232 

Position auf dem Weltmarkte behaupten, danken sie neben der Ver- 
billigung der einbeimischen Getreidetarife ^ zu welcher der Bau von 
Kanälen nicht wenig beigetragen hat, in erster Reihe dieser Ueber- 
legenheit der Verkehrstechnik. 

Dass insbesondere bei uns auf diesem Gebiete noch sehr viel 
nachzuholen ist, hoffen wir klargestellt zu haben und es erübrigt 
uns nur noch zu erörtern, in welcher Richtung der Hebel des Fort- 
schrittes zunächst angesetzt werden muss. 

Die vorangegangene Darstellung dürfte von selbst die Erkenntnis 
aufgedrängt haben, dass vor allem eine prinzipielle Aenderung der 
Lagerhauspolitik in allen Fragen in dem Sinne notwendig ist, dass 
für die freie Entwickelung Raum geschaffen wird. 

Der Anfang muss daher mit einer Aenderung des Lagerhaus- 
gesetzes gemacht werden, welche wesentlich folgende Reformen 
umfassen müsste. 

Das Konzessionssystem wäre zu beseitigen. Wie in Frankreich 
soll die Anmeldung bei der Gewerbebehörde und der Erlag der vor- 
geschriebenen Kaution zur Errichtung eines öffentlichen Lagerhauses 
genügen. Die Belehnung durch das öffentliche Lagerhaus wäre zu 
gestatten, gleichzeitig aber wäre, um einer etwaigen Monopolisierung 
der Belehnung durch dasselbe vorzubeugen, ihm die Pflicht zur Aus- 
gabe von Lagerscheinen präzise aufzuerlegen und die Umgehung 
derselben mit Geldbussen bezw. Einstellung des Betriebes zu be- 
drohen. Auch soll, wie in Frankreich, der Lagerhausunternehmung 
die Belehnung nur gegen Lagerschein gestattet sein, nicht in blossem 
Kontokorrentverkehr, weil dies zur Einbürgerung des Instrumentes 
wesentlich beizutragen geeignet ist, ohne den Verkehr zu erschweren. 
Das Recht zur Ausgabe indossabler Lagerscheine sollen zumindest 
alle öffentlichen Lagerhäuser, die genossenschaftlichen Lagerhäuser 
und alle öffentlichen Transportanstalten für die in ihren Magazinen 
eingelagerten Waren haben. 

Das Warrantsystem wäre prinzipiell auf die Basis jener Auf- 
fassung zu stellen, welche der deutsche Juristentag von 1892 zu der 
seinigen gemacht hat und welche auch die Grundlage der auf den 
Lagerschein bezügUchen Bestimmungen des neuen deutschen Handels- 
gesetzbuches und des neuen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches 
bilden. Danach sind an die üebergabe des Lagerscheines zu knüpfen: 



^ Vgl. Aufsatz «Getreidetransport und Eisenbahn wesen in Amerika'' von 
Kurt Wieuenfeld im , Archiv für Eisenbahnwesen*, herausgeg. vom preussischen 
Ministerium für öffentliche Arbeiten, Jahrg. 1901, Heft 1. 



233] I^ie Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 147 

a) der üebergang aller Rechte aus dem indossierten Papier 
gegen das Lagerhaus; 

b) dieselben rechtlichen Wirkungen, welche an die Uebergabe 
der Güter selbst sich anknüpfen würden. 

Wir yerschliessen uns aber nicht der Einsicht, dass das Lager* 
pfandscheinsystem entsprechend reformiert, spezieU für den landwirt- 
schaftlichen Mobiliarkredit immerhin Bedeutung gewinnen mag. Die 
Lagerhausgenossen z. B. kostet die zweite Unterschrift nichts, denn 
sie wird von dem Genossenschafkszentralverband gegeben, und dem 
bäuerlichen Yerpfönder wäre es so thatsächlich möglich, wie es die 
Absicht des Gesetzgebers gewesen ist, Geld auf seine Ware zu dem- 
selben Zinsfusse zu bekommen, welchen die Bank für gute Wechsel 
berechnet, also zu dem billigsten, der im Geldmarkte überhaupt 
möglich ist. 

Wir glauben daher nicht, dass das Lagerpfandscheins jstem über- 
haupt beseitigt werden soll; nur die Beschränkung des Handels mit 
seinen vielfach anderen und wechselnden Bedürfnissen auf dieses 
System soll entfallen. Im Gesetze wären neben der Ausgabe von 
einfachen Lagerscheinen im Sinne des deutschen Gesetzes, die von 
Lagerpfandscheinen und' endlich die von Lagerscheinen nach dem 
Muster des englischen Zweischeinsystems zu regeln und es wären 
die öffentlichen Lagerhäuser zu verpflichten, dem Einlagerer den 
Warrant in derjenigen Form auszustellen, in der er dies verlangt. Die 
österreichisch-ungarische Bank aber wäre zu autorisieren, einfache 
Warrants über Waren, die einen Börsenkurs besitzen, zum Lom- 
bard zuzulassen. Mit Becht weist Gamp ^ darauf hin, dass die Risken 
der Bank bei der Effektenlombardierung, die sie anstandslos unter- 
nimmt, viel grösser sind als bei der Lombardierung gewisser Waren- 
gattungen. Wenn die Bank Getreide beispielsweise mit 80®/o des 
Wertes bevorschusst, so bleibt ihr bei dem gegenwärtigen Durch- 
schnittspreisstande von 8 Kronen eine Marge für Preisschwankungen 
von 1,60 Krone, wobei ihr im Falle der Wertverminderung, die 
bei börsenmässig gehandelten Waren leicht kontrollierbar ist, un- 
benomimen bleibt, Verstärkung des Pfandes zu verlangen. Für das 
immerhin grössere Bisiko, mit dem die Lombardierung dem Wechsel- 
bezw. Warrantescompte gegenüber verbunden ist, wäre — nach dein 
Vorschlage Gamps — die Bank durch eine kleine Provisioii ent- 
schädigt. 

Eine derartige Ausgestaltung des Warrantwesens, welche den 



1 Gamp, Der landwirtschaftliche Kredit. Berlin 1894, S. 164 ff. 



J48 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [234 

yerschiedensten Bedürfnissen Rechnung trägt, müsste auf den Handels- 
verkehr ausserordentlich belebend zurückwirken und wäre ein Gewinn 
für die gesamte Volkswirtschaft. 

Wie im Gesetz, so müssten auch in tarif arisch er Beziehung 
alle Sonderbegünstigungen dadurch verschwinden gemacht werden, 
dass die für das städtische Lagerhaus bestehenden auf alle Unter- 
nehmungen ausgedehnt werden, damit die Privatthätigkeit nicht ge- 
hemmt ist. Wenn das städtische Lagerhaus reorganisiert würde, 
könnte es wohl einen grösseren Verkehr des ümschlagdienstes und 
des Lagergeschäftes besorgen, wäre aber auch dann nicht in der 
Lage, den ganzen Verkehr zu bewältigen, insbesondere in den Herbst- 
monaten unmittelbar nach der Ernte. Auch können die ferneren 
Schicksale des Handels in Wien nicht länger von den Wechselfällen 
und Zufälligkeiten der Gemeindepolitik abhängig bleiben. 

Für eine Reorganisation des Donauumschlags im Jahre 
1890 waren zu der Zeit, als sie das erste Mal erwogen wurde, zwei 
Alternativen vorhanden. Die eine, die freie Konkurrenz begünstigende, 
war die Ausrüstung eines vom städtischen Lagerhause unabhängigen, 
jedermann frei zugänglichen Landungsplatzes für den Umschlag, die 
andere eine Erweiterung der städtischen Lägerhausanlagen. 

Die erstere Alternative, obwohl die im Interesse der allgemeinen 
Entwickelung vorteilhaftere, konnte, teils wegen der Zerstückelung 
der Uferplätze, teils deshalb praktisch nicht in Betracht kommen, 
weil weder die Donauregulierungskommission noch die Regierung 
die Neigung bekundeten, die notwendigen Investitionen vorzunehmen. 
Die Donaudampfschiffahrtgesellschaft, welche als die an einer glatten 
Abwickelung des Donauumschlags meistbeteiligte Partei am ehesten 
berufen gewesen wäre, diesbezüglich Einrichtungen zu treffen, gab 
wohl ein umfassendes Reorganisationsprojekt zum besten, lehnte aber 
selbst dessen Ausführung ab. 

Diese Investitionen vorzunehmen war aber unter allen am Prater- 
quai vertretenen Verkehrsinstituten das städtische Lagerhaus, als das 
bedeutendste und für den Handel wichtigste, nicht nur in erster 
Reihe berufen ^ sondern dank kleiner Privilegien und der grösseren 
Unterstützung, die ihm als dem Institut einer öffentlichen Korpora- 
tion seitens der öffentlichen Verwaltung und der Eisenbahnen vor 
dem Privatkapital sicher war, in finanzieller Beziehung am ehesten 
in der Lage. Denn es kamen selbst nur für die Aufstellung von 
Elevatoren bedeutende Investitionen in Frage, weil der Unternehmer 
erst an Stelle der geböschten Ufer senkrechte, steinerne Quaimauern 
herstellen muss, was sonst überall bereits bei der Anlage des Hafens 



235] ^16 Reform des Lagerhaus- nnd Verkehrswesens. I49 

zu geschehen pflegt. Auf geböschten Ufern ist die Einrichtung eines 
rationellen Maschinenbetriebs unmöglich, weil z. B. am Donaudurch- 
stich bei Niedrigwasser die Schiffe 16 m von der Böschungskante 
abstehen. Bei dieser Distanz, die gegenwärtig schon eine Arbeits- 
Verschwendung im Gefolge hat, indem sie der Arbeiter mit jedem 
einzelnen Sacke durchlaufen muss, müssten Erahne und Elevatoren, 
um bis zur Mitte der Schleppe zu reichen, eine Ausladung von 
20 m haben, was das Doppelte der allgemein üblichen Ausladung ist, 
wodurch der Effekt des Maschinenbetriebs natürlich aufgehoben 
werden würde. 

Die Hoffnungen der Eaufleute blieben also auf das städtische 
Lagerhaus beschränkt. Der Direktor desselben, dem es an Einsicht 
in die Bedürfnisse des Handels und an üuternehmungssinn nicht zu 
fehlen scheint , wies auch bereits Ende der achtziger Jahre ^ auf 
die Notwendigkeit einer neuerlichen bedeutenden Erweiterung der 
Lagerhausanlagen, der Einführung des Maschinenbetriebs, sowie der 
Aufstellung mechanischer Reinigungsvorrichtungen hin. Aber der 
Direktor ist nur ein Beamter der Kommune — und die Kommune 
that nichts. 

Die Kaufmannschaft appellierte an die Regierung, worauf diese 
im Jahre 1887 der Wiener Handelskammer ein Elaborat über die 
Reorganisation der Wiener Landungsplätze abforderte. Nach weiteren 
drei Jahren, während welcher die Klagen der Kaufleute immer 
dringlicher wurden, veranstaltete das Handelsministerium im No- 
vember des Jahres 1890 unter dem Vorsitze des Sektionschefs Ritter 
V. Bazant die mehrfach citierte Enquete unter Zuziehung von Ver- 
tretern sämtlicher am Donauumschlag interessierter Korporationen, 
der kaufmännischen sowohl als der Transportunternehmungen. Die 
geschilderten Uebelstände wurden nun aktenmässig festgestellt; 
aber heute noch, elf Jahre nach Veranstaltung dieser Enquete, 
befindet sich der Wiener Donauumschlag, von einigen un- 
zureichenden Verbesserungen und Erweiterungen ab- 
gerechnet, in derselben Verfassung wie damals! Eine 
Besserung der Verhältnisse beim städtischen Lagerhause war 1892 
dadurch herbeigeführt worden, dass die Donaudampfschiffahrtsgesell- 
schaft auf die Mitbenutzung der Station „Wien-Lagerhaas* ver- 
zichten konnte, da sie die Errichtung einer eigenen Station „Wien- 
Praterquai* für ihren Bahnverkehr erwirkt hatte, mit jenen Be- 
schränkungen allerdings, welche früher gekennzeichnet wurden. 



1 Rechenschaftsberichte 1886, 1887, 1888. 



150 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [236 

Im Jahre 1893 endlich schien eine günstige Wendung eintreten 
zu sollen. Der damalige Bürgermeister Grübl setzte sich wegen 
Reorganisierung des städtischen Lagerhauses mit dem k. k. Handels- 
ministerium ins Einvernehmen. Durch Intervention desselben und 
durch das Entgegenkommen der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft 
konnte es einen bis dahin von der letzteren okkupierten, an ihre 
Lände angrenzenden Landungsplatz unter günstigen Bedingungen 
pachten und dadurch seine Leistungsfähigkeit für den Umschlag- 
verkehr erheblich steigern. Während früher nur 9 Schiffe angestellt 
werden konnten, war jetzt die Anstellung von 14 Schiffen möglich 
und konnten 100 — 140 Waggons gegen früher 70 — 100 täglich um- 
geschlagen werden. 

Gleichzeitig wurden Schritte zu einer Ausgestaltung der Magazins- 
anlagen und zur Einführung des Maschinenbetriebes eingeleitet. Unter 
dem 21. Juli 1894 richtete der Bürgermeister an das Handelsmini- 
sterium eine Eingabe ^, worin die Gemeindevertretung sich bereit 
erklärte, mit einem Kostenaufwand von 1400000 fl. Lagerhäuser zu 
erbauen, unter der Voraussetzung, dass die Regierung auf 50 bis 
60 Jahre folgende Begünstigungen gewähre: 

1. Auflassung des Pachtzinses für die Maschinenhalle per 4000 fi. 
und Erneuerung des mit 31. Dezember 1895 ablaufenden Pacht- 
vertrages über dieses Gebäude. 

2. Auflassung des Pachtzinses für die Donauregulierungsgründe 
per 6000 fl. und Verlängerung des bezüglichen mit 1. März 1904 
ablaufenden Pachtvertrages. 

3. Auflassung der Kosten für die Zollamtsexpositur im Lager- 
hause per 2800 fl. 

4. Auflassung der Kosten für die Expositur der k. k. Staats- 
bahnen itn Lagerhause per 5000 fl. 

5. Gleichstellung der Frachtsätze für Wagenladungssendungen 
von und nach Wien städtisches Lagerhaus mit jenen von und nach 
Wien Nord-, Nordwest- und Staatsbahnhof, sowie entsprechende 
Ermässigung der Frachtsätze im Verkehre von und nach Wien Süd- 
und Westbahnhof, unter ausschliesslicher Geltung dieser tarifari- 
schen Begünstigungen für das städtische Lagerhaus, sowie für jedes 
andere Unternehmen, welches Neuanlagen für Lagerhäuser und Um- 
schlagzwecke in Wien um den Betrag von mindestens einer Million 
Gulden macht. 



Amtsblatt der Stadt Wien, 15. März 1895. 



237] I^iß Reform des Lagerhaus- und Verkehrswesens. 151 

6. Stempel- und Gebührenfreiheit für ein etwa aufzunehmendes 
besonderes Lagerhausanlehen. 

7. Befreiung von der Hauszins-, Erwerb- und Einkommensteuer. 
Gleichzeitig schickte der Qemeinderat zwei Beamte auf eine 

Reise zum Studium der ausländischen Lagerhaus- und ümschlags- 
einrichtungen. 

Am 28. Februar 1895 erfolgte die Antwort des Handelsministers, 
derzufolge der Gemeinde für den Fall der geplanten Investition 
folgende Eonzessionen gemacht wurden: 

Das Handelsministerium bewilligt die Herabminderung des Pacht- 
zinses auf einen Anerkennungszins von 100 fl. jährlich. 

Die Donauregulierungskommission überlässt der Gemeinde Wien 
die Grundstücke, auf denen die Lagerhäuser sich befinden, den Lan- 
dungsplatz und die von der Verbindungsbahn bedeckte Fläche un- 
entgeltlich als Eigentum unter der Bedingung, dass die Gemeinde 
Wien unverzüglich der genannten Kommission die Möglichkeit der 
Verwertung der bisher durch den provisorischen Bestand der Lager- 
hausanlage unverbaubaren Ufergründe durch Bestimmung der Bau- 
linien und Erteilung der Parzellierungsbewilligung hierfür sichere. 

Das Zehrgelderpanschale für die Zollamtsexpositur wurde auf 
800 fl. ermässigt. 

In zwei wichtigen Punkten aber lautete der Bescheid un- 
befriedigend. Das Finanzministerium verweigerte die Steuer- und 
Gebührenfreiheit mit der Begründung, dass dies der seit Jahren be- 
stehenden üebung zuwiderlaufe und ein Präjudiz für künftige ähn- 
liche Fälle schaffen würde und die Verwaltung der für den Getreide- 
verkehr und somit für den Verkehr des Lagerhauses wichtigsten 
Eisenbahn, der Staatseisenbahngesellschaft, machte überhaupt keine 
Zugeständnisse. Dadurch schien der Gemeinde die Möglichkeit 
der Heranziehung des Eisenbahnverkehrs nicht in jenem Umfange 
verbürgt, welcher eine angemessene Verzinsung des zu investie- 
renden Kapitals ermöglichen konnte. Dazu kam noch, dass das 
Ersuchen der Gemeinde um Festlegung des bisher immer nur auf 
10 Jahre abgeschlossenen Pachtvertrages auf 50 — 60 Jahre vom 
Handelsministerium abschlägig beschieden wurde. Die Maschinenhalle 
wäre im Falle einer Rekonstruktion dazu ausersehen gewesen, eine 
grosse Dampfputzerei zu beherbergen, und es ist begreiflich, dass 
man sich nicht gerne in einem Hause kostspielig installiert, in dem 
man bloss zu Gaste ist, wenn auch eine Aufkündigung der Gastfreund- 
schaft in diesem Falle nicht wahrscheinlich war. Der Mangel an Ent- 
gegenkommen, den das Handelsministerium in einem Falle bekundete. 



152 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [238 

WO es sich um Interessen handelte, die zu fördern es berufen ist, 
erscheint aber um so unbegreiflicher, als die Möglichkeit einer ander- 
weitigen nützlicheren Verwendung für die Maschinenhalle anscheinend 
nicht bestand. 

Auf die Entscheidung des Handelsministeriums reagierte die 
Kommune daher am 1. April 1895 mit einer Eingabe, worin sie 
erklärte, ohne die vorerwähnten Begünstigungen auf die Errichtung 
der beabsichtigten , kostspieligen und nur geringen Ertrag yerheis- 
senden Neuanlagen' sich nicht einlassen zu können. Die Antwort 
des Handelsministeriums erfolgte sehr prompt, schon am 13. April 
1896; das Handelsministerium erklärte, nicht weiter gehen zu kön- 
nen. Inzwischen war der Regimewechsel im Gemeinderate erfolgt 
und nun verfiel die Sache wieder vollständig; sogar die Pläne, die 
auf Grund des reichen Materials, welches die beiden Beamten von 
ihrer Studienreise heimgebracht hatten, ausgearbeitet worden waren, 
sollen in Verstoss gekommen sein. 

Die Gemeinde beschränkte sich darauf, mit dem k. k. Oberst- 
hofmeisteramt die Vereinbarung wegen Benützung der hofararischen 
Grundflächen und mit dem k. k. Handelsministerium den Vertrag 
wegen üeberlassung der Maschinenhalle unter den alten Bedingungen 
auf die Dauer von 15 Jahren bis 31. Dezember 1911 zu erneuern. 

Seither wiederholt der Direktor des städtischen Lagerhauses 
Jahr für Jahr dringlicher seinen Appell zur Reorganisation des 
Lagerhauses, jedoch erfolglos. So ist die kostbarste Zeit, die Zeit 
eines ungeheuren Verkehrsaufschwungs, welchen man für das städtische 
Lagerhaus fast konkurrenzlos hätte ausnützen können, versäumt, 
d. h. nicht genützt worden. 

Inzwischen ist durch den Bau des Freudenauer Winterhafens 
eine neue Situation entstanden, welche eine Initiative der Kommune 
noch viel weniger erhoffen lässt; denn selbstverständlich kann niemand 
der Gemeinde die Garantie dafür bieten, dass nicht im Hafen Eon- 
kurrenzuuternehmungen entstehen. Nunmehr wird es die Aufgabe 
der öffentlichen Verwaltung sein, den Handel nicht länger auf ihre 
so schwerfällig erfolgenden Entschlüsse in Fragen der Handelsförde- 
rung warten zu lassen, sondern mit allen Mitteln die Ausgestaltung 
des Hafens zu einem Handelshafen zu fördern und dies um so rascher, 
als anders die Eonkurrenzbestrebungen der ungarischen Stapelplätze 
nicht durchkreuzt werden können. Vorerst rückt diese Ausgestaltung 
nur sehr langsam von der Stelle und es scheint fast, als ob die Ent- 
wickelung auch hier vielfach von denselben Hemmnissen aufgehalten 
werden sollte, als die des städtischen Lagerhauses. 



239] 1^6 Reform der Produktenbörse und des Geschäftsverkehrs. 153 

Um dem vorzabeugen, erscheint es uns als unerlässlich, dass 
eine Permanenzkommission f&r den Donannmschlag in Wien 
aus Vertretern sämtlicher an demselben beteiligter Korporationen, 
Vertretern der Kaufmannschaft, Transport- und Lagerhausunter- 
nehmungen und der Ressortministerien, gebildet werde, damit ein 
enger Kontakt das unleidliche langwierige bureaukratische Markten 
der öffentlichen Verwaltung mit den Unternehmungen und den Kauf- 
leuten überflüssig mache und die erstere Fühlung mit den Bedürf- 
nissen des Tages behalte. 

2. 
Die Beform der Produktenbörse und des Qeschäftsverkehrs. 

Eine allgemeine Untersuchung über die notwendigen Beformen 
der Produktenbörse und ihrer Einrichtungen kann natürlich nicht 
in den Bahmen dieser Arbeit fallen. Es sei uns indes gestattet, die 
wesentlichsten Fragen, die diesbezüglich in der Terminhandelsenquete 
zur Sprache gebracht worden sind, zu berühren, und die Art ihrer 
Lösung, die wir für zweckmässig halten, mit wenigen Worten an- 
zudeuten. 

Was die Konstitution der Börse betrifft, so erscheint uns eine 
Verstärkung des schon bestehenden Einflusses der Begierung auf die 
Angelegenheiten der Börse wünschenswert und im allgemeinen Inter- 
esse gelegen; so namentlich in Beziehung auf die Usancen. Die 
Wohlthat, welche die Börsensancen im allgemeinen für den Verkehr 
bedeuten, ist unbestritten; aber unleugbar haben sie gewisse Ge- 
fahren. Es triflt, wenn auch formell, doch nicht immer faktisch zu, 
dass die Unterwerfung unter die Börsensancen eine freiwillige ist; 
faktisch bleibt dem Käufer oder dem Verkäufer oft nur die Wahl, 
entweder das Geschäft unter Berufung auf die Börsensancen abzu- 
schliessen oder auf die Benützung eines heute noch immer unent- 
behrlichen Apparates des zentralen Handels zu yerzicbten. Denn 
der Händler auf dem Börsenplatze kann einfach nur erklären, dass 
er das Geschäft anders als auf Grund der Börseusancen nicht mache. 
Es wird daher zu erwägen sein, ob die bestehenden Garantien dafür, 
dass bei Abfassung der Usancen alle am Getreidehandel interessierten 
Wirtschaftskreise gleichmässig berücksichtigt werden, nicht zu ver- 
stärken seien. Ein Genehmigungsrecht der Begierung rücksichtlich 
neuer Usancebestimmungen halten wir für unzweckmässig, weil damit 
der Verkehr Hemmungen durch den langsamen Bureaukratismus in 



154 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [240 

einer ihm unzuträglichen Weise ausgesetzt wäre \ Das Bedürfnis 
nach Einführung einer neuen oder Abänderung einer bestehenden 
Usance ergibt sich oft aus solchen Bedürfnissen, welche momentan 
befriedigt werden wollen, so bezüglich solcher Usancen, welche nicht, 
wie die Bestimmung, dass der nicht rechtzeitig erhobene Protest 
Rechtswirkung nach sich ziehe, abstrakt-rechtlichen Charakters sind, 
sondern auf faktische Verkehrsgebräuche sich beziehen und be- 
stehenden Verhältnissen in den Verkehrseinrichtungen angepasst sind, 
wie etwa die Bestimmung der ertlichkeiten, wo Usanceware im 
Termin vorgelegt werden darf. 

Mehr empfehlen würde sich noch die von den Börsenexperten 
angeregte Einführung eines Vetorechts der Regierung rücksichtlich 
solcher Usancen, welche gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, 
oder gegen die bestehenden Gesetze Verstössen. Jedenfalls wäre, 
wie von einem Börsenexperten vorgeschlagen wurde ^, der Börse 
rücksichtlich der Einführung neuer Usancen weitgehende Publi- 
zierungspflicht aufzuerlegen und eine Publizierungsfrist von 4 bis 
8 Wochen einzuführen, welche den Interessenten Gelegenheit geben 
soll, Beschwerden gegen die Einführung der Usance vorzubringen. 
Das sofortige Inkrafttreten der Usancen aber könnte an ein bestimmtes 
Majoritätsverhältnis bei der Beschlussfassung geknüpft werden. 

Was die Verfassung der Börse betriflft, so wird sich zunächst 
die Notwendigkeit ergeben, eine Form für eine entsprechende Ver- 
tretung der Landwirtschaft in der Börsenverwaltung zu finden, ohne 
die Gerechtsame der Börse anzutasten. Hier liegt ein ähnlicher Fall 
vor wie bei den Usancen, Das heutige Statut bietet den einzelnen 
Landwirten formell die Möglichkeit einer Vertretung. Die Land- 
wirte können Börsenmitglieder werden und haben als solche das 
Wahlrecht. Aber der einzelne Landwirt hat zum Besuche der Börse 
weder Zeit, noch Geld, noch auch ein direktes Interesse daran. 
Soweit er Verkäufer von Getreide ist, kommt er mit dem Wiener 
Handel meist nicht in Berührung, soweit er Käufer von Futtergetreide 
ist, erhält er dasselbe durch den Zwischenhandel, oder durch die 
Genossenschaft. Die Landwirtschaft kann daher nur kurialmässig 
als Landwirtschaft im Börsenvorstande vertreten sein^. 

Diese Kurialvertretung dürfte nach Gesetzwerdung der Vorlage 



^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete III, S. 511 ff. — 
Exp. ScHwiTZKR. Ebenda III, S. 536. 

^ Exp. Weiss. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete S. 597 ff. Der- 
selbe, ebenda S. 632. 

^ Exp. Landesberger. Stenogr. Prot. II, S. 178. 



241] I^ie Reform des börseninässigen Terminhandels in Getreide. 155 

über die landwirtschaftlichen Bemfsgenossenschaften wohl am besten 
dem Zentralverbande derselben entnommen werden; es wird aber 
gleichzeitig eine Form gefunden werden müssen, in welcher die 
Landwirtschaft ebenso wie gegenwärtig die Industrie- und Handels- 
kreise, zur Erhaltung der Institution, die sie benützt, beiträgt, sei 
es durch Leistung eines Pauschales, sei es, dass der Staat für sie 
einen Beitrag zu den Unterhaltungskosten liefert. 

Gegen die Institution des Schiedsgerichtes der Börse sind 
prinzipielle Beschwerden nicht erhoben worden. Dasselbe funktioniert 
heute zur Befriedigung aller Parteien und ist eine dem Handel wirk- 
lich unentbehrliche Institution. Von prinzipieller Bedeutung ist unter 
den angeregten Reformen des Schiedsgerichtes nur die Professor 
Adlers, dass das Amt eines Börsenrates von dem eines Schieds- 
richters getrennt sein solle, und dass, wenn Schiedsrichter Klienten 
sind, nur Listenrichter ^ als Schiedsrichter fungieren sollen. Der erste 
Vorschlag ist im Börsenrate angeblich wiederholt erwogen, aber ab- 
gelehnt worden, weil bei dem kleinen Kreise des Wiener Geschäftes 
sich nicht genug Persönlichkeiten finden und gerade die Personen- 
frage beim Schiedsrichteramte massgebend ist'; die Einführung der 
zweiten Massregel würde die Vorteile des Schiedsgerichtes in jener 
überwiegenden Zahl der Fälle illusorisch machen, wo es sich um 
Warenexpertisen handelt. 

3. 

Die Beform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 

Die Terminhandelsenquete hat in der gegenwärtigen Organi- 
isation des Getreideterminhandels an der Börse für landwirtschaftliche 
Produkte eine Reihe von Gebrechen aufgezeigt, deren Beseitigung 
unerlässlich ist, damit der Terminhandel seine handelstechnischen 
Funktionen in zweckentsprechender Weise erfülle. Möglich aber 
wird, wie die folgende Untersuchung zeigen wird, diese Beseitigung 
zum überwiegenden Teile nur werden durch die Reorganisation des 
Lagerhauswesens. 

Wenn wir die Gebrechen Punkt für Punkt in den Kreis unserer 
Betrachtung ziehen, in der Reihenfolge, wie sie der den Experten 
in der Terminhandelsenquete vorgelegte Fragebogen aufweist, so 
haben wir zunächst die Kriterien der Lieferungsqualität, 
welche die Börseusancen aufstellen, zu überprüfen. Rücksichtlich 



^ Eaufleute, die nicht dem Stande der Börsenbesucher angehören. 
* Exp. Weiss. Stenogr. Prot. II, S. 636. 



156 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [242 

der Mais- und der Hafertype ist eine nennenswerte Beschwerde 
nicht geführt worden. Dagegen war die Weizentype der Gegen- 
stand heftiger Klagen Ton Seite der kleinen Müller. 

Das Schlagwort, dass der Usance weizen nicht mahlfähig sei, 
muss indes nach den Ergebnissen der Enquete als unrichtig be- 
zeichnet werden ; eine Reihe von authentischen XJsanceweizenproben^ 
welche in der Enquete untersucht worden sind, haben sämtlich ein 
Handelsgut mittlerer Art und öüte, wie es den Bestimmungen des 
Handelsrechtes entspricht, ergeben, und die von den Usancen auf- 
gestellten Kriterien entsprechen dem Durchschnitt der österreichi- 
schen Weizenproduktion, wo sie ihn nicht noch übertrefiFen K 
Dafür, dass sie auch dem Durchschnitte des ungarischen Getreides 
entsprechen, wurde die Thatsache angeführt, dass die ungarischen 
Grossgrundbesitzer bei Vorverkäufen niemals mehr als Usancequalität 
garantieren. Aber eines ist richtig! Die durch die Usancen auf- 
gestellten Kriterien des Hektolitergewichtes und der Zusatzmenge 
sind nicht die für den Kons um wert des Weizens entscheidenden; 
der Klebergehalt, die Glasigkeit, die Stärke der Schale, die Back- 
föhigkeit sind es. Bei vorhandenem Gradierungswesen sind diese 
Eigenschaften gewissermassen öfiFentlich und notorisch durch die 
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Grade bestimmt. Unter unseren 
Verhältnissen können sie immer nur von Fall zu Fall auf Grund- 
lage eines Musters und der Provenienz oder einer Mahlprobe in- 
dividuell bestimmt werden. Wer Terminweizen kauft, weiss nie^ 
wie derselbe effektiv aussehen, welche spezifischen Eigenschaften^ 
welchen Grad der Backfähigkeit er besitzen wird; dazu kommt, 
dass der Verkäufer, da er den Weizen nicht immer in genau der 
den Usancen entsprechenden Kondition vorfindet, um seinen Liefe- 
rungsverbindlichkeiten nachkommen zu können, oft genötigt ist, den 
minderen Weizen durch Mischung mit besserem usancefahig zu 
machen ^; es kann aber auch umgekehrt vorkommen, dass er zu 
besserem, den er schon hat, minderen hinzukauft und mischt, weil 
niemand mehr liefert als er muss. Durch die Mischung verschiedener 
Provenienzen kann aber die Mahl- und Backfähigkeit des Weizens 
beeinträchtigt werden, und nicht einmal, wenn ihm die Usanceware 
bereits zugekündigt worden ist, ist der Müller in der Lage, den Grad 
der Mahlföhigkeit zu bestimmen, da der einzige Anhaltspunkt für 

« 

^ Eommissionsmitglied der Terminhandelsenquete Hofrat Juraschek. Ste- 
nogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 94 95. — Exp. Führich. Ebenda II, 
S. 384, 385. 

* Exp. Schwitzer. Ebenda S. 37. 



248] ^^^ Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 157 

eine momentane Bestimmung, die Kenntnis der Provenienz, fehlt. 
So kann er erst, wenn der Weizen in seiner Mühle ist und er eine 
Mahlprobe davon gemacht hat, sehen, wie er daran ist. Eine rationelle 
Verwertung der untergeordneten Weizenqualitäten ist aber nur in 
den örossbetrieben möglich, wo dieselben dem Mahlgute, welches 
von Fall zu Fall aus dem reichen Assortiment verschiedener Quali- 
täten, das die Grossmühle stets auf Lager hat, zusammengemischt 
werden muss, in kleinen Partien beigemischt wird. Eine kleine 
Mühle dagegen wird sich damit oft schwer zu helfen wissen. 

Während in Amerika durch die gemeinsame Grundlage des 
Gradierungswesens für das Effektivgeschäft und das Termingeschäft 
ein enger Zusammenhang zwischen effektivem Handel und Speku- 
lation hergestellt ist, besteht so bei uns ein gewisser Gegensatz 
zwischen diesen beiden Elementen des Getreidehandels : der börsen- 
mässige Terminhandel in Weizen kann immer nur wesentlich handels- 
technische Funktionen erfüllen, soweit ein konkretes, individuell 
bestimmtes Warenbedürfnis in Frage kommt, ist seine Leistungs- 
fähigkeit begrenzt, wenn er nicht überhaupt versagt. Das ist eine 
Thatsache, die man nicht ändern kann, mit der man sich um der 
grossen Vorteile willen, welche der börsenmässige Terminhandel 
auch in dieser Begrenztheit seiner Leistungsfähigkeit bietet, ab- 
finden und der man sich anzupassen suchen muss. Ein vernünftiger 
Müller, bemerkte ein Experte aus den Kreisen der Grossmühlen- 
industrie ^^ , kommt nicht in die Lage, ihn (den XJsanceweizen) zu 
beziehen, sondern nur ihn schuldig zu sein oder ihn zu decken; 
bezieht er ihn aber, so wird er sich um die heurige Provenienz 
des Terminweizens erkundigen, was am Markte wohl zu erfahren 
ist.* Erleichternd würde aber vielleicht die Einführung wirken, 
dass bei Kündigung der Ware die Provenienz derselben, soweit sie 
dem Kündiger bekannt ist, wahrhaft angegeben wird, wodurch der 
Müller in die Lage gesetzt wird, sein Engagement eventuell recht- 
zeitig zu realisieren. Daneben wäre vielleicht eine grössere In- 
dividualisierung der Type dadurch herbeizuführen, dass nach dem 
Vorschlage des Direktors der k. k. Samenkontrollestation ^ neben 
dem Effektivgewicht, dem Hektolitergewicht, auch das absolute 
Korngewicht unter die Kriterien der Usancefähigkeit aufgenommen 
wird, da auch dieses wertbestimmend ist. Das zulässige Minimum 
des Zusatzes würde, statt wie gegenwärtig in Zählprozenten, rich- 

^ Exp. Das. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 434. 
^ Eommissionsmitglied der Terminhandelsenquete Ritter v. Weinzierl. 
Ebenda I, S. 409, 410. 



158 ^^^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [244 

tiger in Qewichtsprozenten unter Spezialisierung der Beisatzarten 
ausgedrückt werdend Bei Hafer besteht diese Fixierung nach 
Gewichtsprozenten bereits uud hat sich bewährt. Mit den ver- 
schiedenen Vorschlägen, die Aufstellung mehrerer Typen oder von 
Typenskalen betrefiPend, befassen wir uns nicht, da sie, selbst wenn 
ihre Aufstellung ohne Gradierungswesen durchführbar ist ^, was wir 
in Anbetracht der Mannigfaltigkeit der Spielarten bei uns bezweifeln, 
für praktisch bedeutungslos. Wer eine spekulative Operation aus- 
zuführen hat, wird sie immer nur in jener Lieferungsqualität aus- 
führen, die er im Ernstfalle leicht zu beschaffen sicher sein kann, 
das ist die fungible Durchschnittstype; und wer Gharakterweizen 
braucht, kann dieses Bedürfnis im Wege des handelsrechtlichen 
Lieferungsgeschäftes befriedigen. Der Terminhandel wird sich also 
nach wie vor auf eine Type verlegen. 

Erwägenswerter ist, ob nicht das Effektivgewicht je nach dem 
Ausfall der Ernte alljährlich neu festgesetzt werden solle, um der 
Gefahr zu begegnep, dass durch ein zu niedrig angenommenes 
Qualitätsgewicht der Wert der besseren Ware herabgedrückt wird, 
obwohl bei dem Umstände, als 95 ^/o des an der Wiener Börse ge- 
handelten Getreides ungarischer Provenienz importiert sind, unsere 
Volkswirtschaft, die Landwirtschaft mit inbegriffen, davon nur 
profitieren könnte. Thatsächlich war diese jährliche Festsetzung an 
der Produktenbörse bereits in Uebung, wurde aber wegen der 
Angriffe, welche sie den Börsenräten jedesmal von Seite derjenigen 
eintrug, die durch die Festsetzung sich benachteiligt fühlten, wieder 
aufgegeben ^. 

Was die übrigen Getreidegattungen betrifft, so gilt das von 
der Weizentype Gesagte von der Roggentype nur mehr in sehr 
geringem Grade, von der Mais- und Hafertype aber überhaupt nicht 
mehr. In diesen beiden Getreidegattungen besteht die hervor- 
gehobene Trennung zwischen Spekulation und Handel nicht mehr 
in so hohem Grade und es werden speziell in der ersteren Waren- 
gattung mehr als 50 ^/o des effektiven Bedarfs direkt im Wege des 
börsemässigen Termingeschäftes befriedigt. 

Rücksichtlich der Lieferfristen würde sich eine Verkürzung 



^ Weinzierl. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 412, 413. 

^ Man darf da nicht auf England verweisen ; den Londoner Standardtjpen 
liegt, 80 weit amerikanisches Getreide in Betracht kommt, das amerikanische 
Gradierungswesen, för indisches und russisches Getreide die Nummerierung des 
Exporthandels zu Grunde. 

' Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete 11, S. 154. 



245] I^iß Reform des börsenmäsaigen Terminhandels in Getreide. 15& 

der zweimonatlichen Lieferfrist empfehlen, weil dieselbe, wenn auch 
unabsichtlich, auf eine Begünstigung des Verkäufers hinausläuft. 
Sie ist unter dem Zwang der geschilderten Transportschwierigkeiten 
entstanden, welche das EintrefiFen der Ware fast unberechenbar 
machten ; wenn aher auch die Schwierigkeiten auf der Donaustrecke 
Budapest - Wien , speziell von Pressburg aufwärts, noch immer 
gross sind, so ist .es doch gewiss, dass seit der Fixierung der zwei- 
monatlichen Lieferfrist für den Verkäufer die Transportyerhältnisse 
im allgemeinen sich genügend gebessert haben, dass der Versuch 
einer Verkürzung der Lieferfrist nicht gerade sehr gewagt sein 
dürfte. 

Eine ganze Reihe gewichtiger Beschwerden und Beschuldigungen 
gegen den börsemässigen Terminhandel würde gegenstandslos, wenn 
objektive Garantien gegen die Kündigung unkontraktlicher 
Ware und gegen die sog. Scheinkündigungen geschaffen 
würden, d. h. Kündigungen, welche erfolgen, ohne dass der Kündiger 
über Ware verfügt und durch Aufstellung eines scheinbaren Em- 
pfangers, eines Strohmannes, wieder zurückgezogen werden. 

Was die Abstellung des ersten Mangels betrifft, so wäre er in 
zuverlässiger Weise nur möglich, wenn nach dem Muster der an 
der Pariser Bourse du commerce üblichen expertise de qualite^ 
eine amtliche Prüfung der Ware vor Abkündigung stattfindet. Da 
bis zur Uebernahme die Ware schadhaft werden kann, so findet in 
Paris ausserdem noch eine zweite Feststellung bei Uebernahme statt, 
die sog. Expertise de conservation. Auch die Aeltesten der Berliner 
Kaufmannschaft haben, um das Verbot des Terminhandels aufzu- 
halten, diese Vorexpertise angeboten ^. Die Einführung dieser Vor- 
expertise wäre freilich mit unwirtschaftlichen Spesen für den Handel 
verbunden. Das Gros der Ware langt in Schiffen an; eine end- 
gültige Prüfung der Ware ist, solange dieselbe im Schiff sich be- 
findet, schwer möglich, da sich Mängel oft erst bei der Ausladung 
nach Massgabe, wie die einzelnen Schichten zu Tage gefördert 
werden, zeigen. Das zu kündigende Getreide müsste also ausnahms- 
los erst zu Lager gebracht werden, während es sonst oft, insbesonders 
Mais, direkt aus dem Schiff in den Waggon umgeschlagen und ver- 
sendet wird. Aber andererseits wäre gerade durch diesen Lager- 
zwang die sicherste Garantie gegen Scheinkündigungen geboten. 
Der Kündiger wäre dann in der Lage und dazu zu verhalten, dem 



* Referent Scheimpflug. Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete I, S. 163. 
^ Referent Scheimpflug. Ebenda I, S. 164. 



IgO ^61^ Wiener Getreidehandel und seine Technik. [246 

Kündigungsbogen den Lagerschein eines öffentlichen Lagerhauses 
oder einer Transportunternehmung, oder wenn die Ware in einem 
Privatdepot liegt, eine Bescheinigung des Börsenamtes, welches sich 
durch einen Beamten von dem Vorhandensein der Ware überzeugt, 
anzuheften. 

Das Börsesekretariat wiederum wäre auf Grund der Registrierung 
dieser Warrants auch in der Lage, einem Missbrauch, der mit den 
Yon ihr ausgegebenen EündigungsbuUetins Ton einem gut Infor- 
mierten einem weniger gut Informierten gegenüber derzeit möglich 
war, Torzubeugen. Es kann nämlich ein und dieselbe Warenpost 
während eines Liefertermins in ganz legitimer Weise wiederholt zur 
Kündigung kommen, wodurch die durch die Kündigungsstatistik des 
Sekretariats ausgewiesene Warenbewegung das Quantum effektiver 
Ware, welches ihr zu Grunde liegt, oft um ein Vielfaches übersteigt. 
Dadurch kann bei dem mit dem wirklichen Zusammenhange nicht 
Vertrauten, und das ist in diesem Falle der ausserhalb des Börsen- 
platzes Ansässige oder zum Getreidehandel nur fallweise in Beziehung 
Tretende, wie z. B. der Oekonom in der Regel, ein unrichtiges Bild 
der Marktlage hervorgerufen werden. 

Die Voraussetzung der Einführung dieses indirekten Lager- 
zwanges durch die Vorexpertise ist aber allerdings die Aenderung 
des Lagerhausgesetzes in dem Sinne, dass auch die sog. Priyatlager- 
häuser Lagerscheine ausgeben dürfen, und zweitens — und das ist 
die Grundvoraussetzung — eine Reorganisation des Lagerhauswesens, 
die eine rasche Einlagerung der zur Kündigung bestimmten Waren 
ermöglicht und genügenden Raum zur Aufnahme derselben schafft 
Inzwischen aber würde es sich vielleicht empfehlen, das Kündigungs- 
wesen auf die Basis zu stellen, auf der es in Berlin gestanden hat \ 

Die Kündigungsblankette mussten dort enthalten: 

a) bei Lieferung vom Schiff: den Namen des Schiffers, der 
auch in das an der Börse aufgelegte Verzeichnis eingetragen 
war, Nummer und Standort des Schleppers, wo derselbe 
zur Zeit der Besichtigung bereits angekommen sein musste, 
den Ort der Abladung und die Menge der Ladung; 

b) bei Lieferungen vom Magazin: die genaue Bezeichnung des 
Postens Getreide nach Lagerraum und Menge. 

Gegen die Freiheit, welche die Usancen dem Verkäufer rück- 
sichtlich der Wahl des Ortes, wo er die gekündigte Ware andienen 



1 Pfleger u. Gsqwindt , Die Börsenreform in Deutschland. Stuttgart 1898, 
IL Abschn., S. 16. 



247] ^^6 Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 161 

will, einräumen, wurde die Beschwerde erhoben, dass sie Baisse- 
operationen erleichtere; und thatsächlich bieten die Usancen dem 
Verkäufer die Möglichkeit, den Käufer durch Vorlage der Ware an 
einem abgelegeneren Orte, von wo die Kosten des Abtransportierens 
oder die Eisenbahntarife höher sind, zu chikanieren. 

Hier kann nur eine gründliche Aenderung der Tarifpolitik der 
Eisenbahnen Wandel schaffen, welche die Frachtdisparitäten der ver- 
schiedenen Lager- und Landungsplätze beseitigt oder doch mindert. 

Von Wichtigkeit schliesslich ist eine Reform in der Methode 
der Kursnotierung. Der Terminkurs bedarf für den der Börse 
Femstehenden einer Differenzierung, welche das Verhältnis des 
Terminkurses zu dem jeweiligen Preisstande der prompten effektiven 
üsanceware zum Ausdruck bringt, um zu verhüten, dass von jemandem, 
der dieses Verhältnis aus der Erfahrung kennt, einem anderen gegen- 
über, der dieses Verhältnis nicht kennt, der Terminkurs schlecht- 
hin, als Preismassstab für prompte Ware ausgegeben wird. Die 
gleichzeitige Notierung des Kurses, zu welchem usancefähige Ware 
prompt beschafft werden kann, und die Notierung der Reportsätze 
wäre hier zweckmässig, wenn auch vielleicht nicht ganz leicht durch- 
führbar. 

Schliesslich haben wir noch die Massregeln zur Fernhaltung 
berufsfremder Elemente von der Getreidespekulation und gegen die 
Verleitung dazu ins Auge zu fassen; denn nur diese, nicht eine 
Unterdrückung der Spekulation überhaupt kann vernünftigerweise 
in Frage kommen. 

In Rohprodukten des Welthandels ist heute ein Handel ohne 
Spekulation undenkbar. Mag sein, dass wir einmal durch die Aus- 
gestaltung der Vorrats- und Konsumstatistik zu einer so genauen 
üebersicht über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage kommen, 
dass die Spekulation, die ja nichts anderes ist, als eine private 
Schätzung dieses Verhältnisses, entbehrlich wird — heute und auf 
unabsehbare Zeit hinaus ist sie es nicht. Braucht man aber die 
Spekulation, so ist es unlogisch, ihr den wichtigsten technischen 
Behelf, den Terminhandel, zu nehmen. 

Es darf sich daher nur darum handeln, die sog. , Blanko* - 
Spekulation möglichst einzuschränken. Diese ist aber nicht objektiv, 
sondern nur subjektiv zu fassen. Auch der reelle Kaufmann ist zu 
Blankospekulationen im weiteren Sinne des Wortes gezwungen. Bei 
ihm sind sie aber wirtschaftlich gerechtfertigt, weil sie ihre Basis 
in den realen Marktverhältnissen und in dem Geschäftsbetriebe des 
Kaufmanns finden, gemeinwirtschaftlich betrachtet nicht Selbstzweck, 

Wiener StucUen. HI. Bd., «. Heft. 11 [17] 



162 I^er Wiener Getreidehandel und seine Technik. [248 

sondern Mittel zum Zwecke der Güter Verteilung sind. Wirtschaft- 
lich ungerechtfertigt sind nur jene Blankospekulationen , bei denen 
dieselben Selbstzweck sind. Ob man es aber mit der einen oder der 
anderen Art der Blankospekulation zu thun hat, kann nur nach 
subjektiven Momenten beurteilt werden, nach der Person, dem Beruf, 
den Yermögensverhältnissen des Spekulanten. 

Die neue Givilprozessordnung, bezw. das Einführungsgesetz dazu, 
hat im Sinne dieser Auffassung bereits sehr günstig gewirkt. Pro- 
zesse gegen Outsiders kommen vor dem Börsenschiedsgerichte nicht 
mehr vor. Die Zahl der Klagen aus DifiFerenzgeschäften, welche 
im ersten Jahre des Inkrafttretens noch 6 ^/o betrug, ist auf 1,2 ^/o 
heruntergesunken. 

Der Vorschlag des Experten Professor Schullben, den Ar- 
tikel XIII des Börsengesetzes vom 1. April 1875, welcher den DifiFe- 
renzeinwand zwischen Börsenmitgliedern ausschliesst, aufzuheben, 
kann nicht ernst genommen werden. 

Erwägenswert erscheint dagegen der Vorschlag des Experten 
Landesbebgeb \ dass bei Geschäften, welche in offenbarem Miss- 
verhältnisse zum landwirtschaftlichen Betriebe des Besitzers stehen, 
die Einwendung nicht wie jetzt prozessual zu sein brauche, son- 
dern von vorneherein ungültig sein soll, was darauf abzielt, den 
demoralisierenden Differenzeinwand überflüssig zu machen. 

Gegen die allgemeine Aufhebung der Zuschussklausel, welche 
von dem Experten Landbsbebgee verlangt wurde, weil sie den Kom- 
mittenten dem Kommissionär preisgebe ^, ist mit Becht eingewendet 
worden, dass dieselbe einerseits gleichbedeutend wäre mit einer 
gesetzlichen Vorschubleistung der Unsolidität und andererseits mit 
einer Restriktion der Benützungsmöglichkeit des Terminmarktes 
gerade für die kapitalschwächeren Elemente des Getreidehandels, 
indem dann der Kommissionär Termingeschäfte nur mit Firmen 
machen könnte, die anerkannt prima sind ^. 

Gegen Ringbildungen hat das Schiedsgericht das Mittel der 
abstrakten Schadensberechnung in der Hand und auch schon in 
Anwendung gebracht ^. Darnach hat im Falle der Nichtlieferung der 
Haussier nur Anspruch auf den Preis, welcher durch die Verhält- 
nisse des Effektivmarktes gerechtfertigt ist, während er bei der 
konkreten Schadensberechnung sich im Terminmarkt decken konnte, 

* Stenogr. Prot, der Terminhandelsenquete II, S. 81. 

» Ebenda II, S. 172. 

8 Exp. HoRoviTZ. Ebenda I, S. 584, 585. 

^ Exp. Wei$s, Ebenda I, S. 492. Exp. Kauders. Ebenda I, S. 625. 



249] I^ie Reform des börsenmässigen Terminhandels in Getreide. 163 

also zu einem willkürlich hohen Kurse, da der Terminmarkt in seiner 
Hand war. Mit dieser abstrakten Schadensberechnung sind die 
Börsenschiedsgerichte in nachahmenswerter Weise den ordentlichen 
Gerichten vorangegangen. 

Eine Reform des Kommissionsgeschäftes nach dem Muster des 
neuen deutschen Handelsgesetzbuches würde zweifellos auch dazu 
beitragen, den Terminhandel von Missbräuchen zu reinigen, die, wie 
der Kursschnitt und die Spekulation gegen den Kommittenten, der 
Provinz die Frequenz des Terminmarktes erschweren. Da aber 
diese Beform nicht die Produktenbörse allein betreffen kann, sondern 
allgemeiner Natur ist , so dürfen wir uns hier auf die blosse An- 
deutung derselben beschränken. 



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