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THEOLOGICmL ... .-INARYl
PL 4758.9 . T5 G73 1856
Graul, Karl, 1814-1864.
Der Kural des Tiruvalluver
Digitized by the Internet Archive
in 2016
https://archive.org/details/derkuraldestiruvOOgrau
(9eki4. (£«r$
BIBLIOT HEC A TAMULICA
SIVE
OPERA PRAECIPUA TAMULIENSIUM
EDITA
TRANS LATA ADNOTATIüNIBÜS GLOSSARIISQUE
INSTRUCTA
CAROLO GRAUL, D,{ TH.
TOMUS TERTIUS:
TIKUVALLUVERI CURAL ,
IE SERMONEM GERMANICUM TRANSLATUM ATQUE EXPLICATl M.
LIPSIAE 1856 LONDIN1 1856
DORFFL1NG & FRANKE.
WILLIAMS & NOKGATE.
\rü.-VQ\\ u.v/d.r.
DER KURAL
DES
T I E U Y ALL 1' V E E.
EIN GN0M1S0HES GEDICHT
ÜBER
DIE DKEI STKEEEZ1ELE DES MENSCHEN.
ÜBERSETZUNG UND ERKLÄRUNG
VON
KARL GRAUL, L)K TH.,
DIRBCTOR DER EV ANGEL, -LUTHER. MISSION ZU LEIPZIG, MITGLIED DER DEUTSCHEN
M OBOENLÄNDISCH EN UND DER HISTORISCH - THEOLOGISCHEN GESELLSCHAFT.
LI2RARY Or PR1MCETON
THEOLOGICAL SEMINARY
LEIPZIG 1856 LONDON 1856
DORFF LIN G & FRANKE.
WILLIAMS & NORGATE.
DER HOCHWÜRDIGEN
THEOLOGISCHEN FAOULTÄT
ERLANGEN.
Wenn ich Ihnen, Hochwürdige Herren, zu einem öffent-
lichen Zeichen meines Dankes für die mir ehrenhalber er-
theilte theologische Doctonvürde gerade dieses Buch zu
widmen mir erlaube, so muss ich meine Rechtfertigung
hauptsächlich darin suchen, dass dasselbe der evangelisch-
lutherischen Mission, die ihre ältesten und wärmsten Freunde
in Ihrer Mitte weiss, dienen will, und von dieser Seite her
eine gewisse Beziehung zur praktischen Theologie, wozu die
Missionssache jedenfalls mitgehört, wohl beanspruchen darf.
Ich bin aber Ihrer gütigen Nachsicht um so gewisser, als ich
ganz bestimmt weiss, dass Sie mein Streben, den christlichen
Sendboten im Tamulenlande, dem alten Missions - Gebiete
unsrer Kirche, in das Studium der von ihm zu bekämpfenden
heidnischen Literatur einzuführen, für eine Aufgabe halten,
welche der Kraft eines Theologen wohl werth ist.
Von den fünf Theologen, die sich gegenwärtig in den
für den ostindischen Missionsdienst erforderlichen Sprachen
und Wissenschaften unter meiner Leitung orientiren, sind
auch zwei von Ihnen, Hochwürdige Herren, gebildete jimge
Männer aus dem lieben Baiern. Ich freue mich dieser leben-
digen Beziehung zu Ihnen in meinem Amte, und wünsche von
Herzen, dass sie sich in ähnlicher Weise noch oft erneuern
möge! Sie sind ja mit mir einig, dass des Herrn Missions-
Ruf „Wer will unser Bote sein?“ zu allererst den Männern
gilt, die sieh bereits zum Dienste für seine Kirche gestellt
haben. Möge es Ihnen mit Gottes Hiüfe gelingen, noch recht
vielen Ihrer Schüler das Ohr für diesen Ruf zu wecken! Ein
für den Dienst der Kirche im Heidenlande gewonnener und
nach Kopf und Herzen wohl zubereiteter junger Gottes-
gelehrter ist wahrlich nicht der dunkelste Stein in der Krone
eines akademischen Lehrers der Theologie.
Mögen Sie Alle je und je „mit viel Segen geschmückt
werden “ !
Leipzig, im Juni 1856.
Dr. Graul.
VORWORT.
Wie ich im Vorwort zum ersten Bande meiner „Biblio-
theca Tamulica“ versprochen, übergebe ich hier in dem
dritten Bande derselben „den Edelstein der gesammten tamu-
lischen Literatur“, den Kural,* in’s Deutsche i'ibei’setzt und
erklärt dem Publicum.
Der Verfasser des Kuralist Tiruvalluver.** Uebersein
Zeitalter schon jetzt etwas Bestimmtes sagen zu wollen, wäre
Vermessenheit. Wir werden aber schwerlich irren, wenn wir
ihn nicht vor 200 und nicht nach 800 der christlichen Zeit-
rechnung setzen. Tiruvalluvers Lebensumstände sind in das
Dunkel der Sage gehüllt. Ich habe am Ende dieses Bandes
seine sagenhafte Lebens -Geschichte in zwei Gestalten mit-
getheilt. Die Quintessenz geschichtlicher Wahrheit darin
dürfte die sein: Er stammte aus einer sehr verachteten
Kaste, überflügelte aber durch sein classisches Gedicht, in
welchem sich der tamulische Volksgeist mit unvergleichlicher
Treue in poetischer Verklärung spiegelt, den Ruhm der stolzen
Akademiker von Madura, die, in späterer Zeit, über die San-
scritliteratur den Anbau der Volkssprache vernachlässigt zu
haben scheinen. Alles deutet daraufhin, dass Tiruvalluver
als der Schöpfer einer neuen Literaturperiode für das Tamu-
lische zu betrachten ist.***
Ariel thut dem tamulischen Dichter die Ehre an, in ihm
einen Monotheisten von achtem Korn zu erkennen. (Journal
* Genau: KuraZ.
** Genau TiruvaZZuvar.
*** Vergleiche „Historical sketch of the Kingcloin of Pamlya“ by H. H. Wilson
Journal of the Royal Asiat. Soc. vol. III., 1836.)
**
XII
VORWORT.
Asiatique, Juil. — Dec., 1848.) Er beruft sich dabei haupt-
sächlich auf die Ausdrücke, womit Tiruvalluver die Gottheit
bezeichnet. Allein diese Ausdrücke (V. 1, 2’, 3, 6, 8, 9) sind
vielmehr buddhistisch — oder genauer djainaitiseh — , wie
die alten elassischen Wörterbücher der Tamulen ausweisen,
und die Commentatoren zum Theil selbst andeuten. (Vergl.
Anm. 2 zu V. 3).
Wutke sagt in seinem trefflichen Werke „Geschichte des
Heidenthums “ (H, 236): „Die spätere Umgestaltung der Phi-
losophie entfernte sich, zum Theil durch fremdartigen Ein-
fluss, immer mehr von den Veden; der Monotheismus der
Muhamedaner. und wahrscheinlich früher schon der Christen,
wirkte vielfach ein, und ein seichter Deismus trat bisweilen
an die Stelle der indischen Einheitslehre. Zu diesen Fäl-
schungen und Ausartungen der altindischen Lehre, von denen
manche Forscher irre geleitet wurden, wo nicht gar zu den
in diesem Gebiete mehrfach vorgekommenen literarischen
Betrügereien, gehört der Kural des Tiruvalluver, ein Werk,
welches die Kasten verwirft und einen strengen Monotheis-
mus lehrt/'
Es unterliegt keinem Zweifel, dass Muhamedanismus
und Christenthum auf das Hinduthum eingewirkt haben;
die Frage ist nur, seit wann und in welchem Maasse. Im Ku-
ral aber lässt sich eine solche Einwirkung ^nit nickten nacli-
weisen; man müsste denn einzelne Ausdrücke** und Senten-
zen, die an biblische erinnern, für Beweise nehmen. Dann aber
würde auch die classiscke Literatur der Griechen vor Christo
mancherlei Spuren christlichen Einflusses aufzuweisen haben !
Man hüte sich vor Beweisen, die zu viel beweisen. Dass aber
f
* Der Ausdruck Arivan ,,der mit dem Wissen“ in diesem Verso ist ebenfalls ein
Name des Arukan Ueber Arukan siehe Anm.**) auf Seite 4 unten).
** Man hat wohl gleich in dem ersten Verse einen Anklang an biblische Stellen,
wie Offenb. Joh. I. . 8, finden wollen. Allein die Vergleichung der Gottheit mit dem
A-Laut ist auf dem Boden indischer Anschauung durchaus naturwüchsig: die Sauscri-
taner schon erkannten , so gut wie die Grimms (Anm. 1 zu Vers I), die Bedeutung des A an
der Spitze des Alphabets, und es konnte sich für sie um so passender zu einem Sinnbild
der Gottheit gestalten , als es im Sanscrit sowohl wie im Tamul jedem Consouanten, dem
kein Vocalzeichen ausdrücklich beigegeben ist. von Natur inhaftet. Vergl. auch Baga-
vadgltä X, 32 und 33 , wo Krischna von sich sagt : „Ich bin Anfang, Ende und Mitte der
Schöpfung, ich bin das A der Buchstab en , die Bindung der Composita.“
VORWORT.
XIII
der Kural gar in die Kategorie der literarischen Betrügereien
gehören sollte, wird Niemandem, der nur Etwas davon im
Original gelesen hat, in den Sinn kommen.
Der innerste Lehensodem des Kural ist durchaus indisch:
das ist der Gedanke, dass die Geburt eine Strafe für Thaten
eines frühem Daseins ist; dass es für die Menschen kein hö-
heres Ziel giebt, als die Nothwendigkeit, nach diesem Leben
noch einmal geboren zu werden, rein abzuschneiden ; und dass
der Weg dazu die philosophische Reife auf dem Wege der
Bussübung ist. Dass die vedantistische „Alleinslehre“ nicht
durchschlägt, kann den Kural ebensowenig wie die Systeme
des Kapila und des Buddha muhamedanischer oder christ-
licher Einwirkung verdächtig machen. Der Monotheismus,
den er lehrt, ist eben ganz im Sinne des spätem Buddhaismus
und Djainaismus. „Die Vorstellung von Adibuddha* als
einem höchsten Gotte“ ist zwar „den ältesten buddhistischen
Schriften fremd,“ (Lassen, Indische Alterthumskunde, II,
S. 455), findet sich aber schon vor Anfang der christlichen
Zeitrechnung (Lassen, II, 1084). Auch die Djaina’s im
Tamulenlande reden von einem solchen höchsten Wesen.
„Ihre heiligen Bücher,“ sagtDubois („Description of the cha-
racter, manners and customs of the people of India“) „stammen
von Ad’eswara („Urherr oder Oberherr?“), der ältesten und
berühmtesten Persönlichkeit, von der die Djaina’s wissen
Unsere Natur annehmend, unterzog er sich dem Leben eines
Brahmanen, eines Bussers, eines Nirvani. Er lebte hundert
Millionen von Millionen Jahre. Er ist nicht bloss der Urheber
der h. Schriften, die er mit eigner Hand schrieb: er theilte
auch die Menschen in verschiedene Kasten, legte die Regeln
nieder, nach denen sie sich zu richten hätten, ihre Regierungs-
form und alle die Vorschriften, durch welche die Djaina’s
noch immer mit einander verbunden sind. Kurz, Ad’eswara
ist für die Djaina’s das, was für die Brahmanen das Brahma
ist (S. 558 — 559).“ Eine eigentliche Verwerfung der Kasten
* Vergleiche meine Uebers.etzung aus Sivanjänasittijär in der Zeitschrift der
Deutschen Morgenl. Gesellschaft, Band VIII, S. 727. u. fg.
XIV
VORWORT.
aber ist im Kural durchaus nicht zu finden; Tiruvalluver be-
kämpft nur die Ueber Schätzung des Geburtsrangs und zwar
noch lange nicht in so starken Ausdrücken, wie die acht ve-
dantistisehen Philosophen. (Vergl. Bib. Tarn. I., S. 130 — 131).
Es scheint in der That, dass der Dichter es sich ausdrücklich
zur Aufgabe machte, die unter den verschiedenen Secten und
Schulen strittigen Punkte möglichst zu meiden, und so seinem
ganzen Volke gerecht zu werden. Daher wohl auch die zu-
weilen etwas schwebende Sprache, besonders wo es sich um
Glaubensnorm handelt. (Siehe namentlich V. 21, 242, 30(),
322, 533, 850.) Das „TiruvaWuvar Sarittiram“ (siehe hinten)
deutet dies Bestreben wohl damit an, dass es sagt, es seien
die verschiedenen unter sich im Streit liegenden Secten, von
Bewunderung hingerissen, und das Werk verehrungsvoll auf
ihr Haupt legend, in die lobenden Worte ausgebrochen: „Das
ist das Rechte“. Sonst freilich offenbart sich der speeifisch
djainaitische Geist mehr oder minder darin, dass die Würde der
Brahmanen als solcher nie eingeschärft wird; dass die wahre
Grösse als von der Geburt („Kaste“) unabhängig erscheint
(Decade 14u.98; Vers 992 u. 993); dass von den Brahmanischen
„vier Lebensständen“ (Schüler, Hausvater, Waldsiedler
und Allentsager) nur der des Hausvaters (Decade 5 - — 24)
und der des Büssers (Decade 25- — 38) ausdrücklich behandelt
werden; dass die indische Götterwelt, oft nur allegorisch
verbraucht (wie z. B. die Figuren der Glücks- und der Un-
glücksgöttin), jedenfalls in den Hintergrund tritt; .dass die
Busstugend über alles Maass erhoben wird; dass die absolute
Enthaltung von allem Tödten direct und'indirect (vergl. Decade
26) als der Gipfel aller Tugend erscheint, und dass mit Weg-
lassung der besondern Kasten-Regeln die allgemein sittlichen
Vorschriften hervorgehoben und eingeschärft werden — ein
Umstand, der selbst dem alten Commentator nicht entgangen
ist. (3. XII.)
Den Gegenstand des Kural bilden die drei Strebeziele
(purusärta) der Menschen (trivarga, „Dreireihe“ Jägnavalkja
I, 74): Tugend, Gut und Lust; wozu man später als
viertes noch die „Erlösung“ gefügt hat, das aber — nach
VORWORT.
XV
ParimelaJ'akar — in dem der „Tugend“ (speciell „Busstugend“)
bex’eits mitgegeben ist. (S. XI.)
Das erste Buch von der „Tugend“ zerfallt in zwei Ab-
theilungen: „Haus tilgend“ (Deeade 1 — 24) und „Buss-
tugend“ (25 — 38). Das zweite Buch von dem „Gute“
zerlegt sich in „des Königs Persönlichkeit“ (3ü — (33)
„Erfordernisse des Königthums“ (G4 — 95) und in
„Anhang“ (9(3 — 108.) Das dritte Buch endlich von der
„Lust“ behandelt zuerst die he im Hohe (109 — 115) und dann
die öffentliche Ehe (116 — 133). Im ersten Theile, reli-
giössittlicher Art, bewegt sieh Alles um den Haushälter
und um den Busser, die beiden Träger der Buddha- Djaina-
Weltordnung; im zweiten Tlieilc, der vorwiegend einen staat-
lichen Charakter trägt, gruppirt sieh fast Alles um den König,
den Wahrer und Mehrer des öffentlichen Guts, so jedoch
dass Vieles, was zunächst vom König gesagt wird, vom ein-
fachen Unter thanen mitgilt, als der, ein Fürst im Kleinen, das
Familiengut zu wahren und zu mehren hat. Der dritte Theil
endlich, rein privater Natur, drehet sieh ganz um „Mann und
Weib.“ Die drei Bücher verhalten sich demnach zu ein-
ander wie Kirche (cum grano salis ! ) , Staat und Haus.
Dem Hindu ist es geläufig, das Verhältniss der Gottheit
zur Welt als lila (tamul. VHeijätfal) d. i. als Spiel der Liebe
aufzufassen. So liegt es ihm nahe, in dem Verhältniss des
Liebenden zur Geliebten das Verhältniss der gläubigen Seele
zur Gottheit abgeschattet, in der „Kleinlust“ die „Grosslust“
versinnbildet zu sehen. Die 400 erotischen Motto’s, die
„Mäaikkaväsakar“ (siehe Vorwort zu Th. I, XII und meine
„Reise in Ostindien“ IV, 39) unter dem Titel Tirukköveijär
zur Verherrlichung des Gottes von Sittambalain dichte-
risch behandelte, sind ein unzweideutiges Beispiel solcher
sinnlich -mystischen Liebesdichtung mit bewusster Absicht-
lichkeit. Auch dem dritten Buche des Kural wird wohl
von den Tamulen eine mystische Bedeutung mit zuge-
schrieben.
Das Versmaas des Kural ist der — Kural d. i. Kurzzeiler,
eine Art Distichon, dessen erste Strophe in der Regel vier-,
XVI
VORWORT.
die zweite aber dreifüssig ist, luit Anfangsreimen und Allite-
rationen in der Mitte. Man hat behaupten 'wollen, dass in dem
ganzen Kural kein einziges Sanscritwort vorkomme, und doch
ist gleich das erste Wort ein solches (akararn „der A-Laut“),
und noch zwei andere folgen in demselben Verse (ätipakavan
= ädib’agavän) und ulaku (aus löka). Wahr ist nur so viel,
dass Sanscritwörter sehr selten gebraucht werden und dann
wo möglich stets in einer naturalisirten Form. Tiruvalluver
ist durchaus „Purist“, — aber ein verständiger.
Diese Meister -Dichtung der tamulischen Literatur steht
nicht vereinzelt da. Sie hat eine Schwester: Nälari („Vier-
fiissler“). Das letztgenannte Werk besingt in 40 Decaden
dieselben drei „Strebeziele“; das Buch von der „Lust“ be-
steht aus einer einzigen Decade. Noch ist mir keine Müsse
geworden, das Verhältniss des Xälati zum Kural näher zu
untersuchen; aber schon die viel kürzere Form scheint
darauf hin zu deuten, dass Nälari auf ein höheres Alter An-
spruch habe. Die Djainas zählen sowohl den Verfasser des
Nälari wie den des Kural zu den Ihrigen.
Es werden uns zwölf alte Commentatoren des Kural
genannt: Tarumar, Maaakkufeijar, Tämattar, Pariti, Tiruma-
leijar, Mallar, Kavipperumä/, Kä/inkar, Nassinärkkinijar und
Parimelafakar. Nur des Letztem Commentar in hochtamu-
lischer Prosa ist zur Zeit allgemein bekannt, obgleich noch
ungedruckt. Auszüge daraus enthalten die gedruckten Aus-
gaben des Kural von Saravawapperumäfeijar (Madras ,1830)
und von Vetakirimutaliär (Madras 1850-51). Die letztgenannte
giebt fast stets eine vollständige Paraphrase des alten Commen-
tators, der, offenbar ein Anhänger des Sänkja-Systems, seinen
Dichter im Lichte desselben zu erklären sucht. (Siehe bes.
V. 27). Zum genauen Verständniss des dritten Buchs von
der „Lust“ hat mir das „AkapponFvPakkam“* von „Nampi“
— die Lehre von der Behandlung erotischer Gegenstände —
treffliche Dienste geleistet.
* Meine Uebersetzung desselben wird vielleicht nächstens in der Zeitschrift der
..Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" erscheinen.
VORWORT.
XVII
Der italienische Jesuit J. C. Beschi, der in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts im Tamulenlande missionirte
(starb 1747), ein ausserordentlicher Kenner der tamulischen
Sprache und Literatur, die er selbst mit mehrern Meisterwerken
beschenkte,* war meines Wissens der erste, der einen Theil
des Kural (das Buch von der „Tugend“ und das vom „Gut“)
in eine abendländische Sprache — und zwar in lateinische
Prosa übertrug. Diese Arbeit wurde nie gedruckt, kam aber
im Manuscript in meine Hände. Durch die gütige Vermit-
telung des Herrn Brotherton nämlich, anglikanischen Mis-
sionars im Tamulenlande, der von meiner Absicht den Kural
zu bearbeiten gehört hatte, überliess mir der Secretär der
„Royal Asiatic Society“ Herr Clarke seine eigne Abschrift
mit dankenswerther Bereitwilligkeit.** Diese Arbeit von
Beschi hat ihren grossen Werth, obgleich sie nicht selten mit
Unrecht von der Auffassung der tamulischen Commentatoren
abweicht, oft mehr umschreibt als übersetzt, und den Ge-
danken allzuhäufig christianisirt.
Nach ihm versuchte sich an dem Kural Ellis, englischer
Beamter der ostindischen Compagnie im Tamulenlande (siehe
meine Reise nach Ostindien, Bd. V, S. 144), einer der Haupt-
anreger und Beförderer der neuern literarischen Bestrebungen
unter den Tamulen. Er pflückte aber nur einzelne Verse aus
den ersten 13 Kapiteln des ersten Buches heraus und gab sie in
ziemlich freier Uebertragung ins Englische, und ZAvar im me-
trischen Gewände, seinen Landsleuten zu kosten.*** Er liess
auch den betreffenden tamulischen Text mit abdrucken, ver-
band mit jedem Vers eine grammatische Analyse und webte
zu weiterer Erklärung des Inhalts Parallelen aus der übrigen
tamulischen, zuweilen auch aus der sanscritischen Literatur ein.
Die erste deutsche Uebertragung, wenigstens der zwei
ersten Bücher, fällt in das Jahr 1803. Sie führt den Titel:
* Ein Mehreres über Beschi siehe meine „Reise nach Ostindien“ Band IV. a. m. O.
** Ich gedenke die lateinische Uebersetzung von Beschi dem vierten Theile meiner
Bibi. Tarn, einzuverleibeu.
*** Nach seinem Tode in Madras gedruckt. (1822).
XVIII
VORWORT.
„Des Tiruvalluver Gedichte und Denkspriiehe. Aus der ta-
mulischen Sprache übersetzt von A.F. Cämmerer, der Welt-
weisheit Doctor und königlich dänischer Missionar in T ran-
kebar.“* Eine wohlgemeinte, aber oft bis zur Unkenntlichkeit
entstellende und sehr häufig daneben hin schiessende Um-
schreibung in breitester Prosa.
Sehr werthvoll dagegen ist die Arbeit des Herrn W. H.
Drew, Missionars der Londoner Mission in Madras. Der
vollständige Titel lautet: The Cural of Tiruvalluver, First
Part, with the Commentary of Parimelarager, an amplifica-
tion of that commentary bv Ramanuja Cavi-Rayer, and an
English Translation by the Rev. W. H. Drew. ** Leider
geht die ganze Arbeit nur bis zur 24. Decade des ersten
Buchs, sie müsste denn seit meiner Abreise von Madras
(1852) weiter gediehen sein.
Der neueste abendländische Versuch in Betreff desKural
entstammt derFeder des Franzosen Ariel. (Journal Asiatique
1847, 1848 und 1852). Er hat aus dem ersten und zweiten
Buche nur einzelne Verse, das dritte Buch dagegen fast ganz
übersetzt und zwar in französische Prosa. Die Arbeit zeugt
im Ganzen von gutem Verständniss ; nur hat zuweilen die in-
dische Färbung bei der Uebersetzung zu sehr gelitten.
Nun noch ein Wort über meinen eigenen Versuch.
Da es der Hauptzweck meiner Bibliotheca Tamulica ist,
das Studium der darin übersetzten und erklärten Tamulwerke
im Original zu erleichtern, so wählte ich für die Uebersetzung
die Form der ungebundenen Rede, die jedenfalls ein grös-
seres Maass von Treue gestattet, als die gebundene. Ich
habe mich jedoch eitrigst bestrebt, kein Sclav der Treue zu
werden; auch habe ich, wo immer der oben bezeiehnete
Zweck es gestattete, durch Rhythmus, Rundung und Zu-
spitzung, und daneben durch An- und Gleichklang der ästhe-
tischen Fordrung Rechnung zu tragen gesucht. Die wunder-
bare Kürze des Originals ist in jeder andern Sprache unnach-
* Nürnberg, im Verlag der RAW'schen Buchhandlung.
** Madras, American Mission Press, 1840-
VORWORT.
XIX
ahmlieh; ich hoffe jedoch, das knappe Gewand desselben ist
unter meinen Händen nicht geradezu ein schlotterndes ge-
worden. Ich bin auch bemüht gewesen, die fremdartige Fär-
bung acht indischer Begriffe möglichst beizubehalten und eine
nähere Erklärung lieber der Anmerkung vorzubehalten. Die
Kenner und Freunde indischer Literatur werden es mir ge-
wiss nicht verargen, dass ich die Auffassung der einhei-
mischen Commentatoren nur, wo entscheidende Gründe vor-
liegen, entschieden verworfen, sie aber selbst da, wo sie offen-
bar daneben oder in übergrosser Künstlichkeit drüber hinaus-
schiesst, mit angeführt habe: denn einerseits sind wir Euro-
päer gar zu geneigt, unsre abendländische Anschauung in die
Erklärung der indischen Literatur hineinzutragen; anderer-
seits aber können wir doch auch aus einer offenbar falschen
Deutung seitens der einheimischen Erklärer immerhin den
indischen Geist kennen lernen.
Muss ich mich erst ausdrücklich entschuldigen, dass ich
auch das dritte Buch, das wesentlich erotischen Inhalts ist,
mit übersetzt und erklärt habe? Der Franzose Ariel hielt es
für nöthig. „La derniere partie des Kur’al pourra paraitre
un peil trop literaire, si nous ne rappelons, que les commen-
tateurs lui attribuent ä la fois un sens litteral et un sens alle-
gorique, le premier relatif a l’amour, ä la mesquine volupte
d'iei bas, le second relatif au salut et a l’infinie beatitude.
Le voile dumysticisme couvrira, nous osons l’esperer, les har-
diesses de certains passages.“ Ich selbst halte mich, auch
ohne Berufung auf die „mystische Deutung“, für vollkommen
entschuldigt nicht bloss, sondern selbst verbunden, auch das
dritte Buch dem abendländischen Publicum anheimzugeben.
Ist doch der Kural in allen seinen drei Theilen ein Spiegel
des indischen, speciell des tamulischen Volksgeistes, und es
würde in der That etwas fehlen, wenn man den dritten Theil,
der ein so helles Licht auf das häusliche Leben wirft, weg-
lassen wollte, bloss weilein paar Ausdrücke darin Vorkommen,
die an die freiere Art des Morgenlandes erinnern.
Mein Plan für den nächsten Band dieser „Bibliotheca
Tamulica“ ist — Andersgestaltung im Einzelnen Vorbehalten-—
XX
VORWORT.
für jetzt dieser: Der tamulische Text des Kural mit Glossar
und Anmerkungen, besonders grammatischer Art, in engli-
scher Sprache; die lateinische Uebersetzung des Kural von
Beschi unverändert, jedoch mit einer Nebenübersetzung an
Stellen, wo ich es für nöthig halte, und einer neu gefertigten
für das von Beschi nicht berücksichtigte dritte Buch; endlich
auch eineUebertragung der hochtamulischcn Verse des Kural
in volkstamulische Prosa.
I
VORREDE
DES
PA R I M E L A L'A KAR.
(Zum Oanzeu im Allgemeinen, und zur ersten Abtheilung des ersten Tlieils
insbesondere.)
Vier sind der Dinge, welche die Weisen, den Weg zu den
Himmeln Indra’s und der übrigen Götter, sowie zur endlichen
Vollerlösung wohl kennend, zum Heil der Menschen, die da-
hinzugelangen sich schicken, zu behandeln pflegen: Tugend,
Gut, Lust und Erlösung. Unter diesen vier Dingen ist die
Erlösung dem Gedanken und dem Ausdruck unerreichbar.
Sie kann daher nur in ihrer Ursache, der Busstugend,* nicht
aber in ihrer Beschaffenheit dargestellt werden, und so sind
denn nur die drei andern Dinge: Tugend, Gut und Lust, Ge-
genstand der wissenschaftlichen Behandlung. Die Tugend
nun besteht darin, dass man das, was Manu und die übrigen
heiligen Schriften gebieten, thut, das aber, was sie verbieten,
lässt; sie zerfällt in „Sitte, Rechtsverfahren und Strafe.“**
Sitte besteht darin, dass die Brahminen und die übrigen Ge-
schlechter in den ihnen vorgeschriebenen Lebensständen als
Schüler u. s. w. (Haushälter, Waldsiedler und Allentsager) ver-
harrend, in den darauf bezüglichen Gesetzen ohne Fehl wan-
* Beschi findet die Erlösung besonders in Kapitel 35 — 37 indirect abgehandelt.
** Diess ist die Eintheilung von Jägnavalkja’s Gesetzbuch: äcära (oUukkain)
vjavahära (va/’akku) und präjascitta (tan/am)
XXII
VORREDE DES PARIMELAZ’AKAR.
dein. Das Rechtsverfahren besteht darin, dass diejenigen, die
in Bezug auf einen Gegenstand ein „Mein“ verschiedentlich
geltend machen, darüber in Streit gerathen, und dann endlich
ihre Sache bei dem Gerichte anbringen; es zerfällt in acht-
zehn Kapitel, als Borgen u. s. w. Die Strafe besteht darin,
dass man, um diejenigen, die von dem Wege der Sitte und
des Rechtsverfahrens abgewichen sind, auf den betreffenden
Weg zurückzuführen, auf das Recht sieht, und die der Schuld
entsprechende Strafe verordnet. Weil nun diess Beides,
Rechtsverfahren und Strafe, zwar die Menschen auf dem
Wege der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung zu erhalten
taugt, nicht aber, wie die Sitte, eine dem Menschen Heil brin-
gende Auszeichnung besitzt, und ausserdem nicht bloss aus
Büchern, sondern auch aus dem Scharfsinn, so wie aus dem
Weltbrauch sich ergiebt, so wird es hier von Tiruvalluver voll
göttlicher Weisheit ganz beiseitgclassen und bloss die be-
sonders ausgezeichnete Sitte unter dem Namen „Tugend“
behandelt. Diese ist ja aber bei allen Geschlechtern mit den
vier Lebensständen verschieden; desshalb bleiben die be-
sondern V orschriften (d.i. die eigentlichen Kastenvorschriften)
von geringerem Umfang weg, und die Tugend wird nur in
Betreff der allgemeinen Vorschriften, die für alle gleich sind
und die Mehrheit bilden, in zwei Abtheilungen als „Haus-
und Busstugend“ behandelt. Haustugend aber ist das, was
man, auf dem Wege, der für das häusliche Leben vorge-
schrieben ist, verharrend, im Verein mit der dazu mithelfen-
den lieben, treuen Gattin thut. Diese stellt er daher vorweg
und singt, damit sein Vorhaben wohl gelingen möge, vor allen
Dingen das Lob Gottes.“*
* Das Uebrige bildet die Inhaltsanzeige zu Kapitel I. (S. 3.)
I
VORBEMERKUNG.
Ich habe der Kürze wegen den Commentar des Parimel-
aZ’akar mit P., den des Vetakirimutaliär mit V., den des Sa-
rava?iapperumä?eijar mit S. bezeichnet. Die Sanscritwörter
sind nach dem im 1. Bande bezeichneten Systeme, die Ta-
mulwÖrter nach der in meinem „Outline of Tamil Gramm ar“
(Band II.) angegebenen Weise wiedergegeben, nur dass, aus
praktischen Rücksichten, statt der „fetten“ Schrift die „lie-
gende“ gewählt wurde. Kapitel 25 — 38 fehlt in dem Manu-
script des Commentars von Parimela/’akar, das mir vor-
lag; die von mir mit P. bezeichneten Bemerkungen zu die-
sen Kapiteln sind nach der Paraphrase des Vetakirimutaliär
gegeben.
Ich bemerke zugleich, dass Seite 10, Z. 4. v. o. statt „an-
taner“ ahtanar stehen sollte, sowie, dass die gewöhnlichem
Sanscrit-Formen für raga (m. n.) und tama (m.) — siehe Einl.
zuV. 1. — ragas (n.) und tamas (n.) sind.
'
I
I.
VON DER TUGEND.
III.
1
EINLEITUNG,
1.
GOTTES LOB.
„Ein Dichter preist entweder den Gott, den er selbst verehrt, oder
den. der seinem Gegenstände am besten entspricht. Das Letztere ist
hier der Fall. Es findet nämlich, vermöge der drei Eigenschaften
(im Sause. : sattva, raga, tama = milde Euhe, leidenschaftliche Erregt-
heit, dumpfe Trägheit, vergl. Theil I, S. 13) zwischen den drei begeh-
rungswürdigen Dingen (Tugend, Gut und Lust) und dem Urgotte, der
sich mittelst jener Eigenschaften als ein dreifältiger darstellt, ein Zu-
sammenhang*) statt, und so ist es denn ganz in der Ordnung, dass un-
ser Dichter, der jene drei Dinge zu besingen unternommen hat, den
dreigestaltigen Gott anruft.“ (P.)
1. A als Erstes haben alle1 Buchstaben; den Urseligen2
als Erstes3 hat die Welt4.
1 Nicht bloss die tamulischen, sondern auch die sanscritischen (P.). j,A, der edelste,
ursprünglichste aller Laute, aus Brust und Kehle voll erschallend, den das Kind zuerst
und am leichtesten hervorbridgen lernt , den mit Recht die Alphabete der meisten Spra-
chen an ihre Spitze stellen.“ (Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm).
2 Atipakavan (sanscr. äditfagavän). Pakavan ist auch eine Bezeichnung des Puttan
Buddha); ätipakava»u könnte daher recht gut dasselbe wie das sansc. ädibudda sein, be-
sonders da — nach dem Wörterbuche des Mawtalapurushan — Buddha auch den Namen
äiitevan (sansc.: ädideva, „Urgott“) führt. Dass ädibagavän an unserer Stelle, falls der
Ausdruck auf Buddha zu beziehen ist, nicht bloss auf frühere Transmigrationen Bud-
dha’s (vergl. Journal of the Ceylon Branch of the Royal Asiatic Society, Vol. I, Part I,
Page 6) , sondern auf einen wirklichen Urgo tt, als Urwurzel der Welt, gedeutet werde,
scheint der Zusammenhang eher zu fordern als zu verbieten (vergl. meine „Reise nach
Ostindien“, Band IV, Anm. 238); jedenfalls lässt er brahmanisch - rechtgläubiger Auf-
fassung Raum. Ich erinnere nur noch, dass die Djaina's ihrem Sectenstifter im Tamul.
* Der milden Ruhe entspricht das Streben nach Tugend, der leidenschaftlichen Er-
regtheit das Streben nach irdischem Gut, und der dumpfen Trägheit das Streben nach
sinnlicher Lust.
1 *
4
I. Von der Tugend.
gelegentlich dieselben Namen geben, wie die eigentlichen Buddhisten dem ihren, „Put-
tau “ nicht ausgenommen. (S. d. Vorwort.)
3 „Die Oberherrlichkeit des A besteht darin, dass es nicht sowohl aus einer Laut-
veränderung, als vielmehr aus der innersten Lautnatur hervorgeht. Dem ädibagavän
kommt die Oberherrlichkeit zu insofern derselbe Alles, nicht sowohl auf dem Wege der
einzelnen Thatsacheu (discursive), als vielmehr seiner innersten Natur nach (intuitive) er-
kennt.“ (P.) „Das A ist eine blosse Oeffnung des Mundes mit einem Aushauch aus der
Lunge“ ; es ist daher „als reiner Ton die Ursache für alle Buchstaben“, sagt ein ta-
mulischer Commentator zu Nannul II, 18*. Dieser Gedanke dürfte im Sinne brahma-
nisch -rechtgläubiger Auslegung ein noch schlagenderes tertium comparationis geben.
4 „Da man die Existenz des unsichtbaren Gottes mit Hülfe der sichtbaren Welt
prädiciren muss, so ist der Dichter mit den Worten , die Welt hat etc. ‘ von der Welt
ausgegangen.“ (P.)
2. Was ist der Nutzen, den man vom Lernen nimmt,
wenn man nicht anbetet den freundlichen Fuss1 Dess mit
dem lautern Wissen.
t Der Herr setzt dem Knechte zum Zeichen seiner Oberherrlichkeit den Fuss aufs
Haupt, und zu des Herrn Füssen lässt sich der Knecht nieder, (aüjen, „ich dein Knecht“
von aü Fuss.) Daher diese und ähnliche Ausdrücke. — Ellis: Such use probably ori-
ginated in the practice of substituting in the act of worship a material image for the im-
material idea.
i
3. Die sich halten an den hehren Fuss Dess, „der über
die Blume1 wallte“2, werden lange leben über der Erde.
1 Unter malar „Blume“ verstehen die Commentatoren das Herz, das unter dem An-
hauch der Gottheit sich wonnig erschliesst. Es kann aber auch die Erde bedeuten, ge-
rade wie pü (in pümenafantän , siehe die folg. Anm.).
2 „Der Dichter hat hier die Vergangenheit — wallte — gesetzt, weil er über die Lo-
tus-Blume des Herzens derer, die mit Liebe an ihn denken, in der von ihnen gedachten
Gestalt schnell dahinfährt; denn hier passt das Wort der Grammatik: die Gelehrten
sagen , dass die Zeitwörter, die gleicherweise in der Zukunft wie in der Gegenwart ge-
braucht werden, wenn sie mit dem Zeichen der Vergangenheit auftreten , eine gewisse
Hast andeuten. — Es giebt auch Ausleger, die in Rücksicht auf das eine Wort (der tarnu-
lischen Lexica) , pümenaLant«än d. i. der über die Blume (oder: Erde) hinwandelte4
jene Bezeichnung auf einen andern Gott** (den Stifter des Buddhathums — oder des
Djainathums, dessen Nennung der rechtgläubige Commentator absichtlich zu vermeiden
scheint) übertragen.44 (P.) „Geister umgaben ihn (Buddha) bei seiner Geburt, pflegten
seiner und besorgten das heil. Bad des neugeborneu Kindes. Doch stand er schon auf
eignen Füssen und durchmass die Welt in sieben Schritten. Wo seinFuss dieErde
berührte, blühte eine Padmablume hervor.44 (Stuhr, Die Religionssysteme
der heidn. Völker des Orients, I, 119.) Der Stifter des Djainathums aber wird auf
einem Lotus stehend dargestellt. (Ellis , 6.)
4. Die sieb fest an den Fuss fassen Dess, der ohne Be-
gehr und Abscheu ist, trifft Trübsal 1 nimmer.
* Siehe Grammatica Tamul. by W.-Joyes and S. Samuel Pillay. II, 18. 19.
** Jener Ausdruck ist nämlich eine der vielen Bezeichnungen, die z.B. auch in dem
Wörterbuche des ManJalap. als dem Buddha oder auch dem Arukan (sansc. Arliat), dem
Stifter des Djainathums , zugehörig aufgestellt werden.
1. Gottes Lob.
5
1 Dio Trübsal der Geburt (P.). Die in V. 3 enthaltene Seligpreisung lässt noch für
eine neue Wanderung auf die Erde Raum , wenn auch, — infolge frühem Verdienstes —
erst nach langem Hiimnelsgenusse. — Hier wird dem Commentator zufolge ewige Erlö-
sung von dem Kreislauf der Geburten verheissen. „Die Trübsal der Geburt ist dreier-
lei: sie kommt in Bezug auf das eigne Selbst, in Bezug auf andere Wesen und in Bezug
auf die göttliche Fügung. (Im Sansc.: ädjätmika, ädibautika, ädidaivika.)
5. Die Nacht ^gepaarte „Zweithat“2 paart sich nicht
mit Denen, die dem Wahrheit -gepaarten Lob Gottes leben.
i„Weil Niemand ihre Natur beschreiben kann, nennt er die Unwissenheit
Nacht.“ (P.)
2 Die Gut - und Uebelthat. „Auch die Gutthat ist Schuld, dass mau von neuem ge-
boren wird, darum sagt er ,, Zweithat“. (P.) Die Vedantisten sowohl als die Buddhisten
sind absolute Quietisten, die alle Thätigkeit als abnorm ansehen, — nur mit dem Unter-
schiede, dass die Erstem die individuelle Menschenseele, im Zustand völliger Erlösung,
in das reine Nichts, die Letztem aber in das reine Sein verwehen lassen.
6. Lange leben werden, die fest fassten auf dem trug-
losen Tugendpfad Dess, „der die Sinnenpfads -Fünf 1 ausge-
löscht hat“2.
1 D. h. die fünf Gelüste , die sich auf dem Wege der fünf Sinne ergehen.
2 Auch diese Bezeichnung würde auf Arukan (siehe die Anm. zu V. 3 unten) sehr
wohl passen, der ausdrücklich „Sinentiran“ (Einer, dessen Sinne besiegt sind) ge-
nannt wird.
7. Schwer fällt’s — ausser Denen, die den Fuss fassen
Dess, der ohne Gleichen ist, - — des Herzens Schmerzen zu
scheuchen.
8. Schwer fällt’s — ausser Denen, die sich an den Fuss
fest schmiegen des Urmilden, jener Tugendsee1 — über die
fremde See2 zu setzen.
1 Oder „des Urmilden mit dem Rad der Tugend“, d. i. Arukan, der das Rad* der
Tugend in Gang setzte. (AraväJ’iventan „König des Tugendrades“, ein Epitheton des
Arukan). P. selbst erkennt an, dass einige Ausleger es so verstehen. (Vergl. Anm. 2
zu V. 6.)
2 P. versteht darunter die zwei andern Strebeziele des Menschen, „Gut und Lust“.
R. meint (und zwar mit grösserer Wahrscheinlichkeit) , man könnte auch die „ Sünde “
darunter verstehen.
9. Das Haupt, das nicht zu Boden fällt vor dem Fusse
Dess mit den acht Tugenden1, ist untüchtig, dem untüchtigen
Organe gleich.
i Dies ist — nach dem Wörterbuche des Mantalap. — ein stehender Name Aru-
* ai’i bedeutet eigentlich „Cirkel“ und kann daher sowohl die See, welche die Erde
umspannt, als das runde Rad bezeichnen.
0 I. Von der Tugend.
kan's. — P. bezieht das Epithet natürlich auf Siva , und gibt als die acht Eigenschaften,
wie sie die heiligen Bücher der Siraiten beschreiben, folgende an: Selbständigkeit,
Reinleiblichkeit, unmittelbare Anschauung, Allvrissen, natürliche Ungebundenheit,
Gross-Huld, unendliches Wirken, unendliche Wonne. ..Einige“, so fährt P. fort, „ver-
stehen darunter die acht übernatürlichen Kräfte, wie z. B. das Vermögen, die Gestalt
eines Atoms anzunehmen (vergl. Th. I, S. 49); oder auch jene acht Eigenschaften, an
deren Spitze „endlose Weisheit“ steht. (Endlose Weisheit , endlose Einsicht, endlose
Macht, endlose Wonne ; — Namenlosigkeit. Eamilienlosigkeit. Alterlosigkeit, Hinderniss-
losigkeit.' Die letzte Erklärung ist offenbar djainaitisch; denn das sind die acht Attri-
bute, die der Djaina Mantalap. im 12/Theile seines Wörterbuchs der Gottheit zuerkennt.
(Vgl. Ellis, S. 19.)
10. (Die Andern) werden über der Geburten grosse See
setzen *; nicht die, so nicht sich hängen an des Höchsten Fuss.
1 D. h. sie werden über den Kreislauf der Geburten hinauskommen.
2.
DES REGENS TREFFLICHKEIT.
„In diesem Kapitel wird die Trefflichkeit des Regens besungen, der,
nach dem Willen Gottes, der Welt und den drei Dingen, die ihr zur
Wohlfahrt gereichen (Tugend, Gut und Lust) den Fortbestand ver-
mittelt.“ iP.) Der Uebergang von der Gottheit auf den Regen ist auch
im Lichte von Apostelgeschichte 14, 17 natürlich.
11. So lang der Regen Stand hält, hält sich im Gang die
Welt. Drum sollst du ihn für das Xectar 1 nehmen.
1 Amrta „Unsterblichkeits - Trank“. Sollte hiermit vielleicht eine rationelle Berich-
tigung der indischen V olksfabel in Bezug auf das amrta in direct gegeben sein? — Der brak-
manische Gedankengang in Bezug auf die Stellung des Regens zur Welt ist in Bagavad-
gltä III. 15 sehr deutlich ausgesprochen : ., Nachdem das Menschengeschlecht mit dem
Opferritus zugleich erschaffen worden , sagte pragäpati („ progenitor“, sc. generis hu-
mani): .Dadurch (durch den Opferritus nämlich) pflanzt euch fort: er sei euch eine Kuh.
die alle eure Wünsche gewährt. Ehret dietxötter, so ehren sie euch. . . . Durch Opfer
geehrt, werden sie euch die erwünschten Speisen geben : wer aber die von ihnen gege-
benen Speisen geniesst, ohne vorher einen Theil derselben ihnen darzubringen , ist ein
Dieb. . . . Durch Früchte nähren sich die lebenden Wesen, durch Regen entstehen
Früchte, und durch Opfer wird der Regen erlangt.“ Also: Aus dem Regen die Frucht,
aus der Frucht das Opfer . und aus dem Opfer wieder der Regen.
12. Das, was dem Geniessenden genussreiche Genüsse
schafft 1 und den (diese) Geniessenden sich (auch selbst) zum
Genuss2 giebt, ist der Regen.
1 Indem es die Früchte der Erde erzeugen hilft.
2 Als Trinkwasser.
2. Des Regens Trefflichkeit.
7
13. Wenn die Wolle’ am Himmel an sieb haltend lügt,
quält anhaltend der Hunger auf der von grossem Wasser
umwogten 1 weiten Erde.
i Dies ist hier wohl kein miissiges Beiwort ; es soll daran erinnern, dass das Wasser
des Meeres trotz seiner Menge das Wasser des Himmels nicht ersetzen kann.
14. Die Pflüger arbeiten nicht mit dem Pfluge, fehlt die
Fülle des Wolken -Segens.
15. Verderben, und die Verderbten hülfreich heben —
diess alles (thut) der Regen.
Mit Recht Ellis : „Wer in einem tropischen Clima je sah, wie der Regen in Strömen
über das Land stürzt und alles vor sich her fegt, oder wie nach langer Dürre die Natur
aus ihrer Lethargie durch die Wuth eines Regensturmes, der die versengten Flächen
plötzlich in lebendiges Grün hüllt, erweckt wird, nur der kann die Richtigkeit dieses
Gedankens recht würdigen. “
16. Es träufeln denn vom Himmel Tropfen — - sonst
schwerlich zeigt sein Haupt ein grünes Gräslein.
17. Selbst das weite Weltmeer 1 verliert seinen Adel,
wenn nicht die Wolke wegnimmt2 — und wieder spendet3.
1 Das doch die Wolke erst erzeugt. (P.)
2 Indem sie das Wasser aus dem Meere anzieht.
3 „Weil dann (nach indischer Anschauung) keine Seethiere geboren und keine Per-
len erzeugt werden.“ (P.)
18. Tägliche Feier sammt Festen stockt selbst den
Himmlischen hienieden, wenn der Himmel austrocknet '.
1 Der brahmanische Gedanke würde sein : Ohne Regen keine Frucht , ohne Frucht
kein Opfer. (Vergl. Anm. zu V. 11.)
19. Beides, Spende und Kasteiung1, hält nicht Stand in
der weiten Welt, dafern der Himmel nicht spendet.
1 Haus - und Busstugend, als das erste Strebeziel der Menschen. (P.) (Siehe Anm. 1
zu V. 20.)
20. Wenn ohne Wasser sein Weltgeschäft1 Niemandem
von statten geht, so geht ohne Regen die (ganze Welt-) Ord-
nung nicht von statten 2.
1 P. sieht hierin eine Hindeutung auf die beiden andern Strebeziele des Menschen
„Gut und Lust“ (siehe Anm. zu V. 19), als die innerhalb dieserWelt liegen.
2 P. fasst den Nachsatz „so findet (hienieden ; ohne Regen kein (regelmässiger) Er-
guss (des Wassers) statt.“ Ebenso Drew. Offenbar minder passend, zumal hier am Schluss
des Capitels. P. führt übrigens die obige Fassung mit an. — järjärkkura ist so gestellt,
dass es in den Vordersatz ebenso wohl als in den Nachsatz gezogen werden kann.
8
I. Von der Tugend.
3. .
DER SELBSTKASTEIER GRÖSSE.
„Dieses Kapitel folgt auf die , Trefflichkeit des Regens dieweil der
Dichter der Welt die Tugend und die andern Strebeziele der Men-
schen in ihr wahres Licht stellen will.“ (P.)
21. Des regelrechten1 Bussers Majestät als meist zu Be-
gehrendes heischt der helle Spruch der Schrift2.
1 „Regelrechte Kasteiung heisst innerhalb seiner Regel sich kasteien. Während
man sich eines Wandels befleissigt, der gegen'die betreffende Kasten- und Standes-
ordnung nicht verstösst, wächst die Tugend; während die wächst, schwindet die Sünde;
während die schwindet, weicht die Unwissenheit; während die weicht, kommt die Unter-
scheidung zwischen Beständigem und Unbeständigem, die Unlust an den unbeständigen
Freuden des Diesseits und des Jenseits, so wie die Geburtstrauer zum Vorschein; wäh-
rend diese zum Vorschein kommt, entsteht die Erlösungs-Begierde; während die ent-
steht, weichen alle eitlen Strebungen, welche die Geburt veranlassen, und die beschau-
lichen Strebungen , die zur Erlösung führen, treten ein ; so wird die philosophische Er-
kenntnis geboren, und die nach aussen gehende Leidenschaft des ,Mein‘ und die nach
innen gehende des , Ich‘ hören auf. Daher läuft denn eben regelrechte. Kasteiung
darauf hinaus , dass man diese beiden Leidenschaften in dieser Weise verabscheut und
fahren lässt.“ (P.)
2 P. sieht in der Allgemeinheit dieses Ausdrucks eine Andeutung, dass alle Systeme»
mögen sie sonst auch noch so verschieden sein, in diesem Punkte miteinander stimmen.
22. Willst du der Selbstkasteier Majestät messen, das
ist als wolltest du die aus der Welt Weggegangnen zählen.
23. In der Welt glänzt die Grösse Derer, die, wohl ver-
traut mit den zwei Zuständen1, sich unterziehn der Tugend-
That
1 Der Geburt und der Erlösung. P.
2 Der Tugend der Selbstkasteiung. P.
24. Wer die Fünf1 zu zügeln weiss mit der Weisheit-'
Haken, der ist für das Land der Seligkeit ein Saatkorn un-
vergleichlich.
1 Die Sinne, die hier mit ungestümen Elephanten verglichen werden.
2 Eigentl. (Geistes -) Stärke , fortitudo.
25. Voll -Zeuge1 für die Machtthat Dess, der die Fünf
übermocht hat, ist Indra, der Herr der Himmlischen im wei-
ten Aether.
i Insofern er selbst die Macht des Selbstkasteiers Gautama, mit dessen Weib er in-
triguirte, an sich erfuhr. Die Djaina’s aber leugnen, dass ein wahrer Selbstkasteier
3. Der Selbstkasteier Grösse.
9
eine solche Macht des Fluches entweder besitzt oder in Anwendung bringt, und be-
haupten, dass der Verfasser den Gautama, der ja verheirathet war, unter die Selbst-
kasteier gar nicht rechnen konnte. Kaviräjapantitan fasst daher den Sinnjrdes Verses
einfach so: Indra der Götterkönig selbst und nur er, kennt hinlänglich die Macht Dessen,
der seine Sinne zähmt. (Ellis, S. 67.)
26. Die das Schwerzuthuende thun, sind die Grossen;
die Kleinen sind, die das Schwerzuthuende nicht thun.
P. versteht unter Schwerem die acht Stücke des Jöga (s. Band I, S. 107, Anm. 3),
unter Leichtem sich seinen natürlichen Begierden hingeben. „Es giebt auch Einige, die
(unter dem Schweren) die acht Bräuche der Einsiedlerschaft, als z. B. oftmaliges Baden,
verstehen; diese sind aber in dem Nijama („der religiösen Verrichtung“, als dem zwei-
ten Stück des Jöga,) enthalten, und passen daher nicht für die Grösse des Selbst-
kasteiers.“
27. Die Welt liegt beschlossen in Dem, der die Weise
der Fiinfe weiss: Geschmack, Gesicht, Getast, Gehör, Geruch.
„Die Kategorieen der Fünf sind erstens eben sie selbst, die (als tanmätra oder ele-
mentarische Ansätze — siehe die Liste der sansc. Vedanta- Ausdrücke, Th. I od. II — ) den
Elementen zu Grunde liegen , die aus ihnen hervorgehenden fünf Elemente , sowie die
fünf intellectuellen und die fünf praktischen Organe (siehe Th. I, S. 181, 13), die aus je-
nen gebildet sind, zusammen 20. Der Ausdruck , In Dem, der die Weise weiss ‘ giebt uns
noch fünf Kategorien an die Hand: purusa: (oder ätman) , der durch seine Verbindung
mit dem Körper erkennt ; und dazu mahat (das intellectuelle Prinzip), ahankära (.Ichheit*,
d. i. das Vermögen alles auf das Ich zu beziehen) und manas (allgemeiner innerer Sinn,
an der Spitze der zehn Organe), die dem purusa als Werkzeuge des Erkennens dienen ;
endlich mülaprakrti (, Wurzel - Natur *, d. i. das bildende Urprincip). Diese fünf und
zwanzig Kategorien erkennen heisst nun, im Sinne der Sänkja-Bücher, darüber klar
werden : erstens, dass die Natur der müla-prakrti bloss prakriti (productiv) , nicht vikrti
(producirt) ist; zweitens, dass das aus der müla-prakrti hervorgehende mahat, der aus
dem mahat hervorgehende ahankära, und die aus dem ahankära hervorgehenden (fünf)
tanmätra — diese sieben Stücke — in Rücksicht auf das, was ihnen respective als Erstes
zu Grunde liegt, vikfiti, in Bezug auf das, was aus ihnen entsteht, prakr.ti sind ; drittens,
dass die aus ihnen entstehenden Kategorien — manas , die fünf intellectuellen und die
fünf praktischen Organe, sowie die fünf Elemente — nie prakr.ti , sondern stets bloss
vikriti sind; viertens endlich, dass der purusa, welcher aus Nichts entsteht, und aus
welchem Nichts entsteht, weder das Eine noch das Andere ist. — Dieweil man nun die
Realität der Welt so erkennt, dass es ausser diesen 25 Kategorien nichts Anderes giebt,
was Welt genannt wird, so ist die Welt in dem Wissen eines Solchen beschlossen.4*' (P.)
28. Der Vollspruchs -Männer 1 Grösse wird ihr Geheim-
spruch 2 kund thun.
1 Der Muni’s, deren AVort sich stets erfüllt.
2 Ihr Fluch sowohl als ihre Segnung, (mantra.) Vergl. Th. I, S. 130 — 131.
29. Sich hüten vor dem hellen Zorn — auch nur auf
einen Augenblick 1 — Derer, die Fuss fassten auf dem Berg
der Tugend, ist schwer.
i Der Zorn kommt solchen Heiligen bloss in Rücksicht auf frühere Verschuldung;
er dauert aber auch bloss einen Augenblick, indem die Weisheit, die ihnen inne wohnet,
ihn alsbald auslöscht. (P.)
10
I. Von der Tugend.
30. Die man „Hochmilde“1 heisst, sind die Tugend-
samen, denn, gegen alles Leben mit hoher Milde angethan,
wandeln sie2.
1 „ Antanar “, Leute, die eine „schöne Kühle oder Milde besitzen So werden
nicht bloss die Götter, sondern auch die Brahminen genannt. Vielleicht ein strafender
Seitenblick auf die Brahminen, die sich ihrer blossen Geburt wegen jenen Titel beilegen.
Es ist hier aber nicht von der Tugend im Allgemeinen die Rede, sondern von der Tugend
des Selbstkasteiers, in welcher allerdings die allgemeine Tugend gipfeln soll.
2 Obgleich sie die Macht des Fluches besitzen. (P.)
4.
ANPREISUNG DER TUGEND.
„Die Tugend anjjreisen lieisst verkünden, dass, weil sie (nicht wie das
Gut und die Lust unter den drei von jenen Muni’s gelehrten Dingen)
für das Dreies: dieses Leben, jenes Leben und die endliche Erlösung,
erspriesslich ist, sie auch vorzüglicher sei als iene (zwei Dinge: Gut
und Lust).“ (P.)
31. Glorie spendet sie, Glück spendet sie. Welch hö-
heres Glück doch als die Tugend giebt’s für die Lebendigen?
P. versteht unter „Glorie“ hauptsächlich die endliche Erlösung, unter „Glück“
aber den zeitweiligen Genuss des Svarga. (Vergl. Theil I, S. 153.)
32. Es giebt kein höheres Heil als die Tugend, kein hö-
heres Unheil als deren Versäumniss.
33. Wie es nur möglich ist1, wo es nur angeht2, unab-
lässig übe du Tugend -That.
1 In Bezug auf die Haustugend, deinem Besitze gemäss; in Bezug auf die Buss-
tugend, deinem Leibeszustande gemäss. (P.)
2 Im Herzen mit guten Gedanken, mit dem Munde in guten Worten, mit den Glie-
dern in guten Werken. (P.)
34. Am innern Menschen makellos sein, ist Tugend;,
leerer Lärm alles Andere.
35. Tugend ist Meiden der Vier: Zorn, bitteres Wort,
Neid, Gier.
36. „Wir wollen weise morgen werden!“ So nicht spre-
chend, üb’ Tugend; sie ist dir, wenn du scheidest, eine nie
scheidende Gefährtin
I. Anpreisung der Tugend.
11
i Denn sie begleitet dich, wenn dein Leib dahinfallt, in einen andern Leib. (P.)
„Die Tugend ist die einzige Freundin, die uns nach dem Tode folgt; alles Uebrige stirbt
mit dem Leibe.“ (Hitöpadcsa.)
37. Angesichts des Getragenen und des Sänfte - Trägers
braucht man nicht eingänglich zu schildern der Tugend Gang1.
1 Der blosse Anblick ist eine Tugend-Predigt, denn an dem Einen siebt man den
Lohn der Tugend, an dem Andern die Strafe des Lasters während eines frühem Daseins
exemplificirt. — Diess der Beleg zu dem vorigen Verse , dass die Tugend eine nie schei-
dende Gefährtin ist. (P.)
38. Wenn einer Gutes thut, so dass kein Tag des Le-
bens neben fällt, so ist das ein Steinblock, der dem Lebens-
tag den W eg wehrt 1.
1 D. h. der das Wiedergeboren werden hindert.
„So lange die , Zweithat1 (Gutthat und Unthat), die durch die fünf Fehler (Unwissen-
heit, Selbstsucht, Gier, Wunsch und Abscheu) vor sich geht, (als unabgenossene Summe
von meritum und demeritum) andauert, geniesst die Seele,” (in verschiedenen Geburten)
mit dem Körper geeint, die beiderlei Folgen jener Thaten; desshalb wird jene Zeit
, Lebenstag1 genannt.“ (P.)
39. Was'auf der Tugend-Weg zuwegekommt1, ist Lust;
alles Andere das Widerspiel — und ohne Lob.
1 P. beschränkt diess auf eine tugendhafte Liebe , wahrscheinlich auf Veranlassung
des Wortes inpam („Lust"), das allerdings vorzugsweise für „Liebeslust“ gebraucht wird.
40. Was zu thun taugt, ist Tugend ; was zu lassen, Laster.
VON DER HAUSTUGEND.
o.
HAUSLEBEN.
„Das ist die Vortrefflichkeit des Lebens in Gemeinschaft mit der
Hausfrau. Da dieser Stand unter den zwei (Tugend-) Ständen (häusl.
und ascet. Tugend) die erste Stelle einnimmt, so folgt er hier auf die
Anpreisuug der Tugend.“ (P.)
41. Ein Hausherr ist eine stete Stütz’ auf dem guten
Weg für die treffliehen Drei h
1 Xaeh P. für den Schüler, den Waldsiedler und den Allentsager , indem der Haus-
vater im Stande ist , diesen Dreien „Xahrung, Arznei und Raum“ zu geben. — (Manu
3, 77 — 7S.) Den Djaina's war „der Waldsiedler" unbekannt. (EUis, ö4; 131.)
42. Ein Hausherr ist eine Hülfe den Verlassenen *, den
Verkommenden und den Verblichnen 2.
1 Oder „denen, die alles verlassen haben (den Allentsagern) “. Diese sind wohl
aber schon unter den „Dreien“. Y. 41.
2 Indem er die (sogenannte) „Wasserpflicht“ (d. i. die Pflicht, den Manen Wasser
zu spritzen. Manu 3, 82, 202 fgg.) etc. für sie verrichtet und ihre Seelen auf diese Weise
in den Himmel fördert. (P.)
43. Hauptsache ist das Herkommen halten gegen die
Fünf: Manen1, Gottheit, Gast, Verwandt’ und das eigene
Selbst.
i Pitr's (Väter). Im Text steht eigentlich: „Die im Süden wohnen.“ Die Pitr.'s
„sind eine zurZeit der Schöpfung von Brahma erschaffene Art von Göttern“ (P.), die
im Süden wohnen' und die ..Manen der Sterblichen in ihre Gemeinschaft aufnehmen,
für welche sapindlkarana — der Ritus der Gemeinschaft mittelst der Todten - Kuchen —
gehörig verrichtet wurde.“ Wilson. Vischnu Purana, S. 320 fgg.
/
C. Die Giito der Ilaushülfe.
13
44. Hütet sich ein Hauswesen vor Unrecht und giebt
gern von seiner Nahrung, so wird’s an Nachkommenschaft
nie fehlen.
45. Hat ein Hauswesen Lieb’ und Tugend, so ist das
sein Wesen und sein Segen.
Die Liebe ist das Wesen , die Tugend sein Segen; denn wo die Eintracht der Gat-
ten fehlt, kann die Haustugend nicht gedeihen. (P.)
46. Bringt man auf dem Tugendweg’ ein Hauswesen
zuweg, was kann man dann, auf Aussenwege1 gehend, ge-
winnen?
i D. h. als Waldsiedler. (P.)
47. Wer sein Hauswesen wohl verwest, ist unter allen
Hochstrebenden1 das Haupt.
i ,.Da der Allentsager (Sannjasin) (alles bereits) hinter sich hat, so sind hier Die-
jenigen zu verstehen, die sich in dem dritten Stadium befinden (die Waldsiedler).“ (P.)
48. Ein Hauswesen, das, Andern den Weg1 weisend,
nicht von der Tugend weicht, duldet mehr2 als die Dulder3.
1 Askese.
2 Insofern es nicht bloss die eigenen Mühsale, sondern auch die der Asketen (für de-
ren Bedürfnisse es sorgt) auf sich nimmt. Vergl. Manu 3, 78.
3 Die Asketen (Waldsiedler und Allentsager).
49. Was man Tugend heisst, ist das Hausleben; Jenes1
auch ist gut, wird’s anders nicht von Andern angefochten2.
1 Das Büsser -Leben.
2 Wegen ordnungswidriger Führung desselben. (P.)
50. Wer hienieden dem Hausleben gemäss lebt, den hebt
man unter die himmelbewohnenden Götter h
1 Nach P. nicht bloss insofern er wie ein Gott geachtet, sondern weil er zum Lohne
seiner Tugend nachher wirklich als ein Gott geboren wird.
6.
DIE GÜTE DER HAUSHÜLFE.
„Das ist die Tugend der Gattin, die jenem Hausleben eine Hülfe
ist.“ (P.)
51. Die, in allen zur Ehe passenden Tugenden 1 trefflich,
den Umständen ihres Eheherrn sich anpasst, — das ist eine
Haushülfe.
14
I. Von der Tugend.
1 ..Die guten Eigenschaften einer Hausfrau sind: Sorge für die Büsser, Gastfreund-
lichkeit. Milde gegen Arme u. s. w. Die guten Werke sind: die zum Hauswesen nöthi-
gen Dinge versehen und in Acht nehmen. Geschicklichkeit in dem Kochwesen, wolil-
thun u. s. w.“ (p.)
52. W ird bei einer Hausfrau die häussliche Trefflichkeit
nicht getroffen, so mag an einem Hauswesen noch so viel
Treffliches sein, — es ist nichtig.
53. V as besitzt man nicht, wenn die Hausfrau herrlich
ist; wo nicht, was besitzt man?
54. Was giebt es Grossherrlicheres als ein Weib, —
kann sie der Keuschheit Kraft gewinnen.
55. Es regnet1, wenn „es regne“! Die spricht, die,
nicht die Gottheit, — nein, den Gemahl anbetend, sich vom
Lager hebt2.
i D. i. ..Die Gottheit selbst begiebt sich einem solchen Weibe zu Diensten.4* (P. >
— Dem Sprüchwort zufolge bringen gerechte Könige, fromme Brahminen und treuerge-
bene Frauen einem Lande den Segen häufigen Regens.
- ..So sagt er. weil die Zeit, wo das Gemüth sich zur Anbetung der Gottheit schickt,
die Zeit ist, wo man vom Schlafe aufsteht.*4 (P.)
56. Das ist eine Frau, die unermlidet sich hütet, für ih-
ren Herrn sorgt, und den hehren Kuf hütet.
57. Was nützt die Hut, wo der Verschluss hütet? Die
Hut, wo die Tugend der Frau hütet, ist die Hauptsache.
58. Eine Frau, wenn sie erlangt den, „der sie erlangt“,
wird in der Götterwelt zu grosser Ehre gelangen.
Soll vielleicht heissen: Eine Frau, die sich einen Mann erringt, und damit den
Grund zu dem so verdienstlichen Hausleben legt, wird etc. etc.**; obgleich die Commen-
tare durch ein ganz willkürliches Einschiebsel folgenden Sinn herausbringen: Wenn
eine Frau es erlangt, den, der sie zur Ehe erlangt hat, (zu ehren), so etc. etc.
59. Die können nicht vor ihren Tadlern hehr imd hoch
wie der Leu einhergehn, die nicht ein lobliebendes Haus-
weib haben.
Die Commentare lassen purin tu für purin ta stehen und nehmen il für illäl. Will man
das nicht, so heisst der Schluss : ,, die nicht lobliebend einem Hauswesen vorstehn und
also auch nicht Frau und Kinder in Schranken halten)44 ; diese Fassung würde dann auf
den folgenden Vers ganz wohl überleiten.
60. Der Hausfrau Herrlichkeit ist wie ein Heilsspruch ;
wie ein schöner Schmuck wackrer Kinder Segen.
Dieser Vers leitet auf das folgende Kapitel über.
7. Erzeugung von Kindern.
15
7.
ERZEUGUNG VON KINDERN.
„Unter den drei Pflichten, welche von den drei Zweigeborneu
(Schüler, Hausvater und Waldsiedler) zu lösen sind, kann die , Pflicht
gegen die Weisen1 nur durch wissenschaftliches Studium, die , Pflicht
gegen die Götter1 nur durch Opfer, die , Pflicht gegen die Manen4 nur
durch Kindererzeugung gelöst werden; so handelt denn dieses Capitel
von der Erzeugung guter Kinder zur Erfüllung dieser Pflicht.“ (P.)
61. Unter den Segnungen keinen andern Segen als den
an Kindern, die alles Wissenswerthe wissen ', weiss ich.
l P. findet in diesem Zusatz eine ausschliessliche Beziehung auf Knaben.
62. Der sieben Geburten Trübsale treffen nicht, ist
man mit tadellosen tüchtigen Kindern gesegnet. .
Die guten Werke der Kinder kommen den Aeltern zugute und helfen so die Schuld
derselben tilgen , so dass sie nun nicht mehr in einer der ,, sieben Geburten“ oder We-
sensgattungen wiedergeboren zu werden brauchen. Die sieben Wesensgattungen Sind:
1) Götter, 2) Menschen, 3) vierfiissige Thiere, 4) Vögel, 5) kriechendes Gewürm,
6) Wasserthiere , 7) Bewegungsloses. Diese sieben ,, Geburten“ (Genera) zerfallen iu
84 Lak ..Entstehungsarten“ (Species): 1) 14; 2) 9; 3) 10; 4) 10; 5) 11; 6) 10; 7) 20.
63. Unsere Kinder nennen wir unser Eigenthum, denn
ihr Eigenthum 1 kommt uns durch ihr Thun gegen uns zugut.
1 „Nicht den eigenen Reichthum, sondern die Kinder nennt er Reichthum; denn
wenn man stirbt, so wird man von jenem getrennt, diese aber lassen uns jenen und ihren
Reichthum (durch Verrichtung frommer Werke mittelst desselben) zukoramen.“ (R.)
Man kann auch übersetzen: „ Unsere Kinder nennen wir unser Eigenthum , denn
was ihnen eigen ist. kommt durch unser eigenes Thun“. (Nach dem Volksglauben, dass
gute Kinder der Lohn für gute, böse Kinder die Strafe für böse Thaten sind.) So Ellis
und Beschi.
64. Viel süsspr als Nectar schmeckt der von Kindes
Händchen handthierte Reis.
65. Wonne dem Busen ist’s, seines Kindes Körper zu
berühren; dem Ohr ist’s Wonne, sein Wort zu hören.
66. „Süss ist die Flöte, süss die Laute“. So sagt, wer
nie vernahm seines Kindleins Lallen.
67. Die vom Vater dem Sohn zu erweisende Wohlthat
ist, dahin zu wirken dass er in der Versammlung1 Vorsitze.
1 Der Gelehrten.
16
L Von der Tugend.
68. Dass die Söhne weiser als sie selber werden, ist al-
len in der weiten Welt wurzelnden Wesen süss.
So schon R. Offenbar falsch P. : „Wenn die Söhne weiser werden als die Aeltern,
so ist das den andern Weisen anf Erden noch angenehmer , als den eigenen Aeltern.“
69. Höher, denn da sie ihn gebar, hebt sich das Herz
der Mutter, die ihren Sohn hörte 1 hochherrlieh nennen.
1 P. findet in diesem ..hören** den Character des Weibes, das selbst zu urtheilen
nicht im Stande sei . angedeutet.
70. Der dem Vater vom Sohn zu leistende Lohn ist die
Red im Volk: „Wie muss doch Dieses Vater sich ab-
kasteit 1 haben! “
1 Man erinnere sich, dass sehr vortreffliche Söhne als die beste Erdengabe anf dem
Wege herber Kasteiung erlangt werden.
8.
LIEBE.
„ Das ist zu Weib, Söhnen und sonstigen Verwandten Xeigung hegen.
Diess Capitel ist erforderlich , weil eine liebliche Verrichtung der
Haustugend, so wie ein huldvolles Benehmen gegen Andere die Frucht
solcher Liebe ist.“ (P.)
71. Giebt’s denn auch für die Lieb’ ein schliessendes
Schloss ? E in Zährlein des Zärtlichen wird sie ruchbar machen1.
1 Die innere Neigung offenbarend.
72. Der Liebelose eignet Alles sich zu; der Liebevolle
eignet selbst sein Gebein Andern zu.
R. (nach P.) führt als Beispiel an den König Sipi, der zur Erhaltung einer Taube,
die zu ihm seine Zuflucht genommen, sich das Fleisch vom Leibe riss, es darwog und als
es nicht zulangte, sich selbst auf die Wage stellte“ und V. Fügt noch als zweites Beispiel
hinzu „den Rischi TatTsi, der seinen Rückenknochen dem Indra gab.“
73. Ein mit Liebe gepaarter Wandel, sagt man, ist die
Einigung, da mit dem Gebein sich die köstliche Seele paart.
„Die köstliche Seele“ bezeichnet die Menschenseele, im Gegensatz zu den Thier-
seelen etc. (R.) P. findet in dem Ganzen folgenden Sinn: Der Zweck der Menschen-
geburt ist ein liebevoller Wandel. R. : Dass Einer als Mensch und nicht als Thier ge-
boren wird, ist eine Folge liebevollen Benehmens iin einer frühem Geburt). — Ariel
übersetzt: Elle est, dit on, par sa nature une avec l'amour — la Sympathie harmonieuse
de Tarne humaine avec le corps. — Sollte vielleicht der Sinn der sein : Nur die Liebe ver-
leiht wahres Leben: wo Liebe sich mit dem Wandel paart, da ist’s , als wenn sich die
Seele mit dem Körper paart.
74. Liebe erzeugt Verlangen1, dieses aber der Freund-
schaft imausforschliche 2 Herrlichkeit.
8. Liebe.
17
1 In Anderen.
2 Sehr materiell P. : „ Unausforschlich nennt er sie insofern als, wenn man Alle zu
Freunden hat, man Alles erlangen kann.“
75. Einen in Liebe gelebten Wandel nennen die Weisen
eine Herrlichkeit, zu haben, nachdem man hienieden in
Wonne gewebt bat.
Der Sinn ist: ,,Ein liebevoller häuslicher Wandel schafft hienieden Wonne und
droben Herrlichkeit.“ — (,,Sie hat die Verheissung dieses und des zukünftigen Lebens.“)
— ..Die Freude der obern Welt, welche die Selbstkasteier erlangen werden , kann man,
auch die Freude in dieser Welt geniessend , nur so erlangen , dass man Liebe übt.“ (P.)
76. Unwissende nennen die Lieb’ eine Gehülfin der
Lindigkeit; sie ist auch eine Helferin dem Zorn '.
i Indem sie den aufsteigenden Zorn bald beseitigt. So P. und R. Besser die von
V. anheimgegebene Fassung: indem sie auch die Fehler von denen, die sie liebt , zu
strafen pflegt.
77. Wie die Sonne knochenlose1 (Geschöpfe), so sengt
die (göttliche) Gerechtigkeit2 liebelose (Seelen).
1 Die Ameisen z. B. können die Glut der tropischen Sonne nicht vertragen.
2 Ar am = Arakkatavul (Darma devatä, „Gerechtigkeits-Gottheit“), — jenes unbe-
stimmte Abstractum, das in der Hindu - Mythologie die griechische Nemesis vertritt. —
„Einige sagen, dass für die Uebelthuer aram der Todesgott ist“. SoP.; dazu R. : „Dar-
ma (die göttliche Gerechtigkeit) erscheint den Sündern als Yama (Todesgott).“ Der
Todesgott heisst ja auch Darmaräg'a („ Gerechtigkeits -König“).
78. Das Leben einer liebeleeren Seele ist wie eines dür-
ren Baumes Spriessen auf Steinboden.
Soll heissen: eine solche Seele lebt eigentlich nicht. Man bemerke die Doppel-
unmöglichkeit: ein verdorrter Baum — auf Steinboden.
79. W as helfen alle äussern Glieder, wenn des Leibes
innres Glied, die Liebe, fehlt?
P. versteht den Vers so: „Was helfen alle äussern Glieder (im Sinne von Mit-
tel zur Führung des Hauslebens als: Land, Schätze, Diener), wenn die Liebe fehlt,
jenes im Innern des Körpers befindliche Glied (Organ), weil, wenn man uruppu
als Glied (wie Auge etc.) nehme, dann alle Beziehung auf das .Hausleben* (davon doch
hier die Rede) wegfalle.“ R. sucht diese Schwierigkeit dadurch zu heben, dass er
den Vers so fasst: Wie die äussern Glieder (Hand, Fuss) nichts helfen ohne die innern
(Leber, Eingeweide), so hilft Reichthum ohne Liebe zu einer ordentlichen Führung des
Hauslebens nicht. (Die Liebe ist das innerste und mithin unentbehrlichste Glied im
Leibe des Hauswesens.) — Es bedarf jedoch dieser Künsteleien nicht; der folgende
Vers rechtfertigt die ganz natürliche Fassung, die übrigens P. selbst mit anführt.
80. Liebes- Ausfluss bildet den Lebensquell 1 ; die Leiber
der Liebeleeren sind Haut- überkleidete Knochen.
1 Oü 1‘amour fait son chemin, est le sidge (Tune äme. (Ariel.)
III.
2
18
I. Von iler Tilgend.
9.
GASTFREUNDSCHAFT.
„Unter den , fünf Ehrungen 4 (der Manen, der Gottheit, der Gäste, der
Verwandten, des eignen Selbst) geschehen die beiden erstem so, dass
man an unsichtbare Personen denkt, die beiden letztem aber sind nicht
Spenden an Fremde; daher wird die in der Mitte stehende , Gast-
freundschaft“ ausgezeichnet und an die Spitze der Haustugenden ge-
stellt. Da sie nur, wenn Zwei sich in unwandelbarer Liebe einen, ge-
übt werden kann, so folgt sic hier auf die , Liebe4.“ (P.)
81. Alles Beharren im Haus1 und Warten des Haushalts
hat zuin Zweck Gast-Pfleg’ und Almosen- Spende.
1 Der Gegensatz ist hier der Stand des Allentsagers und des Waldsiedlers (?). Ver-
gleiche Vers 41.
82. Während draussen weilt der Gast, drinnen allein
speisen — und wär’s Ambrosia — ist nicht begehrenswerth.
83. Nie verkümmert und verkommt das Haus Dess, der
die kommenden Gäste gern stets pflegt.
84. In dem Hause Dess, der fröhlicher Miene des guten
Gastes pflegt, herbergt mit fröhlichem Herzen die Göttin des
Glücks.
85. Verlangt denn wohl Streuung auch nur des Samens1
der Acker Dess, der erst den Gast versorgt und dann den
Rest verzehrt?
i ,, Er wird von selbst spriessen“. (P.) — P. fasst vitturn Rai als viteiyujn Rutalum.
— „Samen und Streuung“. R. nimmt es als „Samenstreuen“ und findet in „um“ an
vittu die Andeutung des Gegensatzes („geschweige denn Unkraut ausreissen“). —
Der Gegensatz stellt sich wohl aber am einfachsten so: „geschweige denn Streuung von
Dünger“; denn „um“ sitzt ja an vittu und nicht an Rai.
86. Wer, den gekommenen Gast noch pflegend, nach
dem kommenden schon schaut, ist ein willkommener Gast
den Göttern.
87. Der Spende1 Segen lässt sich nicht messen; das
Maass des Gastes2 ist sein Maass.
i Der gastfreundlichen Spende. — Man zählt 5 Spenden oder Opfer: Heiliges Stu-
dium für das Brahma, Feueropfer für die Götter, Oblationen von Speise an alle leben-
den Wesen, Wasserspenden an die Manen , Almosen an Bettler. Die letzte Spende
ist hier gemeint.
10. Liebliche Rede.
19
2,, Sei die Spende auch noch so klein, wenn sie in eine würdige Hand kommt,
so macht diese sie (sc. ihren Werth) so gross, dass daneben der Himmel klein wird.“ (P.)
R. schlägt — offenbar minder glücklich — auch folgende Fassung vor: „Die Be-
schaffenheit des Gastes und des Gastmahls zugleich (viruntu kann Gast und Gastmahl
heissen) giebt den Maassstab für das Verdienst der Spende.“
88. „Mühsam hegten wir1 und sind nun ohne Halt.“
So werden Die sprechen, die nicht Gäste hegend der Spende
(Segen) holten2.
1 Unser Vermögen.
2 Die nicht durch Verwendung zu gastfreundschaftlichen Zwecken ihr vergänglich
Gut gleichsam weihten.
89. Armuth mitten im Reichthum ist die Thorheit, die
der Gastpflege nicht pflegt. Sie findet sich (nur) bei Thoren l.
1 Dieser Zusatz ist nicht tautologisch, denn es giebt Thorheiten , in welche auch
Weise zuweilen verfallen.
90. Wenn man dran riecht, welkt die Anitscha - Blume ;
das Gastmahl 1 welkt, wenn man finster dreinschaut.
i P. fasst viruntu als Gast (zarter als die Anitscha-Blume, die nur dahinwelkt, wenn
man sie wirklich berührt, während das Angesicht des Gastes schon bei blossem un-
freundlichen Blick des Gastgebers aus der Ferne dahinwelke.) R. bezieht das „finstere
Dreinschauen“ auf den Gast, und schlägt folgende Fassung vor : Wenn an der gastfreund-
lichen Bewirthung auch nur ein Weniges fehlt, so wird der fröhlich gekommene Gast un-
willig, und dadurch verliert dann die Gastfreundschaft an Verdienstlichkeit. Danach soll
denn viruntu hier ein dreifaches äkuper („Wandelwort“) sein: Gastfreund — Gastmahl
— Verdienstlichkeit in Folge des letztem.
io.
LIEBLICHE REDE.
„D. i. freundliche Worte, die des Herzens Freude offenbaren, reden.
Da auch diess (neben , freundlichem Gesicht* und , Wohlthun1) den
Gastpflegern unerlässlich ist, so folgt das Kapitel von der , lieblichen
Rede* auf das von ,der Gastfreundschaft*.“ (P.)
91. Liebliche Rede ist die mit Lindigkeit gemischte
falschlose Red’ aus dem Munde der Schauer des „schönen
Guts“1.
i Summum bonum. „Es heisst , schönes Gut1, weil in deren Geiste, die die
Wahrheit erkannt haben, Alles schön und gut wird.“ (P.) — R. bemerkt zu „der
Schauer etc. “ : Der Verfasser drückt sich so aus, um anzuzeigen, dass, wenn auch die
Rede Derer, die ungebildet sind, nichts von Tugend wissen, und befleckten Geistes
sind, mit Milde gepaart und ohne Falsch ist, man diese doch nicht eine „liebliche Rede“
nennen könne.
2*
20
1. Von der Tugend.
92. Besser als heitern Herzens spenden ist’s, wenn man
heitern Angesichts süsse Rede zu führen im Stand’ ist.
„Denn obgleich ein heitern Angesichts geredetes süsses Wort nicht wie die Spende
von den Mitteln, sondern von der eignen Person abhängt, so ist es doch eben nur Denen,
die wahrhaft barmherzig sind, natürlich.“ (P.) — Kann auch heissen : „Eben so gut als
heitern Herzens etc.“ Der Sinn ist dann : Man braucht nicht reich zu sein , um wohlzu-
thun ; es kommt nur auf den guten Willen an ; die freundliche Erklärung, dass man nicht
helfen könne, ist eben so gut als eine Spende.
93. Heitern Angesichts lieh darein schauend , von Her-
zen liebe Rede führen, das ist Tugend1.
1 „Sie liegt also nicht im Spenden.“ (P.)
94. Lästiger Mangel wird nicht Dem, der lustreiche
Worte mit Jedem redet.
95. Demuthsvoll süsse Rede führen ist Schmuck dem
Menschen; Fremdes 1 nicht.
1 Aeusserer Schmuck.
96. Untugend weicht, Tugend wächst, wenn man, Gutes
sinnend, Süsses sagt.
97. Ein Nutzen stiftendes, von Lindigkeit nicht lassen-
des Wort wird Tugend stiften und Heil fruchten.
98. Süsse Rede, von Gemeinheit fern, schafft Süssigkeit
fürs andere 1 wie für dieses Leben.
1 D. h. für die nächste Existenz (im Sinne der Seelenwanderung).
99. Wie sollte, wer da sieht, dass süsse Rede Süsses
zeugt, sich in harter Red’ ergehn?
100. Bittres reden, wenn Süsses vorliegt, ist wie saure
Frucht essen, wenn reife vorhanden ist.
11.
ANERKENNUNG DER WOHLTHAT.
„Dieses Kapitel folgt auf das vorhergehende, weil Undankbarkeit eine
unendliche Schuld ist für Diejenigen, die, liebliche Rede führend, in
der Haustugend fehllos wandeln.“ (P.)
101. Für die ohne Gegenthun gethane Wohlthat können
schwerlich genugthun Erd’ und Himmel.
11. Anerkennung der Wohlthat.
21
102. Die zur rechten Zeit gethane Wohlthat, sei sie auch
noch so winzig, ist weit grösser als die Welt.
103. Erwägt man den Werth der ohn’ Erwägung des
Vortheils gethanen Wohlthat, — ihre Güt’ ist grösser als das
Weltmeer.
104. Wenn Einer eine Wohlthat auch nur vom Maass
eines Hirsekorns thut, — die das Verdienst 1 kennen, werden
sie im Maasse der Palmyra selm.
1 D. i. das Verdienst einer solchen dankbaren Anschauungsweise (P.) — oder
aber der geringsten Wohlthätigkeit.
105. Die Gab’ ist nicht der Gabe Maass ; sie hat ihr
Maass in des Empfängers Hochherzigkeit.
„Die (Gegen-) Gabe (= die Dankbarkeit) hat ihr Maass nicht an der (zuvorempfan-
genen) Wohlthat nach Motiv (siehe V. 91), Umfang und Zeit (s. V. 92), sondern an des
Empfängers Tugend.“ (P.) Die Dankbarkeit glaubt sich nicht mit einem Equivalent
abfinden zu können; je hochherziger Jemand ist, je höher schlägt er eine empfangene
Wohlthat an.
106. Vei’giss nicht das Wohlwollen der Fleckenlosen!
Verlass nicht die Freundschaft Derer, die in der Trübsal dich
stützend standen.
P. stellt die beiden Sätze um — wahrscheinlich im Sinne der Steigerung. (Er
scheint nämlich in dem zweiten Satze ein irdisches Motiv, in dem ersten aber ein über-
irdisches zu sehen; die „Freundschaft Derer , die etc.“... frommt bloss diesem , das
„Wohlwollen der Fleckenlosen“ aber zugleich dem andern Leben.)
107. Der Freundschaft Dess, der die unserm Aug’ ent-
fallende Thräne trocknete, gedenkt man durch die sieben-
geartete „Sieben- Geburt “l hin.
1 Vergl. Anm. zu Vers 62.
108. Gutes vergessen ist nicht gut; nicht- Gutes auf der
Stelle vergessen gut.
109. Thät’ er auch bis zum Todtschlag Bittres, — es
schwindet, schwebt uns Ein Gutes vor, das er gethan.
110. Selbst für die, so alles Gut’ in sich tödteten, ist
Heil, — kein Heil für den Menschen, der die ihm erzeigte
Gutthat1 tödtet.
1 In Undank.
22
1. Von der Tagend.
12.
GLEICHMAASS.
„Das heisst gegen , Feinde, Gleichgültige und Freunde* ohne von
der Tugend zu weichen, gleichmässig handeln Dieses Kapitel folgt
auf das vorhergehende, um den Gedanken einzuschärfen: , Denen
gegenüber, die uns Gutes gethan, verlieren wir gar bald das Gleicli-
maass, wenn wir an das gethane Gute denken, es soll aber auch ihnen
gegenüber gewahrt werden.*“ (P.)
111. Schön ist das Eine — ein „treffend Benehmen“,
wenn man in jedem Verhältniss das rechte Verhalten trifft.
112. Des Rechtschaffenen Vermögen ist nicht zu ver-
wüsten, ■ — nachhaltig (selbst) für die Nachkommen.
1 13. Sollt’ er auch noch so Gutes geben — den Vortheil,
der wider Billigkeit zu Theil dir wird, lass eilend fahren.
114. Ob Einer wacker oder nicht wacker, sieht man an
Jedes Nachkommenschaft1.
lindem den Gerechten eine Nachkommenschaft erwächst , den Ungerechten aber
nicht. (P.)
115. Unheil und Heil kommt1 nicht für nichts. Der
Seelen Gleichmaass nicht verlieren aber ist der Vollkommnen
Schmuck.
1 Beides entspringt aus der ,, Alt- That“, d. i. aus den in einer früheren Existenz
verrichteten bösen und guten Handlungen. — Man stellt die Unabwendbarkeit der ver-
dienten Schickung unter folgendem Gleichniss dar: „Wenn man die Mutter auch unter
viele Kühe versteckt, das Kalb sucht und findet sie doch; so sucht und findet auch die
, Alt- That ‘ sicherlich ihren Thäter.“ (Vergl. Nälafi, I, 11, 1.)
116. Wenn dein Geist, aus dem Gleichmaass gleitend,
mit Unrecht umgeht, so wisse, das heisst: „Verderben
werd’ ich“1.
i So nimm das als ein Vorzeichen des nahenden Verderbens. (P.)
117. Das Elend Dess, der, voll Ebenmaasses, im Guten
ausharrt, wird nicht als Weh von der Welt1 gerechnet.
i ,,Die Welt“ ist im Tarnul. der Inbegriff der tonangebenden Weisen.
118. Wie die Wage, die, wenn sie das Gleichmaass er-
langt hat, wohl abwägt, — ruhig nach keiner Seite neigen ist
der Vollkommnen Zier.
13. Selbstzucht.
23
P. macht darauf aufmerksam, dass die gewählten Zeitwörter sämmtlich sowohl auf
den Vergleich , als auf das Verglichne passen. Er sieht in der Erlangung des Gleich-
maases das gleiche Verhalten gegen Freund, Feind und Gleichgültige“, in dem Ab-
wägen die regelrechte Prüfung des Mitgetheilten, und in dem „nach keiner Seite neigen“
die Geltendmachung desselben gegen Jedermann.
119. Freiheit von Rede - Krümmen ist rechte Gradheit,
dafern man zur unverrückten Freiheit (auch) von Geistes-
Krümmen gelangt.
Ein rechtschaffen klingendes Wort ist nichts ohne die entsprechende Gesinnung.
120. Das ist die rechte Geschäftlichkeit der Geschäfts-
leute, wenn sie selbst Fremdes besorgen und beschaffen wie
Eigenes.
Dass sie nicht zu viel nehmen und zu wenig geben. (P.) Von dieser Seite her
passt der Vers in das Kapitel vom ,, Gleichmaass “.
13.
SELBSTZUCHT.
„Das ist Leib, Mund und Geist von bösen Wegen fern halten. Dieses
Kapitel folgt auf das vorige, dieweil Selbstbeherrschung dem Gleich-
massvollen eignet, der, wie des Andren Fehler, seine eignen sieht.“ (P.)
121. Selbstbeherrschung führt zu den Unsterblichen, in
dichtes Dunkel 1 stürzt Nichtbeherrschung.
i ,,Dies ist eine Hölleneigenschaft.“ (P.)
122. Wie einen Schatz schirme die Selbst -Bändigung!
Ein höheres Heil giebt’s nicht für die Seele.
123. Wenn du, (heiliger) Kunde kundig, dich regelrecht
zu zügeln weisst, — so wird solche Bändigung offenkundig
und bringt dir Ruhm.
P.: „Wenn du weisst, dass die Selbstbeherrschung die (wahre) Weisheit ist etc.“
Vielmehr: Wenn du die Theorie der Weisen von der Zügelung der Sinne wohl
kennst etc.
124. Die Erscheinung Dess, der, auf seinem Stand stets
unverrückt, sich selbst zügelt, ist hochhehrer als ein Berg.
125. Beugung beut Allen Heil; bei den Reichen 1 insbe-
sondere gereicht sie zum Reichthum.
1 „An Wissen. Rang. Gut, Tapferkeit etc.“ (P.)
24
I. Von der Tugend.
126. Wenn man wie die Schildkröte1 die Fünf einzieht
in Einem Sein, so ist jedes Sein2 in Sicherheit.
1 Die Schildkröte zieht ihre Glieder ein, um sich vor Gefahr zu schützen, der Weise
seine Sinne, um sich vor Sünde zu wahren. (P.)
2 Eigentlich „die Siebengebnrt “ — d. i. der ganze Complex der Existenz. (Ver-
gleiche Vers 62.)
127. Mag man auch Alles nicht zügeln, man zügle doch
die Zunge; wo nicht — ausgleitet das Wort und man leidet
Weh.
128. Wo bösen Wortes Frucht — und wär’s nur eine —
wächst1, wird gleich das Gute2 Böses.
1 Oder: Wo — und wär's auch nur Einen — bösen Wortes Frucht wächst etc.
2 .Alle übrigen Tugenden. (P.)
129. Die von Feuers - Gluth gebrannte Wunde heilt
innen 1 aus ; nie heilt die von der Zunge gebrannte Narb’ ab.
1 „Wenn sie auch am Leibe sichtbar bleibt, innen im Herzen heilt sie lindem man
sie leicht vergiebt).“ (P.)
130. Wer dem Zorne wehrt und weislich Selbstzucht
übt, nach Dess Gelegenheit1 schaut die Tugend aus2, auf
seinen Weg sich schleichend.
t Die Commentare verstehen darunter die darmadevatä, die personificirte „Ge-
rechtigkeit“. Vergl. Anm. 2 zu Vers 77.
2 Oder auch: „Dessen Schönheit schauet die Tugend an. auf seinen Weg sich
schleichend.“ (Sewiheisstnämlich sowohl Schönheit als Gelegenheit.) Vergl. aber V. 179
und V. 694.
14.
SITTE.
„Dieselbe besteht darin, dass man sieb nach den für die verschiedenen
Kasten und Lebensstadien niedergelegten Ordnungen richtet.“ (P.)
131. Sitte schenkt Schätzung, drum schätze Sitte mehr
als das Leben.
132. Liebend behutsam bewahre die Sitte; wenn Einer
auch noch so weise, behutsam und wacker wär\ sie kann ihn
fördern.
133. Sitte ist Adel, Unsitte Geburts- Gemeinheit.
15. Nichtbegehren eines fremden Weibes.
25
Nach indischen Begriffen ist auch die niedrigste Kaste ehrenhaft, dafern man sich
der damit verbundenen Ordnung gewissenhaft fügt: Ordnung nämlich ist das höchste
Princip indischer Gesetzgebung. „Besser ist's , die eigne Pflicht mangelhaft, als die
fremde vollkommen zu erfüllen.“ Manu 10, 97; Bagavadgltä 3, 35; 18, 47.
134. Wenn er auch vergässe, er kann’s wieder lernen,
der Gottesgelehrte; verfehlt er die Sitte,. so verfällt sein Adel.
135. Wie der Wohlstand bei Neidischen — nichtig ist
alle Grösse bei Sittelosen.
„Wie der Missgünstige für seine Angehörigen kein Vermögen hat, so der Sitte-
lose kein Ansehn bei ihnen.“ (R.)
136. Von der Sitte weichen die Weisen nie, — der Un-
sitte Schmach bedenkend.
137. Sittigkeit trägt Ehr’ ein, Unsittigkeit trägt nicht zu
tragende Schand’ ein.
138. Gute Sitte ist Same des Guten, schlechte Sitte
schafft ewig Schmerzen.
139. Auch nur aus Achtlosigkeit Unachtbares mit dem
Mund 1 zu sagen , ist dem Sittigen unmöglich.
1 P. findet in diesem Zusatz die gründliche Gewöhnung angedeutet (die sich selbst
auf die Organe mit erstreckt).
140. Die nicht in Einklang mit der Welt 1 wandeln lernen,
sind, noch so viel lernend, ganz Ungelehrte.
1 Siehe Anm. zu Vers 117.
Die heil. Bücher reichen nicht aus: Vieles wird darin geboten, was doch zu der
gegebenen Zeit nicht passt, Vieles aber auch nicht erwähnt, was doch geübt werden
muss. Daher muss das Muster der Weisen die Vorschriften der h. Bücher ergänzen. (P.)
15.
NICHTBEGEHREN EINES FREMDEN WEIBES.
„Dieses Kapitel folgt auf das Kapitel von der , Sitte“, weil das Nicht-
begehren eines fremden Weibes nur bei solchen, denen Sitte eignet,
gefunden wird.“ (P.)
141. Die Thorheit, die nach Der gelüstet, die einem An-
dern angehört, ist nicht Derer, die sich auf „Tugend“ und
„Gut“ verstehn1.
1 D. i. bei Denen, die nicht bloss einseitig die Lehre von der „Lust“, als dem
26
I. Von der Tugend.
niedersten Strebeziele, sondern auch die Lehre von der ,, Tugend“ und vom „Gut“, als
den beiden höltern Strebezielen, kennen. (P.)
142. Unter Allen, die an der Tugend Thür stehn1,
giebt’s keine grossem Thoren, als die so an des Nächsten
Thür stehn2.
1 D. i. ausserhalb des Bereichs der Tugendhaftigkeit.
2 Mit ehebrecherischen Absichten.
143. Von einem Hingeschiedenen nicht verschieden ist,
wer an eines fest trauenden Freundes Frau übel timt.
,, Denn er erlangt weder Tugend , noch Reichthum , noch Lust.“ (P.)
144. Wie gross sie auch seien, was ist’s, wenn sie, ohne
Verstand gross wie ein Hirsekorn, zu eines Fremden Frau
schleichen.
145. Wer mit dem Gedanken „S’ist ein Geringes!“ in
ein Haus einbricht, wird ewig nicht schwindende Schande
holen.
146. Hass, Sünde, Furcht, Schmach — diese Vier wei-
chen nicht — von Dem, der in ein Haus einbricht.
147. Wer die Weiblichkeit Der, die einem Andern na-
türlich ist, nicht begehrt, der heisst ein Hausherr, dem die
Tugend natürlich ist.
148. Die hohe 1 Männlichkeit, die nicht nach fremden
Frauen schaut, ist der Vollkommnen Tugend, — und auch
ihr voller Adel.
i „So sagt er, weil selbst Denen, die eine äussere Feinde unterjochende Männlich-
keit besitzen, doch die Unterjochung des innern Feindes, der Lust, schwer fällt.“ (P.)
149. Wer sind auf dieser Erde mit gewaltigem Gewässer
des Segens Eigner? Die nicht anrühren die Schulter Der,
die einem Andern eignet.
150. Auch wenn man, sich Tugend nicht aneignend, Un-
gehöriges thäte, — löblich ist (schon), nicht lüstern sein nach
der Weiblichkeit der einem Andern Angeeigneten.
16. Geduld.
27
IG.
GEDULD.
„Weil man auch Die tragen soll, die sich Ungehöriges lassen zu
Schulden kommen, so folgt dieses Kapitel auf das vorhergehende.“
(Vergl. Vers 150.) (P.)
151. Der Erde gleich, die ihren Pflüger trägt, seinen
Schmäher tragen, ist eine Haupttugend.
152. Stets 1 trag die Uebertretung; sie vergessen ist noch
besser.
1 Auch wenn du dich zu rächen im Stande bist. (P.)
153. Gäste abweisen ist der Armuth Armuth, Thoren
tragen der Stärke Stärke.
154. Will man der Würde nicht verlustig gehn, so muss
man Geduld wahrend wandeln.
155. Die Rachsüchtigen wirft man als nichts weg; die
Langmüthigen hebt man wie Gold auf.
156. Die Lust der Rachsüchtigen währt einen Tag, das
Lob der Langmüthigen bis zum Vergehn*.
1 Des eignen Selbst — oder der Welt, wie die Commentatorcn wollen.
157. Auch wenn Andre gesetzlos wider dich handeln,
fein ist’s, dir das Leid 1 leid sein lassend, tugendlos nicht zu
handeln.
1 Das den Uebertreter als Strafe sicherlich ereilen wird. (P.)
158. Die in Uebermuth Uebergriffe thun, soll man durch
seinen sanften Muth besiegen.
159. Heilig wie ein Biisser ist, wer bittre Red’ aus der
Ueberschreitenden Mund verschmerzt.
160. Ja, gross sind, die fastend Schmerz erleiden —
nach Denen, die das von Andern gesprochene bittre Wort
verschmerzen.
„ Die Letztem sind grösser, weil sie, als Nichtbüsser, mit der zweifachen Leiden-
schaft (Hass und Liebe), die cs zur Selbstkasteiung nicht kommen lässt, behaftet, (gei-
stig) sich selbst kasteien.“ (P.) — ,. Bei den Bussern nutzt sich die Thätigkeit der Anta:
28
I. Von dev Tugend.
karana’s der Unwissenheit (d. i. der geistigen Vermögen, deren Thätigkeit — im ISimie
des Vedanta — die Unwissenheit erzeugt, und die daher zu unterdrücken sind; vergleiche
Baud I, Seite 87) allmählig ab, und es wird ihnen daher die Uebernahme von Schmerzen
leicht; bei denen aber, die im Hausstande leben, bleiben, eben weil sie nicht fasten,
jene geistigen Vermögen in voller Thätigkeit, und weil sie nun ohne das (vermittelnde)
Agens (des Fastens) Schmerzen zu übernehmen haben, so fällt es ihnen schwer, und
daher eben ist es für sie verdienstlicher.“ (P.)
17.
NEIDLOSIGKEIT.
„Dieses folgt auf die , Geduld1, weil Neid dereu Widerspiel ist*.“ (P.)
161. Mau halte des Herzens neidreine Art für feine Art !
162. Unter allen zu erlangenden Schätzen ist keiner wie
der, wenn man zu Neidlosigkeit gegen Alle gelangt.
163. Wer, um Andrer Glück unbesorgt, neidet, von dem
heisst es: „Er mag nicht der Tugend Glück“1.
i Das Glück, das in Folge der Tugend kommt. Die Commentatoren nehmen aran
äkkam als Dvandva: Tugend und Glück; und beziehen die Tugend auf jenes, das
Glück auf dieses Leben.
164. Kundig des aus Uebertretung stammenden Leid-
wesens, tliun (die Weisen) nie Ungehöriges aus Neidwesen.
165. Für die Neidischen ist ihr Neid genug1; er bringt,
auch wenn die Feinde fehlen2, Verderben.
1 Zu ihrem Verderben.
2 In ihren Angriffen.
166. Wer eine Spende neidet, dess Verwandte (selbst)
gehn kleiderbloss und nahrungslos zugrund.
167. Den Neidischen schaut scheel die Glücksgöttin an
und führt statt ihrer die ältere Schwester 1 ein.
1 Die Mütevi ,, ältere Göttin“. (Die Unglücks - Göttin.)
168. Der unvergleichliche Schurke „Neid“ schlägt todt
das Glück und fördert zuletzt an den Feuer -Ort.
169. Des Neidherzigen Wohl und des Edelherzigen Weh
giebt zu denken.
Porumei = Tragen (Geduld) ; Po/ämei = Nichttragen (Neid).
1». Gierlosigkeit.
2!)
„Da Neid nicht Glück und edle Gesinnung nicht Verderben zuwege bringen kann,
so denken die Weisen bei einem solchen Falle: „Welches doch mag die frühere That
sein, die daran Schuld ist?*4 (P.)
170. Keine Neidherzigen, die vorwärts schritten! Keine
Neidlosen, die im Wachsthum litten !
18.
GIERLOSIGKEIT.
„Das ist der Zustand, da man sich fremden Eigenthums nicht gelüsten
lässt. ,Die Gierlosigkeit' folgt auf , die Neidlosigkeit', weil sich ge-
lüsten lassen eine Schuld ist, die auf des Nächsten Gut nicht bloss
scheel sieht, sondern es auch an sich zu reissen sucht.“ (P.)
171. Wer ungerecht nach schönen Gütern giert, dem
geht das Geschlecht zugrund — und’s schafft auch gleich
ihm Schaden.
172. Die sich der Unbill schämen, thun nicht um Vor-
theils willen Verwerfliches.
173. Die nach der „andern Lust“ recht lüstet, thun
nicht aus Gier nach „Klein -Lust“ Unrecht.
„Die Klein -Lust44 stellt der „Gross - Lust44 (hier „der andern Lust4*) entgegen.
Jene bezieht sich auf dieses, diese auf ein andres Dasein, beide aber hängen noch mit
den „fünf Sinnen44 (wozu nach den philosophischen Begriffen der Hindus die geistigen
Vermögen wesentlich mitgehören) zusammen. „Er sagt , Klein-Lust4, weil sie plötzlich
vergeht, indem sie aus der Sünde stammt.44 (P.) Die „Gross - Lust“ dauert eben länger,
ist aber, im Sinne der rechtgläubigen Philosophie, auf deren höchstem Standpunkt nach
vollendetem Geburtskreislauf der sich Freuende mit dem Gegenstand der Freude „im
Brahma“ für immer zusammenfällt, doch auch vergänglich.
174. Die über ihre Sinne sieghaften, der Kleinlichkeit
entrückten Seher lassen sich nie gelüsten sprechend: „Wir
haben nicht.“
„Sie werden sich s elb st im Mangel nicht gelüsten lassen“ (D.). — Oder: Sie ha-
ben nie Mangel. So P. (Vergl. Band I, Seite 113.)
175. Was hilft feines und weites Wissen, wenn man ge-
gen All’ aus Gier mit Ungebühr handelt.
176. Wer nach (Herzens-) Huld1 begierig, auf dem
(rechten) Pfade2 steht — er verdirbt, sobald er, nach Gut be-
gierig, mit Bösem schwanger geht.
30
I. Von der Tugend.
1 Drew : „( Gottes- ) Huld-1. Es ist hier aber wohl die persönliche huldvolle Gesinnung,
als die Bliithe der philosophischen Tugend, gemeint.
2 „Da, nur wenn die philosophische Einsicht auf dem Wege der Haustugend zur
Reife kommt, man die Busstugend iiben kann, so nennt er jene einen Pfad zu dieser
Busstugend.“ P.
177. Lüste nicht nach dem Gut, das die Gier giebt; de-
ren Frucht, wenn’s reift, ist schwerlich edel.
178. Was lässt die Wohlfahrt nicht zerrinnen? Auf des
Andren liebes Gut nicht sinnen.
179. Zu den Weisen, die, der Tugend kundig, nie ge-
lüstet, gesellt sich alsbald, der Gelegenheit kundig, die Glücks-
göttin.
180. Ruin gebiert’ s, wenn man bedachtlos giert; Triumph
gebiert die Geistes- Grösse des Nichtbegehrs.
19.
NICHT HINTERRÜCKS REDEN.
„Dies folgt auf , Neidlosigkeit1 und , Gierlosigkeit1, weil die Wort-
Sünde aus der Geistes- Sünde kommt.“ (P.)
181. Wenn Einer, von Tugend auch nicht einmal re-
dend, Untugendliches thäte, schön ist’s, wenn’s nur heisst:
Er redet nicht hinterrücks.
182. Schlimmer als die Tugend vernichten1 und Sünde
thun ist — lughaft lächeln und hinterrücks vernichten2.
1 Die Tugend ganz wegläugnen. (P.)
2 P. will den Vergleich als niranirei (, .Reihenstellung“) gefasst wissen, d.h. so dass
einerseits „die Tugend vernichten“ dem „hinterrücks vernichten“, andrerseits „Sünde
thun“ dem „ lughaft lächeln “ entsprechen.
183. Eher wird Sterben den von der Tugend1 ver-
sprochnen Gewinn verleihn, als ins Angesicht heuchelnd
und aftersprechend sein Leben führen.
i Von den Schriften, die davon handeln. fP.)
184. Spräche man auch angesichts rücksichtslos, so
spreche man doch nicht hinterrücks ein das „Nach“1 nicht
berücksichtigend Wort.
1 Die nachfolgende Schuld.
20. Nicht sinnlose Rede führen.
31
185. Dass Einer nicht aus innerstem Herzen von Tu-
gend redet, ergiebt sich aus der Gemeinheit, dass er hinter
dem Rücken redet.
186. Die eignen Fehler Dess, der des Fremden Fehler
kund macht, wird man gründlich ausspähen und kund machen.
R. schlägt vor, indem er palum nicht als Hiilfszeitwort des Passivums, sondern im
Sinne von „es ziemt sich , utfum aber im Sinne von nineikkum (Part. fut. von uWu, nicht
von u?) nimmt: „Wer von des Nächsten Schmach hinterrücks sprechen will, der sollte
erst dann sprechen, wenn er erkannt hat, dass die eigne Schmach (die eben in dem
Hinterrücksreden besteht), von der Art ist, dass sie (von den Weisen) bedacht wird.“
187. Die nicht mit erfreuender Rede Freundschaft 1 zu
machen wissen, werden mit entzweiender Rede (selbst)
Freunde sich entfremden.
i P. setzt erklärend zu : „ mit Fremden “.
188. Die (selbst) Nahstehender Schuld auszubreiten nei-
gen, was werden die gegen Fernstehende thun?
(189. Wohl in Ansehung der Tugend trägt der Boden
die Bürde Dess , der, wenn er des Nächsten Nacken sieht,
verkleinert.
„Obgleich es der Erde natürlich ist, alle Dinge zu tragen, so wird es ihr doch
schwer, diese Last zu tragen.“ (P.)
190. Sähe man, wie des Fremden Fehl, den eignen Fehl,
— gab’ es dann noch ein Uebel für die Menschenseele?
„Nein, denn dann würde die Sünde und mit ihr die Pein des Geburtskreislaufes
aufhören.“ (P.)
20.
NICHT SINNLOSE REDE FÜHREN.
„Das heisst nicht solche Worte reden, die weder uns noch Andren in
Bezug auf die drei Strebeziele (s. Anm. zu V. 141) nützen. Der Mund-
sünden sind vier: Unwahrhaftigkeit, Verkleinerung, harte Rede,
fruchtlose Rede. Die erstere wird nur im Stande der Busstugend
vollkommen beseitigt (s. Kap. 30); die Verkleinerung ist bereits im
vorigen und die harte Rede im 10. Kapitel untersagt worden; die sinn-
lose Rede wird nun in diesem Kapitel verboten; daher folgt dasselbe
auf ,Nichthinterrücksreden‘.“ (P.)
191. Wer zu Vieler1 Verdx-uss Sinnloses sagt, wird von
Allen verachtet.
1 P. versteht darunter die Weisen (nach deren Urtheil sich Alle richten. R. i
32
I. Von der Tugend.
192. Sinnloses vor Vielen sagen ist schlimmer als Lieb-
loses an Freunden thun.
193. Die über Ding’ ohne Sinn sich verbreitende Rede
sagt: „Er ist ein Mann ohne Sitte“.
194. Ein mit Frucht nicht gepaartes adelloses Wort vor
Vielen paart sich nicht mit Lieblichkeit und scheidet 1 von
L obens Würdigkeit.
l Den Sprecher.
195. Adel sammt Achtung weicht, wenn ein Edler Sinn-
loses sagt.
196. Wer mit fruchtleeren Worten um sich wirft, den
heiss nicht Mensch; Menschen -Hiüse heiss’ ihn.
R. findet in diesem Verse zwei stylistisclie Feinheiten : 1) iraMura moHtal, ,, Doppel -
rede“ (sinnloses Wort — kernlose Hülse); 2) ujttimarveippu ,,Forcirter Sinn“ (Wie
kernloses Reis eine Reishülse ist, so ist ein sinnloses Wort eine Worthülse; ferner: weil
in demjenigen, welcher solche Worte selbstgefällig spricht, das Wissen , welches dem
Reiskorn und dem Sinne gleicht, nicht ist, so ist er eine Menschenhülse).
197. Auch wenn sie Sitteloses sagten ', sie mögen’s sa-
gen — die Vollkommnen. Gut ist’s, dass sie nichts Sinn-
loses sagen.
J Sie thun’s aber nicht. (P.)
198. Die seltnen Sinn 1 forschenden Weisen reden kein
Wort, das grossen2 Sinnes baar.
1 In Betreff der Erlösung. (P.)
2 „ Dadurch ist auch das , was nur geringeu Nutzen schafft, ausgeschlossen.“ (P.)
199. Die wahnbefreiten, fleckenlosen Seher sagen Sinn-
loses auch nicht in Vergessenheit.
200. Redest du, so rede was Frucht schafft. Rede keine
Rede, die baar ist der Rede -Frucht.
Oder (nach P., der „sollin“ beide Male als Substant. im obliquus nimmt): Rede un-
ter den Worten solche, die Frucht schaffen. Solche unter den Worten, die fruchtlos
sind, rede nicht.
21. Furcht vor Uebelthat.
33
21.
FURCHT VOR ÜBELTHAT.
„Weil er hiermit alle am Leibe vor sich gehenden Sünden zusammen
verbietet, so hat er das Kapitel , Furcht vor Uebelthat* hinter das
Kapitel , Nicht sinnlose Kede führen1 gesetzt.“ (P.)
201. Die mit Uebelthat bereits Behafteten fürchten nicht,
die Herrlichen aber fürchten den Uebermuth der Uebelthat.
202. Weil Uebles Uebles fruchtet, so ist mehr als Feuer1
zu fürchten die Uebelthat.
i Die Wurzel von „Feuer“ ist mit der Wurzel von „Uebel“ ganz gleichlautend (tl).
P. sieht den schlimmem Charakter der Uebelthat im Vergleich zum Feuer darin, dass sie
„(wohl in ihren jenseitigen Folgen?) auf eine andre Zeit, auf einen andern Ort und auf
einen andern Körper übergehend brennt, was alles das Feuer nicht thut.“
203. Selbst Hassern nichts Herbes thun, — heisst das
Haupt von allem Wissen.
204. Man geh’ — auch nur in Vergessenheit — nicht
mit des Nächsten Verderben um ! Geht man um damit, so
geht die Tugend1 mit des damit Umgehenden Verderben um.
i Personificirt als göttliche Nemesis (sansc. darma devatä).
205. Thue Niemand Böses sprechend: Ich Armer! Thut
er’s, so wird er nur immer noch ärmer werden b
i In jeder Geburt. Einige erklären: ärmer an guten Eigenschaften undThaten. (P.)
206. Wer nicht begehrt, dass ihn Schmerzhaftes zu Bo-
den schlägt, der thue selbst am Nächsten nichts Boshaftes.
207. Welche Feindschaft man auch befährt, man mag
entrinnen; die Feindin „ Sünde u 1 folgt fort und fort und
schlägt zuletzt zu Boden.
1 Die Sünde, die Jemand thut, ist sein ärgster Feind; sie rächt sich sicherlich an
ihm selbst.
208. Der Unrechts -Thäter Untergang ist wie wenn fort
und fort Einem sein Schatten auf den Fersen folgt.
„Hier erklärt er die Worte , die Sünde folgt fort und fort u. s. w.‘ durch ein
Gleichniss.“ R. detaillirt dieses Gleichniss etwa so : Die Uebelthaten verfolgen den
Menschen so lange, bis er untergeht, — ganz wie der Schatten eines Menschen diesem
so lange nachfolgt, bis er stirbt.
in.
3
34
I. Von der Tugend.
209. Wenn Einer sich selber liebt, so hab’ er mit Dem,
was übel ist, — was immer es sei, — nichts zu schaffen.
210. Wenn Einer nicht, seitwärts rennend, Sünde thut,
dem naht das Verderben schwerlich ; das wisse.
22.
ERKENNTNISS DES SCHICKLICHEN *.
„Das heisst den Brauch der Welt kennen und danach thun.“ Der
Brauch der Welt ist, wie der Sinn der h. Schrift, nicht bloss Etwas,
was in den religiösen Büchern niedergelegt ist, sondern auch etwas,
was man seihst erkennen und ins Werk richten soll; daher sagt er:
Erkenntniss des Schicklichen. Was mit Geist, Wort und Leib zu
meiden ziemt, hat er gesagt; nun sagt er auch das noch Uebrige von
dem, was zu thun sich schickt; desshalb folgt dieses Kapitel auf
das von der , Furcht vor Uebelthat'.“ (P.)
211. Wahre Freigebigkeit verlangt nicht Vergeltung.
Was vergilt denn der regnenden Wolke die Welt?
212. Alles durch emsig Mühn ermachte Gut ist für die
Wackern zur Wohlthatsiibung da.
Oder: Alles .... Gut ist zur Wohlthatsübnng an den Wackern da.
213. Im Himmel wie liienieden ist’s schwer ein andres
Gut zu finden, wie Schenkung nach Schicklichkeit.
,,Im Himmel ist es schwer etwas Besseres zu finden, denn dort sind alle gleich, in-
sofern es weder Spendende noch Empfangende giebt; hinieden aber auch. » denn hier
giebt es nichts Anderes was so wie das für Alle passt.“ (P.)
214. Wer, was schicklich, weiss, lebt wirklich; die An-
dren rechnet man unter die Todten.
215. Des Sitte -seligen Gross- Wissers Gut ist wie des
Orts -Teichs Wasserfülle.
,.Es besteht lange ohne sich zu verzehren, und verhilft Allen zu dem Nöthigen.“ (P.)
216. Fallen Güter dem gütigen Manne zu, so ist’s, wie
wenn in Dorfes Mitte ein Fruchtbaum reift.
* Oder Wohlthat zur Aufrechterhaltung ziemenden Brauchs (e. g., wenn Einer zu
gewissen Ceremonien einem Unbemittelten das Nöthige darreicht».
22. Erkenntniss des Schicklichen. — 23. Spende.
217. Fällt dem Hochwackern Vermögen zu, so ist’s wie
ein nie sich entziehender heilkräftiger Baum.
„ Sich entziehen heisst, an einem schwer zu erlangenden Orte befindlich, oder ver-
borgen stehend, oder mit der Zeit sich verändernd, nutzlos sein.“ (P.)
218. Selbst zur Zeit der Mittellosigkeit schrecken vor
Schicklichem nicht zurück die pflichtkundigen Weisen.
219. Des Wohlwollenden wahre Verarmung ist sein Un-
behagen, dass er das zu Leistende zu leisten unfähig ist.
220. Sprichst du: „Aus Spenden entsteht Verlust“ —
ei der ist werth, dass man (sich selbst) verkauf’ und ihn er-
kaufe 1.
1 Man könnte die zweite Hälfte vielleicht auch so übersetzen: „ei der ist so geartet,
wie Verkaufen und Nehmen.“ (D. h. Wer seine Güter im Wohlthun weggiebt, der hat
dess an Lob etc. eben so Gewinn, wie der, der seine Güter verkauft und dafür klingende
Münze nimmt.) Dann braucht man vor virru kein tannei („sich selbst“) zu ergänzen.
23.
SPENDE.
„Da die Spende die nächste Existenz im Auge hat, so folgt sie auf die
.Wohlthat zur Aufrechterhaltung ziemenden Brauchs1, welche dieses
Leben im Auge hat.“ (P.)
221. Den Armen Etwas spenden, ist Spende. Das andre
Alles hat beabsichtigte Wiedernahme zu seinem Wesen.
222. Wenn man auch spräche: „’s ist ein guter Weg1!“
— nehmen2 ist übel; wenn man auch spräche: „Es giebt
keine obre Welt3“ — geben ist gut.
1 Zum Himmel.
2 Betteln (die Commentare) ; sammeln (Beschi).
3 P. fasst es subjectiv („der Spendende erlangt nicht die obre Welt“). Das Ganze
erinnert an das biblische : Geben ist seliger denn Nehmen.
223. Bei dem Edlen ist Enthaltung von der Elends-
Sprach’: „Ich habe nichts“ — und Spenden.
Ein Edler spricht selbst nicht an, giebt aber Denen, die ihn ansprechen. (P.) R.
schlägt folgende Fassung vor: Es ist leicht bei guten Vermögensumständen dem Bitten-
den zu geben, wenn man aber selber arm geworden, ihm zu sagen, ,ich habe nichts*.
Das Letztere thut ein Edelgeborner unter keinen Umständen. Noch Andere erklären :
Der Edle spendet, nicht aus Geiz sprechend : Ich habe jetzt nichts (dann steht ureijämei
für ureijätu); oder: Der Edle spendet, damit (der Ansprechende) nicht noch einen An-
3*
36
I. Von der Tugend.
dem mit den Worten ..ich habe nichts“ anspreche (daun steht ureijämei im Sinne von
ureijäta partkku); oder: der Edle spendet, noch ehe man ihn anspricht (dann steht nrei-
jämei in dem Sinne von ureijämeijile). Alle diese Erklärer müssen aber, um die Plnral-
form ula (die am natürlichsten auf ureijämei — als Subst. — nnd Ttal bezogen wird ) ir-
gendwie zu rechtfertigen, darauf zurückgehen, dass Ital ein Collectivum sei und daher
mit dem Plural verbunden werden könne.
224. Unfreundlich ist’s angesprochen werden, — bis
man das freundliche Gesicht sieht Derer, die ansprachen '.
1 Und nun befriedigt dankbar davongehen.
225. Der Bussthäter (Haupt-) That ist die Hungerthat,
— nach der That Derer, die den Hunger stillen.
„Höher steht die Macht Derer, die, selbst nicht hungernd, Andrer Hunger stillen
als die Macht Derer , die , selbst hungernd , Andrer Hunger nicht stillen.“
226. Die Stillung des tödlichen Hungers der Mittellosen
ist der Bemittelten Schatzkammer.
227. Wer mittheilend ans Essen zu gehen gewohnt
ist, den wird die böse Pest „ Hunger “ nimmer befallen.
228. Die spendselige Lust kennen nicht die Hartäugigen,
die ihre Hab’ aufhebend verlieren.
229. Bittrer als Betteln wahrlich ist selbst für sich selbst
speisen, um (die Kisten) zu füllen.
Denn der Bettler ist immer nur für eine Weile arm. (P.)
230. Nichts bittrer als Sterben; doch auch das ist süss,
dafern man nicht spenden kann.
24.
RÜHM.
„Das ist das Lob, welches Denen, die in der von Kapitel ö bis 23 aus-
einandergesetzten Haustugend verharren, als diesseitiger Lohn in
dieser Welt unverrüekt stehen bleibt. Da dasselbe hauptsächlich aus
der Spende kommt (vergl. V. 231), so folgt es auf diese.“ (P.)
231. Spende -belobt zu werden lebe! Kein Gewinn den
Lebendigen ausser diesem Lob!
Die Tugend der Freigebigkeit steht dem Hindu so hoch, dass Jägnavalkja (III, 28)
die Freigebigen mit den opfervoll/.iehenden Priestern, den Vedastudirenden und
Vedakundigen u. s. w. zugleich als solche nennt, die der ceremoniellen Befleckung im
Augenblicke los und ledig werden.
2-1. Ruhm. tjj
232. Alle Rede der Redenden ist steter Ruhm für Den,
der den Bittenden gern Etwas bietet.
233. Neben dem in der Welt einzig ragenden Ruhm
giebt es nicht Eins, das, nicht vergehend, Stand stets hielte.
234. Wenn Einer sich bis ans Ende der Erde reichenden
Ruhm erwirbt, so hört die Götterwelt die Vergöttlichten1 zu
preisen auf.
1 Die Weisen, welche die Götterwelt erlangt haben. — „Die Götterwelt hört diese
I zu preisen auf, weil sie nicht (wie jener) durch den Ruhmesleib diese Welt und durch
den Götterleib jene Welt zugleich erworben haben.“ (P.)
235. Gewinngleiches Verderben und lebensreiches Ster-
ben ist nur für die Hochsinnigen nichts Unmögliches.
„Gewinngleiches Verderben ist Verkümmern des elementlichen Leibes, während
der Ruhmesleib gedeiht.“ (P.)
236. Erscheint man, so erscheine man mit Ruhm ; besser
als rühmlos erscheinen ist nicht erscheinen.
Die Commajitatoren beziehen das Erscheinen auf die Geburt. — Auch das tamul.
Wort schliesst rhgleich den Sinn des öffentlichen Auftretens ein.
237. Die unrühmlich leben, — da sie sich selbst nicht
weh thun1 — warum doch thun sie ihren Tadlern weh2?
i Durch Reue und Zucht.
2 Dadurch dass sie sich über sie beschweren.
238. Es heisst ein Makel Allen, die in der Welt wohnen,
dafern man nicht den Nachkommen „ Nachruhm “ zeugt.
239. Dem Boden, dem zur Biird’ ein rühmloser Leib ist,
verkümmert die fleckenlose reich wuchernde Frucht.
240. Die makellos leben, leben. Nicht leben, die rühm-
los leben.
VON DER BÜSSTUGEND.
A. GELÜBDE.
„Das ist das, was zur fleckenlosen Reinigung der geistigen Vermögen
mit dem Vorsatze , diese Tugenden will ich üben; jene Sünden will ich
meiden1 von den Büssern ihren Kräften gemäss gehalten wird. Ob-
schon solche Gelübde unzählig siud, so nimmt doch der Dichter einige
bedeutungsvolle, die viele andre in sich schliessen, heraus und beginnt
mit der ,Huld‘.“ (P.)
25.
HULD.
„Das ist eine Barmherzigkeit, die, ohne leidenschaftliche Anhänglich-
keit, natürlicher Weise sich auf alles Lebende erstreckt. Wie die
.Liebe1 (Cap. 8) unter den Haustugenden, so zeichnet sich die ,Huld‘
unter den Busstugenden aus, und daher wird zuerst von ihr
gehandelt.“ (P.i
241. Reichthum an Huld ist des Reichthums Reichthum.
Reichthum an Gut ist auch beim Pöbel.
242. Auf dem guten Wege forschend, fasse die Milde
fest! Suchte man auch auf verschiedenen 1 Wegen das Heil,
— die Haupthülf’2 ist sie.
1 Verschieden nach Erkenntnissmethode und nach Erkenntnissinhalt.
2 Sie wird von allen . auch noch so verschiedenen Secten als die Haupttugend . die
uns auf dem Heilswege fördern kann , anerkannt.
25. Huld.
39
243. Für die so ein mit Tugend gepaartes Herz haben,
ist der Eintritt in die mit Finsterniss gepaarte Welt der We-
hen 1 nicht.
1 Die Hölle.
244. Für die, so des bestandhaften 1 Lebens pflegend,
der Milde Meister sind, giebt es keine dem eignen Leben
furchtbare Frevelthat.
* ,,Er nennt es so, weil alles Leben beständig dauert.“ (So die Comment.)
245. Kein Ungemach Denen, die der Milde Meister
sind! Dess Zeug’ ist die Wind -durchwandelte1, reiche,
weite Erde2.
t Der Wind bringt Wolken und damit Regen; er zerstreut auch die Wolken und
bringt damit Sonnenschein. Er gehört somit zu den nothwendigen Bedingungen irdischen
Gedeihens Daher ist das „Sturm durchwandelt“ kein unpassender Beisatz neben „reich
und gross “.
2 Der Sinn ist entweder: Die ganze Natur ist dem gütig, der ihr gütig ist; oder:
Die ganze Erde hat nie einen Fall gesehen, dass dem „Milden“ etwas Uebles begegnet
sei. (Im letztem Sinne die Commentatoren.)
246. Die von der Huld weichen und mit Uebel umgehn,
die sind, von der Wahrheit gewichen, in Selbstvergessen-
heit gefallen.
Wahrheit repräsentirt hier sattva; Selbstvergessenheit tama (siehe Einl. zu V. 1).
,,Die Weisen werden von ihnen sagen, dass sie in frühem Geburten die Tugend ver-
lassen — und nun vergessen haben dass sie dafür bereits (Schmerzen des Daseins) ge-
litten.“ (P.)
247. Den Huldlosen gehört nicht jene Welt, wie diese
Welt nicht gehört den Güterlosen.
Die Milde ist das wahre Gut in jener Welt.
248. Gut-Entblösste mögen noch wieder blühn; Huld-
Entblösste sind ganz bloss — und kommen schwerlich wie-
der auf.
249. Erforscht man die Tugend, die ein Huldloser thut
— sie ist wie wahren Wesens Erkenntniss beim Thoren.
Thorheit lässt keine Weisheit, Mildelosigkeit keine Tugend aufkommen.
250. Vor die Starken stelle man sich im Geiste hin,
wenn man auf die Schwächen! loszufahren begriffen ist.
40
I. Von der Tugend.
26.
FLEISCH - VERSCHMÄHUNG.
„Das Fleiscliesseu verhält sich zum Tödten wie Ursache uud Wirkung
zugleich, indem es diese Sünde eben so wohl veranlasst als aus ihr
folgt. Es ist den .Huldsamen' durchaus zuwider ; daher folgt dieses
Capitel auf das Capitel von der , Huld4.“ (P.)
251. Wer, das eigne Fleisch zu mehren, fremdes Fleisch
geniesst, — wie wird Der der Huld pflegen?
252. Verwahrlosende besitzen Vermögen nicht; so be-
sitzen Huld nicht Fleischessende.
Die sich des Fleisches nicht enthalten, verschleudern gewissennassen ihr ganzes
sittliches Besitzthum.
253. Wie das Herz Dess. der zur Hand die Waffe nimmt,
so das Gemüth Dess, der, dem Guten nicht nachforschend,
sich an Eines Leihe labt.
254. Was ist Huld und ihr Gegentheil? Tödten und
Xichttödten. Unrecht ist’s auch jenes Fleisch 1 zu essen.
1 Das von einem Andern geschlachtet wurde.
255. Der Bestand des Lebens liegt in dem Nichtgenuss
(des Fleisches) ; geniesst man doch — der Hüllenrachen speiet
nicht wieder aus.
Der Fleischesser zerstört den Bestaud des Lebens, das an den Leib gebunden ist:
dafür verschlingt ihn die Hölle für immer ohne Barmherzigkeit.
256. Wenn die Welt nicht Essens wegen Fleisch kauft,
so giebt es Keinen, der es Gewinnes wegen verkauft.
Vergleiche Sivanjänasittiär , in der Widerlegung des Baudda Sauträntika, Vers 37 :
„Gestorbenes e s s e n ist keine Sünde.“ O Baudda, der du so sprichst, höre ! W eil man
weiss , dass du’s essen wirst, schlachtet man und bringt es dir zu essen, und so fällt man
deinetwegen in Schuld, — denn für Nichtessende schlachtet man wahrlich nicht. Sprichst
du: Ei, die Schuld haftet an den Schlächtern , so frage ich dich: Was für eine Art Askese
übst du denn, dass, die dich füttern, in Schuld fallen? (Siehe meine Uebersetzung, in
der Zeitschrift der Deutschen Morgenlänuisclien Gesellschaft , Band VIII, S. 736.)
Eine andre Lesart für koHätu „sie kauft nicht“ ist kollätu „sie schlachtet nicht“.
Dann müsste übersetzt werden : Wenn du sagst „Des Essens wegen schlachtet die
Welt nicht“ — ei, es giebt Niemand, der des Gewinnes wegen Fleisch verkaufen
würde. S. findet darin folgenden Sinn: Wenn es wahr ist, dass man — nicht aus blosser
Thorlieit, sondern nur — weil das Fleisch gegessen wird, schlachtet, ei so kann man
nicht sagen, dass Geldverdienst die Ursache ist, dass es Fleischverkäufer giebt. Offen-
bar sehr gezwungen. Ganz richtig dagegen P. : „Ein Gegner sagt vielleicht: Das nach-
folgende Fleischessen kann ja nicht die Ursache sein für das vorhergehende Schlachten;
26. Fleisch- Versciimahung. — 27. Busse.
41
y
folglich giebt es fiir die Essenden keine aus (solcher) Ursächlichkeit entstehende Sünde.
Mit Rücksicht darauf behauptet der Verfasser, dass die Essenden allerdings indirect die
Ursache des Schlachtens sind, und bestätigt damit das im vorigen Verse Gesagte.“
257. Enthaltung von Fleisch ist notli, ist es doch eines
Andern Wunde — wenn man, die das zu würdigen wissen,
findet.
258. Die Weisen, die der Leidenschaft den Rücken kehr-
ten, essen nicht den Leib, der dem Leben den Rücken kehrte.
259. Besser als geklärte Butter träufeln und Tausend
opfern ist kein Leben vernichten und verzehren.
260. Wer, nichttödtend, Fleischspeise verschmäht hat,
den wird mit andächtig erhobnen Händen alles Leben loben.
27.
BUSSE.
„Das ist zur Verhütung, dass das Gemütli auf dem Wege der Sinne
sich unstät umhertreibe, in der Weise des Gelübdes Nahrungs-Verkür-
zung und die übrigen Handlungen über sich nehmen und die dadurch
das eigne Leben betreffenden Leiden geduldig tragen, fremdes Leben
aber wahren. Dieses Capitel folgt auf das vorhergehende, weil die
Busse da, wo man Fleischspeise verschmähend in der Huld gereift ist,
vor sich geht.“ (P.)
261. Das eigne Leiden leiden und den Lebendigen zu
leid nichts thun, — ist der Bussübung Form.
262. Auch Busse wird Denen, die Busse bereits be_
sitzen. Eitel ist’s, dass Bussentblösste Buss’ auf sich nehmen.
Nur Denen, die schon in einem frühem Dasein Busse über sich genommen haben,
gelingt sie auch in dem gegenwärtigen Dasein wieder, — und das ist ein allgemeiner Vor-
theil neben dem besondern Verdienst. (Auch Busse, — ausser dem besondern Ver-
dienst.)
263. Die Andern, den Andern beizuspringen willens,
haben wohl der Busse vergessen l.
1 ,,Aus Ueberschätzung ihrer Spenden (an die Biisser) haben sie der Busse ver-
gessen, die, weil sie alles Gewünschte in gewünschter Weise gewährt (V. 265), von Allen
geübt werden sollte.“ (P.) Es liegt darin vielleicht auch der Gedanke : Die Busse steht
höher als die Spende, indem sie dem Himmel alle Segnungen erst abringt, sodass die
42
1. Von der Tugend.
Hausväter, die sich einbildeu, sie müssten den Büssern mit ihren irdischen Mitteln
Speise, Lager, Medicin“) helfen, gradezu die Bedeutung der Busse, die ihnen viel-
mehr zu allen diesen Mitteln verhilft, vergessen haben müssen. (Vergl. die beiden folg. V.)
264. Wenn sie der Gegner Vernichtung und der Gönner
Erhebung (nur) denken, — kraft der Busse kommt’ s zustand.
265. Man weiht sich dem Werk der Busse hier, weil
mau (durch sie) das Gewünscht’ in gewünschter Weis’ er-
langt.
266. Die Busse wirken, thun ihr Werk1; Loses treiben,
in Lust verstrickt, die Andern.
1 „Aus der Busse kommt die Weisheit und damit die Erlösung.“
267. Wie Gold, wenn die Glut brennt, so ergiesst sich
über die Büsser Licht1, wenn das Leiden brennt.
1 ,,Das Licht der Weisheit.“
268. Wer sein eignes Leben ganz zu eigen1 bekommen
hat, — alles andre Leben lobt Den andächtig2.
1 Durch die heilbringende Busse. — Es Hesse sich auch übersetzen: „Wer sein Le-
ben durch Abthun seines Selbst erlangt hat u. s. w.“ Die Vedanta -Philosophie weiss
von vier Selbst (das abgeleitete Selbst = Sohn ; das Scheinselbst = der Körper; das
Thatselbst = die Lebensseele; das absolute Selbst. ,,Zur Zeit des Ablebens ist, in
Bezug auf das Erbe, das abgeleitete Selbst, der Sohn , von Wichtigkeit. Mit Rücksicht
auf die Zeit, wo man des stets anhaftenden Leibes pflegt, ist das Schein - Selbst , der
Körper, von Wichtigkeit. Wenn man aber die sichere schöne Seligkeit begehrt, so ist
das That- Selbst, die Lebensseele, von Wichtigkeit. In der Erlösung endlich, wo alle
Körperlichkeit untergeht, ist jenes Selbst, welches die Weisheits- Seele bildet, von ab-
soluter Wichtigkeit.“ KaivaljanavanTtaII,119. (Bibi. Tarn. I, S. 71. Vergl. auch S. 161.) Hier
wäre dann, im Sinne des Vedanta, die Rede von dem Abthun des „Scheinselbst“ —
durch Zurückweisung der fünf Kösa's oder Regionen (der Ernährung; der Belebung;
der Vorstellung und Erreguug; der Intellectualität; des Wonnegefühls : Bibi. Tarn. I,
139), die mit dem Anspruch auf den Namen des Selbst auftreten. Die Auffasspng aber,
die der obigen Uebersetzung zu Grunde Hegt, ist jedenfalls einfacher; sie wird auch von
den Commentatoren getheilt.
2 Weil er die Macht des Fluches und Segens besitzt. „Die Askese, welche die Ur-
sache der Weisheit ist, ist auch die Ursache des Vermögens zu segnen und zu fluchen.“
Bibi. Tarn. I, S. 131.
269. Selbst des Todes Untertretung gelingt Denen, die
über der Busse Macht Meister wurden.
270. Die Ursache, dass der Nichtigen so viele sind, ist
dass der Büsser so wenige, der Nichtbüsser so viele sind.
28. Unziemlicher Wandel.
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2«.
UNZIEMLICHER WANDEL.
„Das ist derjenige schlechte Wandel, der sich mit der Busse nicht
verträgt, indem in Folge eines unbefestigten Herzens die Begierde
nach der aufgegebenen Lust wieder auftaucht und man sich derselben
liingiebt.“ (P.)
271. Innen alle fünf Elemente 1 lachen über das Lügen -
Leben eines Mannes von trüglichem Herzen.
1 Aus denen seine sinnliche Natur zusammengesetzt ist, und die sich gewisser-
massen freuen, dass er ihnen so gar keinen Abbruch thut.
272. Die himmelhohe Erscheinung — was frommt sie,
wenn in selbstbewusster Sünde das Herz hängt.
273. Mit der Kraftgestalt Eines in kraftlosem Stand ist’s
wie mit der Kuh, die eines Tigers Haut umhängt und weidet.
Das Bild ist um so treffender, als „Kuhweide“ und „Sinnenweide“ im Sanscrit ver-
wandte Begriffe sind : göcara, die Sinnlichkeit, kann sogar etymologisch als „der Ort,
wo die Kuh hingeht“, gefasst werden. Bei dem Sanscritaner lehnt sich der abstracte Be-
griff der Gegenständlichkeit, der Aussenwelt, der Sinnlichkeit an den concreten der
Kuhweide „seiner Welt“. (Vergl. Lassen, Indische Alterthumsk. I, S. 815.)
„Wenn Einer, damit Andre keinen Verdacht fassen und sich fürchten, sich in die
Hülle eines Büssers steckt, sein Weib verlässt und fremden Weibern nachläuft, so ist
das grade so, wie wenn eine Kuh eines Tigers Fell anzieht, damit die Hüter um des
Sprüchworts willen ,Wenn der Tiger hungert, so frisst er nimmermehr Halme ‘ und aus
Furcht nicht nahe hinzu kommen, ihr Gras verlässt und eines Andern Feld ab weidet.“
274. Sich versteckend im Bussschein Böses treiben ist,
wie wenn der Jäger, im Gebüsch geborgen, Vögel fängt.
275. Das Lügenleben der „Wir sind lüstelos“ Sprechen-
den schafft so viel Schmerz, dass sie zuletzt „Was ist doch
das, was ist doch das!“ sprechen.
276. Jemanden härtern Aug’s 1 giebt’s nicht, als wer, ob-
gleich im Herzen busselos, wie ein Büsser, vom Betrug2 lebt.
1 Dieser Ausdruck bezeichnet Grausamkeit und Unverschämtheit zugleich.
2 Sie betrügen die Leute um das Almosen, womit diese sich an dem Verdienst des
Büssers zu betheiligen meinen.
277. Es giebt Leute, die, obgleich äusserlich wie die
Kunri 1 anzuschaun, innerlich schwärzer sind, als deren Spitze.
1 Ein perlenartiger rother Kern mit einem schwarzen Flecken an der Spitze.
44
I. Von der Tugend.
278. Deren sind Viele, die, im Herzen fest haltend den
Sündensehmutz, wie grosse Heilige, oft baden 1 und so sich
bergen.
1 Man könnte auch übersetzen: Viele giebt’s, die das Wesen grosser Heiligen an-
nehmen und sich dahinter etc. (Dann stände nir nicht in der Bedeutung von „Wasser“,
sondern „Wesen“.)
279. Graus ist der (grade) Pfeil; süss ist die krumme
Laute. So schätz’ auch jenes 1 nach der Art der That.
i Das äussere Behaben der Asketen. Der Pfeil ist grade, und thut doch weh; die
Laute ist krumm (Krumm ist dem Tamulen das Bild alles sittlich Schlechten) und
klingt doch süss. „An ihren F rüchten sollt ihr sie erkennen.“
280. Unnöthig ist Kahlschnur und Haarbusch wenn
man, was die Welt2 missbilligt, meidet.
1 Die gewöhnlichen Saiva - Pandarams scheeren sich das Haupt; die ehelosen Tam-
birans lassen es wild durcheinander wachsen. — „If it be thought, eternal felicity cau be
obtained by wearing long and matted hair, by bathing in water, lying on the ground and
emaciating the body, then may the bears, that bathe in the lakes and wander in the
forests, also, obtain felicity.“ (Sintämani — ein Djaina-Werk — bei Ellis, S. 90.)
2 Die Welt ist der Inbegriff der Guten und Weisen , als Tonangeber.
29.
NICHTDIEBEN.
„Weil dieses Capitel einen Fehl verbietet, der mit Rücksicht auf Be-
sitz entsteht, so folgt es auf das Capitel vom , unziemlichen Wandel1,
der mit Rücksicht auf die Lust entsteht. *• (P.)
281. Von wem es heisst, dass er, nichtleichtfertig, strebt,
der hüte sein Herz vor Entwendung von irgend was.
EWämei entspricht ganz dem sansc. anasüja (Freiheit von aller Frivolität). V. cha-
rakterisirt die Leichtfertigkeit als einen Wandel im Sinne der Lökäjata's und ähnlicher
Leute (siehe Band I, S. 96, 7), die da sagen: „Der Augenschein ist der Erkenntnissgrund;
es giebt (nur) vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft; wenn diese sich vereinigen,
so entstehtauf dem Wege der Besonderung ein Körper und vergeht wieder durch die
Trennung (jener Elemente) ; in ihm entsteht und vergeht dann auch das Wissen, — ganz
wie die Freude (und ähnliche geistige Vorgänge); die Seele wird , wenn sie verschieden
ist, nicht wieder geboren. . . P. findet in den Worten „irgend was“ auch den
geistigen Diebstahl angedeutet, wie wenn Einer z. B. sich den Sinn des philosophischen
Systems, ohne dass er sich dabei einem Lehrer unterwirft, in trüglicher Weise zu eigen
macht.
282. Audi was man in seinen Gedanken denkt, ist bös.
Sprich nicht: „Ich will mit Lug und Trug des Nächsten Gut
an mich ziehn.“
29. Nichtdieben.
283. Durch Trug erworbnes Gut verdirbt, während es
ins Maasslose 1 zu wachsen scheint.
l Die Comment. fassen den Sinn so : Durch Trug erworbner Wohlstand scheint zu
wachsen, er verdirbt aber, seine Grenze überschreitend (d. i. auch das Verdienst der
Biissung in sein Verderben mit hiueinziehend).
284. Eine in Lug und Trug haftende Begierde schafft,
wenn sie ihre Früchte bringt, nie endend Elend.
285. Auf Huld sinnend der Liebe voll werden hat nicht
statt bei Denen, die auf fremdes Gut sinnend, auf Betrübung 1
sehn.
1 Die Comment. verstehen unter possäppu die dumpfe Verzweiflung des Nächsten
dessen Gut entwendet wird. Possäppu ,, Geistes - Verdumpfung“ und aru£ ,, Geistes-
Milde“ entsprechen sich jedenfalls ; jene repräsentirt tama, diese sattva (Vergleiche
die Einleitung zu Vers 1). Das Jagen nach den Gütern dieser Welt gehört zum Wesen
des tama, — eben so aber auch das schmerzliche Hinbrüten beim Verlust derselben,
so dass sich das Wort possäppu ebenso wohl von der Geistesdumpfheit des nach
weltlichen Gütern strebenden Asceten, als von der dumpfen Verzweiflung des Nächsten,
der durch ihn sein Eigenthum verliert, verstehen lässt. Vergl. jedoch den 287. Vers.
286. Die bringen nicht zuweg einen Wandel im rechten
Maass, deren Begierde haftet in Lug und Trug.
287. Handhabung der schwarzen1 Kunst — Lug und
Trug — ist nicht bei Denen, die nach des rechten Maasses
erhabenem Standpunkt streben.
i Schwarz, weil sie mit dem tama (vergl. die Anm. zu V. 285) zusammenhängt.
288. Wie in der Maasskundigen Herzen Heil1, so sitzt
in der Trugkundigen Herzen Hehl.
1 Wörtlich: Tugend.
289. Die sich auf nichts als losen Trug verstehn, werden
schnell im maasslosen Thun vergehn.
290. Trügerischen Leuten entzieht sich (sogar) ihr
Leib 1 ; den Truglosen entzieht sich selbst nicht die Götter-
welt.
1 Auf dem Wege der Hinrichtung.
40
I. Von der Tugend.
30.
WAHRHAFTIGKEIT.
„Da dieses Capitel die Lüge verbietet, die grossen Theils in Bezug auf
Lust und Gut entsteht, so folgt es auf das Kapitel , Nichtdieben1.“ (P.)
291. Fragst du, was wird Wahrhaftigkeit genannt?
Solches reden, was alles Bösen haar ist.
,, Hiermit wird die Ansicht abgewiesen, als habe Vorgefallnes erzählen mit Wahrhaf
tigkeit nichts zu thun. Der Sinn ist: Auch Vorgefallnes erzählen ist Wahrhaftigkeit, wenn
es keinen Harm thut; thut es Harm, so ist es Lügenhaftigkeit.“ P. Das Wesen der Lüge
wird demnach ganz richtig in die schlechte Absicht gesetzt, die auch materiell Wahres
formell zur Lüge macht.
292. Auch die Unwahrheit wird Wahrheit, wenn sie
Gutes ohne Fehl fruchtet.
Die Coinmentatoren denken hierbei an den Fall, wo Jemand, der im Begriff zu ver-
derben oder zu sterben ist, durch eine Unwahrheit gerettet wird, also an die sogenannte
,,Nothlüge
293. Lüge nicht wider deinen Busen! Hast du gelogen,
so wird dich dein Busen brennen.
294. Wer, seinem Herzen gemäss, luglos lebt, der liegt
im Herzen der ganzen Welt1.
1 Im Sinne von Anm. 2 zu Vers 280.
295. Wenn Einer mit dem Busen Wahrheit spricht, so
ist er das Haupt Derer, die mit der Busse Spend’ üben.
/
296. Ein Lob, wie Wahrhaftigkeit, wird nicht gefunden;
es verleiht ohne mühsam Thun 1 alle Tugenden.
1 „Der Hausvater mühet sich mit Erwerb u. s. w. ; der Busser mit Fasten u. s. w. :
die Wahrhaftigkeit aber verleiht alle Vortheile der Haus- und Busstugend, ohne den
Mühen derselben zu unterwerfen.“ (P.)
297. Uebt man, nicht lügend, Luglosigkeit, so mag man,
die andern Tugenden nicht timend, unthätig sein.
298. Aeussere Reinheit kommt durch Wasser, in Wahr-
haftigkeit weist sich Reinheit des Innern aus.
299. Alles Licht1 ist kein Licht für die Vollkommnen ;
das Licht der Luglosigkeit ist das (wahre) Licht.
1 Als Sonne , Mond , Licht. (P.)
30. Wahrhaftigkeit. — 31. Zornlosigkeit.
300. In allem von uns als Wahrheit Erkannten1 ist —
was es auch sei — nichts so werth wie Wahrhaftigkeit.
i In allen Schriften, die ich fürwahr erkenne, wird die Wahrhaftigkeit als das
Höchste anerkannt.
31.
ZORNLOSIGKEIT.
„Das heisst sich nicht erzürnen, auch wo in Jemandem ein Fehl, der
zum Zorn wohl Grund gäbe, zum Vorschein kommt. Weil nun dieses
Capitel den Zorn verbietet, der lügenhaften Wesens wegen entsteht,
so folgt d’s nach der Wahrhaftigkeit1.“ (P.)
301. Wer, wo er was schaffen mag, seinen Zorn zurück-
hält, der hält ihn zurück1; anderswo2 — was ist’s, wenn
man ihn hält, was ist’s, wenn nicht?
1 Nur Dem kann man es als Verdienst anrechnen, dass er ihn zurückhält.
2 Wo er nicht gelingen kann.
302. Bös ist der Zorn, wo er nichts schafft; wo er was
schaffen mag, ist nichts böser.
303. Vergiss des Grimms gegen Jedermann. Eine Saat
von Uebeln sprosst daraus.
304. Giebt’s wohl einen grossem Feind als den Groll,
der dem Lachen und Jauchzen ans Leben geht?
305. Hütet sich Einer, so hüt’ er den Zorn. Hütet er
ihn nicht, so wird der Zorn ihm ans Leben gehn h
1 „Zu dem Schmerz darüber, dass man die Busse, die den erwünschten Segen verleihen
sollte, wegen der Verfluchung Anderer verloren hat, gesellt sich auch der alte Schmerz,
dass man noch einmal geboren zu werden hat.“ Diess ist gangbare Vorstellung. So
büsste Visvamitra zweimal die Frucht seiner Busse ein, weil er im Zorne dem Vasischta
und dann wieder der Apsarasa Rambha fluchte. (Lassen, Ind. Alterth. I, 723 — 724.)
306. Des Zorns verzehrend Feuer wird (auch) der
Freunde heilbringend Floss verbrennen.
Das heisst wohl: Wer sich dem Zorne hingiebt , den verlassen auch die Freunde
mit ihrem heilsamen Zuspruch. — S. : „Es wird nicht bloss den verzehren, der es hegt,
sondern auch diejenigen, die , ihm mit heilsamem Zuspruch beistehend , einem über das
Meer des Gebnrtskreislaufs hinüberrettenden Flosse gleichen.“ P. : „ Es stürzt Einen
nicht bloss in das Meer des Geburtskreislaufs, sondern entfernt auch die Zugreifenden.“
307. Das Verderben Dess, der Zorn als etwas Rechtes
48
I. Von der Tugend.
fasst, ist wie das Nichtfehlen der Hand Dess, der den Boden
haut.
D. h. Das Verderben trifft ihn so sicher, wie die Hand den Boden (der nicht aus-
weichen kann).
308. Thät Einer auch so Bittres, dass es der Berührung
mit dem ,, Strauss- Licht “ 1 gleich kommt, — wenn nur Zorn-
losigkeit sich ihm vermählt, so ist’s ganz gut.
1 Ein eiserner Stab mit mehren Fackeln.
309. Alles, was man im Innern hegt, erlangt man zuhauf,
wenn man im Innern von Zorn nichts iniie hat.
310. Die sich (im Zorn) vergangen, sind den im Tod
Vergangnen gleich; die dem Zorn entsagt, sind wie Leute, die
entsagt1.
D. h. wahre Büsser. „Jene gleichen, obschon noch am Leben, den Todten; diese,
obschon vergänglich, sind wie solche, welche die Vergänglichkeit abgestreift haben.“ P.
Die letzte Hälfte der Strophe lässt sich auch übersetzen: „Die dem Zorn entsagt, sind
der Entsager Hort.“
32.
ENTHALTUNG VON GRAUSAMEM THUN.
„Das ist keinem lebendigen Wesen aus Eigennutz, Hass oder Ver-
gessenheit etwas zuleid thun. Es folgt auf das Capitel von der , Zorn-
losigkeit', um anzuzeigen, dass man auch ohne Zorn grausam sein
kann.“ (P.)
311. Auch wenn man ein Auszeichnung gewährendes
Gut gewänne, — Grundsatz der Fleckenlosen ist, Andern kein
Leid zu thun.
So S. Nach P. , der sirappu als Nominat. fasst: „Auch wenn man die Vortheile
welche die Auszeichnung verleiht, erlangte.“ Er versteht, wie auch S., unter „Auszeich-
nung“ die Askese, im Sinne des Jöga, und bezieht die „Vortheile“ auf die acht magischen
Wundergaben, die auf diesem Wege erlangt werden. Siehe Band I, S. 49.
312. Auch wenn Einer in Wuth weh gethan hat —
Grundsatz der Fleckenlosen ist, nicht wieder weh zu thun.
313. Selbst wenn man Herzeleid Hassern ohne Grund 1
anthut, — es bringt Weh, dem sich nicht wehren lässt, zuweg.
1 Eigentlich: ,, Denen , die uns hassen, ohne dass wir ihnen etwas gethan.**
32. Enthaltung von grausamem Thun. — 33. Nichttödten.
49
314. Recht Schönes thun dass sie sich schämen, — das
ist die rechte Betrübung Derer, die Bittres thaten.
i In vital an sejtu liegt zugleich der Gedanke, dass man es damit bewenden lassen
soll. — Vergl. Römer 12, 20; Spriiehw. 25, 21 — 22.
315. Kommt denn Etwas beim Wissen heraus, wenn
man des fremden Wesens Weh nicht wie das eigne Weh ab-
wehrt ?
P. „Da dieses Leid grossentlieils unpersönlichen Wesen, als Ameisen und andern
kleinen Thierchen, geschieht, so sagt er insgemein , eines fremden Wesens Leid‘. Fer-
ner: Da wir wissen, dass, wenn dieselben auch nur durch unsre Vergesslichkeit (beim
Gehen, Sitzen, Liegen, Stehen, Essen u. s. w.) gekränkt werden, diess zur Sünde ge-
reicht, und wir uns desshalb zu hüten haben, so sagt er, dass, wo wir das nicht thun, un-
ser Wissen (um die Zustände der lebendigen Wesen) fruchtlos sei.“
316. Was du selbst als Weh -bringend weisst, das füg’
ja keinem Fremden zu.
Vergl. Matth. 7, 12.
317. Wie viel es auch sei, Unschönes, das mit Willen
geschieht, Niemandem, zu keiner Zeit, zu thun ist Haupt-
sache.
318. Wer, was seinem eignen Wesen weh thut, erfahren
hat, wie sollte der weh thun einem fremden Wesen?
319. Thust du deinem Nächsten ein Leid am Vormittag,
so kommt das Leid von selbst zu dir am Nachmittag.
320. Alles Weh kommt über die, so weh thun. Die
Wehlosigkeit wünschen, thun nicht weh.
33.
NICHTTÖDTEN.
„Das ist die lebendigen Wesen von den f'ünfsinnigen an bis zu den ein-
sinnigen* herunter — und wär’s auch nur aus Vergesslichkeit — nicht
ums Leben bringen. Da Nichttödten die vorgenannten Tugenden alle
überragt und die nicht genannten alle einschliesst, so steht es zuletzt. ‘‘ (P.)
321. Du fragst: Was ist Tugend-That? Nichttödten.
Tödten zeugt alle Unthat1.
1 Die (bösen) Folgen aller Unthat. (P.)
* „Gewächse haben bloss Einen Sinn: Gefühl; Muscheln u. s. w. zwei Sinne: Ge-
rn. 4
I. Von der Tugend.
50
'622. Gern mittheilend gemessen, viel Lebendes mit Lieb’
umfassen, das ist das Haupt von allem, was die Verfasser
heil. Schrift 1 zusammenfassten.
1 Als Vorschriften für die Asketen.
323. Einzig gut ist Enthaltung von Mord. Gut ist’s,
wenn Enthaltung von Lug dahinter steht h
1 Im Sinne von V. 297 und 300.
324. Du fragst: Was heisst der gute Pfad? Der Weg,
wo man damit umgeht, ja nichts umzubringen.
325. Unter allen, die, das Fortleben1 fürchtend, Ent-
sagung üben, das Haupt ist, wer, das Mordleben fürchtend,
mit Nichtmorden umgeht.
i Den beständigen Geburtskreislauf.
326. Ueber die Lebenstage Dess, der es über sich nimmt
nicht zu tödten, bricht nicht herein der Leben verschlingende
Todesgott.
327. Ging’ auch das eigne Leben drauf, thu keine That,
die an des Andern süsses Leben geht.
328. Mag auch der frommende Gewinn 1 gewaltig sein,
— der aus Todtsehlag kommende Gewinn ist den Vollkom-
menen2 das Letzte3.
1 Der Gewinn, der durch das blutige Opfer entsteht, nämlich die Anwartschaft auf
den Himmel. — So P. , ein Anhänger der Sänltja- Philosophie , die ebenfalls das Opfer,
zumal das blutige, als einem unphilosophisc*hen Standpunkte angehörig fasst.
2 Diejenigen, die nicht nach den vorübergehenden Freuden des Himmels, sondern
nach der bleibenden Erlösung streben. So P.
3 Sie achten ihn gering, weil die Seele, wenn sie den verdienten Lohn abgenossen
hat, sich abermals dem Geburtskreislauf unterwerfen muss.
329. Die Menschen, die mit Mord handthieren, sind ge-
meine 1 Handthierer, — bei den des gemeinen Wesens klar
Kundigen.
1 Pulei „Gemeinheit“ heisst auch „Fleisch“. Vergleiche meine Reise IH, S. 330,
Anmerkung 62.
330. Sie haben einem Leibe das Leben entzogen: so
heisst’s von Denen, die, in fehlbehaftetem Leib verkümmernd,
ein elend Leben leben.
fühl, Geschmack; Ameisen drei: Gefühl, Geschmack, Geruch; Bienen vier: Gefühl,
Geschmack, Geruch, Gesicht. Vögel, Menschen u. s. w. alle fünf.“ (V.)
33. Nichttüdten. — 34. Unbeständigkeit.
51
D. i. Sie werden jetzt nach dem Grundsätze „Womit Einer sündigt, damit wird er
gestraft" (Weish. Sal. 11, 16. 17.) dafür, dass sie sich in einem frühem Dasein an einem
fremden Leben versündigten, nun an ihrem eignen gestraft.
B. WEISHEIT.
„Das ist das Wissen, das entsteht, wenn die geistigen Vermögen
durch die Gelübde rein geworden, und die Erlösung verleiht. Dieses
handelt er nun in vier Kapiteln ab.“ (P.)
34.
UNBESTÄNDIGKEIT.
„Sc. aller Dinge, welche in die Erscheinung treten. Dieses Capitel
steht voran, weil nur, wenn man die Unbeständigkeit aller Dinge
kennt, die Anhänglichkeit an dieselben weicht.“ (P.)
331. Die armselige Weisheit, die Bestandloses für Be-
standhaftes hält, ist das Letzte *.
i Ist werthlos.
332. Wie der Andrang zu einer mimischen Gesellschaft,
so ist grossen 1 Glücks Anwuchs. Auch sein Zerrinnen ist
wie das Zerstieben jenes.
i P. findet darin auch den Erwerb des Himmels (als eines vorübergehenden Glücks)
eingeschlossen. ,,Wie die mimische Vorstellung in manniehfaltiger Weise die Zuschauer,
so zieht das menschliche Verdienst in manniehfaltiger Weise das Glück herbei, und wie,
wenn die mimische Vorstellung zu Ende ist, die Zuschauer gehn, so auch das Glück,
wenn das Verdienst zur Neige geht.“
333. Nicht standhaltender Art ist das Glück. Gelangst
du dazu, gleich leg dich auf Standhaltendes h
1 Auf die Ausübung der Tugend mittelst dieser Glücksgüter.
334. In der Gestalt von Etwas, das wir Tag heissen1,
sich zeigend, hat die Lebenszeit schneidigen Schwertes Art.
'Eigentlich: wie Eines mit dem Namen „Tag“. — „So sagt er, weil das gestalt-
lose Ding ,Zeit‘ nur der Führung der Weltgeschäfte wegen uach dem Maass der Sonne
u. s. w., an sich selbst aber nicht bestimmt wird.“ (P.) — Der Sinn des Ganzen ist
wohl: Wir nennen die Lebenszeit harmlos näf („Tag“), während sie im Grunde ein väl
(„Schwert“) ist, das auf sich selbst los schneidet. (Der Gleichklang von nä.1 und väl hat
wohl die etwas geschraubte Art des Distichons veranlasst.)
4*
52
I. Von der Tugend.
335. Ehe noch, die Zunge lähmend, das Röcheln an uns
kommt, sollen wir, an eine gute That gehend, handeln.
336. Das ist die Würde dieser Welt1: „Der gestern
war, ist heute nicht.“
1 So, gewiss richtig, S. — Ariel: II fut hier, il n’est plus aujourd’hui: le monde est
plein de ces paroles. (Wahrscheinlich nach Beschi.)
337. Die nicht wissen, ob sie auch nur Einen Augenblick
leben, sinnen mehr als zehn Millionenterlei.
338. Wie ein Vogel ausfliegt, und dann das Ei allein
liegt, — so ist der Seele Liebe zum Leibe.
339. Dem Einschlummern gleicht das Sterben; dem Er-
wachen nach dem Schlummer die Geburt1.
1 Im Sinne der Seelenwanderung. ,, Ebenso natürlich, wie Wachen und Schlafen,
kommt abwechselnd Tod und Geburt.“ (P.)
340. Das Leben, das im Leib zur Herberg ist, — kein
Heim hat’s. Nicht so?
35.
ENTSAGUNG.
„Das heisst die Anhänglichkeit an die fremden Glücksgüter und an
den eignen Leib, in Ansehung der Unbeständigkeit dieser Dinge, fah-
ren lassen.“ (P.)
341. Wovon, wovon sich Einer los macht, davon, davon
hat er kein Leid mehr.
342. Will man, dass Etwas werde, so entsage man. Hat
man entsagt, so kann Vieles kienieden werden.
,,Hat man entsagt, so entstehen mancherlei Freuden (als Entbundenheit von allen
Beschwerden , des Geistes , des Mundes und des Leibes1 im Dienste der Weltgeschäfte
u. s. w.) ; begehrt man sie, so entsage man.“ (P.)
343. Wünschenswerth ist’s, alle fünf Sinne zu erschlagen ;
wünschenswerth ist’s, alle Wünsche zuhauf zu vc*j agen.
344. Völliger Nichtbesitz ist der Busse natürlich; Besitz
ist — (die Busse) austreibend — verführlick.
345. Woran sollten sie sich denn noch hängen? Die es
3t>. Wcselis - Erkenutniss.
35. Entsagung. —
53
auf das Abthun des Geburtslaufs absehn, denen ist selbst ihr
Leib 1 lästig.
1 Der Urnen doch selbst bei ihren Kasteiungen zum nothwendigen Werkzeug
dient. (P.)
346. Wer das selbstische Wesen „Ich 1 und Mein2“ weg-
schneidet, wird in die (selbst) Himmlischen erhabne Welt3
eingehn.
1 D. h. des Zustandes, „wo mau den Leib für das Selbst hält“. |P.) Vergleiche
Band I, 96, 7.
2 D. h. des Zustandes, „wo inan die mit dem Selbst unverbundnen Dinge als selbst
eigen betrachtet“.
3 Das ist der Zustand von möksa (volle Erlösung) , im Gegensatz zu svarga (zeit-
weiliger Genuss des Himmels).
347. Die sich an den leidenschaftlichen Hang fest hän-
gen, an die wird sich fest hängen das Herzeleid.
348. Völlig durch dringen die Voll-Büsser !; die andern,
umnebelt, fallen in’s Netz2.
1 D. h. solche, die Alles aufgeben.
2 Des Geburtskreislaufs.
349. Ist man des Hanges los, so hebt’s die Geburt auf;
sonst zeigt sich nichts als Unbestand h
1 Wechsel zwischen Geburt und Tod. Vergl. 339.
350. Halt an dem Wahrheits-Halt Dess, den Leiden-
schaft nicht hält1! Dessen Heils -Inhalt halt inne zur Abhal-
tung der Leidenschaft.
1 „ An dem Heilswege , den Gott geoffenbart hat , der , obgleich er Alles hält, von
Nichts gehalten wird.“ (P.) Dieser Vers leitet auf das folgende Kapitel über.
36.
WESENS - ERKENNTNISS.
„Das, was die Sauskritaner Tatvagnäna nennen. Weil diese ,YVesens-
Erkenntniss4 dann entsteht, wenn man im Sinne von V. 350 handelt, so
folgt sie, eben in Rücksicht auf den gleichen ursächlichen Zusammen-
hang, auf die , Entsagung 4.4< (P.)
351. Aus dem Wahn, der Wesenloses für wesenhaft hält,
kommt unedle Geburt her.
54
I. Von der Tugend.
352. Denen, die, wahnlos, ohne Flecken schaun, wird es
nachtlose Wonne schaffen.
353. Denen, die des Zweifels los, sich geklärt haben, ist
der Himmel näher als die Erdenwelt.
Sie gelangen bald zur Erlösung.
354. Wenn man auch im Besitz der Fünf- Erkenntnis s
ist1, sie frommt nicht Denen, die ohne Wesens -Erkenntniss
sind.
i Die Oommentatoren verstehen unter dem Besitz der Fünf - Erkenntniss die
Zügelung der fünf Sinne (wohl eben in Rücksicht auf den Gegenstand dieser Abthei-
lung von der „Busstugend“; denn sonst könnte der Ausdruck auch auf die durch die
fünf Sinne vermittelte Erkenntniss gehen).
355. Welches Wesen es auch sei — und von welcher
Art — jenes Wesens wahres Wesen zu erschaun ist Weisheit.
356. Die liienieden lernend das wahre Wesen schauten,
bemeistern sich eines Wegs, auf dem man nicht wieder hier-
her wandert *.
i Im Geburtskreislauf.
357. Wenn das Innere das innerste Wesen1 fest erfasst,
so braucht man nicht abermals an Geburt zu denken.
i Eigentlich „Das was ist“.
358. Das höchste Gut der Herrlichkeit so zu schaun,
dass die Thorheit der Wiedergeburt weicht, ist Weisheit.
359. Wenn man, den (wahren) Anhalt fassend, von nichts
gehalten wird, so hängt der anhangende Schmerz des Daseins
sich nicht wieder zum Unheil an.
360. Lust, Zorn und Wahn — (erst) wenn selbst die Na-
men dieser Drei vergehn, wird auch der Schmerz vergehn.
„Die Sanskritaner zählen fünf Fehler auf: Unwissenheit (= Wahn) , Selbstsucht,
Habsucht, Lust und Zorn. Da aber die Selbstsucht in der Unwissenheit, und die Hab-
sucht in der Lust eingeschlossen ist, so spricht unser Verfasser bloss von dreien.“ (P.)
Austreibung der Begierde.
55
37.
AUSTREIBUNG DER BEGIERDE.
„Auch Denen, die nach rückwärts und nach vorwärts hin von That-
Leidenschaft los sind, bleibt doch der Leib und die mittelst desselben
überkommenen Thatfolgen. Wenn daher der Gedanke durch die
Macht alter Gewohnheit den Sinnendingen, denen man entsagt hat,
wieder einmal nachgeht, so wird dieser Gedanke ein Same der Geburt.
Man muss ihn daher durch unablässiges Sinnen über die wahre Wesen-
heit abschneiden.“ (P.)
\
361. Begierde nennt inan den Samen, der allen Seelen
zu aller Zeit nie endende Geburt verleiht.
362. Wünscht man, so ist Geburtslosigkeit wünschens-
werth ; wünscht man Wunschlosigkeit, so kommt sie.
363. Ein so wiinschenswerthes Heil wie Wunschlosigkeit
giebt’s nicht hienieden; auch jenseit ist seines Gleichen nicht.
364. Was man Reinheit nennt, ist Begierdelosigkeit;
wenn man Wahrheit wünscht, so kommt sie (die Reinheit).
365. Freie nennt man die Begehrfreien ; Frei’ in dieser
Art sind die Andern nicht.
Die Begierdefreien siiid von dem Geburtskreislauf (und somit absolut) frei; solche
die wohl von andern Dingen, aber nicht von der Begierde frei sind, geniessen bloss einer
relativen Freiheit. — So die Commentatoren.
366. Sich bewahren wollen — das ist die Tugend; was
dich berücken will, ist die Begier.
367. Wenn man der Begierde Thun vollends tödtet, so
kommt auf selbsterwünschtem Wreg unvergänglich Thun *.
i Das zu unvergänglichem Wesen fuhrt.
368. Die Begehrlosen sind des Elends los ; wo Begehr
ist, da kommt ohn’ Ende Elend mehr und mehr.
369. Schon hienieden lischt die Lust nicht aus, wenn die
Last der Lasten, das Gelüst, erstirbt.
370. Verbannt man das Gelüst von unersättlichem Wie-
sen, so verleiht das auf der Stelle wandelloses Wesen.
I. Von der Tugend.
56
38.
DAS GESCHICK.
.,Das ist die Fügung, dass die Lust als die Frucht der Gutthat und
das Leid als die Frucht der Uebelthat den Thäter erreicht. Da dieses
Geschick zu ^ut4 und ,Lust‘ in gleicher Weise steht, und es auch auf
die vorher besungene ,Tugend‘ Bezug hat, so findet es seine Stelle hier
am Ende der Abtheilung.“ (P.)
371. Durch das Werde - Geschick kommt Strebseligkeit,
durch das Habe --Verlier- Geschick kommt Saumseligkeit.
D. i. Wem das vergeltende Geschick Wohlstand zuertheilt, dem giebt es auch Be-
triebsamkeit; — und umgekehrt.
372. Das Verlier- Geschick macht Weisheit zum Wahn-
witz ; wo das Werde- Geschick erscheint, dehnt es den Geist1 aus.
1 „Auch des Narren.“
373. Man sinne über noch so sinnige Werke, — nur das
vorbestimmte Wissen wird uberbleiben.
374. Zweierlei besondre Artgiebt’sin der Welt: etwas Be-
sondres ist Geld und Gut; etwas Besondres ist Geist und Muth.
Dem Einen ist diess , dem Andern das bestimmt.
375. Alles Gute wird schlimm, — alles Schlimme gut,
Wohlfahrt zu schaffen.
Das Geschick verwandelt die günstigsten Gelegenheiten in ungünstige u. umgekehrt.
376. Sorg wie du willst, — was dir nicht zugetheilt ist,
das wird nicht; und wenn du’s wegschleuderst, was dir ge-
hört, das weicht nicht.
377. Auch die Hunderttausende gehäuft haben, werden
schwerlich mehr gemessen, als der Zuertheiler zuertheilt hat.
378. Nahrungslos — werden sie dann doch entsagen,
wenn, was sein soll, das Schicksal innen nicht zuwege bringt.
Wenn das Schicksal den Entschluss zum vorbestimmten Büsserleben nicht kann
zuwege bringen , so lässt es den Menschen so arm werden , dass er wohl entsagen muss.
So die Cotomentatoren.
379. Die, wenn ihnen1 Gutes wird, es für gut nehmen,
warum sollten sich die, wenn ihnen 2 Schlimmes wird, schlimm
geberden?
i In Folge früherer Gutthat. 2 In Folge früherer Uebelthat.
380. Was giebt’s Grossmächtigeres als das Geschick?
Was andres du auch ersinnst, — es kommt zuvor.
II.
VOM GUTE.
„Gut ist der auf dem Wege der Tugend gesammelte Vorrath an
Gold, Perlen u. s. w. Dies ist hier mitgesetzt, wo von der königlichen
Verwaltung, die demselben förderlich ist, geredet wird.“ tP.)
PERSÖNLICHKEIT DES KÖNIGS.
' 39.
KÖNIGS GRÖSSE.
„Das sind des Königs gute Eigenschaften und Thaten.“ (P.)
381. Heer, Volk, Gold, Rath, Bund, Burg, — wer diese
Sechs besitzt, ein Leu ist’s unter Königen !
Die sechs aufgezählten Stücke bilden das sogenannte Räsänkam „Erfordernisse des
Königs“. ,
382. Furchtlosigkeit, Freigebigkeit, Klugh eit und Geistes-
kraft — dass diese Vier nicht fehlen, ist Fürsten- Art.
383. Gewecktes Wesen, Kenntniss und kühner Muth —
die Drei sind unabtrennlich vom Erdenherrscher.
384. Von der Tugend nie wankend die Tücke wegthun,
und von der Tapferkeit nicht wankende Ehrhaftigkeit ist
Herrscherthum.
385. Erwerben, Sammeln, Wahren und das Gewahrte
gehörig spenden — das zu vermögen ist Königsthum.
386. Wenn er leicht zugänglich, nicht rauher Rede ist,
wird man des Königs Land hoch heben.
GO
II. Vom Gute.
387. Wer mit lindem Wort spendend zu schützen weiss,
dem wird die Welt durch das Wort von ihm so gross1, wie’s
ihm geliebt2.
1 Durch seinen sich in alle Welt ausbreitenden Ruf.
2 D. h. Er kann sein Reich so weit ausdehnen, als es ihm gefällt.
388. Ein König, der, Recht übend, Schutz schafft, ein
Gott ist er, gesetzt den Sterblichen!
389. Gern unterm Schirm des wackern Fürsten weilt
die Welt, der, — ist’s dem Ohr auch bitter, — ein Wort ver-
trägt.
390. Spende, Milde, ein grades Scepter und Landes-
sorge, — wem diese vier Stücke eignen, der ist ein Licht der
Landesherrn.
40.
WISSEN.
„Wenn der König Wissenschaft hat, so nützt das nicht bloss ihm,
sondern auch Andern; deswegen hat er es in die , Persönlichkeit des
Königs' aufgenommen; er spricht aber gleichwohl insgemein davon,
indem es Allen frommt.“ (P.)
391. Fehllos lerne du das zu Lernende! Hast du ge-
lernt, steh’ auch stets fest demnach.
392. Was man Zahl und Zeichen heisst, — dies Beides
nennt man „Augen der Lebenden“.
Was die Unkundigen Rechnen und Schreiben nennen, nennen die Weisen „Augen
der Lebenden“. (Wer nicht lesen und schreiben kann, dem fehlt gleichsam das Auge.)
393. Die Gelehrten nennt man augenhaft; im Gesicht
zwei Geschwüre haben die Ungelehrten.
394. Dass man zu ihnen sich gern gesell’ und stets ge-
denk von ihnen geh’ — darin ist der Gelehrten Beruf befasst.
395. Muss man auch, wie vor dem Reichen der Bettler,
demüthig stehn, — man wird ein Gelehrter; stets unten stehn,
die nicht lernen wollen.
39G. Wie man gräbt, so quillt im Sand der Brunnen;
wie man übt, so quillt die Erkenntniss h
40. Wissen. — 41. Nichtwissen.
i „Diess geschieht eben nur, wenn die Schickung nicht dagegen ist, daher denn
dieser Ausspruch mit V. 373 keineswegs im Widerspruch steht.“ (P.)
397. Was es auch sei, es wird1 zum Vaterland, zur
Vaterstadt. Was denn für Lebensart ist das, nichts lernen
wollen bis an den Tod !
i Dem Gelehrten.
398. Was Einer in Einer Geburt gelernt, — es wird ihm
frommen fiir alle sieben.
Das einmal erworbne Wissen folgt dem Inhaber durch alle Geburten. Siehe V. G2.
399. Sehend, dass das ihnen Süss’ auch der Welt süss
ist1, begehren’s die Wissenden.
1 Das Wissen nämlich.
400. Ein unvergängliches, hoch hehres Glück ist doch
das Wissen ; das Andre all ist kein Besitz.
41.
NICHTWISSEN.
„Dieses Kapitel folgt auf das vorhergehende, weil es dasselbe in
negativer Weise vollendet.“ (P.)
401. Wie auf felderlosem Brete Spielen mit Kugeln, so
in der Versammlung Sprechen ohne Fülle des Studiums.
Beides geht ins Ungewisse. Das Studium füllt die tabula rasa des Geistes. Die ein-
zelnen Felder sind gewissermassen die literae.
402. "Wünscht ein Ungelehrter das Wort zu nehmen, —
s’ist wie wenn Eine, der beide Brüste fehlen, ein Weib sein will.
403. Auch die Ungelehrten sind ganz gute Leute, wird’s
ihnen nur vor Gelehrten zu schweigen möglich.
404. Des Ungeschulten Geist — und wär’ er zum Ueber-
fliessen wacker 1 — lassen nicht gelten die Wissenden.
1 In manchen Stücken. „Wie ein auf Wasser geschriebener Buchstabe , so ist der
Ungelehrten Wissen ohne festen Stand.“
405. Des Ungeschulten Fertigkeit1 fällt über den Hau-
fen, wenn er das Wort ergreift vor voller Versammlung2.
1 Die er sich einbildet.
62
II. Vom Gute.
2 P.: „Sobald (ein Gelehrter) sie ins Auge fassend zu sprechen anhebt." V. nach
P. : „Was steht, bis er irgend ein Wort äussert, das fallt, nachdem es geäussert ist, bei
der Gegenrede über den Haufen.“
406. Es lässt sich bloss sagen „sie sind“. Sonst gleichen
sie fruchtlosem Sandboden, — die Ungelehrten.
407. Wer ohn’ eindringend Wissen voll geistiger Herr-
lichkeit, dess Schön’ und Güt’ ist wie ein aus thönerner Herr-
lichkeit geformtes Bild.
408. Böser als Blösse bei Tüchtigen ist Fülle bei Bil-
dungslosen.
400. Ungelehrte, auch hochgeboren, reichen an Würde
nicht an die, die, ob schon niedrig geboren, Gelehrte wurden.
410. Wie Menschen und Tliiere — so zu einander stehn,
die glänzendes Wissen übten, und die Uebrigen.
42.
HÖREN.
„Das ist hören, wenn Diejenigen, die in den Sinn der zu studirenden
Schriften eingeweiht sind, reden. Weil man, nachdem man gelernt
hat, die daraus erwachsene Kenntniss befestigt und sie auch da, wo
Unwissenheit war, erzeugt, so folgt dieses Kapitel auf die beiden vor-
hergehenden von , Wissen4 und , Nichtwissen4. 44 (P.)
411. Der Wohlfahrt Wohlfahrt ist die Wohlfahrt in Folge
von Wohlhören. Jene Wohlfahrt ist aller Wohlfahrt Krone.
412. Wenn man ohne Ohren speis’ ist, mag man dem
Leib’ auch ein Weniges geben.
D. h. So lange man guter wissenschaftlicher Unterhaltung geniesst, denkt man nicht
an Essen und Trinken.
413. Die mit Ohrenspeise versorgten Hörer gleichen auf
Erden schon den mit Opferspeise versorgten Vollendeten.
Die OhreDspeise ist so zart wie Opferduft.
414. Wenn man auch kein Gelehrter ist, man höre doch 1 !
Das ist im Unglück stützender Stab.
t Das Gespräch Gelehrter.
42. Hören. — 43. Weisheit. ßg
415. Wie an schlüpfrigem Ort ein Stab, ist das Wort
aus Derer Mund, die richtig wandeln.
416. Wie viel es auch sei, was gut ist, höre man! Wenn
es auch nur so viel 1 ist, es verleiht vollkommene Grösse.
1 D. i. sehr, sehr wenig.
417. Wenn gleich mangelhaft erkennend, — Albernes
werden die nicht sagen, die, fleissig forschend, Gediegnes
hören.
418. Ein Ohr, das nicht durch Hören gehöhlt ward, hat,
wenn auch hörend, Nichthörens- Art.
Das Ohr, durch das kein Unterricht gegangen , ist gleichsam ohne Höhlung — und
folglich taub. (Vergl. das Hebräische FHS, „Durchbohren“, Ps. 40, 7.)
419. Deren Ohr Scharfsinniges nicht gehört, die werden
schwerlich bescheidnen Munds.
420. Die Menschen, die, mit dem Ohr nichts schmeckend,
nur mit dem Munde schmecken, — ob sie sterben oder leben,
was thut’s?
„Die Geschmäcke, die uns durch das Ohr zu Theil werden, beziehen sich theils auf
den Ausdruck (Correctheit und rhetorische Figuren) , theils auf den Inhalt (die soge-
nannten 9 rasa, , Geschmäcke4 oder Gegenstände pathetischer Darstellung: Liebe,
Scherz, Huld, Zorn, Muth, Schrecken, Widerwillen, Erstaunen und Zufriedenheit).“ (P.)
Der Geschmäcke, die uns durch den Mund zukommen , zählt man G (bitter, süss,
sauer, salzig, herbe, prickelnd).
43.
WEISHEIT.
„Das ist der Besitz des (praktischen) Wissens zugleich mit dem durch
Ueben und Hören erzeugten (theoretischen) Wissen.“ (P.)
421. Weisheit ist die Waffe, die vor Verderben wahrt.
Sie ist die auch vom Feind nicht zu zerstörende innerste Feste.
422. Weisheit ist, was den Sinn1 seinen eignen Weg2
nicht gehen lässt, vom Bösen lenkt, zum Guten leitet.
1 Manas , das Vermögen der Vorstellung und der Erregung. Es steht an der Spitze
der äussern Sinne.
2 Den Sinuendingen nach.
64
II. Vom Gute.
423. Welche Sach und aus welchem Mund 1 man sie auch
höre, jener Sache wahren Sachgehalt ersehn ist Weisheit.
l ,,Denn man hört zuweilen erhabne Dinge von gemeinen Leuten; gemeine Dinge
von erhabnen Leuten ; heilsame Dinge von Feinden und verderbliche Dinge von Freun-
den.“ (P.)
424. Weisheit ist so sprechen, dass Alles wie leichtes
Ding eingeh’, und die schweren Ding’ aus Andrer Mund leicht
fassen.
425. Sich eng an die Weisen schmiegen ist Klugheit;
Weisheit, dass dabei ein Er- und Wiederverschliessen1
nicht statt hat.
1 ,,Man soll sich dabei nicht wie die Wasserblume verändern, sondern wie die Köttu-
Blume (die sich nicht er - und verschliesst) beständig sein.** (P.)
426. Wie die Welt wandelt, so mit der Welt wandeln
ist Weisheit.
Der König darf nicht sprechen : „Weil ich die ganze Welt bestimme, so ist Niemand,
der mich bestimmen könnte.“ (P.i Ueber den Begriff „Welt“ vergl. Anm. zu V. 280.
427. Die, was gesehehn wird, wissen, sind die Weisen;
die Unweisen die in solchem Wissen Ungeübten.
428. Das zu Fürchtende nicht fürchten ist Thorheit; das
zu Fürchtende fürchten ist der Weisen Thun.
429. Den Weisen, die sich in zuvorkommender M eise
wahren, kommt kein Uebel in erschütternder "Weise zu.
430. Die Weisen haben Alles, die Unweisen, — was sie
auch haben, — Nichts.
44.
ZÜCHTIGUNG.
„Sie besteht darin, dass der König die sechs Fehler: Lust, Grimm.
Habsucht, Hoffart, übertriebene Freude und geistige Trunkenheit, in
sich selbst straft und abthut. Da nur Weise diese Fehler als Schuld zu
erkennen und zu strafen vermögen, so folgt dieses Kapitel auf das von
der , Weisheit'.“ (P )
431. Die Grösse Derer, die ohne Blähn1, Grimm und
gemeine Lust, ist wahrhaft grossgeartet.
i Dies soll der „geistigen Trunkenheit“ entsprechen.
44. Züchtigung. — 4-’>. Die Grossen sich zur Hülfe nehmen. Qq
432. Knauserei, unedles Edelthun und adellose Freude
sind Fürsten -Fehler.
433. Wenn Schuld auch nur in Hirsekorns-Grösse naht,
die vor dem Fehl sich fürchten, sehen sie in Palmyra-Grösse.
434. Vor dem Fehl hüte dich zu deinem Heil. Fehl ist
Verderben bringender Hass.
435. Wer sich nicht hütet, bevor (der Fehl) kommt,
dess Wohl vergeht wie vor’m Feuer Stroh.
436. Wenn er, den eignen Fehl ausstossend, des Andern
Fehl wohl sieht1, welcher Fehl kann dann noch den Fürsten
befallen?
i Und ahndet.
437. Wer, was gethan zu werden Anspruch hat, nicht
tliuend, knausert, dess Wohl geht, ohne Anspruch auf Auf-
schwung, unter.
438. Die Knauserei habsüchtigen Herzens gilt unter
allen (Fehlern) als ohne Gleichen.
439. Erheb’ dich selber nie! Erstreb nie eine That, die
nicht Gutes fruchtet.
440. Treibt man Gewünschtes, ohne den Wunsch wissen
zu lassen, so werden schädlicher Leute Gespinnste schadlos.
45.
DIE GROSSEN SICH ZUR HÜLFE NEHMEN.
„Das ist Leute von grosser Weisheit (Rathgeber und Priester), die ihn
(den König) vom bösen Wege zurückhalten, und auf dem guten Wege
vorwärtstreiben, sich als Helfer zugesellen.“ (P.)
441. Die Freundschaft Derer, die, Tugend wissend, von
reifem Wissen sind, erkenn und wähl’ er, die Mittel 1 wissend.
1 Die zu einer solchen Wahl führen.
442. Er heg' und pflege Männer, die vorhandne Noth
verscheuchen, ihr Kommen aber verhüten können,
in. 5
II. Vom Gute.
66
„DieNotli, die von der göttlichen Schickung kommt, besteht in Regenlosigkeit,
Regenübermaass , Sturm, Feuer , Krankheit; sie wird durch heilige Sühnen beseitigt.
Die Noth, welche die Menschen bereiten, kommt von Feinden, Dieben, Verwandten, Ar-
beitern; sie wird durch das grade passende der vier Mittel: , Zugutereden , Spaltung,
Spende und Strafe ‘ beseitigt. Das Verhüten besteht darin , dass man das, was von der
göttlichen Schickung kommt, aus Vorzeichen erkennt, und durch die vorerwähnten
Sühnen abwehrt, das aber, was von den Menschen kommt, aus dem Charakter , den
Kundgebungen, und aus ihrem offnen Thun und Treiben erkennt und durch eines der
vorerwähnten (vier) Mittel abwehrt.“ (P.)
443. Das Seltenste von allem Seltenen ist grosse Männer
pflegend zu den Seinen machen.
444. Dass (ein König) so wandelt, dass die, so grösser
sind, die Seinen werden, ist die Krone der Königskraft.
445. Weil ein König nur durch das Auge seiner Umge-
bung herrscht, so geh’ er sich um seine Umgebung der Prü-
fung hin.
446. WTer als der Wackern Freund zu wandeln weiss,
dem kann kein Feind beikommen.
447. Wer ist stark genug, den zu stürzen, der strafende
Käthe hat?
448. Der liülflose Herrscher, der ohne Belehrer ist, wird
verstört, auch wo kein Verstörer ist.
449. Für den, der ohue Capital ist, kein Gewinn! Fin-
den, der ohne stützende Lehne ist, kein Halt!
450. Zehnmal schlimmer als der Menge Hass auf sich
häufen ist der Guten Freundschaft fahren lassen.
46.
VON „KLEINER GESELLSCHAFT“ SICH FERN HALTEN.
„Kleine Gesellschaft ist der Haufe Derer, die am Guten das Gute und
am Bösen das Böse leugnen, Schurken, Bösewichter u. a. Wenn man
sich dieser, welche die Weisheit verkehrt und das gegenwärtige wie
das nachfolgende Sein zu verderben geartet ist, auschliesst, so ist es
rein umsonst, dass man sich die , Grossen zur Hülfe nimmt1. Um diess
zum Bewusstsein zu bringen, lässt er nun dieses Capitel auf jenes
folgen.“ (P.)
451. Geistes - Grösse fürchtet kleine Bekanntschaft;
Geistes -Kleine umfasst sie als Verwandtschaft.
46. Von kleiner Gesellschaft sich fern halten.
67
452. Durch des Bodens Art wandelt das Wasser sich
und wird wie er; die Art der Gesellschaft nimmt der Geist
des Menschen an.
453. Durch den eignen Sinn kommt dem Menschen die
Wahrnehmung 1 ; die Red’ aber „Er ist so beschaffen“ durch
die Gesellschaft2.
1 Manas , der innre Sinn. Es ist hier von der empirischen Wahrnehmung mittelst
der fünf Sinne die Rede, an deren Spitze Manas (siehe V. 432) steht.
2 Nach dem Spruche: Similes cum similibus facillime congregantur. „Hier be-
kämpft er die, welche .die Vergleichung* (upamäna) als Erkenntnissquelle verwerfen und
sprechen: Auch jene Wissensmodification kommt durch da^eigne) Manas.“ (P.)
454. Die Weisheit zeigt sich wohl wie aus des Innern
Umfang, stammt aber doch aus dem äussern Umgang.
455. Beides, Lauterkeit des Sinns und Lauterkeit des
Thuns, schreitet einher am Stab der Lauterkeit des Umgangs.
456. Den an Gemüth Reinen geräth die Nachkommen-
schaft1; für die an Gesellschaft Reinen giebt’s keine That,
die nicht geräth 2.
1 „Weil die Wirkung von der Ursache nicht verschiedenartig ist.“ So, im Sinne des
Sänkja- Systems, P.
2 „Weil sie mit guten Freunden bedacht und verrichtet wird.“ (P.J
457. Güte des Gemüths verleiht den Lebendigen Wohl-
fahrt, Güte der Gesellschaft alles mögliche Lob.
458. Selbst wenn man ein gut Theil 1 Güte der Seele hat,
den Weisen gilt Güte des Umgangs als rechter Hort.
1 P. : ,, Selbst wenn man, in Folge (früherer) Gutthat, Güte der Seele etc.“
459. Durch die Güte der Seele kommt künftiger Segen1;
sie hat einen Hort an der Güte des Umgangs2.
1 ,,Der Verfasser bekennt sich zu der Ueberzeugung, dass das, was für die nächste
Existenz frommt, einzig und allein Güte der Seele ist.“ (P.)
2 „Wenn die Güte des Herzens durch die Kraft des tamöguna (siehe Einl. zu V. 1)
sich alterirt, so helfen wackre Freunde zurecht.“ (P.)
460. Kein so hehrer Halt wie gute Gesellschaft, keine so
heillose Gewalt wie böse Gesellschaft.
68
II. Vom Gute.
47.
WIE MAN PRÜFEND HANDELT.
„Wenn der Umstand, dass man sich ,die Grossen zu Hülfe nimmt'
wirklich von Nutzen ist, so handelt man eben mit ihnen; darum folgt
dieses Kapitel auf das vorhergehende, wo davon die Rede ist, dass
mau sich von , kleiner Gesellschaft1 fern zu halten habe.“ (P.)
461. Aufwand und Eintrag und den all mii hl ig reifen-
den Gewinn bedenkend handle.
462. Die mit erwählter Schaar erwägen, nochmals be-
denken und dann handeln, — für diese giebt’s auch nicht Ein
Schweres.
463. Der That, die auf Zinsen zielt und das Capital
verspielt, unterziehn sich nimmer die Weisen.
464. Die vor der Rüge Schmach bangen, fangen nichts
Unklares an.
465. Ohne den Sachverhalt 1 gründlich anzusehn, loszu-
gehn — das heisst die Feind’ im Feld befestigen.
i „Die gegenseitige Stellung nach Streitkraft, Ort und Zeit, die beste Weise die Sache
anzugreifen, die zu befürchtenden Hindernisse, die Mittel, um sie zu beseitigen, die Art,
wie man zum Siege gelangt, den daraus fliessenden Gewinn u. s. w.“ (P.)
466. Thut man, was man nicht thun sollte, verdirbt man;
auch dadurch, dass man nicht thut, was man thun sollte, ver-
dirbt man.
467. Man wäg’ und wage! Ein Fehler ist’s nach gewag-
ter That zu sprechen: Wir wollen’s erwägen!
468. Die um die rechte Weise1 sich nicht mühende
Mühwaltung, — auch wenn noch so Viele wahrend und weh-
rend beistehn, — wird fehl gehn.
i D. h. um die richtige Anwendung der „vier politischen Mittel“ (siehe Anra. zu
V. 442), so dass man den Geldgierigen mit Geld abfindet, den Billigdeukenden, den Trä-
gen und den Friedliebenden mit freundlichen Worten versöhnt, die feindlichen Alliirten
uneins macht, und erst, wenn das alles nicht hilft, zur Strafe schreitet. (P.)
469. Auch bei gutem Handeln ist’s ein falscher Tritt,
wenn man nicht Jedes Charakter erkennend handelt.
47. Wie man prüfend handelt. — 48. Die Stärke kennen.
69
470. Nicht zu Tadelndes erdenkend handle; zu dem, was
dir nicht ansteht, wird auch die Welt1 nicht stehn.
i Siehe Anm. zu V. 280. — Der Starke soll nicht zu den Mitteln des Schwachen (Zu-
gute reden, Spende, Spaltung), der Schwache nicht zu dem Mittel des Starken (Strafe)
greifen. (P.)
48.
DIE STÄRKE KENNEN.
„Dass der König, der von den (vier politischen) Mitteln die, Strafe1
gewählt hat, die vierartigeu Streitkräfte wohl bemisst.“ (P.)
471. Der That Grösse, die eigne Grösse,, des Feindes
Grösse, der Helfer Grösse1 wohl wägend handle!
1 Auf beiden Seiten.
472. Denen, die, was möglich, und was sonst zu wissen,
wissen und darin verharrend auf den Feind losschlagen, ver-
fährt sich nichts.
473. Wie Viele, die, die eigne Macht verkennend, sich
erheben in Ueberhebung und dann mitteninne zerkrachen!
474. Wer nach aussen unangemessen handelt, seinMaass
nicht kennt, sich selbst vermisst, kommt eilends um.
475. Auch dem mit Pfauenfedern beladnen Wagen
bricht die Achse, belädt man ihn mit dieser Waare im Ueber-
mass.
Auch der stärkere König kann von schwachem übermocht werden , wenn deren
mehrere sich gegen ihn verbinden.
476. Wenn, wer des Astes Spitz’ erstiegen, sich drüber
hinaus versteigt, dess Leben erreicht sein Ende.
,, Hiermit wird der Fehler gerügt, der entsteht, wenn man , die Grösse der That-
(siehe Vers 471) nicht gehörig bedenkt.“ (P.)
477. Spende, das Maass vom Flusse (deines Ver-
mögens)1 kennend. Das ist zu Wohlstands Wahrung der
rechte Weg.
i P. : das Maass auf dem Wege sc. des Spendens. Vergl. jedoch den folg. Vers.
478. Wenn auch der Zufluss schmal ist, es schadet nicht,
wenn nur der Abfluss nicht breit ist.
70
II. Vom Gute.
479. Das Leben dess, der, ohne Kenntniss des Maasses
lebt, geht, beim Schein der Fülle zunichte werdend, scheinlos
zugrund.
480. Einer die vorhandne Grenze nicht ermessenden
Freigebigkeit schwindet jach das zugemessne Gut.
49.
DIE ZEIT KENNEN.
„Dass der König, der, durch seine Macht überlegen, gegen den Feind
ziehen will, die dazu gelegne Zeit erkennt.“ (P.)
481. Am Tage siegt die Krähe über die Eule ob. Für-
sten, die ihren F eind besiegen sollen, brauchen die rechte Zeit.
482. Ein Verfahren im Einklang mit der Gelegenheit ist
ein das Glück fest bindendes Tau.
483. Giebt es denn etwas, das man eine „schwere That“
nennen kann, wenn man mit dem rechten Mittel, die rechte
Zeit erkennend, handelt?
484. Auch wenn du nach der ganzen Welt trachtest, sie
fällt dir zu, dafern du nur, nach der rechten Zeit trachtend,
dem Orte gemäss handelst.
485. Die nach Weltherrschaft ausschaun, — nach der
Zeit ausschauend ausharren sie imbeirrt l.
l Die Commentatoren ziehen dieses Wort zu „ausschauen“. Offenbar minder
passend.
486. Des kühnen Kämpen Rückhalt hat das wackre We-
sen des Streitwidders, der zum Ansprung zurück sich zie-
hend ansetzt.
487. Ein kluger König grollt nicht sogleich „hui, hui!“
nach aussen hin, — nein innerlich — die Zeit ersehend.
488. Siehst du den Feind, so senk dein Haupt1! Siehst
du die Zeit seines Sturzes, so kommt sein Haupt herab.
t Nach dem Texte ..geduldig wie unter einer Last “.
•IS». Die Zeit keimen. — 50. Den Ort kennen.
71
489. Wenn schwer Herzustellendes sich einstellt, dann
auf der Stelle verrichte schwer zu Verrichtendes.
490. Den Reiger1 nimm zur Regel zur Wartezeit! Zur
rechten Zeit sein Zufahren.
1 Der in (len bewässerten Reisfeldern den Fischen regungslos audauert.
50.
DEN ORT KENNEN.
,.Dass der nach Erkenntniss der Macht und der Zeit auf den Feind
loszugehn vorhabende König den zum Sieg gelegnen Ort erkennt.“ (P.)
491. Fang ja nichts an, denk’ nicht gering, ausser du
sahst den Ort zum Einschluss aus.
„Ein zum Einschluss des Feindes angemessner Ort hat Raum uüd Wasser für einen
sichern Aufenthalt vieler Heere zu gegenseitiger Hülfsleistung — bei Umzingelung des
Feindes dergestalt dass ihm weder durch Thüren , noch durch unterirdische Gänge ein
Zu- und Ausgang bleibt — und für einen mit Mauern, Gräben u. s. w. befestigten Königs-
Aufenthalt.4* (P.)
492. Auch dem mit „Trutz“ verbundenen Haudegen
leiht der mit „Burg“ verbundene Schutz viel Vortheil.
493. Auch Ohnmächtige mögen mächtig dreinhaun,
wenn sie, den Ort kennend, dem Gegner behutsam entgegen-
handeln.
494. Die mit Plänen kommen, werden ihre Pläne fahren
lassen, wenn, den Ort kennend, die Angenahten nah an-
rücken.
495. In grossem Gewässer wird das Crocodil obsiegen ;
verlässt es das, so machen’s zu nichte die Andern.
496. Auf der See läuft nicht der rad- starke Wagen; das
die See durchlaufende Schiff läuft nicht auf der Erde.
497. Einer andern Hülfe bedarf es nicht als furchtlos zu
sein, dafern man, fehllos erwägend, dem Orte gemäss vorgeht.
498. Wenn Einer mit einem sehr kleinen Heer einen
günstigen Ort wählt, so kann auch ehe Macht Eines mit einem
sehr feinen Heer zugrunde gehn.
72
II. Vom Gute.
Oder: Wenn Einer mit einem grossen Heer sich au den Ort begiebt, der fiir Den
mit einem kleinen Heere gelegen ist, so kann seine Macht zugrunde gehen. So die Com-
mentatoren.
499. Fehlt ihnen auch der Feste Vortheil und sonstiger
Vorzug, schwer ist’s mit Leuten in ihrem Land anbinden.
500. Im Fuss- einsinkenden Sumpf fällt der Schakal den
Elephanten, der auf seinen Hauer Belanzte fädelt1, mit
furchtlosem Aug.
1 So die Commentatoren. Wörtlich: ,, mit seinem Belanzt?n- Gesicht“.
51.
FORSCHEND GEWISS WERDEN.
„Das ist bei der Wahl der Minister u. s. w. Geburt, Charakter,
Wissen und Thun nach den Regeln der empirischen Erfahrung, For-
schung und der heil. Schrift ins Klare bringen. Weil Demjenigen, der
die drei Dinge: Stärke, Ort und Zeit (Capitel 48 — 50), erkannt hat und
nun auf den Feind losgehen will, diese Gewissheit dazu dass das Heer
mit Lust seine Pflicht thue und sich nicht widersetze, von nöthen ist,
so folgt dieses Capitel auf die drei vorhergehenden.“ (P.)
501. Den Charakter in Bezug auf die Vier — Tugend,
Gut, Lust und Todesfurcht — von Grund aus ausforschend
bestimme man!
P. giebt die Methode dieser Ausforschung an. Als Beispiel die in Bezug auf die
Tugend: „Man schickt Priester und tugendhafte Leute und lässt durch sie unter feier-
licher Betheurung sagen: ,Da dieser König tugendlos ist, so haben wir daran gedacht,
ihn hinwegzuräumen und einen Tugendhaften an seine Stelle zu setzen. Daä ist Aller
Meinung; was denkst du von der Sache?1 “
502. Die Wahl falle auf den, der edelgeboren, schuldfrei,
Brandmal scheuend, schamhaftig ist.
503. Auch bei Einem, der Schweres gelernt hat und
ohne Makel ist, — wenn man genau nachforscht, — wird Irr-
thumslosigkeit sich schwerlich finden h
i Um wie viel weniger bei Solchen , die weder etwas gelernt haben , noch richtig
wandeln.
504. Den Tugenden nachforschend, den Untugenden
nachforschend, dem, was dabei vorwiegt, nachforschend an
das Vorwiegende halte dich!
51. Forschend gewiss werden. — 52. Weise Geschäftsführung. ytj
505. Des Menschen Handeln ist für seine Hoheit — und
Gemeinheit ein guter Prüfstein.
506. Ganz Bloss - Stehende 1 zu wählen hüte dich ! Als
Haltlos -Stehende fürchten sie nicht den Fehl.
i Die Commentatoren: „Verwandten -bloss Stehende.“ Wohl zu eng.
507. Auf Neigung hin Unwissende wählen, wird alle
Narrheit zuwege bringen.
508. Wer einem Fremden, ohne zu forschen, traut, dem
bringt das selbst für seine Nachkommen nie weichendes
Nachweh.
509. Trau Niemandem ohne treues Prüfen; hast du ge-
traut, so vertrau (deinem Vertrauten) ein ihm vertrautes
Geschäft.
510. Traun ohne treues Prüfen und dann an dem Ver-
trauten zweifeln, bringt nie sich wendend Weh.
52.
WEISE GESCHÄFTSFÜHRUNG.
„Diese besteht darin, dass man weiss, zu welchen Geschäften die so
Gewählten passen und sie dazu brauchen.“ (P.)
511. Wer so ist, dass er, das Gut’ und Bös’ erwägend,
das Gute begehrte x, der lässt sich brauchen.
ID. i. bei einem vorläufiger Prüfung halber ihm aufgetragnen Geschäfte.
512. "Wer, des Einkommens Wege weitend, Wohlstand
wirkt, und Alles, was hemmt, genau erforscht, der verseh’
das Geschäft.
513. Bei Dem, der Liebe, Wissen, festes Wesen und
Nichtbegier — diese vier Stück’ — unzerstückt besitzt, da ist
klare Wahl.
514. Wenn sich Einer auch in aller Weise bewährt hat,
Derer, die sich (nachher) in der Weise der That anders be-
weisen, sind Viele.
74
II. Vom Oute.
515. Nur wo man mit Kenntniss und Geduld zu handeln
geschickt ist, nicht wo's bloss heisst „Ein Trefflicher!“
schickt sich der Geschäft’ Uebertragung.
51G. Den, der handeln soll, erforschend und auch, was
zu handeln ist, erforschend, handle, wenn mit der Zeit du’s
stimmen siehst.
517. „Diess wird durch dieses Dieser vollbringen!“ So
erwägend überlass dies Diesem.
518. Hast du Eines Eignung zum Geschäft erforscht, so
setz’ ihn in dazu geeignete Lage.
519. Die Glücksgöttin wird Den vergessen, der die trau-
liche Haltung des im Geschäft treu Geschäftigen übel ver-
merkt.
Er geht zugrund, weil, wenn er eine solche trauliche Haltung eines treuen Dieners
übel vermerkt, ihm Niemand mehr wird dienen wollen. (P.)
520. Der König forsche fort und fort! Geht der Ge-
schäftsführende grade fort, so geht auch die Welt grade fort.
53.
DIE ANGEHÖRIGEN UMFASSEN.
„Das ist, die Angehörigen so hegen und pflegen, dass sie sich nie
entfremden.“ (P.)
521. Auch wenn Einer (alles) Haltes baar ist, — in Ehren
gehalten wird bei Verwandten das alte Verhältniss.
522. Fällt Einem eine Verwandtschaft zu mit nie welken-
der Liebe, so schafft das viel Segen mit nie welkendem
Triebe1.
,, So sagt der Verfasser , um ihn zu unterscheiden von dem Segen , den man selbst
sich schafft." (P.)
523. Das Wohl eines Fürsten ohne Anlehnung 1 ist wie
wenn sich mit Wasser füllt uferlosen Teiches Ausdehnung.
1 An wackre Verwandten.
524. Der Segen, den man, wenn man das Glück erlangt,
53. Die Angehörigen umfassen. — 54. Nicht saumselig sein. ^5
erlangt, besteht in dem Benehmen, dass die Verwandten aus-
harren unverwandt.
Das kann entweder heissen: Welchem König das Glück recht wohl will, dem
schenkt es eine liebevolle Gesinnung gegen die Verwandten, die dann treu ausharren.
Oder: Ein König kann die ihm zugefallnen Glücksgüter nicht besser anwenden, als sich
damit seine Verwandten für immer zu verbinden. Die letztere Erklärung seheint die na-
türlichere zu sein.
525. Uebt man Spend’ und freundliche Sprache, so um-
geben ergebne Verwandte den König schaarenweis.
526. Auf der grossen Erde hat Niemand mehr auf seiner
Seite als wer viel giebt und Zorn nicht liebt.
527. Nicht hehlend, ruft der Rabe zuerst — und speist
dann; den so Gearteten wird selbst Gewinn.
528. Wenn der König nicht Alle gleich, sondern je nach
Verdienst ansieht, so werden, das ansehend, Viele gern mit
ihm leben.
529. Die Freundschaft Derer, die, erst die Seinen, seinen
Umgang mieden, wird, wo Zwistes -Ursach nicht besteht, sich
einstellen.
530. Wenn Einer (ohne Ursach) ‘seinen Dienst verlässt
und dann um einer Ursach willen wieder kommt, so dien’
ihm 1 sein Herr, harr’ und nehm’ ihn bedachtsam an.
1 Beschi liest (statt iUeittu) i?eittu und übersetzt demgemäss ,,so erbarme sich etc.“
54.
NICHT SAUMSELIG SEIN.
„Das heisst sowohl in der Selbstbeschützung, als in den Dingen,
welche die Zerstörung der Feinde u. s. w. betreffen, nicht träge sein
aus stolzer Lust an Schönheit, Reichthum und Stärke.“ (P.)
531. Schlimmer als überwallender Zorn ist Selbst-
vergessenheit in übermässiger Freude Jubel.
532. Trägheit tödtet den Ruhm, wie ewig Darben den
Geist.
533. Für den Trägen kein Lobes- Segen! Das ist ein
klarer Satz für allartiger System’ Anhänger.
76
II. Vom Gute.
534. Keine Burg für Feige ! Für Faule kein Gut!
Dem Feigen hilft selbst eine Burg nicht; dem Faulen hilft das grösste Gut nicht.
535. Wer ohne Vorsehn sich gehen lässt, wird nachher
in der Noth sein Versehn bejammern.
536. Wenn der Fehler der Achtlosigkeit Jedwedem gegen-
über zu aller Zeit vollkommen fehlt, so ist das ohne Gleichen.
537. Unthunliches, da’s heisst, „es ist zu schwer“ giebt’s
nicht, wenn man mit stets wackrem Sinn bedächtig wirkt.
538. Dem Vorgepriesenen1 naclilebend handle er; für
die, die so zu thun versclnnähn, giebt’s keine „Siebengeburt“2.
1 Dem, was in den h. Schriften als Tugend gepriesen worden.
2 D.h. Für sie ist die Existenz in dieser Welt (die in sieben Arten zerfallt; s. V. 62)
unnütz, indem sie dadurch in ihrer Vollendung nicht gefördert, sondern gehemmt wer-
den. Auch für den rechtgläubigen Hindu -Philosophen ist dieses Leben, obgleich ob-
jectiver Weise vomUebel, subjectiver Weise eine Art „Gnadenzeit“. (Vergl. Th. I,
S. 151—152.)
539. Der in That - Unlust Untergegangnen denk’, wenn
Bethörung dich bei jubelnder Lust beschleicht,
540. Leicht ist, was man im Sinn hat, zu erhalten, kann
man, was man im Sinti hat, im Sinn behalten.
55.
GKADES SCEPTER.
„Da Gerechtigkeit von einem nicht saumseligen Könige zu üben ist,
so folgt dieses Kapitel auf das vorige.“ (P.)
541. Prüfen, ohne Ansehn dem Rechte gemäss gegen All’
erkennen und handeln — ist Gerechtigkeit.
542. Im Aufblick zum Regen lebt die ganze Erde. Im
Aufblick zu des Königs Scepter lebt der Bürger.
„Wo der königliche Schutz fehlt, da hat, auch wenn noch so viel Nahrung (in Folge
reichlichen Regens) vorhanden ist, der Unterthan dess keinen Nutzen.“ (P.)
543. Was — den Satzungen der Hohen 1 und der Tugend-
übung ein Fundament2 — fessteht, ist das Fürsten- Scepter.
1 Antanar (siehe Anm. 1 zu V. 30) bezeichnet im Allgemeinen alle Weise, und dann
auch Brahminen und Götter.
55. Grades Scepter. — 56. Ein hartes Scepter.
<7
* Eigentlich: Anfang. „Denn, obgleich die h. Schriften ohne Anfang sind, so kom-
men sie doch an einem Orte , wo keine gerechte Regierung ist, nicht zur Geltung.“ (P.)
544. Wenn eines grossen Landes Fürst sein Volk um-
fassend das Scepter schwingt, so wird die Welt seinen Fuss
umfassend stehn.
545. Regen und Fruchtsegen zuhauf wohnen im Land
des Königs, der schön sein Scepter schwangt.
546. Sieg schafft nicht das Schwert, — nein, das Königs-
scepter, wenn ohne Bug auch dieses 1 ist.
t Wie alles Andre am König.
547. Der König schützt die ganze Welt, ihn schützt das
Recht, wenn er es ohne Anstoss 1 übt.
i V. und P. : ,, Die Uebung des Rechts ohne Anstoss lässt sich ersehen an dem Bei-
spiel des Tschola-Königs, der seinen Sohn auf ein Wagenrad spannen liess , und an dem
Beispiel des Pandja- Königs , der seine Hand verstümmelte, die an eine fremde Thür
geklopft hatte.“
548. Ein Fürst, der nicht, leichten Zugangs, forschend
das Recht fördert, wird in Folge seines seichten Zustands
von selbst vergehn.
549. Die Unterthanen äusserlich schützend, innerlich
pflegend, den Fehl strafen ist kein Fehl, nein Fürsten-Pflicht.
550. Wenn ein König Todtschläger mit Tode straft, das
ist, w’ie wenn man auf grünem Gefilde das Unkraut jätet.
Es lässt sich auch übersetzen: Wenn ein König diejenigen, die im Morden grausam
sind, straft u. s. w.
56.
EIN HARTES SCEPTER.
„Diess folgt als das Gegentheil von dem Vorhergehenden.“ (P.)
551. Uebler als die, so Mord üben, ist ein Fürst, der,
Druck übend, frevelt.
552. Die Bitte dess, der mit dem Scepter dasteht, ist
wie ein „Gieb!“ aus dem Munde dess, der mit dem Schwerte
dasteht.
553. Wenn ein Fürst nicht immerfort forschend Ordnung
schafft, so verfällt immerfort das Land.
78
II. Vom Gute.
554. Land und Leute zumal verliert der Fürst, der un-
bedenklich ein krummes Scepter schwingt.
555. Ein alles Wohl zerfeilend Werkzeug, ist das nicht
die — wenn man sein Weh nicht länger ertragen kann —
geweinte Thräne?
556. Ein grades Scepter ist dem Herrscher bleibende
Herrlichkeit; wo das fehlt, behält der Ruhm des Herrschers
die Herrschaft nicht.
557. Was Mangel an Regen dem Gefilde, das ist dem
Lebendigen der Mangel an Königs -Milde.
558. Bittrer ist Besitz als Mangel, wenn man unter dem
Scepter eines nicht recht waltenden Fürsten wohnt.
559. Wenn ein König das Recht wandelnd waltet, so
wandelt sich des Regens Ordnung, und nicht träufeln mag die
Wolke.
560. Wo der Volkshüter nicht hütet, hört der Nutzen
der Kuh1 auf, und die „ Sechswerkler“2 selbst vergessen der
Regel.
1 In dem Lande , das von einem ungerechten Könige regiert wird , regnet es nicht
(V. 559); wo es aber nicht regnet, da hört Viehzucht und Ackerbau, wobei ja die Kuh
die Hauptrolle spielt, auf.
2 Die Commentatoren verstehen darunter die Brahminen und zwar in Ueberein-
stimmung mit Manu, der dem Sudra nur eine Pflicht, dem Kschatrija fünf (Jägnavalkja
macht nur vier namhaft; 1,118 — 119), dem Vaisja sieben, dem Brahminen aber sechs
Pflichten anweist Manu I, 88 — 94 )*. Der Sinn der Stelle dürfte demnach der sein: Wo
der König nicht auf das Recht sieht, da verfallen die Brahminen in ein unordentliches
Wesen (s. V. 543).
Dass hier „Kuh“ (das Svmbol des Ackerbaues und der Cultur) und Brahminen (die
Träger der religiös-sittlichen Ordnung) zusammengenannt werden . ist nicht von unge-
fähr. Wenn ein Xair auf der Westküste seinem Könige huldigte , so gürtete ihm dieser
das Schwert um mit den Worten: Schütze Brahminen und Kühe. (Siehe meine Reise nach
Ostindien, III, S. 231.)
* Die Tamulen theilen gegenwärtig allen vier hohem Kasten sechs Ge-
schäfte zu, indem sie in Bezug auf die Vaisjas die Almosenspende und das Ausleihen
in eins zusammenfassen, in Bezug auf die Kschatrijas statt ..Enthaltung von sinnlichen
Lüsten“ Waffenübung und Kriegsführung setzen , und in Bezug auf die Sudras zu der
„Bedienung der Uebrigen“ Handel, Viehzucht. Ackerbau. Musik und Seidenweberei
hinzurügen.
Nicht - Furchteinitüssendes thun.
74»
57.
NICHT - FURCHTEINFLÖSSENDES THUN.
..Weil sich das bei einem harten Scepter findet, so folgt es darauf.“ (P.)
561. Pflichtwillig' prüfen, und dann — damit es nicht
weiter geh’ — rechtbillig strafen, das ist ein König.
562. Heftig ausholen. aber linde zuschlagen soll, wer da
wünscht, dass das Glück nicht Aveiclf auf lange.
,, Heftig ausholen“, um dem Uebelthäter eine heilsame Scheu einzuflössen , „linde
zuschlagen“, damit sich Niemand entsetze. (P.)
563. Wenn Einer, gar gräulich handelnd, ein hartes
Scepter führt, so wird er eilig sicher zu Grunde gehn.
564. Ein Fürst nicht freundlichen Worts, von dem es
heisst: „Ein harter Herr!“ dess Leben läuft schnell dem
Verderben zu.
565. Wer, schwer zugänglich, sauer sieht, mit dess glän-
zendem Glück ist’s, als hätt’ es ein Teufel 1 angeblickt.
f 1 Mit dem Auge der Missgunst (Malocchio).
566. Wenn Jemand herben Worts und harten Auges ist,
* so wird sein weites Glück ohne weiteres Wachsthum alsbald
verderben.
567. Bittre Sprache und Billigkeit überschreitende
Strafe sind Feilen, die des Fürsten schlagfertige Eisenfeste
zerfeilen.
568. Ein Herrscher, der, durch Räthe handelnd, nicht
selbst nachsinnt, dess Heil zerfährt, fährt er sie dann1, im
Zorne handelnd, an.
1 Bei misslungenen Unternehmungen. —
569. Der Fürst, der, wenn Fehde kommt, keine Feste
fertig hat, wird, von Furcht überkommen, furchtbar zu-
grundegehn.
570. Rohe sammelt um sich ein rauhes Scepter; neben
solchem 1 giebt’s für den Boden eine Bürde nicht.
80
n. Vom Gute.
1 P. i. im Vergleich dazu. — Die Commentatoren beziehen das „solchem" auf das
Sammeln von Rohen “ ; es lässt sich aber viel natürlicher auf ,, das Scepter“ beziehen.
(Das Capitel gewinnt im letztem Falle jedenfalls einen bessern Abschluss.)
58.
GUNST.
„ In diesem Kapitel -wird das im vorigen Kapitel Gesagte seiner
Wichtigkeit wegen noch weiter ausgeführt.“ (P.)
571. Dass die hochhehre Herrlichkeit der Herzensgunst
besteht, dadurch besteht die Welt.
572. In Herzensgunst beruht des Weltlaufs Sein1; das
Sein gunstloser Leut’ ist dem Boden Bürde.
1 Das ist die Existenz der edlen Sitte , als „Almosenspenden, in Schutz nehmen,
uen Fehl verzeihn u. s. w.“
573. Was nützt Musik, wenn sie nicht zum Sang sich
schickt? Was nützt ein Aug’, wenn’s keine Huld hegt?
Das Auge soll gleichsam das ganze Thun des Menschen harmonisch accompagniren.
Ein huldloses Auge bei dem besten Thun ist wie disharmonische Musik bei dem besten
Gesänge.
574. Wie Wirkliches nur scheinend — was nützt dem
Gesicht das Aug, das ohne Nachsicht im rechten Maass’ ist?
575. Huld ist dem Aug’ ein hold Juwel; wo sie fehlt,
wird’s als ein „Geschwür im Gesicht “ erkannt.
576. Den im Boden feststehenden Bäumen gleichen, die,
obgleich mit Augen versehn, das Aug’ nicht hold spielen
lassen.
577. Leut’ ohne leutselig Aug’ sind ohne Aug’; Leuten
mit Augen mangelt der Mangel leutseligen Aug’s.
578. Die ohne Schaden für ihre Pflicht in Nachsicht
wacker sind, — die Welt giebt gern sich ihnen zu eigen hin.
579. Hauptsache ist ein Charakter, der auch gegen un-
ausgesetzt zur Last liegende Charaktere unausgesetzt leut-
selig Langmuth übt.
58. Guöst. — 5». Auskundschaftung.
81
580. Die auf liebenswürdige Sitte sehn, werden, säh’n
sie auch Gift1 eintröpfeln, es schlucken und schweigen.
• Von ihren alten Freunden. (P.)
59.
AUSKUNDSCHAFTUNG.
„Das heisst Spione halten um das zu erfahren, was bei Freunden, Fein-
den uud Neutralen vorgeht. Wie er jetzt von dem zu handeln anfängt,
was einem Könige, der die vorgenannten Eigenschaften besitzt, bei
der Behauptung seines eignen Landes sowohl, als bei der Eroberung
fremden Landes nöthig ist, so spricht er zuerst von der Auskund-
schaftung4, die in dem einen wie in dem andern Falle nicht entbehrt
werden kann.“ (P.)
581. Späher und Gesetzbuch — diess Beides als seine
Augen erkennt ein König klar !
Durch den Späher erkennt er Alles, was in der Ferne vorgeht, durch das Gesetz-
buch Alles, was er in dem gegebnen Fall zu thun hat. (P.)
582. Was alles bei Allen zu aller Zeit vorgeht, gleich zu
hören, heischt des Herrschers Pflicht.
583. Wer nicht durch Späher spähend Vortheil versteht,
dem Fürsten fällt auf dem F eld der Schlacht der Sieg nicht zu.
584. Beauftragte, Befreundete, Befehder, und wie sie
alle heissen, wohl ausforschen, — heisst auskundschaften.
585. In unverdächtiger Gestalt, nicht augenscheu, fort
und fort nichts fallen zu lassen mächtig — das ist Kund-
schafterei.
586. Als Biisser und Pilger einschleichend forschen,
und was man auch thu’, sich immer fassen — das ist
Kundschafterei.
587. Verborgnes zu erforschen fähig und das Erfahrne
gewiss zu wissen — das ist Kundschafterei.
588. Lass auch die Dinge, die ein Späher erspäht und
hinterbracht hat, ausspähen noch durch einen Späher.
III. 6
82
II. Vom Gute.
589. Man leite so, dass kein Spion vom andern weiss.
Das, worin das Zeugniss von Dreien stimmt, steht fest.
590. Dem Späher spend’ Auszeichnung nicht öffentlich !
Zeichnest du ihn aus, so plauderst du das Geheimniss aus.
60.
GEISTES - STARKE.
„Diese findet statt, wenn der Geist zu der Verrichtung der Geschäfte
wacker auf ist. Da sie demjenigen, der, was vorgegangen, von den
Kundschaftern erfahren hat und nun das den Vorgängen Angemessne
thun will, unentbehrlich ist, so folgt dieses Capitel auf das vorher-
gehende.“ (P.)
591. Geist besitzen heisst Besitzer sein; die ohne Geist
sind, besitzen die wohl, was sie sonst besitzen?
592. Geistes -Besitz ist Besitz; Güter -Besitz hat keinen
Halt.
593. „Gegangen des Gutes verlustig sind wir!“ Die
Geistesgrösse sicher in Händen haben, werden nie so jam-
mern.
594. Den Pfad erfragend geht das Glück selbst zu dem,
der unerschütterten Geistes ist.
595. Nach dem Wasser richtet sich die Länge des Lotus-
Stengels, nach dem eignen Geist des Menschen Grösse.
596. Alles Sinnen habe die Gross' im Sinn! Wtird’ es
verworfen1, es hat in sich Unverwerflichkeit 2.
1 Vom Geschick.
2 Einmal, insofern sich ein solches Streben durch keinerlei Umstände abweisen
lässt, und dann auch, insofern es von den Weisen nicht getadelt wird. (P.)
597. Auch im Untergehn wanken nicht Geistesgrosse.
Der Elephant hält, auch von einem Bündel Pfeile verwundet,
die Gross’ aufrecht.
598. Die Geist- und Muthlosen gelangen nie zu dem
stolzen Wort: „Wir sind der Welt Edle.“
GO. Geistes- Stärke.
61. Freiheit von Schlaffheit.
83
599. Ist er auch mächtigen Leibs und scharfen Hauers
— der Elephant fürchtet sich, wenn auf ihn der Tiger trifft.
Nicht Körper-, sondern Geistes -Grösse thut’s.
600. Geist ist des innern Menschen Gut. Die Geist-
losen werden zu Bäumen — mit dem Unterschied, dass sie
Menschen sind.
Wären sie ächte Bäume, so wären sie brauchbarer, indem sie dann doch Holz und
Früchte zu gemeinem Nutzen lieferten.
61.
FREIHEIT VON SCHLAFFHEIT.
„Da Schlaffheit durch die Macht der Naturanlage auch die Geistes -
Starken zuweilen beschleicht, so folgt dieses Capitel auf das vorher-
gehende.“ (P.)
601. Des Stamms noch ungeschwächte Leuchte lischt,
wenn der Schlaffheit schlechte Luft sich drumher verbreitet.
602. Wer will, dass sein Stamm stämmig werde, der
wandle so, dass die Lässigkeit von ihm lasse.
603. Die edle Familie des Thoren, der in faulender1
Faulheit wandelt, wird vor ihm verfaulen.
1 Die Commentatoren „abzulegender“. — „Auch wenn sie (die Familie) ihm in
der Wohlfahrt nachkäme, so wird sie ihm doch im Verderben vorangehen.“ (P.)
604. Denen, die, in Faulheit fallend, edlen Strebens baar,
wächst die Schuld, indem auch die Familie fault.
605. Saumsal, Vergessenheit und schläfrig Wesen1 —
diese Vier sind Lustboote2 Derer, die zum Untergang neigen.
1 Alles Aeusserungen des Tamöguija (siehe Einl, zu V. 1).
2 Oder das „nach eigner Lust (ohne Steuermann) umgetriebne Boot“? P. noch
anders: „Wie ein Schiff Denen , die dem Tod entgegengehen, zuerst als Gewinn - ver-
heissend erscheint, dann aber, wenn sie es mit Lust bestiegen haben, dieselben in das
Meer wirft, so erscheint auch die Faulheit Denen, die der Trübsal entgegengehn, zu-
erst als Freude - verheissend ; wenn sie sich ihr aber mit Lust hingegeben haben, so
stürzt sie dieselben in Trübsal.“ Es Hesse sich auch übersetzen: Saumsal .... Wesen,
I — die dieser Vier verderbliche Natur besitzen, sind ein nach eigner Lust umgetriebnes
Boot.
606. Wenn auch den Erdbeherrschern der Reichthum
6*
84
II. Vom Gute.
sich anhängt, die von Trägheit Beherrschten ziehn schwer-
lich edlen Nutzen.
607. Die werden Mahn- und Scheltwort1 hören, die,
schläfrig, edlen Strebens baar.
1 W eil das Mahnwort ohne Wirkung bleibt. (P.)
608. Findet sich Faulheit in edler Familie ein, so wird
sie dies’ in die Knechtschaft der eignen Feinde führen.
609. Wird man das Regiment der Faulheit aufheben, so
wird auch der in das Regiment einer Familie gekommene
Fehl auf hören.
610. Ein nicht träger Throninhaber erlangt mit Einem
Mal Alles, was Er, der mit dem Fusse maass *, ausschritt.
1 Anspielung auf Vischnu, der mit drei Schritten die Welt durchmaass (In den Ve-
das offenbar Anspielung auf die Sonne im Aufgang, im Zenith und im Niedergang)? Es
ist nicht zu vergessen, dass auch Buddha — in sieben Schritten — die Welt durchmaass.
(Vergl. Anm. 2 zu V. 3.)
62.
BETRIEBSAMKEIT.
„Wenn man auch die Saumseligkeit aufgäbe, die Geschäfte lassen sich
nur auf dem Wege der Anstrengung betreiben, darum folgt dieses
Capitel auf das vorige.“ (P.)
611. „Etwas sehr Schweres ist’s“. So denk’ und wanke
nicht! Etwas sehr Hehres leiht dir das „Streben“. .
612. Hüte dich, dass mitten im Werk das Wirken stocke !
Die ihr Werk stecken lassen, die lässt auch die Welt stecken.
613. Bei der Tugend beharrlicher Thätigkeit herbergt
der Stolz beharrlicher Wohlthätigkeit.
Wer fleissig arbeitet, kann auch fleissig geben.
614. Handhabung der Spende bei Dem, der Fleiss
nicht handhabt, wird wie Handhabung der W aff in des
Zwitters Hand zum Verderb ausschlagen.
615. Wer Lust nicht, wohl aber Werk wünscht, wird,
Last abnehmend, eine stützende Säule der Seinen sein.
02. Betriebsamkeit. — 03. In Widerwärtigkeiten nicht mürbe werden.
616. Anstrengung schafft Wohlstand. Mangel an An-
strengung stürzt in Mangel.
617. In der Trägheit tritt — so heisst’s — die Unglücks-
göttin auf; im Fleiss des Trägheitslosen lebt die Lotus-
göttin *.
1 Lakschmi, die Göttin des Glücks. (Vergl. das tamul. Sprüchwort: Ein säumiger
Fuss ist die Unglücks-, ein rühriger die Glücks - Göttin.)
618. Mangel an Gunst des Glücks 1 ist für Keinen Tadel,
Mangel an Kunst und Fleiss ist Tadel.
1 Ariel: Le manque de sens. Pori heisst allerdings auch ,, Wissen“; Sinn und Zu-
sammenhang (vergl. den vorhergehenden und den folgenden Vers) rechtfertigen jedoch
die Auffassung der Commentatoren.
619. Liess auch das Geschick es nicht gelingen — das
Anstreben selbst lohnt des eignen Leibs Anstrengen.
620. Die werden den Rücken des Schicksals schaun *,
die unverzagt und ungebeugt fort streben.
D. h. : Das Geschick wird ablassen, sie zu verfolgen.
63.
IN WIDERWÄRTIGKEITEN NICHT MÜRBE WERDEN.
„Das heisst nicht verzweifeln, wenn Einem bei der Verrichtung seiner
Pflichten entweder durch das Schicksal oder durch Mittellosigkeit oder
durch leibliche Plage ein Leid zustösst.“ (P.)
621. Lache, wenn Leid kommt! Es mehr und mehr
unterkriegen — kommt dem nicht gleich h
i Ariel: Rien de tel que de marcher dessus. (Dann müsste atu als blosse Verlänge-
rung von ürvatu — im Sinne von $ 21, N. V meiner Grammatik in Band II — genommen
werden.) — P. versteht den Vers etwa so: Die Mühe in der Ueberwindung von Schwie-
rigkeiten kommt der endlichen Freude über das Gelingen der Arbeit nicht gleich. Darum
lache, wenn Schwierigkeiten kommen, im voraus! — Vielleicht ist der Sinn ganz einfach
der: Quäle dich nicht lauge ab durch allmählige Ueberwindung des Leids; lache es
frisch hinweg.
622. Das Wellen gleich wogende Weh verrinnt, taucht
in des Weisen Innern Erinnerung1 auf.
1 Die nämlich, dass das Leid bloss eine „innre Idee“ ist. So die Commentatoren
im Sinne des Vedanta- Systems (Band I, S. 113, 8), auch des Sänk'ja - Systems , wonach
alles Leid der Seele in einem blossen Reflex besteht, der von einer Verbindung derselben
mit den geistigen Vermögen (anta: karana) herriihrt. ('Siehe „Aphorisms of tho Sänltja
Philosophy, Allahabad, S. 20.)
86
II. Vom Gute.
623. Die werden der Noth Noth machen, die sich um die
Noth Noth nicht machen.
624. Verunglücken wird das Unglück, das den anfällt,
der bei allem Hinderniss dem Büffel 1 gleicht.
i Der den Wagen durch Dick und Dünn zieht.
625. Kam’ es auch haufenweis, — wer nicht mürbe wird
- — bei dem wird das Leid zuleide kommen.
626. Die nicht, „wir haben“ sprechend, sich auf Behalten
legen, werden die wohl je klagen, sprechend: „wir darben“?
„Die im Glück nicht geizen , werden im Unglück nicht verzweifeln.“ (P.)
627. Hochsinn denkt „Des Unheils Zielscheib’ ist der
Leib1“ und nimmt die Widerwärtigkeit nimmer als Weh.
1 Nicht der Geist. Wie „ die Chinarose einen durchsichtigen Crystall scheinbar
roth Cärbt“ , so afficirt auch der Schmerz die Seele nur scheinbar. (Aphorisms of the
S. Phil., S. 61.)
628. Wer, nicht nach Lust lüstern, den Schmerz als
natürlich weiss, wird unbetrübt bleiben.
629. Wen in der Lust nach Lust nicht lüstet, wird in
der Trübsal unbetrübt sein.
630. Nimmt man die Last als Lust, so kommt eine Herr-
lichkeit heraus, nach der die Feinde selbst lüstern sind.
Mehrere dieser Sentenzen lauten fast wie Bibelworte (vergl. 2. Corinth. 4, 8 — 9;
6,10), sind aber in ihrem Motiv himmelweit davon verschieden. Dort stoische Abstraction,
hier lebensvolle Liebe.
EKF0KDEEN1SSE DES KÖNIGTHUMS.
64.
MINISTERSCHAFT.
„Das ist die Art eines Ministers, oder seine Eigenschaften und sein
Thun.“ (P.) Vom Minister ist bis zu Decade 74 die Rede.
631. Das ist Ministersehaft, wenn Mittel, Zeit, Ausfüh-
rung und die schwere Aufgabe vortrefflich sind.
Die Mittel sind zweierlei: Geld und Soldaten, so dass fünf Stücke herauskommen.
(Diess wegen Vers 632.)
632. Festes Aug, V olkesschutz, Wissens-Fertigkeit, tüch-
tige Thätigkeit, wenn diess sammt jenen Fünf'2 vortrefflich
ist, — das ist Ministerschaft.
i In V. 1. Siehe die Anmerkung dazu.
633. Spalten, Zusammenhalten und, die sich getrennt,
wieder zusammenbringen, — dazu mächtig sein ist Minister-
schaft.
634. Erforschen; hat man erfahren, handeln; und sichre
Rede — ■ dazu mächtig sein ist Ministerschaft.
635. Wer che Tugend weiss, vollangemessnen Wortes
mächtig ist und jeder Zeit die rechte Weise weiss, — der ist
eine Hiilf’ im Rath.
636. Die Mutterwitz bei Bücherwissen haben, was Ueber-
witziges wird im Wege Denen stehn?
88
n. Vom Gute.
Oder auch: Die Mutterwitz bei Bücherwissen haben, sind erzwitzig. AVas wird
Solchen im Weg wohl stehen ?
637. Auch der Handlung Weise wohl wissend, muss
man, der Welt Weise wohl wissend, handeln.
Denn die Theorie der Schastras findet an dem jedesmaligen Brauch ihr Correctiv.
638. Auch wenn ein Fürst (Andrer) Wissen todtschlägt1,
(selbst aber) nichts weiss, — es ist die Pflicht des rechten
Raths zurecht zu setzen.
i Nicht aufkommen lässt.
639. In dem Minister, der ihm zur Seite Frevel sinnt,
stecken für einen Fürsten der Feinde siebenhundert Millionen.
Einige lesen — statt „nrum“ — talei. Dann kann man übersetzen : Besser 700 Milk
Feinde, als ein Minister, der dem König zur Seite Frevel sinnt.“ Die andere Lesart ist
jedenfalls poetischer.
640. Sinnen sie auch noch so tüchtig — Taktlose thun
Zielloses1 doch.
1 Etwas , das nicht zu Stande kommt.
65.
BEREDTSAMKEIT.
„Das ist des Wortes zur Beendigung der vorhabenden Geschäfte
mächtig sein. Da dieses Capitel das , sicher Reden ‘ des vierten Verses
im vorigen Capitel seiner hervorstechenden Wichtigkeit wegen weiter
ausfiihrt, so folgt es eben auf das vorhergehende.“ (P.)
641. Guter Zunge Gut ist rechtes Gut; in keinem andern
Gut liegt dieses Gut *.
D. h. ist für den Minister (mit Rücksicht auf V. 633) wichtiger als jede andre gute
Eigenschaft.
642. Weil Vortheil und Verlust daraus erwächst, so hüt’
er sich vor Rede -Fahrlässigkeit.
643. Trachtend nach der Tüchtigkeit1, die die Hörenden
fesselt, so zu reden, dass auch der Nichthörende 2 lüstet, —
das ist Rede.
1 Diese besteht nach P. in „Correctheit, Kürze, Klarheit, Lieblichkeit, Erspriess-
lichkeit u. s. w.“
2 Der aus persönlichem Widerwillen Nichthörende. So die Commentatoren.
64. Miuisterscliaft. - 65. Beredtsamkeit. — 66. Reinheit der That.
644. Die Verhältnisse 1 verstehend, das Wort ergreif’ er!
Keine Tugend so hehr, kein Gut, wie diess.
i Diese Verhältnisse sind die verschiedenen Beschaffenheiten, die sich aus Geburt,
Bildung, Lebenswandel, Glücksumständen, Gestalt und Alter ergeben.“ (P.)
645. Man rede Reden, wenn man weiss, dass andre Re-
den *, die diese Reden besiegen, fehlen.
i Gegnerischerseits. (P.)
646. Annehmlich reden und aus Andrer Rede, was
frommt, annehmen, ist der Begriff des in hohem Amt ganz
Makellosen.
647. Wer redemächtig, bedächtig und nicht blöde1 ist,
den im Partheikampf niederzukämpfen wird Allen schwer.
1 Der Versammlung gegenüber. (P.)
648. Schnell wird die Welt lauschen, erlangt man1 Mi-
nister, die wohlgeordnet lieblich zu reden wissen.
i So sagt er in Rücksicht auf das sanscr. Sprüchwort : „ Unter Tausenden nur Ein
Beredter.“ (P.)
649. Die werden recht viel zu reden Lust haben, die
auch nur ein paar fehllose Worte zu reden nicht verstehn.
650. Der Blume, die, im Strausse blühend, nicht duftet,
gleicht, wer Gelerntes nicht fasslich vorträgt.
Wie eine duftlose Blume imStrauss, so der schlechte Redner im Kr an z der ge-
lehrten Versammlung.
66.
REINHEIT DER THAT.
„Nicht bloss das Wort, sondern auch die That soll gut sein; daher
folgt dieses Capitel auf das vorhergehende.“ (P.)
651. Güte der Helfersthat giebt Wohlstand 1 ; Güte der
Herzensthat giebt alles Gewünschte2.
1 Und nichts weiter.
2 „Hienieden Tugend, Gut, Lust u. s. w., und in dem nächsten Dasein die erwünschte
Stufe.“ — In diesem Verse „wird die , Reinheit der That“ gepriesen, indem gesagt wird,
dass die Güte der innern That besser ist, als die der äussern.“ (P.)
652. Fort und fort fern halt die That, die nicht Lob
und Liebes 1 fruchtet.
1 Verdienst.
90
II. Vom Gute.
653. Die That, wobei des Ruhmes Glanz verglimmt,
sollen meiden, die „Wir wollen etwas werden!“ meinen.
654. Die makellosen Weisen, — auch wenn sie in Wider-
wärtigkeit fallen sollten — thun nichts, wodurch auch sonst
schon Schande kam.
655. Man thue nichts, wobei man dereinst zu seufzen
hat: Weh, was! Thut man doch derlei, so ist’s gut, es nicht
noch einmal zu thun.
656. Auch wenn man der Gebärerin Hunger sähe, man
thue ja keine von den Weisen verworfne That.
657. Besser ist die bittre Armuth des Weisen, als das
Vermögen, das man, in Fehl fallend, erwirbt.
658. Die Gestraftes 1 nicht auch strafen und lassen, de-
nen wird’s — sollte es auch gelingen — Qual bringen.
1 Von den Weisen Gestraftes.
659. Was man unter Zähren1 gewinnt, zerrinnt unter2
Zähren. Gerechtes Gut, ging’s auch verloren, wird nach-
fruchten.
i Andrer. 2 Den eignen.
660. Durch Schwindeleien Schätze sammeln und sicher
stellen ist wie in neuen Erdkrug Wasser giessen und wahren
wollen.
67.
FESTIGKEIT IM HANDELN.
„Das ist die Geistesstärke, die demjenigen , der eine reine That voll-
enden will, vonnöthen ist.“ (P.)
661. Was man Thatkraft heisst, ist in der That Geistes-
kraft. Alles Andre gehört nicht hierher.
662. Missliches meiden, und ist’s geschehn, nicht zag
zurückgehn, auf dies Beides, sagt man, läuft der Wahlspruch
weiser Minister aus.
663. So handeln, dass man’s erst am Ende merkt, ist
67. Festigkeit im Handeln. — 68. Die Art des Handelns.
männlich Handeln; merkt man’s in der Mitte schon, schafft’s
unabwendlichen Schaden.
664. Sagen ist Allen leicht; schwer ist, es in gesagter
Weis’ in’s Werk setzen.
665. Die Thatkraft Dess, der, Grösse findend, hervor
sich that, wird, Eingang beim Fürsten findend, geschätzt
werden.
666. Gewünschtes ganz nach Wunsch erlangen die Wün-
schenden, wenn sie ganz fest zu sein nur wissen.
667. Auf die Gestalt sehend — denk’ nicht gering ! Es
giebt Leute, wie der Achsen-Nagel an grossem rollenden
Wagen.
D. h. es giebt Leute, die, obgleich unscheinbar, der Staatsmaschine so unentbehr-
lich sind , wie der kleine Nagel, der das Rad an der Achse fest hält.
668. In Sachen, die du dir klaren Sinns ersehn, wanke
nicht! Treib alle Trägheit aus und handle!
669. Auch wenn dir’s Last machte, die That, die Lust
fruchtet, führ’ aus, dich voll ermannend!
670. Was für Kraft man auch gewonnen, — wer That-
kraft nicht begehrt, den begehrt nicht die Welt h
i Siehe Anm. zu V. 280.
68.
DIE ART DES HANDELNS.
„Die Art, wie ein thatkräftiger Minister die Sache, die er vorhat,
hinausführen soll.“ (P.)
671. Entschluss ist der Berathung Ende; schlimm, wenn
dieser Entschluss in Entmuthigung stockt.
672. In dem, was langsam zu thun ist, sei langsam; nicht
langsam in dem, was nicht langsam zu thun ist.
673. Wo alle Wege sich öffnen, ist (sofortig) Handeln
herrlich; wo nicht, da handle, erst den dem Ziel zugehenden
Weg erspähend.
92
II. Vom Gute.
674. Ein Rest von dem Beiden „ Geschäft und Gegner „
bringt — wenn du’s recht bedenkst — wie ein Rest Feuer,
Fahl-.
675. Hast du die Fünf: Geld, Werkzeug, Zeit, Handlung,
Ort, so durchdacht, dass kein Dunkel bleibt, dann handle.
676. Mühwaltung, Misslichkeiten und den Vortheil nach
Vollführung erwägend handle!
677. Die rechte Thatweise Dess, der eine That thun
will, ist die Meinung des That-Erfalirnen zu erfahren.
678. Durch ein Geschäft ein Geschäft abmachen *, ist ■wie
durch einen feuchtscliläfigen Elephanten Elephanten fangen.
1 Durch Ein Geschäft gleich noch ein andres Geschäft mit abmachen.
679. Nicht - Verbündete zu Bundesgenossen zu machen
ist eiliger als Freundliches zu thun den Freunden.
680. Die Schwachen werden, bang vor dem Bangen der
eignen Leute, wenn sie Freundschaft finden1, — den Star-
ken sich beugend, sie gern annehmen.
i Eigentlich: Wenn sie das, was sie bedürfen, erlangen können; das aber ist die
Freundschaft der Mächtigen.
69.
BOTSCHAFT.
„Das ist die Art Dessen, der zu Versöhnung oder Spaltung (was Bei-
des im vorigen Capitel behandelt ist) an den Hof eines andern Königs
reist.“ (P.)
681. Anhänglichkeit 1, edle Abkunft und eine Fürsten
gefällige Art — das ist die Au-t Dess, der auf Gesandtschaft
geht.
t An seine Angehörigen.
682. Liebe1, Wissen und die Gabe das wohl Gedachte
wohl vorzutragen — das sind die Drei, die Botschafter durch-
aus bedürfen.
t Gegen seinen König. (P.)
ü9. Botschaft. — 70. Benehmen im Umgang mit dem König.
93
683. Tüchtige Schulung bei Männern von Schule 1 ist die
Art des bei Männern des Schwerts siegreichen Verhändlers.
1 Unter Ministern , die in den Staatswissenschaften wohl bewandert sind.
684. Geist, günstig Aeusseres und gründlich Wissen —
in wem sich diese Drei vereinen, der geh’ auf Gesandtschaft.
685. Kiü’ze suchend, Kränkung meidend, freundlich re-
dend Vortheil verschaffen 1 — das ist Botschaft.
i Seinem Fürsten nämlich.
686. Das ist Botschaft, wenn man, wohl geschult, nie ge-
schreckten Augs, an - und vernehmlich spricht und das den
Umständen Zuständige weiss.
687. Wer seine Pflicht kennend, die Zeit bedenkend, den
Ort kennend bedachtsam redet — der ist aller Botschafter
Haupt.
688. Reiner Sinn, Mithelfers chaft, Entschlossenheit und
zu den Dreien Wahrhaftigkeit, das ist die wahre Weis’ eines
Gesandten.
689. Wer, ohne Furcht, ein fehlerhaftes Wort sich nicht
entfahren lässt, der mag einem Herrscher seines Herren
Wort wohl ausrichten.
690. Und sollt’ es auch den Tod einbringen, seinem
Fürsten ohne Fehl Vortheil einbringen — das heisst man
Gesandtschaft.
70.
BENEHMEN IM UMGANG MIT DEM KÖNIG.
„Folgt auf das vorige Capitel, weil es dort heisst ,eine Fürsten
gefällige Art (P.)
691. Die mit einem streitbaren Fürsten verkehren, sollen
denen gleichen, die, weder nahe tretend, noch ferne, am Feuer
sich wärmen.
692. Das Nichtbegehren des vom Fürsten Begehrten
wird vom Fürsten her fürstlichen Lohn verleihn.
IX. Vom Gute.
94
693. Will man sich hüten, hüte man sich vor schwerer
Schuld; schwer für Alle ist’s zu schwichtigen, wo man in
Zweifel schwebt.
694. Ohrgeflüster und Zusammengelach’ vermeidend,
halt dich in Gegenwart hochedler Grossen.
695. Nach nichts forschend, nach nichts fragend, lausche
— lässt er selbst etwas fallen — auf das Geheimniss,
696. Zeichen verstehend, Zeiten begreifend, sag Anstoss -
loses und Annehmliches1 anmuthig.
l Beschi übersetzt: „sive odiosa sive grata sunt.“ Er hat demnach wohl veruppuZa
(Anstössiges) statt veruppila gelesen.
697. Annehmliches redend, rede nimmer Nutzloses, auch
wenn’s (der Herr) hörte1.
i Entweder „Auch wenn’s der Fürst gern hörte“ oder aber „Auch wenn’s der Fürst
täglich von Andern hören sollte (Du als Minister darfst das nicht nachmachen).“
698. „Er ist jünger als ich, er ist mein Verwandter1!“
So nicht wegwerfend wandle du vor der „Erlaucht“.
1 Die Kaste , aus der die malabarischen Könige ihre Käthe nahmen , hiess gradezu
die „ Onkelkaste
699. Wandellose Weise thun nicht im Gedanken „Wir
sind1 genehm“ Ungenehmes.
i Sie pochen nicht auf ihre Gunst beim Könige.
700. Die Freundschaft, die in der Meinung „Wir sind
vertraut“ Verkehrtes thut, wird Verderben bringen.
71.
DIE ABSICHT MERKEN.
„D. h. was die Könige denken, auch ohne dass sie es sagen, merken.
Da diess Denen, die mit Fürsten umgehn (Cap. 70), durchaus nöthig
ist, so steht es hier.“ (P.)
701. Wer ohne Aeusserung durch einen Blick das In-
nerste1 inne wird, — Zier ist er der von wandellosem Wasser
umwogten Erde.
i Des Fürsten.
71. Die Absicht merken. — 72. Die Versammlung kennen. t)P)
702. Wer zweifellos in Andrer Innrem liest, den halt’
der Gottheit gleich.
703. Die verblümterweis das Innerste inne werden, —
und müsste man ein Glied 1 hergeben — die halte man.
i Des Staatsorganismus? (Räsänkam; siehe V. 381.)
704. Denen die, was man im Innern trägt, auch ohne
Aeusserung inne werden, gleichen an Glied den Andern und
an sonst nichts.
705. Wenn Einer nicht verblümterweis des Andern Ab-
sicht absieht, was nützt dann das Aug’ unter seinen Gliedern.
706. Wie ein Spiegel, der, was ihm nahe kommt, zeigt,
zeigt, was dem Gemüth nahe geht, das Gesicht.
707. Giebt’s etwas so Geistiges wie das Gesicht? Man
entzücke sich oder entbrenne, — (wie ein Herold) geht’s
vorweg.
708. Hat man’s mit Leuten zu thun, die, in das Innere
sehend, das Richtige rathen1, so ist’s genug, genau ins Ge-
sicht zu sehn.
i Wenn man es mit Leuten zu thun hat, die, das eigne Innere erkennend, die vor-
handenen Zustände richtig verstehen, so braucht man nur, während sie das eigne Gesiebt
ansehn, ihr Gesicht anzusehen, und es genügt zu gegenseitiger Verständigung. So P.,
und ähnlich die übrigen tamul. Commentatoren. — Die erste Hälfte des Verses lässt sich
auch so übersetzen: „Wenn man dahin gelangt, in das Innere sehend, das Richtige zu
rathen u. s. w.“
709. Freundschaft und Feindschaft redet das Auge, —
wenn man des Auges Art in rechter Art versteht.
710. Die Messschnur Dessen, der Scharfsicht anspricht,
ist — wenn man’s scharf ansieht — das Aug, nichts Andres.
72.
DIE VERSAMMLUNG KENNEN.
„Das heisst den Charakter der bei dem König anwesenden Versamm-
lung kennen. Wenn der Minister etwas zu sagen hat, so braucht er,
ausser der Gabe ,die Absicht zu merken4, auch diess; darum folgt es
nun hier.44 (P.)
711. Die Versammlung kennend, bedächtig rede der der
Rede Schatz kennende Reine.
96
II. Vom Gute.
712. Der Gelegenheit kundig, wohl verständig rede der
des Redegangs 1 kundige "Wackre.
1 „Der Redegang ist die Weise, wie die drei Arten von Worten den graden, den
figürlichen, und den verblümten Sinn zum Verständniss bringen.“
7 13. Die, der Versammlung unkundig, das Wort nehmen,
wissen das Wort nicht zu theilen; da ist auch Wirkung nicht.
714. Vor sonnenlichten Leuten werde man Sonnenlicht!
Vor dunkeln wähle man das Wolken-Grau!
Vor Gelehrten rede man gelehrt, vor Ungelehrten ungelehrt!
715. Unter allem Guten das Beste ist, nicht vorlaut, zu-
rück sich halten vor Höheren.
716. Wie ein Fehltritt auf dem Pfade1, so ein Fehlgriff
vor Männern von ausgebreiteter Wissenschaft.
1 Die Commentatoren verstehen das bildlich vom Pfade der asketischen Tugend.
717. Das Wissen Gelehrter leuchtet vor Denen, die der
Rede -Prüfung makellos mächtig sind.
Vergl. den folgenden Vers.
718. Vor Verständigen reden, ist wie Wassergeriesel auf
sprossende Saat.
D. h. „Eine solche Rede findet eine gute Statt“ oder aber „doccndo discimus“.
wie die tamul. Commentatoren wollen. Die erstere Erklärung ist offenbar einfacher.
719. Die in wackrer Versammlung so zu reden wissen,
dass es wacker eingeht, sollen nicht in gemeiner Versamm-
lung, auch nur aus Vergesslichkeit, reden.
720. Ansprach’ an nicht Ebenbürtige ist wie Ambrosia,
in den Schmutz geschüttet.
Oder: „Vor nicht Ebenbürtigen rede nicht! Es ist wie u. s. w.‘*
73.
DIE VERSAMMLUNG NICHT FÜRCHTEN.
„D. i. Die Versammlung, in der man reden soll, kennend, wenn man
redet, sich nicht vor ihr scheuen.“ (P.)
721. (Der Hörer) Art wissend, wanken in wackrer Ver-
sammlung mit dem Munde nie die der Worte Schatz kennen-
den Reinen.
73. Die Versammlung nicht fürchten. — 74. Land.
722. Gelehrte unter Gelehrten nennt man die vor Ge-
lehrten Gelerntes eingänglich vortragen.
723. Leicht findest du, die vor dem F eind sterben wollen ;
schwer, die nicht bangen vor der Versammlung.
724. Vor Gelehrten Gelerntes eingänglich vortragend,
nehme man von dem Gelehrtem, was das Selbstgelernte noch
übersteigt.
725. Nach der Regel 1 die Logik lernend studire man,
um, ohne Scheu vor der Versammlung, gegenzureden.
1 Die Commentatoren verstehen darunter die Grammatik (im weitesten Sinne), de-
ren Studium dem Studium der Logik voranzugehen habe.
726. Was haben, die nicht festen Auges sind, mit dem
Schwert zu schaffen? Was die vor der Versammlung Scheuen
mit dem Buch?
727. Dem Feind gegenüber ein schneidig Schwert in
Zwitters Hand — das ist die Wissenschaft Dess, der vor der
Versammlung in Angst versinkt.
728. Mögen sie mancherlei wissen, — nutzlos sind, die
in guter Versammlung das Gute nicht treffend sagen.
729. Die Letzten der Ungelehrten wird man die heissen,
die, obgleich wohl gelehrt, vor wackrer Versammlung ver-
zagen.
730. Wenn sie auch Lebende heissen, sie sind doch den
Todten gleich — die, vor der Halle herzensbang, eingänglich
vorzutragen ihr Wissen nicht wissen.
74.
LAND.
„Er behandelt nun (nachdem er das Capitel von der Ministerschaft
beendigt hat) in Einer Decade das Land , das vom König und vom
Minister zugleich zu regieren und für die übrigen Erfordernisse des
Königthums als Burg u. s. w. unumgänglich nöthig ist.“ (P.)
731. Wo nie weichendes Wachsthum, Leute von Werth,
Leute von nie welkendem Wohlstand beisammen sind, ■ —
das ist ein Land.
in
98
II. Vom (inte.
732. Was bei grossem Gut für neidenswerth gilt, und
bei seltnem Schaden mächtige Ernten scheidet — das ist ein
Land.
733. Was, wenn Lasten zuhauf darüber kommen, sie
trägt, und dem König zuhauf die Königsgebühr darzollt —
das ist ein Land.
734. Was von hartem Hunger, nie versiegendem Siech-
tlmm, drückenden Drängern frei, fröhlich gedeiht — das ist
ein Land.
735. Wo kein Zusammenrotten, keine verwüstende innre
Zwietracht und kein den König ängstendes „ Mordnest u 1 ist,
— das ist ein Land.
1 Eigentlich „Mordreiches Kunimpu“. — Kimimpu's heissen die Orte der Maravar
(siehe Nampi’s AkapporuZ, I, 21) und „am hellen Tage plündern“ gilt als ihre Beschäf-
tigung. (Siehe ebendaselbst.) Die Maravar scheinen in ihrer „heissen Wüste“ bei
Ramnad von Anfang an sich zu den aufstrebenden Nachbarstaaten in ganz ähnlicher
Weise gestellt zu haben, wie die Beduinen sich noch immer zu benachbarten Cultur-
ländern stellen. (Vergleiche meinen Aufsatz über die Maravar in den „Geographischen
Mittheilungen von Perthes“ 1856; desgleichen meine Reise nach Ostindien , Band IV,
S. 181 — 183.)
736. Ein Land, das nie Schaden verspürt, und wo’s ge-
schädigt wird, seines Schatzes Fülle nicht verliert, — das
heisst man ein Hauptland.
737. Doppel -Wasser, anschliessende Berge, von dort-
her kommendes Wasser und eine feste Fürstenburg — das
ist eines Landes Gliederung.
Hiermit schildert der Dichter das Tamulenland selber, das , wo es nicht vom Meere
umgeben, von Bergen umschlossen ist, Doppelwasser, d. i. Quell - und Regenwasser hat,
und, Dank dem Cavery, der seinen Ursprung im Westgebirge nimmt, auch das von „dort-
her kommende Wasser“ (des Westmonsums) empfängt. (Vergl. meine Reise nach Ost-
indien, Band IV, S. 113 — 111.)
738. Wohlgefühl1, Wohlstand, Wachsthum, Wohlleben
und Wohlverwahrtheit — diese Fünf sind eines Landes
Schmuck.
1 Wörtlich: Freiheit von Krankheit.
739. Was ungesucht seine Schätze reicht, nennt man ein
Reich; was, nur wenn man danach sucht, sie reicht, ist kein
Reich.
74. Laud. — 75. Burg.
99
740. Audi wenn es mit dem allen wohl versehen ist —
ein nicht mit dem König sich wohl verstehendes Land hat
dess kein Heil.
7o.
BURG.
,, Diese ist als , Glied (des Staats)1 im Lande mit inbegriffen. Weil sie
aber, wenn durch die Feinde Verwüstung gekommen ist, dem Lande
sowohl als dem Könige Schutz gewährt, so wird sie dieses besondern
Vorzugs wegen ein besondres , Glied4 genannt, und darum eben in
einem besondern Kapitel behandelt.“ (P.)
741. Denen, die handeln wollen, ist ein Hort die Burg;
— denen, die bang sich bergen wollen, ist sie auch ein Hort.
Sie dient sowohl der Offensive als der Defensive.
742. Was Wasser wie Perlen, eine blosse Fläche1, eine
Höhe und schönschattige Waldung hat, — das ist eine Feste.
1 Eine blosse, d. i. von Wasser und Schatten (zum Nachtheil des Feindes) entblösste
Fläche (vor der Mauer). So P. Man unterscheidet „Wasser-, Flächen-, Berg- und
Wald - Festen “. Wo die Vortheile aller vier Festungsarten beisammen sind , da ist eine
vollkommene Feste.
743. Höhe und Räumigkeit, Stäi’ke und Schwierigkeit —
dieser Vier Vereinigung nennt „Burg“ die Wissenschaft.
744. Was, bei geringer Vertheidigungsbedürftigkeit
grossräumig, den Muth des Feindes fällt, ist eine Feste.
745. Was die Tugend hat, dass es einzunehmen schwer
und, an eingenommener Nahrung reich, denen drinnen leichten
Stand bietet, eine Burg ist das.
740. Was, mit allem Nöthigen versehn, am rechten Ort
helfende Helden hat — ist eine Burg.
747. Was, — ob raan’s umzingelt, nicht umzingelnd
stürmt, oder unterhöhlt, — schwer zu nehmen ist, das heisst
eine Feste.
748. Das ist eine Burg, dass die Vertheidiger, in der Ver-
theidigung beharrlich, auch die in der Belagerung beharr-
lichen Belagerer besiegen.
7*
100
II. Vom Gute.
749. Das ist eine Burg, wo man Angesichts der Tkat
sieh mit Ruhm bedeckend hehr dasteht, so dass Angesichts
der Schlacht der Feind vergeht.
750. Eine Feste — was für Herrlichkeit sie habe —
nichts ist sie in deren Hand, ,die der That Herrlichkeit nicht
haben.;
76.
FÜHRUNG DER FINANZEN.
„In diesem Kapitel behandelt er die AVeise der Erwerbung finanzieller
Mittel, die durch Land und Burg gemehrt und geschützt werden.“ (P.)
751. Neben dem Schatz, der selbst Ungeschützte ge-
schätzt macht, giebt’s keinen Schatz.
D. h. Nichts verleiht so viel Achtung als Geld und Gut.
752. Die nichts haben, werden Alle für nichts halten;
die Wohlhabenden werden Alle hochhalten.
753. Ein nie verglimmender Glanz des Reichthums wird,
(jedes) beliebte Reich erreichend, (der Feindschaft) Dunkel
dämpfen.
Reichthum verleiht einem Lande ein solches Ansehn, dass auf die davon ausgehende
Kunde jedes von dem König beliebte Reich ein gutes Vernehmen mit demselben für
wünschenswerth hält.
754. Das bei Kenntniss der rechten Mittel, unvermittelt
durch Unrecht, erworbne Gut wird Verdienst schaffen1, wird
Vergnügen schaffen 2.
1 Indem es zu guten Spenden befähigt.
2 Das „Gut“ dient somit der „Tugend“ sowohl als der „Lust“. (Vergl. V. 700.)
755. Den Güter- Gewinn, der nicht im Einklang mit
Huld und Liebe 1 kommt, soll man nicht umfassen, nein fahren
lassen.
1 P. versteht unter „Huld‘‘ die huldvolle Gesinnung des Königs gegen seine
Unterthanen, unter ,, Liebe“ die liebevolle Gesinnung der Untertliauen gegen den
König.
756. Königsgut ist das von selbst 1 zufallende Gut, das
Zoll -Gut, das dem Gegner abgenommene Gut.
1 Durch Herrenlosigkeit.
76. Führung der Finanzen. — 77. Heeres - Herrlichkeit.
101
757. Das von der Liebe geborne Kind „Barmherzigkeit“
lebt durch die wohlhabende Wärterin „Wohlstand“.
Wer nichts hat, kann keine Almosen spenden ; so ist denn der Wohlstand gleichsam
die Wartefrau, ohne die das Kind ,, Barmherzigkeit “ nicht gedeihen hann. — P. versteht
, »Barmherzigkeit“ von der allgemeinen Barmherzigkeit, die sich da finde, wo eine kräf-
tige Verwandtenliebe vorhanden sei; daher der Ausdruck: „das von der Liebe ge-
borne u. s. w.“
758. Das Thun dess, der mit seiner Habe handthiert, ist
wie von Hügels Höh Elephanten kämpfen sehn.
„Wieder, welcher einen Hügel erstiegen hat, ohne Furcht und Mühe einem Ele-
phanten- Gefecht unten in aller Kühe zusieht) so wird auch derjenige, der zu Mehrung
seines Guts Etwas unternommen hat, ohne Furcht und Mühe mittelst mächtiger Leute es
in aller Ruhe durchsetzen.“ (P.) Er beutet (auf dem Wege der Bezahlung, der Be-
stechung u. s. w.) die Arbeit Andrer für sich aus.
759. Erwirb dir Gut! Das ist ein der Hasser Hoffart
wegschneidender Stahl. Nichts schärfer!
760. Denen, die edles Gut in reifer Füll’ erworben, ist
das beide Andre 1 zumal leicht (zu erwerbendes) Gut.
1 Tugend und Lost. Vergl. V. 754.
77.
HEERES - HERRLICHKEIT.
„Er behandelt das durch Geld zu stände kommende und zu siegen be-
stimmte Heer in zwei Kapiteln, und redet nun im ersten von der Treff-
lichkeit desselben.“ (P.)
761. Ein Heer, das, wohlgegliedert \ Wunden nicht fürch-
tend, siegreich ficht, ist unter des Königs sämmtlichen Schätzen
der schönste.
1 D. i. mit Wagen, Pferden, Elephanten und Fussvolk, dem sogenannten saturan-
kam „Vierglied“ versehen.
762. Die kalte Kühnheit, die in der Noth auch bei ge-
ringer Zahl nicht bebt, wird — ausser dem Veteranen -Heer
— allen andern schwer.
763. Wenn der Ratten feindlich Heer wie das Meer auf-
kreischt, — was thut’s? Es zischt die Schlang’ — und ver-
schlungen ist’s.
102
II. Vom Gute.
764. Was nicht verliert, was sich nicht untergraben
lässt1, was lang geübten Muth besitzt — das ist ein Heer.
1 D. i. was sich nicht theilen lässt.
765. Was — träte selbst der Todesgott zornig daher —
sich doch zu schaaren und die Stirn zu bieten wagt — das ist
ein Heer.
766. Wahrhaftigkeit, Ehrhaftigkeit, Wandeln auf der
Bahn des Ruhms, Vertraun1 — diese Vier sind ein Hort
dem Heer.
t Die Commeutatoren verstehen darunter das Vertrauen seitens des Fürsten. Es
ist aber wohl allgemein zu nehmen.
767. Was, wohl kundig der Art das herstürmende Heer
zu halten, die Sehlachtreihen auf haltend (selbst) einstürmt,
das ist eine Kriegsmacht.
768. Fehlte es selbst an der Tüchtigkeit drauf los zu
gehn und an der Kraft zu widerstehn, — auch durch (äussere)
Tüchtigkeit 1 kann ein Heer herrlich werden.
1 „ Durch die Herrlichkeit seiner Erscheinung.“ (P.)
769. Wo Schwäche, schwere Furcht und Mangel nicht
ist, da ist ein siegreich Schlachtheer.
770. Wenn es auch viele standhaltende Männer zählt,
— es ist doch kein Heer vorhanden, wemi ein Führer fehlt.
78.
HEERES - SELBSTGEFÜHL.
„ Das ist des Heeres hoher Schlachtmuth.“ (P.)
771. Steht nicht vor meinem Feldherrn Feinde! Viel
sind derer, die vor meinem Feldherrn standen und nun in
Stein stehn *.
t ,,Das bezieht sich darauf, dass, weun Helden im Kampfe fallen, sie in Stein gebil-
det und aufgestellt werden.“ (P.) Die Worte „in Stein stehen“ deuten demnach zu-
gleich an, dass diese Feinde keine gewöhnlichen Krieger, sondern Helden waren.
772. Lieblicher ist’s, eine Lanze zu führen, die des Ele-
phanten fehlt, als einen Bogen, der den Hasen des Waldes trifft
7s. Heeres - Selbstgefühl. — 7U. Freundschaft.
103
773. Hochherzigkeit heisst man die wilde Schlachtwuth;
milde Höflichkeit, wenn der Feind gefällt ist, deren Spitze.
774. Wer am Elephanten sein Geschoss verschleudernd
hergeht, wird, das Geschoss aus dem Leib sich reissend,
lachen.
Also schon ehe er den Kampf mit dem Elephanten aufnahm, war er von einem Wurf-
geschosse durchbohrt; und nun erst, nachdem ihm seine Waffen ausgegangen , zieht er
es heraus , um den Kampf fortzuzetzen.
775. Wenn das Muth- blinkende Aug bei der Lanze
Wurf1 (den Muth) verlierend blinkt — ist das für den „Fest-
äugigen “ 2 nicht Verlust?
1 Seitens des Feindes. (P.) 2 Bezeichnung des Helden.
776. (Ein Held) wird, seine Tage herzählend, unter die
verfehlten setzen all’ die Tage, wo nicht eine Ehren-Wund’
ihm wurde.
777. Fein steht denen des Fussrings Bindung, die wohl
zu weit laufendem Ruhm, nicht aber zum Leben Lust haben.
778. Die, wo’s sein soll, für ihr Leben nicht bebenden
Helden, — war’ auch der Fürst ungehalten — sie lassen sich
nicht halten im Heldenlauf.
779. Die da sterben, dass nicht Verderb’ ihr Vorsatz, —
wer wird die verklagen : „Es war verfehlt?“
780. Stirbt man so, dass des Schutzherrn Thränen reich-
lich träufeln, solch Sterben ist — und wenn man’s erbetteln
müsst’ — erwerbenswerth.
79.
FREUNDSCHAFT.
„Nun fängt er an die Freundschaft, die für einen König eben so von
praktischer Bedeutuug ist, wie das Heer, durch fünf Kapitel hin posi-
tive und daun durch zwölf Kapitel negative zu behandeln. In dem ersten
der fünf positiven Kapitel beschreibt er die Freundschaft selbst.“ (P.)
781. Was ist so schwer zu wirken als Freundschaft? Und
welche Burg ist für feindlich Wirken so schwer?
/
II. Vom Gute.
„Die Schwierigkeit der Freundschaft bezieht sich auf die Auffindung solcher, die
dazu taugen , auf die Mittel , den Bund zu stände zu bringen , und auf die unverrückte
Bewahrung desselben. “ Wo sie aber statt findet, da fürchtet sich der Feind Krieg an-
zufangen. (P.)
782. Wolilgearteter Männer Freundschaft hat wie der
Neumond Zunehmens- Art; der Thoren Freundschaft hat wie
der Vollmond Abnehmens- Art.
783. Bei jedem Lernen eines Spruchs ein neu Vergnügen.
Grad’ so bei jedem neuen Verkehr der Edlen Freundschaft.
784. Nicht zum Zusammenlachen ist Freundschaft-
machen, nein zum wacker drein Fahren — bei (Freundes)
Fehl.
785. Enger Verbindung, langen Verkehrs bedarf es
nicht. Einverständniss wird zur Freundschaft und verleiht
Vertrautheit.
786. Freundlich sein so, dass das Gesicht lacht, ist
Freundschaft nicht; freundlich sein so, dass das Gemüth
lacht, ist Freundschaft.
787. Was Wehbringendes abwehrt, ins Geleis lenkt, im
Weh das Uebel wacker mitträgt — das ist Freundschaft.
788. Der Hand dessen gleich, dem das Gewand entglitt1,
(alles) Ungemach unverweilt abthun — ist Freundschaft.
i Und der in Folge davon nackend dasteht.
789. Wo thront die Freundschaft sicher? Wo man ohne
Wandel in aller Weise 1 fest stützend steht.
1 In Rücksicht sowohl auf die „Tugend“ als das „Gut“. (P.) Eine Freundschaft,
die dem Freunde nicht Tugend und Gut wahren hilft, ist ohne Bestand.
790. Man kann sich einander noch so rühmen: „Der
ist mir das! Das bin ich ihm!“ — und die Freundschaft
heisst doch „Stroh“.
t
80. Prüfung in der Freundschaft.
105
80.
PRÜFUNG IN DER FREUNDSCHAFT.
„Das ist Solche, welche die vorbenannten Eigenschaften besitzen,
nachdem man sie ordentlich geprüft und erkannt hat, zu Freunden
machen.“ (P.)
791. Nichts so verderblich als Freundschaft, ohne zu
fragen, schliessen ; ist Freundschaft geschlossen, — kein Los-
kommen für die Freundschafts -Pfleger!
792. Der vertraute Verkehr Dess, der nicht prüfend und
wieder prüfend wählt, wird tödtlichen Verdruss verleihn.
793. Freundschaft mache, wenn du das Gemüth, die
Geburt, die Fehler und die fehllose Verwandtschaft1 kennst.
1 „Denn die mit Verwandten innig verbunden leben, werden sich auch mit den
Freunden innig verbinden.“
794. Wer, von edler Familie, sich vor Rüge fürchtet,
dess Freundschaft nimm — und solltest du dazu geben !
795. Schliess forschend Freundschaft mit denen, die, zu
Thränen rührend1 und das Unrecht andonnernd2, was Sitte
sei, zu sagen im Stande sind.
1 Wenn es sich um Abmahnung von Unrecht handelt. (P.)
2 Nach geschehenem Unrecht es so eindringlich rügend, dass man's nicht wieder thut.
796. AuchinderNoth giebt’s Ein Gutes, — einenMaass-
stab, der die Angehöi’igen gehörig ausmisst.
797. Das heisst gewönnen — der Thoren Freundschaft
verlieren.
798. Sinne nicht auf Dinge, die den Sinn verstimmen !
Schliesse nicht Freundschaft mit denen, die in Trübsal dir
Trost versagen.
799. Derer Freundschaft, die ihre Hand abziehnzur Zeit
des Verderbens, versengt das Innerste, auch wenn man dran
sich erinnerte zur Zeit des Sterbens.
1 D. h. Der Gedanke an treulose Freundschaft verliert selbst im Angesichte der
Todesnoth seinen Stachel nicht.
II. Vom Gute.
100
800. Fasse fest die Freundschaft der Fleckenlosen!
Vom Umgang der Sittelosen — und solltest du zahlen — sondre
dich !
81.
ALTE TRAUTE FREUNDSCHAFT.
„Diese besteht darin, dass man, in Rücksicht auf langes Bestehn der
Freundschaft, die Versehn der Freunde übersieht. Er lässt dieses
Kapitel auf das vorhergehende folgen, um auzuzeigen, dass sich auch
bei Freunden Versehen finden, theils weil sie, obgleich erst nach län-
gerer Prüfung zu Freunden erwählt, denn doch Fehler haben, die man
tragen muss, theils auch in Folge des Geschicks.“ (P.)
801. Du frägst, was Vertrautheit heisst? Die Freund-
schaft, die ein vertraulich Gebühren 1 in gar nichts stört.
1 Dieses besteht darin, dass man etwas ungefragt thut , etwas Nachtheiliges vor-
nimmt, sich das Nöthige nimmt, ohne Ceremonie mit einander umgeht u. s. w. (P.)
802. Ein wesentlich Stück der Freundschaft ist Ver-
traulichkeit; dieser eine Würze zu werden1 ist der Weisen
Pflicht.
1 D. h. Das vertrauliche Thun des Einen ist gleichsam die Speise; die freundliche
Aufnahme seitens des Andern die Würze , die sich damit aufs innigste vereinigt. Auf
diese Weise (wenn die Vertraulichkeit in eben dem Sinne aufgenommen wird, in wel-
chem sie entgegen gebracht wird) wird das vertrauliche Verhältniss gewissennassen
schmackhaft.
803. Was frommt denn alte Freundschaft, wenn man zu
traulichem Thun nicht stimmt, als hätte man’s selbst gethan.
804. Wenn Freunde, ohne zu fragen, in trauter Liebe
handeln, so lässt man das seiner Lieblichkeit wegen sich
lieb sein.
805. Thorheit ist eines. Oder sieh es als grosse Einheit
an, wenn Freunde thun, was schmerzen muss.
Man soll, wenn Freunde uns Schmerzen bereiten, es auf die Thorheit schieben, in
die durch das Geschick Jeder einmal fällt, oder aber auf die grosse Einheit, die — eben-
falls in Folge des Geschicks — das thun muss, was man selbst thun sollte. (Die beiden
Freunde haften als Eine Person dem Geschick solidarisch.)
806. Die in des Bundes Schranken stehn, lassen — auch
bei eigner Fahr — nicht fahren die Liebe zu denen, die in
altem Verhältniss stehn.
81. Alte traute Freundschaft. — 82. Freundschaft mit Bösen.
107
807. Wenn auch (der Freund) zum Verderben Geword-
nes thäte — die eine in Liebe alt gewordne Freundschaft he-
gen, geben nicht auf die Liebe.
808. Die sich verstehn auf eine Vertraulichkeit, die des
Vertrauten Versehn nicht (einmal) vernehmen mag, — für die
ist’s, wenn sich der Freund versieht1, ein Fest.
Weil sie dann ihre Freundes - Nachsicht beweisen können.
809. Gern will die Welt, die nicht fahren lassen die
Freundschaft derer, die eine lang treu bewahrte Freund-
schaft besitzen.
810. Selbst Uebelwollende werden gern wollen den , der
gegen alte Freunde die alte gute Art nicht ändert.
82.
FREUNDSCHAFT MIT BÖSEN.
„Da er von der Freundschaft, die man wegen unerträglicher Fehler an
dem Freunde zu meiden hat, in dem Kapitel von der , Prüfung der
Freundschaft4 nur kurz und keineswegs ausreichend gehandelt hat, so
zerlegt er dieselbe in zwei Arten und handelt in diesem Kapitel zu-
nächst von der , Freundschaft mit Bösen4.44 (P.)
811. Wenn sie Einen auch aufsaugen zu wollen schie-
nen, — besser ist’s, dass die Freundschaft der Schlechten ab-
als zunimmt.
812. Die Freundschaft der Sittelosen, die, wo’s was
giebt, freundlich sind, und wo nichts ist, zurück sich ziehn,
was ist’s , wenn man die gewinnt — oder verliert ?
813. Die Freundschaft, die, was herauskommt, abwägt,
(die Dirne), die, was sie bekommt, hinnimmt1 — und der
Dieb sind gleich.
1 „Die die Gabe nimmt, ohne sich um den Geber zu kümmern.“ (P.)
814. Besser Einsamkeit als ein Genoss gleich dem un-
geschulten Ross, das mitten im Streit im Stich lässt.
815. Besser nicht erlangen als erlangen die armselige
108
II. Vom Gute.
Freundschaft der Elenden, die, wenn sie zur Hut sich stellen,
dabei nicht stehn bleiben.
816. Zehn Millionen mehr werth ist der Weisen Feind-
schaft, als der Thoren dickste Freundschaft.
817. Zehnmalzehn Millionen mehr1 von Feinden als von
Freunden, die bloss lachen machen2!
1 D. i. mehr Nutzen hat man von u. s. w.
2 Die bloss amüsiren.
818. Die Freundschaft derer, die, was sie thun können,
zustandzubringen verdriesst, lass, ohne ein Wort fallen zu
lassen, fallen.
819. Der Verkehr mit Solchen, deren Werk und Wort
nicht stimmen, thut selbst im Traum nicht wohl.
820. Die Freundschaft derer, die daheim dickfreund
thun und draussen schmähn, lass dir nicht im mindesten nahe
kommen !
83.
HEUCHEL - FREUNDSCHA FT.
,,Diess die zweite Art der zu meidenden Freundschaft.“ (P.)
(Vergleiche Kap. 82.)
821. Die Freundschaft derer, die, fremd im Herzen, sich
nahherzuthun , wird, zeigt sich die Gelegenheit, ein Amboss
zum drauf Klopfen.
Der Freund selbst wird dauu das Eisen, das auf diesem Amboss geklopft wird.
P. führt das Gleichniss sehr weit aus: „Er stellt die Heuchel- Freundschaft unter dem
Bilde eines Ambosses dar, weil jene dasselbe thut wie dieser: dieser nämlich scheint,
ehe es zum Klopfen des Eisens kommt, alles nur tragen zu wollen, und dient doch, wenn
es zum Klopfen kommt, nur dazu, dass man (das darauf ruhende Eisen) recht gründlich
klopfen kann ; grade so ist es mit der Heuchelfreundschaft.“
822. Die Vertraulichkeit derer, die, Freunden ähnlich,
ohne Freundschaft sind, — wie der Sinn der Weiber wird sie
sich wenden.
823. Mögen sie auch viel Gutes gelernt haben, Feind-
selige werden schwerlich guter Gesinnung.
»3. Heuchel- Freundschaft. — 84. Thorheit. 1()()
I
824. Man furchte die im Gesicht so süss lachenden, im
Gemüth so bitterbösen Heuchler.
825. Den zu uns von Herzen nicht Haltenden in irgend-
was auf ihr Wort zu traun ist taktlos.
826. Sollten sie auch, wie Freunde, Gutes reden, der
Feinde Rede wird flugs erkannt.
827. Beugung in Worten von Hassern her nimm ja nicht
an, — dieweil des Bogens Biegung auf Unheil absieht.
828. Auch in unterthänig erhobnen Händen birgt sich
die Waffe wohl; Zähren, die Feinde weinen, sind grade so '.
i Wie ehrerbietig gefaltete Hände mit einer Waffe darin.
829. Die, obgleich viel thuend, dich doch verachten,
mit denen musst du schön thun und sie in aller Freundschaft
todt drücken.
Oder: denen musst du dich so verbinden, dass du mit ihnen schön thuend in der
Freundschaft (innerlich) ersterbest. (P. : dass du mit ihnen in Freundschaft schön thuest,
diese selbst aber im Herzen ersterbe.)
830. Kommt die Zeit, wo Feinde freundlich thun, so
sei auch du im Gesicht zwar freundlich, im Gemüth jedoch
halt dich der Freundschaft fremd!
84.
THORHEIT.
„Nun beginnt er, die Freundschaft negirend, die Feindschaft zu be-
handeln. Diese Feindschaft entsteht sowohl durch den Zorn, der
ein nicht ganz zu lassender Fehler ist, als durch das Gelüst. Das
was aus dem Zorne kommt, behandelt er in fünf Kapiteln, ebenso was
aus dem Gelüste kommt. Die beidem zugrunde liegende Verblendung
vertheilt er als zweigeartet auf zwei Kapitel und spricht nun in diesem
zuerst von der Thorheit.“ (P.)
831. Was ist das, was man einzige Thorheit heisst?
Nach Verlust laufend, den Vortheil liegen lassen.
832. Die Thorheit aller Thorheit ist die Lust in losem
Wesen büssen.
110
II. Vom Gute.
833. Schamlosigkeit, Streblosigkeit, Unartigkeit, Gleich-
gültigkeit gegen Alles — das ist des Thoren Thun.
834 Kein Thor wie der Thor, der Weisheit lernte,
gründlich versteht, Andern erklärt, — und doch sich selbst
nicht zügelt.
,,Kein Thor wie der Thor*4, weil er seine Thorheit nicht mit dieser Arznei heilt und
es doch eine andre Arznei nicht giebt. So P.
835. Ein Narr bringt’s zustand, sich in Einer Geburt zu
schaffen die ihn in allen 1 Geburten verschlingende Hölle.
Wörtlich in der ..gesammten Sieben - Geburt“ d. i. in allen Existenzen.
836. Wenn ein Narr, der zu handeln nicht versteht, sich
zu handeln untersteht, so wird nicht bloss nichts, — er selbst
wird sich in Fesseln fangen.
837. Gelangt ein Narr zu Geld und Gut, so müssen die
Seinen hungern, während Fremde sich vollfressen.
838. Wie wenn ein Sinn - Verwirrter noch Toddy trinkt,
so der Narr, wenn er irgend Hab’ in die Hand bekommt.
839. Sehr süss ist doch der Narren Freundschaft. Nichts,
was bei Trennung Trübsal schafft!
840. Wie wenn Einer den ungewaschnen Fuss auf den
Divan setzt, so, wenn in der Weisen Versammlung der Thor
eindringt.
85.
WISSENS - BESCHRÄNKTHEIT.
„D. h. obgleich man nur ein .Geringwisser ‘ ist, sich doch für einen
, Grosswisser ‘ halten und die Ermahnung der Weisen nicht an-
nehmen.“ (P.)
841. Nichtwissen ist der Nichtigkeit Nichtigkeit; Nich-
tigkeit in Andrem 1 hält die Welt2 mit nichten für Nichtigkeit.
1 D. i. in finanzieller Beziehung. P.i
2 Siehe Anm. zu V. 117.
842. Geht dem Unwissenden das Herz auf, und er giebt,
so ist’s des Empfängers Verdienst, nichts andres1.
So. Wissens - Beschränktheit. 111
i D. li. So ist's (las Schicksal, das ihn zwingt, das durch Busse erworbne Verdienst
des Empfängers durch Spende zu lohnen.
843. Schwer wird s selbst den Feinden fallen, die Plage
zuwegzubringen, womit Wissenslose sich selber plagen.
844. Fragst du, was Dummheit heisst? Der Dünkel:
„Die Weisheit besitzen wir.“
845. Das Gebaliren, das mit nicht Gelerntem sich gern
befasst, reizt zum Zweifel auch über das, dess man makellos
mächtig ist.
84(5. Seine Blosse bergen, während man seine Fehler
nicht birgt *, — ist das Beschränktheit !
1 D. h. nach P. ,, nicht abthut“. — Der ganze Vers lässt sich auch so geben: „Wenn
die Beschränktheit ihre Fehler nicht birgt, sollte sie dann ihre Blosse bergen?“ (Dann
wird uas ö an mareittal nicht im Sinne von „sogar“, sondern in seiner gewöhnlichen inter-
rogativen Bedeutung genommen.)
847. Der Unverständige, der das kostbare Geheimniss 1
faselnd fahren lässt, wird sich selbst grosses Mühsal machen.
i Der Weisheit. So die Commentatoren. Beschi: Qui alicujus momenti secretum
servare neseit.
848. Auch belehrt, thut er’s nicht; selbst weiss er’s
nicht; bis solche Seel’ abfährt, ist sie eine wahre Pest.
849. Wer den, der nicht sieht, will sehen machen, ist
ein Selbstnichtsehender ; ein nicht Sehender wird stets ein
Sehender, der nun einmal in seiner Weise sieht, bleiben1.
1 Es ist unmöglich, einen beschränkten Menschen voll Wissensdünkel aufzuklären.
Er hält den , der ihn aufklären will , für dumm , sich selbst aber für gescheidt. — Ariel :
Qui montre a qui ne voit (au dire du monde) ne voit pas; qui ne voit est celui qui voit,
corame (?) s'il voyait.
850. Wer, was die Welt1 setzt2, verneint, wird in der
Welt als Teufel3 gelten.
1 Im Sinne der Anm. zu V. 117.
2 P. versteht darunter den Glauben an eine Gottheit, eine andere Existenz , den
Thatenlohn u. s. w.
3 In Menschengestalt.
112
il. Vom Gute.
86.
FEINDSELIG WESEN.
„Von dem so entstehenden Zorn und Gelüst ist bei dem König der
Zorn am grössten; daher behandelt er zuerst das, was daher stammt,
und spricht nun zunächst von „feindseligem Wesen“. (P.)
851. Zwiespältig Wesen nennt man die Seuche, die in
allen Wesen1 der Spaltung Unwesen zeugt.
„So sagt er, um anzudeuten, dass es die Menschen mit den Thieren gleich macht.“ (P.)
852. Wenn auch Jemand, nach Trennung trachtend,
Unleidliches thut, — Hauptsach’ ist’s, dass du nicht, nach
Feindschaft trachtend, Unliebes thust.
853. Treibt man des Hasses kräftige Krankheit aus, so
bringt das makelblossen, endlosen Ruhm.
854. Aller Wonne Wonne zeugt’s, wenn alles Wehes
Weh „feindselig Wesen“ stirbt.
855. Wer hat das Zeug, die Ueberwältigung derer zu
übernehmen, die dem keimenden Hass wehrend zu wandeln
wissen?
856. Wer spricht „das Zunehmen der Feindseligkeit
sagt mir zu“, dess Glückseligkeit ist dem Abnehmen nah —
ja dem Absterben.
857. Die mit der bittern Wissenschaft voll Hass und
Streit — die sehen nie das höchste Gut voll Herrlichkeit.
858. Gewinn ist’s, sich gegen gehässig Wesen stemmen.
Macht man sich auf, es zu pflegen, so macht sich das Ver-
derben auf.
859. Wenn Wohl kommt, denkt man an Verfeindung1
nicht; wo’s Weh giebt — gleich denkt man dran sie zu
pflegen.
i Wenn es Einem wohlgeht, neigt man mehr zu freundlichem Wesen, und doch
hätte man dann am ersten das Zeug dazu, einem Feinde Trotz zu bieten; wenn es
Einem aber übel geht, so neigt man am ersten zu gehässigem Wesen, und doch hat man
dann am wenigsten Ursach, sich noch Feinde zu machen. So voll Widersprüche ist der
Mensch !
»6. Feindselig Wesen. — 87. Der Feindschaft Vorzüglichkeit.
113
860. Aus Feindseligkeit kommt alles Uebel, aus Freund-
seligkeit das Lob der Leutseligkeit.
87.
DER FEINDSCHAFT VORZÜGLICHKEIT.
„Das ist: die Feindschaft, in Rücksicht auf Unwissenheit und ähnliche
Fehler (an dem Gegner) vorzüglich halten. Da ein König nicht immer
ohne Feinde sein kann, so gebietet der Dichter die oben im Allgemeinen
verbotne Feindschaft in besondrer Beziehung.“ (P.)
861. Mit Starken Streit aufzunehmen hüte dich: vor
Zwist mit Schwachen nicht — begehre ihn!
862. Wer ohne Lieb’ ist wer ohne tüchtige Stütz’ ist,
wer selber ohne Stärk ist, wie wird Der des Feindes Stärke
fällen ?
1 Ohne Liebe zu den Seinen, und daher auch ohne Liebe ihrerseits.
863. Wer sehr sich fürchtet, wer wenig weiss, wer
schwer sicli schickt, wer nicht gern giebt, ist für Feind’ eine
grosse Kleinigkeit.
864. Wer stets verdriesslich und nicht verlässlich ist,
wird zu aller Zeit allenthalben für Alle zu leicht erfunden.
865. Wer auf den Pfad 1 nicht achtet, Geschicktes nicht
tlyit , auf Tadel nicht achtet, und aller Art entbehrt, ist dem
Gegner gar sehr genehm.
1 Der in den Rechtsbüchern verzeichnet ist. (P.)
866. Wer blinden Zorn und üppige Lust liebt, dess
Uebelvvollen wird man gern wollen.
Denn er ist leicht zu überwinden.
867. Wer einen Handel eingeht, und dann unrühmlich
vorgeht, dess Feindschaft nimm an und solltest du zahlen!
868. Ein Untüchtiger, falls seiner Fehler viele sind,
ist ohne Freunde; das ist eine Freude für Feinde!
869. Den Hassei’n geht die hohe Lust nicht aus, wenn
sie unwissende, furchtsame Feind’ erlangen.
in
8
114
II. Vom Gute.
870. Wer sieh auch an die kleine Müh’ nicht macht, mit
einem imgeschulten Feind zu fehden, an den wird nie der
Ruhm sich machen.
88.
DER FEINDSCHAFT ART ERKENNEN.
Das ist nach P. sowohl die Art der Feindschaft (ob sie zu pflegen, zu
neutralisiren oder ganz aufzuheben), als die Mittel dazu erkennen*.
871. Auch nur im Scherz der Feindschaft Unart wollen
ist Unrecht.
872. Machte man sich auch die zu Feinden, die des
Bogens Pflugschaar führen, — man verfeinde sich nicht mit
denen, die des Wortes Pflug handthieren.
Minder gefährlich ist die Feindschaft mit der rohen Gewalt des Kriegers, als mit der
geistigen Gewalt des Wohlunterrichteten. — F„ der unter „Wort“ speciell die „Kechts-
bücher“ versteht, denkt sich unter denen, die des Wortes Pflugsekaar führen, speciell
die ministeriellen Kathgeber. („Wenn man sich mit einem tapfern Helden verfeindet,
so ist wohl das Verderben gewiss; allein das trifft doch bloss die eigne Person. Ver-
feindet man sich aber mit einem klugen Berather , so trifft auch die Anverwandten das
Verderben sicherlich.“)
873. Elender als ein Wahnwitziger ist, wer, obgleich al
lein, Vieler Feindschaft auf sich lädt.
874. Es ruht die Welt in des waekern Fürsten Tüchtig-
keit, der Feindschaft in Freundschaft zu wandeln weiss.
Die ganze Welt crgiebt sich einem Solchen.
875. Keine eigne Hülf ’ — und zwei F einde ! Deren einen
mach’ er, der Einsame, sich zum herzlieben Helfer.
876. Ob ein Verständniss besteht, oder nicht, in kriti-
schem Augenblick halt dich fern von Verständigung und
V eruneinigung.
, .Findet ein Verständniss statt, so schliesse man sich nicht naher zusammen, damit
nicht von innen her Verderben komme; findet kein Verständniss statt, so trete man nicht
weiter zurück, damit man in der Notli eine Hülfe bekomme.“ Zuwartende Neutralität
Tirana heisst nämlich sowohl Beschaffenheit als Mittel.
88. Der Feindschaft Art erkennen. — 8!t. Innre Feindseligkeit.
115
877. Denen, die nichts davon wissen, jammre nicht
deinen Jammer vor; vor Gegnern gieb dich der Schwäche
nicht hin.
878. Wenn man, der rechten Art kundig, sich rafft und
in Acht nimmt, so fällt der Feinde Uebermuth.
879. Wenn er noch zart ist, fälle den Dornbusch! Ist
er erst erstarkt — wird er des Fällenden Hand fällen.
880. Wer seiner Hasser Hochmuth zu dämpfen unter-
lässt, der ist, wenn man nur haucht, nicht mehr1.
1 D. h. Dem kann jeder Hauch das Lebenslicht ausblasen. Ariel: Au soufHe d*un
enncmi ils ne sont plus, ceux qui n’en ont pas d^truit la puissance.
89.
INNRE FEINDSELIGKEIT.
„Das ist eine Feindseligkeit, die eine Gelegenheit für äussre Feind-
seligkeit sucht, und bis sie dieselbe findet, sich innen hält. Da auch
sie zu dem zu Beseitigenden gehört, so folgt sie hier auf das Kapitel
von , der Feindschaft Art erkennen*.“ (P.)
881. Was Schatten und Wasser Uebles thun, ist vom
Uebel. So ist auch der Angehörigen Wesen, wenn es übel
thut, vom Uebel.
Die Angehörigen sind uns so unentbehrlich wie Schatten und Wasser, und wir ge-
ben uns ihnen auch so rückhaltslos hin, wie dem Schatten und Wasser. Wie aber Schat-
ten und Wasser — sonst das Erquicklichste — zum grössten Schaden gereichen kann,
so können uns auch die Angehörigen — sonst die grösste Hülfe — am meisten schaden.
(Man erinnere sich, dass die Tamulen den Schatten gewisser Bäume [wie der Tama-
rinde] als der Gesundheit nachtheilig ansehen. So hat denn der Schatten ebensowohl
als das Wasser eine verborgne Kraft zu schaden , die gewissermassen nur auf die Ge-
legenheit wartet, ganz wie die ,, innre Feindschaft“.)
882. Fürchte nicht die Feinde, die wie (entblösste)
Schwerter stehn. Die Gemeinschaft der Feinde fürchte, die
wie Freunde thun.
883. Den innern Feind fürchtend hüte dich! Er schnei-
det auf dich in deiner Schwäche, wie ein Thonschneider,
tüchtig los.
884. Wo ein innrer Feind unedlen Sinns auftritt, da
II. Vom Gute.
116
giebt’s denn auch vielfältigen Schaden !, indem die Freund’
unedel werden.
1 Dieser bestellt darin, dass ein innrer Feind sehr viele Freunde mit entfremdet und
dass man nun dadurch misstrauisch wird, und in dem, was dann daraus erwächst. (P.)
885. Wo in Verwandten -Gestalt ein innrer Feind auf-
tritt, da wird in Verderbens -Gestalt des Schadens viel.
886. Wenn unter Vereinten Uneinigkeit sich einstellt,
da findet sich schwerlich ein die Sicherheit vor Untergang.
887. Ein Haus voll innern Hasses — wenn es auch wie
Schachtel und Deckel 1 sich eint, — ist doch nicht eins.
* Wörtlich: Wie die Zusammenfüguug einer Schachtel (d. h. äusserlich, scheinbar. )
888. Dem von der Feile angefochtnen Golde gleich,
reibt angefochten die Kraft sich auf im Haus voll innern
Hasses.
889. Und war’ auch winzig, wie ein Splitterchen des
Sesam -Samens, die innre Zwietracht — ■ Verderben steckt
darin.
Der Sesam -Samen ist dem Tamulen das Sinnbild der Kleinheit , geschweige denn
ein Splitterchen desselben.
890. Mit innerlich Zerfallenen Zusammenleben ist wie
mit Schlangen in Einer Hütte hausen.
90.
DIE GROSSEN NICHT SCHMÄHEN.
„Das Wort , Grosse4 ist hier doppelsinnig; es geht sowohl auf die
durch Macht grossen Könige, als auf die durch Kasteiung grossen
Weisen. Da dieser Gegenstand oben keine Stelle gefunden, so steht
er hier am Ende dessen , was aus dem Zorne stammt.“ (P.)
891. Der Mächtigen Macht1 nicht schmähn ist von aller
Hut der sich Hütenden das Haupt.
i „Dieses Wort steht für das Dreies: Grosse, Wissen und Anstrengung“. (P.)
892. Wenn du die Grossen nicht grossachtend dahin
lebst, so wird dir das, von den Grossen her, steten Gram
bereiten.
90. Die Grossen nicht schmähen.
117
893. Will man sterben, so tliue man, ohne zu hören,
Herzeleid Dem an, der, will er verderben, dess Macht hat.
894. Wenn ein Machtloser einem Machtvollen Unliebes
thut, — das ist als wenn er den Todesgott mit der Hand her-
winkte.
895. Wohin auch gehend — nirgends kann Der dem
Tod entgehn, dem ein hochmächtiger Herrscher zürnt.
896. Würde man auch von Feuer gesengt, doch ist
Entrinnen möglich; die an Grossen sich vergreifen, ent-
rinnen nicht.
P. verstellt nun hier die „ durch Kasteiung “ Grossen darunter. Man verderbe es
mit keinem Fürsten; der Fürst aber verderbe es mit keinem Büsser.
897. Eine durch Mittel 1 ausgezeichnete Herrschaft und
herrlicher Reichthum, — was ist’s, wenn die durch Tüchtig-
keit2 ausgezeichneten Tugendhelden unwillig sind?
1 Siehe V. 3S1.
2 Die Commentatoren verstehen darunter die Macht der Verfluchung und der Seg-
nung.
898. Wenn man, die wie Berge stehn1, gering schätzt, so
schwinden selbst, die mit ihrer Familie wie fest gewurzelt
stehn, vom Boden.
1 Die „ Grossbiisser“ (die ,, Sonne und Regen ruhig ertragen; denen die Unerschüt-
terlichkeit eignet u. s. w.“). So P. Derselbe construirt die ersten Worte so: „Wenn
die Berg - Gleichen Verderbens - Gedanken hegen.“ Obige Fassung ist aber grammatisch
natürlicher.
899. Wenn die Hochsinnigen zornig zischen, so geht der
Fürst, seinen Stand verlierend, in Feuer auf.
Die Commentatoren verstehen unter „Fürst“ den „Götterfürsten“, Indra, und be-
ziehen sich auf die Verfluchung desselben durch Agastja. Sie fassen die Worte „seinen
Stand verlierend“ specieller „seinen Stand (als Götterfürst) verlierend“, und verstehen
die Worte „in Feuer aufgehn “ rein bildlich. — Obige Fassung empfiehlt offenbar die
Stellung zu V. 89S und 900. (Wenn ein Büsser zürnt, so verderben nicht bloss die Unter-
thanen — V. 898 — , sondern auch die Fürsten — V. 899 — , wenn dieselben auch noch so
mächtig sind — V. 900.)
900. Und wären die Hülfsquellen voll zum Ueber-
tliessen, man bleibt nicht über, wenn die Grossen voll
Hoheit grollen.
118
II. Vom Gute.
91.
DEN WEG DER FRAU GEHN.
,.Da das, was durch da6 Gelüst kommt, obgleich es nicht direete Feind-
schaft ist, doch aber ganz wie die Feindschaft wirkt, indem es den
Wohlstand zerstört und den Untergang bringt, so weist er ihm die
Stelle hinter der Feindschaft und dem was dazu gehört, an und redet
nun zuerst von .den Weg der Frau gehen1 (d. i. sich von dem Weib re-
gieren lassen).“ (P.)
901. Frauen -Liebhaber gehn hehren Gewinns verlustig;
es ist das auch ein Ding, das Geschäfts -Liebhaber nicht gern
haben.
Die sich der Lust ergeben, verlieren darüber das Strebeziel Tugend (,. hehren
Gewinns") ausser Augen, und daneben auch das Strebeziel Gut (dem eben die „Ge-
schäftsliebhaber“ nachgehn).
902. Das Wohlleben Dess, der unbesorgt nach dem
Weib begehrt, wird bei ungeheurer Schande ihn schamroth
machen.
903. Die Schwäche Dess, der unter die Frau sich
schmiegt, trägt Schmach für immer bei allen Wackern ein.
904. Wer, sein Weib fürchtend, für ein andres Dasein
nicht da ist, dess schönstes Schaffen bleibt ohne Ruhm.
905. Wer sein Weib fürchtet, wird stets sich fürchten,
den Wackern wohl zu thun.
906. Und wenn sie wie Himmlische herrlich lebten \ die
vor der Frauen „Bambus- Arm“2 sich fürchten — Schwäch-
linge sind’s.
1 ..Wie Himmlische herrlich leben“ heisst nach Bezwingung aller Arme der Feinde
hochgeachtet leben. So P.
2 Der Arm der Frau (der in der Poesie stehend mit dem Bambns verglichen wird)
spielt auf den Arm der Feinde an.
907. Schüchterne Weiblichkeit ist weit grösser als in
Weibes -Dienst wandelnde Männlichkeit.
908. Sie können der Freunde Noth nicht heben, sie
können der Tugend nicht leben b — • die nach der „Sehön-
stirnigen“2 Willen wandeln.
Öl. Den Weg der Frau geliu. — H2. Freche Dirnen.
111)
l P. findet in den beiden ersten Gliedern den Doppelgedank.cn ausgedrückt , dass
sie weder für dieses noch für jenes Dasein das Nötliige zu thun im Stande sind.
2 Eine poetische Bezeichnung für Frauen.
909. Bei denen, die dienstbereit dem Weib zu Willen
sind, ist weder Tugendthun, noch edles Gut, noch andres
Thun i.
i Auf die „Lust'1 (das dritte Strebeziel neben „Tugend“ und „Gut“) bezüglich. (P.)
910. Wer, dem Nachdenken hingegebenen Sinns, des
Glücks geniesst, wird nicht in Thorheit je aus Hingab’ an
die Hausfrau fallen.
92.
FRECHE DIRNEN.
„Das ist der Charakter solcher Dirnen, die ihre Liebe au Alle, ohne
Rücksicht ob sie dazu sich eignen oder nicht, verkaufen. Dieses Ka-
pitel steht daher hinter dem, wo von den Fehlern die Rede ist, die
durch das eigne Weib kommen.“ (P.)
911. Weh wirkt die Schmeichel- Stimme Der „ mit dem
erlesnen Armband die nicht in Liebe (dich), wohl aber
das Gold begehrt.
1 Eine gewöhnliche Bezeichnung für Frauen in der Poesie.
912. Mit der schlechtgearteten Dirne, die artig redet,
den Gewinn erwägend, befreunde dich nicht, ihren Sinn er-
wägend.
913. Mit dem falschen Umfangen der feilen Dirn’ ist’s
wie wenn Einer in dunkeim Zimmer eine fremde Leich’
umfasst.
„Wenn die für Geld umarmenden Dirnen, ohne nach Sinn und Thun zu forschen,
Jemanden umfassen , der weder nach Stand , noch nach Alter zu ihnen passt, sogleicht
ihr Thun dem Thun derer , die für Geld Leichname aufschultern , wenn sie an einem
dunkeln Orte einen fremden Leichnam aufladen.“ So P. Gegen diese etwas gesuchte
Erklärung scheint der Ausdruck „dunkles Zimmer“ zu sprechen, der doch wohl auf un-
wissentliches Thun deutet. Auch soll ja nicht den feilen Dirnen, sondern Denen,
die sich zu ihnen halten, ihr unziemliches Thun vorgehalten werden. Der Sinn demnach
wird wohl ganz einfach der sein : Wer sich mit einer feilen Dirne abgiebt, der giebt sich
mit einem Leichnam ab, denn sie giebt eben nur ihren Leib hin — ohne alle Seele.
914. Das gemeine Gut clei’ Dirnen, denen nur Güter gut
1
120 “• v om Gute. -
däuchten, rühren nicht an die der Tugend Gut erforschenden
Weisen.
015. Das gemeine Gut der Dirnen, die mit Allen
gut sind, rühren nicht an die mit Geistes - Gut gesegneten
Weisen.
916. Die ihren guten Schatz1 ausbreiten, rühren nicht
an die Schulter Derer, die, auf Künst’ und Reize stolz, ihren
gemeinen Schatz ausbreiten2.
1 Ihren Tugendruhm. (P.)
2 Gleichsam zum Verkauf.
917. Nur die gemeinen Gemiithes sind, berühren Derer
Schulter, die, in ihrem Gemüth auf Andres aus, umarmen.
918. Der heuchelnden Dirn’ Umarmung ist eine Dämo-
nin1 Denen, die nicht forschende Weisen sind.
1 ,,Die auf dem Wege der Lust das Leben nimmt.“ (P.)
919. Der in glanzvollen Juwelen prangenden Buhlerin
weiche Schulter ist ein Höllen -Schlamm, darin die gemeinen
Kerl’ einsinken.
920. Zweideutige Dirnen, Rausch -Trank und Würfel ist
das Gefolg der vom Glück Verstossnen.
Dieser Vers leitet auf die beiden folgenden Capitel über.
93.
NICHT BERAUSCHEND GETRÄNK TRINKEN.
„ Berauschend Getränk ist nämlich , der feilen Dirne gleich , ein Zer-
störer der Sitte und des Verstandes.“ (P.)
921. Nicht länger gefürchtet, allen Ruhmes -Schimmer
für immer verliert, wer an Rausch -Trank Geschmack gewin-
nend wandelt.
922. Trinke nicht Rauschtrank ! Die von den Hochher-
zigen nicht hochgehalten zu werden wünschen, — wenn die
ihn trinken — so mögen sie’s.
i>3. Nicht berauschend Getränk trinken.
121
923. Wenn Trunkenheit selbst in den Augen der Mutter 1
missfällig ist, was wird sie dann in den Augen der Hoch-
herzigen sein?
i „Die, was man auch thun möge, sich darüber zu freuen pflegt.“ (P.)
924. Das wackre Weib „Scham“ kehrt Denen den
Rücken, die der loblosen gewaltigen Sünde, die Rausch
heisst, dienen.
925. Geld geben und dafür Wesens- Vergessenheit kau-
fen — das ist doch Vergessenheit alles handlichen Behabens h
i Kei (Hand, handlich Benehmen = gute Sitte) scheint mit Rücksicht auf mej (Leib,
Wesen , Wahrheit) zu stehen.
926. Schlafende sind von Hingeschiednen nicht verschie-
den. Die Rauschtrank trinken, sind stets Avie Gifttrinker.
Die Schlafenden gleichen den Todten nur für den Augenblick , die Trunkenbolde
immer.
927. Die, mit Rausch -Trank beiseit tretend, die Augen
sinken machen 1 — über Die spottet die Stadt, in s Innre
spähend2.
1 D. i. so lange trinken, bis die Augen zufallen.
2 D. i. aus dem schläfrigen AVesen des Mannes darauf, dass ertrinkt, schliessend. (P.)
928. Lass1 ja fahren die Rede: „Von Rausch weiss ich
nichts“. Auch der in deinem Busen geborgne Fehl wird2
plötzlich überlaufen.
1 Zur Zeit, wo du in der That nüchtern bist. (P.)
2 Zur Zeit, wo du nieder trinkst. (P.)
929. Einem Betrunknen Gründe der Vernunft Vorhalten,
ist Avie einen Ertrunknen 1 mit Licht unter dem Wasser
suchen wollen.
1 Eigentlich nur „ einen im Wasser Untergetauchten “.
930. Wenn er, wo er nicht getrunken, auf einen Trunk-
nen trifft, — ob er denn da nicht inne wird des Jammer-
wesens vom eignen Trinken?
122
II. Vom Gute*
94.
GLÜCKS - SPIEL.
„Wie die Trunksucht, so ist auch , Glücksspiel* und , Krankheit* den
drei Strehezielen , Tugend, Gut, Lust* hinderlich; er handelt daher
zunächst vom ersteren.“ (P.)
931. Dich gelüste — auch wenn du gewinnen solltest —
nicht nach dem Spiel. Ist doch selbst Gewinnen, wie wenn
ein Fisch des Angelhakens Metall verschlingt.
„Denn das Gewonnene ist eine Kette, die an das Spiel für immer fesselt.“ (P.)
932. Giebt es denn auch für Spieler, die Eins gewinnen
und Hundert verlieren, nur Eine Weise, wie sie, Gutes ge-
winnend, wohl leben mögen?
933. Führt ein Fürst unablässig den Roll- Gewinn1 im
Mund, so fällt sein Vollgewinn2 in fremde Hand.
1 Vom Würfelspiel her.
‘•i Sein solides Einkommen. Die Commentatoreu coordiniren porul und äjam
(„ Schatz und Einkommen“).
934. Nichts was so arm macht, wie der Würfel, der gar
viel Weh schafft, allen Ruhm wegrafft.
935. (Die Fürsten), die (vordem) zu nichte wurden, wa-
ren Leute, die, froh des Würfels, der Spielstub' und des
Spielgeschäfts, nach Gewinne geizten.
P. erinnert an die Pändava’s. Vergl. Lassen, Indische Alterthiimer I, G7G, 678.
936. Sie werden den Bauch nicht voll kriegen und Qual lei-
den 1 — die von dem Unglücksgott2 „Würfel“ Verschlungenen.
1 P. bezieht „ Qual leiden“ auf die künftige Existenz.
2 Eigentlich „ Unglücksgöttin “.
937. Reichthum und edler Sinn von Alters her geht unter,
geht deine Zeit in der Spielstub’ auf.
938. Das Gut verdirbt, zur Lüge verleitet, die Güte ver-
dirbt und Weh bereitet — der Würfel.
939. Kleidung, Wohlfahrt, Nahrung, Ruhm und Wissen
— diese Fünf haben nichts zu schaffen mit dem, der nach
dem Spiel - Gewinne greift.
1)1. Glücks -Spiel. — *J5. Arznei.
123
940. Dem Spieler gleich, cler, so oft er verliert, Spiel-
Lust bekommt, bekommt das Leben, so oft es leidet, neue
Lebens -Lust.
Es scheint, (lass dieser Vers auf das folgende Kapitel überleiten soll.
95.
ARZNEI.
„Den Menschen kommen die Krankheiten sowohl durch das Verhalten
in einer frühem Existenz, als auch durch besondere Veranlassung (als
Essen, unangemessne Arbeit u. s. w.). Die erstgenannten vergehen
nicht, bis die Straf -Folgen des frühem Verhaltens sich vollendet ha-
ben; darum lässt der Dichter diese hier aus, und spricht bloss von
den andern.“ (P.)
941. Sowohl Zuwenig als Zuviel1 zeugt die von den
Kundigen aufgezählten drei Plagen, den „Wind “ 2 an der
Spitze.
1 Im Essen und im Arbeiten.
2 Die drei Krankheits- Basen sind : Wind, Galle und Schleim.
942. Wenn man, wohl beachtend, wie das Gespeiste be-
kam1, speist, so hat, was man Arznei heisst, der Leib nicht
nüthig.
1 Eigentlich „ verdaut wurde
943. Bekommt’s, so iss, das Maass wohl wissend. Das
ist die Weise, wie Der, dem ein Leib wurde, ihn lang’ im
Gang erhält.
944. Das Bekommende kennend, beharre dabei, und iss
— auch erst bei herbem Hunger — nichts Widerstreitendes *.
1 Nichts , was mit deiner Leibesbeschaffenheit (die entweder zu Wind , Galle oder
Schleim neigt), unter einander (wie Honig und Ghi), oder mit der Zeit (des Tages oder
des Jahres) streitet. (P.)
945. Wenn man auch sonst nicht widerstreitende Spei-
sen abknappend speist, so stösst nichts Widriges dem Le-
ben zu.
946. Wie bei dem verständigerweis spärlich Speisenden
die Lust, so wird neben dem grossen Fresser die Last stets
stehn.
124
II. Vom Gute.
947. Isst man über das Maass der Wärm’ 1 unbedacht-
sam viel, so stellt auch Web' ohne Maass sich ein.
1 Der Verdauungskraft (der Galle.)
948. Der Arzt soll die Krankheit erforschen, der Krank -
heit Ursach erforschen, das lindernde Mittel erforschen und
dann fehllos verfahren.
Im Sinne des folgenden Verses.
949. Des Kranken Maass, der Krankheit Maass und die
Zeit bedenkend, verfahre der Wolderfahrne.
950. Kranker, Arzt, Arznei und Pfleger — an diesen
Stücken hat die Arznei -Kund’ ihre Viertheilung1.
1 P. versteht dies so, dass jedes dieser Stücke wieder in vier Arten zerfallt, l) Der
Kranke : Bemitteltheit (!) ; Folgsamkeit gegen den Arzt; Offenheit über den Krankheits-
zustand; Aushalten der Kur. 2) Der Arzt: Freiheit von Furcht, die Krankheit anzu-
sehen; gründliche Gelehrsamkeit und scharfer Verstand; lange Erfahrung in der Be-
handlung der betreffenden Krankheit; Reinheit an Sinn, Rede und Leib. 3) Die Arznei:
Angemessenheit für mehrere Krankheiten; Trefflichkeit nach Geschmack und Wirksam-
keit; Leichterlanglichkeit; Harmoniren mit der betreffenden Constitution. 4) Der Pfle-
ger: Liebe zum Kranken , Reinheit an Sinn , Rede und Leib ; dem W orte des Arztes ge-
mäss handeln; Kenntniss.
ANHANG.
96.
EDLE GEBURT.
„Da edle Geburt allen vier Kasten durchaus wünschenswerth ist, so
steht dieses Capitel vorweg.“ (P.)
951. Nur bei Edel- Gebornen ist edler Sinn und sittliche
Scham natürlicherweis1 beisammen.
i „D. h. den Edelgebornen braucht man diese Tugenden nicht zu befehlen, sie kom-
men doch zum Vorschein; den Andern dagegen mag man sie immerhin befehlen, sie
halten nicht lange Stich.“ (P.)
952. Leute von Geburt lassen’s nicht fehlen an den
Dreien: Sitte, Wahrheit, Schamhaftigkeit.
953. Freundliche Miene, liebliche Rede, Spenden und
Nichtverächtlichthun, heisst’s, sind des rechten Adels Art.
954. Und würden sie aufgehäufter Milliarden mächtig,
edelgeborne Leute lassen auf Nichts sich ein, wobei ein Man-
gel ist.
955. Sind auch die Hülfsquellen innerlich sehr verfallen,
alter Adel lässt nicht von Art.
956. Unedles in Rücksicht auf Lug und Trug werden
Die nicht thun, die in Rücksicht auf ihi’e fehllose Familie zu
leben geloben.
957. Ein Felder an Leuten von hoher Familie scheint —
wie der Flecken im Mond am Himmel — hochher.
126
II. Vom Gute.
958. Wenn bei guter Geburt Mangel an Gut erscheint,
so wird man die edle Geburt anzweifeln.
959. Was der Boden birgt — der Spross tliut’s kund ;
(was in der Familie steckt), das Wort aus der drin Gebornen
Mund.
960. Begehrt man Güte, so ist Scham begehrenswerth ;
begehrt man Adel, so begehre man Demuth gegen Alle.
97.
EHRENHAFTIGKEIT.
„Um nun ferner die Leuten von edler Geburt zukommenden Tugenden
zu schildern, schildert er zuerst die Ehrenhaftigkeit, — das ist sich nie
erniedrigen, und wo durch das Schicksal Erniedrigung kommt, nicht
leben bleiben. Da diess jene edle Geburt vor Verderben sicher stellt.
so wurde es. um jenes Vorzugs willen, vorweggestellt.“ (P.)
961. Und führt’ es auch zu einer sonst nicht zu haben-
den Herrlichkeit, zu Dem, was dich herab würdigt, lass dich
nimmer herbei.
962. Wenn man’s auch adelte — Unedles thun Die nicht,
die mit dem Adel begehren die Ehrenhaftigkeit.
963. In Hoheit bedarf s der Beugimg; Erhebung bedarf s
zur Zeit der Erniedrigung.
964. Fallen Männer unter den Stand herab, so sind sie
wie Haar, dem Haupt entfallen *.
i Das man nur so lange achtete, als es auf dem Haupte fest sass.
965. Auch die da gleichen den Bergen, sie verzwer-
gen, wenn sie Zwerghaftes, auch nur im Maasse der Kunri ',
thun.
i Eine kleine Frucht (siehe V. 277.) , Kunri offenbar wegen Kunru (■..Berg“). Sonst
ist ei (der Sesam- Same! das Symbol der Kleinheit. (V. 889.)
966. Wenns dem Ruhm nicht Raum schafft und ins
Land der Himmlischen nicht hilft, warum dann, hinten her
gehend, seinen Verächtern zij Diensten stehn V
96. E'Ue Geburt. — 97. Ehrenhaftigkeit. — 98. Grösse.
127
967. Besser ist’s, dass es heisst: Er ist auf der Stelle1
umgekommen, — als dass man hinter seinen Hassern her-
tretend lebe2.
1 Besser ist’s, sich von seinen Schmähern auf der Stelle tödten lassen, als den ge-
horsamen Diener bei ihnen machen. Diess ist offenbar der einfachste Sinn, selbst abge-
sehen von dem Zusammenhang (vergl. die folgenden Verse). Die Commentatoren fassen
— wohl nicht ohne Grund — den Ausdruck „auf der Stelle“ sehr prägnant: „auf dem
frühem Posten, in der frühem Stellung“.
2 „So sagt er in Ansehung derer, die, obgleich es weder Ruhm noch den Himmel
bringt, um des irdischen Gutes willen lieber leben wollen.“ (P.)
968. Wenn hohem Rang die Ehrenhaftigkeit abhanden
kommt, ist dann wohl ein den Leib noch pflegendes Leben
das rechte Heilmittel?
969. Die dem Kavarimä 1 gleichen, das, wenn es Ein Haar
einbüsst, nicht leben mag, die büssen, wenn Schmach kommt,
lieber das Leben ein.
1 Eine Art Reh.
970. Den Ruhm der Schamhaftigen, die, wenn Schande
kommt, nicht leben können, erhebt die Welt verehrungsvoll.
98.
GRÖSSE.
„Das ist die Art derer, die darin, dass sie Schweres vollbringen, sich
nicht brüsten , Andrer Fehl verschweigen und in ähnlichen Tugenden
gross sind. Da diese Tugenden, die Einen in seinem Stande immer
höher hinauf bringen, da sich zeigen, wo man sich nicht unter seinen
Stand erniedrigt, so folgt dieses Kapitel auf das von der .Ehren-
haftigkeit1.“ (P.)
971. Glanz ist geistige Grösse; Schmach ist die
Sprache: Wir wollen damit unbehelligt leben.
972. Die Geburt’ ist gleich für alle Seelen ; nicht ihr
Rang — durch der Werke Verschiedenheit.
P. beschränkt die Gleichheit der Geburt darauf, „dass alle Wesen in Folge frühem
Thuns einen aus den fünf Elementen gebildeten Leib anlegen und so , was sie verdient,
gemessen.“
973. Wenn sic auch hoch stehn, Nichthochgesinnte sind
doch nicht hoch; wenn sie auch niedrig stehn, Nichtniedrig-
gesinnte sind doch nicht niedrig.
128
II. Vom Gute.
974. Wenn man wie ein Weib einfältigen Herzens auf
der Hut sich hält, so ist die Grösse da.
975. Die Geistesgrossen wirken im rechten Gleis gar
seltne 1 Werke.
i Das tamulische Wort heisst „schwer, köstlich, — selten“.
976. Den kleinen Seelen kommt’ s nie zu Sinne: Wir
wollen hoch die Grossen halten.
977. Auszeichnung, wenn sie Unedlen zufällt, zeugt über-
müthige Ausschreitung.
978. Ein grosser Geist wird stets sich beugen; ein klei-
ner wird sich bestaunend schmücken.
979. Seelengröss’ ist Nichtgrossthun; Seelcnklcin ist’s,
sich auf’s Grossthun legen.
980. Geistesgrösse bedeckt die Blosse1; Geistes -Kleine
posaunt die Fehler aus.
1 Andrer (die Commentatoren).
99.
VOLLKOMMENHEIT.
„Das ist vieler guter Eigenschaften voll sein und sie handhaben. Da
er die mancherlei Tugenden, die in der , Grösse1 nicht mit. enthalten
sind, zusammenfassen will , so kommt nun hier zuerst diese.“ (P.)
981. Wer, seine Pflicht wissend, Handhabung der Voll-
kommenheit auf sich nimmt, für den heisst alles, was gut ist,
Pflicht.
Der Vollkommene darf es eben nicht in einzelnen Stücken fehlen lassen. Das liegt
schon im Worte selbst.
982. Der Gesinnung Güte ist der Vollkommenheit Gut;
alles andre Gute ist ohne Güte.
983. Liebe, Scham, Wohlthätigkeit, Rücksicht und
Wahrhaftigkeit — diese Fünf sind die festen Pfeiler der Voll-
kommenheit.
99. Vollkommenheit. — 1U0. Gute Art.
129
984. Die Güte, die nicht tödtet, ist (wahre) Biissung;
die Güte, die des Nächsten Böses nicht sagt, (wahre) Voll-
kommenheit.
985. Beugung ist der T hat - Mächtigen Machtthun. Sie
ist die Waffe, womit Vollkommne widerstehn den Wider-
sachern.
986. Was ist der Prüfstein der Vollkommenheit? Sich
besiegt ergeben selbst Unebenbürtigen.
987. Wenn man denen, die uns Unangenehmes thaten,
Angenehmes nicht tliut, was frommt dann die Vollkommenheit?
988. Mittellosigkeit ist Schande nicht, — wenn man die
Macht, die „Vollkommenheit“ heisst, zu erlangen in Stand ist.
989. Die — möcht’ auch das Geschick sich ändern 1 —
sich selbst nicht ändern, wird man „der Vollkommenheit
Ufer“2 heissen.
1 Die Commentatoren nehmen üZ’i hier in der Bedeutung von ,, Zeit“, was offenbar
einen schwachem Sinn giebt. Die Gerundialform in perinum = perntälum (nicht pern-
tum), die nur eine gedachte Voraussetzung anzeigt (siehe mein Outline of Tamil Gram-
mar § 38, im zweiten Bande meiner Biblioth. Tamulica), würde sehr wohl zu obiger Er-
klärung stimmen. Denn das Geschick ändert sich nach indischer Vorstellung in Wirk-
lichkeit eben nicht.
2 Die Vollkommenheit ist ein Meer, das von so wackern Leuten gleichsam ganz um-
fangen und dabei auch stetig gewahrt wird.
990. Wenn der Vollkommnen Vollkommenheit Schaden
leidet, so trägt die eigne Bürde der mächtige Boden nicht.
Hierin liegt vielleicht zugleich auch der Gedanke : Wenn die Vollkommenen ihre
Bürde (die Regeln der Vollkommenheit, die sie auf sich genommen haben; vergl. V. 981)
nicht tragen , und sie somit sich selbst aufgeben , so hört auch die Erde auf ihre Pflicht
zu thun , indem sie sich gleichsam selbst aufgiebt. Ich erinnere noch: Die Weisen sind
nach indischen Begriffen die ,, Berge“ der Menschenwelt, Berge aber gelten als die
„Träger der Erde“. Fallen die Vollkommenen hin, so ist die ganze Menschenwelt
ohne allen Halt.
100.
GUTE ART.
„Das ist. in den Vollkommenheiten wahrer Grösse festbeharrend, Aller
Art kennen und demgemäss handeln.“ (P.)
991. Auf den Pfad „guter Art“ lässt sich leicht gelangen
— durch Leichtzugänglichkeit für Alle.
XII. 9
130
If Vom Gute.
992. Ein liebend Wesen und wahrhaft edle Abkunft
diess Beides ist die Strasse der „guten Art“.
993. Leibes- Aehnlichkeit macht nicht Menschen -Aehn-
lichkeit: des näherungsfaliigen Geistes Aehnlichkeit macht
die ächte Aehnlichkeit.
Dieser Vers scheint den vorhergehenden Vers vor Missverstäudniss sichern zu
sollen, i Die blosse Adels - Geburt thnt's eben nicht, i Xäherungsfahig wird der Geist
genannt, weil er allein, nicht der Körper, sich einem andern assimiliren kann.
994. Die Welt wird preisen Dess „gute Art“, der mit
Güte Gutes schaffenden Nutzens voll ist.
99f>. Auch im Lachen tliut Verachtung weh. Bei denen,
die Art wissen, geschieht Artiges auch im Zorn.
996. Auf die Wohlgearteten stützt sich die Welt1; wo
nicht2, da kriecht sie sicherlich in den Staub und stirbt.
1 D. i. der sittliche Zusammenhalt der Welt
- Wo es keine ..Wohlgearteten “ giebt.
997. Und wenn er auch einer Feile Schärfe hätte deiu
Holze gleicht, wer ohne Menschenart.
3 An Verstand.
998. Auch gegen die, so keine Freundschaft machend,
unfreundlich handeln, unartig handeln ist ganz gemein.
999. Denen, die nicht freundlich zu sein verstehn, liegt
die grosse weite Welt, auch am hellen Tag, in Nacht.
1000. Das glänzende Glück, das ein Missgearteter er
langt, — wie gute Milch durch des Gefässes Fehl, so wan-
delt’s sich.
Seine Unart ’*t da* schlechte Gefass. das ihm den Genuss seines Glucks verdirbt
101.
NUTZLOSER WOHLSTAND.
„Das ist die Art des Wohlstandes, der weder dein, der ihn erworben,
noch Andern nützt.“ (P.)
1001. Wer sein Haus -füllendes Glück hinlegt und nicht
geniesst, — ein Todter ist’s; liegt es doch da ohne Schaffen1.
i Wie das Vermögen Eines, der gestorben ist.
101. Nutzloser Wohlstand. — 102. Schamhaftigkeit.
131
1002. Gemeine Geburt1 erzeugt der Wahn, der darauf
hin, dass Geld und Gut Alles thut, nichts gebend geizt.
i Ein Solcher wird in einer nächsten Existenz durch „gemeine Geburt*- für seine
Gemeinheit gestraft. —
1003. Das Auftreten 1 Solcher, die, nach Aufhäufen gie-
rend, keinen Ruhm begehren, ist dem Boden Bürde.
1 Auf der Bühne dieses Lebens.
1004. Der von Niemand geliebte (Geizhals) — - was
denkt denn der von sich zu hinterlassen ?
1005. Die weder geben, noch auch geniessen — und
wenn zehn Milliarden aufgehäuft lägen — sie haben nichts.
1006. Plag’ ist glänzendes Glück für den, der selbst es
nicht geniesst, den Wackern aber davon zu geben geneigt
nicht ist.
1007. Der Reichthum dess , der den Armen auch gar
nichts reicht, ist wie wenn eine sehr feine Frau für sich hin
altert.
1008. Des ungeliebten (Geizhalses) Glück ist, wie wenn
in Dorfes Mitte ein Giftbaum Früchte bringt.
1009. Fremde sind’s, die die glänzenden Güter erben,
die man, der Lieb’ entsagend, sich selber plagend, ohne
Rücksicht auf Tugend sammelt.
1010. Der kurze Mangel des würdigen Reichen ist so
bewandt, — wie wenn einmal arm die Wolke wird.
102.
SCHAMHAFTIGKEIT.
„Das ist, dass die durch die vorgenannten Eigenschaften als , Voll-
kommenheit“, ,gute Art' u. s. w. erhaben Dastehenden sich solcher
Handlungen schämen, die ihnen nicht zukommen.“ (P.)
1011. Sich einer That schämen ist Scham: andre Scham
ist Scham der schönstirnigen edeln Fraun.
132
II. Vom Gute.
Die wahrhafte Scham ist rein sittlicher Art ; sie schämt sich unsittlicher Thateu. Die
Scham, die in schüchterner Zurückhaltung besteht, gehört sich nur für Frauen, nicht
für Männer.
1012. Nahrung und das Uebrige1 ist allen Wesen ge-
meinsam ; Scham ist der Menschen auszeichnender Schmuck.
1 Es lässt sich auch übersetzen : Nahrung und Besitz (oder: Nahrung und Kleidung,
denn utei heisst auch „Kleidung**). Dann steht „ün‘* nicht im Genitiv verhältniss zu ufei,
i ,, Besitz der Nahrung“), sondern beide W orte stehen im Nominativ und bilden mit „essam“
ein dreigliedriges Dvandva. — Obige Fassung ist aber jedenfalls natürlicher (indem sie
den Ausdruck „alle Wesen“ nicht auf die Menschen zu beschränken braucht; und giebt
zugleich einen tiefem Sinn.
1013. Alles Leben sucht Leiblichkeit; vollkommne Tu-
gend sucht das Gut der Schamhaftigkeit.
Alles Leben sucht sich zu verkörpern und dadurch Bestand zu gewinnen; so sucht
die Tugend sich in der Schamhaftigkeit zu verkörpern und dadurch Bestand zu ge-
winnen. Müsste man den ersten Theil des Verses ganz im Lichte des zweiten, das ver-
deutlichende Beispiel ganz im Lichte der verdeutlichten Sache sehen, so würde der Vers
einen philosophischen Grundsatz im vollkommensten Widerspruch mit aller Hindu-
Anschauung aufstellen. Denn er würde dann die Verleiblichung als das höchste Ziel
des Geistes hinstellen (ganz im Sinne von: „Die Leiblichkeit ist das Ende der Wege
Gottes“). Man darf aber das Gleichniss sicherlich nicht pressen, und das um so weni-
ger, als ja andre Stellen des Gedichts deutlich genug zeigen , dass der Dichter in diesem
Stücke ganz auf dem Standpunkt der Hindu- Anschauung steht, wonach alles Geboren-
werden vom Uebel ist. Dazu kommt, dass selbst die Vedantisten die Verleiblichung
relative als eine uothwendige Bedingung der endlichen Erlösung ansehen, indem in
diesem Zustande die nothwendigen Hülfsmittel gegeben sind („Lehrer, Schriften.
Geistesvermögen u. s. w.“). Yergl. Theil I, S. 152.
1014. Ist nicht Schamhaftigkeit der Vollkommnen
Schmuck'? Wo sie fehlt — ist da nicht hohe Haltung ein
Ekel?
1015. Wer sich fremden wie eignen Fehles schämt, den
nennt die Welt „Burg der Schamhaftigkeit“.
1010. Dürfen sie nicht die Scham zur Schanze nehmen,
— so machen sich Hochgesinnte nichts aus der weiten Welt.
Wo es sich um eine Wahl zwischen Schamhaftigkeit (die eine Schanze gegen alle
Sünden ist) und dem Besitze der ganzen Welt handelt, da entscheiden sie sich für die
Schamhaftigkeit.
1017. Schainhaftige werden wohl der Scham wegen
das Leben lassen, nicht aber des Lebens wegen die Scham.
1018. Schämst du dich nicht, wess sich die Uebrigen 1
schämen müssen, — das ist so angethan, dass dein die Tu-
gend sich schämen muss.
i Wenn sie es sehen oder hören.
102. Schamhaftigkeit. — 103. Wie man seine Familie hebt.
1 oo
l*>o
1019. Wo inan gegen den Brauch verstösst, versehrt’s
die Familie; wo Schamlosigkeit wohnt, wird sic alles, was
gut, versehren.
Hiernach macht also der Verfasser einen Unterschied zwischen der gemeinen
Kasteuehre und der hohem sittlichen Ehre.
1020. Dessen Gang, dem im Herzen die Scham abgeht,
ist wie wenn mittelst des Drahts Leben heuchelt die Holz-
Puppe.
Er bewegt sich äusserlich wie ein Mensch, es fehlt ihm aber das eigentliche Leben.
103.
WIE MAN SEINE FAMILIE HEBT.
I.. Dies Kapitel stellt liier, weil die rechte Weise, seine Familie zu
heben, sich bei Denen findet, die bei Erniedrigung Scham
empfinden.“ (P.)
1021. Nichts ist so hehr wie die Hoheit, wenn Jemand
sagt: Nicht sinken lass’ ich die Hand im Schaffen.
1022. Männliche Thätigkeit und tüchtige Erfahrenheit
— durch Ausdauer bei diesen Zwein wird sich das Haus
ausdehnen.
1023. Wer da spricht „Für die Familie wirken will ich“,
vor dem geht gleich die Göttin des Glücks her, das Kleid fest
schürzend.
Zu dem gesellt sich die Glücksgöttin als rüstige Mitarbeiterin.
1024. Denen, die ihre Familie fördern, ohne je zu wan-
ken, gelingt alles von selbst ohne viel Gedanken.
1025. Wer schuldlos sucht sein Haus zu heben, um dess
Verwandtschaft wird sich die Welt verwenden h
i D. h. Wörtlich: Den wird als Verwandtschaft die Welt umringen. Ich wollte das
Wortspiel in sarrara („die Verwandtschaft u) und surrum („umringen“) einigermaassen
wiedergeben.
1026. Das ist die rechte Meisterschaft, dass du meister-
lich handhabst das Hauswesen, das dich gebar.
1027. Wie die Helden harten Augs in des Kampfes
134
II. Vom Gute.
Mitte, so die unter den Ihren thatkräftig Schaffenden — die
Last liegt auf ihnen.
Einer, der sich seiner Familie besonders annimmt, gleicht dem Helden, der sich
unter seinen Kriegskameraden auszeichnet. Die Thatkraft des Einzelnen entscheidet
hier , wie dort.
1028. Für die, die ihr Haus heben wollen, giebt’s keine
gelegne Zeit1. Sind sie saumselig und denken selbstisch —
so geht’s zugrund.
1 Ob’s regnet oder nicht, ob’s heiss ist oder nicht, sie müssen hinaus. (,,Zur Zeit
und zur Unzeit“.)
1029. Wer seine Familie vor Unfall bergen will, dess
Leib ist wohl ein Gefäss der Mühseligkeit?
Die Commentatoren antworten: Ja. Beschi: ,,Nein auch der Freude, wenn er die
Seinen glücklich sieht.“ (,,Ist dess Leib wohl bloss ein Gefäss der Mühseligkeit? “)
Die Fassung der Commentatoren passt jedenfalls besser in den Zusammenhang. (Wer
es mit seiner Familie redlich meint, muss sich stets plagen; sonst geht’s nicht vorwärts.
1030. Wenn kein wackrer Mann stützend zur Seite steht,
so fällt die Familie, indem den Grund untergräbt die Noth.
Die Commentatoren denken hier an das Bild eines Baumes. Das Bild eines Hauses
passt wohl besser.
104.
ACKERBAU.
„Dieser gehört zum kleinen Theil den Geschäftsleuten *, zuin grossen
Theile den Bauern. Wo man ihn betreiben lässt, wird er auch den
Uebrigen eigen. Da er eine Anstrengung ist, die zur Hebung des
Hauses dient, so folgt er eben hier.“ (P.)
1031. Wie sie sich auch windet — dem Pfluge folgt die
Welt; drum ist das Pflügen, wenn auch voll Plagen, das
Haupt.
Die Welt sucht dem mühsamen Ackerbau auszuweicheu , indem sie sich leichtere
Beschäftigungen aussucht; sie muss aber, um leben zu können, doch immer zum Pfluge
ihre Zuflucht nehmen.
1032. Die Ackersleute sind am Wagen der Welt der
Achsen-Nagel1, Halt gebend Allen, die, nicht ackern mögend,
anders handthieren.
i Der das Rad am Wagen festhält. Man achtet ihn für nichts und er ist doch un-
entbehrlich. Ebenso der Ackersmann.
Diese strecken oft die Capitalien vor. Vergl. „Meine Reise“, Bd. III, S. 177.
104. Ackerbau. I3ö
1033. Die vom Ackerbau leben, leben; diu alle leben
nicht, die, vom Blicken lebend, nachlaufen.
Der Ackermann ist von Menschen unabhängig; das zum Leben Nothwendige wächst
ihm zu; von ihm bekommen es erst die Andern. (Vergl. 2. Timotli. 2,6: ,,Es soll aber
der Ackermann, der den Acker bauet, der Früchte am ersten gemessen.“)
1034. Die kornreichen Weitschattigen werden vieler
Schirme Schatten unter dem eignen Schirme sehn.
D. h. Wo es viel kornreiche Bauern giebt, die ihren wohlthätigeu Schatten weitliin-
vverfeu . da werden diese sehen , dass viele fremde Scepter (,, Schirme “) dem heimath-
lichen Scepter zufallen. S. : „ Die Ackersleute füllen des Königs Schatz, machen ihn
siegreich uud gewinnen ihm alles Land.“
1035. Die, mit ihrer Hand schaffend, Nahrung als etwas
Natürliches haben, betteln selbst nicht, und spenden den
Bittenden rückhaltslos.
1030. Legen die Pflüger die Hände zusammen, so ver-
lieren Grund und Boden auch, die da sprechen „Wir sind
selbst des (allgemein) Begehrten haar“.
Auch der Stand der Busser, die, wenn sie Allem ganz entsagen, doch der Speise nicht
ganz entsagen können, geht ohne die Ackerbauer zu Grunde.
1037. Wenn du (jede) Unze Erde als Viertel -Unze
trocknen lässt *, so wird’s fruchtbar, ohne dass es einer
Handvoll Düngers bedarf.
i D. h. wenn du, statt einmal , viermal pflügst.
1038. Besser als Pflügen ist Düngen; hast du gejätet,
so ist Hut besser als Wasser.
1039. Wenn der Hausherr, nicht selbst gehend, ferne
bleibt, so schmollt zuletzt das Feld — und thut spröde, der
Hausfrau gleich '.
i Die von ihrem Manne vernachlässigt wird.
1040. Wenn es Die sieht, die von Armuth sagen — und
müssig sitzen, so wird das wackre Weib „Feld“ lachen.
II. Vom Gut**.
136
105.
MANGEL.
..Das heisst aller Genüsse entbehren.“ P.)
1041. Fragst du, was ist so bitter wie Blosse? Bitter
wie Blösse ist nur Blüsse b
1 Oder: Bittrer als Blösse ist nur die Blösse (<L h. Nichts ist bittrer als Blösse;
wohl aber giebt es Grade derselben, wovon der eine bittrer ist als der andre).
1042. Der einzige „Sünder“1 Mangel kommt so, dass
dieses und jenes Leben2 zu nickte wird.
1 In dem Sinne wie ,,die einzige (unvergleichliche) Sünderin , Habsucht“. So P.
Vielleicht zugleich der Nebengedanke : „Während alle andern Sünder nur jene Welt ver-
lieren, verliert der Sünder ..Mangel“ diese und jene Welt.
2 Das eine, „weil der Arme nichts zu geniessen hat; das andre, weil er nichts spen-
den kann (um sich so den Himmel zu verdienen).“ (P.)
1043. Alten Adel und adelig Auftreten 1 zumal zerstört
die Gier2, die Armuth heisst.
1 ,,Töl“ wird von den Commentatoren, vielleicht um des folgenden Verses willen, wohl
zu einseitig als „Wort“ (was es allerdings auch heisst) gefasst. „ Adelig Auftreten “
dürfte besser sein, da es auch die andre Bedeutung des Wortes „Pracht“ mit ein-
schliesst.
2 P. : „Ermacht die Armuth zur Gier, weil, wo keine Gierist, auch keine Armuthist“
(wie bei den Büssem?) Ariel: La pauvrete , qui est le desir, detruit ä la fois tradition
et renommee antique. S. umschreibt den Sinn des Verses so: „ In Folge der Armuth.
die da ist, wo Gier vorhanden ist, wird man niedrige Geschäfte, die den Vorfahren nicht
eigneten, verrichten und gemeine Rede führen.“ Beschi übersetzt: „Affectus erga
paupertatem, id est illam a se alienandi incuria.“ — Der Sinn ist vielleicht der: Die Gier,
die mit der Armuth verbunden ist, treibt zu entehrenden Schritten.
1044. Auch bei Edelgeb oimen bringt das Elend eine
Dumpfheit zuweg, die eine gemeine Sprache 1 gebiert.
1 Die Commentatoren. sehr speciell, die Sprache: „Gieb mir doch diess und dass.“
1045. In dem Elend des Mangels spriesst mancherlei
Jammer auf.
1046. Wenn man auch noch so Schönsinniges wohl
wüsst’ und sagte, das Wort von Bettelarmen ist Sinnes baar.
1047. Die tugendblosse 1 Blösse wird selbst von der eig-
nen Mutter wie fremd geachtet.
i P. : Tugendbloss heisst sie insofern, als sie mit keiner der (Tugend-) Ursachen
und - Wirkungen in Verbindung steht (d. h. wohl, weil sie weder die Mittel hat Tugend
zu üben, noch auch eine Folge früherer Tugendübung ist).
105. »Mangel. — 106. Betteln.
137
1048. Wird er wohl auch heute wiederkorameu — der
Mangel, der mich schon gestern wie tödtete?
1049. Selbst mitten im Feuer einschlummern ist mög-
lich *. In der Armuth das Auge zuzuthun fällt bei allen Mit-
teln schwer.
» Durch Zaubermittel. (P.)
1050. Wenn Nahrungslose nicht Allem entsagen, so ist
das der Tod von „Salz und Reisbrühe“.
Der Sinn ist: Wenn Nahrungslose sich nicht lieber zu Tod hungern als betteln, so
machen sie dem „Salze und der Reisbrühe“ (der üblichen Bettlerspeise) Andrer den
Garaus. (Sein nicht sterben Wollen bringt dem Eigenthum Andrer den Tod.)
106.
BETTELN.
„Da verschämtes Betteln so gut wie nicht betteln ist, so redet er nun
— mit Rücksicht auf die gangbare Maxime in den Büchern, die von
der Tugend handeln f, Man soll den Leib, der selbst zur Erlangung
der Seligkeit dienstsam ist, erhalten', vergl. Anm. zu V. 1013), — vom
Betteln , um das im letzten Verse des vorigen Kapitels angedeutete
aus dem Leben Gehn (, allem entsagen') zu negiren.“ (P.)
1051. Siehst du Leute, die zum Ansprechen taugen, so
sprich an; entziehn sie sich, so gereicht’ s ihnen — nicht dir
— zur Schuld.
1052. Lust ist selbst das Bitten, wenn ohne Last das Er-
betne kommt.
1053. Vor Leuten stehend, die, weigerungslosen We-
sens, ihre Pflicht verstehn, hat selbst das Bitten etwas einzig
Schönes.
1054. Bei Leuten, die selbst im Traum sich nicht zu
weigern wissen, wird sogar das Betteln dem Geben gleich.
1055. Weil’s sich nicht Weigernde in der Welt giebt,
unterwindet man sich bittend vor das Auge hinzustehn.
„Gab1 es solche Leute nicht, so würde mau aus Schamhaftigkeit lieber sterben als
bitten.“ (P.)
138
II. Vorn Gute
105G. Trifft man Leute, die ohne des Geizes Plage sind,
so wird des Mangels Plage sogleich ersterben.
1057. Wenn man Solche findet, die ohne Schelten and
Schmähen spenden, so mag das Innere, innen sich er-
schliessend, jauchzen.
1058. Gäb’s keine Bettler, einer Drahtpuppe gleich
ginge und käme dann die weite kühlraumige Welt.
Denn dann gab" es keine freie Thätigkeit der Liebe. „Kühlraumig“ heisst die
Erde, weil sie voll erquicklichen Schattens und voll befruchtenden Wassers ist.
1059. Wie sollten Gebende zu Ruhm gelangen, gäb's
Niemand, der bittend nehmen wollte?
1000. Nie soll ein Bittender bitter werden1; auch der
Armuth Bitterkeit selbst ist vollgültiger Zeug’ -.
1 Wenn er nichts bekommt.
2 Wider den Geizhals. ..Dafür dass, wenn er selbst Etwas braucht, es ihm nicht
hilft. “ So P. , der als die (durch das „auch“ angedeuteten) andern Zeugen Beispiels
halber auch den Umstand , dass ., Alle bedürftig sind“ und den andern Umstand , dass
,, Nichts besteht“ anführt. Es lässt sich auch mit Ariel übersetzen: Er i der Bettler) selbst
d. i. seine blosse Erscheinung) ist vollgültiger Zeuge für die Bitterkeit der Armuth.
107.
SCHEU VOR BETTELN.
,, Das ist sich vor unverschämtem Betteln scheuen.“
10G1. Selbst bei Menschen wie Augäpfel *, die ohne
Rückhalt mit Jubel geben, nicht betteln ist zehn Millionen
werth
1 Wörtlich: bei solchen, die den Augen (an Vortrefflichkeit) gleichen.
2 Im Vergleich zu reich werden durch Betteln.
10G2. Wenn, der die Welt zuwege brachte, auch das
Bettelleben wollte, so müss’ er (selbst) umirrend darben!
„Wenn Brahma, der Weltordner, die Menschen nicht bloss dazu erschuf, dass sie
sich von ihrer Hände Arbeit nähren , sondern zum Theil auch dazu, dass sie sich vom
Betteln nähren sollen, so ist das so schlecht , dass er selbst dafür ein Bettlerleben führen
sollte.“ Dieser Vers soll vielleicht Demjenigen, der aus dein Betteln ein Geschäft macht,
als wenn das zu der ursprünglichen Weltordnung mitgehörte, seine Verkehrtheit zu Gc-
uiütlie rühren. — Möglich auch, dass er nur das unmenschliche Elend des Bettclus recht
stark markireu soll.
10G3. Härtres giebt’s nicht, als das harte Ilerz, das:
..Wegbetteln will ich das Weh des Mangels!“ spricht.
107. Sehe« vor Betteln.
139
1064. Die Tugend, die, selbst wenn ohne Raum, nicht
betteln kann, hat eine Tüchtigkeit, die aller Raum nicht fasst.
10(35. Und wenn’s ein Grassamen -Brei, wie klares Was-
ser, war’, es giebt nichts Hochsüsseres als vom Fleiss Ge-
gebenes speisen.
1066. Und sollte man auch nur Wasser für eine Kuh 1
betteln, der Zunge kommt nichts schmählicher als Betteln an.
i Die doch Jedem so heilig ist. (Also: die kleinste Gabe — Wasser — für den
heiligsten Zweck.)
1067. Ich bettle bei allen Bettelnden: „Bettelt ihr — so
bettelt doch ja nicht bei Geizhälsen!“
1068. Das schwanke Schifflein „Bettelstab“ zerschellt,
wenn’s gegen den Felsen „Geizhals“ fährt.
1069. Wird man des Betteins inne, gleich schmilzt das
Innerste; wird man der Weigrung inne, gleich vergeht’s er-
innerungslos.
Wenn sich der Bettler seiner Lage bewusst ist, so schmilzt sein Innerstes; wenn er
sich der abschlägigen Antwort bewusst wird, so schwindet ihm alles Bewusstsein. —
Diese Beziehung auf den Bettler selbst wird von dem Zusammenhänge sicherlich be-
günstigt (vergl. besonders den folgenden Vers). Die Commentatoren : „Wenn ich au
die grausame Lage des Bettlers denke, so zerschmilzt mein Innres; wenn ich aber an
die grausame Gesinnung dessen denke, der ihm die Bitte abschlägt, so vergeht mein
Innres, ohne zu schmelzen.“
1070. Wo wohl wird sich des Weigernden Leben ber-
gen? Dem Bittenden vergeht’s, wenn er1 den Mund aufthut.
1 Die Commentatoren verstehen darunter den Weigernden (es ist dann eben eine
Weiterspinnung des in demletzten Theile des vorhergehenden Verses ausgesprochnen Ge-
dankens im Sinne unsrer Auffassung) und fassen das Ganze etwa so: Kann denn der
wirklich leben, der den Bittenden durch sein „Nein“ tödtet? Gleichwohl sehen wir’s,
und wundern uns, wie's zugeht. („Wo wohl u. s. w.“) — Die Wortstellung jedoch be-
günstigt die Beziehung des „er“ auf den Bettler selbst , und der Sinn gewinnt dabei
eher als dass er verliert. Der Sinn wäre dann: Wenn der Bittende vor Scham gleichsam
stirbt, während er die Bitte ausspricht, wie in aller Welt kann man dann „Nein“ sagen
und doch am Leben bleiben? Ein schöner Gedankenfortschritt. (In Vers 1060: Bitten
ist ungemein schwer; Vers 1070: noch schwerer ist den Bittenden abweisen.)
140
II. Vom Gute.
108.
GEMEINHEIT.
„Das ist die Natur jener Niedriggesinnten, die keine der Eigenschaften
besitzen, die liier im Anhang offenbar, in den zwei Unterabtheilungen
des Buches vom ,Gut‘ aber verblümter Weise genannt werden — denn
diejenigen der dort behandelten Eigenschaften, die dazu passen, sind
eben (nicht bloss auf den König, sondern) verblümter Weise auf Alle
gezielt.“ (P.)
1071. Das gemeine Volk sieht wie Menschen aus; Etwas
diesem Gleiches hab’ ich nie gesehn >.
i So P. — Beschi: „Ich habe nie etwas dem Menschen so Aehnliches gesehen. ••
1072. Glücklicher, denn der das Gute weiss, ist der ge-
meine Bursch; er hegt im Herzen nicht Einen Harm.
1073. Den Göttern gleichen1 gemeine Seelen, denn auch
sie vollbringen flugs, was sie begehren.
1 Die Commentatoren selten in diesem Ausspruch bloss eine Ironie und finden den
Vergleichungspunkt einzig in der „Schrankenlosigkeit“. (Wollen und Können gleich.)
Ein wunderbarer Humor: Sie haben nur die Gestalt von Menschen (V. 1071), und sind
doch höher als alle Weisen der Welt (V. 1072) ; ja Göttern gleich.
1074. Wenn die Gemeinheit Leute sieht, die noch loser
und lockrer leben, — gleich überhebt sie sich und thut gar
gross.
1075. Des Pöbels Sittsamkeit ist Furcht; im Uebrigen
— nun, wenn ihn die Gier ankommt, kommt ein klein wenig
dabei heraus.
Der Pöbel lässt sich zur Sittigkeit grossem Theils nur durch Furcht (vor Strafe),
geringem Theils durch Gier (nach Vortheilen) bestimmen.
1076. Der Pariah - Trommel 1 gleich ist der Gemein-
gesinnte, denn das gehörte Geheimniss schnell trägt er zu
Andern aus.
i Eigentlich ,, Schlag - Trommel “. Die Trommel heisst aber „parei“ (wovon pa-
reijan, der Pariah , oder Trommelschläger; vergl. Meine Reise, Bd. IV, S. 189). Bei der
Würdigung dieses Bildes erinnere man sich, dass in Indien die Trommel bei Proclama-
tionen auf der Strasse gebraucht wird.
1077. Gemeine Bursche hüten sich die (Reis-) beklebte
108. Gemeinheit. 14t
Hand zu schütteln — ausser angesichts Derer mit Backen-
zerschlagender gehallter Faust.
Zur Erklärung dieser Redensart dient vielleicht das äusserste Knauserei versinn-
bildende Sprüchwort: „Er wird keine Essüberbleibsel suchende Krähe mit feuchter
Hand (an der ja ein Reiskörnlein vom Essen kleben könnte) wegtreiben.“ Man erinnre
sich, dass die Hiudu's mit den Händen zulangen. S. lässt die „Feuchtigkeit“ der Hand
nicht vom Essen, sondern vom Waschen nach dem Essen herrühren. Darin könnte man
dann eine doppelte Feinheit finden: Erstens , solche gemeine Leute sind schmutzig, sie
waschen sich nach dem Essen nur eben ein wenig, so dass noch Reiskörner daran kleben.
Zweitens: Sie wollen auch die paar Reiskörner, die nach dem Waschen vom Essen noch
an der Hand kleben bleiben, nicht missen. — Natürlicher jedoch jedenfalls P. , der
„feucht“ mit „vom Essen besudelt“ erklärt; denn rechter Pöbel in Indien wäscht sich
eben nach dem Essen gar nicht. — Der Sinn des Ganzen demnach ist: Gemeine Leute
können zu der geringsten Gabe nur durch die äusserste Gewalt bestimmt werden. (Ver-
gleiche den folgenden Vers.)
1078. Der Weise wird nutzbar, wenn man ein Wort
sagt; der Pöbel wird nutzbar, wenn man ihn klopft, wie das
Zuckerrohr.
1079. Wo sie Speise und Kleidung sieht, — die gemeine
Seele — ist sie an Andern Flecken zu sehen sehr stark.
Wo die gemeine Seele Einen sieht, der besser auf ist, als er, — gleich regt sich der
Neid und in Folge davon die Lust, Fehler an ihm zu entdecken.
1080. Wozu passt denn die Pöbel -Seele ? Sich flugs zu
vei’kaufen , wenn ihr was zustösst — dazu passt sie wohl.
'
III.
VON DER LUST.
DIE HEIMLICHE EHE.
„Die heimliche Ehe, voll herzfüllender Lust, hat unter den in den vier
Vedas enthaltnen zweimal vier Vermählungsarten die Natur der Gan-
dharba-Ehe“ (Nampi, Akapporid, II, 1). — „Sie besteht darin, dass der
Herr und die Herrin, gleich an Schönheit, Wohlstand, Alter, Familie,
Charakter, Liebe u. s. w. , ohne alle Vermittlung sich einander ent-
gegenkommen und miteinander verbinden.“ (S.)
109.
VERWIRRUNG ÜBER DIE ANMUTH.
„Die Schaar der (begleitenden) Frauen geht beiscit, um im Haine zu
spielen; sie bleibt allein stehen; um sie zu erjagen, kommt der Ge-
bieter allein, indem die (begleitenden) Jünglinge beiseit gehen; ihre
Schönheit bereitet ihm Schmerzen, und darüber äussert er sich
nun.“ (P.)
Gebieter:
..Der Gebieter sieht die Gebieterin und bekommt Zweifel. “ (P.)
1081. Ist’s eine Himmlische? ist’s ein erlesner Pfau?
Die mit dem schweren Kauz *. Oder ein Erdenweib 2? Mein
Sinn verwirrt sich.
1 Ein starker Haarkauz , hinten knäuelartig geschürzt , gilt noch stets als grosse
Schönheit. Wo das Haar zu spärlich ist, hilft man sich mit Ausstopfen (z. B. mittelst
schwarzer Baumwolle).
2 „Wenn man eine junge Gazelle (d. h. ein junges Mädchen) sieht, so kann wohl
ein Zweifel entstehen (sc. ob es nicht etwa gar eine Himmlische sei), dafern die Gestalt
und der Ort, wo man sie sieht, etwas Absonderliches hat.“ „Die gemalten Striche, die
gemachten Schmucksachen, die welkenden Blumen , die sich sammelnden Bienen , der
m. io
14G
III. Von der Lust.
hin schreitende Fuss, das blinkende Auge, die schüchterne Haltung u. s. w. können wohl
den maasslosen Zweifel verscheuchen 44 (indem man daraus ersieht, dass man cs in der
Tliat mit einem Erdenweibe zu thun hat). (Nampi II. 4. 5.)
..Der Gebieter kommt ins Reine, dass es ein Erdenweib ist, und schildert die durch ihren
Anblick bereitete Unruhe/4 (P.)
1082. Dass ich die Schöngesiehtige hier angesichts sehe
— das ist, als kam’ eine „streitbare Göttin“1 mit Heeres-
macht her.
1 Epithet der Lakschmi.
1083. Vormals wusst ich nicht, was Tod heisst; nun
weiss ich’s. Es hat — bei Weibesart1 — ein gewaltiges
Schlacht -Aug’.
1 „Dem unvergleichlicheu (Manne) eignen Würde und Tüchtigkeit, den Flauen
•Schüchternheit, Schamhaftigkeit und Einfalt ” — Nampi I, 35. Andere fügen den er-
wähnten drei Stücken der Weibesart den ..Nachahmungstrieb" als viertes bei.
1084. Durch ein Anselm, das das Leben verzehrt Dess
der es ansieht, streitet 1 das Auge dieses Wesens mit Weibesart.
t Nach S. zugleich ..wider die eigne Weiblichkeit”, insofern solch grausam Thun
sich mit dem Begriffe des Weibes nicht verträgt. (Ich habe diese Zweideutigkeit wieder
zu geben versucht.)
1085. Tod? Auge? Gazelle? — Dies Dreies hat des
Mägdleins Ansehn.
1086. Wenn die wohlgewölbten Braun ’, sich nicht wöl-
bend1, ihr Auge deckten, so würde’ s mir — traun — zittern-
den Schmerz nicht schaffen.
i Denn das Auge würde seinen Reiz verlieren, wenn die Augenbrauen .sich nicht so
zierlich wölbten.
,. Er schildert die durch ihren Busen bereitete Unruhe.*4 (P.)
1087. Eine Decke über dem Gesicht des brunstwüthigen
Elephanten ist die HiÜle über des Mägdleins Busen *.
1 ..Die Vergleichung des weiblichen Busens mit einem Elephanten. Berg u. s. w. ist
bei den tamul. Dichtern gäng und gebe. Einen ähnlichen Vergleich siehe Hobel. 8, 10.
— S. findet hierin zugleich den Sinn: dass, wie jene Decke Schaden verhüten soll, so
auch diese Hülle.
,,Er schildert die durch ihre Stirn bereitete Unruhe.1
1088. An ihrer lichten Stirn — o Weh — zertrümmert
ist die auch dem Feind im Kampf furchtbare Kraft.
..Er schildert die durch ihren Schmuck bereitete Unruhe. ‘‘ (P.)
1080. Ein zartes Gesicht von Gazellen -Schön’ und ein
109. Verwirrung über die Anmuth. — 110. Die Absicht merken.
147
schämig Wesen hat sie. Ihr Anderes anzulegen, was für
ein Schmuck war’ das1?
1 Ihr wahrer Schmuck ist ihre eigne Persönlichkeit.
..Der Gebieter , die Absicht der Gebieterin erkennend, spricht.“ (P.)
1090. Süsser Meth 1 berauscht wohl die Geniessenden,
nicht aber, der Liebe gleich, die Betrachtenden.
* Eigentlich ,, Gekochte Süssigkeit“.
110.
DIE ABSICHT MERKEN.
„Das ist dreierlei: Der Gebieter merkt die Absicht der Gebieterin;
er merkt die Absicht der Gesellschafterin; die Gesellschafterin aber
merkt die Absicht Beider.“ (P.)
Gebieter:
„Der Uebieter merkt die Absicht der Gebieterin aus dem Gesicht.“ (P.)
1091. Zwei Blicke sind in ihrem trinkenden1 Aug: der
eine Blick — ein Pein-Blick; der andere — Arzenei für diese
Pein.
i Schwärze - trinkend (Schwärze gesättigt, in Schwärze schwimmend). So die
gangbare Erklärung.
1092. Der knappe Blick, den ihr Auge stiehlt, ist nicht
die gute Hälfte zu unserm Bund, — (nein) mehr.
„Der Gebieter merkt die Absicht der Gebieterin aus dem Gesicht und aus dem
schämigen Wesen derselben.14 (P.)
1093. Sie hat aufgeschaut, — und aufschauend das
Haupt geneigt. Das ist das Wasser, womit sie unsern Bund 1
beträufelt hat.
t Wie eine Pflanze, die zu ihrem Wachsthum der Bewässerung bedarf.
„Der Gebieter merkt die Absicht der Gebieterin aus dem schämigen und freudigen
Wesen derselben.“ (P.)
1094. Schau ich sie an, so schaut sie zur Erde; schau
ich sie nicht an, so schaut sie mich an und lächelt leise.
1095. Grade nicht, wohl aber wie mit Einem Auge blin-
zelnd, sieht sie mich an — und lächelt.
io*
..Nachdem die Gesellschafterin ihn entfernt hat, spricht der Gebieter, der ihre Absicht
merkt, bei sich selbst.“ (P.)
1096. Wenn man auch wie Nichtfreunde spricht1, der
Nichtfeinde Wort wird schnell erkannt.
l Als z. B.: Dieser Ort ist sehr gewahrt; kommt ja nicht hierher!“ (P.)
1097. Das nicht feindselige feindliche Wort und der
feindähnliche Blick sind Zeichen Solcher, die, Feinden glei-
chend, Freunde sind.
1098. Hierin einzig hold ist dies bewegliche Wesen.
Dieweil ich sie anschau' *, lächelt die Linde leis.
1 Bittend. (R.)
Gesellschafterin:
„Die Gesellschafterin, ins Reine zu kommen suchend, spricht bei sich." iP.)
1099. WTie fremd sich gegenseitig anblicken — o ja, das
findet man bei Liebesselmsüchtigen.
1100. Wenn mit dem Aug ein Augenpaar harmonisch
spricht, ist Lippenwort ohn’ allen Sinn.
111.
FREUDE ÜBER DIE VERBINDUNG.
„Der Gebieter, der so die Absicht gemerkt und sich mit ihr verbunden
hat, schildert seine Freude darüber.“ (P.)
Gebieter:
,.Der Gebieter spricht nach Vollziehung der natürlichen * Verbindung." (P.)
1101. Die fünf Empfindungen , die man sehend, hörend,
schmeckend, riechend und fühlend inne wird, einen sich in
Der mit „dem strahlenden Armband “.
,. Quid amicis vi s u jucuudius quam hiunulei oculos habentium os suave, aniore
conjuuctum? quid o 1 fa c t u quam oris Spiritus? quid au di tu quam illarum vos? quid
gus tat u quam illarum labii surculorum succus ? quid tac t u quam corpus? quid me di -
tatione aptius quam prima juventus? ubique illarum suavitas apparet.“ Bhartriharis
Sententiae. uach v. Bohlen’s L'ebersetzung. I. 7. Hier ist auch der innre Sinn, manas,
(„ meditatione“) berücksichtigt.
* ..Eine solche findet z. B. statt, wenn ein Königssohu auf die Jagd geht, eine
Gebirgsjungfrau, die, in einen Berghain zu spielen gekommen, einsam dasteht, sieht
und mit ihr einen Bund schliesst.“ (V.)
111. Freude über die Verbindung
149
„Der Gebieter spricht bei dem .Stelldichein*.“ * (F.)
1102. Sonst ist die Aizenei von der Krankheit ver-
schieden. Die „mit den schmucken Juwelen“ ist für den
Schmerz, den sie schuf, auch selbst die Arzenei.
..Der Gebieter antwortet dem Gesellschafter, der zu ihm gesagt hat : Dir, der du für die
. Gross -Freude4 (der Erlösung) bestimmt bist, ziemt es nicht, dich an diese , Klein
Freude4 (der Welt) so hinzugeben.“ (P.)
1103. Ist denn der Himmel des lotusäugigen Gottes so
süss 1 wie der Schlummer auf der weichen Schulter der Er-
sehnten ?
i P. erklärt es mit ,,so leicht zu erlangen 44 (nämlich von einem so sinnlichen
Menschen, wie ich), — vielleicht nur um die anscheinende Frivolität gegen die Götter
zu bemänteln.
..Der Gebieter spricht am Schlüsse der Vereinigung durch den Gesellschafter.“** (P.)
1104. Weicht man, so sengt’s; naht man, so kühlt’s. Wo-
her doch hat sie solch Feuer?
.. Der Gebieter spricht am Schlüsse der Vereinigung durch die Gesellschafterin.“ (P.)
1 105. Die Schultern Der mit „dem blumengefüllten
Kauz “ sind wie zur Zeit des Lüsterns Leckerbissen
1 Wörtlich bloss: wie Dies und Dass.
110b. Aus Ambrosia1 gemacht sind ihre Schultern, so
dass bei jeder Berührung mein Leben knospet.
i Das Amrita (Ambrosia) ist die Quelle alles Lebens und aller Fruchtbarkeit.
,,Der Gebieter antwortet (im abweisenden Sinne) der Gesellschafterin, die zu ihm ge-
sagt: Du musst sie öffentlich heimführen, und dich in die allgemeine Haustugend
schicken, wo man in dem eignen Hause herbergend sein Theil geniesst.“ (P.)
1107. Das Umfangen des Mägdleins mit dem schönen
Gold 1 - Teint ist so gut wie am eignen Heerd das Seine
theilend2 gemessen.
1 Das Gold repräsentirt die dunkle, bräunliche, bronzene Farbe.
2 An die Manen u. s. w. (Siehe Einl. zu Decade ü.)
P. fasst das Ganze so: Er spricht als Einer der zur öffentlichen Heirath uicht wil-
ligt: ,, Diese Verbindung gewährt mir vollkommen das Himmelsglück derer, die die Haus-
tugend verrichtet haben.“
* ,,Das ist, wenn er zum zweiten Male au den Ort, wo er vormals sich mit ihr ver-
bunden hat , ihretwegen sich wieder einfindet und sich dort mit ihr verbindet.“ (V.)
** .,Die Bereinigung durch den Ges.4 findet statt, wenn sich der Gebieter unter
Peihülfe des Gesellschafters zum dritten Male mit der Gebieterin verbindet.“ (V.“)
150
III. Von der Lust.
“Der Gebieter antwortet (im abweisenden Sinne) der Gesellschafterin, die zu ihm gesagt:
Da dir, der du eine ebenmässige Liebe hast, eine unzertrennliche Vereinigung genehm
ist, so solltest du sie öffentlich heimführen.“ (P.)
1108. Zweie, die sicli begehren, befriedigt ganz die
selbst vom Lnfthauch nicht zerklüftete 1 Umklammerung.
1 Eine so enge Umklammerung, dass sie keinen Luftkauch durchlässt. (Vergleiche
Vers 1229.)
P. fasst das Ganze so : Du hast ganz recht, aber hier sind nicht fürder Zweie; wir
sind bereits vollkommen eins. (Abermals ausweichende Antwort.)
,,Die Gesellschafterin hat gesagt: Da eine unaufhörliche Verbindung, weil man sie nicht
zu verbergen braucht, angenehm ist, so solltest du die Gebieterin öffentlich heimführen.
Darauf antwortet Er nun (abweisend), indem er die Vortheile der ehelichen Verbindung
ironisch preist.“ (P.)
1109. Schmollen, Verständigung und Wiedervereini-
gung, das ist der Vortheil derer, die sich der Liebe1 ver-
mählen.
i Unauflöslich. P. fasst das Ganze so : „Trennt man sich der Nebeufrau wegen, so
merkt es die Frau und schmollt, und er nun, der dieses Schmollen verschuldet hat, räumt
es durch Selbstentschuldigung hinweg; dann einen sich Beide wieder iu gleicher Liebe:
das ist der Vortheil der Verheirathung. Das passt nicht für uns, deren Doppel - Leben
innerlich in Eins verschürzt ist u. s. w.“
„Der Gebieter, der sich mit der Gebieterin verbunden hat und sie nun (weil er ohne sie
nicht leben kann) für immer mitnimmt, spricht bei sich selbst.“ (P.)
1110. Wie, je mehr man lernt, die Ungelehrtheit zu
Tage tritt, so das Verlangen nach der Schöngeschmückten, je
öfter man sie erlangt.
112. •
PREIS DER ANMUTH.
„Der Gebieter schildert die Anmutli der Gebieterin.“ (P.)
Gebieter:
„Der Gebieter spricht am Schlüsse der natürlichen Verbindung“.“ (P.)
1111. Zartgeartet bist du; leb wohl, Anitscha -Blume!
Zarter geartet als du ist mein’ Ersehnte.
„Der Gebieter spricht, nachdem er sich au dem bestimmten Orte wieder cinge-
t'unden.“ (P.)
1112. Wähnend, es glichen die von so Vielen gesehnen'
Blumen - ihren Augen, verwirrtest du dich stets, mein Herz,
bei ihrem Anblick3.
112. Preis der Anmuth.
151
1 Und darum gemeinen (?). Vergl. V. 1119.
2 Als die Kuvatei (Kuvalaja) und andre Lotus - Arten, welche die Dichter dem Auge
zu vergleichen pflegen.
3 Seit der Trennung von der Geliebten; jetzt aber, wo du ganz in der Stille ihrer
Augen Reiz ganz durchgenossen hast, siehst du den grossen Unterschied sehr wohl. (In
diesem Sinne P.)
,, Der Gebieter schildert dem Gesellschafter, der die Zusammenführung übernommen
hat, die Natur der Gebieterin.“ (P.)
1113. Spross 1 — Leib ; Perle — Zahn2; Duft — Hauch ;
Wurfgeschoss — schwimmend Aug’ 3 : so hat’s die Bambus-
schultrige.
1 P. sieht das Gleichniss in der (zarten bräunlichen? vergl. V. 1107) Farbe (eben
hervorbrechender j uuger) Sprosse.
2 Muruval heisst eigentlich ,, Lachen“ ; in der Poesie geradezu „Zahn“, als äkuper
(„Wandel- Wort“). Man definirt das äkuper so: ,,Der Name eines engverbundnen
Gegenstandes geht auf einen andern Gegenstand, so dass gleichsam aus dem einen
Worte ein andres wird.“
3 Alle diese Redefiguren sind Beispiele des sogenannten uruvakam („Figur“), des-
sen Definition so lautet: ..Das Gleichniss als Gegenstand und den Gegenstand als Gleich-
niss prädiciren.“
„Der Gebieter, der zur , Zusammenführung durch den Gesellschafter' gehend, sich ver-
einigt, spricht.“ (P.)
1114. Sähe die Wasserlilie, sie senkte den Blick zur
Erde, sagend: „Dem Auge Der mit den Px-achtjuwelen bin
ich nicht gleich.“
..Der Gebieter sieht bei dem .Tages - Stelldichein4* * ihren Blumen - Schmuck und
spricht.“ (P.)
1115. Ohne die Stengel abzuthun — steckte sie Auit-
scha-Blumen an ihre Taille1. Nicht fröhlich wird die Trom-
mel tönen.
1 Die Unachtsame hat nicht daran gedacht, dass ihre Taille so dünn ist und jene
Stengel so schwer sind; die Taille wird unter der Last zu Grunde gehn, gleichsam ster-
ben ; dann wird um ihretwillen die Todtentrommel tönen. (Tn diesem Sinne P.) Je dün-
ner die Taille desto schöner, nach indischem Geschmack; daher die schmeichelhafteste
Bezeichnung eines Mädchens mit „Blitz - Taille“.
„Er sieht bei dem , Nacht- Stelldichein '** den Mond und spricht.“ (P.)
1 1 16. Den Mond 1 und der Maid Gesicht nicht kennend-,
von ihrem Posten 3 weichen bestürzt die Sterne.
* „Das ist am Tage einen Ort bestimmen lind dorthin kommend sich ver-
einigen.“ (VA
* * .Das ist bei Nacht in die Nähe des Hauses der Gebieterin kommen und sich
mit ihr zusanynenfinden.“
152
III. Von der Lust.
1 Der runde , volle , goldfarbige , milde Mond wird sehr oft als Gleichniss besonders
des weiblichen Antlitzes gebraucht.
2 Und daher verwechselnd.
3 Weil sie sich nicht in der üblichen Stellung zu ihrem Monde sehen.
1117. Ist denn wie beim Mond, dess Glanz ab- und zu-
nimmt, ein Makel in des Mägdleins Antlitz
1 Der Mond (mit seinem ab- und zunehmenden Lichte — und mit seinen Flecken)
kann sich also mit dem Antlitz der Geliebten noch nicht einmal messen.
1118. Wenn du wie des Mägdleins Antlitz Strahlen zu
werfen im Stande wärst, so solltest du mein Liebchen sein!
— Leb wohl, Mond1.
i Denn das kannst du doch nun und nimmermehr.
1119. Willst du dem Gesicht der Dirne gleichen, die
Augen wie Blumen hat, so lass dich nicht von so Vielen
sehn, Mond1!
1 Meine Geliebte hat ein bescheidnes, du ein freches Antlitz.
,.Die Gesellschafterin hat von , Mitgehen4 gesprochen; der Gebieter schlägt es ab, in-
dem er die Schwierigkeit vorstellt.“
1120. Anitscha- Blume und Schwanen -Flaum sind für
des Mägdleins Fuss Neruntschi - Frucht 1.
i Tribulus terrestris, ein Dornengewächs. — ,,Wie wird denn ein solcher Fuss
den Weg der Haide mit ihren spitzen Steinen und mit ihrem glühenden Boden ver-
tragen?“ So P. , der sich dabei auf den Grundsatz beruft, dass man neben dem gradeu
Sinne auch einen verblümten Sinn aufstellen dürfe, dafern nur die ,.Güte der Strophe
nicht zu Grunde geht“.
113.
DIE AUSSERORDENTLICHE LIEBE SAGEN.
„Der Gebieter sowohl als die Gebieterin schildern die Grösse ihrer
Liebe.“ (P.)
Gebieter:
..Der Gebieter thut am Schlüsse der , natürlichen Verbindung4 seine Leidenschaft kund.“
1121. Wie wenn sich Milch und Honig mischt — so das
Wasser, das in den weissen Zähnen Der mit der sanften
Stimme quillt.
113. Die ausserordentliche Liebe sagen.
153
„ Der Gebieter spricht sich über die Furcht vor der Trennung aus.“ (P.)
1122. Meine Liebe zum Mägdlein ist wie des Lebens
Liebe zum Leibe.
Er will damit solchen Bedenken der Gebieterin Vorbeugen, als: Von welcher Art
ist er? Liebt er mich? Werde ich mich auch fürder mit ihm vereinigen können? So P.
,,Auf dem ersten Orte, wo er sich wieder eingefunden hatte , spricht er beim Fortgang
der Gebieterin.“ (P.)
1123. Geh, Bild in meinem Augapfel! Sonst hat nicht
Platz darin die Ersehnte mit der schönen Stirn.
„Ich mag nicht, ohne zu sehen, sein. Dieses Mädchen aber ist so geartet, dass sie
nicht bloss draussen umhervvandelt, sondern auch in meinem Auge weilt. Wenu sie nun
da ist, so fehlt es an Platz, um mit dir zusammen darin zu sein; so gieb denn ihr, die
trefflicher als du, den Platz und geh.“ (P.)
„Der Gebieter, der sich beim , Tages - Stelldichein ‘ mit ihr verbunden hat und nun hin-
weggeht, spricht.“ (P.)
1124. Wie Leben ist sie der Seele — Die mit dem erles-
nen Schmuck ; wie Sterben beim Scheiden.
.. Der Gebieter antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Wenn du von deinem
Geschäftsgänge zurückkommst, wirst du dann wieder an uns denken?“ (P.)
1125. Dran denken würd’ ich, wenn ich vergässe; —
allein ich vergesse nicht den Reiz Der mit dem leuchtenden
Schlacht- Aug.
Gebieterin:
„Während der geschäftlichen Abwesenheit fürchtet die Gebieterin , die Gesellschafterin
möchte etwa seinen Charakter tadeln, und spricht daher bei sich, so jedoch dass sie's
hört.“ (P.)
1126. Mir aus dem innersten Auge weicht er nicht;
schliess’ ich’s *, — er leidet nicht : ätherhaft ist mein
Liebster2.
1 Unversehens. (P.)
2 „Das sollen die wohl bedenken, die da wähnen, er sei, um sich nicht ferner sehen
zu lassen, in die Ferne gegangen.“ (P.)^
1127. In meinem Auge sitzt mein Liebster; darum be-
mal’ ich mein Auge nicht, an seine Verdeckung denkend*.
1 Damit nicht die Hand, beim Bemalen des Augs darüberfahrend, sein Bild verdecke.
1128. In meinem Innern sitzt mein Liebster; drum
furcht’ ich heiss zu speisen, an seine Versengung denkend.
Während der Abwesenheit des Gebieters zur Herbeischaffung der Hochzeitskosten
154
III. Von der Lust.
schilt ihn die Gesellschafterin darüber, dass die Gebieterin so lange warten muss; dabei
nun iiussert sich die letztere ordentlich.“ (P.)
1129. Thiit’ ich mein Auge zu, ich weiss, ich verdeckt’
ihn; und dazu spricht nun diese Stadt: Welch ein Grau-
samer* 1 * *!
1 Der sie nicht schlafen lässt. „Weil sic mit Rücksicht auf die Nichterkennung
ihres Sinnes zornig spricht, so lässt sie die Gesellschafterin bei Seite und sagt , Stadt1.
Der Sinn ist: Du bist nicht der Art, dass du Den, der mich nie verlässt , als Einen , der
mich verlassen hat, schmähen solltest; (so redet nur die böse Stadt! ).“ (P.)
1130. Für immer wonniglich weilt er in meinem Sinn.
„In der Weite weilt er, ein Entfremdeter“, spricht diese Stadt.
114.
VON DER ABLEGUNG DER SCHAM REDEN.
„Sowohl der Gebieter, der es in der Entfernung nicht länger aushalten
kann, als die Gebieterin, die (durch Klage ihrer Liebesnoth) die
, Trauersituation4 * zu verursachen angefangen, reden von der Ablegung
ihrer Scham. Ga diess, wenn die Liebe einen hohen Grad erreicht
hat, vor sich zu gehen pflegt , so folgt dieses Kapitel auf das vorher-
gehende.14 (P.)
Gebieter:
„Der Gebieter, der es in der Ferne nicht mehr aushält, redet.“ (P.)
1131. Denen, die der Liebe pflegten und nun in Leid
sitzen, bleibt als Zuflucht das „Palmyra-Ross“1; kein andrer
Rath.
i Die Besteigung eines von (stachlichteu) Palmyra - Blättern gemachten Rosses:
stehendes Bild für heftige Liebesklagen.
„Der Gesellschafterin, die ihm die Besteigung des Palmyra-Rosses (= die heftige Liebes-
klage) mit den Worten untersagte: ,Du mit deiner Schamhaftigkeit bringst das nicht zu
Stande4, antwortet der Gebieter.“ (P.)
1132. Es nicht ertragend, schwingt Leib und Leben sich
aufs „ Palmyra- Ross “, die Scham ablegend.
* Eine kurze Definition dieser Situation ist: „seine Liebesnoth offenbaren“. Eine
detaillirtere lautet so: „Sieben Stücke, deren erstes ist: die Ursache des Weinens sa-
gen, während die traurige Gesellschafterin die Thränen abwischt, und deren letztes ist:
verkünden, dass man in der dichten Finsterniss ihn habe kommen sehen.“ Vergl. Nainpi
I, 48: „Die Gebieterin steht der Gesellschafterin gegenüber klagend da; die Gesellschaf-
terin steht der Erzieherin gegenüber klagend da; die Erzieherin stchtder Nar/äj („Gute-
Mutter“ — eigne Mutter) gegenüber klagend da; die Narräj steht Vater und Mutter
gegenüber klagend da.“
114. Von der Ablegung der Scham reden.
155
,,Der Gesellschafterin , ilie zu ihm gesagt: ,Du bei deiner Mannhaftigkeit neben der
Schamhaftigkeit bringst die Besteigung des Palmyra- Rosses nicht zu Stande“, antwortet
der Gebieter.“ (P.)
1133. Scham und Mannheit war sonst mein eigen : jetzt1
ist mein eigen das Ross, das die Verliebten reiten.
i Wo sie durch die Leidenschaft gewichen sind. (P.)
,,Die Gesellschafterin hat gesagt: .Schamhaftigkeit und Mannheit sind Schiffe für die
Fluth der Liebesleidenschaft (= Mittel, um die Leidenschaft zu überwinden); sie wer-
den nicht durch dieselbe zum Weichen gebracht.4 Darauf antwortet der Gebieter.“ (P.)
1134. Der starke Strom der Leidenschaft reisst das
Schiff meiner Scham und Mannheit fort.
.,Der Gebieter antwortet der Gesellschafterin auf die Frage: ,Wie bist du denn zu die-
ser Ungeduld und zu diesem Palmyra -lloss gekommen?4 “ (P.)
1135. Die mit dem kranzähnlichen kleinen1 Armband
schenkte mir Abends2 zu leidende Pein mit „Palmyra-Ross“.
1 P. findet hierin folgenden verblümten Sinn: , , Sie ist ein sehr junges Ding, wel-
ches, was du ihr vorsagst, nachsagt. (Folglich: Rede zu meinen Gunsten!).44
2 P. bemerkt, dass, weil der Liebesschmerz des Abends am heftigsten sei, er als ein
abendlicher bezeichnet werde.
,. Der Gebieter antwortet der Gesellschafterin, die gesagt: ,Die Zeit für Besteigung des
Palmyra- Rosses ist für den heutigen Tag vorbei. 4 44 (P.)
1136. Denken werd’ ich an das „Reiten des Palmyra-
Rosses“ selbst um Mitternacht 1 ; senken kann sich jener Thö-
rin2 halber meine Wimper nicht.
i „Vertröste mich daher in Bezug auf die Erfüllung meines Wunsches nicht auf
morgen.“ (P.)
■ Dies ist eine gewöhnliche Bezeichnung des weiblichen Geschlechts (im stren-
geren Sinne: eines Mädchens von sieben Jahren).
„Die Gesellschafterin sticht das Wort ,Thöriu“ (V. 113G) auf und sagt: ,Die weisen Män-
ner können ja viel mehr ertragen , als die thörichten Frauen“. Darauf antwortet der
Gebieter.“ (P.)
1137. Es giebt kein so hochgemuthet Wesen, wie ein
Weib, das, wenn auch von Oeean- gleicher Liebe leidend,
doch das „Palmyra -Ross“ verschmäht.
I
..Die Gebieterin spricht, während bei zunehmendem Gewahrsam ihre Sehnsucht
wächst.“ (P.)
1138. „Hochhehr an Würde! ja und sehr zart sind
wir1.“ Darauf nicht achtend, bricht durch’ s Geheimniss
meine Lieb’ und lässt sich offen aus.
1 Die Frauen.
156
111. Von der Lust.
1139. „Niemand noch weiss von mir“. So denkend1,
kreist2 meine Lieb’ in den Gassen ganz geistverwirrt.
1 P. paraphrasirt folgenderraaassen : „Dieweil ich vorher verschlossen war, so weiss
von mir Niemand ; jetzt nun, wo ich, nicht mehr verschlossen , offenbar geworden bin.
will ich mich kund machen: so denkend u. s. w.“
2 Im Gerede der Leute. P. sieht in „ geistverwirrt eine Andeutung des ampal
id. i. „wenn Eiuige Kunde von etwas haben und darüber unter sich sprechen“) und in
dem „Kreisen“ eine Andeutung des alar (d. i. „wenn Viele Kunde von etwas haben und
darüber sich tadelnd aussprechen**).
..Die Gebieterin redet für sich selbst, indem sie mit der Gesellschafterin spröde tliut, die
über ihre , Trauer - Situation 1 (siehe den Eingang des Kapitels) gelacht hat.“ (P.)
1140. Sie lachen, dass ich’s mit Augen seh, — die
Unwissenden! Das macht, sie erfahren nicht, was ich er-
fahre 1.
i „Sie (die Gebieterin) zürnt, sprechend: ,Die weiss nicht, was Liebestraucr ist
und wird von der Ehre der Vermählung nicht betroffen*. Desshalb redet sie (von ihn
wie von eiuer Fremden.“ (P.)
115.
DAS GERÜCHT ZU OHREN BRINGEN.
,,Diess besteht theils darin, dass der Gebieter, der das heimliche Yer
hältniss wünscht, der Gesellschafterin kund thut, was ihm das Gerede
der Leute ist; theils darin, dass die Gebieterin und die Gesellschafterin,
die Vermählung oder , Miteinandergehen ‘ wünschen, ihn von dem Ge-
rede der Leute in Kenutniss setzen.“ (P.)
Geb ieter:
..Der Gebieter spricht zur Gesellschafterin, als sie ihm, der das Nachts-Stelldichein ver-
fehlt hat und des andern Tags gekommen ist, das Gerede der Leute mittheilt und ihn der
Hochzeit wegen befragt.“ (P.)
1141. Wie sich das Gered’ erhebt, festet sich in mir das
Herz '. Ein Glück, dass das die Welt nicht weiss.
i Denn das Gerede der Leute wird uns einander näher bringen.
1142. Die seltne Art1 Der mit dem Blumenaug nicht
ahnend, hat uns sein Gerede - dieser Ort geschenkt.
1 Geht, den Commentatoren zufolge, nicht bloss auf den seltnen Charakter, sondern
auch darauf, dass der Geliebte sie selten zu sehen bekam.
2 Das mich der Schwererreichbareu näher bringt.
1 143. Hab ich denn nicht die stadtbekannte Laster-
113. Das Gerücht zu Ohren bringen. l'~)7
rede? Sie ist so angethan, als wär’s 1 — obschon noch nicht
erlangt — erlangt.
1 Die Verbindung mit der Geliebten.
1 144. Durch die Lästerrede wächst die Leidenschaft ;
wär die nicht, sie würde welken, ihrer Lieblichkeit ver-
lustig.
1145. Wie, je mehr man sich berauscht, die Lust am
Rausche wächst, so wird, je mehr man sie erfährt, mir meine
Liebe lieblicher.
Das Gerede von seiner Liebe ist ihm ein wahrer Rausch - Trank . davon seine Seele
nie satt wird.
Gebieterin:
..Die Gebieterin, die durch zwischenliegende Hindernisse und durch Verfehlen des
nächtlichen Stelldicheins sich mit dem Gebieter nicht vereinigen konnte , spricht, wäh-
rend er ausserhalb des Verschlusses sich befindet, zur Gesellschafterin, und frägt, in-
dem sie das Gerede der Leute zur Kenntniss bringt , wegen der Heirath.“ (P.)
1146. Das Sehen1 Ein Tag! Das Reden — wie wenn
der Drache2 den Mond greift 3.
1 Des Geliebten.
2 Jener Drache , der dem indischen Volksglauben gemäss den Mond verschlingt , so
oft sich derselbe verfinstert.
3 Wie die von dem bösen Drachen verursachte Mondfinsterniss nach allen Welt-
gegenden hin gesehen wird, so fliegt das meinen Ruf verdunkelnde Gerücht der bösen
Welt in alle vier Winde hinaus. (Aller Augen siud auf mich gerichtet, wie zur Zeit dev
Mondfinsterniss.) Darum solltest du mich in aller Schnelle öffentlich heirathen.
..Die Gebieterin spricht, nachdem die Gesellschafterin, — wissend, dass der Gebieter
ausserhalb des Verschlusses sich befindet, — ein Gespräch veranlasst hat, indem sie zur
Gebieterin, welche die Verzögerung der Hochzeit nicht ertragen kann, sagte: Du musst
in Ansehung des Stadtgeredes und der mütterlichen Schelte Geduld lernen.“ (P.)
1147. Das Leute -Gered’ als Dünger, der Mutter Scheit’
als Wasser — wächst diese Pein.
1148. Mit dem Stadtgerede die Leidenschaft löschen
wollen, ist als wollte man mit Oel den Docht löschen.
..Die Gebieterin, die nach Weggang des Gebieters zur Herbeiscliaffung der Hochzeits-
kosten ungeduldig war, wissend, dass er zuriiekgekommen ausserhalb des Verschlusses
steht, antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du musst das Gerede fürchtend
dich gedulden.“ (P.)
1149. Sollt’ ich mich denn des Geredes schämen, nach-
dem Er, der zu mir sagte: Sorge nicht! mich also verlassen
hat, dass sich nun Viele schämen1?
158
III. Von der Lust.
1 Indem er eben ihre Verdächtigungen, als würde er ausbleiben. durch die Wieder-
kehr zu Schanden gemacht hat.
..Die Gesellschafterin spricht, während der Gebieter ausserhalb des Verschlusses sich
befindet, zur Gebieterin , bringt das Gerede der Leute zur Kenntniss und sucht ihr zum
Mitgehen Lust zu machen. “ (P.)
1150. Wenn wirs wünschen, gewähren wird’s der
Liebste. Dieser Ort erhebt ein uns erwünscht 1 Gerede.
1 Insofern es das ,,Zusaramenweggehn“ der Liebenden zu veranlassen geeignet ist.
DIE ÖFFENTLICHE EHE.
„Oeffentliche Ehe heisst (ein Weib) nehmen, indem der es zu nehmen
geeignete Mann sieh mit der Frau in aller Form verbindet, die aber welche
die Frau zu geben geeignet sind, sie geben.“ — Tolkäppijam.
116.
DIE TRENNUNG NICHT ERTRAGEN KÖNNEN.
„Das ist so angethan, dass an dem Tage, wo nach vollzogner Hochzeit
der Gemahl sich in Sachen der , Tugend, des Guts oder der Lust' von
der Gattin trennt, sie diese Trennung nicht ertragen kann. Es finden
liier vier Arten statt: 1) dass die Gesellschafterin zum Gebieter redet,
der ihr die Trennung mitgetheilt; 2) dass die Gebieterin, die sie aus
Andeutungen von ihm weiss, zur Gesellschafterin redet; 3) dass sie
spricht, nachdem man ihr die Trennung mitgetheilt; 4) dass sie zur
Gesellschafterin spricht, als man sie nach der Trennung beruhigen
will.“ (P.)
Gesellschafterin:
..Die Gesellschafterin spricht zum Gebieter, der gesagt hat, er werde gehen und bald
wiederkommen.“ (P.)
1151. Mir meid’ es, falls du nicht gehst; sonst — melde
den (Ueber -) Lebenden dein baldig Kommen '.
1 Der Sinn ist: Deine Gattin wird die Trennung nicht überleben. („Er soll da-
durch zum Bleiben bewogen werden.“)
Gebieterin:
„Die Gebieterin , die aus Andeutungen von ihm seine Trennung erfahren hat, spricht
zur Gesellschafterin.“ (P.)
1152. Wonnesam war sonst sein blosses Ansehn; jetzt
ist seine Umarmung voll trennungsbanger Trauer.
IGO
I IT . Von der Lust.
1153. Schwer ist vertraun , wenn selbst bei Dem, der’s
recht wohl weiss gelegentliche Trennung kommt.
!,,Dass er mir versprochen , ,ich trenne mich nie£ und dass ich unsre Trennung
nicht aushalte.“ (P.) — Ariel: Difficile est la consolation (?) , meine chez cux, qui en
tkaient instruits, de l'absence une fois v^ritable. Die Auffassung der Oommentatoren
stimmt jedenfalls besser zum folgenden Verse.
1154. Wenn Der weggeht, der zärtlich sprach: Fürchte
nichts! ist dann Schuld hei Denen, die auf sein festes Wort
fest bauten?
1155. Willst du mich erhalten, so halt die Trennung
Dessen hin, der mir sich einte; geht er, so ist Vereinigung
sehr schwer.
Ariel: Si vous aimez (?) , ne consentez pas a l'absence de qui vous approche ; s’il
s'^loigne, la rdunion est difficile.
,, Die Gebieterin spricht zur Gesellschafterin, die ihr erzählt hat, wie ihr der Gebieter
seine Trennung kund gethan.“ (P.)
1156. Wenn er so harten Auges ist, dass er von Tren-
nung redet, so hat mein Wunsch nach seiner Gunst gar
schweren Stand.
„Wenn er, bei mir, lieblos an Trennung denken und sie anmelden kann, wie sollt’
er da, von mir fern, in Liebe an mich denken . wieder kommen und mir seine Gunst be-
wahren?“
1 157. Plaudert denn nicht der 1 meinem Arm entgleitende
Ring des Fürsten Fortgang aus2?
1 Sc. in Folge meiner Abmagerung durch den Trennungsschmerz.
2 Du hättest ihn zurückhalten und es mir dann sagen sollen ; so thust du nichts wei-
ter, als was schon mein Armband gethan hat. (Das hättest du dir ersparen können.) (P.)
1158. Unfreundlich ist in freundeloser1 Stadt das Leben;
unlieber noch des Liebsten Trennung.
1 P. sieht darin eine Anspielung darauf, dass man, statt den Liebsten zurückzu-
halten, zu seinem Weggang gestimmt hat.
..Die Gebieterin spricht zur Gesellschafterin, die gesagt hat: Da die Leidenschaft, dem
Feuer gleich, den Ort, wo sie herbergt, verzehrt, so musst du dich gedulden
lernen.“ (P.)
1159. Wenn man’s fasst, so sengt dasFeuer; aber wird’s
denn, wie der Liebesschmerz, wenn man sich fern hält,
sengen?
,,Wie kann ich das, was weit ärger als Feuer ist, ertragen lernen?“ (P.)
116. Die Trennung nicht etc. — 117. Sich in Kummer abzehrend jammern.
, .Die Gebieterin spricht (ironischer Weise) zur Gesellschafterin, die gesagt hat: Viele
Frauen ertragen die Trennung; du thust das nicht.“ (P.)
1160. Freilich, derer, die das Schwere tragen, den
grimmen Schmerz tödten, die Trennung tragen und dann doch
lehen bleiben, sind Viele!
P. sieht in ärri, — nltti. — ärri — (sprich ätti, nltti. ätti) eine phonetische Aus-
malung der Schwierigkeit.
117.
SICH IN KUMMER ABZEHREND JAMMERN.
„Die Gebieterin, welche die Trennung nicht ertragen kann, denkt
stets an ihre Trübsal, und in diesem Gedanken sich abhärmend jammert
sie.“ (P.)
Gebieterin;
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Deine Liebespein kund
zu thun ziemt deiner Schamhaftigkeit nicht.“ (P.)
1161. Ich will wohl meine Pein bergen; allein wie das
Quell -Wasser dem Schöpfenden, so mehrt sie sich.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du musst es entweder
den Leuten hier verbergen oder durch Botschaft den Leuten dort (resp. dem Geliebten)
zu wissen thun (dass du’s nicht länger aushältst).“ (P.)
1162. Meines Schmerzes Bergung bring ich nicht zuweg;
Dem aber, der den Schmerz mir machte, ihn zu sagen, bringt
mir Scham.
1163. In meinem traguntüchtigen Leib hangen an der
Tragstange1 meiner Seele balancirend Lieb’ und Scham.
1 Kä oder kävati heisst die elastische Tragstange, die, an beiden Enden gleichmässig
belastet, auf den Schultern ruht. — (Liebe und Scham kämpfen in ihrer Seele.)
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: , Hausfrauen fallen nicht
in das Meer der Leidenschaft , — und ob sie fielen — so können sie auf einem angemes-
senen Schiffe dariibersetzen.“1 (P.)
1164. Die See der Lieb’ ist sicher da; aber über sie
zu setzen fehlt das sichre Schiff.
„Die Gebieterin spricht, mit der Gesellschafterin wegen , Nicht- Botschaftgehens ‘
schmollend.“ (P.)
1165. Was werden Die wohl bei Feindschaft thun, die,
im Schooss der Freundschaft selbst, den Harm herholen?
m. ii
j 02 III. Von der Lust.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin , die gesagt hat: , Bei denen, die durch
die Liebe Freude genossen, pflegt auch der dadurch verursachte Schmerz
einzukehren.“1 (P.)
1 1 OG. (Der Liebe) Wenn’ ist wohl ein Meer; wenn aber
die Liebe martert1, so ist ihr Weh noch grösser.
1 D. li. wenn sie ihre Schattenseiten (als Trennungsschinerz u. s. w.) hervorkehrt.
,,Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Ei, auf dem Floss der
Tugend lässt sich das Meer der Liebe überschiffen.“4 (P.)
1167. Auf der Liebe reissendem Strome schwimmend,
kein Ufer seif ich. Noch um Mitternacht bin ich.1
i Ohne Helfer, — und ohne doch unterzugehen (und so meiner Qual mit einem Mal
los zu werden). In diesem Sinne P.
„Die Gebieterin, von der Grausamkeit der Nacht redend, jammert.“ (P.)
1168. Sehr zärtlich ist die Nacht. Alles Leben in Schlaf
lullend, behält sie nur mich zur Gefährtin.
P. fasst den Vers ironisch: denn ,,alle Wesen, deren jedes sich mit seiner Art eint,
lässt sie allein und wählt mich, die ich nahe am »Sterben bin, zu ihrer Gesellschafterin.“
1169. Grösser als des Grausamen1 Grausamkeit ist ihre
Grausamkeit: sacht in diesen Tagen schleichen sie — die
Nächte.
1 Der mich verlassen hat.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: , Weine nicht, sonst
verdirbt deiner Augen grosse Schönheit.“1 (P.)
1170. Zieht mein Auge, dem Gedanken gleich, hinwärts
zu ihm, — ach es kann ja überschwimmen nicht derThränen
Strom.
Wenn mein Auge geistiger Weise den Fernen zu erreichen sucht, so bricht es in
einen Strom von Thränen aus, der es an der Erreichung hindert. (Es bleibt gleich
eam auf halbem Wege an einem Strome liegen.) Ohne Bild: Heftiger Schmerz um-
dunkelt sein in der Phantasie lieraufbeschwornes Bild.
P. bemerkt, dass schon mit dieser Strophe der Gegenstand des nächsten Kapitels
eiugefiihrt werde.
118. Wie die Augen vor Sehnsucht vergehen.
163
118.
WIE DIE AUGEN VOR SEHNSUCHT VERGEHEN.
„Das ist: die Augen leiden von der Sucht nach dem Anschauen des
Gebieters.“ (P.l
Gebieterin:
1171. Was jammert denn nun das Auge selbst? Nur
weil’s mich schauen liess1, schaut’ ich dies nimmer wei-
chend Weh.2
1 Den Geliebten nämlich.
2 Mithin ist es ja der Urheber des Elends , und sollte nun nicht darüber jammern.
1172. Was ist’s, dass die in blindem Unverstand umher-
gafften — die schwarzen Augen — , in unbilligem Unverstand
nun Leid tragen?
1173. Erst schauten sie hurtig um; nun jammern sie:
das ist doch wahrlich Lachens werth.
1174. Zu träufeln unfähig, trockneten die schwarzen
Augen aus, rettungslosen Schmerz, der zu leben unfähig
macht, mir einpflanzend.
1175. Schlaf nicht fassend, leidet mein Auge nun, das
einen selbst vom Meer nicht zu fassenden Schmerz mir be-
reitete.
1176. Wie süss mir das ist! Das Auge, das diesen
Schmerz mir schuf, steckt nun selbst darin.
1177. Das Auge, das sonst erweicht, erweicht nach dem
Ersehnten sah, mög’ es nun gebeugt, gebeugt seine Fluth
ausgiessen.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: , Der Liebste ist nicht
fortgegangen ; er ist hier, du musst dich gedulden , bis du ihn siehst.“ “ (P.)
1178. Der sonst so Glühende — gleichgültig weilt er
hier; ihn nicht erschauend — ergiebt sich nicht mein Aug.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Du selbst musst dich
gedulden und dein Auge muss schlafen.4 “ (P.)
1179. Kommt er nicht, so schläft es nicht; kommt er,
n*
104
III. Von der Lust.
so schläft es auch nicht: so hat denn grosse Noth mein Aug
getroffen.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du musst seine Grau
samkeit verbergen, damit die Leute ihn nicht schmähen. “ (P.)
1180. Aus denen, die, wie ich, Augen gleich geschlagnen
Trommeln 1 haben, ein Geheimniss herauszuholen, fällt nicht
scliwer der Welt.
i Man erinnere sich, dass die Trommel auch vom Ausrufer gebraucht wird.
119.
LEIDWESEN ÜBER DIE GELBE FARBE.
„Gelbe Farbe ist ein gewisser Wechsel der Farbe in Folge davon,
dass man die Trennung nicht aushalten kann.“ (P.)
Gebieterin:
„ Die Gebieterin , die zuvor in die Trennung gewilligt hat , spricht für sich , nachdem sie,
die Trennung nicht ertragend, gelbe Farbe bekommen hat.“ (P.)
1181. Dem Liebenden willigt’ ich die Liebesentziehung
zu. Wem soll ich nun mein vergelbtes Ansehn klagen?
„Die Gebieterin spricht zur Gesellschafterin, die besorgt, sie möchte es nicht aushalten,
um sie zu überzeugen, dass sie’s wohl aushalten werde.“ (P.)
1182. „Er hat mich dir geschenkt“! So gleichsam ju-
belnd steigt und sitzt das Gelb auf meinem Leib.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du musst dich ge-
dulden, damit Schönheit und Scham nicht leiden. “ (P.)
1183. Schön und Scham hat er genommen; er schenkte
Gram und Gelb dafür.
,,Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du kennst ja die von
ihm geausserten Worte und seine guten Eigenschaften ; er wird bald herbeieilen. ‘ “ (P.)
1184. Wohl eingedenk bin ich, und was ich red’, ist seine
Tugend. So ist denn lauter Lug cliess Gelb.
„Die Gesellschafterin hat gesagt: ,Du hältst es nicht aus , wenn der Gebieter sich auch
nur auf eine kurze Strecke trennt.1 Darauf erinnert die Gebieterin an früher
Vorgekommnes.“ (P.)
1185. Schau da geht mein Liebster fort; schau hier be-
schleicht Gelb meinen Leib. 1
119. Leidwesen üb. d. gelbe Farbe. — 120. Einsamen Schmerzes Grösse.
i „Sein Gehen und das Kommen der gelben Farbe, ist wie das Kommen und Gehen
von Tag und Nacht (etwas so Gewöhnliches). Warum sprichst du denn, obschon du das
recht wohl weisst, als wüsstest du es nicht?“ (P.)
1186. Wie clie Nacht, die auf das Ende des Lichtes
lauert, so das Gelb das auf der Umarmung Ende lauert.1
1 Um dann schnell hereinzubrechen.
1187. Ihn umfahend, ruht’ ich; ein wenig weg rückt'
ich: gleich kam das Gelb wie greifbar.
„Wenn das schon bei einer blossen Seitenwendung geschah, — soll ich dann erst
sagen, was bei einer Trennung geschehen wird ?“ (P.)
„Sie spricht schmollend zur Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Dass du so gelb wirst,
passt sich nicht.“ “ (P.)
1188. Man sagt blos: „Sie ist vergelbt!“ — „Er verliess
sie ! “ wird Niemand sagen.
1189. Möge mein Leib, wie es so geht, gelben, wenn nur
der Ueberreder 1 makellos dasteht.
1 Zur Einwilligung in die Trennung. So P.
„Sie übernimmt die Verteidigung, als die Gesellschafterin, um es der Gebieterin
erträglich zu machen , den Gebieter tadelt.“ (P.)
1190. Mich als die „Gelbe“ bereden lassen, ist mir ganz
recht, wrenn sie nicht von Lieblosigkeit Dessen reden, der
mich zur Lieb’ überredete.
120.
EINSAMEN SCHMERZES GRÖSSE.
Gebieterin:
. ,Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Der Liebste, noch
ungeduldiger als du, wird bald kommen; mit ihm wirst du grosse Lust
gemessen4.“ (P.)
1191. Die das erlangt, dass der von ihr Geliebte sie
wieder liebt, — die hat der Liebe steinlose Frucht1 erlangt.2
1 Den reinen Vollgenuss.
2 Nicht also ich, von der sich der Liebste nicht bloss getrennt hat, zu der er auch
nicht wiederkommt.
1192. Wie wenn die Wolke an die Lebenden spendet,
so die Gunst, die der Liebende an die Geliebte verschwendet.
1193. Nur denen, die von dem Geliebten geliebt werden,
steht das stolze Wort zu: „Wir leben wirklich.“
III. Von der Lust.
166 '
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du besitzest eine gött-
liche Treue, dass du, aus Furcht, man möchte deinen Liebsten tadeln, seine Lieblosig-
keit verbirgst: dafür wirst du von den treuen Ehefrauen werthgehalten werden.“ (P.)
1194. Unglücklich sind auch die Werthgehaltnen, wer-
den sie nicht von denen, die sie werth halten, werth gehalten.
„Sie spricht zur Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Weil du ihn liebst, so hast du, seinen
Sinn kennend , dich geduldet.1 “ (P.)
1195. Den ich lieb habe, was kann mir Der erweisen,
wenn er doch mich nicht lieb hat?
1196. Bei einseitiger Neigung ist die Liebe unannehm-
lich ; annehmlich wie die Tragstange 1 ist sie, wenn bei-
derseitig.
1 Wo die hinten angehängte Last die vornangehäugte balancirt.
1197. Sieht er denn mein Klagen und Zagen nicht — der
wider den Einen los stürmende Liebesgott?
„Die Gebieterin, die keine Botschaft von dem Gebieter kommen sieht, spricht.“ (P.)
1198. Hartem Herzens ist Niemand, als wer olin’ ein
süsses Wort vom Geliebten her am Leben bleibt.
1 199. Mag auch der Geliebte mir nicht gewogen sein,
dem Ohr ist selbst ein Laut von ihm gar lieb.
„Sie, die, von dem Geliebten keine Botschaft empfangend, daran denkt, ihm Botschaft
zu schicken, spricht bei sich selbst. “
1200. Dem, der nicht dein ist, sagst du deinen Schmerz.
Füll’ doch das Meer aus! Leb wohl, Herz! 1
i Du unternimmst Thörichtes, weil Nutzloses. Lass das bleiben!
121.
KLAGE HER GEDENKENDEN.
,Das ist: der Gebieter, an die Wonne der frühem Vereinigung den-
kend, fühlt sich dort im Lager einsam, oder auch die Gebieterin fühlt
sich einsam.“ (P.)
Gebieter:
„Der Gebieter spricht zu dem auf Botschaft gehenden Gesellschafter.“ (P.j
1201. Bei blossem Gedanken bereite sie Hochgenuss;
drum ist sie lieblicher als Meth — die Liehe1.
1 Vergl. Vers 1090.
121. Klage der Gedenkenden.
1(37
1202. Wie ist die Liebe1? Schau, sie isl einzig- süss !
Nicht ein Einziges stüsst uns zu, wenn wir an die, so uns
Heben, denken.
i P. nimmt eneittu (von welcher Art?) im Sinne von eneittum (von welcher Art auch
immer, jedenfalls). Nach ihm ist der Sinn : Von welcher Art die Liebe auch immer sei,
— oh vereint, oh getrennt — sie ist stets gleich süss.
Gebieterin:
..Die im Gedanken an den Gebieter bekümmerte Gebieterin spricht zur Gesell-
schafterin.“ (P.)
1203. Zu gedenken scheinend, gedenkt er wohl nicht;
mein Niessen, aufzuspriessen scheinend, erstirbt1.
i Dem Volksglauben zufolge verkündet sich das Angedenken des fernen Geliebten
in dem Niessen der Geliebten. Da nun ihr Niessen halb stecken bleibt, so legt sie sich
das Angedenken des fernen Geliebten als ein oberflächliches, nicht ernstliches aus.
1204. Bin ich etwa nicht in seinem Herzen ? O in meinem
Herzen ist er.
1205. Aus seinem Herzen hat er mich hinausgeschlossen ;
schämt er sich nicht, dass er ohn Aufhören in mein Herz
kommt?
Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du bekümmerst dich in
der Rückerinnerung an die Wonne der frühem Vereinigung; du musst das
vergessen.“ (P.)
1206. Wovon leb’ ich denn? Davon leb’ ich, dass ich mir
verlebendige die Tage meiner Gemeinschaft mit ihm.
1207. Wenn ich vergäss e, was würd’ aus mir? Selbst
wenn ich, die ich nicht vergessen kann, mich erinnere, ver-
brennt mein Innerstes.
,, Sie antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Der Gebieter kennt dein Elend ,
er wird kommen und dich erfreun.* “ (P.)
1208. Ich mag an ihn denken, so viel ich will, er wird
nicht bös. Nicht wahr? das ist die ganze Gunst, die mir
mein Liebster leiht.
,, Traurig, dass sie von dem Gebieter keine Botschaft kommen sieht, spricht sie zu der
tröstenden Gesellschafterin.“ (P.)
1209. Mein liebes Leben stirbt, wenn ich stark denk’ an
die Härte Dess, der „Wir sind eins“ sagte.
1210. Mond, birg dich nicht, dass ich mit Augen schau 1
168
III. Von der Lust.
Den, der, ohne von mir zu scheiden2, wohl in die Weite zog.
— Leb wohl, Mond3!
1 Dass sich unsre beiderseitigen Blicke in dir begegnen.
2 Ohne ans meinem Herzen zu scheiden.
3, .So (schnell abbrechend) sagt sie, weil die Sehnsucht sie beschleicht.“ (P.)
122.
DIE AKT DES TRAUMES ERZÄHLEN.
„Das ist: die Gebieterin erzählt der Gesellschafterin den gehabten
Traum.“ (P.)
Gebieterin:
„ Die Gebieterin , die den Boten des Gebieters hat kommen sehen , spricht.“ (P.)
1211. Was für ein Gastfest soll ich dem Traume geben,
der mit dem Boten des Liebsten kam?
So sagt sie, weil er nun im wachen Zustande entschwunden ist. i P.)
,,Die Gebieterin, die eine Botschaft zu schicken gedenkt, spricht.“
1212. Falls auf mein Flehn mein schwarzes Kajel1 Aug.
einschläft, will ich dem mir Verbundenen, wie ich wirklich2
lebe, sagen.
1 Dem kajal ^sel oder kenJei) = Fisch, eine Art Karpfen (Cyprinus fimbriatus) wird
da3 Auge sehr häufig verglichen.
2 Dem Boten kann ich doch nicht alles so sagen. In diesem Sinne P.
..Zur Gesellschafterin, die da fürchtet, die Gebieterin möchte es nicht aushalten, spricht
die Letztere, um zu zeigen, dass sie es wohl aushalten werde.“ (P.)
1213. Weil, der im Wachen mich nicht minnt, mir im
Traum erscheint, leb’ ich noch länger.
1214. Wonne wird mir im Traum, da er Den, der im
Wachen mich nicht minnt, aufsucht und herbringt.
1215. Damals war, was im Wachen erschien, und nun
ist selbst der Traum, wenn er erscheint, so süss.1
i „ So ist denn für mich Beides gleich.“ (P.)
1216. Wär’ dieses einzige1 Wachen nicht, — im Traume
wiche mein Liebster nie.
1 „Diess steht, um die grausame Natur desselben in’s Licht zu stellen.“ (P.>
122. Traum erzählen. — 123. Beim Anblick d. Abends jammern. 101)
„Die Gebieterin, die beim Erwachen den Gebieter nicht sieht, spricht, an die Ver-
einigung im Schlafe denkend, ungeduldig.“ (P.)
1217. Der im Wachen mich nicht minnt, — der Grau-
same! — was martert er mich im Traum?
„Gegen die Gesellschafterin, die zu eigner Geduldung den Gebieter tadelt, übernimmt
die Gebieterin seine Vertheidigung.“ (P.)
1218. Zur Schlummerzeit an meiner Schulter hängend;
zieht er sich zur Wachenszeit flugs in mein Herz zurück.
t „Da er mich also nie verlässt, so darfst du ihn nicht tadeln.“ (P.)
1219. Die nicht im Traum den Liebsten schaun, 1 thun
dem weh,2 der im Wachen (mich) minnelos lässt.
1 „Weil sie selbst keinen haben.“ (P.)
2 Durch üble Nachrede.
Ganz anders Ariel: De celui, qui en rdalitd (les) abandonne, s’inquifetent les
ffemmes) non visitdes en reve par leur adorä!
1220. Im Wachen hab’ er mich verlassen, sagen sie;
sie sehen ihn wohl nicht im Schlafe — die Leute hier.
Wüssten sie, dass er im Traume unablässig bei mir ist, so würden sie ihn nicht
grausam schelten.
123.
BEIM ANBLICK DES ABENDS JAMMERN.
Gebieterin:
„Sie spricht mit dem Abend schmollend.“ (P.)
1221. Labe-Zeit1? — Das bist du nicht. Eine Lanze2 bist
du, die der Vermählten Leben frisst. Fahr hin, Abend!
1 Eigentlich „Abend“; allein mälei (Abend) heisst auch „ Guirlande “ ; und diese
Anspielung, im Gegensatz zu dem folgenden velei (siehe die folg. Anm.) scheint beab-
sichtigt. Ich habe diese Anspielung einigermaassen nachzubilden versucht mit: Labe —
Lanze).
2Vel-ei (du hast eine Lanze); der Commentar freilich fasst es velei — ,f*Zeit“ und
zwar „End -Zeit“ (wie denn velei auch „Grenze“ heisst). Danach wäre zu übersetzen :
Du bist die Todeszeit, die u. s. w.
„Die Gebieterin spricht, indem sie ihren Gemüthszustand auf den Abend überträgt.“ (P.)
1222. Mattäugig bist du, leb wohl, trübsinniger Abend!
Ist, wie mein Freund, auch deine Genossinn hartäugig?
„Die Gebieterin spricht zur Gesellschafterin, die zur Geduld gemahnt hat.“ (P.)
1223. Der bei aufsteigendem Frösteln erblassende1
170
III. Von der Lust.
Abend kommt so, dass bei aufsteigender Angst mein Weh
wächst.
Sie sieht in der fröstelnden Abendkühle und in den erblassenden Abendfarben ein
Abbild ihrer Stimmung.
1224. Wo der Liebste nicht ist, kommt der Abend her,
wie der Feind auf dem Feld der Schlacht.
1225. Was hab’ ich doch dem Morgen zulieb gethan?
Was hab’ ich doch dem Abend zuleid gethan1?
1 Der Morgen, au dem ich des Gatten Weggang fürchtete, war sonst mein Feind;
jetzt ist er mit einem Male mein Freund geworden, indem er der nächtlichen Sehnsucht
ein Ende macht. Der Abend aber, an dem ich sonst den Liebsten bei mir hatte, etc. In
diesem Sinne P.
.. Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin , die gesagt hat: .Warum hast denn du,
die du dich jetzt so geberdest, damals in seinen Weggang gewilligt? ‘ “ (P.)
1226. Zur Zeit, da mein Liebster noch hier war, wusst’
ich nicht, wie Abendzeit Schmerz schafft.
,.Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: ,Was ist die Ursache,
dass du zur Abendzeit dich so geberdest ?<4< (P.)
1227. Diese Pein — am Morgen keimt sie, den ganzen
Tag spriesst sie, am Abend blüht sie. 1
i Am Morgen ist sie in Folge angenehmen Traumes erträglich (,,keiraen‘‘), den Tag
über tritt der Trennungsschmerz je länger je stärker in den Vordergrund („spriessen“),
am Abend aber, wo sie alle Wesen sich aneinander schliessen sieht und der zu dieser
Zeit früher selbstgenossnen Wonne gedenkt, nimmt die Ungeduld überhand („blühen“).
In diesem Sinne P.
1228. Des Hirten Flöte — dem Abend, der dem Feuer
gleicht, ein Herold — gleicht dem tödtenden Schwerdt.
i Sonst kühlt der Abend — mich versengt er; sonst belebt die Hirtenflöte, die den
Abend verkündet — mich tödtet ihr schmachtender Ton. P. übersetzt paraphrasirend :
„Die Flöte des Hirten (die mir sonst so viel Wonne bereitete) ist jetzt heiss wie Feuer,
und als Herold des Abends wird sie nun (wo dieser Abend mich zu tödten kommt; eine
tödtende Waffe.“ UuuÖthige Willkühr gegen alle Grammatik.
1229. Sich verwirrend wird der ganze Ort jammern,
wenn Sinn -verwirrend sich der Abend dehnen wird.
Bis jetzt hab ich allein gejammert; diesen Abend aber werd’ ich sicherlich nicht
überleben, und dann wird der ganze Ort mit jammern. — In diesem Sinne P.
1230. An diesem Angst- Abend — gedenkend Dess, der
ganz zu Geschäft geworden 1 — wird mein noch nicht ver-
siegtes Leben versiegen.
i Und mich darüber ganz vernachlässigt.
124. Wie die Glieder verderben.
171
124.
WIE DIE GLIEDER VERDERBEN.
..Das ist: die Glieder der Gebieterin als Auge, Schulter, Stirn u. s. v.
verlieren ihre Schönheit.“ (P.)
Gesellschafterin:
Die Gesellschafterin spricht zur Gebieterin, die sich durch die Grösse der Ungeduld
verändert hat. u (P.)
1231. Im Angedenken Dess, der, für uns Leid liier las-
send, weithin wunderte, schämen sich nun vor den schönen
Blumen1 deine Augen2.
1 Als Lotus, Kuva'ei u. s. w. (siehe Vers 1112). Sonst schämten sich die Blumen
vor den Augen (siehe ebendas.).
2 Die vom vielen Weinen ihren lieblichen Glanz verloren haben.
1232. Als wollten sie des Geliebten Lieblosigkeit sagen,
so sehen die blassen Thau-triefenden Augen aus.
1233. Als wollten sie deine Verlassenheit gründlich zu
wissen tliun, so sehen die Schultern aus, die am Tag der Ver-
mählung strotzten.
1234. Beim Schwinden der Stärk’ entgleitet der glän-
zende Ring dem Arm, dem beim Schwinden des Freunds die
alte Schönheit welkte.
1235. Des Grausamen Grausamkeit künden die Arme,
denen mit dem Zierrath die alte Zier verblich.
Gebieterin:
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die zur Selbstgeduldung deu Gebieter
getadelt hat.“ (P.)
1236. Das schmerzt mich schmerzlich, dass man, weil
mit dem Zierrath die Arme lose werden, ihn grausam schilt.
.,Die Gebieterin, jenen Tadel nicht zn ertragen fähig, spricht bei sich selbst.“ (P.)
1237. Wirst du wohl gewürdigt werden, Herz, wenn du
dem Grausamen 1 deiner welken Schultern Schreien kund
thust?
1 Wie ihn die Gesellschafterin schilt. (P.)
Gebieter:
„Der Gebieter, der nach Beendigung seiner Geschäfte zmückkehrt, spricht bei sich,
indem er an früher Vorgefallnes denkt.“ (P.)
1238. Als ich (einmal) die umschlingenden Arme los-
172
III. Von der Lust.
liess1 - — (gleich) verblasste die Stirn der Thörin mit strah-
lendem Armband.2
1 „Weil ich dachte, sie möchten ihr wehe thun." (P.)
2 „Wie wird eine solche Stirn nun bei dieser (langen) Trennung fahren ? “ (P. )
1239. Als (einmal) mitten in der Umarmung ein linder
Luftzug1 sich zwischendrängte, (gleich) verblasste der Thörin
grosses thauiges Aug.
Vergl. V. 1118.
1240. Der Augen Blässe härmte sich 1 beim Anblick dess,
was die lichte Stirn gethan.
1 Vor Scham.
2 Die bei geringerer Veranlassung (vergleiche Vers 1238) viel blässer geworden war.
..Da nun so ein Glied vor dem andern seine Schönheit verloren hat, so muss ich mich be-
eilen.“ (P.)
125.
MIT DEM HERZEN SPRECHEN.
„Das ist: Die Gebieterin, die bei zunehmender Ungeduld über die
Trennung keinen Halt für sieb sieht, spricht, nicht wissend, was sie
thun soll, mit ihrem Herzen.“ (P.)
Gebieterin:
„Sie forscht nach einem Mittel, ihre Ungeduld zu enden.“ (P.)
1241. Kannst du nicht ausdenken und sagen, Herz,
irgend eine Arzenei, die mein unbesiegliches Weh wegschafft?
„Die Gebieterin spricht aus grosser Sehnsucht nach dem Anschaun des Gebieters.“ (P.)
1242. Da er selbst ohne Sehnsucht ist, so ist dein Jammer
Thorheit; leb wohl, Herz1!
1 Das Klügste ist, dass ich zu ihm gehe, da er selbst nicht kommt.“ (P.)
1243. Was jammerst du, Herz, in Harren und Sinnen?
In Dem, der den grimmen Schmerz dir schuf, ist kein herz-
lich Sinnen h
> Aufs Kommen gerichtet; folglich müssen wir zu ihm gehen. (P.)
1244. Nimm ja auch das Auge mit, mein Herz! Sonst,
ihn zu sehn begierig, verzehrt es mich.
1245. Kann ich, o Herz, Den als Feind fahren lassen,
der, während ich ihm gehöre, mir nicht gehört1?
t Das vermag ich nicht, folglich muss ich zu ihm gehen, i P. >
125. Mit d. Herzen sprechen. — 12G. Wie <1. Sittsamkeit zu Grunde geht. 173
„Sie spricht zürnend zum Herzen, das, an des Gebieters Härte denkend, ins Gehen nicht
willigen will.“ (P.) v
1246. Siehst du den Liebsten, der anschmieglich sich
leicht verständigt, so verstehst du nicht zu schmollen. Falschen
Zorn zürnst du, Herz l.
„Du, das du, wenn du ihn siehst, nicht zürnen kannst, zürnst jetzt, wo du ihn nicht
siehst ; was nützt das ? “ (P.)
„Die Gebieterin, die auf Antrieb der Schamhaftigkeit vom Gehen absieht, spricht.“ (P.)
1247. Lass die Lieb’ oder lass die Scham, mein gutes
Herz! Das Beides ertrag’ ich nicht.
1248. Wohl wissend, dass er dir Minn’ und Gunst ent-
zieht, wirst du dem Weggezogenen nachlaufen? Ein Thor,
Herz, bist du!
1249. Da doch der Liebst’ im innersten Sinne weilt, zu
wem denn sinnend eilst du, Herz?
„Die Gebieterin spricht, um die Nothwendigkeit, ihn zu vergessen, ins Licht zu
stellen.“ (P.)
1250. Da ich Den im Herzen heg’, der los sich riss von
mir, werd’ ich nun auch des Herzens Zier 1 verlieren.
Als Schamhaftigkeit (vergl. Vers 1217 und die folgende Dec.). Die äussere Zier ist
schon dahin. (Decade 124.)
126.
WIE DIE SITTSAMKEIT ZU GRUNDE GEHT.
„Das ist: Die Gebieterin, das, was sie in ihr Herz verschlossen hat,
nicht länger zu halten im Stande, lässt sich aus.“ (P.j
Gebieterin:
,,Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Du musst dich gedulden,
auf dass Scham und Sittsamkeit nicht zu Grunde gehen.“ (P.)
1251. Das Beil der Leidenschaft erbricht die Thür der
Sittsamkeit, wo vorgeschoben der Riegel der Scham war.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Die im Herzen ent-
staudne Leidenschaft solltest du in’s Herz verschliessen.“ (P.)
1252. Was man Liebe nennt, ist ohne Nachsicht. Selbst
um Mitternacht treibt es mein Herz geschäftig um.
1253. Meine Liebe bergen will ich wohl, allein unver-
sehns, dem Niessen gleich, tritt sie hervor.
174
III. Von der Lust.
1254. Ich meine wohl immer, ich sei sittsam; aber nun
durchbricht meine Liebe das Versteck und tritt frei auf.
..Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin . die gesagt hat : Wir wollen Den . der
uns vergessen hat. wieder vergessen.“ (P.l
1255. Jene Seelen -Hoheit, die hinter dem Liebelosen
her nicht läuft, kennen nicht die Liebesleid-GetrofFenen.
1256. Da ich dem Liebelosen nachzulaufen Lust habe,
ei, wie wird das Leid sein, das mich getroffen? Gewiss
sehr lind1.
1 Ironisch für .. sehr wild“. So P.
..Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin . die gesagt hat: Was ist denn die Ur-
sache, dass du nicht spröde thust, du, die du dich mit dem Gebieter, der von seiner Neben-
frau hergekommen ist, mit Ablegung aller Ehrbarkeit wieder verbunden hast ? “ (P.)
1257. Was man Scham nennt, kenn’ ich nicht, wenn,
was ich liebend wünsche, der Geliebte thut.
1258. Des lugmächtigen Schelmen sanftes Wort, — ist's
nicht die Waffe, die die Weibeswiirde bricht?
1259. „Ich will spröde thun“. So sprechend wich ich
aus. Da ich aber sah, dass mein Herz mit Hingabe umging,
gab ich mich hin1.
i Mein Herz ist Schuld, nicht ich. (P.)
1260. Die ein Herz haben, wie auf Feuer gelegtes Fett,
können denn Die sprechen: Ich will im Sprödethun fest
bleiben?
127.
SICH NACH EINANDER SEHNEN.
„Da die (sehnsüchtige) Rede der Gebieterin aus dem Verlust der weib-
lichen Sittsamkeit herstammt, so folgt dieses Kapitel auf das vorher-
gehende.“ ( P.)
Gebieterin:
„Die Gebieterin spricht aus Begierde ihn za sehen.“ (P.)
1261 . Des Glanzes baar, ist mein Auge dunkel geworden :
über dem Betasten der Tage, die er fort ist, sind meine Finger
abgegriffen ’.
127. Sich nach einander sehneu.
175
1 Sie hat die Tage seiner Abwesenheit an der Wand irgendwie bezeichnet. Da
nun ihre Augen dunkel geworden sind, so muss sie zur Wiedererkennung der Zeichen
ihre Finger zu Hülfe nehmen.
„Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Da die Ungeduld zu-
nimuit, so musst du nicht immer an ihn denken, sondern ihn ein wenig vergessen.“ (P.)
1262. Du mit dem Funkei -Schmuck1! Vergess’ ich ihn
jetzt2, so wird danach3 mich alle Anmuth fliehn und der
Ring vom Arm abfailen.
1 P. findet darin einen Seitenhieb auf die Indifferenz der Gesellschafterin in Bezug
auf die Abwesenheit des Gebieters („Dich freilich ficht das nicht an “).
2 Wo ich doch einmal sterbe. (P.)
3 In dem Folge -Beben (im Sinne der Seelenwanderungi.
„Wenn ich jetzt an ihn denke, so werde ich, ihn im künftigen Leben erlangend,
Wonne geniessen. Darum bin ich gar nicht von der Art, dass ich ihn vergessen möchte.“
(P.) Der Vers lässt sich aber auch so fassen : Du mit dem Funkelschmuck! Vergess ich
ihn jetzt, so wird in noch grösserem Maasse meine Anmuth verfallen und der Schmuck
von meinen Armen abfailen. (Vergl. V. 1207.) Ariel: O femme ! aujourd’hui je Toublie-
rais, que de mes bras, dont la beautu est loin. les bijoux glisseraient encore.
1263. Siegsruhm begehrend zog er hin, seinen Sinn zum
Gefährten; seiner Rückkunft begehrend, leb’ ich noch1.
1 D. h. die Sehnsucht hält mich am Leben.
1264. In dem Gedanken an des Geschiednen Wieder-
kehr voll Vereinigungslust, — schwellend hebt sichmein Herz.
,,Die Gebieterin spricht zur Gesellschafterin, die bei der Meldung von des Gebieters
Ankunft gesagt hat, sie solle nicht ungeduldig ihre Farbe ändern.“ (P.)
1265. Möcht’ ich doch den Gemahl schauen mit vollem
Aug! Wenn ich ihn geschaut, wird ja das Gelb der weichen
Schultern weichen.
1266. Möchte doch mein Vermählter eines Tages kom-
men! Dann schlürf ich1, dass der trübe Harm zuhauf erstirbt.
i „Ambrosia“. (P.)
1267. Soll’ ich spröde thun? Soll’ ich mich hingeben?
Oder Beides mischen? — wenn mein dem Aug’ vei’gleichbarer
Freund kommt.
Gebieter:,
..Der Gebieter , der dem König als Genosse gefolgt ist, denkt bei hinausgeschobner
Geschäftsvollendung an die Gebieterin und spricht bei sich selbst.“ (P.)
1268. Möchte doch der König, sich in die Schlacht ein-
lassend, siegen und theilen! Ich muss, mich mit dem hei-
mischen Heerd einlassend, für den Abend ein Fest an-
stellen.
170
III. Von der Lust.
1269. Ein Tag vergeht wie sieben Tage denen, die sich
martervoll die Tage merken, wo der weit Weggegangene
rückkehren soll.
1270. Dafern ihr Herz zerbrochen hingeschüttet wird,
was hilft’s, wenn ich komme, was, wenn ich da bin, was, wenn
ich mich anschmieg’?
128.
DIE ABSICHT KUND THUN.
„Das ist: Der Gebieter, die Gebieterin und die Gesellschafterin tliun
des Einen Absicht dem Andern kund.“ (P.)
Gebieter:
,,Die Gebieterin sieht , dass der Gebieter, der nach der Trennung sich wie der mit ihr
vereinigt hat, aus grosser Liebe die Vereinigung viele Tage hintereinander immer und
immer wieder lobt, und fürchtet daher, er werde bald abermals sich trennen. Das merkt
er ihr ab und spricht nun zu ihr.“ (P.)
1271. Wenn du’s auch birgst, dein schwarzes Aug’, un-
fügsam ganz, geht mit dir durch : es will was sagen.
„Da sie es aus Scham nicht sagt, so spricht er zur Gesellschafterin.“ (P.)
1272. Die Thörin mit Augerfüllender Schön’ und Bam-
bus-Schulter hat ein von Weiblichkeit erfülltes Wesen1 in
hohem Grad.
1 Die Einfalt (dass sie in ihm den Vorsatz der Trennung fälschlicher Weise voraus-
setzt) und die Blödigkeit (dass sie sich davor fürchtet). (P.)
1273. Wie in Kry stall -Perlen der Faden durchscheint,
so in der Anmuth der jungen Frau scheint Etwas1 durch.
i Ich weiss nicht, was sie im Sinne führt. Du musst es herausbringen und mir dann
sagen. (P.)
1274. Wie der Duft in der aufblühenden Blumen-Knospe,
so ist in der aufblühenden Knosp’ ihres Lachens Etwas1.
1 Ein geheimer Sinn nämlich.
1275. Das geheime Thun und Treiben1 Der „mit dem
dichten Armschmuck“ hegt, zu Heilung der grimmen Pein2,
herrliche Arzenei in sich3.
1 Sie beabsichtigt mitzugehn.
2 P. versteht darunter den Schmerz des Gebieters, dadurch entstanden , dass,
trotzdem dass er es gut meine, doch Schlimmes erwachse und dass er das zu beseitigen
sich ausser Stand sehe.“
3 „Das ist die Meldung der Nichttrennung durch die Gesellschafterin.“ (P.)
128. Die Absicht kund thun. — 129. Nach der Vereinigung begehren.
177
Gebieterin:
,,Uie Gebieterin, die des Gebieters Absicht gemerkt hat, thut sie der Gesellschafterin
kund, die sie ihr zu verkünden gekommen ist.1- (P .)
127ti. Dass er, schwer tragend, lieblich sich anschmiegt,
ist so geartet, (lass ich, sehr tragend, an den Mangel derLiebe
denken werde.
Ariel: L’nnion. qu'on souffre taut ii ddsirer, a le pressentiment , qu'on souffre aveo
peinc, du manque de l'amour.
1277. Dass der Gebieter des kühlen Strands mich ver-
lassen wollte, hat das Armband eher als wir gemerkt1.
> „Noch ehe ich’s deutlich wusste, magerten meine Arme. 11 (P .)
1278. Gestern (erst) ging mein Liebster. Dass mein
Leib gelbte, ist schon sieben Tage her.
Gesellschafterin:
„Die Gesellschafterin, die der Gebieterin Absicht gemerkt hat , {heilt sie dem Gebieter
mit.11 (P.)
127b. Sie sah das 1 Armband an, sie sali die magre Schul-
ter an, sie sali die Füsso2 an. Das ist es, was sie that
1 Schlotternde.
2 Erwägend, ob die wohl das Mitgehn aushalten möchten.
3 P. erinnert an Vers 1275.
Gebieter:
..Der Gebieter thut der Gesellschafterin seine Absicht, sich nicht zu trennen, kund.“ (P.j
1280. So mit dem Aug’1 der Liebe Leid ausredend
Helm2, heisst Weiblichkeit über Weiblichkeit.
t Nach P. : ohne es mit d e m M u n d auch nur der Gesellschafterin zu sagen.
2 Nach I’.: zu den eignen Pässen (dass sie sich doch zum Mitgehn schicken möch-
ten). Vergleiche den vorhergehenden Vers.
129.
NACH DER VEREINIGUNG BEGEHREN.
„Seitens des Gebieters sowohl, als der Gebieterin.“ (P.)
Geb i eterin:
..Die Gebieterin antwortet der lachenden Gesellschafterin, die gesagt hat: Warum doch
schmollst du nicht mit dem Gebieter, der seine Absicht hinwegzugehen angedeutet
hat?“ (P.)
1281. Jauchzen beim Sinnen, und Jubeln beim Sehen —
das hat der Palmwein nicht, die Liebe liat’s.
Vergl. Vers 109U.
III.
12
178
III. Von dev Lust.
1282. Schmollen darf man nicht 1 — und wär’s wie ein
Hirsekorn gross — wenn vollgross wie die Palmyra das
Verlangen kommt.
1 Denn man kann's nicht aushalten.
1283. Auch wenn er ohn’ alle Theilnahme nach eignem
Wunsche tliäte, meine Augen werden nicht stille, ohne den
Gemahl zu sehn.
1284. Auf’s Schmollen in der Tliat stracks los ging ich,
Gefährtin! Allein auf’s Sichgebenwollen stracks los ging —
aus Vergesslichkeit — mein Herz.
1285. Dem Auge gleich, das beim Bemalen den Schwarz-
Stift 1 nicht sieht, seif ich den Fehl des Gemahls nicht, wenn
ich ihn sehe.
1 Wie das Auge, das vorher den Schwärzstift in der Hand ganz wohl sähe, diesen,
wenn er beim Bemalen des Augs demselben ganz nahe tritt, nicht sieht, so gewahre auch
ich an dem Gemahl die Fehler, die ich, während er in der Ferne war, ganz wohl ge-
wahrte, nicht mehr, wenn er mir nahe tritt. Vergl. den folgenden Vers.
1286. Seif ich ihn, seif ich seine Versehen nicht; seif
ich ihn nicht, seh ich nichts als seine Versehen.
1287. Wohl wissend, dass ich damit zu nichte werde,
warum sollt’ ich schmollen, — denen gleich, die, wohl wissend,
sie werden weggespült, in’s Wasser springen.
Gesellschafterin:
,,Die Gesellschafterin, die der Gebieterin Verlangen, sich wieder zu einigen, kennt,
spricht zum Gebieter.“ iP.)
1288. Hein Busen, Schelm, ist wie der Palmwein denen,
die sich dran froh getrunken, auch wenn er ihnen beschä-
mendes Leid bereitet *.
i Sie verlangen je länger je mehr danach.
Gebieter:
„Der Gebieter spricht hei nie endendem Schmollen.“ (I’.)
1289. Zarter, als selbst Blumen, ist die Liebe. Wenige
werden theilhaftig ihrer Lieblichkeit.
1290. Mit dem Auge schmollend, verschmachtete sie,
(im Herzen) nach Versöhnung sehnsüchtiger als ich1.
1 So war sie sonst; jetzt behabt sie sich gauz anders. In diesem Sinne P.
130. Mit dom Herzen zürnen.
179
130.
MIT DKM HERZEN ZÜRNEN.
„Das ist: Mit dem Herzen, das selbst bei vorhandner Ursache nicht
an’s Zürnen denkt, sondern vielmehr die Vereinigung begehrt, zürnt
sowohl die Gebieterin, als der Gebieter.“ (P.)
Gebieterin:
„Die Gebieterin spricht zu ihrem Herzen, das, obwohl ein Fehl des Gebieters vorliegt,
doch nicht an's Zürnen denkt.“ (P.)
1291. Obschon du siehst, dass sein Herz ihm gehört,
warum, mein Herz, gehörst du nicht mir?
1292. Wiewohl du siehst, dass er mir nicht Freund ist,
gehst du, mein Herz, zu ihm, als war er mir nicht Feind.
1293. Dass du, mein Herz, recht nach Lust ihm nach-
gehst, geschieht das darum, weil „die Unglücklichen1 keine
Freunde haben“-?
* Zu denen ich eben gehöre.
2 Bewegt dich dazu dieser Gedanke, oder deine Natur? Sprich! (P.)
1294. Wer wird künftig wieder derlei Anschlag mit dir
machen, Herz? Du geniesst ja nicht — erst schmollend,
— sieh!
„Vorher wärest du entschlossen (eine Weile; zu schmollen, dann aber verlangtest
du ohne Weiteres nach Vereinigung (mit dem Gemahl).“ (P.)
„Da die Gesellschafterin , die sich zur Botschaft geschickt hat, fragt, antwortet die
Gebieterin.“ (P.)
1295. Es furchtet ihn nicht zu erlangen; erlangt’s ihn,
so fürchtet’ s die Trennung; in nie endendem Elend hängt
mein Herz.
1296. So oft ich einsam sitzend dachte, setzte sich mein
Herz darauf, mich aufzuzehren.
1297. Mit meinem gemeinen thöriehten Herzen, das ihn
nicht vergessen kann, verkehrend, half ich nun selbst der
Scham vergessen.
1298. „Schmäh’ ich, so wird m i r Schmach ! “ So denkend,
sinnt mein Leben-liebendes 1 Herz seinen Vorzügen nach.
1 Es würde sterben, wenn es nicht an ihn denken könnte.
12 *
180
III. Von der Lust.
Gebieter:
„Der Gebieter spricht bei nie endendem Schmollen.“ (P.)
1209. Wer soll im Harme denn unsre Hülfe sein, wo
selbst das eigne Herz nicht helfen will?
1300. Dass Fremde sich nicht als die Unsern zeigen, —
ein Leichtes ist’s, wenn ja das eigne Herz nicht unser sein will *.
1 „Wenn das Jigne Herz, die Fremde fiir die Geliebte haltend, mich quält, so ist das
Zürnen der Fremden leicht. ‘‘ (P.)
131.
SCHMOLLEN.
„Beider mit einander.“ (P.)
Gesellschafterin:
„Die zum Botschaftgehn aufgebrochne Gesellschafterin spricht lachend mit der
Gebieterin, der Einwilligung zum Botschaftgehn wegen.“ (P.)
1301. Wohlan du hältst dich fern und schmollst; wir
wollen sein elend Liebesleid ein Avenig sehn.
„Sie redet, um das Schmollen zu beseitigen und eine Zustimmung zum Botschaftgehn
zuwege zu bringen.“ (P.)
1302. Wie wenn das nöthige Salz dazu kommt, ist das
Schmollen; das Schmollen in die Länge ziehn, ist ivie wenn
des Salzes ein wenig zu viel wird.
Gebieterin:
„Die Gebieterin spricht züruend mit dem Gebieter, der von der Nebenfrau gekommen
ist.“ (P.)
1303. Die Schmollenden nicht umarmen, ist wie wenn
man (schon) Vernichteten vernichtenden Schmerz bereitet.
P. versteht den Vers (ironischer Weise) etwa so: „Du kommst hierher zu mir, als
zu einer Fremden, da wird deine Nebenfrau schmollen; geh ja zu ihr und umarme sie;
sonst kann sie’s nicht ertragen.“
1304. Sich mit denen, die verstimmt sind, nicht verstän-
digen, ist Avie wenn man einer (schon) welken Schlingpflanze
die Wurzel abreisst.
Gebieter:
..Der Gebieter, der sich nach Beseitigung des Sclimollens mit der Gebieterin vereinigt
hat, spricht bei sich.“ (P.)
1305. Selbst für die Waekern 1 voll wackerster Tüchtigkeit
181. Schmollen. — 132. Rallinirtes Schmollen. 181
ist tüchtig Schmollen im Herzen Derer mit Blumenaug’ wohl
Herzenslust.
i Die sich nichts vorzuwerfen haben. (P.)
1306. Wo (las Grollen fehlt, gleicht die Liebe einer reifen
Frucht; wo das Schmollen fehlt, einer zu jungen.
„Da eine sehr reife, zum Abfallen geschickte Frucht dom Geniessenden grosses
Vergnügen bereitet, so sagt er: ,vvo das Grollen nicht ist, da ist sie wie eine reife Frucht' ;
ferner da eine sehr junge Frucht die Essensreife nicht hat, so sagt er; ,wo das Schmollen
nicht ist, ist sie wie eine junge Frucht'.“ (P.) Der Sinn ist: Grollen soll man nie, wohl
aber zuweilen schmollen. Das Schmollen würzt die Liebe, das Grollen verwiirzt sie.
1307. Muss man zweifelnd fragen, ob die Versöhnung
wohl lang verziehn wird, so liegt auch im Schmollen freilich
ein grosses Leid.
,,Bei nie endendem Schmollen spricht der Gebieter erzürnt zur Gebieterin.“ (P.)
1308. Was hilft das Härmen, wo keine Freunde sind,
die da wohl wissen, dass man sich härmt.
„Er giebt seine Ungeduld zu verstehen: Sie ist nicht unsre Gebieterin; da sie's
nicht ist, so kennt sie diesen Schmerz nicht; da sie ihn nicht kennt, so hilft unser Schmol-
len nichts.“ (P.)
1309. W asser bei Schatten ist angenehm. Das Schmollen
ist angenehm bei Zärtlichen.
Wie Wasser, obgleich zum Leben durchaus nöthig, nur wenn es nicht in der Sonne
gestanden hat, mundet, so mundet auch das Schmollen, obgleich es zur Liebe nöthig ist,
nur bei wirklich Zärtlichen. (Das bist du aber nicht.)
1310. Dass du, mein Herz, dich mit Dem einigen
willst, der dich mit Schmollen verschmachten lässt, ist dein
Begehr >.
1 Dein Begehr ist die einzige Basis zur Wiedervereinigung; sie wird nicht gelingen.
— In diesem Sinne P.
132.
RAFFINIRTES SCHMOLLEN.
„Das ist: Die Gebieterin macht, obschon in (lein Gebieter eine Ur-
sache ries Schmollens nicht vorliegt, aus grosser Liebe eine winzige
Ursache ausfindig, schiebt sie ihm zu und schmollt.“ (P.)
Gebieterin:
„Nachdem der von einem feierlichen Umgänge heimgekehrte Gebieter gekommen ist,
spricht die Gebieterin.“ (P.)
1311. Alles, was Weibes-Wesen 1 hat, verschlingt ihn zu-
182
III. Von der Lust.
sammen mit Augen2; ich mag mich nicht an deinen Busen
schmiegen, Treuloser!
1 Ohne Frauentugend zu besitzen, — also jede lose Dirne. So P.
2 Alle Frauen blicken auf, wenn er durch den Ort hingeht.
„Der Gesellschafterin, die nach dein Weggänge des Gebieters daliergekommen. erzählt
die Gebieterin das beiin Zusammensein Vorgefallne.“ (P. i
1312. Während ich schmollend schwieg, niesst.' er, wohl
wissend, dass ich ihm ein „Magst du lang leben !“ zurufen
würde '.
1 ..Das Raffiniment liegt darin, dass sie das natürlicher Weise sich ergebende Xiessen
als ein absichtlich gemachtes nimmt.“ (P.
Gebieter:
,Üer Gebieter antwortet der Gesellschafterin, die das Schmollen der Gebieterin gemerkt
und gefragt hat: Was ist denn die Ursache, dass diess vorgeht, selbst während du mit
ihr vereinigt lebst ? “ (P.)
1313. Selbst, leg’ ich Guirlauden an, wird sie mir zür-
nen, sprechend: „Sie Einer zu zeigen, hast du sie angelegt.“
1314. „W ir lieben mehr als Alle.“ Als ich so sagte,
schmollte sie, sprechend: „Als Alle, als Alle“!1
i In dem Gedanken, dass wir grössere Liebe haben . als irgendwelche Liebespaare,
sprach ich: Wir lieben mehr als Alle! Sie aber dachte, ich wollte sagen: ..Deine Gesell-
schafterin denkt das nicht, wir besitzen zu dir mehr Liebe, als die vielen von dir werth-
gehaltnen Frauen“ und sprach dann ironisch?): ..Ja ja. Ihr habt mehr Liebe zu mir. als
Alle, als Alle.“ — So paraphrasirt P. iu der Worterklärung und lässt sich dann in der
Sinnerklärung so aus : ,.Xach der M inung der Gebieterin liegt in dem Pluralis der ersten
Person wi r lieben) eine Selbsterhebuug ; sie hat das, was ich aus grosser Liebe gesagt
habe, anders aufgefasst; eine andre Ursache (zum Schmollen) liegt nicht vor.“ — Natür-
licher Ariel: „Nous nous) adorons comme personne,“ ai-je dit ; alors eile a boude,
disant: ,, ( Yous m'adorez comme personne, comme personne! rinais pas seule).“ So
schon S. »
1315. Ich sprach: „In diesem Leben trenn’ ich mich
nimmer“. Gleich füllte mit Thränen sich ihr Aug.
..Denn sie schloss daraus, ich wollte mich in dem andern Leben von ihr
trennen.“ (P.)
1316. „Ich dacht’ au dich“, sprach ich. Da sprach sie:
„So hattet Ihr mich vergessen“, und mich nicht umfangend
tiel sie in s Schmollen
i ,,Sie legte mein Wort so aus, als hätte ich gesagt: Ich hatte dich einmal vergessen ;
dann aber dacht' ich wieder an dich.“ (P.)
1317. Als ich niesste, wünschte sie Glück, und weinte,
sieh anders besinnend: „Wer doch denkt an Euch, dass Ihr
jetzt niesst? “
132. Raflinirtes Schmollen. — 133. Schmollens - Freude. 183
1318. Auch als ich das Niesscn erstickte, weinte sie:
„Wollt Ihr vor mir der Euren Gedenken bergen?“
1319. Auch wenn ich sie begütigen will, zürnt sic, spre-
chend: „Ei, so macht Ihr’s mit Andern auch.“
1320. Selbst wenn ich still hinsitze, sinn’ und ansehe,
sie zürnt doch, sprechend: „An wen denkend, beschaut Ihr
Alles'?“
1 Indem Gedanken: ,,Tch kann nicht in allen Gliedern Einer gleichen , Ihr müsst
nach Maassgabc der einzelnen Glieder an Mehrere denken; die Alle inöcht’ ich gern
wissen, sagt sie mir doch ! 44 spricht sie : „An wen denkend, beschaut Ihr Alles (alle meine
Glieder)?44 So P.
133.
SCHMOLLENS - FREUDE.
„Das ist: Sowohl die Gebieterin, als der Gebieter freuet sich, als sol-
ches Schmollen die Versöhnungs - Freude erhöht hatte, jenes Sehmol-
lens als der Ursache zu dieser Erhöhung.“ (P.)
Gebieterin:
..»Sie antwortet der Gesellschafterin, die vernommen, dass die Gebieterin ohne Ursache
zürne, und dann gesagt hat: Warum zürnst du denn so? 44 (P.)
1321. Ist auch auf seiner Seite gar kein Versehn, die
Art, wie er liebt, kann zum Schmollen wohl führen
i ..Das »Schmollen erfolgt, weil sie den Gedanken nicht ertragen kann: Seine Liebe
ist unendlich süss; wie ich sie erlange, können sie am Ende auch Andere erlangen.44 (P.)
,,Die Gebieterin antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Da du auch ohne Schmol-
len seine Liehe geniesst. warum wirfst du sie weg und quälst dich mit Schmollen?44 (P.)
1322. Aus Schmollen spriesst nur ein sehr winzig Leid,
und doch wächst seine Gunst dadurch, selbst wenn sie welkte.
1323. Giebt’s eine Götterwelt neben dem Schmollen —
für Solche ', die so stehn, wie wenn das Wasser sich mit dem
Boden eint.
i Für Solche, die sich innerlichst zu einen fähig sind, denn „ das Wasser nimmt die
Natur des betreffenden Bodens an.“
„Sie antwortet der Gesellschafterin, die gesagt hat: Nun wodurch wird denn hinfort dein
Schmollen weichen?“ (P.)
1324. Mitten im Schmollen, das fest aneinander schmiegt,
giebt’s wohl eine Waffe die meinen Vorsatz bricht.
l Demüthiguug und linde Worte nämlich. (P.)
184
III. Von der Lust. — 133. Schmollens- Freude.
Gebieter:
..Der Gebieter, der die Gebieterin versöhnt hat, spricht bei sich als Einer, dem nun eine
um so grössere Wonne zu Tlieil geworden.*4 (P.)
1325. Hat man auch nichts versehn, der Geliebten weiche
Schulter hat grad’ im Weichen etwas gar Einziges.
1326. Süsser als Essen ist das Gegessne verdauen. In
der Lieb’ ist spröde thun süsser als selbst umfahen.
1327. Die beim Schmollen verloren, die haben gewonnen.
Das wird bei der Wiedervereinigung gar wohl erkannt '.
1 ,.Die Verlierenden sind diejenigen, die nicht oppouirend sich beugten. Weil diese
bei der Wiedervereinigung eine grosse Wonne erlangen , so sind sie die Gewin-
nenden.“ (P.)
1328. Werden wir wohl durch Schmollen wieder die
Würz’ erlangen, die jetzt aus Umfangen bei glühender Stirn
entsprang ?
1329. Möchte doch Die mit dem glänzenden Schmucke
schmollen, und die Nacht lang, lang sich dehnen, damit ich
recht flehen kann.
1330. Schmollen ist das Glück der Liebe; das Glück
des Schmollens, wenn man auf’s neu aneinander sich schmie-
gen darf.
TIKÜVALLUVEK’S LEBENS- GESCHICHTE.
A.
Das „Tiruva^uvar varaläru“ bei S.
Ein Brahmine des glorreichen Tschöla-Landes gab dem
Sohne, den ihm seine hehre Gattin geboren, den schönen
Namen Pakavan (sanse. Bagavän). Weil er aber durch das
Horoskop, das Charakter und Lebenstage genau angiebt,
herausgebracht, dass sich dieser sein Sohn mit einem Mäd-
chen aus niedriger Kaste verbinden werde, und er darüber
als über eine seiner Familie bevorstehende grosse Schmach
in schweren Kummer gerieth, so trennte er sich von der
schönäugigen Frau und dem zarten Söhnlein und begab sich
auf eine Pilgerfahrt nach dem h. Ganges. Der Sohn studirte
in aller Regel die h. Schriften und erreichte, im Besitz des
unvergänglichen Gutes wissenschaftlichen Verständnisses, das
Alter von dreimal fünf Jahren. Da fragt er betrübten Sinnes
die Mutter, warum sich sein Vater von ihr getrennt, und
bricht dann ungeduldig nach dem Nordland auf. Auf dem
Wege dahin tritt ihm ein Mädchen von niedriger Herkunft,
Ati (sprich: Äthi 1 aus Karuvür, von seltner Schöne, wie
eine goldne Schlingpflanze, entgegen. Sein Sinn verwirrt
sich; er giebt sich unter süssen Worten der neuen Wonne
hin. Dann aber sich besinnend spricht er: „Solch Thun ge-
i Das th in Athi ist in englischer Weise ausznsprechen.
186
Tiruvalluver's Lebens-Geschichte.
ziemt mir nicht,“ und flieht. Sie, die Keusche wahrhaftigen
Thuns, folgt ihm auf dem Fusse. Da zornig ergreift er einen
Stein, wirft ihr damit eine Wund’ in die Stirn, und verjagt sie.
Darauf enteilend besucht er alle Orte an des heiligen Ganges
Ufer, findet aber seinen Vater nicht, und kehrt voll Kummer
in sein Vaterland um. Zur Nachtzeit kommt er in ein öffent-
liches Ruhehaus. Da sieht ihn Äti, welche, die Trennung von
ihm nicht auszuhalten im Stande, niedergeschlagnen Sinns
Tag und Nacht allenthalben umhergesucht, und verehrt ihn
fussfällig. Der erhabne Brahmine gewahrt die Narbe an der
Stirn, und es wird ihm klar, dass das eben das Weib, dem er
vormals zürnte. Erfragt: „Warum bist du gekommen?“ Sie
antwortet: „Getrennt von dir, kann ich nicht leben.“ Da
spricht er: „Wohlan, wenn du im Stande bist, alle Kinder,
wo sie geboren werden, zu lassen und mir festen Entschhrsses
zu folgen, so komm ! “
Ati stimmte bei, und während sie nun so die Welt durch-
zogen, wurden ihr nacheinander sieben Kinder geboren; zwei-
mal zwei hochgepriesene Mädchen: Uppei, Auvei, UVuvei,
Va?/i, und drei Knaben: der hochedle Atikamän (sprich:
Athichamän), Kapilar (spr. Kapiler) und (Tiru-) VaVGivar.
Jedes wuchs an dem Orte seiner Geburt auf: Va//uvar in
Majiläpur (jetzt St. Thome bei Madras) mit wolkendunkeln
Hainen. Dort lernte er, weil in ihm der drei Götter einer,
der viergesichtige Brahma, Mensch geworden, die alten hei-
ligen Bücher, die übrigen Wissenschaften des ..Drei- Tamul“
(„das prosaische } das poetische und das dramatische“) und
die ganze Welt fehllos kennen, wurde ein ausgezeichneter
Lehrer in göttlicher Wissenschaft, strich sich die heilige
Asche (das Abzeichen der Sivaiten) an die Stirn, sprach die
fünf heiligen Silben (na ma si vä ja „Preis sei dem Siva!“),
legte das göttliche Lingam an, kasteiete sich, heirathete dann
die tugendstrahlende Väsuki (sprich Väsuchi) aus dem Ge-
schlecht der hochherrlichen Ackerbauer, Hess sich nieder,
übernahm die Hebung der Haustugend zur Bewunderung
aller Busser, und fasste endlich alles Herrliche in den edlen,
köstlichen, prächtigen Werken, denen die zweimal zwei Vedas
B. Nach dem „TiruvaHuvar Sarittiram“ bei V.
187
zum Ausgangspunkte dienen, unter die drei Abtheilungen:
Tugend, Gut und Lust, in hochtamulischen Kura/- Versen zu-
sammen, und zwar so, dass die Tamulsprache sagte: „Hin-
fort kommt keine andre über mich!“ — die ältere grosse
Nordsprache (Sanscrit) in Neid entbrannte, — die verschied-
nen unter sieh im Streit liegenden Secten, von Bewunderung
hingerissen und das Werk verehrungsvoll auf ihr Haupt
legend, in die lobenden Worte: „Das ist das Rechte!“ aus-
brachen, — die Weisen den Freudenruf erhoben: „Dieses
einzige Werk wahrlich genügt für dieses und jenes Leben, so
wie für die endliche Erlösung!“ — die stolzen Akademiker
(von Madura) aber, die sich rühmten: „Keiner wie wir!“
diese ihre Ruhmredigkeit fahren Hessen. Durch dieses eine
Werk denn gelangten die Lebenden zur vollen Weisheit,
indem sich darin aller Sinn zusammenscbliesst.
B.
Nach dem „Tiruva/Zuvar Sarittiram“ bei V.
Der grosse Säkaran (sansc. Sägara = Meer), Sohn des
Agastja (Vaters der tamulischen Sprache und Literatur in der
Sage) erzeugte mit einer Puleissi (sprich: Puleitschi) — d. i.
einer Frau von sehr niedriger Geburt — • aus Tiruvärür den
Pakavan und Hess ihn alle Wissenschaften lehren. Um j ene Zeit
hatte sich auch ein gewisser Tapamuni, aus dem Geschlechte
Brahmä’s, mit einem Brahminenmädchen, Arumnankei („ Weib
der Huld“), vereinigt, eine Tochter gezeugt und war, sie aus-
setzend, nach Virälimalei (Hauptort eines zu Puducottah
gehörigen Districtes?) gegangen, um dort Buss Übungen vor-
zunehmen. Der „Grosspariah“ von Ureijflr (der „Stadt des
Tschöla-Königs“?) nahm das Kind auf und erzog es eine Zeit
lang, als ein Sandregen, man weiss nicht wie, auf jenes
Dorf fiel, so dass, dieses Mädchen ausgenommen, Alle starben.
Darauf wurde es in dem benachbarten Melür im Hause des
Nltijeijan auferzogen.
188
Tirnvalluver’s Lebens-Geschichtp.
Den Pakavan trieb es nach Vollendung seiner brahrni-
nisehen Studien nach Benares. Er kelu-te in einem Rasthause
bei Melür ein. Dorthin kam das junge Mädchen. Er hatte
eben die übliche Andacht vollendet und war nun dabei sich
eine Mahlzeit zuzurichten. Der h. Mann, der in dem Mädchen
eine verunreinigende Pariah sah, wurde bei ihrer Annäherung
Feuer und Flamme, dass er sich nun noch einmal zu baden
hatte, und warf ihr den Löffel an den Kopf, dass das Blut
spritzte. Weinend zog sich die Arme zurück.
Pakavan wusch sich noch einmal, richtete sein Essen zu
und eilte nach Benares. Dort badete er pflichtmässig in der
heiligen Cfanga, und schöpfte, wo sich dieselbe mit der Ja-
muna eint — also an der heiligsten Stelle — Wasser in zwei
Gelasse, die er, nach Weise der Benares - Pilger, an den
beiden Enden einer über die Schulter gelegten Bambustange be-
festigte, um sie nach Raines seram, „dem südlichen Benares“,
den dortigen Göttern zu einem angenehmen und heilsamen
Bade, zu tragen. Das Schicksal wollte, dass er auf der
Rückreise abermals in dem Rasthause zu Melür einkehrte.
Da trat ihm die früher Gemisshandelte in der vollen Schön-
heit der Lakschmi entgegen; sein stolzes Herz erlag. Er
eilte mit seinem h. Wasser nach Ramesseram und kehrte flugs
wieder um, die Geliebte zu freien. Vier Tage lang hatte Ni-
tijeijan mit den Verwandten bereits der Verrichtung der vor-
bereitenden Ceremonien obgelegen ; am fünften sollte sic nun
das „Hochzeitsbad“ nehmen; da sah Pakavan, als er ihr zur
Salbung das Haar theilte, die Narbe einer Kopfwunde, und
erkannte sie als die früher von ihm Gemisshandelte. „Du
bist ja wohl die von früher?“ (Äti1, sansc. Ädi) rief er
und floh.
Seinem Schicksal entfloh er nicht. Die Verstossene eilte
ihm nach und ereilte ihn in einem Ma«iapam — einer Art Säu-
lenhalle, in die man zur Zeit festlichen Umzugs die Götter zu
t Daher soll ihr Name ,.Ati ‘ (..Anfang“) kommen. — Ariel : ., TiruvaMuvar com-
mence sesKuraf par un distique oir il emploie, pour designerl'etre supreine, le compose
Adibägavän qui reproduit les noms de sa mfere et de son p&re.“
13. Nach dem „TiravaHuv&r Sarittiram“ bei V.
189
setzen pHegt, die aber auch den Reisenden als Herberge zu
Gebote steht. „Da dir undmirdiess alles nach göttlicher Ver-
anstaltung begegnet, ziemt’s sich für dich, dass du mich
verlassest? Ich kann ohne dich nicht leben.“ So jammerte
sie ihn tiefbewegt an, und er, vom Geschick selbst dazu ge-
neigt, antwortete: „Weib, wenn du dich entschliessen kannst,
deine Kinder zu lassen wo sie geboren werden, so will ich
dich freien. “ Äti stimmte zu und wurde die Mutter von vier
Mädchen: Auvei, Uppei, Uruvei, VaAi, und von drei Knaben:
Atikamän, Kapilar, Tiruva//uvar. Sie Hess, ihrem Verspre-
chen gemäss, jedes derselben an dem Ort wo es geboren
wurde, und diese selbst trösteten, jedes mit einer wohlge-
setzten Strophe, die trauernde Mutter.
U pp e i sagte : 1 Der im undurchsichtigen Dickicht selbst
den rauhen Dornbusch mit Wasser speist, der wird auch uns,
den Andächtigen, unser Theil zumessen. Das ist ja das
Geschäft des Gottes, dess eine Hälfte Weib ist. (Siva, als
Mannweib.)
Auvei sagte: Lebt zur Erhaltung alles Lebens ein Herr,
oder nicht? Bin ich nicht auch ein Theil jenes Lebens? O
Mutter, warum jammerst du umher, mich immer wieder auf-
nehmend, dich immer wieder nahend? Was kommen soll,
kommt.
Uruvei sagte: Wie die Mutter speist, so speist das Leben
in des Embryo' s störriger Hülle. Dass aus dem Ei ein Leben
hervorlebt — ein Wunder ist s! Umherjammernde Mutter, an-
schauend den Bestand in Siva’s Wesen, halt Stand!
Va lli sagte: Der sonst in dem Leib der Mutter nährte,
nährt der nicht mehr, Mutter? — der Gott, der sich mit der
blitzenden Schlange gürtet, der Golt, der in dem Ende der
Vedas webt und spielt.
Atikamän sagte: Der nach seinem Wohlgefallen auf
mein Haupt meinen Gang verzeichnet hat — Siva — ist der
1 Ich folge bei der Wiedergabe der sieben Verse — auch in Bezug auf ihre Ver-
theilung an die sieben Geschwister — dem sogenannten „Siebengesang“ in dem von Ve-
takirimutaliär horausgegebonen , .Kapilar akaval.“
190
Tiruvalluver's Lebens-Geschichte.
gestorben? Lass Hunger daherstossen — seine Sorge ist’s.
Mutter, Herz, fürchte nicht!
Tiruva^/uvar sagte: Der im Ei dem Embryo, im Stein
dem Frosch mit Freuden Nektar reicht, der Wahrhaftige,
wird der, wenn das Leben ausgeboren ist, nicht nähren? Höre,
Mutter, was welkst du hin ? Jauchze auf!
Kapilar sagte: Der von der Empfängniss an bis heute
vor aller Noth behütete und mit dem Wasser Speise reichte,
hat der sich weggestohlen? Hat der sein Aug’ zum Schlaf
geschlossen? Ist der wie dein Herz? Mutter, sprich!
Wir lassen jetzt die übrigen sechs Brüder und Schwe-
stern 1 beiseit und folgen der Sage über den Lebensgang des
Tiruva^/uvar, der in einem Haine von Oelfruchtbäumen bei
Majiläpur geboren wurde. Unter einem derselben, nahe bei
einem Sivatempel, lag das Kind; der von den Blüthen des
Baumes herabträufelnde Honig nährte es. War es doch
Brahma selbst, der in dem Kinde zur Welt gekommen; was
Wunder, dass es mij der heiligen Haarlocke, der Opferschnur
und den vier Vedas ohne alle Mühe aufwuehs!
Es traf sich, dass eben bei jenem Sivatempel die kinder-
lose Frau eines hochangesehenen Vc/ä/an aus dem „Ganges-
Geschleclite“ sich zu kasteien pflegte, um dem Himmel die
Gabe eines Kindes abzuringen. Die erbarmungsvolle Göttin
hiess sie das Kind auf- und annehmen und ihm den Namen
Tiruva^uvar2 beilegen, den es vordem führte, da es als
Brahma, der Zukunft kundig, in einem ausgehöhlten Kürbiss
auf der „grossen Fluth“ daherschwamm, und von Siva die
verwüstete Welt wieder herzustellen beauftragt wurde.
Der alte Yr7ä/an war hocherfreut über den wunderbaren
Findling. Als aber die Verwandten, die in Indien eine grosse
Rolle spielen, darüber spotteten, so hing er die Schaukel, die
1 Auvei wuchs in einem Saitenspielerdorfe auf; Uppei in Urrukättu in Tonteinäiu
bei Leuten von der Wäscherkaste; Atikamänin Karuvür bei dem Tschera-Fürsten ; Uru-
vei in Käveripa«anam bei Teddy Verkäufern ; Kapilar in Tiruvärür bei einem Ti rahm inen ;
Vaiii im Gebirge bei Kuravar's.
2 VaWuvar heisst der Pariahpriestcr, der sich auch mit Wahrsagen beschäftigt.
Tiro heisst heilig.
B. Nach dem „TiruvaWuvar Sarittiram“ bei V.
191
bei den Tamulen die Stelle unsrer Wiege vertritt, in einem
Schuppen auf, und liess das verachtete Kind mit dem Vieh
zusammen von dem Gesinde erziehen. Da aber regte sich
der Gott in dem Kinde ; es verliess das Haus seiner Pflege-
Eltern und schlug seine Wohnung unter einer Palmyra in der
Nähe des Dorfes auf. Nie wich der Schatten von dem Kusse
der freundlichen Palme, so dass die Vorübergehenden nicht
wussten, ob sie aus dem Kinde einen Gott oder einen Muni
(einen Heiligen) zu machen hätten.
Bald aber brach der junge TiruvaWuvar nach dem Ge-
birgeauf, woTirumülar, Pökar und andere „Vollendete und
Grossbiisser“ sich beschaulicher Askese widmeten, denn er
konnte es nicht länger tragen, dass ihn die Leute priesen,
ohne dass er auf dem Wege der Biissung sich zur wohlver-
dienten Herrlichkeit einporgesehwungon. Dort forderte man
ihn auf, der Welt zum Heil über die drei Strebeziele der
Menschen, „Tugend, Gut und Lust“ in tamulischer Sprache
zu schreiben. Tiruva//uvar begnügte sich daher nicht mit
der Askese, sondern ergab sich daneben auch dem eifrigsten
Studium. Er wurde aber unterbrochen. Um jene Zeit näm-
lich verwüstete ein Spukgeist alle Felder und erwürgte alles
Vieh in To/;teima/<talam. Märkkasakäjan aus Käveripäk-
kam, ein reicher Vc/ä/an, der mit tausend Joch Ochsen pflügte,
setzte demjenigen einen Preis aus, der den Dämon bannen
würde; aber obgleich er unter anderrn ein ganzes Dorf bot,
es fand sich niemand. Er wandte sich daher an die hei-
ligen Männer auf dem Biisser-Berge, und diese wiesen ihn an
Tiruva^uvar. Der Dichter-Asket, „allem Leben hold,“ ging
auf die Bitte des Grundbesitzers ein. Mit Hülfe der heiligen
Asche, die jeder fromme Sivakneeht an seine Stirn streicht,
und der heiligen fünf Sylben „Namasiväja“ bezwang er
ohne weiteres den Dämon, und nun bot ihm der Uebergltick-
liehe zu allem auch seine liebe Tochter V äsuki zum Weibe.
Der strenge Biisser bedachte sich. „Gut“, sprach er bei sich
selbst, „man sollte wohl der Welt zeigen Avie die Haustugend
zu üben ist.“ Er wollte sich aber zuvor überzeugen, ob seine
Zukünftige auch den Haushalt wohl verstünde, und verlangte
192
Tiruvalluver’s Lebens - Geschichte.
in dieser Beziehung eine in jedem Sinne harte Trohe : er gab
ihr nämlich Sand, und sie sollte ihm daraus Reis zurichten.
Väsuki, die weibliche Einfalt selber, unterzog sich dieser
Probe ohne alles Bedenken — der heilige Mann konnte ja
nichts V idersinniges fordern — und siehe da, es gelang der
Gehorsamen, die in ihrem künftigen Mann ihren Gott sah:
denn, wie TiruvaZZuvar sagt: „Es regnet, wenn es regne! Die
spricht, die, nicht die Gottheit, nein den Gemahl anbetend,
sich vom Lager hebt.“ (Vers 55).
Der h. Mann war zufrieden und heirathete das wackre
Mädchen. Was aber nun anfangen? Wollte er der Welt ein
Beispiel geben, so musste er sich von seiner Hände Arbeit
nähren- Er wählte dazu das Weberhandwerk als das un-
schuldigste, und liess sich in Majiläpur nieder. Der Kauf-
mann Elelasinkan lieferte ihm die Baumwolle.
Elelasinkan war ein frommer Verehrer Sivas und warf
sich eines Tages vor dem „Faden leckenden, Faden knüpf-
enden Philosophen“ nieder: 0 Herr, ihr müsst mich aus dem
Ocean des Weltelendes an das Ufer der Erlösung hinüber
retten ! Damit machte er den weisen Weber zu seinem geist-
lichen Führer. Dieser wollte nun Dessen und noch einiger
andern Jünger philosophische Iveife prüfen, und begab sich
zu diesem Zweck eines Tages in einen Wald mit ihnen. Er
liess eineFluth daher brausen, und forderte sie auf, ihm ohne
weiteres an das andere Ufer zu folgen. Alle standen und
stutzten — nur Elelasinkan schritt kühn hinter dem Meister
her, und siehe da, die Flutli wich. TiruvaZZuvar hiess ihn
nun einen hohen Baum besteigen und sich herunterstürzen.
Nachdem er auch diese Probe bestanden, nahm der hoch-
erfreute Lehrer das liebe Kind auf den Schooss, weihete es
in die tiefsten Geheimnisse der Weisheit ein und stählte es
gegen die Reize der Sinnlichkeit.
Ich übergehe die Wunder alle, die nun TiruvaZZuvar nach-
einander that, zumal es nicht klar ist, ob und wieviel der
neuere Commentator zum Kural, dessen erste Herausgabe
seitens der Eingebornen in Madras die Tendenz hatte, den
Christen durch die vermeintliche Christlichkeit desselben zu
B. Nach dem „TiruvaHuvar Sarittiram“ bei V.
193
imponiren, zu der alten Ueberlieferung hinzugethan, um seinen
„göttlichen“ Dichter den Christen gegenüber aufzustutzen.
Scheinen doch schon die beiden vorerwähnten Wunder nach
einem Griff in Matthäus 14, 28 — 31, und 4, 5 — 6 zu schmecken,
während das Manöver mit dem Sande an Johannes 2, 1 — 11
erinnern könnte. Nachher kommen gar „sieben unfruchtbare“
Jahre, während welcher der Reisvorrath des Elelasinkan, ob-
gleich er gehäuften Maasses an alle Welt um den Kaufpreis
verkauft, nicht ausgeht, sondern vielmehr „berghoch“ wächst.
Doch ich muss die Sache, die einer besondern Untersuchung
bedarf, hier liegen lassen. Sie ist übrigens nicht ohne Be-
deutung für die Beantwortung der in neuerer Zeit viel be-
regten Frage, ob und in wie weit christliche Einflüsse auf die
Sagenbildung in Ostindien eingewirkt haben.
Von Afakänantan, dem Adoptivsohn des Elelasinkan,
und andern bedeutenden Männern aufs neue dazu aufgefor-
dert, verfasste nun TiruvaZZuvar sein grosses Lehrgedicht,
und zog dann auf Anrathen derselben Freunde nach Madura,
dem tamulischen Athen, um damit den Stolz der dortigen
Akademiker zu demüthigen. Auf dem Wege dahin schloss
sich seine Schwester Auvei an. Er forderte dazu auch Deik-
kätar in IteikkaZ’inäfti auf: „Siva hat geschworen, er wolle
Narklran und die übrigen Akademiker, die ihn verachtet,
durch Euch und durch mich zu Grunde richten ; wohlan ich
gehe mit!“ sprach Ueikkä/ar. Dass die Sage auch ihn mit-
ziehen lässt, hat vielleicht seinen Grund darin, dass man ihm
unter königlichem Einfluss einen Ehrensitz auf der berühmten
akademischen Bank verweigert hatte. Auf eine solche That-
sache wenigstens scheint die Erzählung des „Maturei Stalla
Puränam“ hinzudeuten, dass Siva dem Ifeikkätar zu Liebe
seine Statue aus dem Tempel zu Madura verschwinden liess,
weil der König, auch selbst Akademiker, ein dichterisches
Erzeugniss seines Lobredners nicht gehörig beachtet hatte.
In Madura angekommen, begab sich TiruvaZZuvar „in die
Gegenwart des Gottes“, d. i. in den Tempel, vor die ver-
sammelten Akademiker, den König und seine Minister. Wie
. „wenn in eine Schafheerde der Tiger bricht, wie wenn der
III. 13
194
Tiruvalluver's Lebens - Geschichte.
schlangenfeindliche GarurZa sich auf einen Haufen Schlangen
stürzt, wie wenn der Leu auf einen Trupp Elephanten stösst,
wie wenn in einem Bambuswalde die Flamme fasst“ — so
trat er daher, und den hochberühmten Akademikern verwirrte
sich der Sinn, sank der Muth, brach der Stolz, als er nun
seinen Kural vortrug und auf die ihm vorgelegten heikein
Fragen ingesammt auf der Stelle in hochtamulischen Versen
antwortete.
„TiruvaZZuvar!“ so Hessen sich die in die Enge getrie-
benen Professoren vernehmen, „der Annahme deines Kurais
steht nur noch Ein Bedenken entgegen. Die Bank, auf der
wir sitzen, macht von selber Platz, wenn sie mit einem Werke
in classischem Hochtamul in Berührung kommt. Nimmt sie
ihn an, so stimmen wir alle bei.“ Da legte TiruvaZZuvar
seinen Kural auf die Bank und siehe, sie schrumpfte auf
das Maass des Buches zusammen, so dass sämmtliehe Aka-
demiker in den „goldnen Lotusteich“ dahinter stürzten — zur
unendlichen Freude des zuschauenden Publicums. Man er-
goss sich in Lobeserhebungen TiruvaZZuvar’s, und selbst die
gedemüthigten Akademiker mussten zum bösen Spiel eine
gute Miene machen. Nachdem sie in grosser Verwirrung aus
dem unfreiwilligen Bade herausgestiegen, priesen sie den
glücklichen Dichter in begeisterten Strophen.1
Majiläpur empfing den Gefeierten bei seiner Rückkehr
mit grossen Ehren. Der Ruhm des armen Webers erscholl
weit und breit im Lande. Von seinem Rufe angelockt, kam
einst ein bedeutender Mann zu ihm mit der Frage: „Was ist
besser, Haus- oder Busstugend?“ Grosse Meister unter den
Hindus sind ganz besonders „langsam zum Reden“; sie lassen
ihre Jünger oft Jahre lang schreien, bis sie ihnen „die Brüste
der Weisheit“ reichen. Jener Mann beugte sich viele Tage
lang immer und immer wieder vor dem weisen Dichter mit
der Bitte um lmldsamen Bescheid; umsonst, TiruvaZZuvar er-
wiederte auch nicht Ein Wörtlein Endlich erbarmte er sich
1 Bekannt unter dem Namen ,, TiruvaJ/uva malei “ (Guirlande T ); abgedruckt
in den Ausgaben des Kural von S. und V.
B. Nach dem „Tiruva/Juvar Sarittiram“ bei V.
195
und gab ihm Antwort durch die That. Der Dichter rief seine
Frau gerade in dem Augenblick wo sie am Brunnen war; die
Gehorsame liess das Wassergefäss auf halbem Weg im Brun-
nen hängen, und stürzte herbei um die Befehle ihres Herrn
und Gemahls entgegenzunehmen. Ein andermal sprach
er, als sie ihm, der tamulischen Sitte gemäss, kalten Reis vom
vorigen Abend zum Frühstück hinsetzte: „Frau, das brennt
mir ja auf der Zunge“; sogleich blies die wackre Frau mit
vollen Backen darein. Ein drittesmal entglitt ihm am vollen
Mittag — und die Mittagssonne in Indien macht auch die ge-
wöhnlich mit Bäumen bepflanzten Weberstrassen ziemlich hell
— während er am Webstuhl sass, etwas aus der Hand; er
rief nach einem Licht um es aufzuheben, und siehe da, die
Allergehorsamste brachte eine Lampe, dem Augenschein
zum Trotz. Damit war dem Jünger selbst ein Licht aufge-
gangen. „Ich habe meine Antwort: Fällt einem ein so treff-
liches Weib zu, so ist die Uebung der Haustugend vorzüg-
licher; wo nicht, so werde man lieber Einsiedler.“ So sprach
er bei sich selbst und zog, ohne den Meister mit weitern
Fragen zu behelligen, seines Weges.
Als die wackere Väsuki ihren Tod nahen fühlte, fasste
sie sich ein Herz, ihren strengen Gemahl um Aufklärung
über einen dunkeln Punkt zu bitten, der, von dem ersten Tag
ihrer Verheirathung an, ihrem Witze getrotzt hatte. „Als ich
Euch, mein Herr, zur Zeit unsrer Verheirathung das erstemal
Reis zurichtete, gebotet Ihr mir stets ein Gefässlein mit
W asser nebst Nadel dabei zu setzen; warum doch gebotet
Ihr mir solches?“ Darauf antwortete der grundgütige Ehe-
herr: „Liebe, um damit das Reis, das beifallen möchte, auf-
zuheben und zu reinigen“; und sogleich starb die treue Gattin
befriedigten Herzens. Sie hatte demnach ihren Gatten nie
ein Körnlein Reis verschütten sehen.
Tiruva//uvar aber sang aus tiefbewegter Seele: „Die du
süsser als das tägliche Reis bist! Liebevolle! Frau, die auch
in keinem Worte fehlte! Weib, das, denFuss sanft streichend,
nach mir sich zur Ruh begab, und vor mir aufstand! Du
gehst? Wie soll mein Aug bei Nacht sich je wieder schliessen?“
196
Tiruvalluvers Lebens- Geschichte.
Als endlich der Dichter selbst aus dieser Welt ging,
schleifte sein Herzensschüler, Elelasinkan, strengster Weisung
zufolge, den Leichnam des geliebten Lehrers zur Stadt hinaus,
und legte ihn dort in ein stilles Gebüsch. Da kamen die
Haben — und o Wunder — sobald sie von dem Fleische des
göttlichen Dichters genossen hatten, wurden sie zu Gold.
LEIPZIG
DRUCK VON GIESECKE i DEVR1ENT.
17192TB 192-,
10-02-03 32180 MS W