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Full text of "Der Kural des Tiruvalluver : ein gnomisches gedicht uber die drei strebeziele des menschen /"

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THEOLOGICmL  ...  .-INARYl 


PL  4758.9  . T5  G73  1856 
Graul,  Karl,  1814-1864. 

Der  Kural  des  Tiruvalluver 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2016 


https://archive.org/details/derkuraldestiruvOOgrau 


(9eki4.  (£«r$ 


BIBLIOT HEC A TAMULICA 

SIVE 

OPERA  PRAECIPUA  TAMULIENSIUM 


EDITA 

TRANS  LATA  ADNOTATIüNIBÜS  GLOSSARIISQUE 
INSTRUCTA 


CAROLO  GRAUL,  D,{  TH. 


TOMUS  TERTIUS: 

TIKUVALLUVERI CURAL , 

IE  SERMONEM  GERMANICUM  TRANSLATUM  ATQUE  EXPLICATl  M. 


LIPSIAE  1856  LONDIN1  1856 


DORFFL1NG  & FRANKE. 


WILLIAMS  & NOKGATE. 


\rü.-VQ\\ u.v/d.r. 


DER  KURAL 

DES 

T I E U Y ALL  1'  V E E. 


EIN  GN0M1S0HES  GEDICHT 

ÜBER 


DIE  DKEI  STKEEEZ1ELE  DES  MENSCHEN. 


ÜBERSETZUNG  UND  ERKLÄRUNG 


VON 


KARL  GRAUL,  L)K  TH., 

DIRBCTOR  DER  EV ANGEL, -LUTHER.  MISSION  ZU  LEIPZIG,  MITGLIED  DER  DEUTSCHEN 
M OBOENLÄNDISCH  EN  UND  DER  HISTORISCH  - THEOLOGISCHEN  GESELLSCHAFT. 

LI2RARY  Or  PR1MCETON 


THEOLOGICAL  SEMINARY 


LEIPZIG  1856  LONDON  1856 


DORFF  LIN G & FRANKE. 


WILLIAMS  & NORGATE. 


DER  HOCHWÜRDIGEN 


THEOLOGISCHEN  FAOULTÄT 


ERLANGEN. 


Wenn  ich  Ihnen,  Hochwürdige  Herren,  zu  einem  öffent- 
lichen Zeichen  meines  Dankes  für  die  mir  ehrenhalber  er- 
theilte  theologische  Doctonvürde  gerade  dieses  Buch  zu 
widmen  mir  erlaube,  so  muss  ich  meine  Rechtfertigung 
hauptsächlich  darin  suchen,  dass  dasselbe  der  evangelisch- 
lutherischen Mission,  die  ihre  ältesten  und  wärmsten  Freunde 
in  Ihrer  Mitte  weiss,  dienen  will,  und  von  dieser  Seite  her 
eine  gewisse  Beziehung  zur  praktischen  Theologie,  wozu  die 
Missionssache  jedenfalls  mitgehört,  wohl  beanspruchen  darf. 
Ich  bin  aber  Ihrer  gütigen  Nachsicht  um  so  gewisser,  als  ich 
ganz  bestimmt  weiss,  dass  Sie  mein  Streben,  den  christlichen 
Sendboten  im  Tamulenlande,  dem  alten  Missions  - Gebiete 
unsrer  Kirche,  in  das  Studium  der  von  ihm  zu  bekämpfenden 
heidnischen  Literatur  einzuführen,  für  eine  Aufgabe  halten, 
welche  der  Kraft  eines  Theologen  wohl  werth  ist. 

Von  den  fünf  Theologen,  die  sich  gegenwärtig  in  den 
für  den  ostindischen  Missionsdienst  erforderlichen  Sprachen 
und  Wissenschaften  unter  meiner  Leitung  orientiren,  sind 
auch  zwei  von  Ihnen,  Hochwürdige  Herren,  gebildete  jimge 


Männer  aus  dem  lieben  Baiern.  Ich  freue  mich  dieser  leben- 
digen Beziehung  zu  Ihnen  in  meinem  Amte,  und  wünsche  von 
Herzen,  dass  sie  sich  in  ähnlicher  Weise  noch  oft  erneuern 
möge!  Sie  sind  ja  mit  mir  einig,  dass  des  Herrn  Missions- 
Ruf  „Wer  will  unser  Bote  sein?“  zu  allererst  den  Männern 
gilt,  die  sieh  bereits  zum  Dienste  für  seine  Kirche  gestellt 
haben.  Möge  es  Ihnen  mit  Gottes  Hiüfe  gelingen,  noch  recht 
vielen  Ihrer  Schüler  das  Ohr  für  diesen  Ruf  zu  wecken!  Ein 
für  den  Dienst  der  Kirche  im  Heidenlande  gewonnener  und 
nach  Kopf  und  Herzen  wohl  zubereiteter  junger  Gottes- 
gelehrter ist  wahrlich  nicht  der  dunkelste  Stein  in  der  Krone 
eines  akademischen  Lehrers  der  Theologie. 

Mögen  Sie  Alle  je  und  je  „mit  viel  Segen  geschmückt 
werden  “ ! 

Leipzig,  im  Juni  1856. 

Dr.  Graul. 


VORWORT. 


Wie  ich  im  Vorwort  zum  ersten  Bande  meiner  „Biblio- 
theca  Tamulica“  versprochen,  übergebe  ich  hier  in  dem 
dritten  Bande  derselben  „den  Edelstein  der  gesammten  tamu- 
lischen  Literatur“,  den  Kural,*  in’s  Deutsche  i'ibei’setzt  und 
erklärt  dem  Publicum. 

Der  Verfasser  des  Kuralist  Tiruvalluver.**  Uebersein 
Zeitalter  schon  jetzt  etwas  Bestimmtes  sagen  zu  wollen,  wäre 
Vermessenheit.  Wir  werden  aber  schwerlich  irren,  wenn  wir 
ihn  nicht  vor  200  und  nicht  nach  800  der  christlichen  Zeit- 
rechnung setzen.  Tiruvalluvers  Lebensumstände  sind  in  das 
Dunkel  der  Sage  gehüllt.  Ich  habe  am  Ende  dieses  Bandes 
seine  sagenhafte  Lebens -Geschichte  in  zwei  Gestalten  mit- 
getheilt.  Die  Quintessenz  geschichtlicher  Wahrheit  darin 
dürfte  die  sein:  Er  stammte  aus  einer  sehr  verachteten 

Kaste,  überflügelte  aber  durch  sein  classisches  Gedicht,  in 
welchem  sich  der  tamulische  Volksgeist  mit  unvergleichlicher 
Treue  in  poetischer  Verklärung  spiegelt,  den  Ruhm  der  stolzen 
Akademiker  von  Madura,  die,  in  späterer  Zeit,  über  die  San- 
scritliteratur  den  Anbau  der  Volkssprache  vernachlässigt  zu 
haben  scheinen.  Alles  deutet  daraufhin,  dass  Tiruvalluver 
als  der  Schöpfer  einer  neuen  Literaturperiode  für  das  Tamu- 
lische zu  betrachten  ist.*** 

Ariel  thut  dem  tamulischen  Dichter  die  Ehre  an,  in  ihm 
einen  Monotheisten  von  achtem  Korn  zu  erkennen.  (Journal 

* Genau:  KuraZ. 

**  Genau  TiruvaZZuvar. 

***  Vergleiche  „Historical  sketch  of  the  Kingcloin  of  Pamlya“  by  H.  H.  Wilson 
Journal  of  the  Royal  Asiat.  Soc.  vol.  III.,  1836.) 

** 


XII 


VORWORT. 


Asiatique,  Juil.  — Dec.,  1848.)  Er  beruft  sich  dabei  haupt- 
sächlich auf  die  Ausdrücke,  womit  Tiruvalluver  die  Gottheit 
bezeichnet.  Allein  diese  Ausdrücke  (V.  1,  2’,  3,  6,  8,  9)  sind 
vielmehr  buddhistisch  — oder  genauer  djainaitiseh  — , wie 
die  alten  elassischen  Wörterbücher  der  Tamulen  ausweisen, 
und  die  Commentatoren  zum  Theil  selbst  andeuten.  (Vergl. 
Anm.  2 zu  V.  3). 

Wutke  sagt  in  seinem  trefflichen  Werke  „Geschichte  des 
Heidenthums  “ (H,  236):  „Die  spätere  Umgestaltung  der  Phi- 
losophie entfernte  sich,  zum  Theil  durch  fremdartigen  Ein- 
fluss, immer  mehr  von  den  Veden;  der  Monotheismus  der 
Muhamedaner.  und  wahrscheinlich  früher  schon  der  Christen, 
wirkte  vielfach  ein,  und  ein  seichter  Deismus  trat  bisweilen 
an  die  Stelle  der  indischen  Einheitslehre.  Zu  diesen  Fäl- 
schungen und  Ausartungen  der  altindischen  Lehre,  von  denen 
manche  Forscher  irre  geleitet  wurden,  wo  nicht  gar  zu  den 
in  diesem  Gebiete  mehrfach  vorgekommenen  literarischen 
Betrügereien,  gehört  der  Kural  des  Tiruvalluver,  ein  Werk, 
welches  die  Kasten  verwirft  und  einen  strengen  Monotheis- 
mus lehrt/' 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  Muhamedanismus 
und  Christenthum  auf  das  Hinduthum  eingewirkt  haben; 
die  Frage  ist  nur,  seit  wann  und  in  welchem  Maasse.  Im  Ku- 
ral aber  lässt  sich  eine  solche  Einwirkung ^nit  nickten  nacli- 
weisen;  man  müsste  denn  einzelne  Ausdrücke**  und  Senten- 
zen, die  an  biblische  erinnern,  für  Beweise  nehmen.  Dann  aber 
würde  auch  die  classiscke  Literatur  der  Griechen  vor  Christo 
mancherlei  Spuren  christlichen  Einflusses  aufzuweisen  haben ! 
Man  hüte  sich  vor  Beweisen,  die  zu  viel  beweisen.  Dass  aber 

f 

* Der  Ausdruck  Arivan  ,,der  mit  dem  Wissen“  in  diesem  Verso  ist  ebenfalls  ein 
Name  des  Arukan  Ueber  Arukan  siehe  Anm.**)  auf  Seite  4 unten). 

**  Man  hat  wohl  gleich  in  dem  ersten  Verse  einen  Anklang  an  biblische  Stellen, 
wie  Offenb.  Joh.  I. . 8,  finden  wollen.  Allein  die  Vergleichung  der  Gottheit  mit  dem 
A-Laut  ist  auf  dem  Boden  indischer  Anschauung  durchaus  naturwüchsig:  die  Sauscri- 
taner  schon  erkannten  , so  gut  wie  die  Grimms  (Anm.  1 zu  Vers  I),  die  Bedeutung  des  A an 
der  Spitze  des  Alphabets,  und  es  konnte  sich  für  sie  um  so  passender  zu  einem  Sinnbild 
der  Gottheit  gestalten , als  es  im  Sanscrit  sowohl  wie  im  Tamul  jedem  Consouanten,  dem 
kein  Vocalzeichen  ausdrücklich  beigegeben  ist.  von  Natur  inhaftet.  Vergl.  auch  Baga- 
vadgltä  X,  32  und  33  , wo  Krischna  von  sich  sagt : „Ich  bin  Anfang,  Ende  und  Mitte  der 
Schöpfung, ich  bin  das  A der  Buchstab  en  , die  Bindung  der  Composita.“ 


VORWORT. 


XIII 


der  Kural  gar  in  die  Kategorie  der  literarischen  Betrügereien 
gehören  sollte,  wird  Niemandem,  der  nur  Etwas  davon  im 
Original  gelesen  hat,  in  den  Sinn  kommen. 

Der  innerste  Lehensodem  des  Kural  ist  durchaus  indisch: 
das  ist  der  Gedanke,  dass  die  Geburt  eine  Strafe  für  Thaten 
eines  frühem  Daseins  ist;  dass  es  für  die  Menschen  kein  hö- 
heres Ziel  giebt,  als  die  Nothwendigkeit,  nach  diesem  Leben 
noch  einmal  geboren  zu  werden,  rein  abzuschneiden ; und  dass 
der  Weg  dazu  die  philosophische  Reife  auf  dem  Wege  der 
Bussübung  ist.  Dass  die  vedantistische  „Alleinslehre“  nicht 
durchschlägt,  kann  den  Kural  ebensowenig  wie  die  Systeme 
des  Kapila  und  des  Buddha  muhamedanischer  oder  christ- 
licher Einwirkung  verdächtig  machen.  Der  Monotheismus, 
den  er  lehrt,  ist  eben  ganz  im  Sinne  des  spätem  Buddhaismus 
und  Djainaismus.  „Die  Vorstellung  von  Adibuddha*  als 
einem  höchsten  Gotte“  ist  zwar  „den  ältesten  buddhistischen 
Schriften  fremd,“  (Lassen,  Indische  Alterthumskunde,  II, 
S.  455),  findet  sich  aber  schon  vor  Anfang  der  christlichen 
Zeitrechnung  (Lassen,  II,  1084).  Auch  die  Djaina’s  im 
Tamulenlande  reden  von  einem  solchen  höchsten  Wesen. 
„Ihre  heiligen  Bücher,“  sagtDubois  („Description  of  the  cha- 
racter,  manners  and  customs  of  the  people  of  India“)  „stammen 
von  Ad’eswara  („Urherr  oder  Oberherr?“),  der  ältesten  und 

berühmtesten  Persönlichkeit,  von  der  die  Djaina’s  wissen 

Unsere  Natur  annehmend,  unterzog  er  sich  dem  Leben  eines 
Brahmanen,  eines  Bussers,  eines  Nirvani.  Er  lebte  hundert 
Millionen  von  Millionen  Jahre.  Er  ist  nicht  bloss  der  Urheber 
der  h.  Schriften,  die  er  mit  eigner  Hand  schrieb:  er  theilte 
auch  die  Menschen  in  verschiedene  Kasten,  legte  die  Regeln 
nieder,  nach  denen  sie  sich  zu  richten  hätten,  ihre  Regierungs- 
form und  alle  die  Vorschriften,  durch  welche  die  Djaina’s 
noch  immer  mit  einander  verbunden  sind.  Kurz,  Ad’eswara 
ist  für  die  Djaina’s  das,  was  für  die  Brahmanen  das  Brahma 
ist  (S.  558 — 559).“  Eine  eigentliche  Verwerfung  der  Kasten 


* Vergleiche  meine  Uebers.etzung  aus  Sivanjänasittijär  in  der  Zeitschrift  der 
Deutschen  Morgenl.  Gesellschaft,  Band  VIII,  S.  727.  u.  fg. 


XIV 


VORWORT. 


aber  ist  im  Kural  durchaus  nicht  zu  finden;  Tiruvalluver  be- 
kämpft nur  die  Ueber Schätzung  des  Geburtsrangs  und  zwar 
noch  lange  nicht  in  so  starken  Ausdrücken,  wie  die  acht  ve- 
dantistisehen  Philosophen.  (Vergl.  Bib.  Tarn.  I.,  S.  130 — 131). 

Es  scheint  in  der  That,  dass  der  Dichter  es  sich  ausdrücklich 
zur  Aufgabe  machte,  die  unter  den  verschiedenen  Secten  und 
Schulen  strittigen  Punkte  möglichst  zu  meiden,  und  so  seinem 
ganzen  Volke  gerecht  zu  werden.  Daher  wohl  auch  die  zu- 
weilen etwas  schwebende  Sprache,  besonders  wo  es  sich  um 
Glaubensnorm  handelt.  (Siehe  namentlich  V.  21,  242,  30(), 
322,  533,  850.)  Das  „TiruvaWuvar  Sarittiram“  (siehe  hinten) 
deutet  dies  Bestreben  wohl  damit  an,  dass  es  sagt,  es  seien 
die  verschiedenen  unter  sich  im  Streit  liegenden  Secten,  von 
Bewunderung  hingerissen,  und  das  Werk  verehrungsvoll  auf 
ihr  Haupt  legend,  in  die  lobenden  Worte  ausgebrochen:  „Das 
ist  das  Rechte“.  Sonst  freilich  offenbart  sich  der  speeifisch 
djainaitische  Geist  mehr  oder  minder  darin,  dass  die  Würde  der 
Brahmanen  als  solcher  nie  eingeschärft  wird;  dass  die  wahre 
Grösse  als  von  der  Geburt  („Kaste“)  unabhängig  erscheint 
(Decade  14u.98;  Vers  992  u.  993);  dass  von  den  Brahmanischen 
„vier  Lebensständen“  (Schüler,  Hausvater,  Waldsiedler 
und  Allentsager)  nur  der  des  Hausvaters  (Decade  5 - — 24) 
und  der  des  Büssers  (Decade  25- — 38)  ausdrücklich  behandelt 
werden;  dass  die  indische  Götterwelt,  oft  nur  allegorisch 
verbraucht  (wie  z.  B.  die  Figuren  der  Glücks-  und  der  Un- 
glücksgöttin), jedenfalls  in  den  Hintergrund  tritt;  .dass  die 
Busstugend  über  alles  Maass  erhoben  wird;  dass  die  absolute 
Enthaltung  von  allem  Tödten  direct  und'indirect  (vergl.  Decade 
26)  als  der  Gipfel  aller  Tugend  erscheint,  und  dass  mit  Weg- 
lassung der  besondern  Kasten-Regeln  die  allgemein  sittlichen 
Vorschriften  hervorgehoben  und  eingeschärft  werden  — ein 
Umstand,  der  selbst  dem  alten  Commentator  nicht  entgangen 
ist.  (3.  XII.) 

Den  Gegenstand  des  Kural  bilden  die  drei  Strebeziele 
(purusärta)  der  Menschen  (trivarga,  „Dreireihe“  Jägnavalkja 
I,  74):  Tugend,  Gut  und  Lust;  wozu  man  später  als 
viertes  noch  die  „Erlösung“  gefügt  hat,  das  aber  — nach 


VORWORT. 


XV 


ParimelaJ'akar — in  dem  der  „Tugend“  (speciell  „Busstugend“) 
bex’eits  mitgegeben  ist.  (S.  XI.) 

Das  erste  Buch  von  der  „Tugend“  zerfallt  in  zwei  Ab- 
theilungen: „Haus tilgend“  (Deeade  1 — 24)  und  „Buss- 
tugend“ (25  — 38).  Das  zweite  Buch  von  dem  „Gute“ 
zerlegt  sich  in  „des  Königs  Persönlichkeit“  (3ü  — (33) 
„Erfordernisse  des  Königthums“  (G4  — 95)  und  in 
„Anhang“  (9(3 — 108.)  Das  dritte  Buch  endlich  von  der 
„Lust“  behandelt  zuerst  die  he  im  Hohe  (109 — 115)  und  dann 
die  öffentliche  Ehe  (116 — 133).  Im  ersten  Theile,  reli- 
giössittlicher Art,  bewegt  sieh  Alles  um  den  Haushälter 
und  um  den  Busser,  die  beiden  Träger  der  Buddha- Djaina- 
Weltordnung;  im  zweiten  Tlieilc,  der  vorwiegend  einen  staat- 
lichen Charakter  trägt,  gruppirt  sieh  fast  Alles  um  den  König, 
den  Wahrer  und  Mehrer  des  öffentlichen  Guts,  so  jedoch 
dass  Vieles,  was  zunächst  vom  König  gesagt  wird,  vom  ein- 
fachen Unter  thanen  mitgilt,  als  der,  ein  Fürst  im  Kleinen,  das 
Familiengut  zu  wahren  und  zu  mehren  hat.  Der  dritte  Theil 
endlich,  rein  privater  Natur,  drehet  sieh  ganz  um  „Mann  und 
Weib.“  Die  drei  Bücher  verhalten  sich  demnach  zu  ein- 
ander wie  Kirche  (cum  grano  salis ! ) , Staat  und  Haus. 

Dem  Hindu  ist  es  geläufig,  das  Verhältniss  der  Gottheit 
zur  Welt  als  lila  (tamul.  VHeijätfal)  d.  i.  als  Spiel  der  Liebe 
aufzufassen.  So  liegt  es  ihm  nahe,  in  dem  Verhältniss  des 
Liebenden  zur  Geliebten  das  Verhältniss  der  gläubigen  Seele 
zur  Gottheit  abgeschattet,  in  der  „Kleinlust“  die  „Grosslust“ 
versinnbildet  zu  sehen.  Die  400  erotischen  Motto’s,  die 
„Mäaikkaväsakar“  (siehe  Vorwort  zu  Th.  I,  XII  und  meine 
„Reise  in  Ostindien“  IV,  39)  unter  dem  Titel  Tirukköveijär 
zur  Verherrlichung  des  Gottes  von  Sittambalain  dichte- 
risch behandelte,  sind  ein  unzweideutiges  Beispiel  solcher 
sinnlich -mystischen  Liebesdichtung  mit  bewusster  Absicht- 
lichkeit. Auch  dem  dritten  Buche  des  Kural  wird  wohl 
von  den  Tamulen  eine  mystische  Bedeutung  mit  zuge- 
schrieben. 

Das  Versmaas  des  Kural  ist  der  — Kural  d.  i.  Kurzzeiler, 
eine  Art  Distichon,  dessen  erste  Strophe  in  der  Regel  vier-, 


XVI 


VORWORT. 


die  zweite  aber  dreifüssig  ist,  luit  Anfangsreimen  und  Allite- 
rationen in  der  Mitte.  Man  hat  behaupten  'wollen,  dass  in  dem 
ganzen  Kural  kein  einziges  Sanscritwort  vorkomme,  und  doch 
ist  gleich  das  erste  Wort  ein  solches  (akararn  „der  A-Laut“), 
und  noch  zwei  andere  folgen  in  demselben  Verse  (ätipakavan 
= ädib’agavän)  und  ulaku  (aus  löka).  Wahr  ist  nur  so  viel, 
dass  Sanscritwörter  sehr  selten  gebraucht  werden  und  dann 
wo  möglich  stets  in  einer  naturalisirten  Form.  Tiruvalluver 
ist  durchaus  „Purist“,  — aber  ein  verständiger. 

Diese  Meister -Dichtung  der  tamulischen  Literatur  steht 
nicht  vereinzelt  da.  Sie  hat  eine  Schwester:  Nälari  („Vier- 
fiissler“).  Das  letztgenannte  Werk  besingt  in  40  Decaden 
dieselben  drei  „Strebeziele“;  das  Buch  von  der  „Lust“  be- 
steht aus  einer  einzigen  Decade.  Noch  ist  mir  keine  Müsse 
geworden,  das  Verhältniss  des  Xälati  zum  Kural  näher  zu 
untersuchen;  aber  schon  die  viel  kürzere  Form  scheint 
darauf  hin  zu  deuten,  dass  Nälari  auf  ein  höheres  Alter  An- 
spruch habe.  Die  Djainas  zählen  sowohl  den  Verfasser  des 
Nälari  wie  den  des  Kural  zu  den  Ihrigen. 

Es  werden  uns  zwölf  alte  Commentatoren  des  Kural 
genannt:  Tarumar,  Maaakkufeijar,  Tämattar,  Pariti,  Tiruma- 
leijar,  Mallar,  Kavipperumä/,  Kä/inkar,  Nassinärkkinijar  und 
Parimelafakar.  Nur  des  Letztem  Commentar  in  hochtamu- 
lischer  Prosa  ist  zur  Zeit  allgemein  bekannt,  obgleich  noch 
ungedruckt.  Auszüge  daraus  enthalten  die  gedruckten  Aus- 
gaben des  Kural  von  Saravawapperumäfeijar  (Madras  ,1830) 
und  von  Vetakirimutaliär  (Madras  1850-51).  Die  letztgenannte 
giebt  fast  stets  eine  vollständige  Paraphrase  des  alten  Commen- 
tators,  der,  offenbar  ein  Anhänger  des  Sänkja-Systems,  seinen 
Dichter  im  Lichte  desselben  zu  erklären  sucht.  (Siehe  bes. 
V.  27).  Zum  genauen  Verständniss  des  dritten  Buchs  von 
der  „Lust“  hat  mir  das  „AkapponFvPakkam“*  von  „Nampi“ 
— die  Lehre  von  der  Behandlung  erotischer  Gegenstände  — 
treffliche  Dienste  geleistet. 


* Meine  Uebersetzung  desselben  wird  vielleicht  nächstens  in  der  Zeitschrift  der 
..Deutschen  Morgenländischen  Gesellschaft"  erscheinen. 


VORWORT. 


XVII 


Der  italienische  Jesuit  J.  C.  Beschi,  der  in  der  ersten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  im  Tamulenlande  missionirte 
(starb  1747),  ein  ausserordentlicher  Kenner  der  tamulischen 
Sprache  und  Literatur,  die  er  selbst  mit  mehrern  Meisterwerken 
beschenkte,*  war  meines  Wissens  der  erste,  der  einen  Theil 
des  Kural  (das  Buch  von  der  „Tugend“  und  das  vom  „Gut“) 
in  eine  abendländische  Sprache  — und  zwar  in  lateinische 
Prosa  übertrug.  Diese  Arbeit  wurde  nie  gedruckt,  kam  aber 
im  Manuscript  in  meine  Hände.  Durch  die  gütige  Vermit- 
telung des  Herrn  Brotherton  nämlich,  anglikanischen  Mis- 
sionars im  Tamulenlande,  der  von  meiner  Absicht  den  Kural 
zu  bearbeiten  gehört  hatte,  überliess  mir  der  Secretär  der 
„Royal  Asiatic  Society“  Herr  Clarke  seine  eigne  Abschrift 
mit  dankenswerther  Bereitwilligkeit.**  Diese  Arbeit  von 
Beschi  hat  ihren  grossen  Werth,  obgleich  sie  nicht  selten  mit 
Unrecht  von  der  Auffassung  der  tamulischen  Commentatoren 
abweicht,  oft  mehr  umschreibt  als  übersetzt,  und  den  Ge- 
danken allzuhäufig  christianisirt. 

Nach  ihm  versuchte  sich  an  dem  Kural  Ellis,  englischer 
Beamter  der  ostindischen  Compagnie  im  Tamulenlande  (siehe 
meine  Reise  nach  Ostindien,  Bd.  V,  S.  144),  einer  der  Haupt- 
anreger und  Beförderer  der  neuern  literarischen  Bestrebungen 
unter  den  Tamulen.  Er  pflückte  aber  nur  einzelne  Verse  aus 
den  ersten  13  Kapiteln  des  ersten  Buches  heraus  und  gab  sie  in 
ziemlich  freier  Uebertragung  ins  Englische,  und  ZAvar  im  me- 
trischen Gewände,  seinen  Landsleuten  zu  kosten.***  Er  liess 
auch  den  betreffenden  tamulischen  Text  mit  abdrucken,  ver- 
band mit  jedem  Vers  eine  grammatische  Analyse  und  webte 
zu  weiterer  Erklärung  des  Inhalts  Parallelen  aus  der  übrigen 
tamulischen,  zuweilen  auch  aus  der  sanscritischen  Literatur  ein. 

Die  erste  deutsche  Uebertragung,  wenigstens  der  zwei 
ersten  Bücher,  fällt  in  das  Jahr  1803.  Sie  führt  den  Titel: 


* Ein  Mehreres  über  Beschi  siehe  meine  „Reise  nach  Ostindien“  Band  IV.  a.  m.  O. 

**  Ich  gedenke  die  lateinische  Uebersetzung  von  Beschi  dem  vierten  Theile  meiner 
Bibi.  Tarn,  einzuverleibeu. 

***  Nach  seinem  Tode  in  Madras  gedruckt.  (1822). 


XVIII 


VORWORT. 


„Des  Tiruvalluver  Gedichte  und  Denkspriiehe.  Aus  der  ta- 
mulischen  Sprache  übersetzt  von  A.F.  Cämmerer,  der  Welt- 
weisheit Doctor  und  königlich  dänischer  Missionar  in  T ran- 
kebar.“* Eine  wohlgemeinte,  aber  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit 
entstellende  und  sehr  häufig  daneben  hin  schiessende  Um- 
schreibung in  breitester  Prosa. 

Sehr  werthvoll  dagegen  ist  die  Arbeit  des  Herrn  W.  H. 
Drew,  Missionars  der  Londoner  Mission  in  Madras.  Der 
vollständige  Titel  lautet:  The  Cural  of  Tiruvalluver,  First 
Part,  with  the  Commentary  of  Parimelarager,  an  amplifica- 
tion  of  that  commentary  bv  Ramanuja  Cavi-Rayer,  and  an 
English  Translation  by  the  Rev.  W.  H.  Drew.  **  Leider 
geht  die  ganze  Arbeit  nur  bis  zur  24.  Decade  des  ersten 
Buchs,  sie  müsste  denn  seit  meiner  Abreise  von  Madras 
(1852)  weiter  gediehen  sein. 

Der  neueste  abendländische  Versuch  in  Betreff  desKural 
entstammt  derFeder  des  Franzosen  Ariel.  (Journal  Asiatique 
1847,  1848  und  1852).  Er  hat  aus  dem  ersten  und  zweiten 
Buche  nur  einzelne  Verse,  das  dritte  Buch  dagegen  fast  ganz 
übersetzt  und  zwar  in  französische  Prosa.  Die  Arbeit  zeugt 
im  Ganzen  von  gutem  Verständniss ; nur  hat  zuweilen  die  in- 
dische Färbung  bei  der  Uebersetzung  zu  sehr  gelitten. 

Nun  noch  ein  Wort  über  meinen  eigenen  Versuch. 

Da  es  der  Hauptzweck  meiner  Bibliotheca  Tamulica  ist, 
das  Studium  der  darin  übersetzten  und  erklärten  Tamulwerke 
im  Original  zu  erleichtern,  so  wählte  ich  für  die  Uebersetzung 
die  Form  der  ungebundenen  Rede,  die  jedenfalls  ein  grös- 
seres Maass  von  Treue  gestattet,  als  die  gebundene.  Ich 
habe  mich  jedoch  eitrigst  bestrebt,  kein  Sclav  der  Treue  zu 
werden;  auch  habe  ich,  wo  immer  der  oben  bezeiehnete 
Zweck  es  gestattete,  durch  Rhythmus,  Rundung  und  Zu- 
spitzung, und  daneben  durch  An-  und  Gleichklang  der  ästhe- 
tischen Fordrung  Rechnung  zu  tragen  gesucht.  Die  wunder- 
bare Kürze  des  Originals  ist  in  jeder  andern  Sprache  unnach- 


* Nürnberg,  im  Verlag  der  RAW'schen  Buchhandlung. 

**  Madras,  American  Mission  Press,  1840- 


VORWORT. 


XIX 


ahmlieh;  ich  hoffe  jedoch,  das  knappe  Gewand  desselben  ist 
unter  meinen  Händen  nicht  geradezu  ein  schlotterndes  ge- 
worden. Ich  bin  auch  bemüht  gewesen,  die  fremdartige  Fär- 
bung acht  indischer  Begriffe  möglichst  beizubehalten  und  eine 
nähere  Erklärung  lieber  der  Anmerkung  vorzubehalten.  Die 
Kenner  und  Freunde  indischer  Literatur  werden  es  mir  ge- 
wiss nicht  verargen,  dass  ich  die  Auffassung  der  einhei- 
mischen Commentatoren  nur,  wo  entscheidende  Gründe  vor- 
liegen, entschieden  verworfen,  sie  aber  selbst  da,  wo  sie  offen- 
bar daneben  oder  in  übergrosser  Künstlichkeit  drüber  hinaus- 
schiesst,  mit  angeführt  habe:  denn  einerseits  sind  wir  Euro- 
päer gar  zu  geneigt,  unsre  abendländische  Anschauung  in  die 
Erklärung  der  indischen  Literatur  hineinzutragen;  anderer- 
seits aber  können  wir  doch  auch  aus  einer  offenbar  falschen 
Deutung  seitens  der  einheimischen  Erklärer  immerhin  den 
indischen  Geist  kennen  lernen. 

Muss  ich  mich  erst  ausdrücklich  entschuldigen,  dass  ich 
auch  das  dritte  Buch,  das  wesentlich  erotischen  Inhalts  ist, 
mit  übersetzt  und  erklärt  habe?  Der  Franzose  Ariel  hielt  es 
für  nöthig.  „La  derniere  partie  des  Kur’al  pourra  paraitre 
un  peil  trop  literaire,  si  nous  ne  rappelons,  que  les  commen- 
tateurs  lui  attribuent  ä la  fois  un  sens  litteral  et  un  sens  alle- 
gorique,  le  premier  relatif  a l’amour,  ä la  mesquine  volupte 
d'iei  bas,  le  second  relatif  au  salut  et  a l’infinie  beatitude. 
Le  voile  dumysticisme  couvrira,  nous  osons  l’esperer,  les  har- 
diesses  de  certains  passages.“  Ich  selbst  halte  mich,  auch 
ohne  Berufung  auf  die  „mystische  Deutung“,  für  vollkommen 
entschuldigt  nicht  bloss,  sondern  selbst  verbunden,  auch  das 
dritte  Buch  dem  abendländischen  Publicum  anheimzugeben. 
Ist  doch  der  Kural  in  allen  seinen  drei  Theilen  ein  Spiegel 
des  indischen,  speciell  des  tamulischen  Volksgeistes,  und  es 
würde  in  der  That  etwas  fehlen,  wenn  man  den  dritten  Theil, 
der  ein  so  helles  Licht  auf  das  häusliche  Leben  wirft,  weg- 
lassen  wollte,  bloss  weilein  paar  Ausdrücke  darin  Vorkommen, 
die  an  die  freiere  Art  des  Morgenlandes  erinnern. 

Mein  Plan  für  den  nächsten  Band  dieser  „Bibliotheca 
Tamulica“  ist — Andersgestaltung  im  Einzelnen  Vorbehalten-— 


XX 


VORWORT. 


für  jetzt  dieser:  Der  tamulische  Text  des  Kural  mit  Glossar 
und  Anmerkungen,  besonders  grammatischer  Art,  in  engli- 
scher Sprache;  die  lateinische  Uebersetzung  des  Kural  von 
Beschi  unverändert,  jedoch  mit  einer  Nebenübersetzung  an 
Stellen,  wo  ich  es  für  nöthig  halte,  und  einer  neu  gefertigten 
für  das  von  Beschi  nicht  berücksichtigte  dritte  Buch;  endlich 
auch  eineUebertragung  der  hochtamulischcn  Verse  des  Kural 
in  volkstamulische  Prosa. 


I 


VORREDE 

DES 

PA  R I M E L A L'A  KAR. 

(Zum  Oanzeu  im  Allgemeinen,  und  zur  ersten  Abtheilung  des  ersten  Tlieils 
insbesondere.) 


Vier  sind  der  Dinge,  welche  die  Weisen,  den  Weg  zu  den 
Himmeln  Indra’s  und  der  übrigen  Götter,  sowie  zur  endlichen 
Vollerlösung  wohl  kennend,  zum  Heil  der  Menschen,  die  da- 
hinzugelangen sich  schicken,  zu  behandeln  pflegen:  Tugend, 
Gut,  Lust  und  Erlösung.  Unter  diesen  vier  Dingen  ist  die 
Erlösung  dem  Gedanken  und  dem  Ausdruck  unerreichbar. 
Sie  kann  daher  nur  in  ihrer  Ursache,  der  Busstugend,*  nicht 
aber  in  ihrer  Beschaffenheit  dargestellt  werden,  und  so  sind 
denn  nur  die  drei  andern  Dinge:  Tugend,  Gut  und  Lust,  Ge- 
genstand der  wissenschaftlichen  Behandlung.  Die  Tugend 
nun  besteht  darin,  dass  man  das,  was  Manu  und  die  übrigen 
heiligen  Schriften  gebieten,  thut,  das  aber,  was  sie  verbieten, 
lässt;  sie  zerfällt  in  „Sitte,  Rechtsverfahren  und  Strafe.“** 
Sitte  besteht  darin,  dass  die  Brahminen  und  die  übrigen  Ge- 
schlechter in  den  ihnen  vorgeschriebenen  Lebensständen  als 
Schüler  u.  s.  w.  (Haushälter,  Waldsiedler  und  Allentsager)  ver- 
harrend, in  den  darauf  bezüglichen  Gesetzen  ohne  Fehl  wan- 


* Beschi  findet  die  Erlösung  besonders  in  Kapitel  35  — 37  indirect  abgehandelt. 

**  Diess  ist  die  Eintheilung  von  Jägnavalkja’s  Gesetzbuch:  äcära  (oUukkain) 
vjavahära  (va/’akku)  und  präjascitta  (tan/am) 


XXII 


VORREDE  DES  PARIMELAZ’AKAR. 


dein.  Das  Rechtsverfahren  besteht  darin,  dass  diejenigen,  die 
in  Bezug  auf  einen  Gegenstand  ein  „Mein“  verschiedentlich 
geltend  machen,  darüber  in  Streit  gerathen,  und  dann  endlich 
ihre  Sache  bei  dem  Gerichte  anbringen;  es  zerfällt  in  acht- 
zehn Kapitel,  als  Borgen  u.  s.  w.  Die  Strafe  besteht  darin, 
dass  man,  um  diejenigen,  die  von  dem  Wege  der  Sitte  und 
des  Rechtsverfahrens  abgewichen  sind,  auf  den  betreffenden 
Weg  zurückzuführen,  auf  das  Recht  sieht,  und  die  der  Schuld 
entsprechende  Strafe  verordnet.  Weil  nun  diess  Beides, 
Rechtsverfahren  und  Strafe,  zwar  die  Menschen  auf  dem 
Wege  der  allgemeinen  gesellschaftlichen  Ordnung  zu  erhalten 
taugt,  nicht  aber,  wie  die  Sitte,  eine  dem  Menschen  Heil  brin- 
gende Auszeichnung  besitzt,  und  ausserdem  nicht  bloss  aus 
Büchern,  sondern  auch  aus  dem  Scharfsinn,  so  wie  aus  dem 
Weltbrauch  sich  ergiebt,  so  wird  es  hier  von  Tiruvalluver  voll 
göttlicher  Weisheit  ganz  beiseitgclassen  und  bloss  die  be- 
sonders ausgezeichnete  Sitte  unter  dem  Namen  „Tugend“ 
behandelt.  Diese  ist  ja  aber  bei  allen  Geschlechtern  mit  den 
vier  Lebensständen  verschieden;  desshalb  bleiben  die  be- 
sondern  V orschriften  (d.i.  die  eigentlichen  Kastenvorschriften) 
von  geringerem  Umfang  weg,  und  die  Tugend  wird  nur  in 
Betreff  der  allgemeinen  Vorschriften,  die  für  alle  gleich  sind 
und  die  Mehrheit  bilden,  in  zwei  Abtheilungen  als  „Haus- 
und Busstugend“  behandelt.  Haustugend  aber  ist  das,  was 
man,  auf  dem  Wege,  der  für  das  häusliche  Leben  vorge- 
schrieben ist,  verharrend,  im  Verein  mit  der  dazu  mithelfen- 
den lieben,  treuen  Gattin  thut.  Diese  stellt  er  daher  vorweg 
und  singt,  damit  sein  Vorhaben  wohl  gelingen  möge,  vor  allen 
Dingen  das  Lob  Gottes.“* 


* Das  Uebrige  bildet  die  Inhaltsanzeige  zu  Kapitel  I.  (S.  3.) 


I 


VORBEMERKUNG. 


Ich  habe  der  Kürze  wegen  den  Commentar  des  Parimel- 
aZ’akar  mit  P.,  den  des  Vetakirimutaliär  mit  V.,  den  des  Sa- 
rava?iapperumä?eijar  mit  S.  bezeichnet.  Die  Sanscritwörter 
sind  nach  dem  im  1.  Bande  bezeichneten  Systeme,  die  Ta- 
mulwÖrter  nach  der  in  meinem  „Outline  of  Tamil  Gramm  ar“ 
(Band  II.)  angegebenen  Weise  wiedergegeben,  nur  dass,  aus 
praktischen  Rücksichten,  statt  der  „fetten“  Schrift  die  „lie- 
gende“ gewählt  wurde.  Kapitel  25  — 38  fehlt  in  dem  Manu- 
script  des  Commentars  von  Parimela/’akar,  das  mir  vor- 
lag; die  von  mir  mit  P.  bezeichneten  Bemerkungen  zu  die- 
sen Kapiteln  sind  nach  der  Paraphrase  des  Vetakirimutaliär 
gegeben. 

Ich  bemerke  zugleich,  dass  Seite  10,  Z.  4.  v.  o.  statt  „an- 
taner“  ahtanar  stehen  sollte,  sowie,  dass  die  gewöhnlichem 
Sanscrit-Formen  für  raga  (m.  n.)  und  tama  (m.)  — siehe  Einl. 
zuV.  1.  — ragas  (n.)  und  tamas  (n.)  sind. 


' 


I 


I. 

VON  DER  TUGEND. 


III. 


1 


EINLEITUNG, 


1. 

GOTTES  LOB. 

„Ein  Dichter  preist  entweder  den  Gott,  den  er  selbst  verehrt,  oder 
den.  der  seinem  Gegenstände  am  besten  entspricht.  Das  Letztere  ist 
hier  der  Fall.  Es  findet  nämlich,  vermöge  der  drei  Eigenschaften 
(im  Sause. : sattva,  raga,  tama  = milde  Euhe,  leidenschaftliche  Erregt- 
heit, dumpfe  Trägheit,  vergl.  Theil  I,  S.  13)  zwischen  den  drei  begeh- 
rungswürdigen Dingen  (Tugend,  Gut  und  Lust)  und  dem  Urgotte,  der 
sich  mittelst  jener  Eigenschaften  als  ein  dreifältiger  darstellt,  ein  Zu- 
sammenhang*) statt,  und  so  ist  es  denn  ganz  in  der  Ordnung,  dass  un- 
ser Dichter,  der  jene  drei  Dinge  zu  besingen  unternommen  hat,  den 
dreigestaltigen  Gott  anruft.“  (P.) 

1.  A als  Erstes  haben  alle1  Buchstaben;  den  Urseligen2 
als  Erstes3  hat  die  Welt4. 

1 Nicht  bloss  die  tamulischen,  sondern  auch  die  sanscritischen  (P.).  j,A,  der  edelste, 
ursprünglichste  aller  Laute,  aus  Brust  und  Kehle  voll  erschallend,  den  das  Kind  zuerst 
und  am  leichtesten  hervorbridgen  lernt , den  mit  Recht  die  Alphabete  der  meisten  Spra- 
chen an  ihre  Spitze  stellen.“  (Deutsches  Wörterbuch  von  J.  und  W.  Grimm). 

2 Atipakavan  (sanscr.  äditfagavän).  Pakavan  ist  auch  eine  Bezeichnung  des  Puttan 
Buddha);  ätipakava»u  könnte  daher  recht  gut  dasselbe  wie  das  sansc.  ädibudda  sein,  be- 
sonders da  — nach  dem  Wörterbuche  des  Mawtalapurushan  — Buddha  auch  den  Namen 
äiitevan  (sansc.:  ädideva,  „Urgott“)  führt.  Dass  ädibagavän  an  unserer  Stelle,  falls  der 
Ausdruck  auf  Buddha  zu  beziehen  ist,  nicht  bloss  auf  frühere  Transmigrationen  Bud- 
dha’s  (vergl.  Journal  of  the  Ceylon  Branch  of  the  Royal  Asiatic  Society,  Vol.  I,  Part  I, 
Page  6) , sondern  auf  einen  wirklichen  Urgo  tt,  als  Urwurzel  der  Welt,  gedeutet  werde, 
scheint  der  Zusammenhang  eher  zu  fordern  als  zu  verbieten  (vergl.  meine  „Reise  nach 
Ostindien“,  Band  IV,  Anm.  238);  jedenfalls  lässt  er  brahmanisch  - rechtgläubiger  Auf- 
fassung Raum.  Ich  erinnere  nur  noch,  dass  die  Djaina's  ihrem  Sectenstifter  im  Tamul. 


* Der  milden  Ruhe  entspricht  das  Streben  nach  Tugend,  der  leidenschaftlichen  Er- 
regtheit das  Streben  nach  irdischem  Gut,  und  der  dumpfen  Trägheit  das  Streben  nach 
sinnlicher  Lust. 


1 * 


4 


I.  Von  der  Tugend. 


gelegentlich  dieselben  Namen  geben,  wie  die  eigentlichen  Buddhisten  dem  ihren,  „Put- 
tau “ nicht  ausgenommen.  (S.  d.  Vorwort.) 

3 „Die  Oberherrlichkeit  des  A besteht  darin,  dass  es  nicht  sowohl  aus  einer  Laut- 
veränderung, als  vielmehr  aus  der  innersten  Lautnatur  hervorgeht.  Dem  ädibagavän 
kommt  die  Oberherrlichkeit  zu  insofern  derselbe  Alles,  nicht  sowohl  auf  dem  Wege  der 
einzelnen  Thatsacheu  (discursive),  als  vielmehr  seiner  innersten  Natur  nach  (intuitive)  er- 
kennt.“ (P.)  „Das  A ist  eine  blosse  Oeffnung  des  Mundes  mit  einem  Aushauch  aus  der 
Lunge“  ; es  ist  daher  „als  reiner  Ton  die  Ursache  für  alle  Buchstaben“,  sagt  ein  ta- 
mulischer  Commentator  zu  Nannul  II,  18*.  Dieser  Gedanke  dürfte  im  Sinne  brahma- 
nisch -rechtgläubiger  Auslegung  ein  noch  schlagenderes  tertium  comparationis  geben. 

4 „Da  man  die  Existenz  des  unsichtbaren  Gottes  mit  Hülfe  der  sichtbaren  Welt 
prädiciren  muss,  so  ist  der  Dichter  mit  den  Worten  , die  Welt  hat  etc. ‘ von  der  Welt 
ausgegangen.“  (P.) 

2.  Was  ist  der  Nutzen,  den  man  vom  Lernen  nimmt, 
wenn  man  nicht  anbetet  den  freundlichen  Fuss1  Dess  mit 
dem  lautern  Wissen. 

t Der  Herr  setzt  dem  Knechte  zum  Zeichen  seiner  Oberherrlichkeit  den  Fuss  aufs 
Haupt,  und  zu  des  Herrn  Füssen  lässt  sich  der  Knecht  nieder,  (aüjen,  „ich  dein  Knecht“ 
von  aü  Fuss.)  Daher  diese  und  ähnliche  Ausdrücke.  — Ellis:  Such  use  probably  ori- 
ginated  in  the  practice  of  substituting  in  the  act  of  worship  a material  image  for  the  im- 
material idea. 

i 

3.  Die  sich  halten  an  den  hehren  Fuss  Dess,  „der  über 
die  Blume1  wallte“2,  werden  lange  leben  über  der  Erde. 

1 Unter  malar  „Blume“  verstehen  die  Commentatoren  das  Herz,  das  unter  dem  An- 
hauch der  Gottheit  sich  wonnig  erschliesst.  Es  kann  aber  auch  die  Erde  bedeuten,  ge- 
rade wie  pü  (in  pümenafantän , siehe  die  folg.  Anm.). 

2 „Der  Dichter  hat  hier  die  Vergangenheit  — wallte  — gesetzt,  weil  er  über  die  Lo- 
tus-Blume  des  Herzens  derer,  die  mit  Liebe  an  ihn  denken,  in  der  von  ihnen  gedachten 
Gestalt  schnell  dahinfährt;  denn  hier  passt  das  Wort  der  Grammatik:  die  Gelehrten 
sagen  , dass  die  Zeitwörter,  die  gleicherweise  in  der  Zukunft  wie  in  der  Gegenwart  ge- 
braucht werden,  wenn  sie  mit  dem  Zeichen  der  Vergangenheit  auftreten , eine  gewisse 
Hast  andeuten.  — Es  giebt  auch  Ausleger,  die  in  Rücksicht  auf  das  eine  Wort  (der  tarnu- 
lischen  Lexica)  , pümenaLant«än  d.  i.  der  über  die  Blume  (oder:  Erde)  hinwandelte4 
jene  Bezeichnung  auf  einen  andern  Gott**  (den  Stifter  des  Buddhathums  — oder  des 
Djainathums,  dessen  Nennung  der  rechtgläubige  Commentator  absichtlich  zu  vermeiden 
scheint)  übertragen.44  (P.)  „Geister  umgaben  ihn  (Buddha)  bei  seiner  Geburt,  pflegten 
seiner  und  besorgten  das  heil.  Bad  des  neugeborneu  Kindes.  Doch  stand  er  schon  auf 
eignen  Füssen  und  durchmass  die  Welt  in  sieben  Schritten.  Wo  seinFuss  dieErde 
berührte,  blühte  eine  Padmablume  hervor.44  (Stuhr,  Die  Religionssysteme 
der  heidn.  Völker  des  Orients,  I,  119.)  Der  Stifter  des  Djainathums  aber  wird  auf 
einem  Lotus  stehend  dargestellt.  (Ellis , 6.) 

4.  Die  sieb  fest  an  den  Fuss  fassen  Dess,  der  ohne  Be- 
gehr und  Abscheu  ist,  trifft  Trübsal 1 nimmer. 


* Siehe  Grammatica  Tamul.  by  W.-Joyes  and  S.  Samuel  Pillay.  II,  18.  19. 

**  Jener  Ausdruck  ist  nämlich  eine  der  vielen  Bezeichnungen,  die  z.B.  auch  in  dem 
Wörterbuche  des  ManJalap.  als  dem  Buddha  oder  auch  dem  Arukan  (sansc.  Arliat),  dem 
Stifter  des  Djainathums  , zugehörig  aufgestellt  werden. 


1.  Gottes  Lob. 


5 


1 Dio  Trübsal  der  Geburt  (P.).  Die  in  V.  3 enthaltene  Seligpreisung  lässt  noch  für 
eine  neue  Wanderung  auf  die  Erde  Raum , wenn  auch,  — infolge  frühem  Verdienstes  — 
erst  nach  langem  Hiimnelsgenusse.  — Hier  wird  dem  Commentator  zufolge  ewige  Erlö- 
sung von  dem  Kreislauf  der  Geburten  verheissen.  „Die  Trübsal  der  Geburt  ist  dreier- 
lei: sie  kommt  in  Bezug  auf  das  eigne  Selbst,  in  Bezug  auf  andere  Wesen  und  in  Bezug 
auf  die  göttliche  Fügung.  (Im  Sansc.:  ädjätmika,  ädibautika,  ädidaivika.) 

5.  Die  Nacht  ^gepaarte  „Zweithat“2  paart  sich  nicht 
mit  Denen,  die  dem  Wahrheit -gepaarten  Lob  Gottes  leben. 

i„Weil  Niemand  ihre  Natur  beschreiben  kann,  nennt  er  die  Unwissenheit 
Nacht.“  (P.) 

2 Die  Gut  - und  Uebelthat.  „Auch  die  Gutthat  ist  Schuld,  dass  mau  von  neuem  ge- 
boren wird,  darum  sagt  er  ,, Zweithat“.  (P.)  Die  Vedantisten  sowohl  als  die  Buddhisten 
sind  absolute  Quietisten,  die  alle  Thätigkeit  als  abnorm  ansehen,  — nur  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  die  Erstem  die  individuelle  Menschenseele,  im  Zustand  völliger  Erlösung, 
in  das  reine  Nichts,  die  Letztem  aber  in  das  reine  Sein  verwehen  lassen. 

6.  Lange  leben  werden,  die  fest  fassten  auf  dem  trug- 
losen  Tugendpfad  Dess,  „der  die  Sinnenpfads -Fünf 1 ausge- 
löscht hat“2. 

1 D.  h.  die  fünf  Gelüste  , die  sich  auf  dem  Wege  der  fünf  Sinne  ergehen. 

2 Auch  diese  Bezeichnung  würde  auf  Arukan  (siehe  die  Anm.  zu  V.  3 unten)  sehr 
wohl  passen,  der  ausdrücklich  „Sinentiran“  (Einer,  dessen  Sinne  besiegt  sind)  ge- 
nannt wird. 

7.  Schwer  fällt’s  — ausser  Denen,  die  den  Fuss  fassen 
Dess,  der  ohne  Gleichen  ist,  - — des  Herzens  Schmerzen  zu 
scheuchen. 

8.  Schwer  fällt’s  — ausser  Denen,  die  sich  an  den  Fuss 
fest  schmiegen  des  Urmilden,  jener  Tugendsee1  — über  die 
fremde  See2  zu  setzen. 

1 Oder  „des  Urmilden  mit  dem  Rad  der  Tugend“,  d.  i.  Arukan,  der  das  Rad*  der 
Tugend  in  Gang  setzte.  (AraväJ’iventan  „König  des  Tugendrades“,  ein  Epitheton  des 
Arukan).  P.  selbst  erkennt  an,  dass  einige  Ausleger  es  so  verstehen.  (Vergl.  Anm.  2 
zu  V.  6.) 

2 P.  versteht  darunter  die  zwei  andern  Strebeziele  des  Menschen,  „Gut und  Lust“. 
R.  meint  (und  zwar  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit) , man  könnte  auch  die  „ Sünde  “ 
darunter  verstehen. 

9.  Das  Haupt,  das  nicht  zu  Boden  fällt  vor  dem  Fusse 
Dess  mit  den  acht  Tugenden1,  ist  untüchtig,  dem  untüchtigen 
Organe  gleich. 

i Dies  ist  — nach  dem  Wörterbuche  des  Mantalap.  — ein  stehender  Name  Aru- 


* ai’i  bedeutet  eigentlich  „Cirkel“  und  kann  daher  sowohl  die  See,  welche  die  Erde 
umspannt,  als  das  runde  Rad  bezeichnen. 


0 I.  Von  der  Tugend. 

kan's.  — P.  bezieht  das  Epithet  natürlich  auf  Siva  , und  gibt  als  die  acht  Eigenschaften, 
wie  sie  die  heiligen  Bücher  der  Siraiten  beschreiben,  folgende  an:  Selbständigkeit, 
Reinleiblichkeit,  unmittelbare  Anschauung,  Allvrissen,  natürliche  Ungebundenheit, 
Gross-Huld,  unendliches  Wirken,  unendliche  Wonne.  ..Einige“,  so  fährt  P.  fort,  „ver- 
stehen darunter  die  acht  übernatürlichen  Kräfte,  wie  z.  B.  das  Vermögen,  die  Gestalt 
eines  Atoms  anzunehmen  (vergl.  Th.  I,  S.  49);  oder  auch  jene  acht  Eigenschaften,  an 
deren  Spitze  „endlose  Weisheit“  steht.  (Endlose  Weisheit  , endlose  Einsicht,  endlose 
Macht,  endlose  Wonne ; — Namenlosigkeit.  Eamilienlosigkeit.  Alterlosigkeit,  Hinderniss- 
losigkeit.'  Die  letzte  Erklärung  ist  offenbar  djainaitisch;  denn  das  sind  die  acht  Attri- 
bute, die  der  Djaina  Mantalap.  im  12/Theile  seines  Wörterbuchs  der  Gottheit  zuerkennt. 
(Vgl.  Ellis,  S.  19.) 

10.  (Die  Andern)  werden  über  der  Geburten  grosse  See 
setzen  *;  nicht  die,  so  nicht  sich  hängen  an  des  Höchsten  Fuss. 

1  D.  h.  sie  werden  über  den  Kreislauf  der  Geburten  hinauskommen. 


2. 

DES  REGENS  TREFFLICHKEIT. 

„In  diesem  Kapitel  wird  die  Trefflichkeit  des  Regens  besungen,  der, 
nach  dem  Willen  Gottes,  der  Welt  und  den  drei  Dingen,  die  ihr  zur 
Wohlfahrt  gereichen  (Tugend,  Gut  und  Lust)  den  Fortbestand  ver- 
mittelt.“ iP.)  Der  Uebergang  von  der  Gottheit  auf  den  Regen  ist  auch 
im  Lichte  von  Apostelgeschichte  14,  17  natürlich. 

11.  So  lang  der  Regen  Stand  hält,  hält  sich  im  Gang  die 
Welt.  Drum  sollst  du  ihn  für  das  Xectar  1 nehmen. 

1 Amrta  „Unsterblichkeits  - Trank“.  Sollte  hiermit  vielleicht  eine  rationelle  Berich- 
tigung der  indischen  V olksfabel  in  Bezug  auf  das  amrta  in  direct  gegeben  sein?  — Der  brak- 
manische Gedankengang  in  Bezug  auf  die  Stellung  des  Regens  zur  Welt  ist  in  Bagavad- 
gltä  III.  15  sehr  deutlich  ausgesprochen : .,  Nachdem  das  Menschengeschlecht  mit  dem 
Opferritus  zugleich  erschaffen  worden , sagte  pragäpati  („  progenitor“,  sc.  generis  hu- 
mani):  .Dadurch  (durch  den  Opferritus  nämlich)  pflanzt  euch  fort:  er  sei  euch  eine  Kuh. 
die  alle  eure  Wünsche  gewährt.  Ehret  dietxötter,  so  ehren  sie  euch.  . . . Durch  Opfer 
geehrt,  werden  sie  euch  die  erwünschten  Speisen  geben : wer  aber  die  von  ihnen  gege- 
benen Speisen  geniesst,  ohne  vorher  einen  Theil  derselben  ihnen  darzubringen , ist  ein 
Dieb.  . . . Durch  Früchte  nähren  sich  die  lebenden  Wesen,  durch  Regen  entstehen 
Früchte,  und  durch  Opfer  wird  der  Regen  erlangt.“  Also:  Aus  dem  Regen  die  Frucht, 
aus  der  Frucht  das  Opfer  . und  aus  dem  Opfer  wieder  der  Regen. 

12.  Das,  was  dem  Geniessenden  genussreiche  Genüsse 
schafft 1 und  den  (diese)  Geniessenden  sich  (auch  selbst)  zum 
Genuss2  giebt,  ist  der  Regen. 

1 Indem  es  die  Früchte  der  Erde  erzeugen  hilft. 

2 Als  Trinkwasser. 


2.  Des  Regens  Trefflichkeit. 


7 

13.  Wenn  die  Wolle’  am  Himmel  an  sieb  haltend  lügt, 
quält  anhaltend  der  Hunger  auf  der  von  grossem  Wasser 
umwogten  1 weiten  Erde. 

i  Dies  ist  hier  wohl  kein  miissiges  Beiwort ; es  soll  daran  erinnern,  dass  das  Wasser 
des  Meeres  trotz  seiner  Menge  das  Wasser  des  Himmels  nicht  ersetzen  kann. 

14.  Die  Pflüger  arbeiten  nicht  mit  dem  Pfluge,  fehlt  die 
Fülle  des  Wolken -Segens. 

15.  Verderben,  und  die  Verderbten  hülfreich  heben  — 
diess  alles  (thut)  der  Regen. 

Mit  Recht  Ellis : „Wer  in  einem  tropischen  Clima  je  sah,  wie  der  Regen  in  Strömen 
über  das  Land  stürzt  und  alles  vor  sich  her  fegt,  oder  wie  nach  langer  Dürre  die  Natur 
aus  ihrer  Lethargie  durch  die  Wuth  eines  Regensturmes,  der  die  versengten  Flächen 
plötzlich  in  lebendiges  Grün  hüllt,  erweckt  wird,  nur  der  kann  die  Richtigkeit  dieses 
Gedankens  recht  würdigen. “ 

16.  Es  träufeln  denn  vom  Himmel  Tropfen  — - sonst 
schwerlich  zeigt  sein  Haupt  ein  grünes  Gräslein. 

17.  Selbst  das  weite  Weltmeer 1 verliert  seinen  Adel, 
wenn  nicht  die  Wolke  wegnimmt2  — und  wieder  spendet3. 

1 Das  doch  die  Wolke  erst  erzeugt.  (P.) 

2 Indem  sie  das  Wasser  aus  dem  Meere  anzieht. 

3 „Weil  dann  (nach  indischer  Anschauung)  keine  Seethiere  geboren  und  keine  Per- 
len  erzeugt  werden.“  (P.) 

18.  Tägliche  Feier  sammt  Festen  stockt  selbst  den 
Himmlischen  hienieden,  wenn  der  Himmel  austrocknet '. 

1 Der  brahmanische  Gedanke  würde  sein : Ohne  Regen  keine  Frucht , ohne  Frucht 
kein  Opfer.  (Vergl.  Anm.  zu  V.  11.) 

19.  Beides,  Spende  und  Kasteiung1,  hält  nicht  Stand  in 
der  weiten  Welt,  dafern  der  Himmel  nicht  spendet. 

1 Haus  - und  Busstugend,  als  das  erste  Strebeziel  der  Menschen.  (P.)  (Siehe  Anm.  1 
zu  V.  20.) 

20.  Wenn  ohne  Wasser  sein  Weltgeschäft1  Niemandem 
von  statten  geht,  so  geht  ohne  Regen  die  (ganze  Welt-)  Ord- 
nung nicht  von  statten 2. 

1 P.  sieht  hierin  eine  Hindeutung  auf  die  beiden  andern  Strebeziele  des  Menschen 
„Gut  und  Lust“  (siehe  Anm.  zu  V.  19),  als  die  innerhalb  dieserWelt  liegen. 

2 P.  fasst  den  Nachsatz  „so  findet  (hienieden  ; ohne  Regen  kein  (regelmässiger)  Er- 
guss (des  Wassers)  statt.“  Ebenso  Drew.  Offenbar  minder  passend,  zumal  hier  am  Schluss 
des  Capitels.  P.  führt  übrigens  die  obige  Fassung  mit  an.  — järjärkkura  ist  so  gestellt, 
dass  es  in  den  Vordersatz  ebenso  wohl  als  in  den  Nachsatz  gezogen  werden  kann. 


8 


I.  Von  der  Tugend. 


3.  . 

DER  SELBSTKASTEIER  GRÖSSE. 

„Dieses  Kapitel  folgt  auf  die  , Trefflichkeit  des  Regens dieweil  der 
Dichter  der  Welt  die  Tugend  und  die  andern  Strebeziele  der  Men- 
schen in  ihr  wahres  Licht  stellen  will.“  (P.) 

21.  Des  regelrechten1  Bussers  Majestät  als  meist  zu  Be- 
gehrendes heischt  der  helle  Spruch  der  Schrift2. 

1 „Regelrechte  Kasteiung  heisst  innerhalb  seiner  Regel  sich  kasteien.  Während 
man  sich  eines  Wandels  befleissigt,  der  gegen'die  betreffende  Kasten-  und  Standes- 
ordnung nicht  verstösst,  wächst  die  Tugend;  während  die  wächst,  schwindet  die  Sünde; 
während  die  schwindet,  weicht  die  Unwissenheit;  während  die  weicht,  kommt  die  Unter- 
scheidung zwischen  Beständigem  und  Unbeständigem,  die  Unlust  an  den  unbeständigen 
Freuden  des  Diesseits  und  des  Jenseits,  so  wie  die  Geburtstrauer  zum  Vorschein;  wäh- 
rend diese  zum  Vorschein  kommt,  entsteht  die  Erlösungs-Begierde;  während  die  ent- 
steht, weichen  alle  eitlen  Strebungen,  welche  die  Geburt  veranlassen,  und  die  beschau- 
lichen Strebungen , die  zur  Erlösung  führen,  treten  ein  ; so  wird  die  philosophische  Er- 
kenntnis geboren,  und  die  nach  aussen  gehende  Leidenschaft  des  ,Mein‘  und  die  nach 
innen  gehende  des  , Ich‘  hören  auf.  Daher  läuft  denn  eben  regelrechte.  Kasteiung 
darauf  hinaus  , dass  man  diese  beiden  Leidenschaften  in  dieser  Weise  verabscheut  und 
fahren  lässt.“  (P.) 

2 P.  sieht  in  der  Allgemeinheit  dieses  Ausdrucks  eine  Andeutung,  dass  alle  Systeme» 
mögen  sie  sonst  auch  noch  so  verschieden  sein,  in  diesem  Punkte  miteinander  stimmen. 

22.  Willst  du  der  Selbstkasteier  Majestät  messen,  das 
ist  als  wolltest  du  die  aus  der  Welt  Weggegangnen  zählen. 

23.  In  der  Welt  glänzt  die  Grösse  Derer,  die,  wohl  ver- 
traut mit  den  zwei  Zuständen1,  sich  unterziehn  der  Tugend- 
That 

1 Der  Geburt  und  der  Erlösung.  P. 

2 Der  Tugend  der  Selbstkasteiung.  P. 

24.  Wer  die  Fünf1  zu  zügeln  weiss  mit  der  Weisheit-' 
Haken,  der  ist  für  das  Land  der  Seligkeit  ein  Saatkorn  un- 
vergleichlich. 

1 Die  Sinne,  die  hier  mit  ungestümen  Elephanten  verglichen  werden. 

2 Eigentl.  (Geistes  -)  Stärke , fortitudo. 

25.  Voll -Zeuge1  für  die  Machtthat  Dess,  der  die  Fünf 
übermocht  hat,  ist  Indra,  der  Herr  der  Himmlischen  im  wei- 
ten Aether. 

i Insofern  er  selbst  die  Macht  des  Selbstkasteiers  Gautama,  mit  dessen  Weib  er  in- 
triguirte,  an  sich  erfuhr.  Die  Djaina’s  aber  leugnen,  dass  ein  wahrer  Selbstkasteier 


3.  Der  Selbstkasteier  Grösse. 


9 


eine  solche  Macht  des  Fluches  entweder  besitzt  oder  in  Anwendung  bringt,  und  be- 
haupten, dass  der  Verfasser  den  Gautama,  der  ja  verheirathet  war,  unter  die  Selbst- 
kasteier gar  nicht  rechnen  konnte.  Kaviräjapantitan  fasst  daher  den  Sinnjrdes  Verses 
einfach  so:  Indra  der  Götterkönig  selbst  und  nur  er,  kennt  hinlänglich  die  Macht  Dessen, 
der  seine  Sinne  zähmt.  (Ellis,  S.  67.) 

26.  Die  das  Schwerzuthuende  thun,  sind  die  Grossen; 
die  Kleinen  sind,  die  das  Schwerzuthuende  nicht  thun. 

P.  versteht  unter  Schwerem  die  acht  Stücke  des  Jöga  (s.  Band  I,  S.  107,  Anm.  3), 
unter  Leichtem  sich  seinen  natürlichen  Begierden  hingeben.  „Es  giebt  auch  Einige,  die 
(unter  dem  Schweren)  die  acht  Bräuche  der  Einsiedlerschaft,  als  z.  B.  oftmaliges  Baden, 
verstehen;  diese  sind  aber  in  dem  Nijama  („der  religiösen  Verrichtung“,  als  dem  zwei- 
ten Stück  des  Jöga,)  enthalten,  und  passen  daher  nicht  für  die  Grösse  des  Selbst- 
kasteiers.“ 

27.  Die  Welt  liegt  beschlossen  in  Dem,  der  die  Weise 
der  Fiinfe  weiss:  Geschmack,  Gesicht,  Getast,  Gehör,  Geruch. 

„Die  Kategorieen  der  Fünf  sind  erstens  eben  sie  selbst,  die  (als  tanmätra  oder  ele- 
mentarische  Ansätze  — siehe  die  Liste  der  sansc.  Vedanta- Ausdrücke,  Th.  I od.  II — ) den 
Elementen  zu  Grunde  liegen , die  aus  ihnen  hervorgehenden  fünf  Elemente , sowie  die 
fünf  intellectuellen  und  die  fünf  praktischen  Organe  (siehe  Th.  I,  S.  181,  13),  die  aus  je- 
nen gebildet  sind,  zusammen  20.  Der  Ausdruck  , In  Dem,  der  die  Weise  weiss  ‘ giebt  uns 
noch  fünf  Kategorien  an  die  Hand:  purusa:  (oder  ätman) , der  durch  seine  Verbindung 
mit  dem  Körper  erkennt ; und  dazu  mahat  (das  intellectuelle  Prinzip),  ahankära  (.Ichheit*, 
d.  i.  das  Vermögen  alles  auf  das  Ich  zu  beziehen)  und  manas  (allgemeiner  innerer  Sinn, 
an  der  Spitze  der  zehn  Organe),  die  dem  purusa  als  Werkzeuge  des  Erkennens  dienen ; 
endlich  mülaprakrti  (, Wurzel  - Natur  *,  d.  i.  das  bildende  Urprincip).  Diese  fünf  und 
zwanzig  Kategorien  erkennen  heisst  nun,  im  Sinne  der  Sänkja-Bücher,  darüber  klar 
werden : erstens,  dass  die  Natur  der  müla-prakrti  bloss  prakriti  (productiv)  , nicht  vikrti 
(producirt)  ist;  zweitens,  dass  das  aus  der  müla-prakrti  hervorgehende  mahat,  der  aus 
dem  mahat  hervorgehende  ahankära,  und  die  aus  dem  ahankära  hervorgehenden  (fünf) 
tanmätra  — diese  sieben  Stücke  — in  Rücksicht  auf  das,  was  ihnen  respective  als  Erstes 
zu  Grunde  liegt,  vikfiti,  in  Bezug  auf  das,  was  aus  ihnen  entsteht,  prakr.ti  sind ; drittens, 
dass  die  aus  ihnen  entstehenden  Kategorien  — manas , die  fünf  intellectuellen  und  die 
fünf  praktischen  Organe,  sowie  die  fünf  Elemente  — nie  prakr.ti , sondern  stets  bloss 
vikriti  sind;  viertens  endlich,  dass  der  purusa,  welcher  aus  Nichts  entsteht,  und  aus 
welchem  Nichts  entsteht,  weder  das  Eine  noch  das  Andere  ist.  — Dieweil  man  nun  die 
Realität  der  Welt  so  erkennt,  dass  es  ausser  diesen  25  Kategorien  nichts  Anderes  giebt, 
was  Welt  genannt  wird,  so  ist  die  Welt  in  dem  Wissen  eines  Solchen  beschlossen.4*'  (P.) 

28.  Der  Vollspruchs -Männer 1 Grösse  wird  ihr  Geheim- 
spruch 2 kund  thun. 

1 Der  Muni’s,  deren  AVort  sich  stets  erfüllt. 

2 Ihr  Fluch  sowohl  als  ihre  Segnung,  (mantra.)  Vergl.  Th.  I,  S.  130  — 131. 

29.  Sich  hüten  vor  dem  hellen  Zorn  — auch  nur  auf 
einen  Augenblick  1 — Derer,  die  Fuss  fassten  auf  dem  Berg 
der  Tugend,  ist  schwer. 

i Der  Zorn  kommt  solchen  Heiligen  bloss  in  Rücksicht  auf  frühere  Verschuldung; 
er  dauert  aber  auch  bloss  einen  Augenblick,  indem  die  Weisheit,  die  ihnen  inne wohnet, 
ihn  alsbald  auslöscht.  (P.) 


10 


I.  Von  der  Tugend. 


30.  Die  man  „Hochmilde“1  heisst,  sind  die  Tugend- 
samen, denn,  gegen  alles  Leben  mit  hoher  Milde  angethan, 
wandeln  sie2. 

1 „ Antanar “,  Leute,  die  eine  „schöne  Kühle  oder  Milde  besitzen So  werden 
nicht  bloss  die  Götter,  sondern  auch  die  Brahminen  genannt.  Vielleicht  ein  strafender 
Seitenblick  auf  die  Brahminen,  die  sich  ihrer  blossen  Geburt  wegen  jenen  Titel  beilegen. 
Es  ist  hier  aber  nicht  von  der  Tugend  im  Allgemeinen  die  Rede,  sondern  von  der  Tugend 
des  Selbstkasteiers,  in  welcher  allerdings  die  allgemeine  Tugend  gipfeln  soll. 

2 Obgleich  sie  die  Macht  des  Fluches  besitzen.  (P.) 


4. 

ANPREISUNG  DER  TUGEND. 

„Die  Tugend  anjjreisen  lieisst  verkünden,  dass,  weil  sie  (nicht  wie  das 
Gut  und  die  Lust  unter  den  drei  von  jenen  Muni’s  gelehrten  Dingen) 
für  das  Dreies:  dieses  Leben,  jenes  Leben  und  die  endliche  Erlösung, 
erspriesslich  ist,  sie  auch  vorzüglicher  sei  als  iene  (zwei  Dinge:  Gut 
und  Lust).“  (P.) 

31.  Glorie  spendet  sie,  Glück  spendet  sie.  Welch  hö- 
heres Glück  doch  als  die  Tugend  giebt’s  für  die  Lebendigen? 

P.  versteht  unter  „Glorie“  hauptsächlich  die  endliche  Erlösung,  unter  „Glück“ 
aber  den  zeitweiligen  Genuss  des  Svarga.  (Vergl.  Theil  I,  S.  153.) 

32.  Es  giebt  kein  höheres  Heil  als  die  Tugend,  kein  hö- 
heres Unheil  als  deren  Versäumniss. 

33.  Wie  es  nur  möglich  ist1,  wo  es  nur  angeht2,  unab- 
lässig übe  du  Tugend  -That. 

1 In  Bezug  auf  die  Haustugend,  deinem  Besitze  gemäss;  in  Bezug  auf  die  Buss- 
tugend, deinem  Leibeszustande  gemäss.  (P.) 

2 Im  Herzen  mit  guten  Gedanken,  mit  dem  Munde  in  guten  Worten,  mit  den  Glie- 
dern in  guten  Werken.  (P.) 

34.  Am  innern  Menschen  makellos  sein,  ist  Tugend;, 
leerer  Lärm  alles  Andere. 

35.  Tugend  ist  Meiden  der  Vier:  Zorn,  bitteres  Wort, 
Neid,  Gier. 

36.  „Wir  wollen  weise  morgen  werden!“  So  nicht  spre- 
chend, üb’  Tugend;  sie  ist  dir,  wenn  du  scheidest,  eine  nie 
scheidende  Gefährtin 


I.  Anpreisung  der  Tugend. 


11 


i Denn  sie  begleitet  dich,  wenn  dein  Leib  dahinfallt,  in  einen  andern  Leib.  (P.) 
„Die  Tugend  ist  die  einzige  Freundin,  die  uns  nach  dem  Tode  folgt;  alles  Uebrige  stirbt 
mit  dem  Leibe.“  (Hitöpadcsa.) 

37.  Angesichts  des  Getragenen  und  des  Sänfte  - Trägers 
braucht  man  nicht  eingänglich  zu  schildern  der  Tugend  Gang1. 

1 Der  blosse  Anblick  ist  eine  Tugend-Predigt,  denn  an  dem  Einen  siebt  man  den 
Lohn  der  Tugend,  an  dem  Andern  die  Strafe  des  Lasters  während  eines  frühem  Daseins 
exemplificirt.  — Diess  der  Beleg  zu  dem  vorigen  Verse , dass  die  Tugend  eine  nie  schei- 
dende Gefährtin  ist.  (P.) 

38.  Wenn  einer  Gutes  thut,  so  dass  kein  Tag  des  Le- 
bens neben  fällt,  so  ist  das  ein  Steinblock,  der  dem  Lebens- 
tag den  W eg  wehrt 1. 

1 D.  h.  der  das  Wiedergeboren  werden  hindert. 

„So  lange  die  , Zweithat1  (Gutthat  und  Unthat),  die  durch  die  fünf  Fehler  (Unwissen- 
heit, Selbstsucht,  Gier,  Wunsch  und  Abscheu)  vor  sich  geht,  (als  unabgenossene  Summe 
von  meritum  und  demeritum)  andauert,  geniesst  die  Seele,”  (in  verschiedenen  Geburten) 
mit  dem  Körper  geeint,  die  beiderlei  Folgen  jener  Thaten;  desshalb  wird  jene  Zeit 
, Lebenstag1  genannt.“  (P.) 

39.  Was'auf  der  Tugend-Weg  zuwegekommt1,  ist  Lust; 
alles  Andere  das  Widerspiel  — und  ohne  Lob. 

1 P.  beschränkt  diess  auf  eine  tugendhafte  Liebe , wahrscheinlich  auf  Veranlassung 
des  Wortes  inpam  („Lust"),  das  allerdings  vorzugsweise  für  „Liebeslust“  gebraucht  wird. 

40.  Was  zu  thun  taugt,  ist  Tugend ; was  zu  lassen,  Laster. 


VON  DER  HAUSTUGEND. 


o. 

HAUSLEBEN. 

„Das  ist  die  Vortrefflichkeit  des  Lebens  in  Gemeinschaft  mit  der 
Hausfrau.  Da  dieser  Stand  unter  den  zwei  (Tugend-)  Ständen  (häusl. 
und  ascet.  Tugend)  die  erste  Stelle  einnimmt,  so  folgt  er  hier  auf  die 
Anpreisuug  der  Tugend.“  (P.) 

41.  Ein  Hausherr  ist  eine  stete  Stütz’  auf  dem  guten 
Weg  für  die  treffliehen  Drei  h 

1 Xaeh  P.  für  den  Schüler,  den  Waldsiedler  und  den  Allentsager , indem  der  Haus- 
vater im  Stande  ist , diesen  Dreien  „Xahrung,  Arznei  und  Raum“  zu  geben.  — (Manu 
3, 77  — 7S.)  Den  Djaina's  war  „der  Waldsiedler"  unbekannt.  (EUis,  ö4;  131.) 

42.  Ein  Hausherr  ist  eine  Hülfe  den  Verlassenen  *,  den 
Verkommenden  und  den  Verblichnen  2. 

1 Oder  „denen,  die  alles  verlassen  haben  (den  Allentsagern) “.  Diese  sind  wohl 
aber  schon  unter  den  „Dreien“.  Y.  41. 

2 Indem  er  die  (sogenannte)  „Wasserpflicht“  (d.  i.  die  Pflicht,  den  Manen  Wasser 
zu  spritzen.  Manu  3,  82,  202  fgg.)  etc.  für  sie  verrichtet  und  ihre  Seelen  auf  diese  Weise 
in  den  Himmel  fördert.  (P.) 

43.  Hauptsache  ist  das  Herkommen  halten  gegen  die 
Fünf:  Manen1,  Gottheit,  Gast,  Verwandt’  und  das  eigene 
Selbst. 

i Pitr's  (Väter).  Im  Text  steht  eigentlich:  „Die  im  Süden  wohnen.“  Die  Pitr.'s 
„sind  eine  zurZeit  der  Schöpfung  von  Brahma  erschaffene  Art  von  Göttern“  (P.),  die 
im  Süden  wohnen'  und  die  ..Manen  der  Sterblichen  in  ihre  Gemeinschaft  aufnehmen, 
für  welche  sapindlkarana  — der  Ritus  der  Gemeinschaft  mittelst  der  Todten  - Kuchen  — 
gehörig  verrichtet  wurde.“  Wilson.  Vischnu  Purana,  S.  320  fgg. 


/ 


C.  Die  Giito  der  Ilaushülfe. 


13 


44.  Hütet  sich  ein  Hauswesen  vor  Unrecht  und  giebt 
gern  von  seiner  Nahrung,  so  wird’s  an  Nachkommenschaft 
nie  fehlen. 

45.  Hat  ein  Hauswesen  Lieb’  und  Tugend,  so  ist  das 
sein  Wesen  und  sein  Segen. 

Die  Liebe  ist  das  Wesen  , die  Tugend  sein  Segen;  denn  wo  die  Eintracht  der  Gat- 
ten fehlt,  kann  die  Haustugend  nicht  gedeihen.  (P.) 

46.  Bringt  man  auf  dem  Tugendweg’  ein  Hauswesen 
zuweg,  was  kann  man  dann,  auf  Aussenwege1  gehend,  ge- 
winnen? 

i  D.  h.  als  Waldsiedler.  (P.) 

47.  Wer  sein  Hauswesen  wohl  verwest,  ist  unter  allen 
Hochstrebenden1  das  Haupt. 

i ,.Da  der  Allentsager  (Sannjasin)  (alles  bereits)  hinter  sich  hat,  so  sind  hier  Die- 
jenigen zu  verstehen,  die  sich  in  dem  dritten  Stadium  befinden  (die  Waldsiedler).“  (P.) 

48.  Ein  Hauswesen,  das,  Andern  den  Weg1  weisend, 
nicht  von  der  Tugend  weicht,  duldet  mehr2  als  die  Dulder3. 

1 Askese. 

2 Insofern  es  nicht  bloss  die  eigenen  Mühsale,  sondern  auch  die  der  Asketen  (für  de- 
ren Bedürfnisse  es  sorgt)  auf  sich  nimmt.  Vergl.  Manu  3,  78. 

3 Die  Asketen  (Waldsiedler  und  Allentsager). 

49.  Was  man  Tugend  heisst,  ist  das  Hausleben;  Jenes1 
auch  ist  gut,  wird’s  anders  nicht  von  Andern  angefochten2. 

1 Das  Büsser -Leben. 

2 Wegen  ordnungswidriger  Führung  desselben.  (P.) 

50.  Wer  hienieden  dem  Hausleben  gemäss  lebt,  den  hebt 
man  unter  die  himmelbewohnenden  Götter  h 

1 Nach  P.  nicht  bloss  insofern  er  wie  ein  Gott  geachtet,  sondern  weil  er  zum  Lohne 
seiner  Tugend  nachher  wirklich  als  ein  Gott  geboren  wird. 


6. 

DIE  GÜTE  DER  HAUSHÜLFE. 

„Das  ist  die  Tugend  der  Gattin,  die  jenem  Hausleben  eine  Hülfe 

ist.“  (P.) 

51.  Die,  in  allen  zur  Ehe  passenden  Tugenden  1 trefflich, 
den  Umständen  ihres  Eheherrn  sich  anpasst,  — das  ist  eine 
Haushülfe. 


14 


I.  Von  der  Tugend. 


1 ..Die  guten  Eigenschaften  einer  Hausfrau  sind:  Sorge  für  die  Büsser,  Gastfreund- 
lichkeit. Milde  gegen  Arme  u.  s.  w.  Die  guten  Werke  sind:  die  zum  Hauswesen  nöthi- 
gen  Dinge  versehen  und  in  Acht  nehmen.  Geschicklichkeit  in  dem  Kochwesen,  wolil- 
thun  u.  s.  w.“  (p.) 

52.  W ird  bei  einer  Hausfrau  die  häussliche  Trefflichkeit 
nicht  getroffen,  so  mag  an  einem  Hauswesen  noch  so  viel 
Treffliches  sein,  — es  ist  nichtig. 

53.  V as  besitzt  man  nicht,  wenn  die  Hausfrau  herrlich 
ist;  wo  nicht,  was  besitzt  man? 

54.  Was  giebt  es  Grossherrlicheres  als  ein  Weib,  — 
kann  sie  der  Keuschheit  Kraft  gewinnen. 

55.  Es  regnet1,  wenn  „es  regne“!  Die  spricht,  die, 
nicht  die  Gottheit,  — nein,  den  Gemahl  anbetend,  sich  vom 
Lager  hebt2. 

i D.  i.  ..Die  Gottheit  selbst  begiebt  sich  einem  solchen  Weibe  zu  Diensten.4*  (P.  > 
— Dem  Sprüchwort  zufolge  bringen  gerechte  Könige,  fromme  Brahminen  und  treuerge- 
bene Frauen  einem  Lande  den  Segen  häufigen  Regens. 

- ..So  sagt  er.  weil  die  Zeit,  wo  das  Gemüth  sich  zur  Anbetung  der  Gottheit  schickt, 
die  Zeit  ist,  wo  man  vom  Schlafe  aufsteht.*4  (P.) 

56.  Das  ist  eine  Frau,  die  unermlidet  sich  hütet,  für  ih- 
ren Herrn  sorgt,  und  den  hehren  Kuf  hütet. 

57.  Was  nützt  die  Hut,  wo  der  Verschluss  hütet?  Die 
Hut,  wo  die  Tugend  der  Frau  hütet,  ist  die  Hauptsache. 

58.  Eine  Frau,  wenn  sie  erlangt  den,  „der  sie  erlangt“, 
wird  in  der  Götterwelt  zu  grosser  Ehre  gelangen. 

Soll  vielleicht  heissen:  Eine  Frau,  die  sich  einen  Mann  erringt,  und  damit  den 

Grund  zu  dem  so  verdienstlichen  Hausleben  legt,  wird  etc.  etc.**;  obgleich  die  Commen- 
tare  durch  ein  ganz  willkürliches  Einschiebsel  folgenden  Sinn  herausbringen:  Wenn 
eine  Frau  es  erlangt,  den,  der  sie  zur  Ehe  erlangt  hat,  (zu  ehren),  so  etc.  etc. 

59.  Die  können  nicht  vor  ihren  Tadlern  hehr  imd  hoch 
wie  der  Leu  einhergehn,  die  nicht  ein  lobliebendes  Haus- 
weib haben. 

Die  Commentare  lassen  purin  tu  für  purin  ta  stehen  und  nehmen  il  für  illäl.  Will  man 
das  nicht,  so  heisst  der  Schluss  : ,,  die  nicht  lobliebend  einem  Hauswesen  vorstehn  und 
also  auch  nicht  Frau  und  Kinder  in  Schranken  halten)44 ; diese  Fassung  würde  dann  auf 
den  folgenden  Vers  ganz  wohl  überleiten. 

60.  Der  Hausfrau  Herrlichkeit  ist  wie  ein  Heilsspruch ; 
wie  ein  schöner  Schmuck  wackrer  Kinder  Segen. 

Dieser  Vers  leitet  auf  das  folgende  Kapitel  über. 


7.  Erzeugung  von  Kindern. 


15 


7. 

ERZEUGUNG  VON  KINDERN. 

„Unter  den  drei  Pflichten,  welche  von  den  drei  Zweigeborneu 
(Schüler,  Hausvater  und  Waldsiedler)  zu  lösen  sind,  kann  die  , Pflicht 
gegen  die  Weisen1  nur  durch  wissenschaftliches  Studium,  die  , Pflicht 
gegen  die  Götter1  nur  durch  Opfer,  die  , Pflicht  gegen  die  Manen4  nur 
durch  Kindererzeugung  gelöst  werden;  so  handelt  denn  dieses  Capitel 
von  der  Erzeugung  guter  Kinder  zur  Erfüllung  dieser  Pflicht.“  (P.) 

61.  Unter  den  Segnungen  keinen  andern  Segen  als  den 
an  Kindern,  die  alles  Wissenswerthe  wissen  ',  weiss  ich. 

l P.  findet  in  diesem  Zusatz  eine  ausschliessliche  Beziehung  auf  Knaben. 

62.  Der  sieben  Geburten  Trübsale  treffen  nicht,  ist 
man  mit  tadellosen  tüchtigen  Kindern  gesegnet.  . 

Die  guten  Werke  der  Kinder  kommen  den  Aeltern  zugute  und  helfen  so  die  Schuld 
derselben  tilgen  , so  dass  sie  nun  nicht  mehr  in  einer  der  ,,  sieben  Geburten“  oder  We- 
sensgattungen wiedergeboren  zu  werden  brauchen.  Die  sieben  Wesensgattungen  Sind: 
1)  Götter,  2)  Menschen,  3)  vierfiissige  Thiere,  4)  Vögel,  5)  kriechendes  Gewürm, 
6)  Wasserthiere , 7)  Bewegungsloses.  Diese  sieben  ,, Geburten“  (Genera)  zerfallen  iu 
84  Lak  ..Entstehungsarten“  (Species):  1)  14;  2)  9;  3)  10;  4)  10;  5)  11;  6)  10;  7)  20. 

63.  Unsere  Kinder  nennen  wir  unser  Eigenthum,  denn 
ihr  Eigenthum  1 kommt  uns  durch  ihr  Thun  gegen  uns  zugut. 

1 „Nicht  den  eigenen  Reichthum,  sondern  die  Kinder  nennt  er  Reichthum;  denn 
wenn  man  stirbt,  so  wird  man  von  jenem  getrennt,  diese  aber  lassen  uns  jenen  und  ihren 
Reichthum  (durch  Verrichtung  frommer  Werke  mittelst  desselben)  zukoramen.“  (R.) 

Man  kann  auch  übersetzen:  „ Unsere  Kinder  nennen  wir  unser  Eigenthum , denn 
was  ihnen  eigen  ist.  kommt  durch  unser  eigenes  Thun“.  (Nach  dem  Volksglauben,  dass 
gute  Kinder  der  Lohn  für  gute,  böse  Kinder  die  Strafe  für  böse  Thaten  sind.)  So  Ellis 
und  Beschi. 

64.  Viel  süsspr  als  Nectar  schmeckt  der  von  Kindes 
Händchen  handthierte  Reis. 

65.  Wonne  dem  Busen  ist’s,  seines  Kindes  Körper  zu 
berühren;  dem  Ohr  ist’s  Wonne,  sein  Wort  zu  hören. 

66.  „Süss  ist  die  Flöte,  süss  die  Laute“.  So  sagt,  wer 
nie  vernahm  seines  Kindleins  Lallen. 

67.  Die  vom  Vater  dem  Sohn  zu  erweisende  Wohlthat 
ist,  dahin  zu  wirken  dass  er  in  der  Versammlung1  Vorsitze. 

1 Der  Gelehrten. 


16 


L Von  der  Tugend. 


68.  Dass  die  Söhne  weiser  als  sie  selber  werden,  ist  al- 
len in  der  weiten  Welt  wurzelnden  Wesen  süss. 

So  schon  R.  Offenbar  falsch  P. : „Wenn  die  Söhne  weiser  werden  als  die  Aeltern, 
so  ist  das  den  andern  Weisen  anf  Erden  noch  angenehmer , als  den  eigenen  Aeltern.“ 

69.  Höher,  denn  da  sie  ihn  gebar,  hebt  sich  das  Herz 
der  Mutter,  die  ihren  Sohn  hörte  1 hochherrlieh  nennen. 

1 P.  findet  in  diesem  ..hören**  den  Character  des  Weibes,  das  selbst  zu  urtheilen 
nicht  im  Stande  sei . angedeutet. 

70.  Der  dem  Vater  vom  Sohn  zu  leistende  Lohn  ist  die 
Red  im  Volk:  „Wie  muss  doch  Dieses  Vater  sich  ab- 
kasteit 1 haben! “ 

1 Man  erinnere  sich,  dass  sehr  vortreffliche  Söhne  als  die  beste  Erdengabe  anf  dem 
Wege  herber  Kasteiung  erlangt  werden. 


8. 

LIEBE. 

„ Das  ist  zu  Weib,  Söhnen  und  sonstigen  Verwandten  Xeigung  hegen. 
Diess  Capitel  ist  erforderlich , weil  eine  liebliche  Verrichtung  der 
Haustugend,  so  wie  ein  huldvolles  Benehmen  gegen  Andere  die  Frucht 
solcher  Liebe  ist.“  (P.) 

71.  Giebt’s  denn  auch  für  die  Lieb’  ein  schliessendes 
Schloss  ? E in  Zährlein  des  Zärtlichen  wird  sie  ruchbar  machen1. 

1 Die  innere  Neigung  offenbarend. 

72.  Der  Liebelose  eignet  Alles  sich  zu;  der  Liebevolle 
eignet  selbst  sein  Gebein  Andern  zu. 

R.  (nach  P.)  führt  als  Beispiel  an  den  König  Sipi,  der  zur  Erhaltung  einer  Taube, 
die  zu  ihm  seine  Zuflucht  genommen,  sich  das  Fleisch  vom  Leibe  riss,  es  darwog  und  als 
es  nicht  zulangte,  sich  selbst  auf  die  Wage  stellte“  und  V.  Fügt  noch  als  zweites  Beispiel 
hinzu  „den  Rischi  TatTsi,  der  seinen  Rückenknochen  dem  Indra  gab.“ 

73.  Ein  mit  Liebe  gepaarter  Wandel,  sagt  man,  ist  die 
Einigung,  da  mit  dem  Gebein  sich  die  köstliche  Seele  paart. 

„Die  köstliche  Seele“  bezeichnet  die  Menschenseele,  im  Gegensatz  zu  den  Thier- 
seelen  etc.  (R.)  P.  findet  in  dem  Ganzen  folgenden  Sinn:  Der  Zweck  der  Menschen- 
geburt ist  ein  liebevoller  Wandel.  R. : Dass  Einer  als  Mensch  und  nicht  als  Thier  ge- 
boren wird,  ist  eine  Folge  liebevollen  Benehmens  iin  einer  frühem  Geburt).  — Ariel 
übersetzt:  Elle  est,  dit  on,  par  sa  nature  une  avec  l'amour  — la  Sympathie  harmonieuse 
de  Tarne  humaine  avec  le  corps.  — Sollte  vielleicht  der  Sinn  der  sein : Nur  die  Liebe  ver- 
leiht wahres  Leben:  wo  Liebe  sich  mit  dem  Wandel  paart,  da  ist’s , als  wenn  sich  die 
Seele  mit  dem  Körper  paart. 

74.  Liebe  erzeugt  Verlangen1,  dieses  aber  der  Freund- 
schaft imausforschliche 2 Herrlichkeit. 


8.  Liebe. 


17 


1 In  Anderen. 

2 Sehr  materiell  P. : „ Unausforschlich  nennt  er  sie  insofern  als,  wenn  man  Alle  zu 
Freunden  hat,  man  Alles  erlangen  kann.“ 

75.  Einen  in  Liebe  gelebten  Wandel  nennen  die  Weisen 
eine  Herrlichkeit,  zu  haben,  nachdem  man  hienieden  in 
Wonne  gewebt  bat. 

Der  Sinn  ist:  ,,Ein  liebevoller  häuslicher  Wandel  schafft  hienieden  Wonne  und 
droben  Herrlichkeit.“  — (,,Sie  hat  die  Verheissung  dieses  und  des  zukünftigen  Lebens.“) 
— ..Die  Freude  der  obern  Welt,  welche  die  Selbstkasteier  erlangen  werden  , kann  man, 
auch  die  Freude  in  dieser  Welt  geniessend  , nur  so  erlangen , dass  man  Liebe  übt.“  (P.) 

76.  Unwissende  nennen  die  Lieb’  eine  Gehülfin  der 
Lindigkeit;  sie  ist  auch  eine  Helferin  dem  Zorn  '. 

i Indem  sie  den  aufsteigenden  Zorn  bald  beseitigt.  So  P.  und  R.  Besser  die  von 
V.  anheimgegebene  Fassung:  indem  sie  auch  die  Fehler  von  denen,  die  sie  liebt , zu 
strafen  pflegt. 

77.  Wie  die  Sonne  knochenlose1  (Geschöpfe),  so  sengt 
die  (göttliche)  Gerechtigkeit2  liebelose  (Seelen). 

1 Die  Ameisen  z.  B.  können  die  Glut  der  tropischen  Sonne  nicht  vertragen. 

2 Ar  am  = Arakkatavul  (Darma  devatä,  „Gerechtigkeits-Gottheit“),  — jenes  unbe- 
stimmte Abstractum,  das  in  der  Hindu  - Mythologie  die  griechische  Nemesis  vertritt.  — 
„Einige  sagen,  dass  für  die  Uebelthuer  aram  der  Todesgott  ist“.  SoP.;  dazu  R. : „Dar- 
ma (die  göttliche  Gerechtigkeit)  erscheint  den  Sündern  als  Yama  (Todesgott).“  Der 
Todesgott  heisst  ja  auch  Darmaräg'a  („  Gerechtigkeits  -König“). 

78.  Das  Leben  einer  liebeleeren  Seele  ist  wie  eines  dür- 
ren Baumes  Spriessen  auf  Steinboden. 

Soll  heissen:  eine  solche  Seele  lebt  eigentlich  nicht.  Man  bemerke  die  Doppel- 
unmöglichkeit: ein  verdorrter  Baum  — auf  Steinboden. 

79.  W as  helfen  alle  äussern  Glieder,  wenn  des  Leibes 
innres  Glied,  die  Liebe,  fehlt? 

P.  versteht  den  Vers  so:  „Was  helfen  alle  äussern  Glieder  (im  Sinne  von  Mit- 
tel zur  Führung  des  Hauslebens  als:  Land,  Schätze,  Diener),  wenn  die  Liebe  fehlt, 
jenes  im  Innern  des  Körpers  befindliche  Glied  (Organ),  weil,  wenn  man  uruppu 
als  Glied  (wie  Auge  etc.)  nehme,  dann  alle  Beziehung  auf  das  .Hausleben*  (davon  doch 
hier  die  Rede)  wegfalle.“  R.  sucht  diese  Schwierigkeit  dadurch  zu  heben,  dass  er 
den  Vers  so  fasst:  Wie  die  äussern  Glieder  (Hand,  Fuss)  nichts  helfen  ohne  die  innern 
(Leber,  Eingeweide),  so  hilft  Reichthum  ohne  Liebe  zu  einer  ordentlichen  Führung  des 
Hauslebens  nicht.  (Die  Liebe  ist  das  innerste  und  mithin  unentbehrlichste  Glied  im 
Leibe  des  Hauswesens.)  — Es  bedarf  jedoch  dieser  Künsteleien  nicht;  der  folgende 
Vers  rechtfertigt  die  ganz  natürliche  Fassung,  die  übrigens  P.  selbst  mit  anführt. 

80.  Liebes- Ausfluss  bildet  den  Lebensquell 1 ; die  Leiber 
der  Liebeleeren  sind  Haut- überkleidete  Knochen. 

1 Oü  1‘amour  fait  son  chemin,  est  le  sidge  (Tune  äme.  (Ariel.) 


III. 


2 


18 


I.  Von  iler  Tilgend. 


9. 

GASTFREUNDSCHAFT. 

„Unter  den  , fünf  Ehrungen  4 (der  Manen,  der  Gottheit,  der  Gäste,  der 
Verwandten,  des  eignen  Selbst)  geschehen  die  beiden  erstem  so,  dass 
man  an  unsichtbare  Personen  denkt,  die  beiden  letztem  aber  sind  nicht 
Spenden  an  Fremde;  daher  wird  die  in  der  Mitte  stehende  , Gast- 
freundschaft“ ausgezeichnet  und  an  die  Spitze  der  Haustugenden  ge- 
stellt. Da  sie  nur,  wenn  Zwei  sich  in  unwandelbarer  Liebe  einen,  ge- 
übt werden  kann,  so  folgt  sic  hier  auf  die  , Liebe4.“  (P.) 

81.  Alles  Beharren  im  Haus1  und  Warten  des  Haushalts 
hat  zuin  Zweck  Gast-Pfleg’  und  Almosen- Spende. 

1 Der  Gegensatz  ist  hier  der  Stand  des  Allentsagers  und  des  Waldsiedlers  (?).  Ver- 
gleiche Vers  41. 

82.  Während  draussen  weilt  der  Gast,  drinnen  allein 
speisen  — und  wär’s  Ambrosia  — ist  nicht  begehrenswerth. 

83.  Nie  verkümmert  und  verkommt  das  Haus  Dess,  der 
die  kommenden  Gäste  gern  stets  pflegt. 

84.  In  dem  Hause  Dess,  der  fröhlicher  Miene  des  guten 
Gastes  pflegt,  herbergt  mit  fröhlichem  Herzen  die  Göttin  des 
Glücks. 

85.  Verlangt  denn  wohl  Streuung  auch  nur  des  Samens1 
der  Acker  Dess,  der  erst  den  Gast  versorgt  und  dann  den 
Rest  verzehrt? 

i ,,  Er  wird  von  selbst  spriessen“.  (P.)  — P.  fasst  vitturn  Rai  als  viteiyujn  Rutalum. 
— „Samen  und  Streuung“.  R.  nimmt  es  als  „Samenstreuen“  und  findet  in  „um“  an 
vittu  die  Andeutung  des  Gegensatzes  („geschweige  denn  Unkraut  ausreissen“).  — 
Der  Gegensatz  stellt  sich  wohl  aber  am  einfachsten  so:  „geschweige  denn  Streuung  von 
Dünger“;  denn  „um“  sitzt  ja  an  vittu  und  nicht  an  Rai. 

86.  Wer,  den  gekommenen  Gast  noch  pflegend,  nach 
dem  kommenden  schon  schaut,  ist  ein  willkommener  Gast 
den  Göttern. 

87.  Der  Spende1  Segen  lässt  sich  nicht  messen;  das 
Maass  des  Gastes2  ist  sein  Maass. 

i Der  gastfreundlichen  Spende.  — Man  zählt  5 Spenden  oder  Opfer:  Heiliges  Stu- 
dium für  das  Brahma,  Feueropfer  für  die  Götter,  Oblationen  von  Speise  an  alle  leben- 
den Wesen,  Wasserspenden  an  die  Manen , Almosen  an  Bettler.  Die  letzte  Spende 
ist  hier  gemeint. 


10.  Liebliche  Rede. 


19 


2,, Sei  die  Spende  auch  noch  so  klein,  wenn  sie  in  eine  würdige  Hand  kommt, 
so  macht  diese  sie  (sc.  ihren  Werth)  so  gross,  dass  daneben  der  Himmel  klein  wird.“  (P.) 
R.  schlägt  — offenbar  minder  glücklich  — auch  folgende  Fassung  vor:  „Die  Be- 
schaffenheit des  Gastes  und  des  Gastmahls  zugleich  (viruntu  kann  Gast  und  Gastmahl 
heissen)  giebt  den  Maassstab  für  das  Verdienst  der  Spende.“ 

88.  „Mühsam  hegten  wir1  und  sind  nun  ohne  Halt.“ 
So  werden  Die  sprechen,  die  nicht  Gäste  hegend  der  Spende 
(Segen)  holten2. 

1 Unser  Vermögen. 

2 Die  nicht  durch  Verwendung  zu  gastfreundschaftlichen  Zwecken  ihr  vergänglich 
Gut  gleichsam  weihten. 

89.  Armuth  mitten  im  Reichthum  ist  die  Thorheit,  die 
der  Gastpflege  nicht  pflegt.  Sie  findet  sich  (nur)  bei  Thoren  l. 

1 Dieser  Zusatz  ist  nicht  tautologisch,  denn  es  giebt  Thorheiten , in  welche  auch 
Weise  zuweilen  verfallen. 

90.  Wenn  man  dran  riecht,  welkt  die  Anitscha  - Blume ; 
das  Gastmahl 1 welkt,  wenn  man  finster  dreinschaut. 

i P.  fasst  viruntu  als  Gast  (zarter  als  die  Anitscha-Blume,  die  nur  dahinwelkt,  wenn 
man  sie  wirklich  berührt,  während  das  Angesicht  des  Gastes  schon  bei  blossem  un- 
freundlichen Blick  des  Gastgebers  aus  der  Ferne  dahinwelke.)  R.  bezieht  das  „finstere 
Dreinschauen“  auf  den  Gast,  und  schlägt  folgende  Fassung  vor : Wenn  an  der  gastfreund- 
lichen Bewirthung  auch  nur  ein  Weniges  fehlt,  so  wird  der  fröhlich  gekommene  Gast  un- 
willig, und  dadurch  verliert  dann  die  Gastfreundschaft  an  Verdienstlichkeit.  Danach  soll 
denn  viruntu  hier  ein  dreifaches  äkuper  („Wandelwort“)  sein:  Gastfreund  — Gastmahl 
— Verdienstlichkeit  in  Folge  des  letztem. 


io. 

LIEBLICHE  REDE. 

„D.  i.  freundliche  Worte,  die  des  Herzens  Freude  offenbaren,  reden. 
Da  auch  diess  (neben  , freundlichem  Gesicht*  und  , Wohlthun1)  den 
Gastpflegern  unerlässlich  ist,  so  folgt  das  Kapitel  von  der  , lieblichen 
Rede*  auf  das  von  ,der  Gastfreundschaft*.“  (P.) 

91.  Liebliche  Rede  ist  die  mit  Lindigkeit  gemischte 
falschlose  Red’  aus  dem  Munde  der  Schauer  des  „schönen 
Guts“1. 

i Summum  bonum.  „Es  heisst  , schönes  Gut1,  weil  in  deren  Geiste,  die  die 
Wahrheit  erkannt  haben,  Alles  schön  und  gut  wird.“  (P.)  — R.  bemerkt  zu  „der 
Schauer  etc.  “ : Der  Verfasser  drückt  sich  so  aus,  um  anzuzeigen,  dass,  wenn  auch  die 
Rede  Derer,  die  ungebildet  sind,  nichts  von  Tugend  wissen,  und  befleckten  Geistes 
sind,  mit  Milde  gepaart  und  ohne  Falsch  ist,  man  diese  doch  nicht  eine  „liebliche  Rede“ 
nennen  könne. 


2* 


20 


1.  Von  der  Tugend. 


92.  Besser  als  heitern  Herzens  spenden  ist’s,  wenn  man 
heitern  Angesichts  süsse  Rede  zu  führen  im  Stand’  ist. 

„Denn  obgleich  ein  heitern  Angesichts  geredetes  süsses  Wort  nicht  wie  die  Spende 
von  den  Mitteln,  sondern  von  der  eignen  Person  abhängt,  so  ist  es  doch  eben  nur  Denen, 
die  wahrhaft  barmherzig  sind,  natürlich.“  (P.)  — Kann  auch  heissen  : „Eben  so  gut  als 
heitern  Herzens  etc.“  Der  Sinn  ist  dann : Man  braucht  nicht  reich  zu  sein  , um  wohlzu- 
thun ; es  kommt  nur  auf  den  guten  Willen  an ; die  freundliche  Erklärung,  dass  man  nicht 
helfen  könne,  ist  eben  so  gut  als  eine  Spende. 

93.  Heitern  Angesichts  lieh  darein  schauend , von  Her- 
zen liebe  Rede  führen,  das  ist  Tugend1. 

1 „Sie  liegt  also  nicht  im  Spenden.“  (P.) 

94.  Lästiger  Mangel  wird  nicht  Dem,  der  lustreiche 
Worte  mit  Jedem  redet. 

95.  Demuthsvoll  süsse  Rede  führen  ist  Schmuck  dem 
Menschen;  Fremdes  1 nicht. 

1 Aeusserer  Schmuck. 

96.  Untugend  weicht,  Tugend  wächst,  wenn  man,  Gutes 
sinnend,  Süsses  sagt. 

97.  Ein  Nutzen  stiftendes,  von  Lindigkeit  nicht  lassen- 
des Wort  wird  Tugend  stiften  und  Heil  fruchten. 

98.  Süsse  Rede,  von  Gemeinheit  fern,  schafft  Süssigkeit 
fürs  andere  1 wie  für  dieses  Leben. 

1 D.  h.  für  die  nächste  Existenz  (im  Sinne  der  Seelenwanderung). 

99.  Wie  sollte,  wer  da  sieht,  dass  süsse  Rede  Süsses 
zeugt,  sich  in  harter  Red’  ergehn? 

100.  Bittres  reden,  wenn  Süsses  vorliegt,  ist  wie  saure 
Frucht  essen,  wenn  reife  vorhanden  ist. 


11. 

ANERKENNUNG  DER  WOHLTHAT. 


„Dieses  Kapitel  folgt  auf  das  vorhergehende,  weil  Undankbarkeit  eine 
unendliche  Schuld  ist  für  Diejenigen,  die,  liebliche  Rede  führend,  in 
der  Haustugend  fehllos  wandeln.“  (P.) 

101.  Für  die  ohne  Gegenthun  gethane  Wohlthat  können 
schwerlich  genugthun  Erd’  und  Himmel. 


11.  Anerkennung  der  Wohlthat. 


21 


102.  Die  zur  rechten  Zeit  gethane  Wohlthat,  sei  sie  auch 
noch  so  winzig,  ist  weit  grösser  als  die  Welt. 

103.  Erwägt  man  den  Werth  der  ohn’  Erwägung  des 
Vortheils  gethanen  Wohlthat,  — ihre  Güt’  ist  grösser  als  das 
Weltmeer. 

104.  Wenn  Einer  eine  Wohlthat  auch  nur  vom  Maass 
eines  Hirsekorns  thut,  — die  das  Verdienst 1 kennen,  werden 
sie  im  Maasse  der  Palmyra  selm. 

1 D.  i.  das  Verdienst  einer  solchen  dankbaren  Anschauungsweise  (P.)  — oder 
aber  der  geringsten  Wohlthätigkeit. 

105.  Die  Gab’  ist  nicht  der  Gabe  Maass ; sie  hat  ihr 
Maass  in  des  Empfängers  Hochherzigkeit. 

„Die  (Gegen-)  Gabe  (=  die  Dankbarkeit)  hat  ihr  Maass  nicht  an  der  (zuvorempfan- 
genen) Wohlthat  nach  Motiv  (siehe  V.  91),  Umfang  und  Zeit  (s.  V.  92),  sondern  an  des 
Empfängers  Tugend.“  (P.)  Die  Dankbarkeit  glaubt  sich  nicht  mit  einem  Equivalent 
abfinden  zu  können;  je  hochherziger  Jemand  ist,  je  höher  schlägt  er  eine  empfangene 
Wohlthat  an. 

106.  Vei’giss  nicht  das  Wohlwollen  der  Fleckenlosen! 
Verlass  nicht  die  Freundschaft  Derer,  die  in  der  Trübsal  dich 
stützend  standen. 

P.  stellt  die  beiden  Sätze  um  — wahrscheinlich  im  Sinne  der  Steigerung.  (Er 
scheint  nämlich  in  dem  zweiten  Satze  ein  irdisches  Motiv,  in  dem  ersten  aber  ein  über- 
irdisches zu  sehen;  die  „Freundschaft  Derer , die  etc.“...  frommt  bloss  diesem , das 
„Wohlwollen  der  Fleckenlosen“  aber  zugleich  dem  andern  Leben.) 

107.  Der  Freundschaft  Dess,  der  die  unserm  Aug’  ent- 
fallende Thräne  trocknete,  gedenkt  man  durch  die  sieben- 
geartete „Sieben- Geburt “l  hin. 

1 Vergl.  Anm.  zu  Vers  62. 

108.  Gutes  vergessen  ist  nicht  gut;  nicht- Gutes  auf  der 
Stelle  vergessen  gut. 

109.  Thät’  er  auch  bis  zum  Todtschlag  Bittres,  — es 
schwindet,  schwebt  uns  Ein  Gutes  vor,  das  er  gethan. 

110.  Selbst  für  die,  so  alles  Gut’  in  sich  tödteten,  ist 
Heil,  — kein  Heil  für  den  Menschen,  der  die  ihm  erzeigte 
Gutthat1  tödtet. 


1 In  Undank. 


22 


1.  Von  der  Tagend. 


12. 

GLEICHMAASS. 

„Das  heisst  gegen  , Feinde,  Gleichgültige  und  Freunde*  ohne  von 
der  Tugend  zu  weichen,  gleichmässig  handeln  Dieses  Kapitel  folgt 
auf  das  vorhergehende,  um  den  Gedanken  einzuschärfen:  , Denen 
gegenüber,  die  uns  Gutes  gethan,  verlieren  wir  gar  bald  das  Gleicli- 
maass,  wenn  wir  an  das  gethane  Gute  denken,  es  soll  aber  auch  ihnen 
gegenüber  gewahrt  werden.*“  (P.) 

111.  Schön  ist  das  Eine  — ein  „treffend  Benehmen“, 
wenn  man  in  jedem  Verhältniss  das  rechte  Verhalten  trifft. 

112.  Des  Rechtschaffenen  Vermögen  ist  nicht  zu  ver- 
wüsten, ■ — nachhaltig  (selbst)  für  die  Nachkommen. 

1 13.  Sollt’  er  auch  noch  so  Gutes  geben  — den  Vortheil, 
der  wider  Billigkeit  zu  Theil  dir  wird,  lass  eilend  fahren. 

114.  Ob  Einer  wacker  oder  nicht  wacker,  sieht  man  an 
Jedes  Nachkommenschaft1. 

lindem  den  Gerechten  eine  Nachkommenschaft  erwächst , den  Ungerechten  aber 
nicht.  (P.) 

115.  Unheil  und  Heil  kommt1  nicht  für  nichts.  Der 
Seelen  Gleichmaass  nicht  verlieren  aber  ist  der  Vollkommnen 
Schmuck. 

1 Beides  entspringt  aus  der  ,,  Alt-  That“,  d.  i.  aus  den  in  einer  früheren  Existenz 
verrichteten  bösen  und  guten  Handlungen.  — Man  stellt  die  Unabwendbarkeit  der  ver- 
dienten Schickung  unter  folgendem  Gleichniss  dar:  „Wenn  man  die  Mutter  auch  unter 
viele  Kühe  versteckt,  das  Kalb  sucht  und  findet  sie  doch;  so  sucht  und  findet  auch  die 
, Alt- That  ‘ sicherlich  ihren  Thäter.“  (Vergl.  Nälafi,  I,  11,  1.) 

116.  Wenn  dein  Geist,  aus  dem  Gleichmaass  gleitend, 

mit  Unrecht  umgeht,  so  wisse,  das  heisst:  „Verderben 

werd’  ich“1. 

i So  nimm  das  als  ein  Vorzeichen  des  nahenden  Verderbens.  (P.) 

117.  Das  Elend  Dess,  der,  voll  Ebenmaasses,  im  Guten 
ausharrt,  wird  nicht  als  Weh  von  der  Welt1  gerechnet. 

i ,,Die  Welt“  ist  im  Tarnul.  der  Inbegriff  der  tonangebenden  Weisen. 

118.  Wie  die  Wage,  die,  wenn  sie  das  Gleichmaass  er- 
langt hat,  wohl  abwägt,  — ruhig  nach  keiner  Seite  neigen  ist 
der  Vollkommnen  Zier. 


13.  Selbstzucht. 


23 


P.  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  gewählten  Zeitwörter  sämmtlich  sowohl  auf 
den  Vergleich , als  auf  das  Verglichne  passen.  Er  sieht  in  der  Erlangung  des  Gleich- 
maases  das  gleiche  Verhalten  gegen  Freund,  Feind  und  Gleichgültige“,  in  dem  Ab- 
wägen die  regelrechte  Prüfung  des  Mitgetheilten,  und  in  dem  „nach  keiner  Seite  neigen“ 
die  Geltendmachung  desselben  gegen  Jedermann. 

119.  Freiheit  von  Rede  - Krümmen  ist  rechte  Gradheit, 
dafern  man  zur  unverrückten  Freiheit  (auch)  von  Geistes- 
Krümmen  gelangt. 

Ein  rechtschaffen  klingendes  Wort  ist  nichts  ohne  die  entsprechende  Gesinnung. 

120.  Das  ist  die  rechte  Geschäftlichkeit  der  Geschäfts- 
leute, wenn  sie  selbst  Fremdes  besorgen  und  beschaffen  wie 
Eigenes. 

Dass  sie  nicht  zu  viel  nehmen  und  zu  wenig  geben.  (P.)  Von  dieser  Seite  her 
passt  der  Vers  in  das  Kapitel  vom  ,,  Gleichmaass  “. 


13. 

SELBSTZUCHT. 


„Das  ist  Leib,  Mund  und  Geist  von  bösen  Wegen  fern  halten.  Dieses 
Kapitel  folgt  auf  das  vorige,  dieweil  Selbstbeherrschung  dem  Gleich- 
massvollen  eignet,  der,  wie  des  Andren  Fehler,  seine  eignen  sieht.“  (P.) 

121.  Selbstbeherrschung  führt  zu  den  Unsterblichen,  in 
dichtes  Dunkel 1 stürzt  Nichtbeherrschung. 

i ,,Dies  ist  eine  Hölleneigenschaft.“  (P.) 

122.  Wie  einen  Schatz  schirme  die  Selbst -Bändigung! 
Ein  höheres  Heil  giebt’s  nicht  für  die  Seele. 

123.  Wenn  du,  (heiliger)  Kunde  kundig,  dich  regelrecht 
zu  zügeln  weisst,  — so  wird  solche  Bändigung  offenkundig 
und  bringt  dir  Ruhm. 

P.:  „Wenn  du  weisst,  dass  die  Selbstbeherrschung  die  (wahre)  Weisheit  ist  etc.“ 
Vielmehr:  Wenn  du  die  Theorie  der  Weisen  von  der  Zügelung  der  Sinne  wohl 
kennst  etc. 

124.  Die  Erscheinung  Dess,  der,  auf  seinem  Stand  stets 
unverrückt,  sich  selbst  zügelt,  ist  hochhehrer  als  ein  Berg. 

125.  Beugung  beut  Allen  Heil;  bei  den  Reichen  1 insbe- 
sondere gereicht  sie  zum  Reichthum. 

1 „An  Wissen.  Rang.  Gut,  Tapferkeit  etc.“  (P.) 


24 


I.  Von  der  Tugend. 


126.  Wenn  man  wie  die  Schildkröte1  die  Fünf  einzieht 
in  Einem  Sein,  so  ist  jedes  Sein2  in  Sicherheit. 

1 Die  Schildkröte  zieht  ihre  Glieder  ein,  um  sich  vor  Gefahr  zu  schützen,  der  Weise 
seine  Sinne,  um  sich  vor  Sünde  zu  wahren.  (P.) 

2 Eigentlich  „die  Siebengebnrt  “ — d.  i.  der  ganze  Complex  der  Existenz.  (Ver- 
gleiche Vers  62.) 

127.  Mag  man  auch  Alles  nicht  zügeln,  man  zügle  doch 
die  Zunge;  wo  nicht  — ausgleitet  das  Wort  und  man  leidet 
Weh. 

128.  Wo  bösen  Wortes  Frucht  — und  wär’s  nur  eine  — 
wächst1,  wird  gleich  das  Gute2  Böses. 

1 Oder:  Wo  — und  wär's  auch  nur  Einen  — bösen  Wortes  Frucht  wächst  etc. 

2 .Alle  übrigen  Tugenden.  (P.) 

129.  Die  von  Feuers  - Gluth  gebrannte  Wunde  heilt 
innen 1 aus ; nie  heilt  die  von  der  Zunge  gebrannte  Narb’  ab. 

1 „Wenn  sie  auch  am  Leibe  sichtbar  bleibt,  innen  im  Herzen  heilt  sie  lindem  man 
sie  leicht  vergiebt).“  (P.) 

130.  Wer  dem  Zorne  wehrt  und  weislich  Selbstzucht 
übt,  nach  Dess  Gelegenheit1  schaut  die  Tugend  aus2,  auf 
seinen  Weg  sich  schleichend. 

t Die  Commentare  verstehen  darunter  die  darmadevatä,  die  personificirte  „Ge- 
rechtigkeit“. Vergl.  Anm.  2 zu  Vers  77. 

2 Oder  auch:  „Dessen  Schönheit  schauet  die  Tugend  an.  auf  seinen  Weg  sich 
schleichend.“  (Sewiheisstnämlich  sowohl  Schönheit  als  Gelegenheit.)  Vergl.  aber  V.  179 
und  V.  694. 


14. 

SITTE. 


„Dieselbe  besteht  darin,  dass  man  sieb  nach  den  für  die  verschiedenen 
Kasten  und  Lebensstadien  niedergelegten  Ordnungen  richtet.“  (P.) 

131.  Sitte  schenkt  Schätzung,  drum  schätze  Sitte  mehr 
als  das  Leben. 

132.  Liebend  behutsam  bewahre  die  Sitte;  wenn  Einer 
auch  noch  so  weise,  behutsam  und  wacker  wär\  sie  kann  ihn 
fördern. 

133.  Sitte  ist  Adel,  Unsitte  Geburts- Gemeinheit. 


15.  Nichtbegehren  eines  fremden  Weibes. 


25 


Nach  indischen  Begriffen  ist  auch  die  niedrigste  Kaste  ehrenhaft,  dafern  man  sich 
der  damit  verbundenen  Ordnung  gewissenhaft  fügt:  Ordnung  nämlich  ist  das  höchste 
Princip  indischer  Gesetzgebung.  „Besser  ist's  , die  eigne  Pflicht  mangelhaft,  als  die 
fremde  vollkommen  zu  erfüllen.“  Manu  10,  97;  Bagavadgltä  3,  35;  18,  47. 

134.  Wenn  er  auch  vergässe,  er  kann’s  wieder  lernen, 
der  Gottesgelehrte;  verfehlt  er  die  Sitte,. so  verfällt  sein  Adel. 

135.  Wie  der  Wohlstand  bei  Neidischen  — nichtig  ist 
alle  Grösse  bei  Sittelosen. 

„Wie  der  Missgünstige  für  seine  Angehörigen  kein  Vermögen  hat,  so  der  Sitte- 
lose kein  Ansehn  bei  ihnen.“  (R.) 

136.  Von  der  Sitte  weichen  die  Weisen  nie,  — der  Un- 
sitte Schmach  bedenkend. 

137.  Sittigkeit  trägt  Ehr’  ein,  Unsittigkeit  trägt  nicht  zu 
tragende  Schand’  ein. 

138.  Gute  Sitte  ist  Same  des  Guten,  schlechte  Sitte 
schafft  ewig  Schmerzen. 

139.  Auch  nur  aus  Achtlosigkeit  Unachtbares  mit  dem 
Mund 1 zu  sagen , ist  dem  Sittigen  unmöglich. 

1 P.  findet  in  diesem  Zusatz  die  gründliche  Gewöhnung  angedeutet  (die  sich  selbst 
auf  die  Organe  mit  erstreckt). 

140.  Die  nicht  in  Einklang  mit  der  Welt 1 wandeln  lernen, 
sind,  noch  so  viel  lernend,  ganz  Ungelehrte. 

1 Siehe  Anm.  zu  Vers  117. 

Die  heil.  Bücher  reichen  nicht  aus:  Vieles  wird  darin  geboten,  was  doch  zu  der 
gegebenen  Zeit  nicht  passt,  Vieles  aber  auch  nicht  erwähnt,  was  doch  geübt  werden 
muss.  Daher  muss  das  Muster  der  Weisen  die  Vorschriften  der  h.  Bücher  ergänzen.  (P.) 


15. 

NICHTBEGEHREN  EINES  FREMDEN  WEIBES. 

„Dieses  Kapitel  folgt  auf  das  Kapitel  von  der  , Sitte“,  weil  das  Nicht- 
begehren eines  fremden  Weibes  nur  bei  solchen,  denen  Sitte  eignet, 
gefunden  wird.“  (P.) 

141.  Die  Thorheit,  die  nach  Der  gelüstet,  die  einem  An- 
dern angehört,  ist  nicht  Derer,  die  sich  auf  „Tugend“  und 
„Gut“  verstehn1. 

1 D.  i.  bei  Denen,  die  nicht  bloss  einseitig  die  Lehre  von  der  „Lust“,  als  dem 


26 


I.  Von  der  Tugend. 


niedersten  Strebeziele,  sondern  auch  die  Lehre  von  der ,, Tugend“  und  vom  „Gut“,  als 
den  beiden  höltern  Strebezielen,  kennen.  (P.) 

142.  Unter  Allen,  die  an  der  Tugend  Thür  stehn1, 
giebt’s  keine  grossem  Thoren,  als  die  so  an  des  Nächsten 
Thür  stehn2. 

1 D.  i.  ausserhalb  des  Bereichs  der  Tugendhaftigkeit. 

2 Mit  ehebrecherischen  Absichten. 

143.  Von  einem  Hingeschiedenen  nicht  verschieden  ist, 
wer  an  eines  fest  trauenden  Freundes  Frau  übel  timt. 

,,  Denn  er  erlangt  weder  Tugend , noch  Reichthum  , noch  Lust.“  (P.) 

144.  Wie  gross  sie  auch  seien,  was  ist’s,  wenn  sie,  ohne 
Verstand  gross  wie  ein  Hirsekorn,  zu  eines  Fremden  Frau 
schleichen. 

145.  Wer  mit  dem  Gedanken  „S’ist  ein  Geringes!“  in 
ein  Haus  einbricht,  wird  ewig  nicht  schwindende  Schande 
holen. 

146.  Hass,  Sünde,  Furcht,  Schmach  — diese  Vier  wei- 
chen nicht  — von  Dem,  der  in  ein  Haus  einbricht. 

147.  Wer  die  Weiblichkeit  Der,  die  einem  Andern  na- 
türlich ist,  nicht  begehrt,  der  heisst  ein  Hausherr,  dem  die 
Tugend  natürlich  ist. 

148.  Die  hohe  1 Männlichkeit,  die  nicht  nach  fremden 
Frauen  schaut,  ist  der  Vollkommnen  Tugend,  — und  auch 
ihr  voller  Adel. 

i „So  sagt  er,  weil  selbst  Denen,  die  eine  äussere  Feinde  unterjochende  Männlich- 
keit besitzen,  doch  die  Unterjochung  des  innern  Feindes,  der  Lust,  schwer  fällt.“  (P.) 

149.  Wer  sind  auf  dieser  Erde  mit  gewaltigem  Gewässer 
des  Segens  Eigner?  Die  nicht  anrühren  die  Schulter  Der, 
die  einem  Andern  eignet. 

150.  Auch  wenn  man,  sich  Tugend  nicht  aneignend,  Un- 
gehöriges thäte,  — löblich  ist  (schon),  nicht  lüstern  sein  nach 
der  Weiblichkeit  der  einem  Andern  Angeeigneten. 


16.  Geduld. 


27 


IG. 

GEDULD. 

„Weil  man  auch  Die  tragen  soll,  die  sich  Ungehöriges  lassen  zu 
Schulden  kommen,  so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  vorhergehende.“ 
(Vergl.  Vers  150.)  (P.) 

151.  Der  Erde  gleich,  die  ihren  Pflüger  trägt,  seinen 
Schmäher  tragen,  ist  eine  Haupttugend. 

152.  Stets  1 trag  die  Uebertretung;  sie  vergessen  ist  noch 
besser. 

1 Auch  wenn  du  dich  zu  rächen  im  Stande  bist.  (P.) 

153.  Gäste  abweisen  ist  der  Armuth  Armuth,  Thoren 
tragen  der  Stärke  Stärke. 

154.  Will  man  der  Würde  nicht  verlustig  gehn,  so  muss 
man  Geduld  wahrend  wandeln. 

155.  Die  Rachsüchtigen  wirft  man  als  nichts  weg;  die 
Langmüthigen  hebt  man  wie  Gold  auf. 

156.  Die  Lust  der  Rachsüchtigen  währt  einen  Tag,  das 
Lob  der  Langmüthigen  bis  zum  Vergehn*. 

1 Des  eignen  Selbst  — oder  der  Welt,  wie  die  Commentatorcn  wollen. 

157.  Auch  wenn  Andre  gesetzlos  wider  dich  handeln, 
fein  ist’s,  dir  das  Leid  1 leid  sein  lassend,  tugendlos  nicht  zu 
handeln. 

1 Das  den  Uebertreter  als  Strafe  sicherlich  ereilen  wird.  (P.) 

158.  Die  in  Uebermuth  Uebergriffe  thun,  soll  man  durch 
seinen  sanften  Muth  besiegen. 

159.  Heilig  wie  ein  Biisser  ist,  wer  bittre  Red’  aus  der 
Ueberschreitenden  Mund  verschmerzt. 

160.  Ja,  gross  sind,  die  fastend  Schmerz  erleiden  — 
nach  Denen,  die  das  von  Andern  gesprochene  bittre  Wort 
verschmerzen. 


„ Die  Letztem  sind  grösser,  weil  sie,  als  Nichtbüsser,  mit  der  zweifachen  Leiden- 
schaft (Hass  und  Liebe),  die  cs  zur  Selbstkasteiung  nicht  kommen  lässt,  behaftet,  (gei- 
stig) sich  selbst  kasteien.“  (P.)  — ,.  Bei  den  Bussern  nutzt  sich  die  Thätigkeit  der  Anta: 


28 


I.  Von  dev  Tugend. 


karana’s  der  Unwissenheit  (d.  i.  der  geistigen  Vermögen,  deren  Thätigkeit  — im  ISimie 
des  Vedanta  — die  Unwissenheit  erzeugt,  und  die  daher  zu  unterdrücken  sind;  vergleiche 
Baud  I,  Seite  87)  allmählig  ab,  und  es  wird  ihnen  daher  die  Uebernahme  von  Schmerzen 
leicht;  bei  denen  aber,  die  im  Hausstande  leben,  bleiben,  eben  weil  sie  nicht  fasten, 
jene  geistigen  Vermögen  in  voller  Thätigkeit,  und  weil  sie  nun  ohne  das  (vermittelnde) 
Agens  (des  Fastens)  Schmerzen  zu  übernehmen  haben,  so  fällt  es  ihnen  schwer,  und 
daher  eben  ist  es  für  sie  verdienstlicher.“  (P.) 


17. 

NEIDLOSIGKEIT. 


„Dieses  folgt  auf  die  , Geduld1,  weil  Neid  dereu  Widerspiel  ist*.“  (P.) 

161.  Mau  halte  des  Herzens  neidreine  Art  für  feine  Art  ! 

162.  Unter  allen  zu  erlangenden  Schätzen  ist  keiner  wie 
der,  wenn  man  zu  Neidlosigkeit  gegen  Alle  gelangt. 

163.  Wer,  um  Andrer  Glück  unbesorgt,  neidet,  von  dem 
heisst  es:  „Er  mag  nicht  der  Tugend  Glück“1. 

i Das  Glück,  das  in  Folge  der  Tugend  kommt.  Die  Commentatoren  nehmen  aran 
äkkam  als  Dvandva:  Tugend  und  Glück;  und  beziehen  die  Tugend  auf  jenes,  das 
Glück  auf  dieses  Leben. 

164.  Kundig  des  aus  Uebertretung  stammenden  Leid- 
wesens, tliun  (die  Weisen)  nie  Ungehöriges  aus  Neidwesen. 

165.  Für  die  Neidischen  ist  ihr  Neid  genug1;  er  bringt, 
auch  wenn  die  Feinde  fehlen2,  Verderben. 

1 Zu  ihrem  Verderben. 

2 In  ihren  Angriffen. 

166.  Wer  eine  Spende  neidet,  dess  Verwandte  (selbst) 
gehn  kleiderbloss  und  nahrungslos  zugrund. 

167.  Den  Neidischen  schaut  scheel  die  Glücksgöttin  an 
und  führt  statt  ihrer  die  ältere  Schwester 1 ein. 

1 Die  Mütevi  ,, ältere  Göttin“.  (Die  Unglücks  - Göttin.) 

168.  Der  unvergleichliche  Schurke  „Neid“  schlägt  todt 
das  Glück  und  fördert  zuletzt  an  den  Feuer -Ort. 

169.  Des  Neidherzigen  Wohl  und  des  Edelherzigen  Weh 
giebt  zu  denken. 


Porumei  = Tragen  (Geduld) ; Po/ämei  = Nichttragen  (Neid). 


1».  Gierlosigkeit. 


2!) 


„Da  Neid  nicht  Glück  und  edle  Gesinnung  nicht  Verderben  zuwege  bringen  kann, 
so  denken  die  Weisen  bei  einem  solchen  Falle:  „Welches  doch  mag  die  frühere  That 
sein,  die  daran  Schuld  ist?*4  (P.) 

170.  Keine  Neidherzigen,  die  vorwärts  schritten!  Keine 
Neidlosen,  die  im  Wachsthum  litten  ! 


18. 

GIERLOSIGKEIT. 

„Das  ist  der  Zustand,  da  man  sich  fremden  Eigenthums  nicht  gelüsten 
lässt.  ,Die  Gierlosigkeit'  folgt  auf  , die  Neidlosigkeit',  weil  sich  ge- 
lüsten lassen  eine  Schuld  ist,  die  auf  des  Nächsten  Gut  nicht  bloss 

scheel  sieht,  sondern  es  auch  an  sich  zu  reissen  sucht.“  (P.) 

171.  Wer  ungerecht  nach  schönen  Gütern  giert,  dem 
geht  das  Geschlecht  zugrund  — und’s  schafft  auch  gleich 
ihm  Schaden. 

172.  Die  sich  der  Unbill  schämen,  thun  nicht  um  Vor- 
theils  willen  Verwerfliches. 

173.  Die  nach  der  „andern  Lust“  recht  lüstet,  thun 
nicht  aus  Gier  nach  „Klein -Lust“  Unrecht. 

„Die  Klein -Lust44  stellt  der  „Gross  - Lust44  (hier  „der  andern  Lust4*)  entgegen. 
Jene  bezieht  sich  auf  dieses,  diese  auf  ein  andres  Dasein,  beide  aber  hängen  noch  mit 
den  „fünf  Sinnen44  (wozu  nach  den  philosophischen  Begriffen  der  Hindus  die  geistigen 
Vermögen  wesentlich  mitgehören)  zusammen.  „Er  sagt , Klein-Lust4,  weil  sie  plötzlich 
vergeht,  indem  sie  aus  der  Sünde  stammt.44  (P.)  Die  „Gross  - Lust“  dauert  eben  länger, 
ist  aber,  im  Sinne  der  rechtgläubigen  Philosophie,  auf  deren  höchstem  Standpunkt  nach 
vollendetem  Geburtskreislauf  der  sich  Freuende  mit  dem  Gegenstand  der  Freude  „im 
Brahma“  für  immer  zusammenfällt,  doch  auch  vergänglich. 

174.  Die  über  ihre  Sinne  sieghaften,  der  Kleinlichkeit 
entrückten  Seher  lassen  sich  nie  gelüsten  sprechend:  „Wir 
haben  nicht.“ 

„Sie  werden  sich  s elb  st  im  Mangel  nicht  gelüsten  lassen“  (D.).  — Oder:  Sie  ha- 
ben nie  Mangel.  So  P.  (Vergl.  Band  I,  Seite  113.) 

175.  Was  hilft  feines  und  weites  Wissen,  wenn  man  ge- 
gen All’  aus  Gier  mit  Ungebühr  handelt. 

176.  Wer  nach  (Herzens-)  Huld1  begierig,  auf  dem 
(rechten)  Pfade2  steht  — er  verdirbt,  sobald  er,  nach  Gut  be- 
gierig, mit  Bösem  schwanger  geht. 


30 


I.  Von  der  Tugend. 


1 Drew : „(  Gottes- ) Huld-1.  Es  ist  hier  aber  wohl  die  persönliche  huldvolle  Gesinnung, 
als  die  Bliithe  der  philosophischen  Tugend,  gemeint. 

2 „Da,  nur  wenn  die  philosophische  Einsicht  auf  dem  Wege  der  Haustugend  zur 
Reife  kommt,  man  die  Busstugend  iiben  kann,  so  nennt  er  jene  einen  Pfad  zu  dieser 
Busstugend.“  P. 

177.  Lüste  nicht  nach  dem  Gut,  das  die  Gier  giebt;  de- 
ren Frucht,  wenn’s  reift,  ist  schwerlich  edel. 

178.  Was  lässt  die  Wohlfahrt  nicht  zerrinnen?  Auf  des 
Andren  liebes  Gut  nicht  sinnen. 

179.  Zu  den  Weisen,  die,  der  Tugend  kundig,  nie  ge- 
lüstet, gesellt  sich  alsbald,  der  Gelegenheit  kundig,  die  Glücks- 
göttin. 

180.  Ruin  gebiert’ s,  wenn  man  bedachtlos  giert;  Triumph 
gebiert  die  Geistes- Grösse  des  Nichtbegehrs. 


19. 

NICHT  HINTERRÜCKS  REDEN. 

„Dies  folgt  auf  , Neidlosigkeit1  und  , Gierlosigkeit1,  weil  die  Wort- 
Sünde  aus  der  Geistes- Sünde  kommt.“  (P.) 

181.  Wenn  Einer,  von  Tugend  auch  nicht  einmal  re- 
dend, Untugendliches  thäte,  schön  ist’s,  wenn’s  nur  heisst: 
Er  redet  nicht  hinterrücks. 

182.  Schlimmer  als  die  Tugend  vernichten1  und  Sünde 
thun  ist  — lughaft  lächeln  und  hinterrücks  vernichten2. 

1 Die  Tugend  ganz  wegläugnen.  (P.) 

2 P.  will  den  Vergleich  als  niranirei  (, .Reihenstellung“)  gefasst  wissen,  d.h.  so  dass 
einerseits  „die  Tugend  vernichten“  dem  „hinterrücks  vernichten“,  andrerseits  „Sünde 
thun“  dem  „ lughaft  lächeln “ entsprechen. 

183.  Eher  wird  Sterben  den  von  der  Tugend1  ver- 
sprochnen  Gewinn  verleihn,  als  ins  Angesicht  heuchelnd 
und  aftersprechend  sein  Leben  führen. 

i Von  den  Schriften,  die  davon  handeln.  fP.) 

184.  Spräche  man  auch  angesichts  rücksichtslos,  so 
spreche  man  doch  nicht  hinterrücks  ein  das  „Nach“1  nicht 
berücksichtigend  Wort. 

1 Die  nachfolgende  Schuld. 


20.  Nicht  sinnlose  Rede  führen. 


31 


185.  Dass  Einer  nicht  aus  innerstem  Herzen  von  Tu- 
gend  redet,  ergiebt  sich  aus  der  Gemeinheit,  dass  er  hinter 
dem  Rücken  redet. 

186.  Die  eignen  Fehler  Dess,  der  des  Fremden  Fehler 
kund  macht,  wird  man  gründlich  ausspähen  und  kund  machen. 

R.  schlägt  vor,  indem  er  palum  nicht  als  Hiilfszeitwort  des  Passivums,  sondern  im 
Sinne  von  „es  ziemt  sich  , utfum  aber  im  Sinne  von  nineikkum  (Part.  fut.  von  uWu,  nicht 
von  u?)  nimmt:  „Wer  von  des  Nächsten  Schmach  hinterrücks  sprechen  will,  der  sollte 
erst  dann  sprechen,  wenn  er  erkannt  hat,  dass  die  eigne  Schmach  (die  eben  in  dem 
Hinterrücksreden  besteht),  von  der  Art  ist,  dass  sie  (von  den  Weisen)  bedacht  wird.“ 

187.  Die  nicht  mit  erfreuender  Rede  Freundschaft 1 zu 
machen  wissen,  werden  mit  entzweiender  Rede  (selbst) 
Freunde  sich  entfremden. 

i P.  setzt  erklärend  zu : „ mit  Fremden  “. 

188.  Die  (selbst)  Nahstehender  Schuld  auszubreiten  nei- 
gen, was  werden  die  gegen  Fernstehende  thun? 

(189.  Wohl  in  Ansehung  der  Tugend  trägt  der  Boden 
die  Bürde  Dess , der,  wenn  er  des  Nächsten  Nacken  sieht, 
verkleinert. 

„Obgleich  es  der  Erde  natürlich  ist,  alle  Dinge  zu  tragen,  so  wird  es  ihr  doch 
schwer,  diese  Last  zu  tragen.“  (P.) 

190.  Sähe  man,  wie  des  Fremden  Fehl,  den  eignen  Fehl, 
— gab’  es  dann  noch  ein  Uebel  für  die  Menschenseele? 

„Nein,  denn  dann  würde  die  Sünde  und  mit  ihr  die  Pein  des  Geburtskreislaufes 
aufhören.“  (P.) 


20. 

NICHT  SINNLOSE  REDE  FÜHREN. 

„Das  heisst  nicht  solche  Worte  reden,  die  weder  uns  noch  Andren  in 
Bezug  auf  die  drei  Strebeziele  (s.  Anm.  zu  V.  141)  nützen.  Der  Mund- 
sünden sind  vier:  Unwahrhaftigkeit,  Verkleinerung,  harte  Rede, 
fruchtlose  Rede.  Die  erstere  wird  nur  im  Stande  der  Busstugend 
vollkommen  beseitigt  (s.  Kap.  30);  die  Verkleinerung  ist  bereits  im 
vorigen  und  die  harte  Rede  im  10.  Kapitel  untersagt  worden;  die  sinn- 
lose Rede  wird  nun  in  diesem  Kapitel  verboten;  daher  folgt  dasselbe 
auf  ,Nichthinterrücksreden‘.“  (P.) 

191.  Wer  zu  Vieler1  Verdx-uss  Sinnloses  sagt,  wird  von 
Allen  verachtet. 

1 P.  versteht  darunter  die  Weisen  (nach  deren  Urtheil  sich  Alle  richten.  R.  i 


32 


I.  Von  der  Tugend. 


192.  Sinnloses  vor  Vielen  sagen  ist  schlimmer  als  Lieb- 
loses an  Freunden  thun. 

193.  Die  über  Ding’  ohne  Sinn  sich  verbreitende  Rede 
sagt:  „Er  ist  ein  Mann  ohne  Sitte“. 

194.  Ein  mit  Frucht  nicht  gepaartes  adelloses  Wort  vor 
Vielen  paart  sich  nicht  mit  Lieblichkeit  und  scheidet 1 von 
L obens  Würdigkeit. 

l Den  Sprecher. 

195.  Adel  sammt  Achtung  weicht,  wenn  ein  Edler  Sinn- 
loses sagt. 

196.  Wer  mit  fruchtleeren  Worten  um  sich  wirft,  den 
heiss  nicht  Mensch;  Menschen -Hiüse  heiss’  ihn. 

R.  findet  in  diesem  Verse  zwei  stylistisclie  Feinheiten : 1)  iraMura  moHtal,  ,, Doppel  - 
rede“  (sinnloses  Wort  — kernlose  Hülse);  2)  ujttimarveippu  ,,Forcirter  Sinn“  (Wie 
kernloses  Reis  eine  Reishülse  ist,  so  ist  ein  sinnloses  Wort  eine  Worthülse;  ferner:  weil 
in  demjenigen,  welcher  solche  Worte  selbstgefällig  spricht,  das  Wissen  , welches  dem 
Reiskorn  und  dem  Sinne  gleicht,  nicht  ist,  so  ist  er  eine  Menschenhülse). 

197.  Auch  wenn  sie  Sitteloses  sagten  ',  sie  mögen’s  sa- 
gen — die  Vollkommnen.  Gut  ist’s,  dass  sie  nichts  Sinn- 
loses sagen. 

J Sie  thun’s  aber  nicht.  (P.) 

198.  Die  seltnen  Sinn  1 forschenden  Weisen  reden  kein 
Wort,  das  grossen2  Sinnes  baar. 

1 In  Betreff  der  Erlösung.  (P.) 

2 „ Dadurch  ist  auch  das  , was  nur  geringeu  Nutzen  schafft,  ausgeschlossen.“  (P.) 

199.  Die  wahnbefreiten,  fleckenlosen  Seher  sagen  Sinn- 
loses auch  nicht  in  Vergessenheit. 

200.  Redest  du,  so  rede  was  Frucht  schafft.  Rede  keine 
Rede,  die  baar  ist  der  Rede -Frucht. 

Oder  (nach  P.,  der  „sollin“  beide  Male  als  Substant.  im  obliquus  nimmt):  Rede  un- 
ter den  Worten  solche,  die  Frucht  schaffen.  Solche  unter  den  Worten,  die  fruchtlos 
sind,  rede  nicht. 


21.  Furcht  vor  Uebelthat. 


33 


21. 

FURCHT  VOR  ÜBELTHAT. 


„Weil  er  hiermit  alle  am  Leibe  vor  sich  gehenden  Sünden  zusammen 
verbietet,  so  hat  er  das  Kapitel  , Furcht  vor  Uebelthat*  hinter  das 
Kapitel , Nicht  sinnlose  Kede  führen1  gesetzt.“  (P.) 

201.  Die  mit  Uebelthat  bereits  Behafteten  fürchten  nicht, 
die  Herrlichen  aber  fürchten  den  Uebermuth  der  Uebelthat. 

202.  Weil  Uebles  Uebles  fruchtet,  so  ist  mehr  als  Feuer1 
zu  fürchten  die  Uebelthat. 

i Die  Wurzel  von  „Feuer“  ist  mit  der  Wurzel  von  „Uebel“  ganz  gleichlautend  (tl). 
P.  sieht  den  schlimmem  Charakter  der  Uebelthat  im  Vergleich  zum  Feuer  darin,  dass  sie 
„(wohl  in  ihren  jenseitigen  Folgen?)  auf  eine  andre  Zeit,  auf  einen  andern  Ort  und  auf 
einen  andern  Körper  übergehend  brennt,  was  alles  das  Feuer  nicht  thut.“ 

203.  Selbst  Hassern  nichts  Herbes  thun,  — heisst  das 
Haupt  von  allem  Wissen. 

204.  Man  geh’  — auch  nur  in  Vergessenheit  — nicht 
mit  des  Nächsten  Verderben  um ! Geht  man  um  damit,  so 
geht  die  Tugend1  mit  des  damit  Umgehenden  Verderben  um. 

i Personificirt  als  göttliche  Nemesis  (sansc.  darma  devatä). 

205.  Thue  Niemand  Böses  sprechend:  Ich  Armer!  Thut 
er’s,  so  wird  er  nur  immer  noch  ärmer  werden  b 

i In  jeder  Geburt.  Einige  erklären:  ärmer  an  guten  Eigenschaften  undThaten.  (P.) 

206.  Wer  nicht  begehrt,  dass  ihn  Schmerzhaftes  zu  Bo- 
den schlägt,  der  thue  selbst  am  Nächsten  nichts  Boshaftes. 

207.  Welche  Feindschaft  man  auch  befährt,  man  mag 
entrinnen;  die  Feindin  „ Sünde u 1 folgt  fort  und  fort  und 
schlägt  zuletzt  zu  Boden. 

1 Die  Sünde,  die  Jemand  thut,  ist  sein  ärgster  Feind;  sie  rächt  sich  sicherlich  an 
ihm  selbst. 

208.  Der  Unrechts -Thäter  Untergang  ist  wie  wenn  fort 
und  fort  Einem  sein  Schatten  auf  den  Fersen  folgt. 

„Hier  erklärt  er  die  Worte  , die  Sünde  folgt  fort  und  fort  u.  s.  w.‘  durch  ein 
Gleichniss.“  R.  detaillirt  dieses  Gleichniss  etwa  so : Die  Uebelthaten  verfolgen  den 
Menschen  so  lange,  bis  er  untergeht,  — ganz  wie  der  Schatten  eines  Menschen  diesem 
so  lange  nachfolgt,  bis  er  stirbt. 

in. 


3 


34 


I.  Von  der  Tugend. 


209.  Wenn  Einer  sich  selber  liebt,  so  hab’  er  mit  Dem, 
was  übel  ist,  — was  immer  es  sei,  — nichts  zu  schaffen. 

210.  Wenn  Einer  nicht,  seitwärts  rennend,  Sünde  thut, 
dem  naht  das  Verderben  schwerlich ; das  wisse. 


22. 

ERKENNTNISS  DES  SCHICKLICHEN  *. 

„Das  heisst  den  Brauch  der  Welt  kennen  und  danach  thun.“  Der 
Brauch  der  Welt  ist,  wie  der  Sinn  der  h.  Schrift,  nicht  bloss  Etwas, 
was  in  den  religiösen  Büchern  niedergelegt  ist,  sondern  auch  etwas, 
was  man  seihst  erkennen  und  ins  Werk  richten  soll;  daher  sagt  er: 
Erkenntniss  des  Schicklichen.  Was  mit  Geist,  Wort  und  Leib  zu 
meiden  ziemt,  hat  er  gesagt;  nun  sagt  er  auch  das  noch  Uebrige  von 
dem,  was  zu  thun  sich  schickt;  desshalb  folgt  dieses  Kapitel  auf 
das  von  der  , Furcht  vor  Uebelthat'.“  (P.) 

211.  Wahre  Freigebigkeit  verlangt  nicht  Vergeltung. 
Was  vergilt  denn  der  regnenden  Wolke  die  Welt? 

212.  Alles  durch  emsig  Mühn  ermachte  Gut  ist  für  die 
Wackern  zur  Wohlthatsiibung  da. 

Oder:  Alles  ....  Gut  ist  zur  Wohlthatsübnng  an  den  Wackern  da. 

213.  Im  Himmel  wie  liienieden  ist’s  schwer  ein  andres 
Gut  zu  finden,  wie  Schenkung  nach  Schicklichkeit. 

,,Im  Himmel  ist  es  schwer  etwas  Besseres  zu  finden,  denn  dort  sind  alle  gleich,  in- 
sofern es  weder  Spendende  noch  Empfangende  giebt;  hinieden  aber  auch. » denn  hier 
giebt  es  nichts  Anderes  was  so  wie  das  für  Alle  passt.“  (P.) 

214.  Wer,  was  schicklich,  weiss,  lebt  wirklich;  die  An- 
dren rechnet  man  unter  die  Todten. 

215.  Des  Sitte -seligen  Gross- Wissers  Gut  ist  wie  des 
Orts -Teichs  Wasserfülle. 

,.Es  besteht  lange  ohne  sich  zu  verzehren,  und  verhilft  Allen  zu  dem  Nöthigen.“  (P.) 

216.  Fallen  Güter  dem  gütigen  Manne  zu,  so  ist’s,  wie 
wenn  in  Dorfes  Mitte  ein  Fruchtbaum  reift. 


* Oder  Wohlthat  zur  Aufrechterhaltung  ziemenden  Brauchs  (e.  g.,  wenn  Einer  zu 
gewissen  Ceremonien  einem  Unbemittelten  das  Nöthige  darreicht». 


22.  Erkenntniss  des  Schicklichen.  — 23.  Spende. 

217.  Fällt  dem  Hochwackern  Vermögen  zu,  so  ist’s  wie 
ein  nie  sich  entziehender  heilkräftiger  Baum. 

„ Sich  entziehen  heisst,  an  einem  schwer  zu  erlangenden  Orte  befindlich,  oder  ver- 
borgen stehend,  oder  mit  der  Zeit  sich  verändernd,  nutzlos  sein.“  (P.) 

218.  Selbst  zur  Zeit  der  Mittellosigkeit  schrecken  vor 
Schicklichem  nicht  zurück  die  pflichtkundigen  Weisen. 

219.  Des  Wohlwollenden  wahre  Verarmung  ist  sein  Un- 
behagen, dass  er  das  zu  Leistende  zu  leisten  unfähig  ist. 

220.  Sprichst  du:  „Aus  Spenden  entsteht  Verlust“  — 
ei  der  ist  werth,  dass  man  (sich  selbst)  verkauf’  und  ihn  er- 
kaufe 1. 

1  Man  könnte  die  zweite  Hälfte  vielleicht  auch  so  übersetzen:  „ei  der  ist  so  geartet, 
wie  Verkaufen  und  Nehmen.“  (D.  h.  Wer  seine  Güter  im  Wohlthun  weggiebt,  der  hat 
dess  an  Lob  etc.  eben  so  Gewinn,  wie  der,  der  seine  Güter  verkauft  und  dafür  klingende 
Münze  nimmt.)  Dann  braucht  man  vor  virru  kein  tannei  („sich  selbst“)  zu  ergänzen. 


23. 

SPENDE. 


„Da  die  Spende  die  nächste  Existenz  im  Auge  hat,  so  folgt  sie  auf  die 
.Wohlthat  zur  Aufrechterhaltung  ziemenden  Brauchs1,  welche  dieses 
Leben  im  Auge  hat.“  (P.) 

221.  Den  Armen  Etwas  spenden,  ist  Spende.  Das  andre 
Alles  hat  beabsichtigte  Wiedernahme  zu  seinem  Wesen. 

222.  Wenn  man  auch  spräche:  „’s  ist  ein  guter  Weg1!“ 
— nehmen2  ist  übel;  wenn  man  auch  spräche:  „Es  giebt 
keine  obre  Welt3“  — geben  ist  gut. 

1 Zum  Himmel. 

2 Betteln  (die  Commentare) ; sammeln  (Beschi). 

3 P.  fasst  es  subjectiv  („der  Spendende  erlangt  nicht  die  obre  Welt“).  Das  Ganze 
erinnert  an  das  biblische : Geben  ist  seliger  denn  Nehmen. 

223.  Bei  dem  Edlen  ist  Enthaltung  von  der  Elends- 
Sprach’:  „Ich  habe  nichts“  — und  Spenden. 

Ein  Edler  spricht  selbst  nicht  an,  giebt  aber  Denen,  die  ihn  ansprechen.  (P.)  R. 
schlägt  folgende  Fassung  vor:  Es  ist  leicht  bei  guten  Vermögensumständen  dem  Bitten- 
den zu  geben,  wenn  man  aber  selber  arm  geworden,  ihm  zu  sagen,  ,ich  habe  nichts*. 
Das  Letztere  thut  ein  Edelgeborner  unter  keinen  Umständen.  Noch  Andere  erklären  : 
Der  Edle  spendet,  nicht  aus  Geiz  sprechend  : Ich  habe  jetzt  nichts  (dann  steht  ureijämei 
für  ureijätu);  oder:  Der  Edle  spendet,  damit  (der  Ansprechende)  nicht  noch  einen  An- 

3* 


36 


I.  Von  der  Tugend. 


dem  mit  den  Worten  ..ich  habe  nichts“  anspreche  (daun  steht  ureijämei  im  Sinne  von 
ureijäta  partkku);  oder:  der  Edle  spendet,  noch  ehe  man  ihn  anspricht  (dann  steht  nrei- 
jämei  in  dem  Sinne  von  ureijämeijile).  Alle  diese  Erklärer  müssen  aber,  um  die  Plnral- 
form  ula  (die  am  natürlichsten  auf  ureijämei  — als  Subst.  — nnd  Ttal  bezogen  wird ) ir- 
gendwie zu  rechtfertigen,  darauf  zurückgehen,  dass  Ital  ein  Collectivum  sei  und  daher 
mit  dem  Plural  verbunden  werden  könne. 

224.  Unfreundlich  ist’s  angesprochen  werden,  — bis 
man  das  freundliche  Gesicht  sieht  Derer,  die  ansprachen '. 

1 Und  nun  befriedigt  dankbar  davongehen. 

225.  Der  Bussthäter  (Haupt-)  That  ist  die  Hungerthat, 
— nach  der  That  Derer,  die  den  Hunger  stillen. 

„Höher  steht  die  Macht  Derer,  die,  selbst  nicht  hungernd,  Andrer  Hunger  stillen 
als  die  Macht  Derer  , die , selbst  hungernd , Andrer  Hunger  nicht  stillen.“ 

226.  Die  Stillung  des  tödlichen  Hungers  der  Mittellosen 
ist  der  Bemittelten  Schatzkammer. 

227.  Wer  mittheilend  ans  Essen  zu  gehen  gewohnt 
ist,  den  wird  die  böse  Pest  „ Hunger “ nimmer  befallen. 

228.  Die  spendselige  Lust  kennen  nicht  die  Hartäugigen, 
die  ihre  Hab’  aufhebend  verlieren. 

229.  Bittrer  als  Betteln  wahrlich  ist  selbst  für  sich  selbst 
speisen,  um  (die  Kisten)  zu  füllen. 

Denn  der  Bettler  ist  immer  nur  für  eine  Weile  arm.  (P.) 

230.  Nichts  bittrer  als  Sterben;  doch  auch  das  ist  süss, 
dafern  man  nicht  spenden  kann. 


24. 

RÜHM. 

„Das  ist  das  Lob,  welches  Denen,  die  in  der  von  Kapitel  ö bis  23  aus- 
einandergesetzten Haustugend  verharren,  als  diesseitiger  Lohn  in 
dieser  Welt  unverrüekt  stehen  bleibt.  Da  dasselbe  hauptsächlich  aus 
der  Spende  kommt  (vergl.  V.  231),  so  folgt  es  auf  diese.“  (P.) 

231.  Spende -belobt  zu  werden  lebe!  Kein  Gewinn  den 
Lebendigen  ausser  diesem  Lob! 

Die  Tugend  der  Freigebigkeit  steht  dem  Hindu  so  hoch,  dass  Jägnavalkja  (III,  28) 
die  Freigebigen  mit  den  opfervoll/.iehenden  Priestern,  den  Vedastudirenden  und 
Vedakundigen  u.  s.  w.  zugleich  als  solche  nennt,  die  der  ceremoniellen  Befleckung  im 
Augenblicke  los  und  ledig  werden. 


2-1.  Ruhm.  tjj 

232.  Alle  Rede  der  Redenden  ist  steter  Ruhm  für  Den, 
der  den  Bittenden  gern  Etwas  bietet. 

233.  Neben  dem  in  der  Welt  einzig  ragenden  Ruhm 
giebt  es  nicht  Eins,  das,  nicht  vergehend,  Stand  stets  hielte. 

234.  Wenn  Einer  sich  bis  ans  Ende  der  Erde  reichenden 
Ruhm  erwirbt,  so  hört  die  Götterwelt  die  Vergöttlichten1  zu 
preisen  auf. 

1 Die  Weisen,  welche  die  Götterwelt  erlangt  haben.  — „Die  Götterwelt  hört  diese 

I zu  preisen  auf,  weil  sie  nicht  (wie  jener)  durch  den  Ruhmesleib  diese  Welt  und  durch 
den  Götterleib  jene  Welt  zugleich  erworben  haben.“  (P.) 

235.  Gewinngleiches  Verderben  und  lebensreiches  Ster- 
ben ist  nur  für  die  Hochsinnigen  nichts  Unmögliches. 

„Gewinngleiches  Verderben  ist  Verkümmern  des  elementlichen  Leibes,  während 
der  Ruhmesleib  gedeiht.“  (P.) 

236.  Erscheint  man,  so  erscheine  man  mit  Ruhm  ; besser 
als  rühmlos  erscheinen  ist  nicht  erscheinen. 

Die  Commajitatoren  beziehen  das  Erscheinen  auf  die  Geburt.  — Auch  das  tamul. 
Wort  schliesst  rhgleich  den  Sinn  des  öffentlichen  Auftretens  ein. 

237.  Die  unrühmlich  leben,  — da  sie  sich  selbst  nicht 
weh  thun1  — warum  doch  thun  sie  ihren  Tadlern  weh2? 

i Durch  Reue  und  Zucht. 

2 Dadurch  dass  sie  sich  über  sie  beschweren. 

238.  Es  heisst  ein  Makel  Allen,  die  in  der  Welt  wohnen, 
dafern  man  nicht  den  Nachkommen  „ Nachruhm  “ zeugt. 

239.  Dem  Boden,  dem  zur  Biird’  ein  rühmloser  Leib  ist, 
verkümmert  die  fleckenlose  reich  wuchernde  Frucht. 

240.  Die  makellos  leben,  leben.  Nicht  leben,  die  rühm- 
los leben. 


VON  DER  BÜSSTUGEND. 


A.  GELÜBDE. 

„Das  ist  das,  was  zur  fleckenlosen  Reinigung  der  geistigen  Vermögen 
mit  dem  Vorsatze  , diese  Tugenden  will  ich  üben;  jene  Sünden  will  ich 
meiden1  von  den  Büssern  ihren  Kräften  gemäss  gehalten  wird.  Ob- 
schon solche  Gelübde  unzählig  siud,  so  nimmt  doch  der  Dichter  einige 
bedeutungsvolle,  die  viele  andre  in  sich  schliessen,  heraus  und  beginnt 
mit  der  ,Huld‘.“  (P.) 


25. 

HULD. 

„Das  ist  eine  Barmherzigkeit,  die,  ohne  leidenschaftliche  Anhänglich- 
keit, natürlicher  Weise  sich  auf  alles  Lebende  erstreckt.  Wie  die 
.Liebe1  (Cap.  8)  unter  den  Haustugenden,  so  zeichnet  sich  die  ,Huld‘ 
unter  den  Busstugenden  aus,  und  daher  wird  zuerst  von  ihr 
gehandelt.“  (P.i 

241.  Reichthum  an  Huld  ist  des  Reichthums  Reichthum. 
Reichthum  an  Gut  ist  auch  beim  Pöbel. 

242.  Auf  dem  guten  Wege  forschend,  fasse  die  Milde 
fest!  Suchte  man  auch  auf  verschiedenen  1 Wegen  das  Heil, 
— die  Haupthülf’2  ist  sie. 

1 Verschieden  nach  Erkenntnissmethode  und  nach  Erkenntnissinhalt. 

2 Sie  wird  von  allen  . auch  noch  so  verschiedenen  Secten  als  die  Haupttugend  . die 
uns  auf  dem  Heilswege  fördern  kann  , anerkannt. 


25.  Huld. 


39 


243.  Für  die  so  ein  mit  Tugend  gepaartes  Herz  haben, 
ist  der  Eintritt  in  die  mit  Finsterniss  gepaarte  Welt  der  We- 
hen 1 nicht. 

1 Die  Hölle. 

244.  Für  die,  so  des  bestandhaften  1 Lebens  pflegend, 
der  Milde  Meister  sind,  giebt  es  keine  dem  eignen  Leben 
furchtbare  Frevelthat. 

* ,,Er  nennt  es  so,  weil  alles  Leben  beständig  dauert.“  (So  die  Comment.) 

245.  Kein  Ungemach  Denen,  die  der  Milde  Meister 
sind!  Dess  Zeug’  ist  die  Wind -durchwandelte1,  reiche, 
weite  Erde2. 

t Der  Wind  bringt  Wolken  und  damit  Regen;  er  zerstreut  auch  die  Wolken  und 
bringt  damit  Sonnenschein.  Er  gehört  somit  zu  den  nothwendigen  Bedingungen  irdischen 
Gedeihens  Daher  ist  das  „Sturm  durchwandelt“  kein  unpassender  Beisatz  neben  „reich 
und  gross  “. 

2 Der  Sinn  ist  entweder:  Die  ganze  Natur  ist  dem  gütig,  der  ihr  gütig  ist;  oder: 
Die  ganze  Erde  hat  nie  einen  Fall  gesehen,  dass  dem  „Milden“  etwas  Uebles  begegnet 
sei.  (Im  letztem  Sinne  die  Commentatoren.) 

246.  Die  von  der  Huld  weichen  und  mit  Uebel  umgehn, 
die  sind,  von  der  Wahrheit  gewichen,  in  Selbstvergessen- 
heit gefallen. 

Wahrheit  repräsentirt  hier  sattva;  Selbstvergessenheit  tama  (siehe  Einl.  zu  V.  1). 
,,Die  Weisen  werden  von  ihnen  sagen,  dass  sie  in  frühem  Geburten  die  Tugend  ver- 
lassen — und  nun  vergessen  haben  dass  sie  dafür  bereits  (Schmerzen  des  Daseins)  ge- 
litten.“ (P.) 

247.  Den  Huldlosen  gehört  nicht  jene  Welt,  wie  diese 
Welt  nicht  gehört  den  Güterlosen. 

Die  Milde  ist  das  wahre  Gut  in  jener  Welt. 

248.  Gut-Entblösste  mögen  noch  wieder  blühn;  Huld- 
Entblösste  sind  ganz  bloss  — und  kommen  schwerlich  wie- 
der auf. 

249.  Erforscht  man  die  Tugend,  die  ein  Huldloser  thut 
— sie  ist  wie  wahren  Wesens  Erkenntniss  beim  Thoren. 

Thorheit  lässt  keine  Weisheit,  Mildelosigkeit  keine  Tugend  aufkommen. 

250.  Vor  die  Starken  stelle  man  sich  im  Geiste  hin, 
wenn  man  auf  die  Schwächen!  loszufahren  begriffen  ist. 


40 


I.  Von  der  Tugend. 


26. 

FLEISCH  - VERSCHMÄHUNG. 

„Das  Fleiscliesseu  verhält  sich  zum  Tödten  wie  Ursache  uud  Wirkung 
zugleich,  indem  es  diese  Sünde  eben  so  wohl  veranlasst  als  aus  ihr 
folgt.  Es  ist  den  .Huldsamen'  durchaus  zuwider ; daher  folgt  dieses 
Capitel  auf  das  Capitel  von  der  , Huld4.“  (P.) 

251.  Wer,  das  eigne  Fleisch  zu  mehren,  fremdes  Fleisch 
geniesst,  — wie  wird  Der  der  Huld  pflegen? 

252.  Verwahrlosende  besitzen  Vermögen  nicht;  so  be- 
sitzen Huld  nicht  Fleischessende. 

Die  sich  des  Fleisches  nicht  enthalten,  verschleudern  gewissennassen  ihr  ganzes 
sittliches  Besitzthum. 

253.  Wie  das  Herz  Dess.  der  zur  Hand  die  Waffe  nimmt, 
so  das  Gemüth  Dess,  der,  dem  Guten  nicht  nachforschend, 
sich  an  Eines  Leihe  labt. 

254.  Was  ist  Huld  und  ihr  Gegentheil?  Tödten  und 
Xichttödten.  Unrecht  ist’s  auch  jenes  Fleisch  1 zu  essen. 

1 Das  von  einem  Andern  geschlachtet  wurde. 

255.  Der  Bestand  des  Lebens  liegt  in  dem  Nichtgenuss 
(des  Fleisches) ; geniesst  man  doch  — der  Hüllenrachen  speiet 
nicht  wieder  aus. 

Der  Fleischesser  zerstört  den  Bestaud  des  Lebens,  das  an  den  Leib  gebunden  ist: 
dafür  verschlingt  ihn  die  Hölle  für  immer  ohne  Barmherzigkeit. 

256.  Wenn  die  Welt  nicht  Essens  wegen  Fleisch  kauft, 
so  giebt  es  Keinen,  der  es  Gewinnes  wegen  verkauft. 

Vergleiche  Sivanjänasittiär , in  der  Widerlegung  des  Baudda  Sauträntika,  Vers  37 : 
„Gestorbenes  e s s e n ist  keine  Sünde.“  O Baudda,  der  du  so  sprichst,  höre ! W eil  man 
weiss , dass  du’s  essen  wirst,  schlachtet  man  und  bringt  es  dir  zu  essen,  und  so  fällt  man 
deinetwegen  in  Schuld,  — denn  für  Nichtessende  schlachtet  man  wahrlich  nicht.  Sprichst 
du:  Ei,  die  Schuld  haftet an  den  Schlächtern , so  frage  ich  dich:  Was  für  eine  Art  Askese 
übst  du  denn,  dass,  die  dich  füttern,  in  Schuld  fallen?  (Siehe  meine  Uebersetzung,  in 
der  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenlänuisclien  Gesellschaft , Band  VIII,  S.  736.) 

Eine  andre  Lesart  für  koHätu  „sie  kauft  nicht“  ist  kollätu  „sie  schlachtet  nicht“. 
Dann  müsste  übersetzt  werden : Wenn  du  sagst  „Des  Essens  wegen  schlachtet  die 
Welt  nicht“  — ei,  es  giebt  Niemand,  der  des  Gewinnes  wegen  Fleisch  verkaufen 
würde.  S.  findet  darin  folgenden  Sinn:  Wenn  es  wahr  ist,  dass  man  — nicht  aus  blosser 
Thorlieit,  sondern  nur  — weil  das  Fleisch  gegessen  wird,  schlachtet,  ei  so  kann  man 
nicht  sagen,  dass  Geldverdienst  die  Ursache  ist,  dass  es  Fleischverkäufer  giebt.  Offen- 
bar sehr  gezwungen.  Ganz  richtig  dagegen  P. : „Ein  Gegner  sagt  vielleicht:  Das  nach- 
folgende Fleischessen  kann  ja  nicht  die  Ursache  sein  für  das  vorhergehende  Schlachten; 


26.  Fleisch-  Versciimahung.  — 27.  Busse. 


41 


y 

folglich  giebt  es  fiir  die  Essenden  keine  aus  (solcher)  Ursächlichkeit  entstehende  Sünde. 
Mit  Rücksicht  darauf  behauptet  der  Verfasser,  dass  die  Essenden  allerdings  indirect  die 
Ursache  des  Schlachtens  sind,  und  bestätigt  damit  das  im  vorigen  Verse  Gesagte.“ 

257.  Enthaltung  von  Fleisch  ist  notli,  ist  es  doch  eines 
Andern  Wunde  — wenn  man,  die  das  zu  würdigen  wissen, 
findet. 

258.  Die  Weisen,  die  der  Leidenschaft  den  Rücken  kehr- 
ten, essen  nicht  den  Leib,  der  dem  Leben  den  Rücken  kehrte. 

259.  Besser  als  geklärte  Butter  träufeln  und  Tausend 
opfern  ist  kein  Leben  vernichten  und  verzehren. 

260.  Wer,  nichttödtend,  Fleischspeise  verschmäht  hat, 
den  wird  mit  andächtig  erhobnen  Händen  alles  Leben  loben. 


27. 

BUSSE. 

„Das  ist  zur  Verhütung,  dass  das  Gemütli  auf  dem  Wege  der  Sinne 
sich  unstät  umhertreibe,  in  der  Weise  des  Gelübdes  Nahrungs-Verkür- 
zung und  die  übrigen  Handlungen  über  sich  nehmen  und  die  dadurch 
das  eigne  Leben  betreffenden  Leiden  geduldig  tragen,  fremdes  Leben 
aber  wahren.  Dieses  Capitel  folgt  auf  das  vorhergehende,  weil  die 
Busse  da,  wo  man  Fleischspeise  verschmähend  in  der  Huld  gereift  ist, 
vor  sich  geht.“  (P.) 

261.  Das  eigne  Leiden  leiden  und  den  Lebendigen  zu 
leid  nichts  thun,  — ist  der  Bussübung  Form. 

262.  Auch  Busse  wird  Denen,  die  Busse  bereits  be_ 
sitzen.  Eitel  ist’s,  dass  Bussentblösste  Buss’  auf  sich  nehmen. 

Nur  Denen,  die  schon  in  einem  frühem  Dasein  Busse  über  sich  genommen  haben, 
gelingt  sie  auch  in  dem  gegenwärtigen  Dasein  wieder,  — und  das  ist  ein  allgemeiner  Vor- 
theil neben  dem  besondern  Verdienst.  (Auch  Busse,  — ausser  dem  besondern  Ver- 
dienst.) 

263.  Die  Andern,  den  Andern  beizuspringen  willens, 
haben  wohl  der  Busse  vergessen  l. 

1 ,,Aus  Ueberschätzung  ihrer  Spenden  (an  die  Biisser)  haben  sie  der  Busse  ver- 
gessen, die,  weil  sie  alles  Gewünschte  in  gewünschter  Weise  gewährt  (V.  265),  von  Allen 
geübt  werden  sollte.“  (P.)  Es  liegt  darin  vielleicht  auch  der  Gedanke : Die  Busse  steht 
höher  als  die  Spende,  indem  sie  dem  Himmel  alle  Segnungen  erst  abringt,  sodass  die 


42 


1.  Von  der  Tugend. 


Hausväter,  die  sich  einbildeu,  sie  müssten  den  Büssern  mit  ihren  irdischen  Mitteln 
Speise,  Lager,  Medicin“)  helfen,  gradezu  die  Bedeutung  der  Busse,  die  ihnen  viel- 
mehr zu  allen  diesen  Mitteln  verhilft,  vergessen  haben  müssen.  (Vergl.  die  beiden  folg.  V.) 

264.  Wenn  sie  der  Gegner  Vernichtung  und  der  Gönner 
Erhebung  (nur)  denken,  — kraft  der  Busse  kommt’ s zustand. 

265.  Man  weiht  sich  dem  Werk  der  Busse  hier,  weil 
mau  (durch  sie)  das  Gewünscht’  in  gewünschter  Weis’  er- 
langt. 

266.  Die  Busse  wirken,  thun  ihr  Werk1;  Loses  treiben, 
in  Lust  verstrickt,  die  Andern. 

1 „Aus  der  Busse  kommt  die  Weisheit  und  damit  die  Erlösung.“ 

267.  Wie  Gold,  wenn  die  Glut  brennt,  so  ergiesst  sich 
über  die  Büsser  Licht1,  wenn  das  Leiden  brennt. 

1 ,,Das  Licht  der  Weisheit.“ 

268.  Wer  sein  eignes  Leben  ganz  zu  eigen1  bekommen 
hat,  — alles  andre  Leben  lobt  Den  andächtig2. 

1 Durch  die  heilbringende  Busse.  — Es  Hesse  sich  auch  übersetzen:  „Wer  sein  Le- 
ben durch  Abthun  seines  Selbst  erlangt  hat  u.  s.  w.“  Die  Vedanta -Philosophie  weiss 
von  vier  Selbst  (das  abgeleitete  Selbst  = Sohn  ; das  Scheinselbst  = der  Körper;  das 
Thatselbst  = die  Lebensseele;  das  absolute  Selbst.  ,,Zur  Zeit  des  Ablebens  ist,  in 
Bezug  auf  das  Erbe,  das  abgeleitete  Selbst,  der  Sohn  , von  Wichtigkeit.  Mit  Rücksicht 
auf  die  Zeit,  wo  man  des  stets  anhaftenden  Leibes  pflegt,  ist  das  Schein  - Selbst , der 
Körper,  von  Wichtigkeit.  Wenn  man  aber  die  sichere  schöne  Seligkeit  begehrt,  so  ist 
das  That- Selbst,  die  Lebensseele,  von  Wichtigkeit.  In  der  Erlösung  endlich,  wo  alle 
Körperlichkeit  untergeht,  ist  jenes  Selbst,  welches  die  Weisheits-  Seele  bildet,  von  ab- 
soluter Wichtigkeit.“  KaivaljanavanTtaII,119.  (Bibi.  Tarn.  I,  S.  71.  Vergl.  auch  S.  161.)  Hier 
wäre  dann,  im  Sinne  des  Vedanta,  die  Rede  von  dem  Abthun  des  „Scheinselbst“  — 
durch  Zurückweisung  der  fünf  Kösa's  oder  Regionen  (der  Ernährung;  der  Belebung; 
der  Vorstellung  und  Erreguug;  der  Intellectualität;  des  Wonnegefühls : Bibi.  Tarn.  I, 
139),  die  mit  dem  Anspruch  auf  den  Namen  des  Selbst  auftreten.  Die  Auffasspng  aber, 
die  der  obigen  Uebersetzung  zu  Grunde  Hegt,  ist  jedenfalls  einfacher;  sie  wird  auch  von 
den  Commentatoren  getheilt. 

2 Weil  er  die  Macht  des  Fluches  und  Segens  besitzt.  „Die  Askese,  welche  die  Ur- 
sache der  Weisheit  ist,  ist  auch  die  Ursache  des  Vermögens  zu  segnen  und  zu  fluchen.“ 
Bibi.  Tarn.  I,  S.  131. 

269.  Selbst  des  Todes  Untertretung  gelingt  Denen,  die 
über  der  Busse  Macht  Meister  wurden. 

270.  Die  Ursache,  dass  der  Nichtigen  so  viele  sind,  ist 
dass  der  Büsser  so  wenige,  der  Nichtbüsser  so  viele  sind. 


28.  Unziemlicher  Wandel. 


4;} 


2«. 

UNZIEMLICHER  WANDEL. 

„Das  ist  derjenige  schlechte  Wandel,  der  sich  mit  der  Busse  nicht 
verträgt,  indem  in  Folge  eines  unbefestigten  Herzens  die  Begierde 
nach  der  aufgegebenen  Lust  wieder  auftaucht  und  man  sich  derselben 
liingiebt.“  (P.) 

271.  Innen  alle  fünf  Elemente 1 lachen  über  das  Lügen  - 
Leben  eines  Mannes  von  trüglichem  Herzen. 

1 Aus  denen  seine  sinnliche  Natur  zusammengesetzt  ist,  und  die  sich  gewisser- 
massen  freuen,  dass  er  ihnen  so  gar  keinen  Abbruch  thut. 

272.  Die  himmelhohe  Erscheinung  — was  frommt  sie, 
wenn  in  selbstbewusster  Sünde  das  Herz  hängt. 

273.  Mit  der  Kraftgestalt  Eines  in  kraftlosem  Stand  ist’s 
wie  mit  der  Kuh,  die  eines  Tigers  Haut  umhängt  und  weidet. 

Das  Bild  ist  um  so  treffender,  als  „Kuhweide“  und  „Sinnenweide“  im  Sanscrit  ver- 
wandte Begriffe  sind : göcara,  die  Sinnlichkeit,  kann  sogar  etymologisch  als  „der  Ort, 
wo  die  Kuh  hingeht“,  gefasst  werden.  Bei  dem  Sanscritaner  lehnt  sich  der  abstracte  Be- 
griff der  Gegenständlichkeit,  der  Aussenwelt,  der  Sinnlichkeit  an  den  concreten  der 
Kuhweide  „seiner  Welt“.  (Vergl.  Lassen,  Indische  Alterthumsk.  I,  S.  815.) 

„Wenn  Einer,  damit  Andre  keinen  Verdacht  fassen  und  sich  fürchten,  sich  in  die 
Hülle  eines  Büssers  steckt,  sein  Weib  verlässt  und  fremden  Weibern  nachläuft,  so  ist 
das  grade  so,  wie  wenn  eine  Kuh  eines  Tigers  Fell  anzieht,  damit  die  Hüter  um  des 
Sprüchworts  willen  ,Wenn  der  Tiger  hungert,  so  frisst  er  nimmermehr  Halme ‘ und  aus 
Furcht  nicht  nahe  hinzu  kommen,  ihr  Gras  verlässt  und  eines  Andern  Feld  ab  weidet.“ 

274.  Sich  versteckend  im  Bussschein  Böses  treiben  ist, 
wie  wenn  der  Jäger,  im  Gebüsch  geborgen,  Vögel  fängt. 

275.  Das  Lügenleben  der  „Wir  sind  lüstelos“  Sprechen- 
den schafft  so  viel  Schmerz,  dass  sie  zuletzt  „Was  ist  doch 
das,  was  ist  doch  das!“  sprechen. 

276.  Jemanden  härtern  Aug’s  1 giebt’s  nicht,  als  wer,  ob- 
gleich im  Herzen  busselos,  wie  ein  Büsser,  vom  Betrug2  lebt. 

1 Dieser  Ausdruck  bezeichnet  Grausamkeit  und  Unverschämtheit  zugleich. 

2 Sie  betrügen  die  Leute  um  das  Almosen,  womit  diese  sich  an  dem  Verdienst  des 
Büssers  zu  betheiligen  meinen. 

277.  Es  giebt  Leute,  die,  obgleich  äusserlich  wie  die 
Kunri 1 anzuschaun,  innerlich  schwärzer  sind,  als  deren  Spitze. 

1 Ein  perlenartiger  rother  Kern  mit  einem  schwarzen  Flecken  an  der  Spitze. 


44 


I.  Von  der  Tugend. 


278.  Deren  sind  Viele,  die,  im  Herzen  fest  haltend  den 
Sündensehmutz,  wie  grosse  Heilige,  oft  baden  1 und  so  sich 
bergen. 

1 Man  könnte  auch  übersetzen:  Viele  giebt’s,  die  das  Wesen  grosser  Heiligen  an- 
nehmen  und  sich  dahinter  etc.  (Dann  stände  nir  nicht  in  der  Bedeutung  von  „Wasser“, 
sondern  „Wesen“.) 

279.  Graus  ist  der  (grade)  Pfeil;  süss  ist  die  krumme 
Laute.  So  schätz’  auch  jenes  1 nach  der  Art  der  That. 

i Das  äussere  Behaben  der  Asketen.  Der  Pfeil  ist  grade,  und  thut  doch  weh;  die 
Laute  ist  krumm  (Krumm  ist  dem  Tamulen  das  Bild  alles  sittlich  Schlechten)  und 
klingt  doch  süss.  „An  ihren  F rüchten  sollt  ihr  sie  erkennen.“ 

280.  Unnöthig  ist  Kahlschnur  und  Haarbusch  wenn 
man,  was  die  Welt2  missbilligt,  meidet. 

1 Die  gewöhnlichen  Saiva - Pandarams  scheeren  sich  das  Haupt;  die  ehelosen  Tam- 
birans  lassen  es  wild  durcheinander  wachsen.  — „If  it  be  thought,  eternal  felicity  cau  be 
obtained  by  wearing  long  and  matted  hair,  by  bathing  in  water,  lying  on  the  ground  and 
emaciating  the  body,  then  may  the  bears,  that  bathe  in  the  lakes  and  wander  in  the 
forests,  also,  obtain  felicity.“  (Sintämani  — ein  Djaina-Werk  — bei  Ellis,  S.  90.) 

2 Die  Welt  ist  der  Inbegriff  der  Guten  und  Weisen , als  Tonangeber. 


29. 

NICHTDIEBEN. 


„Weil  dieses  Capitel  einen  Fehl  verbietet,  der  mit  Rücksicht  auf  Be- 
sitz entsteht,  so  folgt  es  auf  das  Capitel  vom  , unziemlichen  Wandel1, 
der  mit  Rücksicht  auf  die  Lust  entsteht. *•  (P.) 

281.  Von  wem  es  heisst,  dass  er,  nichtleichtfertig,  strebt, 
der  hüte  sein  Herz  vor  Entwendung  von  irgend  was. 

EWämei  entspricht  ganz  dem  sansc.  anasüja  (Freiheit  von  aller  Frivolität).  V.  cha- 
rakterisirt  die  Leichtfertigkeit  als  einen  Wandel  im  Sinne  der  Lökäjata's  und  ähnlicher 
Leute  (siehe  Band  I,  S.  96, 7),  die  da  sagen:  „Der  Augenschein  ist  der  Erkenntnissgrund; 
es  giebt  (nur)  vier  Elemente:  Erde,  Wasser,  Feuer,  Luft;  wenn  diese  sich  vereinigen, 
so  entstehtauf  dem  Wege  der  Besonderung  ein  Körper  und  vergeht  wieder  durch  die 
Trennung  (jener  Elemente) ; in  ihm  entsteht  und  vergeht  dann  auch  das  Wissen,  — ganz 
wie  die  Freude  (und  ähnliche  geistige  Vorgänge);  die  Seele  wird  , wenn  sie  verschieden 
ist,  nicht  wieder  geboren.  . . P.  findet  in  den  Worten  „irgend  was“  auch  den 
geistigen  Diebstahl  angedeutet,  wie  wenn  Einer  z.  B.  sich  den  Sinn  des  philosophischen 
Systems,  ohne  dass  er  sich  dabei  einem  Lehrer  unterwirft,  in  trüglicher  Weise  zu  eigen 
macht. 

282.  Audi  was  man  in  seinen  Gedanken  denkt,  ist  bös. 
Sprich  nicht:  „Ich  will  mit  Lug  und  Trug  des  Nächsten  Gut 
an  mich  ziehn.“ 


29.  Nichtdieben. 

283.  Durch  Trug  erworbnes  Gut  verdirbt,  während  es 
ins  Maasslose 1 zu  wachsen  scheint. 

l Die  Comment.  fassen  den  Sinn  so  : Durch  Trug  erworbner  Wohlstand  scheint  zu 
wachsen,  er  verdirbt  aber,  seine  Grenze  überschreitend  (d.  i.  auch  das  Verdienst  der 
Biissung  in  sein  Verderben  mit  hiueinziehend). 

284.  Eine  in  Lug  und  Trug  haftende  Begierde  schafft, 
wenn  sie  ihre  Früchte  bringt,  nie  endend  Elend. 

285.  Auf  Huld  sinnend  der  Liebe  voll  werden  hat  nicht 
statt  bei  Denen,  die  auf  fremdes  Gut  sinnend,  auf  Betrübung  1 
sehn. 

1 Die  Comment.  verstehen  unter  possäppu  die  dumpfe  Verzweiflung  des  Nächsten 
dessen  Gut  entwendet  wird.  Possäppu  ,,  Geistes  - Verdumpfung“  und  aru£  ,,  Geistes- 
Milde“  entsprechen  sich  jedenfalls ; jene  repräsentirt  tama,  diese  sattva  (Vergleiche 
die  Einleitung  zu  Vers  1).  Das  Jagen  nach  den  Gütern  dieser  Welt  gehört  zum  Wesen 
des  tama,  — eben  so  aber  auch  das  schmerzliche  Hinbrüten  beim  Verlust  derselben, 
so  dass  sich  das  Wort  possäppu  ebenso  wohl  von  der  Geistesdumpfheit  des  nach 
weltlichen  Gütern  strebenden  Asceten,  als  von  der  dumpfen  Verzweiflung  des  Nächsten, 
der  durch  ihn  sein  Eigenthum  verliert,  verstehen  lässt.  Vergl.  jedoch  den  287.  Vers. 

286.  Die  bringen  nicht  zuweg  einen  Wandel  im  rechten 
Maass,  deren  Begierde  haftet  in  Lug  und  Trug. 

287.  Handhabung  der  schwarzen1  Kunst  — Lug  und 
Trug  — ist  nicht  bei  Denen,  die  nach  des  rechten  Maasses 
erhabenem  Standpunkt  streben. 

i Schwarz,  weil  sie  mit  dem  tama  (vergl.  die  Anm.  zu  V.  285)  zusammenhängt. 

288.  Wie  in  der  Maasskundigen  Herzen  Heil1,  so  sitzt 
in  der  Trugkundigen  Herzen  Hehl. 

1 Wörtlich:  Tugend. 

289.  Die  sich  auf  nichts  als  losen  Trug  verstehn,  werden 
schnell  im  maasslosen  Thun  vergehn. 

290.  Trügerischen  Leuten  entzieht  sich  (sogar)  ihr 
Leib 1 ; den  Truglosen  entzieht  sich  selbst  nicht  die  Götter- 
welt. 


1 Auf  dem  Wege  der  Hinrichtung. 


40 


I.  Von  der  Tugend. 


30. 

WAHRHAFTIGKEIT. 

„Da  dieses  Capitel  die  Lüge  verbietet,  die  grossen  Theils  in  Bezug  auf 
Lust  und  Gut  entsteht,  so  folgt  es  auf  das  Kapitel  , Nichtdieben1.“  (P.) 

291.  Fragst  du,  was  wird  Wahrhaftigkeit  genannt? 
Solches  reden,  was  alles  Bösen  haar  ist. 

,,  Hiermit  wird  die  Ansicht  abgewiesen,  als  habe  Vorgefallnes  erzählen  mit  Wahrhaf 
tigkeit  nichts  zu  thun.  Der  Sinn  ist:  Auch  Vorgefallnes  erzählen  ist  Wahrhaftigkeit,  wenn 
es  keinen  Harm  thut;  thut  es  Harm,  so  ist  es  Lügenhaftigkeit.“  P.  Das  Wesen  der  Lüge 
wird  demnach  ganz  richtig  in  die  schlechte  Absicht  gesetzt,  die  auch  materiell  Wahres 
formell  zur  Lüge  macht. 

292.  Auch  die  Unwahrheit  wird  Wahrheit,  wenn  sie 
Gutes  ohne  Fehl  fruchtet. 

Die  Coinmentatoren  denken  hierbei  an  den  Fall,  wo  Jemand,  der  im  Begriff  zu  ver- 
derben oder  zu  sterben  ist,  durch  eine  Unwahrheit  gerettet  wird,  also  an  die  sogenannte 
,,Nothlüge 

293.  Lüge  nicht  wider  deinen  Busen!  Hast  du  gelogen, 
so  wird  dich  dein  Busen  brennen. 

294.  Wer,  seinem  Herzen  gemäss,  luglos  lebt,  der  liegt 
im  Herzen  der  ganzen  Welt1. 

1 Im  Sinne  von  Anm.  2 zu  Vers  280. 

295.  Wenn  Einer  mit  dem  Busen  Wahrheit  spricht,  so 

ist  er  das  Haupt  Derer,  die  mit  der  Busse  Spend’  üben. 

/ 

296.  Ein  Lob,  wie  Wahrhaftigkeit,  wird  nicht  gefunden; 
es  verleiht  ohne  mühsam  Thun  1 alle  Tugenden. 

1 „Der  Hausvater  mühet  sich  mit  Erwerb  u.  s.  w. ; der  Busser  mit  Fasten  u.  s.  w. : 
die  Wahrhaftigkeit  aber  verleiht  alle  Vortheile  der  Haus-  und  Busstugend,  ohne  den 
Mühen  derselben  zu  unterwerfen.“  (P.) 

297.  Uebt  man,  nicht  lügend,  Luglosigkeit,  so  mag  man, 
die  andern  Tugenden  nicht  timend,  unthätig  sein. 

298.  Aeussere  Reinheit  kommt  durch  Wasser,  in  Wahr- 
haftigkeit weist  sich  Reinheit  des  Innern  aus. 

299.  Alles  Licht1  ist  kein  Licht  für  die  Vollkommnen ; 
das  Licht  der  Luglosigkeit  ist  das  (wahre)  Licht. 

1 Als  Sonne  , Mond  , Licht.  (P.) 


30.  Wahrhaftigkeit.  — 31.  Zornlosigkeit. 

300.  In  allem  von  uns  als  Wahrheit  Erkannten1  ist  — 
was  es  auch  sei  — nichts  so  werth  wie  Wahrhaftigkeit. 

i In  allen  Schriften,  die  ich  fürwahr  erkenne,  wird  die  Wahrhaftigkeit  als  das 
Höchste  anerkannt. 


31. 

ZORNLOSIGKEIT. 

„Das  heisst  sich  nicht  erzürnen,  auch  wo  in  Jemandem  ein  Fehl,  der 
zum  Zorn  wohl  Grund  gäbe,  zum  Vorschein  kommt.  Weil  nun  dieses 
Capitel  den  Zorn  verbietet,  der  lügenhaften  Wesens  wegen  entsteht, 
so  folgt  d’s  nach  der  Wahrhaftigkeit1.“  (P.) 

301.  Wer,  wo  er  was  schaffen  mag,  seinen  Zorn  zurück- 
hält,  der  hält  ihn  zurück1;  anderswo2  — was  ist’s,  wenn 
man  ihn  hält,  was  ist’s,  wenn  nicht? 

1 Nur  Dem  kann  man  es  als  Verdienst  anrechnen,  dass  er  ihn  zurückhält. 

2 Wo  er  nicht  gelingen  kann. 

302.  Bös  ist  der  Zorn,  wo  er  nichts  schafft;  wo  er  was 
schaffen  mag,  ist  nichts  böser. 

303.  Vergiss  des  Grimms  gegen  Jedermann.  Eine  Saat 
von  Uebeln  sprosst  daraus. 

304.  Giebt’s  wohl  einen  grossem  Feind  als  den  Groll, 
der  dem  Lachen  und  Jauchzen  ans  Leben  geht? 

305.  Hütet  sich  Einer,  so  hüt’  er  den  Zorn.  Hütet  er 
ihn  nicht,  so  wird  der  Zorn  ihm  ans  Leben  gehn  h 

1 „Zu  dem  Schmerz  darüber,  dass  man  die  Busse,  die  den  erwünschten  Segen  verleihen 
sollte,  wegen  der  Verfluchung  Anderer  verloren  hat,  gesellt  sich  auch  der  alte  Schmerz, 
dass  man  noch  einmal  geboren  zu  werden  hat.“  Diess  ist  gangbare  Vorstellung.  So 
büsste  Visvamitra  zweimal  die  Frucht  seiner  Busse  ein,  weil  er  im  Zorne  dem  Vasischta 
und  dann  wieder  der  Apsarasa  Rambha  fluchte.  (Lassen,  Ind.  Alterth.  I,  723 — 724.) 

306.  Des  Zorns  verzehrend  Feuer  wird  (auch)  der 
Freunde  heilbringend  Floss  verbrennen. 

Das  heisst  wohl:  Wer  sich  dem  Zorne  hingiebt , den  verlassen  auch  die  Freunde 
mit  ihrem  heilsamen  Zuspruch.  — S. : „Es  wird  nicht  bloss  den  verzehren,  der  es  hegt, 
sondern  auch  diejenigen,  die , ihm  mit  heilsamem  Zuspruch  beistehend , einem  über  das 
Meer  des  Gebnrtskreislaufs  hinüberrettenden  Flosse  gleichen.“  P. : „ Es  stürzt  Einen 
nicht  bloss  in  das  Meer  des  Geburtskreislaufs,  sondern  entfernt  auch  die  Zugreifenden.“ 

307.  Das  Verderben  Dess,  der  Zorn  als  etwas  Rechtes 


48 


I.  Von  der  Tugend. 


fasst,  ist  wie  das  Nichtfehlen  der  Hand  Dess,  der  den  Boden 
haut. 

D.  h.  Das  Verderben  trifft  ihn  so  sicher,  wie  die  Hand  den  Boden  (der  nicht  aus- 
weichen  kann). 

308.  Thät  Einer  auch  so  Bittres,  dass  es  der  Berührung 
mit  dem  ,,  Strauss- Licht “ 1 gleich  kommt,  — wenn  nur  Zorn- 
losigkeit  sich  ihm  vermählt,  so  ist’s  ganz  gut. 

1 Ein  eiserner  Stab  mit  mehren  Fackeln. 

309.  Alles,  was  man  im  Innern  hegt,  erlangt  man  zuhauf, 
wenn  man  im  Innern  von  Zorn  nichts  iniie  hat. 

310.  Die  sich  (im  Zorn)  vergangen,  sind  den  im  Tod 
Vergangnen  gleich;  die  dem  Zorn  entsagt,  sind  wie  Leute,  die 
entsagt1. 

D.  h.  wahre  Büsser.  „Jene  gleichen,  obschon  noch  am  Leben,  den  Todten;  diese, 
obschon  vergänglich,  sind  wie  solche,  welche  die  Vergänglichkeit  abgestreift  haben.“  P. 
Die  letzte  Hälfte  der  Strophe  lässt  sich  auch  übersetzen:  „Die  dem  Zorn  entsagt,  sind 
der  Entsager  Hort.“ 


32. 

ENTHALTUNG  VON  GRAUSAMEM  THUN. 

„Das  ist  keinem  lebendigen  Wesen  aus  Eigennutz,  Hass  oder  Ver- 
gessenheit etwas  zuleid  thun.  Es  folgt  auf  das  Capitel  von  der  , Zorn- 
losigkeit',  um  anzuzeigen,  dass  man  auch  ohne  Zorn  grausam  sein 

kann.“  (P.) 

311.  Auch  wenn  man  ein  Auszeichnung  gewährendes 
Gut  gewänne,  — Grundsatz  der  Fleckenlosen  ist,  Andern  kein 
Leid  zu  thun. 

So  S.  Nach  P. , der  sirappu  als  Nominat.  fasst:  „Auch  wenn  man  die  Vortheile 
welche  die  Auszeichnung  verleiht,  erlangte.“  Er  versteht,  wie  auch  S.,  unter  „Auszeich- 
nung“ die  Askese,  im  Sinne  des  Jöga,  und  bezieht  die  „Vortheile“  auf  die  acht  magischen 
Wundergaben,  die  auf  diesem  Wege  erlangt  werden.  Siehe  Band  I,  S.  49. 

312.  Auch  wenn  Einer  in  Wuth  weh  gethan  hat  — 
Grundsatz  der  Fleckenlosen  ist,  nicht  wieder  weh  zu  thun. 

313.  Selbst  wenn  man  Herzeleid  Hassern  ohne  Grund  1 
anthut,  — es  bringt  Weh,  dem  sich  nicht  wehren  lässt,  zuweg. 

1 Eigentlich:  ,,  Denen  , die  uns  hassen,  ohne  dass  wir  ihnen  etwas  gethan.** 


32.  Enthaltung  von  grausamem  Thun.  — 33.  Nichttödten. 


49 


314.  Recht  Schönes  thun dass  sie  sich  schämen,  — das 
ist  die  rechte  Betrübung  Derer,  die  Bittres  thaten. 

i In  vital  an  sejtu  liegt  zugleich  der  Gedanke,  dass  man  es  damit  bewenden  lassen 
soll.  — Vergl.  Römer  12,  20;  Spriiehw.  25,  21  — 22. 

315.  Kommt  denn  Etwas  beim  Wissen  heraus,  wenn 
man  des  fremden  Wesens  Weh  nicht  wie  das  eigne  Weh  ab- 
wehrt ? 

P.  „Da  dieses  Leid  grossentlieils  unpersönlichen  Wesen,  als  Ameisen  und  andern 
kleinen  Thierchen,  geschieht,  so  sagt  er  insgemein  , eines  fremden  Wesens  Leid‘.  Fer- 
ner: Da  wir  wissen,  dass,  wenn  dieselben  auch  nur  durch  unsre  Vergesslichkeit  (beim 
Gehen,  Sitzen,  Liegen,  Stehen,  Essen  u.  s.  w.)  gekränkt  werden,  diess  zur  Sünde  ge- 
reicht, und  wir  uns  desshalb  zu  hüten  haben,  so  sagt  er,  dass,  wo  wir  das  nicht  thun,  un- 
ser Wissen  (um  die  Zustände  der  lebendigen  Wesen)  fruchtlos  sei.“ 

316.  Was  du  selbst  als  Weh -bringend  weisst,  das  füg’ 
ja  keinem  Fremden  zu. 

Vergl.  Matth.  7,  12. 

317.  Wie  viel  es  auch  sei,  Unschönes,  das  mit  Willen 
geschieht,  Niemandem,  zu  keiner  Zeit,  zu  thun  ist  Haupt- 
sache. 

318.  Wer,  was  seinem  eignen  Wesen  weh  thut,  erfahren 
hat,  wie  sollte  der  weh  thun  einem  fremden  Wesen? 

319.  Thust  du  deinem  Nächsten  ein  Leid  am  Vormittag, 
so  kommt  das  Leid  von  selbst  zu  dir  am  Nachmittag. 

320.  Alles  Weh  kommt  über  die,  so  weh  thun.  Die 
Wehlosigkeit  wünschen,  thun  nicht  weh. 


33. 

NICHTTÖDTEN. 

„Das  ist  die  lebendigen  Wesen  von  den  f'ünfsinnigen  an  bis  zu  den  ein- 
sinnigen* herunter  — und  wär’s  auch  nur  aus  Vergesslichkeit  — nicht 
ums  Leben  bringen.  Da  Nichttödten  die  vorgenannten  Tugenden  alle 
überragt  und  die  nicht  genannten  alle  einschliesst,  so  steht  es  zuletzt. ‘‘  (P.) 

321.  Du  fragst:  Was  ist  Tugend-That?  Nichttödten. 
Tödten  zeugt  alle  Unthat1. 

1 Die  (bösen)  Folgen  aller  Unthat.  (P.) 


* „Gewächse  haben  bloss  Einen  Sinn:  Gefühl;  Muscheln  u.  s.  w.  zwei  Sinne:  Ge- 
rn. 4 


I.  Von  der  Tugend. 


50 

'622.  Gern  mittheilend  gemessen,  viel  Lebendes  mit  Lieb’ 
umfassen,  das  ist  das  Haupt  von  allem,  was  die  Verfasser 
heil.  Schrift 1 zusammenfassten. 

1  Als  Vorschriften  für  die  Asketen. 

323.  Einzig  gut  ist  Enthaltung  von  Mord.  Gut  ist’s, 
wenn  Enthaltung  von  Lug  dahinter  steht  h 

1 Im  Sinne  von  V.  297  und  300. 

324.  Du  fragst:  Was  heisst  der  gute  Pfad?  Der  Weg, 
wo  man  damit  umgeht,  ja  nichts  umzubringen. 

325.  Unter  allen,  die,  das  Fortleben1  fürchtend,  Ent- 
sagung üben,  das  Haupt  ist,  wer,  das  Mordleben  fürchtend, 
mit  Nichtmorden  umgeht. 

i Den  beständigen  Geburtskreislauf. 

326.  Ueber  die  Lebenstage  Dess,  der  es  über  sich  nimmt 
nicht  zu  tödten,  bricht  nicht  herein  der  Leben  verschlingende 
Todesgott. 

327.  Ging’  auch  das  eigne  Leben  drauf,  thu  keine  That, 
die  an  des  Andern  süsses  Leben  geht. 

328.  Mag  auch  der  frommende  Gewinn 1 gewaltig  sein, 
— der  aus  Todtsehlag  kommende  Gewinn  ist  den  Vollkom- 
menen2 das  Letzte3. 

1 Der  Gewinn,  der  durch  das  blutige  Opfer  entsteht,  nämlich  die  Anwartschaft  auf 
den  Himmel.  — So  P. , ein  Anhänger  der  Sänltja- Philosophie  , die  ebenfalls  das  Opfer, 
zumal  das  blutige,  als  einem  unphilosophisc*hen  Standpunkte  angehörig  fasst. 

2 Diejenigen,  die  nicht  nach  den  vorübergehenden  Freuden  des  Himmels,  sondern 
nach  der  bleibenden  Erlösung  streben.  So  P. 

3 Sie  achten  ihn  gering,  weil  die  Seele,  wenn  sie  den  verdienten  Lohn  abgenossen 
hat,  sich  abermals  dem  Geburtskreislauf  unterwerfen  muss. 

329.  Die  Menschen,  die  mit  Mord  handthieren,  sind  ge- 
meine 1 Handthierer,  — bei  den  des  gemeinen  Wesens  klar 
Kundigen. 

1 Pulei  „Gemeinheit“  heisst  auch  „Fleisch“.  Vergleiche  meine  Reise  IH,  S.  330, 
Anmerkung  62. 

330.  Sie  haben  einem  Leibe  das  Leben  entzogen:  so 
heisst’s  von  Denen,  die,  in  fehlbehaftetem  Leib  verkümmernd, 
ein  elend  Leben  leben. 


fühl,  Geschmack;  Ameisen  drei:  Gefühl,  Geschmack,  Geruch;  Bienen  vier:  Gefühl, 
Geschmack,  Geruch,  Gesicht.  Vögel,  Menschen  u.  s.  w.  alle  fünf.“  (V.) 


33.  Nichttüdten.  — 34.  Unbeständigkeit. 


51 


D.  i.  Sie  werden  jetzt  nach  dem  Grundsätze  „Womit  Einer  sündigt,  damit  wird  er 
gestraft"  (Weish.  Sal.  11,  16.  17.)  dafür,  dass  sie  sich  in  einem  frühem  Dasein  an  einem 
fremden  Leben  versündigten,  nun  an  ihrem  eignen  gestraft. 


B.  WEISHEIT. 

„Das  ist  das  Wissen,  das  entsteht,  wenn  die  geistigen  Vermögen 
durch  die  Gelübde  rein  geworden,  und  die  Erlösung  verleiht.  Dieses 
handelt  er  nun  in  vier  Kapiteln  ab.“  (P.) 


34. 

UNBESTÄNDIGKEIT. 

„Sc.  aller  Dinge,  welche  in  die  Erscheinung  treten.  Dieses  Capitel 
steht  voran,  weil  nur,  wenn  man  die  Unbeständigkeit  aller  Dinge 
kennt,  die  Anhänglichkeit  an  dieselben  weicht.“  (P.) 

331.  Die  armselige  Weisheit,  die  Bestandloses  für  Be- 
standhaftes hält,  ist  das  Letzte  *. 

i Ist  werthlos. 

332.  Wie  der  Andrang  zu  einer  mimischen  Gesellschaft, 
so  ist  grossen  1 Glücks  Anwuchs.  Auch  sein  Zerrinnen  ist 
wie  das  Zerstieben  jenes. 

i P.  findet  darin  auch  den  Erwerb  des  Himmels  (als  eines  vorübergehenden  Glücks) 
eingeschlossen.  ,,Wie  die  mimische  Vorstellung  in  manniehfaltiger  Weise  die  Zuschauer, 
so  zieht  das  menschliche  Verdienst  in  manniehfaltiger  Weise  das  Glück  herbei,  und  wie, 
wenn  die  mimische  Vorstellung  zu  Ende  ist,  die  Zuschauer  gehn,  so  auch  das  Glück, 
wenn  das  Verdienst  zur  Neige  geht.“ 

333.  Nicht  standhaltender  Art  ist  das  Glück.  Gelangst 
du  dazu,  gleich  leg  dich  auf  Standhaltendes  h 

1 Auf  die  Ausübung  der  Tugend  mittelst  dieser  Glücksgüter. 

334.  In  der  Gestalt  von  Etwas,  das  wir  Tag  heissen1, 
sich  zeigend,  hat  die  Lebenszeit  schneidigen  Schwertes  Art. 

'Eigentlich:  wie  Eines  mit  dem  Namen  „Tag“.  — „So  sagt  er,  weil  das  gestalt- 
lose Ding  ,Zeit‘  nur  der  Führung  der  Weltgeschäfte  wegen  uach  dem  Maass  der  Sonne 
u.  s.  w.,  an  sich  selbst  aber  nicht  bestimmt  wird.“  (P.)  — Der  Sinn  des  Ganzen  ist 
wohl:  Wir  nennen  die  Lebenszeit  harmlos  näf  („Tag“),  während  sie  im  Grunde  ein  väl 
(„Schwert“)  ist,  das  auf  sich  selbst  los  schneidet.  (Der  Gleichklang  von  nä.1  und  väl  hat 
wohl  die  etwas  geschraubte  Art  des  Distichons  veranlasst.) 


4* 


52 


I.  Von  der  Tugend. 


335.  Ehe  noch,  die  Zunge  lähmend,  das  Röcheln  an  uns 
kommt,  sollen  wir,  an  eine  gute  That  gehend,  handeln. 

336.  Das  ist  die  Würde  dieser  Welt1:  „Der  gestern 
war,  ist  heute  nicht.“ 

1 So,  gewiss  richtig,  S.  — Ariel:  II  fut  hier,  il  n’est  plus  aujourd’hui:  le  monde  est 
plein  de  ces  paroles.  (Wahrscheinlich  nach  Beschi.) 

337.  Die  nicht  wissen,  ob  sie  auch  nur  Einen  Augenblick 
leben,  sinnen  mehr  als  zehn  Millionenterlei. 

338.  Wie  ein  Vogel  ausfliegt,  und  dann  das  Ei  allein 
liegt,  — so  ist  der  Seele  Liebe  zum  Leibe. 

339.  Dem  Einschlummern  gleicht  das  Sterben;  dem  Er- 
wachen nach  dem  Schlummer  die  Geburt1. 

1 Im  Sinne  der  Seelenwanderung.  ,,  Ebenso  natürlich,  wie  Wachen  und  Schlafen, 
kommt  abwechselnd  Tod  und  Geburt.“  (P.) 

340.  Das  Leben,  das  im  Leib  zur  Herberg  ist,  — kein 
Heim  hat’s.  Nicht  so? 


35. 

ENTSAGUNG. 

„Das  heisst  die  Anhänglichkeit  an  die  fremden  Glücksgüter  und  an 
den  eignen  Leib,  in  Ansehung  der  Unbeständigkeit  dieser  Dinge,  fah- 
ren lassen.“  (P.) 

341.  Wovon,  wovon  sich  Einer  los  macht,  davon,  davon 
hat  er  kein  Leid  mehr. 

342.  Will  man,  dass  Etwas  werde,  so  entsage  man.  Hat 
man  entsagt,  so  kann  Vieles  kienieden  werden. 

,,Hat  man  entsagt,  so  entstehen  mancherlei  Freuden  (als  Entbundenheit  von  allen 
Beschwerden  , des  Geistes  , des  Mundes  und  des  Leibes1  im  Dienste  der  Weltgeschäfte 
u.  s.  w.) ; begehrt  man  sie,  so  entsage  man.“  (P.) 

343.  Wünschenswerth  ist’s,  alle  fünf  Sinne  zu  erschlagen ; 
wünschenswerth  ist’s,  alle  Wünsche  zuhauf  zu  vc*j  agen. 

344.  Völliger  Nichtbesitz  ist  der  Busse  natürlich;  Besitz 
ist  — (die  Busse)  austreibend  — verführlick. 

345.  Woran  sollten  sie  sich  denn  noch  hängen?  Die  es 


3t>.  Wcselis  - Erkenutniss. 


35.  Entsagung.  — 


53 


auf  das  Abthun  des  Geburtslaufs  absehn,  denen  ist  selbst  ihr 
Leib  1 lästig. 

1  Der  Urnen  doch  selbst  bei  ihren  Kasteiungen  zum  nothwendigen  Werkzeug 
dient.  (P.) 

346.  Wer  das  selbstische  Wesen  „Ich  1 und  Mein2“  weg- 
schneidet, wird  in  die  (selbst)  Himmlischen  erhabne  Welt3 
eingehn. 

1 D.  h.  des  Zustandes,  „wo  mau  den  Leib  für  das  Selbst  hält“.  |P.)  Vergleiche 
Band  I,  96,  7. 

2 D.  h.  des  Zustandes,  „wo  inan  die  mit  dem  Selbst  unverbundnen  Dinge  als  selbst 
eigen  betrachtet“. 

3 Das  ist  der  Zustand  von  möksa  (volle  Erlösung) , im  Gegensatz  zu  svarga  (zeit- 
weiliger Genuss  des  Himmels). 

347.  Die  sich  an  den  leidenschaftlichen  Hang  fest  hän- 
gen, an  die  wird  sich  fest  hängen  das  Herzeleid. 

348.  Völlig  durch  dringen  die  Voll-Büsser !;  die  andern, 
umnebelt,  fallen  in’s  Netz2. 

1 D.  h.  solche,  die  Alles  aufgeben. 

2 Des  Geburtskreislaufs. 

349.  Ist  man  des  Hanges  los,  so  hebt’s  die  Geburt  auf; 
sonst  zeigt  sich  nichts  als  Unbestand  h 

1 Wechsel  zwischen  Geburt  und  Tod.  Vergl.  339. 

350.  Halt  an  dem  Wahrheits-Halt  Dess,  den  Leiden- 
schaft nicht  hält1!  Dessen  Heils -Inhalt  halt  inne  zur  Abhal- 
tung der  Leidenschaft. 

1 „ An  dem  Heilswege , den  Gott  geoffenbart  hat , der  , obgleich  er  Alles  hält,  von 
Nichts  gehalten  wird.“  (P.)  Dieser  Vers  leitet  auf  das  folgende  Kapitel  über. 


36. 

WESENS  - ERKENNTNISS. 

„Das,  was  die  Sauskritaner  Tatvagnäna  nennen.  Weil  diese  ,YVesens- 
Erkenntniss4  dann  entsteht,  wenn  man  im  Sinne  von  V.  350  handelt,  so 
folgt  sie,  eben  in  Rücksicht  auf  den  gleichen  ursächlichen  Zusammen- 
hang, auf  die  , Entsagung 4.4<  (P.) 

351.  Aus  dem  Wahn,  der  Wesenloses  für  wesenhaft  hält, 
kommt  unedle  Geburt  her. 


54 


I.  Von  der  Tugend. 


352.  Denen,  die,  wahnlos,  ohne  Flecken  schaun,  wird  es 
nachtlose  Wonne  schaffen. 

353.  Denen,  die  des  Zweifels  los,  sich  geklärt  haben,  ist 
der  Himmel  näher  als  die  Erdenwelt. 

Sie  gelangen  bald  zur  Erlösung. 

354.  Wenn  man  auch  im  Besitz  der  Fünf- Erkenntnis s 
ist1,  sie  frommt  nicht  Denen,  die  ohne  Wesens -Erkenntniss 
sind. 

i Die  Oommentatoren  verstehen  unter  dem  Besitz  der  Fünf  - Erkenntniss  die 
Zügelung  der  fünf  Sinne  (wohl  eben  in  Rücksicht  auf  den  Gegenstand  dieser  Abthei- 
lung von  der  „Busstugend“;  denn  sonst  könnte  der  Ausdruck  auch  auf  die  durch  die 
fünf  Sinne  vermittelte  Erkenntniss  gehen). 

355.  Welches  Wesen  es  auch  sei  — und  von  welcher 
Art  — jenes  Wesens  wahres  Wesen  zu  erschaun  ist  Weisheit. 

356.  Die  liienieden  lernend  das  wahre  Wesen  schauten, 
bemeistern  sich  eines  Wegs,  auf  dem  man  nicht  wieder  hier- 
her wandert  *. 

i Im  Geburtskreislauf. 

357.  Wenn  das  Innere  das  innerste  Wesen1  fest  erfasst, 
so  braucht  man  nicht  abermals  an  Geburt  zu  denken. 

i Eigentlich  „Das  was  ist“. 

358.  Das  höchste  Gut  der  Herrlichkeit  so  zu  schaun, 
dass  die  Thorheit  der  Wiedergeburt  weicht,  ist  Weisheit. 

359.  Wenn  man,  den  (wahren)  Anhalt  fassend,  von  nichts 
gehalten  wird,  so  hängt  der  anhangende  Schmerz  des  Daseins 
sich  nicht  wieder  zum  Unheil  an. 

360.  Lust,  Zorn  und  Wahn  — (erst)  wenn  selbst  die  Na- 
men dieser  Drei  vergehn,  wird  auch  der  Schmerz  vergehn. 

„Die  Sanskritaner  zählen  fünf  Fehler  auf:  Unwissenheit  (=  Wahn) , Selbstsucht, 
Habsucht,  Lust  und  Zorn.  Da  aber  die  Selbstsucht  in  der  Unwissenheit,  und  die  Hab- 
sucht in  der  Lust  eingeschlossen  ist,  so  spricht  unser  Verfasser  bloss  von  dreien.“  (P.) 


Austreibung  der  Begierde. 


55 


37. 

AUSTREIBUNG  DER  BEGIERDE. 

„Auch  Denen,  die  nach  rückwärts  und  nach  vorwärts  hin  von  That- 
Leidenschaft  los  sind,  bleibt  doch  der  Leib  und  die  mittelst  desselben 
überkommenen  Thatfolgen.  Wenn  daher  der  Gedanke  durch  die 
Macht  alter  Gewohnheit  den  Sinnendingen,  denen  man  entsagt  hat, 
wieder  einmal  nachgeht,  so  wird  dieser  Gedanke  ein  Same  der  Geburt. 
Man  muss  ihn  daher  durch  unablässiges  Sinnen  über  die  wahre  Wesen- 
heit abschneiden.“  (P.) 

\ 

361.  Begierde  nennt  inan  den  Samen,  der  allen  Seelen 
zu  aller  Zeit  nie  endende  Geburt  verleiht. 

362.  Wünscht  man,  so  ist  Geburtslosigkeit  wünschens- 
werth ; wünscht  man  Wunschlosigkeit,  so  kommt  sie. 

363.  Ein  so  wiinschenswerthes  Heil  wie  Wunschlosigkeit 
giebt’s  nicht  hienieden;  auch  jenseit  ist  seines  Gleichen  nicht. 

364.  Was  man  Reinheit  nennt,  ist  Begierdelosigkeit; 
wenn  man  Wahrheit  wünscht,  so  kommt  sie  (die  Reinheit). 

365.  Freie  nennt  man  die  Begehrfreien ; Frei’  in  dieser 
Art  sind  die  Andern  nicht. 

Die  Begierdefreien  siiid  von  dem  Geburtskreislauf  (und  somit  absolut)  frei;  solche 
die  wohl  von  andern  Dingen,  aber  nicht  von  der  Begierde  frei  sind,  geniessen  bloss  einer 
relativen  Freiheit.  — So  die  Commentatoren. 

366.  Sich  bewahren  wollen  — das  ist  die  Tugend;  was 
dich  berücken  will,  ist  die  Begier. 

367.  Wenn  man  der  Begierde  Thun  vollends  tödtet,  so 
kommt  auf  selbsterwünschtem  Wreg  unvergänglich  Thun  *. 

i Das  zu  unvergänglichem  Wesen  fuhrt. 

368.  Die  Begehrlosen  sind  des  Elends  los ; wo  Begehr 
ist,  da  kommt  ohn’  Ende  Elend  mehr  und  mehr. 

369.  Schon  hienieden  lischt  die  Lust  nicht  aus,  wenn  die 
Last  der  Lasten,  das  Gelüst,  erstirbt. 

370.  Verbannt  man  das  Gelüst  von  unersättlichem  Wie- 
sen, so  verleiht  das  auf  der  Stelle  wandelloses  Wesen. 


I.  Von  der  Tugend. 


56 


38. 

DAS  GESCHICK. 

.,Das  ist  die  Fügung,  dass  die  Lust  als  die  Frucht  der  Gutthat  und 
das  Leid  als  die  Frucht  der  Uebelthat  den  Thäter  erreicht.  Da  dieses 
Geschick  zu  ^ut4  und  ,Lust‘  in  gleicher  Weise  steht,  und  es  auch  auf 
die  vorher  besungene  ,Tugend‘  Bezug  hat,  so  findet  es  seine  Stelle  hier 
am  Ende  der  Abtheilung.“  (P.) 

371.  Durch  das  Werde  - Geschick  kommt  Strebseligkeit, 
durch  das  Habe --Verlier- Geschick  kommt  Saumseligkeit. 

D.  i.  Wem  das  vergeltende  Geschick  Wohlstand  zuertheilt,  dem  giebt  es  auch  Be- 
triebsamkeit; — und  umgekehrt. 

372.  Das  Verlier- Geschick  macht  Weisheit  zum  Wahn- 
witz ; wo  das  Werde- Geschick  erscheint,  dehnt  es  den  Geist1  aus. 

1 „Auch  des  Narren.“ 

373.  Man  sinne  über  noch  so  sinnige  Werke,  — nur  das 
vorbestimmte  Wissen  wird  uberbleiben. 

374.  Zweierlei besondre  Artgiebt’sin  der  Welt:  etwas  Be- 
sondres  ist  Geld  und  Gut;  etwas  Besondres  ist  Geist  und  Muth. 

Dem  Einen  ist  diess  , dem  Andern  das  bestimmt. 

375.  Alles  Gute  wird  schlimm,  — alles  Schlimme  gut, 
Wohlfahrt  zu  schaffen. 

Das  Geschick  verwandelt  die  günstigsten  Gelegenheiten  in  ungünstige  u.  umgekehrt. 

376.  Sorg  wie  du  willst,  — was  dir  nicht  zugetheilt  ist, 
das  wird  nicht;  und  wenn  du’s  wegschleuderst,  was  dir  ge- 
hört, das  weicht  nicht. 

377.  Auch  die  Hunderttausende  gehäuft  haben,  werden 
schwerlich  mehr  gemessen,  als  der  Zuertheiler  zuertheilt  hat. 

378.  Nahrungslos  — werden  sie  dann  doch  entsagen, 
wenn,  was  sein  soll,  das  Schicksal  innen  nicht  zuwege  bringt. 

Wenn  das  Schicksal  den  Entschluss  zum  vorbestimmten  Büsserleben  nicht  kann 
zuwege  bringen , so  lässt  es  den  Menschen  so  arm  werden , dass  er  wohl  entsagen  muss. 
So  die  Cotomentatoren. 

379.  Die,  wenn  ihnen1  Gutes  wird,  es  für  gut  nehmen, 
warum  sollten  sich  die,  wenn  ihnen 2 Schlimmes  wird,  schlimm 
geberden? 

i In  Folge  früherer  Gutthat.  2 In  Folge  früherer  Uebelthat. 

380.  Was  giebt’s  Grossmächtigeres  als  das  Geschick? 
Was  andres  du  auch  ersinnst,  — es  kommt  zuvor. 


II. 

VOM  GUTE. 


„Gut  ist  der  auf  dem  Wege  der  Tugend  gesammelte  Vorrath  an 
Gold,  Perlen  u.  s.  w.  Dies  ist  hier  mitgesetzt,  wo  von  der  königlichen 
Verwaltung,  die  demselben  förderlich  ist,  geredet  wird.“  tP.) 


PERSÖNLICHKEIT  DES  KÖNIGS. 


' 39. 

KÖNIGS  GRÖSSE. 

„Das  sind  des  Königs  gute  Eigenschaften  und  Thaten.“  (P.) 

381.  Heer,  Volk,  Gold,  Rath,  Bund,  Burg,  — wer  diese 
Sechs  besitzt,  ein  Leu  ist’s  unter  Königen ! 

Die  sechs  aufgezählten  Stücke  bilden  das  sogenannte  Räsänkam  „Erfordernisse  des 
Königs“.  , 

382.  Furchtlosigkeit,  Freigebigkeit,  Klugh eit  und  Geistes- 
kraft — dass  diese  Vier  nicht  fehlen,  ist  Fürsten- Art. 

383.  Gewecktes  Wesen,  Kenntniss  und  kühner  Muth  — 
die  Drei  sind  unabtrennlich  vom  Erdenherrscher. 

384.  Von  der  Tugend  nie  wankend  die  Tücke  wegthun, 
und  von  der  Tapferkeit  nicht  wankende  Ehrhaftigkeit  ist 
Herrscherthum. 

385.  Erwerben,  Sammeln,  Wahren  und  das  Gewahrte 
gehörig  spenden  — das  zu  vermögen  ist  Königsthum. 

386.  Wenn  er  leicht  zugänglich,  nicht  rauher  Rede  ist, 
wird  man  des  Königs  Land  hoch  heben. 


GO 


II.  Vom  Gute. 


387.  Wer  mit  lindem  Wort  spendend  zu  schützen  weiss, 
dem  wird  die  Welt  durch  das  Wort  von  ihm  so  gross1,  wie’s 
ihm  geliebt2. 

1 Durch  seinen  sich  in  alle  Welt  ausbreitenden  Ruf. 

2 D.  h.  Er  kann  sein  Reich  so  weit  ausdehnen,  als  es  ihm  gefällt. 

388.  Ein  König,  der,  Recht  übend,  Schutz  schafft,  ein 
Gott  ist  er,  gesetzt  den  Sterblichen! 

389.  Gern  unterm  Schirm  des  wackern  Fürsten  weilt 
die  Welt,  der,  — ist’s  dem  Ohr  auch  bitter,  — ein  Wort  ver- 
trägt. 

390.  Spende,  Milde,  ein  grades  Scepter  und  Landes- 
sorge, — wem  diese  vier  Stücke  eignen,  der  ist  ein  Licht  der 
Landesherrn. 


40. 

WISSEN. 

„Wenn  der  König  Wissenschaft  hat,  so  nützt  das  nicht  bloss  ihm, 
sondern  auch  Andern;  deswegen  hat  er  es  in  die  , Persönlichkeit  des 
Königs'  aufgenommen;  er  spricht  aber  gleichwohl  insgemein  davon, 
indem  es  Allen  frommt.“  (P.) 

391.  Fehllos  lerne  du  das  zu  Lernende!  Hast  du  ge- 
lernt, steh’  auch  stets  fest  demnach. 

392.  Was  man  Zahl  und  Zeichen  heisst,  — dies  Beides 
nennt  man  „Augen  der  Lebenden“. 

Was  die  Unkundigen  Rechnen  und  Schreiben  nennen,  nennen  die  Weisen  „Augen 
der  Lebenden“.  (Wer  nicht  lesen  und  schreiben  kann,  dem  fehlt  gleichsam  das  Auge.) 

393.  Die  Gelehrten  nennt  man  augenhaft;  im  Gesicht 
zwei  Geschwüre  haben  die  Ungelehrten. 

394.  Dass  man  zu  ihnen  sich  gern  gesell’  und  stets  ge- 
denk von  ihnen  geh’  — darin  ist  der  Gelehrten  Beruf  befasst. 

395.  Muss  man  auch,  wie  vor  dem  Reichen  der  Bettler, 
demüthig  stehn,  — man  wird  ein  Gelehrter;  stets  unten  stehn, 
die  nicht  lernen  wollen. 

39G.  Wie  man  gräbt,  so  quillt  im  Sand  der  Brunnen; 
wie  man  übt,  so  quillt  die  Erkenntniss  h 


40.  Wissen.  — 41.  Nichtwissen. 

i „Diess  geschieht  eben  nur,  wenn  die  Schickung  nicht  dagegen  ist,  daher  denn 
dieser  Ausspruch  mit  V.  373  keineswegs  im  Widerspruch  steht.“  (P.) 

397.  Was  es  auch  sei,  es  wird1  zum  Vaterland,  zur 
Vaterstadt.  Was  denn  für  Lebensart  ist  das,  nichts  lernen 
wollen  bis  an  den  Tod  ! 

i Dem  Gelehrten. 

398.  Was  Einer  in  Einer  Geburt  gelernt,  — es  wird  ihm 
frommen  fiir  alle  sieben. 

Das  einmal  erworbne  Wissen  folgt  dem  Inhaber  durch  alle  Geburten.  Siehe  V.  G2. 

399.  Sehend,  dass  das  ihnen  Süss’  auch  der  Welt  süss 
ist1,  begehren’s  die  Wissenden. 

1 Das  Wissen  nämlich. 

400.  Ein  unvergängliches,  hoch  hehres  Glück  ist  doch 
das  Wissen ; das  Andre  all  ist  kein  Besitz. 


41. 

NICHTWISSEN. 

„Dieses  Kapitel  folgt  auf  das  vorhergehende,  weil  es  dasselbe  in 
negativer  Weise  vollendet.“  (P.) 

401.  Wie  auf  felderlosem  Brete  Spielen  mit  Kugeln,  so 
in  der  Versammlung  Sprechen  ohne  Fülle  des  Studiums. 

Beides  geht  ins  Ungewisse.  Das  Studium  füllt  die  tabula  rasa  des  Geistes.  Die  ein- 
zelnen Felder  sind  gewissermassen  die  literae. 

402.  "Wünscht  ein  Ungelehrter  das  Wort  zu  nehmen,  — 
s’ist  wie  wenn  Eine,  der  beide  Brüste  fehlen,  ein  Weib  sein  will. 

403.  Auch  die  Ungelehrten  sind  ganz  gute  Leute,  wird’s 
ihnen  nur  vor  Gelehrten  zu  schweigen  möglich. 

404.  Des  Ungeschulten  Geist  — und  wär’  er  zum  Ueber- 
fliessen  wacker 1 — lassen  nicht  gelten  die  Wissenden. 

1 In  manchen  Stücken.  „Wie  ein  auf  Wasser  geschriebener  Buchstabe , so  ist  der 
Ungelehrten  Wissen  ohne  festen  Stand.“ 

405.  Des  Ungeschulten  Fertigkeit1  fällt  über  den  Hau- 
fen, wenn  er  das  Wort  ergreift  vor  voller  Versammlung2. 

1 Die  er  sich  einbildet. 


62 


II.  Vom  Gute. 


2 P.:  „Sobald  (ein  Gelehrter)  sie  ins  Auge  fassend  zu  sprechen  anhebt."  V.  nach 
P.  : „Was  steht,  bis  er  irgend  ein  Wort  äussert,  das  fallt,  nachdem  es  geäussert  ist,  bei 
der  Gegenrede  über  den  Haufen.“ 

406.  Es  lässt  sich  bloss  sagen  „sie  sind“.  Sonst  gleichen 
sie  fruchtlosem  Sandboden,  — die  Ungelehrten. 

407.  Wer  ohn’  eindringend  Wissen  voll  geistiger  Herr- 
lichkeit, dess  Schön’  und  Güt’  ist  wie  ein  aus  thönerner  Herr- 
lichkeit geformtes  Bild. 

408.  Böser  als  Blösse  bei  Tüchtigen  ist  Fülle  bei  Bil- 
dungslosen. 

400.  Ungelehrte,  auch  hochgeboren,  reichen  an  Würde 
nicht  an  die,  die,  ob  schon  niedrig  geboren,  Gelehrte  wurden. 

410.  Wie  Menschen  und  Tliiere  — so  zu  einander  stehn, 
die  glänzendes  Wissen  übten,  und  die  Uebrigen. 


42. 

HÖREN. 

„Das  ist  hören,  wenn  Diejenigen,  die  in  den  Sinn  der  zu  studirenden 
Schriften  eingeweiht  sind,  reden.  Weil  man,  nachdem  man  gelernt 
hat,  die  daraus  erwachsene  Kenntniss  befestigt  und  sie  auch  da,  wo 
Unwissenheit  war,  erzeugt,  so  folgt  dieses  Kapitel  auf  die  beiden  vor- 
hergehenden von  , Wissen4  und  , Nichtwissen4. 44  (P.) 

411.  Der  Wohlfahrt  Wohlfahrt  ist  die  Wohlfahrt  in  Folge 
von  Wohlhören.  Jene  Wohlfahrt  ist  aller  Wohlfahrt  Krone. 

412.  Wenn  man  ohne  Ohren  speis’  ist,  mag  man  dem 
Leib’  auch  ein  Weniges  geben. 

D.  h.  So  lange  man  guter  wissenschaftlicher  Unterhaltung  geniesst,  denkt  man  nicht 
an  Essen  und  Trinken. 

413.  Die  mit  Ohrenspeise  versorgten  Hörer  gleichen  auf 
Erden  schon  den  mit  Opferspeise  versorgten  Vollendeten. 

Die  OhreDspeise  ist  so  zart  wie  Opferduft. 

414.  Wenn  man  auch  kein  Gelehrter  ist,  man  höre  doch  1 ! 
Das  ist  im  Unglück  stützender  Stab. 

t Das  Gespräch  Gelehrter. 


42.  Hören.  — 43.  Weisheit.  ßg 

415.  Wie  an  schlüpfrigem  Ort  ein  Stab,  ist  das  Wort 
aus  Derer  Mund,  die  richtig  wandeln. 

416.  Wie  viel  es  auch  sei,  was  gut  ist,  höre  man!  Wenn 
es  auch  nur  so  viel 1 ist,  es  verleiht  vollkommene  Grösse. 

1 D.  i.  sehr,  sehr  wenig. 

417.  Wenn  gleich  mangelhaft  erkennend,  — Albernes 
werden  die  nicht  sagen,  die,  fleissig  forschend,  Gediegnes 
hören. 

418.  Ein  Ohr,  das  nicht  durch  Hören  gehöhlt  ward,  hat, 
wenn  auch  hörend,  Nichthörens- Art. 

Das  Ohr,  durch  das  kein  Unterricht  gegangen  , ist  gleichsam  ohne  Höhlung  — und 
folglich  taub.  (Vergl.  das  Hebräische  FHS,  „Durchbohren“,  Ps.  40,  7.) 

419.  Deren  Ohr  Scharfsinniges  nicht  gehört,  die  werden 
schwerlich  bescheidnen  Munds. 

420.  Die  Menschen,  die,  mit  dem  Ohr  nichts  schmeckend, 
nur  mit  dem  Munde  schmecken,  — ob  sie  sterben  oder  leben, 
was  thut’s? 

„Die  Geschmäcke,  die  uns  durch  das  Ohr  zu  Theil  werden,  beziehen  sich  theils  auf 
den  Ausdruck  (Correctheit  und  rhetorische  Figuren) , theils  auf  den  Inhalt  (die  soge- 
nannten 9 rasa,  , Geschmäcke4  oder  Gegenstände  pathetischer  Darstellung:  Liebe, 
Scherz,  Huld,  Zorn,  Muth,  Schrecken,  Widerwillen,  Erstaunen  und  Zufriedenheit).“  (P.) 

Der  Geschmäcke,  die  uns  durch  den  Mund  zukommen , zählt  man  G (bitter,  süss, 
sauer,  salzig,  herbe,  prickelnd). 


43. 

WEISHEIT. 


„Das  ist  der  Besitz  des  (praktischen)  Wissens  zugleich  mit  dem  durch 
Ueben  und  Hören  erzeugten  (theoretischen)  Wissen.“  (P.) 

421.  Weisheit  ist  die  Waffe,  die  vor  Verderben  wahrt. 
Sie  ist  die  auch  vom  Feind  nicht  zu  zerstörende  innerste  Feste. 

422.  Weisheit  ist,  was  den  Sinn1  seinen  eignen  Weg2 
nicht  gehen  lässt,  vom  Bösen  lenkt,  zum  Guten  leitet. 

1 Manas  , das  Vermögen  der  Vorstellung  und  der  Erregung.  Es  steht  an  der  Spitze 
der  äussern  Sinne. 

2 Den  Sinuendingen  nach. 


64 


II.  Vom  Gute. 


423.  Welche  Sach  und  aus  welchem  Mund  1 man  sie  auch 
höre,  jener  Sache  wahren  Sachgehalt  ersehn  ist  Weisheit. 

l ,,Denn  man  hört  zuweilen  erhabne  Dinge  von  gemeinen  Leuten;  gemeine  Dinge 
von  erhabnen  Leuten ; heilsame  Dinge  von  Feinden  und  verderbliche  Dinge  von  Freun- 
den.“ (P.) 

424.  Weisheit  ist  so  sprechen,  dass  Alles  wie  leichtes 
Ding  eingeh’,  und  die  schweren  Ding’  aus  Andrer  Mund  leicht 
fassen. 

425.  Sich  eng  an  die  Weisen  schmiegen  ist  Klugheit; 
Weisheit,  dass  dabei  ein  Er-  und  Wiederverschliessen1 
nicht  statt  hat. 

1 ,,Man  soll  sich  dabei  nicht  wie  die  Wasserblume  verändern,  sondern  wie  die  Köttu- 
Blume  (die  sich  nicht  er  - und  verschliesst)  beständig  sein.**  (P.) 

426.  Wie  die  Welt  wandelt,  so  mit  der  Welt  wandeln 
ist  Weisheit. 

Der  König  darf  nicht  sprechen : „Weil  ich  die  ganze  Welt  bestimme,  so  ist  Niemand, 
der  mich  bestimmen  könnte.“  (P.i  Ueber  den  Begriff  „Welt“  vergl.  Anm.  zu  V.  280. 

427.  Die,  was  gesehehn  wird,  wissen,  sind  die  Weisen; 
die  Unweisen  die  in  solchem  Wissen  Ungeübten. 

428.  Das  zu  Fürchtende  nicht  fürchten  ist  Thorheit;  das 
zu  Fürchtende  fürchten  ist  der  Weisen  Thun. 

429.  Den  Weisen,  die  sich  in  zuvorkommender  M eise 
wahren,  kommt  kein  Uebel  in  erschütternder  "Weise  zu. 

430.  Die  Weisen  haben  Alles,  die  Unweisen,  — was  sie 
auch  haben,  — Nichts. 


44. 

ZÜCHTIGUNG. 

„Sie  besteht  darin,  dass  der  König  die  sechs  Fehler:  Lust,  Grimm. 
Habsucht,  Hoffart,  übertriebene  Freude  und  geistige  Trunkenheit,  in 
sich  selbst  straft  und  abthut.  Da  nur  Weise  diese  Fehler  als  Schuld  zu 
erkennen  und  zu  strafen  vermögen,  so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  von 
der  , Weisheit'.“  (P  ) 

431.  Die  Grösse  Derer,  die  ohne  Blähn1,  Grimm  und 
gemeine  Lust,  ist  wahrhaft  grossgeartet. 

i Dies  soll  der  „geistigen  Trunkenheit“  entsprechen. 


44.  Züchtigung.  — 4-’>.  Die  Grossen  sich  zur  Hülfe  nehmen.  Qq 

432.  Knauserei,  unedles  Edelthun  und  adellose  Freude 
sind  Fürsten -Fehler. 

433.  Wenn  Schuld  auch  nur  in  Hirsekorns-Grösse  naht, 
die  vor  dem  Fehl  sich  fürchten,  sehen  sie  in  Palmyra-Grösse. 

434.  Vor  dem  Fehl  hüte  dich  zu  deinem  Heil.  Fehl  ist 
Verderben  bringender  Hass. 

435.  Wer  sich  nicht  hütet,  bevor  (der  Fehl)  kommt, 
dess  Wohl  vergeht  wie  vor’m  Feuer  Stroh. 

436.  Wenn  er,  den  eignen  Fehl  ausstossend,  des  Andern 
Fehl  wohl  sieht1,  welcher  Fehl  kann  dann  noch  den  Fürsten 
befallen? 

i Und  ahndet. 

437.  Wer,  was  gethan  zu  werden  Anspruch  hat,  nicht 
tliuend,  knausert,  dess  Wohl  geht,  ohne  Anspruch  auf  Auf- 
schwung, unter. 

438.  Die  Knauserei  habsüchtigen  Herzens  gilt  unter 
allen  (Fehlern)  als  ohne  Gleichen. 

439.  Erheb’  dich  selber  nie!  Erstreb  nie  eine  That,  die 
nicht  Gutes  fruchtet. 

440.  Treibt  man  Gewünschtes,  ohne  den  Wunsch  wissen 
zu  lassen,  so  werden  schädlicher  Leute  Gespinnste  schadlos. 


45. 

DIE  GROSSEN  SICH  ZUR  HÜLFE  NEHMEN. 


„Das  ist  Leute  von  grosser  Weisheit  (Rathgeber  und  Priester),  die  ihn 
(den  König)  vom  bösen  Wege  zurückhalten,  und  auf  dem  guten  Wege 
vorwärtstreiben,  sich  als  Helfer  zugesellen.“  (P.) 

441.  Die  Freundschaft  Derer,  die,  Tugend  wissend,  von 
reifem  Wissen  sind,  erkenn  und  wähl’  er,  die  Mittel 1 wissend. 

1 Die  zu  einer  solchen  Wahl  führen. 

442.  Er  heg'  und  pflege  Männer,  die  vorhandne  Noth 

verscheuchen,  ihr  Kommen  aber  verhüten  können, 
in.  5 


II.  Vom  Gute. 


66 

„DieNotli,  die  von  der  göttlichen  Schickung  kommt,  besteht  in  Regenlosigkeit, 
Regenübermaass , Sturm,  Feuer , Krankheit;  sie  wird  durch  heilige  Sühnen  beseitigt. 
Die  Noth,  welche  die  Menschen  bereiten,  kommt  von  Feinden,  Dieben,  Verwandten,  Ar- 
beitern; sie  wird  durch  das  grade  passende  der  vier  Mittel:  , Zugutereden , Spaltung, 
Spende  und  Strafe  ‘ beseitigt.  Das  Verhüten  besteht  darin , dass  man  das,  was  von  der 
göttlichen  Schickung  kommt,  aus  Vorzeichen  erkennt,  und  durch  die  vorerwähnten 
Sühnen  abwehrt,  das  aber,  was  von  den  Menschen  kommt,  aus  dem  Charakter , den 
Kundgebungen,  und  aus  ihrem  offnen  Thun  und  Treiben  erkennt  und  durch  eines  der 
vorerwähnten  (vier)  Mittel  abwehrt.“  (P.) 

443.  Das  Seltenste  von  allem  Seltenen  ist  grosse  Männer 
pflegend  zu  den  Seinen  machen. 

444.  Dass  (ein  König)  so  wandelt,  dass  die,  so  grösser 
sind,  die  Seinen  werden,  ist  die  Krone  der  Königskraft. 

445.  Weil  ein  König  nur  durch  das  Auge  seiner  Umge- 
bung herrscht,  so  geh’  er  sich  um  seine  Umgebung  der  Prü- 
fung hin. 

446.  WTer  als  der  Wackern  Freund  zu  wandeln  weiss, 
dem  kann  kein  Feind  beikommen. 

447.  Wer  ist  stark  genug,  den  zu  stürzen,  der  strafende 
Käthe  hat? 

448.  Der  liülflose  Herrscher,  der  ohne  Belehrer  ist,  wird 
verstört,  auch  wo  kein  Verstörer  ist. 

449.  Für  den,  der  ohue  Capital  ist,  kein  Gewinn!  Fin- 
den, der  ohne  stützende  Lehne  ist,  kein  Halt! 

450.  Zehnmal  schlimmer  als  der  Menge  Hass  auf  sich 
häufen  ist  der  Guten  Freundschaft  fahren  lassen. 


46. 

VON  „KLEINER  GESELLSCHAFT“  SICH  FERN  HALTEN. 

„Kleine  Gesellschaft  ist  der  Haufe  Derer,  die  am  Guten  das  Gute  und 
am  Bösen  das  Böse  leugnen,  Schurken,  Bösewichter  u.  a.  Wenn  man 
sich  dieser,  welche  die  Weisheit  verkehrt  und  das  gegenwärtige  wie 
das  nachfolgende  Sein  zu  verderben  geartet  ist,  auschliesst,  so  ist  es 
rein  umsonst,  dass  man  sich  die  , Grossen  zur  Hülfe  nimmt1.  Um  diess 
zum  Bewusstsein  zu  bringen,  lässt  er  nun  dieses  Capitel  auf  jenes 

folgen.“  (P.) 

451.  Geistes  - Grösse  fürchtet  kleine  Bekanntschaft; 
Geistes -Kleine  umfasst  sie  als  Verwandtschaft. 


46.  Von  kleiner  Gesellschaft  sich  fern  halten. 


67 


452.  Durch  des  Bodens  Art  wandelt  das  Wasser  sich 
und  wird  wie  er;  die  Art  der  Gesellschaft  nimmt  der  Geist 
des  Menschen  an. 

453.  Durch  den  eignen  Sinn  kommt  dem  Menschen  die 
Wahrnehmung  1 ; die  Red’  aber  „Er  ist  so  beschaffen“  durch 
die  Gesellschaft2. 

1 Manas , der  innre  Sinn.  Es  ist  hier  von  der  empirischen  Wahrnehmung  mittelst 
der  fünf  Sinne  die  Rede,  an  deren  Spitze  Manas  (siehe  V.  432)  steht. 

2 Nach  dem  Spruche:  Similes  cum  similibus  facillime  congregantur.  „Hier  be- 
kämpft er  die,  welche  .die  Vergleichung*  (upamäna)  als  Erkenntnissquelle  verwerfen  und 
sprechen:  Auch  jene  Wissensmodification  kommt  durch  da^eigne)  Manas.“  (P.) 

454.  Die  Weisheit  zeigt  sich  wohl  wie  aus  des  Innern 
Umfang,  stammt  aber  doch  aus  dem  äussern  Umgang. 

455.  Beides,  Lauterkeit  des  Sinns  und  Lauterkeit  des 
Thuns,  schreitet  einher  am  Stab  der  Lauterkeit  des  Umgangs. 

456.  Den  an  Gemüth  Reinen  geräth  die  Nachkommen- 
schaft1; für  die  an  Gesellschaft  Reinen  giebt’s  keine  That, 
die  nicht  geräth 2. 

1 „Weil  die  Wirkung  von  der  Ursache  nicht  verschiedenartig  ist.“  So,  im  Sinne  des 
Sänkja- Systems,  P. 

2 „Weil  sie  mit  guten  Freunden  bedacht  und  verrichtet  wird.“  (P.J 

457.  Güte  des  Gemüths  verleiht  den  Lebendigen  Wohl- 
fahrt, Güte  der  Gesellschaft  alles  mögliche  Lob. 

458.  Selbst  wenn  man  ein  gut  Theil 1 Güte  der  Seele  hat, 
den  Weisen  gilt  Güte  des  Umgangs  als  rechter  Hort. 

1 P. : ,, Selbst  wenn  man,  in  Folge  (früherer)  Gutthat,  Güte  der  Seele  etc.“ 

459.  Durch  die  Güte  der  Seele  kommt  künftiger  Segen1; 
sie  hat  einen  Hort  an  der  Güte  des  Umgangs2. 

1 ,,Der  Verfasser  bekennt  sich  zu  der  Ueberzeugung,  dass  das,  was  für  die  nächste 
Existenz  frommt,  einzig  und  allein  Güte  der  Seele  ist.“  (P.) 

2 „Wenn  die  Güte  des  Herzens  durch  die  Kraft  des  tamöguna  (siehe  Einl.  zu  V.  1) 
sich  alterirt,  so  helfen  wackre  Freunde  zurecht.“  (P.) 

460.  Kein  so  hehrer  Halt  wie  gute  Gesellschaft,  keine  so 
heillose  Gewalt  wie  böse  Gesellschaft. 


68 


II.  Vom  Gute. 


47. 

WIE  MAN  PRÜFEND  HANDELT. 

„Wenn  der  Umstand,  dass  man  sich  ,die  Grossen  zu  Hülfe  nimmt' 
wirklich  von  Nutzen  ist,  so  handelt  man  eben  mit  ihnen;  darum  folgt 
dieses  Kapitel  auf  das  vorhergehende,  wo  davon  die  Rede  ist,  dass 
mau  sich  von  , kleiner  Gesellschaft1  fern  zu  halten  habe.“  (P.) 

461.  Aufwand  und  Eintrag  und  den  all mii hl ig  reifen- 
den Gewinn  bedenkend  handle. 

462.  Die  mit  erwählter  Schaar  erwägen,  nochmals  be- 
denken und  dann  handeln,  — für  diese  giebt’s  auch  nicht  Ein 
Schweres. 

463.  Der  That,  die  auf  Zinsen  zielt  und  das  Capital 
verspielt,  unterziehn  sich  nimmer  die  Weisen. 

464.  Die  vor  der  Rüge  Schmach  bangen,  fangen  nichts 
Unklares  an. 

465.  Ohne  den  Sachverhalt 1 gründlich  anzusehn,  loszu- 
gehn — das  heisst  die  Feind’  im  Feld  befestigen. 

i „Die  gegenseitige  Stellung  nach  Streitkraft,  Ort  und  Zeit,  die  beste  Weise  die  Sache 
anzugreifen,  die  zu  befürchtenden  Hindernisse,  die  Mittel,  um  sie  zu  beseitigen,  die  Art, 
wie  man  zum  Siege  gelangt,  den  daraus  fliessenden  Gewinn  u.  s.  w.“  (P.) 

466.  Thut  man,  was  man  nicht  thun  sollte,  verdirbt  man; 
auch  dadurch,  dass  man  nicht  thut,  was  man  thun  sollte,  ver- 
dirbt man. 

467.  Man  wäg’  und  wage!  Ein  Fehler  ist’s  nach  gewag- 
ter That  zu  sprechen:  Wir  wollen’s  erwägen! 

468.  Die  um  die  rechte  Weise1  sich  nicht  mühende 
Mühwaltung,  — auch  wenn  noch  so  Viele  wahrend  und  weh- 
rend beistehn,  — wird  fehl  gehn. 

i D.  h.  um  die  richtige  Anwendung  der  „vier  politischen  Mittel“  (siehe  Anra.  zu 
V.  442),  so  dass  man  den  Geldgierigen  mit  Geld  abfindet,  den  Billigdeukenden,  den  Trä- 
gen und  den  Friedliebenden  mit  freundlichen  Worten  versöhnt,  die  feindlichen  Alliirten 
uneins  macht,  und  erst,  wenn  das  alles  nicht  hilft,  zur  Strafe  schreitet.  (P.) 

469.  Auch  bei  gutem  Handeln  ist’s  ein  falscher  Tritt, 
wenn  man  nicht  Jedes  Charakter  erkennend  handelt. 


47.  Wie  man  prüfend  handelt.  — 48.  Die  Stärke  kennen. 


69 


470.  Nicht  zu  Tadelndes  erdenkend  handle;  zu  dem,  was 
dir  nicht  ansteht,  wird  auch  die  Welt1  nicht  stehn. 

i Siehe  Anm.  zu  V.  280.  — Der  Starke  soll  nicht  zu  den  Mitteln  des  Schwachen  (Zu- 
gute  reden,  Spende,  Spaltung),  der  Schwache  nicht  zu  dem  Mittel  des  Starken  (Strafe) 
greifen.  (P.) 


48. 

DIE  STÄRKE  KENNEN. 

„Dass  der  König,  der  von  den  (vier  politischen)  Mitteln  die, Strafe1 

gewählt  hat,  die  vierartigeu  Streitkräfte  wohl  bemisst.“  (P.) 

471.  Der  That  Grösse,  die  eigne  Grösse,,  des  Feindes 
Grösse,  der  Helfer  Grösse1  wohl  wägend  handle! 

1 Auf  beiden  Seiten. 

472.  Denen,  die,  was  möglich,  und  was  sonst  zu  wissen, 
wissen  und  darin  verharrend  auf  den  Feind  losschlagen,  ver- 
fährt sich  nichts. 

473.  Wie  Viele,  die,  die  eigne  Macht  verkennend,  sich 
erheben  in  Ueberhebung  und  dann  mitteninne  zerkrachen! 

474.  Wer  nach  aussen  unangemessen  handelt,  seinMaass 
nicht  kennt,  sich  selbst  vermisst,  kommt  eilends  um. 

475.  Auch  dem  mit  Pfauenfedern  beladnen  Wagen 
bricht  die  Achse,  belädt  man  ihn  mit  dieser  Waare  im  Ueber- 
mass. 

Auch  der  stärkere  König  kann  von  schwachem  übermocht  werden , wenn  deren 
mehrere  sich  gegen  ihn  verbinden. 

476.  Wenn,  wer  des  Astes  Spitz’  erstiegen,  sich  drüber 
hinaus  versteigt,  dess  Leben  erreicht  sein  Ende. 

,, Hiermit  wird  der  Fehler  gerügt,  der  entsteht,  wenn  man  , die  Grösse  der  That- 
(siehe  Vers  471)  nicht  gehörig  bedenkt.“  (P.) 

477.  Spende,  das  Maass  vom  Flusse  (deines  Ver- 
mögens)1 kennend.  Das  ist  zu  Wohlstands  Wahrung  der 
rechte  Weg. 

i P. : das  Maass  auf  dem  Wege  sc.  des  Spendens.  Vergl.  jedoch  den  folg.  Vers. 

478.  Wenn  auch  der  Zufluss  schmal  ist,  es  schadet  nicht, 
wenn  nur  der  Abfluss  nicht  breit  ist. 


70 


II.  Vom  Gute. 


479.  Das  Leben  dess,  der,  ohne  Kenntniss  des  Maasses 
lebt,  geht,  beim  Schein  der  Fülle  zunichte  werdend,  scheinlos 
zugrund. 

480.  Einer  die  vorhandne  Grenze  nicht  ermessenden 
Freigebigkeit  schwindet  jach  das  zugemessne  Gut. 


49. 

DIE  ZEIT  KENNEN. 


„Dass  der  König,  der,  durch  seine  Macht  überlegen,  gegen  den  Feind 
ziehen  will,  die  dazu  gelegne  Zeit  erkennt.“  (P.) 

481.  Am  Tage  siegt  die  Krähe  über  die  Eule  ob.  Für- 
sten, die  ihren  F eind  besiegen  sollen,  brauchen  die  rechte  Zeit. 

482.  Ein  Verfahren  im  Einklang  mit  der  Gelegenheit  ist 
ein  das  Glück  fest  bindendes  Tau. 

483.  Giebt  es  denn  etwas,  das  man  eine  „schwere  That“ 
nennen  kann,  wenn  man  mit  dem  rechten  Mittel,  die  rechte 
Zeit  erkennend,  handelt? 

484.  Auch  wenn  du  nach  der  ganzen  Welt  trachtest,  sie 
fällt  dir  zu,  dafern  du  nur,  nach  der  rechten  Zeit  trachtend, 
dem  Orte  gemäss  handelst. 

485.  Die  nach  Weltherrschaft  ausschaun,  — nach  der 
Zeit  ausschauend  ausharren  sie  imbeirrt l. 

l Die  Commentatoren  ziehen  dieses  Wort  zu  „ausschauen“.  Offenbar  minder 
passend. 

486.  Des  kühnen  Kämpen  Rückhalt  hat  das  wackre  We- 
sen des  Streitwidders,  der  zum  Ansprung  zurück  sich  zie- 
hend ansetzt. 

487.  Ein  kluger  König  grollt  nicht  sogleich  „hui,  hui!“ 
nach  aussen  hin,  — nein  innerlich  — die  Zeit  ersehend. 

488.  Siehst  du  den  Feind,  so  senk  dein  Haupt1!  Siehst 
du  die  Zeit  seines  Sturzes,  so  kommt  sein  Haupt  herab. 

t Nach  dem  Texte  ..geduldig  wie  unter  einer  Last  “. 


•IS».  Die  Zeit  keimen.  — 50.  Den  Ort  kennen. 


71 


489.  Wenn  schwer  Herzustellendes  sich  einstellt,  dann 
auf  der  Stelle  verrichte  schwer  zu  Verrichtendes. 

490.  Den  Reiger1  nimm  zur  Regel  zur  Wartezeit!  Zur 
rechten  Zeit  sein  Zufahren. 

1 Der  in  (len  bewässerten  Reisfeldern  den  Fischen  regungslos  audauert. 


50. 

DEN  ORT  KENNEN. 


,.Dass  der  nach  Erkenntniss  der  Macht  und  der  Zeit  auf  den  Feind 
loszugehn  vorhabende  König  den  zum  Sieg  gelegnen  Ort  erkennt.“  (P.) 

491.  Fang  ja  nichts  an,  denk’  nicht  gering,  ausser  du 
sahst  den  Ort  zum  Einschluss  aus. 

„Ein  zum  Einschluss  des  Feindes  angemessner  Ort  hat  Raum  uüd  Wasser  für  einen 
sichern  Aufenthalt  vieler  Heere  zu  gegenseitiger  Hülfsleistung  — bei  Umzingelung  des 
Feindes  dergestalt  dass  ihm  weder  durch  Thüren , noch  durch  unterirdische  Gänge  ein 
Zu-  und  Ausgang  bleibt  — und  für  einen  mit  Mauern,  Gräben  u.  s.  w.  befestigten  Königs- 
Aufenthalt.4*  (P.) 

492.  Auch  dem  mit  „Trutz“  verbundenen  Haudegen 
leiht  der  mit  „Burg“  verbundene  Schutz  viel  Vortheil. 

493.  Auch  Ohnmächtige  mögen  mächtig  dreinhaun, 
wenn  sie,  den  Ort  kennend,  dem  Gegner  behutsam  entgegen- 
handeln. 

494.  Die  mit  Plänen  kommen,  werden  ihre  Pläne  fahren 
lassen,  wenn,  den  Ort  kennend,  die  Angenahten  nah  an- 
rücken. 

495.  In  grossem  Gewässer  wird  das  Crocodil  obsiegen ; 
verlässt  es  das,  so  machen’s  zu  nichte  die  Andern. 

496.  Auf  der  See  läuft  nicht  der  rad- starke  Wagen;  das 
die  See  durchlaufende  Schiff  läuft  nicht  auf  der  Erde. 

497.  Einer  andern  Hülfe  bedarf  es  nicht  als  furchtlos  zu 
sein,  dafern  man,  fehllos  erwägend,  dem  Orte  gemäss  vorgeht. 

498.  Wenn  Einer  mit  einem  sehr  kleinen  Heer  einen 
günstigen  Ort  wählt,  so  kann  auch  ehe  Macht  Eines  mit  einem 
sehr  feinen  Heer  zugrunde  gehn. 


72 


II.  Vom  Gute. 


Oder:  Wenn  Einer  mit  einem  grossen  Heer  sich  au  den  Ort  begiebt,  der  fiir  Den 
mit  einem  kleinen  Heere  gelegen  ist,  so  kann  seine  Macht  zugrunde  gehen.  So  die  Com- 
mentatoren. 

499.  Fehlt  ihnen  auch  der  Feste  Vortheil  und  sonstiger 
Vorzug,  schwer  ist’s  mit  Leuten  in  ihrem  Land  anbinden. 

500.  Im  Fuss- einsinkenden  Sumpf  fällt  der  Schakal  den 
Elephanten,  der  auf  seinen  Hauer  Belanzte  fädelt1,  mit 
furchtlosem  Aug. 

1 So  die  Commentatoren.  Wörtlich:  ,, mit  seinem  Belanzt?n- Gesicht“. 


51. 

FORSCHEND  GEWISS  WERDEN. 

„Das  ist  bei  der  Wahl  der  Minister  u.  s.  w.  Geburt,  Charakter, 
Wissen  und  Thun  nach  den  Regeln  der  empirischen  Erfahrung,  For- 
schung und  der  heil.  Schrift  ins  Klare  bringen.  Weil  Demjenigen,  der 
die  drei  Dinge:  Stärke,  Ort  und  Zeit  (Capitel  48 — 50),  erkannt  hat  und 
nun  auf  den  Feind  losgehen  will,  diese  Gewissheit  dazu  dass  das  Heer 
mit  Lust  seine  Pflicht  thue  und  sich  nicht  widersetze,  von  nöthen  ist, 
so  folgt  dieses  Capitel  auf  die  drei  vorhergehenden.“  (P.) 

501.  Den  Charakter  in  Bezug  auf  die  Vier  — Tugend, 
Gut,  Lust  und  Todesfurcht  — von  Grund  aus  ausforschend 
bestimme  man! 

P.  giebt  die  Methode  dieser  Ausforschung  an.  Als  Beispiel  die  in  Bezug  auf  die 
Tugend:  „Man  schickt  Priester  und  tugendhafte  Leute  und  lässt  durch  sie  unter  feier- 
licher Betheurung  sagen:  ,Da  dieser  König  tugendlos  ist,  so  haben  wir  daran  gedacht, 
ihn  hinwegzuräumen  und  einen  Tugendhaften  an  seine  Stelle  zu  setzen.  Daä  ist  Aller 
Meinung;  was  denkst  du  von  der  Sache?1  “ 

502.  Die  Wahl  falle  auf  den,  der  edelgeboren,  schuldfrei, 
Brandmal  scheuend,  schamhaftig  ist. 

503.  Auch  bei  Einem,  der  Schweres  gelernt  hat  und 
ohne  Makel  ist,  — wenn  man  genau  nachforscht,  — wird  Irr- 
thumslosigkeit  sich  schwerlich  finden  h 

i Um  wie  viel  weniger  bei  Solchen , die  weder  etwas  gelernt  haben  , noch  richtig 
wandeln. 

504.  Den  Tugenden  nachforschend,  den  Untugenden 
nachforschend,  dem,  was  dabei  vorwiegt,  nachforschend  an 
das  Vorwiegende  halte  dich! 


51.  Forschend  gewiss  werden.  — 52.  Weise  Geschäftsführung.  ytj 

505.  Des  Menschen  Handeln  ist  für  seine  Hoheit  — und 
Gemeinheit  ein  guter  Prüfstein. 

506.  Ganz  Bloss  - Stehende 1 zu  wählen  hüte  dich ! Als 
Haltlos -Stehende  fürchten  sie  nicht  den  Fehl. 

i Die  Commentatoren:  „Verwandten -bloss  Stehende.“  Wohl  zu  eng. 

507.  Auf  Neigung  hin  Unwissende  wählen,  wird  alle 
Narrheit  zuwege  bringen. 

508.  Wer  einem  Fremden,  ohne  zu  forschen,  traut,  dem 
bringt  das  selbst  für  seine  Nachkommen  nie  weichendes 
Nachweh. 

509.  Trau  Niemandem  ohne  treues  Prüfen;  hast  du  ge- 
traut, so  vertrau  (deinem  Vertrauten)  ein  ihm  vertrautes 
Geschäft. 

510.  Traun  ohne  treues  Prüfen  und  dann  an  dem  Ver- 
trauten zweifeln,  bringt  nie  sich  wendend  Weh. 


52. 

WEISE  GESCHÄFTSFÜHRUNG. 


„Diese  besteht  darin,  dass  man  weiss,  zu  welchen  Geschäften  die  so 
Gewählten  passen  und  sie  dazu  brauchen.“  (P.) 

511.  Wer  so  ist,  dass  er,  das  Gut’  und  Bös’  erwägend, 
das  Gute  begehrte  x,  der  lässt  sich  brauchen. 

ID.  i.  bei  einem  vorläufiger  Prüfung  halber  ihm  aufgetragnen  Geschäfte. 

512.  "Wer,  des  Einkommens  Wege  weitend,  Wohlstand 
wirkt,  und  Alles,  was  hemmt,  genau  erforscht,  der  verseh’ 
das  Geschäft. 

513.  Bei  Dem,  der  Liebe,  Wissen,  festes  Wesen  und 
Nichtbegier  — diese  vier  Stück’  — unzerstückt  besitzt,  da  ist 
klare  Wahl. 

514.  Wenn  sich  Einer  auch  in  aller  Weise  bewährt  hat, 
Derer,  die  sich  (nachher)  in  der  Weise  der  That  anders  be- 
weisen, sind  Viele. 


74 


II.  Vom  Oute. 


515.  Nur  wo  man  mit  Kenntniss  und  Geduld  zu  handeln 
geschickt  ist,  nicht  wo's  bloss  heisst  „Ein  Trefflicher!“ 
schickt  sich  der  Geschäft’  Uebertragung. 

51G.  Den,  der  handeln  soll,  erforschend  und  auch,  was 
zu  handeln  ist,  erforschend,  handle,  wenn  mit  der  Zeit  du’s 
stimmen  siehst. 

517.  „Diess  wird  durch  dieses  Dieser  vollbringen!“  So 
erwägend  überlass  dies  Diesem. 

518.  Hast  du  Eines  Eignung  zum  Geschäft  erforscht,  so 
setz’  ihn  in  dazu  geeignete  Lage. 

519.  Die  Glücksgöttin  wird  Den  vergessen,  der  die  trau- 
liche Haltung  des  im  Geschäft  treu  Geschäftigen  übel  ver- 
merkt. 

Er  geht  zugrund,  weil,  wenn  er  eine  solche  trauliche  Haltung  eines  treuen  Dieners 
übel  vermerkt,  ihm  Niemand  mehr  wird  dienen  wollen.  (P.) 

520.  Der  König  forsche  fort  und  fort!  Geht  der  Ge- 
schäftsführende grade  fort,  so  geht  auch  die  Welt  grade  fort. 


53. 

DIE  ANGEHÖRIGEN  UMFASSEN. 

„Das  ist,  die  Angehörigen  so  hegen  und  pflegen,  dass  sie  sich  nie 
entfremden.“  (P.) 

521.  Auch  wenn  Einer  (alles)  Haltes  baar  ist,  — in  Ehren 
gehalten  wird  bei  Verwandten  das  alte  Verhältniss. 

522.  Fällt  Einem  eine  Verwandtschaft  zu  mit  nie  welken- 
der Liebe,  so  schafft  das  viel  Segen  mit  nie  welkendem 
Triebe1. 

,,  So  sagt  der  Verfasser , um  ihn  zu  unterscheiden  von  dem  Segen , den  man  selbst 
sich  schafft."  (P.) 

523.  Das  Wohl  eines  Fürsten  ohne  Anlehnung  1 ist  wie 
wenn  sich  mit  Wasser  füllt  uferlosen  Teiches  Ausdehnung. 

1 An  wackre  Verwandten. 

524.  Der  Segen,  den  man,  wenn  man  das  Glück  erlangt, 


53.  Die  Angehörigen  umfassen.  — 54.  Nicht  saumselig  sein.  ^5 

erlangt,  besteht  in  dem  Benehmen,  dass  die  Verwandten  aus- 
harren unverwandt. 

Das  kann  entweder  heissen:  Welchem  König  das  Glück  recht  wohl  will,  dem 
schenkt  es  eine  liebevolle  Gesinnung  gegen  die  Verwandten,  die  dann  treu  ausharren. 
Oder:  Ein  König  kann  die  ihm  zugefallnen  Glücksgüter  nicht  besser  anwenden,  als  sich 
damit  seine  Verwandten  für  immer  zu  verbinden.  Die  letztere  Erklärung  seheint  die  na- 
türlichere zu  sein. 

525.  Uebt  man  Spend’  und  freundliche  Sprache,  so  um- 
geben ergebne  Verwandte  den  König  schaarenweis. 

526.  Auf  der  grossen  Erde  hat  Niemand  mehr  auf  seiner 
Seite  als  wer  viel  giebt  und  Zorn  nicht  liebt. 

527.  Nicht  hehlend,  ruft  der  Rabe  zuerst  — und  speist 
dann;  den  so  Gearteten  wird  selbst  Gewinn. 

528.  Wenn  der  König  nicht  Alle  gleich,  sondern  je  nach 
Verdienst  ansieht,  so  werden,  das  ansehend,  Viele  gern  mit 
ihm  leben. 

529.  Die  Freundschaft  Derer,  die,  erst  die  Seinen,  seinen 
Umgang  mieden,  wird,  wo  Zwistes -Ursach  nicht  besteht,  sich 
einstellen. 

530.  Wenn  Einer  (ohne  Ursach)  ‘seinen  Dienst  verlässt 
und  dann  um  einer  Ursach  willen  wieder  kommt,  so  dien’ 
ihm  1 sein  Herr,  harr’  und  nehm’  ihn  bedachtsam  an. 

1 Beschi  liest  (statt  iUeittu)  i?eittu  und  übersetzt  demgemäss  ,,so  erbarme  sich  etc.“ 


54. 

NICHT  SAUMSELIG  SEIN. 


„Das  heisst  sowohl  in  der  Selbstbeschützung,  als  in  den  Dingen, 
welche  die  Zerstörung  der  Feinde  u.  s.  w.  betreffen,  nicht  träge  sein 
aus  stolzer  Lust  an  Schönheit,  Reichthum  und  Stärke.“  (P.) 


531.  Schlimmer  als  überwallender  Zorn  ist  Selbst- 
vergessenheit in  übermässiger  Freude  Jubel. 

532.  Trägheit  tödtet  den  Ruhm,  wie  ewig  Darben  den 
Geist. 

533.  Für  den  Trägen  kein  Lobes- Segen!  Das  ist  ein 
klarer  Satz  für  allartiger  System’  Anhänger. 


76 


II.  Vom  Gute. 


534.  Keine  Burg  für  Feige ! Für  Faule  kein  Gut! 

Dem  Feigen  hilft  selbst  eine  Burg  nicht;  dem  Faulen  hilft  das  grösste  Gut  nicht. 

535.  Wer  ohne  Vorsehn  sich  gehen  lässt,  wird  nachher 
in  der  Noth  sein  Versehn  bejammern. 

536.  Wenn  der  Fehler  der  Achtlosigkeit  Jedwedem  gegen- 
über zu  aller  Zeit  vollkommen  fehlt,  so  ist  das  ohne  Gleichen. 

537.  Unthunliches,  da’s  heisst,  „es  ist  zu  schwer“  giebt’s 
nicht,  wenn  man  mit  stets  wackrem  Sinn  bedächtig  wirkt. 

538.  Dem  Vorgepriesenen1  naclilebend  handle  er;  für 
die,  die  so  zu  thun  versclnnähn,  giebt’s  keine  „Siebengeburt“2. 

1 Dem,  was  in  den  h.  Schriften  als  Tugend  gepriesen  worden. 

2 D.h.  Für  sie  ist  die  Existenz  in  dieser  Welt  (die  in  sieben  Arten  zerfallt;  s.  V.  62) 
unnütz,  indem  sie  dadurch  in  ihrer  Vollendung  nicht  gefördert,  sondern  gehemmt  wer- 
den. Auch  für  den  rechtgläubigen  Hindu -Philosophen  ist  dieses  Leben,  obgleich  ob- 
jectiver  Weise  vomUebel,  subjectiver  Weise  eine  Art  „Gnadenzeit“.  (Vergl.  Th.  I, 
S.  151—152.) 

539.  Der  in  That  - Unlust  Untergegangnen  denk’,  wenn 
Bethörung  dich  bei  jubelnder  Lust  beschleicht, 

540.  Leicht  ist,  was  man  im  Sinn  hat,  zu  erhalten,  kann 
man,  was  man  im  Sinti  hat,  im  Sinn  behalten. 


55. 

GKADES  SCEPTER. 

„Da  Gerechtigkeit  von  einem  nicht  saumseligen  Könige  zu  üben  ist, 
so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  vorige.“  (P.) 

541.  Prüfen,  ohne  Ansehn  dem  Rechte  gemäss  gegen  All’ 
erkennen  und  handeln  — ist  Gerechtigkeit. 

542.  Im  Aufblick  zum  Regen  lebt  die  ganze  Erde.  Im 
Aufblick  zu  des  Königs  Scepter  lebt  der  Bürger. 

„Wo  der  königliche  Schutz  fehlt,  da  hat,  auch  wenn  noch  so  viel  Nahrung  (in  Folge 
reichlichen  Regens)  vorhanden  ist,  der  Unterthan  dess  keinen  Nutzen.“  (P.) 

543.  Was  — den  Satzungen  der  Hohen 1 und  der  Tugend- 
übung ein  Fundament2  — fessteht,  ist  das  Fürsten- Scepter. 

1 Antanar  (siehe  Anm.  1 zu  V.  30)  bezeichnet  im  Allgemeinen  alle  Weise,  und  dann 
auch  Brahminen  und  Götter. 


55.  Grades  Scepter.  — 56.  Ein  hartes  Scepter. 


<7 

* Eigentlich:  Anfang.  „Denn,  obgleich  die  h.  Schriften  ohne  Anfang  sind,  so  kom- 
men sie  doch  an  einem  Orte , wo  keine  gerechte  Regierung  ist,  nicht  zur  Geltung.“  (P.) 

544.  Wenn  eines  grossen  Landes  Fürst  sein  Volk  um- 
fassend das  Scepter  schwingt,  so  wird  die  Welt  seinen  Fuss 
umfassend  stehn. 

545.  Regen  und  Fruchtsegen  zuhauf  wohnen  im  Land 
des  Königs,  der  schön  sein  Scepter  schwangt. 

546.  Sieg  schafft  nicht  das  Schwert,  — nein,  das  Königs- 
scepter,  wenn  ohne  Bug  auch  dieses 1 ist. 

t Wie  alles  Andre  am  König. 

547.  Der  König  schützt  die  ganze  Welt,  ihn  schützt  das 
Recht,  wenn  er  es  ohne  Anstoss 1 übt. 

i V.  und  P. : ,,  Die  Uebung  des  Rechts  ohne  Anstoss  lässt  sich  ersehen  an  dem  Bei- 
spiel des  Tschola-Königs,  der  seinen  Sohn  auf  ein  Wagenrad  spannen  liess  , und  an  dem 
Beispiel  des  Pandja- Königs , der  seine  Hand  verstümmelte,  die  an  eine  fremde  Thür 
geklopft  hatte.“ 

548.  Ein  Fürst,  der  nicht,  leichten  Zugangs,  forschend 
das  Recht  fördert,  wird  in  Folge  seines  seichten  Zustands 
von  selbst  vergehn. 

549.  Die  Unterthanen  äusserlich  schützend,  innerlich 
pflegend,  den  Fehl  strafen  ist  kein  Fehl,  nein  Fürsten-Pflicht. 

550.  Wenn  ein  König  Todtschläger  mit  Tode  straft,  das 
ist,  w’ie  wenn  man  auf  grünem  Gefilde  das  Unkraut  jätet. 

Es  lässt  sich  auch  übersetzen:  Wenn  ein  König  diejenigen,  die  im  Morden  grausam 
sind,  straft  u.  s.  w. 


56. 

EIN  HARTES  SCEPTER. 

„Diess  folgt  als  das  Gegentheil  von  dem  Vorhergehenden.“  (P.) 

551.  Uebler  als  die,  so  Mord  üben,  ist  ein  Fürst,  der, 
Druck  übend,  frevelt. 

552.  Die  Bitte  dess,  der  mit  dem  Scepter  dasteht,  ist 
wie  ein  „Gieb!“  aus  dem  Munde  dess,  der  mit  dem  Schwerte 
dasteht. 

553.  Wenn  ein  Fürst  nicht  immerfort  forschend  Ordnung 
schafft,  so  verfällt  immerfort  das  Land. 


78 


II.  Vom  Gute. 


554.  Land  und  Leute  zumal  verliert  der  Fürst,  der  un- 
bedenklich ein  krummes  Scepter  schwingt. 

555.  Ein  alles  Wohl  zerfeilend  Werkzeug,  ist  das  nicht 
die  — wenn  man  sein  Weh  nicht  länger  ertragen  kann  — 
geweinte  Thräne? 

556.  Ein  grades  Scepter  ist  dem  Herrscher  bleibende 
Herrlichkeit;  wo  das  fehlt,  behält  der  Ruhm  des  Herrschers 
die  Herrschaft  nicht. 

557.  Was  Mangel  an  Regen  dem  Gefilde,  das  ist  dem 
Lebendigen  der  Mangel  an  Königs -Milde. 

558.  Bittrer  ist  Besitz  als  Mangel,  wenn  man  unter  dem 
Scepter  eines  nicht  recht  waltenden  Fürsten  wohnt. 

559.  Wenn  ein  König  das  Recht  wandelnd  waltet,  so 
wandelt  sich  des  Regens  Ordnung,  und  nicht  träufeln  mag  die 
Wolke. 

560.  Wo  der  Volkshüter  nicht  hütet,  hört  der  Nutzen 
der  Kuh1  auf,  und  die  „ Sechswerkler“2  selbst  vergessen  der 
Regel. 

1 In  dem  Lande , das  von  einem  ungerechten  Könige  regiert  wird , regnet  es  nicht 
(V.  559);  wo  es  aber  nicht  regnet,  da  hört  Viehzucht  und  Ackerbau,  wobei  ja  die  Kuh 
die  Hauptrolle  spielt,  auf. 

2 Die  Commentatoren  verstehen  darunter  die  Brahminen  und  zwar  in  Ueberein- 
stimmung  mit  Manu,  der  dem  Sudra  nur  eine  Pflicht,  dem  Kschatrija  fünf  (Jägnavalkja 
macht  nur  vier  namhaft;  1,118  — 119),  dem  Vaisja  sieben,  dem  Brahminen  aber  sechs 
Pflichten  anweist  Manu  I,  88  — 94  )*.  Der  Sinn  der  Stelle  dürfte  demnach  der  sein:  Wo 
der  König  nicht  auf  das  Recht  sieht,  da  verfallen  die  Brahminen  in  ein  unordentliches 
Wesen  (s.  V.  543). 

Dass  hier  „Kuh“  (das  Svmbol  des  Ackerbaues  und  der  Cultur)  und  Brahminen  (die 
Träger  der  religiös-sittlichen  Ordnung)  zusammengenannt  werden . ist  nicht  von  unge- 
fähr. Wenn  ein  Xair  auf  der  Westküste  seinem  Könige  huldigte , so  gürtete  ihm  dieser 
das  Schwert  um  mit  den  Worten:  Schütze  Brahminen  und  Kühe.  (Siehe  meine  Reise  nach 
Ostindien,  III,  S.  231.) 


* Die  Tamulen  theilen  gegenwärtig  allen  vier  hohem  Kasten  sechs  Ge- 
schäfte zu,  indem  sie  in  Bezug  auf  die  Vaisjas  die  Almosenspende  und  das  Ausleihen 
in  eins  zusammenfassen,  in  Bezug  auf  die  Kschatrijas  statt  ..Enthaltung  von  sinnlichen 
Lüsten“  Waffenübung  und  Kriegsführung  setzen , und  in  Bezug  auf  die  Sudras  zu  der 
„Bedienung  der  Uebrigen“  Handel,  Viehzucht.  Ackerbau.  Musik  und  Seidenweberei 
hinzurügen. 


Nicht  - Furchteinitüssendes  thun. 


74» 


57. 

NICHT  - FURCHTEINFLÖSSENDES  THUN. 

..Weil  sich  das  bei  einem  harten  Scepter  findet,  so  folgt  es  darauf.“  (P.) 

561.  Pflichtwillig'  prüfen,  und  dann  — damit  es  nicht 
weiter  geh’  — rechtbillig  strafen,  das  ist  ein  König. 

562.  Heftig  ausholen.  aber  linde  zuschlagen  soll,  wer  da 
wünscht,  dass  das  Glück  nicht  Aveiclf  auf  lange. 

,, Heftig  ausholen“,  um  dem  Uebelthäter  eine  heilsame  Scheu  einzuflössen , „linde 
zuschlagen“,  damit  sich  Niemand  entsetze.  (P.) 

563.  Wenn  Einer,  gar  gräulich  handelnd,  ein  hartes 
Scepter  führt,  so  wird  er  eilig  sicher  zu  Grunde  gehn. 

564.  Ein  Fürst  nicht  freundlichen  Worts,  von  dem  es 
heisst:  „Ein  harter  Herr!“  dess  Leben  läuft  schnell  dem 
Verderben  zu. 

565.  Wer,  schwer  zugänglich,  sauer  sieht,  mit  dess  glän- 
zendem Glück  ist’s,  als  hätt’  es  ein  Teufel 1 angeblickt. 

f 1 Mit  dem  Auge  der  Missgunst  (Malocchio). 

566.  Wenn  Jemand  herben  Worts  und  harten  Auges  ist, 
* so  wird  sein  weites  Glück  ohne  weiteres  Wachsthum  alsbald 

verderben. 

567.  Bittre  Sprache  und  Billigkeit  überschreitende 
Strafe  sind  Feilen,  die  des  Fürsten  schlagfertige  Eisenfeste 
zerfeilen. 

568.  Ein  Herrscher,  der,  durch  Räthe  handelnd,  nicht 
selbst  nachsinnt,  dess  Heil  zerfährt,  fährt  er  sie  dann1,  im 
Zorne  handelnd,  an. 

1 Bei  misslungenen  Unternehmungen.  — 

569.  Der  Fürst,  der,  wenn  Fehde  kommt,  keine  Feste 
fertig  hat,  wird,  von  Furcht  überkommen,  furchtbar  zu- 
grundegehn. 

570.  Rohe  sammelt  um  sich  ein  rauhes  Scepter;  neben 
solchem  1 giebt’s  für  den  Boden  eine  Bürde  nicht. 


80 


n.  Vom  Gute. 


1 P.  i.  im  Vergleich  dazu.  — Die  Commentatoren  beziehen  das  „solchem"  auf  das 
Sammeln  von  Rohen  “ ; es  lässt  sich  aber  viel  natürlicher  auf ,,  das  Scepter“  beziehen. 
(Das  Capitel  gewinnt  im  letztem  Falle  jedenfalls  einen  bessern  Abschluss.) 


58. 

GUNST. 


„ In  diesem  Kapitel  -wird  das  im  vorigen  Kapitel  Gesagte  seiner 
Wichtigkeit  wegen  noch  weiter  ausgeführt.“  (P.) 

571.  Dass  die  hochhehre  Herrlichkeit  der  Herzensgunst 
besteht,  dadurch  besteht  die  Welt. 

572.  In  Herzensgunst  beruht  des  Weltlaufs  Sein1;  das 
Sein  gunstloser  Leut’  ist  dem  Boden  Bürde. 

1 Das  ist  die  Existenz  der  edlen  Sitte , als  „Almosenspenden,  in  Schutz  nehmen, 
uen  Fehl  verzeihn  u.  s.  w.“ 

573.  Was  nützt  Musik,  wenn  sie  nicht  zum  Sang  sich 
schickt?  Was  nützt  ein  Aug’,  wenn’s  keine  Huld  hegt? 

Das  Auge  soll  gleichsam  das  ganze  Thun  des  Menschen  harmonisch  accompagniren. 
Ein  huldloses  Auge  bei  dem  besten  Thun  ist  wie  disharmonische  Musik  bei  dem  besten 
Gesänge. 

574.  Wie  Wirkliches  nur  scheinend  — was  nützt  dem 
Gesicht  das  Aug,  das  ohne  Nachsicht  im  rechten  Maass’  ist? 

575.  Huld  ist  dem  Aug’  ein  hold  Juwel;  wo  sie  fehlt, 
wird’s  als  ein  „Geschwür  im  Gesicht “ erkannt. 

576.  Den  im  Boden  feststehenden  Bäumen  gleichen,  die, 
obgleich  mit  Augen  versehn,  das  Aug’  nicht  hold  spielen 
lassen. 

577.  Leut’  ohne  leutselig  Aug’  sind  ohne  Aug’;  Leuten 
mit  Augen  mangelt  der  Mangel  leutseligen  Aug’s. 

578.  Die  ohne  Schaden  für  ihre  Pflicht  in  Nachsicht 
wacker  sind,  — die  Welt  giebt  gern  sich  ihnen  zu  eigen  hin. 

579.  Hauptsache  ist  ein  Charakter,  der  auch  gegen  un- 
ausgesetzt zur  Last  liegende  Charaktere  unausgesetzt  leut- 
selig Langmuth  übt. 


58.  Guöst.  — 5».  Auskundschaftung. 


81 


580.  Die  auf  liebenswürdige  Sitte  sehn,  werden,  säh’n 
sie  auch  Gift1  eintröpfeln,  es  schlucken  und  schweigen. 

• Von  ihren  alten  Freunden.  (P.) 


59. 

AUSKUNDSCHAFTUNG. 

„Das  heisst  Spione  halten  um  das  zu  erfahren,  was  bei  Freunden,  Fein- 
den uud  Neutralen  vorgeht.  Wie  er  jetzt  von  dem  zu  handeln  anfängt, 
was  einem  Könige,  der  die  vorgenannten  Eigenschaften  besitzt,  bei 
der  Behauptung  seines  eignen  Landes  sowohl,  als  bei  der  Eroberung 
fremden  Landes  nöthig  ist,  so  spricht  er  zuerst  von  der  Auskund- 
schaftung4, die  in  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle  nicht  entbehrt 
werden  kann.“  (P.) 

581.  Späher  und  Gesetzbuch  — diess  Beides  als  seine 
Augen  erkennt  ein  König  klar ! 

Durch  den  Späher  erkennt  er  Alles,  was  in  der  Ferne  vorgeht,  durch  das  Gesetz- 
buch Alles,  was  er  in  dem  gegebnen  Fall  zu  thun  hat.  (P.) 

582.  Was  alles  bei  Allen  zu  aller  Zeit  vorgeht,  gleich  zu 
hören,  heischt  des  Herrschers  Pflicht. 

583.  Wer  nicht  durch  Späher  spähend  Vortheil  versteht, 
dem  Fürsten  fällt  auf  dem  F eld  der  Schlacht  der  Sieg  nicht  zu. 

584.  Beauftragte,  Befreundete,  Befehder,  und  wie  sie 
alle  heissen,  wohl  ausforschen,  — heisst  auskundschaften. 

585.  In  unverdächtiger  Gestalt,  nicht  augenscheu,  fort 
und  fort  nichts  fallen  zu  lassen  mächtig  — das  ist  Kund- 
schafterei. 

586.  Als  Biisser  und  Pilger  einschleichend  forschen, 
und  was  man  auch  thu’,  sich  immer  fassen  — das  ist 
Kundschafterei. 

587.  Verborgnes  zu  erforschen  fähig  und  das  Erfahrne 
gewiss  zu  wissen  — das  ist  Kundschafterei. 

588.  Lass  auch  die  Dinge,  die  ein  Späher  erspäht  und 
hinterbracht  hat,  ausspähen  noch  durch  einen  Späher. 

III.  6 


82 


II.  Vom  Gute. 


589.  Man  leite  so,  dass  kein  Spion  vom  andern  weiss. 
Das,  worin  das  Zeugniss  von  Dreien  stimmt,  steht  fest. 

590.  Dem  Späher  spend’  Auszeichnung  nicht  öffentlich  ! 
Zeichnest  du  ihn  aus,  so  plauderst  du  das  Geheimniss  aus. 


60. 

GEISTES  - STARKE. 

„Diese  findet  statt,  wenn  der  Geist  zu  der  Verrichtung  der  Geschäfte 
wacker  auf  ist.  Da  sie  demjenigen,  der,  was  vorgegangen,  von  den 
Kundschaftern  erfahren  hat  und  nun  das  den  Vorgängen  Angemessne 
thun  will,  unentbehrlich  ist,  so  folgt  dieses  Capitel  auf  das  vorher- 
gehende.“ (P.) 

591.  Geist  besitzen  heisst  Besitzer  sein;  die  ohne  Geist 
sind,  besitzen  die  wohl,  was  sie  sonst  besitzen? 

592.  Geistes -Besitz  ist  Besitz;  Güter -Besitz  hat  keinen 
Halt. 

593.  „Gegangen  des  Gutes  verlustig  sind  wir!“  Die 
Geistesgrösse  sicher  in  Händen  haben,  werden  nie  so  jam- 
mern. 

594.  Den  Pfad  erfragend  geht  das  Glück  selbst  zu  dem, 
der  unerschütterten  Geistes  ist. 

595.  Nach  dem  Wasser  richtet  sich  die  Länge  des  Lotus- 
Stengels,  nach  dem  eignen  Geist  des  Menschen  Grösse. 

596.  Alles  Sinnen  habe  die  Gross'  im  Sinn!  Wtird’  es 
verworfen1,  es  hat  in  sich  Unverwerflichkeit  2. 

1 Vom  Geschick. 

2 Einmal,  insofern  sich  ein  solches  Streben  durch  keinerlei  Umstände  abweisen 
lässt,  und  dann  auch,  insofern  es  von  den  Weisen  nicht  getadelt  wird.  (P.) 

597.  Auch  im  Untergehn  wanken  nicht  Geistesgrosse. 
Der  Elephant  hält,  auch  von  einem  Bündel  Pfeile  verwundet, 
die  Gross’  aufrecht. 

598.  Die  Geist-  und  Muthlosen  gelangen  nie  zu  dem 
stolzen  Wort:  „Wir  sind  der  Welt  Edle.“ 


GO.  Geistes- Stärke. 


61.  Freiheit  von  Schlaffheit. 


83 


599.  Ist  er  auch  mächtigen  Leibs  und  scharfen  Hauers 
— der  Elephant  fürchtet  sich,  wenn  auf  ihn  der  Tiger  trifft. 

Nicht  Körper-,  sondern  Geistes -Grösse  thut’s. 

600.  Geist  ist  des  innern  Menschen  Gut.  Die  Geist- 
losen werden  zu  Bäumen  — mit  dem  Unterschied,  dass  sie 
Menschen  sind. 

Wären  sie  ächte  Bäume,  so  wären  sie  brauchbarer,  indem  sie  dann  doch  Holz  und 
Früchte  zu  gemeinem  Nutzen  lieferten. 


61. 

FREIHEIT  VON  SCHLAFFHEIT. 

„Da  Schlaffheit  durch  die  Macht  der  Naturanlage  auch  die  Geistes - 
Starken  zuweilen  beschleicht,  so  folgt  dieses  Capitel  auf  das  vorher- 
gehende.“ (P.) 

601.  Des  Stamms  noch  ungeschwächte  Leuchte  lischt, 
wenn  der  Schlaffheit  schlechte  Luft  sich  drumher  verbreitet. 

602.  Wer  will,  dass  sein  Stamm  stämmig  werde,  der 
wandle  so,  dass  die  Lässigkeit  von  ihm  lasse. 

603.  Die  edle  Familie  des  Thoren,  der  in  faulender1 
Faulheit  wandelt,  wird  vor  ihm  verfaulen. 

1 Die  Commentatoren  „abzulegender“.  — „Auch  wenn  sie  (die  Familie)  ihm  in 
der  Wohlfahrt  nachkäme,  so  wird  sie  ihm  doch  im  Verderben  vorangehen.“  (P.) 

604.  Denen,  die,  in  Faulheit  fallend,  edlen  Strebens  baar, 
wächst  die  Schuld,  indem  auch  die  Familie  fault. 

605.  Saumsal,  Vergessenheit  und  schläfrig  Wesen1  — 
diese  Vier  sind  Lustboote2  Derer,  die  zum  Untergang  neigen. 

1 Alles  Aeusserungen  des  Tamöguija  (siehe  Einl,  zu  V.  1). 

2 Oder  das  „nach  eigner  Lust  (ohne  Steuermann)  umgetriebne  Boot“?  P.  noch 
anders:  „Wie  ein  Schiff  Denen , die  dem  Tod  entgegengehen,  zuerst  als  Gewinn  - ver- 
heissend  erscheint,  dann  aber,  wenn  sie  es  mit  Lust  bestiegen  haben,  dieselben  in  das 
Meer  wirft,  so  erscheint  auch  die  Faulheit  Denen,  die  der  Trübsal  entgegengehn,  zu- 
erst als  Freude  - verheissend ; wenn  sie  sich  ihr  aber  mit  Lust  hingegeben  haben,  so 
stürzt  sie  dieselben  in  Trübsal.“  Es  Hesse  sich  auch  übersetzen:  Saumsal  ....  Wesen, 

I — die  dieser  Vier  verderbliche  Natur  besitzen,  sind  ein  nach  eigner  Lust  umgetriebnes 
Boot. 

606.  Wenn  auch  den  Erdbeherrschern  der  Reichthum 


6* 


84 


II.  Vom  Gute. 


sich  anhängt,  die  von  Trägheit  Beherrschten  ziehn  schwer- 
lich edlen  Nutzen. 

607.  Die  werden  Mahn-  und  Scheltwort1  hören,  die, 
schläfrig,  edlen  Strebens  baar. 

1 W eil  das  Mahnwort  ohne  Wirkung  bleibt.  (P.) 

608.  Findet  sich  Faulheit  in  edler  Familie  ein,  so  wird 
sie  dies’  in  die  Knechtschaft  der  eignen  Feinde  führen. 

609.  Wird  man  das  Regiment  der  Faulheit  aufheben,  so 
wird  auch  der  in  das  Regiment  einer  Familie  gekommene 
Fehl  auf  hören. 

610.  Ein  nicht  träger  Throninhaber  erlangt  mit  Einem 
Mal  Alles,  was  Er,  der  mit  dem  Fusse  maass  *,  ausschritt. 

1 Anspielung  auf  Vischnu,  der  mit  drei  Schritten  die  Welt  durchmaass  (In  den  Ve- 
das offenbar  Anspielung  auf  die  Sonne  im  Aufgang,  im  Zenith  und  im  Niedergang)?  Es 
ist  nicht  zu  vergessen,  dass  auch  Buddha  — in  sieben  Schritten  — die  Welt  durchmaass. 
(Vergl.  Anm.  2 zu  V.  3.) 


62. 

BETRIEBSAMKEIT. 

„Wenn  man  auch  die  Saumseligkeit  aufgäbe,  die  Geschäfte  lassen  sich 
nur  auf  dem  Wege  der  Anstrengung  betreiben,  darum  folgt  dieses 
Capitel  auf  das  vorige.“  (P.) 

611.  „Etwas  sehr  Schweres  ist’s“.  So  denk’  und  wanke 
nicht!  Etwas  sehr  Hehres  leiht  dir  das  „Streben“.  . 

612.  Hüte  dich,  dass  mitten  im  Werk  das  Wirken  stocke ! 
Die  ihr  Werk  stecken  lassen,  die  lässt  auch  die  Welt  stecken. 

613.  Bei  der  Tugend  beharrlicher  Thätigkeit  herbergt 
der  Stolz  beharrlicher  Wohlthätigkeit. 

Wer  fleissig  arbeitet,  kann  auch  fleissig  geben. 

614.  Handhabung  der  Spende  bei  Dem,  der  Fleiss 
nicht  handhabt,  wird  wie  Handhabung  der  W aff  in  des 
Zwitters  Hand  zum  Verderb  ausschlagen. 

615.  Wer  Lust  nicht,  wohl  aber  Werk  wünscht,  wird, 
Last  abnehmend,  eine  stützende  Säule  der  Seinen  sein. 


02.  Betriebsamkeit.  — 03.  In  Widerwärtigkeiten  nicht  mürbe  werden. 

616.  Anstrengung  schafft  Wohlstand.  Mangel  an  An- 
strengung stürzt  in  Mangel. 

617.  In  der  Trägheit  tritt  — so  heisst’s  — die  Unglücks- 
göttin auf;  im  Fleiss  des  Trägheitslosen  lebt  die  Lotus- 
göttin  *. 

1 Lakschmi,  die  Göttin  des  Glücks.  (Vergl.  das  tamul.  Sprüchwort:  Ein  säumiger 
Fuss  ist  die  Unglücks-,  ein  rühriger  die  Glücks  - Göttin.) 

618.  Mangel  an  Gunst  des  Glücks  1 ist  für  Keinen  Tadel, 
Mangel  an  Kunst  und  Fleiss  ist  Tadel. 

1 Ariel:  Le  manque  de  sens.  Pori  heisst  allerdings  auch  ,, Wissen“;  Sinn  und  Zu- 
sammenhang (vergl.  den  vorhergehenden  und  den  folgenden  Vers)  rechtfertigen  jedoch 
die  Auffassung  der  Commentatoren. 

619.  Liess  auch  das  Geschick  es  nicht  gelingen  — das 
Anstreben  selbst  lohnt  des  eignen  Leibs  Anstrengen. 

620.  Die  werden  den  Rücken  des  Schicksals  schaun  *, 
die  unverzagt  und  ungebeugt  fort  streben. 

D.  h. : Das  Geschick  wird  ablassen,  sie  zu  verfolgen. 


63. 

IN  WIDERWÄRTIGKEITEN  NICHT  MÜRBE  WERDEN. 


„Das  heisst  nicht  verzweifeln,  wenn  Einem  bei  der  Verrichtung  seiner 
Pflichten  entweder  durch  das  Schicksal  oder  durch  Mittellosigkeit  oder 
durch  leibliche  Plage  ein  Leid  zustösst.“  (P.) 

621.  Lache,  wenn  Leid  kommt!  Es  mehr  und  mehr 
unterkriegen  — kommt  dem  nicht  gleich  h 

i Ariel:  Rien  de  tel  que  de  marcher  dessus.  (Dann  müsste  atu  als  blosse  Verlänge- 
rung von  ürvatu  — im  Sinne  von  $ 21,  N.  V meiner  Grammatik  in  Band  II  — genommen 
werden.)  — P.  versteht  den  Vers  etwa  so:  Die  Mühe  in  der  Ueberwindung  von  Schwie- 
rigkeiten kommt  der  endlichen  Freude  über  das  Gelingen  der  Arbeit  nicht  gleich.  Darum 
lache,  wenn  Schwierigkeiten  kommen,  im  voraus!  — Vielleicht  ist  der  Sinn  ganz  einfach 
der:  Quäle  dich  nicht  lauge  ab  durch  allmählige  Ueberwindung  des  Leids;  lache  es 
frisch  hinweg. 

622.  Das  Wellen  gleich  wogende  Weh  verrinnt,  taucht 
in  des  Weisen  Innern  Erinnerung1  auf. 

1 Die  nämlich,  dass  das  Leid  bloss  eine  „innre  Idee“  ist.  So  die  Commentatoren 
im  Sinne  des  Vedanta- Systems  (Band  I,  S.  113,  8),  auch  des  Sänk'ja  - Systems , wonach 
alles  Leid  der  Seele  in  einem  blossen  Reflex  besteht,  der  von  einer  Verbindung  derselben 
mit  den  geistigen  Vermögen  (anta:  karana)  herriihrt.  ('Siehe  „Aphorisms  of  tho  Sänltja 
Philosophy,  Allahabad,  S.  20.) 


86 


II.  Vom  Gute. 


623.  Die  werden  der  Noth  Noth  machen,  die  sich  um  die 
Noth  Noth  nicht  machen. 

624.  Verunglücken  wird  das  Unglück,  das  den  anfällt, 
der  bei  allem  Hinderniss  dem  Büffel 1 gleicht. 

i Der  den  Wagen  durch  Dick  und  Dünn  zieht. 

625.  Kam’  es  auch  haufenweis,  — wer  nicht  mürbe  wird 
- — bei  dem  wird  das  Leid  zuleide  kommen. 

626.  Die  nicht,  „wir  haben“  sprechend,  sich  auf  Behalten 
legen,  werden  die  wohl  je  klagen,  sprechend:  „wir  darben“? 

„Die  im  Glück  nicht  geizen  , werden  im  Unglück  nicht  verzweifeln.“  (P.) 

627.  Hochsinn  denkt  „Des  Unheils  Zielscheib’  ist  der 
Leib1“  und  nimmt  die  Widerwärtigkeit  nimmer  als  Weh. 

1 Nicht  der  Geist.  Wie  „ die  Chinarose  einen  durchsichtigen  Crystall  scheinbar 
roth  Cärbt“ , so  afficirt  auch  der  Schmerz  die  Seele  nur  scheinbar.  (Aphorisms  of  the 
S.  Phil.,  S.  61.) 

628.  Wer,  nicht  nach  Lust  lüstern,  den  Schmerz  als 
natürlich  weiss,  wird  unbetrübt  bleiben. 

629.  Wen  in  der  Lust  nach  Lust  nicht  lüstet,  wird  in 
der  Trübsal  unbetrübt  sein. 

630.  Nimmt  man  die  Last  als  Lust,  so  kommt  eine  Herr- 
lichkeit heraus,  nach  der  die  Feinde  selbst  lüstern  sind. 

Mehrere  dieser  Sentenzen  lauten  fast  wie  Bibelworte  (vergl.  2.  Corinth.  4,  8 — 9; 
6,10),  sind  aber  in  ihrem  Motiv  himmelweit  davon  verschieden.  Dort  stoische  Abstraction, 
hier  lebensvolle  Liebe. 


EKF0KDEEN1SSE  DES  KÖNIGTHUMS. 


64. 

MINISTERSCHAFT. 


„Das  ist  die  Art  eines  Ministers,  oder  seine  Eigenschaften  und  sein 

Thun.“  (P.)  Vom  Minister  ist  bis  zu  Decade  74  die  Rede. 

631.  Das  ist  Ministersehaft,  wenn  Mittel,  Zeit,  Ausfüh- 
rung und  die  schwere  Aufgabe  vortrefflich  sind. 

Die  Mittel  sind  zweierlei:  Geld  und  Soldaten,  so  dass  fünf  Stücke  herauskommen. 
(Diess  wegen  Vers  632.) 

632.  Festes  Aug,  V olkesschutz,  Wissens-Fertigkeit,  tüch- 
tige Thätigkeit,  wenn  diess  sammt  jenen  Fünf'2  vortrefflich 
ist,  — das  ist  Ministerschaft. 

i In  V.  1.  Siehe  die  Anmerkung  dazu. 

633.  Spalten,  Zusammenhalten  und,  die  sich  getrennt, 
wieder  zusammenbringen,  — dazu  mächtig  sein  ist  Minister- 
schaft. 

634.  Erforschen;  hat  man  erfahren,  handeln;  und  sichre 
Rede  — ■ dazu  mächtig  sein  ist  Ministerschaft. 

635.  Wer  che  Tugend  weiss,  vollangemessnen  Wortes 
mächtig  ist  und  jeder  Zeit  die  rechte  Weise  weiss,  — der  ist 
eine  Hiilf’  im  Rath. 

636.  Die  Mutterwitz  bei  Bücherwissen  haben,  was  Ueber- 
witziges  wird  im  Wege  Denen  stehn? 


88 


n.  Vom  Gute. 


Oder  auch:  Die  Mutterwitz  bei  Bücherwissen  haben,  sind  erzwitzig.  AVas  wird 
Solchen  im  Weg  wohl  stehen  ? 

637.  Auch  der  Handlung  Weise  wohl  wissend,  muss 
man,  der  Welt  Weise  wohl  wissend,  handeln. 

Denn  die  Theorie  der  Schastras  findet  an  dem  jedesmaligen  Brauch  ihr  Correctiv. 

638.  Auch  wenn  ein  Fürst  (Andrer)  Wissen  todtschlägt1, 
(selbst  aber)  nichts  weiss,  — es  ist  die  Pflicht  des  rechten 
Raths  zurecht  zu  setzen. 

i Nicht  aufkommen  lässt. 

639.  In  dem  Minister,  der  ihm  zur  Seite  Frevel  sinnt, 
stecken  für  einen  Fürsten  der  Feinde  siebenhundert  Millionen. 

Einige  lesen  — statt  „nrum“  — talei.  Dann  kann  man  übersetzen : Besser  700  Milk 
Feinde,  als  ein  Minister,  der  dem  König  zur  Seite  Frevel  sinnt.“  Die  andere  Lesart  ist 
jedenfalls  poetischer. 

640.  Sinnen  sie  auch  noch  so  tüchtig  — Taktlose  thun 
Zielloses1  doch. 

1 Etwas , das  nicht  zu  Stande  kommt. 


65. 

BEREDTSAMKEIT. 

„Das  ist  des  Wortes  zur  Beendigung  der  vorhabenden  Geschäfte 
mächtig  sein.  Da  dieses  Capitel  das  , sicher  Reden  ‘ des  vierten  Verses 
im  vorigen  Capitel  seiner  hervorstechenden  Wichtigkeit  wegen  weiter 
ausfiihrt,  so  folgt  es  eben  auf  das  vorhergehende.“  (P.) 

641.  Guter  Zunge  Gut  ist  rechtes  Gut;  in  keinem  andern 
Gut  liegt  dieses  Gut  *. 

D.  h.  ist  für  den  Minister  (mit  Rücksicht  auf  V.  633)  wichtiger  als  jede  andre  gute 
Eigenschaft. 

642.  Weil  Vortheil  und  Verlust  daraus  erwächst,  so  hüt’ 
er  sich  vor  Rede -Fahrlässigkeit. 

643.  Trachtend  nach  der  Tüchtigkeit1,  die  die  Hörenden 
fesselt,  so  zu  reden,  dass  auch  der  Nichthörende 2 lüstet,  — 
das  ist  Rede. 

1 Diese  besteht  nach  P.  in  „Correctheit,  Kürze,  Klarheit,  Lieblichkeit,  Erspriess- 
lichkeit  u.  s.  w.“ 

2 Der  aus  persönlichem  Widerwillen  Nichthörende.  So  die  Commentatoren. 


64.  Miuisterscliaft.  - 65.  Beredtsamkeit.  — 66.  Reinheit  der  That. 


644.  Die  Verhältnisse 1 verstehend,  das  Wort  ergreif’  er! 
Keine  Tugend  so  hehr,  kein  Gut,  wie  diess. 

i Diese  Verhältnisse  sind  die  verschiedenen  Beschaffenheiten,  die  sich  aus  Geburt, 
Bildung,  Lebenswandel,  Glücksumständen,  Gestalt  und  Alter  ergeben.“  (P.) 

645.  Man  rede  Reden,  wenn  man  weiss,  dass  andre  Re- 
den *,  die  diese  Reden  besiegen,  fehlen. 

i Gegnerischerseits.  (P.) 

646.  Annehmlich  reden  und  aus  Andrer  Rede,  was 
frommt,  annehmen,  ist  der  Begriff  des  in  hohem  Amt  ganz 
Makellosen. 

647.  Wer  redemächtig,  bedächtig  und  nicht  blöde1  ist, 
den  im  Partheikampf  niederzukämpfen  wird  Allen  schwer. 

1 Der  Versammlung  gegenüber.  (P.) 

648.  Schnell  wird  die  Welt  lauschen,  erlangt  man1  Mi- 
nister, die  wohlgeordnet  lieblich  zu  reden  wissen. 

i So  sagt  er  in  Rücksicht  auf  das  sanscr.  Sprüchwort : „ Unter  Tausenden  nur  Ein 
Beredter.“  (P.) 

649.  Die  werden  recht  viel  zu  reden  Lust  haben,  die 
auch  nur  ein  paar  fehllose  Worte  zu  reden  nicht  verstehn. 

650.  Der  Blume,  die,  im  Strausse  blühend,  nicht  duftet, 
gleicht,  wer  Gelerntes  nicht  fasslich  vorträgt. 

Wie  eine  duftlose  Blume  imStrauss,  so  der  schlechte  Redner  im  Kr  an  z der  ge- 
lehrten Versammlung. 


66. 

REINHEIT  DER  THAT. 

„Nicht  bloss  das  Wort,  sondern  auch  die  That  soll  gut  sein;  daher 
folgt  dieses  Capitel  auf  das  vorhergehende.“  (P.) 

651.  Güte  der  Helfersthat  giebt  Wohlstand 1 ; Güte  der 
Herzensthat  giebt  alles  Gewünschte2. 

1 Und  nichts  weiter. 

2 „Hienieden  Tugend,  Gut,  Lust  u.  s.  w.,  und  in  dem  nächsten  Dasein  die  erwünschte 
Stufe.“  — In  diesem  Verse  „wird  die  , Reinheit  der  That“  gepriesen,  indem  gesagt  wird, 
dass  die  Güte  der  innern  That  besser  ist,  als  die  der  äussern.“  (P.) 

652.  Fort  und  fort  fern  halt  die  That,  die  nicht  Lob 
und  Liebes 1 fruchtet. 


1 Verdienst. 


90 


II.  Vom  Gute. 


653.  Die  That,  wobei  des  Ruhmes  Glanz  verglimmt, 
sollen  meiden,  die  „Wir  wollen  etwas  werden!“  meinen. 

654.  Die  makellosen  Weisen,  — auch  wenn  sie  in  Wider- 
wärtigkeit fallen  sollten  — thun  nichts,  wodurch  auch  sonst 
schon  Schande  kam. 

655.  Man  thue  nichts,  wobei  man  dereinst  zu  seufzen 
hat:  Weh,  was!  Thut  man  doch  derlei,  so  ist’s  gut,  es  nicht 
noch  einmal  zu  thun. 

656.  Auch  wenn  man  der  Gebärerin  Hunger  sähe,  man 
thue  ja  keine  von  den  Weisen  verworfne  That. 

657.  Besser  ist  die  bittre  Armuth  des  Weisen,  als  das 
Vermögen,  das  man,  in  Fehl  fallend,  erwirbt. 

658.  Die  Gestraftes  1 nicht  auch  strafen  und  lassen,  de- 
nen wird’s  — sollte  es  auch  gelingen  — Qual  bringen. 

1 Von  den  Weisen  Gestraftes. 

659.  Was  man  unter  Zähren1  gewinnt,  zerrinnt  unter2 
Zähren.  Gerechtes  Gut,  ging’s  auch  verloren,  wird  nach- 
fruchten. 

i Andrer.  2 Den  eignen. 

660.  Durch  Schwindeleien  Schätze  sammeln  und  sicher 
stellen  ist  wie  in  neuen  Erdkrug  Wasser  giessen  und  wahren 
wollen. 


67. 

FESTIGKEIT  IM  HANDELN. 

„Das  ist  die  Geistesstärke,  die  demjenigen , der  eine  reine  That  voll- 
enden will,  vonnöthen  ist.“  (P.) 

661.  Was  man  Thatkraft  heisst,  ist  in  der  That  Geistes- 
kraft. Alles  Andre  gehört  nicht  hierher. 

662.  Missliches  meiden,  und  ist’s  geschehn,  nicht  zag 
zurückgehn,  auf  dies  Beides,  sagt  man,  läuft  der  Wahlspruch 
weiser  Minister  aus. 

663.  So  handeln,  dass  man’s  erst  am  Ende  merkt,  ist 


67.  Festigkeit  im  Handeln.  — 68.  Die  Art  des  Handelns. 

männlich  Handeln;  merkt  man’s  in  der  Mitte  schon,  schafft’s 
unabwendlichen  Schaden. 

664.  Sagen  ist  Allen  leicht;  schwer  ist,  es  in  gesagter 
Weis’  in’s  Werk  setzen. 

665.  Die  Thatkraft  Dess,  der,  Grösse  findend,  hervor 
sich  that,  wird,  Eingang  beim  Fürsten  findend,  geschätzt 
werden. 

666.  Gewünschtes  ganz  nach  Wunsch  erlangen  die  Wün- 
schenden, wenn  sie  ganz  fest  zu  sein  nur  wissen. 

667.  Auf  die  Gestalt  sehend  — denk’  nicht  gering ! Es 
giebt  Leute,  wie  der  Achsen-Nagel  an  grossem  rollenden 
Wagen. 

D.  h.  es  giebt  Leute,  die,  obgleich  unscheinbar,  der  Staatsmaschine  so  unentbehr- 
lich sind , wie  der  kleine  Nagel,  der  das  Rad  an  der  Achse  fest  hält. 

668.  In  Sachen,  die  du  dir  klaren  Sinns  ersehn,  wanke 
nicht!  Treib  alle  Trägheit  aus  und  handle! 

669.  Auch  wenn  dir’s  Last  machte,  die  That,  die  Lust 
fruchtet,  führ’  aus,  dich  voll  ermannend! 

670.  Was  für  Kraft  man  auch  gewonnen,  — wer  That- 
kraft nicht  begehrt,  den  begehrt  nicht  die  Welt  h 

i Siehe  Anm.  zu  V.  280. 


68. 

DIE  ART  DES  HANDELNS. 


„Die  Art,  wie  ein  thatkräftiger  Minister  die  Sache,  die  er  vorhat, 
hinausführen  soll.“  (P.) 

671.  Entschluss  ist  der  Berathung  Ende;  schlimm,  wenn 
dieser  Entschluss  in  Entmuthigung  stockt. 

672.  In  dem,  was  langsam  zu  thun  ist,  sei  langsam;  nicht 
langsam  in  dem,  was  nicht  langsam  zu  thun  ist. 

673.  Wo  alle  Wege  sich  öffnen,  ist  (sofortig)  Handeln 
herrlich;  wo  nicht,  da  handle,  erst  den  dem  Ziel  zugehenden 
Weg  erspähend. 


92 


II.  Vom  Gute. 


674.  Ein  Rest  von  dem  Beiden  „ Geschäft  und  Gegner  „ 
bringt  — wenn  du’s  recht  bedenkst  — wie  ein  Rest  Feuer, 
Fahl-. 

675.  Hast  du  die  Fünf:  Geld,  Werkzeug,  Zeit,  Handlung, 
Ort,  so  durchdacht,  dass  kein  Dunkel  bleibt,  dann  handle. 

676.  Mühwaltung,  Misslichkeiten  und  den  Vortheil  nach 
Vollführung  erwägend  handle! 

677.  Die  rechte  Thatweise  Dess,  der  eine  That  thun 
will,  ist  die  Meinung  des  That-Erfalirnen  zu  erfahren. 

678.  Durch  ein  Geschäft  ein  Geschäft  abmachen  *,  ist  ■wie 
durch  einen  feuchtscliläfigen  Elephanten  Elephanten  fangen. 

1 Durch  Ein  Geschäft  gleich  noch  ein  andres  Geschäft  mit  abmachen. 

679.  Nicht  - Verbündete  zu  Bundesgenossen  zu  machen 
ist  eiliger  als  Freundliches  zu  thun  den  Freunden. 

680.  Die  Schwachen  werden,  bang  vor  dem  Bangen  der 
eignen  Leute,  wenn  sie  Freundschaft  finden1,  — den  Star- 
ken sich  beugend,  sie  gern  annehmen. 

i Eigentlich:  Wenn  sie  das,  was  sie  bedürfen,  erlangen  können;  das  aber  ist  die 
Freundschaft  der  Mächtigen. 


69. 

BOTSCHAFT. 

„Das  ist  die  Art  Dessen,  der  zu  Versöhnung  oder  Spaltung  (was  Bei- 
des im  vorigen  Capitel  behandelt  ist)  an  den  Hof  eines  andern  Königs 

reist.“  (P.) 

681.  Anhänglichkeit 1,  edle  Abkunft  und  eine  Fürsten 
gefällige  Art  — das  ist  die  Au-t  Dess,  der  auf  Gesandtschaft 
geht. 

t An  seine  Angehörigen. 

682.  Liebe1,  Wissen  und  die  Gabe  das  wohl  Gedachte 
wohl  vorzutragen  — das  sind  die  Drei,  die  Botschafter  durch- 
aus bedürfen. 

t Gegen  seinen  König.  (P.) 


ü9.  Botschaft.  — 70.  Benehmen  im  Umgang  mit  dem  König. 


93 


683.  Tüchtige  Schulung  bei  Männern  von  Schule  1 ist  die 
Art  des  bei  Männern  des  Schwerts  siegreichen  Verhändlers. 

1 Unter  Ministern , die  in  den  Staatswissenschaften  wohl  bewandert  sind. 

684.  Geist,  günstig  Aeusseres  und  gründlich  Wissen  — 
in  wem  sich  diese  Drei  vereinen,  der  geh’  auf  Gesandtschaft. 

685.  Kiü’ze  suchend,  Kränkung  meidend,  freundlich  re- 
dend Vortheil  verschaffen  1 — das  ist  Botschaft. 

i Seinem  Fürsten  nämlich. 

686.  Das  ist  Botschaft,  wenn  man,  wohl  geschult,  nie  ge- 
schreckten Augs,  an  - und  vernehmlich  spricht  und  das  den 
Umständen  Zuständige  weiss. 

687.  Wer  seine  Pflicht  kennend,  die  Zeit  bedenkend,  den 
Ort  kennend  bedachtsam  redet  — der  ist  aller  Botschafter 
Haupt. 

688.  Reiner  Sinn,  Mithelfers chaft,  Entschlossenheit  und 
zu  den  Dreien  Wahrhaftigkeit,  das  ist  die  wahre  Weis’  eines 
Gesandten. 

689.  Wer,  ohne  Furcht,  ein  fehlerhaftes  Wort  sich  nicht 
entfahren  lässt,  der  mag  einem  Herrscher  seines  Herren 
Wort  wohl  ausrichten. 

690.  Und  sollt’  es  auch  den  Tod  einbringen,  seinem 
Fürsten  ohne  Fehl  Vortheil  einbringen  — das  heisst  man 
Gesandtschaft. 


70. 

BENEHMEN  IM  UMGANG  MIT  DEM  KÖNIG. 

„Folgt  auf  das  vorige  Capitel,  weil  es  dort  heisst  ,eine  Fürsten 
gefällige  Art (P.) 

691.  Die  mit  einem  streitbaren  Fürsten  verkehren,  sollen 
denen  gleichen,  die,  weder  nahe  tretend,  noch  ferne,  am  Feuer 
sich  wärmen. 

692.  Das  Nichtbegehren  des  vom  Fürsten  Begehrten 
wird  vom  Fürsten  her  fürstlichen  Lohn  verleihn. 


IX.  Vom  Gute. 


94 


693.  Will  man  sich  hüten,  hüte  man  sich  vor  schwerer 
Schuld;  schwer  für  Alle  ist’s  zu  schwichtigen,  wo  man  in 
Zweifel  schwebt. 

694.  Ohrgeflüster  und  Zusammengelach’  vermeidend, 
halt  dich  in  Gegenwart  hochedler  Grossen. 

695.  Nach  nichts  forschend,  nach  nichts  fragend,  lausche 
— lässt  er  selbst  etwas  fallen  — auf  das  Geheimniss, 

696.  Zeichen  verstehend,  Zeiten  begreifend,  sag  Anstoss  - 
loses  und  Annehmliches1  anmuthig. 

l Beschi  übersetzt:  „sive  odiosa  sive  grata  sunt.“  Er  hat  demnach  wohl  veruppuZa 
(Anstössiges)  statt  veruppila  gelesen. 

697.  Annehmliches  redend,  rede  nimmer  Nutzloses,  auch 
wenn’s  (der  Herr)  hörte1. 

i Entweder  „Auch  wenn’s  der  Fürst  gern  hörte“  oder  aber  „Auch  wenn’s  der  Fürst 
täglich  von  Andern  hören  sollte  (Du  als  Minister  darfst  das  nicht  nachmachen).“ 

698.  „Er  ist  jünger  als  ich,  er  ist  mein  Verwandter1!“ 
So  nicht  wegwerfend  wandle  du  vor  der  „Erlaucht“. 

1 Die  Kaste  , aus  der  die  malabarischen  Könige  ihre  Käthe  nahmen  , hiess  gradezu 
die  „ Onkelkaste 

699.  Wandellose  Weise  thun  nicht  im  Gedanken  „Wir 
sind1  genehm“  Ungenehmes. 

i Sie  pochen  nicht  auf  ihre  Gunst  beim  Könige. 

700.  Die  Freundschaft,  die  in  der  Meinung  „Wir  sind 
vertraut“  Verkehrtes  thut,  wird  Verderben  bringen. 


71. 

DIE  ABSICHT  MERKEN. 


„D.  h.  was  die  Könige  denken,  auch  ohne  dass  sie  es  sagen,  merken. 
Da  diess  Denen,  die  mit  Fürsten  umgehn  (Cap.  70),  durchaus  nöthig 
ist,  so  steht  es  hier.“  (P.) 


701.  Wer  ohne  Aeusserung  durch  einen  Blick  das  In- 
nerste1 inne  wird,  — Zier  ist  er  der  von  wandellosem  Wasser 
umwogten  Erde. 


i Des  Fürsten. 


71.  Die  Absicht  merken.  — 72.  Die  Versammlung  kennen.  t)P) 

702.  Wer  zweifellos  in  Andrer  Innrem  liest,  den  halt’ 
der  Gottheit  gleich. 

703.  Die  verblümterweis  das  Innerste  inne  werden,  — 
und  müsste  man  ein  Glied 1 hergeben  — die  halte  man. 

i Des  Staatsorganismus?  (Räsänkam;  siehe  V.  381.) 

704.  Denen  die,  was  man  im  Innern  trägt,  auch  ohne 
Aeusserung  inne  werden,  gleichen  an  Glied  den  Andern  und 
an  sonst  nichts. 

705.  Wenn  Einer  nicht  verblümterweis  des  Andern  Ab- 
sicht absieht,  was  nützt  dann  das  Aug’  unter  seinen  Gliedern. 

706.  Wie  ein  Spiegel,  der,  was  ihm  nahe  kommt,  zeigt, 
zeigt,  was  dem  Gemüth  nahe  geht,  das  Gesicht. 

707.  Giebt’s  etwas  so  Geistiges  wie  das  Gesicht?  Man 
entzücke  sich  oder  entbrenne,  — (wie  ein  Herold)  geht’s 
vorweg. 

708.  Hat  man’s  mit  Leuten  zu  thun,  die,  in  das  Innere 
sehend,  das  Richtige  rathen1,  so  ist’s  genug,  genau  ins  Ge- 
sicht zu  sehn. 

i Wenn  man  es  mit  Leuten  zu  thun  hat,  die,  das  eigne  Innere  erkennend,  die  vor- 
handenen Zustände  richtig  verstehen,  so  braucht  man  nur,  während  sie  das  eigne  Gesiebt 
ansehn,  ihr  Gesicht  anzusehen,  und  es  genügt  zu  gegenseitiger  Verständigung.  So  P., 
und  ähnlich  die  übrigen  tamul.  Commentatoren.  — Die  erste  Hälfte  des  Verses  lässt  sich 
auch  so  übersetzen:  „Wenn  man  dahin  gelangt,  in  das  Innere  sehend,  das  Richtige  zu 
rathen  u.  s.  w.“ 

709.  Freundschaft  und  Feindschaft  redet  das  Auge,  — 
wenn  man  des  Auges  Art  in  rechter  Art  versteht. 

710.  Die  Messschnur  Dessen,  der  Scharfsicht  anspricht, 
ist  — wenn  man’s  scharf  ansieht  — das  Aug,  nichts  Andres. 


72. 

DIE  VERSAMMLUNG  KENNEN. 

„Das  heisst  den  Charakter  der  bei  dem  König  anwesenden  Versamm- 
lung kennen.  Wenn  der  Minister  etwas  zu  sagen  hat,  so  braucht  er, 
ausser  der  Gabe  ,die  Absicht  zu  merken4,  auch  diess;  darum  folgt  es 
nun  hier.44  (P.) 

711.  Die  Versammlung  kennend,  bedächtig  rede  der  der 
Rede  Schatz  kennende  Reine. 


96 


II.  Vom  Gute. 


712.  Der  Gelegenheit  kundig,  wohl  verständig  rede  der 
des  Redegangs  1 kundige  "Wackre. 

1 „Der  Redegang  ist  die  Weise,  wie  die  drei  Arten  von  Worten  den  graden,  den 
figürlichen,  und  den  verblümten  Sinn  zum  Verständniss  bringen.“ 

7 13.  Die,  der  Versammlung  unkundig,  das  Wort  nehmen, 
wissen  das  Wort  nicht  zu  theilen;  da  ist  auch  Wirkung  nicht. 

714.  Vor  sonnenlichten  Leuten  werde  man  Sonnenlicht! 
Vor  dunkeln  wähle  man  das  Wolken-Grau! 

Vor  Gelehrten  rede  man  gelehrt,  vor  Ungelehrten  ungelehrt! 

715.  Unter  allem  Guten  das  Beste  ist,  nicht  vorlaut,  zu- 
rück sich  halten  vor  Höheren. 

716.  Wie  ein  Fehltritt  auf  dem  Pfade1,  so  ein  Fehlgriff 
vor  Männern  von  ausgebreiteter  Wissenschaft. 

1 Die  Commentatoren  verstehen  das  bildlich  vom  Pfade  der  asketischen  Tugend. 

717.  Das  Wissen  Gelehrter  leuchtet  vor  Denen,  die  der 
Rede -Prüfung  makellos  mächtig  sind. 

Vergl.  den  folgenden  Vers. 

718.  Vor  Verständigen  reden,  ist  wie  Wassergeriesel  auf 
sprossende  Saat. 

D.  h.  „Eine  solche  Rede  findet  eine  gute  Statt“  oder  aber  „doccndo  discimus“. 
wie  die  tamul.  Commentatoren  wollen.  Die  erstere  Erklärung  ist  offenbar  einfacher. 

719.  Die  in  wackrer  Versammlung  so  zu  reden  wissen, 
dass  es  wacker  eingeht,  sollen  nicht  in  gemeiner  Versamm- 
lung, auch  nur  aus  Vergesslichkeit,  reden. 

720.  Ansprach’  an  nicht  Ebenbürtige  ist  wie  Ambrosia, 
in  den  Schmutz  geschüttet. 

Oder:  „Vor  nicht  Ebenbürtigen  rede  nicht!  Es  ist  wie  u.  s.  w.‘* 


73. 

DIE  VERSAMMLUNG  NICHT  FÜRCHTEN. 

„D.  i.  Die  Versammlung,  in  der  man  reden  soll,  kennend,  wenn  man 
redet,  sich  nicht  vor  ihr  scheuen.“  (P.) 

721.  (Der  Hörer)  Art  wissend,  wanken  in  wackrer  Ver- 
sammlung mit  dem  Munde  nie  die  der  Worte  Schatz  kennen- 
den Reinen. 


73.  Die  Versammlung  nicht  fürchten.  — 74.  Land. 

722.  Gelehrte  unter  Gelehrten  nennt  man  die  vor  Ge- 
lehrten Gelerntes  eingänglich  vortragen. 

723.  Leicht  findest  du,  die  vor  dem  F eind  sterben  wollen ; 
schwer,  die  nicht  bangen  vor  der  Versammlung. 

724.  Vor  Gelehrten  Gelerntes  eingänglich  vortragend, 
nehme  man  von  dem  Gelehrtem,  was  das  Selbstgelernte  noch 
übersteigt. 

725.  Nach  der  Regel 1 die  Logik  lernend  studire  man, 
um,  ohne  Scheu  vor  der  Versammlung,  gegenzureden. 

1 Die  Commentatoren  verstehen  darunter  die  Grammatik  (im  weitesten  Sinne),  de- 
ren Studium  dem  Studium  der  Logik  voranzugehen  habe. 

726.  Was  haben,  die  nicht  festen  Auges  sind,  mit  dem 
Schwert  zu  schaffen?  Was  die  vor  der  Versammlung  Scheuen 
mit  dem  Buch? 

727.  Dem  Feind  gegenüber  ein  schneidig  Schwert  in 
Zwitters  Hand  — das  ist  die  Wissenschaft  Dess,  der  vor  der 
Versammlung  in  Angst  versinkt. 

728.  Mögen  sie  mancherlei  wissen,  — nutzlos  sind,  die 
in  guter  Versammlung  das  Gute  nicht  treffend  sagen. 

729.  Die  Letzten  der  Ungelehrten  wird  man  die  heissen, 
die,  obgleich  wohl  gelehrt,  vor  wackrer  Versammlung  ver- 
zagen. 

730.  Wenn  sie  auch  Lebende  heissen,  sie  sind  doch  den 
Todten  gleich  — die,  vor  der  Halle  herzensbang,  eingänglich 
vorzutragen  ihr  Wissen  nicht  wissen. 


74. 

LAND. 

„Er  behandelt  nun  (nachdem  er  das  Capitel  von  der  Ministerschaft 
beendigt  hat)  in  Einer  Decade  das  Land , das  vom  König  und  vom 
Minister  zugleich  zu  regieren  und  für  die  übrigen  Erfordernisse  des 
Königthums  als  Burg  u.  s.  w.  unumgänglich  nöthig  ist.“  (P.) 

731.  Wo  nie  weichendes  Wachsthum,  Leute  von  Werth, 
Leute  von  nie  welkendem  Wohlstand  beisammen  sind,  ■ — 
das  ist  ein  Land. 


in 


98 


II.  Vom  (inte. 


732.  Was  bei  grossem  Gut  für  neidenswerth  gilt,  und 
bei  seltnem  Schaden  mächtige  Ernten  scheidet  — das  ist  ein 
Land. 

733.  Was,  wenn  Lasten  zuhauf  darüber  kommen,  sie 
trägt,  und  dem  König  zuhauf  die  Königsgebühr  darzollt  — 
das  ist  ein  Land. 

734.  Was  von  hartem  Hunger,  nie  versiegendem  Siech- 
tlmm,  drückenden  Drängern  frei,  fröhlich  gedeiht  — das  ist 
ein  Land. 


735.  Wo  kein  Zusammenrotten,  keine  verwüstende  innre 
Zwietracht  und  kein  den  König  ängstendes  „ Mordnest u 1 ist, 
— das  ist  ein  Land. 

1 Eigentlich  „Mordreiches  Kunimpu“.  — Kimimpu's  heissen  die  Orte  der  Maravar 
(siehe  Nampi’s  AkapporuZ,  I,  21)  und  „am  hellen  Tage  plündern“  gilt  als  ihre  Beschäf- 
tigung. (Siehe  ebendaselbst.)  Die  Maravar  scheinen  in  ihrer  „heissen  Wüste“  bei 
Ramnad  von  Anfang  an  sich  zu  den  aufstrebenden  Nachbarstaaten  in  ganz  ähnlicher 
Weise  gestellt  zu  haben,  wie  die  Beduinen  sich  noch  immer  zu  benachbarten  Cultur- 
ländern  stellen.  (Vergleiche  meinen  Aufsatz  über  die  Maravar  in  den  „Geographischen 
Mittheilungen  von  Perthes“  1856;  desgleichen  meine  Reise  nach  Ostindien , Band  IV, 
S.  181  — 183.) 

736.  Ein  Land,  das  nie  Schaden  verspürt,  und  wo’s  ge- 
schädigt wird,  seines  Schatzes  Fülle  nicht  verliert,  — das 
heisst  man  ein  Hauptland. 

737.  Doppel -Wasser,  anschliessende  Berge,  von  dort- 
her kommendes  Wasser  und  eine  feste  Fürstenburg  — das 
ist  eines  Landes  Gliederung. 

Hiermit  schildert  der  Dichter  das  Tamulenland  selber,  das , wo  es  nicht  vom  Meere 
umgeben,  von  Bergen  umschlossen  ist,  Doppelwasser,  d.  i.  Quell  - und  Regenwasser  hat, 
und,  Dank  dem  Cavery,  der  seinen  Ursprung  im  Westgebirge  nimmt,  auch  das  von  „dort- 
her kommende  Wasser“  (des  Westmonsums)  empfängt.  (Vergl.  meine  Reise  nach  Ost- 
indien, Band  IV,  S.  113  — 111.) 

738.  Wohlgefühl1,  Wohlstand,  Wachsthum,  Wohlleben 
und  Wohlverwahrtheit  — diese  Fünf  sind  eines  Landes 
Schmuck. 

1 Wörtlich:  Freiheit  von  Krankheit. 

739.  Was  ungesucht  seine  Schätze  reicht,  nennt  man  ein 
Reich;  was,  nur  wenn  man  danach  sucht,  sie  reicht,  ist  kein 
Reich. 


74.  Laud.  — 75.  Burg. 


99 


740.  Audi  wenn  es  mit  dem  allen  wohl  versehen  ist  — 
ein  nicht  mit  dem  König  sich  wohl  verstehendes  Land  hat 
dess  kein  Heil. 


7o. 

BURG. 

,, Diese  ist  als  , Glied  (des  Staats)1  im  Lande  mit  inbegriffen.  Weil  sie 
aber,  wenn  durch  die  Feinde  Verwüstung  gekommen  ist,  dem  Lande 
sowohl  als  dem  Könige  Schutz  gewährt,  so  wird  sie  dieses  besondern 
Vorzugs  wegen  ein  besondres  , Glied4  genannt,  und  darum  eben  in 
einem  besondern  Kapitel  behandelt.“  (P.) 

741.  Denen,  die  handeln  wollen,  ist  ein  Hort  die  Burg; 
— denen,  die  bang  sich  bergen  wollen,  ist  sie  auch  ein  Hort. 

Sie  dient  sowohl  der  Offensive  als  der  Defensive. 

742.  Was  Wasser  wie  Perlen,  eine  blosse  Fläche1,  eine 
Höhe  und  schönschattige  Waldung  hat,  — das  ist  eine  Feste. 

1 Eine  blosse,  d.  i.  von  Wasser  und  Schatten  (zum  Nachtheil  des  Feindes)  entblösste 
Fläche  (vor  der  Mauer).  So  P.  Man  unterscheidet  „Wasser-,  Flächen-,  Berg-  und 
Wald  - Festen  “.  Wo  die  Vortheile  aller  vier  Festungsarten  beisammen  sind , da  ist  eine 
vollkommene  Feste. 

743.  Höhe  und  Räumigkeit,  Stäi’ke  und  Schwierigkeit  — 
dieser  Vier  Vereinigung  nennt  „Burg“  die  Wissenschaft. 

744.  Was,  bei  geringer  Vertheidigungsbedürftigkeit 
grossräumig,  den  Muth  des  Feindes  fällt,  ist  eine  Feste. 

745.  Was  die  Tugend  hat,  dass  es  einzunehmen  schwer 
und,  an  eingenommener  Nahrung  reich,  denen  drinnen  leichten 
Stand  bietet,  eine  Burg  ist  das. 

740.  Was,  mit  allem  Nöthigen  versehn,  am  rechten  Ort 
helfende  Helden  hat  — ist  eine  Burg. 

747.  Was,  — ob  raan’s  umzingelt,  nicht  umzingelnd 
stürmt,  oder  unterhöhlt,  — schwer  zu  nehmen  ist,  das  heisst 
eine  Feste. 

748.  Das  ist  eine  Burg,  dass  die  Vertheidiger,  in  der  Ver- 
theidigung  beharrlich,  auch  die  in  der  Belagerung  beharr- 
lichen Belagerer  besiegen. 


7* 


100 


II.  Vom  Gute. 


749.  Das  ist  eine  Burg,  wo  man  Angesichts  der  Tkat 
sieh  mit  Ruhm  bedeckend  hehr  dasteht,  so  dass  Angesichts 
der  Schlacht  der  Feind  vergeht. 

750.  Eine  Feste  — was  für  Herrlichkeit  sie  habe  — 
nichts  ist  sie  in  deren  Hand,  ,die  der  That  Herrlichkeit  nicht 
haben.; 


76. 

FÜHRUNG  DER  FINANZEN. 

„In  diesem  Kapitel  behandelt  er  die  AVeise  der  Erwerbung  finanzieller 
Mittel,  die  durch  Land  und  Burg  gemehrt  und  geschützt  werden.“  (P.) 

751.  Neben  dem  Schatz,  der  selbst  Ungeschützte  ge- 
schätzt macht,  giebt’s  keinen  Schatz. 

D.  h.  Nichts  verleiht  so  viel  Achtung  als  Geld  und  Gut. 

752.  Die  nichts  haben,  werden  Alle  für  nichts  halten; 
die  Wohlhabenden  werden  Alle  hochhalten. 

753.  Ein  nie  verglimmender  Glanz  des  Reichthums  wird, 
(jedes)  beliebte  Reich  erreichend,  (der  Feindschaft)  Dunkel 
dämpfen. 

Reichthum  verleiht  einem  Lande  ein  solches  Ansehn,  dass  auf  die  davon  ausgehende 
Kunde  jedes  von  dem  König  beliebte  Reich  ein  gutes  Vernehmen  mit  demselben  für 
wünschenswerth  hält. 

754.  Das  bei  Kenntniss  der  rechten  Mittel,  unvermittelt 
durch  Unrecht,  erworbne  Gut  wird  Verdienst  schaffen1,  wird 
Vergnügen  schaffen 2. 

1 Indem  es  zu  guten  Spenden  befähigt. 

2 Das  „Gut“  dient  somit  der  „Tugend“  sowohl  als  der  „Lust“.  (Vergl.  V.  700.) 

755.  Den  Güter- Gewinn,  der  nicht  im  Einklang  mit 
Huld  und  Liebe 1 kommt,  soll  man  nicht  umfassen,  nein  fahren 
lassen. 

1 P.  versteht  unter  „Huld‘‘  die  huldvolle  Gesinnung  des  Königs  gegen  seine 
Unterthanen,  unter  ,, Liebe“  die  liebevolle  Gesinnung  der  Untertliauen  gegen  den 
König. 

756.  Königsgut  ist  das  von  selbst 1 zufallende  Gut,  das 
Zoll -Gut,  das  dem  Gegner  abgenommene  Gut. 

1 Durch  Herrenlosigkeit. 


76.  Führung  der  Finanzen.  — 77.  Heeres  - Herrlichkeit. 


101 


757.  Das  von  der  Liebe  geborne  Kind  „Barmherzigkeit“ 
lebt  durch  die  wohlhabende  Wärterin  „Wohlstand“. 

Wer  nichts  hat,  kann  keine  Almosen  spenden  ; so  ist  denn  der  Wohlstand  gleichsam 
die  Wartefrau,  ohne  die  das  Kind  ,,  Barmherzigkeit  “ nicht  gedeihen  hann.  — P.  versteht 
, »Barmherzigkeit“  von  der  allgemeinen  Barmherzigkeit,  die  sich  da  finde,  wo  eine  kräf- 
tige Verwandtenliebe  vorhanden  sei;  daher  der  Ausdruck:  „das  von  der  Liebe  ge- 
borne u.  s.  w.“ 

758.  Das  Thun  dess,  der  mit  seiner  Habe  handthiert,  ist 
wie  von  Hügels  Höh  Elephanten  kämpfen  sehn. 

„Wieder,  welcher  einen  Hügel  erstiegen  hat,  ohne  Furcht  und  Mühe  einem  Ele- 
phanten- Gefecht  unten  in  aller  Kühe  zusieht)  so  wird  auch  derjenige,  der  zu  Mehrung 
seines  Guts  Etwas  unternommen  hat,  ohne  Furcht  und  Mühe  mittelst  mächtiger  Leute  es 
in  aller  Ruhe  durchsetzen.“  (P.)  Er  beutet  (auf  dem  Wege  der  Bezahlung,  der  Be- 
stechung u.  s.  w.)  die  Arbeit  Andrer  für  sich  aus. 

759.  Erwirb  dir  Gut!  Das  ist  ein  der  Hasser  Hoffart 
wegschneidender  Stahl.  Nichts  schärfer! 

760.  Denen,  die  edles  Gut  in  reifer  Füll’  erworben,  ist 
das  beide  Andre  1 zumal  leicht  (zu  erwerbendes)  Gut. 

1 Tugend  und  Lost.  Vergl.  V.  754. 


77. 

HEERES  - HERRLICHKEIT. 

„Er  behandelt  das  durch  Geld  zu  stände  kommende  und  zu  siegen  be- 
stimmte Heer  in  zwei  Kapiteln,  und  redet  nun  im  ersten  von  der  Treff- 
lichkeit desselben.“  (P.) 

761.  Ein  Heer,  das,  wohlgegliedert  \ Wunden  nicht  fürch- 
tend, siegreich  ficht,  ist  unter  des  Königs  sämmtlichen  Schätzen 
der  schönste. 

1 D.  i.  mit  Wagen,  Pferden,  Elephanten  und  Fussvolk,  dem  sogenannten  saturan- 
kam  „Vierglied“  versehen. 

762.  Die  kalte  Kühnheit,  die  in  der  Noth  auch  bei  ge- 
ringer Zahl  nicht  bebt,  wird  — ausser  dem  Veteranen -Heer 
— allen  andern  schwer. 

763.  Wenn  der  Ratten  feindlich  Heer  wie  das  Meer  auf- 
kreischt, — was  thut’s?  Es  zischt  die  Schlang’  — und  ver- 
schlungen ist’s. 


102 


II.  Vom  Gute. 


764.  Was  nicht  verliert,  was  sich  nicht  untergraben 
lässt1,  was  lang  geübten  Muth  besitzt  — das  ist  ein  Heer. 

1 D.  i.  was  sich  nicht  theilen  lässt. 

765.  Was  — träte  selbst  der  Todesgott  zornig  daher  — 
sich  doch  zu  schaaren  und  die  Stirn  zu  bieten  wagt  — das  ist 
ein  Heer. 

766.  Wahrhaftigkeit,  Ehrhaftigkeit,  Wandeln  auf  der 
Bahn  des  Ruhms,  Vertraun1  — diese  Vier  sind  ein  Hort 
dem  Heer. 

t Die  Commeutatoren  verstehen  darunter  das  Vertrauen  seitens  des  Fürsten.  Es 
ist  aber  wohl  allgemein  zu  nehmen. 

767.  Was,  wohl  kundig  der  Art  das  herstürmende  Heer 
zu  halten,  die  Sehlachtreihen  auf  haltend  (selbst)  einstürmt, 
das  ist  eine  Kriegsmacht. 

768.  Fehlte  es  selbst  an  der  Tüchtigkeit  drauf  los  zu 
gehn  und  an  der  Kraft  zu  widerstehn,  — auch  durch  (äussere) 
Tüchtigkeit 1 kann  ein  Heer  herrlich  werden. 

1 „ Durch  die  Herrlichkeit  seiner  Erscheinung.“  (P.) 

769.  Wo  Schwäche,  schwere  Furcht  und  Mangel  nicht 
ist,  da  ist  ein  siegreich  Schlachtheer. 

770.  Wenn  es  auch  viele  standhaltende  Männer  zählt, 
— es  ist  doch  kein  Heer  vorhanden,  wemi  ein  Führer  fehlt. 


78. 

HEERES  - SELBSTGEFÜHL. 

„ Das  ist  des  Heeres  hoher  Schlachtmuth.“  (P.) 

771.  Steht  nicht  vor  meinem  Feldherrn  Feinde!  Viel 
sind  derer,  die  vor  meinem  Feldherrn  standen  und  nun  in 
Stein  stehn  *. 

t ,,Das  bezieht  sich  darauf,  dass,  weun  Helden  im  Kampfe  fallen,  sie  in  Stein  gebil- 
det und  aufgestellt  werden.“  (P.)  Die  Worte  „in  Stein  stehen“  deuten  demnach  zu- 
gleich an,  dass  diese  Feinde  keine  gewöhnlichen  Krieger,  sondern  Helden  waren. 

772.  Lieblicher  ist’s,  eine  Lanze  zu  führen,  die  des  Ele- 
phanten  fehlt,  als  einen  Bogen,  der  den  Hasen  des  Waldes  trifft 


7s.  Heeres  - Selbstgefühl.  — 7U.  Freundschaft. 


103 


773.  Hochherzigkeit  heisst  man  die  wilde  Schlachtwuth; 
milde  Höflichkeit,  wenn  der  Feind  gefällt  ist,  deren  Spitze. 

774.  Wer  am  Elephanten  sein  Geschoss  verschleudernd 
hergeht,  wird,  das  Geschoss  aus  dem  Leib  sich  reissend, 
lachen. 

Also  schon  ehe  er  den  Kampf  mit  dem  Elephanten  aufnahm,  war  er  von  einem  Wurf- 
geschosse durchbohrt;  und  nun  erst,  nachdem  ihm  seine  Waffen  ausgegangen  , zieht  er 
es  heraus , um  den  Kampf  fortzuzetzen. 

775.  Wenn  das  Muth- blinkende  Aug  bei  der  Lanze 
Wurf1  (den  Muth)  verlierend  blinkt  — ist  das  für  den  „Fest- 
äugigen “ 2 nicht  Verlust? 

1 Seitens  des  Feindes.  (P.)  2 Bezeichnung  des  Helden. 

776.  (Ein  Held)  wird,  seine  Tage  herzählend,  unter  die 
verfehlten  setzen  all’  die  Tage,  wo  nicht  eine  Ehren-Wund’ 
ihm  wurde. 

777.  Fein  steht  denen  des  Fussrings  Bindung,  die  wohl 
zu  weit  laufendem  Ruhm,  nicht  aber  zum  Leben  Lust  haben. 

778.  Die,  wo’s  sein  soll,  für  ihr  Leben  nicht  bebenden 
Helden,  — war’  auch  der  Fürst  ungehalten  — sie  lassen  sich 
nicht  halten  im  Heldenlauf. 

779.  Die  da  sterben,  dass  nicht  Verderb’  ihr  Vorsatz,  — 
wer  wird  die  verklagen  : „Es  war  verfehlt?“ 

780.  Stirbt  man  so,  dass  des  Schutzherrn  Thränen  reich- 
lich träufeln,  solch  Sterben  ist  — und  wenn  man’s  erbetteln 
müsst’  — erwerbenswerth. 


79. 

FREUNDSCHAFT. 

„Nun  fängt  er  an  die  Freundschaft,  die  für  einen  König  eben  so  von 
praktischer  Bedeutuug  ist,  wie  das  Heer,  durch  fünf  Kapitel  hin  posi- 
tive und  daun  durch  zwölf  Kapitel  negative  zu  behandeln.  In  dem  ersten 
der  fünf  positiven  Kapitel  beschreibt  er  die  Freundschaft  selbst.“  (P.) 

781.  Was  ist  so  schwer  zu  wirken  als  Freundschaft?  Und 
welche  Burg  ist  für  feindlich  Wirken  so  schwer? 


/ 


II.  Vom  Gute. 

„Die  Schwierigkeit  der  Freundschaft  bezieht  sich  auf  die  Auffindung  solcher,  die 
dazu  taugen , auf  die  Mittel , den  Bund  zu  stände  zu  bringen , und  auf  die  unverrückte 
Bewahrung  desselben. “ Wo  sie  aber  statt  findet,  da  fürchtet  sich  der  Feind  Krieg  an- 
zufangen. (P.) 

782.  Wolilgearteter  Männer  Freundschaft  hat  wie  der 
Neumond  Zunehmens- Art;  der  Thoren  Freundschaft  hat  wie 
der  Vollmond  Abnehmens- Art. 

783.  Bei  jedem  Lernen  eines  Spruchs  ein  neu  Vergnügen. 
Grad’  so  bei  jedem  neuen  Verkehr  der  Edlen  Freundschaft. 

784.  Nicht  zum  Zusammenlachen  ist  Freundschaft- 
machen, nein  zum  wacker  drein  Fahren  — bei  (Freundes) 
Fehl. 

785.  Enger  Verbindung,  langen  Verkehrs  bedarf  es 
nicht.  Einverständniss  wird  zur  Freundschaft  und  verleiht 
Vertrautheit. 

786.  Freundlich  sein  so,  dass  das  Gesicht  lacht,  ist 
Freundschaft  nicht;  freundlich  sein  so,  dass  das  Gemüth 
lacht,  ist  Freundschaft. 

787.  Was  Wehbringendes  abwehrt,  ins  Geleis  lenkt,  im 
Weh  das  Uebel  wacker  mitträgt  — das  ist  Freundschaft. 

788.  Der  Hand  dessen  gleich,  dem  das  Gewand  entglitt1, 
(alles)  Ungemach  unverweilt  abthun  — ist  Freundschaft. 

i Und  der  in  Folge  davon  nackend  dasteht. 

789.  Wo  thront  die  Freundschaft  sicher?  Wo  man  ohne 
Wandel  in  aller  Weise  1 fest  stützend  steht. 

1 In  Rücksicht  sowohl  auf  die  „Tugend“  als  das  „Gut“.  (P.)  Eine  Freundschaft, 
die  dem  Freunde  nicht  Tugend  und  Gut  wahren  hilft,  ist  ohne  Bestand. 

790.  Man  kann  sich  einander  noch  so  rühmen:  „Der 
ist  mir  das!  Das  bin  ich  ihm!“  — und  die  Freundschaft 
heisst  doch  „Stroh“. 


t 


80.  Prüfung  in  der  Freundschaft. 


105 


80. 

PRÜFUNG  IN  DER  FREUNDSCHAFT. 

„Das  ist  Solche,  welche  die  vorbenannten  Eigenschaften  besitzen, 
nachdem  man  sie  ordentlich  geprüft  und  erkannt  hat,  zu  Freunden 
machen.“  (P.) 

791.  Nichts  so  verderblich  als  Freundschaft,  ohne  zu 
fragen,  schliessen ; ist  Freundschaft  geschlossen,  — kein  Los- 
kommen für  die  Freundschafts -Pfleger! 

792.  Der  vertraute  Verkehr  Dess,  der  nicht  prüfend  und 
wieder  prüfend  wählt,  wird  tödtlichen  Verdruss  verleihn. 

793.  Freundschaft  mache,  wenn  du  das  Gemüth,  die 
Geburt,  die  Fehler  und  die  fehllose  Verwandtschaft1  kennst. 

1 „Denn  die  mit  Verwandten  innig  verbunden  leben,  werden  sich  auch  mit  den 
Freunden  innig  verbinden.“ 

794.  Wer,  von  edler  Familie,  sich  vor  Rüge  fürchtet, 
dess  Freundschaft  nimm  — und  solltest  du  dazu  geben ! 

795.  Schliess  forschend  Freundschaft  mit  denen,  die,  zu 
Thränen  rührend1  und  das  Unrecht  andonnernd2,  was  Sitte 
sei,  zu  sagen  im  Stande  sind. 

1 Wenn  es  sich  um  Abmahnung  von  Unrecht  handelt.  (P.) 

2 Nach  geschehenem  Unrecht  es  so  eindringlich  rügend,  dass  man's  nicht  wieder  thut. 

796.  AuchinderNoth  giebt’s  Ein  Gutes,  — einenMaass- 
stab,  der  die  Angehöi’igen  gehörig  ausmisst. 

797.  Das  heisst  gewönnen  — der  Thoren  Freundschaft 
verlieren. 

798.  Sinne  nicht  auf  Dinge,  die  den  Sinn  verstimmen ! 
Schliesse  nicht  Freundschaft  mit  denen,  die  in  Trübsal  dir 
Trost  versagen. 

799.  Derer  Freundschaft,  die  ihre  Hand  abziehnzur  Zeit 
des  Verderbens,  versengt  das  Innerste,  auch  wenn  man  dran 
sich  erinnerte  zur  Zeit  des  Sterbens. 

1 D.  h.  Der  Gedanke  an  treulose  Freundschaft  verliert  selbst  im  Angesichte  der 
Todesnoth  seinen  Stachel  nicht. 


II.  Vom  Gute. 


100 


800.  Fasse  fest  die  Freundschaft  der  Fleckenlosen! 
Vom  Umgang  der  Sittelosen  — und  solltest  du  zahlen  — sondre 
dich ! 


81. 

ALTE  TRAUTE  FREUNDSCHAFT. 

„Diese  besteht  darin,  dass  man,  in  Rücksicht  auf  langes  Bestehn  der 
Freundschaft,  die  Versehn  der  Freunde  übersieht.  Er  lässt  dieses 
Kapitel  auf  das  vorhergehende  folgen,  um  auzuzeigen,  dass  sich  auch 
bei  Freunden  Versehen  finden,  theils  weil  sie,  obgleich  erst  nach  län- 
gerer Prüfung  zu  Freunden  erwählt,  denn  doch  Fehler  haben,  die  man 
tragen  muss,  theils  auch  in  Folge  des  Geschicks.“  (P.) 

801.  Du  frägst,  was  Vertrautheit  heisst?  Die  Freund- 
schaft, die  ein  vertraulich  Gebühren 1 in  gar  nichts  stört. 

1 Dieses  besteht  darin,  dass  man  etwas  ungefragt  thut , etwas  Nachtheiliges  vor- 
nimmt, sich  das  Nöthige  nimmt,  ohne  Ceremonie  mit  einander  umgeht  u.  s.  w.  (P.) 

802.  Ein  wesentlich  Stück  der  Freundschaft  ist  Ver- 
traulichkeit; dieser  eine  Würze  zu  werden1  ist  der  Weisen 
Pflicht. 

1 D.  h.  Das  vertrauliche  Thun  des  Einen  ist  gleichsam  die  Speise;  die  freundliche 
Aufnahme  seitens  des  Andern  die  Würze , die  sich  damit  aufs  innigste  vereinigt.  Auf 
diese  Weise  (wenn  die  Vertraulichkeit  in  eben  dem  Sinne  aufgenommen  wird,  in  wel- 
chem sie  entgegen  gebracht  wird)  wird  das  vertrauliche  Verhältniss  gewissennassen 
schmackhaft. 

803.  Was  frommt  denn  alte  Freundschaft,  wenn  man  zu 
traulichem  Thun  nicht  stimmt,  als  hätte  man’s  selbst  gethan. 

804.  Wenn  Freunde,  ohne  zu  fragen,  in  trauter  Liebe 
handeln,  so  lässt  man  das  seiner  Lieblichkeit  wegen  sich 
lieb  sein. 

805.  Thorheit  ist  eines.  Oder  sieh  es  als  grosse  Einheit 
an,  wenn  Freunde  thun,  was  schmerzen  muss. 

Man  soll,  wenn  Freunde  uns  Schmerzen  bereiten,  es  auf  die  Thorheit  schieben,  in 
die  durch  das  Geschick  Jeder  einmal  fällt,  oder  aber  auf  die  grosse  Einheit,  die  — eben- 
falls in  Folge  des  Geschicks  — das  thun  muss,  was  man  selbst  thun  sollte.  (Die  beiden 
Freunde  haften  als  Eine  Person  dem  Geschick  solidarisch.) 

806.  Die  in  des  Bundes  Schranken  stehn,  lassen  — auch 
bei  eigner  Fahr  — nicht  fahren  die  Liebe  zu  denen,  die  in 
altem  Verhältniss  stehn. 


81.  Alte  traute  Freundschaft.  — 82.  Freundschaft  mit  Bösen. 


107 


807.  Wenn  auch  (der  Freund)  zum  Verderben  Geword- 
nes  thäte  — die  eine  in  Liebe  alt  gewordne  Freundschaft  he- 
gen, geben  nicht  auf  die  Liebe. 

808.  Die  sich  verstehn  auf  eine  Vertraulichkeit,  die  des 
Vertrauten  Versehn  nicht  (einmal)  vernehmen  mag,  — für  die 
ist’s,  wenn  sich  der  Freund  versieht1,  ein  Fest. 

Weil  sie  dann  ihre  Freundes  - Nachsicht  beweisen  können. 

809.  Gern  will  die  Welt,  die  nicht  fahren  lassen  die 
Freundschaft  derer,  die  eine  lang  treu  bewahrte  Freund- 
schaft besitzen. 

810.  Selbst  Uebelwollende  werden  gern  wollen  den , der 
gegen  alte  Freunde  die  alte  gute  Art  nicht  ändert. 


82. 

FREUNDSCHAFT  MIT  BÖSEN. 

„Da  er  von  der  Freundschaft,  die  man  wegen  unerträglicher  Fehler  an 
dem  Freunde  zu  meiden  hat,  in  dem  Kapitel  von  der  , Prüfung  der 
Freundschaft4  nur  kurz  und  keineswegs  ausreichend  gehandelt  hat,  so 
zerlegt  er  dieselbe  in  zwei  Arten  und  handelt  in  diesem  Kapitel  zu- 
nächst von  der  , Freundschaft  mit  Bösen4.44  (P.) 

811.  Wenn  sie  Einen  auch  aufsaugen  zu  wollen  schie- 
nen, — besser  ist’s,  dass  die  Freundschaft  der  Schlechten  ab- 
als  zunimmt. 

812.  Die  Freundschaft  der  Sittelosen,  die,  wo’s  was 
giebt,  freundlich  sind,  und  wo  nichts  ist,  zurück  sich  ziehn, 
was  ist’s , wenn  man  die  gewinnt  — oder  verliert  ? 

813.  Die  Freundschaft,  die,  was  herauskommt,  abwägt, 
(die  Dirne),  die,  was  sie  bekommt,  hinnimmt1  — und  der 
Dieb  sind  gleich. 

1 „Die  die  Gabe  nimmt,  ohne  sich  um  den  Geber  zu  kümmern.“  (P.) 

814.  Besser  Einsamkeit  als  ein  Genoss  gleich  dem  un- 
geschulten Ross,  das  mitten  im  Streit  im  Stich  lässt. 

815.  Besser  nicht  erlangen  als  erlangen  die  armselige 


108 


II.  Vom  Gute. 


Freundschaft  der  Elenden,  die,  wenn  sie  zur  Hut  sich  stellen, 
dabei  nicht  stehn  bleiben. 

816.  Zehn  Millionen  mehr  werth  ist  der  Weisen  Feind- 
schaft, als  der  Thoren  dickste  Freundschaft. 

817.  Zehnmalzehn  Millionen  mehr1  von  Feinden  als  von 
Freunden,  die  bloss  lachen  machen2! 

1 D.  i.  mehr  Nutzen  hat  man  von  u.  s.  w. 

2 Die  bloss  amüsiren. 

818.  Die  Freundschaft  derer,  die,  was  sie  thun  können, 
zustandzubringen  verdriesst,  lass,  ohne  ein  Wort  fallen  zu 
lassen,  fallen. 

819.  Der  Verkehr  mit  Solchen,  deren  Werk  und  Wort 
nicht  stimmen,  thut  selbst  im  Traum  nicht  wohl. 

820.  Die  Freundschaft  derer,  die  daheim  dickfreund 
thun  und  draussen  schmähn,  lass  dir  nicht  im  mindesten  nahe 
kommen ! 


83. 

HEUCHEL  - FREUNDSCHA  FT. 


,,Diess  die  zweite  Art  der  zu  meidenden  Freundschaft.“  (P.) 

(Vergleiche  Kap.  82.) 

821.  Die  Freundschaft  derer,  die,  fremd  im  Herzen,  sich 
nahherzuthun , wird,  zeigt  sich  die  Gelegenheit,  ein  Amboss 
zum  drauf  Klopfen. 

Der  Freund  selbst  wird  dauu  das  Eisen,  das  auf  diesem  Amboss  geklopft  wird. 
P.  führt  das  Gleichniss  sehr  weit  aus:  „Er  stellt  die  Heuchel- Freundschaft  unter  dem 
Bilde  eines  Ambosses  dar,  weil  jene  dasselbe  thut  wie  dieser:  dieser  nämlich  scheint, 
ehe  es  zum  Klopfen  des  Eisens  kommt,  alles  nur  tragen  zu  wollen,  und  dient  doch,  wenn 
es  zum  Klopfen  kommt,  nur  dazu,  dass  man  (das  darauf  ruhende  Eisen)  recht  gründlich 
klopfen  kann ; grade  so  ist  es  mit  der  Heuchelfreundschaft.“ 

822.  Die  Vertraulichkeit  derer,  die,  Freunden  ähnlich, 
ohne  Freundschaft  sind,  — wie  der  Sinn  der  Weiber  wird  sie 
sich  wenden. 

823.  Mögen  sie  auch  viel  Gutes  gelernt  haben,  Feind- 
selige werden  schwerlich  guter  Gesinnung. 


»3.  Heuchel- Freundschaft.  — 84.  Thorheit.  1()() 

I 

824.  Man  furchte  die  im  Gesicht  so  süss  lachenden,  im 
Gemüth  so  bitterbösen  Heuchler. 

825.  Den  zu  uns  von  Herzen  nicht  Haltenden  in  irgend- 
was auf  ihr  Wort  zu  traun  ist  taktlos. 

826.  Sollten  sie  auch,  wie  Freunde,  Gutes  reden,  der 
Feinde  Rede  wird  flugs  erkannt. 

827.  Beugung  in  Worten  von  Hassern  her  nimm  ja  nicht 
an,  — dieweil  des  Bogens  Biegung  auf  Unheil  absieht. 

828.  Auch  in  unterthänig  erhobnen  Händen  birgt  sich 
die  Waffe  wohl;  Zähren,  die  Feinde  weinen,  sind  grade  so  '. 

i Wie  ehrerbietig  gefaltete  Hände  mit  einer  Waffe  darin. 

829.  Die,  obgleich  viel  thuend,  dich  doch  verachten, 
mit  denen  musst  du  schön  thun  und  sie  in  aller  Freundschaft 
todt  drücken. 

Oder:  denen  musst  du  dich  so  verbinden,  dass  du  mit  ihnen  schön  thuend  in  der 
Freundschaft  (innerlich)  ersterbest.  (P. : dass  du  mit  ihnen  in  Freundschaft  schön  thuest, 
diese  selbst  aber  im  Herzen  ersterbe.) 

830.  Kommt  die  Zeit,  wo  Feinde  freundlich  thun,  so 
sei  auch  du  im  Gesicht  zwar  freundlich,  im  Gemüth  jedoch 
halt  dich  der  Freundschaft  fremd! 


84. 

THORHEIT. 

„Nun  beginnt  er,  die  Freundschaft  negirend,  die  Feindschaft  zu  be- 
handeln. Diese  Feindschaft  entsteht  sowohl  durch  den  Zorn,  der 
ein  nicht  ganz  zu  lassender  Fehler  ist,  als  durch  das  Gelüst.  Das 
was  aus  dem  Zorne  kommt,  behandelt  er  in  fünf  Kapiteln,  ebenso  was 
aus  dem  Gelüste  kommt.  Die  beidem  zugrunde  liegende  Verblendung 
vertheilt  er  als  zweigeartet  auf  zwei  Kapitel  und  spricht  nun  in  diesem 
zuerst  von  der  Thorheit.“  (P.) 

831.  Was  ist  das,  was  man  einzige  Thorheit  heisst? 
Nach  Verlust  laufend,  den  Vortheil  liegen  lassen. 

832.  Die  Thorheit  aller  Thorheit  ist  die  Lust  in  losem 
Wesen  büssen. 


110 


II.  Vom  Gute. 


833.  Schamlosigkeit,  Streblosigkeit,  Unartigkeit,  Gleich- 
gültigkeit gegen  Alles  — das  ist  des  Thoren  Thun. 

834  Kein  Thor  wie  der  Thor,  der  Weisheit  lernte, 
gründlich  versteht,  Andern  erklärt,  — und  doch  sich  selbst 
nicht  zügelt. 

,,Kein  Thor  wie  der  Thor*4,  weil  er  seine  Thorheit  nicht  mit  dieser  Arznei  heilt  und 
es  doch  eine  andre  Arznei  nicht  giebt.  So  P. 

835.  Ein  Narr  bringt’s  zustand,  sich  in  Einer  Geburt  zu 
schaffen  die  ihn  in  allen 1 Geburten  verschlingende  Hölle. 

Wörtlich  in  der  ..gesammten  Sieben  - Geburt“  d.  i.  in  allen  Existenzen. 

836.  Wenn  ein  Narr,  der  zu  handeln  nicht  versteht,  sich 
zu  handeln  untersteht,  so  wird  nicht  bloss  nichts,  — er  selbst 
wird  sich  in  Fesseln  fangen. 

837.  Gelangt  ein  Narr  zu  Geld  und  Gut,  so  müssen  die 
Seinen  hungern,  während  Fremde  sich  vollfressen. 

838.  Wie  wenn  ein  Sinn  - Verwirrter  noch  Toddy  trinkt, 
so  der  Narr,  wenn  er  irgend  Hab’  in  die  Hand  bekommt. 

839.  Sehr  süss  ist  doch  der  Narren  Freundschaft.  Nichts, 
was  bei  Trennung  Trübsal  schafft! 

840.  Wie  wenn  Einer  den  ungewaschnen  Fuss  auf  den 
Divan  setzt,  so,  wenn  in  der  Weisen  Versammlung  der  Thor 
eindringt. 


85. 

WISSENS  - BESCHRÄNKTHEIT. 

„D.  h.  obgleich  man  nur  ein  .Geringwisser  ‘ ist,  sich  doch  für  einen 
, Grosswisser  ‘ halten  und  die  Ermahnung  der  Weisen  nicht  an- 
nehmen.“ (P.) 

841.  Nichtwissen  ist  der  Nichtigkeit  Nichtigkeit;  Nich- 
tigkeit in  Andrem 1 hält  die  Welt2  mit  nichten  für  Nichtigkeit. 

1 D.  i.  in  finanzieller  Beziehung.  P.i 

2 Siehe  Anm.  zu  V.  117. 

842.  Geht  dem  Unwissenden  das  Herz  auf,  und  er  giebt, 
so  ist’s  des  Empfängers  Verdienst,  nichts  andres1. 


So.  Wissens  - Beschränktheit.  111 

i  D.  li.  So  ist's  (las  Schicksal,  das  ihn  zwingt,  das  durch  Busse  erworbne  Verdienst 
des  Empfängers  durch  Spende  zu  lohnen. 

843.  Schwer  wird  s selbst  den  Feinden  fallen,  die  Plage 
zuwegzubringen,  womit  Wissenslose  sich  selber  plagen. 

844.  Fragst  du,  was  Dummheit  heisst?  Der  Dünkel: 
„Die  Weisheit  besitzen  wir.“ 

845.  Das  Gebaliren,  das  mit  nicht  Gelerntem  sich  gern 
befasst,  reizt  zum  Zweifel  auch  über  das,  dess  man  makellos 
mächtig  ist. 

84(5.  Seine  Blosse  bergen,  während  man  seine  Fehler 
nicht  birgt  *,  — ist  das  Beschränktheit ! 

1 D.  h.  nach  P.  ,, nicht  abthut“.  — Der  ganze  Vers  lässt  sich  auch  so  geben:  „Wenn 
die  Beschränktheit  ihre  Fehler  nicht  birgt,  sollte  sie  dann  ihre  Blosse  bergen?“  (Dann 
wird  uas  ö an  mareittal  nicht  im  Sinne  von  „sogar“,  sondern  in  seiner  gewöhnlichen  inter- 
rogativen Bedeutung  genommen.) 

847.  Der  Unverständige,  der  das  kostbare  Geheimniss  1 
faselnd  fahren  lässt,  wird  sich  selbst  grosses  Mühsal  machen. 

i Der  Weisheit.  So  die  Commentatoren.  Beschi:  Qui  alicujus  momenti  secretum 
servare  neseit. 

848.  Auch  belehrt,  thut  er’s  nicht;  selbst  weiss  er’s 
nicht;  bis  solche  Seel’  abfährt,  ist  sie  eine  wahre  Pest. 

849.  Wer  den,  der  nicht  sieht,  will  sehen  machen,  ist 
ein  Selbstnichtsehender ; ein  nicht  Sehender  wird  stets  ein 
Sehender,  der  nun  einmal  in  seiner  Weise  sieht,  bleiben1. 

1 Es  ist  unmöglich,  einen  beschränkten  Menschen  voll  Wissensdünkel  aufzuklären. 
Er  hält  den , der  ihn  aufklären  will , für  dumm , sich  selbst  aber  für  gescheidt.  — Ariel : 
Qui  montre  a qui  ne  voit  (au  dire  du  monde)  ne  voit  pas;  qui  ne  voit  est  celui  qui  voit, 
corame  (?)  s'il  voyait. 

850.  Wer,  was  die  Welt1  setzt2,  verneint,  wird  in  der 
Welt  als  Teufel3  gelten. 

1 Im  Sinne  der  Anm.  zu  V.  117. 

2 P.  versteht  darunter  den  Glauben  an  eine  Gottheit,  eine  andere  Existenz , den 
Thatenlohn  u.  s.  w. 

3 In  Menschengestalt. 


112 


il.  Vom  Gute. 


86. 

FEINDSELIG  WESEN. 


„Von  dem  so  entstehenden  Zorn  und  Gelüst  ist  bei  dem  König  der 
Zorn  am  grössten;  daher  behandelt  er  zuerst  das,  was  daher  stammt, 
und  spricht  nun  zunächst  von  „feindseligem  Wesen“.  (P.) 


851.  Zwiespältig  Wesen  nennt  man  die  Seuche,  die  in 
allen  Wesen1  der  Spaltung  Unwesen  zeugt. 

„So  sagt  er,  um  anzudeuten,  dass  es  die  Menschen  mit  den  Thieren  gleich  macht.“  (P.) 

852.  Wenn  auch  Jemand,  nach  Trennung  trachtend, 
Unleidliches  thut,  — Hauptsach’  ist’s,  dass  du  nicht,  nach 
Feindschaft  trachtend,  Unliebes  thust. 

853.  Treibt  man  des  Hasses  kräftige  Krankheit  aus,  so 
bringt  das  makelblossen,  endlosen  Ruhm. 

854.  Aller  Wonne  Wonne  zeugt’s,  wenn  alles  Wehes 
Weh  „feindselig  Wesen“  stirbt. 

855.  Wer  hat  das  Zeug,  die  Ueberwältigung  derer  zu 
übernehmen,  die  dem  keimenden  Hass  wehrend  zu  wandeln 
wissen? 


856.  Wer  spricht  „das  Zunehmen  der  Feindseligkeit 
sagt  mir  zu“,  dess  Glückseligkeit  ist  dem  Abnehmen  nah  — 
ja  dem  Absterben. 

857.  Die  mit  der  bittern  Wissenschaft  voll  Hass  und 
Streit  — die  sehen  nie  das  höchste  Gut  voll  Herrlichkeit. 

858.  Gewinn  ist’s,  sich  gegen  gehässig  Wesen  stemmen. 
Macht  man  sich  auf,  es  zu  pflegen,  so  macht  sich  das  Ver- 
derben auf. 

859.  Wenn  Wohl  kommt,  denkt  man  an  Verfeindung1 
nicht;  wo’s  Weh  giebt  — gleich  denkt  man  dran  sie  zu 
pflegen. 

i Wenn  es  Einem  wohlgeht,  neigt  man  mehr  zu  freundlichem  Wesen,  und  doch 
hätte  man  dann  am  ersten  das  Zeug  dazu,  einem  Feinde  Trotz  zu  bieten;  wenn  es 
Einem  aber  übel  geht,  so  neigt  man  am  ersten  zu  gehässigem  Wesen,  und  doch  hat  man 
dann  am  wenigsten  Ursach,  sich  noch  Feinde  zu  machen.  So  voll  Widersprüche  ist  der 
Mensch ! 


»6.  Feindselig  Wesen.  — 87.  Der  Feindschaft  Vorzüglichkeit. 


113 


860.  Aus  Feindseligkeit  kommt  alles  Uebel,  aus  Freund- 
seligkeit das  Lob  der  Leutseligkeit. 


87. 

DER  FEINDSCHAFT  VORZÜGLICHKEIT. 

„Das  ist:  die  Feindschaft,  in  Rücksicht  auf  Unwissenheit  und  ähnliche 
Fehler  (an  dem  Gegner)  vorzüglich  halten.  Da  ein  König  nicht  immer 
ohne  Feinde  sein  kann,  so  gebietet  der  Dichter  die  oben  im  Allgemeinen 
verbotne  Feindschaft  in  besondrer  Beziehung.“  (P.) 

861.  Mit  Starken  Streit  aufzunehmen  hüte  dich:  vor 
Zwist  mit  Schwachen  nicht  — begehre  ihn! 

862.  Wer  ohne  Lieb’  ist wer  ohne  tüchtige  Stütz’  ist, 
wer  selber  ohne  Stärk  ist,  wie  wird  Der  des  Feindes  Stärke 
fällen  ? 

1 Ohne  Liebe  zu  den  Seinen,  und  daher  auch  ohne  Liebe  ihrerseits. 

863.  Wer  sehr  sich  fürchtet,  wer  wenig  weiss,  wer 
schwer  sicli  schickt,  wer  nicht  gern  giebt,  ist  für  Feind’  eine 
grosse  Kleinigkeit. 

864.  Wer  stets  verdriesslich  und  nicht  verlässlich  ist, 
wird  zu  aller  Zeit  allenthalben  für  Alle  zu  leicht  erfunden. 

865.  Wer  auf  den  Pfad  1 nicht  achtet,  Geschicktes  nicht 
tlyit , auf  Tadel  nicht  achtet,  und  aller  Art  entbehrt,  ist  dem 
Gegner  gar  sehr  genehm. 

1 Der  in  den  Rechtsbüchern  verzeichnet  ist.  (P.) 

866.  Wer  blinden  Zorn  und  üppige  Lust  liebt,  dess 
Uebelvvollen  wird  man  gern  wollen. 

Denn  er  ist  leicht  zu  überwinden. 

867.  Wer  einen  Handel  eingeht,  und  dann  unrühmlich 
vorgeht,  dess  Feindschaft  nimm  an  und  solltest  du  zahlen! 

868.  Ein  Untüchtiger,  falls  seiner  Fehler  viele  sind, 
ist  ohne  Freunde;  das  ist  eine  Freude  für  Feinde! 

869.  Den  Hassei’n  geht  die  hohe  Lust  nicht  aus,  wenn 
sie  unwissende,  furchtsame  Feind’  erlangen. 

in 


8 


114 


II.  Vom  Gute. 


870.  Wer  sieh  auch  an  die  kleine  Müh’  nicht  macht,  mit 
einem  imgeschulten  Feind  zu  fehden,  an  den  wird  nie  der 
Ruhm  sich  machen. 


88. 

DER  FEINDSCHAFT  ART  ERKENNEN. 

Das  ist  nach  P.  sowohl  die  Art  der  Feindschaft  (ob  sie  zu  pflegen,  zu 
neutralisiren  oder  ganz  aufzuheben),  als  die  Mittel  dazu  erkennen*. 

871.  Auch  nur  im  Scherz  der  Feindschaft  Unart  wollen 
ist  Unrecht. 

872.  Machte  man  sich  auch  die  zu  Feinden,  die  des 
Bogens  Pflugschaar  führen,  — man  verfeinde  sich  nicht  mit 
denen,  die  des  Wortes  Pflug  handthieren. 

Minder  gefährlich  ist  die  Feindschaft  mit  der  rohen  Gewalt  des  Kriegers,  als  mit  der 
geistigen  Gewalt  des  Wohlunterrichteten.  — F„  der  unter  „Wort“  speciell  die  „Kechts- 
bücher“  versteht,  denkt  sich  unter  denen,  die  des  Wortes  Pflugsekaar  führen,  speciell 
die  ministeriellen  Kathgeber.  („Wenn  man  sich  mit  einem  tapfern  Helden  verfeindet, 
so  ist  wohl  das  Verderben  gewiss;  allein  das  trifft  doch  bloss  die  eigne  Person.  Ver- 
feindet man  sich  aber  mit  einem  klugen  Berather , so  trifft  auch  die  Anverwandten  das 
Verderben  sicherlich.“) 

873.  Elender  als  ein  Wahnwitziger  ist,  wer,  obgleich  al 
lein,  Vieler  Feindschaft  auf  sich  lädt. 

874.  Es  ruht  die  Welt  in  des  waekern  Fürsten  Tüchtig- 
keit, der  Feindschaft  in  Freundschaft  zu  wandeln  weiss. 

Die  ganze  Welt  crgiebt  sich  einem  Solchen. 

875.  Keine  eigne  Hülf  ’ — und  zwei  F einde ! Deren  einen 
mach’  er,  der  Einsame,  sich  zum  herzlieben  Helfer. 

876.  Ob  ein  Verständniss  besteht,  oder  nicht,  in  kriti- 
schem Augenblick  halt  dich  fern  von  Verständigung  und 
V eruneinigung. 

, .Findet  ein  Verständniss  statt,  so  schliesse  man  sich  nicht  naher  zusammen,  damit 
nicht  von  innen  her  Verderben  komme;  findet  kein  Verständniss  statt,  so  trete  man  nicht 
weiter  zurück,  damit  man  in  der  Notli  eine  Hülfe  bekomme.“  Zuwartende  Neutralität 


Tirana  heisst  nämlich  sowohl  Beschaffenheit  als  Mittel. 


88.  Der  Feindschaft  Art  erkennen.  — 8!t.  Innre  Feindseligkeit. 


115 


877.  Denen,  die  nichts  davon  wissen,  jammre  nicht 
deinen  Jammer  vor;  vor  Gegnern  gieb  dich  der  Schwäche 
nicht  hin. 

878.  Wenn  man,  der  rechten  Art  kundig,  sich  rafft  und 
in  Acht  nimmt,  so  fällt  der  Feinde  Uebermuth. 

879.  Wenn  er  noch  zart  ist,  fälle  den  Dornbusch!  Ist 
er  erst  erstarkt  — wird  er  des  Fällenden  Hand  fällen. 

880.  Wer  seiner  Hasser  Hochmuth  zu  dämpfen  unter- 
lässt, der  ist,  wenn  man  nur  haucht,  nicht  mehr1. 

1 D.  h.  Dem  kann  jeder  Hauch  das  Lebenslicht  ausblasen.  Ariel:  Au  soufHe  d*un 
enncmi  ils  ne  sont  plus,  ceux  qui  n’en  ont  pas  d^truit  la  puissance. 


89. 

INNRE  FEINDSELIGKEIT. 

„Das  ist  eine  Feindseligkeit,  die  eine  Gelegenheit  für  äussre  Feind- 
seligkeit sucht,  und  bis  sie  dieselbe  findet,  sich  innen  hält.  Da  auch 
sie  zu  dem  zu  Beseitigenden  gehört,  so  folgt  sie  hier  auf  das  Kapitel 
von  , der  Feindschaft  Art  erkennen*.“  (P.) 

881.  Was  Schatten  und  Wasser  Uebles  thun,  ist  vom 
Uebel.  So  ist  auch  der  Angehörigen  Wesen,  wenn  es  übel 
thut,  vom  Uebel. 

Die  Angehörigen  sind  uns  so  unentbehrlich  wie  Schatten  und  Wasser,  und  wir  ge- 
ben uns  ihnen  auch  so  rückhaltslos  hin,  wie  dem  Schatten  und  Wasser.  Wie  aber  Schat- 
ten und  Wasser  — sonst  das  Erquicklichste  — zum  grössten  Schaden  gereichen  kann, 
so  können  uns  auch  die  Angehörigen  — sonst  die  grösste  Hülfe  — am  meisten  schaden. 
(Man  erinnere  sich,  dass  die  Tamulen  den  Schatten  gewisser  Bäume  [wie  der  Tama- 
rinde] als  der  Gesundheit  nachtheilig  ansehen.  So  hat  denn  der  Schatten  ebensowohl 
als  das  Wasser  eine  verborgne  Kraft  zu  schaden , die  gewissermassen  nur  auf  die  Ge- 
legenheit wartet,  ganz  wie  die  ,, innre  Feindschaft“.) 

882.  Fürchte  nicht  die  Feinde,  die  wie  (entblösste) 
Schwerter  stehn.  Die  Gemeinschaft  der  Feinde  fürchte,  die 
wie  Freunde  thun. 

883.  Den  innern  Feind  fürchtend  hüte  dich!  Er  schnei- 
det auf  dich  in  deiner  Schwäche,  wie  ein  Thonschneider, 
tüchtig  los. 

884.  Wo  ein  innrer  Feind  unedlen  Sinns  auftritt,  da 


II.  Vom  Gute. 


116 

giebt’s  denn  auch  vielfältigen  Schaden  !,  indem  die  Freund’ 
unedel  werden. 

1 Dieser  bestellt  darin,  dass  ein  innrer  Feind  sehr  viele  Freunde  mit  entfremdet  und 
dass  man  nun  dadurch  misstrauisch  wird,  und  in  dem,  was  dann  daraus  erwächst.  (P.) 

885.  Wo  in  Verwandten -Gestalt  ein  innrer  Feind  auf- 
tritt,  da  wird  in  Verderbens -Gestalt  des  Schadens  viel. 

886.  Wenn  unter  Vereinten  Uneinigkeit  sich  einstellt, 
da  findet  sich  schwerlich  ein  die  Sicherheit  vor  Untergang. 

887.  Ein  Haus  voll  innern  Hasses  — wenn  es  auch  wie 
Schachtel  und  Deckel 1 sich  eint,  — ist  doch  nicht  eins. 

* Wörtlich:  Wie  die  Zusammenfüguug  einer  Schachtel  (d.  h.  äusserlich,  scheinbar. ) 

888.  Dem  von  der  Feile  angefochtnen  Golde  gleich, 
reibt  angefochten  die  Kraft  sich  auf  im  Haus  voll  innern 
Hasses. 

889.  Und  war’  auch  winzig,  wie  ein  Splitterchen  des 
Sesam -Samens,  die  innre  Zwietracht  — ■ Verderben  steckt 
darin. 

Der  Sesam -Samen  ist  dem  Tamulen  das  Sinnbild  der  Kleinheit , geschweige  denn 
ein  Splitterchen  desselben. 

890.  Mit  innerlich  Zerfallenen  Zusammenleben  ist  wie 
mit  Schlangen  in  Einer  Hütte  hausen. 


90. 

DIE  GROSSEN  NICHT  SCHMÄHEN. 

„Das  Wort  , Grosse4  ist  hier  doppelsinnig;  es  geht  sowohl  auf  die 
durch  Macht  grossen  Könige,  als  auf  die  durch  Kasteiung  grossen 
Weisen.  Da  dieser  Gegenstand  oben  keine  Stelle  gefunden,  so  steht 
er  hier  am  Ende  dessen , was  aus  dem  Zorne  stammt.“  (P.) 

891.  Der  Mächtigen  Macht1  nicht  schmähn  ist  von  aller 
Hut  der  sich  Hütenden  das  Haupt. 

i „Dieses  Wort  steht  für  das  Dreies:  Grosse,  Wissen  und  Anstrengung“.  (P.) 

892.  Wenn  du  die  Grossen  nicht  grossachtend  dahin 
lebst,  so  wird  dir  das,  von  den  Grossen  her,  steten  Gram 
bereiten. 


90.  Die  Grossen  nicht  schmähen. 


117 


893.  Will  man  sterben,  so  tliue  man,  ohne  zu  hören, 
Herzeleid  Dem  an,  der,  will  er  verderben,  dess  Macht  hat. 

894.  Wenn  ein  Machtloser  einem  Machtvollen  Unliebes 
thut,  — das  ist  als  wenn  er  den  Todesgott  mit  der  Hand  her- 
winkte. 

895.  Wohin  auch  gehend  — nirgends  kann  Der  dem 
Tod  entgehn,  dem  ein  hochmächtiger  Herrscher  zürnt. 

896.  Würde  man  auch  von  Feuer  gesengt,  doch  ist 
Entrinnen  möglich;  die  an  Grossen  sich  vergreifen,  ent- 
rinnen nicht. 

P.  verstellt  nun  hier  die  „ durch  Kasteiung  “ Grossen  darunter.  Man  verderbe  es 
mit  keinem  Fürsten;  der  Fürst  aber  verderbe  es  mit  keinem  Büsser. 

897.  Eine  durch  Mittel 1 ausgezeichnete  Herrschaft  und 
herrlicher  Reichthum,  — was  ist’s,  wenn  die  durch  Tüchtig- 
keit2 ausgezeichneten  Tugendhelden  unwillig  sind? 

1 Siehe  V.  3S1. 

2 Die  Commentatoren  verstehen  darunter  die  Macht  der  Verfluchung  und  der  Seg- 
nung. 

898.  Wenn  man,  die  wie  Berge  stehn1,  gering  schätzt,  so 
schwinden  selbst,  die  mit  ihrer  Familie  wie  fest  gewurzelt 
stehn,  vom  Boden. 

1 Die  „ Grossbiisser“  (die  ,, Sonne  und  Regen  ruhig  ertragen;  denen  die  Unerschüt- 
terlichkeit  eignet  u.  s.  w.“).  So  P.  Derselbe  construirt  die  ersten  Worte  so:  „Wenn 
die  Berg  - Gleichen  Verderbens  - Gedanken  hegen.“  Obige  Fassung  ist  aber  grammatisch 
natürlicher. 

899.  Wenn  die  Hochsinnigen  zornig  zischen,  so  geht  der 
Fürst,  seinen  Stand  verlierend,  in  Feuer  auf. 

Die  Commentatoren  verstehen  unter  „Fürst“  den  „Götterfürsten“,  Indra,  und  be- 
ziehen sich  auf  die  Verfluchung  desselben  durch  Agastja.  Sie  fassen  die  Worte  „seinen 
Stand  verlierend“  specieller  „seinen  Stand  (als  Götterfürst)  verlierend“,  und  verstehen 
die  Worte  „in  Feuer  aufgehn  “ rein  bildlich.  — Obige  Fassung  empfiehlt  offenbar  die 
Stellung  zu  V.  89S  und  900.  (Wenn  ein  Büsser  zürnt,  so  verderben  nicht  bloss  die  Unter- 
thanen  — V.  898  — , sondern  auch  die  Fürsten  — V.  899  — , wenn  dieselben  auch  noch  so 
mächtig  sind  — V.  900.) 

900.  Und  wären  die  Hülfsquellen  voll  zum  Ueber- 
tliessen,  man  bleibt  nicht  über,  wenn  die  Grossen  voll 
Hoheit  grollen. 


118 


II.  Vom  Gute. 


91. 

DEN  WEG  DER  FRAU  GEHN. 

,.Da  das,  was  durch  da6  Gelüst  kommt,  obgleich  es  nicht  direete  Feind- 
schaft ist,  doch  aber  ganz  wie  die  Feindschaft  wirkt,  indem  es  den 
Wohlstand  zerstört  und  den  Untergang  bringt,  so  weist  er  ihm  die 
Stelle  hinter  der  Feindschaft  und  dem  was  dazu  gehört,  an  und  redet 
nun  zuerst  von  .den  Weg  der  Frau  gehen1  (d.  i.  sich  von  dem  Weib  re- 
gieren lassen).“  (P.) 

901.  Frauen -Liebhaber  gehn  hehren  Gewinns  verlustig; 
es  ist  das  auch  ein  Ding,  das  Geschäfts -Liebhaber  nicht  gern 
haben. 

Die  sich  der  Lust  ergeben,  verlieren  darüber  das  Strebeziel  Tugend  (,. hehren 
Gewinns")  ausser  Augen,  und  daneben  auch  das  Strebeziel  Gut  (dem  eben  die  „Ge- 
schäftsliebhaber“ nachgehn). 

902.  Das  Wohlleben  Dess,  der  unbesorgt  nach  dem 
Weib  begehrt,  wird  bei  ungeheurer  Schande  ihn  schamroth 
machen. 

903.  Die  Schwäche  Dess,  der  unter  die  Frau  sich 
schmiegt,  trägt  Schmach  für  immer  bei  allen  Wackern  ein. 

904.  Wer,  sein  Weib  fürchtend,  für  ein  andres  Dasein 
nicht  da  ist,  dess  schönstes  Schaffen  bleibt  ohne  Ruhm. 

905.  Wer  sein  Weib  fürchtet,  wird  stets  sich  fürchten, 
den  Wackern  wohl  zu  thun. 

906.  Und  wenn  sie  wie  Himmlische  herrlich  lebten  \ die 
vor  der  Frauen  „Bambus- Arm“2  sich  fürchten  — Schwäch- 
linge sind’s. 

1 ..Wie  Himmlische  herrlich  leben“  heisst  nach  Bezwingung  aller  Arme  der  Feinde 
hochgeachtet  leben.  So  P. 

2 Der  Arm  der  Frau  (der  in  der  Poesie  stehend  mit  dem  Bambns  verglichen  wird) 
spielt  auf  den  Arm  der  Feinde  an. 

907.  Schüchterne  Weiblichkeit  ist  weit  grösser  als  in 
Weibes -Dienst  wandelnde  Männlichkeit. 

908.  Sie  können  der  Freunde  Noth  nicht  heben,  sie 
können  der  Tugend  nicht  leben  b — • die  nach  der  „Sehön- 
stirnigen“2  Willen  wandeln. 


Öl.  Den  Weg  der  Frau  geliu.  — H2.  Freche  Dirnen. 


111) 


l P.  findet  in  den  beiden  ersten  Gliedern  den  Doppelgedank.cn  ausgedrückt , dass 
sie  weder  für  dieses  noch  für  jenes  Dasein  das  Nötliige  zu  thun  im  Stande  sind. 

2 Eine  poetische  Bezeichnung  für  Frauen. 

909.  Bei  denen,  die  dienstbereit  dem  Weib  zu  Willen 
sind,  ist  weder  Tugendthun,  noch  edles  Gut,  noch  andres 
Thun  i. 

i Auf  die  „Lust'1  (das  dritte  Strebeziel  neben  „Tugend“  und  „Gut“)  bezüglich.  (P.) 

910.  Wer,  dem  Nachdenken  hingegebenen  Sinns,  des 
Glücks  geniesst,  wird  nicht  in  Thorheit  je  aus  Hingab’  an 
die  Hausfrau  fallen. 


92. 

FRECHE  DIRNEN. 

„Das  ist  der  Charakter  solcher  Dirnen,  die  ihre  Liebe  au  Alle,  ohne 
Rücksicht  ob  sie  dazu  sich  eignen  oder  nicht,  verkaufen.  Dieses  Ka- 
pitel steht  daher  hinter  dem,  wo  von  den  Fehlern  die  Rede  ist,  die 
durch  das  eigne  Weib  kommen.“  (P.) 

911.  Weh  wirkt  die  Schmeichel- Stimme  Der  „ mit  dem 
erlesnen  Armband die  nicht  in  Liebe  (dich),  wohl  aber 
das  Gold  begehrt. 

1 Eine  gewöhnliche  Bezeichnung  für  Frauen  in  der  Poesie. 

912.  Mit  der  schlechtgearteten  Dirne,  die  artig  redet, 
den  Gewinn  erwägend,  befreunde  dich  nicht,  ihren  Sinn  er- 
wägend. 

913.  Mit  dem  falschen  Umfangen  der  feilen  Dirn’  ist’s 
wie  wenn  Einer  in  dunkeim  Zimmer  eine  fremde  Leich’ 
umfasst. 

„Wenn  die  für  Geld  umarmenden  Dirnen,  ohne  nach  Sinn  und  Thun  zu  forschen, 
Jemanden  umfassen , der  weder  nach  Stand , noch  nach  Alter  zu  ihnen  passt,  sogleicht 
ihr  Thun  dem  Thun  derer , die  für  Geld  Leichname  aufschultern , wenn  sie  an  einem 
dunkeln  Orte  einen  fremden  Leichnam  aufladen.“  So  P.  Gegen  diese  etwas  gesuchte 
Erklärung  scheint  der  Ausdruck  „dunkles  Zimmer“  zu  sprechen,  der  doch  wohl  auf  un- 
wissentliches Thun  deutet.  Auch  soll  ja  nicht  den  feilen  Dirnen,  sondern  Denen, 
die  sich  zu  ihnen  halten,  ihr  unziemliches  Thun  vorgehalten  werden.  Der  Sinn  demnach 
wird  wohl  ganz  einfach  der  sein : Wer  sich  mit  einer  feilen  Dirne  abgiebt,  der  giebt  sich 
mit  einem  Leichnam  ab,  denn  sie  giebt  eben  nur  ihren  Leib  hin  — ohne  alle  Seele. 

914.  Das  gemeine  Gut  clei’  Dirnen,  denen  nur  Güter  gut 


1 


120  “•  v om  Gute.  - 

däuchten,  rühren  nicht  an  die  der  Tugend  Gut  erforschenden 
Weisen. 

015.  Das  gemeine  Gut  der  Dirnen,  die  mit  Allen 
gut  sind,  rühren  nicht  an  die  mit  Geistes  - Gut  gesegneten 
Weisen. 

916.  Die  ihren  guten  Schatz1  ausbreiten,  rühren  nicht 
an  die  Schulter  Derer,  die,  auf  Künst’  und  Reize  stolz,  ihren 
gemeinen  Schatz  ausbreiten2. 

1 Ihren  Tugendruhm.  (P.) 

2 Gleichsam  zum  Verkauf. 

917.  Nur  die  gemeinen  Gemiithes  sind,  berühren  Derer 
Schulter,  die,  in  ihrem  Gemüth  auf  Andres  aus,  umarmen. 

918.  Der  heuchelnden  Dirn’  Umarmung  ist  eine  Dämo- 
nin1 Denen,  die  nicht  forschende  Weisen  sind. 

1 ,,Die  auf  dem  Wege  der  Lust  das  Leben  nimmt.“  (P.) 

919.  Der  in  glanzvollen  Juwelen  prangenden  Buhlerin 
weiche  Schulter  ist  ein  Höllen -Schlamm,  darin  die  gemeinen 
Kerl’  einsinken. 

920.  Zweideutige  Dirnen,  Rausch -Trank  und  Würfel  ist 
das  Gefolg  der  vom  Glück  Verstossnen. 

Dieser  Vers  leitet  auf  die  beiden  folgenden  Capitel  über. 


93. 

NICHT  BERAUSCHEND  GETRÄNK  TRINKEN. 


„ Berauschend  Getränk  ist  nämlich , der  feilen  Dirne  gleich , ein  Zer- 
störer der  Sitte  und  des  Verstandes.“  (P.) 

921.  Nicht  länger  gefürchtet,  allen  Ruhmes -Schimmer 
für  immer  verliert,  wer  an  Rausch -Trank  Geschmack  gewin- 
nend wandelt. 

922.  Trinke  nicht  Rauschtrank ! Die  von  den  Hochher- 
zigen nicht  hochgehalten  zu  werden  wünschen,  — wenn  die 
ihn  trinken  — so  mögen  sie’s. 


i>3.  Nicht  berauschend  Getränk  trinken. 


121 


923.  Wenn  Trunkenheit  selbst  in  den  Augen  der  Mutter  1 
missfällig  ist,  was  wird  sie  dann  in  den  Augen  der  Hoch- 
herzigen sein? 

i „Die,  was  man  auch  thun  möge,  sich  darüber  zu  freuen  pflegt.“  (P.) 

924.  Das  wackre  Weib  „Scham“  kehrt  Denen  den 
Rücken,  die  der  loblosen  gewaltigen  Sünde,  die  Rausch 
heisst,  dienen. 

925.  Geld  geben  und  dafür  Wesens- Vergessenheit  kau- 
fen — das  ist  doch  Vergessenheit  alles  handlichen  Behabens  h 

i Kei  (Hand,  handlich  Benehmen  = gute  Sitte)  scheint  mit  Rücksicht  auf  mej  (Leib, 
Wesen , Wahrheit)  zu  stehen. 

926.  Schlafende  sind  von  Hingeschiednen  nicht  verschie- 
den. Die  Rauschtrank  trinken,  sind  stets  Avie  Gifttrinker. 

Die  Schlafenden  gleichen  den  Todten  nur  für  den  Augenblick , die  Trunkenbolde 
immer. 

927.  Die,  mit  Rausch -Trank  beiseit  tretend,  die  Augen 
sinken  machen 1 — über  Die  spottet  die  Stadt,  in  s Innre 
spähend2. 

1 D.  i.  so  lange  trinken,  bis  die  Augen  zufallen. 

2 D.  i.  aus  dem  schläfrigen AVesen  des  Mannes  darauf,  dass  ertrinkt,  schliessend.  (P.) 

928.  Lass1  ja  fahren  die  Rede:  „Von  Rausch  weiss  ich 
nichts“.  Auch  der  in  deinem  Busen  geborgne  Fehl  wird2 
plötzlich  überlaufen. 

1 Zur  Zeit,  wo  du  in  der  That  nüchtern  bist.  (P.) 

2 Zur  Zeit,  wo  du  nieder  trinkst.  (P.) 

929.  Einem  Betrunknen  Gründe  der  Vernunft  Vorhalten, 
ist  Avie  einen  Ertrunknen 1 mit  Licht  unter  dem  Wasser 
suchen  wollen. 

1 Eigentlich  nur  „ einen  im  Wasser  Untergetauchten  “. 

930.  Wenn  er,  wo  er  nicht  getrunken,  auf  einen  Trunk- 
nen  trifft,  — ob  er  denn  da  nicht  inne  wird  des  Jammer- 
wesens vom  eignen  Trinken? 


122 


II.  Vom  Gute* 


94. 

GLÜCKS  - SPIEL. 

„Wie  die  Trunksucht,  so  ist  auch  , Glücksspiel*  und  , Krankheit*  den 
drei  Strehezielen  , Tugend,  Gut,  Lust*  hinderlich;  er  handelt  daher 
zunächst  vom  ersteren.“  (P.) 

931.  Dich  gelüste  — auch  wenn  du  gewinnen  solltest  — 
nicht  nach  dem  Spiel.  Ist  doch  selbst  Gewinnen,  wie  wenn 
ein  Fisch  des  Angelhakens  Metall  verschlingt. 

„Denn  das  Gewonnene  ist  eine  Kette,  die  an  das  Spiel  für  immer  fesselt.“  (P.) 

932.  Giebt  es  denn  auch  für  Spieler,  die  Eins  gewinnen 
und  Hundert  verlieren,  nur  Eine  Weise,  wie  sie,  Gutes  ge- 
winnend, wohl  leben  mögen? 

933.  Führt  ein  Fürst  unablässig  den  Roll- Gewinn1  im 
Mund,  so  fällt  sein  Vollgewinn2  in  fremde  Hand. 

1 Vom  Würfelspiel  her. 

‘•i  Sein  solides  Einkommen.  Die  Commentatoreu  coordiniren  porul  und  äjam 
(„  Schatz  und  Einkommen“). 


934.  Nichts  was  so  arm  macht,  wie  der  Würfel,  der  gar 
viel  Weh  schafft,  allen  Ruhm  wegrafft. 

935.  (Die  Fürsten),  die  (vordem)  zu  nichte  wurden,  wa- 
ren Leute,  die,  froh  des  Würfels,  der  Spielstub'  und  des 
Spielgeschäfts,  nach  Gewinne  geizten. 

P.  erinnert  an  die  Pändava’s.  Vergl.  Lassen,  Indische  Alterthiimer  I,  G7G,  678. 

936.  Sie  werden  den  Bauch  nicht  voll  kriegen  und  Qual  lei- 
den 1 — die  von  dem  Unglücksgott2  „Würfel“  Verschlungenen. 

1 P.  bezieht  „ Qual  leiden“  auf  die  künftige  Existenz. 

2 Eigentlich  „ Unglücksgöttin  “. 

937.  Reichthum  und  edler  Sinn  von  Alters  her  geht  unter, 
geht  deine  Zeit  in  der  Spielstub’  auf. 

938.  Das  Gut  verdirbt,  zur  Lüge  verleitet,  die  Güte  ver- 
dirbt und  Weh  bereitet  — der  Würfel. 


939.  Kleidung,  Wohlfahrt,  Nahrung,  Ruhm  und  Wissen 
— diese  Fünf  haben  nichts  zu  schaffen  mit  dem,  der  nach 
dem  Spiel  - Gewinne  greift. 


1)1.  Glücks -Spiel.  — *J5.  Arznei. 


123 


940.  Dem  Spieler  gleich,  cler,  so  oft  er  verliert,  Spiel- 
Lust  bekommt,  bekommt  das  Leben,  so  oft  es  leidet,  neue 
Lebens -Lust. 

Es  scheint,  (lass  dieser  Vers  auf  das  folgende  Kapitel  überleiten  soll. 


95. 

ARZNEI. 

„Den  Menschen  kommen  die  Krankheiten  sowohl  durch  das  Verhalten 
in  einer  frühem  Existenz,  als  auch  durch  besondere  Veranlassung  (als 
Essen,  unangemessne  Arbeit  u.  s.  w.).  Die  erstgenannten  vergehen 
nicht,  bis  die  Straf  -Folgen  des  frühem  Verhaltens  sich  vollendet  ha- 
ben; darum  lässt  der  Dichter  diese  hier  aus,  und  spricht  bloss  von 
den  andern.“  (P.) 

941.  Sowohl  Zuwenig  als  Zuviel1  zeugt  die  von  den 
Kundigen  aufgezählten  drei  Plagen,  den  „Wind “ 2 an  der 
Spitze. 

1 Im  Essen  und  im  Arbeiten. 

2 Die  drei  Krankheits- Basen  sind : Wind,  Galle  und  Schleim. 

942.  Wenn  man,  wohl  beachtend,  wie  das  Gespeiste  be- 
kam1, speist,  so  hat,  was  man  Arznei  heisst,  der  Leib  nicht 
nüthig. 

1 Eigentlich  „ verdaut  wurde 

943.  Bekommt’s,  so  iss,  das  Maass  wohl  wissend.  Das 
ist  die  Weise,  wie  Der,  dem  ein  Leib  wurde,  ihn  lang’  im 
Gang  erhält. 

944.  Das  Bekommende  kennend,  beharre  dabei,  und  iss 
— auch  erst  bei  herbem  Hunger  — nichts  Widerstreitendes  *. 

1 Nichts , was  mit  deiner  Leibesbeschaffenheit  (die  entweder  zu  Wind , Galle  oder 
Schleim  neigt),  unter  einander  (wie  Honig  und  Ghi),  oder  mit  der  Zeit  (des  Tages  oder 
des  Jahres)  streitet.  (P.) 

945.  Wenn  man  auch  sonst  nicht  widerstreitende  Spei- 
sen abknappend  speist,  so  stösst  nichts  Widriges  dem  Le- 
ben zu. 

946.  Wie  bei  dem  verständigerweis  spärlich  Speisenden 
die  Lust,  so  wird  neben  dem  grossen  Fresser  die  Last  stets 
stehn. 


124 


II.  Vom  Gute. 


947.  Isst  man  über  das  Maass  der  Wärm’  1 unbedacht- 
sam  viel,  so  stellt  auch  Web'  ohne  Maass  sich  ein. 

1 Der  Verdauungskraft  (der  Galle.) 

948.  Der  Arzt  soll  die  Krankheit  erforschen,  der  Krank  - 
heit  Ursach  erforschen,  das  lindernde  Mittel  erforschen  und 
dann  fehllos  verfahren. 

Im  Sinne  des  folgenden  Verses. 

949.  Des  Kranken  Maass,  der  Krankheit  Maass  und  die 
Zeit  bedenkend,  verfahre  der  Wolderfahrne. 

950.  Kranker,  Arzt,  Arznei  und  Pfleger  — an  diesen 
Stücken  hat  die  Arznei -Kund’  ihre  Viertheilung1. 

1 P.  versteht  dies  so,  dass  jedes  dieser  Stücke  wieder  in  vier  Arten  zerfallt,  l)  Der 
Kranke : Bemitteltheit  (!) ; Folgsamkeit  gegen  den  Arzt;  Offenheit  über  den  Krankheits- 
zustand; Aushalten  der  Kur.  2)  Der  Arzt:  Freiheit  von  Furcht,  die  Krankheit  anzu- 
sehen; gründliche  Gelehrsamkeit  und  scharfer  Verstand;  lange  Erfahrung  in  der  Be- 
handlung der  betreffenden  Krankheit;  Reinheit  an  Sinn,  Rede  und  Leib.  3)  Die  Arznei: 
Angemessenheit  für  mehrere  Krankheiten;  Trefflichkeit  nach  Geschmack  und  Wirksam- 
keit; Leichterlanglichkeit;  Harmoniren  mit  der  betreffenden  Constitution.  4)  Der  Pfle- 
ger: Liebe  zum  Kranken , Reinheit  an  Sinn , Rede  und  Leib ; dem  W orte  des  Arztes  ge- 
mäss handeln;  Kenntniss. 


ANHANG. 


96. 

EDLE  GEBURT. 

„Da  edle  Geburt  allen  vier  Kasten  durchaus  wünschenswerth  ist,  so 
steht  dieses  Capitel  vorweg.“  (P.) 

951.  Nur  bei  Edel- Gebornen  ist  edler  Sinn  und  sittliche 
Scham  natürlicherweis1  beisammen. 

i „D.  h.  den  Edelgebornen  braucht  man  diese  Tugenden  nicht  zu  befehlen,  sie  kom- 
men doch  zum  Vorschein;  den  Andern  dagegen  mag  man  sie  immerhin  befehlen,  sie 
halten  nicht  lange  Stich.“  (P.) 

952.  Leute  von  Geburt  lassen’s  nicht  fehlen  an  den 
Dreien:  Sitte,  Wahrheit,  Schamhaftigkeit. 

953.  Freundliche  Miene,  liebliche  Rede,  Spenden  und 
Nichtverächtlichthun,  heisst’s,  sind  des  rechten  Adels  Art. 

954.  Und  würden  sie  aufgehäufter  Milliarden  mächtig, 
edelgeborne  Leute  lassen  auf  Nichts  sich  ein,  wobei  ein  Man- 
gel ist. 

955.  Sind  auch  die  Hülfsquellen  innerlich  sehr  verfallen, 
alter  Adel  lässt  nicht  von  Art. 

956.  Unedles  in  Rücksicht  auf  Lug  und  Trug  werden 
Die  nicht  thun,  die  in  Rücksicht  auf  ihi’e  fehllose  Familie  zu 
leben  geloben. 

957.  Ein  Felder  an  Leuten  von  hoher  Familie  scheint  — 
wie  der  Flecken  im  Mond  am  Himmel  — hochher. 


126 


II.  Vom  Gute. 


958.  Wenn  bei  guter  Geburt  Mangel  an  Gut  erscheint, 
so  wird  man  die  edle  Geburt  anzweifeln. 

959.  Was  der  Boden  birgt  — der  Spross  tliut’s  kund ; 
(was  in  der  Familie  steckt),  das  Wort  aus  der  drin  Gebornen 
Mund. 

960.  Begehrt  man  Güte,  so  ist  Scham  begehrenswerth ; 
begehrt  man  Adel,  so  begehre  man  Demuth  gegen  Alle. 


97. 

EHRENHAFTIGKEIT. 

„Um  nun  ferner  die  Leuten  von  edler  Geburt  zukommenden  Tugenden 
zu  schildern,  schildert  er  zuerst  die  Ehrenhaftigkeit,  — das  ist  sich  nie 
erniedrigen,  und  wo  durch  das  Schicksal  Erniedrigung  kommt,  nicht 
leben  bleiben.  Da  diess  jene  edle  Geburt  vor  Verderben  sicher  stellt. 

so  wurde  es.  um  jenes  Vorzugs  willen,  vorweggestellt.“  (P.) 

961.  Und  führt’  es  auch  zu  einer  sonst  nicht  zu  haben- 
den Herrlichkeit,  zu  Dem,  was  dich  herab  würdigt,  lass  dich 
nimmer  herbei. 

962.  Wenn  man’s  auch  adelte  — Unedles  thun  Die  nicht, 
die  mit  dem  Adel  begehren  die  Ehrenhaftigkeit. 

963.  In  Hoheit  bedarf  s der  Beugimg;  Erhebung  bedarf  s 
zur  Zeit  der  Erniedrigung. 

964.  Fallen  Männer  unter  den  Stand  herab,  so  sind  sie 
wie  Haar,  dem  Haupt  entfallen  *. 

i Das  man  nur  so  lange  achtete,  als  es  auf  dem  Haupte  fest  sass. 

965.  Auch  die  da  gleichen  den  Bergen,  sie  verzwer- 
gen,  wenn  sie  Zwerghaftes,  auch  nur  im  Maasse  der  Kunri ', 
thun. 

i Eine  kleine  Frucht  (siehe  V.  277.) , Kunri  offenbar  wegen  Kunru  (■..Berg“).  Sonst 
ist  ei  (der  Sesam-  Same!  das  Symbol  der  Kleinheit.  (V.  889.) 

966.  Wenns  dem  Ruhm  nicht  Raum  schafft  und  ins 
Land  der  Himmlischen  nicht  hilft,  warum  dann,  hinten  her 
gehend,  seinen  Verächtern  zij  Diensten  stehn V 


96.  E'Ue  Geburt.  — 97.  Ehrenhaftigkeit.  — 98.  Grösse. 


127 


967.  Besser  ist’s,  dass  es  heisst:  Er  ist  auf  der  Stelle1 
umgekommen,  — als  dass  man  hinter  seinen  Hassern  her- 
tretend lebe2. 

1 Besser  ist’s,  sich  von  seinen  Schmähern  auf  der  Stelle  tödten  lassen,  als  den  ge- 
horsamen Diener  bei  ihnen  machen.  Diess  ist  offenbar  der  einfachste  Sinn,  selbst  abge- 
sehen von  dem  Zusammenhang  (vergl.  die  folgenden  Verse).  Die  Commentatoren  fassen 
— wohl  nicht  ohne  Grund  — den  Ausdruck  „auf  der  Stelle“  sehr  prägnant:  „auf  dem 
frühem  Posten,  in  der  frühem  Stellung“. 

2 „So  sagt  er  in  Ansehung  derer,  die,  obgleich  es  weder  Ruhm  noch  den  Himmel 
bringt,  um  des  irdischen  Gutes  willen  lieber  leben  wollen.“  (P.) 

968.  Wenn  hohem  Rang  die  Ehrenhaftigkeit  abhanden 
kommt,  ist  dann  wohl  ein  den  Leib  noch  pflegendes  Leben 
das  rechte  Heilmittel? 

969.  Die  dem  Kavarimä 1 gleichen,  das,  wenn  es  Ein  Haar 
einbüsst,  nicht  leben  mag,  die  büssen,  wenn  Schmach  kommt, 
lieber  das  Leben  ein. 

1 Eine  Art  Reh. 

970.  Den  Ruhm  der  Schamhaftigen,  die,  wenn  Schande 
kommt,  nicht  leben  können,  erhebt  die  Welt  verehrungsvoll. 


98. 

GRÖSSE. 

„Das  ist  die  Art  derer,  die  darin,  dass  sie  Schweres  vollbringen,  sich 
nicht  brüsten , Andrer  Fehl  verschweigen  und  in  ähnlichen  Tugenden 
gross  sind.  Da  diese  Tugenden,  die  Einen  in  seinem  Stande  immer 
höher  hinauf  bringen,  da  sich  zeigen,  wo  man  sich  nicht  unter  seinen 
Stand  erniedrigt,  so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  von  der  .Ehren- 
haftigkeit1.“ (P.) 

971.  Glanz  ist  geistige  Grösse;  Schmach  ist  die 
Sprache:  Wir  wollen  damit  unbehelligt  leben. 

972.  Die  Geburt’  ist  gleich  für  alle  Seelen ; nicht  ihr 
Rang  — durch  der  Werke  Verschiedenheit. 

P.  beschränkt  die  Gleichheit  der  Geburt  darauf,  „dass  alle  Wesen  in  Folge  frühem 
Thuns  einen  aus  den  fünf  Elementen  gebildeten  Leib  anlegen  und  so , was  sie  verdient, 
gemessen.“ 

973.  Wenn  sic  auch  hoch  stehn,  Nichthochgesinnte  sind 
doch  nicht  hoch;  wenn  sie  auch  niedrig  stehn,  Nichtniedrig- 
gesinnte sind  doch  nicht  niedrig. 


128 


II.  Vom  Gute. 


974.  Wenn  man  wie  ein  Weib  einfältigen  Herzens  auf 
der  Hut  sich  hält,  so  ist  die  Grösse  da. 

975.  Die  Geistesgrossen  wirken  im  rechten  Gleis  gar 
seltne  1 Werke. 

i Das  tamulische  Wort  heisst  „schwer,  köstlich,  — selten“. 

976.  Den  kleinen  Seelen  kommt’ s nie  zu  Sinne:  Wir 
wollen  hoch  die  Grossen  halten. 

977.  Auszeichnung,  wenn  sie  Unedlen  zufällt,  zeugt  über- 
müthige  Ausschreitung. 

978.  Ein  grosser  Geist  wird  stets  sich  beugen;  ein  klei- 
ner wird  sich  bestaunend  schmücken. 

979.  Seelengröss’  ist  Nichtgrossthun;  Seelcnklcin  ist’s, 
sich  auf’s  Grossthun  legen. 

980.  Geistesgrösse  bedeckt  die  Blosse1;  Geistes -Kleine 
posaunt  die  Fehler  aus. 

1 Andrer  (die  Commentatoren). 


99. 

VOLLKOMMENHEIT. 


„Das  ist  vieler  guter  Eigenschaften  voll  sein  und  sie  handhaben.  Da 
er  die  mancherlei  Tugenden,  die  in  der  , Grösse1  nicht  mit. enthalten 
sind,  zusammenfassen  will , so  kommt  nun  hier  zuerst  diese.“  (P.) 

981.  Wer,  seine  Pflicht  wissend,  Handhabung  der  Voll- 
kommenheit auf  sich  nimmt,  für  den  heisst  alles,  was  gut  ist, 
Pflicht. 

Der  Vollkommene  darf  es  eben  nicht  in  einzelnen  Stücken  fehlen  lassen.  Das  liegt 
schon  im  Worte  selbst. 

982.  Der  Gesinnung  Güte  ist  der  Vollkommenheit  Gut; 
alles  andre  Gute  ist  ohne  Güte. 

983.  Liebe,  Scham,  Wohlthätigkeit,  Rücksicht  und 
Wahrhaftigkeit  — diese  Fünf  sind  die  festen  Pfeiler  der  Voll- 
kommenheit. 


99.  Vollkommenheit.  — 1U0.  Gute  Art. 


129 


984.  Die  Güte,  die  nicht  tödtet,  ist  (wahre)  Biissung; 
die  Güte,  die  des  Nächsten  Böses  nicht  sagt,  (wahre)  Voll- 
kommenheit. 

985.  Beugung  ist  der  T hat  - Mächtigen  Machtthun.  Sie 
ist  die  Waffe,  womit  Vollkommne  widerstehn  den  Wider- 
sachern. 

986.  Was  ist  der  Prüfstein  der  Vollkommenheit?  Sich 
besiegt  ergeben  selbst  Unebenbürtigen. 

987.  Wenn  man  denen,  die  uns  Unangenehmes  thaten, 
Angenehmes  nicht  tliut,  was  frommt  dann  die  Vollkommenheit? 

988.  Mittellosigkeit  ist  Schande  nicht,  — wenn  man  die 
Macht,  die  „Vollkommenheit“  heisst,  zu  erlangen  in  Stand  ist. 

989.  Die  — möcht’  auch  das  Geschick  sich  ändern 1 — 
sich  selbst  nicht  ändern,  wird  man  „der  Vollkommenheit 
Ufer“2  heissen. 

1 Die  Commentatoren  nehmen  üZ’i  hier  in  der  Bedeutung  von  ,,  Zeit“,  was  offenbar 
einen  schwachem  Sinn  giebt.  Die  Gerundialform  in  perinum  = perntälum  (nicht  pern- 
tum),  die  nur  eine  gedachte  Voraussetzung  anzeigt  (siehe  mein  Outline  of  Tamil  Gram- 
mar  § 38,  im  zweiten  Bande  meiner  Biblioth.  Tamulica),  würde  sehr  wohl  zu  obiger  Er- 
klärung stimmen.  Denn  das  Geschick  ändert  sich  nach  indischer  Vorstellung  in  Wirk- 
lichkeit eben  nicht. 

2 Die  Vollkommenheit  ist  ein  Meer,  das  von  so  wackern  Leuten  gleichsam  ganz  um- 
fangen und  dabei  auch  stetig  gewahrt  wird. 

990.  Wenn  der  Vollkommnen  Vollkommenheit  Schaden 
leidet,  so  trägt  die  eigne  Bürde  der  mächtige  Boden  nicht. 

Hierin  liegt  vielleicht  zugleich  auch  der  Gedanke : Wenn  die  Vollkommenen  ihre 
Bürde  (die  Regeln  der  Vollkommenheit,  die  sie  auf  sich  genommen  haben;  vergl.  V.  981) 
nicht  tragen  , und  sie  somit  sich  selbst  aufgeben , so  hört  auch  die  Erde  auf  ihre  Pflicht 
zu  thun  , indem  sie  sich  gleichsam  selbst  aufgiebt.  Ich  erinnere  noch:  Die  Weisen  sind 
nach  indischen  Begriffen  die  ,, Berge“  der  Menschenwelt,  Berge  aber  gelten  als  die 
„Träger  der  Erde“.  Fallen  die  Vollkommenen  hin,  so  ist  die  ganze  Menschenwelt 
ohne  allen  Halt. 


100. 

GUTE  ART. 

„Das  ist.  in  den  Vollkommenheiten  wahrer  Grösse  festbeharrend,  Aller 
Art  kennen  und  demgemäss  handeln.“  (P.) 

991.  Auf  den  Pfad  „guter  Art“  lässt  sich  leicht  gelangen 
— durch  Leichtzugänglichkeit  für  Alle. 

XII.  9 


130 


If  Vom  Gute. 


992.  Ein  liebend  Wesen  und  wahrhaft  edle  Abkunft 
diess  Beides  ist  die  Strasse  der  „guten  Art“. 

993.  Leibes- Aehnlichkeit  macht  nicht  Menschen -Aehn- 
lichkeit:  des  näherungsfaliigen  Geistes  Aehnlichkeit  macht 
die  ächte  Aehnlichkeit. 

Dieser  Vers  scheint  den  vorhergehenden  Vers  vor  Missverstäudniss  sichern  zu 
sollen,  i Die  blosse  Adels  - Geburt  thnt's  eben  nicht,  i Xäherungsfahig  wird  der  Geist 
genannt,  weil  er  allein,  nicht  der  Körper,  sich  einem  andern  assimiliren  kann. 

994.  Die  Welt  wird  preisen  Dess  „gute  Art“,  der  mit 
Güte  Gutes  schaffenden  Nutzens  voll  ist. 

99f>.  Auch  im  Lachen  tliut  Verachtung  weh.  Bei  denen, 
die  Art  wissen,  geschieht  Artiges  auch  im  Zorn. 

996.  Auf  die  Wohlgearteten  stützt  sich  die  Welt1;  wo 
nicht2,  da  kriecht  sie  sicherlich  in  den  Staub  und  stirbt. 

1 D.  i.  der  sittliche  Zusammenhalt  der  Welt 

- Wo  es  keine  ..Wohlgearteten  “ giebt. 

997.  Und  wenn  er  auch  einer  Feile  Schärfe  hätte deiu 
Holze  gleicht,  wer  ohne  Menschenart. 

3 An  Verstand. 

998.  Auch  gegen  die,  so  keine  Freundschaft  machend, 
unfreundlich  handeln,  unartig  handeln  ist  ganz  gemein. 

999.  Denen,  die  nicht  freundlich  zu  sein  verstehn,  liegt 
die  grosse  weite  Welt,  auch  am  hellen  Tag,  in  Nacht. 

1000.  Das  glänzende  Glück,  das  ein  Missgearteter  er 
langt,  — wie  gute  Milch  durch  des  Gefässes  Fehl,  so  wan- 
delt’s  sich. 

Seine  Unart  ’*t  da*  schlechte  Gefass.  das  ihm  den  Genuss  seines  Glucks  verdirbt 


101. 

NUTZLOSER  WOHLSTAND. 

„Das  ist  die  Art  des  Wohlstandes,  der  weder  dein,  der  ihn  erworben, 
noch  Andern  nützt.“  (P.) 

1001.  Wer  sein  Haus -füllendes  Glück  hinlegt  und  nicht 
geniesst,  — ein  Todter  ist’s;  liegt  es  doch  da  ohne  Schaffen1. 

i Wie  das  Vermögen  Eines,  der  gestorben  ist. 


101.  Nutzloser  Wohlstand.  — 102.  Schamhaftigkeit. 


131 


1002.  Gemeine  Geburt1  erzeugt  der  Wahn,  der  darauf 
hin,  dass  Geld  und  Gut  Alles  thut,  nichts  gebend  geizt. 

i Ein  Solcher  wird  in  einer  nächsten  Existenz  durch  „gemeine  Geburt*-  für  seine 
Gemeinheit  gestraft.  — 

1003.  Das  Auftreten 1 Solcher,  die,  nach  Aufhäufen  gie- 
rend, keinen  Ruhm  begehren,  ist  dem  Boden  Bürde. 

1 Auf  der  Bühne  dieses  Lebens. 

1004.  Der  von  Niemand  geliebte  (Geizhals)  — - was 
denkt  denn  der  von  sich  zu  hinterlassen  ? 

1005.  Die  weder  geben,  noch  auch  geniessen  — und 
wenn  zehn  Milliarden  aufgehäuft  lägen  — sie  haben  nichts. 

1006.  Plag’  ist  glänzendes  Glück  für  den,  der  selbst  es 
nicht  geniesst,  den  Wackern  aber  davon  zu  geben  geneigt 
nicht  ist. 

1007.  Der  Reichthum  dess , der  den  Armen  auch  gar 
nichts  reicht,  ist  wie  wenn  eine  sehr  feine  Frau  für  sich  hin 
altert. 

1008.  Des  ungeliebten  (Geizhalses)  Glück  ist,  wie  wenn 
in  Dorfes  Mitte  ein  Giftbaum  Früchte  bringt. 

1009.  Fremde  sind’s,  die  die  glänzenden  Güter  erben, 
die  man,  der  Lieb’  entsagend,  sich  selber  plagend,  ohne 
Rücksicht  auf  Tugend  sammelt. 

1010.  Der  kurze  Mangel  des  würdigen  Reichen  ist  so 
bewandt,  — wie  wenn  einmal  arm  die  Wolke  wird. 


102. 

SCHAMHAFTIGKEIT. 


„Das  ist,  dass  die  durch  die  vorgenannten  Eigenschaften  als  , Voll- 
kommenheit“, ,gute  Art'  u.  s.  w.  erhaben  Dastehenden  sich  solcher 
Handlungen  schämen,  die  ihnen  nicht  zukommen.“  (P.) 

1011.  Sich  einer  That  schämen  ist  Scham:  andre  Scham 
ist  Scham  der  schönstirnigen  edeln  Fraun. 


132 


II.  Vom  Gute. 


Die  wahrhafte  Scham  ist  rein  sittlicher  Art ; sie  schämt  sich  unsittlicher  Thateu.  Die 
Scham,  die  in  schüchterner  Zurückhaltung  besteht,  gehört  sich  nur  für  Frauen,  nicht 
für  Männer. 

1012.  Nahrung  und  das  Uebrige1  ist  allen  Wesen  ge- 
meinsam ; Scham  ist  der  Menschen  auszeichnender  Schmuck. 

1 Es  lässt  sich  auch  übersetzen  : Nahrung  und  Besitz  (oder:  Nahrung  und  Kleidung, 
denn  utei  heisst  auch  „Kleidung**).  Dann  steht  „ün‘*  nicht  im  Genitiv verhältniss  zu  ufei, 
i ,, Besitz  der  Nahrung“),  sondern  beide  W orte  stehen  im  Nominativ  und  bilden  mit  „essam“ 
ein  dreigliedriges  Dvandva.  — Obige  Fassung  ist  aber  jedenfalls  natürlicher  (indem  sie 
den  Ausdruck  „alle  Wesen“  nicht  auf  die  Menschen  zu  beschränken  braucht;  und  giebt 
zugleich  einen  tiefem  Sinn. 

1013.  Alles  Leben  sucht  Leiblichkeit;  vollkommne  Tu- 
gend sucht  das  Gut  der  Schamhaftigkeit. 

Alles  Leben  sucht  sich  zu  verkörpern  und  dadurch  Bestand  zu  gewinnen;  so  sucht 
die  Tugend  sich  in  der  Schamhaftigkeit  zu  verkörpern  und  dadurch  Bestand  zu  ge- 
winnen. Müsste  man  den  ersten  Theil  des  Verses  ganz  im  Lichte  des  zweiten,  das  ver- 
deutlichende Beispiel  ganz  im  Lichte  der  verdeutlichten  Sache  sehen,  so  würde  der  Vers 
einen  philosophischen  Grundsatz  im  vollkommensten  Widerspruch  mit  aller  Hindu- 
Anschauung  aufstellen.  Denn  er  würde  dann  die  Verleiblichung  als  das  höchste  Ziel 
des  Geistes  hinstellen  (ganz  im  Sinne  von:  „Die  Leiblichkeit  ist  das  Ende  der  Wege 
Gottes“).  Man  darf  aber  das  Gleichniss  sicherlich  nicht  pressen,  und  das  um  so  weni- 
ger, als  ja  andre  Stellen  des  Gedichts  deutlich  genug  zeigen , dass  der  Dichter  in  diesem 
Stücke  ganz  auf  dem  Standpunkt  der  Hindu- Anschauung  steht,  wonach  alles  Geboren- 
werden vom  Uebel  ist.  Dazu  kommt,  dass  selbst  die  Vedantisten  die  Verleiblichung 
relative  als  eine  uothwendige  Bedingung  der  endlichen  Erlösung  ansehen,  indem  in 
diesem  Zustande  die  nothwendigen  Hülfsmittel  gegeben  sind  („Lehrer,  Schriften. 
Geistesvermögen  u.  s.  w.“).  Yergl.  Theil  I,  S.  152. 

1014.  Ist  nicht  Schamhaftigkeit  der  Vollkommnen 
Schmuck'?  Wo  sie  fehlt  — ist  da  nicht  hohe  Haltung  ein 
Ekel? 

1015.  Wer  sich  fremden  wie  eignen  Fehles  schämt,  den 
nennt  die  Welt  „Burg  der  Schamhaftigkeit“. 

1010.  Dürfen  sie  nicht  die  Scham  zur  Schanze  nehmen, 
— so  machen  sich  Hochgesinnte  nichts  aus  der  weiten  Welt. 

Wo  es  sich  um  eine  Wahl  zwischen  Schamhaftigkeit  (die  eine  Schanze  gegen  alle 
Sünden  ist)  und  dem  Besitze  der  ganzen  Welt  handelt,  da  entscheiden  sie  sich  für  die 
Schamhaftigkeit. 

1017.  Schainhaftige  werden  wohl  der  Scham  wegen 
das  Leben  lassen,  nicht  aber  des  Lebens  wegen  die  Scham. 

1018.  Schämst  du  dich  nicht,  wess  sich  die  Uebrigen  1 
schämen  müssen,  — das  ist  so  angethan,  dass  dein  die  Tu- 
gend sich  schämen  muss. 

i Wenn  sie  es  sehen  oder  hören. 


102.  Schamhaftigkeit.  — 103.  Wie  man  seine  Familie  hebt. 


1 oo 

l*>o 

1019.  Wo  inan  gegen  den  Brauch  verstösst,  versehrt’s 
die  Familie;  wo  Schamlosigkeit  wohnt,  wird  sic  alles,  was 
gut,  versehren. 

Hiernach  macht  also  der  Verfasser  einen  Unterschied  zwischen  der  gemeinen 
Kasteuehre  und  der  hohem  sittlichen  Ehre. 

1020.  Dessen  Gang,  dem  im  Herzen  die  Scham  abgeht, 
ist  wie  wenn  mittelst  des  Drahts  Leben  heuchelt  die  Holz- 
Puppe. 

Er  bewegt  sich  äusserlich  wie  ein  Mensch,  es  fehlt  ihm  aber  das  eigentliche  Leben. 


103. 

WIE  MAN  SEINE  FAMILIE  HEBT. 


I..  Dies  Kapitel  stellt  liier,  weil  die  rechte  Weise,  seine  Familie  zu 
heben,  sich  bei  Denen  findet,  die  bei  Erniedrigung  Scham 
empfinden.“  (P.) 

1021.  Nichts  ist  so  hehr  wie  die  Hoheit,  wenn  Jemand 
sagt:  Nicht  sinken  lass’  ich  die  Hand  im  Schaffen. 

1022.  Männliche  Thätigkeit  und  tüchtige  Erfahrenheit 
— durch  Ausdauer  bei  diesen  Zwein  wird  sich  das  Haus 
ausdehnen. 

1023.  Wer  da  spricht  „Für  die  Familie  wirken  will  ich“, 
vor  dem  geht  gleich  die  Göttin  des  Glücks  her,  das  Kleid  fest 
schürzend. 

Zu  dem  gesellt  sich  die  Glücksgöttin  als  rüstige  Mitarbeiterin. 

1024.  Denen,  die  ihre  Familie  fördern,  ohne  je  zu  wan- 
ken, gelingt  alles  von  selbst  ohne  viel  Gedanken. 

1025.  Wer  schuldlos  sucht  sein  Haus  zu  heben,  um  dess 
Verwandtschaft  wird  sich  die  Welt  verwenden  h 

i D.  h.  Wörtlich:  Den  wird  als  Verwandtschaft  die  Welt  umringen.  Ich  wollte  das 
Wortspiel  in  sarrara  („die  Verwandtschaft u)  und  surrum  („umringen“)  einigermaassen 
wiedergeben. 

1026.  Das  ist  die  rechte  Meisterschaft,  dass  du  meister- 
lich handhabst  das  Hauswesen,  das  dich  gebar. 

1027.  Wie  die  Helden  harten  Augs  in  des  Kampfes 


134 


II.  Vom  Gute. 


Mitte,  so  die  unter  den  Ihren  thatkräftig  Schaffenden  — die 
Last  liegt  auf  ihnen. 

Einer,  der  sich  seiner  Familie  besonders  annimmt,  gleicht  dem  Helden,  der  sich 
unter  seinen  Kriegskameraden  auszeichnet.  Die  Thatkraft  des  Einzelnen  entscheidet 
hier , wie  dort. 

1028.  Für  die,  die  ihr  Haus  heben  wollen,  giebt’s  keine 
gelegne  Zeit1.  Sind  sie  saumselig  und  denken  selbstisch  — 
so  geht’s  zugrund. 

1 Ob’s  regnet  oder  nicht,  ob’s  heiss  ist  oder  nicht,  sie  müssen  hinaus.  (,,Zur  Zeit 
und  zur  Unzeit“.) 

1029.  Wer  seine  Familie  vor  Unfall  bergen  will,  dess 
Leib  ist  wohl  ein  Gefäss  der  Mühseligkeit? 

Die  Commentatoren  antworten:  Ja.  Beschi:  ,,Nein  auch  der  Freude,  wenn  er  die 
Seinen  glücklich  sieht.“  (,,Ist  dess  Leib  wohl  bloss  ein  Gefäss  der  Mühseligkeit? “) 
Die  Fassung  der  Commentatoren  passt  jedenfalls  besser  in  den  Zusammenhang.  (Wer 
es  mit  seiner  Familie  redlich  meint,  muss  sich  stets  plagen;  sonst  geht’s  nicht  vorwärts. 

1030.  Wenn  kein  wackrer  Mann  stützend  zur  Seite  steht, 
so  fällt  die  Familie,  indem  den  Grund  untergräbt  die  Noth. 

Die  Commentatoren  denken  hier  an  das  Bild  eines  Baumes.  Das  Bild  eines  Hauses 
passt  wohl  besser. 


104. 

ACKERBAU. 

„Dieser  gehört  zum  kleinen  Theil  den  Geschäftsleuten  *,  zuin  grossen 
Theile  den  Bauern.  Wo  man  ihn  betreiben  lässt,  wird  er  auch  den 
Uebrigen  eigen.  Da  er  eine  Anstrengung  ist,  die  zur  Hebung  des 
Hauses  dient,  so  folgt  er  eben  hier.“  (P.) 

1031.  Wie  sie  sich  auch  windet  — dem  Pfluge  folgt  die 
Welt;  drum  ist  das  Pflügen,  wenn  auch  voll  Plagen,  das 
Haupt. 

Die  Welt  sucht  dem  mühsamen  Ackerbau  auszuweicheu , indem  sie  sich  leichtere 
Beschäftigungen  aussucht;  sie  muss  aber,  um  leben  zu  können,  doch  immer  zum  Pfluge 
ihre  Zuflucht  nehmen. 

1032.  Die  Ackersleute  sind  am  Wagen  der  Welt  der 
Achsen-Nagel1,  Halt  gebend  Allen,  die,  nicht  ackern  mögend, 
anders  handthieren. 

i Der  das  Rad  am  Wagen  festhält.  Man  achtet  ihn  für  nichts  und  er  ist  doch  un- 
entbehrlich. Ebenso  der  Ackersmann. 


Diese  strecken  oft  die  Capitalien  vor.  Vergl.  „Meine  Reise“,  Bd.  III,  S.  177. 


104.  Ackerbau.  I3ö 

1033.  Die  vom  Ackerbau  leben,  leben;  diu  alle  leben 
nicht,  die,  vom  Blicken  lebend,  nachlaufen. 

Der  Ackermann  ist  von  Menschen  unabhängig;  das  zum  Leben  Nothwendige  wächst 
ihm  zu;  von  ihm  bekommen  es  erst  die  Andern.  (Vergl.  2.  Timotli.  2,6:  ,,Es  soll  aber 
der  Ackermann,  der  den  Acker  bauet,  der  Früchte  am  ersten  gemessen.“) 

1034.  Die  kornreichen  Weitschattigen  werden  vieler 
Schirme  Schatten  unter  dem  eignen  Schirme  sehn. 

D.  h.  Wo  es  viel  kornreiche  Bauern  giebt,  die  ihren  wohlthätigeu  Schatten  weitliin- 
vverfeu  . da  werden  diese  sehen  , dass  viele  fremde  Scepter  (,,  Schirme  “)  dem  heimath- 
lichen  Scepter  zufallen.  S. : „ Die  Ackersleute  füllen  des  Königs  Schatz,  machen  ihn 
siegreich  uud  gewinnen  ihm  alles  Land.“ 

1035.  Die,  mit  ihrer  Hand  schaffend,  Nahrung  als  etwas 
Natürliches  haben,  betteln  selbst  nicht,  und  spenden  den 
Bittenden  rückhaltslos. 

1030.  Legen  die  Pflüger  die  Hände  zusammen,  so  ver- 
lieren Grund  und  Boden  auch,  die  da  sprechen  „Wir  sind 
selbst  des  (allgemein)  Begehrten  haar“. 

Auch  der  Stand  der  Busser,  die,  wenn  sie  Allem  ganz  entsagen,  doch  der  Speise  nicht 
ganz  entsagen  können,  geht  ohne  die  Ackerbauer  zu  Grunde. 

1037.  Wenn  du  (jede)  Unze  Erde  als  Viertel -Unze 
trocknen  lässt  *,  so  wird’s  fruchtbar,  ohne  dass  es  einer 
Handvoll  Düngers  bedarf. 

i D.  h.  wenn  du,  statt  einmal , viermal  pflügst. 

1038.  Besser  als  Pflügen  ist  Düngen;  hast  du  gejätet, 
so  ist  Hut  besser  als  Wasser. 

1039.  Wenn  der  Hausherr,  nicht  selbst  gehend,  ferne 
bleibt,  so  schmollt  zuletzt  das  Feld  — und  thut  spröde,  der 
Hausfrau  gleich '. 

i Die  von  ihrem  Manne  vernachlässigt  wird. 

1040.  Wenn  es  Die  sieht,  die  von  Armuth  sagen  — und 
müssig  sitzen,  so  wird  das  wackre  Weib  „Feld“  lachen. 


II.  Vom  Gut**. 


136 


105. 

MANGEL. 

..Das  heisst  aller  Genüsse  entbehren.“  P.) 

1041.  Fragst  du,  was  ist  so  bitter  wie  Blosse?  Bitter 
wie  Blösse  ist  nur  Blüsse  b 

1 Oder:  Bittrer  als  Blösse  ist  nur  die  Blösse  (<L  h.  Nichts  ist  bittrer  als  Blösse; 
wohl  aber  giebt  es  Grade  derselben,  wovon  der  eine  bittrer  ist  als  der  andre). 

1042.  Der  einzige  „Sünder“1  Mangel  kommt  so,  dass 
dieses  und  jenes  Leben2  zu  nickte  wird. 

1 In  dem  Sinne  wie  ,,die  einzige  (unvergleichliche)  Sünderin , Habsucht“.  So  P. 
Vielleicht  zugleich  der  Nebengedanke : „Während  alle  andern  Sünder  nur  jene  Welt  ver- 
lieren, verliert  der  Sünder  ..Mangel“  diese  und  jene  Welt. 

2 Das  eine,  „weil  der  Arme  nichts  zu  geniessen  hat;  das  andre,  weil  er  nichts  spen- 
den kann  (um  sich  so  den  Himmel  zu  verdienen).“  (P.) 

1043.  Alten  Adel  und  adelig  Auftreten 1 zumal  zerstört 
die  Gier2,  die  Armuth  heisst. 

1 ,,Töl“  wird  von  den  Commentatoren,  vielleicht  um  des  folgenden  Verses  willen,  wohl 
zu  einseitig  als  „Wort“  (was  es  allerdings  auch  heisst)  gefasst.  „ Adelig  Auftreten  “ 
dürfte  besser  sein,  da  es  auch  die  andre  Bedeutung  des  Wortes  „Pracht“  mit  ein- 
schliesst. 

2 P. : „Ermacht  die  Armuth  zur  Gier,  weil,  wo  keine  Gierist,  auch  keine  Armuthist“ 
(wie  bei  den  Büssem?)  Ariel:  La  pauvrete , qui  est  le  desir,  detruit  ä la  fois  tradition 
et  renommee  antique.  S.  umschreibt  den  Sinn  des  Verses  so:  „ In  Folge  der  Armuth. 
die  da  ist,  wo  Gier  vorhanden  ist,  wird  man  niedrige  Geschäfte,  die  den  Vorfahren  nicht 
eigneten,  verrichten  und  gemeine  Rede  führen.“  Beschi  übersetzt:  „Affectus  erga 
paupertatem,  id  est  illam  a se  alienandi  incuria.“  — Der  Sinn  ist  vielleicht  der:  Die  Gier, 
die  mit  der  Armuth  verbunden  ist,  treibt  zu  entehrenden  Schritten. 

1044.  Auch  bei  Edelgeb  oimen  bringt  das  Elend  eine 
Dumpfheit  zuweg,  die  eine  gemeine  Sprache 1 gebiert. 

1 Die  Commentatoren.  sehr  speciell,  die  Sprache:  „Gieb  mir  doch  diess  und  dass.“ 

1045.  In  dem  Elend  des  Mangels  spriesst  mancherlei 
Jammer  auf. 

1046.  Wenn  man  auch  noch  so  Schönsinniges  wohl 
wüsst’  und  sagte,  das  Wort  von  Bettelarmen  ist  Sinnes  baar. 

1047.  Die  tugendblosse  1 Blösse  wird  selbst  von  der  eig- 
nen Mutter  wie  fremd  geachtet. 

i P. : Tugendbloss  heisst  sie  insofern,  als  sie  mit  keiner  der  (Tugend-)  Ursachen 
und  - Wirkungen  in  Verbindung  steht  (d.  h.  wohl,  weil  sie  weder  die  Mittel  hat  Tugend 
zu  üben,  noch  auch  eine  Folge  früherer  Tugendübung  ist). 


105.  »Mangel.  — 106.  Betteln. 


137 


1048.  Wird  er  wohl  auch  heute  wiederkorameu  — der 
Mangel,  der  mich  schon  gestern  wie  tödtete? 

1049.  Selbst  mitten  im  Feuer  einschlummern  ist  mög- 
lich *.  In  der  Armuth  das  Auge  zuzuthun  fällt  bei  allen  Mit- 
teln schwer. 

» Durch  Zaubermittel.  (P.) 

1050.  Wenn  Nahrungslose  nicht  Allem  entsagen,  so  ist 
das  der  Tod  von  „Salz  und  Reisbrühe“. 

Der  Sinn  ist:  Wenn  Nahrungslose  sich  nicht  lieber  zu  Tod  hungern  als  betteln,  so 
machen  sie  dem  „Salze  und  der  Reisbrühe“  (der  üblichen  Bettlerspeise)  Andrer  den 
Garaus.  (Sein  nicht  sterben  Wollen  bringt  dem  Eigenthum  Andrer  den  Tod.) 


106. 

BETTELN. 

„Da  verschämtes  Betteln  so  gut  wie  nicht  betteln  ist,  so  redet  er  nun 

— mit  Rücksicht  auf  die  gangbare  Maxime  in  den  Büchern,  die  von 
der  Tugend  handeln  f, Man  soll  den  Leib,  der  selbst  zur  Erlangung 
der  Seligkeit  dienstsam  ist,  erhalten',  vergl.  Anm.  zu  V.  1013),  — vom 
Betteln , um  das  im  letzten  Verse  des  vorigen  Kapitels  angedeutete 

aus  dem  Leben  Gehn  (, allem  entsagen')  zu  negiren.“  (P.) 

1051.  Siehst  du  Leute,  die  zum  Ansprechen  taugen,  so 
sprich  an;  entziehn  sie  sich,  so  gereicht’ s ihnen  — nicht  dir 

— zur  Schuld. 

1052.  Lust  ist  selbst  das  Bitten,  wenn  ohne  Last  das  Er- 
betne  kommt. 

1053.  Vor  Leuten  stehend,  die,  weigerungslosen  We- 
sens, ihre  Pflicht  verstehn,  hat  selbst  das  Bitten  etwas  einzig 
Schönes. 

1054.  Bei  Leuten,  die  selbst  im  Traum  sich  nicht  zu 
weigern  wissen,  wird  sogar  das  Betteln  dem  Geben  gleich. 

1055.  Weil’s  sich  nicht  Weigernde  in  der  Welt  giebt, 
unterwindet  man  sich  bittend  vor  das  Auge  hinzustehn. 

„Gab1  es  solche  Leute  nicht,  so  würde  mau  aus  Schamhaftigkeit  lieber  sterben  als 
bitten.“  (P.) 


138 


II.  Vorn  Gute 


105G.  Trifft  man  Leute,  die  ohne  des  Geizes  Plage  sind, 
so  wird  des  Mangels  Plage  sogleich  ersterben. 

1057.  Wenn  man  Solche  findet,  die  ohne  Schelten  and 
Schmähen  spenden,  so  mag  das  Innere,  innen  sich  er- 
schliessend,  jauchzen. 

1058.  Gäb’s  keine  Bettler,  einer  Drahtpuppe  gleich 
ginge  und  käme  dann  die  weite  kühlraumige  Welt. 

Denn  dann  gab"  es  keine  freie  Thätigkeit  der  Liebe.  „Kühlraumig“  heisst  die 
Erde,  weil  sie  voll  erquicklichen  Schattens  und  voll  befruchtenden  Wassers  ist. 

1059.  Wie  sollten  Gebende  zu  Ruhm  gelangen,  gäb's 
Niemand,  der  bittend  nehmen  wollte? 

1000.  Nie  soll  ein  Bittender  bitter  werden1;  auch  der 
Armuth  Bitterkeit  selbst  ist  vollgültiger  Zeug’  -. 

1 Wenn  er  nichts  bekommt. 

2 Wider  den  Geizhals.  ..Dafür  dass,  wenn  er  selbst  Etwas  braucht,  es  ihm  nicht 
hilft. “ So  P. , der  als  die  (durch  das  „auch“  angedeuteten)  andern  Zeugen  Beispiels 
halber  auch  den  Umstand , dass  .,  Alle  bedürftig  sind“  und  den  andern  Umstand , dass 
,,  Nichts  besteht“  anführt.  Es  lässt  sich  auch  mit  Ariel  übersetzen:  Er  i der  Bettler)  selbst 

d.  i.  seine  blosse  Erscheinung)  ist  vollgültiger  Zeuge  für  die  Bitterkeit  der  Armuth. 


107. 

SCHEU  VOR  BETTELN. 

,, Das  ist  sich  vor  unverschämtem  Betteln  scheuen.“ 

10G1.  Selbst  bei  Menschen  wie  Augäpfel  *,  die  ohne 
Rückhalt  mit  Jubel  geben,  nicht  betteln  ist  zehn  Millionen 
werth 

1 Wörtlich:  bei  solchen,  die  den  Augen  (an  Vortrefflichkeit)  gleichen. 

2 Im  Vergleich  zu  reich  werden  durch  Betteln. 

10G2.  Wenn,  der  die  Welt  zuwege  brachte,  auch  das 
Bettelleben  wollte,  so  müss’  er  (selbst)  umirrend  darben! 

„Wenn  Brahma,  der  Weltordner,  die  Menschen  nicht  bloss  dazu  erschuf,  dass  sie 
sich  von  ihrer  Hände  Arbeit  nähren , sondern  zum  Theil  auch  dazu,  dass  sie  sich  vom 
Betteln  nähren  sollen,  so  ist  das  so  schlecht , dass  er  selbst  dafür  ein  Bettlerleben  führen 
sollte.“  Dieser  Vers  soll  vielleicht  Demjenigen,  der  aus  dein  Betteln  ein  Geschäft  macht, 
als  wenn  das  zu  der  ursprünglichen  Weltordnung  mitgehörte,  seine  Verkehrtheit  zu  Gc- 
uiütlie  rühren.  — Möglich  auch,  dass  er  nur  das  unmenschliche  Elend  des  Bettclus  recht 
stark  markireu  soll. 

10G3.  Härtres  giebt’s  nicht,  als  das  harte  Ilerz,  das: 
..Wegbetteln  will  ich  das  Weh  des  Mangels!“  spricht. 


107.  Sehe«  vor  Betteln. 


139 


1064.  Die  Tugend,  die,  selbst  wenn  ohne  Raum,  nicht 
betteln  kann,  hat  eine  Tüchtigkeit,  die  aller  Raum  nicht  fasst. 

10(35.  Und  wenn’s  ein  Grassamen -Brei,  wie  klares  Was- 
ser, war’,  es  giebt  nichts  Hochsüsseres  als  vom  Fleiss  Ge- 
gebenes speisen. 

1066.  Und  sollte  man  auch  nur  Wasser  für  eine  Kuh  1 
betteln,  der  Zunge  kommt  nichts  schmählicher  als  Betteln  an. 

i Die  doch  Jedem  so  heilig  ist.  (Also:  die  kleinste  Gabe  — Wasser  — für  den 
heiligsten  Zweck.) 

1067.  Ich  bettle  bei  allen  Bettelnden:  „Bettelt  ihr  — so 
bettelt  doch  ja  nicht  bei  Geizhälsen!“ 

1068.  Das  schwanke  Schifflein  „Bettelstab“  zerschellt, 
wenn’s  gegen  den  Felsen  „Geizhals“  fährt. 

1069.  Wird  man  des  Betteins  inne,  gleich  schmilzt  das 
Innerste;  wird  man  der  Weigrung  inne,  gleich  vergeht’s  er- 
innerungslos. 

Wenn  sich  der  Bettler  seiner  Lage  bewusst  ist,  so  schmilzt  sein  Innerstes;  wenn  er 
sich  der  abschlägigen  Antwort  bewusst  wird,  so  schwindet  ihm  alles  Bewusstsein.  — 
Diese  Beziehung  auf  den  Bettler  selbst  wird  von  dem  Zusammenhänge  sicherlich  be- 
günstigt (vergl.  besonders  den  folgenden  Vers).  Die  Commentatoren : „Wenn  ich  au 
die  grausame  Lage  des  Bettlers  denke,  so  zerschmilzt  mein  Innres;  wenn  ich  aber  an 
die  grausame  Gesinnung  dessen  denke,  der  ihm  die  Bitte  abschlägt,  so  vergeht  mein 
Innres,  ohne  zu  schmelzen.“ 

1070.  Wo  wohl  wird  sich  des  Weigernden  Leben  ber- 
gen? Dem  Bittenden  vergeht’s,  wenn  er1  den  Mund  aufthut. 

1 Die  Commentatoren  verstehen  darunter  den  Weigernden  (es  ist  dann  eben  eine 
Weiterspinnung  des  in  demletzten  Theile  des  vorhergehenden  Verses  ausgesprochnen  Ge- 
dankens im  Sinne  unsrer  Auffassung)  und  fassen  das  Ganze  etwa  so:  Kann  denn  der 
wirklich  leben,  der  den  Bittenden  durch  sein  „Nein“  tödtet?  Gleichwohl  sehen  wir’s, 
und  wundern  uns,  wie's  zugeht.  („Wo  wohl  u.  s.  w.“)  — Die  Wortstellung  jedoch  be- 
günstigt die  Beziehung  des  „er“  auf  den  Bettler  selbst , und  der  Sinn  gewinnt  dabei 
eher  als  dass  er  verliert.  Der  Sinn  wäre  dann:  Wenn  der  Bittende  vor  Scham  gleichsam 
stirbt,  während  er  die  Bitte  ausspricht,  wie  in  aller  Welt  kann  man  dann  „Nein“  sagen 
und  doch  am  Leben  bleiben?  Ein  schöner  Gedankenfortschritt.  (In  Vers  1060:  Bitten 
ist  ungemein  schwer;  Vers  1070:  noch  schwerer  ist  den  Bittenden  abweisen.) 


140 


II.  Vom  Gute. 


108. 

GEMEINHEIT. 

„Das  ist  die  Natur  jener  Niedriggesinnten,  die  keine  der  Eigenschaften 
besitzen,  die  liier  im  Anhang  offenbar,  in  den  zwei  Unterabtheilungen 
des  Buches  vom  ,Gut‘  aber  verblümter  Weise  genannt  werden  — denn 
diejenigen  der  dort  behandelten  Eigenschaften,  die  dazu  passen,  sind 
eben  (nicht  bloss  auf  den  König,  sondern)  verblümter  Weise  auf  Alle 

gezielt.“  (P.) 

1071.  Das  gemeine  Volk  sieht  wie  Menschen  aus;  Etwas 
diesem  Gleiches  hab’  ich  nie  gesehn  >. 

i So  P.  — Beschi:  „Ich  habe  nie  etwas  dem  Menschen  so  Aehnliches  gesehen. •• 

1072.  Glücklicher,  denn  der  das  Gute  weiss,  ist  der  ge- 
meine Bursch;  er  hegt  im  Herzen  nicht  Einen  Harm. 

1073.  Den  Göttern  gleichen1  gemeine  Seelen,  denn  auch 
sie  vollbringen  flugs,  was  sie  begehren. 

1 Die  Commentatoren  selten  in  diesem  Ausspruch  bloss  eine  Ironie  und  finden  den 
Vergleichungspunkt  einzig  in  der  „Schrankenlosigkeit“.  (Wollen  und  Können  gleich.) 
Ein  wunderbarer  Humor:  Sie  haben  nur  die  Gestalt  von  Menschen  (V.  1071),  und  sind 
doch  höher  als  alle  Weisen  der  Welt  (V.  1072) ; ja  Göttern  gleich. 

1074.  Wenn  die  Gemeinheit  Leute  sieht,  die  noch  loser 
und  lockrer  leben,  — gleich  überhebt  sie  sich  und  thut  gar 
gross. 

1075.  Des  Pöbels  Sittsamkeit  ist  Furcht;  im  Uebrigen 
— nun,  wenn  ihn  die  Gier  ankommt,  kommt  ein  klein  wenig 
dabei  heraus. 

Der  Pöbel  lässt  sich  zur  Sittigkeit  grossem  Theils  nur  durch  Furcht  (vor  Strafe), 
geringem  Theils  durch  Gier  (nach  Vortheilen)  bestimmen. 

1076.  Der  Pariah  - Trommel  1 gleich  ist  der  Gemein- 
gesinnte, denn  das  gehörte  Geheimniss  schnell  trägt  er  zu 
Andern  aus. 

i Eigentlich  ,,  Schlag  - Trommel  “.  Die  Trommel  heisst  aber  „parei“  (wovon  pa- 
reijan,  der  Pariah  , oder  Trommelschläger;  vergl.  Meine  Reise,  Bd.  IV,  S.  189).  Bei  der 
Würdigung  dieses  Bildes  erinnere  man  sich,  dass  in  Indien  die  Trommel  bei  Proclama- 
tionen  auf  der  Strasse  gebraucht  wird. 

1077.  Gemeine  Bursche  hüten  sich  die  (Reis-)  beklebte 


108.  Gemeinheit.  14t 

Hand  zu  schütteln  — ausser  angesichts  Derer  mit  Backen- 
zerschlagender gehallter  Faust. 

Zur  Erklärung  dieser  Redensart  dient  vielleicht  das  äusserste  Knauserei  versinn- 
bildende  Sprüchwort:  „Er  wird  keine  Essüberbleibsel  suchende  Krähe  mit  feuchter 

Hand  (an  der  ja  ein  Reiskörnlein  vom  Essen  kleben  könnte)  wegtreiben.“  Man  erinnre 
sich,  dass  die  Hiudu's  mit  den  Händen  zulangen.  S.  lässt  die  „Feuchtigkeit“  der  Hand 
nicht  vom  Essen,  sondern  vom  Waschen  nach  dem  Essen  herrühren.  Darin  könnte  man 
dann  eine  doppelte  Feinheit  finden:  Erstens  , solche  gemeine  Leute  sind  schmutzig,  sie 
waschen  sich  nach  dem  Essen  nur  eben  ein  wenig,  so  dass  noch  Reiskörner  daran  kleben. 
Zweitens:  Sie  wollen  auch  die  paar  Reiskörner,  die  nach  dem  Waschen  vom  Essen  noch 
an  der  Hand  kleben  bleiben,  nicht  missen.  — Natürlicher  jedoch  jedenfalls  P. , der 
„feucht“  mit  „vom  Essen  besudelt“  erklärt;  denn  rechter  Pöbel  in  Indien  wäscht  sich 
eben  nach  dem  Essen  gar  nicht.  — Der  Sinn  des  Ganzen  demnach  ist:  Gemeine  Leute 
können  zu  der  geringsten  Gabe  nur  durch  die  äusserste  Gewalt  bestimmt  werden.  (Ver- 
gleiche den  folgenden  Vers.) 

1078.  Der  Weise  wird  nutzbar,  wenn  man  ein  Wort 
sagt;  der  Pöbel  wird  nutzbar,  wenn  man  ihn  klopft,  wie  das 
Zuckerrohr. 

1079.  Wo  sie  Speise  und  Kleidung  sieht,  — die  gemeine 
Seele  — ist  sie  an  Andern  Flecken  zu  sehen  sehr  stark. 

Wo  die  gemeine  Seele  Einen  sieht,  der  besser  auf  ist,  als  er,  — gleich  regt  sich  der 
Neid  und  in  Folge  davon  die  Lust,  Fehler  an  ihm  zu  entdecken. 

1080.  Wozu  passt  denn  die  Pöbel -Seele ? Sich  flugs  zu 
vei’kaufen , wenn  ihr  was  zustösst  — dazu  passt  sie  wohl. 


' 


III. 

VON  DER  LUST. 


DIE  HEIMLICHE  EHE. 

„Die  heimliche  Ehe,  voll  herzfüllender  Lust,  hat  unter  den  in  den  vier 
Vedas  enthaltnen  zweimal  vier  Vermählungsarten  die  Natur  der  Gan- 
dharba-Ehe“  (Nampi,  Akapporid,  II,  1).  — „Sie  besteht  darin,  dass  der 
Herr  und  die  Herrin,  gleich  an  Schönheit,  Wohlstand,  Alter,  Familie, 
Charakter,  Liebe  u.  s.  w. , ohne  alle  Vermittlung  sich  einander  ent- 
gegenkommen  und  miteinander  verbinden.“  (S.) 


109. 

VERWIRRUNG  ÜBER  DIE  ANMUTH. 

„Die  Schaar  der  (begleitenden)  Frauen  geht  beiscit,  um  im  Haine  zu 
spielen;  sie  bleibt  allein  stehen;  um  sie  zu  erjagen,  kommt  der  Ge- 
bieter allein,  indem  die  (begleitenden)  Jünglinge  beiseit  gehen;  ihre 
Schönheit  bereitet  ihm  Schmerzen,  und  darüber  äussert  er  sich 

nun.“  (P.) 

Gebieter: 

..Der  Gebieter  sieht  die  Gebieterin  und  bekommt  Zweifel. “ (P.) 

1081.  Ist’s  eine  Himmlische?  ist’s  ein  erlesner  Pfau? 
Die  mit  dem  schweren  Kauz  *.  Oder  ein  Erdenweib  2?  Mein 
Sinn  verwirrt  sich. 

1 Ein  starker  Haarkauz , hinten  knäuelartig  geschürzt , gilt  noch  stets  als  grosse 
Schönheit.  Wo  das  Haar  zu  spärlich  ist,  hilft  man  sich  mit  Ausstopfen  (z.  B.  mittelst 
schwarzer  Baumwolle). 

2 „Wenn  man  eine  junge  Gazelle  (d.  h.  ein  junges  Mädchen)  sieht,  so  kann  wohl 
ein  Zweifel  entstehen  (sc.  ob  es  nicht  etwa  gar  eine  Himmlische  sei),  dafern  die  Gestalt 
und  der  Ort,  wo  man  sie  sieht,  etwas  Absonderliches  hat.“  „Die  gemalten  Striche,  die 
gemachten  Schmucksachen,  die  welkenden  Blumen  , die  sich  sammelnden  Bienen , der 

m.  io 


14G 


III.  Von  der  Lust. 


hin  schreitende  Fuss,  das  blinkende  Auge,  die  schüchterne  Haltung  u.  s.  w.  können  wohl 
den  maasslosen  Zweifel  verscheuchen 44  (indem  man  daraus  ersieht,  dass  man  cs  in  der 
Tliat  mit  einem  Erdenweibe  zu  thun  hat).  (Nampi  II.  4.  5.) 

..Der  Gebieter  kommt  ins  Reine,  dass  es  ein  Erdenweib  ist,  und  schildert  die  durch  ihren 
Anblick  bereitete  Unruhe/4  (P.) 

1082.  Dass  ich  die  Schöngesiehtige  hier  angesichts  sehe 

— das  ist,  als  kam’  eine  „streitbare  Göttin“1  mit  Heeres- 
macht her. 

1 Epithet  der  Lakschmi. 

1083.  Vormals  wusst  ich  nicht,  was  Tod  heisst;  nun 
weiss  ich’s.  Es  hat  — bei  Weibesart1  — ein  gewaltiges 
Schlacht -Aug’. 

1 „Dem  unvergleichlicheu  (Manne)  eignen  Würde  und  Tüchtigkeit,  den  Flauen 
•Schüchternheit,  Schamhaftigkeit  und  Einfalt  ” — Nampi  I,  35.  Andere  fügen  den  er- 
wähnten drei  Stücken  der  Weibesart  den  ..Nachahmungstrieb"  als  viertes  bei. 

1084.  Durch  ein  Anselm,  das  das  Leben  verzehrt  Dess 
der  es  ansieht,  streitet 1 das  Auge  dieses  Wesens  mit  Weibesart. 

t Nach  S.  zugleich  ..wider  die  eigne  Weiblichkeit”,  insofern  solch  grausam  Thun 
sich  mit  dem  Begriffe  des  Weibes  nicht  verträgt.  (Ich  habe  diese  Zweideutigkeit  wieder 
zu  geben  versucht.) 

1085.  Tod?  Auge?  Gazelle?  — Dies  Dreies  hat  des 
Mägdleins  Ansehn. 

1086.  Wenn  die  wohlgewölbten  Braun  ’,  sich  nicht  wöl- 
bend1, ihr  Auge  deckten,  so  würde’ s mir  — traun  — zittern- 
den Schmerz  nicht  schaffen. 

i Denn  das  Auge  würde  seinen  Reiz  verlieren,  wenn  die  Augenbrauen  .sich  nicht  so 
zierlich  wölbten. 

,.  Er  schildert  die  durch  ihren  Busen  bereitete  Unruhe.*4  (P.) 

1087.  Eine  Decke  über  dem  Gesicht  des  brunstwüthigen 
Elephanten  ist  die  HiÜle  über  des  Mägdleins  Busen  *. 

1 ..Die  Vergleichung  des  weiblichen  Busens  mit  einem  Elephanten.  Berg  u.  s.  w.  ist 
bei  den  tamul.  Dichtern  gäng  und  gebe.  Einen  ähnlichen  Vergleich  siehe  Hobel.  8,  10. 

— S.  findet  hierin  zugleich  den  Sinn:  dass,  wie  jene  Decke  Schaden  verhüten  soll,  so 
auch  diese  Hülle. 

,,Er  schildert  die  durch  ihre  Stirn  bereitete  Unruhe.1 

1088.  An  ihrer  lichten  Stirn  — o Weh  — zertrümmert 
ist  die  auch  dem  Feind  im  Kampf  furchtbare  Kraft. 

..Er  schildert  die  durch  ihren  Schmuck  bereitete  Unruhe. ‘‘  (P.) 

1080.  Ein  zartes  Gesicht  von  Gazellen -Schön’  und  ein 


109.  Verwirrung  über  die  Anmuth.  — 110.  Die  Absicht  merken. 


147 


schämig  Wesen  hat  sie.  Ihr  Anderes  anzulegen,  was  für 
ein  Schmuck  war’  das1? 

1 Ihr  wahrer  Schmuck  ist  ihre  eigne  Persönlichkeit. 

..Der  Gebieter  , die  Absicht  der  Gebieterin  erkennend,  spricht.“  (P.) 

1090.  Süsser  Meth  1 berauscht  wohl  die  Geniessenden, 
nicht  aber,  der  Liebe  gleich,  die  Betrachtenden. 

* Eigentlich  ,, Gekochte  Süssigkeit“. 


110. 

DIE  ABSICHT  MERKEN. 

„Das  ist  dreierlei:  Der  Gebieter  merkt  die  Absicht  der  Gebieterin; 
er  merkt  die  Absicht  der  Gesellschafterin;  die  Gesellschafterin  aber 
merkt  die  Absicht  Beider.“  (P.) 

Gebieter: 

„Der  Uebieter  merkt  die  Absicht  der  Gebieterin  aus  dem  Gesicht.“  (P.) 

1091.  Zwei  Blicke  sind  in  ihrem  trinkenden1  Aug:  der 
eine  Blick  — ein  Pein-Blick;  der  andere  — Arzenei  für  diese 
Pein. 

i Schwärze  - trinkend  (Schwärze  gesättigt,  in  Schwärze  schwimmend).  So  die 
gangbare  Erklärung. 

1092.  Der  knappe  Blick,  den  ihr  Auge  stiehlt,  ist  nicht 
die  gute  Hälfte  zu  unserm  Bund,  — (nein)  mehr. 

„Der  Gebieter  merkt  die  Absicht  der  Gebieterin  aus  dem  Gesicht  und  aus  dem 
schämigen  Wesen  derselben.14  (P.) 

1093.  Sie  hat  aufgeschaut,  — und  aufschauend  das 
Haupt  geneigt.  Das  ist  das  Wasser,  womit  sie  unsern  Bund  1 
beträufelt  hat. 

t Wie  eine  Pflanze,  die  zu  ihrem  Wachsthum  der  Bewässerung  bedarf. 

„Der  Gebieter  merkt  die  Absicht  der  Gebieterin  aus  dem  schämigen  und  freudigen 
Wesen  derselben.“  (P.) 

1094.  Schau  ich  sie  an,  so  schaut  sie  zur  Erde;  schau 
ich  sie  nicht  an,  so  schaut  sie  mich  an  und  lächelt  leise. 

1095.  Grade  nicht,  wohl  aber  wie  mit  Einem  Auge  blin- 
zelnd, sieht  sie  mich  an  — und  lächelt. 


io* 


..Nachdem  die  Gesellschafterin  ihn  entfernt  hat,  spricht  der  Gebieter,  der  ihre  Absicht 
merkt,  bei  sich  selbst.“  (P.) 

1096.  Wenn  man  auch  wie  Nichtfreunde  spricht1,  der 
Nichtfeinde  Wort  wird  schnell  erkannt. 

l Als  z.  B.:  Dieser  Ort  ist  sehr  gewahrt;  kommt  ja  nicht  hierher!“  (P.) 

1097.  Das  nicht  feindselige  feindliche  Wort  und  der 
feindähnliche  Blick  sind  Zeichen  Solcher,  die,  Feinden  glei- 
chend, Freunde  sind. 

1098.  Hierin  einzig  hold  ist  dies  bewegliche  Wesen. 
Dieweil  ich  sie  anschau'  *,  lächelt  die  Linde  leis. 

1 Bittend.  (R.) 

Gesellschafterin: 

„Die  Gesellschafterin,  ins  Reine  zu  kommen  suchend,  spricht  bei  sich."  iP.) 

1099.  WTie  fremd  sich  gegenseitig  anblicken  — o ja,  das 
findet  man  bei  Liebesselmsüchtigen. 

1100.  Wenn  mit  dem  Aug  ein  Augenpaar  harmonisch 
spricht,  ist  Lippenwort  ohn’  allen  Sinn. 


111. 

FREUDE  ÜBER  DIE  VERBINDUNG. 

„Der  Gebieter,  der  so  die  Absicht  gemerkt  und  sich  mit  ihr  verbunden 
hat,  schildert  seine  Freude  darüber.“  (P.) 

Gebieter: 

,.Der  Gebieter  spricht  nach  Vollziehung  der  natürlichen  * Verbindung."  (P.) 

1101.  Die  fünf  Empfindungen , die  man  sehend,  hörend, 
schmeckend,  riechend  und  fühlend  inne  wird,  einen  sich  in 
Der  mit  „dem  strahlenden  Armband “. 

,.  Quid  amicis  vi s u jucuudius  quam  hiunulei  oculos  habentium  os  suave,  aniore 
conjuuctum?  quid  o 1 fa  c t u quam  oris  Spiritus?  quid  au  di  tu  quam  illarum  vos?  quid 
gus  tat  u quam  illarum  labii  surculorum  succus  ? quid  tac  t u quam  corpus?  quid  me  di  - 
tatione  aptius  quam  prima  juventus?  ubique  illarum  suavitas  apparet.“  Bhartriharis 
Sententiae.  uach  v.  Bohlen’s  L'ebersetzung.  I.  7.  Hier  ist  auch  der  innre  Sinn,  manas, 
(„  meditatione“)  berücksichtigt. 

* ..Eine  solche  findet  z.  B.  statt,  wenn  ein  Königssohu  auf  die  Jagd  geht,  eine 
Gebirgsjungfrau,  die,  in  einen  Berghain  zu  spielen  gekommen,  einsam  dasteht,  sieht 
und  mit  ihr  einen  Bund  schliesst.“  (V.) 


111.  Freude  über  die  Verbindung 


149 


„Der  Gebieter  spricht  bei  dem  .Stelldichein*.“  * (F.) 

1102.  Sonst  ist  die  Aizenei  von  der  Krankheit  ver- 
schieden. Die  „mit  den  schmucken  Juwelen“  ist  für  den 
Schmerz,  den  sie  schuf,  auch  selbst  die  Arzenei. 

..Der  Gebieter  antwortet  dem  Gesellschafter,  der  zu  ihm  gesagt  hat : Dir,  der  du  für  die 
. Gross -Freude4  (der  Erlösung)  bestimmt  bist,  ziemt  es  nicht,  dich  an  diese  , Klein 
Freude4  (der  Welt)  so  hinzugeben.“  (P.) 

1103.  Ist  denn  der  Himmel  des  lotusäugigen  Gottes  so 
süss  1 wie  der  Schlummer  auf  der  weichen  Schulter  der  Er- 
sehnten ? 

i P.  erklärt  es  mit  ,,so  leicht  zu  erlangen 44  (nämlich  von  einem  so  sinnlichen 
Menschen,  wie  ich), — vielleicht  nur  um  die  anscheinende  Frivolität  gegen  die  Götter 
zu  bemänteln. 

..Der  Gebieter  spricht  am  Schlüsse  der  Vereinigung  durch  den  Gesellschafter.“**  (P.) 

1104.  Weicht  man,  so  sengt’s;  naht  man,  so  kühlt’s.  Wo- 
her doch  hat  sie  solch  Feuer? 

..  Der  Gebieter  spricht  am  Schlüsse  der  Vereinigung  durch  die  Gesellschafterin.“  (P.) 

1 105.  Die  Schultern  Der  mit  „dem  blumengefüllten 
Kauz  “ sind  wie  zur  Zeit  des  Lüsterns  Leckerbissen 

1 Wörtlich  bloss:  wie  Dies  und  Dass. 

110b.  Aus  Ambrosia1  gemacht  sind  ihre  Schultern,  so 
dass  bei  jeder  Berührung  mein  Leben  knospet. 

i Das  Amrita  (Ambrosia)  ist  die  Quelle  alles  Lebens  und  aller  Fruchtbarkeit. 

,,Der  Gebieter  antwortet  (im  abweisenden  Sinne)  der  Gesellschafterin,  die  zu  ihm  ge- 
sagt: Du  musst  sie  öffentlich  heimführen,  und  dich  in  die  allgemeine  Haustugend 
schicken,  wo  man  in  dem  eignen  Hause  herbergend  sein  Theil  geniesst.“  (P.) 

1107.  Das  Umfangen  des  Mägdleins  mit  dem  schönen 
Gold 1 - Teint  ist  so  gut  wie  am  eignen  Heerd  das  Seine 
theilend2  gemessen. 

1 Das  Gold  repräsentirt  die  dunkle,  bräunliche,  bronzene  Farbe. 

2 An  die  Manen  u.  s.  w.  (Siehe  Einl.  zu  Decade  ü.) 

P.  fasst  das  Ganze  so:  Er  spricht  als  Einer  der  zur  öffentlichen  Heirath  uicht  wil- 
ligt: ,, Diese  Verbindung  gewährt  mir  vollkommen  das  Himmelsglück  derer,  die  die  Haus- 
tugend verrichtet  haben.“ 


* ,,Das  ist,  wenn  er  zum  zweiten  Male  au  den  Ort,  wo  er  vormals  sich  mit  ihr  ver- 
bunden hat , ihretwegen  sich  wieder  einfindet  und  sich  dort  mit  ihr  verbindet.“  (V.) 

**  .,Die  Bereinigung  durch  den  Ges.4  findet  statt,  wenn  sich  der  Gebieter  unter 
Peihülfe  des  Gesellschafters  zum  dritten  Male  mit  der  Gebieterin  verbindet.“  (V.“) 


150 


III.  Von  der  Lust. 


“Der  Gebieter  antwortet  (im  abweisenden  Sinne)  der  Gesellschafterin,  die  zu  ihm  gesagt: 
Da  dir,  der  du  eine  ebenmässige  Liebe  hast,  eine  unzertrennliche  Vereinigung  genehm 
ist,  so  solltest  du  sie  öffentlich  heimführen.“  (P.) 

1108.  Zweie,  die  sicli  begehren,  befriedigt  ganz  die 
selbst  vom  Lnfthauch  nicht  zerklüftete 1 Umklammerung. 

1 Eine  so  enge  Umklammerung,  dass  sie  keinen  Luftkauch  durchlässt.  (Vergleiche 
Vers  1229.) 

P.  fasst  das  Ganze  so : Du  hast  ganz  recht,  aber  hier  sind  nicht  fürder  Zweie;  wir 
sind  bereits  vollkommen  eins.  (Abermals  ausweichende  Antwort.) 

,,Die  Gesellschafterin  hat  gesagt:  Da  eine  unaufhörliche  Verbindung,  weil  man  sie  nicht 
zu  verbergen  braucht,  angenehm  ist,  so  solltest  du  die  Gebieterin  öffentlich  heimführen. 
Darauf  antwortet  Er  nun  (abweisend),  indem  er  die  Vortheile  der  ehelichen  Verbindung 
ironisch  preist.“  (P.) 

1109.  Schmollen,  Verständigung  und  Wiedervereini- 
gung, das  ist  der  Vortheil  derer,  die  sich  der  Liebe1  ver- 
mählen. 

i Unauflöslich.  P.  fasst  das  Ganze  so : „Trennt  man  sich  der  Nebeufrau  wegen,  so 
merkt  es  die  Frau  und  schmollt,  und  er  nun,  der  dieses  Schmollen  verschuldet  hat,  räumt 
es  durch  Selbstentschuldigung  hinweg;  dann  einen  sich  Beide  wieder  iu  gleicher  Liebe: 
das  ist  der  Vortheil  der  Verheirathung.  Das  passt  nicht  für  uns,  deren  Doppel  - Leben 
innerlich  in  Eins  verschürzt  ist  u.  s.  w.“ 

„Der  Gebieter,  der  sich  mit  der  Gebieterin  verbunden  hat  und  sie  nun  (weil  er  ohne  sie 
nicht  leben  kann)  für  immer  mitnimmt,  spricht  bei  sich  selbst.“  (P.) 

1110.  Wie,  je  mehr  man  lernt,  die  Ungelehrtheit  zu 
Tage  tritt,  so  das  Verlangen  nach  der  Schöngeschmückten,  je 
öfter  man  sie  erlangt. 


112.  • 

PREIS  DER  ANMUTH. 

„Der  Gebieter  schildert  die  Anmutli  der  Gebieterin.“  (P.) 
Gebieter: 

„Der  Gebieter  spricht  am  Schlüsse  der  natürlichen  Verbindung“.“  (P.) 

1111.  Zartgeartet  bist  du;  leb  wohl,  Anitscha -Blume! 
Zarter  geartet  als  du  ist  mein’  Ersehnte. 

„Der  Gebieter  spricht,  nachdem  er  sich  au  dem  bestimmten  Orte  wieder  cinge- 
t'unden.“  (P.) 

1112.  Wähnend,  es  glichen  die  von  so  Vielen  gesehnen' 
Blumen  - ihren  Augen,  verwirrtest  du  dich  stets,  mein  Herz, 
bei  ihrem  Anblick3. 


112.  Preis  der  Anmuth. 


151 


1 Und  darum  gemeinen  (?).  Vergl.  V.  1119. 

2 Als  die  Kuvatei  (Kuvalaja)  und  andre  Lotus  - Arten,  welche  die  Dichter  dem  Auge 
zu  vergleichen  pflegen. 

3 Seit  der  Trennung  von  der  Geliebten;  jetzt  aber,  wo  du  ganz  in  der  Stille  ihrer 
Augen  Reiz  ganz  durchgenossen  hast,  siehst  du  den  grossen  Unterschied  sehr  wohl.  (In 
diesem  Sinne  P.) 

,, Der  Gebieter  schildert  dem  Gesellschafter,  der  die  Zusammenführung  übernommen 
hat,  die  Natur  der  Gebieterin.“  (P.) 

1113.  Spross  1 — Leib ; Perle  — Zahn2;  Duft  — Hauch  ; 
Wurfgeschoss  — schwimmend  Aug’ 3 : so  hat’s  die  Bambus- 
schultrige. 

1 P.  sieht  das  Gleichniss  in  der  (zarten  bräunlichen?  vergl.  V.  1107)  Farbe  (eben 
hervorbrechender  j uuger)  Sprosse. 

2 Muruval  heisst  eigentlich  ,, Lachen“  ; in  der  Poesie  geradezu  „Zahn“,  als  äkuper 
(„Wandel- Wort“).  Man  definirt  das  äkuper  so:  ,,Der  Name  eines  engverbundnen 
Gegenstandes  geht  auf  einen  andern  Gegenstand,  so  dass  gleichsam  aus  dem  einen 
Worte  ein  andres  wird.“ 

3 Alle  diese  Redefiguren  sind  Beispiele  des  sogenannten  uruvakam  („Figur“),  des- 
sen Definition  so  lautet:  ..Das  Gleichniss  als  Gegenstand  und  den  Gegenstand  als  Gleich- 
niss prädiciren.“ 

„Der  Gebieter,  der  zur  , Zusammenführung  durch  den  Gesellschafter'  gehend,  sich  ver- 
einigt, spricht.“  (P.) 

1114.  Sähe  die  Wasserlilie,  sie  senkte  den  Blick  zur 
Erde,  sagend:  „Dem  Auge  Der  mit  den  Px-achtjuwelen  bin 
ich  nicht  gleich.“ 

..Der  Gebieter  sieht  bei  dem  .Tages  - Stelldichein4* *  ihren  Blumen  - Schmuck  und 
spricht.“  (P.) 

1115.  Ohne  die  Stengel  abzuthun  — steckte  sie  Auit- 
scha-Blumen  an  ihre  Taille1.  Nicht  fröhlich  wird  die  Trom- 
mel tönen. 

1 Die  Unachtsame  hat  nicht  daran  gedacht,  dass  ihre  Taille  so  dünn  ist  und  jene 
Stengel  so  schwer  sind;  die  Taille  wird  unter  der  Last  zu  Grunde  gehn,  gleichsam  ster- 
ben ; dann  wird  um  ihretwillen  die  Todtentrommel  tönen.  (Tn  diesem  Sinne  P.)  Je  dün- 
ner die  Taille  desto  schöner,  nach  indischem  Geschmack;  daher  die  schmeichelhafteste 
Bezeichnung  eines  Mädchens  mit  „Blitz  - Taille“. 

„Er  sieht  bei  dem  , Nacht- Stelldichein '**  den  Mond  und  spricht.“  (P.) 

1 1 16.  Den  Mond  1 und  der  Maid  Gesicht  nicht  kennend-, 
von  ihrem  Posten  3 weichen  bestürzt  die  Sterne. 


* „Das  ist  am  Tage  einen  Ort  bestimmen  lind  dorthin  kommend  sich  ver- 
einigen.“ (VA 

* * .Das  ist  bei  Nacht  in  die  Nähe  des  Hauses  der  Gebieterin  kommen  und  sich 

mit  ihr  zusanynenfinden.“ 


152 


III.  Von  der  Lust. 


1 Der  runde , volle , goldfarbige , milde  Mond  wird  sehr  oft  als  Gleichniss  besonders 
des  weiblichen  Antlitzes  gebraucht. 

2 Und  daher  verwechselnd. 

3 Weil  sie  sich  nicht  in  der  üblichen  Stellung  zu  ihrem  Monde  sehen. 

1117.  Ist  denn  wie  beim  Mond,  dess  Glanz  ab-  und  zu- 
nimmt, ein  Makel  in  des  Mägdleins  Antlitz 

1 Der  Mond  (mit  seinem  ab-  und  zunehmenden  Lichte  — und  mit  seinen  Flecken) 
kann  sich  also  mit  dem  Antlitz  der  Geliebten  noch  nicht  einmal  messen. 

1118.  Wenn  du  wie  des  Mägdleins  Antlitz  Strahlen  zu 
werfen  im  Stande  wärst,  so  solltest  du  mein  Liebchen  sein! 
— Leb  wohl,  Mond1. 

i Denn  das  kannst  du  doch  nun  und  nimmermehr. 

1119.  Willst  du  dem  Gesicht  der  Dirne  gleichen,  die 
Augen  wie  Blumen  hat,  so  lass  dich  nicht  von  so  Vielen 
sehn,  Mond1! 

1 Meine  Geliebte  hat  ein  bescheidnes,  du  ein  freches  Antlitz. 

,.Die  Gesellschafterin  hat  von  , Mitgehen4  gesprochen;  der  Gebieter  schlägt  es  ab,  in- 
dem er  die  Schwierigkeit  vorstellt.“ 

1120.  Anitscha- Blume  und  Schwanen -Flaum  sind  für 
des  Mägdleins  Fuss  Neruntschi  - Frucht 1. 

i Tribulus  terrestris,  ein  Dornengewächs.  — ,,Wie  wird  denn  ein  solcher  Fuss 
den  Weg  der  Haide  mit  ihren  spitzen  Steinen  und  mit  ihrem  glühenden  Boden  ver- 
tragen?“ So  P. , der  sich  dabei  auf  den  Grundsatz  beruft,  dass  man  neben  dem  gradeu 
Sinne  auch  einen  verblümten  Sinn  aufstellen  dürfe,  dafern  nur  die  ,.Güte  der  Strophe 
nicht  zu  Grunde  geht“. 


113. 

DIE  AUSSERORDENTLICHE  LIEBE  SAGEN. 


„Der  Gebieter  sowohl  als  die  Gebieterin  schildern  die  Grösse  ihrer 

Liebe.“  (P.) 


Gebieter: 

..Der  Gebieter  thut  am  Schlüsse  der  , natürlichen  Verbindung4  seine  Leidenschaft  kund.“ 

1121.  Wie  wenn  sich  Milch  und  Honig  mischt  — so  das 
Wasser,  das  in  den  weissen  Zähnen  Der  mit  der  sanften 
Stimme  quillt. 


113.  Die  ausserordentliche  Liebe  sagen. 


153 


„ Der  Gebieter  spricht  sich  über  die  Furcht  vor  der  Trennung  aus.“  (P.) 

1122.  Meine  Liebe  zum  Mägdlein  ist  wie  des  Lebens 
Liebe  zum  Leibe. 

Er  will  damit  solchen  Bedenken  der  Gebieterin  Vorbeugen,  als:  Von  welcher  Art 
ist  er?  Liebt  er  mich?  Werde  ich  mich  auch  fürder  mit  ihm  vereinigen  können?  So  P. 


,,Auf  dem  ersten  Orte,  wo  er  sich  wieder  eingefunden  hatte , spricht  er  beim  Fortgang 
der  Gebieterin.“  (P.) 

1123.  Geh,  Bild  in  meinem  Augapfel!  Sonst  hat  nicht 
Platz  darin  die  Ersehnte  mit  der  schönen  Stirn. 

„Ich  mag  nicht,  ohne  zu  sehen,  sein.  Dieses  Mädchen  aber  ist  so  geartet,  dass  sie 
nicht  bloss  draussen  umhervvandelt,  sondern  auch  in  meinem  Auge  weilt.  Wenu  sie  nun 
da  ist,  so  fehlt  es  an  Platz,  um  mit  dir  zusammen  darin  zu  sein;  so  gieb  denn  ihr,  die 
trefflicher  als  du,  den  Platz  und  geh.“  (P.) 

„Der  Gebieter,  der  sich  beim  , Tages  - Stelldichein  ‘ mit  ihr  verbunden  hat  und  nun  hin- 
weggeht, spricht.“  (P.) 

1124.  Wie  Leben  ist  sie  der  Seele  — Die  mit  dem  erles- 
nen  Schmuck ; wie  Sterben  beim  Scheiden. 


..  Der  Gebieter  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Wenn  du  von  deinem 
Geschäftsgänge  zurückkommst,  wirst  du  dann  wieder  an  uns  denken?“  (P.) 

1125.  Dran  denken  würd’  ich,  wenn  ich  vergässe;  — 
allein  ich  vergesse  nicht  den  Reiz  Der  mit  dem  leuchtenden 
Schlacht- Aug. 


Gebieterin: 

„Während  der  geschäftlichen  Abwesenheit  fürchtet  die  Gebieterin  , die  Gesellschafterin 
möchte  etwa  seinen  Charakter  tadeln,  und  spricht  daher  bei  sich,  so  jedoch  dass  sie's 

hört.“  (P.) 

1126.  Mir  aus  dem  innersten  Auge  weicht  er  nicht; 

schliess’  ich’s  *,  — er  leidet  nicht : ätherhaft  ist  mein 

Liebster2. 

1 Unversehens.  (P.) 

2 „Das  sollen  die  wohl  bedenken,  die  da  wähnen,  er  sei,  um  sich  nicht  ferner  sehen 
zu  lassen,  in  die  Ferne  gegangen.“  (P.)^ 

1127.  In  meinem  Auge  sitzt  mein  Liebster;  darum  be- 
mal’ ich  mein  Auge  nicht,  an  seine  Verdeckung  denkend*. 

1 Damit  nicht  die  Hand,  beim  Bemalen  des  Augs  darüberfahrend,  sein  Bild  verdecke. 

1128.  In  meinem  Innern  sitzt  mein  Liebster;  drum 
furcht’  ich  heiss  zu  speisen,  an  seine  Versengung  denkend. 


Während  der  Abwesenheit  des  Gebieters  zur  Herbeischaffung  der  Hochzeitskosten 


154 


III.  Von  der  Lust. 


schilt  ihn  die  Gesellschafterin  darüber,  dass  die  Gebieterin  so  lange  warten  muss;  dabei 
nun  iiussert  sich  die  letztere  ordentlich.“  (P.) 

1129.  Thiit’  ich  mein  Auge  zu,  ich  weiss,  ich  verdeckt’ 
ihn;  und  dazu  spricht  nun  diese  Stadt:  Welch  ein  Grau- 
samer* 1 * *! 

1 Der  sie  nicht  schlafen  lässt.  „Weil  sic  mit  Rücksicht  auf  die  Nichterkennung 
ihres  Sinnes  zornig  spricht,  so  lässt  sie  die  Gesellschafterin  bei  Seite  und  sagt  , Stadt1. 
Der  Sinn  ist:  Du  bist  nicht  der  Art,  dass  du  Den,  der  mich  nie  verlässt , als  Einen  , der 
mich  verlassen  hat,  schmähen  solltest;  (so  redet  nur  die  böse  Stadt! ).“  (P.) 

1130.  Für  immer  wonniglich  weilt  er  in  meinem  Sinn. 
„In  der  Weite  weilt  er,  ein  Entfremdeter“,  spricht  diese  Stadt. 


114. 

VON  DER  ABLEGUNG  DER  SCHAM  REDEN. 

„Sowohl  der  Gebieter,  der  es  in  der  Entfernung  nicht  länger  aushalten 
kann,  als  die  Gebieterin,  die  (durch  Klage  ihrer  Liebesnoth)  die 
, Trauersituation4  * zu  verursachen  angefangen,  reden  von  der  Ablegung 
ihrer  Scham.  Ga  diess,  wenn  die  Liebe  einen  hohen  Grad  erreicht 
hat,  vor  sich  zu  gehen  pflegt  , so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  vorher- 
gehende.14 (P.) 

Gebieter: 

„Der  Gebieter,  der  es  in  der  Ferne  nicht  mehr  aushält,  redet.“  (P.) 

1131.  Denen,  die  der  Liebe  pflegten  und  nun  in  Leid 
sitzen,  bleibt  als  Zuflucht  das  „Palmyra-Ross“1;  kein  andrer 
Rath. 

i Die  Besteigung  eines  von  (stachlichteu)  Palmyra  - Blättern  gemachten  Rosses: 
stehendes  Bild  für  heftige  Liebesklagen. 

„Der  Gesellschafterin,  die  ihm  die  Besteigung  des  Palmyra-Rosses  (=  die  heftige  Liebes- 
klage)  mit  den  Worten  untersagte:  ,Du  mit  deiner  Schamhaftigkeit  bringst  das  nicht  zu 
Stande4,  antwortet  der  Gebieter.“  (P.) 

1132.  Es  nicht  ertragend,  schwingt  Leib  und  Leben  sich 
aufs  „ Palmyra- Ross  “,  die  Scham  ablegend. 


* Eine  kurze  Definition  dieser  Situation  ist:  „seine  Liebesnoth  offenbaren“.  Eine 
detaillirtere  lautet  so:  „Sieben  Stücke,  deren  erstes  ist:  die  Ursache  des  Weinens  sa- 
gen, während  die  traurige  Gesellschafterin  die  Thränen  abwischt,  und  deren  letztes  ist: 
verkünden,  dass  man  in  der  dichten  Finsterniss  ihn  habe  kommen  sehen.“  Vergl.  Nainpi 

I,  48:  „Die  Gebieterin  steht  der  Gesellschafterin  gegenüber  klagend  da;  die  Gesellschaf- 

terin steht  der  Erzieherin  gegenüber  klagend  da;  die  Erzieherin  stchtder  Nar/äj  („Gute- 

Mutter“  — eigne  Mutter)  gegenüber  klagend  da;  die  Narräj  steht  Vater  und  Mutter 

gegenüber  klagend  da.“ 


114.  Von  der  Ablegung  der  Scham  reden. 


155 


,,Der  Gesellschafterin , ilie  zu  ihm  gesagt:  ,Du  bei  deiner  Mannhaftigkeit  neben  der 
Schamhaftigkeit  bringst  die  Besteigung  des  Palmyra- Rosses  nicht  zu  Stande“,  antwortet 
der  Gebieter.“  (P.) 

1133.  Scham  und  Mannheit  war  sonst  mein  eigen : jetzt1 
ist  mein  eigen  das  Ross,  das  die  Verliebten  reiten. 

i Wo  sie  durch  die  Leidenschaft  gewichen  sind.  (P.) 

,,Die  Gesellschafterin  hat  gesagt:  .Schamhaftigkeit  und  Mannheit  sind  Schiffe  für  die 
Fluth  der  Liebesleidenschaft  (=  Mittel,  um  die  Leidenschaft  zu  überwinden);  sie  wer- 
den nicht  durch  dieselbe  zum  Weichen  gebracht.4  Darauf  antwortet  der  Gebieter.“  (P.) 

1134.  Der  starke  Strom  der  Leidenschaft  reisst  das 
Schiff  meiner  Scham  und  Mannheit  fort. 

.,Der  Gebieter  antwortet  der  Gesellschafterin  auf  die  Frage:  ,Wie  bist  du  denn  zu  die- 
ser Ungeduld  und  zu  diesem  Palmyra -lloss  gekommen?4  “ (P.) 

1135.  Die  mit  dem  kranzähnlichen  kleinen1  Armband 
schenkte  mir  Abends2  zu  leidende  Pein  mit  „Palmyra-Ross“. 

1 P.  findet  hierin  folgenden  verblümten  Sinn:  , , Sie  ist  ein  sehr  junges  Ding,  wel- 
ches, was  du  ihr  vorsagst,  nachsagt.  (Folglich:  Rede  zu  meinen  Gunsten!).44 

2 P.  bemerkt,  dass,  weil  der  Liebesschmerz  des  Abends  am  heftigsten  sei,  er  als  ein 
abendlicher  bezeichnet  werde. 

,.  Der  Gebieter  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt:  ,Die  Zeit  für  Besteigung  des 
Palmyra- Rosses  ist  für  den  heutigen  Tag  vorbei.  4 44  (P.) 

1136.  Denken  werd’  ich  an  das  „Reiten  des  Palmyra- 
Rosses“  selbst  um  Mitternacht 1 ; senken  kann  sich  jener  Thö- 
rin2  halber  meine  Wimper  nicht. 

i „Vertröste  mich  daher  in  Bezug  auf  die  Erfüllung  meines  Wunsches  nicht  auf 
morgen.“  (P.) 

■ Dies  ist  eine  gewöhnliche  Bezeichnung  des  weiblichen  Geschlechts  (im  stren- 
geren Sinne:  eines  Mädchens  von  sieben  Jahren). 

„Die  Gesellschafterin  sticht  das  Wort  ,Thöriu“  (V.  113G)  auf  und  sagt:  ,Die  weisen  Män- 
ner können  ja  viel  mehr  ertragen , als  die  thörichten  Frauen“.  Darauf  antwortet  der 

Gebieter.“  (P.) 

1137.  Es  giebt  kein  so  hochgemuthet  Wesen,  wie  ein 
Weib,  das,  wenn  auch  von  Oeean- gleicher  Liebe  leidend, 
doch  das  „Palmyra -Ross“  verschmäht. 

I 

..Die  Gebieterin  spricht,  während  bei  zunehmendem  Gewahrsam  ihre  Sehnsucht 
wächst.“  (P.) 

1138.  „Hochhehr  an  Würde!  ja  und  sehr  zart  sind 
wir1.“  Darauf  nicht  achtend,  bricht  durch’ s Geheimniss 
meine  Lieb’  und  lässt  sich  offen  aus. 


1 Die  Frauen. 


156 


111.  Von  der  Lust. 


1139.  „Niemand  noch  weiss  von  mir“.  So  denkend1, 
kreist2  meine  Lieb’  in  den  Gassen  ganz  geistverwirrt. 

1 P.  paraphrasirt  folgenderraaassen : „Dieweil  ich  vorher  verschlossen  war,  so  weiss 
von  mir  Niemand ; jetzt  nun,  wo  ich,  nicht  mehr  verschlossen , offenbar  geworden  bin. 
will  ich  mich  kund  machen:  so  denkend  u.  s.  w.“ 

2 Im  Gerede  der  Leute.  P.  sieht  in  „ geistverwirrt  eine  Andeutung  des  ampal 
id.  i.  „wenn  Eiuige  Kunde  von  etwas  haben  und  darüber  unter  sich  sprechen“)  und  in 
dem  „Kreisen“  eine  Andeutung  des  alar  (d.  i.  „wenn  Viele  Kunde  von  etwas  haben  und 
darüber  sich  tadelnd  aussprechen**). 

..Die  Gebieterin  redet  für  sich  selbst,  indem  sie  mit  der  Gesellschafterin  spröde  tliut,  die 
über  ihre  , Trauer  - Situation 1 (siehe  den  Eingang  des  Kapitels)  gelacht  hat.“  (P.) 

1140.  Sie  lachen,  dass  ich’s  mit  Augen  seh,  — die 
Unwissenden!  Das  macht,  sie  erfahren  nicht,  was  ich  er- 
fahre 1. 

i „Sie  (die  Gebieterin)  zürnt,  sprechend:  ,Die  weiss  nicht,  was  Liebestraucr  ist 
und  wird  von  der  Ehre  der  Vermählung  nicht  betroffen*.  Desshalb  redet  sie  (von  ihn 
wie  von  eiuer  Fremden.“  (P.) 


115. 

DAS  GERÜCHT  ZU  OHREN  BRINGEN. 

,,Diess  besteht  theils  darin,  dass  der  Gebieter,  der  das  heimliche  Yer 
hältniss  wünscht,  der  Gesellschafterin  kund  thut,  was  ihm  das  Gerede 
der  Leute  ist;  theils  darin,  dass  die  Gebieterin  und  die  Gesellschafterin, 
die  Vermählung  oder  , Miteinandergehen  ‘ wünschen,  ihn  von  dem  Ge- 
rede der  Leute  in  Kenutniss  setzen.“  (P.) 

Geb  ieter: 

..Der  Gebieter  spricht  zur  Gesellschafterin,  als  sie  ihm,  der  das  Nachts-Stelldichein  ver- 
fehlt hat  und  des  andern  Tags  gekommen  ist,  das  Gerede  der  Leute  mittheilt  und  ihn  der 
Hochzeit  wegen  befragt.“  (P.) 

1141.  Wie  sich  das  Gered’  erhebt,  festet  sich  in  mir  das 
Herz '.  Ein  Glück,  dass  das  die  Welt  nicht  weiss. 

i Denn  das  Gerede  der  Leute  wird  uns  einander  näher  bringen. 

1142.  Die  seltne  Art1  Der  mit  dem  Blumenaug  nicht 
ahnend,  hat  uns  sein  Gerede  - dieser  Ort  geschenkt. 

1 Geht,  den  Commentatoren  zufolge,  nicht  bloss  auf  den  seltnen  Charakter,  sondern 
auch  darauf,  dass  der  Geliebte  sie  selten  zu  sehen  bekam. 

2 Das  mich  der  Schwererreichbareu  näher  bringt. 


1 143.  Hab  ich  denn  nicht  die  stadtbekannte  Laster- 


113.  Das  Gerücht  zu  Ohren  bringen.  l'~)7 

rede?  Sie  ist  so  angethan,  als  wär’s  1 — obschon  noch  nicht 
erlangt  — erlangt. 

1  Die  Verbindung  mit  der  Geliebten. 

1 144.  Durch  die  Lästerrede  wächst  die  Leidenschaft ; 
wär  die  nicht,  sie  würde  welken,  ihrer  Lieblichkeit  ver- 
lustig. 

1145.  Wie,  je  mehr  man  sich  berauscht,  die  Lust  am 
Rausche  wächst,  so  wird,  je  mehr  man  sie  erfährt,  mir  meine 
Liebe  lieblicher. 

Das  Gerede  von  seiner  Liebe  ist  ihm  ein  wahrer  Rausch  - Trank . davon  seine  Seele 
nie  satt  wird. 

Gebieterin: 

..Die  Gebieterin,  die  durch  zwischenliegende  Hindernisse  und  durch  Verfehlen  des 
nächtlichen  Stelldicheins  sich  mit  dem  Gebieter  nicht  vereinigen  konnte  , spricht,  wäh- 
rend er  ausserhalb  des  Verschlusses  sich  befindet,  zur  Gesellschafterin,  und  frägt,  in- 
dem sie  das  Gerede  der  Leute  zur  Kenntniss  bringt , wegen  der  Heirath.“  (P.) 

1146.  Das  Sehen1  Ein  Tag!  Das  Reden  — wie  wenn 
der  Drache2  den  Mond  greift 3. 

1 Des  Geliebten. 

2 Jener  Drache , der  dem  indischen  Volksglauben  gemäss  den  Mond  verschlingt , so 
oft  sich  derselbe  verfinstert. 

3 Wie  die  von  dem  bösen  Drachen  verursachte  Mondfinsterniss  nach  allen  Welt- 
gegenden hin  gesehen  wird,  so  fliegt  das  meinen  Ruf  verdunkelnde  Gerücht  der  bösen 
Welt  in  alle  vier  Winde  hinaus.  (Aller  Augen  siud  auf  mich  gerichtet,  wie  zur  Zeit  dev 
Mondfinsterniss.)  Darum  solltest  du  mich  in  aller  Schnelle  öffentlich  heirathen. 

..Die  Gebieterin  spricht,  nachdem  die  Gesellschafterin,  — wissend,  dass  der  Gebieter 
ausserhalb  des  Verschlusses  sich  befindet,  — ein  Gespräch  veranlasst  hat,  indem  sie  zur 
Gebieterin,  welche  die  Verzögerung  der  Hochzeit  nicht  ertragen  kann,  sagte:  Du  musst 
in  Ansehung  des  Stadtgeredes  und  der  mütterlichen  Schelte  Geduld  lernen.“  (P.) 

1147.  Das  Leute  -Gered’  als  Dünger,  der  Mutter  Scheit’ 
als  Wasser  — wächst  diese  Pein. 

1148.  Mit  dem  Stadtgerede  die  Leidenschaft  löschen 
wollen,  ist  als  wollte  man  mit  Oel  den  Docht  löschen. 

..Die  Gebieterin,  die  nach  Weggang  des  Gebieters  zur  Herbeiscliaffung  der  Hochzeits- 
kosten ungeduldig  war,  wissend,  dass  er  zuriiekgekommen  ausserhalb  des  Verschlusses 
steht,  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  musst  das  Gerede  fürchtend 
dich  gedulden.“  (P.) 

1149.  Sollt’  ich  mich  denn  des  Geredes  schämen,  nach- 
dem Er,  der  zu  mir  sagte:  Sorge  nicht!  mich  also  verlassen 
hat,  dass  sich  nun  Viele  schämen1? 


158 


III.  Von  der  Lust. 


1 Indem  er  eben  ihre  Verdächtigungen,  als  würde  er  ausbleiben.  durch  die  Wieder- 
kehr zu  Schanden  gemacht  hat. 

..Die  Gesellschafterin  spricht,  während  der  Gebieter  ausserhalb  des  Verschlusses  sich 
befindet,  zur  Gebieterin , bringt  das  Gerede  der  Leute  zur  Kenntniss  und  sucht  ihr  zum 
Mitgehen  Lust  zu  machen. “ (P.) 

1150.  Wenn  wirs  wünschen,  gewähren  wird’s  der 
Liebste.  Dieser  Ort  erhebt  ein  uns  erwünscht 1 Gerede. 

1 Insofern  es  das  ,,Zusaramenweggehn“  der  Liebenden  zu  veranlassen  geeignet  ist. 


DIE  ÖFFENTLICHE  EHE. 

„Oeffentliche  Ehe  heisst  (ein  Weib)  nehmen,  indem  der  es  zu  nehmen 
geeignete  Mann  sieh  mit  der  Frau  in  aller  Form  verbindet,  die  aber  welche 
die  Frau  zu  geben  geeignet  sind,  sie  geben.“  — Tolkäppijam. 


116. 

DIE  TRENNUNG  NICHT  ERTRAGEN  KÖNNEN. 

„Das  ist  so  angethan,  dass  an  dem  Tage,  wo  nach  vollzogner  Hochzeit 
der  Gemahl  sich  in  Sachen  der  , Tugend,  des  Guts  oder  der  Lust'  von 
der  Gattin  trennt,  sie  diese  Trennung  nicht  ertragen  kann.  Es  finden 
liier  vier  Arten  statt:  1)  dass  die  Gesellschafterin  zum  Gebieter  redet, 
der  ihr  die  Trennung  mitgetheilt;  2)  dass  die  Gebieterin,  die  sie  aus 
Andeutungen  von  ihm  weiss,  zur  Gesellschafterin  redet;  3)  dass  sie 
spricht,  nachdem  man  ihr  die  Trennung  mitgetheilt;  4)  dass  sie  zur 
Gesellschafterin  spricht,  als  man  sie  nach  der  Trennung  beruhigen 

will.“  (P.) 

Gesellschafterin: 

..Die  Gesellschafterin  spricht  zum  Gebieter,  der  gesagt  hat,  er  werde  gehen  und  bald 
wiederkommen.“  (P.) 

1151.  Mir  meid’  es,  falls  du  nicht  gehst;  sonst  — melde 
den  (Ueber  -)  Lebenden  dein  baldig  Kommen  '. 

1 Der  Sinn  ist:  Deine  Gattin  wird  die  Trennung  nicht  überleben.  („Er  soll  da- 
durch zum  Bleiben  bewogen  werden.“) 

Gebieterin: 

„Die  Gebieterin , die  aus  Andeutungen  von  ihm  seine  Trennung  erfahren  hat,  spricht 
zur  Gesellschafterin.“  (P.) 

1152.  Wonnesam  war  sonst  sein  blosses  Ansehn;  jetzt 
ist  seine  Umarmung  voll  trennungsbanger  Trauer. 


IGO 


I IT . Von  der  Lust. 


1153.  Schwer  ist  vertraun , wenn  selbst  bei  Dem,  der’s 
recht  wohl  weiss  gelegentliche  Trennung  kommt. 

!,,Dass  er  mir  versprochen , ,ich  trenne  mich  nie£  und  dass  ich  unsre  Trennung 
nicht  aushalte.“  (P.)  — Ariel:  Difficile  est  la  consolation  (?) , meine  chez  cux,  qui  en 
tkaient  instruits,  de  l'absence  une  fois  v^ritable.  Die  Auffassung  der  Oommentatoren 
stimmt  jedenfalls  besser  zum  folgenden  Verse. 

1154.  Wenn  Der  weggeht,  der  zärtlich  sprach:  Fürchte 
nichts!  ist  dann  Schuld  hei  Denen,  die  auf  sein  festes  Wort 
fest  bauten? 

1155.  Willst  du  mich  erhalten,  so  halt  die  Trennung 
Dessen  hin,  der  mir  sich  einte;  geht  er,  so  ist  Vereinigung 
sehr  schwer. 

Ariel:  Si  vous  aimez  (?)  , ne  consentez  pas  a l'absence  de  qui  vous  approche ; s’il 
s'^loigne,  la  rdunion  est  difficile. 

,,  Die  Gebieterin  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  ihr  erzählt  hat,  wie  ihr  der  Gebieter 
seine  Trennung  kund  gethan.“  (P.) 

1156.  Wenn  er  so  harten  Auges  ist,  dass  er  von  Tren- 
nung redet,  so  hat  mein  Wunsch  nach  seiner  Gunst  gar 
schweren  Stand. 

„Wenn  er,  bei  mir,  lieblos  an  Trennung  denken  und  sie  anmelden  kann,  wie  sollt’ 
er  da,  von  mir  fern,  in  Liebe  an  mich  denken . wieder  kommen  und  mir  seine  Gunst  be- 
wahren?“ 

1 157.  Plaudert  denn  nicht  der  1 meinem  Arm  entgleitende 
Ring  des  Fürsten  Fortgang  aus2? 

1 Sc.  in  Folge  meiner  Abmagerung  durch  den  Trennungsschmerz. 

2 Du  hättest  ihn  zurückhalten  und  es  mir  dann  sagen  sollen ; so  thust  du  nichts  wei- 
ter, als  was  schon  mein  Armband  gethan  hat.  (Das  hättest  du  dir  ersparen  können.)  (P.) 

1158.  Unfreundlich  ist  in  freundeloser1  Stadt  das  Leben; 
unlieber  noch  des  Liebsten  Trennung. 

1 P.  sieht  darin  eine  Anspielung  darauf,  dass  man,  statt  den  Liebsten  zurückzu- 
halten, zu  seinem  Weggang  gestimmt  hat. 

..Die  Gebieterin  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Da  die  Leidenschaft,  dem 

Feuer  gleich,  den  Ort,  wo  sie  herbergt,  verzehrt,  so  musst  du  dich  gedulden 
lernen.“  (P.) 

1159.  Wenn  man’s  fasst,  so  sengt  dasFeuer;  aber  wird’s 
denn,  wie  der  Liebesschmerz,  wenn  man  sich  fern  hält, 
sengen? 

,,Wie  kann  ich  das,  was  weit  ärger  als  Feuer  ist,  ertragen  lernen?“  (P.) 


116.  Die  Trennung  nicht  etc.  — 117.  Sich  in  Kummer  abzehrend  jammern. 


, .Die  Gebieterin  spricht  (ironischer  Weise)  zur  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Viele 
Frauen  ertragen  die  Trennung;  du  thust  das  nicht.“  (P.) 

1160.  Freilich,  derer,  die  das  Schwere  tragen,  den 
grimmen  Schmerz  tödten,  die  Trennung  tragen  und  dann  doch 
lehen  bleiben,  sind  Viele! 

P.  sieht  in  ärri,  — nltti.  — ärri  — (sprich  ätti,  nltti.  ätti)  eine  phonetische  Aus- 
malung der  Schwierigkeit. 


117. 

SICH  IN  KUMMER  ABZEHREND  JAMMERN. 

„Die  Gebieterin,  welche  die  Trennung  nicht  ertragen  kann,  denkt 
stets  an  ihre  Trübsal,  und  in  diesem  Gedanken  sich  abhärmend  jammert 

sie.“  (P.) 

Gebieterin; 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Deine  Liebespein  kund 
zu  thun  ziemt  deiner  Schamhaftigkeit  nicht.“  (P.) 

1161.  Ich  will  wohl  meine  Pein  bergen;  allein  wie  das 
Quell -Wasser  dem  Schöpfenden,  so  mehrt  sie  sich. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  musst  es  entweder 
den  Leuten  hier  verbergen  oder  durch  Botschaft  den  Leuten  dort  (resp.  dem  Geliebten) 
zu  wissen  thun  (dass  du’s  nicht  länger  aushältst).“  (P.) 

1162.  Meines  Schmerzes  Bergung  bring  ich  nicht  zuweg; 
Dem  aber,  der  den  Schmerz  mir  machte,  ihn  zu  sagen,  bringt 
mir  Scham. 

1163.  In  meinem  traguntüchtigen  Leib  hangen  an  der 
Tragstange1  meiner  Seele  balancirend  Lieb’  und  Scham. 

1 Kä  oder  kävati  heisst  die  elastische  Tragstange,  die,  an  beiden  Enden  gleichmässig 
belastet,  auf  den  Schultern  ruht.  — (Liebe  und  Scham  kämpfen  in  ihrer  Seele.) 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  , Hausfrauen  fallen  nicht 
in  das  Meer  der  Leidenschaft , — und  ob  sie  fielen  — so  können  sie  auf  einem  angemes- 
senen Schiffe  dariibersetzen.“1  (P.) 

1164.  Die  See  der  Lieb’  ist  sicher  da;  aber  über  sie 
zu  setzen  fehlt  das  sichre  Schiff. 

„Die  Gebieterin  spricht,  mit  der  Gesellschafterin  wegen  , Nicht-  Botschaftgehens  ‘ 
schmollend.“  (P.) 

1165.  Was  werden  Die  wohl  bei  Feindschaft  thun,  die, 
im  Schooss  der  Freundschaft  selbst,  den  Harm  herholen? 

m.  ii 


j 02  III.  Von  der  Lust. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin , die  gesagt  hat:  , Bei  denen,  die  durch 

die  Liebe  Freude  genossen,  pflegt  auch  der  dadurch  verursachte  Schmerz 
einzukehren.“1  (P.) 

1 1 OG.  (Der  Liebe)  Wenn’  ist  wohl  ein  Meer;  wenn  aber 
die  Liebe  martert1,  so  ist  ihr  Weh  noch  grösser. 

1 D.  li.  wenn  sie  ihre  Schattenseiten  (als  Trennungsschinerz  u.  s.  w.)  hervorkehrt. 

,,Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Ei,  auf  dem  Floss  der 
Tugend  lässt  sich  das  Meer  der  Liebe  überschiffen.“4  (P.) 

1167.  Auf  der  Liebe  reissendem  Strome  schwimmend, 
kein  Ufer  seif  ich.  Noch  um  Mitternacht  bin  ich.1 

i Ohne  Helfer,  — und  ohne  doch  unterzugehen  (und  so  meiner  Qual  mit  einem  Mal 
los  zu  werden).  In  diesem  Sinne  P. 

„Die  Gebieterin,  von  der  Grausamkeit  der  Nacht  redend,  jammert.“  (P.) 

1168.  Sehr  zärtlich  ist  die  Nacht.  Alles  Leben  in  Schlaf 
lullend,  behält  sie  nur  mich  zur  Gefährtin. 

P.  fasst  den  Vers  ironisch:  denn  ,,alle  Wesen,  deren  jedes  sich  mit  seiner  Art  eint, 
lässt  sie  allein  und  wählt  mich,  die  ich  nahe  am  »Sterben  bin,  zu  ihrer  Gesellschafterin.“ 

1169.  Grösser  als  des  Grausamen1  Grausamkeit  ist  ihre 
Grausamkeit:  sacht  in  diesen  Tagen  schleichen  sie  — die 
Nächte. 

1 Der  mich  verlassen  hat. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  , Weine  nicht,  sonst 
verdirbt  deiner  Augen  grosse  Schönheit.“1  (P.) 

1170.  Zieht  mein  Auge,  dem  Gedanken  gleich,  hinwärts 
zu  ihm,  — ach  es  kann  ja  überschwimmen  nicht  derThränen 
Strom. 

Wenn  mein  Auge  geistiger  Weise  den  Fernen  zu  erreichen  sucht,  so  bricht  es  in 
einen  Strom  von  Thränen  aus,  der  es  an  der  Erreichung  hindert.  (Es  bleibt  gleich 
eam  auf  halbem  Wege  an  einem  Strome  liegen.)  Ohne  Bild:  Heftiger  Schmerz  um- 
dunkelt sein  in  der  Phantasie  lieraufbeschwornes  Bild. 

P.  bemerkt,  dass  schon  mit  dieser  Strophe  der  Gegenstand  des  nächsten  Kapitels 
eiugefiihrt  werde. 


118.  Wie  die  Augen  vor  Sehnsucht  vergehen. 


163 

118. 

WIE  DIE  AUGEN  VOR  SEHNSUCHT  VERGEHEN. 

„Das  ist:  die  Augen  leiden  von  der  Sucht  nach  dem  Anschauen  des 
Gebieters.“  (P.l 

Gebieterin: 

1171.  Was  jammert  denn  nun  das  Auge  selbst?  Nur 
weil’s  mich  schauen  liess1,  schaut’  ich  dies  nimmer  wei- 
chend Weh.2 

1 Den  Geliebten  nämlich. 

2 Mithin  ist  es  ja  der  Urheber  des  Elends  , und  sollte  nun  nicht  darüber  jammern. 

1172.  Was  ist’s,  dass  die  in  blindem  Unverstand  umher- 
gafften — die  schwarzen  Augen  — , in  unbilligem  Unverstand 
nun  Leid  tragen? 

1173.  Erst  schauten  sie  hurtig  um;  nun  jammern  sie: 
das  ist  doch  wahrlich  Lachens  werth. 

1174.  Zu  träufeln  unfähig,  trockneten  die  schwarzen 
Augen  aus,  rettungslosen  Schmerz,  der  zu  leben  unfähig 
macht,  mir  einpflanzend. 

1175.  Schlaf  nicht  fassend,  leidet  mein  Auge  nun,  das 
einen  selbst  vom  Meer  nicht  zu  fassenden  Schmerz  mir  be- 
reitete. 

1176.  Wie  süss  mir  das  ist!  Das  Auge,  das  diesen 
Schmerz  mir  schuf,  steckt  nun  selbst  darin. 

1177.  Das  Auge,  das  sonst  erweicht,  erweicht  nach  dem 
Ersehnten  sah,  mög’  es  nun  gebeugt,  gebeugt  seine  Fluth 
ausgiessen. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  , Der  Liebste  ist  nicht 
fortgegangen ; er  ist  hier,  du  musst  dich  gedulden , bis  du  ihn  siehst.“  “ (P.) 

1178.  Der  sonst  so  Glühende  — gleichgültig  weilt  er 
hier;  ihn  nicht  erschauend — ergiebt  sich  nicht  mein  Aug. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Du  selbst  musst  dich 
gedulden  und  dein  Auge  muss  schlafen.4  “ (P.) 

1179.  Kommt  er  nicht,  so  schläft  es  nicht;  kommt  er, 

n* 


104 


III.  Von  der  Lust. 


so  schläft  es  auch  nicht:  so  hat  denn  grosse  Noth  mein  Aug 
getroffen. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  musst  seine  Grau 
samkeit  verbergen,  damit  die  Leute  ihn  nicht  schmähen.  “ (P.) 

1180.  Aus  denen,  die,  wie  ich,  Augen  gleich  geschlagnen 
Trommeln  1 haben,  ein  Geheimniss  herauszuholen,  fällt  nicht 
scliwer  der  Welt. 

i Man  erinnere  sich,  dass  die  Trommel  auch  vom  Ausrufer  gebraucht  wird. 


119. 

LEIDWESEN  ÜBER  DIE  GELBE  FARBE. 

„Gelbe  Farbe  ist  ein  gewisser  Wechsel  der  Farbe  in  Folge  davon, 
dass  man  die  Trennung  nicht  aushalten  kann.“  (P.) 

Gebieterin: 

„ Die  Gebieterin , die  zuvor  in  die  Trennung  gewilligt  hat , spricht  für  sich , nachdem  sie, 
die  Trennung  nicht  ertragend,  gelbe  Farbe  bekommen  hat.“  (P.) 

1181.  Dem  Liebenden  willigt’  ich  die  Liebesentziehung 
zu.  Wem  soll  ich  nun  mein  vergelbtes  Ansehn  klagen? 

„Die  Gebieterin  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  besorgt,  sie  möchte  es  nicht  aushalten, 
um  sie  zu  überzeugen,  dass  sie’s  wohl  aushalten  werde.“  (P.) 

1182.  „Er  hat  mich  dir  geschenkt“!  So  gleichsam  ju- 
belnd steigt  und  sitzt  das  Gelb  auf  meinem  Leib. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  musst  dich  ge- 
dulden, damit  Schönheit  und  Scham  nicht  leiden.  “ (P.) 

1183.  Schön  und  Scham  hat  er  genommen;  er  schenkte 
Gram  und  Gelb  dafür. 

,,Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  kennst  ja  die  von 
ihm  geausserten  Worte  und  seine  guten  Eigenschaften  ; er  wird  bald  herbeieilen. ‘ “ (P.) 

1184.  Wohl  eingedenk  bin  ich,  und  was  ich  red’,  ist  seine 
Tugend.  So  ist  denn  lauter  Lug  cliess  Gelb. 

„Die  Gesellschafterin  hat  gesagt:  ,Du  hältst  es  nicht  aus  , wenn  der  Gebieter  sich  auch 
nur  auf  eine  kurze  Strecke  trennt.1  Darauf  erinnert  die  Gebieterin  an  früher 
Vorgekommnes.“  (P.) 

1185.  Schau  da  geht  mein  Liebster  fort;  schau  hier  be- 
schleicht Gelb  meinen  Leib. 1 


119.  Leidwesen  üb.  d.  gelbe  Farbe.  — 120.  Einsamen  Schmerzes  Grösse. 


i „Sein  Gehen  und  das  Kommen  der  gelben  Farbe,  ist  wie  das  Kommen  und  Gehen 
von  Tag  und  Nacht  (etwas  so  Gewöhnliches).  Warum  sprichst  du  denn,  obschon  du  das 
recht  wohl  weisst,  als  wüsstest  du  es  nicht?“  (P.) 

1186.  Wie  clie  Nacht,  die  auf  das  Ende  des  Lichtes 
lauert,  so  das  Gelb  das  auf  der  Umarmung  Ende  lauert.1 

1 Um  dann  schnell  hereinzubrechen. 

1187.  Ihn  umfahend,  ruht’  ich;  ein  wenig  weg  rückt' 
ich:  gleich  kam  das  Gelb  wie  greifbar. 

„Wenn  das  schon  bei  einer  blossen  Seitenwendung  geschah,  — soll  ich  dann  erst 
sagen,  was  bei  einer  Trennung  geschehen  wird  ?“  (P.) 

„Sie  spricht  schmollend  zur  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Dass  du  so  gelb  wirst, 
passt  sich  nicht.“  “ (P.) 

1188.  Man  sagt  blos:  „Sie  ist  vergelbt!“ — „Er  verliess 
sie ! “ wird  Niemand  sagen. 

1189.  Möge  mein  Leib,  wie  es  so  geht,  gelben,  wenn  nur 
der  Ueberreder  1 makellos  dasteht. 

1 Zur  Einwilligung  in  die  Trennung.  So  P. 

„Sie  übernimmt  die  Verteidigung,  als  die  Gesellschafterin,  um  es  der  Gebieterin 
erträglich  zu  machen  , den  Gebieter  tadelt.“  (P.) 

1190.  Mich  als  die  „Gelbe“  bereden  lassen,  ist  mir  ganz 
recht,  wrenn  sie  nicht  von  Lieblosigkeit  Dessen  reden,  der 
mich  zur  Lieb’  überredete. 


120. 

EINSAMEN  SCHMERZES  GRÖSSE. 

Gebieterin: 

. ,Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Der  Liebste,  noch 
ungeduldiger  als  du,  wird  bald  kommen;  mit  ihm  wirst  du  grosse  Lust 
gemessen4.“  (P.) 

1191.  Die  das  erlangt,  dass  der  von  ihr  Geliebte  sie 
wieder  liebt,  — die  hat  der  Liebe  steinlose  Frucht1  erlangt.2 

1 Den  reinen  Vollgenuss. 

2 Nicht  also  ich,  von  der  sich  der  Liebste  nicht  bloss  getrennt  hat,  zu  der  er  auch 
nicht  wiederkommt. 

1192.  Wie  wenn  die  Wolke  an  die  Lebenden  spendet, 
so  die  Gunst,  die  der  Liebende  an  die  Geliebte  verschwendet. 

1193.  Nur  denen,  die  von  dem  Geliebten  geliebt  werden, 
steht  das  stolze  Wort  zu:  „Wir  leben  wirklich.“ 


III.  Von  der  Lust. 


166  ' 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  besitzest  eine  gött- 
liche Treue,  dass  du,  aus  Furcht,  man  möchte  deinen  Liebsten  tadeln,  seine  Lieblosig- 
keit verbirgst:  dafür  wirst  du  von  den  treuen  Ehefrauen  werthgehalten  werden.“  (P.) 

1194.  Unglücklich  sind  auch  die  Werthgehaltnen,  wer- 
den sie  nicht  von  denen,  die  sie  werth  halten,  werth  gehalten. 

„Sie  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Weil  du  ihn  liebst,  so  hast  du,  seinen 
Sinn  kennend , dich  geduldet.1  “ (P.) 

1195.  Den  ich  lieb  habe,  was  kann  mir  Der  erweisen, 
wenn  er  doch  mich  nicht  lieb  hat? 

1196.  Bei  einseitiger  Neigung  ist  die  Liebe  unannehm- 
lich ; annehmlich  wie  die  Tragstange 1 ist  sie,  wenn  bei- 
derseitig. 

1 Wo  die  hinten  angehängte  Last  die  vornangehäugte  balancirt. 

1197.  Sieht  er  denn  mein  Klagen  und  Zagen  nicht  — der 
wider  den  Einen  los  stürmende  Liebesgott? 

„Die  Gebieterin,  die  keine  Botschaft  von  dem  Gebieter  kommen  sieht,  spricht.“  (P.) 

1198.  Hartem  Herzens  ist  Niemand,  als  wer  olin’  ein 
süsses  Wort  vom  Geliebten  her  am  Leben  bleibt. 

1 199.  Mag  auch  der  Geliebte  mir  nicht  gewogen  sein, 
dem  Ohr  ist  selbst  ein  Laut  von  ihm  gar  lieb. 

„Sie,  die,  von  dem  Geliebten  keine  Botschaft  empfangend,  daran  denkt,  ihm  Botschaft 
zu  schicken,  spricht  bei  sich  selbst.  “ 

1200.  Dem,  der  nicht  dein  ist,  sagst  du  deinen  Schmerz. 
Füll’  doch  das  Meer  aus!  Leb  wohl,  Herz! 1 

i Du  unternimmst  Thörichtes,  weil  Nutzloses.  Lass  das  bleiben! 


121. 

KLAGE  HER  GEDENKENDEN. 

,Das  ist:  der  Gebieter,  an  die  Wonne  der  frühem  Vereinigung  den- 
kend, fühlt  sich  dort  im  Lager  einsam,  oder  auch  die  Gebieterin  fühlt 
sich  einsam.“  (P.) 

Gebieter: 

„Der  Gebieter  spricht  zu  dem  auf  Botschaft  gehenden  Gesellschafter.“  (P.j 

1201.  Bei  blossem  Gedanken  bereite  sie  Hochgenuss; 
drum  ist  sie  lieblicher  als  Meth  — die  Liehe1. 


1 Vergl.  Vers  1090. 


121.  Klage  der  Gedenkenden. 


1(37 


1202.  Wie  ist  die  Liebe1?  Schau,  sie  isl  einzig-  süss ! 
Nicht  ein  Einziges  stüsst  uns  zu,  wenn  wir  an  die,  so  uns 
Heben,  denken. 

i P.  nimmt  eneittu  (von  welcher  Art?)  im  Sinne  von  eneittum  (von  welcher  Art  auch 
immer,  jedenfalls).  Nach  ihm  ist  der  Sinn : Von  welcher  Art  die  Liebe  auch  immer  sei, 
— oh  vereint,  oh  getrennt  — sie  ist  stets  gleich  süss. 


Gebieterin: 

..Die  im  Gedanken  an  den  Gebieter  bekümmerte  Gebieterin  spricht  zur  Gesell- 
schafterin.“ (P.) 

1203.  Zu  gedenken  scheinend,  gedenkt  er  wohl  nicht; 
mein  Niessen,  aufzuspriessen  scheinend,  erstirbt1. 

i Dem  Volksglauben  zufolge  verkündet  sich  das  Angedenken  des  fernen  Geliebten 
in  dem  Niessen  der  Geliebten.  Da  nun  ihr  Niessen  halb  stecken  bleibt,  so  legt  sie  sich 
das  Angedenken  des  fernen  Geliebten  als  ein  oberflächliches,  nicht  ernstliches  aus. 

1204.  Bin  ich  etwa  nicht  in  seinem  Herzen  ? O in  meinem 
Herzen  ist  er. 

1205.  Aus  seinem  Herzen  hat  er  mich  hinausgeschlossen ; 
schämt  er  sich  nicht,  dass  er  ohn  Aufhören  in  mein  Herz 
kommt? 

Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  bekümmerst  dich  in 

der  Rückerinnerung  an  die  Wonne  der  frühem  Vereinigung;  du  musst  das 
vergessen.“  (P.) 

1206.  Wovon  leb’  ich  denn?  Davon  leb’  ich,  dass  ich  mir 
verlebendige  die  Tage  meiner  Gemeinschaft  mit  ihm. 

1207.  Wenn  ich  vergäss e,  was  würd’  aus  mir?  Selbst 
wenn  ich,  die  ich  nicht  vergessen  kann,  mich  erinnere,  ver- 
brennt mein  Innerstes. 


,,  Sie  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Der  Gebieter  kennt  dein  Elend  , 
er  wird  kommen  und  dich  erfreun.*  “ (P.) 

1208.  Ich  mag  an  ihn  denken,  so  viel  ich  will,  er  wird 
nicht  bös.  Nicht  wahr?  das  ist  die  ganze  Gunst,  die  mir 
mein  Liebster  leiht. 

,, Traurig,  dass  sie  von  dem  Gebieter  keine  Botschaft  kommen  sieht,  spricht  sie  zu  der 
tröstenden  Gesellschafterin.“  (P.) 

1209.  Mein  liebes  Leben  stirbt,  wenn  ich  stark  denk’  an 
die  Härte  Dess,  der  „Wir  sind  eins“  sagte. 

1210.  Mond,  birg  dich  nicht,  dass  ich  mit  Augen  schau  1 


168 


III.  Von  der  Lust. 


Den,  der,  ohne  von  mir  zu  scheiden2,  wohl  in  die  Weite  zog. 
— Leb  wohl,  Mond3! 

1 Dass  sich  unsre  beiderseitigen  Blicke  in  dir  begegnen. 

2 Ohne  ans  meinem  Herzen  zu  scheiden. 

3, .So  (schnell  abbrechend)  sagt  sie,  weil  die  Sehnsucht  sie  beschleicht.“  (P.) 


122. 

DIE  AKT  DES  TRAUMES  ERZÄHLEN. 

„Das  ist:  die  Gebieterin  erzählt  der  Gesellschafterin  den  gehabten 
Traum.“  (P.) 

Gebieterin: 

„ Die  Gebieterin , die  den  Boten  des  Gebieters  hat  kommen  sehen  , spricht.“  (P.) 

1211.  Was  für  ein  Gastfest  soll  ich  dem  Traume  geben, 
der  mit  dem  Boten  des  Liebsten  kam? 

So  sagt  sie,  weil  er  nun  im  wachen  Zustande  entschwunden  ist.  i P.) 

,,Die  Gebieterin,  die  eine  Botschaft  zu  schicken  gedenkt,  spricht.“ 

1212.  Falls  auf  mein  Flehn  mein  schwarzes  Kajel1  Aug. 
einschläft,  will  ich  dem  mir  Verbundenen,  wie  ich  wirklich2 
lebe,  sagen. 

1 Dem  kajal  ^sel  oder  kenJei)  = Fisch,  eine  Art  Karpfen  (Cyprinus  fimbriatus)  wird 
da3  Auge  sehr  häufig  verglichen. 

2 Dem  Boten  kann  ich  doch  nicht  alles  so  sagen.  In  diesem  Sinne  P. 

..Zur  Gesellschafterin,  die  da  fürchtet,  die  Gebieterin  möchte  es  nicht  aushalten,  spricht 
die  Letztere,  um  zu  zeigen,  dass  sie  es  wohl  aushalten  werde.“  (P.) 

1213.  Weil,  der  im  Wachen  mich  nicht  minnt,  mir  im 
Traum  erscheint,  leb’  ich  noch  länger. 

1214.  Wonne  wird  mir  im  Traum,  da  er  Den,  der  im 
Wachen  mich  nicht  minnt,  aufsucht  und  herbringt. 

1215.  Damals  war,  was  im  Wachen  erschien,  und  nun 
ist  selbst  der  Traum,  wenn  er  erscheint,  so  süss.1 

i „ So  ist  denn  für  mich  Beides  gleich.“  (P.) 

1216.  Wär’  dieses  einzige1  Wachen  nicht,  — im  Traume 
wiche  mein  Liebster  nie. 

1 „Diess  steht,  um  die  grausame  Natur  desselben  in’s  Licht  zu  stellen.“  (P.> 


122.  Traum  erzählen.  — 123.  Beim  Anblick  d.  Abends  jammern.  101) 

„Die  Gebieterin,  die  beim  Erwachen  den  Gebieter  nicht  sieht,  spricht,  an  die  Ver- 
einigung im  Schlafe  denkend,  ungeduldig.“  (P.) 

1217.  Der  im  Wachen  mich  nicht  minnt,  — der  Grau- 
same! — was  martert  er  mich  im  Traum? 

„Gegen  die  Gesellschafterin,  die  zu  eigner  Geduldung  den  Gebieter  tadelt,  übernimmt 
die  Gebieterin  seine  Vertheidigung.“  (P.) 

1218.  Zur  Schlummerzeit  an  meiner  Schulter  hängend; 
zieht  er  sich  zur  Wachenszeit  flugs  in  mein  Herz  zurück. 

t „Da  er  mich  also  nie  verlässt,  so  darfst  du  ihn  nicht  tadeln.“  (P.) 

1219.  Die  nicht  im  Traum  den  Liebsten  schaun, 1 thun 
dem  weh,2  der  im  Wachen  (mich)  minnelos  lässt. 

1 „Weil  sie  selbst  keinen  haben.“  (P.) 

2 Durch  üble  Nachrede. 

Ganz  anders  Ariel:  De  celui,  qui  en  rdalitd  (les)  abandonne,  s’inquifetent  les 
ffemmes)  non  visitdes  en  reve  par  leur  adorä! 

1220.  Im  Wachen  hab’  er  mich  verlassen,  sagen  sie; 
sie  sehen  ihn  wohl  nicht  im  Schlafe  — die  Leute  hier. 

Wüssten  sie,  dass  er  im  Traume  unablässig  bei  mir  ist,  so  würden  sie  ihn  nicht 
grausam  schelten. 


123. 

BEIM  ANBLICK  DES  ABENDS  JAMMERN. 


Gebieterin: 

„Sie  spricht  mit  dem  Abend  schmollend.“  (P.) 

1221.  Labe-Zeit1? — Das  bist  du  nicht.  Eine  Lanze2  bist 
du,  die  der  Vermählten  Leben  frisst.  Fahr  hin,  Abend! 

1 Eigentlich  „Abend“;  allein  mälei  (Abend)  heisst  auch  „ Guirlande  “ ; und  diese 
Anspielung,  im  Gegensatz  zu  dem  folgenden  velei  (siehe  die  folg.  Anm.)  scheint  beab- 
sichtigt. Ich  habe  diese  Anspielung  einigermaassen  nachzubilden  versucht  mit:  Labe  — 
Lanze). 

2Vel-ei  (du  hast  eine  Lanze);  der  Commentar  freilich  fasst  es  velei — ,f*Zeit“  und 
zwar  „End -Zeit“  (wie  denn  velei  auch  „Grenze“  heisst).  Danach  wäre  zu  übersetzen  : 
Du  bist  die  Todeszeit,  die  u.  s.  w. 

„Die  Gebieterin  spricht,  indem  sie  ihren  Gemüthszustand  auf  den  Abend  überträgt.“  (P.) 

1222.  Mattäugig  bist  du,  leb  wohl,  trübsinniger  Abend! 
Ist,  wie  mein  Freund,  auch  deine  Genossinn  hartäugig? 

„Die  Gebieterin  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  zur  Geduld  gemahnt  hat.“  (P.) 

1223.  Der  bei  aufsteigendem  Frösteln  erblassende1 


170 


III.  Von  der  Lust. 


Abend  kommt  so,  dass  bei  aufsteigender  Angst  mein  Weh 
wächst. 

Sie  sieht  in  der  fröstelnden  Abendkühle  und  in  den  erblassenden  Abendfarben  ein 
Abbild  ihrer  Stimmung. 

1224.  Wo  der  Liebste  nicht  ist,  kommt  der  Abend  her, 
wie  der  Feind  auf  dem  Feld  der  Schlacht. 

1225.  Was  hab’  ich  doch  dem  Morgen  zulieb  gethan? 
Was  hab’  ich  doch  dem  Abend  zuleid  gethan1? 

1 Der  Morgen,  au  dem  ich  des  Gatten  Weggang  fürchtete,  war  sonst  mein  Feind; 
jetzt  ist  er  mit  einem  Male  mein  Freund  geworden,  indem  er  der  nächtlichen  Sehnsucht 
ein  Ende  macht.  Der  Abend  aber,  an  dem  ich  sonst  den  Liebsten  bei  mir  hatte,  etc.  In 
diesem  Sinne  P. 

..  Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin , die  gesagt  hat:  .Warum  hast  denn  du, 

die  du  dich  jetzt  so  geberdest,  damals  in  seinen  Weggang  gewilligt?  ‘ “ (P.) 

1226.  Zur  Zeit,  da  mein  Liebster  noch  hier  war,  wusst’ 
ich  nicht,  wie  Abendzeit  Schmerz  schafft. 

,.Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  ,Was  ist  die  Ursache, 
dass  du  zur  Abendzeit  dich  so  geberdest  ?<4<  (P.) 

1227.  Diese  Pein  — am  Morgen  keimt  sie,  den  ganzen 
Tag  spriesst  sie,  am  Abend  blüht  sie. 1 

i Am  Morgen  ist  sie  in  Folge  angenehmen  Traumes  erträglich  (,,keiraen‘‘),  den  Tag 
über  tritt  der  Trennungsschmerz  je  länger  je  stärker  in  den  Vordergrund  („spriessen“), 
am  Abend  aber,  wo  sie  alle  Wesen  sich  aneinander  schliessen  sieht  und  der  zu  dieser 
Zeit  früher  selbstgenossnen  Wonne  gedenkt,  nimmt  die  Ungeduld  überhand  („blühen“). 
In  diesem  Sinne  P. 

1228.  Des  Hirten  Flöte  — dem  Abend,  der  dem  Feuer 
gleicht,  ein  Herold  — gleicht  dem  tödtenden  Schwerdt. 

i Sonst  kühlt  der  Abend  — mich  versengt  er;  sonst  belebt  die  Hirtenflöte,  die  den 
Abend  verkündet  — mich  tödtet  ihr  schmachtender  Ton.  P.  übersetzt  paraphrasirend : 
„Die  Flöte  des  Hirten  (die  mir  sonst  so  viel  Wonne  bereitete)  ist  jetzt  heiss  wie  Feuer, 
und  als  Herold  des  Abends  wird  sie  nun  (wo  dieser  Abend  mich  zu  tödten  kommt;  eine 
tödtende  Waffe.“  UuuÖthige  Willkühr  gegen  alle  Grammatik. 

1229.  Sich  verwirrend  wird  der  ganze  Ort  jammern, 
wenn  Sinn -verwirrend  sich  der  Abend  dehnen  wird. 

Bis  jetzt  hab  ich  allein  gejammert;  diesen  Abend  aber  werd’  ich  sicherlich  nicht 
überleben,  und  dann  wird  der  ganze  Ort  mit  jammern.  — In  diesem  Sinne  P. 

1230.  An  diesem  Angst- Abend — gedenkend  Dess,  der 
ganz  zu  Geschäft  geworden  1 — wird  mein  noch  nicht  ver- 
siegtes Leben  versiegen. 

i Und  mich  darüber  ganz  vernachlässigt. 


124.  Wie  die  Glieder  verderben. 


171 


124. 

WIE  DIE  GLIEDER  VERDERBEN. 

..Das  ist:  die  Glieder  der  Gebieterin  als  Auge,  Schulter,  Stirn  u.  s.  v. 
verlieren  ihre  Schönheit.“  (P.) 

Gesellschafterin: 

Die  Gesellschafterin  spricht  zur  Gebieterin,  die  sich  durch  die  Grösse  der  Ungeduld 
verändert  hat. u (P.) 

1231.  Im  Angedenken  Dess,  der,  für  uns  Leid  liier  las- 
send, weithin  wunderte,  schämen  sich  nun  vor  den  schönen 
Blumen1  deine  Augen2. 

1 Als  Lotus,  Kuva'ei  u.  s.  w.  (siehe  Vers  1112).  Sonst  schämten  sich  die  Blumen 
vor  den  Augen  (siehe  ebendas.). 

2 Die  vom  vielen  Weinen  ihren  lieblichen  Glanz  verloren  haben. 

1232.  Als  wollten  sie  des  Geliebten  Lieblosigkeit  sagen, 
so  sehen  die  blassen  Thau-triefenden  Augen  aus. 

1233.  Als  wollten  sie  deine  Verlassenheit  gründlich  zu 
wissen  tliun,  so  sehen  die  Schultern  aus,  die  am  Tag  der  Ver- 
mählung strotzten. 

1234.  Beim  Schwinden  der  Stärk’  entgleitet  der  glän- 
zende Ring  dem  Arm,  dem  beim  Schwinden  des  Freunds  die 
alte  Schönheit  welkte. 

1235.  Des  Grausamen  Grausamkeit  künden  die  Arme, 
denen  mit  dem  Zierrath  die  alte  Zier  verblich. 

Gebieterin: 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  zur  Selbstgeduldung  deu  Gebieter 
getadelt  hat.“  (P.) 

1236.  Das  schmerzt  mich  schmerzlich,  dass  man,  weil 
mit  dem  Zierrath  die  Arme  lose  werden,  ihn  grausam  schilt. 

.,Die  Gebieterin,  jenen  Tadel  nicht  zn  ertragen  fähig,  spricht  bei  sich  selbst.“  (P.) 

1237.  Wirst  du  wohl  gewürdigt  werden,  Herz,  wenn  du 
dem  Grausamen 1 deiner  welken  Schultern  Schreien  kund 
thust? 

1 Wie  ihn  die  Gesellschafterin  schilt.  (P.) 

Gebieter: 

„Der  Gebieter,  der  nach  Beendigung  seiner  Geschäfte  zmückkehrt,  spricht  bei  sich, 
indem  er  an  früher  Vorgefallnes  denkt.“  (P.) 

1238.  Als  ich  (einmal)  die  umschlingenden  Arme  los- 


172 


III.  Von  der  Lust. 


liess1  - — (gleich)  verblasste  die  Stirn  der  Thörin  mit  strah- 
lendem Armband.2 

1 „Weil  ich  dachte,  sie  möchten  ihr  wehe  thun."  (P.) 

2 „Wie  wird  eine  solche  Stirn  nun  bei  dieser  (langen)  Trennung  fahren  ? “ (P. ) 

1239.  Als  (einmal)  mitten  in  der  Umarmung  ein  linder 
Luftzug1  sich  zwischendrängte,  (gleich)  verblasste  der  Thörin 
grosses  thauiges  Aug. 

Vergl.  V.  1118. 

1240.  Der  Augen  Blässe  härmte  sich 1 beim  Anblick  dess, 
was  die  lichte  Stirn  gethan. 

1 Vor  Scham. 

2 Die  bei  geringerer  Veranlassung  (vergleiche  Vers  1238)  viel  blässer  geworden  war. 
..Da  nun  so  ein  Glied  vor  dem  andern  seine  Schönheit  verloren  hat,  so  muss  ich  mich  be- 
eilen.“ (P.) 


125. 

MIT  DEM  HERZEN  SPRECHEN. 

„Das  ist:  Die  Gebieterin,  die  bei  zunehmender  Ungeduld  über  die 
Trennung  keinen  Halt  für  sieb  sieht,  spricht,  nicht  wissend,  was  sie 
thun  soll,  mit  ihrem  Herzen.“  (P.) 

Gebieterin: 

„Sie  forscht  nach  einem  Mittel,  ihre  Ungeduld  zu  enden.“  (P.) 

1241.  Kannst  du  nicht  ausdenken  und  sagen,  Herz, 
irgend  eine  Arzenei,  die  mein  unbesiegliches  Weh  wegschafft? 

„Die  Gebieterin  spricht  aus  grosser  Sehnsucht  nach  dem  Anschaun  des  Gebieters.“  (P.) 

1242.  Da  er  selbst  ohne  Sehnsucht  ist,  so  ist  dein  Jammer 
Thorheit;  leb  wohl,  Herz1! 

1 Das  Klügste  ist,  dass  ich  zu  ihm  gehe,  da  er  selbst  nicht  kommt.“  (P.) 

1243.  Was  jammerst  du,  Herz,  in  Harren  und  Sinnen? 
In  Dem,  der  den  grimmen  Schmerz  dir  schuf,  ist  kein  herz- 
lich Sinnen  h 

> Aufs  Kommen  gerichtet;  folglich  müssen  wir  zu  ihm  gehen.  (P.) 

1244.  Nimm  ja  auch  das  Auge  mit,  mein  Herz!  Sonst, 
ihn  zu  sehn  begierig,  verzehrt  es  mich. 

1245.  Kann  ich,  o Herz,  Den  als  Feind  fahren  lassen, 
der,  während  ich  ihm  gehöre,  mir  nicht  gehört1? 

t Das  vermag  ich  nicht,  folglich  muss  ich  zu  ihm  gehen,  i P. > 


125.  Mit  d.  Herzen  sprechen.  — 12G.  Wie  <1.  Sittsamkeit  zu  Grunde  geht.  173 

„Sie  spricht  zürnend  zum  Herzen,  das,  an  des  Gebieters  Härte  denkend,  ins  Gehen  nicht 
willigen  will.“  (P.)  v 

1246.  Siehst  du  den  Liebsten,  der  anschmieglich  sich 
leicht  verständigt,  so  verstehst  du  nicht  zu  schmollen.  Falschen 
Zorn  zürnst  du,  Herz l. 

„Du,  das  du,  wenn  du  ihn  siehst,  nicht  zürnen  kannst,  zürnst  jetzt,  wo  du  ihn  nicht 
siehst ; was  nützt  das  ? “ (P.) 

„Die  Gebieterin,  die  auf  Antrieb  der  Schamhaftigkeit  vom  Gehen  absieht,  spricht.“  (P.) 

1247.  Lass  die  Lieb’  oder  lass  die  Scham,  mein  gutes 
Herz!  Das  Beides  ertrag’  ich  nicht. 

1248.  Wohl  wissend,  dass  er  dir  Minn’  und  Gunst  ent- 
zieht, wirst  du  dem  Weggezogenen  nachlaufen?  Ein  Thor, 
Herz,  bist  du! 

1249.  Da  doch  der  Liebst’  im  innersten  Sinne  weilt,  zu 
wem  denn  sinnend  eilst  du,  Herz? 

„Die  Gebieterin  spricht,  um  die  Nothwendigkeit,  ihn  zu  vergessen,  ins  Licht  zu 
stellen.“  (P.) 

1250.  Da  ich  Den  im  Herzen  heg’,  der  los  sich  riss  von 
mir,  werd’  ich  nun  auch  des  Herzens  Zier 1 verlieren. 

Als  Schamhaftigkeit  (vergl.  Vers  1217  und  die  folgende  Dec.).  Die  äussere  Zier  ist 
schon  dahin.  (Decade  124.) 


126. 

WIE  DIE  SITTSAMKEIT  ZU  GRUNDE  GEHT. 

„Das  ist:  Die  Gebieterin,  das,  was  sie  in  ihr  Herz  verschlossen  hat, 
nicht  länger  zu  halten  im  Stande,  lässt  sich  aus.“  (P.j 

Gebieterin: 

,,Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Du  musst  dich  gedulden, 
auf  dass  Scham  und  Sittsamkeit  nicht  zu  Grunde  gehen.“  (P.) 

1251.  Das  Beil  der  Leidenschaft  erbricht  die  Thür  der 
Sittsamkeit,  wo  vorgeschoben  der  Riegel  der  Scham  war. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Die  im  Herzen  ent- 
staudne  Leidenschaft  solltest  du  in’s  Herz  verschliessen.“  (P.) 

1252.  Was  man  Liebe  nennt,  ist  ohne  Nachsicht.  Selbst 
um  Mitternacht  treibt  es  mein  Herz  geschäftig  um. 

1253.  Meine  Liebe  bergen  will  ich  wohl,  allein  unver- 
sehns,  dem  Niessen  gleich,  tritt  sie  hervor. 


174 


III.  Von  der  Lust. 


1254.  Ich  meine  wohl  immer,  ich  sei  sittsam;  aber  nun 
durchbricht  meine  Liebe  das  Versteck  und  tritt  frei  auf. 

..Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin  . die  gesagt  hat : Wir  wollen  Den . der 
uns  vergessen  hat.  wieder  vergessen.“  (P.l 

1255.  Jene  Seelen -Hoheit,  die  hinter  dem  Liebelosen 
her  nicht  läuft,  kennen  nicht  die  Liebesleid-GetrofFenen. 

1256.  Da  ich  dem  Liebelosen  nachzulaufen  Lust  habe, 
ei,  wie  wird  das  Leid  sein,  das  mich  getroffen?  Gewiss 
sehr  lind1. 

1 Ironisch  für  ..  sehr  wild“.  So  P. 

..Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin . die  gesagt  hat:  Was  ist  denn  die  Ur- 
sache, dass  du  nicht  spröde  thust,  du,  die  du  dich  mit  dem  Gebieter,  der  von  seiner  Neben- 
frau hergekommen  ist,  mit  Ablegung  aller  Ehrbarkeit  wieder  verbunden  hast  ? “ (P.) 

1257.  Was  man  Scham  nennt,  kenn’  ich  nicht,  wenn, 
was  ich  liebend  wünsche,  der  Geliebte  thut. 

1258.  Des  lugmächtigen  Schelmen  sanftes  Wort, — ist's 
nicht  die  Waffe,  die  die  Weibeswiirde  bricht? 

1259.  „Ich  will  spröde  thun“.  So  sprechend  wich  ich 
aus.  Da  ich  aber  sah,  dass  mein  Herz  mit  Hingabe  umging, 
gab  ich  mich  hin1. 

i Mein  Herz  ist  Schuld,  nicht  ich.  (P.) 

1260.  Die  ein  Herz  haben,  wie  auf  Feuer  gelegtes  Fett, 
können  denn  Die  sprechen:  Ich  will  im  Sprödethun  fest 
bleiben? 


127. 

SICH  NACH  EINANDER  SEHNEN. 

„Da  die  (sehnsüchtige)  Rede  der  Gebieterin  aus  dem  Verlust  der  weib- 
lichen Sittsamkeit  herstammt,  so  folgt  dieses  Kapitel  auf  das  vorher- 
gehende.“ ( P.) 

Gebieterin: 

„Die  Gebieterin  spricht  aus  Begierde  ihn  za  sehen.“  (P.) 

1261 .  Des  Glanzes  baar,  ist  mein  Auge  dunkel  geworden : 
über  dem  Betasten  der  Tage,  die  er  fort  ist,  sind  meine  Finger 
abgegriffen  ’. 


127.  Sich  nach  einander  sehneu. 


175 


1  Sie  hat  die  Tage  seiner  Abwesenheit  an  der  Wand  irgendwie  bezeichnet.  Da 
nun  ihre  Augen  dunkel  geworden  sind,  so  muss  sie  zur  Wiedererkennung  der  Zeichen 
ihre  Finger  zu  Hülfe  nehmen. 

„Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Da  die  Ungeduld  zu- 
nimuit,  so  musst  du  nicht  immer  an  ihn  denken,  sondern  ihn  ein  wenig  vergessen.“  (P.) 

1262.  Du  mit  dem  Funkei -Schmuck1!  Vergess’ ich  ihn 
jetzt2,  so  wird  danach3  mich  alle  Anmuth  fliehn  und  der 
Ring  vom  Arm  abfailen. 

1 P.  findet  darin  einen  Seitenhieb  auf  die  Indifferenz  der  Gesellschafterin  in  Bezug 
auf  die  Abwesenheit  des  Gebieters  („Dich  freilich  ficht  das  nicht  an  “). 

2 Wo  ich  doch  einmal  sterbe.  (P.) 

3 In  dem  Folge -Beben  (im  Sinne  der  Seelenwanderungi. 

„Wenn  ich  jetzt  an  ihn  denke,  so  werde  ich,  ihn  im  künftigen  Leben  erlangend, 
Wonne  geniessen.  Darum  bin  ich  gar  nicht  von  der  Art,  dass  ich  ihn  vergessen  möchte.“ 
(P.)  Der  Vers  lässt  sich  aber  auch  so  fassen  : Du  mit  dem  Funkelschmuck!  Vergess  ich 
ihn  jetzt,  so  wird  in  noch  grösserem  Maasse  meine  Anmuth  verfallen  und  der  Schmuck 
von  meinen  Armen  abfailen.  (Vergl.  V.  1207.)  Ariel:  O femme ! aujourd’hui  je  Toublie- 
rais,  que  de  mes  bras,  dont  la  beautu  est  loin.  les  bijoux  glisseraient  encore. 

1263.  Siegsruhm  begehrend  zog  er  hin,  seinen  Sinn  zum 
Gefährten;  seiner  Rückkunft  begehrend,  leb’  ich  noch1. 

1 D.  h.  die  Sehnsucht  hält  mich  am  Leben. 

1264.  In  dem  Gedanken  an  des  Geschiednen  Wieder- 
kehr voll  Vereinigungslust,  — schwellend  hebt  sichmein  Herz. 

,,Die  Gebieterin  spricht  zur  Gesellschafterin,  die  bei  der  Meldung  von  des  Gebieters 

Ankunft  gesagt  hat,  sie  solle  nicht  ungeduldig  ihre  Farbe  ändern.“  (P.) 

1265.  Möcht’  ich  doch  den  Gemahl  schauen  mit  vollem 
Aug!  Wenn  ich  ihn  geschaut,  wird  ja  das  Gelb  der  weichen 
Schultern  weichen. 

1266.  Möchte  doch  mein  Vermählter  eines  Tages  kom- 
men! Dann  schlürf  ich1,  dass  der  trübe  Harm  zuhauf  erstirbt. 

i „Ambrosia“.  (P.) 

1267.  Soll’  ich  spröde  thun?  Soll’  ich  mich  hingeben? 
Oder  Beides  mischen? — wenn  mein  dem  Aug’  vei’gleichbarer 
Freund  kommt. 


Gebieter:, 

..Der  Gebieter  , der  dem  König  als  Genosse  gefolgt  ist,  denkt  bei  hinausgeschobner 
Geschäftsvollendung  an  die  Gebieterin  und  spricht  bei  sich  selbst.“  (P.) 

1268.  Möchte  doch  der  König,  sich  in  die  Schlacht  ein- 
lassend, siegen  und  theilen!  Ich  muss,  mich  mit  dem  hei- 
mischen Heerd  einlassend,  für  den  Abend  ein  Fest  an- 
stellen. 


170 


III.  Von  der  Lust. 


1269.  Ein  Tag  vergeht  wie  sieben  Tage  denen,  die  sich 
martervoll  die  Tage  merken,  wo  der  weit  Weggegangene 
rückkehren  soll. 

1270.  Dafern  ihr  Herz  zerbrochen  hingeschüttet  wird, 
was  hilft’s,  wenn  ich  komme,  was,  wenn  ich  da  bin,  was,  wenn 
ich  mich  anschmieg’? 


128. 

DIE  ABSICHT  KUND  THUN. 

„Das  ist:  Der  Gebieter,  die  Gebieterin  und  die  Gesellschafterin  tliun 
des  Einen  Absicht  dem  Andern  kund.“  (P.) 

Gebieter: 

,,Die  Gebieterin  sieht , dass  der  Gebieter,  der  nach  der  Trennung  sich  wie  der  mit  ihr 
vereinigt  hat,  aus  grosser  Liebe  die  Vereinigung  viele  Tage  hintereinander  immer  und 
immer  wieder  lobt,  und  fürchtet  daher,  er  werde  bald  abermals  sich  trennen.  Das  merkt 
er  ihr  ab  und  spricht  nun  zu  ihr.“  (P.) 

1271.  Wenn  du’s  auch  birgst,  dein  schwarzes  Aug’,  un- 
fügsam  ganz,  geht  mit  dir  durch : es  will  was  sagen. 

„Da  sie  es  aus  Scham  nicht  sagt,  so  spricht  er  zur  Gesellschafterin.“  (P.) 

1272.  Die  Thörin  mit  Augerfüllender  Schön’  und  Bam- 
bus-Schulter hat  ein  von  Weiblichkeit  erfülltes  Wesen1  in 
hohem  Grad. 

1  Die  Einfalt  (dass  sie  in  ihm  den  Vorsatz  der  Trennung  fälschlicher  Weise  voraus- 
setzt) und  die  Blödigkeit  (dass  sie  sich  davor  fürchtet).  (P.) 

1273.  Wie  in  Kry stall -Perlen  der  Faden  durchscheint, 
so  in  der  Anmuth  der  jungen  Frau  scheint  Etwas1  durch. 

i Ich  weiss  nicht,  was  sie  im  Sinne  führt.  Du  musst  es  herausbringen  und  mir  dann 
sagen.  (P.) 

1274.  Wie  der  Duft  in  der  aufblühenden  Blumen-Knospe, 
so  ist  in  der  aufblühenden  Knosp’  ihres  Lachens  Etwas1. 

1 Ein  geheimer  Sinn  nämlich. 

1275.  Das  geheime  Thun  und  Treiben1  Der  „mit  dem 
dichten  Armschmuck“  hegt,  zu  Heilung  der  grimmen  Pein2, 
herrliche  Arzenei  in  sich3. 

1 Sie  beabsichtigt  mitzugehn. 

2 P.  versteht  darunter  den  Schmerz  des  Gebieters,  dadurch  entstanden , dass, 
trotzdem  dass  er  es  gut  meine,  doch  Schlimmes  erwachse  und  dass  er  das  zu  beseitigen 
sich  ausser  Stand  sehe.“ 

3 „Das  ist  die  Meldung  der  Nichttrennung  durch  die  Gesellschafterin.“  (P.) 


128.  Die  Absicht  kund  thun.  — 129.  Nach  der  Vereinigung  begehren. 


177 


Gebieterin: 

,,Uie  Gebieterin,  die  des  Gebieters  Absicht  gemerkt  hat,  thut  sie  der  Gesellschafterin 
kund,  die  sie  ihr  zu  verkünden  gekommen  ist.1-  (P .) 

127ti.  Dass  er,  schwer  tragend,  lieblich  sich  anschmiegt, 
ist  so  geartet,  (lass  ich,  sehr  tragend,  an  den  Mangel  derLiebe 
denken  werde. 

Ariel:  L’nnion.  qu'on  souffre  taut  ii  ddsirer,  a le  pressentiment , qu'on  souffre  aveo 
peinc,  du  manque  de  l'amour. 

1277.  Dass  der  Gebieter  des  kühlen  Strands  mich  ver- 
lassen wollte,  hat  das  Armband  eher  als  wir  gemerkt1. 

> „Noch  ehe  ich’s  deutlich  wusste,  magerten  meine  Arme. 11  (P .) 

1278.  Gestern  (erst)  ging  mein  Liebster.  Dass  mein 
Leib  gelbte,  ist  schon  sieben  Tage  her. 

Gesellschafterin: 

„Die  Gesellschafterin,  die  der  Gebieterin  Absicht  gemerkt  hat , {heilt  sie  dem  Gebieter 

mit.11  (P.) 

127b.  Sie  sah  das  1 Armband  an,  sie  sali  die  magre  Schul- 
ter an,  sie  sali  die  Füsso2  an.  Das  ist  es,  was  sie  that 

1 Schlotternde. 

2 Erwägend,  ob  die  wohl  das  Mitgehn  aushalten  möchten. 

3 P.  erinnert  an  Vers  1275. 

Gebieter: 

..Der  Gebieter  thut  der  Gesellschafterin  seine  Absicht,  sich  nicht  zu  trennen,  kund.“  (P.j 

1280.  So  mit  dem  Aug’1  der  Liebe  Leid  ausredend 
Helm2,  heisst  Weiblichkeit  über  Weiblichkeit. 

t Nach  P. : ohne  es  mit  d e m M u n d auch  nur  der  Gesellschafterin  zu  sagen. 

2 Nach  I’.:  zu  den  eignen  Pässen  (dass  sie  sich  doch  zum  Mitgehn  schicken  möch- 
ten). Vergleiche  den  vorhergehenden  Vers. 


129. 

NACH  DER  VEREINIGUNG  BEGEHREN. 

„Seitens  des  Gebieters  sowohl,  als  der  Gebieterin.“  (P.) 

Geb  i eterin: 

..Die  Gebieterin  antwortet  der  lachenden  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Warum  doch 
schmollst  du  nicht  mit  dem  Gebieter,  der  seine  Absicht  hinwegzugehen  angedeutet 

hat?“  (P.) 

1281.  Jauchzen  beim  Sinnen,  und  Jubeln  beim  Sehen  — 
das  hat  der  Palmwein  nicht,  die  Liebe  liat’s. 

Vergl.  Vers  109U. 

III. 


12 


178 


III.  Von  dev  Lust. 


1282.  Schmollen  darf  man  nicht 1 — und  wär’s  wie  ein 
Hirsekorn  gross  — wenn  vollgross  wie  die  Palmyra  das 
Verlangen  kommt. 

1 Denn  man  kann's  nicht  aushalten. 

1283.  Auch  wenn  er  ohn’  alle  Theilnahme  nach  eignem 
Wunsche  tliäte,  meine  Augen  werden  nicht  stille,  ohne  den 
Gemahl  zu  sehn. 

1284.  Auf’s  Schmollen  in  der  Tliat  stracks  los  ging  ich, 
Gefährtin!  Allein  auf’s  Sichgebenwollen  stracks  los  ging  — 
aus  Vergesslichkeit  — mein  Herz. 

1285.  Dem  Auge  gleich,  das  beim  Bemalen  den  Schwarz- 
Stift  1 nicht  sieht,  seif  ich  den  Fehl  des  Gemahls  nicht,  wenn 
ich  ihn  sehe. 

1 Wie  das  Auge,  das  vorher  den  Schwärzstift  in  der  Hand  ganz  wohl  sähe,  diesen, 
wenn  er  beim  Bemalen  des  Augs  demselben  ganz  nahe  tritt,  nicht  sieht,  so  gewahre  auch 
ich  an  dem  Gemahl  die  Fehler,  die  ich,  während  er  in  der  Ferne  war,  ganz  wohl  ge- 
wahrte, nicht  mehr,  wenn  er  mir  nahe  tritt.  Vergl.  den  folgenden  Vers. 

1286.  Seif  ich  ihn,  seif  ich  seine  Versehen  nicht;  seif 
ich  ihn  nicht,  seh  ich  nichts  als  seine  Versehen. 

1287.  Wohl  wissend,  dass  ich  damit  zu  nichte  werde, 
warum  sollt’  ich  schmollen,  — denen  gleich,  die,  wohl  wissend, 
sie  werden  weggespült,  in’s  Wasser  springen. 

Gesellschafterin: 

,,Die  Gesellschafterin,  die  der  Gebieterin  Verlangen,  sich  wieder  zu  einigen,  kennt, 
spricht  zum  Gebieter.“  iP.) 

1288.  Hein  Busen,  Schelm,  ist  wie  der  Palmwein  denen, 
die  sich  dran  froh  getrunken,  auch  wenn  er  ihnen  beschä- 
mendes Leid  bereitet  *. 

i Sie  verlangen  je  länger  je  mehr  danach. 

Gebieter: 

„Der  Gebieter  spricht  hei  nie  endendem  Schmollen.“  (I’.) 

1289.  Zarter,  als  selbst  Blumen,  ist  die  Liebe.  Wenige 
werden  theilhaftig  ihrer  Lieblichkeit. 

1290.  Mit  dem  Auge  schmollend,  verschmachtete  sie, 
(im  Herzen)  nach  Versöhnung  sehnsüchtiger  als  ich1. 

1 So  war  sie  sonst;  jetzt  behabt  sie  sich  gauz  anders.  In  diesem  Sinne  P. 


130.  Mit  dom  Herzen  zürnen. 


179 


130. 

MIT  DKM  HERZEN  ZÜRNEN. 


„Das  ist:  Mit  dem  Herzen,  das  selbst  bei  vorhandner  Ursache  nicht 
an’s  Zürnen  denkt,  sondern  vielmehr  die  Vereinigung  begehrt,  zürnt 
sowohl  die  Gebieterin,  als  der  Gebieter.“  (P.) 


Gebieterin: 

„Die  Gebieterin  spricht  zu  ihrem  Herzen,  das,  obwohl  ein  Fehl  des  Gebieters  vorliegt, 
doch  nicht  an's  Zürnen  denkt.“  (P.) 

1291.  Obschon  du  siehst,  dass  sein  Herz  ihm  gehört, 
warum,  mein  Herz,  gehörst  du  nicht  mir? 

1292.  Wiewohl  du  siehst,  dass  er  mir  nicht  Freund  ist, 
gehst  du,  mein  Herz,  zu  ihm,  als  war  er  mir  nicht  Feind. 

1293.  Dass  du,  mein  Herz,  recht  nach  Lust  ihm  nach- 
gehst, geschieht  das  darum,  weil  „die  Unglücklichen1  keine 
Freunde  haben“-? 

* Zu  denen  ich  eben  gehöre. 

2 Bewegt  dich  dazu  dieser  Gedanke,  oder  deine  Natur?  Sprich!  (P.) 

1294.  Wer  wird  künftig  wieder  derlei  Anschlag  mit  dir 
machen,  Herz?  Du  geniesst  ja  nicht  — erst  schmollend, 
— sieh! 

„Vorher  wärest  du  entschlossen  (eine  Weile;  zu  schmollen,  dann  aber  verlangtest 
du  ohne  Weiteres  nach  Vereinigung  (mit  dem  Gemahl).“  (P.) 

„Da  die  Gesellschafterin , die  sich  zur  Botschaft  geschickt  hat,  fragt,  antwortet  die 
Gebieterin.“  (P.) 

1295.  Es  furchtet  ihn  nicht  zu  erlangen;  erlangt’s  ihn, 
so  fürchtet’ s die  Trennung;  in  nie  endendem  Elend  hängt 
mein  Herz. 

1296.  So  oft  ich  einsam  sitzend  dachte,  setzte  sich  mein 
Herz  darauf,  mich  aufzuzehren. 

1297.  Mit  meinem  gemeinen  thöriehten  Herzen,  das  ihn 
nicht  vergessen  kann,  verkehrend,  half  ich  nun  selbst  der 
Scham  vergessen. 

1298.  „Schmäh’  ich,  so  wird  m i r Schmach ! “ So  denkend, 
sinnt  mein  Leben-liebendes  1 Herz  seinen  Vorzügen  nach. 

1 Es  würde  sterben,  wenn  es  nicht  an  ihn  denken  könnte. 


12  * 


180 


III.  Von  der  Lust. 


Gebieter: 

„Der  Gebieter  spricht  bei  nie  endendem  Schmollen.“  (P.) 

1209.  Wer  soll  im  Harme  denn  unsre  Hülfe  sein,  wo 
selbst  das  eigne  Herz  nicht  helfen  will? 

1300.  Dass  Fremde  sich  nicht  als  die  Unsern  zeigen, — 
ein  Leichtes  ist’s,  wenn  ja  das  eigne  Herz  nicht  unser  sein  will  *. 

1 „Wenn  das  Jigne  Herz,  die  Fremde  fiir  die  Geliebte  haltend,  mich  quält,  so  ist  das 
Zürnen  der  Fremden  leicht. ‘‘  (P.) 


131. 

SCHMOLLEN. 

„Beider  mit  einander.“  (P.) 
Gesellschafterin: 

„Die  zum  Botschaftgehn  aufgebrochne  Gesellschafterin  spricht  lachend  mit  der 
Gebieterin,  der  Einwilligung  zum  Botschaftgehn  wegen.“  (P.) 

1301.  Wohlan  du  hältst  dich  fern  und  schmollst;  wir 
wollen  sein  elend  Liebesleid  ein  Avenig  sehn. 

„Sie  redet,  um  das  Schmollen  zu  beseitigen  und  eine  Zustimmung  zum  Botschaftgehn 
zuwege  zu  bringen.“  (P.) 

1302.  Wie  wenn  das  nöthige  Salz  dazu  kommt,  ist  das 
Schmollen;  das  Schmollen  in  die  Länge  ziehn,  ist  ivie  wenn 
des  Salzes  ein  wenig  zu  viel  wird. 

Gebieterin: 

„Die  Gebieterin  spricht  züruend  mit  dem  Gebieter,  der  von  der  Nebenfrau  gekommen 

ist.“  (P.) 

1303.  Die  Schmollenden  nicht  umarmen,  ist  wie  wenn 
man  (schon)  Vernichteten  vernichtenden  Schmerz  bereitet. 

P.  versteht  den  Vers  (ironischer  Weise)  etwa  so:  „Du  kommst  hierher  zu  mir,  als 
zu  einer  Fremden,  da  wird  deine  Nebenfrau  schmollen;  geh  ja  zu  ihr  und  umarme  sie; 
sonst  kann  sie’s  nicht  ertragen.“ 

1304.  Sich  mit  denen,  die  verstimmt  sind,  nicht  verstän- 
digen, ist  Avie  wenn  man  einer  (schon)  welken  Schlingpflanze 
die  Wurzel  abreisst. 


Gebieter: 

..Der  Gebieter,  der  sich  nach  Beseitigung  des  Sclimollens  mit  der  Gebieterin  vereinigt 
hat,  spricht  bei  sich.“  (P.) 

1305.  Selbst  für  die  Waekern 1 voll  wackerster  Tüchtigkeit 


181.  Schmollen.  — 132.  Rallinirtes  Schmollen.  181 

ist  tüchtig  Schmollen  im  Herzen  Derer  mit  Blumenaug’  wohl 
Herzenslust. 

i Die  sich  nichts  vorzuwerfen  haben.  (P.) 

1306.  Wo  (las  Grollen  fehlt,  gleicht  die  Liebe  einer  reifen 
Frucht;  wo  das  Schmollen  fehlt,  einer  zu  jungen. 

„Da  eine  sehr  reife,  zum  Abfallen  geschickte  Frucht  dom  Geniessenden  grosses 
Vergnügen  bereitet,  so  sagt  er:  ,vvo  das  Grollen  nicht  ist,  da  ist  sie  wie  eine  reife  Frucht' ; 
ferner  da  eine  sehr  junge  Frucht  die  Essensreife  nicht  hat,  so  sagt  er;  ,wo  das  Schmollen 
nicht  ist,  ist  sie  wie  eine  junge  Frucht'.“  (P.)  Der  Sinn  ist:  Grollen  soll  man  nie,  wohl 
aber  zuweilen  schmollen.  Das  Schmollen  würzt  die  Liebe,  das  Grollen  verwiirzt  sie. 

1307.  Muss  man  zweifelnd  fragen,  ob  die  Versöhnung 
wohl  lang  verziehn  wird,  so  liegt  auch  im  Schmollen  freilich 
ein  grosses  Leid. 

,,Bei  nie  endendem  Schmollen  spricht  der  Gebieter  erzürnt  zur  Gebieterin.“  (P.) 

1308.  Was  hilft  das  Härmen,  wo  keine  Freunde  sind, 
die  da  wohl  wissen,  dass  man  sich  härmt. 

„Er  giebt  seine  Ungeduld  zu  verstehen:  Sie  ist  nicht  unsre  Gebieterin;  da  sie's 
nicht  ist,  so  kennt  sie  diesen  Schmerz  nicht;  da  sie  ihn  nicht  kennt,  so  hilft  unser  Schmol- 
len nichts.“  (P.) 

1309.  W asser  bei  Schatten  ist  angenehm.  Das  Schmollen 
ist  angenehm  bei  Zärtlichen. 

Wie  Wasser,  obgleich  zum  Leben  durchaus  nöthig,  nur  wenn  es  nicht  in  der  Sonne 
gestanden  hat,  mundet,  so  mundet  auch  das  Schmollen,  obgleich  es  zur  Liebe  nöthig  ist, 
nur  bei  wirklich  Zärtlichen.  (Das  bist  du  aber  nicht.) 

1310.  Dass  du,  mein  Herz,  dich  mit  Dem  einigen 
willst,  der  dich  mit  Schmollen  verschmachten  lässt,  ist  dein 
Begehr  >. 

1 Dein  Begehr  ist  die  einzige  Basis  zur  Wiedervereinigung;  sie  wird  nicht  gelingen. 
— In  diesem  Sinne  P. 


132. 

RAFFINIRTES  SCHMOLLEN. 

„Das  ist:  Die  Gebieterin  macht,  obschon  in  (lein  Gebieter  eine  Ur- 
sache ries  Schmollens  nicht  vorliegt,  aus  grosser  Liebe  eine  winzige 
Ursache  ausfindig,  schiebt  sie  ihm  zu  und  schmollt.“  (P.) 

Gebieterin: 

„Nachdem  der  von  einem  feierlichen  Umgänge  heimgekehrte  Gebieter  gekommen  ist, 
spricht  die  Gebieterin.“  (P.) 

1311.  Alles,  was  Weibes-Wesen 1 hat,  verschlingt  ihn  zu- 


182 


III.  Von  der  Lust. 


sammen  mit  Augen2;  ich  mag  mich  nicht  an  deinen  Busen 
schmiegen,  Treuloser! 

1 Ohne  Frauentugend  zu  besitzen,  — also  jede  lose  Dirne.  So  P. 

2 Alle  Frauen  blicken  auf,  wenn  er  durch  den  Ort  hingeht. 

„Der  Gesellschafterin,  die  nach  dein  Weggänge  des  Gebieters  daliergekommen.  erzählt 
die  Gebieterin  das  beiin  Zusammensein  Vorgefallne.“  (P.  i 

1312.  Während  ich  schmollend  schwieg,  niesst.'  er,  wohl 
wissend,  dass  ich  ihm  ein  „Magst  du  lang  leben !“  zurufen 
würde  '. 

1 ..Das  Raffiniment  liegt  darin,  dass  sie  das  natürlicher  Weise  sich  ergebende  Xiessen 
als  ein  absichtlich  gemachtes  nimmt.“  (P. 

Gebieter: 

,Üer  Gebieter  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  das  Schmollen  der  Gebieterin  gemerkt 
und  gefragt  hat:  Was  ist  denn  die  Ursache,  dass  diess  vorgeht,  selbst  während  du  mit 
ihr  vereinigt  lebst  ? “ (P.) 

1313.  Selbst,  leg’  ich  Guirlauden  an,  wird  sie  mir  zür- 
nen, sprechend:  „Sie  Einer  zu  zeigen,  hast  du  sie  angelegt.“ 

1314.  „W  ir  lieben  mehr  als  Alle.“  Als  ich  so  sagte, 
schmollte  sie,  sprechend:  „Als  Alle,  als  Alle“!1 

i In  dem  Gedanken,  dass  wir  grössere  Liebe  haben  . als  irgendwelche  Liebespaare, 
sprach  ich:  Wir  lieben  mehr  als  Alle!  Sie  aber  dachte,  ich  wollte  sagen:  ..Deine  Gesell- 
schafterin denkt  das  nicht,  wir  besitzen  zu  dir  mehr  Liebe,  als  die  vielen  von  dir  werth- 
gehaltnen  Frauen“  und  sprach  dann  ironisch?):  ..Ja  ja.  Ihr  habt  mehr  Liebe  zu  mir.  als 
Alle,  als  Alle.“  — So  paraphrasirt  P.  iu  der  Worterklärung  und  lässt  sich  dann  in  der 
Sinnerklärung  so  aus : ,.Xach  der  M inung  der  Gebieterin  liegt  in  dem  Pluralis  der  ersten 
Person  wi  r lieben)  eine  Selbsterhebuug  ; sie  hat  das,  was  ich  aus  grosser  Liebe  gesagt 
habe,  anders  aufgefasst;  eine  andre  Ursache  (zum  Schmollen)  liegt  nicht  vor.“  — Natür- 
licher Ariel:  „Nous  nous)  adorons  comme  personne,“  ai-je  dit ; alors  eile  a boude, 
disant:  ,,  ( Yous  m'adorez  comme  personne,  comme  personne!  rinais  pas  seule).“  So 
schon  S.  » 

1315.  Ich  sprach:  „In  diesem  Leben  trenn’  ich  mich 
nimmer“.  Gleich  füllte  mit  Thränen  sich  ihr  Aug. 

..Denn  sie  schloss  daraus,  ich  wollte  mich  in  dem  andern  Leben  von  ihr 
trennen.“  (P.) 

1316.  „Ich  dacht’  au  dich“,  sprach  ich.  Da  sprach  sie: 
„So  hattet  Ihr  mich  vergessen“,  und  mich  nicht  umfangend 
tiel  sie  in  s Schmollen 

i ,,Sie  legte  mein  Wort  so  aus,  als  hätte  ich  gesagt:  Ich  hatte  dich  einmal  vergessen  ; 
dann  aber  dacht'  ich  wieder  an  dich.“  (P.) 

1317.  Als  ich  niesste,  wünschte  sie  Glück,  und  weinte, 
sieh  anders  besinnend:  „Wer  doch  denkt  an  Euch,  dass  Ihr 
jetzt  niesst? “ 


132.  Raflinirtes  Schmollen.  — 133.  Schmollens  - Freude.  183 

1318.  Auch  als  ich  das  Niesscn  erstickte,  weinte  sie: 
„Wollt  Ihr  vor  mir  der  Euren  Gedenken  bergen?“ 

1319.  Auch  wenn  ich  sie  begütigen  will,  zürnt  sic,  spre- 
chend: „Ei,  so  macht  Ihr’s  mit  Andern  auch.“ 

1320.  Selbst  wenn  ich  still  hinsitze,  sinn’  und  ansehe, 
sie  zürnt  doch,  sprechend:  „An  wen  denkend,  beschaut  Ihr 
Alles'?“ 

1 Indem  Gedanken:  ,,Tch  kann  nicht  in  allen  Gliedern  Einer  gleichen , Ihr  müsst 
nach  Maassgabc  der  einzelnen  Glieder  an  Mehrere  denken;  die  Alle  inöcht’  ich  gern 
wissen,  sagt  sie  mir  doch  ! 44  spricht  sie  : „An  wen  denkend,  beschaut  Ihr  Alles  (alle  meine 
Glieder)?44  So  P. 


133. 

SCHMOLLENS  - FREUDE. 

„Das  ist:  Sowohl  die  Gebieterin,  als  der  Gebieter  freuet  sich,  als  sol- 
ches Schmollen  die  Versöhnungs  - Freude  erhöht  hatte,  jenes  Sehmol- 
lens als  der  Ursache  zu  dieser  Erhöhung.“  (P.) 

Gebieterin: 

..»Sie  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  vernommen,  dass  die  Gebieterin  ohne  Ursache 
zürne,  und  dann  gesagt  hat:  Warum  zürnst  du  denn  so? 44  (P.) 

1321.  Ist  auch  auf  seiner  Seite  gar  kein  Versehn,  die 
Art,  wie  er  liebt,  kann  zum  Schmollen  wohl  führen 

i ..Das  »Schmollen  erfolgt,  weil  sie  den  Gedanken  nicht  ertragen  kann:  Seine  Liebe 
ist  unendlich  süss;  wie  ich  sie  erlange,  können  sie  am  Ende  auch  Andere  erlangen.44  (P.) 

,,Die  Gebieterin  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Da  du  auch  ohne  Schmol- 
len seine  Liehe  geniesst.  warum  wirfst  du  sie  weg  und  quälst  dich  mit  Schmollen?44  (P.) 

1322.  Aus  Schmollen  spriesst  nur  ein  sehr  winzig  Leid, 
und  doch  wächst  seine  Gunst  dadurch,  selbst  wenn  sie  welkte. 

1323.  Giebt’s  eine  Götterwelt  neben  dem  Schmollen  — 
für  Solche  ',  die  so  stehn,  wie  wenn  das  Wasser  sich  mit  dem 
Boden  eint. 

i Für  Solche,  die  sich  innerlichst  zu  einen  fähig  sind,  denn  „ das  Wasser  nimmt  die 
Natur  des  betreffenden  Bodens  an.“ 

„Sie  antwortet  der  Gesellschafterin,  die  gesagt  hat:  Nun  wodurch  wird  denn  hinfort  dein 
Schmollen  weichen?“  (P.) 

1324.  Mitten  im  Schmollen,  das  fest  aneinander  schmiegt, 
giebt’s  wohl  eine  Waffe  die  meinen  Vorsatz  bricht. 

l Demüthiguug  und  linde  Worte  nämlich.  (P.) 


184 


III.  Von  der  Lust.  — 133.  Schmollens- Freude. 


Gebieter: 

..Der  Gebieter,  der  die  Gebieterin  versöhnt  hat,  spricht  bei  sich  als  Einer,  dem  nun  eine 
um  so  grössere  Wonne  zu  Tlieil  geworden.*4  (P.) 

1325.  Hat  man  auch  nichts  versehn,  der  Geliebten  weiche 
Schulter  hat  grad’  im  Weichen  etwas  gar  Einziges. 

1326.  Süsser  als  Essen  ist  das  Gegessne  verdauen.  In 
der  Lieb’  ist  spröde  thun  süsser  als  selbst  umfahen. 

1327.  Die  beim  Schmollen  verloren,  die  haben  gewonnen. 
Das  wird  bei  der  Wiedervereinigung  gar  wohl  erkannt '. 

1 ,.Die  Verlierenden  sind  diejenigen,  die  nicht  oppouirend  sich  beugten.  Weil  diese 
bei  der  Wiedervereinigung  eine  grosse  Wonne  erlangen , so  sind  sie  die  Gewin- 
nenden.“ (P.) 

1328.  Werden  wir  wohl  durch  Schmollen  wieder  die 
Würz’  erlangen,  die  jetzt  aus  Umfangen  bei  glühender  Stirn 
entsprang  ? 

1329.  Möchte  doch  Die  mit  dem  glänzenden  Schmucke 
schmollen,  und  die  Nacht  lang,  lang  sich  dehnen,  damit  ich 
recht  flehen  kann. 

1330.  Schmollen  ist  das  Glück  der  Liebe;  das  Glück 
des  Schmollens,  wenn  man  auf’s  neu  aneinander  sich  schmie- 
gen darf. 


TIKÜVALLUVEK’S  LEBENS- GESCHICHTE. 


A. 

Das  „Tiruva^uvar  varaläru“  bei  S. 

Ein  Brahmine  des  glorreichen  Tschöla-Landes  gab  dem 
Sohne,  den  ihm  seine  hehre  Gattin  geboren,  den  schönen 
Namen  Pakavan  (sanse.  Bagavän).  Weil  er  aber  durch  das 
Horoskop,  das  Charakter  und  Lebenstage  genau  angiebt, 
herausgebracht,  dass  sich  dieser  sein  Sohn  mit  einem  Mäd- 
chen aus  niedriger  Kaste  verbinden  werde,  und  er  darüber 
als  über  eine  seiner  Familie  bevorstehende  grosse  Schmach 
in  schweren  Kummer  gerieth,  so  trennte  er  sich  von  der 
schönäugigen  Frau  und  dem  zarten  Söhnlein  und  begab  sich 
auf  eine  Pilgerfahrt  nach  dem  h.  Ganges.  Der  Sohn  studirte 
in  aller  Regel  die  h.  Schriften  und  erreichte,  im  Besitz  des 
unvergänglichen  Gutes  wissenschaftlichen  Verständnisses,  das 
Alter  von  dreimal  fünf  Jahren.  Da  fragt  er  betrübten  Sinnes 
die  Mutter,  warum  sich  sein  Vater  von  ihr  getrennt,  und 
bricht  dann  ungeduldig  nach  dem  Nordland  auf.  Auf  dem 
Wege  dahin  tritt  ihm  ein  Mädchen  von  niedriger  Herkunft, 
Ati  (sprich:  Äthi 1 aus  Karuvür,  von  seltner  Schöne,  wie 
eine  goldne  Schlingpflanze,  entgegen.  Sein  Sinn  verwirrt 
sich;  er  giebt  sich  unter  süssen  Worten  der  neuen  Wonne 
hin.  Dann  aber  sich  besinnend  spricht  er:  „Solch  Thun  ge- 


i Das  th  in  Athi  ist  in  englischer  Weise  ausznsprechen. 


186 


Tiruvalluver's  Lebens-Geschichte. 


ziemt  mir  nicht,“  und  flieht.  Sie,  die  Keusche  wahrhaftigen 
Thuns,  folgt  ihm  auf  dem  Fusse.  Da  zornig  ergreift  er  einen 
Stein,  wirft  ihr  damit  eine  Wund’  in  die  Stirn,  und  verjagt  sie. 
Darauf  enteilend  besucht  er  alle  Orte  an  des  heiligen  Ganges 
Ufer,  findet  aber  seinen  Vater  nicht,  und  kehrt  voll  Kummer 
in  sein  Vaterland  um.  Zur  Nachtzeit  kommt  er  in  ein  öffent- 
liches Ruhehaus.  Da  sieht  ihn  Äti,  welche,  die  Trennung  von 
ihm  nicht  auszuhalten  im  Stande,  niedergeschlagnen  Sinns 
Tag  und  Nacht  allenthalben  umhergesucht,  und  verehrt  ihn 
fussfällig.  Der  erhabne  Brahmine  gewahrt  die  Narbe  an  der 
Stirn,  und  es  wird  ihm  klar,  dass  das  eben  das  Weib,  dem  er 
vormals  zürnte.  Erfragt:  „Warum  bist  du  gekommen?“  Sie 
antwortet:  „Getrennt  von  dir,  kann  ich  nicht  leben.“  Da 
spricht  er:  „Wohlan,  wenn  du  im  Stande  bist,  alle  Kinder, 
wo  sie  geboren  werden,  zu  lassen  und  mir  festen  Entschhrsses 
zu  folgen,  so  komm ! “ 

Ati  stimmte  bei,  und  während  sie  nun  so  die  Welt  durch- 
zogen, wurden  ihr  nacheinander  sieben  Kinder  geboren;  zwei- 
mal zwei  hochgepriesene  Mädchen:  Uppei,  Auvei,  UVuvei, 
Va?/i,  und  drei  Knaben:  der  hochedle  Atikamän  (sprich: 
Athichamän),  Kapilar  (spr.  Kapiler)  und  (Tiru-)  VaVGivar. 
Jedes  wuchs  an  dem  Orte  seiner  Geburt  auf:  Va//uvar  in 
Majiläpur  (jetzt  St.  Thome  bei  Madras)  mit  wolkendunkeln 
Hainen.  Dort  lernte  er,  weil  in  ihm  der  drei  Götter  einer, 
der  viergesichtige  Brahma,  Mensch  geworden,  die  alten  hei- 
ligen Bücher,  die  übrigen  Wissenschaften  des  ..Drei- Tamul“ 
(„das  prosaische } das  poetische  und  das  dramatische“)  und 
die  ganze  Welt  fehllos  kennen,  wurde  ein  ausgezeichneter 
Lehrer  in  göttlicher  Wissenschaft,  strich  sich  die  heilige 
Asche  (das  Abzeichen  der  Sivaiten)  an  die  Stirn,  sprach  die 
fünf  heiligen  Silben  (na  ma  si  vä  ja  „Preis  sei  dem  Siva!“), 
legte  das  göttliche  Lingam  an,  kasteiete  sich,  heirathete  dann 
die  tugendstrahlende  Väsuki  (sprich  Väsuchi)  aus  dem  Ge- 
schlecht der  hochherrlichen  Ackerbauer,  Hess  sich  nieder, 
übernahm  die  Hebung  der  Haustugend  zur  Bewunderung 
aller  Busser,  und  fasste  endlich  alles  Herrliche  in  den  edlen, 
köstlichen,  prächtigen  Werken,  denen  die  zweimal  zwei  Vedas 


B.  Nach  dem  „TiruvaHuvar  Sarittiram“  bei  V. 


187 


zum  Ausgangspunkte  dienen,  unter  die  drei  Abtheilungen: 
Tugend,  Gut  und  Lust,  in  hochtamulischen  Kura/- Versen  zu- 
sammen, und  zwar  so,  dass  die  Tamulsprache  sagte:  „Hin- 
fort kommt  keine  andre  über  mich!“  — die  ältere  grosse 
Nordsprache  (Sanscrit)  in  Neid  entbrannte,  — die  verschied- 
nen  unter  sieh  im  Streit  liegenden  Secten,  von  Bewunderung 
hingerissen  und  das  Werk  verehrungsvoll  auf  ihr  Haupt 
legend,  in  die  lobenden  Worte:  „Das  ist  das  Rechte!“  aus- 
brachen, — die  Weisen  den  Freudenruf  erhoben:  „Dieses 
einzige  Werk  wahrlich  genügt  für  dieses  und  jenes  Leben,  so 
wie  für  die  endliche  Erlösung!“  — die  stolzen  Akademiker 
(von  Madura)  aber,  die  sich  rühmten:  „Keiner  wie  wir!“ 
diese  ihre  Ruhmredigkeit  fahren  Hessen.  Durch  dieses  eine 
Werk  denn  gelangten  die  Lebenden  zur  vollen  Weisheit, 
indem  sich  darin  aller  Sinn  zusammenscbliesst. 


B. 

Nach  dem  „Tiruva/Zuvar  Sarittiram“  bei  V. 

Der  grosse  Säkaran  (sansc.  Sägara  = Meer),  Sohn  des 
Agastja  (Vaters  der  tamulischen  Sprache  und  Literatur  in  der 
Sage)  erzeugte  mit  einer  Puleissi  (sprich:  Puleitschi)  — d.  i. 
einer  Frau  von  sehr  niedriger  Geburt — • aus  Tiruvärür  den 
Pakavan  und  Hess  ihn  alle  Wissenschaften  lehren.  Um  j ene  Zeit 
hatte  sich  auch  ein  gewisser  Tapamuni,  aus  dem  Geschlechte 
Brahmä’s,  mit  einem  Brahminenmädchen,  Arumnankei  („ Weib 
der  Huld“),  vereinigt,  eine  Tochter  gezeugt  und  war,  sie  aus- 
setzend, nach  Virälimalei  (Hauptort  eines  zu  Puducottah 
gehörigen  Districtes?)  gegangen,  um  dort  Buss  Übungen  vor- 
zunehmen. Der  „Grosspariah“  von  Ureijflr  (der  „Stadt  des 
Tschöla-Königs“?)  nahm  das  Kind  auf  und  erzog  es  eine  Zeit 
lang,  als  ein  Sandregen,  man  weiss  nicht  wie,  auf  jenes 
Dorf  fiel,  so  dass,  dieses  Mädchen  ausgenommen,  Alle  starben. 
Darauf  wurde  es  in  dem  benachbarten  Melür  im  Hause  des 
Nltijeijan  auferzogen. 


188 


Tirnvalluver’s  Lebens-Geschichtp. 


Den  Pakavan  trieb  es  nach  Vollendung  seiner  brahrni- 
nisehen  Studien  nach  Benares.  Er  kelu-te  in  einem  Rasthause 
bei  Melür  ein.  Dorthin  kam  das  junge  Mädchen.  Er  hatte 
eben  die  übliche  Andacht  vollendet  und  war  nun  dabei  sich 
eine  Mahlzeit  zuzurichten.  Der  h.  Mann,  der  in  dem  Mädchen 
eine  verunreinigende  Pariah  sah,  wurde  bei  ihrer  Annäherung 
Feuer  und  Flamme,  dass  er  sich  nun  noch  einmal  zu  baden 
hatte,  und  warf  ihr  den  Löffel  an  den  Kopf,  dass  das  Blut 
spritzte.  Weinend  zog  sich  die  Arme  zurück. 

Pakavan  wusch  sich  noch  einmal,  richtete  sein  Essen  zu 
und  eilte  nach  Benares.  Dort  badete  er  pflichtmässig  in  der 
heiligen  Cfanga,  und  schöpfte,  wo  sich  dieselbe  mit  der  Ja- 
muna  eint  — also  an  der  heiligsten  Stelle  — Wasser  in  zwei 
Gelasse,  die  er,  nach  Weise  der  Benares  - Pilger,  an  den 
beiden  Enden  einer  über  die  Schulter  gelegten  Bambustange  be- 
festigte, um  sie  nach  Raines  seram,  „dem  südlichen  Benares“, 
den  dortigen  Göttern  zu  einem  angenehmen  und  heilsamen 
Bade,  zu  tragen.  Das  Schicksal  wollte,  dass  er  auf  der 
Rückreise  abermals  in  dem  Rasthause  zu  Melür  einkehrte. 
Da  trat  ihm  die  früher  Gemisshandelte  in  der  vollen  Schön- 
heit der  Lakschmi  entgegen;  sein  stolzes  Herz  erlag.  Er 
eilte  mit  seinem  h.  Wasser  nach  Ramesseram  und  kehrte  flugs 
wieder  um,  die  Geliebte  zu  freien.  Vier  Tage  lang  hatte  Ni- 
tijeijan  mit  den  Verwandten  bereits  der  Verrichtung  der  vor- 
bereitenden Ceremonien  obgelegen ; am  fünften  sollte  sic  nun 
das  „Hochzeitsbad“  nehmen;  da  sah  Pakavan,  als  er  ihr  zur 
Salbung  das  Haar  theilte,  die  Narbe  einer  Kopfwunde,  und 
erkannte  sie  als  die  früher  von  ihm  Gemisshandelte.  „Du 
bist  ja  wohl  die  von  früher?“  (Äti1,  sansc.  Ädi)  rief  er 
und  floh. 

Seinem  Schicksal  entfloh  er  nicht.  Die  Verstossene  eilte 
ihm  nach  und  ereilte  ihn  in  einem  Ma«iapam  — einer  Art  Säu- 
lenhalle, in  die  man  zur  Zeit  festlichen  Umzugs  die  Götter  zu 


t Daher  soll  ihr  Name  ,.Ati  ‘ (..Anfang“)  kommen.  — Ariel : .,  TiruvaMuvar  com- 
mence  sesKuraf  par  un  distique  oir  il  emploie,  pour  designerl'etre  supreine,  le  compose 
Adibägavän  qui  reproduit  les  noms  de  sa  mfere  et  de  son  p&re.“ 


13.  Nach  dem  „TiravaHuv&r  Sarittiram“  bei  V. 


189 


setzen  pHegt,  die  aber  auch  den  Reisenden  als  Herberge  zu 
Gebote  steht.  „Da  dir  undmirdiess  alles  nach  göttlicher  Ver- 
anstaltung begegnet,  ziemt’s  sich  für  dich,  dass  du  mich 
verlassest?  Ich  kann  ohne  dich  nicht  leben.“  So  jammerte 
sie  ihn  tiefbewegt  an,  und  er,  vom  Geschick  selbst  dazu  ge- 
neigt, antwortete:  „Weib,  wenn  du  dich  entschliessen  kannst, 
deine  Kinder  zu  lassen  wo  sie  geboren  werden,  so  will  ich 
dich  freien. “ Äti  stimmte  zu  und  wurde  die  Mutter  von  vier 
Mädchen:  Auvei,  Uppei,  Uruvei,  VaAi,  und  von  drei  Knaben: 
Atikamän,  Kapilar,  Tiruva//uvar.  Sie  Hess,  ihrem  Verspre- 
chen gemäss,  jedes  derselben  an  dem  Ort  wo  es  geboren 
wurde,  und  diese  selbst  trösteten,  jedes  mit  einer  wohlge- 
setzten Strophe,  die  trauernde  Mutter. 

U pp  e i sagte : 1 Der  im  undurchsichtigen  Dickicht  selbst 
den  rauhen  Dornbusch  mit  Wasser  speist,  der  wird  auch  uns, 
den  Andächtigen,  unser  Theil  zumessen.  Das  ist  ja  das 
Geschäft  des  Gottes,  dess  eine  Hälfte  Weib  ist.  (Siva,  als 
Mannweib.) 

Auvei  sagte:  Lebt  zur  Erhaltung  alles  Lebens  ein  Herr, 
oder  nicht?  Bin  ich  nicht  auch  ein  Theil  jenes  Lebens?  O 
Mutter,  warum  jammerst  du  umher,  mich  immer  wieder  auf- 
nehmend, dich  immer  wieder  nahend?  Was  kommen  soll, 
kommt. 

Uruvei  sagte:  Wie  die  Mutter  speist,  so  speist  das  Leben 
in  des  Embryo'  s störriger  Hülle.  Dass  aus  dem  Ei  ein  Leben 
hervorlebt — ein  Wunder  ist  s!  Umherjammernde  Mutter,  an- 
schauend den  Bestand  in  Siva’s  Wesen,  halt  Stand! 

Va lli  sagte:  Der  sonst  in  dem  Leib  der  Mutter  nährte, 
nährt  der  nicht  mehr,  Mutter?  — der  Gott,  der  sich  mit  der 
blitzenden  Schlange  gürtet,  der  Golt,  der  in  dem  Ende  der 
Vedas  webt  und  spielt. 

Atikamän  sagte:  Der  nach  seinem  Wohlgefallen  auf 
mein  Haupt  meinen  Gang  verzeichnet  hat  — Siva  — ist  der 


1 Ich  folge  bei  der  Wiedergabe  der  sieben  Verse  — auch  in  Bezug  auf  ihre  Ver- 
theilung  an  die  sieben  Geschwister — dem  sogenannten  „Siebengesang“  in  dem  von  Ve- 
takirimutaliär  horausgegebonen  , .Kapilar  akaval.“ 


190 


Tiruvalluver's  Lebens-Geschichte. 


gestorben?  Lass  Hunger  daherstossen  — seine  Sorge  ist’s. 
Mutter,  Herz,  fürchte  nicht! 

Tiruva^/uvar  sagte:  Der  im  Ei  dem  Embryo,  im  Stein 
dem  Frosch  mit  Freuden  Nektar  reicht,  der  Wahrhaftige, 
wird  der,  wenn  das  Leben  ausgeboren  ist,  nicht  nähren?  Höre, 
Mutter,  was  welkst  du  hin  ? Jauchze  auf! 

Kapilar  sagte:  Der  von  der  Empfängniss  an  bis  heute 
vor  aller  Noth  behütete  und  mit  dem  Wasser  Speise  reichte, 
hat  der  sich  weggestohlen?  Hat  der  sein  Aug’  zum  Schlaf 
geschlossen?  Ist  der  wie  dein  Herz?  Mutter,  sprich! 

Wir  lassen  jetzt  die  übrigen  sechs  Brüder  und  Schwe- 
stern 1 beiseit  und  folgen  der  Sage  über  den  Lebensgang  des 
Tiruva^/uvar,  der  in  einem  Haine  von  Oelfruchtbäumen  bei 
Majiläpur  geboren  wurde.  Unter  einem  derselben,  nahe  bei 
einem  Sivatempel,  lag  das  Kind;  der  von  den  Blüthen  des 
Baumes  herabträufelnde  Honig  nährte  es.  War  es  doch 
Brahma  selbst,  der  in  dem  Kinde  zur  Welt  gekommen;  was 
Wunder,  dass  es  mij  der  heiligen  Haarlocke,  der  Opferschnur 
und  den  vier  Vedas  ohne  alle  Mühe  aufwuehs! 

Es  traf  sich,  dass  eben  bei  jenem  Sivatempel  die  kinder- 
lose Frau  eines  hochangesehenen  Vc/ä/an  aus  dem  „Ganges- 
Geschleclite“  sich  zu  kasteien  pflegte,  um  dem  Himmel  die 
Gabe  eines  Kindes  abzuringen.  Die  erbarmungsvolle  Göttin 
hiess  sie  das  Kind  auf-  und  annehmen  und  ihm  den  Namen 
Tiruva^uvar2  beilegen,  den  es  vordem  führte,  da  es  als 
Brahma,  der  Zukunft  kundig,  in  einem  ausgehöhlten  Kürbiss 
auf  der  „grossen  Fluth“  daherschwamm,  und  von  Siva  die 
verwüstete  Welt  wieder  herzustellen  beauftragt  wurde. 

Der  alte  Yr7ä/an  war  hocherfreut  über  den  wunderbaren 
Findling.  Als  aber  die  Verwandten,  die  in  Indien  eine  grosse 
Rolle  spielen,  darüber  spotteten,  so  hing  er  die  Schaukel,  die 


1 Auvei  wuchs  in  einem  Saitenspielerdorfe  auf;  Uppei  in  Urrukättu  in  Tonteinäiu 
bei  Leuten  von  der  Wäscherkaste;  Atikamänin  Karuvür  bei  dem  Tschera-Fürsten ; Uru- 
vei  in  Käveripa«anam  bei  Teddy  Verkäufern ; Kapilar  in  Tiruvärür  bei  einem  Ti  rahm  inen ; 
Vaiii  im  Gebirge  bei  Kuravar's. 

2 VaWuvar  heisst  der  Pariahpriestcr,  der  sich  auch  mit  Wahrsagen  beschäftigt. 
Tiro  heisst  heilig. 


B.  Nach  dem  „TiruvaWuvar  Sarittiram“  bei  V. 


191 


bei  den  Tamulen  die  Stelle  unsrer  Wiege  vertritt,  in  einem 
Schuppen  auf,  und  liess  das  verachtete  Kind  mit  dem  Vieh 
zusammen  von  dem  Gesinde  erziehen.  Da  aber  regte  sich 
der  Gott  in  dem  Kinde ; es  verliess  das  Haus  seiner  Pflege- 
Eltern  und  schlug  seine  Wohnung  unter  einer  Palmyra  in  der 
Nähe  des  Dorfes  auf.  Nie  wich  der  Schatten  von  dem  Kusse 
der  freundlichen  Palme,  so  dass  die  Vorübergehenden  nicht 
wussten,  ob  sie  aus  dem  Kinde  einen  Gott  oder  einen  Muni 
(einen  Heiligen)  zu  machen  hätten. 

Bald  aber  brach  der  junge  TiruvaWuvar  nach  dem  Ge- 
birgeauf,  woTirumülar,  Pökar  und  andere  „Vollendete  und 
Grossbiisser“  sich  beschaulicher  Askese  widmeten,  denn  er 
konnte  es  nicht  länger  tragen,  dass  ihn  die  Leute  priesen, 
ohne  dass  er  auf  dem  Wege  der  Biissung  sich  zur  wohlver- 
dienten Herrlichkeit  einporgesehwungon.  Dort  forderte  man 
ihn  auf,  der  Welt  zum  Heil  über  die  drei  Strebeziele  der 
Menschen,  „Tugend,  Gut  und  Lust“  in  tamulischer  Sprache 
zu  schreiben.  Tiruva//uvar  begnügte  sich  daher  nicht  mit 
der  Askese,  sondern  ergab  sich  daneben  auch  dem  eifrigsten 
Studium.  Er  wurde  aber  unterbrochen.  Um  jene  Zeit  näm- 
lich verwüstete  ein  Spukgeist  alle  Felder  und  erwürgte  alles 
Vieh  in  To/;teima/<talam.  Märkkasakäjan  aus  Käveripäk- 
kam,  ein  reicher  Vc/ä/an,  der  mit  tausend  Joch  Ochsen  pflügte, 
setzte  demjenigen  einen  Preis  aus,  der  den  Dämon  bannen 
würde;  aber  obgleich  er  unter  anderrn  ein  ganzes  Dorf  bot, 
es  fand  sich  niemand.  Er  wandte  sich  daher  an  die  hei- 
ligen Männer  auf  dem  Biisser-Berge,  und  diese  wiesen  ihn  an 
Tiruva^uvar.  Der  Dichter-Asket,  „allem  Leben  hold,“  ging 
auf  die  Bitte  des  Grundbesitzers  ein.  Mit  Hülfe  der  heiligen 
Asche,  die  jeder  fromme  Sivakneeht  an  seine  Stirn  streicht, 
und  der  heiligen  fünf  Sylben  „Namasiväja“  bezwang  er 
ohne  weiteres  den  Dämon,  und  nun  bot  ihm  der  Uebergltick- 
liehe  zu  allem  auch  seine  liebe  Tochter  V äsuki  zum  Weibe. 
Der  strenge  Biisser  bedachte  sich.  „Gut“,  sprach  er  bei  sich 
selbst,  „man  sollte  wohl  der  Welt  zeigen  Avie  die  Haustugend 
zu  üben  ist.“  Er  wollte  sich  aber  zuvor  überzeugen,  ob  seine 
Zukünftige  auch  den  Haushalt  wohl  verstünde,  und  verlangte 


192 


Tiruvalluver’s  Lebens  - Geschichte. 


in  dieser  Beziehung  eine  in  jedem  Sinne  harte  Trohe : er  gab 
ihr  nämlich  Sand,  und  sie  sollte  ihm  daraus  Reis  zurichten. 
Väsuki,  die  weibliche  Einfalt  selber,  unterzog  sich  dieser 
Probe  ohne  alles  Bedenken  — der  heilige  Mann  konnte  ja 
nichts  V idersinniges  fordern  — und  siehe  da,  es  gelang  der 
Gehorsamen,  die  in  ihrem  künftigen  Mann  ihren  Gott  sah: 
denn,  wie  TiruvaZZuvar  sagt:  „Es  regnet,  wenn  es  regne!  Die 
spricht,  die,  nicht  die  Gottheit,  nein  den  Gemahl  anbetend, 
sich  vom  Lager  hebt.“  (Vers  55). 

Der  h.  Mann  war  zufrieden  und  heirathete  das  wackre 
Mädchen.  Was  aber  nun  anfangen?  Wollte  er  der  Welt  ein 
Beispiel  geben,  so  musste  er  sich  von  seiner  Hände  Arbeit 
nähren-  Er  wählte  dazu  das  Weberhandwerk  als  das  un- 
schuldigste, und  liess  sich  in  Majiläpur  nieder.  Der  Kauf- 
mann Elelasinkan  lieferte  ihm  die  Baumwolle. 

Elelasinkan  war  ein  frommer  Verehrer  Sivas  und  warf 
sich  eines  Tages  vor  dem  „Faden  leckenden,  Faden  knüpf- 
enden Philosophen“  nieder:  0 Herr,  ihr  müsst  mich  aus  dem 
Ocean  des  Weltelendes  an  das  Ufer  der  Erlösung  hinüber 
retten ! Damit  machte  er  den  weisen  Weber  zu  seinem  geist- 
lichen Führer.  Dieser  wollte  nun  Dessen  und  noch  einiger 
andern  Jünger  philosophische  Iveife  prüfen,  und  begab  sich 
zu  diesem  Zweck  eines  Tages  in  einen  Wald  mit  ihnen.  Er 
liess  eineFluth  daher  brausen,  und  forderte  sie  auf,  ihm  ohne 
weiteres  an  das  andere  Ufer  zu  folgen.  Alle  standen  und 
stutzten  — nur  Elelasinkan  schritt  kühn  hinter  dem  Meister 
her,  und  siehe  da,  die  Flutli  wich.  TiruvaZZuvar  hiess  ihn 
nun  einen  hohen  Baum  besteigen  und  sich  herunterstürzen. 
Nachdem  er  auch  diese  Probe  bestanden,  nahm  der  hoch- 
erfreute Lehrer  das  liebe  Kind  auf  den  Schooss,  weihete  es 
in  die  tiefsten  Geheimnisse  der  Weisheit  ein  und  stählte  es 
gegen  die  Reize  der  Sinnlichkeit. 

Ich  übergehe  die  Wunder  alle,  die  nun  TiruvaZZuvar  nach- 
einander that,  zumal  es  nicht  klar  ist,  ob  und  wieviel  der 
neuere  Commentator  zum  Kural,  dessen  erste  Herausgabe 
seitens  der  Eingebornen  in  Madras  die  Tendenz  hatte,  den 
Christen  durch  die  vermeintliche  Christlichkeit  desselben  zu 


B.  Nach  dem  „TiruvaHuvar  Sarittiram“  bei  V. 


193 


imponiren,  zu  der  alten  Ueberlieferung  hinzugethan,  um  seinen 
„göttlichen“  Dichter  den  Christen  gegenüber  aufzustutzen. 
Scheinen  doch  schon  die  beiden  vorerwähnten  Wunder  nach 
einem  Griff  in  Matthäus  14, 28 — 31,  und  4, 5 — 6 zu  schmecken, 
während  das  Manöver  mit  dem  Sande  an  Johannes  2,  1 — 11 
erinnern  könnte.  Nachher  kommen  gar  „sieben  unfruchtbare“ 
Jahre,  während  welcher  der  Reisvorrath  des  Elelasinkan,  ob- 
gleich er  gehäuften  Maasses  an  alle  Welt  um  den  Kaufpreis 
verkauft,  nicht  ausgeht,  sondern  vielmehr  „berghoch“  wächst. 
Doch  ich  muss  die  Sache,  die  einer  besondern  Untersuchung 
bedarf,  hier  liegen  lassen.  Sie  ist  übrigens  nicht  ohne  Be- 
deutung für  die  Beantwortung  der  in  neuerer  Zeit  viel  be- 
regten  Frage,  ob  und  in  wie  weit  christliche  Einflüsse  auf  die 
Sagenbildung  in  Ostindien  eingewirkt  haben. 

Von  Afakänantan,  dem  Adoptivsohn  des  Elelasinkan, 
und  andern  bedeutenden  Männern  aufs  neue  dazu  aufgefor- 
dert, verfasste  nun  TiruvaZZuvar  sein  grosses  Lehrgedicht, 
und  zog  dann  auf  Anrathen  derselben  Freunde  nach  Madura, 
dem  tamulischen  Athen,  um  damit  den  Stolz  der  dortigen 
Akademiker  zu  demüthigen.  Auf  dem  Wege  dahin  schloss 
sich  seine  Schwester  Auvei  an.  Er  forderte  dazu  auch  Deik- 
kätar  in  IteikkaZ’inäfti  auf:  „Siva  hat  geschworen,  er  wolle 
Narklran  und  die  übrigen  Akademiker,  die  ihn  verachtet, 
durch  Euch  und  durch  mich  zu  Grunde  richten ; wohlan  ich 
gehe  mit!“  sprach  Ueikkä/ar.  Dass  die  Sage  auch  ihn  mit- 
ziehen lässt,  hat  vielleicht  seinen  Grund  darin,  dass  man  ihm 
unter  königlichem  Einfluss  einen  Ehrensitz  auf  der  berühmten 
akademischen  Bank  verweigert  hatte.  Auf  eine  solche  That- 
sache  wenigstens  scheint  die  Erzählung  des  „Maturei  Stalla 
Puränam“  hinzudeuten,  dass  Siva  dem  Ifeikkätar  zu  Liebe 
seine  Statue  aus  dem  Tempel  zu  Madura  verschwinden  liess, 
weil  der  König,  auch  selbst  Akademiker,  ein  dichterisches 
Erzeugniss  seines  Lobredners  nicht  gehörig  beachtet  hatte. 

In  Madura  angekommen,  begab  sich  TiruvaZZuvar  „in  die 
Gegenwart  des  Gottes“,  d.  i.  in  den  Tempel,  vor  die  ver- 
sammelten Akademiker,  den  König  und  seine  Minister.  Wie 
. „wenn  in  eine  Schafheerde  der  Tiger  bricht,  wie  wenn  der 

III.  13 


194 


Tiruvalluver's  Lebens  - Geschichte. 


schlangenfeindliche  GarurZa  sich  auf  einen  Haufen  Schlangen 
stürzt,  wie  wenn  der  Leu  auf  einen  Trupp  Elephanten  stösst, 
wie  wenn  in  einem  Bambuswalde  die  Flamme  fasst“  — so 
trat  er  daher,  und  den  hochberühmten  Akademikern  verwirrte 
sich  der  Sinn,  sank  der  Muth,  brach  der  Stolz,  als  er  nun 
seinen  Kural  vortrug  und  auf  die  ihm  vorgelegten  heikein 
Fragen  ingesammt  auf  der  Stelle  in  hochtamulischen  Versen 
antwortete. 

„TiruvaZZuvar!“  so  Hessen  sich  die  in  die  Enge  getrie- 
benen Professoren  vernehmen,  „der  Annahme  deines  Kurais 
steht  nur  noch  Ein  Bedenken  entgegen.  Die  Bank,  auf  der 
wir  sitzen,  macht  von  selber  Platz,  wenn  sie  mit  einem  Werke 
in  classischem  Hochtamul  in  Berührung  kommt.  Nimmt  sie 
ihn  an,  so  stimmen  wir  alle  bei.“  Da  legte  TiruvaZZuvar 
seinen  Kural  auf  die  Bank  und  siehe,  sie  schrumpfte  auf 
das  Maass  des  Buches  zusammen,  so  dass  sämmtliehe  Aka- 
demiker in  den  „goldnen  Lotusteich“  dahinter  stürzten  — zur 
unendlichen  Freude  des  zuschauenden  Publicums.  Man  er- 
goss sich  in  Lobeserhebungen  TiruvaZZuvar’s,  und  selbst  die 
gedemüthigten  Akademiker  mussten  zum  bösen  Spiel  eine 
gute  Miene  machen.  Nachdem  sie  in  grosser  Verwirrung  aus 
dem  unfreiwilligen  Bade  herausgestiegen,  priesen  sie  den 
glücklichen  Dichter  in  begeisterten  Strophen.1 

Majiläpur  empfing  den  Gefeierten  bei  seiner  Rückkehr 
mit  grossen  Ehren.  Der  Ruhm  des  armen  Webers  erscholl 
weit  und  breit  im  Lande.  Von  seinem  Rufe  angelockt,  kam 
einst  ein  bedeutender  Mann  zu  ihm  mit  der  Frage:  „Was  ist 
besser,  Haus-  oder  Busstugend?“  Grosse  Meister  unter  den 
Hindus  sind  ganz  besonders  „langsam  zum  Reden“;  sie  lassen 
ihre  Jünger  oft  Jahre  lang  schreien,  bis  sie  ihnen  „die  Brüste 
der  Weisheit“  reichen.  Jener  Mann  beugte  sich  viele  Tage 
lang  immer  und  immer  wieder  vor  dem  weisen  Dichter  mit 
der  Bitte  um  lmldsamen  Bescheid;  umsonst,  TiruvaZZuvar  er- 
wiederte  auch  nicht  Ein  Wörtlein  Endlich  erbarmte  er  sich 


1 Bekannt  unter  dem  Namen  ,,  TiruvaJ/uva  malei  “ (Guirlande  T );  abgedruckt 
in  den  Ausgaben  des  Kural  von  S.  und  V. 


B.  Nach  dem  „Tiruva/Juvar  Sarittiram“  bei  V. 


195 


und  gab  ihm  Antwort  durch  die  That.  Der  Dichter  rief  seine 
Frau  gerade  in  dem  Augenblick  wo  sie  am  Brunnen  war;  die 
Gehorsame  liess  das  Wassergefäss  auf  halbem  Weg  im  Brun- 
nen hängen,  und  stürzte  herbei  um  die  Befehle  ihres  Herrn 
und  Gemahls  entgegenzunehmen.  Ein  andermal  sprach 
er,  als  sie  ihm,  der  tamulischen  Sitte  gemäss,  kalten  Reis  vom 
vorigen  Abend  zum  Frühstück  hinsetzte:  „Frau,  das  brennt 
mir  ja  auf  der  Zunge“;  sogleich  blies  die  wackre  Frau  mit 
vollen  Backen  darein.  Ein  drittesmal  entglitt  ihm  am  vollen 
Mittag  — und  die  Mittagssonne  in  Indien  macht  auch  die  ge- 
wöhnlich mit  Bäumen  bepflanzten  Weberstrassen  ziemlich  hell 
— während  er  am  Webstuhl  sass,  etwas  aus  der  Hand;  er 
rief  nach  einem  Licht  um  es  aufzuheben,  und  siehe  da,  die 
Allergehorsamste  brachte  eine  Lampe,  dem  Augenschein 
zum  Trotz.  Damit  war  dem  Jünger  selbst  ein  Licht  aufge- 
gangen. „Ich  habe  meine  Antwort:  Fällt  einem  ein  so  treff- 
liches Weib  zu,  so  ist  die  Uebung  der  Haustugend  vorzüg- 
licher; wo  nicht,  so  werde  man  lieber  Einsiedler.“  So  sprach 
er  bei  sich  selbst  und  zog,  ohne  den  Meister  mit  weitern 
Fragen  zu  behelligen,  seines  Weges. 

Als  die  wackere  Väsuki  ihren  Tod  nahen  fühlte,  fasste 
sie  sich  ein  Herz,  ihren  strengen  Gemahl  um  Aufklärung 
über  einen  dunkeln  Punkt  zu  bitten,  der,  von  dem  ersten  Tag 
ihrer  Verheirathung  an,  ihrem  Witze  getrotzt  hatte.  „Als  ich 
Euch,  mein  Herr,  zur  Zeit  unsrer  Verheirathung  das  erstemal 
Reis  zurichtete,  gebotet  Ihr  mir  stets  ein  Gefässlein  mit 
W asser  nebst  Nadel  dabei  zu  setzen;  warum  doch  gebotet 
Ihr  mir  solches?“  Darauf  antwortete  der  grundgütige  Ehe- 
herr: „Liebe,  um  damit  das  Reis,  das  beifallen  möchte,  auf- 
zuheben und  zu  reinigen“;  und  sogleich  starb  die  treue  Gattin 
befriedigten  Herzens.  Sie  hatte  demnach  ihren  Gatten  nie 
ein  Körnlein  Reis  verschütten  sehen. 

Tiruva//uvar  aber  sang  aus  tiefbewegter  Seele:  „Die  du 
süsser  als  das  tägliche  Reis  bist!  Liebevolle!  Frau,  die  auch 
in  keinem  Worte  fehlte!  Weib,  das,  denFuss  sanft  streichend, 
nach  mir  sich  zur  Ruh  begab,  und  vor  mir  aufstand!  Du 
gehst?  Wie  soll  mein  Aug  bei  Nacht  sich  je  wieder  schliessen?“ 


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Tiruvalluvers  Lebens- Geschichte. 


Als  endlich  der  Dichter  selbst  aus  dieser  Welt  ging, 
schleifte  sein  Herzensschüler,  Elelasinkan,  strengster  Weisung 
zufolge,  den  Leichnam  des  geliebten  Lehrers  zur  Stadt  hinaus, 
und  legte  ihn  dort  in  ein  stilles  Gebüsch.  Da  kamen  die 
Haben  — und  o Wunder  — sobald  sie  von  dem  Fleische  des 
göttlichen  Dichters  genossen  hatten,  wurden  sie  zu  Gold. 


LEIPZIG 


DRUCK  VON  GIESECKE  i DEVR1ENT. 


17192TB  192-, 

10-02-03  32180  MS  W