Skip to main content

Full text of "Der Lebensabend einer Idealistin; Nachtrag zu den "Memoiren einer Idealistin""

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  lechnical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  fivm  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogXt  "watermark"  you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  and  hclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  rcach  ncw  audicnccs.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http: //books.  google  .com/l 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Uiheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  Tür  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  fürdieseZwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .coiril  durchsuchen. 


Malwida  von  Meysenbug 

DER  lEBENSÄBEND 

EINER 

IDEÄLISTIN 


^1  ^■> 


v^^^S 


"^ 


-'>^i1 


?' 


Der  Lebensabend  einer  Idealistin 


Im   gleichen  Verlage    erschien 
von  derselben  Verfasserin : 

MEMOIREN  EINER  IDEALISTIN 

VI.  Auflage. 

Drei  Bände,  broschiert  Mk.  lo. — ,  gebunden  Mk.  14. — 


INDIVIDUALITÄTEN 

II.  Auflage 

Broschiert  Mk.  6. — ,  gebnnden  Mk.  7.50 


STIMMUNGSBILDER 

ni.  Auflage. 

Broschiert  Mk.  4. — ,  gebunden  Mk.  5.50 


'^/z  ///etA-Je'H'dr^f 


i)HR  LEBENSABEND 
^  IDEALISTIN 


i';}.ii\ 


\  :;  Ni»  laUAUST!«-' 

>  IJN  Meysenbug 

^:     :-,..  .TTiu;.«!  v^  K«m  von  L*nl»;l, 


\i;fi,ai;e. 


DER  LEBENSABEND 
EINER  IDEALISTIN 

NACHTRAG  ZU  DEN 

„MSMOIRSJt  SIHEE  IDEÄLISTIH" 

VON 

Malwida  von  Meyspnbug 
fünfte  auflage. 


SCHUSTER  &  LOEFFLER 

BERLIN  UND  LEIPZIG 


/;./,' 


Meinen  teuersten  Freunden 

OLGA  und  GABRIEL  MONOD 

zum  6.  März   1898 
in  unvergänglicher  Liebe  zugeeignet 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Vorwort 


Wie  gütig  ist  das  Schicksal  doch  zuweilen ! 
So  erlaubte  es  mir,  der  Hochbetagten,  mit  Euch 
noch  den  Tag  zu  feiern,  der  Euch  das  Siegel 
auf  fünfundzwanzig  Jahre  eines  edlen  Glücks 
drückte  und  mir  die  trostreiche  Hoffnung  gab, 
dass  auch  ferner  gute  Sterne  über  Euch  leuchten 
werden,  wenn  meine  Augen  sich  schon  für  alles 
Irdische  geschlossen  haben. 

Warum  ich  Euch  an  dem  Tag  diese  Blätter 
zur  Erinnerung  weihte,  das  war,  weil  sie  Er- 
lebtes und  Gedachtes  aus  den  Jahren  enthalten, 
in  denen  ich  nur  teilweise  mit  Euch  vereint 
war  und  wo  das  hier  Erzählte  Euch  fremd  blieb. 

Warum  ich  nun  noch  einmal  in  die  Öffent- 
lichkeit damit  trete,  das  ist,  weil  ich  so  über 
alles  Erwarten  liebevolle  Teilnahme  in  der  un- 
bekannten  Menge  fand  und   daher  voraussetzen 


darf,  dass  alle  diese  guten  Freunde  gern  noch 
einmal  einen  Gruss  von  mir  empfangen. 

Möge  es  denn  so  sein!  Von  Euch  bin  ich 
dessen  getrost,  aber  möge  mir  auch  wieder  ein 
zustimmendes  Exho  von  nah  und  fern  die 
Gewissheit  geben,  dass  es  eine  weitverzweigte 
Gemeinde  gibt  von  Solchen,  die  sich  nie  gekannt, 
nie  gesehen,  und  die  doch  fest  verbunden  sind 
durch  das  gleiche  Streben  nach  dem  Guten, 
nach  dem  Ideal,  nach  der  äusseren  und  inneren 
Vollendung  des  Lebens. 

Sie  allein  werden  zuletzt  recht  behalten  I 


Die  Zeit  des  Kampfes  war  vorüber,  die 
grössere  Hälfte  des  Lebens  war  verflossen,  nach 
innen  und  nach  aussen  war  die  Freiheit  ge- 
wonnen, welche  der  Preis  jedes  edeln  Strebens 
ist;  die  selbstgewählte  Aufgabe  der  Erziehung 
einer  Tochter  der  freien  Wahl,  war  erfüllt,  sie 
hatte  ihr  eigenes  Leben  begonnen,  in  einer 
jedes  wahre  Glück  verheissenden  Ehe;  das  Alter 
nahte  mit  raschen  Schritten  und  nun  galt  es, 
doch  noch  einmal  einen  Entschluss  zu  fassen, 
sich  für  einen  Wohnort  zu  entscheiden  und 
dem  Leben  eine  würdige,  dem  Alter  angemes- 
sene Gestalt  und  einen  ausfüllenden  Inhalt  zu 
geben.  Nach  der  Trennung  von  jenem  Wesen, 
dem,  in  jahrelanger  Vereinigung,  die  Fülle  der 
Liebe,  welche  mein  Herz  umschloss,  gegolten 
hatte,  war  mein  festes,  schon  lange  ins  Auge 
gefasstes  Ziel  gewesen,  in  das  Vaterland  zurück- 
zukehren   und    zwar    an    den    Ort,     wo     mir 

MeysenbugjlV.  x 


—      2      — 

damals  die  Blüte  des  wahrhaft  deutschen  Geistes, 
eine  neue  Heimat  gefunden  zu  haben  schien 
—  nach  Bayreuth,  und  so,  nicht  nur  der  mir 
so  innig  befreundet  gewordenen  Familie  des 
grossen  Meisters  nahe  zu  sein,  sondern  fortan 
auch  ganz  in  der  idealen  Kunstsphäre  zu  leben, 
die  sich  durch  ihn  und  um  ihn  dort  ent- 
wickeln sollte. 

Ich  war  schon  einmal  dort  gewesen,  als  im 
Jahre  1872  der  Grundstein  zu  dem  Theaterbau 
gelegt  wurde,  und,  als  herrlichste  Einweihung, 
in  dem  hübschen  Rokoko  Theater  von  Bayreutli, 
die  neunte  Symphonie,  von  Wagner  selbst  dirigiert, 
zur  Aufführung  kam.  Wer  jene  Tage  miterlebt 
hatte,  musste  eine  ewige  Erinnerung  daran  be- 
wahren, als  an  einen  jener  idealen  Momente, 
wie  sie  das  Leben  zuweilen  den  Sterblichen 
schenkt,  um  zu  zeigen,  was  möglich  wäre,  wenn 
die  Menschheit;  anstatt  sich  nur  um  das  ^  allzu 
Flüchtige«  zu  bemühen,  die  ewigen  Schätze, 
die  der  Genius  ihr  bietet,  pflegen  und  mit 
liebendem  Verständnis  zu  erfassen  tätig  sein 
wollte.  In  dem  Lichtglanz,  den  jene  Tage 
über  das  kleine  Städtchen  im  Bayernland  ver- 
breitet hatten,  erschien  mir  kein  Ort  so  geeig- 
net, meinem  Alter  eine  Heimat  zu  werden,  als 
diese,  der  hohen  Kunst  geweihte  Stätte,  und 
ich  nahm  Abschied  von  der  Sonne  des  Südens, 
um  unter  einer  idealen  Sonne  im  kalten  Norden 
zu  leben. 

Dort  den  Freunden  verbunden,  im  engsten 
Familienkreis  mit  ihnen  verkehrend,   schien  mir 


—    3    — 

die  glücklichste  Wahl  getroffen.  Die  Abende, 
wo  gemeinschaftliche  Lektüre  uns  vereinte,  waren 
Stunden  seltensten  Genusses,  weil  jedes  Werk, 
das  vorgenommen  wurde,  durch  Wagners  Kom- 
mentare und  Bemerkungen  erhöhten  Wert  er- 
hielt. Eine  Zeit  lang  waren  es  die  spanischen 
Dichter,  die  Wagner  vorlas  und  deren  zauberische 
Anmut  mich  entzückte,  so  wie  die  tiefe  Glut 
der  Empfindung  mich  an  die  Bilder  Zurbarans 
erinnerte,  die  ich  einst  in  der  berühmten  Aus- 
stellung in  Manchester  gesehen  hatte,  zu  welcher 
alle  englischen  Grossen  die  reichen  Schätze  ihrer 
Schlösser,  auf  fremdem  Boden  gesammelt,  ein- 
gesandt hatten.  Diese  Glut  der  Innerlichkeit, 
die  in  dem  spanischen  Maler  sich  zum  düsteren 
Fanatismus  steigert,  fand  ich  in  Calderon  poetisch 
verklärt  wieder,  während  mich  in  Lope  de  Vega 
und  anderen  mehr  das  feine,  vornehme,  blumen- 
reiche Spiel  anzog,'  wenn  es  auch  gleich  manches 
unserer  Kultur  Fremdes  enthält,  wie  z.  B.  den 
spanischen  Begriff  der  Ehre. 

Unvergleichlich  schön  aber  war  es,  wenn 
W^agner  Shakespeare  vorlas;  es  schien,  als  ver- 
stände man  den  grossen  Dramatiker  nun  erst 
ganz,  und  ich  sagte  einmal  im  Scherz  zu 
Wagner,  er  habe  seinen  Beruf  verfehlt,  er  hätte 
Schauspieler  werden  müssen,  um  Shakiespeare 
zu  spielen,  um  die  gewaltige  Grösse  des  Ge- 
nius den  Menschen  voll  zum  Verständnis  zu 
bringen. 

Zuweilen  wurde  das  häusliche  Leben  durch 
Besuche   auswärtiger  Freunde   unterbrochen,    so 


I* 


—    4    — 

wiederholt  durch  den  Besuch  Friedrich  Nietzsches, 
damals  noch  durch  die  hingehendste  Freundschaft 
mit  Wagner  verbunden.  Ich  hatte  ihn  bei  der 
Grrundsteinlegung  im  Jahr  72  kennen  gelernt, 
nachdem  ich  vorher  schon  mit  Begeisterung 
seine  Schrift  »Die  Geburt  der  Tragödie  aus 
dem  Geiste  der  Musik«  gelesen  hatte.  Dann 
hatte  ich  ihn  in  München  wieder  gesehen,  wo 
ich  mit  Olga  weilte,  um  den  AufRihrungen  von 
»Tristan  und  Isolde«  beizuwohnen,  die  uns  alle 
ganz  glücklich  machten.  Jetzt  erfreute  er  uns 
oft  durch  sein  wahrhaft  wundervolles  Klavier- 
spiel, meist  freie  Improvisationen,  so  dass  Wagner 
ihm  einmal  im  Scherz  sagte:  »Nein,  Nietzsche, 
Sie  spielen  zu  gut  für  einen  Professor.«  Auch 
Brockhaus  aus  Leipzig,  Wagner  verschwägert, 
kam  und  erzählte  u.  a.,  wie  die  Werke  Schopen- 
hauers lange  Jahre  als  unverkaufbar  bei  ihm 
auf  dem  Boden  unter  dem  Dach  gelegen  hätten, 
und  dass  er  nahe  daran  gewesen  sei,  sie  als 
Makulatur  zu  gebrauchen,  bis  plötzlich  Schopen- 
hauers Stern  aufging.  Welchem  -Schicksal  sind 
oft  die  grossen  Schätze  der  Menschheit  aus- 
gesetzt! Aber  Schopenhauer  wusste  es  wohl, 
dass  sein  Tag  kommen  würde;  sein  Glaube  hat 
ihn  nicht  betrogen. 

Das  schöne,  wahrhaft  ideale  Zusammenleben 
in  der  kleinen,  neu  erworbenen  Heimat  wurde 
aber  leider  auf  eine  Weise  gestört,  die  keinen 
Widerspruch  zuliess.  Meine  Gesundheit,  seit  so 
vielen  Jahren  an  südliche  Winter  gewöhnt,  konnte 
den  nordischen,  noch  dazu  in  dem  kalten  Klima 


—  s  — ■ 

von  Bayreuth  besonders  rauhen  Winter  nicht 
mehr  vertragen.  Ein  heftiges  Kopfleiden  stellte 
sich  ein  und  als  ich  nach  München  ging,  um 
einen  dortigen  mir  bekannten  Arzt  zu  befragen, 
verordnete  er  mir,  auf  der  Stelle  nach  Italien 
zurückzukehren,  wenn  ich  die  ernstesten  Folgen 
vermeiden  wollte.  Er  drängte  so,  dass  mir  nicht 
einmal  2^it  blieb,  noch  einmal  nach  Bayreuth  zu 
gehen  und  von  den  Freunden  Abschied  zu  nehmen, 
was  mir  aber  auch  zu  schmerzlich  gewesen  wäre, 
wie  ich  auch  wohl  wusste,  dass  dieser  gewalt- 
same Aufbruch  ebenfalls  in  ihrem  Leben  ein 
trüber  Augenblick  sein  würde.  So  zog  ich 
Anfang  Januar  wieder  über  die  Alpen  zurück, 
traf  die  Ebene  der  Lombardei  tief  mit  Schnee 
bedeckt,  und  ging  nach  San  Remo  an  die  Riviera, 
wo  die  Menschen  wieder  unter  Orangenbäumen 
und  zwischen  blühenden  Rosen  im  Freien  sassen. 
Ich  musste  aber  erfahren,  wie  recht  der  Arzt 
in  München  gehabt  hatte;  denn  es  war  eine 
lange  leideuvoUe  Zeit,  die  ich  durchzumachen 
hatte,  und  dRne  den  trefflichen  Arzt,  den  ich 
in  San  Remo  fand,  hätte  ich  wohl  der  Walküre, 
deren  Wink  ich  schon  gesehen  zu  haben  glaubte, 
folgen  müssen.  Endlich  so  weit  hergestellt, 
dass  ich  reisen  konnte,  ging  ich  nach  Ischia, 
wo  ich  schon  den  Sommer  vorher,  nach  Olgas 
Heirat,  vor  meiner  Ansiedlung  in  Bayreuth  ge- 
wesen war  und  die  Wohltat  der  dortigen  Bäder 
erfahren  hatte.  Dort  in  der  Einsamkeit  der 
zauberischen  Insel,  mit  dem  Blick  auf  den  Golf 
von  Neapel  und  den  Vesuv,  erholte  sich  mein 


—    6    — 

Gemüt  von  der  schmerzlichen  Resignation,  in 
welche  es  nach  der  gezwungenen  Trennung  von 
der  idealen  Heimat,  die  ich  in  Bayreuth  gefunden 
hatte,  versunken  war.  Ich  fühlte,  dass  ich  noch 
Kraft  zum  Leben  hatte,  dass  ich  noch  denken, 
arbeiten,  noch  das  Schöne  empfinden  und  das 
Gute  tun  könnte,  und  damit  war  mein  Ent- 
schluss  gefasst.  Konnte  ich  des  Klimas  wegen 
nicht  in  jenem  irdischen  Walhall  leben,  so  wollte 
ich  wenigstens  einen  Ort  wählen,  wo  etwas 
erlebt  war,  wo  grosse  Erinnerungen  in  bleir 
benden  Zeugen  hehrer  Monumente  einen  Kranz 
der  Unsterblichkeit  um  das  Vergangene  schlin^ 
gen,  und  wo  die  ewig  gütige  Natur  auch  die 
Trümmer  stets  von  neuem  mit  holdem  Jugend- 
schmuck umgibt.  So  wählte  ich  Rom  zum 
letzten  Asyl. 

Schon  10  Jahre  früher  (in  den  Jahren  1863, 
64  und  65)  hatte  ich  drei  Winter  in  Rom  zu- 
gebracht mit  den  zwei  mir  anvertrauten  Töchtern 
Alexander  Herzens.  Es  war  noch  die  Zeit  der 
päpstlichen  Herrschaft,  unter  Pio  IX.,  und  während 
das  übrige  Italien  sich  bereits  zu  einem  einigen 
geschlossenen  Staat  zusammenfugte,  herrschte 
hier  noch  das  Mittelalter  in  den  Zuständen,  aber 
daneben  auch  noch  der  Zauber  der  lebendigen 
Überlieferung  grosser  Vergangenheiten,  welcher 
die  Seele  mit  Stimmungen  erfüllte, .  so  voll  von 
Poesie,  von  Glorie  der  Vorzeit,  von  schönheits- 
seligen Entzückungen  —  wie  keine  andere 
moderne  Stadt  sie  hervorrufen  konnte.  Auch, 
das     gesellige     Leben     hatte     noch    nicht    das. 


—    7     — 

Touristenhafte,  welches  es  jetzt  hat.  Noch  war 
kein  Eisenbahnnetz  um  die  ewige  Stadt  ge^ 
schlungen;  nodi  hatte  man  nach  alter  Art  mit 
dem  Vetturino,  in  bequemer  Kutsche,  von 
munteren,  mit  Glöckchen  behängten  Pferden 
gezogen,  den  Weg  auf  guter  Fahrstrasse,  von 
Florenz  über  Viterbo  zu  machen.  Wenn  man 
dann,  auf  der  Höhe  der  alten  Flaminia  an- 
gelangt, den  Ruf  erschallen  hörte:  >Ecco  Roma!«, 
Halt  machen  Hess,  ausstieg  und  nun  die  Kup- 
pel von  St.  Peter  vom  Abendgold  umstrahlt, 
und  die  Campagna  in  tausend  wunderbare 
Farbentöne  getaucht  vor  sich  sah,  —  dann 
hatte  man  die  Empfindung,  welche  einst  die 
Pilger  gehabt  haben  mögen,  die  ihres  Seelen- 
heiles willen  hierherzogen,  niederzuknien,  und 
das  Wehen  jener  Weltmacht  zu  fühlen,  die 
unsichtbar  in  den  irdischen  Geschicken  waltet 
und  die  ewigen  Ideen  durch  Jahrtausende 
hindurch,  allem  nienschlichen  Missvierständnis 
und  Widerstand  zum  Trotz,  zu  ihrer  Erfüllung 
leitet.  '  ^ 

Wie  schon  gesagt,,  damals  war  Rom  noch 
nicht  die  Stadt  >  der  blossen  Touristen,  die  auf 
wenige  Wochen  oder  wohl  gar  Tage  kommen 
und  nun  meinen,  sie  kennen  Rom.  Früher  kam 
maa  hin,  um  sich  auf  ganze  Winter  und  Früh- 
linge häuslich  einzurichten,  wirklich  da  zu  leben 
in  einer  vielfach  fremdartigen  Welt,  die  aber  in 
den  Erscheinungen  vergangener  Geschichtsepochen 
eine  Fülle  anregender  Eindrücke  bot.  Auch  ich 
richtete  unser  Leben    damals  ganz  häuslich  ein, 


—    8    — 

sorgte  für  genügenden  Unterricht  der  jungen 
Mädchen,  den  die  künstlerischen  Anschauungen 
in  edelster  Weise  vervollkommnen  halfen,  und 
genoss  mit  ihnen  die  liebenswürdigen  Beziehungen, 
welche  sich  in  der  damaligen  Gesellschaft  so  leicht 
und  angenehm  bildeten.  Man  war  lange  genug 
beisammen,  um  engere  Freundschaftsbande  an- 
zuknüpfen, und  so  fanden  auch  wir  uns  bald  in 
einem  Kreise  heimisch,  zu  dem  u.  a.  auch  Fer- 
dinand Gregorovius  gehörte,  der  damals  schon 
eine  hochgeachtete  Stellung  in  der  römischen 
Gesellschaft  einnahm,  und  mit  dem  uns  bald 
herzliche  Freundschaft  verband.  Wie  fröhlich 
und  echt  römisch  waren  die  Sonntage,  wo  wir 
mit  ihm,  mit  einigen  Künstlerfamilien  und  mun- 
teren Kindern,  Gefährten  der  noch  im  Kindesalter 
stehenden  Olga,  hinauszogen  in  die  Campagna, 
uns  in  irgend  einer  der  vielen  Osterien,  die  sich 
da  fmden,  niederliessen,  und  bei  trefflichem  Land- 
wein und  ländlicher  Kost  bis  spät  am  Abend 
die  Poesie  des  von  allem  modernen  Leben  so 
verschiedenen  Daseins  genossen.  Oder  wenn 
wir  uns  auf  der  alten  Fähre  — ■  dem  damals 
ausser  dem  Ponte  S.  Angelo  einzigen  Ver- 
bindungsmittel der  beiden  Ufer  —  über  den 
Tiber  fahren  Hessen,  und  nach  dem  Monte  Mario 
hinauf  wanderten,  wo  dann  bei  dem  nächtlichen 
Rückweg  die  Gebüsche  von  Leuchtkäfern  fun- 
kelten, welche  die  Kinder  sich  in  die  Haare 
setzten,  und  mit  dem  glänzenden  Brillantschmuck 
entzückt  heimwärts  zogen.  Oh  Poesie  des  Lebens, 
wie  wenig  bedarfst  du  des  Reichtums  und  Luxus, 


—    9    — 

'  um  deine  holden  Blüten  zu  treiben!  In  den 
.  reinen  Herzen  und  den  edeln  Intelligenzen,  in 
I  Liebe,  Güte,  Greist  und  Natur  sind  deine  Ele- 
j  mente,  und  wie  wenig  wissen  die  Menschen 
aus  diesen  reichen  Quellen  zu  schöpfen!  Sie 
suchen  in  äusseren  Dingen,  was  doch  nur  von 
innen  kommen  kann. 

Nach  diesen  drei  glücklichen  Wintern  in  Rom, 
die  mit  Sommerfrischen  am  Meer  bei  Neapel  oder 
auf  den  Inseln  wechselten,  nahm  ich  mit  Olga 
bleibenden  Aufenthalt  in  Florenz,  woselbst  ihr 
Bruder  eine  Anstellung  auf  dem  naturwissen- 
schaftlichen Institut,  das  unter  der  Leitung  des 
berühmten  Physiologen  Moritz  Schiff  stand,  ge- 
funden hatte.  Mein  Leben  war  damals  einzig 
der  Aufgabe  geweiht,  der  zur  Jungfrau  heran- 
reifenden Olga  die  fehlende  Mutter,  und  nach 
dem  Tode  Herzens,  der  im  Januar  1870  in  Paris 
starb,  auch  den  Vater  zu  ersetzen,  und  so  schön 
und  inhaltsvoll  das  intime  Leben,  welches  sich 
um  uns  gebildet  hatte,  auch  war,  so  hatte  es 
doch  keinen  Anspruch  auf  öffentliches  Interesse 
und  fand  seinen  Abschluss  mit  Olgas  Heirat, 
welche  sie  in  ein  anderes  Land  führte,  fem  von 
mir,  und  mich  allein  zurück  Hess. 

Ich  kam  dann  also  nach  Rom  zurück,  welches 
ich  mir  zur  letzten  Heimat  erkoren.  Es  wurde 
aber  vorläufig  nur  ein  provisorisches  Heim,  da 
meine  Schwestern  mir  die  Absicht  kund  gaben, 
den  Winter  nach  Rom  zu  kommen,  welches  sie 
noch  nicht  kannten,  und  ich  daher  nur  eine 
möblierte  Wohnung  mietete,   wo  ich   mit  ihnen 


—       lO      

zusammen  wohnen  konnte.  Ich  hatte  schon  seit 
vielen  Jahren  die  Freude  erlebt,  dass  alle  Mit- 
glieder meiner  Familie  sich  mit  mir  wieder  ver- 
söhnt und  sich  mir  liebend  zugewendet  hatten, 
nachdem  ihnen  die  Überzeugung  geworden  war, 
dass  ich  nie  bloss  phantastischen  Impulsen  ge- 
folgt wäre,  sondern  einer  Idee  gedient  hätte,  die, 
wenn  sie  auch  nicht  die  ihre  war,  vor  keinem 
Richterstuhl  der  Erde  verurteilt  werden  konnte. 
Es  war  ein  schöner  Sieg  der  Liebe  und  Ge- 
rechtigkeit, wie  er  zwischen  guten  Menschen 
immer  stattfinden  sollte,  wenn  nicht  Laune 
oder  Willkür,  sondern  ernste  Überzeugungen 
das  Trennende  zwischen  ihnen  gewesen  sind. 
Meine  Mutter  war  gestorben,  als  ich  noch  in 
England  weilte,  aber  meine  Schwestern  hatte 
ich  in  Deutschland  wiedergesehen,  als  ich  von 
Florenz  aus  mit  Olga  nach  langen  Jahren  zum 
ersten  Mal  wieder  deutschen  Boden  betrat,  Dieser 
Winter  wurde  nun  zu  einem  freundlichen  Zu- 
sammenleben; durch  das  zufällige  Eintreffen 
vieler  interessanter  Persönlichkeiten  in  Rom 
noch  belebt  und  verschönert.  Es  waren  da 
Levin  Schücking,  Carl  Hillebrandt,  Liszt,  Gre- 
gorovius  u.  a.,  und  von  Italienern  Raffaele 
Mariano,  der  neapolitanische  Hegelianer,  Pasquale 
Villari,  der  Autor  des  Lebens  von  Savonarola, 
Machiavelli  etc.  und  noch  viele  andere,  die 
auch  bei  uns  aus  und  ein  gingen  und  dem  Leben 
einen  geistig  bewegten  Inhalt  gaben. 

In   dem    darauffolgenden    Sommer    ging   ich 
zum    ersten  Male   nach  zweijähriger   Trennung, 


—    II    — 

um  Olga  in  ihrer  neuen  Heimat  in  Paris  zu 
besuchen.  Ich  hatte  mich  mit  Absicht  so  lange 
fern  von  ihr  gehalten,  teils  um  ihr  Zeit  zu 
geben,  sich  ganz  frei  in  die  neuen  Verhältnisse 
einzuleben,  teils  um  erst  in  meinem  eigenen 
Herzen  die  Wunde  der  Trennung  so  weit  heilen 
zu  lassen,  dass  auch  ich,  frei  von  jedem  egoisti- 
schen Gefühl,  rein  teilnehmend  ihr  gegenüber- 
treten konnte.  Ich  fand  sie  bereits  als  glückliche 
Mutter  von  zwei  holden  Kindern  und  verbrachte 
mehrere  Monate  mit  ihr  in  einer  Sommer- 
wohnung bei  Paris,  in  liebevollster  Eintracht, 
die  in  nichts  den  alten  Ton  der  Liebe  vermissen 
liess,  trotz  der  neuen  Elemente,  die  so  mächtig 
herrschend  in  ihr  Leben  getreten  waren.  In  so 
vielen  Fällen  trennt  die  Ehe  und  besonders  das 
neue  Verhältnis  zu  den  Kindern  das  frühere 
zwischen  der  Tochter  und  der  Mutter  oder  der- 
jenigen, welche  ihre  Stelle  vertrat,  und  es  ist 
vielleicht  daher,  und  nicht  immer  mit  Unrecht, 
die  hässliche  Sage  von  den  bösen  Schwieger- 
müttern entstanden.  Wenn  es  aber  der  Zweck 
der  Erziehung  gewesen  war,  der  Persönlichkeit 
die  grösstmögliche  Freiheit  der  Entwicklung  zu 
gewähren,  und  wenn  daneben  die  eigne  Natur 
genug  Fülle  und  Tatkraft  besitzt,  um  sich  ein 
würdiges  Leben  zu  schaffen,  auch  wenn  die 
Aufgabe  an  einer  Anderen  erfüllt  ist,  wenn 
endlich  die  Liebe,  welche  hier  verbindend  ge- 
wirkt hatte,  die  wahre,  reine  gewesen  war,  frei 
von  Egoismus  in  Geben  und  Nehmen,  —  dann 
kann  das   neue  Verhältnis    sogar   eine  Bereiche- 


—      12      

rung  des  alten  werden,  gleich  der  Pflanze,  die 
man  mit  Sorgfalt  grossgezogen  hat,  und  die 
sich  nun  herrlich  in  Blüten  vervielfältigt. 

Im  Spätherbst  kehrte  ich  nach  Rom  zurück. 
Da  aber  mein  Leben  zu  der  Zeit  fast  nur  ein 
rein  innerliches  war  und  äusserlich  keinerlei  An- 
spruch auf  öffentliches  Interesse  hatte,  so  möge 
hier  nur  ein  Bruchstück  aus  diesem  Innenleben 
folgen. 


Gedachtes. 


Einem  Freunde,  der  mir  schrieb,  es  sei  eigent- 
lich unnütz,  zu  schaffen,  da  doch  alles  dem  Nichts 
verfalle,  antwortete  ich  heute:  »Teilen  Sie  die 
geschaffenen  Werke  in  zwei  Hälften;  die  eine 
Hälfte,  die  nur  von  der  Welt  der  Erscheinung 
handelt,  verfällt  dem  Nichts,  wie  alles  was  nur 
Erscheinung  bleibt,  so  auch  die  Menschen. 

Die  andere  Hälfte,  in  welcher  der  göttliche 
Funke  glüht,  verfällt  nicht  dem  Nichts;  sie  hat 
sich  eingereiht  in  den  Akkord  der  grossen  Sym- 
phonie, die  im  Grunde  der  Dinge  tönt,  welche 
die  wahren  Künstlerseelen  von  fem  in  ihren 
Träumen  ahnen,  und  welche  sie  hören  werden, 
wenn  die  Form  zerbrochen  ist,  und  sie  es  er- 
reicht haben,  nicht  wieder  erscheinen  zu  müssen. 
Die  'Inder  haben  das  alles  schon  gewusst. 


Ich  sprach    mit   einer   Bekannten  jjber   den 
Glauben.     Sie  meinte,   er   müsse  bewusste,   ge- 


—     14    — 

wollte  Überzeugung  sein.  Dann  ist  es  aber 
nicht  Glaube,  sondern  Wissen.  Glaube  ist  gerade 
die  Macht  des  Gemüts,  die  etwas,  allem  Wissen, 
allem  Wollen  zum  Trotz,  festhält.  So  gibt  es 
den  Glauben  an  einen  Menschen,  selbst  wenn 
wir  ihn  augenblicklich  auf  falschen  Wegen 
wandeln  sehen,  so  gibt  es  den  Glauben  an  eine 
metaphysische  Welt,  trotzdem  jede  dogmatische 
Vorstellung  zerstört  ist;  so  gibt  es  den  Glauben 
an  ein  Ideal,  ungeachtet  der  Ideallosigkeit  der 
uns  umgebenden  Welt.  Der  Glaube  ist  das 
Spontanste,  Unzerstörbarste  in  dem  Gemüt, 
welches  gläubig  angelegt  ist.  Er  wirft  nur  die 
Formen  ab,  welche  vor  der  Kritik  der  Vernunft 
nicht  Stich  halten,  während  gerade  diejenigen, 
welche  sich  an  diese  Formen  anklammem  und 
meinen,  dadurch  den  Glauben  festzuhalten,  keinen 
mehr  haben,  wohingegen  das  gläubige  Gemüt 
hinter  jedem  verlassenen  Horizont  einen  neuen, 
weiteren,  mit  neuen  lichteren  Sonnen  aufleuchten 
sieht. 

Man  kann  vernünftig  denken,  dass  das  Dies- 
seits alles  sei.  Freilich  kommt  es  nur  auf  uns 
an,  dass  es  viel  sei,  indem  wir  das  kurze  Leben 
mit  reichem  Inhalt  füllen.  Wir  haben  dann 
immer  noch  vor  jenen,  mit  denen  wir  das 
Schicksal  der  Vernichtung  zu  teilen  hätten, 
das  voraus,  dass  wir  Götterfreuden  im  Streben 
und  Werden  genossen  haben,  wo  jene  stumpf 
vorübergingen,  oder  den  ungelöschten  Durst  am 
Vergänglichen  stillen  wollten. 


—     15    — 

Wir  sind  ja  nicht  am  Ende  des  Wissens  an- 
gelangt; und  das  ist  unser  Trost  und  sicheres 
Bewusstsein,  dass  die  Entwicklung  des  Lebens 
unendlich  ist,  dass  der  Tod  nichts  ist,  als  der 
Übergang  in  neue  Formen  des  Daseins,  dass 
die  Atome,  welche  einst  eine  Dichterstirn,  ein 
begeistertes  Herz  bildeten,  vielleicht  in  einer 
duftenden  Blüte  wieder  erscheinen,  und  ihre 
Wanderung  von  da  wieder  in  neue  Menschen- 
formen fortsetzen,  und  dass  die  herrlichen  Ge- 
danken, welche  jener  Stirn  entsprangen,  die 
Liebe,  die  jenes  Herz  zu  tröstenden  Taten  des 
Mitleids  trieb,  eingeflochten  sind  in  die  Unsterb- 
lichkeit des  Lebensquells,  der,  von  Mensch  zu 
Mensch  und  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fort- 
zeugend, das  Gute,  Grosse,  Schöne  weckt.  Da- 
neben freilich  tragen  wir  den  Schmerz  der  End- 
lichkeit, der  Notwendigkeit,  der  unerbittlichen 
Göttin,  die  wir  schweigend  verehren,  und  gegen 
die  es  nur  Gehorsam  gibt,  während  auf  der 
anderen  Seite  Freiheit  ist,  das  heisst:  Freiheit, 
das  Vollendete  zu  wollen  und  das  Mögliche  zu 
erreichen. 

Ein  Bibelausspruch,  der  gegen  die  Lehre  vom 
Fegefeuer  und  die  katholischen  Zwischenstationen 
spricht,  ist  doch  der,  dass  Christus  am  Kreuz 
zu  dem  Schacher  sagt:  heute  noch  wirst  du 
mit  mir  im  Paradiese  seinl  Der  war  aber  doch 
ein  Sünder  und  konnte  demnach  noch  nicht 
vorbereitet  sein,   sich  Gott  zu  nahen. 


—     i6    — 

Da  es  Spiegelungen  der  Existenz  gibt,  in 
welchen  der  Wille  zum  Leben  nicht  mehr  störend 
eintritt,  in  welchen  das  objektiv  Schöne  beinah 
in  völliger  Idealität  vor  uns  steht,  dürfen  wir 
uns  da  nicht  mit  Recht  der  Hoffnung  hingeben, 
dass  einst,  wenn  der  Kampf  mit  dem  wilden 
Tiger  ausgekämpft  ist,  uns  das  Glück  des  leiden- 
losen, objektiven  Anschauens  und  Begreifens  zu 
teil  werden  wird?  Vielleicht  liegt  der  Zweifel 
nur  in  dem  Verwechseln  von  Subjektivität,  d.  h. 
Egoismus,  und  Individualität.  Je  höher,  je  reiner 
diese  ist,  je  mehr  ist  sie  fähig,  sich  dem  Objektiven 
hinzugeben.  Je  subjektiver,  d.  h.  je  gebundener 
im  Willen,  je  getrübter  ist  die  Fähigkeit  zur 
Selbsterlösung,  und  mithin  zum  idealen  Glück. 
Ein  Werk  des  Genius  spricht  dies  deutlichst  aus. 
Wer  fühlte  es  nicht  vor  der  Himmelfahrt  der 
Maria  von  Tizian,  in  der  Pinakothek  zu  Venedig, 
dass  hier  die  Seligkeit  der  Erlösung  vom  Willen 
wirklich  dargestellt  ist?  Da  ist  keine  Lein- 
wand mehr,  da  sind  keine  Farben.  Da  ist  eine 
reine,  grosse  Individualität,  welche  überwunden 
hat,  und  nun  Freiheit  atmend  aufsteigt  in  das 
universelle  Dasein,  in  das  Glück  der  idealen 
Existenz.  Ihr  nach  sehnt  sich  in  stürmischem 
Drang,  was  noch  unten  weilt  im  elementaren,, 
unruhvollen  Kampf. 


Jedes  tiefe  innerliche  Leben  klingt  mit  einem 
Mollakkord  aus,  wie  die  ahnungsvolle  Poesie  der 
Völker  es  im  Volksliede  ausspricht. 


—     17     — 

Die  einzige  Aufforderung,  zu  welcher  der 
Gredanke  an  den  Tod  uns  führen  sollte,  wäre 
die,  das  Leben  mit  dem  höchsten  Inhalt  zu 
füllen,  jedem  Augenblick  den  edelsten  Wert  zu 
verleihen. 

Es  ist  das  Schicksal  aller  tiefen  Naturen, 
zuletzt  mit  sich  selbst  allein  zu  bleiben,  d.  h. 
mit  dem,  was  das  Universelle  in  uns  ist,  und 
deshalb  ist  es  keine  traurige  Einsamkeit,  sondern 
die  Rückkehr  in  die  ewige  Einheit  des  Daseins, 
und  damit  in  den  wahren  endlichen  Frieden, 
dasselbe,  was  die  christliche  Anschauung  »Frieden 
in  Gott  haben«  nennt. 


Wenn*  wir  es  auch  wissen,  bei  dem  Tode 
geliebter  Menschen,  dass  die  eigentliche  Realität 
dieser  Erscheinung  zurückgekehrt  ist  in  die 
ewige  Einheit  ihres  Ursprungs,  so  bleibt  der 
Schmerz  der  Trennung  für  das  Herz  doch  der- 
selbe unheilbare,  denn  das  Wesen  der  Liebe  ist 
es,  die  unendliche  Gegenwart,  die  unendliche 
Betätigung  ihrer  selbst  zu  bedürfen. 


Wenn  das  Christentum  die  früheren  Re- 
ligionen mit  umfasst,  diese  gleichsam  sein  Jo- 
hannes der  Täufer  sind,  so  ist  damit  schon  der 
allmähliche  Entwicklungsgang  des  religiösen  Be- 
wusstseins  angedeutet  und  der  Nimbus  einer 
ein  für  allemal  gegebenen  Religion  zerstört.  Wenn 
Plato  schon  die  idealen  Keime  des  Christentums 
in  sich  trug,   wie  ich  eben  las,   so  beweist  dies 

Meyienbug,  IV .  2 


—     i8     — 

nur,  dass  tiefe  Denker  schon  vor  der  Erschei- 
nung Christi  die  idealen  Menschheitsgedanken 
hatten,  und  dass  Christus  eigentlich  nur  mit 
der  Tat  bewies,  was  theoretische  Denker  schon 
vor  ihm  ausgesprochen  hatten.  Da  also  die 
Religionen  sich  entwickeln,  so  ist  das  Absolute 
nicht  in  ihnen. 

»Als  Kinder  in  das  Paradies  eingehen«,  sagt 
der  Talmud.     Wie  unsäglich  schön. 


Ich  fuhr  mit  einer  Bekannten,  von  Frankreich 
nach  Italien  zurückkehrend,  über  den  Gotthardt 
und  wir  sprachen  über  die  Bedeutung  der  Stelle 
aus  Faust :  »Wenn  hohe  Geisterkraft  die  Elemente 
an  sich  heran  gerafft«  usw.  —  Je  höher  wir 
aber  kamen,  je  mehr  verstummte  das  Gespräch, 
denn  die  elementare,  die  Zauberwelt  Faustens, 
umfing  uns  in  Wirklichkeit  und  lockte  die 
Phantasie  in  eine  Tätigkeit  hinein,  die  keine 
Worte  hatte.  Das  irdische  Leben  mit  seinem 
bunten  Schein  war  wie  verschwunden;  ringsum 
starrten  eisbedeckte  Riesen ;  eine  einst  vielleicht 
gewesene  Schöpfung  schien  zurückgesunken  in 
den  traumlosen  Schlaf  des  Chaos.  Wolken  und 
Nebel  kämpften.  Form  und  Fels  verhüllend,  mit 
unsichtbaren  Gewalten;  Schneeflocken  wirbelten 
durch  die  Luft.  Man  wusste  nicht  mehr,  in 
welcher  Region  man  dahinsauste,  vom  Dampf, 
wie  von  einer  gestaltlosen,  unterirdischen  Macht 
getragen.  Es  war  so  phantastisch,  wie  ich  selten 
etwas  gesehen  hatte,  und  plötzlich  fuhr  man  nun 


—     19    — 

ein  in  die  alte  ewige  Nacht  des  Urschosses  der 
Dinge,  aus  dem  auf  den  geheimnisvollen  Wink 
eines  Erzeugers  einst  blühendes  Leben  hervor- 
stieg. Ich  dachte,  was  wohl  ein  Geschlecht 
geworden  wäre,  welches  sein  Dasein  in  solcher 
Nacht  hätte  vollbringen  müssen,  ein  Nibelungen- 
geschlecht, welches  das  freudige  Licht  nie  ge- 
schaut hätte?  Was  hätten  solche  Gehirne  her- 
vorgebracht? — ^  Da  —  plötzlich,  nach  kaum 
fünfundzwanzig  Minuten,  brausen  wir  hervor 
aus  dem  Höllenschlund,  und  sonnenbeglänzte 
Gipfel  lachen  uns  an,  rötlich  glühen  die  Berge, 
braungoldig  schimmert  das  Laub,  das  noch 
herbstlich  die  Bäume  bedeckt  —  kurz:  es  ist 
Italien  und  in  nrir  ruft  es:  »Am  farb'gen  Abglanz 
haben  wir  das  Leben  !<; 


Das  Leben  erreicht  zuweilen  einen  Punkt, 
wo  in  der  Seele  nur  noch  Schweigen  ist,  wo 
wir  darauf  verzichten,  noch  gegen  das  Schicksal 
zu  kämpfen,  und  das  Haupt  beugen. 


Es  gibt  Tage  wo  wir  besonders  unter  dem 
Bann  der  grossen  Lebenstragödie  stehen  und 
uns  nicht  freimachen  können  von  dem  Druck, 
den  das  uns  unbekannte  Fatum,  welches  die 
Erdenlose  regiert,  auf :  uns  ausübt. 


Die  Natur  ist  mitleidslos;  umsomehr  ist  das 
Mitieid  das  wahrhaft  Ethische,  das  Bewusste  im 
Gegensatz  zu  dem  Unbewussten. 


2* 


20 


An    einem    schwülen    Sciroccotag    in    Villa 
Mattei : 

Schwer  liegt  wie  Blei  auf  der  Welt 
Der  schwüle  südliche  Luftstrom, 
Hüllet  in  Nebel  die  Fern' 
Die  sanfte  Form  des  Gebirges; 
Scheint's  doch  als  seufze  Natur 
Ob  schmählicher  sündlicher  Taten, 
Und  als  riefs  durch  das  AU: 
Erlöse  uns  endlich  vom  Bösen  1 


Zuweilen  breitet  sich  von  allen  Seiten,  wie 
ein  schwarzer  Schleier  über  das  ganze  Leben: 
dann  geht  es  wie  in  der  Natur:  eine  Blütezeit 
ist  vorüber  und  kehrt  nicht  mehr  zurück.  Doch 
der  Frühling  kommt  wieder,  und  die  Bäume  und 
die  Pflanzen  grünen  und  blühen  wieder;  die- 
selben Arten  erscheinen  aufs  neue,  nur  die  in- 
dividuelle Form  hat  sich  geändert. 


Schön  leiden  zu  sehen,  welch  ein  erhebender^ 
rührender,  trostreicher  Anblick  I  Hässlich  leiden 
zu  sehen,  wie  unendlich  betrübend  I  Es  gibt 
dem  Mitleid  einen  Zusatz  von  Greringschätzung 
für  die  unausgebildete  Seele. 


Ja,  so  ist  esl  Die  besten  Wesen  werden 
immer  trauriger,  je  weiter  das  Leben  vorrückt, 
weil  sie  mehr  und  mehr  die  unendliche  Eitel- 
keit des  Ganzen  »l'infinita  vanitä  del  tutto«,  wie 
Leopardi  sagt,  begreifen.  Dafür  gibt  es  keine 
Hülfe.     Das  Leben   der  Grossen  zeigt  uns,    mit 


—      21      — 

wenigen  Ausnahmen,  immer  dasselbe  Schauspiel  : 
die  Ueberzeugung,  welche  sich  langsam  aus  der 
Erfahrung  entwickelt,  dass  auch  die  schönsten 
Werke,  die  Schöpfungen  der  erhabensten  Be- 
geisterung, nur  selige  Träume  grosser  Seelen 
sind  und  von  der  Menge  unverstanden  bleiben, 
und  dass  die  ideale  Reform,  welche  der  Gre- 
nius  vollziehen  will,  wenn  sie  stattfindet,  den 
Stempel  der  Vulgarität  erhält,  den  ihr  die  Be- 
rührung mit  der  Wirklichkeit  der  Welt  aufdrückt. 
Der  idealste  Ausdruck,  welchen  die  Kunst  jemals 
für  diese  unausbleibliche  Traurigkeit  gefunden 
hat,  ist  der  in  dem  Christuskopf  auf  dem  Abend- 
mahl des  Leonardo  da  Vinci,  jene  sanfte  Bitter- 
keit auf  dem  edeln  Antlitz,  welche  sagt:  »Keiner 
hat  mich  verstanden  und  Einer  hat  mich  ver- 
raten!« 

Wer  grosse  Schicksale  und  Schmerzen  wahr- 
haft durchlebt  hat  und  dadurch  geläutert  und 
vertieft  ist,  bei  dem  wird  die  edle  Scham  immer 
mehr  hervortreten,  seinen  Schmerz  vor  profanen 
Augen  zu  verhüllen,  denn  der  Schmerz  hat  seine 
Schamhaftigkeit  wie  die  Liebe.  Die  weltlichen 
Menschen,  denen  es  Bedürfnis  ist,  auch  selbst 
ihre  Leiden  und  Schmerzen  an  die  grosse  Glocke 
zu  hängen,  fühlen  sich  dadurch  getroffen  und 
nennen  das  Kälte,  während  es  doch  nur  der 
edle  Stolz  ist,  der  sein  Allerheiligstes  vor  Ent- 
weihung bewahrt.  Denn  ist  es  nicht  Entweihung, 
wenn  das  innerste  Leben  der  Seele  auf  offenem 
Markte  blossgestellt  wird? 


22 


Das  ganze  Leben  wird  nach  und  nach  Er- 
innerung, und  es  ist  seltsam,  diese  innere  Welt 
zu  sehen,  welche  mit  so  vielen  geliebten  Bildern 
bevölkert  ist,  die  da  ihre  Unsterblichkeit  ge- 
funden haben,  während  ihre  irdische  Erscheinung 
verschwunden  ist,  gerade  wie  das  Licht  der 
Sterne,  welches  uns  noch  zukommt,  wenn  die 
Himmelskörper  selbst  längst  zerstört  sind. 


Könnte  ich  wünschen,  hoch  einmal  in  das 
Leben  zurückzukehren,  so  wäre  es  um  noch 
mehr  zu  lernen,  zu  erkennen.  In  dem  Geheim- 
nis dieser  Sehnsucht  liegt  eigentlich  der  Schwer- 
punkt des  ganzen  Lebens  und  wie  eine  tröstende 
Verheissung,  dass  diese  unsichtbaren  Flügel  der 
Seele,  welche  Sehnsucht  nach  Erkenntnis  heissen, 
uns  irgendwo  an  schöne  Gestade  tragen. 

Das  Leben  selbst  ist  des  Lebens  Zweck. 
Grelebt  zu  haben  ist  Unsere  Aufgabe.  Wie  hoch 
oder  wie  niedrig  man  die  versteht,  ist  eines 
jeden  Sache. 

In  der  Art,  die  Dinge  zu  verstehen  und  auf- 
zufassen, verraten  die  Menschen  am  meisten  ihre 
Individualität. 

Die  Grewissheit,  dass  wir  das  eigentliche 
Wesen  der  Dinge  erst  erleben  werden,  wenn 
wir  dieses  Traumkleid  abgestreift  haben,  wird 
immer  grösser  in  mir  und  damit  die  Freudigkeit. 
Dieses  Leben  ist  zu  erbärmlich  bedingt,  um  dem 


—    23     — 

Geistgebornen  alles  zu  sein.  Das  Leiden  kann 
allerdings  bis  zu  einem  gewissen  Grrad  aufgehoben 
werden  durch  die  Erkenntnis,  aber  doch  nur 
deshalb,  weil  wir  fühlen,  dass  etwas  in  uns  ist, 
was  über  die  Erscheinung  hinausgeht.  Die 
Welt  wird  auch  dazu  zurückkommen.  Das 
wird  das  neue  Ideal  sein,  schöner,  grossartiger, 
verklärter  als  das  christliche ;  es  wird  dem  Greiste 
neue  Flügel  geben,  um  schon  hier,  in  diesem 
Purgatorio,  neue  Himmel  zu  entdecken. 


»Bedenken  Sie,  dass  vom  Baume  der  Er- 
kenntnis essen,  nichts  weiter  sagt,  als  sich  zum 
Kampf  iiir  dieses  Leben  geschickt  machen«, 
schrieb  mir  heute  mein  91  Jahre  alter  Freund. 
Wie  schön  in  wenigen  Worten  die  ganze  Alle- 
gorie der  Grenesis  erklärt! 


Es  ist  ja  wahr,  dass  das  Leben  traurig  genug 
ist,  und  dass  die  Mehrzahl  der  Menschen  nicht 
viel  taugt!  Aber  wenn  ich  einen  jungen  be- 
gabten Mann  sagen  höre:  »Für  Neuerungen 
unter  den  Menschen,  den  sogenannten  Fortschritt, 
habe  ich  nie  Begeisterung  empfunden,  weil  das 
Pack  immer  gleich  erbärmlich  bleibt,  wie  hohe 
Stelzen  man  ihm  auch  verleihen  mag«  —  dann 
möchte  ich  immer  sagen:  sieh  doch  einmal  von 
der  Mehrzahl  weg  auf  die  Guten  und  Bedeuten- 
den, die  es  doch  auch  gibt  und  die  beweisen, 
was  möglich  ist.  In  jedem  Fall  aber,  selbst 
wenn  alle  Dämonen  wären,  und  man  fühlte  in 
sich  die  Macht  des  Guten  und  das  Streben  nach 


—      24     — 

dem  Ideal,  so  müsste  man  den  Mut  haben,  der 
einzige  Engel  unter  Teufeln  zu  sein. 


Gestern  abend  hatte  ich  eine  heftige  Dis- 
kussion mit  A  .  .  .  Das  ist  das  Unglück  der 
Menschen,  die  sich  einseitig  mit  den  Natur- 
wissenschaften beschäftigen,  dass  sie  den  philo- 
sophischen Gedanken  gar  nicht  verstehen.  Sie 
sehen  immer  nur  das  Greifbare,  das  Experiment, 
also  das  Einzelne,  nie  aber,  wie  der  Philosoph, 
den  Zusammenhang  der  Dinge,  die  ewige  Cau- 
salität.  Der  Streit  entspann  sich,  indem  A.  be- 
hauptete, das  Objekt  habe  seine  vollständige 
Reaüiität  auch  ohne  das  erkennende  Subjekt,  und 
die  Ansicht  Berkeleys,  dass  ohne  dieses  das 
Objekt  gar  nicht  existiere,  sei  vollkommener  Un- 
sinn. Er  führte  mir  als  Beweis  das  Mammut 
an,  welches  man  kürzlich  in  Sibirien,  im  Eise 
fast  frisch  erhalten,  ausgegraben  hatte,  und 
welches  da  also  existiert  habe,  ohne  dass  das 
erkennende  Subjekt  etwas  davon  gewusst  hätte. 
Vergebens  wandte  ich  ihm  ein,  dass  das  Mammut 
jetzt  erst  anfange,  Objekt  zu  sein,  nachdem  das 
erkennende  Subjekt  es  wahrgenommen  habe, 
und  dass  es  vorher  im  Eise  so  gut  wie  nicht 
da  war.  Er  ging  so  weit,  die  Wirklichkeit  der 
Welt  zu  behaupten,  wenn  auch  in  alle  Ewigkeit 
nichts  als  Stein  und  Pflanze,  und  kein  erkennen- 
des Subjekt  da  wären. 

Doch  verstummte  er  endlich,  als  ich  ihn  daran 
erinnerte,  dass  er  selbst  zugestanden  habe,  in 
einer  früheren  Diskussion,  dass  der  Materialismus 


—     25     — 

ä  la  Carl  Vogt,    Büchner  usw.   ein  völlig  über- 
wundener Standpunkt  sei,    und  dass   die  Natur- 
forschung   jetzt    die    untrennbare    Einheit    von 
Kraft  und  Stoff  anerkenne.     Dann  gab  ich  ihm 
meine  Ansicht  in  der  herrlichen  Fassung  Goethes: 
i)  Was  war  der  Schein,  wenn  er  nicht  Wesen 
hätte?   Das  Wesen  war  es,  wenn  es  nicht 
erschien?  welche  eigentlich  schon  die  ganze 
Lösung    der  Frage    enthält.     Sie    ist   der 
tiefsinnige   Untergrund    des    wundervollen, 
philosophischen  Mythus    von    der  Mensch- 
werdung Gottes,  denn  wenn  das  erkennende 
Subjekt  Gott  nicht  Objekt  wurde,  sich  selbst 
gegenständlich,  so  existierte  es  nicht  für  das 
Bewusstsein,   wäre  also  tot,    gleich  nichts. 
Das  Wesen  muss  erscheinen,    um  zu  sein, 
sonst  wäre  es  nicht.    Beide  sind  identisch. 

2)  Was  war  der  Stoff,  wenn  ihm  nicht  die 
schaffende  Kraft  innewohnte,  in  ewig  neuen 
Kombinationen  und  Gebilden  sich  selbst 
zum  Objekt  zu  machen,  und  was  war  die 
Kraft,  wenn  sie  im  Leeren  wohnte  und  den 
Stoff  nicht  hätte,  um  darin  wirksam  zu 
sein?  Alles  Werdende  wäre  ja  dann  die 
alte  Schöpfung  aus  dem  Nichts.  Also  auch 
Kraft  und  Stoff  sind  identisch.  Die  Kraft 
entspringt  dem  Subjekt,  welches  sich  den 
Stoff  gegenständlich  macht.  Eins  ohne  das 
andere  wäre  nichts. 

3)  Endlich:  Das  Subjekt  selbst  wäre  nicht, 
wenn  es  sich  nicht  zugleich  Objekt  würde, 
indem   es  sich  erkennt  als  den  Leib,    als 


26 


die  Glieder,  als  den  denkenden,  fühlenden 
Menschen.  Ebenso  wäre  das  Objekt  nicht, 
und  wenn  es  Ewigkeiten  dauerte,  käme 
das  Subjekt  nicht,  welches  es  erkennt.  Das 
wäre  die  Welt,  über  die  das  erlösende  »Es 
werde  Licht«  nicht  ausgesprochen  wäre, 
das  Chaos,  das  Nichtsein,  der  Tod. 

Wie  tiefsinnig  ist  auch  hier  der  Mythos! 
Wie  begriffen  jene  wunderbaren  dichtenden 
Denker  der  Vorzeit  das  Geheimnis  des  Daseins ! 
Wie  ganz  wussten  sie,  dass  Gott  selbst  sich 
gegenständlich  werden  musste,  um  Gott  zu  sein. 


Schon  als  ganz  junges  Mädchen  dachte  ich 
dasselbe,  noch  ehe  ich  irgend  einen  Philosophen 
gelesen  hatte.  Immer  mit  Fragen  über  das 
Wesen  der  Welt  beschäftigt,  sagte  ich  mir:  Ja, 
Gott  musste  schaffen,  sich  selbst  gegenständlich 
werden,  sonst  blieb  er  sich  selbst  unbewusst. 
Somit  ist  das  Subjekt  das  wahre  a  priori,  ohne 
es  wäre  keine  objektive  Welt,  aber  es  muss 
auch  das  Anschauen,  das  Vorstellen  haben,  sonst 
wäre  es  selbst  gleich  Null. 


Die  Basis  aller  Toleranz  sollte  die  Betrach- 
tung sein,  dass  die  verschiedenen  Anschauungen 
desselben  Objekts  für  die  verschiedenen  Sub- 
jekte, denen  sie  angehören,  jedesmal  wahr  sind, 
wie  dies  z.  B:  bei  allen  Religionen  der  Fall  ist. 


—      27      — 

Ohne  den  idealen  Grenuss,  der  uns  weit  vom 
Tier,  vom  blinden  Zufall  und  vom  blossen 
Nützlichkeitsprinzip  scheidet,  ist  das  Leben 
gemein.  

Jedes  rechte  Leben  findet  auch  seine  Er- 
füllimg,  trotz  dem  Unersetzlichen,  was  ver- 
loren geht. 

Wie  kann  die  wunderschöne  Legende  der 
Weihnacht  entstanden  sein?  Nicht  durch  die 
Apostel,  die  erst  im  Mannesalter  zu  Jesus  kamen, 
nicht  durch  Maria  oder  die  Hirten,  die  noch  zu 
naiv  und  dem  natürlichen  Vorgang  der  Geburt 
zu  nahe  waren,  um  darüber  zu  dichten.  Wahr- 
scheinlich fühlte,  im  Anwachsen  des  Mythos,  der 
sich  nach  und  nach  um  die  Person  des  Messias 
bildete,  ein  von  Jesus  begeisterter  Gläubiger  sich 
hingerissen,  schon  den  Eintritt  des  Gottessohnes 
in  die  Welt  mit  allen  Wundern  himmlischer 
Teilnahme  zu  schmücken,  wie  es  schon  frühere 
Religionen  mit  ihren  Stiftern  getan.  Denn  der 
Mensch  liebt  es,  das  Unbegreifliche  des  Grenius 
mit  Wundern  zu  umgeben,  während  doch  der 
Genius  selbst  das  Wunder  ist. 


Es  gibt  Dinge  in  der  Natur,  deren  Anblick 
beinah  auf  uns  wirkt,  wie  ein  grosses  Ereignis, 
die  uns  befreien  von  der  Last  der  persönlichen 
Existenz,  indem  sie  uns  dem  Unendlichen,  dem 
universellen  Dasein  vereinen.     So  ist  das  Meer. 


—      28      — 

Die  Flamme  des  Geistes  ist  ein  wohltätiges^ 
stärkendes  Licht,  wenn  sie  im  freien  Äther  der 
Erkenntnis,  ungetrübt  von  irdischer  Sorge, 
brennen  kann.  Aber  sie  wird  zum  verzehrenden 
Brand,  wenn  die  Angst  um  das  materielle 
Dasein  sie  schürt  und  nährt.  Die  Monumente 
setzt  der  schöpferische  Grenius  sich  selbst;  dass 
er  frei  sei,  sie  sich  zu  setzen,  müsste  die  Sorge 
seiner  Zeitgenossen  sein; 


Eine  Bekannte  frug  mich  heute:  »Glauben 
Sie,  dass  die  Leidenschaft  wirklich  nötig  ist, 
grosse  Dinge  zu  schaffen?«  Ich  sagte  ihr:  »Ja, 
die  Leidenschaft  für  die  grossen  Dinge  ist  nötig, 
um  sie  zu  schaffen,  aber  nicht  die  persönliche 
Leidenschaft,  die  immer  egoistisch  und  exklusiv 
ist,  ausser  wenn  sie  zur  Leidenschaft  für  die 
grossen  Dinge  führt.« 


Die  unegoistische  Liebe  ist  ein  arger  Tyrann; 
sie  zwingt  uns  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  zu 
immer  neuen  Opfern;  dem  Glück  kann  man 
entsagen,  dem  Mit — leiden  nicht. 


Die  meisten  Menschen  lieben  uns    mehr  um 
das,  was  wir  tun,  als  um  das,  was  wir  sind. 


Etwas  zu   sein  ist   das  beste  Mittel  gegen 
das  Etwas  scheinen  zu  wollen. 


—     29     — 

Das  Herz  schliesst  endlich  seine  Pforten  zu. 
Es  ist  ein  Pantheon,  in  welchem  schon  alle 
Nischen  mit  geliebten  und  verehrten  Bildern 
besetzt  sind;    fiir  neue  ist  kein  Raum  mehr  da. 


Der  reifende  Geist  kann  einsam  sein,  und  in 
der  Einsamkeit  die  Fülle  des  Daseins  geniessen. 
Das  Herz  kann  nur  selig  sein,  wenn  es  das 
Leben  einzelner  geliebter  und  verehrter  Menschen 
oder  das  von  Tausenden  schmücken  kann.  Das 
wäre  auch  die  wahrhaft  schöne  und  berechtigte 
Seite  des  Herrschertums :  die  Macht  zu  be- 
glücken, und  gerade  an  dieser  Möglichkeit 
scheitert  der  Wille.  Welch  arger  Widerspruch! 
Man  müsste  an  der  menschlichen  Natur  ver- 
zweifeln, wenn  es  nicht  gerade  ein  Beweis  wäre, 
dass  keiner  ein  allmächtiger  Grott  sein  soll  unter 
Menschen,  und  dass  nur  Gleichberechtigte  eine 
vernünftige  menschliche  Einheit  bilden  können. 


Freundschaft  ist  persönliche  Sympathie  ohne 
Beimischung  von  Leidenschaft,  und  daher  un- 
egoistisch. Die  Definition  des  Aristoteles: 
»Freundschaft  ist,  wenn  man  alles  tut,  was  der 
andere  will,  ohne  an  sich  selbst  zu  denken«, 
scheint  mir  nicht  vollständig.  In  der  Freund- 
schaft ist  die  Erkenntnis  tätiger  als  der  Wille; 
in  der  Liebe  ist  es  umgekehrt;  daher  ist  in  der 
Freundschaft  Ruhe,  in  der  Liebe  Unruhe. 


—    30    — 


Oh  Stille,  Gesegnete !  Du,  die  du  allein  würdige 
Stimmungen  erzeugst. 


Grewisse  Kranke  wollen  mit  grosser  Rück- 
sicht behandelt  sein,  man  muss  Schwächen  in 
ihnen  schonen  und  nicht  glauben,  sie  könnten 
sie  überwinden.  Dass  sie  es  nicht  können,  ist 
eben  ein  Teil  ihrer  Krankheit.  Besonders 
können  manche  Kranke  es  nicht  ertragen,  dass 
man  an  ihrer  Krankheit  zweifelt,  da  sie  sich 
selbst  fiir  kränker  halten  als  alle  anderen.  Aber 
auch  zartfühlenden  Naturen  ist  dies,  wenn  gleich 
aus  anderen  Gründen,  empfindlich,  da  sie  andere 
nicht  gern  mit  der  Erzählung  ihrer  Leiden  plagen 
und  doch  den  Anforderungen,  die  man  an  Gre- 
sunde  macht,  nicht  genügen  können. 


Dem  Freigeist  kann  man  keine  Gebote  vor- 
schreiben, sonst  ist  er  ja  nicht  mehr  Freigeist. 
Er  erkennt  auch  Gresetze  an,  aber  im  Geiste  des 
Solon,  die  sich  mit  steigender  Erkenntnis  ändern 
und  verbessern  lassen. 


Man  vergleiche  die  Gresichter  von  Savonarola 
und  Luther.  In  ihnen  spricht  sich  schon  der 
ganze  Unterschied  der  deutschen  und  italienischen 
Reformation  aus.  Der  südliche  Reformator 
bleibt  Fanatiker,  quand  meme;  Luther  bleibt 
derb,  schlicht,  energisch,  aber  nicht  fanatisch. 


1 


—    31     — 

Das  Verbot  des  Vaters  der  Schwanenjung- 
frauen  an  seine  Frau,  nicht  zu  fragen,  wer  er 
sei,  ebenso  das  Verbot  Lohengrins,  sind  sie 
nicht  verwandt  mit  dem  Verbot  im  Paradies, 
nicht  vom  Baum  der  Erkenntnis  zu  essen?  Nur 
nicht  erkennen,  besonders  die  Frau  nicht,  von 
alten  Zeiten  her.  Wer  ist  der  Neidische,  der  es 
verwehrt?     Ein  Mann. 


Der  Idealist  allein  hat  den  Glauben,  welcher 
Berge  versetzen  kann,  weil  in  ihm  der  Wille 
schon  auf  seine  Verneinung  gerichtet,  sich  mit 
aller  Kraft  auf  die  Verwirklichung  des  Ideals 
wendet,  und  ihm  den  Mut  gibt  auszuharren, 
bis  er  sein  Ziel  erreicht.  Er  hat  daher  vielleicht 
weniger  innere  Kämpfe,  als  andere,  weil  ihm 
sein  Weg  unabänderlich  vorgezeichnet  ist.  Er 
leidet  aber  tiefere  Schmerzen  durch  den  Wider- 
stand der  ideallosen  Welt. 


Gregorovius  sagt  einmal,  die  grossartigste 
aller  Legenden  sei  die  von  Moses,  welcher  von 
der  Höhe  aus  unten  das  gelobte  Land  erblickt, 
und  dann  stirbt.  Alle  Idealisten  erleben  diese 
Legende;  der  Geist  führt  sie  auf  die  Höhe,  wo 
sie  ihr  Land  der  Verheissung  erblicken,  aber 
erreichen  tun  sie  es  nicht. 


Im  Jahre  382  nach  Christi  schrieb  der  heilige 
Augustin:   »Nihilisti  apellantur  quia  nihil  credunt 


—    32    — 

et  nihil  docent.«  (Nihilisten  genannt,  weil  sie 
nichts  glaubten  und  nichts  lehrten.)  Er  sprach 
von  einer  Gesellschaft,  deren  Zweck  Verneinung 
und  Vernichtung  alles  Bestehenden  war.  Also 
ist  auch  das  nichts  Neues,  nur  das  Dynamit  ist 
ein  modemer  Zusatz. 


Die  Greuel  der  Reaktion  in  Neapel  nach 
1799  sind  so  abscheulich,  dass  sie  allein  schon 
ein  jüngstes  Gericht  verdienten,  und  keine  Flam- 
men der  Hölle  heiss  genug  wären  für  solche 
Unmenschen,  wie  König  Ferdinand,  Maria  Caro- 
lina, Acton  und  Genossen.  Die  Vernichtung 
wäre  ein  zu  grosses  Glück  für  solche  Wesen. 
Die  müssen  braten  in  ewiger  Qual! 


Episoden  a\is  den  Jahren  1876  und  1877. 


Es  waren  bedeutungsvolle  Jahre  für  mich. 
Schon  im  Juni  des  Jahres  76  bereitete  sich  in 
Genua  ein  Fest  vor,  welches  das  demokratische 
Italien,  das  zu  der  Zeit  noch  einen  Teil  der 
idealen  Begeisterung  besass,  die  seine  Einheit 
hauptsächlich  zu  stände  gebracht  hatte,  —  in 
grosse  Erregung  versetzte,  und  auch  meine 
innigste  Teilnahme  in  Anspruch  nahm.  Es 
sollte  in  Grenua  das  Monument  enthüllt  werden, 
welches  die  Stadt  ihrem  edelsten  Sohne,  Joseph 
Mazzini,  setzte,  der  vier  Jahre  vorher,  zwar  auf 
heimischer  Erde,  aber  immer  noch  ein  Exilierter  und 
zwar  der  einzigeExilierte,  gestorben  war.  DasFest- 
comite  hatte  durch  ein  Manifest  die  italienische 
Nation  zur  Teilnahme  aufgefordert  und  es  war 
zu  erwarten,  dass  besonders  von  den  demo- 
kratischen Arbeitervereinen  aus  allen  Gegenden 
Italiens  ein  grosser  Zuzug  stattfinden  würde. 
Denn   Mazzini    war   den   Arbeitern    immer    ein 

Meytenbug   IV.  3 


—    34    — 

wahrer  Freund  und  Lehrer  gewesen.  Er  zeigte 
ihnen  ihre  Rechte,  aber  er  forderte  von  ihnen 
auch  die  Erfüllung  ihrer  Pflichten,  und  hätte  er 
die  Geschicke  Italiens  lenken  können,  von  der 
Zeit  seines  Triumvirats  in  Rom  an  bis  zu  seinem 
Tod,  er  hätte  sicher  den  Sinn  für  Pflichterfüllung 
und  Gesetzlichkeit  in  seinem  Volk  geweckt,  und 
dasselbe  würde  heute  auf  einer  höheren  Stufe 
der  Moralität  stehen,  als  es  jetzt  der  Fall  ist. 

In  Genua  ist  Mazzinis  Andenken  lebendig* 
unter  den  arbeitenden  Klassen,  die  es  wissen, 
wie  sehr  er  sie  im  Herzen  trug  und  für  die 
Verbesserung  ihres  Schicksals  bemüht  war. 
Noch  bei  meinem  letzten  Aufenthalt  dort  zeigte 
mir  ein  Arbeiter  die  Reihe  guter  reinlicher 
Wohnhäuser  für  Arbeiter,  welche  auf  Mazzinis 
Anregung  gebaut  wurden  und  versicherte  mir, 
dass  sie  treu  an  seinen  Lehren  hingen.  Dasselbe 
bekräftigte  mir  der  Kutscher,  der  mich  auf  den 
schönen  Kirchhof  von  Staglieno  fuhr,  wo  die 
irdische  Hülle  Mazzinis  ruht.  Der  Ort  liegt 
weit  hinaus  vor  der  Stadt  und  zieht  sich  einen 
Berg  hinan,  von  dem  man  eine  herrliche  Aus- 
sicht geniesst.  Hier  befindet  sich  auf  der  Höhe, 
in  den  Fels  eingehauen,  die  geräumige  Gruft, 
in  welcher  der  Sarg  steht.  Auf  einem  freien 
Platz  davor  ist  das  Grab  seiner  Mutter,  mit  der 
ihn  die  innigste  Liebe  verband.  Sie  liegt  da, 
wie  um  ihn,  welchen  ihre  aufopfernde  Mutter- 
liebe im  Leben  nicht  vor  der  tiefsten  Tragik 
des  Schicksals  schützen  konnte,  wenigstens  im 
Tode   vor  der  Tücke   des   Hasses    und   Neides 


—    35    — 

sicher  zu  stellen.  Seine  Ruhestätte  könnte  nicht 
schöner  sein,  aber  seine  Vaterstadt  will  das 
Verbrechen,  welches  Italien  an  ihm  beging, 
wenigstens  durch  ein  Monument  sühnen,  das 
wie  das  des  Columbus  davon  zeugen  soll,  dass 
Genua  auf  seine  grossen  Söhne  stolz  ist.  Das 
Fest  wird  glänzend  sein,  prachtvolle  Ausschmück- 
ung der  Stadt  und  des  Weges  bis  zum  Kirchhof, 
Vergnügungen  fiir  das  Volk,  Musik,  Illumination 
—  nichts  wird  fehlen.  Nur  eins  wird  fehlen: 
die  ErfuUung  dessen,  was  Mazzini  für  sein  Volk 
gewollt  und  gehofft  hat,  und  wofür  er  das  lange 
Märtyrertum  des  Exils  und  die  unzähligen  bitteren 
Enttäuschungen  mit  unerschütterlicher  Stand- 
haftigkeit  getragen  hat.  Wie  es  ihm  nur  um 
dies  hohe  Ziel  zu  tun  war  und  wie  er  dabei 
allen  Ehrgeiz,  allen  persönlichen  Erfolg  hintenan 
setzte,  davon  gibt  Alexander  Herzen  eine 
schöne  Schilderung,  nachdem  er  Mazzini,  nach 
dem  Krieg  von  1859,  wiedergesehen  hatte. 
Herzen  spricht  von  den  politischen  Ereignissen 
der  Jahre  59  und  60,  und  wie  im  Schlachten- 
lärm und  Pulverdampf  die  befreundeten  Gre- 
stalten  der  Freiheitskämpfer  eine  Zeit  lang  ver- 
schwanden, bis  sie  dem  besorgt  forschenden 
Blick  der  Freunde  endlich  unversehrt  wieder  er- 
scheinen. Dann  sagt  er:  »Aber  eine  Persönlich- 
keit stand  fern  von  diesem  Rauch,  diesem  Ge- 
töse des  Krieges,  vom  Jubel  der  Sieges-Festlich- 
keiten  und  von  den  Lorbeerkronen,  und  erreichte 
im  Schatten  der  Einsamkeit  eine  ausserordent- 
liche Grösse.     Unter  den  Verwünschungen  aller 

3* 


-    36    - 

Parteien,  des  betrogenen  Pöbels,  der  wilden 
Priester,  der  feigen  Bourgeoisie,  des  piemon- 
tesischen  Gesindels,  wie  bei  den  Verleumdungen 
aller  Organe  der  Reaktion,  vom  päpstlich-kaiser- 
lichen Moniteur  an  bis  zu  dem  Eunuchen  der 
Londoner  Geldmäkler,  der  Times  (welche  den 
Namen  Mazzini  nie  ohne  Hinzusetzung  eines  ge- 
meinen Schimpfwortes  aussprach),  blieb  Mazzini 
nicht  nur  unerschütterlich,  sondern  er  segnete 
freundlich  sowohl  Freund  wie  Feind,  wenn  sie 
nur  seinen  Gedanken,  sein  hohes  Ziel  ausfuhren 
wollten.  Man  konnte  von  ihm  sagen,  was  Pusch- 
kin von  seinem  Abbadonna  sagt : 

Das  Volk,  das  im  Geheimen  du  gerettet. 
Verhöhnt  nun  deine  heil'gen  weissen  Haare. 
Nur,  dass  bei  ihm  nicht  Kutuzoff,  sondern  Gari- 
baldi stand.  Durch  die  Gestalt  seines  Helden  und 
Befreiers  sagte  sich  Italien  doch  nicht  von  Mazzini 
los.  Warum  aber  gab  ihm  nicht  Garibaldi  die 
Hälfte  seines  Kranzes?  Warum  berief  sich  der 
römische  Triumvir  nicht  auf  seine  Rechte?  Warum 
bat  er  selbst  nicht,  an  ihn  zu  denken,  und  warum 
schwieg  der  Volksführer,  der  doch  rein  war  wie 
ein  Kind,  und  erlog  eine  Entzweiung  ?  —  Darum, 
weil  Beide  etwas  hatten,  was  ihnen  teurer  war 
als  die  eigene  Persönlichkeit,  als  Name  und 
Ruhm  —  Italien! 

Aber  die  gemeine  (Gegenwart  verstand  sie 
nicht.  Sie  war  nicht  tief  genug,  um  solche 
Grösse  zu  fassen.  Garibaldi  wurde  immer  mehr 
eine  Gestalt  des  Cornelius  Nepos.  Auf  seiner 
kleinen   Insel   erschien   er  so  antike  Grösse,   so 


—  yj  — 

einfach  und  rein  wie  ein  Held  Homers,  ohne 
Rhetorik,  ohne  Dekoration  und  Diplomatie,  im 
Epos  ist  das  alles  nicht  nötig.  Als  die  Sache 
beendet  war,  entliess  ihn  der  König,  wie  man 
den  Postillon  entlässt,  der  uns  an  Ort  und  Stelle 
gebracht  hat,  und  war  nur  verlegen  darüber, 
was  er  ihm  als  Trinkgeld  geben  sollte,  und  als 
er  erriet,  dass  seine  Undankbarkeit  Garibaldi  be- 
trübe, schickte  er  ihm  Fasanen,  die  er  geschossen, 
Blumen  aus  seinen  Gärten  und  unterschrieb  seine 
Briefe:   »Immer  Dein  Freund  Vittorio.« 

Für  Mazzini  existierten  die  Menschen  nicht, 
für  ihn  gab  es  nur  eine  Sache.  Wieviel  Fasanen 
und  Blumen  ihm  auch  der  König  schicken  möchte, 
es  würde  ihn  nicht  rühren,  er  würde  sich  aber 
gleich  mit  ihm,  den  er  für  einen  gutmütigen  aber 
leeren  Menschen  hält,  verbinden,  wenn  dieser 
für  die  Sache  arbeiten  wollte.  Mazzini  ist  der 
Asket,  der  Calvin,  der  Procida  der  Befreiung 
Italiens;  er  ist  ewig  nur  mit  einer  Idee  be- 
schäftigt, stets  bereit  zu  handeln  und  hält,  mit 
derselben  Geduld  und  Hartnäckigkeit,  mit  welcher 
er  aus  unklaren  Menschen  und  ihren  Bestrebungen 
eine  Verschwörungspartei  schuf,  auch  Garibaldi, 
seine  Genossen  und  das  halb  befreite  Italien 
wach,  indem  seine  magere,  traurige  Hand  fort- 
während nach  Rom  zeigt.  Als  ich  früher  über 
Mazzini  schrieb,  verweilte  ich  besonders  auf 
seinem  Zerwürfnis  mit  Garibaldi  im  Jahr  54  und 
auf  der  Verschiedenheit  unserer  Ansichten.  Ich 
tat  dies  aus'  Zartgefühl,  aber  ich  hatte  unrecht, 
dieses  Zartgefühl  ist  zu  klein  für  Mazzini.     Über 


-    38     - 

solche  Menschen  muss  man  nicht  schweigen, 
die  braucht  man  nicht  zu  schonen.  Nach 
seiner  Rückkehr  aus  dem  eroberten  Neapel  schrieb 
er  mir  ein  paar  Zeilen.  Ich  eilte  beklommenen 
Herzens  zu  ihm  und  erwartete  ihn  traurig  und 
in  seiner  höchsten  Liebe  beleidigt  zu  finden,  denn 
seine  Lage  war  tief  tragisch.  Ich  fand  ihn 
körperlich  gealtert,  aber  geistig  geradezu  verjüngt. 
Er  kam  mir  entgegen,  fasste  nach  seiner  Ge- 
wohnheit meine  beiden  Hände  und  sagte:  »So 
ist  es  denn  endlich  vollbracht!«  Dabei  glänzten 
seine  Augen  voll  Begeisterung  und  seine  Stimme 
bebte  vor  Erregung.  Er  erzählte  mir  von  den 
Ereignissen  der  letzten  Zeit,  vor  und  nach  der 
Expedition  nach  Sicilien.  Aus  der  Wärme  und 
Liebe,  mit  denen  er  von  den  Waffentaten  und 
Siegen  Garibaldis  sprach,  leuchtete  seine  Freund- 
schaft für  diesen  auf  das  innigste  hervor,  aber 
er  ereiferte  sich  auch  über  dessen  blindes  Ver- 
trauen in  die  Menschen,  und  seine  Unfähigkeit» 
sie  zu  beurteilen  und  zu  unterscheiden.  Ich 
dachte,  ob  ich  wohl  einen  Hauch,  einen  Ton 
der  beleidigten  Eigenliebe  entdecken  würde  — 
aber  nein!  Er  war  nur  traurig,  traurig  so,  wie 
die  Mutter,  welche  der  verliebte  Sohn  auf  eine 
Zeit  lang  verlassen  hat.  Sie  weiss,  dass  der 
Sohn  zurückkehren  wird  und  dass  er  glücklich 
ist,  das  ist  ihr  Ersatz  für  alles.  Mazzini  ist  voller 
Hoffnung  fiir  Italien,  er  und  Garibaldi  stehen  sich 
näher  als  je.  Er  erzählte  lächelnd,  wie  die 
neapolitanischen  Volkshaufen  sein  Haus  umgeben, 
und,   von    den  Agenten    'Cavours    aufgewiegelt. 


—    39    — 

geschrieen  hätten:  »Tod  dem  Mazzinil«  Man 
hatte  sie  nämlich,  unter  anderen  Dingen,  glauben 
gemacht,  dass  er  ein  »bourbonischer  Repu- 
blikaner« sei.  »Es  waren  gerade,«  sagte  er, 
»mehrere  unserer  Leute  bei  mir,  und  unter  ihnen 
ein  junger  Russe,  der  war  ganz  erstaunt,  dass 
wir,  als  das  Greschrei  vorüber  war,  unser  unter- 
brochenes Gespräch  ruhig  fortsetzten.  Fürchten 
Sie  nichts,  sagte  ich  ihm,  sie  werden  mich  nicht 
töten,  sie  schreien  nur.« 

»Nein,  solche  Menschen  braucht  man  nicht 
zu  schonen  1«  wiederholt  Herzen,  und  er  hat 
recht  Gretötet  haben  sie  Mazzini  freilich  nicht, 
aber  den  bittem  Kelch  des  niedrigsten  Undanks 
haben  sie  ihn  trinken  machen;  er  musste,  der 
einzige  Exilierte,  endlich  unter  fremdem  Namen 
kommen,  um  auf  der  geliebten  heimatlichen 
Erde  zu  sterben  am  lo.  März  1872,  und  als  der 
Arzt,  welcher  den  schon  Todkranken  behandelte, 
ihn  einen  Engländer  glaubend,  sich  wunderte, 
wie  gut  er  italienisch  spreche,  sagte  der  Sterbende : 

»Es  hat  auch  niemand  Italien  so  geliebt  wie 
ich.«  Dass  sein  Volk  ihm  jetzt  das  Denkmal 
dankbarer  Erinnerung  setzt,  ist  gut,  aber  es 
kann  die  Schuld  nicht  sühnen,  die  man  an  dem 
Lebenden  beging. 

Im  Monat  Juli  desselben  Jahres  begab  ich 
mich  auf  die  Reise  nach  Deutschland,  zu  den 
ersten  Auffuhrungen  im  Theater  von  Bayreuth. 
So  war  es  nun  wirklich  geschehen !  Der  Theater- 
bau, bei  dessen  Grundsteinlegung  wir,  die  wir 
Wagners  Idee  verstanden  und  mit  Begeisterung 


—    40    — 

erfasst  hatten,  voll  freudiger  Hoffnung  zugegen  ge- 
wesen waren,  denkend,  dass  das  deutsche  Volk 
seinem  grossen  Meister  mit  bereitwilligster  Hülfe 
entgegenkommen  werde  —  wir,  die  wir  dann 
jahrelang  mit  tiefem  Unmut  die  dumpfe  Gleich- 
gültigkeit von  der  einen,  die  gehässige  Bosheit 
und  den  kleinlichen  Neid  von  der  anderen  Seite 
angesehen  hatten,  sodass  wir  beinahe  am  Ge- 
lingen des  Werks  in  bitterem  Schmerz  ver- 
zweifelt wären,  —  wir  sahen  uns  nun  am  Ziel. 
Die  hohe  Gesinnung  eines  grossherzigen  Fürsten 
hatte  auch  hier  wieder  helfend  eingegriffen,  da 
die  Anzahl  der  gezeichneten  Patronatsscheine  die 
nötige  Summe  nicht  eingebracht  hatte,  und  die 
erste  Aufführung  im  Theater  von  Bayreuth,  die 
Tetralogie  der  Nibelungen,  war  gesichert  Mit 
wahrem  Glücksgefühl  zog  ich  der  kleinen 
deutschen  Stadt  wieder  zu,  welche  ich  mir  zur 
letzten  Heimat  hatte  wählen  wollen,  woran 
mich  die  Ungunst  des  Klimas  gehindert  hatte. 
Sie  prangte  nun  im  festlichen  Schmuck  und  in 
der  Hoffnung  einer  leuchtenden,  ganz  einzig  da- 
stehenden Zukunft,  welche  ihr  der  Genius  mit 
seiner  Wahl  zu  verheissen  schien.  Wie  durch 
einen  Zauber  war  dies  vergessene  Heim  der 
geistvollen  Schwester  Friedrich  des  Grossen,  der 
Markgräfin  Wilhelmine,  wieder  zum  Leben  ge- 
rufen, und  zu  welchem  Leben!  Hier  sollte  ein 
Kulturwerk  entstehen,  wie  die  moderne  Ge- 
schichte nichts  Ähnliches  aufzuweisen  hatte, 
ein  Kulturwerk  im  griechischen  Geist,  wo  nur 
einmal  im  Jahr,   losgelöst   von    den  Fesseln  der 


—    41     — 

Alltäglichkeit,  das  deutsche  Volk  sich  versam- 
meln und  im  Spiegelbild  höchster  Kunstschöpf- 
ungen, sein  eigenes  edelstes  Selbst  verklärt  er- 
kennen sollte.  So  wenigstens  hatte  ich  Bayreuth 
verstanden,  so  wenigstens,  glaube  ich,  verstand 
es  Friedrich  Nietzsche  damals,  und  verstand  es 
die  kleine  Anzahl  derer,  die  sich  mit  Begeisterung 
von  Anfang  an  um  den  Meister  geschart  hatten. 
Mein  Aufenthalt,  der  für  die  ganze  Zeit  der 
Auffuhrungen  geplant  war,  verhiess  mir  in  jeder 
Beziehung  ungemein  freundlich  zu  werden,  denn 
meine  töchterliche  Freundin  Olga,  ihr  Mann,  ihre 
Schwester  und  ihr  kleiner  Sohn  kamen  ebenfalls, 
die  ganze  Zeit  mit  mir  zu  verbringen;  dazu  ge- 
sellten sich  manche  liebe  Freunde  beinahe  täg- 
lich in  dem  zu  unserer  Wohnung  gehörigen 
schönen  Garten,  Nietzsche,  Eduard  Schure  aus 
Paris  u.  a.,  so  dass  Wagner,  als  er  eines  Tages 
zu  uns  kam,  scherzend  sagte:  »Nun,  bei  Euch 
kommt  hinter  jedem  Busch  ein  Professor  hervor«, 
denn  auch  Olgas  Mann,  Gabriel  Monod,  war  ja 
Professor.  Viele  der  mitwirkenden  Künstler 
kamen  und  musizierten  bei  uns,  kurz,  es  war  ein 
fröhliches,  genussreiches  geselliges  Leben,  welches 
die  Pausen  zwischen  den  Auffuhrungen  ausfüllte. 
Nun  aber  diese  selbst!  Wer  vermöchte  den 
Eindruck,  die  freudige  Rührung  und  Ergriff*enheit 
zu  beschreiben,  die  man  empfand,  als  sich  zum 
ersten  Male  die  Räume  dieses  künstlerisch  er- 
dachten, so  einfach  und  so  edel  vornehm  aus- 
geführten Baues  öffneten;  als  man  sogleich  be- 
griff, wie  nur  so  ein  grosses  Kunstwerk  würdig 


—    42    — 

anzuhören  sei,  indem  ein  jeder  Sitz  im  Haus 
nur  die  Bühne  als  Augenziel  hatte,  und  nicht 
eine  hell  beleuchtete  Logenreihe  mit  geputzten 
Zuschauern  darin;  als  dann  die  Lampen  er- 
loschen, das  unsichtbare  Orchester  seine  wunder- 
baren Töne  wie  aus  einer  Geisterwelt  hervor- 
sandte, und  als  endlich  der  Vorhang  auseinander- 
ging und  über  den  »mystischen  Abgrund«,  wie 
Liszt  den  tiefen  Raum  zwischen  der  Bühne  und 
den  Zuschauern  genannt  hatte,  hinüber  die  Scene 
wie  ein  Traumbild  sichtbar  wurde,  und  Hand- 
lung und  Musik  die  Sinne  so  gefangen  nahmen, 
dass  man,  der  AUtagswelt  entrückt,  eine  ideale 
Wirklichkeit  erlebte!  Nur  wer  ihn  mit  erlebt 
hat,  diesen  ersten,  entzückenden  Eindruck  der 
kaum  für  möglich  gehaltenen  Verwirklichung 
eines  idealen  Schöpfungsgedankens,  kann  es  be- 
greifen, mit  welcher  Inbrunst  sich  das  Herz  an 
die  Hoffnung  hingab,  dass  eine  neue  Kultur- 
epoche, so  wie  unsere  grössten  Geister  sie  ge- 
träumt, für  Deutschland  emporkeimen  werde, 
dass  die  materielle,  durch  die  Waffen  ge- 
wonnene Macht,  sich  verklären  könne  in  dem, 
was  des  deutschen  Geistes  bestes  Erbteil  ist. 
Kein  späterer  Erfolg  des  Bayreuther  Unter- 
nehmens kam  jemals  wieder  dem  Glück  dieser 
Hoffnung  gleich,  denn  wie  Hohes  auch  erreicht 
wurde  und  noch  wird,  diese  Hoffnung  schlug 
doch  fehl,  das  deutsche  Volk  blieb  hinter  seiner 
Aufgabe  zurück. 

Damals  aber  störte  nichts  den  holden  Traum; 
jede  kleine  Kritik  verstummte,  der  Neid  und  die 


—    43     — 

Bosheit  bemühten  sich  umsonst  Gift  in  den  Freuden- 
becher zn  mischen,  und  was  etwa  noch  mangel- 
haft blieb  bei  der  Ausfuhrung,  wurde  kaum  ge- 
fühlt in  der  Glorie  des  Ganzen.  Und  wie  be- 
festigte sich  da  mein  lang  gehegter  Gedanke, 
dass  das  Theater  zu  einem  der  edelsten  Kultur- 
mittel fiir  das  Volk  werden  müsste,  statt  dass 
es  heutzutage  beinah  ein  Mittel  der  Korruption 
geworden  ist.  Theaterbauten,  dem  zu  Bayreuth 
ähnlich,  sollten  sich  an  verschiedenen  Orten 
Deutschlands  erheben,  das  Geld  fände  sich  schon, 
wenn  man  ernstlich  wollte,  warum  findet  es  sich 
z.  B.  für  die  vielen  neuen  unnützen  Kirchen,  die 
man  baut,  oder  für  die  ungeheuren  Militäraus- 
gaben in  Friedenszeit?  Ebenso  wie  fiir  das 
Musikdrama  müsste  für  das  rezitierende  Drama 
gesorgt  werden;  höchstens  zweimal  im  Jahr 
vollendete  AufRihrungen  der  edelsten  Meister- 
werke, und  zwar  mit  so  billigen  Preisen,  dass 
auch  die  Unbegüterten  daran  teilnehmen  und 
durch  den  Einfluss  hoher  Kunst  zur  Gesittung 
geführt  werden  könnten.  Das  wären  Kultur- 
aufgaben für  die  Regierungen,  die  besser  wirken 
würden  gegen  Roheit  und  Verbrechen,  als  Ge- 
fängnisse und  Zuchthäuser. 

Damals  glaubte  ich  noch  an  die  Möglichkeit, 
solche  Dinge  ins  Leben  zu  rufen,  jetzt  ist  die 
Hoffnung  wieder  entflohen,  weit  in  eine  nebel- 
hafte Zukunft  —  ach  wie  weit! 

Die  schönen  Tage  aber  gingen  froh  zu  Ende ; 
wir  hatten  Herrliches  erlebt  und  gingen  mit 
Schätzen   der  Erinnerung   im  Herzen  fort.     Am 


—     44    — 

Schluss  der  Aufführungen  vereinte  noch  einmal 
ein  grosses  Bankett  das  ganze  zuletzt  gebliebene 
Publikum,  wobei  Wagner  eine  herrliche  Rede 
hielt,  die  mit  den  viel  zitierten,  oft  missverstan- 
denen Worten  schloss:  »dann  haben  wir  eine 
deutsche  Kunst«.  Nach  ihm  sprach  Liszt,  den 
er  gerührt  als  einen  der  edelsten  Förderer  seines 
Werks  gepriesen,  mit  der  ihm  eigenen  Grazie 
und  Feinheit  der  Bildung  wenige  aber  schöne 
Worte  und  sagte,  wie  er  sich  vor  Dante  Alig- 
hieri und  vor  Michel  Angelo  beuge,  so  beuge 
er  sich  nun  vor  dem  Genius,  dessen  Tat  wir 
erlebt  hätten.  Die  Umarmung  der  zwei  Männer, 
jetzt  sich  auch  verwandtschaftlich  so  nahe,  war 
ein  schön  bewegter  Schluss  eines  Kulturfestes 
von  der  allerhöchsten  Bedeutung.  Leider  war 
die  Welt  noch  nicht  reif  genug  dafür. 

Nach  einem  Aufenthalt  im  Verein  mit  Olga 
in  einem  deutschen  Badeort  ging  ich  im  Herbst 
nach  Italien  zurück,  und  zwar  noch  nicht  zu 
bleibendem  Aufenthalt  nach  Rom,  sondern  zu- 
nächst nach  Neapel  zur  Ausfuhrung  eines  Planes, 
der  von  mir  erdacht,  sich  dort  verwirklichen 
sollte.  Die  Gesundheit  Friedrich  Nietzsches, 
mit  dem  mich  nun  schon  seit  dem  Jahre  72 
warme  Freundschaft  verband,  hatte  sich  nämlich 
in  solchem  Masse  verschlechtert,  dass  er  für 
nötig  fand,  einen  längeren  Urlaub  von  der 
Universität  in  Basel  zu  erbitten,  um  sich  einmal 
ganz  auszuruhen,  und  zwar  zog  es  ihn  nach  dem 
Süden,  da  es  ihm  schien,  als  müsste  die  wonne- 
volle Natur    dort    ihn,    den    schönheitsdurstigen 


—    45    — 

Griechen,  ganz  herstellen  können.  Er  hatte  aber 
vorsorgliche  Umgebung  und  Pflege  nötig,  und 
da  weder  Mutter  noch  Schwester  ihn  damals 
begleiten  konnten  und  ich  mir  noch  kein  festes 
Asyl  in  Rom  gegründet  hatte,  so  bot  ich  ihm 
schriftlich  an,  mit  ihm  zusammen  nach  Sorrent 
zu  gehen,  um  den  Winter  da  zu  verbringen  und 
im  glücklichen  dolce  far  niente  des  Südens  Er- 
holung, ja  Genesung  zu  suchen.  Er  antwortete: 
»Verehrteste  Freundin,  ich  weiss  wirklich  nicht, 
wie  ich  Ihnen  für  das  in  Ihrem  Briefe  Ausge- 
sprochene und  Angebotene  danken  soll;  später 
will  ich  Ihnen  sagen,  wie  zur  rechten  Zeit  dies 
Wort  von  Ihnen  gesprochen  wurde  und  wie 
gefährlich  mein  Zustand  ohne  dieses  Wort  ge- 
worden sein  würde ;  heute  melde  ich  Ihnen  nur, 
dass  ich  kommen  werde«  etc.  —  In  einem 
späteren  Brief  schrieb  er  dann  noch:  »Ungefähr 
alle  acht  Tage  habe  ich  meinen  Leiden  (Kopf- 
und  Augenschmerzen)  ein  dreissigstündiges 
Opfer  zu  bringen,  deshalb  vertröste  ich  mich 
ganz  und  gar  auf  das  Zusammensein  mit  Ihnen 
am  Golf  von  Neapel.  Wir  wollen  dort  schon 
die  Gesundheit  erzwingen.  An  dieser  Hoffnung 
hat  mich  bisher  nichts  irre  gemacht.« 

Ich  Jiatte  bereits  vorbereitend  eine  Fahrt 
nach  Sorrent  gemacht  und  eine  Wohnung  ge- 
funden, wie  sie  flir  die  kleine  Kolonie  passte,  zu 
welcher  unser  Duo  angewachsen  war.  Nietzsche 
hatte  nämlich  einen  von  ihm  sehr  geschätzten 
Freund,  Dr.  Paul  Ree,  und  einen  seiner  Schüler, 
einen  jungen  Basler,    Brenner  mit  Namen,   zum 


-    46    - 

Mitgehen  nach  Sorrent  vorgeschlagen,  und  da 
ich  nichts  dagegen  hatte  (ich  kannte  nur  den 
letzteren,  da  er  seiner  Gesundheit  wegen  in 
Rom  gewesen  war),  so  wurde  auch  auf  Wohnen 
in  demselben  Hause  Rücksicht  genommen*  Es 
fand  sich  eine  unbesetzte,  von  einer  Deutschen 
eingerichtete  Pension,  mitten  in  einem  Wein- 
garten, wo  im  ersten  Stock  sich  Zimmer  für  die 
drei  Herren,  mit  Terrassen,  im  zweiten  Stock 
Zimmer  für  mich  und  meine  Jungfer,  und  ein 
grosser  Saal  zum  gemeinschaftlichen  Gebrauch 
vorfanden;  von  den  Terrassen  hatte  man  die 
herrlichste  Aussicht  über  den  grünen  Vorgrund 
des  Gartens  hinweg  auf  den  Golf  und  den  eben 
damals  sehr  aufgeregten,  abends  Feuersäulen 
emporsendenden  Vesuv.  Nachdem  ich  so  für 
Unterkommen  gesorgt  hatte,  ging  ich  nach  Ne- 
apel zurück,  meine  Gefährten  zu  erwarten.  Sie 
kamen  zu  Schiff  von  Genua  her,  und  Nietzsche 
war  etwas  enttäuscht,  weil  ihm  die  Seefahrt  und 
die  Ankunft  in  Neapel  mit  dem  schreienden, 
lärmenden,  zudringlichen  Volk  sehr  unangenehm 
gewesen  waren.  Gegen  Abend  jedoch  lud  ich 
die  Herren  zu  einer  Fahrt  auf  den  Posilip  ein. 
Es  war  einer  jener  Abende,  wie  man  sie  nur 
dort  erlebt,  Himmel,  Erde  und  Meer  schwammen 
in  einer  Glorie  von  Farbentönen,  die  man  nicht 
beschreiben  kann,  die  aber  die  Seele  durch- 
dringen mit  dem  Zauber  einer  wonnevollen 
Musik,  einer  Harmonie,  in  der  sich  jeder  Misston 
auflöst  und  verschwindet.  Ich  sah,  wie  Nietz- 
sches Gesicht   sich  in  freudigem,   beinahe  kind- 


—    47    — 

lichem  Staunen  aufhellte,  wie  ihn  innige  Rührung 
überkam,  und  endlich  brach  er  in  einen  Jubel- 
ausruf über  den  Süden  aus,  den  ich  als  eine 
gute  Vorbedeutung  für  seinen  Aufenthalt  be- 
grüsste. 

In  Sorrent  nun  richtete  sich  das  Leben  ganz 
behaglich  ein.  Am  Morgen  fanden  wir  uns  nie 
zusammen,  ein  jeder  blieb  in  völliger  Freiheit 
bei  seiner  eigenen  Beschäftigung.  Erst  das 
Mittagessen  vereinigte  uns,  und  zuweilen  am 
Nachmittag  ein  gemeinschaftlicher  Spaziergang 
in  der  zauberischen  Umgebung,  zwischen  Orangen- 
und  Citronengärten  hin,  deren  Bäume,  hoch  wie 
unsere  Äpfel-  und  Birnbäume,  ihre  von  goldenen 
Früchten  beladenen  Äste  über  die  Gartenum- 
zäunung herüber,  den  Weg  beschattend,  hängen 
liessen,  oder  hinauf  auf  die  sanften  Höhen,  oft 
an  Bauernhöfen  vorüber,  wo  anmutige  Mädchen 
in  heiterem  Zusammensein  die  Tarantella  tanzten, 
nicht  die  gekünstelte,  wie  sie  jetzt  von  geputzten 
Banden  für  die  Fremden  in  den  Gasthöfen  ge- 
tanzt wird,  sondern  in  ursprünglicher,  von  natür- 
licher Grazie  und  Sittsamkeit  begleiteter  Art. 
Oft  zogen  wir  auch  zu  weiteren  Ausflügen  auf 
Eseln  aus,  die  dort  für  die  unwegsameren  Berg- 
touren bereit  gehalten  werden,  und  da  gab  es 
meist  viel  Lachen  und  Spass,  besonders  mit 
dem  jungen  Brenner,  dessen  lange  Beine  beinahe 
mit  denen  des  Esels  zugleich  auf  der  Erde  fort- 
liefen, und  dessen  noch  etwas  ungeschickte 
schülerhafte  Art  die  Zielscheibe  gutmütiger 
Scherze  wurde.     Am  Abend  vereinte  uns   aufs 


-    48     - 

neue  das  Abendessen  und  nach  demselben  im 
gemeinschaftlichen  Salon  angeregtes  Gespräch 
und  gemeinsame  Lektüre. 

Der  erste  Monat  wurde  noch  durch  die  An- 
wesenheit von  Wagner  und  seiner  Familie  ver- 
schönt, die  nach  den  Anstrengungen  des  Som- 
mers während  der  Aufifiihrungen  durch  eine 
Reise  in  Italien  Erholung  suchten.  Sie  wohnten 
im  Hotel,  wenige  Schritte  von  uns,  und  ich  ver- 
brachte natürlich  den  grössten  Teil  meiner  Zeit 
mit  ihnen,  besonders  mit  der  von  mir  so  innig 
geliebten  und  hochgeschätzten  Cosima,  mit  der 
das  Zusammensein  mir  stets  geistig  und  gemüt- 
lich den  höchsten  Genuss  gewährte.  Wagner 
las  dort  mit  grossem  Interesse  die  Geschichte 
der  italienischen  Republiken  von  Sismondi  und 
rief  Cosima  und  mich  oft  herbei,  um  uns  eine 
oder  die  andere  Episode,  die  ihm  besonders 
gefiel,  vorzulesen,  so  u.  a.  eine,  die  er  nachher 
in  Rom  dem  damals  noch  lebenden,  sehr  be- 
gabten italienischen  Dichter  Costa  zu  dramatischer 
Bearbeitung  empfahl,  die  aber  nicht  zu  stände 
kam.  Öfters  wurde  auch  unser  Quatuor  abends 
zu  Wagners  geladen;  es  befremdete  mich  aller- 
dings dabei,  in  Nietzsches  Reden  und  Benehmen 
eine  gewisse  gezwungene  Art  von  Natürlichkeit 
und  Heiterkeit  zu  bemerken,"  die  ihm  sonst  ganz 
fremd  war;  da  er  sich  aber  nie  missfällig  über 
oder  widerstrebend  gegen  den  Verkehr  äusserte, 
so  kam  mir  der  Verdacht  nicht,  dass  eine 
Änderung  in  seinen  Gesinnungen  vorgegangen 
sein    könnte,    und    ich    gab  mich  mit    ganzem 


—    49    — 

Herzen  diesem  Nachgenuss  von  Bayreuth  im  Verein 
mit  so  ausgezeichneten  Menschen  hin.  Das  Glücks- 
gefiihl,  in  solcher  geistigen  Intimität  zu  leben, 
gab  mir  eines  Abends,  als  wir  alle  dort  zu 
Tisch  waren,  Grelegenheit,  einen  von  mir  sehr 
geliebten  Spruch  von  Goethe  zu  zitieren:  »Selig 
wer  sich  vor  der  Welt  ohne  Hass  verschliesst, 
einen  Freund  am  Busen  hält  und  mit  dem  ge- 
niesst,  wass  von  Menschen  nicht  gewusst  oder 
nicht  bedacht,  durch  das  Labyrinth  der  Brust 
wandelt  bei  der  Nacht.« 

Wagners  kannten  den  Spruch  nicht,  waren 
aber  entzückt  davon  und  ich  musste  ihn  wieder- 
holen. Ach  wie  wenig  ahnte  ich  da,  dass  die 
Dämonen,  die  auch  im  Labyrinth  der  Brust  bei 
der  Nacht  wandeln  und  das  göttliche  Geheimnis 
der  Sympathie  zwischen  edlen  Geistern  feind- 
lich betrachten,  bereits  am  Werk  waren,  um  zu 
entzweien  und  zu  trennen. 

Wagners  schieden  Ende  November  und  nun 
begannen  erst  recht  unsere  Lese- Abende.  Wir 
hatten  eine  reiche  und  vorzügliche  Auswahl  von 
Büchern  mit,  aber  das  Schönste  unter  dem 
Mannigfaltigen  war  ein  Manuskript,  nach  den  Vor- 
lesungen von  Jakob  Burckhardt  über  griechische 
Kultur,  in  Basel  an  der  Universität  gehalten,  von 
einem  Schüler  Nietzsches  geschrieben  und  diesem 
auf  die  Reise  mitgegeben.  Nietzsche  gab  dazu 
mündliche  Kommentare,  und  gewiss  hat  kaum  je 
eine  herrlichere  und  vollkommenere  Darlegung 
dieser  schönsten  Kulturepoche  der  Menschheit 
stattgefunden,  als  hier  schriftlich  und  mündlich, 

Meysenbu^g,  IV .  4 


—    so    — 

durch  diese  beiden  grössten  Kenner  des  griechi- 
schen Altertums.  Meine  Vorliebe  für  jene 
herrliche  Blütezeit  des  menschlichen  Geistes 
steigerte  sich  dadurch  zu  höchster  Begeisterung. 
So  entzückte  mich  die  Definition  Burckhardts 
über  das  Wesen  des  griechischen  Volks :  »Pessi- 
mismus der  Weltanschauung  und  Optimismus 
des  Temperaments«.  Grewiss  eine  treffliche 
Mischung,  um  ein  vollendetes  Volk  zu  schaffen. 
Der  Pessimismus  der  Erkenntnis  verhindert  die 
falschen  Anschauungen  und  Schlüsse  im  Leben, 
und  das  optimistische  Temperament  treibt  dessen 
ungeachtet  zu  Taten  und  zur  Idealisierung  der 
als  schlecht  erkannten  Welt.  »Die  allgemeine 
Weltanschauung,  die  sich  im  Mythos  der  Heroen 
offenbart,«  sagt  Burckhardt  femer,  »ist  wieder 
die,  das  die  Welt  schlecht  ist,  aber  es  ist  gar 
nicht  die  Reflexion,  sondern  das  innerste  Träumen 
und  Sinnen  der  Griechen,  welches  den  Mythos 
schafft.  Und  zwar  wird  die  Welt  immer 
schlechter;  Mord,  Hass,  Neid  herrschen  im 
Heroentum ;  dazu  kommt  die  schreckliche  Denk- 
weise der  mythischen  Frauen,  Medea,  Klytäm- 
nestra  und  andere.  Die  letzte  Ermahnung  des 
Amphiaäus  an  seine  Söhne  st  :  ,Ermordet  eure 
Mutter*.  Die  seltenen,  herrlichen,  reinen  Ge- 
stalten, wie  AchiD,  Antigone  etc.,  müssen  früh 
sterben.« 

Der  Mythos  ist  also  das  ewige  Bild  der  Na- 
tion, in  welcher  der  Grieche  seine  Vorzeit  und 
sich  selbst  mit  all  seinen  Gedanken,  seiner  Phi- 
losophie,   seinen    Eigenschaften,    seiner   Lebens- 


—    51    — 

auffassung  anschauen  wollte.  So  hat  auch 
Wagner  seine  Nibelungen  zum  Mythos  des 
deutschen  Volkes  geschaffen,  nicht  bloss,  indem 
er  die  Vergangenheit  im  alten  Mythos  wieder- 
holte, sondern  indem  er  das  ewige  Wesen  des 
deutschen  Volks  darin  bespiegelt. 

Wie  tief  und  herrlich  erschien  mir  dann 
wieder  folgende  Betrachtung,  als  Burckhardt  von 
der  Religion  sprach  und  sagte,  es  sei  ein  ewig 
denkwürdiges  Schauspiel,  diese  uralte  Tradition  zu 
sehen,  welche,  von  der  prachtvollsten  Phantasie 
getragen,  niemals  durch  eine  Theologie  korrigiert 
worden  sei.  Als  die  Philosophen  es  endlich 
hätten  versuchen  wollen,  sei  es  zu  spät  gewesen. 
Die  griechischen  Götter,  obgleich  herrliche 
Wesen,  seien  wenig  geachtet  worden,  der  Kultus, 
obgleich  riesengross,  habe  es  doch  nicht  ver- 
mocht, die  trübsten  Gedanken  über  das  Erden- 
leben zu  beschwören.  Diese  Widersprüche, 
meint  er,  würden  wir  wohl  nie  bis  zur  völligen 
Klarheit  entwirren  können,  und  doch  würden 
wir  dies  schöne  Rätsel  nicht  los  werden  bis 
ans  Ende  der  Tage.  Dem  ähnlich  sei  es  auch 
mit  dem  Heroenkultus;  das  heroische  Zeitalter 
wäre  durchaus  nicht  das  goldene  gewesen,  sondern 
habe  in  vollem  Masse  das  Böse  gekannt.  Die 
Perser,  die  Ägypter,  selbst  die  Inder  hätten  ein 
Heroentum  gehabt,  doch  bei  allen  habe  sich 
darüber  eine  Theologie  entwickelt,  nur  die 
Griechen  seien  davon  frei  geblieben.  Ihre  Heroen 
stammten  von  den  Göttern,  waren  aber  zugleich 
gewaltige    Menschen,     die    wieder    nach    oben 

4* 


—  sp- 
rangen. Die  Griechen  waren  überzeugt,  dass 
das  Grosse  und  Herrliche  nicht  langsam  ansetzt, 
wie  der  Krystall  in  der  Felshöhle,  und  dass 
die  Vögel  es  nicht  auf  ihren  Fittichen  zusammen- 
tragen, sondern  dass  es  dazu  grosser  Individuen 
bedarf,  ohne  die  nichts  geschehen  kann. 

Nietzsche  sagte,  dass  die  eigentliche  Blüte- 
zeit des  griechischen  Volkes  die  drei  Jahrhunderte 
nach  dem  heroischen  Zeitalter  bis  zu  der  Schlacht 
bei  Marathon  gewesen  seien,  die  Zeit  des  Agon, 
des  Wettkampfes,  wo  ein  jeder  der  erste  sein 
konnte,  weil  die  Eifersucht  des  grossen  Strebens 
es  nicht  litt,  dass  einer  zu  hoch  empor  rage. 
Er  hatte  dies  Thema  schon  früher  einmal  in 
einem  Aufsatz,  »Homers  Wettkampf«  betitelt, 
berührt  und  erwähnt,  dass  die  vorhomerische 
Zeit  eine  Zeit  äusserster  Grausamkeit  gewesen 
sei,  welche  den  Mord  und  die  Kinder  der  Nacht, 
der  grausamen  Eris  entsprungen,  erzeugt  habe; 
dass  aber  auch  die  hellenische  Blütezeit  Neid 
und  Hass  angenommen  habe,  doch  als  Kinder 
einer  anderen  milderen  Eris,  welche  alle  ruhm- 
reichen schönen  Taten  veranlasste,  indem  sie 
den  Wettkampf  hervorrief.  Dieser  entsprang 
dem  glühenden  Streben,  kein  einzelnes  hervor- 
ragendes Genie  aufkommen  zu  lassen,  sondern 
ein  ganzes  Volk  gleichbegabter,  in  Vorzüglichkeit 
miteinander  wetteifernder  Menschen  zu  bilden, 
wo  das  Beispiel  des  einen  den  anderen  zu  gleich 
herrlichen  Taten  anfeuern  sollte.  Das  erklärt 
auch  in  mildernder  Weise  den  Ostracismus,  der 
gerade   die  bedeutendsten  Menschen   traf,    weil 


—     53    — 

ihre  hervorragende  Grösse  bedenklich  wurde: 
Diesen  Neid  gegen  die  Grösse  einzelner  Sterb- 
lichen fühlten  selbst  die  Götter;  so  verblendeten 
sie  z.  B.  die  Sinne  des  Miltiades,  weil  er  nach 
Marathon  von  zu  hohem  Ruhm  umstrahlt  war, 
damit  er  in  der  Liebe  für  eine  Priesterin  ent- 
brenne, bei  Nacht  die  heiligen  Tempelmauern 
übersteige,  um  ihr  zu  nahen,  dann  aber  von 
Grrauen  ergriffen  zu  Boden  stürze;  verwundet 
wurde  er  gefangen  genommen  und  verurteilt. 

Welch  ein  Feuer  der  Grrösse  musste  in  diesen 
griechischen  Seelen  brennen,  dass  sie  auch  selbst 
die  Tyrannei  des  Genius  nicht  ertragen  konnten  1 
Denn  es  war  ja  nicht  das  Niveau  der  Mittel- 
mässigkeit,  welches  sie  erstrebten,  sondern  Neid 
und  Hass  waren  ihnen  Tugenden,  welche  dem 
Streben  nach  dem  Höchsten  Nahrung  gaben. 
Vielleicht  kann  man  es  aber  auch  so  erklären, 
dass  sie  es  nicht  ertragen  konnten,  einen  Flecken 
an  ihren  Heroen  zu  sehen,  und  wenn  eine  heller 
strahlende  Persönlichkeit  plötzlich  eine  Schwäche 
zeigte,  eine  Nachtseite  der  Natur,  so  verbannten 
sie  dieselbe  rasch,  um  sich  das  göttergleiche 
Lichtbild  nicht  verdunkeln  zu  lassen. 

Wie  viele  Seiten  geistvoller  Auffassung  der 
Lebensvorgänge  bei  den  Griechen  kamen  da  zur 
Sprache.  Ich  erzählte,  dass  es  mir  kürzlich  bei 
einem  Besuch  im  Museum  in  Neapel  aufgefallen 
sei,  wie  anmutig  und  fein  die  Griechen  die 
aufsteigende  Stufenleiter  lebender  Organismen 
darzustellen  gewusst  hätten,  ohne  der  Affen- 
theorie zu   bedürfen.     Ihre   Satyren,   Kentauren 


—     54    — 

Faune  sind  doch  nur  Halbmenschen,  Ubergangs- 
geschöpfe,  denen  der  schöne  Mensch  und  zuletzt 
der  Halbgott  folgt.  Aber  wie  reizend  ist  diese 
Übergangswelt  gezeichnet.  Wer  würde  nicht 
fröhlich,  wenn  er  die  tanzenden  Faune  ansieht, 
jene  unschuldig  sinnlichen  Naturkinder,  die  im 
heiteren  Licht  des  Tages  noch  nicht  viel  über 
der  Genussfähigkeit  des  Schmetterlings,  der  von 
Blume  zu  Blume  fliegt,  stehen.  Der  Neapolitaner 
aus  dem  Volk  ist  noch  ganz  der  antike  Faun; 
es  sind  dieselben  Bewegungen  beim  Tanz,  das- 
selbe tierische  glückliche  Lächeln,  das  Wesen, 
welches,  wie  das  Kind  und  das  Tier,  nur 
Gegenwart  kennt,  keine  Vergangenheit  und  keine 
Zukunft.  Wie  feinfühlig  aber  mussten  sie  auch 
sein,  um  die  leisesten  Übergänge  im  seelischen 
Leben  zu  charakterisieren.  So  stellte  der  Künstler 
Scopas  den  Himeros,  die  Sehnsucht,  und  Pothos, 
das  Verlangen,  in  einer  Grruppe  mit  Eros  dar. 
Wie  fein  musste  er  empfinden,  um  diese  nahen 
Verwandten  zu  unterscheiden.  Und  wieder  ein 
anderes  Beispiel:  Mars  hiess  der  Leuchtende, 
und  war  ursprünglich  eins  mit  Apoll  bei  Grriechen 
und  Italikern;  wurde  erst  später  Gott  des  Kriegs. 
Dionysos  hingegen  war  der  Dunkle,  und  war 
eins  mit  Orpheus.  Wie  geistvoll  ist  das:  Der 
Krieg  entzündet  sich  am  Tag,  an  der  leuchtenden 
Helle,  am  Schein,  der  die  Menschen  in  die 
Leidenschaften  des  Wahns  verstrickt.  Die 
Musik  steigt  aus  den  dunklen  Tiefen  der  Seele 
auf,  deshalb  muss  Orpheus  in  das  Reich  der 
Nacht    hinab,    um    die    verlorene   Liebe    durch 


—    55    — 

Töne  wieder  zu  erringen.  Die  Nacht  gebiert 
die  Musik,  den  Ausdruck  des  tiefsten  wahren 
Lebens,  ausserhalb  alles  Scheins.  In  der  Nacht, 
der  fiir  uns  scheinbaren  Nacht,  ruht  also  das 
eigentliche  harmonische  Dasein,  das,  von  dem 
uns  die  Musik  in  Ahnungen  redet. 

Nachdem  wir  die  Vorlesungen  Burckhardts 
beendet  hatten,  lasen  wir  Herodot  und  Thuky- 
dides.  Der  letztere  riss  mich  zu  höchster  Be- 
wunderung hin.  Seine  Schilderung  vom  Unter- 
gange Athens  durch  die  Niederlage  bei  Syrakus, 
wo  zum  ersten  Mal  dessen  bis  dahin  unbesiegte 
Seemacht  unterlag,  die  Flotte  zerstört,  das 
glänzendste  Heer  vernichtet  wurde,  ergriff  mich 
tief  durch  ihre  furchtbare  Tragik.  Thukydides 
nennt  es  das  grösste  Ereignis  der  grichischen 
Geschichte.  Mir  schien  es  der  tragischeste 
Untergang  einer  Weltgrösse  in  der  ganzen  Welt- 
geschichte, denn  alle  die,  welche  da  untergingen, 
wussten  es,  dass  mit  ihnen  das  Vaterland  unter- 
ging, und  ich  empfand  den  Schmerz  des  alten, 
edlen  Nikias  mit  ihm ;  hatte  er  es  doch  voraus- 
gesagt und  gegen  den  kühnen  Alkibiades  vom 
Kriege  abgeraten.  Was  mich  aber  besonders 
am  Thukydides  rührte  und  ergriff,  das  war  die 
unendliche  Einfachheit,  mit  welcher  die  Menschen 
das  Höchste  sagen,  als  war'  es  nur  das  Gewöhn- 
liche, das  dem  Menschen  Angemessene.  In  der 
modernen  Welt  sagt^man  das  Höchste  mit 
Pathos  als  etwas  Aussergewöhnliches,  weil  man 
gewöhnlich  trivial  spricht. 

Am  Morgen  des  ersten  Januars  1877  machte 


-    56    - 

ich  allein  mit  Nietzsche  einen  schönen  Spazier- 
gang längs  des  Meeres  und  wir  setzten  uns  auf 
einen  Felsvorsprung,  der  weit  in  die  tiefblaue 
Flut  hinein  ragte.  Es  war  schön  wie  ein 
Frühlingsmorgen ;  laue  Luft  wehte  und  von  den 
Ufern  grüssten  die  goldenen  Früchte  der  grünen 
Orangenbäume.  Wir  waren  beide  in  der  friedlich- 
harmonischsten Stimmung ;  liebliche,  bedeutende 
Gespräche  standen  im  Einklang  mit  dem  glück- 
verheissenden  Anfang  des  Jahres,  und  wir  kamen 
schliesslich  überein,  dass  das  wahre  Ziel  des 
Lebens  sein  müsse,  nach  Weisheit  zu  streben. 
Nietzsche  sagte,  dass  dem  rechten  Menschen 
alles  dazu  dienen  müsse,  auch  das  Leiden,  und 
dass  er  insofern  auch  das  letzte  leidenvolle  Jahr 
seines  Lebens  segne.  Ja,  sagte  ich,  für  alle 
diese  höchsten  Wahrheiten  hat  doch  auch  die 
Bibel  immer  ein  schönes  Wort,  das  im  Grunde 
dasselbe  meint,  was  wir  meinen;  sie  drückt  es 
nur  so  aus :  Denen,  die  Gott  lieben,  müssen  alle 
Dinge  zum  Besten  dienen. 

Wie  milde,  wie  versöhnlich  war  Nietzsche 
damals  noch,  wie  sehr  hielt  seine  gütige,  liebens- 
würdige Natur  noch  dem  zersetzenden  Intellekt 
das  Gleichgewicht,  Wie  heiter  konnte  er  auch 
noch  sein,  wie  herzlich  lachen,  denn  bei,  allem 
Ernst  fehlten  doch  auch  Scherz  und  Heiterkeit 
nicht  in  unserem  kleinen  Kreise.  Wenn  wir  so 
abends  beisammen  sassen.  Nietzsche  gemütlich 
im  Lehnstuhl  hinter  seinem  Augenschirm,  Dr. 
Ree,  unser  gütiger  Vorleser,  beim  Tisch,  wo  die 
Lampe  brannte,    der  junge  Brenner   am  Kamin 


—    57    — 

mir  gegenüber  und  mir  helfend  Orangen  schälen 
für  das  Abendbrot,  da  sagte  ich  oft  scherzend: 
»Wir  repräsentieren  doch  wirklich  eine  ideale 
Familie;  vier  Menschen,  die  sich  früher  kaum  ge- 
kannt, kein  verwandtschaftliches  Band  haben, 
keine  gemeinsamen  Erinnerungen,  und  nun  in 
vollkommener  Eintracht,  in  ungestörter  persön- 
licher Freiheit,  ein  geistig  und  gemütlich  be- 
friedigtes Zusammenleben  führen.«  Auch  fehlte 
es  bald  nicht  an  Plänen  für  eine  Erweiterung  des 
so  glücklich  gelungenen  Experiments.  Ich  erhielt 
damals  gerade  besonders  viele  Briefe  von  Frauen 
und  Mädchen  aus  der  unbekannten  Menge,  die 
mir  infolge  meiner  »Memoiren  einer  Idealistin« 
ihre  Sympathie  kund  gaben,  wie  dies  übrigens 
auch  in  der  langen  Reihe  folgender  Jahre  zu 
meiner  innigsten  Freude  und  Befriedigung  fort- 
während der  Fall  gewesen  ist.  Diese  Tatsache 
gab  einer  Idee  Nahrung,  die  bei  mir  entsprungen 
war,  und  die  ich  meinen  Gefährten  mitgeteilt 
hatte,  nämlich  eine  Art  Missionshaus  zu  gründen, 
um  erwachsende  Menschen  beiderlei  Geschlechts 
zu  einer  freien  Entwicklung  edelsten  Geisteslebens 
zu  führen,  damit  sie  dann  hinausgingen  in  die 
Welt,  den  Samen  einer  neuen,  vergeistigten 
Kultur  auszustreuen.  Die  Idee  fand  den  feurig- 
sten Anklang  bei  den  Herren;  Nietzsche  und 
Ree  waren  gleich  bereit,  sich  als  Lehrer  zu  be- 
teiligen. Ich  war  überzeugt,  viele  Schülerinnen 
herbeiziehen  zu  können,  denen  ich  meine  be- 
sondere Sorge  widmen  wollte,  um  sie  zu  edelsten 
Vertreterinnen  der  Emanzipation  der  Frau  heran- 


-    58    - 

zubilden,  damit  sie  hülfen,  dieses  so  wichtige 
und  bedeutungsvolle  Kulturwerk  vor  Missver- 
ständnis und  Entstellung  zu  bewahren,  und  in 
reiner,  würdevoller  Entwicklung  zu  segensvoller 
Entfaltung  zu  führen.  Wir  suchten  schon  nach 
einem  passenden  Lokal,  denn  in  dem  herrlichen 
Sorrent,  in  der  wonnevollen  Natur,  und  nicht  in 
städtischer  Enge  sollte  die  Sache  zu  stände 
kommen.  Wir  hatten  unten  am  Strand  mehrere 
geräumige  Grotten,  wie  Säle  innerhalb  der  Felsen, 
offenbar  durch  Arbeit  erweitert,  gefunden,  in  denen 
sogar  eine  Art  Tribüne,  wie  express  für  einen 
Vortragenden  bestimmt  zu  sein  schien.  Die 
dachten  wir  in  heissen  Sommertagen  als  sehr 
geeignet,  um  unsere  Lehrstunden  da  zu  halten, 
wie  denn  überhaupt  das  ganze  Lehren  mehr  ein 
gegenseitiges  Lernen  nach  Art  der  Peripathetiker, 
und  im  allgemeinen  mehr  nach  griechischem 
als  modernem  Muster  sein  sollte.  Dieser  Plan 
beschäftigte  uns  oft,  und  wir  hielten  die  Aus- 
führung nicht  für  unmöglich,  hatte  ich  doch  einst 
in  Hamburg  in  der  Hochschule  schon  Ähnliches 
mit  dem  schönsten  Erfolg  gekrönt,  erlebt.  Und 
dennoch  scheiterte  auch  dieses  wieder,  wie  so 
vieles  Ideale,  an  den  Verhältnissen,  die  störend 
dazwischen  traten,  besonders  von  Seiten  der 
Herren. 

Unsere  gemeinschaftlichen  Lektüren  nahmen 
jetzt  einen  anderen  Charakter  an.  Wir  verliessen 
das  schöne  griechische  Altertum  und  es  kam 
ein  Gemisch  von  neueren,  doch  stets  bedeutenden 
Sachen  an  die  Reihe.    Ree  hatte  eine  besondere 


—    59    — 

Vorliebe  für  die  französischen  Moralisten  und 
teilte  diese  auch  Nietzsche  mit,  der  sie  vielleicht 
schon  früher  gelesen  hatte,  deren  nähere  Be- 
kanntschaft aber  sicher  nicht  ohne  Einfluss  auf 
seine  spätere  Entwicklung  geblieben  ist,  und  ihn 
namentlich  zu  dem  Ausdruck  seiner  Gedanken 
in  Aphorismen  geführt  hat,  wie  ich  später  Gre- 
legenheit  hatte  zu  bemerken.  Auch  beeinflusste 
ihn  offenbar  die  streng  wissenschaftliche,  realisti- 
sche Anschauungsweise  Dr.  Rees,  die  seinem 
bisherigen,  immer  von  dem  ihm  innewohnenden 
poetischen  und  musikalischen  Element  durch- 
drungenen Schaffen  beinah  etwas  Neues  war 
und  ihm  ein  fast  kindlich  staunendes  Vergnügen 
machte.  Ich  bemerkte  das  öfter  und  sagte  es 
ihm  auch  scherzend  als  Warnung,  da  ich  Rees 
Anschauungen  nicht  teilte,  trotz  meiner  hohen 
Achtung  für  seine  Persönlichkeit  und  meiner 
Anerkennung  seiner  gütigen  Natur,  welche  sich 
besonders  in  seiner  aufopfernden  Freundschaft 
für  Nietzsche  zeigte.  Sein  Buch  »Über  den 
Ursprung  der  moralischen  Empfindungen«  erregte 
mir  nur  den  entschiedensten  Widerspruch,  und 
ich  nannte  ihn  im  Scherz  »chemische  Kombina- 
tion von  Atomen«,  welches  er  sehr  freundlich 
hinnahm,  während  uns  im  übrigen  herzliche 
Freundschaft  verband. 

Wie  sehr  seine  Art,  die  philosophischen 
Probleme  zu  erklären,  auf  Nietzsche  Eindruck 
machte,  ersah  ich  aus  manchen  Gesprächen. 
So  kam  es  einmal  auf  einem  Spaziergang  zwischen 
Nietzche    und    mir    zu    einem     philosophischen 


—     6o    — 

Streit,  indem  er  das  Gesetz  der  Kausalität 
leugnete  und  sagte,  es  gäbe  nur  ein  Nachein- 
ander von  Dingen  und  Zuständen,  aber  nicht  als 
Wirkung  der  einen  aus  den  anderen;  was  wir 
als  Ursache  und  Wirkung  empfänden,  seien  un- 
erklärte Tatsachen.  Die  griechischen  Philo- 
sophen, die  Eleaten  hätten  zwar  das  Seiende, 
das  Unveränderliche  für  die  alleinige  Ursache 
und  die  wahre  Realität  erklärt,  dem  widerspräche 
aber  in  jedem  Augenblick  die  Welt  als  ein  ewig 
Werdendes  und  Wandelbares.  Ich  entgegnete 
ihm,  dass  sicher  das  Seiende,  das  Unveränder- 
liche die  wahre  Realität  sei,  das  Ding  an  sich, 
das  sogenannte  Metaphysische.  Wir  müssten 
uns  nur  nicht  fürchten  das  anzuerkennen.  Die 
scheinbar  ewig  werdende  Welt  sei  nur  die  Er- 
scheinung des  Seins,  nur  für  uns  sei  sie  Wechsel, 
für  unsere  beschränkten  Sinne.  Aber  in  all  dem 
Wandel,  in  Leben  und  Tod,  in  Werden  und 
Vergehen  offenbare  sich  das  All-Eine,  das;Sein. 
Die  Inder  wussten  es  schon :  »tat  wam  asi«,  das 
bist  du.  . —  Ein  anderes  Mal  in  einem  Gespräch 
über  Schopenhauer  äusserte  er,  es  sei  der  Irr- 
tum aller  Religionen,  eine  transcendentale  Ein- 
heit hinter  der  Erscheinung  zu  suchen,  und  das 
sei  auch  der  Irrtum  der  Philosophie  und  des 
Schopenhauerischen  Gedankens  von  der  Einheit 
des  Willens  zum  Leben.  Die  Philosophie  sei 
ein  ebenso  ungeheurer  Irrtum,  wie  die  Reli- 
gion. Das  allein  Wertvolle  und  Gültige  sei  die 
Wissenschaft,  welche  allmählich  Stein  an  Stein 
füge,    um    ein    sicheres    Gebäude    aufzuführen. 


—    6i     — 

Die  beiden  Ersten  hielten  die  Menschen  auf  in 
ihrem  Gang  zur  Wahrheit,  sie  drückten  nur 
die  Tendenz  unseres  Geistes  aus,  die  Lösung 
des  Lebensrätsels  ein  für  allemal  finden  zu 
wollen. 

Ich  wendete  ihm  ein,  dass  mir  das  gerade 
ein  Irrtum  schien,  diese  Einheit  als  etwas 
Transcendentales  anzusehen,  während  sie  doch 
gerade  das  alles  Ausfüllende,  in  der  Erscheinung 
sich  Kundgebende  sei.  Weil  die  Beschränktheit 
unseres  Erkenntnisvermögens  der  Hülfsmittel 
von  Raum  und  Zeit  bedürfe,  so  hätten  wir  doch 
nicht  das  Recht,  das  ausserhalb  Liegende  trans- 
cendental  zu  nennen,  nur  unsere  Wahrnehmungs- 
fähigkeit reiche  nicht  daran.  Dennoch  sei  es 
ein  logischer,  vemunflgemässer  Schluss,  dass  das 
ausser  unserer  Wahrnehmung  Liegende  dieselben 
Bedingungen  in  sich  trüge,  und  sich  nach  den- 
selben Gesetzen  bewege,  wie  das  uns  Erkenn- 
bare, dass  also  da  nicht  von  transcendental  die 
Rede  sein  könne.  Und  um  wie  viel  weniger 
noch  sollten  wir  die  herrliche  Macht  des  Ge- 
dankens in  ein  unhaltbares  transcendentales 
Grebiet  verweisen,  der,  eine  enge  Form  nach  der 
anderen  abwerfend,  siegreich  durch  die  Nacht 
der  Zeiten  vorwärtsschreite  zu  immer  grösserer 
Klarheit.  Es  scheine  mir  das  nur  der  alte  Hoch- 
mut der  Menschen  zu  sein,  der,  nachdem  die 
Theorie  der  Abstammung  vom  Affen  die  der 
Einblasung  göttlichen  Odems  zerstört  habe,  sich 
nun  in  die  vornehme  Abweisung  des  Metaphy- 
sischen, Transcendentale  flüchte,  und  sich  nur  an 


—      62      — 

das  Experiment  halte  —  an  die  oft  so  armselige 
Tatsache  I 

Und  was  doch  gerade  die  frühere  Schrift 
Nietzsches  »Schopenhauer  als  Erzieher«  so  hoch 
stellte,  war,  dass  er  es  darin  aussprach,  die 
Kultur  habe  einen  metaphysischen  Zweck  I 

Mit  dem  beginnenden  Frühjahr  schieden  R6e 
und  Brenner,  um  ein  jeder  in  seine  Heimat 
zurückzukehren.  Nietzsche  und  ich  blieben 
allein,  etwas  in  Not  wegen  unserer  Abende,  da 
wir  beide,  augenleidend,  nun  unseres  trefflichen 
Vorlesers  beraubt  waren.  Aber  Nietzsche  sagte 
fröhlich:  >Nun,  da  wollen  wir  desto  mehr  zu- 
sammen reden.«  Und  so  geschah  es  auch,  denn 
es  fehlte  nie  an  reichem  Stoff  zu  Gesprächen. 
So  sprachen  wir  u.  a.  einmal  über  die  »Braut 
von  Korinth«  und  Nietzsche  bemerkte,  Groethe 
habe  dabei  an  die  alte  Sage  vom  Vampyr  ge- 
dacht, die  antik,  und  schon  von  den  Griechen 
gekannt  gewesen  sei,  und  habe  es  damit  ver- 
sinnlichen wollen,  wie  die  Sitten  und  Sagen  des 
Altertums  sich  in  der  christlichen  Welt  zu 
spukhaften  Dingen  verdunkelten,  und  wie  die 
finstere  Wendung,  welche  das  Christentum  sehr 
bald  nach  seiner  Entstehung  nahm,  die  schöne 
freie  Sinnenwelt  der  Griechen  verunstaltete,  und 
das  blühende  natürliche  Leben  in  Moderduft  und 
Gerippenkultus  verkehrte.  >Ja,«  sagte  ich,  >man 
muss  nur  auch  immer  daran  denken,  dass  das 
historische  Christentum  in  den  Katakomben 
geboren  ist.« 

Ein    anderes    Mal    sprachen    wir    über    >die 


-    63    - 

natürliche  Tochter«  von  Goethe  und  ich  sagte, 
ich  fände  es  darin  so  wunderschön,  dass  in  den 
Dialogen  ein  jeder  immer  den  höchsten  Inhalt 
von  seinem  Gesichtspunkt  aus  erfasse  und  ver- 
teidige, weshalb  eigentlich  ein  jeder  recht 
habe,  wie  z.  B.  im  Gespräch  des  Herzogs  und 
des  Weltgeistlichen,  in  dem  der  Eugenie  und 
des  Mönchs  etc.  Nietzsche  sagte,  dass  Goethe 
dasselbe  bei  Sophokles  gefunden  hätte,  dessen 
Personen  sprächen  alle  so  schön  und  würdevoll, 
dass  sie  uns  alle  überzeugten. 

Bei  Gelegenheit  einer  Unterhaltung  über 
Groethe  und  Schiller  meinte  Nietzsche,  Goethe 
habe  in  Schiller  die  gewaltige  ihm  höhere  Natur 
geehrt,  und  Schiller  in  Goethe  den  gewaltigen 
ihm  höheren  Künstler.  Ich  gab  nicht  zu,  dass 
Goethe  die  minder  hohe  Natur  gewesen  sei,  nur 
war  er  die  glücklichere,  zur  Harmonie  gelangte, 
während  wir  in  Schiller  die  hohe  sittliche  Kraft 
verehren,  die  mit  dem  Leiden  ringt,  und  sich 
siegend  aus  ihm  erhebt. 

Noch  an  einem  anderen  Abend  kam  das 
Gespräch  auf  Don  Quichote.  Nietzsche  tadelte 
es,  dass  Cervantes  die  eigentlich  ideale  Figur, 
den  Menschen  mit  idealem  Streben,  zum  Spott 
der  Alltagswelt  werden  lässt,  anstatt  dem  Gegen- 
teil, und  meinte,  das  Buch  habe  wohl  nur  einen 
literarischen  Zweck  gehabt,  dem  Lesen  schlechter 
Ritterromane  Einhalt  zu  tun.  Ich  dagegen  ver- 
stand das  Buch  dahin,  dass  der  Mensch  mit 
idealen  Bestrebungen,  wenn  er  sie  in  einer  ana- 
chronistischen Form  vorbringt  ganz  natürlich  in 


-    64    - 

der  Alltagswelt,  welche  die  idealen  Absichten 
überhaupt  nicht  versteht,  zum  Narren  und  zur 
Karikatur  wird.  Und  andererseits  schien  es  mir 
auch,  dass  das  Buch  aus  der  ungeheuersten 
Menschenverachtung  hervorgegangen  ist,  aus  der 
hohnlächelnden  Ironie,  mit  welcher  der,  der  die 
Welt  versteht,  auf  den  armen  Idealisten  sieht, 
der  glaubt  in  einer  solchen  Welt  Ideale  ver- 
wirklichen zu  können. 

Zuweilen  gelang  es  uns  doch,  auch  ein  wenig 
zusammen  zu  lesen,  so  eines  Tages  die  Sakun- 
tala,  die  Nietzsche  noch  nicht  kannte.  Er  hatte 
bei  den  ersten  vier  Akten  viel  einzuwenden, 
fand  zunächst  die  tragische  Motivierung  zu 
leicht,  und  das  Verdienst  des  Dichters  zu 
gering,  da  der  ganze  Hintergrund  von  Blumen, 
Tierleben  und  Büsserhainen  etc.  Indien  an- 
gehöre, und  nicht  ihm.  Aber  wäre  es  nicht 
eher  ein  Fehler,  wenn  ein  dramatisches  Werk 
des  lokalen  Hintergrunds  entbehrte,  keine  lokale 
Färbung  hätte?  Ist  es  besser,  wenn  der  Dich- 
ter das  alles  mit  der  Phantasie  schaffen  muss, 
was  Kalidäsa  aus  eigener  Anschauung  kannte, 
und  es  ganz  natürlich  darstellte,  so  duftig,  zart 
und  farbenprächtig  wie  Indien  selbst?  Ferner 
fand  Nietzsche  das  Schuldmotiv  zu  leicht. 
Aber  spricht  sich  darin  nicht  gerade  das  tiefe, 
zarte  seelische  Empfinden  der  Inder  aus?  Sa- 
kuntala  liebt  zu  sehr,  vergisst  in  ihrer  Liebes- 
ekstase die  heiligste  der  Pflichten,  die  der  Gast- 
freundschaft, und  dafür  trifft  sie  der  Fluch  der 
Gekränkten;     der    Sinn    des    Königs    wird   mit 


-    6s    - 

Blindheit  geschlagen,  sodass  er  sie  nicht  mehr 
kennt  und  sie  muss  nun  im  Leiden  ihre  Liebe 
von  aller  Selbstsucht  reinigen  und  ihre  Heiligung 
vollbringen.  Dann  ist  der  Fluch  gelöst  und  sie 
darf  das  Glück  vollendeter  Seelen  gemessen.  Hat 
die  griechische  Tragödie  das  Schuldmotiv  tiefer 
gefasst?  Antigone  verletzt  auch  wie  Sakuntala 
das  Gesetz  aus  Liebe  und  muss  dafür  sterben. 
Ethisch  ist  hier  vielleicht  die  indische  Auffassung 
noch  die  höhere,  denn  sie  gewährt  die  Vollendung 
durch  die  Busse. 

Wir  sprachen  über  den  Spruch  Schillers: 
»Gemeine  Naturen  zahlen  mit  dem  was  sie  tun, 
edle  mit  dem  was  sie  sind«,  und  kamen  auf 
Dichter  im  allgemeinen  und  auf  Mazzini.  Aber 
Mazzini  zahlte,  und  Dichter  zahlen  auch  mit  dem 
was  sie  tun,  nur  mit  dem  Unterschied,  das  der 
Dichter  sein  Tun  auf  seine  tragischen  Personen 
überträgt,  in  ihnen  fühlt,  handelt,  leidet,  während 
Mazzini  die  tragische  Persönlichkeit  selbst  war, 
die  nur  der  idealen  Tat  willen  das  herbste 
Leiden  auf  sich  genommen  hatte.  Nietzsche 
sagte,  dass  er  unter  allen  Leben  am  meisten 
das  Mazzinis  beneide,  diese  absolute  Konzen- 
tration auf  eine  einzige  Idee,  die  gleichsam 
eine  gewaltige  Flamme  werde,  an  der  das  Indi- 
viduelle verbrenne.  Der  Dichter  befreit  sich 
von  der  Tatgewalt,  die  in  ihm  ist,  indem  er 
sie  in  Gestalten  inkarniert,  und  Tun  und  Leiden 
ausser  sich  setzt.  Er  ist  wie  der  Wille  selbst, 
er  muss  sich  objektivieren,  den  Drang  zur  Tat 
in     Erscheinungen    ausströmen;     jedes     Gefühl, 

Meysenbug,  IV.  5 


—    66    — 

jede  Leidenschaft  ist  in  ihm  als  Fähigkeit  da, 
daher  kann  er  alle  Verschiedenheit  der  Wesen 
darstellen,  nachdem  er  ihre  Not,  ihre  Schuld, 
ihren  Schmerz  mit  durchgemacht  hat.  Er  erlöst 
sich  wie  der  Wille,  indem  er  sich  objektiviert. 
Mazzini  objektivierte  sich  durch  sein  Leben, 
welches  eine  unausgesetzte  Tat  der  edelsten 
Individualität  war. 

Eines  Tags  kam  Nietzsche  mit  einem  grossen 
Paket  beschriebener  Blätter  in  der  Hand  und 
sagte  mir,  ich  möge  sie  doch  einmal  lesen,  es 
seien  Gedanken,  welche  ihm  auf  seinen  einsamen 
Spaziergängen  gekommen  wären,  besonders  be- 
zeichnete er  mir  einen  Baum,  wenn  er  unter 
dem  stände,  fiele  ihm  immer  ein  Gedanke  her- 
unter. Ich  las  die  Blätter  mit  grossem  Interesse, 
es  waren  herrliche  Gedanken  darunter,  besonders 
solche,  die  sich  auf  seine  griechischen  Studien 
bezogen,  es  waren  aber  auch  andere,  die  mich 
befremdeten,  die  gar  nicht  zu  Nietzsche,  wie  er 
bisher  gewesen,  passten  und  mir  bewiesen,  dass 
jene  positivistische  Richtung,  deren  leise  Anfänge 
ich  sehon  im  Laufe  des  Winters  beobachtet 
hatte,  anfing  Wurzel  zu  fassen,  und  seinen  An- 
schauungen eine  neue  Gestalt  zu  geben.  Ich 
konnte  nicht  umhin,  ihm  etwas  darüber  zu  sagen, 
und  bat  ihn  herzlich,  diese  Sachen  noch  ruhen 
zu  lassen,  um  sie  nach  längerer  Zeit  wieder 
durchzusehen,  ehe  er  sie  in  den  Druck  gäbe.  Ich 
sagte  ihm,  dass  er,  besonders  was  die  Frauen 
beträfe,  noch  keine  endgültigen  Aussprüche  fällen 
dürfe,     weil    er    noch    viel    zu    wenig    Frauen 


-    67    - 

wirklich  kenne.  Die  französischen  Moralisten  hätten 
das  Recht  gehabt,  positive,  durchaus  gültige 
Urteile  auszusprechen,  weil  sie  die  Gesellschaft, 
in  der  sie  lebten,  bis  auf  den  Grund  kannten, 
und  ihre  Bemerkungen  wohl  auch  nur  auf  diese 
anwendeten;  aber  ohne  eine  solche  langjährige, 
genaue  und  vielseitige  Beobachtung  sei  es  nicht 
ratsam  fiir  höhere  InteUigenzen  sich  über  psycho- 
logische Vorgänge  so  bestimmt  und  ein  für  alle- 
mal auszusprechen.  Ich  zitierte  ihm  einen  Aus- 
spruch R^es  aus  dessen  früher  erwähntem  Buch, 
welcher  mir  sehr  zuwider  und  sicher  falsch  sei, 
dass  Frauen  immer  die  Männer  vorzögen,  welche 
ihr  Leben  schon  mannigfach  genossen  hätten. 
Nietzsche  lächelte  über  meine  Entrüstung  und 
sagte:  »Aber  glauben  Sie  denn,  dass  es  einen 
einz^en  jungen  Mann  gibt,  der  anders  denkt?« 
Ich  war  recht  böse  und  betrübt,  das  von  ihm 
zu  hören,  und  sagte  ihm  auch,  dass  mir  das  ein 
neuer  Beweis  sei,  wie  er  die  Frauen  doch  nur 
oberflächlich  kenne,  und  dass  ihm  daher  noch 
kein  allgemeines  Urteil  zustehe.  Doch  kamen 
wir  nachher  wieder  in  unser  griechisches  Fahr- 
wasser, und  waren  gute  Freunde  wie  zuvor. 
Leider  fand  ich  jene  Sätze  nur  zu  bald 
veröffentlicht,  in  einer  Schrift  »Menschliches, 
Allzumenschliches«  betitelt;  aber  mein  Glaube 
an  Nietzsches  hohe  Begabung  war  zu  fest, 
um  dies  alles  anders  als  wie  als  vorüber- 
gehende Phasen  seiner  Entwicklung  anzusehen, 
aus  denen  seine  Idealität  siegend  hervorgehen 
werde. 


—    68    — 

Unendlich  traurig  aber  war  es,  dass  seine 
Gesundheit  sich  in  nichts  gebessert  hatte,  ja, 
dass  die  Anfälle  seines  Leidens,  die  schreck- 
lichen Kopf-  und  Augenschmerzen  mit  der  zu- 
nehmenden Wärme  noch  häufiger  wurden  u^d 
ihn  oft  nötigten,  Tage  und  Nächte  hindurch  in 
endlosen  Qualen  zu  Bett  zu  liegen.  Sein  Ver- 
trauen auf  den  Süden  erlosch,  und  mit  derselben 
Inbrunst  der  Zuversicht,  wie  er  dieser  Reise 
entgegengesehen  hatte,  sah  er  nun  der  Rück- 
kehr in  die  Eisregionen  der  Alpenwelt  entgegen 
und  beschleunigte  seine  Abreise.  Ich  war 
schmerzlich  bewegt  um  dieser  fehlgeschlagenen 
Hoffnung  willen,  konnte  ihn  aber  doch  nicht 
zurückhalten,  da  sich  auch  die  liebevollste  Sorge 
als  ohnmächtig  gegen  die  Gewalt  des  Übels  er- 
wiesen hatte  und  man  also  mit  ihm  hoffen  musste, 
dass  Veränderung  doch  vielleicht  Besserung 
bringen  könne.^  .  5 

So  schied  er,  und  ich  blieb  allein  zurück, 
verlebte  noch  einige  herrliche  Wochen  in  der 
zauberischen  Einsamkeit  des  paradiesischen  Ortes, 
und  entschloss  mich  schwer  zu  gehen.  Ich  blieb 
noch  ein  paar  Tage  in  Neapel,  um  einen  lang 
gehegten  Wunsch  auszuführen,  nämlich  den  Vesuv 
zu  besteigen,  freilich  nur  bis  zum  Observatorium, 
da  ich  mich  allein  doch  nicht  bis  zum  Krater 
wagen  wollte.  Aber  auch  dies  war  schon  hoher 
Eindruck  und  Genuss.  In  dieser  schwarzen 
Lavawelt  regte  die  Phantasie  mächtig  ihre  Flügel ; 
man  schien  sich   in   einem  Bereich  versteinerter 


-     69    - 

Höllenungetüme  zu  befinden,  Riesenschlangen, 
Molche  und  Skorpione  lagen  da  in  chaotischem 
Durcheinander,  wie  von  einem  plötzlichen  Macht- 
gebot erstarrt ;  die  Vegetation  hatte  dies  grausige 
Gebiet  geflohen,  nur  der  Ginster  wuchs  zwischen 
den  Schlacken  empor  und  erhob  seine  gold- 
farbigen Blüten  tröstend  über  dem  Leichenfeld. 
Oben  aber  auf  dem  Observatorium  breitete  sich 
die  Herrlichkeit  der  Welt  zu  meinen  Füssen  aus. 
Vor  mir  lag  der  wundervolle  Golf,  von  den 
Gluten  des  Abendhimmels  übergössen,  seitwärts 
sah  man  in  die  Gebirgswelt  hinein,  in  welcher 
die  herrlichsten  Farbentöne  im  Wechsel  der 
Lichter  und  Schatten  erschienen ;  alles  war 
Leben,  Licht,  Farbe,  Freude,  und  der  Mensch, 
überwältigt  von  der  siegenden  Schönheit,  schmiegt 
sich  immer  von  neuem  an  das  Herz  des  won- 
nigen Verräters,  den  goldigen  Erdentraum, 
aller  Gefahr  vergessend,  immer  aufs  neue  zu 
träumen. 

In  freudiger  Rührung,  der  Schönheit  des 
Daseins  huldigend,  stieg  ich  hinab,  verliess 
Neapel,  eilte  durch  Italien,  um  mich  in  die 
Schweiz  zu  begeben,  wohin  Olga  mit  ihrer 
Familie  zum  sommerlichen  Rendez-vous  zu  kom- 
men versprochen  hatte.  Ich  wählte  diesmal  den 
Weg  über  den  Splügen,  da  ich  die  meisten 
Alpenübergänge  schon  kannte,  hielt  mich  einen 
Tag  in  Chiavenna*)  auf,  nahm  mir  einen  Wagen, 


*)  Siehe    > Stimmungsbilder c    der   Verfasserin   (Schuster 
&  Loeffler,  Berlin). 


—  ro- 
und begab  mich  mit  meiner  treuen  Dienerin 
auf  die  Fahrt  über  die  eisigen  Höhen.  Es  war 
nicht  schön  da  oben,  eine  freudlose  Oede,  an 
den  weiten  Schneefeldern  vorüber,  kein  sonniger 
Tag.  und  keine  grossartige  Aussicht.  Es  war 
Ende  Juni,  aber  so  kalt,  dass  ich,  um  mich  zu 
wärmen,  eine  Zeit  lang  zu  Fuss  ging.  Da  fand 
ich  am  Rand  des  Eises  eine  weisse  Alpenrose, 
die  seltener  sind  als  die  roten ;  ich  pflückte  mir 
das  arme  Kind  der  Eisregion  zum  Andenken, 
und,  ergriffen  von  dem  ungeheuren  Kontrast, 
den  ich  in  kaum  acht  Tagen  durchlebte,  schrieb 
ich  in  mein  Tagebuch: 

»An  dem  Saume  ew'ger  Eisgefilde 

Lag  ich  stille  träumend 

In  der  Knospe  Schoss. 

Doch  den  Kelch  erschloss  mir 

Langsam,  Sonne  dein  Strahl, 

Oh  warum  mich  wecken 

Zu  dem  kurzen  Dasein? 

Nicht  mit  holder  Röte 

Färbst  du  mein  bleiches  Antlitz, 

Nicht  zu  seliger  Liebe 

Gibst  du  heilige  Glut  mir, 

Nahe  bei  der  Vernichtung 

Starrendem  Eise  wohn  ich. 

Trage  seine  Farbe 

Und  vergebens  küssest 

Du  mir  matt  die  Stirn. 

Ach  aus  schönem  Traume 


—    71     — 

Hast  du  mich  gestört, 

Fern  auf  sonniger  Höhe, 

Sah  ich  glänzend  leuchten 

Goldenen  Ginsters  Pracht, 

Der  an  Feuersbrüsten 

Flammennahrung  sich  trank 

Und  mit  strahlenden  Sonnen 

Liebende  Schwüre  getauscht. 

Ihm  zu  Füssen  die  Welt 

Lag  in  göttlicher  Schöne; 

Lächelnde  Fülle  des  Seins 

Nahm  dem  Tod  selbst  den  Stachel, 

Denn  ihm  droht  auch  ein  Grab; 

Schwarze  Todesgeburten 

Starren  mahnend  ihn  an. 

Aber  sie  deckten  mit  Nacht 

Eine  Welt,  die  gelebt, 

Die  geliebt  und  genossen 

Höchsten  Daseins  Entfaltung. 

Ja  im  holden  Wahnsinn 

Seliger  Täuschung  vergehen  — 

Oh  beneidenswert  Los! 

Aber  des  Nichts  graunvollem  Abbild 

Ewig  ins  Antlitz  zu  schauen  — 

Matter  sonniger  Strahl 

Warum  wecktest  du  mich? 

Ist  dies  hier  die  Wahrheit? 

Oh  so  gib  mir  die  Lüge, 

Gib  mir  nur  einen  Tag, 

Wo  im  Geist  und  der  Liebe 

Sich  mir  Vollendung  genaht  — 

Und  dann  lösch  eilig  die  Fackel.  — 


und    be^ 


.  m  len 


,f  die 
Tag," 


nicht  s<  ■    -  -    -=2  ^=^  ^ 


den  we  -   -  ,__ 


Ende  J' 
wärmei 
ich  am 
die  seil 
das  an 
und,  ei 
den  icli 
ich  in  ) 


Ein  römisches  UylL 

Wenn  man  sich  in  Rom  da  sein  Nest  gebaut 
hat,  wo  die  Fülle  des  Malerischen  und  charakte- 
ristich  Römischen  noch  nicht  durch  die  moderne 
Bau-Invasion  verdorben  ist,  so  kann  man  noch 
römische  Idyllen  erleben,  die  an  jene  unvergess- 
lich  schöne  Zeit  erinnern,  wo  Rom,  wie  ein 
Märchen  aus  alten  Tagen,  wie  eine  von  der 
rollenden  Zeit  vergessene,  zaubervolle  Sage, 
inmitten  der  modernen  Welt  dalag,  ein  Ort  zur 
Beschaulichkeit  und  zum  Träumen  geeignet,  wie 
kein  anderer  in  der  Welt.  So  ist  wirklich 
mein  Nest.*) 

Rings  um  mich  bauen  sich  jene  grossartigen 
Trümmerfelder  auf,  über  denen  die  Weltgeschichte 
wie  mit  ausgebreiteten  Flügeln  zu  schweben 
scheint,   ein   melancholisches  memento  mori  für 


'*')  Leider   nun   auch   durch  Neubaaten   verdorben.     Anm. 
d.  Verf. 


—  n  — 

I^nunter  kam  ich  an  die  via  mala,  an  den 
jugendlichen  rauschenden  Rhein  und  das  erhaben 
Düstere  und  doch  Belebte  dieser  grandiosen 
Strasse  erfrischte  mich  wieder,  und  heiter  eilte 
ich  dem  Thuner  See  zu,  um  mich  mit  den 
geliebten  Freunden  zu  vereinen. 


Ein  römisches  Idyll. 

Wenn  man  sich  in  Rom  da  sein  Nest  gebaut 
hat,  wo  die  Fülle  des  Malerischen  und  charakte- 
ristich  Römischen  noch  nicht  durch  die  moderne 
Bau-Invasion  verdorben  ist,  so  kann  man  noch 
römische  Idyllen  erleben,  die  an  jene  unvergess- 
lich  schöne  Zeit  erinnern,  wo  Rom,  wie  ein 
Märchen  aus  alten  Tagen,  wie  eine  von  der 
rollenden  Zeit  vergessene,  zaubervolle  Sage, 
inmitten  der  modernen  Welt  dalag,  ein  Ort  zur 
Beschaulichkeit  und  zum  Träumen  geeignet,  wie 
kein  anderer  in  der  Welt.  So  ist  wirklich 
mein  Nest.*) 

Rings  um  mich  bauen  sich  jene  grossartigen 
Trümmerfelder  auf,  über  denen  die  Weltgeschichte 
wie  mit  ausgebreiteten  Flügeln  zu  schweben 
scheint,   ein   melancholisches  memento   mori  für 


*)  Leider   nun   auch    durch  Neubaaten   verdorben.     Anm. 
d.  Verf. 


—     74    — 

die  Gegenwart,  während  die  sich  ewig  erneuernde 
Natur  mit  ihrem  tröstenden  Grrün  reizvoll  die 
zerfallenen  Mauerwerke  überzieht.  Da  ist  das 
Forum,  der  Palatin,  das  Kolosseum  und  in  der 
Ferne  blaut  die  sanfte  Linie  des  Albanergebirges. 
Will  man  nun  an  diesen  herrlichen  Frühlings- 
tagen einen  Spaziergang  in  der  Morgenfrühe 
machen,  so  hat  man  zu  wählen  zwischen  so 
vielem  Schönen.  Ich  fange  mit  dem  Platz 
S.  Pietro  in  Vincoli  an,  der  auch  neben  meiner 
Wohnung  liegt.  Es  ist  ein  vornehmer  Platz  in 
seiner  Abgeschlossenheit  und  Ruhe,  auf  der 
einen  Seite  die  gleichnamige  Kirche  mit  dem 
Haus  der  dazu  gehörigen  geistlichen  Herren, 
gegenüber  das  Kloster  der  Maroniten,  der 
Mönche  vom  Libanon,  in  deren  Garten  eine  der 
grössten  Palmeji  Roms  steht,  hinter  welcher 
man  im  bläulichen  Duft  in  der  Ferne  die  Acqua 
Paola  auf  dem  Janiculum  und  davor  das  Kapitol 
mit  seinem  Turm  sieht.  Die  dritte  Seite  des 
Platzes  ist  von  einem  alten  Palast  begrenzt,  der 
einst  den  Borgia  gehörte.  Die  Mutter  der 
Lucrezia  wohnte  dort  und  er  hat  etwas  Un- 
heimliches durch  eine  dunkle  Bogenwölbung, 
unter  welcher  eine  steinerne  Treppe  in  die  tief 
unten  liegende  Strasse  führt.  Unwillkürlich  malt 
sich  die  Phantasie  allerlei  Schreckbilder  aus  von 
den  dunklen  Taten,  die  zur  Zeit  der  Borgia 
unter  diesem  Bogen,  zwischen  den  schwarzen 
feuchten  Mauern,  geschehen  sein  mögen;  die 
Neuzeit  aber  hat  sie  entsühnt,  indem  das  Ge- 
bäude  dem   polytechnischen  Institut  eingeräumt 


—    75    — 

wurde.  Die  vierte  Seite  des  Platzes  ist  von 
dem  Garten  der  Maroniten  voll  herrlicher  Bäume 
eingefasst;  es  ist  wenig  Verkehr  dort,  immer 
gute  reine  Luft  und  jetzt  erfüllt  ihn  Duft  der 
Orangenblüten  aus  dem  Garten  hinter  der  Kirche 
herwehend. 

Es  lohnt  sich  der  Mühe,  auf  diesem  schönen, 
stillen  Platz  wandelnd,  den  Tag  zu  beginnen. 
Hier  stört  den  Morgenfrieden  kein  lautes  Gewühl 
des  Marktes,  noch  das  dumpfe  Gerolle  schwer- 
beladener Karren,  oder  die  ohrenzerreissenden 
Stimmen  der  Ausrufer  von  Zeitungen,  Gemüsen, 
Obst  und  dergl.  —  Es  sind  nur  gute,  stille  Be- 
schäftigungen, welche  hier  den  Tag  anfangen. 
Da  schleicht  ein  altes  Mütterchen  herbei,  tritt 
in  die  Kirche  zum  Gebet,  um  dann  die  Last 
des  Alters  am  Tag  leichter  zu  tragen.  Ein 
junges  Mädchen  geht  auch  dahin,  vielleicht  um 
von  der  Madonna  Stärkung  zur  Arbeit  oder 
Kraft,  der  Versuchung  zu  widerstehen,  zu  er- 
bitten. Eben  kommt  ein  alter  Mann  herbei,  an 
jeder  Hand  ein  kleines  Enkelkind,  und  tritt  in 
den  heiligen  Raum  ein.  Er  kniet  nieder,  die 
Kleinen  knien  neben  ihm,  falten  ihre  Händchen 
und  schauen  mit  grossen,  ernsten  Augen  hinauf 
zu  dem  Gewölbe  der  Kirche,  als  möchten  sie 
den  lieben  Gott  doch  auch  sehen,  zu  dem  der 
Grossvater  sie  beten  lehrt,  und  dessen  Schutz 
er  sie  empfiehlt,  denn  sie  sind  Waisen  und  wer 
kann  sagen,  wie  lange  der  greise  N  o  n  n  o  noch 
für  sie  wird  sorgen  können.  Mir  scheint  es, 
als  ob  über  die  Züge  des  gewaltigen  Moses  von 


-    76    - 

Michel  Angelo  —  der  in  dieser  Kirche  seit  drei 
Jahrhunderten  sitzt  und  mit  erhabenen!  Zorn 
auf  die  Menschheit  schaut,  welche  immer  noch 
um  das  goldene  Kalb  tanzt,  —  als  ob  über  die 
strengen,  marmornen  Züge  ein  menschliches 
Rühren  flöge  und  der  Zorn  für  Augenblicke  dem 
unendUchen  Erbarmen  mit  diesen  stillen  Betern 
Platz  mache,  die  in  der  Not  des  Lebens  keine 
andere  Zuflucht  wissen  als  zu  der  unsichtbaren 
Macht,  die  sie  in  Tempelhallen  gegenwärtig 
glauben. 

Vor  der  Kirche  beginnt  nun  aber  anderes 
Leben  sich  zu  regen.  Jünglinge  der  bürgerlichen 
Stände  ziehen  ernst  und  sittsam  dem  Poly- 
technikum zu,  um  ihren  Studien  obzuliegen. 
Von  verschiedenen  Seiten  wandern  Mütter  odqr 
Dienstmädchen  herbei,  um  die  kleinen  Kinder 
zu  den  Kommunalschulen,  deren  sich  einige  in 
der  Nähe  befinden,  zu  führen ;  niemals  gehen 
die  Kinder,  auch  die  ärmsten  nicht,  allein,  immer 
ist  ihnen  die  Begleiterin  zur  Seite,  neben  der 
sie  verständig  und  artig  einher  gehen,  ihre  Schul- 
bücher tragend,  oft  auch  ein  Sträusschen  Blumen 
für  die  Lehrerin,  da  die  freigebige  Natur  hier 
auch  dem  Armen  so  liebliche  Aufmerksamkeiten 
möglich  macht.  Nun  zieht  aber  etwas  anderes, 
den  Kindern  freilich  nicht  zu  Fernes,  den  Blick 
des  still  Wandelnden  auf  sich.  In  der  dunklen 
Wölbung  des  Borgiabogens  erscheinen  plötzlich 
zwei  Hörner,  und  nach  ihnen  der  mächtig  grosse 
Kopf  eines  Ziegenbocks,  der  gravitätisch,  im 
stolzen   Gefühl    seiner  Feldmarschallswürde,    die 


—  n   — 

steile  Treppe  erklommen  hat;  ihm  folgt  ein 
langer  Zug  von  schwarzen,  weissen,  grauen 
Ziegen,  welche  das  finstere  Gemäuer  furchtlos 
passieren,  um  den  gewohnten  Weg  gerade  über 
den  Platz  in  die  gegenüber  mündende  Strasse 
fortzusetzen.  Hinter  ihnen  her  kommt  der  Hirte, 
das  zottige  Fell  an  den  Hosen,  in  der  einen 
Hand  den  langen  Stab,  mit  dem  er  die  säumen- 
den Tiere  zum  Marsche  antreibt,  in  der  andern 
das  Blechgeschirr,  in  das  er  vor  den  Häusern 
seiner  Klienten  die  Milch  melkt.  Dies  war  alte 
römische  Sitte  und  erinnert  an  patriarchalische 
Zustände  vergangener  Zeiten.  Noch  ist  aber 
der  feierliche  Zug  nicht  ganz  vorüber,  da  zieht 
von  der  tieferen  Strasse  neben  dem  Maroniten- 
kloster  herauf  ein  neuer  ebenso  feierlicher  Zug 
von  lauter  schwarzen,  schönen  Ziegen.  Die 
ehrwürdigen  Häupter  des  Zugs  schreiten  wacker 
voran  und  sind  schon  beinah,  den  ersten  Zug 
kreuzend,  über  den  Platz  hinüber,  als  sie  plötz- 
lich gewahr  werden,  dass  die  jungen  Zicklein 
stehen  geblieben  sind,  und  sich  neugierig  nach 
dem  Hirten  umsehen,  welcher  unten  an  der 
aufwärts  steigenden  Strasse  angehalten  hat  und 
mit  einer  Frau  spricht.  Ob  nun  die  Alten  es 
nicht  leiden  mögen,  dass  die  jungen  Geschöpfe 
so  vorwitzig  sind,  und  gleich  wissen  wollen,  was 
sich  für  ihr  Alter  vielleicht  noch  gar  nicht  passt 
—  genug  sie  machen  Halt  und  es  beginnt  ein 
gewaltiges  Meckern,  das  crescendo  heranwächst 
bis  zu  einem  ganz  gebieterischen  Ruf.  »Chiamano 
i  figli«    (sie  rufen   die  Kinder)   sagt  neben    mir 


-    7^    - 

ein  alter  Strassenkehrer,  den  ich  jeden  Morgen 
wegen  seiner  Sorge  für  die  Reinlichkeit  des 
Platzes  lobe,  mit  solcher  Innigkeit  im  Ton  der 
Stimme,  dass  man  sah,  er  wisse,  was  Vatersorge 
um  das  Wohl  der  Kinder  ist.  Nun  kommen  sie 
auch  angetrabt,  die  jungen  Schelme,  und  die 
Ehrwürdigen  wenden  sich  zum  Weitergehen,  da 
jetzt  auch  der  Hirte  langsam  schreitend  naht. 
Auch  er  trägt  die  zottigen  Hosen,  die  lange 
dunkle  Jacke  und  hat  den  breitkrämpigen  Hut 
tief  auf  die  Stirn  gedrückt  und  den  langen  Stab 
immer  horizontal  unter  dem  Arm,  ein  Zeichen, 
dass  er  gut  und  geduldig  ist  und  ein  hinkendes 
Tier,  wenn  es  nicht  recht  fort  kann,  nicht  gleich 
schlägt,  wie  es  der  andere  Hirte  tut.  Wenn 
er  an  mir  vorüber  kommt,  wirft  er  mir  einen 
Seitenblick  zu,  und  ein  leises  Nicken  des  Kopfes 
bedeutet  einen  dankenden  Gruss,  da  er  sieht, 
wie  ich  seine  schwarzen  Ziegen  bewundere. 

Nachdem  ich  noch  einem  jungen  Mädchen, 
das  auf  den  Kirchenstufen  sitzt  und  eifrig  an 
einem  Strumpf  strickt,  guten  Morgen  gewünscht 
habe,  wandere  ich  dem  Wäldchen  zu,  welches 
hinter  dem  Kolosseum  seine  grünen  Schatten  zum 
Schutz  gegen  die  steigende  Sonne  bietet.  Es 
wird  so  oft  behauptet,  der  südliche  Frühling 
komme  dem  im  Norden  nicht  an  Reiz  gleich. 
Das  können  aber  nur  die  sagen,  welche  ihn  nie 
ganz  im  Süden  erlebt  haben.  Allerdings  ist  er 
nicht  das  Erwachen  aus  gänzlichem  Tod,  das 
langsame  Sichbesinnen  der  Natur,  dass  sie  den 
Menschen  doch  eine  Entschädigung  schuldig  ist 


—    79    — 

für  die  Entbehrungen  des  Winters;  es  ist  viel- 
mehr hier  das  freudige  Symbol  der  unaus- 
gesetzten Schaffenskraft  im  Weltall,  welche  neben 
dem  dunkeln  ernsten  Laub  der  Bäume,  das  nie 
abstirbt,  das  frische  jugendliche  Grün  oft  in  einer 
Nacht,  wie  mit  einem  Zauberschlag,  hervorlockt, 
und  den  Strom  des  reichen  Lebens  ver- 
schwenderisch ausgiesst  in  rasch  entfalteten 
Blüten,  gleich  als  wollte  sie  eifern  gegen  den 
menschlichen  Wahn,  dass  es  überhaupt  Ver- 
nichtung und  Tod  gäbe,  und  es  zur  tröstenden 
Gewissheit  machen,  dass  alles  ewig  ist. 

Aber  leider  war  das  liebe  Wäldchen,  das 
mir  so  oft  ein  freundliches  Asyl  ist,  heute 
gerade  von  den  Rekruten  besetzt,  welche  in 
der  Morgenfrische  da  eingeübt  wurden,  um  das 
von  niemand  angegriffene  Vaterland  zu  ver- 
teidigen, und  den  immer  von  neuem  proklamierten 
Weltfrieden,  bis  an  die  Zähne  bewaffnet,  glänzend 
zu  beweisen.  Zugleich  machten  die  Trompeter 
des  Regiments  ihre  Studien  mit  einem  so  ohren- 
zerreissenden  Eifer,  dass  das  grüne  Paradies  zur 
Hölle  wurde,  die  ich  mich  beeilte  zu  verlassen. 
Da  kam  ich  an  der  Kirche  von  San  Giovanni 
und  Paolo  vorüber,  welche  am  Ausgang  des 
Wäldchens  neben  einem  Kloster  der  Passionisten 
liegt.  Ich  trat  in  die  leere  Kirche  ein  und  in 
eine  nie  zuvor  betretene  Kapelle,  wo  gerade 
einer  der  Mönche  kehrte  und  reinigte.  Wieder 
wie  in  so  vielen  Kirchen  Roms,  war  auch  hier 
eine  verschwenderische  Pracht  kostbarer  Marmor- 
arten angebracht,  aber  ehe  ich  mich  noch  recht 


—     8o    — 

umsehen  konnte,  bemerkte  ich,  dass  der  Mönch 
die  Gittertür,  durch  die  ich  eingetreten  war, 
verschluss.  Ich  fragte  verwundert,  warum  er 
mich  einschliesse,  da  deutete  er  stumm  auf  eine 
kleine  Seitentür,  die  ich  nicht  bemerkt  hatte, 
und  die  durch  die  Sakristei  in  die  Kirche  zurück 
führte,  ging  aus  derselben  und  liess  sie  offen. 
Ich  sah  mich  nun  in  dem  reich  gezierten  Raum 
um  und  gewahrte  unter  dem  Altar  einen 
gläsernen  Sarg,  in  welchem  die  Leiche  des 
Stifters  des  Ordens  im  Ordenskleid  liegt.  Ihm 
ist  also  die  Kapelle  geweiht.  Ist  dies  Aufbe- 
wahren der  Erscheinung  nicht  etwas  dem  ägyp- 
tischen Todeskultus  Verwandtes,  gleichsam  als 
ob  die  entflohene  Seele  das  verlassene  Kleid 
wieder  aufsuchen  und  anziehen  würde,  wie  es 
ja  freilich  die  katholische  Kirche  auch  meint? 
Wer  hat  es  aber  nicht  schon  am  Totenbett 
geliebter  Menschen  erfahren,  wie  seltsam  fremd 
uns  alsbald  das  Bild  ansieht,  wenn  der  Hauch 
des  geistigen  Lebens  es  nicht  mehr  belebt? 
Wenn  es  uns  aber  dennoch  das  Herz  zerreisst, 
auch  dies  Vergängliche  von  uns  zu  lassen  und 
der  Verwesung  zu  übergeben,  so  ist  es,  weil 
damit  der  ewigen  Trennung  das  Siegel  aufgedrückt 
wird,  weil  das  Wesen,  um  dessentwillen  wir 
auch  das  Bild  geliebt,  uns  nie  mehr  erscheinen 
wird.  Goethe  hat  in  den  »Wahlverwandt- 
schaften« in  der  Kapelle  Ottiliens  die  Erhaltung 
des  Bildes  poetisch  verklärt,  aber  schöner  ist 
doch  der  Gebrauch  der  Alten,  das  Irdische 
durch  die  läuternde  Flamme  verzehren  zu  lassen 


—    8i     — 

und  die  Atome  dem  Kreislauf  des  Lebens  un- 
mittelbar zurückzugeben.  Doch  den  Passionisten, 
denen  das  Kloster  gehört,  hat  es  anders  ge- 
schienen, wie  das  Altarbild  beweist,  auf  welchem 
der  Stifter  des  Ordens  nicht  als  immaterielle 
Seele,  sondern  im  schwarzen  Ordenskleid,  wie 
er  da  unter  dem  Altar  liegt,  gen  Himmel  fliegt, 
wo  ihn  Christus,  inmitten  der  himmlischen 
Heerscharen,  mit  offenen  Armen  empfängt.  Das 
Bild  ist  modern,  ebenso  sind  es  die  Fresken, 
welche  die  Seitenwände  der  Kapelle  bedecken. 
Hier  ging  es  mir  aber  seltsam.  Als  ich  den 
Blick  zu  einer  dieser  Fresken  erhob,  fühlte  ich 
mich  plötzlich  von  Rührung  ergriffen.  Da  kniete 
die  Mutter  allein  vor  dem  dunklen  Felsengrab, 
den  Leichnam  des  Sohnes  auf  den  Knien  haltend, 
und  schaute  in  bitterem  vorwurfsvollen  Schmerz 
gen  Himmel.  In  der  Ferne  sah  man  Golgatha; 
die  drei  Kreuze  zeichneten  sich  scharf  ab  auf 
dem  feurig  rot  beleuchteten  Abendhimmel, 
während  die  Gruppe  vorn  im  Schatten  war. 
Jener  flammende  Himmel  schien  wie  ein  ewiges 
Verdammungsurteil  über  die  Menschen,  die 
immer  von  neuem  das  »Kreuziget,  kreuziget 
ihn«  rufen,  wenn  der  Genius,  der  ihnen  die  Er- 
lösung durch  Freiheit  und  Liebe  verkündet, 
unter  ihnen  erscheint.  Und  daneben  der  ein- 
same Todesschmerz  der  Mutter,  die  ihn  allein 
durch  die  Intuition  der  Liebe  verstanden  hat, 
und  der  Leichnam,  auf  dessen  Lippen  noch  das 
»es  ist  vollbracht«  zu  schweben  scheint ;  ja, 
vollbracht  das   ungeheure  Opfer  und   dabei  die 

Meysenbug,IV.  6 


—      82      — 

schwermutsvolle  Frage:  »waren  sie  es  wert, 
werden  sie  es  würdigen,  wird  es  ihnen  nützen?« 
—  Alles  das  ergriff  mich  tief  in  der  Weltent- 
rücktkeit dieser  Kapelle;  ich  wandte  mich  dem 
gegenüber  befindlichen  Fresko  zu  und  blieb  nicht 
weniger  bewegt  davor  stehen.  Da  kniete  er 
am  Öelberg,  der  vor  dem  letzten  Opfer  noch 
einmal  zurückbebende  Mensch  und  rang  mit 
seinem  Dämon,  der  ihn  zur  Entscheidung 
drängte,  und  in  dem  milden,  märchenhaften 
Licht,  welches  durch  das  feine  Laub  der  Oliven 
zitterte,  schwebte  der  Engel  heran,  der  ihm  den 
Kelch  der  Entsagung  und  des  Todes  brachte, 
aber  auch  der  Verheissung,  dass  denen,  die 
getreu  sind  bis  an  den  Tod,  die  Krone  des 
Lebens  werden  wird. 

Ich  beugte  mein  Haupt  vor  diesem  erhaben- 
sten Gedicht  der  Menschheit,  und  still  und  be- 
wegt trat  ich  durch  die  kleine  Tür  in  die 
Sakristei,  um  fortzugehen.  Da  standen  zwei 
Passionistenmönche  in  schwarzer  Tunika  und 
schwarzem  Skapulier,  auf  der  linken  Brust  den 
Namen  Jesu  und  ein  kleines  silbernes  Herz  mit 
einem  Kreuz,  und  sprachen  miteinander.  Sie 
sahen  erstaunt  auf  die  unerwartete  Erscheinung, 
die  da  so  plötzlich  aus  dem  verschlossenen 
Innern  des  Heiligtums  hervortrat.  Ich  aber 
dachte:  Verständet  Ihr  nur  alle  den  wahren 
Sinn  des  Mysteriums,  dessen  Behüter  Ihr  Euch 
wähnt,  da  würde  das  Erdenleben  zu  einem 
Idyll,  wie  es  mir  dieser  Morgen  war,  und  die 
Opfer   der    erlösenden   Liebe   vollbrächten    sich 


-    83    - 

nicht  mehr  am  Kreuz,  sondern  in  schöner  Frei- 
heit von  Mensch  zu  Mensch. 


Sehr  lebhaft  hatten  sich  mir  gerade  in  den 
Tagen  Betrachtungen  darüber  aufgedrängt,  wie 
wenig  das  Ideal  christlicher  Liebe  und  Eintracht 
in  jenem  Stand,  der  am  ersten  dessen  Vertreter 
sein  sollte,  verwirklicht  sei.  Gewiss  wenn  irgend 
eine  Institution  der  Geschichte  den  Eindruck 
einer  kompakten  Einheit  macht,  die  wie  ein 
organisches  Ganze  erwachsen  zu  sein  und  sich 
in  organischer  Ordnung  und  Harmonie  zu  be- 
wegen scheint,  so  ist  es  die  Hierarchie  der 
katholischen  Kirche,  und  doch  ist  dies  ein  voll- 
kommener Irrtum.  Kaum  haben  sich  von  jeher 
irgendwo  schroffere  Gegensätze,  tieferer  Hass, 
schlimmere  Verleumdungen  kundgegeben,  als  wie 
unter  den  Trägem  jener  Religion  der  Liebe, 
deren  Verkündigerin  die  Kirche  ist.  Und  nicht 
allein  den  Lebenden  gilt  der  Streit  und  der 
Hass,  —  auch  den  Toten.  Jetzt  eben  toben 
beide  wieder  um  eine  der  edelsten  Gestalten, 
welche  der  katholische  Klerus  in  der  Neuzeit 
aufzuweisen  gehabt  hat,  um  Antonio  Rosmini, 
den  philosophischen  Denker,  in  welchem  die 
Würde  des  wahrhaft  apostolischen  Priesters  ein- 
mal wieder  lebendig  geworden  war.  Er  lebte 
am  Lago  Maggiore,  und  in  seinem  Kollegium 
empfingen  viele  der  ausgezeichnetsten  Männer  des 
damaligen  Italiens  ihre  Bildung  und  blieben  seine 
Anhänger  und  Freunde.  Die  Jesuiten  aber 
machten  ihm  von  Anfang    an   einen   wütenden 

6* 


—    86    — 

samkeit  auf  dem  Gebiete  der  Erziehung  und  der 
hülfreichen  Barmherzigkeit.  Sie  verschmähen  es 
nicht  dem  Fortschritt  der  modernen  Wissenschaft 
eifrig  zu  folgen,  es  gibt  dort  mehrere  ausge- 
zeichnete Gelehrte  und  das  ganze  Streben  ist 
auf  reine  Frömmigkeit  im  wahren  Sinn  einer 
christlichen  Kirche  gerichtet.  Man  wird  dadurch 
an  die  reformatorische  Bewegung  erinnert,  welche 
in  Italien  am  Ende  des  XV.  und  Anfang  des 
XVI.  Jahrhunderts  stattfand.  Möchte  es  ihnen 
besser  geUngen  als  den  edlen  Vorkämpfern 
jener  Zeit,  und  möchte  sich  ein  Papst  finden, 
welcher  ihren  Feinden,  den  Sturmgeistern  der 
Kirche,  das  Wort  zuriefe,  das  Clemens  VEI., 
müde  der  ewigen  Wühlereien  mit  denen,  deren 
Vorgänger  den  Frieden  der  Welt  und  die  Ruhe 
der  Gewissen  störten,  diesen  zurief:  »Aufrührer, 
Ihr  seid  die  Störenfriede  in  der  Kirche  Gottes.« 


Ich  lebte  damals  in  sehr  häufigen  und  herz- 
lichen, besonders  aber  geistig  anregenden  Be- 
ziehungen zu  einer  eifrigen  Katholikin,  der  Fürstin 
Caroline  Wittgenstein.  Schon  bei  meinem  ersten 
Aufenthalt  in  Rom,  in  den  Wintern  der  Jahre 
64  und  65  (mit  den  beiden  Töchtern  Herzens) 
hatte  ich  ihre  Bekanntschaft  gemacht ;  wir  waren 
uns  aber  nicht  näher  gekommen,  obwohl  zu  der 
Zeit  die  damalige  römische  Gesellschaft  sehr  mit 
ihr  beschäftigt  war,  und  eine  förmliche  Partei- 
nahme für  und  gegen  sie  stattfand.  Es  war 
der  Augenblick,  wo  nun  endlich  durch  den  Tod 
des  Fürsten,  ihres  Gemahls,  alle  Hindernisse  ge- 


-    S7    - 

hoben  schienen,  welche  ihrer  Verbindung  mit 
Liszt,  der  grossen  Liebe  ihres  Lebens,  entgegen- 
gestanden hatten.  Nur  in  der  Absicht,  dieses 
Eheband,  in  welchem  sie  nie  Glück  gefunden 
hatte,  durch  die  Kirche  lösen  zu  lassen,  war  sie 
nach  Rom  gekommen  und  hatte  ausdauernd, 
trotz  aller  widerwärtigen  Erschwerungen,  die  ihr 
in  den  Weg  gelegt  wurden,  und  sogar  mit  mate- 
riellen, bedeutenden  Opfern,  ihr  Ziel  verfolgt. 
Nun  stand  sie  vor  dem  errungenen  Erfolg.  Liszt 
war  auch  in  Rom,  ich  sah  ihn  öfter,  so  wie 
einige  seiner  Schüler,  die  ihn  stets  umgaben, 
und  unter  denen  besonders  einer,  ein  Engländer, 
mit  fanatischer  Liebe  an  ihm  hing.  Eines  Abends 
fand  ein  Konzert  statt,  von  römischen  Fürstinnen 
für  einen  wohltätigen  Zweck  veranstaltet,  in 
welchem  Liszt,  grossmütig  wie  immer,  spielte. 
Am  Morgen  darauf  erschien  eben  jener  Eng- 
länder bei  mir,  in  grösster  Bestürzung  und  sagte, 
Liszt  sei  verschwunden,  niemand  wisse  von  ihm, 
und  man  furchte,  es  sei  ein  Unglück  geschehen. 
Natürlich  erregte  die  Sache  das  grösste  Aufsehen, 
und  in  den  damals  noch  so  kleinen,  geselligen 
Verhältnissen  war  von  nichts  anderem  die  Rede. 
Der  Schüler  war  trostlos;  nach  einigen  Tagen 
jedoch  erschien  er  wieder  freudestrahlend ;  Liszt 
war  wieder  da,  nur  in  der  Kleidung  eines  Abh6 ; 
er  hatte  sich  aber  dem  treuen  Schüler  in  die 
Arme  geworfen  und  gesagt :  »Ich  bin  immer  der- 
selbe.« Im  Vatikan,  in  der  Privatkapelle  des  Kar- 
dinal Hohenlohe,  war  die  Aufnahme  in  den  geist- 
lichen Stand  vollzogen  worden,  und  unmittelbar 


—    88     — 

nachher  hatte  Pio  IX.  den  neuen  Priester  em- 
pfangen, welcher  sich  ihm  mit  den  Worten 
vorstellte:  »Saint  p^re,  la  moisson  est  grande, 
voici  un  moissoneur  de  plus.« 

Was  da  vorgegangen  war,  welche  innere 
Motive  diese  plötzliche  Wandlung  am  Vorabend 
der  anderen,  endlich  möglich  gewordenen  Ent- 
scheidung, herbeigeführt  hatten,  blieb  der  Welt 
ein  Geheimnis,  und  müssige  Neugier  bemühte 
sich  vergebens,  den  Schleier  zu  lüften,  der  von 
den  Beteiligten  mit  grösster  Diskretion  über 
den  Grund  der  vollzogenen  Tatsache  gedeckt 
war.  Man  erfuhr  nur,  dass  es  der  grösste 
Wunsch  der  Fürstin  sei,  dass  die  Leitung  der 
geistlichen  Musik  in  der  Kirche  Roms,  die  mehr 
und  mehr  moderner  Mittelmässigkeit  verfiel  und 
die  erhabenen  Werke  alter  Meister  vernach- 
lässigte, Liszt  in  die  Hände  gegeben  werde. 
Warum  es  auch  hierzu  nicht  kam,  warum  Liszts 
Stellung  zum  Vatikan  keine  sehr  günstige  wurde, 
blieb  ebenfalls  ein  Geheimnis  für  die  Welt,  .so 
viele  Vermutungen  und  Gerüchte  auch  in  Um- 
lauf gesetzt  wurden. 

Ich  stand  der  Fürstin  damals  zu  fern,  um 
an  dieser  grossen  Krisis  ihres  Lebens  teil- 
zunehmen, und  dann  verliess  ich  Rom  für  viele 
Jahre  und  hörte  kaum  etwas  von  ihr.  Erst  als 
ich  mir  Rom  zum  bleibenden  Wohnsitz  erwählt 
hatte,  kam  ich  wieder  in  Berührung  mit  ihr,  und 
sie  zeigte  mir  alsbald  ein  so  herzliches  Wohl- 
wollen, und  ihre  grosse  Intelligenz  versprach  mir 
so    viele   genussreiche    Stunden,    dass   ich   gern 


-    89    - 

der  Aufforderung  Folge  leistete,  sie  öfter  zu 
besuchen.  Sie  kam  auch  häufig  zu  mir  und 
holte  mich  im  Wagen  zu  weiten  Spazierfahrten 
in  die  römische  Campagna  ab,  wobei  sie  mir 
interessante  und  anmutige  Erzählungen  über 
ihre  polnische  Heimat  und  das  dortige  Land- 
volk machte.  So  sagte  sie  einmal,  als  wir  selt- 
same Wolkenbildungen  in  der  Campagna  be- 
wunderten, eine  EigentümHchkeit  ihres  heimi- 
schen Klimas,  namentlich  im  Süden  Polens  sei 
die  grosse  Elektricität  der  Luft,  und  infolge- 
dessen die  auffallend  schönen  und  phantastischen 
Wolkenbildungen.  Da  sei  es  Gewohnheit  der  Land- 
leute, in  den  weiten  Grrasebenen  auf  dem  Rücken 
zu  liegen,  dem  Spiel  und  Zug  dieser  Wolken 
zuzusehen  und  zu  träumen;  vielleicht  Träume 
voll  Poesie  und  Glück,  als  Entschädigung  für  die 
nackte,  armselige  Wirklichkeit, 

Sie  wohnte  in  einer  sehr  bescheidenen 
möbliert  gemieteten  Wohnung  im  dritten  Stock, 
die  ziemlich  geschmacklos,  ohne  alle  wahre  Ele- 
ganz, wie  es  damals  in  den  römischen  Miet- 
wohnungen meist  der  Fall  war,  ausgestattet 
war,  besonders  hingen  abscheuliche  Bilder  aller 
Art  an  den  Wänden,  deren  Duldung  von  Seiten 
der  Fürstin  mir  unbegreiflich  war,  da  sie  einen 
leidenschaftlichen  Kultus  für  die  Kunst  hatte, 
freilich  vor  allem  fiir  die  Musik.  Auch  nahm 
der  Flügel  einen  grossen  Platz  in  dem  kleinen 
Salon  ein,  in  dem  sich  um  das  Kamin  herum 
der  Versammlungsplatz  befand,  d.  h.  der  Lehn- 
stuhl   der    Fürstin,    auf   dem    sie    ihre    Besuche 


—    90    — 

empfing,  daneben  ein  Tisch  stets  mit  Vasen  voll 
Blumen,  oft  mit  sehr  stark  duftenden,  beladen, 
welches  den  Kopf  der  Fürstin,  trotzdem  sie  mit 
demselben  fortwährend  arbeitete,  nicht  anzugreifen 
schien;  Bücher,  Noten,  Schriften  lagen  überall, 
selbst  im  Vorzimmer  umher,  nach  occidentalen 
Begriffen  in  ziemlicher  Unordnung,  doch  ihr,  die 
jeden  Augenblick  etwas  nachzuschlagen,  etwas 
auszuführen  hatte,  bequem.  Charakteristisch 
war  eine  grosse  kristallne  Bonbonniere,  immer 
mit  Chokolade  und  anderen  Bonbons  gefüllt, 
welche  dem  Besucher  sogleich  angeboten  wurden, 
nach  slavischer  Sitte,  wie  man  mir  sagte.  Das 
Ganze  dieses  Raumes  sowie  auch  der  übrigen 
Räume  der  Wohnung  war  wirklich  weder  standes- 
gemäss  noch  einfach  schön,  und  als  ich  später 
auch  mit  Liszt  nahe  genug  befreundet  war,  um 
mit  ihm  über  dergleichen  Dinge  zu  sprechen, 
sagte  er  mir  einmal  ganz  in  Verzweiflung,  er 
habe  nun  endlich  in  einem  bekannten  fürstlichen 
Palast  Roms  das,  was  man  eine  Wohnung 
nennen  könne,  für  die  Fürstin  gefunden,  und  nun 
sei  durch  ein  Zusammentreffen  von  Umständen 
Veranlassung  gewesen,  für  die  gegenwärtigen 
Hausleute  der  Prinzess  Caroline  sich  sehr  dienst- 
willig und  aufopfernd  zu  erweisen,  und  da  wolle 
sie  nun  aus  Dankbarkeit  das  Logis  nicht  ver- 
lassen. 

Übrigens  vergass  man  auch  hald  genug  die 
wirklich  nicht  sympathische  Einrichtung,  sass 
man  einmal  auf  einem  der  Stühle,  welche  um 
den   der  Fürstin  herum  für  die  Besucher  bereit 


r 


—  91  — 

standen,  denn  wenn  sich  nicht  bald  ein  bedeu- 
tendes Grespräch  über  irgend  einen  inhaltvollen 
Cregenstand  entspann,  so  war  es  sicher  die 
Schuld  des  Besuchers,  und  nicht  die  der  Fürstin. 
Sie  war  nicht  schön,  war  es  nie  gewesen  und 
erzählte  mir  einmal  lachend,  dass  ihre  Mutter, 
eine  elegante  schöne,  den  Weltfreuden  zugetane 
Frau,  sich  betrübt  habe,  dass  sie  so  hässlich 
sei,  und  dass  sie  ihr  zum  Trost  gesagt  hätte, 
sie  solle  nur  ruhig  warten,  nach  der  Auferstehung 
werde  sie  wunderschön  sein.  Übrigens  hatte  sie 
eines  jener  Gesichter,  die  keine  eigentliche  Jugend 
haben  und  daher  oft  mit  dem  Alter  eher  ge- 
winnen, und  wenn  man  mit  ihr  sprach,  und  der 
Gegenstand  des  Gesprächs  sie  interessierte  oder 
begeisterte,  so  belebten  sich  die  Züge  so  aus- 
drucksvoll und  die  Augen  glänzten  so  feurig, 
dass  man  vergass  zu  prüfen,  ob  sie  schön  sei 
oder  nicht,  denn  man  fühlte  sich  unter  dem 
Bann  einer  ausserordentlichen  Persönlichkeit, 
eines  ungewöhnlichen  Intellekts,  welche  der 
äusseren  Reize  nicht  bedurften,  um  zu  fesseln. 
Doch  war  sie  nicht  ganz  gleichgültig  gegen  das, 
was  der  äusseren  Erscheinung  Anmut  verleiht, 
sie  kleidete  sich  meist  in  helle  Farben,  und  sagte 
mir  einmal,  da  ich  viel  schwarz  trug,  sie  habe 
das  früher  auch  getan,  aber  dann  sei  es  ihr 
klar  geworden,  dass  der  liebe  Gott  es  nicht 
wollen  könne,  da  er  die  Erde  so  schön  mit  den 
Blumen  in  allen  Farben  geschmückt  habe,  und 
seit  der  Zeit  hatte  sie  auch  alle  Farben  des 
Frühlings    und  Sommers  in  ihrer  Kleidung,  be- 


—    92     — 

sonders  an  den  flatternden  Bändern  der  übrigens 
hässlichen  Hauben,  die  sie  trug;  und  ebenso 
wählte  sie  ganz  besondere  Anzüge,  wenn  sie, 
was  häufig  geschah,  sich  photographieren  Hess, 
z.  B.  den  vier  Jahreszeiten  gemäss,  oder  im 
Wagen,  den  Blick  nach  oben  gerichtet,  um  »den 
letzten  Stern  zu  suchen.« 

Aber  diese  kleinen  Koketterien  verzieh  man 
ihr  gern,  um  der  vielen  Vorzüge  wegen,  welche 
ihren  Umgang  von  dem  gewöhnlichen  Alltags- 
verkehr unterschieden;  denn  man  konnte  sehr 
verschiedener  Meinung  mit  ihr  sein,  aber  das 
Gespräch  wurde  nie  banal  und  die  Kontroverse 
blieb,  auch  wenn  sie  von  beiden  Seiten  eifrig, 
ja  hitzig  wurde,  stets  in  den  Grenzen  des  freund- 
lichsten, wohlwollendsten  Verkehrs.  Ihre  Bildung 
war  eine  universelle,  und  sie  fühlte  sich  auf 
keinem  Gebiete  des  Wissens  fremd.  Sie  hatte 
sich  viel  mit  Schopenhauerscher  Philosophie  be- 
schäftigt und  unsere  Gespräche  führten  uns  oft 
darauf.  Sie  war  nicht  ungerecht  gegen  ihn,  aber 
sie  bestritt  seine  Ansicht  über  den  Willen,  und 
sagte,  der  Mensch  träte  ins  Leben  mit  absoluter 
Freiheit,  zu  werden,  was  er  wolle;  sie  führte 
mir  dabei,  da  wir  meist  französisch  sprachen, 
ein  Wort  der  französischen  Bibelübersetzung  an : 
»Dieu  traita  l'homme  avec  reverence«  und  mit 
einem  Ausdruck  von  fast  übermütigem  Trotz 
setzte  sie  hinzu:  »Je  n'aurai  pas  voulü  son  ca- 
deau  de  la  vie,  s'il  ne  m'avait  pas  donne  la 
liberte.«  Sehr  sympathisch  war  ihr  Schopen- 
hauers Zurückgehen    auf  indische  Weisheit  und 


—    93     — 

indische  Ansichten;  auf  diesem  Gebiet  hielt  sie 
ihr  Wissen  für  unfehlbar,  und  sie  wurde  fast 
böse,  als  ich  sagte,  ich  glaube  gar  nicht,  dass 
das  Nirvana  das  absolute  Nicht-mehr-Sein  be- 
deute, sondern  dass  es  vielmehr  den  seligen  Zu- 
stand der  Erlösung  von  der  Welt  der  Sansara 
und  die  Wiedervereinigung  mit  Brahm,  mit  der 
Gottheit  ausdrücke.  Das  bestritt  sie  mir  absolut 
und  sagte,  es  sei  entschieden  das  Nichtsein,  da 
das  Sein  den  Indern  ja  als  eine  Schuld,  als 
etwas  zu  Verneinendes  erschienen  sei.  Ebenso- 
wenig wie  hierüber  aber  bekehrte  sie  mich  zu 
Ansichten  auf  andern  Gebieten,  besonders  dem 
religiösen,  so  gern  ich  mich  von  ihr  über  theo- 
logische Dinge  belehren  liess,  die  mir  bisher 
gänzlich  fern  gelegen  hatten  und  unbekannt  ge- 
blieben waren,  in  denen  sie  aber  gründlich  unter- 
richtet war  und  die  sie  mit  einer  eignen  Innig- 
keit und  Wärme  vortrug,  so  dass  man  fühlte, 
sie  wollte  dafür  gewinnen.  Ob  sie,  wie  man 
es  von  ihr  sagte,  überhaupt  gern  Proselyten 
machte,  weiss  ich  nicht,  aber  gewiss  ist,  dass 
sie  es  bei  mir  versuchte  und  zwar  mit  einer 
Ausdauer  und  einem  Eifer,  die  mir  nur  bewiesen, 
dass  sie  mich  aufrichtig  liebte,  wodurch  ihr 
Wunsch  gerechtfertigt  erschien,  meine  Seele  hin- 
über zu  retten  in  den  Schoss  der  allein  selig- 
machenden Kirche.  Einmal  in  der  Fastenzeit, 
wo  gewöhnlich  Prediger  aus  anderen  Orten  in 
den  römischen  Kirchen  predigen,  forderte  sie 
mich  auf,  mit  ihr  in  die  Kirche  S.  Luigi  de' 
Francesi   zu   gehen,   wo   eben   der  Bischof  Mer- 


—    94    — 

millod,  welcher  aus  der  Schweiz  fort  gemusst 
hatte,  die  Fastenpredigten  hielt.  Ich  ging  mit 
ihr  und  fand  die  Predigt  durch  einige  fein  aus- 
geführte Gedanken  anziehend.  Das  freute  die 
Fürstin,  und  nach  einigen  Tagen  erhielt  ich  eine 
Einladung  zu  ihr  zu  kommen,  um  den  Bischof 
Mermillod,  welcher  da  sein  werde,  kennen  zu 
lernen.  Da  ich  wusste,  dass  derselbe  mit 
meinen  katholischen  Verwandten  in  Wien  viel 
verkehrt  hatte,  war  es  mir  angenehm,  seine  Be- 
kanntschaft zu  machen,  und  ich  ging  hin.  Sein 
Äusseres  und  seine  etwas  hochmütige  Art  zu 
sprechen  und  zu  fragen,  nahmen  mich  nicht  für 
ihn  ein,  aber  der  Fürstin  zuliebe  ging  ich 
freimütig  darauf  ein,  seine  Fragen  zu  beant- 
worten, die  sehr  inquisitorisch  forschten,  warum 
ich  mich  den  Überzeugungen  meines  katholisch 
gewordenen  Bruders  in  Wien  nicht  angeschlossen 
habe.  Nach  einiger  Zeit  entfernte  sich  die 
Fürstin  und  liess  uns  allein,  wahrscheinlich  in 
der  Hoffnung,  dass  er  nun  direkter  auf  das  Ziel 
losgehen  sollte.  Er  sagte  denn  auch  gleich,  es 
komme  eigentlich  nur  auf  drei  Fragen  an, 
welche  schon  Bossüet  einem  Engländer,  der  ihn 
um  Rat  fragte,  als  das  Wesentliche  vorgelegt 
habe,  zuerst  die  Frage,  ob  man  an  Gott  glaube, 
zweitens  ob  man  an  Christus  glaube,  und  drittens, 
—  und  das  sei  das  Wesentlichste  —  ob  man 
an  die  Kirche  glaube.  Darauf  sagte  er,  er 
werde  mir  Bücher  schicken,  und  ich  solle  ihm 
freimütig  Rechenschaft  geben  von  dem  Ein- 
druck,   den   sie   mir   gemacht  hätten.     Als   die 


—    95    — 

Fürstin  wieder  eintrat  und  nach  dem  Resultat 
unserer  Unterredung  fragte,  sagte  er  mit  zuver- 
sichtlichem Lächeln:  »Das  wird  schneller  gehen 
als  Sie  denken«  und  ging.  Die  Fürstin,  in  einem 
Sturm  des  Entzückens,  ergrifl,  ehe  ich  es  mich 
versah,  den  Saum  meines  Kleides  und  küsste 
ihn,  und  als  ich  ganz  erschrocken  rief:  »Aber 
Fürstin,  was  tun  Sie?«  sagte  sie  mit  wirklich 
freudestrahlendem  Angesicht:  »Der  Gedanke,  mit 
Ihnen  an  den  Altar  zu  treten,  ist  zu  schön  und 
riss  mich  fort.«  Ich  dankte  ihr  gerührt  für 
ihre  Liebe,  ging  aber  bekümmert  fort,  da  ich 
wusste,  dass  ihr  auch  jetzt,  wie  schon  bei  allen 
früheren  Versuchen,  die  bittere  Enttäuschung 
bevorstand. 

Am  folgenden  Tag  war  Mermillod  bei  mir 
gewesen,  hatte  mich  nicht  getroffen,  aber  ein 
Paket  Bücher  gelassen:  die  Predigten  Lacor- 
daires  und  das  Leben  der  Mme.  Seton,  einer 
konvertierten  Amerikanerin,  welche  ihr  Leben 
nach  ihrer  Bekehrung  ganz  der  Arbeit  für  ihre 
leidenden  Mitmenschen  gewidmet  hatte.  Nach- 
dem ich  die  Bücher  gelesen  hatte,  sandte  ich 
sie  zurück  und  schrieb  dabei  an  Mermillod: 

»Ich  habe  die  Reden  des  p^re  Lacordaire 
sowie  das  Leben  von  Madame  Seton  mit  dem 
grössten  Interesse  gelesen.  Ich  neige  mich 
immer  vor  den  Worten  und  vor  einem  Leben, 
welche  den  Opfern  der  erbarmenden  Liebe,  die 
der  Tod  des  Egoismus  ist,  geweiht  sind.  Ich 
bewundere  alles,  was  den  Menschen  über  seine 
engere  Sphäre  erhebt,  sei  es  der  Schwung  des 


-    96    - 

Gedankens  zu  den  höchsten  Anschauungen,  sei 
es  die  Tat  des  Herzens  und  des  reinen  Mitleids. 
Ich  bestätige  voll  Glück  meinen  Glauben  daran, 
dass  wir  in  uns  einen  Funken  jenes  ewigen 
Lichts  tragen,  welches  im  Grunde  des  Seins 
leuchten  muss,  und  welches  unsere  schwachen 
Sinne  nur  von  ferne  ahnen  können.  Ich  erkenne 
es  als  unsere  höchste  Pflicht,  diesen  Funken  in 
uns  zur  Flamme  werden  zu  lassen  und  das 
Göttliche  in  uns  zu  verwirklichen,  das  sich  auch 
in  einem  Jeden  von  uns  inkarniert  hat.  Aber 
wovon  ich  nicht  überzeugt  worden  bin  und  es 
nie  sein  werde,  das  ist  die  Annahme,  dass  die 
Wahrheit  ein  für  allemal  gegeben  sei,  und  dass 
eine  dogmatische  Kirche  sie  fiir  immer  um- 
schliesse.  Ich  glaube  im  Gegenteil,  dass  die 
Wahrheit  in  ewigem  Wachsen  sei  und  eine 
Hülle  nach  der  anderen  abwerfe,  um  immer 
vollkommenere  Blüten  und  Früchte  zu  tragen.« 
Natürlich  hörte  ich  darauf  nichts  mehr  von 
Mermillod  und  auch  die  Fürstin  schwieg  voll- 
kommen über  das  Vorgefallene,  von  dem  sie 
ohne  Zweifel  unterrichtet  war.  Aber  sie  ihrer- 
seits liess  nicht  ab,  ihr  Ziel  zu  verfolgen.  Ein- 
mal, wo  wir  wieder  eine  längere  Unterredung 
über  die  Vorzüge  der  katholischen  Kirche  ge- 
habt hatten,  und  ich  gern  gestand,  dass  ich  sie 
als  Organisation  bewunderungswert  finde,  und 
dass  ich  mit  Verehrung  anerkenne,  wie  sie  der 
erste  Versuch  gewesen  sei,  die  Menschheit  durch 
ein  geistiges  ideales  Band  zu  einer  Gemeinschaft 
zu    vereinen,    forderte    sie   mich    geradezu    auf. 


—    97     — 

mich  derselben  anzuschliessen.  Ich  sagte,  halb 
scherzend,  um  der  Dringlichkeit  des  Versuchs, 
die  unserem  guten  Verhältnis  leicht  hätte 
schädlich  werden  können,  zu  entgehen:  »Aber 
ich  brauche  doch  die  Kirche,  von  Menschenhänden 
gemacht,  nicht,  um  meinen  Gott  zu  verehren; 
ich  tue  es  draussen  in  seiner  grossen  herrlichen 
Kirche,  wo  er  offenbar  wird  in  der  Schönheit 
jeder  Blume,  im  Vogelsang,  in  Goldwolken,  wo 
ihn  seine  Schöpfung  preist  mit  Worten,  wie  sie 
kein  menschlicher  Mund  je  gesprochen.« 

»Nein,  meine  Liebe,«  sagte  sie,  »es  ist  ge- 
rade in  der  Kirche,  wo  er  sich  besonders  offen- 
bart. Kommen  Sie  ihr  nur  näher,  so  werden 
Sie  es  selbst  erfahren.« 

Es  kamen  dann  lange  Pausen,  in  welchen 
dieser  Gegenstand  der  Unterhaltung  vollständig 
ruhte,  denn  sie  war  zu  geistvoll,  um  nicht  zu 
verstehen,  dass  ein  lebhafteres  Drängen  nach 
dem  ersehnten  Ziel  mich  ermüden  und  schliess- 
lich von  ihr  entfernen  werde;  ich  war  ihr 
dankbar  dafür,  denn  ich  hatte  eine  aufrichtige 
Anerkennung  für  ihre  grossen  Eigenschaften, 
und  der  geistige  Verkehr  mit  ihr  war  mir  ge- 
nussreich und  wert.  Oft  begegnete  ich  auch 
interessanten  und  gelehrten  Leuten  bei  ihr,  so 
u.  a.  mehrere  Male  dem  Grafen  Schack,  der 
uns  Gedichte  von  sich  vorlas,  und  obwohl  er 
mir  nicht  den  bedeutenden  Eindruck  machte, 
den  ich  erwartet  hatte,  doch  manches  sagte, 
was  mich  interessierte.  Einmal  sah  er  auf  dem 
Tisch  der  Fürstin  die  »Memoiren  einer  Idealistin« 

Meysenbug,  IV.  7 


-    98     - 

liegen,  nahm  das  Buch  und  schlug  es  auf,  wo  gerade 
ein  Kapitel  anfing,  über  welchem  geschrieben 
stand:  »Mazzini.«  Er  steckte  es  darauf  ohne 
weiteres  in  die  Tasche  und  sagte:  »Oh,  das 
will  ich  lesen,  dem  Manne  bin  ich  begegnet  und 
habe  mich  lebhaft  für  ihn  interessiert.«  Später 
erzählte  mir  die  Fürstin,  er  habe  das  Buch  für 
seine  Bibliothek  gekauft,  obgleich  er  im  allge- 
meinen ein  Gegner  der  Schriftstellerei  von  Frauen 
war.  Eine  andere  Persönlichkeit,  die  ich  dort 
kennen  lernte,  und  welche  mir  die  tiefste  Sym- 
pathie einflösste,  war  der  gelehrte  Benediktiner- 
mönch Padre  Tosti  von  Monte  Cassino,  von  dem 
ich  schon  durch  Gregorovius,  der  sich  lange 
seiner  Studien  wegen  in  dem  Kloster  aufhielt 
und  den  Tosti  sehr  ehrte,  gehört  hatte.  Die 
milde,  liebenswürdige  Persönlichkeit  des  greisen 
Priesters  zog  mich  auf  das  innigste  an,  ganz 
eingenommen  aber  wurde  ich  für  ihn  durch  ein 
von  ihm  selbst  verfasstes  episches  Gedicht,  welches 
er  der  Fürstin  mitzuteilen  versprochen  hatte  und 
bei  dessen  Lesung  er  auch  mir  freundlich  er- 
laubte, gegenwärtig  zu  sein.  Das  Gedicht  war 
von  so  hoher  Schönheit,  dass  die  Fürstin  und 
ich  gleich  hingerissen  davon  waren;  danteskische 
Grösse  der  Naturbeschreibung,  ergreifende  Schil- 
derung der  Leidenschaft  und  himmlische  Ver- 
klärung idealer  Liebe,  alles  tönte  aus  dem 
Munde  dieses  Greises,  doppelt  rührend  und  er- 
haben. Als  er  geendet  hatte  zu  lesen,  fragte 
ich  ihn,  ob  das  Gedicht  gedruckt  würde  und 
sprach  die  Hoffnung  aus,  dass  dem  so  sein  möge. 


—    99    — 

Der  alte  Priester  lächelte  und  sagte,  dass  es 
nie  gedruckt  werden  dürfe,  da  es  ihn  in  den 
Bann  der  Kirche  tun  würde. 

Den  grössten- Freund  der  Fürstin  aber,  den 
sie  über  alles  liebte,  und  dem  sie  einen  tiefen, 
ewigen  Kultus  in  ihrem  Herzen  geweiht  hatte, 
den  grossen  Künstler  Franz  Liszt,  sah  ich  nur 
selten  dort,  freilich  durch  Zufall,  denn  er  kam 
jedes  Jahr  nach  Rom  und  war  dann  täglich  bei 
ihr.  Zuweilen  aber  traf  ich  ihn  doch  da,  so 
u.  a.  einmal  am  Tage  San  Carlo,  wo  ich  hin- 
gegangen war,  der  Fürstin  Caroline,  als  an  ihrem 
Namenstag,  den  man  nach  katholischem  Gebrauch 
feierte,  einige  Blumen  zu  bringen.  Liszt  kam 
bald  nach  mir,  fragte,  ob  sie  seine  Blumen  er- 
halten, und  erzählte  uns,  dass,  als  er  früh  am 
Morgen  über  den  spanischen  Platz  gegangen  sei, 
mehrere  der  Knaben,  die  dort  mit  grossen, 
blumengefüllten  Körben  auf  dem  Kopf  einher 
gehen,  ihm  zugerufen  hätten :  »Signor  Francesco, 
h  la  San  Carlo,  bisogna  portar  fiori  lä<,  indem 
sie  nach  der  Strasse  gedeutet  hätten,  wo  die 
Fürstin  wohnte.  Liszt  lachte  herzlich  über  seine 
offenbare  Popularität  unter  diesen  halb  naiven, 
halb  schlauen  Verkäufern  des  Schönsten,  was 
die  Erde  gibt,  und  ich  lachte  mit  ihm,  da  auch 
ich  diese  so  anständige  Vertraulichkeit  des 
italienischen  Volks,  die  mehr  das  Gefühl  der 
Gleichberechtigung  als  wie  Zudringlichkeit  ist, 
kenne  und  liebe.  Die  Fürstin  hingegen  war 
bestürzt  und  sagte  fast  beschämt,  man  habe  ihr 
nur  gesagt,    es  seien  die   Blumenverkäufer   der 

7* 


—       lOO      — 

Piazza  draussen,  und  da  sie  ihren  Gärtner  habe, 
der  an  bestimmten  Tagen  Blumen  bringe,  so 
habe  sie  gesagt,  man  solle  sie  wegschicken. 
Es  war  ihr  augenscheinlich  sehr  leid,  ja  höchst 
peinlich,  so  die  Absicht  des  Freundes  vereitelt 
zu  haben  und  es  rührte  mich  die  fast  demütige, 
schüchterne  Art  ihres  Benehmens  dem  verehrten 
Manne  gegenüber  zu  sehen,  sie,  die  sonst  so 
selbstbewusst,  so  sicher  anderen  gegenübertrat. 
Nur  einmal  hörte  ich  ihn  bei  ihr  spielen,  wobei 
sie  in  Andacht  versunken  zuhörte.  Ich  hörte 
ihn  aber  oft  in  jenen  Jahren  in  einigen  anderen 
Häusern,  besonders  bei  einer  liebenswürdigen 
jungen  Russin,  wo  sich  ein  kleiner,  auserwählter 
Kreis  zu  musikalischen  Aufführungen  regelmässig 
zusammenfand,  und  sein  Spiel  erschien  mir  in 
seinen  vorgerückten  Jahren  noch  unendlich  viel 
bedeutender,  als  in  den  Zeiten  seiner  grossen 
Konzerterfolge,  wo  ich  ihn  auch  gehört  hatte. 
Es  war  eine  Ruhe,  eine  Seelentiefe,  gleichsam 
eine  Verklärung  über  dieses  Spiel  gekommen, 
das  auch  dem  Instrument  seine  Beschränktheit 
nahm  und  ihm  einen  Zauber  verlieh,  wie  ich  es 
bei  keinem  der  vielen  grossen  Pianisten,  welche 
ich  hörte,  in  dem  Grad  wiedergefunden  habe. 

Die  Fürstin  sprach  mir  oft  von  dem  einzig 
geliebten  Freund,  immer  mit  der  gleichen  be- 
geisterten Verehrung,  nie  kam  ein  Wort  der 
Klage  über  ihn  von  ihren  Lippen,  welches  den 
Gerüchten  hätte  Recht  geben  können,  die  ohne 
Aufhören  von  müssigen,  nach  Effektgeschichten 
haschenden  Köpfen  über  die  Vergangenheit  und 


—       lOI       — 

die  tragischen  Episoden  dieses  Verhältnisses 
in  Umlauf  gesetzt  wurden.  Nur  einmal,  in 
einer  besonders  gerührten  und  intimen  Gesprächen 
geweihten  Stunde,  kam  sie  dazu,  mit  Offenheit 
über  die  herbste  Epoche  ihres  Lebens  zu  sprechen 
und  den  Schleier  zu  lüften,  der  ein  tief  ver- 
wundetes Herz  bedeckte;  nie  kam  ein  solcher 
Augenblick  wieder  und  das  absolute  Schweigen 
und  die  völlige  Resignation  einer  stolzen  Seele 
bildeten  allein  den  Hintergrund  der  Beziehung 
zu  dem  Freund,  welche  dem  Publikum  kund 
wurde.  Ebenso  war  es  aber  auch  von  selten 
Liszts  ein  nie  endendes  Beweisen  seiner  An- 
hänglichkeit und  verehrenden  Freundschaft, 
welches  er  bis  an  das  Ende  aufrecht  erhielt. 
Als  er  das  letzte  Mal  nach  Rom  kam  und  mich 
zu  besuchen  bei  mir  eintrat,  rief  ich  ihm  ent- 
gegen: »Es  ist  doch  schön,  dass  Sie  Rom  treu 
bleiben.«  Da  sagte  er  mit  der  fast  bitteren  Be- 
stimmtheit, die  er  zuweilen  bei  seiner  sonst  so 
sanften  Art  zu  reden  hatte:  »Es  ist  für  eine 
Person,  dass  ich  komme,  sonst  setzte  ich  den 
Fuss  nicht  mehr  hierher.« 

Was  die  Fürstin  trotz  der  herben  Erfahrungen 
ihres  Lebens  aufrecht  hielt,  das  war  ausser  der 
Religion  die  Arbeit.  Sie  schrieb  unausgesetzt 
und  häufte  Band  auf  Band  meist  theologischen 
Inhalts,  aber  auch  anderen  Gegenständen,  poli- 
tischen und  künstlerischen,  gewidmet.  Es  war 
das  auch  einer  der  Gründe,  welcher  sie  in  ihrer 
bescheidenen  Wohnung  festhielt,  denn  sie  hatte 
da  die  Druckerei   und   den  Raum,    in   welchem 


—      I02      — 

ihre  Bücher  niedergelegt  wurden,  ganz  in  der 
Nähe.  Zuweilen  gab  sie  mir  kleinere  Aufsätze 
über  diesen  oder  jenen  Gegenstand  zu  lesen,  aber 
während  ihre  Unterhaltung  stets  anregend  voller 
Leben  und  Geist  war,  fehlte  ihren  schriftlichen 
Äusserungen  Klarheit  des  Gedankens  und  Anmut 
der  Form;  die  Schwerfälligkeit  des  Styls  er- 
müdete und  schreckte  ab  vom  Lesen.  Ihr 
grösstes  Werk  jedoch,  »Über  die  inneren  Gründe 
der  äusseren  Schwäche  der  Kirche«,  sollte  erst 
viele  Jahre  nach  ihrem  Tode  veröffentlicht  werden, 
und  sie  sagte  mir  einmal,  als  sie  davon  sprach: 
»Oh,  in  50  Jahren  etwa  werden  die  Herren  da 
oben  sagen,  die  Frau  hatte  doch  recht.«  Denn 
sie  wusste  sehr  wohl,  dass  man  ihr  in  den 
höchsten  Regionen  der  Kirche  Opposition  machte. 
Früher  noch,  unter  dem  Pontifikat  von  Pio  IX. 
war  sie,  besonders  mit  Antonelli  sehr  befreundet, 
im  Vatikan  gewesen,  ja  dieser  Papst  hatte  sogar 
ein  Wunder  an  ihr  vollzogen.  Sie  litt  zu  der 
Zeit  sehr  an  den  Augen,  und  eines  Tages,  als 
sie  sich  in  einer  Privataudienz  beim  Papst  be- 
fand, liess  sie  sich  auf  die  Kniee  vor  ihm  nieder, 
ergriff  seine  Hände,  legte  sie  auf  ihre  Augen  und 
bat  ihn,  sie  zu  heilen.  Sie  blieb  so  einige  Mi- 
nuten. »Ich  weiss  nicht,  was  der  Papst  machte«, 
sagte  sie,  »aber  ich  glaube,  er  betete;  dann  seg- 
nete er  mich  und  als  ich  nach  Haus  zurück  kam 
und  zu  arbeiten  versuchte,  fand  ich  meine  Augen 
gesund,  und  sie  sind  es  bis  auf  diesen  Tag  ge- 
blieben.« Das  musste  nun  —  ob  durch  Wunder 
oder  nicht  —  wohl  so  sein,   denn  sie  arbeitete 


—     103     — 

meist  bis  spät  in  die  Nacht  hinein,  und  am  Tag, 
wenn  man  zu  ihr  kam,  glänzten  ihre  Augen  so 
feurig  im  Lauf  der  Rede,  dass  man  sah,  sie  litt 
nicht  daran. 

Seit  vielen  Jahren  schon  verliess  die  Fürstin 
Rom  nicht  mehr,  auch  nicht  im  Sommer  und 
wenn  ich  im  Herbst  von  meinen  nun  zur  Regel 
gewordenen  Reisen  durch  Deutschland  nach 
Frankreich  zu  Olga  zurück  kam,  sagte  sie  mir 
immer,  ich  täte  unrecht,  so  viel  Kraft  wegzu- 
geben, im  Alter  müsse  man  nicht  mehr  reisen 
und  sich  konzentrieren  auf  das  Innenleben  und 
die  Arbeit,  so  sei  das  Alter  die  glücklichste  Zeit 
des  Lebens.  Und  bei  ihr  war  das  anscheinend 
wenigstens  zur  Wahrheit  geworden;  es  umgab 
sie  wie  eine  Aureole  von  Freudigkeit  und  Frieden, 
welche  sie  nicht  hinderte,  lebhaft  teilzunehmen 
an  allem,  was  die  Aussenwelt  bewegte,  und  be- 
sonders an  den  Schicksalen  und  Erlebnissen 
ihrer  Freunde.  Die  letzten  Jahre  jedoch  nahm 
ihre  Gesundheit  sichtlich  ab  und  sie  verliess  ihre 
Wohnung  nicht  mehr,  weder  im  Sommer  noch 
im  Winter.  Im  Herbste  1886  kehrte  ich  mit 
einem  bangen  Gefühl  zu  dem  Wiedersehen  mit 
ihr  nach  Rom  zurück,  denn  im  Juli  des  Jahres 
war  Liszt  in  Bayreuth  während  der  dort  statt- 
findenden Aufführungen  gestorben.  Ich  fand  sie 
stiller  als  sonst,  äusserlich  gealtert  und  mehr 
wie  je  an  ihr  dumpfes,  jedem  frischen  Luftzug 
verschlossenes  Zimmer  und  an  ihren  Lehnstuhl 
gebannt.  Ich  sah  es  gleich,  dass  auch  ihre 
Lebensflamme  dem  Erlöschen  zueilte ;  das  Leben 


—     I04    — 

hatte  seinen  Wert  für  sie  verloren,  Liszt  hatte 
prophetisch  gesprochen,  denn  er  hatte  einmal 
geäussert,  dass  er  überzeugt  sei,  sie  werde  ihn 
nicht  überleben.  Nach  einigen  Wochen  wurde 
sie  völlig  bettlägerig  und  sah  nur  noch  wenige 
Menschen.  Ich  gehörte  zu  diesen  und  verbrachte 
noch  manche  Stunde  vor  ihrem  Bett.  Jetzt  sprach 
sie  mir  viel  von  dem  geschiedenen  Freund,  und 
ich  sah,  dass  sie  glücklich  war  in  der  Hoffnung 
baldiger  Wiedervereinigung.  Sie  hatte  immer 
die  Gewohnheit  gehabt,  mir,  auch  in  derselben 
Stadt  lebend,  viele  und  lange  Briefe  zu  schreiben 
und  auch  jetzt  noch  vom  Krankenlager  aus  erhielt 
ich  deren  häufig,  so  einen,  wo  sie  nur  von  ihm 
und  der  Hoffnung  sprach,  ihn  wiederzufinden 
und  mit  den  Worten  schloss :  »Er  lebt  —  ja  er 
lebt,  denn  er  liebte  Jesus  Christus.«  Als  ich 
dann  wieder  noch  einmal  länger  bei  ihr  gesessen 
hatte,  fragte  sie  plötzlich:  »Ach,  Liebe,  warum 
wollen  sie  nicht  an  die  Gottheit  Christi  glauben?« 
Ich  sah,  es  war  ihr  noch  ein  Herzenswunsch,  dies 
letzte  Werk  der  Bekehrung  zu  vollenden,  und  es 
schmerzte  mich  wahrhaft,  ihr  in  diesen  Abschieds- 
stunden noch  die  bittere  Enttäuschung  bereiten 
zu  müssen.  Ich  schrieb  ihr  daher  am  folgenden 
Tag  und  bat  sie  liebevoll,  dies  Thema  nicht 
mehr  zu  berühren,  da  ich  doch  nicht  gegen 
meine  Überzeugung  handeln,  sie  nicht  mit  einer 
falschen  Hoffnung  hinhalten  könne  und  es  mir 
schmerzlich  sei,  ihr  immer  nein  sagen  zu  müssen. 
Ich  erhielt  eine  Antwort,  in  der  ich  wohl  her- 
aus fühlte,  wie  sie  enttäuscht  sei,  aber  ich  ver- 


—    I05    — 

stand  es  ja,  dass  es  ihr  bitter  sein  musste,  diesen 
Wunsch  nicht  erfüllt  zu  sehen,  in  welchem  ich 
doch  nur  einen  Beweis  ihres  innigen  Anteils  an 
meinem  Heil  erkennen  konnte.  Einige  Tage 
wurde  ich  verhindert,  zu  ihr  zu  gehen,  hörte 
auch,  dass  ihre  Tochter  gekommen  und  sie  also 
nicht  allein  sei.  Doch  hatte  ich  nun  bestimmt 
vor,  am  lo.  März  1887  zu  ihr  zu  gehen,  als  ich 
am  9.  abends  ein  Billet  von  einer  Bekannten 
erhielt,  welche  mir  schrieb,  dass  die  Fürstin  ge- 
storben sei.  Ich  eilte  am  folgenden  Morgen  hin, 
konnte  sie  aber  nicht  mehr  sehen. 

In  der  sympathischen  Kirche  Santa  Maria 
del  Popolo  war  die  Totenfeier.  Der  Kardinal 
Hohenlohe  vollzog  die  Messe,  und  es  wurde  ein 
Requiem  von  Liszt  aufgeführt.  Ich  war  dort  mit 
Frau  Minghetti,  und  als  der  Kardinal  den  Sarg 
einsegnete,  der  die  sterbliche  Hülle  umschloss, 
sagte  ich  ihr  in  meinem  Herzen  ein  gerührtes 
Lebewohl.  Als  wir  aus  der  Kirche  traten,  kam 
Monsieur  Herbert,  damals  noch  Direktor  der 
französischen  Akademie  in  der  Villa  Medici,  der 
mit  der  Fürstin  befreundet  gewesen  war,  uns  zu 
begrüssen,  und  sagte:  >Oui  c'etait  quelqu'un!« 
Das  war  das  rechte  Wort;  ja  Fürstin  Caroline 
Wittgenstein  war  jemand,  und  von  wie  wenig 
Menschen  kann  man  das  sagen. 


Gedachtes. 


Eben  schrieb  mir  mein  alter  zweiundneunzig- 
jähriger  Freund  über  das  schmerzliche  Ach  am 
Ende  des  rätselvollen  Lebens.  Mein  schmerz- 
liches Ach  wird  nur  der  einen  gelten,  in  deren 
Leben  mein  Scheiden  die  tiefe  Lücke  reisst. 
Sonst  freue  ich  mich  des  Endes.  War  es  der 
Zufall,  welcher  das  bunte  Wechselspiel  des  Da- 
seins veranlasste,  so  habe  ich  ihm  getrotzt,  indem 
ich  mir  ein  Ziel  vorsetzte  und  mutig  nach  einer 
vernünftigen  Ordnung  der  Lebensaufgabe  strebte ; 
und  ist  im  Grrund  der  Schöpfung  ein  erhabenes 
Geheimnis,  so  habe  ich  mich  vorbereitet,  es  zu 
verstehen. 


Der  Dichter  lebt  zwei  Leben,  eines  für  sich, 
eines  für  die  Welt.  Wehe  der  Frau,  die  ihn  liebt, 
das  nicht  versteht  und  eifersüchtig  ist  auf  diese 
Teilung.  Sie  wird  den  Genius  brechen,  oder  ihr 
eigenes  Herz. 


Der   Geist    vom   Ende   dieses   Jahrhunderts, 
der  industrielle  Geist,  bemächtigt  sich  sogar  des 


—     io8     — 

Schönen  in  der  Natur  für  seine  Zwecke,  und 
verhässlicht  jene.  So  hörte  ich  kürzlich,  man 
habe  ein  reizendes  Wäldchen  am  Meeresstrand 
bei  Antibes  abgehauen,  um  Felder  mit  Blumen, 
zum  Verkauf  in  Nizza  und  Toulon,  zu  bepflanzen. 


Hochnäsige  Duldung,  Philistertugendstolz,  die 
kann  ich  nicht  ertragen.  Güte,  Aufrichtigkeit, 
Gleichheit  der  Gesinnung  oder  stolze  Ebenbürtig- 
keit,  das   verlange   ich  in  Beziehung  zu  andern. 


Eine  sehr  schlimme  Art  der  Koketterie  be- 
ruht auf  dem  Reiz,  bis  an  die  äusserste  Grenze 
des  Versuchbaren  zu  gehen,  und  sich  dann  kalt 
vor  dem  letzten  Schritt  zurückzuziehen.  Es  ist 
die  Koketterie  der  Neugierde,  der  Vivisektion 
der  Gefühle,  Man  gibt  Gift,  um  zu  sehen,  wie 
der  andere  zappelt  und  sich  vor  Schmerzen 
krümmt.  Diese  Sucht  der  Gefühlsanatomie  findet 
sich  häufig  bei  den  Frauen  der  sogenannten 
»guten  Gesellschaft«,  welche  ihre  Stellung  nicht 
verderben,  sich  nicht  kompromittieren  wollen,  es 
aber  sehr  lieben,  in  andern  zu  experimentieren 
und  leicht  bewegliche  Naturen  vorwärts  zu  trei- 
ben, um,  mit  der  Lorgnette  vor  den  Augen,  zu- 
zusehen, wie  gewisse  Gifte  wirken.  Diese  raffinierte 
Verderbtheit  der  Seele  ist  eine  der  hässlichsten 
Erscheinungen  unter  den  Gebrechen  der  modernen 
Gesellschaft.  Sie  schon  in  einem  jungen  Mädchen 
zu  finden,  ist  über  alles  Mass  schmerzlich  und 
empörend. 


—     I09    — 

Dir  Frauen  der  »grossen  Welt«,  eure  Liebe 
gleicht  Irrlichtem,  die  über  Sümpfen  tanzen. 
Wehe  dem,  der  diesen  lockenden  Lichtern  folgt I 
Dir  kennt  die  wahre  Liebe  nicht,  denn  ihr  denkt 
nie  an  den  Mann  und  seine  Qual;  ihr  denkt  nur 
an  euch  selbst. 

Es  ist  erschreckend,  mit  welcher  Leichtigkeit 
die  Frauen  in  Italien  sich  preisgeben  und  die 
Forderung,  dass  der  Körper  der  Tempel  einer 
keuschen  Seele  und  daher  selbst  unentweiht  sein 
soll,  gar  nicht  verstehen.  Auch  ist  es  unbegreif- 
lich, warum  sie  sich  so  schwer  entschliessen,  den 
Geschlechtsfreuden  zu  entsagen,  da  diese  im  Alter 
doch  geradezu  widerwärtig  sein  müssen,  weil  ihr 
Zweck,  die  Fortsetzung  der  Gattung,  nicht  mehr 
erreicht  werden  kann.  Der  Ersatz  für  das  Alter 
ist  ja  die  Geschlechtslosigkeit,  die  Ruhe  vom 
Verlangen,  die  Annäherung  zum  reinen  Geistsein, 
die  zweite  Jungfräulichkeit  der  Seele.  »Und  jene 
himmlischen  Gestalten,  sie  fragen  nicht  nach 
Mann  und  Weib.« 

Duclos,  ein  französischer  Moralist  des  XVIIL 
Jahrhunderts,  sagte  von  den  frivolen  Frauen 
seiner  Zeit:  »Ces  femmes  qui  donnent  ä  Dieu 
ce  que  le  diable  ne  veut  plus«.  Welche  ent- 
setzliche Kritik,  und  wie  wahr  auch  noch  heut- 
zutage. 

Die  italienischen  Frauen  haben  etwas,  das 
zugleich    ein    Vorzug   und    ein  Mangel  ist :    die 


—       HO      — 

grosse  Natürlichkeit  in  betreff  natürlicher  Dinge, 
die  sie  einerseits  von  der  Prüderie  der  Frauen 
des  Nordens  freihält,  ihnen  andererseits  aber 
auch  sehr  oft  die  edle  Scham  nimmt,  welche 
die  dem  tierischen  Leben  angehörigen  Vorgänge 
mit  einem  Schleier  bedeckt,  den  man  auch  den 
Schleier  des  vornehmen  sittlichen  Gefühls  nennen 
könnte. 

Es  gibt  zwei  Arten  des  Daseins  für  eine 
illegitime,  aber  grosse,  wahre  Liebe:  frei  und 
offen  am  Licht  des  Tages,  oder,  wenn  die  um- 
stände es  nötig  machen,  tiefes,  keusches  Ge- 
heimnis. Aber  das  Hineinziehen  von  Unbetei- 
ligten, das  Besprechen  und  Verhandeln  eines 
solchen  Gefühls  mit  andern,  ausser  dem  einen, 
der  es  am  ersten  wissen  müsste,  dem  legitimen 
Gatten  —  ist  verächtlich. 


Der  heilige  Augustin  hat  gesagt:  »Si  vous 
epousez  une  femme  perdue,  vous  faites  une  bonne 
actione  Das  klingt  beinah  wie  eine  Vorrede  zu 
Alexandre  Dumas. 


In  der  alten  Welt  glaubten  die  Frauen  wirk- 
lich, Umgang  mit  Göttern  gehabt  zu  haben.  Es 
war  ihnen  nicht  etwa  ein  Märchen,  eine  Lüge, 
es  war  ihnen  Wirklicheit.  Welcher  herrlichen 
Art  mussten  die  »Wanderer«  sein,  die  ihnen  so 
erschienen !  Und  welchen  Einfluss  musste  es  auf 
die  Kinder  haben,  die  gleich  als  Halbgötter  ge- 
boren wurden  I  Wie  prosaisch  die  armen  Frauen 


r 


—   III   — 


der  Jetztzeit,   die  in  keines  Gotte^  Umarmung 
mehr  erwarmen! 


Gastfreundschaft  war  eine  der  schönsten  grie- 
chischen Eigenschaften.  Bettler  und  Fremde 
waren  ihnen  von  den  Göttern  gesendet.  Homer 
sagt,  man  müsse  die  Bettler  ehren,  weil  sie  viel- 
leicht einen  Gott  verhüllten.  Welche  grosse 
Zeit,  wo  man  das  Gröttliche  auch  in  der  elendesten 
Grestalt  sich  nahe  glauben  konnte. 


In  der  Antigone  sehe  ich  das  unleugbare 
Zeugnis,  dass,  wenn  die  Griechen  im  täglichen 
Leben  der  Frau  eine  untergeordnete  Stellung 
anwiesen,  die  Dichter  wenigstens  das  höchste 
Ideal  von  ihr  hatten.  Wie  kann  man  sich  ein 
edleres  Wesen  vorstellen  als  Antigone,  die  allen 
Grefahren  Trotz  bietet,  um  die  ideale  Pflicht  zu 
erfüllen,  die  Pflicht,  welche  die  innere  Stimme 
den  auserwählten  Naturen  gebietet,  und  welche 
nur  zu  oft  mit  dem  absoluten,  äusseren  Gesetz 
im  Widerspruch  steht.  Der  Unterschied  zwischen 
dem  idealen  Menschen,  der  gegen  das  Gesetz 
handelt,  um  recht  zu  tun,  und  dem  Pflicht- 
menschen, der  das  Gesetz  buchstäblich  befolgt, 
und  dabei  im  höheren  Sinn  unsittlich  handelt, 
ist  nirgends  erhabener  dargestellt,  als  in  Anti- 
gone und  Kreon.  Das  ist  eine  der  ewigen 
Schöpfungen,  welche  einen  Konflikt  malen,  der 
sich  so  lange  wiederholen  wird,  wie  die  Gre- 
schichte  der  Menschheit  dauert.     Die  Antworten 


—      112      — 

Antigenes  an  Kreon  enthalten  alles,  was  den 
Menschen  adelt  und  ihn  unter  die  Sterne  ver- 
setzt. Was  könnte  der  heutige  Mensch,  der  für 
die  Freiheit  kämpft,  der  Tyrannei,  die  sich  hinter 
das  Gesetz  versteckt.  Besseres  erwidern?  Dass 
der  Dichter  eine  Frauengestalt  wählte,  um  den 
Kontrast  darzustellen,  ist  gewiss  ein  Beweis^ 
dass  in  den  kunstgeweihten  Seelen  der  Griechen 
das  schönste  Ideal  der  Frau  lebte.  Ausserdem 
braucht  man  auch  nur  an  die  Minerva  zu  denken^ 
in  deren  Antlitz  sich  die  höchste  Majestät  des 
Gedankens  mit  der  vollendeten  Schönheit  der 
Form  verbindet,  um  zu  begreifen,  dass  nicht  nur 
die  Dichter,  sondern  auch  die  Künstler  Griechen- 
lands die  Frau  darstellten,  wenn  sie  der  höchsten 
Vereinigung  menschlicher  Eigenschaften  Ausdruck 
geben  wollten. 

Alle  grossen  Dichter,  auch  späterer  Zeiten, 
haben  in  der  ethischen  Welt  das  Weibliche  am 
höchsten  gestellt,  so  Dante,  Goethe  u.  a.  Die 
dichtenden  Völker  taten  es  auch:  Athene, 
Jungfrau  Maria  etc.  In  den  meisten  Sprachen 
ist  Weisheit  weiblich,  also  die  höchste  Potenz 
des  Geistig-Ethischen,  das  Erlösende;  ebenso 
die  Erlösung. 

Vor  vielen  Jahren  noch  in  England,  als  die 
Bewegung  zur  Emanzipation  der  Frau  einen 
immer  stärkeren  Ausdruck  fand,  erschien  dort 
ein  neues  Journal,  diesem  Zweck  geweiht,  und 
die   Redaktion  wendete  sich  an   mich  um   Bei- 


—     113     — 

träge.  Ich  schrieb  damals  in  Antwort:  »Niemals 
vielleicht  hat  eine  Idee  des  Fortschritts  solch 
ein  plötzliches  Ins-Leben-Treten,  solch  ein  Er- 
wachen an  den  verschiedensten  Orten  zu  gleicher 
Zeit  gehabt,  wie  diejenige,  für  welche  ihr  Jour- 
nal sich  zum  Organ  macht.  Früher  pflegte  es 
nur  eine  Inkarnation  des  neuen,  reformatorischen 
Gedankens  zu  geben,  einen  Propheten,  einen 
Reformator,  welcher  das  Wort  sagte,  das  dann 
hinausging  in  die  Welt,  sich  seine  Existenz  zu 
erkämpfen.  So  ist  es  heute  nicht  mehr;  der 
heilige  Geist  ist  auf  viele  herunter  gekommen, 
und  die  menschliche  Gesellschaft  strebt  danach, 
das  grösste  aller  Prinzipien  zu  verwirklichen, 
welches  vom  Anbruch  der  Zeiten  an  der  Traum 
aller  einsamen  Denker  gewesen  ist,  der  Stern 
des  Orients,  der  sie  führte,  die  Glorie  der  Welt 
in  einer  einsamen  Hütte  zu  suchen.  Dieses  Prinzip, 
welches  einst  das  geheime  Losungswort  für  die 
Freunde  der  Menschheit  geworden  war,  die  das 
Gute  vor  den  Augen  des  Bösen,  welches  die  Welt 
noch  regierte,  verstecken  mussten,  und  welches 
jetzt  in  das  Tageslicjit  hervortritt  und  seine  Ver- 
wirklichung in  allen  Richtungen  fordert:  das 
Prinzip  der  Gleichheit,  gleichbedeutend  mit 
Gerechtigkeit.« 


Für  Gedanken  gibt  es  kein  Herrscherwort: 
sie  schlüpfen  vom  Geist  in  den  Geist  hinüber, 
wecken  da  die  Schlummernden,  werden  zu  Stahl 
und  Eisen  im  Blut,  drängen  hinaus  zum  Schwert 
in  der  Hand,  und  ruhen  nicht  eher,  bis  sie  eine 

Meysenbug,  IV .  8 


—     114    — 

Macht  geworden  sind,  die  zur  Tat  fortschreitet, 
und  erst  wenn  sich  Despotismus  und  Demokratie 
im  offenen  Felde  gegenüberstehen,  wenn  es  keine 
Wahl  mehr  gibt,  als  zwischen  diesen  Zweien, 
dann  erst  wird  die  Stunde  der  Entscheidung 
gekommen  sein.  Dann  erst  ist  es  ein  ehrlicher 
Kampf,  denn  dann  erst  weiss  man,  wofür  und 
gegen  was  man  kämpft,  und  dann  erst  werden 
die  Waffen,  auf  deren  Seite  die  neue  Welt- 
entwicklung liegt,  den  Sieg  erringen. 


In  einem  der  schönsten  Kapitel  der  »Kultur 
der  Renaissance«  bespricht  Jacob  Burckhardt  die 
Zunahme  wahrhaft  ausgebildeter  Menschen  im 
fünfzehnten  Jahrhundert,  das  harmonische  Aus- 
runden ihres  geistigen  und  äusseren  Daseins, 
die  Vollendung  der  Persönlichkeit.  Er  führt  die 
Worte  eines  der  Grössten  jener  Zeit,  eines  Ur- 
bildes des  uomo  universale  an,  welcher  sagt: 
»Die  Menschen  können  von  sich  aus  alles,  wenn 
sie  nur  wollen.  Mitten  in  die  Welt  habe  ich 
dich  gestellt,  spricht  der  Schöpfer  zu  Adam, 
damit  du  um  so  leichter  um  dich  schauest  und 
sähest  alles,  was  darinnen  ist.  Ich  schuf  dich 
als  ein  Wesen,  weder  irdisch  noch  himmlisch, 
weder  sterblich  noch  unsterblich,  allein,  damit 
du  dein  eigner  freier  Bildner  und  Überwinder 
seiest;  du  kannst  zum  Tier  entarten  und  zum 
gottähnlichen  Wesen  dich  wiedergebären.  Die 
Tiere  bringen  aus  dem  Mutterleibe  mit,  was 
sie  haben   sollen;   die  höheren  Geister  sind  von 


—    115    — 

Anfang  an  oder  bald  hernach,  was  sie  in  Ewig- 
keit bleiben  werden.  Du  allein  hast  eine  Ent- 
wicklung, ein  Wachsen  nach  freiem  Willen,  du 
hast  Keime  eines  allartigen  Lebens  in  dir.« 

Wenn  man  solche  Worte  der  Leo  Battista, 
der  Alberti,  Pico  und  anderer  ihrer  edelsten 
Zeitgenossen  erwägt,  dann  fragt  man  sich,  wie 
viele  unter  den  Nachgebornen,  Lebenden  dieses 
Bildungsideal  verwirklicht  haben?  Unsere  moderne 
Bildung  ist  mehr  in  die  Breite  gegangen,  umfasst 
mehr  Gregenstände  des  Wissens,  aber  sie  hat 
sicher,  im  Vergleich  mit  jenen,  an  Tiefe  ver- 
loren, an  dem  inneren  Grund,  dem  die  Blüte 
der  wahren  Schönheit  entwächst. 

Auch  Burckhardt  sagt:  »Laut  genug  pflegt 
auch  unser  laufendes  Jahrhundert  den  Wert 
der  Bildung  überhaupt  und  den  des  Altertums 
insbesondere  zu  proklamieren.  Aber  eine  voll- 
kommen enthusiastische  Hingebung,  eine  An- 
erkennung, dass  dieses  Bedürfnis  das  Erste 
von  allen  sei,  findet  sich  doch  nirgends,  wie 
bei  jenen  Florentinern  des  fünfzehnten  und  An- 
fang des  sechzehnten  Jahrhunderts.« 


Es  muss  wohl  den  Menschen  ein  tief  inne- 
wohnendes Bedürfnis  sein.  Feste  zu  feiern, 
denn  von  den  ältesten  Zeiten  an  haben  sie 
besondere  Tage  ausgezeichnet  und  ihnen  eine 
andere  Bedeutung  gegeben  als  den  übrigen. 
Diei^f  nächste  Veranlassung  hierzu  mag  das  Be- 
dürfnis der  Ruhe  gewesen  sein.  Das  Leben 
verpflichtet    den    Menschen    zur    Arbeit,    seine 

8» 


—     ii6    — 

Neigung  ladet  ihn  zum  Genuss  ein.  Tiefsinnige 
Gesetzgeber,  wie  Moses  z.  B.,  begriffen  dies ;  und 
das:  »Sechs  Tage  sollst  du  arbeiten  und  den 
siebenten  sollst  du  ruhen«  war  ein  auf  die  Be- 
dürfnisse der  menschlichen  Natur  gegründetes 
Gesetz.  Bei  dem  lebensfrohsten  Volk  der  alten 
Welt,  den  Griechen,  führte  dies  Bedürfnis  eine 
Menge  festlicher  Tage  herbei,  an  welchen  das 
künstlerische  Volk  sich  seiner  Kraft  und  Ge- 
schicklichkeit, seiner  Dichter  und  Sänger,  ja 
seiner  Götter  freute.  Ihm  musste  selbst  noch 
der  tragische  Schluss  des  Lebens,  der  Tod  auf 
dem  Schlachtfeld,  ein  festliches  Gepräge  haben, 
sie  kämmten  und  bekränzten  sich  dazu  wie  zu 
einem  Fest.  Der  Kultus  aller  Religionen  baute 
auf  dies  Bedürfnis,  indem  er  eine  Menge  Fest- 
tage einsetzte  zu  Ehren  der  Götter  oder  Gottes, 
an  welchen  die  Menschen  sich  inniger  in  die 
Nähe  der  Unsichtbaren  versetzen  und  eine  ver- 
trautere Gemeinschaft  mit  ihnen  pflegen  sollten. 
Ganz  besonders  tat  dies  die  katholische  Kirche, 
und  es  ist  das  ohne  Zweifel  ein  grosses  Mittel 
ihrer  Macht  gewesen  und  ist  es  noch.  Dies  Be- 
dürfnis, in  Gemeinschaft  mit  andern  Stunden 
und  Tage  festlich  zu  begehen,  wird  auch  bleiben, 
wenn  viele  der  gewesenen  Feste  ihre  Bedeutung 
verloren  oder  gewechselt  haben.  So  wie  das 
Weihnachtsfest  ursprünglich  der  Feier  des  wieder- 
kehrenden Lichts  geweiht  war,  und  wie  das 
Osterfest  sogar  von  den  alten  Frühlingsgöttem 
den  Namen  beibehielt,  und  nichts  war  als  Früh- 
lingsfest,  bis  sie  dann  beide  in  den  christlichen 


—     117    — 

Kultus  übergingen,  so  wird  vielleicht  eine  neue 
Zeit  ihnen  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  zurück- 
geben. Wenn  die  Sonne  uns  hinauslockt  auf 
neu  ergrünte  Wiesen,  wo  die  ersten  Veilchen 
uns  entgegenduften,  warum  sollten  wir  nicht 
ein  heilig  schönes  Fest  in  Verehrung  der  all- 
gewaltigen Schöpfungskraft  der  Natur  feiern,  die 
uns  an  ein  ewiges  Dasein  glauben  lehrt,  indem 
sie  immer  von  neuem  den  Tod  in  Leben  ver- 
wandelt und  aus  der  scheinbaren  Verwesung 
strahlende  Schönheitsformen  hervorgehen  lässt? 
Wenn  die  Menschheit  einmal  wieder  die  jetzige 
Phase  ihres  Entwicklungskampfes  bestanden  hat, 
so  kann  man  mit  Recht  hoffen,  dass  eine  Zeit 
neuer  Blüten  kommen  wird,  wo  das  ästhetische, 
künstlerische  Bedürfnis  neue  Feste  schafft,  reicher 
und  schöner  als  alles  Dagewesene,  weil  sie  einem 
neuen,  reicheren  und  schöneren  Zustand  der  Ge- 
sellschaft entsprechen. 


Wenn  nur  erst  die  Einsicht,  dass  dieses 
Leben  nichts  ist  als  Erscheinung  des  Seins, 
mehr  verbreitet  sein  wird,  wie  viel  falscher 
Wahn,  wie  viel  törichte  Sucht  und  Begierde 
werden  alsdann  aufhören !  Durch  das  Schöne 
und  Ehrwürdige  das  religiöse  Gefühl  wecken, 
welches  in  seinem  tiefsten  Grund  nichts  anderes 
ist  als  die  Ahnung  des  Idealen,  Vollendeten, 
das  ist  Aufgabe  der  Erziehung,  aber  ohne  Kirche, 
ohne  Hierarchie,  ohne  bindende  Dogmen. 


—     ii8     — 

Die  wahren  Schmerzen  sind  die,  welche  uns 
von  denen  kommen,  die  wir  am  meisten  lieben, 
und  die  uns  am  meisten  lieben.  Alles  übrige 
ist  roba  da  nulla,  graue  Wolken,  welche  vor- 
überziehen. Verwundeter  Stolz,  verletzte  Eitel- 
keit, getäuschte  Hoffnung  etc.,  alles  das  ist  bitter, 
aber  es  trifft  nicht  dort  unten  an  der  Quelle  des 
Lebens. 


Fühlte  mich  heute  wie  eine  Sibylle,  schaute 
die  Wahrheit  in  den  Tiefen  der  Erscheinung; 
auch  Christus  ein  Kunstwerk;  bewusster  Wahn 
einzige  Religion;  alles  nur  Symbol I 


Man  kann  das  Schicksal  nicht  zwingen  und 
ebensowenig  die  Charaktere,  die  unveränderlich 
sind. 


Auch  der  Schmerz  vergangen I  ein  Tropfen 
im  Ocean  des  Gewesenen. 


Landleben  in  Italien* 


An  einem  Abend  auf  einem  Landsitze  Ming- 
hettis  in  den  Apenninen  hatten  wir  eine  Dis- 
kussion über  das  Weltsystem ;  wir,  die  Bewohner 
der  Villa,  der  katholische  Pfarrer  des  Orts  und 
ein  Franziskanermönch,  der  bei  ihm  zu  Besuch 
war.  Beide  waren  Anhänger  Rosminis.  Der 
Franziskaner,  ein  geistig  angeregter,  feuriger  Mann, 
stellte  die  Behauptung  auf,  dass  die  in  der  Materie 
wirkenden  Kräfte  der  Anziehung  und  Abstossung 
immer  latent  dagewesen  seien,  bis  ein  allmäch- 
tiges Schöpfungswort  sie  in  das  Leben  gerufen 
habe.  Ich  entgegnete  ihm,  dass  es  doch  wohl 
vernunftgemässer  sei,  zu  denken,  dass  die  eine 
Weltkraft  in  ihrer  doppelten  Äusserung  nicht 
passiv,  sondern  von  Ewigkeit  her,  in  der  Materie 
wirkend  gewesen  sei,  deren  Qiaos  sie  geschieden 
und  gestaltet  habe.  Ebenso  widersprach  ich  ihm, 
als  er  die  Realität  von  Zeit  und  Raum  behaup- 
tete, und  erklärte  sie  für  ein  blosses  Bedürfnis 
des  Subjekts,  das,  beim  Erkennen   des  Neben- 


—      I20      — 

einander  den  Begriff  des  Raums,  und  beim  Er- 
kennen des  Aufeinander  den  der  Zeit  nötig 
habe.  Der  Mönch  war  erstaunt,  aber  nicht  be- 
leidigt; man  sah,  dass  religiöse  Vorurteile  ihn 
nicht  hinderten,  freieren  Gedanken  gerecht  zu 
werden  und  sie  zu  weiterer  Betrachtung  aufzu- 
nehmen. Er  hatte  entschieden  ein  hohes  sittliches 
Bewusstsein  seines  Standes,  und  zu  anderen  Zei- 
ten hätte  vielleicht  ein  Savonarola  aus  ihm  wer- 
den können. 

Ich  sprach  nachher  infolgedessen  mit  Ming- 
hetti  über  Rosmini,  und  Hess  mich  über  dessen 
Philosophie  helehren.  Minghetti  nannte  ihn 
den  Nachfolger  Kants,  nur  habe  er  dessen 
Kategorien  auf  eine  einzige  beschränkt,  auf  das 
Sein  (l'essere).  Nur  dem  Menschen  habe  er  das 
Verständnis  durch  die  Intelligenz  zugeschrieben, 
während  die  Tiere  allerdings  auch  Eindrücke 
hätten,  aber  nur  ein  Verständnis  der  Sensibilität. 
Der  Mensch  aber  verstehe  das:  es  ist,  und  von 
dem  Augenblick  an,  wo  er  das  verstehe,  mache 
sich  das  Licht  des  Geistes  geltend,  und  könne 
er  reden.  Die  Tiere  könnten  nicht  reden,  weil 
ihnen  der  Begriff  des  Seins  fehle.  Aber  dies  Sein 
sei  noch  nicht  Gott,  nur  gleichsam  die  Lein- 
wand, auf  welcher  sich  alle  übrigen  Wahr- 
nehmungen •  zeichnen,  wie  auch  die  Kategorien 
Kants  Beobachtungen  der  Sinne  seien.  Das 
wirkliche  Sein  Rosminis  aber  ist  Gott;  das 
gewordene  Sein  ist  das  Wort,  der  Sohn;  und 
das  ideale  Sein:  der  heilige  Geist.  Rosmini 
stand  jedoch  nicht  ausserhalb  der  Kirche. 


—      121       — 

Ausser  dem  Landsitz,  auf  welchem  diese 
Gespräche  stattfanden,  besass  Marco  Minghetti 
dicht  vor  den  Toren  von  Bologna,  seiner  Vater- 
stadt, eine  anmutige  Villa,  deren  Geschichte 
interessant  ist,  wie  die  so  vieler  kleiner,  jetzt  in 
den  Privatbesitz  übergegangener  Orte  in  Italien. 
Der  Hügel,  auf  dem  die  Villa  liegt,  wurde  früher 
in  den  Reisehandbüchern  als  eine  der  Sehens- 
würdigkeiten von  Bologna  angeführt,  da  sich  auf 
demselben  die  Kirche  von  St.  ApoUonia  di  Mezza- 
ratte  befand,  deren  Fresken  aus  der  Schule  Giottos 
und  ein  Teil  derselben  von  ihm  selbst  herrühren. 
Jetzt  gehört  diese  Kirche  schon  seit  vielen  Jahren 
zu  dem  Besitztum  Minghettis;  sie  ist  dem  Gottes- 
dienst entzogen  und  mit  dem  Landhaus  ver- 
bunden. 

Schon  seit  mehreren  Jahren  hatte  mich  das 
Schicksal  mit  Donna  Laura  Minghetti,  der  Frau 
Marco  Minghettis,  zusammengeführt.  Nicht  in 
Rom,  da  ich  mich  der  vornehmen  römischen 
Gesellschaft  nicht  mehr  angeschlossen  hatte,  weil 
mir  sowohl  die  Gesundheit  wie  die  Lust  fehlten, 
ein  müssiges  Gesellschaftsleben  aufs  neue  zu 
beginnen,  sondern  in  Bayreuth,  wohin  sie  mit 
ihrer  kunstliebenden  Tochter,  einer  der  eifrigsten 
Befbrderinnen  des  Bayreuther  Unternehmens  und 
der  glühendsten  Verehrerinnen  Wagnerischer 
Musik,  zu  den  Festspielen  im  Jahre  76  gekommen 
war.  Die  Bekanntschaft  setzte  sich  in  Rom  fort 
und  wurde  bald  zu  aufrichtiger  Freundschaft,  die 
ich  ihr  um  so  höher  anrechnete,  als  sie,  die 
geistreiche  schöne,  liebenswürdige  Frau,  eine  der 


—      122      — 

gefeiertsten  Erscheinungen  der  italienischen  Ge- 
sellschaft war,  ich  hingegen  ein  so  stilles,  weit- 
abgewandtes Leben  führte,  dass  ich  einem  glän- 
zenden Weltkind  wenig  zu  bieten  hatte.  Dank- 
bar aber  nahm  ich  es  an,  dass  sie  mich  in  den 
engeren  Kreis  ihres  Hauses  zog,  wo  sich  eine 
Anzahl  der  in  Politik  wie  in  Wissenschaft  bedeu- 
tendsten Männer  versammelten,  und  wo  unaus- 
gesetzt ein  geistig  angeregter  Verkehr  herrschte. 

Hier  lernte  ich  so  zu  sagen  die  zweite  Schicht 
der  hervorragenden  Männer  der  italienischen  Ge- 
sellschaft dieses  Jahrhunderts  kennen.  Die  erste 
Schicht  war  die  jener  Emigrierten,  jener  Idealisten, 
die  im  Exil  unter  schweren  Prüfungen  festhielten 
an  ihrem  Ideal  eines  vom  Fremdjoch  befreiten, 
zu  neuer  Blüte  auferstandenen,  einigen  Vater- 
lands. Sie  hatten  in  hoher  Idealität  alles  geopfert, 
weil  sie  die  Verwirklichung  ihrer  Hoffnung  für 
möglich  hielten,  und  waren  zum  grossen  Teil 
bitter  enttäuscht  gestorben.  Diese  zweite  Schicht 
waren  die  Männer  der  klugen,  berechneten  Tat, 
der  Praxis  und  des  Erfolges;  gebildete,  recht- 
schaffene Leute,  angenehm  imUmgang,  konservativ 
insofern,  als  sie  das  Erreichte  festzuhalten  suchten, 
ohne  nach  Höherem  zu  streben,  und  ohne  die 
Idealität,  welche  jene  ersten  umgab.  Hier  sah 
ich,  ausser  Minghetti  selbst,  als  die  Bedeutendsten : 
Ruggiero  Bonghi,  Giovanni  Morelli,  Francesco 
Brioschi. 

Bonghi  war  einer  jener  glänzend  geistreichen, 
kritisch  und  satirisch  veranlagten  Geister,  wie 
sie   in   den   romanischen   Völkern   häufiger   vor- 


—     123     — 

kommen,  als  in  den  germanischen.  Wenn  der 
kleine,  hässliche  Mann  zugegen  war,  konnte  man 
sicher  sein,  dass  es  in  der  Unterhaltung  sprühte 
und  blitzte  von  geistreichen  Apergus,  witzigen 
Einfallen,  scharfen  Bemerkungen,  die  alle  oft  mehr 
im  Augenblick  blendeten,  als  sie  bei  ruhiger 
Prüfting  Wert  behielten,  besonders,  wenn  das 
schallende  Lachen,  das  sie  meist  begleitete  und 
Ansteckendes  hatte,  weil  es  so  spontan  und 
herzlich  kam,  verstummt  war.  So  sagte  er  ein- 
mal, als  von  Napoleon  I.  die  Rede  war:  »C'etait 
un  grand  homme  vulgaire.«  Ich  erlaubte  mir 
zu  bemerken,  dass  es  mir  zweifelhaft  schiene,  ob 
ein  grosser  Mensch  vulgär  sein  könne,  oder  ein 
•vulgärer  Mensch  gross,  aber  die  Phrase  hatte 
gezündet,  und  der  Einwand  ging  ohne  Lösung 
vorüber.  Ein  anderes  Mal,  als  er  bei  Tisch 
neben  mir  sass,  kam  er  auf  den  Faust  zu  sprechen 
und  sagte,  das  Gretchen  sei  ein  sehr  ordinäres 
Geschöpf,  da  es  sich  durch  eine  Kette  verführen 
Hesse.  Dies  war  mir  nun  allerdings  ein  so  seichtes 
Urteil,  dass  von  der  Zeit  an  seine  Kritik  allen 
Wert  bei  mir  verlor,  und  dass  sich  eine  Art 
Entfremdung  zwischen  uns  bildete,  die  sich  bis 
zu  seinem  Tod  nicht  ausglich.  Auch  als  Politiker 
war  er  keiner  von  jenen  unerschütterlich  festen 
Charakteren,  wie  ich  sie  in  jener  ersten  Schicht 
gekannt  hatte.  Selbst  seine  näheren  Freunde 
waren  oft  ärgerlich  über  die  Inkonsequenzen,  die 
er  sich  als  Politiker  zu  schulden  kommen  Hess. 
Dagegen  aber  war  er  von  einer  Schaßensfähig- 
keit,  die  an  das  UnglaubHche  streifte.     In  dem 


—      124      — 

grossen,  schönen  Arbeitszimmer  seiner  Villa 
standen  drei  Schreibtische  und  auf  ihnen  lagen 
Arbeiten,  durchaus  verschieden  untereinander, 
an  denen  er  zu  gleicher  Zeit,  bald  an  diesem, 
bald  an  jenem  Tisch,  arbeitete.  Was  sein  An- 
denken aber  mehr  ehrt,  als  der  vergängliche 
Glanz  seiner  geistigen  Begabung,  das  sind  die 
zwei,  von  ihm  in  echter  Humanität  geschaffenen 
Anstalten  in  Assisi  und  Anagni,  erstere  für 
die  männlichen,  letztere  für  die  weiblichen 
Waisen  der  armen  Schullehrer.  Die  Anstalt  in 
Anagni  besonders  soll  eine  wahre  Musteranstalt 
sein  und  ist  das  schönste  Monument,  das  er  sich 
selbst  gesetzt  hat.ls 

Giovanni  Morelli  war  eine  durchaus  andere 
Natur  als  Bonghi,  ebenfalls  sehr  charakteristisch 
italienisch,  aber  die  andere  Seite  dieses  reichen 
Nationalcharakters  vertretend.  Aristokratisch  im 
besten  Sinn,  fein,  vornehm  in  (Besinnung  und 
Form,  äusserst  liebenswürdig  und  gütig,  waren 
seine  geistigen  Interessen  ganz  der  Kunst  zuge- 
wandt. Ein  genauer  und  geistvoller  Kenner 
aller  Schulen  und  jedes  einzelnen  Künstlers,  be- 
sonders der  seiner  Heimat,  ging  er  den  Werken 
derselben  auch  im  Ausland  nach,  und  veröffent- 
lichte in  deutscher*^  Sprache,  die  er  vollkommen 
sprach  und  schrieb,  ein  hochinteressantes  Buch 
unter  dem  Pseudonym :  Ivan  Lermolieff.  Er  gab 
darin  zum  Studium  der  Werke  der  bildenden 
Kunst  Anfängern  die  bedeutendsten  Ratschläge 
und  wies  besonders  auf  eigne  Anschauung  und 
genaue   Prüfung   der  Werke   selbst   hin,    anstatt 


—      125      — 

der  unselbständigen  Annahme  der  von  anderen 
aufgestellten  Theorien,  kurz,  empfahl  die  Experi- 
mentalmethode  ebenso  in  der  Kunst,  wie  in  der 
Wissenschaft.  Unter  dem  Ministerium  Minghettis 
waren  ihm  die  Restaurationen  der  alten  Kunst- 
schätze anvertraut,  und  er  hatte  in  Bologna,  wo 
er  damit  anfing,  Vorzügliches  bewirkt,  so  z.  B. 
in  der  Kapelle  der  hl.  Cäcilia  die  Fresken  von 
Costa,  Francia  u.  a.,  ganz  von  den  entstellenden 
Übermalungen  befreit  und  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Gestalt  hergestellt.  Leider  dauerte  das 
Ministerium  und  damit  seine  Beauftragung  nicht 
lange,  sonst  wäre  wohl  manches  schöne  Werk 
von  der  Verunglimpfung  durch  unkundige  Hand 
erlöst  worden.  So  sagte  er  mir  einmal,  als  ich 
meinen  Zorn  über  das  abscheuliche  Blau  auf  dem 
jüngsten  Gericht  des  Michel  Angelo  in  der 
Capeila  Sixtina  aussprach,  es  könne  das  ganz 
leicht  weggenommen  und  das  Gemälde  dadurch 
seinem  ursprünglichen  Zustand  zurückgegeben 
werden.  Aber,  wie  es  ja  leider  allzu  häufig 
geschieht,  auf  den  weisen  Rat  hört  man  nicht 
und  die  Pfuscher  lässt  man  ihr  Handwerk  treiben, 
bis  das  Unersetzliche  verloren  ist.  In  seiner 
Wohnung  in  Mailand  hatte  er  selbst  eine  schätzensr 
werte  Sammlung  edler  Kunstwerke  um  sich 
gebildet,  in  der  sein  Künstlersinn  Erquickung 
und  Befriedigung  fand,  und  manchem  Freunde 
hatte  er  geholfen  bei  dem  Ankauf  von  Kunst- 
sachen das  Echte  zu  unterscheiden  und  nur  das 
Würdige  zu  nehmen.  So  verdankte  der  pracht- 
volle, künstlerische  Besitz  des  Sir  Henry  Lagard, 


—      126      — 

des  ehemaligen  englischen  Gesandten  in  Konstan- 
tinopel, seine  grössten  Schätze  dem  Rate  Mo- 
rellis.  So  fern  sein  ünabhängigkeitssinn  und 
sein  Widerwillen  gegen  alle  leere  Form  ihn  auch 
von  Hofkreisen  hielt,  so  hatte  er  doch  wahre 
Freundschaften  unter  fürstlichen  Personen,  wenn 
diese  seine  künstlerischen  und  geistigen  Sym- 
pathien teilten,  und  es  verging  z.  B.  in  früheren 
Zeiten  fast  kein  Sommer,  wo  er  nicht  irgendwo 
im  nördlichen  Italien  mit  der  nachherigen  Kai- 
serin Friedrich,  damals  noch  Kronprinzess,  zu- 
sammentraf, und  mit  ihr  und  meist  Minghettis 
eine  Zeit  in  kunstgeweihtem  Verkehr  zubrachte. 
Ich  war  gerade  an  einem  Sonntag  Morgen,  zu- 
sammen mit  meinem  jungen  Freunde  Rolland, 
bei  Frau  Minghetti  zum  Frühstück  und  RoUand 
hatte  uns  eben  ganz  herrlich  Bach  gespielt,  als 
ein  Telegramm  aus  Mailand  eintraf,  welches  den 
Tod  Morellis  anzeigte.  Dass  er  krank  war, 
wussten  wir,  aber  ein  so  rasches  Ende  des  noch 
anscheinend  kräftigen,  noch  in  den  besten  Jahren 
stehenden  Mannes  hatten  wir  nicht  erwartet. 
Frau  Minghetti,  ihm  näher  befreundet  als  ich, 
war  schmerzlich  getroffen,  bat  aber  Rolland  um 
mehr  Musik.  Dieser  schlug  die  ersten  Töne  des 
Trauermarsches  von  Beethoven  an,  da  rief  sie 
aber:  »Nein,  das  nicht,  das  ist  nicht  zu  ertragen,« 
und  so  kamen  wir  zu  Bach  zurück,  und  in  den 
hehren  Tönen  hielten  unsere  Herzen  dem  edlen 
Geschiedenen  die  würdige  Totenfeier. 

Der  dritte    der    oben  Genannten,  Francesco 
Brioschi,  war  wieder  ein  anderer,  von  den  beiden 


—      127     — 

ersten  sehr  verschiedener  Typus.  Man  hätte  ihn 
fiir  einen  Römer  der  antiken  Zeit  halten  können, 
so  eisern  fest  war  sein  Charakter,  sein  Unab- 
hängigkeitssinn, sein  vollständiger  Mangel  an 
eitlem  Ehrgeiz  und  Streben  nach  Auszeichnung 
und  irdischen  Ehren.  Gewiss  gingen  wenige 
Männer  der  italienischen  Generation  von  der  ich 
jetzt  spreche,  so  unbeugsam  fest  ihren  Weg  wie 
er.  Ein  Mann  der  Wissenschaft,  der  berühmteste 
Mathematiker  Italiens,  und  als  solcher  auch  im 
Auslande  gekannt  und  geehrt;  einte  sich  doch 
bei  ihm  das  theoretische  Wissen  mit  dem  un- 
ausgesetzten Trieb  der  Tat,  und  man  kann  sich 
kein  arbeitserfiillteres,  tätig  eingreifenderes  Le- 
ben denken  als  das  seine.  Er  war  Direktor  des 
ausgezeichneten  polytechnischen  Instituts  in  Mai- 
land, und  wie  er  dort  wirkte,  bezeugen  die 
Worte  eines  seiner  Schüler,  der  an  seinem  Grabe 
sagte :  »Er  war  streng  gegen  uns,  indem  er  uns 
zu  Arbeit  und  Pflichterfüllung  anhielt,  aber  er 
war  uns  auch  ein  liebevoller  Vater,  bei  dem  wir 
stets  Rat  und  Trost  fanden.«  Als  Präsident  der 
Lincei,  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Rom,  wurde  er  immer  von  neuem  gewählt, 
wenn  sein  Mandat  zu  Ende  ging,  weil  man  keinen 
Würdigeren  zu  finden  wusste,  und  ausserdem 
leitete  er  unzählige  Kommissionen  und  technische 
Unternehmungen.  Was  ihn  mir  aber  besonders 
wert  machte,  das  war  sein  tiefes  Verständnis 
für  die  subtilsten  Regungen  der  Seele,  fiir  die 
feinsten  Unterschiede  von  Schein  und  Wesen; 
das    war    sein  Hass    gegen   alles   Unechte   und 


—       128      — 

Halbe,  das  war  sein  Idealismus,  der  ihm  die  ab- 
strakteste aller  Wissenschaften  verklärte  und  nach 
den  nüchternst-realistischen  Geschäften  des  Tages 
am  Abend  ideale  Befriedigung  brachte.  So  sagte 
er  mir  einmal:  »Wenn  ich  mehrere  Stunden  der 
Nacht  mit  tiefster  Konzentration  gearbeitet  habe, 
um  ein  schwieriges  Problem  zu  lösen,  und  Kopf, 
Augen  und  Hand  müde  sind,  dann  lehne  ich 
mich  im  Stuhl  zurück  und  fühle  mit  Wonne  et- 
was Erhabenes,  eine  himmlische  Harmonie  in 
mir.« 

Das  sind  die  Momente,  wo  sich  die  Seele 
als  Teil  der  universellen  Einheit  fühlt,  indem 
sie  mithilft  an  dem  ewigen  Werk  des  Schaffens. 
Wie  versteht   man   dann   die  Worte  aus  Faust: 

»So  schaff   ich  am  sausenden  Webstuhl  der 

Zeit, 
Und   wirke   der  Gottheit  lebendiges  Kleid.« 

Denn  alles  wahre  Schaffen,  und  sei  es  auch 
nur  die  Pflege  heiliger  Gefühle  im  Innern  des 
Herzens,  heisst  die  Gottheit  zur  Erscheinung 
bringen,  ihr  lebendiges  Kleid  wirken. 

Dieser  Mann  des  eisernen  Willens,  der  un- 
verwüstlichen Tatkraft  schien  auch  von  einer 
so  eisernen  Gesundheit,  dass  auch  seine  nächsten 
Freunde  keine  Sorge  um  ihn  hatten  und  man 
kaum  an  die  Möglichkeit  von  Krankheit  glaubte. 
Doch  war  es  geschehen,  dass  er  im  vorigen 
Jahr,  in  heissester  Sommerglut  in  den  Bergen 
in  Sicilien  mit  einer  hydraulischen  Arbeit  be- 
schäftigt, den  Todeskeim  empfing,    der  ihn   an- 


—      129     — 

fangs  dieses  Jahres  ins  Grab  brachte.  Er  war 
eine  von  jenen  stark  ausgeprägten  Individuali- 
täten, die  man  nie  mehr  vergisst,  und  die  so 
fest  im  Leben  zu  stehen  scheinen,  dass  man 
kaum  an  ihr  Scheiden  glauben  kann,  immer  meint, 
sie  müssten  wieder  da  sein,  und  die  ganz  besonders 
jetzt  in  Italien  immer  seltener  werden.  Mit  ihm 
schied  der  letzte  aus  dem  engen  Kreise  des 
Hauses  Minghetti,  und  auch  dieser  einst  so 
lebenerfiillte  Mittelpunkt  der  römischen  Gresell- 
schaft  gehört  nun  der  Vergangenheit  an. 

Aber  nicht  nur  hervorragende  Italiener,  auch 
bedeutende  Fremde  aus  allen  Weltgegenden  fanden 
sich  in  dem  gastlichen  Hause  ein.  Eine  Persönlich- 
keit, die  mich  sehr  interessierte,  hatte  ich  schon 
bei  der  Fürstin  Caroline  Wittgenstein  kennen 
gelernt.  Es  war  der  Bischof  Strossmayer  aus 
Kroatien,  bekannt  durch  seinen  mutigen  Wider- 
stand gegen  die  Infallibilität  des  Papstes.  Die 
Fürstin,  mir  damals  ausserodentlich  geneigt,  hatte 
ihm  von  den  »Memoiren  einer  Idealistin«  ge- 
sprochen, und  er  sagte  mir,  er  wolle  sie  lesen, 
denn  auch  er  sei  ein  Idealist.  Er  besuchte  mich 
darauf,  und  ich  erkannte  seine  echt  slavische 
Natur,  die  ihn  sich  viel  unmittelbarer,  stürmi- 
scher, und  allerdings  ideeller  äussern  liess,  als 
ich  es  bei  römischen  Priestern  gefunden  hatte. 
Einmal  war  ich  mit  ihm  zusammen  bei  Minghettis 
zum  Frühstück,  wo  auch  Bonghi  und  einige  an- 
dere Italiener  anwesend  waren.  Er  sprach  mit 
tiefem  Ernst  über  die  Schuld  der  Curie,  die  darin 
bestehe,    dass   sie   den    Völkern   keine   Freiheit 

Meysenbng,  IV.  9 


—     I30    — 

gäbe,  während  ihre  Aufgabe  sein  müsste,  sie 
Tugend  und  freies  Denken  zu  lehren.  Dann  er- 
zählte er  uns  von  dem  Bau  einer  Kathedrale,  die 
er  in  Agram  auffuhren  liess,  und  die  grösser  werden 
solle,  als  die  Peterskirche,  auch  davon,  wie  er 
gleich  einem  Fürsten  ausreite  zur  Jagd  mit  einem 
Gefolge  von  hohen  Prälaten  und  vornehmen  Herren ; 
dabei  begeisterte  er  sich  im  Lobe  des  Slaventums, 
und  rief  endlich  in  heiterem  Übermut  den 
italienischen  Herren  zu:  »Ihr  seid  die  Alten,  wir 
sind  die  Jungen,  die  Zukunft  gehört  uns!« 

Wird  die  Zukunft  diese  heitere  Zuversicht 
rechtfertigen?  Bis  jetzt  hat  sie  es  noch  nicht 
getan,  und  es  ist  schon  manches  Jahr  seitdem 
verflossen. 

Noch  lieber  aber,  als  diese  Vereinigungen  in 
der  Stadt,  waren  mir  die  Wochen,  die  ich  viele 
Jahre  hindurch,  von  Donna  Laura  liebevoll  ein- 
geladen, bei  ihnen  auf  ihrem  Landsitze  verbringen 
durfte,  ehe  ich  meine  alljährliche  Reise  nach 
Norden  zu  Olga  antrat.  So  war  ich  ein  ein- 
heimischer Gast  auf  dem  oben  genannten  Mezza- 
ratte  geworden,  und  Minghetti  gab  mir  Doku- 
mente und  Urkunden,  aus  denen  ich  die  Ge- 
schichte des  Orts  kennen  lernte.  An  der  Fagade 
der  Kirche  ist  ein  antiker  Kopf  mit  einer 
phrygischen  Mütze  eingemauert,  und  dieses 
christliche  Ornament  erklärt  sich,  wenn  man  er- 
fährt, dass  hier,  zur  Zeit  des  römischen  Reichs, 
ein  Tempel  des  Mithras  stand,  dessen  sieben, 
vom  Kultus  vorgeschriebenen  Eingangsstufen 
noch   an   der   einen   Seite    des   Hügels   sichtbar 


—     131     — 

sind.  Auf  der  Stelle  dieses  Sonnentempels  er» 
baute  um  das  Jahr  1106  eine  der  frühesten 
christlichen  Brüderschaften  ein  Hospital  und 
eine  Einsiedelei,  woselbst  die  armen  Pilger,  die 
zu  den  heiligen  Orten  wallfahrteten,  Aufnahme 
und  Pflege  fanden.  Nahe  bei  dieser  Einsiedelei 
war  die  Richtstätte,  und  die  Brüderschaft  erhielt 
das  Recht,  die  zum  Tode  Verurteilten  auf  den- 
selben vorzubereiten  und  zu  trösten,  welches  Recht 
sie  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  ausübte,  bis 
nach  und  nach  der  reUgiöse  Eifer  erkaltete  und  ihr 
das  Jus  des  Tröstens  entzogen  wurde.  Um  das 
Jahr  1290  wurde  das  »Haus  der  Mitte«  von  den 
Brüdern  der  Konfraternität  der  »Laade  della  Ma- 
donna« (Lob  der  Madonna)  in  Besitz  genommen, 
welche  an  den  Abenden  vor  einem  Festtag 
heraufkamen,  jeder  mit  einem  Körbchen,  das 
Brot  und  Wein  enthielt,  bewaffnet,  um  hier  zu 
beten.  Sie  sammelten  Geld,  um  die  Kirche  zu 
bauen,  zu  der  sie  auch  die  Einsiedelei  ge- 
brauchten, und  beschlossen  dieselbe  nach  und 
nach  würdig  ausmalen  zu  lassen.  In  der  Zeit 
zwischen  13CK)  und  1400  blühte  in  Bologna 
gleichzeitig  mit  der  Entwicklung  der  Malerei  in 
Toscana  die  Malerschule  des  Manno  und  des 
Franc o,  welchen  sogar  Dante  der  Erwähnung 
wert  hielt.  Einer  der  Schüler  Francos  war 
Vitale  von  Bologna,  welcher  den  Meister  an 
Freiheit  und  Anmut  der  Bewegung  übertraf. 
Ihm  schreibt  man  das  Fresko  im  Innern  der 
Kirche  von  Mezzaratte  über  dem  Haupteingang 
zu.    Es  stellt  die  Greburt  Christi  dar,  und  einige 

9* 


—     132     — 

Engel  sind  noch  gut  erhalten  und  sehr  lieblich. 
An  der  rechten  Seite  der  Kirche  befinden  sich 
Scenen  aus  dem  alten  Testament,  von  Abraham 
an  bis  Joseph,  und  darunter  steht:  Jacobus  f. 
Auch  dieser  Jacobus  war  ein  Schüler  des  Franco. 
Ein  anderer  Schüler  desselben  Meisters  war  Si- 
mone da  Crocefissi,  der  diesen  Beinamen  erhalten 
hatte,  weil  er  im  Anfang  nichts  anderes  malte,  als 
immer  Christus  am  Kreuz,  »der  aus  Liebe  zu 
uns  diesen  Tod  erlitt«.  Vitale  hingegen  wollte 
diesen  Gegenstand  nie  malen,  denn  er  sagte,  es 
sei  mehr  als  zu  viel,  dass  die  Juden  Christus 
einmal  an  das  Kreuz  geschlagen  hätten,  und  dass 
ihn  die  schlechten  Christen  täglich  mit  ihren 
Sünden  durchbohrten.  Jacobus  malte  im  An- 
fang nur  Madonnen  mit  dem  Kinde,  später  aber 
vereinigte  er  sich  mit  Simone,  und  sie  malten 
zusammen  verschiedene  Gegenstände  mit  so 
lebendiger  Komposition  und  so  viel  Ausdruck, 
als  es  die  Entwicklungsstufe  jener  Zeit  zuliess. 
Beider  Namen  finden  sich  vereint  an  der  linken 
Seite  der  Kirche,  unter  Scenen  aus  dem  neuen 
Testament,  an  denen  sich  auch  andere  Maler 
der  Schule  von  Bologna  beteiligten.  Den  Haupt- 
wert aber  enthielten  diese  Fresken  durch  die 
vier  Felder  aus  der  Geschichte  Moses,  welche 
Giotto  gemalt  hat;  als  er  sich  einige  Zeit  bei 
den  Freunden  in  Bologna  aufhielt,  liess  er  ihnen 
dies  Andenken  zurück.  Was  noch  davon  erhalten 
ist,  zeigt  allerdings  die  Hand  des  grösseren  Meisters, 
und  als  Michel  Angelo  in  Bologna  bei  Julius  11. 
war,  soll  er  diese  Fresken  sehr  bewundert  haben. 


—     133    — 

Am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  kam  die 
Kirche  mit  dem  dazu  gehörigen  Bodenbesitz  in 
die  Hände  eines  Spekulanten,  welcher  die  Hälfte 
derselben  in  Wohnräume  umgestaltete  und  die 
Fresken  mit  Kalk  überzog.  Als  Canova  nach 
Bologna  kam,  besuchte  er  die  Kirche  und  sagte, 
es  müssten  dort  Fresken  gewesen  sein,  nahm 
ein  Geldstück  und  fing  an,  den  Kalk  wegzu- 
kratzen und  siehe  dal  es  erschien  ein  Kopf.  Im 
Jahre  1820  erstand  Minghettis  Vater  die  ganze 
Besitzung,  aber  erst  nach  des  Vaters  Tod  liess 
der  Sohn  den  Kalk  wegwaschen  und  was  noch 
von  den  Fresken  übrig  war  der  Beschauung  zu- 
rückgeben. Jetzt  ist  dieses  Mezzaratte  durch 
die  schöpferische  Hand  der  Besitzer  zu  einem 
blühenden  Idyll  geworden,  welches  die  Höhe, 
auf  der  das  künstlerisch  angelegte  Wohnhaus 
mit  der  Kirche  steht,  umgibt.  Rechts  und 
links  von  dieser  Höhe  ziehen  sich  ähnliche  grüne 
Ausläufer  der  Apenninen,  mit  stolzen  Gebäuden 
gekrönt,  hin,  und  zu  ihren  Füssen  liegt  die  Stadt 
Bologna  und  die  weite,  fruchtbare,  mit  Villen, 
Städten,  Dörfern  besäete  Ebene  der  Romagna, 
an  deren  Horizont  man  bei  hellem  Wetter  den 
Silberstreifen  der  Adria  und  gegen  Norden  die 
Schneefelder  [der  Ortler-Alpengruppe  erblicken 
kann. 

In  diesem  Tuskulum  ruhte  der  italienische 
Staatsmann  von  den  heissen,  leider  oft  so  un- 
fruchtbaren Kämpfen  in  der  Aula  von  Monteci- 
torio  in  Rom  aus.  Es  war  eine  klassische  Ruhe, 
könnte  man   sagen,   denn  aus  der  reichhaltigen, 


—     134    — 

hier  befindlichen  Bibliothek  suchte  er  vorzugs- 
weise die  lateinischen  Schriftsteller  hervor,  und 
in  erster  Morgenfrühe  konnte  man  ihn  im  Garten 
wandeln  sehen,  ein  Buch  in  der  Hand  haltend 
und  eifrig  lesend.  In  dem  einen  Sommer  waren 
es  besonders  die  Metamorphosen  des  Ovid ;  »Es 
ist  gut,«  sagte  er,  »den  Tag  mit  etwas  Poesie 
zu  beginnen.«  Beim  Frühstück,  das  im  Garten 
eingenommen  wurde,  las  er  dann  das  eine  oder 
andere  Schöne  den  Anwesenden  vor  und  zwar 
so  geläufig  italienisch,  als  stände  es  so  ge- 
schrieben, denn  ihm  war  die  lateinisehe  Sprache 
so  geläufig  wie  seine  Muttersprache.  Die  edle 
Gastfreundschaft,  die  auf  Mezzaratte  geübt  wurde, 
lockte  im  Sommer  viele  der  nächsten  Freunde 
herbei,  welche  einer  nach  dem  anderen  kamen, 
um  sich  einige  Tage  auch  von  den  Kämpfen 
auf  politischem  und  den  Arbeiten  auf  wissen- 
schaftlichem Gebiet  auszuruhen.  Am  Abend, 
wenn  die  erquickende  Frische  eintritt,  welche 
das  Nachtleben  der  Italiener  so  natürlich  und 
köstlich  macht,  kamen  Besuche  aus  der  Stadt 
herauf  aus  allen  Schichten  der  gebildeten  Ge- 
sellschaft; die  Aristokratie  von  Bologna,  die 
so  viele  geschichtlich  berühmte  Namen  aufzu- 
weisen hat,  wie  Bentivoglio,  Pepoli,  Gozzadini 
etc.,  mischte  sich  hier  vorurteilslos  mit  den 
anderen  Ständen  und  besonders  fehlt  es  nicht 
an  Künstlern,  welche  die  kunstsinnige  Gemahlin 
Minghettis  mit  Vorliebe  herbeizieht.  Beim 
Licht  der  Sterne  sitzt  man  im  Garten  bei  ein- 
ander und  in  der  ungezwungenen  Weise,  welche 


—    135    — 

die  italienische  Geselligkeit  zur  angenehmsten 
der  Welt  macht,  berührt  die  Unterhaltung  bald 
Heiteres,  ohne  jedoch  banal  zu  werden,  bald 
Ernstes,  das  mit  Eifer  und  Gründlichkeit  be- 
sprochen wird, 

Bologna  ist  ja  noch  immer  eine  der  geistig 
angeregtesten  Städte  Italiens,  wenn  es  auch  nicht 
mehr  den  Ruhm  besitzt,  die  erste  Hochschule 
Europas  zu  sein.  Der  bedeutendste  unter  den 
jetzt  lebenden  Dichtem  Italiens,  Carducci,  lebt 
in  Bologna.  An  der  medizinischen  Fakultät  der 
Universität  befand  sich  einer  der  ersten  Chirur- 
gen der  Jetztzeit,  Professor  Loreto.  Er  kam 
öfter  nach  Mezzaratte  und  seine  anziehende  Per- 
sönlichkeit, sein  Wissen  und  seine  reichen  Er- 
fahrungen sicherten  ihm  stets  einen  ICreis  wiss- 
begieriger Zuhörer.  Besonders  wussten  ihm  die 
Frauen  Dank,  dass  er  ihrem  Geschlecht  die 
edelste  Anerkennung  zollte  und  sie  nicht  nur  an 
geistiger  Begabung  dem  Manne  gleichstellte, 
sondern  infolge  unzähliger  Beobachtungen  ihnen 
auch  den  grösseren  Heroismus  zusprach. 

Öfter  kam  das  Grespräch  freilich  auch  auf 
traurige  Zustände  der  Öffentlichkeit,  besonders 
auf  die  Vernachlässigung  von  selten  der  Re- 
gierung für  die,  welche  dem  Vaterlande  uneigen- 
nützig und  um  eines  Ideals  willen  gedient  hatten. 
Der  Nepotismus,  der  einst  in  der  päpstlichen 
Romagna  herrschte,  hat  sich  in  den  eben  so 
schlimmen  Protektionismus  verwandelt  und  ruft 
an  den  Universitäten,  Schulen  und  anderen 
Staatsanstalten  ein  System  der  Beförderung  von 


—    136    — 

Günstlingen  hervor,  welche  die  Besoldung  nehmen 
und  nichts  leisten,  während  Fähige,  die  nicht 
um  Gunst  buhlen,  sondern  nur  redlich  ihre  Pflicht 
tun,  zurückgesetzt  werden.  Traurige  Erfahrungen 
dieser  Art  hatten  mehrere  der  Besucher  von 
Mezzaratte  gemacht,  und  manche  waren  so  ent- 
mutigt, dass  sie  dem  Vaterlande  den  Rücken 
wenden  und  ins  Ausland  gehen  wollten.  Ja,  un- 
dankbar war  Italien  von  jeher;  Dante  musste 
ins  Exil  wandern  und  Mazzini  starb  unter 
fremdem  Namen,  unerkannt  auf  der  heimischen 
Erde. 

Oben  in  dem  blütenreichen  Mezzaratte  wurde 
aber  alles  mit  tiefem  Schmerz  empfunden,  was 
dem  Vaterlande  nicht  zur  Ehre  gereicht,  doch 
der  Trost  wurde  auch  da  gesucht,  wo  er  allein 
zu  finden  ist,  in  dem  Gefühl,  die  eigne  Pflicht 
treu  erfüllt  zu  haben,  in  Ausübung  unbestechlicher 
Gerechtigkeit,  und  in  dem  geistigen  Zusammen- 
hang mit  allen  Grossen,  die  vor  uns  dagewesen 
sind,  und  deren  Bestes,  befreit  von  den  Mängeln 
der  Sterblichkeit,  in  der  herrlichen  Bibliothek 
von  Mezzaratte  zu  finden  ist. 

Noch  einfacher,  intimer,  und  von  dem  Welt- 
getriebe noch  mehr  losgelöst  war  das  Leben  auf 
der  zweiten,  eine  Stunde  von  Bologna  hoch  in 
den  Apennin^n  gelegenen  grossartigen  Besitzung 
Minghettis  »Sette  Fonti«  genannt.  Da  war  er 
wirklich  Gutsherr;  denn  auf  seinem  Grund  und 
Boden  lebte  eine  Menge  ansässiger  Bauern,  deren 
Wohnungen  hier  und  da  auf  den  in  malerischen 
Formen   auf-   und  absteigenden  Bergflächen  zer- 


—     137     — 

streut  liegen.  Hier  oben  war  er  stets  der  erste, 
den  erwachenden  Tag  zu  begrüssen.  Wenn  ich 
(auch  dort  ein  liebevoll  empfangner  Gast)  in 
früher  Morgenstunde  in  den  Park  hinunter  eilte, 
um  die  balsamische  Luft  einzuatmen  und  unter 
den  uralten  Eichen  dem  Morgengesang  der  Nach- 
tigallen zu  lauschen,  so  sah  ich  ihn  in  seinem 
schlichten  leinenen  Hausrock  und  mit  dem  breit- 
krämpigen  Stohhut  schon  von  einem  Gang  in 
die  schöne  Gebirgswelt,  welche  ihn  umgab,  zu- 
rückkehren und  dann  lag  jene  heitere  Ruhe  auf 
seinem  Antlitz,  welche  nur  die  reinen  Seelen 
kennen,  die  »von  dem  Wust  der  Welt  entladen, 
am  ewig  frischen  Quell  der  Natur  gesund  sich 
baden«.  Darauf  stieg  er  zur  Arbeit  in  sein  mit 
klösterlicher  Einfachheit  eingerichtetes  Schreib- 
zimmer, um  in  der  Stille  die  Konzentration  und 
Stimmung  zu  finden,  welche  ihm  für  seine 
dortige  Beschäftigung  nötig  waren.  Er  schrieb 
seine  Memoiren. 

Am  Nachmittag,  wenn  die  glühenden  Strahlen 
der  Sonne  milder  wurden  und  man  aus  den 
kühlen  Zimmern  wieder  hinauseilte  in  die  won- 
nige Luft,  dann  erschien  auch  Minghetti  auf 
einer  der  grossen,  von  hundertjährigen  Eichen 
beschatteten  Wiesen  des  Parks,  wo  der  kleine 
Kreis  der  Hausgenossen  sich  bereits  gelagert 
hatte  und  von  wo  man  eine  entzückende  Fern- 
sicht genoss :  die  Ebene  der  Romagna  von  Flüssen 
durchschlängelt,  mit  ihrem  Reichtum  an  be- 
wohnten Orten,  am  Horizont  die  funkelnde 
Adria   und  seitwärts  die  auf-   und   abwogenden 


—     138    — 

Linien  der  in  alle  Farbenpracht  getauchten 
Apenninen.  Dann  brachte  er  wieder  ein  Buch 
mit  und  las  vor,  immer  aus  seinen  Klassikern; 
welcher  moderne  Ton  hätte  auch  wohl  in  diese 
klassisch  schöne  Welt  gepasst? 

Bei  diesen  Versammlungen  war  meist  der 
junge  Geistliche  zugegen,  dessen  Pfarrhäuschen 
nebst  der  kleinen  Kirche  dieser  weit  umher  in 
den  Bergen  zerstreut  wohnenden  Gemeinde  dicht 
neben  dem  Herrenhaus  steht.  Der  junge  Geist- 
liche, ein  Bauernsohn  aus  den  Apenninen,  geistig 
sehr  begabt,  verehrte  in  Minghetti  den  Retter 
seiner  Seele,  wie  er  sagte.  Mit  quälenden  Zweifeln 
im  Herzen,  in  dieser  Bergeinsamkeit  von  allem 
geistigen  Verkehr  abgeschnitten,  war  er  der 
Verzweiflung  nahe  gewesen.  Da  kam  Minghetti 
nach  Sette-Fonti  und  lernte  den  Seelenzustand 
des  Armen  kennen.  Er  wurde  der  Arzt  seiner 
Seele,  gab  ihm  die  Schriften  Giobertis  und  Ros- 
minis zu  lesen,  in  denen  der  junge  Mann  ein 
reineres  religiöses  Ideal  fand,  als  das  was  ihm 
bisher  als  Religion  vorgeführt  war,  —  und 
leitete  den  übersprudelnden  Gärungsstoff  dieser 
Intelligenz  in  die  ruhigeren  Bahnen  religiös-philo- 
sophischen Denkens  und  zu  der  treuen  Ausübung 
seines  Amtes,  als  Freund  und  Tröster  der  ihm 
anvertrauten  Armen,  welche  hier  in  der  kümmer- 
lichen Existenz  der  Berge,  in  dem  Pfarrer  den 
Arzt  für  alle  Leiden  suchen. 

Aber  auch  den  Mitgliedern  der  ländlichen 
Gemeinde  wurde  die  väterliche  Fürsorge  Ming- 
hettis    zu    teil.      Kein    Spaziergang    wurde    in 


—     139    — 

der  Abendkühle  in  den  schönen  Umgebungen 
unternommen,  ohne  zugleich  an  einem  der 
Bauernhöfe  vorzusprechen,  Erkundigungen  über 
den  Zustand  der  Familie  einzuziehen  und  eine 
Gabe  zurückzulassen,  alles  in  einfachster  freund- 
licher Weise;  wie  etwas,  was  sich  von  selbst 
versteht.  Und  diese  primitiven,  noch  von  der 
Civilisation  nicht  verdorbenen  Menschen,  die  von 
dem  berühmten  Staatsmann  kaum  etwas  wussten, 
ehrten  in  ihm  den  Menschen,  der  das  Wort 
des  Evangeliums  zur  Wahrheit  machte,  dass 
wenn  die  eine  Hand  gibt,  die  andere  nichts 
davon  wissen  soll.  Eines  Nachmittags,  als  wir 
wie  gewöhnlich  auf  der  Wiese  oben  gelagert 
waren,  kam  eine  über  achtzig  Jahre  alte  Frau, 
von  einer  Ueblichen  jungen  Enkelin  geführt,  hin- 
auf und  trat  vor  Minghetti  hin.  Mit  der  demon- 
strativen Lebendigkeit  ihres  Volkes,  die  auch 
dem  Alter  noch  etwas  JugendHches  gibt,  er- 
zählte sie,  wie  schon  Minghettis  Eltern  so  viel 
Gutes  an  ihr  und  den  Ihrigen  getan  hätten,  wie 
sie  ihn  schon  als  Knaben  gekannt  und  es  einzig 
ihm  verdanke,  dass  sie  jetzt  im  Kreise  von 
Kindern  und  Kindeskindem  ein  ruhiges  Alter 
erlebe.  Nur  eine  Sorge  habe  sie  noch,  nämlich, 
dass  nach  ihrem  Tode  die  Ihrigen  vielleicht  nicht 
mehr  so  brav  bleiben  würden.  »Jetzt  versammle 
ich  sie  alle  Abende  um  mich  und  bete  mit  ihnen 
für  die  Unseren,  die  schon  vor  uns  heimgegangen 
sind,  damit  sie  die  nicht  vergessen  und  gut 
bleiben  um  ihres  Andenkens  willen.  Versprecht 
mir  nun«,  sagte  sie  zu  Minghetti,  »dass  Ihr  über 


—     I40    — 

ihnen  wachen  wollt,  damit  sie  brav  bleiben, 
wenn  ich  gestorben  sein  werde.«  Minghetti 
versprach  es  ihr  ernst  und  feierlich.  >Ach,  nun 
bin  ich  ruhig!«  rief  sie  begeistert  aus,  »hier  kann 
ich  es  nicht  vergelten,  aber  wenn  ich  an  einen 
guten  Ort  komme«  (dabei  sah  sie  gen  Himmel) 
»da  werde  ich's  vergelten  und  für  Euch  beten.« 
Dieser  kleine  Vorgang  trat  vor  meine  Seele, 
als  ich  am  Morgen  des  ii.  Dezember  1886  an 
dem  Ruhebette  stand,  auf  welchem  Marco  Ming- 
hetti, von  Blumenkränzen  umgeben,  lag.  Ein 
schmerzvolles  Leiden  hatte  den  sonst  noch 
rüstigen  Mann  binnen  Jahresfrist  an  das  Ende 
eines  Lebens  geführt,  welches  dem  Vaterlande 
noch  so  nützlich  hätte  sein  können.  Er  wusste, 
dass  er  sterben  würde,  und  sah  dem  Tod  mit 
der  Ruhe  des  Weisen  entgegen.  Ein  paar  Tage 
vor  dem  Ende  war  er  noch  in  der  Kammer  ge- 
wesen und  hatte  dem  Präsidenten,  seinem  Freund, 
gesagt,  er  wünsche,  dass  keine  Kommemoration, 
wie  sonst  üblich,  in  der  Kammer  stattfinde. 
Rasch  nahte  das  Ende  und  er  konnte  sein 
Lager  nicht  mehr  verlassen.  Am  Morgen  vor 
dem  Todestag  war  ich  mit  Ruggiero  Bonghi,  dem 
intimen  Freund  des  Hauses,  bei  Frau  Minghetti 
zum  Frühstück,  da  sie  natürlich  nur  vertraute 
Freunde  sah,  die  kamen,  die  schweren  Stunden 
mit  ihr  zu  teilen.  Wir  mussten  sie  aber  schnell 
verlassen,  da  der  König  und  die  Königin  ihren 
Besuch  ansagen  Hessen,  um  den  treuen  Diener 
und  Freund  noch  einmal  zu  sehen.  Als  beide 
an  sein  Lager  traten,  hatte  er  mit  letzter  Kraft 


—     141     — 

noch  das  kleine  Mützchen,  welches  sein  Haupt 
bedeckte,  abgenommen  und  gesagt:  »Ich  hätte 
noch  gern  meinem  Lande  und  meinem  König 
gedient.« 

Als  ich  am  folgenden  Morgen  wieder  hin- 
ging, um  mir  Nachricht  zu  holen,  fand  ich  alle 
Türen  geöffnet,  und  an  den  bewegten  Mienen 
der  alten  treuen  Diener,  die  nur  leisen  Schrittes 
einher  gingen  und  kaum  vernehmbar  flüsterten, 
sah  ich  schon,  dass  die  letzte  grosse  Stunde 
bevorstand. 

In  dem  Saal  befanden  sich  schweigend  ein 
paar  der  nächsten  Freunde,  am  Kamin  standen 
Depretis,  damals  Ministerpräsident,  und  Giovanni 
Morelli,  der  feine  Kunstkritiker  aus  Mailand,  der 
intimste  Freund  des  Hauses.  Als  Frau  Minghetti 
aus  dem  anstossenden  Zimmer,  wo  der  Sterbende 
lag,  heraustrat  mich  zu  begrüssen,  äusserte  ich 
ihr  den  Wunsch,  ihn  noch  einmal  zu  sehen,  dem 
sie  alsbald  willfahrte,  indem  sie  mich  an  das 
Sterbelager  führte,  an  welchem  ihr  Sohn  stand 
und  dem  schon  in  Agonie  Begriffenen  den 
Schweiss  von  der  Stirne  trocknete.  Er  erkannte 
mich  nicht  mehr,  und  ich  nahm  schweigend  und 
innigst  bewegt  von  ihm  Abschied. 

Am  folgenden  Morgen  kam  ich  hin  und  fand 
die  Leiche  bereits  in  würdig  einfacher  Aus- 
stattung der  Umgebung,  den  Besuchern  zugäng- 
lich. Der  Tod  hatte  den  Ausdruck  schmerz- 
vollen Leidens  verwischt  und  den  Zügen  den 
Stempel  eines  erhabenen  Friedens  aufgedrückt. 
Er   lag    da  in  seiner   schwarzen  Kleidung,    das 


—      142      — 

Bild  des  vollkommenen  Gentleman,  in  der  edel* 
sten  Bedeutung  des  Worts.  An  seinem  Toten- 
bette trauerte  eine  ganze  Nation,  ihr  Herrscher 
an  der  Spitze;  prachtvolle  Blumenkronen,  von 
nah  und  fern  gesendet,  waren  ein  Ausdruck  der 
allgemeinen,  aufrichtigsten  Teilnahme.  Ich  aber 
sah  im  Geist  jenes  alte  Mütterchen  und  all  die 
Armen  aus  den  Bergen  von  Sette-Fonti  vor  mir, 
und  es  war  mir,  als  sähe  ich  sie  eine  Krone 
winden  aus  Tränen  der  Dankbarkeit,  des  Segens 
und  der  Gebete  gläubiger  Herzen  und  sie  nieder- 
legen auf  das  bleiche  ehrwürdige  Haupt.  Diese 
Krone  schimmerte  hell  wie  eine  Aureole  um 
den  Toten,  und  vor  dieser  Vision  sagte  ich  dem 
edlen  Manne  das  letzte  Lebewohl. 


Schöne  Tage. 


Im  Frühling  1881  lud  mich  Frau  Minghetti, 
mir  immer  freundschaftlichst  gesinnt,  ein,  mit 
ihr  einen  Ausflug  nach  Sorrent  zu  machen.  Da 
ich  ohnehin  schon  für  etwas  später  eine  Ein- 
ladung für  den  herrlichen  Süden  hatte,  nahm  ich 
es  mit  Freude  an.  Der  Frühling  war  im  vollen 
Erwachen  und  goss  alle  seine  Zauber  über  die 
Erde  dort  aus.  Bis  Neapel  und  Castellamare 
führte  uns  die  Eisenbahn,  dann  aber  fuhren  wir 
im  offenen  Wagen  den  Weg  längs  des  Meeres 
dahin,  umgeben  von  Wogen  der  Orangenblüten- 
düfte,  da  diese  Strecke  ja  nur  wie  ein  Orangen- 
garten ist.  In  Sorrent  umfingen  mich  liebe  Er- 
innerungen an  den  Winter,  den  ich  mit  Nietzsche 
dort  verlebte,  und  in  Gesellschaft  der  liebens- 
würdigen Freundin  erneuten  sich  schöne  Tage 
in  heiterem  Genuss  der  strahlend  schönen  Welt. 
Wir  trafen  im  Hotel  ausser  anderen  Bekannten 
auch    den   Grafen   Harry   Arnim,    der,    ein  tod- 


—     144    — 

kranker  Mann,  mit  seiner  Familie  hier  weilte. 
Frau  Minghetti  kannte  ihn  von  der  Zeit  seiner 
Gesandtschaft  in  Italien  her,  und  er  gesellte  sich 
uns  oft  zu,  wenn  wir  am  Abend  auf  der  grossen 
Terrasse  des  Hotels,  von  welcher  man  auf  das 
Meer  hinab  sieht,  auf  und  nieder  gingen  und  die 
göttlichen  Frühlingsabende  genossen.  Da  entlud 
sich  das  Herz  des  schwer  Gekränkten  in  bitteren 
Äusserungen  über  das  Unrecht,  das  ihm  nach 
seiner  Ansicht  geschehen  war,  und  in  Ausdrücken 
des  tiefsten,  unversöhnlichen  Hasses  gegen  den, 
welchen  er  für  den  Urheber  der  erlittenen  Ver- 
folgungen hielt.  Er  war  ein  gebrochener,  schwer 
leidender  Mann,  konnte  nichts  tun,  sich  zu 
rächen,  und  das  Gefühl  seiner  Ohnmacht  lastete 
schwer  auf  ihm.  Zuweilen  kamen  aber  auch 
mildere,  fast  mystische  Stimmungen  über  ihn; 
so  sagte  er  eines  Abends,  es  sei  sicher,  dass  wir 
von  einer  unsichtbaren,  besseren,  ätherischen 
Welt  umgeben  seien,  dass  aber  unsere  Sinne 
nicht  fähig  wären,  sie  zu  erkennen.  Wie  wun- 
derte es  mich,  diesen  Gedanken  bei  dem  verbit- 
terten Aristokraten  zu  finden,  und  wie  leid  tat 
es  mir,  dass  er  in  solchen  Gedanken  nicht  den 
versöhnenden  Trost  fand  für  die  tiefe  Kränkung, 
welche  ihm  in  dieser  unvollkommenen,  von  Eitel- 
keit und  Herrschsucht  erfüllten  Welt  zu  teil 
geworden  war. 

Nach  vierzehn  frohen  Tagen  trennte  ich  mich 
von  Frau  Minghetti,  welche  noch  in  Sorrent  zu- 
rückblieb, und  fuhr  nach  Neapel  zu  Wagners, 
die  den  Winter  daselbst  verbracht  und  mich  ein- 


—     145     — 

geladen  hatten,  sie  zu  besuchen.  Sie  wohnten  in 
einer  herrlichen  Villa  am  Anfang  des  Posilippo, 
auf  hohem  Felsen  gelegen,  zu  der  die  Gärten 
terrassenförmig  aufsteigen  und  sich  noch  über 
dieselbe  höher  hinaufziehen.  Von  der  Terrasse, 
unter  dem  von  Säulen  getragenen  Vordach  des 
Hauses,  beherrscht  der  Blick  den  Golf,  die  Stadt 
und  den  schönen  zweigegipfelten  Verräter,  wel- 
cher gerade  in  dem  Frühjahre  in  grosser  Tätig- 
keit war,  und  jeden  Abend  eine  Feuersäule  gen 
Himmel  sandte.  In  diesem  wundervollen  Aufent- 
halt traf  ich  ausser  den  teuren  Freunden,  die 
mich  eingeladen,  zwei  junge,  mir  auch  schon  be- 
kannte Männer,  deren  Gegenwart  den  häuslichen 
Kreis  noch  bereicherte.  Der  eine  war  der  rus- 
sische Maler  Joukoffski,  Sohn  des  ausgezeichneten 
Dichters  und  Übersetzers  deutscher  Meister- 
werke, welcher  Erzieher  Alexander  II.  gewesen 
war.  Joukoffski  wohnte  jedoch  nicht  in  der  Villa, 
sondern  hatte  sein  Atelier  unten  am  Posilip, 
war  aber  oben  der  tägliche  Gast.  Der  andere, 
Heinrich  von  Stein,  war  ein  Bewohner  des  Hauses, 
und  zwar  infolge  einer  seltsamen  Fügung  durch 
meine  Vermittlung.  Er  war  wenige  Jahre  früher 
einen  Winter  in  Rom  und  durch  die  Empfehlung 
eines  Freundes  bei  mir  eingeführt.  Noch  ganz 
jung,  nach  eben  beendeter  Universitätszeit, 
hoch  und  schlank  gewachsen,  hellblond,  ver- 
riet sein  Äusseres  ganz  den  Nordländer,  so- 
wie auch  sein  etwas  steifes,  zurückhaltendes, 
schwer  zum  Ausdruck  kommendes  Wesen.  Er 
wurde  aber  mitteilsam,  als  ich  ihn  bat,  mir  etwas 

Meytenbug,  IV.  lo 


—    146    — 

von  der  sogenannten  Wirklichkeitsphilosophie 
des  Philosophen  Dühring  mitzuteilen,  als  dessen 
Schüler  er  sich  mir  vorgestellt  hatte.  Nun  hielt 
er  mir  kleine  Vorträge  über  die  auf-  und  ab- 
steigende Welle,  unter  welchem  Bild  Dühring  das 
Leben  auffasse,  und  versuchte  mir  den  Idealismus 
des  Realismus  zu  beweisen,  welchem  Axiom  er  sein 
erstes  Buch  geweiht  habe,  das  jetzt  im  Druck 
begriffen  sei.  Alle  Ideen  oder  Annahmen  des 
Transcendentalen  waren  streng  aus  den  Anschau- 
ungen des  jungen  Realisten  ausgeschlossen,  aber 
ich  musste  oft  im  stillen  lächeln,  wenn  ich  den 
reinen  Idealismus  sah,  der  aus  der  ganzen  Natur 
dieses  Jünglings  sprach,  während  er  seinen  Positi- 
vismus verteidigte.  In  demselben  Winter  war 
Paul  Heyse  mit  seiner  Frau  in  Rom,  lebte  aber, 
von  einem  schweren  Schicksalsschlag  getroffen, 
sehr  still  und  zurückgezogen.  Ich  gehörte  zu  den 
wenigen  Begünstigten,  welche  er  zuweilen  be- 
suchte. Stein  erfuhr  das  und  vertraute  mir  an, 
dass  es  sein  lebhafter  Wunsch  sei,  Heyse  kennen 
zu  lernen.  Ich  erzählte  das  demselben  und  er 
ging  freundlich  darauf  ein  und  bestimmte  einen 
Abend,  wo  er  Stein  bei  mir  treffen  wolle.  Wir 
sprachen  dann  über  die  jungen  Schriftsteller  der 
Zeit,  wie  die  so  schnell  zu  Werke  gingen  und 
die  Sache  so  leicht  nähmen.  »Sie  meinen  nur,« 
sagte  Heyse,  »so  ins  Volle  greifen,  hier  einen 
Stern  und  da  einen  Stein  herunter  holen  zu 
können  und  denken  nicht  daran,  welche  Mühe, 
welche  Arbeit  es  unseren  Grossen  gekostet  hat, 
ihre  Werke  zu  schaffen. «    Als  dann  der  bestimmte 


—     147     — 

Abend  kam  und  Heyse  Stein  begrüsst  hatte, 
sagte  er  zu  mir,  ob  ich  mich  unseres  letzten 
Gesprächs  erinnere  über  die  jungen  Schriftsteller 
und  ihre  rasche  Art,  mit  dem  Schreiben  fertig 
zu  werden?  Es  sei  ihm  gerade  wieder  ein  Bei- 
spiel davon  vorgekommen ;  ein  Verleger  aus 
Bonn  habe  ihm  die  Probebogen  einer  Erstlings- 
schrift eines  jungen  Autors  in  dessen  Auftrag 
zugeschickt,  die  ihm  viel  Unreifes  zu  enthalten 
scheine,  sie  sei  halb  Lyrik  halb  Prosa.  Ich  er- 
schrak etwas  bei  diesen  Worten,  da  Stein  mir 
gesagt  hatte,  sein  Buch  werde  in  Bonn  gedruckt, 
und  da  sah  ich,  wie  er  heftig  errötete,  auch 
unterbrach  er  Heyse  und  sagte  rasch,  das  würde 
wohl  sein  Buch  sein,  denn  er  habe  dem  Verleger 
den  Auftrag  gegeben.  Es  war  ein  peinlicher 
Moment,  aber  Heyse  half  uns  allen  Dreien  in 
liebenswürdigster  Art  über  die  Verlegenheit  hin- 
weg, sagte,  er  könne  freilich  nicht  zurücknehmen, 
was  er  einmal  ausgesprochen  habe,  aber  sein 
Urteil  sei  noch  nicht  endgültig,  denn  er  habe 
noch  nicht  fertig  gelesen,  und  habe  schon  in 
dem  lyrischen  Teil  viel  Hübsches  bemerkt. 
Dann  lud  er  Stein  freundlichst  ein,  ihn  zu  be- 
suchen, und  war  so  gütig  und  teilnehmend  für 
ihn,  dass  Stein  ganz  entzückt  von  ihm  war. 

Nach  dieser  kleinen  Begebenheit  lernte  ich 
Stein  immer  mehr  kennen  und  schätzen.  Er 
war  noch  sehr  unfertig  in  seinen  Anschauungen 
und  Urteilen,  aber  sein  edler,  reiner  Charakter 
wurde  mir  schon  völlig  erkennbar  und  erfüllte 
mich    mit     wahrer    Sympathie.      Unter    seinen 

lO* 


—     148     — 

kleinen  Erlebnissen  in  Rom,  die  er  mir  mit- 
teilte, war  auch  ein  Besuch  bei  der  mir  wohl- 
wollend zugetanen  Fürstin  Caroline  Wittgen- 
stein, welche  ihn  nach  seinem  politischen  Glaubens- 
bekenntnis gefragt  hatte.  Er  hatte  sehr  auf- 
richtig seine  Hinneigung  zum  Sozialismus  bekannt, 
worauf  sie  ihm  versicherte,  dass  es  das  höchste 
Interesse  des  Sozialismus  sei,  sich  mit  der  Kirche 
zu  verbinden,  zusammen  würden  sie  der  um  sich 
greifenden  Immoralität  steuern  und  das  Leben 
der  modernen  Gesellschaft  reinigen  und  erneuern. 
Nichts  lag  Stein  ferner  als  solch  ein  Bündnis, 
als  ich  ihn  aber  dann  nach  seinen  Zukunftsplänen 
fragte,  sagte  er,  sein  höchster  Wunsch  sei,  in 
einer  Familie,  wo  er  als  Freund  aufgenommen 
und  behandelt  würde,  die  Erziehung  eines  Knaben 
zu  übernehmen  und  nach  seinem  Sinne  zu  leiten. 
Ich  sprach  ihm  mein  Bedenken  aus,  dass  dies 
wohl  schwer  zu  finden  sein  würde,  und  er  ver- 
liess  Rom  in  völliger  Ungewissheit  über  seine 
Zukunft. 

In  demselben  Jahr  war  ich  in  Bayreuth  zu 
Besuch  bei  Wagners,  und  einmal  im  Laufe  des 
Gesprächs  fragte  mich  Wagner,  ob  ich  nicht 
einen  gebildeten,  in  jeder  Beziehung  empfehlens- 
werten jungen  Mann  kenne,  der  wie  ein  Freund 
zu  der  Familie  gestellt  sein  sollte  und  die  Er- 
ziehung des  kleinen  Siegfried  übernehmen  würde, 
den  er  nicht  gern  in  die  öffentlichen  Schulen 
schicken  wolle.  Ich  musste  lachen  über  dies 
merkwürdige  Zusammentreffen  und  erzählte  nun 
von  dem  Wunsche  Steins,   worauf  Wagner  mir 


—     149    — 

alsbald  den  Auftrag  gab,  diesem  zu  schreiben. 
Die  Antwort  war  ein  freudiges  Eingehen  auf 
den  Vorschlag,  nur  stand  ihm  gerade  sein  Jahr 
Militärdienst  bevor.  Er  fugte  aber  hinzu,  wenn 
Wagners  ein  Jahr  warten  wollten,  so  könne  er 
sich  kein  schöneres,  alle  seine  Wünsche  krönen- 
des Geschick  denken.  Nach  einem  Jahre  kam 
diese  Vereinigung  wirklich  zu  stände,  zu  gegen- 
seitiger höchster  Zufriedenheit.  Stein  war  eine 
so  edle,  vom  höchsten  Adel  der  Gresinnung 
durchdrungene  Natur,  dass  er  zunächst  schon 
das  erste  Erfordernis  eines  Erziehers  besass, 
durch  sein  Beispiel  alles  Gute  zu  lehren,  und 
unter  dem  Einfluss  des  ausgezeichneten  Kreises, 
in  den  er  eintrat,  wurde  er  das,  was  er  von 
Natur  war:  ein  voUkommner  Idealist  und  dann 
ein  so  verständnisvoller,  begeisterter  Anhänger 
Wagners  wie  wenige. 

Ihn  also  traf  ich  hier  in  Neapel,  bei  seiner 
übernommenen  Tätigkeit  im  häuslichen  Kreise 
wieder.  Neben  ihm,  wie  schon  gesagt,  den 
Russen  Joukoffski,  einen  Maler  von  grossem 
Talent,  der  neben  allen  schönen  Eigenschaften 
der  Russen  aber  auch  ihre  Indolenz  besass,  so 
dass  er  aus  seinem  Talent  nicht  das  machte, 
was  es  hätte  werden  können,  wogegen  aber 
seine  liebenswürdige  Persönlichkeit  nicht  wenig 
zur  schönen  Geselligkeit  des  Hauses  beitrug. 
Am  Morgen  ging  ein  jeder  seinen  eignen  Be- 
schäftigungen nach.  Das  Mittagessen  vereinigte 
uns  alle,  und  danach  nahm  man  den  Kaffee  auf 
einer    Terrasse,    wobei    sich    meist    bedeutende 


—     ISO    — 

Gespräche  entspannen,  die  natürlich  gewöhnlich 
von  Wagner  ausgingen.  Dann  kam  für  alle  eine 
Stunde  der  Ruhe,  und  darauf  begegnete  man 
sich  in  den  terrassenartigen  Gärten,  wo  Wagner 
mit  den  jugendlichen,  ihm  zugehörigen  Wesen 
allerlei  Scherz  und  Neckerei  trieb.  So  war  es 
u.  a.  ein  Lieblingsspiel,  die  Frucht  eines  Strau- 
ches, welche  eine  die  Kerne  enthaltende  mit 
Luft  gefüllte  Kapsel  ist,  aufzudrücken,  wobei 
ein  kleiner  Knall  erfolgt,  und  er  war  noch  so 
ausserordentlich  beweglich  und  behende,  dass  er 
meist  den  Kindern  bei  Erreichung  dieser  Kapseln 
zuvor  kam.  Eines  Nachmittags  aber  traf  ich 
ihn  ganz  bestürzt  vor  einem  solchen  Strauch 
stehend,  weil  bei  dem  Haschen  nach  den  hoch- 
hängenden Kapseln  es  ihm  begegnet  war,  einen 
der  schönsten  Zweige  des  Strauchs  zu  knicken, 
der  nun  traurig,  dem  Sterben  geweiht,  herunter- 
hing. Er,  der  gleich  den  Indern  das  göttliche 
Urprinzip  auch  so  gut  im  Tier  und  in  der 
Pflanze  wie  im  Menschen  erkannte,  war  tief  be- 
trübt, hier  einen  empfindenden  Organismus  zer- 
stört zu  haben,  und  schickte  eine  der  Töchter, 
die  bei  ihm  waren,  ins  Haus  hinab,  um  Leinen 
zum  Verband  zu  holen.  Als  sie  damit  zurück- 
kehrte, verband  er  den  geschädigten  Zweig  mit 
der  Sorgfalt,  wie  er  es  bei  einem  Tier  oder 
Menschen  getan  haben  würde,  in  der  Hoffnung, 
dass  die  Wunde  sich  schliessen  und  der  Ast 
wieder  anwachsen  würde. 

Nur  wer  solche  kleine  Züge  mit  stillem  Ver- 
ständnis  beobachtete,    konnte   die   Natur   dieses 


—     151     — 

ausserordentlichen  Menschen  ganz  begreifen,  in 
welcher  sich  kindliche  Heiterkeit,  überströmendes 
Mitleid,  gewaltige  Leidenschaft,  Forscherblick 
des  allsehenden  Intellekts,  weltverachtende  Ironie 
und  tiefe  Schmerzfähigkeit  vereint  fanden,  und 
welche  deshalb  auch  einen  alles  umfassenden 
Kosmos  aus  sich  erschaffen  konnte.  Ich  erinnere 
mich  noch  eines  andern  jener  kleinen  so  bedeu- 
tungsvollen Züge  aus  jener  Zeit.  Wir  gingen 
eines  Abends  auf  der  grossen  Terrasse  unter  dem 
Portikus  des  Hauses  auf  und  ab.  Eine  ungeheure 
Prozession  von  Millionen  Ameisen  zog  quer  über 
die  Terrasse  hin,  wie  ich  sie  in  Italien  öfter, 
z.  B.  in  Sette-Fonti,  auf  dem  Landsitze  Ming- 
hettis,  gesehen  hatte,  wo  sie  ihre  Wanderstrasse 
von  einem  Berggipfel  zum  andern  und  mitten 
durch  eine  Kirche  geführt  hatte.  Wir  sprachen 
über  ernste  Lebensfragen,  ich  bemerkte  aber  im 
stillen  mit  Rührung,  wie  Wagner  jedesmal,  wenn 
wir  an  die  wandernden  Scharen  kamen,  einen 
grossen  Schritt  machte,  um  nur  nicht  eines  der 
kleinen  klugen  Wesen  zu  zertreten. 

Auf  jener  grossen  Terrasse  mit  der  Aussicht 
auf  den  Golf  und  den  Vesuv,  aus  dem  an  jedem 
Abend  wie  von  einem  Opferaltar  eine  Feuersäule 
gen  Himmel  stieg,  wurden  meistenteils  die 
Abende  verbracht,  wozu  sich  auch  öfter  Besucher 
aus  der  Stadt  einfanden.  Unter  den  vielfachen 
mehr  oder  minder  bedeutenden  Gegenständen, 
die  besprochen  wurden,  kam  an  mehreren 
Abenden  das  Gespräch  auf  Schiller,  und  Wagner 
las  uns  das  Gedicht  »die  Götter  Griechenlands« 


—      152      — 

vor,  so  schön  wie  nur  er  lesen  konnte.  Es  war 
einem  dabei,  als  höre  man  die  Sachen  zum 
ersten  Male,  und  man  fühlte  es  neu,  wie  herr- 
lich Schiller  jene  Welt  nachempfunden  hat,  wo 
alles  zum  personifizierten  Ausdruck  der  Schön- 
heit wurde,  alles  eine  Bedeutung  erhielt,  als 
stamme  es  von  geisterfiillten  Wesen  und  nicht 
von  blinden  Naturgewalten  ab,  und  wo  alles 
daher  zum  freudigen  Grenuss  des  blühenden  gött- 
lichen Lebens  einlud,  ohne  Zweifel,  ohne  Reue, 
ohne  Schmerz.  An  einem  anderen  Abend  kam 
das  Grespräch  auf  den  »Don  Carlos«  und  einer 
der  Anwesenden  behauptete,  die  Beziehung  des 
Marquis  Posa  zum  König  Philipp  sei  ein  grosser 
Fehler  und  nicht  zu  rechtfertigen.  Wagner  aber 
sagte,  sie  sei  vollständig  zu  rechtfertigen,  da  der 
Dichter  im  übrigen  den  historischen  Charakter 
festgehalten  und  nur  die  Möglichkeit  angenommen 
habe,  dass  solch  ein  Moment  auch  einmal  an 
einen  Menschen  wie  Philipp  herantreten  könne. 
Ausserdem  zeichne  es  ja  auch  den  Charakter 
des  Königs  nur  desto  schärfer.  Wieder  ein 
anderes  Mal  sprach  Wagner  darüber,  wie  wenig 
man  eigentlich  die  Menschen  lieben  könne,  wenn 
man  die  Geschichte  studiere  und  die  Anhäufung 
von  Greueln  sähe,  mit  denen  der  sogenannte 
Fortschritt  meist  begleitet  sei,  wie  z.  B.  die 
Einführung  des  Christentums.  Er  meinte,  man 
könne  dann  höchstens  noch  zur  Liebe  kommen, 
wenn  man  sich  als  Angehöriger  eines  Volks- 
stammes fühle,  dessen  Interessen,  Freuden  und 
Leiden    man   teile,    was    dann    schliesslich   zur 


—     153    — 

Familie  zurückführe.  Ich  ging  weiter  und  meinte, 
dass  man  im  Grunde  nur  durch  das  Mitleid  mit 
der  Menschheit  zusammenhänge;  sie  lieben  als 
etwas  Vortreffliches  könne  man  wahrlich  nicht; 
da  in  ihr  der  rohe  Naturtrieb  der  Gewalt  des 
Stärkeren  über  den  Schwächeren,  und  der  Rache 
dieses  durch  List  ebenso  verkomme,  wie  bei 
den  Tieren;  wo  es  aber  weniger  roh  sei,  da 
wäre  es  doch  meist  nur  infolge  egoistischer 
Interessen.  Das  Mitleid  bände  uns  an  jene  Menge, 
die  leidet,  ringt,  stirbt  wie  wir,  sowie  der  Wunsch, 
sie  zu  erlösen  vom  Elend,  und  zwar  gewiss  ohne 
Unterschied  der  Nationalität.  Das  Stammgefiihl 
trete  nur  in  den  Vordergrund,  wenn  es  sich  um 
Dinge  des  Intellekts,  um  Lebensanschauungen 
usw.  handle,  oder  in  Augenblicken  der  Tat. 
Und  wieder  später  sagte  Wagner  einmal,  man 
würde  vielleicht  weniger  geringschätzig  von  der 
Welt  denken,  wenn  keiner  hienieden  sich  glück- 
lich wähnte.  Es  erinnerte  mich  dies  an  einen 
Abend  in  Paris  im  Winter  1859,  wo  Wagner 
an  einem  seiner  Empfangsabende  mit  Blandine 
Ollivier,  der  Tochter  Liszts,  mit  mir  über  das- 
selbe Thema  sprach  und  uns  an  die  Worte  der 
Prinzessin  in  Goethes  Tasso  erinnerte:  »Wer  ist 
denn  glücklich?« 

Und  doch  durften  wir  uns  hier  in  der  ent- 
zückend schönen  Welt,  die  uns  umgab,  und  der 
noch  schöneren  Greisteswelt,  in  der  wir  lebten, 
wenigstens  für  eine  Zeit  lang  glücklich  wähnen. 
Wagners  Geburtsts^  nahte  heran  und  es  wurden 
Vorbereitungen  gemacht,  ihn  festlich  zu  begehen. 


-     154    — 

Am  Morgen  begrüsste  den  Gefeierten  ein  hoch- 
poetisches kleines  Festspiel  von  Frau  Wagner 
gedichtet,  welches  das  Sternbild  des  Wagens 
redend  vorführte,  das  mit  seinen  sieben  Sternen 
der  Zahl  der  Familienmitglieder  entsprach,  und 
von  den  Kindern  rezitiert  wurde.  Beim  Mittags- 
tisch, an  dem  auch  Herren  aus  München,  Mit- 
glieder des  Wagner- Vereins,  teilnahmen,  wurde 
ein  von  Stein  gedichteter  Toast  ausgebracht. 
Wagner  antwortete  darauf  in  der  eigentümlich 
ergreifenden  Weise,  in  der  nur  er  zu  sprechen 
verstand,  und  gedachte  des  langen,  qualvoll  be- 
wegten Lebens,  welches  nun  in  schönem,  har- 
monischen Frieden  seinen  Abschluss  gefunden 
habe,  so  dass  alle,  die  ihm  fortan  nahen  wollten, 
ihn  nur  noch  —  indem  er  auf  das  Bild  des 
Siebengestirns  zurückkam  —  im  Kreise  der 
Sieben  finden  könnten. 

Als  der  Abend  kam,  stiegen  wir  alle  von 
unserer  Höhe  hinab  an  den  Golf;  zwei  Barken 
nahmen  uns  auf,  und  wir  fuhren  hinaus  in  die 
herrliche  Mondnacht,  in  welche  der  Vesuv  seinen 
Feuergruss  hinaufsandte.  Die  neapolitanischen 
Fischer  liessen  es  sich  nicht  nehmen,  bengali- 
sche Feuer  auf  unseren  Barken  anzuzünden,  so 
dass  wir  wie  kleine  Feuerinseln  dahinschwammen, 
und  ein  Volkssänger,  den  Joukoffski  seiner 
schönen  Stimme  wegen  in  Dienst  genommen 
hatte,  sang  neapolitanische  Volkslieder  mit  Be- 
gleitung der  Mandoline,  woran  Wagner  Freude 
hatte.  Endlich  kamen  wir  heim  und  fanden  den 
Saal  feenhaft   geschmückt.     Frau  Wagner  hatte 


—     155    — 

so  viele  Rosenstöcke,  als  Wagner  damals  Jahre 
zählte,  bringen  lassen,  und  mit  diesen  war  das 
Zimmer  bei  hellster  Beleuchtung  in  einen  Rosen- 
hain verwandelt.  Um  aber  den  schönen  Tag 
mit  dem  Schönsten  zu  beschliessen,  wurde  dann 
das  Musikzimmer  geöffnet  und  da  begann  eine 
Aufführung,  die  aus  der  Schönheit  irdischen 
Seins  zu  einer  Ahnung  der  Schönheit  überirdi- 
schen Seins  führte  und  die  Seele  mit  dem  reinsten 
Glücksempfinden  erfüllte,  welches  Erdgeborenen 
zu  fühlen  vergönnt  ist.  Joseph  Rubinstein,  der 
treue  Wagnerianer,  der  leider  zu  früh  freiwillig 
aus  dem  Leben  schied,  begab  sich  an  den  Flügel, 
Wagner,  die  Münchener  Herren  und  Kinder 
standen  bei  ihm  und  führten  die  ganze  erste 
Scene  im  Gralstempel  aus  dem  Parsifal  auf,  die 
ich  zum  ersten  Mal  hörte.  Die  Kinder  hatten 
die  Knabenstimmen  des  Chors  herrlich  einstudiert, 
und  gewiss  hat  nie  eine  Aufluhrung  des  hehren 
Werks  in  erhobenerer  Stimmung,  in  innigerer 
Rührung  und  Ergriffenheit  stattgefunden.  Solche 
Stunden  wiegen  Jahre  des  Leidens  auf  und 
bleiben  wie  Fixsterne  am  Lebenshimmel  stehen, 
wenn  manches  andere  freundliche  Licht  längst 
erloschen  ist.  Sie  leuchten  noch  in  meiner 
Erinnerung  fort,  in  unvergänglicher  Wirklichkeit, 
während  bereits  drei  aus  jenem  Kreis,  und  unter 
ihnen  der  Grösste,  der  Meister  selbst,  in  das 
Nichtwahnland  hinüber  gegangen  sind. 


Gedachtes  und  brieflich  Geschriebenes. 


Wieder  zog  ich  aus  dem  wonnevollen  Süden 
über  die  Alpen,  die  lieben  Menschen  zu  suchen, 
die  ich  wie  meine  irdische  Zukunft  ansehe,  Olga 
und  die  ihrigen.  Es  war  kurz  nachdem  ich  mit 
den  Freunden  in  Sorrent  den  schönen  Winter 
verlebt  und  auch  nach  ihrem  Weggange  noch 
einmal  tief  all'  die  Zauber  der  südlichen  Natur 
auf  mich  wirkend  empfunden  hatte.  Nun  um- 
fing mich  der  graue  Norden  und  als  ich  am 
frühen  Morgen  in  der  Eisenbahn  fahrend  die 
Sonne  aufgehen  sah,  tönte  es  mir  in  der  Seele: 

Hell  steigt  die  Sonne 

Auch  hier  ja  empor, 

Aber  sie  färbt  nicht  purpurn 

Das  selige  Meer, 

Belebt  nicht  edele  Höh'n 

Mit  freudig  vergoldendem  Strahl; 

Es  raucht  ihr  nicht 

Des  alten  Opferaltars 


-     158    - 

Düster  flammende  Wolke; 
Nicht  reicht  die  Liebe  uns  hier 
Mit  verjüngendem  Blick 
Den  heiligen  Trank 
Der  uralten  göttlichen  Welt 
Herrlicher  Wesen 
Ohne  Leid,  Alter  und  Tod! 
Still,  ohne  Klage 
Zieh  ich  des  Wegs, 
Denkend  dessen,  was  war. 
Aber  es  steigt  leuchtend 
Die  Sonne  hier  auch  empor, 
Scheint  vielleicht  Glücklichen, 
Die  sie  jauchzend  verehren. 


In  den  nächsten  Zeiten  nach  dem  Aufenthalt 
in  Sorrent  war  ich  in  eifriger  Korrespondenz  mit 
Doktor  Ree,  dem  einen  unseres  Quatuors  von 
dort  unten,  der  mir  ein  sehr  lieber  Freund  ge- 
worden war,  trotzdem  wir  in  unseren  intellektuellen 
Anschauungen  Antipoden  waren.  Er  verliess, 
wie  erzählt,  Sorrent  mehrere  Wochen  früher  als 
Nietzsche,  und  ich  schrieb  ihm  noch  von  Sorrent 
aus;  zunächst  Dank  fiir  die  »Briefe  Bismarcks 
an  seine  Familie«,  die  er  mir  schickte,  und  dann 
über  Nietzsches  Scheiden:  »Vielen  Dank  fiir  das 
Buch,  welches  ich  mich  sehr  freue  zu  lesen. 
Ich  habe  nun  einmal  ein  grosses  Interesse  fiir 
Bismarck,  trotzdem  ich  deshalb  als  eine  Rene- 
gatin von  meinen   Glaubensgenossen   angesehen 


—     159    — 

werde.  Das  ist  aber  doktrinäre  Beschränktheit, 
denn  einen  bedeutenden  eigentümlichen  Menschen 
muss  man  von  seinem  Standpunkt  aus  beurteilen 
und  anerkennen  können,  auch  wenn  man  seine 
Ansichten  nicht  teilt. 


> Nietzsche  geht  wirklich  morgen.  Sie  wissen, 
wenn  er  einmal  so  etwas  vor  hat,  dann  tut  er 
es,  mag  auch  der  Himmel  mit  allen  Wamungs- 
zeichen  dagegen  sprechen.  Darin  ist  er  nicht 
mehr  griechisch,  dass  er  auf  die  Stimme  der 
Orakel  nicht  mehr  hört.  Ebenso  wie  er  seine 
Landpartien  macht,  auch  wenn  es  das  schlechteste 
Wetter  ist,  so  geht  er  jetzt,  trotzdem  er  tod- 
matt ist  und  ein  wütender  Wind  weht,  der  das 
Meer  aufwühlt  und  ihn  jedenfalls  seekrank  macht, 
da  er  durchaus  von  Neapel  nach  Genua  zu  Schiff 
gehen  will.« 


Am  folgenden  Tag,  8.  Mai  1877:  »Ja,  er  ist 
wirklich  fort.  Da  Sorrent  mit  seinen  Blüten, 
seinen  Zaubern  ihn  nicht  zu  halten  vermochte, 
so  musste  er  eben  gehen.  Aber  es  ist  mir 
schrecklich,  ihn  so  allein  reisen  zu  lassen,  denn 
er  ist  so  unpraktisch  und  unbehülflich.  Zum 
Glück  ist  das  Meer  heute  ruhiger.  Wenn  Wünsche 
etwas  tun  könnten,  so  müsste  es  ihm  gut  gehen, 
denn   meine   heissesten  Wünsche  und   mein  un- 


—     i6o    — 

sagbares  Mitleid  folgen  ihm.  Ach,  er  ist  so  zu 
bedauern!  Noch  vor  acht  Tagen  hatten  wir 
Pläne  für  ihn  gemacht,  für  nahe  und  ferne  Zu- 
kunft. War  es  nun  nur  die  Angst,  die  ihn  trieb, 
dem  Leiden  zu  entfliehen,  das  ihm  plötzlich  an 
das  hiesige,  allerdings  etwas  abnorme  Frühlings- 
wetter gebunden  erschien  ?  Aber  wie  wäre  es 
wohl  anderswo  mit  ihm  in  diesem  schlechten 
Frühjahr  gewesen?  Ich  glaube  auch,  im  letzten 
Augenblick  kam  ihm  der  Gedanke,  als  ob  es 
doch  übereilt  sei,  zu  gehen,  doch  es  war  zu 
spät. 

Mich  hat  dies  alles,  dieses  viele  und  traurige 
Trennen  sehr  angegriffen,  und  ich  rufe  mit  aller 
Inbrunst  den  heiteren  Intellekt  zu  Hülfe,  denn 
in  diesen  Tagen  empfand  ich  es  noch  recht  leb- 
haft, wie  nur  der  Intellekt  heiter  ist;  er  ist  das 
solarische  Gebiet;  das  andere,  das  tellurische, 
der  Wille,  ist  das  Dunkle,  das  Schmerzbrütende, 
Qualenspendende.  Ich  will  sehen,  ob  es  mir  ge- 
lingt, mich  mit  Hülfe  des  Intellekts  oben  zu  er- 
halten, über  allem,  was  in  der  letzten  Zeit  mich 
wieder  betrübt  und  angegriffen  hat.  Die  alte 
Kämpferin  muss  sich  doch  bis  zuletzt  bewähren.« 


Zunächst  hielt  ich  in  Seelisberg  am  Vierwald- 
stätter  See  an,  wo  ich  meine  Freunde  erwarten 
sollte.  Ich  schrieb  von  da  an  Ree:  »Meine 
Einsamkeit  ist  beinah  vollständig,  wenn  schon 
unter  hundert  Menschen,  denn  die  ganze  deutsche 
Gesellschaft,  welche  das  Hauptkontingent  bildet, 


—     i6i     — 

erregt  mir  keinen  Wunsch  nach  Bekanntschaft; 
sie  ist  greulich,  diese  albernen  Frauen,  diese 
philisterhaften  Männer,  diese  Nichtigkeit  der  Ge- 
spräche! Es  ist  erschreckend!  das  nennt  man 
das  Volk  der  Intelligenz!  Einzig  ein  paar  eng- 
lische Tischnachbarinnen  sind  angenehm.  Die 
eine,  schon  mit  grauen  Haaren  und  lahm,  kommt 
eben  von  Neu-Seeland,  über  Califomien,  Nord- 
Amerika  und  die  Sandwich-Inseln,  zurück!  Sie 
spricht  davon,  als  ob  sie  eine  Spazierfahrt  ge- 
macht hätte,  und  sagt,  das  schönste  Paradies 
der  Erde  sei  Honolulu,  es  sei  märchenhaft  schön. 
Ja,  die  Engländer  sind  darin  wie  in  vielem 
anderem  die  klügsten  Menschen.  Sie  sehen  die 
Paradiese  der  Erde  und  freuen  sich  ihrer,  ohne 
sich   um   die  Adams  und  Evas  zu  bekümmern. 


Eben  Briefe  erhalten  von  Brenner  und 
Nietzsche.  Hier  ein  kleines  Gedicht  von  ersterem, 
das  mich  sehr  rührt;  der  arme  Junge,  er  ist 
schwer  krank  und  wird  sterben.  Das  einzige 
Glück,  welches  er  gekannt  hat,  war  der  Auf- 
enthalt in  Italien: 

>0h  Lichtland, 
Fern  flutet  dein  Glück. 
Am  weiten  Ende 
Schimmert  ahnende  Helle 
Deines  heiligen  Abends, 
Träumendes  Lichtland!« 

Mey  senbug  ,  IV.  11 


—       102      — 

Von  Nietzsche  hatte  ich  einen  merkwürdigen 
Brief;  sein  neuster  Entschluss  ist  gerade  das 
Gegenteil  von  seinem  letzten  Sorrenter  Beschluss, 
der  ihn  ganz  begeisterte  und  ihm  mit  völliger 
Gewissheit  der  rechte  schien.  Auch  mir  schien 
er  der  rechte,  wir  besprachen  ihn  genau  und 
kamen  zu  der  Überzeugung,  dass  es  so  sein 
müsse.  Er  wollte  also  Basel  ganz  aufgeben, 
noch  ein  Jahr  nur  der  Gesundheit  und  geliebter 
Arbeit  leben,  und  dann  nach  gewonnener  Stär- 
kung, ein  neues  Leben  beginnen.  Wir  stimmten 
überein,  dass  sicher  der  Zwang,  zu  arbeiten,  was 
ihn  nicht  befriedigte,  und  unterlassen  zu  müssen, 
was  seinem  tiefsten  Wesen  homogen  war,  das 
eigentlich  Schöpferische,  dazu  beigetragen  habe, 
ihn  krank  zu  machen.  Er  atmete  förmlich  auf 
bei  dem  Gedanken  der  Freiheit.  Jetzt  hat  die 
»Vernunft«  der  Schwester  gesiegt.  Er  bleibt  in 
Basel!  Nur  als  »Gelehrter«  ist  er  gesund  ge- 
wesen und  er  will  als  solcher  entweder  wieder 
gesund  werden  oder  im  »Handwerk«  untergehen. 
Sehen  Sie,  das  ist  wieder  das  seltsame  Schwanken 
zwischen  den  beiden  Naturen,  die  »in  seiner 
Brust  kämpfen«;  die  eine,  die  recht  behalten 
müsste,  lässt  er  unterliegen  und  wird  ewig  daran 
kranken,  dass  sie  die  Unterdrückte  ist.  Ach 
armer  Nietzsche,  mir  ist  es  furchtbar  leid  um 
ihn,  gerade  weil  seine  Begabung  so  glänzend 
ist,  wie  Sie  es  sagen,  und  weil  er  nie  glücklich 
sein  kann  in  einer  philisterhaften  Existenz. 


-     i63     - 

Im  Sommer  78  war  ich  zunächst  in  Mont- 
morency  bei  Paris,  wo  Olga  einen  Sommer- 
aufenthalt machte.  Ihre  Gesundheit  war  stark 
angegriffen  und  niichte  mir  grosse  Sorge.  Ich 
schrieb  an  Ree,  sprach  ihm  auch  davon  und 
sagte:  >Ach,  die  Pein  ein  geliebtes  Wesen  leiden 
zu  sehen,  ist  doch  die  grösste  von  allen.  <e  Hat 
die  Analyse  dafiir  auch  den  Schlüssel  gefunden  ? 
(Der  streitige  Punkt  zwischen  Ree  und  mir;  er 
machte  alles  von  Analyse  und  Experiment  ab- 
hängig.) 


>Dazu  welch  ein  Sommer!  Welch  ein  ab- 
scheuliches Klima  hier  oben  jenseits  der  Alpen  I 
Und  welche  Politik,  wie  sie  sich  eben  in 
Berlin  abspinnt  1  Dieses  Verhandeln  der  Völker, 
dieser  Kommunismus  von  oben,  während  man 
die  armen  Teufel  verfolgt,  die  nach  der  massigen 
Gütergemeinschaft  des  täglichen  Brots  verlangen ! 
Der  alte  Zorn  wird  in  mir  wach ;  es  ist  ja  wahr, 
dass  schliesslich  alles  Zielen  der  Vernunft  dienen 
muss,  denn  der  Gedanke  geht  über  den  Egoismus 
der  Mächtigen  hinweg,  und  Asien  wird  der  Kultur 
geöffnet,  von  wo  sie  kam.  Freilich  wird  eine 
Menge  Poesie  damit  verloren  gehen,  eine  Menge 
Schönheit,  Originalität,  Tradition,  ja  Weisheit 
und  das  Nivellieren,  welches  Stuart  Mill  so  sehr 
fürchtete,  wird  sich  immer  mehr  verwirklichen. 
Aber  es  ist  nicht  zu  ändern,  und  aus  dem  Gleich- 
gewicht   in    der    gesellschaftlichen   Entwicklung 

II» 


—     i64    — 

wird  entweder  ein  neues  gewaltiges  Ringen  nach 
einem  fernen,  unbekannten  Ideal  hervorgehen,  oder 
ein  Stillstand,  der  Stumpfheit  und  Indifferentismus 
hervorbringt,  oder  endlich  ein  Kataclysmus, 
welcher  den  ganzen  irdischen  Prozess  verschlingt, 
der  sich  dann  auf  anderen  Körpern  des  Weltalls 
wiederholt. 


Nach  dem  Aufenthalt  in  Montmorency  ging 
ich,  eingeladen  von  Wagners,  nach  Bayreuth  zu 
Besuch.  Ich  schrieb  von  da  an  Ree:  »Meine 
Reise  ging  glücklich  von  statten.  An  der  Bahn 
empfingen  mich  Frau  Wagner  und  die  Kinder, 
im  Hause  Wagner  und  Liszt,  welcher  zu  meiner 
grossen  Freude  noch  hier  ist.  Ja,  es  lässt  sich 
kaum  etwas  Schöneres  denken,  als  das  Leben 
hier  im  Hause:  diese  beiden  hochbedeutenden 
Männer,  zwischen  ihnen  Friede,  Harmonie.  Geist 
und  Grazie  bringend  die  herrliche  Frau,  und  um 
diese  drei  der  Kranz  junger,  blühender  Geschöpfe, 
die  schöne  Häuslichkeit,  geordnete  Verhältnisse, 
keine  Sorgen  mehr.  Im  Augenblick  haben  wir 
auch  schönes  Wetter;  hier  in  Wagners  Garten 
ist  es  wunderschön,  es  ist  alles  so  herrlich  auf- 
gewachsen  und  schön  gepflegt.  Überhaupt  das 
ganze  Wahnfried  ist  ein  Heim,  wie  wohl  wenig 
Menschen  selbst  in  ihren  Träumen  es  sich  haben 
erschaffen  können.  Es  ist  ein  einziges  Beispiel 
einer  spät  erfüllten  aber  vollständigen  Gerechtig- 


-     i65     - 

keit  des  Schicksals.  Liszt  hat  mir  gestern  den 
Anfang  des  Parsifal  gespielt  —  ja,  lieber  Freund, 
ich  kann  Ihnen  nicht  helfen,  das  ist  doch  Religion  I 
Ob  sie  nun  ein  angeborenes  Empfinden  oder  ein 
historisch  entwickeltes  Produkt  des  menschlichen 
Organismus  ist,  es  ist  ein  Etwas,  was  uns  erst 
wahrhaft  zu  Menschen  macht  und  seine  Erklärung 
nicht  im  chemischen  Laboratorium  findet.  Ist 
es  absolut  ein  Produkt  des  historischen,  ent- 
wickelten Menschengeistes,  so  wird  unsere  Aus- 
sicht grenzenlos,  denn  dann  sind  wir  fähig,  also 
verpflichtet,  uns  zu  vergöttlichen.  —  Doch  tut 
es  mir  manchmal  leid,  dass  sich  Wagners  durch 
dies  schöne  Heim  hier  gebunden  haben,  denn 
der  lange  Winter  ist  doch  schwer  zu  ertragen; 
ja,  wenn  es  zwei  Monate  wären,  aber  acht! 


Es  tut  mir  furchtbar  leid  von  hier  zu  gehen, 
aber  das  arge  Klima,  die  frühe  Kälte  treiben 
mich  fort.  Aber  es  gibt  doch  auch  ein  langes 
Glück,  denn  die  besten  Stunden  schliessen  ewigen 
Inhalt  ein,  der  wie  ein  Komet  einen  langen 
Lichtstreif  hinter  sich  zurück  lässt. 


Nach  einem  schweren  Verlust,  welcher  Ree 
betroffen:  »Ja,  dass  sind  die  Fälle,  wo  keine  Philo- 
sophie hilft,  sondern  einzig  die  stumme,  klaglose 
Resignation,    die   den  furchtbaren  Schmerz,    die 


—     i66    — 

unermessliche  Entbehrung  hinnimmt,  wie  einen 
Teil  unseres  Erdenloses,  und  sie  stolz  in  das 
Herz  verschliesst,  es  verschmähend,  mit  den  rohen 
Gewalten  zu  rechten,  welche  die  Geistgeborenen 
zu  solcher  Qual  verdammen.  Nein,  es  ist  gut, 
dass  es  keinen  Gott  im  gewöhnlichen  Sinne  gibt. 
Wir  würden  in  ewiger  prometheischer  Empörung 
gegen  den  grausamen  Despoten  sein. 


Wenn  Montaignes  Definition  richtig  ist,  so 
war  es  allein  schon  der  Mühe  wert,  sich  mit 
Philosophie  zu  beschäftigen,  um  dem  Ende  dieses 
Lebens  mit  Ruhe,  ja,  beinahe  Freude  entgegen 
zu  sehen.  Aber  ich  habe  schon  mehrere  Mal 
bemerkt,  dass  weder  die  Beschäftigung  mit 
Philosophie,  noch  mit  Religion,  die  Menschen  von 
der  Furcht  vor  dem  Tode  und  von  der  über- 
triebenen Anhänglichkeit  an  das  Leben  befreit. 
Nur  die  philosophisch  geborenen  Geister  und 
die  innerlich  religiösen  Gemüter  fürchten  den 
Tod  nicht,  sondern  erwarten  ihn  in  erhabener 
Ruhe.  Wobei  es  dann  wieder  bestätigt  wird, 
dass  alles  nichts  hilft,  was  man  nicht  innerlich  ist. 


Ich  bekam  von  meinen  Schwestern  Schillers 
und   Goethes    Briefwechsel    geschenkt,    den    ich 


—     i67     — 

noch  nicht  besass,  und  habe  gleich  heute  morgen 
meinen  Gottesdienst  darin  lesend  gehalten.  Ja 
mit  dem  Genius  verkehren,  das  ist  auch,  was 
leben  und  sterben  lehrt.  Welche  Heroen  diese 
beiden  I  wie  erlösend  klar  strahlt  ihr  Geist  einen 
an.     Es  ist  das  darin,  was  befreit. 


Die  Tage  der  Aufregung  durch  den  Tod  des 
Königs  sind  vorüber,  und  Rom  ist  in  seine  alte 
Gestalt  zurückgekehrt;  die  120000  Fremden  sind 
fort;  le  roi  est  mort,  vive  le  roi,  ist  eine  Wahr- 
heit geworden;  das  erste  Auftreten  und  Reden 
des  jungen  Königs  ist  würdig  gewesen,  und  wenn 
der  Parteihass  auch  schon  wieder  anfängt  zu 
züngeln  und  verdächtigende  Vermutungen, 
düstere  Prophezeiungen  usw.  auszustreuen,  so 
hat  sich  die  nationale  Einheit  als  eine  Tatsache 
erwiesen,  welche  man  vergebens  wegzuleugnen 
versucht.  Das  sich  dies  monumental  schöne, 
imposante  Leichenbegängnis,  ohne  den  Klerus 
(es  waren  nur  wenige  einfache  Priester  der 
Quirinal  -  Parochial  -  Kirche  dabei)  im  Angesicht 
des  Vatikans  und  hin  zum  Tempel  des  Agrippa, 
in  das  heidnische  Pantheon,  vollzogen  hat,  bleibt 
ein  historisches  Moment  von  grosser  Bedeutung. 
Ja,  es  war  etwas  Unvergessliches,  diese  Tage 
hier  erlebt  zu  haben.  Ich  glaube  nicht,  dass 
Gambettas  Mission    gelungen    wäre,  hätte   auch 


i68 


Victor  Emanuel  gelebt,  denn  die  öffentliche 
Meinung  ist  jetzt  ganz  für  die  Allianz  mit 
Deutschland  und  dieser  Meinung  hatte  sich  der 
verstorbene  König  immer  gebeugt,  und  jetzt  ist 
die  Hinneigung  wohl  noch  grösser  geworden  durch 
das  Kommen  des  deutschen  Kronprinzen  zum 
Leichenbegängnis  und  durch  die  entschiedene 
Vorliebe  des  Königs  Humbert  für  Deutschland. 
Die  armen  Türken  werden  ihrem  Schicksal 
überlassen;  ich  kann  nicht  sagen,  wie  es  mir 
leid  tut  und  wie  sehr  ich  furchte,  dass  Europa 
sein  laisser  aller  den  Russen  gegenüber  zu  be- 
reuen haben  wird. 


Nun  ist  auch  der  Papst  drüben  im  Vatikan 
gestorben,  so  kurz  nach  dem  Tode  im  Quirinal, 
gerade  als  wenn  sie  sich  das  Wort  gegeben 
hätten  I  Das  Konklave,  dem  die  Fremden  ins- 
besondere mit  grösster  Neugier  entgegen  sahen, 
ist  sehr  rasch  und  fast  unbemerkt,  nicht  mehr 
im  Quirinal,  sondern  im  Vatikan  vorüber  ge- 
gangen. Es  war  ein  merkwürdiges  Zusammen- 
treffen, alte  und  neue  Zeit  standen  sich  gegen- 
über, feindliche,  unversöhnliche  Gegensätze  1  Wer 
wird  recht  behalten  von  den  beiden?  Das  alte 
Rom  ist  noch  sehr  stark,  denn  es  ist  eine  Welt- 
macht ;  es  kommt  darauf  an,  ob  das  neue  Rom 
so  hohe  Kulturgedanken  zu  verwirklichen  fähig 


—     i69    — 

ist,  dass  sie  den  alten,  halb  verbrauchten  Stoff 
besiegen,  sonst  wird  der  Gregensatz  noch  lange 
dauern,  vielleicht  noch  Jahrhunderte.  Ich  war 
in  diesen  Tagen  in  einer  Abendgesellschaft  beim 
deutschen  Gesandten,  Herrn  von  Keudell.  Gre- 
gorovius  war  auch  da  und  ich  sprach  mit  ihm 
über  die  letzten  Begebenheiten  und  sagte,  wie 
schade  es  sei,  dass  dies  tragische  Zusammen- 
treffen nicht  ein  paar  Jahrhunderte  zurück  läge. 
Wie  schön  würde  er  es  sonst  dargestellt  haben, 
ein  wirklich  historisches  Drama:  der  noch  jugend- 
kräfdge  König  und  der  müde  Greis,  in  den 
beiden  Palästen,  aus  denen  man  sich  in  die 
Fenster  sehen  kann,  sterbend,  der  eine  not- 
gezwungen der  Sieger;  der  andere  der  tief  Be- 
leidigte, nicht  Vergebende,  obwohl  das  Haupt  der 
Kirche  der  allgemeinen  Liebe  und  Versöhnung. 
Es  wäre  ein  Seitenstück  geworden,  nur  im  ent- 
gegengesetzten Sinn,  zu  dem  schönen  Bild,  welches 
er,  Gregorovius,  in  der  Geschichte  Roms  ent- 
worfen, von  dem  Zusammensein  Otto  in.  mit 
seinem  Vetter  Gregor  V.,  den  er  zum  Papst 
gemacht  (der  erste  deutsche  Papst).  Beide  Jüng- 
linge, von  hoher  Bildung  und  edler  Gresinnung, 
zusammen  im  Lateran,  einen  Traum  beglückender 
Weltherrschaft  träumend.  Aber  diese  Idealisten 
gingen  unter  mit  ihrem  jugendlich  holden  Traum, 
und  jene  modernen  Alten  blieben,  ein  jeder  das 
Scepter  fest  an  sich  drückend,  ein  jeder  sterbend 
rufend:  >non  possumusU 


—     170    — 

Ich  schrieb  von  der  Art,  wie  man  intimere 
Korrespondenzen  führen  solle,  in  Tagebuchweise, 
und  fügte  hinzu :  so  gibt's  ein  Stück  Seelenleben 
— Verzeihung  1  ich  habe  mir  vorgenommen,  nicht 
mehr  von  Seele  zu  sprechen;  wieder  ein  Wort, 
das  man  aus  der  Sprache  streichen  muss,  also 
auch  nicht  mehr  von  Psychologie,  sondern:  graue 
Gehirnstoffsfunktionologie.  Werd  ich  nicht  rea- 
listisch? (Es  waren  dies  Neckereien  wegen  Rees 
wissenschaftlichem  Realismus  und  meinem  an- 
gefeindeten Idealismus.) 


Ich  sprach  von  einem  gemeinschaftlichen 
Freunde,  an  dem  ich  eine  seltsame  Erfahrung 
gemacht  hatte.  Ach  Männer,  Männer,  welch  ein 
Geschlecht!  Ewig  werden  euch  die  Philinen 
besser  gefallen,  als  die  edlen,  gebildeten  Frauen. 
Deshalb  protestiert  ihr  auch  so  gegen  alle  Be- 
strebungen, die  Frauen  zu  einer  höheren  Bildungs- 
stufe zu  erheben.  Nun  gut,  wenn  es  nicht  mit 
euch  sein  kann,  so  wird  es  ohne  euch  und  trotz 
euch  geschehen.  Ja,  ich  möchte  jetzt  Kreuzzüge 
predigen,  nicht  gegen  die  armen  Türken,  die 
sind  doch  ehrlich  mit  ihren  Harems,  aber  zum 
energischen  Vorgehen  möchte  ich  Frauen  und 
Mädchen  anfeuern,  zum  edlen  Kampf  mit  den 
Waffen  der  höchsten  Bildung,  der  höchsten  Sitte. 
Die  Zahl  meiner  unbekannten  Freundinnen  mehrt 


—     171     — 

sich  auch  zusehends.  Aus  Winterthur  erhielt  ich 
einen  Brief  von  einer  Schweizerin,  die  mir  die 
Zustimmung  und  Sympathie  eines  ganzen  Kreises 
versichert.  Zwei  Damen  aus  Danzig  sind  hier, 
die  mir  mit  Liebes  Versicherungen  entgegen  kamen, 
kurz,  ich  sehe  einen  tiefen  Wunsch  erfüllt:  auf 
die  Frauen  einen  ermutigenden  Einfluss  auszu- 
üben. Nicht,  dass  ich  mir  einbildete,  es  wäre 
etwas  Grosses!  Aber  es  ist  die  Korallenarbeit, 
die  mit  ihrem  kleinen  Anteil  hilft  am  Bau  der 
Zeiten,  durch  die  Arbeit  an  der  Veredlung  meines 
Geschlechts,  der  ich  die  wichtigsten  Folgen  für 
das  Kulturleben  der  Menschheit  zuerkenne. 


Ich  glaube  nicht,  dass  Sie  die  Richtigkeit 
einer  Beobachtung  daran  messen  können,  wenn 
Sie  die  objektiv  gemachte  nun  in  sich  bestätigt 
finden.  Keines  Menschen  Inneres  ist  ein  Makro- 
kosmos, in  welchem  sich  alle,  und  jede  Möglich- 
keit von  Regungen  findet,  um  danach  zu  ur- 
teilen; ich  glaube  sogar,  dass  es  ein  gefähr- 
liches Experiment  ist,  zu  viel  in  sich  zu  blicken, 
um  eine  objektiv  gültige  Wahrheit  hinzustellen. 
Selbst  der  Genius,  der  doch  am  meisten  die 
Fülle  der  Welt  in  sich  trägt,  muss  dennoch  viel 
sehen  und  beobachten,  um  wahr  zu  gestalten. 
Mir  scheint,  man  muss  dabei  verfahren  wie  der 
Physiolog,  dem  erst  eine  ungeheure  Anzahl  von 


—      172      — 

Beobachtungen  mit  dem  gleichen  Resultat  den 
Ausspruch  eines  allgemein  gültigen  Gesetzes  ge- 
statten. Auch  selbst  Larochefaucoult  finde  ich 
gar  nicht  immer  allgemein  gültig;  er  bleibt  zu 
oft  nur  von  seinem  Kreise,  der  Gesellschaft 
seiner  Zeit,  seiner  Nationalität  bestimmt. 


Am  Weihnachtsabend  war  ich  ganz  allein 
und  gedachte  des  Jahres,  wo  wir  in  Sorrent  so 
fröhlich  beisammen  waren.  Schöne  Bilder  aus 
der  langen  Lebenszeit  umgaben  mich  fast  wie 
lebende  Gegenwart,  und  ich  befand  mich  in 
einem  fortwährenden,  inneren  Gebet  für  alle,  die 
ich  liebe.  Kennen  Sie  diese  Art  des  Gebets  auch? 
Es  ist  vielleicht  die  einzig  wahre,  denn  sie  richtet 
sich  nicht  an  ein  Güter  spendendes  Wesen  und 
verlangt  nichts  Irdisches.  Es  ist  nur  eine  so  in- 
tensive Stimmung  der  Liebe,  der  Reinheit,  des 
Friedens,  dass  im  Gegenteil  alles  Irdische  darin 
verschwindet,  und  nur  ein  segnendes  Umfassen 
der  liebsten  Menschen,  eine  grosse  Versöhnung 
mit  allem  Schicksal  übrig  bleibt,  und  der  Christ- 
gesang zur  Wahrheit  wird :  Friede  auf  Erden  und 
den  Menschen  ein  Wohlgefallen.  In  solchen  Stim- 
mungen versteht  man  alles  und  verzeiht  deshalb 
alles. 


—     173    — 

Meine  Gesellschafterin  liest  mir  jetzt  abends 
den  Tacitus  vor,  welcher  mich  ganz  glücklich 
macht.  Ja,  diese  klassische  Ruhe  und  Klarheit 
der  Darstellung  ist  wie  ein  wohltätiger  Balsam, 
welcher  erquickt  und  stärkt.  Warum  haben  wir 
modernen  Menschen  diese  höchste  Bildung  nicht, 
einfach  zu  sein  ?  Ich  glaube,  weil  wir  zu  subjektiv 
sind,  zu  sehr  alles  im  Spiegel  unseres  Ichs 
betrachten,  anstatt  uns  ganz  der  Anschauung  des 
Objekts  hinzugeben  und  uns  dabei  zu  vergessen. 
So  sagte  mir  Stein  neulich  viel  Schönes  über 
Michel  Angelo  und  die  Capella  Sistina,  worüber 
ich  mich  sehr  freute,  dann  aber  setzte  er  hinzu : 
>aber  lehren  tut  mich  Michel  Angelo  nichts, 
ich  habe  das  alles  schon  in  meiner  einsamen 
Studierstube  erlebt  und  gewusst.«  Das  ist's,  was 
dem  modernen  Menschen  anhängt,  er  glaubt  sich 
zu  früh  reif  und  meint,  er  habe  nichts  mehr  von 
den  Grossen  zu  lernen,  ohne  zu  bedenken,  wie 
viel  er  bereits  von  ihnen  gelernt  hat,  und  wie 
anders  sein  subjektives  Erkennen  sein  würde, 
hätten  sie  ihm  nicht  den  Weg  gezeigt. 


Ach,  die  Einsamkeit,  wie  viel  Schmerzliches 
sie  auch  hat,  verwöhnt  den  Menschen  doch,  und 
es  bleibt  ein  ewiges  Schwanken  in  der  Seele 
zwischen  der  Sehnsucht  nach  denen,  die  man 
liebt,  und  nach  der  einzig  unerschütterlich  treuen 


—     174    — 

Gefährtin  der  Einsamkeit.  Die  Säulenheiligen 
hatten  eigentlich  recht.  Sie  wussten,  dass  man 
ein  Ende  machen  muss  mit  diesem  Schwanken, 
und  dass  nur  in  unerreichbaren  Wolkenfernen 
das  Herz  endlich  verstummt  vor  dem  denkenden 
Geist,  der  seine  letzten  Aufgaben  zu  lösen  hat. 


Gestern  sprach  ich  mit  dem  hiesigen  Arzt 
(in  einem  Kurort  in  der  Schweiz),  einem  sehr 
intelligenten  jungen  Mann,  und  sagte  ihm,  mein 
einziger  letzter  Anspruch  sei,  noch  arbeitsfähig 
zu  bleiben,  da  die  Arbeit  doch  das  einzige  sei, 
was  sich  nicht  als  Illusion  erweise,  und  uns  die 
letzte  wirkliche  Befriedigung  gebe.  Er  meinte, 
ja,  aber  auch  das  sei  schliesslich  Illusion,  denn 
wie  gering  sei  die  Wirkung,  die  von  ihr  aus- 
gehe, die  Werke  des  Genius  vielleicht  allein  aus- 
genommen. Ich  gab  ihm  das  zu,  sagte  aber,  die 
Bedeutung  der  Arbeit  läge  nicht  sowohl  in  ihrer 
Wirkung,  als  in  der  Betätigung  der  Individu- 
alität, so  scheint  es  mir,  es  ist  derselbe  Vor- 
gang im  Mikrokosmos,  der  sich  im  Makrokosmos 
in  grossen  Verhältnissen  begibt.  Das  Schaffende 
was  es  auch  sei,  ob  Wille,  ob  Anziehungskraft 
in  den  Atomen  (Rees  Theorie),  ob  ein  geistiges 
Prinzip,  —  immer  muss  es  sich  individualisieren, 
sich  betätigen,  sich  gegenständlich  werden,  so 
auch  in  uns. 


—    175    — 

Dass  Sie  ein  solcher  Revolutionär  werden, 
et  ä  tout  prix  das  Weltganze  neu  organisieren 
wollen,  amüsiert  mich  sehr.  Ja,  es  ist  das  eben 
der  Traum,  den  wir  alle  geträumt  haben,  dass 
eine  solche  Reorganisation  möglich  sei.  Sie  ist 
es  aber  nicht;  die  Welt  träte  sonst  aus  dem 
Gesetz  der  Kausalität  heraus.  Freilich,  der  zur 
höchsten  Einsicht  gereifte  Intellekt  wäre  auch 
die  Wirkung  aller  vorhergegangenen  Ursachen, 
und  insofern  wäre  seine  Reform  in  der  Kausa- 
litätskette mit  inbegriffen;  aber  nicht  bloss  das 
Prinzip  selbst,  sondern  auch  die  Mittel  und  Wege, 
mit  denen  es  sich  verwirklicht,  entwickeln  sich 
nur  langsam,  denn  der  Faden  der  Gewohnheit 
ist  nicht  plötzlich  abzureissen;  er  ist  nur  all- 
mählich in  ein  neues  Gewebe  zu  verwandeln. 
Das  ist  dann  die  Aufgabe  der  helfenden  Mächte, 
welche  dem  die  höhere  Organisation  anstrebenden 
Intellekt  zur  Seite  stehen. 


Mir  scheint  jetzt  der  einzig  mögliche  und 
wirkungsvolle  Schwerpunkt  der  Neu-Organisation 
der  Gesellschaft,  welcher  wir  zustreben,  der  zu 
sein:  die  möglichst  grosse  Entwicklung  des  In- 
tellekts und  die  materielle  Verbesserung  der 
bedürfenden  Klassen;  infolgedessen  die  Vermin- 
derung sinnlicher  Bedürfnisse  und  die  Abnahme 
der   Herdenproduktion    der   Menschheit.      Denn 


—    176    — 

wo  werden  die  meisten  Kinder  geboren?  In 
den  armen,  materiell  entbehrenden,  unwissenden 
Klassen,  und  das  ist  ganz  natürlich  unter  den 
jetzigen  Verhältnissen.  Der  unwissende  Prole- 
tarierteil der  Gesellschaft  wird  also  vermehrt. 
Sollte  das  auch  selbst  vom  rein  national-ökono- 
mischen Standpunkte  aus  ein  Gewinn  sein?  Gewiss 
nicht.  Noch  weniger  vom  philosophisch-huma- 
nistischen. Liegen  unsere  höchsten  Kulturzwecke 
darin,  dass  ein  dicht  bevölkertes  Land  viele  Arme 
habe  für  Industrie,  Handel  usw.  und  schliesslich 
für  Kanonenfutter?  Dreimal  nein!  Sie  liegen 
darin,  dass  ein  intelligentes  Volk  die  Erde  zu 
einem  Wohnsitz  denkender,  fühlender,  künst- 
lerischer Wesen  mache,  welche  den  Vorteil  der 
Anzahl  durch  die  Vorzüge  höherer  Intelligenz 
und  Bildung  bei  weitem  übertreffen  und  die 
geistigen  Ziele  höher  stellen  als  das  blosse 
Wohlleben. 


Ich  bin  mit  Ihrem  Satz  über  das  Mitleid 
nicht  einverstanden.  Schopenhauer  sagt  nicht,, 
dass  jeder  Mensch  von  Natur  dasselbe  als 
lobenswert  empfindet,  sondern  er  sagt,  es 
ist  das  einzig  Ethische,  weil  wir  in  ihm  uns  nicht 
als  egoistische  Einzelwesen  fühlen,  sondern  das 
fremde  Leiden  wie  unser  eignes  empfinden,  und 
die  gemeinsame  Last  des  Daseins  im  Mitgefühl 


—    177    — 

gleichsam  dem  anderen  tragen  helfen.  So  ist 
es,  deshalb  ist  es  gut,  gar  nicht  aus  christ- 
lichem Aberglauben,  sondern  aus  dem  einzigen, 
was  den  Menschen  adelt  und  ihn  über  das  Tier 
in  ihm  erhebt.  Und  allerdings  ist  das  Mitleid, 
wie  alle  anderen  Grundtriebe  unseres  Wesens, 
eingeboren,  denn  sonst  könnten  sie  sich  nie  ent- 
wickeln. Wozu  kein  Keim  da  ist,  kann  sich 
nichts  entwickeln.  Aber  diese  Keime  liegen  in 
uns  gebunden,  und  unsere  Aufgabe  ist  es,  sie 
zur  Blüte  zu  bringen. 


Am  4.  Juni  1882  war  in  Italien  einer  jener 
Augenblicke,  wo  dasselbe  Gefühl  in  Millionen 
Herzen  zittert  und  die  Tränen  derselben  Trauer 
in  Millionen  Augen  perlen.  In  solchen  Augen- 
blicken verschwinden  die  kleinen  Hänke,  die 
bösen  Triebe  des  Neides  und  Hasses,  die  selbst- 
süchtigen Anfeindungen  der  Parteiwut,  die 
Leidenschaften,  welche  in  blindem  Eifer  die 
ruhige  Klarheit  trüben,  die  allein  die  Menschen 
zu  edler  Entwicklung  und  zum  Frieden  führen 
kann.  Die  Massen  begreifen  dann  instinktiv  ein 
höheres  Prinzip,  das  sich  ihnen  in  einer  konkreten 
Gestalt  dargestellt  hat  und  man  fühlt  mit  tiefer 
Genugtuung,  dass  die  Tugend  dennoch  eine 
Macht  ist,  vor  der  in  den  Weihestunden  des 
Lebens  die  Menschheit  das  Knie  beugt,  nnd  das 
Laster,  trotz  seiner  unermesslichen  Gewalt,  ver- 
stummt. 

Meysenbug,  IV.  13 


-     178    - 

Schon  hat  der  Telegraph  es  der  Welt  ver- 
kündet, was  diesen  Augenblick  hervorgerufen 
hat:  Joseph  Garibaldi  ist  totl  Kein  Land  der 
modernen  Geschichte  hat  eine  solche  Menge 
wahrhaft  epischer  Gestalten  in  einer  verhältnis- 
mässig kurzen  Epoche  hervorgebracht,  wie  Italien 
in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts,  und 
wenn  es  mit  tiefem  Weh  jetzt  eine  nach  der 
anderen  von  denselben  verschwinden  sieht,  so 
bleibt  ihm  der  Trost,  dass  ihr  Ruhm  weit 
hinaus  in  die  Zukunft  leben,  ja  vielleicht  noch 
heller  strahlen  wird,  wenn  die  Hand  des  Histori- 
kers einst  in  unparteiischer  Betrachtung  die 
einzelnen  Züge  der  Persönlichkeiten  und  die 
Ereignisse  zu  einem  grossen  Bilde  vereinigt. 
Unter  den  vielen  aber  ragen  zweie  besonders 
hervor:  Mazzini  und  Garibaldi.  Dieser  hat  den 
ersten  um  lo  Jahre  überlebt,  und  wiewohl 
seine  Kraft  längst  gebrochen  war,  und  er,  ein 
siecher  Held,  auf  seinem  Schmerzenslager  ruhte, 
so  trifft  die  Nachricht  seines  Todes  doch  alle 
unvorbereitet;  wie  ein  elektrischer  Schlag  bebt 
es  durch  ganz  Italien,  von  -Nord  nach  Süd,  dass 
ein  nationales  Unglück  es  betroffen.  Beim  Tode 
des  Königs  Victor  Emanuel  war  die  allgemeine 
Erregung  nicht  grösser  und  sicher  nicht  so 
innig,  als  sie  jetzt  ist.  War  Garibaldi  doch 
ebenso,  wenn  nicht  mehr,  der  Befreier  gewesen, 
wie  jener.  Man  muss  Italien  kennen,  um  sich 
vorstellen  zu  können,  mit  welcher  Spontanität 
sich  hier  ein  so  tiefergreifendes  Gefühl  kundgibt. 
Kaum  war  die  Trauernachricht  in  das  Publikum 


—     179    — 

gedrungen,  so  hatten  sich  alle  Läden  geschlossen, 
an  den  Fenstern  und  Baikonen  wurden  die 
Fahnen,  mit  Trauerflor  bezogen,  ausgesteckt; 
schwarzberänderte  Anzeigen  erschienen  an  den 
Mauern  und  wurden  in  den  Strassen  aus- 
geboten. Die  Kammer,  der  Senat,  das  Mu- 
nizipium  hielten  Sitzungen,  um  Beschlüsse  zu 
fassen,  der  König  Umberto  schickte  alsbald  ein 
Telegramm  an  die  Familie  nach  Caprera  und 
Hess  die  grosse  Revue  abbestellen,  die  zur 
Feier  des  Festes  der  Konstitution  stattfinden 
sollte.  Ebenso  wurde  das  berühmte  Feuer- 
werk, die  Girandola  genannt,  aufgesagt,  das  in 
päpstlicher  Zeit  um  Ostern,  jetzt  an  diesem 
Festtag  jährlich  abgebrannt  wird.  Die  Theater 
blieben  geschlossen.  Der  Korso  zeigte  am 
Abend  das  Bild  einer  Aufregung,  wie  sie 
nur  ein  grosses,  erschütterndes  Ereignis  hervor- 
rufen kann.  Dicht  gedrängt  standen  die  Vplks- 
massen  zusammen,  die  schwarzberänderten  Blätter 
lesend  oder  in  stummer  Ergriffenheit  miteinander 
fühlend. 

Rom  hatte  seinen  Helden  der  Jahre  48  und 
49  nicht  wieder  gesehen,  bis  zum  Winter  des 
Jahres  74.  Wer  damals  in  Rom  war,  wird  sich 
des  Jubels  erinnern,  mit  welchem  der  Volks- 
held gleich  einem  Triumphator  der  antiken 
Welt  empfangen  wurde,  der  Tausende,  welche 
am  Bahnhof  seiner  Ankunft  harrten,  des  An- 
blicks, wie  er,  des  Gebrauchs  der  Glieder  da- 
mals noch  nicht  beraubt,  stehend  im  Wagen, 
dem  man  die  Pferde  ausgespannt  hatte  und  den 

12* 


—     i8o    — 

begeisterte  Männer  zogen,  nach  allen  Seiten 
dankend  grüsste.  Man  wird  sich  erinnern,  wie 
er  in  der  Aula  des  Parlaments  mit  Ehren- 
bezeugungen empfangen  wurde,  als  er  kam, 
seinen  Sitz  als  Deputierter  einzunehmen,  und 
wie  der  König  Victor  Emanuel  ihn  empfing 
und  auszeichnete.  Vor  allem  aber  wird  man 
sich  erinnern,  wie  er  die  Furcht  Lügen  strafte, 
welche  sein  Erscheinen  in  Rom  als  den  Anfang 
revolutionärer  Unruhen  bezeichnet  hatte.  Der 
edle  Kriegsheld  kam  nur  mit  Missionen  des 
Friedens;  die  Urbarmachung  der  römischen 
Campagna  und  die  Regulierung  des  Tiberbettes 
—  das  war  die  Revolution  von  eingreifenden 
Folgen  für  die  Gesundheitszustände  und  die 
Wohlfahrt  Roms,  welche  er  zu  bewerkstelligen 
wünschte. 

Leider  wurden  seine  grossen,  praktischen 
Pläne  nicht  ausgeführt,  wie  denn  überhaupt 
sein  Alter  schmerzvoll  genug  war,  nicht  bloss 
durch  physische  Leiden,  sondern  durch  herbe 
Enttäuschungen  für  seinen  edlen  uneigennützigen 
Patriotismus.  Ich  sah  ihn  nur  einmal,  als  ich 
am  Morgen,  wo  seine  Empfangszeit  war,  in 
die  Villa  vor  der  Porta  Via,  wo  er  wohnte, 
ging,  ihn  zu  begrüssen.  Er  sass  in  seinem  nun 
typisch  gewordenen  roten  Hemd,  sein  kleines 
Mützchen  auf  dem  Kopf,  hinter  einem  grossen 
Tisch,  der  mit  Karten  und  Drucksachen  be- 
deckt war,  um  ihn  im  Halbkreis  sassen  die 
Besuchenden,  deren  Zahl  jeden  Tag  unendlich 
gross  war,    und   unter  denen  an  jenem  Morgen 


—     i8i     — 

sich  Depretis,  damals  noch  nicht  Minister,  be- 
fand, (wie  denn  auch  Minghetti  seinen  morgend- 
lichen Spazierritt  täglich  nach  der  Villa  lenkte). 
Viel  mit  ihm  zu  reden  war  unter  diesen  Be- 
dingungen unmöglich,  aber  es  war  eine  Freude 
ihn  wiederzusehen,  wenn  er  freundlich  nach 
italienischer  Weise  mit  der  Hand  grüssend,  von 
seinem  Sitz  aus  mit  dem  bezaubernden  Wohl- 
laut sener  Stimme  rief:  »addio,  addio!«  welches 
von  ihm,  wie  übrigens  häufig  in  Italien,  als 
Willkommensgruss  gesagt  wurde. 

Rom  hat  ihn  nicht  wiedergesehen,  denn  er 
ging,  entmutigt  und  enttäuscht  über  die  Ge- 
staltung der  Dinge,  früher  als  er  gewollt  hatte 
auf  sein  Eiland  zurück.  Aber  Palermo  hat  die 
wehmutvolle  Freude  gehabt,  dass  Garibaldis 
letzter  Besuch  ihm  gegolten,  und  der  unsagbar 
herrliche  Empfang,  den  Sicilien  bei  Gelegenheit 
der  sechshundertjährigen  Feier  der  sicilianischen 
Vesper  dem  greisen  Helden  bereitet,  und  die 
Beweise  begeisterter  Liebe,  mit  denen  es  ihn 
umgeben  hat,  werden  nun  wie  der  letzte,  schöne 
Kranz  von  eines  ganzen  Volkes  liebender  Ver- 
ehrung sich  um  das  Bild  des  edlen  Toten 
schlingen. 

Viele  Städte  wünschen  sich  schon  die  Ehre, 
die  sterblichen  Überreste  Garibaldis  zu  besitzen, 
vor  allen  Rom,  ja  es  wurde  der  Vorschlag 
laut,  dieselben  im  Pantheon,  wohin  man  auch 
Victor  Emanuel  gebracht,  beizusetzen.  Der 
letzte  Wille  Garibaldis,  der  soeben  bekannt 
wird,  entscheidet  die  Frage  fest  und  für  immer. 


—      l82      — 

Er  lautet:  »Da  ich  testamentlich  die  Ver- 
brennung meines  Leichnams  verordnet  .  habe, 
so  beauftrage  ich  meine  Frau  mit  der  Voll- 
streckung dieses  meines  Willens,  ehe  irgend 
jemand  von  meinem  Tod  benachrichtigt  wird. 
Wenn  sie  vor  mir  sterben  sollte,  werde  ich 
dasselbe  für  sie  tun.  Es  soll  eine  granitne 
Urne  verfertigt  werden,  um  ihre  und  meine 
Asche  einzuschliessen.  Die  Urne  soll  auf  der 
Mauer  hinter  dem  Sarkophag  unserer  Kinder 
unter  der  Akazie,  die  ihn  beschattet,  aufgestellt 
werden«.  —  Man  wartet  auf  die  Kinder  Gari- 
baldis aus  erster  Ehe,  die  bei  seinem  Tode  nicht 
anwesend  waren,  um  diesen  seinen  letzten 
Willen  zu  vollziehen.  Es  lässt  sich  nichts  der 
ganzen  Gestalt  und  dem  Charakter  des  ein- 
fachen Mannes  würdig  Passenderes  denken, 
als  diese  Auflösung  der  zu  verschwindenden 
Form.  Die  läuternde  Flamme  wird,  wie  bei 
den  antiken  Helden,  das  Irdische  verzehren, 
und  das  kleine  Felseneiland,  wohin  er  zurück- 
kehrte, nachdem  er  Victor  Emanuel  ein  König- 
reich geschenkt  hatte,  wo  er  in  bescheidener 
Zurückgezogenheit  mit  den  Seinen  lebte,  und 
wo  sein  edles  Herz  zu  schlagen  aufhörte  — 
ist  das  rechte  Piedestal  für  die  Urne,  welche 
die  Asche  eines  jener  Menschen  enthalten  wird, 
wie  sie  in  unserer  Zeit  immer  seltener  werden, 
welche  die  erkennende  Nachwelt  aber  den 
edelsten  Helden  der  alten  Zeit  zur  Seite  stellen 
wird. 


-     i83     - 

Auch  von  ihm,  wie  von  Mazzini,  entwarf 
Alexander  Herzen  ein  schönes,  nie  übertroffenes 
Bild,  ich  erinnerte  mich  daran  in  diesen  Tagen : 
»Mit  Garibaldi  wurde  ich  erst  im  Jahre  1854 
in  London  näher  bekannt,  als  er  von  Südamerika 
zurückkam  als  Kapitän  eines  Schiffes,  das  in  den 
Westindien-Docks  auf  der  Themse  lag.  Ich 
ging  mit  einem  seiner  früheren  Gefährten  im 
römischen  Krieg,  ihn  zu  besuchen.  In  seinem 
dicken,  hellfarbigen  Paletot,  seinem  bunten  Tuch 
um  den  Hals  und  dem  kleinen  Mützchen  auf 
dem  Kopf  erschien  er  mir  mehr  gleich  einem 
voUkommnen  Seemann,  denn  als  der  Führer  des 
römischen  Heers,  dessen  Bild  mit  phantastischer 
Kleidung  damals  in  der  ganzen  Welt  verkauft 
wurde.  Die  gutmütige  Einfachheit  seines  Be- 
nehmens, die  Abwesenheit  aller  Prätension,  die 
unverkennbare  Herzensgüte,  mit  der  er  uns 
empfing,  gewannen  ihm  gleich  meine  Neigung. 
Seine  Schiffsmannschaft  bestand  hauptsächlich 
aus  Italienern,  er  war  der  Befehlshaber  und 
sicher  ein  strenger ;  aber  er  wurde  dennoch  von 
allen  geliebt  und  verehrt,  alle  waren  stolz  auf 
ihren  Kapitän.  Er  gab  uns  ein  Frühstück  in 
seiner  Kajüte  und  bewirtete  uns  mit  besonders 
zubereiteten  Austern  aus  Südamerika,  mit  ge- 
trockneten Früchten  und  Portwein.  Plötzlich 
sprang  er  auf  und  rief:  »Halt,  mit  Ihnen  muss 
ich  einen  anderen  Wein  trinken.«  Er  lief  aufs 
Verdeck  und  darauf  erschien  ein  Matrose  mit 
einer  Flasche.  Garibaldi  lächelte  und  füllte 
unsere  Gläser.     Was   konnte   man   da   nicht  er- 


—     i84    — 

warten  von  einem  Mann,  der  von  jenseits  des 
Ozeans  kam?  Es  war  aber  nichts  anderes  als 
Belett,  Landwein  von  Nizza,  seiner  Heimat,  den 
er  nach  Montevideo  und  von  da  wieder  nach 
London  immer  mit  sich  führte.  In  unserer  ge- 
mütlichen Unterhaltung  aber  fühlte  ich,  dass  ich 
mich  in  der  Gegenwart  einer  ausserordentlichen, 
grossen  Natur  befand.  Ohne  dass  er  Phrasen 
und  Gemeinplätze  brauchte,  erkannte  man  in 
ihm  doch  den  mächtigen  Volksführer,  der  selbst 
alte,  erfahrene  Soldaten  durch  seine  Taktik  in 
Erstaunen  gesetzt  hatte,  und  es  war  nicht 
schwer,  in  diesem  schlichten  Schififskapitän  den 
verwundeten  Löwen  zu  erkennen,  der  nach  dem 
Fall  von  Rom  nur  Schritt  vor  Schritt  der  Über- 
macht wich,  und  nachdem  er  seine  ersten  Ge- 
fährten verloren  hatte,  Soldaten,  Bauern,  Räuber, 
wen  er  nur  finden  konnte,  zusammenrief,  um 
einen  neuen  Schlag  auf  den  Feind  auszuführen. 
Und  das  geschah  nach  dem  Tode  seiner  heiss- 
geliebten  Frau,  welche  den  Mühsalen  und  der 
Angst  eines  solchen  Feldzuges  erlegen  war. 
Schon  in  diesem  Jahr  1854  wichen  seine  An- 
sichten wesentlich  von  denen  Mazzinis  ab,  ob- 
gleich sie  persönlich  sehr  gut  zusammen  standen. 
Er  sagte  in  meiner  Gegenwart  zu  Mazzini,  dass 
es  nicht  ratsam  sein  würde,  das  piemontesische 
Gouvernement  zu  reizen,  dass  zunächst  das 
Nötigste  sei,  sich  vom  österreichischen  Joch  zu 
befreien,  und  dass  er  sehr  zweifle,  ob  Italien 
schon  für  eine  Republik  reif  sei,  wie  Mazzini 
sie   wünsche.     Er  war  entschieden  gegen  jeden 


~  185  - 

Versuch  einer  Revolution.  Als  er  London  ver- 
liess,  sagte  ich  ihm,  dass  mir  sein  Seeleben 
ausserordentlich  gefalle,  und  dass  er  unter  allen 
politischen  Flüchtlingen  das  beste  Teil  erwählt 
habe.  »Wer  hält  die  anderen  ab,  ein  Gleiches 
zu  tun?«  sagte  er  mit  Wärme.  »Es  war  dies 
immer  mein  Lieblingstraum  und  ist  es  noch,  Sie 
mögen  nun  darüber  lachen  oder  nicht.  Die 
Menschen  in  Amerika  kennen  mich;  ich  hätte 
dort  drei  bis  vier  Schiffe  haben  können,  um  die 
ganze  Emigration  aufzunehmen.  Alle  Mannschaft 
würde  aus  den  politischen  Flüchtlingen  genommen 
sein.  Was  ist  denn  jetzt  in  Europa  zu  tun? 
Entweder  Sklave  sein,  oder  sich  ruinieren  lassen, 
oder  still  in  England  leben.  In  Amerika  sich 
niederzulassen  ist  noch  schlimmer,  dann  ist  alles 
vorbei,  denn  das  ist  ein  Land,  in  welchem  man 
das  Vaterland  vergisst,  und  welches  einem  zur 
zweiten  Heimat  wird,  wo  es  andere  Interessen 
gibt  und  alles  anders  ist  als  hier.  Menschen, 
die  sich  in  Amerika  niederlassen,  scheiden  aus 
der  alten  Welt  aus.  Was  könnte  aber  besser 
sein  als  mein  Plan?«  setzte  er  mit  vor  Be- 
geisterung strahlenden  Augen  hinzu:  »die  ganze 
Emigration  um  ein  paar  Mäste  versammelt,  auf 
dem  Ozean  lebend,  gehärtet  durch  ein  rauhes 
Matrosenleben,  im  Kampf  mit  Elementen  und 
Gefahren  —  das  wäre  eine  schwimmende  Armee, 
unnahbar,  unabhängig  und  immer  bereit,  wenn 
es  der  Freiheit  gilt,  an  irgend  welchem  Ufer  zu 
landen.« 


—     i86    — 

In  diesem  Augenblick  erschien  er  mir  wie 
»einer  jener  klassischen  Helden,  eine  Gestalt  der 
Aeneide,  welcher  in  einem  anderen  Zeitalter  lebend, 
seine  Legende,  seine  arma  virumque  cano 
gehabt  haben  würde«.  Soweit  Herzen.  Er 
hat  es  nicht  mehr  erfahren,  dass  Garibaldi  wirk- 
lich schon  seine  Legende  hat  bei  dem  Volke  in 
Neapel,  das  fest  überzeugt  ist,  dass  es  immer 
einen  Garibaldi  geben  wird,  und  jetzt  schon  den 
Tag  des  heiligen  Joseph  mehr  zur  Erinnerung 
an  diese  neue  legendäre  Gestalt,  als  um  des 
alten  Heiligen  willen  feiert.  Doch  fehlen  auch 
jetzt  die  Stimmen  nicht,  die  stets  die  grossen 
Gestalten,  welche  aus  der  Geschichte  in  die 
Legende  übergehen,  verunglimpfen,  da  die 
Menschheit  es  ja  nicht  lassen  kann,  das  Strahlende 
zu  schwärzen  und  das  Erhabene  in  den  Staub  zu 
ziehen.  So  wagt  man  es  von  deutscher  Seite, 
diesem  einfachen,  ehrlichen  Volksmann  Bestech- 
lichkeit und  Gewinnsucht  vorzuwerfen.  Weiss 
ich  doch  gewiss,  dass  man  ihm  in  England,  wo- 
hin er  nach  der  vollbrachten  Einigung  Italiens 
eingeladen  als  Gast  des  Herzogs  von  Sutherland 
ging  und  wo  er  die  Huldigungen  der  ganzen 
englischen  Aristokratie  empfing  —  eine  grosse 
Besitzung  und  ein  ansehnliches  Vermögen  dazu 
anbot,  als  Beweis  der  unbegrenzten  Verehrung, 
welche  ihm  die  Engländer  zollten,  dass  er  aber 
entschieden  alles  ablehnte  und  rasch  in  seine 
bescheidene  Häuslichkeit  auf  Caprera  zurück- 
kehrte. Da  lebte  er  in  patriarchalischer  Ein- 
fachheit,   liebevoll    sorgend    für    alles,    was    ihn 


-     i87     - 

umgab.  Ein  Freund  erzählte  davon  u.  a.  das 
folgende  rührende  Beispiel:  »Eines  Tages  ver- 
misste  man  ein  junges  Lämmchen,  durch  die 
Wehklagen  der  Mutter  aufmerksam  gemacht. 
Garibaldi  und  der  bei  ihm  befindliche  Freund 
machten  sich  alsbald  auf,  das  Tierchen  zwischen 
den  Klippen  und  Felsenspalten  der  Insel  zu 
suchen.  Man  fand  es  aber  nicht,  und  endlich 
begaben  sich  abends  alle  ermüdet  zur  Ruhe. 
Der  besagte  Freund  konnte  nicht  schlafen,  und 
als  tiefe  Stille  im  Hause  herrschte,  hörte  er, 
wie  die  Tür  von  Garibaldis  Zimmer  sich  leise 
öffnete  und  dieser  vorsichtig,  um  kein  Geräusch 
zu  machen,  das  Haus  verliess.  Nach  längerer 
Zeit,  schon  mitten  in  der  Nacht,  hörte  er  ihn. 
zurückkommen,  und  erfuhr  am  folgenden  Tag, 
dass  Garibaldi  das  Tierchen  nach  langem  Suchen 
noch  gefunden  und,  da  es  vor  Kälte  zitterte, 
zu  sich  ins  Bett  genommen  habe,  um  es  zu 
erwärmen  und  am  Morgen  der  Mutter  zurück- 
zugeben.    Solche  Züge   sagen  mehr  als  Worte ! 

Als  nun  im  März  1882  nach  600  Jahren  der 
Jahrestag  der  sicilianischen  Vesper  wiederkehrte, 
die  in  der  Geschichte  jener  schönen  Insel  ein 
Denkmal  von  dem  edlen  Unabhängigkeitssinn 
der  Bevölkerung  bleibt,  bereitete  Palermo  ein 
grosses  Fest,  und  lud  vor  allen  anderen  den 
ehrwürdigen  Volkshelden  dazu  ein,  der  selbst 
wie  eine  Erscheinung  aus  dem  heroischen  Zeit- 
alter der  Menschheit  war.  Hatte  er  doch  für  das 
herrliche  Inselland  beinali  Ähnliches  vollbracht, 


—     i88     — 

wie  einst  Johann  von  Procida,  nämlich  ihm  Frei- 
heit und  Unabhängigkeit  gegeben  durch  seinen 
Zug  der  Tausend,  der  eher  einem  Gesang  des 
Homer  glich,  als  einem  modernen  Feldzug.  Gari- 
baldi, obwohl  schon  alt  und  sehr  krank,  machte 
sich  zu  dieser  letzten  Feier  seines  Heldenlebens 
auf.  Seine  Reise  war  wie  ein  Triumphzug;  an 
jeder  Station  musste  der  Zug  anhalten,  damit 
die  Bevölkerung  den  geliebten,  greisen  Führer 
noch  einmal  sehen  könne,  und  nur  die  Rücksicht 
auf  seine  Gesundheit  mässigte  etwas  den  Jubel, 
mit  dem  man  ihn  in  Palermo  empfing.  Garibaldi 
dankte  der  enthusiastischen  Stadt  mit  einem 
Brief,  worin  er  sie  aufforderte,  stets  die  Erste  zu 
s>ein,  um  das  kaum  entstandene  Italien  vor  äusseren 
und  inneren  Gefahren  zu  schützen.  Insbesondere 
warnte  er  sie  vor  dem  Papsttum,  und  erinnerte 
sie  daran,  dass  1282  es  der  Papst  gewesen  sei, 
der  die  Räuber  geschickt  habe,  welche  sie  so 
heldenmütig  in  die  Flucht  getrieben  hätte,  Er 
schloss  den  Brief  folgendermassen:  »Bilde  in 
Deiner  Mitte,  in  der  so  viele  grossmütige 
Herzen  schlagen,  eine  Verbrüderung  unter  dem 
Namen  »Befreierin  der  menschlichen  Intelligenz«, 
deren  Aufgabe  es  sei,  die  Unwissenheit  zu  be- 
kämpfen, den  freien  Gedanken  zu  wecken,  und 
dem  Volke,  anstatt  der  Lüge,  die  Religion  des 
Wahren  und  Guten  zu  lehren.«  Wie  würde  das 
Herz  des  edlen  Volksmanns  geblutet  haben, 
hätte  er  es  erlebt,  das  Elend  dieser  Tage  zu 
sehen,  welches  sein  geliebtes  Inselvolk  wieder 
dazu    trieb,  in    Waffen  aufzustehen,   leider   aber 


—     i89    — 

gegen  die  eigenen  Brüder,  die  von  der  selbst 
gewählten  Regierung  gesendet  wurden  zu  dem 
sogenannten  »Ordnungstiften«  im  traurigen  sozi- 
alen Krieg.  (Vor  einigen  Jahren,  als  das  über- 
handnehmende Elend  die  Sicilianer  zu  revolu- 
tionären Aufständen  trieb,  welche  unter  dem 
Ministerium  Crispi,  der  selbst  ein  Sicilianer  ist, 
und  einer  der  Tausend  unter  Garibaldi  gewesen 
war,  mit  Waffengewalt  unterdrückt  wurden!) 


Gedachtes. 


Viele  Gedichte  Goethes  kann  man  gar  nicht 
bloss  rezitieren,  man  muss  sie  singen.  Die  Töne 
ergeben  sich  von  selbst  dazu,  die  Worte  kommen 
so  aus  dem  innersten  Leben,  dass  sie  Musik  in 
sich  enthalten,  z.  B.  das  Ȇber  allen  Gipfeln  ist 
Ruh«.  Gresteru  Abend  nach  dem  glorreichsten 
Sonnenuntergang,  vor  der  leuchtenden  Klarheit 
eines  römischen  Sternenhimmels,  musste  ich  es 
singen,  mit  einer  wunderbaren  Melodie,  die  ganz 
von  selbst  den  Worten  entstieg.  Es  wurde  mir 
himmlisch  wohl  dabei. 


»Arbeit  ist  der  göttlichste  Orden,  so  er  je 
auf  Erden  gestiftet  ist  worden«.  So  sagt  Hans 
Rosenblüt  am  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts. 
Wie  sagen  wohl  unsere  Arbeiter  am  Ende  des 
neunzehnten  Jahrhunderts? 


Wir  sind  selbst  das  Metaphysische,  das  Ding 
an    sich    in    der  Erscheinung,  der   umgekehrte 


—     192    — 

Spiegel  Schopenhauers.  Dühring  nimmt  die  Er- 
scheinung für  bare  Münze,  und  insofern  als  sie 
unsere  einzige  Kursbezahlung  ist,  hat  er  recht. 
Aber  sie  ist  nur  corso  forzoso,  das  Silbergeld 
ist  jenseits  der  Erscheinung.  Doch  ist  das  eine 
vom  anderen  nicht  zu  trennen,  und  nur  wer 
das  Papiergeld  in  sich  ins  edle  Metall  umsetzt, 
hat  die  volle  Summe. 


Das  Karmän  der  Buddhisten  ist  die  unend- 
liche Folge  von  Ursache  und  Wirkung,  deren 
Produkt  wir  sind.  Das  Nirväna  ist  die  Auf- 
hebung des  Karmän.     Welch  ein  Licht! 


Auf  einsamem  Bergpfad,  hoch  in  den  Alpen 
wandelnd,  grauer  drohender  Himmel,  freudlose 
Alpennatur,  starr  und  kalt  ringsum.  Gewiss  hat 
der  Mensch  von  jeher  Zwiesprache  mit  der 
Natur  gehalten,  gewiss  haben  Sonnenstrahlen  ihn 
erheitert  und  hat  solch  düsterer  Ernst  wie  hier 
ihm  Ehrfurcht  oder  Furcht  eingeflösst.  Aller 
Götterglaube  hat  da  seinen  Ursprung.  Sobald 
der  Mensch  da  war,  waren  Frage  und  Antwort  da. 


Die  Sprache  kann  nur  durch  die  Gemein- 
samkeit entstanden  sein.  Man  kann  sich  denken, 
dass  ein  einzelner  Mensch  Begriffe  gehabt,  und 
die  Gegenstände  ausser  sich  unterschieden  hat, 
ohne    einen    Ausdruck    dafür   zu    suchen.      Mit 


—     193    — 

anderen  musste  nach  und  nach  ein  Ausdruck 
gefunden  werden,  durch  welchen  man  sich  den 
Begriff  mitteilte. 


Je  weiter  man  im  Leben  kommt,  je  einfacher 
werden  die  Grundlinien  des  Charakters  sichtbar. 
Die  Dinge,  die  uns  die  Welt  angehängt  hat, 
fallen  ab;  es  bleiben  der  heilige  Zorn  und  die 
Charitas,  wie  in  der  Kapelle  Sixtina  auf  dem 
jüngsten  Gericht:  Christus  und  Maria. 


Eben  las  ich  in  dem  lieblichen  Buch  über 
die  Jugend  Michelets  (von  seiner  Witwe  her- 
ausgegeben), wie  sein  Freund  Poinsaut  die  Offen- 
barung der  wahren  Liebe  durch  den  Tod  der 
Virginie  (im  Roman  »Paul  et  Virginie«)  erhält, 
indem  Virginie  lieber  stirbt,  als  dass  sie  die  holde 
Scham  verletzte,  die  sie  in  der  Nähe  des  Ge- 
liebten empfindet.  Ist  es  nicht  ebenso  mit 
Tugend  und  Sittlichkeit?  Die  haben  auch  das 
Hindernis  in  sich  selbst,  welches  zu  oft  den 
irdischen  Erfolg  vereitelt.  Der  zur  Tugend,  zur 
wahren  Sittlichkeit  angelegte  Mensch  kann  nicht 
gegen  dieselbe  handeln,  ohne  sich  selbst  die 
tödliche  Wunde  beizubringen,  die  tiefer  schmerzt 
als  das,  was  man  auf  der  anderen  Seite  verliert 


Sehr  rührend    und   schön   ist  die    Erzählung 
des  psychologischen  Vorganges  in  Poinsaut,  der 

Meysenbug  ,  IV.  13 


—     194    — 

reinen  Herzens  war  und  dessen  Verstand  nur 
durch  die  frühen  Mitteilungen  unsittlicher 
Kameraden  verwirrt  wurde.  Wenn  man  bedenkt, 
welche  Wirkung  jenes  paradiesisch  unschuldige 
Buch  (:&Paul  et  Virginie«)  auf  die  damalige, 
durch  so  viele  Korruption  durchgangene  Welt 
hatte,  so  fragt  man  sich,  würde  ein  solches  Buch 
heute  nach  Zola  und  seiner  ganzen  Schule  noch 
so  wirken?  Ein  schlimmes  Fragezeichen  für 
unsere  Zeit,  die  sich  rühmt,  so  viel  moralischer 
zu  sein  als  jene. 


Wir  armen  Sterblichen  machen  uns  wahr- 
haftig zu  viel  Sorge  um  die  schweren  Stunden, 
die  wie  ein  Traum  vergehen,  während  wir  nie 
genug  daran  denken,  das  Ewige  in  die  flüchtige 
Zeit  zu  bannen  und  diese  dadurch  aufzulösen  in 
einen  blossen  Begriff,  gleichsam  in  ein  Hülfszeit- 
wort,  mit  dem  sich  unsere  Vernunft  das  Ewige 
in  verschiedene  Phasen  zurechtlegt. 


Offenbar  ist  die  Furcht  vor  dem  Tode  ein 
Hauptmotiv  in  der  ganzen  katholischen  Dogmatik. 
Das  Paradies  muss  auf  alle  Weise  gewonnen 
werden.  Die  guten  Werke  sind  das  Mittel,  der 
Hölle  zu  entfliehen. 


Wie  schrecklich  ist  solch    ein  Vorlesen,  wie 
das  der  M.  .  .  .1     Sie  liest  laut  für  sich,  nicht 


—     195    — 

für  die  andern.  Es  ist  ein  seelenloses,  ober- 
flächliches Lesen.  Auch  in  solchen  Dingen  ver- 
rät sich  die  Persönlichkeit.  Wie  anders  liest 
ein  wirklich  innerlicher  Mensch! 


Im  Alter  wird  die  Natur  einem  noch  ver- 
trauter und  wichtiger  als  in  der  heissblütigen 
Jugend,  die  Teilnahme  von  ihr  verlangt  und 
sich  über  ihren  kalten  Metallglanz  ärgert.  Das 
Alter  hingegen  ruht  aus  in  der  Objektivität  der 
um  individuelle  Leiden  und  Freuden  unbeküm- 
merten, nach  ewigen  Gesetzen  wirkenden  Natur, 
in  deren  Schoss  alles  Lebendige  nach  über- 
standenem  Erdentraum  zurückkehrt. 


Der  Intellekt  ist  ja  auch  nur  ein  Teil  der 
Erscheinung,  und  hängt  von  ihren  Existenz- 
bedingungen mit  ab,  während  das  Unveräusser- 
liche, der  Charakter,  das  eigentlich  Metaphysische, 
welches  als  Wille  mit  uns  geboren  wird,  bleibt. 
Ein  rührendes  Beispiel  hierzu  erlebte  ich  kürzlich. 
Ein  alter  Künstler,  der  in  Rom  seit  seiner  Jugend 
lebte,  und  sowohl  wegen  seiner  Leistungen  wie 
als  Mensch  hoch  geachtet  war,  wurde  nun  durch 
Krankheit  und  Alter  in  einen  Zustand  völliger  Hülf- 
losigkeit  versetzt  und  hing  von  den  Dienstleistungen 
seiner  Frau  und  der  Magd  ab.  Eines  Tages  kam 
das  Bewusstsein  seiner  Lage,  seines  geistigen  und 
physischen  Absterbens,  noch  einmal  mit  Klarheit 
über  ihn   und   er   fing   an   bitterlich  zu  weinen. 


13* 


—     196    — 

Umsonst  versuchten  seine  Frau  und  seine  kleine 
Tochter,  ihn  durch  Liebkosungen  zu  beruhigen. 
Ein  Freund,  der  zugegen  war,  sagte  ihm  end- 
lich, er  sei  doch  noch  gut  daran,  habe  liebende 
Wesen  um  sich,  ihn  zu  pflegen,  und  brauche 
wenigstens  nicht  zu  darben;  aber  er  solle  des 
armen  A  .  .  .  .  gedenken,  eines  einst  auch  be- 
rühmten Künstlers,  der,  älter  und  hülfloser  noch 
als  er,  niemand  auf  Erden  habe,  der  für  ihn 
sorge,  ausser  einem  gemeinen  Aufwärter,  welcher 
ihm  etwas  zu  essen  bringe  und  ein  paar  Mal 
am  Tag  nach  ihm  sehe.  Des  alten  Mannes 
Tränen  versiegten  und  er  schwieg.  Am  folgenden 
Tag  rief  er  die  Köchin  herbei  und  fragte  sie  leise: 
»Könnten  wir  nicht  dem  alten  A  .  .  .  ein  Süpp- 
chen schicken?« 

Wem  würde  bei  so  etwas  nicht  zu  Mute, 
wie  wenn  ein  Sonnenstrahl  durch  finsteres  Ge- 
wölk bricht?  So  bricht  hier  durch  den  sich  um- 
nachtenden  Intellekt,  der  an  die  Erscheinung 
gebunden  ist,  das  Leuchten  des  Metaphysischen, 
Unzerstörbaren,  welches,  jenseits  unserer  Erkennt- 
nis, aus  geheimnisvollen  Ursachen  uns  den 
Charakter  zubereitet  hat ;  hier  zeigt  es  sich  als 
die  Güte,  die,  auch  entkleidet  von  dem  schmücken- 
den Gewand  des  Intellekts  und  des  Talents,  in 
ursprünglicher  rührender  Schönheit  zu  Tage  tritt 

Deshalb  ist  auch  der  Tod  guter  Menschen 
meist  so  schön  und  rührend,  weil,  selbst  wenn 
der  Geist  schon  umflort  ist  und  erlischt,  die 
letzten  Bilder  und  Worte,  die  das  ersterbende 
Bewusstsein  noch  hervorbringt,  der  liebenswerten 


—     197     — 

Natur  entsprechen.  So  hatte  z.  B.  mein  Vater, 
dessen  liebevolles  edles  Gemüt  für  ganz  anderes 
gemacht  war,  als  für  die  heissen  Kämpfe  der 
Politik  und  der  Revolution,  in  denen  sein  Leben 
verfliessen  musste,  schon  einschlummernd  zum 
ewigen  Schlaf,  nur  noch  Vorstellungen  von 
Blumenwiesen  und  Vergissmeinnichtsträussen,  von 
denen  er  lächelnd  und  leise  flüsternd  sprach.  Ich 
sah  nie  einen  Bösen  sterben,  aber  der  Tod  eines 
solchen  muss  schrecklich  sein,  denn  nun  kommt 
das  wahre  jüngste  Gericht  zum  Vorschein,  und 
kein  Blitzen  des  Verstandes,  kein  Funkeln  des  im 
Leben  erworbenen  gleissnerischen  Schimmers, 
kann  den  Abgrund  des  Wesens  mehr  verbergen. 
Bezeichnend  ist  hiefür  das  Wort  des  Kaisers 
Augustus,  der,  als  er  die  letzte  Stunde  nahen 
fühlte,  sich  freute,  dass  er  nun  endlich  aufhören 
könne,  Komödie  zu  spielen 


Im  geistreichen  Buch  des  Grafen  Gobineau: 
»Sur  la  diversite  des  races  humaines«  steht, 
dass  die  Makedonier  über  Athen  siegten,  weil 
sie  unvermischtes  arisches  Blut  hatten,  und  dass 
Athen  an  der  Mischung  mit  semitischem  Blut 
zu  Grunde  ging.  Da  aber  die  Makedonier  gar 
keine  Kultur  hervorbrachten  und  sogleich  in  der 
Vermischung  mit  dem  Orient  untergingen,  so  ist 
das  doch  kein  Beweis  ihrer  Superiorität  über 
die  Rassenmischung  in  Athen,  die  unleugbar  den 
höchsten  Glanzpunkt  menschlicher  Kultur  hervor- 
gebracht hat.    Warum  hätte  das  nicht  fortdauern 


—    198    — 

sollen,    wenn    nicht   andere   Ursachen    des   Ver- 
falles dagewesen  wären? 


Malthus  hat  meiner  Meinung  nach  darin 
recht,  dass  er  die  überhandnehmende  Bevöl- 
kerung der  Erde  nicht  als  ein  Glück  ansieht. 
Nur  darin  hat  er  unrecht,  dass  er  Krieg  und 
Vernichtung  als  notwendige  Mittel  bezeichnet, 
um  sich  der  überflüssigen  Mehrzahl  zu  entledigen 
und  der  egoistischen  Minorität  den  Genuss  des 
Lebens  zu  sichern.  Der  Wirklichkeitsphilosoph 
meint,  man  solle  die  Natur  nur  zunächst  quan- 
titativ verfahren  und  produzieren  lassen,  sie  werde 
einmal  an  die  Grenze  kommen,  wo  sie  einhalten 
und  qualitativ  verfahren  müsse,  um  dann  viel- 
leicht eine  höher  organisierte  Menschheit  hervor- 
zubringen. Ich  denke,  der  Kulturmensch  solle  es 
nicht  der  Natur  überlassen,  sondern  mit  Bewusst- 
'  sein  darauf  hinarbeiten;  die  Statistik  beweist, 
dass  die  Vermehrung  der  Menschenherde  am 
zahlreichsten  in  den  untersten  Gesellschafts- 
klassen vor  sich  geht,  als  Ersatz  für  höhere 
Lebensfreuden  aus  vorherrschenden  animalischen 
Trieben.  Je  mehr  daher  geistiges  Leben  und 
wahre  Bildung  zur  Herrschaft  gelangen  werden, 
je  gebändigter  wird  der  bloss  animalische  Trieb 
sein  und  je  edler  werden  die  Exemplare  werden, 
denn  darauf  allein  kommt  es  an. 


Neulich  sagte  eine  verheiratete  Frau,  halb 
im  Scherz  und  halb  im  Vorwurf,  zu  ihrem 
Mann,  dass  sie  gar  nichts  mehr  für  ihn  sei  neben 


—     199    — 

ihren  zwei  jungen  Töchtern,  die  er  zärtlich  liebt. 
Eine  ähnliche  Erfahrung  habe  ich  schon  bei 
anderen  Ehen  gemacht.  Ist  das  vielleicht  so, 
weil  die  Leidenschaft,  deren  Gegenstand  die 
Frau  war,  befriedigt  ist,  und  weil  der  Egoismus 
des  Mannes  in  den  Kindern  einen  Teil  seiner 
selbst  wiederfindet,  während  die  Frau  ihm  doch 
immer  ein  fremdes  Wesen  ist?  Das  würde  an 
Schopenhauers  Idee  der  Ehe  erinnern.  Oder 
ist's  weil  das  Hülflose  des  Kindes  ihm  noch 
mehr  das  Gefühl  des  Beschützers  gibt  als  bei 
der  Frau?  Oder  endlich  —  und  das  wäre  die 
schönste  Erklärung  —  weil  er  im  Kinde  die 
Mutter  doppelt  liebt  und  im  Kinde  das  Siegel 
ihres  Bundes,  ihr  gemeinsames  Vermächtnis  an 
die  Menschheit  sieht? 


Vor  vielen  Jahren,  noch  in  England,  schrieb 
ich  einmal  in  mein  Tagebuch:  Am  heutigen 
Abend  spät  ging  ich  auf  der  Insel  Wight  am 
Meeresstrand  entlang,  von  einem  Besuch  kommend, 
einen  weiten  Weg  allein  zurück.  Es  war  heller 
Mondschein;  auf  der  einen  Seite  war  der  Weg 
von  hohen  Felsen  begrenzt,  auf  der  andern  vom 
mondbeglänzten  Meer.  Dieses  Alleinsein  in  der 
Natur  rührte  mich,  wie  immer,  tief;  das  elemen- 
tare Leben  umfing  mich  so  heimatlich,  so 
liebevoll.  Deutlicher  als  je  stieg  das  Bewusst- 
sein  meiner  eigentlichen  Bestimmung  in  mir  auf. 
Gibt  es  denn  doch  eine  »Idee  preexistante«  im 
Menschen,  zu  der  ihn  sein  ganzes  Leben  gewalt- 


—      200 


sam  hindrängt?  Schaffen  —  das  ist's!  Auf 
andere  veredelnd  wirken,  Kinder,  leibliche  oder 
geistige,  zeugen,  das  Leben  fortsetzen,  also  immer 
der  Zukunft  entgegen,  nie  zurück!  Das  stösst 
die  christliche  Theorie  des  ein  für  alle  Mal  ge- 
gebenen Ideals  um.  Aber  das  Wesentliche  in 
jener  Theorie  bleibt,  dass  die  Liebe,  welche  nicht 
Schwäche,  sondern  unangreifbare,  unbesiegbare 
Stärke  ist,  schliesslich  das  allein  Siegende  bleibt. 
Ja,  Nazarener,  am  Kreuz  besiegtest  du  dennoch 
die  Welt!  Es  ist  nur  viel  tiefer,  als  die  Dog- 
matiker  denken. 


Wenn  man  nach  langen  Jahren  an  einen  Ort 
zurück  kommt,  wo  man  früher  einmal  gelebt  hat, 
so  überfällt  einen,  fast  mit  Grauen,  die  Über- 
zeugung, dass  es  immer  dasselbe  ist,  was  lebt. 
Alles,  was  wir  einst  gekannt  haben,  ist  längst 
im  Grabe,  eine  neue  Generation  ist  an  die 
Stelle  getreten,  aber  es  sind  dieselben  Typen; 
was  wir  einst  jung  gesehen  haben,  ist  wieder 
jung  da;  wir  meinen  Bekannte  zu  erkennen;  es 
ist  dasselbe  ruhe-  und  ziellose  Treiben,  dasselbe 
Lachen,  dasselbe  Weinen,  dieselbe  Verliebtheit 
und  Torheit,  derselbe  alte,  ewige  Schmerz.  Ist 
das  auch  nur  Gattungsbegriff  wie  beim  Tiere  .^ 
Entwächst  das  Individuum,  welches  den  Gott  in 
sich  enthüllte,  dem  allgemeinen  Schicksal  der 
Erscheinung  nicht?  Ist  das  nicht  das  einzige, 
was  über  die  Erscheinung  hinausgeht,  wieder 
Ding  an  sich  wird? 


—      20I       

Ich  fühlte  von  früh  auf  tief,  wie  notwendig 
es  ist,  dass  unser  Leben  Tat  werde,  aber 
nicht  bloss  praktische  Tat  des  Handelns,  son- 
dern ideale  Tat  der  künstlerischen  Vollendung. 
Wir  können  uns  nicht  damit  begnügen,  dass  wir 
den  Marmor  brechen,  der  einst  der  Zukunft 
Göttertempel  herstellen  soll,  wir  müssen  ihm 
auch  gleichzeitig,  schon  wenigstens  in  einer 
Form,  die  Ahnung  eines  idealen  Lebens  ein- 
hauchen, und  war'  es  auch  nur  in  dem  ver- 
schwiegenen Umgang  mit  unserer  eigenen  Seele. 


Die  Propheten  gehen  den  neuen  Epochen 
voran,  die  Philosophen  beschliessen  die  alten, 
ihre  Aeren  nähern  sich  demnach  einander;  des- 
halb verwechselt  man  sie  so  oft. 


Heute  haben  zwei  militärische  Exekutionen 
stattgefunden,  eine  in  Palermo  und  die  des  Sol- 
daten Misdea  in  Neapel.  Dieser  hatte  ein  ent- 
setzliches Verbrechen  begangen:  sieben  Soldaten, 
zum  Teil  seine  Vorgesetzten,  in  einem  Anfall 
von  Wut  erschossen.  Er  war  wie  eine  wilde 
Bestie  und  dennoch  kein  schlechter  Mensch.  Im 
Gefängnis  hat  er  gedichtet  und  der  Geistliche, 
der  ihn  besuchte  und  ein  guter  Mann  war,  hat 
ihn  beweint.  Er  war  ein  Sohn  der  wilden 
Berge,  ein  Calabrese,  ein  heissblütiges  unerzogenes 
Wesen,  seine  Kameraden  hatten  ihn  verspottet 
und  schlecht  behandelt  und  er  hatte  sich  ge- 
rächt.    Hätte  die  Gesellschaft  sich  seiner  ange- 


202 


nommen,  ihm  die  Mittel  der  Bildung  gegeben, 
er  wäre  vielleicht  ein  ganz  ausgezeichneter  Mensch 
geworden.  Da  sie  es  aber  nicht  tat,  sondern 
ihn  seinen  wilden  Instinkten  überliess,  so  kam 
sie  nun  gesetzlich  dazu,  dasselbe  zu  tun,  wofür 
sie  ihn  strafte:  sie  mordete  1 

Welche  Logik  und  welche  Zustände  I 
Und  dadurch  soll  die  militärische  Disziplin 
gebessert  werden?  Denn  das  ist  ja  der  Vor- 
wand, unter  dem  man  hier  in  Italien  diese  Exe- 
kutionen vollzieht,  wo  doch  die  Todesstrafe  ab- 
geschafft ist.  Es  wird  den  Soldatenstand  verhasst 
machen  und  auch  die  Regierung,  welche  einen 
Menschen  zwei  und  einen  halben  Monat  im  Ge- 
fängnis hielt  und  ihn  dann,  ungeachtet  des  Pro- 
testes aller  fühlenden  Herzen,  erschiessen  Hess; 
diesen  wild  aufgewachsenen,  ungebildeten  Men- 
schen, der,  durch  unverdienten  Spott  zur  Wut 
gereizt,  in  einem  Augenblick  alles  überwiegender 
Aufregung  tat,  was  er  bei  kaltem  Blute  nicht 
getan  hätte  und  was  er  tief  und  herzlich  bereute. 
Der  Beweggrund  des  Urteils  war,  wie  schon 
erwähnt,  die  militärische  Disziplin,  womit  dem- 
nach gesagt  wurde,  dass  es  für  das  Militär  eine 
andere  Moral  gibt  als  für  die  anderen  Staats- 
bürger, da  man  Mörder,  die  nicht  in  der  Uniform 
stecken,  in  diesem  milden  Lande  nicht  hinrichtet. 
Also  nur  weil  der  Soldat  die  Autorität  im 
Vorgesetzten  respektieren  muss,  wird  er,  falls  er 
es  nicht  tut,  mit  dem  Tode  bestraft,  während 
er  als  gehorsame  Maschine,  auf  Befehl,  Hunderte 
im  Kriege  morden  kann. 


—     203      — 

In  Misdeas  Fall  waren  die  Priester  die  hu- 
mane Partei  und  die  freisinnige  Regierung  war 
die  inhumane.  Der  Erzbischof  von  Neapel, 
Sanfelice  und  Monsignore  de  Luce,  welche  den 
Verurteilten  liebe-  und  erbarmungsvoU  behan- 
delten und  trösteten,  werden  im  Herzen  des 
Volkes  einen  Altar  haben;  die  Richter  Misdeas 
nicht. 


»Gott  ist  nicht  gerecht,  nur  einer  ist  gerecht 
—  der  Tod«,  sagte  mir  eine  alte  Frau  aus  dem 
Volk,  die  neben  mir  stand  auf  der  Strasse,  als 
eben    ein   glänzender   Leichenzug   vorüber  ging. 


Joseph  de  Maistre  erkennt  in  seinem  Buch 
»vom  Papst«,  freilich  in  mystischen  Ausdrücken, 
die  ungeheure  intellektuelle  Revolution  an,  welche 
sich  infolge  der  politischen  Revolution  vollzogen 
hat.  Er  sagt,  die  Sprache  der  Priester  sei  ab- 
genützt und  überzeuge  nicht  mehr,  die  Sprache 
der  Laien  müsse  dafür  eintreten.  In  dem  anderen 
Buche,  »Sur  le  principe  generateur  des  con- 
stitutions«,  erklärt  er  die  religiösen  Analogien 
der  Völker,  vernichtet  also  die  direkte  Offen- 
barung. Er  schlägt  vor,  in  einer  grossen  Stadt, 
auf  antiken  Überresten,  eine  Statue  von  Christus 
zu  errichten  mit  der  Inschrift:  »A  l'Osiris 
chretien  dont  les  envoyes  ont  parcouru  le  monde. « 
Er  erkennt  damit  eine  christliche  Mythologie  an. 
Oh    Joseph   de   Maistre,    liebenswürdiger    feiner 


—      204      — 

Geist   sympathisch    trotz    Deiner    Irrtümer,    wie 
konntest  Du  Dir  so  widersprechen! 


I 

» 


Wenn  ich  dem  heiligen .  Augustin  darin  bei- 
stimmte, dass  der  Mensch  des  Besitzes  der  ab- 
soluten Wahrheit  bedürfe,  um  glücklich  zu  sein 
und  dass  das  blosse  Suchen  nach  derselben  ihn 
nicht  befriedige,  so  würde  ich  mich  alsbald  in 
den  Schoss  der  katholischen  Kirche  begeben, 
denn  da  ist  positive  Wahrheit  für  alle  Lebens- 
probleme. Wenn  man  es  kann,  muss  es  sich 
sehr  bequem  darin  ruhen  lassen.  Ich  halte  es 
aber  mit  Lessing  und  glaube,  dass  in  der  Ein- 
sicht unserer  Beschränkung,  die  es  uns  unmöglich 
macht,  das  Absolute  zu  erkennen,  die  einzige 
Ruhe  liegt,  zu  der  wir  gelangen  können,  indem 
wir  dann  erst  mit  vollem  Bewusstsein  uns  »immer 
strebend  bemühen«,  und  so  der  Erlösung  vom 
Schmerz  des  Unbefriedigtseins  teilhaftig  werden. 


Das  Prinzip  des  Guten  und  Bösen  ist  da, 
soweit  das  Bewusstsein  zurückreicht ;  aber  es  geht 
nicht  von  einem  Herrscherwort  aus,  welches  den 
Menschen  fesselt,  denn  damit  bliebe  immer  ein 
Widerspruch  zwischen  Freiheit  und  Gewalt.  Das 
Gute  ist  Freiheit  der  Entwicklung:  alles  was 
eine  ausgelebte  Form  verewigen  will,  ist  böse. 
Darin  ist  der  Geist  auch  dem  unabwendbaren 
Gesetz  der  Natur  unterworfen,  dass  er  Hülle  um 
Hülle  zerbrechen,  sich  ewig  neue  Formen,  gleich 


—      205      — 

den  neuen  Frühlingen,  schaffen  muss.  Wer  dem 
Einhalt  tut,  beschränkt  das  Gebiet  der  Freiheit, 
tut  Böses,  bereitet  moralischen  Tod. 


Den  Kampf  des  Lebens  schon  vor  dem  leib- 
lichen Tod  ausgekämpft  haben,  ist  das  vielleicht 
eine  neue  Form  der  Religion?  Nicht  mehr  der 
Schmerz  und  der  Kampf,  sondern  der  Frieden 
und  das  Glück.  Ist  alles  Drängen  und  Treiben 
nur  das  Sehnen  danach  und  wird  damit  die  Erde 
schon  zur  vergöttlichten  Heimat?  Es  wären  die 
Griechen,  nur  in  höherer  Potenz. 


Erst  wenn  die  Hälfte  des  Lebens  vorüber 
ist  fangen  wir  an,  unsere  eigene  Natur  und  ihre 
wahren  Bedürfnisse  ganz  zu  verstehen,  und  fühlen 
dann  den  bitteren  Schmerz,  das  an  uns  Ver- 
säumte nicht  nachholen,  uns  nicht  selbst  zum 
voUkommnen  Kunstwerk  machen  zu  können. 
Die  Erziehung  in  den  Händen  einsichtsvoller 
Menschen  könnte  uns  vieles  zu  Bedauernde  er- 
sparen. Welche  herrliche  Aufgabe,  und  wie 
mangelhaft  wird  sie  meist  noch  erfüllt! 


In  der  Neujahrsnacht  von  1878  auf  79  lag 
ich  schlaflos  und  hörte  in  Gedanken  den  letzten 
Akt  aus  Wagners  Götterdämmerung  und  bei  der 
Stelle  »Deine  Raben  hör  ich  rauschen«  fiel  mir 
ein,   wie   doch  fast  alle  Götter  Vögel  zu  Attri- 


—      206      — 

buten  hatten,  wohl  als  die  im  Luftmeer  Heimischen, 
dem  Himmel  Nahen,  so  Wotan  die  Raben,  Zeus 
denAdler,  Minerva  die  Eule,  Venus  die  Tauben  etc. 
Wieder  der  geistreiche  Symbolismus  der  Alten. 


Ostermorgen  in  Neapel.  Himmlischer  Morgen ! 
Der  Vesuv  raucht  wie  ein  Opferaltar,  Christ  ist 
erstanden!  Die  alte  Sage  umklingt  mich  heute 
in  aller  Schönheit. 


Der  Sommer  1882  rief  mich  nun  wieder 
nach  Bayreuth  und  zwar  schon  früh,  um  allen 
Proben  zum  Parsifal  beizuwohnen,  der  zum  ersten 
Mal  aufgeführt  werden  sollte.  Als  ich  einige 
Jahre  früher,  im  Sommer  78,  zu  Besuch  bei 
Wagners  war,  kam  der  Meister  eines  Tags  aus 
seinem  Arbeitszimmer  oben  im  Haus  zu  uns 
herunter  und  sagte:  »So,  nun  habe  ich  meinen 
zweiten  Akt  fertig  gemacht.  Das  ist  mir  schwer 
geworden,  so  etwas  schreib  ich  nicht  wieder.« 
Dann  hörte  ich  von  Liszt  aus  dem  ersten  Akt 
spielen  und  drei  Jahr  später  in  Neapel,  wie  er- 
wähnt, die  erste  Gralsscene  singen.  Nun  war 
das  Werk  vollendet  und  zur  Aufführung  bereitet 
und  um  nichts  in  der  Welt  hätte  ich  versäumen 
mögen,  dieser  ersten  Aufführung  beizuwohnen. 
Schon  im  Jahr  vorher  in  Neapel  hatte  mich 
Joukoffski,  der  ein  Haus  in  der  Nähe  von  dem 
Hause  Wagners  gemietet  hatte,  aufgefordert, 
mich    in    dem    Parterre,    welches    er    nicht    be- 


—      207      — 

nutzte,  einzumieten,  und  ich  war  gern  darauf 
eingegangen,  da  ausser  mir  nur  noch  Stein  im 
Hause  wohnte,  und  dies  mir  also  ein  sehr  sym- 
pathisches Trio  wurde,  welches  die  Stimmung 
zuliess,  wie  sie  zur  Anhörung  des  erhabenen 
Kunstwerks  einzig  sein  musste.  Wie  sich  nun 
in  den  Proben  nach  und  nach  diese  Wunderwelt 
der  Töne  vor  mir  auftat,  steigerte  sich  von 
Tag  zu  Tag  meine  Ergriffenheit.  In  der  General- 
probe, wo  nur  wenige  Eingeweihte  zugelassen 
waren,  sass  ich  neben  Liszt,  welcher  die  Partitur 
vor  sich  hatte;  plötzlich  in  Ekstase  ergriff  er 
meinen  Arm  und  sagte  ganz  ausser  sich:  >Ce 
n'est  pas  ä  croire  ä  ses  oreillies!«  Seine  älteste 
Enkelin,  die  feurige  Daniela  von  Bülow,  die  auf 
der  anderen  Seite  neben  mir  sass,  sagte,  als  das 
Liebesmahl  im  Gralstempel  zu  Ende  war  und 
die  Ritter  sich  den  Bruderkuss  gaben:  »Ich 
wollte,  ich  hätte  einen  Todfeind,  um  ihm  in 
diesem  Augenblick  zu  vergeben.«  Das  waren 
alles  Zeugnisse  der  Wirkung,  die  von  diesem 
Werke  ausging  und  die  sich  durch  das  Anhören 
sämtlicher  Aufführungen  nicht  abschwächte, 
sondern  eher  noch  wuchs.  Es  ist  so  viel  seitdem 
über  Parsifal  geschrieben  worden,  so  viele  haben 
ihn  gehört,  dass  es  unnütz  wäre,  noch  auf  eine 
Analyse  einzugehen.  Er  ist  eben  wie  das  voll- 
endete Kunstwerk  sein  soll,  jeder  Analyse  ent- 
hoben; er  ist  da  wie  ein  herrlicher  Wunderbau, 
wie  eine  Göttergestalt  des  Phidias,  wie  alles 
Vollendete,  vor  dem  die  Kritik  verstummt, 
welches   man  in  sich  aufnimmt    wie  man  reinen 


—      208      — 

Äther  einsaugt,  mit  einem  unausprechlichen 
Wohlgefiihl  und  nach  welchem  man  sich  edler, 
allem  Hohen  verwandter,  über  alles  Erdenleid 
versöhnter  fühlt. 

Der  törichte  Irrtum,  dieses  Werk  als  eine 
Rückkehr  Wagners  zu  der  orthodoxen  dogma- 
tischen Kirche  anzusehen,  der  sich  bald  in  Er- 
manglung anderer  Kritik  hervortat,  konnte  der 
erhabenen  Schöpfung  keinen  Abbruch  tun  für 
den  Verstehenden.  Der  Gedanke  der  höchsten 
Idealität,  wie  er  im  Grunde  der  Legende  des 
Neuen  Testaments  sich  in  der  Gestalt  des  Jesus 
von  Nazareth  ausdrückt,  hat  auch  den  Parsifal 
geschaffen,  hier  noch  verklärt  durch  die  Macht 
der  Töne,  die  wie  eine  Offenbarung  des  ewig 
Schönen  die  Erscheinung  umschweben.  Es  war 
dies  Werk  das  letzte  Siegel,  welches  ein  grosser 
Mensch  auf  sein  Leben  drückt.  Danach  braucht 
man  nichts  mehr  zu  s^igen  noch  zu  tun;  der 
Bund  mit  der  Ewigkeit  ist  geschlossen;  das 
Tagewerk  ist  vollbracht;  das  Zeitliche  fällt  ab 
und  der  ewige  Gedanke  steigt  auf,  um  unsterbHch 
fortzuleben  in  den  kommenden  Geschlechtern 
und  im  Verein  mit  allem  dagewesenen  wahrhaft 
Grossen  den  Tempelbau  des  Geistes  über  der 
gemeinen  Wirklichkeit  zu  erheben,  in  welchem 
die  reinen  Seelen  ihren  Götterdienst  feiern  und 
dem  Ideal  huldigen,  welches  sich  ihnen  durch 
den  Mund  des  Genius  verkündet. 

Und  es  kam  so,  wie  es  kommen  musste, 
unsagbar  schmerzlich  nach  der  irdischen,  erhaben 
bedeutungsvoll  nach  der  ewigen  Seite.     In   dem 


—      209      — 

Winter,  der  diesen  herrlichen  Wochen  folgte, 
war  ich  wieder  in  meinem  kleinen  Heim  in  Rom, 
und  Wagners  waren  in  Venedig,  einem  Lieblings- 
orte Wagners.  Ich  hatte  oft  Nachricht  von 
ihnen,  auch  durch  JoukofTski,  der  gleichfalls  dort 
war,  und  freute  mich,  dass  es  ihnen  gut  ging  und 
dass  sie  sich  in  der  herrlichen  Lagunenstadt  aus- 
ruhten von  der  Ermüdung,  die  notwendig  mit 
den  AufRihrungen  in  Bayreuth  verbunden  ist. 
Wer  vermöchte  daher  meine  tiefe  Bestürzung  zu 
beschreiben,  als  ich  am  14.  Februar  83,  früh  am 
Morgen,  ein  Telegramm  von  Joukoffski  erhielt 
mit  den  Worten:  »Wagner  ist  gestern  plötzlich 
entschlafen.  €  Ich  traute  meinen  Augen  nicht, 
ich  suchte  zu  hoffen,  der  italienische  Telegraphist 
habe  falsch  gelesen  und  falsch  geschrieben,  aber 
die  traurige  Wahrheit  drängte  sich  mir  doch 
auf,  und  ich  fuhr  eilig  zu  der  mir  innig  be- 
freundeten Tochter  von  Donna  Laura  Minghetti, 
welche  kürzlich  in  Rom  angekommen  war,  und 
noch  im  Hotel  wohnte.  Ich  fand  sie  in  Tränen, 
sie  hatte  es  auch  erfahren;  sie,  selbst  aus- 
gezeichnete Musikerin,  war  Wagner  und  seinem 
Werke  eben  so  ergeben  wie  ich.  Wir  teilten 
den  gemeinsamen  Schmerz,  der  nur  darin  Trost 
fand,  dass  es  gerade  nach  der  vollendeten  Auf- 
führung jenes  Werks  der  erhabensten  Versöhnung 
und  des  reinsten  Friedens  hatte  sein  müssen, 
ein  Abschluss  der  irdischen  Erscheinung,  wie  er 
nicht  verklärter  und  —  ich  gebrauche  das  ver- 
pönte Wort  mit  vollster  Überzeugung  —  meta- 
physischer gedacht  werden  konnte. 

Meysenbug,  IV.  14 


2IO 


Lange  Zeit  bangte  mir  um  das  Werk  von 
Bayreuth.  Jahre  vergingen,  ehe  ich  wieder  dort- 
hin zu  gehen  mich  entschliessen  konnte,  wo  nun 
der  Schöpfer  fehlte,  in  welchem  ich  nicht  nur 
den  Genius  verehrt,  sondern  auch  einen  Freund 
gefunden  hatte;  aber  das  Schicksal  war  diesmal, 
was  es  nicht  immer  ist,  gross  dem  Grossen 
gegenüber  und  liess  der  Einzigen,  die,  nach  dem 
Meister  selbst,  die  Werke  wieder  erschaffen 
konnte,  die  Kraft  wiederkehren,  alles  in  die 
Hand  zu  nehmen  und  herrlich  zu  gestalten.  Als 
ich  dann  nach  Jahren  in  tiefster  Rührung  im 
Garten  zu  Bayreuth  an  dem  Grabe  stand  in  dem 
das  Vergängliche  ruht,  da  sagte  ich  leise  vor 
mich  hin:  Dein  Werk  wird  leben,  Jahrhunderte 
überdauern,  und  dein  Genius  wird  strahlen  in 
der  Konstellation  derer,  welche  die  Menschheit 
mit  Recht  unter  die  Sterne  versetzt. 


Die  Helden  sterben  auf  der  Bresche,  aber 
als  Sieger,  so  auch  die  grossen  Künstler.  Was 
liegt  daran,  ob  die  Welt  ein  Kunstwerk  mehr 
oder  weniger  hat,  wenn  nur  der  Mensch  das 
Ideal  in  sich  selbst  realisiert  hat  und  dann  stirbt. 


Die  Art,  wie  man  aus  den  grossen  Kämpfen 
und  Prüfungen  des  Lebens  hervorgeht,  entscheidet 
über  den  Wert  eines  Menschen. 


—      211      — 

Wie  es  am  Allerseelentag  bei  den  Katholiken 
Sitte  ist,  die  Gräber  der  Verstorbenen  zu  be- 
kränzen, so  ist  es  auch  dem  Herzen  ein  Be- 
dürfnis, einen  Kranz  der  Erinnerung  zu  winden 
für  die,  welche  vor  uns  den  Kampfplatz  des 
Lebens  verlassen  haben  und  in  die  Hallen  des 
unbekannten  Friedensreiches  eingegangen  sind. 


Oh  schöne  Rätsel    reiner  Seelen,   lösbar    nur 
in  einer  höheren  Existenz. 


Ich  hatte  schon  im  Frühjahr  viele  Wochen 
mit  Olga  in  Cannes  im  südlichen  Frankreich  zu- 
sammen verlebt,  wohin  man  sie  ihrer  Gesundheit 
wegen  geschickt  hatte,  und  es  unterblieb  daher 
diesmal  meine  jährliche  Pilgerfahrt  nach  Ver- 
sailles in  ihr  Heim,  wo  die  Sommer  zuzubringen 
nun  schon  eine  stehende  Gewohnheit  geworden 
war.  So  nahm  ich  die  freundschaftliche  Ein- 
ladung von  Donna  Laura  Minghetti  an  und  ver- 
brachte wieder  einige  Wochen  auf  dem  herr- 
lichen Settefonti,  in  gemütlichem  Behagen  und 
geistiger  Angeregtheit.  Dann  für  den  übrigen 
Teil  des  Sommers  folgte  ich  einer  Empfehlung 
Minghettis  und  ging  nach  Crespano,  einem  Orte 
am  Fuss  der  venezianischen  Alpen,  doch  schon 
in  allmähhchem  Ansteigen,  900  Fuss  über  der 
Meeresfläche  gelegen.  Von  da  überschaut  man 
die  prächtige  venezianische  Ebene  mit  ihren 
Flüssen,    ihren  Orten   und   Städten,    die   sonder- 


14* 


—      212      — 

bare,  an  Versteinerungen  reiche  Hügelkette  der 
Euganeen  und  der  paduanischen  Berge,  und  hat 
den  Eindruck,  als  könne  es  kein  fruchtbareres 
reicheres  Land  geben  als  dieses.  Einst  war  es  auch 
so  unter  der  Herrschaft  der  grossen  Republik,  aber 
jetzt  ist  viel  Not  und  Armut  da  und  die  Haupt- 
nahrung der  Landbevölkerung  ist  die  Polenta, 
daher  denn  auch  die  Maisernte  die  grosse  Sorge 
des  ganzen  Jahres  ist.  Crespano  selbst  ist  ein 
kleines  Örtchen,  das  mir  nichts  Interessantes 
bot,  aber  in  der  Nähe  sind  eine  Menge  Orte, 
wo  eine  bedeutende  Vergangenheit  und  eine 
ewig  reizvolle  Gegenwart  einen  Bund  geschlossen 
haben,  wie  man  es  eben  nur  in  diesem  wunder- 
baren Land  Italien  findet.  So  fuhr  ich  eines 
Tags  zwischen  grünen  Hügeln  und  anmutigen 
Hecken  nach  Possagno,  einem  kleinen,  reizend 
gelegenen  Dorf,  welches  die  Heimat  eines  be- 
rühmten Künstlers  ist.  Canova  wurde  hier  ge- 
boren, ward  von  hier  als  armer  Knabe  nach 
Venedig  geschickt,  um  sich  in  der  Kunst  aus- 
zubilden, wurde  berühmt  und  reich  und  hinterliess 
ein  Vermögen  von  sechzehn  Millionen,  welches 
er  zum  grossen  Teil  dem  kleinen  Geburtsort 
und  einiges  auch  dem  nahen  Crespano  und 
anderen  kleinen  Orten  der  Umgegend  hinterliess. 
Eine  grosse  Summe  bestimmte  er  für  die  Er- 
richtung eines  Tempels,  dessen  Plan  er  selbst 
zeichnete,  den  Anfang  von  dessen  Bau  noch 
leitete,  und  der  nach  seinem  Tode  vollendet 
wurde,  und  zwei  Millionen  kostete.  Er  ist  nach 
dem   Vorbild   des   Pantheon    gebaut,    zum    Teil 


—      213      — 

aus  weissem  Marmor  und  macht  auf  dem  Hinter- 
grund der  grünen  Hügel,  vor  denen  er  sich  frei, 
den  Ort  überragend  erhebt,  einen  prächtigen 
Eindruck.  Eine  grossartige  Treppe  führt  hinauf 
und  sechzehn  granitne  Säulen  tragen  die  Vor- 
halle. Das  letzte  Werk  Canovas,  zugleich  eins 
seiner  schönsten,  eine  Pietä,  vor  deren  Vollendung 
er  im  Jahre  1822  starb,  befindet  sich  im  Innern; 
ein  Engländer  hat  sich  die  in  Marmor  begonnene 
Gruppe  vollenden  lassen,  die  hier  aufgestellte  ist 
von  Ferraris  in  Bronze  gegossen.  Ein  Marmor- 
sarkophag ihr  gegenüber  umschliesst  die  Gebeine 
des  Künstlers,  und  ausserdem  schmücken  den 
Tempel  wertvolle  Gemälde,  von  ihm  selbst  hier- 
her vermacht.  Die  Priester,  welche  den  Tempel 
bedienen,  sind  für  immer  durch  ihn  versorgt, 
ebenso  ist  es  eine  grosse  Erziehungsanstalt,  welche 
sie  leiten.  Canovas  Geburtshaus  ist  zu  einem 
Museum  eingerichtet,  wo  alle  seine  Werke,  teils 
in  Ton,  teils  in  Gyps  kopiert,  aufgestellt  sind 
mit  einigen  wenigen  Originalen  in  Marmor.  Die 
ausserordentliche  Produktivität,  die  sich  hier  in 
ihrer  Fülle  zeigt,  setzt  in  Erstaunen,  aber  es  fällt 
auf,  wie  einförmig  und  konventionell  er  in 
seinen  Typen  gewesen  ist.  Es  fehlt  die  spontane 
Eingebung  durch  die  göttliche  Mannigfaltigkeit 
des  Lebens,  wie  bei  den  Griechen.  Eine  Jugend- 
arbeit, Dädalus  und  Jcarus  darstellend,  macht 
hiervon  eine  Ausnahme  und  zeigt  eine  weit  grössere 
Natürlichkeit,  als  die  übrigen  Sachen.  Es  brachte 
mich  dies  auf  den  Gedanken,  dass  Rom  auch  viel- 
leicht für  diesen  Hochbegabten  die  Gefahr  gehabt 


—      214      — 

hätte,  die  es  noch  heutzutage  für  viele  Künstler 
hat,  nämlich,  sich  durch  das  Vorbild  der  Antike 
zu  sehr  beeinflussen  und  sich  die  spontane  Natür- 
Hchkeit  des  Bildens  rauben  zu  lassen,  da  doch 
die  Antike  in  ihrer  Eigentümlichkeit  nie  mehr 
von  modernen  Menschen  erreicht  werden  kann, 
so  wie  niemand  mehr  eine  Iliade,  einen  Prome- 
theus oder  eine  Antigone  wird  schreiben  können. 
Dessenungeachtet  muss  man  ihn  unter  die 
grössten  Künstler  moderner  Zeiten  stellen  und 
muss  ihn  als  Menschen  dafür  ehren,  dass  er 
sein  grosses,  selbsterworbenes  Vermögen  dem 
kleinen  Heimatsorte  liess,  dessen  Abgelegenheit 
kaum  seinem  irdischen  Ruhme  mehr  dienen 
konnte,  weshalb  es  also  reinaus  ein  Akt  der 
Liebe  gegen  den  heimischen  Fleck  Erde  war, 

Ein  anderer  Ausflug  führte  mich  von  Crespano 
nach  dem  am  Abhang  eines  Hügels  gelegenen 
Städtchen  Asolo,  jetzt  ein  kleiner  verarmter 
Provinzialort,  einst  der  Sitz  eines  geistvollen 
literarischen  Lebens,  als  Katharina  Cornaro, 
nachdem  sie  Königin  von  Cypern  gewesen,  hier 
Hof  hielt.  Von  dem  Söller  ihres  Schlosses  sah 
sie  über  die  reiche  venezianische  Ebene  hinweg, 
nach  der  stolzen  Vaterstadt  hinüber,  der  Königin 
der  Meere,  die  damals  noch  in  voller  Machtfülle 
prangte.  Der  Blick  überschaut  von  hier  fünf 
Provinzen  mit  ihren  Hauptstädten,  Vicenza,  Padua, 
Venedig,  Treviso,  Belluno.  Flüsse,  wie  die 
Brenta,  die  Piave  und  andere,  eilen  mit  ihren 
Nebenflüssen,  gleich  blitzenden  Silberstreifen,  durch 
die  Ebene  der  schönen  Adria  zu.     Von  Norden 


—      215      — 

schauen  die  venezianischen  Alpen  mit  ihren 
grünen  Vorbergen  herüber  und  sdles  das  prangt 
im  Glanz  der  Sonne  und  der  wunderbaren  Farben- 
töne, die  hier  so  manches  Künstlerauge  be- 
geisterten. Aber  neben  diesem  Glanz  der  Natur, 
der  ewig  bleibt,  welch  ein  Bild  des  Verfalls 
irdischer  Grösse  bietet  dieser  Ort!  Die  stolze 
Lagunenstadt  ist  machtlos  und  verarmt,  die 
prachtvollen  Paläste  sind  zum  Teil  verfallen ; 
Katharina  Cornaros  Schloss  in  Asolo  ist  fast 
verschwunden;  in  dem  kleinen  noch  erhaltenen 
Teil  befindet  sich  die  sogenannte  Sala  del 
consiglio,  in  welchem  jetzt  ein  erbärmliches 
Provinzialtheater  aufgeschlagen  ist.  Der  Impre- 
sario, die  komische  Figur,  stand  gerade  davor, 
als  ich  in  den  Saal  trat  und  erwartete  mit  angst- 
vollem Blick  den  Verkauf  der  Billette,  um  im 
voraus  die  Einnahme  des  Abends  zu  berechnen. 
Ich  fragte  meinen  Führer,  ob  sich  nicht  ein  be- 
glaubigtes Bild  der  Königin  vorfände.  Er  be- 
jahte es  und  führte  mich  in  ein  Privathaus,  wo 
eine  junge  blonde  Witwe,  eine  wahre  Bella  di 
Tiziano,  mich  sehr  artig  empfing  und  mir  ein 
Zimmer  aufschloss,  in  welchem  ein  Bild  die 
Katharina,  etwas  korpulent  und  nicht  gerade 
schön,  darstellt.  Die  blonde  Bella  versicherte, 
es  sei  nach  dem  Leben  gemalt,  von  wem  wusste 
sie  nicht.  Jedenfalls  war  sie  aber  schöner  als 
die  Königin,  doch  als  ich  sagte,  wie  schön  ihr 
Städtchen  sei,  sagte  sie  mit  dem  Ausdruck  tiefer 
Bitterkeit:  »Die  Lage  —  ja,  aber  hier  leben  zu 
müssen  ist  schrecklich.«     Und  wen  sollte  es  auch 


—      2l6      — 

nicht  betrüben,  solche  Stätten  zu  sehen,  wo  einst 
die  Kultur  ihre  schönsten  Blüten  trieb,  und  wo 
nun  ein  armseliges  Leben  sich  kümmerlich  fristet 
und  nicht  einmal  mehr  die  Gaben  der  reichen 
Natur  durch  sorgfaltige  Pflege  auszubeuten  weiss. 
Crespano  wurde  mir  doch  zu  heiss  zu  längerem 
Aufenthalt  und  ich  beschloss  in  die  Tyroler 
Alpen  hinaufzugehen,  in  die  Dolomiten  weit,  von 
deren  Wundern  ich  schon  so  viel  gehört  hatte. 
Im  leichten  kleinen  Wagen,  wie  es  dort  noch 
üblich  war,  begab  ich  mich  mit  meiner  treuen 
Jungfer  auf  die  etwas  ermüdende  Reise,  die  aber 
reichlich  durch  das  mannigfaltig  Schöne,  was 
sie  zu  sehen  bot,  für  die  Ermüdung  entschädigte. 
Zunächst  erfreute  mich  das  alte  Feltre,  eine 
reizende  kleine  Stadt  im  Piavetal.  Freilich  ist 
sie  jetzt  verödet,  die  schönen  Häuser  im  vene- 
zianischen Styl  haben  meist  die  Fenster  mit 
Brettern  vernagelt,  die  Fresken,  mit  denen  sie 
bemalt  waren,  sind  halb  verwischt  und  der  ärm- 
liche Betrieb  des  modernen  Lebens  passt  nicht 
zu  der  künstlerischen  Vornehmheit  der  alten 
Stadt,  welche  einst,  durch  grossen  Handel  blühend, 
als  der  Sitz  alter  Geschlechter,  berühmter  Ge- 
lehrten und  hoher  Bildung  ausgezeichnet  war.  Der 
Hauptplatz  ist  von  monumentaler  Schönheit.  Es 
befinden  sich  da :  das  Theater,  dessen  Unterbau 
von  Palladio,  andere  Gebäude,  die  alte,  hoch 
gelegene  Kirche  S.  Rocco,  darunter  ein  präch- 
tiger Brunnen,  darüber  die  Felsen  und  Berge, 
welche  überall  malerisch  in  die  Bilder  der 
Stadt   hinein  ragen,  eine  Säule  mit  dem  Löwen 


—       217      — 

von  S.  Marco,  der  an  die  Zeit  der  venezianischen 
Herrschaft  mahnt,  und  endlich  zwei  moderne 
Statuen,  1868  der  Erinnerung  an  zwei  ausge- 
zeichnete Feitresen  gewidmet  und  zwar  nicht 
etwa  tapfern  Heerführern,  deren  es  auch  viele 
gehabt,  sondern  Männern  des  Friedens,  welche 
auf  geistigem  Gebiet,  weit  über  ihre  Zeit  hinaus, 
ein  mildes  Licht  verbreitet  haben.  Es  waren 
dies  Vittorino  di  Rambaldoni  und  Pamphilo 
Castaldi.  In  der  malerischen  Tracht  ihrer  Zeit 
stehen  sich  die  beiden  hier  gegenüber  und  das 
Postament  des  ersteren  trägt  die  Inschrift: 

Feltre  hat  in  seinem  Vittorino 

Aus  der  Familie  der  Rambaldoni 

Italien  das  Vorbild  eines,  der  weise  lehrt. 

Und  der  Wiedergeburt  der  Kultur  in  der  Welt 

Einen  Fürsten  der  Erzieher  gegeben. 

Auf  dem  Postament  des  zweiten  steht: 

An  Pamphilo  Castaldi, 
Den  grossmütigen  Entdecker 
der  beweglichen  Buchstaben, 
den  Tribut  der  Ehrfurcht, 
den  verspäteten, 
bringt  Italien  dar. 

Diese  beiden  waren  es  in  der  Tat  wert, 
dass  ihr  Andenken  aus  den  Nebeln  der  Ver- 
gangenheit hervorgezogen  wurde.  Vittorino  war 
1378  in  Feltre  geboren.  Er  stammte  aus  dem 
alten  berühmten  Geschlecht  der  Rambaldoni  und 
zeigte  von  Kindheit  an  eine  solche  Liebe  zu 
den  Studien,  dass  man  ihn  nach  Padua  zur  Uni- 


—      2l8      — 

versität  schickte.  Er  studierte  Griechisch,  Latein,. 
Philosophie,  Theologie  unter  den  berühmten 
Lehrern  dort,  aber  seine  grösste  Sehnsucht  war, 
die  Mathematik  zu  lernen,  doch  der  Lehrer  der- 
selben, Velakano,  gab  seinen  Unterricht  nur  um 
vieles  Geld,  und  die  geringen  Mittel  Vittorinos 
reichten  dafür  nicht  hin.  Seine  wissbegierige 
Seele  Hess  sich  aber  dadurch  nicht  abschrecken, 
er  verdingte  sich  als  Diener  bei  dem  auf 
sein  Wissen  eifersüchtigen  Gelehrten,  und  be- 
mächtigte sich  so  vollkommen  der  Wissenschaft, 
dass  sich  sein  Ruf  trotz  seiner  Jugend  bald  ver- 
breitete und  einer  seiner  Lehrer  ihm  den  eigenen 
Sohn  zu  unterrichten  gab.  Es  gab  kein  Opfer, 
keine  Mühe,  die  er  scheute,  um  sein  Wissen  zu 
vermehren,  das  er  nachher  grossmütig  ohne 
Bezahlung  seinen  Schülern  mitteilte.  Sein  Ziel 
war  Religion,  Tugend  und  Wissen  harmonisch 
zu  verschmelzen,  weil  nur  so  wahre  Bildung  zu 
erreichen  sei.  Sein  Ruhm  als  Erzieher  verbrei- 
tete sich  bald  so,  dass  Gianfransco  Gonzaga, 
Herr  von  Mantua,  sich  an  ihn  wendete  und  ihn 
mit  dem  Anerbieten  reichen  Lohns  bitten  Hess, 
die  Erziehung  seiner  Söhne  zu  übernehmen. 
Vittorino  zweifelte,  ob  so  viel  Reichtum  mit 
der  Tugend  verträglich  sei,  und  ging  selbst  zu 
Gonzaga  nach  Mantua,  um  dessen  Gesinnungen 
zu  prüfen.  Er  sagte  ihm,  dass  er  bisher  ent- 
schlossen gewesen  sei,  den  Reichtum  und  fürst- 
liche Wohnungen,  welche  er  für  Stätten  des 
Ehrgeizes  und  verderblicher  Gewohnheiten  halte, 
zu  fliehen.     »Doch«,  fuhr  er  fort,    »da  man  mir 


—      219      — 

von  dir  ein  schönes  Lob  gesagt  hat,  und  dass 
du  denkst  wie  ich,  so  komme  ich  auf  deine 
Einladung  und  werde  gerne  bleiben,  wenn  du 
von  mir  nur  Dinge  verlangst,  die  deiner  und 
meiner  würdig  sind,  und  wenn  deine  Tugend  sich 
bewährt  und  deine  Sitten  lobenswert  bleiben.« 
Der  Fürst  versprach  freundlich  alles,  was 
Vittorino  wünschte  und  erwähnte  dann  des  reichen 
Lohnes,  den  er  ihm  zugedacht.  Darauf  sagte 
Vittorino:  »Es  scheint  mir  seltsam,  über  das 
noch  zu  verhandeln,  was  ich  immer  verachtet 
habe.  Hätte  ich  solche  Wünsche,  so  würde  deine 
Freigebigkeit  sie  gewiss  befriedigen.  Aber  du 
kannst  mir  doch  nichts  Kostbareres  geben,  als 
deine  Söhne,  nochi  kann  ich  etwas  Wünschens- 
werteres erlangen,  da  ich  gekommen  bin,  um  die 
Tugend  zu  lehren,  und  nicht  um  Geld  zu  er- 
halten«. 

Und  dieser  Bedürfnislosigkeit  des  Lebens 
und  der  edeln  Einfachheit  der  Sitten  blieb  er 
treu,  war  aber  dabei  immer  bereit,  die  Not 
anderer  zu  lindern  und  liebevoll  Hülfe  zu  bringen 
mit  Rat  und  Tat.  Die  Erziehungsanstalt, 
»Giocosa«  benannt,  die  er  bei  Mantua  gründete, 
erlangte  bald  solchen  Ruf,  dass  nicht  nur  die 
Jugend  aus  ganz  Italien,  sondern  auch  aus  Frank- 
reich, Deutschland,  ja  Griechenland,  herbeieilte, 
um  hier  in  jeder  edlen  Wissenschaft,  in  ritter- 
licher Tugend  und  körperlicher  Geschicklichkeit 
unterrichtet  zu  werden,  vor  allem  aber  durch 
das  Beispiel  des  geliebten  Lehrers  sich  zur 
Festigkeit  des  Charakters   in    Tugend  und  Sitte 


—      220      — 

auszubilden.  Aber  nicht  nur  den  Söhnen  vor- 
nehmer Geschlechter  wandte  Vittorino  die  Wohl- 
tat solcher  Erziehung  zu ;  wo  er  bei  armen  jungen 
Leuten  schöne  Anlagen  fand,  nahm  er  sie  auf, 
gab  ihnen  Unterricht,  Kost  und  Kleidung  um- 
sonst, und  sorgte  oft  auch  noch  für  die  Familien, 
damit  die  Armut  die  jungen  Leute  nicht  hindere, 
die  Schule  zu  besuchen.  Vittorino  hätte  Bände 
über  Philosophie,  über  griechische  und  lateini- 
sche Literatur  schreiben  können,  aber  er  zog 
es  vor,  persönlich  auf  seine  Schüler  zu  wirken 
und  anstatt  sich  Reichtümer  zu  sammeln  mit 
den  freigebigen  Spenden  seiner  reichen  Schüler, 
gab  er  alles  hin,  um  den  Armen  zu  helfen  und 
starb  selbst  völlig  arm.  Seine  Ideen  *  über  Er- 
ziehung waren  seiner  Zeit  weit  voraus  geeilt  und 
bleiben  in  nichts  hinter  den  Ideen  berühmter 
moderner  Pädagogen,  wie  Pestalozzi  u.  a.,  zurück. 
Grenzenlos  war  aber  auch  die  verehrende  Liebe 
seiner  Schüler  für  ihn.  Einer  der  edelsten  unter 
ihnen,  Federigo  di  Montefeltro,  hatte  das  Bildnis 
Vittorinos  in  seinem  Zimmer  an  hervorragender 
Stelle  angebracht,  mit  der  Unterschrift:  »Seinem 
heiligen  Lehrer  Vittorino  von  Feltre,  welcher 
ihm  durch  Unterricht  und  Beispiel  menschliche 
Würde  lehrte,  widmete  dies  Federigo.« 

Erinnert  die  Gestalt  dieses  herrlichen  Mannes 
nicht  an  eine  andere,  auch  herrliche  des  damals 
an  hervorragenden  Menschen  so  reichen  Italiens, 
an  Francesco  d'Assisi?  Nur  dass  Vittorino  noch 
höher  steht,  indem  er  seine  Schüler  befähigte, 
Tugend  und  höchste  Bildung  zu  vereinen,  mitten 


—      221      — 

im  Gewühl  des  Lebens,  menschliche  Würde  zu 
behaupten  und  kommende  Generationen  daran 
zu  mahnen,  dass  die  Grösse  eines  Volkes  nicht 
in  seiner  äusseren  Macht  und  politischen  Be- 
deutung, sondern  in  der  Tugend  und  Bildung 
seiner  Bürger  bestehe. 

Der  ihm  jetzt  auf  dem  Hauptplatz  Feltres 
in  Marmor  gegenüberstehende  andere  Feltrese, 
Pamphilo  Castaldi,  wurde  gleichfalls  aus  einem 
alten  edeln  Geschlecht  am  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts geboren.  Seine  Jugend  fiel  in  die  Zeit, 
wo  die  Vaterstadt  reich  war  an  ausgezeichneten 
Menschen  und  wo  Vittorino  die  Liebe  zur 
Tugend  und  Erkenntnis  durch  Wort  und  Bei- 
spiel lehrte.  Es  war  eine  Zeit,  wo  das  Wissen 
Hand  in  Hand  ging  mit  dem  sittlichen  Leben, 
und  wo  diese  Vereinigung  das  hervorbrachte, 
was  allein  Bildung  zu  heissen  verdient.  Pam- 
philo gab  sich  besonders  dem  Studium  der 
schönen  Wissenschaften  hin  und  eröffnete  in  der 
damals  so  blühenden  Heimat  eine  ruhmvolle 
Schule  der  Literatur  und  Wissenschaft,  wo  er 
unentgeltlich  Weisheit  lehrte  und,  neben  dem 
Studium  der  alten  Sprachen,  besonders  auch  zu 
dem  der  italienischen  Muttersprache  Anleitung 
gab,  die,  wie  Minerva  aus  dem  Haupte  Jupiters, 
so  beinahe  plötzlich  aus  dem  Genius  Dantes  ent- 
sprungen war.  Er  gehörte  zu  den  Ersten  in 
Italien,  welche  sich  dieses  Studium  angelegen 
sein  Hessen  und  gerade  dies  zog  auch  aus  der 
Fremde  eine  Menge  Schüler  herbei,  welche  die 
Sprache  erlernen  wollten.    Unter  den  Deutschen, 


22:2 


die  deshalb  kamen,  soll  Johannes  Fust  oder  Faust 
gewesen  sein,  der  in  Handelsgeschäften  nach 
Venedig  gekommen  und,  vom  Rufe  des  Castaldi 
gelockt,  nach  Feltre  gegangen  sei,  wo  er  sich 
einige  Zeit  in  dem  Hause  desselben  aufgehalten 
und  daselbst  den  Gebrauch  beweglicher  Buch- 
staben kennen  gelernt  habe,  welche  Erfindung 
Castaldis  er  nachher  sich  zugeschrieben  habe. 

Das  interessante  Feltre  hat,  wie  alle  Städte 
und  Orte  des  Friuli,  Veneto  und  Cadore,  eine 
vielbewegte,  kriegerische,  zum  Teil  sehr  blutige 
Geschichte.  Sie  alle  mussten  dafür  büssen,  dass 
sie  sich  dem  Geschick  der  herrlichen  Königin 
der  Meere  verbunden  hatten.  Nachdem  sie  alle, 
aus  früheren  Stürmen,  unter  das  Banner  der 
mächtigen  Republik  geflüchtet  waren,  die  ihnen 
treu  Versprechen  hielt,  Schutz  gewährte  und  die 
lokale  Unabhängigkeit  nicht  antastete,  kam  die 
unselige  Liga  von  Cambray  und  die  deutschen 
Heere  eroberten,  verwüsteten  und  brandschatzten 
die  blühenden  Städte,  um  ihrer  Treue  gegen 
Venedig  willen.  Feltre  aber  verdankte  seinen 
schliesslichen  völligen  Ruin,  ein  zweites  Troja, 
auch  einer  Helena.  Wolfgang  Hibemer  war  als 
Befehlshaber  der  deutschen  Truppen  dort  zurück- 
geblieben und  überliess  sich  im  Gefühl  seiner 
Macht  jeder  Zügellosigkeit  und  Tyrannei,  Helena, 
die  Gattin  eines  vornehmen  Feitresen,  Del  Lusa. 
eine  durch  edle  Sitte  und  weibliche  Reize  aus- 
gezeichnete Frau,  erweckte  seine  Leidenschaft, 
«r  liess  sie  entführen  und  in  seinen  Palast  bringen. 


—      223      — 

Die  Feitresen  dürsteten  nach  Rache,  öffneten 
dem  venezianischen  Heerführer  Mocenigo  eins 
der  Tore,  die  deutsche  Besatzung  wurde  über- 
fallen, Del  Lusa  Hess  dem  Wolfgang  die  Augen 
ausstechen  und  den  Soldaten,  welche  bei  der 
Entführung  geholfen  hatten,  die  rechte  Hand 
abhauen.  Der  Kaiser  Maximilian,  sobald  er  dies 
hörte,  schickte  wutentbrannt  den  General  Georg 
Lichtenstein  mit  einem  Heer  von  12000  Mann, 
um  Feltre  von  Grund  aus  zu  zerstören,  welchen 
Befehl  Lichtenstein  mit  unerhörter  Grausamkeit 
vollführte,  so  dass  die  seit  600  Jahren  blühende, 
reich  geschmückte  Stadt  nur  noch  ein  rauchen- 
der, blutiger  Trümmerhaufen  war.  Aufs  neue 
entbrannten  verzweifelte  Kämpfe  und  von  Seiten 
der  Feitresen  geschahen  so  denkwürdige  Taten 
des  Heldenmuts,  der  Vaterlandsliebe,  der  Opfer- 
freudigkeit, dass  sie  wohl  verdienten,  einen 
Sänger  zu  finden,  der  ihnen,  wie  den  Taten 
vor  Troja,  unsterblichen  Ruhm  verliehe. 

Der  Zug  der  cadorischen  Alpen,  die  man 
auf  dem  Wege  von  Feltre  nach  Belluno  be- 
ständig vor  Augen  hat,  entzückte  mich.  Es  ist 
gewiss  einer  der  schönsten  Gebirgszüge,  die  man 
:sehen  kann.  Wild  zerklüftete,  kühn  erhabene 
Formen,  mit  allem  Farbenreiz  des  Südens  ge- 
schmückt, so  dass  sie  nicht  finster  drohend  und 
vernichtend  auf  uns  niederschauen  wie  die  Alpen 
der  Schweiz,  Als  die  Abendsonne  auf  den 
Zacken  und  Spitzen  der  Dolomitenriesen  spielte, 
^sahen  sie  aus  wie  lauter  goldene  und  silberne 
•Götterburgen,    wie    eine   hunderttorige  Walhall, 


—      224      

und  in  den  Wolken,  die  phantastisch  gefärbt  um 
ihre  Gipfel  flogen,  erschaute  ich  siegesfrohe  Wal- 
küren, die  auf  schnellen  Rossen  daher  gestürmt 
kamen,  die  Leichen  erschlagener  Helden  hin- 
führend zu  frohem  Aufleben,  bei  Wotans  Götter- 
mahl. 

Als  ich  endlich  in  das  engere  Piavetal  ein- 
fuhr, wo  die  Strasse  aufwärts  zu  steigen  beginnt, 
strömte  mir  der  Duft  der  Tannenwälder  ent- 
gegen, welche  diese  Gegend  beinah  zu  einem 
Kurort  machen,  so  wohltuend  ist  derselbe.  Auch 
war  wohl  vorzüglich  deshalb  die  damals  noch 
sehr  junge  Königin  von  Italien  gerade  zwei 
Tage  vor  mir  hier  eingezogen,  um  einige  Wochen 
in  einem  der  unteren  Orte  des  Tales,  wo  der 
Geruch  am  stärksten  ist,  zuzubringen.  Ich  fuhr 
noch  unter  all  den  Triumphbogen,  mit  Tannen- 
zweigen und  aus  weissem  Papier  verfertigten 
Margheritenblumen  geschmückt,  dahin,  und  wurde 
Zeuge  der  herzlichen  Freude,  welche  das  brave 
Bergvolk  über  diesen  ersten  Besuch  der  allgemein 
geliebten  Fürstin  empfand.  Als  ich  höher  hinauf 
kam,  wo  beim  Dorfe  Tai  die  grosse  strada 
alemanna,  die  nach  Tyrol  führt,  sich  abzweigt, 
während  rechts  die  Strasse  zu  den  Orten  des 
Cadore  führt,  konnte  ich  mir  sogar  die  Ehre  der 
Triumphbogen  zurechnen,  denn  die  Königin 
sollte  erst  am  Nachmittag  des  Tages  hinauf 
kommen.  Es  rührte  mich  tief,  den  Schmuck  an 
den  hölzernen  Häuschen  der  Bauern  zu  sehen, 
der  meistenteils  aus  weissen  Betttüchern,  Bändern 
von  buntem  und  Margheritenblumen  von  weissem 


—      225      — 

Papier,  welches  alles  aus  den  Fenstern  hing,  be- 
stand. Jedes  arme  Häuschen  hatte  sich  heraus- 
geputzt für  das  noch  nie  dagewesene  Fest.  Pieve 
endlich,  wo  die  Königin  heute  empfangen  werden 
sollte,  prangte,  ebenfalls  geschmückt,  im  Glänze 
der  Sonne,  welche  die  es  umgebenden  Dolomiten- 
häupter vergoldete;  aus  den  Tannen-  und  Lärchen- 
wäldern  ringsum  strömte  stärkender  Wohlgeruch 
durch  die  Lüfte.  Der  kleine  GasthoP)  war  voll- 
gestopft von  Menschen,  welche  das  grosse  Er- 
eignis mit  erleben  wollten;  auf  dem  Platz  vor 
dem  Stadthaus  drängte  sich  die  ländliche  Be- 
völkerung der  umliegenden  Orte;  die  Musik- 
bande Pieves  hatte  es  zu  stände  gebracht,  unter 
der  Leitung  eines  Musikers,  den  man  eigens  von 
Belluno  hatte  kommen  lassen,  die  Nationalhymne 
ziemlich  richtig  zu  blasen,  und  nun  stand  sie 
den  grossen  Augenblick  erwartend;  die  Schul- 
kinder marschierten  auf  unter  Führung  des  Lehrers 
und  der  Lehrerin;  die  Glocken  fingen  an  zu 
läuten  und  Böllerschüsse  ertönten  um  anzuzeigen, 
dass  der  königliche  Wagen  in  Sicht  sei.  Die 
Musiker  fingen  an  zu  blasen,  zwei  Gendarmen 
zu  Pferd  kamen  angesprengt,  hinter  ihnen  der 
Vorreiter  der  Königin  in  feuerroter  Livree,  dann 
der  vierspännige  offene  Wagen,  und  in  ihm  die 
anmutige  blonde  Frau  mit  ihrem  noch  jungen 
Sohn,  mit  Hofdame  und  Kavalier.  Freudenrufe 
mischten  sich  mit  Musik  und  Glockenläuten,  der 
Syndikus     und     die    Notabelen    des    Ortes     in 


^)  Damals  noch  der  einzige,  heutzutage  nicht  mehr,  leider  1 
Meyienbug  IV.  15 


—      226      — 

schwarzem  Frack  und  weisser  Krawatte  begrüssten 
den  hohen  Gast,  ein  kleines  Kind  überreichte 
Blumen  und  wurde  von  der  Landesmutter  ge- 
küsst.  Darauf  eilte  sie  die  Freitreppe  vor  dem 
Stadthaus  hinauf,  lächelte  von  oben  dem  jubeln- 
den Landvolk  zu  und  verschwand  dann  mit 
dem  Gefolge  im  Innern  des  Hauses.  Während 
sie  dort  verweilte  bliesen  die  Musiker  und 
schrieen  die  Bauern  fortwährend  Eviva.  Aber 
alles  das  war  nur  Herzlichkeit  und  Naivetät, 
kein  konventionelles  Empfangsfest,  wie  es  sonst 
den  Grossen  der  Erde  bereitet  wird,  Wobei 
sie  nie  die  wahre  Gesinnung  des  Volks  erfahren. 
Die  guten  Cadoriner  sahen  zum  ersten  mal  ein 
gekröntes  Haupt  in  ihrer  Mitte,  und  sie  begrüssten 
die  holde  freundliche  Frau  wie  ein  liebes  Fa- 
milienmitglied. Während  der  fünf  Wochen,  in 
denen  sie  in  Cadore  verweilte,  sprach  das 
Landvolk  von  nichts  anderem  und  man  hörte 
die  komischesten  Äusserungen  in  dem  naiven 
Dialekt  der  Berge,  der  sie  noch  anmutiger 
machte.  So  sagte  mir  eine  Bäuerin  mit  ernster 
Überzeugung:  La  e  molto  ben  educä  (sie  ist 
sehr  gut  erzogen)  e  molto  puUit  (heisst  in  dem 
Dialekt:  gut).  Eine  andere  sagte:  La  mi  par 
una  sorela  (sie  scheint  mir  eine  Schwester)  und 
eine  dritte  erzählte:  La  ga  raccomandä  al  puteto 
de  studior,  de  deverita  un  uomo  di  sesto  e  la 
ga  da  un  bacio.  (Sie  empfahl  dem  Knaben  zu 
studieren,  ein  tüchtiger  Mann  zu  werden,  und  gab 
ihm  einen  Kuss.)  Man  nannte  sie  auch  la  bela 
siora  und  versprach  den  Kindern,  sie  sollten  sie 


—      227      — 

sehen  wenn  sie  artig  sein  wollten.  Von  Berg 
zu  Berg  riefen  die  Knaben,  welche  die  Herden 
hüteten,  sich  den  Namen  Margherita  zu;  die 
Plätze,  wo  sie  geweilt  hatte,  wurden  nach  ihr 
benannt,  so  hiess  ein  Kirschbaum,  unter  dem 
sie  gefrühstückt  hatte:  el  cereser  dela  nostra 
Margherita, 

Aber  nicht  bloss  beim  Landvolk,  auch  in  den 
andern  Ständen  war  die  Begeisterung  für  dies  all- 
gemein und  es  war  sicher,  dass,  so  wie  die 
Cadoriner  einst  für  die  Republik  Venedig  in 
treuer  Bundesgenossenschaft  zu  jedem  Opfer  und 
jeder  Heldentat  bereit  gewesen  waren  —  gälte 
es  heute  für  Margarethe  von  Savoyen,  Blut  und 
Leben  einzusetzen,  keiner  zurückbleiben  würde. 
Der  sehr  kleine  Ort  Pieve,  welcher  nicht  der 
grösste,  wohl  aber  der  Hauptort  des  Cadore 
ist,  hat  sein  Zentrum  auf  der  Piazza,  wo  alles 
Bedeutende  des  dortigen  Lebens  sich  abspielt.  Auf 
derselben  steht  neben  dem  Stadthaus  ein  alter 
fester  Turm,  dessen  Glocke  einst  die  Bürger 
zu  patriotischen  Beratungen  zusammenrief.  An 
seiner  Basis  ist  ein  Marmorrelief,  welches  Calvi,  den 
Cadoriner  darstellt,  der  an  der  Spitze  der  mutigen 
Bergbewohner  im  Jahre  1848  den  Aufstand 
gegen  die  Östreicher  befehligte,  und  als  die 
Tapfern  überwältigt  waren,  gefangen  genommen 
und  inMantua,  wie  so  viele  andere  edle  italienische 
Patrioten,  erschossen  wurde.  Inmitten  des  Platzes 
steht  das  moderne  bronzene  Standbild  Tizians, 
der  in  Pieve  geboren  wurde.  So  bezeichnen 
diese    zwei  Monumente,  des  Patrioten   und  des 

15* 


—      228      — 

Künstlers,  die  ckarakteristischen  Züge  des  Ca- 
doriner  Volkscharakters;  grosse  Intelligenz  und 
künstlerische  Begabung,  Patriotismus  und  Opfer- 
mut. Diese  Eigenschaften  machten  von  jeher 
die  Bezeichnung  »ein  Mann  von  Cadore«  zu 
einem  Ehrentitel,  und  in  einer  langen  sturmbe- 
wegten Geschichte  haben  die  Cadoriner  ihn 
bewährt. 

Man  streitet  noch  über  die  Abstammung  der 
Urbevölkerung,  unnützerweise,  wie  mir  scheint, 
denn  es  ist  offenbar,  dass  hier  Klima  und  Boden 
sich  ihre  Bewohner  gebildet  haben,  mögen  sie 
hergekommen  sein,  woher  sie  wollen.  Zwischen 
den  herrlichen  Dolomitriesen,  die  nicht  beengen 
und  erdrücken,  deren  sanfte  Vorberge  mit  herr- 
lichem Grün  bekleidet  sind,  in  den  schönen 
Bergtälem,  welche  friedliche  Feldarbeit  zulassen, 
unter  einem  Himmel,  der  immer  noch  südlichen 
Farbenreiz  hat,  da  wurden  diese  Menschen  frei, 
gut,  genügsam,  intelligent  und  stolz  auf  ihre 
Unabhängigkeit.  Sie  hatten  von  jeher  schwer 
darum  zu  kämpfen.  Schon  die  Römer  zogen 
dieses  Wegs,  die  Ausgrabungen  einer  Menge 
Gräber,  offenbar  von  Soldaten  der  Legionen, 
lässt  darüber  keinen  Zweifel.  Dann  kam  der 
Strom  der  Völkerwanderung  hier  herunter.  Im 
elften  Jahrhundert  waren  Grafen  von  Camino 
Herren  in  Cadore.  Einer  von  ihnen,  Gherardo, 
der  ebenso  gross  als  gut  war,  kommt  bei  Dante 
vor,  welcher  in  seinem  Exil  auch  in  diese 
Gegenden  kam.  Ihre  Herrschaft  endete  1335, 
als  die  Cadoriner  ihre  erste  Schlacht  gegen  die 


—      229      — 

andringenden  Deutschen  fochten  und  ihre  Berg- 
pässe siegreich  verteidigten.  Dann  kamen  sie 
eine  Zeit  lang  unter  die  Patriarchen  von  Aquileja, 
und  zu  der  Zeit  begegnet  man  schon  dem 
Namen  der  Familie  Vecellio,  der  bereits  einen 
guten  Klang  in  Cadore  hatte.  Im  15.  Jahr- 
hundert erlosch  die  Macht  der  Patriarchen  und 
es  kam  nun  darauf  an,  wem  man  sich  anschliessen 
wolle,  dem  deutschen  Kaiser,  den  Visconti  von 
Mailand  oder  der  Republik  von  Venedig.  In 
Pieve,  als  dem  Hauptort,  versammelten  sich  die 
Gemeinden  zur  Beratung,  kamen  aber  lange  zu 
keinem  Entschluss.  Da  rief  endlich  einer: 
»Wir  sind  Christen,  lasst  uns  den  um  Rat  an- 
flehen, der  die  Quelle  des  Lichts  ist,  er  wird 
uns  zeigen,  was  wir  tun  sollen,  c  Das  wurde 
angenommen  und  man  zog  alsbald  in  Prozession 
nach  dem  Dorfe  Valle,  wo  sich  eine  Kapelle 
zum  heiligen  Geist  befindet.  Da  knieten  alle 
im  Gebete  nieder,  hörten  die  Messe  und  kehrten 
in  die  Beratungshalle  nach  Pieve  zurück.  Hier 
erhob  sich  ein  Ruf:  »Gehen  wir  zu  den  guten 
Venezianern.«  Das  auf  der  Piazza  versammelte 
Volk  rief  mit  Begeisterung:  »Ja,  ja,  gehen  wir 
zu  den  guten  Venezianern.«  Es  wurden 
Abgesandte  nach  Venedig  geschickt  und  Cadore 
schwur  der  Republik  Treue,  welche  dagegen 
Schutz,  allerlei  Privilegien  und  eine  Mannschaft 
zur  Verteidigung  in  das  feste  Schloss  von  Pieve 
gab.  Dies  geschah  im  Jahre  1420  und  so 
wurde  Tizian  also  schon  als  Venezianer  ge- 
boren. 


—      230      — 

Zur  Zeit  seiner  Geburt  war  Cadore  in  grosser 
Blüte,  Kunst  und  Wissenschaft  hatten  ihren 
Sitz  dort  aufgeschlagen.  Von  13CX)  an  gab  es 
in  Pieve  hohe  Schulen  für  klassische  Studien 
und  Philosophie.  Venedig  brachte  grosse  Opfer, 
um  dieselben  auszustatten,  und  berief  die  besten 
Lehrer  aus  allen  Teilen  Italiens  dahin,  damit 
die  Cadoriner  Jugend  nicht  so  früh  die  Heimat 
zu  verlassen  brauche,  sondern  die  Elemente  der 
Bildung  dort  zwischen  ihren  Bergen  fände. 
Schon  zu  jener  Zeit  finden  sich  die  Namen  be- 
deutender Familien,  welche  dem  Vaterland  aus- 
gezeichnete Männer  in  Wissenschaft  und  Kunst 
und  heldenmütige  Verteidiger  gaben.  Aber 
leider  wurde  das  herrliche  Land  fortwährend 
durch  Invasionen  von  Norden  her  beunruhigt 
und  Tizians  Kindheit  muss  Eindrücke  wilder 
aufregender  Art  gehabt  haben.  Der  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  muss  besonders  traurig  für 
Cadore  gewesen  sein.  Im  Jahre  1508  verlangte 
Kaiser  Maximilian  von  der  Republik  Venedig 
den  Durchzug  nach  Rom,  wo  er  sich  krönen 
lassen  wollte.  Venedig  verweigerte  denselben 
für  eine  bewaffnete  Armee.  Der  Kaiser,  wütend 
darüber,  schickte  ein  Heer  von  Tyrol  hinunter 
mit  dem  Auftrag,  Tod  und  Verwüstung  zu 
bringen.  Es  kam  zur  Schlacht,  und  die  tapferen 
Cadoriner  erfochten  einen  vollständigen  Sieg. 

Dies  war  die  Schlacht  von  Cadore,  welche 
Tizian  das  Motiv  zu  einem  Schlachtenbild  gab, 
das  sich  im  Dogenpalast  zu  Venedig  befand,  ein 
Jahr   nach   Tizians    Tod    aber   durch  Feuer  zer- 


—     231      — 

stört  wurde,  welches  seltsam  traurige  Sehicksal 
so  viele  von  des  grossen  Künstlers  Werken  ge- 
habt haben.  Leider  erfreute  sich  Cadore  nicht 
lange  seines  Sieges,  denn  nach  der  Liga  von 
Cambray  gegen  Venedig  schnitt  Maximilian 
Cadore  von  der  Republik  ab.  Die  Männer  der 
Berge  erhoben  sich  wieder  heldenmütig  und 
ein  wackerer  Bürger,  Costantini,  gab  sein  ganzes 
Vermögen,  um  den  Widerstand  möglich  zu 
machen.  Aber  der  Kaiser  schickte  immer  neue 
Truppen  und  15 ii  wurde  ganz  Cadore  durch 
Feuer  und  Mord  zerstört,  die  kleinen  Orte  wurden 
verwüstet,  alles  Wertvolle  teils  vernichtet,  teils 
weggeschleppt,  auch  Pieve  wurde  schwer  heim- 
gesucht und  sein  festes  Schloss  wurde  nieder- 
gerissen. Als  sie  ihr  Zerstörungswerk  vollendet 
hatten,  zogen  sich  die  Deutschen  zurück  und 
die  armen  Familien  der  Bergbewohner  kamen 
aus  ihren  unzugänglichen  Zufluchtsstätten  in  den 
Wäldern,  zwischen  den  höchsten  Felsen,  zurück 
zu  ihren  in  Schutt  und  Asche  liegenden  Wohn- 
stätten.  Die  mutigen  Bürger  von  Pieve  machten 
sich  alsbald  an  den  Wiederaufbau  des  Schlosses, 
und  als  endlich  15 16  Friede  geschlossen  wurde, 
erstand  Pieve  rasch  wieder  und  15 18  wurde 
das  Stadthaus  mit  dem  mächtigen  Glockenturm 
vollendet. 

Während  dieser  ganzen  Zeit  wird  der  Familie 
Vecellio  immer  ehrenvoll  gedacht.  Der  ältere 
Bruder  Tizians,  Francesco,  soll  ebenfalls  grosses 
Talent  besessen  haben,  machte  aber  zunächst 
tapfer  die  Kriege  Venedigs  gegen  die  Liga  mit, 


—      232      — 

malte  dann  eine  Zeit  lang,  kam  aber  nach  Pieve 
zurück,  übernahm  die  Geschäfte  der  Familie, 
war  der  Erste  im  Rat  von  Cadore,  ging  oft  in 
Regierungsgeschäften  nach  Venedig  und  starb, 
85  Jahre  alt,  in  Pieve.  Der  Bruder  hat  seinen 
edlen  alten  Kopf  auf  einem  Familienbild  in  der 
Kirche  zu  Pieve  verewigt.  Eine  ganze  Reihe 
von  Künstlern  ging  aus  der  Familie  hervor,  der 
bedeutendste  Mann  derselben  aber  war,  ausser 
Tizian  selbst,  ein  Vetter,  welcher  nicht  Künstler, 
sondern  Rechtsgelehrter  und  ein  hoch  angesehener 
Mann  in  Cadore  war,  sich  auch  im  Kriege  aus- 
zeichnete, wonach  ihn  der  Doge  adeln  wollte,  was  er 
aber  als  demokratischer  Cadoriner  ablehnte,  und 
sich  viel  lieber  »den  Redner c  nennen  liess,  wie 
man  ihn  seiner  glänzenden  Rednergabe  wegen 
nannte.  Dazu  war  er  auch  Dichter  und  es 
existieren  unter  andern  Sachen  3  Epigramme 
von  ihm  auf  den  Tod  der  schönen  Irene  Spielem- 
berg,  welche  Tizian  gemalt  hat.  Cadores  grösster 
Sohn,  Tizian  selbst,  1477  geboren,  wurde  schon 
in  seinem  elften  Jahr  nach  Venedig  gebracht, 
um  seine  früh  hervorgetretene  Begabung  zur 
Kunst  auszubilden.  Als  er  gross,  berühmt  und 
ein  Fürst  der  Kunst  geworden  war,  lebte  er  in 
Venedig  in  der  sogenannten  casa  grande,  einem 
Hause  der  Insel  Murano  gegenüber,  mit  der 
Aussicht  :auf  die  Lagunen  und  in  der  Feme 
auf  seine  cadorischen  Berge  und  in  der  Mitte 
eines  Gartens  gelegen,  den  er  mit  Liebe  schmückte 
und  unterhielt.  Hier  gebar  ihm  sein  Weib 
Cäcilia  zwei  Söhne,  Pomponio  und  Orazio,  und 


—    233     — 

eine  Tochter  Lavinia.  Im  Jahre  1530  starb 
seine  Frau  und  er  ging  in  grossem  Schmerz  mit 
seinen  Waisen  hinauf  in  die  Heimat  zu  den 
Seinen.  Noch  lebten  sein  Vater,  sein  Bruder 
Francesco  und  die  Schwester  Orsola. 

Diese,  als  sie  des  Bruders  Schmerz  sah,  er- 
bot sich,  mit  ihm  zu  gehen  und  die  Sorge  für 
das  Haus  und  die  Kinder  zu  übernehmen.  Sie 
war  ein  vorzügliches  Wesen  und  es  gereichte 
dem  Bruder  zu  grossem  Trost.  Es  war  keine 
kleine  Aufgabe,  seinem  Haushalt  vorzustehen, 
denn  ausser  den  häuslichen  Angelegenheiten  der 
Familie,  war  es  auch  das  gesellige  Leben  der 
casa  grande,  welches  die  grössten  Anforderungen 
machte.  Freunde,  Gäste  und  Besucher  aus  allen 
Ständen  kamen  von  nah  und  fern,  den  grossen 
Meister  zu  sehen  und  wurden  mit  edelster  Gast- 
freundschaft bewirtet.  Der  Brief  eines  römischen 
Literaten  gibt  einen  Begriff  von  den  Vereinigungen, 
wie  sie  dort  üblich  waren: 

»Ich  wurde  am  i.  August  eingeladen,  die  Art 
von  bacchantischem  Fest,  das,  ich  weiss  nicht 
warum,  ferare  Agosto  genannt  wird,  in  einem 
herrlichen  Garten  des  Meisters  Tizian  Vecellio 
mitzufeiern,  eines  vortrefflichen  Malers,  wie  jeder- 
mann weiss,  und  eines  Mannes,  dessen  freund- 
liche Höflichkeit  wohl  dazu  dient,  jedes  Ver- 
gnügen zu  erhöhen.  Nun  fanden  sich  bei  dem 
besagten  Meister  Tizian,  weil  Gleiches  mit 
Gleichem  sich  anzieht,  einige  der  seltensten 
Geister  vereint,  welche  sich  in  dieser  Stadt, 
gleichwie  in  unserem  Rom,  befinden.  Da  war  Herr 


—    234    — 

Pietro  Aretino,  der  schreibt  wie  ein  neues  Wunder 
der  Natur,  ferner  Meister  Jacopo  Tatti,  genannt 
Sansovino,  ein  beinah  eben  so  grosser  Nachahmer 
der  Natur  mit  dem  Meissel,  wie  der  Festgeber 
mit  dem  Pinsel.  Auch  Herr  Jacopo  Nardi  war 
da,  und  ich  als  der  Vierte  zwischen  so  viel 
Weisheit. « 

»Ehe  man  die  Tische  hinaus  setzte,  womit 
man  etwas  zögerte,  da  man  im  Garten,  obwohl 
es  schon  schattig  war,  doch  die  Sonnenwärme 
noch  fühlte,  verging  die  Zeit  mit  Besichtigung 
der  lebensähnlichen  Gestalten  auf  den  herrlichen 
Bildern,  von  denen  das  Haus  voll  ist,  und  in 
Bewunderung  der  grossen  Schönheit  des  Gartens, 
welcher  eine  Freude  und  ein  Wunder  für  jeder- 
mann ist.  Er  liegt  am  äussersten  Ende  der  Stadt 
Venedig,  am  Meer  und  man  sieht  von  da  die 
hübsche  Insel  Murano  und  andere  schöne  Orte. 
Sobald  die  Sonne  untergegangen  war,  füllte  sich 
das  Wasser  in  der  Nähe  des  Gartens  mit  Tau- 
senden von  Gondeln,  in  denen  schöne  Frauen  sassen ; 
Harmonien  ertönten,  Musik  durch  Stimmen  und 
Instrumente,  welche  bis  Mitternacht  unser  köst- 
liches Abendessen  begleiteten.  Der  Garten  ist  so 
schön,  so  gut  unterhalten,  so  berühmt,  dass  er 
mir  die  lieblichen  Gärten  von  St.  Agatha  in  Er- 
innerung brachte,  und  mir  solche  Sehnsucht 
danach  und  nach  den  teuren  Freunden  erregte, 
dass  ich  die  längste  Zeit  des  Abends  nicht 
wusste,  ob  ich  in  Rom  oder  Venedig  sei.  Das 
Abendessen  war  ebenso  gut  und  schön  ange- 
ordnet,   wie    reichlich.      Neben    den    trefflichen 


—    235     — 

Speisen  und  kostbaren  Weinen  genossen  wir  noch 
alle  die  Freuden  und  Erheiterungen,  welche  zu 
der  Jahreszeit,  zu  den  Gästen  und  dem  Feste 
passten.  Als  wir  bei  Tisch  bis  zu  den  Früchten 
gekommen  waren,  kam  gerade  dein  Brief,  in 
dem  man  die  lateinische  Sprache  lobte  und  die 
toskanische  tadelte.  Darüber  wurde  Aretino  so 
ärgerlich,  dass,  hätte  man  ihn  nicht  zurück- 
gehalten, er  eine  der  schlimmsten  Schmähschriften 
verfasst  haben  würde,  denn  er  schrie  wütend 
nach  Papier  und  Tinte,  und  unterliess  nicht, 
einen  Teil  seiner  Entrüstung  in  Worten  zu 
äussern.  Doch  endete  schliesslich  das  Abendessen 
sehr  gut.« 

Die  ausserordentlichen  Erfolge  dieses  Maler- 
fürsten, der  Glanz,  der  die  Casa  grande  umgab, 
in  welcher  Könige,  Fürsten,  Kardinäle  u.  a.  hul- 
digend einkehrten  und  fürstlich  bewirtet  wurden, 
die  Ehren  aller  Art,  die  man  dem  Genius  und 
der  edlen  Persönlichkeit  zuteil  werden  Hess, 
riefen  natürlich  Neid  und  Verleumdung  hervor, 
welche  die  Rache  niedriger  Seelen  an  dem  Hohen 
sind.  Auf  alle  Weise  bemühte  man  sich,  die 
Grestalt  des  grossen  Cadoriners  zu  verunglimpfen. 
Vor  allem  wollte  man  aus  seiner  Beziehung  zu 
Aretino  den  Beweis  seiner  Immoralität  herleiten, 
aber  auch  dies  spricht  nicht  gegen  ihn,  denn  es 
lag  in  den  Sitten  der  Zeit,  geistreichen  Menschen 
viel  nachzusehen ;  dem  Aretino  wurde  von  allen 
Seiten  gehuldigt  und  die  höchsten  Personen  der 
Zeit  suchten  seinen  Umgang.  Dagegen  hatte  aber 
auch  Tizian  andere  ausgezeichnete  und  ihm  innig 


—    236    — 

ergebene  Männer  zu  Freunden,  wie  Sansovino, 
Ariosto,  Bernardo  Tasso,  Bembo  u.  a.  Ariosto 
las  ihm  seinen  Orlando  furioso  vor,  um  sein  Ur- 
teil zu  hören.  Lorenzo  Lotto,  Paolo  Veronese, 
Giulio  Romano  waren  ihm  teuer.  Mit  Michel 
Angelo,  den  er  in  Rom  kennen  lernte,  stand  er 
in  Briefwechsel.  Dem  Kaiser  Karl  V.  war  er 
nicht  nur  als  Künstler,  sondern  auch  als  Mensch 
so  wert,  dass  er  ihn  zweimal  zu  sich  nach 
Deutschland  rief  und  ihm  die  grössten  Ehren 
erwies.  In  Bologna  liess  er  ihn  an  seiner  Seite 
reiten,  und  als  ihm  die  spöttischen  Bemerkungen 
der  vornehmen  Höflinge  darüber  zu  lästig  wurden, 
erhob  er  ihn  in  den  Grafenstand  des  heiligen 
römischen  Reichs. 

Nein,  sicher  war  Tizian  frei  von  den  hässlichen 
Lastern,  die  man  ihm  andichten  wollte.  Eine 
hohe  Intelligenz,  eine  sanfte  grossmütige  Seele, 
eine  liebenswürdige  Natur  mit  feinen  Sitten,  ein 
Begnadeter  im  Reiche  der  Kunst,  so  war  der 
Cadoriner,  der  noch  jetzt  in  seiner  herrlichen 
Heimat  vergöttert  wird,  wo  es  kein  kleines 
Bauernkind  gibt,  das  nicht  von  Tizian  zu  er- 
zählen wüsste.  Und  er  liebte  sie  auch,  diese 
Heimat.  Fast  jedes  Jahr  zog  er  mit  vielem 
Gefolge  hinauf  in  seine  Berge,  um  sich  an  der 
geheimnisvollen  Quelle  künstlerischer  Ein- 
gebungen zu  erquicken,  an  welcher  seine  kind- 
liche Seele  schon  getrunken  hatte.  In  Zeiten  der 
Not  kam  er  Cadore  oft  zu  Hülfe  und  gab 
Geld,  um  Korn  zu  kaufen.  Zwei  eigenhändige 
Briefe    von    ihm,    die    als    kostbares   Besitztum 


—     237     — 

dort  aufbewahrt  werden  und  mir  vom  Syndicus 
gütig  mitgeteilt  wurden,  geben  davon  Zeugnis. 

In  seinen  Familienverhältnissen  war  er  nicht 
so  glücklich,  wie  als  Künstler.  Seine  Frau,  die 
er  unendlich  geliebt  zu  haben  scheint,  starb  früh, 
die  treffliche  Schwester  Orsola  starb  lange  vor 
ihm,  ebenso  der  Bruder  Francesco.  Der  grösste 
Schmerz  für  ihn  aber  war  der  frühe  Tod  seiner 
schönen  Tochter  Lavinia,  die  er  über  alles  liebte. 
Auch  sein  Lieblingssohn  Orazio  starb  lange  vor 
dem  Vater;  nur  der  älteste  Sohn,  Pomponius, 
überlebte  ihn,  aber  er  war  des  Vaters  unwürdig, 
führte  ein  zügelloses  Leben  und  Tizian  lehnte 
die  Bischofswürde,  welche  der  Papst  dem  Pom- 
ponius, der  Geistlicher  war,  erteüen  wollte,  für 
ihn  als  deren  unwert,  ab.  Auch  die  nächsten 
Freunde  Tizians  starben  vor  ihm,  er  überlebte 
sie  alle  und  war  mit  dreiundneunzig  Jahren 
noch  an  der  Arbeit.  Aber  die  Pest  von  1 5  76, 
die  in  Venedig  wütete,  verlangte  auch  dieses 
grosse  Opfer.  Er  hatte  sich  nicht  früh  genug 
nach  Cadore  geflüchtet  und  starb  allein,  sogar 
von  den  Dienern,  die  sich  vor  der  Ansteckung 
fürchteten,  verlassen.  Ein  solches  Ende  nach 
einem  so  glorreichen  Leben  war  allerdings  traurig, 
aber  vielleicht  haben  den  Sterbenden  doch  Visio- 
nen seiner  Unsterblichkeit  getröstet.  Denn  ab- 
gesehen von  seinen  Idealbildern  und  seinen  un- 
übertreff"lichen  Portraits,  durch  welche  er  geradezu 
die  Geschichte  eines  Jahrhunderts  auf  der  Lein- 
wand erzählt,  ist  er  auch  als  Landschaftsmaler 
unsterblich.     Man  hat  ihn  den  Homer  der  Land- 


—     238     — 

Schaft  genannt,  und  er  hat  wirklich  in  seinen 
Landschaften  das  Naturepos  seines  Cadore  ge- 
schrieben. Sein  Anteiao,  sein  Marmarolo,  sein 
Pelmo  und  wie  die  Dolomitriesen  alle  heissen, 
sie  sind  seine  epischen  Helden,  die  mit  phan- 
tastischen Wolkengebilden  gigantische  Kämpfe 
bestehen,  oder  in  heiterer  olympischer  Ruhe, 
die  goldfunkelnden  Häupter  in  den  reinen  blauen 
Äther  erheben.  Nur  wenn  man  die  wunder- 
baren Farben-Luftspiele  in  jenen  Bergen  gesehen 
hat,  kann  man  Tizians  Landschaften  recht  wür- 
digen, wie  man  ihn  überhaupt  erst  recht  liebt, 
wenn  man  seine  Heimat  kennt! 

Die  Cadoriner  sind  arm,  ihre  Hauptnahrung 
besteht  in  Polenta,  ihr  Getränk  ist  Wasser.  Sie 
haben  nur  drei  Monate,  um  neun  zu  versorgen; 
ihr  einziger  Reichtum  besteht  im  Holzhandel. 
Aber  sie  sind  genügsam,  gut  und  intelligent, 
eifrige  Patrioten  des  engeren  und  weiteren  Vater- 
lands und  voll  Eifer  für  die  materielle  und  geistige 
Wiedergeburt  ihrer  Heimat.  Noch  ist  bis  jetzt 
der  grosse  Strom  der  modernen  Völkerwanderung 
nicht  nach  Pieve  gekommen.  Möge  er  ihm  noch 
lange  fern  bleiben!  Er  führt  so  viele  Übel  mit 
sich,  wie  man  es  in  der  Schweiz  z.  B.  sieht,  dass 
man  förmlich  aufatmet  in  der  heiligen  Frische 
der  Cadorer  Wälder  und  Höhen,  wo  man  sich 
den  Eindrücken  der  poesieerfüllten  Natur  noch 
hingeben  kann,  ohne  von  Haufen  von  Touristen 
umschwärmt  zu  sein;  wo  keine  durch  die  »Inglesi« 
frech  gemachten  Bettlerscharen  das  Mitleid  im 
Herzen  verstummen  machen;   wo,    wenn  einmal 


—    239    — 

ein  Kindchen  schüchtern  die  Hand  nach  einer 
Gabe  ausstreckt,  es  sie  sogleich  fast  erschrocken 
zurückzieht,  als  habe  es  eine  Sünde  begangen; 
wo  jeder  bereit  ist,  eine  Freundlichkeit  zu  er- 
weisen und  es  beinah  als  eine  Beleidigung  an- 
sieht, wenn  man  ein  Trinkgeld  dafür  geben  will. 
Nein,  mein  Cadore,  lass  diesen  Strom  des 
modernen  Lebens  an  dir  vorüber  rauschen!  Er 
ist  ein  zersetzendes  Element,  vor  dem  du  dich 
hüten  musst.  Bleibe  bei  deiner  Einfachheit, 
deiner  Reinheit  der  Sitten  und  entwickle  nur  so 
weit  die  materiellen  Bedingungen  des  Lebens, 
um  deinen  begabten  Kindern  die  Wohltat  edler 
und  besonders  künstlerischer  Bildung  zu  gewähren. 
Wer  weiss,  ob  dann  nicht  wieder  manche  deiner 
Hütten  Geburtsstätten  solcher  Grossen  werden, 
wie  das  kleine  Haus,  in  welchem  Tizian  geboren 
wurde,  und  ob  die  Poesie  nicht  wieder  ihre 
Flügel  regt  wie  einst,  wo  von  Berg  zu  Berg  die 
Holz  fallenden  Bauern  oder  die  Hirten  sich  mit 
Strophen  aus  Tassos  »befreitem  Jerusalem« 
grüssten,  fiir  welche  sie  eigentümlich  schöne 
Melodien  erfunden  hatten.^) 

Oft  auf  meinen  einsamen  Spaziergängen 
überfiel  mich  die  alte  Neigung  zur  gebundenen 
Rede  und  es  schrieb  sich  dann  ins  Tagebuch, 
das  ich  immer  mit  mir  führte,  so  manches 
Lied,  wie  einmal,  da  mich  ein  Gewitter  überfiel, 
als   ich    auf  hochgelegener  Strasse    daher   kam. 


^)  Leider  ist  jetzt,    nach  sechzehn  Jahren,  der  Touristen- 
schwarm  dort  auch  schon  eingekehrt. 


—      240      

neben    mir    den    Abgrund,    in    dem    die    Piave 
rauschte: 

Berggeister  grollen,  finstre  Wolken  hangen 
Tief  in  den  Abgrund,  wo  der  Bergstrom  braust, 
Und  weisse  Nebel  züngeln  sich  gleich  Schlangen 
Hinauf  zum  Aar,  der  über  Wolken  haust. 

Der  Donner  grollt  und  tausendfältig  hallen 
Die  Echo  ihn  aus  dunklen  Klüften  nach; 
Durch  das  Grewog  des  luft'gen  Chaos  fallen 
Blutrote  Blitze,  schaurig,  Schlag  auf  Schlag. 

Ich  kenne  euch,  ihr  starken  Urgewalten, 
Nicht  schreckt  ihr  mehr  die  stille  Seele  hier, 
Ihr  braucht  es  mir  nicht  fürder  vorzuhalten: 
»  Du  gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst,  nicht  mir. « 

Ihr  seid  ja  nicht  des  Zufalls  blinde  Söhne, 
Euch  bindet  auch  ein  ewig  strenges  Muss, 
Und  das  Gesetz  beherrscht  euch,  wie  das  Schöne 
Und  wie  die  Liebe  und  wie  den  Genuss. 

Seid  Ihr  es  doch,  durch  die  am  heit'ren  Morgen 
Auf  grüner  Flur  die  Alpenblume  blüht. 
Und  in  der  Bäume  Schattendach  geborgen. 
Die  Herde  still  zum  Kräutermahle  zieht. 

Ihr  seid's,  durch  die,  in  reichgeschmückten  Auen, 
Gewalt'ge  Ströme  hin  zum  Meere  gehn. 
Durch  die  sich  königliche  Städte  bauen 
Und  Wunderwerke  hoher  Kunst  entstehn. 


—      241      — 

Und  wieder  ihr,  durch  die  in  Liebes  wonnen 
Der  Jüngling  sich  zu  seinem  Mädchen  neigt; 
Ihr,   immer  ihr,   wenn  an  der  Weisheit  Bronnen 
Der  Labetrank  dem  durst'gen  Geist  sich  reicht. 

Ich  sollt  euch  furchten,  sollte  euch  nicht  kennen? 
Ich  glich  euch  nicht,  war  nicht  mit  euch  verwandt? 
Ich  sollte  euch  nicht  liebend  Brüder  nennen 
Erscheint  Ihr  auch  in  drohendem  Gewand? 

Durch  euch  hab  ich  gelebt,  geliebt,  gerungen, 
Ihr  führtet  mich  durch  dunkler  Nächte  Pein, 
Zum  Seelenfrieden  und  von  euch  umschlungen 
Schlaf  ich  dereinst  zur  grossen  Ruhe  ein. 


Und  noch  eines  von  diesen  Cadoriner  Alpen- 
kindern möge  hier  stehen.  Es  kam  mir,  als  ich 
an  einem  ganz  toll  sprudelnden  und  springenden 
Alpenbächlein,  welches  von  steiler  Höhe  sich  den 
Weg  in  die  grünen  Talgründe  bahnte,  vorüber 
kam.     Ich  grüsste  es  so: 

»Du  eilst  zu  Tal,  du  munt'res  Alpensöhnlein, 
Leichtfüssig  springst  du  über  Stock  und  Stein 
In  sorglos  heiterm  Übermute  scherzend. 
Denn  dir  erneuert  sich  die  Jugend  ewig 
Aus  frischen  Quellen  schneebedeckter  Höhn. 
Mir  schwand  sie  längst,  die  holdeste  der  Gaben, 
Die  uns  Natur  verleiht  und  wieder  nimmt. 
Und  einsam  wandle  ich  die  steilen  Pfade 
Des  Alters  fort  bis  zu  der  letzten  Höh. 

M  e  y  s  e  n  b  u  g  ,  IV.  16 


—      242      — 

Und  doch  beglückt  vor  dir !  denn  in  dem  Herzen 
Da  fliessen  ewig  jung  der  Liebe  Quellen, 
Des  heil'gen  Mitleids  reine  Harmonien, 
Und  durch  die  Seele  ziehen  Geisterscharen 
Erhabener  Gedanken;  sel'ge  Chöre 

In  Hymnen  kündend  einen  neuen  Tag 

Nicht  neid  ich  dir  der  ew'gen  Jugend  Fülle, 
Du  froher  Alpbach  eile  scherzend  fort. 


Bei  dem  Blick  aus  meinem  Fenster  in  Rom 
auf  die  kunstvollen  erhabenen  Gegenstände 
draussen  fühle  ich  es  immer,  welch  eine  Wohl- 
tat es  ist,  nicht  in  banaler  Umgebung  zu  sein, 
sondern  das  Schöne,  Würdige  immer  vor  sich 
zu  haben.  Es  ergibt  sich  daraus  eine  immer- 
währende edle  Stimmung,  in  der  sich  die  Er- 
eignisse des  täglichen  Lebens  wie  in  einem 
verklärenden  Spiegel  ausnehmen,  in  welchem 
das  Rauhe,  Hässliche,  Beleidigende  derselben  sich 
mildert.  Das  hatten  die  Alten  vor  uns  voraus, 
dass  sie  ihr  öffentliches  Leben  so  reich  mit 
schönen  und  würdigen  Dingen  schmückten,  wo- 
durch ein  grosser  Teil  der  Brutalität,  die  unser 
modernes  Leben  durchzieht,  ihnen  fern  bleiben 
musste. 

Heute  in  der  Farnesina  vor  Raphaels  Gala- 
thea  fiel  mir  ein,  dass  Goethe  sicher  bei  seiner 
Galathea  im  2.  Teil  des  Faust  an  Raphaels 
Fresko  gedacht  hat.  Raphael  war  ein  Dichter 
in   Farben   wie  Goethe  in   Worten.     Denn   was 


—    243     — 

heisst  Dichter  sein?  Die  der  Erscheinung  inne- 
wohnende Idee,  das  Ewige  im  Vergänglichen 
durch  Form  oder  Wort  aussprechen,  und  wie 
herrlich  hat  das  Raphael  getan ! 


Unbewusst  enthält  der  Mythos  immer  den 
philosophischen  Gedanken.  Uranus  und  Gäa  sind 
recht  eigentlich  das  Ding  an  sich,  die  Urkraft, 
welche  in  sich  das  Doppelprinzip  des  Seins 
(Uranus)  und  Werdens  (Gäa)  enthält.  Uranus 
wir  zerstört  durch  den  aus  dem  Schosse  des 
Werdens  geborenen  Sohn,  Saturn  (Zeit),  der  Be- 
griff der  Zeit  zerstört  die  Einheit  des  Urdaseins. 
Rhea  (die  Erde,  also  der  Raum)  bildet  mit  ihm 
das  Paar,  welches  aus  der  Zerstücklung  des  Ur- 
daseins hervorgeht  Saturn  verschlingt  die  eigenen 
Kinder,  die  entfliehenden  Bruchstücke  der  Zeit. 
Rhea  schafft  das  nebeneinander  Platz  Nehmende, 
das  Gestaltete:  Jupiter  der  Mensch,  der  Zeit 
und  Raum  auflöst,  indem  er  sie  beherrscht  und 
unter  seiner  Einsicht  vereinigt. 


Minghetti,  in  seinem  Buch  über  Raphael,  sagt 
vom  heiligen  Hieronymus,  »dass  er  sich  verzehrt 
in  Hingebung,  und  Trost  und  Leben  nur  aus 
dem  gnadenreichen  Blick  ihrer  (der  Madonna) 
Schöne  nimmt.  ^  Wie  tief  seelisch  ist  dies  sich 
auflösen  in  andächtiger  inbrünstiger  Liebe  zur 
fleckenlosen  Schönheit  des  Weiblichen,  der 
Poesie!     Und  dann    wieder  der  hl.   Franziskus, 

x6» 


—    244    — 

welch  ein  Held  des  Lebens!  Ja  diese  Heiligen 
waren  etwas  vor  dem  sich  die  Seele  in  Demut 
beugt.  Wie  wenig  dem  Ähnliches  hat  unsere 
moderne  Welt  aufzuweisen. 


Herzliches  Wohlwollen  hilft  auch  über  Mei- 
nungsverschiedenheiten hinweg. 


Da  das  Entsagen  zuletzt  zu  einer  wahren 
Gymnastik  der  Seele  wird,  so  vollziehen  sich  die 
Momente  desselben  zuletzt  wie  innere  Vorgänge, 
denen  man  fast  als  Zuschauer  beiwohnt  und  bei 
denen  man  nur  noch  leise  das  Zucken  des 
Willens  fühlt,  der  gebändigt  durch  Vernunft  und 
Liebe  sich  diesen  als  zahmer  Leu  zu  Füssen 
legt,  etwa  wie  in  der  Goetheschen  Novelle  der 
Löwe,  besänftigt  durch  zarten  Sinn  und  Melodie. 


Einfälle  kommen  meist  durch  Anschauungen; 
zuerst  sind  sie  nur  mehr  plötzliche  Empfindungen, 
noch  nicht  Denken,  nur  Nebelflecken,  die  sich 
zu  Sonnen  ballen. 


Der  Dichter  ist  verpflichtet,  seine  Gestalten 
künstlerisch  abzurunden,  sie  als  ein  Grewordnes 
hinzustellen.  Unsere  Zeit  aber  ist  so  vorzugs- 
weise eine  Werdende,  alles  Leben  eilt  so  unge- 
duldig neuen  Entwicklungen  entgegen,  dass  man 


—    245     — 

die  Gestalten  unserer  Tage  kaum  für  ein  Kunst 
werk  brauchen  kann. 


Man  las  abends  in  einem  kleinen  Kreis  bei 
mir  die  erst  kürzlich  erschienene  Nora  von 
Ibsen,  welche  in  der  damals  sehr  zahlreichen 
skandinavischen  Gesellschaft  in  Rom  eine  grosse 
Aufregung  hervorgebracht  hatte  und  der  Gegen- 
stand lebhafter  Diskussionen  war.  Eine  der 
Damen  bei  mir  machte  heftige  Opposition  und 
meinte,  Nora  hätte  ihrem  Mann  alles  früher  sagen 
müssen.  Ja,  dann  war  sie  aber  gerade  nicht  die 
Natur,  die  Idealistin,  die  ungewöhnlich  handelt 
und  sowohl  aus  Liebe  das  Gesetzwidrige  tut, 
als  auch  sich  dann  losreisst  von  Glück,  Stellung, 
Mann  und  Kind,  sobald  sie  begreift,  dass  es  eine 
höhere  Sittlichkeit  gibt  als  zu  bleiben.  Bliebe 
sie,  nachdem  sie  ihren  Mann  verstanden,  so  wäre 
sie  der  Prostituierten  eine,  die  in  legaler  Ehe  leben. 


Die  feine  Psychologie  in  Nora  ist:  zum  Ver- 
schweigen des  begangnen  Unrechts  und  dadurch 
zur  Täuschung  kommen  aus  Liebe  und  Zartgefühl. 


Ibsen,  den  ich  den  Vorzug  hatte  kennen  zu 
lernen,  erzählte  mir  von  einem  dänischen  Schrift- 
steller, der  gesagt  habe,  »durch  die  Sünde  sei  die 
Kunst  in  die  Welt  gekommen«.  —  Gewiss,  wenn 
das  Leben  ohne  Sünde  war,  so  wäre  die  Kunst 


—    246    — 

nicht  gekommen,  denn  das  Leben  wäre  selbst 
das  Kunstwerk  und  bedürfte  der  Erlösung  durch 
die  Kunst  nicht. 

Es  war  im  Anfang  der  achtziger  Jahre,  dass 
sich  hier  ein  Kunstzentrum  bildete,  welches  an 
die  Zeiten  der  Kunstblüte  der  Renaissance  er- 
innerte. Franz  von  Lenbach,  der  echte  Schüler 
der  grossen  Meister,  der  Tizian,  Velasquez  u.  a., 
kam  sich  in  Rom  niederzulassen  und  zwar  in  den 
herrlichen  Räumen  des  Palazzo  Borghese,  die  er 
künstlerisch  schmückte  mit  hohen  Kunstwerken 
alter  Zeit,  sein  Besitztum,  und  den  eignen  herr- 
lichen Schöpfungen,  welche  in  Fülle  durch  seine 
Meisterhand  entstanden.  Es  dauerte  nicht  lange, 
so  wurde  es  Mode,  wie  es  zu  gehen  pflegt, 
nachmittags  in  den  von  ihm  angesetzten  Stun- 
den diese  einzige  Kunststätte  zu  besuchen  und 
man  sah  bald  die  ganze  vornehme  römische  Welt 
sich  hier  bewegen  und  die  schönen  Frauen  nach 
der  Ehre  geizen,  von  diesem  verklärenden  Pinsel 
auf  die  Leinwand  gezaubert  zu  werden.  Mich 
verband  schon  seit  längerer  Zeit  herzliche  Freund- 
schaft mit  dem  grossen  Künstler  und  dem  treff- 
lichen Mann  und  ich  zog  es  bei  weitem  vor,  in 
den  Stunden  hinzugehen,  wo  er  bei  der  Arbeit 
war  und  man  zusehen  durfte,  wie  unter  seinen 
Händen  plötzlich  sprechendes  Leben  auf  dem 
toten  Material  entstand,  und  wo  so  manches 
bedeutende  Wort  die  reiche  Ursprünglichkeit 
seines  Geistes  bekundete,  denn  er  verschmähte 
es    nicht,   beim   Schaffen  auch   ein   Gespräch  zu 


—    247     — 

fuhren:  So  sagte  er  mir  einmal:  »Die  alten 
Meister  sahen  das  Unendliche  die  modernen 
sehen  das  Endliche.«  Ein  anderes  Mal,  als  er 
mir  einiges  Technische  erklärt  hatte,  bemerkte 
er:  »Der  echte  Künstler  muss  beim  Schaffen  im 
siebenten  Himmel  sein,  er  muss  aber  auch  die 
Kunstsprache  lernen,  so  wie  die  Alten  malten 
mit  Farben,  die  gleichsam  das  Materielle  ver- 
klären.« —  Und  wieder  ein  drittes  Mal,  als  er 
von  den  grossen  Meistern  der  Vergangenheit 
redete,  fügte  er  hinzu:  »Die  grossen  Meister 
sahen  alles  wie  aus  einer  gewissen  Ferne,  sie  sahen 
die  ideale  Einheit  des  Gregenstands;  die  modernen 
Maler  sehen  alles  nahe   im  realistische  Detail.« 

Da  es  mir  vergönnt  war,  seinem  Schaffen 
öfter  zuzusehen,  so  erkannte  ich,  wie  sehr  er 
sich  von  diesem  Geist  des  Schaffens  der  alten 
Meister  durchdrungen  hat;  er  malt  so  wie  Tizian 
die  Typen  seiner  Zeit  malte,  in  so  grossem  Styl, 
dass  er  sie  zu  historischer  Bedeutung  erhebt,  und 
man  könnte  Lenbach  den  Historiker  des  19.  Jahr- 
hunderts in  Farben  nennen. 

Leider  war  es  mehr  die  Teilname  der  Neu- 
gierde und  der  Mode,  welche  er  hier  fand,  als 
die  künstlerischen  Verständnisses  und  so  gab  er 
die  Idee  sich  hier  bleibend  niederzulassen  auf 
und  kehrte  nach  wenigen  Jahren  in  das  Vater- 
land zurück.  Ich  verlor  dadurch  nicht  nur  einen 
geschätzten  Freund,  sondern  auch  ein  Kunstheim, 
wie  es  sympathischer  nicht  gedacht  werden 
konnte  und  wie  kein  ähnlich  bedeutendes  in  Rom 
existiert.     Aber  alles   wahrhaft  Grosse  und  Be- 


—     248     — 

deutende  hinterlässt  geistige  Spuren,  die  nicht 
verloren  gehen,  und  so  war  auch  mein  Sinn  und 
mein  Denken  von  neuem  innigst  der  bildenden 
Kunst  zugewandt,  die  hier  in  Rom  allerdings  bei 
weitem  den  Vorrang  vor  der  Musik  hat,  denn 
was  die  alte  italienische  Musik  Hohes  und  Herr- 
liches bot,  besonders  in  der  alten  Kirchenmusik, 
hat  man  fast  ganz  verlassen  und  moderne  Bana- 
lität an  die  Stelle  gesetzt;  die  herrlichen  Werke 
der  alten  Meister  aber  leben  glücklicherweise 
noch  und  wenn  die  Gemälde  Raphaels  und 
Michel  Angelos  auch  schon  durch  die  Zeit  ge- 
litten haben,  so  sind  sie  doch  immer  noch  so, 
dass  sie  reinen  Grenuss  bereiten.  So  waren  denn 
auch  meine  Gedanken  lange  Zeit  mehr  in  dieser 
Richtung  tätig. 

Es  war  nicht  die  Religion,  welche  die  grossen 
Künstler  der  Vergangenheit  inspirierte,  sondern 
die  Kunst  war  ihnen  Religion,  sie  war  ihnen  das 
zu  realisierende  Ideal,  welches  in  Form,  Linie, 
Farbe  den  höchsten  Ausdruck  zugleich  des 
Materiellen  und  Ideellen  geben  musste.  Das 
unterscheidet  sie  von  den  modernen  Künstlern, 
dass  sie  das  Reale  aus  seiner  Vereinzelung  zum 
Ausdruck  eines  Universellen,  Ewigen  erhoben, 
daher  Typen  und  einen  Styl  schufen.  Es  fiel 
mir  gerade  ein  auf  der  Profilfigur  auf  der  Ver- 
lobung der  hl.  Cäcilie  von  Francia  in  der  Kapelle 
dieser  Heiligen  in  Bologna.  Sie  ist  durchaus 
individuell  und  dennoch  ein  Typus  dessen,  was 
eine  edle  Gestalt  in  edler  Gewandung  sein  soll. 


—    249    — 

Ich  antwortete  einem  Freund,  welcher  meinte, 
dass  die  hohe  Kunst  voll  zartester  Empfindungen 
und  erhabenster  Gredanken  nur  für  auserwählte 
Seelen  sei :  Ja,  so  ist  es,  aber  in  der  Menge  gibt 
es  vielleicht  viel  mehr  auserwählte  Seelen,  als 
wir  denken.  Ist  der  Christus  mit  den  Jüngern 
in  Emmaus  von  Rembrandt  (von  dem  Bild  war 
die  Rede  gewesen)  nicht  auch  nur  von  den  aus- 
erwählten Seelen  verstanden?  Sieht  der  Auf- 
wärter, der  ihn  bedient,  nicht  auch  bloss  das 
irdische  Geschäft  und  nicht  die  Gottheit,  die  von 
ihm  ausstrahlt?  Alle  Kunst  in  ihrer  höchsten 
Auffassung  ist  nur  für  die  auserwählten  Seelen. 
Christus  hat  es  gewust;  er  hat  zum  Volk, 
welches  noch  in  seiner  Jungfräulichkeit  unberührt 
von  der  Fäulnis  der  Zivilisation  war,  wie  ein 
grosser  Künstler  geredet  und  die  auserwählten 
Seelen  in  demselben  haben  ihn  verstanden.  Der 
Rest,  die  Schattenwesen,  verstehen  ihn  nie. 


Die  meisten  Menschen  verlangen  von  einem 
Kunstwerk  nur,  dass  es  angenehm  auf  die  Sinne 
wirke.  Mir  scheint  es  aber,  dass  das  wahre 
grosse  Kunstwerk  vor  allem  ethisch  wirken,  uns 
über  uns  selbst  hinaus  heben  und  idealisireen 
muss,  wie  wir  es  einst  von  der  Religion  ver- 
langten. Das  Wesen  des  Genius  ist  es,  in  die 
ästhetische  Form  den  ethischen  Inhalt  zu  giessen, 
natürlich  unbewusst,  er  kann  nicht  anders,  er 
muss  es. 


—    250    — 

Die  Zeichnung  ist  wie  der  Grundton,  das 
Kolorit  wie  das  Musikalische,  die  Melodie  im 
Bild.  Man  muss  auch  in  der  Malerei  lesen  lernen^ 
die  Gedanken  des  Künstlers. 


Von  Venedig  kommend,  verbrachte  ich  meh- 
rere Stunden  in  Castelfranco  vor  dem  herrlichen 
Bild  des  Giorgione.  Es  war  nicht  kindliche  An- 
dacht, was  ich  empfand,  wie  vor  dem  rührenden 
Bild  des  Previtali  in  Serravalle,  es  war  das  hohe 
Glück,  Vollendung  zu  sehen.  Alles  ist  da  Har- 
monie, die  Landschaft,  die  göttliche  Frau  mit 
dem  Kind,  sogar  die  Falten  ihres  Gewands,  die 
ruhig  fliessen  wie  Tonwellen,  der  herrliche  ge- 
wafifnete  Jüngling,  selbst  die  Teppiche  auf  dem 
Boden  —  alles  atmet  Vollendung  und  in  ihr 
erhabene  Ruhe,  wie  bei  den  Göttergestalten  des 
Phidias.  Giorgione,  frei  von  aller  Tradition,  lebt 
im  reinen  Äther  der  Schönheit.  Wohl  hatte 
Tizian  Grund,  den  Rivalen  zu  fürchten. 


Eine  Definition  des  Kunstwerks  ist  wohl: 
soll  es  vollkommen  sein,  muss  es  uns  über- 
zeugen, muss  die  Kritik  verstummen  machen, 
sich  uns  als  notwendig  so  wie  es  ist  auf- 
drängen. 


Michel  Angelo  machte  der  religiösen  Tradition 
in  der  Kunst  ein  Ende,  wie  Sokrates  dem  Götter- 


-      251      - 

glauben,  der  erste  durch  die  erhabene  Realistik 
seiner  Gestalten,  der  zweite  durch  die  Philosophie. 


Der  Eintritt  der  Landschaft  in  die  Malerei 
findet  schon  am  Anfang  des  15.  Jahrhunderts 
statt.  Bei  Giotto  ist  noch  keine  Spur  davon, 
bei  Benozzo  Gozzola,  bei  Botticelli  ist  sie  bereits 
da.  Costa  von  Ferrara,  der  in  Bologna  malte, 
hat  schon  die  schönsten  Landschaften,  die 
Gegenden  am  Flusse  Reno  bei  Bologna  gemalt 
Bei  den  Caraccie  wird  die  Landschaft  ein  selbst- 
ständiger Zweig  der  Kunst  und  die  Figur  eine 
Zutat,  statt  dass  es  früher  umgekehrt  war. 
Man  könnte  sagen,  die  Landschaft  trat  ein,  wie 
um  die  Stimmung  anzugeben,  auf  welcher  sich 
das  Leben  und  die  Aktion  der  Figuren  abhebt. 
Es  tritt  mit  ihr  die  Bewegung  des  Seelenlebens, 
die  Handlung  ein,  während  früher  der  Goldgrund 
nur  das  einseitige  Versenktsein  in  das  religiöse 
Nirwana  andeutete'. 


Der  Typus  ist  das  erste  in  der  Kunst,  nach- 
her kommt  die  Grazie,  erst  Mantegna,  Bellini  etc., 
dann  Pinturicchio,  Botticelli  und  die  anderen. 
Der  Vorteil  der  schönen  südlichen  Rassen  ist, 
dass  schon  ihr  Typus  etwas  sagt,  oft  freilich 
mehr  als  dahinter  ist.  Die  nordischen  Typen 
müssen  das  Ideale  durch  den  Seelenausdruck 
hervorbringen,  während  jene  es  schon  durch  die 


—      252      — 

Form  haben.  Man  sehe  die  altdeutschen  Madonnen, 
die  Holbein,  die  Dürer  etc. 


Die  Aufgabe  der  bildenden  Kunst  ist  die 
Poesie  der  Situation.  Daher  kann  auch  blosses 
Kolorit  ohne  eine  prägnante  Idee  schon  poetisch 
sein.  Das  Leben  eines  Volks  in  Situationen 
malen,  das  wäre  das  Seitenstück  zum  Epos, 
welches  es  in  Taten  erzählt.  Unsere  moderne 
Gesellschaft  hat  zu  beiden  zu  viel  Reflektion, 
sie  malt  Philosophie. 


Da  ich  nun  zehn  Jahre  lang  jeden  Sommer 
meist  über  Deutschland,  wo  ich  meine  Schwestern 
auf  einige  Wochen  besuchte,  nach  Versailles 
ging,  um  in  Olgas  Familie  die  schöne  Jahreszeit 
zuzubringen,  so  besuchte  ich  auch  natürlich 
wieder  oft  den  Louvre  und  erfreute  mich  an 
den  wundervollen  Schätzen  dieser  herrlichen 
Sammlung,  deren  edelste  Blüten  freilich  auf 
fremdem  Boden  gewachsen  sind.  So  stand  ich 
neulich  entzückt  vor  dem  Konzert  des  Giorgione 
in  dem  Salon  carre.  Welche  unaussprechliche 
Jugendlichkeit  und  Anmut  in  diesen  Gestalten, 
welche  Freude  am  Dasein  in  unschuldiger  Natür- 
lichkeit, in  reiner  Lust  an  der  Schönheit  und 
Harmonie,  welche  die  Männer  erfüllt,  die  dem 
Instrument  süsse  Weisen  entlocken  und  die  un- 
schuldvolle Grazie  der  weiblichen  Gestalten  wie 
mit  einem  Schleier  von  Reinheit  überzieht.    Und 


—    253     — 

dabei:  wie  gemalt!  Welche  edle  Modellierung 
und  welche  Harmonie  der  Farben  auch  in  der 
Landschaft,  die  nicht  wenig  zu  dem  Eindruck 
der  Reinheit  beiträgt,  den  das  Bild  macht.  Es 
schwebt  über  dem  Ganzen  wie  ein  Hauch  der 
Antike,  die  beglückende  Empfindung  der  seligen 
Schönheit  der  Natur.  Es  ist  nicht  mehr  so  bei 
dem  Corregio,  der  dem  Bild  des  Giorgione 
gegenüber  hängt.  Hier  haben  die  Zeichnung 
in  der  Verkürzung,  die  Modellierung  und  die 
Farbe  das  höchste  erreicht,  was  darin  zu  er- 
reichen ist.  Der  Kopf  der  schlafenden  Nymphe 
ist  so  meisterhaft  gemalt,  dass  man  das  ruhige 
Atmen,  welches  aus  den  schwellenden  Lippen 
hervorschwebt,  zu  hören  meint.  Alles  ist  schön 
an  ihr  und  doch  hat  man  trotz  dieser  Vollendung 
nicht  die  reine  Freude  daran,  wie  an  dem 
Giorgione,  denn  man  fühlt,  dass  hinter  dieser 
Höhe  der  Technik  schon  der  Verfall  steht.  Der 
vor  Wollust  grinsende  Faun,  welcher  den  blauen 
Mantel  von  der  Schlafenden  hebt,  gibt  einen 
Beigeschmack,  der  den  reinen  Genuss  der  Schön- 
heit stört  und  weit  entfernt  ist  von  der  keuschen 
Natürlichkeit  des  Georgione.  »Man  fühlt  die 
Absicht  und  man  ist  verstimmt.«  Schön  hat 
Corregio  auf  dem  Danaebild  in  der  Galerie 
Borghese  in  Rom  diese  Seite  der  Komposition 
zu  mildem  gewusst  durch  die  ideale  Schönheit 
des  Eros  und  der  beiden  Putten.  Das  ist  echt 
griechisch. 


—    254    — 

Wieder  mehr  als  je  fiel  es  mir  auch  auf  in 
diesem  Reichtum  des  Louvre,  welche  wunder- 
bare Landschaftsmaler  diese  Alten  waren,  die 
Costa,  Pinturicchio  und  andere,  und  für  sie 
waren  die  Landschaften  doch  nur  Nebensache, 
doch  nur  die  Stimmung  andeutend,  die  die 
Handlung  begleitet,  etwa  wie  die  Musik  den 
dramatischen  Vorgang.  Sie  sind  dabei  nicht 
minder  realistisch  wie  die  modernen  Landschafts- 
maler; wer  erkennt  nicht  bei  den  Genannten 
die  Gegenden  am  Reno  und  bei  den  Umbriern 
die  umbrische  Landschaft  wieder?  Aber  wie 
poetisch  sind  diese  dabei;  sie  scheinen  wie  ein 
friedliches  Traumbild  der  reinen  Existenzen,  die 
den  Vordergrund  einnehmen.  Ja,  alle  diese 
Maler  waren  lyrische  Dichter,  sie  trugen  in  ihrer 
Seele  wie  eine  innere  Melodie,  während  die 
meisten  der  modernen  Landschaftsmaler  doch 
nur  Kopisten  der  Natur  sind. 


Lange  stand  ich  auch  wieder  vor  der  »Grio- 
conda«,  dieser  ewigen  Sphinx.  Sie  scheint  zu 
sagen,  was  kümmert  mich  der  Tod?  Jener 
Grosse  machte  mich  unsterblich;  mein  Lächeln 
wird  Jahrhunderte  überdauern  und  Herzen  er- 
obern und  verwunden. 


Ein  junger  Bekannter  fragte  mich:  Wie  schafft 
der  Künstler  ideale  Typen?  Ich  sagte:  Der 
rechte  Künstler  hält  die  Menschen  in  den  einzelnen 


—    255     — 

Momenten  ihrer  Idealität  fest.  Das  vollendet 
Schöne  findet  sich  nur  bruchstückweise  in  der 
Erscheinung ;  der  Künstler  fasst  die  Bruchstücke 
zusammen  und  bringt  die  vollendete,  ideale 
Menschheit  hervor.  Daher  schafft  nur  er  ewige 
Typen,  in  der  Menschheit  sind  sie  nicht. 


Eine  glückliche  Stunde  im  Louvre  vor  der 
Venus  von  Milo  verbracht,  vor  dieser  erhabenen 
Ruhe  der  Individualität,  im  Bewusstsein  der 
universellen  Idealität. 


Dann  aber  auch  wieder  Italien  !  Zauberisches 
Venedig!  So  ausgestreckt,  ohne  Mühe,  ohne 
Gerassel,  ohne  Pferdegepeitsche  und  Pflaster- 
stösse,  über  die  Lagune  zu  schweben  und 
sinnend  auf  die  vom  Abendrot  glühende  Fata 
Morgana  der  Inselstadt  zu  schauen,  ist  ein  so 
sublimer  Genuss  wie  wenig  anderes  auf  der 
Welt. 


Und  Sienal  Ein  Ort  so  reich  an  Kunst- 
schöpfungen wie  wenige  andere.  Wieder  das- 
selbe feste  Selbstbewusstsein,  wie  auch  in  Perugia 
u.  a.,  nur  noch  liebenswürdiger  und  freier; 
überall  das  edle  Leben  eines  sich  selbst  regieren- 
den Gemeinwesens.  Sollte  das  nur  in  so  kleinen 
Verhältnissen  möglich  sein?  Was  hindert  in 
unseren  grossen  Staatskörpern  eine  solche  hohe 


—    256    — 

allgemeine  Blüte  der  Kultur,  so  dass  sie  nur 
eine  allgemeine  politische  Bedeutung  haben  und 
jedes  eigentümliche  Leben  der  Gremeinwesen 
darin  untergeht?  In  all  jenen  kleinen  Zentren 
bewegten  sich  doch  auch  Weltgedanken,  das 
intellektuelle  Leben  war  durchaus  kein  be- 
schränktes, sondern  vielleicht  grösser,  freier, 
strebender  als  jetzt.  Wenn  man  solch  eine 
Galerie  besucht  wie  die  »belle  arti«  in  Siena,^ 
wie  kann  man  da  das  Streben  der  Geister,  aus 
der  versteinerten  Form  loszukommen,  verfolgen 
und  wie  sieht  man,  dass  sie  sich  gewaltig  regten^ 
um  mitzuwirken  »am  sausenden  Webstuhl  der 
Zeit«.  Und  neben  dem  ernsten  Sinn,  welche 
reizende  Naivetät,  z.  B.  das  Fresco  am  Palazzo 
publico,  wo  Barbarossa  vor  dem  Papst  auf  der 
Erde  liegt  und  die  Kardinäle  mit  Geberden  des 
Abscheus,  des  Mitleids  und  des  heimlichen 
Hohns  auf  ihn  sehen.  Solch  ein  Bild,  an  einem 
öffentlichen  Ort  den  Blicken  und  Bemerkungen 
des  Volks  ausgesetzt,  könnte  es  heutzutage  noch 
gemalt  werden?  Es  wäre  ja  ein  crime  de 
l^se  majeste.  Freilich,  wir  wollten  doch  auch 
nicht  mehr  nach  Canossa  gehen! 

Welcher  Unterschied  aber  auch  in  anderer  Be-^ 
Ziehung  mit  unserer  Zeit!  Wie  könnte  heut- 
zutage der  Geist  einer  einzigen  armen  Frau  ein 
ganzes  mächtiges  Gemeinwesen  so  beherrschen, 
wie  es  z.  B.  durch  Katharina  von  Siena  geschah, 
die  als  Vorbild  jeder  Tugend  hochgeehrt,  als 
grosser  Charakter  und  Intellekt  mit  politischen 
Missionen   betraut   und   in   den  öffentUchen  An- 


—    257     — 

gelegenheiten  mit  Vertrauen  gehört  wurde  und 
die  zugleich  die  Phantasie  der  grosseh  Künstler 
ihrer  Zeit  so  begeisterte,  dass  man  sie  zur  Heldin 
der  religiösen  Legende  und  zu  einem  Ideal  der 
Kunst  »erhob.  Gleiche  Tugend,  gleiche  Selbst- 
verleugnung findet  sich  auch  noch  heutzutage, 
aber  würde  z.  B.  eine  Florence  Nightingale, 
trotz  ihrer  schönen  Taten  noch  einen  Maler 
so  inspirieren?  Oder  würde  noch  nach  Jahr- 
hunderten die  Stätte  gezeigt  werden,  wo  sie  in 
harter  Entsagung,  nach  mühevollem  Tagewerk, 
die  Ruhe  gesucht  hatte?  Worin  lag  nun  der 
Zauber,  welcher  Katharina  verklärte?  Sicher 
zunächst  in  der  grossen  Individualität,  dann  aber 
auch  im  Zusammenhang  derselben  mit  einer 
grossen  Idee,  welche  die  Zeit,  in  der  sie  lebte, 
beherrschte. 


Ein  anderes  Denkmal  auf  meiner  via  Appia. 


Im  Jahre  1883  erhielt  ich  die  Nachricht,  dass 
wieder  einer  der  Freiheitskämpfer  von  1848  und 
der  Freunde  aus  dem  Exil  gestorben  sei,  Gott- 
fried Kinkel,  der,  nachdem  er  England  verlassen 
hatte,  in  Zürich  am  Polytechnikum  als  Professor 
angestellt  gewesen  war.  Ich  habe  schon  in 
früheren  Aufzeichnungen  aus  meinem  Leben 
erzählt,  welch  herzliches  Freundschaftsband  mich 
in  England  mit  ihm  und  noch  mehr  mit  seiner 
hochbegabten   Gattin  Johanna  verband.     Einige 

Meysenbug,  IV.  17 


-    258    - 

Zeit  nach  seinem  Tod  erhielt  ich  von  seiner 
zweiten  Frau  den  in  seinen  nachgelassenen  Pa- 
pieren gefundenen  Brief  Johannas,  welchen  Sie 
ihm  in  das  Zellengefängnis  nach  Spandau  schrieb, 
nachdem  ich  ihr,  von  tiefster  Teilnahme  ge- 
trieben, ohne  sie  zu  kennen,  zum  ersten  Mal 
geschrieben  hatte. 

Es  war  ein  Geschenk,  das  mich  auf  das 
innigste  rührte,  denn  gewiss  nach  beinah  vierzig 
Jahren  solch  ein  liebevolles  Urteil  über  sich 
selbst  zu  hören,  war  keine  geringe  Freude. 
Johanna,  die  bis  dahin  nichts  von  mir  gewusst 
hatte,  schrieb:  »Die  Geister  der  Gleichgesinnten 
senden  mir  ihren  Liebesgruss.  Vor  allem  ent- 
zückte mich  der  Brief  eines  hohen  Weibes,  die 
mir  ihre  Freundschaft  antrug  und  die  auf  einer 
Bildungsstufe  steht,  dass  ich  keine  von  den  geist- 
reichen Frauen,  mit  denen  ich  verkehre,  neben 
sie  stellen  möchte  und  das  will  etwas  sagen, 
wenn  Du  an  den  Kreis  unserer  Korrespondentinnen 
denkst.  Meine  neue  Freundin  scheint  einem 
nordischen  adligen  Geschlecht  anzugehören;  sie 
hat  jahrelang  nur  dem  Kultus  der  Ästhetik 
gelebt,  hat  aber  dann  begriffen,  dass  es  edler 
sei,  helfend  und  tröstend  zu  den  Leiden  der 
gequälten  untersten  Menschenschicht  herab- 
zusteigen, als  auf  einsamen,  nur  von  Göttern 
bewohnten  Höhen  zu  weilen.  Ihr  Geist  ist  von 
kry  Stalin  er  Klarheit  und  dabei  besitzt  sie  eine 
Anmut  der  Ausdrucksweise,  welche  verrät,  dass 
sie  nur  in  den  allerfeinsten  Kreisen  geselliger 
Bildung  muss   erwachsen  sein.     Sie   muss  noch 


—    259    — 

jung  sein  oder  doch  den  ewigen  Jugendzauber 
eines  poetischen  Geistes  besitzen,  über  den  das 
dreissigste  Jahr  keine  Macht  hat.  Wer  nach 
diesem  jung  war,  bleibt  es  sein  lebelang.« 

Wie  viele  Erinnerungen  weckten  diese  Worte 
in  mir,  schöne  und  traurige.  Kinkel  hatte  ge- 
wiss zu  den  hervorragendsten  Kämpfern  der 
Jahre  48  und  49  gehört,  denn  er  vereinigte  die 
von  hohen  Idealen  erfüllte  Poesie  der  damaligen 
Zeit  mit  dem  absoluten  Mut  der  Tat.  Diesen 
Mut,  stets  die  Überzeugung  durch  die  Tat 
zu  bewähren,  hatte  er  schon  als  Jüngling  be- 
wiesen, da  er  von  der  theologischen  Laufbahn, 
die  er  betreten  hatte,  zurücktrat,  sobald  die 
Erkenntnis  seines  eigentlichen  Berufs  zu  Kunst, 
Geschichte  und  Poesie  ihn  in  die  Sphären 
geistiger  Freiheit  führte.  Er  verlor  dadurch  alle 
Aussichten  auf  eine  glänzende  Laufbahn,  welche 
ihm  die  theologischen  Gönner,  die  von  seiner 
Rednergabe  und  seinem  künstlerischen  Sinn  viel 
für  die  kirchlichen  Aufgaben  hofften,  bereiten 
wollten.  Als  er  dann  gar  in  der  ersten  Zeit 
seiner  Tätigkeit  an  der  Universität  Bonn,  durch 
seine  Liebe  zu  der  herrlichen  Johanna  —  die  zwar 
von  ihrem  ersten  Mann,  mit  dem  sie  namenlos 
unglücklich  gewesen  war,  getrennt  wurde,  aber 
als  Katholikin  sich  nicht  wieder  hätte  verheiraten 
dürfen  —  alle  Erdenschranken  durchbrach  und 
mit  ihr  den  edelsten  Bund  schlossj  da  empörte 
sich  die  orthodoxe-Clique  der  Bonner  Universität, 
und  als  Kinkel  sich  nicht  beugte,  sondern  mit 
edlem  Stolz  sein  individuelles  Recht  wahrte,  da 


—     26o     — 

verfiel  er  dem  Bann,  den  die  Borniertheit  stets 
über  die  ausspricht,  welche  das  Mass  ihres 
Handelns  in  ihrem  eignen  sittlichen  Bewusstsein 
finden,  indem  sie  sich  an  dem  Adel  fi-eier  Seelen, 
die  um  eines  höchsten  Gutes  willen  irdische 
Vorteile  dahin  werfen,  dadurch  zu  rächen  glaubt. 
Aus  einem  Bevorzugten  wurde  er  ein  Geächteter. 
Dass  es  ihn  schmerzte  war  natürlich,  aber  es 
konnte  sein  stählernes  Herz  nicht  brechen,  auch 
nicht,  dass  man  ihn  materiell  in  jeder  Weise 
bedrückte  und  einengte,  so  dass  er  mit  Recht 
in  einer  seiner  späteren  öffentlichen  Reden  sagen 
konnte:  »Wir  haben  das  Darben  gründlich  ge- 
lernt.« 

Wichtiger  aber  als  alle  Not  und  aller  Schmerz 
war  seine  eigne  Entwicklung,  die  in  diesem 
Kampf  sich  völlig  losrang  von  der  alten  ver- 
moderten Tradition  und  der  vollen  Freiheit  zu- 
strebte, für  die  er  später  noch  grössere  Opfer 
bringen  sollte,  Doch  gönnte  ihm  das  Schicksal 
endlich  die  volle  Vereinigung  mit  der  geliebten 
Frau,  als  deren  erster  Mann  starb ;  dann  wurde  ihm 
eine  ausserordentliche  Professur  der  Kunstge- 
schichte zu  teil,  und  sein  Stern  fing  wieder  an 
zu  leuchten.  Die  Jugend  strömte  zu  seinen 
Vorlesungen,  seine  literarischen  Arbeiten  hatten 
Erfolg,  neue  Freunde  scharten  sich  um  ihn  und 
wie  es  mit  dem  Erfolg  zu  gehen  pflegt,  so 
wurde  das  ausgezeichnete  Paar  jetzt  aufgesucht 
und  gefeiert.  Es  erschloss  sich  ihm  die  ganze 
Fülle  des  Lebens  und  ganz  naturgemäss  in 
ruhiger  Entfaltung  gelangte  er  zu  dem  politisch- 


—      26l       — 

sozialen  Radikalismus,  den  er  bald  mit  der  Tat 
verfechten  sollte.  Der  Frühling  1848  kam.  In 
den  Völkern  erwachte  neues  Leben.  Die  Keime, 
die  still  getrieben  hatten  in  Hoffnung  und  Furcht, 
blühten  rasch  empor  ans  Licht  und  die  Herzen 
flogen  jubelnd  dem  Ideal  eines  freien,  von  Gre- 
rechtigkeit  und  Schönheit  verklärten  Lebens 
entgegen.  Wie  musste  dieser  Frühlingstraum 
den  Dichter  ergreifen,  den  feurigen  Mann,  der 
immer  ganz  und  voll  im  Leben  stand,  mit 
Dichterglut  alles  erfasste  und  mit  Mannesmut 
alles  tat.  Mit  voller  Seele  warf  er  sich  in  den 
Strom  der  Revolution,  trat  dem  Volke  am 
schönen  Rhein,  in  dessen  Mitte  er  lebte  und 
welches  er  liebte  und  kannte,  innig  nahe,  und 
verwendete  seine  Gaben,  welche  das  Entzücken 
aristokratischer  Kreise  gemacht  hatten,  nun  im 
Dienste  der  Bauern,  Handwerker  und  Proletarier, 
die  in  ihm  das  Herz  des  echten  Volksmanns 
fühlten  und  ihn  zu  ihrem  Führer  wählten.  Das 
geistige  Reich  der  Freiheit  und  Brüderlichkeit, 
als  dessen  Bürger  sich  der  Dichter  längst  gefiihlt 
hatte,  in  Wirklichkeit  erstehen  zu  lassen,  das 
wurde  sein  Ziel ;  dazu  warf  er  sich  rückhaltlos 
in  den  heissen  Kampf  und  als  er,  vom  Volk 
zum  Deputierten  gewählt,  nach  Berlin  kam, 
donnerte  er  von  der  Tribüne  in  der  Kammer 
die  stolzen  Worte  herab,  die  nachher  als  Waffe 
gegen  ihn  gebraucht  wurden:  »Siegen  wir,  dann 
wehe  euch,  keine  Gnade.«  ^-^  ; 

Sein  Freund  und  Schüler,  Theodor  Althaus, 
hat  Kinkel  charakterisiert  wie  folgt:   »Kinkel  ge- 


—      202      — 

hört  zu  den  bis  jetzt  noch  selten  öffentlich  her- 
vorgetretenen Charakteren,  welche  revolutionär 
werden,  weil  sie  im  tiefsten  und  allein  edeln 
Sinn  konservativ  sind.  Der  vulgäre,  abstrakte 
Konservatismus  ist  eine  blosse  Verneinung  und 
stösst  nach  rechts  und  links  alles  von  sich, 
was  das  Individuum  in  seinem  geistigen^  ge- 
mütlichen, materiellen  Behagen  zu  stören  droht. 
Der  wahre  Konservatismus  ist  eine  tief  ge wurzelte 
Treue  gegen  Vernunft  und  Freiheit  in  den 
philosophischen,  eine  unwandelbare  Liebe  zur 
freien  gesunden  Natur  in  den  poetischen  Cha- 
rakteren. In  der  letzteren  Reihe  steht  Kinkel. 
Sein  Sozialismus  ist  im  edeln  Sinne  konservativ. 
Seine  ganze  Natur  protestiert  gegen  die  öden 
Systeme  des  uniformierten,  bureaukratischen 
Kommunismus  und  der  destruktiven  Gleich- 
macherei, unter  der  das  ewige  Naturrecht  der 
Individualität  verschwindet.  Den  einzelnen  und 
die  durch  freie  Neigung  verbundenen  Genossen- 
schaften ruft  er  zu  eigener  Tätigkeit  auf:  »Hand- 
werk errette  dich  selbst!«  Sein  sozialistisches 
Ideal  ist  ein  freier  Organismus,  dessen  Gesetze 
die  Selbständigkeit  des  Individuums,  die  höchste 
Ausbildung  aller  Arbeitskräfte  und  jedes  Hand- 
werks in  seiner  Eigentümlichkeit  zum  Zwecke 
haben.  Der  Handwerker  soll  auf  eigenen  Füssen 
stehen,  statt  von  den  fabrikmässigen  Spekulatio- 
nen des  Kapitals  ausgebeutet  und  erdrückt  zu 
werden.  Die  soziale  Gesetzgebung  soll  es  ihm 
möglich  machen  ein  Haus  und  eine  Familie  zu 
gründen    und    ein    Meister    und    Lehrer    seines 


—     263     — 

Handwerks,  statt  ein  entreprenierender  Kapitalist 
zu  werden.  Von  dieser  Gesetzgebung  hofft  der 
Dichter  dann  eine  Wiedergeburt  der  einzig  edeln 
Erscheinung  des  mittelalterlichen  Zustandes,  dass 
das  Handwerk,  so  weit  es  ihm  vergönnt  ist, 
hinüberreiche  in  die  höhere  künstlerische  Tätig- 
keit und  dass  damit  auch  diese  Lebenssphäre 
hinaufgehoben  werde  in  die  Lichtregion  des 
Geistes  und  der  Schönheit.  Aber  eben  weil 
nicht  alle  Arbeit  in  ihrer  Eigentümlichkeit 
dieses  Adels  fähig  ist,  muss  allen  der  Stolz  der 
republikanischen  Freiheit,  geistige  Bildung  und 
der  Genuss  des  Schönen  erreichbar  gemacht 
werden,  damit  auch  der  Geringste  seines  mensch- 
lichen Daseins  so  froh  werde,  wie  ihm  jetzt 
sein  Pariatum  die  Seele  zum  Staube  nieder- 
drückt. Die  Romantiker  schaudern  vor  der 
Republik,  weil  ihre  beschränkte  Phantasie  eine 
Nivellierung  der  Kontraste  und  Individualitäten 
und  damit  das  Ausgehen  des  poetischen  Stoffes 
fürchtet.  Die  gesunde  Phantasie  des  modernen 
Dichters  schaut  den  Reichtum  der  neuen  Welt 
und  er  fordert  die  soziale  Revolution,  damit 
endlich  die  vollbefriedigte  Lust  am  Dasein  die 
Seele  der  Poesie  neu  belebe.  Er  weiss  es,  dass 
nur  eine  grossartige  neue  Weltgestalt  eine  ihr 
ebenbürtige  Poesie  aus  sich  zeugen  kann,  die 
dann  wahrhaft  konservativ  sein  wird.« 

So  dachten  und  hofften  wir  damals,   1848! 

Dass  Kinkel  wirklich  zur  Tat  schritt  und 
als  Blusenmann  die  Aufstände  in  der  Pfalz  und 
in  Baden  mitmachte,  dass  er  gefangen  und  zum 


—    264    — 

Tode  verurteilt  wurde,  ist  bekannt.  Die  all- 
gemeine tiefste  Teilnahme  unterstützte  die  ver- 
zweifelten Anstrengungen  Johannas,  die  ihn 
heldenmütig  nicht  zurückgehalten  hatte,  als  er 
zum  blutigen  Kampf  auszog,  ihn  zu  retten. 
Eine  Tochter  Bettinas  von  Arnim  warf  sich  dem 
damaligen  König  von  Preussen  zu  Füssen,  um 
Kinkels  Leben  zu  erbitten  und  eine  kleine 
Schrift,  welche  Johanna  veröffentlichte,  Hess 
wohl  kein  fühlendes  Herz  ungerührt.  Auf  dem 
Richtplatz  vor  den  mit  den  Todeswaffen  bereit- 
stehenden Soldaten  wurde  dem  Gefangenen  die 
Begnadigung  zu  lebenslänglichem  Zellenge- 
fangnis  und  Wollespulen  verkündet.  In  ohn- 
mächtigem Schmerz  erbebten  alle  edleren 
Menschen,  selbst  unter  seinen  Feinden,  und  heisse 
Tränen  flössen  bei  der  Beschreibung  seines 
letzten  Erscheinens  vor  dem  Gerichtshof  in  Köln, 
bei  dem  Lesen  der  tragisch-edlen  Rede,  die  er 
gehalten,  nach  welcher  sein  Weib,  die  Schranken 
durchbrechend,  ihm  in  die  Arme  gestürzt  war, 
so  dass  selbst  die  feigen  Schergen  der  Gewalt 
es  nicht  gewagt  hatten,  so  erhaben  Unglückliche 
zu  trennen. 

Nicht  ohne  tiefe  Rührung  konnte  ich  während 
vieler  Jahre  das  Gedicht  lesen,  welches  Kinkel 
im  Gefängnis  zu  Rastatt  niederschrieb,  als  ihm 
sein  Todesurteil  verkündet  war  und  dessen 
Schlussverse  also  lauten: 

»So  warf  ich  in  den  Opferbrand 
Ein  reichbekränztes  Leben, 


—    265    — 

Oh  Glück  und  Stolz,   mein  Vaterland, 

Für  dich  es  hinzugeben  I 

Der  müden,  schwielenharten  Hand 

Ein  sanftes  Los  zu  werben, 

Du  vierter  Stand,  du  treuer  Stand, 

Für  dich  geh  ich  zu  sterben. 

Euch  Armen  treu  bis  in  den  Tod, 

Für  euch  zur  Tat  entschlossen, 

Fall  ich  ums  nächste  Morgenrot 

Vom  kalten  Blei  durchschossen. 

So  haltet  mich  in  treuem  Sinn 

Oh  Meister  und  Geselle; 

Gedenke  mein,  du  Näherin, 

In  deiner  trüben  Zelle; 

Du  Winzer,  der  am  Fels  der  Ahr 

Umsonst  die  Gluten  leidet, 

Du  arme  Tagewerkerschar, 

Die  fremde  Garben  schneidet  — 

Ich  werde  nicht  vergessen  sein. 

Du  Jugend  wirst  mich  kennen 

Und  wirst  an  meines  Geistes  Schein 

Zum  Freiheitsdurst  entbrennen; 

Manch  Frauenauge  weint  um  mich 

Den  Sänger  süsser  Lieder, 

Als  Gruss  der  Erde  neigen  sich 

Viel  Blumen  zu  mir  nieder. 

Den  letzten  Gruss  dir  überm  Rhein, 

Du  edles  Volk  der  Franken; 

Die  Völker  sollen  einig  sein 

In  Herzen  und  Gedanken. 

Stehn  soll,  so  weit  auf  diesem  Rund 

Sich  Aug'  in  Auge  spiegelt. 


—    266    — 

Der  ewige  Bund,  der  Bruderbund, 
Den  euch  mein  Blut  besiegelt.«  — 

So  waren  die  Männer  von  48!  Deutsche 
Jugend  kennst  du  sie  nochl  Bist  du  an  ihrer 
Erinnerung  zum  Freiheitsdurst  entbrannt?  Bist 
du  bereit,  wenn  der  Tag  des  grossen  Kampfes 
wiederkommt,  fiir  die  Erringung  heiliger  Ideale 
den  Reichtum  des  Lebens  in  den  Opferbrand 
zu  werfen?  Schlag  an  deine  Brust,  frag  dich, 
und  wenn  dir  ein  trauriges  Nein  antwortet,  so 
ermanne  dich,  denke,  dass  das  Leben  keinen 
Wert  hat,  wenn  es  nur  nach  vergänglichen 
Gütern  strebt  und  schreibe  auf  deine  Fahne: 
»Durch  edelste  Kultur  zur  wahren  Freiheit.« 


Leider  ist  auch  in  Italien  jener  edlen  Gene- 
ration der  Kämpfer  für  ein  hohes  Ideal  der 
Freiheit  eine  Jugend  gefolgt,  die  mehr  nach 
irdischen  als  nach  ideellen  Gütern  strebt  und 
die  ganze  Form  des  öffentlichen  Zustandes  ist 
weit  entfernt  von  dem,  was  z.  B.  Mazzini  für  ein 
neu  erstandenes  einiges  Italien  geträumt  hatte. 
Es  ist  wirklich  immer,  als  ob  die  Natur  sich 
erschöpfte,  wenn  sie  den  ideellen  Trieb  in  einer 
Generation  so  stark  und  vorherrschend  hervor- 
gebracht hat  und  als  ob  dies  Gebiet  dann 
eine  Zeit  lang  brach  liegen  müsste,  gerade  wie 
der  Acker,  der  auch  ruhen  muss,  um  aufs  neue 
hervorbringen  zu  können.    Traurig  stimmen  aber 


—    267    — 

musste  es  den,  der  an  Italiens  Geschicken 
warmen  Anteil  nahm  und  jene  edlen  Idealisten 
gekannt  hatte,  zu  sehen,  wie  falsche  Wege  seine 
Politik  und  Neuorganisation  ging.  Wie  die 
eitle  Sucht,  plötzlich  eine  Grossmacht  zu  sein, 
es  zu  Ausgaben  und  Unternehmungen  verleitete, 
die  weit  über  seine  Mittel  und  seine  Kräfte 
gingen,  während  die  innere  Wohlfahrt  und  die 
Ordnung  erwerbtätiger,  strebender  Gemeinwesen 
vernachlässigt  wurden.  Wie  das  so  hoch  begabte 
liebenswürdige  Volk  in  manchen  Gegenden  in 
beinah  barbarischen  Zuständen,  im  äussersten 
Elend,  in  Schmutz  und  Unwissenheit  blieb  und 
durch  die  hoffnungslose  Armut  zur  Massen- 
Auswanderung  getrieben  wurde,  oder  durch  den 
Schreck  vor  dem  ungewohnten  Militärdienst  und 
den  ebenso  ungewohnten  schwer  lastenden 
Steuern  in  die  Berge  floh  und  sich  dort  durch 
freie  Benutzung  der  Güter  anderer,  d.  h.  durchs 
Räuberhandwerk,  zu  helfen  suchte. 

Sagte  mir  doch  in  einem  politischen  Ge- 
spräch sogar  einer  der  bedeutendsten,  aber 
durchaus  konservativen  Staatsmänner  Italiens 
(der  jetzt  auch  schon  längst  geschieden  ist): 
»Ja,  wenn  die  Menschen  die  Geschichte  recht 
verständen,  so  müssten  sie  immer  zunächst  an 
die  Wohlfahrt  der  Völker  im  Innern  des  Landes 
denken.  Würde  von  den  ungeheuren  Budgets 
des  Kriegs,  der  Marine,  der  Steuereinnahmen  usw. 
nur  die  Hälfte  für  die  innere  Verwaltung  ver- 
braucht so  würde  der  allgemeine  Wohlstand  in 
solchem  Masse  wachsen,  dass  ein  Land  dadurch 


—     268     — 

allein  schon  mächtiger  werden  würde,  als  durch 
Furcht  einflössende  Heere.«  Dies  aber  sagte 
mir  ein  Staatsmann,  der  lange  an  der  Spitze 
der  Verwaltung  stand  I  Wie  schwer  muss  es 
daher  sein,  das  einfach  Vernünftige  und  Nah- 
liegende im  Staatsleben  durchzusetzen. 

Wie  hoch  standen  daher  die  alten  Inder,  die 
ihre  Könige  nur  priesen,  wenn  sie  Woltäter 
ihres  Volks  waren  und  nicht  um  der  Gewalt- 
mittel willen,  die  sie  in  Händen  hatten.  Hierauf 
bezüglich  fand  ich  eine  treffliche  Stelle  aus  dem 
Gätahamälä  des  Arga  Süra,  von  J.  S.  Speyer 
übersetzt,  welche  lautet  wie  folgt:  »Unser 
Monarch  hat  seine  Macht  durch  seine  Seelengrösse 
erhalten.  Seine  Stärke  beruht  auf  seiner  Güte, 
nicht  auf  seinem  bunt  geflaggten  Heer,  welches 
er  nur  hält,  um  der  gewohnten  Sitte  nachzukommen. 
Redlichkeit  ist  der  Hebel  seines  Handelns,  nicht 
die  politische  Weisheit,  diese  niedrige  Wissen- 
schaft. Sein  Reichtum  dient  ihm  dazu,  die 
Tugendhaften  zu  ehren.« 

Welch  schöneres  Programm  des  wahren 
Herrschertums  könnte  man  aufstellen  als  dieses, 
und  wie  weit  steht  unsere  Zeit  darin  zurück, 
wo  sich  die  Stärke  der  Regierungen  nur  auf  die 
kolossalen,  auch  im  Frieden  stets  zum  Krieg 
bewaffneten  Heere  stützt,  anstatt  sich  über  die 
nationalen  Grenzen  hinaus  die  Hand  zu  reichen 
und  den  Völkerfrieden  auf  Gerechtigkeit  und 
wahre  Bildung  zu  gründen.  Jawohl,  der  alte 
Inder  hat  recht,  politische  Weisheit,  welche 
niedrige    Wissenschaft  I      In    ihr    Gebiet    gehört 


—    269    — 

der  moderne  Schwindel  der  Kolonialpolitik.  Auch 
Italien  wurde  ja  leider  davon  ergriffen  und  unter 
dem  Ministerium  des  schon  alten,  etwas  hin- 
falligen Depretis  siegte  die  Beredsamkeit  Mancinis, 
eines  trefflichen  Rechtsgelehrten,  aber  unfähigen 
Ministers  des  Äusseren,  und  brachte  Italien  dazu, 
nach  Afrika  zu  ziehen  und  noch  dazu  nach 
Massaua,  das  zwar  ein  Hafen  am  roten  Meer, 
aber  einer  der  heissesten  und  unfruchtbarsten 
Orte  der  Erde  ist.  Dass  englische  schlaue 
Politik  dabei  im  Spiele  war,  merkte  man  hier 
nicht,  man  jubelte  über  diese  erste  grosse  Tat 
der  jungen  Grossmacht;  eine  Freundin  schrieb  mir, 
sie  habe  Tränen  der  Rührung  vergossen,  als  sie 
die  Soldaten  habe  einschiffen  sehen,  um  von  dem 
Land,  welches  Italien  durch  keinen  Rechtsspruch 
zugehörte,  Besitz  zu  nehmen,  wie  es  nun  seitdem, 
allem  Menschen-  und  Völkerrecht  zuwider,  immer 
häufiger  von  den  grossen  europäischen  Staaten 
geschieht.  Ich  erlaubte  mir  damals  schon,  nicht 
in  den  allgemeinen  Jubel  mit  einzustimmen.  Ich 
sah  um  mich  her  in  dem  Land,  das  ich  liebe, 
kaum  erst  die  Anfange  einer  vernunftgemässen 
Organisation,  einer  Ordnung  der  Dinge,  die  zu 
Wohlfahrt  im  Innern  fuhren  und  die  Grundlage 
einer  neuen  edlen  Kultur  werden  könnte  und 
ich  befürchtete  gleich,  dass  diese  Anmassung, 
Kultur  in  die  Ferne  bringen  zu  wollen,  während 
man  selbst  noch  so  kulturbedürftig  war,  schlimme 
Frucht  bringen  würde,  was  sich  denn  leider  auch 
unter  dem  zweiten  Ministerium  Crispis,  durch 
dessen  noch  viel  grössere   Anmassung,    auf  die 


—      270      — 

allertraurigste  Art  für  Italien  bewährt  hat.  — 
Seltsamere  Kontraste  aber,  als  sie  in  jener 
Zeit  besonders  in  den  achtziger  Jahren,  Italien 
darbot,  hat  kaum  je  ein  modernes  Land  in  der 
Geschichte  gezeigt.  Während  der  als  Einheit 
noch  so  junge  Staat  im  Innern  noch  völlig  un- 
geordnet, seine  kaum  gebildete  Militärmacht 
aussandte,  um  auf  einem  andern  Kontinent 
Länder  in  Besitz  zu  nehmen,  auf  die  er  keinen 
Anspruch  hatte,  begab  sich  inmitten  dieses 
jungen  Staats,  so  recht  in  seinem  Zentrum,  in 
der  kaum  errungenen  Hauptstadt  selbst,  ein  Er- 
eignis, welches  durch  seinen  Glanz  das  Recht 
ehrwürdiger  Traditionen  gegenüber  der  An- 
massung  junger  Eitelkeit  ins  hellste  Licht  zu 
stellen  befähigt  schien.  Es  war  der  30.  De- 
zember 1887,  der  Vorabend  der  Messa  d'oro, 
mit  welcher  der  Papst  am  i.  Januar  in  der 
Peterskirche  die  Feste  seines  Jubiläums  ein- 
weihen wollte.  Rom  wimmelte  von  Fremden^ 
freilich  zumeist  geistlichen  Standes,  die  sich  zu 
der  hehren  Feier  eingefunden  hatten;  die  Gast- 
höfe waren  überfüllt,  die  ärmeren  Pilger  wurden 
in  Klöstern  und  Hospizen  einlogiert.  Der  Zu- 
drang,  um  Billette  zu  erhalten,  war  ungeheuer, 
denn  nur  mittels  solcher  konnte  man  in  das 
Gotteshaus  gelangen.  Zu  Tausenden  kamen  die 
Gesuche  darum  täglich  in  den  Vatikan.  Um 
denselben  und  um  die  Peterskirche  war  ein 
Leben  und  ein  Treiben,  wie  seit  siebzehn  Jahren 
nichts  Ähnliches  vorgekommen  war.  Ich  hatte 
gerade  eine  Veranlassung,  jemand  aus  der  hohen 


—     271      — 

Geistlichkeit  im  Vatikan  aufzusuchen  und  konnte 
mich  mit  eignen  Augen  davon  überzeugen.  Es 
kam  mir  vor  wie  ein  Märchen,  wo  in  einem 
verzauberten  Schloss  plötzlich  der  Entzauberer 
eintritt  und  alles  zu  frischem  regem  Leben  er- 
wacht. Scharen  von  Geistlichen  aller  Länder, 
in  den  verschiedensten  Trachten,  eilten  geschäftig 
Trepp  auf,  Trepp  ab.  Die  »Uscieri«  in  ihren 
malerischen  Kostümen  schienen  wie  in  ferner 
Vergangenheit  eingeschlafen,  mit  einem  Ruck 
die  Traumbefangenheit  abzuschütteln  und  ihre 
Rolle  mit  Vehemenz  wieder  aufzunehmen,  um 
den  andrängenden  Scharen  zu  wehren,  die  sich 
an  den  Türen  einfanden,  um  zu  den  Audienzen 
zugelassen  zu  werden.  Damen  aller  Art,  Pilger- 
innen, mehr  alte  als  junge  und  mehr  hässliche 
als  hübsche,  eilten  dazwischen  umher;  hohe 
Prälaten  mit  ihrem  Gefolge  belebten  noch  das 
bunte  Bild.  In  den  Strassen,  die  nach  St.  Peter 
führen,  war  es  kaum  durchzukommen,  die  Wagen 
in  ununterbrochener  Reihe  sich  folgend,  mussten 
Schritt  fahren.  Die  ganze  Basilika  war  schon 
seit  Tagen  dem  Publikum  verschlossen,  um  die 
Vorkehrungen  im  Innern  zu  treffen.  Doch  fehlte 
es  bei  all  dem  erwartungsvollen  Leben  auch 
schon  nicht  an  Verstimmungen  und  Klagen  aller 
Art,  und  das  römische  Volk  fing  an  zu  murren,  dass 
man  ihm  den  Eingang  zu  seinem  Gotteshause 
wehren  wolle,  in  das  es  sonst  so  gut  frei  ein- 
gehen konnte,  wie  die  Reichen  und  Begünstigten. 
Es  waren  daher  von  Seiten  des  Kriegsministeriums 
mehrere  Kompagnien  Soldaten  beordert,  welche 


—      272      — 

auf  dem  Petersplatz  Cordon  bilden  sollten,  um 
bei  etwaigen  Unordnungen  einzuschreiten.  Schon 
dieses  ein  seltsames  Schauspiel:  das  Fest  des 
entthronten  Herrschers  beschützt  von  den  Soldaten 
des  Usurpators! 

Vor  1870  würde  eine  solche  Festlichkeit, 
ein  solches  Zusammenströmen  der  Gläubigen 
aus  allen  Weltteilen,  mit  Geschenken  beladen, 
um  sie  dem  Oberhaupt  der  Kirche  huldigend 
darzubringen,  nichts  Ausserordentliches  gehabt 
haben.  Aber  nun  war  es  anders  geworden  und 
der  Beobachter  konnte  nicht  umhin,  seltsamen 
Gedankengängen  Raum  zu  geben.  Hätte  diese 
Feier  einzig  der  ehrfurchtgebietenden  Persönlich- 
keit eines  Greises  gegolten,  den  das  Geschick  an  die 
Spitze  einer  universellen  geistigen  Gemeinschaft 
erhoben  hatte,  so  wäre  die  Sache  immerhin  noch 
ungewöhnlich,  aber  doch  bei  weitem  einfacher  und 
ohne  die  seltsamen  Kontraste  gewesen,  welche  jetzt 
dabei  zu  Tage  traten.  Während  drüben  im 
Quirinal  der  König  des  noch  so  jungen  König- 
reichs Italien  die  Neujahrswünsche  von  selten 
seiner  Staatsbeamten  und  der  bei  ihm  beglaubig- 
ten Gesandten  entgegennahm,  feierte  der, 
welchen  er  seiner  irdischen  Macht  entsetzte, 
ein  Fest,  dessen  universelle  Bedeutung  nicht  zu 
verkennen  war.  Diese  aus  allen  Ländern  her- 
beigeeilten Verehrer  und  Bekenner  einer  Kirche, 
deren  Oberhaupt  alles  galt,  diese  kostbaren 
Gaben,  deren  Menge  die  kolossalen  Räume, 
welche  dafür  bereitet  waren,  kaum  fassten,  diese 
Extragesandten    aller    gekrönten    Häupter,    ob 


—     273     — 

katholisch  oder  nicht,  die  auch  mit  vollen 
Händen  kamen,  waren  das  nicht  alles  Zeichen, 
dass  wir  es  hier  noch  immer  mit  einer  Welt- 
macht zu  tun  hatten,  gegen  welche  das  ver- 
lorene »potere  temporale«  nur  ein  verschwindend 
kleines  Gewicht  behält? 

Vielleicht  war  dieser  Gedanke  Papst  Leo  XIII. 
auch  aufgestiegen,  als  er  von  seinem  Königsitz 
im  Vatikan  auf  das  Gedränge  niederschaute, 
welches  den  so  lange  verödeten  Petersplatz  be- 
lebte. Und  wohl  ihm,  wenn  er  vesucht  hätte 
diesem  Gedanken  volle  Wirklichkeit  zu  geben, 
wenn  er  freudig  der  irdischen  Krone  entsagt 
hätte,  um  sich  allein  die  geistige  Krone  aufzu- 
setzen, deren  Glanz  heller  strahlen  würde  als 
die  Diamanten  der  Tiara.  Dann  würde  die  Ver- 
söhnung mit  dem  König  drüben  im  Quirinal, 
welcher  jetzt  der  einzige  ist,  der  ihm  nicht 
huldigen  kann,  eine  Möglichkeit  und  der  pein- 
liche Konflikt,  in  dem  die  italienischen  Patrioten, 
die  noch  an  der  Kirche  hängen,  sich  befinden, 
wäre  gelöst.  Würde  das  die  Folge  dieses  Festes 
sein,  wer  würde  es  nicht  als  den  Anfang  einer 
neuen  vernunftgemässeren  Zeit  begrüssen,  wer 
würde  Leo  XIII.  nicht  als  einen  der  grössten 
Päpste  ehren,  die  je  gelebt? 

Aber  leider  sah  das  Ganze  mehr  aus  wie 
ein  Fehdehandschuh,  den  man  dem  abtrünnigen 
Italien  hingeworfen  hatte.  Es  war  zu  viel 
Ostentation  dabei,  um  es  als  ein  blosses  Familien- 
fest der  katholischen  Christenheit  zu  betrachten. 
Und  gerade  in  dem  Augenblick,  welch  schmerz- 

Meysenbng,  IV.  18 


—     274     — 

lieber  Kontrast  für  die  Italiener!  Während  hier  in 
der  Hauptstadt  dies  glänzende  Fest  des  vertriebe- 
nen Herrschers  gefeiert  wurde,  mussten  drüben 
im  heissen  Afrika  die  jungen  Söhne  des  neu 
gewonnenen  Vaterlands  für  einen  grossen  poli- 
tischen Fehler,  im  Kampfe  mit  wilden  Horden, 
ihr  Leben  einsetzen  und  während  sich  im  Vatikan 
Millionen  aufhäuften,  musste  das  finanziell  so 
schlecht  bestellte  Land  Millionen  hergeben,  um 
einen  mörderischen  Krieg,  der  wenig  Ehre,  und 
noch  weniger  Nutzen  verspricht,  und  nur  von 
der  beschränkten  Eitelkeit  und  masslos  ehrgeizigen 
Herrschsucht  einiger  einzelnen  in  Scene  gesetzt 
worden  ist.  durchzuführen.  Diese  Betrachtungen 
drängten  sich  dem  Beobachter  auf,  wenn  er  auf 
das  bewegte  Leben  dieser  Tage  niedersah  und 
wer  Italien  liebt,  konnte  sich  der  Wehmut  nicht 
erwehren,  die  seine  zweifelhaften,  so  schlecht 
geleiteten  Geschicke  hervorrufen. 


Gedachtes. 


Es  gibt  Naturen,  welche  am  Fortschritt  der 
Gesellschaft  arbeiten  können,  indem  sie  alle  Vor- 
urteile schonen,  die  Sachen  nur  halb  beim 
Namen  nennen  und  ein  wenig  nachgeben,  um 
ein  weniges  zu  erlangen.  Diese  übrigens  ganz 
ehrlichen  Naturen  tun  ihre  Arbeit  und  sie  hat 
ihren  Nutzen.  Aber  es  gibt  andere,  welche 
von  der  unwiderstehlichen  Logik  der  Über- 
zeugung vorwärts  getrieben,  sich  bestimmt  aus- 
sprechen müssen;  gelingt  es  ihnen  auch  nicht 
ihr  Ideal  zu  verwirklichen,  so  erringen  sie  doch 
für  dasselbe  die  Sympathie  energischer  Charaktere 
und  zum  wenigsten  sind  sie^selbst  ein  lebender 
Protest  gegen  die  versteinerten  Formen,  welche 
den  lebendigen  Geist  nicht  mehr  enthalten. 


Jedes    reine   tiefe    Gefühl   hat  in    sich   eine 
solche  Unschuld,  dass  der  Gedanke  nicht  kommt, 

x8* 


—    276    — 

man  könne  es  verkennen.  In  der  wahren  Liebe 
der  Frau  vereinigt  sich  alle  Zärtlichkeit  der 
Mutter,  Schwester,  Freundin,  und  wenn  die  Frau 
ihren  heiligen  Schmerz  um  die  nun  erloschene 
Neigung,  die  ihr  einst  gewidmet  war,  stolz  in 
die  Tiefe  ihres  Herzens  verschliesst,  so  bleiben 
die  Mutter,  Schwester,  Freundin,  um  dem,  dessen 
Andenken  noch  immer  teuer  ist,  helfend  und 
tröstend  beizustehen,  wenn  das  Schicksal  Schweres 
über  ihn  verhängt. 


Dem  charaktervollen  Menschen  ist  es  ein 
Bedürfnis,  ein  Ziel  fest  ins  Auge  zu  fassen  und 
es  mit  Konzentration  aller  seiner  Kräfte  zu  ver- 
folgen. Dann  erst  entfaltet  sich  ihm  der  ganze 
Reichtum  seiner  Befähigung,  auch  alles  andere 
zu  verstehen  und  in  alle  Gebiete  des  Lebens 
denkend  hinüber  zu  blicken.  Er  hat  dann,  wie 
Archimedes,  den  einen  Punkt  gefunden,  von  dem 
aus  er  die  Welt  aus  ihren  Angeln  hebt.  Dem 
Genius  zeichnet  die  eigene  Natur  das  Ziel  in 
Flammenzügen  vor;  ihm  ist  die  Mühe  des 
Suchens  erspart  und  nur  die  Hindernisse,  welche 
Welt  und  Verhältnisse  ihm  in  den  Weg  legen, 
machen  ihm  das  Verfolgen  seines  Ziels  oft  zur 
Qual;  zwingen  sie  ihn  diesem  Ziel  zu  entsagen, 
drängen  sie  ihn  gewaltsam  aus  seiner  Bahn,  so 
ist  es  Tod  und  Vernichtung  für  ihn.  Die  von 
der  Natur  minder  reich  Begnadeten  müssen 
suchen,    bis   sie  den  wahren  Punkt  finden,    von 


—    277     — 

dem  aus  ihr  Wesen  sich  in  Einheit  und  Mannig- 
faltigkeit zugleich  entfalten  und  die  Blüte  seiner 
selbst  erreichen  kann,  Von  diesem  Punkt  ver- 
drängt zu  werden,  ist  ein  unaussprechliches 
Leiden,  ja  ein  verzehrender  Schmerz.  Manche 
gehen  daran  unter  und  die  Starken,  die  ihn 
überleben,  tragen  doch  den  Schmerz  der  Wunde 
mit  sich  durch  das  Leben. 


Ein  geistvoller  Freund  meinte,  die  Weisheit 
der  Könige  sei  Warten.  Ich  denke  sie  müsste 
vielmehr  Voraussehen  und  Voraussorgen  sein. 
Immer  Präventivmassregeln  in  der  Erziehung  wie 
in  der  Politik.  Sind  die  Repressivmassregeln 
erst  nötig,  dann  ist  es  schon  zu  spät,  der  rechte 
Augenblick  ist  versäumt. 


Wenn  der  Wille  im  Sinne  Schopenhauers, 
als  ungestümer  Drang  zum  Dasein  und  nimmer 
zu  befriedigendes  Streben  nach  Genuss,  durch 
das  Läuterungsfeuer,  der  Erkenntnis  durchge- 
gangen und  nun,  sich  selbst  beherrschend,  er- 
löster Wille  geworden  ist,  welcher,  aus  Mitleid 
entsagend,  die  höchsten  Seelenfreuden  opfern 
und  über  dem  Schmerz,  mit  vollem  Bewusstsein 
von  dessen  Bedeutung  und  dem  Unersetzlichen 
was  verloren  geht,  —  stehen  kann  —  dann  ist 
der  Widerspruch   zwischen   der  christlichen  und 


—    278    — 

der  naturalistischen  Anschauung  von  der  Freiheit 
oder  der  Gebundenheit  des  Willens  gelöst,  denn 
dann  hat  sich  der  gebundene  Wille  zur  Freiheit 
der  Selbstbestimmung  erhoben,  dann  ist  der 
Mensch  wirklich  frei. 


Eine  sehr  katholische  Dame  schrieb  einem 
uns  gemeinsamen  Freund,  es  habe  sie  gefreut, 
mich  kennen  zu  lernen,  obgleich  uns  Welten 
trennten.  Immer  die  Beschränktheit  des  ortho- 
doxen Standpunkts,  einerlei  ob  religiös  oder 
politisch.  Welten  trennen  nur  zwei  Gegensätze: 
das  Gute  und  das  Böse  und  nicht  einmal  die 
ganz,  denn  auch  im  Guten  ist  zuweilen  noch  ein 
Teilchen  Böses  und  fast  in  allem  Bösen  noch  ein 
Teilchen  Gutes. 


Es  wurde  heute  abend  darüber  gestritten, 
ob  man  sich  vor  der  Güte  beugen  solle.  Die 
meisten  der  Anwesenden  sagten  nein,  sie  ver- 
wechselten offenbar  Güte  mit  Gutmütigkeit. 
Vor  der  Güte  aber,  die  nicht  bloss  eine  Natur- 
gabe und  mit  Schwäche  verwandt,  sondern  das 
Ergebnis  höchster  Bildung,  das  letzte  Wort  des 
individuellen  Kulturkampfes  ist  —  vor  der  Güte 
muss  man  sich  beugen.  Sie  ist  das  selbst  er- 
rungene Adelsdiplom  der  Seele,  ihr  allein  steht 
das  Recht   zu,    im   sittlichen  Leben   zu   richten, 


—     279    — 

denn  ihre  Milde  wird  nie  Schwäche,  ihre  Strenge 
nie  Ungerechtigkeit  sein. 


Ich  liebe  die  Einsamkeit  über  alles,  auch 
die  zu  zweien,  ja  selbst  noch  zu  dreien,  wenn 
es  die  Rechten  sind;  aber  die  zu  hunderten  ist 
schrecklich  melancholisch;  dann  fühlt  man  sich 
trostlos  allein,  ausgenommen  in  den  Momenten, 
wo  die  Hunderte  von  einem  gemeinsamen, 
grossen,  begeisternden  Gefühl  entflammt  werden. 
Doch  wie  selten  sind  die! 


Ich  glaube,  dass  eine  liebevolle  Anhänglich- 
keit der  Dienstboten  durch  Wohlwollen  von 
Seiten  des  Herrn  erzeugt,  nicht  nur  möglich, 
auch  sehr  wünschenswert  ist.  Daraus  entspringt 
das  humanste  Betragen  von  beiden  Seiten  und 
der  willigste  Gehorsam  der  Dienenden.  In  dem 
Verhältnis  zu  den  Dienstboten  hat  sich  in  neuerer 
Zeit  so  viel  verändert;  die  patriarchalischen  so- 
wie die  sklavischen  Zustände  sind  vorbei.  Der 
Diener  will  jetzt  als  Persönlichkeit  respektiert 
sein.  Es  versteht  sich,  dass  er  es  durch  sein 
Betragen  verdienen  muss,  wird  er  es  aber  nicht, 
so  ist  meist  die  Korruption  des  Charakters  die 
Folge,  die  niedrigere  Natur  rächt  sich  für  er- 
littene Demütigungen  durch  Betrug,  geheimen 
Hass  gegen  den  Herrn  oder  Spott  über  ihn. 


—     28o     — 

Wenn  die  völlige  reine  Resignation,  die  Ver- 
neinung des  Willens  zum  Leben  (im  wahren 
Sinne  Schopenhauers)  erreicht  schien  und  es  er- 
wacht dann  doch  noch  einmal  eine  neue  Liebe 
mit  aller  Sehnsucht,  allem  innigen  Verlangen, 
dann  wird  der  Schmerz  der  notwendigen  Ent- 
sagung wie  ein  Zucken  der  bereits  frei  ge- 
wesenen Seele,  die  noch  einmal  in  die  Unruhe 
des  Willens  zurück  muss.  Aber  es  ist  schon  ein 
beinah  verklärter  Schmerz,  denn  hinter  ihm 
leuchtet  bereits  die  Gewissheit  des  Sieges  und 
die  Krone  des  Überwinders. 


Welch  ein  wunderbares  Erleben  I  Gequält 
war  ich  vom  Schmerz  der  Trennung,  vom  Ge- 
danken, die  Stunden  des  Zusammenlebens  nicht 
voll  genossen,  nicht  genügend  ausgefüllt  zu 
haben,  der  Gegenseitigkeit  der  reinen  Zuneigung 
nicht  völlig  sicher  zu  sein  —  endlich  setzte  ich 
mich  zur  Arbeit  und  —  siehe  da!  —  schöpferische 
Gedanken  strömten  mir  in  Fülle  zu,  und  ich  war 
erlöst,  der  Schmerz  war  verschwunden,  alles 
Fehlen  und  Versäumen  war  ausgelöscht;  es  blieb 
nur  ein  innigstes  Gedenken,  ohne  Reue,  ohne 
Sehnsucht  und  das  trostvolle  Bewusstsein,  dass 
auch  dies  edle  Gefühl  ein  ewiger  Besitz  sei. 
Über  dem  allen  aber  schwebte  beseligend  das 
Wiederfinden  mit  mir  selbst,  das  höchste  wahre 
Glück  Schöpfer  zu  sein,  welches  schon  die  Ein- 
kehr in  das  Universelle  ist. 


28 1 


Die  alltäglichen  Menschen  fragen  immer  »wo- 
zu fuhrt  das?«  Als  wenn  eine  vornehme  Seele 
sich  immer  mit  dem  Krämergedanken  der  end- 
lichen Zahlung  abgeben  könnte!  Im  edelsten 
Sinne  glücklich  gewesen  zu  sein,  wenn  auch  nur 
wenige  Stunden,  ist  besser  als  ein  ordinäres 
Rechenexempel  mit  dem  Leben  abschliessen, 
um  gut  versorgt  zu  sein,  und  der  Schmerz,  den 
man  nachher  leiden  muss,  ist  erhabener  und 
fordernder  als  alle  zum  äusseren  Ziel  gelangte 
Philisterhaftigkeit. 


Freundschaft  kritisiert  nicht  in  der  Stunde  des 
Leidens,  sagt  nicht  nüchtern  verständig  »wenn 
du  es  so  oder  so  gemacht  hättest«,  sondern 
öffnet  einfach  die  Arme  und  spricht:  »Ich  frage 
nicht,  ich  urteile  nicht,  hier  ist  ein  Herz,  daran 
ruh  aus«.  Ja,  wenn  man  immer  im  voraus 
wüsste,  wie  man  handeln  müsste,  dann  gab  es 
keinen  Irrtum.  Die  Freundschaft  rät  und 
warnt  vorher;  nachher  liebt  sie,  das  nur  ist 
die  echte;    die  falsche  macht  es  umgekehrt. 


Das  sittliche  Leben  des  Staats  hat  aufgehört, 
wenn  sich  das  Individuum  nicht  mehr  frei  ent- 
wickeln und  seine  Meinung  zur  Geltung  bringen 
darf.  Ein  Staat,  dessen  sittliches  Leben  unter- 
gegangen ist,  muss  notwendig  selbst  untergehn. 
Dieselbe  sittliche  Forderung  gilt,   wie  im  Staat, 


—      282      — 

SO  auch  in  der  Familie.  Das  Individuum  muss 
in  ihr  seine  volle  sittliche  Freiheit  haben  dürfen, 
sonst  ist  auch  die  Familie  nur  ein  zufälliger, 
äusserer  Verband,  nicht  vom  Bewusstsein  aner- 
kannt und  in  seiner  Autorität  bestätigt.  Man 
kann  sich  einem  solchen  Staat,  einer  solchen 
Familie  unterwerfen,  gut !  dann  hat  man  gewählt, 
oder  man  fühlt  und  erkennt,  dass  das  Recht  der 
individuellen  Freiheit  erkämpft  werden  muss  und 
dann  wird  man  Revolutionär.  Zwischen  beiden 
steht  der  Indifferentismus,  der  das  eine  und  das 
andere  Extrem  von  sich  abweist,  und  indem  er 
das  Vorhandene  ohne  weiteres  gehen  lässt,  sich 
einbildet,  er  allein  habe  das  Stetige,  Unver- 
änderliche. Stetiges,  Unveränderliches  aber  gibt 
es  nicht.  Das  einzig  Ewige  ist  die  unausgesetzte 
Entwicklung  und  Veränderung  des  einfachen 
Atoms  zu  immer  neu  zusammengesetzten, 
reicheren  Kombinationen  in  der  Natur  bis  zur 
Ausbildung  ihres  höchsten  Organismus,  der  zum 
Geist  befähigt  ist  und  sich  zu  ihm  entwickelt. 
Aber  auch  hier  beginnt  dieses  ewige  Vorwärts 
von  neuem.  Vorwärts  drängt  der  schaffende 
Gedanke  und  beginnt  den  Kampf,  wo  immer 
man  ihm  Ketten  anlegen  und  ihn  aufhalten 
will.  So  zieht  sich  ein  roter  Faden  der  Ent- 
wicklung durch  die  Zeiten.  In  den  Massen  be- 
wegt sich  der  schaffende  Geist  nur  erst  als  un- 
klares Gefühl,  aber  die  Individuen,  welche  den 
Prozess  des  Denkens  für  die  Masse  durchmachen 
müssen,  geben  ihr  das  Resultat  und  in  ihm  er- 
kennt   sie    ihr   unklares    Gefühl    und    wird    sich 


—    283    — 

dessen   bewusst.     So   werden   zuletzt  auch   die 

Massen    Träger    des    Gedankens    und  erlangen 

dann   erst   ihr   menschliches  Vorrecht  und   ihre 
Würde. 


Freiheit  und  Notwendigkeit  lassen  sich  in 
Beziehung  auf  die  Individuen  ungefähr  so  be- 
stimmen: als  Individuum  ist  dasselbe  der 
Notwendigkeit  unterworfen,  als  Erscheinung 
dem  Satz  vom  Grunde,  als  Ding  an  sich  ist 
es  im  Reich  der  Freiheit. 


Auf  der  Insel  Capri  schrieb  ich  einst  (im 
Jahr  1864,  wo  ich  daselbst  mit  den  zwei  Töch- 
tern Herzens  weilte):  hier  hat  man  ein  Vor- 
gefühl davon,  was  das  Leben  sein  könnte,  wenn 
der  Mensch  entweder  ewig  unschuldig  und  un- 
bewusst,  wie  die  Natur,  geblieben  wäre,  oder 
wenn  sein  Bewusstsein  nicht  die  schreienden 
Widersprüche  des  Lebens  und  die  dunkle  Sphinx 
der  Zukunft  begegnen  müsste,  vor  derem  unge- 
löstem Rätsel  er  peinvoll  still  steht.  Glücklich 
diejenigen  zum  wenigsten,  durch  deren  Herz 
jenes  Vorgefühl  zuweilen  zieht,  in  den  Illusionen 
der  Jugend  gleich  einem  wonnigen  Morgentraum, 
im  späteren  Leben,  gleich  einer  wehmütigen 
Melodie  aus  einer  fernen  metaphysischen  Welt. 
Lasst  uns  unser  Leben  betrachten!  versöhntes 
Leid   ist   ein   Schatzgräber,    welcher  verborgene 


-—     284    — 

Tiefen  öffnet,  in  denen  edle  Metalle  ruhen.  Die 
Leichtlebigen;  oberflächlich  Glücklichen,  finden 
diese  Tiefen  nicht  und  deshalb  erfahren  sie  nie 
die  blitzartigen,  plötzlichen  Erleuchtungen,  welche 
uns  auf  Augenblicke  ein  fernes  gesegnetes  Ufer 
zeigen,  nach  welchem  wir  uns  ewig  als  Pilgrime 
fühlen.  Für  uns  haben  Formen  und  Farben, 
Töne  und  Melodien  noch  einen  anderen  Sinn  als 
blosse  Augen-  und  Ohren  weide;  uns  sind  sie  die 
Befriedigung  der  Sehnsucht  nach  dem  Ideal,  die 
uns  in  einer  verkrüppelten,  schönheitslosen  Welt 
zur  Qual  wird,  die  aber  in  schönen  Bildern, 
wie  die  Natur  sie  hier  bietet,  ihren  Widerschein 
findet.  Was  eine  Rose  dem  Sterbenden  sein 
würde,  die  ihm  die  entschwundenen  Frühlinge 
seines  Lebens  zurückrief,  das  ist  diese  Natur 
der  Seele,  wenn  die  irdische  Jugend  entflohen 
ist.  Wenn  unsere  Seele  ein  Ton  wäre  in  dieser 
herrlichen  Harmonie  von  Licht,  Lufl,  Farbe  und 
Form,  dann  würde  das  Rätsel  gelöst  sein;  wir 
wären  dann  nur  der  Mittelsatz  in  einer  einzigen 
grossen  Symphonie  des  Daseins,  welches  in  den 
drei  grossen  Abteilungen  von  Vergangenheit, 
Gegenwart  und  Zukunft,  sein  endloses  Gedicht, 
seine  Divina  Commedia  durch  alle  Ewigkeit 
feiern  würde.  Aber  da  liegt  die  Frage.  Es  ist 
der  Natur  nicht  gelungen,  den  Menschen  dieser 
schönen  Erde  wert  zu  bilden;  daher  kommt 
die  Qual  der  Bessern,  die  dunklen  Fragen,  »die 
brechenden  Wellen  und  die  komischen  Geberden«. 
Ja  das  ist  es,  die  Menschen  sind  nicht  gut 
genug.      Wenn    ihre    hässlichen    Leidenschaften 


—    285    — 

nicht  wieder  jeden  idealen  Aufschwung  einer 
Epoche  entstellten,  so  müsste  die  Vergangenheit 
nicht  gleich  einem  Gespenst,  wie  so  oft,  vor 
uns  stehen,  sondern  wie  ein  teures  Grab,  von 
dem  wir  Weisheit  und  Tugend  lernen  würden, 
bis  wir  uns  selbst  der  Vergangenheit  zugesellten 
mit  der  tröstenden  Gewissheit,  einen  reichen 
Vorrat  von  Edelmut  und  Grösse  der  Nachwelt 
gelassen  zu  haben.  Aber  unsere  ganze  Zivili- 
sation begünstigt  noch  zu  sehr  die  Bestie  in  der 
Menschheit,  die  Entwicklung  der  wilden  Instinkte, 
anstatt  den  Menschen  schon  früh  zu  Mass,  Re- 
signation und  Verständnis  der  wahren  Schönheit 
anzuleiten. 

Doch  die  Natur  brauchte  auch  unermessliche 
Epochen,  um  die  Erde  zu  einem  Paradiese,  teil- 
weise wenigstens,  zu  gestalten ;  vielleicht  gelingt 
es  ihr  in  femer  Zeit,  die  Bedingungen  hervor- 
zubringen für  die  Möglichkeit  einer  idealen  Exi- 
stenz künftiger  (Jeschlechter,  wenn  wir  längst 
mit  den  Ruinen  unserer  Zeit  ruhen.  Unser 
Trost  wird  es  sein,  dass  wir  nicht  als  ein  blosses 
Fossil  in  dem  grossen  Laboratorium  der  Natur 
gebraucht  wurden,  sondern  dass  jene  Kraft  in 
uns  tätig  war,  die  nach  den  Höhen  strebt,  die 
Schönheit  begreift  und  liebt. 


Beim  Tod  des  Kaisers  Friedrich  war  wieder 
einmal  das  Walten  des  Weltdämons  offenbar; 
erst   die   Möglichkeit    einer   menschlichen   Voll- 


286 


kommenheit  auf  dem  Thron,  wie  ein  verlockendes 
Spiegelbild,  welches  die  schönsten  Hoffnungen 
weckt  und  dann  im  Hohn  des  tragischesten  Endes 
versinkt,  damit  man  inne  werde,  dass  Ideale  nur 
gleich  Meteoren  vorüberziehen,  um  uns  die  Tan- 
talusqual  der  fruchtlosen  Arbeit  der  Weltver- 
besserung desto  besser  fühlen  zu  lassen. 


Einer  der  angenehmsten  Zustände  im  Leben, 
voll  Stimmung,  Grazie  und  Poesie,  ist  der  einer 
wechselseitigen,  zarten,  unausgesprochenen  aber 
erratenen  Neigung,  ohne  heftiges  Verlangen,  ohne 
allen  Anspruch,  nur  ein  freundliches  Wogen  von 
Herz  zu  Herz,  Blicke  von  Wohlwollen  leuchtend, 
zarte  Aufmerksamkeiten,  inniges  Mitempfinden 
und  Freude  an  dem  Wesen  des  andern.  Selbst 
das  Leid  der  Trennung  hat  dann  etwas  weh- 
mütig Schönes,  ein  sanftes  Ausklingen,  ein  reue- 
loses Vermissen,  wie  die  Stimmung,  die  uns 
nach  einem  schönen  Sonnenuntergang  bleibt. 


Eine  Dame  meinte,  man  müsse  doch  nicht 
bloss  mythische  Typen  ewiger  Gestalten  zum 
Gegenstand  der  Kunst  machen,  sondern  auch 
wirkliche  Menschen.  Mir  fällt  bei  derartigen 
Behauptungen  immer  die  Disputa  von  Raphael 
ein,  unten  die  Disputierenden,  um  den  Wortlaut 
Streitenden,   wissenschaftlich  Wirklichen,  die 


-    287    — 

nicht  sehen,  wie  oben  das  grosse  Mysterium  Wirk- 
lichkeit geworden  ist,  wie  erst  die  vom  Schein 
Erlösten  die  Wirklichen  geworden  sind.  »Das 
Unzulängliche  hier  wird's  Ereignis«. 


Wie  seltsam  ist  es,  dass  das  Auseinander- 
kommen mit  Menschen,  die  uns  im  Umgang  ganz 
angenehm  waren,  weiter  kein  tiefes  Bedauern 
zurück  lässt.  Die  Welle  trägt  sie  fort,  als  wären 
sie  nie  dagewesen,  während  dagegen  ein  Bruch 
mit  solchen,  mit  denen  der  ewige  Kern  unseres 
Wesens,  das  was  wir  ei  gentl  i  ch  sind  und  hoffent- 
lich bleiben  werden,  berührt  wurde,  den  Schauder 
des  Vergänglichen  über  uns  bringt  und  den 
Schmerz,  für  den  es  keine  Versöhnung  gibt.  Im 
Alter,  wo  diese  Tiefe  der  Seelengemeinschaft 
fast  abgeschlossen  ist  wie  ein  Tempelheiligtum, 
in  dessen  inneren  Kultus  kein  profanes  Auge  mehr 
dringt,  wo  wir  nach  aussen  nur  das  ruhige  Wohl- 
wollen haben,  welches  gerne  gibt  und  dankbar 
empfangt,  ohne  dass  es  den  Frieden  jenes  Heilig- 
tums stört,  erschliesst  sich  da  noch  einmal  die 
Tempelpforte,  so  erklingen  solche  ewige,  erhabene 
Harmonien,  dass  jeder  weltliche  Misston  zur 
tiefsten  Pein  wird.  In  der  geheimen  Gewissheit 
jenes  ewigen  Zusammenhanges  scheint  das  ganze 
äussere  Leben  leicht  und  dem  ähnlich,  welches 
wir  mit  anderen  fuhren.  Drängt  sich  aber  ein 
Misston  hinein,  so  bildet  sich  eine  schmerzliche 
Schranke,  die  mit  den  Gleichgültigen  nicht  vor- 
kommt. 


—    288     — 

Bei  Gelegenheit  der  Unterhaltung  mit  einer 
Spiritistin  fragte  ich,  ob  das  Unsterblichkeit  sein 
könne  für  einen  denkenden  Geist,  in  einer  ge- 
spenstischen Form,  als  ein  Schatten  ohne  Inhalt, 
ohne  Wesen,  ein  zielloses  Dasein  zu  führen  ?  Die 
Vorstellung  von  übermenschlichen  Existenzen, 
die  in  untätiger  Seligkeit  feiern,  wäre  es  eine 
wünschenswerte  Fortsetzung  des  strebenden, 
kämpfenden  Menschendaseins,  welches,  wenn 
gleich  dem  Gesetz  alles  Zeitlichen  in  seiner  ein- 
zelnen Erscheinung  verfallen,  dennoch  rufen  kann: 
»Tod  wo  ist  dein  Stachel?«  Denn  wir  wissen 
es  ja,  dass  es  keinen  Tod  gibt,  dass  jedes  Atom 
des  zerfallenden  Körpers  der  Stoffwelt  wieder 
ein  Keim  neuer  Gestalten,  neuer  Schöpfungen 
wird  und  dass  ebenso  jedes  bedeutende  Wort 
hoher  Geister,  jeder  Gedanke,  der  eine  neue 
Saite  im  Menschenleben  tönen  macht,  jede  reine 
fruchtbringende  Tat,  unverloren  sind  in  der 
Ewigkeit  des  Daseins ;  dass  in  einer  unendlichen 
Kette  neue  Gedanken,  neue  heilige  Empfindungen, 
neue  Taten  sich  daran  reihen  und,  während 
das  einzelne  der  Erscheinung  stirbt,  das  unsterb- 
liche Ganze  bilden,  den  Geist  der  Welt,  welcher 
über  denen  steht,  denen  er  als  Blüte  entstieg. 
So  steht  der  Mensch  der  neuen  Zeit  dem  Tod 
gegenüber.  Der  Notwendigkeit,  dem  Schicksal 
der  Erscheinung  unterwerfen  wir  uns,  indem  wir 
die  schweren  Bedingungen,  die  uns  diese  Er- 
gebung auferlegt,  anerkennen.  Das  ist  der 
Schmerz,  den  wir  als  die  wirklich  Entsagenden 
auf  uns   nehmen    mit    der  Gewissheit,   dennoch 


—    289    — 

nicht  umsonst  gelebt  zu  haben.  Zu  wissen,  dass 
der  Geist  über  uns  hinwegschreitet  zu  vollen- 
deteren Schöpfungen,  zu  reineren  Siegen,  haben 
wir  einen  anderen  Anspruch  an  Seligkeit  als 
diese  Gewissheit? 


Ist  es  denn  so  schwer  zu  begreifen,  dass  die 
Freiheit  das  stärkste  Gesetz  ist?  Die  Kinder 
dazu  erziehen,  die  Völker  gewöhnen  dies  zu  be- 
greifen, damit  wäre  eigentlich  die  ganze  Aufgabe 
der  Kultur  erfüllt.  Die  Familie  und  der  Staat 
würden  dadurch  ihre  wahre  beglückende  Form 
finden,  während  die  gewalttätige  Autorität  ewig 
die  Empörung  an  ilirer  Tür  findet. 


Die  Natur,  ehe  sie  in  den  Dualismus  von 
Begierde  und  Erkennen  eintritt,  ist  unschuldig 
und  objektiv  schön.  Die  Pflanzen-  und  Steinwelt 
kennt  keine  Begierde,  hat  auch  keine  Erkenntnis, 
ist  deshalb  ohne  Schuld  und  ohne  Erlösung, 
deren  sie  nicht  bedarf;  sie  ist  im  Zustand  des 
Paradieses,  braucht  das  erkennende  Subjekt  nicht, 
ruht  in  ihrer  eigenen  Vollkommenheit,  gehorcht 
einfach  den  Naturgesetzen,  unbekümmert,  ob  sie 
von  einem  Subjekt  erkannt  und  genossen  wird. 
Sie  ist  daher  an  sich  schön  wie  das  Ding  an 
sich,  das  sich  in  ihr,  ungeteilt  in  Wille  und 
Vorstellung,  ausspricht.  Mit  dem  Tier  tritt  der 
Dualismus  zwischen  Begierde  und  Erkennen  ein. 

Meysenbug,  IV.  19 


—    290    — 

Mit  ihm  entsteht  das  Subjekt,  das  Individuum, 
welches  für  sich  empfindet,  leidet  und  erkennt. 
Nur  ist  im  Tier  die  Begierde,  also  der  Wille 
auf  seiner  niedrigsten  Stufe,  als  blosser  Trieb 
zum  Leben,  das  Überwiegende.  Das  Erkennen 
ist  noch  gebunden,  daher  kann  weder  von 
Schuld  noch  von  Erlösung  die  Rede  sein;  das 
Subjekt  geht  noch  ganz  in  der  Gattung  auf  und 
trennt  sich  erst  in  den  höheren  Tieren  merklich 
von  ihr.  E^  ist  dann  ein  unseliger,  grausamer 
Zustand  und  die  wehmütigen  Augen  kluger  Hunde 
sagen  es  deutlich  genug.  Erst  im  Menschen  ge- 
langt das  Subjekt  zu  seinem  vollkommenen  Aus- 
druck. Er  hat  die  Fähigkeit,  das  Erkennen  über 
die  Begierde  siegen  zu  machen,  sein  ist  die 
Schuld  und  sein  die  Erlösung.  Daher  scheint 
er  sich  selbst  Mittelpunkt  des  Daseins.  Weil 
sich-  in  ihm,  wie  in  einem  Brennpunkt,  alle 
Strahlenbrechungen  des  Dings  an  sich,  die 
gebundenen  und  entbundenen  Formen  der  Er- 
scheinung, vereinigen,  kann  er  glauben,  dass  er 
als  erkennendes  Subjekt  erst  die  Welt  zu  dem 
mache,  was  sie  ist,  für  ihn  wird  sie  erst  Welt, 
indem  er  sie  erkennt.  Der  Wille  erkennt 
sich  überhaupt  erst,  indem  er  sich  selbst  Vor- 
stellung wird,  sich  in  Subjekt  und  Objekt 
scheidet,  dann  erst  tritt  auch  der  Begriff  von 
Schuld  und  Erlösung  im  höheren  ethischen 
Sinne  ein. 

Gemein  wird  die  Welt  mit  dem  Eintritt 
des  Dualismus  von  Begierde  und  Verlangen  auf 
der  einen,   und  Erkenntnis   und  Kraft  der  Ent- 


—      291      — 

sagung  auf  der  anderen  Seite.  Daher  ist  das 
Tier  noch  nicht  gemein,  es  kann  nur  wollen, 
nicht  erkennen,  sich  beherrschen  und  entsagen, 
sein  Wollen  ist  daher  unschuldig,  Die  Lust  ist 
das  Höchste,  wozu  der  blosse  Wille  zum  Leben 
sich  aufschwingt.  Weil  er  aber  ein  höheres 
ethisches  Vermögen,  wenn  auch  unbewusst,  in 
sich  hat,  befriedigt  sie  ihn  nicht;  der  Grund 
liegt  darin,  dass  sie  sich  nur  in  vergänglicher 
Erscheinung  befriedigt,  daher  kommt  aus  ihr 
nur  Reiz  zu  neuer  Lust,  bis  sie  endlich  über- 
sättigt an  ihrer  eignen;, Vergänglichkeit  scheitert 
und  im  Ekel  endet.  Ihr  gegenüber  tritt  auf  der 
höheren  Stufe  der  Entwicklung  die  schöpferische 
Lust  ein  und  zeigt  sich  als  höchste,  immer 
steigende  Lust  am  Unvergänglichen,  als  Genuss 
der  in  Wonne  endet,  anstatt  im  Ekel.  Das 
Ganze  ist  klar:  dort  ist  es  der  Wille  als  sinn- 
liche Erscheinung,  welcher  sinnliche  Befriedigung 
sucht,  vergängliche  Zeugung.  Hier  ist  es  der 
sich  erlösende  Wille  mit  der  Erkenntnis  ver- 
mählt, welcher  Unvergängliches  erzeugt,  daher 
befreiend,  befriedigt. 


Dass  die  Welt  einer  neuen  Religion  bedarf, 
ist  kein  Zweifel.  Die  alten  Religionen  haben 
sich  ausgelebt;  das  weltliche  Machtbedürfnis, 
das  potere  temporale  auf  allen  Gebieten,  hat 
das  Übergewicht  erhalten  über  den  Geist,  der 
zu    »höheren    Sphären   erhebt«    und   anstatt  die 


19* 


—      292      — 

Menschheit  in  Frieden  und  Liebe  zu  einen,  führt 
die  Verschiedenheit  der  Bekenntnisse  sie  zu  Hass 
und  Streit  und  zum  Rassenkrieg.  Die  neue 
Religion  sollte  die  Religion  der  menschlichen 
Würde  sein.  Der  Mensch  müsste  Freude  daran 
haben,  sich  zu  einem  sittlichen  Wesen  auszubilden, 
aus  sich  selbst  ein  schönes,  harmonisch  ent- 
wickeltes Kunstwerk  zu  machen.  Je  höher  seine 
sittlichen  Bestrebungen  sich  steigern,  je  schwerer 
werden  freilich  die  Kämpfe  sein,  welche  die 
unüberwundenen  Leidenschaften  und  die  Mächte 
des  Bösen  heraufbeschwören,  aber  je  standhafter 
wird  auch  die  Seele  um  Lösung  der  sittlichen 
Probleme  ringen,  um  die  Herstellung  der  inneren 
Einheit,  die  aus  den  Tiefen  des  Kampfes  aufer- 
steht zu  neuem  Streben,  die  in  den  tödlichen 
Schmerzen  neue  Kraft  zum  Leben  gewinnt. 
Diese  Siegesmomente  sind  es  dann,  wo  sich  der 
niedere  irdische  Raum  zum  Tempel  wölbt,  wo 
das  Götterbild,  welches  jedes  sittliche  Wesen  im 
Herzen  trägt,  auf  sein  Piedestal  steigt,  in  der 
tiefen  Verschwiegenheit  der  eigenen  Seele  und 
mit  Götterruhe  auf  das  besänftigte  Meer  der 
Gefühle  sieht.  Das  sind  die  Augenblicke  des 
wahren  Gebets,  d.  h.  der  Erkenntnis  jener 
Kraft,  die  in  uns  ruht  und  die  allein  uns  zum 
Menschen  macht.  Es  ist  dies  wie  die  Trauer  und 
das  schmerzliche  Ringen  des  Künstlers  so  lange 
er  noch  dunkel  nach  seinem  Ideale  sucht,  der  aber, 
wenn  er  es  gefunden  hat,  wenn  er  es  strahlen 
sieht  in  reiner,  von  allem  Zweifel  befreiter 
Schönheit,    die    heilige    Seligkeit    der   Erfüllung 


—    293     — 

empfindet.  Es  ist  der  Gottmensch,  der  geboren 
wird  in  der  Stunde,  wo  das  irdische  Greschöpf 
sich  durch  seine  Wahl  zum  sittlichen  Adel  seines 
Daseins  erlöst  hat. 

Fürchtet  euch  nicht  vor  dieser  Religion! 
Sie  erst  wird  die  Erde  zu  einem  Wohnplatz 
wahrer  Menschen  machen;  sie  ist  die  einzige 
dauernde  Lösung  aller  Konflikte,  denn  der 
Kampf  der  Leidenschaften  wird  nicht  ausbleiben, 
aber  seine  Lösung  wird  die  richtige  werden  in 
den  Naturen,  denen  sittliche  Vollendung  Religion 
geworden  ist.  In  der  heissen  Schlacht  der 
Schmerzen  erlösen  sie  sich  selbst,  unter  bitteren 
Qualen  gekreuzigt,  auferstehen  sie  in  neuer 
Jugend  und  Unverletztheit  der  Seele  und  der 
Schmerz  wird  zur  Kraft  und  zeugt  edlere  Taten, 
reinere  Liebe,  hellere  Gedanken  als  zuvor. 
Willst  du  diese  Religion  der  ewigen  Selbster- 
lösung nicht  verstehen,  Welt? 


Eine  schöne  Überraschung. 


Ich  bedurfte  bei  Abfassung  meines  Romans 
»Phädra«  einer  Schilderung  Corfus,  das  ich 
leider  nicht  selbst  gesehen  habe  und  erinnerte 
mich  dabei,  vor  mehreren  Jahren  Beschreibungen 
der  Jonischen  Inseln  in  der  Augsburger  Allge- 
meinen Zeitung  gelesen  zu  haben,  die  mir  einen 
bleibenden  Eindruck  hinterlassen  hatten,  so  dass 
ich  danach  zu  suchen  anfing,  bis  ich  sie  endlich, 
zu  einem  Band  vereinigt  mit  dem  Titel  »Odysse- 
ische  Landschaften«  vom  Freiherrn  Alexander 
von  Warsberg,  wiederfand.  Es  erschien  mir 
dies  Buch  als  ein  wahres  Muster  der  Reiselite- 
ratur und  erfüllte  mich  mit  Sympathie  für  den 
Autor,  dessen  Seele  mir  aus  diesen  Blättern 
sprach  und  dessen  hohe  klassische  Bildung  neben 
dem  Reiz  poetischer  Naturanschauung  zugleich 
ernste  Belehrung  gewährte.  Doch  lag  mir  der 
Gedanke  fem,  dass  ich  jemals  zu  dieser  Persön- 
lichkeit eine  Beziehung  haben  könne,  da  ich 
nach  eingezogener  Erkundigung  erfuhr,   dass  er 


—    296    — 

weit  ab  in  einer  Mitte  lebe,  die  fern  von  allen 
mir  befreundeten  oder  erreichbaren  Kreisen  war. 
Um  so  grösser  war  mein  Erstaunen,  als  ich 
einige  Zeit  nach  dem  Erscheinen  dieses  Romans 
einen  Brief  mit  dem  Poststempel  »Corfu«  und 
der  Unterschrift  »Alexander  v.  Warsberg«  er- 
hielt, der  also  lautete: 

»Ich  bin  ein  schlechter  Romanleser  und  nun 
gar  deutsche  Romane  nehme  ich  kaum  je  zur 
Hand.  Da  ich  vor  drei  Wochen  in  Wien  war, 
forderte  mich  aber  mein  Buchhändler  auf,  doch 
einen  Blick  in  die  drei  Bände  der  Phädra  zu 
werfen,  weil  er  meinte,  so  wie  ich  ihm  seit 
langen  Zeiten  bekannt  geworden  bin,  ich  würde 
darin  eine  Menge  Ideen  finden,  die  er  seit  Jahren 
von  mir  gepredigt  höre.  Auf  der  See,  zwischen 
Triest  und  Corfu  schwimmend«,  (Herr  v.  Wars- 
berg war  zu  der  Zeit  österreichischer  Konsul  in 
Corfu)  »habe  ich  denn  das  Buch  auch  wirklich 
in  einem  Zuge  verschlungen.  Sie  haben  für  alle 
Lebensfragen  den  edelsten  Idealismus  zur  Grund- 
lage, um  darauf  Ihre  Antwort  -aufzubauen  und 
der  wahrer  ist  als  der  heute  so  vorlaute  Realis- 
mus, weil  doch  nur  die  Oberfläche  der  Dinge 
körperlich  erscheint,  in  ihnen,  in  einem  jeden  aber 
andere  uns  ungreifbare  Kräfte  wirksam  sind.  Ich 
sende  ihre  drei  Bände  eben  einem  gleichgesinnten 
auch  menschenfreundlichen  Freund,  Graf  Rudolf 
Hoyos,  damit  er  sie  mit  meinen  Anstrichen  und 
Randglossen  lese  und  dann  einer  Freundin  weiter 
gebe.  Ihr  Buch  ist  ein  wirklich  merkwürdiges 
und  erstaunlich  ist  mir  die  Persönlichkeit,  die 
dahinter  steht.« 


—     297     — 

Es  folgten  dann  noch  Erkundigungen,  ob  ich 
mit  einem  Herrn  meines  Namens  verwandt  sei, 
der  im  österreichischen  Staatsdienst  Staatssekre- 
tär im  Ministerium  gewesen  sei  und  in  dessen 
Hände  er  seinen  Amtseid  bei  seinem  Eintritt  in 
das  Ministerium  abgelegt  habe  und  anderes.  In 
meiner  Antwort  konnte  ich  ihm  nun  sagen,  dass 
dies  mein  Bruder  gewesen  sei  und  konnte  ihm 
einige  Anknüpfungspunkte  an  mein  persönliches 
Leben  geben,  nachdem  er  durch  das  Buch  einen 
ihm  sympathischen  Eindruck  von  meiner  Geistes- 
richtung erhalten  hatte.  Dieser  Antwort  folgte 
bald  ein  zweiter  Brief  von  ihm  und  es  entspann 
sich  eine  eifrige  Korrespondenz,  die  sich  durch 
zwei  Jahre  fortsetzte  und  uns  ohne  persönliche 
Bekanntschaft  einander  sehr  nahe  brachte.  Seine 
amtliche  Stellung  in  Corfu  sagte  ihm  zum  Teil 
seiner  angegriffenen  Gesundheit  wegen  zu,  aber  ich 
konnte  mir  nach  dem  Eindruck  der  Odysse- 
ischen  Landschaften  wohl  denken,  dass  diese 
klassische  Stätte  ihm  auch  eine  wahre  Seelen- 
heimat sein  musste.  Doch  schrieb  er  mir  in 
einem  der  nächsten  Briefe:  »So  schön  und 
sonnig  ich  in  der  Stadt  wohne,  das  Meer  nur 
fünfzig  Schritt  vor  und  unter  mir,  mit  den  jen- 
seitigen, schneebedeckten  Steilgebirgen  von  Epirus 
in  weitester  Ausdehnung  sichtbar,  so  kann  und 
mag  ich  doch  hier  nichts  Poetisches,  Duftiges 
anrühren.  Eine  Unterbrechung  jagt  die  andere 
und  indem  ich  schreibe,  muss  ich  fortwährend 
in  amtlichen  Dingen  Bescheid  geben.  So  bin 
ich   ein    Wollüstling   der   Einsamkeit  geworden. 


—     298     — 

Gute  Gesellschaft  finde  ich  beinah  nur  noch  in 
Büchern.  Bei  jeder  anderen  Berührung  stört 
mich  die  Mangelhaftigkeit  der  Form,  des  Aus- 
drucks. Beim  Bauer  noch  am  wenigsten,  denn 
für  das,  was  er  zu  sagen  hat,  stimmt  das  Kleid 
seiner  Rede.  Die  sogenannten  Gebildeten  aber 
heutzutage  kommen  mir  gerade  so  vor  wie 
die  Sänger,  denen  der  Wortschwall  der  modernen 
Schule  die  Stimme  ruiniert  hat.  Man  muss  zu 
Goethes  Zeit  besser  gesprochen  haben,  sowie 
man  schöner  schrieb.«  Er  erzählte  dann,  dass 
er  sich  die  »Memoiren  einer  Idealistin«  gleich 
nach  der  Lesung  der  Phädra  habe  kommen 
lassen,  sie  aber  der  ewigen  amtlichen  Störungen 
wegen  noch  nicht  gelesen  habe  und  sie  für  seinen 
nächsten  Landaufenthalt  aufbewahre,  »denn«, 
fuhr  er  fort,  »soviel  habe  ich  daraus  schon  ge- 
nippt, um  zu  merken,  dass  es  ein  unter  Oliven 
und  Cypressen  mit  dem  Fembhck  auf  das  Meer 
und  dem  Klange  der  Brandung  im  Ohr  zu 
lesendes  Buch  ist  und  da  ich  das  mindeste,  was 
der  Leser  dem  Autor  schuldet,  darin  erkenne, 
dass  er  ihm  ähnliche  Stimmungen  entgegen- 
bringe, wie  sie  ihm  der  Verfasser  geben  will 
und  sie  bei  seiner  Arbeit  empfand,  so  übe  ich 
auch  immer  die  Gerechtigkeit,  meine  Lektüre  den 
Situationen  und  Örtlichkeiten  möglichst  anzu- 
passen, ebenso  meine  eigenen  Arbeiten,  welche  ich 
auch  danach  einrichte,  gleichstimmig  zu  inspirieren. 
Sie  werden  mir  dienen,  wie  ich  ihnen.  Die 
Jahreszeit  ist  schon  so  entwickelt,  dass  ich  an- 
nehmen  darf,   es   wird  bald  geschehen   können. 


—    299    — 

dass  ich  mein  Landhaus  bei  Gasturi  beziehe, 
wo  ich  zufälligerweise  —  bis  auf  den  Luxus 
den  Sie  hineingedichtet  haben  —  wohne,  als  sei 
ich  Ihr  Originalheld  der  Phädra.  Ein  Freund 
dem  ich  Ihren  Roman  mitgeteilt  hatte,  war 
als  ich  ihn  in  die  Villa  führte,  auch  von  dem 
Zufall  betroffen,  wie  Sie,  gleich  wahren  Dichtern, 
was  Sie  mit  visionärem  Auge  zu  schauen  be- 
gehrten, auch  wirklich  gesehen  haben.« 

Nach  kurzer  Zeit  kam  wieder  ein  Brief,  aus 
seinem  Landhaus  datiert,  wo  er  schrieb:  »Ich 
stehe  schon  mitten  in  dem  Roman  einer  Idealistin, 
oder  eigentlich  ich  bin  schon  ein  gut  Stück  über 
die  Hälfte  hinaus,  denn  ich  beendigte  heute  Nacht 
den  zweiten  Band.  Ich  habe  mich  nicht  ver- 
schrieben,  indem  ich  eben  ,Roman'  statt  Me- 
moiren sagte.  So  in  diesem  Eindruck  lese  ich 
das  Buch  in  einer  Spannung,  die  mich  oft  stunden- 
lang, obgleich  ich  zu  anderen  Dingen  übergehen 
müsste,  nicht  -davon  kommen  lässt.  Liegt  das 
am  Erlebten  oder  an  der  Art  wie  dieses  erzählt 
wird?  Vielleicht  an  beiden  und  noch  mehr  aber 
an  der  Art  wie  das  Erlebte  erlebt  ward  und 
weil  alle  Gedanken  des  Buchs  den  Eindruck 
machen  von  Gelegenheitsgedanken  im  Goetheschen 
Sinn.  Nie  hat  man  den  Eindruck,  dass  etwas 
aus  einem  anderen  Grund  gesagt  worden  ist, 
als  weil  es  die  eigene  augenblickliche  Erfahrung 
und  zwar  ohne  viel  Nachdenken,  ohne  Reflexion, 
so  aufspriessen  Hess,  nicht  anders  als  die  Feld- 
blumen spriessen,  niemals  so  wie  in  Gewächs- 
häusern gezüchtet  wird.     Das  ist  überhaupt  ein 


—    3CO    — 

Vorteil  der  Frau,  wenn  sie  gescheit  ist  und 
schriftstellert,  dass  alles  an  ihr  origineller,  un- 
mittelbarer, eigentümlicher  erscheint.  Sie  hat 
auch  vielmehr  le  courage  de  son  opinion,  der  in 
Wahrheit  den  Männern  beinah  gänzlich  fehlt.  So 
war  die  George  Sand,  so  ist  die  Quida  in  ihren 
besten  Sachen,  so  finde  ich  nun  Sie.  Philo- 
sophisch freilich  erscheinen  Sie  darum  nicht. 
Auch  mit  Ihrer  Politik  wären  keine  Staaten  zu 
regieren.  Besser  begegnen  wir  uns  auf  dem  so- 
zialen Gebiet.  Was  Sie  dort  bemerken,  sah,  be- 
dauere und  tadele  auch  ich.  Die  Differenz  be- 
steht dort  nur  zwischen  uns  betreffs  der  Heil- 
mittel: Ich  sehe  diese,  bezüglich  der  Menschheit, 
vielleicht  cynischer  an  als  irgend  einer.  Alle 
Irrtümer  in  der  Behandlung  dieser  Fragen  be- 
ruhen darauf,  dass  sich  der  Mensch  im  einzelnen 
und  noch  mehr  die  Menschheit  als  solche  im 
ganzen  einen  sehr  überschätzten  Wert  beilegen. 
Wir  sind  nur  knapp  etwas  höher  im  Organismus 
des  Ganzen  zu  achten,  als  das  Tier  und  die 
Pflanze.  Man  sehe  nur,  wie  viel  in  der  Welt 
ganz  ohne  unser  Zutun  und  selbst  ganz  ohne 
unser  Verständnis,  nicht  weniger  als  über  dem 
Tier  und  der  Pflanze  hinaus,  geschieht,  ja,  wie 
wir  ganz  wie  diese  Elemente  des  kosmischen 
Werdens  nicht  einmal  uns  selbst  beherrschen 
können,  nichts,  recht  eigentlich  gar  nichts  von 
uns  abwenden  können.  Es  ist  nicht  möglich, 
den  Menschen  als  den  Abschluss  des  Daseienden 
zu  fassen.  Es  müssen  Kräfte  über  uns  sein, 
deren  Einfluss  wir  empfinden  ohne  deren  Wirken 


—    30I     — 

zu  sehen,  wie  wir  in  jedem  Augenblick  Tausende 
von  Wesen  vernichten,  die  von  uns  keine  andere 
Vorstellung  haben  können,  als  wir  vom  soge- 
nannten Fatum.  Ich  kann  darum  für  alle  sozialen 
und  politischen  Fragen  keine  andere  Heilmethode 
anerkennen  als  diejenige,  welche  im  stände  ist 
für  den  Augenblick  rein  praktisch  zu  wirken 
und  konnte  daher,  trotz  meinen  dichterischen 
Anschauungen,  noch  jedesmal  mit  jeder  Tages- 
frage des  öffentlichen  Lebens  fertig  werden.  Mit 
sehr  starkem  Willen  begabt,  würde  ich  mich  nie 
furchten  als  ausübender  Staatsmann  den  Stier 
bei  den  Hörnern  zu  fassen.  Daher  haben  für 
mich  in  der  Geschichte  auch  sehr  viele  ener- 
gische Staatsmänner  recht  gehabt,  z.  B.  alle  die 
Tyrannen  der  italienischen  Renaissance.  Ich 
respektiere  sie,  denn  sie  haben  etwas  geleistet. 
Und  nur  darauf  kommt  es  an.  Deswegen  sind 
wir  hier.  Das  ist  unsere  eigne  und  der  Mensch- 
heit Veredlung  im  allgemeinen.  Mehr  ist  der 
Mensch  nicht  wert.  Tier  und  Pflanze  fallen 
demselben  Zweckbegriff  zum  Opfer.  Freiheit 
freilich  gibt  es  dab^i  keine,  gab  es  auch  nie, 
nur  im  Zustand  der  ersten  Wildheit.  Bildung, 
Erziehung,  Civilisation  und  wie  die  vergoldenden 
Worte  alle  heissen,  sind  Bindung,  Einschränkung. 
Sehen  Sie  die  ganze  Weltgeschichte  an ;  das  mag 
traurig  sein,  aber  es  ist  so,  soNvie  es  auch  immer 
schon  so  war. 

Zu  all  dem  haben  sie  mich  angeregt.  Ich 
denke  nun  viele  Tage  so  fort  auf  meinen  Spazier- 
gängen, nachdem  ich,  unter  Olivenbäumen  liegend. 


—     302      — 

Sie  gelesen.  Man  könnte  aus  Ihrem  Buch  einen 
Auszug  der  herrlichsten  Gedanken  > Sinnsprüche« 
machen.  Ein  Liebling  von ~  mir  ist  im  i8.  Ka- 
pitel des  I.  Bandes,  die  Bemerkung  über  die 
moralische  Heilkraft  des  Meers.  Herrlich,  was 
Sie  im  nächsten  Kapitel  sagen,  dass  in  jeder 
weiblichen  Liebe  ein  Zug  Mutterliebe  mit  ent- 
halten sei.  Das  habe  ich  geahnt,  sie  haben  es 
erfunden.  Die  ganze  Seite  des  2.  Bandes,  da  Sie 
bei  Broadstairs  am  Meer  sassen,  der  Mond  auf- 
ging und  Sie  divinatorisch  die  erste  Form  der 
Liebe  in  der  Materie  gewahrten  und  errieten, 
habe  ich  an-  und  unterstrichen.  Das  sind  Dithy- 
ramben eines  Dichters,  wie  nur  Dante  einer  ge- 
wesen. Dann  ihre  Erziehungstheorie,  dass  es 
gelte  die  Originalität  der  Naturen  zu  erhalten, 
habe  ich  ebenso  angestrichen.  Ich  gehe  noch 
weiter :  als  moralischen  Mörder  möchte  ich  den 
Lehrer  verantwortlich  erklären  und  unter  einen 
Strafkodex  stellen,  welcher  diese  Originalität 
umzubringen  wusste.  Denn  damit  schädigt  man 
die  Produktionsfähigkeit  für  das  allgemeine  Beste. 
Das  ist  ein  grösseres  Übel  für  die  Menschheit 
als  manchmal  einen  umzubringen,  der  ihr  im 
ganzen  nichts  Gutes  getan  hat.  Ferner  S.  143, 
wo  Sie  wiederum  in  der  Meereseinsamkeit  das 
Mysterium  des  Lebens  fanden,  habe  ich  auch 
so  hundertmal  zu  meinem  Glück  und  Wohlergehen 
erfahren. 

Ihr  Stil  ist  ganz  absonderlich.  Sie  scheinen 
sich  gehen  zu  lassen  und  doch  liest  man  sich 
dabei    in   einen    fortwährenden    Claude    Lorrain 


—     303     — 

hinein.  Das  mag  der  Idealismus  sein,  den  sie 
selbst  bekennen  als  die  Grundlage  Ihres  Wesens, 
und  welcher  den  Gemälden  jenes  Meisters  auch 
als  allgewaltig  innewohnt.  So  sehr  habe  ich 
immer  den  Eindruck  Claude  zu  sehen,  wenn  ich 
Sie  lese,  dass  ich,  ein  Gläubiger  der  Seelen- 
wanderung, ganz  ernstlich  frage:  ist  da  nicht 
jener  Keim  wieder  aufgegangen?« 

Wenn  mir  schon  diese  Briefe,  sowohl  was 
Lob  als  Tadel  betraf,  höchst  wertvoll  und  er- 
freulich waren,  so  wurden  sie  es  noch  mehr  durch 
die  darin  ausgesprochenen  allgemeinen  Ansichten , 
mit  denen  ich  nicht  immer  übereinstimmte,  die 
mir  aber  nach  und  nach  das  Bild  der  Persön- 
lichkeit des  unbekannten  Freundes  vervollstän- 
digten und  zu  einer  grossen  anziehenden  Be- 
deutung erhoben.  Am  Ende  des  ersten  Jahres 
unserer  Korrespondenz  erhielt  ich  wieder  einen 
Brief  aus  Corfu,  nachdem  er  im  Sommer  auf  dem 
Festland  in  Osterreich  gewesen  war  und  von 
da  einen  Besuch  in  Weimar  gemacht  hatte,  das 
er  noch  nicht  kannte  »natürlich  um  Goethes 
willen«  schrieb  er,  »ich  lese  jetzt  seine  Werke 
mit  ganz  anderem  Verständnis,  seitdem  ich 
deren  Hintergrund,  die  Umgebung,  habe  kennen 
lernen.  Für  die  Wahlverwandtschaften  z.  B.  ist 
diese  Kenntnis  des  Schauplatzes,  der  Gärten, 
welche  darin  offenbar  Muster  gewesen  sind,  ganz 
unentbehrlich.  Es  fallt  mir  dabei  auf,  wie  man 
einen  Schriftsteller,  je  vollendeter  er  schrieb,  mit 
den  zugenommenen  Jahren  noch  ganz  anders  er- 
kennt,   wie    man    ihn    doch   im    frischen    regen 


—     304    — 

Jünglingsalter  erfasst  zu  haben  glaubte.  Ich 
meinte  stets  den  ganzen  Goethe  umfasst  zu  haben 
und  sehe  jetzt,  da  ich  z.  B.  seinen  Winkelmann 
wieder  lese,  dass  ich  noch  nichts  davon  erfasst 
habe,  dass  er  ein  Übermensch  ist  im  Vergleich 
zu  der  Vorstellung,  die  ich  von  damals  her  hatte. 
Das  Durchgeistigte  des  Stils,  wie  jedes  Wort 
nicht  bloss  ein  gedachtes,  vielmehr  ein  durchaus 
gefühltes  ist  und  er  sich  wohl  auch  nur  dadurch 
leiten  liess,  sowohl  im  künstlerischen,  wie  im  ver- 
ständigen Sinn,  das  bemerke  ich  erst  jetzt  ganz 
in  meinen  alten  Tagen.  Ich  glaube,  dass  es 
nichts  Stilbildenderes  gibt  als  Goethesche  Prosa 
zu  buchstabieren.«  Dann  fuhr  er  fort:  »ich  lebe 
jetzt  ganz  einsam,  die  Abende  meist  allein  zu 
Haus,  bis  2,  3  Uhr  nachts  lesend,  mit  Vorliebe 
alte  Bücher.  Ich  begreife  so  viele  meiner  Freunde 
nicht,  die  sich  die  Zimmer  voll  mit  reizendem 
alten  Gerumpel  stellen,  dazu  aber  französische 
Schandromane  lesen,  die  nur  schlecht  wieder- 
holen, was  die  schmutzige  Gegenwart  uns  schon 
unausweichlich  gegenüberstellt.  Das  eine  oder 
andere  ist  unwahr  und  affektiert:  diese  antike 
Sammelwut  oder  das  Lesen  dieser  Modernen. 
Ich  will  durch  meine  Bücher,  wie  durch  meine 
Zimmer,  in  eine  andere  poetische,  märchenhafte 
Welt  versetzt  werden.  So  schwelgte  ich  z.  B. 
diese  Nacht  in  Washington  Irvings  tales  of  a 
traveller,  besonders  in  den  goldenen  Träumen 
des  Wolferl  Webber.  Sie  haben  auch  Dir  ganzes 
Leben  so  goldig  geträumt  und  ich  preise  Sie 
darum    glücklich.      Sie    hätten    uns   allen   nicht 


—    305     — 

den  Wert,  wenn  Sie  statt  dessen  nach  heutigem 
Pariser  Muster,  recht  wohl  berechnet  praktisch 
das  Leben  und  Ihre  Werke  mit  der  Elle  zu- 
gemessen, mit  der  Schere  beschnitten   hätten.« 

So  erschien  mir  immer  der  gleiche  Idealismus 
in  ihm,  immer  die  Höhe  der  ästhetischen  An- 
forderungen an  die  Kunst  und  an  das  Leben 
und  die  Überzeugung,  dass  in  beiden  das  Schöne, 
Gute,  Natürliche  der  wahre  Realismus  ist,  wie 
er  dies  in  einem  seiner  Bücher  sehr  schön  aus- 
drückt. Indem  er  von  der  entzückenden  Schön- 
heit der  jonischen  Ufer  von  Kleinasien  und  der 
Herrlichkeit  des  Meeres  bei  Knidos  redet,  sagt 
er:  »Die  Venus  könnte  jeden  Augenblick  daraus 
wieder  auferstehen  ohne  unnatürlicher  zu  er- 
scheinen als  die  Delphine,  die  aufspringend  und 
sich  überschlagend  ihr  Leben  geniessen.  So 
durchaus  aus  der  Natur  geboren,  wie  jedes 
Denken  und  Empfinden  der  Alten,  war  auch 
der  antike  Götterglaube,  daher  Homer  sagen 
durfte:  denn  leicht  zu  erkennen  sind  Götter". 
Die  Welt  ist  nie  natürlicher  gewesen  als  damals, 
echt  realistisch,  im  guten  edlen  —  ich  möchte 
sagen  um  nicht  missverstanden  zu  werden,  weil 
heute  dieses  Wort  so  korrumpiert  wird  —  im 
idealen  Sinn«. 

Von  seinen  äusseren  Verhältnissen  erfuhr 
ich  nun  nach  und  nach  so  viel,  dass  er  aus 
einem  sehr  alten  lothringischen  Geschlecht 
stamme.  Einer  seiner  Ahnen  hatte  sogar  den 
kurfürstlichen  Stuhl  von  Trier  inne  gehabt  und 
durch   mehrere  Jahrhunderte   werden   die  Wars- 

Meysenbugi  lY.  20 


—    3o6    — 

berg  in  Urkunden  als  freie  Reichsritter  des  rhein- 
fränkischen Gaues  oder  als  Mitglieder  des  Deutsch- 
herrn- und  Johanniter-Ordens  genannt.  Ihr  Stamm- 
baum war  untadelig  und  sie  waren  in  den 
stolzesten  Kapiteln  stiftsfähig,  trugen  auch  Lehen 
von  Trier  und  empfingen  dort  am  Hofe  Ämter 
und  Würden  aus  der  Hand  des  Kurfürsten.  Auch 
ein  Alexander  von  Warsberg,  der  von  1767  bis 
18 14  lebte,  war  der  letzte  Kämmerer  des  Erz- 
stifts, sah  den  Untergang  des  Reichs  und  das 
Ende  der  Selbstherrlichkeit  des  eigenen,  sowie 
vieler  anderer  deutscher  Geschlechter.  Hätte 
man  dem  Atavismus  nachspüren  wollen,  so 
hätten  sich  in  meines  Freundes  Charakter  wohl 
nicht  undeutliche  Spuren  mit  jenen  Vorfahren 
finden  lassen,  zunächst  das  stolze  Unabhängig- 
keitsgefühl  reichstreuer  kleiner  Dynasten  (daher 
seine  Anhänglichkeit  an  Oesterreich,  als  der 
geschichtlich  berufenen  ersten  Macht  Deutsch- 
lands und  seine  Abneigung  gegen  Preussen),  sein 
Widerwillen  gegen  den  Protestantismus  und 
seine  Vorliebe  für  antike  Kunst,  deren  Überreste 
in  Trier  so  bedeutend  sind. 

Der  Vater  Alexanders  hatte  von  seinen  Vor- 
fahren ein  ansehnliches  Vermögen  ererbt  und 
seine  drei  Söhne  konnten  sich  in  der  ersten 
Jugend  als  Erben  eines  reichen  Besitzes  ansehen. 
Unglückliche  Spekulationen  machten  demselben 
ein  Ende,  und  als  die  Familie  nach  Graz  über- 
siedelte, wo  Alexander  sein  erstes  Universitäts- 
jahr verbrachte,  wurde  ihm  die  herbe  Ent- 
täuschung   zuteil,   .  sich     in     einer     völlig     ver- 


—     307     — 

änderten  Lebenslage  zu  finden.  Er  ertrug  dies 
Missgeschick  mit  dem  heiteren  Sinn  der  Jugend 
und  ging  dann  zur  Fortsetzung  seiner  Studien 
nach  München,  wo  ihm  in  Kunst,  Wissenschaft 
und  Literatur  die  Quellen  reicher  Bildung  und 
durch  den  Umgang  mit  hervorragenden  Menschen, 
die  förderndsten  Einflüsse  zuteil  wurden.  So 
hatte  er  unter  anderem  viel  im  Hause  des 
Grafen  Pocci,  des  geistreichen  Romantikers, 
verkehrt,  wo  bedeutende  Menschen  aus-  und 
eingingen  und  ihn  mit  Auszeichnung  behandelten. 
Hier  hatte  er  öfter  die  königlichen  Prinzen,  da- 
mals noch  Knaben,  gesehen,  welche  mit  den 
Söhnen  des  Hauses  zu  spielen  kamen.  Er  wider- 
sprach auf  das  entschiedenste  dem  Gerücht,  dass 
die  Erziehung  sehr  viele  Schuld  gehabt  habe 
an  den  nachherigen  traurigen  Geisteszuständen 
des  edlen,  hoch-  und  ideal-begabten  Königs 
Ludwig  II.  und  seines  Bruders  und  berief  sich 
dabei  auf  die  vorzüglichen  Männer,  welche  daran 
beteiligt  gewesen  waren  und  welche  er  in 
jener  Zeit  kennen  gelernt  hatte. 

Wie  träumerisch  innerlich  sein  Gemütsleben 
damals  gewesen  sein  muss,  erhellt  aus  einem 
kleinen  Vorfall,  den  er  mir  später,  nach  persön- 
licher Bekanntschaft,  einmal  erzählte.  Seine 
Mutter  war  mit  ihm  nach  München  gezogen, 
als  er  sich  dorthin  zur  Universität  begab,  kehrte 
aber  nach  einiger  Zeit  in  den  Wohnort  der 
Familie  Graz  zurück.  Alexander  war  danach 
eines  Abends  im  Theater  und  ganz  verloren  in 
die  poesieerfüllte  Gedankenwelt,  die  dort  in  ihm 


ao* 


—     3o8     — 

angeregt  war,  schritt  er,  ohne  sich  dessen  be- 
wusst  zu  sein,  der  Strasse  zu,  wo  die  Mutter 
gewohnt  hatte,  um,  wie  gewöhnlich  den  Tee- 
abend bei  ihr  zuzubringen,  trat  in  das  Haus  ein, 
erstieg  die  Treppe,  zog  die  Klingel  und  wurde 
seines  Irrtums  erst  inne,  als  eine  ihm  fremde 
Magd  die  Tür  öffnete  und  fragte,  was  er 
wünsche. 

Das  Verhältnis  zu  seiner  Mutter  muss  ein 
besonders  inniges  gewesen  sein.  Sie  liebte 
diesen  Sohn  über  alles  und  sein  feines  sinniges 
Wesen,  sowie  seine  ungewöhnlichen  Geistesgaben 
und  sein  Eifer  bei  ernsten  Studien,  waren  die 
Freude  seiner  Eltern.  Nur  wegen  seiner  von 
klein  auf  zarten  Gesundheit  hatte  die  Mutter 
schwere  Sorgen,  wozu  beitrug,  dass  das  wissens- 
durstige Gemüt  des  Knaben  ihn  nur  zu  oft  fort- 
trieb von  den  Spielen  und  dem  leeren  Zeitver- 
treib anderer  Kinder,  in  einen  stillen  Winkel, 
wo  er  Stunden  hindurch,  mit  Lesen  und  ernsten 
Arbeiten  beschäftigt,  allein  blieb. 

In  jener  Studienzeit  in  München  ging  ihm 
dann  in  ungewöhnlicher  Weise  sein  Lebenspro- 
gramm auf  Eines  Tages  sah  er  in  der  neuen 
Pinakothek  ein  Gemälde  von  Peter  Hess,  das 
einen  Trupp  griechischer  Landleute  darstellt,  die 
am  Strand  des  Meeres  dahinziehen.  »Da,  wie 
es  zuweilen  zu  gehen  pflegt,«  sagte  er,  »dass 
dem  Menschen  durch  irgend  ein  zufälliges  Er- 
eignis seine  eigentliche  Bestimmung  und  sein 
Schicksal  in  einer  Art  von  Hellsehen,  wie  in 
einer   plötzlichen    Beleuchtung,    klar  werden,  so 


—     309     — 

fühlte  ich,  indem  ich  dies  Bild  betrachtete,  dass 
ich  das  auch  einmal  erleben  müsse  und  all  mein 
Wünschen  und  Wollen  richtete  sich  darauf, 
Griechenland  und  den  Orient  zu  sehen.«  Und 
als  er  es  erreicht  hatte  und  in  seinem  ersten 
Buch:  »Ein  Sommer  im  Orient«  jenes  prophetisch 
erleuchteten  Moments  gedachte,  schrieb  er:  »Es 
ist  nicht  das  erste  Mal,  dass  mir  scheinbar  Un- 
mögliches, welches  ich  übermütig  begehrt  hatte, 
gewährt  worden  ist;  dem  Wunsche,  wenn  er 
nur  fest  und  unablässig  bleibt,  wird  selten  die 
Erfüllung  fehlen.  Eine  eigentümliche  Kraft, 
etwas  wie  ein  elektrisches  Fluidum  ist  in  ihm 
wirksam,  das  instinktiv  unsere  ganze  Tätigkeit 
nach  dem  einen  Ziele  richtet.  Wird  dieses  dann, 
so  wie  heute«  (als  er  nun  wirklich  im  Orient 
war)  »erreicht,  dann  scheint  es  mir  Pflicht  eines 
schuldigen  Danks  der  glücklichen  Stunde  und 
der  Veranlassung  zu  gedenken,  die  zuerst  die 
Sehnsucht  und  das  Verlangen  geboren  hat.« 

Nach  beendigter  Universitätszeit  und  glänzend 
bestandenem  Examen  trat  er  in  den  Staatsdienst, 
als  Praktikant  bei  der  Grazer  Statthalterei.  Aber 
die  engen,  wenig  anregenden  Verhältnisse  der 
Provinzialstadt  übten  einen  niederdrückenden 
Einfluss  auf  das  Gemüt  des  jungen  Mannes  und 
vergebens  suchte  die  liebende  Mutter  einen 
Ausweg  für  ihn  aus  dieser  Lage  und  einen 
Schauplatz,  wo  seine  reiche  Begabung  sich  frei 
nach  allen  Seiten  hin  entwickeln  könnte.  Das 
Geschick  kam  ihm  endlich  zu  Hülfe  durch  die 
Bekanntschaft  mit  der  Familie  des  Freiherrn  von 


—     3IO     — 

Pro kesch -Osten,  der  als  österreichischer  Bot- 
schafter in  Konstantinopel  weilte,  dessen  Familie 
aber  in  Graz  zurückgeblieben  war.  Frau 
von  Prokesch,  eine  in  jeder  Beziehung  aus- 
gezeichnete Frau,  empfing  den  jungen  Warsberg 
in  ihrem  gastlichen  Hause,  erkannte  seine  edle, 
reiche  Natur,  betrachtete  ihn  bald  wie  einen 
Sohn  und  führte  ihn  mit  sich  nach  Konstanti- 
nopel, als  sie  ging,  ihren  Mann  zu  besuchen. 
Hier  entspann  sich  nun  das  innige  Freundschafts- 
band zwischen  Prokesch  und  dem  jüngeren  Mann, 
das  von  Seiten  des  letzteren  zu  einem  wahren, 
das  Grab  überdauernden  Kultus  der  Verehrung 
und  Liebe  wurde.  Die  Spuren  des  gewaltigen 
Einflusses,  welchen  der  ältere  auf  den  jüngeren 
Freund  ausübte,  finden  sich  überall  in  dessen 
Schriften,  in  den  Äusserungen  über  Politik,  Ge- 
schichte, Gesellschaft  und  Kunst.  Was  er  von 
Prokesch  sagte,  lässt  sich  auch  auf  ihn  an- 
wenden: »Es  ist  merkwürdig,  wie  realistisch  er, 
der  Poet,  den  man  so  oft  auch  einen  Phantasten 
nannte,  in  den  politischen  Dingen  sich  stets  in 
der  Gegenwart  hielt.  Er  mahnt  auch  dadurch 
an  die  Menschen  der  antiken  Zeit.  Entfernte 
und  nebelhafte  Möglichkeiten  hatten  keinen  Reiz 
für  ihn.  Namentlich  sein  Charakterbild  als 
Staatsmann  ist  dadurch  markiert.  Das  kam  da- 
her, weil  er,  durchaus  moralisch,  als  Politiker 
stets  nur  an  die  Interessen  dachte,  die  er  zu 
vertreten  hatte,  an  die  des  Volkswohls  und  nicht 
an  das  Mehr  oder  Weniger  von  Belohnung  für 
seine  Eitelkeit.« 


—    311     — 

Ebenso  Poet  wie  Prokesch,  Idealist  in  Poesie 
und  Kunst,  lagen  Warsberg  auch  alle  politischen 
Träume  fern,  oder  vielleicht  entfernte  er  sie 
prinzipiell  aus  seinem  Denken,  weil  er  weder 
demokratisch  noch  konstitutionell  gesinnt  war, 
sondern  autokratisch-monarchisch.  So  sagte  er 
mir  einmal,  indem  er  von  seiner  politischen 
Tätigkeit  in  Griechenland  sprach  und  von  einer 
Periode  des  vorherrschend  demokratischen  Ele- 
ments daselbst,  er  habe  dem  Könige  von 
Griechenland  gesagt:  >^die  Politik  der  Könige 
ist  warten.^  Das  habe  sich  in  dem  Fall  auch 
bewahrheitet,  da  kurze  Zeit  darauf  das  demo- 
kratische Ministerium  gestürzt  worden  sei.  Ich 
war  nicht  seiner  Meinung  und  meinte  vielmehr, 
die  Politik  der  Könige  sei,  voraussehen  und  vor- 
beugen. Auf  dem  politischen  Gebiet  waren  wir 
aber  überhaupt  selten  derselben  Ansicht.  So 
hatte  ihn  z.  B.  das  Jahr  1866  in  »leidenschaft- 
liche Verzweiflung«  gebracht  und  es  konnte  ihn 
selbst  nicht  trösten,  als  Prokesch  ihm  aus  Kon- 
stantinopel, nach  dem  Ende  des  preussisch- 
österreichischen  Kriegs,  schrieb:  »Dass  wir  aus 
dem  deutschen  Bunde  sind,  ist  die  einzige  Licht- 
seite in  unserem  Unglück ;  denken  Sie  recht 
nach,  und  Sie  werden  es  auch  finden.  Ausser- 
halb können  wir  in  Deutschland  gelten,  inner- 
halb desselben,  Preussen  oder  Minoritäten  mit 
engen  Gesichtspunkten  gegen  uns,  nichts.  Möge 
der  Kultus  der  goldenen  Kälber,  der  blossen 
Formen  und  des  Scheins  aufhören  und  dafür 
Intelligenz  walten,  dann  kann  Osterreich,  gerade. 


—     312     — 

weil  es  nicht  im  Bund  ist,  etwas  werden.  Ge- 
schieht dieser  Umschwung  nicht,  dann  freilich 
wird  es  in  keiner  Lage  etwas  sein.« 

Wie  aber  nicht  allein  durch  persönliche  Ein- 
flüsse, sondern  durch  die  ersten  grösseren  Reisen 
ostwärts  in  die  Länder  seiner  Träume,  die  er 
nun  wirklich  besuchen  konnte,  sich  ihm  der 
Blick  weitete  und  die  Weltbildung  sich  vor- 
bereitete, welche  seine  späteren  Reisen  vervoll- 
ständigen halfen,  und  wie  sich  alle  Schätze  von 
Poesie  und  Naturgefühl,  deren  Keime  in  seiner 
Seele  lagen,  zu  voller  Blüte  entwickelten,  zeigt 
uns  schon  seine  erste  grössere  literarische  Arbeit, 
die  seine  erste  Reise  nach  Konstantinopel  im 
Jahr  1864  beschreibt.  Wenn  uns  in  den 
»Odysseischen  und  Homerischen  Landschaften« 
der  gereifte  Mann  entgegentritt,  in  dessen  Ge- 
müt das  Leben  schon  manchen  tiefen  Schatten 
geworfen  und  dessen  Begeisterung  selbst  eine 
Beimischung  wehmütiger  Resignation  hat,  so 
weht  uns  aus  diesem  reizenden  Buch  eine 
Jugendlichkeit  der  Auffassung  und  des  Empfindens 
an,  die  wahrhaft  bezaubert,  da  sie  schon  mit 
jener  künstlerischen  Lebhaftigkeit  der  Darstellung 
verbunden  ist,  die  uns  glauben  macht,  dass  wir 
mit  ihm  sehen.  Er  war  damals  28  Jahr  alt, 
aber  es  sprüht  aus  diesem  Buch  noch  die  volle 
Frische  einer  Jünglingsseele,  neben  einerstaunens- 
werten Belesenheit  in  den  alten  Schriftstellern, 
aus  denen  ihm  an  Ort  und  Stelle  die  geist- 
vollste Begründung  historischer  Tatsachen  gegen- 
über   der   hochmütigen   Verweisung  solcher  ins 


—    313     — 

Fabelreich  von  selten  deutscher  Katheder- 
Professoren  hervorging.  So  sagt  er  u.  a.  in 
diesem  Buch: 

»Kein  Blick  auf  eine  andere  Stätte  der  Welt 
hat  mich  mehr  bewegt,  als  der  auf  dieses  Feld 
von  Troja.  Es  ist  nicht  Gefallen  an  der  Land- 
schaft, denn  die  Luft  ist  kalt  und  farblos;  es 
ist  auch  nicht  jenes  unbedachte  Entzücken,  das 
sich  in  Selbstvergessenheit  verliert,  denn  mir 
bleiben  hundert  betrachtungs volle  Gedanken,  es 
ist  vielmehr  etwas  wie  Staunen  und  Grauen, 
dass  die  Fabeln  wahr  gewesen  und  dass  Meer 
und  Land  die  Schicksale  der  Helden  überdauert 
haben.  Welche  Taten  spielten  auf  diesem 
Boden!  So  ungeheuer  und  herrlich,  dass  die 
spätere  Anwesenheit  eines  Xerxes,  Alexander 
und  Cäsar,  die  hier  alle  der  älteren  Erinnerung 
gehuldigt,  hier  gebetet  und  geopfert  haben,  ver- 
gessen werden  kann.  Es  war  schon  die  orien- 
talische Frage,  die  auf  diesem  Flecke  Erde  Europa 
und  Asien  zum  ersten  Male  einander  gegenüber 
stellte,  und  welche  dann  jene  späteren  Eroberer 
fortgesetzt  haben.« 

Schon  bei  dieser  ersten  Reise  entwickelte 
sich  die  begeisterte  Liebe  zum  Orient,  die  Wars- 
berg wie  auch  Prokesch  nie  mehr  losliess  und 
beide  dem  Occident  und  der  westlichen  Civili- 
sation  etwas  entfremdete.  Mehr  als  einmal 
drückte  Warsberg  den  geheimen  Grimm  gegen 
den  Occident  in  scharfenWorten  aus,  wenn  ihm 
die  Zauber  des  Orients  mit  ihrer  Magie  umgaben 
und  ihm  den  Kontrast  zwischen  dem  Mutterland 


—    314    — 

alter  Kultur  und  der  modernen  Civilisation  be- 
sonders anschaulich  machten.  So  sagt  er  z.  B. 
einmal  auf  seiner  lykischen  Reise  im  Theater 
von  Kanthos:  »Das  Grossartigste  unserer  Ge- 
birge ist  hier  dem  Schönsten  des  Südens  ver- 
mählt. Leicht  begreift  man  auf  so  alten  ansehn- 
lichen Ruinen  stehend  und  aus  denselben  solche 
Prachtbilder  schauend,  dass  der  Mensch  hier  ein- 
mal sich  Wohlbefinden,  sich  festsetzen,  reich  und 
übermächtig  werden  konnte.  Aber  was  man 
nicht  begreift,  ist  dass  die  Menschheit  solche 
Glücksgüter  heute  verschwendet,  unbebaut  und 
unbewohnt  lässt,  lieber  in  Hungerländern  modert, 
ein  Tier  auf  dürrer  Haide,  das  immer  spekuliert.« 
Durch  die  Anschauung  der  Realität  in  Natur 
und  Kunst,  durch  das  Betreten  der  geschicht- 
lichen Stätten  früherer  Kultur  fielen  dem  wohl- 
vorbereiteten Geist  des  jungen  Mannes  helle  Streif- 
lichter auf  sein  eingesammeltes,  theoretisches 
Wissen  und  am  lebendigen  Born  der  Erkenntnis 
trinkend,  mochte  er  es  wohl  bedauern,  drei 
Jugendjahre  hindurch  das  leere  Stroh  der  Ka- 
theder-Philosophen zu  Häckerling  verarbeitet  zu 
haben,  wie  er  sich  einmal  ausdrückte.  Seine 
ganze  Entwicklung  führte  ihn  zu  antiken  An- 
schauungen in  Philosophie  und  Kunst,  so  dass 
ich  ihm  schrieb,  er  komme  mir  vor  wie  ein  an- 
tiker Grieche  und  er  sei  gewiss  in  einem  früheren 
Leben  schon  einmal  dort  gewesen.  Darauf  ant- 
wortete er  mir:  »Es  hat  mich  gefreut,  dass  Sie 
mich  nach  Griechenland  gehörig  befinden.  Ich 
habe  dasselbe  Gefühl,    dass   da  eigentlich  meine 


—    315     — 

Heimat  ist.  Und  oft  erscheint  mir  die  Gregen- 
wart  nur  wie  ein  Erinnern,  ein  Wiedererkennen 
des  schon  Gekannten.«  Dann  schrieb  er  ein 
andermal,  sich  entschuldigend,  dass  er  lange  nicht 
geschrieben:  »Ich  bin  vor  allem  ein  Pflicht- 
mensch und  auch  darin  ein  antiker  Grieche,  dass 
ich  zuerst  die  vom  Staate  übernommenen  Pflichten 
zu  erfüllen,  für  nötig  finde.«  Seine  oft  wieder- 
holten Besuche  bei  dem  ausgezeichneten  Freunde 
in  Konstantinopel  trugen  viel  dazu  bei,  die  geistige 
Reife  Warsbergs  zu  zeitigen.  Die  Liebe,  die  er 
dem  älteren  Mann  entgegenbrachte,  wurde  von 
diesem  auf  das  herzlichste  erwidert,  so  dass  er 
sogar  nach  dem  Tod  seines  zweiten  Sohns,  der 
im  deutsch-dänischen  Krieg  fiel,  nur  von  Wars- 
berg begleitet,  von  Pera  aus  auf  die  einsame 
Insel  Prinkipo  im  Golf  von  Nikomedien  ging,  um 
dort  in  dem  gemeinsamen  Lesen  Schopenhauers 
Trost  zu  suchen.  »Und  morgens,«  sagt  Wars- 
berg, »Hessen  wir  uns  nach  dem  benachbarten, 
noch  stilleren  Eilande  Chalki  überschiflen  und 
dort  in  einer  ganz  abgelegenen  stillen  Bucht, 
wo  man  sich  Tausende  von  Meilen  Europa  und 
seiner  Civilisation  entfernt  glauben  kann,  unter 
einer  Pinie  auf  dem  reinsten  Seesande  gelagert, 
den  Blick  auf  den  asiatischen  Olymp  gerichtet, 
las  er  mir  Seite  um  Seite  des  halb  indisch- 
asiatischen Philosophenwerkes  vor.  So  in  solcher 
Weise  und  vor  ähnlichen  Landschaften  haben 
Pythagoras  und  Plato  ihre  Schüler  gelehrt.  Gewiss 
wäre  es  für  Schopenhauer  eine  seiner  grössten 
Freuden  gewesen,  wenn  er  gewusst  hätte,   dass 


—    3i6    — 

einstmalen,  durch  solche  Hörsäle  des  herrlichsten 
Erden  winkeis,  auch  sein  Wort  weiter  klinge.« 

Wer  wollte  Warsberg  nicht  um  solcher 
Stunden  Genuss  glücklich  preisen?  Wer  würde 
nicht  sagen,  dass  trotz  bitterer  Erfahrungen  und 
langer  körperlicher  Leiden  sein  Leben  dennoch 
das  eines  Auserwählten  gewesen  ist,  dem  das 
seltenste  Glück  der  Erde,  das  einer  so  edlen 
Freundschaft  mit  einem  gereiften,  hoch  begabten 
Mann,  schon  in  der  Jugend  zuteil  ward,  der 
in  dieser  Genossenschaft  die  schönsten,  durch 
Natur  und  Geschichte  ausgezeichneten  Stätten 
besuchen  durfte,  dem  es  vergönnt  war  den  Orient^ 
die  heilige  Wiege  unseres  Geschlechts,  mit  seinen 
Dichteraugen  anzuschauen  und  unter  dem  Zauber 
jener  Eindrücke  mit  dem  Weltgeist  zu  verkehren. 
Was  ihm  dieser  Orient  war,  wie  er  im  edelsten 
Sinn  religiös  auf  seine  Seele  wirkte,  bezeugt 
folgender  Ausspruch:  »So  oft  sich  die  Mensch- 
heit dort  schon  erfrischt,  neue  Religionen  und 
Ideen  geholt  hat,  leichter  noch  wird  es  dem  ein- 
zelnen auf  jenem  geschichts-  und  gottesgeheiligten 
Boden  seine  Seele  wieder  zu  gebären  im  Geist 
der  Wahrheit  und  des  Glaubens.« 

Zwei  Jahre  ungefähr  hatte  die  Korrespondenz 
gedauert,  die  uns  ohne  persönliche  Bekanntschaft 
einander  schon  so  nahe  gebracht  hatte,  als  ich 
plötzlich  die  freudigüberraschende  Nachricht 
bekam,  dass  Warsberg  auf  einige  Zeit  nach  Rom 
komme  um  sich  einer  Kur  zu  unterziehen,  welche 
ein  italienischer  Arzt  gegen  chronisch  gewordenen 
argen  Husten  und  gegen  Atemnot  als  unfehlbar 


—    317     — 

gefunden  zu  haben  glaubte.  Dieses  Leiden  war 
Warsberg  nach  einer  Lungenentzündung,  die  ihn 
in  Paris  befallen  gehabt  hatte,  nachgeblieben 
und  war  ein  Hauptgrund,  weshalb  er  die  Stel- 
lung als  österreichischer  Konsul  nachgesucht  hatte, 
weil  er  von  dem  milden  Klima  des  herrlichen 
Phäakenlands  Heilung  hoffte.  Da  ihm  diese  aber 
auch  dort  nicht  geworden,  wollte  er  nun  diese 
ihm  auf  das  wärmste  empfohlene  Kur  gebrauchen. 
Mit  welcher  Freude  ich  dieser  Begegnung  ent- 
gegensah, kann  man  sich  denken,  aber  doch 
auch  mit  einer  Art  von  Spannung,  die  nicht 
ganz  ohne  Besorgnis  war,  denn  wie  gross  auch 
die  Sympathie  sein  mag,  welche  zwei  Geister 
zu  einander  zieht,  so  liegt  doch  auch  ein  ge- 
wisser Zauber  in  der  Erscheinung,  der  dazu  ge- 
hört, um  sich  persönlich  ganz  zu  genügen.  Ich 
wäre  sehr  enttäuscht  gewesen,  hätte  sich  mir 
dieser  geistig  so  bedeutende  Mann  in  einer  äusser- 
lich  vulgären  Gestalt  gezeigt,  denn  leider  ist  es 
ja  nicht  immer  möglich,  dass  die  Seele  sich  auch 
ihren  Körper  schafft.  Sehr  froh  war  ich  daher, 
als  sich  am  bestimmten  Tag  und  zur  bestimmten 
Stunde  die  Tür  öffnete  und,  so  wie  ich  es  mir 
gedacht  hatte,  ein  hoher,  schlanker,  blonder 
Mann  mit  dem  Ausruf:  »endlich!«  bei  mir 
eintrat,  dessen  ganze  Erscheinung  das  Gepräge 
wahrhaft  adeligen  Wesens  und  edler  Kultur  trug. 
Schnell  verschwand  daher  die  erste  Befangenheit 
dieses  schon  so  vertraut  gewesenen  Fremdseins 
und  nach  einer  Stunde  heiteren  Gesprächs  waren 
wir  alte  Freunde,  die  sich  längst  gekannt. 


-    3i8     - 

Es  kamen  nun  Stunden  freundlichen  Zu- 
sammenseins, entweder  am  Tag  bei  mir,  wenn 
es  ihm  erlaubt  war  auszugehen  oder,  da  er  am 
Abend  nicht  ausgehen  durfte,  bei  ihm  im  Hotel, 
wo  er  mit  zwei  ausgezeichneten  Freunden  wohnte. 
Bei  diesen  kleinen  geselligen  Abenden  verhielt 
sich  Warsberg  meist  schweigend,  da  ihm  viel 
Sprechen  bei  seiner  Atemnot  peinlich  war, 
aber  er  folgte  teilnehmend  den  Gesprächen 
und  gab  ihnen  hier  und  da,  durch  ein  geistreiches 
Wort,  neuen  Impuls  und  Schwung.  Nie  habe 
ich  so  gefühlt,  wie  bei  ihm,  was  die  blosse 
Gegenwart  eines  geistvollen  und  gütigen  Menschen 
für  eine  anregende,  magnetisch  geistzeugende 
Kraft  hat.  Es  ist  dieselbe  Wirkung  wie  die, 
welche  eine  schöne,  harmonische  Naturumgebung 
auf  uns  ausübt,  alles  Verstimmende,  Beleidigende, 
womit  die  Welt  uns  anfällt,  verschwindet,  wir 
fühlen  uns  unter  dem  Einfluss  jener  ewigen 
Sonne,  die  nur  Blüten  höchsten  Wertes  zeitigt 
und  mit  ihrem  verklärenden  Licht  die  Wider- 
sprüche des  Lebens  versöhnt. 

Leider  blieb  die  von  dieser  Kur  gehoffte 
Wirkung  völlig  aus;  nach  zwei  Monaten  zuweilen 
sogar  vermehrter  Leiden  schloss  er  mit  der- 
selben ab  und  bereitete  sich,  in  Venedig  seine 
Stellung  als  General-Konsul  anzutreten.  Er  war 
dazu  ernannt  worden,  nachdem  er  eine  Reise 
der  Kaiserin  von  Osterreich  im  Orient  geleitet 
hatte,  wozu  freilich  niemand  besser  als  er  ge- 
eignet war,  der  den  Orient  so  genau  kannte  und 
während    seines    Konsulats    in    Corfu    fast   kein 


—    319    — 

Jahr  hatte  vergehen  lassen,  ohne  das  Mittelmeer 
in  ein  oder  anderer  Richtung  zu  durchstreifen, 
immer  mit  dem  Homer  als  Begleiter,  wobei  er 
die  Überzeugung  erhielt,  dass  derselbe  die  Orte, 
die  er  beschreibt,  auch  selber  gesehen  habe; 
eine  Überzeugung,  die  er  mit  schlagenden 
Gründen  den  Behauptungen  pedantischer  Profes- 
soren entgegenhielt. 

Es  gibt  so  viele  angenehme  Begegnungen 
im  Leben,  die  uns  auf  das  freundlichste  berühren 
und  uns  manche  Stunde  angeregt  verbringen 
lassen.  Aber  wenn  sie  scheiden,  schliesst  sich 
die  Welle  wieder  über  ihnen,  das  Leben  nimmt 
seinen  gewohnten  Fortgang,  als  wären  sie  nie 
da  gewesen  und  es  bleibt  nur  zuweilen  eine 
vorübergehende  Erinnerung,  die  nichts  in  den 
Tiefen  unseres  Daseins  verändert.  Dagegen  gibt 
es  Erscheinungen,  die,  wenn  sie  in  unser  Leben 
treten,  uns  das  Gefühl  geben,  als  sei  uns  etwas 
lang  Entbehrtes  endlich  zuteil  geworden,  eine 
Ergänzung  unserer  selbst,  mit  welcher  für  den, 
der  »ewig  strebend  sich  bemüht«,  sich  neue 
Sphären  der  Vervollkommnung  öffnen  und  sich 
das  Geheimnis  wahrhaft  edler,  menschlicher 
Beziehungen  erfüllt:  miteinander  und  durchein- 
ander zu  wachsen  an  ethischem  Wert  und  den 
Inhalt  des  Lebens  immer  bedeutungsvoller  zu 
gestalten.  Solch  eine  Erscheinung  war  Wars- 
berg und  das  Scheiden  einer  solchen  lässt  eine 
tiefe  Lücke,  die  nichts  auszufüllen  vermag.  Die 
nun  noch  häufiger  werdende  Korrespondenz  war 
ein   halber    Ersatz,    sie   wurde  nun  persönlicher 


—     320     — 

als  vorher  und  bezog  sich  vielfach  auf  seine  neue 
Einrichtung  in  Venedig,  wo  er  schon  immer  eine 
Wohnung  gehabt  hatte,  weil  er  diese  Stadt  über 
alles  liebte  und  sagte,  dass  sie  ihm  nie  ein  Leid 
getan ;  für  seine  neuen  Verhältnisse  als  General- 
Konsul,  welche  ein  Geschäftslokal  erforderten, 
war  jene  frühere  zu  klein  und  er  mietete  den 
ganzen  Palazzo  Modena,  der  den  in  Venedig 
seltenen  Vorzug  eines  grossen,  schönen  Gartens 
hatte,  wo  im  Schatten  alter  Bäume  Marmorbilder 
standen,  und  dessen  grosse  Säle  mit  trefflichen 
Deckenmalereien  geschmückt  waren. 

Da  ich  in  dem  folgenden  Sommer  meine  ge- 
wöhnliche Sommerreise  nach  Versailles  zu  Olga 
durch  Deutschland  nehmen  wollte,  um  in  Mün- 
chen die  Ausstellung  zu  sehen  und  dann  meine 
letzte  überlebende  Schwester  in  Ems  zu  besuchen 
und  geschrieben  hatte,  dass  ich  deshalb  über 
den  Brenner  reise,  so  erhielt  ich  eine  dringende 
Einladung  von  Warsberg,  nicht  so  nahe  an 
Venedig  vorüber  zu  fahren,  ohne  ihm  einen  Be- 
such zu  machen  und  ein  paar  Wochen  bei  ihm 
zu  verweilen.  Nach  einigem  Bedenken  nahm  ich 
an,  da  ich  mich  innig  freute,  ihn  wiederzusehen, 
und  fuhr  Ende  Mai  über  die  lange  Eisenbahn- 
brücke der  Lagunen,  der  herrlichen  Stadt  ent- 
gegen, die  ich  seit  vielen  Jahren  nicht  gesehen 
hatte.  Am  Bahnhof  empfing  mich  der  gute 
Freund  und  führte  mich  in  seiner  Gondel  zu 
dem  herrlichen  Palazzo  Pisani  am  Canal  grande, 
wo  seine  bisherige  venetianische  Wohnung  im 
.dritten  Stock  war,  vor  welchem  sich  eine  breite 


—      321       — 

Terrasse  hinzieht,  von  der  man  die  herrlichste 
Aussicht  auf  die  stolzen,  architektonisch  so  zaube- 
rischen Paläste  hat,  die  sich  in  der  weiten 
Wasserfläche  spiegeln.  Er  führte  mich  gleich  in 
den  schönen  mit  edlem  Kunstsinn  geschmückten 
Räumen  umher  und  ich  empfand  alsbald  die 
Gewissheit,  dass  sich  hier  Stunden  reinsten  Ge- 
nusses verbringen  lassen  müssten.  Ich  fand  auch 
Warsberg  etwas  wohler  und  heiterer  als  in  Rom, 
und  es  Hess  sich  alles  so  freundlich  und  glück- 
lich an,  dass  ich  dem  Schicksal  im  Herzen 
dankte,  welches  mir  am  Lebensabend  noch  eine 
so  seltene  Freundschaft  unter  so  schönen  Be- 
dingungen geschenkt  hatte. 

Am  Abend  geleitete  er  mich  in  ein  ihm  be- 
freundetes Haus,  wo  er  öfter  seine  Abende  zu- 
zubringen pflegte  und  hier,  wo  ich  ihn  zuerst  in 
einem  grösseren  Kreis  sah,  fiel  es  mir  auf,  wie 
sehr  er  unter  all  den  anderen  Männern  das  Inter- 
esse auf  sich  zog,  obgleich  er,  nach  gewöhnlichen 
Begriffen,  weniger  schön  und  äusserlich  bevor- 
zugt war,  als  manche  der  Anwesenden.  Es  war 
bei  ihm,  wie  es  bei  sehr  bedeutenden  Menschen 
zu  sein  pflegt :  es  geht  eine  Wirkung  von  ihnen 
aus,  ein  magnetisches,  geistiges  Fluidum,  welches, 
ohne  dass  sie  es  wollen  und  suchen,  die  ver- 
wandten Seelen  anzieht.  Aus  all  dem  gewöhn- 
lichen Geplauder  der  Salon-Konversation  heraus 
sehnte  man  sich  nach  einem  Wort  des  bleichen, 
kranken  Mannes,  und  wenn  er  sprach  hörte  man 
nur  auf  ihn  und  hätte  immer  weiter  hören  mögen, 
besonders  wenn  er  vom  Orient  erzählte.     Nach 

Meysenbug,  IV.  az 


—      322      — 

einem  solcher  Abende  in  seine  Wohnung  zurück- 
gekehrt, verweilten  wir  noch  lange  in  lauer  Mai- 
nacht auf  der  herrlichen  Terrasse  im  angeregten 
Gespräch.  Unten  auf  den  ruhigen  Wassern  des 
Kanal  grande  glitten  noch  einzelne  Gondeln  da- 
hin, nur  durch  ihr  kleines  Laternchen  verraten, 
das  wie  ein  feuriges  Auge  heraufblickte,  gleich- 
sam lauernd,  ob  kein  Verräter  das  zu  geheim- 
nisvoller Tat  eilende  Fahrzeug  erspähe.  Oben 
am  Himmel  glänzten  Myriaden  Sterne ;  die  phan- 
tasievollen Paläste,  welche  den  Kanal  einfassen, 
lagen  in  nächtliches  Dunkel  gehüllt.  Plötzlich 
erhob  sich  vom  jenseitigen  Ufer  eine  herrliche 
Tenorstimme  und  sang  eine  reizende  italienische 
Cantilene  voll  süsser,  wehmütiger  Lieblichkeit 
in  die  Zaubernacht  hinaus.  Warsberg  schilderte 
mir  in  bewegten  Worten  seine  Vorliebe  für 
Venedig  und  ich  stimmte  voll  Begeisterung  ein 
und  sagte  endlich,  wie  ich  der  allgemeinen  An- 
nahme nicht  beipflichten  könne,  dass  der  Süden 
den  Menschen  mit  zu  starken  Fesseln  an  das 
Leben  bände,  und  wie  es  mir  gerade  eine  seiner 
schönsten  Wirkungen  schiene,  dass  er  die  Seele 
so  zur  Harmonie  stimme,  Natur  und  G^ist  so 
in  Einklang  setze,  dass  der  Tod  wieder  zum 
idealen  Genius  mit  der  umgekehrten  Fackel  werde 
und  man  ohne  Widerstreben  bereit  sei,  sich  in 
die  unsägliche  Harmonie  des  Daseins  aufzulösen, 
während  der  Norden  mit  seinem  dunkeln  Drang 
nach  dem  unerreichbaren  Ideal,  in  der  ewigen 
Zerrissenheit  zwischen  Wunsch  und  Erfüllung 
den  Tod   als   den  bittern   Trank   empfinde,  der 


—    323     — 

die  Unbefriedigtheit  des  Lebens  endet.  Warsberg 
schwieg  eine  Weile,  dann  sagte  er:  »Sie  haben 
recht«.  Kam  ihm  in  dem  Augenblick  die 
Ahnung,  dass  gerade  in  Jahresfrist  der  milde 
Genius  auch  ihm,  dem  Griechen,  die  Fackel 
löschen  werde?  Ich  weiss  es  nicht,  aber  wäre 
sie  mir  gekommen,  die  unsägliche  Schönheit 
dieser  Zaubernacht  hätte  sich  mir  in  bitteren 
Schmerz  verkehrt,  denn  was  ich  gesagt  hatte, 
galt  nur  den  Sterbenden,  nicht  den  Überlebenden. 
Doch  sollte  diese  schöne,  ernste  Stunde  noch 
heiter  enden.  Eben  als  wir  die  Terrasse  ver- 
lassen wollten  und  uns  gute  Nacht  wünschten, 
um  ein  jeder  in  seine  Zimmer  zurückzugehen, 
erschien  ein  mir  bisher  noch  unbekannter  Be- 
wohner des  Hauses,  nämlich  eine  grosse  Katze, 
die,  wie  ich  nun  erfuhr,  mit  von  Corfu  herüber- 
gekommen war.  Sie  sprang  auch  mit  der  vollen 
Keckheit  eines  sich  zu  Hause  fühlenden,  ver- 
wöhnten und  kapriziösen  Kindes  umher,  und  ehe 
wir  es  uns  versahen,  hatte  sie  eine  kleine  Vase 
von  ihrem  Postament  herunter  geworfen,  deren 
Scherben  nun  den  Boden  bedeckten.  Warsberg 
wurde  nicht  nur  nicht  böse,  wie  ich  ihn  später, 
ungeschickten  Dienstboten  gegenüber,  habe  wer- 
den sehen,  sondern  er  nahm  die  Katze  auf  den 
Arm,  liebkoste  sie  und  gab  ihr  hundert  Namen 
mit  so  zärtlich  liebevollem  Ton,  wie  ich  ihn 
noch  nie  hatte  sprechen  hören.  Ich  beobachtete 
ihn  still  und  freute  mich  ihn  einmal  so  ganz  un- 
mittelbar als  Gefühlsmenschen  zu  sehen,  in  einem 
Augenblick,  wo  kein  Überwiegen  des  Intellekts 


—     324     — 

und  keine  konventionelle  Form  den  reinen  Aus- 
druck des  Gemüts  störte. 

Mehrere  Monate  nachher  schrieb  er  mir  ein- 
mal bei  einer  besonderen  Veranlassung,  dass  er 
es  gern  habe,  nicht  ganz  gekannt  zu  sein,  dass 
er  in  der  Welt  eine  Maske  trage  und  dass  selbst 
in  seinen  intimeren  Beziehungen  niemand  den 
Grund  seines  Wesens  kenne.  Es  komme  ihm 
vor  wie  eine  Demütigung,  sogleich  erkannt  zu 
sein,  selbst  seiner  Mutter  habe  er  dieses  Vorrecht 
nie  gewährt.  Er  schloss  mit  den  Worten:  »Ich 
will  gefürchtet,  nicht  geliebt  sein  und  so  über 
Euch  allen  schweben,  wie  ein  antiker  Tyrann. 
Frei  steht  es  Euch  dann,  mich  hinterrücks  um- 
zubringen.« 

Ich  musste  herzlich  über  dies  doch  halb  im 
Scherz  gesagte  Paradoxon  lachen  und  schrieb 
ihm  in  meiner  Antwort  von  dem  Eindruck,  den 
mir  jene  Nachtscene  mit  der  Katze  gemacht 
und  wie  ich  dabei  einen  tiefen  Einblick 
in  die  grosse  Liebesfähigkeit  seines  Herzens  ge- 
tan hätte.  Er  schrieb  mir  darauf  wieder:  »Die 
Katzen  liebe  ich  wirklich  sehr,  aber  wissen  Sie 
warum?  Weil  sie  griechisch-klassisch  anmutig, 
d.  h.  graziös  sind.  So  sind  es  die  Bildwerke  des 
Phidias,  die  Grabsteine  von  Athen,  die  antiken 
kleinen  Terrakotten  und  die  Vasengemälde.  Von 
lebenden  Wesen  sah  ich  so  nur  die  Fanny  Eisler 
und  hörte  die  Louise  Neumann.  Die  rührte 
mich  auch  im  Lustspiel  bis  zu  Tränen. 

Er  konnte  nicht  so  bald  von  dieser  komischen 
Grille  des  UnerkanntseinwoUens  abkommen,  und 


—    325     — 

schrieb  mir  noch  mehrere  Male  Erklärungen 
darüber.  Ich  antwortete  ihm  endlich:  »Ihrer 
Tyrannei  unterwirft  man  sich  gern,  nur  hüten 
Sie  sich,  die  Katzen  zu  liebkosen,  wenn  sie  un- 
erkannt bleiben  wollen.  Es  gibt  solche  Augen- 
blicke, die  Verräter  sind,  und  warum  wollten 
Sie  diese  Augenblicke  verdammen,  in  denen  die 
Augen  der  Sterblichen  plötzlich  hellsehend  werden 
und  den  in  die  Menschengestalt  exilierten  Gott 
erkennen?  Solche  Augenblicke  wie  der  unter 
der  Pinie  auf  Ithaka,  wo  Sie  wahrnahmen,  dasis 
Sie  Zeus  die  Hand  gereicht.«*) 

Ich  wohnte  noch  dem  Umzug  in  den  Palazzo 
Modena  bei,  dessen  Einrichtung  Warsberg  selbst 
leitete.  Es  war  keine  kleine  Aufgabe,  den  drei- 
stöckigen Palast  mit  den  grossen  Sälen,  den  vielen 
Zimmern,  die  noch  dazu  in  vernachlässigtem  Zu- 
stand waren,  so  künstlerisch  und  edel  vornehm 
einzurichten,  wie  es  sein  ästhetischer  Sinn  ver- 
langte. Diese  Beschäftigung  nahm,  neben  seinen 
amtlichen  Arbeiten,  denen  er  mit  seinem  strengen 
Pflichtgefühl  vor  allem  oblag,  seinen  Tag  in 
Anspruch  und  erst  gegen  Abend  gönnte  er  sich 
Ruhe  und  Erholung  in  einer  Gondelfabrt,  wobei 
ich  ihn  begleitete.  Oft  war  er  so  müde  und 
abgespannt,  dass  ich  schweigend  neben  ihm  sass 
und  ihn  dem  Halbschlaf  überliess,  der  ihn  be- 
fiel. Aber  wenn  er  sich  wohler  fühlte  und  in 
der  Stimmung  für  heitere  oder  ernste  Gespräche 


*)  Reizende  kleine   von   Warsberg  erfandene  Erzählung, 
seinem  »Ithaka«  eingeflochten. 


—    326    — 

war,  dann  gehörten  diese  Gondelfahrten  zu  den 
schönsten  Stunden  meines  Aufenthalts  dort. 
Denn  es  gibt  wohl  kaum  etwas  Poesievolleres 
als  mit  geist-  und  gefühlvollen  Menschen  in 
einer  Gondel  über  die  Lagunen  hinzugleiten, 
den  ewig  neuen  Reiz  der  Lichteffekte  auf 
den  Wassern,  den  herrlichen  Palästen,  den  oft 
so  malerischen  engeren  Kanälen  mit  ihren 
Brücken,  und  die  träumerische  Anmut  der  Inseln, 
welche  sich  wie  eine  fata  morgana  aus  den 
Wassern  erheben,  kurz  das  ganze  originelle  Leben 
dieser  einzigen  Stadt  —  zu  geniessen. 

Ich  musste  endlich  scheiden  und  meine  Reise 
nach  Norden  fortsetzen,  musste  dem  guten 
Freund  aber  versprechen,  auf  der  Rückreise 
wieder  bei  ihm  einzukehren.  Ich  schrieb  ihm 
dann  ganz  entrüstet  über  den  Norden,  wo  mich 
trüber,  grauer  Himmel  und  feuchte,  kalte  Luft 
empfangen  hatten,  so  dass  ich  wieder  auf  das 
lebhafteste  den  Sehnsuchtsdrang  begriff,  der 
von  jeher  die  Völker  und  die  einzelnen  aus  den 
nordischen  Nebeln  nach  der  sonnenverklärten 
Schönheit  des  Südens  gelockt  hat.  Warsberg 
erwiderte:  »Ich  freue  mich,  dass  Sie  wie  ich 
nordensmüde  sind.  Ich  möchte  nicht  einmal 
mehr  nach  Wien  reisen  müssen.«  Leider  wurde 
ihm  aber  die  für  ihn  so  notwendige  Ruhe  in 
seinem  neuen,  schönen  Heim  nicht  zuteil, 
Er  musste  nach  Osterreich  und  schrieb  mir  von 
da  ganz  bekümmert,  dass  er  im  Oktober  aber- 
mals eine  Orientreise  der  Kaiserin  geleiten  müsse 
und  er  habe  sich  so  gefreut,  nun  gerade  diesen, 


—    327     — 

in  Ober-Italien  so  schönen  Monat,  in  seinem  mit 
der  grössten  Mühe  eingerichteten  Hau^e  in 
Venedig  zubringen  zu  können.  Mich  bekümmerte 
diese  Nachricht  auch  sehr,  denn  ich  wusste,  wie 
diese  neue  Anstrengung  ihm  schaden  würde  und 
wie  nur  ein  geregeltes  Leben  in  der  schönen 
Ruhe  seines  Heims  sein  gefährdetes  Dasein  noch 
auf  viele  Jahre  hinaus  erhalten  könnte.  Leider 
konnte  er  sich  nicht  entschliessen,  seine  so  wohl 
begründeten  Besorgnisse  der  Kaiserin  mitzu- 
teilen, sie  würde  sonst  gewiss  eingesehen  haben, 
dass  sie  mit  dieser  Reise  das  Verhängnis  herauf 
beschwor,  welches  ihr  einen  wahrhaftergebenen 
Anhänger  und  so  vielen  einen  teuren  Freund 
raubte.  Aber  die  Menschen  achten  zu  wenig 
auf  die  warnenden  Stimmen,  die  sich  in  ent- 
scheidenden Augenblicken  in  der  eigenen  Brust 
erheben,  und  keine  zu  missachtende  Orakel  sind. 
Man  ist  immer  nur  zu  sehr  geneigt  zu  denken, 
diesmal  werde  das  Schicksal  noch  so  vorüber 
gehen,  werde  uns  noch  verschonen,  oder  der 
günstige  Augenblick  werde  wiederkommen  und 
das  Glück  werde  uns  sich  neigen,  damit  wir  es 
erfassen  könnten.  Erst  wenn  das  Unwiderruf- 
liche eingetreten  ist,  beseufzen  wir  zu  spät  unser 
Versäumnis. 

Während  der  Reise  erhielt  ich  nur  einmal 
eine  kurze  Mitteilung  aus  Corfu,  aber  von 
anderer  Seite  aus  Venedig  die  eines  Briefes  an 
den  ihm  treu  ergebenen  ersten  Sekretär  des 
General-Konsulats,  worin  er  seine  baldige  An- 
kunft   verkündete   und    schrieb :    »Ich    bin    mit 


—    328     — 

meiner  Kraft  zu  Ende.  Sie  haben  keine  Vor- 
stellung von  den  Anstrengungen  dieser  Reise. 
Alles  lag  auf  mir,  niemand  sonst  ordnete  etwas 
an.  Ich  will  sehr  langsam  durch  Italien  zurück 
reisen  um  im  Alleinsein  mich  auszuruhen.« 

Die  Rasttage,  die  er  sich  gönnte,  schienen 
ihm  auch  gut  getan  zu  haben,  denn  er  schrieb 
mir  von  Rom  aus,  wohin  ich  noch  nicht  zurück- 
gekehrt war,  nur  ganz  kurz:  »Ich  fühle  mich 
doch  so  weit  ganz  gut,  dass  ich  hoffe,  noch 
etwas  erleben  zu  können.  Denken  Sie,  wenn 
es  eine  Episode  aus  dem  3ten  Teil  Ihrer 
Phädra  wäre?  Diese  Hieroglyphen  sind  aber  nur 
für  Sie.«  Natürlich  erregten  diese  Worte  meine 
Neugier  auf  das  höchste  und  ich  konnte  bei 
dem  Bemühen,  dem  Rätsel  auf  die  Spur  zu 
kommen,  nur  auf  eine  Heirat  schliessen.  In 
meiner  Antwort  fragte  ich  daher  scherzend,  ob 
es  eine  schöne  Phäakentochter,  oder  wer  sonst 
sei.  Darauf  erhielt  ich  einen  in  komischester 
Entrüstung  geschriebenen  Brief  über  diefürchter- 
liche  Vermutung  und  dann  die  Versicherung, 
dass  es  etwas  ganz  anderes  sei.  Zugleich  aber 
hat  er  dringend,  da  meine  Rückreise  nach  Rom 
bevorstand,  den  Weg  wieder  über  Venedig  zu 
nehmen  und  eine  Zeit  lang  sein  Gast  zu  sein. 
Andere  Freunde  sollten  auch  kommen  und  er 
fügte  hinzu :  »Wenn  solch  ein  Kreis  beisammen 
ist,  mein  ich,  müsste  es  doch  Symposien  geben, 
an  die  alle  Teilnehmer  noch  lange  mit  Freuden 
zurückdenken  würden.« 


—     329     — 

Diese  schöne  Aussicht  lockte  mich  denn  auch 
wirklich  Ende  November  von  Mailand  aus  nach 
Venedig  abzuzweigen  und  ich  wurde  wieder  da- 
selbst auf  das  herzlichste  empfangen.  Es  hatten 
sich  schon  einige  andere  Gäste  eingefunden.  Wars- 
bergs Bruder,  der  geistvolle  Pole,  Herr  von  Klaczko, 
den  ich  schon  aus  seinen  früheren  ausgezeich- 
neten Artikeln  in  der  »Revue  des  Deux  Mondes«, 
die  ich  noch  mit  A.  Herzen  zusammen  gelesen 
hatte,  kannte  und  Graf  Lanckoroncki,  der  viel 
jüngere  Freund  Warsbergs,  den  ich  schon  in  dem 
Winter  in  Rom  in  des  letzteren  Gesellschaft 
hatte  kennen  und  schätzen  lernen,  der  aber  leider 
nur  wenige  Tage  blieb,  da  er  im  Begriff  war, 
eine  grosse  Reise  nach  Indien  anzutreten.  Auch 
Warsberg  musste  seine  Gäste  auf  einige  Tage 
verlassen,  da  ihm  die  ehrenvolle  Einladung  zuge- 
kommen war,  in  Miramar  mit  dem  österreichischen 
Kaiserpaar  das  Fest  der  44jährigen  Regierung 
des  Kaisers  zu  begehen,  das  dort  in  aller  Stille 
nur  im  engsten  Hofzirkel  gefeiert  wurde.  Er 
kam  sehr  heiter  von  dort  zurück,  erging  sich  im 
Lobe  des  kaiserlichen  Paares  und  erklärte  mir 
nun  auch  die  Bedeutung  jener  Hieroglyphen, 
deren  Deutung  meinerseits  ihn  so  entrüstet  hatte, 
die  aber  nun  kein  Geheimnis  mehr  zu  sein 
brauchten.  Es  war  ihm  nämlich  der  Auftrag 
geworden,  der  Kaiserin  auf  Corfu  eine  Villa  zu 
bauen  auf  einem  der  schönsten  Punkte  der  Insel. 
»So  haben  Sie  mir  doch  wirklich  mein  Prog- 
nostiken in  dem  3.  Teil  der  Phädra  gestellt«, 
sagte   er  und   erwähnte   dann   noch   einmal   die 


—    330    — 

»schauderhafte«  Vermutung,  zu  welcher  mich 
seine  rätselhafte  Andeutung  geführt  hatte.  So 
herzlich  ich  immer  über  diese  seine  Entrüstung 
lachen  musste,  so  konnte  ich  mich  doch  nicht 
über  den  Auftrag  freuen,  denn  ich  sah  voraus^ 
dass  bei  dem  Eifer,  mit  dem  er  ihn  erfasste  und 
der  Anziehungskraft,  die  er  auf  seine  künstlerische 
Phantasie  übte,  er  seine  schwachen  Kräfte  über- 
bieten würde.  Ich  sagte  ihm,  ich  wollte  ich 
hätte  ihm  ein  anderes  Prognostikon  gestellt  und 
ganz  war  auch  er  nicht  frei  von  dem  Gefühl^ 
dass  es  verhängnisvoll  für  ihn  werden  könne^ 
aber  es  reizte  ihn  zu  mächtig,  seinem  künst- 
lerischen Verstehen  und  seinem  Schönheitssinn 
in  einer  grossartigen  Schöpfung  ein  Denkmal  zu 
setzen.  In  seiner  Natur  lag  es,  sich  nach  grossen 
Aufgaben  zu  sehnen,  denn  es  wohnten  zwei 
Seelen  auch  in  seiner  Brust  und  neben  dem  in 
einsamen  Gedankenreichen  sich  glücklich  fühlen- 
den Weisen  war  auch  der  ehrgeizige  Mann,  der 
gern  in  das  grosse  Getriebe  des  Staatenlebens 
mit  eingegriffen  und  seinen  starken  Willen  wie 
seine  Einsicht  geltend  gemacht  hätte.  Auch  jetzt 
in  Venedig  war  er  gesonnen,  das  Konsulat  aus  der 
untergeordneten  Stellung,  in  der  sein  Vorgänger 
es  gelassen,  zu  politischer  Bedeutung  zu  erheben 
und  die  noch  immer  etwas  gereizte  Stimmung 
dort  durch  liebenswürdiges  Entgegenkommen  zu 
versöhnen.  Was  ihn  aber  dazu  trieb,  sein  Haus 
gleich  in  glänzender  Weise  der  Geselligkeit  zu 
öffnen,  war  nicht  bloss  der  Wunsch  als  Staats- 
diener hier  nützlich  zu   sein,   sondern  auch   das 


—    331     — 

Vergnügen,  welches  er  selbst  daran  hatte,  seine 
schönen  Gemächer  im  Lichterglanz  strahlen  zu 
lassen,  an  seiner  reich  besetzten  Tafel  ausge- 
zeichnete Gäste  (so  u.  a.  Sir  Henry  Layard, 
den  ehemahligen  Gesandten  in  Konstantinopel, 
jetzt  in  Venedig  lebend,  den  Dichter  Mr.  Browning 
und  viele  andere)  zu  speisen  und  eine  elegante 
Menge  durch  die  prächtigen  Säle  wandeln  zu 
sehen.  An  einem  der  ersten  dieser  geselligen 
Abende,  wo  die  ganze  vornehme  venetianische 
Gesellschaft  versammelt  war,  sah  ich  da  auch 
Don  Carlos,  den  spanischen  Thronprätendenten, 
der  in  Venedig  lebt  und  den  Warsberg,  trotz- 
dem er  ihm  nicht  sympathisch  war,  seiner  Be- 
ziehung zu  Österreich  wegen,  bitten  musste. 
Er  stellte  mir  denselben  vor,  zum  Glück  gleich- 
zeitig einer  sehr  gewandten  Weltdame,  die  bei 
mir  stand  und  alsbald  die  Unterhaltung  zu  meiner 
Erleichterung  übernahm,  denn  ich  hätte  absolut 
nicht  gewusst,  was  ich  mit  diesem,  seinem 
Schillerschen  Namensvetter  so  unähnlichen,  gar 
keine  Sympathie  erweckenden  Manne,  hätte 
sprechen  sollen.  Warsberg  selbst  verhielt  sich 
bei  solchen  Festen  meist  still,  weil  seine  körper- 
lichen Leiden  ihm  jeden  Genuss  erschwerten  und 
es  fiir  ihn  Anstrengungen  waren,  die  er  meist 
mit  schlaflosen  Nächten  und  völliger  Erschöpfung 
zahlte,  aber  Freude  machte  es  ihm  doch;  es  war 
das  Künstlerische  dabei,  der  schöne  Glanz  und 
die  Fülle  des  Lebens,  was  ihn  anzog,  als  Maler 
wäre  er  vielleicht  ein  Paul  Veronese  geworden. 
Und    doch    war   er   auch    wieder   ein    tief  ver- 


—     332     — 

ständnisvoller  Bewunderer  der  griechischen 
Kunst  und  ihrer  erhabenen,  seelenvollen  Ein- 
fachheit und  es  war  meine  grösste  Freude,  wenn 
das  Gespräch  sich  darauf  wandte,  denn  da  hatte 
er  so  viel  neue  und  geistvolle  Dinge  zu  sagen, 
dass  es  ein  wahrer  Genuss  war,  ihm  zuzuhören. 
Eines  Abends  zitierte  er  uns  ein  Wort  Thor- 
waldsens,  welches  Herr  von  Prokesch  ihm  mit- 
geteilt hatte,  dass  die  griechische  Skulptur  so 
besonders  reich  im  Genre  gewesen  sei,  dass  sie 
das  vor  anderen  auszeichne  und  ihren  hohen 
Reiz  bilde.  Er  bemerkte  dabei,  dass  er  eine 
Abhandlung  über  das  Genre  in  der  griechischen 
Kunst  geschrieben  habe,  die  zum  Druck  fertig 
sei  und  setzte  hinzu:  »Die  Akademiker  freilich 
werden  dazu  den  Kopf  schütteln.«  Nachher 
führte  er  mich  zu  einer  Zeichnung,  die  er  in 
Athen  nach  einem  Grabmal  hatte  machen  lassen 
und  sagte:  »Sehen  Sie,  das  ist  griechische  Kunst.« 
Es  ergriff  mich  wieder  wie  schon  früher  bei 
ähnlichem,  wahrhaft  Griechischem,  z.  B.  bei  dem 
Relief  von  Orpheus  und  Euridiee  in  der  Villa 
Albani  in  Rom  tiefe  Rührung  über  die  voll- 
kommen einfache  Natürlichkeit  des  Ausdrucks, 
die  dem  starren  Marmor  Geist  und  Gemüt  ein- 
haucht und  die  Handlung,  selbst  der  Götter  und 
Heroen,  zu  einem  schlicht  menschlichen  Vor- 
gang macht.  Für  Warsberg  war  es  mit  der 
antiken  Kunst  wie  mit  der  Natur,  von  der  er 
einmal  sagt:  »Es  ist  unwahr,  die  Natur  nur 
formell,  nicht  auch  eine  Seele  in  ihr  zu  sehen. 
Sie  atmet  und  spricht  wie  alles  Irdische.«     Die 


—     333     — 

Schönheit  einer  orientalischen  Landschaft,  eines 
antiken  Reliefs,  eines  Menschen  jener  begnadeten 
Rassen  verrieten  ihm  die  Seele  der  antiken 
Menschheit,  erklärten  ihm  Homer  und  die  alten 
Tragiker.  Die  Schönheit  eines  jungen  Burschen, 
der  ihm  zum  Führer  diente,  rief  ihm  die  Verse 
des  Euripides  in  den  Bacchantinnen,  welche  den 
Dyonisos  schildern,  ins  Gedächtnis  und  als  er 
denselben  Typus  bei  einer  Terracottastatue  und 
auf  einer  Münze  wiederfand,  schrieb  er:  »So 
werden  diese  Verse  ganz  natürlich,  wie  jene 
schönen  Münzenbilder  begreiflich.  Die  einen 
wie  die  anderen  sind  nur  Nachahmungen  der 
Natur,  nicht  wie  unsere  Schulen  es  glauben 
und  die  Kunstakademien  es  lehren,  ideale 
Schöpfungen,  gleichsam  ausgebildet  wie  Faust 
seinen  Homunculus  erschaffen  will.  Darum  sind 
sie  so  lebendig  und  berühren  uns  so  anmutig, 
während  die  nach  antiken  Mustern  ausgeführten 
Kunstwerke  uns  kalt  lassen  und  steif  und  leblos 
scheinen.  Daher  freuen  uns  auch  solche  Be- 
gegnungen in  den  antiken  Ländern  mit  dem 
klassisch  gebliebenen  Leben  so  sehr,  weil  sie 
uns  die  ganze  ursprüngliche  Realität,  das  echt 
Humane  der  alten  Kunstwerke  und  Dichtungen 
dartun.  Das  ist  der  doppelte  Vorteil  der 
Reisen  auf  dem  klassischen  Boden,  dass  sie  uns 
zugleich  die  Wahrheit  der  Kunstwerke  erschliessen ; 
durch  die  Kunstwerke  aber  auch  den  ganzen 
schönen  Inhalt  der  Landschaften  zu  erkennen 
und  nachzufühlen  geben.  Klassisch  schön  — 
das  müssen   wir    uns   diesen  gewonnenen  Über- 


—     334     — 

Zeugungen  gegenüber  eingestehen  —  werden 
unsere  eigenen  Kunstschöpfungen  und  Dich- 
tungen erst  wieder  sein,  wenn  wir  wieder  ein- 
mal in  solchen  schönen  Landen  und  mit 
Menschen  wie  dieser  Antoniades  (so  hiess  jener 
Bursch)  alltäglich  leben  werden.  Goethe  hat 
sein  Siegel  auf  diese  Frage  gedrückt:  »Natur 
und  Kunst  nicht  mehr  zu  trennen.« 

Auf  seinen  Wunsch  verschob  ich  meine  Ab- 
reise bis  nach  den  Weihnacht-  und  Neujahrs- 
festtagen. Den  Weihnachtsabend  verbrachten 
wir  bei  Freunden  von  ihm  in  gemütlicher 
Weise.  Warsberg  war  besonders  ernst  und  ge- 
dankenvoll an  dem  Abend,  und  als  wir  um 
Mitternacht  noch  alle  beim  Tee  zusammen- 
sassen  und  plötzlich  die  grosse  Glocke  von  San 
Marco  langsam  und  feierlich  durch  die  Nacht 
schallte  und  die  Gläubigen  zu  der  Christmesse 
einlud,  da  sagte  er  leise  wie  für  sich  hin^  »So 
hat  sie  auch  einst  dem  Marino  Falieri  ertönt.« 
Dass  ihm  nun  gerade  wieder  die  schwermütige 
Erinnerung  an  das  tragische  Ende  dieses  Dogen 
an  dem  heiteren  Festabend  kam,  war  sicher  ein 
Beweis,  dass  Todesahnungen,  mehr  als  seine 
Umgebungen  es  glaubten,  oft  durch  seine  Seele 
zogen  und  vielleicht  dachte  er  in  dem  Augen- 
blick, dass  diese  Glocke  ihm  nicht  wieder  zum 
Feste  läuten  werde. 

So  ging  nun  das  Jahr  88  zu  Ende,  dem  ich 
die  persönliche  Bekanntschaft  dieses  seltenen 
Menschen  verdankte,  dessen  Freundschaft  mir  wie 
eine    Blume    am   Grabesrand    erblüht   war,    die 


—    335     — 

wie  ich  mit  Recht  hoffen  durfte,  auch  über 
meinem  Grabe  noch  fortblühen  werde.  Am 
2.  Januar  schied  ich  von  Venedig,  um  in  mein 
römisches  Heim  zurückzukehren.  Das  Scheiden 
wurde  mir  diesmal  nicht  so  schwer,  da  baldiges 
Wiedersehen  in  Aussicht  stand,  weil  er  in  Kürze 
nach  Corfu  wollte,  um  die  ersten  Anordnungen 
zum  Bau  der  kaiserlichen  Villa  zu  treffen  und 
auf  dem  Wege  kurze  Rast  in  Rom  zu  halten 
gedachte.  Anfang  Februar  erschien  er  schon 
unangemeldet  und  verbrachte  einen  gemütlichen 
Abend  bei  mir.  Den  Tag  darauf  waren  wir 
beide  zu  Donna  Laura  Minghetti,  welche  ihm 
auch  eine  werte  Freundin  war,  zum  Diner  ein- 
geladen. Lange  hatte  ich  ihn  nicht  so  gemüt- 
lich, liebenswürdig,  so  geistvoll  ergiebig  ge- 
sehen, wie  an  diesem  Abend  in  unserem  har- 
monischen Trio.  Das  Gespräch  wendete  sich 
von  heiter  anmutigen  Dingen,  von  künstlerischen 
Gegenständen  zu  den  ernstesten  Lebensfragen. 
Er  erwähnte  dabei  eines  mystischen  Philosophen, 
den  er  über  alles  schätzte,  und  als  er  den  Namen 
Du  Prel  nannte,  erinnerte  ich  mich  einer  Stelle 
aus  einem  seiner  Briefe  vor  unserer  persönlichen 
Bekanntschaft,  in  der  er  sagte:  »Es  sollte  sich 
heutzutage  mehr  um  eine  Philosophie  des 
Menschen,  um  eine  Kenntnis  seiner  selbst,  als 
um  Menschheit,  Natur  und  Welt  im  allgemeinen 
handeln.  Erkenne  dich  selbst,  damit,  so  alt 
der  Rat  ist,  geben  sich  nur  die  Wenigsten  ab 
und  mir  scheint,  da  wäre  ebensoviel  als  in  den 
Gestirnen,    in  Wasser,   Erde   und  Feuer  zu   ent- 


—     336    — 

decken.  Ein  Philosoph,  Baron  du  Prel,  wandelt 
auf  diesen  Wegen.  Sie  streifen  daran,  sind  sich 
der  Aufgabe  aber  noch  nicht  ganz  bewusst.« 
Von  diesem  Philosophen  sprach  er  nun  an  dem 
Abend  und  sagte,  dass  derselbe  behaupte,  unser 
Selbstbewusstsein  erschöpfe  durchaus  nicht  den 
ganzen  Inhalt  unseres  Wesens,  welches  noch 
einen  transcendentalen  Teil  enthalte,  nicht  duali- 
stisch vom  ersteren  getrennt,  sondern  monistisch 
mit  ihm  verbunden,  wie  eine  zweite  Seele,  deren 
Fähigkeiten  weit  über  das  Tagesbewusstsein  hin- 
aus gingen.  Du  Prel  stütze  sich  dabei  auf  Kant 
und  hebe  die  Wichtigkeit  hervor,  diese  zweite  Seele 
zu  erkennen  und  ihre  durchaus  individuelle,  allen 
pantheistischen  Ideen  von  Fortdauer  entgegen- 
gesetzte Existenz  zu  beweisen,  die,  wenn  aus  ihren 
Schranken  befreit,  das  Unvergängliche  sein  müsse. 
Ich  stimmte  dieser  Ansicht  insofern  bei,  als 
es  mir  schien,  dass  diese  zweite  Seele  in  uns 
entbinden,  ungefähr  dasselbe  meine,  wie  das,  was 
ich  mir  längst  so  ausgedrückt  hatte:  den  Gott 
in  uns  erlösen.  Dass  diese  Aufgabe  allein  dem 
Leben  Wert  verleihe,  damit  war  ich  völlig  ein- 
verstanden, und  dass  das  einmal  Geist  Gewordene 
in  irgend  einer  Weise  ewig  sei,  glaubte  und 
glaube  ich  auch.  Warsberg  sprach  lange  über 
diese  Ansichten ;  nie  war  er  mir  liebenswürdiger 
erschienen,  als  an  jenem  Abend,  es  lag  eine 
sanfte  Verklärung  über  seinem  Wesen,  er  war 
wie  ein  Scheidender,  der  weiss,  dass  er  den 
Freunden  nur  sichtbar  entschwindet,  dass  er  aber 
in  ihrer  Liebe   seiner  Unsterblichkeit  sicher  ist. 


—    337     — 

Die  Nachrichten,  die  ich  aus  Corfu  erhielt, 
bestätigten  die  Sorge,  mit  der  ich  ihn  diese 
Aufgabe  übernehmen  und  die  Reise  hatte  machen 
sehen.  Eine  Erkältung  hatte  ihm  zu  dem  chro- 
nischen Katarrh  noch  eine  Bronchitis  mit  Fieber 
gegeben,  dabei  war  er  unausgesetzt  tätig,  die 
bezaubernde  Schöpfung,  die  er  plante,  vorzu- 
bereiten, kehrte  nur  halb  geheilt  nach  Neapel 
zurück,  war  dort  auch  unausgesetzt  beschäftigt 
und  erschien  endlich  wieder  zu  kurzer  Rast  in 
Rom.  Sein  Aussehen  war  aber  so  verändert, 
dass  es  die  bangste  Besorgnis  einflösste  und  ich 
nur  noch  eine  Hoffnung  hatte,  dass  er  sich  jetzt 
in  der  vollständigen  Ruhe  seines  venetianischen 
Heims  werde  pflegen  und  wieder  erholen  können. 
Aber  auch  das  sollte  nicht  sein.  Kaum  war  er 
dort  angelangt,  so  rief  ihn  ein  Telegramm  der 
Kaiserin  nach  Wien  und  trotz  des  vom  Arzt 
beglaubigten  Protests  musste  er  in  der  noch 
schlechten  Jahreszeit  in  das  nordische  Klima 
reisen.  Natürlich  wurde  er  todkrank  in  Wien, 
ich  bekam  fortwährend  durch  die  Freunde  Nach- 
richten, leider  immer  der  schlimmsten  Art,  aber 
Anfang  Mai  schickten  ihn  die  Ärzte,  die  wohl 
am  Ende  ihrer  Weisheit  waren,  wie  sie  dann 
zu  tun  pflegen,  nach  Venedig  zurück.  Ich  wäre 
gern  gleich  hin  geeilt,  um  ihn  zu  pflegen,  aber 
ein  Freund  und  eine  verwandte  Dame  waren 
mitgekommen  und  das  hielt  mich  zurück.  Doch 
erhielt  ich  beinah  täglich  Nachricht  durch  den 
ihm  innigst  ergebenen  De  Rosa,  ersten  Sekretär 
des  Konsulats,  einen  vortrefflichen  Mann,  in  den 

Mey  se  nbug  ,  IV.  aa 


-     338     — 

auch  Warsberg  das  grösste  Vertrauen  setzte. 
Auf  einen  Brief,  den  Warsberg  ihm  an  mich 
diktiert  hatte,  worin  er  sagte,  dass  sein  Leben 
hart  gewesen  sei,  antwortete  ich  ihm :  :^ Sein  Sie 
hohen  Mutes,  lieber  Freund  1  Ja,  Ihr  Leben 
ist  hart  gewesen,  aber  es  ist  auch  schön  gewesen, 
wie  wenig  Leben,  denn  Sie  haben  an  dem  Born 
der  ewigen  Schönheit  getrunken  und  wenn  ich 
in  Ihren  Büchern  lese  von  den  Stunden,  wo  Sie 
im  Orient  einsam  in  den  heiligsten  Entzückungen 
mit  dem  Weltgeist  verkehrten,  dann  finde  ich 
Sie  beneidenswert.  Die  Stunden  der  irdischen 
Qual  sind  hart  und  ich  gäbe  alles  darum,  könnte 
ich  Sie  davon  befreien,  aber  Sie  haben  sich 
schon  die  Ewigkeit  erschlossen  und  die  Spur 
von  ihren  Erdentagen  kann  nicht  mehr  unter- 
gehen.« 

Endlich  kamen  dann  aber  Briefe  und  Tele- 
gramme, die  mich  dringend  aufforderten  zu 
kommen,  und  so  machte  ich  so  schnell  ich 
konnte  meine  Vorkehrungen  für  den  Sommer, 
da  ich  dann  jedenfalls  von  Venedig  aus  wieder 
zu  Olga  wollte  und  fuhr  nach  Venedig  in 
schmerzlicher  Spannung,  ob  ich  den  Freund 
noch  am  Leben  finden  würde.  Am  Bahnhof 
empfingen  mich  sein  Bruder  und  der  treue  Rosa 
und  sagten  mir,  dass  er  noch  lebe,  dass  ich 
mich  aber  auf  das  Schlimmste  gefasst  machen 
müsse.  Er  hatte  sich  gefreut,  als  man  ihm 
sagte,  dass  ich  komme  und  hatte  befohlen,  mich 
gleich  zu  ihm  zu  führen.  Ich  fand  ihn  im  Lehn- 
stuhl sitzend,  die  geschwollenen  Füsse  auf  Kissen 


—    339    — 

ausgestreckt,  das  Antlitz  noch  bleicher  als  früher, 
nur  die  Augen  leuchteten  von  Geistesklarheit 
und  auf  seinen  Zügen  lag  der  Frieden  der  Über- 
winder. Es  waren  mehrere  Bekannte  im  Zimmer, 
durch  die  geöffneten  Fenster  strömte  liebliche 
Mailuft  und  die  Wipfel  der  herrlichen  alten 
Bäume  seines  Gartens  schauten  grüssend  herein. 
Als  man  mich  mit  ihm  allein  Hess,  sagte  er: 
»Erlösung,  Erlösung  1  Anderes  können  Sie  mir 
nicht  wünschen.«  Ich  musste  ihm  recht  geben, 
wenn  auch  mit  tiefem  Schmerz;  aber  es  hätte 
mir  seiner  und  meiner  unwürdig  geschienen 
in  diesen  feierlichen  Stunden,  angesichts  des 
grossen  Lebensabschlusses,  der  unaufhaltsam 
heran  schritt,  eine  eitle  Hoffnung  auszusprechen. 
Den  Nachmittag  verbrachten  wir  in  lauter  guten, 
sanften  Gesprächen,  bis  ich  zum  Abendbrot  in 
die  unteren  Räume,  wo  die  übrigen  Haus- 
bewohner versammelt  waren,  gerufen  wurde. 
Warsberg  sollte  sich  zur  Ruhe  begeben  und  ich 
sagte  ihm  daher  gute  Nacht,  immer  noch  leise 
hoffend,  dass  bei  der  völligen  Geistesklarheit,  in 
der  ich  ihn  sah,  die  Katastrophe  noch  hinaus- 
geschoben sein  könne.  Auch  war  die  Art,  wie 
er  mir  gute  Nacht  sagte,  so  freundlich,  fast 
heiter,  aus  seinen  Augen  leuchtete  so  siegend 
seine  Seele,  dass  ich  wenigstens  sicher  auf  ein 
morgen  hoffte.  Wir  waren  aber  noch  nicht 
lange  unten  beim  Essen  versammelt,  als  man 
uns  wieder  hinauf  rief,  vor  allen  den  Arzt,  der 
mit  da  war,  weil  der  Kranke,  indem  er  sich 
in    sein    Schlafzimmer    hatte    begeben    wollen. 


22* 


—     340     — 

zusammengebrochen  war.  Ich  eilte  mit  den 
andern  hinauf,  denn  es  wäre  mir  unmöglich 
gewesen  mich  zur  Ruhe  zu  begeben,  so  lange 
er  noch  da  und  das  Unwiderrufliche  noch  nicht 
eingetreten  war.  Wir  fanden  ihn  aber  schon 
ruhig  und  bewusst  in  seinem  Schlafzimmer  im 
Lehnstuhl  sitzend.  Die  Fenster  waren  offen  und 
die  Mainacht  strahlte  mit  tausend  Sternen  über 
dem  von  ihm  so  geliebten  Garten,  in  stiller 
Feier  das  grosse  Mysterium  erwartend.  Ich  ver- 
riet ihm  meine  Gegenwart  nicht,  weil  ich  dachte, 
es  würde  ihn  beunruhigen,  mich  da  zu  wissen, 
da  er  mich  nach  der  Reise  ruhebedürftig  wähnte. 
In  solchen  Augenblicken  aber  bewährt  sich  die 
Macht  des  Geistes  über  den  Körper,  man  lebt 
nur  mit  der  Seele,  das  Gesetz  der  Schwere  ist 
aufgehoben,  und  wenn  uns  etwas  von  der  Fort- 
dauer unseres  geistigen  Seins,  unabhängig  von 
der  irdischen  Hülle,  überzeugen  kann,  so  ist  es 
eben  in  diesen  Momenten.  Ich  setzte  mich  zu 
Raupten  seines  Lagers,  so  dass  er  mich  nicht 
sehen  konnte,  die  Hausgenossen  alle,  der  Arzt 
und  die  barmherzige  Schwester,  welche  die 
letzten  Nächte  bei  ihm  gewacht  hatten,  waren 
anwesend.  Er  sprach  Verschiedenes  mit  klarer 
fester  Stimme,  verordnete,  wie  man  die  Nonne, 
deren  Sorgfalt  er  lobte,  belohnen  solle,  verlangte 
nach  Tee,  seinem  Lieblingsgetränk,  und  sagte 
endlich  mit  dem  Tone  innigster  Überzeugung: 
»Ich  bin  doch  glücklich  gewesen,  es  haben  mich 
doch  viele  lieb  gehabt.«  Wer  konnte  bei  dieser 
Geistesklarheit,    bei  diesem  immer  noch  beinah 


—     341     — 

kräftigen  Sprechen  und  an  alles  Denken,  an 
ein  ganz  nahes  Ende  glauben?  Es  war  so  feier- 
lich, so  versöhnt,  so  erhaben  dieses  Sterben,  wie 
das  eines  antiken  Weisen.  So  müssen  Sokrates 
und  Seneca  gestorben  sein  und  es  hätte  mich 
nicht  überrascht,  wenn  dieser  letzte  Grieche  auch 
die  Opferschale  erhoben  und  Jupiter  dem  Be- 
freier ein  Dankopfer  dargebracht  hätte. 

Als  die  Glocke  draussen  Mitternacht  ver- 
kündete, atmete  ich  fast  auf  in  der  Hoffnung, 
es  könne  uns  noch  ein  anderer  Tag  geschenkt 
werden,  und  dann  könne  mein  römischer  Arzt 
kommen,  den  Warsberg  sehr  liebte  und  dem 
ich  telegraphiert  hatte,  und  dann  könne  am 
Ende  noch  Rettung  werden.  Ein  sanfter 
Schlummer  hatte  sich  auf  ihn  niedergesenkt. 
Ich  war  indes  an  das  offene  Fenster  getreten 
und  schaute  in  die  Sternennacht  hinaus;  Zeit 
und  Raum  waren  mir  verschwunden  und  die 
Brücke  wölbte  sich,  welche  in  die  Ewigkeit,  in 
das  von  der  Erscheinung  Losgebundene  hinüber 
leitet.  Schon  schwebte  auch  der  schöne  ernste 
Genius  heran,  um  den  holden  Zwillingsbruder 
Schlaf,  abzulösen.  Um  zwei  Uhr  öffnete  der 
Sterbende  die  Augen  weit,  sah  wie  überrascht 
auf  seine  Umgebung,  dann  kam  ohne  An- 
strengung ein  kurzer  Blutsturz  und  der  treue 
Bruder,  der  ihn  im  Arm  hielt  und  eine  Hand 
auf  sein  Herz  gelegt  hatte,  sagte  nur:  es  ist 
vorbei  und   drückte  ihm   die  müden  Augen  zu. 

Ich  hatte  an  den  vielen  Sterbebetten,  an 
denen    ich   schon   gestanden,   nie   so   stark    wie 


—     342     — 

hier  das  beinah  zweifellose  Gefühl,  dass  sich  da 
wirklich  das  Geistige  aus  den  engen  Schranken 
der  Erscheinung  befreit  habe  und  in  seine 
wahre  Heimat  zurückgekehrt  sei,  die  zweite 
Seele,  an  die  er  mit  Du  Prel  glaubte  und  die 
siegend  über  den  „Erdengeist«  aufstieg  in  die 
Freiheit.  In  edler  verklärter  Ruhe  lag  die  ver- 
lassene Hülle  da,  diejenige  eines  Helden,  der  ihn 
ausgekämpft  hat,  den  heissen  Kampf  des  Daseins, 
immer  mit  den  Waffen  des  edelsten  Idealismus, 
welcher  stets  durch  die  Schwächen,  die  allem 
Irdischen  ankleben,  versöhnend  hindurch  brach. 
So  ruhte  sein  Sterbliches  von  Blüten  aller  Art 
umgeben  noch  zwei  Tage  in  dem  von  ihm  ge- 
schaffenen künstlerisch  prächtigen  Heim.  Erst 
als  man  ihn  hinaustrug  auf  die  Gondel,  die  ihn 
zur  Bahn  bringen  sollte,  um  ihn  nach  Graz  zu 
fuhren,  wo  er  in  der  Gruft  bei  seinen  Eltern 
zu  ruhen  gewünscht  hatte,  trat  das  volle  Gefiihl 
des  Verlustes  und  der  Öde,  die  auf  diese 
wie  ein  Traum  verwehte  Poesie  des  Palastes 
Modena  folgen  würde,  in  voller  Stärke  ein. 

Aller  Orten  erhoben  sich  Stimmen,  seinem 
Andenken  den  Tribut  ehrender  Sympathie  zu 
zollen,  ganz  besonders  war  dies  der  Fall  aus 
der  Heimat  seines  Herzens,  aus  Griechenland. 
Die  Welt  hat  heutzutage  nicht  mehr  Zeit,  den 
Geschiedenen  jenen  schönen  Kultus  zu  weihen, 
wie  die  antike  Welt  es  tat  und  von  dem 
Warsberg  so  ahnungsvoll  schön  schrieb:  »Kann 
dieser  Totenkultus  nicht  ein  instinktives  Ver- 
stehen,   das    Ahnen    einer   Wahrheit   sein,    die 


—    343     — 

noch  verschlossen  und  vielfach  bezweifelt,  doch 
die  Grundlage  unseres  ganzen  Wesens  ausmacht  ? 
Solch  ein  Hügel,  eine  Säule,  ein  einfacher  Stein, 
eine  Inschrift,  wahren  dem  Menschen  über  Jahr- 
tausende hinaus  das  Andenken  bei  den  Nach- 
kommenden, in  ihrer  Erinnerung  lebt  er  wieder 
auf,  lebt  geläutert  fort.  Immer  reiner,  immer 
makelloser  werden  seine  Züge,  alle  Schlacken 
fallen  ab,  so  dass  zuletzt  nur  noch  ein  ideales 
Bild  von  ihm  bleibt.  Warum  aber  soll  diese 
Unsterblichkeit,  die  ihm  auf  Erden  wird,  nicht 
auch  in  einer  anderen  Welt  möglich  sein?  Wa- 
rum für  den  geistigeren  Teil  unseres  Wesens, 
für  die  Seele,  nicht  das  gelten,  was  unserem 
irdischen  Andenken  zuteil  wird?  Warum  soll 
nicht  vielleicht  gerade  dieses  immer  sich  ver- 
vollkommnende Bild  der  Erinnerung,  der  gleich- 
zeitige Abdruck  des  inzwischen  erlösten  und 
verklärten  Geistes  sein?« 

So  wird  auch  er,  geläutert  von  allen  irdischen 
Mängeln,  als  ein  ideales  Bild  in  den  Herzen 
derer,  die  ihn  kannten,  fortleben.  In  ihm  starb 
ein  Mensch,  der  durch  seine  innere  Idealität 
berufen  war,  die  höchste  Aufgabe  zu  erfüllen, 
welche  die  Zukunft  sowohl  dem  Individuum, 
wie  der  Menschheit,  vorbehält,  nämlich  das  Leben 
selbst  zum  Kunstwerk  im  vollendeten  ethischen 
und  ästhetischen  Sinn  zu  gestalten.  Dass  es 
ihm  nicht  vergönnt  war,  diese  Aufgabe  ganz  zu 
erfüllen,  das  war  die  Missgunst  des  Schicksals, 
welches  es  Sterblichen  nur  so  selten  vergönnt, 
eine  ganz  vollendete  Existenz  zu  erreichen. 


Gedachtes. 

Heute  wurde  über  die  Tätigkeit  von  Paul 
Desjardin  gesprochen  und  sie  wurde  verkleinernd 
kritisiert.  Freilich  kann  er  keine  neue  Religion 
gründen  und  ist  vielleicht  etwas  klerikal,  aber 
es  ist  immer  etwas,  wenn  ein  Mensch  gut  ist, 
Gutes  tut,  und  seinen  Mitmenschen  ein  hülf- 
reiches Wohlwollen  zeigt.  Das  erwärmt  die 
Herzen  und  treibt  vielleicht  mehr  als  eines,  auch 
gut  zu  sein.  Das  Beispiel  ist  eine  grosse  Macht 
in*  der  Erziehung  und  dem  menschlichen  Ver- 
kehr. Taten  Christus  und  Buddah  im  Grunde 
etwas  anderes  als  das  Beispiel  einer  erhabenen 
Persönlichkeit  geben?  Nur  die  Schwachen  und 
die  Ehrgeizigen  haben  daraus  dogmatische 
Kirchen  gemacht.  Wer  von  denen  hat  es  ver- 
standen, warum  Christus  sagen  konnte,  dass  er 
Gottes  Sohn  sei?  Sie  haben  das  materialisiert, 
so  wie  sie  die  einfache  Grösse  seiner  Lehren 
materialisiert  haben.  Gut  zu  sein,  ist  so  natürlich, 
so  einfach:  das  ganze  soziale  Problem  bestände 
darin,  die  Verhältnisse  zu  schaffen,  welche  den 
Menschen  erlaubten,  gut  zu  sein.     Ja,  das  ganze 


—     346    — 

Problem  des  irdischen  Lebens  wäre  gelöst,  wenn 
es  einem  jeden  möglich  würde,  aus  sich  selbst 
alles  zu  machen,  was  seiner  Natur  nach  möglich 
ist;  damit  wäre  alles  erreicht,  was  die  Unvoll- 
kommenheiten  des  Daseins  auf  dem  Erdball  zu 
erreichen  erlauben. 

Was  aber  die  grossen  Offenbarungen  be- 
trifft, welche  aus  den  Quellen  eines  ewigen 
Lichts  zu  kommen  scheinen,  die  werden  stets 
nur  das  Ergebnis  der  grössten  Seelen,  der 
reinsten  Genien  sein.  Ja,  Beethoven  offenbarte 
eine  neue  Religion;  ich  fühle  mich  immer 
innerlich  auf  den  Knieen,  in  seiner  verklärten 
Welt,  wenn  ich  ihn  höre.  Aber  das  ist  zu  er- 
haben für  die  Masse! 


Das    irdische    Ich    ist    auch    das    Du,    die  | 

universelle    Einheit    im    Göttlichen,    Erhabenen,  | 

daher  ist  auch  das  Mitleid  das  wahrhaft  Ethische. 
Das  Dichter-Ich  ist  das  auch  in  anderer  Form, 
d.   h.   die   Welt  der  Ichs,   welche   der   Dichter  J 

in  sich  trägt.  Das  Ich  Nietzsches  ist  die  Ver- 
neinung aller  Ethik,  denn  es  ist  das  Ich  in 
seiner  impotenten  Vereinzelung,  der  Egoist,  sei 
er  auch  noch  so  begabt. 


Herr    von   Wolzogen    sagt    bei    Gelegenheit 
einer  Besprechung  vom   Buche  des  Grafen  Go- 


—    347     — 

bineau:  »Jede  Gesellschaftsbildung  trägt  in  ihrem 
Bildungsferment  schon  den  Todeskeim  in  sich, 
etwa  wie  jede  Zeugung  nach  tief  religiöser  Auf- 
fassung den  Samen  jener  ewigen  Schuld  des 
Lebens  in  sich  trägt,  auf  welcher  nach  Schopen- 
hauer die  Todesstrafe  steht.«  Ja,  aber  die 
Zeugung  muss  da  sein,  damit  die  Erlösung  sein 
könne.  Das  ist  der  Sinn  des  christlichen 
Mythus.  Christus  musste  geboren  werden,  um 
Erlöser  werden  und  als  solcher  sterben  zu  können. 


Nichts  ist  so  reizend,  als  das  erste  Er- 
wachen des  forschenden  Geistes,  sein  Erstaunen 
über  die  Rätsel  des  Lebens  und  der  Welt  und 
die  ersten  Fragen,  die  er  sich  stellt.  Ich 
empfand  es  eben  mit  inniger  Freude,  als  ich, 
allein  mit  Olgas  zwei  jüngsten  Kindern,  in 
Versailles  bei  meinem  jährlichen  Sommerauf- 
enthalt ein  langes  Gespräch  mit  ihnen  hatte. 
Da  müsste  die  Erziehung  ihre  höchste  Aufgabe 
sehen  und  bei  solchen  Fragen  in  sokratischer 
Weise  zu  eignen  Antworten  anregen,  anstatt 
mit  fertigen  Sentenzen  den  suchenden  Intellekt 
zu  ersticken. 


Ich  antwortete  einem  Positivisten,  welcher 
leugnete,  dass  die  Keime  zu  geistiger  und  mora- 
lischer Entwicklung  a  priori  in  der  menschlichen 


—    348    — 

Natur  lägen,  und  behauptete,  sie  seien  nur  Folge 
der  Gemeinschaft  und  Gewöhnung:  Gut  geben 
wir  zu,  dass  das  Sittengesetz  erst  aus  der  Ge- 
meinschaft enstanden  sei  und  sich  dem  Kausal- 
gesetz folgend  mit  der  Geschichte  entwickelte; 
für  unser  Verhalten  ist  das  genügend,  denn  da 
gilt  der  kategorische  Imperatif;  sobald  das  In- 
dividuum sich  einer  Gemeinschaft  anschliesst, 
übernimmt  es  die  Pflicht  den  Gesetzen  derselben 
gemäss  zu  leben.  Dazu  braucht  von  keinem 
metaphysischen  Grund  die  Rede  zu  sein:  der 
Grund  der  Verpflichtung  ist  die  Gemeinschaft, 
und  der  Begriff  der  Verpflichtung  entwickelt 
sich  weiter  im  Individuum  mit  der  Entwicklung 
der  Gemeinschaft.  Darauf  beruht  das  Gesetz,  be- 
ruht alles  staatliche  und  gesellschaftliche  Leben. 
Aber  der  Keim  zum  Begriff"  der  Sitte  muss 
a  •  priori  da  sein,  ebenso  wie  der  Keim  zum 
Denken  da  sein  muss.  Aus  nichts  kann  nichts 
entstehen.  Die  Möglichkeit  zu  geistiger  und 
moralischer  Entwicklung  ist  mit  dem  Organismus 
Mensch  gegeben.  Auf  den  untersten  Stufen  ent- 
wickelt sich  der  Keim  nur  erst  in  gröbster  Weise, 
er  wächst  zu  dem  geistigen  Wesen  der  Mensch- 
heit heran  und  statt  von  Gott  auszugehen,  erhebt 
er  sich  zum  Göttlichen,  d.  h.  zum  Idealen.  Doch 
schon  in  den  höheren  Tieren  kann  man  durch 
Gewöhnung  und  Erziehung  eine  gewisse  an  das 
Geistige  streifende  Entwicklung  bewirken,  zu 
welcher  der  Keim  aber  da  sein  muss,  sonst  könnte 
es  mit  aller  Mühe  nicht  dazu  kommen.  So  er- 
zählte mir  eine  Bekannte,   welche  eine  Vorliebe 


—     349     — 

für  Katzen  hatte,  dass  sie,  sobald  sie  eine  Katze 
allein  bei  sich  hatte  und  sich  mit  ihrer  Erziehung 
beschäftigte,  es  durchaus  möglich  war,  einen  ge- 
wissen Grad  von  Verständnis  und  Kultur  zu 
entwickeln.  Überliess  sie  sie  aber  der  Gemein- 
schaft mit  anderen  Katzen,  so  blieb  der  Keim 
eben  unentwickelt,  und  die  blinden  Triebe 
herrschten  vor.  Man  sprach  bei  der  Gelegenheit 
von  Caspar  Hauser;  eingeschlossen  und  allein 
blieb  er  ein  stumpfes,  tierähnliches  Wesen,  aber 
herausgezogen  in  die  Gemeinschaft  entwickelte 
sich  alsbald  die  ihm  innewohnende  Möglichkeit. 
Das  konnte  ihm  doch  nicht  plötzlich  eingeblasen 
sein.  Und  die  Gewöhnung  selbst,  woher  kommt 
sie?  Sie  ist  doch  nur  der  sich  immerfort  ent- 
wickelnde und  erweiternde  Begriff  des  Unter- 
schieds von  Gut  und  Böse,  zu  dem  der  Urgrund 
da  sein  muss  in  den  weitesten  Urfemen  des  Da- 
seins, wenn  man  will,  aber  doch  da  sein  muss, 
gerade  wie  die  Wurzel  da  sein  muss,  damit  die 
Pflanze  komme  und  wachse.  Und  das  Genie  — 
kann  es  durch  Gewöhnung  erzeugt  werden? 


Meine  Antwort  an  einen  Zweifler,  der  mir 
schrieb,  es  sei  eigentlich  unnütz  zu  schaffen, 
da  doch  alles  dem  Nichts  verfalle:  Nein,  teilen 
Sie  die  Werke  in  zwei  Hälften ;  die  eine  Hälfte, 
die  nur  von  der  Welt  der  flüchtigen  Erscheinung 
handelt,  verfällt  dem  Nichts  wie  alles,  was  nur 
Erscheinung    bleibt,    auch    die   Menschen.      Die 


—    350    — 

andere  Hälfte  aber,  in  welcher  der  Funke  ewiger 
Schönheit  glüht,  verfallt  nicht  dem  Nichts;  sie 
hat  sich  eingereiht  in  den  Accord  der  grossen 
Symphonie,  welche  im  Grrunde  der  Dinge  tönt, 
welche  die  wahren  Künstlerseelen  von  fern  in 
ihren  Träumen  ahnen  und  welche  sie  hören 
werden,  wenn  die  Form  zerbrochen  ist  und  sie 
es  erreicht  haben,  nicht  mehr  wiedergeboren 
werden  zu  müssen.  Die  Inder  haben  das  alles 
schon  gewusst. 


In  der  Ironie  befreit  sich  das  Individuum  von 
seiner  Entrüstung  über  die  Unnatur  der  Welt, 
im  Humor  erhebt  sich  das  Individuum  über  sich 
selbst.  Beide  sind  sittliche  Äusserungen;  jene 
hat  es  nur  mit  der  Lüge  und  den  Kontrasten 
von  Schein  und  Wesen,  dieser  mit  der  Ver- 
söhnung von  Schmerz  und  erhabener  Heiterkeit 
zu  tun.  Daher  ist  in  jener  Bitterkeit,  in  diesem 
verzeihende  Güte. 


Im  Juni  1890,  als  ich  im  Begriff  war,  Italien 
für  den  Sommer  zu  verlassen,  war  ich  noch  ein- 
mal in  der  Villa  Mattei,  wo  ich  wonnevolle 
Stunden  der  Einsamkeit  im  FrühHng  zu  geniessen 
pflegte,  da  ich  durch  die  Güte  des  Besitzers 
immer  freien  Zutritt  darin  hatte.  Es  kostete  mir 
jedes  Jahr  einen  grossen  Entschluss,  Italien  zu 
verlassen,    dessen    zaubervolle    Schönheit    mich 


—    351     — 

dann  erst  ganz  in  ihrer  Vollendung  umfing,  wie 
ich  denn  auch  der  Ansicht  bin,  dass  die  meisten 
Reisenden  Italien  nur  halb  kennen,  weil  sie  fort- 
gehen, wenn  der  Höhepunkt  der  Schönheit  an- 
fängt. An  jenem  Morgen  nun  umfing  mich  wieder 
die  Macht,  von  der  Hafiz  sagt: 

»Denn  dass  der  Schönheit  Alkoran 
Allmächtig  sei,  das  ist  kein  Wahn« 
und   umflutet  von   dem    reinen  Licht   und  still 
beglückt  von   dem    Einssein    mit   dieser  seligen 
Natur,    schrieb     ich    folgende    Verse    in    mein 
Tagebuch : 

»Teures  Lichtland,  deinen  Frieden 
Senkst  in  meine  Seele  du; 
Wenn  ich  fern  von  dir  geschieden. 
Seh  ich  träumend  deine  Helle, 
Trägt  mich  der  Erinnrung  Welle 
Deiner  heil'gen  Ruhe  zu. 

Mit  der  unnennbaren  Milde, 
Wie  sie  Phidias  erfand 
Für  die  göttlichen  Gebilde, 
Ruhst  du  in  der  Schönheit  Wonne 
Unbekümmert  gleich  der  Sonne, 
Ob  dein  Segen  auch  erkannt. 

Stille  wird  des  Geistes  Sehnen 
Ruhe  ich  an  deiner  Brust; 
Nein,  Vollendung  ist  kein  Wähnen, 
Was  wir  im  Symbol  hier  sehen 
Wird  einst  Wirklichkeit  erstehen 
Voll  erkannt  und  voll  gewusst. 


—    352    — 

In  eben  dieser  Villa  Mattei  schrieb  ich  am 
Charfreitag:  Wie  fern  ist  Christus!  Nie  habe 
ich  es  so  gefühlt!  Eine  rührende  Gestalt 
der  Legende  und  der  Kunst,  aber  als  Wirklich- 
keit fern  und  sein  Opfertod  nur  als  Symbol  noch 
nahe!  Heiliger  Frieden  der  Natur  heute,  wie 
viel  bedeutsamer  und  schöner  als  das  Gewühl 
in  den  Kirchen. 

Ich  habe  auch  einst  am  Fuss  des  Kreuzes 
das  Gefühl  der  Gemeinschaft,  die  weltüber- 
windende Kraft  der  Entsagung  und  der  auf- 
opfernden Liebe  gesucht  und  das  Bild  des  er- 
habenen Märtyrers  am  Kreuz  ist  mir  teuer  und 
tief  bedeutungsvoll  geblieben.  Aber  den  his- 
torisch gewordenen  Kirchen  mit  ihren  Dogmen 
kann  ich  nicht  mehr  beipflichten,  so  wenig  wie 
man  jetzt  noch  den  Dionysos-Kultus  mit  feiern 
könnte,  trotzdem  der  Dionysos-Mythus  gewiss 
einer  der  schönsten  ist  und  noch  immer  das 
vollkommenste  Bild  für  unsere  Einsicht  in  das 
Wesen  der  Welt  gibt.  Zu  dem  Gekreuzigten 
der  Kirchen,  dem  Gottessohn,  gehört  der  dogma- 
tische Vater,  gehört  die  Hierarchie  in  Kirche, 
Staat,  Gesellschaft.  Der  einfache  Sohn  des 
Zimmermanns  von  Nazareth,  der  Schüler  der 
Essäer,  welche  indische  Weisheit  in  den  semi- 
tischen Monotheismus  hinüber  brachten,  wollte 
nichts  weniger  als  eine  bloss  mystische  Gleich- 
stellung der  Menschen;  er  bekämpfte  den 
jüdischen  Hochmut  mit  dem  Gleichnis  vom 
barmherzigen  Samariter ;  er  demütigte  die  Über- 
hebung  der   Pharisäer  und   Schriftgelehrten   bei 


—    353    — 

unzähligen  Gelegenheiten,  er  sagte  dem  reichen 
Jüngling  der  nur  Geisterschaum  schlürfen  wollte 
ohne  wirklich  zu  entsagen:  »gehe  hin,  verkaufe 
was  Du  hast  und  gib  es  den  Armen, 
dann  folge  mir  nach.«  Als  er  sah,  dass  der 
Kelch  nicht  an  ihm  vorüber  gehn  konnte,  dass 
es  gestorben  sein  musste  um  seiner  Überzeugung 
willen,  da  starb  er,  indem  er  seinen  Schülern 
sein  Beispiel  zur  stärkenden  Erinnerung  hinter- 
liess.  Um  seine  Gestalt  schuf  die  gläubige  ver- 
ehrende Liebe,  die  dichtende  Phantasie  und  das 
Bedürfnis,  die  Idee  zu  incarnieren,  den  Mythus 
und  das  Symbol.  In  den  ersten  Liebesmahlen  und 
dem  Glaubensmut  des  ersten  Märtyrers  kamen 
Mythus  und  Symbol  zum  ergreifenden  Ausdruck. 
Dann  aber  baute  die  egoistische  weltliche  Be- 
rechnung des  Priestertums  die  Kirche  mit  ihren 
irdischen  Tendenzen  darauf  auf  und  machte 
Mythus  und  Symbol  zur  Lüge.  Anstatt  die 
Menschen  in  der  Annahme  zu  bestärken,  dass 
Einer  ein  für  allemal  die  Erlösung  der  Mensch- 
heit vollzogen  habe,  sollte  man  es  immer  aufs 
neue  und  immer  eindringlicher  lehren,  dass 
jeder  sich  selbst  erlösen  muss  von  Sünde  und 
böser  Neigung,  jeder  aus  sich  selbst  das 
Höchste  machen  muss,  dessen  seine  Natur  fähig 
ist  und  auch  den  andern,  den  Schwachen,  mit 
Güte  und  Beispiel  helfen,  es  zu  tun.  Das  war 
die  Religion,  die  Jesus  meinte,  mit  der  nicht 
bloss  ein  einziges  Volk,  mit  der  die  Menschheit 
sich  durchdringen  und  sich  zu  ihrem  idealen  Aus- 
druck erheben  sollte.     So  steht  seine  Gestalt  in 

Meysenbug,  IV.  33 


—    354    — 

ihrer  Vollendung  vor  uns  und  fordert  uns  zur 
Nachahmung  auf.  Er  hat  es  ausgesprochen, 
das  grosse  eine  Wort,  welches  alles  in  sich 
schliesst :  Nicht  im  Tempel,  nicht  auf  dem 
Berge,  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  beten, 
leben  und  sterben.  Christliche  Welt,  betest 
und  lebst  du  so? 


Wie  wenig  Menschen  sind  Schatzgräber! 


In  dem  trefflichen  Buche  Oldenbergs  über 
Buddha  findet  sich  folgende  Stelle  über  das 
Nirwana:  »Das  Denken,  will  Säriputta  sagen, 
ist  hier  an  einem  unergründlich  tiefen  Geheim- 
nis angelangt.  Nach  einer  Enthüllung  des- 
selben soll  es  nicht  verlangen*;  der  Mönch,  der 
nach  seiner  Seelen  Seligkeit  strebt,  hat  anderes, 
dem  er  nachforschen  mag.«  Wer  aber  eine  Zu- 
kunft scharf  und  klar  verneinte,  würde  anders 
reden.  Vor  dem  Denken,  welches  ein  ewiges 
Sein  als  ein  begreifliches,  zu  bejahendes,  an- 
zunehmen zögert,  flüchten  sich  das  Verlangen 
und  die  Hoffnung  eines  Seins,  welches  höher 
ist  als  Vernunft  und  Begreifen,  hinter  den  Schleier 
des  Mysteriums. 


In   der   Republik   Venedig    verurteilte    man 
selten  auf  Grund  von  Anklagen  über  Vergehen 


—    355     — 

gegen  die  Religion.  Einmal  erschien  ein  der 
Ketzerei  Angeklagter  vor  dem  Rat  der  Zehn ; 
er  war  beschuldigt  worden,  dass  er  ketzerische 
Ansichten  über  die  Dreieinigkeit  hege.  Er  ge- 
stand, dass  er  sehr  wohl  den  Gott-Vater  und 
den  Gott-Sohn  begreife,  dass  er  aber  den  heiligen 
Geist  nicht  verstehen  könne.  »Geh  nach  Hause«, 
sagten  ihm  die  Richter.  »Du  verstehst  doch 
wenigstens  zweie,  wir  verstehen  keinen  einzigen«. 
Hätten  alle  Richter  diese  edle  Aufrichtig- 
keit, wie  viel  besser  würden  viele  Urteile  aus- 
fallen. 


Eine  Atheistin,  die  im  höchsten  Sinn  eine 
ausübende  barmherzige  Schwester  ist,  und  ein 
ohne  Christentum  unter  furchtbaren  Leiden 
heroisch,  schön  und  versöhnt  Sterbender  — 
was  könnten  selbst  die  Orthodoxen  mehr  ver- 
langen?    Ich  kenne  beide. 


Edle  Naturen  machen  eine  Stunde  des  Irr- 
tums wieder  gut,  voll,  rein,  ganz,  wenn  es 
sein  muss,  selbst  mit  dem  Leben.  Edle  Naturen 
verzeihen  aber  auch  ganz,  voll,  rein,  ohne  Hinter- 
halt. 


23* 


—    356    — 

Die  nationalen  Einheiten  sind  jetzt  der  Traum 
und  das  Motto  der  Staatsmänner  und  Volks- 
beglücker. Aber  ist  diese  Einheit  an  sich  solch 
ein  Glück?  Macht  sie  nicht  den  Egoismus  in  der 
Politik  noch  viel  schärfer  als  er  es  ausserdem 
schon  ist? 


Dagegen   ist  die  Einheit  des  Charakters  mit 
sich  selbst  das  letzte  Ziel  alles  Strebens. 


Ich  ging  eben  im  Frühling  spazieren  und 
fühlte  das  Regen  des  Genius  in  mir  und  dass 
allein  der  Umgang  mit  ihm  beseligt.  Die  Schön- 
heit empfinden  ist  das  Lächeln  des  Genius  im 
Traum,  Denken  ist  sein  Erwachen.  Nie  flieht 
der  Genius  vor  der  Erkenntnis;  im  Gegenteil, 
ihn  dürstet  nach  der  Wahrheit,  weil  er  durch 
sie  erst  die  Poesie  der  Dinge,  das  innere  Ge- 
setz ihrer  Bewegung,  ihren  Rhythmus,  ver- 
stehen lernt,  was  im  letzten  Grunde  eins  ist 
mit  ihm  selbst,  nämlich:  universelles  Leben, 
das  in  jeder  Erscheinung  sich  auf  sich  selbst 
besinnt.  So  war  der  Dämon  des  Sokrates.  Die 
Rechten  haben  es  von  jeher  gewusst.  Es  hat 
ein  jeder  seinen  Dämon,  nur  verstehen  ihn  die 
meisten  nicht.  Das  Dämonische  ist  die  zwingende 
Unruhe  im  Geist,  wenn  ein  bisher  noch  Un- 
bewusstes  ins  Leben  treten   will.     Vor   diesem 


—    357    — 

Zwang  erschrecken  aber  die  meisten,  verstecken 
sich  oder  laufen  davon. 


In  dem  Liebesverhältnis  zweier  Weltkinder 
stellte  sich  gegenseitiges  Misstrauen  ein,  und  da 
sie  beide  leidenschaftlich  waren,  verwandelte 
sich  dies  Misstrauen  bald  in  Hass. 


In  der  sogenannten  vornehmen  Gesellschaft 
gibt  es  Zuschauer,  Beobachter,  Mitspielende  oder 
besser:  Schauspieler. 


O  menschliche  Schwäche  I  Die  gute  Mei- 
nung der  Welt  zu  erkaufen  durch  Geld,  Namen, 
Rang  oder  Ruhm! 


O  Stillei  Gesegnete  1  Du,  die  allein  würdige 
Stimmungen  erzeugst!  • 


Die  Deutschen  haben  es  an  sich,  über  alles 
und  jedes  in  Italien,  besonders  in  Neapel,  zu 
schimpfen,  alles  schlecht  zu  finden,  den  Schmutz 


-    35«    - 

haarsträubend,  den  Lärm  unerträglich,  die  Hotels 
grässlich,  die  Kaffees  widerwärtig,  die  Menschen 
gemein  und  dumm.  —  O  dagegen  bei  uns  zu 
Haus!  Die  herrliche  Heimat!  Und  doch  — 
kommen  sie  alle  Jahre  wieder! 


Mit  der  Liebe  für  die  Reinlichkeit  soll  man 
sich  ebensowenig  brüsten,  wie  mit  der  Liebe 
für  die  Tugend.  Beide  gehören  zu  einem  ordent- 
lichen Menschen,  man  übt  sie  ohne  viel  davon 
zu  reden.  Wer  aber  in  Italien  nur  immer  über 
den  Mangel  an  Reinlichkeit  klagt,  anstatt  sich 
über  die  Schönheit,  welche  alles  überstrahlt,  zu 
freuen,  der  verdient  Italien  nicht.  Ist  es  denn 
schöner  in  den  ewig  mit  Wasser  übergossenen, 
nüchternen,  deutschen  Stuben  als  z.  B.  in  Zimmern 
in  Neapel,  die  allerdings  den  Staub  oft  etwas 
zu  lange  aufbewahren,  aber  daneben  eine  Loggia 
oder  eine  Terrasse  h;aben,  von  wo  man  die 
Wunder  der  Sonnenuntergänge  über  einem  der 
herrlichsten  Meere  der  Erde  sieht  ?  Ach  mensch- 
liche Kleinlichkeit!  Denn  es  gibt  auch  eine 
kleinliche  Reinlichkeit  und  eine  kleinliche  Tugend. 


Man  erzählte  abends  bei  mir  in  Rom  von 
einer  Besteigung  des  Vesuvs  und  von  dem 
Grauen,  welches  man  empfände,  in  den  feurigen 
Schlund  hinab  zu  schauen.     Es  fiel  mir  darüber 


—    359    — 

ein,  ob  wohl  die  christliche  Idee  der  Hölle  nicht 
dadurch  enstanden  sei?  Der  Hades  war  doch 
etwas  ganz  anderes,  etwas  psychologisch  Feineres ; 
wie  viel  seelischer  war  diese  Qual  des  vergeb- 
lichen Tuns  und  Schaffens,  als  die  brutale  Strafe 
in  den  Flammen. 


Das  immerwährende  Unterliegen  im  Ab- 
grund der  Leidenschaft  in  den  Romanen  von 
Gabriele  d'Annunzio  ist  gar  nicht  interessant. 
Nur  der  Sieg  des  höheren  Wollens  über  die 
Leidenschaft  ist  interessant.  Ich  verabscheue 
diese  ewige  Vivisektion  der  Wollust  und  der 
ungesunden  Triebe,  welche  den  Mann  zum 
Schwächling  und  die  Frau  nur  zu  einem  Instru- 
ment der  Korruption  macht. 


Das    grösste    Leiden    ist    die    Abwesenheit 
des  Ideals. 


Ein  Ausspruch  von  Rabelais,  als  von  diesem 
herkommend,  fiel  mir  auf:  »Die  Natur  hat  im 
Menschen  Verlangen,  Durst  und  Wunsch  zu 
wissen  und  zu  lernen  hervorgebracht,  und  zwar 
nicht  bloss  die  gegenwärtigen  Dinge,  sondern 
besonders  die  zukünftigen,   weil  deren  Kenntnis 


—     36o     — 

höher  und  bewundernswerter  ist  Weil  wir 
nun  in  diesem  vergänglichen  Leben  nicht  zur 
Vollendung  des  Wissens  kommen  können,  und 
die  Natur  nichts  ohne  Grund  gemacht,  oder  ein 
trügerisches  oder  verderbtes  Verlangen  gegeben 
hat,  so  folgt  daraus,  dass  ein  anderes  Leben 
nach  diesem  sein  muss,  wo  jener  Durst  gestillt 
wird.« 

So  kommen  auch  die  skeptischen  Menschen, 
ohne  dass  sie  selbst  wissen,  wie  sehr  sie  sich 
widersprechen,  immer  auf  ein  geistiges,  vemunft- 
gemäss  ordnendes  Prinzip  zurück,  mögen  sie  es 
nun  Natur  oder  Gott  nennen. 


Nachdem  ich  den  Roman  von  Paul  Bourget 
»La  terre  promise«,  der  mir  missfiel,  wie  die 
meisten  Werke  dieses  Autors,  gelesen  hatte: 
das  Heiligende,  Idealisierende  in  der  Ehe  ist 
das  schöpferische  Element,  das  bei  der  rohen 
unbewussten  Natur  bloss  sinnlich  und  brutal  und 
ohne  die  erlösende  Seite  bleibt  Was  für  ent- 
wickelte geistige  Naturen  den  tierischen  Akt 
verklärt,  ist  das  Bewusstsein  Schöpfer  zu  sein, 
innerhalb  der  Materie  ein  Greistwerdendes  zu 
schaffen,  gerade  wie  es  dem  Genius  auf  der 
höchsten  Stufe  des  schöpferischen  Prinzips  Selig- 
keit ist,   das   im  Geist  Empfangene  zu  gebären. 


Der  französische  Kritiker  Bruneti^re  sagt  in 
einem  Artikel  über  Bourget,  das  Hervorragende 
in   dessen   Romanen  sei,   l'etude  de  la  vie.     Ja, 


—    36i     — 

die  gehört  freilich  überhaupt  zum  Roman,  aber 
sie  muss  sich  durch  die  Personen  desselben  aus- 
drücken, und  nicht  durch  psychologische  Ana- 
lysen und  Abhandlungen. 


Wir  sprachen  am  Abend  in  Versailles  (wo 
ich  alljährlich  von  1884  an  bis  94  den  Sommer 
bei  Olga  zubrachte)  über  die  Heuchelei.  Ich 
fasste  im  Scherz  mein  Urteil  in  einem  Syl- 
logismus zusammen :  die  Heuchelei  ist  ein  abscheu- 
liches Laster,  die  moderne  Gresellschaft  bringt 
die  Heuchelei  auf  allen  Gebieten  hervor,  also 
ist  es  eine  lasterhafte  Gesellschaft.  —  M.  da- 
gegen meinte,  die  Heuchelei  in  der  modernen 
Welt  sei  eher  ein  Beweis  der  Moralität  der- 
selben, da  man,  aus  Achtung  vor  der  Tugend, 
das  Laster  nicht  öffentlich  zu   bekennen   wage. 


Ich  freute  mich,  als  ich  die  letzten  Worte 
Renans  hörte,  den  ich  einst  so  gut  gekannt  und 
sehr  geschätzt  habe,  denn  sie  beweisen,  dass 
seine  Heiterkeit,  welche  man  ihm  so  oft  als 
Ironie  und  Oberflächlichkeit  vorgeworfen  hat, 
echt  war  und  sich  auf  ein  festes  Bewusstsein 
gründete.  Am  letzten  Tage  seines  Lebens 
sagte  er:  >Man  muss  den  Gesetzen  der  Natur 
folgen;  der  Tod  ist  nichts,  ein  Übergang,  die 
Erde  und  der  Himmel  bleiben.«    Auf  sein  Grab 


—      3^2      — 

verordnete  er  zu  schreiben:  >Ich  habe  die  Wahr- 
heit gesucht.« 

Papst  Leo  XIII. ,  als  er  hörte,  dass  Renan 
keinen  Priester  gerufen  habe,  sagte:  »Ich  bin 
darüber  zufrieden,  es  wäre  eine  Heuchelei  ge- 
wesen. Gott  vergibt  den  Menschen,  die  red- 
lichen Willen  haben,  so  wird  er  auch  Renan 
vergeben.«  Das  ist  auch  schön,  das  Oberhaupt 
der  Kirche,  welches  einen  abtrünnigen  Priester 
so  edel-menschlich  beurteilt!  Sie  können  sich 
im  Paradies  als  Freunde  begegnen. 


Der  sichere  Trost  unseres  Erdendaseins  ist 
doch  der,  dass  wir  durch  Wort  und  Tat  un- 
sterblich sind  in  der  Reihe  der  Geschlechter, 
denn  wenn  auch  die  Geschichte  uns  nicht  mit 
Namen  nennt,  so  wuchert  der  Samen  des  Guten, 
welches  wir  getan,  doch  unzerstörbar  fort  von 
Seele  zu  Seele  und  gehört  mit  in  die  grosse 
Kette,  deren  Anfang  und  Ende  in  der  Ewigkeit 
liegen.  So  erklärt  sich  wenigstens  das  warum, 
wenn  auch  das  woher  und  wohin  Frage- 
zeichen bleiben.  Eine  sehr  hübsche  Hypothese 
ist  die  eines  unlängst  verstorbenen  liebens- 
würdigen alten  Franzosen,  Monsieur  Surell, 
welcher  das  Rätsel  der  Existenz  folgender- 
massen  zu  lösen  meinte,  indem  er  die  Möglich- 
keit hinstellte,  dass  alles  geistig  von  uns  aus- 
geht, an  irgend  einem  Punkt  des  Weltalls  wieder 
zusammen    treffe     und    unsere    geistige    Indivi- 


—   363   — 

dualität  herstelle.  Dies  widerspricht  weder  der 
Vernunft  noch  selbst  der  Experimentalwissen- 
schaft,  denn  geistige  Erzeugnisse  unseres  Wesens 
sind  sicher  grössere  Realitäten  als  die  zufälligen 
Kombinationen  der  Atome,  welche  unsere  leib- 
liche Existenz  ausmachen. 


Am   16.  Juni  1890  in  der  Villa  Mättei,  nach 
einem  schmerzlichen  Erleben: 

Ziehet  eilende  Wolken  den  schwärzlichen  Schleier 
Über  die  strahlende  Welt! 
Alles  ist  eitel,  schwindender  Schein  nur, 
Auch  die  Sonne  ist  Täuschung  sowie  das  Glück, 
Die  Rosen  vergingen,  die  Träume  vergingen, 
Freunde    vergingen    und    endlich    —   vergehest 
auch  du! 


Alle  Religionen  sind  aus  dem  der  Mensch- 
heit innewohnenden  Bedürfnis  hervorgegangen, 
etwas  Höheres,  Mächtigeres,  Vollendeteres,  als 
sich  selbst  zu  suchen.  Dieses  Bedürfnis  ist  der 
Adelstitel  des  Menschen  und  unterscheidet  ihn 
vom  Tier.  Ob  es  sich  in  minder  oder  mehr 
vollkommener  Weise  offenbare,  immer  ist  es  zu 
achten  und  gelangte  es  auch  nur  zur  Anbetung 
eines  Fetisch.  Aber  sobald  dies  Bedürfnis 
absolute   Formen   annimmt  und  sich  für  die  ein 


—    364    — 

für  alle  Mal  gegebene  Wahrheit  ausgibt,  zur 
dogmatischen  Kirche  wird,  versteinert  sich  der 
Geist,  welcher  ewiges  Streben  ist  und  wird 
bloss  äussere  Form,  die  den  lebendigmachenden 
Odem  nicht  mehr  enthält.  Der  beste  Beweis 
dafür  ist,  dass  die  bestehenden  Kirchen  sich 
untereinander  anfeinden,  weil  jede  allein  die 
Wahrheit  zu  besitzen  glaubt. 

Wir,  die  wir  die  Geschichte  dieses  Bedürf- 
nisses nach  Idealität  vor  Augen  haben  wie  es 
sich  in  den  verschiedenen  dogmatisch-positiven, 
konstituierten  Kirchen  verloren  hat,  wir  können 
nicht  mehr  zurückkehren  in  eine  beschränkte 
Form,  welche  dem  Gedanken,  der  nach  immer 
reinerer  Wahrheit  dürstet,  verwehrt  seinen  freien 
Flug  zu  nehmen.  Die  Philosophie  hat  uns  da- 
zu geführt,  Gott  nicht  mehr  ausser  uns  zu 
suchen,  sondern  ihn  in  uns,  in  allem  was  da  ist,  zu 
erkennen  und  es  als  unsere  Aufgabe  zu  be- 
trachten, ihn  in  uns  und  um  uns  lebendig  zu 
machen. 


Das  Leben  ist  nichts  anderes  als  ein  grosses 
Schlachtfeld  und  die  einzige  Tugend  besteht 
darin,  trotz  aller  Wunden  bis  zuletzt  zu  kämpfen 
und  als  Sieger,  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  zu 
sterben. 


—  365   — 

Wie  rasch  sind  doch  die  Übergänge  im 
Menschen  von  Niedergeschlagenheit,  Trauer,  Re- 
signation, zu  Hofihung,  Mut  und  Freude  oder 
umgekelut.  Was  ist  dies  feine  Uhrwerk,  welches 
so  entgegengesetzte  Bew^^ungen  im  Gemüte 
hervorbringt?  O  ihr  Physiologen  und  Männer 
der  >matiere  grise«,  könnt  ihr  es  erklären? 
Keine  Spur! 


Der  einzige  Schmerz,  welcher  unversöhnbar 
ist,  ist  der  Schmerz  des  Egoismus.  Die  selbst- 
lose Tugend  hat  Frieden  auch  in  der  tiefsten 
Trauer.  Sie  ist  das  wirkliche  Selbst  mit  der 
rechten  Würde  ohne  Anmassung.  Der  Egoismus 
ist  das  schlechte  Selbst,  das  ewig  Verwundbare. 
(Ich  unterscheide  hier  scharf  Egoismus  von  Indi- 
vidualismus.) 


N.  hatte  die  wahre  Natur  der  gefallenen 
Engel ;  sie  glaubte  allem  durch  den  hochmütigen 
Stolz  Trotz  bieten  zu  können,  anstatt  alles  Wider- 
strebende durch  die  Liebe  zu  besiegen. 


Ich  las  eben  von  der  sonderbaren  Hinneigung 
Napoleons  I.  zum  Aberglauben,  wie  ihn  sein 
Verkehr     mit     der   Lenormant   beweist.     Aber 


-     366    — 

dunkle,  ehrgeizige  Gemüter  werden  immer  aber- 
gläubisch sein.  Weil  das  Ideal  ihre  Seele  nicht 
erleuchtet,  suchen  sie  Hülfe  in  dunklen  Gewalten, 
daher  stammen  wohl  die  Teufelslegenden,  die 
Hexenprozesse,  noch  heutzutage  im  Süden  die 
Zauberweiber  und  endlich  der  Spiritismus,  be- 
sonders in  der  modernen  höheren  Gesellschaft, 
wo  er  weiter  nichts  ist,  als  die  Rache  des 
Geistes  an  der  Frivolität. 


Schaffen  muss  man  in  der  Einsamkeit,  da 
wo  der  laute  Lärm  des  Tages  nicht  stört,  aber 
der  Charakter  erprobt  sich  doch  erst  ganz  im 
Zusammenleben,  in  der  Art,  andere  zu  behandeln, 
auf  sie  zu  wirken  und  sie  zu  ertragen.  Freilich 
ein  grosses  Leiden  einsam  heroisch  tragen  ist 
auch  ein  Prüfstein  des  Charakters,  doch  ein  noch 
schwererer  ist's,  dem  einsamen  Umgang  mit  dem 
Gott  in  uns  aus  erbarmender  Liebe  zu  entsagen 
und  zwar  nicht  im  Zorn  und  Ärger,  sondern 
mit  dem  milden  Lächeln  derer,  die  es  wissen, 
dass  sie  ein  Heiligtum  in  sich  tragen  in  dem  sie 
glücklicher  wären,  als  in  dem  Samariterdienst 
des  Herzens.  Ja,  am  Kreuz  besiegte  der  Naza- 
rener  die  Welt! 


Die  Definition  des  Genies  ist  es,  dass  dieses  In- 
dividuum, dieser  Mikrokosmos  zugleich  den  ganzen 
Kosmos  in  sich  trägt,  alle  Tradition,  das  Unend- 


—   367   — 

liehe,  und  dabei  die  Fähigkeit  hat  die  ganze 
Welt,  die  in  ihm  ist,  auszusprechen  und  zu  ge- 
stalten. Es  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  die  uni- 
verselle Einheit  sich  nur  zuweilen  eine  indivi- 
duelle Form  wählt,  um  sich  durch  dieselbe  kund 
zu  geben. 


Man  hat  so  viel  Arbeit  um  etwas  zu  sein, 
dass  keine  Zeit  bleibt,  noch  etwas  zu  scheinen. 
Es  ist  auch  verlorene  Mühe,  man  ist  eben  was 
man  ist,  wem  es  nicht  gefällt,  mag's  bleiben 
lassen. 


Ich  war  einmal  wieder  einige  Wochen  in 
Deutschland  und  fuhr  dann  frühmorgens  am 
Rhein  hinunter,  wie  alljährlich  Olga  in  Frank- 
reich zu  besuchen. 

Wie  viel  tausend  Erinnerungen  stiegen  da 
herauf  an  Jugendtage  und  Jugendträume,  an  die 
frühe  Liebe  zu  dem  alten,  stolzen,  heiligen  deut- 
schen Strom!  Und  es  überkam  mich  ein  un- 
endliches Mitleid  mit  dem  armen  Vaterland. 
Ich  verstand  nun,  was  ihm  fehlt:  der  heitere 
Himmel  und  die  Grazie! 


--     368     — 

Das  Schöpferische,  das  Tun,  die  Tat,  war 
da  vor  dem  Wort,  wie  beim  Genius  der  Tat- 
moment, die  Geburt  im  Geist,  dem  Wort  und 
der  Gestaltung  vorangeht. 


Auch  beim  grössten  Dichter  ist  das  Wort, 
welches  er  wählt,  die  Art  seines  Ausdrucks,  sein 
Stil,  ein  Teil  seines  Wertes. 


Äschylus  rühmte  von  sich,  dass  in  keinem 
seiner  vierundachtzig  Dramen  die  Liebe  vor- 
komme. Käme  man  in  der  modernen  Welt  nur 
auch  einmal  so  weit. 


Die  Reue  ist  keine  Kraft,  sagte  ein  Freund. 
Ja,  sie  ist  doch  eine,  wenn  es  die  wahre  Reue 
ist,  sagte  ich,  denn  sie  ist  der  Anfang  des 
Wiedergutmachens. 


»Getrost  das  Unvergängliche,  das  ist  das  ewige 
Gesetz,  wonach  die  Ros'  und  Lilie  blühte.  Nun, 
und  ist  es  nicht  ein  grosser  Trost  nach  diesem 
ewigen  Gesetz  zur  Geistesblüte  berufen  gewesen 
zu  sein? 


—   369   — 

Es  gibt  nur  zwei  Arten,  das  Leben  nach 
grossen  Schmerzen  würdig  zu  fuhren:  entweder 
mit  der  grossen  Resignation,  die  sich  immer 
höher  hebt  über  das  Erlebte  und  heilig  wird, 
oder  mutvoll  tätig  sein  und  das  Leben  besiegen 
durch  die  Tat. 


Das  Schicksal  war  insofern  stets  gütig  gegen 
mich,  als  es  mir  nach  all  den  schmerzlichen,  teils 
durch  Entfernung,  teils  durch  den  Tod  herbei- 
geführten Trennungen,  aus  der  Mitte  der  zahl- 
reichen, mehr  oder  minder  gleichgültigen  Be- 
sucher meines  kleinen,  einsiedlerischen  Heims  in 
Rom,  immer  wieder  einzelne  Gestalten  herbei- 
führte, mit  denen  das  geheimnisvolle  Etwas,  das 
Geister  zusammen  bindet,  jener  Ton  aus  der 
grossen  Weltensymphonie,  die  immer  nur  we- 
nige hören  und  verstehen,  sich  einfand  und  als- 
bald zu  einem  näheren  Seelenbunde  den  Grund 
legte.  Es  ist  merkwürdig,  wie  auf  solchem  Grund 
allein  wahrhaft  ideale  und  dauernde  Beziehungen 
sich  entfalten  und  entwickeln  können,  gleich 
edlen  Pflanzen,  die  das  rechte  Erdreich  gefunden 
haben  und  nun,  immer  neue  Blüten  treibend, 
höher  und  höher  wachsen.  Nach  Warsbergs 
Tod,  dachte  ich,  die  Lücke  würde  jetzt  unaus- 
gefüUt  bleiben  und  das  Pantheon  des  Herzens, 
in  dem  die  Nischen  alle  mit  geliebten  Bildern 
besetzt  sind,  würde  geschlossen  sein.  Von  Ve- 
nedig war  ich,  wie  jeden  Sommer  seit  zehn  Jahren, 

M  e  y  t  e  n  b  n  g  ,  IV.  24 


—     370     — 

zu  Olga  nach  Versailles  gegangen,  wo  ich,  in 
dieser  Familie  der  freien  Wahl,  stets  Monate  herz- 
lichsten Zusammenlebens  genoss.  Ich  hatte  mich 
aber,  auch  ausserhalb  dieser  Häuslichkeit,  immer 
des  freundlichsten  Begegnens  von^  selten  der 
Franzosen,  mit  denen  ich  in  Berührung  kam,  zu 
rühmen  und  kann  in  Wahrheit  sagen,  dass  nie 
ein  beleidigendes  Wort  gegen  Deutschland  in 
meiner  Gegenwart  laut  wurde.  Mit  grosser  An- 
erkennung aber  bemerkte  ich  auch  die  vorteil- 
hafte Wirkung  der  empfangenen  harten  Lehre 
vom  Jahre  70,  in  der  französischen  Jugend,  die  ich 
zu  beobachten  häufig  Gelegenheit  hatte,  da  Olgas 
Gatte,  Gabriel  Monod,  der  geliebte  und  verehrte 
Lehrer  der  Jünglinge  an  zwei  der  höheren  In- 
stitute in  Paris  war,  der  ecole  des  hautes  etudes 
und  der  ^cole  normale.  Die  Mitteilungen 
Monods  bestätigten  mir  auch  meine  eignen  Be- 
merkungen über  den  Lerneifer  und  die  auffallend 
ernste  Richtung  all  der  jungen  Leute  die  seiner 
Obhut  anvertraut  waren,  was  zum  Teil  in  der 
Trefflichkeit  des  Lehrers  seinen  Grund  haben 
mochte,  aber  sicher  auch  die  Folge  ernster  Be- 
trachtung der  Ereignisse  war.  Es  schien  dies 
wieder  ein  Beleg  zu  der  Lehre,  welche  die 
Geschichte  schon  so  häufig  geliefert  hat,  dass 
sehr  oft,  nach  schweren  Niederlagen  im  Kriege, 
die  Besiegten  moralisch  die  Sieger  bleiben,  in- 
dem sie  in  sich  gehen,  die  Ursachen  ihres  Unter- 
liegens zu  ergründen  und  entdeckte  Mängel  mit 
Ernst  zu  verbessern  suchen.  War  es  doch  in 
Deutschland    auch    so    nach    den    Kriegen    mit 


—    371     — 

Napoleon,  und  wohl  den  Völkern,  denen  das  Un- 
glück eine  Schule  der  Weisheit  wird. 

Unter  den  Schülern  Monods,  die  ich  in  seinem 
Hause  kennen  lernte,  war  einer,  den  er  mir  be- 
sonders empfahl,  da  derselbe  auf  2  Jahre  nach 
Rom,  in  das  dortige  archäologisch-historische 
Institut  (welches  Frankreich  gleich  Deutschland 
und  Österreich  dort  hat)  nach  vollendetem  vor- 
züglichem Examen  in  der  ecole  normale  kommen 
sollte.  Er  besass  unter  anderen  bedeutenden 
Vorzügen  auch  eine  seltene  Begabung  für  Musik 
und  ich  versprach  mir  dadurch  eine  lang  ent- 
behrte Freude,  nämlich  öfter  bei  mir  in  der 
Ruhe  meines  Heims  Musik  zu  hören.  Musik 
war  von  frühester  Jugend  auf  für  mich  ein 
Lebensbedürfnis  gewesen.  In  meinem  elter- 
lichen Hause  gehörte  Musik  zu  den  unentbehr- 
lichsten Freuden  des  Daseins.  Mehrere  meiner 
älteren  Geschwister  waren  musikalisch  und  es 
hatte  sich  ein  sogenanntes  Kränzchen  gebil- 
det, an  dem  sie  teilnahmen  und  dessen  Ver- 
einigungen in  unserem  Hause  stattfanden.  Die 
obere  Leitung  desselben  wurde  von  dem  damals 
sehr  berühmten  Komponisten  Louis  Spohr,  der 
Kapellmeister  in  Kassel  war,  gefuhrt,  und  musika- 
lisch bedeutende  Persönlichkeiten,  wie  u.  a.  der 
Liederkomponist  Curschmann,  nahmen  daran 
teil.  So  hörte  ich  schon  als  Kind  im  Hause 
selbst  bedeutende  musikalische  Auflfiihrungen ; 
ausserdem  sah  meine  Mutter,  eine  geistvolle, 
mit  hohem  Kunstsinn  begabte,  durchaus  frei- 
sinnige Frau,   gern   und    oft  die  ersten  Künstler 

24* 


—     372     — 

des  damals  vortrefflich  besetzten  Theaters  in 
Kassel  bei  sich,  wo  besonders  an  der  Oper 
Sterne  erster  Grösse  glänzten,  die  mit  den  herr- 
lichsten Leistungen  ihrer  Kunst  den  geselligen 
Verkehr  belebten  und  schmückten.  Später,  als 
ich  selbst  Klavier  spielte,  wurde  mir  die  Musik 
immer  mehr  Seelenbedürfnis,  obgleich  ich  in 
der  Ausübung  weit  hinter  meiner  jüngeren 
Schwester  zurückblieb;  mich  zog  dagegen  der 
Gesang  mächtig  an,  die  MögUchkeit,  da  ich  eine 
gute  Stimme  besass,  noch  viel  unmittelbarer 
und  persönlicher  dem  musikalischen  Empfinden, 
welches  in  der  Seele  wogte,  Ausdruck  zu  geben. 
Dazu  wollte  ich,  wie  immer,  nicht  an  der  Ober- 
fläche stehen  bleiben,  sondern  auch  die  Gesetze 
kennen  lernen,  welche  die  Welt  der  Töne  be- 
herrschen. Es  hatte  mich  gleich  wunderbar  er- 
staunt, zu  sehen,  wie  diese  unkörperliche,  man 
könnte  fast  sagen  metaphysische  Kunst  den 
strengsten  mathematischen  Regeln  unterworfen 
und  wie  das  scheinbar  Freieste  von  einem  inneren 
Gesetz  gebunden  ist,  was  freilich  auch  das  Vor- 
recht der  Entwicklung  hat,  wie .  alles  Geistige, 
aber  innerhalb  dieser  stets  die  organische  Not- 
wendigkeit seiner  Erscheinung  verfolgen  muss. 
In  der  kleinen  Residenz  Detmold,  wo  meine 
älteste  Schwester  verheiratet  war  und  meine 
Mutter  sich  mit  meiner  jüngeren  Schwester 
und  mir  endlich  niedergelassen  hatte,  weil  das 
Wanderleben,  welches  mein  Vater  mit  seinem 
Jugendfreund,  dem  alten  Kurfürsten  von  Hessen 
nach  dessen  Thronentsagung  führte,  uns  auf  die 


—     373     — 

Länge  doch  unbehaglich  wurde,  fand  sich  reich- 
lich Gelegenheit,  gerade  nach  dieser  Seite  hin  zu 
lernen.  Ein  tüchtiger  Musiker,  Schüler  Spohrs, 
welcher  das  wirklich  ausgezeichnete  Orchester 
dirigierte,  gab  meiner  Schwester  und  mir  Unter- 
richt im  Generalbass,  und  so  sehr  wurde  ich 
von  diesem  Studium  angezogen,  dass  ich  alsbald 
anfing,  kleine  Arbeiten  für  Orchester  zu  schreiben, 
welches  mir  die  Achtung  und  Freundschaft  der 
Mitglieder  desselben  zuzog.  Dies  brachte  uns 
die  herrlichsten  Folgen,  denn  nicht  nur  erfreute 
uns  das  Quartett,  das  sich  aus  den  besten 
Künstlern  gebildet  hatte,  häufig  des  Abends  bei 
uns  mit  Leistungen  der  schönsten  Meisterwerke, 
sondern  es  kam  auch  nicht  selten  vor,  dass  wir 
mitten  in  der  Nacht  durch  die  Klänge  eines 
Mozartischen  oder  Beethovenschen  Quartetts  aus 
dem  Schlaf  geweckt  wurden,  indem  die  wackern 
Musiker  auf  der  Strasse  unter  unseren  Fenstern 
sich  niedergelassen  hatten,  um  unsere  Seelen  in 
nächtlicher  Stille  mit  dem  zu  erfreuen,  was,  wie 
sie  wussten,  uns  das  Höchste  war. 

Wenn  mein  späteres  Leben  in  grossen  Cen- 
tren mir  auch  öfter  die  Möglichkeit  gab,  grösseren 
und  oft  sehr  vorzüglichen  Aufführungen  beizu- 
wohnen, so  war  der  intimere  Genuss,  wie  ich 
ihn  in  der  Kindheit  schon  im  elterlichen  Hause 
und  nachher  in  der  Jugend  in  unserem  Heim  in 
Detmold  gehabt  hatte,  nun  fast  ganz  vorbei. 
Mein  Leben  hatte  so  ernste  Aufgaben  bekommen, 
dass  sie  alle  meine  Kräfte  in  Anspruch  nahmen 
und  ich  hatte  gar  nicht  immer  ein  Instrument  zu 


—    374    — 

meiner  Verfugung,  wie  in  der  Hochschule  zu 
Hamburg,  wie  während  meiner  Lehrtätigkeit 
in  England,  und  dazu  kam,  dass  meine  immer 
schwachen  Augen,  durch  andere  Arbeit  schon 
zu  sehr  angestrengt,  das  Notenlesen  nicht  mehr 
vertragen  konnten,  so  dass  mein  einsames 
Musizieren  sich  fast  nur  auf  Gresang  beschränkte. 
Aber  in  meiner  Seele  wogten  unablässig  Har- 
monien und  Gesänge  und  ich  erinnere  mich  keiner 
Epoche  meines  Lebens,  wo  ich  nicht  innerlich 
immer  Musik  gehört  hätte,  auch  bei  den 
heterogensten  äusseren  Beschäftigungen.  In  Rom 
empfand  ich  es  als  einen  der  grössten  Mängel, 
dass  man  so  wenig  gute,  wahrhaft  vollendete 
musikalische  Aufifuhrungen  zu  hören  bekam. 
Zuweilen  ereignete  es  sich  ausnahmsweise,  dass 
ein  glücklicher  Zufall  es  herbei  führte,  in  Privat- 
kreisen Vorzügliches  zu  hören,  so,  wie  schon 
früher  erwähnt,  in  den  Wintern,  die  Liszt 
noch  bleibend  hier  zubrachte  und  in  den  musi- 
kalischen Vereinigungen  bei  einer  jungen 
russischen  Fürstin,  seine  eigenen  symphonischen 
Dichtungen  mit  jener  zauberischen  Vergeistigung 
vortrug,  welche  das  Spiel  des  alten  Mannes 
noch  weit  über  das  des  gefeierten  Virtuosen  in 
seiner  Glanzperiode  hob. 

Aber  solchen  Ausnahmezeiten  folgten  wieder 
Perioden  äusserster  Dürre  in  musikalischen  Be- 
ziehungen, wo  ich  eben  nur  auf  die  Tonwelt, 
die  in  meiner  Erinnerung  lebte,  angewiesen  war. 
Um  so  angenehmer  wurde  ich  überrascht,  in 
dem  oben  erwähnten  jungen  Franzosen,  der  nun 


—    375     — 

nach  Rom  kam,  einen  Musiker  ersten  Ranges  von 
tief  ernstem  Verständnis  und  geläutertem  Ge- 
schmack zu  finden,  der  mir  gleich  in  liebens- 
würdiger Weise  sein  herrliches  Talent  zur  Ver- 
fügung stellte.  Stundenlang  hörte  ich  jetzt  wieder 
Mozart,  Bach,  Beethoven  und  Wagner  bei  mir 
ertönen  und  genoss  in  andächtiger  Stille  ganz 
allein  den  Verkehr  mit  jenen  grossen  Seelen, 
die  mir  in  ihrer  metaphysischen  Sprache  gött- 
liche Oflfenbarungen  verkündeten  und  mir  Stunden 
reinster  Wonne  bereiteten. 

Aber  nicht  nur  in  musikalischer  Hinsicht  er- 
wuchs mir  aus  der  näheren  Bekanntschaft  mit 
diesem  Jüngling  hohe  Freude.  Es  gibt  gewiss 
gerade  im  vorgerückten  Alter  keine  edlere  Be- 
friedigung als  in  jungen  Seelen  denselben  Drang 
der  Idealität,  dasselbe  Streben  nach  den  höchsten 
Zielen,  dieselbe  Verachtung  alles  Gemeinen  und 
Trivialen,  denselben  Mut  im  Kampfe  für  die 
Freiheit  der  Individualität  zu  finden,  wie  dies 
alles  die  eigene  Seele  von  früh  auf  erfüllt  hat 
und  noch  am  Lebensabend,  wo  schon  so  viele 
Illusionen  zerflossen  sind,  so  viel  um  uns  Da- 
gewesenes und  uns  Liebes  verschwunden  ist, 
als  das  tiefste,  ewige  Element  des  Daseins  in 
uns  waltet.  Wie  ganz  verschwindet  dabei  auch 
das  Vorurteil  der  wesentlichen  Unterschiede 
der  Nationalität.  Der  innerste  Grund  der  mensch- 
lichen Natur  ist  sicher  nicht  abhängig  von  Rasse, 
oder  Erdteil,  oder  Abstammung,  sondern  da- 
von wie  Klima,  Tradition,  Verhältnisse,  Er- 
ziehung, die  eine  oder  andere  Seite    der  Fähig- 


—    376    — 

keiten  in  der  Menschenseele  stärker  entwickeln 
und  nach  und  nach  durch  Vererbung  zu  einem 
anscheinend  besonderen  Typus  heranbilden.  In 
diesem  jungen  Franzosen  fand  ich  dieselbe 
Idealität,  dieselbe  Hoheit  des  Strebens,  dasselbe 
innerste  Verständnis  für  jede  Äusserung  geistiger 
Grösse,  wie  ich  sie  bei  den  auserwählten  Seelen 
anderer  Nationen  gefunden  hatte.  Er  war  ein 
inniger  Bewunderer  Tolstois,  er  liebte,  wie  schon 
gesagt  Mozart,  Bach,  Beethoven  über  alles, 
war  begeistert  für  Wagner,  entwickelte  sich  hier 
im  Studium,  besonders  im  Anschauen  der  Meister- 
werke der  Renaissance  und  unter  den  Einflüssen 
der  herrlichen,  südlichen  Natur,  wie  eine  Blüte, 
welche  ihren  rechten  Boden  gefunden  hat.  Dies 
gab  mir  wieder  einen  Beleg  für  das  oben  Ge- 
sagte, das  längst  meine  Überzeugung  gewesen 
war,  dass  nämlich  die  Verschiedenheiten  der 
Nationalitäten  oder  der  Rassen  auf  etwas  ganz 
anderem  beruhen,  als  auf  einer  ursprünglichen 
Verschiedenheit  der  Menschenseele. 

Zwei  Jahre  des  edelsten  geistigen  Verkehrs 
wurden  mir  durch  die  Anwesenheit  dieses  Jüng- 
lings zuteil,  der  mir  auch  das  wieder  be- 
stätigte, dass  für  das  wahre  Seelenleben  es 
kein  Alter  gibt,  dass  demnach  die  Seele  etwas 
sein  muss,  was  am  ewigen  Quell  der  Jugend 
teil  hat  und  in  voller  Frische  fortlebt,  auch 
wenn  die  irdische  Hülle  altert  und  dem  Lose 
des  Vergänglichen  anheim  fällt.  Wie  schon  er- 
wähnt, war  es  nicht  nur  die  musikalische  Be- 
gabung des  jungen  Freundes,  welche  mir  die  so 


—    377    — 

lang  entbehrte  Wohltat  brachte  aus  dem  fast 
immer  verschlossen  gewesenen  Piano  die  Geister 
all  der  hohen  Meister  der  Tonkunst  herauf  zu 
beschwören.  Auch  auf  allen  anderen  Gebieten 
des  geistigen  Lebens  fand  ich  ihn  einheimisch 
und  zu  voller  Entwicklung  strebend,  so  wie  ich 
dagegen,  in  der  beständigen  Anregung,  die 
Jugend  des  Gedankens  und  die  volle  Intensität 
des  Interesses  für  alles  Schöne  und  Poesievolle 
in  mir  wiederempfand.  Auf  diesem  letzteren 
Gebiet,  dem  der  Poesie  nämlich,  entdeckte  ich 
denn  allmählich  auch  die  schöpferische  Begabung 
des  Genannten,  und  zwar  in  überraschender 
Weise  durch  eine  dramatische  Dichtung,  die  mir 
alsbald  die  Hoffnung  eingab,  auf  eine  Erneuerung 
der  besonders  in  Frankreich  so  tief  gesunkenen 
dramatischen  Kunst.  Diese  hatte  ja  leider,  zu- 
folge des  der  menschlichen  Natur  innewohnen- 
den Nachahmungstriebs,  auch  in  andern  Ländern 
eine  gar  trübselige  Richtung  genommen.  Von 
jeher  hatte  mich  die  Idee  des  historischen 
Dramas  lebhaft  beschäftigt.  Ich  hatte  mich 
immer  gefragt,  ob  man  geschichtliche  Personen 
auf  die  Bühne  bringen  dürfe,  da  es  unmöglich 
ist,  sie  genau  so  hinzustellen,  wie  sie  gewesen 
sind,  und  man  also  in  Gefahr  ist,  sie  tun  oder 
sagen  zu  lassen,  was  ihnen  absolut  nicht  homogen 
gewesen  wäre.  Indem  ich  nun  in  Gedanken  die 
edelsten  Gestalten  des  deutschen  historischen 
Dramas  durchging,  wie  Götz,  Egmont,  Don 
Carlos,  Wallenstein  u.  a.,  fand  ich,  dass  sie 
gewiss  keine  naturgetreuen  Porträts  wären,  aber 


—     378     — 

so  wie  wir  wünschen  könnten,  dass  sie  gewesen 
seien.  Vielleicht  liegt  darin  das  Entscheidende ; 
die  Poesie  hat  das  Wesentliche  dieser  Gestalten 
ergriffen  und  in  ihm  das  ausgedrückt,  was  die 
Mitte  und  die  Zeit,  in  der  sie  lebten,  charakterisiert, 
so  z.  B.  in  dem  herrlichen  Gegensatz  der  Na- 
turen von  Egmont  und  Oranien,  welcher  in 
dem  ersten  die  liebenswürdige,  vertrauensvolle 
Offenheit  des  Flamländers,  und  in  dem  zweiten 
die  ruhige,  kalte  Besonnenheit  und  Vorsicht 
des  Holländers  kennzeichnet.  So  schafft  man 
gleich  Typen,  charakteristisch  für  die  Um- 
gebung und  dennoch  dramatisch  persönlich  und 
wirkungsvoll  tätig.  Jedenfalls  ist  es  das  erste  Er- 
fordernis des  historischen  Dramas,  dass  die 
Zeit,  in  der  es  spielen  soll,  vollkommen  em- 
pfunden und  ausgedrückt  ist,  so  dass  man 
die  Luft  von  damals  zu  atmen  scheint  und 
die  Gestalten  sich  in  der  ihnen  gemässen 
Mitte  bewegen.  Dies  unentbehrliche  Erfordernis 
des  historischen  Dramas  fand  ich  nun  im 
höchsten  Grad  vorhanden  in  einer  Schöpfung 
meines  jungen  Freundes,  welche  ihm  hier  unter 
dem  unmittelbaren  Eindruck  der  Kunstepoche 
der  Renaissance,  in  deren  Studium  er  sich  durch 
das  Anschauen  ihres  Nachlasses  versenkt  hatte, 
entstanden  war.  So  durchdrungen  war  er  vom 
Geiste  jener  Zeit,  den  er  in  den  Gestalten  auf 
der  Leinwand  erkannt  hatte,  dass  sie  in  seiner 
Phantasie  ins  Leben  zurückgekehrt  waren,  und 
nun  lebendig  handelnd  dastanden,  wie  sie  es  zu 
ihrer   Zeit   getan    haben    würden.     Nichts    kann 


—    379    — 

interessanter  sein,  als  der  Entwicklung  eines 
schöpferischen  Geistes  zu  folgen,  der  ungehindert 
von  aussen  dem  inneren  Machtgebot  folgt, 
sich  zur  Klarheit  der  Anschauung  und  Aus- 
fuhrung durchringt  und,  indem  er  die  in  ihm 
sich  bildende  Welt  zur  Erscheinung  bringt,  zu- 
gleich den  höchsten  und  unabänderlichsten  Ge- 
setzen künstlerischen  Schaffens  genugzutun  be- 
müht ist. 

Das  zweite  Jahr  des  Aufenthalts  des  jungen 
Mannes  in  dem  französischen  archäologischen 
Institut  ging  nun  zu  Ende  und  er  musste  in  die 
Heimat  zurück,  seine  bürgerlichen  Pflichten  zu 
erfüllen  und  sich  eine  Stellung  zu  gründen.  Ich 
konnte  nur  wünschen,  dass  es  eine  solche  sei,  die 
ihm  erlauben  würde,  seine  vorwiegend  künst- 
lerische Begabung  ungehindert  zu  entfalten.  Als 
Abschiedsgruss  jener  hohen  Freuden,  die  mir 
sein  musikalisches  Talent  bereitet,  schrieb  ich 
ihm  folgende  Zeilen: 

»Ärmer  wurde  die  Welt  und  immer  ärmer  und  ärmer, 
Öde  und  Einsamkeit  wurde  es  rings  um  mich  her. 
Wenn  die  Frühlinge  wieder  aufs  neue  erschienen 
Frische  Blüten  der  Flur  brachten  mit  lächelndem 

Gruss, 
Schied    mir   ein  Freund,    ein  Bruder,  die  liebe 

Verwandte 
In  die  dunkele  Fern',  aus  der  Keiner  zurückkehrt. 
Immer  stiller  wurde  das  Herz  in  ruh' ger  Entsagung, 
Harrend  des  Rufs,  der  mir,  jenen  zu  folgen  ertön. 
Da    erklangen    mit   eins  Harmonien  wie  Grüsse 

von  oben. 


—     38o    — 

Führten    die    Seele   mir  in  ihre  Heimat  zurück. 

Geister,  Begnadete  ihr,  die  einst  schon  ich  liebend 
verehrte, 

Wieder  spracht  ihr  zu  mir  des  Trostes  erhabenes 
Wort, 

Hobt  den  Schmerz  auf  Flügeln  in  jene  seligen 
Fernen 

Wo  er  versöhnt  und  befreit,  göttlichem  Glück 
sich  vereint. 

Und  ich  lauschte  und  lauschte  in  Andacht  ver- 
sunken, 

Auf  den  Knien  liegend  im  Geist,  ewiger  Offen- 
barungen Klang. 

Deine  Hand  war's,  mein  Freund,  die  jene  Klänge 
entlockte 

Und  mit  herzlichem  Dank  mich  dir  in  Freund- 
schaft verband; 

Scheid  ich,  folgt  nun  dein  Bild  vereint  mit  jenen 
Grossen, 

Von  Harmonien  umtönt,  in  die  Ferne  mir  nach. 


r 


Gedachtes  aus  jener  Zeit. 

Mein  junger  Freund  spielte  mir  aus  der  Missa 
solemnis  von  Beethoven  vor.  Es  durchdrang 
mein  tiefstes  Innere  wie  ein  ätherischer  Lebens- 
strom. Ja,  das  ist  Religion,  Gefühl  des  Ewigen, 
siegreich  über  dem  Abgrund  der  Welt,  Ahnung 
himmlischer  Vollendung.  Beethoven,  welch  eine 
Seele ! 


Wir  fuhren  von  Tivoli  heim  nach  Rom  und 
ich  war  versunken  in  den  Anblick  des  herr- 
lichsten Abendhimmels:  eine  goldene  Wolke 
über  dem  höchsten  Gipfel  der  Sabiner-Berge, 
als  wäre  dies  der  Olymp,  auf  dem  sich  die 
Götter  in  goldenem  Duft  den  Blicken  der  Sterb- 
lichen verbergen.  Eine  wahrhaft  klassische  Wolke ! 
O,  in  der  Natur  ist  auch  Musik! 


—    382     — 

Rolland  sagte  eines  Abends,  die  Sphäre  der 
Pflicht  und  die  des  Ideals  seien  durchaus  ver- 
schieden und  getrennt.  Ich  sagte,  nein,  das 
müsse  nicht  sein.  Jemehr  man  leuchtende  Punkte 
idealer  Momente  im  Leben  ansammelt,  jemehr 
Licht  fallt  auch  auf  die  oft  dunkle  Sphäre  der 
Pflicht  und  erleuchtet  sie,  so  wie  es  den  Sternen 
geschieht,  die  kein  eigenes  Licht  haben,  sondern 
es  von  ihren  Sonnen  empfangen. 


Es  gehört  ein  tiefes  und  universelles  Gefühl 
dazu,  um  einen  Stil  zu  schaffen,  so,  wie  es  das 
religiöse  Gefühl  der  Zeit  der  Renaissance  in 
Musik  und  Malerei,  und  im  Altertum  in  der 
Skulptur  getan  hat.  Daher  konnten  viele  be- 
gabte und  von  jenem  Gefühl  durchdrungene 
Menschen  tiefsinnige  und  bewunderungswürdige 
Dinge  schaffen,  auch  ohne  Genies  zu  sein.  Das 
grosse  Genie  schafft  keinen  Stil ;  es  ist  es  selbst, 
individuell,  isoliert;  es  übt  wohl  einen  Einfluss, 
doch  einen  mehr  äusserlichen,  es  lässt  nicht  zur 
selben  Zeit,  an  verschiedenen  Orten,  durch  ganz 
getrennte  Persönlichkeiten,  herrliche  Sachen  ent- 
stehen, die  sich  gleichen,  weil  sie  aus  demselben 
Gefühl  entstanden  sind,  ohne  Tradition  oder  Nach- 
ahmung zu  sein.  So  war  z.  B.  die  aus  dem  Ma- 
donnenkultus entstandene  Kunst,  welche  die  ganze 
Renaissancezeit  beherrschte. 


-     383     - 

Wir  sprachen  über  das  Leiden,  Rolland  und 
ich,  über  dessen  Bedeutung  in  der  christlichen  An- 
schauung, und  es  kam  mir  der  Gedanke,  dass  es 
vielleicht  ein  völliges  Missverständnis  sei,  dass 
Christus  das  Leiden  durch  seinen  Tod  habe 
sanktionieren  wollen.  Sein  Tod  war  die  frei- 
willige Tat  des  Menschen,  der  seine  Über- 
zeugung besiegelt,  damit  man  an  ihn  glaubt. 
Sein  Leben  aber  war  freudige  Tat,  Lehre,  Er- 
mahnung, Wohltun,  Barmherzigkeit. 


Der  Egoismus  des  Schmerzes  ist  verständ- 
licher als  der  des  Glücks.  Schmerz  ist  stolz  und 
schliesst  sich  ab  gegen  die  Welt,  die  ihn  nicht 
kennt  und  versteht.  Glück  macht  demütig 
ob  des  inneren  Reichtums  im  Vergleich  mit 
anderen  und  freigebig  aus  dem  Wunsch,  dass 
auch  andere  glücklich  sein  mögen.  Der  Schmerz 
ist  ein  einsamer  mitten  im  Gedränge,  das  nichts 
von  ihm  weiss.  Glück,  auch  wenn  es  sich  in 
Einöden  flüchtete,  fühlt  sich  in  Wohlwollen  ver- 
bunden mit  der  ganzen  Welt. 


Wir  waren  zusammen  im  Theater,  um  Sarah 
Bernhard  als  Kleopatra  zu  sehen.  Da  gefallt  sie 
mir,  denn  da  schafft  sie  beinah  einen  Stil.  Das 
Kunstwerk  soll  uns  die  Wirklichkeit  wieder- 
geben, aber  in  erhöhter  Weise,   wo  sie  typisch 


-    384    — 

wird  und  uns  in  das  Reich  ästhetischer  Form- 
und Inhaltvollendung  erhebt.  Als  moderne  Frau 
brauchte  sie  nur  sich  selbst  zu  spielen,  eine 
ephemere  individuelle  Erscheinung ;  als  Kleopatra 
wurde  sie  ein  Typus  künstlerischer  Schöne, 
etwas  Ewiges. 


Ich  besuchte  den  Grafen  Schack,  der,  schon 
ganz  erblindet,  seine  letzte  Lebenszeit  in  traurigem 
Zustand  hier  in  Rom  zubrachte.  Wir  sprachen 
über  Schiller,  und  von  unserer  beider  Ver- 
ehrung für  ihn.  Er  sagte,  er  schätze  die 
»Räuber«  und  »Kabale  und  Liebe«  noch  höher 
als  die  anderen  Dramen.  Sie  wirkten  auf  der 
Bühne  so  hinreissend,  dass  man  die  ungeheuren 
UnWahrscheinlichkeiten,  die  sie  enthielten,  darüber 
vergesse.  Ich  sagte,  ja,  das  sei  der  Triumph 
des  Genius  und  der  wahren  Kunst,  uns  das  Un- 
wahrscheinliche annehmbar  zu  machen  durch  die 
höhere  Realität  der  Hauptsache. 


In  der  Zeit  war  Ibsen  ein  Hauptgegenstand 
der  Unterhaltung  in  der  römischen  Gesellschaft. 
Ich  hatte  ihn  bei  seinem  Aufenthalt  in  Rom 
kennen  gelernt;  er  kam  mich  zu  besuchen.  Es 
war  gerade  die  »Nora«,  das  »Puppenheim«,  er- 
schienen und  es  herrschte  eine  ungeheure  Auf- 
regung   in    der   damals  sehr  zahlreichen  skandi- 


-    38s     - 

navischen  Kolonie  in  Rom,  und  auch  in  der 
römischen  Gesellschaft  wurde  für  und  wider  ge- 
stritten. Ibsen  lächelte  über  das  Entsetzen,  das 
besonders  die  weiblichen  Gemüter  bei  der  Ent- 
deckung, welche  Nora  über  das  Wesen  der  Ehe 
macht,  ergriffen  hatte,  und  meinte,  die  Stücke, 
die  Nora  folgen  und  das  Messer  an  die  Wunden 
der  Gesellschaft  legen  sollten,  würden  noch  an- 
ders erschreckend  wirken.  Inzwischen  waren 
nun  auch  viele  andere,  noch  weit  kühnere  und 
schärfere  Kritik  übende  Drajnen  gefolgt,  und  es 
war  gerade  die  Zeit  der  »Gespenster«,  als  ich 
eines  Abends  in  Gesellschaft  mit  einem  jungen 
Mann  über  dieselben  ins  Gespräch  geriet.  Zu 
meinem  Erstaunen  versicherte  mir  dieser,  er  ziehe 
die  »Gespenster«  beim  Ödipus  des  Sophokles  vor; 
im  modernen  Drama  müssten  die  physiologischen 
Gesetze  an  die  Stelle  des  antiken  Fatums  treten. 
Ich  erwiderte  ihm,  dass  erstens  die  Unabänder- 
lichkeit des  Gesetzes  der  Erblichkeit  noch  nicht 
festgestellt  sei,  und  dass  femer  die  Frage  bleibe, 
ob  es  nicht  einen  moralischen  Widerstand  gegen 
dasselbe  gäbe.  Dann  auch  war  bei  den  Griechen 
das  Fatum  eine  Macht  der  Gottheit,  war  also 
dort  einer  künstlerischen  Behandlung  fähig,  im 
höchsten  Grad  ethisch,  denn  Ödipus  bleibt  trotz 
seiner  Schuld  ein  edler,  des  tiefsten  Mitleids 
werter  Mensch,  während  der  Mensch  in  den 
Gespenstern  sich  willenlos  dem  bösen  geerbten 
Blut  überlässt  und  schmutzigen  Trieben  folgt 
wie  der  Vater,  also  nicht  heroisch  ist,  sondern 
das    Opfer    eines    blinden    Verhängnisses.      Und 

M  e  y  s  e  n  b  u  g  ,  IV.  25 


-    386    — 

dann  fehlt  das  versöhnende  Element,  das  bei  den 
grossen  Tragikern,  wie  z.  B.  im  Odipus  auf  Co- 
lones, immer  wieder  über  den  Schmerz  und  den 
Abgrund  der  Leidenschaften  erhebt.  Hier  in 
den  Gespenstern  sind  fast  alle  Personen  gemein, 
schlecht  und  nur  der  Pastor  ist  gut  aber  borniert. 
Die  einzige  interessante  und  sympathische  Figur, 
die  Frau,  irrt  aber  ihr  ganzes  Leben  hindurch, 
so  dass  man  es  dumm  nennen  könnte;  sie  lügt, 
um  die  äussere  Ehre  eines  verächtlichen  Menschen 
zu  retten  und  entfernt  ihr  Kind,  anstatt  über  ihm 
zu  wachen  und  den  bösen  Keim  zu  ersticken, 
was  viel  ethischer  gewesen  wäre.  Darin  gleicht 
sie  dem  antiken  Orakel,  das  immer  durch  Miss- 
verstand  das  Übel  herbeifuhrt,  welches  vermieden 
werden  soll. 

Ibsen  ist  ein  Vivisektor  der  menschlichen  Na- 
tur wie  wenige,  aber  er  kommt  mit  seinen  neueren 
Dramen  an  die  Grenze,  wo  die  Poesie  des  Tra- 
gischen aufhört  und  das  pathologische  Spital  be- 
ginnt. So  hoch  seine  dichterischen  Anfänge  wie 
»Brand«  u.  a.  stehen,  so  bewunderungswürdig 
seine  künstlerische  Mache  ist  und  soviel  einzelne 
Schönheiten  all  die  sozialen  Stücke,  wie  ich  sie 
nennen  möchte,  enthalten,  so  ist  es  doch  zu  be- 
dauern, dass  er  diesen  Weg  so  ausschliesslich 
befolgt  hat,  besonders  auch  deshalb,  weil  er  da- 
durch das  Haupt  einer  Schule  geworden  ist,  die, 
ohne  seine  Begabung,  die  Theater  mit  den  er- 
müdendsten Mittelmässigkeiten  von  Produkten 
überschwemmt. 


~  387  — 

Der  Fatalismus  im  Sinn  einer  blinden  Kraft, 
welche  den  Menschen  ohne  seine  Schuld  in  das 
Verderben  stürzt,  ist  fiir  uns  nicht  mehr  annehm- 
bar. Der  wahre  Fatalismus  besteht  in  dem  Kon- 
flikt der  äusseren  Umstände  mit  dem  Grund  der 
menschlichen  Natur,  in  welcher  er  zuweilen  erst 
die  Leidenschaften,  die  darin  schliefen,  weckt 
und  die  Handlung  hervorruft,  die  unsere  Schuld 
und  unser  Schicksal  wird.  Das  ist  das  tragische 
Element  und  die  dramatische  Kunst  hat  sich 
dessen  zu  bemächtigen. 


Das  geistige  Erzeugen,  wenn  es  aus  innerstem 
Bedürfnis  hervorgeht,  ist  das  Merkmal,  dass  die 
Natur  es  bedarf,  sich  zu  objektivieren,  wie  auf 
der  niederen  Stufe  es  auch  beim  leibUchen  Er- 
zeugen der  Fall  ist.  In  der  Objektivierung  des 
Subjekts,  sei  es  durch  geistige  oder  leibliche 
Kinder,  vollzieht  sich  jenes  Geheimnis  des  Da- 
seins, welches  im  Grund  des  Weltwillens  seinen 
Ursprung  haben  muss.  Auch  er  muss  als  das 
Ursubjekt,  sich  ewig  objektiv  werden  in  der 
Welt  der  Erscheinung,  dadurch  allein  ist  er, 
wird  zur  universellen  Individualität,  zur  Einheit, 
die  wir  in  der  Vielheit  ahnen. 


Allein  der  Geist  und  der  Gedanke  gehören 
der  Ewigkeit.  Alles  was  das  Herz  und  Gefühl 
trifft,    verwundet,    denn   es   mahnt   an   die   Ver- 


25* 


-    388    — 

gänglichkeit.  Die  Liebe  in  der  Erscheinung  ist 
nicht  ewig,  nur  die  Erkenntnis;  in  ihr  ist  eine 
höhere  Liebe,  die  das  Vergängliche,  den  Sinnen- 
genuss,  abgestreift  hat.  Vielleicht  köünte  es 
heissen:  im  Anfang  war  der  Geist. 


Halte  stille  nur,  mein  Herz, 

Trag  mit  Fassung  deinen  Schmerz; 

Eine  kleine  Weile  noch 

Dauert  wohl  das  Erdenjoch, 

Dann  erlischt  der  bunte  Schein; 

Wird's  dann  stille  um  mich  sein? 

Oder  werden  Melodien 

Auch  noch  durch  die  Seele  ziehn? 

Wird  vom  allgewalt'gen  Drang, 

Der  nach  Idealen  rang, 

Wenn  die  Erdenfessel  weicht 

Wohl  sein  ew'ges  Ziel  erreicht? 

Wird  die  Treue  dann  bestehn? 

Reine  Liebe  nie  vergehn? 

Wird  der  höchsten  Schönheit  Glück 

Sich  enthüU'n  dem  geist'gen  Blick I 

Ach  und  wär's  auch  so,  mein  Herz, 
Lindert's  dieser  Stunde  Schmerz? 


Ganz  gut  konnte  Pythagoras  sagen,  er  habe 
schon  zweihundert  Jahre  gelebt.  Sind  wir 
nicht    immer    dagewesen    und    konnte  ein  tiefer 


-     389     — 

Schauender,  ein  in  das  innerste  Wesen  der  Dinge 
Versenkter,  sich  nicht  wirklich  erinnern?  Ist  es 
darum  so  schrecklich  zu  sterben,  da  wir,  wenn 
wir  ewig  da  waren,  auch  ewig  sein  werden  ?  Es  ist 
ja  nur  ein  Wechsel  des  Kleids,  und  soljte  es 
nicht  möglich  sein,  an  einen  Punkt  zu  gelangen, 
wo  man  das  Kleid  nicht  mehr  zu  wechseln 
braucht,  wo  man  dem  Wandel  der  Erscheinung, 
mithin  der  Beschränkung,  entrückt,  ewig  bp- 
wusst  lebt? 


Die  alte  italienische  Musik  hat  für  Liebe  und 
Religion  den  gleichen  Charakter.  Alle  Liebes- 
gesänge gleichen  Gebeten,  das  macht  sie  so  innig 
und  seelisch. 


Das  ist  so  merkwürdig  in  der  Musik,  dass  in 
der  seelischesten  aller  Künste  das  Mathematische, 
qnabänderlich  Gesetzmässige  herrscht.  Wie 
staunenswert  ist  das  bei  Bach,  wo  in  der  streng 
gebundenen  Form  die  göttliche  Freiheit  der  über- 
strömenden Schöpferkraft  waltet.  Die  Recitative 
in  der  Johannis-Passion,  die  ich  mit  r  Rolland 
gerade  durchnahm,  sind  die  grossartigste  er- 
schütternde Tragik  des  'Denkers,  welcher  dann 
wieder  im  Gesang  selige  Poesie  entkeimt. 


Kann  man  die  Philosophie  der  Musik  schreil^en  ? 
Ihrer  konkreten  Formen :  ja ;  aber  ihr  eigentliches 


—    390    — 

Wesen    ist    so    metaphysisch,  dass  es   in  keine 
Theorie  passt. 


Am  Abend  spielte  mir  Rolland  die  grossen 
Variationen  von  Beethoven  vor.  Wie  man  da 
in  dessen  Seele  liest!  Er,  der  nur  noch  im 
Innern,  in  unausgesetzten  Harmonien  lebte,  Welt 
und  Formel  gehen  ihn  nichts  mehr  an. 


Bach  ist  der  ideale  Ausdruck  der  Reforma- 
tion, in  ihrem  reinsten  Sinn.  In  der  gebundenen 
Form :  die  Freiheit  des  Gedankens,  die  Innigkeit 
des  Gefühls,  die  Erhabenheit  des  Schmerzes,  die 
grösste  Idealität,  aber  immer  der  tief  religiöse 
Mensch  innerhalb  der  Grenzen  des  traditionellen 
Glaubens.  Deshalb  beruhigt  er  so,  trotzdem  er 
alle  Tiefen  des  Schmerzes  und  selbst  der  Leiden- 
schaft kennt,  weil  sein  Ideal  ein  festes  ist  und 
er  weiss,  wo  er  Frieden  findet.  Beethoven  hin- 
gegen ist  der  suchende,  ringende  Titan,  dem  das 
Ideal  nur,  wie  ein  fernes  Lichtbild,  in  Ahnungen 
sich  neigt,  dann  aber  auch  überirdisch  schön, 
jeden  Zweifel  lösend  und  das  Dunkel  mit  himm- 
lischem Licht  erhellend. 


Und  so  wieder   ein  Abend,    wo   der   musika- 
lische   Freund   mir    wundervoll   spielte.     Welch 


—    391     — 

ein  edler  Zustand,   wo  der  Wille  schweigt  und 
nur  das  reine  Erkennen  die  Seele  füllt. 


Musik  ist  wirklich  die  Versöhnerin  zwischen 
der  mangelhaften  realen  Welt  und  der  Ahnung 
einer  voUkommneren,  welche  der  Seele  in  ihren 
besten  Augenblicken  vorschwebt  und  sie  über 
die  gemeine  Wirklichkeit  erhebt.  Alle  grossen 
Erzieher  der  Menschheit  haben  Musik  gebraucht ; 
es  ist  das  nur  bei  Christus  eine  seltsame  Lücke, 
in  den  Evangelien  überhaupt  Wie  erhaben 
schön  war  aber  die  Idee  des  Pythagoras  über 
den  Rhythmus  des  Weltalls! 


Die  unbefriedigte  irdische  Leidenschaft  ist 
das  harte  Gesetz,  durch  welches  die  Götter  die 
Gabe  des  Genius  bezahlen  lassen.  Wer  das 
himmlische  Feuer  vom  Olympos  raubt,  wird  an 
den  Fels  des  Leidens  gefesselt,  aber  er  sieht  den 
Himmel  offen  inmitten  der  irdischen  Qual.  Wer 
hat  dies  mehr  erfahren  als  Beethoven?  Er  hatte 
die  wahre  Religion,  war  auf  dem  Sinai  gewesen, 
wo  Gott  sich  offenbart  in  Tönen,  die  aus  dem 
Urgrund  des  Seins  kommen  und  die  Erlösung 
vom  Leiden  bringen,  indem  sie  uns  aus  dem 
Endlichen  in  das  Unendliche  erheben.  Sein  Adagio 
aus  der  Sonate  in  B-dur  (op.  io6)  ist,  nach 
dem  Abgrund   des   Leidens,    die  erhabene  Ver- 


—    392    — 

gebung  an  das  Leben  für  all  das  ihm  zugefugte 
bittere  Leid. 


An  einem  Morgen  spielte  Rolland  bei  Frau 
Minghetti,  auf  deren  Bitte,  aus  Parsifal.  Mir  ver- 
schwand dabei  die  mich  umgebende  Gesellschaft 
vollständig,  ich  lebte  nur  in  den  Tönen  und  fühlte 
€s  mehr  denn  je,  dass  die  Weltseele  Musik  ist. 
Wagner  hat  sie  gehört,  geahnt,  im  Parsifal  war 
«r  schon  hellsehend.  Ja,  das  kann  nur  aus  trans- 
zendentalen Seelen  kommen. 


Wagner  war  das  gewaltige  Schlusswort  einer 
grossen  produktiven  Epoche  in  der  Musik,  wie 
Michelangelo  es  in  der  bildenden  Kunst  war. 
Nach  diesem  kam  Bernini,  wie  jetzt  all  die  Epi- 
gonen, die  nach  Wagner  kommen.  Die  Ähnlich- 
keit ist  sehr  gross ;  es  ist  eine  Art  krampfhaftes 
Ringen  in  dem  Leben  dieser  zwei  kolossalen 
Künstler.  Die  reine  Linie  der  Schönheit  war 
erschöpft  in  Raphael,  Mozart,  Bach,  Beethoven. 
Jene  zwei  Grossen  sahen  noch  etwas  Grösseres 
und  versuchten  es  mit  irdischen  Mitteln  auszu- 
sprechen und  zu  erreichen.  Das  jüngste  Gericht, 
die  Propheten  und  Sybillen  in  der  Kapelle  Sistina 
und  die  Götter  Walhalls  und  Parsifal,  sagen 
dasselbe;  sie  suchen  den  Idealmensch  (nicht 
Übermensch  im  Sirine  Nietzsches). 


—     393     — 

Nach  jenen  zwei  Jahren,  in  denen  durch  die 
Anwesenheit  Kollands  in  Rom  die  Musik  wieder 
so  ganz  die  Oberhand  in  meinem  Seelenleben 
gewonnen  hatte,  ging  ich  bei  Beginn  des  Sqmmers 
zunächst  wieder  nach  Mezzaratte  bei  Bologna, 
dem  anmutigen  Landsitz  von  Donna  Laura  Min- 
ghetti,  auf  dem  sie^  auch  nach  dem  Tode  ihres 
Gatten,  alljährlich  einige  Zeit  zubrachte.  Von 
der  liebenswürdigen  Gastfreundschaft,  die  dort 
geübt  wurde,  habe  ich  schon  früher  gesprochen 
und  gewiss,  wer  sie  einmal  erfahren  hat,  wird 
mit  mir  übereinstimmen,  dass  man  sich  keine 
lieblichere  Sommerfrische  denken  kann,  in  edelster 
Freiheit,  nur  gebunden  durch  die  Grazie  und  den 
Geist  der  Wirtin,  zu  welcher  die  reizende  Um- 
gebung passt  wie  ein  schöner  Rahmen  zu  einem 
schönen  Bild.  Von  da  aus  ging  ich  für  einige 
Tage  nach  Vfenedig,  wo  ich  seit  Warsbergs  Tod 
nicht  mehr  gewesen  war»  um  dort  mit  Rolland 
zusammen  zu  treffen,  der  inzwischen  Umbrien 
durchwandert  hatte,  und  dann  mit  ihm  zusammen 
nach  Bayreuth  zu  gehen,  wo  ich  endlich  einmal 
wieder  hin  wollte,  den  Parsifal  noch  einmal  zu 
hören,  ehe  es  bei  dem  vorrückenden  Alter  zu 
spät  würde.  Rolland  aber,  der  noqh  nie  dort 
gewesen  war,  wollte  mit  diesem  erhabenen  Ein- 
druck die  durch  die  Jahre  in  Italien  so  reiche 
Jünglingszeit  beschliessen  und  denselben  gleich- 
sam als  Weihe,  auf  der  Schwelle  des  Mannes- 
alters, mit  seiner  voraussichtlichen  Arbeit  und 
seinen  wohl  nicht  ausbleibenden  Kämpfen  und 
Täuschungen,  empfangen. 


—     394    — 

Ich  hatte  mir  eine  Wohnung  für  die  ganze 
Dauer  der  Festspiele  nehmen  lassen,  da  ich  ausser 
dem  Kunstgenuss  auch  mal  wieder  mit  den 
teuren,  so  lange  nicht  gesehenen  Freunden  eine 
längere  Zusammenkunft  haben  wollte.  Rolland 
hatte  für  die  wenigen  Tage  seines  Aufenthalts 
ein  Zimmer  in  der  Nähe  gefunden.  Am  Morgen 
des  ersten  Tages,  noch  ehe  ich  irgend  jemand 
gesehen  hatte,  ging  ich  mit  ihm  durch  den  Schloss- 
garten zu  der  Hintertür  des  Wagnerischen  Gar- 
tens, durch  welche  man,  ohne  den  vorderen  Teil 
desselben  zu  berühren,  zu  dem  von  hohen  Bäumen 
beschatteten  Platz  gelangt,  wo  der  Meister  ruht, 
in  dem  Grabe,  das  er  sich  selbst,  als  er  das 
Haus  erbaute,  ausmauern  liess.  Rolland  entblösste 
ehrfurchtsvoll  sein  Haupt,  als  ob  er  in  eine  Kirche 
träte,  und  ich  stand  tiefbewegten  Herzens  an  dem 
Stein,  der  unter  diesen  grünen  Schatten  liegt. 
Neun  Jahre  waren  verflossen,  seit  ich  den,  der 
hier  ruht,  zuletzt  gesehen  hatte  in  der  Glorie 
jener  ersten  Aufführungen  des  Parsifal,  bei  denen 
er  noch  so  kräftig  jugendlich  erschien,  dass  auch 
die  bängste  Sorge  nicht  denken  konnte,  es  werde 
ihn  noch  nicht  nach  Jahresfrist  diese  Ruhestätte 
aufnehmen.  Schon  einmal  in  diesen  Blättern 
habe  ich  erwähnt,  welche  Gedanken  mich  dort 
bewegten.  Diesmal  galt  meine  Ergriffenheit  fast 
noch  mehr  der  Erinnerung  an  den  geschiedenen 
Freund  als  an  den  grossen  Meister,  der  langen 
Jahre,  wo  ich  ihn  gekannt,  und  der  teils  trau- 
rigen, teils  glücklichen  Episoden  seines  Lebens, 
welchen    ich,    innigst    teilnehmend,    beigewohnt 


—    395     — 

hatte.  Unter  den  ersteren  war  es  vorzüglich 
jene  Zeit  der  AufRihrung  des  Tannhäuser  in 
Paris,  an  welche  ich  nun  auch,  durch  die  Auf- 
tührung  desselben  in  Bayreuth,  auf  das  lebhaf- 
teste gemahnt  wurde.  Denn  es  war  eben  in 
diesem  Jahre  nicht  allein  Parsifal,  sondern  auch 
Tristan  und  Isolde  und  endlich  Tannhäuser,  die 
ihre  Neugeburt  feierten,  wie  man  es  mit  Recht 
nennen  kann,  da  sie  wohl  nun  erst  in  einer,  ihren 
wahren  Intentionen  entsprechenden  Weise,  dem 
Publikum  vorgeführt  wurden.  Mit  der  Fülle  der 
Erinnerungen  zugleich  fesselte  mich  diesmal 
ganz  besonders  der  Tannhäuser,  dieses  herrliche 
Werk,  dessen  tiefe  poetische  und  musikalische 
Bedeutung  mir,  nach  der  langen  Pause,  erst  recht 
aufging.  Die  Gestalt  des  wunderbaren  Sängers 
ist  gewiss  eine  der  tragischsten  Gestalten  der 
Poesie,  und  wie  konnte  sie  höher  idealisiert  werden 
als  durch  die  Musik,  in  welcher  die  zwei  Gestalten, 
die  sich  um  diese  Seele  streiten,  so  wundervoll 
charakterisiert  sind.  Es  fiel  mir  dabei  auch  auf, 
wie  merkwürdig  geistvoll  hier  die  Legende  den 
Gedanken  ihrer  Zeit  aufgefasst  und  damit  ein 
allezeit  Gültiges  ausgesprochen  hat:  die  furcht- 
bare Härte  und  Mitleidlosigkeit  der  konstituierten 
Kirche  (wofür  ja  auch  Dante  sie  in  ihren  Ver- 
tretern dem  Inferno  übergibt)  gegenüber  der 
allein  erlösenden,  wahrhattigen,  reinen  Liebe. 

Durch  die  Güte  meiner  Freunde  für  alle 
AufRihrungen  in  ihrer  Loge  eingeladen,  hörte  ich 
doch  einmal  Parsifal  zusammen  mit  Rolland, 
der  dann   nach  Frankreich  zurückgehen  musste, 


—    396    ~ 

um  in  die  grosse  Gewerbtätigkeit  der  Maschine, 
welche  die  Geschichte  der  Menschheit  ausarbeitet, 
als  schaffendes  Glied  einzutreten.  Es  war  mir 
furchtbar  leid  um  ihn,  den  Hochbegabten,  dass 
er  sich  nicht  frei  »zu  höheren  Sphären«  heben 
und  ganz  in  der  Entfaltung  künstlerischer  Triebe, 
vom  Jüngling  zum  Mann  reifen  konnte;  aber  ich 
wusste  auch,  dass  er  dennoch  am  »sausenden 
•Webstuhl  der  Zeit«  mithelfen  werde  »der  Gottheit 
'lebendiges  Kleid  zu  wirken.«  Die  Tränejn, 
die  beim  Schluss  der  Aufführung  des  Parsifal 
in  seinen  Augen  standen,  verbürgten  mir  aufs 
neue  diese  Annahme  und  so  sah  ich  ihn  scheiden 
mit  innigem  Dank  für  die  poesieerfiillte  Zeit,  die 
mir  seine  Talente  bereitet  hatten  und  mit  dem 
Segen,  den  das  Alter  der  Jugend  mitgibt  in 
das  Leben,  wohl  wissend,  welche  Schmerzen  und 
Enttäuschungen  den  Idealisten  in  der  nüchternen 
Welt  erwarten,  aber  auch  wo  die  Region  ist, 
in  der  seine  Seele  ihre  wahre  Heimat  hat  und 
ewige  Befriedigung  findet. 

Ich  blieb  die  ganze  Zeit  der  AufRihrungen 
in  Bayreuth  und  wohnte  allen  bei.  Einen  ganz 
besonderen  Zauber  übte  dabei  auf  mich  —  was 
seltsam  klingt  —  eine  Tänzerin;  auf  mich,  der 
das  Ballet,  wie  es  gegenwärtig  ist,  der^  grössten 
Widerwillen  einfiösst.  Er  war  dies  die  Signora 
Zucchi  aus  Mailand,  eine  Italienerin,  schon  nicht 
mehr  ganz  jung,  die  aber  mit  dem  schnellen 
Verständnis  ihres  Volkes  für  alles  Künstlerische, 
alsbald  begriffen  hatte,  wie  Frau  Wagner  die 
Erscheinung    der    drei    Grazien    im    Venüsberg 


—    397     — 

dstfgestellt  haben  wollte.  Nicht  in  der  absurden 
Weise,  wie  man  es  damals  in  Paris  getan,  in 
kurzen  rosa  Florkleidern,  sich  ganz  nach  Art  der 
gewöhnlichen  Ballettänzerinnen  bewegend,  sondern 
in  langen,  weissen,  griechischen  Gewändern,  nuf 
anmutsvoll  leicht  schreitend,  oder  in  klassischen 
Stellungen  ruhend  und  durch  Pantomimen  aus- 
drückend, was  ihres  Amtes  war.  Die  Zucchi 
löste  die  Aufgabe  in  geradezu  bezaubernder  Weise 
und  zeigte  sich  dabei  als  eine  Mimin  ersten 
Ranges,  auch  spätei:  als  sie  im  Wagnerischen 
Hause,  uns  ganz  allein  eine  improvisierte  Vor- 
stellung gab;  in  spanischem  Kostüm,  zunächst 
den  BoUero  reizvoll  tanzte  und  dann  ein  voll- 
ständiges kleines  Drama  aufführte.  Wie  sehr 
brachte  mich  das  wieder  auf  Gedanken  zurück, 
die  mich  öfter  beschäftigt  hatten  und  zu  denen 
noch  kurz  vorher  eine  geistvolle  Freundin  aus 
ihrer  Erfahrung  mit  ihren  Kindern,  mir  die 
liebenswürdigsten  Belege  gab,  nämlich  auf  die 
Einwirkung  des  Tanzes  bei  der  Erziehung.  So 
wie  der  Tanz  gewiss  eine  der  ersten  Äusserungen 
tief  innerlicher,  feierlicher,  religiöser  Gefühle  ge- 
wesen ist,  so  ist  er  auch  dem  Kinde  natürlich 
und  sollte  von  verständigen  Erziehern  angewendet 
werden,  um  das  Verständnis  des  Rhythmus,  die 
Anmut  der  Bewegungen,  das  feierliche  taktvolle 
Schreiten,  als  Ausdruck  der  Ehrfurcht  in  der 
Nähe  von  etwas  Erhabenem,  zu  entwickeln.  Es 
versteht  sich,  dass  dabei  nicht  vom  modernen 
Tanz  die  Rede  sein  :  kann,  sondern  allein  von 
sinnvollem  Bewegen  bei  gegebenen  Rhythmen,  von 


-    398    — 

heiterem,  anmutigem  Hüpfen  und  Springen,  als 
Ausdruck  der  Freude,  ja  auch  von  Vorbereitung 
zu  edler  Gemeinsamkeit,  im  schön  geordneten 
sich  langsam  und  feierlich  bewegenden  Reigen. 
Was  mich  aber  mehr  als  alles  fesselte,  das  war 
das  Bild  der  künstlerischen  Entwicklung  Wagners, 
wie  sie  sich  gerade  in  den  drei,  hier  zusammenge- 
stellten Meisterwerken  so  vollständig  verfolgen 
Hess.  In  Tannhäuser  spielen  doch  die  alten 
Traditionen  noch,  hie  und  da,  hinüber,  aber 
daneben  steigt  schon  wie  eine  leuchtende 
Morgenröte,  das  neu  erkannte  künstlerische 
Prinzip  glorreich  empor ;  die  Einheit  des  Dichters 
und  Musikers  wird  als  Notwendigkeit  offenbar 
und  das  charakterisierende  Eingreifen  der  Musik 
in  die  schon  als  selbständig  dastehende  drama- 
tische Handlung  erscheint  als  der  höchste  Aus- 
druck des  vollendeten  Kunstwerks.  Wie  das 
dem  Genius  kühn  entstiegene,  vollständig  Neue, 
zur  Gewissheit  geworden,  nun  in  unbeschränkter 
Allgewalt  herrscht,  wie  konnte  es  besser  gezeigt 
werden  als  durch  die  Aufeinanderfolge  von 
Tannhäuser  und  Tristan,  welcher  vielleicht 
mehr  noch  als  alles  andere,  auch  musikalisch, 
den  zum  unumstösslichen  Sieg  gelangten  neuen 
Standpunkt  zeigt,  der  dann  im  Parsifal,  schon 
gleichsam  sich  selbst  übertreffend,  in  einer  reinen 
Verklärung  endet. 

Nach  den  vier  Wochen  dieses  höchsten 
Kunstgenusses  erfreute  ich  mich  noch  einige 
Tage  des  intimen  Zusammenseins  mit  den  so 
lange  nicht  gesehenen  teuren  Freunden,  und  setzte- 


—     399     — 

dann  meinen  Wanderstab  wieder  weiter  nach 
Westen,  zunächst  nach  Ems,  wo  die  einzig 
übrige  der  Geschwister,  die  alte  Schwester, 
die  letzten  Lebenstage  verbrachte;  ein  Liebes- 
opfer meinerseits,  da  ich  wenig  mehr  für  dies 
erlöschende  Leben  tun  konnte  und  die  Zeit 
zum  Besuche  herrlicher,  von  mir  noch  ungekannter 
Orte,  hätte  benutzen  können,  an  denen  mir 
Freude  und  Belehrung  geworden  wäre.  Von 
Ems  fuhr  ich  am  Rhein  hinunter,  den  ich  immer 
mit  Wehmut  und  Liebe  wiedersah,  auf  dessen 
Wellen  holde  Erinnerungen  aus  ferner  Jugendzeit 
und  teure,  längst  entschwundene  Gestalten  zu 
schwimmen  schienen  und  der  mir  die  tief  im 
Herzen  wohnende,  nie  erlöschte  Liebe  zum 
Vaterland,  zum  wahren  Deutschtum,  stets 
lebendig  zum  Bewusstsein  brachte.  Ja  das  Land, 
welches  einen  Schiller  und  Goethe,  einen  Beethoven 
und  Wagner,  und  eine  Schar  edler  bedeutender 
Geister,  die  jener  würdig,  wenn  auch  ihnen  nicht 
gleich  waren,  hervorgebracht  hat,  musste  mir 
ewig  teuer  bleiben,  obgleich  für  meine  Über- 
zeugungen viele  tiefe  Schatten  über  seiner 
Gegenwart  lagern  und  obgleich  die  Feme,  durch 
Natur  und  Menschen,  andere  teure,  unauflösliche 
Bande  um  mein  Leben  geschlungen  hat.  In 
Versailles  dann,  in  Olgas  Häuslichkeit,  verbrachte 
ich  wieder  Sommer  und  Herbst,  aber  es  war 
diesmal  keine  frohe  Zeit  wie  sonst,  es  kam 
vieles  zusammen  um  sie  zu  trüben,  vor  allem 
die  Erkrankung  vom  ältesten  Sohne  Olgas  an 
der  Diphtheritis,    welche   es   nötig  machte,   alle 


—    400    — 

übrigen  Familienmitglieder  aus  dem  Hause  zu 
entfernen,  so  dass  nur  Olga  —  deren  aufopfernde 
Mutterliebe  sich  nie  verleugnete,  und  die  alle 
Pflege  selbst  übernahm  ^-  und  ich,  zurückblieben. 
Da  kam  mir  noch  einmal,  durch  zu  viel 
Schmerzliches  das  sich  zusammen  gefunden  hatte, 
einer  jener  Momente,  wo  alles  Weh  des  Daseins 
uns  überfällt,  wo  alles  sich  auflöst  in  hoffnungs- 
losem Leid,  wo  alle  Sterne  ihr  Licht  verlieren 
und  nur  eine  grosse  dunkle  Öde  um  uns  übrig 
bleibt  und  ich  verschloss  schnell  meine  Türe, 
damit  niemand  mich  sähe  und  weinte  noch 
einmal  jene  Tränen,  die  ein  sonst  mutiges 
und  gefasstes  Herz  nicht  oft  weint,  die  aber, 
wenn  sie  kommen,  aus  jenen  Urtiefen  der  Seele 
quellen,  welche  kein  Trost  erreicht  und  kein 
Name  nennt. 

Aber  auch  das  ging  vorüber  und  im  Spät- 
herbst kehrte  ich  wie  gewöhnlich  nach  Rom  zu- 
rück. Und  abermals  sandte  mir  das  Schicksal 
eine  jener  Begegnungen,  die  eine  schöne  Spur  im 
Leben  zurücklassen  und  mit  denen  sich  rasch  in 
kurzen  Stunden  mehr  Inhalt  zusammendrängt 
als  mit  dem  gewöhnlichen  Verkehr  in  Jahren. 
Es  war  dies  wieder  ein  anderer  Typus  als  der 
vorhin  besprochene,  ein  Aristokrat  der  edelsten 
Art,  ein  Deutsch-Russe  aus  Livland.  Diese 
Provinz  hatte  mir  schon  mehr  als  eine  Persönlich- 
keit zugeführt,  welche  mir  durch  ihre  Be- 
deutendheit, durch  ihren  Geist  und  ihr  Gemüt 
innigst  wert  geworden  war;  besonders  waren 
dies   zwei  Frauen,    beide   in   Italien   verheiratet, 


—    40I     — 

von  denen  die  eine  leider  zu  früh  dem  Gatten, 
den  Kindern  und  den  Freunden  durch  den  Tod 
entrissen  wurde,  während  die  andere,  ein  Wesen 
seltenster  Art,  von  einer  ungewöhnlichen  Bildung, 
durch  Jahre  der  Trennung  hindurch  und  dann 
in  endlich  erreichter  Nähe,  mir  in  treuer,  gegen- 
seitiger Freundschaft  verbunden  geblieben  ist. 
Die  erste  war:  Baronin  Cecil  von  Pilar,  ver- 
heiratete Mariano,  die  zweite  ist  Augusta  von 
Stein,  verheiratete  Rebecchini.  Durch  das,  was 
ich  von  diesen  ausgezeichneten  Frauen  und  von 
vielen  anderen  ihrer  Landsleute,  namentlich  über 
die  oben  Genannte  der  Ostseeprovinzen  hörte, 
gab  mir  eine  äusserst  günstige  Idee  von  den 
Zuständen  dort,  so  wie  sie  vor  noch  nicht  zu 
ferner  Zeit  gewesen  waren.  Die  herrliche  Selbst- 
ständigkeit der  adeligen  Herren  auf  ihrem  eigenen 
Grund  und  Boden,  die  Möglichkeit,  durch  grossen 
Besitz  nach  unten  hin  wohltätig  und  veredelnd 
zu  wirken,  sich  durch  feinste  Bildung  das  Leben 
reich  und  fördernd  zu  gestalten,  unter  sich,  von 
Besitztum  zu  Besitztum,  in  angenehmem,  doch 
nicht  beengendem  Verkehr,  eine  Art  Oligarchie 
in  beneidenswerter  Freiheit  bildend,  so  stellte 
ich  mir  das  dortige  Leben  vor.  Leider  werden 
jetzt,  durch  das  autokratische  Regiment,  welchem 
diese  schönen  Provinzen  seit  lange  Untertan 
sind,  viele  der  genannten  Vorzüge  zerstört  und 
der  Despotismus  arbeitet  daran,  das  nationale 
und  religiöse  Element  immer  mehr  zu  bedrücken 
und  zu  vernichten.  In  jenem  jungen  Mann, 
Baron  v.  W.  .  .  .,  aber  fand  ich  die  Persönlichkeit 

M  e  y^s  9  n  b  u  g  ,  IV.  a6 


—     402     — 

wie  sie,  unter  den  vorhin  genannten  Verhältnissen, 
sich  zu  edler  Form  und  zu  tiefem  inneren  Ge- 
halt entwickeln  musste  und  eine  Bestätigung  des 
vorteilhaften  Bildes,  welches  ich  mir  von  der 
eigentümlichen  Verfassung  jener  Provinzen  ge- 
macht hatte.  In  dem  Winter,  den  er  in  Rom 
zubrachte,  hatte  ich  Gelegenheit  ihn  oft  zu  sehen 
und  in  langen  Gesprächen  die  Fülle  seiner 
Kenntnisse,  die  kein  trockenes,  pedantisches 
Wissen,  sondern  starke  Stützen  eines  sehr  eigen- 
tümlichen, tief  seelischen  Gedankenlebens  waren, 
zu  bewundern  und  mich  an  der  feinen,  voll- 
kommen edlen  und  ideal  angelegten,  im  besten 
Sinne  vornehmen  Natur  zu  erfreuen.  Hier  auch 
wieder  konnte  ich  nur  mit  froher  Hoffnung  in 
die  Zukunft  sehen,  die  von  so  grosser  Begabung 
und  so  ernsten  Studien  die  schönen  Früchte 
ernten  wird.  Grössere  Freude  und  sicherer 
Trost  kann  dem  Alter  nicht  werden  als  die 
Gewissheit,  dass  in  jungen  Seelen  die  heilige 
Liebe  des  Ideals  in  reinen  Flammen  brennt,  und 
das  die  Schöpferkraft  da  ist,  Werke  zu  erzeugen, 
welche  der  Welt  wieder  Funken  jenes  himmlischen 
Feuers  bringen,  das  die  Prometheuse  aller  Zeiten 
den  Göttern  haben  rauben  müssen,  um  die  starre 
Form  der  Menschengestalt  mit  geistigem  Inhalt 
zu  beleben.  Alle  diese  einzelnen  Trefflichen 
erschienen  mir,  wie  mir  gesandte  Boten  der 
Verheissung,  dass  die  Welt  nicht  untergehen  wird 
im  Materialismus,  im  blöden  Streben  nach  dem 
Vergänglichen,  sondern  dass  die  Begnadeten,  die 
Gottgesandten,  immer  wieder  erscheinen  werden. 


—    403     — 

um  weiter  zu  bauen  an  dem  kristallnen  Dom 
der  ewigen  Gedanken,  der  sich  über  den  ver- 
gänglichen irdischen  Gütern  wie  ein  reiner  Bau 
aus  Sonnenstrahlen  erhebt,  um  Licht  zu  senden, 
wenn  es  hier  unten  Nacht  werden  will. 

Nur  noch  einen  Sommer  machte  ich  die 
gewohnte  Nordfahrt,  schon  bei  mir  bestimmt 
fühlend,  dass  es  die  letzte  sein  würde,  da  mich 
die  weiten  Reisen  zu  sehr  ermüdeten,  zu  viel 
von  der  letzten  Kraft  verzehrten  und  ich  auch 
geistig  das  Bedürfnis  der  Konzentration  auf 
Oertlichkeit  und  Klima  empfand,  gleichsam  wie 
einen  Wink,  dass  die  Gedanken  sich  nicht  mehr 
in  die  Weite  und  Breite  zerstreuen,  sondern  immer 
mehr  nach  innen  und  nach  oben  tätig  sein 
sollten.  Doch  hatte  ich  den  folgenden  Winter 
die  unsägliche  Freude,  die  älteste  Tochter  Olgas 
bei  mir  zu  haben,  ein  eben  zur  Jungfrau  erblühtes 
geist-  und  gemütvolles,  liebliches  Wesen,  welches 
die  Einsamkeit  meines  kleinen  Heiriis  wieder  mit 
dem  holden  Reiz  der  Jugend  schmückte  und 
als  eine  seltene  Gunst  des  Schicksals  mir  in  der 
zweiten  Generation  die  Zeit  zurückrief,  wo  die 
Mutter  in  ihrer  Jugendschöne  und  Seelenanmut 
neben  mir  vom  Kind  dur  Jungfrau  reifte  und 
damals  den  Hauptinhalt  meines  Lebens,  Denkens 
und  Tuns  bildete.  Im  Frühjahr  kam  sie  auch 
um  die  Tochter  abzuholen  und  blieb  mehrere 
Wochen,  als  Ersatz  fiir  den  Sommer,  den  ich 
nun  nicht  mehr  bei  ihnen  verbringen  konnte. 

In  diesem  Sommer,  den  ich  also  in  Italien, 
wie  von  nun  an  bis  an  das  Ende,  bleiben  wollte, 

a6» 


—    404    — 

folgte  ich  zuerst  wieder  der  freundschaftlichen 
Einladung  von  Frau  Minghetti  auf  ihr  schönes 
Mezzaratte.  Wie  früher  verstrich  die  Zeit  da 
auf  das  angenehmste,  in  heiterer  schöner  Natur 
und  liebenswürdigster  Gastfreundschaft  und 
wahrlich  auf  solchen  schönen  Landsitzen  der 
reichen  Italiener  brauchte  man  gar  nicht  vor 
dem  Sommer  wegzulaufen,  denn  in  den  heissen 
Tagesstunden  hat  man  Frische  in  kühlen,  luftigen, 
vor  der  Sonnenglut  verschlossenen  Räumen, 
und  wer  könnte  wohl  den  Zauber  der  Morgen- 
und  Abendstunden  im  italienischen  Klima  be- 
schreiben? 

Nach  einiger  Zeit  jedoch  schied  ich,  um 
einmal  wieder  am  Meer  zu  sein,  das  von  jeher 
für  mich  mehr  Anziehung  gehabt  hat  als  die 
Berge,  deren,  den  Horizont  begrenzendes,  starres 
Wesen,  mir  nach  einiger  Zeit  immer  bedrückend 
wird,  wobei  mir  stets  Fausts  Worte  einfallen: 
»Gebirgesmassen  bleibt  mir  edel  stumm.«  Ich 
ging  nachRimini,  dem  Bologna  zunächst  liegenden 
Seeort  am  adriatischen  Meer,  dessen  Küste  für 
den  Sommer  der  Westküste,  weil  kühler,  vorzu- 
ziehen ist.  Es  ist  dies  jetzt  ein  sehr  besuchter 
Badeort,  mit  einem  meilenweit  ausgedehnten 
Strand  vom  feinsten  Sand,  herrlich  zum  Baden, 
so  ungefährlich,  dass  man  selbst  Kinder  ruhig 
allein  im  Wasser  herumlaufen  lassen  kann.  Der 
moderne  Luxus  hat  hier  bereits  auch  schon 
Fuss  gefasst,  für  Annehmlichkeiten  und  Ver- 
gnügungen aller  Art  gesorgt  und  während  sich 
das  Meer  von  der  alten  Stadt  schon  beträchtlich 


—    405     — 

weit  zurückgezogen  hat,  an  dem  neuen  Strand 
eine  Stadt  sehr  zierlicher,  zum  Teil  sehr  hübscher 
Villen  entstehen  lassen,  von  denen  manche 
zur  Aufnahme  von  Fremden  eingerichtet  sind. 
^Vom  Meere  aus  gesehen,  bildet  diese  Villenreihe 
einen  anmutigen  Vorgrund  zu  der  im  Hinter- 
grund in  den  malerischesten  Formen  sich  hin- 
ziehenden Bergkette,  als  deren  Mittelpunkt  die 
dreigipflige  Höhe,  auf  der  die  Republik  von 
S.  Marino  liegt,  emporragt.  Ich  fand  passende 
Wohnung,  dicht  am  Meer,  in  einem  der  Häuser, 
welche  die  Stadt  daselbst  zur  Aufnahme  von 
Fremden  hat  herstellen  lassen.  Dort  verbrachte 
ich  die  Morgen  auf  einer  prächtigen  Terrasse, 
umflutet  von  herrlicher  Meerluft,  mit  Lesen  und 
Schreiben.  Der  banalen  Vergnügungen  nach- 
jagenden Badegesellschaft  ging  ich  aus  dem 
Wege,  und  wenn  ich  am  Nachmittag  mich 
hinaus  begab  auf  die  grosse  Plattform,  die  man 
alijährlich  weit  hinaus  ins  Meer  aufbaut,  so  unter- 
hielt ich  mich,  wenn  überhaupt  mit  Menschen, 
am  liebsten  mit  den  Schiffer-  und  Fischerleuten, 
die  da  mit  ihren  Barken  und  Booten  hielten, 
oder  ich  liess  mich  hinausfahren  aufs  Meer,  was 
schon  einst  in  England  meine  Lust  gewesen 
war  und  liess  mir  von  den  wackeren  Seeleuten 
ihre  Lebensschicksale  erzählen.  Da  war  besonders 
einer,  auch  in  den  Traditionen  seines  Rimini 
erfahren,  denn  seine  Barke  hiess  Francesca,  der 
fuhr  mich  oft  hinaus  und  erzählte  mir  von  den 
Fahrten  um  die  Welt,  die  er  als  Jüngling  auf 
einem  grossen  Schiff  gemacht  und  wie  er  dann, 


—     4o6     — 

schon  als  gereifter  Mann,  an  einer  Krankheit, 
die  ihn  zum  Seedienst  auf  den  Staatsschiflfen 
untauglich  machte,  in  die  Heimat  zurückgekehrt 
sei,  um  sich  nach  der  Fremdenzeit  mit  Fisch- 
fang, so  gut  es  gehen  wollte,  zu  ernähren.  Nun 
sei  es  ihm  aber  einsam  und  traurig  gewesen, 
da  seine  Angehörigen  inzwischen  gestorben  waren 
und  doch  habe  er  es  nicht  gewagt  sich  um  ein 
Mädchen  zu  bewerben,  da  er  nicht  mehr  jung  und 
dazu  arm  gewesen  sei.  Bekannte  von  ihm  hätten 
ihm  aber  gesagt,  sie  hätten  ein  armes  Mädchen, 
eine  ganz  verlassene  Waise,  in  Dienst  genommen, 
die  sei  so  schön  und  gut,  so  bescheiden  und 
sittsam,  dass  wenn  er  die  zum  Weibe  haben 
könnte,  so  würde  er  glücklich  werden.  Nun  sah 
«r  sie,  fand  alles  wahr  was  zu  ihrem  Lobe 
gesagt  war  und  fragte  sie,  ob  sie  sich  entschliessen 
könne,  ihn  zu  heiraten.  Sie,  ebenso  bescheiden 
wie  er,  hatte  nicht  geglaubt,  dass  ein  Mann  sie 
in  ihrer  Armut  und  Niedrigkeit  werde  heiraten 
wollen,  und  dankbar  und  gerührt  gab  sie  ihr 
Jawort.  Er  war  auch  noch  ein  schöner  Mann  mit 
seinem  dunkel  gefärbten  Antlitz,  aus  dem  zwei 
leuchtende  Augen,  feurig  und  doch  mild  und  gütig 
unter  den  dichten  Brauen  hervorsahen  und  mit  dem 
schwarzen  lockigen  Haar,  das  sich  unter  dem  breit- 
krämpigen  Hut  nur  halb  barg  und  das  kaum  erst 
einzelne  helle  Fäden  durchzogen.  Als  er  draussen 
auf  still  gekräuselter  See  bloss  das  Segel  zu  dirigieren 
hatte,  das  seine  »Francesca«  weiter  führte,  blieb 
ihm  Zeit,  mir  diese  seine  einfache  und  doch  so 
liebliche  Herzensgeschichte   zu  erzählen   und  als 


—     407     — 

wir  wieder  an  der  Plattform  ausstiegen,  sagte 
er:  »Nun  muss  ich  Ihnen  doch  meine  Kinder 
zeigen.«  Er  winkte  zwei  kleine  Mädchen  herbei, 
die  auf  der  Plattform,  wo  auch  Buden  waren, 
an  einem  Bänkchen  standen  und  Muscheln,  die 
der  Vater  im  Meer  gefangen  hatte,  verkauften. 
Es  waren  zwei  allerliebste  Geschöpfe;  die 
Älteste  mit  dem  über  ihre  Jahre  gehenden 
Verständnis  dessen,  was  die  Armut  bedeutet, 
d.  h.  Arbeit  und  Entbehrung  aller  Lebensfreude, 
im  Ausdruck,  wie  er  sich  öfter  bei  gutgearteten 
Kindern  des  Volkes  findet  und  unaussprechlich 
rührend  anzusehen  ist,  die  zweite,  erst  fünf  Jahr 
alt,  ein  blühendes,  sorglos  heiteres  Wesen,  welches 
auf  des  Vaters  Aufforderung,  gleich  ohne  Scheu 
in  voller  Natürlichkeit  mehrere  Gedichte,  von 
passender  Grestikulation  begleitet,  korrekt  und 
ohne  zu  stocken  hersagte.  Sie  hatte  sie  in 
dem  Kindergarten  zu  Rimini,  der  von  wohl- 
tätigen Frauen  gegründet  ist,  gelernt.  Nun 
musste  ich  aber  versprechen  auch  die  Mutter 
kennen  lernen  zu  wollen,  die  als  ordnende 
Hausfrau  immer  daheim  blieb.  Am  folgenden 
Tag  also  ging  ich  in  das  Schifferquartier  am 
Hafen,  wo  die  Familie  wohnte,  von  den  Kindern 
geleitet  und  im  Hause  von  der  Mutter  erwartet. 
In  ihr  fand  ich  nun  wieder  eines  jener  hold- 
seligen Wesen,  wie  sie  das  italienische  Volk,  da 
wo  es  noch  nicht  verdorben  ist  durch  Fremden- 
verkehr und  anderes,  so  häufig  zeigt;  diese 
Augen  der  Madonnen  Raphaels,  in  deren  uner- 
gründlichen Tiefen  Jungfräulichkeit,  Seelenreinheit 


—    4o8     — 

und  ernste,  beinah  feierliche  Hoheit  liegen,  dieses 
Schlanke,  Mädchenhafte,  das  auch  die  Mutter 
noch  beibehält  und  die  liebliche  Unbewusstheit 
der  eignen  Anmut.  In  dem  kleinen,  ärmlichen, 
aber  sauber  gehaltenen  Raum,  in  welchem  diese 
Familie  wohnte,  musste  ich  nun  alles  besehen, 
was  er  von  Eigentum  enthielt,  besonders  die 
Schreibbücher  der  Kinder,  die  das  Glück  hatten, 
unentgeltlichen  Unterricht,  den  die  Mutter  nie 
gehabt  hatte,  in  Kommunalschulen  und  Kinder- 
garten zu  geniessen,  und  den  einzigen  Schmuck, 
den  man  besass,  eine  Anzahl  schöner  Muscheln, 
welche  der  Vater  heim  gebracht  hatte.  Eine 
der  schönsten  wurde  mir  alsbald  zum  Geschenk 
dargereicht,  mit  dem  edlen  Gleichheitsgefiihl  des 
italienischen  Volkes,  das  auch  in  seiner  Armut, 
durch  die  Spenden  der  freigebigen  Natur  immer 
noch  dem  Fremden  eine  Gabe  anzubieten  hat, 
ehe  ihm  noch  etwas  gegeben  ist.  Man  muss 
eben  das  Volk  nicht  nach  den  Orten  beurteilen, 
die  Fremde  gewöhnlich  nur  sehen;  man  muss 
zu  ihnen  gehen  an  die  Stätten,  wo  noch  das 
ursprüngliche  Naturell,  unverdorben  von  fremden 
Einflüssen  und  dem  Getriebe  des  materiellen 
und  kommerziellen  Verkehrs,  herrscht,  um  zu 
wissen,  was  dieses  Volk  ist. 

Gerade  hier  in  Rimini  und  besonders  an 
der  Bevölkerung  des  Hafens,  lernte  ich  es  aufs 
neue  kennen  und  lieben.  Der  Charakter  derselben 
ist  im  allgemeinen  liebenswürdig,  friedlich,  eher 
bedächtig  als  übereilt  im  Handeln,  aber  beharrlich 
und  mutig,  wie  sie  das  im  Kriege  und  auf  dem 


—    409     — 

Meer  bewiesen  hat  und  noch  beweist.     Sie  ist 
genügsam  und  strebt  nicht  nach  grossem  Gewinn, 
daher  man  dort  weder    sehr  grosse  Reichtümer 
noch    sehr   grosses    Elend   findet.     Wie  gesagt, 
ganz    besonders    ausgeprägt   findet    sich   dieser 
Charakter    bei   dem  J  Schiflfervolk    des    Hafens, 
welches  längs  demselben  ein  eignes  Quartier  be- 
wohnt,   gleichsam    einen  kleinen  Staat  fiir  sich 
bildet  und  einen  Verein  zu  gegenseitiger  Unter- 
stützung organisiert  hat,  der  die  Mittel  gewährt, 
um  niemand  verhungern  zu  lassen.  Ich  verkehrte 
viel  dort  mit  diesen  Leuten  und  einer  der  Schiffer 
sagte   mir:    »Wir  sind  Jarm,    aber  wir  arbeiten, 
sind    zufrieden  'und   jeden,    der    arbeiten  [will, 
nehmen   wir   auf  wie  einen   Bruder  und  helfen 
ihm.     Doch   die  Faulen,   die  Müssiggänger,   die 
weisen    wir    unerbittlich   streng  von   uns   aus.« 
Kann    man    eine    bessere,   vollständigere   Moral 
finden   für  ein   Gemeinwesen    als   sie   in  diesen 
wenigen  Worten  enthalten  ist? 

Der  Hafen  ist  durch  das  sich  immer  mehr 
zurückziehende  Meer  beinah  wie  ein  langer  Kanal 
geworden  und  bedürfte  bedeutender  Ausbesse- 
rungen, um  wieder  Beförderer  der  Interessen  und 
der  Wohlfahrt  des  Landes  zu  werden,  wie  er  es 
unter  den  kulturfreundlichen  Malatesta  war,  woran 
aber  das  jetzige  italienische  Grouvemement 
gar  nicht  denkt.  —  Doch  ist  der  Handel,  der  von 
hier  ausgeht,  noch  immer  nicht  unbeträchtlich. 
Die  grossen  Barken,  die  da  vor  Anker  liegen, 
führen  Ladungen  von  Backsteinen,  die  in  Massen 
bei  Rimini  verfertigt  werden,  Holz,  Fischen  u.  a. 


—    4^0    — 

hinüber  nach  Dalmatien,  Fiume,  Triest  etc.  — 
Dabei  lebt  das  Volk  einfach  und  genügsam, 
meist  nur  von  Polenta,  welche  die  Ärmsten  so- 
gar mit  Seewasser  kochen,  um  das  Salz  zu  sparen. 
Aber  am  Hafen  sind  es  Fische  und  Seetiere, 
welche  die  Hauptnahrung  ausmachen.  Es  ist 
ein  malerischer  Anblick,  die  kräftigen,  sonnen- 
gebräunten, oft  sehr  schönen  Männer  gegen  Abend 
in  den  Barken  um  die  dampfende  Schüssel  sitzen 
zu  sehen,  in  welcher  die  Seetiere  in  der  eigenen 
Brühe  kochen  und  in  die  ein  jeder  mit  seinem 
Löffel  fährt,  um  sich  seinen  Anteil  an  Speise  zu 
holen.  So  mag  der  vielgewanderte  Odysseus 
mit  den  Gefährten  beim  »lecker  bereiteten  Mahle« 
gesessen  haben,  als  er  nach  beendetem  Kampf 
auf  geräumigen  Ruderschiff  auszog,  um  die  ge- 
liebte Heimat,  das  meer umflossene  Ithaka,  wieder 
zu  sehen,  im  fröhlichen  Vorgefühl  nicht  ahnend, 
welche  schwere  Prüfungen  ihm  noch  bevorstanden. 
Es  war  aber  nicht  das  moderne  Rimini, 
welches  mich  am  meisten  anzog;  es  war  das 
alte,  jetzt  zu  einem  kleinen  Provinzialstädtchen 
herabgesunkene,  welches  für  viele  Wochen  mein 
lebhaftestes  Interesse  in  Anspruch  nahm.  Denn 
Rimini  hat  eine  Geschichte,  wie  so  viele  der 
italienischen  Städte,  und  zwar  eine  der  bedeu- 
tendsten. Es  hat  auch  noch  Trümmer  aus  alter 
Zeit,  einen  prächtigen  Triumphbogen  aus  der 
des  Kaisers  Augustus  und  eine  schöne  Brücke, 
die  über  einen  Arm  des  zweigeteilten  Rubikon 
führt,  der  hier  aber  jetzt  den  Namen  Marechia 
hat,    während    den   anderen  Arm   der  berühmte 


—    411     — 

Name  blieb,  der  ja  noch  immer  zu  der  Bezeich- 
nung einer  kühn  gewagten  Tat,  im  Gedenken 
an  Julius  Cäsars  Überschreiten  der  ihm  gesteckten 
Grenze,  dient. 


Seine  eigentliche   Bedeutung   aber  hatte  Ri- 
mini  erst,  als  es,  wie  so  viele  andere  italienische 
Städte,    der  Herrschaft   eines  Geschlechts  unter- 
worfen wurde,  welches  es  mächtig  im  Krieg  und 
hervorragend  im  Kulturleben  machte.  Angezogen 
durch  die  berühmten  Episoden  und  Namen  des- 
selben, sowie  durch  die  Betrachtung  der  pracht- 
vollen, leider  nicht  vollendeten  Kirche,  die  Sigis- 
mondo  Malatesta  baute  und  die.  wenn  vollendet, 
eines    der  herrlichsten.  Monumente  Italiens    sein 
würde,  beschloss  ich,  mich  näher   mit  der   Ge- 
schichte   der    Malatesta    zu   beschäftigen.      Der 
Direktor  der  vorzüglichen  Bibliothek   der  Stadt, 
dessen  Vater  einer  der   besten   Historiographen 
Riminis  gewesen    ist,  empfing  mich  auf  das  zu- 
vorkommendste, und  ich  fuhr  nun  jeden  Morgen 
mit  dem  Tram  durch   die   schönen   Alleen,   die 
vom    Meere    nach  der  Stadt  fuhren,  in  dieselbe 
und  begab  mich  für  mehrere    Stunden   in   den 
alten  Palazzo,  in  dessen  geräumigem  Erdgeschoss 
sich    die    Bibliothek  befindet.     Hier   lernte    ich 
eine  neue  Freude  für  den  wissensdurstigen  Geist 
kennen,    die   nämlich :    an    den  Quellen  der  Ge- 
schichte selbst  schöpfen  zu  können,  zu  vergleichen, 
zu  urteilen  und    vielleicht   etwas    zu  entdecken, 
was    den    andern   entgangen  ist,   jedenfalls   sich 
unmittelbar  in  den  Geist  der  Zeit,  die  man  stu- 


—     412     — 

dieren  will,  zu  versenken  und  sie  nicht  erst  durch 
das  Medium  eines  anderen  Geistes  zu  sehen. 

Ich  verfolgte  jetzt  die  Geschichte  dieses  merk- 
würdigen Geschlechts  der  Malatesta,  die  eine 
ununterbrochene  Reihe  hervorragender  Gestalten 
durqh  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  aufzuweisen 
haben.  Schon  im  Jahre  1150  wurde  ein  Gio- 
vanni in  Rimini  Bürger.  Sein  Sohn  war  ein 
wilder,  grausamer  Mensch  und  erhielt  daher  den 
Beinamen:  Malatesta  (böser  Kopf),  der  dann  zum 
Familiennamen  des  Geschlechts  wurde,  wie  es 
damals  häufig  geschah,  dass  die  Beinamen,  welche 
die  Soldaten  ihren  Führern  gaben,  nacher  der 
Familie  verblieben.  In  der  malerischen  Kette 
der  Berge  von  Carpegna  sieht  man  noch  auf 
steiler  Felsspitze  das  alte  Kastell  Verrochio,  das 
einer  der  ersten  festen  Sitze  der  Malatesta  war. 
Ein  Malatesta  von  Verrochio  war  das  Haupt  der 
Guelfen,  die  damals  in  den  fortwährenden  Kämpfen 
in  der  Romagna  die  Oberhand  hatten,  und  er 
wurde  der  eigentliche  Gründer  der  Herrschaft  des 
Geschlechts  in  Rimini,  welches  dann  unter  seinen 
Nachkommen  zu  einer  Kulturstätte  wurde,  die 
man  mit  Recht  ein  kleines  Athen  nennen  könnte. 
Eben  dieser  Malatesta,  heftiger  Feind  der  Ghi- 
bellinen,  wurde  der  Hundertjährige  genannt, 
denn  er  lebte  von  1212  bis  1313.  Die  Päpste 
beschützten  ihn,  aber  Dante  hat  ihn  arg  behandelt, 
sowie  auch  seine  Söhne.  Der  älteste  derselben, 
Giovanni,  von  seinem  körperlichen  Grebrechen 
Sciancato  (der  Hüftenlahme)  und  schlisslich  Lan- 
zelotto genannt,  war  schon  als  Jüngling  im  Kriegs- 


—    413     — 

handwerk  berühmt,  aber  er  war  eine  harte  Natur 
und  reizbar  durch  seine  körperlichen  Gebrechen. 
Ihm  war  es  zwar  bestimmt,  »unsterblich  im  Ge- 
sang zu  leben«,  aber  in  trauriger  Gestalt  und 
der  Gehasste  aller  Generationen  zu  sein,  während 
seine  Opfer  durch  liebendes  Mitleid  verklärt 
wurden.  Er  hatte  im  Dienste  eines  de  Polenta 
von  Ravenna,  zur  Zeit  Podestä  von  Pesaro,  einen 
Sieg  errungen  und  als  Siegespreis  war  ihm  die 
Tochter  Polen tas,  Franceska,  versprochen.  Sein 
Bruder,  Paolo  il  bello,  so  genannt  wegen  seiner 
Schönheit  und  Liebenswürdigkeit,  wurde  nach 
Pesaro  gesandt,  die  Braut  für  den  Bruder  zu 
freien,  so  erzählt  Bocaccio.  Als  er  dort  ankam, 
zeigte  eine  Frau  ihn  der  Franceska  vom  Fenster 
aus  und  sagte:  »Das  ist  der,  welcher  dein  Mann 
werden  soll.«  Bocaccio  meint,  dass  das  gute 
Weib  es  wirklich  geglaubt  habe.  Was  war  na- 
türlicher, als  dass  Franceska  den  Schönen;  Liebens- 
würdigen gleich  mit  Neigung  empfing  und  dass 
er  für  die  reizende  Jungfrau  in  Liebe  entbrannte? 
Aber  seinem  Wort  getreu  führte  er  die  Braut  nach 
Rimini,  wo  grosse  Feste  sie  erwarteten,  doch  auch 
die  bitterste  Enttäuschung,  als  sie  den  ihr  be- 
stimmten Gatten  erblickte.  Als  sie  dann  mit 
Paolo  das  Geschick  der  Liebe  las,  welche  der 
ihrigen  so  ähnlich  war,  da  konnten  sie  freilich 
nicht  weiter  lesen,  denn  das  Buch  wurde  ihnen, 
was  der  Liebestrank  für  Tristan  und  Isolde  war, 
die  Offenbarung  ihres  schmerzlich  süssen  Geheim- 
nisses. Aber  der  verratene  Gatte  war  kein 
grossmütiger   König  Marke,    er    gab   ihnen   den 


—    414    — 

Tod  und  meinte,  damit  den  schuldigen  Bund  z« 
lösen.  Doch  die  Poesie  wollte  es  anders  undL 
weihte  sie  in  unzertrennbarem  Verein  der  Ewig^- 
keit  ihrer  Liebe. 

Wie    es    jetzt    so    vielfach     geschieht    mit 
Begebenheiten    und    Gestalten,     die    in    unsere^ 
nüchterne  Gegenwart  nicht   mehr    passen,    dass^ 
man   sie    in  das  Reich  der^  Fabel  verweist,    so 
hat    man    es    auch    mit    Paolo    und   Franceska 
machen   wollen,  ja,   man   hat  sogar  behauptet^ 
dass  Dante  die  Episode  durchaus  erfunden  habe. 
Dem  widerspricht  aber  zunächst  die  Erzählung- 
Bocaccios  und   dann  der  Umstand,   dass  Dante, 
ein    Zeitgenosse    und     teilweise    Mithandelnder 
der   Kämpfe   und   Ereignisse  jener  Epoche,   im 
Hause     eines    Polenta,    Neffen    der    Franceska, 
sein  letztes  Asyl    fand    und    da    bis   zu   seinem 
Tode  gastlich  gepflegt   wurde,   was  doch   wohl 
nicht  geschehen  wäre,   hätte   er   von   so   nahen 
Verwandten  Falsches  berichtet.     Wäre  es  aber 
auch  blosse  Phantasie   des  Dichters,  so  hat  der 
Fall,     durchaus    in    den    Sitten    der    Zeit,     die 
dichterische  Wahrheit,   die    der  Realität  gleich- 
kommt,  und  Paolo   und  Franceska   werden    un- 
sterblich leben,  so  lange    es   Herzen  gibt,    die 
für  Liebe  und  Poesie  Empfindung  haben. 

Ein  Enkel  des  Hundertjährigen,  Galeotto, 
regierte  in  Rimini  bis  1385.  Seine  älteste 
Tochter,  Madonna  Gentile,  an  den  Herrn  von 
Faenza  verheiratet,  war  eine  tapfere,  kriegs- 
mutige Frau,  mit  den  besonderen  Gaben  ihres 
Geschlechts     ausgestattet.       In      einem     Krieg 


—    415    — 

zwischen  Mailand  und  Florenz  nahm  sie,  in 
Abwesenheit  ihres  Gemahls,  für  ersteres  Partei. 
Ihre  Brüder  kämpften  für  Florenz  und  forderten 
sie  auf,  mit  ihnen  zu  sein,  aber  sie  sagte,  es 
täte  ihr  zwar  leid,  gegen  die  Brüder  zu 
kämpfen,  aber  Faenza  sei  für  die  Visconti  von 
Mailand  und  sie  habe  »die  Seelen  in  ersterem 
in  Obhut.«  Sie  stieg  bewaffnet  zu  Pferd  und 
zog  mit  einer  Schar  bewaffneter  Frauen  ins 
Feld.  Der  Chronist  der  Zeit  vergleicht  sie  mit 
Penthesilea  und  erzählt,  dass  sie,  ihren  Amazonen 
voran,  auf  die  Feinde  losgestürmt  sei,  welche 
ihr  »mit  wenig  Ehre«  weichen  mussten. 

Ihr  ältester  Bruder  Carlo,  mit  dem  die 
neue  Zeit  beginnt  (von  1364  bis  gegen  Mitte 
des  XV.  Jahrhunderts),  war  eine  der  be- 
deutendsten Persönlichkeiten  in  der  Reihe  der 
Malatesta.  Damals  kamen  eben  die  durch  die 
Türken  aus  der  Heimat  vertriebenen  Griechen 
nach  Italien  herüber  und  brachten  das  milde 
Licht  ihrer  Kultur  den  bisher  nur  durch  Kampf 
und  Zwietracht  genährten  Gemütern  reich  be- 
gabter Menschen.  Carlo  war  ein  tapferer  Con- 
dottiere,  aber  auch  ein  gebildeter,  jedem  Kultur- 
werk geneigter  Mann.  Er  gab  Rimini  eine  gut 
geordnete  Verwaltung,  seine  Untertanen  waren 
stolz  auf  ihn,  und  als  er  zuerst  in  Rimini  einzog, 
bereiteten  sie  ihm  einen  festlichen  Empfang. 
Eine  Prozession  von  9000  weiss  gekleideten 
Männern  und  von  8000  Frauen,  an  deren  Spitze 
Elisabeth  Gonzaga,  Carlos  Frau,  folgten  ihm 
zur  Kirche.     Nacher    stieg  er   auf  eine  Estrade 


—    4i6    — 

und  ermahnte  das  Volk  tätig  zu  sein  in  guten 
Werken;  gewiss  eine  schönere  Aufforderung  in 
einer  kriegerisch  doch  so  bewegten  Epoche,  als 
Kriegsheere  zu  loben  und  als  die  Spitze  der 
Kultur  hinzustellen,  wie  es  leider  in  unserer 
Zeit  so  häufig  geschieht. 

Dabei  liebte  er  die  Kunst,  liess  in  seiner 
Wohnung  Fresken  malen,  bei  denen  der  damals 
noch  sehr  junge  Ghiberti  tätig  war.  Carlo, 
seine  Begabung  ahnend,  wollte  ihn  behalten, 
aber  der  Konkurs  für  die  Türen  zum  Bap- 
tisterium  in  Florenz  zog  ihn  dahin  zurück.  Doch 
schreibt  er  in  seinen  Kommentaren,  dass  um 
1400  in  Rimini  schon  ein  kleiner  Hof  war,  wo 
Künstler  hochgeschätzt  wurden.  Mit  den  Hu- 
manisten war  Carlo  in  Verkehr;  eine  der  ersten 
italienischen  Akademien  entstand  unter  seinem 
Einfluss  und  er  war  bei  alledem  ein  frommer, 
heiliger  Mann,  so  dass  Papst  Martin  V.  ihm  seine 
Nichte,  nach  dem  Tod  der  Gonzaga,  zur  Frau 
gab.  Er  und  sein  Bruder  Pandolfo  waren  mit 
die  ersten  Fürsten  in  Italien,  welche  Künstler 
und  Gelehrte  sich  gleichstellten,  während  man 
sie  im  Vatikan,  bei  öffentlichen  Gelegenheiten, 
noch  mit  den  Dienstboten  zusammentat. 

Carlo  war  kinderlos,  aber  Pandolfo  hinter- 
liess  drei  illegitime  Söhne,  die  Carlo,  der  ihn 
überlebte,  zu  sich  nahm  und  mit  väterlicher 
Liebe  erzog,  auch  vom  Papst  Martin  V.  ihre 
Legitimation  erwirkte.  Nach  Carlos  Tod  folgte 
ihm  der  älteste  der  drei,  Galeotto,  eine  seltsame 
Ausnahme    in  dem    sonst    so   kriegerischen  Ge- 


—    417     — 

schlecht,  denn  er  war  solch  ein  fanatischer 
Asket  und  kasteite  sich  so  stark,  dass  er  mit 
zwanzig  Jahren  starb.  Ihm  folgte  sein  Bruder 
Sigismund  Pandolfo,  die  hervorragendste  Er- 
scheinung in  der  Reihe  der  bedeutenden  Menschen 
dieses  Hauses,  in  welchem  sich  alle  hohen, 
grossen,  edlen,  mit  den  wilden,  grausamen, 
leidenschaftlichen  Trieben  desselben  vereinigten, 
und  eine  Persönlichkeit  bildeten,  die  zu  gewaltig 
war  für  den  engen  Rahmen  ihrer  irdischen  Macht. 
Er  ging  an  dem  Übermass  des  Ehrgeizes  und 
der  gigantischen  Tatenlust  zu  Grunde,  aber 
nicht  ohne  Spuren  seiner  grossen  geistigen  Be- 
deutung zu  hinterlassen,  welche  der  Nachwelt 
ein  milderes  Urteil  über  ihn  gestatten,  als  der 
Hass  seiner  Feinde  es  seinen  Zeitgenossen  auf- 
zudrängen gesucht  hat.  Die  Gestalt  dieses  un- 
gewöhnlichen Menschen  interessierte  mich  so, 
dass  ich  mit  Eifer  in  den  Quellen  forschte,  um 
mir  mein  eigenes  Urteil  über  ihn  zu  bilden. 
Ja,  er  erinnert  an  die  Helden  Plutarchs  und 
während  er,  mit  dem  Schwert  in  der  einen 
Hand,  sich  den  Kühnsten  aller  Zeiten  gleich- 
stellte, schuf  er  mit  der  anderen  Hand  Werke  des 
Friedens  und  edelster  Kultur.  Man  muss  ihn 
aber  nicht  aus  dem  Bilde  seiner  Zeit  heraus 
nehmen,  ihn  nicht  mit  dem  Massstab  modemer 
Moralität  messen  Swollen,  sondern  bedenken,  dass, 
während  die  übrige  Welt  noch  vom  Dunkel  des 
Mittelalters  bedeckt  war,  an  seinem  Hof  bereits 
das  Licht  der  Wissenschaft  und  Kunst  strahlte. 
Erst  13  Jahre   alt,    erfocht  er  fiir  seinen  Bruder 

Meysenbug,  lY.  37 


--    4i8     — 

Galeotto  einen  glänzenden  Sieg  und  2  Jahre 
später  einen  anderen,  der  seinen  Ruhm,  der 
grösste  Condottiere  der  Zeit  zu  sein,  begründete. 
Seine  Hochzeit  mit  Ginevra  d'Este  wurde  mit 
glänzenden  Festen  gefeiert;  der  Kaiser  Sigismund, 
von  Rom  kommend  weilte  in  Rimini  und  wurde 
festlich  bewirtet;  Rimini  war  ruhig  und  glück- 
lich; kurz,  Malatestas  Regierung  fing  schön 
und  glänzend  an. 

Sigismunds  Gemahlin,  Ginevra,  starb,  erst 
22  Jahre  alt,  ohne  Kinder  zu  hinterlassen.  Aber 
schon  bei  ihren  Lebzeiten  wurde  sein  Herz  von 
einer  jener  grossen  Leidenschaften  ergriffen,  die, 
in  einer  so  gewaltigen  Natur,  jedes  Einspruchs 
von  Sitte  und  Gesetz  zum  Trotz,  ihr  Recht  be- 
haupten, und  die,  ungeachtet  mancher  momen- 
tanen Untreue,  sein  Leben  bis  an  das  Ende 
beherrschte. 

Isotta  degli  Atti  war  es,  welche  diese  Liebe 
hervorrief.  Sie  war  aus  adeligem  Geschlecht 
und  vor  allen  Frauen  Riminis  ausgezeichnet 
durch  hohe  Bildung  in  Musik,  Poesie,  Kunst 
und  Wissenschaft.  Dass  sie  schön  gewesen  sei, 
sagen  uns  die  von  ihr  erhaltenen  Bildnisse  nicht; 
aber  sie  muss  einen  Zauber  besessen  haben, 
der  mehr  fesselte  als  Schönheit  und  es  spricht 
für  Sigismund,  dass  dieser  Zauber  edelster, 
geistiger  Art  ihn,  der,  wie  in  allem  so  auch 
in  seiner  sinnlichen  Natur  übermächtig  war, 
durch  das  ganze  Leben  festhielt.  Auch  seine 
Feinde  konnten  nichts  gegen  sie  sagen  und 
selbst  Pius  11.,  Sigismunds  ärgster  Feind,  schrieb: 


—     419    — 

»er  liebte  Isotta  über  alles  und  sie  war  es 
wert.«  Sigismund  war  ein  häufiger  Besucher 
im  Palast  der  Atti  und  besang  Isotta  schon  als 
er  erst  20  Jahre  alt  war,  doch  bezeugen  diese 
Gedichte,  dass  sie  ihm  damals  noch  nicht  zu 
eigen  war.  Aber  auch  nachdem  sie  seine  Ge- 
liebte geworden  war,  hielt  er  sie  über  alles 
hoch,  nannte  sie  »die  Ehre  Italiens«,  liess  ihr 
Bild,  auf  einem  Medaillon,  von  den  ersten 
Künstlern  Italiens  verfertigen  und  von  den  be- 
rühmtesten Poeten  Gedichte  auf  sie  machen,  die 
er  in  einer  Sammlung  mit  dem  Titel  »Isottoei« 
vereinigte.  Warum  er  sie  nach  Ginevras  Tode 
(1440)  nicht  heiratete,  ist  unbekannt;  wahr- 
scheinlich war  es  aus  politischen  Rücksichten, 
die  ihn  auch  zu  einer  zweiten  Ehe  mitPolixena 
Sforza  bewogen.  Wie  hoch  er  aber  immer 
Isotta  auch  öffentlich  stellte,  beweist  u.  a.,  dass 
er  ihren  Bruder  in  seinem  Schloss  mit  grosser 
Festlichkeit  zum  Ritter  schlug  und  mit  Geschenken 
überhäufte.  Charakteristisch  für  die  Ansichten 
der  Zeit  ist  es,  dass  ein  benachbarter  Füröt, 
Guido  von  Urbino,  in  zahlreicher  Versammlung 
und  in  Gregenwart  der  legitimen  Frau  des  Haus- 
herrn, dem  neuen  Ritter,  Bruder  von  des 
letzteren  Geliebten  die  goldenen  Sporen  um- 
schnallte und  dies,  ohne  Anstoss  zu  geben, 
tun  durfte.  Isottas  Vater,  welcher  anfangs 
der  Tochter  harte  Vorwürfe  gemacht  hatte,  war 
längst  versöhnt  und  als  auch  Polixena  starb, 
wurde  Isotta  endlich  Sigismunds  legitime  Frau 
(1456).     Sie   war   eine    vortreffliche  Gattin    und 

37* 


—      420      

Mutter,  milderte  und  versöhnte  bei  den  Fehlem, 
zu  denen  ihn  sein  Ehrgeiz  verleitete,  hielt  ihn 
aufrecht  im  Unglück,  verkaufte  ihr  Geschmeide, 
als  er  in  Not  war,  opferte  alles  für  ihre 
Kinder,  und,  als  sie  später  die  Regentschaft 
führte,  stand  sie  in  bestem  Einvernehmen  mit 
den  anderen  Fürsten  Italiens,  die  sie  hoch 
schätzten  und  nach  Sigismunds  Tod  beschützten. 
Sigismund  hatte  zwei  Todfeinde;  der  eine 
war  Papst  Pius  11.  (Äneas  Sylvius  Piccolomini), 
der  ihn  hasste,  weil  er  sich  untreu  im  Dienst 
von  Siena  benommen  hatte,  und  der  zweite  war 
Federigo  von  Montefeltro,  der  in  fortwährendem 
Zwist  mit  ihm  war,  wegen  streitiger  Besitztümer, 
die  sie  abwechselnd  eroberten  und  sich  wieder 
entrissen.  Umsonst  versuchten  andere  italienische 
Fürsten  sie  zu  versöhnen,  der  Streit  dauerte 
zwanzig  Jahre  lang  und  endete  erst  mit  Mala- 
testas  Ruin.  Im  Jahr  1460  berief  Pius  n.  einen 
Kongress  nach  Mantua,  um  einen  ICreuzzug  zu 
organisieren,  lud  auch  Sigismund  dazu  ein  und 
verordnete  deshalb  einen  Waffenstillstand  mit 
den  Feinden  desselben,  die  ihn  in  Rimini  hart 
bedrängten,  wogegen  er  aber  einen  Vertrag  an- 
nehmen musste,  der  ihn  mehrerer  Besitzungen 
beraubte.  Sigismund,  selten  Verträge  haltend, 
brach  auch  diesen  alsbald  und  suchte  die  ge- 
nommenen Besitzungen  wieder  zu  erobern. 
Darüber  erzürnte  sich  der  Papst  aufs  neue, 
exkommunizierte  ihn  und  verlangte  vom  heiligen 
Kollegium  seine  Verurteilung,  nachdem  er  alle 
seine    angeblichen   Missetaten    aufgezählt   hatte. 


—      421       — 

Er  beschuldigte  ihn,  sein  zwei  Frauen  getötet, 
eine  edle  Deutsche,  deren  Schönheit  ihn  reizte 
und  die  ihm  widerstand,  umgebracht  zu  haben; 
erklärte  ihn  für  einen  Heiden,  der  nicht  an  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  glaube,  wie  es  die 
von  Malatesta  gewählten  Skulpturen  in  der  von 
ihm  neu  gebauten  Kirche  S.  Francesko  bewiesen^ 
wo  er  »nicht  einmal  Gott  verherrlicht  habe«. 
Endlich  erklärte  er  ihn  für  einen  Verräter  und 
Feind  Gottes  und  der  Menschen,  der  die  Anjous 
und  die  Türken  nach  Italien  gerufen  habe  und 
der  verdiene,  verbrannt  zu  werden.  Das  Urteil 
wurde  bestätigt  und  der  Papst  liess  nun  von 
einem  Künstler  eine  Gestalt  verfertigen,  dem 
Malatesta  so  ähnlich,  das  man  ihn  zu  sehen 
glaubte  und  liess  ihr  einen  Zettel  umhängen 
mit  der  Inschrift:  »Ich  bin  Sigismund,  Sohn 
Pandolfos,  Fürst  der  Verräter,  Feind  Gottes 
und  der  Menschen,  durch  das  heilige  Kollegium 
zu  den  Flammen  verdammt.«  Dann  wurde  diese 
Gestalt  feierlich  auf  den  Stufen  von  St.  Peter 
verbrannt. 

Von  dieser  Verurteilung  gingen  ohne 
weiteres  die  Gerüchte  aus,  nach  denen  die  Ge- 
schichte Sigismund  beurteilt  hat.  Mich  aber 
liess  das  Interesse  an  dieser  grossartigen  Gestalt 
nicht  dabei  stehen  bleiben  und  es  ergaben  sich 
mir,  wie  ein  freudiges  Licht,  aus  weiteren  For- 
schungen folgende  Schlüsse,  die  ich  dem  An- 
denken Sigismunds  und  Isottas  zu  rechtferti- 
gender Entgegnung  gegen  ihre  Feinde  weihe. 
Zunächst    fand    ich,    dass    die    Beschuldigungen 


—      422      — 

zuerst  von  den  zwei  erbittertsten  Feinden  Ma- 
latestas  ausgesprochen  wurden,  vom  Papst  und 
von  Montefeltro,  welche  beide  das  grösste  Inter- 
esse daran  hatten,  ihn  hassenswert  hinzustellen; 
dann,  dass  die  Väter  der  zwei  Frauen,  ein  Este 
und  ein  Sforza,  ihn  nie  beschuldigt  haben,  an 
dem  Tode  derselben  schuld  zu  sein;  ferner,  dass 
in  dem  wilden  Kriegsleben  jener  Zeit  gewiss 
vieles  geschah,  welches  ausser  ihm  auch  andere 
Kriegsführer  sich  zu  Schulden  kommen  Hessen, 
ohne  deshalb  von  der  Kirche  verdammt  zu 
werden,  und  endlich:  wenn,  was  wohl  nicht  zu 
bezweifeln  ist,  seine  leidenschaftliche,  in  jeder, 
auch  in  sinnlicher  Beziehung  übermächtige  Natur 
ihn  öfter  zu  Gewalttaten  hinriss,  so  muss  man 
doch  auch  in  die  andere  Wagschale  das  werfen, 
was  er  ausser  jener  wilden  Seite  seines  Wesens 
war:  ein  Mann  von  der  höchsten  geistigen  und 
künstlerischen  Begabung,  welcher  das  Schöne 
an  sich,  frei  von  dogmatischer  Beschränktheit, 
liebte,  wie  es  die  herrlichen  Skulpturen  seines 
Tempels  beweisen,  aus  denen  feindliche  Bös- 
willigkeit ihm  einen  Vorwurf  machte,  während 
sie  doch  nur  die  edle  künstlerische  Freiheit  seines 
Geistes  zeigen,  ein  Mann  schliesslich,  welcher 
Künstler  und  Gelehrte  auf  das  grossmütigste 
ehrte  und  belohnte  und,  was  am  meisten  für  ihn 
spricht,  dem  eine  Frau  wie  Isotta  in  treuester 
Liebe  verbunden  blieb. 

Nach  der  Komödie  der  Verbrennung  des 
Bilds  in  Rom  griff  der  Papst  zu  dem  Mittel 
niedrigster  Verfolgung,  indem  er  die  Untertanen 


—     423     — 

Sigismunds  durch  Bedrohung  mit  kirchlichen 
Strafen  gegen  ihn  aufhetzte  und  im  Verein  mit 
den  anderen  Feinden  ihn  so  bedrängte,  dass 
sich  Sigismund  zuletzt  genötigt  sah,  im  Jahr 
1463  nach  Rom  zu  gehen  und  sich  zu  demütigen, 
worauf  ihm  die  Kirche  all  seinen  Besitz,  ausser 
Rimini,  abnahm  und  so,  wie  fast  immer  bei 
ihren  politischen  Verhandlungen,  ein  gutes  Ge- 
schäft machte.  Aber  Sigismunds  stolze  Seele 
und  unglaubliche  Energie  waren  auch  durch  die 
widrigsten  Schicksale  nicht  zu  beugen.  Er 
begab  sich  in  den  Dienst  Venedigs,  welches 
Krieg  gegen  die  Türken  führte,  und  befehligte 
dessen  Truppen  in  Morea,  tat  Wunder  der 
Tapferkeit,  wurde  aber  von  der  misstrauischen 
Regierung  Venedigs  nicht  so  unterstützt,  wie  es 
hätte  sein  sollen.  Dort  überfiel  ihn  eine  schwere 
Krankheit,  so  dass  man  ihn  in  Italien  schon  tot 
sagte,  aber  1466  kehrte  er  genesen  zurück  und 
wurde  nun  vom  Papst  Paul  IL,  dem  Nachfolger 
Pius  n.,  der  inzwischen  gestorben  war,  nach 
Rom,  wo  man  ihn  im  Bilde  verbrannt  hatte, 
eingeladen,  und  dort  wurde  ihm,  dem  Kämpfer 
gegen  die  Ungläubigen,  ein  festlicher  Empfang 
zuteil.  So  wechselten  damals  die  Ansichten  der 
infalliblen  Männer  auf  dem  päpstlichen  Stuhl! 

Aber  Sigismunds  Schickssil  eilte  dem  tra- 
gischen Ende  aller  Heldennaturen  zu.  Papst  Paul 
handelte  treulos  gegen  ihn,  wollte  Rimini  durch- 
aus für  die  Kirche  in  Besitz  nehmen  und  bot 
ihm  dafür  Foligno  und  Spoleto.  Da  flammte 
noch  einmal  der  wilde  Zorn  in  Sigismunds  Seele 


—    424    — 

auf;  sein  Rimini,  wo  er  sich  sein  Heim  und 
künstlerisch  Herrliches  geschaffen,  konnte  er 
nicht  hergeben.  Er  eilte  abermals  nach  Rom 
mit  dem  Vorsatz,  den  Papst  zu  töten.  Sein 
Zorn  und  sein  Schmerz  waren  so  heftig,  dass  er 
weder  Speise  zu  sich  nehmen,  noch  schlafen 
konnte,  so  dass  sein  treuer,  vertrautester  Diener 
ihn  flehentlich  bat,  ihm  seinen  Kummer  zu 
gestehen  und  all  seinen  treu  ergebenen  Dienern 
nicht  den  Schmerz  zu  bereiten,  ihn  in  solchem 
Zustand  zu  sehen.  Dies  ist  wieder  einer  von 
den  Zügen,  deren  der  Chronist  so  viele  erzählt, 
die  beweisen,  dass  Sigismund  warm  von  seinen 
Untergebenen  geliebt  wurde,  also  ein  gütiger 
Herr  war. 

Der  Papst,  vielleicht  vom  Bewusstsein  seiner 
Treulosigkeit  gewarnt,  empfing  Sigismund,  um- 
ringt von  Kardinälen  und  Gefolge.  Sigismund 
hatte  gehofft,  ihn  allein  zu  finden  und  mit  dem 
unter  dem  Gewand  verborgenen  Dolch  zu  töten. 
Vor  der  unerwarteten  Versammlung  brach  endlich 
sein  stolzer  Wille  und  in  dem  erschütternden 
Gefühl,  dass  es  mit  seiner  Macht  zu  Ende  sei, 
fiel  er  anstatt  zu  morden,  dem  Papst  zu  Füssen 
und  bat,  ihm  sein  Rimini,  an  dem  sein  Herz 
hing,  zu  lassen.  Dafiir  verordnete  ihm  der  Papst, 
Führer  der  päpstlichen  Truppen  zu  sein.  Aber 
das  war  eine  zu  kleinliche  Aufgabe  für  seine 
hochfliegende  Seele,  so  ärmlich  konnte  er  nicht 
enden.  Er  kehrte  nach  Rimini  zurück,  versorgte 
seine  Kinder  mit  angekauften  Gütern,  bat  vor 
allem    sein    begonnenes    herrliches    Werk,     die 


—    425    — 

Kirche  von  S.  Francesko,  zu  vollenden,  be- 
schäftigte sich  noch  liebevoll  damit,  das  Schicksal 
Isottas  und  seines  gehebten  Sohnes  Sallustio, 
zu  sichern,  und  starb  im  Oktober  1468,  erst 
51  Jahre  alt. 

Isotta  aber  und  Sallustio  fielen  dem  Neid  und 
der  Grausamkeit  von  Isottas  Stiefsohn  Roberto 
zum  Opfer;  er  liess  sie  ermorden  und  die  Kirche 
strafte  ihn  nicht  dafür.  Sigismunds  Schöpfung 
in  S.  Francesko  blieb  unvollendet;  aber  was  da- 
von erhalten  ist,  spricht  wieder  für  ihn  in  viel- 
facher Weise.  Zuerst  zeigt  eine  Inschrift  in 
griechischer  Sprache,  wie  ihm  der  Gedanke  zu 
dem  Bau  gekommen;  sie  lautet:  »Sigismund 
Pandolfo  Malatesta  von  Pandolfo,  in  vielen  und 
grossen  Gefahren  in  den  italischen  Kriegen  be- 
wahrt und  siegreich,  errichtete,  freigebig  spendend, 
dem  unsterblichen  Grott  und  der  Stadt  einen 
Tempel,  wie  er  es  mitten  in  jenen  Kämpfen  ge- 
lobt hatte,  und  hinterliess  ein  ruhmvolles  und 
heiliges  Andenken.« 

Allerdings  hatte  darin  Pius  11.  recht,  dass 
Sigismund  in  den  Skulpturen,  die  den  Tempel 
schmücken,  nicht  gerade  Grott  verherrlicht  habe, 
vielmehr  scheint  es,  dass  er  der  grossen 
echten  Liebe  seines  Lebens,  der  für  Isotta,  ge- 
weiht war.  Denn  nicht  nur,  dass  er  ihr  und  sich 
bei  Lebzeiten  prächtige  Grrabmäler  in  demselben 
errichten  liess,  es  finden  sich  auch  überall  an  den 
Friesen,  den  Architraven  und  Balustraden  die 
beiden  Initialen  S  und  I  schön  verschlungen  ein- 
gegraben,  gleichsam   als  hätte   er  die  Ewigkeit 


—    426    — 

dieserLiebe,  allen  vergänglichen,  irdischen  Ver- 
irrungen  in  eine  höhere  geistige  Welt  entrückt, 
bezeugen  wollen. 

Das  tiefe,  beinah  leidenschaftliche  Interesse^ 
welches  mich  an  das  Studium  der  Geschichte 
dieses  an  ausgezeichneten  Gestalten  so  reichen 
Geschlechts  fesselte,  und  die  Freude,  die  ich 
empfand,  die  hervorragendste  derselben,  die  Si- 
gismunds,  mir  in  das  rechte  Licht  zu  stellen, 
verschönte  mir  die  Zeit,  die  ich  in  Rimini  ver- 
brachte, so  dass  ich  die  moderne  Badewelt  um 
mich  her  kaum  noch  sah  und  neben  jenen  nur 
noch  am  Meer,  stärkender  Luft  und  schönen  Aus- 
flügen mich  ergötzte.  Die  Abende,  bis  zu  später 
Stunde  auf  der  grossen  Plattform,  rings  vom  Meer 
umrauscht,  waren  besonders  köstlich  und  reich 
an  Eindrücken,  die  in  eine  Gedankenwelt  führten. 
So  sah  ich  z.  B.  eines  Abends,  was  ich  noch  nie 
gesehen  hatte,  den  Mond  aus  dem  Meer  aufsteigen. 
Die  Sonne  im  Meer  auf-  und  untergehen  hatte 
ich  schon  öfter  gesehen,  auch  schon  den  Mond 
in  das  Meer  versinken,  aber  ihn  aufsteigen  aus 
demselben  noch  nie.  Es  war  ein  entzückend 
schönes  Schauspiel,  welches  mir  wieder  die  tiefe 
Poesie  der  griechischen  Seelen  verdeutlichte,  die 
jeden  Naturvorgang  mit  Ideen  in  Verbindung 
brachten  und  daraus  eine  belebte  Welt  ide- 
eller Wesen  schufen.  Wie  sich  die  mild  leuch- 
tende Scheibe  langsam  aus  der  dunklen  Flut 
emporhob  und,  höher  steigend,  einen  Lichtäther 
verbreitete,  über  dem  sich  der  dunkle  Nacht- 
himmel wie  ein  Tempel  wölbte,  da  konnte  man 


—    427     — 

wohl  eine  zarte  jungfräuliche  Göttin  ahnen,  die, 
in  keuscher  Sitte  durch  die  Nacht  wandelnd,  nur 
einmal,  von  der  Schönheit  des  schlafenden  Schä- 
fers Endymion  allmächtig  gerührt,  sich  hernieder 
neigte,  um  den  schönen  Schläfer  leise  mit  einem 
Kuss  zu  grüssen.  Jetzt  haben  Sprache  und 
Wissenschaft  den  Mond  degradiert,  ihn  zum  männ- 
lichen, kalten,  halb  erstarrten  Körper  gemacht 
—  ist  der  Gewinn  an  Wissen  den  Verlust  an 
Poesie  wert? 

Eines  Ausflugs  in  die  liebliche  Umgegend 
Riminis  muss  ich  noch  gedenken,  an  einen  Ort, 
der  in  die  Gegenwart  wie  ein  Stück  Vergangen- 
heit hineinragt  und  doch  ein  sehr  bemerkens- 
wertes Stück  Leben  enthält. 

In  der  äusserst  malerischen  Linie  der  Berg- 
kette, welche  das  Panorama  von  Rimini,  vom 
Meer  aus  gesehen,  abschliesst,  erhebt  sich  über 
die  anderen  Höhen  eine  dreigipfelige  Felsmasse, 
welche  der  »Titan«  genannt  wird.  Sie  trägt, 
frei  und  stolz  wie  ein  Adlernest,  die  kleine  merk- 
würdige Republik  San  Marino.  Auf  den  drei  Fels- 
spitzen sieht  man  schon  von  weitem  Türme 
und  Mauern,  hinter  denen  sich  die  Stadt  verbirgt. 
Eine  gute  Strasse  führt  zwischen  schönen  Villen, 
Kirchen,  Dörfern  und  mit  Wein  bepflanzten  Hügeln 
in  etwa  3  Stunden  zu  Wagen  hinauf.  Am  Fuss 
der  oberen  Felsmasse,  die  wie  auf  einem  Sockel 
auf  der  unter^  Bergeshöhe  liegt,  befindet  sich 
der  Borgo,  die  Vorstadt,  welche  einen  Gasthof, 
ein  Bankgebäude,  eine  Piazza  mit  Kaufläden  und 
mehrere  vielbesuchte  Messen  im  Jahr  hat.    Von 


—    428     — 

da  geht  es  hinauf  auf  die  äusserste  Höhe  der 
kalkigen  Tufsteinmasse  zu  der  alten  Stadt.  Sie 
ist  von  festen  Mauern  und  Türmen  umgeben, 
die  Anfang  des  XVI.  Jahrhunderts  von  einem 
berühmten  Architekten,  Belluzi  aus  San  Marino, 
gebaut  wurden. 

Gleich  beim  Eintritt  in  dieselbe  fällt  es  an- 
genehm  auf,    Inschriften   auf  einer   Menge   von 
Gebäuden    zu    sehen,    die    sie    als    wohltätig^en 
Zwecken  geweiht  bezeichnen.    An  einer  Kirche 
findet  sich  die  Inschrift:    »Divo  quirino  dicatum 
1549«,    die    sich    auf   eine  Begebenheit    in   der 
Geschichte  von  S.  Marino  bezieht:    ein  Fabiano 
da  Monte  San  Savino  brach  in  der  Nacht  des 
4.  Juni  1 543  von  seinem  Schlosse  mit  500  Mann 
Fussvolk  und  etwas  Reiterei  auf,   um  die  Stadt 
zu   überfallen    und    sich    ihrer    zu    bemächtigen. 
Gegen  Morgen  gewahrten  die  Sanmarinesen  den 
Verrat,    rüsteten   sich   schnell   und  schlugen  die 
Angreifer   mit   grosser  Tapferkeit  zurück.     Zum 
Andenken    an    diese    heldenmütige    Bewahrung 
ihrer  Freiheit   feiert*  man   noch   heutzutage   am 
4.  Juni,    dem   Tage   des    heiligen   Quirinus,    ein 
Fest.     Dann    an    einem    kleinen    unansehnlichen 
Haus  ist  eine  Tafel  angebracht,  worauf  geschrieben 
steht:  »In  diesem  Haus,  am  31.  Juli  1849,  ver- 
weigerte   Joseph    Garibaldi,    umringt    von    den 
österreichischen   Truppen,    den   Akt   der   Über- 
gabe und  bewahrte  sich  fiir  bessere  Zeiten  auf.« 

Das  Haus  gehört  einem  schon  hoch  be- 
jahrten Mann,  Simoncini  mit  Namen,  der  im 
Erdgeschoss    ein    kleines   Cafe    hält.     Die    freie 


—    429     — 

Erde  von  San  Marino  war  schon  oft  eine  Zu- 
fluchtsstätte für  politisch  Verfolgte  unter  den 
päpstlichen  und  österreichischen  despotischen 
Regierungen  geworden  und  der  arm^^»Popolano 
Simoncini«,  wie  er  sich 'selbst  nennt,  hatte  schon 
mehr  wie  einem  wackeren  Mann  geholfen  der 
Verfolgung  zu  entgehen;  aber  die  teuerste 
Erinnerung  seines  Lebens  war  es,  dass  er  Gari- 
baldi hatte  retten  und  beherbergen  können.  Am 
2S,  Juli  1849,  ^2ich  dem  Fall  der  römischen 
Republik  durch  die  Waffen  der  Schwester -Re- 
publik in  Frankreich,  kam  Ugo  Bassi,  der  edle 
Mönch,  der  zum  Freiheitskämpfer  geworden 
war,  auf  der  Flucht  von  Rom  mit  drei  Be- 
gleitern nach  S.  Marino.  Zum  Tode  erschöpft, 
suchte  er  vergebens  in  den  beschwerlichen  auf- 
und  absteigenden  Strassen  der  Stadt  nach  einem 
Unterkommen  und  trat  endlich  in  das  Cafe 
des  Simoncini  ein,  mit  der  Bitte,  ihn  die  Nacht 
da  auf  einem  Stuhl  verbringen  zu  lassen.  Der 
brave  Volksmann  aber,  sehend  wie  erschöpft  er 
war,  sagte:  »Nein,  in  meinem  Bett  sollt  Ihr 
schlafen  1  Ihr  habt  es  nötig;  ich  will  mich  schon 
mit  Euren  Leuten  hier  einrichten.«  Bassi  fiel 
dem  guten  Mann  um  den  Hals  und  rief  voll 
Freude:   >Du  bist  ein  wahrer  Republikaner.« 

Die  Wanderer  wurden  nun  mit  Abendbrot 
und  gutem  Marinowein  erquickt,  dann  traten  sie 
an  das  Fenster,  von  wo  man  einen  weiten  Blick 
auf  die,  an  das  Gebiet  der  Republik  grenzenden 
Berge  hat,  auf  deren  Gipfeln  in  dieser  Nacht 
überall  Feuer  flammten  und  die  Gegenwart  der 


—     430     — 

österreichischen  Truppen  anzeigten.  Als  Ugo 
Bassi  dies  sah,  fuhr  er  erschrocken  zusammen 
und  rief:  »Um  Grotteswillen,  der  Greneral  ist 
zwischen  zwei  Feuern  eingeschlossen  —  er  ist 
verloren!«  Darauf  wendete  er  sich  zu  Simoncini 
und  sagte:  »Wir  müssen  ihn  retten!«  und  be- 
schwor diesen,  einen  zuverlässigen  Boten  aufzu- 
finden, welcher  sogleich  einen  Brief  zu  Garibaldi 
tragen  könne,  der  auf  dem  Berge  Tassona  mit 
den  Seinen  lagere.  Der  brave  Popolano  lief 
alsbald  in  die  Nacht  hinaus,  während  Bassi  den 
Brief  schrieb  und  kam  mit  einem  mutigen 
Arbeiter  zurück,  der  auf  beschwerlichen  Berg- 
pfaden, immer  in  Grefahr  gefangen  genommen 
zu  werden,  glücklich  mit  dem  Brief  zu  Garibaldi 
gelangte.  Dieser  änderte  alsbald  seinen  Rück- 
zugsplan und  kam,  von  dem  wackeren  Boten 
geführt,  am  31.  Juli  in  S.  Marino  im  Hause 
Simoncinis  an,  begleitet  von  seinem  General- 
stab, einem  kleinen  Haufen  seiner  Krieger,  die 
mit  ihm  von  Rom  entkommen  waren  und  seiner 
heldenmütigen  Frau,  Anita,  die  schon  in 
Amerika,  wie  auch  jetzt  in  Italien  alle  Be- 
schwerden und  Grefahren  seiner  Unternehmungen 
geteilt  hatte.  Aber  sie  war  krank  und  zum 
Tod  erschöpft.  Simoncinis  Frau  und  Tochter 
nahmen  sich  der  Armen  liebevoll  an  und  pflegten 
sie  so  gut  es  ihre  beschränkten  Verhältnisse 
erlaubten. 

Darauf  hin  entspannen  sich  Unterhandlungen 
zwischen  der  Regierung  der  Republik  und  den 
österreichischen    Befehlshabern,    welche    die  Er- 


—     431     — 

gebung  der  Flüchtlinge  auf  Gnade  und  Ungnade 
verlangten.  Garibaldi  schlug  dies  natürlich  ab 
und  sagte  in  einem  kurzen  Brief:  »Ein  guter 
Republikaner  kapituliert  niemals.«  Dann  löste  er 
den  Rest  seiner  Legion  auf,  indem  er  meinte, 
dass  es  für  die  Einzelnen  leichter  sei  zu  ent- 
kommen und  dass  nur  die  bleiben  sollten,  welche 
ihm  freiwillig  folgen  wollten.  Anita  warf  sich 
der  Frau  Simoncinis  in  die  Arme  und  rief  unter 
Tränen:  »Frau,  ich  habe  keine  Mittel  dir  zu 
lohnen,  aber  ich  werde  nie  die  Güte  vergessen, 
die  du  mir  bewiesen  hast.« 

Von  sicherem  Führer  auf  gefahrvollen  und 
beschwerlichen  Pfaden  an  das  Meer  geleitet, 
schifiten  sich  die  Flüchtlinge  ein,  um  nach 
Ravenna  zu  gelangen,  aber  noch  vorher,  an 
ödem  Gestade,  mussten  sie  aussteigen,  weil  die 
Heldenfrau  ihren  Leiden  erlag.  Der  verzweifelte 
Gatte  und  der  letzte  bei  ihm  gebliebene  seiner 
Gefährten  betteten  sie  selbst  zur  Ruhe  in  die  Erde. 

Wie  sehr  das  Andenken  an  den  herrlichen 
Volkshelden,  der  hier  Zuflucht  und  Rettung  fand, 
den  Sanmarinesen  teuer  ist,  beweist  ausser  der 
Gedenktafel  an  Simoncinis  Haus,  ein  kleines 
Monument  mit  der  Büste  Garibaldis,  von  einem 
Gärtchen  umgeben,  das  liebend  gepflegt  wird. 
So  ehrt  diese  letzte  der  italienischen  Gemeinden 
des  Xin.  und  XIV.  Jahrhunderts  das  Andenken 
der  Freien  und  scheint  noch  in  die  Zeit  zu  ge- 
hören, wo  sie,  friedlich  und  glücklich,  unter 
dem  glorreichen,  mittelalterlichen  Wahlspruch : 
libertas     perpetua    lebte,     bevor    sie    den 


—    432     — 

klassischen  Namen  Republik  annahm.  Ein 
schönes  neues  Regierungsgebäude,  im  Stil  des 
Bargello  zu  Florenz,  hat  die  Republik  sich  jetzt 
auf  einem  freien  Platz  gebaut,  von  wo  der  Blick 
weit  hinaus  schweift  über  die  trefflich  mit  Wein 
bebaute  Ebene,  das  Meer  und  die  Höhen  der 
Berge  von  Carpegna,  wo  die  ersten  Burgen  der 
Montefeltro  und  der  Malatesta  waren  und  wo 
ihre  Feindschaft  sich  entspann.  Eine  Menge 
poetischer  und  historischer  Erinnerungen  schweben 
um  dies  reiche  Panorama  und  erhöhen  den  Reiz 
der  immer  jungen,  blühenden  Natur,  welche 
ewig  neu  wird  über  den  Gräbern  der  Jahr- 
hunderte. 

Die  Regierung  der  kleinen  Republik  ist  so 
originell,  einfach,  praktisch  und  auf  sittliche 
Motive  gegründet,  dass  ich  mir  nicht  versagen 
kann,  die  Hauptsachen  davon  hier  anzuführen, 
denn  sie  scheint  mir  in  vieler  Hinsicht  Vorzüge 
vor  den  Regierungen  unserer  modernen  Staaten 
zu  haben.  An  der  Spitze  der  Regierung  stehen 
zwei  Kapitäne,  zwei  Oberhäupter,  welche  zweimal 
im  Jahr  neu,  auf  6  Monate,  gewählt  werden; 
also  keine  Erblichkeit  wie  in  den  Dynastien  und 
keine  konventionelle,  an  das  Herrschertum 
streifende  Machtstellung  der  Präsidenten  modemer 
Republiken.  Im  März  und  im  September  ver- 
sammelt sich  der  Rat,  welcher  aus  60  Mit- 
gliedern besteht,  die  unter  den  ehrlichsten  und 
gebildetsten  Bürgern  aller  Klassen  ausgesucht 
und  vom  Volk  auf  Lebenszeit  ernannt  sind. 
Diesem  Rat  ist  die  Verwaltung  der  öffentlichen 


—    433     — 

Angelegenheiten  anvertraut.  Am  bestimmten 
Tage  werden  in  feierlicher  Vesammlung  in  der 
Hauptkirche  die  Namen  von  zweien  der  6  Räte, 
welche  die  meisten  Stimmen  haben,  aus  der 
Urne  gezogen  und  zu  Regenten  für  das  nächste 
halbe  Jahr  ernannt.  Es  ist  dies  eine  herrliche 
Garantie  für  das  öffentliche  Wohl,  da  nur  aner- 
kannt gute,  gebildete,  fähige  Menschen  im  Rate 
sitzen.  Den  Tag  darauf  ist  dann  die  ganze 
Stadt  im  Festkleid.  In  Prozession  ziehen  die 
alten  und  neuen  Regenten,  in  schönem,  alt- 
spanischem Kostüm  von  schwarzem  Samt,  um 
den  Hals  das  Grrosskreuz  des  Ordens  von  San 
Marino,  gefolgt  von  der  Nobelgarde,  von  allen 
Civil-  und  Militärbehörden,  die  Musik  der  Bürger- 
garde voran,  zur  Kirche,  und  nach  der  Messe 
und  dem  Tedeum  ziehen  sie  in  den  Ratsaal 
zurück;  dort  leisten  die  neuen  Regenten  in 
lateinischer  Sprache  den  Eid ;  die  alten  Kapitäne 
steigen  vom  Thron,  grüssen  die  neuen  mit  einer 
Verbeugung,  als  Zeichen  des  zu  beginnenden 
Gehorsams  und  ziehen  sich  zurück.  Die  neuen 
Regenten  empfangen  die  Schlüssel  und  Siegel 
der  Stadt  und  beginnen  ihr  Amt 

Was  ich  über  den  Volkscharakter  der  kleinen 
Republik  gehört  habe,  machte  mir  dies  Eiland 
alter,  ehrwürdiger  Institutionen  noch  sympathischer 
und  achtungswerter.  Das  Volk  ist  ehilich,  auf- 
richtig, gastfreundlich,  freut  sich  wenn  Fremde 
kommen,  die  teure  Heimat  zu  sehen,  liebt 
den  Frieden  über  alles,  duldet  aber  nicht,  dass 
man    an    seine    alte    Freiheit    rührt  und  scheut 

Meysenbug,  IV.  28 


—    434    — 

weder  Schwierigkeiten  noch  Grefahren,  um  dies 
zu  hindern.  Zufrieden  auf  der  Felsenhöhe,  wo 
sie  geboren  sind,  wünschen  die  Sanmarinesen 
gar  nicht  grösseren,  reicheren  Besitz.  Napoleon  L, 
als  er  Herr  in  Italien  war,  bot  ihnen  beträcht- 
liche Vergrösserung  ihres  Gebiets  an.  Die  da- 
maligen Regenten  antworteten  ihm:  »Klein  sind 
wir  und  klein  wollen  wir  bleiben.  <  Sie  wussten 
es,  dass  mit  dem  grösseren  Besitz  all'  die  Feinde 
wahrer  Grrösse,  die  in  Tugend  und  Einfachheit 
besteht,  dass  Ehrgeiz,  Neid,  Habsucht  ein- 
ziehen und  sie  ihrer  Freiheit  verlustig  machen 
würden. 

Die  bürgerliche  Gleichheit  ist  das  teuerste 
Vorrecht  der  Sanmarinesen,  ihre  Sitten  bewahren 
ihnen  die  Freiheit  und  ihre  Armut  schützt  sie 
vor  fremden  bösen  Einflüssen.  Um  den  bisher 
unangefochtenen  Charakter  der  Republik  zu 
kennzeichnen,  erzählt  Marino  Fattovi,  der  über 
sie  geschrieben  hat,  folgendes:  »Im  Jahr  1868 
ersuchten  nordische  Spekulanten  die  Regierung 
um  die  Erlaubnis,  auf  dem  Gebiet  der  Republik 
ein  Spielhaus  errichten  zu  dürfen  und  versprachen 
dafür  Geld,  Eisenbahn,  Wohltätigkeitsanstalten 
und  anderes,  kurz,  Reichtum  für  Gegenwart 
und  Zukunft.  Das  Volk,  zufrieden  in  seiner 
Armut,  eingedenk  der  verlockenden  Aner- 
bietungen Napoleons,  überzeugt,  dass  es  einer 
freien  Regierung,  die  nur  wert  ist  zu  bestehen, 
wenn  sie  sich  auf  Tugend  stützt,  sehr  übel  an- 
stände, sich  zum  Instrument  des  Verderbens, 
der  Verirrungen   und  Sittenlosigkeit  der  Jugend 


—    435     — 

zu  machen,  liess  sich  nicht  durch  die  glänzenden 
Versprechungen  verfuhren  und  verwarf  das  un- 
moralische Anerbieten  mit  Stolz  und  Verachtung. 
Sei  gesegnet  kleines  Adlemest  wahrhafter 
Republikaner  und  wenn  unten  die  Welt  in 
trüben,  unredlichen  Verwirrungen  und  daraus 
entstehendem  Elend  krankt,  so  richte  du  den 
Adlerblick  zur  Sonne  der  Freiheit  und  bleibe 
arm,  aber  tugendhaft  und  zufrieden  1 

Indisches  Märchen. 

Diesem  in  jeder  Beziehung  höchst  befriedigen- 
den Aufenthalt  in  Rimini  entsprang  auch  eine 
kleine  Dichtung,  welche  ich  hier  einschalte,  da 
sie  mir,  einer  besonderen  persönlichen  Beziehung 
wegen,  wert  ist.  Ich  hatte  mich  im  Frühjahr  in 
Rom  viel  mit  indischen  Studien  beschäftigt  und 
diese,  mir  sehr  sympathische  Gedankenwelt,  um- 
gab mich  auch  da  am  Meer  noch  häufig.  So 
kam  es  u.  a.  in  einer  Nacht,  wo  ich  das  prächtige 
und  phantastische  Schauspiel  eines  Gewitters,  das 
sich  über  dem  Meer  entlud,  von  meinem  Fenster 
aus  hatte,  dass  mir  die  folgende  kleine  Erzählung 
so  aus  der  Feder  floss  und  da  sie  recht  eigentlich 
zu  den  Erlebnissen  in  Rimini  gehört,  so  möge 
sie  hier  ihren  Platz  finden: 

Über  die  blaue  spiegelglatte  Flut  des  Sees 
Valmiriki,  der  sich  wie  ein  uferloses  Meer  am 
Horizont  silbern  flimmernd,  mit  dem  Himmel  ver- 
schmolz, glitt  ein  kleines  Boot,  dessen  Segel  von 
von  einem  leichten  Morgenwind  gebläht  wurde 

a8* 


—    436    — 

und  das  Schiffchen  weiterführte.     In  dem  Boote 
Sassen  zwei  Personen :  eine  ältere  Frau,  in  weisse 
Schleier  gehüllt,  die  ihr  ernstes  Antlitz,  von  tiefen 
Leidensfurchen  durchzogen,  kaum  sehen  Hessen, 
und  ein  Jüngling,  dessen  edle  Züge  blondes  Haar 
umflatterte.    Sie  fuhren  auf  das  Ufer  zu,  an  dem 
ein  Wald   mächtiger  Palmen   winkte,   die  durch 
Schlinggewächse  so  eng  verbunden  waren,  dass 
beinahe   völliges  Dunkel   unter  ihnen  herrschte. 
»Dort  ist  unser  Ziel,«   sagte  die  Frau,    »in  dem 
Schatten  jenes  Palmenhains  liegt  der  Tempel,  in 
dem    der  Urweise,    erfüllt    von    dem   göttlichen 
Licht  des  Brahm,  thront  und  den  Verlangenden 
den  Weg  zeigt,  den  sie  zu  wandeln  haben,  um 
das  Ziel  ihres  Strebens  zu  erreichen.     Du   bist 
ein  Verlangender;  o,  dass  er  dir  hülfe,  die  rechte 
Bahn  zu  finden,  auf  der  du,  immer  höher  steigend, 
immer   mehr   in  Brahm  versenkt,    nicht   wieder- 
geboren   zu   werden  brauchst,    um    von   neuem 
den   Kreis    des  Irrtums,    der   Lieblosigkeit,    des 
Hasses  und  der  Enttäuschungen  aller  Art  durch- 
zumachen.   Glaube  mir,  der  Erfahrenen,  die  kurzen 
Augenblicke   des    Erdenglücks    wiegen    die    un- 
zähligen Leiden  und  Hässlichkeiten  der  Erscheinung 
nicht  auf  Du  bist  ein  Erwählter  des  ewigen  Lichts, 
dem  das  heilige  Feuer  in  die  Seele  gelegt  ward, 
damit  es  in  reinen  Flammen  das  Irdische  verzehre. 
Wenn  ich  dich  von  deinem  Gott  ergriffen  sehe, 
wenn  du  der  Harfe  Töne  entlockst,  die  aus  dem 
Wohnsitz  der  Ewigen  zu  stammen  scheinen,  dann 
denk'  ich  oft:   was  tut  es,   wenn  er  schon  bald 
entrückt  wird  in  das  Reich  reiner  Geister?   Eine 


—    437    — 

Blüte,  zu  schön  um  auf  irdischem  Boden  hinzu- 
sterben, strahlt  er  dort  in  unverwelklicher  Schöne 
in  Gemeinschaft  der  Erlesenen,  die,  vor  ihm 
geschieden,  in  der  Seligkeit  des  Nirwana  ver- 
eint sind.« 

Ein  Lächeln  flog  über  das  Antlitz  des  Jünglings, 
und  er  sagte:  »Dein  Wunsch  ist  seltsam I  Gönnst 
du  mir  das  Leben  im  fröhlichen  Glanz  der  Erden- 
sonne nicht?« 

»Für  mich  wäre  es  Schmerz,  dich  vor  mir 
scheiden  zu  sehen,  wie  schon  so  viele  der  Edlen ; 
aber  noch  höher  achte  ich  das  Glück,  einmal 
den  Sieg  eines  Genius  über  alles  irdische  Wollen, 
das  immer  mit  dem  Staub  verwandt  ist,  zu 
sehen,«  erwiderte  die  Frau. 

Inzwischen  aber  war  der  Kahn  am  Ufer  bei 
dem  Palmenhain  angekommen.  Der  Jüngling 
band  ihn  an  einen  Baumstamm  und  folgte  seiner 
Gefährtin  in  das  Walddunkel.  Sie  wandelten 
wie  auf  einem  Teppich,  über  weichem  Moos- 
boden, auf  dem  Blumen  in  Fülle  blühten,  während 
sich  über  ihnen  Kränze  von  blütenbedeckten 
Schlingpflanzen,  würzige  Düfte  spendend,  hin- 
zogen, und  oben  auf  den  schlanken  Palmen- 
zweigen Vögel  ihr  buntes,  schillerndes  Gefieder 
in  stillem  Selbstgenügen  wiegten.  Beide  Wanderer 
schritten  schweigend  vorwärts,  ergriffen  von  dem 
feierlichen,  inneren  Beben,  mit  dem  man  dem 
Erhabenen  entgegengeht. 

»Wir  sind  am  Ziel,«  sagte  endlich  die  Frau. 
Der  Jüngling  erhob  den  Blick,  den  er  bisher, 
ganz  in  sein  inneres  Schauen  verloren,  zu  Boden 


—    438    — 

gesenkt  hatte,  und  sah  nun,  hell  aus  dem  Dunkel 
der  Bäume  hervorglänzend,  einen  Tempel  aus 
weissem  Marmor,  von  hehrer  Form  und  Grösse, 
gleich  der  Wohnung  eines  Gottes  anzusehen. 
Hohe  Stufen  führten  zu  der  Eingangspforte;  als 
sie  diese  erstiegen  hatten,  klopfte  die  Frau  drei- 
mal mit  dem  an  der  Tür  befindlichen  goldenen 
Hammer  an.  Das  Tor  öffnete  sich  und  ein 
Mann  in  langem,  weissem  Gewand  trat  heraus 
und  fragte  nach  ihrem  Begehr. 

»Führe  uns  zu  dem  Urweisen,«  erwiderte  die 
Frau.  »Ich  bringe  ihm  einen  Verlangenden  und 
bitte,  dass  er  uns  jetzt  vorlässt,  denn  wir  kommen 
von  drüben  über  dem  See  und  möchten  nicht 
heimkehren,  ohne  seinen  Rat  empfangen  zu 
haben.« 

»Du  bist  erwartet.  Ehrwürdige,«  versetzte 
der  Mann  und  verneigte  sich  vor  ihr,  »der  Ur weise, 
dessen  Blick  das  Zukünftige  sieht,  wusste  dein 
Kommen  und  befahl  mir,  dich  zu  ihm  zu  ge- 
leiten.« 

Sie  traten  ein,  und  hinter  ihnen  schloss  sich 
die  Pforte  von  selbst.  Der  Mann  schritt  ihnen 
voraus  durch  lange  Gänge,  von  Marmorsäulen 
getragen,  zwischen  denen  Götterbilder  standen, 
welche  auf  die  Vorüberwandelnden  bald  ernst, 
bald  freundlich  niederblickten.  Zugleich  ver- 
nahmen diese  eine  leise,  sanfte  Musik,  wie  von 
Äolsharfen.  Endlich  standen  sie  vor  einer  grossen 
Tür,  von  herrlicher  Arbeit  in  Marmor  umrahmt, 
und  mit  einem  Vorhang  von  schwerem  Goldstoff 
verschlossen.     Der  Führer  sagte:   „Tretet  eini« 


—    439    — 

Der  Raum,  der  sich  vor  ihnen  öffnete,  war 
von  einem  blauen  Duft  erfüllt,  so  dass  es  schien, 
als  schwebe  man  im  Äther;  bezaubernder  Wohl- 
geruch durchdrang  alle  Nerven  mit  Wonne.  Nach- 
dem das  Auge  sich  in  dem  blauen  Luftmeer 
zurechtgefunden  hatte,  erblickten  die  Ein- 
getretenen auf  einem  Thron  aus  Elfenbein  einen 
Greis,  von  dessen  Antlitz  ein  milder  Glanz  wie 
von  einer  Abendsonne  ausstrahlte.  Ein  langer, 
weisser  Bart  hing  auf  sein  faltiges  Grewand 
herab,  in  seinen  Händen  hielt  er  eine  Schriftrolle 
mit  Aussprüchen  der  Upanischad.  Die  Frau 
nahte  sich  ihm  voll  Ehrfurcht  und  beugte  sich, 
um  seine  Hand  zu  küssen;  er  aber  wehrte  ihr 
und  sprach:  »Nicht  so,  meine  Schwester;  du 
bist  der  Geprüften  eine.  Bei  denen,  die  über- 
wunden haben,  gibt  es  Rang  und  irdische  Unter- 
schiede nicht  mehr;  sie  sind  gleich,  Brüder  und 
Schwestern,  denn  in  ihnen  leuchtet  das  Licht 
des  Ewigen  über  allem  Erdendunkel.  Aber  wen 
bringst  du  mir?     Einen  Verlangenden?« 

»Ja,  einen,  den  es  dürstet,  am  Quell  der 
Wahrheit  zu  trinken,  dem  Schaffenskraft  in  die 
Seele  gelegt  wurde,  damit  er  ein  verklärtes 
Spiegelbild  der  Welt  in  seiner  Phantasie  erstehen  • 
lasse.  Auch  ist  er  ein  Meister  der  Töne,  und 
seine  Hand  entlockt  den  Saiten  Klänge,  in  denen 
man  die  Ursache  alles  höchsten  Seins  zu  hören 
meint,  jene  tiefe  Liebeshymne,  welche  durch 
das  Weltall  tönt  und  die  Gestirne  in  ihre  Bahnen 
zieht.  Lehre  ihn,  frei  von  den  Lockungen  der 
Sansära   die  jugendliche  Bahn   zu  wandeln,    bis 


—    440    — 

er  aufsteigt   in    das  Reich    des   reinen  Geistes,  c 

Der  Greis  heftete  die  milden  Augen  auf  den 
Jüngling,  und  sein  Blick  schien  durch  die  irdische 
Hülle  bis  tief  in  den  Grund  der  Seele  zu  blicken. 
Was  er  da  sah,  mochte  ihm  gefallen,  denn  ein 
sanftes  Lächeln  überflog  sein  Antlitz,  und  er 
sprach:    »Was  ist  dein  Verlangen,  Freund?« 

»Ich  verlange  danach,  den  Weg  zu  kennen, 
der  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  fuhrt.  Die 
Welt  verwirrt  mich,  die  Lehren  der  Männer 
draussen  zeigen  mir  nur  künstliche  Gerüste 
eines  grossen  Weltenbaues,  ich  aber  möchte 
wissen,  welches  der  Gedanke  ist,  der  diesen 
Bau  schuf  und  in  ihm  wohnt;  denn  mich  be- 
friedigt nicht  die  Form  allein,  ich  will  das  kennen, 
was  die  Form  im  Innern  bewegt.« 

»Dein  Verlangen  ist  gerecht,  o  Jüngling,« 
versetzte  der  Greis.  »Alle  Form  ist  nur  Hülle 
des  Wesens,  vergänglicher  Einschluss  des  Unver- 
gänglichen.« 

»Aber    das   Unvergängliche,    was    ist    es?« 
fragte  der  Jüngling. 

»Das  Unvergängliche  ist  Brahm,  die  grosse 
Weltenseele,  die  Ureinheit,  die  in  allem  webt, 
von  der  alles  Sichtbare  nur  eine  vorübergehende 
Ausstrahlung  ist.  Du,  nach  dem  Reinen,  nach 
der  Wahrheit  Verlangender  mach'  dein  Herz 
zum  Bogen,  deinen  Verstand  zum  Pfeil  und 
Brahm  zum  Ziel,  und  richte  den  Bogen  nach 
dem  Ziel,  so  dass  dein  Verstand  gleich  dem 
Pfeil  in  das  Ziel  eindringt:  so  wirst  du  Form 
des  unvergänglichen  Wesens  werden.« 


—    441     — 

»Welches  aber  ist  der  Weg,  den  ich  gehen 
muss,  um  an  das  Ziel  zu  gelangen?«  frug  der 
Jüngling  abermals.  »So  wie  wir,  um  hier  zu 
dir  zu  gelangen,  den  Weg  hätten  gehen  können, 
welcher  durch  glänzende  Städte  und  blumen- 
geschmückte Auen  führt,  statt  dessen  aber  durch 
einsame  Wälder  und  über  den  blauen,  schwei- 
genden See  kamen,  so  führen  sicher  auch  meh- 
rere Wege  zu  dem  Ziel,  welches  du  mir  nennst, 
das  ich  aber  noch  nicht  begreife,  nur  ahne  und 
glaube,  weil  du  es  mir  sagst.  Genügt  es,  daran 
zu  glauben,  ohne  es  zu  kennen?  Werde  ich 
Brahm  durch  den  blossen  Glauben  an  ihn?« 

»Nein,  nicht  durch  den  Glauben,  sondern 
durch  die  Erkenntnis  wird  der  Mensch  erlöst,« 
versetzte  der  Greis  feierlich.  »Zwei  sind  der 
Wege,  zwischen  denen  du  wählen  kannst:  der 
eine  ist  der  Weg  der  reinen  Erkenntnis,  des 
inneren  Schauens,  auf  dem  die  Seele  schon  mehr 
und  mehr  aus  der  sichtbaren  Form  heraustritt 
und  sich  in  Brahm  versenkt.  Diejenigen,  welche 
die  Sinne  mit  festem  Zügel  an  sich  ziehen,  sehen 
ihn  mit  dem  Lichte  des  Geistes,  sein  Licht  wird 
auch  in  ihnen  leuchtend.  Sie  können  ihn  mit 
dem  Auge  nicht  sehen,  mit  der  Sprache  nicht 
erklären,  aber  sie  können  sich  mit  dem  reinen 
Erkennen  ihm  nahen.« 

»Und  der  andere  Weg,  welcher  ist  es?« 
forschte  der  Jüngling  weiter. 

»Der  andere  ist  der  Weg  der  Sansära,  der 
Welt  der  lockenden  Erscheinung,  der  Hoffnung, 
das  Ziel   auch  im  reizvollen  Wechsel   des  sieht- 


—    442     — 

baren  Lebens  zu  erreichen.  Auch  auf  ihm  ist 
Brahm  zu  finden,  denn  er  ist  überall  und  in  uns 
selbst,  aber  der  Weg  ist  länger,  wechselvoller 
und  vielen  Täuschungen  ausgesetzt.  Es  sind 
Abgründe  neben  diesem  Weg;  man  muss  sich 
hüten,  nicht  zu  fallen;  zuweilen  wird  es  auch 
dunkel  in  der  Seele,  und  das  Licht,  welches  innen 
leuchtet  und  nichts  anderes  ist  als  Brahm,  scheint 
erloschen;  aber  dem  Mutigen,  der  sein  Ziel  im 
Herzen  behält,  kann  die  Welt  schliesslich  nichts 
anhaben.  Er  wahre  seine  äusseren  und  inneren 
Sinne  und  habe  in  jeder  Sache,  an  jedem  Ort 
und  zu  jeder  Zeit  Brahman  vor  Augen  und  in 
Gedanken,  so  wird  er  dennoch  ein  glückliches 
Leben  führen  und  der  Qual  entgehen,  wieder- 
geboren werden  zu  müssen,  sei  es  als  Mensch 
oder  als  Tier.  Jetzt  aber  geh  hinaus  in  den 
Hain  und  halte  Rat  mit  dir  selbst,  und  hast  du 
entschieden,  so  komm  und  verkünde  mir  deine 
Wahl;  denn  jeder  muss  den  Weg  gehen,  wie 
es  ihm  in  die  Seele  geschrieben  ist.« 

Der  Jüngling  verneigte  sich  ehrfurchtsvoll 
und  eilte  hinaus  in  den  Palmenhain,  stürmisch 
bewegt  von  den  Worten  des  Greises  und  von 
den  wogenden  Empfindungen  und  Wünschen, 
die  sein  Herz  erfüllten.  Alles  in  ihm  war  edel 
und  rein;  sah  er  aufwärts,  so  war  es  ihm,  als 
schwebe  ein  Genius  mit  weissen  Flügeln  über 
ihm  und  winke  ihm  hinauf  zu  immer  ätherischeren 
Höhen;  sah  er  aber  abwärts  in  sich,  so  glühte 
es  wie  im  Innern  eines  Vulkans,  und  ein  unruh- 
volles Sehnen,   dem  er  keinen  Namen  zu  geben 


—    443    — 

wusste,  verursachte  ihm  zugleich  Pein  und 
Ahnung  von  unbekannten  Wonnen.  Ohne  zu 
innerer  Klarheit  kommen  zu  können,  warf  er 
sich  endlich  unter  einem  Magnoliabaum  auf  den 
Moosteppich  nieder,  wo  die  Zweige  der  Gebüsche, 
mit  süss  duftenden  Blüten  beladen,  sich  schattend 
über  sein  Haupt  senkten.  Ein  unendliches  Ge- 
fühl von  Wollust  des  Daseins  kam  über  ihn, 
und  eine  sanfte  Müdigkeit  schloss  seine  Augen- 
lider. So  lag  er  eine  Zeit  lang  im  Halbschlummer, 
in  welchem  gaukelnde  Traumbilder  ihn  um- 
schwebten. Aber  plötzlich  erwachte  er  von 
einem  leichten  Geräusch  neben  sich,  und  als  er 
aufschaute,  sah  er  ein  Antlitz  von  wunderbarer 
Schönheit  über  sich  gebeugt,  und  zwei  dunkle 
Augen,  feurig  leuchtend,  auf  ihn  niederblicken. 
Es  war  ein  junges  Mädchen,  das  neben  ihm 
stand;  ein  Schleier  von  durchsichtigem  Silber- 
gewebe, unter  dem  schwarze  Locken  sich  in 
Fülle  hervordrängten,  bedeckte  ihr  Haupt  und 
verhüllte  zum  Teil  die  schlanke,  jugendliche 
Gestalt,  die  in  weisse  Seide  reich  gekleidet 
war.  An  einer  roten,  seidenen  Schnur  hielt  sie 
eine  junge  Gazelle,  deren  sanfte  Augen  den 
unerwarteten  Fremdling  mit  Erstaunen  betrach- 
teten. 

Als  das  Mädchen  nun  dem  Blick  des  Jüng- 
lings begegnete,  überzog  ein  leichtes  Rot  ihre 
Wangen  und  sie  wollte  rasch  entfliehen.  Aber 
der  Jüngling  hatte  sich  aufgerichtet  und  rief 
flehend:  »O  verschwinde  nicht,  holdes  Bild  1  Sag' 
mir,    ob  du   ein  Traum  bist,    den  Brahman  mir 


—    444    — 

sendet,    oder   die   wonnigste  Wirklichkeit?     Nie 
sah  ich  deinesgleichen  I  < 

»Du  scheinst  mir  edel,  Fremdling,  und  gern 
will  ich  dir  Rede  stehen,«  erwiderte  das  Mädchen 
und  ihre  Stimme  klang  ihm  wie  Harfenton.    »Mein 
Vater    ist    der    Oberste    der    Brahminen;    seine 
Wohnung  liegt  unfern  von  hier,  und  dieser  Teil 
des  Waldes,    der  an  den  Tempelhain  stösst,   ist 
sein   Eigentum.     Da   wandle    ich    ohne    Furcht 
allein  umher  und  spiele  mit  meinen  Tieren,  oder 
pflege  meine  Blumen.     Nun  sage  mir  aber  auch 
du,    wer  du  bist  und  wie  du  hieher  kamst,    wo 
ich  noch  nie  einem  Fremdling  begegnete.    Des- 
halb  erschrak   ich,    als   ich   dich  hier  so  unver- 
mutet antraf.« 

»Ja,  dann  aber  setze  dich  zu  mir  und  lass 
uns  miteinander  reden,  als  kennten  wir  uns  schon 
lange.  Mir  ist  es  auch  plötzlich,  als  hätte  ich  dich 
immer  gekannt  und  als  hätte  dich  nur  ein 
Nebel  meinen  Blicken  verborgen,  der  nun  ge- 
wichen ist.« 

Sie  sah  ihn  lächelnd  an  und  ihr  Blick  machte 
ihn  mit  einem  Freudenschauer  erbeben.  Dann 
sagte  sie:  »Ich  traue  dir,«  und  setzte  sich  an 
seine  Seite.  Der  Jüngling  erzählte  nun,  wer  er 
sei,  wie  er  hieher  gekommen  und  wie  ihm  der 
Urweise  Zeit  gegeben  habe,  sich  zu  prüfen  und 
seine  Wahl  zu  treffen.  »Vielleicht,«  so  schloss 
er  seinen  Bericht,  »hat  mich  der  weise  Mann 
nur  hierher  gesandt,  um  dir  zu  begegnen  und 
so  meine  Wahl  zu  bestimmen,  denn  nun  weiss 
ich,  dass  es  nur  eine  Wahl  gibt.« 


—    445     — 

»Und  was  wird  deine  Wahl  sein?«  fnig  sie, 
indem  ihre  Glutaugen  ihn  verlangend  ansahen 
und  ihre  rosigen  Lippen  ihm  entgegenlächelten. 

»Bei  dir  sein,  ewig  mit  dir  vereint  oder 
sterben  I«  rief  er  in  leidenschaftlichem  Entzücken 
erglühend,  dann  aber  plötzlich  erbleichend,  fuhr 
-er  fort:  »Du  aber  bist  vielleicht  schon  einem 
reichen  Fürstensohn  verlobt?  Ich  bin  arm  und 
habe  bis  jetzt  nichts  als  mich  selbst.« 

»Und  wenn  mir  das  nun  gerade  lieber  ist 
als  alle  Schätze  Indiens,«  sagte  sie  schmeichelnd, 
»sieh',  mein  Vater  hat  mich  schon  mehrere  Male 
mit  den  ersten  Fürstensöhnen  des  Landes  ver- 
mählen wollen,  aber  ich  sagte  immer:  Nein, 
der  Rechte  ist  noch  nicht  gekommen;  Brahm 
wird  ihn  mir  zur  guten  Stunde  senden.  Als  ich 
nun  vorhin  mit  meinem  lieben  Tierchen  in  den 
Wald  kam,  da  zog  mich  das  sanfte  Geschöpf 
immer  nach  dieser  Seite,  wohin  ich  sonst  selten 
gehe;  ich  dachte,  vielleicht  haben  die  Ewigen 
ihm  ein  Zeichen  gegeben,  dass  mir  da  etwas 
Ausserordentliches  begegnen  soll,  und  folgte  ihm. 
Als  ich  dann  aus  dem  Gebüsch  trat  und  dich 
hier  sah,  da  wusste  ich,  dass  mir  der  Rechte 
gesandt  seil  .  .  .« 

Stunden  waren  vergangen,  da  riss  sich  plötzlich 
voll  Schreck  das  Mädchen  aus  seinen  Armen, 
die  sie  umschlungen  hielten,  und  rief:  »Weh' 
mir  I  Wenn  sie  mich  hier  finden  mit  dem  Fremd- 
ling, ich  müsste  vor  Scham  vergehen!  Aber 
von  dir  scheiden  ist  bitterer  als  der  Tod!« 


—    446    — 

»Das  kann  auch  nimmer  seini«  rief  er  voll 
Leidenschaft  und  drückte  sie  von  neuem  an  sein 
Herz:  >uns  has  die  Gottheit  zusammengeführt^ 
und  nichts  kann  uns  mehr  trennen.  Auch  ich 
muss  jetzt  fort  und  dem  Urweisen  meine  Wahl 
verkünden.  Aber  dann  komme  ich,  dich  von 
dem  Vater  zum  Weib  zu  begehren.  Zwar  bin 
ich  noch  arm  und  nicht  angesehen  vor  den 
Menschen,  aber  ich  fühle  Kräfte  in  mir,  Grrosses,. 
Würdiges  zu  vollbringen.« 

»Oh,  ich  bin  reich  genug  für  uns  beide,  und 
es    wird    mein    Glück    sein,   mit   dir  zu  teilen!« 

Nun  umschlang  sie  ihn  wieder,  nahm  mit 
einem  langen,  heissen  Kuss  von  ihm  Abschied 
und  verschwand  mit  ihrer  Gazelle  im  Dickicht 
des  Waldes,  während  er  den  Weg  zurück  zum 
Tempel  suchte. 

Er  fand  seine  Führerin  und  den  Urweisen 
versenkt  in  Gespräche  über  das  wahre  Wesen 
der  Dinge. 

»Wir  waren  in  dem  Upanischad,  in  der 
Innenwelt,«  sagte  der  Urweise,  »dort,  wo  die 
Sonne  nicht  scheint,  noch  der  Mond,  auch  jene 
Blitze  nicht,  die  dort  am  Gewitterhimmel  zucken, 
wo  aber  alles  Licht  ist,  das  von  Brahman  aus- 
strömt, und  wir  waren  glücklich,  dass  auch  wir 
Brahman  sind,  denn  das  ist  unsere  Krone  und 
unser  Stolz:  sobald  diese  Erkenntnis  der  Seele 
in  uns  lebendig  geworden  ist,  sind  wir  frei  von 
den  Gesetzen,  welche  die  Form  der  Sansära  sind 
und  leben  im  reinen  Äther  des  Geistes.  Du 
aber,    o   Jüngling,    sprich   nun,   lass  uns  wissen^ 


—    447     — 

was  sich  in  deiner  Sede  bewegt  hat.  Hat  sich 
dein  Verlangen  dafür  entsdiieden,  mit  uns  am 
unverfälschten  Quell  der  Erkenntnis  zu  trinken 
und  so  den  Irrungen  der  Erscheinungswdt  zu 
entgehen,  oder  wählst  du  den  dunlderen  P&d, 
der  mit  seinen  von  tausend  Sonnen  strahlenden 
Momenten  des  Glücks,  doch  nur  ein  Spi^el 
deines  Innern  ist  und  sich  oft  trübt  und  ver- 
dunkelt, wenn  die  Lichtgestalten,  die  du  im 
Glänze  deiner  Seele  sahst,  dir  plötzlich  ihr 
wahres  Wesen  enthüllen  und  eher  Dämonen 
gleichen  als  veridärten  Wesen.  Sprich  ohne 
Scheu,  denn  du  bist  frei  zu  wählen.« 

>So  vernimm.  Ehrwürdiger,«  versetzte  der 
Jüngling  nicht  ohne  einiges  Bangen,  >ich  zeige 
dir  mein  Herz  in  Wahrheit.  Mir  ist  in  diesen 
Stunden  das  Greheimnis  offenbar  worden,  welches 
das  andere,  das  dunkle  Verlangen  war,  das 
neben  jenem  nach  dem  Lichte  des  Brahm,  un- 
ruhvoll in  meiner  Seele  wogte,  ich  weiss  nun, 
wo  es  gestillt  wird.  So  habe  ich  gewählt  und 
beschlossen,  das  Leben  der  Menschen  durch- 
zumachen mit  air  seinen  Freuden  und  Leiden 
und  dafiir  zu  kämpfen,  dass  Brahm  lebendig 
werde  in  den  Seelen  der  Menschen.« 

>Ich  wusste  es,  wie  du  entscheiden  würdest,« 
sagte  der  Greis  lächelnd,  >es  war  zu  früh,  dich 
den  Entsagenden  zugesellen  zu  wollen.  Noch 
flutet  der  heisse  Lebensstrom  des  Werdens  in 
dir  und  will  sein  Recht.  Aber  du  bist  in  der 
Stunde  der  Geburt  von  Brahman  gesegnet,  denn 
wem  er  das  köstlichste   Geschenk,  den  Genius, 


—    450    — 

Nur  ungern  trennte  ich  mich  von  dem  herr- 
lichen Meeraufenthalt,  der  mir  physisch,  geistig 
und  gemütlich  wohl  getan  hatte.  Mir  die  Ge- 
stalt Sigismund  Malatestas  in  ein  milderes,  sicher 
gerechteres  Licht  gesetzt  zu  haben,  als  das  ist, 
in  welchem  die  meisten  Historiker  ihn  sehen  und 
welches  Bädeker  leider  in  seinem  Fremdenführer 
den  Reisenden  als  das  unfehlbare  zeigt,  war  mir 
eine  Genugtuung,  denn  jene  Heldengestalten  der 
Renaissancezeit  wollen  von  einem  anderen  Stand- 
punkt aus  beurteilt  sein  als  unsere  modernen 
Heerführer.  GremütvoU  erquickend  aber  war 
mir  der  Umgang  mit  dem  Volk  gewesen,  welches 
ein  besseres  Los  verdiente,  als  ihm  seine  Re- 
gierungen bis  jetzt  bereitet  haben.  Das  Volk 
dort  in  der  Romagna  sowohl  wie  in  der  Lom- 
bardei ist  sehr  klug,  viel  mehr  republikanisch  als 
monarchisch  und  urteilt  oft  mit  einer  geistreichen 
Ironie  über  die  Verfugungen  der  oberen  Behörden. 
Die  sehr  abscheulichen  Vorgänge  an  der  Banca 
romana — die  wie  ein  Echo  auf  die  französischen 
Panama-Ereignisse  folgten,  nur  noch  gemeiner 
und  hässlicher,  da  es  sich  rein  nur  um  Gewinn 
und  Wucher  handelte,  während  dort,  wenigstens 
im  Anfang,  eine  grosse  Idee  zu  Grunde  lag  — 
fielen  gerade  in  jene  Zeit.  Der  Prozess,  welcher 
den  Vorstehern  der  Bank  gemacht  wurde,  die 
jahrelang  in  der  sogenannten  »guten  Gesell- 
schaft« geglänzt  hatten,  war  im  Gange  und  man 
erwartete  mit  Recht  ein  strenges  Urteil.  Auch 
mir  fiel  das  Zeitungsblatt  vor  Unwillen  und  Er- 
staunen aus  der  Hand,    indem  ich  das  Verdikt 


—    4Si     — 

am  Ende  des  Prozesses  las,  welches  sämtliche 
Angeklagte  frei  sprach;  als  ich  dann  später 
einem  meiner  guten  Freunde  aus  dem  Schiffervolk 
des  Hafens  begegnete  und  ihn  fragte,  was  er 
dazu  sage,  erwiderte  er  mir  mit  dem  feinen 
ironischen  Lächeln,  welches  den  dunkel  ge- 
bräunten Gesichtern  des  meist  schönen  Menschen- 
schlages dort  so  gut  steht:  »Ich  habe  nichts 
anderes  erwartet;  wenn  einer  von  uns  ein  Brot 
stiehlt  für  sein  hungriges  Kind,  so  steckt  man 
ihn  ins  Gefängnis;  die  vornehmen  Diebe  spricht 
man  immer  frei.«  Wie  sehr  der  Mensch  recht 
hatte,  sollten  die  folgenden  Jahre  noch  eindring- 
licher beweisen.  Diejenigen,  welche  an  der 
Spitze  der  Staatsverwaltungen  stehen,  unter- 
schätzen den  gesunden  Verstand  und  die  Urteils- 
fähigkeit des  Volkes  viel  zu  sehr,  und  wenn 
endlich  der  Augenblick  kommt,  wo  das  lang 
unterdrückte  Gefühl  des  Unrechts,  welches  am 
Volk  begangen  wird,  hervorbricht  und  zu  Ge- 
walttaten treibt,  so  behauptet  man,  es  sei  nur 
das  Werk  einzelner  Aufwiegler  und  Egoisten, 
die  für  sich  selbst  im  Trüben  fischen  wollen  und 
schreitet  ein  mit  dem  Mittel  der  Despotie,  mit 
Waffengewalt,  anstatt  liebevoll  vorsorgend  den 
Bedürfnissen  menschlicher  Existenzen  entgegen- 
zukommen und  vor  allem,  anstatt  strenge  Ge- 
rechtigkeit in  gleichem  Mass  zu  üben  gegen 
hoch  und  niedrig,  gegen  reich  und  arm. 

Es  ist  seltsam  wie  wenig  die  Menschen  aus 
der  Geschichte  lernen;  wie  der  Egoismus  und 
die  Verlockungen   der  Macht   immer  wieder  zu 


—    452    — 

dem  Irrtum   fuhren,  als  könne   der  nur  auf  das 
Vergängliche   gestützte   Erfolg    dauern    und   die 
ewigen    Ideen     der     Gerechtigkeit,     Güte     und 
Wahrheit    in   Schranken    halten  um   den   selbst- 
süchtigen   Zwecken    einzelner    Ehrgeiziger    und 
Despoten   zu  dienen.     Und   doch  ist  dem  nicht 
so!    Die  Geschichte  hat  hundertmal  das  Gegen- 
teil bewiesen;  Ideen  sind  mächtiger  als  mensch- 
liches Wollen ;  schlagt  sie  in  Ketten,  die  Ketten 
fallen   ab  wenn   der  Genius  in  den  Kerker  tritt 
und   sie   zur  Freiheit  fuhrt,    wie   der  Engel  den 
Petrus   auf  dem   herrlichen  Fresko  Raphaels  im 
Vatikan.     Aber  freilich  es  ist  traurig  wie  lange 
die     Verirrung     einzelner     das     Schicksal     von 
Tausenden   beherrschen   und   dem  Abgrund  des 
Elends   nahe  führen  kann.     Italien  erlebte  es  in 
jenen  Jahren    und    leidet   noch   an    den  Folgen 
der  unseligen  Katastrophen,  welche  Ehrgeiz  und 
Unfähigkeit   einzelner  über  es  verhängten.     Ob 
die     Sucht     der     Kolonialpolitik,     welche     sich 
Europas  bemächtigt  hat   in   der  zweiten  Hälfte 
dieses    Jahrhunderts,    eine    segensreiche,    kultur- 
fördernde sei,    bleibe  noch   eine  unbeantwortete 
Frage ;  jedenfalls  war  es  für  Italien  viel  zu  früh, 
sich  diesem  Zuge  der  europäischen  Grossmächte 
anzuschliessen  und  es   bleibt  als  eine  Schuldt^in 
der  Geschichte  des  Ministeriums  Depretis-Mancini 
zu  verzeichnen,  ihr  Land  auf  jenen  Weg  geführt 
zu  haben,   wenn  gleich  die  schlimmsten  Folgen 
dieses  Schrittes  einem  späteren  Ministerium   zu- 
zuschreiben sind.    Italien  war  ein  junger  Staat, 
kaum  als   eine  Einheit   geboren   und   ungeheure 


—    453     — 

Aufgaben  lagen  vor  ihm  im  Innern,  die  mit 
Einsicht  und  Beharrlichkeit  ergriffen,  es  zu 
Wohlstand,  Ordnung  und  sittlicher  Entwicklung 
hätten  führen  können;  dann,  innerlich  erstarkt, 
einig  und  frei  geworden,  hätte  es  daran  denken 
können,  in  dem  Kreis  der  Grossmächte  eine 
achtunggebietende  Stellung  einzunehmen.  Cavour, 
der  einsichtsvolle  Staatsmann,  der  ihm  leider  zu 
früh  entrissen  wurde,  begriff  die  Bedeutung  einer 
solchen  Tendenz  vollkommen  und  lehnte  den 
Vorschlag  Napoleons  III.  ab,  welcher  das  nörd- 
liche Afrika  zwischen  den  lateinischen  Rassen 
zu  verteilen,  Spanien  Marocco  und  Italien 
Tunis  zuzuteilen,  träumte.  Cavour  fürchtete 
den  Eifer  der  Italiener,  das  Vaterland  fest  zu 
gründen,  durch  eine  Richtung  nach  aussen  abzu- 
schwächen und  erwiderte:  »Italien  sei  nicht 
reich  genug  um  sich  ein  tunesisches  Algier  zu 
erlauben«. 

Dieser  weisen  Zurückhaltung  vergessend,  kam 
es  dann  später  doch  dahin;  dass  Italien  in  Afrika 
festen  Fuss  fasste.  Eine  Bekannte,  welche  die 
ersten  italienischen  Truppen  sich  nach  Afrika 
hatte  einschiffen  sehen,  schrieb  mir,  sie  habe 
Tränen  freudiger  Rührung  geweint,  die  Söhne 
des  neu  gewonnenen  Vaterlands  hinausziehen  zu 
sehen,  um  Kulturaufgaben  unter  den  Barbaren 
zu  erfüllen.  Ich  antwortete  ihr,  ich  wünsche 
von  Herzen,  dass  diese  Aufgaben  nicht  kultur- 
feindlich für  das  eigene  Land  werden  möchten 
und  ich  glaube,  dass  jene  Armen,  die  waffen- 
tragend zu  wüden  Völkern  zögen,  segenbringen- 


—    454    — 

der  zu  nützlicher  Feldarbeit  daheim  verwendet 
sein  würden.  Leider  gab  mir  die  Folge  mehr 
als  recht. 

Mit  unendlicher  Liebe  an  dies  schöne  Land 
gebunden,  an  die  apollinischen  Zauber  seiner 
Natur,  die  das  tiefe  Bedürfnis  der  Seele  nach 
Schönheit,  in  mir  von  Kindheit  auf  mächtig,  we- 
nigstens nach  einer  Seite  hin  befriedigen,  konnte 
ich  nicht  umhin,  auch  mit  dem  wärmsten  Inter- 
esse die  Schicksale  dieses  Landes  beobachtend  zu 
verfolgen,  -und  sah  mit  Trauer,  wie  weit  sich  die 
heutige  Politik  von  den  Idealen  jener  trefflichen 
Männer,  die  ich  im  Exil  gekannt  hatte,  entfernte. 
Vorgänge  wie  jene  schon  erwähnten  der  Banca 
romana,  wie  die  Veruntreuung  von  Geldern,  die 
auch  von  auswärts  her  für  die  schrecklichen  Un- 
glücksfälle der  Erbbeben,  Überschwemmungen  etc. 
einliefen  und  den  schwer  Betroffenen  kaum  halb 
zuteil  wurden,  Veruntreuungen  an  öffentlichen 
Kassen  und  anderes  zeigten  einen  Abgrund  mo- 
ralischen Elends,  der  etwas  Erschreckendes  hatte. 
Dazu  in  den  höchsten  Kreisen  der  Verwaltung 
der  ungebändigte  Ehrgeiz  einzelner,  teils  von 
unfähigen,  teils  von  unredlichen  Werkzeugen 
Umgebener,  das  waren  die  Zustände,  in  denen 
Italien  sich  befand,  die  wie  dunkle  Gewitterwolken 
an  seinem  hellen  Himmel  standen  und  sich  immer 
drohender  zusammenzogen,  bis  dann  die  schreck- 
liche Katastrophe  in  Afrika  kam,  welche  Trauer 
und  Verzweiflung  über  das  Land  verbreitete. 
Freilich  fiel  nach  der  Schlacht  von  Adua  das 
Ministerium  Crispi,  welchem  mit  Recht  die  Haupt- 


—    455     — 

schuld  an  den  begangenen  Irrtümern  und  deren 
Folgen  zugeschrieben  wurde,  aber  das  Unglück 
war  nicht  gut  zu  machen.  Die  kräftigen  jugend- 
lichen Leben,  die  auf  dem  Schlachtfeld  von  Adua 
vernichtet  lagen,  die  Tränen,  die  in  Italien  um 
sie  flössen,  die  Millionen,  welche  unnütz  dort  ver- 
geudet waren,  während  in  der  Heimat  Hunger 
und  Armut  herrschten,  die  furchtbaren  Einblicke, 
die  man  in  die  skandalöse  Immoralität  der  den 
Häuptern  der  Regierung  zunächst  stehenden  Per- 
sonen tat,  in  das  Gewebe  schmutziger  Intriguen, 
Bestechungen  und  Lügen,  welches  in  den  Kreisen 
einheimisch  war,  die  dem  Volke  hätten  als  Vor- 
bild dienen  sollen  —  das  alles  wird  als  ein  ewiges 
Vedammungsurteil  auf  dem  Ministerium  Fran- 
cesco Crispis  in  der  Geschichte  lasten  bleiben 
und  das  Urteil  Mazzinis  über  den  Mann  recht- 
fertigen. Die  einzelnen  Tatsachen  dieser  trau- 
rigen Zeit  sind  zu  bekannt,  um  sie  zu  wieder- 
holen ;  aber  wer  sie  miterlebte  wie  ich,  der  konnte 
nicht  umhin,  sich  traurig  zu  fragen,  was  für  ein 
dunkles  Rätsel  sich  hinter  diesen  Erscheinungen 
der  Weltgeschichte  berge,  wenn  nach  einem 
grossen  begeisterten  Aufleuchten  edelster  Ge- 
sinnung, hohen  Strebens,  freudigsten  Opfermutes, 
dann  plötzlich  eine  Zeit,  nicht  des  Stillstands 
und  Ausruhens  —  das  wäre  erklärlich  — ,  sondern 
tiefer  Korruption  folgen  kann,  in  der  alle  häss- 
lichen  Elemente  der  menschlichen  Natur  wie  auf- 
gewühlt erscheinen  und  aus  ihren  dunklen  Höhlen 
heraufsteigen  an  das  Licht,  um  sich  der  Frucht 
des   vom    Idealismus    errungenen   Siegs    zu    be- 


—    456    — 

mächtigen  und  sie  mit  dem  Grift  des  verderblich- 
sten Egoismus  zu  durchdringen.  Das  italienische 
Volk  fühlte  sehr  wohl,  was  ihm  für  Unheil  zu- 
gefügt war,  aber  es  ist  ein  unglaublich  gedul- 
diges Volk,  lässt  viel  über  sich  ergehen  und 
begnügt  sich  lange  mit  seiner  Armut,  ehe  es  zur 
Empörung  schreitet.  Die  Minorität  der  redlichen 
Männer  der  gebildeten  Klassen  aber,  welche  tief 
traurig,  einsichtsvoll  den  Ereignissen  gegenüber- 
steht, leidet,  ohne  sich  gegen  das  vorhandene 
Übel  handelnd  aufzulehnen.  Es  ist  das  eine 
Schwäche  der  italienischen  Natur,  die  in  sonder- 
barem Kontrast  steht  mit  der  feurigen  Raschheit 
im  Blut,  welche  ohne  Überlegung  das  Messer 
in  die  Brust  des  Nebenmenschen  stösst. 

Eis  würde  mich  weit  über  die  Grenzen  des 
mir  in  diesen  Blättern  vorgesteckten  Ziels  hinaus- 
führen, wollte  ich  suchen,  die  Ursachen  offen  dar- 
zulegen, welche  den  heutigen  Zuständen  zu  Grunde 
liegen,  obwohl  sie  mir  ziemlich  klar  sind;  ich 
fasse  sie  nur  in  Eins  zusammen,  nämlich  in  die 
vollständige  Abwesenheit  jedes  Ideals.  Es  gibt 
wohl  kaum  ein  Volk  in  Europa,  welches  weniger 
wahrhaft  religiös  wäre  als  das  italienische ;  es  ist 
teils  skeptisch,  teils  indifferent  und  in  den 
untersten  Ständen  aus  Gewohnheit  kindisch  und 
abergläubisch.  In  der  ersten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts war  es  das  politische  Ideal,  die  Befreiung 
vom  Fremdjoch,  welches  die  Seelen  mit  Be- 
geisterung und  Tatkraft  füllte;  nun  es  verwirk- 
licht war,  stellte  sich  eine  Leere  ein,  in  der  alles 
Unkraut,  dessen  Keime  sich  unter  den  schlechten 


—    457    — 

Regierungen,  die  so  lange  das  Verhängnis  Italiens 
gewesen  waren,  gebildet  hatten,  emporwuchs  und 
die  Oberhand  gewann,  während,  wie  gesagt,  die 
redlich  Wollenden  sich   entmutigt   zurückzogen. 

Der  hohe  Vorzug  dieses  wunderbaren  Landes 
aber  ist  es,  dass,  während  die  menschlichen  Ver- 
hältnisse so  viel  zu  wünschen  übrig  lassen,  die 
gütige  Natur  hier  so  verschwenderisch  mit  ihren 
Graben  ist,  dass  die  Seele  sich  ihr  trostreich  in 
die  Arme  legt  und  in  ihrer  Schönheit  ausruht,  in 
der  Zuversicht,  dass  auch  diesem  liebenswür- 
digen, begabten  Volk  der  Tag  der  Auferstehung 
kommen  wird. 

Da  mein  Alter  mir  nun  nicht  mehr  weite 
Reisen  erlaubte,  so  kam  es  dahin,  dass  Olga  im 
Sommer  mit  den  Ihren  über  die  Alpen  kam  und 
dass  wir  uns  in  Nord-Italien,  an  einem  der  vielen 
gesegneten  Orte  dort  zu  längerem  Aufenthalt 
zusammenfanden,  mehr  wie  je  in  Liebe  vereint. 
In  Rom  aber  war  mir  inzwischen  wieder  eine 
teure,  liebe  Beziehung  nahe  gekommen,  die 
schon  in  früheren  Jahren  während  einiger  Winter 
mein  Leben  freundlich  erhellt  hatte  und  zu 
einem  festen  Herzensbund  geworden  war.  Es 
war  dies  die  Beziehung  zu  der  Tochter  von 
Donna  Laura  Minghetti,  welche  jetzt,  als  die 
Gemahlin  des  deutschen  Botschafters,  Bernhard 
von  Bülow,  in  Rom  festen  Wohnsitz  nahm. 
Die  Liebe,  die  mich  an  dies  von  der  Natur  mit 
allem  edlen  Liebreiz  geschmückte  Wesen  band, 
gab  meinem  Leben  in  Rom  wieder  die  Be- 
friedigung   einer    persönlichen    Zuneigung,     die 


—    4S8     — 

auch  von  der  anderen  Seite,  trotz  der  grosse» 
Altersverschiedenheit,  auf  das  lieblichste  er- 
widert wurde.  Es  öffnete  sich,  durch  die  Gegen- 
wart des  ausgezeichneten,  noch  so  jungen  Paares,, 
in  dem  schönen  Palast  der  deutschen  Botschaft 
in  Rom  ein  lang  entbehrtes,  deutsches  Heim, 
so  wie  es  vor  Zeiten  durch  Humboldt,  Niebuhr, 
auch  noch  Bunsen,  da  gewesen  sein  mag,  das 
in  Bernhard  von  Bülow  den  durch  edle  klassische 
Kultur  gebildeten  Repräsentanten,  in  seiner  Gattin 
die  holde  Erscheinung  der  Vereinigung  südlicher 
Natur  mit  deutscher  Bildung  fand.  Wohl  mag 
die  Mitte,  welche  jene  Vertreter  deutscher 
Bildung  in  Rom  gefunden  hatten,  die  Herstellung 
eines  bedeutenden  geistigen  Zentrums  erleichtert 
haben,  besonders  auch  dadurch,  dass  die  römische 
Gesellschaft  damals  nicht  die  vielen  schroffen 
Gegensätze  enthielt,  welche  sich  heutzutage  in 
ihr  finden.  Für  die  aber,  welche  Bülows  ge- 
mütlich näher  standen,  war  es  das  Aufblühen 
einer  schönen  Hoffnung,  für  längere  Zeit  ein 
Asyl  zu  haben,  wo  Geist  und  Herz  gleich  be- 
friedrigt  wurden  und  wo,  insbesondere  durch  die 
grosse  musikalische  Begabung  der  Frau  von 
Bülow  und  ihren  der  Musik  geweihten  Kultus 
zu  erwarten  stand,  dass  sich  endlich  wieder  ein 
würdiges  musikalisches  Leben  entwickeln  lassen 
würde,  da  in  dieser  Beziehung  ein  schmerzlich 
fühlbarer  Unterschied  zwischen  der  Zeit,  wo  ich 
zuerst  in  Rom  war,  vor  etwa  dreissig  Jahren, 
und  der  Jetztzeit,  stattfand.  Damals  herrschte 
Liszt  noch  in  voller  Manneskraft  im  römischen 


—    459    — 

Leben;  ich  hörte  seine  »Beatitudine«,  von  ihm 
selbst  dirigiert,  im  grossen  Saal  des  Kapitols,  in 
vollendeter  Weise  auffuhren;  ihn  umgaben  einige 
ausgezeichnete  Schüler,  die  auch  in  das  Privat- 
leben ein  wertvolles  musikalisches  Streben  ein- 
führten. Man  hatte  noch  nicht  die  furchtbare 
Qual  zu  erdulden,  beinahe  aus  jedem  Haus  ein 
geist-  und  sinnloses  Geklimper  ertönen  zu  hören ; 
überhaupt  ein  dunkler  Fleck  in  unserer  modernen 
Kultur,  der  geradezu  einen  moralisch  verderb- 
lichen Einfluss  hat,  denn  was  können  so  gemeine 
Rhythmen,  so  widerwärtig  ordinäre  Weisen, 
millionenmal  hintereinander  wiederholt,  einer 
Seele  sagen?  Jede  nützliche  Handarbeit  wäre 
da  vorzuziehen  und  ersparte  dem  Nachbar,  dem 
die  Musik  die  heiligste  der  Künste  ist,  die  un- 
sägliche Pein,  sich  bei  seiner  geistigen  Arbeit 
oder  bei  seiner  stillen  Erholung  durch  ein  solches 
aufdringliches,  gemeines  Umherfahren  auf  dem 
Instrument  gestört  zu  sehen. 

Es  waren  im  Palast  Caffarelli,  dem  Sitz  der 
deutschen  Botschaft,  gerade  mehrere  ausge- 
zeichnete musikalische  Talente  und  so  fing 
wenigstens  im  engeren  Kreis  dort  schon  ein  ge- 
nussreiches Musizieren  an.  Dazu  kam  nun  im 
Frühjahr  die  mich  innig  erfreuende  Nachricht, 
dass  Siegfried  Wagner,  der  eben  seine  erste 
grosse  Kunstreise  gemacht  hatte,  auch  nach 
Rom  kommen  wolle,  um  daselbst  ein  Konzert 
zu  dirigieren.  Es  war  eine  doppelte  Freude,  die 
mir   dadurch   zuteil   wurde;   zunächst  den  Sohn 


—    4^0    — 

des  grossen  Meisters  und  Freundes,  den  ich  von 
Kindheit  auf  gekannt  hatte,  nun  als  erwachsenen, 
schon  selbständig  sich  betätigenden  Menschen 
wiederzusehen  und  dann,  unter  seiner  Leitung 
einmal  wieder  eine  wahrhaft  künstlerische  grössere 
Aufführung  zu  hören.  Beides  vollzog  sich  in 
schönster,  befriedigendster  Weise;  nicht  nur, 
dass  ich  in  dem  Jüngling,  neben  entschiedener 
Ähnlichkeit  mit  dem  Vater,  eine  vollständig 
eigene  Persönlichkeit  fand,  $ondem  es  erschien 
mir  auch  in  dem  Dirigenten  ein  durchaus  indi- 
viduelles, ganz  bewusstes  Erfassen  und  Ausführen 
und  erfüllte  mich  mit  froher  Hoffnung  für  die 
Zukunft  dieses  mir  so  werten  jungen  Freundes, 
dem  die  grosse,  herrliche  Aufgabe  zuteil  ge- 
worden, das  Werk  des  Vaters  weiterzuführen 
und  zugleich  die  Befähigung  als  eine  selbstän- 
dige Individualität,  die  eigenste  Schaffenskraft 
in  ungehinderter  Weise  zu  entfalten. 

Der  Sommer  führte  mich  dann  wieder  zu  froher 
Vereinigung  mit  Olga  und  den  Ihren  an  den  süd- 
lichen Abhang  der  Alpen,  an  den  Lago  Maggiore 
und  an  den  höher  gelegenen,  unbeschreiblich 
reizenden  Orta-See,  über  dessen  grüne,  malerische 
Uferberge  die  eisglänzenden  Spitzen  der  Kette 
des  Monte  Rosa  herüber  sehen.  Den  Reichtum 
der  malerischen  Schönheiten  dieses  von  der  Natur 
so  verschwenderisch  bedachten  Landes  auszu- 
kennen,  würde  viele  Jahre  erfordern  und  es  ist 
nicht  zu  verwundern,  dass  hier  eine  Kunstblüte 
entstand,    wie    sie,    ausser    Griechenland,    kein 


—    46i     — 

anderes  Volk  erlebt  hat.  Und  ebenso  wie  mit 
der  Natur  wird  man  auch  nie  fertig,  all'  die 
schaffenden  Kräfte  kennen  zu  lernen,  welche 
jener  Natur  wohl  zum  grossen  Teil  ihre  An- 
regungen verdankten.  So  sah  ich  in  jenen  Gre- 
genden einen  Maler  zuerst  und  einen  zweiten 
vollkommener  als  vorher,  welche  sich  beide 
dort  in  vielen  der  kleinen  Orte  verewigt  haben ; 
der  erste  war  Gaudenzio  Ferrari  und  der  zweite 
Bemardo  Luini.  Gaudenzio  Ferrari  hat  nicht 
die  Anmut  und  tiefe  Seelenschönheit  des  Luini, 
aber  er  ist  ein  Maler  von  unbestrittener  Gross- 
artigkeit der  Erfindung,  voll  Farbenglanz  und 
feiner  Charakterisierung  und  muss  sehr  produktiv 
gewesen  sein.  Luini  erreicht  zuweilen  fast  seinen 
grossen  Meister  an  Holdseligkeit  und  seine  Fresken 
in  Saronno  und  Lugano  ehren  ihn  als  Zeichner 
und  Kolorist. 

So  einen  sich  stets  in  diesem  Wunderland 
Natur  und  Kunst,  um  Geist  und  Gemüt  alles 
zu  geben,  dessen  sie  bedürfen.  Aber  freilich, 
nur  die  Natur  ist  ewig  jung  im  Blühen,  die 
Kunst  hat  ihre  Epochen  und  dann  stirbt  sie  ab, 
gleich  dem  Erdreich,  das,  erschöpft  vom  Geben, 
keine  Frucht  mehr  bringt. 

Nicht  immer  aber  waren  die  Tage  nur  heiter; 
auch  in  diesen  späten  Jahren  nicht,  wie  sie  es 
auch  in  früheren  Jahren  häufig  nicht  gewesen 
waren.  Es  starben  viele  der  Angehörigen  und 
Bekannten  um  mich  her,  gleich  wie  beim  Baum 
im  Herbst,  wenn  der  Wind  ein  Blatt  nach  dem 
anderen     herunterweht.      Die     alte    Schwester, 


—     402     — 

die  ich  alljährlich,  wenn  ich  nach  Frankreich 
ging,  vorher  in  Deutschland  besucht  hatte,  war 
auch  gestorben  und  von  meiner  unmittelbaren 
Familie  war  keiner  mehr  übrig;  die  Mitglieder 
der  jüngeren  Generation  waren  mir  zum  Teil 
ganz  unbekannt  und  lebten,  in  alle  Weltgegenden 
zerstreut,  fern  von  mir,  so  dass  sich  kein  Band 
der  Zusammengehörigkeit  hatte  knüpfen  können 
und  dass  Fremde  mir  durch  Geist  und  Gemüt 
näher  verbunden  waren,  als  die  Blutsverwandten. 
Dies  betätigte  mir  wieder  die  Freundschaft  des 
edlen  Paares,  welches  Deutschlands  Interessen 
in  Rom  vertrat,  bei  einer  traurigen  Gelegenheit 
auf  die  rührendste  Weise.  Ich  nahm  nicht 
mehr,  schon  seit  Jahren,  teil  an  grösserer  Ge- 
selligkeit,  aber  zu  den  kleineren  Vereinigungen 
bei  Bülows  ging  ich  gern,  weil  da  immer, 
durch  die  ungezwungene  Freundlichkeit  der 
Hausherren,  von  vornherein  sich  eine  wohltuende 
Atmosphäre  bildete.  So  bereitete  ich  mich  auch 
an  einem  Abend  dorthin  zu  gehen,  wo  Joachim, 
welcher  in  Rom  angekommen  war,  dort  spielen 
sollte.  Meine  alte  Dienerin,  welche  dreiund- 
zwanzig Jahre  mit  mir  verbracht  hatte  und  mir, 
trotz  den  bei  alten  Dienern  unvermeidlichen 
Launen  und  Verstimmungen,  durch  ihre  Er- 
gebenheit und  Treue  dennoch  wert  war,  sollte 
mit  mir  gehen,  da  sie  mit  dem  Dienstpersonal 
dort  befreundet  war.  Ich  war  mit  Ankleiden 
fertig,  der  Wagen  stand  vor  der  Tür;  ich  rief 
ihr,  um  zu  gehen,  erhielt  keine  Antwort  und 
ging  daher   in   ihr  Zimmer,    um   ihr   zu    sagen. 


—   463   — 

sie  solle  kommen.  Welches  war  aber  mein 
Schreck,  als  ich  sie  bewusstios  auf  dem  Boden 
liegend  fand.  Natürlich  war  von  Ausgehen  keine 
Rede  mehr.  Der  herbeigerufene  Arzt  liess  mir 
keinen  Zweifel  über  den  Ernst  des  Falles  und 
bestand  darauf,  die  Kranke  alsbald  in  das 
Hospital  zu  bringen.  Am  folgenden  Morgen  kam 
er,  mir  ihren  Tod  zu  verkünden.  Ausser  der 
Erschütterung,  die  ein  so  brutales  Auflösen  eines 
lange  bestandenen  Verhältnisses  notwenig  mit 
sich  brachte,  entstand  für  mich  eine  wirklich 
augenblicklich  bedrängte  Lage,  da  meine  ganze 
kleine  Häuslichkeit  auf  das  Dasein  dieses  einen 
Wesens  gebaut  gewesen  war  und  es  unmöglich 
war,  alsbald  einen  genügenden  Ersatz  zu  finden. 
•Gute,  hülfreiche  Bekannte  kamen  rasch  herbei, 
zu  allem  erbötig,  doch  durchgreifende  Hülfe 
kam  erst,  als  eine  Botin  der  Frau  von  Bülow 
erschien,  welche  mir  die  Aufforderung  der  beiden 
Gatten  brachte,  alsbald  zu  kommen  und  bei 
ihnen  eine  Zeit  lang  zu  verweilen,  bis  der  traurige 
Eindruck  sich  in  etwas  verwischt  und  ich  Zeit 
gehabt  hätte,  mein  häusliches  Leben  neu  zu 
organisieren.  Die  Aufforderung  war  in  so  herz- 
Ucher  Weise  abgefasst,  wurde  alsbald  durch  so 
kräftige  Hülfleistung  beglaubigt,  dass  ich  nicht 
zögern  konnte,  sie  anzunehmen.  Gleich  dem 
Schauplatz  des  traurigen  Vorfalls  entrückt  zu 
werden  in  eine  schöne,  liebenswürdige,  teilnahm- 
volle Mitte  war  eine  unvergleichliche  Wohltat. 
Ihre  tröstende  Wirkung  blieb  nicht  aus  und  da 
mein   Gewissen   mir  das  Zeugnis   gab,   die  Ver- 


—    464    — 

storbene  immer  nur  mit  der  Rücksicht  behandelt 
zu  haben,  wie  sie  meinen  Anschauungen  nach 
den  zum  Dienen  Verurteilten  gebührt,  so  lange 
dies  Verhältnis  nicht  in  eine  neue  edlere  Phase 
getreten  ist,  so  konnte  ich  mich  nur  freuen, 
dass  der  Armen  die  Qual  langsamer  Krankheit 
und  allmählichen  Sterbens  erspart  geblieben  war. 
Meine  liebevolle  Freundin  musste  leider  nach 
einigen  Tagen  Rom  verlassen,  um  ihren  alljährlichen 
Badeaufenthalt  zu  nehmen;  ich  blieb  dann  noch 
mehrere  Wochen  mit  Herrn  von  Bülow  allein,  in 
schönster  Freiheit  in  den  weitläufigen  Räumen 
des  Palastes,  aber  in  den  Stunden  des  Zusammen- 
seins mit  wahrer  Freude  den  Einblick  in  die 
grosse  klassische  Kultur  des  noch  so  jungen  Staats- 
manns geniessend.  Unsere  Anschauungen  stimm- 
ten nicht  auf  allen  Gebieten  überein,  aber  ich 
hatte  die  tiefe  moralische  Genugtuung,  mich  mit 
hoher  Achtung  vor  den  festen,  auf  edelsten  Grund- 
lagen ruhenden  Überzeugungen  des  bedeutenden 
Mannes  beugen  zu  können,  dessen  Wohlwollen 
und  Güte  gegen  mich  sich  nie,  trotz  unserer 
verschiedenen  Ansichten,  verleugnete.  Es  ist 
eine  der  schönsten  Empfindungen,  sich  in  rein 
menschlicher  Achtung  und  Freundschaft  auch 
mit  solchen  zu  begegnen,  die  in  irdischen  Dingen 
anders  denken  wie  wir.  Der  Parteistandpunkt 
ist  immer  ein  einseitiger.  Warum  soll  ich  mich 
feindlich  von  dem  monarchisch  Gesinnten  ab- 
wenden, wenn  er  sonst  gut  und  edel  ist,  weil 
ich  vielleicht  Republikaner  oder  Sozialist  bin.? 
Alle  diese,    vom   Verstand    geschaffenen  Unter- 


—    46s     — 

Scheidungen  gehören  doch  auch  dem  Vergäng- 
lichen an ;  über  ihnen  steht  die  reine  menschliche 
Würde,  die  Treue  gegen  sich  selbst  und  das  für 
wahr  Erkannte,  welche  auch  im  anderen  diese 
Treue  gegen  das  ihm  Wahre  ehrt,  und  endlich 
die  Güte  des  Herzens,  welche  in  heiligem  Mit- 
leid über  alle  Meinungsverschiedenheiten  hinweg, 
hilft  und  tröstet.  Je  höher  der  Mensch  entwickelt 
ist,  je  voUkommner  wird  diese  Toleranz  werden, 
denn  je  tiefer  versteht  man  das  Wesentliche  vom 
Unwesentlichen  zu  scheiden  und  sich  am  einfach 
menschlich  Schönen,  ohne  Partei- Voreingenommen- 
heit zu  freuen.  Nur  wenn  es  gilt  in  Waffen  auf- 
zustehen, um  unsere  Wahrheit  zu  verteidigen 
gegen  feindliche  Angriffe  oder  gehässige  Unter- 
drückung, dann  gibt  es  kein  Entweder-Oder, 
dann  gilt  es  Kampf,  ernsten,  entschiedenen  Kampf. 
Nach  mehreren,  in  heiterer  Harmonie  ver- 
brachten Wochen,  verliess  ich  Rom,  um  mich  in 
Nord-Italien  mit  Olga  und  den  Ihren  zu  vereinen 
und  zwar  in  den  herrlichen  Cadorischen  Alpen, 
in  Pieve  di  Cadore,  welches  mir  von  früher  her 
eine  so  liebe  Erinnerung  war.  Leider  fand  ich 
auch  da  nun  schon  den  Fluch  des  Touristentums 
verhängt,  mehrere  Hotels  eröffnet  und  die  naive 
Einfachheit  des  Lebens  von  ehedem  verändert.  Voll- 
kommen fand  ich  diese  aber  wieder  an  einem  noch 
höher  gelegenen  Ort  in  der  Dolomiten-Kette,  an 
dem  See  AUeghe,  welcher,  durch  einen  Bergsturz 
gebildet,  mehrere  Dörfer  begraben  hat,  deren 
Trümmer  man  zuweilen  unter  den  Wassern  der 
stillen    Oberfläche    sehen    kann.      Nach   einigen 

Mey$enbug,  IV.  30 


—    466    — 

Wochen  in  Pieve  zogen  wir  da  hinauf  und  fanden 
mit  Entzücken  bestätigt,  was  man  uns  von  diesem 
Ort  gesagt  hatte.  .Wie  ein  seliger,  weltentrückter 
Traum  liegt  der  ziemlich  grosse,  stille  See  zwischen 
Höhen,  die  mit  herrlichen  Tannenwäldern  bedeckt 
sind,  da.  Nur  selten  kräuselt  der  Wind  die  ruhige 
Oberfläche,  in  der  sich  die  Ufer  spiegeln.  An 
dem  einen  Ende  liegt  ein  kleines  Dorf,  an  dem 
anderen  ein  sehr  primitives,  aber  rein  und  gut 
gehaltenes  Wirtshaus;  über  den  grünen  Vorbergen 
aber  steigen  in  wahrer  Majestät  die  herrlichen 
Dolomitfelsen  auf,  die,  wie  eine  Reihe  Riesen- 
orgeln, den  Gröttem  oben  auf  ihren  Wolkensitzen 
ein  wunderbares  Konzert  zu  geben  scheinen.  Am 
Abend  erglühen  sie  dann  in  zauberischer  Pracht 
der  Farben  und  von  den  Strahlen  der  unter- 
gehenden Sonne  versilbert  und  vergoldet.  Wie 
verschwenderisch  die  Natur  isti  Da  lässt  sie  in 
der  Einsamkeit  solcher  Alpenhöben  Paradiese  ent- 
stehen, gemacht,  um  tiefen  Denkern,  um  Poeten 
und  Künstlern  die  höchsten  Anregungen  zu  geben, 
und  fragt  nicht  danach,  ob  man  diese  reizenden 
Erdenflecke  entdeckt  und  ihrem  Zauber  herrliche 
Geistesblüten  entlockt  oder  nicht.  Es  ist,  als 
wohnte  der  allgewaltige  Schönheitstrieb  in  ihr, 
der  ihr  keine  Ruhe  lässt,  bis  sie,  ganz  künstlerisch 
verfahrend,  überall  das  Bild  hervorbringt,  das  sich 
charakteristisch  in  den  Rahmen,  welchen  Klima 
und  Boden  bedingen,  einpasst.  Nachher  sagt  sie 
ruhig  und  kalt:  »Mensch,  benutze  es  nun  und 
lerne  daran  die  Erde  mit  Schönheit  zu 
schmücken.«     Und    der    Mensch?     Hat    er    die 


—    407     — 

heilige  Flamme  der  wahren  Schönheit,  welche 
der  Ausdruck  der  Idee,  die  Form  des  Ideals  ist  ? 
Ist  es  ihm  darum  zu  tun,  zu  veredeln,  zu 
bessern,  zu  idealisieren  und  auch  den  materiellen 
Grenuss  durch  schönes  Mass  mit  ästhetischer 
Weihe  zu  adeln?  Ach,  wie  wenige  sind  es 
noch,  wie  nur  ganz  einzelne!  Und  werden  es 
jemals  viele  sein? 

Aus  diesen  zauberischen  Alpenhöhen  stiegen 
wir  hinunter  zu  der  Königin  des  Meeres,  der 
reizenden  Lagunenstadt,  welche  meine  Freunde 
noch  nicht  kannten.  Mir  erwacht  dort  immer  die 
wehmütige  Erinnerung  an  den  geschiedenen 
Freund,  in  dessen  künstlerischem  Heim  ich  einst 
so  schöne  Tage  verlebt  hatte.  Der  prächtige 
Palast  war  jetzt  ein  Nonnenkloster  und  der  Ex- 
Herzog von  Modena,  der  ihn  verkauft  hatj 
ist  so  rücksichtsvoll  für  die  zarten  Gefühle 
der  klösterlichen  Damen  gewesen,  die  Statuen 
der  heidnischen  Götter,  die  hier  unter  den 
dunklen  Laubgewölben  standen  hinwegnehmeri 
zu  lassen.  So  ist  wieder  etwas  Schönes,  Da- 
gewesenes unwiederbringlich  vernichtet.  Ach 
und  wie  vieles  ausserdem  in  dieser  einst  von 
Schönheit  strahlenden  Stadt!  Die  zauberischen 
Paläste,  in  denen  vornehme  Männer  mit  gerech- 
tem Stolz  auf  die  Grösse  ihrer  wunderbaren 
Heimat  und  schöne,  geistvolle  Frauen  voll  An- 
mut und  Würde  wohnten,  sind  jetzt  zum  grossen 
Teil  Gasthöfe  oder  Niederlassungen  der  Spe-^ 
zialitäten  venetianischen  Kunstgewerbes.  Das 
Haus,    in  welchem  Tizian  einst  glanzvolle  Feste 

30* 


—    468    — 

gab  und  die  Grössen  des  Geistes,  der  Kunst  und 
des  fürstlichen  Ranges  empfing,  ist  nebst  seinem 
herrlichen  Garten  spurlos  verschwunden.  Die 
Insel  Murano,  deren  Gärten  sonst  der  Versamm- 
lungsort von  Gelehrten,  Künstlern  und  ausgezeich- 
neten Frauen  waren,  ist  arm  und  öde;  die  Gärten 
sind  nicht  mehr  da;  nur  die  armen  Spitzen- 
Arbeiterinnen  und  die  Arbeiter  in  den  Glas- 
fabriken fuhren  hier  ihr  ärmliches  Leben  weiter. 
Und  doch  —  welch  ein  Zauber  von  Poesie  webt 
noch  immer  seine  goldenen  Schleier  über  diese 
Stadt  I  Das  kommt  von  dem  Unvergänglichen, 
allem  irdischen  Wechsel  Entzogenen;  hier  wurde 
gelebt,  für  grosse  Zwecke  gehandelt,  schönheits- 
trunken Idealen  gehuldigt,  weltliche  Macht  durch 
geist^e  Grrösse  geadelt.  Und  wenn  schliesslich 
auch  dies  unterging,  so  bleibt  die  Erinnerung, 
die  um  alles  wahrhaft  gelebte  Grosse,  Ideale 
ihren  Glorienschein  bildet  und  es  der  Nachwelt 
aufbewahrt,  indem  sie  die  Flecken,  die  jede 
Gregenwart  hat,  auslöscht  und  nur  das  übrig  lässt, 
was  ewig  ist:  die  Verwirklichung  der  Idee. 

Nach  vielen  frohen  Wochen  der  Vereinigung 
kam  dann  wieder  der  immer  schmerzliche 
Augenblick  der  Trennung,  die  nun,  mit  jedem 
vorrückenden  Jahr,  die  Frage  deutlicher  zurück- 
lässt:  werden  wir  uns  wiedersehen?  Denn  nach 
dem  natürlichen  Lauf  der  Dinge  musste  ich,  so 
rüstig  ich  auch  noch  für  mein  Alter  war,  dent 
noch  auf  den  Lebensabschluss  in  kürzerer  oder 
längerer  Frist  gefasst  sein. 

Ich  kehrte  nach  Rom  zurück  und  zwar  vor- 


—   469   — 

erst  noch  einmal  in  das  schöne  Asyl,  welches 
mir  die  Freundschaft  der  lieben  Bülow  geöffnet 
hatte,  um  dort  nur  noch  so  lange  zu  verweilen, 
bis  meine  eigene  Häuslichkeit  wieder  in  stand 
gesetzt  sein  würde.  Meine  teuren  Gastfreunde 
waren  noch  nicht  von  ihrer  Sommerreise  heim- 
gekehrt, aber  brieflich  hatte  die  holde  Freundin 
alles  für  mich  aufs  sorglichste  bereitet.  So 
kam  mein  Geburtstag  heran,  mein  achtzigster 
Geburtstag!  Still  und  bewegt  begrüsste  ich  den 
Tag.  Es  ist  keine  Kleinigkeit  auf  achtzig  Jahre 
des  Erdenlebens  zurücksehen  zu  können  und 
eines  so  bewegten  Lebens  und  sich  sagen  zu 
dürfen,  dass  trotz  allem  Irren,  allem  Unerfüllten 
und  Unerreichten  doch  ein  roter  Faden  durch 
das  ganze  Leben  ging,  der  gleichsam  den  Grund- 
ton der  Natur  anzeigt  und,  nie  verleugnet, 
immer  bewusster,  immer  fester  gezogen,  bis  an 
das  Ende  reichen  wird.  Ich  war  darauf  gefasst, 
den  Tag  allein  zu  verbringen,  war  ruhig  und 
heiter,  indem  ich  all  der  Liebe  und  all  des 
Guten  gedachte,  welche  mir  zuteil  geworden  sind 
und  auch  die  Leiden  und  schweren  Prüfungen, 
von  denen  ich  nicht  verschont  geblieben  bin, 
segnete,  weil  sie  dazu  gedient  haben  das  Eine, 
Feste,  Unveräusserliche  in  der  Seele  zu  bewähren 
und  im  guten  Kampf  das  Heroische  zu  entwickeln, 
welches  in  jeder  Menschenbrust  schläft  und  nur 
geweckt  und  geübt  werden  muss,  um  uns  als 
Sieger  aus  der  oft  so  heissen  Schlacht  des 
Lebens  hervorgehen  zu  lassen. 

Je  mehr  ich  darauf  gefasst  war,  den  Tag  still 


—    470    — 

und  einsam,  im  Überblick  über  das  Vergangene 
und  in  ruhiger  Erwartung,  des  etwa  noch 
Kommenden,  zu  verbringen,  je  lieblicher  wurde 
ich  überrascht,  als  plötzlich  von  vielen  Seiten 
gute  Bekannte  aus  der  Stadt  herrliche  Blumen- 
grüsse  sandten  und  die  Post  mir  Haufen  von 
Briefen  brachte,  auch  von  solchen,  von  denen 
ich  20 — 30  Jahre  lang  nichts  gehört  hatte  und 
die  mir  nun  ein  ununterbrochenes  liebendes  An- 
denken bewiesen ;  ja  als  endlich  sogar  gedruckte 
Blätter  einliefen,  in  denen  längere  Artikel»  bei 
Veranlassung  dieses  Tages,  meiner  und  meines 
Lebenslaufs  gedachten.  Gerührt  sagte  ich  mir: 
So  hast  du  also  nicht  umsonst  gelebt,  nicht 
nur  dass  du  dir  selbst  Treue  gehalten  hast, 
sondern  du  bist  auch  andern  etwas  gewesen 
und  Besseres  kann  der  Mensch  ja  nicht  verlangen 
als  mit  diesem  Doppelzeugnis  auf  der  Schwelle 
der  Ewigkeit  stehen  und  warten  bis  sich  ihm 
die  Pforte  öffnet,  aus  der  es  keine  Wiederkehr 
gibt. 

So  verging  mir  der  Tag  ohne  Prunk,  aber 
reich  geschmückt  durch  die  köstlichsten  Edel- 
steine, durch  Liebe,  Dankbarkeit,  Verehrung, 
unbegrenztes  Vertrauen.  Und  siehe  dal  der 
Abend  brachte  noch  eine  andere  Überraschung! 
Der  mir  so  werte  Baron  von  W.  .  .,  der  im 
Begriff  war  eine  Reise  in  den  Orient  anzutreten, 
war  an  dem  Tag  angekommen  und  erschien 
gleich  mich  zu  begrüssen.  Harmonischer  konnte 
der  Tag  nicht  enden,  denn  aus  der  Seele  dieses 
jungen  Mannes  tönten   mir  alle  die  Klänge  von 


—    471     — 

> Apollos  goldnen  Saiten«,  wie  es  in  einem 
seiner  Gedichte  heisst,  entgegen,  die  in  meinem 
Leben  stets  die  Grundharmonie  gebildet  haben 
und  noch,  wie  in  der  begeisterten  Jugend,  so 
im  achtzigsten  Lebensjahr,  in  voller  Frische  er- 
klingen, wenn  der  verwandte  Ton  sie  ruft. 

So,  nun  ist  es  wohl  Zeit  dies  Büchlein  zu 
schliessen;  was  nun  noch  kommt  ist  Überschuss, 
den  das  Schicksal  mir  verschwenderisch  in  den 
Schoss  wirft,  wobei  es  mir  doch  zuweilen  sehr 
ernste  Mahnungen  zuruft,  dass  die  Stunde  bald 
kommen  könne.  Möge  sie  mir  friedlich  nahen, 
sie  findet  mich  bereit. 


Mein  Lebewohl  an  die  Welt. 


Sollte  der  bewusste,  der  freie  Mensch  nicht 
auch  den  letzten  Abschluss  des  Daseins  mit 
voller  Geistesklarheit,  umringt  von  den  Er- 
innerungen des  vergangenen  Lebens,  vollziehen, 
ehe  die  letzte  Stunde  da  ist,  die  vielleicht  den 
klaren  Blick  umhüllt  und  das  Vergangene  schon 
halb  in  die  Nacht  des  Vergessens  taucht?  Ist 
man  der  Welt  nicht  auch  eine  Art  Rechenschaft 
schuldig  über  das  auf  ihr  verbrachte  Dasein,  ob 
man  das  Pfund,  das  man  empfing,  gut  verwaltet 
hat  und  treu  gewesen  ist  bis  an  den  Tod? 
Und  sollte  der  Scheidende  ihr  nicht  ein  letztes 
Wort  der  Liebe  zu  sagen  haben,  ein  herzliches 
Abschiedswort?  Und  darf  endlich  der,  welcher 
nun  weiss,  was  das  Leben  ist,  ihr  nicht  auch 
ein  Wort  der  Ermahnung  zurufen,  der  ernsten 
Aufforderung,  das  Leben  als  eine  hohe,  heilige 
Kultur- Aufgabe  zu  betrachten  und  mit  aller  Kraft 
an  derselben  zu  arbeiten? 

Ich  glaube:  ja,  der  Mensch  sollte  es. 


—    474    — 

Die  Kirche  hat  ihn  gelehrt,  dass  die  grosse 
Abrechnung  für  das  Leben  erst  lange,  lange 
nachher,  im  fernen  Jenseits,  erfolgt  und  wie 
manches  Gewissen  tröstet  sich  damit  und  ver- 
säumt es,  den  kurzen  Erdentraum  zu  etwas 
anderem  als  zu  flüchtigem  Genuss  zu  benutzen, 
und  die  Ewigkeit  schon  hier  in  die  Zeit  zu 
bannen.  Wie  viel  ernster  würden  viele  das 
Leben  nehmen,  wenn  sie  von  früh  auf  wüssten, 
dass  sie  hier  verantwortlich  sind  für  das,  was 
sie  aus  dem  Leben  machten  und  dass  es  traurig 
sein  muss,  gesenkten  Hauptes  und  mit  schwer 
beladenem  Bewusstsein  an  der  Schwelle  des 
Ausgangs  zu  stehen,  durch  den  man  nie  zurück 
kommt. 

So  empfange  denn  mein  Lebewohl,  Welt! 
Ich  danke  dir  für  das  Dasein,  welches  mir  die 
Möglickeit  gab,  ein  erkennendes,  empfindendes 
Wesen  zu  werden!  Ich  hätte  wohl  mehr  tun, 
mehr  werden  sollen,  aber  man  ist  doch  nicht 
alles  aus  sich  allein,  man  ist  zum  Teil  auch 
das  Produkt  äusserer  Umstände  und  Einflüsse 
und  du  hast  mir  in  der  Jugend  manches  ver- 
sagt, was  du  von  Hülfsmitteln  der  heutigen 
Jugend  verschwenderisch  zuerteilst.  Worauf 
es  jedoch  hauptsächlich  ankommt,  das  ist  doch 
ein  reines,  hohes  Wollen  und  das  unab- 
lässige Bemühen,  es  zur  Tat  werden 
zu  lassen,  nicht  wahr?  Danach  richte  mich 
denn  und  erteile  mir  heiteren  Ablass  fiir  alles 
Irren  und  Fehlen,  denn  du  hast  es  mir  auch 
nicht    immer  leicht   gemacht   und   in   schweren 


—    475     — 

Prüfungsstunden  hast  du  mich  umsonst  nach 
Hülfe  rufen  lassen,  bis  ich  mich  ermannte  und 
mir  selber  half. 

Ich  habe  dich  geliebt,  schöne  Erde,  und 
mit  Wonne  das  Geheimnis  ewiger  Schönheit  im 
Anschauen  deiner  herrlichen  Gebilde  geahnt. 
Ich  danke  dir  für  alle  Stunden  reiner  Freude, 
für  deine  Sonnenuntergänge,  für  deine  Sternen- 
himmel, für  deine  Frühlinge,  deine  lieben 
Blumen,  deine  Wälder,  deine  Berge,  deine  Meere. 
Genossen  habe  ich  die  Freude  an  dir  mit  vollen 
Zügen  und  wenn  es  noch  schönere  Erden  gibt, 
so  warst  du  mir  hohe  Vorbereitung  auf  das 
Höhere. 

Lebt  wohl,  ihr  Menschen,  geliebte,  meinem 
Herzen  nahe  Freunde  und  unbekannte,  mir 
freundlich  Gesinnte  in  der  grossen  Menge.  Habt 
Dank  für  alle  Liebe,  für  alle  Güte  und  Treue, 
alles  von  meinem  Herzen  warm  erwidert.  Um 
uns  schlingt  sich  ein  unzerreissbares  Band  der 
Gemeinschaft,  der  wahren,  unsichtbaren  Kirche 
der  Freien,  die  in  stetem  Wandel  höher  und 
höher  steigen,  bis  dahin,  wo  sie  den  Schleier 
vom  Angesicht  der  Wahrheit  lüften  und  das 
göttliche  Geheimnis  der  Existenz  in  voller 
Klarheit  erkennen  können. 

Leb'  wohl  auch,  Menschheit,  und  nimm  ein 
ernstes  Wort  als  Abschiedsgruss  hin,  von  Einer, 
die  bald  geht  und  keine  irdischen  Rücksichten 
mehr  kennt.  Nahezu  ein  Jahrhundert  ist  vor 
meinem  Blick  vorübergegangen;  es  waren  Augen- 
blicke höchster  Idealität  darin:  sie  wurden  aber 


—    476    — 

leider  immer  nur  zu  rasch  von  der  traurigsten 
Realität  verdunkelt  und  jetzt,  am  Ende  des 
Jahrhunderts,  kann  man  wohl  fragen:  wo  ist 
der  Fortschritt?  Ringsum  folgt  sich  Krieg  auf 
Krieg  und  noch  immer  muss  die  Gewalt  der 
Waffen  entscheiden,  wenn  es  sich  um  Fragen 
der  Gerechtigkeit  und  Humanität  handelt.  Die 
Wissenschaft  hilft  fortwährend  neue,  unfehlbare 
Mordwerkzeuge  zu  erfinden  und  sie  werden 
höher  bezahlt,  als  die  Werke  hoher  Kunst  und 
Kultur.  Sie  erforscht  die  Mittel,  die  Gesundheit 
zu  stärken  und  zu  erhalten,  aber  statt  dessen 
ist  die  heutige  Jugend  weichlicher  und  nerven- 
schwacher als  in  früheren  Generationen.  Der 
materielle  Reichtum  vermehrt  sich  aus  hundert 
neuen  Quellen,  aber  Armut  und  Elend  wachsen 
in  gleichem  Masse  und  sehen  uns  aus  hohlen 
Augen  verkümmerter  Gesichter  vorwurfsvoll  an. 
Und  die  höchsten  Interessen  des  Daseins:  Ver- 
edlung der  Sitten,  wirkliche  Bildung,  Erhebung 
des  Gemüts  durch  die  Werke  hoher  Kunst, 
Übung  der  ausgedehntesten  Vorschriften  der 
Humanität  und  Handhabung  strenger  Gerechtig- 
keit, ist  das  alles  die  erste,  heiligste  Aufgabe 
derer,  die  an  der  Spitze  des  Völkerlebens  stehen  ? 
O  Menschheit,  schlag  an  deine  Brust  und  be- 
kenne dich  schuldig.  Noch  immer  tanzest  du 
ums  goldene  Kalb;  noch  immer  greifst  du  zur 
Gewalt,  anstatt  zum  Recht;  noch  immer  ziehst 
du  die  bösen  Leidenschaften  gross,  welche  zu 
Raub  und  Mord  ftihren  und  zur  Strafe  durch 
Gefängnis  und  Galgen;   noch  immer  trennst  du 


—    477    — 

die  Völker  durch  Intriguen,  Eifersucht,  Egoismus 
und  verkehrte  Mittel  der  Staatskunst,  anstatt 
sie  durch  Redlichkeit  und  Grösse  der  Gesinnung 
zu  hohen,  gemeinsamen  Aufgaben  wahrer  Kultur 
zu  vereinen  und  was  es  für  empörende  Folgen 
haben  kann,  wenn  es  in  den  civilisierten  Staaten 
erlaubt  ist,  dass  einer  im  anderen  spioniere,  davon 
gibt  uns  heute,  am  Ende  des  XIX.  Jahrhunderts^ 
das  sich  seiner  Aufklärung  rühmt,  Frankreich 
das  traurige  Beispiel. 

Ein  neues  Jahrhundert  bricht  an.  Lass  es 
ein  Jahrhundert  des  Friedens  und  der  Tugend 
werden.  Bedenke  deine  Verantwortung  vor  der 
Zukunft  und  den  kommenden  Geschlechtern. 
Richte  deinen  Blick  von  dem  >allzu  Flüchtigen«, 
auf  das  allein  des  Strebens  Werte  und  baue 
an  dem  Tempel,  in  dem  einst  das  Urbild  aller 
Vollendung  stehen  und,  segnend  die  Hände  über 
die  Welt  breitend,  sagen  wird:  >Und  es  ward 
Licht.« 

Mit  diesem  Wunsch,  mit  dieser  Bitte,  mit 
diesem  Segen  sage  ich  auch  dir  Menschheit, 
mein  Lebewohl. 


Noch  ein  Lebevrohl! 


Als  ich  einst  auf  meiner  zauberischen  Insel 
Ischia  den  vorstehenden  Abschied  an  die  Welt 
schrieb,  glaubte  ich  mein  Scheiden  von  dieser 
sehr  nahe.  Nun  hat  es  sich  doch  noch  ein  paar 
Jahre  verzögert,  obwohl  der  Abschluss  mehr  als 
einmal  ganz  nahe  stand,  und  ich  habe  noch  mit 
Freude  beobachten  können,  wie  wenigstens  die 
eine  der  wichtigsten  Kulturfragen,  die  Erkennt- 
nis der  Notwendigkeit  des  Weltfriedens,  immer 
mehr  sich  ausbreitet  und  festen  Boden  gewinnt 
Es  ist  dies  noch  durchaus  nicht  vom  hohen 
idealen  Standpunkt  aus,  aber  doch  als  Tatsache 
wichtig  und  das  ist  schon  viel  in  einer  Welt, 
wo  die  praktischen  Interessen  stets  den  Vorrang 
haben.  Dass  die  Staatsklugheit  um  die  Er- 
haltung der  eignen  Existenz,  dass  die  Furcht 
vor  dem  Bevorstehenden,  welches  in  seiner 
Verwirklichung  auch  Throne  und  gesellschaftliche 
Formen  umstürzen  könnte,  viel  zur  Verbreitung 
dieser  Idee  des  Friedens  beiträgt  —  wer  wollte 


—    48o    — 

es  leugnen?  Wir  Idealisten  haben  uns  längst 
daran  gewöhijt,  wie  traurig  es  auch  ist,  zu  sehen, 
dass  die  grossen  Weltgedanken  so  oft  nur  mit 
Hülfe  kleinlicher  Mittel  ins  Leben  treten  können. 
Aber  immerhin,  wenn  sie  nur  zur  Verwirklichung 
kommen,  so  ist  schon  ein  Schritt  vorwärts  getan, 
da  wir  uns  überzeugen  müssen,  dass  das  Ewige, 
wenn  es  in  die  Erscheinungswelt  tritt,  dem  Lose 
des  Vergänglichen  anheim  fällt,  unvollkommen 
bleibt  und  die  Mängel  des  Vergänglichen  teilt.  So 
sahen  wir  im  Laufe  dieser  wenigen  Jahre  ein 
kleines  Heldenvolk,  wie  seit  den  Perserkriegen 
nichts  Ähnliches  dagewesen  war,  unterliegen, 
nicht  höherer  Kultur,  edleren  Zielen,  sondern 
einzig  der  rohen  Übermacht  eines  durch  Gewinn- 
sucht und  Streben  nach  Weltmacht  von  seiner 
früheren  kulturellen  Stellung  herabgesunkenen 
europäischen  Staats.  So  sehen  wir  noch  einen 
schönen  Strich  Europas,  in  unsäglicher  Verwirrung, 
mit  Blut  und  Mord  befleckt,  ein  Spielball  herrsch- 
süchtiger und  fanatischer  Leidenschaften  und 
einem  fruchtlosen  Ringen  nach  Unabhängigkeit 
und  Freiheit.  Aber  wer  tiefer  blickt,  sieht  im 
Grunde  der  unvollkommenen,  verwirrten  Er- 
scheinung eine  grosse  Zukunftsidee  sich  bewegen 
und  die  wirkenden  Kräfte  vorwärts  treiben,  und 
schon  die  Gewissheit,  dass  das  ewig  Eine, 
Schaffende,  hinter  der  allen  irdischen  Mängeln 
unterworfenen  Erscheinung  steht  und  sie  ins 
Leben  treibt,  ist  ein  unendlicher  Trost. 

Die     Gedanken,    den    Spuren     dieses    ewig 
schaflfenden,  in    allem    Erscheinenden  wirkenden 


—    48i     — 

Prinzips  nachzugehen,  beschäftigten  mich  vor- 
zugsweise in  dem  verflossenen  Sommer,  den  ich 
in  grosser  Einsamkeit  verbrachte.  Meine  schwer 
leidende  Gesundheit  verhinderte  mich,  wie  in 
den  vorhergehenden  Jahren,  meinen  Sommer- 
aufenthalt etwas  femer  von  Rom  zu  nehmen. 
So  erwählte  ich  den,  nur  anderthalb  Stunden 
Eisenbahn  von  Rom  entfernten  kleinen  Seeort 
Nettuno,  der  zwar  nahe  bei  den  anderen  römischen 
Seebadort  Anzio  gelegen  und  mit  diesem  durch 
einen  Spaziergang  verbunden,  doch  noch  nicht, 
wie  dieser,  angesteckt  ist  von  der  modernen 
Sucht  eleganten  Badelebens.  Dort,  in  einer 
Villa,  unmittelbar  über  dem  Meer,  auf  einer 
grossen  Loggia,  die,  auf  drei  Seiten  vor  Wind 
und  Sonne  geschützt,  nur  dem  herrlichsten  See- 
bild und  der  unvergleichlich  wohltätigen  Seeluft 
entgegen,  offen  war,  verbrachte  ich  drei  Monate 
in  schweren  körperlichen  Leiden,  in  tiefster  Ein- 
samkeit, des  Trostes  von  Schreiben  und  Lesen 
beraubt,  aber  in  einer  Fülle  des  Gedankenlebens, 
die  mich  beinah  schadlos  hielt  für  die  übrige 
Entbehrung. 

Es  ist  ein  besonders  schöner,  malerischer 
Punkt  der  italienischen  Küste,  den  man  gerade 
von  da  übersieht.  In  einem  weit  geöffneten 
Halbkreis  zieht  sich  das  Ufer  hin  und  endet  an 
der  einen  Spitze  von  den  dunklen  Bäumen  einer 
Villa  Borghese  gekrönt,  mit  dem  recht  belebten 
Hafen  von  Anzio,  der  mit  seinen  vielen  Masten 
nicht  unpassend  in  diesem  Seebild  ist.  Auf  der 
anderen  Seite  bildet  ein  prächtiges,  gut  erhaltenes, 

Meyienbug   IV.  31 


—    482    — 

mittelalterliches  Castello,  welches  den  kleinen 
Ort  Nettuno  beschützte,  den  höchst  malerischen 
Vordergrund.  Weiterhin  zieht  sich  das  grüne 
Ufer  bis  zu  der  letzten  Spitze,  welche  von  dem 
herrlichen  Elap  der  Circe,  das  in  Form,  nur  noch 
sphinxähnlicher,  Capri  gleicht,  beendet  wird.  Bei 
hellem  Wetter  sieht  man  dann  in  bläulichem 
Duft  die  Kette  der  Monti  Ausoni  ein  in  den 
schönsten  Linien  geformter  Nebenzweig  der 
Apenninen,  der  sich  zum  Meere  hinzieht.  Vom 
aber,  halbweg  vom  Kap  Circe  und  nah  dem  Ufer, 
liegt,  immer  hell  von  der  Sonne  beschienen,  der 
alte  Turm  von  Asturi,  wo  einst  Conradin,  der 
letzte  Sprössling  eines  der  edelsten  Geschlechter, 
die  je  Throne  bestiegen,  feindlicher  Übermacht 
unterlag,  zum  Unheil  für  Sicilien  und  das  südliche 
Italien.  Denn  unter  der  tyrannischen  Herrschaft 
Carls  von  Anjou  erstarb  die  Geistesblüte  der 
Regierung  Friedrich  IL,  des  Bedeutendsten  der 
Hohenstaufen  und  einer  der  bedeutendsten 
Menschen  aller  Zeiten,  und  das  schöne  Inselland 
fiel  nun  einer  langen  Reihe  wechselvoller,  meist 
trauriger  Geschicke  anheim.  So  spricht  auch 
hier  wieder,  in  dem  kleinen  weltverlornen  Ort, 
wie  überall  in  Italien,  die  Weltgeschichte  in  die 
vereinsamte  Gegenwart  hinein  und  erhöht,  mit 
unzähligen  Gedankenreihen,  den  Zauber  der 
ewig  jungen,  wunderbaren  Natur,  die  lächelnd 
auch  über  die  Trümmer  grossartiger  Ereignisse 
ihre  versöhnende  Anmut  breitet,  zum  Trost, 
»dass  das  Unvergängliche  das  ist  das  ewige 
Gesetz  danach  die  Ros'  und  Lilie  blüht.«     Über 


—    483     — 

diesen  halbkreisförmigen  Rahmen  des  Uferrandes 
hinaus  aber  öffnet  sich  unbegrenzt  das  weite 
Meer  und  die  Horizontlinie  von  Himmel  und 
Wasser  wird  nur  von  Zeit  zu  Zeit  durch  ein  vor- 
überziehendes grosses  Schiff  unterbrochen.  Vorn 
aber,  zwischen  den  Häfen  von  Anzio  und  Nettuno, 
fahren  reizende  weisse  Barken  mit  glänzend 
weissen  Segeln,  friedlich  und  lautlos  wie  weisse 
Schwäne,  hin  und  her  über  die  blaue,  sanft 
spielende  Flut.  In  den  Nachmittagsstunden 
aber  feiert  das  Meer  seine  Geburtsstunde;  dann 
tauchen  auf  der  meerüberschwemmten  Sandfläche 
des  Ufers  noch  zwischen  den  zerbröckelten  Fels- 
überresten, die  sie  durchschneiden.  Hunderte  von 
menschlichen  Gestalten  auf,  meist  ohne  Bade- 
kostüme, denn  hier  ist  nicht,  wie  in  Anzio,  eine 
grosse  elegante  Badeanstalt,  sondern  das  wohl- 
tätige, stärkende  Element  gehört  allen  frei  und 
das  arme  Volk  von  Nettuno  versäumt  nicht  die 
Wohltat  zu  benutzen.  Man  sieht  Frauen  mit 
wenig  Monate  alten  Kindern  auf  dem  Arm, 
die  Kleinen  in  das  stärkende  Nass  tauchen,  was 
diese,  gleich  als  ob  sie,  die  dem  Natürlichen 
noch  so  Nahen,  instinktiv  die  Wohltat  der  Natur 
empfänden,  ohne  Widerstand  und  Geschrei,  ge- 
schehen lassen.  Kleine  Geschöpfe  von  2  bis  3 
Jahren  springen  allein,  mit  Jubelgeschrei,  in  das 
vertraute  Element  und  sind  nur  mit  Mühe  wieder 
davon  zu  trennen,  als  ob  es  ihre  eigentliche 
Heimat  wäre.  Dieser,  die  Sommermonate  hindurch 
täglich  fortgesetzten  Naturheilmethode  nach  sollte 
man  denken,  es  müsse  hier  eine  gesunde,  kräftige 

31* 


—    484    — 

Bevölkerung  entstehen,  aber  achl  unfern  vom 
Meer,  landeinwärts,  wo  hauptsächlich  Wein  ge- 
zogen^ wird,  beginnt,  durch  die  unverzeihliche 
Schlaffheit  der  vergangenen  Regierungen  und  die 
noch  strafbarere,  egoistische  Untätigkeit  der 
Munizipien  ungestört,  das  furchtbare  Ungetüm  der 
Malaria  sein  Zerstörungswerk.  Die  im  Wasser 
Erstarkten  schleichen  nun,  vom  Fieber  verzehrt, 
als  verkrüppelte,  gespensterartige  Skelette,  zu  der 
nimmer  endenden  Fronarbeit  für  das  tägliche 
Brot.  Doch  das  ist  ein  schreckliches  Kapitel, 
welches  eine  besondere  Bearbeitung  erheischt 
und  ausserhalb  meiner  jetzigen  Betrachtung  liegt. 
Ich  kehre  daher  auf  meine  Loggia  zurück, 
wo  ich,  mehr  und  mehr  dem  bunten  Weltgetriebe 
entfremdet,  gleichsam  eine  grosse  Pforte  sich  für 
immer  schliessen  sah,  hinter  welcher  die  lange 
Vergangenheit  mit  all  ihren  Erscheinungen,  guten, 
schönen,  sowie  trüben  und  schmerzlichen,  ver- 
söhnt und  in  einen  grossen,  verständnisvollen 
Akkord  aufgelöst,  zurückblieb.  Es  begann  bei- 
nah ein  neues  Leben,  das  ich  nur  das  kosmische 
nennen  kann.  Im  steten  Anblick  der  grossen, 
ruhig  wirkenden  Elemente,  welche  das  kosmische 
Leben  bedingen,  schwand  mir  mehr  und  mehr 
das  Interesse  an  den  Tätigkeiten  der  Erscheinungs- 
welt. Auch  was  man  im  täglichen  Leben  gross 
und  bedeutend  nennt,  erhielt  mir  eine  andere, 
geringere  Bedeutung  gegenüber  dem  erhabenen 
Schauspiel  der  Urkräfte,  die,  nach  einem  ewigen, 
inneren  Gesetz  verfahrend,  die  Organisation  des 
Weltalls  ordnen  und  bestimmen.    Diesem  ewigen 


—    485    — 

Gesetz,  so  weit  wie  möglich,  nachzudenken  in 
seinen  Wirkungen,  wurde  meine  ausschliessliche 
Beschäftigung.  Wir  hatten  hier  einen  wunder- 
vollen Sommer,  drei  Monate  unausgesetzten  mild 
schönsten  Wetters  (während  aus  dem  Norden 
die  entsetzlichsten  Klagen  kamen)  und  man  konnte 
mit  Ruhe  und  freudigem  Erstaunen  die  Leben 
zeugende  und  erhaltende  Arbeit  der  Sonne,  des 
Lichts,  der  Wärme,  immer  dem  inneren,  darin 
wirkenden  ewigen  Gesetz  gemäss,  fern  von  jeder 
scheinbaren  Wilkür,  beobachten  und  daraus 
Folgerungen  ziehen.  Ebenso  kam  mir,  in  den 
zauberhaft  schönen  Mondnächten,  wo  die  leuch- 
tende Scheibe  auf  der  sanft  wallenden  Flut  eine 
breite  Strasse  versilberte,  der  Gedanke  wieder, 
den  ich  schon  vor  langen  Jahren  in  England  an 
der  Meeresküste  gehabt  hatte,  als  ob  das  Ent- 
gegenschwellen der  Horizontlinie  des  Meeres 
dem  Mond  zu,  welches  mir  ganz  sichtbar  schien, 
die  erste  Form  der  Liebe  in  dem  elementaren 
Leben  sein  müsse,  als  ob  demnach  Empfindung 
schon  in  den  scheinbar  unempfindlichen  Urstoffen 
vorhanden  sei.  Jetzt  wurde  mir  das  noch  deut- 
licher, indem  ich  auch  hier  wieder  das  ewig 
eine,  in  allem  wirkende  Urprinzip  erkannte,  dessen 
Spur  ich  nachging  und  das  mich  mit  immer 
höherer  Ahnung  erfüllte.  Ich  sollte  auch  noch 
ein  gewaltigeres  Schauspiel  von  den  Vorgängen 
des  kosmischen  Lebens  haben.  Bei  Annäherung 
des  Herbstes,  der  sich  meist  hier  im  Süden  mit 
einem  plötzlichen,  gewaltsamen  Erscheinen  meldet, 
kam  das  bisher  so  sanft  bewegte  Meer  plötzlich 


—    486    — 

in  heftigste  Aufregung.  Die  schöne  Bläue  des 
Himmels  verschwand,  Wolkenmassen  bedeckten 
ihn  mit  früher  Nacht;  jede  Spur  von  Festland 
war  verloren;  der  Erdball  war  noch  nicht  ge- 
boren ;  es  war  das  Chaos  in  seiner  erhaben  furcht- 
barsten Gestalt.  Immer  finsterer  wurde  die 
Nacht;  unten  heulte  das  Wasser;  in  dem  wogen- 
den Wolkenmeer  darüber  zuckten  Blitze,  weithin 
die  kämpfenden  Elemente  beleuchtend;  wie 
glänzende  Sonnen  standen  oft  elektrische  Ent- 
ladungen sekundenlang  still  und  schössen  feurige 
Boten  durch  die  ringenden  Massen.  Ich  war 
auf  meiner  Loggia  wie  dahin  gezaubert,  um  dem 
Werdeprozess  des  Daseins  zuzusehen.  Es  war 
mir  in  jedem  Augenblick,  als  müsse  ich  den 
Ruf  hören:  »Es  werde!«  Aber  nicht  mehr  den 
willkürlichen  Schöpfungsruf  eines  Einzelwillens, 
sondern  die  Stimme  des  Urprinzips,  welches  mit 
unveränderlicher  Bestimmtheit  in  allem  zugegen 
ist ;  unserem  beschränkten  Fassungsvermögen 
nur  in  seinen  Wirkungen  erkennbar,  vor 
dessen  Grösse  unsere  Seele  sich  aber  in  tiefster 
Andacht  anbetend  niederwirft  und  selig  auf- 
jauchzt, da  sie  sich  sagen  darf:  es  wirkt  auch 
in  mir! 

Wer  diesem  Werdeprozess  des  kosmischen 
Lebens  nachdenkt,  der  kann  nicht  anders  als 
einsehen,  dass  die  bis  jetzt  uns  kund  geworden, 
höchste  Spitze  des  Ewigen  in  der  Erscheinung 
der  denkende  Geist  ist,  und  dass  wir  daher  mit 
Recht  schliessen  dürfen,  dass  dieses  eine,  in 
allem  Wirksame,  auch  hier  nur  sich  selbst  often- 


—    487     — 

bart  und  also  Geist  ist,  in  uns  freilich  nur  als  ein 
vereinzelter  Strahl  leuchtend  und  daher  in  seiner 
ganzen  Majestät  nur  unserer  Ahnung  erkennbar. 
Es  war  natürlich,  dass  dies  allgewaltige  Erkennen 
bei  kindlichen  Völkern  nur  in  beschränkten 
Formen  auftreten  konnte  und  dass  der  eben  erst 
erwachende  Geist  das  Übersinnliche,  nach  seinem 
Bilde  gestaltete,  nicht  umgekehrt.  Aber  wie  es 
dem  Geist,  der  sich  nicht  ganz  befreit,  geht,  dass 
er  das  Vergängliche,  welches  die  wechselnden 
Erscheinungen  des  Werdenden  sind,  für  das 
UnvergängUche  nimmt,  so  kam  es,  dass  Vor- 
stellungen, die  nur  die  jedesmalige  Stufe  des 
Erkennens  bezeichneten,  für  ewig  gültige  Wahr- 
heiten genommen  und  in  mehr  oder  minder 
beschränkten  Dogmen  festgestellt  wurden.  Dieser 
Kampf  des  sich  befreienden  Geistes  mit  der 
Trägheit  und  mit  der  Furcht  des  Verstandes 
vor  den  möglichen  Konsequenzen  ging  so  weit, 
das  Übersinnliche  bis  zum  vollständigen  Materialis- 
mus auszubilden,  um  sich  wenigstens  der  Welt 
des  Greifbaren  zu  versichern,  da  die  des  Un- 
greifbaren immer  mehr  in  Nebeln  verschwand. 
Dagegen  hat  sich  nun  zum  Glück  der  Idealismus, 
der  aus  der  höchsten  Quelle  ausströmt,  siegend 
wieder  erhoben  und  wer,  wie  ich  in  diesem 
Sommer  in  Nettuno,  den  seltenen  Vorzug  gehabt 
hat,  den  Vorgängen  des  kosmischen  Lebens  in 
einer  beinah  wie  systematisch  geordneten  Folge 
beizuwohnen,  dem  muss  es  deutlich  werden,  dass 
das  Ewige,  Ureine,  dem  unausgesetzten  Drang 
des     Werdens     gehorchend,     in     tausendfältiger 


—    488     — 

Gestalt  zutage  tritt*),  und  zwar  immer  in  höheren 
Formen,  bis  es  die  Spitze  erreicht  welche,  wie 
schon  gesagt,  der  denkende  Geist  ist.  Da  dieser 
aber,  den  Gesetzen  der  Erscheinungswelt  unter- 
worfen, nur  individualisiert,  nur  als  einzelner 
Strahl  des  ewigen  Lichts  zutage  tritt,  so  bleibt 
auch  das  Erkennen  seiner  selbst  ein  unvoll- 
kommenes und  entwickelt  sich  erst  langsam  in 
Ahnungen  und  der  Wahrheit  nahe  kommenden 
Dichtungen  und  dann  in  der  Arbeit  bevorzugter 
Organismen,  welche  mit  den,  immer  noch 
beschränkten  Mitteln  des  Erkennens,  ein  herrliches 
Zeugnis  dafür  ablegen,  wessen  Ursprungs  sie  sind. 
Und  all  diese  Errungenschaften  des  denkenden 
Geistes,  was  sind  sie  anders  als  die  dringende 
Mahnung  an  die  Welt  der  Erscheinung,  das  in 
ihr  wirkende,  ewige  Urprinzip  mehr  und  mehr 
zu  erkennen  und  mehr  und  mehr  zu  einer,  die 
Vollendung  ahnen  lassenden  Wirklichkeit  zu 
gestalten  ?  Dies  also  ist  mein  zweites  Lebewohl 
an  die  Welt:  lass  das  Göttliche,  das  Ewige, 
immer  vollendeter  in  dir  zur  Erscheinung  werden ; 
denn  ausserdem  ist  das  Dasein  nichts  wert. 
Wem  es  genügt,  sich  an  das  Vergängliche  zu  halten 
und  es  für  das  Unvergängliche  zu  nehmen,  der 
wird  auch  dem  Lose  des  Vergänglichen  anheim- 
fallen. Aber  du,  Welt  des  forschenden  Geistes, 
die  in  sich  selbst  den  ewigen  Ursprung  erkennt, 

*)  In  einer  früheren  Veröffentlichung  hatte  ich  dies  die 
»ewige  Werdelnst  des  Seins«  genannt,  welches  der,  leider 
zu  früh  verstorbene  Heinrich  von  Stein  ein,  einen  ganzen 
Begriff  erschöpfendes  Wort  nannte. 


—    489    — 

wachse,  wachse,  von  innen  heraus,  den  idealen 
Zielen  entgegen,  dann  sei  mein  letzter  Abschieds- 
ruf an  dich:  Heil  dir,  o  Welt! 


Mit  der  tröstenden  Gewissheit,  eine  unum- 
stössliche,  ewige  Wahrheit  aus  der  Beobachtung 
kosmischer  Vorgänge  und  der  Intuition  des 
forschenden  Geistes  gewonnen  zu  haben,  verliess 
ich  Nettuno  und  kehrte  nach  Rom  zurück.  Dass 
das  Ewige,  Ureine  überall,  in  allen  Äusserungen 
des  erscheinenden  Daseins  wirksam  sei,  war  mir 
zur  vollständigen  Gewissheit  geworden,  aber  es 
in  seiner  Grösse  und  Herrlichkeit  zu  erkennen,  ist 
dem  einzelnen  Strahl,  der  in  uns  lebt,  versagt. 
Beschränkte  Religionsformen  haben  immer  nur 
versucht  in  irdischer  Form,  individualisiert,  das 
Unfassbare,  Ureine  zu  begreifen,  deshalb  sind 
sie  auch  immer  wieder  zerfallen,  oder  haben, 
wenn  festgehalten,  keinen  veredelnden  Einfluss 
mehr  gehabt.  Unsere  Beschränkung  anerkennen 
und  uns  in  tiefster  Ehrfurcht  vor  dem  Unerforsch- 
lichen,  dem  göttlichen  Geheimnis  beugen,  das 
ist  das  einzige,  was  uns  zu  tun  bleibt.  Und  in 
dieser  andachtsvollen,  erhobenen  Stimmung  traf 
mich,  wie  eine  Versicherung,  dass  ich  recht 
geahnt,  ein  Artikel  aus  der  »Review  of  Reviews«, 
einer  vortrefflichen  englischen  Veröffentlichung, 
über  einen  jetzt  in  England  hochgeschätzten 
Gelehrten,  einen  Indier,  Dr.  Jagadis  Chunder 
Böse,  welcher  seine  Studien  in  England  gemacht 


—    490    — 

hatte  und  nach  den  glänzendsten  Erfolgen  Professor 
der  Naturwissenschaften  an  der  Universität  zu 
Calcutta  geworden  ist.  Seine  ausserordentlichen 
Entdeckungen  führten  ihn  oft  fiir  längere  Zeit 
nach  England  zurück,  wo  seine  Schriften 
gedruckt  wurden  und  wo  die  wissenschaftliche 
Welt  mit  dem  äussersten  Interesse  seinen  Vor- 
trägen folgte.  Seine  neueste  Entdeckung  nun, 
an  deren  Veröffentlichung  er  eben  in  England 
tätig  ist,  gilt  der  wunderbaren,  ihm  zur  Gewiss- 
heit gewordenen  Beobachtung,  dass  auch  die 
bisher  tot  geglaubten  Metalle  Empfindung  haben, 
dass  sie  dem  Druck  antworten,  dass  mithin  auch 
in  ihnen  die  grosse  allwaltende  Macht,  die  alles 
Lebendige  durchdringt,  wirksam  ist.  Die  Beweis- 
führung für  diese,  nicht  nur  wissenschaftlich, 
sondern  auch  philosophisch  so  hochwichtige 
Entdeckung,  hier  zu  wiederholen,  liegt  ausserhalb 
meiner  Aufgabe.  Ich  kann  nur  von  dem  reinen 
Glück  sprechen,  welches  ich  empfand,  als  ich 
von  der  Vorlesung  las,  welche  Dr.  Böse  eben  in 
der  königlichen  Akademie  der  Wissenschaften 
gehalten  hatte  und  welche  er  mit  folgenden 
Worten  schloss: 

»Es  war  dann,  als  ich  das  stumme  Zeugnis 
dieser  freiwilligen  Erwiderungen«  (die  Er- 
widerung des  Drucks,  also  der  Empfindung  im 
Metall)  »entdeckte  und  in  ihnen  einen  Teil  der 
alles  Seiende   durchdringenden  Einheit  erkannte 

es  war   dann,   dass  ich 

zum  erstenmal  ein  wenig  von  der  Botschaft  ver- 
stand,   welche     meine    Vorfahren    vor    dreissig 


—    491     — 

Jahrhunderten  an  den  Ufern  des  Ganges  ver- 
kündeten: 

Nur  die,  welche  in  all  den  wechselnden  Er- 
scheinungen des  Universums  nur  das  ewig  Eine 
wirksam  sehen,  nur  die  kennen  die  ewige  Wahr- 
heit, ausser  ihnen  ist  keine,  ausser  ihnen  ist 
keine  I  < 

So  war  mir  das  Ergebnis  meines  Denkens  in 
dem  kosmischen  Leben  das  mich  umflutete,  durch 
dasselbe  Ergebnis  wissenschaftlicher  Forschung 
bestätigt:  die  Einheit  eines,  in  aller  Erscheinung 
sich  offenbarenden,  schaffenden  Prinzips,  welches 
ausserhalb  unserer  Fassungskraft  liegt,  vor  dessen 
Gewissheit  aber  nach  und  nach  alle  die  selbst- 
geschaffenen Götter  und  Götzen  der  suchenden 
Menschheit  in  den  Staub  sinken,  während  wir 
es  in  Andacht  fühlen,  es  lebt  auch  in  uns  und 
unsere  Aufgabe  ist  es,  es  immer  siegender  in 
uns  zu  enthüllen. 

Dies  denn  ist  mein  zweiter  Abschied  von 
dir,  o  Welt,  möge  er  mir  ein  gutes  Andenken 
bei  dir  sichern! 

Rom,  Januar  1903. 


Druck  von  F.  £.  Haag,  Melle  i.  Hann. 


<.' 


:  t ;^^-i-:H Ä<^:'.;  U'^m -*v^;^/^^K-^-  ^  •  ^ 


^^^S^    rl'^  Stanford  University  Librarie« 


^^''^f^^^^^^^^^