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Malwida von Meysenbug
DER lEBENSÄBEND
EINER
IDEÄLISTIN
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Der Lebensabend einer Idealistin
Im gleichen Verlage erschien
von derselben Verfasserin :
MEMOIREN EINER IDEALISTIN
VI. Auflage.
Drei Bände, broschiert Mk. lo. — , gebunden Mk. 14. —
INDIVIDUALITÄTEN
II. Auflage
Broschiert Mk. 6. — , gebnnden Mk. 7.50
STIMMUNGSBILDER
ni. Auflage.
Broschiert Mk. 4. — , gebunden Mk. 5.50
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i)HR LEBENSABEND
^ IDEALISTIN
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> IJN Meysenbug
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\i;fi,ai;e.
DER LEBENSABEND
EINER IDEALISTIN
NACHTRAG ZU DEN
„MSMOIRSJt SIHEE IDEÄLISTIH"
VON
Malwida von Meyspnbug
fünfte auflage.
SCHUSTER & LOEFFLER
BERLIN UND LEIPZIG
/;./,'
Meinen teuersten Freunden
OLGA und GABRIEL MONOD
zum 6. März 1898
in unvergänglicher Liebe zugeeignet
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort
Wie gütig ist das Schicksal doch zuweilen !
So erlaubte es mir, der Hochbetagten, mit Euch
noch den Tag zu feiern, der Euch das Siegel
auf fünfundzwanzig Jahre eines edlen Glücks
drückte und mir die trostreiche Hoffnung gab,
dass auch ferner gute Sterne über Euch leuchten
werden, wenn meine Augen sich schon für alles
Irdische geschlossen haben.
Warum ich Euch an dem Tag diese Blätter
zur Erinnerung weihte, das war, weil sie Er-
lebtes und Gedachtes aus den Jahren enthalten,
in denen ich nur teilweise mit Euch vereint
war und wo das hier Erzählte Euch fremd blieb.
Warum ich nun noch einmal in die Öffent-
lichkeit damit trete, das ist, weil ich so über
alles Erwarten liebevolle Teilnahme in der un-
bekannten Menge fand und daher voraussetzen
darf, dass alle diese guten Freunde gern noch
einmal einen Gruss von mir empfangen.
Möge es denn so sein! Von Euch bin ich
dessen getrost, aber möge mir auch wieder ein
zustimmendes Exho von nah und fern die
Gewissheit geben, dass es eine weitverzweigte
Gemeinde gibt von Solchen, die sich nie gekannt,
nie gesehen, und die doch fest verbunden sind
durch das gleiche Streben nach dem Guten,
nach dem Ideal, nach der äusseren und inneren
Vollendung des Lebens.
Sie allein werden zuletzt recht behalten I
Die Zeit des Kampfes war vorüber, die
grössere Hälfte des Lebens war verflossen, nach
innen und nach aussen war die Freiheit ge-
wonnen, welche der Preis jedes edeln Strebens
ist; die selbstgewählte Aufgabe der Erziehung
einer Tochter der freien Wahl, war erfüllt, sie
hatte ihr eigenes Leben begonnen, in einer
jedes wahre Glück verheissenden Ehe; das Alter
nahte mit raschen Schritten und nun galt es,
doch noch einmal einen Entschluss zu fassen,
sich für einen Wohnort zu entscheiden und
dem Leben eine würdige, dem Alter angemes-
sene Gestalt und einen ausfüllenden Inhalt zu
geben. Nach der Trennung von jenem Wesen,
dem, in jahrelanger Vereinigung, die Fülle der
Liebe, welche mein Herz umschloss, gegolten
hatte, war mein festes, schon lange ins Auge
gefasstes Ziel gewesen, in das Vaterland zurück-
zukehren und zwar an den Ort, wo mir
MeysenbugjlV. x
— 2 —
damals die Blüte des wahrhaft deutschen Geistes,
eine neue Heimat gefunden zu haben schien
— nach Bayreuth, und so, nicht nur der mir
so innig befreundet gewordenen Familie des
grossen Meisters nahe zu sein, sondern fortan
auch ganz in der idealen Kunstsphäre zu leben,
die sich durch ihn und um ihn dort ent-
wickeln sollte.
Ich war schon einmal dort gewesen, als im
Jahre 1872 der Grundstein zu dem Theaterbau
gelegt wurde, und, als herrlichste Einweihung,
in dem hübschen Rokoko Theater von Bayreutli,
die neunte Symphonie, von Wagner selbst dirigiert,
zur Aufführung kam. Wer jene Tage miterlebt
hatte, musste eine ewige Erinnerung daran be-
wahren, als an einen jener idealen Momente,
wie sie das Leben zuweilen den Sterblichen
schenkt, um zu zeigen, was möglich wäre, wenn
die Menschheit; anstatt sich nur um das ^ allzu
Flüchtige« zu bemühen, die ewigen Schätze,
die der Genius ihr bietet, pflegen und mit
liebendem Verständnis zu erfassen tätig sein
wollte. In dem Lichtglanz, den jene Tage
über das kleine Städtchen im Bayernland ver-
breitet hatten, erschien mir kein Ort so geeig-
net, meinem Alter eine Heimat zu werden, als
diese, der hohen Kunst geweihte Stätte, und
ich nahm Abschied von der Sonne des Südens,
um unter einer idealen Sonne im kalten Norden
zu leben.
Dort den Freunden verbunden, im engsten
Familienkreis mit ihnen verkehrend, schien mir
— 3 —
die glücklichste Wahl getroffen. Die Abende,
wo gemeinschaftliche Lektüre uns vereinte, waren
Stunden seltensten Genusses, weil jedes Werk,
das vorgenommen wurde, durch Wagners Kom-
mentare und Bemerkungen erhöhten Wert er-
hielt. Eine Zeit lang waren es die spanischen
Dichter, die Wagner vorlas und deren zauberische
Anmut mich entzückte, so wie die tiefe Glut
der Empfindung mich an die Bilder Zurbarans
erinnerte, die ich einst in der berühmten Aus-
stellung in Manchester gesehen hatte, zu welcher
alle englischen Grossen die reichen Schätze ihrer
Schlösser, auf fremdem Boden gesammelt, ein-
gesandt hatten. Diese Glut der Innerlichkeit,
die in dem spanischen Maler sich zum düsteren
Fanatismus steigert, fand ich in Calderon poetisch
verklärt wieder, während mich in Lope de Vega
und anderen mehr das feine, vornehme, blumen-
reiche Spiel anzog,' wenn es auch gleich manches
unserer Kultur Fremdes enthält, wie z. B. den
spanischen Begriff der Ehre.
Unvergleichlich schön aber war es, wenn
W^agner Shakespeare vorlas; es schien, als ver-
stände man den grossen Dramatiker nun erst
ganz, und ich sagte einmal im Scherz zu
Wagner, er habe seinen Beruf verfehlt, er hätte
Schauspieler werden müssen, um Shakiespeare
zu spielen, um die gewaltige Grösse des Ge-
nius den Menschen voll zum Verständnis zu
bringen.
Zuweilen wurde das häusliche Leben durch
Besuche auswärtiger Freunde unterbrochen, so
I*
— 4 —
wiederholt durch den Besuch Friedrich Nietzsches,
damals noch durch die hingehendste Freundschaft
mit Wagner verbunden. Ich hatte ihn bei der
Grrundsteinlegung im Jahr 72 kennen gelernt,
nachdem ich vorher schon mit Begeisterung
seine Schrift »Die Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik« gelesen hatte. Dann
hatte ich ihn in München wieder gesehen, wo
ich mit Olga weilte, um den AufRihrungen von
»Tristan und Isolde« beizuwohnen, die uns alle
ganz glücklich machten. Jetzt erfreute er uns
oft durch sein wahrhaft wundervolles Klavier-
spiel, meist freie Improvisationen, so dass Wagner
ihm einmal im Scherz sagte: »Nein, Nietzsche,
Sie spielen zu gut für einen Professor.« Auch
Brockhaus aus Leipzig, Wagner verschwägert,
kam und erzählte u. a., wie die Werke Schopen-
hauers lange Jahre als unverkaufbar bei ihm
auf dem Boden unter dem Dach gelegen hätten,
und dass er nahe daran gewesen sei, sie als
Makulatur zu gebrauchen, bis plötzlich Schopen-
hauers Stern aufging. Welchem -Schicksal sind
oft die grossen Schätze der Menschheit aus-
gesetzt! Aber Schopenhauer wusste es wohl,
dass sein Tag kommen würde; sein Glaube hat
ihn nicht betrogen.
Das schöne, wahrhaft ideale Zusammenleben
in der kleinen, neu erworbenen Heimat wurde
aber leider auf eine Weise gestört, die keinen
Widerspruch zuliess. Meine Gesundheit, seit so
vielen Jahren an südliche Winter gewöhnt, konnte
den nordischen, noch dazu in dem kalten Klima
— s — ■
von Bayreuth besonders rauhen Winter nicht
mehr vertragen. Ein heftiges Kopfleiden stellte
sich ein und als ich nach München ging, um
einen dortigen mir bekannten Arzt zu befragen,
verordnete er mir, auf der Stelle nach Italien
zurückzukehren, wenn ich die ernstesten Folgen
vermeiden wollte. Er drängte so, dass mir nicht
einmal 2^it blieb, noch einmal nach Bayreuth zu
gehen und von den Freunden Abschied zu nehmen,
was mir aber auch zu schmerzlich gewesen wäre,
wie ich auch wohl wusste, dass dieser gewalt-
same Aufbruch ebenfalls in ihrem Leben ein
trüber Augenblick sein würde. So zog ich
Anfang Januar wieder über die Alpen zurück,
traf die Ebene der Lombardei tief mit Schnee
bedeckt, und ging nach San Remo an die Riviera,
wo die Menschen wieder unter Orangenbäumen
und zwischen blühenden Rosen im Freien sassen.
Ich musste aber erfahren, wie recht der Arzt
in München gehabt hatte; denn es war eine
lange leideuvoUe Zeit, die ich durchzumachen
hatte, und dRne den trefflichen Arzt, den ich
in San Remo fand, hätte ich wohl der Walküre,
deren Wink ich schon gesehen zu haben glaubte,
folgen müssen. Endlich so weit hergestellt,
dass ich reisen konnte, ging ich nach Ischia,
wo ich schon den Sommer vorher, nach Olgas
Heirat, vor meiner Ansiedlung in Bayreuth ge-
wesen war und die Wohltat der dortigen Bäder
erfahren hatte. Dort in der Einsamkeit der
zauberischen Insel, mit dem Blick auf den Golf
von Neapel und den Vesuv, erholte sich mein
— 6 —
Gemüt von der schmerzlichen Resignation, in
welche es nach der gezwungenen Trennung von
der idealen Heimat, die ich in Bayreuth gefunden
hatte, versunken war. Ich fühlte, dass ich noch
Kraft zum Leben hatte, dass ich noch denken,
arbeiten, noch das Schöne empfinden und das
Gute tun könnte, und damit war mein Ent-
schluss gefasst. Konnte ich des Klimas wegen
nicht in jenem irdischen Walhall leben, so wollte
ich wenigstens einen Ort wählen, wo etwas
erlebt war, wo grosse Erinnerungen in bleir
benden Zeugen hehrer Monumente einen Kranz
der Unsterblichkeit um das Vergangene schlin^
gen, und wo die ewig gütige Natur auch die
Trümmer stets von neuem mit holdem Jugend-
schmuck umgibt. So wählte ich Rom zum
letzten Asyl.
Schon 10 Jahre früher (in den Jahren 1863,
64 und 65) hatte ich drei Winter in Rom zu-
gebracht mit den zwei mir anvertrauten Töchtern
Alexander Herzens. Es war noch die Zeit der
päpstlichen Herrschaft, unter Pio IX., und während
das übrige Italien sich bereits zu einem einigen
geschlossenen Staat zusammenfugte, herrschte
hier noch das Mittelalter in den Zuständen, aber
daneben auch noch der Zauber der lebendigen
Überlieferung grosser Vergangenheiten, welcher
die Seele mit Stimmungen erfüllte, . so voll von
Poesie, von Glorie der Vorzeit, von schönheits-
seligen Entzückungen — wie keine andere
moderne Stadt sie hervorrufen konnte. Auch,
das gesellige Leben hatte noch nicht das.
— 7 —
Touristenhafte, welches es jetzt hat. Noch war
kein Eisenbahnnetz um die ewige Stadt ge^
schlungen; nodi hatte man nach alter Art mit
dem Vetturino, in bequemer Kutsche, von
munteren, mit Glöckchen behängten Pferden
gezogen, den Weg auf guter Fahrstrasse, von
Florenz über Viterbo zu machen. Wenn man
dann, auf der Höhe der alten Flaminia an-
gelangt, den Ruf erschallen hörte: >Ecco Roma!«,
Halt machen Hess, ausstieg und nun die Kup-
pel von St. Peter vom Abendgold umstrahlt,
und die Campagna in tausend wunderbare
Farbentöne getaucht vor sich sah, — dann
hatte man die Empfindung, welche einst die
Pilger gehabt haben mögen, die ihres Seelen-
heiles willen hierherzogen, niederzuknien, und
das Wehen jener Weltmacht zu fühlen, die
unsichtbar in den irdischen Geschicken waltet
und die ewigen Ideen durch Jahrtausende
hindurch, allem nienschlichen Missvierständnis
und Widerstand zum Trotz, zu ihrer Erfüllung
leitet. ' ^
Wie schon gesagt,, damals war Rom noch
nicht die Stadt > der blossen Touristen, die auf
wenige Wochen oder wohl gar Tage kommen
und nun meinen, sie kennen Rom. Früher kam
maa hin, um sich auf ganze Winter und Früh-
linge häuslich einzurichten, wirklich da zu leben
in einer vielfach fremdartigen Welt, die aber in
den Erscheinungen vergangener Geschichtsepochen
eine Fülle anregender Eindrücke bot. Auch ich
richtete unser Leben damals ganz häuslich ein,
— 8 —
sorgte für genügenden Unterricht der jungen
Mädchen, den die künstlerischen Anschauungen
in edelster Weise vervollkommnen halfen, und
genoss mit ihnen die liebenswürdigen Beziehungen,
welche sich in der damaligen Gesellschaft so leicht
und angenehm bildeten. Man war lange genug
beisammen, um engere Freundschaftsbande an-
zuknüpfen, und so fanden auch wir uns bald in
einem Kreise heimisch, zu dem u. a. auch Fer-
dinand Gregorovius gehörte, der damals schon
eine hochgeachtete Stellung in der römischen
Gesellschaft einnahm, und mit dem uns bald
herzliche Freundschaft verband. Wie fröhlich
und echt römisch waren die Sonntage, wo wir
mit ihm, mit einigen Künstlerfamilien und mun-
teren Kindern, Gefährten der noch im Kindesalter
stehenden Olga, hinauszogen in die Campagna,
uns in irgend einer der vielen Osterien, die sich
da fmden, niederliessen, und bei trefflichem Land-
wein und ländlicher Kost bis spät am Abend
die Poesie des von allem modernen Leben so
verschiedenen Daseins genossen. Oder wenn
wir uns auf der alten Fähre — ■ dem damals
ausser dem Ponte S. Angelo einzigen Ver-
bindungsmittel der beiden Ufer — über den
Tiber fahren Hessen, und nach dem Monte Mario
hinauf wanderten, wo dann bei dem nächtlichen
Rückweg die Gebüsche von Leuchtkäfern fun-
kelten, welche die Kinder sich in die Haare
setzten, und mit dem glänzenden Brillantschmuck
entzückt heimwärts zogen. Oh Poesie des Lebens,
wie wenig bedarfst du des Reichtums und Luxus,
— 9 —
' um deine holden Blüten zu treiben! In den
. reinen Herzen und den edeln Intelligenzen, in
I Liebe, Güte, Greist und Natur sind deine Ele-
j mente, und wie wenig wissen die Menschen
aus diesen reichen Quellen zu schöpfen! Sie
suchen in äusseren Dingen, was doch nur von
innen kommen kann.
Nach diesen drei glücklichen Wintern in Rom,
die mit Sommerfrischen am Meer bei Neapel oder
auf den Inseln wechselten, nahm ich mit Olga
bleibenden Aufenthalt in Florenz, woselbst ihr
Bruder eine Anstellung auf dem naturwissen-
schaftlichen Institut, das unter der Leitung des
berühmten Physiologen Moritz Schiff stand, ge-
funden hatte. Mein Leben war damals einzig
der Aufgabe geweiht, der zur Jungfrau heran-
reifenden Olga die fehlende Mutter, und nach
dem Tode Herzens, der im Januar 1870 in Paris
starb, auch den Vater zu ersetzen, und so schön
und inhaltsvoll das intime Leben, welches sich
um uns gebildet hatte, auch war, so hatte es
doch keinen Anspruch auf öffentliches Interesse
und fand seinen Abschluss mit Olgas Heirat,
welche sie in ein anderes Land führte, fem von
mir, und mich allein zurück Hess.
Ich kam dann also nach Rom zurück, welches
ich mir zur letzten Heimat erkoren. Es wurde
aber vorläufig nur ein provisorisches Heim, da
meine Schwestern mir die Absicht kund gaben,
den Winter nach Rom zu kommen, welches sie
noch nicht kannten, und ich daher nur eine
möblierte Wohnung mietete, wo ich mit ihnen
— lO
zusammen wohnen konnte. Ich hatte schon seit
vielen Jahren die Freude erlebt, dass alle Mit-
glieder meiner Familie sich mit mir wieder ver-
söhnt und sich mir liebend zugewendet hatten,
nachdem ihnen die Überzeugung geworden war,
dass ich nie bloss phantastischen Impulsen ge-
folgt wäre, sondern einer Idee gedient hätte, die,
wenn sie auch nicht die ihre war, vor keinem
Richterstuhl der Erde verurteilt werden konnte.
Es war ein schöner Sieg der Liebe und Ge-
rechtigkeit, wie er zwischen guten Menschen
immer stattfinden sollte, wenn nicht Laune
oder Willkür, sondern ernste Überzeugungen
das Trennende zwischen ihnen gewesen sind.
Meine Mutter war gestorben, als ich noch in
England weilte, aber meine Schwestern hatte
ich in Deutschland wiedergesehen, als ich von
Florenz aus mit Olga nach langen Jahren zum
ersten Mal wieder deutschen Boden betrat, Dieser
Winter wurde nun zu einem freundlichen Zu-
sammenleben; durch das zufällige Eintreffen
vieler interessanter Persönlichkeiten in Rom
noch belebt und verschönert. Es waren da
Levin Schücking, Carl Hillebrandt, Liszt, Gre-
gorovius u. a., und von Italienern Raffaele
Mariano, der neapolitanische Hegelianer, Pasquale
Villari, der Autor des Lebens von Savonarola,
Machiavelli etc. und noch viele andere, die
auch bei uns aus und ein gingen und dem Leben
einen geistig bewegten Inhalt gaben.
In dem darauffolgenden Sommer ging ich
zum ersten Male nach zweijähriger Trennung,
— II —
um Olga in ihrer neuen Heimat in Paris zu
besuchen. Ich hatte mich mit Absicht so lange
fern von ihr gehalten, teils um ihr Zeit zu
geben, sich ganz frei in die neuen Verhältnisse
einzuleben, teils um erst in meinem eigenen
Herzen die Wunde der Trennung so weit heilen
zu lassen, dass auch ich, frei von jedem egoisti-
schen Gefühl, rein teilnehmend ihr gegenüber-
treten konnte. Ich fand sie bereits als glückliche
Mutter von zwei holden Kindern und verbrachte
mehrere Monate mit ihr in einer Sommer-
wohnung bei Paris, in liebevollster Eintracht,
die in nichts den alten Ton der Liebe vermissen
liess, trotz der neuen Elemente, die so mächtig
herrschend in ihr Leben getreten waren. In so
vielen Fällen trennt die Ehe und besonders das
neue Verhältnis zu den Kindern das frühere
zwischen der Tochter und der Mutter oder der-
jenigen, welche ihre Stelle vertrat, und es ist
vielleicht daher, und nicht immer mit Unrecht,
die hässliche Sage von den bösen Schwieger-
müttern entstanden. Wenn es aber der Zweck
der Erziehung gewesen war, der Persönlichkeit
die grösstmögliche Freiheit der Entwicklung zu
gewähren, und wenn daneben die eigne Natur
genug Fülle und Tatkraft besitzt, um sich ein
würdiges Leben zu schaffen, auch wenn die
Aufgabe an einer Anderen erfüllt ist, wenn
endlich die Liebe, welche hier verbindend ge-
wirkt hatte, die wahre, reine gewesen war, frei
von Egoismus in Geben und Nehmen, — dann
kann das neue Verhältnis sogar eine Bereiche-
— 12
rung des alten werden, gleich der Pflanze, die
man mit Sorgfalt grossgezogen hat, und die
sich nun herrlich in Blüten vervielfältigt.
Im Spätherbst kehrte ich nach Rom zurück.
Da aber mein Leben zu der Zeit fast nur ein
rein innerliches war und äusserlich keinerlei An-
spruch auf öffentliches Interesse hatte, so möge
hier nur ein Bruchstück aus diesem Innenleben
folgen.
Gedachtes.
Einem Freunde, der mir schrieb, es sei eigent-
lich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts
verfalle, antwortete ich heute: »Teilen Sie die
geschaffenen Werke in zwei Hälften; die eine
Hälfte, die nur von der Welt der Erscheinung
handelt, verfällt dem Nichts, wie alles was nur
Erscheinung bleibt, so auch die Menschen.
Die andere Hälfte, in welcher der göttliche
Funke glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat
sich eingereiht in den Akkord der grossen Sym-
phonie, die im Grunde der Dinge tönt, welche
die wahren Künstlerseelen von fem in ihren
Träumen ahnen, und welche sie hören werden,
wenn die Form zerbrochen ist, und sie es er-
reicht haben, nicht wieder erscheinen zu müssen.
Die 'Inder haben das alles schon gewusst.
Ich sprach mit einer Bekannten jjber den
Glauben. Sie meinte, er müsse bewusste, ge-
— 14 —
wollte Überzeugung sein. Dann ist es aber
nicht Glaube, sondern Wissen. Glaube ist gerade
die Macht des Gemüts, die etwas, allem Wissen,
allem Wollen zum Trotz, festhält. So gibt es
den Glauben an einen Menschen, selbst wenn
wir ihn augenblicklich auf falschen Wegen
wandeln sehen, so gibt es den Glauben an eine
metaphysische Welt, trotzdem jede dogmatische
Vorstellung zerstört ist; so gibt es den Glauben
an ein Ideal, ungeachtet der Ideallosigkeit der
uns umgebenden Welt. Der Glaube ist das
Spontanste, Unzerstörbarste in dem Gemüt,
welches gläubig angelegt ist. Er wirft nur die
Formen ab, welche vor der Kritik der Vernunft
nicht Stich halten, während gerade diejenigen,
welche sich an diese Formen anklammem und
meinen, dadurch den Glauben festzuhalten, keinen
mehr haben, wohingegen das gläubige Gemüt
hinter jedem verlassenen Horizont einen neuen,
weiteren, mit neuen lichteren Sonnen aufleuchten
sieht.
Man kann vernünftig denken, dass das Dies-
seits alles sei. Freilich kommt es nur auf uns
an, dass es viel sei, indem wir das kurze Leben
mit reichem Inhalt füllen. Wir haben dann
immer noch vor jenen, mit denen wir das
Schicksal der Vernichtung zu teilen hätten,
das voraus, dass wir Götterfreuden im Streben
und Werden genossen haben, wo jene stumpf
vorübergingen, oder den ungelöschten Durst am
Vergänglichen stillen wollten.
— 15 —
Wir sind ja nicht am Ende des Wissens an-
gelangt; und das ist unser Trost und sicheres
Bewusstsein, dass die Entwicklung des Lebens
unendlich ist, dass der Tod nichts ist, als der
Übergang in neue Formen des Daseins, dass
die Atome, welche einst eine Dichterstirn, ein
begeistertes Herz bildeten, vielleicht in einer
duftenden Blüte wieder erscheinen, und ihre
Wanderung von da wieder in neue Menschen-
formen fortsetzen, und dass die herrlichen Ge-
danken, welche jener Stirn entsprangen, die
Liebe, die jenes Herz zu tröstenden Taten des
Mitleids trieb, eingeflochten sind in die Unsterb-
lichkeit des Lebensquells, der, von Mensch zu
Mensch und von Geschlecht zu Geschlecht fort-
zeugend, das Gute, Grosse, Schöne weckt. Da-
neben freilich tragen wir den Schmerz der End-
lichkeit, der Notwendigkeit, der unerbittlichen
Göttin, die wir schweigend verehren, und gegen
die es nur Gehorsam gibt, während auf der
anderen Seite Freiheit ist, das heisst: Freiheit,
das Vollendete zu wollen und das Mögliche zu
erreichen.
Ein Bibelausspruch, der gegen die Lehre vom
Fegefeuer und die katholischen Zwischenstationen
spricht, ist doch der, dass Christus am Kreuz
zu dem Schacher sagt: heute noch wirst du
mit mir im Paradiese seinl Der war aber doch
ein Sünder und konnte demnach noch nicht
vorbereitet sein, sich Gott zu nahen.
— i6 —
Da es Spiegelungen der Existenz gibt, in
welchen der Wille zum Leben nicht mehr störend
eintritt, in welchen das objektiv Schöne beinah
in völliger Idealität vor uns steht, dürfen wir
uns da nicht mit Recht der Hoffnung hingeben,
dass einst, wenn der Kampf mit dem wilden
Tiger ausgekämpft ist, uns das Glück des leiden-
losen, objektiven Anschauens und Begreifens zu
teil werden wird? Vielleicht liegt der Zweifel
nur in dem Verwechseln von Subjektivität, d. h.
Egoismus, und Individualität. Je höher, je reiner
diese ist, je mehr ist sie fähig, sich dem Objektiven
hinzugeben. Je subjektiver, d. h. je gebundener
im Willen, je getrübter ist die Fähigkeit zur
Selbsterlösung, und mithin zum idealen Glück.
Ein Werk des Genius spricht dies deutlichst aus.
Wer fühlte es nicht vor der Himmelfahrt der
Maria von Tizian, in der Pinakothek zu Venedig,
dass hier die Seligkeit der Erlösung vom Willen
wirklich dargestellt ist? Da ist keine Lein-
wand mehr, da sind keine Farben. Da ist eine
reine, grosse Individualität, welche überwunden
hat, und nun Freiheit atmend aufsteigt in das
universelle Dasein, in das Glück der idealen
Existenz. Ihr nach sehnt sich in stürmischem
Drang, was noch unten weilt im elementaren,,
unruhvollen Kampf.
Jedes tiefe innerliche Leben klingt mit einem
Mollakkord aus, wie die ahnungsvolle Poesie der
Völker es im Volksliede ausspricht.
— 17 —
Die einzige Aufforderung, zu welcher der
Gredanke an den Tod uns führen sollte, wäre
die, das Leben mit dem höchsten Inhalt zu
füllen, jedem Augenblick den edelsten Wert zu
verleihen.
Es ist das Schicksal aller tiefen Naturen,
zuletzt mit sich selbst allein zu bleiben, d. h.
mit dem, was das Universelle in uns ist, und
deshalb ist es keine traurige Einsamkeit, sondern
die Rückkehr in die ewige Einheit des Daseins,
und damit in den wahren endlichen Frieden,
dasselbe, was die christliche Anschauung »Frieden
in Gott haben« nennt.
Wenn* wir es auch wissen, bei dem Tode
geliebter Menschen, dass die eigentliche Realität
dieser Erscheinung zurückgekehrt ist in die
ewige Einheit ihres Ursprungs, so bleibt der
Schmerz der Trennung für das Herz doch der-
selbe unheilbare, denn das Wesen der Liebe ist
es, die unendliche Gegenwart, die unendliche
Betätigung ihrer selbst zu bedürfen.
Wenn das Christentum die früheren Re-
ligionen mit umfasst, diese gleichsam sein Jo-
hannes der Täufer sind, so ist damit schon der
allmähliche Entwicklungsgang des religiösen Be-
wusstseins angedeutet und der Nimbus einer
ein für allemal gegebenen Religion zerstört. Wenn
Plato schon die idealen Keime des Christentums
in sich trug, wie ich eben las, so beweist dies
Meyienbug, IV . 2
— i8 —
nur, dass tiefe Denker schon vor der Erschei-
nung Christi die idealen Menschheitsgedanken
hatten, und dass Christus eigentlich nur mit
der Tat bewies, was theoretische Denker schon
vor ihm ausgesprochen hatten. Da also die
Religionen sich entwickeln, so ist das Absolute
nicht in ihnen.
»Als Kinder in das Paradies eingehen«, sagt
der Talmud. Wie unsäglich schön.
Ich fuhr mit einer Bekannten, von Frankreich
nach Italien zurückkehrend, über den Gotthardt
und wir sprachen über die Bedeutung der Stelle
aus Faust : »Wenn hohe Geisterkraft die Elemente
an sich heran gerafft« usw. — Je höher wir
aber kamen, je mehr verstummte das Gespräch,
denn die elementare, die Zauberwelt Faustens,
umfing uns in Wirklichkeit und lockte die
Phantasie in eine Tätigkeit hinein, die keine
Worte hatte. Das irdische Leben mit seinem
bunten Schein war wie verschwunden; ringsum
starrten eisbedeckte Riesen ; eine einst vielleicht
gewesene Schöpfung schien zurückgesunken in
den traumlosen Schlaf des Chaos. Wolken und
Nebel kämpften. Form und Fels verhüllend, mit
unsichtbaren Gewalten; Schneeflocken wirbelten
durch die Luft. Man wusste nicht mehr, in
welcher Region man dahinsauste, vom Dampf,
wie von einer gestaltlosen, unterirdischen Macht
getragen. Es war so phantastisch, wie ich selten
etwas gesehen hatte, und plötzlich fuhr man nun
— 19 —
ein in die alte ewige Nacht des Urschosses der
Dinge, aus dem auf den geheimnisvollen Wink
eines Erzeugers einst blühendes Leben hervor-
stieg. Ich dachte, was wohl ein Geschlecht
geworden wäre, welches sein Dasein in solcher
Nacht hätte vollbringen müssen, ein Nibelungen-
geschlecht, welches das freudige Licht nie ge-
schaut hätte? Was hätten solche Gehirne her-
vorgebracht? — ^ Da — plötzlich, nach kaum
fünfundzwanzig Minuten, brausen wir hervor
aus dem Höllenschlund, und sonnenbeglänzte
Gipfel lachen uns an, rötlich glühen die Berge,
braungoldig schimmert das Laub, das noch
herbstlich die Bäume bedeckt — kurz: es ist
Italien und in nrir ruft es: »Am farb'gen Abglanz
haben wir das Leben !<;
Das Leben erreicht zuweilen einen Punkt,
wo in der Seele nur noch Schweigen ist, wo
wir darauf verzichten, noch gegen das Schicksal
zu kämpfen, und das Haupt beugen.
Es gibt Tage wo wir besonders unter dem
Bann der grossen Lebenstragödie stehen und
uns nicht freimachen können von dem Druck,
den das uns unbekannte Fatum, welches die
Erdenlose regiert, auf : uns ausübt.
Die Natur ist mitleidslos; umsomehr ist das
Mitieid das wahrhaft Ethische, das Bewusste im
Gegensatz zu dem Unbewussten.
2*
20
An einem schwülen Sciroccotag in Villa
Mattei :
Schwer liegt wie Blei auf der Welt
Der schwüle südliche Luftstrom,
Hüllet in Nebel die Fern'
Die sanfte Form des Gebirges;
Scheint's doch als seufze Natur
Ob schmählicher sündlicher Taten,
Und als riefs durch das AU:
Erlöse uns endlich vom Bösen 1
Zuweilen breitet sich von allen Seiten, wie
ein schwarzer Schleier über das ganze Leben:
dann geht es wie in der Natur: eine Blütezeit
ist vorüber und kehrt nicht mehr zurück. Doch
der Frühling kommt wieder, und die Bäume und
die Pflanzen grünen und blühen wieder; die-
selben Arten erscheinen aufs neue, nur die in-
dividuelle Form hat sich geändert.
Schön leiden zu sehen, welch ein erhebender^
rührender, trostreicher Anblick I Hässlich leiden
zu sehen, wie unendlich betrübend I Es gibt
dem Mitleid einen Zusatz von Greringschätzung
für die unausgebildete Seele.
Ja, so ist esl Die besten Wesen werden
immer trauriger, je weiter das Leben vorrückt,
weil sie mehr und mehr die unendliche Eitel-
keit des Ganzen »l'infinita vanitä del tutto«, wie
Leopardi sagt, begreifen. Dafür gibt es keine
Hülfe. Das Leben der Grossen zeigt uns, mit
— 21 —
wenigen Ausnahmen, immer dasselbe Schauspiel :
die Ueberzeugung, welche sich langsam aus der
Erfahrung entwickelt, dass auch die schönsten
Werke, die Schöpfungen der erhabensten Be-
geisterung, nur selige Träume grosser Seelen
sind und von der Menge unverstanden bleiben,
und dass die ideale Reform, welche der Gre-
nius vollziehen will, wenn sie stattfindet, den
Stempel der Vulgarität erhält, den ihr die Be-
rührung mit der Wirklichkeit der Welt aufdrückt.
Der idealste Ausdruck, welchen die Kunst jemals
für diese unausbleibliche Traurigkeit gefunden
hat, ist der in dem Christuskopf auf dem Abend-
mahl des Leonardo da Vinci, jene sanfte Bitter-
keit auf dem edeln Antlitz, welche sagt: »Keiner
hat mich verstanden und Einer hat mich ver-
raten!«
Wer grosse Schicksale und Schmerzen wahr-
haft durchlebt hat und dadurch geläutert und
vertieft ist, bei dem wird die edle Scham immer
mehr hervortreten, seinen Schmerz vor profanen
Augen zu verhüllen, denn der Schmerz hat seine
Schamhaftigkeit wie die Liebe. Die weltlichen
Menschen, denen es Bedürfnis ist, auch selbst
ihre Leiden und Schmerzen an die grosse Glocke
zu hängen, fühlen sich dadurch getroffen und
nennen das Kälte, während es doch nur der
edle Stolz ist, der sein Allerheiligstes vor Ent-
weihung bewahrt. Denn ist es nicht Entweihung,
wenn das innerste Leben der Seele auf offenem
Markte blossgestellt wird?
22
Das ganze Leben wird nach und nach Er-
innerung, und es ist seltsam, diese innere Welt
zu sehen, welche mit so vielen geliebten Bildern
bevölkert ist, die da ihre Unsterblichkeit ge-
funden haben, während ihre irdische Erscheinung
verschwunden ist, gerade wie das Licht der
Sterne, welches uns noch zukommt, wenn die
Himmelskörper selbst längst zerstört sind.
Könnte ich wünschen, hoch einmal in das
Leben zurückzukehren, so wäre es um noch
mehr zu lernen, zu erkennen. In dem Geheim-
nis dieser Sehnsucht liegt eigentlich der Schwer-
punkt des ganzen Lebens und wie eine tröstende
Verheissung, dass diese unsichtbaren Flügel der
Seele, welche Sehnsucht nach Erkenntnis heissen,
uns irgendwo an schöne Gestade tragen.
Das Leben selbst ist des Lebens Zweck.
Grelebt zu haben ist Unsere Aufgabe. Wie hoch
oder wie niedrig man die versteht, ist eines
jeden Sache.
In der Art, die Dinge zu verstehen und auf-
zufassen, verraten die Menschen am meisten ihre
Individualität.
Die Grewissheit, dass wir das eigentliche
Wesen der Dinge erst erleben werden, wenn
wir dieses Traumkleid abgestreift haben, wird
immer grösser in mir und damit die Freudigkeit.
Dieses Leben ist zu erbärmlich bedingt, um dem
— 23 —
Geistgebornen alles zu sein. Das Leiden kann
allerdings bis zu einem gewissen Grrad aufgehoben
werden durch die Erkenntnis, aber doch nur
deshalb, weil wir fühlen, dass etwas in uns ist,
was über die Erscheinung hinausgeht. Die
Welt wird auch dazu zurückkommen. Das
wird das neue Ideal sein, schöner, grossartiger,
verklärter als das christliche ; es wird dem Greiste
neue Flügel geben, um schon hier, in diesem
Purgatorio, neue Himmel zu entdecken.
»Bedenken Sie, dass vom Baume der Er-
kenntnis essen, nichts weiter sagt, als sich zum
Kampf iiir dieses Leben geschickt machen«,
schrieb mir heute mein 91 Jahre alter Freund.
Wie schön in wenigen Worten die ganze Alle-
gorie der Grenesis erklärt!
Es ist ja wahr, dass das Leben traurig genug
ist, und dass die Mehrzahl der Menschen nicht
viel taugt! Aber wenn ich einen jungen be-
gabten Mann sagen höre: »Für Neuerungen
unter den Menschen, den sogenannten Fortschritt,
habe ich nie Begeisterung empfunden, weil das
Pack immer gleich erbärmlich bleibt, wie hohe
Stelzen man ihm auch verleihen mag« — dann
möchte ich immer sagen: sieh doch einmal von
der Mehrzahl weg auf die Guten und Bedeuten-
den, die es doch auch gibt und die beweisen,
was möglich ist. In jedem Fall aber, selbst
wenn alle Dämonen wären, und man fühlte in
sich die Macht des Guten und das Streben nach
— 24 —
dem Ideal, so müsste man den Mut haben, der
einzige Engel unter Teufeln zu sein.
Gestern abend hatte ich eine heftige Dis-
kussion mit A . . . Das ist das Unglück der
Menschen, die sich einseitig mit den Natur-
wissenschaften beschäftigen, dass sie den philo-
sophischen Gedanken gar nicht verstehen. Sie
sehen immer nur das Greifbare, das Experiment,
also das Einzelne, nie aber, wie der Philosoph,
den Zusammenhang der Dinge, die ewige Cau-
salität. Der Streit entspann sich, indem A. be-
hauptete, das Objekt habe seine vollständige
Reaüiität auch ohne das erkennende Subjekt, und
die Ansicht Berkeleys, dass ohne dieses das
Objekt gar nicht existiere, sei vollkommener Un-
sinn. Er führte mir als Beweis das Mammut
an, welches man kürzlich in Sibirien, im Eise
fast frisch erhalten, ausgegraben hatte, und
welches da also existiert habe, ohne dass das
erkennende Subjekt etwas davon gewusst hätte.
Vergebens wandte ich ihm ein, dass das Mammut
jetzt erst anfange, Objekt zu sein, nachdem das
erkennende Subjekt es wahrgenommen habe,
und dass es vorher im Eise so gut wie nicht
da war. Er ging so weit, die Wirklichkeit der
Welt zu behaupten, wenn auch in alle Ewigkeit
nichts als Stein und Pflanze, und kein erkennen-
des Subjekt da wären.
Doch verstummte er endlich, als ich ihn daran
erinnerte, dass er selbst zugestanden habe, in
einer früheren Diskussion, dass der Materialismus
— 25 —
ä la Carl Vogt, Büchner usw. ein völlig über-
wundener Standpunkt sei, und dass die Natur-
forschung jetzt die untrennbare Einheit von
Kraft und Stoff anerkenne. Dann gab ich ihm
meine Ansicht in der herrlichen Fassung Goethes:
i) Was war der Schein, wenn er nicht Wesen
hätte? Das Wesen war es, wenn es nicht
erschien? welche eigentlich schon die ganze
Lösung der Frage enthält. Sie ist der
tiefsinnige Untergrund des wundervollen,
philosophischen Mythus von der Mensch-
werdung Gottes, denn wenn das erkennende
Subjekt Gott nicht Objekt wurde, sich selbst
gegenständlich, so existierte es nicht für das
Bewusstsein, wäre also tot, gleich nichts.
Das Wesen muss erscheinen, um zu sein,
sonst wäre es nicht. Beide sind identisch.
2) Was war der Stoff, wenn ihm nicht die
schaffende Kraft innewohnte, in ewig neuen
Kombinationen und Gebilden sich selbst
zum Objekt zu machen, und was war die
Kraft, wenn sie im Leeren wohnte und den
Stoff nicht hätte, um darin wirksam zu
sein? Alles Werdende wäre ja dann die
alte Schöpfung aus dem Nichts. Also auch
Kraft und Stoff sind identisch. Die Kraft
entspringt dem Subjekt, welches sich den
Stoff gegenständlich macht. Eins ohne das
andere wäre nichts.
3) Endlich: Das Subjekt selbst wäre nicht,
wenn es sich nicht zugleich Objekt würde,
indem es sich erkennt als den Leib, als
26
die Glieder, als den denkenden, fühlenden
Menschen. Ebenso wäre das Objekt nicht,
und wenn es Ewigkeiten dauerte, käme
das Subjekt nicht, welches es erkennt. Das
wäre die Welt, über die das erlösende »Es
werde Licht« nicht ausgesprochen wäre,
das Chaos, das Nichtsein, der Tod.
Wie tiefsinnig ist auch hier der Mythos!
Wie begriffen jene wunderbaren dichtenden
Denker der Vorzeit das Geheimnis des Daseins !
Wie ganz wussten sie, dass Gott selbst sich
gegenständlich werden musste, um Gott zu sein.
Schon als ganz junges Mädchen dachte ich
dasselbe, noch ehe ich irgend einen Philosophen
gelesen hatte. Immer mit Fragen über das
Wesen der Welt beschäftigt, sagte ich mir: Ja,
Gott musste schaffen, sich selbst gegenständlich
werden, sonst blieb er sich selbst unbewusst.
Somit ist das Subjekt das wahre a priori, ohne
es wäre keine objektive Welt, aber es muss
auch das Anschauen, das Vorstellen haben, sonst
wäre es selbst gleich Null.
Die Basis aller Toleranz sollte die Betrach-
tung sein, dass die verschiedenen Anschauungen
desselben Objekts für die verschiedenen Sub-
jekte, denen sie angehören, jedesmal wahr sind,
wie dies z. B: bei allen Religionen der Fall ist.
— 27 —
Ohne den idealen Grenuss, der uns weit vom
Tier, vom blinden Zufall und vom blossen
Nützlichkeitsprinzip scheidet, ist das Leben
gemein.
Jedes rechte Leben findet auch seine Er-
füllimg, trotz dem Unersetzlichen, was ver-
loren geht.
Wie kann die wunderschöne Legende der
Weihnacht entstanden sein? Nicht durch die
Apostel, die erst im Mannesalter zu Jesus kamen,
nicht durch Maria oder die Hirten, die noch zu
naiv und dem natürlichen Vorgang der Geburt
zu nahe waren, um darüber zu dichten. Wahr-
scheinlich fühlte, im Anwachsen des Mythos, der
sich nach und nach um die Person des Messias
bildete, ein von Jesus begeisterter Gläubiger sich
hingerissen, schon den Eintritt des Gottessohnes
in die Welt mit allen Wundern himmlischer
Teilnahme zu schmücken, wie es schon frühere
Religionen mit ihren Stiftern getan. Denn der
Mensch liebt es, das Unbegreifliche des Grenius
mit Wundern zu umgeben, während doch der
Genius selbst das Wunder ist.
Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick
beinah auf uns wirkt, wie ein grosses Ereignis,
die uns befreien von der Last der persönlichen
Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem
universellen Dasein vereinen. So ist das Meer.
— 28 —
Die Flamme des Geistes ist ein wohltätiges^
stärkendes Licht, wenn sie im freien Äther der
Erkenntnis, ungetrübt von irdischer Sorge,
brennen kann. Aber sie wird zum verzehrenden
Brand, wenn die Angst um das materielle
Dasein sie schürt und nährt. Die Monumente
setzt der schöpferische Grenius sich selbst; dass
er frei sei, sie sich zu setzen, müsste die Sorge
seiner Zeitgenossen sein;
Eine Bekannte frug mich heute: »Glauben
Sie, dass die Leidenschaft wirklich nötig ist,
grosse Dinge zu schaffen?« Ich sagte ihr: »Ja,
die Leidenschaft für die grossen Dinge ist nötig,
um sie zu schaffen, aber nicht die persönliche
Leidenschaft, die immer egoistisch und exklusiv
ist, ausser wenn sie zur Leidenschaft für die
grossen Dinge führt.«
Die unegoistische Liebe ist ein arger Tyrann;
sie zwingt uns mit unwiderstehlicher Gewalt zu
immer neuen Opfern; dem Glück kann man
entsagen, dem Mit — leiden nicht.
Die meisten Menschen lieben uns mehr um
das, was wir tun, als um das, was wir sind.
Etwas zu sein ist das beste Mittel gegen
das Etwas scheinen zu wollen.
— 29 —
Das Herz schliesst endlich seine Pforten zu.
Es ist ein Pantheon, in welchem schon alle
Nischen mit geliebten und verehrten Bildern
besetzt sind; fiir neue ist kein Raum mehr da.
Der reifende Geist kann einsam sein, und in
der Einsamkeit die Fülle des Daseins geniessen.
Das Herz kann nur selig sein, wenn es das
Leben einzelner geliebter und verehrter Menschen
oder das von Tausenden schmücken kann. Das
wäre auch die wahrhaft schöne und berechtigte
Seite des Herrschertums : die Macht zu be-
glücken, und gerade an dieser Möglichkeit
scheitert der Wille. Welch arger Widerspruch!
Man müsste an der menschlichen Natur ver-
zweifeln, wenn es nicht gerade ein Beweis wäre,
dass keiner ein allmächtiger Grott sein soll unter
Menschen, und dass nur Gleichberechtigte eine
vernünftige menschliche Einheit bilden können.
Freundschaft ist persönliche Sympathie ohne
Beimischung von Leidenschaft, und daher un-
egoistisch. Die Definition des Aristoteles:
»Freundschaft ist, wenn man alles tut, was der
andere will, ohne an sich selbst zu denken«,
scheint mir nicht vollständig. In der Freund-
schaft ist die Erkenntnis tätiger als der Wille;
in der Liebe ist es umgekehrt; daher ist in der
Freundschaft Ruhe, in der Liebe Unruhe.
— 30 —
Oh Stille, Gesegnete ! Du, die du allein würdige
Stimmungen erzeugst.
Grewisse Kranke wollen mit grosser Rück-
sicht behandelt sein, man muss Schwächen in
ihnen schonen und nicht glauben, sie könnten
sie überwinden. Dass sie es nicht können, ist
eben ein Teil ihrer Krankheit. Besonders
können manche Kranke es nicht ertragen, dass
man an ihrer Krankheit zweifelt, da sie sich
selbst fiir kränker halten als alle anderen. Aber
auch zartfühlenden Naturen ist dies, wenn gleich
aus anderen Gründen, empfindlich, da sie andere
nicht gern mit der Erzählung ihrer Leiden plagen
und doch den Anforderungen, die man an Gre-
sunde macht, nicht genügen können.
Dem Freigeist kann man keine Gebote vor-
schreiben, sonst ist er ja nicht mehr Freigeist.
Er erkennt auch Gresetze an, aber im Geiste des
Solon, die sich mit steigender Erkenntnis ändern
und verbessern lassen.
Man vergleiche die Gresichter von Savonarola
und Luther. In ihnen spricht sich schon der
ganze Unterschied der deutschen und italienischen
Reformation aus. Der südliche Reformator
bleibt Fanatiker, quand meme; Luther bleibt
derb, schlicht, energisch, aber nicht fanatisch.
1
— 31 —
Das Verbot des Vaters der Schwanenjung-
frauen an seine Frau, nicht zu fragen, wer er
sei, ebenso das Verbot Lohengrins, sind sie
nicht verwandt mit dem Verbot im Paradies,
nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Nur
nicht erkennen, besonders die Frau nicht, von
alten Zeiten her. Wer ist der Neidische, der es
verwehrt? Ein Mann.
Der Idealist allein hat den Glauben, welcher
Berge versetzen kann, weil in ihm der Wille
schon auf seine Verneinung gerichtet, sich mit
aller Kraft auf die Verwirklichung des Ideals
wendet, und ihm den Mut gibt auszuharren,
bis er sein Ziel erreicht. Er hat daher vielleicht
weniger innere Kämpfe, als andere, weil ihm
sein Weg unabänderlich vorgezeichnet ist. Er
leidet aber tiefere Schmerzen durch den Wider-
stand der ideallosen Welt.
Gregorovius sagt einmal, die grossartigste
aller Legenden sei die von Moses, welcher von
der Höhe aus unten das gelobte Land erblickt,
und dann stirbt. Alle Idealisten erleben diese
Legende; der Geist führt sie auf die Höhe, wo
sie ihr Land der Verheissung erblicken, aber
erreichen tun sie es nicht.
Im Jahre 382 nach Christi schrieb der heilige
Augustin: »Nihilisti apellantur quia nihil credunt
— 32 —
et nihil docent.« (Nihilisten genannt, weil sie
nichts glaubten und nichts lehrten.) Er sprach
von einer Gesellschaft, deren Zweck Verneinung
und Vernichtung alles Bestehenden war. Also
ist auch das nichts Neues, nur das Dynamit ist
ein modemer Zusatz.
Die Greuel der Reaktion in Neapel nach
1799 sind so abscheulich, dass sie allein schon
ein jüngstes Gericht verdienten, und keine Flam-
men der Hölle heiss genug wären für solche
Unmenschen, wie König Ferdinand, Maria Caro-
lina, Acton und Genossen. Die Vernichtung
wäre ein zu grosses Glück für solche Wesen.
Die müssen braten in ewiger Qual!
Episoden a\is den Jahren 1876 und 1877.
Es waren bedeutungsvolle Jahre für mich.
Schon im Juni des Jahres 76 bereitete sich in
Genua ein Fest vor, welches das demokratische
Italien, das zu der Zeit noch einen Teil der
idealen Begeisterung besass, die seine Einheit
hauptsächlich zu stände gebracht hatte, — in
grosse Erregung versetzte, und auch meine
innigste Teilnahme in Anspruch nahm. Es
sollte in Grenua das Monument enthüllt werden,
welches die Stadt ihrem edelsten Sohne, Joseph
Mazzini, setzte, der vier Jahre vorher, zwar auf
heimischer Erde, aber immer noch ein Exilierter und
zwar der einzigeExilierte, gestorben war. DasFest-
comite hatte durch ein Manifest die italienische
Nation zur Teilnahme aufgefordert und es war
zu erwarten, dass besonders von den demo-
kratischen Arbeitervereinen aus allen Gegenden
Italiens ein grosser Zuzug stattfinden würde.
Denn Mazzini war den Arbeitern immer ein
Meytenbug IV. 3
— 34 —
wahrer Freund und Lehrer gewesen. Er zeigte
ihnen ihre Rechte, aber er forderte von ihnen
auch die Erfüllung ihrer Pflichten, und hätte er
die Geschicke Italiens lenken können, von der
Zeit seines Triumvirats in Rom an bis zu seinem
Tod, er hätte sicher den Sinn für Pflichterfüllung
und Gesetzlichkeit in seinem Volk geweckt, und
dasselbe würde heute auf einer höheren Stufe
der Moralität stehen, als es jetzt der Fall ist.
In Genua ist Mazzinis Andenken lebendig*
unter den arbeitenden Klassen, die es wissen,
wie sehr er sie im Herzen trug und für die
Verbesserung ihres Schicksals bemüht war.
Noch bei meinem letzten Aufenthalt dort zeigte
mir ein Arbeiter die Reihe guter reinlicher
Wohnhäuser für Arbeiter, welche auf Mazzinis
Anregung gebaut wurden und versicherte mir,
dass sie treu an seinen Lehren hingen. Dasselbe
bekräftigte mir der Kutscher, der mich auf den
schönen Kirchhof von Staglieno fuhr, wo die
irdische Hülle Mazzinis ruht. Der Ort liegt
weit hinaus vor der Stadt und zieht sich einen
Berg hinan, von dem man eine herrliche Aus-
sicht geniesst. Hier befindet sich auf der Höhe,
in den Fels eingehauen, die geräumige Gruft,
in welcher der Sarg steht. Auf einem freien
Platz davor ist das Grab seiner Mutter, mit der
ihn die innigste Liebe verband. Sie liegt da,
wie um ihn, welchen ihre aufopfernde Mutter-
liebe im Leben nicht vor der tiefsten Tragik
des Schicksals schützen konnte, wenigstens im
Tode vor der Tücke des Hasses und Neides
— 35 —
sicher zu stellen. Seine Ruhestätte könnte nicht
schöner sein, aber seine Vaterstadt will das
Verbrechen, welches Italien an ihm beging,
wenigstens durch ein Monument sühnen, das
wie das des Columbus davon zeugen soll, dass
Genua auf seine grossen Söhne stolz ist. Das
Fest wird glänzend sein, prachtvolle Ausschmück-
ung der Stadt und des Weges bis zum Kirchhof,
Vergnügungen fiir das Volk, Musik, Illumination
— nichts wird fehlen. Nur eins wird fehlen:
die ErfuUung dessen, was Mazzini für sein Volk
gewollt und gehofft hat, und wofür er das lange
Märtyrertum des Exils und die unzähligen bitteren
Enttäuschungen mit unerschütterlicher Stand-
haftigkeit getragen hat. Wie es ihm nur um
dies hohe Ziel zu tun war und wie er dabei
allen Ehrgeiz, allen persönlichen Erfolg hintenan
setzte, davon gibt Alexander Herzen eine
schöne Schilderung, nachdem er Mazzini, nach
dem Krieg von 1859, wiedergesehen hatte.
Herzen spricht von den politischen Ereignissen
der Jahre 59 und 60, und wie im Schlachten-
lärm und Pulverdampf die befreundeten Gre-
stalten der Freiheitskämpfer eine Zeit lang ver-
schwanden, bis sie dem besorgt forschenden
Blick der Freunde endlich unversehrt wieder er-
scheinen. Dann sagt er: »Aber eine Persönlich-
keit stand fern von diesem Rauch, diesem Ge-
töse des Krieges, vom Jubel der Sieges-Festlich-
keiten und von den Lorbeerkronen, und erreichte
im Schatten der Einsamkeit eine ausserordent-
liche Grösse. Unter den Verwünschungen aller
3*
- 36 -
Parteien, des betrogenen Pöbels, der wilden
Priester, der feigen Bourgeoisie, des piemon-
tesischen Gesindels, wie bei den Verleumdungen
aller Organe der Reaktion, vom päpstlich-kaiser-
lichen Moniteur an bis zu dem Eunuchen der
Londoner Geldmäkler, der Times (welche den
Namen Mazzini nie ohne Hinzusetzung eines ge-
meinen Schimpfwortes aussprach), blieb Mazzini
nicht nur unerschütterlich, sondern er segnete
freundlich sowohl Freund wie Feind, wenn sie
nur seinen Gedanken, sein hohes Ziel ausfuhren
wollten. Man konnte von ihm sagen, was Pusch-
kin von seinem Abbadonna sagt :
Das Volk, das im Geheimen du gerettet.
Verhöhnt nun deine heil'gen weissen Haare.
Nur, dass bei ihm nicht Kutuzoff, sondern Gari-
baldi stand. Durch die Gestalt seines Helden und
Befreiers sagte sich Italien doch nicht von Mazzini
los. Warum aber gab ihm nicht Garibaldi die
Hälfte seines Kranzes? Warum berief sich der
römische Triumvir nicht auf seine Rechte? Warum
bat er selbst nicht, an ihn zu denken, und warum
schwieg der Volksführer, der doch rein war wie
ein Kind, und erlog eine Entzweiung ? — Darum,
weil Beide etwas hatten, was ihnen teurer war
als die eigene Persönlichkeit, als Name und
Ruhm — Italien!
Aber die gemeine (Gegenwart verstand sie
nicht. Sie war nicht tief genug, um solche
Grösse zu fassen. Garibaldi wurde immer mehr
eine Gestalt des Cornelius Nepos. Auf seiner
kleinen Insel erschien er so antike Grösse, so
— yj —
einfach und rein wie ein Held Homers, ohne
Rhetorik, ohne Dekoration und Diplomatie, im
Epos ist das alles nicht nötig. Als die Sache
beendet war, entliess ihn der König, wie man
den Postillon entlässt, der uns an Ort und Stelle
gebracht hat, und war nur verlegen darüber,
was er ihm als Trinkgeld geben sollte, und als
er erriet, dass seine Undankbarkeit Garibaldi be-
trübe, schickte er ihm Fasanen, die er geschossen,
Blumen aus seinen Gärten und unterschrieb seine
Briefe: »Immer Dein Freund Vittorio.«
Für Mazzini existierten die Menschen nicht,
für ihn gab es nur eine Sache. Wieviel Fasanen
und Blumen ihm auch der König schicken möchte,
es würde ihn nicht rühren, er würde sich aber
gleich mit ihm, den er für einen gutmütigen aber
leeren Menschen hält, verbinden, wenn dieser
für die Sache arbeiten wollte. Mazzini ist der
Asket, der Calvin, der Procida der Befreiung
Italiens; er ist ewig nur mit einer Idee be-
schäftigt, stets bereit zu handeln und hält, mit
derselben Geduld und Hartnäckigkeit, mit welcher
er aus unklaren Menschen und ihren Bestrebungen
eine Verschwörungspartei schuf, auch Garibaldi,
seine Genossen und das halb befreite Italien
wach, indem seine magere, traurige Hand fort-
während nach Rom zeigt. Als ich früher über
Mazzini schrieb, verweilte ich besonders auf
seinem Zerwürfnis mit Garibaldi im Jahr 54 und
auf der Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich
tat dies aus' Zartgefühl, aber ich hatte unrecht,
dieses Zartgefühl ist zu klein für Mazzini. Über
- 38 -
solche Menschen muss man nicht schweigen,
die braucht man nicht zu schonen. Nach
seiner Rückkehr aus dem eroberten Neapel schrieb
er mir ein paar Zeilen. Ich eilte beklommenen
Herzens zu ihm und erwartete ihn traurig und
in seiner höchsten Liebe beleidigt zu finden, denn
seine Lage war tief tragisch. Ich fand ihn
körperlich gealtert, aber geistig geradezu verjüngt.
Er kam mir entgegen, fasste nach seiner Ge-
wohnheit meine beiden Hände und sagte: »So
ist es denn endlich vollbracht!« Dabei glänzten
seine Augen voll Begeisterung und seine Stimme
bebte vor Erregung. Er erzählte mir von den
Ereignissen der letzten Zeit, vor und nach der
Expedition nach Sicilien. Aus der Wärme und
Liebe, mit denen er von den Waffentaten und
Siegen Garibaldis sprach, leuchtete seine Freund-
schaft für diesen auf das innigste hervor, aber
er ereiferte sich auch über dessen blindes Ver-
trauen in die Menschen, und seine Unfähigkeit»
sie zu beurteilen und zu unterscheiden. Ich
dachte, ob ich wohl einen Hauch, einen Ton
der beleidigten Eigenliebe entdecken würde —
aber nein! Er war nur traurig, traurig so, wie
die Mutter, welche der verliebte Sohn auf eine
Zeit lang verlassen hat. Sie weiss, dass der
Sohn zurückkehren wird und dass er glücklich
ist, das ist ihr Ersatz für alles. Mazzini ist voller
Hoffnung fiir Italien, er und Garibaldi stehen sich
näher als je. Er erzählte lächelnd, wie die
neapolitanischen Volkshaufen sein Haus umgeben,
und, von den Agenten 'Cavours aufgewiegelt.
— 39 —
geschrieen hätten: »Tod dem Mazzinil« Man
hatte sie nämlich, unter anderen Dingen, glauben
gemacht, dass er ein »bourbonischer Repu-
blikaner« sei. »Es waren gerade,« sagte er,
»mehrere unserer Leute bei mir, und unter ihnen
ein junger Russe, der war ganz erstaunt, dass
wir, als das Greschrei vorüber war, unser unter-
brochenes Gespräch ruhig fortsetzten. Fürchten
Sie nichts, sagte ich ihm, sie werden mich nicht
töten, sie schreien nur.«
»Nein, solche Menschen braucht man nicht
zu schonen 1« wiederholt Herzen, und er hat
recht Gretötet haben sie Mazzini freilich nicht,
aber den bittem Kelch des niedrigsten Undanks
haben sie ihn trinken machen; er musste, der
einzige Exilierte, endlich unter fremdem Namen
kommen, um auf der geliebten heimatlichen
Erde zu sterben am lo. März 1872, und als der
Arzt, welcher den schon Todkranken behandelte,
ihn einen Engländer glaubend, sich wunderte,
wie gut er italienisch spreche, sagte der Sterbende :
»Es hat auch niemand Italien so geliebt wie
ich.« Dass sein Volk ihm jetzt das Denkmal
dankbarer Erinnerung setzt, ist gut, aber es
kann die Schuld nicht sühnen, die man an dem
Lebenden beging.
Im Monat Juli desselben Jahres begab ich
mich auf die Reise nach Deutschland, zu den
ersten Auffuhrungen im Theater von Bayreuth.
So war es nun wirklich geschehen ! Der Theater-
bau, bei dessen Grundsteinlegung wir, die wir
Wagners Idee verstanden und mit Begeisterung
— 40 —
erfasst hatten, voll freudiger Hoffnung zugegen ge-
wesen waren, denkend, dass das deutsche Volk
seinem grossen Meister mit bereitwilligster Hülfe
entgegenkommen werde — wir, die wir dann
jahrelang mit tiefem Unmut die dumpfe Gleich-
gültigkeit von der einen, die gehässige Bosheit
und den kleinlichen Neid von der anderen Seite
angesehen hatten, sodass wir beinahe am Ge-
lingen des Werks in bitterem Schmerz ver-
zweifelt wären, — wir sahen uns nun am Ziel.
Die hohe Gesinnung eines grossherzigen Fürsten
hatte auch hier wieder helfend eingegriffen, da
die Anzahl der gezeichneten Patronatsscheine die
nötige Summe nicht eingebracht hatte, und die
erste Aufführung im Theater von Bayreuth, die
Tetralogie der Nibelungen, war gesichert Mit
wahrem Glücksgefühl zog ich der kleinen
deutschen Stadt wieder zu, welche ich mir zur
letzten Heimat hatte wählen wollen, woran
mich die Ungunst des Klimas gehindert hatte.
Sie prangte nun im festlichen Schmuck und in
der Hoffnung einer leuchtenden, ganz einzig da-
stehenden Zukunft, welche ihr der Genius mit
seiner Wahl zu verheissen schien. Wie durch
einen Zauber war dies vergessene Heim der
geistvollen Schwester Friedrich des Grossen, der
Markgräfin Wilhelmine, wieder zum Leben ge-
rufen, und zu welchem Leben! Hier sollte ein
Kulturwerk entstehen, wie die moderne Ge-
schichte nichts Ähnliches aufzuweisen hatte,
ein Kulturwerk im griechischen Geist, wo nur
einmal im Jahr, losgelöst von den Fesseln der
— 41 —
Alltäglichkeit, das deutsche Volk sich versam-
meln und im Spiegelbild höchster Kunstschöpf-
ungen, sein eigenes edelstes Selbst verklärt er-
kennen sollte. So wenigstens hatte ich Bayreuth
verstanden, so wenigstens, glaube ich, verstand
es Friedrich Nietzsche damals, und verstand es
die kleine Anzahl derer, die sich mit Begeisterung
von Anfang an um den Meister geschart hatten.
Mein Aufenthalt, der für die ganze Zeit der
Auffuhrungen geplant war, verhiess mir in jeder
Beziehung ungemein freundlich zu werden, denn
meine töchterliche Freundin Olga, ihr Mann, ihre
Schwester und ihr kleiner Sohn kamen ebenfalls,
die ganze Zeit mit mir zu verbringen; dazu ge-
sellten sich manche liebe Freunde beinahe täg-
lich in dem zu unserer Wohnung gehörigen
schönen Garten, Nietzsche, Eduard Schure aus
Paris u. a., so dass Wagner, als er eines Tages
zu uns kam, scherzend sagte: »Nun, bei Euch
kommt hinter jedem Busch ein Professor hervor«,
denn auch Olgas Mann, Gabriel Monod, war ja
Professor. Viele der mitwirkenden Künstler
kamen und musizierten bei uns, kurz, es war ein
fröhliches, genussreiches geselliges Leben, welches
die Pausen zwischen den Auffuhrungen ausfüllte.
Nun aber diese selbst! Wer vermöchte den
Eindruck, die freudige Rührung und Ergriff*enheit
zu beschreiben, die man empfand, als sich zum
ersten Male die Räume dieses künstlerisch er-
dachten, so einfach und so edel vornehm aus-
geführten Baues öffneten; als man sogleich be-
griff, wie nur so ein grosses Kunstwerk würdig
— 42 —
anzuhören sei, indem ein jeder Sitz im Haus
nur die Bühne als Augenziel hatte, und nicht
eine hell beleuchtete Logenreihe mit geputzten
Zuschauern darin; als dann die Lampen er-
loschen, das unsichtbare Orchester seine wunder-
baren Töne wie aus einer Geisterwelt hervor-
sandte, und als endlich der Vorhang auseinander-
ging und über den »mystischen Abgrund«, wie
Liszt den tiefen Raum zwischen der Bühne und
den Zuschauern genannt hatte, hinüber die Scene
wie ein Traumbild sichtbar wurde, und Hand-
lung und Musik die Sinne so gefangen nahmen,
dass man, der AUtagswelt entrückt, eine ideale
Wirklichkeit erlebte! Nur wer ihn mit erlebt
hat, diesen ersten, entzückenden Eindruck der
kaum für möglich gehaltenen Verwirklichung
eines idealen Schöpfungsgedankens, kann es be-
greifen, mit welcher Inbrunst sich das Herz an
die Hoffnung hingab, dass eine neue Kultur-
epoche, so wie unsere grössten Geister sie ge-
träumt, für Deutschland emporkeimen werde,
dass die materielle, durch die Waffen ge-
wonnene Macht, sich verklären könne in dem,
was des deutschen Geistes bestes Erbteil ist.
Kein späterer Erfolg des Bayreuther Unter-
nehmens kam jemals wieder dem Glück dieser
Hoffnung gleich, denn wie Hohes auch erreicht
wurde und noch wird, diese Hoffnung schlug
doch fehl, das deutsche Volk blieb hinter seiner
Aufgabe zurück.
Damals aber störte nichts den holden Traum;
jede kleine Kritik verstummte, der Neid und die
— 43 —
Bosheit bemühten sich umsonst Gift in den Freuden-
becher zn mischen, und was etwa noch mangel-
haft blieb bei der Ausfuhrung, wurde kaum ge-
fühlt in der Glorie des Ganzen. Und wie be-
festigte sich da mein lang gehegter Gedanke,
dass das Theater zu einem der edelsten Kultur-
mittel fiir das Volk werden müsste, statt dass
es heutzutage beinah ein Mittel der Korruption
geworden ist. Theaterbauten, dem zu Bayreuth
ähnlich, sollten sich an verschiedenen Orten
Deutschlands erheben, das Geld fände sich schon,
wenn man ernstlich wollte, warum findet es sich
z. B. für die vielen neuen unnützen Kirchen, die
man baut, oder für die ungeheuren Militäraus-
gaben in Friedenszeit? Ebenso wie fiir das
Musikdrama müsste für das rezitierende Drama
gesorgt werden; höchstens zweimal im Jahr
vollendete AufRihrungen der edelsten Meister-
werke, und zwar mit so billigen Preisen, dass
auch die Unbegüterten daran teilnehmen und
durch den Einfluss hoher Kunst zur Gesittung
geführt werden könnten. Das wären Kultur-
aufgaben für die Regierungen, die besser wirken
würden gegen Roheit und Verbrechen, als Ge-
fängnisse und Zuchthäuser.
Damals glaubte ich noch an die Möglichkeit,
solche Dinge ins Leben zu rufen, jetzt ist die
Hoffnung wieder entflohen, weit in eine nebel-
hafte Zukunft — ach wie weit!
Die schönen Tage aber gingen froh zu Ende ;
wir hatten Herrliches erlebt und gingen mit
Schätzen der Erinnerung im Herzen fort. Am
— 44 —
Schluss der Aufführungen vereinte noch einmal
ein grosses Bankett das ganze zuletzt gebliebene
Publikum, wobei Wagner eine herrliche Rede
hielt, die mit den viel zitierten, oft missverstan-
denen Worten schloss: »dann haben wir eine
deutsche Kunst«. Nach ihm sprach Liszt, den
er gerührt als einen der edelsten Förderer seines
Werks gepriesen, mit der ihm eigenen Grazie
und Feinheit der Bildung wenige aber schöne
Worte und sagte, wie er sich vor Dante Alig-
hieri und vor Michel Angelo beuge, so beuge
er sich nun vor dem Genius, dessen Tat wir
erlebt hätten. Die Umarmung der zwei Männer,
jetzt sich auch verwandtschaftlich so nahe, war
ein schön bewegter Schluss eines Kulturfestes
von der allerhöchsten Bedeutung. Leider war
die Welt noch nicht reif genug dafür.
Nach einem Aufenthalt im Verein mit Olga
in einem deutschen Badeort ging ich im Herbst
nach Italien zurück, und zwar noch nicht zu
bleibendem Aufenthalt nach Rom, sondern zu-
nächst nach Neapel zur Ausfuhrung eines Planes,
der von mir erdacht, sich dort verwirklichen
sollte. Die Gesundheit Friedrich Nietzsches,
mit dem mich nun schon seit dem Jahre 72
warme Freundschaft verband, hatte sich nämlich
in solchem Masse verschlechtert, dass er für
nötig fand, einen längeren Urlaub von der
Universität in Basel zu erbitten, um sich einmal
ganz auszuruhen, und zwar zog es ihn nach dem
Süden, da es ihm schien, als müsste die wonne-
volle Natur dort ihn, den schönheitsdurstigen
— 45 —
Griechen, ganz herstellen können. Er hatte aber
vorsorgliche Umgebung und Pflege nötig, und
da weder Mutter noch Schwester ihn damals
begleiten konnten und ich mir noch kein festes
Asyl in Rom gegründet hatte, so bot ich ihm
schriftlich an, mit ihm zusammen nach Sorrent
zu gehen, um den Winter da zu verbringen und
im glücklichen dolce far niente des Südens Er-
holung, ja Genesung zu suchen. Er antwortete:
»Verehrteste Freundin, ich weiss wirklich nicht,
wie ich Ihnen für das in Ihrem Briefe Ausge-
sprochene und Angebotene danken soll; später
will ich Ihnen sagen, wie zur rechten Zeit dies
Wort von Ihnen gesprochen wurde und wie
gefährlich mein Zustand ohne dieses Wort ge-
worden sein würde ; heute melde ich Ihnen nur,
dass ich kommen werde« etc. — In einem
späteren Brief schrieb er dann noch: »Ungefähr
alle acht Tage habe ich meinen Leiden (Kopf-
und Augenschmerzen) ein dreissigstündiges
Opfer zu bringen, deshalb vertröste ich mich
ganz und gar auf das Zusammensein mit Ihnen
am Golf von Neapel. Wir wollen dort schon
die Gesundheit erzwingen. An dieser Hoffnung
hat mich bisher nichts irre gemacht.«
Ich Jiatte bereits vorbereitend eine Fahrt
nach Sorrent gemacht und eine Wohnung ge-
funden, wie sie flir die kleine Kolonie passte, zu
welcher unser Duo angewachsen war. Nietzsche
hatte nämlich einen von ihm sehr geschätzten
Freund, Dr. Paul Ree, und einen seiner Schüler,
einen jungen Basler, Brenner mit Namen, zum
- 46 -
Mitgehen nach Sorrent vorgeschlagen, und da
ich nichts dagegen hatte (ich kannte nur den
letzteren, da er seiner Gesundheit wegen in
Rom gewesen war), so wurde auch auf Wohnen
in demselben Hause Rücksicht genommen* Es
fand sich eine unbesetzte, von einer Deutschen
eingerichtete Pension, mitten in einem Wein-
garten, wo im ersten Stock sich Zimmer für die
drei Herren, mit Terrassen, im zweiten Stock
Zimmer für mich und meine Jungfer, und ein
grosser Saal zum gemeinschaftlichen Gebrauch
vorfanden; von den Terrassen hatte man die
herrlichste Aussicht über den grünen Vorgrund
des Gartens hinweg auf den Golf und den eben
damals sehr aufgeregten, abends Feuersäulen
emporsendenden Vesuv. Nachdem ich so für
Unterkommen gesorgt hatte, ging ich nach Ne-
apel zurück, meine Gefährten zu erwarten. Sie
kamen zu Schiff von Genua her, und Nietzsche
war etwas enttäuscht, weil ihm die Seefahrt und
die Ankunft in Neapel mit dem schreienden,
lärmenden, zudringlichen Volk sehr unangenehm
gewesen waren. Gegen Abend jedoch lud ich
die Herren zu einer Fahrt auf den Posilip ein.
Es war einer jener Abende, wie man sie nur
dort erlebt, Himmel, Erde und Meer schwammen
in einer Glorie von Farbentönen, die man nicht
beschreiben kann, die aber die Seele durch-
dringen mit dem Zauber einer wonnevollen
Musik, einer Harmonie, in der sich jeder Misston
auflöst und verschwindet. Ich sah, wie Nietz-
sches Gesicht sich in freudigem, beinahe kind-
— 47 —
lichem Staunen aufhellte, wie ihn innige Rührung
überkam, und endlich brach er in einen Jubel-
ausruf über den Süden aus, den ich als eine
gute Vorbedeutung für seinen Aufenthalt be-
grüsste.
In Sorrent nun richtete sich das Leben ganz
behaglich ein. Am Morgen fanden wir uns nie
zusammen, ein jeder blieb in völliger Freiheit
bei seiner eigenen Beschäftigung. Erst das
Mittagessen vereinigte uns, und zuweilen am
Nachmittag ein gemeinschaftlicher Spaziergang
in der zauberischen Umgebung, zwischen Orangen-
und Citronengärten hin, deren Bäume, hoch wie
unsere Äpfel- und Birnbäume, ihre von goldenen
Früchten beladenen Äste über die Gartenum-
zäunung herüber, den Weg beschattend, hängen
liessen, oder hinauf auf die sanften Höhen, oft
an Bauernhöfen vorüber, wo anmutige Mädchen
in heiterem Zusammensein die Tarantella tanzten,
nicht die gekünstelte, wie sie jetzt von geputzten
Banden für die Fremden in den Gasthöfen ge-
tanzt wird, sondern in ursprünglicher, von natür-
licher Grazie und Sittsamkeit begleiteter Art.
Oft zogen wir auch zu weiteren Ausflügen auf
Eseln aus, die dort für die unwegsameren Berg-
touren bereit gehalten werden, und da gab es
meist viel Lachen und Spass, besonders mit
dem jungen Brenner, dessen lange Beine beinahe
mit denen des Esels zugleich auf der Erde fort-
liefen, und dessen noch etwas ungeschickte
schülerhafte Art die Zielscheibe gutmütiger
Scherze wurde. Am Abend vereinte uns aufs
- 48 -
neue das Abendessen und nach demselben im
gemeinschaftlichen Salon angeregtes Gespräch
und gemeinsame Lektüre.
Der erste Monat wurde noch durch die An-
wesenheit von Wagner und seiner Familie ver-
schönt, die nach den Anstrengungen des Som-
mers während der Aufifiihrungen durch eine
Reise in Italien Erholung suchten. Sie wohnten
im Hotel, wenige Schritte von uns, und ich ver-
brachte natürlich den grössten Teil meiner Zeit
mit ihnen, besonders mit der von mir so innig
geliebten und hochgeschätzten Cosima, mit der
das Zusammensein mir stets geistig und gemüt-
lich den höchsten Genuss gewährte. Wagner
las dort mit grossem Interesse die Geschichte
der italienischen Republiken von Sismondi und
rief Cosima und mich oft herbei, um uns eine
oder die andere Episode, die ihm besonders
gefiel, vorzulesen, so u. a. eine, die er nachher
in Rom dem damals noch lebenden, sehr be-
gabten italienischen Dichter Costa zu dramatischer
Bearbeitung empfahl, die aber nicht zu stände
kam. Öfters wurde auch unser Quatuor abends
zu Wagners geladen; es befremdete mich aller-
dings dabei, in Nietzsches Reden und Benehmen
eine gewisse gezwungene Art von Natürlichkeit
und Heiterkeit zu bemerken," die ihm sonst ganz
fremd war; da er sich aber nie missfällig über
oder widerstrebend gegen den Verkehr äusserte,
so kam mir der Verdacht nicht, dass eine
Änderung in seinen Gesinnungen vorgegangen
sein könnte, und ich gab mich mit ganzem
— 49 —
Herzen diesem Nachgenuss von Bayreuth im Verein
mit so ausgezeichneten Menschen hin. Das Glücks-
gefiihl, in solcher geistigen Intimität zu leben,
gab mir eines Abends, als wir alle dort zu
Tisch waren, Grelegenheit, einen von mir sehr
geliebten Spruch von Goethe zu zitieren: »Selig
wer sich vor der Welt ohne Hass verschliesst,
einen Freund am Busen hält und mit dem ge-
niesst, wass von Menschen nicht gewusst oder
nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust
wandelt bei der Nacht.«
Wagners kannten den Spruch nicht, waren
aber entzückt davon und ich musste ihn wieder-
holen. Ach wie wenig ahnte ich da, dass die
Dämonen, die auch im Labyrinth der Brust bei
der Nacht wandeln und das göttliche Geheimnis
der Sympathie zwischen edlen Geistern feind-
lich betrachten, bereits am Werk waren, um zu
entzweien und zu trennen.
Wagners schieden Ende November und nun
begannen erst recht unsere Lese- Abende. Wir
hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von
Büchern mit, aber das Schönste unter dem
Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vor-
lesungen von Jakob Burckhardt über griechische
Kultur, in Basel an der Universität gehalten, von
einem Schüler Nietzsches geschrieben und diesem
auf die Reise mitgegeben. Nietzsche gab dazu
mündliche Kommentare, und gewiss hat kaum je
eine herrlichere und vollkommenere Darlegung
dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit
stattgefunden, als hier schriftlich und mündlich,
Meysenbu^g, IV . 4
— so —
durch diese beiden grössten Kenner des griechi-
schen Altertums. Meine Vorliebe für jene
herrliche Blütezeit des menschlichen Geistes
steigerte sich dadurch zu höchster Begeisterung.
So entzückte mich die Definition Burckhardts
über das Wesen des griechischen Volks : »Pessi-
mismus der Weltanschauung und Optimismus
des Temperaments«. Grewiss eine treffliche
Mischung, um ein vollendetes Volk zu schaffen.
Der Pessimismus der Erkenntnis verhindert die
falschen Anschauungen und Schlüsse im Leben,
und das optimistische Temperament treibt dessen
ungeachtet zu Taten und zur Idealisierung der
als schlecht erkannten Welt. »Die allgemeine
Weltanschauung, die sich im Mythos der Heroen
offenbart,« sagt Burckhardt femer, »ist wieder
die, das die Welt schlecht ist, aber es ist gar
nicht die Reflexion, sondern das innerste Träumen
und Sinnen der Griechen, welches den Mythos
schafft. Und zwar wird die Welt immer
schlechter; Mord, Hass, Neid herrschen im
Heroentum ; dazu kommt die schreckliche Denk-
weise der mythischen Frauen, Medea, Klytäm-
nestra und andere. Die letzte Ermahnung des
Amphiaäus an seine Söhne st : ,Ermordet eure
Mutter*. Die seltenen, herrlichen, reinen Ge-
stalten, wie AchiD, Antigone etc., müssen früh
sterben.«
Der Mythos ist also das ewige Bild der Na-
tion, in welcher der Grieche seine Vorzeit und
sich selbst mit all seinen Gedanken, seiner Phi-
losophie, seinen Eigenschaften, seiner Lebens-
— 51 —
auffassung anschauen wollte. So hat auch
Wagner seine Nibelungen zum Mythos des
deutschen Volkes geschaffen, nicht bloss, indem
er die Vergangenheit im alten Mythos wieder-
holte, sondern indem er das ewige Wesen des
deutschen Volks darin bespiegelt.
Wie tief und herrlich erschien mir dann
wieder folgende Betrachtung, als Burckhardt von
der Religion sprach und sagte, es sei ein ewig
denkwürdiges Schauspiel, diese uralte Tradition zu
sehen, welche, von der prachtvollsten Phantasie
getragen, niemals durch eine Theologie korrigiert
worden sei. Als die Philosophen es endlich
hätten versuchen wollen, sei es zu spät gewesen.
Die griechischen Götter, obgleich herrliche
Wesen, seien wenig geachtet worden, der Kultus,
obgleich riesengross, habe es doch nicht ver-
mocht, die trübsten Gedanken über das Erden-
leben zu beschwören. Diese Widersprüche,
meint er, würden wir wohl nie bis zur völligen
Klarheit entwirren können, und doch würden
wir dies schöne Rätsel nicht los werden bis
ans Ende der Tage. Dem ähnlich sei es auch
mit dem Heroenkultus; das heroische Zeitalter
wäre durchaus nicht das goldene gewesen, sondern
habe in vollem Masse das Böse gekannt. Die
Perser, die Ägypter, selbst die Inder hätten ein
Heroentum gehabt, doch bei allen habe sich
darüber eine Theologie entwickelt, nur die
Griechen seien davon frei geblieben. Ihre Heroen
stammten von den Göttern, waren aber zugleich
gewaltige Menschen, die wieder nach oben
4*
— sp-
rangen. Die Griechen waren überzeugt, dass
das Grosse und Herrliche nicht langsam ansetzt,
wie der Krystall in der Felshöhle, und dass
die Vögel es nicht auf ihren Fittichen zusammen-
tragen, sondern dass es dazu grosser Individuen
bedarf, ohne die nichts geschehen kann.
Nietzsche sagte, dass die eigentliche Blüte-
zeit des griechischen Volkes die drei Jahrhunderte
nach dem heroischen Zeitalter bis zu der Schlacht
bei Marathon gewesen seien, die Zeit des Agon,
des Wettkampfes, wo ein jeder der erste sein
konnte, weil die Eifersucht des grossen Strebens
es nicht litt, dass einer zu hoch empor rage.
Er hatte dies Thema schon früher einmal in
einem Aufsatz, »Homers Wettkampf« betitelt,
berührt und erwähnt, dass die vorhomerische
Zeit eine Zeit äusserster Grausamkeit gewesen
sei, welche den Mord und die Kinder der Nacht,
der grausamen Eris entsprungen, erzeugt habe;
dass aber auch die hellenische Blütezeit Neid
und Hass angenommen habe, doch als Kinder
einer anderen milderen Eris, welche alle ruhm-
reichen schönen Taten veranlasste, indem sie
den Wettkampf hervorrief. Dieser entsprang
dem glühenden Streben, kein einzelnes hervor-
ragendes Genie aufkommen zu lassen, sondern
ein ganzes Volk gleichbegabter, in Vorzüglichkeit
miteinander wetteifernder Menschen zu bilden,
wo das Beispiel des einen den anderen zu gleich
herrlichen Taten anfeuern sollte. Das erklärt
auch in mildernder Weise den Ostracismus, der
gerade die bedeutendsten Menschen traf, weil
— 53 —
ihre hervorragende Grösse bedenklich wurde:
Diesen Neid gegen die Grösse einzelner Sterb-
lichen fühlten selbst die Götter; so verblendeten
sie z. B. die Sinne des Miltiades, weil er nach
Marathon von zu hohem Ruhm umstrahlt war,
damit er in der Liebe für eine Priesterin ent-
brenne, bei Nacht die heiligen Tempelmauern
übersteige, um ihr zu nahen, dann aber von
Grrauen ergriffen zu Boden stürze; verwundet
wurde er gefangen genommen und verurteilt.
Welch ein Feuer der Grrösse musste in diesen
griechischen Seelen brennen, dass sie auch selbst
die Tyrannei des Genius nicht ertragen konnten 1
Denn es war ja nicht das Niveau der Mittel-
mässigkeit, welches sie erstrebten, sondern Neid
und Hass waren ihnen Tugenden, welche dem
Streben nach dem Höchsten Nahrung gaben.
Vielleicht kann man es aber auch so erklären,
dass sie es nicht ertragen konnten, einen Flecken
an ihren Heroen zu sehen, und wenn eine heller
strahlende Persönlichkeit plötzlich eine Schwäche
zeigte, eine Nachtseite der Natur, so verbannten
sie dieselbe rasch, um sich das göttergleiche
Lichtbild nicht verdunkeln zu lassen.
Wie viele Seiten geistvoller Auffassung der
Lebensvorgänge bei den Griechen kamen da zur
Sprache. Ich erzählte, dass es mir kürzlich bei
einem Besuch im Museum in Neapel aufgefallen
sei, wie anmutig und fein die Griechen die
aufsteigende Stufenleiter lebender Organismen
darzustellen gewusst hätten, ohne der Affen-
theorie zu bedürfen. Ihre Satyren, Kentauren
— 54 —
Faune sind doch nur Halbmenschen, Ubergangs-
geschöpfe, denen der schöne Mensch und zuletzt
der Halbgott folgt. Aber wie reizend ist diese
Übergangswelt gezeichnet. Wer würde nicht
fröhlich, wenn er die tanzenden Faune ansieht,
jene unschuldig sinnlichen Naturkinder, die im
heiteren Licht des Tages noch nicht viel über
der Genussfähigkeit des Schmetterlings, der von
Blume zu Blume fliegt, stehen. Der Neapolitaner
aus dem Volk ist noch ganz der antike Faun;
es sind dieselben Bewegungen beim Tanz, das-
selbe tierische glückliche Lächeln, das Wesen,
welches, wie das Kind und das Tier, nur
Gegenwart kennt, keine Vergangenheit und keine
Zukunft. Wie feinfühlig aber mussten sie auch
sein, um die leisesten Übergänge im seelischen
Leben zu charakterisieren. So stellte der Künstler
Scopas den Himeros, die Sehnsucht, und Pothos,
das Verlangen, in einer Grruppe mit Eros dar.
Wie fein musste er empfinden, um diese nahen
Verwandten zu unterscheiden. Und wieder ein
anderes Beispiel: Mars hiess der Leuchtende,
und war ursprünglich eins mit Apoll bei Grriechen
und Italikern; wurde erst später Gott des Kriegs.
Dionysos hingegen war der Dunkle, und war
eins mit Orpheus. Wie geistvoll ist das: Der
Krieg entzündet sich am Tag, an der leuchtenden
Helle, am Schein, der die Menschen in die
Leidenschaften des Wahns verstrickt. Die
Musik steigt aus den dunklen Tiefen der Seele
auf, deshalb muss Orpheus in das Reich der
Nacht hinab, um die verlorene Liebe durch
— 55 —
Töne wieder zu erringen. Die Nacht gebiert
die Musik, den Ausdruck des tiefsten wahren
Lebens, ausserhalb alles Scheins. In der Nacht,
der fiir uns scheinbaren Nacht, ruht also das
eigentliche harmonische Dasein, das, von dem
uns die Musik in Ahnungen redet.
Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts
beendet hatten, lasen wir Herodot und Thuky-
dides. Der letztere riss mich zu höchster Be-
wunderung hin. Seine Schilderung vom Unter-
gange Athens durch die Niederlage bei Syrakus,
wo zum ersten Mal dessen bis dahin unbesiegte
Seemacht unterlag, die Flotte zerstört, das
glänzendste Heer vernichtet wurde, ergriff mich
tief durch ihre furchtbare Tragik. Thukydides
nennt es das grösste Ereignis der grichischen
Geschichte. Mir schien es der tragischeste
Untergang einer Weltgrösse in der ganzen Welt-
geschichte, denn alle die, welche da untergingen,
wussten es, dass mit ihnen das Vaterland unter-
ging, und ich empfand den Schmerz des alten,
edlen Nikias mit ihm ; hatte er es doch voraus-
gesagt und gegen den kühnen Alkibiades vom
Kriege abgeraten. Was mich aber besonders
am Thukydides rührte und ergriff, das war die
unendliche Einfachheit, mit welcher die Menschen
das Höchste sagen, als war' es nur das Gewöhn-
liche, das dem Menschen Angemessene. In der
modernen Welt sagt^man das Höchste mit
Pathos als etwas Aussergewöhnliches, weil man
gewöhnlich trivial spricht.
Am Morgen des ersten Januars 1877 machte
- 56 -
ich allein mit Nietzsche einen schönen Spazier-
gang längs des Meeres und wir setzten uns auf
einen Felsvorsprung, der weit in die tiefblaue
Flut hinein ragte. Es war schön wie ein
Frühlingsmorgen ; laue Luft wehte und von den
Ufern grüssten die goldenen Früchte der grünen
Orangenbäume. Wir waren beide in der friedlich-
harmonischsten Stimmung ; liebliche, bedeutende
Gespräche standen im Einklang mit dem glück-
verheissenden Anfang des Jahres, und wir kamen
schliesslich überein, dass das wahre Ziel des
Lebens sein müsse, nach Weisheit zu streben.
Nietzsche sagte, dass dem rechten Menschen
alles dazu dienen müsse, auch das Leiden, und
dass er insofern auch das letzte leidenvolle Jahr
seines Lebens segne. Ja, sagte ich, für alle
diese höchsten Wahrheiten hat doch auch die
Bibel immer ein schönes Wort, das im Grunde
dasselbe meint, was wir meinen; sie drückt es
nur so aus : Denen, die Gott lieben, müssen alle
Dinge zum Besten dienen.
Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche
damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebens-
würdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt
das Gleichgewicht, Wie heiter konnte er auch
noch sein, wie herzlich lachen, denn bei, allem
Ernst fehlten doch auch Scherz und Heiterkeit
nicht in unserem kleinen Kreise. Wenn wir so
abends beisammen sassen. Nietzsche gemütlich
im Lehnstuhl hinter seinem Augenschirm, Dr.
Ree, unser gütiger Vorleser, beim Tisch, wo die
Lampe brannte, der junge Brenner am Kamin
— 57 —
mir gegenüber und mir helfend Orangen schälen
für das Abendbrot, da sagte ich oft scherzend:
»Wir repräsentieren doch wirklich eine ideale
Familie; vier Menschen, die sich früher kaum ge-
kannt, kein verwandtschaftliches Band haben,
keine gemeinsamen Erinnerungen, und nun in
vollkommener Eintracht, in ungestörter persön-
licher Freiheit, ein geistig und gemütlich be-
friedigtes Zusammenleben führen.« Auch fehlte
es bald nicht an Plänen für eine Erweiterung des
so glücklich gelungenen Experiments. Ich erhielt
damals gerade besonders viele Briefe von Frauen
und Mädchen aus der unbekannten Menge, die
mir infolge meiner »Memoiren einer Idealistin«
ihre Sympathie kund gaben, wie dies übrigens
auch in der langen Reihe folgender Jahre zu
meiner innigsten Freude und Befriedigung fort-
während der Fall gewesen ist. Diese Tatsache
gab einer Idee Nahrung, die bei mir entsprungen
war, und die ich meinen Gefährten mitgeteilt
hatte, nämlich eine Art Missionshaus zu gründen,
um erwachsende Menschen beiderlei Geschlechts
zu einer freien Entwicklung edelsten Geisteslebens
zu führen, damit sie dann hinausgingen in die
Welt, den Samen einer neuen, vergeistigten
Kultur auszustreuen. Die Idee fand den feurig-
sten Anklang bei den Herren; Nietzsche und
Ree waren gleich bereit, sich als Lehrer zu be-
teiligen. Ich war überzeugt, viele Schülerinnen
herbeiziehen zu können, denen ich meine be-
sondere Sorge widmen wollte, um sie zu edelsten
Vertreterinnen der Emanzipation der Frau heran-
- 58 -
zubilden, damit sie hülfen, dieses so wichtige
und bedeutungsvolle Kulturwerk vor Missver-
ständnis und Entstellung zu bewahren, und in
reiner, würdevoller Entwicklung zu segensvoller
Entfaltung zu führen. Wir suchten schon nach
einem passenden Lokal, denn in dem herrlichen
Sorrent, in der wonnevollen Natur, und nicht in
städtischer Enge sollte die Sache zu stände
kommen. Wir hatten unten am Strand mehrere
geräumige Grotten, wie Säle innerhalb der Felsen,
offenbar durch Arbeit erweitert, gefunden, in denen
sogar eine Art Tribüne, wie express für einen
Vortragenden bestimmt zu sein schien. Die
dachten wir in heissen Sommertagen als sehr
geeignet, um unsere Lehrstunden da zu halten,
wie denn überhaupt das ganze Lehren mehr ein
gegenseitiges Lernen nach Art der Peripathetiker,
und im allgemeinen mehr nach griechischem
als modernem Muster sein sollte. Dieser Plan
beschäftigte uns oft, und wir hielten die Aus-
führung nicht für unmöglich, hatte ich doch einst
in Hamburg in der Hochschule schon Ähnliches
mit dem schönsten Erfolg gekrönt, erlebt. Und
dennoch scheiterte auch dieses wieder, wie so
vieles Ideale, an den Verhältnissen, die störend
dazwischen traten, besonders von Seiten der
Herren.
Unsere gemeinschaftlichen Lektüren nahmen
jetzt einen anderen Charakter an. Wir verliessen
das schöne griechische Altertum und es kam
ein Gemisch von neueren, doch stets bedeutenden
Sachen an die Reihe. Ree hatte eine besondere
— 59 —
Vorliebe für die französischen Moralisten und
teilte diese auch Nietzsche mit, der sie vielleicht
schon früher gelesen hatte, deren nähere Be-
kanntschaft aber sicher nicht ohne Einfluss auf
seine spätere Entwicklung geblieben ist, und ihn
namentlich zu dem Ausdruck seiner Gedanken
in Aphorismen geführt hat, wie ich später Gre-
legenheit hatte zu bemerken. Auch beeinflusste
ihn offenbar die streng wissenschaftliche, realisti-
sche Anschauungsweise Dr. Rees, die seinem
bisherigen, immer von dem ihm innewohnenden
poetischen und musikalischen Element durch-
drungenen Schaffen beinah etwas Neues war
und ihm ein fast kindlich staunendes Vergnügen
machte. Ich bemerkte das öfter und sagte es
ihm auch scherzend als Warnung, da ich Rees
Anschauungen nicht teilte, trotz meiner hohen
Achtung für seine Persönlichkeit und meiner
Anerkennung seiner gütigen Natur, welche sich
besonders in seiner aufopfernden Freundschaft
für Nietzsche zeigte. Sein Buch »Über den
Ursprung der moralischen Empfindungen« erregte
mir nur den entschiedensten Widerspruch, und
ich nannte ihn im Scherz »chemische Kombina-
tion von Atomen«, welches er sehr freundlich
hinnahm, während uns im übrigen herzliche
Freundschaft verband.
Wie sehr seine Art, die philosophischen
Probleme zu erklären, auf Nietzsche Eindruck
machte, ersah ich aus manchen Gesprächen.
So kam es einmal auf einem Spaziergang zwischen
Nietzche und mir zu einem philosophischen
— 6o —
Streit, indem er das Gesetz der Kausalität
leugnete und sagte, es gäbe nur ein Nachein-
ander von Dingen und Zuständen, aber nicht als
Wirkung der einen aus den anderen; was wir
als Ursache und Wirkung empfänden, seien un-
erklärte Tatsachen. Die griechischen Philo-
sophen, die Eleaten hätten zwar das Seiende,
das Unveränderliche für die alleinige Ursache
und die wahre Realität erklärt, dem widerspräche
aber in jedem Augenblick die Welt als ein ewig
Werdendes und Wandelbares. Ich entgegnete
ihm, dass sicher das Seiende, das Unveränder-
liche die wahre Realität sei, das Ding an sich,
das sogenannte Metaphysische. Wir müssten
uns nur nicht fürchten das anzuerkennen. Die
scheinbar ewig werdende Welt sei nur die Er-
scheinung des Seins, nur für uns sei sie Wechsel,
für unsere beschränkten Sinne. Aber in all dem
Wandel, in Leben und Tod, in Werden und
Vergehen offenbare sich das All-Eine, das;Sein.
Die Inder wussten es schon : »tat wam asi«, das
bist du. . — Ein anderes Mal in einem Gespräch
über Schopenhauer äusserte er, es sei der Irr-
tum aller Religionen, eine transcendentale Ein-
heit hinter der Erscheinung zu suchen, und das
sei auch der Irrtum der Philosophie und des
Schopenhauerischen Gedankens von der Einheit
des Willens zum Leben. Die Philosophie sei
ein ebenso ungeheurer Irrtum, wie die Reli-
gion. Das allein Wertvolle und Gültige sei die
Wissenschaft, welche allmählich Stein an Stein
füge, um ein sicheres Gebäude aufzuführen.
— 6i —
Die beiden Ersten hielten die Menschen auf in
ihrem Gang zur Wahrheit, sie drückten nur
die Tendenz unseres Geistes aus, die Lösung
des Lebensrätsels ein für allemal finden zu
wollen.
Ich wendete ihm ein, dass mir das gerade
ein Irrtum schien, diese Einheit als etwas
Transcendentales anzusehen, während sie doch
gerade das alles Ausfüllende, in der Erscheinung
sich Kundgebende sei. Weil die Beschränktheit
unseres Erkenntnisvermögens der Hülfsmittel
von Raum und Zeit bedürfe, so hätten wir doch
nicht das Recht, das ausserhalb Liegende trans-
cendental zu nennen, nur unsere Wahrnehmungs-
fähigkeit reiche nicht daran. Dennoch sei es
ein logischer, vemunflgemässer Schluss, dass das
ausser unserer Wahrnehmung Liegende dieselben
Bedingungen in sich trüge, und sich nach den-
selben Gesetzen bewege, wie das uns Erkenn-
bare, dass also da nicht von transcendental die
Rede sein könne. Und um wie viel weniger
noch sollten wir die herrliche Macht des Ge-
dankens in ein unhaltbares transcendentales
Grebiet verweisen, der, eine enge Form nach der
anderen abwerfend, siegreich durch die Nacht
der Zeiten vorwärtsschreite zu immer grösserer
Klarheit. Es scheine mir das nur der alte Hoch-
mut der Menschen zu sein, der, nachdem die
Theorie der Abstammung vom Affen die der
Einblasung göttlichen Odems zerstört habe, sich
nun in die vornehme Abweisung des Metaphy-
sischen, Transcendentale flüchte, und sich nur an
— 62 —
das Experiment halte — an die oft so armselige
Tatsache I
Und was doch gerade die frühere Schrift
Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« so hoch
stellte, war, dass er es darin aussprach, die
Kultur habe einen metaphysischen Zweck I
Mit dem beginnenden Frühjahr schieden R6e
und Brenner, um ein jeder in seine Heimat
zurückzukehren. Nietzsche und ich blieben
allein, etwas in Not wegen unserer Abende, da
wir beide, augenleidend, nun unseres trefflichen
Vorlesers beraubt waren. Aber Nietzsche sagte
fröhlich: >Nun, da wollen wir desto mehr zu-
sammen reden.« Und so geschah es auch, denn
es fehlte nie an reichem Stoff zu Gesprächen.
So sprachen wir u. a. einmal über die »Braut
von Korinth« und Nietzsche bemerkte, Groethe
habe dabei an die alte Sage vom Vampyr ge-
dacht, die antik, und schon von den Griechen
gekannt gewesen sei, und habe es damit ver-
sinnlichen wollen, wie die Sitten und Sagen des
Altertums sich in der christlichen Welt zu
spukhaften Dingen verdunkelten, und wie die
finstere Wendung, welche das Christentum sehr
bald nach seiner Entstehung nahm, die schöne
freie Sinnenwelt der Griechen verunstaltete, und
das blühende natürliche Leben in Moderduft und
Gerippenkultus verkehrte. >Ja,« sagte ich, >man
muss nur auch immer daran denken, dass das
historische Christentum in den Katakomben
geboren ist.«
Ein anderes Mal sprachen wir über >die
- 63 -
natürliche Tochter« von Goethe und ich sagte,
ich fände es darin so wunderschön, dass in den
Dialogen ein jeder immer den höchsten Inhalt
von seinem Gesichtspunkt aus erfasse und ver-
teidige, weshalb eigentlich ein jeder recht
habe, wie z. B. im Gespräch des Herzogs und
des Weltgeistlichen, in dem der Eugenie und
des Mönchs etc. Nietzsche sagte, dass Goethe
dasselbe bei Sophokles gefunden hätte, dessen
Personen sprächen alle so schön und würdevoll,
dass sie uns alle überzeugten.
Bei Gelegenheit einer Unterhaltung über
Groethe und Schiller meinte Nietzsche, Goethe
habe in Schiller die gewaltige ihm höhere Natur
geehrt, und Schiller in Goethe den gewaltigen
ihm höheren Künstler. Ich gab nicht zu, dass
Goethe die minder hohe Natur gewesen sei, nur
war er die glücklichere, zur Harmonie gelangte,
während wir in Schiller die hohe sittliche Kraft
verehren, die mit dem Leiden ringt, und sich
siegend aus ihm erhebt.
Noch an einem anderen Abend kam das
Gespräch auf Don Quichote. Nietzsche tadelte
es, dass Cervantes die eigentlich ideale Figur,
den Menschen mit idealem Streben, zum Spott
der Alltagswelt werden lässt, anstatt dem Gegen-
teil, und meinte, das Buch habe wohl nur einen
literarischen Zweck gehabt, dem Lesen schlechter
Ritterromane Einhalt zu tun. Ich dagegen ver-
stand das Buch dahin, dass der Mensch mit
idealen Bestrebungen, wenn er sie in einer ana-
chronistischen Form vorbringt ganz natürlich in
- 64 -
der Alltagswelt, welche die idealen Absichten
überhaupt nicht versteht, zum Narren und zur
Karikatur wird. Und andererseits schien es mir
auch, dass das Buch aus der ungeheuersten
Menschenverachtung hervorgegangen ist, aus der
hohnlächelnden Ironie, mit welcher der, der die
Welt versteht, auf den armen Idealisten sieht,
der glaubt in einer solchen Welt Ideale ver-
wirklichen zu können.
Zuweilen gelang es uns doch, auch ein wenig
zusammen zu lesen, so eines Tages die Sakun-
tala, die Nietzsche noch nicht kannte. Er hatte
bei den ersten vier Akten viel einzuwenden,
fand zunächst die tragische Motivierung zu
leicht, und das Verdienst des Dichters zu
gering, da der ganze Hintergrund von Blumen,
Tierleben und Büsserhainen etc. Indien an-
gehöre, und nicht ihm. Aber wäre es nicht
eher ein Fehler, wenn ein dramatisches Werk
des lokalen Hintergrunds entbehrte, keine lokale
Färbung hätte? Ist es besser, wenn der Dich-
ter das alles mit der Phantasie schaffen muss,
was Kalidäsa aus eigener Anschauung kannte,
und es ganz natürlich darstellte, so duftig, zart
und farbenprächtig wie Indien selbst? Ferner
fand Nietzsche das Schuldmotiv zu leicht.
Aber spricht sich darin nicht gerade das tiefe,
zarte seelische Empfinden der Inder aus? Sa-
kuntala liebt zu sehr, vergisst in ihrer Liebes-
ekstase die heiligste der Pflichten, die der Gast-
freundschaft, und dafür trifft sie der Fluch der
Gekränkten; der Sinn des Königs wird mit
- 6s -
Blindheit geschlagen, sodass er sie nicht mehr
kennt und sie muss nun im Leiden ihre Liebe
von aller Selbstsucht reinigen und ihre Heiligung
vollbringen. Dann ist der Fluch gelöst und sie
darf das Glück vollendeter Seelen gemessen. Hat
die griechische Tragödie das Schuldmotiv tiefer
gefasst? Antigone verletzt auch wie Sakuntala
das Gesetz aus Liebe und muss dafür sterben.
Ethisch ist hier vielleicht die indische Auffassung
noch die höhere, denn sie gewährt die Vollendung
durch die Busse.
Wir sprachen über den Spruch Schillers:
»Gemeine Naturen zahlen mit dem was sie tun,
edle mit dem was sie sind«, und kamen auf
Dichter im allgemeinen und auf Mazzini. Aber
Mazzini zahlte, und Dichter zahlen auch mit dem
was sie tun, nur mit dem Unterschied, das der
Dichter sein Tun auf seine tragischen Personen
überträgt, in ihnen fühlt, handelt, leidet, während
Mazzini die tragische Persönlichkeit selbst war,
die nur der idealen Tat willen das herbste
Leiden auf sich genommen hatte. Nietzsche
sagte, dass er unter allen Leben am meisten
das Mazzinis beneide, diese absolute Konzen-
tration auf eine einzige Idee, die gleichsam
eine gewaltige Flamme werde, an der das Indi-
viduelle verbrenne. Der Dichter befreit sich
von der Tatgewalt, die in ihm ist, indem er
sie in Gestalten inkarniert, und Tun und Leiden
ausser sich setzt. Er ist wie der Wille selbst,
er muss sich objektivieren, den Drang zur Tat
in Erscheinungen ausströmen; jedes Gefühl,
Meysenbug, IV. 5
— 66 —
jede Leidenschaft ist in ihm als Fähigkeit da,
daher kann er alle Verschiedenheit der Wesen
darstellen, nachdem er ihre Not, ihre Schuld,
ihren Schmerz mit durchgemacht hat. Er erlöst
sich wie der Wille, indem er sich objektiviert.
Mazzini objektivierte sich durch sein Leben,
welches eine unausgesetzte Tat der edelsten
Individualität war.
Eines Tags kam Nietzsche mit einem grossen
Paket beschriebener Blätter in der Hand und
sagte mir, ich möge sie doch einmal lesen, es
seien Gedanken, welche ihm auf seinen einsamen
Spaziergängen gekommen wären, besonders be-
zeichnete er mir einen Baum, wenn er unter
dem stände, fiele ihm immer ein Gedanke her-
unter. Ich las die Blätter mit grossem Interesse,
es waren herrliche Gedanken darunter, besonders
solche, die sich auf seine griechischen Studien
bezogen, es waren aber auch andere, die mich
befremdeten, die gar nicht zu Nietzsche, wie er
bisher gewesen, passten und mir bewiesen, dass
jene positivistische Richtung, deren leise Anfänge
ich sehon im Laufe des Winters beobachtet
hatte, anfing Wurzel zu fassen, und seinen An-
schauungen eine neue Gestalt zu geben. Ich
konnte nicht umhin, ihm etwas darüber zu sagen,
und bat ihn herzlich, diese Sachen noch ruhen
zu lassen, um sie nach längerer Zeit wieder
durchzusehen, ehe er sie in den Druck gäbe. Ich
sagte ihm, dass er, besonders was die Frauen
beträfe, noch keine endgültigen Aussprüche fällen
dürfe, weil er noch viel zu wenig Frauen
- 67 -
wirklich kenne. Die französischen Moralisten hätten
das Recht gehabt, positive, durchaus gültige
Urteile auszusprechen, weil sie die Gesellschaft,
in der sie lebten, bis auf den Grund kannten,
und ihre Bemerkungen wohl auch nur auf diese
anwendeten; aber ohne eine solche langjährige,
genaue und vielseitige Beobachtung sei es nicht
ratsam fiir höhere InteUigenzen sich über psycho-
logische Vorgänge so bestimmt und ein für alle-
mal auszusprechen. Ich zitierte ihm einen Aus-
spruch R^es aus dessen früher erwähntem Buch,
welcher mir sehr zuwider und sicher falsch sei,
dass Frauen immer die Männer vorzögen, welche
ihr Leben schon mannigfach genossen hätten.
Nietzsche lächelte über meine Entrüstung und
sagte: »Aber glauben Sie denn, dass es einen
einz^en jungen Mann gibt, der anders denkt?«
Ich war recht böse und betrübt, das von ihm
zu hören, und sagte ihm auch, dass mir das ein
neuer Beweis sei, wie er die Frauen doch nur
oberflächlich kenne, und dass ihm daher noch
kein allgemeines Urteil zustehe. Doch kamen
wir nachher wieder in unser griechisches Fahr-
wasser, und waren gute Freunde wie zuvor.
Leider fand ich jene Sätze nur zu bald
veröffentlicht, in einer Schrift »Menschliches,
Allzumenschliches« betitelt; aber mein Glaube
an Nietzsches hohe Begabung war zu fest,
um dies alles anders als wie als vorüber-
gehende Phasen seiner Entwicklung anzusehen,
aus denen seine Idealität siegend hervorgehen
werde.
— 68 —
Unendlich traurig aber war es, dass seine
Gesundheit sich in nichts gebessert hatte, ja,
dass die Anfälle seines Leidens, die schreck-
lichen Kopf- und Augenschmerzen mit der zu-
nehmenden Wärme noch häufiger wurden u^d
ihn oft nötigten, Tage und Nächte hindurch in
endlosen Qualen zu Bett zu liegen. Sein Ver-
trauen auf den Süden erlosch, und mit derselben
Inbrunst der Zuversicht, wie er dieser Reise
entgegengesehen hatte, sah er nun der Rück-
kehr in die Eisregionen der Alpenwelt entgegen
und beschleunigte seine Abreise. Ich war
schmerzlich bewegt um dieser fehlgeschlagenen
Hoffnung willen, konnte ihn aber doch nicht
zurückhalten, da sich auch die liebevollste Sorge
als ohnmächtig gegen die Gewalt des Übels er-
wiesen hatte und man also mit ihm hoffen musste,
dass Veränderung doch vielleicht Besserung
bringen könne.^ . 5
So schied er, und ich blieb allein zurück,
verlebte noch einige herrliche Wochen in der
zauberischen Einsamkeit des paradiesischen Ortes,
und entschloss mich schwer zu gehen. Ich blieb
noch ein paar Tage in Neapel, um einen lang
gehegten Wunsch auszuführen, nämlich den Vesuv
zu besteigen, freilich nur bis zum Observatorium,
da ich mich allein doch nicht bis zum Krater
wagen wollte. Aber auch dies war schon hoher
Eindruck und Genuss. In dieser schwarzen
Lavawelt regte die Phantasie mächtig ihre Flügel ;
man schien sich in einem Bereich versteinerter
- 69 -
Höllenungetüme zu befinden, Riesenschlangen,
Molche und Skorpione lagen da in chaotischem
Durcheinander, wie von einem plötzlichen Macht-
gebot erstarrt ; die Vegetation hatte dies grausige
Gebiet geflohen, nur der Ginster wuchs zwischen
den Schlacken empor und erhob seine gold-
farbigen Blüten tröstend über dem Leichenfeld.
Oben aber auf dem Observatorium breitete sich
die Herrlichkeit der Welt zu meinen Füssen aus.
Vor mir lag der wundervolle Golf, von den
Gluten des Abendhimmels übergössen, seitwärts
sah man in die Gebirgswelt hinein, in welcher
die herrlichsten Farbentöne im Wechsel der
Lichter und Schatten erschienen ; alles war
Leben, Licht, Farbe, Freude, und der Mensch,
überwältigt von der siegenden Schönheit, schmiegt
sich immer von neuem an das Herz des won-
nigen Verräters, den goldigen Erdentraum,
aller Gefahr vergessend, immer aufs neue zu
träumen.
In freudiger Rührung, der Schönheit des
Daseins huldigend, stieg ich hinab, verliess
Neapel, eilte durch Italien, um mich in die
Schweiz zu begeben, wohin Olga mit ihrer
Familie zum sommerlichen Rendez-vous zu kom-
men versprochen hatte. Ich wählte diesmal den
Weg über den Splügen, da ich die meisten
Alpenübergänge schon kannte, hielt mich einen
Tag in Chiavenna*) auf, nahm mir einen Wagen,
*) Siehe > Stimmungsbilder c der Verfasserin (Schuster
& Loeffler, Berlin).
— ro-
und begab mich mit meiner treuen Dienerin
auf die Fahrt über die eisigen Höhen. Es war
nicht schön da oben, eine freudlose Oede, an
den weiten Schneefeldern vorüber, kein sonniger
Tag. und keine grossartige Aussicht. Es war
Ende Juni, aber so kalt, dass ich, um mich zu
wärmen, eine Zeit lang zu Fuss ging. Da fand
ich am Rand des Eises eine weisse Alpenrose,
die seltener sind als die roten ; ich pflückte mir
das arme Kind der Eisregion zum Andenken,
und, ergriffen von dem ungeheuren Kontrast,
den ich in kaum acht Tagen durchlebte, schrieb
ich in mein Tagebuch:
»An dem Saume ew'ger Eisgefilde
Lag ich stille träumend
In der Knospe Schoss.
Doch den Kelch erschloss mir
Langsam, Sonne dein Strahl,
Oh warum mich wecken
Zu dem kurzen Dasein?
Nicht mit holder Röte
Färbst du mein bleiches Antlitz,
Nicht zu seliger Liebe
Gibst du heilige Glut mir,
Nahe bei der Vernichtung
Starrendem Eise wohn ich.
Trage seine Farbe
Und vergebens küssest
Du mir matt die Stirn.
Ach aus schönem Traume
— 71 —
Hast du mich gestört,
Fern auf sonniger Höhe,
Sah ich glänzend leuchten
Goldenen Ginsters Pracht,
Der an Feuersbrüsten
Flammennahrung sich trank
Und mit strahlenden Sonnen
Liebende Schwüre getauscht.
Ihm zu Füssen die Welt
Lag in göttlicher Schöne;
Lächelnde Fülle des Seins
Nahm dem Tod selbst den Stachel,
Denn ihm droht auch ein Grab;
Schwarze Todesgeburten
Starren mahnend ihn an.
Aber sie deckten mit Nacht
Eine Welt, die gelebt,
Die geliebt und genossen
Höchsten Daseins Entfaltung.
Ja im holden Wahnsinn
Seliger Täuschung vergehen —
Oh beneidenswert Los!
Aber des Nichts graunvollem Abbild
Ewig ins Antlitz zu schauen —
Matter sonniger Strahl
Warum wecktest du mich?
Ist dies hier die Wahrheit?
Oh so gib mir die Lüge,
Gib mir nur einen Tag,
Wo im Geist und der Liebe
Sich mir Vollendung genaht —
Und dann lösch eilig die Fackel. —
und be^
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Tag,"
nicht s< ■ - - -=2 ^=^ ^
den we - - ,__
Ende J'
wärmei
ich am
die seil
das an
und, ei
den icli
ich in )
Ein römisches UylL
Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut
hat, wo die Fülle des Malerischen und charakte-
ristich Römischen noch nicht durch die moderne
Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch
römische Idyllen erleben, die an jene unvergess-
lich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein
Märchen aus alten Tagen, wie eine von der
rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage,
inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur
Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie
kein anderer in der Welt. So ist wirklich
mein Nest.*)
Rings um mich bauen sich jene grossartigen
Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte
wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben
scheint, ein melancholisches memento mori für
'*') Leider nun auch durch Neubaaten verdorben. Anm.
d. Verf.
— n —
I^nunter kam ich an die via mala, an den
jugendlichen rauschenden Rhein und das erhaben
Düstere und doch Belebte dieser grandiosen
Strasse erfrischte mich wieder, und heiter eilte
ich dem Thuner See zu, um mich mit den
geliebten Freunden zu vereinen.
Ein römisches Idyll.
Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut
hat, wo die Fülle des Malerischen und charakte-
ristich Römischen noch nicht durch die moderne
Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch
römische Idyllen erleben, die an jene unvergess-
lich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein
Märchen aus alten Tagen, wie eine von der
rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage,
inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur
Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie
kein anderer in der Welt. So ist wirklich
mein Nest.*)
Rings um mich bauen sich jene grossartigen
Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte
wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben
scheint, ein melancholisches memento mori für
*) Leider nun auch durch Neubaaten verdorben. Anm.
d. Verf.
— 74 —
die Gegenwart, während die sich ewig erneuernde
Natur mit ihrem tröstenden Grrün reizvoll die
zerfallenen Mauerwerke überzieht. Da ist das
Forum, der Palatin, das Kolosseum und in der
Ferne blaut die sanfte Linie des Albanergebirges.
Will man nun an diesen herrlichen Frühlings-
tagen einen Spaziergang in der Morgenfrühe
machen, so hat man zu wählen zwischen so
vielem Schönen. Ich fange mit dem Platz
S. Pietro in Vincoli an, der auch neben meiner
Wohnung liegt. Es ist ein vornehmer Platz in
seiner Abgeschlossenheit und Ruhe, auf der
einen Seite die gleichnamige Kirche mit dem
Haus der dazu gehörigen geistlichen Herren,
gegenüber das Kloster der Maroniten, der
Mönche vom Libanon, in deren Garten eine der
grössten Palmeji Roms steht, hinter welcher
man im bläulichen Duft in der Ferne die Acqua
Paola auf dem Janiculum und davor das Kapitol
mit seinem Turm sieht. Die dritte Seite des
Platzes ist von einem alten Palast begrenzt, der
einst den Borgia gehörte. Die Mutter der
Lucrezia wohnte dort und er hat etwas Un-
heimliches durch eine dunkle Bogenwölbung,
unter welcher eine steinerne Treppe in die tief
unten liegende Strasse führt. Unwillkürlich malt
sich die Phantasie allerlei Schreckbilder aus von
den dunklen Taten, die zur Zeit der Borgia
unter diesem Bogen, zwischen den schwarzen
feuchten Mauern, geschehen sein mögen; die
Neuzeit aber hat sie entsühnt, indem das Ge-
bäude dem polytechnischen Institut eingeräumt
— 75 —
wurde. Die vierte Seite des Platzes ist von
dem Garten der Maroniten voll herrlicher Bäume
eingefasst; es ist wenig Verkehr dort, immer
gute reine Luft und jetzt erfüllt ihn Duft der
Orangenblüten aus dem Garten hinter der Kirche
herwehend.
Es lohnt sich der Mühe, auf diesem schönen,
stillen Platz wandelnd, den Tag zu beginnen.
Hier stört den Morgenfrieden kein lautes Gewühl
des Marktes, noch das dumpfe Gerolle schwer-
beladener Karren, oder die ohrenzerreissenden
Stimmen der Ausrufer von Zeitungen, Gemüsen,
Obst und dergl. — Es sind nur gute, stille Be-
schäftigungen, welche hier den Tag anfangen.
Da schleicht ein altes Mütterchen herbei, tritt
in die Kirche zum Gebet, um dann die Last
des Alters am Tag leichter zu tragen. Ein
junges Mädchen geht auch dahin, vielleicht um
von der Madonna Stärkung zur Arbeit oder
Kraft, der Versuchung zu widerstehen, zu er-
bitten. Eben kommt ein alter Mann herbei, an
jeder Hand ein kleines Enkelkind, und tritt in
den heiligen Raum ein. Er kniet nieder, die
Kleinen knien neben ihm, falten ihre Händchen
und schauen mit grossen, ernsten Augen hinauf
zu dem Gewölbe der Kirche, als möchten sie
den lieben Gott doch auch sehen, zu dem der
Grossvater sie beten lehrt, und dessen Schutz
er sie empfiehlt, denn sie sind Waisen und wer
kann sagen, wie lange der greise N o n n o noch
für sie wird sorgen können. Mir scheint es,
als ob über die Züge des gewaltigen Moses von
- 76 -
Michel Angelo — der in dieser Kirche seit drei
Jahrhunderten sitzt und mit erhabenen! Zorn
auf die Menschheit schaut, welche immer noch
um das goldene Kalb tanzt, — als ob über die
strengen, marmornen Züge ein menschliches
Rühren flöge und der Zorn für Augenblicke dem
unendUchen Erbarmen mit diesen stillen Betern
Platz mache, die in der Not des Lebens keine
andere Zuflucht wissen als zu der unsichtbaren
Macht, die sie in Tempelhallen gegenwärtig
glauben.
Vor der Kirche beginnt nun aber anderes
Leben sich zu regen. Jünglinge der bürgerlichen
Stände ziehen ernst und sittsam dem Poly-
technikum zu, um ihren Studien obzuliegen.
Von verschiedenen Seiten wandern Mütter odqr
Dienstmädchen herbei, um die kleinen Kinder
zu den Kommunalschulen, deren sich einige in
der Nähe befinden, zu führen ; niemals gehen
die Kinder, auch die ärmsten nicht, allein, immer
ist ihnen die Begleiterin zur Seite, neben der
sie verständig und artig einher gehen, ihre Schul-
bücher tragend, oft auch ein Sträusschen Blumen
für die Lehrerin, da die freigebige Natur hier
auch dem Armen so liebliche Aufmerksamkeiten
möglich macht. Nun zieht aber etwas anderes,
den Kindern freilich nicht zu Fernes, den Blick
des still Wandelnden auf sich. In der dunklen
Wölbung des Borgiabogens erscheinen plötzlich
zwei Hörner, und nach ihnen der mächtig grosse
Kopf eines Ziegenbocks, der gravitätisch, im
stolzen Gefühl seiner Feldmarschallswürde, die
— n —
steile Treppe erklommen hat; ihm folgt ein
langer Zug von schwarzen, weissen, grauen
Ziegen, welche das finstere Gemäuer furchtlos
passieren, um den gewohnten Weg gerade über
den Platz in die gegenüber mündende Strasse
fortzusetzen. Hinter ihnen her kommt der Hirte,
das zottige Fell an den Hosen, in der einen
Hand den langen Stab, mit dem er die säumen-
den Tiere zum Marsche antreibt, in der andern
das Blechgeschirr, in das er vor den Häusern
seiner Klienten die Milch melkt. Dies war alte
römische Sitte und erinnert an patriarchalische
Zustände vergangener Zeiten. Noch ist aber
der feierliche Zug nicht ganz vorüber, da zieht
von der tieferen Strasse neben dem Maroniten-
kloster herauf ein neuer ebenso feierlicher Zug
von lauter schwarzen, schönen Ziegen. Die
ehrwürdigen Häupter des Zugs schreiten wacker
voran und sind schon beinah, den ersten Zug
kreuzend, über den Platz hinüber, als sie plötz-
lich gewahr werden, dass die jungen Zicklein
stehen geblieben sind, und sich neugierig nach
dem Hirten umsehen, welcher unten an der
aufwärts steigenden Strasse angehalten hat und
mit einer Frau spricht. Ob nun die Alten es
nicht leiden mögen, dass die jungen Geschöpfe
so vorwitzig sind, und gleich wissen wollen, was
sich für ihr Alter vielleicht noch gar nicht passt
— genug sie machen Halt und es beginnt ein
gewaltiges Meckern, das crescendo heranwächst
bis zu einem ganz gebieterischen Ruf. »Chiamano
i figli« (sie rufen die Kinder) sagt neben mir
- 7^ -
ein alter Strassenkehrer, den ich jeden Morgen
wegen seiner Sorge für die Reinlichkeit des
Platzes lobe, mit solcher Innigkeit im Ton der
Stimme, dass man sah, er wisse, was Vatersorge
um das Wohl der Kinder ist. Nun kommen sie
auch angetrabt, die jungen Schelme, und die
Ehrwürdigen wenden sich zum Weitergehen, da
jetzt auch der Hirte langsam schreitend naht.
Auch er trägt die zottigen Hosen, die lange
dunkle Jacke und hat den breitkrämpigen Hut
tief auf die Stirn gedrückt und den langen Stab
immer horizontal unter dem Arm, ein Zeichen,
dass er gut und geduldig ist und ein hinkendes
Tier, wenn es nicht recht fort kann, nicht gleich
schlägt, wie es der andere Hirte tut. Wenn
er an mir vorüber kommt, wirft er mir einen
Seitenblick zu, und ein leises Nicken des Kopfes
bedeutet einen dankenden Gruss, da er sieht,
wie ich seine schwarzen Ziegen bewundere.
Nachdem ich noch einem jungen Mädchen,
das auf den Kirchenstufen sitzt und eifrig an
einem Strumpf strickt, guten Morgen gewünscht
habe, wandere ich dem Wäldchen zu, welches
hinter dem Kolosseum seine grünen Schatten zum
Schutz gegen die steigende Sonne bietet. Es
wird so oft behauptet, der südliche Frühling
komme dem im Norden nicht an Reiz gleich.
Das können aber nur die sagen, welche ihn nie
ganz im Süden erlebt haben. Allerdings ist er
nicht das Erwachen aus gänzlichem Tod, das
langsame Sichbesinnen der Natur, dass sie den
Menschen doch eine Entschädigung schuldig ist
— 79 —
für die Entbehrungen des Winters; es ist viel-
mehr hier das freudige Symbol der unaus-
gesetzten Schaffenskraft im Weltall, welche neben
dem dunkeln ernsten Laub der Bäume, das nie
abstirbt, das frische jugendliche Grün oft in einer
Nacht, wie mit einem Zauberschlag, hervorlockt,
und den Strom des reichen Lebens ver-
schwenderisch ausgiesst in rasch entfalteten
Blüten, gleich als wollte sie eifern gegen den
menschlichen Wahn, dass es überhaupt Ver-
nichtung und Tod gäbe, und es zur tröstenden
Gewissheit machen, dass alles ewig ist.
Aber leider war das liebe Wäldchen, das
mir so oft ein freundliches Asyl ist, heute
gerade von den Rekruten besetzt, welche in
der Morgenfrische da eingeübt wurden, um das
von niemand angegriffene Vaterland zu ver-
teidigen, und den immer von neuem proklamierten
Weltfrieden, bis an die Zähne bewaffnet, glänzend
zu beweisen. Zugleich machten die Trompeter
des Regiments ihre Studien mit einem so ohren-
zerreissenden Eifer, dass das grüne Paradies zur
Hölle wurde, die ich mich beeilte zu verlassen.
Da kam ich an der Kirche von San Giovanni
und Paolo vorüber, welche am Ausgang des
Wäldchens neben einem Kloster der Passionisten
liegt. Ich trat in die leere Kirche ein und in
eine nie zuvor betretene Kapelle, wo gerade
einer der Mönche kehrte und reinigte. Wieder
wie in so vielen Kirchen Roms, war auch hier
eine verschwenderische Pracht kostbarer Marmor-
arten angebracht, aber ehe ich mich noch recht
— 8o —
umsehen konnte, bemerkte ich, dass der Mönch
die Gittertür, durch die ich eingetreten war,
verschluss. Ich fragte verwundert, warum er
mich einschliesse, da deutete er stumm auf eine
kleine Seitentür, die ich nicht bemerkt hatte,
und die durch die Sakristei in die Kirche zurück
führte, ging aus derselben und liess sie offen.
Ich sah mich nun in dem reich gezierten Raum
um und gewahrte unter dem Altar einen
gläsernen Sarg, in welchem die Leiche des
Stifters des Ordens im Ordenskleid liegt. Ihm
ist also die Kapelle geweiht. Ist dies Aufbe-
wahren der Erscheinung nicht etwas dem ägyp-
tischen Todeskultus Verwandtes, gleichsam als
ob die entflohene Seele das verlassene Kleid
wieder aufsuchen und anziehen würde, wie es
ja freilich die katholische Kirche auch meint?
Wer hat es aber nicht schon am Totenbett
geliebter Menschen erfahren, wie seltsam fremd
uns alsbald das Bild ansieht, wenn der Hauch
des geistigen Lebens es nicht mehr belebt?
Wenn es uns aber dennoch das Herz zerreisst,
auch dies Vergängliche von uns zu lassen und
der Verwesung zu übergeben, so ist es, weil
damit der ewigen Trennung das Siegel aufgedrückt
wird, weil das Wesen, um dessentwillen wir
auch das Bild geliebt, uns nie mehr erscheinen
wird. Goethe hat in den »Wahlverwandt-
schaften« in der Kapelle Ottiliens die Erhaltung
des Bildes poetisch verklärt, aber schöner ist
doch der Gebrauch der Alten, das Irdische
durch die läuternde Flamme verzehren zu lassen
— 8i —
und die Atome dem Kreislauf des Lebens un-
mittelbar zurückzugeben. Doch den Passionisten,
denen das Kloster gehört, hat es anders ge-
schienen, wie das Altarbild beweist, auf welchem
der Stifter des Ordens nicht als immaterielle
Seele, sondern im schwarzen Ordenskleid, wie
er da unter dem Altar liegt, gen Himmel fliegt,
wo ihn Christus, inmitten der himmlischen
Heerscharen, mit offenen Armen empfängt. Das
Bild ist modern, ebenso sind es die Fresken,
welche die Seitenwände der Kapelle bedecken.
Hier ging es mir aber seltsam. Als ich den
Blick zu einer dieser Fresken erhob, fühlte ich
mich plötzlich von Rührung ergriffen. Da kniete
die Mutter allein vor dem dunklen Felsengrab,
den Leichnam des Sohnes auf den Knien haltend,
und schaute in bitterem vorwurfsvollen Schmerz
gen Himmel. In der Ferne sah man Golgatha;
die drei Kreuze zeichneten sich scharf ab auf
dem feurig rot beleuchteten Abendhimmel,
während die Gruppe vorn im Schatten war.
Jener flammende Himmel schien wie ein ewiges
Verdammungsurteil über die Menschen, die
immer von neuem das »Kreuziget, kreuziget
ihn« rufen, wenn der Genius, der ihnen die Er-
lösung durch Freiheit und Liebe verkündet,
unter ihnen erscheint. Und daneben der ein-
same Todesschmerz der Mutter, die ihn allein
durch die Intuition der Liebe verstanden hat,
und der Leichnam, auf dessen Lippen noch das
»es ist vollbracht« zu schweben scheint ; ja,
vollbracht das ungeheure Opfer und dabei die
Meysenbug,IV. 6
— 82 —
schwermutsvolle Frage: »waren sie es wert,
werden sie es würdigen, wird es ihnen nützen?«
— Alles das ergriff mich tief in der Weltent-
rücktkeit dieser Kapelle; ich wandte mich dem
gegenüber befindlichen Fresko zu und blieb nicht
weniger bewegt davor stehen. Da kniete er
am Öelberg, der vor dem letzten Opfer noch
einmal zurückbebende Mensch und rang mit
seinem Dämon, der ihn zur Entscheidung
drängte, und in dem milden, märchenhaften
Licht, welches durch das feine Laub der Oliven
zitterte, schwebte der Engel heran, der ihm den
Kelch der Entsagung und des Todes brachte,
aber auch der Verheissung, dass denen, die
getreu sind bis an den Tod, die Krone des
Lebens werden wird.
Ich beugte mein Haupt vor diesem erhaben-
sten Gedicht der Menschheit, und still und be-
wegt trat ich durch die kleine Tür in die
Sakristei, um fortzugehen. Da standen zwei
Passionistenmönche in schwarzer Tunika und
schwarzem Skapulier, auf der linken Brust den
Namen Jesu und ein kleines silbernes Herz mit
einem Kreuz, und sprachen miteinander. Sie
sahen erstaunt auf die unerwartete Erscheinung,
die da so plötzlich aus dem verschlossenen
Innern des Heiligtums hervortrat. Ich aber
dachte: Verständet Ihr nur alle den wahren
Sinn des Mysteriums, dessen Behüter Ihr Euch
wähnt, da würde das Erdenleben zu einem
Idyll, wie es mir dieser Morgen war, und die
Opfer der erlösenden Liebe vollbrächten sich
- 83 -
nicht mehr am Kreuz, sondern in schöner Frei-
heit von Mensch zu Mensch.
Sehr lebhaft hatten sich mir gerade in den
Tagen Betrachtungen darüber aufgedrängt, wie
wenig das Ideal christlicher Liebe und Eintracht
in jenem Stand, der am ersten dessen Vertreter
sein sollte, verwirklicht sei. Gewiss wenn irgend
eine Institution der Geschichte den Eindruck
einer kompakten Einheit macht, die wie ein
organisches Ganze erwachsen zu sein und sich
in organischer Ordnung und Harmonie zu be-
wegen scheint, so ist es die Hierarchie der
katholischen Kirche, und doch ist dies ein voll-
kommener Irrtum. Kaum haben sich von jeher
irgendwo schroffere Gegensätze, tieferer Hass,
schlimmere Verleumdungen kundgegeben, als wie
unter den Trägem jener Religion der Liebe,
deren Verkündigerin die Kirche ist. Und nicht
allein den Lebenden gilt der Streit und der
Hass, — auch den Toten. Jetzt eben toben
beide wieder um eine der edelsten Gestalten,
welche der katholische Klerus in der Neuzeit
aufzuweisen gehabt hat, um Antonio Rosmini,
den philosophischen Denker, in welchem die
Würde des wahrhaft apostolischen Priesters ein-
mal wieder lebendig geworden war. Er lebte
am Lago Maggiore, und in seinem Kollegium
empfingen viele der ausgezeichnetsten Männer des
damaligen Italiens ihre Bildung und blieben seine
Anhänger und Freunde. Die Jesuiten aber
machten ihm von Anfang an einen wütenden
6*
— 86 —
samkeit auf dem Gebiete der Erziehung und der
hülfreichen Barmherzigkeit. Sie verschmähen es
nicht dem Fortschritt der modernen Wissenschaft
eifrig zu folgen, es gibt dort mehrere ausge-
zeichnete Gelehrte und das ganze Streben ist
auf reine Frömmigkeit im wahren Sinn einer
christlichen Kirche gerichtet. Man wird dadurch
an die reformatorische Bewegung erinnert, welche
in Italien am Ende des XV. und Anfang des
XVI. Jahrhunderts stattfand. Möchte es ihnen
besser geUngen als den edlen Vorkämpfern
jener Zeit, und möchte sich ein Papst finden,
welcher ihren Feinden, den Sturmgeistern der
Kirche, das Wort zuriefe, das Clemens VEI.,
müde der ewigen Wühlereien mit denen, deren
Vorgänger den Frieden der Welt und die Ruhe
der Gewissen störten, diesen zurief: »Aufrührer,
Ihr seid die Störenfriede in der Kirche Gottes.«
Ich lebte damals in sehr häufigen und herz-
lichen, besonders aber geistig anregenden Be-
ziehungen zu einer eifrigen Katholikin, der Fürstin
Caroline Wittgenstein. Schon bei meinem ersten
Aufenthalt in Rom, in den Wintern der Jahre
64 und 65 (mit den beiden Töchtern Herzens)
hatte ich ihre Bekanntschaft gemacht ; wir waren
uns aber nicht näher gekommen, obwohl zu der
Zeit die damalige römische Gesellschaft sehr mit
ihr beschäftigt war, und eine förmliche Partei-
nahme für und gegen sie stattfand. Es war
der Augenblick, wo nun endlich durch den Tod
des Fürsten, ihres Gemahls, alle Hindernisse ge-
- S7 -
hoben schienen, welche ihrer Verbindung mit
Liszt, der grossen Liebe ihres Lebens, entgegen-
gestanden hatten. Nur in der Absicht, dieses
Eheband, in welchem sie nie Glück gefunden
hatte, durch die Kirche lösen zu lassen, war sie
nach Rom gekommen und hatte ausdauernd,
trotz aller widerwärtigen Erschwerungen, die ihr
in den Weg gelegt wurden, und sogar mit mate-
riellen, bedeutenden Opfern, ihr Ziel verfolgt.
Nun stand sie vor dem errungenen Erfolg. Liszt
war auch in Rom, ich sah ihn öfter, so wie
einige seiner Schüler, die ihn stets umgaben,
und unter denen besonders einer, ein Engländer,
mit fanatischer Liebe an ihm hing. Eines Abends
fand ein Konzert statt, von römischen Fürstinnen
für einen wohltätigen Zweck veranstaltet, in
welchem Liszt, grossmütig wie immer, spielte.
Am Morgen darauf erschien eben jener Eng-
länder bei mir, in grösster Bestürzung und sagte,
Liszt sei verschwunden, niemand wisse von ihm,
und man furchte, es sei ein Unglück geschehen.
Natürlich erregte die Sache das grösste Aufsehen,
und in den damals noch so kleinen, geselligen
Verhältnissen war von nichts anderem die Rede.
Der Schüler war trostlos; nach einigen Tagen
jedoch erschien er wieder freudestrahlend ; Liszt
war wieder da, nur in der Kleidung eines Abh6 ;
er hatte sich aber dem treuen Schüler in die
Arme geworfen und gesagt : »Ich bin immer der-
selbe.« Im Vatikan, in der Privatkapelle des Kar-
dinal Hohenlohe, war die Aufnahme in den geist-
lichen Stand vollzogen worden, und unmittelbar
— 88 —
nachher hatte Pio IX. den neuen Priester em-
pfangen, welcher sich ihm mit den Worten
vorstellte: »Saint p^re, la moisson est grande,
voici un moissoneur de plus.«
Was da vorgegangen war, welche innere
Motive diese plötzliche Wandlung am Vorabend
der anderen, endlich möglich gewordenen Ent-
scheidung, herbeigeführt hatten, blieb der Welt
ein Geheimnis, und müssige Neugier bemühte
sich vergebens, den Schleier zu lüften, der von
den Beteiligten mit grösster Diskretion über
den Grund der vollzogenen Tatsache gedeckt
war. Man erfuhr nur, dass es der grösste
Wunsch der Fürstin sei, dass die Leitung der
geistlichen Musik in der Kirche Roms, die mehr
und mehr moderner Mittelmässigkeit verfiel und
die erhabenen Werke alter Meister vernach-
lässigte, Liszt in die Hände gegeben werde.
Warum es auch hierzu nicht kam, warum Liszts
Stellung zum Vatikan keine sehr günstige wurde,
blieb ebenfalls ein Geheimnis für die Welt, .so
viele Vermutungen und Gerüchte auch in Um-
lauf gesetzt wurden.
Ich stand der Fürstin damals zu fern, um
an dieser grossen Krisis ihres Lebens teil-
zunehmen, und dann verliess ich Rom für viele
Jahre und hörte kaum etwas von ihr. Erst als
ich mir Rom zum bleibenden Wohnsitz erwählt
hatte, kam ich wieder in Berührung mit ihr, und
sie zeigte mir alsbald ein so herzliches Wohl-
wollen, und ihre grosse Intelligenz versprach mir
so viele genussreiche Stunden, dass ich gern
- 89 -
der Aufforderung Folge leistete, sie öfter zu
besuchen. Sie kam auch häufig zu mir und
holte mich im Wagen zu weiten Spazierfahrten
in die römische Campagna ab, wobei sie mir
interessante und anmutige Erzählungen über
ihre polnische Heimat und das dortige Land-
volk machte. So sagte sie einmal, als wir selt-
same Wolkenbildungen in der Campagna be-
wunderten, eine EigentümHchkeit ihres heimi-
schen Klimas, namentlich im Süden Polens sei
die grosse Elektricität der Luft, und infolge-
dessen die auffallend schönen und phantastischen
Wolkenbildungen. Da sei es Gewohnheit der Land-
leute, in den weiten Grrasebenen auf dem Rücken
zu liegen, dem Spiel und Zug dieser Wolken
zuzusehen und zu träumen; vielleicht Träume
voll Poesie und Glück, als Entschädigung für die
nackte, armselige Wirklichkeit,
Sie wohnte in einer sehr bescheidenen
möbliert gemieteten Wohnung im dritten Stock,
die ziemlich geschmacklos, ohne alle wahre Ele-
ganz, wie es damals in den römischen Miet-
wohnungen meist der Fall war, ausgestattet
war, besonders hingen abscheuliche Bilder aller
Art an den Wänden, deren Duldung von Seiten
der Fürstin mir unbegreiflich war, da sie einen
leidenschaftlichen Kultus für die Kunst hatte,
freilich vor allem fiir die Musik. Auch nahm
der Flügel einen grossen Platz in dem kleinen
Salon ein, in dem sich um das Kamin herum
der Versammlungsplatz befand, d. h. der Lehn-
stuhl der Fürstin, auf dem sie ihre Besuche
— 90 —
empfing, daneben ein Tisch stets mit Vasen voll
Blumen, oft mit sehr stark duftenden, beladen,
welches den Kopf der Fürstin, trotzdem sie mit
demselben fortwährend arbeitete, nicht anzugreifen
schien; Bücher, Noten, Schriften lagen überall,
selbst im Vorzimmer umher, nach occidentalen
Begriffen in ziemlicher Unordnung, doch ihr, die
jeden Augenblick etwas nachzuschlagen, etwas
auszuführen hatte, bequem. Charakteristisch
war eine grosse kristallne Bonbonniere, immer
mit Chokolade und anderen Bonbons gefüllt,
welche dem Besucher sogleich angeboten wurden,
nach slavischer Sitte, wie man mir sagte. Das
Ganze dieses Raumes sowie auch der übrigen
Räume der Wohnung war wirklich weder standes-
gemäss noch einfach schön, und als ich später
auch mit Liszt nahe genug befreundet war, um
mit ihm über dergleichen Dinge zu sprechen,
sagte er mir einmal ganz in Verzweiflung, er
habe nun endlich in einem bekannten fürstlichen
Palast Roms das, was man eine Wohnung
nennen könne, für die Fürstin gefunden, und nun
sei durch ein Zusammentreffen von Umständen
Veranlassung gewesen, für die gegenwärtigen
Hausleute der Prinzess Caroline sich sehr dienst-
willig und aufopfernd zu erweisen, und da wolle
sie nun aus Dankbarkeit das Logis nicht ver-
lassen.
Übrigens vergass man auch hald genug die
wirklich nicht sympathische Einrichtung, sass
man einmal auf einem der Stühle, welche um
den der Fürstin herum für die Besucher bereit
r
— 91 —
standen, denn wenn sich nicht bald ein bedeu-
tendes Grespräch über irgend einen inhaltvollen
Cregenstand entspann, so war es sicher die
Schuld des Besuchers, und nicht die der Fürstin.
Sie war nicht schön, war es nie gewesen und
erzählte mir einmal lachend, dass ihre Mutter,
eine elegante schöne, den Weltfreuden zugetane
Frau, sich betrübt habe, dass sie so hässlich
sei, und dass sie ihr zum Trost gesagt hätte,
sie solle nur ruhig warten, nach der Auferstehung
werde sie wunderschön sein. Übrigens hatte sie
eines jener Gesichter, die keine eigentliche Jugend
haben und daher oft mit dem Alter eher ge-
winnen, und wenn man mit ihr sprach, und der
Gegenstand des Gesprächs sie interessierte oder
begeisterte, so belebten sich die Züge so aus-
drucksvoll und die Augen glänzten so feurig,
dass man vergass zu prüfen, ob sie schön sei
oder nicht, denn man fühlte sich unter dem
Bann einer ausserordentlichen Persönlichkeit,
eines ungewöhnlichen Intellekts, welche der
äusseren Reize nicht bedurften, um zu fesseln.
Doch war sie nicht ganz gleichgültig gegen das,
was der äusseren Erscheinung Anmut verleiht,
sie kleidete sich meist in helle Farben, und sagte
mir einmal, da ich viel schwarz trug, sie habe
das früher auch getan, aber dann sei es ihr
klar geworden, dass der liebe Gott es nicht
wollen könne, da er die Erde so schön mit den
Blumen in allen Farben geschmückt habe, und
seit der Zeit hatte sie auch alle Farben des
Frühlings und Sommers in ihrer Kleidung, be-
— 92 —
sonders an den flatternden Bändern der übrigens
hässlichen Hauben, die sie trug; und ebenso
wählte sie ganz besondere Anzüge, wenn sie,
was häufig geschah, sich photographieren Hess,
z. B. den vier Jahreszeiten gemäss, oder im
Wagen, den Blick nach oben gerichtet, um »den
letzten Stern zu suchen.«
Aber diese kleinen Koketterien verzieh man
ihr gern, um der vielen Vorzüge wegen, welche
ihren Umgang von dem gewöhnlichen Alltags-
verkehr unterschieden; denn man konnte sehr
verschiedener Meinung mit ihr sein, aber das
Gespräch wurde nie banal und die Kontroverse
blieb, auch wenn sie von beiden Seiten eifrig,
ja hitzig wurde, stets in den Grenzen des freund-
lichsten, wohlwollendsten Verkehrs. Ihre Bildung
war eine universelle, und sie fühlte sich auf
keinem Gebiete des Wissens fremd. Sie hatte
sich viel mit Schopenhauerscher Philosophie be-
schäftigt und unsere Gespräche führten uns oft
darauf. Sie war nicht ungerecht gegen ihn, aber
sie bestritt seine Ansicht über den Willen, und
sagte, der Mensch träte ins Leben mit absoluter
Freiheit, zu werden, was er wolle; sie führte
mir dabei, da wir meist französisch sprachen,
ein Wort der französischen Bibelübersetzung an :
»Dieu traita l'homme avec reverence« und mit
einem Ausdruck von fast übermütigem Trotz
setzte sie hinzu: »Je n'aurai pas voulü son ca-
deau de la vie, s'il ne m'avait pas donne la
liberte.« Sehr sympathisch war ihr Schopen-
hauers Zurückgehen auf indische Weisheit und
— 93 —
indische Ansichten; auf diesem Gebiet hielt sie
ihr Wissen für unfehlbar, und sie wurde fast
böse, als ich sagte, ich glaube gar nicht, dass
das Nirvana das absolute Nicht-mehr-Sein be-
deute, sondern dass es vielmehr den seligen Zu-
stand der Erlösung von der Welt der Sansara
und die Wiedervereinigung mit Brahm, mit der
Gottheit ausdrücke. Das bestritt sie mir absolut
und sagte, es sei entschieden das Nichtsein, da
das Sein den Indern ja als eine Schuld, als
etwas zu Verneinendes erschienen sei. Ebenso-
wenig wie hierüber aber bekehrte sie mich zu
Ansichten auf andern Gebieten, besonders dem
religiösen, so gern ich mich von ihr über theo-
logische Dinge belehren liess, die mir bisher
gänzlich fern gelegen hatten und unbekannt ge-
blieben waren, in denen sie aber gründlich unter-
richtet war und die sie mit einer eignen Innig-
keit und Wärme vortrug, so dass man fühlte,
sie wollte dafür gewinnen. Ob sie, wie man
es von ihr sagte, überhaupt gern Proselyten
machte, weiss ich nicht, aber gewiss ist, dass
sie es bei mir versuchte und zwar mit einer
Ausdauer und einem Eifer, die mir nur bewiesen,
dass sie mich aufrichtig liebte, wodurch ihr
Wunsch gerechtfertigt erschien, meine Seele hin-
über zu retten in den Schoss der allein selig-
machenden Kirche. Einmal in der Fastenzeit,
wo gewöhnlich Prediger aus anderen Orten in
den römischen Kirchen predigen, forderte sie
mich auf, mit ihr in die Kirche S. Luigi de'
Francesi zu gehen, wo eben der Bischof Mer-
— 94 —
millod, welcher aus der Schweiz fort gemusst
hatte, die Fastenpredigten hielt. Ich ging mit
ihr und fand die Predigt durch einige fein aus-
geführte Gedanken anziehend. Das freute die
Fürstin, und nach einigen Tagen erhielt ich eine
Einladung zu ihr zu kommen, um den Bischof
Mermillod, welcher da sein werde, kennen zu
lernen. Da ich wusste, dass derselbe mit
meinen katholischen Verwandten in Wien viel
verkehrt hatte, war es mir angenehm, seine Be-
kanntschaft zu machen, und ich ging hin. Sein
Äusseres und seine etwas hochmütige Art zu
sprechen und zu fragen, nahmen mich nicht für
ihn ein, aber der Fürstin zuliebe ging ich
freimütig darauf ein, seine Fragen zu beant-
worten, die sehr inquisitorisch forschten, warum
ich mich den Überzeugungen meines katholisch
gewordenen Bruders in Wien nicht angeschlossen
habe. Nach einiger Zeit entfernte sich die
Fürstin und liess uns allein, wahrscheinlich in
der Hoffnung, dass er nun direkter auf das Ziel
losgehen sollte. Er sagte denn auch gleich, es
komme eigentlich nur auf drei Fragen an,
welche schon Bossüet einem Engländer, der ihn
um Rat fragte, als das Wesentliche vorgelegt
habe, zuerst die Frage, ob man an Gott glaube,
zweitens ob man an Christus glaube, und drittens,
— und das sei das Wesentlichste — ob man
an die Kirche glaube. Darauf sagte er, er
werde mir Bücher schicken, und ich solle ihm
freimütig Rechenschaft geben von dem Ein-
druck, den sie mir gemacht hätten. Als die
— 95 —
Fürstin wieder eintrat und nach dem Resultat
unserer Unterredung fragte, sagte er mit zuver-
sichtlichem Lächeln: »Das wird schneller gehen
als Sie denken« und ging. Die Fürstin, in einem
Sturm des Entzückens, ergrifl, ehe ich es mich
versah, den Saum meines Kleides und küsste
ihn, und als ich ganz erschrocken rief: »Aber
Fürstin, was tun Sie?« sagte sie mit wirklich
freudestrahlendem Angesicht: »Der Gedanke, mit
Ihnen an den Altar zu treten, ist zu schön und
riss mich fort.« Ich dankte ihr gerührt für
ihre Liebe, ging aber bekümmert fort, da ich
wusste, dass ihr auch jetzt, wie schon bei allen
früheren Versuchen, die bittere Enttäuschung
bevorstand.
Am folgenden Tag war Mermillod bei mir
gewesen, hatte mich nicht getroffen, aber ein
Paket Bücher gelassen: die Predigten Lacor-
daires und das Leben der Mme. Seton, einer
konvertierten Amerikanerin, welche ihr Leben
nach ihrer Bekehrung ganz der Arbeit für ihre
leidenden Mitmenschen gewidmet hatte. Nach-
dem ich die Bücher gelesen hatte, sandte ich
sie zurück und schrieb dabei an Mermillod:
»Ich habe die Reden des p^re Lacordaire
sowie das Leben von Madame Seton mit dem
grössten Interesse gelesen. Ich neige mich
immer vor den Worten und vor einem Leben,
welche den Opfern der erbarmenden Liebe, die
der Tod des Egoismus ist, geweiht sind. Ich
bewundere alles, was den Menschen über seine
engere Sphäre erhebt, sei es der Schwung des
- 96 -
Gedankens zu den höchsten Anschauungen, sei
es die Tat des Herzens und des reinen Mitleids.
Ich bestätige voll Glück meinen Glauben daran,
dass wir in uns einen Funken jenes ewigen
Lichts tragen, welches im Grunde des Seins
leuchten muss, und welches unsere schwachen
Sinne nur von ferne ahnen können. Ich erkenne
es als unsere höchste Pflicht, diesen Funken in
uns zur Flamme werden zu lassen und das
Göttliche in uns zu verwirklichen, das sich auch
in einem Jeden von uns inkarniert hat. Aber
wovon ich nicht überzeugt worden bin und es
nie sein werde, das ist die Annahme, dass die
Wahrheit ein für allemal gegeben sei, und dass
eine dogmatische Kirche sie fiir immer um-
schliesse. Ich glaube im Gegenteil, dass die
Wahrheit in ewigem Wachsen sei und eine
Hülle nach der anderen abwerfe, um immer
vollkommenere Blüten und Früchte zu tragen.«
Natürlich hörte ich darauf nichts mehr von
Mermillod und auch die Fürstin schwieg voll-
kommen über das Vorgefallene, von dem sie
ohne Zweifel unterrichtet war. Aber sie ihrer-
seits liess nicht ab, ihr Ziel zu verfolgen. Ein-
mal, wo wir wieder eine längere Unterredung
über die Vorzüge der katholischen Kirche ge-
habt hatten, und ich gern gestand, dass ich sie
als Organisation bewunderungswert finde, und
dass ich mit Verehrung anerkenne, wie sie der
erste Versuch gewesen sei, die Menschheit durch
ein geistiges ideales Band zu einer Gemeinschaft
zu vereinen, forderte sie mich geradezu auf.
— 97 —
mich derselben anzuschliessen. Ich sagte, halb
scherzend, um der Dringlichkeit des Versuchs,
die unserem guten Verhältnis leicht hätte
schädlich werden können, zu entgehen: »Aber
ich brauche doch die Kirche, von Menschenhänden
gemacht, nicht, um meinen Gott zu verehren;
ich tue es draussen in seiner grossen herrlichen
Kirche, wo er offenbar wird in der Schönheit
jeder Blume, im Vogelsang, in Goldwolken, wo
ihn seine Schöpfung preist mit Worten, wie sie
kein menschlicher Mund je gesprochen.«
»Nein, meine Liebe,« sagte sie, »es ist ge-
rade in der Kirche, wo er sich besonders offen-
bart. Kommen Sie ihr nur näher, so werden
Sie es selbst erfahren.«
Es kamen dann lange Pausen, in welchen
dieser Gegenstand der Unterhaltung vollständig
ruhte, denn sie war zu geistvoll, um nicht zu
verstehen, dass ein lebhafteres Drängen nach
dem ersehnten Ziel mich ermüden und schliess-
lich von ihr entfernen werde; ich war ihr
dankbar dafür, denn ich hatte eine aufrichtige
Anerkennung für ihre grossen Eigenschaften,
und der geistige Verkehr mit ihr war mir ge-
nussreich und wert. Oft begegnete ich auch
interessanten und gelehrten Leuten bei ihr, so
u. a. mehrere Male dem Grafen Schack, der
uns Gedichte von sich vorlas, und obwohl er
mir nicht den bedeutenden Eindruck machte,
den ich erwartet hatte, doch manches sagte,
was mich interessierte. Einmal sah er auf dem
Tisch der Fürstin die »Memoiren einer Idealistin«
Meysenbug, IV. 7
- 98 -
liegen, nahm das Buch und schlug es auf, wo gerade
ein Kapitel anfing, über welchem geschrieben
stand: »Mazzini.« Er steckte es darauf ohne
weiteres in die Tasche und sagte: »Oh, das
will ich lesen, dem Manne bin ich begegnet und
habe mich lebhaft für ihn interessiert.« Später
erzählte mir die Fürstin, er habe das Buch für
seine Bibliothek gekauft, obgleich er im allge-
meinen ein Gegner der Schriftstellerei von Frauen
war. Eine andere Persönlichkeit, die ich dort
kennen lernte, und welche mir die tiefste Sym-
pathie einflösste, war der gelehrte Benediktiner-
mönch Padre Tosti von Monte Cassino, von dem
ich schon durch Gregorovius, der sich lange
seiner Studien wegen in dem Kloster aufhielt
und den Tosti sehr ehrte, gehört hatte. Die
milde, liebenswürdige Persönlichkeit des greisen
Priesters zog mich auf das innigste an, ganz
eingenommen aber wurde ich für ihn durch ein
von ihm selbst verfasstes episches Gedicht, welches
er der Fürstin mitzuteilen versprochen hatte und
bei dessen Lesung er auch mir freundlich er-
laubte, gegenwärtig zu sein. Das Gedicht war
von so hoher Schönheit, dass die Fürstin und
ich gleich hingerissen davon waren; danteskische
Grösse der Naturbeschreibung, ergreifende Schil-
derung der Leidenschaft und himmlische Ver-
klärung idealer Liebe, alles tönte aus dem
Munde dieses Greises, doppelt rührend und er-
haben. Als er geendet hatte zu lesen, fragte
ich ihn, ob das Gedicht gedruckt würde und
sprach die Hoffnung aus, dass dem so sein möge.
— 99 —
Der alte Priester lächelte und sagte, dass es
nie gedruckt werden dürfe, da es ihn in den
Bann der Kirche tun würde.
Den grössten- Freund der Fürstin aber, den
sie über alles liebte, und dem sie einen tiefen,
ewigen Kultus in ihrem Herzen geweiht hatte,
den grossen Künstler Franz Liszt, sah ich nur
selten dort, freilich durch Zufall, denn er kam
jedes Jahr nach Rom und war dann täglich bei
ihr. Zuweilen aber traf ich ihn doch da, so
u. a. einmal am Tage San Carlo, wo ich hin-
gegangen war, der Fürstin Caroline, als an ihrem
Namenstag, den man nach katholischem Gebrauch
feierte, einige Blumen zu bringen. Liszt kam
bald nach mir, fragte, ob sie seine Blumen er-
halten, und erzählte uns, dass, als er früh am
Morgen über den spanischen Platz gegangen sei,
mehrere der Knaben, die dort mit grossen,
blumengefüllten Körben auf dem Kopf einher
gehen, ihm zugerufen hätten : »Signor Francesco,
h la San Carlo, bisogna portar fiori lä<, indem
sie nach der Strasse gedeutet hätten, wo die
Fürstin wohnte. Liszt lachte herzlich über seine
offenbare Popularität unter diesen halb naiven,
halb schlauen Verkäufern des Schönsten, was
die Erde gibt, und ich lachte mit ihm, da auch
ich diese so anständige Vertraulichkeit des
italienischen Volks, die mehr das Gefühl der
Gleichberechtigung als wie Zudringlichkeit ist,
kenne und liebe. Die Fürstin hingegen war
bestürzt und sagte fast beschämt, man habe ihr
nur gesagt, es seien die Blumenverkäufer der
7*
— lOO —
Piazza draussen, und da sie ihren Gärtner habe,
der an bestimmten Tagen Blumen bringe, so
habe sie gesagt, man solle sie wegschicken.
Es war ihr augenscheinlich sehr leid, ja höchst
peinlich, so die Absicht des Freundes vereitelt
zu haben und es rührte mich die fast demütige,
schüchterne Art ihres Benehmens dem verehrten
Manne gegenüber zu sehen, sie, die sonst so
selbstbewusst, so sicher anderen gegenübertrat.
Nur einmal hörte ich ihn bei ihr spielen, wobei
sie in Andacht versunken zuhörte. Ich hörte
ihn aber oft in jenen Jahren in einigen anderen
Häusern, besonders bei einer liebenswürdigen
jungen Russin, wo sich ein kleiner, auserwählter
Kreis zu musikalischen Aufführungen regelmässig
zusammenfand, und sein Spiel erschien mir in
seinen vorgerückten Jahren noch unendlich viel
bedeutender, als in den Zeiten seiner grossen
Konzerterfolge, wo ich ihn auch gehört hatte.
Es war eine Ruhe, eine Seelentiefe, gleichsam
eine Verklärung über dieses Spiel gekommen,
das auch dem Instrument seine Beschränktheit
nahm und ihm einen Zauber verlieh, wie ich es
bei keinem der vielen grossen Pianisten, welche
ich hörte, in dem Grad wiedergefunden habe.
Die Fürstin sprach mir oft von dem einzig
geliebten Freund, immer mit der gleichen be-
geisterten Verehrung, nie kam ein Wort der
Klage über ihn von ihren Lippen, welches den
Gerüchten hätte Recht geben können, die ohne
Aufhören von müssigen, nach Effektgeschichten
haschenden Köpfen über die Vergangenheit und
— lOI —
die tragischen Episoden dieses Verhältnisses
in Umlauf gesetzt wurden. Nur einmal, in
einer besonders gerührten und intimen Gesprächen
geweihten Stunde, kam sie dazu, mit Offenheit
über die herbste Epoche ihres Lebens zu sprechen
und den Schleier zu lüften, der ein tief ver-
wundetes Herz bedeckte; nie kam ein solcher
Augenblick wieder und das absolute Schweigen
und die völlige Resignation einer stolzen Seele
bildeten allein den Hintergrund der Beziehung
zu dem Freund, welche dem Publikum kund
wurde. Ebenso war es aber auch von selten
Liszts ein nie endendes Beweisen seiner An-
hänglichkeit und verehrenden Freundschaft,
welches er bis an das Ende aufrecht erhielt.
Als er das letzte Mal nach Rom kam und mich
zu besuchen bei mir eintrat, rief ich ihm ent-
gegen: »Es ist doch schön, dass Sie Rom treu
bleiben.« Da sagte er mit der fast bitteren Be-
stimmtheit, die er zuweilen bei seiner sonst so
sanften Art zu reden hatte: »Es ist für eine
Person, dass ich komme, sonst setzte ich den
Fuss nicht mehr hierher.«
Was die Fürstin trotz der herben Erfahrungen
ihres Lebens aufrecht hielt, das war ausser der
Religion die Arbeit. Sie schrieb unausgesetzt
und häufte Band auf Band meist theologischen
Inhalts, aber auch anderen Gegenständen, poli-
tischen und künstlerischen, gewidmet. Es war
das auch einer der Gründe, welcher sie in ihrer
bescheidenen Wohnung festhielt, denn sie hatte
da die Druckerei und den Raum, in welchem
— I02 —
ihre Bücher niedergelegt wurden, ganz in der
Nähe. Zuweilen gab sie mir kleinere Aufsätze
über diesen oder jenen Gegenstand zu lesen, aber
während ihre Unterhaltung stets anregend voller
Leben und Geist war, fehlte ihren schriftlichen
Äusserungen Klarheit des Gedankens und Anmut
der Form; die Schwerfälligkeit des Styls er-
müdete und schreckte ab vom Lesen. Ihr
grösstes Werk jedoch, »Über die inneren Gründe
der äusseren Schwäche der Kirche«, sollte erst
viele Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden,
und sie sagte mir einmal, als sie davon sprach:
»Oh, in 50 Jahren etwa werden die Herren da
oben sagen, die Frau hatte doch recht.« Denn
sie wusste sehr wohl, dass man ihr in den
höchsten Regionen der Kirche Opposition machte.
Früher noch, unter dem Pontifikat von Pio IX.
war sie, besonders mit Antonelli sehr befreundet,
im Vatikan gewesen, ja dieser Papst hatte sogar
ein Wunder an ihr vollzogen. Sie litt zu der
Zeit sehr an den Augen, und eines Tages, als
sie sich in einer Privataudienz beim Papst be-
fand, liess sie sich auf die Kniee vor ihm nieder,
ergriff seine Hände, legte sie auf ihre Augen und
bat ihn, sie zu heilen. Sie blieb so einige Mi-
nuten. »Ich weiss nicht, was der Papst machte«,
sagte sie, »aber ich glaube, er betete; dann seg-
nete er mich und als ich nach Haus zurück kam
und zu arbeiten versuchte, fand ich meine Augen
gesund, und sie sind es bis auf diesen Tag ge-
blieben.« Das musste nun — ob durch Wunder
oder nicht — wohl so sein, denn sie arbeitete
— 103 —
meist bis spät in die Nacht hinein, und am Tag,
wenn man zu ihr kam, glänzten ihre Augen so
feurig im Lauf der Rede, dass man sah, sie litt
nicht daran.
Seit vielen Jahren schon verliess die Fürstin
Rom nicht mehr, auch nicht im Sommer und
wenn ich im Herbst von meinen nun zur Regel
gewordenen Reisen durch Deutschland nach
Frankreich zu Olga zurück kam, sagte sie mir
immer, ich täte unrecht, so viel Kraft wegzu-
geben, im Alter müsse man nicht mehr reisen
und sich konzentrieren auf das Innenleben und
die Arbeit, so sei das Alter die glücklichste Zeit
des Lebens. Und bei ihr war das anscheinend
wenigstens zur Wahrheit geworden; es umgab
sie wie eine Aureole von Freudigkeit und Frieden,
welche sie nicht hinderte, lebhaft teilzunehmen
an allem, was die Aussenwelt bewegte, und be-
sonders an den Schicksalen und Erlebnissen
ihrer Freunde. Die letzten Jahre jedoch nahm
ihre Gesundheit sichtlich ab und sie verliess ihre
Wohnung nicht mehr, weder im Sommer noch
im Winter. Im Herbste 1886 kehrte ich mit
einem bangen Gefühl zu dem Wiedersehen mit
ihr nach Rom zurück, denn im Juli des Jahres
war Liszt in Bayreuth während der dort statt-
findenden Aufführungen gestorben. Ich fand sie
stiller als sonst, äusserlich gealtert und mehr
wie je an ihr dumpfes, jedem frischen Luftzug
verschlossenes Zimmer und an ihren Lehnstuhl
gebannt. Ich sah es gleich, dass auch ihre
Lebensflamme dem Erlöschen zueilte ; das Leben
— I04 —
hatte seinen Wert für sie verloren, Liszt hatte
prophetisch gesprochen, denn er hatte einmal
geäussert, dass er überzeugt sei, sie werde ihn
nicht überleben. Nach einigen Wochen wurde
sie völlig bettlägerig und sah nur noch wenige
Menschen. Ich gehörte zu diesen und verbrachte
noch manche Stunde vor ihrem Bett. Jetzt sprach
sie mir viel von dem geschiedenen Freund, und
ich sah, dass sie glücklich war in der Hoffnung
baldiger Wiedervereinigung. Sie hatte immer
die Gewohnheit gehabt, mir, auch in derselben
Stadt lebend, viele und lange Briefe zu schreiben
und auch jetzt noch vom Krankenlager aus erhielt
ich deren häufig, so einen, wo sie nur von ihm
und der Hoffnung sprach, ihn wiederzufinden
und mit den Worten schloss : »Er lebt — ja er
lebt, denn er liebte Jesus Christus.« Als ich
dann wieder noch einmal länger bei ihr gesessen
hatte, fragte sie plötzlich: »Ach, Liebe, warum
wollen sie nicht an die Gottheit Christi glauben?«
Ich sah, es war ihr noch ein Herzenswunsch, dies
letzte Werk der Bekehrung zu vollenden, und es
schmerzte mich wahrhaft, ihr in diesen Abschieds-
stunden noch die bittere Enttäuschung bereiten
zu müssen. Ich schrieb ihr daher am folgenden
Tag und bat sie liebevoll, dies Thema nicht
mehr zu berühren, da ich doch nicht gegen
meine Überzeugung handeln, sie nicht mit einer
falschen Hoffnung hinhalten könne und es mir
schmerzlich sei, ihr immer nein sagen zu müssen.
Ich erhielt eine Antwort, in der ich wohl her-
aus fühlte, wie sie enttäuscht sei, aber ich ver-
— I05 —
stand es ja, dass es ihr bitter sein musste, diesen
Wunsch nicht erfüllt zu sehen, in welchem ich
doch nur einen Beweis ihres innigen Anteils an
meinem Heil erkennen konnte. Einige Tage
wurde ich verhindert, zu ihr zu gehen, hörte
auch, dass ihre Tochter gekommen und sie also
nicht allein sei. Doch hatte ich nun bestimmt
vor, am lo. März 1887 zu ihr zu gehen, als ich
am 9. abends ein Billet von einer Bekannten
erhielt, welche mir schrieb, dass die Fürstin ge-
storben sei. Ich eilte am folgenden Morgen hin,
konnte sie aber nicht mehr sehen.
In der sympathischen Kirche Santa Maria
del Popolo war die Totenfeier. Der Kardinal
Hohenlohe vollzog die Messe, und es wurde ein
Requiem von Liszt aufgeführt. Ich war dort mit
Frau Minghetti, und als der Kardinal den Sarg
einsegnete, der die sterbliche Hülle umschloss,
sagte ich ihr in meinem Herzen ein gerührtes
Lebewohl. Als wir aus der Kirche traten, kam
Monsieur Herbert, damals noch Direktor der
französischen Akademie in der Villa Medici, der
mit der Fürstin befreundet gewesen war, uns zu
begrüssen, und sagte: >Oui c'etait quelqu'un!«
Das war das rechte Wort; ja Fürstin Caroline
Wittgenstein war jemand, und von wie wenig
Menschen kann man das sagen.
Gedachtes.
Eben schrieb mir mein alter zweiundneunzig-
jähriger Freund über das schmerzliche Ach am
Ende des rätselvollen Lebens. Mein schmerz-
liches Ach wird nur der einen gelten, in deren
Leben mein Scheiden die tiefe Lücke reisst.
Sonst freue ich mich des Endes. War es der
Zufall, welcher das bunte Wechselspiel des Da-
seins veranlasste, so habe ich ihm getrotzt, indem
ich mir ein Ziel vorsetzte und mutig nach einer
vernünftigen Ordnung der Lebensaufgabe strebte ;
und ist im Grrund der Schöpfung ein erhabenes
Geheimnis, so habe ich mich vorbereitet, es zu
verstehen.
Der Dichter lebt zwei Leben, eines für sich,
eines für die Welt. Wehe der Frau, die ihn liebt,
das nicht versteht und eifersüchtig ist auf diese
Teilung. Sie wird den Genius brechen, oder ihr
eigenes Herz.
Der Geist vom Ende dieses Jahrhunderts,
der industrielle Geist, bemächtigt sich sogar des
— io8 —
Schönen in der Natur für seine Zwecke, und
verhässlicht jene. So hörte ich kürzlich, man
habe ein reizendes Wäldchen am Meeresstrand
bei Antibes abgehauen, um Felder mit Blumen,
zum Verkauf in Nizza und Toulon, zu bepflanzen.
Hochnäsige Duldung, Philistertugendstolz, die
kann ich nicht ertragen. Güte, Aufrichtigkeit,
Gleichheit der Gesinnung oder stolze Ebenbürtig-
keit, das verlange ich in Beziehung zu andern.
Eine sehr schlimme Art der Koketterie be-
ruht auf dem Reiz, bis an die äusserste Grenze
des Versuchbaren zu gehen, und sich dann kalt
vor dem letzten Schritt zurückzuziehen. Es ist
die Koketterie der Neugierde, der Vivisektion
der Gefühle, Man gibt Gift, um zu sehen, wie
der andere zappelt und sich vor Schmerzen
krümmt. Diese Sucht der Gefühlsanatomie findet
sich häufig bei den Frauen der sogenannten
»guten Gesellschaft«, welche ihre Stellung nicht
verderben, sich nicht kompromittieren wollen, es
aber sehr lieben, in andern zu experimentieren
und leicht bewegliche Naturen vorwärts zu trei-
ben, um, mit der Lorgnette vor den Augen, zu-
zusehen, wie gewisse Gifte wirken. Diese raffinierte
Verderbtheit der Seele ist eine der hässlichsten
Erscheinungen unter den Gebrechen der modernen
Gesellschaft. Sie schon in einem jungen Mädchen
zu finden, ist über alles Mass schmerzlich und
empörend.
— I09 —
Dir Frauen der »grossen Welt«, eure Liebe
gleicht Irrlichtem, die über Sümpfen tanzen.
Wehe dem, der diesen lockenden Lichtern folgt I
Dir kennt die wahre Liebe nicht, denn ihr denkt
nie an den Mann und seine Qual; ihr denkt nur
an euch selbst.
Es ist erschreckend, mit welcher Leichtigkeit
die Frauen in Italien sich preisgeben und die
Forderung, dass der Körper der Tempel einer
keuschen Seele und daher selbst unentweiht sein
soll, gar nicht verstehen. Auch ist es unbegreif-
lich, warum sie sich so schwer entschliessen, den
Geschlechtsfreuden zu entsagen, da diese im Alter
doch geradezu widerwärtig sein müssen, weil ihr
Zweck, die Fortsetzung der Gattung, nicht mehr
erreicht werden kann. Der Ersatz für das Alter
ist ja die Geschlechtslosigkeit, die Ruhe vom
Verlangen, die Annäherung zum reinen Geistsein,
die zweite Jungfräulichkeit der Seele. »Und jene
himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach
Mann und Weib.«
Duclos, ein französischer Moralist des XVIIL
Jahrhunderts, sagte von den frivolen Frauen
seiner Zeit: »Ces femmes qui donnent ä Dieu
ce que le diable ne veut plus«. Welche ent-
setzliche Kritik, und wie wahr auch noch heut-
zutage.
Die italienischen Frauen haben etwas, das
zugleich ein Vorzug und ein Mangel ist : die
— HO —
grosse Natürlichkeit in betreff natürlicher Dinge,
die sie einerseits von der Prüderie der Frauen
des Nordens freihält, ihnen andererseits aber
auch sehr oft die edle Scham nimmt, welche
die dem tierischen Leben angehörigen Vorgänge
mit einem Schleier bedeckt, den man auch den
Schleier des vornehmen sittlichen Gefühls nennen
könnte.
Es gibt zwei Arten des Daseins für eine
illegitime, aber grosse, wahre Liebe: frei und
offen am Licht des Tages, oder, wenn die um-
stände es nötig machen, tiefes, keusches Ge-
heimnis. Aber das Hineinziehen von Unbetei-
ligten, das Besprechen und Verhandeln eines
solchen Gefühls mit andern, ausser dem einen,
der es am ersten wissen müsste, dem legitimen
Gatten — ist verächtlich.
Der heilige Augustin hat gesagt: »Si vous
epousez une femme perdue, vous faites une bonne
actione Das klingt beinah wie eine Vorrede zu
Alexandre Dumas.
In der alten Welt glaubten die Frauen wirk-
lich, Umgang mit Göttern gehabt zu haben. Es
war ihnen nicht etwa ein Märchen, eine Lüge,
es war ihnen Wirklicheit. Welcher herrlichen
Art mussten die »Wanderer« sein, die ihnen so
erschienen ! Und welchen Einfluss musste es auf
die Kinder haben, die gleich als Halbgötter ge-
boren wurden I Wie prosaisch die armen Frauen
r
— III —
der Jetztzeit, die in keines Gotte^ Umarmung
mehr erwarmen!
Gastfreundschaft war eine der schönsten grie-
chischen Eigenschaften. Bettler und Fremde
waren ihnen von den Göttern gesendet. Homer
sagt, man müsse die Bettler ehren, weil sie viel-
leicht einen Gott verhüllten. Welche grosse
Zeit, wo man das Gröttliche auch in der elendesten
Grestalt sich nahe glauben konnte.
In der Antigone sehe ich das unleugbare
Zeugnis, dass, wenn die Griechen im täglichen
Leben der Frau eine untergeordnete Stellung
anwiesen, die Dichter wenigstens das höchste
Ideal von ihr hatten. Wie kann man sich ein
edleres Wesen vorstellen als Antigone, die allen
Grefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu
erfüllen, die Pflicht, welche die innere Stimme
den auserwählten Naturen gebietet, und welche
nur zu oft mit dem absoluten, äusseren Gesetz
im Widerspruch steht. Der Unterschied zwischen
dem idealen Menschen, der gegen das Gesetz
handelt, um recht zu tun, und dem Pflicht-
menschen, der das Gesetz buchstäblich befolgt,
und dabei im höheren Sinn unsittlich handelt,
ist nirgends erhabener dargestellt, als in Anti-
gone und Kreon. Das ist eine der ewigen
Schöpfungen, welche einen Konflikt malen, der
sich so lange wiederholen wird, wie die Gre-
schichte der Menschheit dauert. Die Antworten
— 112 —
Antigenes an Kreon enthalten alles, was den
Menschen adelt und ihn unter die Sterne ver-
setzt. Was könnte der heutige Mensch, der für
die Freiheit kämpft, der Tyrannei, die sich hinter
das Gesetz versteckt. Besseres erwidern? Dass
der Dichter eine Frauengestalt wählte, um den
Kontrast darzustellen, ist gewiss ein Beweis^
dass in den kunstgeweihten Seelen der Griechen
das schönste Ideal der Frau lebte. Ausserdem
braucht man auch nur an die Minerva zu denken^
in deren Antlitz sich die höchste Majestät des
Gedankens mit der vollendeten Schönheit der
Form verbindet, um zu begreifen, dass nicht nur
die Dichter, sondern auch die Künstler Griechen-
lands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten
Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck
geben wollten.
Alle grossen Dichter, auch späterer Zeiten,
haben in der ethischen Welt das Weibliche am
höchsten gestellt, so Dante, Goethe u. a. Die
dichtenden Völker taten es auch: Athene,
Jungfrau Maria etc. In den meisten Sprachen
ist Weisheit weiblich, also die höchste Potenz
des Geistig-Ethischen, das Erlösende; ebenso
die Erlösung.
Vor vielen Jahren noch in England, als die
Bewegung zur Emanzipation der Frau einen
immer stärkeren Ausdruck fand, erschien dort
ein neues Journal, diesem Zweck geweiht, und
die Redaktion wendete sich an mich um Bei-
— 113 —
träge. Ich schrieb damals in Antwort: »Niemals
vielleicht hat eine Idee des Fortschritts solch
ein plötzliches Ins-Leben-Treten, solch ein Er-
wachen an den verschiedensten Orten zu gleicher
Zeit gehabt, wie diejenige, für welche ihr Jour-
nal sich zum Organ macht. Früher pflegte es
nur eine Inkarnation des neuen, reformatorischen
Gedankens zu geben, einen Propheten, einen
Reformator, welcher das Wort sagte, das dann
hinausging in die Welt, sich seine Existenz zu
erkämpfen. So ist es heute nicht mehr; der
heilige Geist ist auf viele herunter gekommen,
und die menschliche Gesellschaft strebt danach,
das grösste aller Prinzipien zu verwirklichen,
welches vom Anbruch der Zeiten an der Traum
aller einsamen Denker gewesen ist, der Stern
des Orients, der sie führte, die Glorie der Welt
in einer einsamen Hütte zu suchen. Dieses Prinzip,
welches einst das geheime Losungswort für die
Freunde der Menschheit geworden war, die das
Gute vor den Augen des Bösen, welches die Welt
noch regierte, verstecken mussten, und welches
jetzt in das Tageslicjit hervortritt und seine Ver-
wirklichung in allen Richtungen fordert: das
Prinzip der Gleichheit, gleichbedeutend mit
Gerechtigkeit.«
Für Gedanken gibt es kein Herrscherwort:
sie schlüpfen vom Geist in den Geist hinüber,
wecken da die Schlummernden, werden zu Stahl
und Eisen im Blut, drängen hinaus zum Schwert
in der Hand, und ruhen nicht eher, bis sie eine
Meysenbug, IV . 8
— 114 —
Macht geworden sind, die zur Tat fortschreitet,
und erst wenn sich Despotismus und Demokratie
im offenen Felde gegenüberstehen, wenn es keine
Wahl mehr gibt, als zwischen diesen Zweien,
dann erst wird die Stunde der Entscheidung
gekommen sein. Dann erst ist es ein ehrlicher
Kampf, denn dann erst weiss man, wofür und
gegen was man kämpft, und dann erst werden
die Waffen, auf deren Seite die neue Welt-
entwicklung liegt, den Sieg erringen.
In einem der schönsten Kapitel der »Kultur
der Renaissance« bespricht Jacob Burckhardt die
Zunahme wahrhaft ausgebildeter Menschen im
fünfzehnten Jahrhundert, das harmonische Aus-
runden ihres geistigen und äusseren Daseins,
die Vollendung der Persönlichkeit. Er führt die
Worte eines der Grössten jener Zeit, eines Ur-
bildes des uomo universale an, welcher sagt:
»Die Menschen können von sich aus alles, wenn
sie nur wollen. Mitten in die Welt habe ich
dich gestellt, spricht der Schöpfer zu Adam,
damit du um so leichter um dich schauest und
sähest alles, was darinnen ist. Ich schuf dich
als ein Wesen, weder irdisch noch himmlisch,
weder sterblich noch unsterblich, allein, damit
du dein eigner freier Bildner und Überwinder
seiest; du kannst zum Tier entarten und zum
gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die
Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was
sie haben sollen; die höheren Geister sind von
— 115 —
Anfang an oder bald hernach, was sie in Ewig-
keit bleiben werden. Du allein hast eine Ent-
wicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du
hast Keime eines allartigen Lebens in dir.«
Wenn man solche Worte der Leo Battista,
der Alberti, Pico und anderer ihrer edelsten
Zeitgenossen erwägt, dann fragt man sich, wie
viele unter den Nachgebornen, Lebenden dieses
Bildungsideal verwirklicht haben? Unsere moderne
Bildung ist mehr in die Breite gegangen, umfasst
mehr Gregenstände des Wissens, aber sie hat
sicher, im Vergleich mit jenen, an Tiefe ver-
loren, an dem inneren Grund, dem die Blüte
der wahren Schönheit entwächst.
Auch Burckhardt sagt: »Laut genug pflegt
auch unser laufendes Jahrhundert den Wert
der Bildung überhaupt und den des Altertums
insbesondere zu proklamieren. Aber eine voll-
kommen enthusiastische Hingebung, eine An-
erkennung, dass dieses Bedürfnis das Erste
von allen sei, findet sich doch nirgends, wie
bei jenen Florentinern des fünfzehnten und An-
fang des sechzehnten Jahrhunderts.«
Es muss wohl den Menschen ein tief inne-
wohnendes Bedürfnis sein. Feste zu feiern,
denn von den ältesten Zeiten an haben sie
besondere Tage ausgezeichnet und ihnen eine
andere Bedeutung gegeben als den übrigen.
Diei^f nächste Veranlassung hierzu mag das Be-
dürfnis der Ruhe gewesen sein. Das Leben
verpflichtet den Menschen zur Arbeit, seine
8»
— ii6 —
Neigung ladet ihn zum Genuss ein. Tiefsinnige
Gesetzgeber, wie Moses z. B., begriffen dies ; und
das: »Sechs Tage sollst du arbeiten und den
siebenten sollst du ruhen« war ein auf die Be-
dürfnisse der menschlichen Natur gegründetes
Gesetz. Bei dem lebensfrohsten Volk der alten
Welt, den Griechen, führte dies Bedürfnis eine
Menge festlicher Tage herbei, an welchen das
künstlerische Volk sich seiner Kraft und Ge-
schicklichkeit, seiner Dichter und Sänger, ja
seiner Götter freute. Ihm musste selbst noch
der tragische Schluss des Lebens, der Tod auf
dem Schlachtfeld, ein festliches Gepräge haben,
sie kämmten und bekränzten sich dazu wie zu
einem Fest. Der Kultus aller Religionen baute
auf dies Bedürfnis, indem er eine Menge Fest-
tage einsetzte zu Ehren der Götter oder Gottes,
an welchen die Menschen sich inniger in die
Nähe der Unsichtbaren versetzen und eine ver-
trautere Gemeinschaft mit ihnen pflegen sollten.
Ganz besonders tat dies die katholische Kirche,
und es ist das ohne Zweifel ein grosses Mittel
ihrer Macht gewesen und ist es noch. Dies Be-
dürfnis, in Gemeinschaft mit andern Stunden
und Tage festlich zu begehen, wird auch bleiben,
wenn viele der gewesenen Feste ihre Bedeutung
verloren oder gewechselt haben. So wie das
Weihnachtsfest ursprünglich der Feier des wieder-
kehrenden Lichts geweiht war, und wie das
Osterfest sogar von den alten Frühlingsgöttem
den Namen beibehielt, und nichts war als Früh-
lingsfest, bis sie dann beide in den christlichen
— 117 —
Kultus übergingen, so wird vielleicht eine neue
Zeit ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurück-
geben. Wenn die Sonne uns hinauslockt auf
neu ergrünte Wiesen, wo die ersten Veilchen
uns entgegenduften, warum sollten wir nicht
ein heilig schönes Fest in Verehrung der all-
gewaltigen Schöpfungskraft der Natur feiern, die
uns an ein ewiges Dasein glauben lehrt, indem
sie immer von neuem den Tod in Leben ver-
wandelt und aus der scheinbaren Verwesung
strahlende Schönheitsformen hervorgehen lässt?
Wenn die Menschheit einmal wieder die jetzige
Phase ihres Entwicklungskampfes bestanden hat,
so kann man mit Recht hoffen, dass eine Zeit
neuer Blüten kommen wird, wo das ästhetische,
künstlerische Bedürfnis neue Feste schafft, reicher
und schöner als alles Dagewesene, weil sie einem
neuen, reicheren und schöneren Zustand der Ge-
sellschaft entsprechen.
Wenn nur erst die Einsicht, dass dieses
Leben nichts ist als Erscheinung des Seins,
mehr verbreitet sein wird, wie viel falscher
Wahn, wie viel törichte Sucht und Begierde
werden alsdann aufhören ! Durch das Schöne
und Ehrwürdige das religiöse Gefühl wecken,
welches in seinem tiefsten Grund nichts anderes
ist als die Ahnung des Idealen, Vollendeten,
das ist Aufgabe der Erziehung, aber ohne Kirche,
ohne Hierarchie, ohne bindende Dogmen.
— ii8 —
Die wahren Schmerzen sind die, welche uns
von denen kommen, die wir am meisten lieben,
und die uns am meisten lieben. Alles übrige
ist roba da nulla, graue Wolken, welche vor-
überziehen. Verwundeter Stolz, verletzte Eitel-
keit, getäuschte Hoffnung etc., alles das ist bitter,
aber es trifft nicht dort unten an der Quelle des
Lebens.
Fühlte mich heute wie eine Sibylle, schaute
die Wahrheit in den Tiefen der Erscheinung;
auch Christus ein Kunstwerk; bewusster Wahn
einzige Religion; alles nur Symbol I
Man kann das Schicksal nicht zwingen und
ebensowenig die Charaktere, die unveränderlich
sind.
Auch der Schmerz vergangen I ein Tropfen
im Ocean des Gewesenen.
Landleben in Italien*
An einem Abend auf einem Landsitze Ming-
hettis in den Apenninen hatten wir eine Dis-
kussion über das Weltsystem ; wir, die Bewohner
der Villa, der katholische Pfarrer des Orts und
ein Franziskanermönch, der bei ihm zu Besuch
war. Beide waren Anhänger Rosminis. Der
Franziskaner, ein geistig angeregter, feuriger Mann,
stellte die Behauptung auf, dass die in der Materie
wirkenden Kräfte der Anziehung und Abstossung
immer latent dagewesen seien, bis ein allmäch-
tiges Schöpfungswort sie in das Leben gerufen
habe. Ich entgegnete ihm, dass es doch wohl
vernunftgemässer sei, zu denken, dass die eine
Weltkraft in ihrer doppelten Äusserung nicht
passiv, sondern von Ewigkeit her, in der Materie
wirkend gewesen sei, deren Qiaos sie geschieden
und gestaltet habe. Ebenso widersprach ich ihm,
als er die Realität von Zeit und Raum behaup-
tete, und erklärte sie für ein blosses Bedürfnis
des Subjekts, das, beim Erkennen des Neben-
— I20 —
einander den Begriff des Raums, und beim Er-
kennen des Aufeinander den der Zeit nötig
habe. Der Mönch war erstaunt, aber nicht be-
leidigt; man sah, dass religiöse Vorurteile ihn
nicht hinderten, freieren Gedanken gerecht zu
werden und sie zu weiterer Betrachtung aufzu-
nehmen. Er hatte entschieden ein hohes sittliches
Bewusstsein seines Standes, und zu anderen Zei-
ten hätte vielleicht ein Savonarola aus ihm wer-
den können.
Ich sprach nachher infolgedessen mit Ming-
hetti über Rosmini, und Hess mich über dessen
Philosophie helehren. Minghetti nannte ihn
den Nachfolger Kants, nur habe er dessen
Kategorien auf eine einzige beschränkt, auf das
Sein (l'essere). Nur dem Menschen habe er das
Verständnis durch die Intelligenz zugeschrieben,
während die Tiere allerdings auch Eindrücke
hätten, aber nur ein Verständnis der Sensibilität.
Der Mensch aber verstehe das: es ist, und von
dem Augenblick an, wo er das verstehe, mache
sich das Licht des Geistes geltend, und könne
er reden. Die Tiere könnten nicht reden, weil
ihnen der Begriff des Seins fehle. Aber dies Sein
sei noch nicht Gott, nur gleichsam die Lein-
wand, auf welcher sich alle übrigen Wahr-
nehmungen • zeichnen, wie auch die Kategorien
Kants Beobachtungen der Sinne seien. Das
wirkliche Sein Rosminis aber ist Gott; das
gewordene Sein ist das Wort, der Sohn; und
das ideale Sein: der heilige Geist. Rosmini
stand jedoch nicht ausserhalb der Kirche.
— 121 —
Ausser dem Landsitz, auf welchem diese
Gespräche stattfanden, besass Marco Minghetti
dicht vor den Toren von Bologna, seiner Vater-
stadt, eine anmutige Villa, deren Geschichte
interessant ist, wie die so vieler kleiner, jetzt in
den Privatbesitz übergegangener Orte in Italien.
Der Hügel, auf dem die Villa liegt, wurde früher
in den Reisehandbüchern als eine der Sehens-
würdigkeiten von Bologna angeführt, da sich auf
demselben die Kirche von St. ApoUonia di Mezza-
ratte befand, deren Fresken aus der Schule Giottos
und ein Teil derselben von ihm selbst herrühren.
Jetzt gehört diese Kirche schon seit vielen Jahren
zu dem Besitztum Minghettis; sie ist dem Gottes-
dienst entzogen und mit dem Landhaus ver-
bunden.
Schon seit mehreren Jahren hatte mich das
Schicksal mit Donna Laura Minghetti, der Frau
Marco Minghettis, zusammengeführt. Nicht in
Rom, da ich mich der vornehmen römischen
Gesellschaft nicht mehr angeschlossen hatte, weil
mir sowohl die Gesundheit wie die Lust fehlten,
ein müssiges Gesellschaftsleben aufs neue zu
beginnen, sondern in Bayreuth, wohin sie mit
ihrer kunstliebenden Tochter, einer der eifrigsten
Befbrderinnen des Bayreuther Unternehmens und
der glühendsten Verehrerinnen Wagnerischer
Musik, zu den Festspielen im Jahre 76 gekommen
war. Die Bekanntschaft setzte sich in Rom fort
und wurde bald zu aufrichtiger Freundschaft, die
ich ihr um so höher anrechnete, als sie, die
geistreiche schöne, liebenswürdige Frau, eine der
— 122 —
gefeiertsten Erscheinungen der italienischen Ge-
sellschaft war, ich hingegen ein so stilles, weit-
abgewandtes Leben führte, dass ich einem glän-
zenden Weltkind wenig zu bieten hatte. Dank-
bar aber nahm ich es an, dass sie mich in den
engeren Kreis ihres Hauses zog, wo sich eine
Anzahl der in Politik wie in Wissenschaft bedeu-
tendsten Männer versammelten, und wo unaus-
gesetzt ein geistig angeregter Verkehr herrschte.
Hier lernte ich so zu sagen die zweite Schicht
der hervorragenden Männer der italienischen Ge-
sellschaft dieses Jahrhunderts kennen. Die erste
Schicht war die jener Emigrierten, jener Idealisten,
die im Exil unter schweren Prüfungen festhielten
an ihrem Ideal eines vom Fremdjoch befreiten,
zu neuer Blüte auferstandenen, einigen Vater-
lands. Sie hatten in hoher Idealität alles geopfert,
weil sie die Verwirklichung ihrer Hoffnung für
möglich hielten, und waren zum grossen Teil
bitter enttäuscht gestorben. Diese zweite Schicht
waren die Männer der klugen, berechneten Tat,
der Praxis und des Erfolges; gebildete, recht-
schaffene Leute, angenehm imUmgang, konservativ
insofern, als sie das Erreichte festzuhalten suchten,
ohne nach Höherem zu streben, und ohne die
Idealität, welche jene ersten umgab. Hier sah
ich, ausser Minghetti selbst, als die Bedeutendsten :
Ruggiero Bonghi, Giovanni Morelli, Francesco
Brioschi.
Bonghi war einer jener glänzend geistreichen,
kritisch und satirisch veranlagten Geister, wie
sie in den romanischen Völkern häufiger vor-
— 123 —
kommen, als in den germanischen. Wenn der
kleine, hässliche Mann zugegen war, konnte man
sicher sein, dass es in der Unterhaltung sprühte
und blitzte von geistreichen Apergus, witzigen
Einfallen, scharfen Bemerkungen, die alle oft mehr
im Augenblick blendeten, als sie bei ruhiger
Prüfting Wert behielten, besonders, wenn das
schallende Lachen, das sie meist begleitete und
Ansteckendes hatte, weil es so spontan und
herzlich kam, verstummt war. So sagte er ein-
mal, als von Napoleon I. die Rede war: »C'etait
un grand homme vulgaire.« Ich erlaubte mir
zu bemerken, dass es mir zweifelhaft schiene, ob
ein grosser Mensch vulgär sein könne, oder ein
•vulgärer Mensch gross, aber die Phrase hatte
gezündet, und der Einwand ging ohne Lösung
vorüber. Ein anderes Mal, als er bei Tisch
neben mir sass, kam er auf den Faust zu sprechen
und sagte, das Gretchen sei ein sehr ordinäres
Geschöpf, da es sich durch eine Kette verführen
Hesse. Dies war mir nun allerdings ein so seichtes
Urteil, dass von der Zeit an seine Kritik allen
Wert bei mir verlor, und dass sich eine Art
Entfremdung zwischen uns bildete, die sich bis
zu seinem Tod nicht ausglich. Auch als Politiker
war er keiner von jenen unerschütterlich festen
Charakteren, wie ich sie in jener ersten Schicht
gekannt hatte. Selbst seine näheren Freunde
waren oft ärgerlich über die Inkonsequenzen, die
er sich als Politiker zu schulden kommen Hess.
Dagegen aber war er von einer Schaßensfähig-
keit, die an das UnglaubHche streifte. In dem
— 124 —
grossen, schönen Arbeitszimmer seiner Villa
standen drei Schreibtische und auf ihnen lagen
Arbeiten, durchaus verschieden untereinander,
an denen er zu gleicher Zeit, bald an diesem,
bald an jenem Tisch, arbeitete. Was sein An-
denken aber mehr ehrt, als der vergängliche
Glanz seiner geistigen Begabung, das sind die
zwei, von ihm in echter Humanität geschaffenen
Anstalten in Assisi und Anagni, erstere für
die männlichen, letztere für die weiblichen
Waisen der armen Schullehrer. Die Anstalt in
Anagni besonders soll eine wahre Musteranstalt
sein und ist das schönste Monument, das er sich
selbst gesetzt hat.ls
Giovanni Morelli war eine durchaus andere
Natur als Bonghi, ebenfalls sehr charakteristisch
italienisch, aber die andere Seite dieses reichen
Nationalcharakters vertretend. Aristokratisch im
besten Sinn, fein, vornehm in (Besinnung und
Form, äusserst liebenswürdig und gütig, waren
seine geistigen Interessen ganz der Kunst zuge-
wandt. Ein genauer und geistvoller Kenner
aller Schulen und jedes einzelnen Künstlers, be-
sonders der seiner Heimat, ging er den Werken
derselben auch im Ausland nach, und veröffent-
lichte in deutscher*^ Sprache, die er vollkommen
sprach und schrieb, ein hochinteressantes Buch
unter dem Pseudonym : Ivan Lermolieff. Er gab
darin zum Studium der Werke der bildenden
Kunst Anfängern die bedeutendsten Ratschläge
und wies besonders auf eigne Anschauung und
genaue Prüfung der Werke selbst hin, anstatt
— 125 —
der unselbständigen Annahme der von anderen
aufgestellten Theorien, kurz, empfahl die Experi-
mentalmethode ebenso in der Kunst, wie in der
Wissenschaft. Unter dem Ministerium Minghettis
waren ihm die Restaurationen der alten Kunst-
schätze anvertraut, und er hatte in Bologna, wo
er damit anfing, Vorzügliches bewirkt, so z. B.
in der Kapelle der hl. Cäcilia die Fresken von
Costa, Francia u. a., ganz von den entstellenden
Übermalungen befreit und in ihrer ursprüng-
lichen Gestalt hergestellt. Leider dauerte das
Ministerium und damit seine Beauftragung nicht
lange, sonst wäre wohl manches schöne Werk
von der Verunglimpfung durch unkundige Hand
erlöst worden. So sagte er mir einmal, als ich
meinen Zorn über das abscheuliche Blau auf dem
jüngsten Gericht des Michel Angelo in der
Capeila Sixtina aussprach, es könne das ganz
leicht weggenommen und das Gemälde dadurch
seinem ursprünglichen Zustand zurückgegeben
werden. Aber, wie es ja leider allzu häufig
geschieht, auf den weisen Rat hört man nicht
und die Pfuscher lässt man ihr Handwerk treiben,
bis das Unersetzliche verloren ist. In seiner
Wohnung in Mailand hatte er selbst eine schätzensr
werte Sammlung edler Kunstwerke um sich
gebildet, in der sein Künstlersinn Erquickung
und Befriedigung fand, und manchem Freunde
hatte er geholfen bei dem Ankauf von Kunst-
sachen das Echte zu unterscheiden und nur das
Würdige zu nehmen. So verdankte der pracht-
volle, künstlerische Besitz des Sir Henry Lagard,
— 126 —
des ehemaligen englischen Gesandten in Konstan-
tinopel, seine grössten Schätze dem Rate Mo-
rellis. So fern sein ünabhängigkeitssinn und
sein Widerwillen gegen alle leere Form ihn auch
von Hofkreisen hielt, so hatte er doch wahre
Freundschaften unter fürstlichen Personen, wenn
diese seine künstlerischen und geistigen Sym-
pathien teilten, und es verging z. B. in früheren
Zeiten fast kein Sommer, wo er nicht irgendwo
im nördlichen Italien mit der nachherigen Kai-
serin Friedrich, damals noch Kronprinzess, zu-
sammentraf, und mit ihr und meist Minghettis
eine Zeit in kunstgeweihtem Verkehr zubrachte.
Ich war gerade an einem Sonntag Morgen, zu-
sammen mit meinem jungen Freunde Rolland,
bei Frau Minghetti zum Frühstück und RoUand
hatte uns eben ganz herrlich Bach gespielt, als
ein Telegramm aus Mailand eintraf, welches den
Tod Morellis anzeigte. Dass er krank war,
wussten wir, aber ein so rasches Ende des noch
anscheinend kräftigen, noch in den besten Jahren
stehenden Mannes hatten wir nicht erwartet.
Frau Minghetti, ihm näher befreundet als ich,
war schmerzlich getroffen, bat aber Rolland um
mehr Musik. Dieser schlug die ersten Töne des
Trauermarsches von Beethoven an, da rief sie
aber: »Nein, das nicht, das ist nicht zu ertragen,«
und so kamen wir zu Bach zurück, und in den
hehren Tönen hielten unsere Herzen dem edlen
Geschiedenen die würdige Totenfeier.
Der dritte der oben Genannten, Francesco
Brioschi, war wieder ein anderer, von den beiden
— 127 —
ersten sehr verschiedener Typus. Man hätte ihn
fiir einen Römer der antiken Zeit halten können,
so eisern fest war sein Charakter, sein Unab-
hängigkeitssinn, sein vollständiger Mangel an
eitlem Ehrgeiz und Streben nach Auszeichnung
und irdischen Ehren. Gewiss gingen wenige
Männer der italienischen Generation von der ich
jetzt spreche, so unbeugsam fest ihren Weg wie
er. Ein Mann der Wissenschaft, der berühmteste
Mathematiker Italiens, und als solcher auch im
Auslande gekannt und geehrt; einte sich doch
bei ihm das theoretische Wissen mit dem un-
ausgesetzten Trieb der Tat, und man kann sich
kein arbeitserfiillteres, tätig eingreifenderes Le-
ben denken als das seine. Er war Direktor des
ausgezeichneten polytechnischen Instituts in Mai-
land, und wie er dort wirkte, bezeugen die
Worte eines seiner Schüler, der an seinem Grabe
sagte : »Er war streng gegen uns, indem er uns
zu Arbeit und Pflichterfüllung anhielt, aber er
war uns auch ein liebevoller Vater, bei dem wir
stets Rat und Trost fanden.« Als Präsident der
Lincei, der Akademie der Wissenschaften in
Rom, wurde er immer von neuem gewählt,
wenn sein Mandat zu Ende ging, weil man keinen
Würdigeren zu finden wusste, und ausserdem
leitete er unzählige Kommissionen und technische
Unternehmungen. Was ihn mir aber besonders
wert machte, das war sein tiefes Verständnis
für die subtilsten Regungen der Seele, fiir die
feinsten Unterschiede von Schein und Wesen;
das war sein Hass gegen alles Unechte und
— 128 —
Halbe, das war sein Idealismus, der ihm die ab-
strakteste aller Wissenschaften verklärte und nach
den nüchternst-realistischen Geschäften des Tages
am Abend ideale Befriedigung brachte. So sagte
er mir einmal: »Wenn ich mehrere Stunden der
Nacht mit tiefster Konzentration gearbeitet habe,
um ein schwieriges Problem zu lösen, und Kopf,
Augen und Hand müde sind, dann lehne ich
mich im Stuhl zurück und fühle mit Wonne et-
was Erhabenes, eine himmlische Harmonie in
mir.«
Das sind die Momente, wo sich die Seele
als Teil der universellen Einheit fühlt, indem
sie mithilft an dem ewigen Werk des Schaffens.
Wie versteht man dann die Worte aus Faust:
»So schaff ich am sausenden Webstuhl der
Zeit,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.«
Denn alles wahre Schaffen, und sei es auch
nur die Pflege heiliger Gefühle im Innern des
Herzens, heisst die Gottheit zur Erscheinung
bringen, ihr lebendiges Kleid wirken.
Dieser Mann des eisernen Willens, der un-
verwüstlichen Tatkraft schien auch von einer
so eisernen Gesundheit, dass auch seine nächsten
Freunde keine Sorge um ihn hatten und man
kaum an die Möglichkeit von Krankheit glaubte.
Doch war es geschehen, dass er im vorigen
Jahr, in heissester Sommerglut in den Bergen
in Sicilien mit einer hydraulischen Arbeit be-
schäftigt, den Todeskeim empfing, der ihn an-
— 129 —
fangs dieses Jahres ins Grab brachte. Er war
eine von jenen stark ausgeprägten Individuali-
täten, die man nie mehr vergisst, und die so
fest im Leben zu stehen scheinen, dass man
kaum an ihr Scheiden glauben kann, immer meint,
sie müssten wieder da sein, und die ganz besonders
jetzt in Italien immer seltener werden. Mit ihm
schied der letzte aus dem engen Kreise des
Hauses Minghetti, und auch dieser einst so
lebenerfiillte Mittelpunkt der römischen Gresell-
schaft gehört nun der Vergangenheit an.
Aber nicht nur hervorragende Italiener, auch
bedeutende Fremde aus allen Weltgegenden fanden
sich in dem gastlichen Hause ein. Eine Persönlich-
keit, die mich sehr interessierte, hatte ich schon
bei der Fürstin Caroline Wittgenstein kennen
gelernt. Es war der Bischof Strossmayer aus
Kroatien, bekannt durch seinen mutigen Wider-
stand gegen die Infallibilität des Papstes. Die
Fürstin, mir damals ausserodentlich geneigt, hatte
ihm von den »Memoiren einer Idealistin« ge-
sprochen, und er sagte mir, er wolle sie lesen,
denn auch er sei ein Idealist. Er besuchte mich
darauf, und ich erkannte seine echt slavische
Natur, die ihn sich viel unmittelbarer, stürmi-
scher, und allerdings ideeller äussern liess, als
ich es bei römischen Priestern gefunden hatte.
Einmal war ich mit ihm zusammen bei Minghettis
zum Frühstück, wo auch Bonghi und einige an-
dere Italiener anwesend waren. Er sprach mit
tiefem Ernst über die Schuld der Curie, die darin
bestehe, dass sie den Völkern keine Freiheit
Meysenbng, IV. 9
— I30 —
gäbe, während ihre Aufgabe sein müsste, sie
Tugend und freies Denken zu lehren. Dann er-
zählte er uns von dem Bau einer Kathedrale, die
er in Agram auffuhren liess, und die grösser werden
solle, als die Peterskirche, auch davon, wie er
gleich einem Fürsten ausreite zur Jagd mit einem
Gefolge von hohen Prälaten und vornehmen Herren ;
dabei begeisterte er sich im Lobe des Slaventums,
und rief endlich in heiterem Übermut den
italienischen Herren zu: »Ihr seid die Alten, wir
sind die Jungen, die Zukunft gehört uns!«
Wird die Zukunft diese heitere Zuversicht
rechtfertigen? Bis jetzt hat sie es noch nicht
getan, und es ist schon manches Jahr seitdem
verflossen.
Noch lieber aber, als diese Vereinigungen in
der Stadt, waren mir die Wochen, die ich viele
Jahre hindurch, von Donna Laura liebevoll ein-
geladen, bei ihnen auf ihrem Landsitze verbringen
durfte, ehe ich meine alljährliche Reise nach
Norden zu Olga antrat. So war ich ein ein-
heimischer Gast auf dem oben genannten Mezza-
ratte geworden, und Minghetti gab mir Doku-
mente und Urkunden, aus denen ich die Ge-
schichte des Orts kennen lernte. An der Fagade
der Kirche ist ein antiker Kopf mit einer
phrygischen Mütze eingemauert, und dieses
christliche Ornament erklärt sich, wenn man er-
fährt, dass hier, zur Zeit des römischen Reichs,
ein Tempel des Mithras stand, dessen sieben,
vom Kultus vorgeschriebenen Eingangsstufen
noch an der einen Seite des Hügels sichtbar
— 131 —
sind. Auf der Stelle dieses Sonnentempels er»
baute um das Jahr 1106 eine der frühesten
christlichen Brüderschaften ein Hospital und
eine Einsiedelei, woselbst die armen Pilger, die
zu den heiligen Orten wallfahrteten, Aufnahme
und Pflege fanden. Nahe bei dieser Einsiedelei
war die Richtstätte, und die Brüderschaft erhielt
das Recht, die zum Tode Verurteilten auf den-
selben vorzubereiten und zu trösten, welches Recht
sie mehrere Jahrhunderte hindurch ausübte, bis
nach und nach der reUgiöse Eifer erkaltete und ihr
das Jus des Tröstens entzogen wurde. Um das
Jahr 1290 wurde das »Haus der Mitte« von den
Brüdern der Konfraternität der »Laade della Ma-
donna« (Lob der Madonna) in Besitz genommen,
welche an den Abenden vor einem Festtag
heraufkamen, jeder mit einem Körbchen, das
Brot und Wein enthielt, bewaffnet, um hier zu
beten. Sie sammelten Geld, um die Kirche zu
bauen, zu der sie auch die Einsiedelei ge-
brauchten, und beschlossen dieselbe nach und
nach würdig ausmalen zu lassen. In der Zeit
zwischen 13CK) und 1400 blühte in Bologna
gleichzeitig mit der Entwicklung der Malerei in
Toscana die Malerschule des Manno und des
Franc o, welchen sogar Dante der Erwähnung
wert hielt. Einer der Schüler Francos war
Vitale von Bologna, welcher den Meister an
Freiheit und Anmut der Bewegung übertraf.
Ihm schreibt man das Fresko im Innern der
Kirche von Mezzaratte über dem Haupteingang
zu. Es stellt die Greburt Christi dar, und einige
9*
— 132 —
Engel sind noch gut erhalten und sehr lieblich.
An der rechten Seite der Kirche befinden sich
Scenen aus dem alten Testament, von Abraham
an bis Joseph, und darunter steht: Jacobus f.
Auch dieser Jacobus war ein Schüler des Franco.
Ein anderer Schüler desselben Meisters war Si-
mone da Crocefissi, der diesen Beinamen erhalten
hatte, weil er im Anfang nichts anderes malte, als
immer Christus am Kreuz, »der aus Liebe zu
uns diesen Tod erlitt«. Vitale hingegen wollte
diesen Gegenstand nie malen, denn er sagte, es
sei mehr als zu viel, dass die Juden Christus
einmal an das Kreuz geschlagen hätten, und dass
ihn die schlechten Christen täglich mit ihren
Sünden durchbohrten. Jacobus malte im An-
fang nur Madonnen mit dem Kinde, später aber
vereinigte er sich mit Simone, und sie malten
zusammen verschiedene Gegenstände mit so
lebendiger Komposition und so viel Ausdruck,
als es die Entwicklungsstufe jener Zeit zuliess.
Beider Namen finden sich vereint an der linken
Seite der Kirche, unter Scenen aus dem neuen
Testament, an denen sich auch andere Maler
der Schule von Bologna beteiligten. Den Haupt-
wert aber enthielten diese Fresken durch die
vier Felder aus der Geschichte Moses, welche
Giotto gemalt hat; als er sich einige Zeit bei
den Freunden in Bologna aufhielt, liess er ihnen
dies Andenken zurück. Was noch davon erhalten
ist, zeigt allerdings die Hand des grösseren Meisters,
und als Michel Angelo in Bologna bei Julius 11.
war, soll er diese Fresken sehr bewundert haben.
— 133 —
Am Ende des vorigen Jahrhunderts kam die
Kirche mit dem dazu gehörigen Bodenbesitz in
die Hände eines Spekulanten, welcher die Hälfte
derselben in Wohnräume umgestaltete und die
Fresken mit Kalk überzog. Als Canova nach
Bologna kam, besuchte er die Kirche und sagte,
es müssten dort Fresken gewesen sein, nahm
ein Geldstück und fing an, den Kalk wegzu-
kratzen und siehe dal es erschien ein Kopf. Im
Jahre 1820 erstand Minghettis Vater die ganze
Besitzung, aber erst nach des Vaters Tod liess
der Sohn den Kalk wegwaschen und was noch
von den Fresken übrig war der Beschauung zu-
rückgeben. Jetzt ist dieses Mezzaratte durch
die schöpferische Hand der Besitzer zu einem
blühenden Idyll geworden, welches die Höhe,
auf der das künstlerisch angelegte Wohnhaus
mit der Kirche steht, umgibt. Rechts und
links von dieser Höhe ziehen sich ähnliche grüne
Ausläufer der Apenninen, mit stolzen Gebäuden
gekrönt, hin, und zu ihren Füssen liegt die Stadt
Bologna und die weite, fruchtbare, mit Villen,
Städten, Dörfern besäete Ebene der Romagna,
an deren Horizont man bei hellem Wetter den
Silberstreifen der Adria und gegen Norden die
Schneefelder [der Ortler-Alpengruppe erblicken
kann.
In diesem Tuskulum ruhte der italienische
Staatsmann von den heissen, leider oft so un-
fruchtbaren Kämpfen in der Aula von Monteci-
torio in Rom aus. Es war eine klassische Ruhe,
könnte man sagen, denn aus der reichhaltigen,
— 134 —
hier befindlichen Bibliothek suchte er vorzugs-
weise die lateinischen Schriftsteller hervor, und
in erster Morgenfrühe konnte man ihn im Garten
wandeln sehen, ein Buch in der Hand haltend
und eifrig lesend. In dem einen Sommer waren
es besonders die Metamorphosen des Ovid ; »Es
ist gut,« sagte er, »den Tag mit etwas Poesie
zu beginnen.« Beim Frühstück, das im Garten
eingenommen wurde, las er dann das eine oder
andere Schöne den Anwesenden vor und zwar
so geläufig italienisch, als stände es so ge-
schrieben, denn ihm war die lateinisehe Sprache
so geläufig wie seine Muttersprache. Die edle
Gastfreundschaft, die auf Mezzaratte geübt wurde,
lockte im Sommer viele der nächsten Freunde
herbei, welche einer nach dem anderen kamen,
um sich einige Tage auch von den Kämpfen
auf politischem und den Arbeiten auf wissen-
schaftlichem Gebiet auszuruhen. Am Abend,
wenn die erquickende Frische eintritt, welche
das Nachtleben der Italiener so natürlich und
köstlich macht, kamen Besuche aus der Stadt
herauf aus allen Schichten der gebildeten Ge-
sellschaft; die Aristokratie von Bologna, die
so viele geschichtlich berühmte Namen aufzu-
weisen hat, wie Bentivoglio, Pepoli, Gozzadini
etc., mischte sich hier vorurteilslos mit den
anderen Ständen und besonders fehlt es nicht
an Künstlern, welche die kunstsinnige Gemahlin
Minghettis mit Vorliebe herbeizieht. Beim
Licht der Sterne sitzt man im Garten bei ein-
ander und in der ungezwungenen Weise, welche
— 135 —
die italienische Geselligkeit zur angenehmsten
der Welt macht, berührt die Unterhaltung bald
Heiteres, ohne jedoch banal zu werden, bald
Ernstes, das mit Eifer und Gründlichkeit be-
sprochen wird,
Bologna ist ja noch immer eine der geistig
angeregtesten Städte Italiens, wenn es auch nicht
mehr den Ruhm besitzt, die erste Hochschule
Europas zu sein. Der bedeutendste unter den
jetzt lebenden Dichtem Italiens, Carducci, lebt
in Bologna. An der medizinischen Fakultät der
Universität befand sich einer der ersten Chirur-
gen der Jetztzeit, Professor Loreto. Er kam
öfter nach Mezzaratte und seine anziehende Per-
sönlichkeit, sein Wissen und seine reichen Er-
fahrungen sicherten ihm stets einen ICreis wiss-
begieriger Zuhörer. Besonders wussten ihm die
Frauen Dank, dass er ihrem Geschlecht die
edelste Anerkennung zollte und sie nicht nur an
geistiger Begabung dem Manne gleichstellte,
sondern infolge unzähliger Beobachtungen ihnen
auch den grösseren Heroismus zusprach.
Öfter kam das Grespräch freilich auch auf
traurige Zustände der Öffentlichkeit, besonders
auf die Vernachlässigung von selten der Re-
gierung für die, welche dem Vaterlande uneigen-
nützig und um eines Ideals willen gedient hatten.
Der Nepotismus, der einst in der päpstlichen
Romagna herrschte, hat sich in den eben so
schlimmen Protektionismus verwandelt und ruft
an den Universitäten, Schulen und anderen
Staatsanstalten ein System der Beförderung von
— 136 —
Günstlingen hervor, welche die Besoldung nehmen
und nichts leisten, während Fähige, die nicht
um Gunst buhlen, sondern nur redlich ihre Pflicht
tun, zurückgesetzt werden. Traurige Erfahrungen
dieser Art hatten mehrere der Besucher von
Mezzaratte gemacht, und manche waren so ent-
mutigt, dass sie dem Vaterlande den Rücken
wenden und ins Ausland gehen wollten. Ja, un-
dankbar war Italien von jeher; Dante musste
ins Exil wandern und Mazzini starb unter
fremdem Namen, unerkannt auf der heimischen
Erde.
Oben in dem blütenreichen Mezzaratte wurde
aber alles mit tiefem Schmerz empfunden, was
dem Vaterlande nicht zur Ehre gereicht, doch
der Trost wurde auch da gesucht, wo er allein
zu finden ist, in dem Gefühl, die eigne Pflicht
treu erfüllt zu haben, in Ausübung unbestechlicher
Gerechtigkeit, und in dem geistigen Zusammen-
hang mit allen Grossen, die vor uns dagewesen
sind, und deren Bestes, befreit von den Mängeln
der Sterblichkeit, in der herrlichen Bibliothek
von Mezzaratte zu finden ist.
Noch einfacher, intimer, und von dem Welt-
getriebe noch mehr losgelöst war das Leben auf
der zweiten, eine Stunde von Bologna hoch in
den Apennin^n gelegenen grossartigen Besitzung
Minghettis »Sette Fonti« genannt. Da war er
wirklich Gutsherr; denn auf seinem Grund und
Boden lebte eine Menge ansässiger Bauern, deren
Wohnungen hier und da auf den in malerischen
Formen auf- und absteigenden Bergflächen zer-
— 137 —
streut liegen. Hier oben war er stets der erste,
den erwachenden Tag zu begrüssen. Wenn ich
(auch dort ein liebevoll empfangner Gast) in
früher Morgenstunde in den Park hinunter eilte,
um die balsamische Luft einzuatmen und unter
den uralten Eichen dem Morgengesang der Nach-
tigallen zu lauschen, so sah ich ihn in seinem
schlichten leinenen Hausrock und mit dem breit-
krämpigen Stohhut schon von einem Gang in
die schöne Gebirgswelt, welche ihn umgab, zu-
rückkehren und dann lag jene heitere Ruhe auf
seinem Antlitz, welche nur die reinen Seelen
kennen, die »von dem Wust der Welt entladen,
am ewig frischen Quell der Natur gesund sich
baden«. Darauf stieg er zur Arbeit in sein mit
klösterlicher Einfachheit eingerichtetes Schreib-
zimmer, um in der Stille die Konzentration und
Stimmung zu finden, welche ihm für seine
dortige Beschäftigung nötig waren. Er schrieb
seine Memoiren.
Am Nachmittag, wenn die glühenden Strahlen
der Sonne milder wurden und man aus den
kühlen Zimmern wieder hinauseilte in die won-
nige Luft, dann erschien auch Minghetti auf
einer der grossen, von hundertjährigen Eichen
beschatteten Wiesen des Parks, wo der kleine
Kreis der Hausgenossen sich bereits gelagert
hatte und von wo man eine entzückende Fern-
sicht genoss : die Ebene der Romagna von Flüssen
durchschlängelt, mit ihrem Reichtum an be-
wohnten Orten, am Horizont die funkelnde
Adria und seitwärts die auf- und abwogenden
— 138 —
Linien der in alle Farbenpracht getauchten
Apenninen. Dann brachte er wieder ein Buch
mit und las vor, immer aus seinen Klassikern;
welcher moderne Ton hätte auch wohl in diese
klassisch schöne Welt gepasst?
Bei diesen Versammlungen war meist der
junge Geistliche zugegen, dessen Pfarrhäuschen
nebst der kleinen Kirche dieser weit umher in
den Bergen zerstreut wohnenden Gemeinde dicht
neben dem Herrenhaus steht. Der junge Geist-
liche, ein Bauernsohn aus den Apenninen, geistig
sehr begabt, verehrte in Minghetti den Retter
seiner Seele, wie er sagte. Mit quälenden Zweifeln
im Herzen, in dieser Bergeinsamkeit von allem
geistigen Verkehr abgeschnitten, war er der
Verzweiflung nahe gewesen. Da kam Minghetti
nach Sette-Fonti und lernte den Seelenzustand
des Armen kennen. Er wurde der Arzt seiner
Seele, gab ihm die Schriften Giobertis und Ros-
minis zu lesen, in denen der junge Mann ein
reineres religiöses Ideal fand, als das was ihm
bisher als Religion vorgeführt war, — und
leitete den übersprudelnden Gärungsstoff dieser
Intelligenz in die ruhigeren Bahnen religiös-philo-
sophischen Denkens und zu der treuen Ausübung
seines Amtes, als Freund und Tröster der ihm
anvertrauten Armen, welche hier in der kümmer-
lichen Existenz der Berge, in dem Pfarrer den
Arzt für alle Leiden suchen.
Aber auch den Mitgliedern der ländlichen
Gemeinde wurde die väterliche Fürsorge Ming-
hettis zu teil. Kein Spaziergang wurde in
— 139 —
der Abendkühle in den schönen Umgebungen
unternommen, ohne zugleich an einem der
Bauernhöfe vorzusprechen, Erkundigungen über
den Zustand der Familie einzuziehen und eine
Gabe zurückzulassen, alles in einfachster freund-
licher Weise; wie etwas, was sich von selbst
versteht. Und diese primitiven, noch von der
Civilisation nicht verdorbenen Menschen, die von
dem berühmten Staatsmann kaum etwas wussten,
ehrten in ihm den Menschen, der das Wort
des Evangeliums zur Wahrheit machte, dass
wenn die eine Hand gibt, die andere nichts
davon wissen soll. Eines Nachmittags, als wir
wie gewöhnlich auf der Wiese oben gelagert
waren, kam eine über achtzig Jahre alte Frau,
von einer Ueblichen jungen Enkelin geführt, hin-
auf und trat vor Minghetti hin. Mit der demon-
strativen Lebendigkeit ihres Volkes, die auch
dem Alter noch etwas JugendHches gibt, er-
zählte sie, wie schon Minghettis Eltern so viel
Gutes an ihr und den Ihrigen getan hätten, wie
sie ihn schon als Knaben gekannt und es einzig
ihm verdanke, dass sie jetzt im Kreise von
Kindern und Kindeskindem ein ruhiges Alter
erlebe. Nur eine Sorge habe sie noch, nämlich,
dass nach ihrem Tode die Ihrigen vielleicht nicht
mehr so brav bleiben würden. »Jetzt versammle
ich sie alle Abende um mich und bete mit ihnen
für die Unseren, die schon vor uns heimgegangen
sind, damit sie die nicht vergessen und gut
bleiben um ihres Andenkens willen. Versprecht
mir nun«, sagte sie zu Minghetti, »dass Ihr über
— I40 —
ihnen wachen wollt, damit sie brav bleiben,
wenn ich gestorben sein werde.« Minghetti
versprach es ihr ernst und feierlich. >Ach, nun
bin ich ruhig!« rief sie begeistert aus, »hier kann
ich es nicht vergelten, aber wenn ich an einen
guten Ort komme« (dabei sah sie gen Himmel)
»da werde ich's vergelten und für Euch beten.«
Dieser kleine Vorgang trat vor meine Seele,
als ich am Morgen des ii. Dezember 1886 an
dem Ruhebette stand, auf welchem Marco Ming-
hetti, von Blumenkränzen umgeben, lag. Ein
schmerzvolles Leiden hatte den sonst noch
rüstigen Mann binnen Jahresfrist an das Ende
eines Lebens geführt, welches dem Vaterlande
noch so nützlich hätte sein können. Er wusste,
dass er sterben würde, und sah dem Tod mit
der Ruhe des Weisen entgegen. Ein paar Tage
vor dem Ende war er noch in der Kammer ge-
wesen und hatte dem Präsidenten, seinem Freund,
gesagt, er wünsche, dass keine Kommemoration,
wie sonst üblich, in der Kammer stattfinde.
Rasch nahte das Ende und er konnte sein
Lager nicht mehr verlassen. Am Morgen vor
dem Todestag war ich mit Ruggiero Bonghi, dem
intimen Freund des Hauses, bei Frau Minghetti
zum Frühstück, da sie natürlich nur vertraute
Freunde sah, die kamen, die schweren Stunden
mit ihr zu teilen. Wir mussten sie aber schnell
verlassen, da der König und die Königin ihren
Besuch ansagen Hessen, um den treuen Diener
und Freund noch einmal zu sehen. Als beide
an sein Lager traten, hatte er mit letzter Kraft
— 141 —
noch das kleine Mützchen, welches sein Haupt
bedeckte, abgenommen und gesagt: »Ich hätte
noch gern meinem Lande und meinem König
gedient.«
Als ich am folgenden Morgen wieder hin-
ging, um mir Nachricht zu holen, fand ich alle
Türen geöffnet, und an den bewegten Mienen
der alten treuen Diener, die nur leisen Schrittes
einher gingen und kaum vernehmbar flüsterten,
sah ich schon, dass die letzte grosse Stunde
bevorstand.
In dem Saal befanden sich schweigend ein
paar der nächsten Freunde, am Kamin standen
Depretis, damals Ministerpräsident, und Giovanni
Morelli, der feine Kunstkritiker aus Mailand, der
intimste Freund des Hauses. Als Frau Minghetti
aus dem anstossenden Zimmer, wo der Sterbende
lag, heraustrat mich zu begrüssen, äusserte ich
ihr den Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, dem
sie alsbald willfahrte, indem sie mich an das
Sterbelager führte, an welchem ihr Sohn stand
und dem schon in Agonie Begriffenen den
Schweiss von der Stirne trocknete. Er erkannte
mich nicht mehr, und ich nahm schweigend und
innigst bewegt von ihm Abschied.
Am folgenden Morgen kam ich hin und fand
die Leiche bereits in würdig einfacher Aus-
stattung der Umgebung, den Besuchern zugäng-
lich. Der Tod hatte den Ausdruck schmerz-
vollen Leidens verwischt und den Zügen den
Stempel eines erhabenen Friedens aufgedrückt.
Er lag da in seiner schwarzen Kleidung, das
— 142 —
Bild des vollkommenen Gentleman, in der edel*
sten Bedeutung des Worts. An seinem Toten-
bette trauerte eine ganze Nation, ihr Herrscher
an der Spitze; prachtvolle Blumenkronen, von
nah und fern gesendet, waren ein Ausdruck der
allgemeinen, aufrichtigsten Teilnahme. Ich aber
sah im Geist jenes alte Mütterchen und all die
Armen aus den Bergen von Sette-Fonti vor mir,
und es war mir, als sähe ich sie eine Krone
winden aus Tränen der Dankbarkeit, des Segens
und der Gebete gläubiger Herzen und sie nieder-
legen auf das bleiche ehrwürdige Haupt. Diese
Krone schimmerte hell wie eine Aureole um
den Toten, und vor dieser Vision sagte ich dem
edlen Manne das letzte Lebewohl.
Schöne Tage.
Im Frühling 1881 lud mich Frau Minghetti,
mir immer freundschaftlichst gesinnt, ein, mit
ihr einen Ausflug nach Sorrent zu machen. Da
ich ohnehin schon für etwas später eine Ein-
ladung für den herrlichen Süden hatte, nahm ich
es mit Freude an. Der Frühling war im vollen
Erwachen und goss alle seine Zauber über die
Erde dort aus. Bis Neapel und Castellamare
führte uns die Eisenbahn, dann aber fuhren wir
im offenen Wagen den Weg längs des Meeres
dahin, umgeben von Wogen der Orangenblüten-
düfte, da diese Strecke ja nur wie ein Orangen-
garten ist. In Sorrent umfingen mich liebe Er-
innerungen an den Winter, den ich mit Nietzsche
dort verlebte, und in Gesellschaft der liebens-
würdigen Freundin erneuten sich schöne Tage
in heiterem Genuss der strahlend schönen Welt.
Wir trafen im Hotel ausser anderen Bekannten
auch den Grafen Harry Arnim, der, ein tod-
— 144 —
kranker Mann, mit seiner Familie hier weilte.
Frau Minghetti kannte ihn von der Zeit seiner
Gesandtschaft in Italien her, und er gesellte sich
uns oft zu, wenn wir am Abend auf der grossen
Terrasse des Hotels, von welcher man auf das
Meer hinab sieht, auf und nieder gingen und die
göttlichen Frühlingsabende genossen. Da entlud
sich das Herz des schwer Gekränkten in bitteren
Äusserungen über das Unrecht, das ihm nach
seiner Ansicht geschehen war, und in Ausdrücken
des tiefsten, unversöhnlichen Hasses gegen den,
welchen er für den Urheber der erlittenen Ver-
folgungen hielt. Er war ein gebrochener, schwer
leidender Mann, konnte nichts tun, sich zu
rächen, und das Gefühl seiner Ohnmacht lastete
schwer auf ihm. Zuweilen kamen aber auch
mildere, fast mystische Stimmungen über ihn;
so sagte er eines Abends, es sei sicher, dass wir
von einer unsichtbaren, besseren, ätherischen
Welt umgeben seien, dass aber unsere Sinne
nicht fähig wären, sie zu erkennen. Wie wun-
derte es mich, diesen Gedanken bei dem verbit-
terten Aristokraten zu finden, und wie leid tat
es mir, dass er in solchen Gedanken nicht den
versöhnenden Trost fand für die tiefe Kränkung,
welche ihm in dieser unvollkommenen, von Eitel-
keit und Herrschsucht erfüllten Welt zu teil
geworden war.
Nach vierzehn frohen Tagen trennte ich mich
von Frau Minghetti, welche noch in Sorrent zu-
rückblieb, und fuhr nach Neapel zu Wagners,
die den Winter daselbst verbracht und mich ein-
— 145 —
geladen hatten, sie zu besuchen. Sie wohnten in
einer herrlichen Villa am Anfang des Posilippo,
auf hohem Felsen gelegen, zu der die Gärten
terrassenförmig aufsteigen und sich noch über
dieselbe höher hinaufziehen. Von der Terrasse,
unter dem von Säulen getragenen Vordach des
Hauses, beherrscht der Blick den Golf, die Stadt
und den schönen zweigegipfelten Verräter, wel-
cher gerade in dem Frühjahre in grosser Tätig-
keit war, und jeden Abend eine Feuersäule gen
Himmel sandte. In diesem wundervollen Aufent-
halt traf ich ausser den teuren Freunden, die
mich eingeladen, zwei junge, mir auch schon be-
kannte Männer, deren Gegenwart den häuslichen
Kreis noch bereicherte. Der eine war der rus-
sische Maler Joukoffski, Sohn des ausgezeichneten
Dichters und Übersetzers deutscher Meister-
werke, welcher Erzieher Alexander II. gewesen
war. Joukoffski wohnte jedoch nicht in der Villa,
sondern hatte sein Atelier unten am Posilip,
war aber oben der tägliche Gast. Der andere,
Heinrich von Stein, war ein Bewohner des Hauses,
und zwar infolge einer seltsamen Fügung durch
meine Vermittlung. Er war wenige Jahre früher
einen Winter in Rom und durch die Empfehlung
eines Freundes bei mir eingeführt. Noch ganz
jung, nach eben beendeter Universitätszeit,
hoch und schlank gewachsen, hellblond, ver-
riet sein Äusseres ganz den Nordländer, so-
wie auch sein etwas steifes, zurückhaltendes,
schwer zum Ausdruck kommendes Wesen. Er
wurde aber mitteilsam, als ich ihn bat, mir etwas
Meytenbug, IV. lo
— 146 —
von der sogenannten Wirklichkeitsphilosophie
des Philosophen Dühring mitzuteilen, als dessen
Schüler er sich mir vorgestellt hatte. Nun hielt
er mir kleine Vorträge über die auf- und ab-
steigende Welle, unter welchem Bild Dühring das
Leben auffasse, und versuchte mir den Idealismus
des Realismus zu beweisen, welchem Axiom er sein
erstes Buch geweiht habe, das jetzt im Druck
begriffen sei. Alle Ideen oder Annahmen des
Transcendentalen waren streng aus den Anschau-
ungen des jungen Realisten ausgeschlossen, aber
ich musste oft im stillen lächeln, wenn ich den
reinen Idealismus sah, der aus der ganzen Natur
dieses Jünglings sprach, während er seinen Positi-
vismus verteidigte. In demselben Winter war
Paul Heyse mit seiner Frau in Rom, lebte aber,
von einem schweren Schicksalsschlag getroffen,
sehr still und zurückgezogen. Ich gehörte zu den
wenigen Begünstigten, welche er zuweilen be-
suchte. Stein erfuhr das und vertraute mir an,
dass es sein lebhafter Wunsch sei, Heyse kennen
zu lernen. Ich erzählte das demselben und er
ging freundlich darauf ein und bestimmte einen
Abend, wo er Stein bei mir treffen wolle. Wir
sprachen dann über die jungen Schriftsteller der
Zeit, wie die so schnell zu Werke gingen und
die Sache so leicht nähmen. »Sie meinen nur,«
sagte Heyse, »so ins Volle greifen, hier einen
Stern und da einen Stein herunter holen zu
können und denken nicht daran, welche Mühe,
welche Arbeit es unseren Grossen gekostet hat,
ihre Werke zu schaffen. « Als dann der bestimmte
— 147 —
Abend kam und Heyse Stein begrüsst hatte,
sagte er zu mir, ob ich mich unseres letzten
Gesprächs erinnere über die jungen Schriftsteller
und ihre rasche Art, mit dem Schreiben fertig
zu werden? Es sei ihm gerade wieder ein Bei-
spiel davon vorgekommen ; ein Verleger aus
Bonn habe ihm die Probebogen einer Erstlings-
schrift eines jungen Autors in dessen Auftrag
zugeschickt, die ihm viel Unreifes zu enthalten
scheine, sie sei halb Lyrik halb Prosa. Ich er-
schrak etwas bei diesen Worten, da Stein mir
gesagt hatte, sein Buch werde in Bonn gedruckt,
und da sah ich, wie er heftig errötete, auch
unterbrach er Heyse und sagte rasch, das würde
wohl sein Buch sein, denn er habe dem Verleger
den Auftrag gegeben. Es war ein peinlicher
Moment, aber Heyse half uns allen Dreien in
liebenswürdigster Art über die Verlegenheit hin-
weg, sagte, er könne freilich nicht zurücknehmen,
was er einmal ausgesprochen habe, aber sein
Urteil sei noch nicht endgültig, denn er habe
noch nicht fertig gelesen, und habe schon in
dem lyrischen Teil viel Hübsches bemerkt.
Dann lud er Stein freundlichst ein, ihn zu be-
suchen, und war so gütig und teilnehmend für
ihn, dass Stein ganz entzückt von ihm war.
Nach dieser kleinen Begebenheit lernte ich
Stein immer mehr kennen und schätzen. Er
war noch sehr unfertig in seinen Anschauungen
und Urteilen, aber sein edler, reiner Charakter
wurde mir schon völlig erkennbar und erfüllte
mich mit wahrer Sympathie. Unter seinen
lO*
— 148 —
kleinen Erlebnissen in Rom, die er mir mit-
teilte, war auch ein Besuch bei der mir wohl-
wollend zugetanen Fürstin Caroline Wittgen-
stein, welche ihn nach seinem politischen Glaubens-
bekenntnis gefragt hatte. Er hatte sehr auf-
richtig seine Hinneigung zum Sozialismus bekannt,
worauf sie ihm versicherte, dass es das höchste
Interesse des Sozialismus sei, sich mit der Kirche
zu verbinden, zusammen würden sie der um sich
greifenden Immoralität steuern und das Leben
der modernen Gesellschaft reinigen und erneuern.
Nichts lag Stein ferner als solch ein Bündnis,
als ich ihn aber dann nach seinen Zukunftsplänen
fragte, sagte er, sein höchster Wunsch sei, in
einer Familie, wo er als Freund aufgenommen
und behandelt würde, die Erziehung eines Knaben
zu übernehmen und nach seinem Sinne zu leiten.
Ich sprach ihm mein Bedenken aus, dass dies
wohl schwer zu finden sein würde, und er ver-
liess Rom in völliger Ungewissheit über seine
Zukunft.
In demselben Jahr war ich in Bayreuth zu
Besuch bei Wagners, und einmal im Laufe des
Gesprächs fragte mich Wagner, ob ich nicht
einen gebildeten, in jeder Beziehung empfehlens-
werten jungen Mann kenne, der wie ein Freund
zu der Familie gestellt sein sollte und die Er-
ziehung des kleinen Siegfried übernehmen würde,
den er nicht gern in die öffentlichen Schulen
schicken wolle. Ich musste lachen über dies
merkwürdige Zusammentreffen und erzählte nun
von dem Wunsche Steins, worauf Wagner mir
— 149 —
alsbald den Auftrag gab, diesem zu schreiben.
Die Antwort war ein freudiges Eingehen auf
den Vorschlag, nur stand ihm gerade sein Jahr
Militärdienst bevor. Er fugte aber hinzu, wenn
Wagners ein Jahr warten wollten, so könne er
sich kein schöneres, alle seine Wünsche krönen-
des Geschick denken. Nach einem Jahre kam
diese Vereinigung wirklich zu stände, zu gegen-
seitiger höchster Zufriedenheit. Stein war eine
so edle, vom höchsten Adel der Gresinnung
durchdrungene Natur, dass er zunächst schon
das erste Erfordernis eines Erziehers besass,
durch sein Beispiel alles Gute zu lehren, und
unter dem Einfluss des ausgezeichneten Kreises,
in den er eintrat, wurde er das, was er von
Natur war: ein voUkommner Idealist und dann
ein so verständnisvoller, begeisterter Anhänger
Wagners wie wenige.
Ihn also traf ich hier in Neapel, bei seiner
übernommenen Tätigkeit im häuslichen Kreise
wieder. Neben ihm, wie schon gesagt, den
Russen Joukoffski, einen Maler von grossem
Talent, der neben allen schönen Eigenschaften
der Russen aber auch ihre Indolenz besass, so
dass er aus seinem Talent nicht das machte,
was es hätte werden können, wogegen aber
seine liebenswürdige Persönlichkeit nicht wenig
zur schönen Geselligkeit des Hauses beitrug.
Am Morgen ging ein jeder seinen eignen Be-
schäftigungen nach. Das Mittagessen vereinigte
uns alle, und danach nahm man den Kaffee auf
einer Terrasse, wobei sich meist bedeutende
— ISO —
Gespräche entspannen, die natürlich gewöhnlich
von Wagner ausgingen. Dann kam für alle eine
Stunde der Ruhe, und darauf begegnete man
sich in den terrassenartigen Gärten, wo Wagner
mit den jugendlichen, ihm zugehörigen Wesen
allerlei Scherz und Neckerei trieb. So war es
u. a. ein Lieblingsspiel, die Frucht eines Strau-
ches, welche eine die Kerne enthaltende mit
Luft gefüllte Kapsel ist, aufzudrücken, wobei
ein kleiner Knall erfolgt, und er war noch so
ausserordentlich beweglich und behende, dass er
meist den Kindern bei Erreichung dieser Kapseln
zuvor kam. Eines Nachmittags aber traf ich
ihn ganz bestürzt vor einem solchen Strauch
stehend, weil bei dem Haschen nach den hoch-
hängenden Kapseln es ihm begegnet war, einen
der schönsten Zweige des Strauchs zu knicken,
der nun traurig, dem Sterben geweiht, herunter-
hing. Er, der gleich den Indern das göttliche
Urprinzip auch so gut im Tier und in der
Pflanze wie im Menschen erkannte, war tief be-
trübt, hier einen empfindenden Organismus zer-
stört zu haben, und schickte eine der Töchter,
die bei ihm waren, ins Haus hinab, um Leinen
zum Verband zu holen. Als sie damit zurück-
kehrte, verband er den geschädigten Zweig mit
der Sorgfalt, wie er es bei einem Tier oder
Menschen getan haben würde, in der Hoffnung,
dass die Wunde sich schliessen und der Ast
wieder anwachsen würde.
Nur wer solche kleine Züge mit stillem Ver-
ständnis beobachtete, konnte die Natur dieses
— 151 —
ausserordentlichen Menschen ganz begreifen, in
welcher sich kindliche Heiterkeit, überströmendes
Mitleid, gewaltige Leidenschaft, Forscherblick
des allsehenden Intellekts, weltverachtende Ironie
und tiefe Schmerzfähigkeit vereint fanden, und
welche deshalb auch einen alles umfassenden
Kosmos aus sich erschaffen konnte. Ich erinnere
mich noch eines andern jener kleinen so bedeu-
tungsvollen Züge aus jener Zeit. Wir gingen
eines Abends auf der grossen Terrasse unter dem
Portikus des Hauses auf und ab. Eine ungeheure
Prozession von Millionen Ameisen zog quer über
die Terrasse hin, wie ich sie in Italien öfter,
z. B. in Sette-Fonti, auf dem Landsitze Ming-
hettis, gesehen hatte, wo sie ihre Wanderstrasse
von einem Berggipfel zum andern und mitten
durch eine Kirche geführt hatte. Wir sprachen
über ernste Lebensfragen, ich bemerkte aber im
stillen mit Rührung, wie Wagner jedesmal, wenn
wir an die wandernden Scharen kamen, einen
grossen Schritt machte, um nur nicht eines der
kleinen klugen Wesen zu zertreten.
Auf jener grossen Terrasse mit der Aussicht
auf den Golf und den Vesuv, aus dem an jedem
Abend wie von einem Opferaltar eine Feuersäule
gen Himmel stieg, wurden meistenteils die
Abende verbracht, wozu sich auch öfter Besucher
aus der Stadt einfanden. Unter den vielfachen
mehr oder minder bedeutenden Gegenständen,
die besprochen wurden, kam an mehreren
Abenden das Gespräch auf Schiller, und Wagner
las uns das Gedicht »die Götter Griechenlands«
— 152 —
vor, so schön wie nur er lesen konnte. Es war
einem dabei, als höre man die Sachen zum
ersten Male, und man fühlte es neu, wie herr-
lich Schiller jene Welt nachempfunden hat, wo
alles zum personifizierten Ausdruck der Schön-
heit wurde, alles eine Bedeutung erhielt, als
stamme es von geisterfiillten Wesen und nicht
von blinden Naturgewalten ab, und wo alles
daher zum freudigen Grenuss des blühenden gött-
lichen Lebens einlud, ohne Zweifel, ohne Reue,
ohne Schmerz. An einem anderen Abend kam
das Grespräch auf den »Don Carlos« und einer
der Anwesenden behauptete, die Beziehung des
Marquis Posa zum König Philipp sei ein grosser
Fehler und nicht zu rechtfertigen. Wagner aber
sagte, sie sei vollständig zu rechtfertigen, da der
Dichter im übrigen den historischen Charakter
festgehalten und nur die Möglichkeit angenommen
habe, dass solch ein Moment auch einmal an
einen Menschen wie Philipp herantreten könne.
Ausserdem zeichne es ja auch den Charakter
des Königs nur desto schärfer. Wieder ein
anderes Mal sprach Wagner darüber, wie wenig
man eigentlich die Menschen lieben könne, wenn
man die Geschichte studiere und die Anhäufung
von Greueln sähe, mit denen der sogenannte
Fortschritt meist begleitet sei, wie z. B. die
Einführung des Christentums. Er meinte, man
könne dann höchstens noch zur Liebe kommen,
wenn man sich als Angehöriger eines Volks-
stammes fühle, dessen Interessen, Freuden und
Leiden man teile, was dann schliesslich zur
— 153 —
Familie zurückführe. Ich ging weiter und meinte,
dass man im Grunde nur durch das Mitleid mit
der Menschheit zusammenhänge; sie lieben als
etwas Vortreffliches könne man wahrlich nicht;
da in ihr der rohe Naturtrieb der Gewalt des
Stärkeren über den Schwächeren, und der Rache
dieses durch List ebenso verkomme, wie bei
den Tieren; wo es aber weniger roh sei, da
wäre es doch meist nur infolge egoistischer
Interessen. Das Mitleid bände uns an jene Menge,
die leidet, ringt, stirbt wie wir, sowie der Wunsch,
sie zu erlösen vom Elend, und zwar gewiss ohne
Unterschied der Nationalität. Das Stammgefiihl
trete nur in den Vordergrund, wenn es sich um
Dinge des Intellekts, um Lebensanschauungen
usw. handle, oder in Augenblicken der Tat.
Und wieder später sagte Wagner einmal, man
würde vielleicht weniger geringschätzig von der
Welt denken, wenn keiner hienieden sich glück-
lich wähnte. Es erinnerte mich dies an einen
Abend in Paris im Winter 1859, wo Wagner
an einem seiner Empfangsabende mit Blandine
Ollivier, der Tochter Liszts, mit mir über das-
selbe Thema sprach und uns an die Worte der
Prinzessin in Goethes Tasso erinnerte: »Wer ist
denn glücklich?«
Und doch durften wir uns hier in der ent-
zückend schönen Welt, die uns umgab, und der
noch schöneren Greisteswelt, in der wir lebten,
wenigstens für eine Zeit lang glücklich wähnen.
Wagners Geburtsts^ nahte heran und es wurden
Vorbereitungen gemacht, ihn festlich zu begehen.
- 154 —
Am Morgen begrüsste den Gefeierten ein hoch-
poetisches kleines Festspiel von Frau Wagner
gedichtet, welches das Sternbild des Wagens
redend vorführte, das mit seinen sieben Sternen
der Zahl der Familienmitglieder entsprach, und
von den Kindern rezitiert wurde. Beim Mittags-
tisch, an dem auch Herren aus München, Mit-
glieder des Wagner- Vereins, teilnahmen, wurde
ein von Stein gedichteter Toast ausgebracht.
Wagner antwortete darauf in der eigentümlich
ergreifenden Weise, in der nur er zu sprechen
verstand, und gedachte des langen, qualvoll be-
wegten Lebens, welches nun in schönem, har-
monischen Frieden seinen Abschluss gefunden
habe, so dass alle, die ihm fortan nahen wollten,
ihn nur noch — indem er auf das Bild des
Siebengestirns zurückkam — im Kreise der
Sieben finden könnten.
Als der Abend kam, stiegen wir alle von
unserer Höhe hinab an den Golf; zwei Barken
nahmen uns auf, und wir fuhren hinaus in die
herrliche Mondnacht, in welche der Vesuv seinen
Feuergruss hinaufsandte. Die neapolitanischen
Fischer liessen es sich nicht nehmen, bengali-
sche Feuer auf unseren Barken anzuzünden, so
dass wir wie kleine Feuerinseln dahinschwammen,
und ein Volkssänger, den Joukoffski seiner
schönen Stimme wegen in Dienst genommen
hatte, sang neapolitanische Volkslieder mit Be-
gleitung der Mandoline, woran Wagner Freude
hatte. Endlich kamen wir heim und fanden den
Saal feenhaft geschmückt. Frau Wagner hatte
— 155 —
so viele Rosenstöcke, als Wagner damals Jahre
zählte, bringen lassen, und mit diesen war das
Zimmer bei hellster Beleuchtung in einen Rosen-
hain verwandelt. Um aber den schönen Tag
mit dem Schönsten zu beschliessen, wurde dann
das Musikzimmer geöffnet und da begann eine
Aufführung, die aus der Schönheit irdischen
Seins zu einer Ahnung der Schönheit überirdi-
schen Seins führte und die Seele mit dem reinsten
Glücksempfinden erfüllte, welches Erdgeborenen
zu fühlen vergönnt ist. Joseph Rubinstein, der
treue Wagnerianer, der leider zu früh freiwillig
aus dem Leben schied, begab sich an den Flügel,
Wagner, die Münchener Herren und Kinder
standen bei ihm und führten die ganze erste
Scene im Gralstempel aus dem Parsifal auf, die
ich zum ersten Mal hörte. Die Kinder hatten
die Knabenstimmen des Chors herrlich einstudiert,
und gewiss hat nie eine Aufluhrung des hehren
Werks in erhobenerer Stimmung, in innigerer
Rührung und Ergriffenheit stattgefunden. Solche
Stunden wiegen Jahre des Leidens auf und
bleiben wie Fixsterne am Lebenshimmel stehen,
wenn manches andere freundliche Licht längst
erloschen ist. Sie leuchten noch in meiner
Erinnerung fort, in unvergänglicher Wirklichkeit,
während bereits drei aus jenem Kreis, und unter
ihnen der Grösste, der Meister selbst, in das
Nichtwahnland hinüber gegangen sind.
Gedachtes und brieflich Geschriebenes.
Wieder zog ich aus dem wonnevollen Süden
über die Alpen, die lieben Menschen zu suchen,
die ich wie meine irdische Zukunft ansehe, Olga
und die ihrigen. Es war kurz nachdem ich mit
den Freunden in Sorrent den schönen Winter
verlebt und auch nach ihrem Weggange noch
einmal tief all' die Zauber der südlichen Natur
auf mich wirkend empfunden hatte. Nun um-
fing mich der graue Norden und als ich am
frühen Morgen in der Eisenbahn fahrend die
Sonne aufgehen sah, tönte es mir in der Seele:
Hell steigt die Sonne
Auch hier ja empor,
Aber sie färbt nicht purpurn
Das selige Meer,
Belebt nicht edele Höh'n
Mit freudig vergoldendem Strahl;
Es raucht ihr nicht
Des alten Opferaltars
- 158 -
Düster flammende Wolke;
Nicht reicht die Liebe uns hier
Mit verjüngendem Blick
Den heiligen Trank
Der uralten göttlichen Welt
Herrlicher Wesen
Ohne Leid, Alter und Tod!
Still, ohne Klage
Zieh ich des Wegs,
Denkend dessen, was war.
Aber es steigt leuchtend
Die Sonne hier auch empor,
Scheint vielleicht Glücklichen,
Die sie jauchzend verehren.
In den nächsten Zeiten nach dem Aufenthalt
in Sorrent war ich in eifriger Korrespondenz mit
Doktor Ree, dem einen unseres Quatuors von
dort unten, der mir ein sehr lieber Freund ge-
worden war, trotzdem wir in unseren intellektuellen
Anschauungen Antipoden waren. Er verliess,
wie erzählt, Sorrent mehrere Wochen früher als
Nietzsche, und ich schrieb ihm noch von Sorrent
aus; zunächst Dank fiir die »Briefe Bismarcks
an seine Familie«, die er mir schickte, und dann
über Nietzsches Scheiden: »Vielen Dank fiir das
Buch, welches ich mich sehr freue zu lesen.
Ich habe nun einmal ein grosses Interesse fiir
Bismarck, trotzdem ich deshalb als eine Rene-
gatin von meinen Glaubensgenossen angesehen
— 159 —
werde. Das ist aber doktrinäre Beschränktheit,
denn einen bedeutenden eigentümlichen Menschen
muss man von seinem Standpunkt aus beurteilen
und anerkennen können, auch wenn man seine
Ansichten nicht teilt.
> Nietzsche geht wirklich morgen. Sie wissen,
wenn er einmal so etwas vor hat, dann tut er
es, mag auch der Himmel mit allen Wamungs-
zeichen dagegen sprechen. Darin ist er nicht
mehr griechisch, dass er auf die Stimme der
Orakel nicht mehr hört. Ebenso wie er seine
Landpartien macht, auch wenn es das schlechteste
Wetter ist, so geht er jetzt, trotzdem er tod-
matt ist und ein wütender Wind weht, der das
Meer aufwühlt und ihn jedenfalls seekrank macht,
da er durchaus von Neapel nach Genua zu Schiff
gehen will.«
Am folgenden Tag, 8. Mai 1877: »Ja, er ist
wirklich fort. Da Sorrent mit seinen Blüten,
seinen Zaubern ihn nicht zu halten vermochte,
so musste er eben gehen. Aber es ist mir
schrecklich, ihn so allein reisen zu lassen, denn
er ist so unpraktisch und unbehülflich. Zum
Glück ist das Meer heute ruhiger. Wenn Wünsche
etwas tun könnten, so müsste es ihm gut gehen,
denn meine heissesten Wünsche und mein un-
— i6o —
sagbares Mitleid folgen ihm. Ach, er ist so zu
bedauern! Noch vor acht Tagen hatten wir
Pläne für ihn gemacht, für nahe und ferne Zu-
kunft. War es nun nur die Angst, die ihn trieb,
dem Leiden zu entfliehen, das ihm plötzlich an
das hiesige, allerdings etwas abnorme Frühlings-
wetter gebunden erschien ? Aber wie wäre es
wohl anderswo mit ihm in diesem schlechten
Frühjahr gewesen? Ich glaube auch, im letzten
Augenblick kam ihm der Gedanke, als ob es
doch übereilt sei, zu gehen, doch es war zu
spät.
Mich hat dies alles, dieses viele und traurige
Trennen sehr angegriffen, und ich rufe mit aller
Inbrunst den heiteren Intellekt zu Hülfe, denn
in diesen Tagen empfand ich es noch recht leb-
haft, wie nur der Intellekt heiter ist; er ist das
solarische Gebiet; das andere, das tellurische,
der Wille, ist das Dunkle, das Schmerzbrütende,
Qualenspendende. Ich will sehen, ob es mir ge-
lingt, mich mit Hülfe des Intellekts oben zu er-
halten, über allem, was in der letzten Zeit mich
wieder betrübt und angegriffen hat. Die alte
Kämpferin muss sich doch bis zuletzt bewähren.«
Zunächst hielt ich in Seelisberg am Vierwald-
stätter See an, wo ich meine Freunde erwarten
sollte. Ich schrieb von da an Ree: »Meine
Einsamkeit ist beinah vollständig, wenn schon
unter hundert Menschen, denn die ganze deutsche
Gesellschaft, welche das Hauptkontingent bildet,
— i6i —
erregt mir keinen Wunsch nach Bekanntschaft;
sie ist greulich, diese albernen Frauen, diese
philisterhaften Männer, diese Nichtigkeit der Ge-
spräche! Es ist erschreckend! das nennt man
das Volk der Intelligenz! Einzig ein paar eng-
lische Tischnachbarinnen sind angenehm. Die
eine, schon mit grauen Haaren und lahm, kommt
eben von Neu-Seeland, über Califomien, Nord-
Amerika und die Sandwich-Inseln, zurück! Sie
spricht davon, als ob sie eine Spazierfahrt ge-
macht hätte, und sagt, das schönste Paradies
der Erde sei Honolulu, es sei märchenhaft schön.
Ja, die Engländer sind darin wie in vielem
anderem die klügsten Menschen. Sie sehen die
Paradiese der Erde und freuen sich ihrer, ohne
sich um die Adams und Evas zu bekümmern.
Eben Briefe erhalten von Brenner und
Nietzsche. Hier ein kleines Gedicht von ersterem,
das mich sehr rührt; der arme Junge, er ist
schwer krank und wird sterben. Das einzige
Glück, welches er gekannt hat, war der Auf-
enthalt in Italien:
>0h Lichtland,
Fern flutet dein Glück.
Am weiten Ende
Schimmert ahnende Helle
Deines heiligen Abends,
Träumendes Lichtland!«
Mey senbug , IV. 11
— 102 —
Von Nietzsche hatte ich einen merkwürdigen
Brief; sein neuster Entschluss ist gerade das
Gegenteil von seinem letzten Sorrenter Beschluss,
der ihn ganz begeisterte und ihm mit völliger
Gewissheit der rechte schien. Auch mir schien
er der rechte, wir besprachen ihn genau und
kamen zu der Überzeugung, dass es so sein
müsse. Er wollte also Basel ganz aufgeben,
noch ein Jahr nur der Gesundheit und geliebter
Arbeit leben, und dann nach gewonnener Stär-
kung, ein neues Leben beginnen. Wir stimmten
überein, dass sicher der Zwang, zu arbeiten, was
ihn nicht befriedigte, und unterlassen zu müssen,
was seinem tiefsten Wesen homogen war, das
eigentlich Schöpferische, dazu beigetragen habe,
ihn krank zu machen. Er atmete förmlich auf
bei dem Gedanken der Freiheit. Jetzt hat die
»Vernunft« der Schwester gesiegt. Er bleibt in
Basel! Nur als »Gelehrter« ist er gesund ge-
wesen und er will als solcher entweder wieder
gesund werden oder im »Handwerk« untergehen.
Sehen Sie, das ist wieder das seltsame Schwanken
zwischen den beiden Naturen, die »in seiner
Brust kämpfen«; die eine, die recht behalten
müsste, lässt er unterliegen und wird ewig daran
kranken, dass sie die Unterdrückte ist. Ach
armer Nietzsche, mir ist es furchtbar leid um
ihn, gerade weil seine Begabung so glänzend
ist, wie Sie es sagen, und weil er nie glücklich
sein kann in einer philisterhaften Existenz.
- i63 -
Im Sommer 78 war ich zunächst in Mont-
morency bei Paris, wo Olga einen Sommer-
aufenthalt machte. Ihre Gesundheit war stark
angegriffen und niichte mir grosse Sorge. Ich
schrieb an Ree, sprach ihm auch davon und
sagte: >Ach, die Pein ein geliebtes Wesen leiden
zu sehen, ist doch die grösste von allen. <e Hat
die Analyse dafiir auch den Schlüssel gefunden ?
(Der streitige Punkt zwischen Ree und mir; er
machte alles von Analyse und Experiment ab-
hängig.)
>Dazu welch ein Sommer! Welch ein ab-
scheuliches Klima hier oben jenseits der Alpen I
Und welche Politik, wie sie sich eben in
Berlin abspinnt 1 Dieses Verhandeln der Völker,
dieser Kommunismus von oben, während man
die armen Teufel verfolgt, die nach der massigen
Gütergemeinschaft des täglichen Brots verlangen !
Der alte Zorn wird in mir wach ; es ist ja wahr,
dass schliesslich alles Zielen der Vernunft dienen
muss, denn der Gedanke geht über den Egoismus
der Mächtigen hinweg, und Asien wird der Kultur
geöffnet, von wo sie kam. Freilich wird eine
Menge Poesie damit verloren gehen, eine Menge
Schönheit, Originalität, Tradition, ja Weisheit
und das Nivellieren, welches Stuart Mill so sehr
fürchtete, wird sich immer mehr verwirklichen.
Aber es ist nicht zu ändern, und aus dem Gleich-
gewicht in der gesellschaftlichen Entwicklung
II»
— i64 —
wird entweder ein neues gewaltiges Ringen nach
einem fernen, unbekannten Ideal hervorgehen, oder
ein Stillstand, der Stumpfheit und Indifferentismus
hervorbringt, oder endlich ein Kataclysmus,
welcher den ganzen irdischen Prozess verschlingt,
der sich dann auf anderen Körpern des Weltalls
wiederholt.
Nach dem Aufenthalt in Montmorency ging
ich, eingeladen von Wagners, nach Bayreuth zu
Besuch. Ich schrieb von da an Ree: »Meine
Reise ging glücklich von statten. An der Bahn
empfingen mich Frau Wagner und die Kinder,
im Hause Wagner und Liszt, welcher zu meiner
grossen Freude noch hier ist. Ja, es lässt sich
kaum etwas Schöneres denken, als das Leben
hier im Hause: diese beiden hochbedeutenden
Männer, zwischen ihnen Friede, Harmonie. Geist
und Grazie bringend die herrliche Frau, und um
diese drei der Kranz junger, blühender Geschöpfe,
die schöne Häuslichkeit, geordnete Verhältnisse,
keine Sorgen mehr. Im Augenblick haben wir
auch schönes Wetter; hier in Wagners Garten
ist es wunderschön, es ist alles so herrlich auf-
gewachsen und schön gepflegt. Überhaupt das
ganze Wahnfried ist ein Heim, wie wohl wenig
Menschen selbst in ihren Träumen es sich haben
erschaffen können. Es ist ein einziges Beispiel
einer spät erfüllten aber vollständigen Gerechtig-
- i65 -
keit des Schicksals. Liszt hat mir gestern den
Anfang des Parsifal gespielt — ja, lieber Freund,
ich kann Ihnen nicht helfen, das ist doch Religion I
Ob sie nun ein angeborenes Empfinden oder ein
historisch entwickeltes Produkt des menschlichen
Organismus ist, es ist ein Etwas, was uns erst
wahrhaft zu Menschen macht und seine Erklärung
nicht im chemischen Laboratorium findet. Ist
es absolut ein Produkt des historischen, ent-
wickelten Menschengeistes, so wird unsere Aus-
sicht grenzenlos, denn dann sind wir fähig, also
verpflichtet, uns zu vergöttlichen. — Doch tut
es mir manchmal leid, dass sich Wagners durch
dies schöne Heim hier gebunden haben, denn
der lange Winter ist doch schwer zu ertragen;
ja, wenn es zwei Monate wären, aber acht!
Es tut mir furchtbar leid von hier zu gehen,
aber das arge Klima, die frühe Kälte treiben
mich fort. Aber es gibt doch auch ein langes
Glück, denn die besten Stunden schliessen ewigen
Inhalt ein, der wie ein Komet einen langen
Lichtstreif hinter sich zurück lässt.
Nach einem schweren Verlust, welcher Ree
betroffen: »Ja, dass sind die Fälle, wo keine Philo-
sophie hilft, sondern einzig die stumme, klaglose
Resignation, die den furchtbaren Schmerz, die
— i66 —
unermessliche Entbehrung hinnimmt, wie einen
Teil unseres Erdenloses, und sie stolz in das
Herz verschliesst, es verschmähend, mit den rohen
Gewalten zu rechten, welche die Geistgeborenen
zu solcher Qual verdammen. Nein, es ist gut,
dass es keinen Gott im gewöhnlichen Sinne gibt.
Wir würden in ewiger prometheischer Empörung
gegen den grausamen Despoten sein.
Wenn Montaignes Definition richtig ist, so
war es allein schon der Mühe wert, sich mit
Philosophie zu beschäftigen, um dem Ende dieses
Lebens mit Ruhe, ja, beinahe Freude entgegen
zu sehen. Aber ich habe schon mehrere Mal
bemerkt, dass weder die Beschäftigung mit
Philosophie, noch mit Religion, die Menschen von
der Furcht vor dem Tode und von der über-
triebenen Anhänglichkeit an das Leben befreit.
Nur die philosophisch geborenen Geister und
die innerlich religiösen Gemüter fürchten den
Tod nicht, sondern erwarten ihn in erhabener
Ruhe. Wobei es dann wieder bestätigt wird,
dass alles nichts hilft, was man nicht innerlich ist.
Ich bekam von meinen Schwestern Schillers
und Goethes Briefwechsel geschenkt, den ich
— i67 —
noch nicht besass, und habe gleich heute morgen
meinen Gottesdienst darin lesend gehalten. Ja
mit dem Genius verkehren, das ist auch, was
leben und sterben lehrt. Welche Heroen diese
beiden I wie erlösend klar strahlt ihr Geist einen
an. Es ist das darin, was befreit.
Die Tage der Aufregung durch den Tod des
Königs sind vorüber, und Rom ist in seine alte
Gestalt zurückgekehrt; die 120000 Fremden sind
fort; le roi est mort, vive le roi, ist eine Wahr-
heit geworden; das erste Auftreten und Reden
des jungen Königs ist würdig gewesen, und wenn
der Parteihass auch schon wieder anfängt zu
züngeln und verdächtigende Vermutungen,
düstere Prophezeiungen usw. auszustreuen, so
hat sich die nationale Einheit als eine Tatsache
erwiesen, welche man vergebens wegzuleugnen
versucht. Das sich dies monumental schöne,
imposante Leichenbegängnis, ohne den Klerus
(es waren nur wenige einfache Priester der
Quirinal - Parochial - Kirche dabei) im Angesicht
des Vatikans und hin zum Tempel des Agrippa,
in das heidnische Pantheon, vollzogen hat, bleibt
ein historisches Moment von grosser Bedeutung.
Ja, es war etwas Unvergessliches, diese Tage
hier erlebt zu haben. Ich glaube nicht, dass
Gambettas Mission gelungen wäre, hätte auch
i68
Victor Emanuel gelebt, denn die öffentliche
Meinung ist jetzt ganz für die Allianz mit
Deutschland und dieser Meinung hatte sich der
verstorbene König immer gebeugt, und jetzt ist
die Hinneigung wohl noch grösser geworden durch
das Kommen des deutschen Kronprinzen zum
Leichenbegängnis und durch die entschiedene
Vorliebe des Königs Humbert für Deutschland.
Die armen Türken werden ihrem Schicksal
überlassen; ich kann nicht sagen, wie es mir
leid tut und wie sehr ich furchte, dass Europa
sein laisser aller den Russen gegenüber zu be-
reuen haben wird.
Nun ist auch der Papst drüben im Vatikan
gestorben, so kurz nach dem Tode im Quirinal,
gerade als wenn sie sich das Wort gegeben
hätten I Das Konklave, dem die Fremden ins-
besondere mit grösster Neugier entgegen sahen,
ist sehr rasch und fast unbemerkt, nicht mehr
im Quirinal, sondern im Vatikan vorüber ge-
gangen. Es war ein merkwürdiges Zusammen-
treffen, alte und neue Zeit standen sich gegen-
über, feindliche, unversöhnliche Gegensätze 1 Wer
wird recht behalten von den beiden? Das alte
Rom ist noch sehr stark, denn es ist eine Welt-
macht ; es kommt darauf an, ob das neue Rom
so hohe Kulturgedanken zu verwirklichen fähig
— i69 —
ist, dass sie den alten, halb verbrauchten Stoff
besiegen, sonst wird der Gregensatz noch lange
dauern, vielleicht noch Jahrhunderte. Ich war
in diesen Tagen in einer Abendgesellschaft beim
deutschen Gesandten, Herrn von Keudell. Gre-
gorovius war auch da und ich sprach mit ihm
über die letzten Begebenheiten und sagte, wie
schade es sei, dass dies tragische Zusammen-
treffen nicht ein paar Jahrhunderte zurück läge.
Wie schön würde er es sonst dargestellt haben,
ein wirklich historisches Drama: der noch jugend-
kräfdge König und der müde Greis, in den
beiden Palästen, aus denen man sich in die
Fenster sehen kann, sterbend, der eine not-
gezwungen der Sieger; der andere der tief Be-
leidigte, nicht Vergebende, obwohl das Haupt der
Kirche der allgemeinen Liebe und Versöhnung.
Es wäre ein Seitenstück geworden, nur im ent-
gegengesetzten Sinn, zu dem schönen Bild, welches
er, Gregorovius, in der Geschichte Roms ent-
worfen, von dem Zusammensein Otto in. mit
seinem Vetter Gregor V., den er zum Papst
gemacht (der erste deutsche Papst). Beide Jüng-
linge, von hoher Bildung und edler Gresinnung,
zusammen im Lateran, einen Traum beglückender
Weltherrschaft träumend. Aber diese Idealisten
gingen unter mit ihrem jugendlich holden Traum,
und jene modernen Alten blieben, ein jeder das
Scepter fest an sich drückend, ein jeder sterbend
rufend: >non possumusU
— 170 —
Ich schrieb von der Art, wie man intimere
Korrespondenzen führen solle, in Tagebuchweise,
und fügte hinzu : so gibt's ein Stück Seelenleben
— Verzeihung 1 ich habe mir vorgenommen, nicht
mehr von Seele zu sprechen; wieder ein Wort,
das man aus der Sprache streichen muss, also
auch nicht mehr von Psychologie, sondern: graue
Gehirnstoffsfunktionologie. Werd ich nicht rea-
listisch? (Es waren dies Neckereien wegen Rees
wissenschaftlichem Realismus und meinem an-
gefeindeten Idealismus.)
Ich sprach von einem gemeinschaftlichen
Freunde, an dem ich eine seltsame Erfahrung
gemacht hatte. Ach Männer, Männer, welch ein
Geschlecht! Ewig werden euch die Philinen
besser gefallen, als die edlen, gebildeten Frauen.
Deshalb protestiert ihr auch so gegen alle Be-
strebungen, die Frauen zu einer höheren Bildungs-
stufe zu erheben. Nun gut, wenn es nicht mit
euch sein kann, so wird es ohne euch und trotz
euch geschehen. Ja, ich möchte jetzt Kreuzzüge
predigen, nicht gegen die armen Türken, die
sind doch ehrlich mit ihren Harems, aber zum
energischen Vorgehen möchte ich Frauen und
Mädchen anfeuern, zum edlen Kampf mit den
Waffen der höchsten Bildung, der höchsten Sitte.
Die Zahl meiner unbekannten Freundinnen mehrt
— 171 —
sich auch zusehends. Aus Winterthur erhielt ich
einen Brief von einer Schweizerin, die mir die
Zustimmung und Sympathie eines ganzen Kreises
versichert. Zwei Damen aus Danzig sind hier,
die mir mit Liebes Versicherungen entgegen kamen,
kurz, ich sehe einen tiefen Wunsch erfüllt: auf
die Frauen einen ermutigenden Einfluss auszu-
üben. Nicht, dass ich mir einbildete, es wäre
etwas Grosses! Aber es ist die Korallenarbeit,
die mit ihrem kleinen Anteil hilft am Bau der
Zeiten, durch die Arbeit an der Veredlung meines
Geschlechts, der ich die wichtigsten Folgen für
das Kulturleben der Menschheit zuerkenne.
Ich glaube nicht, dass Sie die Richtigkeit
einer Beobachtung daran messen können, wenn
Sie die objektiv gemachte nun in sich bestätigt
finden. Keines Menschen Inneres ist ein Makro-
kosmos, in welchem sich alle, und jede Möglich-
keit von Regungen findet, um danach zu ur-
teilen; ich glaube sogar, dass es ein gefähr-
liches Experiment ist, zu viel in sich zu blicken,
um eine objektiv gültige Wahrheit hinzustellen.
Selbst der Genius, der doch am meisten die
Fülle der Welt in sich trägt, muss dennoch viel
sehen und beobachten, um wahr zu gestalten.
Mir scheint, man muss dabei verfahren wie der
Physiolog, dem erst eine ungeheure Anzahl von
— 172 —
Beobachtungen mit dem gleichen Resultat den
Ausspruch eines allgemein gültigen Gesetzes ge-
statten. Auch selbst Larochefaucoult finde ich
gar nicht immer allgemein gültig; er bleibt zu
oft nur von seinem Kreise, der Gesellschaft
seiner Zeit, seiner Nationalität bestimmt.
Am Weihnachtsabend war ich ganz allein
und gedachte des Jahres, wo wir in Sorrent so
fröhlich beisammen waren. Schöne Bilder aus
der langen Lebenszeit umgaben mich fast wie
lebende Gegenwart, und ich befand mich in
einem fortwährenden, inneren Gebet für alle, die
ich liebe. Kennen Sie diese Art des Gebets auch?
Es ist vielleicht die einzig wahre, denn sie richtet
sich nicht an ein Güter spendendes Wesen und
verlangt nichts Irdisches. Es ist nur eine so in-
tensive Stimmung der Liebe, der Reinheit, des
Friedens, dass im Gegenteil alles Irdische darin
verschwindet, und nur ein segnendes Umfassen
der liebsten Menschen, eine grosse Versöhnung
mit allem Schicksal übrig bleibt, und der Christ-
gesang zur Wahrheit wird : Friede auf Erden und
den Menschen ein Wohlgefallen. In solchen Stim-
mungen versteht man alles und verzeiht deshalb
alles.
— 173 —
Meine Gesellschafterin liest mir jetzt abends
den Tacitus vor, welcher mich ganz glücklich
macht. Ja, diese klassische Ruhe und Klarheit
der Darstellung ist wie ein wohltätiger Balsam,
welcher erquickt und stärkt. Warum haben wir
modernen Menschen diese höchste Bildung nicht,
einfach zu sein ? Ich glaube, weil wir zu subjektiv
sind, zu sehr alles im Spiegel unseres Ichs
betrachten, anstatt uns ganz der Anschauung des
Objekts hinzugeben und uns dabei zu vergessen.
So sagte mir Stein neulich viel Schönes über
Michel Angelo und die Capella Sistina, worüber
ich mich sehr freute, dann aber setzte er hinzu :
>aber lehren tut mich Michel Angelo nichts,
ich habe das alles schon in meiner einsamen
Studierstube erlebt und gewusst.« Das ist's, was
dem modernen Menschen anhängt, er glaubt sich
zu früh reif und meint, er habe nichts mehr von
den Grossen zu lernen, ohne zu bedenken, wie
viel er bereits von ihnen gelernt hat, und wie
anders sein subjektives Erkennen sein würde,
hätten sie ihm nicht den Weg gezeigt.
Ach, die Einsamkeit, wie viel Schmerzliches
sie auch hat, verwöhnt den Menschen doch, und
es bleibt ein ewiges Schwanken in der Seele
zwischen der Sehnsucht nach denen, die man
liebt, und nach der einzig unerschütterlich treuen
— 174 —
Gefährtin der Einsamkeit. Die Säulenheiligen
hatten eigentlich recht. Sie wussten, dass man
ein Ende machen muss mit diesem Schwanken,
und dass nur in unerreichbaren Wolkenfernen
das Herz endlich verstummt vor dem denkenden
Geist, der seine letzten Aufgaben zu lösen hat.
Gestern sprach ich mit dem hiesigen Arzt
(in einem Kurort in der Schweiz), einem sehr
intelligenten jungen Mann, und sagte ihm, mein
einziger letzter Anspruch sei, noch arbeitsfähig
zu bleiben, da die Arbeit doch das einzige sei,
was sich nicht als Illusion erweise, und uns die
letzte wirkliche Befriedigung gebe. Er meinte,
ja, aber auch das sei schliesslich Illusion, denn
wie gering sei die Wirkung, die von ihr aus-
gehe, die Werke des Genius vielleicht allein aus-
genommen. Ich gab ihm das zu, sagte aber, die
Bedeutung der Arbeit läge nicht sowohl in ihrer
Wirkung, als in der Betätigung der Individu-
alität, so scheint es mir, es ist derselbe Vor-
gang im Mikrokosmos, der sich im Makrokosmos
in grossen Verhältnissen begibt. Das Schaffende
was es auch sei, ob Wille, ob Anziehungskraft
in den Atomen (Rees Theorie), ob ein geistiges
Prinzip, — immer muss es sich individualisieren,
sich betätigen, sich gegenständlich werden, so
auch in uns.
— 175 —
Dass Sie ein solcher Revolutionär werden,
et ä tout prix das Weltganze neu organisieren
wollen, amüsiert mich sehr. Ja, es ist das eben
der Traum, den wir alle geträumt haben, dass
eine solche Reorganisation möglich sei. Sie ist
es aber nicht; die Welt träte sonst aus dem
Gesetz der Kausalität heraus. Freilich, der zur
höchsten Einsicht gereifte Intellekt wäre auch
die Wirkung aller vorhergegangenen Ursachen,
und insofern wäre seine Reform in der Kausa-
litätskette mit inbegriffen; aber nicht bloss das
Prinzip selbst, sondern auch die Mittel und Wege,
mit denen es sich verwirklicht, entwickeln sich
nur langsam, denn der Faden der Gewohnheit
ist nicht plötzlich abzureissen; er ist nur all-
mählich in ein neues Gewebe zu verwandeln.
Das ist dann die Aufgabe der helfenden Mächte,
welche dem die höhere Organisation anstrebenden
Intellekt zur Seite stehen.
Mir scheint jetzt der einzig mögliche und
wirkungsvolle Schwerpunkt der Neu-Organisation
der Gesellschaft, welcher wir zustreben, der zu
sein: die möglichst grosse Entwicklung des In-
tellekts und die materielle Verbesserung der
bedürfenden Klassen; infolgedessen die Vermin-
derung sinnlicher Bedürfnisse und die Abnahme
der Herdenproduktion der Menschheit. Denn
— 176 —
wo werden die meisten Kinder geboren? In
den armen, materiell entbehrenden, unwissenden
Klassen, und das ist ganz natürlich unter den
jetzigen Verhältnissen. Der unwissende Prole-
tarierteil der Gesellschaft wird also vermehrt.
Sollte das auch selbst vom rein national-ökono-
mischen Standpunkte aus ein Gewinn sein? Gewiss
nicht. Noch weniger vom philosophisch-huma-
nistischen. Liegen unsere höchsten Kulturzwecke
darin, dass ein dicht bevölkertes Land viele Arme
habe für Industrie, Handel usw. und schliesslich
für Kanonenfutter? Dreimal nein! Sie liegen
darin, dass ein intelligentes Volk die Erde zu
einem Wohnsitz denkender, fühlender, künst-
lerischer Wesen mache, welche den Vorteil der
Anzahl durch die Vorzüge höherer Intelligenz
und Bildung bei weitem übertreffen und die
geistigen Ziele höher stellen als das blosse
Wohlleben.
Ich bin mit Ihrem Satz über das Mitleid
nicht einverstanden. Schopenhauer sagt nicht,,
dass jeder Mensch von Natur dasselbe als
lobenswert empfindet, sondern er sagt, es
ist das einzig Ethische, weil wir in ihm uns nicht
als egoistische Einzelwesen fühlen, sondern das
fremde Leiden wie unser eignes empfinden, und
die gemeinsame Last des Daseins im Mitgefühl
— 177 —
gleichsam dem anderen tragen helfen. So ist
es, deshalb ist es gut, gar nicht aus christ-
lichem Aberglauben, sondern aus dem einzigen,
was den Menschen adelt und ihn über das Tier
in ihm erhebt. Und allerdings ist das Mitleid,
wie alle anderen Grundtriebe unseres Wesens,
eingeboren, denn sonst könnten sie sich nie ent-
wickeln. Wozu kein Keim da ist, kann sich
nichts entwickeln. Aber diese Keime liegen in
uns gebunden, und unsere Aufgabe ist es, sie
zur Blüte zu bringen.
Am 4. Juni 1882 war in Italien einer jener
Augenblicke, wo dasselbe Gefühl in Millionen
Herzen zittert und die Tränen derselben Trauer
in Millionen Augen perlen. In solchen Augen-
blicken verschwinden die kleinen Hänke, die
bösen Triebe des Neides und Hasses, die selbst-
süchtigen Anfeindungen der Parteiwut, die
Leidenschaften, welche in blindem Eifer die
ruhige Klarheit trüben, die allein die Menschen
zu edler Entwicklung und zum Frieden führen
kann. Die Massen begreifen dann instinktiv ein
höheres Prinzip, das sich ihnen in einer konkreten
Gestalt dargestellt hat und man fühlt mit tiefer
Genugtuung, dass die Tugend dennoch eine
Macht ist, vor der in den Weihestunden des
Lebens die Menschheit das Knie beugt, nnd das
Laster, trotz seiner unermesslichen Gewalt, ver-
stummt.
Meysenbug, IV. 13
- 178 -
Schon hat der Telegraph es der Welt ver-
kündet, was diesen Augenblick hervorgerufen
hat: Joseph Garibaldi ist totl Kein Land der
modernen Geschichte hat eine solche Menge
wahrhaft epischer Gestalten in einer verhältnis-
mässig kurzen Epoche hervorgebracht, wie Italien
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, und
wenn es mit tiefem Weh jetzt eine nach der
anderen von denselben verschwinden sieht, so
bleibt ihm der Trost, dass ihr Ruhm weit
hinaus in die Zukunft leben, ja vielleicht noch
heller strahlen wird, wenn die Hand des Histori-
kers einst in unparteiischer Betrachtung die
einzelnen Züge der Persönlichkeiten und die
Ereignisse zu einem grossen Bilde vereinigt.
Unter den vielen aber ragen zweie besonders
hervor: Mazzini und Garibaldi. Dieser hat den
ersten um lo Jahre überlebt, und wiewohl
seine Kraft längst gebrochen war, und er, ein
siecher Held, auf seinem Schmerzenslager ruhte,
so trifft die Nachricht seines Todes doch alle
unvorbereitet; wie ein elektrischer Schlag bebt
es durch ganz Italien, von -Nord nach Süd, dass
ein nationales Unglück es betroffen. Beim Tode
des Königs Victor Emanuel war die allgemeine
Erregung nicht grösser und sicher nicht so
innig, als sie jetzt ist. War Garibaldi doch
ebenso, wenn nicht mehr, der Befreier gewesen,
wie jener. Man muss Italien kennen, um sich
vorstellen zu können, mit welcher Spontanität
sich hier ein so tiefergreifendes Gefühl kundgibt.
Kaum war die Trauernachricht in das Publikum
— 179 —
gedrungen, so hatten sich alle Läden geschlossen,
an den Fenstern und Baikonen wurden die
Fahnen, mit Trauerflor bezogen, ausgesteckt;
schwarzberänderte Anzeigen erschienen an den
Mauern und wurden in den Strassen aus-
geboten. Die Kammer, der Senat, das Mu-
nizipium hielten Sitzungen, um Beschlüsse zu
fassen, der König Umberto schickte alsbald ein
Telegramm an die Familie nach Caprera und
Hess die grosse Revue abbestellen, die zur
Feier des Festes der Konstitution stattfinden
sollte. Ebenso wurde das berühmte Feuer-
werk, die Girandola genannt, aufgesagt, das in
päpstlicher Zeit um Ostern, jetzt an diesem
Festtag jährlich abgebrannt wird. Die Theater
blieben geschlossen. Der Korso zeigte am
Abend das Bild einer Aufregung, wie sie
nur ein grosses, erschütterndes Ereignis hervor-
rufen kann. Dicht gedrängt standen die Vplks-
massen zusammen, die schwarzberänderten Blätter
lesend oder in stummer Ergriffenheit miteinander
fühlend.
Rom hatte seinen Helden der Jahre 48 und
49 nicht wieder gesehen, bis zum Winter des
Jahres 74. Wer damals in Rom war, wird sich
des Jubels erinnern, mit welchem der Volks-
held gleich einem Triumphator der antiken
Welt empfangen wurde, der Tausende, welche
am Bahnhof seiner Ankunft harrten, des An-
blicks, wie er, des Gebrauchs der Glieder da-
mals noch nicht beraubt, stehend im Wagen,
dem man die Pferde ausgespannt hatte und den
12*
— i8o —
begeisterte Männer zogen, nach allen Seiten
dankend grüsste. Man wird sich erinnern, wie
er in der Aula des Parlaments mit Ehren-
bezeugungen empfangen wurde, als er kam,
seinen Sitz als Deputierter einzunehmen, und
wie der König Victor Emanuel ihn empfing
und auszeichnete. Vor allem aber wird man
sich erinnern, wie er die Furcht Lügen strafte,
welche sein Erscheinen in Rom als den Anfang
revolutionärer Unruhen bezeichnet hatte. Der
edle Kriegsheld kam nur mit Missionen des
Friedens; die Urbarmachung der römischen
Campagna und die Regulierung des Tiberbettes
— das war die Revolution von eingreifenden
Folgen für die Gesundheitszustände und die
Wohlfahrt Roms, welche er zu bewerkstelligen
wünschte.
Leider wurden seine grossen, praktischen
Pläne nicht ausgeführt, wie denn überhaupt
sein Alter schmerzvoll genug war, nicht bloss
durch physische Leiden, sondern durch herbe
Enttäuschungen für seinen edlen uneigennützigen
Patriotismus. Ich sah ihn nur einmal, als ich
am Morgen, wo seine Empfangszeit war, in
die Villa vor der Porta Via, wo er wohnte,
ging, ihn zu begrüssen. Er sass in seinem nun
typisch gewordenen roten Hemd, sein kleines
Mützchen auf dem Kopf, hinter einem grossen
Tisch, der mit Karten und Drucksachen be-
deckt war, um ihn im Halbkreis sassen die
Besuchenden, deren Zahl jeden Tag unendlich
gross war, und unter denen an jenem Morgen
— i8i —
sich Depretis, damals noch nicht Minister, be-
fand, (wie denn auch Minghetti seinen morgend-
lichen Spazierritt täglich nach der Villa lenkte).
Viel mit ihm zu reden war unter diesen Be-
dingungen unmöglich, aber es war eine Freude
ihn wiederzusehen, wenn er freundlich nach
italienischer Weise mit der Hand grüssend, von
seinem Sitz aus mit dem bezaubernden Wohl-
laut sener Stimme rief: »addio, addio!« welches
von ihm, wie übrigens häufig in Italien, als
Willkommensgruss gesagt wurde.
Rom hat ihn nicht wiedergesehen, denn er
ging, entmutigt und enttäuscht über die Ge-
staltung der Dinge, früher als er gewollt hatte
auf sein Eiland zurück. Aber Palermo hat die
wehmutvolle Freude gehabt, dass Garibaldis
letzter Besuch ihm gegolten, und der unsagbar
herrliche Empfang, den Sicilien bei Gelegenheit
der sechshundertjährigen Feier der sicilianischen
Vesper dem greisen Helden bereitet, und die
Beweise begeisterter Liebe, mit denen es ihn
umgeben hat, werden nun wie der letzte, schöne
Kranz von eines ganzen Volkes liebender Ver-
ehrung sich um das Bild des edlen Toten
schlingen.
Viele Städte wünschen sich schon die Ehre,
die sterblichen Überreste Garibaldis zu besitzen,
vor allen Rom, ja es wurde der Vorschlag
laut, dieselben im Pantheon, wohin man auch
Victor Emanuel gebracht, beizusetzen. Der
letzte Wille Garibaldis, der soeben bekannt
wird, entscheidet die Frage fest und für immer.
— l82 —
Er lautet: »Da ich testamentlich die Ver-
brennung meines Leichnams verordnet . habe,
so beauftrage ich meine Frau mit der Voll-
streckung dieses meines Willens, ehe irgend
jemand von meinem Tod benachrichtigt wird.
Wenn sie vor mir sterben sollte, werde ich
dasselbe für sie tun. Es soll eine granitne
Urne verfertigt werden, um ihre und meine
Asche einzuschliessen. Die Urne soll auf der
Mauer hinter dem Sarkophag unserer Kinder
unter der Akazie, die ihn beschattet, aufgestellt
werden«. — Man wartet auf die Kinder Gari-
baldis aus erster Ehe, die bei seinem Tode nicht
anwesend waren, um diesen seinen letzten
Willen zu vollziehen. Es lässt sich nichts der
ganzen Gestalt und dem Charakter des ein-
fachen Mannes würdig Passenderes denken,
als diese Auflösung der zu verschwindenden
Form. Die läuternde Flamme wird, wie bei
den antiken Helden, das Irdische verzehren,
und das kleine Felseneiland, wohin er zurück-
kehrte, nachdem er Victor Emanuel ein König-
reich geschenkt hatte, wo er in bescheidener
Zurückgezogenheit mit den Seinen lebte, und
wo sein edles Herz zu schlagen aufhörte —
ist das rechte Piedestal für die Urne, welche
die Asche eines jener Menschen enthalten wird,
wie sie in unserer Zeit immer seltener werden,
welche die erkennende Nachwelt aber den
edelsten Helden der alten Zeit zur Seite stellen
wird.
- i83 -
Auch von ihm, wie von Mazzini, entwarf
Alexander Herzen ein schönes, nie übertroffenes
Bild, ich erinnerte mich daran in diesen Tagen :
»Mit Garibaldi wurde ich erst im Jahre 1854
in London näher bekannt, als er von Südamerika
zurückkam als Kapitän eines Schiffes, das in den
Westindien-Docks auf der Themse lag. Ich
ging mit einem seiner früheren Gefährten im
römischen Krieg, ihn zu besuchen. In seinem
dicken, hellfarbigen Paletot, seinem bunten Tuch
um den Hals und dem kleinen Mützchen auf
dem Kopf erschien er mir mehr gleich einem
voUkommnen Seemann, denn als der Führer des
römischen Heers, dessen Bild mit phantastischer
Kleidung damals in der ganzen Welt verkauft
wurde. Die gutmütige Einfachheit seines Be-
nehmens, die Abwesenheit aller Prätension, die
unverkennbare Herzensgüte, mit der er uns
empfing, gewannen ihm gleich meine Neigung.
Seine Schiffsmannschaft bestand hauptsächlich
aus Italienern, er war der Befehlshaber und
sicher ein strenger ; aber er wurde dennoch von
allen geliebt und verehrt, alle waren stolz auf
ihren Kapitän. Er gab uns ein Frühstück in
seiner Kajüte und bewirtete uns mit besonders
zubereiteten Austern aus Südamerika, mit ge-
trockneten Früchten und Portwein. Plötzlich
sprang er auf und rief: »Halt, mit Ihnen muss
ich einen anderen Wein trinken.« Er lief aufs
Verdeck und darauf erschien ein Matrose mit
einer Flasche. Garibaldi lächelte und füllte
unsere Gläser. Was konnte man da nicht er-
— i84 —
warten von einem Mann, der von jenseits des
Ozeans kam? Es war aber nichts anderes als
Belett, Landwein von Nizza, seiner Heimat, den
er nach Montevideo und von da wieder nach
London immer mit sich führte. In unserer ge-
mütlichen Unterhaltung aber fühlte ich, dass ich
mich in der Gegenwart einer ausserordentlichen,
grossen Natur befand. Ohne dass er Phrasen
und Gemeinplätze brauchte, erkannte man in
ihm doch den mächtigen Volksführer, der selbst
alte, erfahrene Soldaten durch seine Taktik in
Erstaunen gesetzt hatte, und es war nicht
schwer, in diesem schlichten Schififskapitän den
verwundeten Löwen zu erkennen, der nach dem
Fall von Rom nur Schritt vor Schritt der Über-
macht wich, und nachdem er seine ersten Ge-
fährten verloren hatte, Soldaten, Bauern, Räuber,
wen er nur finden konnte, zusammenrief, um
einen neuen Schlag auf den Feind auszuführen.
Und das geschah nach dem Tode seiner heiss-
geliebten Frau, welche den Mühsalen und der
Angst eines solchen Feldzuges erlegen war.
Schon in diesem Jahr 1854 wichen seine An-
sichten wesentlich von denen Mazzinis ab, ob-
gleich sie persönlich sehr gut zusammen standen.
Er sagte in meiner Gegenwart zu Mazzini, dass
es nicht ratsam sein würde, das piemontesische
Gouvernement zu reizen, dass zunächst das
Nötigste sei, sich vom österreichischen Joch zu
befreien, und dass er sehr zweifle, ob Italien
schon für eine Republik reif sei, wie Mazzini
sie wünsche. Er war entschieden gegen jeden
~ 185 -
Versuch einer Revolution. Als er London ver-
liess, sagte ich ihm, dass mir sein Seeleben
ausserordentlich gefalle, und dass er unter allen
politischen Flüchtlingen das beste Teil erwählt
habe. »Wer hält die anderen ab, ein Gleiches
zu tun?« sagte er mit Wärme. »Es war dies
immer mein Lieblingstraum und ist es noch, Sie
mögen nun darüber lachen oder nicht. Die
Menschen in Amerika kennen mich; ich hätte
dort drei bis vier Schiffe haben können, um die
ganze Emigration aufzunehmen. Alle Mannschaft
würde aus den politischen Flüchtlingen genommen
sein. Was ist denn jetzt in Europa zu tun?
Entweder Sklave sein, oder sich ruinieren lassen,
oder still in England leben. In Amerika sich
niederzulassen ist noch schlimmer, dann ist alles
vorbei, denn das ist ein Land, in welchem man
das Vaterland vergisst, und welches einem zur
zweiten Heimat wird, wo es andere Interessen
gibt und alles anders ist als hier. Menschen,
die sich in Amerika niederlassen, scheiden aus
der alten Welt aus. Was könnte aber besser
sein als mein Plan?« setzte er mit vor Be-
geisterung strahlenden Augen hinzu: »die ganze
Emigration um ein paar Mäste versammelt, auf
dem Ozean lebend, gehärtet durch ein rauhes
Matrosenleben, im Kampf mit Elementen und
Gefahren — das wäre eine schwimmende Armee,
unnahbar, unabhängig und immer bereit, wenn
es der Freiheit gilt, an irgend welchem Ufer zu
landen.«
— i86 —
In diesem Augenblick erschien er mir wie
»einer jener klassischen Helden, eine Gestalt der
Aeneide, welcher in einem anderen Zeitalter lebend,
seine Legende, seine arma virumque cano
gehabt haben würde«. Soweit Herzen. Er
hat es nicht mehr erfahren, dass Garibaldi wirk-
lich schon seine Legende hat bei dem Volke in
Neapel, das fest überzeugt ist, dass es immer
einen Garibaldi geben wird, und jetzt schon den
Tag des heiligen Joseph mehr zur Erinnerung
an diese neue legendäre Gestalt, als um des
alten Heiligen willen feiert. Doch fehlen auch
jetzt die Stimmen nicht, die stets die grossen
Gestalten, welche aus der Geschichte in die
Legende übergehen, verunglimpfen, da die
Menschheit es ja nicht lassen kann, das Strahlende
zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu
ziehen. So wagt man es von deutscher Seite,
diesem einfachen, ehrlichen Volksmann Bestech-
lichkeit und Gewinnsucht vorzuwerfen. Weiss
ich doch gewiss, dass man ihm in England, wo-
hin er nach der vollbrachten Einigung Italiens
eingeladen als Gast des Herzogs von Sutherland
ging und wo er die Huldigungen der ganzen
englischen Aristokratie empfing — eine grosse
Besitzung und ein ansehnliches Vermögen dazu
anbot, als Beweis der unbegrenzten Verehrung,
welche ihm die Engländer zollten, dass er aber
entschieden alles ablehnte und rasch in seine
bescheidene Häuslichkeit auf Caprera zurück-
kehrte. Da lebte er in patriarchalischer Ein-
fachheit, liebevoll sorgend für alles, was ihn
- i87 -
umgab. Ein Freund erzählte davon u. a. das
folgende rührende Beispiel: »Eines Tages ver-
misste man ein junges Lämmchen, durch die
Wehklagen der Mutter aufmerksam gemacht.
Garibaldi und der bei ihm befindliche Freund
machten sich alsbald auf, das Tierchen zwischen
den Klippen und Felsenspalten der Insel zu
suchen. Man fand es aber nicht, und endlich
begaben sich abends alle ermüdet zur Ruhe.
Der besagte Freund konnte nicht schlafen, und
als tiefe Stille im Hause herrschte, hörte er,
wie die Tür von Garibaldis Zimmer sich leise
öffnete und dieser vorsichtig, um kein Geräusch
zu machen, das Haus verliess. Nach längerer
Zeit, schon mitten in der Nacht, hörte er ihn.
zurückkommen, und erfuhr am folgenden Tag,
dass Garibaldi das Tierchen nach langem Suchen
noch gefunden und, da es vor Kälte zitterte,
zu sich ins Bett genommen habe, um es zu
erwärmen und am Morgen der Mutter zurück-
zugeben. Solche Züge sagen mehr als Worte !
Als nun im März 1882 nach 600 Jahren der
Jahrestag der sicilianischen Vesper wiederkehrte,
die in der Geschichte jener schönen Insel ein
Denkmal von dem edlen Unabhängigkeitssinn
der Bevölkerung bleibt, bereitete Palermo ein
grosses Fest, und lud vor allen anderen den
ehrwürdigen Volkshelden dazu ein, der selbst
wie eine Erscheinung aus dem heroischen Zeit-
alter der Menschheit war. Hatte er doch für das
herrliche Inselland beinali Ähnliches vollbracht,
— i88 —
wie einst Johann von Procida, nämlich ihm Frei-
heit und Unabhängigkeit gegeben durch seinen
Zug der Tausend, der eher einem Gesang des
Homer glich, als einem modernen Feldzug. Gari-
baldi, obwohl schon alt und sehr krank, machte
sich zu dieser letzten Feier seines Heldenlebens
auf. Seine Reise war wie ein Triumphzug; an
jeder Station musste der Zug anhalten, damit
die Bevölkerung den geliebten, greisen Führer
noch einmal sehen könne, und nur die Rücksicht
auf seine Gesundheit mässigte etwas den Jubel,
mit dem man ihn in Palermo empfing. Garibaldi
dankte der enthusiastischen Stadt mit einem
Brief, worin er sie aufforderte, stets die Erste zu
s>ein, um das kaum entstandene Italien vor äusseren
und inneren Gefahren zu schützen. Insbesondere
warnte er sie vor dem Papsttum, und erinnerte
sie daran, dass 1282 es der Papst gewesen sei,
der die Räuber geschickt habe, welche sie so
heldenmütig in die Flucht getrieben hätte, Er
schloss den Brief folgendermassen: »Bilde in
Deiner Mitte, in der so viele grossmütige
Herzen schlagen, eine Verbrüderung unter dem
Namen »Befreierin der menschlichen Intelligenz«,
deren Aufgabe es sei, die Unwissenheit zu be-
kämpfen, den freien Gedanken zu wecken, und
dem Volke, anstatt der Lüge, die Religion des
Wahren und Guten zu lehren.« Wie würde das
Herz des edlen Volksmanns geblutet haben,
hätte er es erlebt, das Elend dieser Tage zu
sehen, welches sein geliebtes Inselvolk wieder
dazu trieb, in Waffen aufzustehen, leider aber
— i89 —
gegen die eigenen Brüder, die von der selbst
gewählten Regierung gesendet wurden zu dem
sogenannten »Ordnungstiften« im traurigen sozi-
alen Krieg. (Vor einigen Jahren, als das über-
handnehmende Elend die Sicilianer zu revolu-
tionären Aufständen trieb, welche unter dem
Ministerium Crispi, der selbst ein Sicilianer ist,
und einer der Tausend unter Garibaldi gewesen
war, mit Waffengewalt unterdrückt wurden!)
Gedachtes.
Viele Gedichte Goethes kann man gar nicht
bloss rezitieren, man muss sie singen. Die Töne
ergeben sich von selbst dazu, die Worte kommen
so aus dem innersten Leben, dass sie Musik in
sich enthalten, z. B. das Ȇber allen Gipfeln ist
Ruh«. Gresteru Abend nach dem glorreichsten
Sonnenuntergang, vor der leuchtenden Klarheit
eines römischen Sternenhimmels, musste ich es
singen, mit einer wunderbaren Melodie, die ganz
von selbst den Worten entstieg. Es wurde mir
himmlisch wohl dabei.
»Arbeit ist der göttlichste Orden, so er je
auf Erden gestiftet ist worden«. So sagt Hans
Rosenblüt am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
Wie sagen wohl unsere Arbeiter am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts?
Wir sind selbst das Metaphysische, das Ding
an sich in der Erscheinung, der umgekehrte
— 192 —
Spiegel Schopenhauers. Dühring nimmt die Er-
scheinung für bare Münze, und insofern als sie
unsere einzige Kursbezahlung ist, hat er recht.
Aber sie ist nur corso forzoso, das Silbergeld
ist jenseits der Erscheinung. Doch ist das eine
vom anderen nicht zu trennen, und nur wer
das Papiergeld in sich ins edle Metall umsetzt,
hat die volle Summe.
Das Karmän der Buddhisten ist die unend-
liche Folge von Ursache und Wirkung, deren
Produkt wir sind. Das Nirväna ist die Auf-
hebung des Karmän. Welch ein Licht!
Auf einsamem Bergpfad, hoch in den Alpen
wandelnd, grauer drohender Himmel, freudlose
Alpennatur, starr und kalt ringsum. Gewiss hat
der Mensch von jeher Zwiesprache mit der
Natur gehalten, gewiss haben Sonnenstrahlen ihn
erheitert und hat solch düsterer Ernst wie hier
ihm Ehrfurcht oder Furcht eingeflösst. Aller
Götterglaube hat da seinen Ursprung. Sobald
der Mensch da war, waren Frage und Antwort da.
Die Sprache kann nur durch die Gemein-
samkeit entstanden sein. Man kann sich denken,
dass ein einzelner Mensch Begriffe gehabt, und
die Gegenstände ausser sich unterschieden hat,
ohne einen Ausdruck dafür zu suchen. Mit
— 193 —
anderen musste nach und nach ein Ausdruck
gefunden werden, durch welchen man sich den
Begriff mitteilte.
Je weiter man im Leben kommt, je einfacher
werden die Grundlinien des Charakters sichtbar.
Die Dinge, die uns die Welt angehängt hat,
fallen ab; es bleiben der heilige Zorn und die
Charitas, wie in der Kapelle Sixtina auf dem
jüngsten Gericht: Christus und Maria.
Eben las ich in dem lieblichen Buch über
die Jugend Michelets (von seiner Witwe her-
ausgegeben), wie sein Freund Poinsaut die Offen-
barung der wahren Liebe durch den Tod der
Virginie (im Roman »Paul et Virginie«) erhält,
indem Virginie lieber stirbt, als dass sie die holde
Scham verletzte, die sie in der Nähe des Ge-
liebten empfindet. Ist es nicht ebenso mit
Tugend und Sittlichkeit? Die haben auch das
Hindernis in sich selbst, welches zu oft den
irdischen Erfolg vereitelt. Der zur Tugend, zur
wahren Sittlichkeit angelegte Mensch kann nicht
gegen dieselbe handeln, ohne sich selbst die
tödliche Wunde beizubringen, die tiefer schmerzt
als das, was man auf der anderen Seite verliert
Sehr rührend und schön ist die Erzählung
des psychologischen Vorganges in Poinsaut, der
Meysenbug , IV. 13
— 194 —
reinen Herzens war und dessen Verstand nur
durch die frühen Mitteilungen unsittlicher
Kameraden verwirrt wurde. Wenn man bedenkt,
welche Wirkung jenes paradiesisch unschuldige
Buch (:&Paul et Virginie«) auf die damalige,
durch so viele Korruption durchgangene Welt
hatte, so fragt man sich, würde ein solches Buch
heute nach Zola und seiner ganzen Schule noch
so wirken? Ein schlimmes Fragezeichen für
unsere Zeit, die sich rühmt, so viel moralischer
zu sein als jene.
Wir armen Sterblichen machen uns wahr-
haftig zu viel Sorge um die schweren Stunden,
die wie ein Traum vergehen, während wir nie
genug daran denken, das Ewige in die flüchtige
Zeit zu bannen und diese dadurch aufzulösen in
einen blossen Begriff, gleichsam in ein Hülfszeit-
wort, mit dem sich unsere Vernunft das Ewige
in verschiedene Phasen zurechtlegt.
Offenbar ist die Furcht vor dem Tode ein
Hauptmotiv in der ganzen katholischen Dogmatik.
Das Paradies muss auf alle Weise gewonnen
werden. Die guten Werke sind das Mittel, der
Hölle zu entfliehen.
Wie schrecklich ist solch ein Vorlesen, wie
das der M. . . .1 Sie liest laut für sich, nicht
— 195 —
für die andern. Es ist ein seelenloses, ober-
flächliches Lesen. Auch in solchen Dingen ver-
rät sich die Persönlichkeit. Wie anders liest
ein wirklich innerlicher Mensch!
Im Alter wird die Natur einem noch ver-
trauter und wichtiger als in der heissblütigen
Jugend, die Teilnahme von ihr verlangt und
sich über ihren kalten Metallglanz ärgert. Das
Alter hingegen ruht aus in der Objektivität der
um individuelle Leiden und Freuden unbeküm-
merten, nach ewigen Gesetzen wirkenden Natur,
in deren Schoss alles Lebendige nach über-
standenem Erdentraum zurückkehrt.
Der Intellekt ist ja auch nur ein Teil der
Erscheinung, und hängt von ihren Existenz-
bedingungen mit ab, während das Unveräusser-
liche, der Charakter, das eigentlich Metaphysische,
welches als Wille mit uns geboren wird, bleibt.
Ein rührendes Beispiel hierzu erlebte ich kürzlich.
Ein alter Künstler, der in Rom seit seiner Jugend
lebte, und sowohl wegen seiner Leistungen wie
als Mensch hoch geachtet war, wurde nun durch
Krankheit und Alter in einen Zustand völliger Hülf-
losigkeit versetzt und hing von den Dienstleistungen
seiner Frau und der Magd ab. Eines Tages kam
das Bewusstsein seiner Lage, seines geistigen und
physischen Absterbens, noch einmal mit Klarheit
über ihn und er fing an bitterlich zu weinen.
13*
— 196 —
Umsonst versuchten seine Frau und seine kleine
Tochter, ihn durch Liebkosungen zu beruhigen.
Ein Freund, der zugegen war, sagte ihm end-
lich, er sei doch noch gut daran, habe liebende
Wesen um sich, ihn zu pflegen, und brauche
wenigstens nicht zu darben; aber er solle des
armen A . . . . gedenken, eines einst auch be-
rühmten Künstlers, der, älter und hülfloser noch
als er, niemand auf Erden habe, der für ihn
sorge, ausser einem gemeinen Aufwärter, welcher
ihm etwas zu essen bringe und ein paar Mal
am Tag nach ihm sehe. Des alten Mannes
Tränen versiegten und er schwieg. Am folgenden
Tag rief er die Köchin herbei und fragte sie leise:
»Könnten wir nicht dem alten A . . . ein Süpp-
chen schicken?«
Wem würde bei so etwas nicht zu Mute,
wie wenn ein Sonnenstrahl durch finsteres Ge-
wölk bricht? So bricht hier durch den sich um-
nachtenden Intellekt, der an die Erscheinung
gebunden ist, das Leuchten des Metaphysischen,
Unzerstörbaren, welches, jenseits unserer Erkennt-
nis, aus geheimnisvollen Ursachen uns den
Charakter zubereitet hat ; hier zeigt es sich als
die Güte, die, auch entkleidet von dem schmücken-
den Gewand des Intellekts und des Talents, in
ursprünglicher rührender Schönheit zu Tage tritt
Deshalb ist auch der Tod guter Menschen
meist so schön und rührend, weil, selbst wenn
der Geist schon umflort ist und erlischt, die
letzten Bilder und Worte, die das ersterbende
Bewusstsein noch hervorbringt, der liebenswerten
— 197 —
Natur entsprechen. So hatte z. B. mein Vater,
dessen liebevolles edles Gemüt für ganz anderes
gemacht war, als für die heissen Kämpfe der
Politik und der Revolution, in denen sein Leben
verfliessen musste, schon einschlummernd zum
ewigen Schlaf, nur noch Vorstellungen von
Blumenwiesen und Vergissmeinnichtsträussen, von
denen er lächelnd und leise flüsternd sprach. Ich
sah nie einen Bösen sterben, aber der Tod eines
solchen muss schrecklich sein, denn nun kommt
das wahre jüngste Gericht zum Vorschein, und
kein Blitzen des Verstandes, kein Funkeln des im
Leben erworbenen gleissnerischen Schimmers,
kann den Abgrund des Wesens mehr verbergen.
Bezeichnend ist hiefür das Wort des Kaisers
Augustus, der, als er die letzte Stunde nahen
fühlte, sich freute, dass er nun endlich aufhören
könne, Komödie zu spielen
Im geistreichen Buch des Grafen Gobineau:
»Sur la diversite des races humaines« steht,
dass die Makedonier über Athen siegten, weil
sie unvermischtes arisches Blut hatten, und dass
Athen an der Mischung mit semitischem Blut
zu Grunde ging. Da aber die Makedonier gar
keine Kultur hervorbrachten und sogleich in der
Vermischung mit dem Orient untergingen, so ist
das doch kein Beweis ihrer Superiorität über
die Rassenmischung in Athen, die unleugbar den
höchsten Glanzpunkt menschlicher Kultur hervor-
gebracht hat. Warum hätte das nicht fortdauern
— 198 —
sollen, wenn nicht andere Ursachen des Ver-
falles dagewesen wären?
Malthus hat meiner Meinung nach darin
recht, dass er die überhandnehmende Bevöl-
kerung der Erde nicht als ein Glück ansieht.
Nur darin hat er unrecht, dass er Krieg und
Vernichtung als notwendige Mittel bezeichnet,
um sich der überflüssigen Mehrzahl zu entledigen
und der egoistischen Minorität den Genuss des
Lebens zu sichern. Der Wirklichkeitsphilosoph
meint, man solle die Natur nur zunächst quan-
titativ verfahren und produzieren lassen, sie werde
einmal an die Grenze kommen, wo sie einhalten
und qualitativ verfahren müsse, um dann viel-
leicht eine höher organisierte Menschheit hervor-
zubringen. Ich denke, der Kulturmensch solle es
nicht der Natur überlassen, sondern mit Bewusst-
' sein darauf hinarbeiten; die Statistik beweist,
dass die Vermehrung der Menschenherde am
zahlreichsten in den untersten Gesellschafts-
klassen vor sich geht, als Ersatz für höhere
Lebensfreuden aus vorherrschenden animalischen
Trieben. Je mehr daher geistiges Leben und
wahre Bildung zur Herrschaft gelangen werden,
je gebändigter wird der bloss animalische Trieb
sein und je edler werden die Exemplare werden,
denn darauf allein kommt es an.
Neulich sagte eine verheiratete Frau, halb
im Scherz und halb im Vorwurf, zu ihrem
Mann, dass sie gar nichts mehr für ihn sei neben
— 199 —
ihren zwei jungen Töchtern, die er zärtlich liebt.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich schon bei
anderen Ehen gemacht. Ist das vielleicht so,
weil die Leidenschaft, deren Gegenstand die
Frau war, befriedigt ist, und weil der Egoismus
des Mannes in den Kindern einen Teil seiner
selbst wiederfindet, während die Frau ihm doch
immer ein fremdes Wesen ist? Das würde an
Schopenhauers Idee der Ehe erinnern. Oder
ist's weil das Hülflose des Kindes ihm noch
mehr das Gefühl des Beschützers gibt als bei
der Frau? Oder endlich — und das wäre die
schönste Erklärung — weil er im Kinde die
Mutter doppelt liebt und im Kinde das Siegel
ihres Bundes, ihr gemeinsames Vermächtnis an
die Menschheit sieht?
Vor vielen Jahren, noch in England, schrieb
ich einmal in mein Tagebuch: Am heutigen
Abend spät ging ich auf der Insel Wight am
Meeresstrand entlang, von einem Besuch kommend,
einen weiten Weg allein zurück. Es war heller
Mondschein; auf der einen Seite war der Weg
von hohen Felsen begrenzt, auf der andern vom
mondbeglänzten Meer. Dieses Alleinsein in der
Natur rührte mich, wie immer, tief; das elemen-
tare Leben umfing mich so heimatlich, so
liebevoll. Deutlicher als je stieg das Bewusst-
sein meiner eigentlichen Bestimmung in mir auf.
Gibt es denn doch eine »Idee preexistante« im
Menschen, zu der ihn sein ganzes Leben gewalt-
— 200
sam hindrängt? Schaffen — das ist's! Auf
andere veredelnd wirken, Kinder, leibliche oder
geistige, zeugen, das Leben fortsetzen, also immer
der Zukunft entgegen, nie zurück! Das stösst
die christliche Theorie des ein für alle Mal ge-
gebenen Ideals um. Aber das Wesentliche in
jener Theorie bleibt, dass die Liebe, welche nicht
Schwäche, sondern unangreifbare, unbesiegbare
Stärke ist, schliesslich das allein Siegende bleibt.
Ja, Nazarener, am Kreuz besiegtest du dennoch
die Welt! Es ist nur viel tiefer, als die Dog-
matiker denken.
Wenn man nach langen Jahren an einen Ort
zurück kommt, wo man früher einmal gelebt hat,
so überfällt einen, fast mit Grauen, die Über-
zeugung, dass es immer dasselbe ist, was lebt.
Alles, was wir einst gekannt haben, ist längst
im Grabe, eine neue Generation ist an die
Stelle getreten, aber es sind dieselben Typen;
was wir einst jung gesehen haben, ist wieder
jung da; wir meinen Bekannte zu erkennen; es
ist dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, dasselbe
Lachen, dasselbe Weinen, dieselbe Verliebtheit
und Torheit, derselbe alte, ewige Schmerz. Ist
das auch nur Gattungsbegriff wie beim Tiere .^
Entwächst das Individuum, welches den Gott in
sich enthüllte, dem allgemeinen Schicksal der
Erscheinung nicht? Ist das nicht das einzige,
was über die Erscheinung hinausgeht, wieder
Ding an sich wird?
— 20I
Ich fühlte von früh auf tief, wie notwendig
es ist, dass unser Leben Tat werde, aber
nicht bloss praktische Tat des Handelns, son-
dern ideale Tat der künstlerischen Vollendung.
Wir können uns nicht damit begnügen, dass wir
den Marmor brechen, der einst der Zukunft
Göttertempel herstellen soll, wir müssen ihm
auch gleichzeitig, schon wenigstens in einer
Form, die Ahnung eines idealen Lebens ein-
hauchen, und war' es auch nur in dem ver-
schwiegenen Umgang mit unserer eigenen Seele.
Die Propheten gehen den neuen Epochen
voran, die Philosophen beschliessen die alten,
ihre Aeren nähern sich demnach einander; des-
halb verwechselt man sie so oft.
Heute haben zwei militärische Exekutionen
stattgefunden, eine in Palermo und die des Sol-
daten Misdea in Neapel. Dieser hatte ein ent-
setzliches Verbrechen begangen: sieben Soldaten,
zum Teil seine Vorgesetzten, in einem Anfall
von Wut erschossen. Er war wie eine wilde
Bestie und dennoch kein schlechter Mensch. Im
Gefängnis hat er gedichtet und der Geistliche,
der ihn besuchte und ein guter Mann war, hat
ihn beweint. Er war ein Sohn der wilden
Berge, ein Calabrese, ein heissblütiges unerzogenes
Wesen, seine Kameraden hatten ihn verspottet
und schlecht behandelt und er hatte sich ge-
rächt. Hätte die Gesellschaft sich seiner ange-
202
nommen, ihm die Mittel der Bildung gegeben,
er wäre vielleicht ein ganz ausgezeichneter Mensch
geworden. Da sie es aber nicht tat, sondern
ihn seinen wilden Instinkten überliess, so kam
sie nun gesetzlich dazu, dasselbe zu tun, wofür
sie ihn strafte: sie mordete 1
Welche Logik und welche Zustände I
Und dadurch soll die militärische Disziplin
gebessert werden? Denn das ist ja der Vor-
wand, unter dem man hier in Italien diese Exe-
kutionen vollzieht, wo doch die Todesstrafe ab-
geschafft ist. Es wird den Soldatenstand verhasst
machen und auch die Regierung, welche einen
Menschen zwei und einen halben Monat im Ge-
fängnis hielt und ihn dann, ungeachtet des Pro-
testes aller fühlenden Herzen, erschiessen Hess;
diesen wild aufgewachsenen, ungebildeten Men-
schen, der, durch unverdienten Spott zur Wut
gereizt, in einem Augenblick alles überwiegender
Aufregung tat, was er bei kaltem Blute nicht
getan hätte und was er tief und herzlich bereute.
Der Beweggrund des Urteils war, wie schon
erwähnt, die militärische Disziplin, womit dem-
nach gesagt wurde, dass es für das Militär eine
andere Moral gibt als für die anderen Staats-
bürger, da man Mörder, die nicht in der Uniform
stecken, in diesem milden Lande nicht hinrichtet.
Also nur weil der Soldat die Autorität im
Vorgesetzten respektieren muss, wird er, falls er
es nicht tut, mit dem Tode bestraft, während
er als gehorsame Maschine, auf Befehl, Hunderte
im Kriege morden kann.
— 203 —
In Misdeas Fall waren die Priester die hu-
mane Partei und die freisinnige Regierung war
die inhumane. Der Erzbischof von Neapel,
Sanfelice und Monsignore de Luce, welche den
Verurteilten liebe- und erbarmungsvoU behan-
delten und trösteten, werden im Herzen des
Volkes einen Altar haben; die Richter Misdeas
nicht.
»Gott ist nicht gerecht, nur einer ist gerecht
— der Tod«, sagte mir eine alte Frau aus dem
Volk, die neben mir stand auf der Strasse, als
eben ein glänzender Leichenzug vorüber ging.
Joseph de Maistre erkennt in seinem Buch
»vom Papst«, freilich in mystischen Ausdrücken,
die ungeheure intellektuelle Revolution an, welche
sich infolge der politischen Revolution vollzogen
hat. Er sagt, die Sprache der Priester sei ab-
genützt und überzeuge nicht mehr, die Sprache
der Laien müsse dafür eintreten. In dem anderen
Buche, »Sur le principe generateur des con-
stitutions«, erklärt er die religiösen Analogien
der Völker, vernichtet also die direkte Offen-
barung. Er schlägt vor, in einer grossen Stadt,
auf antiken Überresten, eine Statue von Christus
zu errichten mit der Inschrift: »A l'Osiris
chretien dont les envoyes ont parcouru le monde. «
Er erkennt damit eine christliche Mythologie an.
Oh Joseph de Maistre, liebenswürdiger feiner
— 204 —
Geist sympathisch trotz Deiner Irrtümer, wie
konntest Du Dir so widersprechen!
I
»
Wenn ich dem heiligen . Augustin darin bei-
stimmte, dass der Mensch des Besitzes der ab-
soluten Wahrheit bedürfe, um glücklich zu sein
und dass das blosse Suchen nach derselben ihn
nicht befriedige, so würde ich mich alsbald in
den Schoss der katholischen Kirche begeben,
denn da ist positive Wahrheit für alle Lebens-
probleme. Wenn man es kann, muss es sich
sehr bequem darin ruhen lassen. Ich halte es
aber mit Lessing und glaube, dass in der Ein-
sicht unserer Beschränkung, die es uns unmöglich
macht, das Absolute zu erkennen, die einzige
Ruhe liegt, zu der wir gelangen können, indem
wir dann erst mit vollem Bewusstsein uns »immer
strebend bemühen«, und so der Erlösung vom
Schmerz des Unbefriedigtseins teilhaftig werden.
Das Prinzip des Guten und Bösen ist da,
soweit das Bewusstsein zurückreicht ; aber es geht
nicht von einem Herrscherwort aus, welches den
Menschen fesselt, denn damit bliebe immer ein
Widerspruch zwischen Freiheit und Gewalt. Das
Gute ist Freiheit der Entwicklung: alles was
eine ausgelebte Form verewigen will, ist böse.
Darin ist der Geist auch dem unabwendbaren
Gesetz der Natur unterworfen, dass er Hülle um
Hülle zerbrechen, sich ewig neue Formen, gleich
— 205 —
den neuen Frühlingen, schaffen muss. Wer dem
Einhalt tut, beschränkt das Gebiet der Freiheit,
tut Böses, bereitet moralischen Tod.
Den Kampf des Lebens schon vor dem leib-
lichen Tod ausgekämpft haben, ist das vielleicht
eine neue Form der Religion? Nicht mehr der
Schmerz und der Kampf, sondern der Frieden
und das Glück. Ist alles Drängen und Treiben
nur das Sehnen danach und wird damit die Erde
schon zur vergöttlichten Heimat? Es wären die
Griechen, nur in höherer Potenz.
Erst wenn die Hälfte des Lebens vorüber
ist fangen wir an, unsere eigene Natur und ihre
wahren Bedürfnisse ganz zu verstehen, und fühlen
dann den bitteren Schmerz, das an uns Ver-
säumte nicht nachholen, uns nicht selbst zum
voUkommnen Kunstwerk machen zu können.
Die Erziehung in den Händen einsichtsvoller
Menschen könnte uns vieles zu Bedauernde er-
sparen. Welche herrliche Aufgabe, und wie
mangelhaft wird sie meist noch erfüllt!
In der Neujahrsnacht von 1878 auf 79 lag
ich schlaflos und hörte in Gedanken den letzten
Akt aus Wagners Götterdämmerung und bei der
Stelle »Deine Raben hör ich rauschen« fiel mir
ein, wie doch fast alle Götter Vögel zu Attri-
— 206 —
buten hatten, wohl als die im Luftmeer Heimischen,
dem Himmel Nahen, so Wotan die Raben, Zeus
denAdler, Minerva die Eule, Venus die Tauben etc.
Wieder der geistreiche Symbolismus der Alten.
Ostermorgen in Neapel. Himmlischer Morgen !
Der Vesuv raucht wie ein Opferaltar, Christ ist
erstanden! Die alte Sage umklingt mich heute
in aller Schönheit.
Der Sommer 1882 rief mich nun wieder
nach Bayreuth und zwar schon früh, um allen
Proben zum Parsifal beizuwohnen, der zum ersten
Mal aufgeführt werden sollte. Als ich einige
Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei
Wagners war, kam der Meister eines Tags aus
seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns
herunter und sagte: »So, nun habe ich meinen
zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer
geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.«
Dann hörte ich von Liszt aus dem ersten Akt
spielen und drei Jahr später in Neapel, wie er-
wähnt, die erste Gralsscene singen. Nun war
das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet
und um nichts in der Welt hätte ich versäumen
mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen.
Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich
Joukoffski, der ein Haus in der Nähe von dem
Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert,
mich in dem Parterre, welches er nicht be-
— 207 —
nutzte, einzumieten, und ich war gern darauf
eingegangen, da ausser mir nur noch Stein im
Hause wohnte, und dies mir also ein sehr sym-
pathisches Trio wurde, welches die Stimmung
zuliess, wie sie zur Anhörung des erhabenen
Kunstwerks einzig sein musste. Wie sich nun
in den Proben nach und nach diese Wunderwelt
der Töne vor mir auftat, steigerte sich von
Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der General-
probe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen
waren, sass ich neben Liszt, welcher die Partitur
vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er
meinen Arm und sagte ganz ausser sich: >Ce
n'est pas ä croire ä ses oreillies!« Seine älteste
Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf
der anderen Seite neben mir sass, sagte, als das
Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und
die Ritter sich den Bruderkuss gaben: »Ich
wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in
diesem Augenblick zu vergeben.« Das waren
alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem
Werke ausging und die sich durch das Anhören
sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte,
sondern eher noch wuchs. Es ist so viel seitdem
über Parsifal geschrieben worden, so viele haben
ihn gehört, dass es unnütz wäre, noch auf eine
Analyse einzugehen. Er ist eben wie das voll-
endete Kunstwerk sein soll, jeder Analyse ent-
hoben; er ist da wie ein herrlicher Wunderbau,
wie eine Göttergestalt des Phidias, wie alles
Vollendete, vor dem die Kritik verstummt,
welches man in sich aufnimmt wie man reinen
— 208 —
Äther einsaugt, mit einem unausprechlichen
Wohlgefiihl und nach welchem man sich edler,
allem Hohen verwandter, über alles Erdenleid
versöhnter fühlt.
Der törichte Irrtum, dieses Werk als eine
Rückkehr Wagners zu der orthodoxen dogma-
tischen Kirche anzusehen, der sich bald in Er-
manglung anderer Kritik hervortat, konnte der
erhabenen Schöpfung keinen Abbruch tun für
den Verstehenden. Der Gedanke der höchsten
Idealität, wie er im Grunde der Legende des
Neuen Testaments sich in der Gestalt des Jesus
von Nazareth ausdrückt, hat auch den Parsifal
geschaffen, hier noch verklärt durch die Macht
der Töne, die wie eine Offenbarung des ewig
Schönen die Erscheinung umschweben. Es war
dies Werk das letzte Siegel, welches ein grosser
Mensch auf sein Leben drückt. Danach braucht
man nichts mehr zu s^igen noch zu tun; der
Bund mit der Ewigkeit ist geschlossen; das
Tagewerk ist vollbracht; das Zeitliche fällt ab
und der ewige Gedanke steigt auf, um unsterbHch
fortzuleben in den kommenden Geschlechtern
und im Verein mit allem dagewesenen wahrhaft
Grossen den Tempelbau des Geistes über der
gemeinen Wirklichkeit zu erheben, in welchem
die reinen Seelen ihren Götterdienst feiern und
dem Ideal huldigen, welches sich ihnen durch
den Mund des Genius verkündet.
Und es kam so, wie es kommen musste,
unsagbar schmerzlich nach der irdischen, erhaben
bedeutungsvoll nach der ewigen Seite. In dem
— 209 —
Winter, der diesen herrlichen Wochen folgte,
war ich wieder in meinem kleinen Heim in Rom,
und Wagners waren in Venedig, einem Lieblings-
orte Wagners. Ich hatte oft Nachricht von
ihnen, auch durch JoukofTski, der gleichfalls dort
war, und freute mich, dass es ihnen gut ging und
dass sie sich in der herrlichen Lagunenstadt aus-
ruhten von der Ermüdung, die notwendig mit
den AufRihrungen in Bayreuth verbunden ist.
Wer vermöchte daher meine tiefe Bestürzung zu
beschreiben, als ich am 14. Februar 83, früh am
Morgen, ein Telegramm von Joukoffski erhielt
mit den Worten: »Wagner ist gestern plötzlich
entschlafen. € Ich traute meinen Augen nicht,
ich suchte zu hoffen, der italienische Telegraphist
habe falsch gelesen und falsch geschrieben, aber
die traurige Wahrheit drängte sich mir doch
auf, und ich fuhr eilig zu der mir innig be-
freundeten Tochter von Donna Laura Minghetti,
welche kürzlich in Rom angekommen war, und
noch im Hotel wohnte. Ich fand sie in Tränen,
sie hatte es auch erfahren; sie, selbst aus-
gezeichnete Musikerin, war Wagner und seinem
Werke eben so ergeben wie ich. Wir teilten
den gemeinsamen Schmerz, der nur darin Trost
fand, dass es gerade nach der vollendeten Auf-
führung jenes Werks der erhabensten Versöhnung
und des reinsten Friedens hatte sein müssen,
ein Abschluss der irdischen Erscheinung, wie er
nicht verklärter und — ich gebrauche das ver-
pönte Wort mit vollster Überzeugung — meta-
physischer gedacht werden konnte.
Meysenbug, IV. 14
2IO
Lange Zeit bangte mir um das Werk von
Bayreuth. Jahre vergingen, ehe ich wieder dort-
hin zu gehen mich entschliessen konnte, wo nun
der Schöpfer fehlte, in welchem ich nicht nur
den Genius verehrt, sondern auch einen Freund
gefunden hatte; aber das Schicksal war diesmal,
was es nicht immer ist, gross dem Grossen
gegenüber und liess der Einzigen, die, nach dem
Meister selbst, die Werke wieder erschaffen
konnte, die Kraft wiederkehren, alles in die
Hand zu nehmen und herrlich zu gestalten. Als
ich dann nach Jahren in tiefster Rührung im
Garten zu Bayreuth an dem Grabe stand in dem
das Vergängliche ruht, da sagte ich leise vor
mich hin: Dein Werk wird leben, Jahrhunderte
überdauern, und dein Genius wird strahlen in
der Konstellation derer, welche die Menschheit
mit Recht unter die Sterne versetzt.
Die Helden sterben auf der Bresche, aber
als Sieger, so auch die grossen Künstler. Was
liegt daran, ob die Welt ein Kunstwerk mehr
oder weniger hat, wenn nur der Mensch das
Ideal in sich selbst realisiert hat und dann stirbt.
Die Art, wie man aus den grossen Kämpfen
und Prüfungen des Lebens hervorgeht, entscheidet
über den Wert eines Menschen.
— 211 —
Wie es am Allerseelentag bei den Katholiken
Sitte ist, die Gräber der Verstorbenen zu be-
kränzen, so ist es auch dem Herzen ein Be-
dürfnis, einen Kranz der Erinnerung zu winden
für die, welche vor uns den Kampfplatz des
Lebens verlassen haben und in die Hallen des
unbekannten Friedensreiches eingegangen sind.
Oh schöne Rätsel reiner Seelen, lösbar nur
in einer höheren Existenz.
Ich hatte schon im Frühjahr viele Wochen
mit Olga in Cannes im südlichen Frankreich zu-
sammen verlebt, wohin man sie ihrer Gesundheit
wegen geschickt hatte, und es unterblieb daher
diesmal meine jährliche Pilgerfahrt nach Ver-
sailles in ihr Heim, wo die Sommer zuzubringen
nun schon eine stehende Gewohnheit geworden
war. So nahm ich die freundschaftliche Ein-
ladung von Donna Laura Minghetti an und ver-
brachte wieder einige Wochen auf dem herr-
lichen Settefonti, in gemütlichem Behagen und
geistiger Angeregtheit. Dann für den übrigen
Teil des Sommers folgte ich einer Empfehlung
Minghettis und ging nach Crespano, einem Orte
am Fuss der venezianischen Alpen, doch schon
in allmähhchem Ansteigen, 900 Fuss über der
Meeresfläche gelegen. Von da überschaut man
die prächtige venezianische Ebene mit ihren
Flüssen, ihren Orten und Städten, die sonder-
14*
— 212 —
bare, an Versteinerungen reiche Hügelkette der
Euganeen und der paduanischen Berge, und hat
den Eindruck, als könne es kein fruchtbareres
reicheres Land geben als dieses. Einst war es auch
so unter der Herrschaft der grossen Republik, aber
jetzt ist viel Not und Armut da und die Haupt-
nahrung der Landbevölkerung ist die Polenta,
daher denn auch die Maisernte die grosse Sorge
des ganzen Jahres ist. Crespano selbst ist ein
kleines Örtchen, das mir nichts Interessantes
bot, aber in der Nähe sind eine Menge Orte,
wo eine bedeutende Vergangenheit und eine
ewig reizvolle Gegenwart einen Bund geschlossen
haben, wie man es eben nur in diesem wunder-
baren Land Italien findet. So fuhr ich eines
Tags zwischen grünen Hügeln und anmutigen
Hecken nach Possagno, einem kleinen, reizend
gelegenen Dorf, welches die Heimat eines be-
rühmten Künstlers ist. Canova wurde hier ge-
boren, ward von hier als armer Knabe nach
Venedig geschickt, um sich in der Kunst aus-
zubilden, wurde berühmt und reich und hinterliess
ein Vermögen von sechzehn Millionen, welches
er zum grossen Teil dem kleinen Geburtsort
und einiges auch dem nahen Crespano und
anderen kleinen Orten der Umgegend hinterliess.
Eine grosse Summe bestimmte er für die Er-
richtung eines Tempels, dessen Plan er selbst
zeichnete, den Anfang von dessen Bau noch
leitete, und der nach seinem Tode vollendet
wurde, und zwei Millionen kostete. Er ist nach
dem Vorbild des Pantheon gebaut, zum Teil
— 213 —
aus weissem Marmor und macht auf dem Hinter-
grund der grünen Hügel, vor denen er sich frei,
den Ort überragend erhebt, einen prächtigen
Eindruck. Eine grossartige Treppe führt hinauf
und sechzehn granitne Säulen tragen die Vor-
halle. Das letzte Werk Canovas, zugleich eins
seiner schönsten, eine Pietä, vor deren Vollendung
er im Jahre 1822 starb, befindet sich im Innern;
ein Engländer hat sich die in Marmor begonnene
Gruppe vollenden lassen, die hier aufgestellte ist
von Ferraris in Bronze gegossen. Ein Marmor-
sarkophag ihr gegenüber umschliesst die Gebeine
des Künstlers, und ausserdem schmücken den
Tempel wertvolle Gemälde, von ihm selbst hier-
her vermacht. Die Priester, welche den Tempel
bedienen, sind für immer durch ihn versorgt,
ebenso ist es eine grosse Erziehungsanstalt, welche
sie leiten. Canovas Geburtshaus ist zu einem
Museum eingerichtet, wo alle seine Werke, teils
in Ton, teils in Gyps kopiert, aufgestellt sind
mit einigen wenigen Originalen in Marmor. Die
ausserordentliche Produktivität, die sich hier in
ihrer Fülle zeigt, setzt in Erstaunen, aber es fällt
auf, wie einförmig und konventionell er in
seinen Typen gewesen ist. Es fehlt die spontane
Eingebung durch die göttliche Mannigfaltigkeit
des Lebens, wie bei den Griechen. Eine Jugend-
arbeit, Dädalus und Jcarus darstellend, macht
hiervon eine Ausnahme und zeigt eine weit grössere
Natürlichkeit, als die übrigen Sachen. Es brachte
mich dies auf den Gedanken, dass Rom auch viel-
leicht für diesen Hochbegabten die Gefahr gehabt
— 214 —
hätte, die es noch heutzutage für viele Künstler
hat, nämlich, sich durch das Vorbild der Antike
zu sehr beeinflussen und sich die spontane Natür-
Hchkeit des Bildens rauben zu lassen, da doch
die Antike in ihrer Eigentümlichkeit nie mehr
von modernen Menschen erreicht werden kann,
so wie niemand mehr eine Iliade, einen Prome-
theus oder eine Antigone wird schreiben können.
Dessenungeachtet muss man ihn unter die
grössten Künstler moderner Zeiten stellen und
muss ihn als Menschen dafür ehren, dass er
sein grosses, selbsterworbenes Vermögen dem
kleinen Heimatsorte liess, dessen Abgelegenheit
kaum seinem irdischen Ruhme mehr dienen
konnte, weshalb es also reinaus ein Akt der
Liebe gegen den heimischen Fleck Erde war,
Ein anderer Ausflug führte mich von Crespano
nach dem am Abhang eines Hügels gelegenen
Städtchen Asolo, jetzt ein kleiner verarmter
Provinzialort, einst der Sitz eines geistvollen
literarischen Lebens, als Katharina Cornaro,
nachdem sie Königin von Cypern gewesen, hier
Hof hielt. Von dem Söller ihres Schlosses sah
sie über die reiche venezianische Ebene hinweg,
nach der stolzen Vaterstadt hinüber, der Königin
der Meere, die damals noch in voller Machtfülle
prangte. Der Blick überschaut von hier fünf
Provinzen mit ihren Hauptstädten, Vicenza, Padua,
Venedig, Treviso, Belluno. Flüsse, wie die
Brenta, die Piave und andere, eilen mit ihren
Nebenflüssen, gleich blitzenden Silberstreifen, durch
die Ebene der schönen Adria zu. Von Norden
— 215 —
schauen die venezianischen Alpen mit ihren
grünen Vorbergen herüber und sdles das prangt
im Glanz der Sonne und der wunderbaren Farben-
töne, die hier so manches Künstlerauge be-
geisterten. Aber neben diesem Glanz der Natur,
der ewig bleibt, welch ein Bild des Verfalls
irdischer Grösse bietet dieser Ort! Die stolze
Lagunenstadt ist machtlos und verarmt, die
prachtvollen Paläste sind zum Teil verfallen ;
Katharina Cornaros Schloss in Asolo ist fast
verschwunden; in dem kleinen noch erhaltenen
Teil befindet sich die sogenannte Sala del
consiglio, in welchem jetzt ein erbärmliches
Provinzialtheater aufgeschlagen ist. Der Impre-
sario, die komische Figur, stand gerade davor,
als ich in den Saal trat und erwartete mit angst-
vollem Blick den Verkauf der Billette, um im
voraus die Einnahme des Abends zu berechnen.
Ich fragte meinen Führer, ob sich nicht ein be-
glaubigtes Bild der Königin vorfände. Er be-
jahte es und führte mich in ein Privathaus, wo
eine junge blonde Witwe, eine wahre Bella di
Tiziano, mich sehr artig empfing und mir ein
Zimmer aufschloss, in welchem ein Bild die
Katharina, etwas korpulent und nicht gerade
schön, darstellt. Die blonde Bella versicherte,
es sei nach dem Leben gemalt, von wem wusste
sie nicht. Jedenfalls war sie aber schöner als
die Königin, doch als ich sagte, wie schön ihr
Städtchen sei, sagte sie mit dem Ausdruck tiefer
Bitterkeit: »Die Lage — ja, aber hier leben zu
müssen ist schrecklich.« Und wen sollte es auch
— 2l6 —
nicht betrüben, solche Stätten zu sehen, wo einst
die Kultur ihre schönsten Blüten trieb, und wo
nun ein armseliges Leben sich kümmerlich fristet
und nicht einmal mehr die Gaben der reichen
Natur durch sorgfaltige Pflege auszubeuten weiss.
Crespano wurde mir doch zu heiss zu längerem
Aufenthalt und ich beschloss in die Tyroler
Alpen hinaufzugehen, in die Dolomiten weit, von
deren Wundern ich schon so viel gehört hatte.
Im leichten kleinen Wagen, wie es dort noch
üblich war, begab ich mich mit meiner treuen
Jungfer auf die etwas ermüdende Reise, die aber
reichlich durch das mannigfaltig Schöne, was
sie zu sehen bot, für die Ermüdung entschädigte.
Zunächst erfreute mich das alte Feltre, eine
reizende kleine Stadt im Piavetal. Freilich ist
sie jetzt verödet, die schönen Häuser im vene-
zianischen Styl haben meist die Fenster mit
Brettern vernagelt, die Fresken, mit denen sie
bemalt waren, sind halb verwischt und der ärm-
liche Betrieb des modernen Lebens passt nicht
zu der künstlerischen Vornehmheit der alten
Stadt, welche einst, durch grossen Handel blühend,
als der Sitz alter Geschlechter, berühmter Ge-
lehrten und hoher Bildung ausgezeichnet war. Der
Hauptplatz ist von monumentaler Schönheit. Es
befinden sich da : das Theater, dessen Unterbau
von Palladio, andere Gebäude, die alte, hoch
gelegene Kirche S. Rocco, darunter ein präch-
tiger Brunnen, darüber die Felsen und Berge,
welche überall malerisch in die Bilder der
Stadt hinein ragen, eine Säule mit dem Löwen
— 217 —
von S. Marco, der an die Zeit der venezianischen
Herrschaft mahnt, und endlich zwei moderne
Statuen, 1868 der Erinnerung an zwei ausge-
zeichnete Feitresen gewidmet und zwar nicht
etwa tapfern Heerführern, deren es auch viele
gehabt, sondern Männern des Friedens, welche
auf geistigem Gebiet, weit über ihre Zeit hinaus,
ein mildes Licht verbreitet haben. Es waren
dies Vittorino di Rambaldoni und Pamphilo
Castaldi. In der malerischen Tracht ihrer Zeit
stehen sich die beiden hier gegenüber und das
Postament des ersteren trägt die Inschrift:
Feltre hat in seinem Vittorino
Aus der Familie der Rambaldoni
Italien das Vorbild eines, der weise lehrt.
Und der Wiedergeburt der Kultur in der Welt
Einen Fürsten der Erzieher gegeben.
Auf dem Postament des zweiten steht:
An Pamphilo Castaldi,
Den grossmütigen Entdecker
der beweglichen Buchstaben,
den Tribut der Ehrfurcht,
den verspäteten,
bringt Italien dar.
Diese beiden waren es in der Tat wert,
dass ihr Andenken aus den Nebeln der Ver-
gangenheit hervorgezogen wurde. Vittorino war
1378 in Feltre geboren. Er stammte aus dem
alten berühmten Geschlecht der Rambaldoni und
zeigte von Kindheit an eine solche Liebe zu
den Studien, dass man ihn nach Padua zur Uni-
— 2l8 —
versität schickte. Er studierte Griechisch, Latein,.
Philosophie, Theologie unter den berühmten
Lehrern dort, aber seine grösste Sehnsucht war,
die Mathematik zu lernen, doch der Lehrer der-
selben, Velakano, gab seinen Unterricht nur um
vieles Geld, und die geringen Mittel Vittorinos
reichten dafür nicht hin. Seine wissbegierige
Seele Hess sich aber dadurch nicht abschrecken,
er verdingte sich als Diener bei dem auf
sein Wissen eifersüchtigen Gelehrten, und be-
mächtigte sich so vollkommen der Wissenschaft,
dass sich sein Ruf trotz seiner Jugend bald ver-
breitete und einer seiner Lehrer ihm den eigenen
Sohn zu unterrichten gab. Es gab kein Opfer,
keine Mühe, die er scheute, um sein Wissen zu
vermehren, das er nachher grossmütig ohne
Bezahlung seinen Schülern mitteilte. Sein Ziel
war Religion, Tugend und Wissen harmonisch
zu verschmelzen, weil nur so wahre Bildung zu
erreichen sei. Sein Ruhm als Erzieher verbrei-
tete sich bald so, dass Gianfransco Gonzaga,
Herr von Mantua, sich an ihn wendete und ihn
mit dem Anerbieten reichen Lohns bitten Hess,
die Erziehung seiner Söhne zu übernehmen.
Vittorino zweifelte, ob so viel Reichtum mit
der Tugend verträglich sei, und ging selbst zu
Gonzaga nach Mantua, um dessen Gesinnungen
zu prüfen. Er sagte ihm, dass er bisher ent-
schlossen gewesen sei, den Reichtum und fürst-
liche Wohnungen, welche er für Stätten des
Ehrgeizes und verderblicher Gewohnheiten halte,
zu fliehen. »Doch«, fuhr er fort, »da man mir
— 219 —
von dir ein schönes Lob gesagt hat, und dass
du denkst wie ich, so komme ich auf deine
Einladung und werde gerne bleiben, wenn du
von mir nur Dinge verlangst, die deiner und
meiner würdig sind, und wenn deine Tugend sich
bewährt und deine Sitten lobenswert bleiben.«
Der Fürst versprach freundlich alles, was
Vittorino wünschte und erwähnte dann des reichen
Lohnes, den er ihm zugedacht. Darauf sagte
Vittorino: »Es scheint mir seltsam, über das
noch zu verhandeln, was ich immer verachtet
habe. Hätte ich solche Wünsche, so würde deine
Freigebigkeit sie gewiss befriedigen. Aber du
kannst mir doch nichts Kostbareres geben, als
deine Söhne, nochi kann ich etwas Wünschens-
werteres erlangen, da ich gekommen bin, um die
Tugend zu lehren, und nicht um Geld zu er-
halten«.
Und dieser Bedürfnislosigkeit des Lebens
und der edeln Einfachheit der Sitten blieb er
treu, war aber dabei immer bereit, die Not
anderer zu lindern und liebevoll Hülfe zu bringen
mit Rat und Tat. Die Erziehungsanstalt,
»Giocosa« benannt, die er bei Mantua gründete,
erlangte bald solchen Ruf, dass nicht nur die
Jugend aus ganz Italien, sondern auch aus Frank-
reich, Deutschland, ja Griechenland, herbeieilte,
um hier in jeder edlen Wissenschaft, in ritter-
licher Tugend und körperlicher Geschicklichkeit
unterrichtet zu werden, vor allem aber durch
das Beispiel des geliebten Lehrers sich zur
Festigkeit des Charakters in Tugend und Sitte
— 220 —
auszubilden. Aber nicht nur den Söhnen vor-
nehmer Geschlechter wandte Vittorino die Wohl-
tat solcher Erziehung zu ; wo er bei armen jungen
Leuten schöne Anlagen fand, nahm er sie auf,
gab ihnen Unterricht, Kost und Kleidung um-
sonst, und sorgte oft auch noch für die Familien,
damit die Armut die jungen Leute nicht hindere,
die Schule zu besuchen. Vittorino hätte Bände
über Philosophie, über griechische und lateini-
sche Literatur schreiben können, aber er zog
es vor, persönlich auf seine Schüler zu wirken
und anstatt sich Reichtümer zu sammeln mit
den freigebigen Spenden seiner reichen Schüler,
gab er alles hin, um den Armen zu helfen und
starb selbst völlig arm. Seine Ideen * über Er-
ziehung waren seiner Zeit weit voraus geeilt und
bleiben in nichts hinter den Ideen berühmter
moderner Pädagogen, wie Pestalozzi u. a., zurück.
Grenzenlos war aber auch die verehrende Liebe
seiner Schüler für ihn. Einer der edelsten unter
ihnen, Federigo di Montefeltro, hatte das Bildnis
Vittorinos in seinem Zimmer an hervorragender
Stelle angebracht, mit der Unterschrift: »Seinem
heiligen Lehrer Vittorino von Feltre, welcher
ihm durch Unterricht und Beispiel menschliche
Würde lehrte, widmete dies Federigo.«
Erinnert die Gestalt dieses herrlichen Mannes
nicht an eine andere, auch herrliche des damals
an hervorragenden Menschen so reichen Italiens,
an Francesco d'Assisi? Nur dass Vittorino noch
höher steht, indem er seine Schüler befähigte,
Tugend und höchste Bildung zu vereinen, mitten
— 221 —
im Gewühl des Lebens, menschliche Würde zu
behaupten und kommende Generationen daran
zu mahnen, dass die Grösse eines Volkes nicht
in seiner äusseren Macht und politischen Be-
deutung, sondern in der Tugend und Bildung
seiner Bürger bestehe.
Der ihm jetzt auf dem Hauptplatz Feltres
in Marmor gegenüberstehende andere Feltrese,
Pamphilo Castaldi, wurde gleichfalls aus einem
alten edeln Geschlecht am Ende des 14. Jahr-
hunderts geboren. Seine Jugend fiel in die Zeit,
wo die Vaterstadt reich war an ausgezeichneten
Menschen und wo Vittorino die Liebe zur
Tugend und Erkenntnis durch Wort und Bei-
spiel lehrte. Es war eine Zeit, wo das Wissen
Hand in Hand ging mit dem sittlichen Leben,
und wo diese Vereinigung das hervorbrachte,
was allein Bildung zu heissen verdient. Pam-
philo gab sich besonders dem Studium der
schönen Wissenschaften hin und eröffnete in der
damals so blühenden Heimat eine ruhmvolle
Schule der Literatur und Wissenschaft, wo er
unentgeltlich Weisheit lehrte und, neben dem
Studium der alten Sprachen, besonders auch zu
dem der italienischen Muttersprache Anleitung
gab, die, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters,
so beinahe plötzlich aus dem Genius Dantes ent-
sprungen war. Er gehörte zu den Ersten in
Italien, welche sich dieses Studium angelegen
sein Hessen und gerade dies zog auch aus der
Fremde eine Menge Schüler herbei, welche die
Sprache erlernen wollten. Unter den Deutschen,
22:2
die deshalb kamen, soll Johannes Fust oder Faust
gewesen sein, der in Handelsgeschäften nach
Venedig gekommen und, vom Rufe des Castaldi
gelockt, nach Feltre gegangen sei, wo er sich
einige Zeit in dem Hause desselben aufgehalten
und daselbst den Gebrauch beweglicher Buch-
staben kennen gelernt habe, welche Erfindung
Castaldis er nachher sich zugeschrieben habe.
Das interessante Feltre hat, wie alle Städte
und Orte des Friuli, Veneto und Cadore, eine
vielbewegte, kriegerische, zum Teil sehr blutige
Geschichte. Sie alle mussten dafür büssen, dass
sie sich dem Geschick der herrlichen Königin
der Meere verbunden hatten. Nachdem sie alle,
aus früheren Stürmen, unter das Banner der
mächtigen Republik geflüchtet waren, die ihnen
treu Versprechen hielt, Schutz gewährte und die
lokale Unabhängigkeit nicht antastete, kam die
unselige Liga von Cambray und die deutschen
Heere eroberten, verwüsteten und brandschatzten
die blühenden Städte, um ihrer Treue gegen
Venedig willen. Feltre aber verdankte seinen
schliesslichen völligen Ruin, ein zweites Troja,
auch einer Helena. Wolfgang Hibemer war als
Befehlshaber der deutschen Truppen dort zurück-
geblieben und überliess sich im Gefühl seiner
Macht jeder Zügellosigkeit und Tyrannei, Helena,
die Gattin eines vornehmen Feitresen, Del Lusa.
eine durch edle Sitte und weibliche Reize aus-
gezeichnete Frau, erweckte seine Leidenschaft,
«r liess sie entführen und in seinen Palast bringen.
— 223 —
Die Feitresen dürsteten nach Rache, öffneten
dem venezianischen Heerführer Mocenigo eins
der Tore, die deutsche Besatzung wurde über-
fallen, Del Lusa Hess dem Wolfgang die Augen
ausstechen und den Soldaten, welche bei der
Entführung geholfen hatten, die rechte Hand
abhauen. Der Kaiser Maximilian, sobald er dies
hörte, schickte wutentbrannt den General Georg
Lichtenstein mit einem Heer von 12000 Mann,
um Feltre von Grund aus zu zerstören, welchen
Befehl Lichtenstein mit unerhörter Grausamkeit
vollführte, so dass die seit 600 Jahren blühende,
reich geschmückte Stadt nur noch ein rauchen-
der, blutiger Trümmerhaufen war. Aufs neue
entbrannten verzweifelte Kämpfe und von Seiten
der Feitresen geschahen so denkwürdige Taten
des Heldenmuts, der Vaterlandsliebe, der Opfer-
freudigkeit, dass sie wohl verdienten, einen
Sänger zu finden, der ihnen, wie den Taten
vor Troja, unsterblichen Ruhm verliehe.
Der Zug der cadorischen Alpen, die man
auf dem Wege von Feltre nach Belluno be-
ständig vor Augen hat, entzückte mich. Es ist
gewiss einer der schönsten Gebirgszüge, die man
:sehen kann. Wild zerklüftete, kühn erhabene
Formen, mit allem Farbenreiz des Südens ge-
schmückt, so dass sie nicht finster drohend und
vernichtend auf uns niederschauen wie die Alpen
der Schweiz, Als die Abendsonne auf den
Zacken und Spitzen der Dolomitenriesen spielte,
^sahen sie aus wie lauter goldene und silberne
•Götterburgen, wie eine hunderttorige Walhall,
— 224
und in den Wolken, die phantastisch gefärbt um
ihre Gipfel flogen, erschaute ich siegesfrohe Wal-
küren, die auf schnellen Rossen daher gestürmt
kamen, die Leichen erschlagener Helden hin-
führend zu frohem Aufleben, bei Wotans Götter-
mahl.
Als ich endlich in das engere Piavetal ein-
fuhr, wo die Strasse aufwärts zu steigen beginnt,
strömte mir der Duft der Tannenwälder ent-
gegen, welche diese Gegend beinah zu einem
Kurort machen, so wohltuend ist derselbe. Auch
war wohl vorzüglich deshalb die damals noch
sehr junge Königin von Italien gerade zwei
Tage vor mir hier eingezogen, um einige Wochen
in einem der unteren Orte des Tales, wo der
Geruch am stärksten ist, zuzubringen. Ich fuhr
noch unter all den Triumphbogen, mit Tannen-
zweigen und aus weissem Papier verfertigten
Margheritenblumen geschmückt, dahin, und wurde
Zeuge der herzlichen Freude, welche das brave
Bergvolk über diesen ersten Besuch der allgemein
geliebten Fürstin empfand. Als ich höher hinauf
kam, wo beim Dorfe Tai die grosse strada
alemanna, die nach Tyrol führt, sich abzweigt,
während rechts die Strasse zu den Orten des
Cadore führt, konnte ich mir sogar die Ehre der
Triumphbogen zurechnen, denn die Königin
sollte erst am Nachmittag des Tages hinauf
kommen. Es rührte mich tief, den Schmuck an
den hölzernen Häuschen der Bauern zu sehen,
der meistenteils aus weissen Betttüchern, Bändern
von buntem und Margheritenblumen von weissem
— 225 —
Papier, welches alles aus den Fenstern hing, be-
stand. Jedes arme Häuschen hatte sich heraus-
geputzt für das noch nie dagewesene Fest. Pieve
endlich, wo die Königin heute empfangen werden
sollte, prangte, ebenfalls geschmückt, im Glänze
der Sonne, welche die es umgebenden Dolomiten-
häupter vergoldete; aus den Tannen- und Lärchen-
wäldern ringsum strömte stärkender Wohlgeruch
durch die Lüfte. Der kleine GasthoP) war voll-
gestopft von Menschen, welche das grosse Er-
eignis mit erleben wollten; auf dem Platz vor
dem Stadthaus drängte sich die ländliche Be-
völkerung der umliegenden Orte; die Musik-
bande Pieves hatte es zu stände gebracht, unter
der Leitung eines Musikers, den man eigens von
Belluno hatte kommen lassen, die Nationalhymne
ziemlich richtig zu blasen, und nun stand sie
den grossen Augenblick erwartend; die Schul-
kinder marschierten auf unter Führung des Lehrers
und der Lehrerin; die Glocken fingen an zu
läuten und Böllerschüsse ertönten um anzuzeigen,
dass der königliche Wagen in Sicht sei. Die
Musiker fingen an zu blasen, zwei Gendarmen
zu Pferd kamen angesprengt, hinter ihnen der
Vorreiter der Königin in feuerroter Livree, dann
der vierspännige offene Wagen, und in ihm die
anmutige blonde Frau mit ihrem noch jungen
Sohn, mit Hofdame und Kavalier. Freudenrufe
mischten sich mit Musik und Glockenläuten, der
Syndikus und die Notabelen des Ortes in
^) Damals noch der einzige, heutzutage nicht mehr, leider 1
Meyienbug IV. 15
— 226 —
schwarzem Frack und weisser Krawatte begrüssten
den hohen Gast, ein kleines Kind überreichte
Blumen und wurde von der Landesmutter ge-
küsst. Darauf eilte sie die Freitreppe vor dem
Stadthaus hinauf, lächelte von oben dem jubeln-
den Landvolk zu und verschwand dann mit
dem Gefolge im Innern des Hauses. Während
sie dort verweilte bliesen die Musiker und
schrieen die Bauern fortwährend Eviva. Aber
alles das war nur Herzlichkeit und Naivetät,
kein konventionelles Empfangsfest, wie es sonst
den Grossen der Erde bereitet wird, Wobei
sie nie die wahre Gesinnung des Volks erfahren.
Die guten Cadoriner sahen zum ersten mal ein
gekröntes Haupt in ihrer Mitte, und sie begrüssten
die holde freundliche Frau wie ein liebes Fa-
milienmitglied. Während der fünf Wochen, in
denen sie in Cadore verweilte, sprach das
Landvolk von nichts anderem und man hörte
die komischesten Äusserungen in dem naiven
Dialekt der Berge, der sie noch anmutiger
machte. So sagte mir eine Bäuerin mit ernster
Überzeugung: La e molto ben educä (sie ist
sehr gut erzogen) e molto puUit (heisst in dem
Dialekt: gut). Eine andere sagte: La mi par
una sorela (sie scheint mir eine Schwester) und
eine dritte erzählte: La ga raccomandä al puteto
de studior, de deverita un uomo di sesto e la
ga da un bacio. (Sie empfahl dem Knaben zu
studieren, ein tüchtiger Mann zu werden, und gab
ihm einen Kuss.) Man nannte sie auch la bela
siora und versprach den Kindern, sie sollten sie
— 227 —
sehen wenn sie artig sein wollten. Von Berg
zu Berg riefen die Knaben, welche die Herden
hüteten, sich den Namen Margherita zu; die
Plätze, wo sie geweilt hatte, wurden nach ihr
benannt, so hiess ein Kirschbaum, unter dem
sie gefrühstückt hatte: el cereser dela nostra
Margherita,
Aber nicht bloss beim Landvolk, auch in den
andern Ständen war die Begeisterung für dies all-
gemein und es war sicher, dass, so wie die
Cadoriner einst für die Republik Venedig in
treuer Bundesgenossenschaft zu jedem Opfer und
jeder Heldentat bereit gewesen waren — gälte
es heute für Margarethe von Savoyen, Blut und
Leben einzusetzen, keiner zurückbleiben würde.
Der sehr kleine Ort Pieve, welcher nicht der
grösste, wohl aber der Hauptort des Cadore
ist, hat sein Zentrum auf der Piazza, wo alles
Bedeutende des dortigen Lebens sich abspielt. Auf
derselben steht neben dem Stadthaus ein alter
fester Turm, dessen Glocke einst die Bürger
zu patriotischen Beratungen zusammenrief. An
seiner Basis ist ein Marmorrelief, welches Calvi, den
Cadoriner darstellt, der an der Spitze der mutigen
Bergbewohner im Jahre 1848 den Aufstand
gegen die Östreicher befehligte, und als die
Tapfern überwältigt waren, gefangen genommen
und inMantua, wie so viele andere edle italienische
Patrioten, erschossen wurde. Inmitten des Platzes
steht das moderne bronzene Standbild Tizians,
der in Pieve geboren wurde. So bezeichnen
diese zwei Monumente, des Patrioten und des
15*
— 228 —
Künstlers, die ckarakteristischen Züge des Ca-
doriner Volkscharakters; grosse Intelligenz und
künstlerische Begabung, Patriotismus und Opfer-
mut. Diese Eigenschaften machten von jeher
die Bezeichnung »ein Mann von Cadore« zu
einem Ehrentitel, und in einer langen sturmbe-
wegten Geschichte haben die Cadoriner ihn
bewährt.
Man streitet noch über die Abstammung der
Urbevölkerung, unnützerweise, wie mir scheint,
denn es ist offenbar, dass hier Klima und Boden
sich ihre Bewohner gebildet haben, mögen sie
hergekommen sein, woher sie wollen. Zwischen
den herrlichen Dolomitriesen, die nicht beengen
und erdrücken, deren sanfte Vorberge mit herr-
lichem Grün bekleidet sind, in den schönen
Bergtälem, welche friedliche Feldarbeit zulassen,
unter einem Himmel, der immer noch südlichen
Farbenreiz hat, da wurden diese Menschen frei,
gut, genügsam, intelligent und stolz auf ihre
Unabhängigkeit. Sie hatten von jeher schwer
darum zu kämpfen. Schon die Römer zogen
dieses Wegs, die Ausgrabungen einer Menge
Gräber, offenbar von Soldaten der Legionen,
lässt darüber keinen Zweifel. Dann kam der
Strom der Völkerwanderung hier herunter. Im
elften Jahrhundert waren Grafen von Camino
Herren in Cadore. Einer von ihnen, Gherardo,
der ebenso gross als gut war, kommt bei Dante
vor, welcher in seinem Exil auch in diese
Gegenden kam. Ihre Herrschaft endete 1335,
als die Cadoriner ihre erste Schlacht gegen die
— 229 —
andringenden Deutschen fochten und ihre Berg-
pässe siegreich verteidigten. Dann kamen sie
eine Zeit lang unter die Patriarchen von Aquileja,
und zu der Zeit begegnet man schon dem
Namen der Familie Vecellio, der bereits einen
guten Klang in Cadore hatte. Im 15. Jahr-
hundert erlosch die Macht der Patriarchen und
es kam nun darauf an, wem man sich anschliessen
wolle, dem deutschen Kaiser, den Visconti von
Mailand oder der Republik von Venedig. In
Pieve, als dem Hauptort, versammelten sich die
Gemeinden zur Beratung, kamen aber lange zu
keinem Entschluss. Da rief endlich einer:
»Wir sind Christen, lasst uns den um Rat an-
flehen, der die Quelle des Lichts ist, er wird
uns zeigen, was wir tun sollen, c Das wurde
angenommen und man zog alsbald in Prozession
nach dem Dorfe Valle, wo sich eine Kapelle
zum heiligen Geist befindet. Da knieten alle
im Gebete nieder, hörten die Messe und kehrten
in die Beratungshalle nach Pieve zurück. Hier
erhob sich ein Ruf: »Gehen wir zu den guten
Venezianern.« Das auf der Piazza versammelte
Volk rief mit Begeisterung: »Ja, ja, gehen wir
zu den guten Venezianern.« Es wurden
Abgesandte nach Venedig geschickt und Cadore
schwur der Republik Treue, welche dagegen
Schutz, allerlei Privilegien und eine Mannschaft
zur Verteidigung in das feste Schloss von Pieve
gab. Dies geschah im Jahre 1420 und so
wurde Tizian also schon als Venezianer ge-
boren.
— 230 —
Zur Zeit seiner Geburt war Cadore in grosser
Blüte, Kunst und Wissenschaft hatten ihren
Sitz dort aufgeschlagen. Von 13CX) an gab es
in Pieve hohe Schulen für klassische Studien
und Philosophie. Venedig brachte grosse Opfer,
um dieselben auszustatten, und berief die besten
Lehrer aus allen Teilen Italiens dahin, damit
die Cadoriner Jugend nicht so früh die Heimat
zu verlassen brauche, sondern die Elemente der
Bildung dort zwischen ihren Bergen fände.
Schon zu jener Zeit finden sich die Namen be-
deutender Familien, welche dem Vaterland aus-
gezeichnete Männer in Wissenschaft und Kunst
und heldenmütige Verteidiger gaben. Aber
leider wurde das herrliche Land fortwährend
durch Invasionen von Norden her beunruhigt
und Tizians Kindheit muss Eindrücke wilder
aufregender Art gehabt haben. Der Anfang des
16. Jahrhunderts muss besonders traurig für
Cadore gewesen sein. Im Jahre 1508 verlangte
Kaiser Maximilian von der Republik Venedig
den Durchzug nach Rom, wo er sich krönen
lassen wollte. Venedig verweigerte denselben
für eine bewaffnete Armee. Der Kaiser, wütend
darüber, schickte ein Heer von Tyrol hinunter
mit dem Auftrag, Tod und Verwüstung zu
bringen. Es kam zur Schlacht, und die tapferen
Cadoriner erfochten einen vollständigen Sieg.
Dies war die Schlacht von Cadore, welche
Tizian das Motiv zu einem Schlachtenbild gab,
das sich im Dogenpalast zu Venedig befand, ein
Jahr nach Tizians Tod aber durch Feuer zer-
— 231 —
stört wurde, welches seltsam traurige Sehicksal
so viele von des grossen Künstlers Werken ge-
habt haben. Leider erfreute sich Cadore nicht
lange seines Sieges, denn nach der Liga von
Cambray gegen Venedig schnitt Maximilian
Cadore von der Republik ab. Die Männer der
Berge erhoben sich wieder heldenmütig und
ein wackerer Bürger, Costantini, gab sein ganzes
Vermögen, um den Widerstand möglich zu
machen. Aber der Kaiser schickte immer neue
Truppen und 15 ii wurde ganz Cadore durch
Feuer und Mord zerstört, die kleinen Orte wurden
verwüstet, alles Wertvolle teils vernichtet, teils
weggeschleppt, auch Pieve wurde schwer heim-
gesucht und sein festes Schloss wurde nieder-
gerissen. Als sie ihr Zerstörungswerk vollendet
hatten, zogen sich die Deutschen zurück und
die armen Familien der Bergbewohner kamen
aus ihren unzugänglichen Zufluchtsstätten in den
Wäldern, zwischen den höchsten Felsen, zurück
zu ihren in Schutt und Asche liegenden Wohn-
stätten. Die mutigen Bürger von Pieve machten
sich alsbald an den Wiederaufbau des Schlosses,
und als endlich 15 16 Friede geschlossen wurde,
erstand Pieve rasch wieder und 15 18 wurde
das Stadthaus mit dem mächtigen Glockenturm
vollendet.
Während dieser ganzen Zeit wird der Familie
Vecellio immer ehrenvoll gedacht. Der ältere
Bruder Tizians, Francesco, soll ebenfalls grosses
Talent besessen haben, machte aber zunächst
tapfer die Kriege Venedigs gegen die Liga mit,
— 232 —
malte dann eine Zeit lang, kam aber nach Pieve
zurück, übernahm die Geschäfte der Familie,
war der Erste im Rat von Cadore, ging oft in
Regierungsgeschäften nach Venedig und starb,
85 Jahre alt, in Pieve. Der Bruder hat seinen
edlen alten Kopf auf einem Familienbild in der
Kirche zu Pieve verewigt. Eine ganze Reihe
von Künstlern ging aus der Familie hervor, der
bedeutendste Mann derselben aber war, ausser
Tizian selbst, ein Vetter, welcher nicht Künstler,
sondern Rechtsgelehrter und ein hoch angesehener
Mann in Cadore war, sich auch im Kriege aus-
zeichnete, wonach ihn der Doge adeln wollte, was er
aber als demokratischer Cadoriner ablehnte, und
sich viel lieber »den Redner c nennen liess, wie
man ihn seiner glänzenden Rednergabe wegen
nannte. Dazu war er auch Dichter und es
existieren unter andern Sachen 3 Epigramme
von ihm auf den Tod der schönen Irene Spielem-
berg, welche Tizian gemalt hat. Cadores grösster
Sohn, Tizian selbst, 1477 geboren, wurde schon
in seinem elften Jahr nach Venedig gebracht,
um seine früh hervorgetretene Begabung zur
Kunst auszubilden. Als er gross, berühmt und
ein Fürst der Kunst geworden war, lebte er in
Venedig in der sogenannten casa grande, einem
Hause der Insel Murano gegenüber, mit der
Aussicht :auf die Lagunen und in der Feme
auf seine cadorischen Berge und in der Mitte
eines Gartens gelegen, den er mit Liebe schmückte
und unterhielt. Hier gebar ihm sein Weib
Cäcilia zwei Söhne, Pomponio und Orazio, und
— 233 —
eine Tochter Lavinia. Im Jahre 1530 starb
seine Frau und er ging in grossem Schmerz mit
seinen Waisen hinauf in die Heimat zu den
Seinen. Noch lebten sein Vater, sein Bruder
Francesco und die Schwester Orsola.
Diese, als sie des Bruders Schmerz sah, er-
bot sich, mit ihm zu gehen und die Sorge für
das Haus und die Kinder zu übernehmen. Sie
war ein vorzügliches Wesen und es gereichte
dem Bruder zu grossem Trost. Es war keine
kleine Aufgabe, seinem Haushalt vorzustehen,
denn ausser den häuslichen Angelegenheiten der
Familie, war es auch das gesellige Leben der
casa grande, welches die grössten Anforderungen
machte. Freunde, Gäste und Besucher aus allen
Ständen kamen von nah und fern, den grossen
Meister zu sehen und wurden mit edelster Gast-
freundschaft bewirtet. Der Brief eines römischen
Literaten gibt einen Begriff von den Vereinigungen,
wie sie dort üblich waren:
»Ich wurde am i. August eingeladen, die Art
von bacchantischem Fest, das, ich weiss nicht
warum, ferare Agosto genannt wird, in einem
herrlichen Garten des Meisters Tizian Vecellio
mitzufeiern, eines vortrefflichen Malers, wie jeder-
mann weiss, und eines Mannes, dessen freund-
liche Höflichkeit wohl dazu dient, jedes Ver-
gnügen zu erhöhen. Nun fanden sich bei dem
besagten Meister Tizian, weil Gleiches mit
Gleichem sich anzieht, einige der seltensten
Geister vereint, welche sich in dieser Stadt,
gleichwie in unserem Rom, befinden. Da war Herr
— 234 —
Pietro Aretino, der schreibt wie ein neues Wunder
der Natur, ferner Meister Jacopo Tatti, genannt
Sansovino, ein beinah eben so grosser Nachahmer
der Natur mit dem Meissel, wie der Festgeber
mit dem Pinsel. Auch Herr Jacopo Nardi war
da, und ich als der Vierte zwischen so viel
Weisheit. «
»Ehe man die Tische hinaus setzte, womit
man etwas zögerte, da man im Garten, obwohl
es schon schattig war, doch die Sonnenwärme
noch fühlte, verging die Zeit mit Besichtigung
der lebensähnlichen Gestalten auf den herrlichen
Bildern, von denen das Haus voll ist, und in
Bewunderung der grossen Schönheit des Gartens,
welcher eine Freude und ein Wunder für jeder-
mann ist. Er liegt am äussersten Ende der Stadt
Venedig, am Meer und man sieht von da die
hübsche Insel Murano und andere schöne Orte.
Sobald die Sonne untergegangen war, füllte sich
das Wasser in der Nähe des Gartens mit Tau-
senden von Gondeln, in denen schöne Frauen sassen ;
Harmonien ertönten, Musik durch Stimmen und
Instrumente, welche bis Mitternacht unser köst-
liches Abendessen begleiteten. Der Garten ist so
schön, so gut unterhalten, so berühmt, dass er
mir die lieblichen Gärten von St. Agatha in Er-
innerung brachte, und mir solche Sehnsucht
danach und nach den teuren Freunden erregte,
dass ich die längste Zeit des Abends nicht
wusste, ob ich in Rom oder Venedig sei. Das
Abendessen war ebenso gut und schön ange-
ordnet, wie reichlich. Neben den trefflichen
— 235 —
Speisen und kostbaren Weinen genossen wir noch
alle die Freuden und Erheiterungen, welche zu
der Jahreszeit, zu den Gästen und dem Feste
passten. Als wir bei Tisch bis zu den Früchten
gekommen waren, kam gerade dein Brief, in
dem man die lateinische Sprache lobte und die
toskanische tadelte. Darüber wurde Aretino so
ärgerlich, dass, hätte man ihn nicht zurück-
gehalten, er eine der schlimmsten Schmähschriften
verfasst haben würde, denn er schrie wütend
nach Papier und Tinte, und unterliess nicht,
einen Teil seiner Entrüstung in Worten zu
äussern. Doch endete schliesslich das Abendessen
sehr gut.«
Die ausserordentlichen Erfolge dieses Maler-
fürsten, der Glanz, der die Casa grande umgab,
in welcher Könige, Fürsten, Kardinäle u. a. hul-
digend einkehrten und fürstlich bewirtet wurden,
die Ehren aller Art, die man dem Genius und
der edlen Persönlichkeit zuteil werden Hess,
riefen natürlich Neid und Verleumdung hervor,
welche die Rache niedriger Seelen an dem Hohen
sind. Auf alle Weise bemühte man sich, die
Grestalt des grossen Cadoriners zu verunglimpfen.
Vor allem wollte man aus seiner Beziehung zu
Aretino den Beweis seiner Immoralität herleiten,
aber auch dies spricht nicht gegen ihn, denn es
lag in den Sitten der Zeit, geistreichen Menschen
viel nachzusehen ; dem Aretino wurde von allen
Seiten gehuldigt und die höchsten Personen der
Zeit suchten seinen Umgang. Dagegen hatte aber
auch Tizian andere ausgezeichnete und ihm innig
— 236 —
ergebene Männer zu Freunden, wie Sansovino,
Ariosto, Bernardo Tasso, Bembo u. a. Ariosto
las ihm seinen Orlando furioso vor, um sein Ur-
teil zu hören. Lorenzo Lotto, Paolo Veronese,
Giulio Romano waren ihm teuer. Mit Michel
Angelo, den er in Rom kennen lernte, stand er
in Briefwechsel. Dem Kaiser Karl V. war er
nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch
so wert, dass er ihn zweimal zu sich nach
Deutschland rief und ihm die grössten Ehren
erwies. In Bologna liess er ihn an seiner Seite
reiten, und als ihm die spöttischen Bemerkungen
der vornehmen Höflinge darüber zu lästig wurden,
erhob er ihn in den Grafenstand des heiligen
römischen Reichs.
Nein, sicher war Tizian frei von den hässlichen
Lastern, die man ihm andichten wollte. Eine
hohe Intelligenz, eine sanfte grossmütige Seele,
eine liebenswürdige Natur mit feinen Sitten, ein
Begnadeter im Reiche der Kunst, so war der
Cadoriner, der noch jetzt in seiner herrlichen
Heimat vergöttert wird, wo es kein kleines
Bauernkind gibt, das nicht von Tizian zu er-
zählen wüsste. Und er liebte sie auch, diese
Heimat. Fast jedes Jahr zog er mit vielem
Gefolge hinauf in seine Berge, um sich an der
geheimnisvollen Quelle künstlerischer Ein-
gebungen zu erquicken, an welcher seine kind-
liche Seele schon getrunken hatte. In Zeiten der
Not kam er Cadore oft zu Hülfe und gab
Geld, um Korn zu kaufen. Zwei eigenhändige
Briefe von ihm, die als kostbares Besitztum
— 237 —
dort aufbewahrt werden und mir vom Syndicus
gütig mitgeteilt wurden, geben davon Zeugnis.
In seinen Familienverhältnissen war er nicht
so glücklich, wie als Künstler. Seine Frau, die
er unendlich geliebt zu haben scheint, starb früh,
die treffliche Schwester Orsola starb lange vor
ihm, ebenso der Bruder Francesco. Der grösste
Schmerz für ihn aber war der frühe Tod seiner
schönen Tochter Lavinia, die er über alles liebte.
Auch sein Lieblingssohn Orazio starb lange vor
dem Vater; nur der älteste Sohn, Pomponius,
überlebte ihn, aber er war des Vaters unwürdig,
führte ein zügelloses Leben und Tizian lehnte
die Bischofswürde, welche der Papst dem Pom-
ponius, der Geistlicher war, erteüen wollte, für
ihn als deren unwert, ab. Auch die nächsten
Freunde Tizians starben vor ihm, er überlebte
sie alle und war mit dreiundneunzig Jahren
noch an der Arbeit. Aber die Pest von 1 5 76,
die in Venedig wütete, verlangte auch dieses
grosse Opfer. Er hatte sich nicht früh genug
nach Cadore geflüchtet und starb allein, sogar
von den Dienern, die sich vor der Ansteckung
fürchteten, verlassen. Ein solches Ende nach
einem so glorreichen Leben war allerdings traurig,
aber vielleicht haben den Sterbenden doch Visio-
nen seiner Unsterblichkeit getröstet. Denn ab-
gesehen von seinen Idealbildern und seinen un-
übertreff"lichen Portraits, durch welche er geradezu
die Geschichte eines Jahrhunderts auf der Lein-
wand erzählt, ist er auch als Landschaftsmaler
unsterblich. Man hat ihn den Homer der Land-
— 238 —
Schaft genannt, und er hat wirklich in seinen
Landschaften das Naturepos seines Cadore ge-
schrieben. Sein Anteiao, sein Marmarolo, sein
Pelmo und wie die Dolomitriesen alle heissen,
sie sind seine epischen Helden, die mit phan-
tastischen Wolkengebilden gigantische Kämpfe
bestehen, oder in heiterer olympischer Ruhe,
die goldfunkelnden Häupter in den reinen blauen
Äther erheben. Nur wenn man die wunder-
baren Farben-Luftspiele in jenen Bergen gesehen
hat, kann man Tizians Landschaften recht wür-
digen, wie man ihn überhaupt erst recht liebt,
wenn man seine Heimat kennt!
Die Cadoriner sind arm, ihre Hauptnahrung
besteht in Polenta, ihr Getränk ist Wasser. Sie
haben nur drei Monate, um neun zu versorgen;
ihr einziger Reichtum besteht im Holzhandel.
Aber sie sind genügsam, gut und intelligent,
eifrige Patrioten des engeren und weiteren Vater-
lands und voll Eifer für die materielle und geistige
Wiedergeburt ihrer Heimat. Noch ist bis jetzt
der grosse Strom der modernen Völkerwanderung
nicht nach Pieve gekommen. Möge er ihm noch
lange fern bleiben! Er führt so viele Übel mit
sich, wie man es in der Schweiz z. B. sieht, dass
man förmlich aufatmet in der heiligen Frische
der Cadorer Wälder und Höhen, wo man sich
den Eindrücken der poesieerfüllten Natur noch
hingeben kann, ohne von Haufen von Touristen
umschwärmt zu sein; wo keine durch die »Inglesi«
frech gemachten Bettlerscharen das Mitleid im
Herzen verstummen machen; wo, wenn einmal
— 239 —
ein Kindchen schüchtern die Hand nach einer
Gabe ausstreckt, es sie sogleich fast erschrocken
zurückzieht, als habe es eine Sünde begangen;
wo jeder bereit ist, eine Freundlichkeit zu er-
weisen und es beinah als eine Beleidigung an-
sieht, wenn man ein Trinkgeld dafür geben will.
Nein, mein Cadore, lass diesen Strom des
modernen Lebens an dir vorüber rauschen! Er
ist ein zersetzendes Element, vor dem du dich
hüten musst. Bleibe bei deiner Einfachheit,
deiner Reinheit der Sitten und entwickle nur so
weit die materiellen Bedingungen des Lebens,
um deinen begabten Kindern die Wohltat edler
und besonders künstlerischer Bildung zu gewähren.
Wer weiss, ob dann nicht wieder manche deiner
Hütten Geburtsstätten solcher Grossen werden,
wie das kleine Haus, in welchem Tizian geboren
wurde, und ob die Poesie nicht wieder ihre
Flügel regt wie einst, wo von Berg zu Berg die
Holz fallenden Bauern oder die Hirten sich mit
Strophen aus Tassos »befreitem Jerusalem«
grüssten, fiir welche sie eigentümlich schöne
Melodien erfunden hatten.^)
Oft auf meinen einsamen Spaziergängen
überfiel mich die alte Neigung zur gebundenen
Rede und es schrieb sich dann ins Tagebuch,
das ich immer mit mir führte, so manches
Lied, wie einmal, da mich ein Gewitter überfiel,
als ich auf hochgelegener Strasse daher kam.
^) Leider ist jetzt, nach sechzehn Jahren, der Touristen-
schwarm dort auch schon eingekehrt.
— 240
neben mir den Abgrund, in dem die Piave
rauschte:
Berggeister grollen, finstre Wolken hangen
Tief in den Abgrund, wo der Bergstrom braust,
Und weisse Nebel züngeln sich gleich Schlangen
Hinauf zum Aar, der über Wolken haust.
Der Donner grollt und tausendfältig hallen
Die Echo ihn aus dunklen Klüften nach;
Durch das Grewog des luft'gen Chaos fallen
Blutrote Blitze, schaurig, Schlag auf Schlag.
Ich kenne euch, ihr starken Urgewalten,
Nicht schreckt ihr mehr die stille Seele hier,
Ihr braucht es mir nicht fürder vorzuhalten:
» Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir. «
Ihr seid ja nicht des Zufalls blinde Söhne,
Euch bindet auch ein ewig strenges Muss,
Und das Gesetz beherrscht euch, wie das Schöne
Und wie die Liebe und wie den Genuss.
Seid Ihr es doch, durch die am heit'ren Morgen
Auf grüner Flur die Alpenblume blüht.
Und in der Bäume Schattendach geborgen.
Die Herde still zum Kräutermahle zieht.
Ihr seid's, durch die, in reichgeschmückten Auen,
Gewalt'ge Ströme hin zum Meere gehn.
Durch die sich königliche Städte bauen
Und Wunderwerke hoher Kunst entstehn.
— 241 —
Und wieder ihr, durch die in Liebes wonnen
Der Jüngling sich zu seinem Mädchen neigt;
Ihr, immer ihr, wenn an der Weisheit Bronnen
Der Labetrank dem durst'gen Geist sich reicht.
Ich sollt euch furchten, sollte euch nicht kennen?
Ich glich euch nicht, war nicht mit euch verwandt?
Ich sollte euch nicht liebend Brüder nennen
Erscheint Ihr auch in drohendem Gewand?
Durch euch hab ich gelebt, geliebt, gerungen,
Ihr führtet mich durch dunkler Nächte Pein,
Zum Seelenfrieden und von euch umschlungen
Schlaf ich dereinst zur grossen Ruhe ein.
Und noch eines von diesen Cadoriner Alpen-
kindern möge hier stehen. Es kam mir, als ich
an einem ganz toll sprudelnden und springenden
Alpenbächlein, welches von steiler Höhe sich den
Weg in die grünen Talgründe bahnte, vorüber
kam. Ich grüsste es so:
»Du eilst zu Tal, du munt'res Alpensöhnlein,
Leichtfüssig springst du über Stock und Stein
In sorglos heiterm Übermute scherzend.
Denn dir erneuert sich die Jugend ewig
Aus frischen Quellen schneebedeckter Höhn.
Mir schwand sie längst, die holdeste der Gaben,
Die uns Natur verleiht und wieder nimmt.
Und einsam wandle ich die steilen Pfade
Des Alters fort bis zu der letzten Höh.
M e y s e n b u g , IV. 16
— 242 —
Und doch beglückt vor dir ! denn in dem Herzen
Da fliessen ewig jung der Liebe Quellen,
Des heil'gen Mitleids reine Harmonien,
Und durch die Seele ziehen Geisterscharen
Erhabener Gedanken; sel'ge Chöre
In Hymnen kündend einen neuen Tag
Nicht neid ich dir der ew'gen Jugend Fülle,
Du froher Alpbach eile scherzend fort.
Bei dem Blick aus meinem Fenster in Rom
auf die kunstvollen erhabenen Gegenstände
draussen fühle ich es immer, welch eine Wohl-
tat es ist, nicht in banaler Umgebung zu sein,
sondern das Schöne, Würdige immer vor sich
zu haben. Es ergibt sich daraus eine immer-
währende edle Stimmung, in der sich die Er-
eignisse des täglichen Lebens wie in einem
verklärenden Spiegel ausnehmen, in welchem
das Rauhe, Hässliche, Beleidigende derselben sich
mildert. Das hatten die Alten vor uns voraus,
dass sie ihr öffentliches Leben so reich mit
schönen und würdigen Dingen schmückten, wo-
durch ein grosser Teil der Brutalität, die unser
modernes Leben durchzieht, ihnen fern bleiben
musste.
Heute in der Farnesina vor Raphaels Gala-
thea fiel mir ein, dass Goethe sicher bei seiner
Galathea im 2. Teil des Faust an Raphaels
Fresko gedacht hat. Raphael war ein Dichter
in Farben wie Goethe in Worten. Denn was
— 243 —
heisst Dichter sein? Die der Erscheinung inne-
wohnende Idee, das Ewige im Vergänglichen
durch Form oder Wort aussprechen, und wie
herrlich hat das Raphael getan !
Unbewusst enthält der Mythos immer den
philosophischen Gedanken. Uranus und Gäa sind
recht eigentlich das Ding an sich, die Urkraft,
welche in sich das Doppelprinzip des Seins
(Uranus) und Werdens (Gäa) enthält. Uranus
wir zerstört durch den aus dem Schosse des
Werdens geborenen Sohn, Saturn (Zeit), der Be-
griff der Zeit zerstört die Einheit des Urdaseins.
Rhea (die Erde, also der Raum) bildet mit ihm
das Paar, welches aus der Zerstücklung des Ur-
daseins hervorgeht Saturn verschlingt die eigenen
Kinder, die entfliehenden Bruchstücke der Zeit.
Rhea schafft das nebeneinander Platz Nehmende,
das Gestaltete: Jupiter der Mensch, der Zeit
und Raum auflöst, indem er sie beherrscht und
unter seiner Einsicht vereinigt.
Minghetti, in seinem Buch über Raphael, sagt
vom heiligen Hieronymus, »dass er sich verzehrt
in Hingebung, und Trost und Leben nur aus
dem gnadenreichen Blick ihrer (der Madonna)
Schöne nimmt. ^ Wie tief seelisch ist dies sich
auflösen in andächtiger inbrünstiger Liebe zur
fleckenlosen Schönheit des Weiblichen, der
Poesie! Und dann wieder der hl. Franziskus,
x6»
— 244 —
welch ein Held des Lebens! Ja diese Heiligen
waren etwas vor dem sich die Seele in Demut
beugt. Wie wenig dem Ähnliches hat unsere
moderne Welt aufzuweisen.
Herzliches Wohlwollen hilft auch über Mei-
nungsverschiedenheiten hinweg.
Da das Entsagen zuletzt zu einer wahren
Gymnastik der Seele wird, so vollziehen sich die
Momente desselben zuletzt wie innere Vorgänge,
denen man fast als Zuschauer beiwohnt und bei
denen man nur noch leise das Zucken des
Willens fühlt, der gebändigt durch Vernunft und
Liebe sich diesen als zahmer Leu zu Füssen
legt, etwa wie in der Goetheschen Novelle der
Löwe, besänftigt durch zarten Sinn und Melodie.
Einfälle kommen meist durch Anschauungen;
zuerst sind sie nur mehr plötzliche Empfindungen,
noch nicht Denken, nur Nebelflecken, die sich
zu Sonnen ballen.
Der Dichter ist verpflichtet, seine Gestalten
künstlerisch abzurunden, sie als ein Grewordnes
hinzustellen. Unsere Zeit aber ist so vorzugs-
weise eine Werdende, alles Leben eilt so unge-
duldig neuen Entwicklungen entgegen, dass man
— 245 —
die Gestalten unserer Tage kaum für ein Kunst
werk brauchen kann.
Man las abends in einem kleinen Kreis bei
mir die erst kürzlich erschienene Nora von
Ibsen, welche in der damals sehr zahlreichen
skandinavischen Gesellschaft in Rom eine grosse
Aufregung hervorgebracht hatte und der Gegen-
stand lebhafter Diskussionen war. Eine der
Damen bei mir machte heftige Opposition und
meinte, Nora hätte ihrem Mann alles früher sagen
müssen. Ja, dann war sie aber gerade nicht die
Natur, die Idealistin, die ungewöhnlich handelt
und sowohl aus Liebe das Gesetzwidrige tut,
als auch sich dann losreisst von Glück, Stellung,
Mann und Kind, sobald sie begreift, dass es eine
höhere Sittlichkeit gibt als zu bleiben. Bliebe
sie, nachdem sie ihren Mann verstanden, so wäre
sie der Prostituierten eine, die in legaler Ehe leben.
Die feine Psychologie in Nora ist: zum Ver-
schweigen des begangnen Unrechts und dadurch
zur Täuschung kommen aus Liebe und Zartgefühl.
Ibsen, den ich den Vorzug hatte kennen zu
lernen, erzählte mir von einem dänischen Schrift-
steller, der gesagt habe, »durch die Sünde sei die
Kunst in die Welt gekommen«. — Gewiss, wenn
das Leben ohne Sünde war, so wäre die Kunst
— 246 —
nicht gekommen, denn das Leben wäre selbst
das Kunstwerk und bedürfte der Erlösung durch
die Kunst nicht.
Es war im Anfang der achtziger Jahre, dass
sich hier ein Kunstzentrum bildete, welches an
die Zeiten der Kunstblüte der Renaissance er-
innerte. Franz von Lenbach, der echte Schüler
der grossen Meister, der Tizian, Velasquez u. a.,
kam sich in Rom niederzulassen und zwar in den
herrlichen Räumen des Palazzo Borghese, die er
künstlerisch schmückte mit hohen Kunstwerken
alter Zeit, sein Besitztum, und den eignen herr-
lichen Schöpfungen, welche in Fülle durch seine
Meisterhand entstanden. Es dauerte nicht lange,
so wurde es Mode, wie es zu gehen pflegt,
nachmittags in den von ihm angesetzten Stun-
den diese einzige Kunststätte zu besuchen und
man sah bald die ganze vornehme römische Welt
sich hier bewegen und die schönen Frauen nach
der Ehre geizen, von diesem verklärenden Pinsel
auf die Leinwand gezaubert zu werden. Mich
verband schon seit längerer Zeit herzliche Freund-
schaft mit dem grossen Künstler und dem treff-
lichen Mann und ich zog es bei weitem vor, in
den Stunden hinzugehen, wo er bei der Arbeit
war und man zusehen durfte, wie unter seinen
Händen plötzlich sprechendes Leben auf dem
toten Material entstand, und wo so manches
bedeutende Wort die reiche Ursprünglichkeit
seines Geistes bekundete, denn er verschmähte
es nicht, beim Schaffen auch ein Gespräch zu
— 247 —
fuhren: So sagte er mir einmal: »Die alten
Meister sahen das Unendliche die modernen
sehen das Endliche.« Ein anderes Mal, als er
mir einiges Technische erklärt hatte, bemerkte
er: »Der echte Künstler muss beim Schaffen im
siebenten Himmel sein, er muss aber auch die
Kunstsprache lernen, so wie die Alten malten
mit Farben, die gleichsam das Materielle ver-
klären.« — Und wieder ein drittes Mal, als er
von den grossen Meistern der Vergangenheit
redete, fügte er hinzu: »Die grossen Meister
sahen alles wie aus einer gewissen Ferne, sie sahen
die ideale Einheit des Gregenstands; die modernen
Maler sehen alles nahe im realistische Detail.«
Da es mir vergönnt war, seinem Schaffen
öfter zuzusehen, so erkannte ich, wie sehr er
sich von diesem Geist des Schaffens der alten
Meister durchdrungen hat; er malt so wie Tizian
die Typen seiner Zeit malte, in so grossem Styl,
dass er sie zu historischer Bedeutung erhebt, und
man könnte Lenbach den Historiker des 19. Jahr-
hunderts in Farben nennen.
Leider war es mehr die Teilname der Neu-
gierde und der Mode, welche er hier fand, als
die künstlerischen Verständnisses und so gab er
die Idee sich hier bleibend niederzulassen auf
und kehrte nach wenigen Jahren in das Vater-
land zurück. Ich verlor dadurch nicht nur einen
geschätzten Freund, sondern auch ein Kunstheim,
wie es sympathischer nicht gedacht werden
konnte und wie kein ähnlich bedeutendes in Rom
existiert. Aber alles wahrhaft Grosse und Be-
— 248 —
deutende hinterlässt geistige Spuren, die nicht
verloren gehen, und so war auch mein Sinn und
mein Denken von neuem innigst der bildenden
Kunst zugewandt, die hier in Rom allerdings bei
weitem den Vorrang vor der Musik hat, denn
was die alte italienische Musik Hohes und Herr-
liches bot, besonders in der alten Kirchenmusik,
hat man fast ganz verlassen und moderne Bana-
lität an die Stelle gesetzt; die herrlichen Werke
der alten Meister aber leben glücklicherweise
noch und wenn die Gemälde Raphaels und
Michel Angelos auch schon durch die Zeit ge-
litten haben, so sind sie doch immer noch so,
dass sie reinen Grenuss bereiten. So waren denn
auch meine Gedanken lange Zeit mehr in dieser
Richtung tätig.
Es war nicht die Religion, welche die grossen
Künstler der Vergangenheit inspirierte, sondern
die Kunst war ihnen Religion, sie war ihnen das
zu realisierende Ideal, welches in Form, Linie,
Farbe den höchsten Ausdruck zugleich des
Materiellen und Ideellen geben musste. Das
unterscheidet sie von den modernen Künstlern,
dass sie das Reale aus seiner Vereinzelung zum
Ausdruck eines Universellen, Ewigen erhoben,
daher Typen und einen Styl schufen. Es fiel
mir gerade ein auf der Profilfigur auf der Ver-
lobung der hl. Cäcilie von Francia in der Kapelle
dieser Heiligen in Bologna. Sie ist durchaus
individuell und dennoch ein Typus dessen, was
eine edle Gestalt in edler Gewandung sein soll.
— 249 —
Ich antwortete einem Freund, welcher meinte,
dass die hohe Kunst voll zartester Empfindungen
und erhabenster Gredanken nur für auserwählte
Seelen sei : Ja, so ist es, aber in der Menge gibt
es vielleicht viel mehr auserwählte Seelen, als
wir denken. Ist der Christus mit den Jüngern
in Emmaus von Rembrandt (von dem Bild war
die Rede gewesen) nicht auch nur von den aus-
erwählten Seelen verstanden? Sieht der Auf-
wärter, der ihn bedient, nicht auch bloss das
irdische Geschäft und nicht die Gottheit, die von
ihm ausstrahlt? Alle Kunst in ihrer höchsten
Auffassung ist nur für die auserwählten Seelen.
Christus hat es gewust; er hat zum Volk,
welches noch in seiner Jungfräulichkeit unberührt
von der Fäulnis der Zivilisation war, wie ein
grosser Künstler geredet und die auserwählten
Seelen in demselben haben ihn verstanden. Der
Rest, die Schattenwesen, verstehen ihn nie.
Die meisten Menschen verlangen von einem
Kunstwerk nur, dass es angenehm auf die Sinne
wirke. Mir scheint es aber, dass das wahre
grosse Kunstwerk vor allem ethisch wirken, uns
über uns selbst hinaus heben und idealisireen
muss, wie wir es einst von der Religion ver-
langten. Das Wesen des Genius ist es, in die
ästhetische Form den ethischen Inhalt zu giessen,
natürlich unbewusst, er kann nicht anders, er
muss es.
— 250 —
Die Zeichnung ist wie der Grundton, das
Kolorit wie das Musikalische, die Melodie im
Bild. Man muss auch in der Malerei lesen lernen^
die Gedanken des Künstlers.
Von Venedig kommend, verbrachte ich meh-
rere Stunden in Castelfranco vor dem herrlichen
Bild des Giorgione. Es war nicht kindliche An-
dacht, was ich empfand, wie vor dem rührenden
Bild des Previtali in Serravalle, es war das hohe
Glück, Vollendung zu sehen. Alles ist da Har-
monie, die Landschaft, die göttliche Frau mit
dem Kind, sogar die Falten ihres Gewands, die
ruhig fliessen wie Tonwellen, der herrliche ge-
wafifnete Jüngling, selbst die Teppiche auf dem
Boden — alles atmet Vollendung und in ihr
erhabene Ruhe, wie bei den Göttergestalten des
Phidias. Giorgione, frei von aller Tradition, lebt
im reinen Äther der Schönheit. Wohl hatte
Tizian Grund, den Rivalen zu fürchten.
Eine Definition des Kunstwerks ist wohl:
soll es vollkommen sein, muss es uns über-
zeugen, muss die Kritik verstummen machen,
sich uns als notwendig so wie es ist auf-
drängen.
Michel Angelo machte der religiösen Tradition
in der Kunst ein Ende, wie Sokrates dem Götter-
- 251 -
glauben, der erste durch die erhabene Realistik
seiner Gestalten, der zweite durch die Philosophie.
Der Eintritt der Landschaft in die Malerei
findet schon am Anfang des 15. Jahrhunderts
statt. Bei Giotto ist noch keine Spur davon,
bei Benozzo Gozzola, bei Botticelli ist sie bereits
da. Costa von Ferrara, der in Bologna malte,
hat schon die schönsten Landschaften, die
Gegenden am Flusse Reno bei Bologna gemalt
Bei den Caraccie wird die Landschaft ein selbst-
ständiger Zweig der Kunst und die Figur eine
Zutat, statt dass es früher umgekehrt war.
Man könnte sagen, die Landschaft trat ein, wie
um die Stimmung anzugeben, auf welcher sich
das Leben und die Aktion der Figuren abhebt.
Es tritt mit ihr die Bewegung des Seelenlebens,
die Handlung ein, während früher der Goldgrund
nur das einseitige Versenktsein in das religiöse
Nirwana andeutete'.
Der Typus ist das erste in der Kunst, nach-
her kommt die Grazie, erst Mantegna, Bellini etc.,
dann Pinturicchio, Botticelli und die anderen.
Der Vorteil der schönen südlichen Rassen ist,
dass schon ihr Typus etwas sagt, oft freilich
mehr als dahinter ist. Die nordischen Typen
müssen das Ideale durch den Seelenausdruck
hervorbringen, während jene es schon durch die
— 252 —
Form haben. Man sehe die altdeutschen Madonnen,
die Holbein, die Dürer etc.
Die Aufgabe der bildenden Kunst ist die
Poesie der Situation. Daher kann auch blosses
Kolorit ohne eine prägnante Idee schon poetisch
sein. Das Leben eines Volks in Situationen
malen, das wäre das Seitenstück zum Epos,
welches es in Taten erzählt. Unsere moderne
Gesellschaft hat zu beiden zu viel Reflektion,
sie malt Philosophie.
Da ich nun zehn Jahre lang jeden Sommer
meist über Deutschland, wo ich meine Schwestern
auf einige Wochen besuchte, nach Versailles
ging, um in Olgas Familie die schöne Jahreszeit
zuzubringen, so besuchte ich auch natürlich
wieder oft den Louvre und erfreute mich an
den wundervollen Schätzen dieser herrlichen
Sammlung, deren edelste Blüten freilich auf
fremdem Boden gewachsen sind. So stand ich
neulich entzückt vor dem Konzert des Giorgione
in dem Salon carre. Welche unaussprechliche
Jugendlichkeit und Anmut in diesen Gestalten,
welche Freude am Dasein in unschuldiger Natür-
lichkeit, in reiner Lust an der Schönheit und
Harmonie, welche die Männer erfüllt, die dem
Instrument süsse Weisen entlocken und die un-
schuldvolle Grazie der weiblichen Gestalten wie
mit einem Schleier von Reinheit überzieht. Und
— 253 —
dabei: wie gemalt! Welche edle Modellierung
und welche Harmonie der Farben auch in der
Landschaft, die nicht wenig zu dem Eindruck
der Reinheit beiträgt, den das Bild macht. Es
schwebt über dem Ganzen wie ein Hauch der
Antike, die beglückende Empfindung der seligen
Schönheit der Natur. Es ist nicht mehr so bei
dem Corregio, der dem Bild des Giorgione
gegenüber hängt. Hier haben die Zeichnung
in der Verkürzung, die Modellierung und die
Farbe das höchste erreicht, was darin zu er-
reichen ist. Der Kopf der schlafenden Nymphe
ist so meisterhaft gemalt, dass man das ruhige
Atmen, welches aus den schwellenden Lippen
hervorschwebt, zu hören meint. Alles ist schön
an ihr und doch hat man trotz dieser Vollendung
nicht die reine Freude daran, wie an dem
Giorgione, denn man fühlt, dass hinter dieser
Höhe der Technik schon der Verfall steht. Der
vor Wollust grinsende Faun, welcher den blauen
Mantel von der Schlafenden hebt, gibt einen
Beigeschmack, der den reinen Genuss der Schön-
heit stört und weit entfernt ist von der keuschen
Natürlichkeit des Georgione. »Man fühlt die
Absicht und man ist verstimmt.« Schön hat
Corregio auf dem Danaebild in der Galerie
Borghese in Rom diese Seite der Komposition
zu mildem gewusst durch die ideale Schönheit
des Eros und der beiden Putten. Das ist echt
griechisch.
— 254 —
Wieder mehr als je fiel es mir auch auf in
diesem Reichtum des Louvre, welche wunder-
bare Landschaftsmaler diese Alten waren, die
Costa, Pinturicchio und andere, und für sie
waren die Landschaften doch nur Nebensache,
doch nur die Stimmung andeutend, die die
Handlung begleitet, etwa wie die Musik den
dramatischen Vorgang. Sie sind dabei nicht
minder realistisch wie die modernen Landschafts-
maler; wer erkennt nicht bei den Genannten
die Gegenden am Reno und bei den Umbriern
die umbrische Landschaft wieder? Aber wie
poetisch sind diese dabei; sie scheinen wie ein
friedliches Traumbild der reinen Existenzen, die
den Vordergrund einnehmen. Ja, alle diese
Maler waren lyrische Dichter, sie trugen in ihrer
Seele wie eine innere Melodie, während die
meisten der modernen Landschaftsmaler doch
nur Kopisten der Natur sind.
Lange stand ich auch wieder vor der »Grio-
conda«, dieser ewigen Sphinx. Sie scheint zu
sagen, was kümmert mich der Tod? Jener
Grosse machte mich unsterblich; mein Lächeln
wird Jahrhunderte überdauern und Herzen er-
obern und verwunden.
Ein junger Bekannter fragte mich: Wie schafft
der Künstler ideale Typen? Ich sagte: Der
rechte Künstler hält die Menschen in den einzelnen
— 255 —
Momenten ihrer Idealität fest. Das vollendet
Schöne findet sich nur bruchstückweise in der
Erscheinung ; der Künstler fasst die Bruchstücke
zusammen und bringt die vollendete, ideale
Menschheit hervor. Daher schafft nur er ewige
Typen, in der Menschheit sind sie nicht.
Eine glückliche Stunde im Louvre vor der
Venus von Milo verbracht, vor dieser erhabenen
Ruhe der Individualität, im Bewusstsein der
universellen Idealität.
Dann aber auch wieder Italien ! Zauberisches
Venedig! So ausgestreckt, ohne Mühe, ohne
Gerassel, ohne Pferdegepeitsche und Pflaster-
stösse, über die Lagune zu schweben und
sinnend auf die vom Abendrot glühende Fata
Morgana der Inselstadt zu schauen, ist ein so
sublimer Genuss wie wenig anderes auf der
Welt.
Und Sienal Ein Ort so reich an Kunst-
schöpfungen wie wenige andere. Wieder das-
selbe feste Selbstbewusstsein, wie auch in Perugia
u. a., nur noch liebenswürdiger und freier;
überall das edle Leben eines sich selbst regieren-
den Gemeinwesens. Sollte das nur in so kleinen
Verhältnissen möglich sein? Was hindert in
unseren grossen Staatskörpern eine solche hohe
— 256 —
allgemeine Blüte der Kultur, so dass sie nur
eine allgemeine politische Bedeutung haben und
jedes eigentümliche Leben der Gremeinwesen
darin untergeht? In all jenen kleinen Zentren
bewegten sich doch auch Weltgedanken, das
intellektuelle Leben war durchaus kein be-
schränktes, sondern vielleicht grösser, freier,
strebender als jetzt. Wenn man solch eine
Galerie besucht wie die »belle arti« in Siena,^
wie kann man da das Streben der Geister, aus
der versteinerten Form loszukommen, verfolgen
und wie sieht man, dass sie sich gewaltig regten^
um mitzuwirken »am sausenden Webstuhl der
Zeit«. Und neben dem ernsten Sinn, welche
reizende Naivetät, z. B. das Fresco am Palazzo
publico, wo Barbarossa vor dem Papst auf der
Erde liegt und die Kardinäle mit Geberden des
Abscheus, des Mitleids und des heimlichen
Hohns auf ihn sehen. Solch ein Bild, an einem
öffentlichen Ort den Blicken und Bemerkungen
des Volks ausgesetzt, könnte es heutzutage noch
gemalt werden? Es wäre ja ein crime de
l^se majeste. Freilich, wir wollten doch auch
nicht mehr nach Canossa gehen!
Welcher Unterschied aber auch in anderer Be-^
Ziehung mit unserer Zeit! Wie könnte heut-
zutage der Geist einer einzigen armen Frau ein
ganzes mächtiges Gemeinwesen so beherrschen,
wie es z. B. durch Katharina von Siena geschah,
die als Vorbild jeder Tugend hochgeehrt, als
grosser Charakter und Intellekt mit politischen
Missionen betraut und in den öffentUchen An-
— 257 —
gelegenheiten mit Vertrauen gehört wurde und
die zugleich die Phantasie der grosseh Künstler
ihrer Zeit so begeisterte, dass man sie zur Heldin
der religiösen Legende und zu einem Ideal der
Kunst »erhob. Gleiche Tugend, gleiche Selbst-
verleugnung findet sich auch noch heutzutage,
aber würde z. B. eine Florence Nightingale,
trotz ihrer schönen Taten noch einen Maler
so inspirieren? Oder würde noch nach Jahr-
hunderten die Stätte gezeigt werden, wo sie in
harter Entsagung, nach mühevollem Tagewerk,
die Ruhe gesucht hatte? Worin lag nun der
Zauber, welcher Katharina verklärte? Sicher
zunächst in der grossen Individualität, dann aber
auch im Zusammenhang derselben mit einer
grossen Idee, welche die Zeit, in der sie lebte,
beherrschte.
Ein anderes Denkmal auf meiner via Appia.
Im Jahre 1883 erhielt ich die Nachricht, dass
wieder einer der Freiheitskämpfer von 1848 und
der Freunde aus dem Exil gestorben sei, Gott-
fried Kinkel, der, nachdem er England verlassen
hatte, in Zürich am Polytechnikum als Professor
angestellt gewesen war. Ich habe schon in
früheren Aufzeichnungen aus meinem Leben
erzählt, welch herzliches Freundschaftsband mich
in England mit ihm und noch mehr mit seiner
hochbegabten Gattin Johanna verband. Einige
Meysenbug, IV. 17
- 258 -
Zeit nach seinem Tod erhielt ich von seiner
zweiten Frau den in seinen nachgelassenen Pa-
pieren gefundenen Brief Johannas, welchen Sie
ihm in das Zellengefängnis nach Spandau schrieb,
nachdem ich ihr, von tiefster Teilnahme ge-
trieben, ohne sie zu kennen, zum ersten Mal
geschrieben hatte.
Es war ein Geschenk, das mich auf das
innigste rührte, denn gewiss nach beinah vierzig
Jahren solch ein liebevolles Urteil über sich
selbst zu hören, war keine geringe Freude.
Johanna, die bis dahin nichts von mir gewusst
hatte, schrieb: »Die Geister der Gleichgesinnten
senden mir ihren Liebesgruss. Vor allem ent-
zückte mich der Brief eines hohen Weibes, die
mir ihre Freundschaft antrug und die auf einer
Bildungsstufe steht, dass ich keine von den geist-
reichen Frauen, mit denen ich verkehre, neben
sie stellen möchte und das will etwas sagen,
wenn Du an den Kreis unserer Korrespondentinnen
denkst. Meine neue Freundin scheint einem
nordischen adligen Geschlecht anzugehören; sie
hat jahrelang nur dem Kultus der Ästhetik
gelebt, hat aber dann begriffen, dass es edler
sei, helfend und tröstend zu den Leiden der
gequälten untersten Menschenschicht herab-
zusteigen, als auf einsamen, nur von Göttern
bewohnten Höhen zu weilen. Ihr Geist ist von
kry Stalin er Klarheit und dabei besitzt sie eine
Anmut der Ausdrucksweise, welche verrät, dass
sie nur in den allerfeinsten Kreisen geselliger
Bildung muss erwachsen sein. Sie muss noch
— 259 —
jung sein oder doch den ewigen Jugendzauber
eines poetischen Geistes besitzen, über den das
dreissigste Jahr keine Macht hat. Wer nach
diesem jung war, bleibt es sein lebelang.«
Wie viele Erinnerungen weckten diese Worte
in mir, schöne und traurige. Kinkel hatte ge-
wiss zu den hervorragendsten Kämpfern der
Jahre 48 und 49 gehört, denn er vereinigte die
von hohen Idealen erfüllte Poesie der damaligen
Zeit mit dem absoluten Mut der Tat. Diesen
Mut, stets die Überzeugung durch die Tat
zu bewähren, hatte er schon als Jüngling be-
wiesen, da er von der theologischen Laufbahn,
die er betreten hatte, zurücktrat, sobald die
Erkenntnis seines eigentlichen Berufs zu Kunst,
Geschichte und Poesie ihn in die Sphären
geistiger Freiheit führte. Er verlor dadurch alle
Aussichten auf eine glänzende Laufbahn, welche
ihm die theologischen Gönner, die von seiner
Rednergabe und seinem künstlerischen Sinn viel
für die kirchlichen Aufgaben hofften, bereiten
wollten. Als er dann gar in der ersten Zeit
seiner Tätigkeit an der Universität Bonn, durch
seine Liebe zu der herrlichen Johanna — die zwar
von ihrem ersten Mann, mit dem sie namenlos
unglücklich gewesen war, getrennt wurde, aber
als Katholikin sich nicht wieder hätte verheiraten
dürfen — alle Erdenschranken durchbrach und
mit ihr den edelsten Bund schlossj da empörte
sich die orthodoxe-Clique der Bonner Universität,
und als Kinkel sich nicht beugte, sondern mit
edlem Stolz sein individuelles Recht wahrte, da
— 26o —
verfiel er dem Bann, den die Borniertheit stets
über die ausspricht, welche das Mass ihres
Handelns in ihrem eignen sittlichen Bewusstsein
finden, indem sie sich an dem Adel fi-eier Seelen,
die um eines höchsten Gutes willen irdische
Vorteile dahin werfen, dadurch zu rächen glaubt.
Aus einem Bevorzugten wurde er ein Geächteter.
Dass es ihn schmerzte war natürlich, aber es
konnte sein stählernes Herz nicht brechen, auch
nicht, dass man ihn materiell in jeder Weise
bedrückte und einengte, so dass er mit Recht
in einer seiner späteren öffentlichen Reden sagen
konnte: »Wir haben das Darben gründlich ge-
lernt.«
Wichtiger aber als alle Not und aller Schmerz
war seine eigne Entwicklung, die in diesem
Kampf sich völlig losrang von der alten ver-
moderten Tradition und der vollen Freiheit zu-
strebte, für die er später noch grössere Opfer
bringen sollte, Doch gönnte ihm das Schicksal
endlich die volle Vereinigung mit der geliebten
Frau, als deren erster Mann starb ; dann wurde ihm
eine ausserordentliche Professur der Kunstge-
schichte zu teil, und sein Stern fing wieder an
zu leuchten. Die Jugend strömte zu seinen
Vorlesungen, seine literarischen Arbeiten hatten
Erfolg, neue Freunde scharten sich um ihn und
wie es mit dem Erfolg zu gehen pflegt, so
wurde das ausgezeichnete Paar jetzt aufgesucht
und gefeiert. Es erschloss sich ihm die ganze
Fülle des Lebens und ganz naturgemäss in
ruhiger Entfaltung gelangte er zu dem politisch-
— 26l —
sozialen Radikalismus, den er bald mit der Tat
verfechten sollte. Der Frühling 1848 kam. In
den Völkern erwachte neues Leben. Die Keime,
die still getrieben hatten in Hoffnung und Furcht,
blühten rasch empor ans Licht und die Herzen
flogen jubelnd dem Ideal eines freien, von Gre-
rechtigkeit und Schönheit verklärten Lebens
entgegen. Wie musste dieser Frühlingstraum
den Dichter ergreifen, den feurigen Mann, der
immer ganz und voll im Leben stand, mit
Dichterglut alles erfasste und mit Mannesmut
alles tat. Mit voller Seele warf er sich in den
Strom der Revolution, trat dem Volke am
schönen Rhein, in dessen Mitte er lebte und
welches er liebte und kannte, innig nahe, und
verwendete seine Gaben, welche das Entzücken
aristokratischer Kreise gemacht hatten, nun im
Dienste der Bauern, Handwerker und Proletarier,
die in ihm das Herz des echten Volksmanns
fühlten und ihn zu ihrem Führer wählten. Das
geistige Reich der Freiheit und Brüderlichkeit,
als dessen Bürger sich der Dichter längst gefiihlt
hatte, in Wirklichkeit erstehen zu lassen, das
wurde sein Ziel ; dazu warf er sich rückhaltlos
in den heissen Kampf und als er, vom Volk
zum Deputierten gewählt, nach Berlin kam,
donnerte er von der Tribüne in der Kammer
die stolzen Worte herab, die nachher als Waffe
gegen ihn gebraucht wurden: »Siegen wir, dann
wehe euch, keine Gnade.« ^-^ ;
Sein Freund und Schüler, Theodor Althaus,
hat Kinkel charakterisiert wie folgt: »Kinkel ge-
— 202 —
hört zu den bis jetzt noch selten öffentlich her-
vorgetretenen Charakteren, welche revolutionär
werden, weil sie im tiefsten und allein edeln
Sinn konservativ sind. Der vulgäre, abstrakte
Konservatismus ist eine blosse Verneinung und
stösst nach rechts und links alles von sich,
was das Individuum in seinem geistigen^ ge-
mütlichen, materiellen Behagen zu stören droht.
Der wahre Konservatismus ist eine tief ge wurzelte
Treue gegen Vernunft und Freiheit in den
philosophischen, eine unwandelbare Liebe zur
freien gesunden Natur in den poetischen Cha-
rakteren. In der letzteren Reihe steht Kinkel.
Sein Sozialismus ist im edeln Sinne konservativ.
Seine ganze Natur protestiert gegen die öden
Systeme des uniformierten, bureaukratischen
Kommunismus und der destruktiven Gleich-
macherei, unter der das ewige Naturrecht der
Individualität verschwindet. Den einzelnen und
die durch freie Neigung verbundenen Genossen-
schaften ruft er zu eigener Tätigkeit auf: »Hand-
werk errette dich selbst!« Sein sozialistisches
Ideal ist ein freier Organismus, dessen Gesetze
die Selbständigkeit des Individuums, die höchste
Ausbildung aller Arbeitskräfte und jedes Hand-
werks in seiner Eigentümlichkeit zum Zwecke
haben. Der Handwerker soll auf eigenen Füssen
stehen, statt von den fabrikmässigen Spekulatio-
nen des Kapitals ausgebeutet und erdrückt zu
werden. Die soziale Gesetzgebung soll es ihm
möglich machen ein Haus und eine Familie zu
gründen und ein Meister und Lehrer seines
— 263 —
Handwerks, statt ein entreprenierender Kapitalist
zu werden. Von dieser Gesetzgebung hofft der
Dichter dann eine Wiedergeburt der einzig edeln
Erscheinung des mittelalterlichen Zustandes, dass
das Handwerk, so weit es ihm vergönnt ist,
hinüberreiche in die höhere künstlerische Tätig-
keit und dass damit auch diese Lebenssphäre
hinaufgehoben werde in die Lichtregion des
Geistes und der Schönheit. Aber eben weil
nicht alle Arbeit in ihrer Eigentümlichkeit
dieses Adels fähig ist, muss allen der Stolz der
republikanischen Freiheit, geistige Bildung und
der Genuss des Schönen erreichbar gemacht
werden, damit auch der Geringste seines mensch-
lichen Daseins so froh werde, wie ihm jetzt
sein Pariatum die Seele zum Staube nieder-
drückt. Die Romantiker schaudern vor der
Republik, weil ihre beschränkte Phantasie eine
Nivellierung der Kontraste und Individualitäten
und damit das Ausgehen des poetischen Stoffes
fürchtet. Die gesunde Phantasie des modernen
Dichters schaut den Reichtum der neuen Welt
und er fordert die soziale Revolution, damit
endlich die vollbefriedigte Lust am Dasein die
Seele der Poesie neu belebe. Er weiss es, dass
nur eine grossartige neue Weltgestalt eine ihr
ebenbürtige Poesie aus sich zeugen kann, die
dann wahrhaft konservativ sein wird.«
So dachten und hofften wir damals, 1848!
Dass Kinkel wirklich zur Tat schritt und
als Blusenmann die Aufstände in der Pfalz und
in Baden mitmachte, dass er gefangen und zum
— 264 —
Tode verurteilt wurde, ist bekannt. Die all-
gemeine tiefste Teilnahme unterstützte die ver-
zweifelten Anstrengungen Johannas, die ihn
heldenmütig nicht zurückgehalten hatte, als er
zum blutigen Kampf auszog, ihn zu retten.
Eine Tochter Bettinas von Arnim warf sich dem
damaligen König von Preussen zu Füssen, um
Kinkels Leben zu erbitten und eine kleine
Schrift, welche Johanna veröffentlichte, Hess
wohl kein fühlendes Herz ungerührt. Auf dem
Richtplatz vor den mit den Todeswaffen bereit-
stehenden Soldaten wurde dem Gefangenen die
Begnadigung zu lebenslänglichem Zellenge-
fangnis und Wollespulen verkündet. In ohn-
mächtigem Schmerz erbebten alle edleren
Menschen, selbst unter seinen Feinden, und heisse
Tränen flössen bei der Beschreibung seines
letzten Erscheinens vor dem Gerichtshof in Köln,
bei dem Lesen der tragisch-edlen Rede, die er
gehalten, nach welcher sein Weib, die Schranken
durchbrechend, ihm in die Arme gestürzt war,
so dass selbst die feigen Schergen der Gewalt
es nicht gewagt hatten, so erhaben Unglückliche
zu trennen.
Nicht ohne tiefe Rührung konnte ich während
vieler Jahre das Gedicht lesen, welches Kinkel
im Gefängnis zu Rastatt niederschrieb, als ihm
sein Todesurteil verkündet war und dessen
Schlussverse also lauten:
»So warf ich in den Opferbrand
Ein reichbekränztes Leben,
— 265 —
Oh Glück und Stolz, mein Vaterland,
Für dich es hinzugeben I
Der müden, schwielenharten Hand
Ein sanftes Los zu werben,
Du vierter Stand, du treuer Stand,
Für dich geh ich zu sterben.
Euch Armen treu bis in den Tod,
Für euch zur Tat entschlossen,
Fall ich ums nächste Morgenrot
Vom kalten Blei durchschossen.
So haltet mich in treuem Sinn
Oh Meister und Geselle;
Gedenke mein, du Näherin,
In deiner trüben Zelle;
Du Winzer, der am Fels der Ahr
Umsonst die Gluten leidet,
Du arme Tagewerkerschar,
Die fremde Garben schneidet —
Ich werde nicht vergessen sein.
Du Jugend wirst mich kennen
Und wirst an meines Geistes Schein
Zum Freiheitsdurst entbrennen;
Manch Frauenauge weint um mich
Den Sänger süsser Lieder,
Als Gruss der Erde neigen sich
Viel Blumen zu mir nieder.
Den letzten Gruss dir überm Rhein,
Du edles Volk der Franken;
Die Völker sollen einig sein
In Herzen und Gedanken.
Stehn soll, so weit auf diesem Rund
Sich Aug' in Auge spiegelt.
— 266 —
Der ewige Bund, der Bruderbund,
Den euch mein Blut besiegelt.« —
So waren die Männer von 48! Deutsche
Jugend kennst du sie nochl Bist du an ihrer
Erinnerung zum Freiheitsdurst entbrannt? Bist
du bereit, wenn der Tag des grossen Kampfes
wiederkommt, fiir die Erringung heiliger Ideale
den Reichtum des Lebens in den Opferbrand
zu werfen? Schlag an deine Brust, frag dich,
und wenn dir ein trauriges Nein antwortet, so
ermanne dich, denke, dass das Leben keinen
Wert hat, wenn es nur nach vergänglichen
Gütern strebt und schreibe auf deine Fahne:
»Durch edelste Kultur zur wahren Freiheit.«
Leider ist auch in Italien jener edlen Gene-
ration der Kämpfer für ein hohes Ideal der
Freiheit eine Jugend gefolgt, die mehr nach
irdischen als nach ideellen Gütern strebt und
die ganze Form des öffentlichen Zustandes ist
weit entfernt von dem, was z. B. Mazzini für ein
neu erstandenes einiges Italien geträumt hatte.
Es ist wirklich immer, als ob die Natur sich
erschöpfte, wenn sie den ideellen Trieb in einer
Generation so stark und vorherrschend hervor-
gebracht hat und als ob dies Gebiet dann
eine Zeit lang brach liegen müsste, gerade wie
der Acker, der auch ruhen muss, um aufs neue
hervorbringen zu können. Traurig stimmen aber
— 267 —
musste es den, der an Italiens Geschicken
warmen Anteil nahm und jene edlen Idealisten
gekannt hatte, zu sehen, wie falsche Wege seine
Politik und Neuorganisation ging. Wie die
eitle Sucht, plötzlich eine Grossmacht zu sein,
es zu Ausgaben und Unternehmungen verleitete,
die weit über seine Mittel und seine Kräfte
gingen, während die innere Wohlfahrt und die
Ordnung erwerbtätiger, strebender Gemeinwesen
vernachlässigt wurden. Wie das so hoch begabte
liebenswürdige Volk in manchen Gegenden in
beinah barbarischen Zuständen, im äussersten
Elend, in Schmutz und Unwissenheit blieb und
durch die hoffnungslose Armut zur Massen-
Auswanderung getrieben wurde, oder durch den
Schreck vor dem ungewohnten Militärdienst und
den ebenso ungewohnten schwer lastenden
Steuern in die Berge floh und sich dort durch
freie Benutzung der Güter anderer, d. h. durchs
Räuberhandwerk, zu helfen suchte.
Sagte mir doch in einem politischen Ge-
spräch sogar einer der bedeutendsten, aber
durchaus konservativen Staatsmänner Italiens
(der jetzt auch schon längst geschieden ist):
»Ja, wenn die Menschen die Geschichte recht
verständen, so müssten sie immer zunächst an
die Wohlfahrt der Völker im Innern des Landes
denken. Würde von den ungeheuren Budgets
des Kriegs, der Marine, der Steuereinnahmen usw.
nur die Hälfte für die innere Verwaltung ver-
braucht so würde der allgemeine Wohlstand in
solchem Masse wachsen, dass ein Land dadurch
— 268 —
allein schon mächtiger werden würde, als durch
Furcht einflössende Heere.« Dies aber sagte
mir ein Staatsmann, der lange an der Spitze
der Verwaltung stand I Wie schwer muss es
daher sein, das einfach Vernünftige und Nah-
liegende im Staatsleben durchzusetzen.
Wie hoch standen daher die alten Inder, die
ihre Könige nur priesen, wenn sie Woltäter
ihres Volks waren und nicht um der Gewalt-
mittel willen, die sie in Händen hatten. Hierauf
bezüglich fand ich eine treffliche Stelle aus dem
Gätahamälä des Arga Süra, von J. S. Speyer
übersetzt, welche lautet wie folgt: »Unser
Monarch hat seine Macht durch seine Seelengrösse
erhalten. Seine Stärke beruht auf seiner Güte,
nicht auf seinem bunt geflaggten Heer, welches
er nur hält, um der gewohnten Sitte nachzukommen.
Redlichkeit ist der Hebel seines Handelns, nicht
die politische Weisheit, diese niedrige Wissen-
schaft. Sein Reichtum dient ihm dazu, die
Tugendhaften zu ehren.«
Welch schöneres Programm des wahren
Herrschertums könnte man aufstellen als dieses,
und wie weit steht unsere Zeit darin zurück,
wo sich die Stärke der Regierungen nur auf die
kolossalen, auch im Frieden stets zum Krieg
bewaffneten Heere stützt, anstatt sich über die
nationalen Grenzen hinaus die Hand zu reichen
und den Völkerfrieden auf Gerechtigkeit und
wahre Bildung zu gründen. Jawohl, der alte
Inder hat recht, politische Weisheit, welche
niedrige Wissenschaft I In ihr Gebiet gehört
— 269 —
der moderne Schwindel der Kolonialpolitik. Auch
Italien wurde ja leider davon ergriffen und unter
dem Ministerium des schon alten, etwas hin-
falligen Depretis siegte die Beredsamkeit Mancinis,
eines trefflichen Rechtsgelehrten, aber unfähigen
Ministers des Äusseren, und brachte Italien dazu,
nach Afrika zu ziehen und noch dazu nach
Massaua, das zwar ein Hafen am roten Meer,
aber einer der heissesten und unfruchtbarsten
Orte der Erde ist. Dass englische schlaue
Politik dabei im Spiele war, merkte man hier
nicht, man jubelte über diese erste grosse Tat
der jungen Grossmacht; eine Freundin schrieb mir,
sie habe Tränen der Rührung vergossen, als sie
die Soldaten habe einschiffen sehen, um von dem
Land, welches Italien durch keinen Rechtsspruch
zugehörte, Besitz zu nehmen, wie es nun seitdem,
allem Menschen- und Völkerrecht zuwider, immer
häufiger von den grossen europäischen Staaten
geschieht. Ich erlaubte mir damals schon, nicht
in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Ich
sah um mich her in dem Land, das ich liebe,
kaum erst die Anfange einer vernunftgemässen
Organisation, einer Ordnung der Dinge, die zu
Wohlfahrt im Innern fuhren und die Grundlage
einer neuen edlen Kultur werden könnte und
ich befürchtete gleich, dass diese Anmassung,
Kultur in die Ferne bringen zu wollen, während
man selbst noch so kulturbedürftig war, schlimme
Frucht bringen würde, was sich denn leider auch
unter dem zweiten Ministerium Crispis, durch
dessen noch viel grössere Anmassung, auf die
— 270 —
allertraurigste Art für Italien bewährt hat. —
Seltsamere Kontraste aber, als sie in jener
Zeit besonders in den achtziger Jahren, Italien
darbot, hat kaum je ein modernes Land in der
Geschichte gezeigt. Während der als Einheit
noch so junge Staat im Innern noch völlig un-
geordnet, seine kaum gebildete Militärmacht
aussandte, um auf einem andern Kontinent
Länder in Besitz zu nehmen, auf die er keinen
Anspruch hatte, begab sich inmitten dieses
jungen Staats, so recht in seinem Zentrum, in
der kaum errungenen Hauptstadt selbst, ein Er-
eignis, welches durch seinen Glanz das Recht
ehrwürdiger Traditionen gegenüber der An-
massung junger Eitelkeit ins hellste Licht zu
stellen befähigt schien. Es war der 30. De-
zember 1887, der Vorabend der Messa d'oro,
mit welcher der Papst am i. Januar in der
Peterskirche die Feste seines Jubiläums ein-
weihen wollte. Rom wimmelte von Fremden^
freilich zumeist geistlichen Standes, die sich zu
der hehren Feier eingefunden hatten; die Gast-
höfe waren überfüllt, die ärmeren Pilger wurden
in Klöstern und Hospizen einlogiert. Der Zu-
drang, um Billette zu erhalten, war ungeheuer,
denn nur mittels solcher konnte man in das
Gotteshaus gelangen. Zu Tausenden kamen die
Gesuche darum täglich in den Vatikan. Um
denselben und um die Peterskirche war ein
Leben und ein Treiben, wie seit siebzehn Jahren
nichts Ähnliches vorgekommen war. Ich hatte
gerade eine Veranlassung, jemand aus der hohen
— 271 —
Geistlichkeit im Vatikan aufzusuchen und konnte
mich mit eignen Augen davon überzeugen. Es
kam mir vor wie ein Märchen, wo in einem
verzauberten Schloss plötzlich der Entzauberer
eintritt und alles zu frischem regem Leben er-
wacht. Scharen von Geistlichen aller Länder,
in den verschiedensten Trachten, eilten geschäftig
Trepp auf, Trepp ab. Die »Uscieri« in ihren
malerischen Kostümen schienen wie in ferner
Vergangenheit eingeschlafen, mit einem Ruck
die Traumbefangenheit abzuschütteln und ihre
Rolle mit Vehemenz wieder aufzunehmen, um
den andrängenden Scharen zu wehren, die sich
an den Türen einfanden, um zu den Audienzen
zugelassen zu werden. Damen aller Art, Pilger-
innen, mehr alte als junge und mehr hässliche
als hübsche, eilten dazwischen umher; hohe
Prälaten mit ihrem Gefolge belebten noch das
bunte Bild. In den Strassen, die nach St. Peter
führen, war es kaum durchzukommen, die Wagen
in ununterbrochener Reihe sich folgend, mussten
Schritt fahren. Die ganze Basilika war schon
seit Tagen dem Publikum verschlossen, um die
Vorkehrungen im Innern zu treffen. Doch fehlte
es bei all dem erwartungsvollen Leben auch
schon nicht an Verstimmungen und Klagen aller
Art, und das römische Volk fing an zu murren, dass
man ihm den Eingang zu seinem Gotteshause
wehren wolle, in das es sonst so gut frei ein-
gehen konnte, wie die Reichen und Begünstigten.
Es waren daher von Seiten des Kriegsministeriums
mehrere Kompagnien Soldaten beordert, welche
— 272 —
auf dem Petersplatz Cordon bilden sollten, um
bei etwaigen Unordnungen einzuschreiten. Schon
dieses ein seltsames Schauspiel: das Fest des
entthronten Herrschers beschützt von den Soldaten
des Usurpators!
Vor 1870 würde eine solche Festlichkeit,
ein solches Zusammenströmen der Gläubigen
aus allen Weltteilen, mit Geschenken beladen,
um sie dem Oberhaupt der Kirche huldigend
darzubringen, nichts Ausserordentliches gehabt
haben. Aber nun war es anders geworden und
der Beobachter konnte nicht umhin, seltsamen
Gedankengängen Raum zu geben. Hätte diese
Feier einzig der ehrfurchtgebietenden Persönlich-
keit eines Greises gegolten, den das Geschick an die
Spitze einer universellen geistigen Gemeinschaft
erhoben hatte, so wäre die Sache immerhin noch
ungewöhnlich, aber doch bei weitem einfacher und
ohne die seltsamen Kontraste gewesen, welche jetzt
dabei zu Tage traten. Während drüben im
Quirinal der König des noch so jungen König-
reichs Italien die Neujahrswünsche von selten
seiner Staatsbeamten und der bei ihm beglaubig-
ten Gesandten entgegennahm, feierte der,
welchen er seiner irdischen Macht entsetzte,
ein Fest, dessen universelle Bedeutung nicht zu
verkennen war. Diese aus allen Ländern her-
beigeeilten Verehrer und Bekenner einer Kirche,
deren Oberhaupt alles galt, diese kostbaren
Gaben, deren Menge die kolossalen Räume,
welche dafür bereitet waren, kaum fassten, diese
Extragesandten aller gekrönten Häupter, ob
— 273 —
katholisch oder nicht, die auch mit vollen
Händen kamen, waren das nicht alles Zeichen,
dass wir es hier noch immer mit einer Welt-
macht zu tun hatten, gegen welche das ver-
lorene »potere temporale« nur ein verschwindend
kleines Gewicht behält?
Vielleicht war dieser Gedanke Papst Leo XIII.
auch aufgestiegen, als er von seinem Königsitz
im Vatikan auf das Gedränge niederschaute,
welches den so lange verödeten Petersplatz be-
lebte. Und wohl ihm, wenn er vesucht hätte
diesem Gedanken volle Wirklichkeit zu geben,
wenn er freudig der irdischen Krone entsagt
hätte, um sich allein die geistige Krone aufzu-
setzen, deren Glanz heller strahlen würde als
die Diamanten der Tiara. Dann würde die Ver-
söhnung mit dem König drüben im Quirinal,
welcher jetzt der einzige ist, der ihm nicht
huldigen kann, eine Möglichkeit und der pein-
liche Konflikt, in dem die italienischen Patrioten,
die noch an der Kirche hängen, sich befinden,
wäre gelöst. Würde das die Folge dieses Festes
sein, wer würde es nicht als den Anfang einer
neuen vernunftgemässeren Zeit begrüssen, wer
würde Leo XIII. nicht als einen der grössten
Päpste ehren, die je gelebt?
Aber leider sah das Ganze mehr aus wie
ein Fehdehandschuh, den man dem abtrünnigen
Italien hingeworfen hatte. Es war zu viel
Ostentation dabei, um es als ein blosses Familien-
fest der katholischen Christenheit zu betrachten.
Und gerade in dem Augenblick, welch schmerz-
Meysenbng, IV. 18
— 274 —
lieber Kontrast für die Italiener! Während hier in
der Hauptstadt dies glänzende Fest des vertriebe-
nen Herrschers gefeiert wurde, mussten drüben
im heissen Afrika die jungen Söhne des neu
gewonnenen Vaterlands für einen grossen poli-
tischen Fehler, im Kampfe mit wilden Horden,
ihr Leben einsetzen und während sich im Vatikan
Millionen aufhäuften, musste das finanziell so
schlecht bestellte Land Millionen hergeben, um
einen mörderischen Krieg, der wenig Ehre, und
noch weniger Nutzen verspricht, und nur von
der beschränkten Eitelkeit und masslos ehrgeizigen
Herrschsucht einiger einzelnen in Scene gesetzt
worden ist. durchzuführen. Diese Betrachtungen
drängten sich dem Beobachter auf, wenn er auf
das bewegte Leben dieser Tage niedersah und
wer Italien liebt, konnte sich der Wehmut nicht
erwehren, die seine zweifelhaften, so schlecht
geleiteten Geschicke hervorrufen.
Gedachtes.
Es gibt Naturen, welche am Fortschritt der
Gesellschaft arbeiten können, indem sie alle Vor-
urteile schonen, die Sachen nur halb beim
Namen nennen und ein wenig nachgeben, um
ein weniges zu erlangen. Diese übrigens ganz
ehrlichen Naturen tun ihre Arbeit und sie hat
ihren Nutzen. Aber es gibt andere, welche
von der unwiderstehlichen Logik der Über-
zeugung vorwärts getrieben, sich bestimmt aus-
sprechen müssen; gelingt es ihnen auch nicht
ihr Ideal zu verwirklichen, so erringen sie doch
für dasselbe die Sympathie energischer Charaktere
und zum wenigsten sind sie^selbst ein lebender
Protest gegen die versteinerten Formen, welche
den lebendigen Geist nicht mehr enthalten.
Jedes reine tiefe Gefühl hat in sich eine
solche Unschuld, dass der Gedanke nicht kommt,
x8*
— 276 —
man könne es verkennen. In der wahren Liebe
der Frau vereinigt sich alle Zärtlichkeit der
Mutter, Schwester, Freundin, und wenn die Frau
ihren heiligen Schmerz um die nun erloschene
Neigung, die ihr einst gewidmet war, stolz in
die Tiefe ihres Herzens verschliesst, so bleiben
die Mutter, Schwester, Freundin, um dem, dessen
Andenken noch immer teuer ist, helfend und
tröstend beizustehen, wenn das Schicksal Schweres
über ihn verhängt.
Dem charaktervollen Menschen ist es ein
Bedürfnis, ein Ziel fest ins Auge zu fassen und
es mit Konzentration aller seiner Kräfte zu ver-
folgen. Dann erst entfaltet sich ihm der ganze
Reichtum seiner Befähigung, auch alles andere
zu verstehen und in alle Gebiete des Lebens
denkend hinüber zu blicken. Er hat dann, wie
Archimedes, den einen Punkt gefunden, von dem
aus er die Welt aus ihren Angeln hebt. Dem
Genius zeichnet die eigene Natur das Ziel in
Flammenzügen vor; ihm ist die Mühe des
Suchens erspart und nur die Hindernisse, welche
Welt und Verhältnisse ihm in den Weg legen,
machen ihm das Verfolgen seines Ziels oft zur
Qual; zwingen sie ihn diesem Ziel zu entsagen,
drängen sie ihn gewaltsam aus seiner Bahn, so
ist es Tod und Vernichtung für ihn. Die von
der Natur minder reich Begnadeten müssen
suchen, bis sie den wahren Punkt finden, von
— 277 —
dem aus ihr Wesen sich in Einheit und Mannig-
faltigkeit zugleich entfalten und die Blüte seiner
selbst erreichen kann, Von diesem Punkt ver-
drängt zu werden, ist ein unaussprechliches
Leiden, ja ein verzehrender Schmerz. Manche
gehen daran unter und die Starken, die ihn
überleben, tragen doch den Schmerz der Wunde
mit sich durch das Leben.
Ein geistvoller Freund meinte, die Weisheit
der Könige sei Warten. Ich denke sie müsste
vielmehr Voraussehen und Voraussorgen sein.
Immer Präventivmassregeln in der Erziehung wie
in der Politik. Sind die Repressivmassregeln
erst nötig, dann ist es schon zu spät, der rechte
Augenblick ist versäumt.
Wenn der Wille im Sinne Schopenhauers,
als ungestümer Drang zum Dasein und nimmer
zu befriedigendes Streben nach Genuss, durch
das Läuterungsfeuer, der Erkenntnis durchge-
gangen und nun, sich selbst beherrschend, er-
löster Wille geworden ist, welcher, aus Mitleid
entsagend, die höchsten Seelenfreuden opfern
und über dem Schmerz, mit vollem Bewusstsein
von dessen Bedeutung und dem Unersetzlichen
was verloren geht, — stehen kann — dann ist
der Widerspruch zwischen der christlichen und
— 278 —
der naturalistischen Anschauung von der Freiheit
oder der Gebundenheit des Willens gelöst, denn
dann hat sich der gebundene Wille zur Freiheit
der Selbstbestimmung erhoben, dann ist der
Mensch wirklich frei.
Eine sehr katholische Dame schrieb einem
uns gemeinsamen Freund, es habe sie gefreut,
mich kennen zu lernen, obgleich uns Welten
trennten. Immer die Beschränktheit des ortho-
doxen Standpunkts, einerlei ob religiös oder
politisch. Welten trennen nur zwei Gegensätze:
das Gute und das Böse und nicht einmal die
ganz, denn auch im Guten ist zuweilen noch ein
Teilchen Böses und fast in allem Bösen noch ein
Teilchen Gutes.
Es wurde heute abend darüber gestritten,
ob man sich vor der Güte beugen solle. Die
meisten der Anwesenden sagten nein, sie ver-
wechselten offenbar Güte mit Gutmütigkeit.
Vor der Güte aber, die nicht bloss eine Natur-
gabe und mit Schwäche verwandt, sondern das
Ergebnis höchster Bildung, das letzte Wort des
individuellen Kulturkampfes ist — vor der Güte
muss man sich beugen. Sie ist das selbst er-
rungene Adelsdiplom der Seele, ihr allein steht
das Recht zu, im sittlichen Leben zu richten,
— 279 —
denn ihre Milde wird nie Schwäche, ihre Strenge
nie Ungerechtigkeit sein.
Ich liebe die Einsamkeit über alles, auch
die zu zweien, ja selbst noch zu dreien, wenn
es die Rechten sind; aber die zu hunderten ist
schrecklich melancholisch; dann fühlt man sich
trostlos allein, ausgenommen in den Momenten,
wo die Hunderte von einem gemeinsamen,
grossen, begeisternden Gefühl entflammt werden.
Doch wie selten sind die!
Ich glaube, dass eine liebevolle Anhänglich-
keit der Dienstboten durch Wohlwollen von
Seiten des Herrn erzeugt, nicht nur möglich,
auch sehr wünschenswert ist. Daraus entspringt
das humanste Betragen von beiden Seiten und
der willigste Gehorsam der Dienenden. In dem
Verhältnis zu den Dienstboten hat sich in neuerer
Zeit so viel verändert; die patriarchalischen so-
wie die sklavischen Zustände sind vorbei. Der
Diener will jetzt als Persönlichkeit respektiert
sein. Es versteht sich, dass er es durch sein
Betragen verdienen muss, wird er es aber nicht,
so ist meist die Korruption des Charakters die
Folge, die niedrigere Natur rächt sich für er-
littene Demütigungen durch Betrug, geheimen
Hass gegen den Herrn oder Spott über ihn.
— 28o —
Wenn die völlige reine Resignation, die Ver-
neinung des Willens zum Leben (im wahren
Sinne Schopenhauers) erreicht schien und es er-
wacht dann doch noch einmal eine neue Liebe
mit aller Sehnsucht, allem innigen Verlangen,
dann wird der Schmerz der notwendigen Ent-
sagung wie ein Zucken der bereits frei ge-
wesenen Seele, die noch einmal in die Unruhe
des Willens zurück muss. Aber es ist schon ein
beinah verklärter Schmerz, denn hinter ihm
leuchtet bereits die Gewissheit des Sieges und
die Krone des Überwinders.
Welch ein wunderbares Erleben I Gequält
war ich vom Schmerz der Trennung, vom Ge-
danken, die Stunden des Zusammenlebens nicht
voll genossen, nicht genügend ausgefüllt zu
haben, der Gegenseitigkeit der reinen Zuneigung
nicht völlig sicher zu sein — endlich setzte ich
mich zur Arbeit und — siehe da! — schöpferische
Gedanken strömten mir in Fülle zu, und ich war
erlöst, der Schmerz war verschwunden, alles
Fehlen und Versäumen war ausgelöscht; es blieb
nur ein innigstes Gedenken, ohne Reue, ohne
Sehnsucht und das trostvolle Bewusstsein, dass
auch dies edle Gefühl ein ewiger Besitz sei.
Über dem allen aber schwebte beseligend das
Wiederfinden mit mir selbst, das höchste wahre
Glück Schöpfer zu sein, welches schon die Ein-
kehr in das Universelle ist.
28 1
Die alltäglichen Menschen fragen immer »wo-
zu fuhrt das?« Als wenn eine vornehme Seele
sich immer mit dem Krämergedanken der end-
lichen Zahlung abgeben könnte! Im edelsten
Sinne glücklich gewesen zu sein, wenn auch nur
wenige Stunden, ist besser als ein ordinäres
Rechenexempel mit dem Leben abschliessen,
um gut versorgt zu sein, und der Schmerz, den
man nachher leiden muss, ist erhabener und
fordernder als alle zum äusseren Ziel gelangte
Philisterhaftigkeit.
Freundschaft kritisiert nicht in der Stunde des
Leidens, sagt nicht nüchtern verständig »wenn
du es so oder so gemacht hättest«, sondern
öffnet einfach die Arme und spricht: »Ich frage
nicht, ich urteile nicht, hier ist ein Herz, daran
ruh aus«. Ja, wenn man immer im voraus
wüsste, wie man handeln müsste, dann gab es
keinen Irrtum. Die Freundschaft rät und
warnt vorher; nachher liebt sie, das nur ist
die echte; die falsche macht es umgekehrt.
Das sittliche Leben des Staats hat aufgehört,
wenn sich das Individuum nicht mehr frei ent-
wickeln und seine Meinung zur Geltung bringen
darf. Ein Staat, dessen sittliches Leben unter-
gegangen ist, muss notwendig selbst untergehn.
Dieselbe sittliche Forderung gilt, wie im Staat,
— 282 —
SO auch in der Familie. Das Individuum muss
in ihr seine volle sittliche Freiheit haben dürfen,
sonst ist auch die Familie nur ein zufälliger,
äusserer Verband, nicht vom Bewusstsein aner-
kannt und in seiner Autorität bestätigt. Man
kann sich einem solchen Staat, einer solchen
Familie unterwerfen, gut ! dann hat man gewählt,
oder man fühlt und erkennt, dass das Recht der
individuellen Freiheit erkämpft werden muss und
dann wird man Revolutionär. Zwischen beiden
steht der Indifferentismus, der das eine und das
andere Extrem von sich abweist, und indem er
das Vorhandene ohne weiteres gehen lässt, sich
einbildet, er allein habe das Stetige, Unver-
änderliche. Stetiges, Unveränderliches aber gibt
es nicht. Das einzig Ewige ist die unausgesetzte
Entwicklung und Veränderung des einfachen
Atoms zu immer neu zusammengesetzten,
reicheren Kombinationen in der Natur bis zur
Ausbildung ihres höchsten Organismus, der zum
Geist befähigt ist und sich zu ihm entwickelt.
Aber auch hier beginnt dieses ewige Vorwärts
von neuem. Vorwärts drängt der schaffende
Gedanke und beginnt den Kampf, wo immer
man ihm Ketten anlegen und ihn aufhalten
will. So zieht sich ein roter Faden der Ent-
wicklung durch die Zeiten. In den Massen be-
wegt sich der schaffende Geist nur erst als un-
klares Gefühl, aber die Individuen, welche den
Prozess des Denkens für die Masse durchmachen
müssen, geben ihr das Resultat und in ihm er-
kennt sie ihr unklares Gefühl und wird sich
— 283 —
dessen bewusst. So werden zuletzt auch die
Massen Träger des Gedankens und erlangen
dann erst ihr menschliches Vorrecht und ihre
Würde.
Freiheit und Notwendigkeit lassen sich in
Beziehung auf die Individuen ungefähr so be-
stimmen: als Individuum ist dasselbe der
Notwendigkeit unterworfen, als Erscheinung
dem Satz vom Grunde, als Ding an sich ist
es im Reich der Freiheit.
Auf der Insel Capri schrieb ich einst (im
Jahr 1864, wo ich daselbst mit den zwei Töch-
tern Herzens weilte): hier hat man ein Vor-
gefühl davon, was das Leben sein könnte, wenn
der Mensch entweder ewig unschuldig und un-
bewusst, wie die Natur, geblieben wäre, oder
wenn sein Bewusstsein nicht die schreienden
Widersprüche des Lebens und die dunkle Sphinx
der Zukunft begegnen müsste, vor derem unge-
löstem Rätsel er peinvoll still steht. Glücklich
diejenigen zum wenigsten, durch deren Herz
jenes Vorgefühl zuweilen zieht, in den Illusionen
der Jugend gleich einem wonnigen Morgentraum,
im späteren Leben, gleich einer wehmütigen
Melodie aus einer fernen metaphysischen Welt.
Lasst uns unser Leben betrachten! versöhntes
Leid ist ein Schatzgräber, welcher verborgene
-— 284 —
Tiefen öffnet, in denen edle Metalle ruhen. Die
Leichtlebigen; oberflächlich Glücklichen, finden
diese Tiefen nicht und deshalb erfahren sie nie
die blitzartigen, plötzlichen Erleuchtungen, welche
uns auf Augenblicke ein fernes gesegnetes Ufer
zeigen, nach welchem wir uns ewig als Pilgrime
fühlen. Für uns haben Formen und Farben,
Töne und Melodien noch einen anderen Sinn als
blosse Augen- und Ohren weide; uns sind sie die
Befriedigung der Sehnsucht nach dem Ideal, die
uns in einer verkrüppelten, schönheitslosen Welt
zur Qual wird, die aber in schönen Bildern,
wie die Natur sie hier bietet, ihren Widerschein
findet. Was eine Rose dem Sterbenden sein
würde, die ihm die entschwundenen Frühlinge
seines Lebens zurückrief, das ist diese Natur
der Seele, wenn die irdische Jugend entflohen
ist. Wenn unsere Seele ein Ton wäre in dieser
herrlichen Harmonie von Licht, Lufl, Farbe und
Form, dann würde das Rätsel gelöst sein; wir
wären dann nur der Mittelsatz in einer einzigen
grossen Symphonie des Daseins, welches in den
drei grossen Abteilungen von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, sein endloses Gedicht,
seine Divina Commedia durch alle Ewigkeit
feiern würde. Aber da liegt die Frage. Es ist
der Natur nicht gelungen, den Menschen dieser
schönen Erde wert zu bilden; daher kommt
die Qual der Bessern, die dunklen Fragen, »die
brechenden Wellen und die komischen Geberden«.
Ja das ist es, die Menschen sind nicht gut
genug. Wenn ihre hässlichen Leidenschaften
— 285 —
nicht wieder jeden idealen Aufschwung einer
Epoche entstellten, so müsste die Vergangenheit
nicht gleich einem Gespenst, wie so oft, vor
uns stehen, sondern wie ein teures Grab, von
dem wir Weisheit und Tugend lernen würden,
bis wir uns selbst der Vergangenheit zugesellten
mit der tröstenden Gewissheit, einen reichen
Vorrat von Edelmut und Grösse der Nachwelt
gelassen zu haben. Aber unsere ganze Zivili-
sation begünstigt noch zu sehr die Bestie in der
Menschheit, die Entwicklung der wilden Instinkte,
anstatt den Menschen schon früh zu Mass, Re-
signation und Verständnis der wahren Schönheit
anzuleiten.
Doch die Natur brauchte auch unermessliche
Epochen, um die Erde zu einem Paradiese, teil-
weise wenigstens, zu gestalten ; vielleicht gelingt
es ihr in femer Zeit, die Bedingungen hervor-
zubringen für die Möglichkeit einer idealen Exi-
stenz künftiger (Jeschlechter, wenn wir längst
mit den Ruinen unserer Zeit ruhen. Unser
Trost wird es sein, dass wir nicht als ein blosses
Fossil in dem grossen Laboratorium der Natur
gebraucht wurden, sondern dass jene Kraft in
uns tätig war, die nach den Höhen strebt, die
Schönheit begreift und liebt.
Beim Tod des Kaisers Friedrich war wieder
einmal das Walten des Weltdämons offenbar;
erst die Möglichkeit einer menschlichen Voll-
286
kommenheit auf dem Thron, wie ein verlockendes
Spiegelbild, welches die schönsten Hoffnungen
weckt und dann im Hohn des tragischesten Endes
versinkt, damit man inne werde, dass Ideale nur
gleich Meteoren vorüberziehen, um uns die Tan-
talusqual der fruchtlosen Arbeit der Weltver-
besserung desto besser fühlen zu lassen.
Einer der angenehmsten Zustände im Leben,
voll Stimmung, Grazie und Poesie, ist der einer
wechselseitigen, zarten, unausgesprochenen aber
erratenen Neigung, ohne heftiges Verlangen, ohne
allen Anspruch, nur ein freundliches Wogen von
Herz zu Herz, Blicke von Wohlwollen leuchtend,
zarte Aufmerksamkeiten, inniges Mitempfinden
und Freude an dem Wesen des andern. Selbst
das Leid der Trennung hat dann etwas weh-
mütig Schönes, ein sanftes Ausklingen, ein reue-
loses Vermissen, wie die Stimmung, die uns
nach einem schönen Sonnenuntergang bleibt.
Eine Dame meinte, man müsse doch nicht
bloss mythische Typen ewiger Gestalten zum
Gegenstand der Kunst machen, sondern auch
wirkliche Menschen. Mir fällt bei derartigen
Behauptungen immer die Disputa von Raphael
ein, unten die Disputierenden, um den Wortlaut
Streitenden, wissenschaftlich Wirklichen, die
- 287 —
nicht sehen, wie oben das grosse Mysterium Wirk-
lichkeit geworden ist, wie erst die vom Schein
Erlösten die Wirklichen geworden sind. »Das
Unzulängliche hier wird's Ereignis«.
Wie seltsam ist es, dass das Auseinander-
kommen mit Menschen, die uns im Umgang ganz
angenehm waren, weiter kein tiefes Bedauern
zurück lässt. Die Welle trägt sie fort, als wären
sie nie dagewesen, während dagegen ein Bruch
mit solchen, mit denen der ewige Kern unseres
Wesens, das was wir ei gentl i ch sind und hoffent-
lich bleiben werden, berührt wurde, den Schauder
des Vergänglichen über uns bringt und den
Schmerz, für den es keine Versöhnung gibt. Im
Alter, wo diese Tiefe der Seelengemeinschaft
fast abgeschlossen ist wie ein Tempelheiligtum,
in dessen inneren Kultus kein profanes Auge mehr
dringt, wo wir nach aussen nur das ruhige Wohl-
wollen haben, welches gerne gibt und dankbar
empfangt, ohne dass es den Frieden jenes Heilig-
tums stört, erschliesst sich da noch einmal die
Tempelpforte, so erklingen solche ewige, erhabene
Harmonien, dass jeder weltliche Misston zur
tiefsten Pein wird. In der geheimen Gewissheit
jenes ewigen Zusammenhanges scheint das ganze
äussere Leben leicht und dem ähnlich, welches
wir mit anderen fuhren. Drängt sich aber ein
Misston hinein, so bildet sich eine schmerzliche
Schranke, die mit den Gleichgültigen nicht vor-
kommt.
— 288 —
Bei Gelegenheit der Unterhaltung mit einer
Spiritistin fragte ich, ob das Unsterblichkeit sein
könne für einen denkenden Geist, in einer ge-
spenstischen Form, als ein Schatten ohne Inhalt,
ohne Wesen, ein zielloses Dasein zu führen ? Die
Vorstellung von übermenschlichen Existenzen,
die in untätiger Seligkeit feiern, wäre es eine
wünschenswerte Fortsetzung des strebenden,
kämpfenden Menschendaseins, welches, wenn
gleich dem Gesetz alles Zeitlichen in seiner ein-
zelnen Erscheinung verfallen, dennoch rufen kann:
»Tod wo ist dein Stachel?« Denn wir wissen
es ja, dass es keinen Tod gibt, dass jedes Atom
des zerfallenden Körpers der Stoffwelt wieder
ein Keim neuer Gestalten, neuer Schöpfungen
wird und dass ebenso jedes bedeutende Wort
hoher Geister, jeder Gedanke, der eine neue
Saite im Menschenleben tönen macht, jede reine
fruchtbringende Tat, unverloren sind in der
Ewigkeit des Daseins ; dass in einer unendlichen
Kette neue Gedanken, neue heilige Empfindungen,
neue Taten sich daran reihen und, während
das einzelne der Erscheinung stirbt, das unsterb-
liche Ganze bilden, den Geist der Welt, welcher
über denen steht, denen er als Blüte entstieg.
So steht der Mensch der neuen Zeit dem Tod
gegenüber. Der Notwendigkeit, dem Schicksal
der Erscheinung unterwerfen wir uns, indem wir
die schweren Bedingungen, die uns diese Er-
gebung auferlegt, anerkennen. Das ist der
Schmerz, den wir als die wirklich Entsagenden
auf uns nehmen mit der Gewissheit, dennoch
— 289 —
nicht umsonst gelebt zu haben. Zu wissen, dass
der Geist über uns hinwegschreitet zu vollen-
deteren Schöpfungen, zu reineren Siegen, haben
wir einen anderen Anspruch an Seligkeit als
diese Gewissheit?
Ist es denn so schwer zu begreifen, dass die
Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder
dazu erziehen, die Völker gewöhnen dies zu be-
greifen, damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe
der Kultur erfüllt. Die Familie und der Staat
würden dadurch ihre wahre beglückende Form
finden, während die gewalttätige Autorität ewig
die Empörung an ilirer Tür findet.
Die Natur, ehe sie in den Dualismus von
Begierde und Erkennen eintritt, ist unschuldig
und objektiv schön. Die Pflanzen- und Steinwelt
kennt keine Begierde, hat auch keine Erkenntnis,
ist deshalb ohne Schuld und ohne Erlösung,
deren sie nicht bedarf; sie ist im Zustand des
Paradieses, braucht das erkennende Subjekt nicht,
ruht in ihrer eigenen Vollkommenheit, gehorcht
einfach den Naturgesetzen, unbekümmert, ob sie
von einem Subjekt erkannt und genossen wird.
Sie ist daher an sich schön wie das Ding an
sich, das sich in ihr, ungeteilt in Wille und
Vorstellung, ausspricht. Mit dem Tier tritt der
Dualismus zwischen Begierde und Erkennen ein.
Meysenbug, IV. 19
— 290 —
Mit ihm entsteht das Subjekt, das Individuum,
welches für sich empfindet, leidet und erkennt.
Nur ist im Tier die Begierde, also der Wille
auf seiner niedrigsten Stufe, als blosser Trieb
zum Leben, das Überwiegende. Das Erkennen
ist noch gebunden, daher kann weder von
Schuld noch von Erlösung die Rede sein; das
Subjekt geht noch ganz in der Gattung auf und
trennt sich erst in den höheren Tieren merklich
von ihr. E^ ist dann ein unseliger, grausamer
Zustand und die wehmütigen Augen kluger Hunde
sagen es deutlich genug. Erst im Menschen ge-
langt das Subjekt zu seinem vollkommenen Aus-
druck. Er hat die Fähigkeit, das Erkennen über
die Begierde siegen zu machen, sein ist die
Schuld und sein die Erlösung. Daher scheint
er sich selbst Mittelpunkt des Daseins. Weil
sich- in ihm, wie in einem Brennpunkt, alle
Strahlenbrechungen des Dings an sich, die
gebundenen und entbundenen Formen der Er-
scheinung, vereinigen, kann er glauben, dass er
als erkennendes Subjekt erst die Welt zu dem
mache, was sie ist, für ihn wird sie erst Welt,
indem er sie erkennt. Der Wille erkennt
sich überhaupt erst, indem er sich selbst Vor-
stellung wird, sich in Subjekt und Objekt
scheidet, dann erst tritt auch der Begriff von
Schuld und Erlösung im höheren ethischen
Sinne ein.
Gemein wird die Welt mit dem Eintritt
des Dualismus von Begierde und Verlangen auf
der einen, und Erkenntnis und Kraft der Ent-
— 291 —
sagung auf der anderen Seite. Daher ist das
Tier noch nicht gemein, es kann nur wollen,
nicht erkennen, sich beherrschen und entsagen,
sein Wollen ist daher unschuldig, Die Lust ist
das Höchste, wozu der blosse Wille zum Leben
sich aufschwingt. Weil er aber ein höheres
ethisches Vermögen, wenn auch unbewusst, in
sich hat, befriedigt sie ihn nicht; der Grund
liegt darin, dass sie sich nur in vergänglicher
Erscheinung befriedigt, daher kommt aus ihr
nur Reiz zu neuer Lust, bis sie endlich über-
sättigt an ihrer eignen;, Vergänglichkeit scheitert
und im Ekel endet. Ihr gegenüber tritt auf der
höheren Stufe der Entwicklung die schöpferische
Lust ein und zeigt sich als höchste, immer
steigende Lust am Unvergänglichen, als Genuss
der in Wonne endet, anstatt im Ekel. Das
Ganze ist klar: dort ist es der Wille als sinn-
liche Erscheinung, welcher sinnliche Befriedigung
sucht, vergängliche Zeugung. Hier ist es der
sich erlösende Wille mit der Erkenntnis ver-
mählt, welcher Unvergängliches erzeugt, daher
befreiend, befriedigt.
Dass die Welt einer neuen Religion bedarf,
ist kein Zweifel. Die alten Religionen haben
sich ausgelebt; das weltliche Machtbedürfnis,
das potere temporale auf allen Gebieten, hat
das Übergewicht erhalten über den Geist, der
zu »höheren Sphären erhebt« und anstatt die
19*
— 292 —
Menschheit in Frieden und Liebe zu einen, führt
die Verschiedenheit der Bekenntnisse sie zu Hass
und Streit und zum Rassenkrieg. Die neue
Religion sollte die Religion der menschlichen
Würde sein. Der Mensch müsste Freude daran
haben, sich zu einem sittlichen Wesen auszubilden,
aus sich selbst ein schönes, harmonisch ent-
wickeltes Kunstwerk zu machen. Je höher seine
sittlichen Bestrebungen sich steigern, je schwerer
werden freilich die Kämpfe sein, welche die
unüberwundenen Leidenschaften und die Mächte
des Bösen heraufbeschwören, aber je standhafter
wird auch die Seele um Lösung der sittlichen
Probleme ringen, um die Herstellung der inneren
Einheit, die aus den Tiefen des Kampfes aufer-
steht zu neuem Streben, die in den tödlichen
Schmerzen neue Kraft zum Leben gewinnt.
Diese Siegesmomente sind es dann, wo sich der
niedere irdische Raum zum Tempel wölbt, wo
das Götterbild, welches jedes sittliche Wesen im
Herzen trägt, auf sein Piedestal steigt, in der
tiefen Verschwiegenheit der eigenen Seele und
mit Götterruhe auf das besänftigte Meer der
Gefühle sieht. Das sind die Augenblicke des
wahren Gebets, d. h. der Erkenntnis jener
Kraft, die in uns ruht und die allein uns zum
Menschen macht. Es ist dies wie die Trauer und
das schmerzliche Ringen des Künstlers so lange
er noch dunkel nach seinem Ideale sucht, der aber,
wenn er es gefunden hat, wenn er es strahlen
sieht in reiner, von allem Zweifel befreiter
Schönheit, die heilige Seligkeit der Erfüllung
— 293 —
empfindet. Es ist der Gottmensch, der geboren
wird in der Stunde, wo das irdische Greschöpf
sich durch seine Wahl zum sittlichen Adel seines
Daseins erlöst hat.
Fürchtet euch nicht vor dieser Religion!
Sie erst wird die Erde zu einem Wohnplatz
wahrer Menschen machen; sie ist die einzige
dauernde Lösung aller Konflikte, denn der
Kampf der Leidenschaften wird nicht ausbleiben,
aber seine Lösung wird die richtige werden in
den Naturen, denen sittliche Vollendung Religion
geworden ist. In der heissen Schlacht der
Schmerzen erlösen sie sich selbst, unter bitteren
Qualen gekreuzigt, auferstehen sie in neuer
Jugend und Unverletztheit der Seele und der
Schmerz wird zur Kraft und zeugt edlere Taten,
reinere Liebe, hellere Gedanken als zuvor.
Willst du diese Religion der ewigen Selbster-
lösung nicht verstehen, Welt?
Eine schöne Überraschung.
Ich bedurfte bei Abfassung meines Romans
»Phädra« einer Schilderung Corfus, das ich
leider nicht selbst gesehen habe und erinnerte
mich dabei, vor mehreren Jahren Beschreibungen
der Jonischen Inseln in der Augsburger Allge-
meinen Zeitung gelesen zu haben, die mir einen
bleibenden Eindruck hinterlassen hatten, so dass
ich danach zu suchen anfing, bis ich sie endlich,
zu einem Band vereinigt mit dem Titel »Odysse-
ische Landschaften« vom Freiherrn Alexander
von Warsberg, wiederfand. Es erschien mir
dies Buch als ein wahres Muster der Reiselite-
ratur und erfüllte mich mit Sympathie für den
Autor, dessen Seele mir aus diesen Blättern
sprach und dessen hohe klassische Bildung neben
dem Reiz poetischer Naturanschauung zugleich
ernste Belehrung gewährte. Doch lag mir der
Gedanke fem, dass ich jemals zu dieser Persön-
lichkeit eine Beziehung haben könne, da ich
nach eingezogener Erkundigung erfuhr, dass er
— 296 —
weit ab in einer Mitte lebe, die fern von allen
mir befreundeten oder erreichbaren Kreisen war.
Um so grösser war mein Erstaunen, als ich
einige Zeit nach dem Erscheinen dieses Romans
einen Brief mit dem Poststempel »Corfu« und
der Unterschrift »Alexander v. Warsberg« er-
hielt, der also lautete:
»Ich bin ein schlechter Romanleser und nun
gar deutsche Romane nehme ich kaum je zur
Hand. Da ich vor drei Wochen in Wien war,
forderte mich aber mein Buchhändler auf, doch
einen Blick in die drei Bände der Phädra zu
werfen, weil er meinte, so wie ich ihm seit
langen Zeiten bekannt geworden bin, ich würde
darin eine Menge Ideen finden, die er seit Jahren
von mir gepredigt höre. Auf der See, zwischen
Triest und Corfu schwimmend«, (Herr v. Wars-
berg war zu der Zeit österreichischer Konsul in
Corfu) »habe ich denn das Buch auch wirklich
in einem Zuge verschlungen. Sie haben für alle
Lebensfragen den edelsten Idealismus zur Grund-
lage, um darauf Ihre Antwort -aufzubauen und
der wahrer ist als der heute so vorlaute Realis-
mus, weil doch nur die Oberfläche der Dinge
körperlich erscheint, in ihnen, in einem jeden aber
andere uns ungreifbare Kräfte wirksam sind. Ich
sende ihre drei Bände eben einem gleichgesinnten
auch menschenfreundlichen Freund, Graf Rudolf
Hoyos, damit er sie mit meinen Anstrichen und
Randglossen lese und dann einer Freundin weiter
gebe. Ihr Buch ist ein wirklich merkwürdiges
und erstaunlich ist mir die Persönlichkeit, die
dahinter steht.«
— 297 —
Es folgten dann noch Erkundigungen, ob ich
mit einem Herrn meines Namens verwandt sei,
der im österreichischen Staatsdienst Staatssekre-
tär im Ministerium gewesen sei und in dessen
Hände er seinen Amtseid bei seinem Eintritt in
das Ministerium abgelegt habe und anderes. In
meiner Antwort konnte ich ihm nun sagen, dass
dies mein Bruder gewesen sei und konnte ihm
einige Anknüpfungspunkte an mein persönliches
Leben geben, nachdem er durch das Buch einen
ihm sympathischen Eindruck von meiner Geistes-
richtung erhalten hatte. Dieser Antwort folgte
bald ein zweiter Brief von ihm und es entspann
sich eine eifrige Korrespondenz, die sich durch
zwei Jahre fortsetzte und uns ohne persönliche
Bekanntschaft einander sehr nahe brachte. Seine
amtliche Stellung in Corfu sagte ihm zum Teil
seiner angegriffenen Gesundheit wegen zu, aber ich
konnte mir nach dem Eindruck der Odysse-
ischen Landschaften wohl denken, dass diese
klassische Stätte ihm auch eine wahre Seelen-
heimat sein musste. Doch schrieb er mir in
einem der nächsten Briefe: »So schön und
sonnig ich in der Stadt wohne, das Meer nur
fünfzig Schritt vor und unter mir, mit den jen-
seitigen, schneebedeckten Steilgebirgen von Epirus
in weitester Ausdehnung sichtbar, so kann und
mag ich doch hier nichts Poetisches, Duftiges
anrühren. Eine Unterbrechung jagt die andere
und indem ich schreibe, muss ich fortwährend
in amtlichen Dingen Bescheid geben. So bin
ich ein Wollüstling der Einsamkeit geworden.
— 298 —
Gute Gesellschaft finde ich beinah nur noch in
Büchern. Bei jeder anderen Berührung stört
mich die Mangelhaftigkeit der Form, des Aus-
drucks. Beim Bauer noch am wenigsten, denn
für das, was er zu sagen hat, stimmt das Kleid
seiner Rede. Die sogenannten Gebildeten aber
heutzutage kommen mir gerade so vor wie
die Sänger, denen der Wortschwall der modernen
Schule die Stimme ruiniert hat. Man muss zu
Goethes Zeit besser gesprochen haben, sowie
man schöner schrieb.« Er erzählte dann, dass
er sich die »Memoiren einer Idealistin« gleich
nach der Lesung der Phädra habe kommen
lassen, sie aber der ewigen amtlichen Störungen
wegen noch nicht gelesen habe und sie für seinen
nächsten Landaufenthalt aufbewahre, »denn«,
fuhr er fort, »soviel habe ich daraus schon ge-
nippt, um zu merken, dass es ein unter Oliven
und Cypressen mit dem Fembhck auf das Meer
und dem Klange der Brandung im Ohr zu
lesendes Buch ist und da ich das mindeste, was
der Leser dem Autor schuldet, darin erkenne,
dass er ihm ähnliche Stimmungen entgegen-
bringe, wie sie ihm der Verfasser geben will
und sie bei seiner Arbeit empfand, so übe ich
auch immer die Gerechtigkeit, meine Lektüre den
Situationen und Örtlichkeiten möglichst anzu-
passen, ebenso meine eigenen Arbeiten, welche ich
auch danach einrichte, gleichstimmig zu inspirieren.
Sie werden mir dienen, wie ich ihnen. Die
Jahreszeit ist schon so entwickelt, dass ich an-
nehmen darf, es wird bald geschehen können.
— 299 —
dass ich mein Landhaus bei Gasturi beziehe,
wo ich zufälligerweise — bis auf den Luxus
den Sie hineingedichtet haben — wohne, als sei
ich Ihr Originalheld der Phädra. Ein Freund
dem ich Ihren Roman mitgeteilt hatte, war
als ich ihn in die Villa führte, auch von dem
Zufall betroffen, wie Sie, gleich wahren Dichtern,
was Sie mit visionärem Auge zu schauen be-
gehrten, auch wirklich gesehen haben.«
Nach kurzer Zeit kam wieder ein Brief, aus
seinem Landhaus datiert, wo er schrieb: »Ich
stehe schon mitten in dem Roman einer Idealistin,
oder eigentlich ich bin schon ein gut Stück über
die Hälfte hinaus, denn ich beendigte heute Nacht
den zweiten Band. Ich habe mich nicht ver-
schrieben, indem ich eben ,Roman' statt Me-
moiren sagte. So in diesem Eindruck lese ich
das Buch in einer Spannung, die mich oft stunden-
lang, obgleich ich zu anderen Dingen übergehen
müsste, nicht -davon kommen lässt. Liegt das
am Erlebten oder an der Art wie dieses erzählt
wird? Vielleicht an beiden und noch mehr aber
an der Art wie das Erlebte erlebt ward und
weil alle Gedanken des Buchs den Eindruck
machen von Gelegenheitsgedanken im Goetheschen
Sinn. Nie hat man den Eindruck, dass etwas
aus einem anderen Grund gesagt worden ist,
als weil es die eigene augenblickliche Erfahrung
und zwar ohne viel Nachdenken, ohne Reflexion,
so aufspriessen Hess, nicht anders als die Feld-
blumen spriessen, niemals so wie in Gewächs-
häusern gezüchtet wird. Das ist überhaupt ein
— 3CO —
Vorteil der Frau, wenn sie gescheit ist und
schriftstellert, dass alles an ihr origineller, un-
mittelbarer, eigentümlicher erscheint. Sie hat
auch vielmehr le courage de son opinion, der in
Wahrheit den Männern beinah gänzlich fehlt. So
war die George Sand, so ist die Quida in ihren
besten Sachen, so finde ich nun Sie. Philo-
sophisch freilich erscheinen Sie darum nicht.
Auch mit Ihrer Politik wären keine Staaten zu
regieren. Besser begegnen wir uns auf dem so-
zialen Gebiet. Was Sie dort bemerken, sah, be-
dauere und tadele auch ich. Die Differenz be-
steht dort nur zwischen uns betreffs der Heil-
mittel: Ich sehe diese, bezüglich der Menschheit,
vielleicht cynischer an als irgend einer. Alle
Irrtümer in der Behandlung dieser Fragen be-
ruhen darauf, dass sich der Mensch im einzelnen
und noch mehr die Menschheit als solche im
ganzen einen sehr überschätzten Wert beilegen.
Wir sind nur knapp etwas höher im Organismus
des Ganzen zu achten, als das Tier und die
Pflanze. Man sehe nur, wie viel in der Welt
ganz ohne unser Zutun und selbst ganz ohne
unser Verständnis, nicht weniger als über dem
Tier und der Pflanze hinaus, geschieht, ja, wie
wir ganz wie diese Elemente des kosmischen
Werdens nicht einmal uns selbst beherrschen
können, nichts, recht eigentlich gar nichts von
uns abwenden können. Es ist nicht möglich,
den Menschen als den Abschluss des Daseienden
zu fassen. Es müssen Kräfte über uns sein,
deren Einfluss wir empfinden ohne deren Wirken
— 30I —
zu sehen, wie wir in jedem Augenblick Tausende
von Wesen vernichten, die von uns keine andere
Vorstellung haben können, als wir vom soge-
nannten Fatum. Ich kann darum für alle sozialen
und politischen Fragen keine andere Heilmethode
anerkennen als diejenige, welche im stände ist
für den Augenblick rein praktisch zu wirken
und konnte daher, trotz meinen dichterischen
Anschauungen, noch jedesmal mit jeder Tages-
frage des öffentlichen Lebens fertig werden. Mit
sehr starkem Willen begabt, würde ich mich nie
furchten als ausübender Staatsmann den Stier
bei den Hörnern zu fassen. Daher haben für
mich in der Geschichte auch sehr viele ener-
gische Staatsmänner recht gehabt, z. B. alle die
Tyrannen der italienischen Renaissance. Ich
respektiere sie, denn sie haben etwas geleistet.
Und nur darauf kommt es an. Deswegen sind
wir hier. Das ist unsere eigne und der Mensch-
heit Veredlung im allgemeinen. Mehr ist der
Mensch nicht wert. Tier und Pflanze fallen
demselben Zweckbegriff zum Opfer. Freiheit
freilich gibt es dab^i keine, gab es auch nie,
nur im Zustand der ersten Wildheit. Bildung,
Erziehung, Civilisation und wie die vergoldenden
Worte alle heissen, sind Bindung, Einschränkung.
Sehen Sie die ganze Weltgeschichte an ; das mag
traurig sein, aber es ist so, soNvie es auch immer
schon so war.
Zu all dem haben sie mich angeregt. Ich
denke nun viele Tage so fort auf meinen Spazier-
gängen, nachdem ich, unter Olivenbäumen liegend.
— 302 —
Sie gelesen. Man könnte aus Ihrem Buch einen
Auszug der herrlichsten Gedanken > Sinnsprüche«
machen. Ein Liebling von ~ mir ist im i8. Ka-
pitel des I. Bandes, die Bemerkung über die
moralische Heilkraft des Meers. Herrlich, was
Sie im nächsten Kapitel sagen, dass in jeder
weiblichen Liebe ein Zug Mutterliebe mit ent-
halten sei. Das habe ich geahnt, sie haben es
erfunden. Die ganze Seite des 2. Bandes, da Sie
bei Broadstairs am Meer sassen, der Mond auf-
ging und Sie divinatorisch die erste Form der
Liebe in der Materie gewahrten und errieten,
habe ich an- und unterstrichen. Das sind Dithy-
ramben eines Dichters, wie nur Dante einer ge-
wesen. Dann ihre Erziehungstheorie, dass es
gelte die Originalität der Naturen zu erhalten,
habe ich ebenso angestrichen. Ich gehe noch
weiter : als moralischen Mörder möchte ich den
Lehrer verantwortlich erklären und unter einen
Strafkodex stellen, welcher diese Originalität
umzubringen wusste. Denn damit schädigt man
die Produktionsfähigkeit für das allgemeine Beste.
Das ist ein grösseres Übel für die Menschheit
als manchmal einen umzubringen, der ihr im
ganzen nichts Gutes getan hat. Ferner S. 143,
wo Sie wiederum in der Meereseinsamkeit das
Mysterium des Lebens fanden, habe ich auch
so hundertmal zu meinem Glück und Wohlergehen
erfahren.
Ihr Stil ist ganz absonderlich. Sie scheinen
sich gehen zu lassen und doch liest man sich
dabei in einen fortwährenden Claude Lorrain
— 303 —
hinein. Das mag der Idealismus sein, den sie
selbst bekennen als die Grundlage Ihres Wesens,
und welcher den Gemälden jenes Meisters auch
als allgewaltig innewohnt. So sehr habe ich
immer den Eindruck Claude zu sehen, wenn ich
Sie lese, dass ich, ein Gläubiger der Seelen-
wanderung, ganz ernstlich frage: ist da nicht
jener Keim wieder aufgegangen?«
Wenn mir schon diese Briefe, sowohl was
Lob als Tadel betraf, höchst wertvoll und er-
freulich waren, so wurden sie es noch mehr durch
die darin ausgesprochenen allgemeinen Ansichten ,
mit denen ich nicht immer übereinstimmte, die
mir aber nach und nach das Bild der Persön-
lichkeit des unbekannten Freundes vervollstän-
digten und zu einer grossen anziehenden Be-
deutung erhoben. Am Ende des ersten Jahres
unserer Korrespondenz erhielt ich wieder einen
Brief aus Corfu, nachdem er im Sommer auf dem
Festland in Osterreich gewesen war und von
da einen Besuch in Weimar gemacht hatte, das
er noch nicht kannte »natürlich um Goethes
willen« schrieb er, »ich lese jetzt seine Werke
mit ganz anderem Verständnis, seitdem ich
deren Hintergrund, die Umgebung, habe kennen
lernen. Für die Wahlverwandtschaften z. B. ist
diese Kenntnis des Schauplatzes, der Gärten,
welche darin offenbar Muster gewesen sind, ganz
unentbehrlich. Es fallt mir dabei auf, wie man
einen Schriftsteller, je vollendeter er schrieb, mit
den zugenommenen Jahren noch ganz anders er-
kennt, wie man ihn doch im frischen regen
— 304 —
Jünglingsalter erfasst zu haben glaubte. Ich
meinte stets den ganzen Goethe umfasst zu haben
und sehe jetzt, da ich z. B. seinen Winkelmann
wieder lese, dass ich noch nichts davon erfasst
habe, dass er ein Übermensch ist im Vergleich
zu der Vorstellung, die ich von damals her hatte.
Das Durchgeistigte des Stils, wie jedes Wort
nicht bloss ein gedachtes, vielmehr ein durchaus
gefühltes ist und er sich wohl auch nur dadurch
leiten liess, sowohl im künstlerischen, wie im ver-
ständigen Sinn, das bemerke ich erst jetzt ganz
in meinen alten Tagen. Ich glaube, dass es
nichts Stilbildenderes gibt als Goethesche Prosa
zu buchstabieren.« Dann fuhr er fort: »ich lebe
jetzt ganz einsam, die Abende meist allein zu
Haus, bis 2, 3 Uhr nachts lesend, mit Vorliebe
alte Bücher. Ich begreife so viele meiner Freunde
nicht, die sich die Zimmer voll mit reizendem
alten Gerumpel stellen, dazu aber französische
Schandromane lesen, die nur schlecht wieder-
holen, was die schmutzige Gegenwart uns schon
unausweichlich gegenüberstellt. Das eine oder
andere ist unwahr und affektiert: diese antike
Sammelwut oder das Lesen dieser Modernen.
Ich will durch meine Bücher, wie durch meine
Zimmer, in eine andere poetische, märchenhafte
Welt versetzt werden. So schwelgte ich z. B.
diese Nacht in Washington Irvings tales of a
traveller, besonders in den goldenen Träumen
des Wolferl Webber. Sie haben auch Dir ganzes
Leben so goldig geträumt und ich preise Sie
darum glücklich. Sie hätten uns allen nicht
— 305 —
den Wert, wenn Sie statt dessen nach heutigem
Pariser Muster, recht wohl berechnet praktisch
das Leben und Ihre Werke mit der Elle zu-
gemessen, mit der Schere beschnitten hätten.«
So erschien mir immer der gleiche Idealismus
in ihm, immer die Höhe der ästhetischen An-
forderungen an die Kunst und an das Leben
und die Überzeugung, dass in beiden das Schöne,
Gute, Natürliche der wahre Realismus ist, wie
er dies in einem seiner Bücher sehr schön aus-
drückt. Indem er von der entzückenden Schön-
heit der jonischen Ufer von Kleinasien und der
Herrlichkeit des Meeres bei Knidos redet, sagt
er: »Die Venus könnte jeden Augenblick daraus
wieder auferstehen ohne unnatürlicher zu er-
scheinen als die Delphine, die aufspringend und
sich überschlagend ihr Leben geniessen. So
durchaus aus der Natur geboren, wie jedes
Denken und Empfinden der Alten, war auch
der antike Götterglaube, daher Homer sagen
durfte: denn leicht zu erkennen sind Götter".
Die Welt ist nie natürlicher gewesen als damals,
echt realistisch, im guten edlen — ich möchte
sagen um nicht missverstanden zu werden, weil
heute dieses Wort so korrumpiert wird — im
idealen Sinn«.
Von seinen äusseren Verhältnissen erfuhr
ich nun nach und nach so viel, dass er aus
einem sehr alten lothringischen Geschlecht
stamme. Einer seiner Ahnen hatte sogar den
kurfürstlichen Stuhl von Trier inne gehabt und
durch mehrere Jahrhunderte werden die Wars-
Meysenbugi lY. 20
— 3o6 —
berg in Urkunden als freie Reichsritter des rhein-
fränkischen Gaues oder als Mitglieder des Deutsch-
herrn- und Johanniter-Ordens genannt. Ihr Stamm-
baum war untadelig und sie waren in den
stolzesten Kapiteln stiftsfähig, trugen auch Lehen
von Trier und empfingen dort am Hofe Ämter
und Würden aus der Hand des Kurfürsten. Auch
ein Alexander von Warsberg, der von 1767 bis
18 14 lebte, war der letzte Kämmerer des Erz-
stifts, sah den Untergang des Reichs und das
Ende der Selbstherrlichkeit des eigenen, sowie
vieler anderer deutscher Geschlechter. Hätte
man dem Atavismus nachspüren wollen, so
hätten sich in meines Freundes Charakter wohl
nicht undeutliche Spuren mit jenen Vorfahren
finden lassen, zunächst das stolze Unabhängig-
keitsgefühl reichstreuer kleiner Dynasten (daher
seine Anhänglichkeit an Oesterreich, als der
geschichtlich berufenen ersten Macht Deutsch-
lands und seine Abneigung gegen Preussen), sein
Widerwillen gegen den Protestantismus und
seine Vorliebe für antike Kunst, deren Überreste
in Trier so bedeutend sind.
Der Vater Alexanders hatte von seinen Vor-
fahren ein ansehnliches Vermögen ererbt und
seine drei Söhne konnten sich in der ersten
Jugend als Erben eines reichen Besitzes ansehen.
Unglückliche Spekulationen machten demselben
ein Ende, und als die Familie nach Graz über-
siedelte, wo Alexander sein erstes Universitäts-
jahr verbrachte, wurde ihm die herbe Ent-
täuschung zuteil, . sich in einer völlig ver-
— 307 —
änderten Lebenslage zu finden. Er ertrug dies
Missgeschick mit dem heiteren Sinn der Jugend
und ging dann zur Fortsetzung seiner Studien
nach München, wo ihm in Kunst, Wissenschaft
und Literatur die Quellen reicher Bildung und
durch den Umgang mit hervorragenden Menschen,
die förderndsten Einflüsse zuteil wurden. So
hatte er unter anderem viel im Hause des
Grafen Pocci, des geistreichen Romantikers,
verkehrt, wo bedeutende Menschen aus- und
eingingen und ihn mit Auszeichnung behandelten.
Hier hatte er öfter die königlichen Prinzen, da-
mals noch Knaben, gesehen, welche mit den
Söhnen des Hauses zu spielen kamen. Er wider-
sprach auf das entschiedenste dem Gerücht, dass
die Erziehung sehr viele Schuld gehabt habe
an den nachherigen traurigen Geisteszuständen
des edlen, hoch- und ideal-begabten Königs
Ludwig II. und seines Bruders und berief sich
dabei auf die vorzüglichen Männer, welche daran
beteiligt gewesen waren und welche er in
jener Zeit kennen gelernt hatte.
Wie träumerisch innerlich sein Gemütsleben
damals gewesen sein muss, erhellt aus einem
kleinen Vorfall, den er mir später, nach persön-
licher Bekanntschaft, einmal erzählte. Seine
Mutter war mit ihm nach München gezogen,
als er sich dorthin zur Universität begab, kehrte
aber nach einiger Zeit in den Wohnort der
Familie Graz zurück. Alexander war danach
eines Abends im Theater und ganz verloren in
die poesieerfüllte Gedankenwelt, die dort in ihm
ao*
— 3o8 —
angeregt war, schritt er, ohne sich dessen be-
wusst zu sein, der Strasse zu, wo die Mutter
gewohnt hatte, um, wie gewöhnlich den Tee-
abend bei ihr zuzubringen, trat in das Haus ein,
erstieg die Treppe, zog die Klingel und wurde
seines Irrtums erst inne, als eine ihm fremde
Magd die Tür öffnete und fragte, was er
wünsche.
Das Verhältnis zu seiner Mutter muss ein
besonders inniges gewesen sein. Sie liebte
diesen Sohn über alles und sein feines sinniges
Wesen, sowie seine ungewöhnlichen Geistesgaben
und sein Eifer bei ernsten Studien, waren die
Freude seiner Eltern. Nur wegen seiner von
klein auf zarten Gesundheit hatte die Mutter
schwere Sorgen, wozu beitrug, dass das wissens-
durstige Gemüt des Knaben ihn nur zu oft fort-
trieb von den Spielen und dem leeren Zeitver-
treib anderer Kinder, in einen stillen Winkel,
wo er Stunden hindurch, mit Lesen und ernsten
Arbeiten beschäftigt, allein blieb.
In jener Studienzeit in München ging ihm
dann in ungewöhnlicher Weise sein Lebenspro-
gramm auf Eines Tages sah er in der neuen
Pinakothek ein Gemälde von Peter Hess, das
einen Trupp griechischer Landleute darstellt, die
am Strand des Meeres dahinziehen. »Da, wie
es zuweilen zu gehen pflegt,« sagte er, »dass
dem Menschen durch irgend ein zufälliges Er-
eignis seine eigentliche Bestimmung und sein
Schicksal in einer Art von Hellsehen, wie in
einer plötzlichen Beleuchtung, klar werden, so
— 309 —
fühlte ich, indem ich dies Bild betrachtete, dass
ich das auch einmal erleben müsse und all mein
Wünschen und Wollen richtete sich darauf,
Griechenland und den Orient zu sehen.« Und
als er es erreicht hatte und in seinem ersten
Buch: »Ein Sommer im Orient« jenes prophetisch
erleuchteten Moments gedachte, schrieb er: »Es
ist nicht das erste Mal, dass mir scheinbar Un-
mögliches, welches ich übermütig begehrt hatte,
gewährt worden ist; dem Wunsche, wenn er
nur fest und unablässig bleibt, wird selten die
Erfüllung fehlen. Eine eigentümliche Kraft,
etwas wie ein elektrisches Fluidum ist in ihm
wirksam, das instinktiv unsere ganze Tätigkeit
nach dem einen Ziele richtet. Wird dieses dann,
so wie heute« (als er nun wirklich im Orient
war) »erreicht, dann scheint es mir Pflicht eines
schuldigen Danks der glücklichen Stunde und
der Veranlassung zu gedenken, die zuerst die
Sehnsucht und das Verlangen geboren hat.«
Nach beendigter Universitätszeit und glänzend
bestandenem Examen trat er in den Staatsdienst,
als Praktikant bei der Grazer Statthalterei. Aber
die engen, wenig anregenden Verhältnisse der
Provinzialstadt übten einen niederdrückenden
Einfluss auf das Gemüt des jungen Mannes und
vergebens suchte die liebende Mutter einen
Ausweg für ihn aus dieser Lage und einen
Schauplatz, wo seine reiche Begabung sich frei
nach allen Seiten hin entwickeln könnte. Das
Geschick kam ihm endlich zu Hülfe durch die
Bekanntschaft mit der Familie des Freiherrn von
— 3IO —
Pro kesch -Osten, der als österreichischer Bot-
schafter in Konstantinopel weilte, dessen Familie
aber in Graz zurückgeblieben war. Frau
von Prokesch, eine in jeder Beziehung aus-
gezeichnete Frau, empfing den jungen Warsberg
in ihrem gastlichen Hause, erkannte seine edle,
reiche Natur, betrachtete ihn bald wie einen
Sohn und führte ihn mit sich nach Konstanti-
nopel, als sie ging, ihren Mann zu besuchen.
Hier entspann sich nun das innige Freundschafts-
band zwischen Prokesch und dem jüngeren Mann,
das von Seiten des letzteren zu einem wahren,
das Grab überdauernden Kultus der Verehrung
und Liebe wurde. Die Spuren des gewaltigen
Einflusses, welchen der ältere auf den jüngeren
Freund ausübte, finden sich überall in dessen
Schriften, in den Äusserungen über Politik, Ge-
schichte, Gesellschaft und Kunst. Was er von
Prokesch sagte, lässt sich auch auf ihn an-
wenden: »Es ist merkwürdig, wie realistisch er,
der Poet, den man so oft auch einen Phantasten
nannte, in den politischen Dingen sich stets in
der Gegenwart hielt. Er mahnt auch dadurch
an die Menschen der antiken Zeit. Entfernte
und nebelhafte Möglichkeiten hatten keinen Reiz
für ihn. Namentlich sein Charakterbild als
Staatsmann ist dadurch markiert. Das kam da-
her, weil er, durchaus moralisch, als Politiker
stets nur an die Interessen dachte, die er zu
vertreten hatte, an die des Volkswohls und nicht
an das Mehr oder Weniger von Belohnung für
seine Eitelkeit.«
— 311 —
Ebenso Poet wie Prokesch, Idealist in Poesie
und Kunst, lagen Warsberg auch alle politischen
Träume fern, oder vielleicht entfernte er sie
prinzipiell aus seinem Denken, weil er weder
demokratisch noch konstitutionell gesinnt war,
sondern autokratisch-monarchisch. So sagte er
mir einmal, indem er von seiner politischen
Tätigkeit in Griechenland sprach und von einer
Periode des vorherrschend demokratischen Ele-
ments daselbst, er habe dem Könige von
Griechenland gesagt: >^die Politik der Könige
ist warten.^ Das habe sich in dem Fall auch
bewahrheitet, da kurze Zeit darauf das demo-
kratische Ministerium gestürzt worden sei. Ich
war nicht seiner Meinung und meinte vielmehr,
die Politik der Könige sei, voraussehen und vor-
beugen. Auf dem politischen Gebiet waren wir
aber überhaupt selten derselben Ansicht. So
hatte ihn z. B. das Jahr 1866 in »leidenschaft-
liche Verzweiflung« gebracht und es konnte ihn
selbst nicht trösten, als Prokesch ihm aus Kon-
stantinopel, nach dem Ende des preussisch-
österreichischen Kriegs, schrieb: »Dass wir aus
dem deutschen Bunde sind, ist die einzige Licht-
seite in unserem Unglück ; denken Sie recht
nach, und Sie werden es auch finden. Ausser-
halb können wir in Deutschland gelten, inner-
halb desselben, Preussen oder Minoritäten mit
engen Gesichtspunkten gegen uns, nichts. Möge
der Kultus der goldenen Kälber, der blossen
Formen und des Scheins aufhören und dafür
Intelligenz walten, dann kann Osterreich, gerade.
— 312 —
weil es nicht im Bund ist, etwas werden. Ge-
schieht dieser Umschwung nicht, dann freilich
wird es in keiner Lage etwas sein.«
Wie aber nicht allein durch persönliche Ein-
flüsse, sondern durch die ersten grösseren Reisen
ostwärts in die Länder seiner Träume, die er
nun wirklich besuchen konnte, sich ihm der
Blick weitete und die Weltbildung sich vor-
bereitete, welche seine späteren Reisen vervoll-
ständigen halfen, und wie sich alle Schätze von
Poesie und Naturgefühl, deren Keime in seiner
Seele lagen, zu voller Blüte entwickelten, zeigt
uns schon seine erste grössere literarische Arbeit,
die seine erste Reise nach Konstantinopel im
Jahr 1864 beschreibt. Wenn uns in den
»Odysseischen und Homerischen Landschaften«
der gereifte Mann entgegentritt, in dessen Ge-
müt das Leben schon manchen tiefen Schatten
geworfen und dessen Begeisterung selbst eine
Beimischung wehmütiger Resignation hat, so
weht uns aus diesem reizenden Buch eine
Jugendlichkeit der Auffassung und des Empfindens
an, die wahrhaft bezaubert, da sie schon mit
jener künstlerischen Lebhaftigkeit der Darstellung
verbunden ist, die uns glauben macht, dass wir
mit ihm sehen. Er war damals 28 Jahr alt,
aber es sprüht aus diesem Buch noch die volle
Frische einer Jünglingsseele, neben einerstaunens-
werten Belesenheit in den alten Schriftstellern,
aus denen ihm an Ort und Stelle die geist-
vollste Begründung historischer Tatsachen gegen-
über der hochmütigen Verweisung solcher ins
— 313 —
Fabelreich von selten deutscher Katheder-
Professoren hervorging. So sagt er u. a. in
diesem Buch:
»Kein Blick auf eine andere Stätte der Welt
hat mich mehr bewegt, als der auf dieses Feld
von Troja. Es ist nicht Gefallen an der Land-
schaft, denn die Luft ist kalt und farblos; es
ist auch nicht jenes unbedachte Entzücken, das
sich in Selbstvergessenheit verliert, denn mir
bleiben hundert betrachtungs volle Gedanken, es
ist vielmehr etwas wie Staunen und Grauen,
dass die Fabeln wahr gewesen und dass Meer
und Land die Schicksale der Helden überdauert
haben. Welche Taten spielten auf diesem
Boden! So ungeheuer und herrlich, dass die
spätere Anwesenheit eines Xerxes, Alexander
und Cäsar, die hier alle der älteren Erinnerung
gehuldigt, hier gebetet und geopfert haben, ver-
gessen werden kann. Es war schon die orien-
talische Frage, die auf diesem Flecke Erde Europa
und Asien zum ersten Male einander gegenüber
stellte, und welche dann jene späteren Eroberer
fortgesetzt haben.«
Schon bei dieser ersten Reise entwickelte
sich die begeisterte Liebe zum Orient, die Wars-
berg wie auch Prokesch nie mehr losliess und
beide dem Occident und der westlichen Civili-
sation etwas entfremdete. Mehr als einmal
drückte Warsberg den geheimen Grimm gegen
den Occident in scharfenWorten aus, wenn ihm
die Zauber des Orients mit ihrer Magie umgaben
und ihm den Kontrast zwischen dem Mutterland
— 314 —
alter Kultur und der modernen Civilisation be-
sonders anschaulich machten. So sagt er z. B.
einmal auf seiner lykischen Reise im Theater
von Kanthos: »Das Grossartigste unserer Ge-
birge ist hier dem Schönsten des Südens ver-
mählt. Leicht begreift man auf so alten ansehn-
lichen Ruinen stehend und aus denselben solche
Prachtbilder schauend, dass der Mensch hier ein-
mal sich Wohlbefinden, sich festsetzen, reich und
übermächtig werden konnte. Aber was man
nicht begreift, ist dass die Menschheit solche
Glücksgüter heute verschwendet, unbebaut und
unbewohnt lässt, lieber in Hungerländern modert,
ein Tier auf dürrer Haide, das immer spekuliert.«
Durch die Anschauung der Realität in Natur
und Kunst, durch das Betreten der geschicht-
lichen Stätten früherer Kultur fielen dem wohl-
vorbereiteten Geist des jungen Mannes helle Streif-
lichter auf sein eingesammeltes, theoretisches
Wissen und am lebendigen Born der Erkenntnis
trinkend, mochte er es wohl bedauern, drei
Jugendjahre hindurch das leere Stroh der Ka-
theder-Philosophen zu Häckerling verarbeitet zu
haben, wie er sich einmal ausdrückte. Seine
ganze Entwicklung führte ihn zu antiken An-
schauungen in Philosophie und Kunst, so dass
ich ihm schrieb, er komme mir vor wie ein an-
tiker Grieche und er sei gewiss in einem früheren
Leben schon einmal dort gewesen. Darauf ant-
wortete er mir: »Es hat mich gefreut, dass Sie
mich nach Griechenland gehörig befinden. Ich
habe dasselbe Gefühl, dass da eigentlich meine
— 315 —
Heimat ist. Und oft erscheint mir die Gregen-
wart nur wie ein Erinnern, ein Wiedererkennen
des schon Gekannten.« Dann schrieb er ein
andermal, sich entschuldigend, dass er lange nicht
geschrieben: »Ich bin vor allem ein Pflicht-
mensch und auch darin ein antiker Grieche, dass
ich zuerst die vom Staate übernommenen Pflichten
zu erfüllen, für nötig finde.« Seine oft wieder-
holten Besuche bei dem ausgezeichneten Freunde
in Konstantinopel trugen viel dazu bei, die geistige
Reife Warsbergs zu zeitigen. Die Liebe, die er
dem älteren Mann entgegenbrachte, wurde von
diesem auf das herzlichste erwidert, so dass er
sogar nach dem Tod seines zweiten Sohns, der
im deutsch-dänischen Krieg fiel, nur von Wars-
berg begleitet, von Pera aus auf die einsame
Insel Prinkipo im Golf von Nikomedien ging, um
dort in dem gemeinsamen Lesen Schopenhauers
Trost zu suchen. »Und morgens,« sagt Wars-
berg, »Hessen wir uns nach dem benachbarten,
noch stilleren Eilande Chalki überschiflen und
dort in einer ganz abgelegenen stillen Bucht,
wo man sich Tausende von Meilen Europa und
seiner Civilisation entfernt glauben kann, unter
einer Pinie auf dem reinsten Seesande gelagert,
den Blick auf den asiatischen Olymp gerichtet,
las er mir Seite um Seite des halb indisch-
asiatischen Philosophenwerkes vor. So in solcher
Weise und vor ähnlichen Landschaften haben
Pythagoras und Plato ihre Schüler gelehrt. Gewiss
wäre es für Schopenhauer eine seiner grössten
Freuden gewesen, wenn er gewusst hätte, dass
— 3i6 —
einstmalen, durch solche Hörsäle des herrlichsten
Erden winkeis, auch sein Wort weiter klinge.«
Wer wollte Warsberg nicht um solcher
Stunden Genuss glücklich preisen? Wer würde
nicht sagen, dass trotz bitterer Erfahrungen und
langer körperlicher Leiden sein Leben dennoch
das eines Auserwählten gewesen ist, dem das
seltenste Glück der Erde, das einer so edlen
Freundschaft mit einem gereiften, hoch begabten
Mann, schon in der Jugend zuteil ward, der
in dieser Genossenschaft die schönsten, durch
Natur und Geschichte ausgezeichneten Stätten
besuchen durfte, dem es vergönnt war den Orient^
die heilige Wiege unseres Geschlechts, mit seinen
Dichteraugen anzuschauen und unter dem Zauber
jener Eindrücke mit dem Weltgeist zu verkehren.
Was ihm dieser Orient war, wie er im edelsten
Sinn religiös auf seine Seele wirkte, bezeugt
folgender Ausspruch: »So oft sich die Mensch-
heit dort schon erfrischt, neue Religionen und
Ideen geholt hat, leichter noch wird es dem ein-
zelnen auf jenem geschichts- und gottesgeheiligten
Boden seine Seele wieder zu gebären im Geist
der Wahrheit und des Glaubens.«
Zwei Jahre ungefähr hatte die Korrespondenz
gedauert, die uns ohne persönliche Bekanntschaft
einander schon so nahe gebracht hatte, als ich
plötzlich die freudigüberraschende Nachricht
bekam, dass Warsberg auf einige Zeit nach Rom
komme um sich einer Kur zu unterziehen, welche
ein italienischer Arzt gegen chronisch gewordenen
argen Husten und gegen Atemnot als unfehlbar
— 317 —
gefunden zu haben glaubte. Dieses Leiden war
Warsberg nach einer Lungenentzündung, die ihn
in Paris befallen gehabt hatte, nachgeblieben
und war ein Hauptgrund, weshalb er die Stel-
lung als österreichischer Konsul nachgesucht hatte,
weil er von dem milden Klima des herrlichen
Phäakenlands Heilung hoffte. Da ihm diese aber
auch dort nicht geworden, wollte er nun diese
ihm auf das wärmste empfohlene Kur gebrauchen.
Mit welcher Freude ich dieser Begegnung ent-
gegensah, kann man sich denken, aber doch
auch mit einer Art von Spannung, die nicht
ganz ohne Besorgnis war, denn wie gross auch
die Sympathie sein mag, welche zwei Geister
zu einander zieht, so liegt doch auch ein ge-
wisser Zauber in der Erscheinung, der dazu ge-
hört, um sich persönlich ganz zu genügen. Ich
wäre sehr enttäuscht gewesen, hätte sich mir
dieser geistig so bedeutende Mann in einer äusser-
lich vulgären Gestalt gezeigt, denn leider ist es
ja nicht immer möglich, dass die Seele sich auch
ihren Körper schafft. Sehr froh war ich daher,
als sich am bestimmten Tag und zur bestimmten
Stunde die Tür öffnete und, so wie ich es mir
gedacht hatte, ein hoher, schlanker, blonder
Mann mit dem Ausruf: »endlich!« bei mir
eintrat, dessen ganze Erscheinung das Gepräge
wahrhaft adeligen Wesens und edler Kultur trug.
Schnell verschwand daher die erste Befangenheit
dieses schon so vertraut gewesenen Fremdseins
und nach einer Stunde heiteren Gesprächs waren
wir alte Freunde, die sich längst gekannt.
- 3i8 -
Es kamen nun Stunden freundlichen Zu-
sammenseins, entweder am Tag bei mir, wenn
es ihm erlaubt war auszugehen oder, da er am
Abend nicht ausgehen durfte, bei ihm im Hotel,
wo er mit zwei ausgezeichneten Freunden wohnte.
Bei diesen kleinen geselligen Abenden verhielt
sich Warsberg meist schweigend, da ihm viel
Sprechen bei seiner Atemnot peinlich war,
aber er folgte teilnehmend den Gesprächen
und gab ihnen hier und da, durch ein geistreiches
Wort, neuen Impuls und Schwung. Nie habe
ich so gefühlt, wie bei ihm, was die blosse
Gegenwart eines geistvollen und gütigen Menschen
für eine anregende, magnetisch geistzeugende
Kraft hat. Es ist dieselbe Wirkung wie die,
welche eine schöne, harmonische Naturumgebung
auf uns ausübt, alles Verstimmende, Beleidigende,
womit die Welt uns anfällt, verschwindet, wir
fühlen uns unter dem Einfluss jener ewigen
Sonne, die nur Blüten höchsten Wertes zeitigt
und mit ihrem verklärenden Licht die Wider-
sprüche des Lebens versöhnt.
Leider blieb die von dieser Kur gehoffte
Wirkung völlig aus; nach zwei Monaten zuweilen
sogar vermehrter Leiden schloss er mit der-
selben ab und bereitete sich, in Venedig seine
Stellung als General-Konsul anzutreten. Er war
dazu ernannt worden, nachdem er eine Reise
der Kaiserin von Osterreich im Orient geleitet
hatte, wozu freilich niemand besser als er ge-
eignet war, der den Orient so genau kannte und
während seines Konsulats in Corfu fast kein
— 319 —
Jahr hatte vergehen lassen, ohne das Mittelmeer
in ein oder anderer Richtung zu durchstreifen,
immer mit dem Homer als Begleiter, wobei er
die Überzeugung erhielt, dass derselbe die Orte,
die er beschreibt, auch selber gesehen habe;
eine Überzeugung, die er mit schlagenden
Gründen den Behauptungen pedantischer Profes-
soren entgegenhielt.
Es gibt so viele angenehme Begegnungen
im Leben, die uns auf das freundlichste berühren
und uns manche Stunde angeregt verbringen
lassen. Aber wenn sie scheiden, schliesst sich
die Welle wieder über ihnen, das Leben nimmt
seinen gewohnten Fortgang, als wären sie nie
da gewesen und es bleibt nur zuweilen eine
vorübergehende Erinnerung, die nichts in den
Tiefen unseres Daseins verändert. Dagegen gibt
es Erscheinungen, die, wenn sie in unser Leben
treten, uns das Gefühl geben, als sei uns etwas
lang Entbehrtes endlich zuteil geworden, eine
Ergänzung unserer selbst, mit welcher für den,
der »ewig strebend sich bemüht«, sich neue
Sphären der Vervollkommnung öffnen und sich
das Geheimnis wahrhaft edler, menschlicher
Beziehungen erfüllt: miteinander und durchein-
ander zu wachsen an ethischem Wert und den
Inhalt des Lebens immer bedeutungsvoller zu
gestalten. Solch eine Erscheinung war Wars-
berg und das Scheiden einer solchen lässt eine
tiefe Lücke, die nichts auszufüllen vermag. Die
nun noch häufiger werdende Korrespondenz war
ein halber Ersatz, sie wurde nun persönlicher
— 320 —
als vorher und bezog sich vielfach auf seine neue
Einrichtung in Venedig, wo er schon immer eine
Wohnung gehabt hatte, weil er diese Stadt über
alles liebte und sagte, dass sie ihm nie ein Leid
getan ; für seine neuen Verhältnisse als General-
Konsul, welche ein Geschäftslokal erforderten,
war jene frühere zu klein und er mietete den
ganzen Palazzo Modena, der den in Venedig
seltenen Vorzug eines grossen, schönen Gartens
hatte, wo im Schatten alter Bäume Marmorbilder
standen, und dessen grosse Säle mit trefflichen
Deckenmalereien geschmückt waren.
Da ich in dem folgenden Sommer meine ge-
wöhnliche Sommerreise nach Versailles zu Olga
durch Deutschland nehmen wollte, um in Mün-
chen die Ausstellung zu sehen und dann meine
letzte überlebende Schwester in Ems zu besuchen
und geschrieben hatte, dass ich deshalb über
den Brenner reise, so erhielt ich eine dringende
Einladung von Warsberg, nicht so nahe an
Venedig vorüber zu fahren, ohne ihm einen Be-
such zu machen und ein paar Wochen bei ihm
zu verweilen. Nach einigem Bedenken nahm ich
an, da ich mich innig freute, ihn wiederzusehen,
und fuhr Ende Mai über die lange Eisenbahn-
brücke der Lagunen, der herrlichen Stadt ent-
gegen, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen
hatte. Am Bahnhof empfing mich der gute
Freund und führte mich in seiner Gondel zu
dem herrlichen Palazzo Pisani am Canal grande,
wo seine bisherige venetianische Wohnung im
.dritten Stock war, vor welchem sich eine breite
— 321 —
Terrasse hinzieht, von der man die herrlichste
Aussicht auf die stolzen, architektonisch so zaube-
rischen Paläste hat, die sich in der weiten
Wasserfläche spiegeln. Er führte mich gleich in
den schönen mit edlem Kunstsinn geschmückten
Räumen umher und ich empfand alsbald die
Gewissheit, dass sich hier Stunden reinsten Ge-
nusses verbringen lassen müssten. Ich fand auch
Warsberg etwas wohler und heiterer als in Rom,
und es Hess sich alles so freundlich und glück-
lich an, dass ich dem Schicksal im Herzen
dankte, welches mir am Lebensabend noch eine
so seltene Freundschaft unter so schönen Be-
dingungen geschenkt hatte.
Am Abend geleitete er mich in ein ihm be-
freundetes Haus, wo er öfter seine Abende zu-
zubringen pflegte und hier, wo ich ihn zuerst in
einem grösseren Kreis sah, fiel es mir auf, wie
sehr er unter all den anderen Männern das Inter-
esse auf sich zog, obgleich er, nach gewöhnlichen
Begriffen, weniger schön und äusserlich bevor-
zugt war, als manche der Anwesenden. Es war
bei ihm, wie es bei sehr bedeutenden Menschen
zu sein pflegt : es geht eine Wirkung von ihnen
aus, ein magnetisches, geistiges Fluidum, welches,
ohne dass sie es wollen und suchen, die ver-
wandten Seelen anzieht. Aus all dem gewöhn-
lichen Geplauder der Salon-Konversation heraus
sehnte man sich nach einem Wort des bleichen,
kranken Mannes, und wenn er sprach hörte man
nur auf ihn und hätte immer weiter hören mögen,
besonders wenn er vom Orient erzählte. Nach
Meysenbug, IV. az
— 322 —
einem solcher Abende in seine Wohnung zurück-
gekehrt, verweilten wir noch lange in lauer Mai-
nacht auf der herrlichen Terrasse im angeregten
Gespräch. Unten auf den ruhigen Wassern des
Kanal grande glitten noch einzelne Gondeln da-
hin, nur durch ihr kleines Laternchen verraten,
das wie ein feuriges Auge heraufblickte, gleich-
sam lauernd, ob kein Verräter das zu geheim-
nisvoller Tat eilende Fahrzeug erspähe. Oben
am Himmel glänzten Myriaden Sterne ; die phan-
tasievollen Paläste, welche den Kanal einfassen,
lagen in nächtliches Dunkel gehüllt. Plötzlich
erhob sich vom jenseitigen Ufer eine herrliche
Tenorstimme und sang eine reizende italienische
Cantilene voll süsser, wehmütiger Lieblichkeit
in die Zaubernacht hinaus. Warsberg schilderte
mir in bewegten Worten seine Vorliebe für
Venedig und ich stimmte voll Begeisterung ein
und sagte endlich, wie ich der allgemeinen An-
nahme nicht beipflichten könne, dass der Süden
den Menschen mit zu starken Fesseln an das
Leben bände, und wie es mir gerade eine seiner
schönsten Wirkungen schiene, dass er die Seele
so zur Harmonie stimme, Natur und G^ist so
in Einklang setze, dass der Tod wieder zum
idealen Genius mit der umgekehrten Fackel werde
und man ohne Widerstreben bereit sei, sich in
die unsägliche Harmonie des Daseins aufzulösen,
während der Norden mit seinem dunkeln Drang
nach dem unerreichbaren Ideal, in der ewigen
Zerrissenheit zwischen Wunsch und Erfüllung
den Tod als den bittern Trank empfinde, der
— 323 —
die Unbefriedigtheit des Lebens endet. Warsberg
schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie haben
recht«. Kam ihm in dem Augenblick die
Ahnung, dass gerade in Jahresfrist der milde
Genius auch ihm, dem Griechen, die Fackel
löschen werde? Ich weiss es nicht, aber wäre
sie mir gekommen, die unsägliche Schönheit
dieser Zaubernacht hätte sich mir in bitteren
Schmerz verkehrt, denn was ich gesagt hatte,
galt nur den Sterbenden, nicht den Überlebenden.
Doch sollte diese schöne, ernste Stunde noch
heiter enden. Eben als wir die Terrasse ver-
lassen wollten und uns gute Nacht wünschten,
um ein jeder in seine Zimmer zurückzugehen,
erschien ein mir bisher noch unbekannter Be-
wohner des Hauses, nämlich eine grosse Katze,
die, wie ich nun erfuhr, mit von Corfu herüber-
gekommen war. Sie sprang auch mit der vollen
Keckheit eines sich zu Hause fühlenden, ver-
wöhnten und kapriziösen Kindes umher, und ehe
wir es uns versahen, hatte sie eine kleine Vase
von ihrem Postament herunter geworfen, deren
Scherben nun den Boden bedeckten. Warsberg
wurde nicht nur nicht böse, wie ich ihn später,
ungeschickten Dienstboten gegenüber, habe wer-
den sehen, sondern er nahm die Katze auf den
Arm, liebkoste sie und gab ihr hundert Namen
mit so zärtlich liebevollem Ton, wie ich ihn
noch nie hatte sprechen hören. Ich beobachtete
ihn still und freute mich ihn einmal so ganz un-
mittelbar als Gefühlsmenschen zu sehen, in einem
Augenblick, wo kein Überwiegen des Intellekts
— 324 —
und keine konventionelle Form den reinen Aus-
druck des Gemüts störte.
Mehrere Monate nachher schrieb er mir ein-
mal bei einer besonderen Veranlassung, dass er
es gern habe, nicht ganz gekannt zu sein, dass
er in der Welt eine Maske trage und dass selbst
in seinen intimeren Beziehungen niemand den
Grund seines Wesens kenne. Es komme ihm
vor wie eine Demütigung, sogleich erkannt zu
sein, selbst seiner Mutter habe er dieses Vorrecht
nie gewährt. Er schloss mit den Worten: »Ich
will gefürchtet, nicht geliebt sein und so über
Euch allen schweben, wie ein antiker Tyrann.
Frei steht es Euch dann, mich hinterrücks um-
zubringen.«
Ich musste herzlich über dies doch halb im
Scherz gesagte Paradoxon lachen und schrieb
ihm in meiner Antwort von dem Eindruck, den
mir jene Nachtscene mit der Katze gemacht
und wie ich dabei einen tiefen Einblick
in die grosse Liebesfähigkeit seines Herzens ge-
tan hätte. Er schrieb mir darauf wieder: »Die
Katzen liebe ich wirklich sehr, aber wissen Sie
warum? Weil sie griechisch-klassisch anmutig,
d. h. graziös sind. So sind es die Bildwerke des
Phidias, die Grabsteine von Athen, die antiken
kleinen Terrakotten und die Vasengemälde. Von
lebenden Wesen sah ich so nur die Fanny Eisler
und hörte die Louise Neumann. Die rührte
mich auch im Lustspiel bis zu Tränen.
Er konnte nicht so bald von dieser komischen
Grille des UnerkanntseinwoUens abkommen, und
— 325 —
schrieb mir noch mehrere Male Erklärungen
darüber. Ich antwortete ihm endlich: »Ihrer
Tyrannei unterwirft man sich gern, nur hüten
Sie sich, die Katzen zu liebkosen, wenn sie un-
erkannt bleiben wollen. Es gibt solche Augen-
blicke, die Verräter sind, und warum wollten
Sie diese Augenblicke verdammen, in denen die
Augen der Sterblichen plötzlich hellsehend werden
und den in die Menschengestalt exilierten Gott
erkennen? Solche Augenblicke wie der unter
der Pinie auf Ithaka, wo Sie wahrnahmen, dasis
Sie Zeus die Hand gereicht.«*)
Ich wohnte noch dem Umzug in den Palazzo
Modena bei, dessen Einrichtung Warsberg selbst
leitete. Es war keine kleine Aufgabe, den drei-
stöckigen Palast mit den grossen Sälen, den vielen
Zimmern, die noch dazu in vernachlässigtem Zu-
stand waren, so künstlerisch und edel vornehm
einzurichten, wie es sein ästhetischer Sinn ver-
langte. Diese Beschäftigung nahm, neben seinen
amtlichen Arbeiten, denen er mit seinem strengen
Pflichtgefühl vor allem oblag, seinen Tag in
Anspruch und erst gegen Abend gönnte er sich
Ruhe und Erholung in einer Gondelfabrt, wobei
ich ihn begleitete. Oft war er so müde und
abgespannt, dass ich schweigend neben ihm sass
und ihn dem Halbschlaf überliess, der ihn be-
fiel. Aber wenn er sich wohler fühlte und in
der Stimmung für heitere oder ernste Gespräche
*) Reizende kleine von Warsberg erfandene Erzählung,
seinem »Ithaka« eingeflochten.
— 326 —
war, dann gehörten diese Gondelfahrten zu den
schönsten Stunden meines Aufenthalts dort.
Denn es gibt wohl kaum etwas Poesievolleres
als mit geist- und gefühlvollen Menschen in
einer Gondel über die Lagunen hinzugleiten,
den ewig neuen Reiz der Lichteffekte auf
den Wassern, den herrlichen Palästen, den oft
so malerischen engeren Kanälen mit ihren
Brücken, und die träumerische Anmut der Inseln,
welche sich wie eine fata morgana aus den
Wassern erheben, kurz das ganze originelle Leben
dieser einzigen Stadt — zu geniessen.
Ich musste endlich scheiden und meine Reise
nach Norden fortsetzen, musste dem guten
Freund aber versprechen, auf der Rückreise
wieder bei ihm einzukehren. Ich schrieb ihm
dann ganz entrüstet über den Norden, wo mich
trüber, grauer Himmel und feuchte, kalte Luft
empfangen hatten, so dass ich wieder auf das
lebhafteste den Sehnsuchtsdrang begriff, der
von jeher die Völker und die einzelnen aus den
nordischen Nebeln nach der sonnenverklärten
Schönheit des Südens gelockt hat. Warsberg
erwiderte: »Ich freue mich, dass Sie wie ich
nordensmüde sind. Ich möchte nicht einmal
mehr nach Wien reisen müssen.« Leider wurde
ihm aber die für ihn so notwendige Ruhe in
seinem neuen, schönen Heim nicht zuteil,
Er musste nach Osterreich und schrieb mir von
da ganz bekümmert, dass er im Oktober aber-
mals eine Orientreise der Kaiserin geleiten müsse
und er habe sich so gefreut, nun gerade diesen,
— 327 —
in Ober-Italien so schönen Monat, in seinem mit
der grössten Mühe eingerichteten Hau^e in
Venedig zubringen zu können. Mich bekümmerte
diese Nachricht auch sehr, denn ich wusste, wie
diese neue Anstrengung ihm schaden würde und
wie nur ein geregeltes Leben in der schönen
Ruhe seines Heims sein gefährdetes Dasein noch
auf viele Jahre hinaus erhalten könnte. Leider
konnte er sich nicht entschliessen, seine so wohl
begründeten Besorgnisse der Kaiserin mitzu-
teilen, sie würde sonst gewiss eingesehen haben,
dass sie mit dieser Reise das Verhängnis herauf
beschwor, welches ihr einen wahrhaftergebenen
Anhänger und so vielen einen teuren Freund
raubte. Aber die Menschen achten zu wenig
auf die warnenden Stimmen, die sich in ent-
scheidenden Augenblicken in der eigenen Brust
erheben, und keine zu missachtende Orakel sind.
Man ist immer nur zu sehr geneigt zu denken,
diesmal werde das Schicksal noch so vorüber
gehen, werde uns noch verschonen, oder der
günstige Augenblick werde wiederkommen und
das Glück werde uns sich neigen, damit wir es
erfassen könnten. Erst wenn das Unwiderruf-
liche eingetreten ist, beseufzen wir zu spät unser
Versäumnis.
Während der Reise erhielt ich nur einmal
eine kurze Mitteilung aus Corfu, aber von
anderer Seite aus Venedig die eines Briefes an
den ihm treu ergebenen ersten Sekretär des
General-Konsulats, worin er seine baldige An-
kunft verkündete und schrieb : »Ich bin mit
— 328 —
meiner Kraft zu Ende. Sie haben keine Vor-
stellung von den Anstrengungen dieser Reise.
Alles lag auf mir, niemand sonst ordnete etwas
an. Ich will sehr langsam durch Italien zurück
reisen um im Alleinsein mich auszuruhen.«
Die Rasttage, die er sich gönnte, schienen
ihm auch gut getan zu haben, denn er schrieb
mir von Rom aus, wohin ich noch nicht zurück-
gekehrt war, nur ganz kurz: »Ich fühle mich
doch so weit ganz gut, dass ich hoffe, noch
etwas erleben zu können. Denken Sie, wenn
es eine Episode aus dem 3ten Teil Ihrer
Phädra wäre? Diese Hieroglyphen sind aber nur
für Sie.« Natürlich erregten diese Worte meine
Neugier auf das höchste und ich konnte bei
dem Bemühen, dem Rätsel auf die Spur zu
kommen, nur auf eine Heirat schliessen. In
meiner Antwort fragte ich daher scherzend, ob
es eine schöne Phäakentochter, oder wer sonst
sei. Darauf erhielt ich einen in komischester
Entrüstung geschriebenen Brief über diefürchter-
liche Vermutung und dann die Versicherung,
dass es etwas ganz anderes sei. Zugleich aber
hat er dringend, da meine Rückreise nach Rom
bevorstand, den Weg wieder über Venedig zu
nehmen und eine Zeit lang sein Gast zu sein.
Andere Freunde sollten auch kommen und er
fügte hinzu : »Wenn solch ein Kreis beisammen
ist, mein ich, müsste es doch Symposien geben,
an die alle Teilnehmer noch lange mit Freuden
zurückdenken würden.«
— 329 —
Diese schöne Aussicht lockte mich denn auch
wirklich Ende November von Mailand aus nach
Venedig abzuzweigen und ich wurde wieder da-
selbst auf das herzlichste empfangen. Es hatten
sich schon einige andere Gäste eingefunden. Wars-
bergs Bruder, der geistvolle Pole, Herr von Klaczko,
den ich schon aus seinen früheren ausgezeich-
neten Artikeln in der »Revue des Deux Mondes«,
die ich noch mit A. Herzen zusammen gelesen
hatte, kannte und Graf Lanckoroncki, der viel
jüngere Freund Warsbergs, den ich schon in dem
Winter in Rom in des letzteren Gesellschaft
hatte kennen und schätzen lernen, der aber leider
nur wenige Tage blieb, da er im Begriff war,
eine grosse Reise nach Indien anzutreten. Auch
Warsberg musste seine Gäste auf einige Tage
verlassen, da ihm die ehrenvolle Einladung zuge-
kommen war, in Miramar mit dem österreichischen
Kaiserpaar das Fest der 44jährigen Regierung
des Kaisers zu begehen, das dort in aller Stille
nur im engsten Hofzirkel gefeiert wurde. Er
kam sehr heiter von dort zurück, erging sich im
Lobe des kaiserlichen Paares und erklärte mir
nun auch die Bedeutung jener Hieroglyphen,
deren Deutung meinerseits ihn so entrüstet hatte,
die aber nun kein Geheimnis mehr zu sein
brauchten. Es war ihm nämlich der Auftrag
geworden, der Kaiserin auf Corfu eine Villa zu
bauen auf einem der schönsten Punkte der Insel.
»So haben Sie mir doch wirklich mein Prog-
nostiken in dem 3. Teil der Phädra gestellt«,
sagte er und erwähnte dann noch einmal die
— 330 —
»schauderhafte« Vermutung, zu welcher mich
seine rätselhafte Andeutung geführt hatte. So
herzlich ich immer über diese seine Entrüstung
lachen musste, so konnte ich mich doch nicht
über den Auftrag freuen, denn ich sah voraus^
dass bei dem Eifer, mit dem er ihn erfasste und
der Anziehungskraft, die er auf seine künstlerische
Phantasie übte, er seine schwachen Kräfte über-
bieten würde. Ich sagte ihm, ich wollte ich
hätte ihm ein anderes Prognostikon gestellt und
ganz war auch er nicht frei von dem Gefühl^
dass es verhängnisvoll für ihn werden könne^
aber es reizte ihn zu mächtig, seinem künst-
lerischen Verstehen und seinem Schönheitssinn
in einer grossartigen Schöpfung ein Denkmal zu
setzen. In seiner Natur lag es, sich nach grossen
Aufgaben zu sehnen, denn es wohnten zwei
Seelen auch in seiner Brust und neben dem in
einsamen Gedankenreichen sich glücklich fühlen-
den Weisen war auch der ehrgeizige Mann, der
gern in das grosse Getriebe des Staatenlebens
mit eingegriffen und seinen starken Willen wie
seine Einsicht geltend gemacht hätte. Auch jetzt
in Venedig war er gesonnen, das Konsulat aus der
untergeordneten Stellung, in der sein Vorgänger
es gelassen, zu politischer Bedeutung zu erheben
und die noch immer etwas gereizte Stimmung
dort durch liebenswürdiges Entgegenkommen zu
versöhnen. Was ihn aber dazu trieb, sein Haus
gleich in glänzender Weise der Geselligkeit zu
öffnen, war nicht bloss der Wunsch als Staats-
diener hier nützlich zu sein, sondern auch das
— 331 —
Vergnügen, welches er selbst daran hatte, seine
schönen Gemächer im Lichterglanz strahlen zu
lassen, an seiner reich besetzten Tafel ausge-
zeichnete Gäste (so u. a. Sir Henry Layard,
den ehemahligen Gesandten in Konstantinopel,
jetzt in Venedig lebend, den Dichter Mr. Browning
und viele andere) zu speisen und eine elegante
Menge durch die prächtigen Säle wandeln zu
sehen. An einem der ersten dieser geselligen
Abende, wo die ganze vornehme venetianische
Gesellschaft versammelt war, sah ich da auch
Don Carlos, den spanischen Thronprätendenten,
der in Venedig lebt und den Warsberg, trotz-
dem er ihm nicht sympathisch war, seiner Be-
ziehung zu Österreich wegen, bitten musste.
Er stellte mir denselben vor, zum Glück gleich-
zeitig einer sehr gewandten Weltdame, die bei
mir stand und alsbald die Unterhaltung zu meiner
Erleichterung übernahm, denn ich hätte absolut
nicht gewusst, was ich mit diesem, seinem
Schillerschen Namensvetter so unähnlichen, gar
keine Sympathie erweckenden Manne, hätte
sprechen sollen. Warsberg selbst verhielt sich
bei solchen Festen meist still, weil seine körper-
lichen Leiden ihm jeden Genuss erschwerten und
es fiir ihn Anstrengungen waren, die er meist
mit schlaflosen Nächten und völliger Erschöpfung
zahlte, aber Freude machte es ihm doch; es war
das Künstlerische dabei, der schöne Glanz und
die Fülle des Lebens, was ihn anzog, als Maler
wäre er vielleicht ein Paul Veronese geworden.
Und doch war er auch wieder ein tief ver-
— 332 —
ständnisvoller Bewunderer der griechischen
Kunst und ihrer erhabenen, seelenvollen Ein-
fachheit und es war meine grösste Freude, wenn
das Gespräch sich darauf wandte, denn da hatte
er so viel neue und geistvolle Dinge zu sagen,
dass es ein wahrer Genuss war, ihm zuzuhören.
Eines Abends zitierte er uns ein Wort Thor-
waldsens, welches Herr von Prokesch ihm mit-
geteilt hatte, dass die griechische Skulptur so
besonders reich im Genre gewesen sei, dass sie
das vor anderen auszeichne und ihren hohen
Reiz bilde. Er bemerkte dabei, dass er eine
Abhandlung über das Genre in der griechischen
Kunst geschrieben habe, die zum Druck fertig
sei und setzte hinzu: »Die Akademiker freilich
werden dazu den Kopf schütteln.« Nachher
führte er mich zu einer Zeichnung, die er in
Athen nach einem Grabmal hatte machen lassen
und sagte: »Sehen Sie, das ist griechische Kunst.«
Es ergriff mich wieder wie schon früher bei
ähnlichem, wahrhaft Griechischem, z. B. bei dem
Relief von Orpheus und Euridiee in der Villa
Albani in Rom tiefe Rührung über die voll-
kommen einfache Natürlichkeit des Ausdrucks,
die dem starren Marmor Geist und Gemüt ein-
haucht und die Handlung, selbst der Götter und
Heroen, zu einem schlicht menschlichen Vor-
gang macht. Für Warsberg war es mit der
antiken Kunst wie mit der Natur, von der er
einmal sagt: »Es ist unwahr, die Natur nur
formell, nicht auch eine Seele in ihr zu sehen.
Sie atmet und spricht wie alles Irdische.« Die
— 333 —
Schönheit einer orientalischen Landschaft, eines
antiken Reliefs, eines Menschen jener begnadeten
Rassen verrieten ihm die Seele der antiken
Menschheit, erklärten ihm Homer und die alten
Tragiker. Die Schönheit eines jungen Burschen,
der ihm zum Führer diente, rief ihm die Verse
des Euripides in den Bacchantinnen, welche den
Dyonisos schildern, ins Gedächtnis und als er
denselben Typus bei einer Terracottastatue und
auf einer Münze wiederfand, schrieb er: »So
werden diese Verse ganz natürlich, wie jene
schönen Münzenbilder begreiflich. Die einen
wie die anderen sind nur Nachahmungen der
Natur, nicht wie unsere Schulen es glauben
und die Kunstakademien es lehren, ideale
Schöpfungen, gleichsam ausgebildet wie Faust
seinen Homunculus erschaffen will. Darum sind
sie so lebendig und berühren uns so anmutig,
während die nach antiken Mustern ausgeführten
Kunstwerke uns kalt lassen und steif und leblos
scheinen. Daher freuen uns auch solche Be-
gegnungen in den antiken Ländern mit dem
klassisch gebliebenen Leben so sehr, weil sie
uns die ganze ursprüngliche Realität, das echt
Humane der alten Kunstwerke und Dichtungen
dartun. Das ist der doppelte Vorteil der
Reisen auf dem klassischen Boden, dass sie uns
zugleich die Wahrheit der Kunstwerke erschliessen ;
durch die Kunstwerke aber auch den ganzen
schönen Inhalt der Landschaften zu erkennen
und nachzufühlen geben. Klassisch schön —
das müssen wir uns diesen gewonnenen Über-
— 334 —
Zeugungen gegenüber eingestehen — werden
unsere eigenen Kunstschöpfungen und Dich-
tungen erst wieder sein, wenn wir wieder ein-
mal in solchen schönen Landen und mit
Menschen wie dieser Antoniades (so hiess jener
Bursch) alltäglich leben werden. Goethe hat
sein Siegel auf diese Frage gedrückt: »Natur
und Kunst nicht mehr zu trennen.«
Auf seinen Wunsch verschob ich meine Ab-
reise bis nach den Weihnacht- und Neujahrs-
festtagen. Den Weihnachtsabend verbrachten
wir bei Freunden von ihm in gemütlicher
Weise. Warsberg war besonders ernst und ge-
dankenvoll an dem Abend, und als wir um
Mitternacht noch alle beim Tee zusammen-
sassen und plötzlich die grosse Glocke von San
Marco langsam und feierlich durch die Nacht
schallte und die Gläubigen zu der Christmesse
einlud, da sagte er leise wie für sich hin^ »So
hat sie auch einst dem Marino Falieri ertönt.«
Dass ihm nun gerade wieder die schwermütige
Erinnerung an das tragische Ende dieses Dogen
an dem heiteren Festabend kam, war sicher ein
Beweis, dass Todesahnungen, mehr als seine
Umgebungen es glaubten, oft durch seine Seele
zogen und vielleicht dachte er in dem Augen-
blick, dass diese Glocke ihm nicht wieder zum
Feste läuten werde.
So ging nun das Jahr 88 zu Ende, dem ich
die persönliche Bekanntschaft dieses seltenen
Menschen verdankte, dessen Freundschaft mir wie
eine Blume am Grabesrand erblüht war, die
— 335 —
wie ich mit Recht hoffen durfte, auch über
meinem Grabe noch fortblühen werde. Am
2. Januar schied ich von Venedig, um in mein
römisches Heim zurückzukehren. Das Scheiden
wurde mir diesmal nicht so schwer, da baldiges
Wiedersehen in Aussicht stand, weil er in Kürze
nach Corfu wollte, um die ersten Anordnungen
zum Bau der kaiserlichen Villa zu treffen und
auf dem Wege kurze Rast in Rom zu halten
gedachte. Anfang Februar erschien er schon
unangemeldet und verbrachte einen gemütlichen
Abend bei mir. Den Tag darauf waren wir
beide zu Donna Laura Minghetti, welche ihm
auch eine werte Freundin war, zum Diner ein-
geladen. Lange hatte ich ihn nicht so gemüt-
lich, liebenswürdig, so geistvoll ergiebig ge-
sehen, wie an diesem Abend in unserem har-
monischen Trio. Das Gespräch wendete sich
von heiter anmutigen Dingen, von künstlerischen
Gegenständen zu den ernstesten Lebensfragen.
Er erwähnte dabei eines mystischen Philosophen,
den er über alles schätzte, und als er den Namen
Du Prel nannte, erinnerte ich mich einer Stelle
aus einem seiner Briefe vor unserer persönlichen
Bekanntschaft, in der er sagte: »Es sollte sich
heutzutage mehr um eine Philosophie des
Menschen, um eine Kenntnis seiner selbst, als
um Menschheit, Natur und Welt im allgemeinen
handeln. Erkenne dich selbst, damit, so alt
der Rat ist, geben sich nur die Wenigsten ab
und mir scheint, da wäre ebensoviel als in den
Gestirnen, in Wasser, Erde und Feuer zu ent-
— 336 —
decken. Ein Philosoph, Baron du Prel, wandelt
auf diesen Wegen. Sie streifen daran, sind sich
der Aufgabe aber noch nicht ganz bewusst.«
Von diesem Philosophen sprach er nun an dem
Abend und sagte, dass derselbe behaupte, unser
Selbstbewusstsein erschöpfe durchaus nicht den
ganzen Inhalt unseres Wesens, welches noch
einen transcendentalen Teil enthalte, nicht duali-
stisch vom ersteren getrennt, sondern monistisch
mit ihm verbunden, wie eine zweite Seele, deren
Fähigkeiten weit über das Tagesbewusstsein hin-
aus gingen. Du Prel stütze sich dabei auf Kant
und hebe die Wichtigkeit hervor, diese zweite Seele
zu erkennen und ihre durchaus individuelle, allen
pantheistischen Ideen von Fortdauer entgegen-
gesetzte Existenz zu beweisen, die, wenn aus ihren
Schranken befreit, das Unvergängliche sein müsse.
Ich stimmte dieser Ansicht insofern bei, als
es mir schien, dass diese zweite Seele in uns
entbinden, ungefähr dasselbe meine, wie das, was
ich mir längst so ausgedrückt hatte: den Gott
in uns erlösen. Dass diese Aufgabe allein dem
Leben Wert verleihe, damit war ich völlig ein-
verstanden, und dass das einmal Geist Gewordene
in irgend einer Weise ewig sei, glaubte und
glaube ich auch. Warsberg sprach lange über
diese Ansichten ; nie war er mir liebenswürdiger
erschienen, als an jenem Abend, es lag eine
sanfte Verklärung über seinem Wesen, er war
wie ein Scheidender, der weiss, dass er den
Freunden nur sichtbar entschwindet, dass er aber
in ihrer Liebe seiner Unsterblichkeit sicher ist.
— 337 —
Die Nachrichten, die ich aus Corfu erhielt,
bestätigten die Sorge, mit der ich ihn diese
Aufgabe übernehmen und die Reise hatte machen
sehen. Eine Erkältung hatte ihm zu dem chro-
nischen Katarrh noch eine Bronchitis mit Fieber
gegeben, dabei war er unausgesetzt tätig, die
bezaubernde Schöpfung, die er plante, vorzu-
bereiten, kehrte nur halb geheilt nach Neapel
zurück, war dort auch unausgesetzt beschäftigt
und erschien endlich wieder zu kurzer Rast in
Rom. Sein Aussehen war aber so verändert,
dass es die bangste Besorgnis einflösste und ich
nur noch eine Hoffnung hatte, dass er sich jetzt
in der vollständigen Ruhe seines venetianischen
Heims werde pflegen und wieder erholen können.
Aber auch das sollte nicht sein. Kaum war er
dort angelangt, so rief ihn ein Telegramm der
Kaiserin nach Wien und trotz des vom Arzt
beglaubigten Protests musste er in der noch
schlechten Jahreszeit in das nordische Klima
reisen. Natürlich wurde er todkrank in Wien,
ich bekam fortwährend durch die Freunde Nach-
richten, leider immer der schlimmsten Art, aber
Anfang Mai schickten ihn die Ärzte, die wohl
am Ende ihrer Weisheit waren, wie sie dann
zu tun pflegen, nach Venedig zurück. Ich wäre
gern gleich hin geeilt, um ihn zu pflegen, aber
ein Freund und eine verwandte Dame waren
mitgekommen und das hielt mich zurück. Doch
erhielt ich beinah täglich Nachricht durch den
ihm innigst ergebenen De Rosa, ersten Sekretär
des Konsulats, einen vortrefflichen Mann, in den
Mey se nbug , IV. aa
- 338 —
auch Warsberg das grösste Vertrauen setzte.
Auf einen Brief, den Warsberg ihm an mich
diktiert hatte, worin er sagte, dass sein Leben
hart gewesen sei, antwortete ich ihm : :^ Sein Sie
hohen Mutes, lieber Freund 1 Ja, Ihr Leben
ist hart gewesen, aber es ist auch schön gewesen,
wie wenig Leben, denn Sie haben an dem Born
der ewigen Schönheit getrunken und wenn ich
in Ihren Büchern lese von den Stunden, wo Sie
im Orient einsam in den heiligsten Entzückungen
mit dem Weltgeist verkehrten, dann finde ich
Sie beneidenswert. Die Stunden der irdischen
Qual sind hart und ich gäbe alles darum, könnte
ich Sie davon befreien, aber Sie haben sich
schon die Ewigkeit erschlossen und die Spur
von ihren Erdentagen kann nicht mehr unter-
gehen.«
Endlich kamen dann aber Briefe und Tele-
gramme, die mich dringend aufforderten zu
kommen, und so machte ich so schnell ich
konnte meine Vorkehrungen für den Sommer,
da ich dann jedenfalls von Venedig aus wieder
zu Olga wollte und fuhr nach Venedig in
schmerzlicher Spannung, ob ich den Freund
noch am Leben finden würde. Am Bahnhof
empfingen mich sein Bruder und der treue Rosa
und sagten mir, dass er noch lebe, dass ich
mich aber auf das Schlimmste gefasst machen
müsse. Er hatte sich gefreut, als man ihm
sagte, dass ich komme und hatte befohlen, mich
gleich zu ihm zu führen. Ich fand ihn im Lehn-
stuhl sitzend, die geschwollenen Füsse auf Kissen
— 339 —
ausgestreckt, das Antlitz noch bleicher als früher,
nur die Augen leuchteten von Geistesklarheit
und auf seinen Zügen lag der Frieden der Über-
winder. Es waren mehrere Bekannte im Zimmer,
durch die geöffneten Fenster strömte liebliche
Mailuft und die Wipfel der herrlichen alten
Bäume seines Gartens schauten grüssend herein.
Als man mich mit ihm allein Hess, sagte er:
»Erlösung, Erlösung 1 Anderes können Sie mir
nicht wünschen.« Ich musste ihm recht geben,
wenn auch mit tiefem Schmerz; aber es hätte
mir seiner und meiner unwürdig geschienen
in diesen feierlichen Stunden, angesichts des
grossen Lebensabschlusses, der unaufhaltsam
heran schritt, eine eitle Hoffnung auszusprechen.
Den Nachmittag verbrachten wir in lauter guten,
sanften Gesprächen, bis ich zum Abendbrot in
die unteren Räume, wo die übrigen Haus-
bewohner versammelt waren, gerufen wurde.
Warsberg sollte sich zur Ruhe begeben und ich
sagte ihm daher gute Nacht, immer noch leise
hoffend, dass bei der völligen Geistesklarheit, in
der ich ihn sah, die Katastrophe noch hinaus-
geschoben sein könne. Auch war die Art, wie
er mir gute Nacht sagte, so freundlich, fast
heiter, aus seinen Augen leuchtete so siegend
seine Seele, dass ich wenigstens sicher auf ein
morgen hoffte. Wir waren aber noch nicht
lange unten beim Essen versammelt, als man
uns wieder hinauf rief, vor allen den Arzt, der
mit da war, weil der Kranke, indem er sich
in sein Schlafzimmer hatte begeben wollen.
22*
— 340 —
zusammengebrochen war. Ich eilte mit den
andern hinauf, denn es wäre mir unmöglich
gewesen mich zur Ruhe zu begeben, so lange
er noch da und das Unwiderrufliche noch nicht
eingetreten war. Wir fanden ihn aber schon
ruhig und bewusst in seinem Schlafzimmer im
Lehnstuhl sitzend. Die Fenster waren offen und
die Mainacht strahlte mit tausend Sternen über
dem von ihm so geliebten Garten, in stiller
Feier das grosse Mysterium erwartend. Ich ver-
riet ihm meine Gegenwart nicht, weil ich dachte,
es würde ihn beunruhigen, mich da zu wissen,
da er mich nach der Reise ruhebedürftig wähnte.
In solchen Augenblicken aber bewährt sich die
Macht des Geistes über den Körper, man lebt
nur mit der Seele, das Gesetz der Schwere ist
aufgehoben, und wenn uns etwas von der Fort-
dauer unseres geistigen Seins, unabhängig von
der irdischen Hülle, überzeugen kann, so ist es
eben in diesen Momenten. Ich setzte mich zu
Raupten seines Lagers, so dass er mich nicht
sehen konnte, die Hausgenossen alle, der Arzt
und die barmherzige Schwester, welche die
letzten Nächte bei ihm gewacht hatten, waren
anwesend. Er sprach Verschiedenes mit klarer
fester Stimme, verordnete, wie man die Nonne,
deren Sorgfalt er lobte, belohnen solle, verlangte
nach Tee, seinem Lieblingsgetränk, und sagte
endlich mit dem Tone innigster Überzeugung:
»Ich bin doch glücklich gewesen, es haben mich
doch viele lieb gehabt.« Wer konnte bei dieser
Geistesklarheit, bei diesem immer noch beinah
— 341 —
kräftigen Sprechen und an alles Denken, an
ein ganz nahes Ende glauben? Es war so feier-
lich, so versöhnt, so erhaben dieses Sterben, wie
das eines antiken Weisen. So müssen Sokrates
und Seneca gestorben sein und es hätte mich
nicht überrascht, wenn dieser letzte Grieche auch
die Opferschale erhoben und Jupiter dem Be-
freier ein Dankopfer dargebracht hätte.
Als die Glocke draussen Mitternacht ver-
kündete, atmete ich fast auf in der Hoffnung,
es könne uns noch ein anderer Tag geschenkt
werden, und dann könne mein römischer Arzt
kommen, den Warsberg sehr liebte und dem
ich telegraphiert hatte, und dann könne am
Ende noch Rettung werden. Ein sanfter
Schlummer hatte sich auf ihn niedergesenkt.
Ich war indes an das offene Fenster getreten
und schaute in die Sternennacht hinaus; Zeit
und Raum waren mir verschwunden und die
Brücke wölbte sich, welche in die Ewigkeit, in
das von der Erscheinung Losgebundene hinüber
leitet. Schon schwebte auch der schöne ernste
Genius heran, um den holden Zwillingsbruder
Schlaf, abzulösen. Um zwei Uhr öffnete der
Sterbende die Augen weit, sah wie überrascht
auf seine Umgebung, dann kam ohne An-
strengung ein kurzer Blutsturz und der treue
Bruder, der ihn im Arm hielt und eine Hand
auf sein Herz gelegt hatte, sagte nur: es ist
vorbei und drückte ihm die müden Augen zu.
Ich hatte an den vielen Sterbebetten, an
denen ich schon gestanden, nie so stark wie
— 342 —
hier das beinah zweifellose Gefühl, dass sich da
wirklich das Geistige aus den engen Schranken
der Erscheinung befreit habe und in seine
wahre Heimat zurückgekehrt sei, die zweite
Seele, an die er mit Du Prel glaubte und die
siegend über den „Erdengeist« aufstieg in die
Freiheit. In edler verklärter Ruhe lag die ver-
lassene Hülle da, diejenige eines Helden, der ihn
ausgekämpft hat, den heissen Kampf des Daseins,
immer mit den Waffen des edelsten Idealismus,
welcher stets durch die Schwächen, die allem
Irdischen ankleben, versöhnend hindurch brach.
So ruhte sein Sterbliches von Blüten aller Art
umgeben noch zwei Tage in dem von ihm ge-
schaffenen künstlerisch prächtigen Heim. Erst
als man ihn hinaustrug auf die Gondel, die ihn
zur Bahn bringen sollte, um ihn nach Graz zu
fuhren, wo er in der Gruft bei seinen Eltern
zu ruhen gewünscht hatte, trat das volle Gefiihl
des Verlustes und der Öde, die auf diese
wie ein Traum verwehte Poesie des Palastes
Modena folgen würde, in voller Stärke ein.
Aller Orten erhoben sich Stimmen, seinem
Andenken den Tribut ehrender Sympathie zu
zollen, ganz besonders war dies der Fall aus
der Heimat seines Herzens, aus Griechenland.
Die Welt hat heutzutage nicht mehr Zeit, den
Geschiedenen jenen schönen Kultus zu weihen,
wie die antike Welt es tat und von dem
Warsberg so ahnungsvoll schön schrieb: »Kann
dieser Totenkultus nicht ein instinktives Ver-
stehen, das Ahnen einer Wahrheit sein, die
— 343 —
noch verschlossen und vielfach bezweifelt, doch
die Grundlage unseres ganzen Wesens ausmacht ?
Solch ein Hügel, eine Säule, ein einfacher Stein,
eine Inschrift, wahren dem Menschen über Jahr-
tausende hinaus das Andenken bei den Nach-
kommenden, in ihrer Erinnerung lebt er wieder
auf, lebt geläutert fort. Immer reiner, immer
makelloser werden seine Züge, alle Schlacken
fallen ab, so dass zuletzt nur noch ein ideales
Bild von ihm bleibt. Warum aber soll diese
Unsterblichkeit, die ihm auf Erden wird, nicht
auch in einer anderen Welt möglich sein? Wa-
rum für den geistigeren Teil unseres Wesens,
für die Seele, nicht das gelten, was unserem
irdischen Andenken zuteil wird? Warum soll
nicht vielleicht gerade dieses immer sich ver-
vollkommnende Bild der Erinnerung, der gleich-
zeitige Abdruck des inzwischen erlösten und
verklärten Geistes sein?«
So wird auch er, geläutert von allen irdischen
Mängeln, als ein ideales Bild in den Herzen
derer, die ihn kannten, fortleben. In ihm starb
ein Mensch, der durch seine innere Idealität
berufen war, die höchste Aufgabe zu erfüllen,
welche die Zukunft sowohl dem Individuum,
wie der Menschheit, vorbehält, nämlich das Leben
selbst zum Kunstwerk im vollendeten ethischen
und ästhetischen Sinn zu gestalten. Dass es
ihm nicht vergönnt war, diese Aufgabe ganz zu
erfüllen, das war die Missgunst des Schicksals,
welches es Sterblichen nur so selten vergönnt,
eine ganz vollendete Existenz zu erreichen.
Gedachtes.
Heute wurde über die Tätigkeit von Paul
Desjardin gesprochen und sie wurde verkleinernd
kritisiert. Freilich kann er keine neue Religion
gründen und ist vielleicht etwas klerikal, aber
es ist immer etwas, wenn ein Mensch gut ist,
Gutes tut, und seinen Mitmenschen ein hülf-
reiches Wohlwollen zeigt. Das erwärmt die
Herzen und treibt vielleicht mehr als eines, auch
gut zu sein. Das Beispiel ist eine grosse Macht
in* der Erziehung und dem menschlichen Ver-
kehr. Taten Christus und Buddah im Grunde
etwas anderes als das Beispiel einer erhabenen
Persönlichkeit geben? Nur die Schwachen und
die Ehrgeizigen haben daraus dogmatische
Kirchen gemacht. Wer von denen hat es ver-
standen, warum Christus sagen konnte, dass er
Gottes Sohn sei? Sie haben das materialisiert,
so wie sie die einfache Grösse seiner Lehren
materialisiert haben. Gut zu sein, ist so natürlich,
so einfach: das ganze soziale Problem bestände
darin, die Verhältnisse zu schaffen, welche den
Menschen erlaubten, gut zu sein. Ja, das ganze
— 346 —
Problem des irdischen Lebens wäre gelöst, wenn
es einem jeden möglich würde, aus sich selbst
alles zu machen, was seiner Natur nach möglich
ist; damit wäre alles erreicht, was die Unvoll-
kommenheiten des Daseins auf dem Erdball zu
erreichen erlauben.
Was aber die grossen Offenbarungen be-
trifft, welche aus den Quellen eines ewigen
Lichts zu kommen scheinen, die werden stets
nur das Ergebnis der grössten Seelen, der
reinsten Genien sein. Ja, Beethoven offenbarte
eine neue Religion; ich fühle mich immer
innerlich auf den Knieen, in seiner verklärten
Welt, wenn ich ihn höre. Aber das ist zu er-
haben für die Masse!
Das irdische Ich ist auch das Du, die |
universelle Einheit im Göttlichen, Erhabenen, |
daher ist auch das Mitleid das wahrhaft Ethische.
Das Dichter-Ich ist das auch in anderer Form,
d. h. die Welt der Ichs, welche der Dichter J
in sich trägt. Das Ich Nietzsches ist die Ver-
neinung aller Ethik, denn es ist das Ich in
seiner impotenten Vereinzelung, der Egoist, sei
er auch noch so begabt.
Herr von Wolzogen sagt bei Gelegenheit
einer Besprechung vom Buche des Grafen Go-
— 347 —
bineau: »Jede Gesellschaftsbildung trägt in ihrem
Bildungsferment schon den Todeskeim in sich,
etwa wie jede Zeugung nach tief religiöser Auf-
fassung den Samen jener ewigen Schuld des
Lebens in sich trägt, auf welcher nach Schopen-
hauer die Todesstrafe steht.« Ja, aber die
Zeugung muss da sein, damit die Erlösung sein
könne. Das ist der Sinn des christlichen
Mythus. Christus musste geboren werden, um
Erlöser werden und als solcher sterben zu können.
Nichts ist so reizend, als das erste Er-
wachen des forschenden Geistes, sein Erstaunen
über die Rätsel des Lebens und der Welt und
die ersten Fragen, die er sich stellt. Ich
empfand es eben mit inniger Freude, als ich,
allein mit Olgas zwei jüngsten Kindern, in
Versailles bei meinem jährlichen Sommerauf-
enthalt ein langes Gespräch mit ihnen hatte.
Da müsste die Erziehung ihre höchste Aufgabe
sehen und bei solchen Fragen in sokratischer
Weise zu eignen Antworten anregen, anstatt
mit fertigen Sentenzen den suchenden Intellekt
zu ersticken.
Ich antwortete einem Positivisten, welcher
leugnete, dass die Keime zu geistiger und mora-
lischer Entwicklung a priori in der menschlichen
— 348 —
Natur lägen, und behauptete, sie seien nur Folge
der Gemeinschaft und Gewöhnung: Gut geben
wir zu, dass das Sittengesetz erst aus der Ge-
meinschaft enstanden sei und sich dem Kausal-
gesetz folgend mit der Geschichte entwickelte;
für unser Verhalten ist das genügend, denn da
gilt der kategorische Imperatif; sobald das In-
dividuum sich einer Gemeinschaft anschliesst,
übernimmt es die Pflicht den Gesetzen derselben
gemäss zu leben. Dazu braucht von keinem
metaphysischen Grund die Rede zu sein: der
Grund der Verpflichtung ist die Gemeinschaft,
und der Begriff der Verpflichtung entwickelt
sich weiter im Individuum mit der Entwicklung
der Gemeinschaft. Darauf beruht das Gesetz, be-
ruht alles staatliche und gesellschaftliche Leben.
Aber der Keim zum Begriff" der Sitte muss
a • priori da sein, ebenso wie der Keim zum
Denken da sein muss. Aus nichts kann nichts
entstehen. Die Möglichkeit zu geistiger und
moralischer Entwicklung ist mit dem Organismus
Mensch gegeben. Auf den untersten Stufen ent-
wickelt sich der Keim nur erst in gröbster Weise,
er wächst zu dem geistigen Wesen der Mensch-
heit heran und statt von Gott auszugehen, erhebt
er sich zum Göttlichen, d. h. zum Idealen. Doch
schon in den höheren Tieren kann man durch
Gewöhnung und Erziehung eine gewisse an das
Geistige streifende Entwicklung bewirken, zu
welcher der Keim aber da sein muss, sonst könnte
es mit aller Mühe nicht dazu kommen. So er-
zählte mir eine Bekannte, welche eine Vorliebe
— 349 —
für Katzen hatte, dass sie, sobald sie eine Katze
allein bei sich hatte und sich mit ihrer Erziehung
beschäftigte, es durchaus möglich war, einen ge-
wissen Grad von Verständnis und Kultur zu
entwickeln. Überliess sie sie aber der Gemein-
schaft mit anderen Katzen, so blieb der Keim
eben unentwickelt, und die blinden Triebe
herrschten vor. Man sprach bei der Gelegenheit
von Caspar Hauser; eingeschlossen und allein
blieb er ein stumpfes, tierähnliches Wesen, aber
herausgezogen in die Gemeinschaft entwickelte
sich alsbald die ihm innewohnende Möglichkeit.
Das konnte ihm doch nicht plötzlich eingeblasen
sein. Und die Gewöhnung selbst, woher kommt
sie? Sie ist doch nur der sich immerfort ent-
wickelnde und erweiternde Begriff des Unter-
schieds von Gut und Böse, zu dem der Urgrund
da sein muss in den weitesten Urfemen des Da-
seins, wenn man will, aber doch da sein muss,
gerade wie die Wurzel da sein muss, damit die
Pflanze komme und wachse. Und das Genie —
kann es durch Gewöhnung erzeugt werden?
Meine Antwort an einen Zweifler, der mir
schrieb, es sei eigentlich unnütz zu schaffen,
da doch alles dem Nichts verfalle: Nein, teilen
Sie die Werke in zwei Hälften ; die eine Hälfte,
die nur von der Welt der flüchtigen Erscheinung
handelt, verfällt dem Nichts wie alles, was nur
Erscheinung bleibt, auch die Menschen. Die
— 350 —
andere Hälfte aber, in welcher der Funke ewiger
Schönheit glüht, verfallt nicht dem Nichts; sie
hat sich eingereiht in den Accord der grossen
Symphonie, welche im Grrunde der Dinge tönt,
welche die wahren Künstlerseelen von fern in
ihren Träumen ahnen und welche sie hören
werden, wenn die Form zerbrochen ist und sie
es erreicht haben, nicht mehr wiedergeboren
werden zu müssen. Die Inder haben das alles
schon gewusst.
In der Ironie befreit sich das Individuum von
seiner Entrüstung über die Unnatur der Welt,
im Humor erhebt sich das Individuum über sich
selbst. Beide sind sittliche Äusserungen; jene
hat es nur mit der Lüge und den Kontrasten
von Schein und Wesen, dieser mit der Ver-
söhnung von Schmerz und erhabener Heiterkeit
zu tun. Daher ist in jener Bitterkeit, in diesem
verzeihende Güte.
Im Juni 1890, als ich im Begriff war, Italien
für den Sommer zu verlassen, war ich noch ein-
mal in der Villa Mattei, wo ich wonnevolle
Stunden der Einsamkeit im FrühHng zu geniessen
pflegte, da ich durch die Güte des Besitzers
immer freien Zutritt darin hatte. Es kostete mir
jedes Jahr einen grossen Entschluss, Italien zu
verlassen, dessen zaubervolle Schönheit mich
— 351 —
dann erst ganz in ihrer Vollendung umfing, wie
ich denn auch der Ansicht bin, dass die meisten
Reisenden Italien nur halb kennen, weil sie fort-
gehen, wenn der Höhepunkt der Schönheit an-
fängt. An jenem Morgen nun umfing mich wieder
die Macht, von der Hafiz sagt:
»Denn dass der Schönheit Alkoran
Allmächtig sei, das ist kein Wahn«
und umflutet von dem reinen Licht und still
beglückt von dem Einssein mit dieser seligen
Natur, schrieb ich folgende Verse in mein
Tagebuch :
»Teures Lichtland, deinen Frieden
Senkst in meine Seele du;
Wenn ich fern von dir geschieden.
Seh ich träumend deine Helle,
Trägt mich der Erinnrung Welle
Deiner heil'gen Ruhe zu.
Mit der unnennbaren Milde,
Wie sie Phidias erfand
Für die göttlichen Gebilde,
Ruhst du in der Schönheit Wonne
Unbekümmert gleich der Sonne,
Ob dein Segen auch erkannt.
Stille wird des Geistes Sehnen
Ruhe ich an deiner Brust;
Nein, Vollendung ist kein Wähnen,
Was wir im Symbol hier sehen
Wird einst Wirklichkeit erstehen
Voll erkannt und voll gewusst.
— 352 —
In eben dieser Villa Mattei schrieb ich am
Charfreitag: Wie fern ist Christus! Nie habe
ich es so gefühlt! Eine rührende Gestalt
der Legende und der Kunst, aber als Wirklich-
keit fern und sein Opfertod nur als Symbol noch
nahe! Heiliger Frieden der Natur heute, wie
viel bedeutsamer und schöner als das Gewühl
in den Kirchen.
Ich habe auch einst am Fuss des Kreuzes
das Gefühl der Gemeinschaft, die weltüber-
windende Kraft der Entsagung und der auf-
opfernden Liebe gesucht und das Bild des er-
habenen Märtyrers am Kreuz ist mir teuer und
tief bedeutungsvoll geblieben. Aber den his-
torisch gewordenen Kirchen mit ihren Dogmen
kann ich nicht mehr beipflichten, so wenig wie
man jetzt noch den Dionysos-Kultus mit feiern
könnte, trotzdem der Dionysos-Mythus gewiss
einer der schönsten ist und noch immer das
vollkommenste Bild für unsere Einsicht in das
Wesen der Welt gibt. Zu dem Gekreuzigten
der Kirchen, dem Gottessohn, gehört der dogma-
tische Vater, gehört die Hierarchie in Kirche,
Staat, Gesellschaft. Der einfache Sohn des
Zimmermanns von Nazareth, der Schüler der
Essäer, welche indische Weisheit in den semi-
tischen Monotheismus hinüber brachten, wollte
nichts weniger als eine bloss mystische Gleich-
stellung der Menschen; er bekämpfte den
jüdischen Hochmut mit dem Gleichnis vom
barmherzigen Samariter ; er demütigte die Über-
hebung der Pharisäer und Schriftgelehrten bei
— 353 —
unzähligen Gelegenheiten, er sagte dem reichen
Jüngling der nur Geisterschaum schlürfen wollte
ohne wirklich zu entsagen: »gehe hin, verkaufe
was Du hast und gib es den Armen,
dann folge mir nach.« Als er sah, dass der
Kelch nicht an ihm vorüber gehn konnte, dass
es gestorben sein musste um seiner Überzeugung
willen, da starb er, indem er seinen Schülern
sein Beispiel zur stärkenden Erinnerung hinter-
liess. Um seine Gestalt schuf die gläubige ver-
ehrende Liebe, die dichtende Phantasie und das
Bedürfnis, die Idee zu incarnieren, den Mythus
und das Symbol. In den ersten Liebesmahlen und
dem Glaubensmut des ersten Märtyrers kamen
Mythus und Symbol zum ergreifenden Ausdruck.
Dann aber baute die egoistische weltliche Be-
rechnung des Priestertums die Kirche mit ihren
irdischen Tendenzen darauf auf und machte
Mythus und Symbol zur Lüge. Anstatt die
Menschen in der Annahme zu bestärken, dass
Einer ein für allemal die Erlösung der Mensch-
heit vollzogen habe, sollte man es immer aufs
neue und immer eindringlicher lehren, dass
jeder sich selbst erlösen muss von Sünde und
böser Neigung, jeder aus sich selbst das
Höchste machen muss, dessen seine Natur fähig
ist und auch den andern, den Schwachen, mit
Güte und Beispiel helfen, es zu tun. Das war
die Religion, die Jesus meinte, mit der nicht
bloss ein einziges Volk, mit der die Menschheit
sich durchdringen und sich zu ihrem idealen Aus-
druck erheben sollte. So steht seine Gestalt in
Meysenbug, IV. 33
— 354 —
ihrer Vollendung vor uns und fordert uns zur
Nachahmung auf. Er hat es ausgesprochen,
das grosse eine Wort, welches alles in sich
schliesst : Nicht im Tempel, nicht auf dem
Berge, im Geist und in der Wahrheit beten,
leben und sterben. Christliche Welt, betest
und lebst du so?
Wie wenig Menschen sind Schatzgräber!
In dem trefflichen Buche Oldenbergs über
Buddha findet sich folgende Stelle über das
Nirwana: »Das Denken, will Säriputta sagen,
ist hier an einem unergründlich tiefen Geheim-
nis angelangt. Nach einer Enthüllung des-
selben soll es nicht verlangen*; der Mönch, der
nach seiner Seelen Seligkeit strebt, hat anderes,
dem er nachforschen mag.« Wer aber eine Zu-
kunft scharf und klar verneinte, würde anders
reden. Vor dem Denken, welches ein ewiges
Sein als ein begreifliches, zu bejahendes, an-
zunehmen zögert, flüchten sich das Verlangen
und die Hoffnung eines Seins, welches höher
ist als Vernunft und Begreifen, hinter den Schleier
des Mysteriums.
In der Republik Venedig verurteilte man
selten auf Grund von Anklagen über Vergehen
— 355 —
gegen die Religion. Einmal erschien ein der
Ketzerei Angeklagter vor dem Rat der Zehn ;
er war beschuldigt worden, dass er ketzerische
Ansichten über die Dreieinigkeit hege. Er ge-
stand, dass er sehr wohl den Gott-Vater und
den Gott-Sohn begreife, dass er aber den heiligen
Geist nicht verstehen könne. »Geh nach Hause«,
sagten ihm die Richter. »Du verstehst doch
wenigstens zweie, wir verstehen keinen einzigen«.
Hätten alle Richter diese edle Aufrichtig-
keit, wie viel besser würden viele Urteile aus-
fallen.
Eine Atheistin, die im höchsten Sinn eine
ausübende barmherzige Schwester ist, und ein
ohne Christentum unter furchtbaren Leiden
heroisch, schön und versöhnt Sterbender —
was könnten selbst die Orthodoxen mehr ver-
langen? Ich kenne beide.
Edle Naturen machen eine Stunde des Irr-
tums wieder gut, voll, rein, ganz, wenn es
sein muss, selbst mit dem Leben. Edle Naturen
verzeihen aber auch ganz, voll, rein, ohne Hinter-
halt.
23*
— 356 —
Die nationalen Einheiten sind jetzt der Traum
und das Motto der Staatsmänner und Volks-
beglücker. Aber ist diese Einheit an sich solch
ein Glück? Macht sie nicht den Egoismus in der
Politik noch viel schärfer als er es ausserdem
schon ist?
Dagegen ist die Einheit des Charakters mit
sich selbst das letzte Ziel alles Strebens.
Ich ging eben im Frühling spazieren und
fühlte das Regen des Genius in mir und dass
allein der Umgang mit ihm beseligt. Die Schön-
heit empfinden ist das Lächeln des Genius im
Traum, Denken ist sein Erwachen. Nie flieht
der Genius vor der Erkenntnis; im Gegenteil,
ihn dürstet nach der Wahrheit, weil er durch
sie erst die Poesie der Dinge, das innere Ge-
setz ihrer Bewegung, ihren Rhythmus, ver-
stehen lernt, was im letzten Grunde eins ist
mit ihm selbst, nämlich: universelles Leben,
das in jeder Erscheinung sich auf sich selbst
besinnt. So war der Dämon des Sokrates. Die
Rechten haben es von jeher gewusst. Es hat
ein jeder seinen Dämon, nur verstehen ihn die
meisten nicht. Das Dämonische ist die zwingende
Unruhe im Geist, wenn ein bisher noch Un-
bewusstes ins Leben treten will. Vor diesem
— 357 —
Zwang erschrecken aber die meisten, verstecken
sich oder laufen davon.
In dem Liebesverhältnis zweier Weltkinder
stellte sich gegenseitiges Misstrauen ein, und da
sie beide leidenschaftlich waren, verwandelte
sich dies Misstrauen bald in Hass.
In der sogenannten vornehmen Gesellschaft
gibt es Zuschauer, Beobachter, Mitspielende oder
besser: Schauspieler.
O menschliche Schwäche I Die gute Mei-
nung der Welt zu erkaufen durch Geld, Namen,
Rang oder Ruhm!
O Stillei Gesegnete 1 Du, die allein würdige
Stimmungen erzeugst! •
Die Deutschen haben es an sich, über alles
und jedes in Italien, besonders in Neapel, zu
schimpfen, alles schlecht zu finden, den Schmutz
- 35« -
haarsträubend, den Lärm unerträglich, die Hotels
grässlich, die Kaffees widerwärtig, die Menschen
gemein und dumm. — O dagegen bei uns zu
Haus! Die herrliche Heimat! Und doch —
kommen sie alle Jahre wieder!
Mit der Liebe für die Reinlichkeit soll man
sich ebensowenig brüsten, wie mit der Liebe
für die Tugend. Beide gehören zu einem ordent-
lichen Menschen, man übt sie ohne viel davon
zu reden. Wer aber in Italien nur immer über
den Mangel an Reinlichkeit klagt, anstatt sich
über die Schönheit, welche alles überstrahlt, zu
freuen, der verdient Italien nicht. Ist es denn
schöner in den ewig mit Wasser übergossenen,
nüchternen, deutschen Stuben als z. B. in Zimmern
in Neapel, die allerdings den Staub oft etwas
zu lange aufbewahren, aber daneben eine Loggia
oder eine Terrasse h;aben, von wo man die
Wunder der Sonnenuntergänge über einem der
herrlichsten Meere der Erde sieht ? Ach mensch-
liche Kleinlichkeit! Denn es gibt auch eine
kleinliche Reinlichkeit und eine kleinliche Tugend.
Man erzählte abends bei mir in Rom von
einer Besteigung des Vesuvs und von dem
Grauen, welches man empfände, in den feurigen
Schlund hinab zu schauen. Es fiel mir darüber
— 359 —
ein, ob wohl die christliche Idee der Hölle nicht
dadurch enstanden sei? Der Hades war doch
etwas ganz anderes, etwas psychologisch Feineres ;
wie viel seelischer war diese Qual des vergeb-
lichen Tuns und Schaffens, als die brutale Strafe
in den Flammen.
Das immerwährende Unterliegen im Ab-
grund der Leidenschaft in den Romanen von
Gabriele d'Annunzio ist gar nicht interessant.
Nur der Sieg des höheren Wollens über die
Leidenschaft ist interessant. Ich verabscheue
diese ewige Vivisektion der Wollust und der
ungesunden Triebe, welche den Mann zum
Schwächling und die Frau nur zu einem Instru-
ment der Korruption macht.
Das grösste Leiden ist die Abwesenheit
des Ideals.
Ein Ausspruch von Rabelais, als von diesem
herkommend, fiel mir auf: »Die Natur hat im
Menschen Verlangen, Durst und Wunsch zu
wissen und zu lernen hervorgebracht, und zwar
nicht bloss die gegenwärtigen Dinge, sondern
besonders die zukünftigen, weil deren Kenntnis
— 36o —
höher und bewundernswerter ist Weil wir
nun in diesem vergänglichen Leben nicht zur
Vollendung des Wissens kommen können, und
die Natur nichts ohne Grund gemacht, oder ein
trügerisches oder verderbtes Verlangen gegeben
hat, so folgt daraus, dass ein anderes Leben
nach diesem sein muss, wo jener Durst gestillt
wird.«
So kommen auch die skeptischen Menschen,
ohne dass sie selbst wissen, wie sehr sie sich
widersprechen, immer auf ein geistiges, vemunft-
gemäss ordnendes Prinzip zurück, mögen sie es
nun Natur oder Gott nennen.
Nachdem ich den Roman von Paul Bourget
»La terre promise«, der mir missfiel, wie die
meisten Werke dieses Autors, gelesen hatte:
das Heiligende, Idealisierende in der Ehe ist
das schöpferische Element, das bei der rohen
unbewussten Natur bloss sinnlich und brutal und
ohne die erlösende Seite bleibt Was für ent-
wickelte geistige Naturen den tierischen Akt
verklärt, ist das Bewusstsein Schöpfer zu sein,
innerhalb der Materie ein Greistwerdendes zu
schaffen, gerade wie es dem Genius auf der
höchsten Stufe des schöpferischen Prinzips Selig-
keit ist, das im Geist Empfangene zu gebären.
Der französische Kritiker Bruneti^re sagt in
einem Artikel über Bourget, das Hervorragende
in dessen Romanen sei, l'etude de la vie. Ja,
— 36i —
die gehört freilich überhaupt zum Roman, aber
sie muss sich durch die Personen desselben aus-
drücken, und nicht durch psychologische Ana-
lysen und Abhandlungen.
Wir sprachen am Abend in Versailles (wo
ich alljährlich von 1884 an bis 94 den Sommer
bei Olga zubrachte) über die Heuchelei. Ich
fasste im Scherz mein Urteil in einem Syl-
logismus zusammen : die Heuchelei ist ein abscheu-
liches Laster, die moderne Gresellschaft bringt
die Heuchelei auf allen Gebieten hervor, also
ist es eine lasterhafte Gesellschaft. — M. da-
gegen meinte, die Heuchelei in der modernen
Welt sei eher ein Beweis der Moralität der-
selben, da man, aus Achtung vor der Tugend,
das Laster nicht öffentlich zu bekennen wage.
Ich freute mich, als ich die letzten Worte
Renans hörte, den ich einst so gut gekannt und
sehr geschätzt habe, denn sie beweisen, dass
seine Heiterkeit, welche man ihm so oft als
Ironie und Oberflächlichkeit vorgeworfen hat,
echt war und sich auf ein festes Bewusstsein
gründete. Am letzten Tage seines Lebens
sagte er: >Man muss den Gesetzen der Natur
folgen; der Tod ist nichts, ein Übergang, die
Erde und der Himmel bleiben.« Auf sein Grab
— 3^2 —
verordnete er zu schreiben: >Ich habe die Wahr-
heit gesucht.«
Papst Leo XIII. , als er hörte, dass Renan
keinen Priester gerufen habe, sagte: »Ich bin
darüber zufrieden, es wäre eine Heuchelei ge-
wesen. Gott vergibt den Menschen, die red-
lichen Willen haben, so wird er auch Renan
vergeben.« Das ist auch schön, das Oberhaupt
der Kirche, welches einen abtrünnigen Priester
so edel-menschlich beurteilt! Sie können sich
im Paradies als Freunde begegnen.
Der sichere Trost unseres Erdendaseins ist
doch der, dass wir durch Wort und Tat un-
sterblich sind in der Reihe der Geschlechter,
denn wenn auch die Geschichte uns nicht mit
Namen nennt, so wuchert der Samen des Guten,
welches wir getan, doch unzerstörbar fort von
Seele zu Seele und gehört mit in die grosse
Kette, deren Anfang und Ende in der Ewigkeit
liegen. So erklärt sich wenigstens das warum,
wenn auch das woher und wohin Frage-
zeichen bleiben. Eine sehr hübsche Hypothese
ist die eines unlängst verstorbenen liebens-
würdigen alten Franzosen, Monsieur Surell,
welcher das Rätsel der Existenz folgender-
massen zu lösen meinte, indem er die Möglich-
keit hinstellte, dass alles geistig von uns aus-
geht, an irgend einem Punkt des Weltalls wieder
zusammen treffe und unsere geistige Indivi-
— 363 —
dualität herstelle. Dies widerspricht weder der
Vernunft noch selbst der Experimentalwissen-
schaft, denn geistige Erzeugnisse unseres Wesens
sind sicher grössere Realitäten als die zufälligen
Kombinationen der Atome, welche unsere leib-
liche Existenz ausmachen.
Am 16. Juni 1890 in der Villa Mättei, nach
einem schmerzlichen Erleben:
Ziehet eilende Wolken den schwärzlichen Schleier
Über die strahlende Welt!
Alles ist eitel, schwindender Schein nur,
Auch die Sonne ist Täuschung sowie das Glück,
Die Rosen vergingen, die Träume vergingen,
Freunde vergingen und endlich — vergehest
auch du!
Alle Religionen sind aus dem der Mensch-
heit innewohnenden Bedürfnis hervorgegangen,
etwas Höheres, Mächtigeres, Vollendeteres, als
sich selbst zu suchen. Dieses Bedürfnis ist der
Adelstitel des Menschen und unterscheidet ihn
vom Tier. Ob es sich in minder oder mehr
vollkommener Weise offenbare, immer ist es zu
achten und gelangte es auch nur zur Anbetung
eines Fetisch. Aber sobald dies Bedürfnis
absolute Formen annimmt und sich für die ein
— 364 —
für alle Mal gegebene Wahrheit ausgibt, zur
dogmatischen Kirche wird, versteinert sich der
Geist, welcher ewiges Streben ist und wird
bloss äussere Form, die den lebendigmachenden
Odem nicht mehr enthält. Der beste Beweis
dafür ist, dass die bestehenden Kirchen sich
untereinander anfeinden, weil jede allein die
Wahrheit zu besitzen glaubt.
Wir, die wir die Geschichte dieses Bedürf-
nisses nach Idealität vor Augen haben wie es
sich in den verschiedenen dogmatisch-positiven,
konstituierten Kirchen verloren hat, wir können
nicht mehr zurückkehren in eine beschränkte
Form, welche dem Gedanken, der nach immer
reinerer Wahrheit dürstet, verwehrt seinen freien
Flug zu nehmen. Die Philosophie hat uns da-
zu geführt, Gott nicht mehr ausser uns zu
suchen, sondern ihn in uns, in allem was da ist, zu
erkennen und es als unsere Aufgabe zu be-
trachten, ihn in uns und um uns lebendig zu
machen.
Das Leben ist nichts anderes als ein grosses
Schlachtfeld und die einzige Tugend besteht
darin, trotz aller Wunden bis zuletzt zu kämpfen
und als Sieger, mit den Waffen in der Hand, zu
sterben.
— 365 —
Wie rasch sind doch die Übergänge im
Menschen von Niedergeschlagenheit, Trauer, Re-
signation, zu Hofihung, Mut und Freude oder
umgekelut. Was ist dies feine Uhrwerk, welches
so entgegengesetzte Bew^^ungen im Gemüte
hervorbringt? O ihr Physiologen und Männer
der >matiere grise«, könnt ihr es erklären?
Keine Spur!
Der einzige Schmerz, welcher unversöhnbar
ist, ist der Schmerz des Egoismus. Die selbst-
lose Tugend hat Frieden auch in der tiefsten
Trauer. Sie ist das wirkliche Selbst mit der
rechten Würde ohne Anmassung. Der Egoismus
ist das schlechte Selbst, das ewig Verwundbare.
(Ich unterscheide hier scharf Egoismus von Indi-
vidualismus.)
N. hatte die wahre Natur der gefallenen
Engel ; sie glaubte allem durch den hochmütigen
Stolz Trotz bieten zu können, anstatt alles Wider-
strebende durch die Liebe zu besiegen.
Ich las eben von der sonderbaren Hinneigung
Napoleons I. zum Aberglauben, wie ihn sein
Verkehr mit der Lenormant beweist. Aber
- 366 —
dunkle, ehrgeizige Gemüter werden immer aber-
gläubisch sein. Weil das Ideal ihre Seele nicht
erleuchtet, suchen sie Hülfe in dunklen Gewalten,
daher stammen wohl die Teufelslegenden, die
Hexenprozesse, noch heutzutage im Süden die
Zauberweiber und endlich der Spiritismus, be-
sonders in der modernen höheren Gesellschaft,
wo er weiter nichts ist, als die Rache des
Geistes an der Frivolität.
Schaffen muss man in der Einsamkeit, da
wo der laute Lärm des Tages nicht stört, aber
der Charakter erprobt sich doch erst ganz im
Zusammenleben, in der Art, andere zu behandeln,
auf sie zu wirken und sie zu ertragen. Freilich
ein grosses Leiden einsam heroisch tragen ist
auch ein Prüfstein des Charakters, doch ein noch
schwererer ist's, dem einsamen Umgang mit dem
Gott in uns aus erbarmender Liebe zu entsagen
und zwar nicht im Zorn und Ärger, sondern
mit dem milden Lächeln derer, die es wissen,
dass sie ein Heiligtum in sich tragen in dem sie
glücklicher wären, als in dem Samariterdienst
des Herzens. Ja, am Kreuz besiegte der Naza-
rener die Welt!
Die Definition des Genies ist es, dass dieses In-
dividuum, dieser Mikrokosmos zugleich den ganzen
Kosmos in sich trägt, alle Tradition, das Unend-
— 367 —
liehe, und dabei die Fähigkeit hat die ganze
Welt, die in ihm ist, auszusprechen und zu ge-
stalten. Es ist ein Beweis dafür, dass die uni-
verselle Einheit sich nur zuweilen eine indivi-
duelle Form wählt, um sich durch dieselbe kund
zu geben.
Man hat so viel Arbeit um etwas zu sein,
dass keine Zeit bleibt, noch etwas zu scheinen.
Es ist auch verlorene Mühe, man ist eben was
man ist, wem es nicht gefällt, mag's bleiben
lassen.
Ich war einmal wieder einige Wochen in
Deutschland und fuhr dann frühmorgens am
Rhein hinunter, wie alljährlich Olga in Frank-
reich zu besuchen.
Wie viel tausend Erinnerungen stiegen da
herauf an Jugendtage und Jugendträume, an die
frühe Liebe zu dem alten, stolzen, heiligen deut-
schen Strom! Und es überkam mich ein un-
endliches Mitleid mit dem armen Vaterland.
Ich verstand nun, was ihm fehlt: der heitere
Himmel und die Grazie!
-- 368 —
Das Schöpferische, das Tun, die Tat, war
da vor dem Wort, wie beim Genius der Tat-
moment, die Geburt im Geist, dem Wort und
der Gestaltung vorangeht.
Auch beim grössten Dichter ist das Wort,
welches er wählt, die Art seines Ausdrucks, sein
Stil, ein Teil seines Wertes.
Äschylus rühmte von sich, dass in keinem
seiner vierundachtzig Dramen die Liebe vor-
komme. Käme man in der modernen Welt nur
auch einmal so weit.
Die Reue ist keine Kraft, sagte ein Freund.
Ja, sie ist doch eine, wenn es die wahre Reue
ist, sagte ich, denn sie ist der Anfang des
Wiedergutmachens.
»Getrost das Unvergängliche, das ist das ewige
Gesetz, wonach die Ros' und Lilie blühte. Nun,
und ist es nicht ein grosser Trost nach diesem
ewigen Gesetz zur Geistesblüte berufen gewesen
zu sein?
— 369 —
Es gibt nur zwei Arten, das Leben nach
grossen Schmerzen würdig zu fuhren: entweder
mit der grossen Resignation, die sich immer
höher hebt über das Erlebte und heilig wird,
oder mutvoll tätig sein und das Leben besiegen
durch die Tat.
Das Schicksal war insofern stets gütig gegen
mich, als es mir nach all den schmerzlichen, teils
durch Entfernung, teils durch den Tod herbei-
geführten Trennungen, aus der Mitte der zahl-
reichen, mehr oder minder gleichgültigen Be-
sucher meines kleinen, einsiedlerischen Heims in
Rom, immer wieder einzelne Gestalten herbei-
führte, mit denen das geheimnisvolle Etwas, das
Geister zusammen bindet, jener Ton aus der
grossen Weltensymphonie, die immer nur we-
nige hören und verstehen, sich einfand und als-
bald zu einem näheren Seelenbunde den Grund
legte. Es ist merkwürdig, wie auf solchem Grund
allein wahrhaft ideale und dauernde Beziehungen
sich entfalten und entwickeln können, gleich
edlen Pflanzen, die das rechte Erdreich gefunden
haben und nun, immer neue Blüten treibend,
höher und höher wachsen. Nach Warsbergs
Tod, dachte ich, die Lücke würde jetzt unaus-
gefüUt bleiben und das Pantheon des Herzens,
in dem die Nischen alle mit geliebten Bildern
besetzt sind, würde geschlossen sein. Von Ve-
nedig war ich, wie jeden Sommer seit zehn Jahren,
M e y t e n b n g , IV. 24
— 370 —
zu Olga nach Versailles gegangen, wo ich, in
dieser Familie der freien Wahl, stets Monate herz-
lichsten Zusammenlebens genoss. Ich hatte mich
aber, auch ausserhalb dieser Häuslichkeit, immer
des freundlichsten Begegnens von^ selten der
Franzosen, mit denen ich in Berührung kam, zu
rühmen und kann in Wahrheit sagen, dass nie
ein beleidigendes Wort gegen Deutschland in
meiner Gegenwart laut wurde. Mit grosser An-
erkennung aber bemerkte ich auch die vorteil-
hafte Wirkung der empfangenen harten Lehre
vom Jahre 70, in der französischen Jugend, die ich
zu beobachten häufig Gelegenheit hatte, da Olgas
Gatte, Gabriel Monod, der geliebte und verehrte
Lehrer der Jünglinge an zwei der höheren In-
stitute in Paris war, der ecole des hautes etudes
und der ^cole normale. Die Mitteilungen
Monods bestätigten mir auch meine eignen Be-
merkungen über den Lerneifer und die auffallend
ernste Richtung all der jungen Leute die seiner
Obhut anvertraut waren, was zum Teil in der
Trefflichkeit des Lehrers seinen Grund haben
mochte, aber sicher auch die Folge ernster Be-
trachtung der Ereignisse war. Es schien dies
wieder ein Beleg zu der Lehre, welche die
Geschichte schon so häufig geliefert hat, dass
sehr oft, nach schweren Niederlagen im Kriege,
die Besiegten moralisch die Sieger bleiben, in-
dem sie in sich gehen, die Ursachen ihres Unter-
liegens zu ergründen und entdeckte Mängel mit
Ernst zu verbessern suchen. War es doch in
Deutschland auch so nach den Kriegen mit
— 371 —
Napoleon, und wohl den Völkern, denen das Un-
glück eine Schule der Weisheit wird.
Unter den Schülern Monods, die ich in seinem
Hause kennen lernte, war einer, den er mir be-
sonders empfahl, da derselbe auf 2 Jahre nach
Rom, in das dortige archäologisch-historische
Institut (welches Frankreich gleich Deutschland
und Österreich dort hat) nach vollendetem vor-
züglichem Examen in der ecole normale kommen
sollte. Er besass unter anderen bedeutenden
Vorzügen auch eine seltene Begabung für Musik
und ich versprach mir dadurch eine lang ent-
behrte Freude, nämlich öfter bei mir in der
Ruhe meines Heims Musik zu hören. Musik
war von frühester Jugend auf für mich ein
Lebensbedürfnis gewesen. In meinem elter-
lichen Hause gehörte Musik zu den unentbehr-
lichsten Freuden des Daseins. Mehrere meiner
älteren Geschwister waren musikalisch und es
hatte sich ein sogenanntes Kränzchen gebil-
det, an dem sie teilnahmen und dessen Ver-
einigungen in unserem Hause stattfanden. Die
obere Leitung desselben wurde von dem damals
sehr berühmten Komponisten Louis Spohr, der
Kapellmeister in Kassel war, gefuhrt, und musika-
lisch bedeutende Persönlichkeiten, wie u. a. der
Liederkomponist Curschmann, nahmen daran
teil. So hörte ich schon als Kind im Hause
selbst bedeutende musikalische Auflfiihrungen ;
ausserdem sah meine Mutter, eine geistvolle,
mit hohem Kunstsinn begabte, durchaus frei-
sinnige Frau, gern und oft die ersten Künstler
24*
— 372 —
des damals vortrefflich besetzten Theaters in
Kassel bei sich, wo besonders an der Oper
Sterne erster Grösse glänzten, die mit den herr-
lichsten Leistungen ihrer Kunst den geselligen
Verkehr belebten und schmückten. Später, als
ich selbst Klavier spielte, wurde mir die Musik
immer mehr Seelenbedürfnis, obgleich ich in
der Ausübung weit hinter meiner jüngeren
Schwester zurückblieb; mich zog dagegen der
Gesang mächtig an, die MögUchkeit, da ich eine
gute Stimme besass, noch viel unmittelbarer
und persönlicher dem musikalischen Empfinden,
welches in der Seele wogte, Ausdruck zu geben.
Dazu wollte ich, wie immer, nicht an der Ober-
fläche stehen bleiben, sondern auch die Gesetze
kennen lernen, welche die Welt der Töne be-
herrschen. Es hatte mich gleich wunderbar er-
staunt, zu sehen, wie diese unkörperliche, man
könnte fast sagen metaphysische Kunst den
strengsten mathematischen Regeln unterworfen
und wie das scheinbar Freieste von einem inneren
Gesetz gebunden ist, was freilich auch das Vor-
recht der Entwicklung hat, wie . alles Geistige,
aber innerhalb dieser stets die organische Not-
wendigkeit seiner Erscheinung verfolgen muss.
In der kleinen Residenz Detmold, wo meine
älteste Schwester verheiratet war und meine
Mutter sich mit meiner jüngeren Schwester
und mir endlich niedergelassen hatte, weil das
Wanderleben, welches mein Vater mit seinem
Jugendfreund, dem alten Kurfürsten von Hessen
nach dessen Thronentsagung führte, uns auf die
— 373 —
Länge doch unbehaglich wurde, fand sich reich-
lich Gelegenheit, gerade nach dieser Seite hin zu
lernen. Ein tüchtiger Musiker, Schüler Spohrs,
welcher das wirklich ausgezeichnete Orchester
dirigierte, gab meiner Schwester und mir Unter-
richt im Generalbass, und so sehr wurde ich
von diesem Studium angezogen, dass ich alsbald
anfing, kleine Arbeiten für Orchester zu schreiben,
welches mir die Achtung und Freundschaft der
Mitglieder desselben zuzog. Dies brachte uns
die herrlichsten Folgen, denn nicht nur erfreute
uns das Quartett, das sich aus den besten
Künstlern gebildet hatte, häufig des Abends bei
uns mit Leistungen der schönsten Meisterwerke,
sondern es kam auch nicht selten vor, dass wir
mitten in der Nacht durch die Klänge eines
Mozartischen oder Beethovenschen Quartetts aus
dem Schlaf geweckt wurden, indem die wackern
Musiker auf der Strasse unter unseren Fenstern
sich niedergelassen hatten, um unsere Seelen in
nächtlicher Stille mit dem zu erfreuen, was, wie
sie wussten, uns das Höchste war.
Wenn mein späteres Leben in grossen Cen-
tren mir auch öfter die Möglichkeit gab, grösseren
und oft sehr vorzüglichen Aufführungen beizu-
wohnen, so war der intimere Genuss, wie ich
ihn in der Kindheit schon im elterlichen Hause
und nachher in der Jugend in unserem Heim in
Detmold gehabt hatte, nun fast ganz vorbei.
Mein Leben hatte so ernste Aufgaben bekommen,
dass sie alle meine Kräfte in Anspruch nahmen
und ich hatte gar nicht immer ein Instrument zu
— 374 —
meiner Verfugung, wie in der Hochschule zu
Hamburg, wie während meiner Lehrtätigkeit
in England, und dazu kam, dass meine immer
schwachen Augen, durch andere Arbeit schon
zu sehr angestrengt, das Notenlesen nicht mehr
vertragen konnten, so dass mein einsames
Musizieren sich fast nur auf Gresang beschränkte.
Aber in meiner Seele wogten unablässig Har-
monien und Gesänge und ich erinnere mich keiner
Epoche meines Lebens, wo ich nicht innerlich
immer Musik gehört hätte, auch bei den
heterogensten äusseren Beschäftigungen. In Rom
empfand ich es als einen der grössten Mängel,
dass man so wenig gute, wahrhaft vollendete
musikalische Aufifuhrungen zu hören bekam.
Zuweilen ereignete es sich ausnahmsweise, dass
ein glücklicher Zufall es herbei führte, in Privat-
kreisen Vorzügliches zu hören, so, wie schon
früher erwähnt, in den Wintern, die Liszt
noch bleibend hier zubrachte und in den musi-
kalischen Vereinigungen bei einer jungen
russischen Fürstin, seine eigenen symphonischen
Dichtungen mit jener zauberischen Vergeistigung
vortrug, welche das Spiel des alten Mannes
noch weit über das des gefeierten Virtuosen in
seiner Glanzperiode hob.
Aber solchen Ausnahmezeiten folgten wieder
Perioden äusserster Dürre in musikalischen Be-
ziehungen, wo ich eben nur auf die Tonwelt,
die in meiner Erinnerung lebte, angewiesen war.
Um so angenehmer wurde ich überrascht, in
dem oben erwähnten jungen Franzosen, der nun
— 375 —
nach Rom kam, einen Musiker ersten Ranges von
tief ernstem Verständnis und geläutertem Ge-
schmack zu finden, der mir gleich in liebens-
würdiger Weise sein herrliches Talent zur Ver-
fügung stellte. Stundenlang hörte ich jetzt wieder
Mozart, Bach, Beethoven und Wagner bei mir
ertönen und genoss in andächtiger Stille ganz
allein den Verkehr mit jenen grossen Seelen,
die mir in ihrer metaphysischen Sprache gött-
liche Oflfenbarungen verkündeten und mir Stunden
reinster Wonne bereiteten.
Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht er-
wuchs mir aus der näheren Bekanntschaft mit
diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiss
gerade im vorgerückten Alter keine edlere Be-
friedigung als in jungen Seelen denselben Drang
der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten
Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und
Trivialen, denselben Mut im Kampfe für die
Freiheit der Individualität zu finden, wie dies
alles die eigene Seele von früh auf erfüllt hat
und noch am Lebensabend, wo schon so viele
Illusionen zerflossen sind, so viel um uns Da-
gewesenes und uns Liebes verschwunden ist,
als das tiefste, ewige Element des Daseins in
uns waltet. Wie ganz verschwindet dabei auch
das Vorurteil der wesentlichen Unterschiede
der Nationalität. Der innerste Grund der mensch-
lichen Natur ist sicher nicht abhängig von Rasse,
oder Erdteil, oder Abstammung, sondern da-
von wie Klima, Tradition, Verhältnisse, Er-
ziehung, die eine oder andere Seite der Fähig-
— 376 —
keiten in der Menschenseele stärker entwickeln
und nach und nach durch Vererbung zu einem
anscheinend besonderen Typus heranbilden. In
diesem jungen Franzosen fand ich dieselbe
Idealität, dieselbe Hoheit des Strebens, dasselbe
innerste Verständnis für jede Äusserung geistiger
Grösse, wie ich sie bei den auserwählten Seelen
anderer Nationen gefunden hatte. Er war ein
inniger Bewunderer Tolstois, er liebte, wie schon
gesagt Mozart, Bach, Beethoven über alles,
war begeistert für Wagner, entwickelte sich hier
im Studium, besonders im Anschauen der Meister-
werke der Renaissance und unter den Einflüssen
der herrlichen, südlichen Natur, wie eine Blüte,
welche ihren rechten Boden gefunden hat. Dies
gab mir wieder einen Beleg für das oben Ge-
sagte, das längst meine Überzeugung gewesen
war, dass nämlich die Verschiedenheiten der
Nationalitäten oder der Rassen auf etwas ganz
anderem beruhen, als auf einer ursprünglichen
Verschiedenheit der Menschenseele.
Zwei Jahre des edelsten geistigen Verkehrs
wurden mir durch die Anwesenheit dieses Jüng-
lings zuteil, der mir auch das wieder be-
stätigte, dass für das wahre Seelenleben es
kein Alter gibt, dass demnach die Seele etwas
sein muss, was am ewigen Quell der Jugend
teil hat und in voller Frische fortlebt, auch
wenn die irdische Hülle altert und dem Lose
des Vergänglichen anheim fällt. Wie schon er-
wähnt, war es nicht nur die musikalische Be-
gabung des jungen Freundes, welche mir die so
— 377 —
lang entbehrte Wohltat brachte aus dem fast
immer verschlossen gewesenen Piano die Geister
all der hohen Meister der Tonkunst herauf zu
beschwören. Auch auf allen anderen Gebieten
des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch
und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich
dagegen, in der beständigen Anregung, die
Jugend des Gedankens und die volle Intensität
des Interesses für alles Schöne und Poesievolle
in mir wiederempfand. Auf diesem letzteren
Gebiet, dem der Poesie nämlich, entdeckte ich
denn allmählich auch die schöpferische Begabung
des Genannten, und zwar in überraschender
Weise durch eine dramatische Dichtung, die mir
alsbald die Hoffnung eingab, auf eine Erneuerung
der besonders in Frankreich so tief gesunkenen
dramatischen Kunst. Diese hatte ja leider, zu-
folge des der menschlichen Natur innewohnen-
den Nachahmungstriebs, auch in andern Ländern
eine gar trübselige Richtung genommen. Von
jeher hatte mich die Idee des historischen
Dramas lebhaft beschäftigt. Ich hatte mich
immer gefragt, ob man geschichtliche Personen
auf die Bühne bringen dürfe, da es unmöglich
ist, sie genau so hinzustellen, wie sie gewesen
sind, und man also in Gefahr ist, sie tun oder
sagen zu lassen, was ihnen absolut nicht homogen
gewesen wäre. Indem ich nun in Gedanken die
edelsten Gestalten des deutschen historischen
Dramas durchging, wie Götz, Egmont, Don
Carlos, Wallenstein u. a., fand ich, dass sie
gewiss keine naturgetreuen Porträts wären, aber
— 378 —
so wie wir wünschen könnten, dass sie gewesen
seien. Vielleicht liegt darin das Entscheidende ;
die Poesie hat das Wesentliche dieser Gestalten
ergriffen und in ihm das ausgedrückt, was die
Mitte und die Zeit, in der sie lebten, charakterisiert,
so z. B. in dem herrlichen Gegensatz der Na-
turen von Egmont und Oranien, welcher in
dem ersten die liebenswürdige, vertrauensvolle
Offenheit des Flamländers, und in dem zweiten
die ruhige, kalte Besonnenheit und Vorsicht
des Holländers kennzeichnet. So schafft man
gleich Typen, charakteristisch für die Um-
gebung und dennoch dramatisch persönlich und
wirkungsvoll tätig. Jedenfalls ist es das erste Er-
fordernis des historischen Dramas, dass die
Zeit, in der es spielen soll, vollkommen em-
pfunden und ausgedrückt ist, so dass man
die Luft von damals zu atmen scheint und
die Gestalten sich in der ihnen gemässen
Mitte bewegen. Dies unentbehrliche Erfordernis
des historischen Dramas fand ich nun im
höchsten Grad vorhanden in einer Schöpfung
meines jungen Freundes, welche ihm hier unter
dem unmittelbaren Eindruck der Kunstepoche
der Renaissance, in deren Studium er sich durch
das Anschauen ihres Nachlasses versenkt hatte,
entstanden war. So durchdrungen war er vom
Geiste jener Zeit, den er in den Gestalten auf
der Leinwand erkannt hatte, dass sie in seiner
Phantasie ins Leben zurückgekehrt waren, und
nun lebendig handelnd dastanden, wie sie es zu
ihrer Zeit getan haben würden. Nichts kann
— 379 —
interessanter sein, als der Entwicklung eines
schöpferischen Geistes zu folgen, der ungehindert
von aussen dem inneren Machtgebot folgt,
sich zur Klarheit der Anschauung und Aus-
fuhrung durchringt und, indem er die in ihm
sich bildende Welt zur Erscheinung bringt, zu-
gleich den höchsten und unabänderlichsten Ge-
setzen künstlerischen Schaffens genugzutun be-
müht ist.
Das zweite Jahr des Aufenthalts des jungen
Mannes in dem französischen archäologischen
Institut ging nun zu Ende und er musste in die
Heimat zurück, seine bürgerlichen Pflichten zu
erfüllen und sich eine Stellung zu gründen. Ich
konnte nur wünschen, dass es eine solche sei, die
ihm erlauben würde, seine vorwiegend künst-
lerische Begabung ungehindert zu entfalten. Als
Abschiedsgruss jener hohen Freuden, die mir
sein musikalisches Talent bereitet, schrieb ich
ihm folgende Zeilen:
»Ärmer wurde die Welt und immer ärmer und ärmer,
Öde und Einsamkeit wurde es rings um mich her.
Wenn die Frühlinge wieder aufs neue erschienen
Frische Blüten der Flur brachten mit lächelndem
Gruss,
Schied mir ein Freund, ein Bruder, die liebe
Verwandte
In die dunkele Fern', aus der Keiner zurückkehrt.
Immer stiller wurde das Herz in ruh' ger Entsagung,
Harrend des Rufs, der mir, jenen zu folgen ertön.
Da erklangen mit eins Harmonien wie Grüsse
von oben.
— 38o —
Führten die Seele mir in ihre Heimat zurück.
Geister, Begnadete ihr, die einst schon ich liebend
verehrte,
Wieder spracht ihr zu mir des Trostes erhabenes
Wort,
Hobt den Schmerz auf Flügeln in jene seligen
Fernen
Wo er versöhnt und befreit, göttlichem Glück
sich vereint.
Und ich lauschte und lauschte in Andacht ver-
sunken,
Auf den Knien liegend im Geist, ewiger Offen-
barungen Klang.
Deine Hand war's, mein Freund, die jene Klänge
entlockte
Und mit herzlichem Dank mich dir in Freund-
schaft verband;
Scheid ich, folgt nun dein Bild vereint mit jenen
Grossen,
Von Harmonien umtönt, in die Ferne mir nach.
r
Gedachtes aus jener Zeit.
Mein junger Freund spielte mir aus der Missa
solemnis von Beethoven vor. Es durchdrang
mein tiefstes Innere wie ein ätherischer Lebens-
strom. Ja, das ist Religion, Gefühl des Ewigen,
siegreich über dem Abgrund der Welt, Ahnung
himmlischer Vollendung. Beethoven, welch eine
Seele !
Wir fuhren von Tivoli heim nach Rom und
ich war versunken in den Anblick des herr-
lichsten Abendhimmels: eine goldene Wolke
über dem höchsten Gipfel der Sabiner-Berge,
als wäre dies der Olymp, auf dem sich die
Götter in goldenem Duft den Blicken der Sterb-
lichen verbergen. Eine wahrhaft klassische Wolke !
O, in der Natur ist auch Musik!
— 382 —
Rolland sagte eines Abends, die Sphäre der
Pflicht und die des Ideals seien durchaus ver-
schieden und getrennt. Ich sagte, nein, das
müsse nicht sein. Jemehr man leuchtende Punkte
idealer Momente im Leben ansammelt, jemehr
Licht fallt auch auf die oft dunkle Sphäre der
Pflicht und erleuchtet sie, so wie es den Sternen
geschieht, die kein eigenes Licht haben, sondern
es von ihren Sonnen empfangen.
Es gehört ein tiefes und universelles Gefühl
dazu, um einen Stil zu schaffen, so, wie es das
religiöse Gefühl der Zeit der Renaissance in
Musik und Malerei, und im Altertum in der
Skulptur getan hat. Daher konnten viele be-
gabte und von jenem Gefühl durchdrungene
Menschen tiefsinnige und bewunderungswürdige
Dinge schaffen, auch ohne Genies zu sein. Das
grosse Genie schafft keinen Stil ; es ist es selbst,
individuell, isoliert; es übt wohl einen Einfluss,
doch einen mehr äusserlichen, es lässt nicht zur
selben Zeit, an verschiedenen Orten, durch ganz
getrennte Persönlichkeiten, herrliche Sachen ent-
stehen, die sich gleichen, weil sie aus demselben
Gefühl entstanden sind, ohne Tradition oder Nach-
ahmung zu sein. So war z. B. die aus dem Ma-
donnenkultus entstandene Kunst, welche die ganze
Renaissancezeit beherrschte.
- 383 -
Wir sprachen über das Leiden, Rolland und
ich, über dessen Bedeutung in der christlichen An-
schauung, und es kam mir der Gedanke, dass es
vielleicht ein völliges Missverständnis sei, dass
Christus das Leiden durch seinen Tod habe
sanktionieren wollen. Sein Tod war die frei-
willige Tat des Menschen, der seine Über-
zeugung besiegelt, damit man an ihn glaubt.
Sein Leben aber war freudige Tat, Lehre, Er-
mahnung, Wohltun, Barmherzigkeit.
Der Egoismus des Schmerzes ist verständ-
licher als der des Glücks. Schmerz ist stolz und
schliesst sich ab gegen die Welt, die ihn nicht
kennt und versteht. Glück macht demütig
ob des inneren Reichtums im Vergleich mit
anderen und freigebig aus dem Wunsch, dass
auch andere glücklich sein mögen. Der Schmerz
ist ein einsamer mitten im Gedränge, das nichts
von ihm weiss. Glück, auch wenn es sich in
Einöden flüchtete, fühlt sich in Wohlwollen ver-
bunden mit der ganzen Welt.
Wir waren zusammen im Theater, um Sarah
Bernhard als Kleopatra zu sehen. Da gefallt sie
mir, denn da schafft sie beinah einen Stil. Das
Kunstwerk soll uns die Wirklichkeit wieder-
geben, aber in erhöhter Weise, wo sie typisch
- 384 —
wird und uns in das Reich ästhetischer Form-
und Inhaltvollendung erhebt. Als moderne Frau
brauchte sie nur sich selbst zu spielen, eine
ephemere individuelle Erscheinung ; als Kleopatra
wurde sie ein Typus künstlerischer Schöne,
etwas Ewiges.
Ich besuchte den Grafen Schack, der, schon
ganz erblindet, seine letzte Lebenszeit in traurigem
Zustand hier in Rom zubrachte. Wir sprachen
über Schiller, und von unserer beider Ver-
ehrung für ihn. Er sagte, er schätze die
»Räuber« und »Kabale und Liebe« noch höher
als die anderen Dramen. Sie wirkten auf der
Bühne so hinreissend, dass man die ungeheuren
UnWahrscheinlichkeiten, die sie enthielten, darüber
vergesse. Ich sagte, ja, das sei der Triumph
des Genius und der wahren Kunst, uns das Un-
wahrscheinliche annehmbar zu machen durch die
höhere Realität der Hauptsache.
In der Zeit war Ibsen ein Hauptgegenstand
der Unterhaltung in der römischen Gesellschaft.
Ich hatte ihn bei seinem Aufenthalt in Rom
kennen gelernt; er kam mich zu besuchen. Es
war gerade die »Nora«, das »Puppenheim«, er-
schienen und es herrschte eine ungeheure Auf-
regung in der damals sehr zahlreichen skandi-
- 38s -
navischen Kolonie in Rom, und auch in der
römischen Gesellschaft wurde für und wider ge-
stritten. Ibsen lächelte über das Entsetzen, das
besonders die weiblichen Gemüter bei der Ent-
deckung, welche Nora über das Wesen der Ehe
macht, ergriffen hatte, und meinte, die Stücke,
die Nora folgen und das Messer an die Wunden
der Gesellschaft legen sollten, würden noch an-
ders erschreckend wirken. Inzwischen waren
nun auch viele andere, noch weit kühnere und
schärfere Kritik übende Drajnen gefolgt, und es
war gerade die Zeit der »Gespenster«, als ich
eines Abends in Gesellschaft mit einem jungen
Mann über dieselben ins Gespräch geriet. Zu
meinem Erstaunen versicherte mir dieser, er ziehe
die »Gespenster« beim Ödipus des Sophokles vor;
im modernen Drama müssten die physiologischen
Gesetze an die Stelle des antiken Fatums treten.
Ich erwiderte ihm, dass erstens die Unabänder-
lichkeit des Gesetzes der Erblichkeit noch nicht
festgestellt sei, und dass femer die Frage bleibe,
ob es nicht einen moralischen Widerstand gegen
dasselbe gäbe. Dann auch war bei den Griechen
das Fatum eine Macht der Gottheit, war also
dort einer künstlerischen Behandlung fähig, im
höchsten Grad ethisch, denn Ödipus bleibt trotz
seiner Schuld ein edler, des tiefsten Mitleids
werter Mensch, während der Mensch in den
Gespenstern sich willenlos dem bösen geerbten
Blut überlässt und schmutzigen Trieben folgt
wie der Vater, also nicht heroisch ist, sondern
das Opfer eines blinden Verhängnisses. Und
M e y s e n b u g , IV. 25
- 386 —
dann fehlt das versöhnende Element, das bei den
grossen Tragikern, wie z. B. im Odipus auf Co-
lones, immer wieder über den Schmerz und den
Abgrund der Leidenschaften erhebt. Hier in
den Gespenstern sind fast alle Personen gemein,
schlecht und nur der Pastor ist gut aber borniert.
Die einzige interessante und sympathische Figur,
die Frau, irrt aber ihr ganzes Leben hindurch,
so dass man es dumm nennen könnte; sie lügt,
um die äussere Ehre eines verächtlichen Menschen
zu retten und entfernt ihr Kind, anstatt über ihm
zu wachen und den bösen Keim zu ersticken,
was viel ethischer gewesen wäre. Darin gleicht
sie dem antiken Orakel, das immer durch Miss-
verstand das Übel herbeifuhrt, welches vermieden
werden soll.
Ibsen ist ein Vivisektor der menschlichen Na-
tur wie wenige, aber er kommt mit seinen neueren
Dramen an die Grenze, wo die Poesie des Tra-
gischen aufhört und das pathologische Spital be-
ginnt. So hoch seine dichterischen Anfänge wie
»Brand« u. a. stehen, so bewunderungswürdig
seine künstlerische Mache ist und soviel einzelne
Schönheiten all die sozialen Stücke, wie ich sie
nennen möchte, enthalten, so ist es doch zu be-
dauern, dass er diesen Weg so ausschliesslich
befolgt hat, besonders auch deshalb, weil er da-
durch das Haupt einer Schule geworden ist, die,
ohne seine Begabung, die Theater mit den er-
müdendsten Mittelmässigkeiten von Produkten
überschwemmt.
~ 387 —
Der Fatalismus im Sinn einer blinden Kraft,
welche den Menschen ohne seine Schuld in das
Verderben stürzt, ist fiir uns nicht mehr annehm-
bar. Der wahre Fatalismus besteht in dem Kon-
flikt der äusseren Umstände mit dem Grund der
menschlichen Natur, in welcher er zuweilen erst
die Leidenschaften, die darin schliefen, weckt
und die Handlung hervorruft, die unsere Schuld
und unser Schicksal wird. Das ist das tragische
Element und die dramatische Kunst hat sich
dessen zu bemächtigen.
Das geistige Erzeugen, wenn es aus innerstem
Bedürfnis hervorgeht, ist das Merkmal, dass die
Natur es bedarf, sich zu objektivieren, wie auf
der niederen Stufe es auch beim leibUchen Er-
zeugen der Fall ist. In der Objektivierung des
Subjekts, sei es durch geistige oder leibliche
Kinder, vollzieht sich jenes Geheimnis des Da-
seins, welches im Grund des Weltwillens seinen
Ursprung haben muss. Auch er muss als das
Ursubjekt, sich ewig objektiv werden in der
Welt der Erscheinung, dadurch allein ist er,
wird zur universellen Individualität, zur Einheit,
die wir in der Vielheit ahnen.
Allein der Geist und der Gedanke gehören
der Ewigkeit. Alles was das Herz und Gefühl
trifft, verwundet, denn es mahnt an die Ver-
25*
- 388 —
gänglichkeit. Die Liebe in der Erscheinung ist
nicht ewig, nur die Erkenntnis; in ihr ist eine
höhere Liebe, die das Vergängliche, den Sinnen-
genuss, abgestreift hat. Vielleicht köünte es
heissen: im Anfang war der Geist.
Halte stille nur, mein Herz,
Trag mit Fassung deinen Schmerz;
Eine kleine Weile noch
Dauert wohl das Erdenjoch,
Dann erlischt der bunte Schein;
Wird's dann stille um mich sein?
Oder werden Melodien
Auch noch durch die Seele ziehn?
Wird vom allgewalt'gen Drang,
Der nach Idealen rang,
Wenn die Erdenfessel weicht
Wohl sein ew'ges Ziel erreicht?
Wird die Treue dann bestehn?
Reine Liebe nie vergehn?
Wird der höchsten Schönheit Glück
Sich enthüU'n dem geist'gen Blick I
Ach und wär's auch so, mein Herz,
Lindert's dieser Stunde Schmerz?
Ganz gut konnte Pythagoras sagen, er habe
schon zweihundert Jahre gelebt. Sind wir
nicht immer dagewesen und konnte ein tiefer
- 389 —
Schauender, ein in das innerste Wesen der Dinge
Versenkter, sich nicht wirklich erinnern? Ist es
darum so schrecklich zu sterben, da wir, wenn
wir ewig da waren, auch ewig sein werden ? Es ist
ja nur ein Wechsel des Kleids, und soljte es
nicht möglich sein, an einen Punkt zu gelangen,
wo man das Kleid nicht mehr zu wechseln
braucht, wo man dem Wandel der Erscheinung,
mithin der Beschränkung, entrückt, ewig bp-
wusst lebt?
Die alte italienische Musik hat für Liebe und
Religion den gleichen Charakter. Alle Liebes-
gesänge gleichen Gebeten, das macht sie so innig
und seelisch.
Das ist so merkwürdig in der Musik, dass in
der seelischesten aller Künste das Mathematische,
qnabänderlich Gesetzmässige herrscht. Wie
staunenswert ist das bei Bach, wo in der streng
gebundenen Form die göttliche Freiheit der über-
strömenden Schöpferkraft waltet. Die Recitative
in der Johannis-Passion, die ich mit r Rolland
gerade durchnahm, sind die grossartigste er-
schütternde Tragik des 'Denkers, welcher dann
wieder im Gesang selige Poesie entkeimt.
Kann man die Philosophie der Musik schreil^en ?
Ihrer konkreten Formen : ja ; aber ihr eigentliches
— 390 —
Wesen ist so metaphysisch, dass es in keine
Theorie passt.
Am Abend spielte mir Rolland die grossen
Variationen von Beethoven vor. Wie man da
in dessen Seele liest! Er, der nur noch im
Innern, in unausgesetzten Harmonien lebte, Welt
und Formel gehen ihn nichts mehr an.
Bach ist der ideale Ausdruck der Reforma-
tion, in ihrem reinsten Sinn. In der gebundenen
Form : die Freiheit des Gedankens, die Innigkeit
des Gefühls, die Erhabenheit des Schmerzes, die
grösste Idealität, aber immer der tief religiöse
Mensch innerhalb der Grenzen des traditionellen
Glaubens. Deshalb beruhigt er so, trotzdem er
alle Tiefen des Schmerzes und selbst der Leiden-
schaft kennt, weil sein Ideal ein festes ist und
er weiss, wo er Frieden findet. Beethoven hin-
gegen ist der suchende, ringende Titan, dem das
Ideal nur, wie ein fernes Lichtbild, in Ahnungen
sich neigt, dann aber auch überirdisch schön,
jeden Zweifel lösend und das Dunkel mit himm-
lischem Licht erhellend.
Und so wieder ein Abend, wo der musika-
lische Freund mir wundervoll spielte. Welch
— 391 —
ein edler Zustand, wo der Wille schweigt und
nur das reine Erkennen die Seele füllt.
Musik ist wirklich die Versöhnerin zwischen
der mangelhaften realen Welt und der Ahnung
einer voUkommneren, welche der Seele in ihren
besten Augenblicken vorschwebt und sie über
die gemeine Wirklichkeit erhebt. Alle grossen
Erzieher der Menschheit haben Musik gebraucht ;
es ist das nur bei Christus eine seltsame Lücke,
in den Evangelien überhaupt Wie erhaben
schön war aber die Idee des Pythagoras über
den Rhythmus des Weltalls!
Die unbefriedigte irdische Leidenschaft ist
das harte Gesetz, durch welches die Götter die
Gabe des Genius bezahlen lassen. Wer das
himmlische Feuer vom Olympos raubt, wird an
den Fels des Leidens gefesselt, aber er sieht den
Himmel offen inmitten der irdischen Qual. Wer
hat dies mehr erfahren als Beethoven? Er hatte
die wahre Religion, war auf dem Sinai gewesen,
wo Gott sich offenbart in Tönen, die aus dem
Urgrund des Seins kommen und die Erlösung
vom Leiden bringen, indem sie uns aus dem
Endlichen in das Unendliche erheben. Sein Adagio
aus der Sonate in B-dur (op. io6) ist, nach
dem Abgrund des Leidens, die erhabene Ver-
— 392 —
gebung an das Leben für all das ihm zugefugte
bittere Leid.
An einem Morgen spielte Rolland bei Frau
Minghetti, auf deren Bitte, aus Parsifal. Mir ver-
schwand dabei die mich umgebende Gesellschaft
vollständig, ich lebte nur in den Tönen und fühlte
€s mehr denn je, dass die Weltseele Musik ist.
Wagner hat sie gehört, geahnt, im Parsifal war
«r schon hellsehend. Ja, das kann nur aus trans-
zendentalen Seelen kommen.
Wagner war das gewaltige Schlusswort einer
grossen produktiven Epoche in der Musik, wie
Michelangelo es in der bildenden Kunst war.
Nach diesem kam Bernini, wie jetzt all die Epi-
gonen, die nach Wagner kommen. Die Ähnlich-
keit ist sehr gross ; es ist eine Art krampfhaftes
Ringen in dem Leben dieser zwei kolossalen
Künstler. Die reine Linie der Schönheit war
erschöpft in Raphael, Mozart, Bach, Beethoven.
Jene zwei Grossen sahen noch etwas Grösseres
und versuchten es mit irdischen Mitteln auszu-
sprechen und zu erreichen. Das jüngste Gericht,
die Propheten und Sybillen in der Kapelle Sistina
und die Götter Walhalls und Parsifal, sagen
dasselbe; sie suchen den Idealmensch (nicht
Übermensch im Sirine Nietzsches).
— 393 —
Nach jenen zwei Jahren, in denen durch die
Anwesenheit Kollands in Rom die Musik wieder
so ganz die Oberhand in meinem Seelenleben
gewonnen hatte, ging ich bei Beginn des Sqmmers
zunächst wieder nach Mezzaratte bei Bologna,
dem anmutigen Landsitz von Donna Laura Min-
ghetti, auf dem sie^ auch nach dem Tode ihres
Gatten, alljährlich einige Zeit zubrachte. Von
der liebenswürdigen Gastfreundschaft, die dort
geübt wurde, habe ich schon früher gesprochen
und gewiss, wer sie einmal erfahren hat, wird
mit mir übereinstimmen, dass man sich keine
lieblichere Sommerfrische denken kann, in edelster
Freiheit, nur gebunden durch die Grazie und den
Geist der Wirtin, zu welcher die reizende Um-
gebung passt wie ein schöner Rahmen zu einem
schönen Bild. Von da aus ging ich für einige
Tage nach Vfenedig, wo ich seit Warsbergs Tod
nicht mehr gewesen war» um dort mit Rolland
zusammen zu treffen, der inzwischen Umbrien
durchwandert hatte, und dann mit ihm zusammen
nach Bayreuth zu gehen, wo ich endlich einmal
wieder hin wollte, den Parsifal noch einmal zu
hören, ehe es bei dem vorrückenden Alter zu
spät würde. Rolland aber, der noqh nie dort
gewesen war, wollte mit diesem erhabenen Ein-
druck die durch die Jahre in Italien so reiche
Jünglingszeit beschliessen und denselben gleich-
sam als Weihe, auf der Schwelle des Mannes-
alters, mit seiner voraussichtlichen Arbeit und
seinen wohl nicht ausbleibenden Kämpfen und
Täuschungen, empfangen.
— 394 —
Ich hatte mir eine Wohnung für die ganze
Dauer der Festspiele nehmen lassen, da ich ausser
dem Kunstgenuss auch mal wieder mit den
teuren, so lange nicht gesehenen Freunden eine
längere Zusammenkunft haben wollte. Rolland
hatte für die wenigen Tage seines Aufenthalts
ein Zimmer in der Nähe gefunden. Am Morgen
des ersten Tages, noch ehe ich irgend jemand
gesehen hatte, ging ich mit ihm durch den Schloss-
garten zu der Hintertür des Wagnerischen Gar-
tens, durch welche man, ohne den vorderen Teil
desselben zu berühren, zu dem von hohen Bäumen
beschatteten Platz gelangt, wo der Meister ruht,
in dem Grabe, das er sich selbst, als er das
Haus erbaute, ausmauern liess. Rolland entblösste
ehrfurchtsvoll sein Haupt, als ob er in eine Kirche
träte, und ich stand tiefbewegten Herzens an dem
Stein, der unter diesen grünen Schatten liegt.
Neun Jahre waren verflossen, seit ich den, der
hier ruht, zuletzt gesehen hatte in der Glorie
jener ersten Aufführungen des Parsifal, bei denen
er noch so kräftig jugendlich erschien, dass auch
die bängste Sorge nicht denken konnte, es werde
ihn noch nicht nach Jahresfrist diese Ruhestätte
aufnehmen. Schon einmal in diesen Blättern
habe ich erwähnt, welche Gedanken mich dort
bewegten. Diesmal galt meine Ergriffenheit fast
noch mehr der Erinnerung an den geschiedenen
Freund als an den grossen Meister, der langen
Jahre, wo ich ihn gekannt, und der teils trau-
rigen, teils glücklichen Episoden seines Lebens,
welchen ich, innigst teilnehmend, beigewohnt
— 395 —
hatte. Unter den ersteren war es vorzüglich
jene Zeit der AufRihrung des Tannhäuser in
Paris, an welche ich nun auch, durch die Auf-
tührung desselben in Bayreuth, auf das lebhaf-
teste gemahnt wurde. Denn es war eben in
diesem Jahre nicht allein Parsifal, sondern auch
Tristan und Isolde und endlich Tannhäuser, die
ihre Neugeburt feierten, wie man es mit Recht
nennen kann, da sie wohl nun erst in einer, ihren
wahren Intentionen entsprechenden Weise, dem
Publikum vorgeführt wurden. Mit der Fülle der
Erinnerungen zugleich fesselte mich diesmal
ganz besonders der Tannhäuser, dieses herrliche
Werk, dessen tiefe poetische und musikalische
Bedeutung mir, nach der langen Pause, erst recht
aufging. Die Gestalt des wunderbaren Sängers
ist gewiss eine der tragischsten Gestalten der
Poesie, und wie konnte sie höher idealisiert werden
als durch die Musik, in welcher die zwei Gestalten,
die sich um diese Seele streiten, so wundervoll
charakterisiert sind. Es fiel mir dabei auch auf,
wie merkwürdig geistvoll hier die Legende den
Gedanken ihrer Zeit aufgefasst und damit ein
allezeit Gültiges ausgesprochen hat: die furcht-
bare Härte und Mitleidlosigkeit der konstituierten
Kirche (wofür ja auch Dante sie in ihren Ver-
tretern dem Inferno übergibt) gegenüber der
allein erlösenden, wahrhattigen, reinen Liebe.
Durch die Güte meiner Freunde für alle
AufRihrungen in ihrer Loge eingeladen, hörte ich
doch einmal Parsifal zusammen mit Rolland,
der dann nach Frankreich zurückgehen musste,
— 396 ~
um in die grosse Gewerbtätigkeit der Maschine,
welche die Geschichte der Menschheit ausarbeitet,
als schaffendes Glied einzutreten. Es war mir
furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, dass
er sich nicht frei »zu höheren Sphären« heben
und ganz in der Entfaltung künstlerischer Triebe,
vom Jüngling zum Mann reifen konnte; aber ich
wusste auch, dass er dennoch am »sausenden
•Webstuhl der Zeit« mithelfen werde »der Gottheit
'lebendiges Kleid zu wirken.« Die Tränejn,
die beim Schluss der Aufführung des Parsifal
in seinen Augen standen, verbürgten mir aufs
neue diese Annahme und so sah ich ihn scheiden
mit innigem Dank für die poesieerfiillte Zeit, die
mir seine Talente bereitet hatten und mit dem
Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in
das Leben, wohl wissend, welche Schmerzen und
Enttäuschungen den Idealisten in der nüchternen
Welt erwarten, aber auch wo die Region ist,
in der seine Seele ihre wahre Heimat hat und
ewige Befriedigung findet.
Ich blieb die ganze Zeit der AufRihrungen
in Bayreuth und wohnte allen bei. Einen ganz
besonderen Zauber übte dabei auf mich — was
seltsam klingt — eine Tänzerin; auf mich, der
das Ballet, wie es gegenwärtig ist, der^ grössten
Widerwillen einfiösst. Er war dies die Signora
Zucchi aus Mailand, eine Italienerin, schon nicht
mehr ganz jung, die aber mit dem schnellen
Verständnis ihres Volkes für alles Künstlerische,
alsbald begriffen hatte, wie Frau Wagner die
Erscheinung der drei Grazien im Venüsberg
— 397 —
dstfgestellt haben wollte. Nicht in der absurden
Weise, wie man es damals in Paris getan, in
kurzen rosa Florkleidern, sich ganz nach Art der
gewöhnlichen Ballettänzerinnen bewegend, sondern
in langen, weissen, griechischen Gewändern, nuf
anmutsvoll leicht schreitend, oder in klassischen
Stellungen ruhend und durch Pantomimen aus-
drückend, was ihres Amtes war. Die Zucchi
löste die Aufgabe in geradezu bezaubernder Weise
und zeigte sich dabei als eine Mimin ersten
Ranges, auch spätei: als sie im Wagnerischen
Hause, uns ganz allein eine improvisierte Vor-
stellung gab; in spanischem Kostüm, zunächst
den BoUero reizvoll tanzte und dann ein voll-
ständiges kleines Drama aufführte. Wie sehr
brachte mich das wieder auf Gedanken zurück,
die mich öfter beschäftigt hatten und zu denen
noch kurz vorher eine geistvolle Freundin aus
ihrer Erfahrung mit ihren Kindern, mir die
liebenswürdigsten Belege gab, nämlich auf die
Einwirkung des Tanzes bei der Erziehung. So
wie der Tanz gewiss eine der ersten Äusserungen
tief innerlicher, feierlicher, religiöser Gefühle ge-
wesen ist, so ist er auch dem Kinde natürlich
und sollte von verständigen Erziehern angewendet
werden, um das Verständnis des Rhythmus, die
Anmut der Bewegungen, das feierliche taktvolle
Schreiten, als Ausdruck der Ehrfurcht in der
Nähe von etwas Erhabenem, zu entwickeln. Es
versteht sich, dass dabei nicht vom modernen
Tanz die Rede sein : kann, sondern allein von
sinnvollem Bewegen bei gegebenen Rhythmen, von
- 398 —
heiterem, anmutigem Hüpfen und Springen, als
Ausdruck der Freude, ja auch von Vorbereitung
zu edler Gemeinsamkeit, im schön geordneten
sich langsam und feierlich bewegenden Reigen.
Was mich aber mehr als alles fesselte, das war
das Bild der künstlerischen Entwicklung Wagners,
wie sie sich gerade in den drei, hier zusammenge-
stellten Meisterwerken so vollständig verfolgen
Hess. In Tannhäuser spielen doch die alten
Traditionen noch, hie und da, hinüber, aber
daneben steigt schon wie eine leuchtende
Morgenröte, das neu erkannte künstlerische
Prinzip glorreich empor ; die Einheit des Dichters
und Musikers wird als Notwendigkeit offenbar
und das charakterisierende Eingreifen der Musik
in die schon als selbständig dastehende drama-
tische Handlung erscheint als der höchste Aus-
druck des vollendeten Kunstwerks. Wie das
dem Genius kühn entstiegene, vollständig Neue,
zur Gewissheit geworden, nun in unbeschränkter
Allgewalt herrscht, wie konnte es besser gezeigt
werden als durch die Aufeinanderfolge von
Tannhäuser und Tristan, welcher vielleicht
mehr noch als alles andere, auch musikalisch,
den zum unumstösslichen Sieg gelangten neuen
Standpunkt zeigt, der dann im Parsifal, schon
gleichsam sich selbst übertreffend, in einer reinen
Verklärung endet.
Nach den vier Wochen dieses höchsten
Kunstgenusses erfreute ich mich noch einige
Tage des intimen Zusammenseins mit den so
lange nicht gesehenen teuren Freunden, und setzte-
— 399 —
dann meinen Wanderstab wieder weiter nach
Westen, zunächst nach Ems, wo die einzig
übrige der Geschwister, die alte Schwester,
die letzten Lebenstage verbrachte; ein Liebes-
opfer meinerseits, da ich wenig mehr für dies
erlöschende Leben tun konnte und die Zeit
zum Besuche herrlicher, von mir noch ungekannter
Orte, hätte benutzen können, an denen mir
Freude und Belehrung geworden wäre. Von
Ems fuhr ich am Rhein hinunter, den ich immer
mit Wehmut und Liebe wiedersah, auf dessen
Wellen holde Erinnerungen aus ferner Jugendzeit
und teure, längst entschwundene Gestalten zu
schwimmen schienen und der mir die tief im
Herzen wohnende, nie erlöschte Liebe zum
Vaterland, zum wahren Deutschtum, stets
lebendig zum Bewusstsein brachte. Ja das Land,
welches einen Schiller und Goethe, einen Beethoven
und Wagner, und eine Schar edler bedeutender
Geister, die jener würdig, wenn auch ihnen nicht
gleich waren, hervorgebracht hat, musste mir
ewig teuer bleiben, obgleich für meine Über-
zeugungen viele tiefe Schatten über seiner
Gegenwart lagern und obgleich die Feme, durch
Natur und Menschen, andere teure, unauflösliche
Bande um mein Leben geschlungen hat. In
Versailles dann, in Olgas Häuslichkeit, verbrachte
ich wieder Sommer und Herbst, aber es war
diesmal keine frohe Zeit wie sonst, es kam
vieles zusammen um sie zu trüben, vor allem
die Erkrankung vom ältesten Sohne Olgas an
der Diphtheritis, welche es nötig machte, alle
— 400 —
übrigen Familienmitglieder aus dem Hause zu
entfernen, so dass nur Olga — deren aufopfernde
Mutterliebe sich nie verleugnete, und die alle
Pflege selbst übernahm ^- und ich, zurückblieben.
Da kam mir noch einmal, durch zu viel
Schmerzliches das sich zusammen gefunden hatte,
einer jener Momente, wo alles Weh des Daseins
uns überfällt, wo alles sich auflöst in hoffnungs-
losem Leid, wo alle Sterne ihr Licht verlieren
und nur eine grosse dunkle Öde um uns übrig
bleibt und ich verschloss schnell meine Türe,
damit niemand mich sähe und weinte noch
einmal jene Tränen, die ein sonst mutiges
und gefasstes Herz nicht oft weint, die aber,
wenn sie kommen, aus jenen Urtiefen der Seele
quellen, welche kein Trost erreicht und kein
Name nennt.
Aber auch das ging vorüber und im Spät-
herbst kehrte ich wie gewöhnlich nach Rom zu-
rück. Und abermals sandte mir das Schicksal
eine jener Begegnungen, die eine schöne Spur im
Leben zurücklassen und mit denen sich rasch in
kurzen Stunden mehr Inhalt zusammendrängt
als mit dem gewöhnlichen Verkehr in Jahren.
Es war dies wieder ein anderer Typus als der
vorhin besprochene, ein Aristokrat der edelsten
Art, ein Deutsch-Russe aus Livland. Diese
Provinz hatte mir schon mehr als eine Persönlich-
keit zugeführt, welche mir durch ihre Be-
deutendheit, durch ihren Geist und ihr Gemüt
innigst wert geworden war; besonders waren
dies zwei Frauen, beide in Italien verheiratet,
— 40I —
von denen die eine leider zu früh dem Gatten,
den Kindern und den Freunden durch den Tod
entrissen wurde, während die andere, ein Wesen
seltenster Art, von einer ungewöhnlichen Bildung,
durch Jahre der Trennung hindurch und dann
in endlich erreichter Nähe, mir in treuer, gegen-
seitiger Freundschaft verbunden geblieben ist.
Die erste war: Baronin Cecil von Pilar, ver-
heiratete Mariano, die zweite ist Augusta von
Stein, verheiratete Rebecchini. Durch das, was
ich von diesen ausgezeichneten Frauen und von
vielen anderen ihrer Landsleute, namentlich über
die oben Genannte der Ostseeprovinzen hörte,
gab mir eine äusserst günstige Idee von den
Zuständen dort, so wie sie vor noch nicht zu
ferner Zeit gewesen waren. Die herrliche Selbst-
ständigkeit der adeligen Herren auf ihrem eigenen
Grund und Boden, die Möglichkeit, durch grossen
Besitz nach unten hin wohltätig und veredelnd
zu wirken, sich durch feinste Bildung das Leben
reich und fördernd zu gestalten, unter sich, von
Besitztum zu Besitztum, in angenehmem, doch
nicht beengendem Verkehr, eine Art Oligarchie
in beneidenswerter Freiheit bildend, so stellte
ich mir das dortige Leben vor. Leider werden
jetzt, durch das autokratische Regiment, welchem
diese schönen Provinzen seit lange Untertan
sind, viele der genannten Vorzüge zerstört und
der Despotismus arbeitet daran, das nationale
und religiöse Element immer mehr zu bedrücken
und zu vernichten. In jenem jungen Mann,
Baron v. W. . . ., aber fand ich die Persönlichkeit
M e y^s 9 n b u g , IV. a6
— 402 —
wie sie, unter den vorhin genannten Verhältnissen,
sich zu edler Form und zu tiefem inneren Ge-
halt entwickeln musste und eine Bestätigung des
vorteilhaften Bildes, welches ich mir von der
eigentümlichen Verfassung jener Provinzen ge-
macht hatte. In dem Winter, den er in Rom
zubrachte, hatte ich Gelegenheit ihn oft zu sehen
und in langen Gesprächen die Fülle seiner
Kenntnisse, die kein trockenes, pedantisches
Wissen, sondern starke Stützen eines sehr eigen-
tümlichen, tief seelischen Gedankenlebens waren,
zu bewundern und mich an der feinen, voll-
kommen edlen und ideal angelegten, im besten
Sinne vornehmen Natur zu erfreuen. Hier auch
wieder konnte ich nur mit froher Hoffnung in
die Zukunft sehen, die von so grosser Begabung
und so ernsten Studien die schönen Früchte
ernten wird. Grössere Freude und sicherer
Trost kann dem Alter nicht werden als die
Gewissheit, dass in jungen Seelen die heilige
Liebe des Ideals in reinen Flammen brennt, und
das die Schöpferkraft da ist, Werke zu erzeugen,
welche der Welt wieder Funken jenes himmlischen
Feuers bringen, das die Prometheuse aller Zeiten
den Göttern haben rauben müssen, um die starre
Form der Menschengestalt mit geistigem Inhalt
zu beleben. Alle diese einzelnen Trefflichen
erschienen mir, wie mir gesandte Boten der
Verheissung, dass die Welt nicht untergehen wird
im Materialismus, im blöden Streben nach dem
Vergänglichen, sondern dass die Begnadeten, die
Gottgesandten, immer wieder erscheinen werden.
— 403 —
um weiter zu bauen an dem kristallnen Dom
der ewigen Gedanken, der sich über den ver-
gänglichen irdischen Gütern wie ein reiner Bau
aus Sonnenstrahlen erhebt, um Licht zu senden,
wenn es hier unten Nacht werden will.
Nur noch einen Sommer machte ich die
gewohnte Nordfahrt, schon bei mir bestimmt
fühlend, dass es die letzte sein würde, da mich
die weiten Reisen zu sehr ermüdeten, zu viel
von der letzten Kraft verzehrten und ich auch
geistig das Bedürfnis der Konzentration auf
Oertlichkeit und Klima empfand, gleichsam wie
einen Wink, dass die Gedanken sich nicht mehr
in die Weite und Breite zerstreuen, sondern immer
mehr nach innen und nach oben tätig sein
sollten. Doch hatte ich den folgenden Winter
die unsägliche Freude, die älteste Tochter Olgas
bei mir zu haben, ein eben zur Jungfrau erblühtes
geist- und gemütvolles, liebliches Wesen, welches
die Einsamkeit meines kleinen Heiriis wieder mit
dem holden Reiz der Jugend schmückte und
als eine seltene Gunst des Schicksals mir in der
zweiten Generation die Zeit zurückrief, wo die
Mutter in ihrer Jugendschöne und Seelenanmut
neben mir vom Kind dur Jungfrau reifte und
damals den Hauptinhalt meines Lebens, Denkens
und Tuns bildete. Im Frühjahr kam sie auch
um die Tochter abzuholen und blieb mehrere
Wochen, als Ersatz fiir den Sommer, den ich
nun nicht mehr bei ihnen verbringen konnte.
In diesem Sommer, den ich also in Italien,
wie von nun an bis an das Ende, bleiben wollte,
a6»
— 404 —
folgte ich zuerst wieder der freundschaftlichen
Einladung von Frau Minghetti auf ihr schönes
Mezzaratte. Wie früher verstrich die Zeit da
auf das angenehmste, in heiterer schöner Natur
und liebenswürdigster Gastfreundschaft und
wahrlich auf solchen schönen Landsitzen der
reichen Italiener brauchte man gar nicht vor
dem Sommer wegzulaufen, denn in den heissen
Tagesstunden hat man Frische in kühlen, luftigen,
vor der Sonnenglut verschlossenen Räumen,
und wer könnte wohl den Zauber der Morgen-
und Abendstunden im italienischen Klima be-
schreiben?
Nach einiger Zeit jedoch schied ich, um
einmal wieder am Meer zu sein, das von jeher
für mich mehr Anziehung gehabt hat als die
Berge, deren, den Horizont begrenzendes, starres
Wesen, mir nach einiger Zeit immer bedrückend
wird, wobei mir stets Fausts Worte einfallen:
»Gebirgesmassen bleibt mir edel stumm.« Ich
ging nachRimini, dem Bologna zunächst liegenden
Seeort am adriatischen Meer, dessen Küste für
den Sommer der Westküste, weil kühler, vorzu-
ziehen ist. Es ist dies jetzt ein sehr besuchter
Badeort, mit einem meilenweit ausgedehnten
Strand vom feinsten Sand, herrlich zum Baden,
so ungefährlich, dass man selbst Kinder ruhig
allein im Wasser herumlaufen lassen kann. Der
moderne Luxus hat hier bereits auch schon
Fuss gefasst, für Annehmlichkeiten und Ver-
gnügungen aller Art gesorgt und während sich
das Meer von der alten Stadt schon beträchtlich
— 405 —
weit zurückgezogen hat, an dem neuen Strand
eine Stadt sehr zierlicher, zum Teil sehr hübscher
Villen entstehen lassen, von denen manche
zur Aufnahme von Fremden eingerichtet sind.
^Vom Meere aus gesehen, bildet diese Villenreihe
einen anmutigen Vorgrund zu der im Hinter-
grund in den malerischesten Formen sich hin-
ziehenden Bergkette, als deren Mittelpunkt die
dreigipflige Höhe, auf der die Republik von
S. Marino liegt, emporragt. Ich fand passende
Wohnung, dicht am Meer, in einem der Häuser,
welche die Stadt daselbst zur Aufnahme von
Fremden hat herstellen lassen. Dort verbrachte
ich die Morgen auf einer prächtigen Terrasse,
umflutet von herrlicher Meerluft, mit Lesen und
Schreiben. Der banalen Vergnügungen nach-
jagenden Badegesellschaft ging ich aus dem
Wege, und wenn ich am Nachmittag mich
hinaus begab auf die grosse Plattform, die man
alijährlich weit hinaus ins Meer aufbaut, so unter-
hielt ich mich, wenn überhaupt mit Menschen,
am liebsten mit den Schiffer- und Fischerleuten,
die da mit ihren Barken und Booten hielten,
oder ich liess mich hinausfahren aufs Meer, was
schon einst in England meine Lust gewesen
war und liess mir von den wackeren Seeleuten
ihre Lebensschicksale erzählen. Da war besonders
einer, auch in den Traditionen seines Rimini
erfahren, denn seine Barke hiess Francesca, der
fuhr mich oft hinaus und erzählte mir von den
Fahrten um die Welt, die er als Jüngling auf
einem grossen Schiff gemacht und wie er dann,
— 4o6 —
schon als gereifter Mann, an einer Krankheit,
die ihn zum Seedienst auf den Staatsschiflfen
untauglich machte, in die Heimat zurückgekehrt
sei, um sich nach der Fremdenzeit mit Fisch-
fang, so gut es gehen wollte, zu ernähren. Nun
sei es ihm aber einsam und traurig gewesen,
da seine Angehörigen inzwischen gestorben waren
und doch habe er es nicht gewagt sich um ein
Mädchen zu bewerben, da er nicht mehr jung und
dazu arm gewesen sei. Bekannte von ihm hätten
ihm aber gesagt, sie hätten ein armes Mädchen,
eine ganz verlassene Waise, in Dienst genommen,
die sei so schön und gut, so bescheiden und
sittsam, dass wenn er die zum Weibe haben
könnte, so würde er glücklich werden. Nun sah
«r sie, fand alles wahr was zu ihrem Lobe
gesagt war und fragte sie, ob sie sich entschliessen
könne, ihn zu heiraten. Sie, ebenso bescheiden
wie er, hatte nicht geglaubt, dass ein Mann sie
in ihrer Armut und Niedrigkeit werde heiraten
wollen, und dankbar und gerührt gab sie ihr
Jawort. Er war auch noch ein schöner Mann mit
seinem dunkel gefärbten Antlitz, aus dem zwei
leuchtende Augen, feurig und doch mild und gütig
unter den dichten Brauen hervorsahen und mit dem
schwarzen lockigen Haar, das sich unter dem breit-
krämpigen Hut nur halb barg und das kaum erst
einzelne helle Fäden durchzogen. Als er draussen
auf still gekräuselter See bloss das Segel zu dirigieren
hatte, das seine »Francesca« weiter führte, blieb
ihm Zeit, mir diese seine einfache und doch so
liebliche Herzensgeschichte zu erzählen und als
— 407 —
wir wieder an der Plattform ausstiegen, sagte
er: »Nun muss ich Ihnen doch meine Kinder
zeigen.« Er winkte zwei kleine Mädchen herbei,
die auf der Plattform, wo auch Buden waren,
an einem Bänkchen standen und Muscheln, die
der Vater im Meer gefangen hatte, verkauften.
Es waren zwei allerliebste Geschöpfe; die
Älteste mit dem über ihre Jahre gehenden
Verständnis dessen, was die Armut bedeutet,
d. h. Arbeit und Entbehrung aller Lebensfreude,
im Ausdruck, wie er sich öfter bei gutgearteten
Kindern des Volkes findet und unaussprechlich
rührend anzusehen ist, die zweite, erst fünf Jahr
alt, ein blühendes, sorglos heiteres Wesen, welches
auf des Vaters Aufforderung, gleich ohne Scheu
in voller Natürlichkeit mehrere Gedichte, von
passender Grestikulation begleitet, korrekt und
ohne zu stocken hersagte. Sie hatte sie in
dem Kindergarten zu Rimini, der von wohl-
tätigen Frauen gegründet ist, gelernt. Nun
musste ich aber versprechen auch die Mutter
kennen lernen zu wollen, die als ordnende
Hausfrau immer daheim blieb. Am folgenden
Tag also ging ich in das Schifferquartier am
Hafen, wo die Familie wohnte, von den Kindern
geleitet und im Hause von der Mutter erwartet.
In ihr fand ich nun wieder eines jener hold-
seligen Wesen, wie sie das italienische Volk, da
wo es noch nicht verdorben ist durch Fremden-
verkehr und anderes, so häufig zeigt; diese
Augen der Madonnen Raphaels, in deren uner-
gründlichen Tiefen Jungfräulichkeit, Seelenreinheit
— 4o8 —
und ernste, beinah feierliche Hoheit liegen, dieses
Schlanke, Mädchenhafte, das auch die Mutter
noch beibehält und die liebliche Unbewusstheit
der eignen Anmut. In dem kleinen, ärmlichen,
aber sauber gehaltenen Raum, in welchem diese
Familie wohnte, musste ich nun alles besehen,
was er von Eigentum enthielt, besonders die
Schreibbücher der Kinder, die das Glück hatten,
unentgeltlichen Unterricht, den die Mutter nie
gehabt hatte, in Kommunalschulen und Kinder-
garten zu geniessen, und den einzigen Schmuck,
den man besass, eine Anzahl schöner Muscheln,
welche der Vater heim gebracht hatte. Eine
der schönsten wurde mir alsbald zum Geschenk
dargereicht, mit dem edlen Gleichheitsgefiihl des
italienischen Volkes, das auch in seiner Armut,
durch die Spenden der freigebigen Natur immer
noch dem Fremden eine Gabe anzubieten hat,
ehe ihm noch etwas gegeben ist. Man muss
eben das Volk nicht nach den Orten beurteilen,
die Fremde gewöhnlich nur sehen; man muss
zu ihnen gehen an die Stätten, wo noch das
ursprüngliche Naturell, unverdorben von fremden
Einflüssen und dem Getriebe des materiellen
und kommerziellen Verkehrs, herrscht, um zu
wissen, was dieses Volk ist.
Gerade hier in Rimini und besonders an
der Bevölkerung des Hafens, lernte ich es aufs
neue kennen und lieben. Der Charakter derselben
ist im allgemeinen liebenswürdig, friedlich, eher
bedächtig als übereilt im Handeln, aber beharrlich
und mutig, wie sie das im Kriege und auf dem
— 409 —
Meer bewiesen hat und noch beweist. Sie ist
genügsam und strebt nicht nach grossem Gewinn,
daher man dort weder sehr grosse Reichtümer
noch sehr grosses Elend findet. Wie gesagt,
ganz besonders ausgeprägt findet sich dieser
Charakter bei dem J Schiflfervolk des Hafens,
welches längs demselben ein eignes Quartier be-
wohnt, gleichsam einen kleinen Staat fiir sich
bildet und einen Verein zu gegenseitiger Unter-
stützung organisiert hat, der die Mittel gewährt,
um niemand verhungern zu lassen. Ich verkehrte
viel dort mit diesen Leuten und einer der Schiffer
sagte mir: »Wir sind Jarm, aber wir arbeiten,
sind zufrieden 'und jeden, der arbeiten [will,
nehmen wir auf wie einen Bruder und helfen
ihm. Doch die Faulen, die Müssiggänger, die
weisen wir unerbittlich streng von uns aus.«
Kann man eine bessere, vollständigere Moral
finden für ein Gemeinwesen als sie in diesen
wenigen Worten enthalten ist?
Der Hafen ist durch das sich immer mehr
zurückziehende Meer beinah wie ein langer Kanal
geworden und bedürfte bedeutender Ausbesse-
rungen, um wieder Beförderer der Interessen und
der Wohlfahrt des Landes zu werden, wie er es
unter den kulturfreundlichen Malatesta war, woran
aber das jetzige italienische Grouvemement
gar nicht denkt. — Doch ist der Handel, der von
hier ausgeht, noch immer nicht unbeträchtlich.
Die grossen Barken, die da vor Anker liegen,
führen Ladungen von Backsteinen, die in Massen
bei Rimini verfertigt werden, Holz, Fischen u. a.
— 4^0 —
hinüber nach Dalmatien, Fiume, Triest etc. —
Dabei lebt das Volk einfach und genügsam,
meist nur von Polenta, welche die Ärmsten so-
gar mit Seewasser kochen, um das Salz zu sparen.
Aber am Hafen sind es Fische und Seetiere,
welche die Hauptnahrung ausmachen. Es ist
ein malerischer Anblick, die kräftigen, sonnen-
gebräunten, oft sehr schönen Männer gegen Abend
in den Barken um die dampfende Schüssel sitzen
zu sehen, in welcher die Seetiere in der eigenen
Brühe kochen und in die ein jeder mit seinem
Löffel fährt, um sich seinen Anteil an Speise zu
holen. So mag der vielgewanderte Odysseus
mit den Gefährten beim »lecker bereiteten Mahle«
gesessen haben, als er nach beendetem Kampf
auf geräumigen Ruderschiff auszog, um die ge-
liebte Heimat, das meer umflossene Ithaka, wieder
zu sehen, im fröhlichen Vorgefühl nicht ahnend,
welche schwere Prüfungen ihm noch bevorstanden.
Es war aber nicht das moderne Rimini,
welches mich am meisten anzog; es war das
alte, jetzt zu einem kleinen Provinzialstädtchen
herabgesunkene, welches für viele Wochen mein
lebhaftestes Interesse in Anspruch nahm. Denn
Rimini hat eine Geschichte, wie so viele der
italienischen Städte, und zwar eine der bedeu-
tendsten. Es hat auch noch Trümmer aus alter
Zeit, einen prächtigen Triumphbogen aus der
des Kaisers Augustus und eine schöne Brücke,
die über einen Arm des zweigeteilten Rubikon
führt, der hier aber jetzt den Namen Marechia
hat, während den anderen Arm der berühmte
— 411 —
Name blieb, der ja noch immer zu der Bezeich-
nung einer kühn gewagten Tat, im Gedenken
an Julius Cäsars Überschreiten der ihm gesteckten
Grenze, dient.
Seine eigentliche Bedeutung aber hatte Ri-
mini erst, als es, wie so viele andere italienische
Städte, der Herrschaft eines Geschlechts unter-
worfen wurde, welches es mächtig im Krieg und
hervorragend im Kulturleben machte. Angezogen
durch die berühmten Episoden und Namen des-
selben, sowie durch die Betrachtung der pracht-
vollen, leider nicht vollendeten Kirche, die Sigis-
mondo Malatesta baute und die. wenn vollendet,
eines der herrlichsten. Monumente Italiens sein
würde, beschloss ich, mich näher mit der Ge-
schichte der Malatesta zu beschäftigen. Der
Direktor der vorzüglichen Bibliothek der Stadt,
dessen Vater einer der besten Historiographen
Riminis gewesen ist, empfing mich auf das zu-
vorkommendste, und ich fuhr nun jeden Morgen
mit dem Tram durch die schönen Alleen, die
vom Meere nach der Stadt fuhren, in dieselbe
und begab mich für mehrere Stunden in den
alten Palazzo, in dessen geräumigem Erdgeschoss
sich die Bibliothek befindet. Hier lernte ich
eine neue Freude für den wissensdurstigen Geist
kennen, die nämlich : an den Quellen der Ge-
schichte selbst schöpfen zu können, zu vergleichen,
zu urteilen und vielleicht etwas zu entdecken,
was den andern entgangen ist, jedenfalls sich
unmittelbar in den Geist der Zeit, die man stu-
— 412 —
dieren will, zu versenken und sie nicht erst durch
das Medium eines anderen Geistes zu sehen.
Ich verfolgte jetzt die Geschichte dieses merk-
würdigen Geschlechts der Malatesta, die eine
ununterbrochene Reihe hervorragender Gestalten
durqh mehrere Jahrhunderte hindurch aufzuweisen
haben. Schon im Jahre 1150 wurde ein Gio-
vanni in Rimini Bürger. Sein Sohn war ein
wilder, grausamer Mensch und erhielt daher den
Beinamen: Malatesta (böser Kopf), der dann zum
Familiennamen des Geschlechts wurde, wie es
damals häufig geschah, dass die Beinamen, welche
die Soldaten ihren Führern gaben, nacher der
Familie verblieben. In der malerischen Kette
der Berge von Carpegna sieht man noch auf
steiler Felsspitze das alte Kastell Verrochio, das
einer der ersten festen Sitze der Malatesta war.
Ein Malatesta von Verrochio war das Haupt der
Guelfen, die damals in den fortwährenden Kämpfen
in der Romagna die Oberhand hatten, und er
wurde der eigentliche Gründer der Herrschaft des
Geschlechts in Rimini, welches dann unter seinen
Nachkommen zu einer Kulturstätte wurde, die
man mit Recht ein kleines Athen nennen könnte.
Eben dieser Malatesta, heftiger Feind der Ghi-
bellinen, wurde der Hundertjährige genannt,
denn er lebte von 1212 bis 1313. Die Päpste
beschützten ihn, aber Dante hat ihn arg behandelt,
sowie auch seine Söhne. Der älteste derselben,
Giovanni, von seinem körperlichen Grebrechen
Sciancato (der Hüftenlahme) und schlisslich Lan-
zelotto genannt, war schon als Jüngling im Kriegs-
— 413 —
handwerk berühmt, aber er war eine harte Natur
und reizbar durch seine körperlichen Gebrechen.
Ihm war es zwar bestimmt, »unsterblich im Ge-
sang zu leben«, aber in trauriger Gestalt und
der Gehasste aller Generationen zu sein, während
seine Opfer durch liebendes Mitleid verklärt
wurden. Er hatte im Dienste eines de Polenta
von Ravenna, zur Zeit Podestä von Pesaro, einen
Sieg errungen und als Siegespreis war ihm die
Tochter Polen tas, Franceska, versprochen. Sein
Bruder, Paolo il bello, so genannt wegen seiner
Schönheit und Liebenswürdigkeit, wurde nach
Pesaro gesandt, die Braut für den Bruder zu
freien, so erzählt Bocaccio. Als er dort ankam,
zeigte eine Frau ihn der Franceska vom Fenster
aus und sagte: »Das ist der, welcher dein Mann
werden soll.« Bocaccio meint, dass das gute
Weib es wirklich geglaubt habe. Was war na-
türlicher, als dass Franceska den Schönen; Liebens-
würdigen gleich mit Neigung empfing und dass
er für die reizende Jungfrau in Liebe entbrannte?
Aber seinem Wort getreu führte er die Braut nach
Rimini, wo grosse Feste sie erwarteten, doch auch
die bitterste Enttäuschung, als sie den ihr be-
stimmten Gatten erblickte. Als sie dann mit
Paolo das Geschick der Liebe las, welche der
ihrigen so ähnlich war, da konnten sie freilich
nicht weiter lesen, denn das Buch wurde ihnen,
was der Liebestrank für Tristan und Isolde war,
die Offenbarung ihres schmerzlich süssen Geheim-
nisses. Aber der verratene Gatte war kein
grossmütiger König Marke, er gab ihnen den
— 414 —
Tod und meinte, damit den schuldigen Bund z«
lösen. Doch die Poesie wollte es anders undL
weihte sie in unzertrennbarem Verein der Ewig^-
keit ihrer Liebe.
Wie es jetzt so vielfach geschieht mit
Begebenheiten und Gestalten, die in unsere^
nüchterne Gegenwart nicht mehr passen, dass^
man sie in das Reich der^ Fabel verweist, so
hat man es auch mit Paolo und Franceska
machen wollen, ja, man hat sogar behauptet^
dass Dante die Episode durchaus erfunden habe.
Dem widerspricht aber zunächst die Erzählung-
Bocaccios und dann der Umstand, dass Dante,
ein Zeitgenosse und teilweise Mithandelnder
der Kämpfe und Ereignisse jener Epoche, im
Hause eines Polenta, Neffen der Franceska,
sein letztes Asyl fand und da bis zu seinem
Tode gastlich gepflegt wurde, was doch wohl
nicht geschehen wäre, hätte er von so nahen
Verwandten Falsches berichtet. Wäre es aber
auch blosse Phantasie des Dichters, so hat der
Fall, durchaus in den Sitten der Zeit, die
dichterische Wahrheit, die der Realität gleich-
kommt, und Paolo und Franceska werden un-
sterblich leben, so lange es Herzen gibt, die
für Liebe und Poesie Empfindung haben.
Ein Enkel des Hundertjährigen, Galeotto,
regierte in Rimini bis 1385. Seine älteste
Tochter, Madonna Gentile, an den Herrn von
Faenza verheiratet, war eine tapfere, kriegs-
mutige Frau, mit den besonderen Gaben ihres
Geschlechts ausgestattet. In einem Krieg
— 415 —
zwischen Mailand und Florenz nahm sie, in
Abwesenheit ihres Gemahls, für ersteres Partei.
Ihre Brüder kämpften für Florenz und forderten
sie auf, mit ihnen zu sein, aber sie sagte, es
täte ihr zwar leid, gegen die Brüder zu
kämpfen, aber Faenza sei für die Visconti von
Mailand und sie habe »die Seelen in ersterem
in Obhut.« Sie stieg bewaffnet zu Pferd und
zog mit einer Schar bewaffneter Frauen ins
Feld. Der Chronist der Zeit vergleicht sie mit
Penthesilea und erzählt, dass sie, ihren Amazonen
voran, auf die Feinde losgestürmt sei, welche
ihr »mit wenig Ehre« weichen mussten.
Ihr ältester Bruder Carlo, mit dem die
neue Zeit beginnt (von 1364 bis gegen Mitte
des XV. Jahrhunderts), war eine der be-
deutendsten Persönlichkeiten in der Reihe der
Malatesta. Damals kamen eben die durch die
Türken aus der Heimat vertriebenen Griechen
nach Italien herüber und brachten das milde
Licht ihrer Kultur den bisher nur durch Kampf
und Zwietracht genährten Gemütern reich be-
gabter Menschen. Carlo war ein tapferer Con-
dottiere, aber auch ein gebildeter, jedem Kultur-
werk geneigter Mann. Er gab Rimini eine gut
geordnete Verwaltung, seine Untertanen waren
stolz auf ihn, und als er zuerst in Rimini einzog,
bereiteten sie ihm einen festlichen Empfang.
Eine Prozession von 9000 weiss gekleideten
Männern und von 8000 Frauen, an deren Spitze
Elisabeth Gonzaga, Carlos Frau, folgten ihm
zur Kirche. Nacher stieg er auf eine Estrade
— 4i6 —
und ermahnte das Volk tätig zu sein in guten
Werken; gewiss eine schönere Aufforderung in
einer kriegerisch doch so bewegten Epoche, als
Kriegsheere zu loben und als die Spitze der
Kultur hinzustellen, wie es leider in unserer
Zeit so häufig geschieht.
Dabei liebte er die Kunst, liess in seiner
Wohnung Fresken malen, bei denen der damals
noch sehr junge Ghiberti tätig war. Carlo,
seine Begabung ahnend, wollte ihn behalten,
aber der Konkurs für die Türen zum Bap-
tisterium in Florenz zog ihn dahin zurück. Doch
schreibt er in seinen Kommentaren, dass um
1400 in Rimini schon ein kleiner Hof war, wo
Künstler hochgeschätzt wurden. Mit den Hu-
manisten war Carlo in Verkehr; eine der ersten
italienischen Akademien entstand unter seinem
Einfluss und er war bei alledem ein frommer,
heiliger Mann, so dass Papst Martin V. ihm seine
Nichte, nach dem Tod der Gonzaga, zur Frau
gab. Er und sein Bruder Pandolfo waren mit
die ersten Fürsten in Italien, welche Künstler
und Gelehrte sich gleichstellten, während man
sie im Vatikan, bei öffentlichen Gelegenheiten,
noch mit den Dienstboten zusammentat.
Carlo war kinderlos, aber Pandolfo hinter-
liess drei illegitime Söhne, die Carlo, der ihn
überlebte, zu sich nahm und mit väterlicher
Liebe erzog, auch vom Papst Martin V. ihre
Legitimation erwirkte. Nach Carlos Tod folgte
ihm der älteste der drei, Galeotto, eine seltsame
Ausnahme in dem sonst so kriegerischen Ge-
— 417 —
schlecht, denn er war solch ein fanatischer
Asket und kasteite sich so stark, dass er mit
zwanzig Jahren starb. Ihm folgte sein Bruder
Sigismund Pandolfo, die hervorragendste Er-
scheinung in der Reihe der bedeutenden Menschen
dieses Hauses, in welchem sich alle hohen,
grossen, edlen, mit den wilden, grausamen,
leidenschaftlichen Trieben desselben vereinigten,
und eine Persönlichkeit bildeten, die zu gewaltig
war für den engen Rahmen ihrer irdischen Macht.
Er ging an dem Übermass des Ehrgeizes und
der gigantischen Tatenlust zu Grunde, aber
nicht ohne Spuren seiner grossen geistigen Be-
deutung zu hinterlassen, welche der Nachwelt
ein milderes Urteil über ihn gestatten, als der
Hass seiner Feinde es seinen Zeitgenossen auf-
zudrängen gesucht hat. Die Gestalt dieses un-
gewöhnlichen Menschen interessierte mich so,
dass ich mit Eifer in den Quellen forschte, um
mir mein eigenes Urteil über ihn zu bilden.
Ja, er erinnert an die Helden Plutarchs und
während er, mit dem Schwert in der einen
Hand, sich den Kühnsten aller Zeiten gleich-
stellte, schuf er mit der anderen Hand Werke des
Friedens und edelster Kultur. Man muss ihn
aber nicht aus dem Bilde seiner Zeit heraus
nehmen, ihn nicht mit dem Massstab modemer
Moralität messen Swollen, sondern bedenken, dass,
während die übrige Welt noch vom Dunkel des
Mittelalters bedeckt war, an seinem Hof bereits
das Licht der Wissenschaft und Kunst strahlte.
Erst 13 Jahre alt, erfocht er fiir seinen Bruder
Meysenbug, lY. 37
-- 4i8 —
Galeotto einen glänzenden Sieg und 2 Jahre
später einen anderen, der seinen Ruhm, der
grösste Condottiere der Zeit zu sein, begründete.
Seine Hochzeit mit Ginevra d'Este wurde mit
glänzenden Festen gefeiert; der Kaiser Sigismund,
von Rom kommend weilte in Rimini und wurde
festlich bewirtet; Rimini war ruhig und glück-
lich; kurz, Malatestas Regierung fing schön
und glänzend an.
Sigismunds Gemahlin, Ginevra, starb, erst
22 Jahre alt, ohne Kinder zu hinterlassen. Aber
schon bei ihren Lebzeiten wurde sein Herz von
einer jener grossen Leidenschaften ergriffen, die,
in einer so gewaltigen Natur, jedes Einspruchs
von Sitte und Gesetz zum Trotz, ihr Recht be-
haupten, und die, ungeachtet mancher momen-
tanen Untreue, sein Leben bis an das Ende
beherrschte.
Isotta degli Atti war es, welche diese Liebe
hervorrief. Sie war aus adeligem Geschlecht
und vor allen Frauen Riminis ausgezeichnet
durch hohe Bildung in Musik, Poesie, Kunst
und Wissenschaft. Dass sie schön gewesen sei,
sagen uns die von ihr erhaltenen Bildnisse nicht;
aber sie muss einen Zauber besessen haben,
der mehr fesselte als Schönheit und es spricht
für Sigismund, dass dieser Zauber edelster,
geistiger Art ihn, der, wie in allem so auch
in seiner sinnlichen Natur übermächtig war,
durch das ganze Leben festhielt. Auch seine
Feinde konnten nichts gegen sie sagen und
selbst Pius 11., Sigismunds ärgster Feind, schrieb:
— 419 —
»er liebte Isotta über alles und sie war es
wert.« Sigismund war ein häufiger Besucher
im Palast der Atti und besang Isotta schon als
er erst 20 Jahre alt war, doch bezeugen diese
Gedichte, dass sie ihm damals noch nicht zu
eigen war. Aber auch nachdem sie seine Ge-
liebte geworden war, hielt er sie über alles
hoch, nannte sie »die Ehre Italiens«, liess ihr
Bild, auf einem Medaillon, von den ersten
Künstlern Italiens verfertigen und von den be-
rühmtesten Poeten Gedichte auf sie machen, die
er in einer Sammlung mit dem Titel »Isottoei«
vereinigte. Warum er sie nach Ginevras Tode
(1440) nicht heiratete, ist unbekannt; wahr-
scheinlich war es aus politischen Rücksichten,
die ihn auch zu einer zweiten Ehe mitPolixena
Sforza bewogen. Wie hoch er aber immer
Isotta auch öffentlich stellte, beweist u. a., dass
er ihren Bruder in seinem Schloss mit grosser
Festlichkeit zum Ritter schlug und mit Geschenken
überhäufte. Charakteristisch für die Ansichten
der Zeit ist es, dass ein benachbarter Füröt,
Guido von Urbino, in zahlreicher Versammlung
und in Gregenwart der legitimen Frau des Haus-
herrn, dem neuen Ritter, Bruder von des
letzteren Geliebten die goldenen Sporen um-
schnallte und dies, ohne Anstoss zu geben,
tun durfte. Isottas Vater, welcher anfangs
der Tochter harte Vorwürfe gemacht hatte, war
längst versöhnt und als auch Polixena starb,
wurde Isotta endlich Sigismunds legitime Frau
(1456). Sie war eine vortreffliche Gattin und
37*
— 420
Mutter, milderte und versöhnte bei den Fehlem,
zu denen ihn sein Ehrgeiz verleitete, hielt ihn
aufrecht im Unglück, verkaufte ihr Geschmeide,
als er in Not war, opferte alles für ihre
Kinder, und, als sie später die Regentschaft
führte, stand sie in bestem Einvernehmen mit
den anderen Fürsten Italiens, die sie hoch
schätzten und nach Sigismunds Tod beschützten.
Sigismund hatte zwei Todfeinde; der eine
war Papst Pius 11. (Äneas Sylvius Piccolomini),
der ihn hasste, weil er sich untreu im Dienst
von Siena benommen hatte, und der zweite war
Federigo von Montefeltro, der in fortwährendem
Zwist mit ihm war, wegen streitiger Besitztümer,
die sie abwechselnd eroberten und sich wieder
entrissen. Umsonst versuchten andere italienische
Fürsten sie zu versöhnen, der Streit dauerte
zwanzig Jahre lang und endete erst mit Mala-
testas Ruin. Im Jahr 1460 berief Pius n. einen
Kongress nach Mantua, um einen ICreuzzug zu
organisieren, lud auch Sigismund dazu ein und
verordnete deshalb einen Waffenstillstand mit
den Feinden desselben, die ihn in Rimini hart
bedrängten, wogegen er aber einen Vertrag an-
nehmen musste, der ihn mehrerer Besitzungen
beraubte. Sigismund, selten Verträge haltend,
brach auch diesen alsbald und suchte die ge-
nommenen Besitzungen wieder zu erobern.
Darüber erzürnte sich der Papst aufs neue,
exkommunizierte ihn und verlangte vom heiligen
Kollegium seine Verurteilung, nachdem er alle
seine angeblichen Missetaten aufgezählt hatte.
— 421 —
Er beschuldigte ihn, sein zwei Frauen getötet,
eine edle Deutsche, deren Schönheit ihn reizte
und die ihm widerstand, umgebracht zu haben;
erklärte ihn für einen Heiden, der nicht an die
Unsterblichkeit der Seele glaube, wie es die
von Malatesta gewählten Skulpturen in der von
ihm neu gebauten Kirche S. Francesko bewiesen^
wo er »nicht einmal Gott verherrlicht habe«.
Endlich erklärte er ihn für einen Verräter und
Feind Gottes und der Menschen, der die Anjous
und die Türken nach Italien gerufen habe und
der verdiene, verbrannt zu werden. Das Urteil
wurde bestätigt und der Papst liess nun von
einem Künstler eine Gestalt verfertigen, dem
Malatesta so ähnlich, das man ihn zu sehen
glaubte und liess ihr einen Zettel umhängen
mit der Inschrift: »Ich bin Sigismund, Sohn
Pandolfos, Fürst der Verräter, Feind Gottes
und der Menschen, durch das heilige Kollegium
zu den Flammen verdammt.« Dann wurde diese
Gestalt feierlich auf den Stufen von St. Peter
verbrannt.
Von dieser Verurteilung gingen ohne
weiteres die Gerüchte aus, nach denen die Ge-
schichte Sigismund beurteilt hat. Mich aber
liess das Interesse an dieser grossartigen Gestalt
nicht dabei stehen bleiben und es ergaben sich
mir, wie ein freudiges Licht, aus weiteren For-
schungen folgende Schlüsse, die ich dem An-
denken Sigismunds und Isottas zu rechtferti-
gender Entgegnung gegen ihre Feinde weihe.
Zunächst fand ich, dass die Beschuldigungen
— 422 —
zuerst von den zwei erbittertsten Feinden Ma-
latestas ausgesprochen wurden, vom Papst und
von Montefeltro, welche beide das grösste Inter-
esse daran hatten, ihn hassenswert hinzustellen;
dann, dass die Väter der zwei Frauen, ein Este
und ein Sforza, ihn nie beschuldigt haben, an
dem Tode derselben schuld zu sein; ferner, dass
in dem wilden Kriegsleben jener Zeit gewiss
vieles geschah, welches ausser ihm auch andere
Kriegsführer sich zu Schulden kommen Hessen,
ohne deshalb von der Kirche verdammt zu
werden, und endlich: wenn, was wohl nicht zu
bezweifeln ist, seine leidenschaftliche, in jeder,
auch in sinnlicher Beziehung übermächtige Natur
ihn öfter zu Gewalttaten hinriss, so muss man
doch auch in die andere Wagschale das werfen,
was er ausser jener wilden Seite seines Wesens
war: ein Mann von der höchsten geistigen und
künstlerischen Begabung, welcher das Schöne
an sich, frei von dogmatischer Beschränktheit,
liebte, wie es die herrlichen Skulpturen seines
Tempels beweisen, aus denen feindliche Bös-
willigkeit ihm einen Vorwurf machte, während
sie doch nur die edle künstlerische Freiheit seines
Geistes zeigen, ein Mann schliesslich, welcher
Künstler und Gelehrte auf das grossmütigste
ehrte und belohnte und, was am meisten für ihn
spricht, dem eine Frau wie Isotta in treuester
Liebe verbunden blieb.
Nach der Komödie der Verbrennung des
Bilds in Rom griff der Papst zu dem Mittel
niedrigster Verfolgung, indem er die Untertanen
— 423 —
Sigismunds durch Bedrohung mit kirchlichen
Strafen gegen ihn aufhetzte und im Verein mit
den anderen Feinden ihn so bedrängte, dass
sich Sigismund zuletzt genötigt sah, im Jahr
1463 nach Rom zu gehen und sich zu demütigen,
worauf ihm die Kirche all seinen Besitz, ausser
Rimini, abnahm und so, wie fast immer bei
ihren politischen Verhandlungen, ein gutes Ge-
schäft machte. Aber Sigismunds stolze Seele
und unglaubliche Energie waren auch durch die
widrigsten Schicksale nicht zu beugen. Er
begab sich in den Dienst Venedigs, welches
Krieg gegen die Türken führte, und befehligte
dessen Truppen in Morea, tat Wunder der
Tapferkeit, wurde aber von der misstrauischen
Regierung Venedigs nicht so unterstützt, wie es
hätte sein sollen. Dort überfiel ihn eine schwere
Krankheit, so dass man ihn in Italien schon tot
sagte, aber 1466 kehrte er genesen zurück und
wurde nun vom Papst Paul IL, dem Nachfolger
Pius n., der inzwischen gestorben war, nach
Rom, wo man ihn im Bilde verbrannt hatte,
eingeladen, und dort wurde ihm, dem Kämpfer
gegen die Ungläubigen, ein festlicher Empfang
zuteil. So wechselten damals die Ansichten der
infalliblen Männer auf dem päpstlichen Stuhl!
Aber Sigismunds Schickssil eilte dem tra-
gischen Ende aller Heldennaturen zu. Papst Paul
handelte treulos gegen ihn, wollte Rimini durch-
aus für die Kirche in Besitz nehmen und bot
ihm dafür Foligno und Spoleto. Da flammte
noch einmal der wilde Zorn in Sigismunds Seele
— 424 —
auf; sein Rimini, wo er sich sein Heim und
künstlerisch Herrliches geschaffen, konnte er
nicht hergeben. Er eilte abermals nach Rom
mit dem Vorsatz, den Papst zu töten. Sein
Zorn und sein Schmerz waren so heftig, dass er
weder Speise zu sich nehmen, noch schlafen
konnte, so dass sein treuer, vertrautester Diener
ihn flehentlich bat, ihm seinen Kummer zu
gestehen und all seinen treu ergebenen Dienern
nicht den Schmerz zu bereiten, ihn in solchem
Zustand zu sehen. Dies ist wieder einer von
den Zügen, deren der Chronist so viele erzählt,
die beweisen, dass Sigismund warm von seinen
Untergebenen geliebt wurde, also ein gütiger
Herr war.
Der Papst, vielleicht vom Bewusstsein seiner
Treulosigkeit gewarnt, empfing Sigismund, um-
ringt von Kardinälen und Gefolge. Sigismund
hatte gehofft, ihn allein zu finden und mit dem
unter dem Gewand verborgenen Dolch zu töten.
Vor der unerwarteten Versammlung brach endlich
sein stolzer Wille und in dem erschütternden
Gefühl, dass es mit seiner Macht zu Ende sei,
fiel er anstatt zu morden, dem Papst zu Füssen
und bat, ihm sein Rimini, an dem sein Herz
hing, zu lassen. Dafiir verordnete ihm der Papst,
Führer der päpstlichen Truppen zu sein. Aber
das war eine zu kleinliche Aufgabe für seine
hochfliegende Seele, so ärmlich konnte er nicht
enden. Er kehrte nach Rimini zurück, versorgte
seine Kinder mit angekauften Gütern, bat vor
allem sein begonnenes herrliches Werk, die
— 425 —
Kirche von S. Francesko, zu vollenden, be-
schäftigte sich noch liebevoll damit, das Schicksal
Isottas und seines gehebten Sohnes Sallustio,
zu sichern, und starb im Oktober 1468, erst
51 Jahre alt.
Isotta aber und Sallustio fielen dem Neid und
der Grausamkeit von Isottas Stiefsohn Roberto
zum Opfer; er liess sie ermorden und die Kirche
strafte ihn nicht dafür. Sigismunds Schöpfung
in S. Francesko blieb unvollendet; aber was da-
von erhalten ist, spricht wieder für ihn in viel-
facher Weise. Zuerst zeigt eine Inschrift in
griechischer Sprache, wie ihm der Gedanke zu
dem Bau gekommen; sie lautet: »Sigismund
Pandolfo Malatesta von Pandolfo, in vielen und
grossen Gefahren in den italischen Kriegen be-
wahrt und siegreich, errichtete, freigebig spendend,
dem unsterblichen Grott und der Stadt einen
Tempel, wie er es mitten in jenen Kämpfen ge-
lobt hatte, und hinterliess ein ruhmvolles und
heiliges Andenken.«
Allerdings hatte darin Pius 11. recht, dass
Sigismund in den Skulpturen, die den Tempel
schmücken, nicht gerade Grott verherrlicht habe,
vielmehr scheint es, dass er der grossen
echten Liebe seines Lebens, der für Isotta, ge-
weiht war. Denn nicht nur, dass er ihr und sich
bei Lebzeiten prächtige Grrabmäler in demselben
errichten liess, es finden sich auch überall an den
Friesen, den Architraven und Balustraden die
beiden Initialen S und I schön verschlungen ein-
gegraben, gleichsam als hätte er die Ewigkeit
— 426 —
dieserLiebe, allen vergänglichen, irdischen Ver-
irrungen in eine höhere geistige Welt entrückt,
bezeugen wollen.
Das tiefe, beinah leidenschaftliche Interesse^
welches mich an das Studium der Geschichte
dieses an ausgezeichneten Gestalten so reichen
Geschlechts fesselte, und die Freude, die ich
empfand, die hervorragendste derselben, die Si-
gismunds, mir in das rechte Licht zu stellen,
verschönte mir die Zeit, die ich in Rimini ver-
brachte, so dass ich die moderne Badewelt um
mich her kaum noch sah und neben jenen nur
noch am Meer, stärkender Luft und schönen Aus-
flügen mich ergötzte. Die Abende, bis zu später
Stunde auf der grossen Plattform, rings vom Meer
umrauscht, waren besonders köstlich und reich
an Eindrücken, die in eine Gedankenwelt führten.
So sah ich z. B. eines Abends, was ich noch nie
gesehen hatte, den Mond aus dem Meer aufsteigen.
Die Sonne im Meer auf- und untergehen hatte
ich schon öfter gesehen, auch schon den Mond
in das Meer versinken, aber ihn aufsteigen aus
demselben noch nie. Es war ein entzückend
schönes Schauspiel, welches mir wieder die tiefe
Poesie der griechischen Seelen verdeutlichte, die
jeden Naturvorgang mit Ideen in Verbindung
brachten und daraus eine belebte Welt ide-
eller Wesen schufen. Wie sich die mild leuch-
tende Scheibe langsam aus der dunklen Flut
emporhob und, höher steigend, einen Lichtäther
verbreitete, über dem sich der dunkle Nacht-
himmel wie ein Tempel wölbte, da konnte man
— 427 —
wohl eine zarte jungfräuliche Göttin ahnen, die,
in keuscher Sitte durch die Nacht wandelnd, nur
einmal, von der Schönheit des schlafenden Schä-
fers Endymion allmächtig gerührt, sich hernieder
neigte, um den schönen Schläfer leise mit einem
Kuss zu grüssen. Jetzt haben Sprache und
Wissenschaft den Mond degradiert, ihn zum männ-
lichen, kalten, halb erstarrten Körper gemacht
— ist der Gewinn an Wissen den Verlust an
Poesie wert?
Eines Ausflugs in die liebliche Umgegend
Riminis muss ich noch gedenken, an einen Ort,
der in die Gegenwart wie ein Stück Vergangen-
heit hineinragt und doch ein sehr bemerkens-
wertes Stück Leben enthält.
In der äusserst malerischen Linie der Berg-
kette, welche das Panorama von Rimini, vom
Meer aus gesehen, abschliesst, erhebt sich über
die anderen Höhen eine dreigipfelige Felsmasse,
welche der »Titan« genannt wird. Sie trägt,
frei und stolz wie ein Adlernest, die kleine merk-
würdige Republik San Marino. Auf den drei Fels-
spitzen sieht man schon von weitem Türme
und Mauern, hinter denen sich die Stadt verbirgt.
Eine gute Strasse führt zwischen schönen Villen,
Kirchen, Dörfern und mit Wein bepflanzten Hügeln
in etwa 3 Stunden zu Wagen hinauf. Am Fuss
der oberen Felsmasse, die wie auf einem Sockel
auf der unter^ Bergeshöhe liegt, befindet sich
der Borgo, die Vorstadt, welche einen Gasthof,
ein Bankgebäude, eine Piazza mit Kaufläden und
mehrere vielbesuchte Messen im Jahr hat. Von
— 428 —
da geht es hinauf auf die äusserste Höhe der
kalkigen Tufsteinmasse zu der alten Stadt. Sie
ist von festen Mauern und Türmen umgeben,
die Anfang des XVI. Jahrhunderts von einem
berühmten Architekten, Belluzi aus San Marino,
gebaut wurden.
Gleich beim Eintritt in dieselbe fällt es an-
genehm auf, Inschriften auf einer Menge von
Gebäuden zu sehen, die sie als wohltätig^en
Zwecken geweiht bezeichnen. An einer Kirche
findet sich die Inschrift: »Divo quirino dicatum
1549«, die sich auf eine Begebenheit in der
Geschichte von S. Marino bezieht: ein Fabiano
da Monte San Savino brach in der Nacht des
4. Juni 1 543 von seinem Schlosse mit 500 Mann
Fussvolk und etwas Reiterei auf, um die Stadt
zu überfallen und sich ihrer zu bemächtigen.
Gegen Morgen gewahrten die Sanmarinesen den
Verrat, rüsteten sich schnell und schlugen die
Angreifer mit grosser Tapferkeit zurück. Zum
Andenken an diese heldenmütige Bewahrung
ihrer Freiheit feiert* man noch heutzutage am
4. Juni, dem Tage des heiligen Quirinus, ein
Fest. Dann an einem kleinen unansehnlichen
Haus ist eine Tafel angebracht, worauf geschrieben
steht: »In diesem Haus, am 31. Juli 1849, ver-
weigerte Joseph Garibaldi, umringt von den
österreichischen Truppen, den Akt der Über-
gabe und bewahrte sich fiir bessere Zeiten auf.«
Das Haus gehört einem schon hoch be-
jahrten Mann, Simoncini mit Namen, der im
Erdgeschoss ein kleines Cafe hält. Die freie
— 429 —
Erde von San Marino war schon oft eine Zu-
fluchtsstätte für politisch Verfolgte unter den
päpstlichen und österreichischen despotischen
Regierungen geworden und der arm^^»Popolano
Simoncini«, wie er sich 'selbst nennt, hatte schon
mehr wie einem wackeren Mann geholfen der
Verfolgung zu entgehen; aber die teuerste
Erinnerung seines Lebens war es, dass er Gari-
baldi hatte retten und beherbergen können. Am
2S, Juli 1849, ^2ich dem Fall der römischen
Republik durch die Waffen der Schwester -Re-
publik in Frankreich, kam Ugo Bassi, der edle
Mönch, der zum Freiheitskämpfer geworden
war, auf der Flucht von Rom mit drei Be-
gleitern nach S. Marino. Zum Tode erschöpft,
suchte er vergebens in den beschwerlichen auf-
und absteigenden Strassen der Stadt nach einem
Unterkommen und trat endlich in das Cafe
des Simoncini ein, mit der Bitte, ihn die Nacht
da auf einem Stuhl verbringen zu lassen. Der
brave Volksmann aber, sehend wie erschöpft er
war, sagte: »Nein, in meinem Bett sollt Ihr
schlafen 1 Ihr habt es nötig; ich will mich schon
mit Euren Leuten hier einrichten.« Bassi fiel
dem guten Mann um den Hals und rief voll
Freude: >Du bist ein wahrer Republikaner.«
Die Wanderer wurden nun mit Abendbrot
und gutem Marinowein erquickt, dann traten sie
an das Fenster, von wo man einen weiten Blick
auf die, an das Gebiet der Republik grenzenden
Berge hat, auf deren Gipfeln in dieser Nacht
überall Feuer flammten und die Gegenwart der
— 430 —
österreichischen Truppen anzeigten. Als Ugo
Bassi dies sah, fuhr er erschrocken zusammen
und rief: »Um Grotteswillen, der Greneral ist
zwischen zwei Feuern eingeschlossen — er ist
verloren!« Darauf wendete er sich zu Simoncini
und sagte: »Wir müssen ihn retten!« und be-
schwor diesen, einen zuverlässigen Boten aufzu-
finden, welcher sogleich einen Brief zu Garibaldi
tragen könne, der auf dem Berge Tassona mit
den Seinen lagere. Der brave Popolano lief
alsbald in die Nacht hinaus, während Bassi den
Brief schrieb und kam mit einem mutigen
Arbeiter zurück, der auf beschwerlichen Berg-
pfaden, immer in Grefahr gefangen genommen
zu werden, glücklich mit dem Brief zu Garibaldi
gelangte. Dieser änderte alsbald seinen Rück-
zugsplan und kam, von dem wackeren Boten
geführt, am 31. Juli in S. Marino im Hause
Simoncinis an, begleitet von seinem General-
stab, einem kleinen Haufen seiner Krieger, die
mit ihm von Rom entkommen waren und seiner
heldenmütigen Frau, Anita, die schon in
Amerika, wie auch jetzt in Italien alle Be-
schwerden und Grefahren seiner Unternehmungen
geteilt hatte. Aber sie war krank und zum
Tod erschöpft. Simoncinis Frau und Tochter
nahmen sich der Armen liebevoll an und pflegten
sie so gut es ihre beschränkten Verhältnisse
erlaubten.
Darauf hin entspannen sich Unterhandlungen
zwischen der Regierung der Republik und den
österreichischen Befehlshabern, welche die Er-
— 431 —
gebung der Flüchtlinge auf Gnade und Ungnade
verlangten. Garibaldi schlug dies natürlich ab
und sagte in einem kurzen Brief: »Ein guter
Republikaner kapituliert niemals.« Dann löste er
den Rest seiner Legion auf, indem er meinte,
dass es für die Einzelnen leichter sei zu ent-
kommen und dass nur die bleiben sollten, welche
ihm freiwillig folgen wollten. Anita warf sich
der Frau Simoncinis in die Arme und rief unter
Tränen: »Frau, ich habe keine Mittel dir zu
lohnen, aber ich werde nie die Güte vergessen,
die du mir bewiesen hast.«
Von sicherem Führer auf gefahrvollen und
beschwerlichen Pfaden an das Meer geleitet,
schifiten sich die Flüchtlinge ein, um nach
Ravenna zu gelangen, aber noch vorher, an
ödem Gestade, mussten sie aussteigen, weil die
Heldenfrau ihren Leiden erlag. Der verzweifelte
Gatte und der letzte bei ihm gebliebene seiner
Gefährten betteten sie selbst zur Ruhe in die Erde.
Wie sehr das Andenken an den herrlichen
Volkshelden, der hier Zuflucht und Rettung fand,
den Sanmarinesen teuer ist, beweist ausser der
Gedenktafel an Simoncinis Haus, ein kleines
Monument mit der Büste Garibaldis, von einem
Gärtchen umgeben, das liebend gepflegt wird.
So ehrt diese letzte der italienischen Gemeinden
des Xin. und XIV. Jahrhunderts das Andenken
der Freien und scheint noch in die Zeit zu ge-
hören, wo sie, friedlich und glücklich, unter
dem glorreichen, mittelalterlichen Wahlspruch :
libertas perpetua lebte, bevor sie den
— 432 —
klassischen Namen Republik annahm. Ein
schönes neues Regierungsgebäude, im Stil des
Bargello zu Florenz, hat die Republik sich jetzt
auf einem freien Platz gebaut, von wo der Blick
weit hinaus schweift über die trefflich mit Wein
bebaute Ebene, das Meer und die Höhen der
Berge von Carpegna, wo die ersten Burgen der
Montefeltro und der Malatesta waren und wo
ihre Feindschaft sich entspann. Eine Menge
poetischer und historischer Erinnerungen schweben
um dies reiche Panorama und erhöhen den Reiz
der immer jungen, blühenden Natur, welche
ewig neu wird über den Gräbern der Jahr-
hunderte.
Die Regierung der kleinen Republik ist so
originell, einfach, praktisch und auf sittliche
Motive gegründet, dass ich mir nicht versagen
kann, die Hauptsachen davon hier anzuführen,
denn sie scheint mir in vieler Hinsicht Vorzüge
vor den Regierungen unserer modernen Staaten
zu haben. An der Spitze der Regierung stehen
zwei Kapitäne, zwei Oberhäupter, welche zweimal
im Jahr neu, auf 6 Monate, gewählt werden;
also keine Erblichkeit wie in den Dynastien und
keine konventionelle, an das Herrschertum
streifende Machtstellung der Präsidenten modemer
Republiken. Im März und im September ver-
sammelt sich der Rat, welcher aus 60 Mit-
gliedern besteht, die unter den ehrlichsten und
gebildetsten Bürgern aller Klassen ausgesucht
und vom Volk auf Lebenszeit ernannt sind.
Diesem Rat ist die Verwaltung der öffentlichen
— 433 —
Angelegenheiten anvertraut. Am bestimmten
Tage werden in feierlicher Vesammlung in der
Hauptkirche die Namen von zweien der 6 Räte,
welche die meisten Stimmen haben, aus der
Urne gezogen und zu Regenten für das nächste
halbe Jahr ernannt. Es ist dies eine herrliche
Garantie für das öffentliche Wohl, da nur aner-
kannt gute, gebildete, fähige Menschen im Rate
sitzen. Den Tag darauf ist dann die ganze
Stadt im Festkleid. In Prozession ziehen die
alten und neuen Regenten, in schönem, alt-
spanischem Kostüm von schwarzem Samt, um
den Hals das Grrosskreuz des Ordens von San
Marino, gefolgt von der Nobelgarde, von allen
Civil- und Militärbehörden, die Musik der Bürger-
garde voran, zur Kirche, und nach der Messe
und dem Tedeum ziehen sie in den Ratsaal
zurück; dort leisten die neuen Regenten in
lateinischer Sprache den Eid ; die alten Kapitäne
steigen vom Thron, grüssen die neuen mit einer
Verbeugung, als Zeichen des zu beginnenden
Gehorsams und ziehen sich zurück. Die neuen
Regenten empfangen die Schlüssel und Siegel
der Stadt und beginnen ihr Amt
Was ich über den Volkscharakter der kleinen
Republik gehört habe, machte mir dies Eiland
alter, ehrwürdiger Institutionen noch sympathischer
und achtungswerter. Das Volk ist ehilich, auf-
richtig, gastfreundlich, freut sich wenn Fremde
kommen, die teure Heimat zu sehen, liebt
den Frieden über alles, duldet aber nicht, dass
man an seine alte Freiheit rührt und scheut
Meysenbug, IV. 28
— 434 —
weder Schwierigkeiten noch Grefahren, um dies
zu hindern. Zufrieden auf der Felsenhöhe, wo
sie geboren sind, wünschen die Sanmarinesen
gar nicht grösseren, reicheren Besitz. Napoleon L,
als er Herr in Italien war, bot ihnen beträcht-
liche Vergrösserung ihres Gebiets an. Die da-
maligen Regenten antworteten ihm: »Klein sind
wir und klein wollen wir bleiben. < Sie wussten
es, dass mit dem grösseren Besitz all' die Feinde
wahrer Grrösse, die in Tugend und Einfachheit
besteht, dass Ehrgeiz, Neid, Habsucht ein-
ziehen und sie ihrer Freiheit verlustig machen
würden.
Die bürgerliche Gleichheit ist das teuerste
Vorrecht der Sanmarinesen, ihre Sitten bewahren
ihnen die Freiheit und ihre Armut schützt sie
vor fremden bösen Einflüssen. Um den bisher
unangefochtenen Charakter der Republik zu
kennzeichnen, erzählt Marino Fattovi, der über
sie geschrieben hat, folgendes: »Im Jahr 1868
ersuchten nordische Spekulanten die Regierung
um die Erlaubnis, auf dem Gebiet der Republik
ein Spielhaus errichten zu dürfen und versprachen
dafür Geld, Eisenbahn, Wohltätigkeitsanstalten
und anderes, kurz, Reichtum für Gegenwart
und Zukunft. Das Volk, zufrieden in seiner
Armut, eingedenk der verlockenden Aner-
bietungen Napoleons, überzeugt, dass es einer
freien Regierung, die nur wert ist zu bestehen,
wenn sie sich auf Tugend stützt, sehr übel an-
stände, sich zum Instrument des Verderbens,
der Verirrungen und Sittenlosigkeit der Jugend
— 435 —
zu machen, liess sich nicht durch die glänzenden
Versprechungen verfuhren und verwarf das un-
moralische Anerbieten mit Stolz und Verachtung.
Sei gesegnet kleines Adlemest wahrhafter
Republikaner und wenn unten die Welt in
trüben, unredlichen Verwirrungen und daraus
entstehendem Elend krankt, so richte du den
Adlerblick zur Sonne der Freiheit und bleibe
arm, aber tugendhaft und zufrieden 1
Indisches Märchen.
Diesem in jeder Beziehung höchst befriedigen-
den Aufenthalt in Rimini entsprang auch eine
kleine Dichtung, welche ich hier einschalte, da
sie mir, einer besonderen persönlichen Beziehung
wegen, wert ist. Ich hatte mich im Frühjahr in
Rom viel mit indischen Studien beschäftigt und
diese, mir sehr sympathische Gedankenwelt, um-
gab mich auch da am Meer noch häufig. So
kam es u. a. in einer Nacht, wo ich das prächtige
und phantastische Schauspiel eines Gewitters, das
sich über dem Meer entlud, von meinem Fenster
aus hatte, dass mir die folgende kleine Erzählung
so aus der Feder floss und da sie recht eigentlich
zu den Erlebnissen in Rimini gehört, so möge
sie hier ihren Platz finden:
Über die blaue spiegelglatte Flut des Sees
Valmiriki, der sich wie ein uferloses Meer am
Horizont silbern flimmernd, mit dem Himmel ver-
schmolz, glitt ein kleines Boot, dessen Segel von
von einem leichten Morgenwind gebläht wurde
a8*
— 436 —
und das Schiffchen weiterführte. In dem Boote
Sassen zwei Personen : eine ältere Frau, in weisse
Schleier gehüllt, die ihr ernstes Antlitz, von tiefen
Leidensfurchen durchzogen, kaum sehen Hessen,
und ein Jüngling, dessen edle Züge blondes Haar
umflatterte. Sie fuhren auf das Ufer zu, an dem
ein Wald mächtiger Palmen winkte, die durch
Schlinggewächse so eng verbunden waren, dass
beinahe völliges Dunkel unter ihnen herrschte.
»Dort ist unser Ziel,« sagte die Frau, »in dem
Schatten jenes Palmenhains liegt der Tempel, in
dem der Urweise, erfüllt von dem göttlichen
Licht des Brahm, thront und den Verlangenden
den Weg zeigt, den sie zu wandeln haben, um
das Ziel ihres Strebens zu erreichen. Du bist
ein Verlangender; o, dass er dir hülfe, die rechte
Bahn zu finden, auf der du, immer höher steigend,
immer mehr in Brahm versenkt, nicht wieder-
geboren zu werden brauchst, um von neuem
den Kreis des Irrtums, der Lieblosigkeit, des
Hasses und der Enttäuschungen aller Art durch-
zumachen. Glaube mir, der Erfahrenen, die kurzen
Augenblicke des Erdenglücks wiegen die un-
zähligen Leiden und Hässlichkeiten der Erscheinung
nicht auf Du bist ein Erwählter des ewigen Lichts,
dem das heilige Feuer in die Seele gelegt ward,
damit es in reinen Flammen das Irdische verzehre.
Wenn ich dich von deinem Gott ergriffen sehe,
wenn du der Harfe Töne entlockst, die aus dem
Wohnsitz der Ewigen zu stammen scheinen, dann
denk' ich oft: was tut es, wenn er schon bald
entrückt wird in das Reich reiner Geister? Eine
— 437 —
Blüte, zu schön um auf irdischem Boden hinzu-
sterben, strahlt er dort in unverwelklicher Schöne
in Gemeinschaft der Erlesenen, die, vor ihm
geschieden, in der Seligkeit des Nirwana ver-
eint sind.«
Ein Lächeln flog über das Antlitz des Jünglings,
und er sagte: »Dein Wunsch ist seltsam I Gönnst
du mir das Leben im fröhlichen Glanz der Erden-
sonne nicht?«
»Für mich wäre es Schmerz, dich vor mir
scheiden zu sehen, wie schon so viele der Edlen ;
aber noch höher achte ich das Glück, einmal
den Sieg eines Genius über alles irdische Wollen,
das immer mit dem Staub verwandt ist, zu
sehen,« erwiderte die Frau.
Inzwischen aber war der Kahn am Ufer bei
dem Palmenhain angekommen. Der Jüngling
band ihn an einen Baumstamm und folgte seiner
Gefährtin in das Walddunkel. Sie wandelten
wie auf einem Teppich, über weichem Moos-
boden, auf dem Blumen in Fülle blühten, während
sich über ihnen Kränze von blütenbedeckten
Schlingpflanzen, würzige Düfte spendend, hin-
zogen, und oben auf den schlanken Palmen-
zweigen Vögel ihr buntes, schillerndes Gefieder
in stillem Selbstgenügen wiegten. Beide Wanderer
schritten schweigend vorwärts, ergriffen von dem
feierlichen, inneren Beben, mit dem man dem
Erhabenen entgegengeht.
»Wir sind am Ziel,« sagte endlich die Frau.
Der Jüngling erhob den Blick, den er bisher,
ganz in sein inneres Schauen verloren, zu Boden
— 438 —
gesenkt hatte, und sah nun, hell aus dem Dunkel
der Bäume hervorglänzend, einen Tempel aus
weissem Marmor, von hehrer Form und Grösse,
gleich der Wohnung eines Gottes anzusehen.
Hohe Stufen führten zu der Eingangspforte; als
sie diese erstiegen hatten, klopfte die Frau drei-
mal mit dem an der Tür befindlichen goldenen
Hammer an. Das Tor öffnete sich und ein
Mann in langem, weissem Gewand trat heraus
und fragte nach ihrem Begehr.
»Führe uns zu dem Urweisen,« erwiderte die
Frau. »Ich bringe ihm einen Verlangenden und
bitte, dass er uns jetzt vorlässt, denn wir kommen
von drüben über dem See und möchten nicht
heimkehren, ohne seinen Rat empfangen zu
haben.«
»Du bist erwartet. Ehrwürdige,« versetzte
der Mann und verneigte sich vor ihr, »der Ur weise,
dessen Blick das Zukünftige sieht, wusste dein
Kommen und befahl mir, dich zu ihm zu ge-
leiten.«
Sie traten ein, und hinter ihnen schloss sich
die Pforte von selbst. Der Mann schritt ihnen
voraus durch lange Gänge, von Marmorsäulen
getragen, zwischen denen Götterbilder standen,
welche auf die Vorüberwandelnden bald ernst,
bald freundlich niederblickten. Zugleich ver-
nahmen diese eine leise, sanfte Musik, wie von
Äolsharfen. Endlich standen sie vor einer grossen
Tür, von herrlicher Arbeit in Marmor umrahmt,
und mit einem Vorhang von schwerem Goldstoff
verschlossen. Der Führer sagte: „Tretet eini«
— 439 —
Der Raum, der sich vor ihnen öffnete, war
von einem blauen Duft erfüllt, so dass es schien,
als schwebe man im Äther; bezaubernder Wohl-
geruch durchdrang alle Nerven mit Wonne. Nach-
dem das Auge sich in dem blauen Luftmeer
zurechtgefunden hatte, erblickten die Ein-
getretenen auf einem Thron aus Elfenbein einen
Greis, von dessen Antlitz ein milder Glanz wie
von einer Abendsonne ausstrahlte. Ein langer,
weisser Bart hing auf sein faltiges Grewand
herab, in seinen Händen hielt er eine Schriftrolle
mit Aussprüchen der Upanischad. Die Frau
nahte sich ihm voll Ehrfurcht und beugte sich,
um seine Hand zu küssen; er aber wehrte ihr
und sprach: »Nicht so, meine Schwester; du
bist der Geprüften eine. Bei denen, die über-
wunden haben, gibt es Rang und irdische Unter-
schiede nicht mehr; sie sind gleich, Brüder und
Schwestern, denn in ihnen leuchtet das Licht
des Ewigen über allem Erdendunkel. Aber wen
bringst du mir? Einen Verlangenden?«
»Ja, einen, den es dürstet, am Quell der
Wahrheit zu trinken, dem Schaffenskraft in die
Seele gelegt wurde, damit er ein verklärtes
Spiegelbild der Welt in seiner Phantasie erstehen •
lasse. Auch ist er ein Meister der Töne, und
seine Hand entlockt den Saiten Klänge, in denen
man die Ursache alles höchsten Seins zu hören
meint, jene tiefe Liebeshymne, welche durch
das Weltall tönt und die Gestirne in ihre Bahnen
zieht. Lehre ihn, frei von den Lockungen der
Sansära die jugendliche Bahn zu wandeln, bis
— 440 —
er aufsteigt in das Reich des reinen Geistes, c
Der Greis heftete die milden Augen auf den
Jüngling, und sein Blick schien durch die irdische
Hülle bis tief in den Grund der Seele zu blicken.
Was er da sah, mochte ihm gefallen, denn ein
sanftes Lächeln überflog sein Antlitz, und er
sprach: »Was ist dein Verlangen, Freund?«
»Ich verlange danach, den Weg zu kennen,
der zur Erkenntnis der Wahrheit fuhrt. Die
Welt verwirrt mich, die Lehren der Männer
draussen zeigen mir nur künstliche Gerüste
eines grossen Weltenbaues, ich aber möchte
wissen, welches der Gedanke ist, der diesen
Bau schuf und in ihm wohnt; denn mich be-
friedigt nicht die Form allein, ich will das kennen,
was die Form im Innern bewegt.«
»Dein Verlangen ist gerecht, o Jüngling,«
versetzte der Greis. »Alle Form ist nur Hülle
des Wesens, vergänglicher Einschluss des Unver-
gänglichen.«
»Aber das Unvergängliche, was ist es?«
fragte der Jüngling.
»Das Unvergängliche ist Brahm, die grosse
Weltenseele, die Ureinheit, die in allem webt,
von der alles Sichtbare nur eine vorübergehende
Ausstrahlung ist. Du, nach dem Reinen, nach
der Wahrheit Verlangender mach' dein Herz
zum Bogen, deinen Verstand zum Pfeil und
Brahm zum Ziel, und richte den Bogen nach
dem Ziel, so dass dein Verstand gleich dem
Pfeil in das Ziel eindringt: so wirst du Form
des unvergänglichen Wesens werden.«
— 441 —
»Welches aber ist der Weg, den ich gehen
muss, um an das Ziel zu gelangen?« frug der
Jüngling abermals. »So wie wir, um hier zu
dir zu gelangen, den Weg hätten gehen können,
welcher durch glänzende Städte und blumen-
geschmückte Auen führt, statt dessen aber durch
einsame Wälder und über den blauen, schwei-
genden See kamen, so führen sicher auch meh-
rere Wege zu dem Ziel, welches du mir nennst,
das ich aber noch nicht begreife, nur ahne und
glaube, weil du es mir sagst. Genügt es, daran
zu glauben, ohne es zu kennen? Werde ich
Brahm durch den blossen Glauben an ihn?«
»Nein, nicht durch den Glauben, sondern
durch die Erkenntnis wird der Mensch erlöst,«
versetzte der Greis feierlich. »Zwei sind der
Wege, zwischen denen du wählen kannst: der
eine ist der Weg der reinen Erkenntnis, des
inneren Schauens, auf dem die Seele schon mehr
und mehr aus der sichtbaren Form heraustritt
und sich in Brahm versenkt. Diejenigen, welche
die Sinne mit festem Zügel an sich ziehen, sehen
ihn mit dem Lichte des Geistes, sein Licht wird
auch in ihnen leuchtend. Sie können ihn mit
dem Auge nicht sehen, mit der Sprache nicht
erklären, aber sie können sich mit dem reinen
Erkennen ihm nahen.«
»Und der andere Weg, welcher ist es?«
forschte der Jüngling weiter.
»Der andere ist der Weg der Sansära, der
Welt der lockenden Erscheinung, der Hoffnung,
das Ziel auch im reizvollen Wechsel des sieht-
— 442 —
baren Lebens zu erreichen. Auch auf ihm ist
Brahm zu finden, denn er ist überall und in uns
selbst, aber der Weg ist länger, wechselvoller
und vielen Täuschungen ausgesetzt. Es sind
Abgründe neben diesem Weg; man muss sich
hüten, nicht zu fallen; zuweilen wird es auch
dunkel in der Seele, und das Licht, welches innen
leuchtet und nichts anderes ist als Brahm, scheint
erloschen; aber dem Mutigen, der sein Ziel im
Herzen behält, kann die Welt schliesslich nichts
anhaben. Er wahre seine äusseren und inneren
Sinne und habe in jeder Sache, an jedem Ort
und zu jeder Zeit Brahman vor Augen und in
Gedanken, so wird er dennoch ein glückliches
Leben führen und der Qual entgehen, wieder-
geboren werden zu müssen, sei es als Mensch
oder als Tier. Jetzt aber geh hinaus in den
Hain und halte Rat mit dir selbst, und hast du
entschieden, so komm und verkünde mir deine
Wahl; denn jeder muss den Weg gehen, wie
es ihm in die Seele geschrieben ist.«
Der Jüngling verneigte sich ehrfurchtsvoll
und eilte hinaus in den Palmenhain, stürmisch
bewegt von den Worten des Greises und von
den wogenden Empfindungen und Wünschen,
die sein Herz erfüllten. Alles in ihm war edel
und rein; sah er aufwärts, so war es ihm, als
schwebe ein Genius mit weissen Flügeln über
ihm und winke ihm hinauf zu immer ätherischeren
Höhen; sah er aber abwärts in sich, so glühte
es wie im Innern eines Vulkans, und ein unruh-
volles Sehnen, dem er keinen Namen zu geben
— 443 —
wusste, verursachte ihm zugleich Pein und
Ahnung von unbekannten Wonnen. Ohne zu
innerer Klarheit kommen zu können, warf er
sich endlich unter einem Magnoliabaum auf den
Moosteppich nieder, wo die Zweige der Gebüsche,
mit süss duftenden Blüten beladen, sich schattend
über sein Haupt senkten. Ein unendliches Ge-
fühl von Wollust des Daseins kam über ihn,
und eine sanfte Müdigkeit schloss seine Augen-
lider. So lag er eine Zeit lang im Halbschlummer,
in welchem gaukelnde Traumbilder ihn um-
schwebten. Aber plötzlich erwachte er von
einem leichten Geräusch neben sich, und als er
aufschaute, sah er ein Antlitz von wunderbarer
Schönheit über sich gebeugt, und zwei dunkle
Augen, feurig leuchtend, auf ihn niederblicken.
Es war ein junges Mädchen, das neben ihm
stand; ein Schleier von durchsichtigem Silber-
gewebe, unter dem schwarze Locken sich in
Fülle hervordrängten, bedeckte ihr Haupt und
verhüllte zum Teil die schlanke, jugendliche
Gestalt, die in weisse Seide reich gekleidet
war. An einer roten, seidenen Schnur hielt sie
eine junge Gazelle, deren sanfte Augen den
unerwarteten Fremdling mit Erstaunen betrach-
teten.
Als das Mädchen nun dem Blick des Jüng-
lings begegnete, überzog ein leichtes Rot ihre
Wangen und sie wollte rasch entfliehen. Aber
der Jüngling hatte sich aufgerichtet und rief
flehend: »O verschwinde nicht, holdes Bild 1 Sag'
mir, ob du ein Traum bist, den Brahman mir
— 444 —
sendet, oder die wonnigste Wirklichkeit? Nie
sah ich deinesgleichen I <
»Du scheinst mir edel, Fremdling, und gern
will ich dir Rede stehen,« erwiderte das Mädchen
und ihre Stimme klang ihm wie Harfenton. »Mein
Vater ist der Oberste der Brahminen; seine
Wohnung liegt unfern von hier, und dieser Teil
des Waldes, der an den Tempelhain stösst, ist
sein Eigentum. Da wandle ich ohne Furcht
allein umher und spiele mit meinen Tieren, oder
pflege meine Blumen. Nun sage mir aber auch
du, wer du bist und wie du hieher kamst, wo
ich noch nie einem Fremdling begegnete. Des-
halb erschrak ich, als ich dich hier so unver-
mutet antraf.«
»Ja, dann aber setze dich zu mir und lass
uns miteinander reden, als kennten wir uns schon
lange. Mir ist es auch plötzlich, als hätte ich dich
immer gekannt und als hätte dich nur ein
Nebel meinen Blicken verborgen, der nun ge-
wichen ist.«
Sie sah ihn lächelnd an und ihr Blick machte
ihn mit einem Freudenschauer erbeben. Dann
sagte sie: »Ich traue dir,« und setzte sich an
seine Seite. Der Jüngling erzählte nun, wer er
sei, wie er hieher gekommen und wie ihm der
Urweise Zeit gegeben habe, sich zu prüfen und
seine Wahl zu treffen. »Vielleicht,« so schloss
er seinen Bericht, »hat mich der weise Mann
nur hierher gesandt, um dir zu begegnen und
so meine Wahl zu bestimmen, denn nun weiss
ich, dass es nur eine Wahl gibt.«
— 445 —
»Und was wird deine Wahl sein?« fnig sie,
indem ihre Glutaugen ihn verlangend ansahen
und ihre rosigen Lippen ihm entgegenlächelten.
»Bei dir sein, ewig mit dir vereint oder
sterben I« rief er in leidenschaftlichem Entzücken
erglühend, dann aber plötzlich erbleichend, fuhr
-er fort: »Du aber bist vielleicht schon einem
reichen Fürstensohn verlobt? Ich bin arm und
habe bis jetzt nichts als mich selbst.«
»Und wenn mir das nun gerade lieber ist
als alle Schätze Indiens,« sagte sie schmeichelnd,
»sieh', mein Vater hat mich schon mehrere Male
mit den ersten Fürstensöhnen des Landes ver-
mählen wollen, aber ich sagte immer: Nein,
der Rechte ist noch nicht gekommen; Brahm
wird ihn mir zur guten Stunde senden. Als ich
nun vorhin mit meinem lieben Tierchen in den
Wald kam, da zog mich das sanfte Geschöpf
immer nach dieser Seite, wohin ich sonst selten
gehe; ich dachte, vielleicht haben die Ewigen
ihm ein Zeichen gegeben, dass mir da etwas
Ausserordentliches begegnen soll, und folgte ihm.
Als ich dann aus dem Gebüsch trat und dich
hier sah, da wusste ich, dass mir der Rechte
gesandt seil . . .«
Stunden waren vergangen, da riss sich plötzlich
voll Schreck das Mädchen aus seinen Armen,
die sie umschlungen hielten, und rief: »Weh'
mir I Wenn sie mich hier finden mit dem Fremd-
ling, ich müsste vor Scham vergehen! Aber
von dir scheiden ist bitterer als der Tod!«
— 446 —
»Das kann auch nimmer seini« rief er voll
Leidenschaft und drückte sie von neuem an sein
Herz: >uns has die Gottheit zusammengeführt^
und nichts kann uns mehr trennen. Auch ich
muss jetzt fort und dem Urweisen meine Wahl
verkünden. Aber dann komme ich, dich von
dem Vater zum Weib zu begehren. Zwar bin
ich noch arm und nicht angesehen vor den
Menschen, aber ich fühle Kräfte in mir, Grrosses,.
Würdiges zu vollbringen.«
»Oh, ich bin reich genug für uns beide, und
es wird mein Glück sein, mit dir zu teilen!«
Nun umschlang sie ihn wieder, nahm mit
einem langen, heissen Kuss von ihm Abschied
und verschwand mit ihrer Gazelle im Dickicht
des Waldes, während er den Weg zurück zum
Tempel suchte.
Er fand seine Führerin und den Urweisen
versenkt in Gespräche über das wahre Wesen
der Dinge.
»Wir waren in dem Upanischad, in der
Innenwelt,« sagte der Urweise, »dort, wo die
Sonne nicht scheint, noch der Mond, auch jene
Blitze nicht, die dort am Gewitterhimmel zucken,
wo aber alles Licht ist, das von Brahman aus-
strömt, und wir waren glücklich, dass auch wir
Brahman sind, denn das ist unsere Krone und
unser Stolz: sobald diese Erkenntnis der Seele
in uns lebendig geworden ist, sind wir frei von
den Gesetzen, welche die Form der Sansära sind
und leben im reinen Äther des Geistes. Du
aber, o Jüngling, sprich nun, lass uns wissen^
— 447 —
was sich in deiner Sede bewegt hat. Hat sich
dein Verlangen dafür entsdiieden, mit uns am
unverfälschten Quell der Erkenntnis zu trinken
und so den Irrungen der Erscheinungswdt zu
entgehen, oder wählst du den dunlderen P&d,
der mit seinen von tausend Sonnen strahlenden
Momenten des Glücks, doch nur ein Spi^el
deines Innern ist und sich oft trübt und ver-
dunkelt, wenn die Lichtgestalten, die du im
Glänze deiner Seele sahst, dir plötzlich ihr
wahres Wesen enthüllen und eher Dämonen
gleichen als veridärten Wesen. Sprich ohne
Scheu, denn du bist frei zu wählen.«
>So vernimm. Ehrwürdiger,« versetzte der
Jüngling nicht ohne einiges Bangen, >ich zeige
dir mein Herz in Wahrheit. Mir ist in diesen
Stunden das Greheimnis offenbar worden, welches
das andere, das dunkle Verlangen war, das
neben jenem nach dem Lichte des Brahm, un-
ruhvoll in meiner Seele wogte, ich weiss nun,
wo es gestillt wird. So habe ich gewählt und
beschlossen, das Leben der Menschen durch-
zumachen mit air seinen Freuden und Leiden
und dafiir zu kämpfen, dass Brahm lebendig
werde in den Seelen der Menschen.«
>Ich wusste es, wie du entscheiden würdest,«
sagte der Greis lächelnd, >es war zu früh, dich
den Entsagenden zugesellen zu wollen. Noch
flutet der heisse Lebensstrom des Werdens in
dir und will sein Recht. Aber du bist in der
Stunde der Geburt von Brahman gesegnet, denn
wem er das köstlichste Geschenk, den Genius,
— 450 —
Nur ungern trennte ich mich von dem herr-
lichen Meeraufenthalt, der mir physisch, geistig
und gemütlich wohl getan hatte. Mir die Ge-
stalt Sigismund Malatestas in ein milderes, sicher
gerechteres Licht gesetzt zu haben, als das ist,
in welchem die meisten Historiker ihn sehen und
welches Bädeker leider in seinem Fremdenführer
den Reisenden als das unfehlbare zeigt, war mir
eine Genugtuung, denn jene Heldengestalten der
Renaissancezeit wollen von einem anderen Stand-
punkt aus beurteilt sein als unsere modernen
Heerführer. GremütvoU erquickend aber war
mir der Umgang mit dem Volk gewesen, welches
ein besseres Los verdiente, als ihm seine Re-
gierungen bis jetzt bereitet haben. Das Volk
dort in der Romagna sowohl wie in der Lom-
bardei ist sehr klug, viel mehr republikanisch als
monarchisch und urteilt oft mit einer geistreichen
Ironie über die Verfugungen der oberen Behörden.
Die sehr abscheulichen Vorgänge an der Banca
romana — die wie ein Echo auf die französischen
Panama-Ereignisse folgten, nur noch gemeiner
und hässlicher, da es sich rein nur um Gewinn
und Wucher handelte, während dort, wenigstens
im Anfang, eine grosse Idee zu Grunde lag —
fielen gerade in jene Zeit. Der Prozess, welcher
den Vorstehern der Bank gemacht wurde, die
jahrelang in der sogenannten »guten Gesell-
schaft« geglänzt hatten, war im Gange und man
erwartete mit Recht ein strenges Urteil. Auch
mir fiel das Zeitungsblatt vor Unwillen und Er-
staunen aus der Hand, indem ich das Verdikt
— 4Si —
am Ende des Prozesses las, welches sämtliche
Angeklagte frei sprach; als ich dann später
einem meiner guten Freunde aus dem Schiffervolk
des Hafens begegnete und ihn fragte, was er
dazu sage, erwiderte er mir mit dem feinen
ironischen Lächeln, welches den dunkel ge-
bräunten Gesichtern des meist schönen Menschen-
schlages dort so gut steht: »Ich habe nichts
anderes erwartet; wenn einer von uns ein Brot
stiehlt für sein hungriges Kind, so steckt man
ihn ins Gefängnis; die vornehmen Diebe spricht
man immer frei.« Wie sehr der Mensch recht
hatte, sollten die folgenden Jahre noch eindring-
licher beweisen. Diejenigen, welche an der
Spitze der Staatsverwaltungen stehen, unter-
schätzen den gesunden Verstand und die Urteils-
fähigkeit des Volkes viel zu sehr, und wenn
endlich der Augenblick kommt, wo das lang
unterdrückte Gefühl des Unrechts, welches am
Volk begangen wird, hervorbricht und zu Ge-
walttaten treibt, so behauptet man, es sei nur
das Werk einzelner Aufwiegler und Egoisten,
die für sich selbst im Trüben fischen wollen und
schreitet ein mit dem Mittel der Despotie, mit
Waffengewalt, anstatt liebevoll vorsorgend den
Bedürfnissen menschlicher Existenzen entgegen-
zukommen und vor allem, anstatt strenge Ge-
rechtigkeit in gleichem Mass zu üben gegen
hoch und niedrig, gegen reich und arm.
Es ist seltsam wie wenig die Menschen aus
der Geschichte lernen; wie der Egoismus und
die Verlockungen der Macht immer wieder zu
— 452 —
dem Irrtum fuhren, als könne der nur auf das
Vergängliche gestützte Erfolg dauern und die
ewigen Ideen der Gerechtigkeit, Güte und
Wahrheit in Schranken halten um den selbst-
süchtigen Zwecken einzelner Ehrgeiziger und
Despoten zu dienen. Und doch ist dem nicht
so! Die Geschichte hat hundertmal das Gegen-
teil bewiesen; Ideen sind mächtiger als mensch-
liches Wollen ; schlagt sie in Ketten, die Ketten
fallen ab wenn der Genius in den Kerker tritt
und sie zur Freiheit fuhrt, wie der Engel den
Petrus auf dem herrlichen Fresko Raphaels im
Vatikan. Aber freilich es ist traurig wie lange
die Verirrung einzelner das Schicksal von
Tausenden beherrschen und dem Abgrund des
Elends nahe führen kann. Italien erlebte es in
jenen Jahren und leidet noch an den Folgen
der unseligen Katastrophen, welche Ehrgeiz und
Unfähigkeit einzelner über es verhängten. Ob
die Sucht der Kolonialpolitik, welche sich
Europas bemächtigt hat in der zweiten Hälfte
dieses Jahrhunderts, eine segensreiche, kultur-
fördernde sei, bleibe noch eine unbeantwortete
Frage ; jedenfalls war es für Italien viel zu früh,
sich diesem Zuge der europäischen Grossmächte
anzuschliessen und es bleibt als eine Schuldt^in
der Geschichte des Ministeriums Depretis-Mancini
zu verzeichnen, ihr Land auf jenen Weg geführt
zu haben, wenn gleich die schlimmsten Folgen
dieses Schrittes einem späteren Ministerium zu-
zuschreiben sind. Italien war ein junger Staat,
kaum als eine Einheit geboren und ungeheure
— 453 —
Aufgaben lagen vor ihm im Innern, die mit
Einsicht und Beharrlichkeit ergriffen, es zu
Wohlstand, Ordnung und sittlicher Entwicklung
hätten führen können; dann, innerlich erstarkt,
einig und frei geworden, hätte es daran denken
können, in dem Kreis der Grossmächte eine
achtunggebietende Stellung einzunehmen. Cavour,
der einsichtsvolle Staatsmann, der ihm leider zu
früh entrissen wurde, begriff die Bedeutung einer
solchen Tendenz vollkommen und lehnte den
Vorschlag Napoleons III. ab, welcher das nörd-
liche Afrika zwischen den lateinischen Rassen
zu verteilen, Spanien Marocco und Italien
Tunis zuzuteilen, träumte. Cavour fürchtete
den Eifer der Italiener, das Vaterland fest zu
gründen, durch eine Richtung nach aussen abzu-
schwächen und erwiderte: »Italien sei nicht
reich genug um sich ein tunesisches Algier zu
erlauben«.
Dieser weisen Zurückhaltung vergessend, kam
es dann später doch dahin; dass Italien in Afrika
festen Fuss fasste. Eine Bekannte, welche die
ersten italienischen Truppen sich nach Afrika
hatte einschiffen sehen, schrieb mir, sie habe
Tränen freudiger Rührung geweint, die Söhne
des neu gewonnenen Vaterlands hinausziehen zu
sehen, um Kulturaufgaben unter den Barbaren
zu erfüllen. Ich antwortete ihr, ich wünsche
von Herzen, dass diese Aufgaben nicht kultur-
feindlich für das eigene Land werden möchten
und ich glaube, dass jene Armen, die waffen-
tragend zu wüden Völkern zögen, segenbringen-
— 454 —
der zu nützlicher Feldarbeit daheim verwendet
sein würden. Leider gab mir die Folge mehr
als recht.
Mit unendlicher Liebe an dies schöne Land
gebunden, an die apollinischen Zauber seiner
Natur, die das tiefe Bedürfnis der Seele nach
Schönheit, in mir von Kindheit auf mächtig, we-
nigstens nach einer Seite hin befriedigen, konnte
ich nicht umhin, auch mit dem wärmsten Inter-
esse die Schicksale dieses Landes beobachtend zu
verfolgen, -und sah mit Trauer, wie weit sich die
heutige Politik von den Idealen jener trefflichen
Männer, die ich im Exil gekannt hatte, entfernte.
Vorgänge wie jene schon erwähnten der Banca
romana, wie die Veruntreuung von Geldern, die
auch von auswärts her für die schrecklichen Un-
glücksfälle der Erbbeben, Überschwemmungen etc.
einliefen und den schwer Betroffenen kaum halb
zuteil wurden, Veruntreuungen an öffentlichen
Kassen und anderes zeigten einen Abgrund mo-
ralischen Elends, der etwas Erschreckendes hatte.
Dazu in den höchsten Kreisen der Verwaltung
der ungebändigte Ehrgeiz einzelner, teils von
unfähigen, teils von unredlichen Werkzeugen
Umgebener, das waren die Zustände, in denen
Italien sich befand, die wie dunkle Gewitterwolken
an seinem hellen Himmel standen und sich immer
drohender zusammenzogen, bis dann die schreck-
liche Katastrophe in Afrika kam, welche Trauer
und Verzweiflung über das Land verbreitete.
Freilich fiel nach der Schlacht von Adua das
Ministerium Crispi, welchem mit Recht die Haupt-
— 455 —
schuld an den begangenen Irrtümern und deren
Folgen zugeschrieben wurde, aber das Unglück
war nicht gut zu machen. Die kräftigen jugend-
lichen Leben, die auf dem Schlachtfeld von Adua
vernichtet lagen, die Tränen, die in Italien um
sie flössen, die Millionen, welche unnütz dort ver-
geudet waren, während in der Heimat Hunger
und Armut herrschten, die furchtbaren Einblicke,
die man in die skandalöse Immoralität der den
Häuptern der Regierung zunächst stehenden Per-
sonen tat, in das Gewebe schmutziger Intriguen,
Bestechungen und Lügen, welches in den Kreisen
einheimisch war, die dem Volke hätten als Vor-
bild dienen sollen — das alles wird als ein ewiges
Vedammungsurteil auf dem Ministerium Fran-
cesco Crispis in der Geschichte lasten bleiben
und das Urteil Mazzinis über den Mann recht-
fertigen. Die einzelnen Tatsachen dieser trau-
rigen Zeit sind zu bekannt, um sie zu wieder-
holen ; aber wer sie miterlebte wie ich, der konnte
nicht umhin, sich traurig zu fragen, was für ein
dunkles Rätsel sich hinter diesen Erscheinungen
der Weltgeschichte berge, wenn nach einem
grossen begeisterten Aufleuchten edelster Ge-
sinnung, hohen Strebens, freudigsten Opfermutes,
dann plötzlich eine Zeit, nicht des Stillstands
und Ausruhens — das wäre erklärlich — , sondern
tiefer Korruption folgen kann, in der alle häss-
lichen Elemente der menschlichen Natur wie auf-
gewühlt erscheinen und aus ihren dunklen Höhlen
heraufsteigen an das Licht, um sich der Frucht
des vom Idealismus errungenen Siegs zu be-
— 456 —
mächtigen und sie mit dem Grift des verderblich-
sten Egoismus zu durchdringen. Das italienische
Volk fühlte sehr wohl, was ihm für Unheil zu-
gefügt war, aber es ist ein unglaublich gedul-
diges Volk, lässt viel über sich ergehen und
begnügt sich lange mit seiner Armut, ehe es zur
Empörung schreitet. Die Minorität der redlichen
Männer der gebildeten Klassen aber, welche tief
traurig, einsichtsvoll den Ereignissen gegenüber-
steht, leidet, ohne sich gegen das vorhandene
Übel handelnd aufzulehnen. Es ist das eine
Schwäche der italienischen Natur, die in sonder-
barem Kontrast steht mit der feurigen Raschheit
im Blut, welche ohne Überlegung das Messer
in die Brust des Nebenmenschen stösst.
Eis würde mich weit über die Grenzen des
mir in diesen Blättern vorgesteckten Ziels hinaus-
führen, wollte ich suchen, die Ursachen offen dar-
zulegen, welche den heutigen Zuständen zu Grunde
liegen, obwohl sie mir ziemlich klar sind; ich
fasse sie nur in Eins zusammen, nämlich in die
vollständige Abwesenheit jedes Ideals. Es gibt
wohl kaum ein Volk in Europa, welches weniger
wahrhaft religiös wäre als das italienische ; es ist
teils skeptisch, teils indifferent und in den
untersten Ständen aus Gewohnheit kindisch und
abergläubisch. In der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts war es das politische Ideal, die Befreiung
vom Fremdjoch, welches die Seelen mit Be-
geisterung und Tatkraft füllte; nun es verwirk-
licht war, stellte sich eine Leere ein, in der alles
Unkraut, dessen Keime sich unter den schlechten
— 457 —
Regierungen, die so lange das Verhängnis Italiens
gewesen waren, gebildet hatten, emporwuchs und
die Oberhand gewann, während, wie gesagt, die
redlich Wollenden sich entmutigt zurückzogen.
Der hohe Vorzug dieses wunderbaren Landes
aber ist es, dass, während die menschlichen Ver-
hältnisse so viel zu wünschen übrig lassen, die
gütige Natur hier so verschwenderisch mit ihren
Graben ist, dass die Seele sich ihr trostreich in
die Arme legt und in ihrer Schönheit ausruht, in
der Zuversicht, dass auch diesem liebenswür-
digen, begabten Volk der Tag der Auferstehung
kommen wird.
Da mein Alter mir nun nicht mehr weite
Reisen erlaubte, so kam es dahin, dass Olga im
Sommer mit den Ihren über die Alpen kam und
dass wir uns in Nord-Italien, an einem der vielen
gesegneten Orte dort zu längerem Aufenthalt
zusammenfanden, mehr wie je in Liebe vereint.
In Rom aber war mir inzwischen wieder eine
teure, liebe Beziehung nahe gekommen, die
schon in früheren Jahren während einiger Winter
mein Leben freundlich erhellt hatte und zu
einem festen Herzensbund geworden war. Es
war dies die Beziehung zu der Tochter von
Donna Laura Minghetti, welche jetzt, als die
Gemahlin des deutschen Botschafters, Bernhard
von Bülow, in Rom festen Wohnsitz nahm.
Die Liebe, die mich an dies von der Natur mit
allem edlen Liebreiz geschmückte Wesen band,
gab meinem Leben in Rom wieder die Be-
friedigung einer persönlichen Zuneigung, die
— 4S8 —
auch von der anderen Seite, trotz der grosse»
Altersverschiedenheit, auf das lieblichste er-
widert wurde. Es öffnete sich, durch die Gegen-
wart des ausgezeichneten, noch so jungen Paares,,
in dem schönen Palast der deutschen Botschaft
in Rom ein lang entbehrtes, deutsches Heim,
so wie es vor Zeiten durch Humboldt, Niebuhr,
auch noch Bunsen, da gewesen sein mag, das
in Bernhard von Bülow den durch edle klassische
Kultur gebildeten Repräsentanten, in seiner Gattin
die holde Erscheinung der Vereinigung südlicher
Natur mit deutscher Bildung fand. Wohl mag
die Mitte, welche jene Vertreter deutscher
Bildung in Rom gefunden hatten, die Herstellung
eines bedeutenden geistigen Zentrums erleichtert
haben, besonders auch dadurch, dass die römische
Gesellschaft damals nicht die vielen schroffen
Gegensätze enthielt, welche sich heutzutage in
ihr finden. Für die aber, welche Bülows ge-
mütlich näher standen, war es das Aufblühen
einer schönen Hoffnung, für längere Zeit ein
Asyl zu haben, wo Geist und Herz gleich be-
friedrigt wurden und wo, insbesondere durch die
grosse musikalische Begabung der Frau von
Bülow und ihren der Musik geweihten Kultus
zu erwarten stand, dass sich endlich wieder ein
würdiges musikalisches Leben entwickeln lassen
würde, da in dieser Beziehung ein schmerzlich
fühlbarer Unterschied zwischen der Zeit, wo ich
zuerst in Rom war, vor etwa dreissig Jahren,
und der Jetztzeit, stattfand. Damals herrschte
Liszt noch in voller Manneskraft im römischen
— 459 —
Leben; ich hörte seine »Beatitudine«, von ihm
selbst dirigiert, im grossen Saal des Kapitols, in
vollendeter Weise auffuhren; ihn umgaben einige
ausgezeichnete Schüler, die auch in das Privat-
leben ein wertvolles musikalisches Streben ein-
führten. Man hatte noch nicht die furchtbare
Qual zu erdulden, beinahe aus jedem Haus ein
geist- und sinnloses Geklimper ertönen zu hören ;
überhaupt ein dunkler Fleck in unserer modernen
Kultur, der geradezu einen moralisch verderb-
lichen Einfluss hat, denn was können so gemeine
Rhythmen, so widerwärtig ordinäre Weisen,
millionenmal hintereinander wiederholt, einer
Seele sagen? Jede nützliche Handarbeit wäre
da vorzuziehen und ersparte dem Nachbar, dem
die Musik die heiligste der Künste ist, die un-
sägliche Pein, sich bei seiner geistigen Arbeit
oder bei seiner stillen Erholung durch ein solches
aufdringliches, gemeines Umherfahren auf dem
Instrument gestört zu sehen.
Es waren im Palast Caffarelli, dem Sitz der
deutschen Botschaft, gerade mehrere ausge-
zeichnete musikalische Talente und so fing
wenigstens im engeren Kreis dort schon ein ge-
nussreiches Musizieren an. Dazu kam nun im
Frühjahr die mich innig erfreuende Nachricht,
dass Siegfried Wagner, der eben seine erste
grosse Kunstreise gemacht hatte, auch nach
Rom kommen wolle, um daselbst ein Konzert
zu dirigieren. Es war eine doppelte Freude, die
mir dadurch zuteil wurde; zunächst den Sohn
— 4^0 —
des grossen Meisters und Freundes, den ich von
Kindheit auf gekannt hatte, nun als erwachsenen,
schon selbständig sich betätigenden Menschen
wiederzusehen und dann, unter seiner Leitung
einmal wieder eine wahrhaft künstlerische grössere
Aufführung zu hören. Beides vollzog sich in
schönster, befriedigendster Weise; nicht nur,
dass ich in dem Jüngling, neben entschiedener
Ähnlichkeit mit dem Vater, eine vollständig
eigene Persönlichkeit fand, $ondem es erschien
mir auch in dem Dirigenten ein durchaus indi-
viduelles, ganz bewusstes Erfassen und Ausführen
und erfüllte mich mit froher Hoffnung für die
Zukunft dieses mir so werten jungen Freundes,
dem die grosse, herrliche Aufgabe zuteil ge-
worden, das Werk des Vaters weiterzuführen
und zugleich die Befähigung als eine selbstän-
dige Individualität, die eigenste Schaffenskraft
in ungehinderter Weise zu entfalten.
Der Sommer führte mich dann wieder zu froher
Vereinigung mit Olga und den Ihren an den süd-
lichen Abhang der Alpen, an den Lago Maggiore
und an den höher gelegenen, unbeschreiblich
reizenden Orta-See, über dessen grüne, malerische
Uferberge die eisglänzenden Spitzen der Kette
des Monte Rosa herüber sehen. Den Reichtum
der malerischen Schönheiten dieses von der Natur
so verschwenderisch bedachten Landes auszu-
kennen, würde viele Jahre erfordern und es ist
nicht zu verwundern, dass hier eine Kunstblüte
entstand, wie sie, ausser Griechenland, kein
— 46i —
anderes Volk erlebt hat. Und ebenso wie mit
der Natur wird man auch nie fertig, all' die
schaffenden Kräfte kennen zu lernen, welche
jener Natur wohl zum grossen Teil ihre An-
regungen verdankten. So sah ich in jenen Gre-
genden einen Maler zuerst und einen zweiten
vollkommener als vorher, welche sich beide
dort in vielen der kleinen Orte verewigt haben ;
der erste war Gaudenzio Ferrari und der zweite
Bemardo Luini. Gaudenzio Ferrari hat nicht
die Anmut und tiefe Seelenschönheit des Luini,
aber er ist ein Maler von unbestrittener Gross-
artigkeit der Erfindung, voll Farbenglanz und
feiner Charakterisierung und muss sehr produktiv
gewesen sein. Luini erreicht zuweilen fast seinen
grossen Meister an Holdseligkeit und seine Fresken
in Saronno und Lugano ehren ihn als Zeichner
und Kolorist.
So einen sich stets in diesem Wunderland
Natur und Kunst, um Geist und Gemüt alles
zu geben, dessen sie bedürfen. Aber freilich,
nur die Natur ist ewig jung im Blühen, die
Kunst hat ihre Epochen und dann stirbt sie ab,
gleich dem Erdreich, das, erschöpft vom Geben,
keine Frucht mehr bringt.
Nicht immer aber waren die Tage nur heiter;
auch in diesen späten Jahren nicht, wie sie es
auch in früheren Jahren häufig nicht gewesen
waren. Es starben viele der Angehörigen und
Bekannten um mich her, gleich wie beim Baum
im Herbst, wenn der Wind ein Blatt nach dem
anderen herunterweht. Die alte Schwester,
— 402 —
die ich alljährlich, wenn ich nach Frankreich
ging, vorher in Deutschland besucht hatte, war
auch gestorben und von meiner unmittelbaren
Familie war keiner mehr übrig; die Mitglieder
der jüngeren Generation waren mir zum Teil
ganz unbekannt und lebten, in alle Weltgegenden
zerstreut, fern von mir, so dass sich kein Band
der Zusammengehörigkeit hatte knüpfen können
und dass Fremde mir durch Geist und Gemüt
näher verbunden waren, als die Blutsverwandten.
Dies betätigte mir wieder die Freundschaft des
edlen Paares, welches Deutschlands Interessen
in Rom vertrat, bei einer traurigen Gelegenheit
auf die rührendste Weise. Ich nahm nicht
mehr, schon seit Jahren, teil an grösserer Ge-
selligkeit, aber zu den kleineren Vereinigungen
bei Bülows ging ich gern, weil da immer,
durch die ungezwungene Freundlichkeit der
Hausherren, von vornherein sich eine wohltuende
Atmosphäre bildete. So bereitete ich mich auch
an einem Abend dorthin zu gehen, wo Joachim,
welcher in Rom angekommen war, dort spielen
sollte. Meine alte Dienerin, welche dreiund-
zwanzig Jahre mit mir verbracht hatte und mir,
trotz den bei alten Dienern unvermeidlichen
Launen und Verstimmungen, durch ihre Er-
gebenheit und Treue dennoch wert war, sollte
mit mir gehen, da sie mit dem Dienstpersonal
dort befreundet war. Ich war mit Ankleiden
fertig, der Wagen stand vor der Tür; ich rief
ihr, um zu gehen, erhielt keine Antwort und
ging daher in ihr Zimmer, um ihr zu sagen.
— 463 —
sie solle kommen. Welches war aber mein
Schreck, als ich sie bewusstios auf dem Boden
liegend fand. Natürlich war von Ausgehen keine
Rede mehr. Der herbeigerufene Arzt liess mir
keinen Zweifel über den Ernst des Falles und
bestand darauf, die Kranke alsbald in das
Hospital zu bringen. Am folgenden Morgen kam
er, mir ihren Tod zu verkünden. Ausser der
Erschütterung, die ein so brutales Auflösen eines
lange bestandenen Verhältnisses notwenig mit
sich brachte, entstand für mich eine wirklich
augenblicklich bedrängte Lage, da meine ganze
kleine Häuslichkeit auf das Dasein dieses einen
Wesens gebaut gewesen war und es unmöglich
war, alsbald einen genügenden Ersatz zu finden.
•Gute, hülfreiche Bekannte kamen rasch herbei,
zu allem erbötig, doch durchgreifende Hülfe
kam erst, als eine Botin der Frau von Bülow
erschien, welche mir die Aufforderung der beiden
Gatten brachte, alsbald zu kommen und bei
ihnen eine Zeit lang zu verweilen, bis der traurige
Eindruck sich in etwas verwischt und ich Zeit
gehabt hätte, mein häusliches Leben neu zu
organisieren. Die Aufforderung war in so herz-
Ucher Weise abgefasst, wurde alsbald durch so
kräftige Hülfleistung beglaubigt, dass ich nicht
zögern konnte, sie anzunehmen. Gleich dem
Schauplatz des traurigen Vorfalls entrückt zu
werden in eine schöne, liebenswürdige, teilnahm-
volle Mitte war eine unvergleichliche Wohltat.
Ihre tröstende Wirkung blieb nicht aus und da
mein Gewissen mir das Zeugnis gab, die Ver-
— 464 —
storbene immer nur mit der Rücksicht behandelt
zu haben, wie sie meinen Anschauungen nach
den zum Dienen Verurteilten gebührt, so lange
dies Verhältnis nicht in eine neue edlere Phase
getreten ist, so konnte ich mich nur freuen,
dass der Armen die Qual langsamer Krankheit
und allmählichen Sterbens erspart geblieben war.
Meine liebevolle Freundin musste leider nach
einigen Tagen Rom verlassen, um ihren alljährlichen
Badeaufenthalt zu nehmen; ich blieb dann noch
mehrere Wochen mit Herrn von Bülow allein, in
schönster Freiheit in den weitläufigen Räumen
des Palastes, aber in den Stunden des Zusammen-
seins mit wahrer Freude den Einblick in die
grosse klassische Kultur des noch so jungen Staats-
manns geniessend. Unsere Anschauungen stimm-
ten nicht auf allen Gebieten überein, aber ich
hatte die tiefe moralische Genugtuung, mich mit
hoher Achtung vor den festen, auf edelsten Grund-
lagen ruhenden Überzeugungen des bedeutenden
Mannes beugen zu können, dessen Wohlwollen
und Güte gegen mich sich nie, trotz unserer
verschiedenen Ansichten, verleugnete. Es ist
eine der schönsten Empfindungen, sich in rein
menschlicher Achtung und Freundschaft auch
mit solchen zu begegnen, die in irdischen Dingen
anders denken wie wir. Der Parteistandpunkt
ist immer ein einseitiger. Warum soll ich mich
feindlich von dem monarchisch Gesinnten ab-
wenden, wenn er sonst gut und edel ist, weil
ich vielleicht Republikaner oder Sozialist bin.?
Alle diese, vom Verstand geschaffenen Unter-
— 46s —
Scheidungen gehören doch auch dem Vergäng-
lichen an ; über ihnen steht die reine menschliche
Würde, die Treue gegen sich selbst und das für
wahr Erkannte, welche auch im anderen diese
Treue gegen das ihm Wahre ehrt, und endlich
die Güte des Herzens, welche in heiligem Mit-
leid über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg,
hilft und tröstet. Je höher der Mensch entwickelt
ist, je voUkommner wird diese Toleranz werden,
denn je tiefer versteht man das Wesentliche vom
Unwesentlichen zu scheiden und sich am einfach
menschlich Schönen, ohne Partei- Voreingenommen-
heit zu freuen. Nur wenn es gilt in Waffen auf-
zustehen, um unsere Wahrheit zu verteidigen
gegen feindliche Angriffe oder gehässige Unter-
drückung, dann gibt es kein Entweder-Oder,
dann gilt es Kampf, ernsten, entschiedenen Kampf.
Nach mehreren, in heiterer Harmonie ver-
brachten Wochen, verliess ich Rom, um mich in
Nord-Italien mit Olga und den Ihren zu vereinen
und zwar in den herrlichen Cadorischen Alpen,
in Pieve di Cadore, welches mir von früher her
eine so liebe Erinnerung war. Leider fand ich
auch da nun schon den Fluch des Touristentums
verhängt, mehrere Hotels eröffnet und die naive
Einfachheit des Lebens von ehedem verändert. Voll-
kommen fand ich diese aber wieder an einem noch
höher gelegenen Ort in der Dolomiten-Kette, an
dem See AUeghe, welcher, durch einen Bergsturz
gebildet, mehrere Dörfer begraben hat, deren
Trümmer man zuweilen unter den Wassern der
stillen Oberfläche sehen kann. Nach einigen
Mey$enbug, IV. 30
— 466 —
Wochen in Pieve zogen wir da hinauf und fanden
mit Entzücken bestätigt, was man uns von diesem
Ort gesagt hatte. .Wie ein seliger, weltentrückter
Traum liegt der ziemlich grosse, stille See zwischen
Höhen, die mit herrlichen Tannenwäldern bedeckt
sind, da. Nur selten kräuselt der Wind die ruhige
Oberfläche, in der sich die Ufer spiegeln. An
dem einen Ende liegt ein kleines Dorf, an dem
anderen ein sehr primitives, aber rein und gut
gehaltenes Wirtshaus; über den grünen Vorbergen
aber steigen in wahrer Majestät die herrlichen
Dolomitfelsen auf, die, wie eine Reihe Riesen-
orgeln, den Gröttem oben auf ihren Wolkensitzen
ein wunderbares Konzert zu geben scheinen. Am
Abend erglühen sie dann in zauberischer Pracht
der Farben und von den Strahlen der unter-
gehenden Sonne versilbert und vergoldet. Wie
verschwenderisch die Natur isti Da lässt sie in
der Einsamkeit solcher Alpenhöben Paradiese ent-
stehen, gemacht, um tiefen Denkern, um Poeten
und Künstlern die höchsten Anregungen zu geben,
und fragt nicht danach, ob man diese reizenden
Erdenflecke entdeckt und ihrem Zauber herrliche
Geistesblüten entlockt oder nicht. Es ist, als
wohnte der allgewaltige Schönheitstrieb in ihr,
der ihr keine Ruhe lässt, bis sie, ganz künstlerisch
verfahrend, überall das Bild hervorbringt, das sich
charakteristisch in den Rahmen, welchen Klima
und Boden bedingen, einpasst. Nachher sagt sie
ruhig und kalt: »Mensch, benutze es nun und
lerne daran die Erde mit Schönheit zu
schmücken.« Und der Mensch? Hat er die
— 407 —
heilige Flamme der wahren Schönheit, welche
der Ausdruck der Idee, die Form des Ideals ist ?
Ist es ihm darum zu tun, zu veredeln, zu
bessern, zu idealisieren und auch den materiellen
Grenuss durch schönes Mass mit ästhetischer
Weihe zu adeln? Ach, wie wenige sind es
noch, wie nur ganz einzelne! Und werden es
jemals viele sein?
Aus diesen zauberischen Alpenhöhen stiegen
wir hinunter zu der Königin des Meeres, der
reizenden Lagunenstadt, welche meine Freunde
noch nicht kannten. Mir erwacht dort immer die
wehmütige Erinnerung an den geschiedenen
Freund, in dessen künstlerischem Heim ich einst
so schöne Tage verlebt hatte. Der prächtige
Palast war jetzt ein Nonnenkloster und der Ex-
Herzog von Modena, der ihn verkauft hatj
ist so rücksichtsvoll für die zarten Gefühle
der klösterlichen Damen gewesen, die Statuen
der heidnischen Götter, die hier unter den
dunklen Laubgewölben standen hinwegnehmeri
zu lassen. So ist wieder etwas Schönes, Da-
gewesenes unwiederbringlich vernichtet. Ach
und wie vieles ausserdem in dieser einst von
Schönheit strahlenden Stadt! Die zauberischen
Paläste, in denen vornehme Männer mit gerech-
tem Stolz auf die Grösse ihrer wunderbaren
Heimat und schöne, geistvolle Frauen voll An-
mut und Würde wohnten, sind jetzt zum grossen
Teil Gasthöfe oder Niederlassungen der Spe-^
zialitäten venetianischen Kunstgewerbes. Das
Haus, in welchem Tizian einst glanzvolle Feste
30*
— 468 —
gab und die Grössen des Geistes, der Kunst und
des fürstlichen Ranges empfing, ist nebst seinem
herrlichen Garten spurlos verschwunden. Die
Insel Murano, deren Gärten sonst der Versamm-
lungsort von Gelehrten, Künstlern und ausgezeich-
neten Frauen waren, ist arm und öde; die Gärten
sind nicht mehr da; nur die armen Spitzen-
Arbeiterinnen und die Arbeiter in den Glas-
fabriken fuhren hier ihr ärmliches Leben weiter.
Und doch — welch ein Zauber von Poesie webt
noch immer seine goldenen Schleier über diese
Stadt I Das kommt von dem Unvergänglichen,
allem irdischen Wechsel Entzogenen; hier wurde
gelebt, für grosse Zwecke gehandelt, schönheits-
trunken Idealen gehuldigt, weltliche Macht durch
geist^e Grrösse geadelt. Und wenn schliesslich
auch dies unterging, so bleibt die Erinnerung,
die um alles wahrhaft gelebte Grosse, Ideale
ihren Glorienschein bildet und es der Nachwelt
aufbewahrt, indem sie die Flecken, die jede
Gregenwart hat, auslöscht und nur das übrig lässt,
was ewig ist: die Verwirklichung der Idee.
Nach vielen frohen Wochen der Vereinigung
kam dann wieder der immer schmerzliche
Augenblick der Trennung, die nun, mit jedem
vorrückenden Jahr, die Frage deutlicher zurück-
lässt: werden wir uns wiedersehen? Denn nach
dem natürlichen Lauf der Dinge musste ich, so
rüstig ich auch noch für mein Alter war, dent
noch auf den Lebensabschluss in kürzerer oder
längerer Frist gefasst sein.
Ich kehrte nach Rom zurück und zwar vor-
— 469 —
erst noch einmal in das schöne Asyl, welches
mir die Freundschaft der lieben Bülow geöffnet
hatte, um dort nur noch so lange zu verweilen,
bis meine eigene Häuslichkeit wieder in stand
gesetzt sein würde. Meine teuren Gastfreunde
waren noch nicht von ihrer Sommerreise heim-
gekehrt, aber brieflich hatte die holde Freundin
alles für mich aufs sorglichste bereitet. So
kam mein Geburtstag heran, mein achtzigster
Geburtstag! Still und bewegt begrüsste ich den
Tag. Es ist keine Kleinigkeit auf achtzig Jahre
des Erdenlebens zurücksehen zu können und
eines so bewegten Lebens und sich sagen zu
dürfen, dass trotz allem Irren, allem Unerfüllten
und Unerreichten doch ein roter Faden durch
das ganze Leben ging, der gleichsam den Grund-
ton der Natur anzeigt und, nie verleugnet,
immer bewusster, immer fester gezogen, bis an
das Ende reichen wird. Ich war darauf gefasst,
den Tag allein zu verbringen, war ruhig und
heiter, indem ich all der Liebe und all des
Guten gedachte, welche mir zuteil geworden sind
und auch die Leiden und schweren Prüfungen,
von denen ich nicht verschont geblieben bin,
segnete, weil sie dazu gedient haben das Eine,
Feste, Unveräusserliche in der Seele zu bewähren
und im guten Kampf das Heroische zu entwickeln,
welches in jeder Menschenbrust schläft und nur
geweckt und geübt werden muss, um uns als
Sieger aus der oft so heissen Schlacht des
Lebens hervorgehen zu lassen.
Je mehr ich darauf gefasst war, den Tag still
— 470 —
und einsam, im Überblick über das Vergangene
und in ruhiger Erwartung, des etwa noch
Kommenden, zu verbringen, je lieblicher wurde
ich überrascht, als plötzlich von vielen Seiten
gute Bekannte aus der Stadt herrliche Blumen-
grüsse sandten und die Post mir Haufen von
Briefen brachte, auch von solchen, von denen
ich 20 — 30 Jahre lang nichts gehört hatte und
die mir nun ein ununterbrochenes liebendes An-
denken bewiesen ; ja als endlich sogar gedruckte
Blätter einliefen, in denen längere Artikel» bei
Veranlassung dieses Tages, meiner und meines
Lebenslaufs gedachten. Gerührt sagte ich mir:
So hast du also nicht umsonst gelebt, nicht
nur dass du dir selbst Treue gehalten hast,
sondern du bist auch andern etwas gewesen
und Besseres kann der Mensch ja nicht verlangen
als mit diesem Doppelzeugnis auf der Schwelle
der Ewigkeit stehen und warten bis sich ihm
die Pforte öffnet, aus der es keine Wiederkehr
gibt.
So verging mir der Tag ohne Prunk, aber
reich geschmückt durch die köstlichsten Edel-
steine, durch Liebe, Dankbarkeit, Verehrung,
unbegrenztes Vertrauen. Und siehe dal der
Abend brachte noch eine andere Überraschung!
Der mir so werte Baron von W. . ., der im
Begriff war eine Reise in den Orient anzutreten,
war an dem Tag angekommen und erschien
gleich mich zu begrüssen. Harmonischer konnte
der Tag nicht enden, denn aus der Seele dieses
jungen Mannes tönten mir alle die Klänge von
— 471 —
> Apollos goldnen Saiten«, wie es in einem
seiner Gedichte heisst, entgegen, die in meinem
Leben stets die Grundharmonie gebildet haben
und noch, wie in der begeisterten Jugend, so
im achtzigsten Lebensjahr, in voller Frische er-
klingen, wenn der verwandte Ton sie ruft.
So, nun ist es wohl Zeit dies Büchlein zu
schliessen; was nun noch kommt ist Überschuss,
den das Schicksal mir verschwenderisch in den
Schoss wirft, wobei es mir doch zuweilen sehr
ernste Mahnungen zuruft, dass die Stunde bald
kommen könne. Möge sie mir friedlich nahen,
sie findet mich bereit.
Mein Lebewohl an die Welt.
Sollte der bewusste, der freie Mensch nicht
auch den letzten Abschluss des Daseins mit
voller Geistesklarheit, umringt von den Er-
innerungen des vergangenen Lebens, vollziehen,
ehe die letzte Stunde da ist, die vielleicht den
klaren Blick umhüllt und das Vergangene schon
halb in die Nacht des Vergessens taucht? Ist
man der Welt nicht auch eine Art Rechenschaft
schuldig über das auf ihr verbrachte Dasein, ob
man das Pfund, das man empfing, gut verwaltet
hat und treu gewesen ist bis an den Tod?
Und sollte der Scheidende ihr nicht ein letztes
Wort der Liebe zu sagen haben, ein herzliches
Abschiedswort? Und darf endlich der, welcher
nun weiss, was das Leben ist, ihr nicht auch
ein Wort der Ermahnung zurufen, der ernsten
Aufforderung, das Leben als eine hohe, heilige
Kultur- Aufgabe zu betrachten und mit aller Kraft
an derselben zu arbeiten?
Ich glaube: ja, der Mensch sollte es.
— 474 —
Die Kirche hat ihn gelehrt, dass die grosse
Abrechnung für das Leben erst lange, lange
nachher, im fernen Jenseits, erfolgt und wie
manches Gewissen tröstet sich damit und ver-
säumt es, den kurzen Erdentraum zu etwas
anderem als zu flüchtigem Genuss zu benutzen,
und die Ewigkeit schon hier in die Zeit zu
bannen. Wie viel ernster würden viele das
Leben nehmen, wenn sie von früh auf wüssten,
dass sie hier verantwortlich sind für das, was
sie aus dem Leben machten und dass es traurig
sein muss, gesenkten Hauptes und mit schwer
beladenem Bewusstsein an der Schwelle des
Ausgangs zu stehen, durch den man nie zurück
kommt.
So empfange denn mein Lebewohl, Welt!
Ich danke dir für das Dasein, welches mir die
Möglickeit gab, ein erkennendes, empfindendes
Wesen zu werden! Ich hätte wohl mehr tun,
mehr werden sollen, aber man ist doch nicht
alles aus sich allein, man ist zum Teil auch
das Produkt äusserer Umstände und Einflüsse
und du hast mir in der Jugend manches ver-
sagt, was du von Hülfsmitteln der heutigen
Jugend verschwenderisch zuerteilst. Worauf
es jedoch hauptsächlich ankommt, das ist doch
ein reines, hohes Wollen und das unab-
lässige Bemühen, es zur Tat werden
zu lassen, nicht wahr? Danach richte mich
denn und erteile mir heiteren Ablass fiir alles
Irren und Fehlen, denn du hast es mir auch
nicht immer leicht gemacht und in schweren
— 475 —
Prüfungsstunden hast du mich umsonst nach
Hülfe rufen lassen, bis ich mich ermannte und
mir selber half.
Ich habe dich geliebt, schöne Erde, und
mit Wonne das Geheimnis ewiger Schönheit im
Anschauen deiner herrlichen Gebilde geahnt.
Ich danke dir für alle Stunden reiner Freude,
für deine Sonnenuntergänge, für deine Sternen-
himmel, für deine Frühlinge, deine lieben
Blumen, deine Wälder, deine Berge, deine Meere.
Genossen habe ich die Freude an dir mit vollen
Zügen und wenn es noch schönere Erden gibt,
so warst du mir hohe Vorbereitung auf das
Höhere.
Lebt wohl, ihr Menschen, geliebte, meinem
Herzen nahe Freunde und unbekannte, mir
freundlich Gesinnte in der grossen Menge. Habt
Dank für alle Liebe, für alle Güte und Treue,
alles von meinem Herzen warm erwidert. Um
uns schlingt sich ein unzerreissbares Band der
Gemeinschaft, der wahren, unsichtbaren Kirche
der Freien, die in stetem Wandel höher und
höher steigen, bis dahin, wo sie den Schleier
vom Angesicht der Wahrheit lüften und das
göttliche Geheimnis der Existenz in voller
Klarheit erkennen können.
Leb' wohl auch, Menschheit, und nimm ein
ernstes Wort als Abschiedsgruss hin, von Einer,
die bald geht und keine irdischen Rücksichten
mehr kennt. Nahezu ein Jahrhundert ist vor
meinem Blick vorübergegangen; es waren Augen-
blicke höchster Idealität darin: sie wurden aber
— 476 —
leider immer nur zu rasch von der traurigsten
Realität verdunkelt und jetzt, am Ende des
Jahrhunderts, kann man wohl fragen: wo ist
der Fortschritt? Ringsum folgt sich Krieg auf
Krieg und noch immer muss die Gewalt der
Waffen entscheiden, wenn es sich um Fragen
der Gerechtigkeit und Humanität handelt. Die
Wissenschaft hilft fortwährend neue, unfehlbare
Mordwerkzeuge zu erfinden und sie werden
höher bezahlt, als die Werke hoher Kunst und
Kultur. Sie erforscht die Mittel, die Gesundheit
zu stärken und zu erhalten, aber statt dessen
ist die heutige Jugend weichlicher und nerven-
schwacher als in früheren Generationen. Der
materielle Reichtum vermehrt sich aus hundert
neuen Quellen, aber Armut und Elend wachsen
in gleichem Masse und sehen uns aus hohlen
Augen verkümmerter Gesichter vorwurfsvoll an.
Und die höchsten Interessen des Daseins: Ver-
edlung der Sitten, wirkliche Bildung, Erhebung
des Gemüts durch die Werke hoher Kunst,
Übung der ausgedehntesten Vorschriften der
Humanität und Handhabung strenger Gerechtig-
keit, ist das alles die erste, heiligste Aufgabe
derer, die an der Spitze des Völkerlebens stehen ?
O Menschheit, schlag an deine Brust und be-
kenne dich schuldig. Noch immer tanzest du
ums goldene Kalb; noch immer greifst du zur
Gewalt, anstatt zum Recht; noch immer ziehst
du die bösen Leidenschaften gross, welche zu
Raub und Mord ftihren und zur Strafe durch
Gefängnis und Galgen; noch immer trennst du
— 477 —
die Völker durch Intriguen, Eifersucht, Egoismus
und verkehrte Mittel der Staatskunst, anstatt
sie durch Redlichkeit und Grösse der Gesinnung
zu hohen, gemeinsamen Aufgaben wahrer Kultur
zu vereinen und was es für empörende Folgen
haben kann, wenn es in den civilisierten Staaten
erlaubt ist, dass einer im anderen spioniere, davon
gibt uns heute, am Ende des XIX. Jahrhunderts^
das sich seiner Aufklärung rühmt, Frankreich
das traurige Beispiel.
Ein neues Jahrhundert bricht an. Lass es
ein Jahrhundert des Friedens und der Tugend
werden. Bedenke deine Verantwortung vor der
Zukunft und den kommenden Geschlechtern.
Richte deinen Blick von dem >allzu Flüchtigen«,
auf das allein des Strebens Werte und baue
an dem Tempel, in dem einst das Urbild aller
Vollendung stehen und, segnend die Hände über
die Welt breitend, sagen wird: >Und es ward
Licht.«
Mit diesem Wunsch, mit dieser Bitte, mit
diesem Segen sage ich auch dir Menschheit,
mein Lebewohl.
Noch ein Lebevrohl!
Als ich einst auf meiner zauberischen Insel
Ischia den vorstehenden Abschied an die Welt
schrieb, glaubte ich mein Scheiden von dieser
sehr nahe. Nun hat es sich doch noch ein paar
Jahre verzögert, obwohl der Abschluss mehr als
einmal ganz nahe stand, und ich habe noch mit
Freude beobachten können, wie wenigstens die
eine der wichtigsten Kulturfragen, die Erkennt-
nis der Notwendigkeit des Weltfriedens, immer
mehr sich ausbreitet und festen Boden gewinnt
Es ist dies noch durchaus nicht vom hohen
idealen Standpunkt aus, aber doch als Tatsache
wichtig und das ist schon viel in einer Welt,
wo die praktischen Interessen stets den Vorrang
haben. Dass die Staatsklugheit um die Er-
haltung der eignen Existenz, dass die Furcht
vor dem Bevorstehenden, welches in seiner
Verwirklichung auch Throne und gesellschaftliche
Formen umstürzen könnte, viel zur Verbreitung
dieser Idee des Friedens beiträgt — wer wollte
— 48o —
es leugnen? Wir Idealisten haben uns längst
daran gewöhijt, wie traurig es auch ist, zu sehen,
dass die grossen Weltgedanken so oft nur mit
Hülfe kleinlicher Mittel ins Leben treten können.
Aber immerhin, wenn sie nur zur Verwirklichung
kommen, so ist schon ein Schritt vorwärts getan,
da wir uns überzeugen müssen, dass das Ewige,
wenn es in die Erscheinungswelt tritt, dem Lose
des Vergänglichen anheim fällt, unvollkommen
bleibt und die Mängel des Vergänglichen teilt. So
sahen wir im Laufe dieser wenigen Jahre ein
kleines Heldenvolk, wie seit den Perserkriegen
nichts Ähnliches dagewesen war, unterliegen,
nicht höherer Kultur, edleren Zielen, sondern
einzig der rohen Übermacht eines durch Gewinn-
sucht und Streben nach Weltmacht von seiner
früheren kulturellen Stellung herabgesunkenen
europäischen Staats. So sehen wir noch einen
schönen Strich Europas, in unsäglicher Verwirrung,
mit Blut und Mord befleckt, ein Spielball herrsch-
süchtiger und fanatischer Leidenschaften und
einem fruchtlosen Ringen nach Unabhängigkeit
und Freiheit. Aber wer tiefer blickt, sieht im
Grunde der unvollkommenen, verwirrten Er-
scheinung eine grosse Zukunftsidee sich bewegen
und die wirkenden Kräfte vorwärts treiben, und
schon die Gewissheit, dass das ewig Eine,
Schaffende, hinter der allen irdischen Mängeln
unterworfenen Erscheinung steht und sie ins
Leben treibt, ist ein unendlicher Trost.
Die Gedanken, den Spuren dieses ewig
schaflfenden, in allem Erscheinenden wirkenden
— 48i —
Prinzips nachzugehen, beschäftigten mich vor-
zugsweise in dem verflossenen Sommer, den ich
in grosser Einsamkeit verbrachte. Meine schwer
leidende Gesundheit verhinderte mich, wie in
den vorhergehenden Jahren, meinen Sommer-
aufenthalt etwas femer von Rom zu nehmen.
So erwählte ich den, nur anderthalb Stunden
Eisenbahn von Rom entfernten kleinen Seeort
Nettuno, der zwar nahe bei den anderen römischen
Seebadort Anzio gelegen und mit diesem durch
einen Spaziergang verbunden, doch noch nicht,
wie dieser, angesteckt ist von der modernen
Sucht eleganten Badelebens. Dort, in einer
Villa, unmittelbar über dem Meer, auf einer
grossen Loggia, die, auf drei Seiten vor Wind
und Sonne geschützt, nur dem herrlichsten See-
bild und der unvergleichlich wohltätigen Seeluft
entgegen, offen war, verbrachte ich drei Monate
in schweren körperlichen Leiden, in tiefster Ein-
samkeit, des Trostes von Schreiben und Lesen
beraubt, aber in einer Fülle des Gedankenlebens,
die mich beinah schadlos hielt für die übrige
Entbehrung.
Es ist ein besonders schöner, malerischer
Punkt der italienischen Küste, den man gerade
von da übersieht. In einem weit geöffneten
Halbkreis zieht sich das Ufer hin und endet an
der einen Spitze von den dunklen Bäumen einer
Villa Borghese gekrönt, mit dem recht belebten
Hafen von Anzio, der mit seinen vielen Masten
nicht unpassend in diesem Seebild ist. Auf der
anderen Seite bildet ein prächtiges, gut erhaltenes,
Meyienbug IV. 31
— 482 —
mittelalterliches Castello, welches den kleinen
Ort Nettuno beschützte, den höchst malerischen
Vordergrund. Weiterhin zieht sich das grüne
Ufer bis zu der letzten Spitze, welche von dem
herrlichen Elap der Circe, das in Form, nur noch
sphinxähnlicher, Capri gleicht, beendet wird. Bei
hellem Wetter sieht man dann in bläulichem
Duft die Kette der Monti Ausoni ein in den
schönsten Linien geformter Nebenzweig der
Apenninen, der sich zum Meere hinzieht. Vom
aber, halbweg vom Kap Circe und nah dem Ufer,
liegt, immer hell von der Sonne beschienen, der
alte Turm von Asturi, wo einst Conradin, der
letzte Sprössling eines der edelsten Geschlechter,
die je Throne bestiegen, feindlicher Übermacht
unterlag, zum Unheil für Sicilien und das südliche
Italien. Denn unter der tyrannischen Herrschaft
Carls von Anjou erstarb die Geistesblüte der
Regierung Friedrich IL, des Bedeutendsten der
Hohenstaufen und einer der bedeutendsten
Menschen aller Zeiten, und das schöne Inselland
fiel nun einer langen Reihe wechselvoller, meist
trauriger Geschicke anheim. So spricht auch
hier wieder, in dem kleinen weltverlornen Ort,
wie überall in Italien, die Weltgeschichte in die
vereinsamte Gegenwart hinein und erhöht, mit
unzähligen Gedankenreihen, den Zauber der
ewig jungen, wunderbaren Natur, die lächelnd
auch über die Trümmer grossartiger Ereignisse
ihre versöhnende Anmut breitet, zum Trost,
»dass das Unvergängliche das ist das ewige
Gesetz danach die Ros' und Lilie blüht.« Über
— 483 —
diesen halbkreisförmigen Rahmen des Uferrandes
hinaus aber öffnet sich unbegrenzt das weite
Meer und die Horizontlinie von Himmel und
Wasser wird nur von Zeit zu Zeit durch ein vor-
überziehendes grosses Schiff unterbrochen. Vorn
aber, zwischen den Häfen von Anzio und Nettuno,
fahren reizende weisse Barken mit glänzend
weissen Segeln, friedlich und lautlos wie weisse
Schwäne, hin und her über die blaue, sanft
spielende Flut. In den Nachmittagsstunden
aber feiert das Meer seine Geburtsstunde; dann
tauchen auf der meerüberschwemmten Sandfläche
des Ufers noch zwischen den zerbröckelten Fels-
überresten, die sie durchschneiden. Hunderte von
menschlichen Gestalten auf, meist ohne Bade-
kostüme, denn hier ist nicht, wie in Anzio, eine
grosse elegante Badeanstalt, sondern das wohl-
tätige, stärkende Element gehört allen frei und
das arme Volk von Nettuno versäumt nicht die
Wohltat zu benutzen. Man sieht Frauen mit
wenig Monate alten Kindern auf dem Arm,
die Kleinen in das stärkende Nass tauchen, was
diese, gleich als ob sie, die dem Natürlichen
noch so Nahen, instinktiv die Wohltat der Natur
empfänden, ohne Widerstand und Geschrei, ge-
schehen lassen. Kleine Geschöpfe von 2 bis 3
Jahren springen allein, mit Jubelgeschrei, in das
vertraute Element und sind nur mit Mühe wieder
davon zu trennen, als ob es ihre eigentliche
Heimat wäre. Dieser, die Sommermonate hindurch
täglich fortgesetzten Naturheilmethode nach sollte
man denken, es müsse hier eine gesunde, kräftige
31*
— 484 —
Bevölkerung entstehen, aber achl unfern vom
Meer, landeinwärts, wo hauptsächlich Wein ge-
zogen^ wird, beginnt, durch die unverzeihliche
Schlaffheit der vergangenen Regierungen und die
noch strafbarere, egoistische Untätigkeit der
Munizipien ungestört, das furchtbare Ungetüm der
Malaria sein Zerstörungswerk. Die im Wasser
Erstarkten schleichen nun, vom Fieber verzehrt,
als verkrüppelte, gespensterartige Skelette, zu der
nimmer endenden Fronarbeit für das tägliche
Brot. Doch das ist ein schreckliches Kapitel,
welches eine besondere Bearbeitung erheischt
und ausserhalb meiner jetzigen Betrachtung liegt.
Ich kehre daher auf meine Loggia zurück,
wo ich, mehr und mehr dem bunten Weltgetriebe
entfremdet, gleichsam eine grosse Pforte sich für
immer schliessen sah, hinter welcher die lange
Vergangenheit mit all ihren Erscheinungen, guten,
schönen, sowie trüben und schmerzlichen, ver-
söhnt und in einen grossen, verständnisvollen
Akkord aufgelöst, zurückblieb. Es begann bei-
nah ein neues Leben, das ich nur das kosmische
nennen kann. Im steten Anblick der grossen,
ruhig wirkenden Elemente, welche das kosmische
Leben bedingen, schwand mir mehr und mehr
das Interesse an den Tätigkeiten der Erscheinungs-
welt. Auch was man im täglichen Leben gross
und bedeutend nennt, erhielt mir eine andere,
geringere Bedeutung gegenüber dem erhabenen
Schauspiel der Urkräfte, die, nach einem ewigen,
inneren Gesetz verfahrend, die Organisation des
Weltalls ordnen und bestimmen. Diesem ewigen
— 485 —
Gesetz, so weit wie möglich, nachzudenken in
seinen Wirkungen, wurde meine ausschliessliche
Beschäftigung. Wir hatten hier einen wunder-
vollen Sommer, drei Monate unausgesetzten mild
schönsten Wetters (während aus dem Norden
die entsetzlichsten Klagen kamen) und man konnte
mit Ruhe und freudigem Erstaunen die Leben
zeugende und erhaltende Arbeit der Sonne, des
Lichts, der Wärme, immer dem inneren, darin
wirkenden ewigen Gesetz gemäss, fern von jeder
scheinbaren Wilkür, beobachten und daraus
Folgerungen ziehen. Ebenso kam mir, in den
zauberhaft schönen Mondnächten, wo die leuch-
tende Scheibe auf der sanft wallenden Flut eine
breite Strasse versilberte, der Gedanke wieder,
den ich schon vor langen Jahren in England an
der Meeresküste gehabt hatte, als ob das Ent-
gegenschwellen der Horizontlinie des Meeres
dem Mond zu, welches mir ganz sichtbar schien,
die erste Form der Liebe in dem elementaren
Leben sein müsse, als ob demnach Empfindung
schon in den scheinbar unempfindlichen Urstoffen
vorhanden sei. Jetzt wurde mir das noch deut-
licher, indem ich auch hier wieder das ewig
eine, in allem wirkende Urprinzip erkannte, dessen
Spur ich nachging und das mich mit immer
höherer Ahnung erfüllte. Ich sollte auch noch
ein gewaltigeres Schauspiel von den Vorgängen
des kosmischen Lebens haben. Bei Annäherung
des Herbstes, der sich meist hier im Süden mit
einem plötzlichen, gewaltsamen Erscheinen meldet,
kam das bisher so sanft bewegte Meer plötzlich
— 486 —
in heftigste Aufregung. Die schöne Bläue des
Himmels verschwand, Wolkenmassen bedeckten
ihn mit früher Nacht; jede Spur von Festland
war verloren; der Erdball war noch nicht ge-
boren ; es war das Chaos in seiner erhaben furcht-
barsten Gestalt. Immer finsterer wurde die
Nacht; unten heulte das Wasser; in dem wogen-
den Wolkenmeer darüber zuckten Blitze, weithin
die kämpfenden Elemente beleuchtend; wie
glänzende Sonnen standen oft elektrische Ent-
ladungen sekundenlang still und schössen feurige
Boten durch die ringenden Massen. Ich war
auf meiner Loggia wie dahin gezaubert, um dem
Werdeprozess des Daseins zuzusehen. Es war
mir in jedem Augenblick, als müsse ich den
Ruf hören: »Es werde!« Aber nicht mehr den
willkürlichen Schöpfungsruf eines Einzelwillens,
sondern die Stimme des Urprinzips, welches mit
unveränderlicher Bestimmtheit in allem zugegen
ist ; unserem beschränkten Fassungsvermögen
nur in seinen Wirkungen erkennbar, vor
dessen Grösse unsere Seele sich aber in tiefster
Andacht anbetend niederwirft und selig auf-
jauchzt, da sie sich sagen darf: es wirkt auch
in mir!
Wer diesem Werdeprozess des kosmischen
Lebens nachdenkt, der kann nicht anders als
einsehen, dass die bis jetzt uns kund geworden,
höchste Spitze des Ewigen in der Erscheinung
der denkende Geist ist, und dass wir daher mit
Recht schliessen dürfen, dass dieses eine, in
allem Wirksame, auch hier nur sich selbst often-
— 487 —
bart und also Geist ist, in uns freilich nur als ein
vereinzelter Strahl leuchtend und daher in seiner
ganzen Majestät nur unserer Ahnung erkennbar.
Es war natürlich, dass dies allgewaltige Erkennen
bei kindlichen Völkern nur in beschränkten
Formen auftreten konnte und dass der eben erst
erwachende Geist das Übersinnliche, nach seinem
Bilde gestaltete, nicht umgekehrt. Aber wie es
dem Geist, der sich nicht ganz befreit, geht, dass
er das Vergängliche, welches die wechselnden
Erscheinungen des Werdenden sind, für das
UnvergängUche nimmt, so kam es, dass Vor-
stellungen, die nur die jedesmalige Stufe des
Erkennens bezeichneten, für ewig gültige Wahr-
heiten genommen und in mehr oder minder
beschränkten Dogmen festgestellt wurden. Dieser
Kampf des sich befreienden Geistes mit der
Trägheit und mit der Furcht des Verstandes
vor den möglichen Konsequenzen ging so weit,
das Übersinnliche bis zum vollständigen Materialis-
mus auszubilden, um sich wenigstens der Welt
des Greifbaren zu versichern, da die des Un-
greifbaren immer mehr in Nebeln verschwand.
Dagegen hat sich nun zum Glück der Idealismus,
der aus der höchsten Quelle ausströmt, siegend
wieder erhoben und wer, wie ich in diesem
Sommer in Nettuno, den seltenen Vorzug gehabt
hat, den Vorgängen des kosmischen Lebens in
einer beinah wie systematisch geordneten Folge
beizuwohnen, dem muss es deutlich werden, dass
das Ewige, Ureine, dem unausgesetzten Drang
des Werdens gehorchend, in tausendfältiger
— 488 —
Gestalt zutage tritt*), und zwar immer in höheren
Formen, bis es die Spitze erreicht welche, wie
schon gesagt, der denkende Geist ist. Da dieser
aber, den Gesetzen der Erscheinungswelt unter-
worfen, nur individualisiert, nur als einzelner
Strahl des ewigen Lichts zutage tritt, so bleibt
auch das Erkennen seiner selbst ein unvoll-
kommenes und entwickelt sich erst langsam in
Ahnungen und der Wahrheit nahe kommenden
Dichtungen und dann in der Arbeit bevorzugter
Organismen, welche mit den, immer noch
beschränkten Mitteln des Erkennens, ein herrliches
Zeugnis dafür ablegen, wessen Ursprungs sie sind.
Und all diese Errungenschaften des denkenden
Geistes, was sind sie anders als die dringende
Mahnung an die Welt der Erscheinung, das in
ihr wirkende, ewige Urprinzip mehr und mehr
zu erkennen und mehr und mehr zu einer, die
Vollendung ahnen lassenden Wirklichkeit zu
gestalten ? Dies also ist mein zweites Lebewohl
an die Welt: lass das Göttliche, das Ewige,
immer vollendeter in dir zur Erscheinung werden ;
denn ausserdem ist das Dasein nichts wert.
Wem es genügt, sich an das Vergängliche zu halten
und es für das Unvergängliche zu nehmen, der
wird auch dem Lose des Vergänglichen anheim-
fallen. Aber du, Welt des forschenden Geistes,
die in sich selbst den ewigen Ursprung erkennt,
*) In einer früheren Veröffentlichung hatte ich dies die
»ewige Werdelnst des Seins« genannt, welches der, leider
zu früh verstorbene Heinrich von Stein ein, einen ganzen
Begriff erschöpfendes Wort nannte.
— 489 —
wachse, wachse, von innen heraus, den idealen
Zielen entgegen, dann sei mein letzter Abschieds-
ruf an dich: Heil dir, o Welt!
Mit der tröstenden Gewissheit, eine unum-
stössliche, ewige Wahrheit aus der Beobachtung
kosmischer Vorgänge und der Intuition des
forschenden Geistes gewonnen zu haben, verliess
ich Nettuno und kehrte nach Rom zurück. Dass
das Ewige, Ureine überall, in allen Äusserungen
des erscheinenden Daseins wirksam sei, war mir
zur vollständigen Gewissheit geworden, aber es
in seiner Grösse und Herrlichkeit zu erkennen, ist
dem einzelnen Strahl, der in uns lebt, versagt.
Beschränkte Religionsformen haben immer nur
versucht in irdischer Form, individualisiert, das
Unfassbare, Ureine zu begreifen, deshalb sind
sie auch immer wieder zerfallen, oder haben,
wenn festgehalten, keinen veredelnden Einfluss
mehr gehabt. Unsere Beschränkung anerkennen
und uns in tiefster Ehrfurcht vor dem Unerforsch-
lichen, dem göttlichen Geheimnis beugen, das
ist das einzige, was uns zu tun bleibt. Und in
dieser andachtsvollen, erhobenen Stimmung traf
mich, wie eine Versicherung, dass ich recht
geahnt, ein Artikel aus der »Review of Reviews«,
einer vortrefflichen englischen Veröffentlichung,
über einen jetzt in England hochgeschätzten
Gelehrten, einen Indier, Dr. Jagadis Chunder
Böse, welcher seine Studien in England gemacht
— 490 —
hatte und nach den glänzendsten Erfolgen Professor
der Naturwissenschaften an der Universität zu
Calcutta geworden ist. Seine ausserordentlichen
Entdeckungen führten ihn oft fiir längere Zeit
nach England zurück, wo seine Schriften
gedruckt wurden und wo die wissenschaftliche
Welt mit dem äussersten Interesse seinen Vor-
trägen folgte. Seine neueste Entdeckung nun,
an deren Veröffentlichung er eben in England
tätig ist, gilt der wunderbaren, ihm zur Gewiss-
heit gewordenen Beobachtung, dass auch die
bisher tot geglaubten Metalle Empfindung haben,
dass sie dem Druck antworten, dass mithin auch
in ihnen die grosse allwaltende Macht, die alles
Lebendige durchdringt, wirksam ist. Die Beweis-
führung für diese, nicht nur wissenschaftlich,
sondern auch philosophisch so hochwichtige
Entdeckung, hier zu wiederholen, liegt ausserhalb
meiner Aufgabe. Ich kann nur von dem reinen
Glück sprechen, welches ich empfand, als ich
von der Vorlesung las, welche Dr. Böse eben in
der königlichen Akademie der Wissenschaften
gehalten hatte und welche er mit folgenden
Worten schloss:
»Es war dann, als ich das stumme Zeugnis
dieser freiwilligen Erwiderungen« (die Er-
widerung des Drucks, also der Empfindung im
Metall) »entdeckte und in ihnen einen Teil der
alles Seiende durchdringenden Einheit erkannte
es war dann, dass ich
zum erstenmal ein wenig von der Botschaft ver-
stand, welche meine Vorfahren vor dreissig
— 491 —
Jahrhunderten an den Ufern des Ganges ver-
kündeten:
Nur die, welche in all den wechselnden Er-
scheinungen des Universums nur das ewig Eine
wirksam sehen, nur die kennen die ewige Wahr-
heit, ausser ihnen ist keine, ausser ihnen ist
keine I <
So war mir das Ergebnis meines Denkens in
dem kosmischen Leben das mich umflutete, durch
dasselbe Ergebnis wissenschaftlicher Forschung
bestätigt: die Einheit eines, in aller Erscheinung
sich offenbarenden, schaffenden Prinzips, welches
ausserhalb unserer Fassungskraft liegt, vor dessen
Gewissheit aber nach und nach alle die selbst-
geschaffenen Götter und Götzen der suchenden
Menschheit in den Staub sinken, während wir
es in Andacht fühlen, es lebt auch in uns und
unsere Aufgabe ist es, es immer siegender in
uns zu enthüllen.
Dies denn ist mein zweiter Abschied von
dir, o Welt, möge er mir ein gutes Andenken
bei dir sichern!
Rom, Januar 1903.
Druck von F. £. Haag, Melle i. Hann.
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