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Full text of "Der moderne Kapitalismus; historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart"

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DERMODERNE  KAPITALISMUS 

DI.  AUFLAGE 

ERSTER  BAND/ ERSTE  HÄLFTE 


NUNC  COGNOSCO  EX  PARTE 


TRENT  UNIVERSITY 
LIBRARY 


PRESENTED  BY 


KARL  HELLEINER 


Werner  Sombart 


Der  moderne  Kapitalismus 

Historisch-systematische  Darstellung  des  gesamteuropäischen 
Wirtschaftslebens  von  seinen  Anfängen  bis  zur  Gegenwart 

Dritte  unveränderte  Auflage 

Mit  Registern  über  Band  1  und  II 


Erster  Band 

Einleitung  —  Die  vorkapitalistische  Wirtschaft  —  Die 
historischen  Grundlagen  des  modernen  Kapitalismus 

Erster  Halbband 


München  und  Leipzig 
Verlag  von  Duncker  &  Humblot 
1919 


Alle  Rechte  Vorbehalten 


Copyright  by  Duncker  &  Humblot,  München  and  Leipzig  1916 


Altenburg 

Pierersche  Hofbuchdruckerei 
Stephan  Oeibel  &  Co. 


Inhaltsverzeichnis 

Seite 

Geleitwort  zur  zweiten  Auflage . . XI 

Einleitung 

Erstes  Kapitel:  Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens  .  3 

I.  Die  Unterhaltsfürsorge . 3 

II.  Die  Technik . 4 

III.  Die  Arbeit  und  ihre  Organisation . 7 

IV.  Die  Wirtschaft . 13 

* 

Zweites  Kapitel:  Mannigfaltigkeit  und  Bedingtheit  des  Wirt¬ 
schaftslebens  . 14 

I.  Die  Mannigfaltigkeit  des  Wirtschaftslebens . 14 

II.  Die  Bedingtheit  des  Wirtschaftslebens . 16 

Drittes  Kapitel:  Die  Aufgabe  der  Wirtschaftswissenschaften  20 

I.  Die  Differenzierung  der  Wirtschaftswissenschaft ....  20 

II.  Die  Richtlinien  der  Volkswirtschaftslehre . 21 

III.  Die  Aufgabe  dieses  Werkes . 22 

Allgemeine  Literatur . 26 

Erstes  Buch 

Die  vorkapitalistische  Wirtschaft 

Erster  Abschnitt 

Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnung  29 

Quellen  und  Literatur . 29 

Zweiter  Abschnitt 

Das  eigenwirtschaftliclie  Zeitalter 

Fünftes  Kapitel:  Der  Zustand  der  materiellen  Kultur  Europas 
während  des  Friihinittelalters . 40 

Sechstes  Kapitel:  Die  Dorfwirtschaft . 45 

Literatur  .  .  .  * . 45 

Siebentes  Kapitel :  Die  Fronhofwirtschaft . 53 

Literatur . 53 

I.  Die  Verbreitung  der  Grundherrschaften . 56 

II.  Die  Grundzüge  der  Fronhofwirtschaft . 59 


IV 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

G6 


91 

91 

92 

93 

113 

117 

121 

124 

124 

129 


III.  Die  Organisation  der  Arbeit  in  der  Fronkofwirtschaft 

1.  Die  Landwirtschaft  S.  66.  Die  gewerbliche  Pro¬ 
duktion  S.  72.  a)  Die  Nahrungsmittelgewerbe  S.  74. 
b)  Die  Bekleidungsgewerbe  S.  77.  c)  Die  Baugewerbe 
S.  81.  d)  Gerätschaftsgewerbe  S.  84.  Kunstgewerbe 
S.  87.  3.  Der  Gütertransport  S.  88. 

Dritter  Abschnitt 

Das  Übergangszeitalter 

Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeh urt  der  Tauschwirtschaft. 

Literatur  und  Quellen . 

I.  Die  Tauschwirtschaft  und  ihre  Entstehung  überhaupt 

II.  Die  Entfaltung  der  Tauschwirtschaft  im  europäischen 
Mittelalter . . 

III.  Die  Vorstufen  des  berufsmäßigen  Handels  . 

IV.  Die  Anfänge  des  berufsmäßigen  Handels  . 

V.  Die  «Anfänge  des  gewerblichen  Handwerks 

Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung 

I.  Der  Begriff  der  Stadt . 

II.  Das  Schema  einer  Theorie  der  Städtebildung 

Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittel  alter  licheu  Stadt  134 

Literatur  und  Quellen . 134 

I.  Der  Ursprung  der  Städte  aus  Dörfern,  insbesondere  die 

Gründungsstädte . 135 

II.  Die  Subjekte  der  Städtebildung . 142 

1.  Die  Konsumenten  S.  142.  2.  Die  Produzenten 

S.  154. 

III.  Die  Objekte  der  Städtebildung . 159 

1.  Die  Klerisei  S.  160.  2.  Krieger  und  Beamte 
S.  163.  3.  Die  Handwerker  S.  164.  4.  Die  Händler 
S.  168.  5.  Die  Almosenempfänger  S.  175. 

IV.  Der  „Zug  nach  der  Stadt“ . 175 

Vierter  Abschnitt 

Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 
Elftes  Kapitel:  Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt.  .  .  . 

Zwölftes  Kapitel:  Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks 

I.  Der  Begriff  des  Handwerks . 

II.  Die  Gesamtorganisation  der  Wirtschaft . 

III.  Die  Aufgabe  der  Handwerkergenossenschaft  .... 

IV.  Die  Eigenart  der  Handwerkerarbeit . 

V.  Die  Berufsgliederung  des  Handwerks . 

VI.  Die  Ordnung  der  Handwerksarbeit . 

VII.  Die  innere  Gliederung  des  Handwerks . 


180 

188 

188 

190 

192 

193 

194 

195 

196 


Inhaltsverzeichnis 


V 

Saite 

Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbedin gungen  des  Handwerks  199 

I.  Die  Bevölkerung . 199 

II.  Die  Technik . 200 

III.  Die  Gestaltung  der  Absatzverhältnisse . 204 

1.  Gründe  auf  der  Seite  der  Nachfrage  S.  208. 

2.  Gründe  auf  der  Seite  des  Angebots  S.  209. 

Vierzehntes  Kapitel:  Die  Gestaltung  des  Güterbedarfs  .  .  213 

Vorbemerkung.  Quellen  und  Literatur  (zu  Kap.  14  bis  16)  213 

Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung.  .  .  .  221 

I.  Die  letzten  Konsumenten  . . 221 

Der  orlsferne  Güterabsatz  während  des  Mittelalters  .  .  .  238 

II.  Die  Produzenten . 244 

Sechzehntes  Kapitel :  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  247 

I.  Die  Verknüpfung  der  Produzenten  mit  dem  Markte  .  .  247 

II.  Der  Standort  der  Gewerbe . 247 

III.  Die  Zahl  der  gewerblichen  Produzenten  und  ihre  Leistungs¬ 
fähigkeit  . 251 

IV.  Die  Wirtschaftsform . 257 

Siebzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  Exportgewerbe  .  272 

Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  «als  Handwerk . 279 

Vorbemerkung . 279 

I.  Der  Geschäftsumfang . 280 

II.  Der  Händler . 291 

Über  die  Rechenkunst  im  Mittelalter . 296 

III.  Die  Ordnung  des  vorkapitalistischen  Handels  ....  299 

Nachtrag  zur  zweiten  Auflage.  .  ,  .  .  .  .  309 

Zweites  Buch 

Die  historischen  Grundlagen  des  modernen 

Kapitalismus 

Erster  Abschnitt 

Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 
Neunzehntes  Kapitel:  Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem  319 

I.  Begriff . 319 

II.  Die  kapitalistische  Unternehmung . 321 

III.  Die  Punktionen  des  kapitalistischen  Unternehmers  .  .  322 

1.  organisatorische  S.  322.  2.  händlerische  S.  323. 

•  3.  rechnerisch-haushälterische  S.  324. 

IV.  Das  Kapital  und  seine  Verwertung . 324 

V.  Die  Bedingungen  kapitalistischer  Wirtschaft . 326 

Zwanzigstes  Kapitel:  Das  Werden  des  Kapitalismus  .  .  .  327 

I.  Die  treibenden  Kräfte . .- . 327 

II.  Der  historische  Aufbau  des  modernen  Kapitalismus  .  .  330 


VI 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Zweiter  Abschnitt 

Der  Staat 

Einundzwanzigstes  Kapitel:  Wesen  und  Ursprung  des  mo¬ 
dernen  Staates . 334 

I.  Der  Begriff  des  modernen  Staates . 334 

II.  Der  Ursprung  des  modernen  Staates . 335 

III.  Die  Bedeutung  des  Staates  für  den  Kapitalismus  .  .  .  339 

Literatur . 340 

Zweiundzwanzigstes  Kapitel :  Das  Heereswesen . 342 

Vorbemerkung.  Literatur . . 342 

I.  Die  Entstehung  der  modernen  Heere . 342 


1.  Die  Herausbildung  der  neuen  Organisationsformen 
S.  342.  a)  Das  Landheer  S.  342.  b)  Die  Flotte  S.  346. 

2.  Die  Ausweitung  des  Heereskörpers  S.  347.  a)  Die 
Landheere  S.  347.  b)  Die  Flotten  S.  349. 

II.  Die  Grundsätze  der  Heeresausrüstung . 351 

1.  Die  Bewaffnung  S.  352.  2.  Die  Beköstigung 

S.  354.  3.  Die  Bekleidung  S.  357.  a)  Die  Bekleidungs¬ 

systeme  S.  357.  b)  Die  Uniform  S.  359. 

Dreiundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  als  Ganzes  362 


Quellen  und  Literatur . 362 

Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  372 

Quellen  und  LAteratur . 372 

I.  Übersicht . 374 

II.  Die  Privilegierung . 375 

1.  Die  Monopolisierung  S.  376.  2.  Die  Handels¬ 
politik  S.  381.  3.  Prämiierungen  S.  384. 

III.  Die  Reglementierung . 386 

IV.  Die  Unifizierung . 391 

Fünfundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Verkehrspolitik  ....  394 

Literatur . 394 


I.  Maßnahmen  zur  Förderung  privater  Unternehmer  .  .  .  394 

1.  Monopolisierung  und  Privilegisierung  S.  394. 

2.  Prämiierung  S.  395.  3.  Unifizierung  S.  395. 

II.  Selbsttätige  Förderung  der  Verkehrsinteressen  durch  den 


Staat . 396 

Soelisundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen . 398 

Vorbemerkung . 398 

Quellen  und  LAteratur  . . 399  4 

I.  Verkehrsgeld  und  Staatsgeld . 401 

II.  Das  Metallgeld  .  404 


1.  Die  allgemeinen  Grundlagen  des  Geldwesens  vom 
13.  bis  zum  18.  Jahrhundert  S.  404.  2.  Die  Gestaltung 

der  Münz-  und  Geldverhältnisse,  a)  Der  räumliche  Ge]- 


Inhaltsverzeichnis 


VII 

Seite 

tungsbereich  der  Münzen  S.  408.  b)  Währungs-  und 
Münzsysteme  S.  411. 

III.  Das  Banco-Geld . 424 

IV.  Die  Anfäuge  des  Papiergeldes . 427 

Siebenundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik  ....  430 

Vorbemerkung . 430 

Quellen  und  Literatur . 431 

I.  Die  Idee  der  Kolonien . 432 

II.  Die  Entstehung  der  Kolonialreiche . 434 

III.  Die  Nutzung  der  Kolonien . 441 

Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche . 446 

Vorbemerkung.  Literatur . 446 

I.  Die  Steigerung  der  Intoleranz . .  .  448 

II.  Die  Entwicklung  des  Toleranzgedankens . 455 

Anhang:  Die  Ordnung  des  Privat  rechts.  .  ,  460 


IX 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 

Daß  die  zweite  Auflage  des  Buches  „Der  moderne  Kapitalis¬ 
mus“,  von  der  ich  ein  halbes  Menschenalter  nach  dem  Erscheinen 
der  ersten  hiermit  zwei  Bände  vorlege,  äußerlich  ein  völlig 
neues  Werk  sei,  lehrt  ein  Blick  in  das  Inhaltsverzeichnis. 
Von  dem  früheren  Text  ist  kaum  ein  Zehntel  wieder  verwendet, 
und  auch  dieser  Bruchteil  des  alten  Textes  findet  sich  zumeist 
in  ganz  neue  Gedankengefüge  eingeordnet. 

Wenn  ich  gleichwohl  den  Titel  (so  wenig  ich  ihn  liebe)  bei¬ 
behalten  habe,  so  geschieht  es,  um  damit  auszudrücken,  daß  das 
Grundproblem,  dessen  Behandlung  sich  das  Werk  zur  Aufgabe 
gestellt  hat,  dasselbe  geblieben  ist;  das  Grundproblem  und  mit 
ihm  eine  Reihe  grundlegender  Gedanken.  Im  übrigen  ist  die 
neue  Auflage  auch  inhaltlich  ein  neues  Werk,  wie  derjenige, 
der  sich  seinem  Studium  unterzieht,  schon  nach  dem  Lesen  der 
ersten  Kapitel  wahrnehmen  wird. 

Was  das  Werk  in  seiner  neuen  Gestalt  zu  leisten  unternimmt, 
will  ich  in  diesem  Geleitwort  nicht  darlegen ;  ich  habe  die  Auf¬ 
gabe,  die  es  sich  stellt,  auf  Seite  22  ff.  dieses  Bandes  aufgezeichnet. 
Dagegen  möchte  ich  dem  Leser  schon  hier  an  der  Pforte  des 
Buches  über  zweierlei  Aufschluß  geben:  über  die  wesentlichen 
Verschiedenheiten,  die  die  neue  Auflage  im  Vergleich  mit  der 
ersten  aufweist,  und  über  den  Platz,  auf  den  ich  das  Buch  seiner 
wissenschaftlichen  Eigenart  nach  gestellt  wissen  möchte  oder  — 
was  auf  dasselbe  hinausläuft:  über  den  Standpunkt,  von  dem 
aus  ich  die  Dinge  in  diesem  Buche  gesehen  habe. 


Die  Abweichungen  dieser  zweiten  Airflage  von 
der  ersten  sind  hauptsächlich  folgende : 

1.  stofflich  ist  die  neue  Auflage  erheblich  ausgeweitet 
worden.  Während  die  erste  nur  Bruchstücke  der  historischen 
Entwicklung  enthielt,  versucht  diese  neue  Auflage,  ein  Bild  von 
der  wirtschaftlichen  Gesamtentwicklung  der  europäischen  Völker 
zu  geben.  Deshalb  beginne  ich  meine  Darstellung  jetzt  mit  der 


X 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


Karolingerzeit  und  führe  sie  mit  besonderer  Ausführlichkeit 
durch  die  Epoche  des  Frühkapitalismus,  also  namentlich  des 
16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts,  die  in  der  ersten  Auflage  fast 
ganz  unberücksichtigt  geblieben  waren,  hindurch  bis  zur  Gegen¬ 
wart. 

Diejenigen  Länder,  aus  deren  Wirtschaftsleben  ich  vornehm¬ 
lich  das  Material  für  meine  Darstellung  genommen  habe,  sind 
Italien,  Frankreich,  Großbritannien,  die  Schweiz,  die  Niederlande, 
Deutschland  und  Österreich,  während  ich  Spanien,  Portugal, 
Skandinavien  und  Kußland  seltener  in  den  Kreis  meiner  Be¬ 
obachtung  einbezogen  habe.  Selbstverständlich  sind  die  asiatischen, 
afrikanischen  und  amerikanischen  Kolonien  der  europäischen 
Länder  gebührend  berücksichtigt  worden. 

Die  Verteilung  des  Stoffes  auf  die  verschiedenen  Bände  ist 
ebenfalls  eine  andere  geworden.  Der  erste  Band  enthält  jetzt 
neben  einer  begrifflich  grundlegenden  Einleitung  die  Darstellung 
der  vorkapitalistischen  Wirtschaft  und  der  historischen  Grund¬ 
lagen  des  modernen  Kapitalismus,  während  der  ganze,  umfang¬ 
reiche  zweite,  völlig  neugeschriebene  Band  der  Darstellung 
des  Wirtschaftslebens  im  Zeitalter  des  Frühkapitalismus  gewidmet 
ist.  Ein  dritter,  später  erscheinender  Band  soll  dann  die 
Vollendung  des  Kapitalismus  im  Zeitalter  des  Hochkapitalismus 
schildern. 

2.  konstruktiv  unterscheidet  sich  die  zweite  Auflage  von 
der  ersten  durch  ihre  sehr  viel  größere  Kompliziertheit  im  Auf¬ 
bau.  An  die  Stelle  eines  „extemporierten  Discantus“  ist  eine 
auf  strenger  kontrapunktischer  Behandlung  beruhende  Symphonie 
getreten,  die  dem  Leser  eine  größere  Arbeit  und  Vertiefung  zu¬ 
mutet.  Einen  Einblick  in  die  zum  Teil  recht  verwickelte  Stimm¬ 
lührung  versucht  das  20.  Kapitel  des  ersten  Bandes  zu  geben. 
AVird  mir  diese  neue  Weise,  den  Stoff  zu  behandeln,  zweifellos 
auch  den  Vorwurf  größerer  Schwerfälligkeit  und  UnübersichtlicL- 
keit  eintragen,  so  wird  sie  das  Buch  doch  vor  der  leichtfertigen 
und  gedankenlosen  Art  der  Kritik  bewahren,  die  sich  bei  der 
Beurteilung  an  einen  einzigen  hervorspringenden  Punkt  hält  und 
das  ganze  Werk  etwa  mit  dem  Bemerken  ab  tut:  das  ist  das 
Buch  mit  der  „ Grundrenten theorie“  oder  so  ähnlich. 

Vielmehr  wünsche  ich  sehnlichst,  daß  der  tiefste  Eindruck, 
der  beim  Leser  nach  dem  Studium  meines  Werkes  zurückbleibt, 
die  lebendige  Empfindung  des  ungeheuren  Reichtums  von 
Problemen  sei,  der  in  depAVorten;  Entstehung  des  modernen 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


XI 


Kapitalismus  eingeschlossen  ist.  Es  wäre  mir  eine  besondere 
Genugtuung,  wenn  von  jetzt  ab  solche  auf  die  grüne  Wiese  ge¬ 
baute  „Entwicklungsgeschichten“  des  Kapitalismus,  wie  sie  noch 
unlängst  Fritz  Gerlich  geschrieben  hat,  unmöglich  sein  würden 
und  es  noch  unmöglicher  wäre,  daß  ein  angesehener  Historiker 
wie  v.  B  e  1  o  w  solchen  leichtfertigen  Unternehmungen  öffentlich 
„das  Lob  einer  nützlichen  Arbeit“  zuspräche. 

AVenn  ich  in  meinen  letzten  Schriften  mit  bewußter  Willkür 
eine  Seite  der  kapitalistischen  Entwicklung  hervorgehoben  habe, 
so  hat  man  diese  Methode  gründlich  verkannt;  man  hat  die 
weisen  Köpfe  geschüttelt  und  an  dem  Verstände  eines  Autors 
zu  zweifeln  angefangen,  der  heute  die  städtische  Grundrente, 
morgen  die  Edelmetallproduktion,  übermorgen  die  Juden,  dann 
den  Luxus ,  dann  den  Krieg  für  die  Entstehung  des  modernen 
Kapitalismus  verantwortlich  gemacht  wissen  wollte.  Man  hat 
seltsamerweise  gar  nicht  beachtet,  daß  es  sich  dabei  lun  Teil¬ 
studien  handelte ;  man  hat  nicht  eingesehen,  daß  ich  mit  dieser 
Scheinwerfermethode  nichts  anderes  bezweckte,  als  jedesmal  den 
Blick  des  Beschauers  auf  eine  Seite  des  Problems  einzustellen, 
damit  er  genötigt  wäre,  sich  eine  Zeitlang  intensiv  mit  diesem 
Teilproblem  zu  beschäftigen.  Nun  fasse  ich  alle  diese  einzel¬ 
gesponnenen  Fäden  zu  einem  Gewebe  zusammen  und  zeige,  daß 
nicht  etwa  nur  die  von  mir  schon  gewürdigten,  sondern  noch 
viel  mehr  Mächte  an  dem  Aufbau  des  modernen  Kapitalismus 
beteiligt  gewesen  sind. 

3.  methodisch  sucht  die  zweite  Auflage  den  vielleicht 
schlimmsten  Fehler  der  ersten  (den  übrigens,  im  Vorbeigehen 
sei  es  bemerkt,  kein  einziger  Kritiker,  so  scharf  er  auch  sonst 
gegen  mich  vorgegangen  ist,  zu  rügen  für  nötig  befunden  hat, 
nur  Max  Weber  hat  mich  in  persönlichen  Gesprächen  öfters 
darauf  hingewiesen)  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden,  das  ist  die 
unzulässige  Vermischung  der  theoretischen  und  der  empirisch¬ 
realistischen  Betrachtungsweise.  Dieser  Fehler  machte  sich  be¬ 
sonders  fühlbar  bei  der  Darstellung  des  Handwerks,  trat  aber 
auch  sonst  des  öfteren  unliebsam  zutage.  Nun  habe  ich  auf  die 
Trennung  des  theoretischen  und  des  empirischen  Teils  bei  der 
Behandlung  jedes  einzelnen  Problems  ein  Hauptaugenmerk  ge¬ 
richtet  und  habe  diese  Doppelbetrachtung  durch  das  ganze  Wei’k 
streng  durchgeführt,  wie  ich  es  auf  Seite  23  f.  in  diesem  Bande 
noch  weiter  erläutert  habe.  Ich  lege  auf  diese  Neuerung  großes 
Gewicht  und  hoffe,  damit  auch  in  methodologischer  Hinsicht 


XII 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


unsere  Wissenschaft  gefördert  zu  haben.  Damit  komme  ich  auf 
den  zweiten  Punkt  zu  sprechen,  den  ich  in  diesem  Geleitwort 
erörtern  wollte:  die  Stellung  dieses  Werkes  (und  seines  Ver¬ 
fassers)  zu  den  verschiedenen  „Richtungen“  oder  „Schulen“  oder 
„Methoden“  der  Nationalökonomie. 

*  $ 

* 

Wer  noch  heute  die  Richtungen  unserer  Wissenschaft  nicht 
anders  einzuteilen  weiß  als  in  die  „abstrakt-theoretische“  und 
die  „empirisch-historische“  Schule,  wird  diesem  Werke  ratlos 
gegenüberstehen.  Denn  es  wird  ihm  beim  besten  Willen  nicht 
gelingen,  es  einer  der  beiden  „Schulen“  oder  „Richtungen“  oder 
„Methoden“  zuzuweisen.  Das  gilt  aber  von  jeder  sozialwissen¬ 
schaftlichen  Arbeit  unserer  Tage,  die  neue  Wege  gehen  will. 
Ünd  daß  es  gilt,  ist  nicht  zu  verwundern,  da  jener  Gegensatz 
zwischen  „historischer5  und  „abstrakter5  Nationalökonomie  für 
uns  allen  Sinn  und  alle  Bedeutung  verloren  hat  oder  wenigstens 
verloren  haben  sollte. 

W enn  noch  heute  eine  Anzahl  einseitig  begabter ,  jüngerer 
Nationalökonomen  etwas  wie  eine  „theoretische“  Richtung  in 
unserer  Wissenschaft  in  einen  bewußten  Gegensatz  zu  den  von 
der  „historischen .  Schule“  vertretenen  Forschungsgrundsätzen 
stellt,  so  beruht  das  auf  einer,  durch  nichts  als  einen  gewissen 
fraditionalismus  gerechtfertigten ,  willkürlichen  Einschränkung 
des  Begriffes  „Theorie“  auf  die  Pflege  eines  ganz  bestimmten 
Komplexes  von  Problemen,  nämlich  derjenigen  Probleme,  die 
sich  auf  die  Erhaltung  und  Weiterbildung  der  von  den  sog. 
„Klassikern“  unserer  Wissenschaft  begründeten  Begriffsschematik 
und  der  mit  Hilfe  dieser  Begriffsschematik  nach  der  isolierenden 
Methode  aufgestellten  „Gesetzmäßigkeit“  der  Erscheinungen 
(richtiger  Denkvorgänge)  beziehen. 

Nun  kann  niemand  den  Wert  dieser  sog.  „Theorie“,  also 
insbesondere  des  abstrakt  -  isolierenden  Verfahrens,  höher  ein¬ 
schätzen  als  der  Verfasser  dieses  AVerkes.  AVer  sich  der  Mühe 
eines  Studiums  unterzieht,  wird  an  unzähligen  Stellen  in  diesem 
AVerke  diese  Methode  angewandt  finden:  er  lese  beispielsweise 
das  33.  Kapitel  des  ersten  Bandes,  das  ganz  nach  ihr  gearbeitet 
ist.  Aber  nun  zu  wähnen,  in  diesen  Abstraktionen  und  Iso¬ 
lierungen  erschöpfe  sich  das  AVesen  und  der  Inhalt  derjenigen 
Soziahvissenschaft  vom  Wirtschaftsleben,  die  man  bisher  National¬ 
ökonomie  oder  Volkswirtschaftslehre  genannt  hat,  oder  auch 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


XIII 


nur:  die  Vornahme  solcher  Konstruktionen  bilde  einen  irgendwie 
als  selbständig  zu  betrachtenden  Teil  dieser  Wissenschaft,  er¬ 
scheint  mir  durchaus  unzulässig.  Wer  das  annimmt,  müßte 
einen  Mann,  der  immer  nur  Rechnungen  über  Tragfähigkeit  usw. 
des  Baumaterials  anstellt,  einen  Baumeister  nennen,  während 
dieser  Mann  doch  nur  ein  Teilarbeiter  ist.  So  gewiß  ist  auch 
der  nur  abstrahierende  Isolateur  in  der  Nationalökonomie  nichts 
weiter  als  ein  Teilarbeiter,  ebensogut  wie  sein  Gegenstück:  der 
Forscher,  der  nur  Tatsachen  aufhäuft.  Es  erscheint  uns  heute 
selbstverständlich,  daß  erst  die  Vereinigung  beider  Tätigkeiten 
die  Gesamtleistung  der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie  aus¬ 
macht;  es  ist  fast  eine  Trivialität  festzustellen,  daß  sich  „Theorie“ 
und  „Empirie“  wie  Form  und  Inhalt  desselben  Objektes  zu¬ 
einander  verhalten.  (Was  ich  meine,  ergibt  mit  besonderer 
Deutlichkeit  ein  Vergleich  des  33.  mit  dem  35.  Kapitel  des  ersten 
Bandes:  das  33.  Kapitel  stellt  mittels  des  isolierenden  Verfahrens 
die  „Gesetzmäßigkeiten“  fest,  die  zwischen  Geldwert  und  Preis 
„theoretisch“  obwalten,  das  35.  Kapitel  untersucht  an  der  Hand 
dieses  Schemas  die  tatsächliche  Beziehung  zwischen  Edelmetall¬ 
produktion  und  Preisbildung  in  einer  bestimmten  historischen 
Epoche.) 

Diese  Auffassung  wurde  übrigens  schon  von  den  führenden 
Köpfen  der  älteren  sog.  „historischen“  Schule  vertreten;  sie  ist 
heute  die  herrschende  bei  allen  Forschern  meiner  Generation, 
die  etwas  Lebendiges  in  unserer  Wissenschaft  zutage  gefördert 
haben.  Auf  keinen  von  ihnen  wird  sich  das  alte  entweder 
„Theoretiker“  oder  „Historiker“  anwenden  lassen;  sie  alle, 
ebenso  übrigens  wie  die  begabteren  Vertreter  der  jüngeren 
Generation,  sind  selbstverständlich  „Theoretiker“  und  „Histo¬ 
riker“.  Theoretisch  und  historisch  ist  auch  dieses  Werk. 

Nun  hat  man  es  als  eine  Eigentümlichkeit  der  Forschungs¬ 
richtung  gerade  unserer  Zeit  bezeichnet,  daß  in  ihr  die  „theo¬ 
retischen“  Probleme  (wie  in  andern  Wissenschaften,  so  auch  in 
den  Sozialwissenschaften)  wieder  mehr  in  den  Vordergrund  ge¬ 
treten  seien;  man  hat  geradezu  von  einer  „Renaissance  des 
theoretischen  Interesses“  gesprochen.  Und  man  tut  das 
mit  gutem  Recht.  Nur  darf  man,  soweit  unsere  Wissenschaft  in 
Frage  kommt,  das  Wort  „Theorie“  nicht  in  dem  oben  angeführten 
engen  Sinne  fassen.  Wenn  jene  „theoretische  Renaissance“  auch 
für  die  Nationalökonomie  eine  Neubelebung,  einen  Fortschritt 
bedeutet,  so  sind  ganz  gewiß  nicht  die  Träger  dieses  Fortschritts 


XIV 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


jene  Charakterstärken  Männer,  die  die  Fahne  der  „abstrakten“ 
Forschung  unentwegt  hochhalten.  Wer  in  der  Weiterbildung 
der  Ricardo  sehen  Formeln  (die  ich,  wie  ich  noch  einmal  aus¬ 
drücklich  bemerken  will,  für  sehr  nützlich  und  ersprießlich  halte, 
vorausgesetzt  immer,  daß  man  sich  ihres  beschränkten  Erkenntnis¬ 
wertes  bewußt  und  vor  allem  eingedenk  bleibt,  daß  alle  Ab¬ 
straktionen  und  Isolierungen  nur  einen  Sinn  im  Rahmen  eines 
nach  historischen  Merkmalen  abgegrenzten  Wirtschaftssystemes 
haben),  wer,  sage  ich,  in  der  Pflege  und  Weiterbildung  dieser 
Begriffsschematik  die  Aufgabe  unserer  Wissenschaft  erblickt,  der 
kann  —  wenn  er  auch  noch  begabt  ist  —  zweifellos  nützliche 
Arbeit  verrichten;  aber  ein  Neuerer,  ein  Lebendiger,  ein  Refor¬ 
mator  ist  er  nicht.  Er  ist  vielmehr  ein  Epigone. 

Was  man  die  theoretische  Renaissance  unserer  Zeit  nennt, 
die  zusammenfällt  mit  einer  philosophischen  Renaissance,  hat 
ganz  eine  andere  Bedeutung.  Philosophischer  ist  unser  Zeitalter 
geworden,  sofern  wieder  mehr  als  früher  nachdem  „Sinn“  der 
Erscheinungen  und  nach  dem  „Sinn“  ihrer  Erkenntnis  ge¬ 
fragt  wird.  Theoretischer  aber  sind  die  Einzelwissenschaften, 
und  auch  die  Sozialwissenschaften,  geworden,  sofern  wieder  mehr 
als  früher  Wert  gelegt  wird  auf  begriffliche  Schärfe,  auf  syste¬ 
matische  Durchdringung  des  Stoffs  und  vor  allem  auf  die  Syn¬ 
these  des  Einzelwissens.  In  diesem  Bedürfnis  nach  syn¬ 
thetischer  Zusammenfassung  der  zerstreuten  Forschungs¬ 
ergebnisse  möchte  ich  recht  eigentlich  das  Kennzeichen  unserer 
Zeit  erblicken. 

Wir  empfinden  die  Last,  die  uns  der  sich  immerfort  mehrende 
Stoff  auf  die  Brust  legt,  als  einen  zuletzt  unerträglichen  Druck 
und  suchen  uns  von  dieser  Last,  so  gut  es  geht,  zu  befreien. 
Das  ist  aber  nicht  anders  möglich,  wenn  wir  uns  nicht  von 
aller  „Wissenschaft“  abkehren  und  „auf  hinaus  ins  weite  Land“ 
fliehen  wollen,  als  dadurch,  daß  wir  den  toten  Stoff  zu  beleben, 
daß  wir  seiner  Herr  zu  werden  versuchen  durch  Beseelung  mittels 
ordnender  und  systematischer  Kategorien.  Als  einen  solchen 
Versuch  geistiger  Befreiung  möchte  ich  auch  dieses  Werk  an¬ 
gesehen  wissen,  das  deshalb  die  Begriffs-  und  Systembildung  mit 
besonderer  Liebe  pflegt,  um  mit  ihrer  Hilfe  einen  Stoff  zu  meistern 
und  zu  beseelen,  den  mehrere  Generationen  mit  unermüdlichem 
Fleiße  aufgehäuft  haben. 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


XV 


Massig,  weil  ein  Streit  um  Worte,  ist  der  Streit,  ob  die  in 
diesem  Werke  (und  äbnliclien,  geistesverwandten)  vorgetragene 
Wissenschaft  denn  noch  „Nationalökonomie“  sei,  oder  viel¬ 
mehr  Wirtschaftssoziologie  oder  etwas  ähnliches.  Richtig  ist, 
daß  sie  etwas  anderes  ist  als  das,  was  etwa  die  Vertreter  der 
Manchesterschule  vor  50  Jahren  Nationalökonomie  nannten,  näm¬ 
lich  jene  Disziplin,  die,  ohne  von  historischem  oder  philosophischem 
Ballast  beschwert  zu  sein,  die  ökonomischen  Fragen  (das  heißt 
meist :  die  merkantilen  Probleme)  des  Tages  für  den  Tag  behandelt, 
jene  Lehre  des  gesunden  Menschenverstandes,  jene  „Wissenschaft“ 
vom  Markte  für  den  Markt,  aus  der  Praxis  für  die  Praxis,  jene 
Business-Doktrin,  das,  was  man  auch  als  Handelskammersekretär- 
Nationalökonomie  bezeichnen  kann.  Nun  bin  ich  wiederum  weit 
davon  entfernt,  die.  hohe  Nützlichkeit  einer  solchen  Tagesmarkt¬ 
lehre  in  Zweifel  zu  ziehen.  Aber  was  ich  mit  aller  Entschieden¬ 
heit  bestreite,  ist  dieses :  daß  das  nun  die  Wissenschaft  von  der 
menschlichen  Wirtschaft  überhaupt  sei.  Jene  Handelskammer¬ 
sekretär-Nationalökonomie  vermehrt  vielmehr  nur  die  immer  zahl¬ 
reicher  werdenden  Kunstlehren  innerhalb  des  weiten  Kreises  der 
Wirtschaftswissenschaften  um  eine.  Daneben  bleibt  diejenige 
Wissenschaft  als  die  eigentliche  Zentralwissenschaft  der  Wissen¬ 
schaften  vom  Wirtschaftsleben  bestehen,  die  es  sich  zur  Aufgabe 
macht,  dieses  in  den  großen  Zusammenhang  des  menschlichen 
Gesellschaftsdaseins  einzuordnen,  was  nun  einmal  nicht  anders 
möglich  ist  als  auf  historisch-philosophischer  Grundlage. 

Wir  können  unmöglich  zugeben,  daß  die  Wissenschaft,  die 
man  bis  heute  Nationalökonomie  nennt,  auf  den  Stand  zurück¬ 
geworfen  werde,  auf  dem  sie  vor  50  Jahren  angelangt  war,  als 
die  deutschen  Meister,  sei  es  der  sog.  „historischen  Schule“,  sei 
es  der  sog.  sozialistischen  Richtung,  ihre  Reformarbeit  begannen,- 
deren  Grundergebnisse  für  uns  einen  unverlierbaren  Besitz  be- 
'  deuten  sollen. 


Daß  mein  Werk  nicht  einer  bestimmten  politischen  oder 
wirtschafts-  oder  sozialpolitischen  Parteirichtung  dient, 
sollte  gar  nicht  erst  ausdrücklich  hervorgehoben  werden  müssen. 
So  sehr  versteht  es  sich  von  selbst.  Es  ist  ein  schlimmes 
Zeichen  unserer  Zeit  und  erinnert  bedenklich  an  amerikanische 
Zustände,  daß  man  in  den  letzten  Jahrzehnten  auch  in  Deutsch¬ 
land  angefangen  hat,  die  Vertreter  unserer  Wissenschaft  nicht 


XVI 


Geleitwort  zür  zweiten  Auflage 


nach  ihren  wissenschaftlichen  Methoden  und  Leistungen,  sondern 
nach  ihren  politischen  Ansichten  zu  unterscheiden.  "Wenn  Ver¬ 
treter  praktischer  Interessen  so  verfahren,  so  ist  ihnen  das  im 
Grunde  nicht  so  sehr  zu  verübeln,  denn  sie  brauchen  als  solche 
nicht  zu  wissen,  was  Wissenschaft  sei.  Daß  aber  auch  in  Ge¬ 
lehrtenkreisen  dieser  Unfug  um  sich  greift,  ist  im  höchsten  Grade 
bedenklich.  Ich  meine,  daß  nur  subalterne  und  in  ihrem  innersten 
Wesen  unwissenschaftliche  Geister  auf  den  Gedanken  kommen 
können,  bei  Beurteilung  einer  wissenschaftlichen  Persönlichkeit 
danach  zu  fragen,  wie  sie  etwa  zum  Reichstage  wählt,  ob  sie 
„unternehmerfreundlich“  oder  „arbeiterfreundlich“  denkt  und 
ähnliches. 

*  * 

% 

Meine  Kennzeichnung  der  Ansichten,  von  denen  dieses  Werk 
beherrscht  wird,  wäre  unvollständig,  wollte  ich  nicht  mit  einem 
Worte  noch  der  Stellung  gedenken,  die  ich  der  Geschichts¬ 
forschung  und  den  Historikern  gegenüber  einnehme. 

In  den  Kreisen  der  zünftigen  Historiker  gilt  es  als  ausgemacht, 
daß  dieses  Werk  in  der  Fassung  der  ersten  Auflage  ein  schlechtes 
und  verfehltes  Buch  sei.  Und  die  Historiker  haben  mit  ihrer  ab¬ 
fälligen  Kritik  zum  guten  Teil  recht  gehabt.  Die  erste  Auflage 
hat  böse  Schnitzer  im  einzelnen  enthalten  und  mußte  mit  ihrer 
ganzen  wilden  und  ungestümen  Art  die  an  peinliche  Akribie  ge¬ 
wöhnten  und  in  einer  strengen  Schule  aufgewachsenen  Historiker 
zum  Widerspruch  und  zur  Ablehnung  herausfordem.  Ich  hoffe, 
daß  ein  erheblicher  Teil  jener  Fehler,  die  die  erste  Auflage  ent¬ 
hielt,  in  dieser  zweiten  beseitigt  ist. 

Aber  ich  kann  den  Historikern  nicht  zugeben,  daß  ihre  ab¬ 
fällige  Kritik  in  allen  ihren  Teilen  berechtigt  war.  Was  ich 
vielen  derjenigen  Historiker,  die  sich  öffentlich  über  mein  Buch 
geäußert  haben,  vorzuwerfen  habe,  ist  nicht  sowohl  der  feind¬ 
selige  Ton  ihrer  Kritik,  obwohl  es  mehr  der  Sache  genützt 
hätte,  wenn  er  vermieden  wäre.  Zumal  wenn  die  Skolaren  sich 
für  verpflichtet  halten,  in  den  Ton  einzustimmen,  den  die  Meister 
angeschlagen  haben.  Es  hat  mich  fast  erheitert,  zu  beobachten, 
wie  es  zur  guten  Sitte  an  manchen  Universitäten  gehört,  daß 
der  junge  Doktorand,  der  ein  wirtschaftsgeschichtliches  Problem 
behandelt,  oft  an  ganz  entlegener  Stelle  seines  Werkchens  einen 
Kratzfuß  nach  hinten  gegen  mich  macht  und  erklärt,  daß  er 
„selbstverständlich“  nichts  mit  meinen  Ansichten  zu  tun  haben 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage  XVIt 

Wolle.  (Die  ihm  doch  oft  recht  nützlich  bei  der  Abfassung  seiner 
Arbeit  gewesen  sind.) 

Aber  das  ist  am  Ende  nicht  so  wichtig.  Wichtiger  ist,  daß 
viele  Historiker  auch  die  Art  der  Gescliichtsdarstellunp\  wie  sie 
in  meinem  Werke  enthalten  ist,  also  das  Konstruktive,  Generali¬ 
sierende  meiner  Methode,  als  unberechtigt  ablehnen.  Dieser  Auf¬ 
fassung  gegenüber  möchte  ich  folgendes  geltend  machen :  Offen¬ 
bar  gibt  es  zwei  Möglichkeiten,  die  geschichtliche  Welt  zu  be¬ 
fragen,  indem  man  entweder  fragt:  was  einmal  sich  ereignete, 
oder:  was  sich  wiederholte.  Man  mag  jene  Frage  nach  der 
Einzigheit  des  Geschehnisses  die  spezifisch  historische,  diese 
nach  der  Wiederholung  die  soziologische  nennen:  genug,  sie 
bestehen  beide  zu  Recht,  und  alle  Geschichtsschreibung  bedient 
sich  beider  Fragestellungen.  Je  nach  dem  Objekte  der  Be¬ 
trachtung  wird  nun  die  eine  oder  die  andere  vorwiegen.  Die 
äußersten  Gegensätze  werden  die  Biographie  und  die  Zustands¬ 
geschichte  darstellen.  Auch  in  der  Wirtschaftsgeschichte  sind 
beide  Fragestellungen  am  Platze.  Auch  hier  gibt  es  kein  Ent¬ 
weder-oder,  sondern  nur  ein  Sowohl  -  als  -  auch.  Es  muß  aber 
betont  werden ,  daß  auch  eine  ersprießliche  Wirtschafts- 
geschichte  in  dem  besondern  Verstände  einer  Ermittlung 
von  Besonderheiten  der  historisch  -  soziologischen  Forschung 
nicht  nur  zur  Ergänzung,  sondern  geradezu  zur  Unterlage  be¬ 
darf.  Dann  erst,  wenn  festgestellt  ist,  welche  wirtschaftlichen 
Erscheinungen  allgemeine,  das  heißt  wiederkehrende  sind,  können 
wir  mit  Sicherheit  aussagen,  worin  die  Besonderheit  des  von 
uns  betrachteten  Problemkomplexes  liegt. 

Die  Eigenart  dieses  Werkes  besteht  nun  darin  r  daß  in  ihm 
die  Frage  nach  der  Allgemeinheit  der  wirtschaft¬ 
lichen  Erscheinungen  bis  an  die  äußerste  noch  zu¬ 
lässige  Grenze  ausgedehnt  worden  ist.  Diese  Grenze 
ist  der  durch  die  süd-  und  westeuropäischen  Völker,  die  seit 
der  Völkerwanderung  die  Träger  der  Geschichte  Europas  sind, 
gebildete  Kulturkreis.  Soweit  dieser  in  Betracht  kommt,  ist 
also  die  Frage  wiederum  die  spezifisch  geschichtliche:  es  gibt 
nur  eine  Geschichte  des  „modernen  Kapitalismus“,  nicht 
eine  Geschichte  des  Kapitalismus  schlechthin.  Innerhalb  aber 
dieses  nun  einmal  gegebenen  Kulturkreises  ist  dann  jede  Be¬ 
sonderheit  der  verschiedenen  Völker  außer  acht  gelassen  und 
gefragt  worden:  welche  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  die  zur 
Entstehung  des  modernen  Kapitalismus  führen ,  sind  allen 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  Ii 


Nytft  Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 

europäischen  Völkern  gemein?  Ich  halte  diese  Fragestellung 
nicht  nur  für  vollauf  berechtigt,  sondern,  wie  ich  schon  sagte: 
die  Ermittlung  dieser  allgemein  -  europäischen  Züge  der  wirt¬ 
schaftlichen  Entwicklung  ist  die  notwendige  Voraussetzung,  um 
nun  mit  Aussicht  auf  reichen  Ertrag  die  wirtschaftlichen  Schick¬ 
sale  der  engeren  Verbände  zu  untersuchen. 

Also  nicht,  daß  meine  Arbeit  die  Spezialforschung  ausschlösse, 
sie  möge  sich  nun  auf  ein  ganzes  Land  oder  ein  einzelnes 
Dorf  beziehen:  im  Gegenteil,  sie  macht  sie  erst  recht  frucht¬ 
bar.  Nun  erst,  nachdem  man  weiß,  was  europäische  Wirtschafts¬ 
geschichte  ist,  wird  man  die  deutsche,  französische,  englische 
und  so  weiter  Wirtschaftsgeschichten  schreiben  können.  Wie 
der  Mathematiker,  den  in  allen  Werten  wiederkehrenden  Buch¬ 
staben  herausnimmt  und  vor  eine  Klammer  setzt,  so  daß  er  statt 
ab  -f  ac  +  ad  . . .  a  (6  +  c  +  d . . .)  sagt,  so  bin  ich  verfahren,  in¬ 
dem  ich  aus  allen  europäischen  Wirtschaftsgeschichten,  die  jede 
für  sich  das  Produkt  aus  europäischem  und  nationalem  AVesen 
sind,  die  europäische  Note  herausgesucht  und  in  ihrer  eigen¬ 
tümlichen  Gestaltung  verfolgt  habe.  Jeder  Historiker  muß  dieses 
Verfahren  bei  reiflicher  Überlegung  als  berechtigt  neben  der  in 
engerem  Sinne  geschichtlichen  Forschung  anerkennen. 

Er  muß  sich  dann  freilich  noch  ein  weiteres  klar  machen : 
daß  nämlich  die  Lösung  eines  Problems,  wie  ich  es  mir  gestellt 
habe,  die  Anwendung  eines  wissenschaftlichen  Apparates  nötig 
macht,  dessen  sich  der  Historiker  bei  der  Lösung  der  ihm  ge¬ 
läufigen  Probleme  nicht  zu  bedienen  pflegt.  Dieser  Apparat  ist 
die  kunstvolle  Schematik  der  systematischen  Wissenschaft 
vom  Wirtschaftsleben.  Nur  die  gründliche  theoretische  Durch¬ 
dringung  des  gesamten  Wissensstoffes  macht  es  möglich,  die  all¬ 
gemeinsten  Zusammenhänge  der  Erscheinungen  aufzudecken.  Die 
Entstehungsgeschichte  des  modernen  Kapitalismus  kann  nur  ein 
theoretisch  durchgebildeter  Nationalökonom  schreiben,  der 
vor  allem  auch  das  Wirtschaftsleben  der  Gegenwart  kennt.  Ge¬ 
wiß  kann  das  auch  ein  Historiker  von  Fach  sein.  Aber  daß  er 
es  sein  muß,  ist  eine  in  den  Kreisen  namentlich  der  älteren 
Historiker  leider  noch  nicht  allgemein  verbreitete  Ansicht.  Sonst 
wäre  es  nicht  möglich ,  daß  ein  berühmter  Geschichtsforscher 
wie  Henry  Pirenne  den  Fachgenossen  der  ganzen  Erde  (auf 
dem  Londoner  Historikerkongreß  des  Jahres  191*3)  einen  Vortrag 
über  die  Entwicklungsphasen  des  Kapitalismus  hielt,  der  von 
einer  geradezu  staunenswerten  Ahnungslosigkeit  Zeugnis  ablegt. 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


XIX 

Spurlos  sind  an  diesem  Gelehrten  alle  die  mühseligen  Gedanken¬ 
arbeiten  der  letzten  Jahrzehnte  vorübergegangen,  und  er  steht 
den  Problemen,  mit  denen  wir  uns  seit  einem  Menschenalter  ab¬ 
quälen,  mit  der  Unschuld  eines  Kindes  gegenüber.  Dieser  Typus 
der  "Wirtschaftshistoriker  muß  aussterben,  sonst  kommen  wir 
nicht  weiter.  Und  daß  er  in  der  Tat  schon  halb  der  Vergangen¬ 
heit  angehört ,  dafür  bürgen  die  Arbeiten  einiger  jüngerer 
'Wirtschaftshistoriker  in  verschiedenen  Ländern,  die  sich  nicht 
über  die  Probleme,  die  wir  aufgeworfen  haben,  großzügig  hin¬ 
wegsetzen,  sondern  ihnen  von  ihrem  Standpunkt  aus  mit  Eifer 
und  Sachkunde  zuleibe  gehen.  Ich  hege  die  feste  Zuversicht, 
daß  der  heranwachsenden  Generation  auch  unter  den 
Historikern  Arbeiten  wie  die  meinige  nicht  als  unnütze  und  ver¬ 
fehlte  Unternehmungen,  sondern  als  notwendige  Ergänzung  ihrer 
eigenen,  im  engeren  Sinne  wirtschaftsgeschichtlichen  Unter¬ 
suchungen  erscheinen  werden. 

>>> 

* 

Endlich  muß  ich  noch  einen  Punkt  von  mehr  nebensächlicher 
Bedeutung  berühren:  die  Art  meines  Zitieren s.  Auch  sie 
ist  von  zahlreichen  Kritikern  beanstandet  worden  (was  wäre  in 
meinem  Buch  nicht  beanstandet !).  Die  Bedenken,  die  man  gegen 
sie  erhoben  hat,  geben  mir  die  willkommene  Gelegenheit,  in 
Kürze  die  Methode  meines  Zitierens  zu  kennzeichnen.  Zunächst, 
was  die  Menge  der  Zitate  anbetrifft,  so  zitiere  ich  den  einen  zu 
viel,  „belaste“  das  Werk  mit  zu  viel  „totem  Material“.  Diesen 
Kritikern  erwidere  ich,  daß  ich  mir  nicht  bewußt  bin,  „totes 
Material“  aufgehäuft  zu  haben,  daß  ich  vielmehr  glaube,  jeder 
meiner  Belege  sei  lebendig.  Wie  der  Leser  sieht,  sind  fast  alle 
meine  Zitate  Quellenzitate,  auch  dort,  wo  sie  literarischen 
Bearbeitungen  des  Gegenstandes  entnommen  sind.  Nur  ausnahms¬ 
weise  führe  ich  Ansichten  anderer  Forscher  an,  nicht  weil  ich 
sie  gering  schätze,  sondern  weil  ich  aus  einem  Werke  wie  diesem 
nach  Möglichkeit  alle  Polemik  ausschalten  möchte,  die  nach 
meinen  Erfahrungen  doch  zu  nichts  dient.  Jene  Quellenbelege 
brauche  ich  aber,  oft  in  gehäufter  Menge  und  womöglich  im 
Wortlaut,  um  die  aufgewiesene  Erscheinung  dem  Leser  in  die 
Seele  einzuprägen  und  ihm  den  dargelegten  Einzelfall  zum  inten¬ 
siven  Erlebnis  werden  zu  lassen.  Nur  dadurch  konnte  ich  die 
extreme  Generalisierung  erträglich  machen ,  daß  ich  dem  Leser 
immerfort  die  eindringlichsten  Bilder  von  der  Wirklichkeit  vor 

O 

II# 


XX  Geleitwort  2ur  zweiten  Auflage 

Augen  stelle.  Mein  Bemühen  ist  es,  die  letzte  Allgemeinheit 
aus  der  intimsten  Besonderheit  abzuleiten.  Darum  muhte  ich 
ganz  konkrete  Anschauung  geben,  um  dann  ganz  allgemeine 
Züge  festzustellen.  Darum  war  aber  ein  gewisses  hohes  Maß 
von  stofflicher  Fülle  unerläßlich.  Daher  die  oft  lästige  Menge 
von  Zitaten. 

Den  andern  zitiere  ich  zuwenig;  das  heißt  sie  vermissen  an 
dieser  oder  jener  Stelle  den  Hinweis  auf  diese  oder  jene  Schrift 
oder  Quelle.  Ihnen  halte  ich  entgegen,  daß  ich  mir  durchaus  be¬ 
wußt  bin,  nicht  die  gesamte  in  Betracht  kommende  Literatur  zu 
beherrschen.  Es  ist  das  auch  schwer  möglich  angesichts  des 
ziemlich  umfassenden  Untersuchungsgebietes.  Darum  bin  ich 
jedem  dankbar,  der  mir  nachweist,  daß  ich  hier  oder  dort  eine 
wesentliche  Quelle  übersehen  habe  (vorausgesetzt,  daß  sie  geeignet 
ist,  das  Ergebnis  meiner  Untersuchungen  in  einem  wichtigen 
Punkte  zu  berichtigen).  Als  kleinlich  dagegen  empfinde  ich  das 
Verfahren,  das  bei  manchen,  sogar  namhaften  Kritikern  behebt  ist, 
zu  beanstanden  :  wenn  man  zwölf  Schriften  genannt  hat,  daß  man 
eine  dreizehnte,  wahrscheinlich  ganz  belanglose  Arbeit,  nicht  auch 
erwähnt  habe,  die  der  Kritiker  gerade  kennt.  Im  übrigen  ist 
VoUständigkeit  der  Quellenbelege  bei  der  Problemstellung,  wie 
sie  diesem  Werk  zugrunde  liegt,  auch  nicht  einmal  ein  not¬ 
wendiges  Erfordernis  zwingender  Beweisführung. 

Mancher  wird  es  als  eine  Schwäche  des  Buches  empfinden, 
daß  ich  nur  gedruckte,  nicht  auch  handschriftliche  Quellen 
herangezogen  habe.  Ihnen  gebe  ich  zu  bedenken,  daß  dieses 
Werk  nicht  hätte  geschrieben  werden  können,  wenn  ich  mich 
in  archivalische  Studien  verloren  hätte.  Gewiß  ist  es  richtig, 
daß  viele  Punkte  der  europäischen  Wirtschaftsgeschichte  noch 
heute  im  Dunkeln  liegen,  und  daß  nur  archivalische  Forschungen 
sie  aufhellen  können.  Aber  ein  klarer  Gesamtüberblick  läßt 
sich  schon  heute  auf  Grund  der  gedruckten  Quellen  geben.  Und 
der  mußte  erst  einmal  zu  geben  versucht  werden,  gerade  um 
die  spätere  Forschung  um  so  fruchtbarer  zu  machen.  Welche 
Fülle  neuer  Aufschlüsse  aber  schon  die  Durcharbeitung  des 
heute  gedruckten  Quellenmaterials  ergibt,  wird,  denke  ich,  ein 
Studium  dieses  Werkes  erweisen. 

Was  dann  die  Art  und  Weise,  wie  ich  zitiere,  anbetrifft,  so 
sind  Zweifel  laut  geworden,  ob  ich  meine  Zitate  selbst  gefunden 
und  nicht  vielleicht  aus  andern  Schriften  entlehnt  habe.  Dazu 
bemerke  ich,  daß  ich  die  in  weitem  Umfange  (auch  lind 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage  ,XX1 

gerade  bei  Historikern!)  beliebte  Gepflogenheit,  Zitate 
aus  andern  Schriftstellern  abzuschreiben,  ohne  diese  Entlehnung 
ausdrücklich  zu  bemerken ,  stets  als  eine  Art  von  Diebstahl  am 
geistigen  Eigentum  empfunden  habe.  Eigentlich  sollte  man 
immer,  wenn  man  den  Hinweis  auf  eine  Quellenstelle  einem 
andern  verdankt,  diesen  namhaft  machen.  Aber  das  ist  auf  die 
Dauer  nicht  durchführbar.  Was  aber  durchaus  vom  wissen¬ 
schaftlichen  Anstande  verlangt  werden  muß,  ist  das,  daß  man 
jede  Stelle,  die  man  anführt,  mit  eigenen  Augen  vergleicht  (oder 
bei  nicht  erreichbaren  Werken  durch  einen  Schüler  oder  einen 
guten  Freund  nachiesen  läßt).  Dieser  Grundsatz  ist  auch  für 
mich  bei  der  Abfassung  dieses  Werkes  maßgebend  gewesen. 

Eine  ebensolche  Unsitte ,  die  immer  mehr  in  Gelehrten¬ 
kreisen  einreißt ,  ist  die :  Literatur  Übersichten  zu 
geben,  ohne  die  angeführten  Werke  zu  kennen.  Beim  heutigen 
Stande  unserer  bibliographischen  Technik  ist  es  dann  nicht 
schwer,  beliebig  lange  Listen  von  Büchern  aufzustellen,  die 
freilich  nur  dem  Laien  den  Eindruck  der  Gelehrsamkeit 
machen,  während  cler  Eingeweihte  meistens  die  Eselsbrücken 
bemerkt,  denen  die  Listen  ihre  Entstehung  verdanken.  Einem 
solchen  Unfug  sollte  mit  der  stillschweigend  angenommenen 
Regel  gesteuert  werden,  kein  Buch  in  einer  Literaturübersicht 
anzuführen,  von  dessen  Verwendbarkeit  für  den  bestimmten 
Zweck  man  sich  nicht  hinreichend  unterrichtet  hat.  Einen  Nutzen 
haben  nach  meinen  Erfahrungen  Literaturnachweise  für  den  Leser, 
namentlich  den  Anfänger  nur,  wenn  sie  gleichzeitig  eine  Art  von 
Führung  durch  die  einschlägige  Literatur  enthalten.  Deshalb 
habe  ich  es  mir  angelegen  sein  lassen,  möglichst  jedem  an¬ 
geführten  Werke  ein  ganz  kurzes  Kennwort  beizufügen,  aus  dem 
der  Leser  ungefähr  eine  Vorstellung  bekommt,  um  was  es  sich 
handelt. 

Einige  sachliche  Auseinandersetzungen  mit  Kritikern,  die 
einzelne  Teile  meines  Buches  beanstandet  haben,  nehme  ich 
besser  je  am  besonderen  Orte  im  Texte  vor.  Sehr  zahlreich 
sind  die  Kritiker,  die  sich  die  Mühe  genommen  haben,  über¬ 
haupt  auf  meine  Gedankengänge  einzugehen,  nicht.  Im  Interesse 
der  Sache  wünsche  ich,  daß  ihre  Zahl  dieser  zweiten  Auflage 
gegenüber  sich  vermehrt.  Die  meisten  Kritiker  haben  im  Zweifel 
gelassen,  ob  es  am  Mangel  des  guten  Willens  oder  an  ihrem. 


XXII 


Geleitwort  zur  zweiten  Auflage 


geringen  Verständnis  gelegen  war,  daß  sie  so  gar  nichts  von 
Belang  über  das  Buch  zu  sagen  gewußt  haben.  Es  sei  denn, 
daß  sie  es  ablehnten.  Ihnen  möchte  ich  die  Worte  des  alten 
Goethe  ins  Stammbuch  schreiben:  „Gegen  die  Kritik  kann  man 
sich  weder  schützen  noch  wehren ;  man  muß  ihr  zum  Trutz  handeln, 
und  das  läßt  sie  sich  nach  und  nach  gefallen.“  Ein  tröstendes 
Bewußtsein  ist  es,  daß  dort,  wo  die  Kritik  in  der  Wissenschaft 
haust,  nur  selten  die  Quellen  des  Lebens  entspringen,  und  daß 
das,  was  lebendig  im  Geiste  ist,  keine  Kritik  zerstören  kann, 
selbst  die  gehässigste  nicht. 

Mittel-Sch reiberhau  i.  K.,  im  September  1916 

Werner  Sombart 


Einleitung 


Bombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  T. 


Erstes  Kapitel 

Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens 

I.  Die  Unterhalts  für  sorge 

Wie  alle  lebendige  Kreatur  muß  der  Mensch,  uni  sein  Leben 
zu  erhalten ,  unausgesetzt  sein  individuelles  Dasein  durch  Be¬ 
standteile  der  stofflichen  Natur  ergänzen,  die  er  zu  seinem  Ver¬ 
zehr  von  außen  hereinnimmt  und  seinen  Bedarfszwecken  an¬ 
zupassen  trachtet.  Daß  der  Mensch  den  Kreis  seiner  Bedürfnisse 
über  die  elementaren  Unterhaltsmittel  hinaus  ausgeweitet  und 
eine  neue  Bedarfswelt  im  „Kulturbedarf“  geschaffen  hat,  macht 
nur  einen  Gradunterschied  aus.  Auch  die  Tierwelt  hat  einen 
außerordentlich  verschiedenen,  nach  Menge  und  Güte  abgestuften 
Sachgüterbedarf. 

Gemeinsam  mit  aller  lebendigen  Kreatur  ist  der  Mensch  aber 
auch  vor  die  Notwendigkeit  gestellt,  einen  großen  Teil  seiner 
Lebenskraft  der  Beschaffung  jenes  Sachgütervorrats,  an  dem  sein 
Leben  hängt,  zu  widmen.  Er  muß  sich,  weil  die  ihn  umgebende 
Natur  im  Verhältnis  zu  seinem  Bedarf  spröde  ist,  um  die 
„Deckung  seines  Bedarfs“  kümmern,  er  muß  „Unterhaltsfürsorge“ 
betreiben. 

Diese  Unterhaltsfürsorge ,  die  ein  wie  gesagt  gemeinsames 
Kennzeichen  aller  Lebewesen  auf  dieser  Erde  ist,  stellt  sich  in 
einem  regelmäßigen  Kreislauf  dar,  der  in  der  natürlichen  Be¬ 
schaffenheit  der  bedürfenden  Wesen  und  der  zu  ihrem  Verzehr 
notwendigen  Sachdinge  begründet  ist :  Gegenstände  der  äußeren 
Natur  werden  hereingenommen  und  dem  Bedarfszweck  angepaßt: 
der  Vogel  holt  sich  Federn  und  legt  sie  zum  Nest  zurecht:  er 
„baut“  sein  Nest:  wir  nennen  diesen  ersten  Akt  Produktion. 
Die  Güter  werden,  nachdem  sie  produziert  worden  sind,  ihrer 
Bestimmung  (dem  Verzehr)  zugeführt:  der  Vogel  speist  die 
einzelnen  Jungen  mit  den  herbeigeschleppten  Mücken:  das  ist, 
wie  wir  sagen,  der  Akt  der  Verteilung.  Dann  werden  die 
Güter. ge-  oder  verbraucht :  Akt  der  Konsumtion,  auf  den  mit 
Notwendigkeit  wieder  ein  Produktionsakt  folgen  muß.  Produktion 


4 


Einleitung 


(„Erzeugung“)  —  Verteilung  — Konsumtion  („Verzehr“)  wieder¬ 
holen  sich  so  immerfort ,  bis  das  letzte  Leben  von  dieser  Erde 
verschwunden  sein  wird. 

Alle  Gegenstände  der  äußeren  Natur,  die  für"  die  Unterhalts¬ 
fürsorge  in  Betracht  kommen,  bezeichnen  wir  als  (Sach-)  Güter 
oder  materielle  Güter  (im  Gegensatz  zu  den  rein  geistigen  [im¬ 
materiellen]  Gütern).  Sie  sind  entweder  schon  als  solche  erkannt 
(effektive  Güter)  oder  nicht,  obschon  sie  eine  sachliche  Eignung 
besitzen,  bei  der  Unterhaltsfürsorge  Verwendung  zu  finden:  der 
Wollfaden  konnte  dem  Vogel  von  jeher  als  Baumaterial  dienen; 
erst  im  Getriebe  der  Städte  aber  wurde  er  als  solches  „entdeckt“. 
Dienen  die  Sachdinge  dem  unmittelbaren  Verzehr,  so  sprechen 
wir  von  Konsumtivgütern,  dienen  sie  zur  Herstellung  anderer 
Güter,  so  sind  es  Produktivgüter.  Jene  bezeichnen  wir  nach 
dem  Vorgänge  Carl  Mengers  als  Güter  erster  Ordnung,  diese 
als  Güter  höherer  (zweiter,  dritter  usw.)  Ordnung. 

Alle  Produktion  oder  Gütererzeugung,  wie  wir  etwas  voll- 
mäulig  sagen,  beruht  darauf,  daß  wir  lebendige  Wesen  einen 
Aufwand  von  Energie  machen,  mittels  dessen  wir  in  der  Umwelt 
(der  „Natur“)  vorhandene  Stoffe  oder  Kräfte  unserm  Bedarfs¬ 
zweck  entsprechend  formen.  In  jedem  Produktionsakt  wirken 
also  Arbeit  und  Natur  notwendig  zusammen,  die  wir  deshalb  als 
Produktionsfaktoren  bezeichnen  können,  jene  als  den 
persönlichen,  diese  als  den  sachlichen  Produktionsfaktor. 

Die  äußere  Natur  erscheint  in  jedem  Produktions  vorgange 
1.  als  Arbeitsbedingung;  2.  als  Arbeitsgegenstand.  In  ihrer  ersten 
Funktion  schafft  sie  die  sachlichen  Bedingungen  produktiver 
Arbeit,  mögen  nun  diese  Bedingungen  von  Natur  gegeben  sein, 
wie  die  Erde  als  Standort,  die  Luft  als  Atmosphäre,  die  Kräfte ; 
oder  erst  in  der  dem  Produktionszwecke  entsprechenden  Form 
hergestellt  werden,  wie  Arbeitsgebäude,  Wege,  Kanäle,  Wachs¬ 
zellen  der  Bienen.  Der  Arbeitsgegenstand  ist  dasjenige  Ding, 
an  dem  sich  die  Arbeit  betätigt.  Auch  er  wird  entweder  in  der 
Natur  fertig  vorgefunden,  oder  er  ist  selbst  schon  Produkt.  In 
diesem  Falle  nennen  wir  den  Arbeitsgegenstand  Rohmaterial. 

II.  Die  Technik 

Die  bisherige  Darstellung  hat  die  Bestandteile  der  Unterhalts¬ 
fürsorge  aufgewiesen,  wie  sie  in  jeder  Unterhaltsfürsorge 
- —  tierischer  wie  menschlicher  —  gleichmäßig  wiederkehren. 


Erstes  Kapitel:  Die  Gruudtatsacheu  des  Wirtschaftslebens  5 

Nunmehr  sind  die  der  menschlichen  Unterhaltsfürsorge  besonderen 
Erscheinungen  zu  betrachten,  die  diese  zur  Wirtschaft  machen. 

Das  erste,  was  die  menschliche  Unterhaltsfürsorge  auszeichnet, 
ist  ein  dem  Menschen  eigenes  Verfahren  bei  der  Gfütererzeugung 
(die  immer  für  alle  Sachbehandlung,  also  auch  namentlich  den 
Gütertransport  steht) :  die  Anwendung  dessen ,  was  wir  füglich 
die  instrumentale  Technik,  oder  wenn  wir  den  Sinn  dieses 
Wortes  beschränken  wollen:  die  Technik  überhaupt  nennen. 

Unter  Technik  verstehen  wir  im  weitesten  Sinne  alle  Ver- 
fahrungsweisen  zur  Erreichung  eines  bestimmten  Zweckes,  unter 
materieller  oder  ökonomischer  Technik  also  alle  Verfahrungs- 
weisen  zur  Gütererzeugung. 

Im  einzelnen  besteht  die  technische  Fähigkeit: 

1.  in  den  Kenntnissen  von  den  Eigenschaften  der  uns  um¬ 
gebenden  Natur.  Dieses  technische  Wissen  erstreckt  sich  auf 
die  Nutzbarkeit  der  Stoffe,  der  Kräfte  und  der  Umbildungsprozesse 
der  Natur  selbst; 

2.  in  dem  technischen  Können.  Dieses  äußert  sich  entweder 
bloß  in  einer  bestimmten  Methode  zur  Ausführung  von  Tätig¬ 
keiten.  Solcher  Methoden  sind  vor  allem  zwei  als  besonders 
bedeutsam  hervorzuheben:  die  Zerlegung  der  Gesamttätigkeit 
in  ihre  einzelnen  Bestandteile,  die  dann  als  besondere  Ver¬ 
richtungen  erscheinen;  und  die  Vereinigung  des  Materials,  bei 
der  ein  und  dieselbe  Verrichtung  gleichzeitig  statt  nacheinander 
an  gleichartigen  Gegenständen  ausgeführt  wird. 

Oder  aber  das  technische  Können  entwickelt  sich  zu  einer 
instrumentalen  Technik.  Darunter  verstehe  ich  ein  solches 
Verfahren,  bei  dem  zur  Herbeiführung  des  technischen  Erfolges 
irgendwelche  Sachdinge,  Instrumente,  zur  Verwendung  gelangen. 
Bei  der  Gütererzeugung  bezeichnen  wir  diese  Instrumente  als 
Arbeitsmittel,  die  also  als  dritte  Form  der  Naturbeteiligung 
(neben  Arbeitsgegenstand  und  Arbeitsbedingung,  die  aller 
Unterhaltsfürsorge  eigentümlich  sind)  bei  der  menschlichen  Unter¬ 
haltsfürsorge  zu  betrachten  sind.  Sämtliche  Bestandteile  des 
sachlichen  Produktionsfaktors  können  wir  auch  Produktions¬ 
mittel  im  weiteren  Sinne  nennen  und  unter  ihnen  diejenigen 
als  Produktionsmittel  im  engeren  Sinne  unterscheiden,  die  bereits 
Arbeitsprodukte  sind.  Ich  werde  im  folgenden,  wo  nichts  be¬ 
sonders  gesagt  ist,  von  Produktionsmitteln  in  jenem  weiteren 
Verstände  als  dem  Inbegriff  sämtlicher  sachlicher  Produktions¬ 
faktoren  sprechen. 


6 


Einleitung 


Genauer  angesehen  ist  das  Arbeitsmittel  (nach  der 
Marx  sehen  Begriffsbestimmung)  ein  Ding  oder  ein  Komplex 
von  Dingen,  die  der  Arbeiter  zwischen  sich  und  den  Arbeits¬ 
gegenstand  schiebt,  um  sie  als  Machtmittel  auf  andere  Dinge 
seinem  Zwecke  gemäß  wirken  zu  lassen.  Wir  können  aktive 
und  passive  Arbeitsmittel  unterscheiden.  Marx  bezeichnet 
jene  als  „die  mechanischen  Arbeitsmittel,  deren  Gesamtheit 
man  das  Knochen-  und  Muskelsystem  der  Produktion  nennen 
kann“;  es  sind  Werkzeuge  und  Maschinen,  die  tätig  unter  der 
Leitung  des  Menschen  in  die  neuzuformende  Materie  ein- 
greifen,  während  die  andere  Kategorie  der  Arbeitsmittel  die  mehr 
passive  Bolle  in  der  Produktion  spielt,  als  Behälter  für  Stoffe 
und  Kräfte  zu  dienen;  es  sind -dies  die  Kessel,  Böhren,  Bottiche, 
Fässer,  Körbe,  Krüge  usw.,  jene  Arbeitsmittel,  „deren  Gesamtheit 
ganz  allgemein  als  das  Gefäßsystem  der  Produktion  bezeichnet 
werden  kann“. 

Ein  Werkzeug  ist  ein  Arbeitsmittel,  das  zur  Unterstützung 
der  menschlichen  Arbeit  dient  (Nähnadel),  eine  Maschine  ist 
ein  Arbeitsmittel,  das  menschliche  Arbeit  ersetzen  soll,  das  also 
das  selbst  tut,  was  ohne  es  der  Mensch  tun  würde  (Nähmaschine). 

Die  umfangreiche  Literatur,  die  sich  an  diese  meine  Unter¬ 
scheidung  von  Werkzeug  und  Maschine  knüpft,  veranlaßt  mich  nicht 
zu  irgendwelcher  Änderung.  Wenn  man  festhält,  daß  die  Begriffe 
der  beiden  Arbeitsmittel  im  Hinblick  auf  ihre  Verwendbarkeit  für 
wirtschafts-wissenschafüiche  Erkenntnis  gebildet  worden  sind  (und  hier 
gebildet  werden  müssen),  kann  man  nicht  wohl  anders  unterscheiden, 
als  ich  es  tue :  denn  nur  bei  dieser  Gegenüberstellung  wird  das 
ökonomisch  Wesentliche ,  die  Beziehung  zur  Arbeitsverrichtung  als 
Hauptmerkmal  der  Begriffe  anerkannt. 

Tn  der  Verwendung  von  Arbeitsmitteln  äußert  sich  also  die 
erste,  ganz  bedeutsame  Eigenart  menschlicher  Unterhaltsfürsorge. 
Es  bleibt  dabei:  Der  Mensch  ist  „ein  Werkzeug  machendes 
Tier“  (a  tool  making  animal). 

Nicht  nur  in  dem  äußerlichen  Sinne,  daß  (vielleicht  rein  zu¬ 
fällig)  der  Mensch  sich  des  Arbeitsmittels  bedient,  das  Tier  nicht. 
Sondern  in  dem  tieferen  Sinne,  daß  in  der  Verwendung  von 
Werkzeugen  (die  hier  für  alle  Arbeitsmittel  und  alle  Waffen 
stehen)  das  dem  Menschen  eigentümliche  Gebaren :  ein  bewußtes 
Handeln  nach  Zweckvorstellungen  am  deutlichsten  zum  Ausdruck 
kommt,  daß  aber  auch  (was  noch  bedeutsamer  ist)  aller  Ver¬ 
mutung  nach  sich  dieses  besondere  Menschtum  an  dem  Werk¬ 
zeuge  in  die  Höhe  gerankt  hat.  Da  dieses  es  dem  Menschen 


Erstes  Kapitel:  Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens 


7 


möglich  und  dann  wieder  notwendig  machte,  durch  die  Ent¬ 
faltung  der  rein  geistigen  Fähigkeiten  sich  zum  Herren  der  Erde 
aufzus  ch  wingen . 


in.  Die  Arbeit  und  ihre  Organisation 

1.  Der  Mensch  lebt,  indem  er  seine  Kräfte  betätigt.  Die 
menschliche  Tätigkeit  unterscheidet  sich  dadurch  (oder  wird  von 
uns  unterschieden)  von  der  tierischen,  daß  sie  ein  vernunftgemäßes 
Handeln,  d.  h.  ein  Handeln  nach  Zwecken  ist.  Diejenige  mensch¬ 
liche  Tätigkeit,  die  einem  außer  ihr  liegenden  Zwecke  dient, 
können  wir  als  Arbeit  dem  Spiel  gegenüberstellen,  das  in  sich 
selbst  jenen  Zweck  findet. 

Damit  versuche  ich,  den  Begriff  der  Arbeit  nach  rein  objektiven 
Merkmalen  zu  bestimmen.  Nur  so  gewinnt  er,  scheint  mir,  die  er¬ 
forderliche  Eindeutigkeit,  während  ihm  jede  Einfügung  subjektiver 
Momente  notwendig  etwas  Unbestimmtes  und  Schwankendes  gibt.  Der 
meist  gegangene  Weg,  um  zu  dem  Begriffe  der  Arbeit  zu  gelangen, 
führt  über  die  Werturteile  der  Mühsal  einerseits ,  der  Nützlichkeit 
anderseits.  Jeder  Versuch,  diese  beiden  Kategorien  eindeutig  fest¬ 
zustellen,  muß  jedoch,  eben  wegen  ihrer  Eigenschaft  als  Werturteile, 
scheitern.  Nach  meiner  Definition  ist  also  Arbeit  ebenso  die  Tätig¬ 
keit,  die  der  Dieb  aufwendet,  um  einen  Einbruch  auszuüben,  obwohl 
sie  (sozial)  schädlich  ist  wie  diejenige  Beschäftigung,  die  „keine 
Mühe“  macht,  wenn  sie  nur  auf  einen  außer  ihr  selbst  liegenden  Zweck 
gerichtet  ist. 

Produktivität  (oder  Ergiebigkeit)  der  Arbeit  nennen  wir 
ihre  Fähigkeit,  in  einer  gegebenen  Zeit  eine  bestimmte  Menge 
Güter  zu  erzeugen •,  Intensität  der  Arbeit  die  Größe  des  Energie¬ 
aufwands  in  einer  gegebenen  Zeit. 

2.  Alle  menschliche  Arbeit  ist  gesellschaftliche  Arbeit, 
das  Problem  der  menschlichen  Arbeit  ist  deshalb  immer  (auch) 
ein  soziologisches. 

Gesellschaftlich  ist  alle  menschliche  Arbeit  in  dem  Sinne, 
daß  die  Arbeit  keines  Menschen  ohne  die  Arbeit  eines  anderen 
Menschen  möglich  ist.  Die  Menschwerdung  hat  sich  nur  im 
Rahmen  einer  menschlichen  Gemeinschaft  vollziehen  können,  und 
auf  der  Arbeit  aller  früheren  Geschlechter  ruht  die  Arbeit  heute 
auch  des  einsamsten  Menschen. 

Es  ist  oft  mit  Recht  betont  worden,  daß  Robinson,  als  er 
(was  nicht  einmal  in  vollem  Umfange  der  Fall  war,  da  er  ein 
Kleidungsstück  oder  sonst  eine  Kleinigkeit  gerettet  hatte)  ohne 
alle  Habe  an  den  Strand  einer  unbewohnten  Insel  gespült  wurde, 


8 


Einleitung 


0 

doch  die  Erinnerung  an  viele  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  als 
unerläßliche  Ausrüstung  für  seinen  Daseinskampf  mit  auf  den 
Weg  bekommen  hatte,  ohne  die  er  nicht  imstande  gewesen 
wäre,  sein  Leben  aufzubauen.  Das  heißt:  nur  als  kunstvolles 
Erzeugnis  einer  Jahrtausende  alten  Kultur  ist  ein  Kobinson 
denkbar.  Diese  Verkettung  der  menschlichen  Arbeit  in  der  Zeit 
besteht  also  immer;  die  Verkettung  ist  entweder  eine  rein  ideelle 
(erinnerungsmäßige)  oder  eine  materielle :  durch  Arbeitsprodukte 
vermittelte.  Unsere  Arbeit  ruht  zu  jeder  Zeit  auch  auf  den 
Arbeitsprodukten  der  Vergangenheit.  Ist  die  rein  ideelle  Ver¬ 
kettung  der  menschlichen  Arbeit  in  der  Zeit  kein  besonderes 
menschliches  Phänomen,  sondern  allen  Lebewesen  gemeinsam, 
so  ist  die  materielle  Verkettung  fast  ausschließlich  den  Menschen 
eigen.  Das  gilt  in  noch  höherem  Grade  von  der  anderen  Art 
der  Verkettung:  der  Verkettung  im  Kaum:  Immer  ist  der  Erfolg 
der  menschlichen  Arbeit  an  die  Arbeit  anderer  zu  seinen  Leb¬ 
zeiten  geknüpft.  In  primitiven  Zuständen  wird  die  Arbeit  des 
einzelnen  ermöglicht  durch  die  Mitarbeit  oder  Aucharbeit  seiner 
Genossen  in  der  Gemeinschaft,  in  der  er  lebt.  Heute  ist  die 
Arbeit  des  einzelnen  verknüpft  mit  der  Arbeit  Tausender  und 
Abertausender,  deren  Arbeitserzeugnis  er  sich  auf  dem  Wege  des 
Produktenaustausches  zu  eigen  macht.  Es  ist  nur  ein  Grad¬ 
unterschied  in  dem  gesellschaftlichen  Charakter  der  Arbeit,  wenn 
eine  bestimmte  Arbeit  in  räumlicher  Gemeinsamkeit  von  mehreren 
zugleich  ausgeführt  wird. 

3.  Alle  menschliche  Arbeit,  da  sie  eine  gesellschaftliche  Tat¬ 
sache  ist,  steht  unter  einer  bestimmten  Ordnung.  Denn  ord¬ 
nungsmäßig  muß  jede  planvolle  Tätigkeit  sich  vollziehen,  sobald 
sie  mehrere  Menschen  miteinander  in  Verbindung  bringt.  In 
der  Ordnung  wird  der  Plan  objektiviert.  Wir  sprechen,  wenn 
wir  die  Ordnung  der  menschlichen  Arbeit  im  Auge  haben,  von 
ihrer  Organisation.  Der  Organisation  der  menschlichen  Arbeit 
liegen  zwei  —  und  nur  zwei  —  Prinzipien  zugrunde :  die  S  p  e  - 
zialisation  und  die  Kooperation.  Alle  anderen  Möglich¬ 
keiten,  die  menschliche  Arbeit  in  einer  bestimmten  Weise  zu 
ordnen,  sind  nur  Unterarten  dieser  beiden  Prinzipien. 

Ob  man  diese  verschiedenen  Möglichkeiten  mit  besonderen  Aus¬ 
drücken  bezeichnen  will  oder  nicht,  wird  der  einzelne  nach  seinen 
Neigungen  entscheiden.  Neuerdings  hat  eine  sehr  weit  spezialisierende 
Nomenklatur  wiederum  Willy  Hellpach  vorgeschlagen  in  seinem 
Aufsatz,  den  er  im  35.  Bande  des  Archivs  für  Sozial  Wissen¬ 
schaft  (zitiert:  Archiv)  veröffentlicht  hat.  Mir  sagen  die  einzelnen 


Erstes  Kapitel:  Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens  9 

Ausdrücke  und  die  einzelnen  Unterscheidungen  wenig  •  sie  verwirren 
mich  eher,  als  daß  sie  mir  Klarheit  geben.  Ich  bleibe  deshalb  lieber 
bei  den  zwei  Kategorien  der  Spezialisation  und  Kooperation,  die,  wie 
gesagt,  alle  denkbaren  Möglichkeiten  der  Arbeitsorganisation  ein¬ 
schließen.  Ganz  verfehlt  erscheint  mir  das  Beginnen,  die  objektive 
Unterscheidung  der  verschiedenen  Orgauisationsprinzipien  in  einen 
irgendwelchen  Zusammenhang  mit  der  rein  subjektiven  Beziehung  der 
menschlichen  Natur,  oder  gar  des  menschlichen  Bewußtseins,  oder  des 
menschlichen  Lust-  oder  Unlustgefühls  zu  den  Arbeitsverrichtungen  zu 
bringen.  Wie  eine  bestimmte  Arbeit  auf  den  Menschen  wirkt,  ist  ein 
(nebenbei  bemerkt  psychologisches  und  nicht  soziologisches)  Problem 
ganz  für  sich. 

Unter  Spezialisation  verstehe  ich  diejenige  Art  der  An¬ 
ordnung.  welche  einem  und  demselben  Arbeiter  gleiche,  wieder¬ 
kehrende  Verrichtungen  dauernd  zuweist.  Der  Grad  der  Speziali¬ 
sation  kann  außerordentlich  verschieden  sein.  Es  war  eine 
Anwendung  des  Prinzips  der  Spezialisation,  als  zuert  die  Frauen 
Frauenarbeit,  die  Männer  Männerarbeit  verrichteten,  als  zuerst 
die  Schmiedearbeit  oder  die  Töpferei  dauernd  von  je  demselben 
Arbeiter  ausgeübt  wurde ,  und  es  ist  nur  eine  gesteigerte  An¬ 
wendung  desselben  Prinzips,  wenn  in  der  modernen  Konfektion 
eine  Arbeiterin  ihr  ganzes  Lebenlang  nur  Hornknöpfe  an  Männer¬ 
westen  annäht.  Es  bleibt  sich  grundsätzlich  ebenso  gleich,  ob 
die  Teilverrichtung,  die  ein  Arbeiter  dauernd  vornimmt,  durch 
horizontale  oder  vertikale  Spaltung  des  vorher  vereinigt  ge¬ 
wesenen  oder  gedachten  Gesamtarbeitsprozesses  entsteht:  ob 
zwischen  Schlosserei  und  Schmiederei  oder  zwischen  Gerberei 
und  Schuhmacherei  die  Trennung  sich  vollzieht.  Es  ist  aber 
endlich  für  den  Begriff  der  Spezialisation  gleichgültig,  ob  die 
Spezialisation  zwischen  Betrieben  (worüber  sogleich  zu  reden 
sein  wird)  oder  innerhalb  eines  Betriebes  erfolgt.  In  jenem  Falle 
entsteht  das ,  was  wir  Spezialbetriebe  nennen ,  unter  denen  es 
abermals  eine  außerordentlich  mannigfache  Gradabstufung  gibt, 
innerhalb  deren  aber  keinerlei  irgendwie  feste  Grenze  für  eine 
spezifische  Unterscheidung  zu  ziehen  ist. 

Die  Schmiederei  als  Ganzes  ist  ein  Spezialbetrieb,  verglichen  mit 
der  ehemals  sie  mitumfassenden  hausgewerblichen  Gesamtproduktion; 
die  Schmiederei  ist  ein  spezialisierter  Betrieb ,  nachdem  sich  die 
Schlosserei  von  ihr  geschieden  hat;  die  Werkzeugschmiederei  ist 
innerhalb  der  so  spezialisierten  Schmiederei  wiederum  ein  Spezialbetrieb, 
die  Sensenschmiederei  innerhalb  der  Werkzeugschmiederei  usw.  Statt¬ 
haft  ist  es  natürlich,  bei  historischen  Betrachtungen  einen  bestimmten 
Grad  der  Spezialisation  als  fest  gegeben  anzunehmen,  diejenigen  Be¬ 
triebe,  die  ihn  aufweisen,  als  „Vollbetriebe“  und  alle  nur  Teile  dieses 


10 


Einleitung 


Vollbetriebes  umfassende  Betriebe  als  „Spezialbetriebe“  zu  bezeichnen. 
So  verfahren  wir  mit  vollem  Recht,  wo  wir  die  Zersetzungsprozesse 
des  alten  „Handwerks“  uns  klar  zu  machen  haben. 

Kooperation  ist  die  Mitwirkung  mehrerer  an  einem  Gesamt¬ 
werk,  das  selbst  nur  durch  die  konsumtive  Verwendung  oder 
gegenständlich  bestimmt  sein  kann.  Kooperation  kann  statt¬ 
haben,  wenn  die  Arbeit  nicht  spezialisiert  ist,  sie  muß  statt¬ 
haben.  wenn  diese  spezialisiert  ist.  Denn  alsdann  stellt  sie  die 
notwendige  Vereinigung  der  Teilarbeiten  her. 

Ersichtlich  ist,  daß  Kooperation  und  Spezialisation  alsdann 
in  demselben  Verhältnis  zueinander  stehen ,  wie  in  der  organi¬ 
schen  'Welt  oder  in  der  mathematischen  Vorstellung  Integrierung 
und  Differenzierung.  Es  steht  natürlich  nichts  im  Wege,  diese 
Bezeichnungen  auch  auf  die  Organisation  der  menschlichen  Arbeit 
anzuwenden,  vorausgesetzt,  daß  man  sich  der  rein  bildmäßigen 
Bedeutung  der  andern  Welten  entlehnten  Ausdrücke  jederzeit 
bewußt  bleibt. 

4.  Wenn  wir  das  große  Phänomen:  menschliche  Arbeit  als 
Ausfluß  vernünftigen  Tuns  denken,  so  erscheinen  uns  die  tausend 
verschiedenen  Einzelhandlungen  zu  innerlich  zusammenhängenden 
Einheiten  von  Tätigkeiten  verbunden  durch  ihre  Abhängigkeit 
je  von  einem  besonderen  Arbeitspläne.  Die  Welt  der  Arbeit 
gliedert  sich  also  in  unserer  Vorstellung  in  ebensoviele  einheitlich 
gestaltete  Arbeitsprozesse  als  Arbeitspläne  vorhanden  sind.  Bei 
einem  höheren  Grade  von  Zusammenhang  bei  dauerndem  Ver¬ 
bundensein  einzelner  Handlungen  zu  einem  Ganzen  sprechen 
wir  von  Betrieben.  Und  wir  können  genauer  als  Betriebe  be¬ 
zeichnen:  Veranstaltungen  zum  Zwecke  fortgesetzter 
Werkverrichtung. 

Betreibt  eine  Person  allein  eine  Arbeit,  bildet  sie  mit  ihrer 
AVerkverrichtung  allein  den  Betrieb,  so  genügt  zur  Regelung 
ihrer  Tätigkeit,  zur  Einrichtung  und  Auffechterhaltung  des  Be¬ 
triebes  ein  rein  subjektiver  Plan.  Dieser  muß  sich  aber  not¬ 
wendig  in  einer  Ordnung  objektivieren,  sobald  mehrere  Personen 
ihre  Arbeit  zu  gemeinsamem  Wirken  vereinigen.  Denn  damit 
aldann  die  Tätigkeit  des  einzelnen  sich  planmäßig  einfüge  in  die 
Gesamtarbeit,  muß  sie  von  vornherein  an  die  richtige  Stelle  und 
die  richtige  Zeit  und  zur  richtigen  Art  disponiert  sein.  Es  er¬ 
gibt  sich  danach  stets  eine  Betriebsordnung;  sie  mag  gedacht, 
gesprochen,  geschrieben,  gedruckt  sein;  sie  mag  stillschweigend 


Erstes  Kapitel:  Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens  H 

vereinbart  oder  ausdrücklich  erlassen,  sie  mag  autonom  oder 
heteronom  für  die  einzelnen  Organe  des  Arbeitsprozesses  sein  — 
das  bleibt  sich  gleich,  genug  sie  ist  da. 

Die  Gesamtaufgabe  der  Betriebsanordnung,  können  wir  sagen, 
ist  die  zweckentsprechende  Zusammenfügung  der  einzelnen  Pro¬ 
duktionsfaktoren  zu  einem  Ganzen  durch  ihre  richtige  Verteilung 
über  Raum  und  Zeit.  Im  einzelnen  bezieht  sich  die  Betriebs¬ 
anordnung  auf  folgende  Punkte,  in  denen  allen  die  Einheit  der 
Anordnung  nachweisbar  sein  muß,  damit  wir  von  einem  Be¬ 
triebe  reden  dürfen: 

a)  die  Einleitung  des  Arbeitsprozesses;  dazu  gehört  Ver¬ 
fügungsgewalt  über  Annahme,  Anstellung,  Entlassung  der 
Arbeiter  in  quantitativer  wie  qualitativer  Hinsicht  sowie 
Verfügungsgewalt  über  die  zur  Produktion  nötige  Werk- 
stätte  und  die  erforderlichen  Arbeitsmittel; 

b)  die  Gestaltung  des  Arbeitsprozesses,  d.  h.  die  Be¬ 
stimmung  über  den  Ort,  wo?  und  die  Zeit,  wann?  ge¬ 
arbeitet  werden  soll; 

c)  die  Ausführung  des  Arbeitsprozesses,  d.  h.  die  Für¬ 
sorge  für  die  tatsächliche  Durchführung  des  vorgezeich¬ 
neten  Planes,  für  die  vorschriftsmäßige  Abwicklung  des 
Arbeitsprozesses;  mit  anderen  Worten:  auch  die  Leitung 
muß  eine  einheitliche  sein ,  was  sich  äußerlich  in  der 
Identität  der  leitenden,  aufsichtsführenden  Organe  kundgibt  b 

Was  ein  Betrieb  sei,  ist  oft  gefragt  und  in  sehr  verschiedenem 
Sinne  beantwortet  worden.  Man  wird  am  besten  tun,  in  der 
Einheit  der  Betriebsordnung  auch  die  Einheit  des  Be¬ 
triebes  zu  erblicken.  Was  die  Einheit  ■  herbeiführt ,  kann  ent¬ 
weder  in  der  Sache  begründet  sein:  objektive  oder  Werkeinheit; 
oder  aus  der  willkürlichen  Zwecksetzung  des  Arbeitenden  her¬ 
rühren;  subjektive  oder  Zweckeinheit.  Der  Zweck  kann  ein 
verschiedener  in  ein  und  demselben  Arbeitsumkreis  sein. 

„Bisweilen  ist  ein  anderer  der  Zweck  des  Wirkenden  und 
ein  anderer  der  Zweck  des  Werkes  an  sich  betrachtet;  wie 
der  Baumeister  zum  Zweck  haben  kann  den  Geldgewinn,  der 
Zweck  des  Bauens  aber  ist  das  Haus.“  (S.  Thomas.) 

Das  wird  namentlich  eine  grundlegend  wichtige  Unterschei¬ 
dung  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft,  wo  der  Zweck  des 

1  Genaueres  siehe  in  der  ersten  Auflage  dieses  Werks  und  in  dem 
Aufsatze  im  „Archiv“  Bd.  37,  S.  12  ff. 


12 


Einleitung 


Wirkenden  und  der  Zweck  des  Werkes  immer  auseinandei- 
fallen.  Ick  hake  früher  die  durch  jenen  geschaffene  Einheit 
Wirtschaft,  die  durch  diesen  geschaffene  Betrieb  genannt  und 
jene  Einheit  als  Yerwertungsgemeinschaft,  diese  als  Werkgemein¬ 
schaft  bezeichnet.  Besser  ist  es,  einen  Oberbegriff  Betrieb  zu  bilden 
und  innerhalb  dieses  Betriebsbegriffes :  einen  Wirtschafts-  (oder 
V erwertungs-jbetrieb  von  den  Werkbetrieben  zu  unterscheiden. 

5.  Die  sehr  verschiedenen  Formen,  die  die  Betriebe  an¬ 
nehmen  können,  werden  wir  uns  in  ihrer  Eigenart  am  besten 
verständlich  machen,  wenn  wir  als  das  unterscheidende  Merkmal 
je  die  besondere  Anordnung  der  Produktionsfaktoren  heraus¬ 
greifen,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  wir  vor  allem  das  Ver¬ 
hältnis  des  einzelnen  Arbeiters  zu  dem  Gesamtprozeß  und  dem 
Gesamtprodukt  uns  zu  vergegenwärtigen  suchen.  Denn  alle 
Wesenheit  der  Betriebsgestaltung  tritt  letzten  Endes  in  der  Be¬ 
sonderheit  dieses  Verhältnisses  in  die  Erscheinung.  Das  Ver¬ 
hältnis  des  Arbeiters  zu  seinem  Werk  kann  grundsätzlich  ein 
zweifaches  sein-,  entweder  Wirken  und  Werk  gehören  einem 
Individuum  eigentümlich  an,  sind  der  erkennbare  Ausfluß  seiner 
und  nur  seiner  höchstpersönlichen  Tätigkeit,  sind  somit  selbst 
individuell  und  persönlich  (wohlverstanden:  soweit  es  sich  um 
diejenige  Arbeit  handelt,  die  sich  innerhalb  des  Rahmens  eines 
Betriebes  abspielt);  oder  Wirken  und  Werk  sind  das  gemein¬ 
same,  in  seinen  Einzelteilen  nicht  als  individuelle  Arbeit  unter¬ 
scheidbare  Ergebnis  der  Tätigkeit  vieler,  bestehen  nur  als  Ge¬ 
samtwirken  und  Gesamtwerk,  sind  also  nicht  persönlich,  nicht 
individuell,  sondern  kollektiv,  gesellschaftlich.  Danach  lassen 
sich  die  Betriebe  in  die  zwei  Gruppen  der  individuellen  und 
der  gesellschaftlichen  Betriebe  einteilen,  je  nachdem  in 
ihnen  das  Produkt  als  das  Werk  eines  Arbeiters  oder  einer 
Gesamtheit  von  Arbeitern  erscheint. 

Eines  Arbeiters:  Das  ist  streng  genommen  nur  der  Fall  im 
Alleinbetriebe.  Man  wird  aber  den  Individualbetrieben  auch 
diejenigen  zurechnen  dürfen,  in  denen  entweder  ein  paar  Arbeiter 
nebeneinander  je  ein  besonderes  Werk  verrichten  oder  in  denen 
der  Hauptarbeiter  von  einigen  wenigen  Hilfspersonen  unterstützt 
wird:  das  sind  die  Gehilfenbetriebe.  Nach  der  Zahl  der 
beschäftigten  Personen  (dem  einzigen  Kriterium,  das  die  Statistik 
kennt)  gehören  die  Individualbetriebe  der  Kategorie  der  „Klein“  - 
oder  „Mittelbetriebe  an,  während  die  gesellschaftlichen  Betriebe 
meist  „Groß “betriebe  sind, 


Erstes  Kapitel:  Die  Grundtatsachen  des  Wirtschaftslebens  13 

Unter  den  gesellschaftlichen  Großbetrieben  unterscheiden  wir, 
insbesondere  in  der  gewerblichen  Produktion,  Manufaktur  und 
Fabrik. 

Manufaktur  nenne  ich  denjenigen  gesellschaftlichen  Gro߬ 
betrieb,  in  dem  wesentliche  Teile  des  Produktionsprozesses  durch 
Handarbeit  ausgeführt  werden.  Fabrik  nenne  ich  denjenigen 
gesellschaftlichen  Großbetrieb ,  in  welchem  die  entscheidend 
wichtigen  Teile  des  Produktionsprozesses  von  der  formenden  Mit¬ 
wirkung  des  Arbeiters  unabhängig  gemacht,  einem  selbsttätig 
wirkenden  System  lebloser  Körper  übertragen  worden  sind.  Ihre 
besondere  Funktion  ist  die :  die  durch  die  Einführung  der 
Maschinerie  und  des  wissenschaftlich  chemischen  Verfahrens  in 
die  Produktion  ermöglichte  Überwindung  der  qualitativen  wie 
quantitativen  Beschränktheit  des  individuellen  Arbeiters  in  jeweils 
höchst  vollendeter  Weise  in  die  Wirklichkeit  zu  übertragen. 
Dafür  ist  in  ihr  für  die  Entfaltung  individuell -persönlichen 
Wirkens  kein  Raum  mehr  k 

Besondere  Formen  nimmt  der  Wirtschaftsbetrieb  an :  Wirt- 
schaftsformen  nenne  ich  sie. 

IV.  Die  Wirtschaft 

Wirtschaft  heißt  die  menschliche  Unterhaltsfürsorge.  Mithin 
werden  wir  in  aller  Wirtschaft  antreffen: 

1.  eine  bestimmte  Wirtschaft sgesinnung,  womit  ich 
alles  Geistige  bezeichne,  von  dem  die  einzelnen  wirtschaftlichen 
Tätigkeiten  bestimmt  werden :  also  alle  Wertvor Stellungen,  Zweck¬ 
setzungen,  Maximen,  die  in  den  die  Wirtschaft  gestaltenden 
Personen,  die  wir  Wirtschaftssubjekte  nennen  wollen, 
lebendig  werden.  Die  Wirtschaftsgesinnung  der  Wirtschafts¬ 
subjekte  objektiviert  sich  in  den  Wirtschaftsprinzipien. 

2.  eine  bestimmte  Technik,  also  bestimmte  Verfahrungs- 
weisen,  deren  sich  die  Wirts chafts Subjekte  zur  Durchführung  ihrer 
Zwecke  bedienen; 

3.  eine  bestimmte  Organisation  der  Arbeit,  also  eine 
bestimmte  Ordnung,  der  alle  einzelnen  wirtschaftlichen  Vor¬ 
nahmen  unterliegen. 

1  Eingehender  habe  ich  das  Problem  der  Betriebsformen  in  der 
ersten  Auflage  und  in  dem  erwähnten  Archivaufsatze  behandelt.  Dort¬ 
selbst  habe  ich  mich  auch  mit  der  im  Anschluß  an  meine  Systematik 
entstandenen  Literatur  auseinandergesetzt. 


14 


Zweites  Kapitel 

Mannigfaltigkeit  und  Bedingtheit  der  Wirtschaft 

I.  Die  Mannigfaltigkeit  des  Wirtschaftslebens 

Ein  Blick  in  die  Wirklichkeit  des  wirtschaftlichen  Geschehens 
in  der  Gegenwart,  eine  Betrachtung  des  Wirtschaftslebens  in 
vergangenen  Zeiten  überzeugen  uns  davon,  daß  die  Menschen 
zwar  zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten  gewirtschaftet  haben 
und  daß  in  aller  menschlichen  Wirtschaft  eine  Reihe  von  Grund¬ 
tatsachen  wiederkehrt,  aber  doch  ebenso  von  der  Wahrheit, 
daß  die  Formen,  in  denen  sich  das  Wirtschaftsleben  abspielt, 
von  Zeit  zu  Zeit,  von  Ort  zu  Ort  außerordentliche  Verschieden¬ 
heiten  aufweisen.  Ein  näheres  Zusehen  und  eine  kurze  Besinnung 
belehren  uns,  daß  diese  Verschiedenheit  aus  der  verschiedenen 
Gestaltung  der  drei  die  menschliche  Wirtschaft  kennzeichnenden 
Grundtatsachen  sich  ableitet.  Wir  vergegenwärtigen  uns,  welche 
Möglichkeiten  solcher  Gestaltungen  bestehen1. 

1.  Die  Wirtschaftsprinzipien.  Unterschiedlichkeiten 
ergeben  sich  zunächst  durch  die  verschiedene  Zwecksetzung  der 
Wirtschaftssubjekte.  Dabei  können  wir  zwei  wesentlich  ver¬ 
schiedene  Arten  der  Zwecksetzung  vor  allem  unterscheiden. 
Die  Menschen  streben  nämlich  entweder  nach  der  Beschaffung 
eines  nach  Umfang  und  Art  fest  umschriebenen  Vorrats  von 
Gebrauchsgüte rn ,  das  heißt:  sie  suchen  ihren  naturalen  Bedarf 
zu  decken;  oder,  sie  erstreben  Gewinn,  das  heißt:  sie  suchen 
eine  möglichst  große  Geldmenge  durch  ihre  wirtschaftliche  Tätig¬ 
keit  zu  erwerben.  Im  ersten  Falle,  sagen  wir,  stehen  ihre  Hand- 
lungen-im  Banne  des  Bedarfsdeckungsprinzips,  im  andern 
Falle  im  Banne  des  Erwerbsprinzips. 

Eine  Verschiedenheit  der  Wirtschaftsprinzipien  ergibt  sich 
ferner  durch  die  verschiedene  Möglichkeit  der  Wirtschaftsführung. 
Diese  ist  entweder  traditionalistisch  oder  rationalistisch.» 

1  Es  wird  hier  nur  das  Schema  der  Möglichkeiten  aufgestellt,  und 
diese  werden  kurz  skizziert.  Je  am  passenden  Ort  werden  die  ver¬ 
schiedenen  „Möglichkeiten“  ausführlich  beschrieben  werden. 


Zweites  Kapitel:  Mannigfaltigkeit  und  Bedingtheit  der  Wirtschaft  15 

Traditionalistisch ,  wenn  sie  auf  einer  gedankenlosen  Befolgung 
überkommener  .Regeln ,  rationalistisch ,  wenn  sie  auf  dem  be¬ 
wußten  Willen  zu  einer  grundsätzlichen  Zweckmäßigkeit  aller 
Vornahmen  beruht. 

2.  Die  Tech  nik.  Deren  Verschiedenheit  wird  ebenfalls  vor 
allem  durch  den  Gegensatz  des  rationellen  und  empirischen 
Verfahrens  bewirkt.  Ist  die  Herbeiführung  des  technischen 
Enderfolges  das  Ergebnis  einer  bewußt  -  vernünftigen  Zweck¬ 
mäßigkeitserwägung,  so  sprechen  wir  von  einem  rationellen 
Verfahren,  und  ruht  dieses  auf  der  kausalen  Erklärung  der  Natur¬ 
erscheinungen,  von  einem  wissenschaftlichen  Verfahren; 
beruht  die  technische  Fähigkeit  dagegen  auf  einer  bloß  über¬ 
kommenen  und  gedankenlos  übernommenen  Kunstfertigkeit,  so 
nennen  wir  das  Verfahren  empirisch. 

3.  Die  Organisation.  Eine  bunte  Mannigfaltigkeit  ergibt 
sich  gar  erst,  wenn  wir  alle  möglichen  Anordnungen  und  Ein¬ 
richtungen  uns  vergegenwärtigen,  die  durch  die  Organisation  der 
Wirtschaft  ins  Leben  gerufen  werden.  Diese  bestimmt: 

a)  die  Art  und  Weise,  wie  die  für  die  Produktion  not¬ 
wendigen  Faktoren  —  Produktionsmittel  und  Arbeits¬ 
kräfte  —  zu  produktiver  Tätigkeit  herangezogen  werden:  ob 
beispielsweise  die  Arbeitskräfte  als  Familienangehörige  dem  Be¬ 
fehle  des  Familienoberhauptes  folgend  zur  Arbeit  kommen;  oder 
ob  sie  als  Fremde  zwangsweise  herbeigeschleppt  werden;  ob 
sie  von  der  staatlichen  Obrigkeit  in  einer  Gesellschaft  freier 
Menschen  zu  Arbeiten  bestimmt  werden;  ob  sie  als  gleich¬ 
berechtigte  Genossen  sich  zu  gemeinsamer  Arbeit  verabreden ; 
ob  sie  als  Ware  auf  dem  Markte  gekauft,  ob  als  Gehilfen  gegen 
Entgelt  vielleicht  nach  obrigkeitlich  festgestellten  Taxen  ange¬ 
worben  werden  usw. ; 

b)  die  Art  und  Weise,  wie  die  bei  der  Produktion  mit¬ 
wirkenden  Personen  Einfluß  aus  üben  auf  die  Gestaltung  und 
den  Gang  jener.  Produktionsleiter  ist  ja  das  Wirtschaftssubjekt. 
Aber'  die  Stellung  der  übrigen  Produktionsteilnehmer  zu  diesem 
kann  außerordentlich  verschieden  sein:  vom  unbeschränktesten 
Despotismus  bis  zur  freiesten  demokratischen  Verfassung  sind 
hier  Abstufungen  in  den  Beziehungen  des  Leiters  zu  den  Ge¬ 
leiteten  denkbar  und  wirklich; 

c)  die  Art  und  Weise,  wie  das  Produkt  verwendet  wird : 
ob  es  bestellenden  Kunden  gegen  Entgelt  geliefert,  ob  es  auf 
dem  Markte  verkauft,  ob  es  in  der  Wirtschaft  des  Produzenten 


16 


Einleitung 


verzehrt,  oh  es  auf  dem  Meierhofe  oder  in  der  Abtei  abgeliefert, 
ob  es  in  einem  staatlichen  Magazine  deponiert  wird  usw. ; 

d)  die  Art,  und  Weise,  wie  die  bei  der  Produktion  Mit- 
wirkenden  am  Produktionsertrage  teilnehmen:  ob 
gar  nicht  —  man  denke  an  die  abgabenpflichtigen  Fronbauern  — ; 
ob  mit  einer  Quote  des  Ertrages,  ob  mit  einer  unabhängig  vom 
Ertrage  festgesetzten  Wertsumme  —  in  natura  oder  in  Geld — ; 
ob  die  Anteilnahme  auf  dem  Wege  stillschweigender  Vereinbarung 
oder  freier  ausdrücklicher  Abmachung  oder  obrigkeitlicher  Nor¬ 
mierung  oder  sonstwie  stattfindet; 

e)  die  Art  und  Weise,  wie  der  Arbeitsprozeß  organi¬ 
siert  ist:  ob  in  kleinen  oder  großen  Betrieben  usw.; 

f)  die  Art  und  Weise,  wie  die  Wirtschaftsform  gestaltet  ist. 

II.  Die  Bedingtheit  des  Wirtschaftslebens 

Eine  ebenfalls  schlichte  Besinnung  führt  uns  zu  der  Einsicht, 
daß  die  eigenartige  Gestaltung,  die  das  Wirtschaftsleben  erfährt, 
von  der  Erfüllung  bestimmter  Bedingungen  abhängig  ist,  anders 
ausgedrückt,  daß  sich  ein  besonderes  Wirtschaftsleben  auf  einer 
Anzahl  geistiger  und  materieller ,  natürlicher  und  künstlicher 
Gegebenheiten  aufbaut. 

Die  Bedingungen  des  Wirtschaftslebens  sind  entweder  homo¬ 
gene  oder  heterogene.  Homogene  Erscheinungen  sind  solche, 
die  der  Verwirklichung  der  in  den  Wirtschaftssubjekten  vor¬ 
herrschenden  Zweckreihen  günstig  sind.  Heterogene  Erschei¬ 
nungen  dagegen  nenne  ich  diejenigen,  die  der  Erreichung  der 
von  den  führenden  Wirtschaftssubjekten  erstrebten  Ziele  Hinder¬ 
nisse  bereiten. 

Ihrer  eigenen  Art  nach  sind  unsere  Bedingungen  entweder 
Natur-  oder  Kulturbedingungen,  je  nachdem  sie  dem 
Menschen  von  der  Natur  fertig  gegeben  oder  von  ihm  selbst  erst 
geschaffen  werden. 

Land  und  Volk  sind  die  beiden  Kreise,  innerhalb  deren  sich 
die  Naturbedingungen  bewegen. 

Das  Land  kann  bestimmend  für  die  Gestaltung  des  Wirt- 
Schaftslebens  werden  durch  das,  was  der  Boden  in  sich  birgt: 
sei  es  an  Pflanzennährstoffen,  sei  es  an  Mineralien.  Kann  be¬ 
stimmend  werden  durch  das  Klima,  durch  seine  geographische 
Lage,  durch  seine  innere  Gliederung. 

Das  Volk  ist  gewiß  zum  guten  Teil  ein  Gebilde  von  Menschen¬ 
hand,  und  seine  Art,  muß  insoweit  als  Kulturbedingung  des 
Wirtschaftslebens  gewürdigt  werden,  Al: er  es  stellt  doch  auch 


Zweites  Kapitel:  Mannigfaltigkeit  und  Bedingtheit  der  Wirtschaft  17 

für  alle  Kultur  ein  von  Natur  Gegebenes  dar  und  ist  auch  eine 
(mächtig  wirksame)  Naturbedingung.  Die  Bevölkerung  gewinnt 
Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  von  zwei  Seiten 
her:  durch  ihre  Blutsbeschalfenheit,  die  Weltauffassung,  Leistungs¬ 
fähigkeit,  Temperament  bestimmt  und  durch  ihre  Mengenver¬ 
hältnisse,  die  sich  in  Dichtigkeit,  Altersaufbau  und  Zuwachsrate 
äußern. 

Die  „Kultürbedingungen“  der  Wirtschaft  sind  so  mannig¬ 
faltig  als  es  Äußerungen  der  Kultur  gibt.  In  systematischer 
Anordnung  ergibt  sich  folgende  Übersicht:  Bedingungen 

A.  der  objektiven  Kultur:  das  heißt  aller  Kultur,  die 
außerhalb  des  Individuums  ihre  Existenz  hat,  deren  Bestand  das 
Einzelleben  überdauert,  weil  sie  in  irgendeinem  Gegenstände, 
mag  dieser  auch  nur  die  Bedeutung  eines  Symbols  haben:  wie 
etwa  eine  Fahne  oder  ein  Standbild  des  Monarchen  „ob¬ 
jektiviert“  ist. 

Die  objektive  Kultur  stellt  sich  also  dar  in  einem  bestimmten 
Kulturbesitz,  dieser  ist 

I.  materieller  Natur.  Der  materielle  Kulturbesitz  wird 
gebildet  durch  die  Gesamtheit  der  einer  Gemeinschaft  von 
Menschen  zur  Verfügung  stehenden  Sachgüter. 

II.  ideeller  Natur.  Der  ideelle  Kulturbesitz  knüpft  zwar 
auch  an  irgendein  Sachgut  als  an  sein  materielles  Substrat  an, 
stellt  aber  über  dieses  hinaus  selbst  einen  geistigen  Besitz  dar. 

Solcher  ideeller  Kulturbesitz  ist  zwiefacher  Art.  Er  begründet 
einerseits  das,  was  ich  die  institutioneile  Kultur  nenne,  andrer¬ 
seits  die  sogenannte  geistige  Kultur. 

1.  Die  institutionelle  Kultur  (wie  wir  der  Einfachheit  halber  statt 
Kulturbesitz  sagen  können)  besteht  in  dem  Besitz  von  Ordnungen, 
Einrichtungen,  Organisationsformen,  deren  sich  ein  Volk  bedienen 
kann.  Sie  objektivieren  sich  in  Verfassungsurkunden,  Gesetz¬ 
büchern,  Keligionssystemen ,  Fabrikordnungen,  Zunftstatuteu, 
Zolltarifen  usw. ,  aus  denen  die  Menschen  die  Weisungen  ent¬ 
nehmen,  wie  sie  ihr  Verhalten  untereinander  einzurichten  haben. 
Wir  können  vier  große  Komplexe  innerhalb  der  gesamten  institu¬ 
tionellen  Kultur  unterscheiden,  in  denen  die  Jahrtausende  ihre 
Erfahrungen  niedergeschlagen  und  angehäuft  haben :  a)  den  Staat, 
b)  die  Kirche,  c)  die  Wirtschaft  und  d)  die  Sitte. 

2,  Die  geistige  Kultur,  soweit  sie  einen  Kulturbesitz  darstellt, 
wird  gebildet  durch  all  denjenigen  ideellen  Kulturbesitz,  der 
sich  nicht  in  Ordnungen  irgendwelcher  Art  erschöpft.  Hierher 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  t 


18 


Einleitung- 


gehört  also  aller  Besitz  an  Idealen ,  an  W ertvorstellungen ,  an 
Strebungen  usw.  Es  macht  einen  Bestandteil  des  Kulturbesitzes 
eines  Volkes  aus,  wenn  in  ihm  ein  starkes  Staatsgefühl  oder  ein 
tiefer  religiöser  Sinn  oder  eine  humanitäre  Weltauffassung  oder 
ein  mammonistischer  Geist  zu  Hause  sind. 

Daneben  kommt  alles  das  in  Betracht,  an  das  man  in  der 
Regel  allein  denkt,  wenn  man  von  dem  geistigen  Kulturbesitz 
eines  Volkes  spricht:  die  Erzeugnisse  der  Wissenschaft  und  der 
Kunst,  mit  deren  Segnungen  es  sich  erfüllen  kann. 

Hierher  gehört  auch  der  für  die  Gestaltung  des  Wirtschafts¬ 
lebens  besonders  bedeutsame  Besitz  an  technischem  Wissen  und 
technischem  Können. 

Dieser  objektiven  Kultur  steht  nun  das  gegenüber,  was  man 

B.  die  persönliche  Kultur,  die  Eigenkultur  nennen  kann. 
Sie  besteht  in  der  Nutzbarmachung  der  Kulturgüter-  durch  einen 
lebendigen  Menschen.  Sie  ist  die  „Bildung“  dieses  Menschen 
selbst;  ist  sein  höchst  persönliches  Eigen,  entsteht  mit  ihm,  durch 
ihn  und  stirbt  mit  ihm.  Die  Eigen-Kultur  ist  1.  eine  körper¬ 
liche  oder  2.  eine  seelische.  Alle  Schulung  des  Körpers 
durch  Sport  usw.,  aber  auch  alle  Sauberkeit,  alle  Eleganz  der 
Kleidung  u.  dgl.  gehört  jener  an,  während  diese,  die  seelische 
Eigenkultur,  in  der  moralischen,  intellektuellen  oder  künstlerischen 
Vervollkommnung  des  Individuums  ihren  Ausdruck  findet.  Es 
ist  ersichtlich,  daß  zwischen  der  objektiven  Kultur  und  der 
subjektiven  weite  Spalten  klaffen  können,  daß  vor  allem  eine  und 
dieselbe  objektive  Kultur  —  z.  B.  ein  bestimmter  Besitz  von 
wissenschaftlichen  oder  künstlerischen  Werken  —  sich  sehr  ver¬ 
schieden  in  der  Eigenkultur  widerspiegeln  kann:  qualitativ,  je 
nach  der  verschiedenen  Art  der  Wirkung,  die  die  Nutzbarmachung 
der  Kulturgüter  auf  die  Menschen  ausübt;  quantitativ,  je  nach 
dem  Umkreis  yon  Individuen,  die  überhaupt  an  der  Ausschöpfung 
des  Inhalts  der  objektiven  Kultur  teilnehmen. 

Sprechen  wir  von  der  Kultur  eines  Volkes  ,  so  denken  wir 
sowohl  an  die  Gesamtheit  seines  (objektiven)  Kulturbesitzes  wie 
an  die  Ausdehnung  und  Eigenart  der  persönlichen  Kultur  der 
Angehörigen  dieses  Volkes.  Daneben  gibt  es  dann  aber  noch 
ein  Drittes,  das-  uns  vorschwebt,  insbesondere  wenn  wir  von  der 
Kultur  einer  bestimmten  „Zeit“  reden,  was  objektive  und  sub¬ 
jektive  Kultur  gleichsam  in  einem,  nur  in  ihnen  existent  und 
aufweisbar  und  doch  ein  anderes  neben  ihnen  ist.  Es  ist 

C.  der  Inbegriff  aller  Kulturerscheinungen,  die  wir  in  unserem 


Zweites  Kapitel:  Mannigfaltigkeit  und  Bedingtheit  der  Wirtschaft  IQ 

Geiste  zu  einer  Einheit  zusannnenfassen  und  mit  besonders  kenn¬ 
zeichnenden  Merkmalen  ausstatten.  Man  könnte  es  etwa  den 
Kulturstil  (einer  Zeit,  eines  Landes)  nennen,  den  wir  zweifellos 
als  eine  Einheit  empfinden,  wenn  er  auch  als  solcher  in  nichts 
anderm  sich  darstellt  als  in  den  tausendfachen,  disparaten  Äuße¬ 
rungen  der  objektiven  und  subjektiven  Kultur  dieser  Zeit  oder 
dieses  Landes.  Wenn  wir  von  der  „Kultur  der  Renaissance“  im 
Gegensatz  etwa  zur  „modernen  Kultur“  sprechen,  so  ist  es  der 
eigentümliche  „Kulturstil“,  den  wir  im  Sinne  haben. 

Daß  auch  dieser  besondere  Kulturstil  großen  Einfluß  auf  das 
Wirtschaftsleben  ausüben  kann,  sagt  die  Überlegung  und  lehrt 
die  Geschichte. 


2* 


20 


Drittes  Kapitel 

Die  Aufgabe  der  Wirtschaftswissenschaften 

I.  Die  Differenzierung  der  Wirtschaftswissenschaft 

Ursprünglich,  das  heißt  als  man  zuerst  das  Wirtschaften  zum 
Gegenstände  des  Nachdenkens  machte ,  gab  es  nur  eine  einzige 
„Wissenschaft“  vom  Wirtschaftsleben.  Das  war  die  Hauswirt¬ 
schaftslehre:  die  Ökonomik,  die  aber  auch  Ökonomie  (oixovopia) 
selbst  genannt  wurde,  wie  wir  sie  bei  den  Griechen  zuerst  sich 
entwickeln  sehen. 

„Wir  hatten  also  gefunden,  sagte  Sokrates,  daß  Hauswirtschaft 
der  Name  einer  Wissenschaft  ist  und  daß  diese  den  Menschen 
befähigt,  sein  Hauswesen  zu  fördern.  Unter  Hauswesen  aber 
verstanden  wir  das  Gesamtvermögen;  als  solches  betrachten  wir 
das,  was  einem  jeden  nutzbringend  für  seine  Lebensführung  ist, 
nutzbringend  endlich  erschien  uns  das,  was  einer  zu  gebrauchen 
versteht l.“ 

Die  oixovojna  umfaßte  ebenso  die  Fürsorge  eines  Hausvaters 
für  seinen  und  der  Seinen  Unterhalt:  die  Anordnungen,  die  er 
traf,  um  Schafe  zu  züchten,  Wein  zu  keltern  und  Wolle  zu 
spinnen ,  seine  Maßregeln  zur  Kindererziehung  und  Sklaven¬ 
behandlung;  seine  Einkäufe  und  Verkäufe  wie  etwaigen  Vertrags¬ 
schlüsse  wie  alle  ausführende  Tätigkeit :  das  Pflügen  und  Ernten, 
das  Spinnen  und  Weben,  das  Aufspeichern  und  Zuteilen. 

Die  Wissenschaft  von  der  oixovojna  hatte  die  Aufgabe,  dem 
guten  Hausvater  in  allen  diesen  seinen  Obliegenheiten  ein  guter 
Ratgeber  zu  sein. 

Das  war  aber  auch  noch  die  Auffassung  der  Kameralisten 
von  dem  Sinne  der  Kameralwissenschaft ,  in  der  alles  gelehrt 
werden  sollte,  was  ein  guter  Verwaltungsbeamter  wissen  mußte : 
wie  man  Schweine  züchtete ,  wie  man  die  Länder  bevölkerte, 
wie  man  den  fürstlichen  Haushalt  in  Ordnung  hielt  und  wie  man 
die  Industrie  und  den  Handel  zur  Blüte  brachte. 

Die  Auflösung  der  alten  Wirtschaftsverbände,  die  immer 
kunstvollere  Gestaltung  des  wirtschaftlichen  Lebens  führten  zur 

}  Oeconomicus.  6.  Kapitel  deutsch,  von  M.  Ho  d  ermann. 


Drittes  Kapitel:  Die  Aufgabe  der  Wirtschaftswissenschaften  21 

Herausbildung  zunächst  einer  Eeilie  von  Knnstlebren,  denen 
die  Aufgabe  zufiel,  besonders  schwierige  Teile  der  Unterhalts- 
fursorge  eingehend  zu  behandeln,  uni  dem  Praktiker  eine  ge¬ 
diegene  Sachkenntnis  zu  übermitteln.  Alle  im  „Recht“  nieder¬ 
geschlagene  Ordnung  wurde  in  der  Jurisprudenz  wissenschaftlich 
erörtert;  alle  Technik,  sei  es  die  des  Landbaus,  sei  es  die  der 
Stoffverarbeitung,  sei  es  die  des  Gütertransports,  sei  es  die  der 
kaufmännischen  und  industriellen  Geschäftsführung,  wurde  be¬ 
sonderen  „technologischen“  Wissenschaften  zur  gründlichen  Be¬ 
handlung  zugewiesen. 

So  blieb  schließlich  ein  Rest  der  alten  Wirtschaftswissenschaft 
übrig,  der  nicht  Jurisprudenz  und  nicht  Technologie  war ,  und 
diesen  Rest  bezeichnen  wir  als  Volkswirtschaftslehre  oder 
Nationalökonomie  oder  politische  Ökonomie.  Ihr  Gegenstand  wird 
sich  am  besten  negativ  umschreiben  lassen:  Objekt  der  National¬ 
ökonomie  (oder  wie  man  diese  Wissenschaft  sonst  benamsen  will) 
ist  die  menschliche  Unterhaltsfürsorge,  soweit  diese  nicht  von 
der  Rechtslehre  oder  den  verschiedenen  Kunstlehren  behandelt 
wird.  Positiv  können  wir  sagen:  Nationalökonomie  ist  die 
Lehre  von  den  Wirtschaftssystemen  (s.  u.).  Damit  sind 
die  Richtlinien  für  diese  Wissenschaft  vorgezeichnet. 

H.  Die  Richtlinien  der  Volkswirtschaftslehre 

I.  Da  die  menschliche  Unterhaltsfürsorge  eine  gesellschaft¬ 
liche  Erscheinung  ist,  so  ist  die  Wissenschaft,  die  sie  als  ein 
Ganzes  zum  Gegenstände  hat,  eine  Sozialwissenschaft:'  alle 
ihre  Begriffe  müssen,  nachdem  die  technischen  Wissenschaften 
ausgesondert  sind,  sozialwissenschaftliches  Gepräge  tragen. 

2.  Will  man  Wirtschaft  denken  und  ihre  Erscheinungen 
wissenschaftlich  erfassen,  so  kann  man  sie  nur  inmitten  einer 
bereits  gewordenen,  historischen  Umwelt  sich  vorstellen,  also 
als  ein  bestimmt  gestaltetes  geschichtliches  Gebilde.  Daß  die 
Nationalökonomie  eine  historische  Sozialwissenschaft  sei,  ist 
ihr  a  priori.  Also  sind  auch  alle  Begriffe  der  Nationalökonomie, 
„historische  Kategorien“.  Was  man  diesen  als  „ökonomische 
Kategorien“  gegenübergestellt  hat,  waren  keine  sozialwissenschaft¬ 
lichen,  sondern  technologische  Begriffe  (Kapital Produktions¬ 
mittel).  Diese  sind  nur  als  Hilfsbegrifife  zulässig. 

3.  Der  tragende  Begriff  der  Nationalökonomie  ist  der  Be¬ 
griff  des  Wirtschaftssystems.  Darunter  verstehe  ich  eine 


22 


Einleitung 


bestimmt  geartete  Wirtschaftsweise,  das  heißt  eine  bestimmte 
Organisation  des  Wirtschaftslebens ,  innerhalb  deren  eine  be¬ 
stimmte  Wirtschaftsgesimmng  herrscht  und  eine  bestimmte 
Technik  zur  Anwendung  gelangt.  In  dem  Begriffe  des  Wirt¬ 
schaftssystems  wird  die  historisch  bedingte  Eigenart  des  Wirt¬ 
schaftslebens  zu  einer  begrifflichen  Einheit  zusammengefaßt. 
Alle  übrigen  nationalökonomischen  Begriffe  sind  auf  diesen  Ober¬ 
oder  Grundbegriff  auszurichten. 

4.  Die  wissenschaftlichen  Methoden,  deren  sich  die 
Nationalökonomie  bedient,  werden  verschieden  sein,  je  nach  der 
Art  des  Wirtschaftssystems ,  um  dessen  Erforschung  es  sich 
handelt.  Immer  aber  werden  es  drei  verschiedene  Gesichtspunkte 
sein,  unter  denen  die  Betrachtung  steht: 

a)  der  theoretische:  begrifflich  reine  Erfassung  aller  Er¬ 
scheinungen  und  ihrer  Zusammenhänge; 

b)  der  realistisch-empirische:  Feststellung  der  tat¬ 
sächlichen  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  und  seiner  Ver¬ 
änderungen  im  Ablauf  der  Zeiten  mit  Hilfe  der  „theoretischen" 
Erkenntnisse. 

Der  dem  Begriff  des  Wirtschaftssystems  entsprechende  Begriff 
bei  der  realistisch  -  empirischen  Betrachtungsweise  ist  der  der 
Wirtschaftsepoche.  Darunter  verstehe  ich  eine  historische 
Zeitspanne,  in  der  ein  bestimmtes  Wirtschaftssystem  oder  ge¬ 
nauer:  die  einem  bestimmten  Wirtschaftssysteme  gemäße  Wirt¬ 
schaftsweise  vor  geherrscht  hat. 

c)  der  politische:  Ausrichtung  aller  Erscheinungen  auf  ein 
Ideal  und  Abmessung  der  Mittel  und  Wege,  die  zur  Verwirk¬ 
lichung  des  Ideals  dienen. 

IH.  Die  Aufgabe  dieses  Werkes 

Gemäß  den  soeben  entwickelten  Grundsätzen  ist  dieses  Werk 
entworfen,  das  sich  zur  Aufgabe  gemacht  hat:  das  Wirtschafts¬ 
leben  der  europäischen  Völker  von  seinen  Anfängen  an  bis  zur 
Gegenwart  genetisch-systematisch  zur  Darstellung  zu  bringen. 

Dazu  bemerke  ich  folgendes: 

1.  „Von  seinen  Anfängen  an“:  das  heißt  von  der  Zeit 
an,  da  das  Wirtschaftsleben  der  Völker,  die  Europa  seit  der 
Völkerwanderung  in  Besitz  genommen  hatten,  aus  eigener  Wurzel 
neu  zu  wachsen  beginnt:  von  der  Zeit  der  Karolinger  an  etwa. 

2.  „Das  Wirtschaftsleben  der  europäischen  (insonderheit 


Drittes  Kapitel:  Die  Aufgabe  der  Wirtschaftswissenschaften  23 

süd-,  west-  und  mitteleuropäischer)  Völker“  :  soweit,  muß  hinzu¬ 
gefügt  werden,  es  sieh  einheitlich  gestaltet  und  einheitlich  verläuft. 
Die  Fragestellung  ist  also  gerichtet  auf  das  möglichst  Allgemeine 
in  den  wirts chaftlichen  Erscheinungen;  nicht  auf  die  Besonder¬ 
heit  von  Land  zu  Land.  Beide  Fragestellungen:  die  nach  der 
Übereinstimmung  und  Allgemeinheit  und  die  nach  der  Ver¬ 
schiedenheit  und  Besonderheit,  die  man  als  soziologische  und 
historische  bezeichnen  kann,  sind  offenbar  gleich  berechtigt:  sie 
schließen  sich  nicht  aus,  sondern  ergänzen  einander.  Neben  den 
zahllosen  Bearbeitungen  der  Wirtschaftsgeschichte  einzelner  Ge¬ 
biete  bedeutet  dieses  Werk  den  ersten  Versuch  einer  gesamt¬ 
europäischen  Wirtschaftsgeschichte. 

3.  „Genetisch- systematisch“  soll  das  europäische 
„Wirtschaftsleben“  zur  Darstellung  gebracht  werden.  Das 
bedeutet  folgendes:  jede  Einzelerscheinung  des  Wirtschaftslebens 
wird  ausgerichtet  auf  das  jeweils  herrschende  Wirtschaftssystem. 
Der  Begriff  des  Wirtschaftssystems  und  demnach  der  der  Wirt¬ 
schaftsepoche  dienen  zur  Ordnung  des  gesamten  ungeheuerlich 
großen  Stoffes ,  der  nur  unter  steter  Beihilfe  dieser  beiden 
tragenden  Begriffe  gemeistert  werden  konnte. 

Es  mußten  also  die  verschiedenen  Wirtschaftssysteme,  die 
in  den  elf  Jahrhunderten  von  800 — 1900  vorgeherrseht  hatten,  er¬ 
mittelt  und  zunächst  in  begrifflicher  Feinheit  („idealtypisch“)  be¬ 
schrieben  werden.  Die  solcherweise  beschriebenen  Wirtschafts¬ 
systeme  sind: 

a)  die  Eigenwirtschaft  in  ihrer  doppelten  Gestalt:  als  bäuer¬ 
liche  und  grundherrliche  Eigenwirtschaft; 

b)  das  Handwerk; 

c)  der  Kapitalismus. 

Diesen  drei  Wirtschaftssystemen  entsprechen  die  drei  Wirt- 
schaftsepochen,  die  in  dem  letzten  Jahrtausend  aufeinander  in 
Europa  gefolgt  sind.  Die  wirkliche  Gestaltung  des  Wirtschafts¬ 
lebens  in  diesen  drei  Epochen  darzustellen  ist  die  eigentliche 
Aufgabe  dieses  Werks.  Es  ist  zum  ersten  Male  der  Versuch 
unternommen,  die  Wirtschaftsweise  zu  schildern,  während 
bisher,  von  engumgrenzten  Monographien  abgesehen,  alle  um¬ 
fassenden  sogenannten  Wirtschaftsgeschichten  nichts  anderes 
als  Geschichten  der  Wirtschaftsordnungen  waren.  Weder  Cun- 
ningham  noch  Levasseur  noch  Inama-Sternegg  noch 
Kowale  wsky  sind  etwas  wesentlich  anderes  als  Rechtsgeschichten. 
Dieses  Werk  will  dagegen  zeigen,  wie  sich  die  Unterhaltsfursorge 


24 


Einleitung 


in  Wirklichkeit  gestaltet,  wie  sich  die  wirtschaftlichen  Vorgänge 
in  Wirklichkeit  abgespielt  haben.  Was  der  Bauer  und  der 
Grundherr,  der  Handwerker  und  der  Kaufmann  gedacht,  gewollt, 
getan  haben,  wie  ihre  Einzelhandlungen  sich  zu  dem  wunder¬ 
samen  Gebilde  der  allgemeinen,  gesellschaftlichen  Wirtschaft  zu¬ 
sammengefügt  haben ,  möchte  dieses  W erk  zur  lebendigen  An¬ 
schauung  bringen.  Das  Problem ,  das  zu  lösen  war ,  bestand 
darin:  dem  Leser  eine  „Fülle  der  Gesichte“  vor  Augen  zu 
stellen,  ihn  den  unermeßlichen  Reichtum  der  Einzelerscheinungen 
intensiv  erleben  zu  lassen  und  ihm  doch  jederzeit  den  klaren 
Überblick  über  das  Ganze  zu  bewahren,  ihm  das  sichere  Gefühl 
zu  geben,  daß  er  sich  unbedenklich  der  Betrachtung  der  tausend 
Einzelheiten  überlassen  könne,  ohne  Gefahr  zu  laufen,  sich  in 
dem  Wirrwarr  der  Tatsächlichkeiten  zu  verlieren.  Ihm  diese 
Sicherheit  zu  verschaffen,  dient  einerseits  die  allgemeine  streng 
durchgeführte  Ausrichtung  aller  Erscheinungen  auf  das  jeweils 
herrschende  Wirtschaftssystem,  anderseits  die  im  einzelnen  durch¬ 
geführte  Doppelbehandlung  jedes  Problems:  die  theoretisch¬ 
abstrakte  und  realistischrempirische.  Von  was  immer  ich  in 
diesem  Werke  auch  spreche:  ob  von  Handwerk  oder  Kapitalis¬ 
mus,  von  Städte-  oder  Vermögensbildung,  von  Preis-  oder  Markt¬ 
bildung,  von  Geld-  oder  Naturalwirtschaft,  immer  wird  der  Leser 
dort,  wo  ich  den  Gegenstand  zum  ersten  Male  behandle,  auf  die 
empirische  Darstellung  des  Tatsächlichen  vorbereitet  durch  eine 
theoretische  Konstruktion  des  Erscheinungskomplexes.  Ich  hoffe, 
daß  diese  hier  zum  ersten  Male  angewandte  Methode  sich  als 
fruchtbar  erweisen  werde. 

4.  Das  Wirtschaftsleben  in  seiner  verschiedenen  Gestaltung 
lebendig  werden  zu  lassen,  war  das  Ziel,  das  ich  mir  in  diesem 
Werke  gesteckt  habe.  Also  mußte  vor  allem  die  Methode,  die 
schon  Mephisto  verspottet  hat,  die  aber  leider  noch  immer  im 
Schwange  ist,  vermieden  werden : 

„Wer  will  was  Lebendiges  erkennen  und  beschreiben, 

Sucht  erst  den  Geist  herauszutreiben  .  .  .“ 

Vielmehr  war  es  mein  heißes  Bemühen,  das  „geistige  Band“, 
das  alle'  lebendige  Wirtschaft  zusammenhält,  bei  meiner  Unter¬ 
suchung  nicht  zu  zerstören ,  sondern  in  seiner  allzusammen- 
fassenden  Kraft  gerade  aufzuweisen.  Deshalb  habe  ich  vor  allem 
mich  bemüht,  den  Geist,  der  je  eine  bestimmte  Wirtschafts¬ 
epoche  beherrscht  hat,  aus  dem  heraus  das  Wirtschaftsleben  in 
dieser  Epoche  gestaltet  worden  ist,  aufzusuchen  und  in  seiner 


Drittes  Kapitel:  Die  Aufgabe  der  Wirtschaftswissenschaften  25 

Wirksamkeit  zu  verfolgen.  Es  ist  ein  Grundgedanke  dieses 
Werkes,  daß  je  zu  verschiedenen  Zeiten  eine  verschiedene  Wirt¬ 
schaftsgesinnung  geherrscht  habe,  und  daß  es  der  Geist  ist,  der 
sich  eine  ihm  angemessene  Form  gibt  und  dadurch  die  wirt¬ 
schaftliche  Organisation  schafft.  Diese  Grundansicht,  die  schon 
in  der  1.  Auflage  dieses  Werkes  sich  findet,  ist  noch  viel  mehr 
ausgeprägt  worden  und  zur  Leitidee  aller  meiner  Darlegungen 
gemacht  worden  b  Wie  ich  das  verstehe,  werde  ich  noch  häufig 
auszuführen  Gelegenheit  haben. 

5.  Aber  der  Geist  ist  auf  Erden  nicht  allmächtig.  Damit  er 
das  Leben  nach  seinem  Bilde  forme ,  müssen  bestimmte  B  e  - 
dinguhgen  erfüllt  sein.  Und  gerade  dem  Nachweise  dieser  für 
die  Verwirklichung  der  wirtschaftlichen  Ideen  unerläßlichen  Be¬ 
dingungen  ist  ein  großer  Teil  der  Darstellung  dieses  Werkes 
gewidmet.  Da,  wie  wir  wissen,  die  Gestaltung  des  Wirtschafts¬ 
lebens  von  der  Gestaltung  der  gesamten  übrigen  Kultur  bedingt 
ist,  so  führt  die  Darlegung  der  Bedingungen  des  Wirtschafts¬ 
lebens  in  alle  Zweige  des  staatlichen  und  geistigen  Lebens  hinein 
und  trägt  zur  Belebung  wesentlich  bei. 

Die  Bedingungen  einer  bestimmten  Wirtschaftsweise  habe  ich 
in  einem  Falle  (beim  Handwerk)  systematisch,  im  andern  Falle 
(beim  Kapitalismus)  genetisch  dargestellt.  Auf  diese  genetische 
Darstellung  ist  in  dem  Hauptteile  dieses  Werkes,  der  die  Ent¬ 
stehung  des  modernen  Kapitalismus  schildert,  ein  entscheidendes 
Gewicht  gelegt  worden. 

6.  Bei  dieser  Art  der  Untersuchung  wird  sich  wie  von  selbst 
eine  bestimmte  Gliederung  des  geschichtlichen  Ablaufs  der 
Ereignisse  zwanglos  ergeben.  Man  wird  in  empirisch  umgrenz¬ 
baren  Zeiträumen  die  Herrschaft  eines  Wirtschaftsprinzips  und 
des  ibm  entsprechenden  Wirtschaftssystems  so  gut  wie  un¬ 
beschränkt  finden ;  in  andern  dagegen  neue  Wirtschaftsprinzipien 
im  Kähmen  des  herrschenden  Wirtschaftssystems  nach  An¬ 
erkennung  ringen  sehen.  Anders  ausgedrückt:  jedes  neue  Wirt- 


1  Die  Einwände ,  die  gegen  diese  meine  Grundanschauung  von 
zahllosen  Kritikern  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  erhoben  worden 
sind,  haben  mich  nur  in  der  Überzeugung  bestärkt,  daß  allein  meine 
Betrachtungsweise  eine  vertiefte  Einsicht  in  das  Wesen  wirtschaftlicher 
Organisationen  gewährt.  Ich  habe  die  gegen  mich  angeführten  Gründe 
zu  entkräften  und  die  Berechtigung  meines  Standpunkts  zu  erweisen 
versucht  in  meinem  Werke:  Der  Bourgeois.  Zur  Geistesgeschichte 
des  modernen  Wirtschaftsmenschen  (1913).  S.  3  ff.,  441  ff. 


26 


Einleitung 


schaftsprmzip  muß  sich,  zunächst  im  Rahmen  eines  bestehenden 
Wirtschaftssystems  durchzusetzen  versuchen.  Es  wird  zu  seiner 
Verwirklichung  sich  Wirtschaftsformen  schaffen,  deren  Gestaltung 
noch  wesentlich  von  der  Eigenart  der  aus  einem  andern  (dem 
z.  Z.  herrschenden)  Wirtschaftsprinzip  erzeugten  Wirtschafts¬ 
ordnung  bestimmt  wird  und  vermag  erst  allmählich  sich  das  ge¬ 
samte  Wirtschaftsleben  nach  seinem  Geiste  zu  formen.  Vom 
Standpunkt  des  neuen  Wirtschaftssystems  aus  ist  diese  Epoche, 
in  der  die  neuen  Wirtschaftsprinzipien  im  Rahmen  der  alten  Ord¬ 
nung  sich  betätigen,  seine  Frühepoche,  vom  Standpunkt  des 
alten  Wirtschaftssystems  aus  dessen  Spät epo che.  Dazwischen 
liegt  die  Hochepoche  eines  Wirtschaftssystems ,  in  welcher 
der  Geist  nur  eines  Wirtschaftssystems  zu  reiner  Entfaltung 
gelangt.  Dieses  Schema  einer  genetischen  Betrachtungsweise 
auf  empirisch  bestimmte  Wirtschaftsperioden  angewandt  ist  es 
nun,  was  den  folgenden  Untersuchungen  zugrunde  liegt. 

Allgemeine  Literatur 

Ein  Werk,  das  dieselben  Wege  wie  dieses  ginge,  gibt  es  meines 
Wissens  nicht.  Ähnlichen  Gedanken  wird  man  am  ehesten  begegnen 
in  Gustav  Schmolle rs  Grundriß  der  politischen  Ökonomie,  zuerst 
1900;  und  Karl  Büchers  Entstehung  der  Volkswirtschaft,  zuerst 
1893.  Doch  liegt  beiden  Werken  ihrer  Anlage  gemäß  fern  eine 
systematische  Darstellung  des  geschichtlichen  Verlaufs  der  Wirtschaft 
in  den  verschiedenen  Ländern.  Eine  solche  ist  bisher  nur  im  nationalen 
Rahmen  unternommen  worden.  Die  bekanntesten  „Wirtschafts¬ 
geschichten“  der  wichtigsten  Völker  sind:  W.  Cunningham, 
The  growth  of  english  industry  and  commerce.  2  Vol.  E.  Levasseur' 
Histoire  des  classes  ouvrieres  et  de  l’industrie  en  France.  4  Vol. 
Th.  v.  Inama-Sternegg,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  3  Bde. 
Diese  drei  Werke,  wenn  sie  auch,  wie  ich  schon  sagte,  eher  Ge¬ 
schichten  der  wirtschaftlichen  Ordnung  als  des  wirtschaftlichen 
Lebens  darstellen,  sind  jedes  in  seiner  Art  ganz  hervorragende 
Leistungen.  Heute  sind  sie  nach  Fragestellung,  Methode  und  Be¬ 
griffsbildung  großenteils  veraltet.  Ganz  auf  der  Höhe  der  heutigen 
F orschung  steht  von  zusammenfassenden  Darstellungen  die  ausgezeichnete 
Skizze  von  R.  Kötschke,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte  bis  zum 
16.  Jahrhundert  im  Grundriß  der  Geschichtswissenschaft,  herausee°' 
von  A.  Meister,  Bd.  II.  1. 

Das  Werk  von  Maxime  Kowalewsky,  Die  ökonomische  Ent¬ 
wicklung  Europas  bis  zum  Beginn  der  kapitalistischen  Wirtschaftsform 
(Deutsch  in  7  Bänden),  enthält  nicht,  was  der  Titel  verheißt :  es  ist 
reine  Rechtsgeschichte  im  wesentlichen  der  Agrarverhältnisse, 
übrigens  ebenfalls  in  nationalem  Rahmen. 


Erstes  Buch 

Die  vorkapitalistische  Wirtschaft 


4 


29 


Erster  Abschnitt 

Viertes  Kapitel 

Die  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnung 

Quellen  und  Literatur 

Eine  Literatur,  die  sich  mit  dem  Probleme  des  historisch  be¬ 
sonderen  Geistes  im  Wirtschaftsleben  beschäftigt,  gibt  es  kaum.  Zu 
nennen  sind  die  Kritiken,  die  sich  mit  den  einschlägigen  Kapiteln  der 
ersten  Auflage  auseinandersetzen,  und  die  ich  gelegentlich  anführen 
werde.  Außer  mir  hat  nur  Max  Weber  in  seinen  Aufsätzen  „Die 
protestantische  Ethik  und  der  Geist  des  Kapitalismus“  (im  Archiv  für 
Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik  Band  21  ff.)  das  Thema  selbständig 
behandelt.  An  diese  Arbeit  schließen  sich  dann  wieder  eine  Reihe 
kritischer  Auslassungen. 

Eine  Darstellung,  wie  die  hier  versuchte,  ist  daher  ausschließlich 
auf  die  Benutzung  der  Quellen  angewiesen.  Über  deren  Natur  und 
Erkenntniswert  will  ich  folgendes  im  vorhinein  bemerken. 

Die  Quellen  zur  Erschließung  des  Geistes  im  Wirtschaftsleben 
fließen  für  jeden,  dessen  Auge  erst  einmal  geöffnet  ist  für  das  Problem, 
reichlich.  Es  sind  auch  hier  unmittelbare  und  mittelbare  Erkenntnis¬ 
quellen.  Unmittelbare  Erfahrung  vom  wirtschaftlichen  Geist  über¬ 
mitteln  uns  die  wirtschaftenden  Menschen  selbst  durch  ihre  Äußerungen. 
Solche 

1.  Selbstzeugnisse  können  gelegentlicher  Natur  sein:  Gespräche, 
schriftliche  Mitteilungen  usw.,  oder  sie  sind  systematisch  geordnet :  in 
Selbstbiographien,  Testamenten,  „Reflexionen“  und  ähnlichem.  Aber 
viel  zahlreicher  sind  die  Möglichkeifen,  auf  Umwegen  Einblicke  in  die 
Psyche  des  Wirtschaftenden  zu  gewinnen.  Diese  Möglichkeiten  können 
wir  also  als  mittelbare  Erkenntnisquellen  zusammenfassen.  Hier 
kommen  in  Betracht: 

2.  Die  „Werke“  der  Wirtschaftenden  im  weitesten  Sinne;  in  denen 
sich  also  gleichsam  ihr  Geist  „niedergeschlagen“  hat.  Ich  denke  an 
allgemeine  Organisationen,  die  sie  schaffen:  Dorfanlagen,  Fabrikbetriebe, 
Verkehrsunternehmungen;  an  technische  Werke:  Einrichtung  von 
Werkstätten,  Gestaltung  der  Arbeitsmittel,  Anlage  von  Eisenbahnen, 
von  Bewässerungen,  von  Kanälen  und  Häfen  usw. ;  an  besondere  Ein¬ 
richtungen  zur  Durchführung  wirtschaftlicher  Zwecke.:  das  Rechnungs¬ 
wesen;  an  Wohlfahrtseinrichtungen;  an  das  Tempo  der  Entwicklung ; 
an  den  Rhythmus  des  Wirtschaftslebens:  rasche  Neugestaltung,  rasche 
Ausdehnung  des  Wirtschaftskörpers  und  ähnliches  mehr. 

3.  Rechtsnormen :  Bestimmungen  über  das  Recht  der  freien  Selbst¬ 
bestimmung,  über  Konkurrenz,  über  Reklame,  über  Preisbildung,  über 
Zinsnehmen  usw. 


BO 


Erster  Abschnitt 


4.  Sittenleliren :  religiösen  oder  weltlichen  Ursprungs.  Zu  ihnen 
kann  man  auch  zählen  alle  kritischen  Äußerungen:  Satiren,  Kampfes¬ 
schriften,  Reformvorschläge  usw. 

5.  Zeitspiegelungen:  in  der  öffentlichen  Meinung:  z.  B.  Geltung 
der  verschiedenen  Berufe  (Handel!)  bei  der  Gesamtheit  oder  inner¬ 
halb  bestimmter  Klassen  (Stellung  des  Adels  zum  Erwerb !) ;  in 
Literatur,  Kunst  und  Wissenschaft:  Darstellung  von  Typen,  Art¬ 
beschaffenheit  der  beliebten  „Richtungen“. 

6.  Soziale  Stellung  der  einzelnen  Gruppen  der  Bevölkerung  zu¬ 
einander:  friedliches  Zusammenleben,  feindliche  Haltung  (etwa  der 
Arbeiter  zu  den  Unternehmern),  patriarchalische  Beziehung,  geschäft¬ 
liche  Regelung. 

7.  Die  Gestaltung  der  Politik,  in  der  die  Wirtschaftsgesinnung 
der  einzelnen  sich  ausstrahlt:  Machtpolitik  oder  Freihandel  und  der¬ 
gleichen. 

Daß  der  Erkenntniswert  der  aus  diesen  Quellen  zu  entnehmenden 
Zeugnisse  ein  sehr  verschiedener  ist,  leuchtet  ohne  weiteres  ein. 

Die  Selbstzeugnisse  (1.)  sind  vor  allem  sehr  selten  und  schon  des¬ 
halb  nicht  sehr  ergiebig.  Sie  können  freilich  unter  Umständen  von 
ganz  großer  Bedeutung  für  das  richtige  Verstehen  eines  Zustandes 
werden.  Meist  muß  man  freilich  zwischen  den  Zeilen  lesen.  Das 
gilt  insbesondere  bei  allen  systematischen  Äußerungen  der  gedachten 
Art.  In  den  Selbstbiographien  oder  Memoiren  etwa  hervorragender 
Wirtschaftsmenschen  (deren  es  eine  ganze  Reihe  gibt)  stellen  sich 
die  Verfasser  natürlich  immer  als  ganz  selbstlose,  nur  dem  Gemein¬ 
wohl  dienende  Menschen  hin,  denen  Geldverdienen  ganz  fern  gelegen 
hat.  Manche  sind  auch  ehrlich  gegen  sich  selbst,  und  die  geben  uns 
natürlich  die  besten  Aufschlüsse.  Zu  berücksichtigen  ist  auch  der 
Umstand,  daß  wir  solche  systematische  Selbstzeugnisse  meist  nur  von 
ganz  hervorragenden  Menschen  haben,  deren  Überlebensgroße  also  auf 
das  Durchschnittsmaß  zurückzuführen  ist,  wenn  wir  ihre  Leistungen 
und  Ansichten  verallgemeinern  wollen. 

Von  den  übrigen  Quellen  sind  die  zuverlässigsten  die  „Werke“ 
der  Wirtschaftssubjekte  (2.).  Sie  lügen  wenigstens  niemals. 

Die  unter  3  und  4  genannten  Quellen  sind  sehr  wichtig,  aber  be¬ 
sonders  gefährlich  zu  benutzen,  so  daß  es  Forscher  gibt,  die  sie  über¬ 
haupt  als  Erkenntnisquelle  für  eine  bestimmte  tatsächliche  Gestaltung 
der  Dinge,  hier  also  des  „Geistes“  einer  Zeit,  nicht  gelten  lassen 
wollen.  So  haben  mir  seinerzeit  viele  Kritiker  zum  Vorwurf  gemacht, 
daß  ich  die  Ideenrichtung  des  mittelalterlichen  Handwerkers  aus  Zunft¬ 
ordnungen  oder  auch  aus  Kritiken  und  Reformvorschlägen,  wie  etwa 
der  Reform  Kaiser  Sigismunds,  habe  abnehmen  wollen.  Ich  bemerke 
deshalb  noch  folgendes  zu  dieser  Art  Quellen  und  ihrer  Verwendbarkeit: 

Der  Fehler,  der  häufig  begangen  wird,  ist  nicht  der,  daß  man  aus 
jenen  Quellen  Erkenntnis  schöpfen  will,  sondern  daß  man  falsche  Er¬ 
kenntnis  schöpfen  will.  Man  wird  auch  nicht  aus  dem  Strafgesetzbuch 
sich  über  die  Verbreitung  und  die  Arten  des  Diebstahls,  aus  der 
Gewerbeordnung  nicht  sich  über  die  Gestaltung  der  Arbeiterverhältnisse 
in  der  Gegenwart  unterrichten  wollen.  Aber  was  man  aus  ihnen  sehr 


Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtscliaftsgesirmung  gj 

wohl  lernen  kann ,  ist  die  unsere  Zeit  beherrschende  Durchschnitts¬ 
auffassung  von  Diebstahl  und  Arbeiterschutz.  Natürlich  kann  die  in 
der  Gesetzgebung  niedergelegte  oder  in  einer  Streitschriftenliteratur 
(für  die  ähnliche  Regeln  gelten)  ausgesprochene  Ansicht  „veraltet“  sein 
und  nicht  mehr  dem  „Zeitgeist“  entsprechen.  Dann  wird  man  das  fest¬ 
zustellen  haben.  Vor  allem  an  der  Hand  der  gegnerischen  Äußerungen. 
Ein  nicht  allzu  dummer  Geschichtsschreiber  unserer  Zeit  wird  beispiels¬ 
weise  aus  der  Mittelstandsliteratur  zwar  entnehmen  müssen ,  daß  in 
Deutschland  noch  eine  beträchtliche  Menge  Menschen  in  handwerks¬ 
mäßigem  Geiste  denkt,  wird  aber  feststellen  müssen,  daß  die  Grund¬ 
auffassung  unserer  Zeit,  wie  sie  in  der  maßgebenden  Literatur  zxxtage 
tritt,  wie  sie  sich  in  Gesetzgebung  und  Verwaltung  bestimmend  durch¬ 
setzt,  eine  andere,  kapitalistische  war.  Umgekehrt  wird  unser  Urteil 
über  den  „Geist“,  der  das  mittelalterliche  Wirtschaftsleben  beherrschte, 
lauten  müssen:  zwar  gab  es  gewiß  täglich  unzählige  Handlungen  und 
Gedanken,  die  gegen  die  handwerksmäßige  Auffassung,  wie  sie  die 
Sittennormen  fordern  und  die  Rechtsnormen  festlegen,  verstießen;  ja 
gegen  das  Ende  des  Mittelalters  werden  sie  sich  gehäuft  haben.  Aber 
sie  waren  doch  eben  Verstöße.  Und  der  „Zeitgeist“  (5.)  verdammte 
sie.  Der  Zeitgeist  empfand  sie  als  Verstöße.  Und  niemand  wagte, 
diese  Verstöße  zu  rechtfertigen.  Oder  gibt  es  eine  einzige,  A  ma߬ 
gebende  Auslassung  während  des  ganzen  Mittelalters,  die  das  Ote  toi 
que  je  m’y  mette-Prinzip,  die  die  individuelle  Selbstverantwortlichkeit, 
die  das  unbeschränkte  Gewinnstreben  zu  verteidigen  gewagt  hätte? 


Im  Mittelpunkt  aller  Bemülmngen  und  aller  Sorgen  steht, 
ehe  denn  Kapitalismus  wurde,  der  lebendige  Mensch.  Er  ist 
der  „Maßstab  aller  Dinge“ :  mensura  omnium  rerum  homo.  Damit 
ist  aber  auch  die  Stellung  des  Menschen  zur  Wirtschaft  schon 
bestimmt:  diese  dient  wie  alles  übrige  Menschenwerk  mensch¬ 
lichen  Zwecken1.  Also:  das  ist  die  grundlegend  wichtige  Folge¬ 
rung  aus  dieser  Auffassung  —  ist  der  Ausgangspunkt  aller  wirt¬ 
schaftlichen  Tätigkeit  der  Bedarf  des  Menschen,  das  heißt  sein 
naturaler  Bedarf  an  Gütern.  Wieviel  Güter  er  konsumiert,  soviel 
müssen  produziert  werden;  wieviel  er  ausgibt,  soviel  muß  er 
einnehmen.  Erst  sind  die  Ausgaben  gegeben,  danach  bestimmen 
sich  Einnahmen.  Ich  nenne  diese  Art  der  Wirtschaftsführung  eine 
Ausgabewirtschaft.  Alle  vorkapitalistische  und  vorbürger¬ 
liche  Wirtschaft  ist  Ausgabewirtschaft  in  diesem  Sinne. 

1  „Divitiae  comparantur  ad  oeconomicam  non  sicut  finis  ultimus, 
sed  .  sicut  instrumenta  quaedam,  ut  dicitur  in  I.  Pol.  Finis  autem 
ultimus  oeconomice-  est  totum  bene  vivere  secundum  domesticam  con- 
versationem.“  S.  Tliom.  S.  th.  II a  IIae  qu,  50a.  3.  Vgl.  die  An¬ 
merkung  auf  S.  32. 


32 


Erster  Abschnitt 


Dei  Bedarf  selbst  wird  nicht  von  der  Willkür  des  Indivi¬ 
duums  bestimmt,  sondern  hat  im  Laufe  der  Zeit  innerhalb  der 
einzelnen  sozialen  Gruppen  eine  bestimmte  Größe  und  Art  an¬ 
genommen,  die  nun  als  fest  gegeben  angesehen  wird.  Das  ist 
die  Idee  des  standesgemäßen  Unterhalts,  die  alle  vor¬ 
kapitalistische  Wirtschaftsführung  beherrscht.  Was  das  Leben 
in  langsamer  Entwicklung  ausgebildet  hatte,  empfängt  dann  von 
den  Autoritäten  des  Rechts  und  der  Moral  die  Weihe  der  grund¬ 
sätzlichen  Anerkennung  und  Vorschrift.  In  dem  thomistischen 
Lehrgebäude  bildet  die  Idee  des  standesgemäßen  Unterhalts  ein 
wichtiges  Fundamentum:  es  ist  nötig,  daß  die  Beziehungen  des 
Menschen  zur  äußeren  Güterwelt  irgendwie  einer  Beschränkung, 
einem  Maßstabe  unterworfen  werden:  necesse  est  quod  bonum 
hominis  circa  ea  (sc.  bona  exteriora)  consistat  in  quadam  men- 
sura.  Dieses  Maß  bildet  den  standesgemäßen  Unterhalt:  prout 
sunt  necessaria  ad  vitam  eius  secundum  suam  conditionem  1. 

Standesgemäß  soll  der  Unterhalt  sein.  Also  verschieden  groß 
und  verschieden  geartet  innerhalb  der  verschiedenen  Stände.  Da 
heben  sich  denn  deutlich  zwei  Schichten  voneinander  ab,  deren 
Lebensführung  das  vorkapitalistische  Dasein  kennzeichet:  die 
Henen  und  die  Masse  des  Volks,  die  Reichen  und  die  Armen, 
die  Seigneure  und  die  Bauern,  Handwerker  und  Krämer,  die 
Leute die  ein  freies,  unabhängiges  Leben  führen,  ohne  wirt¬ 
schaftliche  Arbeit,  und  diejenigen,  die  im  Schweiße  ihres  An¬ 
gesichts  ihr  Brot  verdienen,  die  Wirtschaftsmenschen. 

Ein  s  eigne  uriales  Dasein  führen  heißt  aus  dem  Vollen 
leben  und  viele  leben  lassen;  heißt  im  Kriege  und  auf  der  Ja^d 
seine  Tage  verbringen  und  im  lustigen  Kreise  froher  Zecher 


ä  • 

Uies  Hauptstelle  lautet  bei  S.  Thomas  in  der  Summa  theol 
11  IIa*  3U-  118  Art.  1  in  der  Passung  der  neuen  Ausgabe  der  ge- 
saimen  Werke  (Romae  1886),  nach  der  ich  immer  zitiere,  im  ganzen 

wieiolgt:  „Bona  exteriora  habent  rationem  utilium  ad  fmern, _ :  Unde 

necesse  est,  quod  bonum  hominis  circa  ea  consistat  in  quadam  mensura: 
dum  scilicet  homo  secundum  ab'quam  mensuram  quaerit  habere  ex- 
enores  divitias,  prout  sunt  necessaria  ad  vitam  eius  secun- 
dum  suam  conditionem.  Et  ideo  in  excessu  huius  mensurae 
consistit  peccatum:  dum  scilicet  aliquis  supra  debitum  modum  vult 
acquirere  vel  retmere.  Quod  pertinet  ad  rationem  avaritiae  quae  de- 
nnitur  esse  immoderatus  amor  habendi.“  Von  dem  Glossator  Card, 
üaietanus  werden  diese  Leitsätze  verteidigt  und  wie  folgt  erklärt: 
„appellatione  vitae  mtelüge  non  solum  cibum  et  poturn,  sed  quae- 
cunque  opportuna  commoda  et  delectabilia,  salva  honestate“. 


Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnung 

beim  Würfelspiel  oder  in  den  Armen  schöner  Frauen  die  Nächte 
vertun.  Heißt  Schlösser  bauen  und  Kirchen,  heißt  Glanz  und 
Pracht  auf  den  Turnieren  oder  bei  anderen  festlichen  Gelegen¬ 
heiten  entfalten,  heißt  Luxus  treiben,  soweit  es  die  Mittel  er¬ 
lauben  und  über  diese  hinaus.  Immer  sind  die  Ausgaben  größer 
als  die  Einnahmen.  Dann  muß  dafür  gesorgt  werden,  daß  diese 
entsprechend  sich  vergrößern:  Der  Vogt  muß  die  Abgaben  der 
Bauern  erhöhen,  der  Rendant  muß  die  Pachte  steigern,  oder 
man  sucht  (wie  wir  noch  sehen  werden)  außerhalb  der  Kreise 
des  normalen  wirtschaftlichen  Gütererwerbs  die  Mittel,  um  das 
Defizit  zu  decken.  Das  Geld  verachtet  der  Seigneur.  Es  ist 
schmutzig,  ebenso  wie  alle  Erwerbstätigkeit  schmutzig  ist.  Geld 
ist  zum  Ausgeben  da1:  „usus  pecuniae  est  in  emissione  ipsius“ 
(S.  Thomas). 

So  lebten  die  weltlichen,  so  lange  Zeiten  hindurch  auch  die 
geistlichen  Herren.  Ein  deutliches  Bild  von  der  seigneurialen 
Lebensführung  der  Geistlichkeit  in  Florenz  während  des  Quattro¬ 
cento,  das  durchaus  als  typisch  gelten  darf  für  alles  Leben  der 
Reichen  in  vorkapitalistischer  Zeit,  entwirft  L.  B.  Alberti, 
wenn  er  folgendes  sagt:  „Die  Priester  wollen  alle  anderen  an 
Glanz  und  Prachtentfaltung  übertreffen,  wollen  eine  große  An¬ 
zahl  wohlgepflegter  und  schöngeschmückter  Rosse  haben,  wollen 
öffentlich  auftreten  mit  einem  großen  Gefolge,  und  von  Tag  zu 
Tag  steigert  sich  ihr  Hang  zum  Nichtstun  und  ihre  freche  Laster¬ 
haftigkeit.  Obwohl  ihnen  das  Schicksal  große  Mittel  in  den 
Schoß  wirft,  sind  sie  doch  immer  unzufrieden  und,  ohne  einen 
Gedanken  ans  Sparen ,  ohne  Wirtschaftlichkeit ,  sinnen  sie  nur 
darauf,  wie  sie  ihre  angestachelten  Begierden  befriedigen  können. 
Immer  fehlt  es  an  Einnahmen,  immer  sind  die  Ausgaben  größer 
als  ihre  ordentlichen  Einnahmen.  So  müssen  sie  das  Fehlende 
anderswo  her  zu  ergattern  suchen“ 2  usw. 

1  Vgl.  auch  mein  Buch  „Luxus  und  Kapitalismus“  (1912)  S.  102ff. 

2  I  preti  .  .  .  „vogliono  tutti  soprastare  agli  altri  di  pompa  e 
ostentatione ,  vogliono  molto  numero  di  grassissime  e  ornatissime 
cavalcature ,  vogliono  uscire  in  pubblico  con  molto  exercitio  di  man- 
giatori,  et  insieme  änno  di  dl  in  di  voglie  per  troppo  otio  et  per  poca 
virtü  lascivissime ,  temerarie,  inconsulte.  A’quali,  perche  pur  gli 
soppedita  et  soministra  la  fortuna,  sono  incontentissimi,  e  senza 
risparmio  o  masserizia,  solo  curano  satisfare  a’suoi  incitati  appetiti . . . 
sempre  l’entrata  manca  et  piü  sono  le  spese  che  l’ordi- 
narie  sue  ricchezze.  Cosi  loro  conviene  altronde  essere  rapaci 
e  alle  onestissime  spese,  ad  aitare  e  suoi,  a  sovenire  agli  amici,  a 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus  I.  8 


Erster  Abschnitt 


Ö  i 
04 

Für  die  große  Masse  des  Volkes  war  es  auch  in  vorkapitalistischer 
Zeit  notwendig,  da  man  immer  nur  über  beschränkte  Mittel  ver¬ 
fügte,  Ausgabe  und  Einnahme,  Bedarf  und  Güterbeschaffung  in 
ein  dauernd  geordnetes  Verhältnis  zueinander  zu  bringen.  Auch 
hier  freilich  mit  derselben  Voranstellung  des  Bedarfs,  der  also 
ein  traditionell  festgegebener  war,  und  den  es  zu  befriedigen 
galt.  Das  führte  zu  der  Idee  der  Nahrung,  die  aller  vor¬ 
kapitalistischen  Wirtschaftsgestaltung  ihr  Gepräge  verleiht. 

Die  Idee  der  Nahrung  ist  in  den  Wäldern  Europas  von  den 
sich  seßhaft  machenden  Stämmen  der  jungen  Völker  geboren 
worden.  Es  ist  der  Gedanke,  daß  jede  Bauernfamilie  so  viel 
Hofland,  so  viel  Ackerland,  so  viel  Anteil  an  der  Gemeinde¬ 
weide  und  dem  Gemeindewalde  erhalten  soll,  wie  sie  zu  ihrem 
Unterhalte  benötigt.  Dieser  Komplex  von  Produktionsgelegen¬ 
heiten  und  Produktionsmitteln  war  die  altdeutsche  Hufe ,  die 
im  germanischen  Gewanndorfe,  wie  wir  noch  sehen  werden,  ihre 
vollendete  Ausbildung  erfahren  hat,  aber  doch  auch  in  allen  An¬ 
siedlungen  der  keltischen  und  slawischen  Völker  ihrer  Grundidee 
nach  sich  wieder  findet.  Das  heißt  also :  Art  und  Umfang  der  ein¬ 
zelnen  Wirtschaft  werden  bestimmt  durch  die  Art  und  den  Umfang 
des  als  gegeben  angenommenen  Bedarfs.  Aller  Zweck  des  Wirt- 
schaftens  ist  die  Befriedigung  dieses  Bedarfs.  Die  Wirtschaft 
untersteht,  wie  ich  es  genannt  habe,  dem  Bedarfsdeckungsprinzip. 

Aus  dem  bäuerlichen  Anschauungskreise  ist  dann  die  Idee 
der  Nahrung  auf  die  gewerbliche  Produktion,  auf  Handel  und 
Verkehr  übertragen  worden  und  hat  hier  die  Geister  beherrscht, 
solange  diese  Wirtschaftssphären  handwerksmäßig  organisiert 
waren.  Auch  das  werden  wir  im  einzelnen  nachprüfen. 

Man  hat  mir,  als  ich  schon  früher  ähnliche  Gedanken  entwickelte, 
entgegengehalten:  es  sei  ganz  verkehrt,  für  irgendeine  Zeit  an¬ 
zunehmen,  daß  die  Menschen  sich  beschränkt  hätten,  nur  ihren  Unter¬ 
halt  zu  befriedigen,  nur  ihre  „Nahrung“  zu  haben,  nur  ihren  natur¬ 
gemäßen  traditionellen  Bedarf  zu  decken.  Vielmehr  sei  es  zu  allen 
Zeiten  „in  der  Natur  des  Menschen“  gelegen  gewesen,  so  viel  wie 
möglich  zu  verdienen,  so  reich  wie  möglich  zu  werden.  Ich  bestreite 
das  heute  noch  ebenso  entschieden  wie  früher  und  behaupte  heute 
dezidierter  denn  je,  daß  das  Wirtschaftsleben  in  der  Tat  im  vor¬ 
kapitalistischen  Zeitalter  unter  dem  Bedarfsdeckungsprinzip  gestanden 
hat,  daß  Bauer  und  Handwerker  ihre  Nahrung  und  nichts  weiter  mit 
ihrer  normalen  wirtschaftlichen  Tätigkeit  gesucht  haben.  Die  gegen 

levare  la  famiglia  sua  in  onorato  stato  e  degno  grado,  sono  inumani, 
tenacissimi,  tardi,  miserimi.“  L.  B.  Alberti,  I  libri  della  famiglia; 
editi  da  Gir.  Mancini  (1908),  p.  265. 


Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtscliaftsgesinming  35 

diese  meine  Auffassung  erhobenen  Einwände ,  soweit  man  sie  über¬ 
haupt  zu  begründen  versucht  hat,  sind  vornehmlich  zwei,  die  aber 
beide  nicht  stichhaltig  sind : 

1.  Es  hätten  immer  einzelne  Handwerker  über  den  Rahmen  der 
„Nahrung“  hinausgestrebt,  hätten  ihre  Geschäfte  erweitert  und  hätten 
mit  ihrer  wirtschaftlichen  Tätigkeit  Gewinn  erjagt.  Das  ist  richtig. 
Beweist  aber- nur,  daß  es  Ausnahmen  von  der  Regel  stets  gibt,  und 
diese  Ausnahmen  bestätigen  auch  hier  die  Regel.  Der  Leser  erinnere 
sich  dessen,  was  ich  über  den  Begriff  des  „Vorherrschens“  eines 
bestimmten  Geistes  gesagt  habe.  Niemals  hat  nur  ein  Geist  geherrscht. 

2.  Die  Geschichte  des  europäischen  Mittelalters  lehre  uns,  daß 
zu  allen  Zeiten  in  weiten  Kreisen  auch  des  wirtschaftenden  Volks 
eine  starke  Geldsucht  geherrscht  habe.  Auch  das  gebe  ich  zu.  Und 
ich  werde  im  weiteren  Verlauf  dieser  Darstellung  von  dieser  wachsenden 
Geldsucht  selbst  zu  reden  haben.  Aber  ich  behaupte,  sie  habe  den 
Geist  des  vorkapitalistischen  Wirtschaftslebens  in  seinen  Grundlagen 
nicht  zu  erschüttern  vermocht.  Es  ist  vielmehr  gerade  wieder  ein 
Beweis  für  den  allem  Gewinnstreben  abgekehrten  Geist  der  vor¬ 
kapitalistischen  Wirtschaft,  daß  sich  alle  Erwerbslust,  alle 
Geldgier  -außerhalb  des  Nexus  der  Güter produktion, 
des  Gütertransports  und  sogar  zum  großen  Teil  auch 
des  Güter  handeis  zu  befriedigen  trachtet.  Man  läuft  in 
die  Bergwerke ,  man  gräbt  nach  Schätzen ,  man  treibt  Alchimie  und 
allerhand  Zauberkünste  ,  um  Geld  zu  erlangen ,  man  leiht  Geld  gegen 
Zinsen  aus,  weil  man  es  im  Rahmen  der  Alltagswirtschaft  nicht  er¬ 
werben  kann.  Aristoteles,  der  am  tiefsten  das  Wesen  der  vor¬ 
kapitalistischen  Wirtschaft  erkannt  hat,  sieht  deshalb  durchaus  sach¬ 
gemäß  den  Gelderwerb  über  den  naturalen  Bedarf  hinaus  als  nicht 
zur  wirtschaftlichen  Tätigkeit  gehörig  an.  Ebensowenig  dient  der 
Reichtum  an  barem  Gelde  wirtschaftlichen  Zwecken:  für  den  nötigen 
Unterhalt  sorgt  vielmehr  der  oixo?,  sondern  er  ist  nur  zu  außerwirt¬ 
schaftlicher,  „unsittlicher“  Verwendung  geeignet.  Alle  Wirtschaft  hat 
Maß  und  Grenzen,  der  Gelderwerb  nicht.  (Pol.  Lib.  I.) 

Fragen  wir  nun,  in  welch. em  Geiste  gemäß  diesen  Leitsätzen 
die  Wirtschaftsführung  der  Bauern  und  Handwerker  sich  ge¬ 
staltet,  so  genügt  es,  daß  wir  uns  vergegenwärtigen,  wer  die 
Wirtschaftssubjekte  waren,  die  alle  vorkommende  Arbeit:  die 
leitende ,  organisierende ,  disponierende  und  ausführende  selbst 
Vornahmen  oder  durch  wenige  Hilfskräfte  vornehmen  ließen.  Fs 
sind  einfache  Durchschnittsmenschen  mit  starkem  Triebleben, 
stark  entwickelten  Gefühls-  und  Gemütseigenschaften  und  ebenso 
gering  entfalteten  intellektuellen  Kräften.  Unvollkommenheiten 
im  Denken,  mangelnde  geistige  Energie,  mangelnde  geistige  Dis¬ 
ziplin  begegnen  uns  bei  den  Menschen  jener  Zeit  nicht  nur  auf 
dem  Lande,  sondern  auch  in  den  Städten,  die  lange  Jahrhunderte 
hindurch  noch  große,  organisch  gewachsene  Dörfer  sind. 


Erster  Abschnitt 


86 

Es  waren  dieselben  Menschen,  deren  gering  entwickelten  In¬ 
tellektualismus  wir  auch  auf  anderen  Kulturgebieten  beobachten. 
So  bemerkt  einmal  Keutgen  sehr  feinsinnig  von  der  Art  der 
Rechtserzeugung  im  Mittelalter:  „Es  handelt  sich  nur  um  einen 
Mangel  an  geistiger  Energie,  der  sich  bei  unseren  älteren  Rechts- 
aufzeichnungen  häufig  erkennen  läßt,  die  von  an  intensive  Geistes¬ 
arbeit  nicht  gewohnten  Männern  ausgegangen  sind.  ...  Ich 
erinnere  nur  daran,  wie  überraschend  lückenhaft  in  der  Berück¬ 
sichtigung  der  verschiedenen  Gebiete  des  Rechtslebens  unsere 
älteren  Stadtrechte  sich  erweisen“  h  . 

Ein  Analogon  dazu  in  der  Sphäre  der  Wirtschaft  bietet  der 
gering  entwickelte  Sinn  für  das  Rechnungsmäßige,  für  das  exakte 
Abmessen  von  Größen,  für  die  richtige  Handhabung  von  Ziffern. 

Diesem  Mangel  an  kalkulatorischem  Sinn  entspricht  auf  der 
anderen  Seite  die  rein  qualitative  Beziehung  der  Wirtschafts- 
subjekte  zu  der  Güterwelt.  Man  stellt  (um  in  heutiger  Termino¬ 
logie  zu  sprechen)  noch  keine  Tauschwerte  her  (die  ’rein  quanti¬ 
tativ  bestimmt  sind),  sondern  ausschließlich  Gebrauchsgüter,  also 
qualitativ  unterschiedliche  Dinge. 

Die  Arbeit  des  echten  Bauern  ebenso  wie  des  echten  Hand¬ 
werkers  ist  einsame  Werkschöpfung:  in  stiller  Versunkenheit 
gibt  er  sich  seiner  Beschäftigung  hin.  Er  lebt  in  seinem  Werk, 
wie  der  Künstler  darin  lebt,  er  gäbe  es  am  liebsten  gar  nicht 
dem  Markte  preis.  Unter  bitteren  Tränen  der  Bäuerin  wird  die 
geliebte  Schecke  aus  dem  Stalle  geholt  und  zur  Schlachtbank 
geführt;  der  alte  Bourras  kämpft  um  seinen  Pfeifenkopf,  den 
ihm  der  Händler  abkaufen  will.  Kommt  es  aber  zum  Verkauf 
(und  das  muß  ja  wenigstens  bei  verkehrswirtschaftlicher  Ver¬ 
knüpfung  die  Regel  bilden),  so  soll  das  erzeugte  Gut  seines 
Schöpfers  würdig  sein.  Der  Bauer  wie  der  Handwerker  stehen 
hinter  ihrem  Erzeugnis;  sie  vertreten  es  mit  Künstlerehre.  Aus 
dieser  Tatsache  erklärt  sich  z.  B.  die  tiefe  Abneigung  alles 
Handwerkertums  gegen  Falsifikate  oder  selbst  Surrogate,  ja  auch 
nur  gegen  Schleuderarbeit. 

Ebenso  wenig  wie  die  Geistesenergie  ist  nun  aber  beim  vor¬ 
kapitalistischen  Wirtschaftsmenschen  die  Willensenergie  ent¬ 
wickelt.  Das  äußert  sich  in  dem  langsamen  Tempo  der  wirt¬ 
schaftlichen  Tätigkeit.  Vor  allem  und  zunächst  sucht  man  sie 
sich  so  viel  als  irgend  möglich  vom  Leibe  zu  halten.  Wo  mau 


1  Friedrich  Keutgen,  Ämter  und  Zünfte  (1903),  84, 


Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnuug  S7 

„feiern“  kann,  tut  man  es.  Man  hat  zur  wirtschaftlichen  Tätig¬ 
keit  seelisch  etwa  dieselben  Beziehungen  wie  das  Kind  zum 
Schulunterricht,  dem  es  sich  gewiß  nicht  unterzieht,  wenn  es 
nicht  muß.  Keine  Spur  von  einer  Liebe  zur  Wirtschaft  oder 
zur  wirtschaftlichen  Arbeit.  Diese  Grundstimmung  können  wir 
ohne  weiteres  aus  der  bekannten  Tatsache  ableiten,  daß  in  aller 
vorkapitalistischen  Zeit  die  Zahl  der  Feiertage  im  Jahre  enorm 
groß  war.  Eine  hübsche  Übersicht  über  die  zahlreichen  Feier¬ 
tage  im  bayrischen  Bergbau  noch  während  des  16.  Jahrhunderts 
gibt  H  P  e  e  t  z  x.  Danach  waren  in  verschiedenen  Fällen : 


von 

203  Tagen  . 

.  .  123  Feiertage 

T) 

161  „ 

.  .  99 

n 

287  „ 

.  .  193 

jf 

366  „ 

.  .  260 

Y) 

366  „ 

.  .  263 

ünd  bei  der  Arbeit  selbst  eilt  man  sich  nicht.  Es  ist  gar 
kein  Interesse  vorhanden,  daß  etwas  in  sehr  kurzer  Zeit  oder 
daß  in  einer  bestimmten  Zeit  sehr  viel  erzeugt  oder  vollbracht 
werde.  Die  Dauer  der  Produktionsperiode  wird  durch  zwei 
Momente  bestimmt:  durch  die  Anforderungen,  die  das  Werk  an 
gute  up.d  solide  Ausführung  stellt  und  durch  die  natürlichen 
Bedürfnisse  des  arbeitenden  Menschen  selbst.  Die  Produktion 
von  Gütern  ist  eine  Betätigung  lebendiger  Menschen,  die  sich 
in  ihrem  Werke  „ausleben“ ;  sie  folgt  daher  ebenso  den  Gesetzen 
dieser  blutdurchströmten  Personenheiten ,  wie  der  Wachstums¬ 
prozeß  eines  Baumes  oder  der  Zeugungsakt  eines  Tieres  von 
den  inneren  Notwendigkeiten  dieser  Lebewesen  Richtung,  Ziel 
und  Maß  empfängt. 

Ebenso  wie  bei  dem  Tempo  der  Arbeit  ist  auch  bei  der  Zu¬ 
sammenstellung  der  einzelnen  Arbeitsverrichtungen  zu  einem 
Berufe  die  menschliche  Natur  mit  ihren  Anforderungen  allein 
maßgebend:  mensura  omnium  rerum  homo  gi't  auch  hier. 

Dieser  höchstpersönlichen  Art  der  Wirtschaftsführung  ent¬ 
spricht  nun  ihr  Empirismus,  oder  wie  man  es  neuerdings 
genannt  hat,  ihr  Traditionalismus.  Empirisch,  traditio- 
nalistisch  wird  ge  wirtschaftet ;  das  heißt,  so  wie  man  es  über¬ 
kommen  hat,  so  wie  man  gelernt  hat,  so  wie  man  es  gewohnt 
ist.  Man  blickt  bei  dem  Entscheide  über  eine  Vornahme  oder 
Maßregel  nicht  zuerst  nach  vorn,  nach  dem  Zwecke,  fragt  nicht 


1  B.  Peetz,  Volkswissensckaftliche  Studien  (1885),  186  ff, 


38 


Erster  Abschnitt 


ausschließlich  nach  ihrer  Zweckmäßigkeit,  sondern  schaut  nach 
hinten,  nach  den  Vorbildern  und  Mustern  und  Erfahrungen. 

Wir  müssen  uns  vergegenwärtigen,  daß  dieses  traditionalistische 
Verhalten  durchaus  das  Verhalten  aller  natürlichen  Menschen 
ist,  daß  es  auf  allen  Kulturgebieten  in  der  früheren  Zeit  des 
menschlichen  Daseins  durchaus  vorgeherrscht  hat  aus  Gründen, 
die  in  der  Natur  des  Menschen  selbst  zu  suchen  sind,  und  die 
alle  letztlich  in  der  starken  Tendenz  der  menschlichen  Seele  zur 
Beharrung  wurzeln. 

Von  unserer  Geburt  an,  vielleicht  schon  vorher,  werden  wir 
von  unserer  Umgebung,  die  uns  als  geeignete  Autorität  gegen¬ 
übersteht,  in  eine  bestimmte  Richtung  des  Könnens  und  Wollens 
hineingedrängt:  alle  Mitteilungen,  Lehren,  Handlungen,  Gefühle, 
Anschauungen  der  Eltern  und  Lehrer  werden  von  uns  zunächst 
ohne  weiteres  angenommen.  „Je  unentwickelter  ein  Mensch  ist, 
desto  stärker  ist  er  dieser  Gewalt  des  Vorbilds,  der  Tradition, 
der  Autorität  und  der  Suggestion  unterworfen“  b 

Zu  dieser  Macht  der  Überlieferung  gesellt  sich  nun  im 
weiteren  Verlauf  des  menschlichen  Lebens  eine  zweite  ebenso 
starke:  die  Macht  der  Gewohnheit,  die  den  Menschen  immer 
lieber  das  tun  läßt,  was  er  schon  getan  hat,  und  was  er  infolge¬ 
dessen  „kann“,  die  ihn  also  ebenfalls  in  den  Bahnen  festhält,  die 
er  bereits  eingeschlagen  hat. 

Sehr  fein  nennt  Tönnies1 2  die  Gewohnheit:  Wille  oder  Lust 
durch  Erfahrung  entstanden.  Ursprünglich  indifferente  oder 
unangenehme  Ideen  werden  durch  ihre  Assoziation  und  Ver¬ 
mischung  mit  ursprünglich  angenehmen  selber  angenehme,  bis 
sie  endlich  in  die  Zirkulation  des  Lebens  und  gleichsam  in  das 
Blut  übergehen.  Erfahrung  ist  Übung  und  Übung  hier  die 
bildende  Tätigkeit.  Übung,  zuerst  schwer,  wird  leicht  durch 
vielfache  Wiederholung,  macht  unsichere  und  unbestimmte  Be¬ 
wegungen  sicher  und  bestimmt,  bildet  besondere  Organe  und 
Kräftevorräte  aus.  Damit  aber  wird  der  tätige  Mensch  immer 
wieder  dazu  veranlaßt,  das  ihm  leicht  gewordene  zu  wieder- 

1  A.  Vierkandt,  Die  Stetigkeit  im  Kultur wandel  (1908),  103  ff., 
wo  viele  feinsinnige  Bemerkungen  zu  dem  Thema  des  „Traditionalismus“ 
gemacht  werden.  Begreiflicherweise  besteht  eine  ziemlich  weitgehende 
Parallelität  zwischen  der. Psyche  des  vorkapitalistischen  europäischen 
Menschen  und  der  der  „Naturvölker“  ;  siehe  ebenda  S.  120  ff. 

2  P.  Tönnies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft,  2-  Aufl,  1912, 
S.  112 f 


Viertes  Kapitel:  Die  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnung  39 

holen,  das  heißt  bei  dem  einmal  Erlernten  zu  bleiben,  gleich¬ 
gültig,  ja  feindselig  gegenüber  Neuerungen,  kurz  traditionalistisch 
zu  werden. 

Es  kommt  dazu  ein  Moment,  auf  das  Vier kandt  mit  Recht 
hinweist,  daß  der  einzelne  als  Glied  einer  Gruppe  im  Bestreben, 
sich  als  würdiges  Glied  zu  erweisen,  die  diese  Gruppe  aus¬ 
zeichnenden  Kulturgüter  besonders  pflegt.  Was  wiederum  die 
Wirkung  hat,  daß  der  einzelne  grundsätzlich  nicht  das  Neue 
erstrebt,  sondern  eher  das  Alte  zur  Vollendung  zu  bringen 
trachtet. 

So  wird  der  ursprüngliche  Mensch  durch  mannigfaltige  Kräfte 
gleichsam  in  die  Bahnen  der  bestehenden  Kultur  hineingeschoben, 
und  dadurch  wird  seine  gesamte  seelische  Kultur  in  einer  be¬ 
stimmten  Richtung  beeinflußt:  „Die  Fähigkeit  der  Spontaneität, 
der  Initiative,  der  Selbständigkeit,  die  ohnehin  gering  ist,  wird 
noch  mehr  abgeschwächt  entsprechend  dem  allgemeinen  Satze, 
daß  Anlagen  sich  nur  nach  Maßgabe  ihrer  fortgesetzten  Au¬ 
wendung  entwickeln  können  und  mangels  einer  solchen  ver¬ 
kümmern“  h 

Alle  diese  Einzelzüge  des  vorkapitalistischen  Wirtschafts¬ 
lebens  wie  des  vorkapitalistischen  Kulturlebens  überhaupt  finden 
ihre  innere  Einheit  in  der  Grundidee  eines  auf  Beharrung  und 
Auswirkung  des  Lebendigen  im  räumlichen  Nebeneinander  be¬ 
ruhenden  Lebens.  Das  höchste  Ideal  jener  Zeit,  wie  es  in  seiner 
letzten  Vollkommenheit  das  wundervolle  System  des  heiligen 
Thomas  durchleuchtet,  ist  die  in  sich  ruhende  und  aus  ihrem 
Wesenskern  zur  Vollendung  aufsteigende  Einzelseele  als  ein  orga¬ 
nischer  Bestandteil  der  lebendigen  Menschheit  gedacht.  Diesem 
Ideal  sind  alle  Lebensforderungen  und  alle  Lebensformen  an¬ 
gepaßt.  Ihm  entspricht  die  feste  Gliederung  der  Menschen  in 
bestimmte  Berufe  und  Stände,  die  alle  als  gleichwertig  in  ihren 
gemeinsamen  Beziehungen  auf  das  Ganze  angesehen  werden  und 
die  dem  einzelnen  die  festen  Formen  darbieten,  innerhalb  deren 
er  sein  individuelles  Dasein  zur  Vollkommenheit  entfalten  kann. 
Ihm  entsprechen  die  Leitideen,  unter  denen  das  Wirtschaftsleben 
steht:  das  Prinzip  der  Bedarfsdeckung  und  des  Traditionalismus, 
die  beide  Prinzipien  der  Beharrung  sind.  Der  Grundzug  des 
vorkapitalistischen  Daseins  ist  der  der  sicheren  Ruhe ,  wie  er 
allem  organischen  Leben  eigentümlich  ist. 


1  A,  Vierkandt  a.  a.  0.  S.  105, 


Zweiter  Abschnitt 

Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Fünftes  Kapitel 

Der  Zustand  der  materiellen  Kultur  Europas 
während  des  Frühmittelalters 

Wenn  Kaiser  Carolus  die  Eindrücke  hätte  sammeln  wollen, 
die  er  mit  seinen  Goetheaugen  auf  seinen  Reisen  und  seinen 
Kriegsfahrten  im  Sorbenlande,  auf  dem  Wege  nach  Kom  oder 
nach  Roncevall  empfangen  hatte,  wenn  er  sich  ein  Bild  hätte 
machen  wollen  von  der  Lebensweise  der  Völker,  die  er  kennen 
gelernt  hatte,  insonderheit  von  ihrem  materiellen  Dasein  und 
dessen  Grundlagen :  ich  glaube,  es  wäre  recht  gleichförmig  aus¬ 
gefallen.  Zwar  wohnten  die  Menschen  an  der  Elbe  in  Rund¬ 
dörfern  und  pflügten  ihre  viereckigen  Äcker  mit  dem  Haken¬ 
pflug,  während  an  der  Mündung  des  Rheins  die  Stämme  in 
Haufendörfern  siedelten  und  ihre  bunt  durcheinander  gewürfelten 
langen  Ackerstreifen  mit  dem  Räderpflug  umwarfen ;  zwar  lebten 
sie  an  der  Weser,  im  Westen  Frankreichs,  in  den  Alpentälern 
und  anderwärts  auf  einsamen  Höfen,  während  sie  jenseits  der 
Alpen  in  stadtartigen,  Mauer  an  Mauer  gebauten  Dörfern  in 
Haufen  beieinander  hausten.  Aber  das  war  doch  nur  die  Ober¬ 
fläche  j  war  nur  gleichsam  die  äußere  Form  ihrer  Daseinsweise.  Die 
innere  Wesenheit  ihrer  Kultur  wies  doch  mehr  übereinstimmende 
als  unterschiedliche  Merkmale  auf.  Wenigstens  lassen  sich  ganz 
bestimmte  gleiche  Grundzüge  in  den  sachlichen  Daseinsbedin¬ 
gungen  jenes  Zeitalters  nachweisen,  die  ihm  ein  starkes  Gepräge 
verleihen  und  es  deutlich  gegen  frühere  und  spätere  Epochen 
abheben:  vorausgesetzt,  daß  wir  den  zeitlichen  Rahmen  nicht 
allzu  eng  spannen  und  ein  paar  Jahrhunderte  —  etwa  das  achte, 
neunte  und  zehnte  unserer  Zeitrechnung  —  unserer  Betrachtung 
zugrunde  legen. 

Da  war  denn  nun  doch  wohl  der  allgemeine  Charakter  der 


Fünftes  Kapitel:  Europäische  Kultur  während  des  Frühmittelalters  41 

materiellen  Kultur  in  allen  Teilen  Europas  während  jener  Zeit 
annähernd  der  gleiche.  Das  heißt  vor  allem:  die  Kultur  war 
primitiv  und  trug  rein  ländliches  Gepräge.  Keine  Stadt,  kein 
städtisches  Leben  in  dem  weiten  Reiche  des  Frankenkaisers. 
Was  außer  Zweifel  steht  für  jene  Gebiete,  in  die  die  römische 
Kultur  nicht  vorgedrungen  war ;  was  aber  auch  gilt  für  die  ehe¬ 
mals  dem  römischen  Weltreich  zugehörigen  Lande.  Schon  im 
4.  Jahrhundert  waren  die  Römerstädte  in  den  blühenden  Rhein¬ 
landen  fast  verschwunden.  Im  Jahre  311  schildert  Eumenius 
die  burgundischen  und  lothringischen  Landschaften  als  un- 
angebaut,  schmutzig,  stumm  und  finster  und  sogar  die  Militär¬ 
straßen  als  verfallen1.  Und  dem  vielleicht  übertreibenden  Pan¬ 
egyriker  tritt  ein  anderer  zeitgenössischer  Schriftsteller  bei,  der 
uns  von  der  Gegend  des  Rheintals  berichtet,  daß  sie  ohne  alle 
Städte  sei2 3.  406  wurden  Worms  und  Mainz  zerstört8,  während 
die  römischen  Städte  am  rechten  Rheinufer  und  an  der  Rhein¬ 
mündung  schon  im  4.  Jahrhundert  untergegangen  waren4 *. 

Architektonisch  brauchen  wir  uns  diese  Städte  nicht  völlig 
vernichtet  zu  denken,  obwohl  auch  die  Gebäude  oft  genug  mit 
zerstört  sein  mögen :  wurden  doch  die  Tempel  und  Amphitheater 
beliebte  Steinbrüche,  aus  denen  sich  die  Abte  das  Baumaterial 
für  ihre  Kirchen  und  Klöster  holten6 *.  Aber  für  manche  Stadt 
läßt  sich  derselbe  Mauerzug  wie  zur  Römerzeit  nachweisen  6.  Und 
manches  Bauwerk  hat  sich  hier  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten.  Das 
Wichtige  ist:  daß  kulturell,  das  heißt  vor  allem  ökonomisch  die 
Städte  so  gut  wie  verschwunden  waren.  Denn  hinter  ihren  Mauern, 
wo  diese  stehen  geblieben  waren,  saßen  in  der  Karolingerzeit 
dieselben  Menschen  wie  draußen:  Ackerbauer.  „Es  fehlt  jeder 
Grund,  in  den  Bischofssitzen  und  den  befestigten  Orten  andere 


1  Eumenius  pan.  in  Constant.  Recueil  des  Hist,  des  Gaules  etc. 
1,  713. 

2  »Per  üuos  tractus  —  von  Mainz  bis  Cöln  —  nec  civitas  ulla 
visitur  nec  castellum  nisi  quod  apud  Confluentes  .  .  .  Rimomagum 
oppidum  est  et  una  prope  ipsam  Coloniam  turris“.  Amm.  Marc.  16,  3. 

3  Hieron.  ep.  123  ad  Ageruchiam  ed.  Vallarsi  1766  zit.  bei 
S.  Rietschel,  Die  Civitas  auf  deutschem  Boden  bis  zum  Ausgang 
der  Karolingerzeit  (1894),  32. 

4  Rietschel,  a.  a.  0.  33. 

6  Siehe  die  Stellen  bei  K.  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschafts¬ 

leben  im  Mittelalter,  3  Teile  in  4  Bänden  1884  (zit.  D.W.L.),  1,  78. 

e  Z.  B.  für  Cöln  L.  Ennen,  Gesch,  der  Stadt  C.,  5  Bände  1863 

bis  1880,  1,  81;  so  für  Wien, 


42  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Bevölkerungsverhältnisse  wie  auf  dem  Lande  anzunehmen  .  .  . 
es  war  dieselbe  Markgemeinde  wie  auf  dem  Lande  .  .  .“  1.  Daher 
auch  die  Ausdrücke  Megunzan  Marca,  Marca  Wormacia,  Marca 
Bingiorum!  Der  Araber,  der  im  10.  oder  11.  Jahrhundert 
Deutschland  bereiste,  fand  Mainz  noch  als  eine  Stadt,  von  der 
ein  Teil  bewohnt,  das  übrige  Areal  besät  war 2. 

Noch  im  Jahre  845  war  die  Altstadt  Straßburgs  —  das  alte 
Argentoratus  — -  teilweise  unbewohnt:  wir  erfahren,  daß  das 
Kloster  St.  Stephan  daselbst  „mitten  unter  Schutt  und  Trümmern“ 
gegründet  wird. 

Auch  die  Römerkastelle  längs  der  Donau  von  Batava  castra 
bis  Sirmium,  einschließlich  Vindobona,  waren  in  Schutt  ver¬ 
sunken  3. 

Nicht  viel  anders  aber  werden  die  Verhältnisse  in  den  andern 
römischen  Kolonien4,  viel  anders  auch  in  Italien  selbst  nicht 
gelegen  haben.  Hier  hatte  der  Jahrhunderte  lang  währende 
Rückbildungsprozeß  die  Städte  allmählich  ihres  Charakters  ent¬ 
kleidet.  Die  Munizipien  hatten  längst  aufgehört,  unentbehrliche 
Mittelpunkte  des  gewerblichen  Lebens  oder  der  Kapitalbildung 
oder  auch  unentbehrliche  Marktorte  zu  sein.  Sie  saßen  schon 
seit  der  späteren  Kaiserzeit  „im  Grunde  nur  als  Schröpfköpfe 
im  Interesse  der  staatlichen  Steuerverwaltung“ 5  über  dem 
Reiche.  Mit  dem  Untergange  des  Römischen  Reichs  war  auch 
diese  Funktion  weggefallen,  und  sie  fingen  nun  wohl  auch  an, 
als  architektonische  Erscheinung  mehr  und  mehr  zu  verschwinden. 
Die  langen  Gothenkriege,  vor  allem  aber  der  Einbruch  der  Longo- 
barden,  gaben  ihnen  den  Rest.  Von  den  Longobardenfürsten 
hören  wir,  daß  sie  die  Städte,  die  sie  eroberten  —  Padova, 
Cremona,  Mantova,  die  Städte  von  Luni  in  Tuscien  bis  zur 
Grenze  der  Franken  und  viele  andere  —  von  Grund  aus  zer¬ 
störten.  König  Rothari  ebenso  wie  König  Agilulf:  „ad  solum 
usque  destruxit“ ;  „expugnavit  et  diruit“ ;  „murus  civitatebus 

1  Rietscliel,  Civitas,  85.  Dort  auch  Belege  für  das  Vorhandensein 
landwirtschaftlich  genutzten  Bodens  in  den  „Städten“  jener  Zeit.  Vgl. 
auch  Kap.  10. 

2  G.  Jacob,  Ein  arabischer  Berichterstatter  aus  dem  10.  oder 
11.  Jahrhundert  usw.  (1890),  13. 

3  Hans  v.  Voltelini,  Die  Anfänge  der  Stadt  Wien  (1913),  8^9. 

4  Über  das  Schicksal  der  französischen  Städte  äußert  sich  Flach, 
Origines  de  l’ancienne  France  2  (1893),  237  ff.  und  passim. 

5  Max  Weber,  Röm.  Agrar  ge  schichte  (1891),  S,  267,  wo  diese 
Vorgänge  am  besten  dargestellt  sind, 


Füuftes  Kapitel:  Europäische  Kultur  während  des  Frühmittelalters  43 


subscriptis  usque  ad  fundamento  distruens  vious  laas  civitates 
nomenare  praecepit“1:  „er  ließ  sie  Dörfer  nennen“,  was  sie  im 
ökonomischen  Sinne  schon  längst  geworden  waren:  Wohnsitze 
einer  ackerbautreibenden  Bevölkerung.  Das  galt  aber  nicht  nur 
vom  germanischen  Eroberungsgebiet,  wo  der  agrarische  Charakter 
der  neuen  Kultur  freilich  am  deutlichsten  zutage  trat  (ich  spreche 
noch  davon):  auch  in  den  Kastellen  des  Exarchats  hauste  der 
Grundbesitzer,  der  hier  seit  dem  siebenten  Jahrhundert  die  aus¬ 
schlaggebende  Gewalt  geworden  war  und  selbst  in  den  Castren, 
die  auf  den  Lidi  der  venetianischen  Küste  errichtet  waren,  mag 
es  nicht  anders  ausgeschaut  haben2. 

Das  platte  Land  selbst:  ganz  dünn  besiedelt;  zwischen  den 
wenigen  Dörfern,  Weilern  und  Höfen  weite  Strecken  öden  Landes: 
Sumpf  und  Wald,  darin  die  Wölfe  in  Rudeln  zu  Hunderten 
hausen3.  Italien  ein  Bild  der  Verwüstung:  die  Ent-  und  Be¬ 
wässerungsanlagen  in  Verfall;  daher  Dürre  und  Sümpfe,  wo 
ehedem  blühende  Felder  gewesen  waren  (ein  Land  so  künst¬ 
licher  Bodenkultur  wie  Italien  leidet  doppelt  unter  Vernach¬ 
lässigung  oder  gar  Zerstörung) :  „Nunc  .  .  desolata  ab  hominibus 
praedia  atque  ab  omni  cultore  destituta,  in  solitudine  vacat  terra : 
nullus  hanc  possessor  inhabitat“;  „in  hac  terra,  in  qua  nos  vivimus 
finem  suum  mundus  non  nunciat ,  sed  ostendit“  (!) 4.  Ebenso 
spricht  Paulus  Diaconus  (V.  29)  von  den  „spatiosa  ad  habitandum 
loca,  quae  usque  ad  illud  tempus  deserta  erant  .  .  .“  Auf  den 
verödeten  Feldern  dehnten  sich  dann  die  Sümpfe  und  in  ihrem 
Gefolge  stellte  sich  die  Malaria  ein5  oder  die  Bäume  und  Sträucher 
schlugen  wieder  Wurzel  und  bildeten  jene  mächtigen  Wälder, 
von  denen  uns  um  jene  Zeit  die  Quellen  berichten:  in  der 

1  Fredegarius  Chron.  c.  71;  vgl.  Paul.  Diac.  IV,  c.  23.  24. 
28.  46. 

2  Ludo  M.  Hart  mann,  Gesell.  Ital.  im  Mittelalter,  1898  ff., 
II,  2,  100.  105  ff. 

3  Für  Aquitanien  siehe  die  Berichte  der  Annalen  von  St.  Bertiir 
zum  Jahre  846.  „Luporum  incursio  inferiorum  Galliae  partium  homines 
audentissime  devorat,  sed  et  in  partibus  Aquitaniae  in  modum  exercitus 
usque  ad  trecentos  ferme  conglobati  et  per  viam  facto  agmine  gradientes, 
volentibusque  resistere  fortiter  unanimiterque  contrastare  feruntur.“ 
Prudentii  Trecensis  Ann.  s.  a.  846.  MG.SS.  1,  442. 

4  Gregorii  M.,  Dial.  III  c.  38. 

5  L.  N.  Muratori,  Ant.  It.  M.  Ab,  t.  II.  Diss.,  XXI,  p.  154. 
164.  171.  180;  G.  Verci,  Storia  della  Marca  trivigiana  1  (1786) 
Poe,  No.  IV, 


44  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Landschaft  von  Benevent,  Regio  Emilia,  Modena,  Pavia,  Bologna, 
Parma,  Ferrara,  Verona  (hier  lag  die  „immanis  silva  Nogariensis“) 
nnd  anderen1,  wo  heute  meist  jede  Spur  einer  Bewaldung  ver¬ 
schwunden  ist. 

Viel  brachliegendes  Land  in  Spanien,  als  die  spanische  Mark 
der  fränkischen  Krone  einverleibt  wurde2 3.  Riesige  Waldungen 
in  Frankreich8,  in  Deutschland4  —  selbstverständlich. 

Also:  was  kaum  hervorgehoben  zu  werden  braucht:  eine 
äußerst  dünne  Besiedlung. 

Leider  haben  wir  keine  Möglichkeit,  die  Bevölkerungsdichtig¬ 
keit  jener  Zeit  auch  nur  annähernd  genau  festzustellen.  Aber  die 
schon  angeführten  Symptome,  zusammen  mit  einer  Reihe  von 
statistisch-topographischen  Studien6 *,  lassen  keinen  Zweifel  da¬ 
rüber,  daß  die  Bevölkerungsziffer  sehr  niedrig  war. 

1  Muratori,  1.  c.  p.  150.  164.  171.  180.  Beweisstellen  für 
die  „überaus  reiche  Bewaldung  des  Gebietes  von  Florenz-Fiesole“ 
zusammengestellt  von  Hob.  Davidsohn,  Forschungen  zur  älteren 
Geschichte  von  Florenz,  1  (1896),  S.  86  f. :  bis  ins  11.  Jahrhundert 
hinein. 

2  Siehe  die  Belege  bei  M.  Kowalewsky,  Die  ökonomische  Ent¬ 
wicklung  Europas,  deutsch  1901  ff.,  3,  431. 

3  Die  Wälder  machen  in  allen  Schenkungen  jener  Zeit  den  bei 
weitem  größten  Teil  des  Areals  aus. 

4  Siehe  die  Beispiele  bei  K.  Th.  Inama-Sternegg,  Deutsche 
Wirtschaftsgeschichte  1879  ff.  (zit.  D.W.G.),  1,  215;  Lamprecht, 
DWL.  1,  94.  "Über  die  ‘solitudines5  in  Bayern  siehe  Th.  Bitterauf, 
Die  Traditionen  des  Hochstifts  Freising,  1.  Bd.  (744 — 926)  (Quellen 
und  Erörterungen  zur  bayer.  und  deutschen  Geschichte,  N.  F.  IV.  Bd. 
[1905]  S.  LXXXI). 

5  Hierher  gehören  die  Untersuchungen  von  Lamprecht  im 

1.  Bande  seines'  DWL.,  ferner  die  sehr  gewissenhaften  Arbeiten  von 

F.  Will.  Maitland,  Domesday  Book  and  Beyond  (1897)  p.  20  f. 


Sechstes  Kapitel 

Die  Dorfwirtscliaft 

Literatur 

Die  im  Folgenden  entworfene  Skizze  der  Dorfwirtschaft  des  europä¬ 
ischen  Mittelalters  ist  im  wesentlichen  dem  Bilde  nachgezeichnet,  das 
die  jetzt  sogenannte  „ältere“  Forschung  herausgearbeitet  hat.  Die 
Männer,  denen  wir  dieses  Werk  verdanken,  sind  vor  allem  v.  Maurer, 
Landau,  Guerard,  Meitzen,  v.Inama,  Lamprecht,  Gierke, 
S  e  e  b  o  h  m.  Da  ich  meine  Darstellung  im  wesentlichen  an  die  Schriften 
dieser  Forscher  angelehnt  habe ,  habe  ich  auf  die  Mitteilung  von 
Quellenbelegen  verzichtet.  Diese  Ansichten  sind  in  den  letzten  Jahr¬ 
zehnten  mehrfach  kritisiert  worden,  namentlich  —  um  nur  die  wich¬ 
tigsten  Vertreter  der  „neueren“  Forschung  zu  nennen —  von  Caro, 
Wittich,  R.  Hildebrand,  S.  Rietschel,  Joh.  Reichel, 
T hevenin,  Fustel  de  Coulanges,  Tamassia,  zuletzt  von 
D  o  p  s  c  h.  —  Was  diese  Kritiker  vorgebracht  haben ,  läßt  sich  beim 
besten  Willen  zu  einem  einheitlichen  Gesamtbilde  noch  nicht  zusammen¬ 
fügen.  Ich  verzichte  daher  darauf,  auf  diesen  Streit  im  einzelnen  ein¬ 
zugehen,  der  übrigens,  so  viel  ich  zu  sehen  vermag,  selbst  wenn  die 
„neuere“  Forschung  in  allen  Fragen  Recht  behalten  sollte,  die  uns 
hier  in  erster  Linie  interessierenden  Grundzüge  des  Bildes  der  alten 
Dorfwirtschaft  unberührt  läßt.  Denn  ob  die  Hufe  dereinst  gleich  groß 
war  oder  nicht,  ob  sie  und  die  Mark  ein  autonomes  oder  grundherr¬ 
liches  Gebilde  gewesen  sind ,  ändert  nichts  an  dem ,  was  mir  das 
wesentliche  der  Wirtschaftsorganisation  des  mittelalterlichen  Dorfes 
zu  sein  scheint:  Wirtschaftliche  Autonomie,  Bedarfsdeckung  im  wesent¬ 
lichen  auf  dem  Wege  der  Eigenwirtschaft,  Privatwirtschaft  in  Größen¬ 
abstufung  mit  teilweiser  Eingliederung  in  eine  gemeinwirtschaftliche 
Organisation. 

Wie  nun  gestaltete  sich  in  dieser  Umwelt  das  AVirt- 
scha  ft  sieben?  in  welchen  Formen  sorgten  die  Menschen  jener 
Jahrhunderte  für  die  Beschaffung  ihres  Unterhalts? 

In  der  Wirtschaftsverfassung  jener  Zeit  lassen  sich  zwei  ver¬ 
schiedene  Organisationen  deutlich  unterscheiden,  die  wir  auch 
nacheinander  betrachten  wollen :  Die  bäuerliche  Wirtschaft  in  den 
Dorfgemeinden  und  die  Fronhofwirtschaft  auf  den  Grundherr- 
schäften. 

Die  Völker  Europas  (im  Westen  der  russischen  Grenze) 
waren  in  der  Epoche,  die  wir  hier  im  Auge  haben,  seit  geraumer 


40  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigen  wirtschaftliche  5£eitaitei‘ 

Zeit  seßhaft  geworden.  Von  den  alten  Kulturvölkern  ganz  ab¬ 
gesehen:  auch  die  Germanen  wohnten  seit  den  ersten  Jahr¬ 
hunderten  unserer  Zeitrechnung  in  festen  Ansiedlungen  und  trieben 
Ackerbau,  die  Slawen  hatten  ebenfalls  seit  ihren  Wanderungen 
in  die  frei  gewordenen  deutschen  Gaue  den  Übergang  zur  Se߬ 
haftigkeit  vollzogen  und  zuletzt  (um  600)  waren  die  Kelten  in 
Irland  aus  Nomaden  Ackerbauer  geworden.  Auch  die  großen 
Völkerzüge  hatten  seit  einigen  Jahrhunderten  aufgehört.  •  Das 
Agrarwesen  Europas  hatte  angefangen,  sich  zu  stabilisieren;  in 
den  festen  Formen  sich  zu  entwickeln,  die  es  bei  der  endgültigen 
Siedlung  der  Bebauer  des  Landes  erhalten  hatte. 

Diese  Siedlungsformen  waren  —  wie  ich  schon  angedeutet 
habe  —  recht  mannigfaltig  gewesen  und  gaben  —  rein  äußerlich 
betrachtet  —  dem  europäischen  Agrarwesen  zunächst  ein  sehr 
buntes  Gepräge,  zumal  ja  verschiedene  Nationalitäten,  verschiedene 
Völker  auf  demselben  Gebiete  nacheinander  gesiedelt  hatten,' 
oft  genug  jede  mit  nachhaltigen  Wirkungen  auf  die  Gestaltung 
der  Siedlungsform. 

Von  einem  einzigen  Volksstamm  besiedelt  gewesen  sind,  wie 
man  weiß 1,  nur  ganz  kleine  Strecken  Europas :  Niederdeutsch¬ 
land  zwischen  Elbe,  Weser,  Mittelgebirge  und  Nordsee:  das 
einzig  rein-deutsche  Land  und  Irland:  das  einzig  rein-keltische 
Land.  Über  alle  andern  Länder  sind  verschiedene  Völker  hin¬ 
weggegangen  und  haben  ihre  Kultur  abgelagert  wie  geologische 
Schichten. 

Bei  der  Besiedlung  Europas  hat  es  sich  im  wesentlichen  um 
die  verschiedenen  nationalen  Siedlungsweisen  der  Börner,  Kelten, 
Germanen  und  Slawen  gehandelt;  unter  sie  ist  das  europäische 
Land  aufgeteilt  und  zwar  bis  zu  der  Epoche,  in  der  wir  Um¬ 
schau  halten ,  so ,  daß  Deutschland  bis  zur  Elbe  slawisch ,  im 
übrigen  teils  deutsch,  teils  keltisch  besiedelt  ist,  daß  ebenso 
Frankreich  und  Großbritannien  eine  Mischung  keltischer  und 
germanischer  Siedlungsformen  aufweisen ,  während  südlich  der 
Alpen  —  soweit  nicht  Beste  ursprünglicher  Ansiedlung  noch  er- 


1  Die  unerschöpflich  reiche  Quelle  für  alle  Probleme  der  Siedelung 
ist  das  Werk  von  August  Meitzen,  Siedelung  und  Agrarwesen 
der  Westgermanen  und  Ostgermanen,  der  Kelten,  Römer,  Finnen  und 
Slaven.  3  Bde.  und  Atlasband.  1895.  —  Soweit  die  Untersuchungen 
M.s  reichen,  gehen  wir  auf  sicherem  Grunde ;  wo  sie  aufhören,  hört 
meist  auch  unsere  Wissenschaft  von  diesen  Dingen  auf.  Das  gilt 
• —  leider!  —  für  das  Gebiet  südlich  der  Alpen. 


Sechstes  Kapitel:  I)le  Lorfwirtschaft  4? 

halten  sind  —  die  römische  Centuriataufteilung  des  Landes  neben 
der  deutschen  Dorfsiedlung  sich  vorfindet1. 

Es  gehört  nun  nicht  zu  der  Aufgabe,  die  ich  mir  hier  ge¬ 
stellt  habe,  auch  nur  in  den  Grundzügen,  die  vier  nationalen 
Siedlungsweisen  zu  beschreiben.  Ich  begnüge  mich  vielmehr 
mit  der  kurzen  Bezeichnung  der  den  verschiedenen  Siedlungs¬ 
formen  charakteristischen  Merkmale  und  verweise  für  alles 
übrige  den  Leser  auf  das  Meitzensche  Werk. 

Slawische  Siedlung:  geht  von  der  Hauskommunion  aus. 
Die  Bauern  wohnen  in  Bunddörfern,  an  deren  Peripherie  die 
einzelnen  Gehöfte  liegen.  Yon  diesen  gehen  strahlenförmig  die 
-zum  einzelnen  Bauernhof  gehörigen  Ländereien  aus;  jeder  Hof 
hat  seinen  Besitz  in  einem  Stück. 

Keltische  Siedlung:  geht  von  der  Clanverfassung  aus. 
Siedlung  in  Einzelhöfen,  um  die  herum  das  gesamte  Areal,  das 
dem  Bauern  gehört,  in  einer  abgerundeten  Masse  gelegen  ist. 

Germanische  Siedlung:  ruht  auf  genossenschaftlicher 
Basis.  Die  Bauerngemeinde  wohnt  in  unregelmäßigen  Haufen¬ 
dörfern.  Das  Ackerland  jeder  Bauernfamilie  liegt  zerstreut  an 
verschiedenen  Stellen  der  Flur  in  den  sogenannten  Gewannen. 
Daher  Gewannendorf. 

Bomanische  Siedlung:  in  städteartigen  Dörfern,  in  denen 
die  steinernen  Häuser  Mauer  an  Mauer  stehen.  Speziell  die 
Zenturiatansiedlung  der  Kolonien:  in  regelmäßigen  Beclitecken 
von  je  200  jugera. 

Worauf  es  mir  vielmehr  hier  ankommt,  ist:  den  Nachweis 
zu  führen,  daß  die  bäuerliche  Wirtschaft  in  jener  Zeit  —  trotz 
der  äußerlich  so  außerordentlich  mannigfaltigen  Siedlungsart  — 
doch  in  ihrem  Wesen  in  Nord  und  Süd,  Ost  und  West  sehr 
ähnlich  war,  daß  sie  jedenfalls  eine  sehr  große  Menge  über¬ 
einstimmender  Züge  aufwies ,  die  teilweise  in  der  „Natur  der 
Sache“ 2  begründet  waren. 

Wollen  wir  irgendein  soziales  Gebilde,  wie  es  ein  bestimmtes 
Wirtschaftssystem  ist,  in  seiner  organischen  Einheit  und  Eigenart 
begreifen,  so  müssen  wir,  wie  wir  wissen,  nach  der  leitenden 
Idee  suchen,  die  zu  seiner  Entstehung  geführt  hat  und  die  es 

1  Ygl.  die  Übersichtskarte  im  Atlasband  des  M  e  i  t  z  e  n  sehen  Werkes, 
wo  die  geographische  Verbreitung  der  verschiedenen  Siedlungsformen 
wenigstens  für  Europa  nördlich  der  Alpen  graphisch  dargestellt  ist. 

2  G.  Haussen,  Agrarhistorische  Abhandlungen  2  Bde.  1880.84; 
1,  497. 


4g 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitaltei1 


in  seinem  Weiterbestände  erhält:  der  leitenden,  tragenden  Idee, 
die  wiederum  nichts  anderes  ist  als  die  zu  einer  gedanklichen 
Einheit  zusammengefaßten  und  im  Bewußtsein  reflektierten 
treibenden  Interessen  der  den  Ausschlag  gebenden  Personenkreise. 

Was  die  eigentümliche  Siedlung  aller  europäischen  Volks¬ 
stämme  bestimmte,  konnte  nur  das  Bestreben  der  Genossen  eines 
Nomadenstammes  sein,  sich  —  angesichts  des  knapper  werdenden 
Landes  und  der  zunehmenden  Übergriffe  der  reichen  Herden¬ 
besitzer  —  eine  gesicherte  Existenz  zu  verschaffen,  war  die 
Idee  der  „Nahrung“,  wie  man  dieses  Streben  später  genannt  hat. 

Vergegenwärtigt  man  sich  die  objektiven  Bedingungen  eines 
AVirtschaftsbetriebes  in  jener  frühen  Zeit,  in  der  die  Seßhaft- 
werdung  erfolgte : 

1.  das  Land:  zwar  zu  knapp  für  Nomaden  Wirtschaft,  aber 
reichlich  genug  für  extensiven  Ackerbau; 

2.  die  Technik:  ganz  primitiv  sowohl  als  Ackerbau  wie 
Viehzucht,  wie  als  gewerbliche,  wie  als  Transporttechnik; 

3.  die  Bevölkerung :  verschwindend  gering,  in  ihren  einzelnen 
Gruppen  noch  wesentlich  durch  Blutsverwandtschaft  verbunden  — 
so  mußte  jenes  Streben,  die  „Idee  der  Nahrung“  zu  verwirk¬ 
lichen,  mit  Notwendigkeit  zu  einer  Wirtschaftsverfassung  führen, 
wie  wir  sie  tatsächlich  bei  den  europäischen  Völkerschaften  in 
ihrer  Kindheit  vorfinden. 

Das  Siedlungswerk  wird  vollbracht  auf  einem  Gebiet,  das  ge¬ 
meinsamer  Besitz  einer  Gruppe  blutsverwandter,  nomadisierender 
Familien  gewesen  und  von  den  Ansiedlern  bis  dahin  gemein¬ 
schaftlich  genutzt  worden  war.  Der  Schwerpunkt  der  AVirt- 
schaft  wird  aus  der  Viehzucht  in  den  Ackerbau  verlegt.  Zu 
diesem  Behufe  erhält  jede  Familie  ein  Stück  Land  zu  ausschlie߬ 
licher  Benutzung  —  dauernd  oder  vorübergehend  —  zugewiesen : 
groß  genug,  um  den  traditionellen  Unterhalt  seinen  Bebauern  zu 
gewähren  und  deren  Arbeitskräfte,  die  durch  ein  Pfluggespann 
unterstützt  werden,  zu  beschäftigen.  Die  Ackerlose  sollen  nach 
Möglichkeit  gleich  groß  und  gleich  gut  sein.  Das  Besitztum 
heißt  selbst  vielerorts  „Pflug“,  aratrum,  plough-land  oder  auch 
possessio  familiae,  terra  familia  oder  schlechthin  familia. 

Diese  Grundidee:  jede  Bauernfamilie  erhält  ein  ihrem  Bedarf 
und  ihrer  Arbeitskraft  angepaßtes  Grundstück,  kehrt  bei  allen 
Völkern  gleichmäßig  wieder.  Sie  ist  in  der  deutschen  Hufen- 
verfasssung  am  peinlichsten  durchgeführt ;  aber  tatsächlich  „bilden 
auch  die  (keltischen)  Einzelhöfe  Bauerngüter  von  ungleicher 


Sechstes  Kapitel:  Die  Dorfwirtschaft. 


49 


Größe,  jedoch,  von  gl  eichgedachter ,  für  die  Ernährung  einer 
Bauernfamilie  ausreichender  Leistungsfähigkeit“,  weshalb  wir  denn 
beispielsweise  in  den  französischen  Urkunden  auch  den  Aus¬ 
druck  „mansus“  für  die  Tates  angewandt  finden.  Und  dasselbe 
gilt  von  den  Dzedzinengütem  der  Slawen. 

Von  dem  Gesamtareal  der  Flur  bleibt  bei  allen  Siedlungs¬ 
formen  oft  ein  erheblicher  Teil  von  der  Vergabung  an  die  Einzel¬ 
familien  ausgeschlossen  in  gemeinsamem  Besitze  der  gesamten 
Gemeinde  zurück:  die  Almende.  Dieser  Teil  der  Dorfflur  dient 
dann  zur  Unterlage  einer  gemeinsamen  Wirtschaftsführung  meist 
der  Viehzucht  als  Weideland.  Das  hat  seinen  Grund  vor  allem 
wohl  in  den  Verhältnissen,  die  in  jener  frühen  Zeit  eine  andere  als 
eine  kollektiv  betriebene  Viehzucht  nicht  gestatten.  Der  primi¬ 
tiven  Viehzucht  entspricht  wiederum  ein  primitiver  Ackerbau. 
Wir  dürfen  annehmen,  daß  die  ersten  Feldsysteme,  die  nach 
der  Seßhaftwerdung  zur  Anwendung  gelangten,  eine  ziemlich 
rohe  Feldgraswirtschaft  oder  aber  eine  ganz  primitive  Einfelder- 
wirtsckaffc  waren. 

Die  innere  Zusammengehörigkeit  der  Mitglieder  einer  Bauern¬ 
gemeinde  ,  die  blutlich  in  der  ursprünglichen  Verwandtschaft 
ihre  Wurzel  hat  und  in  den  aus  dieser  entspringenden  sym¬ 
pathetischen  Gefühlen,  wie  sie  zur  Bildung  einer  „Gemeinschaft“ 
im  Tönnies  sehen  Sinne1  führen,  findet  dann  ökonomisch  ihren 
xAusdruck  in  dem  Aufsichselbstgestelltsein  der  ganzen  Gemeinde 
und  dem  Aufeinanderangewiesensein  der  einzelnen  Bauern¬ 
familien.  Denn  nach  außen  findet  so  gut  wie  kein  Verkehr 
statt.  Die  ursprünglichen  Dorfanlagen  kennen  keine  Wege 
zwischen  den  einzelnen  Dörfern.  Das  gesamte  Dasein  ist  ein¬ 
geschlossen  in  den  engen  Kreis  der  Dorfflur.  Da  jede  einzelne 
Familie  auf  ihrer  Scholle  selbständig  sein  will,  so  folgt  aus  dieser 
Sachlage  von  selbst  als  das  die  Produktion  regelnde  Prinzip: 
die  Deckung  des  eigenen  naturalen  Bedarfs. 

Das  Bedarfsdeckungsprinzip  regelt  die  Anteilnahme 
des  einzelnen  an  den  Gemeindenutzungen:  jeder  soll  so  viel 
davon  nehmen  als  er  braucht  (so  wenigstens  ursprünglich),  nur 
verkaufen  darf  er  nichts. 

Dasselbe  Prinzip  bestimmt  den  Kreis  der  zu  gewinnenden 


1  F.  Tönnies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft  usw.  1887.  2.  Aufl. 
1912. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus,  I, 


4 


50 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  2eitaltei! 


Produkte :  das  sind  die  volkstümlichen  Nalirungsfr  lichte ,  Ge- 
spinnststoffe  usw. 

Dasselbe  Prinzip  gibt  die  Veranlassung  zu  den  in  aller 
früheren  Zeit  selbstverständlichen  gegenseitigen  Hilfeleistungen 
der  Bauern  untereinander. 

Dasselbe  Prinzip  nötigt  jeder  Familie  außer  der  landwirt¬ 
schaftlichen  auch  die  gewerbliche  Produktion  auf.  Daß 
diese  zum  größten  Teil  in  jeder  Bauernwirtschaft  mitbesorgt 
wurde,  versteht  sich  von  selbst.  Hat  sich  ja  die  hausgewerb¬ 
liche  Tätigkeit  der  Bauernwirtschaften  bis  in  unsere  Zeit  er¬ 
halten,  wie  an  geeigneter  Stelle  noch  zu  zeigen  sein  wird.  Der 
Hausbau,  die  Herstellung  der  Kleidung,  der  AVerkzeuge  und 
des  Schmuckes,  das  Backen  des  Brotes  waren  sicher  von  jeher 
Zweige  der  bäuerlichen  Eigenwirtschaft.  Auch  was  der  Bauer 
an  Eisengeräten  nötig  hatte,  Nägel,  Hufeisen  usw.,  erzeugte  er 
sich  selbst,  vom  Eisenerz  an,  das  er  in  der  Gemarkung  fand 
und  in  den  einfachen  Schmelzöfen,  den  Ilennfeuern ,  zu  Eisen 
ausschmolz1).  Wo  größere  Anlagen  erheischt  wurden,  sorgte 
die  Gemeinde  als  solche  für  ihre  Errichtung.  Das  galt  von  der 
(Wasser-)Mühle 2 3 * * * * ;  aber  auch  von  der  Schmiede8.  Endlich 
wird  es  frühzeitig  in  den  Dörfern  einzelne  Spezialarbeiter  ge¬ 
geben  haben,  die  für  die  andern  die  notwendigen  gewerblichen 
Arbeiten  ausführten:  in  erster  Linie  einen  Schmied  und  einen 


1  Viel  neues  Material  bei  Alfons  Müller,  Geschichte  des  Eisens 
in  Inner- Österreich  1  (1909),  111  ff. 

2  Siehe  Lex  Sal.  22.  Lamprecht,  DWL.  1,  17.  Im  Domesday- 
Book:  „sometimes  the  ownership  of  a  mill  is  divided  into  so  many 
shares  that  we  are  tempted  to  think  that  this  mill  has  been  erected 
at  the  cost  of  the  vill“.  F.  W.  Maitland,  D.  Book  and  beyond 
(1897),  p.  144. 

3  In  einer  bekannten  Stelle  der  Lex  Baiuv.  (IX,  2)  werden 
Kirche,  'Herzogspalast,  Mühle  und  Schmiede  als  öffentliche  Ge¬ 
bäude  genannt,  die  einen  höheren  Flieden  genossen.  „Wie  schutzlos 
auf  dem  Felde  gelassenes  Ackergerät  wurden  solche  Gebäude,  welche 
nicht  dauernd  bewohnt,  vielmehr  nur  behufs  der  Arbeit  aufgesucht 
wurden  und  oft  einsam  am  Flusse  lagen,  durch  erhöhten  Frieden  ge¬ 

schirmt-,  sie  standen  stets  offen,  ebenso  (nämlich  wie  die  Mühlen) 
die  Schmieden:  Diese  öffentlichen  Arbeitsstätten  waren 
Eigentum  der  Gemeinde;  alle  Gemeindegenossen  durften 

sie  abwechselnd  benutzen.“  F.  Dahn,  Könige  der  Germanen, 

IX,  2  (1905),  443.  Dem  Streit:  ob  die  Mühlen  im  „Privateigentum“ 

oder  im  Eigentum  der  Gemeinde  (Markgenossenschaft)  gestanden  haben, 

ist  das  Buch  gewidmet  von  Carl  Koehne,  Das  Recht  der  Mühlen 


Sechstes  Kapitel:  Die  Dorfwirtschaf’t 


51 


Stellmacher,  diese  beiden  Urtypen  des  ländlichen  Handwerks* 1. 
Nur  daß  sie  ursprünglich  nicht  selbständige  Handwerker  waren, 
sondern  eine  Art  von  G-emeindebeamten,  die  von  der  Gemeinde 
unterhalten  wurden  gegen  die  Verpflichtung,  alle  vorkommende 
Schmiede-  oder  Stellmacherarbeit  kostenlos  auszuführen.  Auch 
diese  Gebilde  ragen  mit  ihren  Trümmern  in  die  Gegenwart 
hinein  und  haben  sich  in  etwas  veränderter  Gestalt  als  sogenannte 
Gutshandwerker  bis  heute  auf  großen  Gütern  ganz  allgemein, 
hie  und  da  aber  auch  als  Dorfhandwerker,  gehalten. 

Daß  dieses  gebundene  Leben  sich  in  den  Formen  eines  ge¬ 
bundenen  Hechts  abspielte,  ist  selbstverständlich.  Nur  langsam 
öffnet  sich  die  Gemeinde  der  blutsverwandten  Dorfgenossen 
fremden  Zuzüglingen ;  nur  langsam  gewinnt  die  einzelne  Bauem- 
familie  die  freie  Verfügungsgewalt  über  ihr  Ackerloos.  Und  wo, 
wie  in  den  deutschen  Gewanndörfern,  der  Acker  des  einzelnen 
Bauern  „im  Gemenge“  mit  den  anderen  liegt,  übt  die  Gemeinde 
strenge  Ordnung  in  der  gesamten  Wirtschaftsführung  aus,  deren 
Gestaltung  der  Verfügungsgewalt  des  einzelnen  Bauern  ganz 
und  gar  entzogen  ist.  (Flurzwang!) 

Diese  ursprüngliche  Form  der  bäuerlichen  Wirtschaft,  wie 
ich  sie  eben  mit  wenigen  Strichen  gezeichnet  habe,  hatte  sich 
nun  zweifellos  in  ihren  Grundzügen  durch  alle  die  Jahrhunderte 
bis  in  die  Karolingerzeit  erhalten.  Was  sich  geändert  hatte, 
war  wohl  wesentlich  folgendes:  Die  affinitas  hatte  mehr  und 
mehr  der  propinquitas  weichen  müssen :  die  ehemals  bluts¬ 
verwandten  Dörfler  waren  mit  fremdblütigen  Elementen  durch¬ 
setzt.  Vor  allem  hatte  eine  schon  ziemlich  starke  Differen¬ 
zierung  in  den  Besitzverhältnissen  Platz  gegriffen.  Die  alten 
Hüfner  waren  zum  Teil  verschwunden;  ihre  Plätze  wurden  von 
größeren  Bauern  oder  Teilhüfnern  eingenommen.  Und  neben 
dem  Hüfner  erscheint  schon  der  Kötter,  der  Kothsasse,  der 
cottarius,  croftmann,  cotsettle  der  englischen  Quellen. 

Dis  zum  Ende  der  Karolingerzeit.  1904.  Es  gab  m.  E.  1.  „Privat¬ 
mühlen“  der  Bauern  (ganz  primitiver  Art);  2.  Gemeindemühlen; 
3.  Privatmühlen  der  Grundherrn,  die  von  den  Bauern  genutzt  werden 
konnten  oder  (später)  mußten.  Siehe  Seite  74  ff.  Vgl.  zu  obigem 
Streit  noch  M.  Thövenin,  Etudes  sur  la  propriete  au  moyen  age 
in  der  Revue  Histor.  1886. 

1  Der  Faber,  faber  ferrarius  in  der  Lex  Sal.  35,  6;  10,  26;  lex 
Bai.  9,  2;  lex  Alem.  81,  7  und  öfters;  der  Carpentarius  in  der  lex 
Sal.  35,  6;  10,  26  (nur  daß  man  an  diesen  Stellen  ebensogut  an 
grundherrliche  Arbeiter  denken  kann). 


4* 


62 


Zweiter  Abschnitt:  i)as  eigen  wirtschaftliche  Zeitalter 


Aber  der  Geist  der  alten  Bauernwirtschaft  war  sicherlich 
derselbe  geblieben  —  wie  er  es  noch  1000  Jahre  hindurch  weiter 
blieb  —  und  auch  die  Wirtschaftsführung  hatte  keine  wesent¬ 
lichen  Veränderungen  erfahren.  Wissen  wir  doch,  daß  selbst 
die  Dreifelderwirtschaft,  die  dann  das  ganze  Mittelalter-  hindurch 
bis  in  unsere  Zeit  hinein  die  bäuerliche  Wirtschaftsführung  be¬ 
einflussen  sollte,  nicht  vor  Ende  des  8.  Jahrhunderts  sich  aus¬ 
zubreiten  beginnt1 * 3. 

Nun  wäre  aber  das  Wirtschaftsleben  zur  Karolinger  zeit  doch 
vielleicht  nicht  so  gleichförmig  in  ganz  Europa  gestaltet  ge¬ 
wesen,  wie  es  tatsächlich  der  Fall  war,  wenn  es  ausschließlich 
von  der  bäuerlichen  Wirtschaft  beherrscht  gewesen  wäre.  Denn 
so  viele  übereinstimmende  Züge  wir  auch  an  dieser  nachweisen 
konnten:  es  haftete  ihr  doch  immer  die  charakteristische  Eigen¬ 
art  der  nationalen  Siedlungsweise  an.  Was  dem  europäischen 
Wirtschaftsleben  jener  Zeit  vielmehr  den  hohen  Grad  von  Gleich¬ 
förmigkeit  verlieh,  war  die  zweite  Organisation,  von  der  bereits 
die  Rede  war :  die  Erohnhofwirtschaft  auf  den  Grundherrschaften, 
die  tatsächlich  fast  keine  Unterschiede  von  Sizilien  bis  Schott¬ 
land,  vom  Sorbenland  bis  zur  spanischen  Mark  aufwies.  Von 
ihr  soll  im  folgenden  die  Rede  sein. 

1  Siehe  z.  B.  F.  Dahn,  Könige  der  Germanen  IX,  1,  443;  IX, 

2,  419.  NachMeitzen,  Siedelungen,  2,  592  f.,  wird  die  Dreifelder¬ 
wirtschaft  erstmalig  771  im  räthisch-gallischen  Gebiete  erwähnt.  Die 
landwirtschaftlichen  „Altertümer“  findet  man  noch  am  besten  zusammen¬ 
getragen  bei  Karl  Gottlob  Anton,  Geschichte  der  teutschen  Land¬ 
wirtschaft  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts. 

3  Bde.  1799.  —  Freilich  sind  Mißverständnisse  bei  A.  keine  Selten¬ 
heit. 


i 


53 


Siebentes  Kapitel 

Die  Fronhofswirtschaft 

Literatur 

In  den  letzten  Jahren  ist  die  Literatur  über  die  Grundherr¬ 
schaften  und  ihre  Wirtschaftsverfassung  in  Deutschland  und  nament¬ 
lich  auch  im  Auslande  mächtig  angeschwollen.  Eine  Zusammen¬ 
stellung  der  englischen  Literatur  über  die  englischen  Grundherr¬ 
schaften  findet  man  bei  Nathaniel  J.  Hone,  The  Manor  and 
manorial  records,  zuerst  1906,  p.  312  ff.  Dieses  Buch  selbst  ist  eine 
anschauliche  Schilderung  einzelner  Seiten  des  grundherrschaftlichen 
Lebens  in  England,  die  es  durch  alte  bildliche  Darstellungen  glücklich 
unterstützt.  Vgl.  auch  noch  P.  Vinogradoff,  The  growth  of  the 
Manor  1905  und  English  society  in  the  XI  Century,  1908.  Die  meist 
monographische  Literatur  der  Franzosen ,  Italiener  und  Deutschen  findet 
man  berücksichtigt  in  der  neuesten  und  umfangreichsten  Darstellung 
in  deutscher  Sprache,  dem  Werke  von  Alfons  Dopsch,  Die  Wirt¬ 
schaftsentwicklung  der  Karolingerzeit  vornehmlich  in  Deutschland. 
2  Bde.  1912/13.  Aus  der  späteren  Literatur  sei  noch  besonders  hin-, 
gewiesen  auf  die  gute  Arbeit  von  He inr.  Pauen,  Die  Klostergrund¬ 
herrschaft  Heisterbach.  Beiträge  z.  Gesch.  des  alten  Mönchtums  usw. 
Her.  v.  II d.  Herwegen,  Heft  4.  1913.  (Die  Grundherrschaft  ent¬ 
wickelt  sich  erst  seit  dem  12.  Jahrhundert.) 

Obwohl  ich  diesen  Abschnitt  über  die  Fronhofwirtschaft  schon  vor 
etwa  acht  Jahren  niedergeschrieben  habe,  hat  die  neuere  Forschung, 
hat  namentlich  auch  das  Werk  von  Dopsch  mich  zu  keiner  einzigen 
Änderung  veranlaßt.  Zu  meiner  Freude  kann  ich  feststellen,  daß  ich 
insbesondere  mit  den  Ansichten  von  Dopsch  in  vielen  Punkten  über¬ 
einstimme,  so  weit  ein  Historiker  und  ein  Nationalökonom  von  Wirt¬ 
schaftszuständen  überhaupt  gleiche  „Ansichten“  haben  können. 

Das  gilt  namentlich  vom  ersten  Bande,  worin  auch  irrtümliche  Auf¬ 
fassungen  früherer  Forscher  (insonderheit  v.  Inamas)  richtig  gestellt 
werden,  auf  Grund  einer  interessanten  Kritik  der  Quellen.  Den 
Geltungswert  des  Cap.  de  villis  schätze  ich  genau  wie  Dopsch  ein : 
meine  darauf  bezüglichen  Bemerkungen  kann  ich  unverändert  lassen. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  zweiten  Bande ,  worin  D  o  p  s  c  h 
„aufbauend“  Vorgehen  möchte.  Hier  trennen  sich  unsere  Wege.  Vor 
allem,  weil  sich  unsere  Grundauffassungen  von  der  Aufgabe  der  Ge¬ 
schichtschreibung  scharf  entgegenstehen.  Ich  gebe  ohne  weiteres  zu, 
daß  das  von  Dopsch  beigebrachte  Quellenmaterial  reichlicher  ist  wie 
in  irgendeiner  früheren  Gesamtdarstellung  jener  Zeitepoche  (bis  auf 
das  Kapitel  „Gewerbe“ ,  das  auffallend  dürftig  ist).  Aber  dieses 
Material  ist  noch  keine  Geschichte.  Hm  Geschichte  zu  werden,  hätte 


54 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


es  Dop  sch  mit  dem  Lichte  einer  „Theorie“  durchleuchten  müssen. 
Und  gerade  das  lehnt  ja  der  Verfasser  ganz  energisch  ab.  Sem  Haupt¬ 
eifer  ist  auf  die  Bekämpfung  der  „Theoretiker“,  insonderheit  dei 
„Nationalökonomen“  —  v.  Inama,  Bücher  —  gerichtet.  Und  da  be¬ 
ginnt  sein  Irrtum.  Hätte  er  die  falschen  und  schlechten  Theorien 
dieser  Männer  bekämpft  —  und  die  „Theorie“  v.  Inamas  ist  wirk¬ 
lich  herzlich  schlecht,  vor  allem  weil  sie  keine  (geschlossene)  Theorie 
ist,  diejenige  Büch  er  s  ist  mindestens  verbesserungsfähig—,  so  wäre 
das  sehr  dankenswert  gewesen,  wenn  Dop  sch  gleichzeitig  eine  eigene 
„Theorie“  dagegengestellt  hätte.  Statt  dessen  will  er  von  „Theorie 
überhaupt  nichts  wissen  —  und  trotzdem  will  er  „auf bauen  !  ? 

Ich  will  hier  ein  für  allemal  meinen  Standpunkt  gegenüber  dem 
Streit  zwischen  „Theoretikern“  und  „Historikern  darlegen. 

Machen  wir  uns  folgendes  klar:  von  zwei  Dingen  kann  nur  eins 
bestehen :  entweder  die  Historiker  begnügen  sich  damit,  unsere  Hand¬ 
langer  zu  sein,  das  heißt  das  Quellenmaterial  zu  unserer  Verfügung  zu 
stellen,  damit  wir  „aufbauen“,  oder  aber  sie  bauen  selber  auf.  In 
diesem  Falle  müssen  sie  aber  einen  Bauplan  haben,  und  dieser  Bauplan 
ist  eben  das,  was  sie  verächtlich  „Theorie“  nennen.  Diese  Theorie 
besteht  aus  zweierlei:  1.  einem  System  klarer,  eindeutiger  B e grir  e; 
2.  einem  Schema,  nach  dem  man  die  Einzeltatsachen  zu  einem 
Ganzen  zusammenfügt  •,  in  unserem  Falle  bietet  dieses  Schema  die 
Idee  eines  bestimmten  Wirtschaftssystems.  Wer  über  diese  beiden 
geistigen  Requisite  nicht  verfügt,  kann  nicht  „auf bauen  .  Unternimmt 
er  gleichwohl  eine  Ordnung  der  Tatsachen,  so  passiert  ein  Unglück. 
Es  entsteht  heillose  Konfusion,  die  schlimmer  ist  als  eine  bloße 
Bereitstellung  von  Material,  das  dann  ein  anderer  klarer  und  systema¬ 
tischer  Kopf  zur  Einheit  fügen  mag.  Ebensowenig,  beispielsweise,  wie 
jemand  Heeresgeschichte  schreiben  sollte,  der  von  einem  berufsmäßigen 
Volksheere  spricht,  ebenso  wenig  sollte  man  Wirtschaftsgeschichte 
schreiben  dürfen,  wenn  man  einen  zu  gewerblichen  Leistungen  vei- 
pflicliteten  Hintersassen  mit  einem  Lohnwerker  (im  Büch  er  sehen 
Sinne)  verwechselt  (Dop  sch  2,  154),  oder  wenn  man  von  „natural- 
wirtschaftlichem  Kapitalismus“  (sic)  spricht  (2,  52)  und  unter  dem 
Rubrum  „Die  Geldwirtschaft“  Preisgestaltung  und  Kreditvorgänge  ab¬ 
handelt  (§  12). 

Da  kommen  denn  solche  wahrhaft  groteske  Vorstellungen  hei  aus, 
als  ob  die  karolingischen  WTicher-  und  Zinsverbote  erlassen  seien,  um 
das  Publikum  vor  einer  „monopolistischen  Preistreiberei  des  Kapitalis¬ 
mus“  (sic)  zu  schützen  (2,  275).  Natürlich:  ohne  „Kapitalismus“ 
geht  es  jetzt  in  keiner  Epoche  mehr  ab.  Nehmen  Geldgeber  hohe 
Zinsen  für  Konsumtivkredit,  treiben  Grundherren  die  Preise  für  die 
notwenigen  Lebensmittel :  flugs  ist  „Kapitalismus  da.  Nun  also  schon 
zur  Karolingerzeit.  Nunmehr  ist  fällig  der  Nachweis  des  „Kapitalis¬ 
mus“  bei  den  alten  Deutschen  zur  Zeit  des  Tacitus:  „Da  staunt  dei 
Fachmann  und  der  Laie  wundert  sich“,  kann  man  wirklich  solchen 
„Theorien“  (ja  wohl  es  sind  „Theorien“,  bloß  vorsintflutliche  und 
schlechte)  gegenüber  nur  noch  sprechen.  Nein  —  solange  die  Historiker 
mit  so  gänzlich  unzulänglicher  Vorbildung  „Wirtschaftsgeschichte“ 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


55 


schreiben,  ist  eine  Verständigung  nicht  möglich.  Einer  der  ganz  wenigen 
Historiker  von  Ruf,  der  anders  verfährt,  ist  Georg  von  Below,  mit 
dem  wir  uns  deshalb  auch  jederzeit  gern  und  leicht  auseinandersetzen. 
Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  die  goldenen  Worte  hier  anzuführen,  die 
v.  Below  in  seinem  neuesten  Werke  (Der  deutsche  Staat  des  Mittel¬ 
alters,  1914,  S.  107  ff.)  über  die  Voraussetzungen  ersprießlicher  Ge¬ 
schichtschreibung  macht  und  die  ich  Punkt  für  Punkt  unterschreibe. 
Ihr  Gewicht  bekommen  sie  dadurch,  daß  sie  von  einem  unserer  ersten 
Historiker  gesprochen  werden,  da  man  ja  uns  „Systematiker“ 
stets  als  verschrobene  „Theoretiker“  beiseite  schiebt,  "wenn  wir  ähn¬ 
liches  sagen,  v.  B  e  1  o  w  s  Ausführungen  beziehen  sich  auf  die  Rechts¬ 
geschichte  ‘  für  die  Wirtschaftsgeschichte  gilt  aber  natürlich  genau 
das  gleiche : 

„Ganz  gewiß  ist  es  das  Recht  und  die  Pflicht  des  Historikers, 
vor  willkürlichen ,  das  heißt  ohne  Rücksicht  auf  das  Quellenmaterial 
unternommenen,  juristischen  Konstruktionen  zu  warnen.  Die  juristische 
Betrachtung  ist  ferner  selbstverständlich  nicht  die  einzig  zulässige  Be¬ 
trachtung  der  Vergangenheit.  Allein  wenn  wir  die  alten  rechtlichen 
Verhältnisse  darlegen  wollen,  so  vermögen  wir  es  nur  mit  den  Mitteln 
der  Rechtswissenschaft.“  „Die  Rechtsgeschichte  befaßt  sich  mit 
juristischen  Fragen  und  muß  sie  folglich  auch  juristisch  beantworten“ 
(v.  Amira).  Für  die  Rechtsgeschichte  „bleibt  totliegender  Stoff,  was 
sie  dogmatisch  nicht  erfassen  kann“  (Brunner).- — -  Meine  Forderung 
besteht  lediglich  darin,  daß  eine  historische  Darstellung  alle  Bildungs¬ 
elemente  unseres  Jahrhunderts  in  sich  aufnehmen  soll,  und  daß  daher 
der  Historiker  in  seinen  Arbeiten  auch  diejenige  Sauberkeit  und  Prä¬ 
zision  und  Klarheit  der  Vorstellungen  zu  zeigen  hat,  die  wir  heute 
nun  einmal  von  allen  Darstellungen  verlangen“  .  .  .  „Ich  selbst  habe 
bereits  mehrfach  meine  Meinung  dahin  abgegeben,  daß  Schärfe  und 
Klarheit  der  Begriffe  an  sich  keineswegs  Feind  echter 
Geschichtsforschung  sind.“  (Von  mir  gesperrt.) 

Wann  endlich  werden  sich  die  „Wirtschaftshistoriker“  diese  Auf¬ 
fassung  ihres  prominenten  Kollegen  zu  eigen  machen?  Es  ist  also  gar 
nicht  der  Gegensatz  zwischen  „Nationalökonomen“  und  „Historiker“, 
was  mich  und  andere  Nationalökonomien  von  den  meisten  Wirtschafts¬ 
historikern  der  älteren  Schule  trennt.  Es  gibt  auch  Geschichtsschreiber, 
die  mit  unseren  Voraussetzungen  an  das  Studium  der  Vergangenheit 
herantreten,  und  —  das  möchte  ich  doch  nicht  ungesagt  lassen  — 
auf  der  anderen  Seite  genug  „Nationalökonomen“,  die  es  an  Ver¬ 
schwommenheit  der  Begriffe  mit  jedem  Vertreter  einer  anderen  Wissen¬ 
schaft  aufnehmen. 

*  * 

* 

Mein  Urteil  über  das  Werk  von  Dop  sch  steht  nicht  vereinzelt 
da :  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  kommt  vom  Standpunkt  der 
Historik  aus  Paul  Sander  in  seiner  Antwort  auf  eine  „Berichtigung“, 
die  D.  der  Sanderschen  Kritik  seines  Buches  hat  zu  teil  werden  lassen. 
Sanders  Kritik:  in  Schmollers  Jahrbuch,  37.  Jahrg. ;  die  Polemik  ebenda 
im  38.  Jahrg. 


56 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigen  wirtschaftliche  Zeitalter 


I.  Die  Verbreitung  der  Grundherrschaften 

Daß  die  „Grundherr schäften“  mit  der  auf  ihnen  ausgebildeten 
eigentümlichen  Wirtschafts  Verfassung:  der  „Fronhofwirtschaft“ 
eine  den  europäischen  Völkern  während  des  Mittelalters  gemein¬ 
same  Erscheinung  gewesen  seien ,  die  auf  die  gesamte  Kultur¬ 
entwicklung  dieser  Völker,  vor  allem  aber  auch  auf  die  Ge¬ 
staltung  ihres  Wirtschaftslebens  den  allergrößten  Einfluß  aus- 
o-eübt  hat,  wird  heute  von  niemand  bestritten. 

Strittig  ist  nur  (1.)  die  Bedeutung  der  „Grundherrschaften“  (im 
Sinne  von  Immunitäten  mit  eigenem  [„Hof“]Recht)  für  die  Entwick¬ 
lung  des  Verfassungsrechts  (ob  das  Stadtrecht  aus  dem  Hofrecht  oder 
dem  Landrecht  entstanden  ist ;  ob  das  Bürgerrecht  durch  das  Hofrecht 
hindurchgegangen  und  erst  nach  und  nach  aus  der  Unfreiheit  empor1 
gestiegen  ist;  ob  die  Zünfte  hofrechtlichen  oder  landrechtlichen,  un¬ 
freien  oder  freien  Ursprungs  waren  usw.).  Diese  Fragen  scheiden 
natürlich  aus  unserer  Betrachtung  vollständig  aus. 
Ebenso  (2.)  das  andere  Problem,  das  insbesondere  von  Gerhard 
Seeliger  (Die  soziale  und  politische  Bedeutung  der  Grundherrschaft 
im  früheren  Mittelalter.  Abhandlungen  der  phil.-histor.  Klasse  der 
K.  sächs.  Gesellschaft  der  Wiss.  XXII.  Bd.,  Heft  1.  1904)  zur 
Diskussion  gestellt  ist:  welche  Wirkungen  die  Grundherrschaften 
auf  den  persönlichen  Rechtsstatus  der  in  ihrem  Bereich  lebenden 
Personen  ausgeübt  haben  (S.  vertritt,  wie  ich  glaube,  mit  Recht  den 
Standpunkt,  daß  „auch  innerhalb  der  Grundherrschaft  das  freie  Be¬ 
völkerungselement  nicht  verschwunden ,  mitunter  sogar  reichlich  ver¬ 
treten  gewesen“  [ist] ;  a.  a.  0.  S.  196).  Ebenso  lasse  ich  (3.)  dahin¬ 
gestellt,  welchen  räumlichen  Umfang  die  Grundherrschaften  besessen 
haben:  das  heißt  in  welchem  quantitativen  Verhältnis  während  der 
ersten  Hälfte  des  Mittelalters  das  von  den  Grundherrschaften  ein¬ 
genommene  Land  zu  dem  freien  Bauernlande  gestanden  habe.  Zweifel¬ 
los  eine  Übertreibung  war  die  Annahme ,  der  man  früher  häufig  be¬ 
gegnete,  es  habe  im  10.  und  11.  Jahrh.  nur  noch  Grundherrschaften 
gegeben.  Das  hatten  z.  B.  für  England  Seebohm,  Ashley  u.  a. 
behauptet,  deren  extreme  Anschauungen  aber  seitdem  durch  die  Unter¬ 
suchungen  von  Vinogradoff,  Earle,  Round,  Maitland, 
Pollock  u.  a.  berichtigt  sind.  Ebenso  haben  Flach  u.  a.  für  Frank¬ 
reich  das  Weiterbestehen  freier  Bauerngemeinden  neben  den  Grundherr¬ 
schaften  nachgewiesen.  Merkwürdigerweise  vertritt  jetzt  für  Italien 
wieder  den  alten  Standpunkt  Ludo  M.  Har’tmann,  Geschichte 
Italiens  II,  40  ff.;  II,  2,  15  ff. 

Ick  sagte  schon,  daß  die  grundherrschafthch-fronhofwirtschaft- 
liche  Organisation  ein  sehr  gleichförmiges  Gepräge  in  den  ver¬ 
schiedenen  Ländern  Europas  getragen  habe.  In  der  Tat:  ob 
wir  die  Verfassung  der  Klöster  Bobbio,  oder  Farfa,  oder  der  Be¬ 
sitzungen  des  Patriarchen  von  Grado,  oder  des  Bischofs  von 
Ravenna  in  Italien;  ob  die  der  Abtei  Saint  Germain  des  Pres, 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft  57 

oder  de  la  Sainte  Trinite  de  Tiron,  oder  der  Klöster  Clairvaux, 
oder  Corbie,  oder  St.  Remy  in  Frankreich;  ob  die  des  Klosters 
St.  Gallen  in  der  Schweiz,  oder  der  Klöster  Prüm,  oder  Weißen¬ 
burg,  oder  der  Domänen  Karls  des  Großen,  oder  der  Abteien 
Reichenau,  oder  Fulda,  oder  Lorsch,  oder  Werden  a.  d.  Ruhr, 
oder  der  Besitzungen  des  Grafen  Siboto  von  Falkenstein  in 
Deutschland,  oder  die  der  Klöster  Ramsey,  oder  Malmesbury, 
oder  Worcester,  oder  Peterborough  in  England,  oder  des  Klosters 
St.  Troud  bei  Lüttich  anschauen:  immer  tritt  uns,  wie  im  Ver¬ 
lauf  dieser  Darstellung  noch  im  einzelnen  zu  zeigen  sein  wird, 
annähernd  dasselbe  Bild  entgegen. 

Wohlverstanden:  soweit  es  sich  um  die  reale  Gestaltung  des 
technisch-wirtschaftlichen  Prozesses ,  die  Organisation  der  Güter¬ 
erzeugung,  der  Güterverteilung  und  des  Güterverzehrs  als  eines  Komplexes 
von  Lebensverhältnissen  handelt.  Andere  Seiten  der  Grundherrschaft 
weisen  dagegen  große  Mannigfaltigkeit  auf:  so  die  politische  Stellung 
des  Grundherrn  im  Lande ;  so  der  persönliche  Rechtsstatus  des  Bauern 
bzw.  Arbeiters,  der  vom  reinen  Sklavenverhältnis  im  altrömischen  Sinne 
in  einigen  Teilen  Italiens  bis  zur  persönlichen  Vollfreiheit  der  socmanni 
und  alodiarü  alle  möglichen  Nuancen  aufweist;  so  die  Besitzrechte  der 
Bauern,  die  ebenfalls  ein  ganz  buntes  Büd  gewähren,  wo  reines  Eigen¬ 
tum  neben  kurzfristiger  Pacht,  Erbleihe  neben  Livellarbesitz,  Emphy- 
teuse  neben  teilpachtähnlichen  Verhältnissen  oft  länderweise  ver¬ 
schieden  ,  oft  nebeneinander  auf  derselben  Grundherrschaft  auftreten. 
Die  Anlage  dieses  Werkes  erlaubt  nicht  nur,  sondern  fordert  geradezu, 
von  allen  diesen  Unterschiedlichkeiten  abzusehen  und  das  Realphänomen 
allein  ins  Auge  zu  fassen. 

Das  Wirtschafts  leben  will  ich  schildern.  Und  da  sollten  wir  uns 
wieder  mehr  zum  Bewußtsein  bringen ,  daß  die  Rechtsformen  in  der 
früheren  Zeit,  in  der  das  formale  Recht  längst  nicht  so  entscheidend 
war  wie  Überlieferung  und  Sitte,  für  die  Lebensgestaltung  nur  eine 
nebensächliche  Bedeutung  hatten.  Das  Getriebe  auf  einem  Fronhofe 
oder  in  einem  Dorfe  des  10.  und  11.  Jahrhunderts  war  ganz  und  gar 
nicht  bestimmt  durch  den  mehr  oder  weniger  freien  Rechtstatus  der 
handelnden  Personen.  Alles  lief  bunt  durcheinander :  von  den  ingenui 
homines  bis  zu  den  servi,  und  ziemlich  unabhängig  von  diesem  Unter¬ 
schiede  baute  sich  das  System  der  Leistungen  und  Verpflichtungen  auf. 
Saß  eine  Familie  auf  einer  Scholle,  so  war  es  für  ihr  Leben  im  Grunde 
ziemlich  gleichgültig,  ob  sie  ingenua  oder  serva  war,  ob  terrae  adscripta 
oder  ob  sie  potebat  ire  ubi  voluerit ;  ob  sie  das  Gut  als  beneficium, 
als  precarium ,  als  Colonia  partiaria,  als  Erbzinsleihe  oder  als  sonst 
etwas  inne  hatte.  Wichtig  war  für  sie  nur:  1.  wieviel  sie  von 
der  Ernte  abgeben;  2.  wieviel  Tage  im  Jahre  sie  auf  dem  Herrenlande 
frohnden  mußte;  3.  ob  sie  tatsächlich  auf  der  Scholle  sitzen  blieb, 
von  Geschlecht  zu  Geschleckte. 

Man  fragt  sich  unwillkürlick :  woher  jene  überraschend  große 
Ähnlichkeit  stamme.  Die  Antwort,  die  gewöhnlich  auf  diese 


58 


Zweiter  Abschnitt  :  Das  eigenwirtschaftliehe  Zeitalter 


Frage  erteilt  wird,  besteht  in  dem  Hinweise  auf  die  gemeinsame 
Quelle  der  mittelalterlichen  Fronhofverfassung:  die  römische 
Grundherr schaft  und  auf  den  gleichmachenden  Einfluß ,  den  die 
christliche  Kirche  ausgeübt  habe.  Ich  halte  diese  Erklärung 
doch  nicht  für  ausreichend,  glaube  vielmehr,  daß  ein  dritter 
Faktor  bei  der  Bildung  der  mittelalterlichen  Grundherrschaften 
zu  berücksichtigen  ist:  das  ist  wiederum  die  „Natur  der  Sache“, 
wie  man  nicht  sehr  glücklich  den  Tatbestand  bezeichnen  kann, 
daß  Erscheinungen ,  wie  die  hier  betrachtete ,  sich  unter  be¬ 
stimmten  Bedingungen  mit  einer  gewissen  Notwendigkeit  ein¬ 
stellen  müssen.  Jedenfalls  ist  es  eine  feststehende  Tatsache, 
daß  wir  der  grundherrschaftlichen  Organisation  in  ganz  anderen 
Kulturen  ebenfalls  begegnen:  daß  aber  insbesondere  diejenigen 
Völker,  die  die  Geschichte  des  Mittelalters  gemacht  haben,  ganz 
ähnliche  Gebilde  erzeugt  hatten,  lange,  ehe  von  einem  römischen 
Einfluß  die  Rede  war.  Was  uns  Tacitus  von  den  Germanen 
berichtet  \  enthält  im  Kern  schon  die  grundherrschaftliche  Wirt¬ 
schaftsverfassung  des  Mittelalters. 

Man  wird  also  wohl  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß  die 
Ausbreitung  der  grundherrschaftlichen  Organisation  in  Europa 
während  des  Mittelalters  wesentlich  gefördert  ist  durch  die 
schon  in  den  Volksstämmen  urwüchsig  zur  Entwicklung  ge¬ 
langten  ähnlichen  Gebilde.  Daß  die  Fronhofverfassung  während 
der  letzten  Jahrhunderte  des  Römerreiches  zur  vollen  Entfaltung 
gelangte,  ist  ja  hinlänglich  bekannt1 2;  ebenso  ist  der  Zusammen¬ 
hang,  der  zwischen  der  römischen  und  mittelalterlichen  Grund¬ 
herrschaft  besteht,  oft  Gegenstand  der  Untersuchung  gewesen3. 

1  „Ceteris  servis  non  in  uostrum  niorem  discriptis  per  familiam 
ministeriis  utuntur :  suam  quisque  sedem,  suos  penates  regit,  frumenti 
modum  dominus  aut  pecoris  aut  vestis  ut  colono  iniungit  et  servus 
hactenus  paret:  cetera  domus  officia  uxor  ac  liberi  exsequuntur.“ 
Germ.  c.  25.  Über  ähnliche  Verhältnisse  bei  den  Kelten  s.  Meitzen, 
Siedlungen  1,  88. 

2  Max  Weber,  Röm.  Agrargeschichte,  S.  243ff.  A.  Schulten, 
Die  römischen  Grundherrschaften,  1896.  Vgl.  auch  Oskar  Siebeck, 
Das  Arbeitssystem  der  Grundherrschaft  des  deutschen  M.A.,  Leipz. 
In.Diss.,  1904,  S.  11  ff.  23. 

3  Vgl.  z.  B.  Seebohm,  Englisch  Village  Community  (1883), 
Oh.  VIII.  Kowalewskya.  a.  0.  passim.  Meitzen  a.  a.  0.  u.  a. 
P.  Vinogradoff,  Growth  of  the  Manor,  37 ff.  Einen  guten  zusammen¬ 
fassenden  Überblick  über  den  Stand  der  Forschung  gibt  Silvio 
Pivano,  Sistema  curtense  im  Bullettino  dell’  istituto  storico  italiano, 
No.  30,  1909;  insbes.  p.  107  seq. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


59 


Aber  auch  die  Rolle ,  die  die  Kirche  bei  der  Entwicklung  und 
Ausbreitung  dieser  Wirtschaftsverfassung  gespielt  hat,  ist  klar¬ 
gelegt  worden1.  Wir  wissen,  daß  erst  die  Kirche,  später  die 
erobernden  Stämme  im  Gebiete  der  römischen  Kultur  einfach 
an  Stelle  der  römischen  Possessoren  getreten  sind,  daß  aber  in 
den  übrigen  Teilen  Europas  namentlich  die  direkte  Beeinflussung 
durch  die  Vertreter  der  Kirche  die  gleiche  Art  zu  wirtschaften 
verbreitet  hat. 

Von  großer  Bedeutung  ist  die  Benedicti  Regula  monachorum 
(rec.  Wölfflin  1895)  geworden,  von  der  ich  noch  Gelegenheit  haben 
werde  zu  sprechen.  Von  vornherein  wurden  bei  Neugründungen  von 
Klöstern  die  Verwaltungsgrundsätze  der  Mutterklöster  zur  Anwendung 
gebracht.  So  läßt  sich  deutlich  verfolgen ,  wie  die  Organisation  der 
Abtei  Werden  durch  die  beiden  ersten  Vorsteher  Liudger  und  Hildigrim, 
die  beide  in  Montecasino  gelebt  hatten ,  der  Ben.  reg.  mon.  nach¬ 
gebildet  ist.  R.  Kötzschke,  Studien  zur  Verwaltungsgeschichte 
der  Großgrundherrschaft  Werden  a.  d.  Ruhr  (1901),  103  ff.  Dann 
geht  die  Beeinflussung  herüber  und  hinüber :  von  einem  Kloster  zum 
andern,  sei  es  durch  Überweisung  der  Ordnung,  sei  es  durch  den 
Austausch  der  Personen.  So  ist  die  Instruktion  Walas  für  das  Kloster 
Bobbio  in  Oberitalien  (veröffentlicht  von  L.  M.  Hartmann,  Zur 
Wirtschaftsgeschichte  Italiens,  S.  129  ff.)  offenbar  beeinflußt  durch 
Adalhards  Statuta  abbatiae  Corbeiensis  (veröffentlicht  von  Guerard 
im  Pol.  d’Arm.  2,  306  ff.).  Daß  die  Abte  der  Klöster  häufig  auf  sehr 
weite  Strecken  „versetzt“  wurden,  ist  bekannt.  So  erhielt  Prüm  Mitte  des 
9.  Jahrhunderts  einen  seiner  bedeutendsten  Abte,  Markward,  aus  dem 
Kloster  Ferneres.  J.  IST.  ab  Hontheim,  Hist.  Trev.  1,  185  Note, 
zit.  bei  Lamp  recht,  DWL.  1,  79.  Der  berühmte  Bauriß,  der  820 
für  den  Neubau  des  Klosters  S.  Gallen  entworfen  wurde ,  war 
italienischen  Ursprungs:  siehe  J.  v.  Schlosser,  Die  abendländischen 
Klosteranlagen  des  früheren  Mittelalters,  1889. 

II.  Die  Gr  und  züge  der  Fr  onhofwir  t  schaff 

Fragen  wir  nun  aber,  worin  die  Wesenheit  des  neuen  Wirt¬ 
schaftssystems  bestand,  das  mit  den  Grundherrschaften  in  die 
Welt  kam,  so  können  wir  zunächst  ganz  allgemein  beschreibend 
sagen:  es  war  die  Wirtschaftsverfassung,  die  sich  eine  Klasse 

1  Aug.  Rivet,  Le  regime  des  biens  de  l’eglise  avant  Justinien. 
These  pour  le  doctorat.  Lyon  1891.  U.  Stutz,  Die  Verwaltung  und 
Nutzung  des  kirchlichen  Vermögens  in  den  Gebieten  des  west¬ 
europäischen  Reichs  von  Konstantin  d.  Gr.  bis  zum  Eintritt  der 
germanischen  Stämme  in  die  katholische  Kirche.  In.Diss.  Berlin  1892. 
Th.  Mommsen,  Die  Bewirtschaftung  der  Kirchengüter  unter  Papst 
Gregor  I.  in  der  Zeitschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaltsgeschichte, 
Bd.  I  (1893)  S.  43  ff. 


(30  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

von  reichen  Leuten  schuf  zu  dem  Zwecke,  ihren  Bedarf  an 
Gütern  durch  fremde  Arbeiter  in  eigener  Wirtschaft  decken 
zu  lassen. 

Da  es  sich  hier  nicht  um  die  Darstellung  der  Genesis  dieses 
Wirtschaftssystems  handeln  kann,  so  können  wir  auch  davon 
Abstand  nehmen,  die  Entstehung  dieser  neuen  Klasse  führender 
Wirtschaftssubjekte  und  ihres  Reichtums  zu  schildern:  ihres 
Reichtums,  der  im  wesentlichen  in  der  Verfügungsgewalt  über 
einen  ausgedehnten  Grundbesitz  und  die  zu  seiner  Bebauung 
erforderlichen  Arbeitskräfte  bestand. 

Es  muß  genügen,  die  wichtigsten  Ursachen  namhaft  zu  machen, 
die  zu  der  Entstehung  des  mittelalterlichen  Großgrundbesitzes  geführt 
haben. 

Die  Ursachen  waren: 

1.  Aneignung  größerer  Stücke  des  Marklandes  durch  die  Principes 
bei  der  Seßhaftwerdung  (also  schon  vor  den  V/  anderungen) ; 

2.  Okkupation  während  der  Völkerwanderung  durch  die  Könige 
und  Weitervergabung  dieses  Krön-  und  Staatslandes,  und  zwar 
sowohl  des  gesamten  ausgedehnten  Großgrundbesitzes  in  den 
römischen  Gebieten  als  auch  des  Markenlandes  in  den  alten 
Volkssiedlungsgebieten ; 

Auch  unmittelbare  Fortsetzung  römischer  Besitzverhältnisse 
kam  vor:  so  waren  die  Ansiedler  See-Venetiens  im  6.  und  7.  Jahr¬ 
hundert,  die  aus  den  bedrohten  Städten  der  terra  ferma  kamen, 
tribuniziscke  Geschlechter,  die  ihre  servi  und  coloni  mitbrachten 
und  ihre  grundherrlichen  Verhältnisse  unmittelbar  in  die  Lagunen 
verpflanzten.  Siehe  das  Chron.  Alt.  und  dazu  Hartmann,  Die 
wirtschaftl.  Anfänge  Venedigs  in  der  Vierteljahrsschrift  für 
Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  2  (1904),  434  ff. 

3.  die  sein:  verbreitete  Eigengabe  gemeinfreier  Grundbesitzer  an 
kirchliche  und  weltliche  Große ; 

4.  die  fortschreitende  Aussonderung  aus  Marken-  und  Almende¬ 
ländereien  ; 

5.  der  in  den  Volksgesetzen  früh  erleichterte  Landerwerb  durch 
Pfandbesitz  und  Kauf; 

6.  unberechtigte ,  irrige  und  gewaltsame  Besitzergreifung,  die  un¬ 
angefochten  blieb  und  durch  Besitzverjährung  Eigentum  wurde. 

Vielmehr  wenden  wir  unsere  Aufmerksamkeit  alsobald  den 
neuen  Wirtschaftssubjekten  selbst  zu:  ihren  Bestrebungen,  ihren 
Bedürfnissen,  dem  Geist,  von  dem  sie  erfüllt  waren,  als  sie  die 
Wirtschaft  auf  einer  neuen  Grundlage  aufbauten,  sowie  der  von 
ihnen  geschaffenen  Wirtschaftsorganisation  selbst. 

Zunächst  also:  wer  waren  die  „neuen“  Männer,  auf  die 
ein  großer  Teil  der  Wirtschaftsführung  schon  übergegangen  war, 
ein  wachsender  Teil  im  Begriff  war,  überzugehen,  was  unter’ 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 

schied  sie  von  den  bisher  allein  bekannten  Wirtschaftssubjekten: 
den  Bauern  in  der  Dorfgemeinde? 

Die  Männer,  die  sich  nach  dem  Untergange  des  römischen 
Reiches  aus  der  großen  Masse  der  Volksgenossen  heraushoben, 
trugen,  wie  man  weiß,  teils  geistlichen,  teils  weltlichen  Charakter. 
Es  waren  die  frommen,  einsamen  Mönche  und  die  Würdenträger* 
der  Kirche;  es  waren  die  Könige  und  Fürsten  und  diejenigen 
der  Freien,  die  über  eine  kriegsbereite  Gefolgschaft  verfügten; 
und  es  waren  deren  Dienstmannen,  die  von  ihren  Herren  mit 
Grund  und  Boden  als  Entgelt  für  ihre  Dienste  ausgestattet 
wurden. 

Allen  diesen  Männern  gemeinsam  war,  daß  sje  Vermögen 
und  damit  Einkommen  genug  besaßen,  um  nicht  selbst  wirt¬ 
schaftlich  tätig  sein  zu  müssen.  Sie  konnten  als  leisured  dass 
leben  und  wollten  es.  Die  artes  sordidae  wurden  gemieden. 
Man  füllte  sein  Leben  mit  anderen  Dingen  aus :  mit  Kriegsdienst 
öder  Gottesdienst;  oder  man  verbrachte  es  in  einsamer  Muße 
oder  im  lustigen  Freundeskreise,  bei  fröhlichen  Gelagen  und 
beschaulicher  Andacht,  auf  Jagden  und  beim  Spiel.  Man  führte, 
ein  seigneuriales  Leben.  Nur  die  Mönche,  zumal  im  ganz  frühen 
Mittelalter,  griffen  öfters  zum  Spaten  oder  zur  Axt,  um  die 
Wälder  zu  roden  und  sich  auf  dem  neu  erschlossenen  Grund  und 
Boden  mit  ihrer  eigenen  Hände  Arbeit  ihren  Unterhalt  zu  be¬ 
schaffen.  Aber  dann  waren  sie  halt  Bauern  und  keine  „Grund¬ 
herrn“  wie  ihre  Nachfolger  in  den  späteren  Jahrhunderten. 

Wir  müssen  uns  den  Umfang  des  einzelnen  grundherrlichen 
Besitzes  und  somit  des  arbeitslosen  Einkommens,  das  der  Grund¬ 
herr  bezog,  ganz  verschieden  groß  denken.  Vom  kleinen  Kriegs¬ 
mann,  der  über  den  Ertrag  von  zwei,  drei  Hufen  gebot1,  gab 
es  alle  Abstufungen  des  Reichtums  bis  zu  den  weltlichen  und 
geistlichen  Magnaten,  die  über  den  Ertrag  ganzer  Länder  ver¬ 
fügten2.  Zweifellos  gab  es  eine  große  Anzahl  von  Grundherrn, 
deren  Einkommen  weit  über  den  traditionellen  Bedarf  einer 


1  Nach  den  englischen  Quellen  wird  das  Einkommen  des  kleinsten 
Grundherrn  (Lord  of  the  manor)  auf  5 — 20  (gleich  100 — 400  £ 
h.  W.)  geschätzt.  Nathaniel  J.  Hone,  1.  c.  p.  14. 

2  Eine  Liste  der  Schenkungen  und  Lehen  an  weltliche  Grundherrn 
aus  Königsgut  stellt  mit  Angabe  der  Besitzgröße  für  die  Karolingerzeit 
zusammen  Dopsch  1,  271  ff.  Schon  in  dieser  Liste  von  Einzel¬ 
schenkungen  schwankt  die  Größe  zwischen  1  Hufe  und  104  Mansen 
mit  300  Hörigen  außer  dem  Salland. 


(32  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Familie  hinausging,  ja  diese  Kategorie  von  Großgrundbesitzern 
bildete  wobl  je  mehr  und  mehr  den  normalen  Typus  des  Grund¬ 
herrn.  Was  fing  dieser  wohlhabende  Grundherr  mit  den  Über¬ 
schüssen  seiner  Revenuen  an? 

In  erster  Linie  war  er  wohl  darauf  bedacht,  den  Kreis  von 
Personen.  zu  erweitern,  die  fern  von  den  Mühen  des  Broterwerbs 
in  Gemeinschaft  mit  ihm  oder  in  Abhängigkeit  von  ihm  an  dem 
Verzehr  seines  Einkommens  teilnahmen.  Die  weltlichen  Großen 
schufen  sich  einen  Hofstaat;  vor  allem  aber  eine  Gefolgschaft 
kriegsbereiter  Männer,  sei  es,  weil  vom  König  ein  dienstbereites 
militärisches  Aufgebot  gefordert  wurde,  sei  es,  weil  sie  es  für 
ihre  eigene  Sicherheit  oder  für  die  Entfaltung  eigener  Macht 
als  notwendig  erachteten.  Die  geistlichen  Herrn,  deren  Um¬ 
gebung  sich  oft  genug  zu  ansehnlichen  Hofhaltungen  entwickelte, 
waren  auf  die  V ermehrung  der  Diener  der  Kirche,  der  Insassen 
der  Klöster  bedacht  oder  sorgten  durch  Almosen  für  den  Unter¬ 
halt  der  Armen. 

Neben  dieser  bloßen  Ausweitung  der  Konsumentenschar  ging 
nun  aber  auch  das  Bestreben  her,  die  Lebenshaltung  zu  heben, 
den  Bedarf  zu  verfeinern.  Bei  den  weltlichen  Herrn  kam  der 
Trieb  nach  Prachtentfaltung  und  allmählich  wohl  auch  der  Sinn 
für  eine  wohlhäbige  und  luxuriöse  Lebensführung  zur  Entfaltung, 
der  alsobald  von  den  Frauen  besonders  gepflegt  wurde1.  Bei 
den  Äbten  und  Bischöfen  trat  noch  das  Streben  hinzu,  ihre 
Kirche,  ihr  Kloster  zur  Ehre  Gottes  reich  und  prächtig  aus¬ 
zustatten;  ihrem  eigenen  Leben  aber  durch  materielle  und  geistige 
Genüsse  einen  würdigeren  Inhalt  zu  geben:  der  Geistlichkeit 


1  Siehe  z.  B.  die  Aufzählung  der  Frauenschmuckstücke  in  der 
Karolingerzeit  bei  dem  Verfasser  der  Lebensgeschichte  der  hl.  Hathumod 
von  Gandersheim  MG.  SS.  4, 167  c.  2.  Natürlich  wird  der  heilige  Mann  den 
Mund  reichlich  voll  genommen  haben.  Man  hüte  sich  angesichts  solcher 
Zeugnisse  um  Gottes  willen  vor  der  Annahme,  als  sei  nun  jene  Zeit 
schon  im  Luxus  verkommen,  eine  Annahme,  der  sich  jetzt  Dop  sch 
zuneigt.  Will  man  sich  eine  richtige  Vorstellung  von  dem  Lebens¬ 
zuschnitt  eines  Geschlechtes  machen,  so  darf  man  nicht,  so  wenigstens 
sagt  mir  mein  Laienverstand,  die  Aufzählung  von  Schmuckgegenständen 
bei  einem  zelotischen  Sittenprediger  seinem  Urteil  zugrunde  legen, 
sondern  muß  etwa  nachschauen,  wie  ein  Fronhof  gebaut  war,  und  was 
die  Inventare  in  einem  mittelalterlichen  Herrenhofe  an  Möbeln  und 
Gerätschaften  aufzählen.  Man  wird  dann  zu  einem  ganz  anderen  Bilde 
kommen.  Siehe  z.  B.  die  Beschreibung  eines  englischen  Manor  der 
früheren  Zeit  bei  Nath.  J.  Hone,  1.  c.  p.  26  ff. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft  (33 

haben  wir  wohl  vor  allem  die  Verfeinerung  der  Tafelfreuden  zu 
danken. 

Das  Streben,  diese  Bedarfszwecke  sicher  und  reichlich  zu  er¬ 
füllen,  gab  das  Leitmotiv  für  die  gesamte  Wirtschaftsführung 
der  Grundherrn  ab.  Wie  es  eine  Verordnung  Karls  des  Großen 
ausspricht,  die  also  lautet1:  „et  qui  nostrum  habet  beneficium, 
diligentissime  praevideat,  quantum  potest  Deo  donante,  ut  nullus 
ex  mancipiis  ad  illum  pertinentes  beneficium  fame  moriatur, 
et  quod  super  est  illius  familiae  necessitatem,  hoc  libere  vendat 
jure  praescripto.“  Und  wenn  wir  auch  während  des  Mittelalters 
das  unverkennbare  Bestreben  der  Grundherrn  beobachten,  ihr 
Vermögen,  das  heißt  ihren  Grundbesitz  zu  vergrößern,  so  lag 
diesem  Streben  doch  immer  der  Wunsch  zugrunde:  die  einmal 
vorhandenen  Bedarfszwecke  noch  besser,  noch  ausgiebiger  er¬ 
füllen  zu  können:  über  mehr  Personen  als  Gefolge  zu  verfügen, 
mehr  Hintersassen  zu  haben,  auf  mehr  Seelen  Einfluß  zu  ge¬ 
winnen.  Oder  aber  mehr  Pracht  zu  entfalten,  die  geliebte  Kirche 
noch  reicher  auszustatten.  Will  sagen  in  der  von  mir  geprägten 
Terminologie:  Das  Bedarfsdeckungsprinzip  bleibt  in 
der  grundherrlichen  Wirts  chaftsver  fas  sung  das 
regulierende  Prinzip2. 

Die  Wirtschaftsführung  selbst  wurde  nun  durch  eine  Reihe 
äußerer  Umstände  ganz  eigenartig  bestimmt. 

Da  ergab  sich  zunächst  die  Tatsache,  daß  in  vielen  Fällen 
eine  größere  Anzahl  von  Personen  ein  gemeinschaftliches  Leben 
führen,  also  eine  große  einheitliche  Konsumtionswirt¬ 
schaft  bilden  wollten.  Das  war  die  nähere  dienende  Umgebung 
auf  dem  Herrensitze  der  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten ;  das 
waren  aber  vor  allem  die  religiösen  Gemeinschaften  der  Mönche 
(die  seit  Begründung  der  christlichen  Kirche  bestanden  hatten) 
und  nachher  auch  der  Weltgeistlichen.  Seit  dem  6.  Jahrhundert 


1  Schluß  der  Preistaxe,  die  Karl  M.  auf  der  Synode  zu  Frankfurt 
a.  794  erließ.  MG.  LL.  2.  (Abgedruckt  bei  Fagniez,  Doc. 
No.  88.) 

2  Vgl.  dazu  noch  die  Ausführungen  Lamprechts,  DWL.  1.  2, 
844  und  die  dort  in  Note  3  angeführten  Quellenstellen.  Ferner  das 
Breve  Walas  für  das  Kloster  Bobbio  bei  Hart  mann,  Zur  W.G. 
Italiens,  63  ff.  „  .  .  .  die  Sorge,  die  in  den  verschiedenen  Regeln  dieser 
Zeit  wie  der  früheren  niedergelegt  is"-,  ist  nicht,  wie  durch  die  Er¬ 
trägnisse  der  Reichtum  des  Klosters  etwa  vermehrt  werden  könnte, 
sondern  in  welcher  Weise  der  Konsum  zu  regeln  ist“  a.  a.  0.  S.  37. 


64 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitaltei* 


vollzieht  sich  der  Übergang  des-  Weltklerus  zum  gemeinschaft¬ 
lichen  Leben3. 

Die  vereinzelten  Bestrebungen  in  dieser  Richtung,  die  wir 
während  des  6.  und  7.  Jahrhunderts  beobachten,  werden  dann 
im  8.  und  9.  Jahrhundert  systematisiert  und  verallgemeinert 
durch  Verbreitung  der  Chrodegangschen  und  Aachener  Regel. 
760  hatte  Chrodegang,  der  Bischof  von  Metz,  eine  Regel  für  den 
Klerus  seiner  Kathedralkirche  nach  dem  Vorbilde  jener  des 
heil.  Benedict  und  der  Kanoniker  vom  Lateran  verfaßt,  deren 
Grundlage  die  Vorschriften  über  das  gemeinschaftliche  Leben 
bildeten.  Diese  Regel  fand  rasche  Verbreitung  und  ihre  Tendenz 
wurde  durch  die  staatliche  Gesetzgebung  verstärkt:  auch  die 
Kapitularien  Pipins  und  Karls  M.  schreiben  das  gemeinsame 
Leben  vor,  dessen  eifrigster  Vertreter  dann  Ludwig  der  Fromme 
wird.  Er  läßt  denn  auch  im  Jahre  817  auf  der  Synode  zu  Aachen 
die  regula  Aquisgranensis  beschließen,  die  der  Chrodegangschen 
nachgebildet  war,  und  die  von  der  Geistlichkeit  ganz  allgemein 
verlangte,  daß  sie  in  einem  bestimmten  Hause  gemeinschaftlich 
wohne,  esse  und  schlafe.  Die  Gesamtheit  der  an  einer  Kirche 
zu  der  vita  communis  vereinigten  Kleriker  wurde  Kapitel  ge¬ 
nannt,  und  diese  Kapitel  stellten,  im  9.  Jahrhundert  über  die 
ganze  Christenheit  verbreitet,  einen  neuen  wichtigen  Typus  einei 
großen  Konsum  Wirtschaft  dar,  dessen  Bedeutung  für  die  Ent¬ 
wicklung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  während  des  Mittel- 
alters  man,  wie  mir  scheint,  nicht  gering  anschlagen  darf. 

Leider  bieten  uns  die  Quellen  gar  keinen  Anhalt,  um  die 
Zahl  dieser  Großkonsume  festzustellen.  Auf  ihren  Umfang  im 
einzelnen  können  wir  nur  aus  einigen  statistischen  Angaben 
schließen,  die  wir  hie  und  da  in  den  Quellen  zerstreut  finden. 
Diese  beziehen  sich  freilich  fast  ausschließlich  (soweit  sie  zu¬ 
verlässig  sind)  auf  große  Klöster,  also  die  größten  Konsumtions¬ 
zentralen  (außer  etwa  den  königlichen  Pfalzen  oder  ein  paar 
Erzbistümern).  Im  Kloster  Corbie1 2  betrug  ums  Jahr  822  die 
Zahl  der  Münder,  die  täglich  zu  stopfen  waren,  nicht  weniger 
als  300,  selten  mehr  als  400;  die  Zahl  der  täglich  zu  backenden 
Brote  bezifferte  der  fürsorgliche  Abt  (nach  dem  Grundsatz : 
„omnis  substantia  nostra  quae  per  ministros  nostros  dispensanda 

1  Siehe  Phil.  Schneider,  Die  bischöflichen  Domkapitel  (1885), 
S.  26  ff. 

2  Stat.  antiqua  Abb.  S.  Petri  Corbeiensis  im  App.  zu  Guörard, 

Pol.  d’Irminon  2,  806  ff. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


65 


est  semper  magis  volumus  ut  supercrescat  quam  deficiat“) 1  auf 
450  (von  15  Mühlen),  die  Zahl  der  Schweine,  die  jährlich  zum 
Konsum  gelangten,  auf  600.  Das  Kloster  bestand  aus  mehreren 
getrennt  verwalteten  Abteilungen:  1.  der  Herberge  für  die 
Pilger  usw. ;  2.  dem  Stift,  wo  150  provendarii  (die  Novizen  und 
Angestellten)  Unterhalt  erhielten;  3.  dem  eigentlichen  Kloster. 

Im  englischen  Kloster  Peterborough  sind  (Anfang  des  .12.  Jahr¬ 
hunderts)  100  Personen  zu  beköstigen:  40  servientes  und  60  „mo- 
nachi  äd  plenum  victum  monachorum“ 2. 

Echternach  hat  885  einen  Bestand  von  40  Brüdern;  Prüm 
weist  (im  10.  Jahrhundert)  einen  Gesamtbestand  von  186,  S.  Maxi- 
min  einen  solchen  von  20  Köpfen  auf;  Fulda  besaß  um  920 
180  Insassen,  und  von  Hersfeld  erzählt  Lambert,  es  habe  schon 
früh  eine  Zahl  von  150  Mönchen  gehabt3. 

Was  aber  bei  dem  Entscheide,  wie  nun  die  Produktion  zu 
organisieren  sei,  schwer  ins  Gewicht  fiel,  war  der  Umstand,  daß 
offenbar  genügend  viele  und  geeignete  Arbeitskräfte,  um  eine 
Oikenwirtschaft  nach  Art  derer  in  der  römischen  Kaiserzeit,  ja 
wohl  auch  nur  eine  Guts  Wirtschaft  großen  Stils  ins  Leben  zu 
rufen,  nicht  vorhanden  waren.  Vielleicht,  daß  auch  den  Leitern 
der  neuen  Wirtschaftseinheiten  die  erforderlichen  technischen 
Kenntnisse  gefehlt  hätten,  um  einer  komplizierten  Großwirtschaft 
vorzustehen. 

Ferner  war  zu  berücksichtigen ,  daß  von  einer  irgendwie 
nennenswerten  Klasse  berufsmäßiger  und  selbständiger  gewerb¬ 
licher  Produzenten  —  alias  Handwerkern  —  natürlich  ebenfalls 
keine  Hede  war,  der  Gedanke  also  einer  auf  eine  marktmäßige 
Deckung  des  Bedarfs  gerichteten  Wirtschaft  ausgeschlossen  war. 

Endlich  mußte  die  Wirtschaftsführung  dadurch  in  ganz  eigene 
Bahnen  gedrängt  werden,  daß  der  Grundbesitz  wohl  aller  größeren 
Grundherrschaften  sogenannter  Streubesitz  war,  das  heißt  nicht 
in  einem  geschlossenen  Areal  bestand,  sondern  über  weite 
Strecken  zerstreut  lag,  oft  über  viele  Dörfer  verteilt,  in  denen  je 
einige  Hufen  dem  Grundherrn  gehörten,  in  einem  und  demselben 
Dorf  dann  wieder  verschiedenen  Herren.  Das  änderte  sich  erst 

1  1.  c.  p.  312. 

2  Liber  niger  des  Klosters  P.  App.  zum  Ckron.  Peterburgense 
(Cambr.  Society  1849J  p.  167  ff. 

8  Siehe  für  den  Bestand  der  deutschen  Klöster  die  Quellen  bei 
Lamp  recht,  DWL.  I.  2,  845  f.  Vgl.  auch  die  Lieferordnung  der 
Abtei  Reichenau  im  Wirtemb.  UB.  1,  424 — 126  (Urk.  von  843). 

gombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  ö 


66 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


mit  der  Zeit,  als  die  Grundherren  auf  ihrem  eigenen  Grund  und 
Boden  roden  ließen  und  ganze  Dörfer  ansiedelten. 

So  kam  man  zu  der  eigentümlichen  Organisation,  die  wir 
Fronhofwirtschaft  nennen  und  die  nun  also  folgendermaßen  aus¬ 
schaute. 

III.  Die  Organisation  der  Arbeit  in  der  Fron  hof¬ 
wirtschaft 

Im  großen  ganzen  sollte  der  gesamte  Güterbedarf,  der  inner¬ 
halb  der  grundherrschaftlichen  Konsumtionswirtschafb  entstand, 
aus  den  Erträgnissen  des  eigenen  Vermögens  auf  dem  Wege  der 
Eigenproduktion  gedeckt  werden.  Das  heißt:  die  Fronhofwirt¬ 
schaft  war  grundsätzlich  Eigenwirtschaft,  wie  die  Bauernwirt¬ 
schaft,  unterschied  sich  von  dieser  jedoch  wesentlich  dadurch, 
daß  der  Kreis  der  in  einer  Wirtschaft  vereinigten  Personen 
zahlreiche  fremde  (und  gerade  fremde)  Elemente  einschloß, 
weshalb  ich  diesen  Wirtschaftstypus  erweiterte  Eigenwirtschaft 
nenne. 

1.  Die  Landwirtschaft 

Schauen  wir  nun  zunächst  zu,  wie  sich  die  Gewinnung  der 
Nahrungsmittel  und  organischen  Rohstoffe,  also  die  landwirt¬ 
schaftliche  Produktion  abspielte.  Da  begegnen  wir  denn 
der  überraschenden  Tatsache,  daß  diese  sich  zum  großen  Teil 
in  denselben  Bauernwirtschaften  vollzog,  die  wir  von  früher  her 
schon  kennen.  Das  Eigentumsrecht  des  Grundherrn  am  Boden 
änderte  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Gestalt  der  Wirtschaft 
in  keinem  Punkte ;  es  trat  ökonomisch  in  nichts  anderem  in  die 
Erscheinung  als  in  der  Verpflichtung  des  Bauern,  Teile  seines 
Produktionsertrages  an  den  Grundhern  abzuführen.  So  bestand 
denn  dessen  Sorge  zunächst  nur  darin,  jene  Abgaben  zu  'sammeln. 
Mit  dieser  Aufgabe  betraute  er  bestimmte  Personen  —  Meier 
oder  Villici  genannt  — ,  von  denen  er  je  einen  (das  war  wohl 
die  Regel)  in  jedem  Dorfe  ansetzte;  in  jedem  Dorfe  nämlich, 
in  dem  zu  Abgaben  an  ihn  verpflichtete  Bauern  wohnten.  Oft 
war  es  wohl  einer  der  Bauern  selbst,  wenn  es  sich  um  geringe 
Beträge  handelte,  die  es  einzusammeln  galt;  oder  es  war  selbst 
ein  mit  mehreren  Hufen  ausgestatteter  kleiner  Grundherr,  der 
die  Funktionen  des  Einsammelns  auszuüben  hatte.  Die  Räum¬ 
lichkeiten,  in  denen  die  Bauern  ihre  Abgaben  abzuliefern  hatten, 
hießen  in  Deutschland  Fronhot,  in  Italien  rectorium,  dominicalia, 


Siebentes  Kapitel :  Die  Fronhofwirtsckaft  ß7 

dom.  doroinicata  usw. 1 ;  der  Administrationsbezirk  eines  Villicus 
hieß  in  Frankreich  fiscus  (=  terre) 2.  Die  Abgaben  bestanden  in 
allen  Produkten  des  Feldes  und  des  Stalles:  in  Getreide,  Yieh, 
Geflügel,  Honig,  Wachs,  Wolle,  Wein  usw.  und  wurden  zum  Teil 
unter  Berücksichtigung  der  besonderen  Beschaffenheit  des 
einzelnen  Bauerngutes  verteilt. 

Für  die  wirtschaftliche  Struktur  belanglos  sind: 

1.  die  Eigentumsrechte  des  Bauern  am  Grund  und  Boden: 
ob  es  sein  eigener  war  oder  ob  er  dem  Grundherrn  zu  eigen 
gehörte ; 

2.  die  Rechtstitel,  die  den  Bauern  zu  der  Abgabe  ver¬ 
pflichteten  ; 

8.  die  persönliche  Rechtsstellung  des  Bauern. 

Nach  den  neuen  Feststellungen  gewinnt  es  den  Anschein,  als 
ob  die  „freien  Vertragsverhältnisse“,  unter  ihnen  auch  der  Teil¬ 
bau  schon  in  der  Karolingerzeit  eine  größere  Rolle  gespielt 
haben,  als  man  früher  anzunehmen  geneigt  war3.  Der  Teilbau 
ist  übrigens  seinem  innersten  Wesen  nach  eine  „eigenwirtschaft¬ 
liche“  Nutzungsform4. 

Der  Villicus  führt  nun  die  bei  ihm  abgelieferten  Produkte 
an  den  Herrenhof  oder  einen  der  Herrenhöfe  ab,  wo  sie  zum 
Verzehr  gelangen.  Auf  großen  Grundherrschaften  war  die  Liefe¬ 
rung  in  der  Weise  über  das  ganze  Jahr  verteilt,  daß  jeder  Fron¬ 
hof  die  gesamten  Vorräte  für  den  grundherrlichen  Unterhalt  auf 
eine  bestimmte  Reihe  von  Tagen  zu  beschaffen  hatte :  die  Leistung 
für  je  einen  solchen  Tag  hieß  Servitium,  dessen  schon  im  Cap. 
de  villis  Erwähnung  geschieht.  Auf  großen  Grundherrschaften 
gab  es  zwischen  der  Zentrale  des  Herrenhofes  und  den  einzelnen 
Meiern  noch  Zwischeninstanzen :  die  Probsteien  oder  Präposi¬ 
turen,  denen  der  Praepositus  oder  Procurator  Vorstand.  So  war 
z.  B.  die  Herrschaft  des  Grafen  Siboto  von  Falkenstein  (in 


1  Im  Codex  Bavarus  (Mitte  des  X.  sc.),  der  uns  über  die  Organi¬ 
sation  des  Grundbesitzes  des  Erzbischofs  von  Ravenna  Aufschluß  gibt. 
Siehe  Hartmann,  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  öster¬ 
reichische  Geschichtsforschung  XI.  Bd.  3.  Heft. 

2  Guerard,  Pol.  d’Irm.  1,  45. 

3  Für  Italien  siehe  die  gründliche  Arbeit  von  Silvio  Pivano, 
I  contratti  agrari  in  Italia  nell’  alto  medio-evo.  1904.  Dort  findet 
man  auch  weitere  Literatur.  Vgl.  auch  Dop  sch,  W.Entwicklung. 

4  Vgl.  das  auf  S.  104  Gesagte. 


5* 


68 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


Bayern)  in  vier  Probsteien  gegliedert,  denen  je  eine  größere  An¬ 
zahl  von  Fronhöfen  oder  Meiereien  zngehörte  b 

Aber  die  Bauernwirtschaft  war  doch  nur  die  eine  Quelle,  aus 
der  die  landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  in  die  Konsumtions¬ 
wirtschaft  des  Grundherrn  flössen.  Ein  anderer  Teil  stammte 
aus  der  Gutswirtschaft,  die  der  Grundherr  durch  seine 
Beamten  auf  seinem  eigenen  Grund  und  Boden  betreiben  ließ. 
Dieser  in  eigener  Regie  bewirtschaftete  Teil  des  grundherrlichen 
Besitzes  war  das  Salland,  auch  terra  dominica,  indominicata,  in 
England  lords  demesne,  angelsächsisch  fthanes5  inland  genannt. 

Daß  alle  Grundherrn  während  des  frühen  Mittelalters  eine  eigene 
Produktionswirtschaft  betrieben  haben,  ist  neuerdings  von  kundiger 
Seite  bezweifelt  worden:  W.  Wittich,  Die  Frage  der  Freibauern 
(Zeitschr.  der  Saviguyst.  Germ.  22);  Altfreiheit  und  Dienstbarkeit  des 
Uradels  in  Niedersachsen  (Vierteljahrsschrift  für  Soc.  u.  W.Gesch. 
Bd.  4  S.  77).  W.  nimmt  an,  daß  es  auch  „kleine  Grundherrn“  ge¬ 
geben  habe,  „die  in  der  Hauptsache  von  den  Abgaben  ihrer  auf 
wenigen  Höfen  angesiedelten  Hörigen  lebten“.  Ich  halte  das  nicht 
für  wahrscheinlich  und  glaube,  daß  die  Gründe,  die  Ph.  Heck  gegen 
W.s  Auffassung  anführt,  stichhaltig  sind.  Siehe  P  h.  Heck,  Beiträge 
zur  Rechtsgeschichte  der  deutschen  Stände  im  M.A.  I,  Die  Gemein¬ 
freien  der  Karolingischen  Volksrechte,  1900,  und  weiter  unten  den 
genannten  Aufsatz.  Ihm  pflichtet  jetzt  auch  Dop  sch,  1,  287  bei. 
Außerdem  sprechen  auch,  wie  mir  scheint,  eine  Menge  „in  der  Natur 
der  Sache“  gelegene  Gründe  gegen  Wittichs  Hypothese,  die  übrigens 
W.  selbst  nur  noch  in  geringerem  Umfange  aufrecht  erhält. 

Über  die  Größe  des  Sallandes  sollte  einmal  eine  besondere  Unter¬ 
suchung  angestellt  werden.  Die  bisherigen  Darstellungen  behandeln  diese 
wichtige  Frage  immer  nur  im  Vorbeigehen.  Auch  was  Inama  in  seiner 
Monographie  Sallandstudien  (S.A.  aus  der  Festgabe  für  Georg  Hanssen 
zum  31.  5.  1889)  S.  25  f.  dazu  beibringt,  läßt  unbefriedigt.  Ich  glaube, 
daß  in  den  bisherigen  Feststellungen  viel  Irrtümer  untergelaufen  sind. 
Hauptsächlich  deshalb,  weil  es  sehr  schwer  ist,  in  den  Quellen  zwischen 
dem  Sallande  und  dem  Hufenbesitz  eines  einfachen ,  zur  Sammlung 
bestellten  Villicus  einerseits,  dem  Administrationsbezirk  eines  Meiers 
oder  eines  Probstes  anderseits  scharf  zu  unterscheiden.  So  scheinen 
mir  z.  B.  Lamprecht  (DWL.  1,  2,  756  ff.)  ebenso  wie  Inama, 
DWG.  2,  161  fehlzugehen,  wenn  für  die  Größe  des  Sallandes 
Lamprecht  für  seinen  Distrikt  in  der  Karolinger-  und  Ottonenzeit, 
Inama  für  das  10. — 12.  sc.  auch  nur  1  Hufe  ansetzen,  wenn 
Lamprecht  für  den  Schluß  des  12.  Jahrhunderts  für  S.  Maximin,  nur 
einen  Durchschnitt  von  26,5  Morgen,  für  Rupertsberg  von  etwa 
30  Morgen,  für  das  Trierer  Stift  von  50  Morgen  berechnet.  Dagegen 
sprechen  die  ganz  verschiedenen  Größenangaben  in  den  Schenkungs- 

1  Codex  Falkensteiniensis  ed.  Hans  Petz.  (Drei  bayerische 
Traditionsbücher  aus  dem  12.  Jahrhundert.  1880.)  S.  XXII.  XXIII, 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


69 


urkunden  des  8.,  9.,  10.  Jahrhunderts  gerade  in  L.s  Untersuchungs¬ 
gebiet  (vgl.  z.  B.  Mitt.Rhein.  U.B.  Bd.  I  Nr.  59.  52.  63),  vor  allem 
aber  eine  Menge  Gründe  der  Ratio.  Mir  scheint,  hier  liegt  eine  Ver¬ 
wechslung  zwischen  Gutsland  und  Meierland  vor  (der  mans.  indom. 
war  in  den  meisten  Fällen  nur  Sammelstelle).  Umgekehrt  würde  man, 
glaube  ich,  zu  zu  hohen  Ziffern  gelangen,  wenn  man  aus  den  Pol. 
d’Irm.  den  Durchschnitt  der  cterra  ind.’,  die  auf  einen  Fiskus  ent¬ 
fiele  ,  als  Größe  des  Gutslandes  ansprechen  wollte  (man  würde  dann 
einen  Umfang  des  einzelnen  Gutsareals  von  250  ha  =  ca.  1000  Morgen 
annehmen  müssen).  Möglicherweise  hat  es  im  Verwaltungsbezirk 
eines  Fiskus  mehrere  Gutswirtschaften  gegeben.  Sichere  Berechnungen 
hegen  folgenden  Größenangaben  zugrunde :  das  Salland  des  der  Abtei 
Werden  gehörigen  Haupthofs  Friemersheim  betrug  gegen  Ausgang 
des  9.  Jahrhunderts  607Va  Morgen  (einschließlich  I2V2  sog.  Bede- 
morgen).  Rud.  Kötzschke,  Studien  zur  V erwaltungsgesch.  der 
Großgrundherrschaft  Werden  a.  d.  Ruhr  (1901),  13.  An  dienenden 
Hufen  gab  es  1 1 95/a ,  die  K.  m.  E.  richtig  zu  je  30  Morgen  ansetzt, 
so  daß  sich  ein  fronpflichtiges  Bauernland  von  3645  Morgen  ergibt: 
das  Salland  verhielt  sich  also  zu  dem  Hufenland  wie  1:6.  (Die 
„Studien“  K.s  gehören  zu  dem  besten,  wTas  über  grundherrliche 
Organisation  in  letzter  Zeit  geschrieben  ist:  der  Verfasser  hat  An¬ 
schauung.)  Ich  selbst  rechne  z.  B.  für  das  Kloster  Prüm  einen 
Durchschnitt  von  92,4  preußische  Morgen  heraus  (MRh.  UB.  Bd.  I 
Nr.  135);  für  die  Abtei  Lorsch  165  Morgen,  für  Fulda  122  Morgen; 
für  das  Kloster  Weißenburg  (13.  sc.)  362  Morgen  (Trad.  poss.  que 
Wirz.  ed.  Zeuss,  p.  273  ff.);  für  das  englische  Kloster  Ramsey  ergeben 
sich  300  acrae  und  mehr  (Cart.  Mon.  de  Ramesia  1  [1884],  405.  490). 
Seebohm,  The  Englisch  Village  Community  (1883),  deutsch  1885,  137 
nimmt  für  das  10.  Jahrhundert  die  Größe  des  inland  sogar  auf  9  hidae, 
die  des  Bauernlandes  auf  21  hidae  als  den  Durchschnitt  des  Manor 
an  (1  hida  =  6  virgata;  1  virg.  =  24  acrae).  Vgl.  auch  Ph.  Heck, 
Die  kleinen  Grundbesitzer  der  brevium  exempla  in  der  Vierteljahrschrift 
für  Soz.  und  Wirtsch.Gesch.  IV.  Bd.  S.  354.  H.  nimmt  selbst  für 
die  kleinste  Kategorie  der  „Grundherrn“  eine  Größe  des  Sallandes  von 
„erheblich  mehr  als  30  Morgen“  bis  240  Morgen  an.  M.  E.  mit  Recht. 
Und  jetzt  A.  Dop  sch,  Wirtschaftsentwicklung  1,  233  ff. ,  der  zu 
ganz  ähnlichen  Ergebnissen  kommt.  D.  vertritt  die  Ansicht,  daß 
Dominikalgut  und  Eigenwirtschaft  (D.  meint  Gutswirtschaft)  sich  „nicht 
völlig“  decken.  Seine  Gründe,  mit  denen  er  diese  Ansicht  verteidigt, 
scheinen  mir  nicht  immer  stichhaltig.  Insbesondere  sehe  ich  das  Ge¬ 
wicht  seines  Hauptarguments :  daß  die  Quellen  auch  von  mansi  in- 
dominicati,  von  Salhufen  sprechen,  nicht  ein.  Wie  sollten  sie  nicht? 
Das  Herrenland,  das  wir  uns  —  darin  stimme  ich  D.  völlig  bei  — 
in  den  meisten  Fällen  als  Streubesitz  denken  müssen,  war  doch  in 
allen  Dorfsiedlungen  mit  Hufenverfassung  aus  einzelnen  Hufen  zusammen¬ 
gesetzt,  die  selbstverständlich  auch  im  Gemenge  mit  Bauernland  lagen. 
Wie  sollten  sie  anders  als  mit  dem  Ausdruck  „Salhufen“  bezeichnet 
werden?  Es  scheint  mir  immer  noch  die  ganz  irrtümliche  Vorstellung 
in  den  Köpfen  zu  spuken,  als  bedeute  eine  Gutswirtschaft  im  Mittel- 


70  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

alter  Wirtschaft  auf  arrondiertem  Areal  oder  auch  nur  mit  Notwendig¬ 
keit  mit  eigenem  Personal  und  Geschirr.  Es  wird  alsobald  gezeigt 
werden,  daß  das  keinesfalls  die  Regel  bildete. 

Das  Salland  wurde  vom  Frordiof  aus,  unter  der  Leitung'  des 
Meier,  bewirtschaftet.  Der  Umfang  dieser  Eigenwirtschaft  scheint 
geschwankt  zu  haben.  Die  Regel  war  wohl  der  Umfang  einer 
großen  Bauernwirtschaft,  das  heißt  die  Wirtschaft  eines  Drei¬ 
oder  Vierhufners. 

Die  Arbeitskräfte,  mit  denen  die  Gutswirtschaft  be¬ 
trieben  wurde,  bestanden  zum  Teil  aus  ledigem  Gesinde  und 
verheirateten  Gutstagelöhnern ,  die  (aber  wohl  nicht  regel¬ 
mäßig?)  auf  dem  Hofe  selbst  wohnten  und  entweder  ein  kleines 
Anwesen  bewirtschafteten,  um  ihren  Unterhalt  zu  gewinnen  oder 
ein  festes  Deputat  von  der  Herrschaft  erhielten:  nicht  viel 
anders  als  die  kontraktlich  gebundenen  Arbeiter  unserer  großen 
Güter  bis  in  die  Gegenwart.  Dabei  war  das  persönliche  Rechts¬ 
verhältnis  dieser  Gutsarbeiter  verschieden  gestaltet.  In  Italien 
scheinen  sie  sich  nicht  weit  von  den  antiken  Sklaven  entfernt 
zu  haben. 

Diese  Gutsarbeiter  sind  die  servi  und  ancillae  (oder  praebendarii, 
servi  cottidiani)  der  deutschen  Quellen  (MRh.  UB.  Bd.  I  Nr.  41  a.  804) 
„ut  servi  et  ancillae  coniugati  et  in  mansis  manentes“  Wirtemberg. 
UB.  1,  92;  wer  kein  beneficium  erhält,  unde  vivit,  „qui  hoc  non  habuerit, 
de  dominica  accipiat  provendam“  Cap.  de  villis  c.  50 ;  in  den  Italien. 
Urkunden  werden  sie  „massarii“  genannt  =  servi  mass. :  Inquisitiones 
von  862  und  888  für  das  Kloster  Bobbio  (Hart mann,  Zur  W.Gesch. 
Italiens,  S.  5 0  ff.) ;  Cotsetles  in  England ,  die  schon  nach  den  Rectitudines 
singularum  personarum  entweder  festes  Deputat  oder  den  Morgen  im 
Felde,  einen  Anteil  am  Erdrusch  oder  an  anderen  Erträgen,  ein  oder 
mehrere  Stück  Vieh  in  der  herrschaftlichen  Herde  als  Entgelt  für  ihre 
Arbeitsleistung  empfangen.  (Der  sächsische  Text  der  Reet,  stammt 
aus  dem  10.  sc.;  die  lateinische  Übersetzung  aus  dem  11.  sc.,  publ. 
in  Thorpes  Ancient  Laws  and  institutions  of  E.  1  [1840]  p.  433 — 441 ; 
in  Sonderausgabe  von  H.  L  e  o  1842  mit  einer  interessanten,  jedoch 
nicht  einwandsfreien  Einleitung.)  Ob  die  ‘mancipia’,  die  z.  B.  das 
Fragm.  ampl.  Pol.  Sithiensis  erwähnt  (App.  zum  Pol.  d’Irm.,  397)  in 
diese  Kategorien  des  unfreien  Gesindes  gehören ,  wie  v.  Maure  r , 
Fronhöfe  1,  335  annimmt,  ist  mir  zweifelhaft.  Mancipia  stehen  oft 
im  Gegensatz  zu  familia:  cum  familiis  et  mancipiis.  Cod.  Laur.  1, 
100.  113. 

Bei  der  Inventuraufnahme  der  Villa  Asnapium  werden  17  Holz¬ 
häuschen  auf  dem  Hofe  mit  ebensoviel  Stuben  und  reichlichem  Zu¬ 
behör  ermittelt.  Das  waren  wohl  die  Wohnungen  der  Gutstagelöhner? 
Brev.  rer.  fisc.  Auszüge  und  Übersetzungen  im  App.  zum  Pol.  d’Irm., 
301,  und  bei  Meitzen,  Siedlungen  1,  603  ff. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


71 


Wenn  uns  aus  den  Quellen1  das  Bild  einer  stark  differen¬ 
zierten  Arbeiterschaft  schon  im  9.  und  10.  Jahrhundert  ent¬ 
gegentritt,  so  wird  man  dieses  nicht  ohne  weiteres  für  ein  Ab¬ 
bild  der  Wirklichkeit,  halten  dürfen.  Man  hat  allzuoft  den 
Fehler  begangen,  aus  dem  Cap.  de  villis  den  Zustand  der  Gfuts- 
wirtschafb  zur  Karolingerzeit  zu  rekonstruieren.  Man  darf  aber 
nicht  vergessen,  daß  in  derartigen  Anweisungen  oder  in  Auf¬ 
zählungen  aller  möglichen  Fälle,  wie  sie  die  Rechtsbücher  ent¬ 
halten,  eben  überwirkliche  Idealbilder  zutage  treten. 

Die  zweite  Gruppe  von  Arbeitskräften,  über  die  der  Herr  oder 
sein  Meier  verfügt,  sind  die  zu  Frondiensten  verpflichteten 
Bauern  im  Dorf.  Diese  Einrichtung,  daß  wirtschaftlich  im  übrigen 
selbständige  Bauern  (wohlgemerkt  rechtlich  durchaus  verschie¬ 
dener  Qualität)  einen  Teil  ihrer  Arbeitskraft  zur  Bestellung  des 
herrschaft hohen  Gutslandes  verwenden,  sei  es  in  Form  von  Spann¬ 
diensten,  wenn  sie  über  ein  eigenes  Gespann  verfügten,  sei  es  in 
Form  von  Handdiensten,  wenn  nicht2,  sei  es  endlich  in  Form  von 
„Kopfdiensten“ 3,  ist  dem  Mittelalter  wohl  aus  der  römischen 
Welt  überkommen.  Jedenfalls  ist  sie  während  des  Mittelalters  in 
ganz  Europa,  und  zwar  in  einer  fast  völlig  übereinstimmenden 
Form  und  Gestalt  verbreitet.  Als  der  Mönch  Cesarius  im  13.  Jahr¬ 
hundert  das  Prüm  er  Pfründenbuch  glossierte,  konnte  er  zu  dem 
Kapitel  der  bäuerlichen  Frondienste  die  Anmerkung  machen : 
„quo  modo  mansionarii  debent  jugera  dominica  arare  Seminare 
colligere  et  in  orreum  deducere  suo  tempore,  et  sepem  facere 
ac  triturare,  fere  omnibus  patet“ 4.  Eine  eingehende  Beschrei¬ 
bung  der  überall  wiederkehrenden  Frondienste  erübrigt  sich 
also  wohl  heute  erst  recht5. 

1  Schon  in  den  Volksrechten •  dann  im  Cap.  de  villis;  dann  in 
den  Reet.  sing.  pers. ,  in  denen  nicht  weniger  als  16  verschiedene 
Berufsarten  von  Gutstagelöhnern  aufgezählt  werden. 

2  „qui  .  .  .  non  habet  animalia .  sive  animal  ad  hoc  utile  veniet 
quando  ei  precipitur  a  nostro  ministro  cum  suo  fossorio  et  cooperabitur 
aliis  hominibus  quod  ei  iniunctum  fuerit.“  Cesarius  zum  Prümer 
Urbar  MRh.  UB.  1,  145  Note  3. 

3  In  England  (auch  in  andern  Ländern?)  waren  die  Aufsichts¬ 
beamten  fronpflichtige  Bauern,  die  in  den  Hofgerichten  von  ihren  Ge¬ 
nossen  gewählt  wurden.  So  der  Reeve,  der  das  Pflügen  überwacht, 
der  Hayward,  dem  die  Verantwortung  für  die  Erntearbeit  obliegt,  der 
Constable  u.  a.  Hone  67  ff. 

4  MRh.  UB.  1,  144  Note  1. 

5  Die  besten  Übersichten  enthalten  das  Pol.  d’Irm.  (9.  Jahrb.) 
und  das  Gart.  Mon.  de  Rameseia  (13.  Jahrh.)  a.  a.  0.  p.  CCIV  f.  281  ff. 


72 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


Die  Fronpflicht  der  Bauern  verknüpfte  die  Bauernwirtschaft 
mit  der  Guts  Wirtschaft  auf  das  innigste.  Wie  wir  uns  denn  nur 
ein  richtiges  Bild  von  der  Wirtschaftsverfassung  des  Mittelalters 
machen,  wenn  wir  uns  die  grundherrliche  Wirtschaft  ein¬ 
geschachtelt  denken  in  die  volkstümliche  Dorfwirtschaft,  von 
der  sie  einen  integrierenden  Bestandteil  bildet.  Wo  Flurzwang 
bestand,  unterlag  ihm  das  Herrenland  ebenso  wie  das  Bauern¬ 
land  ;  die  herrschaftliche  Herde  trieb  zusammen  mit  der  Bauern¬ 
herde  auf  die  Gemeinweide ;  oft  ist  der  Herr  der  Curtis  domini- 
calis  (des  Fronhofs)  verpflichtet,  die  Zuchttiere  zu  halten,  die 
von  der  ganzen  Dorf herde  benutzt  werden  konnten 1  usw.  Selbst 
wo  der  Grundherr  neue  Ansiedlungen  auf  seinem  eigenen  Grund 
und  Boden  ins  Leben  rief,  wird  doch  in  den  meisten  Fällen 
eine  Art  von  Dorfgemeinschaft,  in  die  die  Guts  Wirtschaft  frei¬ 
willig  eintrat,  geschaffen  sein. 


2.  Die  gewerbliche  Produktion 

Gerade  hier  in  der  Schilderung  dessen,  was  wir  gewöhnlich 
gewerbliche  Tätigkeit  nennen,  lassen  uns  die  meisten 
Darstellungen  im  Stich 2,  weshalb  ich  es  für  meine  Aufgabe  ge¬ 
halten  habe,  über  die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  im 
Rahmen  der  Fronhofwirtschaft  etwas  eingehender  zu  berichten. 
Die  Quellen  bieten  dafür  einen  überreichen  Stoff  dar,  der  merk¬ 
würdigerweise  nur  zum  geringen  Teil  verarbeitet  worden  ist. 

In  der  Regel,  wenn  von  der  gewerblichen  Tätigkeit  auf 
den  Fronhöfen  des  früheren  Mittelalters  gehandelt  wird,  begnügt 
man  sich  damit,  die  bekannte  Liste  derjenigen  Berufe  aufzu¬ 
zählen,  von  denen  Karl  M.  im  Cap.  de  villis  den  Wunsch  aus¬ 
spricht,  daß  sie  auf  allen  seinen  Villen  vertreten  sein  sollen. 
Damit  aber  macht  man  sich  die  Sache  denn  doch  etwas  zu  leicht. 
Denn  man  würde  zweifellos  ein  ganz  falsches  Bild  von  der 
gewerblichen  Organisation  jener  Jahrhunderte  bekommen,  wenn 
man  die  im  Cap.  de  villis  aufgezählten  „Handwerker“  einfach 
auf  alle  Grundherrschaften  übertragen  wollte  3.  Das  ist  aus  mehr 


1  Siehe  die  Belege  bei  G.  Landau,  Das  Salgut  (1862),  35  ff. 
Vgl.  auch  v.  Below,  Entstehung  der  deutschen  Stadtgemeinde 
(1889),  S.  16. 

2  Am  ausführlichsten  handelt  Inama,  DWG.  2,  253  ff.  290  ff.  von 
diesen  Dingen. 

3  Vgl.  auch  v.  Below,  Die  Entstehung  des  Handwerks  in  Deutsch¬ 
land  in  der  Zeitschrift  für  Soz,  u.  Wirtschaftsgesch.  5  (1897),  S.  128  f. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


73 


als  einem  Grund  unzulässig.  Erstens  nämlich  muß  doch  bedacht 
werden,  daß  jene  Liste  ein  Programm  darstellt,  das  keineswegs 
auch  zur  strengen  Ausführung  gelangt  sein  wird.  Selbst  nicht 
auf  den  kaiserlichen  Domänen,  wie  uns  die  Inventaraufnahmen 
erkennen  lassen,  die  wir  aus  den  Zeiten  Karls  selber  besitzen* 1. 
Und  dann  dürfen  doch  die  Organisationen  der  kaiserlichen  Güter 
nicht  ohne  weiteres  gleichgedacht  werden  mit  denen  kleinerer 
oder  mittlerer  Grundherrschaften.  Ferner  wird  man  unterscheiden 
müssen  zwischen  geistlichen  und  weltlichen  Grundherrschaften. 
Gerade  für  die  Organisation  der  gewerblichen  Tätigkeit  wurde  der 
Umstand  bestimmend,  daß  in  jenen  (meist,  nicht  immer!)  die 
weiblichen  Hände  fehlten.  Endlich  muß  man  ganz  besonders  in 
Rücksicht  ziehen  die  großen  Klöster,  in  denen  ein  Teil  der  Mönche 
selbst  gewerblich  tätig  war. 

Ich  will  im  folgenden  versuchen  die  genannten  Verschieden¬ 
heiten  tunlichst  zu  berücksichtigen  und  ein  Bild  zu  entwerfen 
von  dem  normalen  Zustande  der  gewerblichen  Produktion  auf 
den  Grundherrschaften  oder  besser:  von  dem,  was  überall  an¬ 
nähernd  gleichmäßig  wiederkehrt. 

Da  ergibt  sich  nun  vor  allem,  daß  auch  der  Bedarf  an  ge¬ 
werblichen  Erzeugnissen  (genau  wie  der  an  landwirtschaftlichen 
Produkten)  gedeckt  wurde  durch  ein  Zusammenwirken  der 
eigenen  (Fronhof-)  Wirtschaft  mit  den  bäuerlichen  "Wirtschaften 
im  Dorfe2.  Wir  machen  uns  von  dem  kunstvollen  System  der 
gewerblichen  Produktion,  das  dadurch  entstand,  am  besten  ein 
klares  Bild,  wenn  wir  den  Produktionsprozeß  fächerweise  in 
seinen  einzelnen  Stufen  uns  zu  vergegenwärtigen  trachten. 


und  jetzt  vor  allem  die  eindringende  Kritik  des  von  ihm  nur  „so¬ 
genannten“  Cap.  de  villis  bei  Dop  sch,  W.Entw.  1,  26  fif. 

1  In  dem  Spec.  brev.  rer.  fisc.  Car.  M.  heißt  es  von  einer  Villa: 
„ministeriales  non  invenimus  aurifices  neque  argentarios  ferrarios  neque 
ad  venandum  neque  in  reliquis  obsequiis.“ 

2  Für  diese  zu  „gewerblichen“  Fronden  verpflichteten  Hintersassen 
im  Dorfe  haben  wir  bisher  keine  Bezeichnung.  Ich  habe  nichts  da¬ 
gegen,  sie  als  „Handwerker“  und  dann  im  Gegensatz  zu  den  auf  dem 
Fronhof  selbst  beschäftigten  „Hofhandwerkern“  als  „Landhandwerker“ 
zu  bezeichnen  nach  dem  Vorgang  von  F.  Philippi,  Die  erste 
Industrialisierung  Deutschlands  (im  Mittelalter),  1909,  S.  9.  Aber, 
aber,  Vorsicht!  Lieber  „  “  setzen,  und  noch  lieber  sie  etwas  um¬ 
ständlich  als  Gewerbefronpflichtige  Hintersassen  (Bauern)  bezeichnen. 
Jedenfalls  nicht  vergessen:  sie  bilden  das  Rückgrat  der  Fron¬ 
hof-  d.  h.  einer  Eigenwirtschaft! 


74 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


a)  Die  Nahrungsmittelgewerbe 

Das  Brot  lieferten  die  Bauern  zum  Teil  in  gebrauchsfertigem 
Zustande1,  nachdem  sie  das  Korn  vorher  in  den  Dorfmühlen 
hatten  mahlen  lassen  und  das  Mehl  im  eigenen  Backofen  (?) 
verbacken  hatten.  Die  Kegel  war  das  aber  auf  dem  Kontinente 
jedenfalls  nicht.  Vielmehr  scheint  durchaus  der  normale  Fall 
der  gewesen  zu  sein,  daß  die  Bauern  nur  das  Getreide  oder 
(die  Müller)  das  Mehl  lieferten2 3,  die  Herrschaft  aber  das  Brot 
in  den  eigenen  Backhäusern  hersteilen  ließ.  Ein  (bahchus  (und 
wie  hier  gleich  vorweg  erwähnt  werden  mag :  ,bruhus  )  scheint 
zu  den  Wirtschaftsgebäuden  jedes  halbwegs  ansehnlichen  Fron¬ 
hofs  gehört  zu  haben8.  Auch  eigene  Mühlen  haben  wohl  die 
meisten  Grundherrn  früh  besessen4 * * *,  wenn  sie  es  nicht  vorzogen, 

1  Das  gilt  vor  allem  für  England:  siehe  Kemble,  Cod.  diplorn. 

1,  193  ;  vgl.  1,  296.  299.  311;  2,  46.  355;  ferner  das  Ramsey  Cartular, 
und  vgl.  dazu  die  fleißige  Arbeit  von  Nellie  Neilson,  Economic 
conditions  on  the  Manors  of  Ramsey  Abbey.  Philadelphiaer  Diss. 
1898.  In  den  Quellen  anderer  Länder  sind  mir  Brotlieferungen  selten 
begegnet.  Z.  B.  im  Urb.  von  Prüm:  siehe  Lamp  recht,  DWL.  1, 

2,  787;  ferner  im  Urb.  der  Abtei  Werden:  dazu  R.  Kötschke, 
Studien,  17:  hier  müssen  (abermals  eine  etwas  andere  Form!)  aus  den 

2  Modii  Roggen,  die  der  Fronhof  lieferte,  24  Brote  von  den  Bauern 
o-ebacken  werden;  vielleicht  eben  in  dem  grundherrlichen  ‘Bachus’? 

2  Das  Kloster  St.  Germain  empfängt  den  Zins  — -  bestehend  in 
Getreide,  Mehl,  Malz,  Geld  —  von  71  Mühlen.  Guerard,  Pol.  d’Irm. 
Vol.  I  §  342.  Dem  Kloster  Corbie  zinsen  15  Mühlen  zusammen 
2000  modia  Mehl;  Statuta  ant.  abb.  St.  Petri  Corb.  von  828  im  App. 
zum  Pol.  d'Irm.  p.  312.  Im  Traditionsbuch  des  Klosters  Weißenburg 
ist  die  Wendung  üblich:  „molendini  .  .  .  unde  veniunt  modii  .  .  .“  1.  c. 
passim. 

3  Die  beiden  Gebäude  zusammen  heißen  ‘Camba’ :  Cambam  vul- 
gariter  appellamus  ‘bahchus’  et  cbruhus\  Glosse  des  Cesarius  zum 
Prümer  Urbar.  Cambae  waren  sehr  häufig,  aber  doch  wohl  nicht  auf 
jedem  Fronhof,  wie  wir  aus  der  Tatsache  schließen  dürfen,  daß  in 
den  Güterverzeichnissen  ihr  Vorhandensein  besonders  hervorgehoben 
wird.  MRh.  UB.  Bd.  I.  Wir  finden  die  ‘Camba’  ebenso  in  Frankreich: 
siehe  den  Plan  der  Abtei  De  la  Sainte  Trinite  de  Tiron  im  Cartulaire 
de  l’Abbaye  .  .  .  publ.  par  M.  Luc.  Merl  et  2  Vol.  1883;  ferner  die 
sämtl.  Polypt. ,  die  Irm.  publiziert  hat;  in  England:  Ramsey  Cart. ; 
Lib.  niger  im  App.  zum  Chron.  Peterb.  1.  c.  167  ff. 

4  Gutsmühlen  werden  schon  in  den  Schenkungsurk.  Chlodwigs 

erwähnt;  ebenso  häufig  in  allen  späteren  Urk.  Siehe  z.  B.  die  Kauf¬ 

verträge  der  Kirche  S.  Bertin  aus  dem  8.  sc.;  im  folgenden  Jahr¬ 

hundert  errichtet  dann  das  Kloster  die  ersten  unterschlächtigen  Mühlen. 

Cart.  Folguini.  No.  48;  zit.  bei  Kowalewsky,  1,  40.  Vgl.  die  vorhin 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


75 


den  Dorfniühlen  die  Mahlung  und  Schrotung  eines  bestimmten 
Quantums  Getreides  als  Fron  aufzulegen* 1.  Auf  den  Mühlen 
bzw.  den  dazu  gehörigen  Ländern  wurden  Bauern  eingesetzt2, 
in  den  Back-  (und  Brau)häusern  arbeiteten  entweder  ständig 
gegen  Deputat  angestellte  Gutstagelöhner;  oder  die  Arbeit  wurde 
von  dazu  verpflichteten  Bauern  oder  Stellenbesitzern  die  Reihe 
um  verrichtet3 * * * * 8. 

erwähnten  englischen  Quellen  und  außerdem  Reg.  .  Priorat.  B.  M. 
Wigomiensis.  Ed.  Will.  Haie  Haie  (Cambd.  Soc.)  1865. 

Die  Gutsmühlen  wurden  dann  mit  der  Zeit  „Bannalitäten“  :  „est  ibi 
molendinum  venterititum,  ad  quod  omnes  villani  de  Broughtone,  Warde- 
boys,  Caldecote,  Wodehyrst  et  Waldhyrst  debent  sectam“,  Cart.  Mon. 
de  Rameseia  1  (1884),  833.  Über  Bannmühlen  und  Verwandtes  im 
deutschen  Recht  siehe  Waitz,  Verf.Gesch.  8,  275  ff.  In  den  Be¬ 
schreibungen  der  französischen  Klösteranlagen  fehlt  die  Mühle  nicht: 
Clairvaux  (XIII.  sc.)  Descriptio  Positionis  seu  situationis  Mon.  Clarae 
Vallensis  in  den  Opp.  S.  Bernardi  ed.  Mabillon.  Nova  ed.  (1719) 

2,  1324.  25  :  Abtei  De  la  Sainte  Trinite  de  Tiron  1.  c. 

1  „unicuique  molinario  mansus  et  VI  bonuaria  de  terra  dentur: 
quia  volumus  ut  habeat  unde  ea  quae  ei  jubentur  perficere  valeat  et 
illam  molturam  salviam  faciat:  id  est  ut  boves  et  reliquam  pecuniam 
habeat,  cum  quibus  laborare  possit,  unde  et  ipse  et  omnis  familia  eius 
possit  vivere“,  Stat.  Corbei.  im  App.  zum  Pol.  d’Irm.  p.  312  f.  Als¬ 
dann :  Der  Müller  hatte:  1.  Mehl  zu  zinsen  (s.  Anm.  2  S.  74);  2.  statt 
der  Frondienste ,  von  denen  er  ausdrücklich  befreit  wird ,  herrschaft¬ 
liches  Korn  zu  mahlen.  Für  England  siehe  Kowalewskya.  a.  0. 

3,  183.  Das  Getreide  wurde  wohl  häufig  gleich  auf  dem  Transport 
aus  der  zinsenden  Bauernwirtschaft  in  den  Fronhof  vermahlen,  wie  es 
anschaulich  im  Cart.  Mon.  de  Ram.,  290  beschrieben  wird:  „ducet 
unam  ringam  frumenti  ad  molendinum  de  Houcthone ;  quam  unus 
cottarius  de  Sancto  Ivone  custodiet  salvo,  quousque  illud  frumentum 
redactum  fuerit  in  farinam  quam  postmodum  idem  Ricardus  ibidem 
recipiet  et  ducet  apud  Rameseyam.“  Übrigens  kann  man  in  diesen 
und  ähnlichen  Fällen  nie  wissen,  ob  es  sich  um  eine  alte  fronpflichtig 
gewordene  Dorfmühle  oder  um  eine  vom  Herrn  errichtete  Gutsmühle 
handelt. 

2  „sunt  ibi  farinarii  3,  unus  molendinarius,  tenet  de  terra  iornalem 

pro  sua  vestimenta“,  Reg.  Prum.  c.  2.  „illi  farinarii,  qui  in  circuitu 

sunt,  unusquisque  facit  dies  5  inter  messem  et  pratum  et  corvadas“, 

ib.  c.  34.  Wahrscheinlich  hatten  die  Mahlfron  (Anm.  1)  nur  die 

bequem  zum  Herrenhof  gelegenen  Mühlen,  während  man  den  cin  circuitu’ 

belegenen  die  gewöhnliche  Ackerfron  auferlegte. 

8  In  der  Camba  „tenentur  homines  ibidem  manentes  panem 
fermentatum  coquere  et  cervisiam  braxare“.  Von  den  Insten  hatten 
einige  das  Amt  des  Brotbackens  und  Bierbrauens  regelmäßig  aus¬ 
zuüben.  Dazu  kamen  dann  Extraleistungen  (der  Bauern?),  z.  B.  wenn 
der  Herr  Abt  in  die  Gegend  kam  „tenentur  frumentum  de  curia 


7ß  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Daß  der  Bedarf  an  Bier  auf  ganz  ähnliche  Weise  wie  der 
Brotbedarf  gedeckt  wurde,  ist  schon  aus  der  vorhergehenden 
Darstellung  ersichtlich.  Nur  daß  eben  Malz  (bratsa)  statt  Ge¬ 
treide  oder  Mehl  geliefert  wurde.  Ganz  ähnlich  wurde  der 
Wein* 1  und  in  den  südlichen  Ländern  das  Öl2  gewonnen. 
Salz  mußte  entweder  gekauft  werden  (wie  ich  am  geeigneten 
Orte  noch  zeigen  werde),  oder  wurde  ebenfalls  vom  Grundherrn 
auf  eigenen  Salinen  hergestellt3;  oder  wurde  als  Zins  von  bäuer¬ 
lichen  Salinen  erhoben  oder  als  Zollgefälle  4. 


dominica  ad  molendinum  deducere  et  molere  et  ad  cambarn  dominicam 
reportare  et  paneni  facere  et  coquere  et  cervisiam  braxare  ;  ebenso 
wenn  den  Leuten  auf  dem  Felde  (während  der  Ernte  ?)  Brot  und  Bier 
verabreicht  wurde  „illum  panem  ac  cexwisiam  ipsa  familia  in  suo 
ordine  tenetur  et  coquere  et  brazare“.  Oomm.  des  Abtes  Cesarius 
zum  lieg.  Prum. ;  „bracium  et  panem  per  ordinem  preparare“ ;  „per 
ordinem  panem  et  cervisiam  parare“ ;  „et  panem  quando  opus  est 
parare“.  Tracl.  possessionesque  Wizenb.  (ed.  Zeuss  1842),  274.  277. 
Vgl.  auch  Kowalewsky,  a.  a.  0.  8,  59.  Im  Kloster  Peterborough 
linden  wir  im  Backhaus:  2  Bäcker,  cqui  victum  militis  habent’, 

1  vannator  (Getreidereiniger) ,  2  Bäcker  mit  täglich  2  Broten  und 

2  cbisos  cum  cervisia’,  2  Caratores,  2  servientes  molantes ;  im  Brau¬ 
haus  :  1  Braumeister  (braccharius) ,  2  Caratores  ligni ,  8  servientes 
aquarum.  Die  Beköstigung  erfolgt  entweder  cad  panes5  oder  cad  blada5, 
das  heißt ,  das  Deputat  wird  in  Form  von  Brot  oder  von  Getreide 
gegeben.  Daneben  wird  schon  Geldlohn  bezahlt  (Anfang  des  12.  sc.). 
App.  zum  Chron.  Pet.,  187  ff. 

1  Lamprecht,  DWL.,  dessen  Untersuchungsgebiet  ja  ein  spezi¬ 
fisches  Weinland  ist. 

2  Ein  anschauliches  Bild  von  der  Ölgewinnung  gibt  das  Plac. 
Arpirandi  Diaconi  (A.  882),  das  im  App.  zum  Pol.  d  Irm.  mitgeteilt 
ist  (p.  348).  Es  bezieht  sich  auf  oberitalienische  Verhältnisse:  servi 
homines  etc.  „querunt  se  subtrahere  ad  colligendum  olivas  ex  olivetis 
illas  qui  sunt  dominicatas  de  ista  curte  de  Lemunta  et  eas  premere, 
vel  oleum  que  exinde  exiit  evegere  nolunt,  sicut  suorum  fecerunt 
parentes  et  consortes  de  ipsas  locas  Cevenna,  Cantoligo,  Selvaniaco 
et  Mandrenino  a  lungo  tempore“.  Einem  ‘pressoir  banal’  begegnen 
wir  auch  auf  der  Abtei  De  la  Sainte  Trinite  de  Tiron.  Siehe  den 
Grundriß  des  Klosters  im  Cart.  der  Abtei  publ.  par  Me  riet.  Über 
Ölgewinnung  des  Klosters  der  Hl.  Julia  in  Brescia:  Cod.  Langob. 
p.  713;  des  Klosters  Bobbio  Hartmann,  52  f. 

3  In  einer  Urk.  von  716  (Cod.  dipl.  LXVII)  tauscht  König  Athelbad 
mit  dem  Kloster  Worcester  Land,  um  ein  Salzwerk  anzulegen:  3  sheds 

(casuli)  und  6  Öfen.  Im  13.  sc.  finden  wir  das  Kloster  selbst  im 
Besitz  eines  Salzwerks  in  Wich  (Droitwich),  das  ihm  jährlich  280  mittae 

(=  2800  busheis)  —  also  schon  wesentlich  zum  Verkauf  —  liefert. 
Reg.  Prior.  B.  M.  Wigorniensis  ed.  W.  Haie  Haie  (Cambr.  Soc.) 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


77 


b)  Die  Bekleidungsgewerbe 

Zunächst  sind  „Textilindustrie“  und  Schneiderei  ins  Auge  zu 
fassen,  jene  Gewerbe,  die  uns  mit  gewebten  Stoffen  bekleiden. 
Wir  finden  sie  auf  den  Grundherrschäften  auf  ganz  verschiedene 
Weise  organisiert,  ohne  daß  wir  die  Gründe  anzugeben  ver¬ 
möchten,  weshalb  im  einzelnen  Falle  die  eine  oder  die  andere 
Form  gewählt  ist.  Entweder  nämlich  ist  der  gesamte  Pro¬ 
duktionsprozeß:  von  der  ersten  Behandlung  des  rohen  Flachses 
oder  der  rohen  Wolle  an  bis  zum  fertigen  Gebrauchsgegenstande 
(Kleidungs-  oder  Schmuckstück)  in  die  Bauernwirtschaft  verlegt, 
mag  eine  einzige  Bauernfamilie  alle  Teilverrichtungen  nach¬ 
einander  vorgenommen  haben,  oder  mag  die  Herstellung  ver¬ 
schiedenen  Bauernfamilien  obgelegen  haben:  jedenfalls  finden  wir 
den  fertigen  Gebrauchsgegenstand  unmittelbar  vom  zinspflichtigen 
Bauern  an  den  Herrn  übergehen. 

Die  'femoralia’ ,  die  die  .Mönche  des  Klosters  Prüm  trugen, 
wurden  (noch  im  13.  sc.)  von  den  Frauen  der  Bauern  genäht,  nach 
dem  die  Stoffe  (aus  Leinwand)  von  ihnen  auch  hergestellt  waren,  wie 
uns  Cesarius  mitteilt :  „mansi  nostri  tenentur  annuatim  camsiles  facere. 
Camsil  enim  est  lineus  pannus ,  de  puro  lino  compositus ,  habens  in 
longitudine  VTH  ulnas  et  in  latitudine  II  que  femoralia  tenentur 
femine  hominum  nostrorum  suere  et  camerario  conventus  ita  consuta  .  .  . 
debent  representare.“ 

Die  Weiber  der  Bauern  im  Gebiete  der  Abtei  Fulda  hatten  dem 
Kloster  zu  liefern:  mappae  (Altardecken?),  mensales,  mensalia  (Tisch¬ 
decken?),  lodices  (andere  Decken),  tunicae,  pellicia  etc.  Schannat, 
Hist.  Fuld.  1  (1729),  26  ff.  aus  dem  Urb.  der  Abtei  (9.  — 11.  sc.). 
'Tunicae  ad  opus  ecclesiae’  (also  Meßgewänder?)  finden  wir  auch 
unter  den  Abgaben  im  Reg.  Prum. 

Manchmal  leisteten  auch  fleißige  Nonnen  die  Arbeit,  die  sonst  den 
ßauerfrauen  zufiel.  So  hatten  die  Klosterfrauen  von  S.  Andrea  ur¬ 
sprünglich  an  den  Königshof  in  Florenz ,  später  an  den  Bischof  ein 
Gewand  aus  Ziegenwolle  zu  liefern.  Die  Nonnen  von  Or  San  Michele 
hatten  ein  'Laboratorium’,  in  dem  sie  (mit  ihren  Mägden)  webten. 
Der  Abt  von  Nonantula'  legte  ihnen  als  Oberhem  des  Klosters  die 

1,  XI.  Andere  Stellen  bei  Leo,  Reet.,  203.  Häufige  Schenkung 
von  Salinenanteilen  an  Kirchen  und  Klöster  in  Italien.  Belege  bei 
Ad.  Schaube,  Handelsgesch.  der  roman.  Völker  usw.  (1906),  S.  46 
Anm.  3  (11.  sc.).  Ebenso  wie  wir  zahlreiche  Kirchen  und  Klöster 
im  Besitze  von  Salinen  finden  (10.  sc.).  Vgl.  Schaube,  a.  a.  0. 
S.  72.  83.  Für  Deutschland  siehe  die  ausführliche  Darstellung  bei 
Inama,  DWG.  2,  238  ff.,  und  bei  Dahn,  Könige  der  Germanen 
IX,  2  (1905),  428  ff.  (für  das  Gebiet  der  „Baiern“). 

4  Über  Salinenzölle  und  Salinenzinse  siehe  Schaube,  a.  a.  O.,  nam. 

S.  83  f. 


7g  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

Pflicht  auf,  ihm  jährlich  aus  Wolle,  die  er  durch  seinen  Boten  schicken 
würde,  5  Stück  starken  Stoffes  anzufertigen.  Die  Belege  bei  David - 
sohn,  Gesch.  von  Florenz  1,  91.  Betrachtet  man  das  Nonnenkloster 
selbst  als  c  Fronhof’,  so  gehört  die  Form  der  Bedarfsdeckung  dem 
gleich  zu  besprechenden  nächsten  Typus  an. 

Es  mag  daran  erinnert  werden ,  daß  von  den  hörigen  Bauern  dei 
Germanen  schon  zu  Tacitus  Zeiten  Westes’  geliefert  werden  (Germ.,  25), 
wie  denn  wohl  die  ganze  eigentümliche  Verquickung  der  bäuerlichen 
mit  der  herrschaftlichen  Wirtschaft  bei  der  Erzeugung  der  geweib- 
lichen  Gegenstände  spezifisch  deutschen  Ursprungs  ist. 

Oder  aber  (und  das  war  wohl,  worauf  die  häufige  Erwähnung 
dieses  Falles'  in  den  Quellen  schließen  läßt,  die  Regel):  Die 
Bauern  lieferten  nur  das  fertige  Gr  e  w  e  b  e  (aus  Leinwand  oder 
Wolle)  \  Sei  es ,  daß  sie  zu  dessen  Herstellung  die  selbst  ge¬ 
wonnenen  und  verarbeiteten  Rohstoffe  verwendeten2,  sei  es, 
daß  sie  von  der  Herrschaft  die  Rohstoffe  bekamen3.  Diese 
waren  dann  von  anderen  Bauernwirtschaften  gezinst  oder  in  der 
Gutswirtschaft  hergestellt  worden. 

Auf  dem  Herrenhofe  wurde  natürlich  in  allen  den  Fällen,  in 

1  Vgl.  aus  der  Fülle  der  Quellenstellen  z.  B.  für  England:  das 
Lib.  niger  des  Klosters  Peterborough,  a.  a.  0.  p.  159.  162.  163.  165 
(B  .  .  .  ulnas  de  panno“  „  .  .  .  ulnas  de  lineo  panno“); 

für  Frankreich:  das  Urb.  der  Abtei  St.  Bertin  in  der  Coli,  des 
C artul.  de  la  France  Tome  IV  (1840)  Nr.  XNI:  „  ancillae  XXII  faciunt 
ladmones  XII  („ladmo  est  pensum  textile  mulieribus  lidis  vel  obnoxiis 
impositum“:  Guerard,  Glossar,  zum  Pol.  dTrm.)  „de  illis  ingenuis 
feminis  XIII  veniunt  ladmones  VI  et  dimid. “  •  ähnl.  XXIV.  XXV 
und  öfters ; 

für  Deutschland:  die  Urb.  von  Prüm,  Fulda,  Lauresh.,  Weißen¬ 
burg  u.  a. ;  ferner  W.  Wittich,  Die  Grundherrschaft  in  Nordwest¬ 
deutschland  (1896),  insbes.  S.  297  ff.  (12.  sc.) 

Vgl.  auch  die  in  Anm.  2  und  3  angeführten  Belegstellen. 

2  „feminae,  quae  camsiles  faciunt,  colligunt  linum  et  trahunt  de 
aqua  et  parant“.  MRh.  UB.  1,  150.  „Pannum  ex  proprio  lino  .  .  . 
debent“  Cod.  Lauresh.  III.  p.  178.  219.  „Lidi  LX  quorum  singuli 
pannum  ex  proprio  lino“  (debent)  Schannat,  Hist.  Fuld.  1,  31; 
„de  proprio  lino  camsile  .  .  .  facere  debent“  Cod.  Wirz.  ed.  Zeuss,  275. 

3  „Iste  lidae  ancillae  si  datur  eis  linificium  faciunt  camsilos.  Et 
illa  ancilla  facit  de  lana  dominica  sarcillam.“  Pol.  d’Irm.  p.  150.  176; 
vgl.  ebenda  p.  109.  212.  244  und  öfters. 

Es  ist  wohl  nicht  richtig,  wenn  v.  Below,  Territorium  und  Stadt 
(1900),  S.  342  annimmt,  daß  die  abgabepflichtigen  Bauern  immer  nur 
selbstbeschaffte  Rohstoffe  verarbeitet  hätten.  Nebenbei  bemerkt:  daß 
hier  weder  von  „Lohnwerk“  noch  von  „Handwerk“  die  Rede  ist,  ist 
selbstverständlich.  Vgl.  für  die  Gesamtorganisation  des  Wollgewerbes 
in  den  deutschen  Fronhöfen  noch  Erich  Kober,  Die  Anfänge  des 
deutschen  Wollgewerbes  (1908),  13  ff. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


79 


denen  die  Bauern  schon  die  fertigen  Gebrauchsgegenstände 
lieferten,  überhaupt  keine  gewerbliche  Tätigkeit  mehr  verrichtet. 
Lieferten  die  Bauern  jedoch  nur  die  Gewebe  ab,  so  mußten  sie 
in  der  Wirtschaft  des  Grundherrn  vielfach  wohl  noch  veredelt 
und  immer  zu  Kleidern  usw.  weiter  verarbeitet  werden.  Wir 
dürfen  annehmen,  daß  die  Schneide  rarbeit  in  der  Regel  von 
den  Frauen  des  Hauses  samt  ihren  Mägden  verrichtet  wurde. 
Wo  weibliche  Arbeitskräfte  fehlten,  wie  in  den  Kapiteln  und 
Klöstern,  sorgten  eigens  gehaltene  Schneider  für  die  Anfertigung 
der  Kleider.  Kein  Kloster  wohl  ohne  eigene  Schneiderwerkstatt  b 

Wo  wurden  die  Tuche  gewalkt?  Wohl  in  den  herrschaft¬ 
lichen  Walkmühlen,  die  sich  jedenfalls  auf  den  größeren  Fron¬ 
höfen  vorfanden1 2 3. 

Wo  wurde  gefärbt?  Ebenfalls  auf  dem  Herrenhofe ?  Darauf 
läßt  die  Tatsache  schließen,  daß  die  Grundherrn  sich  mit  Farb¬ 
stoff  versehen,  sei  es  durch  Kauf  auf  den  Märkten,  wie  die 
Mönche  von  St.  Germain,  sei  es  dadurch,  daß  sie  die  Bauern 
zur  Lieferung  verpflichten3. 

Aber  auch  ausdrücklich  genannt  wird  der  ctintor5  in  den 
Quellen  als  gewerblicher  Arbeiter  im  Herrenhofe  (Abtei!)4. 

Nun  war  aber  endlich  noch  ein  dritter  Fall  möglich :  daß  die 
gesamte  Herstellung  der  Kleider  (von  der  ersten  Behandlung 
der  Rohstoffe  an  oder  wenigstens  das  Spinnen  und  Weben)  der 
herrschaftlichen  Wirtschaft  oblag.  Das  trat  wohl  namentlich 

1  Kloster  Farfa  (10.  sc.):  „in  fronte  ipsius  sit  alia  domns  longi- 
tudinis  pedes  XL  et  V ,  latitudines  XXX.  Nam  ipsius  longitudo 
pertingat  usque  ad  sacristiam  et  ibi  sedeant  omnes  sartores  atque 
sutores  ad  suendum,  quod  camerarius  eis  praecipit.  Et  ut  prae- 
paratam  habeant  ibi  tabulam  longitudinis  XXX  pedes  et  alia  tabula 
afixa  sit  cum  ea,  quarum  latitudo  ambarum  tabularuni  habeat  VII  pedes“ 
Consuetudines  Monasticae  Vol.  I  Cons.  Farf.  (1900)  p.  138.  39. 

„In  sartrino“  des  Klosters  Peterborough  sitzen  2  Schneider, 

2  homines  qui  abluunt  pannos,  1  homo  qui  affert  ligna,  1  corvesarius 
(Flickschuster)  1.  c.  p.  167  ff. 

Vgl.  im  übrigen  J.  von  Schlosser,  Die  abendländischen  Kloster¬ 
anlagen  des  frühen  M.A.  1889. 

2  Auf  dem  Kloster  Corbie  im  9.  sc.,  ebenso  wie  auf  dem  Kloster 
Clairvaux  im  13.  sc.  (s.  unten  S.  80),  wie  auf  dem  Kloster  Subiaco 
im  11.  sc.  Reg.  Sublac.  98  u.  154  bei  Schaube,  46. 

3  Vermiculum  (=  vermeil  =  Scharlach?)  müssen  die  Bauern  den 
Mönchen  von  St.  Remi  de  Reims  liefern;  Guerard,  Pol.  d’Irm., 
p.  XXX;  ebenso  findet  es  sich  als  Abgabe  im  Prümer  Urbar;  vgl. 
Lamprecht,  DWL.  12,  787. 

4  Davidsohn,  Forschungen  3,  211.  Vgl.  S.  80  Anm.  1. 


80  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliclie  Zeitalter 

auf  größeren  weltlichen  Grundherrschaften  häufig  ein,  weshalb 
denn  hier  die  Anzahl  der  geschäftigen  Mägde  im  eigenen  Hause 
so  groß  wurde,  daß  ihnen  besondere  Räume  angewiesen  werden 
mußten.  Das  sind  die  ominösen  Ginecien. 

Man  findet  in  den  Quellen  selten  Ginecien  erwähnt;  begreiflicher¬ 
weise  ,  da  sie  auf  den  geistlichen  Herrenhöfen  häufig  fehlten.  Doch 
begegnen  wir  ihnen  auch  hier;  wenn  zwar  nicht  auf  den  Haupthöfen, 
so  doch  auf  größeren  Meierhöfen.  So  wurden  auf  dem  der  Abtei 
Werden  a.  d.  Ruhr  gehörigen  Fronhof  Leer  während  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts  regelmäßig  sieben  Frauen  mit  Wollarbeit  beschäftigt, 
für  deren  Unterhalt  bestimmte  Einkünfte  angewiesen  waren. 
R.  Kötzschke,  Studien,  80.  Die  Darstellungen  stützen  sich  fast 
immer  nur  auf  die  darauf  bezüglichen  Stellen  des  Cap.  de  villis;  so 
die  beste,  die  aus  der  Feder  v.  Maurers  stammt  (Fronhöfe,  1,  241  ff.). 
Aber  es  gab  G.  offenbar  auch  auf  anderen  großen  weltlichen  Grund¬ 
herrschaften ,  wie  es  heute  noch  auf  jedem  Rittergute  Ginecien  gibt. 
Siehe  z.  B.  die  Urkunde  über  die  Schenkung  des  Grafen  Eberhard  an 
das  Kloster  Mosbach  vom  Jahre  728,  in  der  es  heißt:  „de  mancipio 
nostro  scopulicolas  quas  in  genicio  nostro  habuimus  plus  minus  numero 
quadraginta. “  Brequigny,  Dipl.,  1,  458.  Das  G.  des  Gutes  Stephans¬ 
wert  enthält  24  Weiber,  die  Kleider  und  Fußlappen  herstellten.  Ygl. 
noch  das  Geneceum  puellarum  auf  der  Besitzung  des  Grafen  Egbert 
in  Flandern  im  10.  Jahrh.  MG.  SS.  15.  U.  p.  583.  Z.  2. 

Aber  in  geistlichen  Fronhofwirtschaften  (Klöstern !)  begegnen 
wir  auch  gewerblichen  Arbeitern,  die  die  Anfangsprozesse  der 
Weberei  ausüben,  z.  B.  die  Wolle  verarbeiten1. 

Werden  in  diesem  Falle  die  Spindeln  von  den  Bauern  ge¬ 
liefert?  Ich  bin  zweifelhaft,  ob  die  im  Prümer  Urbar2  genannten 
‘linum  fusa  XXX3,  cde  lino  fusa  XXX’  Spindeln  oder  eine 
Spindel  voll  Garn  bedeuteten. 

Das  zweite  große  Gebiet  der  Bekleidungsgewerbe,  das  die 
Bekleidung  der  Füße  mit  gegerbtem  Leder  betrifft,  zerfällt  in 
die  beiden  Hauptzweige  der  Gerberei  und  Schuhmacherei- 
Beide  Produktionsprozesse  scheinen  sich  im  Rahmen  der  Guts¬ 
wirtschaft  abgespielt  zu  haben.  Wenigstens  ist  mir  kein  einziger 
Fall  bekannt  geworden,  in  dem  Bauern  zur  Lieferung  von  Leder 
oder  Schuhwerk  verpflichtet  gewesen  wären.  Dagegen  finden 
wir  auf  den  größeren  Grundherrschaften  oft  die  Gerbereianlage 
erwähnt3  und  ebenso  sehr  häufig  eine  Schusterwerkstatt  oder 
wenigstens  ein  paar  Schuster. 

1  battitor  lane:  Davidsohn,  Forschungen  3,  211.  Daneben  finden 
sich  ein  tintor  und  ein  tirator  pannorum  (Urk.  v.  1303). 

2  MRh.  UB.  1,  170. 

8  Die  englische  Abtei  Meaux  hat  noch  im  Jahre  1396  ihre  eigene 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


81 


Ein  sehr  anschauliches  Bild  von  den  verschiedenen  gewerblichen 
Anlagen  auf  einem  großen  Fronhofe ,  unter  denen  sich  eine  Walk¬ 
mühle ,  eine  Mahlmühle  und  eine  Gerberei  befinden,  gibt  die  schon 
erwähnte  Beschreibung,  die  wir  in  den  Werken  des  heil.  Bernhard 
(ed.  Mabillon.  1719.  2,  1324  f.)  finden.  Da  sie  wenig  bekannt  ist 
—  ich  bin  nur  in  einer  einzigen  Darstellung  auf  sie  gestoßen :  in  dem 
Buche  von  H.  D’Arbois  de  Jub ai nvill e ,  Etudes  sur  l’etat  interieur 
des  abbayes  cisterciennes  1858,  wo  Auszüge  in  französischer  Über¬ 
setzung  wiedergegeben  sind  — ,  so  will  ich  die  Hauptstellen  im  Original¬ 
text  hierhersetzen.  Die  Beschreibung  stammt  aus  der  Feder  eines 
Zeitgenossen  und  ist  im  13.  Jahrhundert  niedergeschrieben;  sie  ist 
sehr  cpoetisch’  gehalten  und  sucht  die  Trockenheit  der  Aufzählung 
der  einzelnen  Gebäude  dadurch  zu  vermeiden,  daß  sie  alle  um  das 
Flüßchen  gruppiert,  das  (eine  Abzweigung  von  der  Aube)  durch  den 
Klosterhof  hindurchfließt:  „Fluvius  .  .  .  primurn  in  molendinum 
impetum  facitf ;  deinde  „eum  ...  ad  se  fullones  invitant,  qui  sunt 
molendino  confines  .  .  .  graves  illos  sive  pistillos  sive  malleos  dicere 
mavis  vel  certe  pedes  ligneos  .  .  .  alternatim  elevans  atque  deponens 
gravi  labore  fullones  absolvit  .  .  .  tot  ergo  volubiles  rotas  rotatu  rapido 
circumducens ,  sic  spumans  exit  ut  ipse  quasi  moli  et  mollior  fieri 
videatur  .  .  .  excipitur  dehinc  a  domo  coriaria  ubi  conficiendis  his 
quae  ad  fratrum  calceamenta  sunt  necessaria  operosam  exhibet 
sedulitatem.  Deinde  minuatim  se  et  per  membra  multa  distribuens 
singulas  officinas  officioso  discursu  perscrutatur,  ubique  diligenter  in- 
quirens,  quid  quo  ipsius  ministerio  opus  habeat:  coquendis,  cri- 
brandis,  vertendis,  terendis,  rigandis,  lavandis, 
ruscendis  .  .  .“ 

c)  Die  Baugewerbe 

Wollte-  der  Grundherr  bauen,  so  standen  ihm  zunächst  eine 
Menge  von  Rohstoffen  und  Arbeitskräften  in  seiner  Guts- 
Wirtschaft  zu  Gebote.  Er  fand  das  Holz  in  seinem  Walde,  den 
Sand  und  die  Steine  in  seinen  Sand-  und  Steingruben,  das  Stroh 
in  seinen  Scheunen.  „Ungelernte“  Arbeitskräfte  fanden  sich 
genug  unter  dem  Gesinde  oder  den  Gutstagelöhnern,  von  denen 
der  eine  oder  andere  aber  gelernter  Maurer  oder  (was  für  die 
frühere  Zeit  das  wichtigere  ist)  gelernter  Zimmermann  war. 
Wir  begegnen  in  den  Quellen  dem  cementarius  sowohl  als 
(noch  häufiger)  dem  carpentarius  unter  den  auf  dem  Herrenhof 
wohnenden  Arbeitern.  Dieser  ist  ursprünglich  nicht  nur  Zimmer¬ 
mann,  sondern  auch  Stellmacher* 1.  Die  fehlenden  Arbeitskräfte, 

Gerberei.  Genauere  Angaben  bei  L.  F.  Salzmann,  Engl.  ind.  of 
the  Middle  Ages  (1913),  173. 

1  Auf  einem  Schultenhöfe  der  Abtei  Werden  begegnen  wir  unter 
dem  Gesinde  einem  Steinmetz,  den  der  Schulte  jährlich  auf  längere 
Zeit  nach  Werden  zur  Verfügung  des  Grundherrn  senden  muß 
(11.,  12.  Jahrh.).  R.  Kötzschke,  Studien,  80. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


6 


g2  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

wenn  sie  sich  der  Grundherr  nicht  unter  seinem  Gesinde  hielt, 
ebenso  wie  die  fehlenden  Materialien ,  lieferte  wiederum  die 
Bauernschaft. 

Wir  finden  folgende  Fronden  und  Abgaben  erwähnt: 

a)  Errichtung  eines  Kalkofens ,  Herbeischaffung  der  dazu 
nötigen  Materialien :  der  Stecken ,  der  Buten ,  der  Hölzer, 

o 

der  Kalksteine; 

Wie  ein  Kalkofen  errichtet  wurde,  hat  uns  in  sehr  anschaulicher 
Weise  wieder  Cesarius  erzählt,  dem  wir  wohl  den  meisten  Aufschluß 
über  die  Organisation  der  Fronhofwirtschaft  verdanken.  Die  Stelle 
verdient  wiederum  ihrem  vollen  "Wortlaut  nach  hierhergesetzt  zu  werden 
(MKh.  TJB.  1,  151):  „sciendum  est,  quod  dominus  abbas  quolibet  anno 
si  vult  ad  edificationem  ecclesie  calcis  furnum  potest  facere  et  ad 
hoc  ornnes  curie  citra  Kile  tenantur  eum  iuvare.  Curia  enim  de 
denesbure  et  hermansbanyde  adducent  palos  (‘stehchen’)  et  perticas 
(cgerten’)  ad  tunicam  furni  sepiendam.  Omnes  alie  curie  de  oslihc 
adducent  truncos  laudabiles  et  magnos;  quilibet  mansus  adducet  IIII 
truncos  quorum  quilibet  habebit  XVI  pedes  in  longitudine  et  duos  et 
dimidium  in  grossitudine  (latitudine).  Curie  autem  alie  sicut  rumers- 
heym  sarensdorpht  et  valmersheym  adducent  lapides  calcis  quilibet 
mansus  carratas  XVI.“  (NB.  welche  Masse!)  Auch  sonst  wird  diese 
Kalkofenfron  erwähnt:  „ad  furnum  calcem  de  petris  carradas  V“, 
Cod.  Lauresh.  3,  212. 

b)  Erbauung  bzw.  Ausbesserung  des  Hauses  1 ; 

c)  Erbauung  der  Mauern,  Instandhaltung  der  Zäune  usw. 2; 

d)  Dachdeckerarbeiben 3 ; 

e)  Lieferung  der  Bauhölzer4; 

f)  Lieferung  der  Ziegeln 5 ; 

g)  Lieferung  der  Holzlatten  und  Schindeln  für  das  hölzerne 
Dach 6 ; 

1  (mansionarii)  „horreum  nostrum  usque  ad  tectum  construunt“  bei 
Lamprecht,  DWL.  1,  588. 

„XV  unusquisque  ex  hiis  quando  opus  est  edificare“ ;  „quando 
opus  est  edificium  quod  infra  dom.  curtem  est  meliorare“ ;  „.  .  .  dom. 
eclificium  facere  V“  (sc.  von  26 Vs  Höfen  in  der  Herrschaft  Greyzingen), 
Trad.  Wiz.  ed.  Zeuss;  p.  277 — 279. 

2  „sepes  .  .  .  facere“  Trad.  Wiz.,  279;  „immun  facere“  Cart. 
Mon.  de  Rameseia  1,  335.  366.  Werden:  R.  Kötzschke,  Studien,  17. 

8  „Item  habet  (sc.  monasterium)  in  Boningaham  mansa  IIII  per 
bunaria  XII ;  nihil  aliud  faciunt  per  totum  annum  nisi  emendant  tecta 
monasterii.“  Fragm.  ampl.  Pol.  Sithiensis  im  App.  zum  Pol.  d’Irm.  p.  403. 

4  Jeder  (?)  Bauernhof  des  Klosters  Weißenburg  liefert  je  „V 2  carra- 
tam  lignorum“  (Bau-  oder  Brennholz?)  1.  c.  273  ff. 

5  Dgl.  (wie  in  Anm.  4)  je  „L  tegulae“  1.  c.  (Ziegeln  oder  Schindeln?). 

6  Diese  Abgabe  ist  sehr  allgemein  verbreitet.  Schindeln  sind  die 
scintuli,  scintulae ,  scindulae  etc.,  Latten  die  axiles,  asiles ,  axiculi, 


Siebentes  Kapitel;  Die  Fronhofwivtschaft 


83 


h)  Lieferung  von  Mühlsteinen* 1. 

Natürlich,  konnten  auf  diesem  Wege  nur  die  gewöhnlichen, 
während  des  frühen  Mittelalters  wahrscheinlich  sehr  primitiven 
Holz-  und  Fachwerkbauten  hergestellt  werden.  Galt  es  die  Er¬ 
richtung  eines  Palatiums,  einer  Kirche  aus  Stein,  so  mußte  man 
einen  der  wenigen  Künstler  und  Handwerker  an  sich  zu  fesseln 
trachten,  die  jene  Kunst,  in  Stein  zu  bauen,  bewahrt  hatten. 
Diese  Künstler  weilten  je  während  der  Bauzeit  an  den  Höfen  der 
großen  Bauherrn,  die  sie  sich  einer  vom  anderen  ausbaten.  So 
erbittet  der  Pictenkönig  Nechtan  vom  Abt  Ceolfrid  (710)  „archi- 
tectos ,  qui  juxta  morem  Komanorum  ecclesiam  'de  lapide  in 
gente  ipsius  facerent“ 2.  So  schickt  der  Bischof  von  Salzburg 
Maurermeister  (magistros  murarios),  Schmiede  und  Zimmerleute 
zum  Bau  von  Kirchen3.  Oder  man  setzte  den  offiziellen  Ver¬ 
waltungsapparat  in  Bewegung  und  ließ  sich  durch  Vermittlung 
der  Beamtenschaft  die  zum  Bau  notwendigen  seltenen  Materialien 
liefern.  So  ersucht  Papst  Hadrian  den  König  Karl  im  Jahre  768: 
er  möchte  die  2000  tt  Zinn,  die  er  für  die  Bedachung  des  Vor¬ 
hofes  von  S.  Peter  brauchte,  durch  die  Grafen,  jeden  100  U 
aufbringen  lassen4. 

Diese  berufsmäßigen  Bauhandwerker  werden  nur  zum  Teil  Fron¬ 
pflichtige  gewesen  sein,  zum  vielleicht  größeren  Teil  waren  es 
wohl  freie  Wanderhandwerker.  Als  solche  begegnen  wir  ihnen 
später  noch  einmal. 

(vulgariter  appellati  „esselinge“  nach  Cesarius)  der  Quellen.  Woran 
Lamprecht  (a.  a.  O.  1,  787)  denkt,  wenn  er  axiculi  mit  ‘Scheithölzer’ 
übersetzt,  weiß  ich  nicht.  Nach  Lamprechts  Berechnungen  empfing 
beispielsweise  das  Kloster  Prüm  im  ganzen  14  232  axiles  und  57  038 
scindulae ;  a.  a.  O.  2,  143.  Zahlreiche  Belege  für  das  Vorhandensein 
dieser  Abgabe  in  der  Sammlung  von  Pol.  im  Pol.  d’Irm. 

1  Entweder  „sine  precio“  oder  zu  einem  vereinbarten  Preise  (dann 
war  es  schon  der  Anfang  eines  tauschwirtschaftlichen  Verhältnisses): 
Abteien  St.  Maixent  und  Montierneuf.  Belege  bei  P.  Boissonnade, 
Essai  sur  l’organisation  du  travail  au  Poitou  1  (1900),  117. 

2  Beda,  Hist.  eccl.  V,  21,  zit.  bei  Montalembert,  Die  Mönche 
des  Abendlandes  5  (1868),  6.  Nach  derselben  Quelle  ließ  Abt  Benedikt 
im  Jahre  674  französische  Glasmacher  kommen,  um  beim  Neubau  der 
Abtei  von  Weremouth  Fenster  einzusetzen.  Anderson,  Hist,  of 
Com.  1,  49. 

3  Conv.  Baj.  (a.  872)  bei  Dahn,  Könige  IX.  2,  444. 

4  „  .  .  .  petimus,  ut  per  comites  vestros,  qui  in  Italia  sunt  actores, 
ipsum  jam  dictum  stannum  dirigere  jubeatis,  per  unumquemque  comitem 
libras  centum“.  Ep.  Hadr.  ed.  Cenni  1,  472;  zit.  bei  Hegel,  Städte- 
verfassung  Ital.  2,  12. 


6* 


84  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

"Was  der  einzelne  G-rundlierr  von  seinen  Hintersassen  als 
Frondienst  verlangte,  das  wurde  vom  Könige  den  Freien  als  öffent¬ 
liche  Leistung  auferlegt:  die  Herstellung  bzw.  Instandhaltung 
der  Pfalzen ,  der  Kirchen  und  anderer  öffentlicher  G-ebäude, 
der  Brücken  und  Landstraßen.  Die  Anwohner  waren  zuächst 
verpflichtet.  In  einem  Kapitulare  Kaiser  Ludwig  II.  (Cap.  a.  850. 
c  8 — 8)  wird  über  den  Verfall  der  genannten  Gebäude  geklagt, 
mit  Zwang  soll  jeder  zur  Arbeit  angehalten  und  er  soll  nicht 
eher  von  Ort  und  Stelle  entlassen  werden  als  bis  er  seinen  An¬ 
teil  ausgeführt  hat.  Wir  sehen  hier  die  Beste  der  römischen 
munera  publica. 

d)  Gerätschaftsgewerbe 

Sie  umfassen  alle  Gewerbe,  die  in  den  drei  genannten  Gruppen 
nicht  enthalten  sind,  also  vor  allem  die  Gewerbe  zur  Erzeugung 
der  Werkzeuge  und  Waffen  (Schmiede  und  Stellmacher)  sowie 
des  Hausgeräts  (außer  den  genannten:  Böttcher  und  Töpfer). 

Diese  Gewerbe  wurden  nun  wohl  der  Begel  nach  von  Bauern 
betrieben,  die  der  Herrschaft  zu  Fron  oder  Zins  verpflichtet 
waren.  Nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  der  Produktion 
fällt  in  den  Bahmen  der  Guts  Wirtschaft  selbst:  Die  Quellen  be¬ 
richten  durchgehends  von  den  Lieferungen  fertiger  Gebrauchs - 
gegenstände  durch  die  Bauern. 

Italien:  Die  Besitzung  Luliatica  des  Klosters  Bobbio  liefert 
5  Pflugscharen.  L.  M.  Hartmann,  Zur  W.  Gesch.  Italiens,  64. 
In  einer  Urkunde  vom  Jahre  907  verpflichtet  sich  ein  Höriger  des 
Klosters  Nonontola  zur  jährlichen  Lieferung  von  15  Sicheln.  Cod. 
dipl.  Lang.  Mon.  Hist.  Patr.  XIII.  Nr.  422,  c  730  ;  im  Inventarium 
von  S.  Julia  in  Brescia  begegnen  wir  den  Lieferungen  von  Sicheln, 
eisernen  Gabeln,  Beilen,  Pflugscharen;  1.  c.  Nr.  419  c  706  ff. 

Deutschland:  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  vereinnahmt  das 
Kloster  Corvey  an  Zinsen:  „.  .  .  quinquaginta  frustra  (!)  de  cultellis, 
de  rasoriis,  de  forcipibus.“  Nik.  Kindlinger,  Münster.  Beiträge  2 
(1790),  133  Urkunden.  —  Je  ein  „securis  et  achia“  (Beil  und  Axt)  liefern 
(im  13.  Jahrhundert)  die  Bauernhufen  dem  Kloster  Weißenburg;  ferner 
lastet  auf  einzelnen  Hufen  „opus  fabricandi  vomeres  ad  tria  aratra 
et  malleos  cementariorum“  (Hämmer) ;  „idem  opus  persolvit  hugo  de 
fabbrica  in  colle“  (das  ist  der  Schmied  vom  Berge!),  „item  oggerus 
persolvit  vomerem“.  Trad.  ed.  Zeuss,  273  ff.  Andere  Hufen  in 
demselben  Gebiet  liefern  die  Weinbottiche  „in  autumno  vascula  .  .  ad 
vinum“  1.  c.  p.  278.  —  Patella  liefert  ein  kleiner  Kötter,  der  quar- 
tulam  I  besitzt,  dem  Kloster  Prüm.  M.  Rh.  U.  B.  1,  169. 

Hausgerät  liefern  die  Laten  auf  den  Grundherrschaften  Nordwest¬ 
deutschlands  W.  Wittich,  a.  a.  O.  insbesondere  S.  297  ff. 

Frankreich :  30  Hacken  liefern  22  mansi  ingenuiles  im  Gebiete  des 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft  85 

Klosters  St.  Gennain.  Pol.  d’Irm.  Prol.  1,  731;  8  Beile  liefert  ein 
Villicüs  ebenda ,  6  Lanzen  der  Inhaber  einer  halben  Hufe ,  6  Wurf¬ 
spieße  dgl. ;  der  Handwerker  Hadon  bezahlt  den  Zins  einer  halben 
Hufe  mit  seinen  Erzeugnissen.  1.  c.  p.  149.  —  12  Flaschen  (?)  und 
100  Näpfe  (?)  liefert  ein  Bauer  der  Abtei  St.  Bertin.  Pol.  Sith. 
1.  c.  p.  400.  Antlemarus  servus  und  seine  dem  Colonenstande  an- 
gehörige  Frau  in  Nova  villa  leisten  jährlich  u.  a.  6  Stück  Holzgeschirr, 
3  hölzerne  Radkränze,  7  Holzfackeln.  Pol.  XIII,  64,  p.  143. 

Oder  wir  erfahren  von  Pauschalverpflicht ungen  zur  Leistung  be¬ 
stimmter  Arbeiten:  aller  Schmiede-,  aller  Stellmacherarbeiten  usw., 
wofür  ein  entsprechender  Grundbesitz  vom  Herrn  gewährt  wird. 

England:  „Faber  (de  Wermouth  tenet)  XII  acras  pro  ferramentis 
carucae“ ;  „Faber  (de  Queryndonshire  tenet)  XII  acras  pro  ferra- 
mento  carrucae  fabricando“;  „Faber  I  bovat  pro  suo  servicio“.  Aus 
Boldon  Book,  Hundred  Rolls ,  Domesday  zit.  bei  Seebohm,  1.  c. 
p.  70.  In  gleichem  Verhältnis  steht  der  Carpentarius  in  den  eng¬ 
lischen  Quellen.  Vgl.  noch  Reg.  Worc.  56  a.  James  E.  Thor.  Rogers, 
A  Hist,  of  Agricult.  and  Prices  in  England.  7  Vol.  1866  ff.  1,  469. 
Der  Stellmacher  in  South  Brent  hat  einen  Pflug  und  eine  Egge  aus 
Holz,  das  er  selbst  liefert,  zu  machen ;  außerdem  den  Bauern  bei  der 
Herstellung  ihrer  Wagen  zu  helfen.  Der  Schmied  hat  mit  dem  Stell¬ 
macher  gemeinsam  Pflüge  herzustellen  und  ferner  bestimmte  Pferde 
des  Herrn  (ein  Reitpferd  und  ein  Lastpferd,  einen  „aver“)  mit  Huf¬ 
eisen  zu  versehen ;  geht  ein  Pferd  ein,  so  bekommt  er  dafür  die  Haut 
für  seinen  Blasebalg;  er  hat  endlich  die  Sicheln  der  Mäher  in  der 
Heuernte  zu  schärfen,  wofür  er  in  Chalgrove  einen  Acre  Wiese  erhält. 
In  Winterborne  hat  er  die  Gefäße,  in  denen  der  Käse  bereitet  wird, 
zu  rejDarieren  und  mit  Eisenbändern  zu  versehen.  Dafür  empfängt 
er  ein  Lamm  und  ein  Vließ  und  einen  Käse,  der  vor  Johannistag  ge¬ 
macht  ist,  ingleichen  einen  Napf  voll  Butter  zum  Einscbmieren  seines 
Blasebalgs.  Hone,  73. 

Deutschland:  Die  Hufe,  „quod  pertinet  ad  fabrile  opus“  zahlt 
nur  12  d.,  die  übrigen  zahlen  24  d.  Kopfzins.  Schenkungsbuch  des 
Bischofs  Megingod  zugunsten  der  Kirche  St.  Martini  zu  Münster 
(10.  Jahrhundert)  Mittelrh.  UB.  1,  339. 

Hierher  gehört  wohl  auch  der  Reginhardus  tornator  apud  Veldern 
(bei  Utendorf,  Pinzgau),  der  mit  anderen  kleinen  Gütchen  vom  Grafen 
Chunrad  von  Sulzau  (um  1150/60)  dem  Stifte  Berchtesgaden  aufgegeben 
und  gegen  Abgabepflicht  zu  Lehen  genommen  wird.  Berchtesgadener 
Schenkungsbuch  CXII,  1;  vgl.  F.  V.  Zillner,  Geschichte  der  Stadt 
Salzburg  2  (1890),  154. 

Frankreich:  „Mansi  unde  opera  carpentaria  exeunt;“  Urkunde 
von  682  Cart.  de  St.  Bertin.  Cart.  Folquini  Nr.  9.  „praeter  illam 
terram  unde  opera  carpentaria  exeunt“:  Urkunde  von  721  ib.  Nr.  27. 

Daneben  werden  natürlich  auch  von  den  auf  dem  Gute  an¬ 
sässigen,  wie  wir  sagen  würden  „Gutshandwerkern“  Arbeiten 
gleicher  Art  ausgeführt  worden  sein.  Sehr  häufig  begegnen 


86 


Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 


wir  auf  den  Herrenhöfen  dem  Gutsschmied  und  Guts- 
stellmacher1. 

Aber  auch  Böttcherei  scheint  auf  dem  Herrenhofe  betrieben 
worden  zu  sein.  Darauf  läßt  die  Verpflichtung  mancher  Bauern 
zur  Lieferung  von  Faßdauben  und  Faßreifen  schließen.  Ich  denke, 
das  war  der  Fall  'auf  denjenigen  Grundherrschaften ,  die  viel 
Weinbau  trieben.  Hier  gehörte  natürlich  zum  Küfereibetriebe 
auch  die  Anfertigung  der  „vasa  magna  ad  vindemiam  valde 
necessaria  que  appellantur  rbuden5  “ 2. 

Sollten  die  genannten  Gewerbe  ohne  Störung  betrieben 
werden,  sei  es  von  den  Bauern,  sei  es  von  den  Gutsleuten,  so 
mußten  die  erforderlichen  Rohstoffe  und  Halbfabrikate  vorhanden 
sein.  Deren  Beschaffung  machte  nun  keine  Schwierigkeiten,  wenn 
es  sich  um  Holz  oder  Ton  oder  Lehm  handelte.  Ganz  eine  andere 
Sache  aber  war  es,  wo  Eisen  verarbeitet  wurde.  Hier  lag  ein 
schwieriges  Problem  vor,  wie  man  zu  diesem  Materiale  gelangen 
könnte.  Das  Problem  wurde  in  dreifach  verschiedener  Weise  gelöst. 

Entweder  der  Grundherr  kaufte  das  nötige  Eisen  auf  den 
Märkten.  Dieser  Fall  geht  uns  hier  nichts  an. 

Oder  er  legte  selbst  ein  kleines  Eisenwerk  auf  seinem  Grund 
und  Boden  an3. 

Oder  (davon  sprechen  die  Quellen  am  häufigsten)  er  legte  die 
Eisenlieferung  seinen  Bauern  als  Zinsverpflichtung  auf.  Das  konnte 
er  natürlich  nur,  wenn  in  der  Gegend  Raseneisenstein  gefunden 
wurde,  den  die  Leute  auf  primitivste  Art  zu  Eisen  verarbeiteten 4. 

1  Im  Kloster  Corbie  finden  wir  a.  822  nicht  weniger  als  sechs  Grob¬ 
schmiede,  zwei  Goldschmiede,  zwei  Schildmacher,  vier  Stellmacher. 

Von  den  angelsächsischen  Grundherrn  erfahren  wir,  daß  sie  mit 
ihrem  „Schmiede“  auf  die  Reise  gehen.  War  das  ein  Waffenschmied? 
der  Schildknappe?  eine  Art  „Büchsenspanner“?  Siehe  die  Ines  dö- 
mas  §  63;  die  Adelbirthes  dömas  §  7,  die  Gespräche  und  die  leges 
Edwardi  conf.  (21),  auf  die  H.  Leo  in  der  Einleitung  zu  seiner  Aus¬ 
gabe  der  Reet.  (1842)  S.  132  hinweist.  Bemerkenswert  ist,  daß  alle 
„Handwerker“  angelsächsisch  „Smidas“  heißen,  wie  im  Altnordischen 
sogar  der  Schuster  „sko-smidr“  benamst  wird. 

2  Glosse  des  Cesarius  1.  c.  p.  145.  Vgl.  die  Stellen  im  Mittelrh. 
UB.  1,  144  ff.  in  Pol.  d’Irm.  und  Pol.  Rem.  bei  Guörard,  1.  c. 
§  392,  2,  288. 

3  Dem  Kloster  Lorsch  schenkt  jemand  „tertiam  partem  de  sua 
mina  ad  faciendum  ferrum“  Cod.  Laur.  n.  3701.  t.  III  p.  239.  Vgl. 
auch  die  Stellen  im  MRh.  UB.  Bd.  2,  die  sich  auf  das  Trierer  Erz¬ 
stift  beziehen. 

4  Sämtliche  Pol.,  die  Guerard  ediert  und  kommentiert  hat,  enthalten 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronhofwirtschaft 


87 


Das  Eisen  wurde  dann  -weiter  an  die  zu  Schmiedearbeiten 
verpflichteten  Bauern  gegeben,  wenn  es  nicht  in  den  "Werk¬ 
stätten  der  Gutsschmiede  seine  Verwendung  fand* 1.  Dasselbe 
galt  von  der  zum  Schmiedeprozeß  erforderlichen  (Holz-)Kohle, 
die  wohl  Köhlerhufen  zu  liefern  hatten. 

*  * 

«.u 

So  etwa  gestaltete  sich  das  gewerbliche  Leben  auf  den  Grund¬ 
herrschaften  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle.  Es  weist,  glaube 
ich,  während  der  langen  Zeit  von  der  Bildung  der  Grundherr¬ 
schaften  an  bis  tief  ins  Mittelalter  —  bis  ins  12.  und  13.  Jahr¬ 
hundert  —  nur  unwesentliche  Veränderungen  auf.  Von  einer 
„Auflösung“  etwa  vorhandener  großer  Wirtschaftsbetriebe  auf 
den  Gütern  ist,  soviel  ich  sehe,  nirgends  die  Rede.  Diese  Be¬ 
triebe  haben  außer  vielleicht  auf  ein  paar  königlichen  Domänen 
und  ganz  wenigen  großen  Klöstern  nirgends  in  Wirklichkeit 
bestanden.  In  der  Regel  handelte  es  sich  immer  um  eine  kleine 
Guts  Wirtschaft ,  die  auch  gewerbliche  Tätigkeit  einschloß,  und 
die  in  ihrem  wesentlichen  Inhalt,  ich  möchte  sagen,  bis  in 
unsere  Zeit,  kaum  umgestaltet  ist.  Neben  ihr  entwickelten  sich 
unter  dem  Einfluß  der  Grundherrschaft  im  Dorfe  die  Keime 
eines  selbständigen  gewerblichen  Lebens,  das  sich  (wie  wir  sehen 
werden)  allmählich  zu  Städten  verdichtete. 

Hier  soll  einstweilen  nur  noch  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  die  primitive  gewerbliche  Tätigkeit,  wie  sie  als  Regel  auf 
den  Grundherrschaften  geübt  wurde,  sich  an  einigen  Stellen 
schon  während  des  frühen  Mittelalters  zu  hohen  kunstgewerb¬ 
lichen  Leistungen  steigerte. 

Man  weiß,  daß  die  Klöster  deren  Sitz  waren;  daß  kunst¬ 
sinnige  und  fleißige  Mönche  recht  eigentlich  die  Erhalter  und 
Vermehrer  der  alten  römischen  gewerblichen  Techniken  sind. 
Sie  waren  die  Baukünstler  jener  Zeit;  sie  pflegten  die  Glas- 

Eisenlieferung  als  bäuerliche  Zinspflicht.  Ebenso  der  Cod.  Laur. 
(Lorsch)  n.  3881,  der  Cod.  Fuld.  bei  Schannat,  das  Urbar  S.  Emmeran. 
Auch  dem  Grafen  Siboto  von  Falkenstein  wird  Eisen  gezinst.  Cod. 
Falk,  in  Drei  bayer.  Trad. Büchern  aus  dem  12.  Jahrh.  (1880)  S.  XXIV. 
Gleiche  Abgabe  im  Inventar  von  S.  Julia  in  Brescia:  Cod.  dipl.  Lang. 
No.  419.  p.  716.  712.  Kloster  Bobbio:  Hartmann,  Zur  W.G.  64 
und  86. 

1  „N  .  .  .  facit  ferra  carrucarum  et  Prior  inveniet  ei  ferrum  et 
carbonem  .  .  .“  Reg.  Worc.  56a  bei  Rogers,  Hist.  1,  469. 
„Faber  .  .  .  carbones  inveniet“,  zit.  bei  Seebohm,  1.  c.  p.  70. 


88  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

malerei,  die  Emailliererei ,  die  Ziselierkunst,  die  Juwelierkunst, 
den  Orgelbau,  die  Kunstweberei 4,  die  Goldschlägerei  und  Gold¬ 
spinnerei 1  2.  Und  mit  den  Mönchen  wetteiferten  kunstsinnige 
Kirchenftirsten  wie  der  Abt  Bernwardl  der  spätere  Bischof  von 
Hildesheim. 

Er  selbst  war  in  viel  Kunst  'bewandert :  nec  aliquid  artis  erat  quod 
non  attentarit  .  .  und  errichtete  in  seinem  Palaste  Werkstätten,  wo 
zahlreiche  Arbeiter  die  Metalle  bearbeiteten :  er  selbst  besichtigt  sie 
alle  Tage :  „inde  officinas,  ubi  diversi  usus  metalla  fiebant,  circumiens, 
singulorum  opera  librabat“  Tangmarus ,  Yita  S.  Bernardi  zit.  bei 
J.  Labarte,  Histoire  des  arts  industriels  au  moyen  age  etc.  4  Vol. 
1864—1866.  1,  146. 

Aber  auch  auf  mancher  weltlichen  Grundherrschaft  mag  das 
Kunstgewerbe  geblüht  haben.  So  wird  uns  erzählt  von  der  kunst¬ 
reichen  Tochter  Wichmanns,  des  Grafen  des  Gaues  Hamalant, 
daß  sie  in  der  Verfertigung  kostbarer  Kleider  fast  alle  Frauen 
ihres  Landes  übertroffen  habe.  Sie  verfügte  über  eine  Schar 
geschickter  Gehilfinnen,  die  sie  sich  herangezogen  hatte3 4.  So 
hören  wir  von  Seidenwebereien,  die  die  normannischen  Könige 
in  Sizilien  unterhielten  (12.  Jahrhundert)4. 

3.  Der  Gütertransport 

Ebenso  wie  die  landwirtschaftliche  und  die  gewerbliche 
Tätigkeit  war  von  den  Grundherren  auch  der  Transport  zu 

1  Gegen  985  existierte  im  Kloster  von  St.  Florent  de  Saumur  eine 
‘Manufaktur’,  in  der  die  Mönche  webten  „des  tapisseries  ornees  de 
fleurs  et  de  figures  d’animaux“ ;  1025  findet  man  in  Poitiers  eine  ähn¬ 
liche  Anstalt.  F.  Michel,  Recherches  sur  les  etoffes  de  soie  1 
(1852),  71. 

2  Siehe  den  in  der  Kathedrale  von  Lucca  gefundenen  technischen 
Traktat,  den  Muratori  in  den  Antiquit,  II,  365 — 388  veröffentlicht 
hat.  Z.  T.  a’bgedruckt  bei  Fagniez,  Doc.  No.  94.  Noch  im 
13.  Jahrh.  blüht  die  Goldschmiedekunst  in  den  englischen  (S.  Alban!) 
und  französischen  Klöstern:  Belege  bei  H.  Baudrillart,  Hist,  du 
Luxe  3 2  (1881),  188  f. 

3  scimus,  eam  .  .  „numerosas  cubicularias  ad  varietatem  textrilium 
rerum  instructas  habere  et  in  preciosis  vestibus  conficiendis  pene 
omnes  nostrarum  regionum  mulieres  superare“  Alpertus  von  Metz 
MG.  SS.  3,  702. 

4  „nec  vero  nobiles  illas  palatio  adhaerentes  silentio  praeteriri 
convenit  officinas,  ubi  in  fila  variis  distincta  coloribus  serum  vellera 
tenuantur“  Hugonis  Falc.  Hist.  Sic.  zit.  bei  F.  Michel,  1.  c.  p.  81/82. 
Dieses  eigenwirtschaftlich  organisierte  Kunstgewerbe  grundsätzlich  zu 
würdigen,  habe  ich  versucht  in  meiner  Schrift:  Kunstgewerbe  und 
Kultur  (1908),  19  ff. 


Siebentes  Kapitel:  Die  Fronliofwirtschaft 


89 


Wasser  und  zu  Lande  auf  der  Unterlage  der -.Fronpflichtigkeit 
organisiert  und  zur  Entwicklung  gebracht  worden.  Ja  —  für 
ihn  galt,  daß  er  oft  von  den  Grundherren  als  besondere  wirt¬ 
schaftliche  Funktion  erst  geschaffen  werden  mußte.  Die  Güter¬ 
produktion  kannte  man,  wenn  auch  in  wesentlich  einfacherer 
Form,  auch  schon  vor  der  grundherrschaftlichen  Organisation 
der  Wirtschaft.  Der  ortsferne  Gütertransport  dagegen  hat  im 
Rahmen  der  urwüchsigen  Bauernwirtschaft  keinen  Platz,  da  alle 
Güter  an  Ort  und  Stelle,  wo  sie  erzeugt  waren,  auch  zum  Ver¬ 
zehr  gelangten.  Erst  auf  den  Grundherrschaften  mit  ihren  oft 
weit  auseinander  gelegenen  Besitzungen  entstand  die  Notwendig¬ 
keit  .eines  interlokalen  Gütertransports,  und  damit  nebenbei  be¬ 
merkt,  wie  schon  Meitzen  richtig  hervorgehoben  hat,  die  Not¬ 
wendigkeit,  ein  Wegenetz  zwischen  den  einzelnen  Ortschaften 
zu  entwickeln.  Die  erforderlich  werdenden  Transportleistungen 
wurden  nun,  wie  gesagt,  einzelnen  Bauern  als  Fron  auferlegt, 
die  dadurch  den  Anstoß  erhielten,  sich  zu  berufsmäßigen  Schiffern 
oder  Kärrnern  auszubilden,  denen  wir  dann,  in  der  nächsten 
Wirtschaftsepoche,  im  Rahmen  der  tau  sch  wirtschaftlichen  Organi¬ 
sation  begegnen.  Hier  seien  nur  noch  einige  Quellenstellen  nam¬ 
haft  gemacht,  aus  denen  die  Transportfron  ersichtlich  ist. 

Tn  den  französischen  Urbaren  finden  sich  als  Fron  die  Ver¬ 
pflichtung  : 

1.  Wagen  zu  stellen,  um  Getreide  und  Wein  usw.  zu  transportieren; 

2.  Pferde  für  Reisezwecke  zu  stellen; 

3.  Schiffe  zu  stellen,  wo  der  Transport  zu  Wasser  erfolgen  muß. 

Die  Belege  siehe  bei  Guerard  in  den  Prolog,  zum  Pol.  d’Irm. 

§§  411  ff. 

Deutschland:  „Navigium  facit,“  „scaram  facit  cum  nave,“  „scaram 
debet  facere  in  navi  usque  ad  Covelenze  vel  quantum  in  IV  diebus  possunt 
ambulare“  und  ähnlich  lauten  die  Formeln  im  Reg.  Prum.  Von  den 
120  Fronhöfen,  die  das  Kloster  besaß,  leisteten  30  die  Cscarac,  das  ist 
eben  die  Transportfron.  Nach  der  Zusammenstellung  bei  Imbart 
de  la  Tour,  Des  immunites  commerciales  accordes  aux  eglises  in 
den  Etudes  .  .  .  dediees  ä  Gabr.  Monod'  (1896),  p.  77  ff.  Im  Cod. 
Laur.  Nr.  3671  heißt  es:  „item  serviles  hubae  XXX,  quarum  una- 
quaeque  servit,  sicut  ei  praecipitur,  cum  navi  et  aliis  instrumentis“  ; 
oder:  „octava  [mansa  servilis]  non  solvit  sed  navigat“  ib.  Nr.  3660. 

Im  Cod.  Wiz.  (ed.  Zeuss,  277):  „unusquisque  ...  cum  navi  per 
ordinem  pergere  (debet)  aut  ad  frankenvort  aut  ad  lidrichesheim“ ; 

et  illi  XIII  .  .  .  qui  vinum  solvunt  cum  suis  carris  infra  magonciam 
et  wormaciam  et  frankenvort  pergere  debent“  :  ib.  p.  278.  Ebenso  gab 
es  eine  Fährdienstfron:  Lacomblet,  UB.  1,  95,  Nr.  153. 

Italien:  Auf  den  Besitzungen  des  Klosters  Bobbio  müssen  dieMassarii 
von  Sorlasco:  „colligere  olivas  in  Garda  et  trahere  oleum  et  ferrum  cum 


90  Zweiter  Abschnitt:  Das  eigenwirtschaftliche  Zeitalter 

annona  dominica  de  Sorlasco  usque  Placentia“,  das  lieißt  von  einer 
Besitzung  des  Klosters  zur  anderen.  Siehe  L.  M.  Hart  mann,  Zur 
Wirtschaftsgeschichte  Italiens,  S.  86,  und  die  Tabelle  im  Anhang  V, 
Nr.  55. 

England:  „et  idem,  faciet  averagium  apud  BristolT  et  apud  Wellias 
per  totum  annum  et  apud  Pridie  et  post  hokeday  apud  Brugge- 
wauter  cum  affro  suo  ducente  bladum  domini ,  caseum  et  lanam  et 
cetera  omnia  quae  sibi  serviens  praecipere  voluerint  ...  Et  debet 
facere  averagium  apud  Axebrugge  aut  ad  navem  quotiens  dominus 
voluerit  .  .  .  Proceedings  of  Archaeol.  Inst.  Salisbury,  p.  203.  App. 
to  Notice  of  the  Custumal  of  Bleadon,  p.  182 — 210.  Zit.  bei  See- 
b o hm ,  S.  57. 


91 


Dritter  Abschnitt 

•  • 

Das  Ubergangszeitalter 

Achtes  Kapitel 

Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 

Literatur  und  Quellen 

Zu  I.:  Als  erster  hat  wohl  K.  Andree,  Geographie  des  Welt¬ 
handels  1  (1867),  23  ff. ,  im  Zusammenhang  den  „stummen  Handel“ 
dargestellt.  Grundlegend  für  die  meisten  späteren  Arbeiten  sind 
0.  Schräders  Linguistisch-historische  Forschungen  zur  Handels¬ 
geschichte  und  Warenkunde.  1886.  Frappante  Aufschlüsse  hat  dann 
die  Hereinziehung  des.  von  den  Reisenden  aus  primitiven  Kulturen 
beigebrachten  Beobachtungsmaterials  geliefert.  Es  ist  urteilsvoll  zu¬ 
sammengestellt  in  den  Arbeiten  von  Jos.  Kulischer,  deren  eine 
in  deutscher  Sprache  veröffentlichte  (Zur  Entwicklungsgeschichte  des 
Kapitalzinses,  in  den  Jahrbüchern  für  NÖ.  III.  F.  Bd.  XVIII, 
S.  305  ff.)  die  Ergebnisse  der  früheren  Studien  zusammenfaßt. 
Wertvoll  ist  auch  der  Beitrag  von  Sartorius  von  Waltershausen, 
Entstehung  des  Tauschhandels  in  Polynesien  in  der  Zeitschrift  für 
Soz.-  und  W.geschichte  Bd.  IV  S.  1  ff.  Dasselbe  gilt  von  der  gründ¬ 
lichen  Bearbeitung  des  Gegenstandes  durch  M.  Pantaleon!,  L’origine 
del  baratto :  A  proposito  di  un  nuovo  studio  del  Cognetti  im  Giornale 
pegli  Economisti.  Ser.  II  a.  Vol.  XVIII.  XIX.  XX.  (1899.  1900). 

Zu  II.:  Um  die  Tatsache  eines  kontinuierlichen  Tausch¬ 
verkehrs  während  des  frühen  Mittelalters  festzustellen,  besitzen  wir 
ein  hinreichendes  Quellenmateriah  Siehe  A.  Schulte,  Geschichte 
des  mittelalterlichen  Handels  und  Verkehrs  etc.,  2  Bände  1900  und  die 
daselbst  auf  S.  69  in  Anm.  1  genannten  Werke.  Ich  füge 
von  wichtigeren  Erscheinungen  der  letzten  Jahre  hinzu :  W.  Varges, 
Der  deutsche  Handel  von  der  Urzeit  bis  zur  Entstehung  des  Franken¬ 
reichs.  Progr.  Ruhrort  1903.  Alex.  Bugge,  Die  nordeuropäischen 
Verkehrswege  im  frühen  Mittelalter  etc.  in  der  Vierteljahrsschrift  für 
Soc.  und  W.  G.  Bd.  IV  (1906)  S.  227,  277.  Ad.  Schaube,  Handele- 
geschichte  der  romanischen  Völker  des  Mittelmeergebiets  bis  zum  Ende 
der  Kreuzzüge.  1906.  Alf.  Dopsch,  Die  W.entwicklung  der  Karo¬ 
linger  2  (1913),  180  ff. 


92  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

Leider  fehlt  den  meisten  Geschichtsschreibern  des  Handels  die 
nötige  national-ökonomische  Schulung,  so  daß  man  mehr  als  die  Tat¬ 
sache  der  Handelsakte  selten  aus  den  Büchern  erfährt.  Aber  auch 
um  diese  festzustellen,  geht  es  ohne  genaue  Kenntnis  der  wirtschaft¬ 
lichen  Welt  nicht  ab.  So  begegnen  wir  nur  allzuhäufig  einer  falschen 
Deutung  an  sich  für  die  Handelsgeschichte  wertvoller  Symptome,  wie 
z.  B.  der  Zolltarife.  Gewiß  ist  ein  Zolltarif  ein  wichtiger  Anhalts¬ 
punkt,  um  die  Güterbewegung,  ,die  Art  der  bewegten  Güter  etc.  zu 
ermitteln.  Nur  darf  man  nicht  aus  der  Tatsache  eines  Zolltarifs  immer 
schon  auf  das  Vorhandensein  eines  Tauschverkehrs,  geschweige  denn 
eines  berufsmäßigen  Waren h an  d  el  s  schließen.  Die  Quellen  belehren 
uns,  daß  Zölle  auch  von  denjenigen  Gütern  erhoben  wurden,  die  (ohne 
irgendwie  ausgetauscht  oder  gar  gehandelt  zu  werden)  innerhalb  der 
grundherrlichen  Eigenwirtschaften  transloziert  wurden.  So  vermerkt 
z.  B.  das  Kap.  von  805  in  §  13  (MG.  LL.  Ia,  134)  ausdrücklich,  daß 
kein  Zoll  erhoben  werden  soll,  wenn  die  Leute:  „sine  negotiandi 
causa  substantiam  suam  de  uno  domo  suo  in  aliam  ducunt  aut  ad 
palatiam  aut  ad  exercitium.“  Also  werden  wohl  in  anderen  Fällen  auch 
diese  Güter  verzollt  worden  sein.  —  Andererseits  können  Zolltarife 
geradezu  ein  Beweis  sein  für  die  Verbreitung  nicht-tauschwirtschaft¬ 
licher  Organisation,  dann  nämlich,  wenn  die  kraft  seiner  erhobenen  Zölle 
Naturalzölle  sind.  Diese  spielen  während  des  ganzen  früheren 
Mittelalters  eine  große  Rolle.  Siehe  für  das  8.  Jahrhundert  J.  M. 
Pardessus,  Diplom,  etc.  2  Vol.  1843/45,  2,  501  (Zölle  für  Corbie) ; 
für  das  9.  Jahrhundert  die  Leges  portoriae  in  MG.  LL.  3,  480;  ferner 
etwa  noch  die  Charta  Bosonis  de  Monasterio  Dervensi  im  App.  zum 
Pol.  dTrm.  p.  347  (Salzzölle);  L.  M.  Hart  mann,  Zur  Wirtschafts¬ 
geschichte  It.  77  (Zölle  in  Salz,  Pfeifer,  Zimmt,  Leim  etc.  auf  dem 
Po);  für  das  10.  Jahrhundert  die  Naturalzölle,  die  auf  den  Alpen¬ 
straßen  erhoben  wurden,  bei  Schulte,  1,  68;  aber  auch  noch  für 
das  11.  Jahrhundert,  die  Zeit  Heinrichs  IV.,  die  Zollrolle  für  Koblenz, 
in  der  eherne  Kessel,  metallene  Becken,  Wein,  Käse,  Ziegenfelle, 
Bocksfelle,  Pische,  Wachs,  Schwerter  als  Zölle  erhoben  wurden. 
Mrh.  TJB,  9,  409. 


I.  Die  Tauschwirtschaft  und  ihre  Entstehung 

überhaupt 

Eine  tauschwirtschaftliche  (oder  verkehrswirtschaftliche) 
Organisation  ist  überall  dort  vorhanden,  wo  der  Güterbedarf 
mehrerer  Wirtschaften  in  der  Weise  gedeckt  wird,  daß  die  eine 
Wirtschaft  Erzeugnisse  der  anderen  Wirtschaft  freiwillig  gegen 
Hingabe  eines  Äquivalents  hereinnimmt  und  zum  Verzehr  bringt. 
Sie  schließt  praktisch  alle  Wirts chafts Verfassungen  ein,  die  nicht 
grundsätzlich  Eigenwirtschaften  sind.  Sie  kann  ebensogut  auf 
dem  Naturaltausch  wie  auf  dem  Tausch  unter  Vermittelung  des 
Geldes  beruhen,  das  heißt  Natural-  oder  „Geld “Wirtschaft  sein; 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


98 


sie  kann  auf  handwerksmäßiger  oder  kapitalistischer  Grundlage 
sich  aufbauen. 

Es  gab  eine  Zeit:  da  glaubte  man,  Wirtschaften  und  Tauschen 
seien  synonym:  die  Menschheit  habe  ihre  Entwicklung  von  den 
Vorgängen  des  Tausch ens  genommen;  Tauschverkehr  sei  ein 
Bestandteil  aller  menschlichen  Wirtschaft,  gleich  wie  Produktion 
oder  Konsumtion ;  sei  (wie  wir  es  heute  nennen)  keine  historisch¬ 
ökonomische  ,  sondern  eine  elementar  -  ökonomische  Kategorie. 
Wir  wissen  jetzt,  daß  ungefähr  das  Gegenteil  richtig  ist:  daß 
die  Menschheit  wahrscheinlich  erst  verhältnismäßig  spät  den 
Tauschverkehr  entwickelt  hat,  daß  es  jedenfalls  eines  lang¬ 
wierigen  Erziehungsprozesses  bedurft  hat,  ehe  sich  die  Menschen 
daran  gewöhnten,  mit  anderen  etwas  „auszutauschen“,  das  heißt 
also  vor  allem:  ehe  sie  das  Mißtrauen  verloren:  der  andere 
(Fremde !)  könne  sie  mit  seiner  Gegengabe  betrügen  wollen. 
„Wer  Lust  zum  Tauschen,  hat  auch  Lust  zum  Betrügen“,  gilt 
noch  heute  unter  unseren  Kindern1.  Wir  kennen  aber  auch  die 
Formen,  in  denen  sich  diese  Erziehung  zum  Tauschverkehr  voll¬ 
zogen  hat:  wenn  anders  wir  aus  den  Sitten  der  heute  oder  bis 
vor  Kurzem  lebenden  Naturvölker  auf  Einrichtungen  der  Urzeit 
schließen  dürfen.  Dann  würde  die  eigentümliche  Form  der  so¬ 
genannte  stumme  Tauschhandel  gewesen  sein,  wie  ihn  uns 
Herodot  schon  beschreibt  als  eine  Erfahrung,  die  ihm  die 
Karthager  mitgeteilt  haben,  und  wie  er  in  unserer  Zeit  im  Ver¬ 
kehr  mit  zahlreichen  Naturvölkern  übereinstimmend  beobachtet 
worden  ist;  sei  es,  daß  diese  untereinander  Güter  austauschten, 
sei  es,  daß  sie  mit  Europäern  in  Tauschverkehr  treten  wollten. 

JT.  Die  Entfaltung  der  Tauschwirtschaft  im 
europäischen  Mittelalter 

Von  einer  „Entstehung  der  Tauschwirtschaft“  in  dem  ursprüng¬ 
lichen  Sinne  kann  nun  bei  den  europäischen  Völkern  in  ihrer 
geschichtlichen  Zeit  keine  Bede  sein.  Nur  von  einzelnen 
Stämmen  im  äußersten  Nordosten  Europas  (an  der  sibirischen 


1  Im  europäischen  Mittelalter  ist  dieses  Mißtrauen  bei  den  neu  in 
die  Geschichte  eintretenden  Naturvölkern  rascher  besiegt  worden  in 
dem  Maße,  als  sie  mit  höheren  Kulturen  plötzlich  durchsetzt  wurden. 
Es  findet  gleichwohl  noch  seinen  Ausdruck  in  dem  kunstvollen  Systeme 
des  Eremdenrechts,  das  nichts  anderes  als  eine  Summe  von  Schutz¬ 
maßregeln  der  Genossen  gegen  gefürchtete  Übergriffe  der  Stammes- 
(Stadt-)fremden  darstellt. 


94 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Grenze)  erfahren  wir,  daß  sie  sich  der  Form  des  „stummen 
Handels“  im  Verkehr  mit  den  westlichen  Händlern  bedient 
haben  b  Im  übrigen  dürfen  wir  mit  Sicherheit  annehmen ,  daß 
die  drei  größten  Völker,  Kelten,  Slawen  und  Germanen,  seit  wir 
von  ihnen  Kunde  haben,  sich  bereits  an  den  Gütertausch,  auch 
unter  Vermittlung  des  Gelder,  gewöhnt  hatten1 2,  während  selbst¬ 
verständlich  im  Gebiete  der  römischen  Kultur  ein  hochentwickelter, 
Jahrhunderte  alter  Tauschverkehr  bestand,  als  die  nordischen 
Völker  sich  auf  ihm  nie  der  ließen3. 

Freilich  vollzog  sich  schon  während  der  römischen  Kaiser¬ 
zeit  eine  starke  Rückbildung  in  eigenwirtschaftliche  Zustände4, 
die  sich  wohl  jahrhundertelang  nach  dem  Untergang  des  Römi¬ 
schen  Reiches  fortsetzte,  bis  sie  zwischen  dem  8.  und  10.  Jahr¬ 
hundert  ihren  äußersten  Punkt  erreichte5-  Trotzdem  haben  zu 
allen  Zeiten  während  des  Mittelalters  mehr  oder  minder  starke 
tauschwirtschaftliche  Beziehungen  bestanden,  ist  in  allen  Jahr¬ 
hunderten  die  Eigenwirtschaft  durch  Kauf  und  Verkauf  von 

1  Nach  arabischen  Quellen.  Siehe  Georg  Jacob,  Der  nordisch¬ 
baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter  (1897),  S.  124. 

2  Wenn  wir  den  Erzählungen  Diodors  (5,  22  §§  1,  2)  Glauben 
schenken  wollen,  so  hätten  die  Stämme,  die  in  der  sogenannten 
jüngeren  Steinzeit  (1500 — 1000  v.  Chr.)  Großbritanniens  und  West¬ 
deutschlands  Küsten  bewohnten,  schon  „Handel“  (mit  Zinn  und  Bern¬ 
stein)  getrieben.  Varges,  a.  a.  O.  S.  7  ff.  Über  den  „Handels¬ 
verkehr“  der  germanischen  Stämme  in  den  Anfängen  der  historischen 
Zeit  spricht  Varges,  a.  a.  O.  S.  24  ff.  Vgl.  dazu  die  allgemeinen 
Werke  über  die  primitive  Kultur  der  europäischen  Völker. 

3  Ich  denke ,  immer  noch  das  beste  Gesamtbild  auch  von  der 
wirtschaftlichen  Kultur  der  römischen  Kaiserzeit  bietet  uns  Ludw. 
Friedländer  in  seinen  Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms, 
7.  Aufl.  1901,  dar.  Der  Streit  Bücher-Meyer  hat  keine  neuen  Er¬ 
kenntnisse  zutage  gefördert 

4  Siehe  Max  Weber,  Römische  Agrargeschichte  (1891)  S.  262ff. 

6  Man  kann  zweifelig  sein,  ob  nach  den  Zügen  der  Longobarden 

und  Sarazenen,  also  etwa  im  8.,  oder  erst  nach  den  Einfällen  und 
Plünderungen  der  Ungarn,  also  in  der  zweiten  Hälfte  des  10.  Jahr¬ 
hunderts  die  tauschwirtschaftliche  Organisation  am  weitesten  zurück¬ 
gedrängt  sei.  Ad.  Schaube  nimmt  für  die  Mittelmeervölker  als  diesen 
Punkt  das  10.  Jahrhundert  an  (Handelsgeschichte  der  rom.  Völker 
1906).  Ich  sehe  in  den  beiden  Jahrhunderten  keine  wesentlichen 
Veränderungen.  Beachtung  verdient  auch  der  Umstand,  daß  die  Geld¬ 
menge  in  Europa,  namentlich  in  Deutschland,  bis  zum  Schluß  der 
Karolingerzeit  beständig  abnimmt  und  daß  erst  unter  Otto  I.  eine 
Steigerung  der  Edelmetallproduktion  einsetzt.  Siehe  die  Darstellung 
auf  Seite  104  ff. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  95 

Leistungen  und  Gütern  ergänzt  worden1.  Wenn  ich  also  die 
Zeit  etwa  bis  zum  Ablauf  des  ersten  Jahrtausends  unserer 
Zeitrechnung  als  Zeitalter  der  Eigenwirtschaft  bezeichne,  so  ist 
das  in  dem  Sinne  zu  verstehen,  den  ich  in  der  Einleitung  diesem 
Sprachgebrauche  beigelegt  habe.  Es  soll  heißen,  daß  die  Wirt¬ 
schaftsführung  grundsätzlich  auf  das  Prinzip  der  Eigenwirtschaft 
ausgerichtet  war,  daß  diese  die  regulative  Idee  der  Wirtschaft, 
ihren  Geist  darstellte ,  das  heißt :  daß  das  Streben  der  Wirt¬ 
schaftssubjekte  zunächst  auf  die  Deckung  des  Bedarfs  in  der 
eigenen  Wirtschaft  gerichtet  war ,  daß  der  Tausch  mit  anderen 
Wirtschaften  die  sekundäre  Erscheinung  bildete ,  die  nicht  im¬ 
stande  war ,  den  Gesamtcharakter  der  Wirtschaftsführung  zu 
ändern. 

Ich  habe  demgemäß  die  Überschrift  dieses  Kapitels  gewählt. 
Nicht  von  der  Entstehung  der  Tauschwirtschaft  im  europäischen 
Mittelalter  kann  hier  die  Rede  sein,  sondern  immer  nur  von 
deren  Neubelebung,  deren  Entfaltung.  Die  Keime  sind  vor¬ 
handen.  Nun  verfolgen  wir,  wie  sie  sich  zu  der  kräftigen  Pflanze 
entfalten,  die  schon  im  13.  und  14.  Jahrhundert  vor  uns  steht. 

Zu  denjenigen  Kräften,  die  beständig  auf  eine  Erweiterung 
des  Tauschverkehrs  hindrängten,  gehörte 

1.  die  Berufshändlerschaft,  die  Europa  vom  Orient 
aus  heimsuchte,  sei  es,  um  namentlich  im  Norden  und  Osten 
Europas  wertvolle  Landeserzeugnisse  einzuhandeln  als  Bernstein, 
kostbare  Felle 2  usw.,  sei  es,  um  die  Erzeugnisse  des  Orients 
(Schmuck,  Gewänder  usw.)  loszuwerden  (wovon  noch  zu  sprechen 
sein  wird).  Wir  dürfen  eben  nie  vergessen,  wenn  wir  den  Gang 
des  europäischen  Lebens  im  Mittelalter  verfolgen,  daß  im  Osten 
Byzanz  und  Bagdad  lagen :  zwei  Zentren  höchster  Kultur ,  von 
denen  Einwirkungen  auf  das  „barbarische  oder  in  „Barbarei 
versunkene  Europa  ausgingen,  die  wohl  manchen  Ziig  gemein 
hatten  mit  denen,  die  heute  aus  unsern  Kulturzentren  sich  wieder 

1  Nicht  der  grundherrliche  Haushalt,  aber  auch  nicht  die  bauei- 
liche  Wirtschaft  ist  vollkommen  abgeschlossen  gewesen.“  v.  Below, 
Der  deutsche  Staat  des  Mittelalters  (1914),  127. 

2  Der  Handel  mit  diesen  östlichen  Gebieten  wird  stark  aktiv  zu 
deren  Gunsten  sich  gestaltet  haben.  Darauf  läßt  —  meines  Erachtens  - 
vor  allem  die  große  Menge  in  Masse  gefundener  arabischer  Münzen 
schließen.  Die  Verkäufer  der  Pelze  etc.  kauften  den  arabischen 
Händlern  nichts  ab  und  wurden  deshalb  in  bar  bezahlt.  Die  Münzen 
vergruben  sie  oder  benutzten  sie  als  Schmuck.  Siehe  Jacob,  a.  a.  0. 
S.  59  ff. 


96 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


zurück  nach  dem  Osten  oder  in  die  Giebiete  afrikanischer  oder 
asiatischer  Naturvölker  wenden. 

2.  Daneben  wirkten  im  Stillen  die  Kräfte  weiter,  die  in  jeder 
noch  so  volkstümlich  geordneten  bäuerlichen  Eigenwirt¬ 
schaft  Tendenzen  erwecken  zu  ihrer  Umbildung  in  tausch  wirt¬ 
schaftliche  Lebensformen.  Immer  besteht  die  Möglichkeit,  Über¬ 
schüsse  zu  erzeugen ,  die  in  dem  Maße ,  als  die  urwüchsige 
Gremeinschaftsidee  an  Kraft  verliert1,  geeignete  Verkaufs objekte 
darstellen2.  Zu  diesen  im  Falle  besonders  günstiger  Ernte  sich 
einstellenden  Überschüssen  der  Bauernwirtschaften  gesellten  sich 
nun  wohl  immer  häufiger  -ständige  Überschüsse  oder  schon 
besser  Produktionserträge  bestimmter  Spezialitäten ,  deren  Her¬ 
vorbringung  eine  Wirtschaft  dauernd  sich  angelegen  sein  ließ: 
Honig,  Wachs,  Wein,  Gfeflügel  (siehe  den  Hühner-Thorir !). 
Hierher  gehören  denn  auch  die  ,an  unwirtliche  Küsten  ver¬ 
schlagenen  Bauern,  die  sich  auf  den  Fischfang  und  bald  auf  den 
Fischhandel 8  oder  auf  den  Salzhandel4  warfen  und  damit  die 
Entwicklung  der  Tauschwirtschaft  erheblich  förderten. 

Nach  beiden  Richtungen  hin  —  sowohl  was  die  gelegentliche 
Produktion  von  Überschüssen  als  die  von  Spezialitäten  an¬ 
betrifft  —  wird  nun  die  Tendenz  zur  Auflösung  oder  wenigstens 
doch  Einschränkung  der  Eigenwirtschaft  verstärkt  durch  einen 
Prozeß,  der  sich  gerade  in  den  Jahrhunderten,  auf  die  sich  unser 
Interesse  besonders  richtet,  mit  größter  Stetigkeit  vollzieht:  die 
Differenzierung  der  bäuerlichen  Besitzgrößen.  In  dem  Maße 
nämlich,  wie  auf  der  einen  Seite  Gfroßbauernwirtschaften.  mit 
mehr  als  einer  Hufe  sich  bilden,  wächst  die  Wahrscheinlichkeit 
eines  rein  quantitativen  Überschusses  an  Nahrungsmitteln;  in 
dem  Maße  aber,  wie  auf  der  anderen  Seite  der  Besitz  zusammen¬ 
schrumpft  zur  halben  und  viertel  Hufe  oder  gar  zum  Parzellen- 
_ _  • 

1  Siehe,  was  ich  darüber  auf  S.  51  bemerkt  habe. 

2  Aus  einer  Urkunde  vom  Jahre  1168  erfahren  wir  z.  B.,  wie  die 
Beamten  der  Grundherren  im  Monat  August  bei  sämtlichen  Bauern 
herumfragen  mußten,  ob  jemand  verkäuflichen  Wein  habe.  Bei 
Schöpplin,  Alsatia  diplom.  Bd.  I  Nr.  249;  Zit.  von  Kowalewsky, 
3,  289. 

8  Schon  im  9.  Jahrhundert  hat  die  Ausfuhr  getrockneter  Fische 
von  den  Küsten  der  Nordmeere  beträchtliche  Ausdehnung  gewonnen. 
Siehe  Al.  Bugge,  a.  a.  0.  S.  229  ff. 

4  Hauptbeispiele  Commachio  und  Venedig.  Siehe  Hartmann, 
Commachio  und  der  Pohandel  (Zur  Wirtschaftsgeschichte  S.  74  ff.) 
8.  Jahrhundert. 


Achtes  Kapitel :  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  97 

besitz,  stellt  sich  die  Notwendigkeit  ein,  entweder  wertvolle 
landwirtschaftliche  Spezialitäten  zu  erzeugen  (etwa  Bienenzucht 
zu  treiben)  oder  sich  auf  andere  Weise  (etwa  durch  gewerbliche 
Tätigkeit)  einen  Unterhalt  zu  verschaffen.  (Daß  die  an  be¬ 
stimmten  Orten  sich  ausbildenden  Lokalgewerbe  vielfach  die 
Keimzellen  einer  tauschwirtschaftlichen  Organisation  gewesen 
sind ,  läßt  sich  an  mehr  als  einem  Beispiel  sogar  quellenmäßig 
nachweisen).  Wobei  natürlich  die  Bevölkerungsvermehrung  auch 
als  ein  wichtiger  Umstand  in  Rechnung  zu  ziehen  ist. 

3.  Nun  kann  es  aber  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
Herausbildung  der  tauschwirtschaftlichen  Organisation  während 
des  Mittelalters  nicht  annähernd  so  rasch  sich  vollzogen  hätte, 
wie  es  tatsächlich  der  Ball  war,  wenn  nicht  noch  ein  dritter 
Faktor  die  Entwicklung  in  gleicher  Richtung  beeinflußt  hätte : 
die  Grundherrs chaft. 

Die  Wirtschaft  des  Grundherrn  mußte  von  Anfang  ihres  Be- 
Stehens  an  eine  starke  Hinneigung  zu  anderen  Wirtschaften 
haben.  Zunächst  als  Verkäuferin.  Es  war  doch  außerordent¬ 
lich  wahrscheinlich,  daß  die  Größe  der  Konsumwirtschaft,  nament¬ 
lich  bei  den  reichen  Grundherrn,  nicht  im  gleichen  Verhältnis 
wuchs,  wie  der  Besitz  und  damit  die  Naturalabgaben  der  Bauern 
sich  ausweiteten.  Zumal,  wenn  es  sich  bei  diesen  um  Speziali¬ 
täten  handelte.  Da  war  der  Wein,  der  so  reichlich  zuströmte, 
daß  ihn  selbst  ein  geräumiger  Klosterkeller  nicht  mehr  zu  fassen 
vermochte ;  da  war  das  Salz ,  das  die  grundherrlichen  Salinen 
malterweise  lieferten.  Was  sollte  man  mit  ihnen  anfangen?  „Dem 
Kloster  strömte  eine  derartige  Menge  Wein  und  Salz  von  seinen 
Höfen  zu,  daß  es  geradezu  zur  Notwendigkeit  wurde,  das  Über¬ 
flüssige  zu  verkaufen,“  lehrt  uns  wieder  der  treffliche  Cesarius  h 
Weinländer  sehen  -wir  daher  besonders  frühzeitig  in  die  Bahnen 
der  Tauschwirtschaft  einlenken,  zumal  in  ihnen  auch  die  Bauern 
besonders  frühzeitig  Überschußprodukte  in  ihren  Wirtschaften 
erzeugten.  Bereits  im  9.  Jahrhundert  preist  der  lateinische 
Dichter  die  Straßburger,  daß  sie  nicht  allen  heimischen  Wein 
selbst  trinken  müßten ,  da  es  sonst  schlimm  in  der  Stadt  aus- 
sehen  würde  :  der  elsässische  Wein  bildete  bald  einen  Haupt¬ 
bestandteil  des  kölnischen  Handels.  Da  war  die  Wolle,  die 


1  „Antiquitus  tanta  copia  vini  ac  salis  proveniebat  ecclesie  de 
curtibus  nostris  quod  opportebat  quasi  de  necessitate  superflua  (man 
beachte  den  , Geist1 !)  venundare“.  1.  c. 

Sombart,  Der  raodema  Kapitalismus,  I. 


7 


gg  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitaltel1 

namentlich  auf  englischen  Grandherrschaften  seit  jeher  ein 
wichtiges  Erzeugnis  darstellt  \  und  die  natürlich  verkauft  werden 
mußte,  wenn  man  nicht  Spinnerei  und  Weberei  selbst  im  Großen 
betreiben  wollte.  Da  waren  die  Käse.  Was  sollte  der  Graf 
Siboto  von  Ealkenstein,  und  mochte  er  eine  noch  so  stattliche 
Schar  kriegerischer  Dienstmannen  um  sich  versammeln,  mit  9694 
Käsen  im  Jahre  anfangen2,  was  die  Tridentiner  Domherren  gai 
mit  14000  Käs3,  wenn  sie  sie  nicht  zum  Verkauf  brachten ?  Da, 
war  aber  auch  das  Getreide,  das  man  nicht  alles  selbst  zu  Biot 
backen  konnte 4,  auch  wenn  Hunderte  von  Menschen  zu  sättigen 
waren. 

So  wird  es  uns  nicht  in  Erstaunen  versetzen,  wenn  wir  häufig 
von  Bestimmungen  hören,  die  den  Verkauf  der  Überschüsse  in 
der  Fronhofwirtschaft  regeln  sollen. 

Die  Stat.  ant.  des  Klosters  Corbie  (a.  822)  bestimmen :  Die  Zehnten 
der  entfernt  gelegenen  Villen  sollen  nicht  zum  Kloster  gefahren  (sondern 
verkauft?),  von  den  näher  gelegenen  Gütern  jedoch  soll  ein  zweites 
Zehntel  angekauft  werden.  Die  Gartenzehnten  sollen,  wo  es  sich  mit 
Nutzen  bewerkstelligen  läßt,  verkauft  werden:  quae  rationabilitei 
venundari  possunt,  venundentur  aut  contra  denarios  aut  contra  an- 
nona  (!)  et  ad  portarium  deferatur“.  Vom  Viehzehnt  sollen  nur  die 
Schweine  konsumiert  werden:  Dagegen  die  Füllen,  die  Kälber,  die 
Zicklein  sollen  gleich  oder  nach  2  Jahren  verkauft  oder  vertauscht 
werden:  „.  .  portarius  eos  non  servando ,  sed  .  .  venundando  vel 
•  commutando  ad  utilitatem  hospitalis  prout  ratio  docuerit  et  melius 
potuerit,  eos  convertere  studeat“  (App.  zum  Pol.  d  Irm.  2,  325/26, 
332).  Bekannt  sind  die  Preistaxen  für  Getreide  etc,,  die  schon  Karl  M. 


1  Über  die  beträchtliche  Anzahl  von  Weideplätzen  auf  den  Be¬ 
sitzungen  der  Kirche  _S.  Paul  in  London  um  die  Wende  des  12.  Jahr¬ 
hunderts  unterrichten  die  bei  Kowalewsky,  3,  73  mitgeteilten 
Quellen.  Ein  reiches  Material  enthält  der  Aufsatz  von  Rob.  Jowitt 
Whitwell,  English  Monasteries  and  the  Wool  Trade  in  the  13*  Cen¬ 
tury  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Soz.-  und  W.geschichte  2  (1904), 

_ gg 

3  Cod.  Falk.  Introductio  p.  XXVI. 

8  Chr.  Schneller,  Tridentiner  Urbare  aus  dem  13.  Jahrhundert 
(Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte  etc.  Österreichs  und  seiner 
Kronländer  4  [1898],  6). 

4  Ende  des  12.  Jahrhunderts  vereinnahmt  die  Abtei  S.  Pantaleon 
in  Köln  438  Mir.  „tritici“  (Roggen?),  davon  werden  187  Mir.  ver¬ 
zehrt;  577  Mir.  „siliginis“  (Weizen?),  wovon  313  Mir.  zum  Konsum^ 
gelangen;  891  Mir.  avene  (Hafer),  von  dem  fast  alles  zum  Verkauf 
übrig  bleibt.  Nach  einer  ungedruckten  Urk.  Lamp  recht,  DWL.  1, 
2,  839. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  $9 

erließ.  Siehe  z.  B.  den  Beschluß  der  Frankfurter  Synode  vom  Jahre  794 
bei  Fagniez,  Doc.  Nr.  88. 

(  Das  Ed.  Rothari  (643)  in  lex  234  (ed.  Bluhrne,  49)  gibt  dem 
„Servus  massarius“  die  Befugnis:  „de  peculio  suo,  id  est  bove  vacca 
cavallo  simul  et  de  minuto  peculio“  zu  verkaufen:  „quod  pro  utilitate 
casae  ipsius  est,  quatenusr  casa  proficiet  et  non  depereat“.  „Et  sunt 
in  Charna  manentes  13,  qui  reddunt  de  serico  1.  10  et  de  ipsis  in 
Papia  ducitur  et  ibi  venundabitur  ad  solidos  50“  (Cod.  Lang.  p.  726). 
Im  Cap.  de  villis  heißt  es  (nach  der  Ausgabe  von  Iv.  Gar  eis  1895): 

in  c.  33:  „quicquid  reliquum  fuerit  exinde  de  omni  collaboratu 
usque  ad  verbum  nostrum  salvetur ,  quatenus  secundum  jussionem 
nostram  aut  venundetur  aut  reservetur  .  .“ ; 

in  c.  39:  „quando  non  servierint  ipsos  (sc.  ova  et  pulli)  venun- 
dare  faciant.“ 

in  c.  65 :  „ut  pisces  de  wiwariis  nostris  venundentur  et  alii 
mittantur  in  locum  ita  ut  pisces  semper  habeant;  tarnen  quando  nos 
in  villas  non  venimus,  tune  fiant  venundati  et  ipsos  ad  nostrum  pro- 
fectum  iudices  nostri  conlucrare  faciant  .  .“. 

Immer  kehrt  der  Gedanke  wieder :  erst  für  den  Bedarf  sorgen, 
was  übrig  ist,  verkaufen! 

Aber  noch  häufiger  sehen  wir  die  Grundherren  auf  dem 
Markte  als  Käufer  auftreten.  Begreiflicherweise,  da  sie  Geld¬ 
einnahmen  nicht  nur  aus  dem  Erlös  ihrer  eigenen  Erzeugnisse, 
sondern  von  früh  an  auch  in  der  Form  von  Geld  zinsen 
hatten,  die  sie  von  den  Bauern  erhielten. 

Die  bäuerlichen  Geldzinse  haben  wohl  zu  keiner  Zeit  während 
des  Mittelalters  völlig  gefehlt:  in  den  Urkunden  begegnet  man 
ihnen  in  jedem  Jahrhundert.  Daß  sie  im  5.  Jahrhundert  in 
Gallien  Vorkommen  \  ist  nicht  so  bedeutsam ,  weil  sie  in  jener 
Zeit  und  in  jener  Gegend  noch  erhoben  werden  konnten,  wie 
daß  sie  uns  überall  im  8.  und  9.  Jahrhundert  entgegentreten. 

Beispielshalber:  im  8.  Jahrh. :  in  Italien  Abtei  Farfa  u.  a., 
zitiert  bei  Kowalewsky,  1,  388.  411;  England:  ebenda  1,  538; 
Deutschland  (Trier) :  Fragm.  Chartae  Leodoini  im  App.  zum  Pol. 
d’Irm.,  341. 

Im  9.  Jahrh.:  in  Italien  (Bobbio):  L.  M.  Hart  mann,  S.  58; 
Frankreich:  Kloster  St.  Germain  de  Pres.  Pol.  d’Irm.  1,  892  ff. ; 
Kloster  St.  Remi  de  Keims.  Pol.  dieses  Klosters  p.  XL VII.  Abtei 
St.  Bertin.  Cartulaire  de  St.  Bertin  in  der  Coli,  des  Cart.  de  la  France 
4  (1840).  Pars  I  Folquini  No.  XXV,  XXVII,  XXIX  und  passim; 
Deutschland:  Kloster  Prüm:  Lamprecht  2,  143.  Kloster  Weißen- 
burg.  Trad.  poss.  ed.  Zeuss,  p.  273. 


1  Im  Pfründenbuch  des  Klosters  St.  Petri  in  Soissons:  „solvunt 
in  anno  friscingas  duas  ...  in  villa  Uscladinas  coloni  tres  .  .  .  solidos 
tres  solvunt.“  Pardessus,  Dipl.  1,  Nr.  65. 


7* 


100 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

Die  Beträge,  die  aus  den  bäuerlichen  Zinsen  in  bar  den 
Kassen  der  Grundherrn  zuflossen,  waren  sogar  nicht  einmal 
immer  gering.  Nach  den  eben  genannten  Quellen  habe  ich 
folgende  Zusammenstellung  gemacht.  Die  Einnahmen  betrugen 
in  heutiger  "Währung  beim  * 

Kloster  Bobbio  .  .  ca.  100  Mk. 

„  Prüm  .  .  „  6  000  „ 

„  St.  Germain  „  10  000  „ 

„  St.  Demi  .  „  12  600  „ 

Die  Tatsache  dieser  verhältnismäßig  hohen  Bareinkünfte ,  zu 
denen  noch  die  Einnahmen  aus  dem  Verkauf  der  eigenen  Er¬ 
zeugnisse  traten,  würde  es  von  vornherein  wahrscheinlich  machen, 
daß  die  Grundherren  kauften.  Wir  haben  nun  aber  genug  Zeug¬ 
nisse,  die  diese  Vermutung  zur  Gewißheit  machen,  wie  folgende 
Auslese  erweisen  wird : 

Zunächst  sprechen  wiederum  die  zahlreichen  Zollprivilegien ,  die 
namentlich  den  geistlichen  Grundherrschaften  für  ihre  Schiffe  oder 
Fuhren  oder  Saumlasten  zuteil  wurden,  eine  deutliche  Sprache,  zumal, 
wenn  wir  erfahren ,  daß  es  sich  z.  B.  um  Salzschiffe  handelte ;  oder 
wenn  in  dem  Zollprivilegium  ausdrücklich  vom  Einkauf  die  Bede  ist; 
siehe  z.  B.  den  Zollfreibrief,  den  Prüm  vom  König  Pipin  erhält  (MRh. 
UB.  Bd.  I  Nr.  18),  in  dem  es  heißt:  „ubicunque  infra  regna  nostra 
homines  ipsius  monasterii  pro  verilitate  vel  stipendia  monachorum  in 
quacunque  civitate  vel  porto  negotiandi  porrexerint“  .  .  .  „homines 
suprascripti  mon.  qui  pro  necessitate  eorundem  monachorum  discurrere 
videntur.“  Ähnliche  Wendungen  sind  häufig:  die  Mönche  des  Klosters 
St.  Germain  sollen  zollfrei  überall  hin  ziehen  dürfen :  „tarn  ad  luminaria 
comparanda  vel  pro  reliqua  necessitate“.  Dipl.  Car.  M.  a.  779  bei 
Bouquet,  5,  742.  Auch  in  anderem  Zusammenhang  sprechen  die 
Quellen  oft  genug  unmittelbar  von  den  Einkäufen  der  Grundherren: 
St.  Gallen  schickt  seinen  Itinerarius  nach  Mainz  „pro  pannis  laneis 
emendis“  MG.  SS.  2,  97.  Mon.  Sang.  16.  2,  752.  (Fremdländisches 
Tuch  finden  wir  bereits  im  8.  Jahrh.  in  der  Abtei  St.  Bertin:  „drappos 
kamisias  ultra  marinas  quae  vulgo  berniscris  vocitentur“  Cart.  de 
St.  Bertin,  1.  c.,  Nr.  46.)  Fehlender  Bedarf  soll  durch  Zukauf  ergänzt 
werden:  „si  vero  hoc  ei  non  sufficit  —  sc.  humlo  (Hopfen)  —  ipse 
vel  comparando  vel  quolibet  alio  modo  (!)  sibi  adquirat“  App.  zum 
Pol.  d’Irm.  2,  333.  In  den  Schenkungsurkunden  wird  gelegentlich  die 
Verwendungsart  einer  Geldschenkung  stipuliert:  es  werden  geschenkt 
„ argen ti  sol.  X  ad  pisces  emendos  ad  pastum  unum  fratribus  ibidem 
exibendum“  (MRh.  UB.  Bd.  I  Nr.  110.  a.  868).  Jene  vier  Leute,  die  wir 
auf  dem  Wege  von  Helmstädt  nach  Bardewik  an  treffen  werden,  sollen  als 
„Rückfracht“  Fische  heimbringen:  „quod  cum  frumento  et  insuper 
6  sol.  piscium  emi  potest  plaustro  suo  reportabunt“.  Zu  vergleichen 
auch  Ansegisi  Cap.  Lib.  I  (Cap.  reg.  Franc.  1.  410):  „De  thesauris 
ecclesiasticis.  Ut  singuli  episcopi,  abbates,  abbatessiae  diligenter 


Achtes  Kapitel :  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


101 


considerent  thesauros  ecclesiasticos ,  ne  propter  perfidiam  aut  negli- 
gentiam  custodum  aliquid  de  gemmis  aut  de  vasis  vel  de  reliquo  quo- 
que  thesauro  perditum  sit,  quia  dictum  est  nobis,  quod  negotiatores 
Judaei  necnon  et  alii  gloriantur,  quia  quiequid  eis  placeat 
possint  ab  eis  emere.“ 

Oder  wir  erfahren  aus  Anekdoten,  die  uns  die  Quellen  überliefert 
haben ,  von  den  Einkäufen ,  die  die  Grundherren  zu  machen  pflegten. 
Am  bekanntesten  ist  die  kleine  nette  Geschichte,  wie  der  große  Karl 
seinen  Hofschranzen  einen  Possen  spielte,  als  er  sie  zwang,  eben  von 
italienischen  Händlern  frisch  erstandene  Seidengewänder  auf  einer  Hetz¬ 
jagd  durch  das  Gestrüpp  der  nassen  Wälder  anzuziehen  und  damit 
natürlich  dem  Untergange  zu  weihen.  Weniger  bekannt  ist  ein  anderer 
Witz ,  den  derselbe  König  sich  mit  einem  seiner  geistlichen  Herren 
machte:  den  er  eine  in  Aachen  gefangene  und  getrocknete  Maus  von 
einem  jüdischen  Häudler  (der  ins  Vertrauen  gezogen  war)  um  ein 
Sündengeld  als  wertvolle  Reliquie  einkaufen  läßt.  Beide  Anekdoten 
sind  nach  den  Quellen  (Mon.  Sang.)  anmutig  nacherzählt  von  Gustav 
Frey  tag  in  seinen  Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit  1,  323  ff. 

Ebenso  dürfen  wir  aus  den  Waren,  die  wir  im  Handel  finden,  auf 
regelmäßige  Einkäufe  durch  die  Grundherren  schließen :  wir  sehen  die 
Mönche  von  Corbie  in  Cambray  Gewürze  und  Spezereien  erstehen. 
App.  zum  Pol.  d’Irm.  2,  33ö  ;  während  die  Pariser  Mönche  sich  mit 
anderen  an  dem  seinerzeit  berühmten  Stapelplatz  Quentawic  an  der 
nordfranzösischen  Küste  treffen,  um  Honig,  Krapp,  Gewürze  usw.  zu 
kaufen:  ibid.  1,  786  f.  Vgl.  auch  Otto  Fengler,  Quentovic,  seine 
maritime  Bedeutung  unter  Merovingern  und  Karolingern  in  den  Hans. 
Gesch.Bl.  1907,  1.  Heft,  S.  91  ff. 

In  den  Zollrollen  des  achten  und  neunten  Jahrhunderts  werden  als 
Kaufmannsgüter  aufgeführt:  Gold,  Silber,  Gemmen,  Waffen,  Kleider, 
Wachs,  Bosse,  Sklaven,  kurz  lauter  Gegenstände,  die  nur  die  reichen 
Grundherren  erwerben  konnten.  Siehe  z.  B.  Ed.  Bothari  (a.  643)  ed. 
Bluhme  p.  48.  Sicardi  Pactio  (a.  836)  ed.  Bluhme  p.  193.  Div.  imp. 
LL.  1,  142  c.  11.  Leg.  port.  LL.  3,  480  ff.  Cap.  von  805  c.  7  mit 
der  bekannten  Stelle  „ut  arma  et  brunias  non  ducant  ad  venundandum“, 
nämlich  zum  „Erbfeind“.  Abgedruckt  auch  bei  Fagniez,  Doc.  Nr.  90. 
In  den  Dialogen  Aelfrids  werden  als  Einfuhrgüter  aufgezählt :  Purpur, 
Seide,  Geschmeide,  Elfenbein,  Gold,  farbige  Stoffe,  Farben,  Wein,  Öl, 
Bier,  Zinn,  Glas  und  Schwefel.  Thorpe,  Analecta  Anglo-Saxonica, 
p,  101,  bei  Gibbins,  Industry  in  England.  4.  ed.  (1906),  p.  45. 

Endlich  reden  auch  noch  die  Gräber  eine  deutliche  Sprache.  Die 
Gräberfunde  aus  der  Merovingerzeit,  auch  in  Deutschland,^  zeigen  eine 
Fülle  von  Schmuckgegenständen ,  die  sich  „als  Erzeugnisse  fremder 
Industrie  und  Überlieferungen  des  Handels  kennzeichnen“.  L.  Linden- 
schmit,  Handbuch  der  deutschen  Altertumskunde  1  (1880— -89), 
Die  Altertümer  der  merovingischen  Zeit,  S.  381  ff.  437.  Daß  Kauf- 
leute  von  „Übersee“  Schmuckgegenstände  nach  Europa  brachten,  ist 
ui  s  auch  sonst  überliefert.  So  spricht  die  Lex  Wisigothorum  (lib.  XT 
t.  III)  „de  transmarinis  negotiatoribus“,  die  Gold,  Gewänder  „vel 
quaelibet  ornamenta  provincialibus  nostris“  verkaufen. 


102 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Und  wenn  wir  den  Schiffen  begegnen,  auf  denen  der  Be¬ 
vollmächtigte  des  Grundherrn  die  Getreideladungen  zu  Markte 
führt,  oder  den  Lastwagen  oder  Saumtieren  der  fronpflichtigen 
Bauern,  die  ebenfalls  beladen  dem  Marktorte  zustreben,  so 
werden  wir  das  auch  nur  natürlich  finden. 

Die  Schiffe  der  Kirchen  und  Klöster,  denen  von  den  Kaisern 
Freiheit  von  Zöllen  und  Abgaben  gewährt  werden,  sind  —  zumal  in 
Italien  —  eine  oft  wiederkehrende  Erscheinung  in  den  Quellen :  für 
Italien  siehe  die  zahlreichen  Belege  bei  Hart  mann,  Zur  Wirt.Gesch., 
S.  87;  Schaube,  S.  87  ff.  72  ff. ;  für  Deutschland  bei  Inama  1, 
440,  MRh.  IJB.  1  Nr.  18;  für  Frankreich  bei  Guerard,  Pol.  d’Irm. 
1,  789. 

Diese  Schiffe  dienten  wohl  besonders  häufig  dazu,  um  die  ein- 
gekauften  Güter  (Salz!)  heimzuführen.  Wir  dürfen  aber  annehmen, 
daß  sie,  wenn  irgend  möglich,  beladen  ausgingen.  Daß  dies  jedenfalls 
vorkam,  bestätigen  uns  sogar  die  Quellen:  Im  Jahre  860  gestattet 
Ludwig  II.  einem  Bevollmächtigten  des  Klosters  von  Brescia  frei  von 
ripaticum  und  Verkaufs abgabe  zu  handeln:  „quocumque  cum  propriis 
mercimoniis  negotiando  perrexerit“.  Mühlbacher,  S.  1184. 

Die  Fronbauern  der  Abtei  von  St.  Remi  in  Reims  finden  wir  (9.  sc.) 
auf  dem  Wege  nach  Chälons  (80  km),  St.  Quentin  (70  — 110  km), 
Aachen,  das  heißt  den  Orten,  wo  das  Getreide  des  Klosters  seinen 
Markt  fand.  Es  wurde  entweder  auf  Lastwagen,  die  mit  Ochsen  be¬ 
spannt  waren,  oder  auf  Eseln  als  Saumlast  befördert:  „duos  asinos 
in  Vero  mandense“  sind  zu  stellen.  Pol.  de  l’abbaye  de  St.  Remi 
de  Reims  etc.,  p.  XXVI.  XXVII.  XXIX.  Vier  Fronbauern  des  Klosters 
Helmstädt  haben  jährlich  9V2  maldaria  Getreide  „ad  vendendum  in 
Bardewik“  zu  fahren.  Urb.  Helmstädt  p.  38,  zit.  bei  Inama  2,  372. 

Aber  die  Grundlierrscbaften  werden  nickt  nur  dadurch  zu 
Beförderern  der  Tauscli Wirtschaft,  daß  sie  selber  in  den  Markt 
hineingezogen  werden:  sie  werden  auch  zu  einem  Ferment, 
das  die  Eigenwirtschaften  der  Bauern  rascher  zur 
Auflösung  bringt,  als  es  sonst  geschehen  wäre.  Die  eine 
Tatsache  der  Geldzinse,  die  sie  von  den  Bauern  fordern,  genügt, 
um  das  einzusehen.  Denn  offenbar:  sobald  eine  Wirtschaft  zu 
regelmäßigen  Geldzahlungen  verpflichtet  ist,  muß  sie  trachten, 
durch  Verkauf  ihrer  Erzeugnisse  sich  Geldeinnahmen  zu  ver¬ 
schaffen. 

Dann  hat  auch  die  Entwicklung  der  grundherrlichen  Bann¬ 
rechte  an  Mühlen,  Tuchwalken,  Bäckereien,  Brauereien  usw., 
in  gleichem  Sinne  gewirkt.  Wir  finden  nämlich  häufig  ver¬ 
bunden  mit  der  Verpflichtung,  allein  der  herrschaftlichen  An¬ 
stalt  sich  zu  bedienen,  geradezu  das  Verbot,  die  Verrichtung 
des  Mahlens,  Backens,  Brauens,  Walkens  usw.  im  eigenen  Hause 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


103 


vorzunehmen  h  Dadurch,  wurde  den  Bauern  ein  tauschwirtschaft¬ 
licher  Nexus  förmlich  aufgezwungen,  und  es  wäre  wohl  der  Mühe 
wert,  dem  Zusammenhang  zwischen  Entwicklung  der  Bannrechte 
und  der  Ausbildung  der  tauschwirtschaftlichen  Organisation 
einmal  näher  nachzugehen.  Wobei  auch  gleich  zu  prüfen  wäre: 
wie  weit  die  Grundherren  durch  ihr  Interesse  an  hohen  Markt¬ 
einnahmen  die  Bauernwirtschaften  zum  Besuche  der  Märkte 
drängten. 

Endlich  kann  ich  mir  auch  denken,  daßMie  Grundherrschaften 
die  Bauernwirtschaften  durch  die  Förderung  der  Produktions¬ 
spezialisierung  in  die  Tauschwirtschaft  hineindrängten.  Je  mehr 
ein  abgabepflichtiger  Bauer  zur  Lieferung  besonderer  Speziali¬ 
täten  agrarischer  oder  namentlich  auch  gewerblicher  Natur  durch 
den  Grundherrn  angehalten  wurde,  desto  mehr  mußte  er  den 
Boden  eigenwirtschaftlicher  Selbständigkeit  unter  seinen  Füßen 
wanken  fühlen,  desto  mehr  wurde  es  sein  Interesse,  nun  von 
der  Spezialität,  die  er  beherrschte,  dadurch  Nutzen  zu  ziehen,  daß 
er  sich  ihr  ausschließlich  widmete  und  nach  und  nach  an  andere 
Personen  auf  dem  Wege  des  Verkaufs  absetzte,  was  der  Grund¬ 
herr  nicht  von  ihm  als  Abgabe  verlangte. 

In  der  grundherrschaftlichen  Organisation  als  solcher  liegt, 
also  die  Tendenz  eingeschlossen,  die  eigene  und  die  bäuerliche 
Eigenwirtschaft  zu  zersprengen.  Also  daß  der  Auflösungsprozeß 
sich,  wenn  auch  langsam,  so  doch  stetig  mit  dem  Anwachsen 
der  Grundherrschaften  vollziehen  mußte.  Daß  er  sich  seit  dem 
11.  Jahrhundert  etwa  fast  plötzlich,  sprunghaft  vollzog,  daß  das 
europäische  Mittelalter  in  dem  kurzen  Zeitraum  von  ein  oder 
zwei  Jahrhunderten  aus  einer  grundsätzlich  eigen  wirtschaftlichen 
in  eine  grundsätzlich  tauschwirtschaftliche  Organisation  über¬ 
ging,  ist  dem  Zusammentreffen  einer  Beihe  besonderer  Um¬ 
stände  geschuldet  und  etwa  in  folgender  Weise  zu  erklären. 

Wir  können  zunächst  eine  Beihe  umgestaltender  Maßnahmen 
der  Grundherrn  (die  zum  Teil  wiederum  untereinander  sich  be¬ 
dingen)  feststellen : 

1.  Die  Naturalzinse  der  Bauern  werden  in  Geldzinse  ver¬ 
wandelt. 

Die  Wirkung,  die  diese  Wandlung  auf  die  Bauernwirtschaft 

1  Für  England  dargestellt  von  Kowalewsky  3,  139;  analoge 
Entwicklung  bei  den  Normannen  in  Sizilien;  a.  a.  0.  S.  381  f.  Siehe 
für  Deutschland  z.  B.  das  Prümer  Urbar.  MRh.  UB.  1,  147—149;  für 
Frankreich:  Flach,  Origines  2,  198  u.  pass. 


104 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


ansüben  mußte,  haben  wir  schon  festgestellt:  der  Bauer  wurde 
zum  Verkaufen  gezwungen. 

2.  Das  alte  Verwaltungs System  der  Grundherr¬ 
schaften  wird  aufgelöst.  Die  Meier  (Villici,  bailliffs)  werden 
zu  Pächtern  des  Sallandes  bzw.  Fronhofes,  auf  dem  sie  früher 
nur  als  Verwalter  des  Grundherrn  gesessen  hatten  oder  auch  zu 
Pächtern  der  Bauerngüter,  deren  Abgaben,  sie  früher  nur  ge¬ 
sammelt  hatten. 

3.  Die  Bauerngüter  werden  ebenfalls  vielfach  aus  dem  alten 
Hörigkeitsverhältnisse  befreit  und  freierenFormen  der  Ver¬ 
pachtung  unterworfen. 

Die  Tauschwirtschaft  brauchte  durch  diese  Entwicklung  an 

O 

sich  noch  keine  Förderung  zu  erfahren:  wenn  nämlich  die  Pacht¬ 
zinse  auch  nachher  in  natura  bezahlt  wurden,  wie  es  z.  B.  in 
manchen  Gebieten  Nordwestdeutschlands 1  und  Italiens 2  der  Fall 
war,  wo  der  Teilbau  in  der  Form  der  Getreidepacht  eingeführt 
wurde.  Nur  daß  ein  größerer  Überschuß  über  den  eigenen  Be¬ 
darf  herausge  wirtschaftet  wurde  (durch  Einsetzung  des  Eigen¬ 
interesses)  und  damit  der  Verkauf  landwirtschaftlicher  Produkte 
zu  gleicher  Zeit  möglich  und  notwendig  wurde.  Überdies  ver¬ 
band  sich  die  Deform  des  Verwaltungssystems  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  wohl  mit  einer  Umwandlung  der  Natural-  in  Geldzinse. 

Die  hier  geschilderten  Vorgänge  haben  sich  mit  großer  Gleich¬ 
förmigkeit  in  allen  Ländern  Europas  vollzogen  und  sind  von  der 
Forschung  ziemlich  klargelegt  worden.  Aus  der  umfassenden  Literatur 
will  ich  nur  ganz  wenige  Werke  anführen,  die  mir  besonders  guten 
Aufschluß  *u  geben  scheinen. 

Gesamtdarstellungen  für  Europa:  S.  Sugenheim,  Geschichte  der 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft  und  Hörigkeit  in  Europa.  1861.  (Teil¬ 
weise  veraltet.)  Kowalewsky,  a.  a.  0. 

In  Frankreich  soll  die  Umwandlung  schon  im  9.  Jahrhundert  ein- 
setzen  und  im  12.  im  wesentlichen  abgeschlossen  sein  nach  Flach, 
Origines  2,  87  ff.  Aber  es  bestanden  natürlich  „  Vülikationen“  weiter, 
namentlich  auf  den  großen  Klosterbesitznngen,  wo  die  Eigenverwaltung 
erst  im  13.  Jahrhundert  sich  auflöst:  H.  D’Arbois  de  Jubainville, 
Etudes  sur  l’etat  interieur  des  Abbayes  cisterciennes  (1858),  309  f. 

In  England  findet  die  entscheidende  Wandlung  nach  Seebohm, 
Vill.  Comm.,  p.  75,  zwischen  Liber  niger  (1125)  und  Hundred  Rolls 


1  W.  Witt  ich,  Grundherrschaft,  S.  312  ff.  317  ff. 

2  E.  Poggi,  Cenni  storici  delle  leggi  sull’Agricoltura  (1848)  2, 
184 ff. ;  C.  F.  von  R  umohr,  Ursprung  der  Besitzlosigkeit  des  Colonen 
im  neuen  Toskana  (1830),  S,  110  ff.  (Urkundensammlung  für  die  Zeit 
nach  1250), 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  105 

(1279)  statt;  nach  dem  Herausgeber  des  Registrum  Prioratus  Beatae 
Mariae  Wigorniensis  (Will.  Haie  Haie,  Cambden  Soo.  1865)  erst 
zwischen  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  und  dem  Yalor  Ecclesiasticus 
von  1534.  Das  ist  wohl  in  dieser  Allgemeinheit  nicht  richtig. 
Ashley,  Wirtsch. Gesell.  Englands  (§§  3.  4),  dessen  Quelle  im  wesent¬ 
lichen  das  eben  genannte  Registrum  ist,  setzt  die  Umwandlung  der 
Natural-  in  Geldzinse  in  den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts.  Auch  in 
England  wird  sich  die  Reform  auf  den  weltlichen  Grundherrschaften 
früher  als  auf  den  geistlichen  vollzogen  haben.  Die  gewerblichen 
Leistungen  sind  in  England  wahrscheinlich  früher  als  irgendwo  anders 
abgelöst  -worden.  In  den  Quellen  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  sind 
sie  schon  sehr  selten.  Diese  Ansicht  teilt  Meitzen,  Siedlungen 
2,  132,  der  sie  sogar  auf  alle  Abgaben  und  Dienste  ausdehnt.  Vgl. 
auch  Kowalewsky  3,  164  ff.  Im  Cart.  Mon.  Rameseia  (13.  Jahr¬ 
hundert)  z.  B.  sind  aber  die  landwirtschaftlichen  Naturalleistungen 
noch  völlig  intakt.  Ygl.  auch  Gust.  F.  Steffen,  Studien  zur  Ge¬ 
schichte  der  englischen  Lohnarbeiter  (1901),  174  ff.;  R.  M.  Garnier, 
History  of  the  english  landed  interest  (1908),  214  ff. 

Tri  Italien  dürfen  wir  wohl  den  Anfang  der  geschilderten  Um¬ 
wandlung  in  das  11.  Jahrhundert  oder  noch  früher  verlegen.  Siehe 
z.  B.  die  Urk.  der  Abtei  Ripa  aus  dem  Anfang  des  11.  Jahrhunderts 
bei  Kowalewsky  3,  352.  Im  übrigen  vergl.  außer  der  in  Anm.  2 
auf  S.  104  genannten  Literatur  etwa  noch  G.  Bianchi,  La  proprietä 
fondiaria  e  le  classi  rurali  nel  medio  evo  etc.  (1891),  p.  51  ff.,  wo  die 
ältere  Literatur  verarbeitet  ist. 

Die  Entwicklung  in  Belgien  hat  dargestellt  Brants,  Essais 
historiques  sur  la  condition  des  classes  rurales  en  Belgique,  1880. 

Für  Deutschland  kommt  zunächst  die  Darstellung  bei  Lam- 
precht,  DWL.  1,  620  ff.  947;  2,  587  ff,  und  Inama,  DWG.  2, 
167  ff  204  ff.  in  Betracht.  Aus  der  nachher  erschienenen  Literatur  sind 
hervorzuheben:  Wittich,  a.  a.  O.  S.  312  ff  317  ff.,  und  Meitzen 
2,  139  ff.  599.  Außerordentlich  lehrreich  die  Darstellung  bei 

Kötschke,  a.  a.  O.  S.  133  ff.  und  öfters. 

Insbesondere  für  die  österreichischen  Lande  siehe  Dop  sch  in  der 
Einleitung  zu  den  von  ihm  herausgegebenen  „Landesfürstlichen  Urbaren 
Nieder-  und  Oberösterreichs  aus  dem  13.  und  14.  Jahrh.“  (Österr. 
Urbare  I,  1.  1904)  S.  C XII  ff.  CXC  ff.  CCXI  ff.  Auch  hier  in  Öster¬ 
reich  der  spätere  Übergang  der  geistlichen  Grundherrschaften.  „Hier 
scheint  im  Werden,  was  bei  den  landesfürstlichen  Grundherrschaften 
abgeschlossen  war.“  D.  weist  nach,  daß  die  Entwicklung  Österreichs 
im  13.  Jahrhundert  ebenso  weit  vorgeschritten  ist  wie  in  den  anderen 
deutschen  Territorien  (S.  CXCI). 

Diese  Umgestaltungen  -  sind  offenbar  dem  bewußten  Willen 
der  Grundherrn  entsprungen.  Dieser  Wille  erklärt  sich  zunächst 
und  vor  allem  aus  dem  Bedürfnis ,  die  Erträgnisse  des  Grund 
und  Bodens  zu  steigern  und  diese  Erträgnisse  nach  freier  Wahl, 
insbesondere  auch  zur  Beschaffung  kostbarerer  Gebrauchsgüter 
Verwenden  zu  können.  Daher  die  Vorliebe  für  die  Geldform, 


106 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Das  Streben  nach  gesteigerten  Gelderträgen  wiederum  war  die 
Folge  einer  allgemeinen  Höherbewertung  der  bequemen,  präch¬ 
tigen  oder  luxuriösen  Lebensführung,  Avie  wir  sie  im  11.  und 
12.  Jahrhundert  allgemein  in  Europa  beobachten  können:  eine 
Äußerung  des  neu  erwachenden  Geistes,  den  wir  noch  oft  auch 
in  anderen  Dichtungen  am  Werke  sehen  werden. 

Diese  Tendenz  der  oberen  Schichten,  auch  des  Klerus,  zur 
„Verweltlichung“ ,  wie  wir  ganz  schlicht  es  ausdrücken  können, 
wurde  nun  unterstützt  durch  eine  Reihe  äußerer  Umstände,  die 
teilweise  jener  Tendenz  selbst  ihre  Entstehung  verdankten,  teil¬ 
weise  auf  andere  Ursachen  zurückzuführen  sind.  Die  wichtigsten 
sind  folgende : 

1.  die  Steigerung  des  Reichtums,  die  sich  zweifellos  seit 
dem  11.,  dann  vor  allem  im  12.  Jahrhundert  in  starkem  Maße  fühl¬ 
bar  macht.  Die  Zeiten  sind  ruhiger  geworden.  Die  Plünderungen 
haben  aufgehört.  Die  Einöden  beleben  sich  mit  Ansiedlern,  die 
sich  zumeist  auf  herrschaftlichem  Grund  und  Boden  niederlassen. 
Die  landwirtschaftliche  Arbeit  wird  produktiver.  Seit  der 
zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  steigt  (im  westlichen  Deutsch¬ 
land)  die  Intensität  des  Anbaus  durch  Übergang  zur  Pflege 
größerer  Spezialkulturen;  seit  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
wird  der  Terrassenbau  für  Weinberge,  und  ein  wenig  später  der 
Neubruch  von  Wiesen  eine  gewöhnliche  Form  der  Urbarmachung1. 
Der  Ackerboden  wird  allmählich  besser  bestellt:  mit  drei  und 
vier  Pflugarbeiten.  Die  Düngung  wird  intensiver.  Man  beginnt 
mit  dem  Anbau  von  Futterkräutern2. 

In  Italien  werden  Weinstock  und  Olive  wieder  gepflanzt3. 

In  England  folgen  sich  die  Rodungen  seit  dem  12.  Jahr¬ 
hundert  rasch  hintereinander ;  das  Dreifeldersystem  ist  mindestens 
seit  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts  in  raschem  Vordringen4. 

Aus  Frankreich  hören  wir  ähnliche  Kunde.  Daß  sich  jeden¬ 
falls  am  Ende  des  12.  Jahrhunderts  die  doppelte  Bepflügung  des 
Winterfeldes  eingebürgert  hat,  bestätigen  uns  die  Urkunden5. 

In  den  Niederungen  des  Rheins,  bei  Holländern  und  Flämingen , 


1  Lamprecht,  DWL.  1,  148  f. 

2  Lamprecht,  DWL.  1,  529  ff.  557  ff.  nach  dem  MRh.  UB.  1, 
650;  3,  504. 

8  C.  Bertagnolli,  Delle  Vicende  dell’agricoltura  in  Italia  (1881). 

p.  180. 

4  Siehe  die  Belege  bei  Kowalewsky  3,  169  ff. 

5  Siehe  z.  B.  die  Urk.  bei  Guerard,  Pol.  d’Irm.  1.  383. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


107 


blühte  eine  Ackerwirtschaft  des  Moor-  und  Sumpfbodens,  die 
durch  zahlreiche  Kolonisten  dieser  Stämme  in  die  Elblandschaften 
und  bis  tief  in  den  Osten  getragen  wurde  h 

Die  gewerbliche  Arbeit  aber  wurde  produktiver  vor  allem  in¬ 
folge  der  fortschreitenden  Spezialisierung.  Yon  grundstürzenden 
Änderungen  der  Technik  ist  uns  nichts  bekannt.  Aber  die  zu¬ 
nehmende  Spezialisation  genügte  zweifellos,  wie  die  Handfertig¬ 
keit  ebenso  die  Leistungsfähigkeit  der  natürlich  gleichfalls 
spezialisierten  Produktionsmittel  dermaßen  in  ihren  Wirkungen 
zu  heben,  daß  der  produktive  Erfolg  beträchtlich  größer  wurde. 

2.  die  immer  häufiger  und  enger  werdenden  Beziehungen 
zum  Orient.  Daß  sie  es  waren,  die  die  weltliche  Stimmung, 
die  Freude  an  behaglicher  und  prächtiger  Lebensführung  gleich¬ 
sam  auslösten,  ff  eimachten ;  daß  sie  erst  zeigten,  wie  man  denn 
die  zuwachsenden  Leichtümer  zum  eigenen  Vorteil  verwenden 
könne,  ist  bekannt. 

3.  die  Auflösung  der  Vita  communis  in  den  Kapiteln 
und  Abteien.  Diese  beginnt  in  den  Kapiteln  schon  im  10.  Jahr¬ 
hundert,  wird  dann  immer  wieder  aufzuhalten  versucht  (asketische 
Reaktion  gegen  die  „Verweltlichung“  der  Geistlichkeit  im  11.  und 
12.  Jahrhundert!),  ist  aber  im  13.  Jahrhundert  eine  vollendete 
Tatsache1  2.  Man  kann  sie  in  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen 
Wendung  zu  einer  mehr  weltlichen  Wertung  des  Lebens 
bringen.  Der  Wunsch  nach  einer  freieren  Lebensführung  trifft 
sich  mit  dem  Wunsche ,  die  reichen  Einkünfte,  über  die  die 
Kapitel  verfügten,  mehr  zu  genießen,  als  es  die  „kanonisch“ 
einfache  Lebenshaltung  ermöglichte.  Zu  diesen  allgemein 
wirkenden  Ursachen  treten  bei  den  bischöflichen  Kapiteln 
folgende  besondere  Gründe  hinzu.  Im  11.  Jahrhundert,  zum 
Teil  noch  früher,  hatten  die  Bischöfe  ihre  Diözesen  in  ver¬ 
schiedene  Bezirke  eingeteilt  und  diese  den  Geistlichen  ihrer 
Bischofskirche  zugewiesen.  Dadurch  waren  die  Domkanoniker 
zu  Archidiakonen,  zu  kirchlichen  Würdenträgern  geworden  und 
hatten  eine  besondere  Stellung  vor  allen  Diözesangeistlichen  ge¬ 
wonnen.  Das  aber  wurde"  ein  Hauptgrund  für  die  Zerstörung 

1  Gustav  Freytag,  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit  2,  46. 
Im  übrigen  geben  die  landläufigen  Geschichtsdarstellungen  der  Land¬ 
wirtschaft  den  etwa  noch  gewünschten  Aufschluß. 

2  Siehe  Ph.  S  chneider,  Die  bischöflichen  Domkapitel,  ihre  Ent¬ 
wicklung  und  rechtliche  Stellung  im  Organismus  der  Kirche  (1885), 
S.  41  ff. 


108 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


ihrer  mönchisch-einfachen  Lebensweise :  für  hohe  kirchliche 
Würdenträger  wurde  es  auf  die  Dauer  unmöglich,  daß  sie  wie 
Mönche  lebten1.  Die  Umwandlung  der  Lebensweise  bestand 
aber  darin,  daß  die  täglich  gelieferten  Rationen  in  ein  festes 
Jahreseinkommen  umgewandelt  wurden,  ferner  daß  von  nun  ab, 
im  Gegensatz  zu  früher,  als  die  Präbende  wesentlich  in  zu¬ 
bereiteten  Speisen  und  Getränken  bestand ,  den  Domherren  die 
unbereiteten  Naturalien,  die  er  verkaufen  mußte,  und  in  steigendem 
Maße  Geld  geliefert  wurde.  Jeder  Domherr  hatte  nun  sein  Haus 
—  seine  Curia  —  und  der  Besitz  des  Hauses  bedingte  eine 
eigene  Dienerschaft  und  vor  allem  eine  eigene ,  von  vorn¬ 
herein  auf  Einbeziehung  in  den  Marktverkehr  zugeschnittene 
Wirtschaft.  Ganz  ähnlich  vollzieht  sich  die  Entwicklung  der 
zahlreichen  Kanonissenstifter 2.  Diese  Auflösung  der  Vita  com¬ 
munis  half  naturgemäß  die  Auflösung  der  alten  Villikations- 
verfassung  beschleunigen. 

Eine  ähnliche  Umbildung  erfährt  die  Organisation  der  Klöster 
und  Abteien,  und  zwar  augenscheinlich  aus  gleichen  Gründen. 
Seit  dem  10.  und  11.  Jahrhundert  „verweltlichen“  die  Äbte:  die 
„Abteien  wandelten  sich  damals  mehr  und  mehr  in  reichsfürst¬ 
liche  Institute  mit  weltlichen,  politischen  Zwecken  um“.  Die 
Lebensziele  und  die  Lebensführung  der  Äbte,  denen  die  Ver¬ 
folgung  dieser  Zwecke  zufiel,  trennten  sich  von  denen  der 
Mönche ;  ihre  fürstliche  Hofhaltung  entfernte  sich  von  dem  ein¬ 
fachen  Mönchshaushalte.  So  kam  es  naturgemäß  auch  zu  einer 
Aufteilung  des  Klostergutes  zwischen  Abt  und  Konvent:  die 
einzelnen  wichtigen  Klösterämter  werden  mit  besonderen  Ein¬ 
künften  ausgestattet,  mit  denen  sie  die  Brüder  zu  ernähren 
haben,  während  dem  Abte  andere  Güter  Vorbehalten  bleiben, 
die  zur  Bestreitung  seines  fürstlichen  Aufwandes  dienen.  Alles 
bei  gleichzeitiger  Umwandlung  der  Dienste  in  feste  Abgaben. 
„So  gibt  es  statt  des  ursprünglich  einheitlich  verwalteten  Kloster¬ 
gutes  jetzt  eine  Anzahl  von  einander  gesonderter  Gütermengen, 
deren  jede  für  sich  verwaltet  wird.“  Aber  auch  im  Innern  der 


1  Diese  Zusammenhänge  sind  dargestellt  von  A.  Bräckmann, 
Geschichte  des  Halberstädter  Domkapitels  im  Mittelalter  in  der  Zeit¬ 
schrift  des  Harzvereins  32  (1899),  2.  Rud.  Bückmann,  Das  Dom¬ 
kapitel  zu  Verden  im  M.A.  (1912),  16  f.  Vgl.  Schulte,  Adel  und 
deutsche  Kirche  (1910),  274  ff. 

2  Anschaulich  geschildert  von  K.  Heinr.  Schäfer,  Die  Kanonissen¬ 
stifter  im  deutschen  M.A.  (1907),  191  ff. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


109 


Klöster  vollzog  sich,  eine  Wandlung:  das  klösterliche  Leben 
wurde  stark  individualisiert;  „der  pfründenmäßige  Charakter  der 
Stellen  im  Kloster  prägte  sich  aus“1.  Manche  Klöster,  wie  zum 
Beispiel  die  Abtei  Werden  a.  d.  Ruhr,  wandelten  sich  schließlich 
in  Stifte  um  und  die  Stifte  selbst  nahmen  vielfach  im  Laufe 
der  Zeit  den  Charakter  von  Yersorgungsanstalten  für  die  jüngeren 
Söhne  des  Herren-  und  Ritterstandes  an,  in  welchen  Bällen  sie 
ganz  verweltlichten2. 

Also  auch  von  hier  aus  entwickeln  sich  Antriebe  zur  Aus¬ 
dehnung  der  tausch-  und  verkehr swirtschaftlichen  Beziehungen. 

4.  die  Tatsache,  daß  im  10.  und  11.  Jahrhundert  die  Edel¬ 
metallproduktion,  vor  allem  also  die  Silbergewinnung,  sich 
neu  belebt3.  Seit  dem  Ende  des  10.  Jahrhunderts  beginnen  die 
Erschließungen  gerade  der  für  das  Mittelalter  wuchtigsten  Silber¬ 
minen  (Gfold  spielt  in  jener  Zeit  wirtschaftlich  keine  Rolle):  in 
Schlesien ,  im  Harz  (Gfoslar ,  Klausthal) ,  in  Sachsen  (Ereiberg), 
in  Kärnten,  im  Salzburgischen,  in  Böhmen,  im  Elsaß  usw. 

Da  ich  der  Entwicklung  der  Edelmetallproduktion  eine  große 
Bedeutung  für  die  Entstehung  des  Kapitalismus  beimesse ,  so 
handle  ich  ausführlich  darüber  dort,  wo  ich  schildere,  wie  die 

1  R.  Kötzschke,  Studien  z.  Verwaltungsgesch.  der  Großgrund¬ 
herrschaft  Werden  a.  d.  Ruhr  (1901),  114,  wo  diese  Umbildung  der 
Klosterverfassung  besonders  eingehend  und  lebendig  geschildert  wird. 
Über  die  allgemeine  Entwicklung:  G.  Matthaei,  Die  Klosterpolitik 
Heinrichs  II.  (1877),  14  ff.;  A.  Hauck,  Kirchengeschichte  Deutsch¬ 
lands,  3,  814  (1906),  443  ff. 

2  Arnold,  Verf.Gesch.  der  deutschen  Freistädte  2,  162  f. ;  vgl. 
Kötzschke  a.  a.  O. 

3  Unsere  Kenntnis  von  der  frühen  Geschichte  des  Bergbaus  auf 
Edelmetalle  ist  außerordentlich  dürftig.  Was  an  Quellenmaterial  vor¬ 
handen  ist,  wird  man  an  folgenden  Stellen  gesammelt  finden:  Will. 
Jacob,  Über  Produktion  und  Konsumtion  der  edlen  Metalle;  übers, 
von  C.  Th.  Kleinschrod  (1838)  S.  151  ff.  Der  Übersetzer  hat 
wertvolle  Zusätze  gemacht.  Soetbeer,  Beiträge  z.  Gesch.  des  Geld- 
und  Münzwesens  in  Deutschland  in  den  Forschungen  zur  deutschen 
Geschichte,  Bd.  I.  II.  IV.  VI.  A.  Hanauer,  Etudes  economiques 
sur  l’Alsace  ancienne  et  moderne.  2  Vol.  1876.  1878.  Inama,  DWG. 

2,  330  f.  Dop  sch  2,  173  f.  Ich  trage  noch  nach:  Ad  annum  963 : 
Widukind  cap.  63:  „terra  Saxonia  venas  argenti  aperuerit“..  MG.  SS. 

3,  462 ;  ad  961 :  Thietmari  Chron.  cap.  8 :  „temporibus  suis  aureum 
illuxit  seculum;  apud  nos  inventa  est  primum  vena  argenti“.  MG.  SS. 
3  747.  Über  die  Urzeit  unterrichtet  Matth.  Much,  Prähistorischer 
Bergbau  in  den  Alpen  in  der  Zeitschr.  des  deutsch,  u.  österr,  Alpen- 
Vereins  1902,  S.  1  ff. 


HO  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

„Vorbedingungen“  des  Kapitalismus  erfüllt  worden  sind.  Die 
Edelmetallproduktion  ist  aber  auch  schon  von  Einfluß  gewesen 
auf  den  Entwicklungsgang  des  vorkapitalistischen  Wirtschafts¬ 
lebens  und  hat  insbesondere  bei  der  Umbildung  der  Eigenwirt¬ 
schaft  in  die  Tauschwirtschaft  eine  nicht  unbedeutende  Dolle 
gespielt.  Deshalb  muß  ihrer  schon  an  dieser  Stelle  Erwähnung 
geschehen.  Und  zwar  soll  hier  zunächst  auf  diejenige  Wirkung 
einer  Vermehrung  des  Edelmetallvorrats  hingewiesen  werden, 
die  sich  ebenfalls  in  einer  „Verweltlichung“  der  Lebensauffassung 
äußert:  die  rasche  Bereicherung,  die  stets  mit  einer  plötzlichen 
Steigerung  der  Gold-  und  Silberproduktion  verbunden  ist,  weckt 
und  vergrößert  die  Begierde  nach  dem  Gelde,  vermehrt  die  Beize 
des  Reichtums  und  erhöht  die  allgemeine  Bewertung  des  Geld¬ 
besitzes.  Wir  erfahren  seit  den  frühesten  Zeiten,  wie  eine  Er¬ 
schließung  reicher  Minen  immer  dieselben  Seelenstimmungen 
ausgelöst  habt. 

Nun  reicht  aber  auch  in  dem  uns  vorliegenden  Problem¬ 
komplexe  die  Bedeutung  einer  Vermehrung  der  Edelmetall¬ 
produktion  weit  über  diese  Stimmungsmache  hinaus,  sofern  sich 
nachweisen  läßt,  daß  die  ganze  Umbildung  der  sozialen  Organi¬ 
sation  ohne  sie  nicht  hätte  erfolgen  können. 

AVollen  wir  uns  aber  die  Rolle  klar  machen,  die  bei  diesen 
Umbildungen  die  Vermehrung  der  Edelmetallproduktion  gespielt 
hat,  so  müssen  wir  einige  wirtschaftswissenschaftliche  Begriffe  revi¬ 
dieren  beziehungsweise  richtig  fassen,  die  wir  bei  der  Feststellung 
der  in  Frage  kommenden  Zusammenhänge  dringend  benötigen. 
In  vielen  Köpfen  nämlich  —  namentlich  wohl  der  Historiker  — 
laufen  die  Begriffe  Eigenwirtschaft  und  Naturalwirtschaft 
einerseits,  Tauschwirtschaft  und  Geldwirtschaft  anderer¬ 
seits  ineinander,  wodurch  schlimme  Konfusion  entsteht.  Eigen¬ 
wirtschaft  und  Naturalwirtschaft  sind  ebensowenig  dasselbe  wie 
Tausch-  und  Geldwirtschaft,  und  Gegensätze  sind  nicht  Eigen¬ 
wirtschaft  und  Geldwirtschaft,  Naturalwirtschaft  und  Tausch¬ 
wirtschaft,  sondern  nur  Eigen-  und  Tauschwirtschaft,  Geld-  und 
Naturalwirtschaft.  Was  jene  bedeuten,  haben  wir  im  Verlaufe 
dieser  Darstellung,  denke  ich,  zur  Genüge  uns  klar  gemacht. 
Die  Ausdrücke  Geld-  und  Naturalwirtschaft  dagegen  können  nur 
den  Sinn  haben,  daß  jene  eine  Wirtschaftsverfassung  bezeichnet, 
bei  der  neben  den  Gebrauchsgütern  ein  Geldgut  auftritt,  während 
Naturalwirtschaft  ohne  dieses  geführt  wird.  Sofern  nun  schon 
ein  Geldgut  besteht,  wenn  in  irgendwelchem  Gute  der  Wert 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


111 


anderer  Güter  geschätzt,  gemessen  und  ausgedrückt  wird,  so  ist 
ersichtlich,  daß  es  ztnn  Vorhandensein  des  Geldes  keiner  tausch¬ 
wirtschaftlichen  Organisation  bedarf,  wenn  etwa  der  Geldausdruck 
und  das  Geldgut  nur  bei  der  Erlegung  von  Bußen,  der  Erhebung 
von  Steuern  usw.  in  die  Erscheinung  treten.  Auch  wenn  bei¬ 
spielsweise  im  Rahmen  einer  grundherrschaftlichen  Organisation 
die  Abgaben  in  Geld  umgewandelt  werden,  wenn  der  Arbeits¬ 
lohn  statt  in  Konsumgütern  in  Geld  bezahlt  wird ,  wenn  Zölle 
statt  in  Waren  in  Geld  eingenommen  werden,  so  bedeuten  alle 
diese  Wendungen  zwar  einen  Übergang  von  der  „Natural“-  in  die 
„Geld“wirtschaft,  keineswegs  aber  auch  notwendig  einen  Über¬ 
gang  aus  eigenwirtschaftliche  in  tausch  wirtschaftliche  Verhältnisse. 
Auf  der  anderen  Seite  kann  eine  Tauschwirtschaft  bestehen  in 
friedlichem  Einvernehmen  mit  einer  Naturalwirtschaft.  Denn  der 
Tausch  kann  ohne  Vermittlung  des  Geldes  erfolgen,  die  Pacht¬ 
sätze  können  in  Bodenprodukten  statt  in  Geld  festgesetzt  sein, 
die  Arbeitslöhne  können  in  Nahrungsmitteln  gezahlt  werden: 
alles  inmitten  einer  grundsätzlich  tauschwirtschaftlichen  Organi¬ 
sation. 

Muß  man  die  Begriffe  Eigen-  und  Naturalwirtschaft,  Tausch¬ 
und  Geldwirtschaft  scharf  trennen ,  so  kann  zugegeben  werden, 
daß  die  eigenwirtschafbliche  Organisation  und  die  Naturalwirt¬ 
schaft  ebenso  wie  die  tauschwirtschaftliche  Organisation  und  die 
Geldwirtschaft  in  einem  gewissen  Abhängigkeitsverhältnis  von¬ 
einander  stehen:  geldwirtschaftliche  Verhältnisse  bewirken  oder 
befördern  eine  Auflösung  der  Eigenwirtschaft  und  erzeugen  oder 
festigen  tauschwirtschaftliche  Beziehungen,  ebenso  wie  um- 
o-ekehrt  die  Tauschwirtschaft  aus  sich  heraus  Tendenzen  zur 
Geldverwendung  entwickelt. 

Halten  wir  uns  diese  Zusammenhänge  deutlich  vor  die  Augen, 
so  vermögen  wir  nun  auch  einzusehen,  worin  die  Bedeutung  der 
Edelmetallproduktion  für  die  hier  verfolgte  Umbildung 
der  Eigenwirtschaft  in  die  Tauschwirtschaft  beruht.  Eine 
Vermehrung  des  Edelmetallvorrats  bewirkt  zunächst  (a)  die  Er¬ 
setzung  anderer  Geldgüter  durch  Gold  und  (in  diesem  Fall)  Silber, 
dank  der  diesen  Gütern  anhaftenden  technischen  Vorzüge.  Erst 
mit  der  Einbürgerung  der  edlen  Metalle  als  Geld  wird  dieses  so 
dauerbar,  hochwertig  und  beweglich,  daß  es  bei  ortsfernem  Güter¬ 
tausch  verwendet  werden  kann,  den  es  also  damit  erst  ermöglicht. 
Dasselbe  gilt  von  einer  einigermaßen,  das  heißt  bis  zur  berufs¬ 
mäßigen  Ausübung,  fortgeschrittenen  Spezialisation  der  produktiven 


112 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitaitei' 


Tätigkeit.  Ein  gewisser  Vorrat  an  Metallgeld  ist  also  notwendig, 
damit  diese  Vorbedingungen  tausclr wirtschaftlicher  Organisation 
erfüllt  werden,  und  diese  hat  einen  um  so  größeren  Spielraum, 
sich  zu  entfalten,  je  größer  jener  Vorrat  ist. 

Aber  die  Vermehrung  des  Edelmetallvorrats  wirkt  —  wenig¬ 
stens  in  einem  Stadium  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  wie 
es  Europa  im  10.  und  11.  Jahrhundert  erreicht  hatte,  das  heißt 
zu  einer  Zeit,  in  der  das  Volk  die  Periode  der  Fortbildung 
überwunden  hat  und  die  Edelmetalle  schon  im  wesentlichen  als 
Geldgut  wertet  — ,  noch  unmittelbarer  zersetzend  auf  die  Eigen¬ 
wirtschaft,  das  heißt  also,  die  Tauschwirtschaft  befördernd  ein.  Und 
zwar  dadurch  zunächst,  daß  sie  (b)  an  bestimmten  Stellen  im  Lande, 
eine  Nachfrage  nach  Gütern  erzeugt,  die  durch  Kauf  erworben 
werden  sollen,  so  daß  sie  also  für  den  Austausch  erzeugt  sein 
müssen.  Nun  wird  sich  zwar  in  einer  Sachlage  wie  der,  in  der  sich 
die  Menschen  jener  Epoche  befanden,  diese  Nachfrage  zunächst 
auf  solche  Güter  richten,  die  aus  wirtschaftlich  höher  stehenden 
Gebieten  stammen  und  auf  dem  Wege  des  ortsfernen  Handels 
in  die  unentwickelteren  Gegenden  gebracht  werden:  das  waren 
die  Orientgüter.  Aber  im  Laufe  der  Zeit  wird  die  aus  dem 
Nichts  erwachsende  Nachfrage  der  Edelmetallproduzenten  auch 
im  eigenen  Lande  zur  Produktion  für  den  Absatz  anregen. 

Dazu  kommt  nun,  daß  durch  einen  reicheren  Zustrom  von 
Edelmetallen  (c)  eine  Reihe  von  geldwirtschaftlichen  Beziehungen 
geschaffen  werden,  die  ihrerseits  wiederum  die  tausch  wirtschaft¬ 
liche  Organisation  fördern.  Ich  meine  die  Verwandlung  der 
Naturalzinse  in  Geldzinse,  (oder  gar  ihre  Ablösung  durch  Zahlung 
einer  Hauptsumme),  der  Naturallöhne  in  Geldlöhne,  der  Natural¬ 
zölle  in  Geldzölle ,  und  die  Einführung  der  Geldsteuern.  Alle 
die  in  diesen  Maßnahmen  enthaltenen  Verpflichtungen  zur  Geld¬ 
leistung  setzen  mit  Notwendigkeit  das  Vorhandensein  einer  Mindest¬ 
menge  der  Geldware  voraus  und  können  um  so  leichter  auferlegt 
werden,  je  mehr  Metallgeld  unter  die  Leute  kommt:  die  vorher¬ 
gegangene  Tauschwirtschaft  ermöglicht  so  wiederum  die  Geld¬ 
wirtschaft.  Wird  diese  nun  aber  in  der  gedachten  Weise  durch¬ 
geführt,  so  befördert  sie  dann  natürlich  wieder  die  tausch  wirt¬ 
schaftlichen  Beziehungen:  der  zur  Geldleistung  Verpflichtete 
wird  gezwungen,  Verkäufer  zu  werden,  der  zum  Empfang  der 
Geldleistung  Berechtigte  wird  in  den  Stand  gesetzt,  Käufer  zu 
werden,  wie  wir  das  an  anderer  Stelle  schon  festgestellt  haben. 

Es  mag  endlich  daran  erinnert  werden,  daß  die  Vermehrung 


113 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 

des  Geldvorrates  infolge  der  gesteigerten  Edelmetallproduktion 
noch  andere  geldwirtschaftliche  Verhältnisse  zu  schaffen  o  61 
ins  Große  auszugestalten  geeignet  war,  die  ihrerseits  wieder 
direkt  oder  indirekt  dazu  beitrugen,  die  Eigenwirtschaft  zu  zer¬ 
stören.  Ich  meine  (d)  die  Ausbildung  der  Geldleihe,  die  in  diese 
Jahrhunderte  fällt  und  ihr  gut  Teil  dazu  beigetragen  hat  die 
feudale  Gesellschaft  und  die  ihr  angemessene  eigenwirtschaftliche 
Organisation  aufzulösen.  Da  ich  von  ihr  in  anderem  Zusammen¬ 
hänge  noch  ausführlich  sprechen  werde,  erübrigt  an  diesei 
Stelle  ein  näheres  Eingehen.  Erwähnen  wenigstens  will  ich  hier 
noch,  daß  auch  (e)  die  bedeutungsvolle,  die  Bande  der  Eigen¬ 
wirtschaft  zerreißende  Einführung  geldgelohnter  Truppen,  der 
„Soldati“,  an  die  Voraussetzung  einer  voraufgegangenen  starken 
Vermehrung  der  Edelmetallproduktion  geknüpft  gewesen  ist. 

*  * 
sN 

Alle  jene  Tendenzen,  die  auf  die  Umgestaltung  des  Wirt 
schaftslebens  in  eine  tauschwirtschaftliche  Organisation  hin- 
drängen,  erfahren  nun  aber  eine  ungeheure  Verstärkung  durch 
dasjenige  Ereignis,  dem  ja  auch  in  anderer  Hinsicht  überragende 
Bedeutung  innewohnt:  durch  (5.)  die  Entstehung  der  Stä  e. 
Über  sie ,  die  recht  eigentlich  (nicht  etwa ,  wie  man  woh  ge¬ 
glaubt  hat,  die  Kinder,  sondern)  die  Mütter  der  Tauschwirtscha 
und  der  auf  ihr  aufgebauten  handwerksmäßigen  Ordnung  des 
Wirtschaftslebens  sind ,  über  sie  und  die  Gründe  ihres  Werdens 
und  Wachsens  spreche  ich  ausführlich  in  den  folgenden  Kapiteln. 
Hier  muß  ich  aber  einen  Augenblick  noch  verweilen  bei  den 
Neugestaltungen ,  die  durch  die  sich  entwickelnde  Tauschwirt¬ 
schaft  die  Struktur  der  Gesellschaft  erfährt,  muß  erst  noc 
einiges  aussagen  über  die  Träger  der  neuen  Wirtschaftsverfassung: 
über  Händler  und  Handwerker. 


HI.  Die  Vorstufen  des  berufsmäßigen  Handels 

Tauschwirtschaft  bedeutet  noch  keinen  Handel,  bedeutet  noch 
kein  Handwerk.  Das  heißt:  die  einzelnen  Wirtschaften  können 
durch  das  Band  des  Tausches  (mit  oder  ohne  Vermitt  ung  es 
Geldes)  verknüpft  sein,  ohne  daß  darum  die  tauschvermittelnde 
(händlerische ,  kaufmännische)  oder  die  gewerbliche  (handwerk¬ 
liche)  Tätigkeit  berufsmäßig  von  besonderen  Gruppen  der  Be¬ 
völkerung  ausgeübt  werden  müßten.  Die  gewerbliche  Tätigkeit 
kann  sich  mit  landwirtschaftlicher  paaren,  wie  es  sichei  m  allen 

T  8 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  1. 


114 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Anfängen  der  Tauschwirtschaft  auch  während  des  europäischen 
Mittelalters  die  Regel  bildet;  die  'kaufmännischen’  Funktionen 
können  von  den  Produzenten  selbst  ausgeübt  werden.  Auch 
das  ist  in  den  Anfängen  tausch wirtschaftlicher  Organisation  wohl 
der  normale  Fall,  wenigstens  dort,  wo  es  sich  um  ortsnahen 
Austausch  handelt.  Was  Bauern,  Gutsherrn  und  Gewerbetreibende 
im  engen  Bereich  der  Landschaft  untereinander  auszutauschen 
haben,  ist  ja  bis  in  unsere  Zeit  von  ihnen  selbst  —  ohne  Ver¬ 
mittlung  eines  Händlers  —  ausgetauscht  worden.  Aber  wir  er¬ 
fahren  auch,  daß  in  den  frühen  Zeiten  des  Mittelalters  über  weite 
Strecken  die  Güter  von  ihren  Produzenten  (oder  deren  Be¬ 
auftragten)  selbst  abgesetzt  wurden. 

Wir  sehen  die  Handwerker  mit  ihren  Erzeugnissen  ortsferne 
Messen  beziehen  (wovon  ich  in  einem  andern  Zusammenhänge 
noch  zu  sprechen  habe).  Wir  begegnen  den  kleinen  Salzschiffern 
aus  Venedig  und  Commacchio  auf  den  Flüssen  und  an  den  Küsten 
Italiens.  Wir  treffen  die  Mönche  auf  dem  Wege  zu  entlegenen 
Marktorten1  und  lernen  Bevollmächtigte  der  Kirchen  und  Klöster 
kennen,  die  eigens  angestellt  sind,  um  den  Tauschverkehr  ihrer 
Anstalten  zu  vermitteln,  die  deshalb  geradezu  als  'Kaufleute’, 
'negotiatores’  bezeichnet  werden,  ohne  darum  natürlich  etwas 
anderes  vorzustellen  als  Wirtschaftsbeamte  der  Stifte  und  Klöster2. 

Und  oft  genug,  wenn  wir  in  den  Quellen  von  Güterbewegung 
und  selbst  von  'mercatores’  lesen,  wird  es  sich  um  den  Vertrieb 
der  eigenen  Erzeugnisse  handeln ;  öfter  vielleicht,  als  wir  früher 

1  Siehe  die  lehrreiche  Instruktion  für  marktbesuchende  Mönche, 
die  anhebt:  „periculosum  quidem  est  minusque  honestum  religiosis 
frequentare  nundinas“,  die  dann  aber  doch  ihnen  gestattet,  hinzugehen, 
aber  längstens  drei  Tage  auszubleiben  im  Nomast.  Cisterciense  ed. 
Jul.  Paris.  (1670)  p.  260/61. 

2  Eigene  „negotiatores“  der  Klöster  werden  zum  ersten  Male  er¬ 
wähnt  in  einer  Urkunde  des  Klosters  St.  Denys  vom  Jahre  775,  seit¬ 
dem  öfters.  Imbart  de  la  Tour,  Des  immunites  commerciales  etc. 
in  den  Etudes  .  .  .  dediees  ä  Cf.  Monod  (1896),  p.  79.  Wenn  v.  Below 
(Ztschr.  für  Soz.  u.  W. Gesch.  5,  140  f.)  den  Versuch  eines  quellen¬ 
mäßigen  Nachweises  der  Tatsache,  daß  auch  in  Deutschland  die 
Klöster  usw.  eigene  „negotiatores“  besessen  haben,  als  mißlungen 
krtisiert- ,  so  mag  er  recht  haben.  Daß  aber  die  Einrichtung  der 
eigenen  'negotiatores’  überall,  wo  es  größere  Grundherrschaften  gab, 
bestanden  hat,  kann  wohl  von  niemand  in  Zweifel  gezogen  werden, 
der  sich  einmal  in  die  Lage  eines  Klosters  versetzt  hat,  das  regel- 
mäßig  große  Mengen  eigener  Erzeugnisse  verkaufen  und  dafür  von 
weither  andere  Dinge  einkaufen  muß. 


115 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft 


o-eneigt  waren,  anzunebmen.  Aber  wir  wissen  heute  doc  i 
wenigstens,  daß  wir  nicht  überall  in  den  Texten  des  Mittelalters 
cmercator  ’  mit  '■Kaufmann5  übersetzen  dürfen,  daß  das  Wort  vielmehr 
ebenso  häufig  den  selbstproduzierenden  Marktbesucher  bedeutet  . 

Aber  auch  nachdem  sich  schon  die  Vermittlung  des  Waren¬ 
austausches  als  Verrichtung  besonderer  Personenkategorien  neben 
den  Produzenten  herausgebildet  hat ,  dürfen  wir  nicht  o  ne 
weiteres  auf  die  Existenz  eines  berufsmäßigen  Handels  schließen. 
Zwischen  diesen  und  den  unmittelbaren  Güteraustausch  von  Pro¬ 
duzent  und  Konsument  schieben  sich  vielmehr  noch  zwei  andere 
Entwicklungsstufen  ein ,  die  wir  als  V  o  r  s  t  u  f e  n  d  e  s  b  e  r  u  t  s  - 
mäßigen  Handels  bezeichnen  können.  Es  sind  die  ö tuten 
des  Kaubhandels  und  des  Gelegenheitshandels. 

Der  Kaubhandel  ist  der  Zwillingsbruder  des  Kaubes.  Er 
besteht  darin,  daß  (meistens  berufsmäßig)  Waren  verkauft  werden, 
die  von  den  Verkäufern  weder  produziert  noch  gekauft,  sondern 
durch  Gewalt  erworben  worden  sind.  Man  kann  in  diesem  Falle 
auch  von  einem  einseitigen  Handel  sprechen.  Wie  bekannt,  ist 
das  eigentliche  Feld  der  Tätigkeit  für  den  Kaubhandel  das 
Meer,  wo  er  als  Piraterie  jahrtausendelang  berufsmäßig  ausgeübt 

worden  ist, 

Nur  mit  zwei  Schiffen  ging  es  fort, 

Mit  zwanzig  sind  wir  nun  im  Port ; 

Was  große  Dinge  wir  getan, 

Das  sieht  man  unsrer  Ladung  an. 

Das  freie  Meer  befreit  den  Geist, 

Wer  weiß  da,  was  besinnen  heißt. 

Da  fördert  nur  ein  rascher  Griff, 

Man  fängt  den  Fisch,  man  fängt  ein  Schiff; 

Und  ist  man  erst  der  Herr  zu  drei, 

Dann  hackelt  man  das  vierte  bei; 

Da  geht  es  dann  dem  fünften  schlecht ; 

Man  hat  Gewalt,  so  hat  man  Kecht. 

Man  fragt  ums  Was?  und  nicht  ums  Wie. 


1  Aus  der  umfangreichen  Literatur  über  diese  Frage  sind  zu  ve 
o-leichen:  v.  Maurer,  Städte  Verfassung  1,  322  ff. :  Go.1^sc^m5,  ’ 

Univ.Gesch.  des  Handelsrechts  1  (1891),  127  ff  (mit  reichen  Quellen¬ 
belegen);  W.  V arges,  Zur  Entstehung  der  deutschen aStad(Jv®ria^L^S 
in  den  Jahrbüchern  iav  NÖ.,  HI.  F.  Bd.  VI  (1894),  S  172  ff  205  ff ; 
S  Rietschel,  Markt  und  Stadt  (1897),  42  ff  140  ff  (Zusammen¬ 
fassung)  und  sonst  öfters;  v.  Below,  in  der  Zeitschrift  für  Soz.  und 
Wirtschaftsgeschichte  5,  138,  in  den  Jahrbüchern  für  NO.  20,  23 
H  Pirenne,  Villes ,  marches  et  marchands  au  moyen  age ,  m 

67  (1898),  64ff.  K.  Bücher,  Eotrt.  d.  VW.  ^ 


116  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

wie  die  geistvollste  Abhandlung  von  dem  Piratengewerbe  es  uns 
gelehrt  hat. 

Daß  alle  handeltreibenden  Völker  vor  und  neben  dem  berufs¬ 
mäßigen  Handel  den  Raubhandel  gekannt,  ist  eine  ebenso  sicher 
verbürgte  Tatsache,  wie  es  erwiesen  ist,  daß  das  europäische 
Mittelalter  von  der  Regel  keine  Ausnahme  gemacht  hat  und 
sogar  die  neueste  Zeit  mit  der  Piraterie  noch  als  mit  einer 
allgemein  verbreiteten  Gewohnheit  hat  rechnen  müssen. 

Die  Worte  „lucrurn“  und  „Lohn“  bedeuten  ursprünglich  nichts 
anderes  wie  Beute,  Kampfpreis.  Schräder,  59.  Über  die  All¬ 
gemeinheit  des  Raubhandels  auf  primitiven  Kulturstufen  sprechen 
Schräder,  68  ff. ;  Kulischer,  Jahrbücher  18,  318  f.  und  öfters. 
Viel  Material,  obwohl  nicht  immer  gesichtetes,  enthält  K.  Andre e, 
Geographie  des  Welthandels  1  (1867),  314  ff.  Vgl.  auch  Letourneau, 
L’evolution  du  commerce  (1897),  95  ff.  335  ff.  In  aller  früheren  Zeit 
ist  die  Piraterie  als  ein  durchaus  statthaftes,  nicht  einmal  unehrlich 
machendes  Gewerbe  betrachtet  worden.  Bekannt  ist  die  Anerkennung 
der  Piratenassoziation  (eitl  Xei'av)  durch  das  solonische  Gesetz  sowie 
noch  durch  den  Staatsvertrag  zwischen  Chalaeum  und  Oeanthia  in 
Lokris.  Goldschmidt,  27.  Über  den  Raubhandel  während  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit  spreche  ich  noch  in  anderm  Zusammen¬ 
hang.  Siehe  Kap.  39.  Die  psychologische  Notwendigkeit  des  Raubes 
als  einer  dem  Tausch  voraufgehenden  Art  des  Besitzwechsels  ist  in 
feiner  Weise  entwickelt  worden  von  G.  Simmel,  Die  Psychologie 
des  Geldes  (1900),  53  ff.  Eine  poetische  Verherrlichung  des  Raubes 
liest  man  in  dem  Beduinenroman  „Anthar“.  Translated  from  the  Arabio 
by  Terrick  Hamilton.  1819. 

Eine  zweite  Vorstufe  des  berufsmäßigen  Handels,  die  aber 
Läufig  neben  jener  eben  erwähnten  herläuft,  ist  diejenige  Form 
der  Warenvermittlung,  die  ich  den  Gelegenheitshandel 
nenne.  Dieser  wird  dadurch  gekennzeichnet,  daß  er  zwar  bereits 
zweiseitiger  Handel  ist,  das  heißt  also  auf  dem  Einkauf  von 
Waren  zum  Zweck  des  Verkaufs  beruht,  daß  ihm  aber  zur  vollen 
Wesenheit  des  Handels  noch  die  Berufsmäßigkeit  mangelt.  Die 
Handelstätigkeit  wird  vielmehr  auf  dieser  Stufe  gelegentlich, 
gleichsam  im  Nebenberufe,  von  beliebigen  Personen  (die  nur 
nicht  selbst  die  Produzenten  der  gehandelten  Waren  sind)  aus¬ 
geübt.  Auch  der  Gelegenheitshandel  ist  eine  in  allen  primi¬ 
tiven  Kulturen  verbreitete  Erscheinung  (Häuptlingshandel!)  und 
spielt  insbesondere  im  europäischen  Mittelalter  eine  bedeutend 
größere  Rolle,  als  die  bisherigen  Darstellungen  des  mittelalter¬ 
lichen  Handels  vermuten  lassen.  Wie  ich  noch  in  anderem  Zu¬ 
sammenhänge  in  diesem  Werke  glaube  nachweisen  zu  können. 

Eine  besonders  wichtige  Form  des  Gelegenheitshandels  ist 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  117 

das,  was  man  den  Saisonhandel  nennen  könnte:  der  Handel, 
den  namentlich  Bauern  neben  ihrer  landwirtschaftlichen  Tätig¬ 
keit  ausüben.  Ich  glaube,  daß  diese  Kreuzung  zwischen  Handel 
und  Landwirtschaft  im  frühen  Mittelalter  mindestens  ebenso 
häufig  war  wie  zwischen  Gewerbe  und  Landwirtschaft 1 2 * *. 


IV.  Die  Anfänge  des  berufsmäßigen  Handels 

Nun  würde  man  aber  zweifellos  irren,  wollte  man  für  irgend¬ 
eine  Zeit  des  europäischen  Mittelalters  die  Existenz  auch  b  e  - 
rufsmäßiger  Kaufleute  oder  wenigstens  als  solche  geltender, 
von  den  übrigen  Bevölkerungsklassen  scharf  unterschiedener 
Personen  leugnen.  Die  Quellen  gerade  auch  des  frühen  Mittel¬ 
alters  stellen  oft  genug  die  Megotiatores5  bewußt  in  einen  Gegen¬ 
satz  zu  den  übrigen  Bewohnern  eines  Ortes2 * * *,  und  auch  die 
Privilegien,  die  den  ‘negotiatores’  namentlich  in  der  Merowmger- 
und  Karolingerzeit  zuteil  werden,  kraft  deren  sie  vom  König 
ein  eigenes  (personales)  Hecht  erhalten,  dem  sie  in  allen  Teilen 
des  Deiches  unterstehen,  macht  die  Annahme  wahrscheinlich, 
daß  in  jener' Zeit  schon  eine  besondere  Klasse  berufsmäßiger 
Händler  dagewesen  sei. 

Wer  waren  diese  Händler  des  frühen  Mittelalters  ?  Zunächst 
ihrer  Herkunft  nach? 

Man  kann  zusammenfassend  sagen :  in  den  Amängen  großen¬ 
teils  Fremde.  Anderen  Nationen  voran:  die  Syrer.  Die  nego¬ 
tiatores  syrici  bildeten  bis  zum  Ausgang  des  7.  Jahrhunderts 
des  Bindeglied  zwischen  Asien  und  Mitteleuropa.  „Bis  heute 
wohnt  in  den  Syrern  solch  ein  eingeborener  Geschäftseifer,  sagt 


1  .Die  gotischen  Kaufleute  (von  der  Insel  Gotland),  die  Nowgorod 

und  England  besuchten,  wohnten  alle  auf  dem  Lande  und  waren 
Bauern.  °  Al.  Bugge,  a.  a.  0.  S.  267.  Auch  die  „negotiatores 
waren  •  ansässig  und  .  .  .  bedurften  der  Weideländereien“.  Hart¬ 
mann,  Zu  W.Gesch.,  112,  .  ,  „  . 

2  In  Vico  qui  hodieque  Trajectus  (Maestncht  a.  828)  vocatur 

est  que  Habitantium  et  praecipue  negotiatorum  multitudme 

frequentissimus“.  Eginardi  Historia  de  transl.  S.  Marcellini  c.  81 

zit.  bei  Eerd.  Henaux,  Histoire  du  pays  de  Liege  1  (1872),  lob. 

Forum  quoque  quod  erat  ante  portam  -mediam  (sc.  Trevir.)  con¬ 

stitutum  et  frequentia  comprovincialium  satis  celebre  et  famosum  orto 
jnter  cives  et  ne g o  ti ato r  e  s  gravi  simultate,  ex  ®°  lo°° 

satiam  translatum  est.“  Gesta  Trevirorum ,  24.  MG.  SS  8,  162. 

Gehört  hierher  auch  die  Wendung  (MG.  Dipl.  No.  198) :  „mhabitan  nbus 

aut  in  posterum  habitaturis  negotiatoribus  sive{.)  Judaeis  , 


118 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übexgangszeitalter 


Martian  in  seinen  Erklärungen  zu  Ezechiel,  daß  sie  des  Gewinnes 
wegen  die  ganze  Erde  durchziehen;  und  so  groß  ist  ihre.  Lust 
zu  handeln,  daß  sie  überall  iin  römischen  Reich  zwischen  Kriegen, 
Mord  und  Totschlag  Reichtümer  zu  erwerben  trachten.“ 1 

Nach  ihnen  kamen  die  Juden,  die  nicht  mit  den  syrischen 
Kaufleuten  gleichgesetzt  werden  dürfen,  wie  es  Kiesselbach 
tut.  Auch  sie  waren  ja  „Fremde“  in  allen  Ländern  Europas 
geworden,  nachdem  sie  aufgehört  hatten,  als  cives  Romani  be¬ 
trachtet  zu  werden2.  Die  Erwähnung  der  Juden  in  den  Quellen 
des  Merowinger-  und  Karolingerreichs  in  der  fast  stereotypen 
Form  „vel  Judaei  vel  ceteri  ibi  manentes  negotiatores“  ist  so 
häufig3,  daß  wir  eine  starke  Beteiligung  der  Juden  am  Handel 
jener  Zeit  ohne  weiteres  annehmen  dürfen. 

Außer  den  Juden:  in  Italien  Araber,  Libyer,  Afrikaner4 5  und 
Griechen6;  in  Spanien  Nordafrikaner6;  im  Norden  dieselben 
Völker  und  dazu  Italiener7.  London  wird  im  8.  Jahrhundert 
„multorum  emporium  populorum“  genannt8.  Ebenso  Paris9. 
Von  den  „transmarini  negotiatores“  ist  in  den  Quellen  des  frühen 

1  W.  Kiesselbach,  Der  Gang  des  Welthandels  (1860),  25. 
Vgl.  Scheffer-Boichorst,  Zur  Geschichte  der  Syrer  im  Abend¬ 
lande  (Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichts¬ 
forschung  VI). 

2  J.  Schipper,  Anfänge  des  Kapitalismus  bei  den  abendländischen 

Juden  (1907),  14.  G.'  Caro,  Soz.  u.  WG.  der  Juden  usw.  1 

(1908),  53  ff.  128  ff.  Vgl.  noch  besonders  die  gute  Arbeit  von 
R.  Saitschik,  Beitr.  zur  Gesch.  der  rechtl.  Stellung  der  J.,  namentlich 
im  Gebiete  des  heutigen  Oesterr.-Ungarn  vom  10. — 16.  Jahrh.,  Berner 
In.Diss.  1890,  S.  2  ff. 

3  Siehe  z.  B.  Cap.  de  discipl.  pal.  809.  Cap.  de  Judaeis  814. 
Cap.  832  (MG.  Cap.  Reg.  Franc.  1,  363).  Ansegisi  Cap.  (Cap.  Reg. 
Franc.  1,  410)  MG.  Dipl.  No.  29.  198.  300. 

Und  vgl.  Heyd,  Lev.Handel  1,  87.  Inama,  DWG.  1,  448. 
Goldschmidt,  107  ff.  Schulte,  1,  77  f.  Schaube  (siehe  Sach¬ 
register  s.  h.  v.),  J.  Schipper,  Anfänge  usw.,  S.  15  ff. 

4  Schaube,  33  (Amalfi)  allerdings  im  11.  sc. 

5  Davidsohn,  Gesch.  v.  Florenz  1,  39  f. 

6  F.  Dahn,  Bausteine  2,  301  f. 

7  Schulte,  Jacob,  Heyd.  Für  das  Frankenreich  viele  Hin¬ 
weise  bei  F.  Dahn,  Könige  der  Germanen  VIII.  4,  232  ff. 

8  Beda,  Hist.  eccl.  bei  Anderson,  Orig,  of  Comm. 

9  „de  omnes  nationes  quod  ibidem  ad  ipso  marcado  adveniunt“. 
Urk.  v.  769  bei  Mabillon,  de  re  dipl.  p.  496,  zit.  von  v.  Maurer, 
St.V.  r,  254. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  119 

Mittelalters  die  Rede1.  In  Bremen  finden  wir  im  11.  Jahrhundert 
neo-otiatores  qui  ex  omni  terrarum  parte“  gekommen  waren  . 

”  öAber  wir  hören  doch  auch  frühzeitig  von  nordischen  Völkern, 
daß  sie  sich  aktiv  am  Handel  beteiligen,  freilich  ob  als  Berufs¬ 
händler  oder  nur  als  Gelegenheitshändler  verraten  uns  die 

Quellen  nicht.  ^  ..  ,  , 

So  treffen  wir  im  9.  Jahrhundert  auf  den  Donaumarkten 

Sclavi,  qui  de  Rugis  vel  de  Boemanis  mercandi  causa  exeunt“, 
um  hier  Pferde  und  Sklaven  gegen  Wachs  und  anderes  ein¬ 
zutauschen* 3.  Wir  begegnen  russischen  Kaufleuten  aus  Kiew, 
Gernigow  und  Perejaslawl  im  10.  Jahrhundert  m  Konstantinopel, 
wohin  sie  auf  dem  Dnjepr  gefahren  waren,  um  Seidenstoffe, 
goldgewirkte  Stoffe,  Wein,  Stiefel  aus  Saffian,  Gewürze  gegen 
Pelzwerk,  Wachs  und  Sklaven  einzuhandeln4. 

Und  sicherlich  haben  sich  den  fremden  Kaufleuten  bald  ein¬ 
heimische  hinzugesellt,  in  dem  Maße,  wie  die  einzelnen  Lander 
sich  wirtschaftlich  hoben.  Die  aufkommenden  Städte  finden 
schon  überall  einen  Stamm  einheimischer  Händler  vor,  von  denen 
uns  aber  gelegentlich  auch  schon  aus  viel  früherer  Zeit  die 

Quellen  Kunde  geben  .  .  ..  n-i  •.  6 

Welcher  Art  der  Geschäftsbetrieb  dieser  „Großhändler 

in  vorstädtischer  Zeit  war,  werden  wir  uns  auf  Grund  unserer 
Kenntnisse  vom  Gesamtcharakter  des  Wirtschaftslebens  leie 
vorstellen  können,  auch  wenn  uns  die  Quellen  nicht  so  reici- 
liches  Material  an  die  Hand  gäben,  wie  sie  es  tun.  _ 

Es  waren  kleine  Schnorrer,  ‘Marktbesucher’,  wie  sie  heute 
noch  auf  den  Jahrmärkten  der  kleinen  Städte  sich  regelmäßig  ein¬ 
finden,  Packenträger,  Hausierer,  die  mit  ihrer  Hucke  ihr  emSaum- 
tier  oder  ihrem  Karren  von  Dorf  zuDorf,  von  Herrensitz  zu  Herren¬ 
sitz  zogen,  wie  heute  noch  in  abgelegenen  Gebirgsgegenden,  kleine 
Schiffer,  wie  sie  auf  unsern  Strömen  längst  ausgestorben  smc 
mit  denen  verglichen  der  Schiffer  Wulkow  ein  Großreeder  ist. 

i  Lex  Wisigothor.  lib.  XI.  tit.  III. 

3  tnqm  de^theloneis  Raffelstettensis  (903—906)  MG.  Cap.  5,  251. 

5  Man^enlm  an  den  Hühner- Tkorir !  In  den  Gesetzen  des  Kg. 


120 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Daß  es  keinen  seßhaften  Handel  vor  Entstehung  der  Städte  gab, 
jst  wohl  nicht  zu  bezweifeln.  Die  Regel  seit  dem  8.  und  9.  Jahr- 
hundert  wai  dei  Markt-  und  Meßhandel  (über  den  ich  im  weiteren  Ver¬ 
lauf  noch  einiges  mitteilen  werde).  Vorher  wird  der  H  a  u s  i  e  r  h  a  nd  e  1 
die  Regel  gebildet  haben,  der  aber  natürlich  auch  neben  dem  Markthandel 
Weiterbestand:  „omnium  negotiatorum  sive  in  mercato  sive  aliubi 
negotientur“  (Cap.  de  disc.  pal.  809.  c.  2  Cap.  Reg.  Fr.  1,  158)  be¬ 
stätigt  auch  „quellenmäßig“  seine  Existenz. 

Eine  russische  Urkunde  nennt  noch  im  Jahre  1190  die  in  Nowgorod 
verkehrenden  Gotländer  „Waräger“.  Bugge,  a.  a.  O.  S.  250.  b Das 
Wort  ‘Waräger’  (BAPHL'B)  existiert  noch  im  Russischen;  es  bedeutet 
„einen  herumziehenden  Krämer;  Hausierer,  Ankäufer“. 

Die  Ti  ansportmittel  zu  Lande  waren  die  Karre  oder  das  Saumtier 
(z.  B.  „cum  carris  et  saumariis“  Dipl.  Lud.  P.  a.  831  beiGuerard, 

1,  787)  oder  der  eigene  Rücken  (Sclavi  etc.  —  siehe  oben  S.  119  _ - 

„de  onere  unius  hominis  massiola  una  solvere  cogantur“.  MG. 
Cap.  2,  251)  oder  (wenn  irgend  möglich)  das  Schiff?  Der  Handel 
war  Flußhandel,  soweit  es  irgend  die  Verhältnisse  gestatteten.  Daher 
schon  frühzeitig  das  Streben  der  Grundherrn  nach  Flußhäfen :  siehe 
die  zahlreichen  Beispiele  bei  Imbart  de  la  Tour,  1.  c.  p.  76  Für 
das  Vorwiegen  des  Flußhandels  zeugt  die  Verwendung  von  ‘port’  und 
Handelsplatz  als  Synonyma  im  frühmittelalterlichen  England:  Mait- 
land,  1.  c.  p.  195  f. ,  dgl.  von  ‘portus’  in  Flandern  (poorter?) 
Pi  renne,  Revue  histor.  57,  75. 

.Über  ^en  ^'ransPor*:  zur  See  in  jener  Zeit  handelt  ausführlich 
w  it.  freüiah  unter  vorwiegend  technologischem  Gesichtspunkte) 
Walther  Vogel,  Zur  nord-  und  westeuropäischen  Seeschiffahrt  im 
frühen  Mittelalter  (Hans.  Gesch.Bl.  1907,  1.  Heft  S.  153—205). 

Uber  den  Umfang  jenes  frühmittelalterlichen  Handels  würden 
wir  uns  ebenfalls  schon  ein  deutliches  Bild  mit  Hilfe  der  bereits  mit¬ 
geteilten  Tatsachen  machen  können.  Er  war  natürlich  winzig.  FoKende 
Angaben  bestätigen  die  Richtigkeit  dieser  Annahme  „quellenmäßig“: 

Die  Flußschiffe  wurden  gewöhnlich  von  drei  Mann  bedient:  de 
unaquaque  navi  legittima,  id  est  quam  tres  homines  navigant“.  Raffelst. 
ZollO.  MG.  Cap.  2,  251.  Diesen  Größenverhältnissen  entspricht  es 
wenn  wir  hören,  daß  man  die  Bote  an  Pfählen  befestigte,  die  jedesmal 
Z*Ui  ,,iesfm  Zwecke  erst  eingeschlagen  wurden.  Priv."  Bereng.  II  und 
Adalb.  (22.  9.  95l).  Cod.  Lang.  No.  595  p.  1019;  oder  daß  man  sie, 
um  Stromschnellen  zu  entgehen,  ein  Stück  über  Land  trug  (bei  der 
Dnj epr- Schiffahrt),  A.  Bugge,  a.  a.  O.  S.  247. 

In  einem  Handelsverträge ,  den  ein  byzantinischer  Kaiser  mit 
russischen  Kaufleuten  abschloß  (10.  sc.),  wurde  diesen  gestattet,  einen 
Monat  in  Konstantinopel  zu  verweilen.  Doch  durften  nicht  mehr  als 
50  Kautleute  auf  einmal  kommen,  und  keiner  durfte  für  mehr 
als  50  Gulden  Seidenstoffe  einkaufen.  Bugge,  a  a  O 
S.  246.  66 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  121 

V.  Die  Anfänge  des  Handwerks 

Und  wie  sckante  es  mit  den  ge  werk  licken  ‘Handwerkern' 
in  der  Hier  betrackteten  Epocke,  also  bis  zum  Beginn  der  Städte, 
aus?  Gab  es  freie  Handwerker  im  Sinne  von  selbständigen  ge¬ 
werblichen  Produzenten?  - 

Ick  fürckte,  auf  diese  Prägen  werden  wir  nie  eine  befriedigende 
Antwort  erkalten.’  Jedenfalls  müßten  ganz  neue  und  unbekannte 
Quellen  erschlossen  werden.  Das  Material,  das  wir  heute  be¬ 
sitzen,  läßt  aHe  möglichen  Deutungen  zu. 

Ziemlich  klar  sehen  wir,  wie  sich  die  gewerblichen  Arbeiter 
auf  den  Grundherrschaften  allmählich  zu  selbständigen  Hand¬ 
werkern  entwickeln :  wie  sie  zuerst  nur  einen  Teil  ihrer  Arbeits¬ 
kraft  verwenden  dürfen ,  um  für  das  große  Publikum  gegen 
Entgelt  zu  arbeiten:  Status  der  lex  Burg. 1 ;  wie  dann  die  Eigen¬ 
arbeit  je  mehr  und  mehr  zur  Hauptsache  wird  und  dem  Grund¬ 
herrn  nur  noch  bestimmte  Arbeiten  in  beschränktem  Umfange 
zu  leisten  sind :  Status  etwa  des  älteren  Straßburger  Stadtrechts ; 
bis  endlich  auch  diese  Verpflichtungen  ohne  Gegenleistung  ent¬ 
fallen  oder  dem  Grundherrn  abgekauft  werden.  Das  Interesse 
des  Grundherrn  an  den  gewerblichen  Leistungen  seiner  Hinter¬ 
sassen  erlosch  und  wurde  verdrängt  durch  das  Interesse  an  einem 
regen  Marktverkehr. 

Aber  ob  es  von  jeher  neben  den  gewerblichen  Fronhof¬ 
arbeitern,  die  großenteils  wie  wir  sahen  im  Dorfe  saßen,  „freie“ 
Handwerker  gegeben  habe ,  das  scheint  mir ,  können  wir  nur 
vermuten2.  Dafür  spricht  die  Erwägung,  daß  es  in  den  Dörfern 

1  „Quicunque  vero  servum  suum  aurificem,  argentarium,  ferrarium, 
fab  rum  aerarium,  sartorem  vel  sutorem,  in  publico  attributum  artificium 
exercere  permiserit  .  .  .“  Lex  Burg.  tit.  XXI  §  2. 

2  Trotz  des  nun  schon  mächtig  abgegriffenen  „puer  Parisiacus 
cuius  artis  erat  vestimenta  componere“,  der  „ingenuus  genere“  war 
(Greg.  mir.  S.  Martini  2,  58  bei  Maurer,  Fronhöfe  1,  181  und  überall 
sonst,  wo  von  den  „Anfängen  des  Handwerks“  die  Rede  ist).  Denn 
wir  wissen ,  daß  ein  ‘homo  ingenuus’  fronpflichtig  sehr  wohl  sein 
konnte.  Verwechslung  der  persönlichen  mit  der  Produktionsfreiheit! 
Siehe  „Mod.  Kap.“  1.  Aufl.  1,  88.  Noch  viel  weniger  beweist  natürlich 
der  ‘faber  publice  probatus’  der  Lex  Alam.  LXXIV.  5  für  die  Existenz 
eines  „freien“  Handwerks.  „Publice  probatus“  heißt  nicht  etwa 
„öffentlich  geprüft“  oder  so  etwas  Ähnliches,  sondern  nur  „öffentlich“  = 
allgemein  erprobt  und  wird  vom  Arbeiter  m  dei  herrschaftlichen  "Wirt¬ 
schaft  ausgesagt,  wie  neuerdings  mit  guten  Gründen  behauptet  worden 
ist  von  C.  Ko  ebne  in  der  Vierteljahrschrift  für  Soz.  und  WG.  4, 


122 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitaiter. 


doch,  auch  gewerbliche  Arbeiter  gab,  auch  schon  in  der  Zeit  der 
Volksfreiheit,  und  daß  sicher  nicht  alle  Dörfer  oder  Dorfinsassen 
in  den  grundherrlichen  Nexus  verstrickt  wurden.  Dafür  spricht 
eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  (mehr  nicht!),  daß  sich,  wenig¬ 
stens  in  Italien,  Beste  des  römischen  Handwerks  in  das  Mittel- 
alter  hinüber  gerettet  haben.  Die  besten  Kenner  des  italienischen 
Frühmittelalters  nehmen  es  an* 1  (die  Quellen  schweigen  vom  7. 
bis  zum  11.  Jahrhundert!).  Dasselbe  gilt  von  den  Bömerstädten 
außerhalb  Italiens.  D afür  spricht  die  Existenz  von  gewerblichen 
Wanderarbeitern,  die  doch  also  unmöglich  in  irgendeiner  Ab¬ 
hängigkeit  von  einem  Grundherrn  gestanden  haben  können. 
Auf  diese  „Wanderhandwerker“  sollten  die  Forscher,  deren 
Spezialität  „die  Anfänge  des  Handwerks“  sind,  ihr  Hauptaugen¬ 
merk  richten.  Wenn  überhaupt  zwischen  500  und  1000  ein 
„freies“  „Handwerk“  in  nennenswertem  Umfang  bestanden  hat, 
so  sicher  in  der  Form  des  Wanderhandwerks,  dessen  Hauptver¬ 
treter  wohl  die  Bauhandwerker  gewesen  sein  werden.  Ich  ver¬ 
weise  einstweilen  auf  folgende  Quellenstellen: 

Edict.  Bothari  (a.  643)  ed.  F.  Bluhme,  p.  29  (lex  144):  „si 
magister  commacinus  cum  collegantes  suos  cuiuscunque  domum  ad 
restaurandam  vel  fabricandam  super  se,  placitum  finito  de  mercedes, 
susceperit.“  Wozu  zu  vergleichen  wäre  die  Anmerkung,  die  Muratori 
zu  dieser  Lex  macht,  und  Thom.  Hodgkin,  Italy  and  her  Invaders 
600—744.  6  (1895),  191. 

186  ff.  Im  Vorbeigehen:  K.  irrt,  wenn  er  meint,  der  aurifex  käme 
nur  in  denjenigen  Volksrechten  vor,  „wrnlche  die  lediglich  auf  römischen 
Kulturgebieten  sich  niederlassenden  germanischen  Völkerschaften, 
Burgunder  und  Westgoten,  sich  gaben“.  Auch  die  Lex  Salica  X  hat 
den  aurifex.  Ganz  unzulässig  ist  es  aber,  aus  der  Auffassung  von 
gewerblichen  Arbeitern  (faber,  carpentarius  etc.)  als  Zeugen  in  Ur¬ 
kunden  auf  ein  selbständiges  Handwerk  zu  schließen.  Einen  Überblick 
über  den  Stand  der  Forschung  gibt  Walther  Müller,  Zur  Frage 
des  Ursprungs  der  mittelalterlichen  Zünfte.  1910.  An  diese  Schrift, 
die  die  S  e  e  1  i  g  e  r  sehe  Auffassung  vertritt ,  knüpft  sich  wieder  ein 
Streit;  siehe  v.  Below  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.Wiss.  1912,  in  der 
Vierteljahrs  sehr.  f.  Soz.  u.  WG.  12  (1914);  sowie  Seeliger  und 
Sander  in  der  Historischen  Vierteljahrsschrift.  1913.  Neue  Er¬ 
gebnisse  sind  nicht  zutage  gefördert.  Vgl.  auch  B.  Eberstadt, 
Entstehung  des  Zunftwesens.  2.  Aufl.  1916. 

1  L.  M.  Hartmann,  Urkunde  einer  römischen  Gärtnergenossen¬ 
schaft  vom  Jahre  1030  (1892),  S.  1.0  ff. ;  Derselbe,  Zur  Geschichte 
der  Zünfte  im  frühen  Mittelalter  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.  u.  W.Gesch. 
3,  109  ff. ;  Derselbe,  Zur  W.Gesch.  Italiens,  S.  94  ff.  (Daselbst 
S.  16  ff.  ist  auch  der  an  zweiter  Stelle  genannte  Aufsatz  wieder  ab- 
gedruckt.)  Vgl.  auch  Hegel,  Städteverf,  Ital.  2,  61  ff. 


Achtes  Kapitel:  Die  Wiedergeburt  der  Tauschwirtschaft  123 

Liutprant  Leges  Anni  VIII  Cap.  18  (713—735)  ed.  Blulime, 
p.  93:  „si  quis  ad  negotium  peragendum  vel  pro  qualicunque 
artifioio  intra  provincia  vel  extra  provincia  ambola/verit  et  in  ties 
annos  regressus  non  fuerit  .  .  Urk.  Ottos  I. :  „quanticunque  negotia- 
tores  vel  ar tific e s  seu  et  Frisones  apud  Worm.  urbem  advenissent  . 
(Hier  kann  aber  auch  von  Handwerkern  die  Eede  sein,  die  ihre  Er¬ 
zeugnisse  nach  Worms  bringen;  immerhin  läuft  es  auf  dasselbe  hinaus, 
■wenn  sie  (von  wo  anders  her)  nach  Worms  kommen  konnten,  mußten 
sie  Produktionsfreiheit  besitzen,  „frei“  sein,  Handwerker  sein.) 

Freie  Wanderhandwerker  waren  wohl  auch,  wenigstens  zum  l  ei , 
die  gewerblichen  Arbeiter,  die  Karl  d.  Gr.  bei  seinen  Bauten  be¬ 
schäftigte:  Ad  cuius  (basilicae)  fabricam  de  omnibus  cismannis  regio - 
nibus  magistros  et  opitices  omnium  id  genus  artium  advocavit.  Super 
quos  unum  abbatem  cunctorum  peritissimum  ad  executionem  opens  .  . 
constituit  .  .  Provid  .  .  Karolus  quibuscumque  pnmonbus  .  .  praecepit,  , 
ut  opifices  a  se  directos  omni  industria  sustentare  et  cuncta  ad  opus 
illud  necessaria  subministrare  curarent.  Qui  vero  ex  longmquis  partibus 
advenissent,  commendavit  eos  praeposito  domus  suae  .  .  ut  eos  de 
publicis  rebus  aleret  et  vestiret  .  .  .“  Mon.  Sang.  Gesta  Kar.  Lib. 

SS  28  31-  Mon.  Germ.  SS.  2,  744.  745. 

'  Besonders  lehrreich  scheint  mir  auch  folgender  Bericht  über  den 
Bau  der  Abtei  Hyde  in  Hampshire ,  den  ich  noch  nirgends  verwertet 
gefunden  habe;  der  Bau  fand  im  Jahre  902  statt  und  wird  wie  folg, 

vom  Chronisten  beschrieben :  .  „  , 

Artificibus  itaque  plurimis  et  operariis  coadunatis,  jactisque  iunda- 
mentis,  coeptum  opus  quotidie  certatim  acceleravit  et  m  duobus  anms, 
SLd  mirum  est  dictu  et  difficile  videtur,  perfecit.  Hex  autem  magnam 
pecuniam  et  largis  diversarum  specierum  doms  in  argento  et  auro 
sancto  patri  obtuht.“  Lib.  Mon.  de  Hyda  ed.  Edward  Edwards 

( 1 8  Alsdann :  Künstler  und  Arbeiter  «wurden  von  auswärts  angeworben 
und  mit  Geld  gelohnt.  Das  können  nicht  nur  fronpflichtige  Gewerb- 
leute  gewesen  sein.  Diese  Stelle  scheint  mir  besser  a  s  irgendeine 
andereSdas  Vorhandensein  eines  „freien“  (W ander )Handwerks  im  9.  Jahr 
hundert  zu  erweisen.  Daß  es  sich  in  ganz  bescheidenen  Grenzen  hielt 
versteht  sich  von  selbst.  Aber  da  war  es  sehr  wahrscheinlich  Und 
das  ist  bedeutsam  geworden  für  den  ganzen  weiteren  Verlauf  dei 

Geschichte. 


124 


Neuntes  Kapitel 

Zur  Theorie  der  Städtebildung 

I.  Der  Begriff  der  Stadt 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  fast,  als  ob  das  Wort  „Stadt“ 
ziemlich  eindeutig  ein  ganz  bestimmtes  Phänomen  bezeichne. 
Wenigstens  steigt  vor  unserem  geistigen  Auge,  wenn  wir  das 
Wort  nennen  hören,  ein  klar  umschriebenes  Bild  auf:  das  Bild 
einer  Ansiedlung  vieler  Menschen  in  Häusern  und  Straßen,  wo¬ 
möglich  mit  Mauern  und  Zinnen  umgeben,  einer  Ansiedlung,  die 
sich  scharf  gegen  das  „platte  Land“  abhebt  und  die  auf  der 
Landkarte  mit  einem  mehr  oder  weniger  großen  Punkte  be¬ 
zeichnet  wird.  Etwa  das  Bild  Nürnbergs  wie  es  uns  Albrecht 
Dürer  gezeichnet  hat.  Schauen  wir  aber  genauer  hin,  versuchen 
wir  mit  Worten  zu  sagen,  was  wir  unter  einer  „Stadt“  verstehen, 
das  heißt  also:  versuchen  wir  den  Begriff  der  Stadt  scharf 
und  eindeutig  hinzustellen,  so  werden  wir  sehr  bald  gewahr,  daß 
das  gar  nicht  so  einfach  ist.  Wir  merken,  daß  die  Merkmale 
des  Begriffes  Stadt  keineswegs  feststehen.  Nicht  im  täglichen 
Sprachgebrauch;  aber  auch  nicht  (oder  vielmehr  noch  viel 
weniger)  in  der  Wissenschaft. 

Um  nur  aus  der  Literatur  über  mittelalterliches  Städtewesen 
einige  Beispiele  anzuführen:  am  meisten  verbreitet  dürfte  die 
Definition  v.  Maurers  sein:  „Städte  sind  ummauerte  Dörfer“, 
die  sich  an  den  bekannten  Spruch  des  Mittelalters  anschließt: 
„burger  und  gebauer  zweiet  nichts  als  zaun  und  mauer.“  Da¬ 
gegen  protestiert  ein  anderer  Gelehrter 1 :  „Nicht  Mauer  und 
Graben,  nicht  die  Zahl  der  Einwohner,  nicht  die  Blüte  des 
Handels  und  Gewerbes  geben  das  entscheidende  Kennzeichen 
einer  Stadt.  Der  frei  von  den  Bürgern  gewählte  durch  die  be¬ 
treffende  Oberbehörde  bestätigte  Stadtrat  ist  das  sichere  Kenn¬ 
zeichen  der  in  ihre  volle  Blüte  eingetretenen  deutschen  Stadt. 

1  K.  H.  Roth  von  Schreckenstein,  Das  Patriziat  in  den 
Städten  (1856),  28. 


Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung  125 

Ln  Itatssiegel  symbolisiert  sieb  nicht  weniger  als  in  der  Mauer 
der  rechtlich  anerkannte,  organisierte  Unterschied  zwischen  Stadt 
und  Land.“ 

Etwas  anders  gefärbt  erscheint  derselbe  Gedanke  bei 
Kalls  en1:  „Nicht  die  Aussonderung  eines  Ortes  von  dem  um¬ 
gebenden  Lande  durch  eine  ihn  umschließende  Mauer,  sondern 
das  im  Schutz  der  Mauer  erwachsende,  eigenartige  auf  selb¬ 
ständiger  Gemeinde  Verbindung  beruhende  Leben  ist  das  Charakte¬ 
ristische  der  Stadt.“ 

Die  Stadt  ist  ein  Ort,  dem  Marktrecht  verliehen  ist;  „die 
Stadt  ist  eine  Marktansiedluug“,  sagen  die  Vertreter  der  Markt¬ 
rechtstheorie. 

Noch  andere  verlangen,  daß  mehrere  Merkmale  Zusammen¬ 
treffen,  um  den  Begriff  „Stadt“  zu  bilden:  ein  Ort  muß  be¬ 
festigt  und  er  muß  der  Mittelpunkt  eines  Burgwards  sein 2 ; 
er  muß  befestigt,  befriedet,  im  Besitze  des  usus  negotiandi  und 
eine  Korporation  des  öffentlichen  .Rechtes  sein3.  „Die  Stadt 
hat  einen  Markt  ...  Sie  ist  von  einer  Befestigung  umgeben. 
Sie  bildet  einen  besonderen  Gerichtsbezirk  .  .  .  Sie  besitzt 
größere  Unabhängigkeit  in  Gemeindeangelegenheiten  und  einen 
größeren  Reichtum  der  Gemeindeeinrichtungen  ...  als  die  Land¬ 
gemeinden  .  .  .  Sie  ist  endlich  in  bezug  auf  die  öffentlichen  .  .  . 
Leistungen  und  Pflichten  vor  dem  platten  Lande  bevorzugt  .  .  . 
Die  Privilegierung  ist  überhaupt  das  Kennzeichen  der  mittel¬ 
alterlichen  Stadt“  4. 

Sehr  nett  definiert  Johann  Heinrich  Gottlob  von  Justi  in 
seiner  „Staatswirtschaft“  (1758)  Bd.  I  §  477  die  Stadt:  „Eine 
Stadt  ist  ein  Zusammenhang  von  Gesellschaften,  Familien  und 
einzelnen  Personen,  die  in  einem  verwahrten  Orte  unter  Auf¬ 
sicht  und  Direction  eines  Policeycollegii ,  welches  man  einen 
Stadtrat  nennet,  oder  anderer  zur  Handhabung  der  Policey- 
anstalten  verordneten  obrigkeitlichen  Personen  bey  einander 
wohnen,  um  mit  desto  besserem  Erfolge,  Wirkung  und  Zu¬ 
sammenhänge  solche  Gewerbe  und  Nahrungsarten  zu  treiben, 

1  0.  Kallsen,  Geschichte  der  deutschen  Städte,  S.  238. 

2  Seb.  Schwarz,  Anfänge  des  Städtewesens  in  den  Elbe-  und 
Saalegegenden  (1892),  S.  10. 

s  W.  Varges,  Zur  Entstehung  der  deutschen  Stadtverfassung  in 
den  Jahrbüchern  für  Nat.wkon.  III.  F.  6,  164. 

4  G.  v.  Below,  Das  ältere  deutsche  Städtewesen  und  Bürgertum 

(1905),  4/5. 


126 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


die  unmittelbar  sowol  zu  der  Landes  Notlidurft  und  Bequemlich¬ 
keit,  als  zu  der  Verbindung  des  gesamten  Nahrungsstandes  im 
Lande  erfordert  werden.“  Jus ti  analysiert  dann  seine  Definition 
wie  folgt:  „Verwahrt“  (durch  Natur  oder  Kunst)  muß  eine  Stadt 
dergestalt  sein,  „daß  der  Zugang  nur  an  einigen  darzu  ausdrück¬ 
lich  bestimmten  Orten,  welche  man  Thore  oder  Pforten  nennet, 
geschehen  kann;  weil  die  zu  dem  Hauptmittel  des  Endzwecks 
der  Städte  erforderlichen  Policeyanstalten  anderer  Gestalt  nicht 
stattfinden  können.“ 

Dagegen  sind  für  die  neuere  Zeit  beispielsweise  folgende 
Definitionen  der  „Stadt“  aufgestellt:  vom  Internationalen  Statisti¬ 
schen  Kongreß:  „Städte  sind  Wohnplätze  von  mehr  als  2000  Ein¬ 
wohnern“,  eine  Begriffsbestimmung,  der  die  amtliche  Statistik 
in  den  meisten  Kulturländern  heute  sich  anschließt;  von  der 
preußischen  Städteordnung  von  1858:  „alle  bisher  auf  dem  Pro¬ 
vinziallandtage  im  Stande  der  Städte  vertretenen  Ortschaften  ; 
von  einem  gelungenen  Amerikaner:  „eine  Stadt  ist  ein  Ort,  der 
eine  Universität  besitzt“ 1 ;  von  einem  jüngeren  Rechtshistoriker : 
„die  Stadt  ist  die  lokale  Siedlungsform  des  großen  sozialen 
Kreises“2.  In  der  umfangreichsten  neueren  Schrift,  die  dem 
Problem  der  Städtebildung  gewidmet  ist  und  die  beansprucht, 
es  vom  Standpunkte  der  „Soziologie“  aus  zu  lösen,  wird  die 
Stadt  wie  folgt  definiert:  «une  societe  complexe  dont  la  base 
geographique  est  particulierement  restreinte  relativement  ä  son 
volume  ou  dont  lelement  territoriale  est  en  quantite  relativement 
faible  par  rapport  ä  celle  de  ses  elements  humains»  3. 

Es  soll  auch  Leute  geben,  die  über  „Städte“,  und  was  mit 
ihnen  zusammenhängt,  reden  oder  schreiben,  ohne  sich  überhaupt 
der  Mühe  zu  unterziehen,  uns  ihre  Meinung  darüber  mitzuteilen, 
was  sie  unter  einer  „Stadt“  verstanden  wissen  wollen. 

Wer  hat  nun  recht? 

Man  könnte  versucht  sein ,  angesichts  der  offenbaren  Viel¬ 
deutigkeit  des  Begriffes  „Stadt“,  sich  zu  denen  zu  schlagen,  die 
überhaupt  auf  eine  Definition  verzichten.  Wenn  nicht  in  der 
Literatur  über  das  Städtewesen,  namentlich  aber  in  der  über 


1  Victor  V.  Branford,  Science  and  citizenskips  in  The  American 
Journal  of  Sociology.  May  1906.  p.  733. 

2  P.  Sander,  Feudalstaat  und  bürgerliche  Verfassung  (1906),  S.  129. 

3  Ren6  Mau nier,  L’origine  et  la  fonction  economique  des  villes 
(1910),  44.  Dortselbst  findet  sich  auf  S.  34  und  den  folgenden  auch 
eine  Zusammenstellung  noch  anderer  früherer  Definitionen  der  „Stadt“. 


Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung  127 

die  Geschichte  der  Inittelalterlichen  Städte ,  gerade  durch  be¬ 
griffliche  Unklarheiten  so  viel  Unheil  angerichtet  wäre.  Wir 
werden  uns  also  wohl  oder  übel  zu  einer  bestimmten  Auffassung 
entscheiden  müssen.  Aber  welcher? 

Ich  denke,  zunächst  werden  wir  einmal  feststellen,  daß  die 
Antwort:  was  unter  einer  „Stadt“  zu  verstehen  sei,  verschieden 
ausfallen  wird,  je  nachdem  die  Merkmale  uns  von  einer  anderen 
Stelle  gegeben  oder  von  uns  erst  zu  schaffen  sind.  Jenes  ist 
der  Fall ,  wenn  wir  Gesetzeskunde  treiben ,  bestimmte  Ur¬ 
kunden  interpretieren  wollen  oder  dergleichen.  Selbstverständ¬ 
lich  haben  wir  dann  nur  zu  fragen:  was  ist  eine  „Stadt“  im 
Sinne  des  Gesetzes  vom  .  .  .,  was  im  Sinne  der  Urkunden  (zum 
Beispiel  im  ostelbischen  Deutschland  während  des  9.  und  10  Jahr¬ 
hunderts  :  was  bedeutet  hier  urbs,  civitas,  oppidum  usw.).  Hier 
ist  die  Begriffsbestimmung  eine  Interpretationskunst.  Der  von 
der  Wissenschaft  durch  Interpretation  gewonnene  Begriff  mag 
als  analytischer  Begriff  bezeichnet  werden. 

Ganz  etwas  anderes  ist  es  aber ,  wenn  wir  den  Begriff 
selbst  bilden  dadurch ,  daß  wir  beliebige  Merkmale  zusammen¬ 
stellen  und  zur  Einheit  zusammenfügen.  Alsdann  ist  keine 
Stadt  da,  ehe  wir  sie  nicht  gedacht  haben1.  Man  kann 
die  diesem  Yexffahren  entspringenden  Begriffe  ganz  allgemein 
synthetische  Begriffe  nennen.  Über  ihre  „Dichtigkeit“  ent¬ 
scheidet  allein  der  Zweck:  sie  sind  richtig,  wenn  sie  zweckmäßig 
sind.  Nun  ist  aber  ersichtlich,  daß  der  Zwecke  gar  viele  sein 
können,  denen  ein  Begriff,  wie  der  der  „Stadt“,  zu  dienen  hat. 
Der  Zweck  kann  ein  praktischer  sein :  zum  Beispiel  der, 
einem  Landkutscher  Ausweisungen  zu  geben,  wenn  er  in  die 
„Stadt“  fahren  soll;  oder  der,  die  Bevölkerung  eines  Landes  nach 
bestimmten  Merkmalen  statistisch  zu  erfassen  und  dergleichen. 
Oder  der  Zweck  ist  ein  wissenschaftlicher :  bestimmte  Zusammen¬ 
hänge  menschlicher  Gesellschaft,  insonderheit  der  Menschheits¬ 
geschichte,  sollen  klargelegt  werden.  Da  wird  es  sich  also 
darum  handeln,  unter  welchem  Gesichtspunkt  man  jeweils  die 
Geschichte  betrachtet:  ob  unter  kriegsgeschichtlichem,  kunst¬ 
geschichtlichem  ,  geistesgeschichtlichem ,  rechtsgeschichtlichem, 

1  Das  verkennt  jetzt  wieder  gründlich  R.  Maunier  in  dem  auf 
S.  126  in  Anm.  3  erwähnten  Buche,  das  sonst  manche  hübsche  Be¬ 
trachtung  enthält.  Sein  unglücklicher  Begriff  erweist  sich  denn  auch 
als  ein  schlechter  Kompaß  in  dem  ungeheuren  Meer  von  Tatsachen,  in 
dem  das  wissenschaftliche  Schifflein  des  Verfassers  hilflos  herum  treibt. 


128 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

wiHschaftsgescMchtlichem  oder  welchem  sonst.  Für  jede  dieser 
Betrachtungsweisen  kann  ein  besonderer  Begriff  der  „Stadt“  auf¬ 
gestellt  werden,  über  dessen  „Richtigkeit“  allein  die  Fülle  von 
Erkenntnis  entscheidet,  die  uns  sein  Bildner  vom  geschichtlichen 
Leben  mit  seiner  Hilfe  erschließt. 

Also  das  Ergebnis:  wer  Wirtschaftsgeschichte  treibt,  wird 
einen  ökonomischen  Stadtbegriff  aufzustellen  haben; 
deutlicher :  wird  uns  zu  sagen  haben,  was  wir  unter  einer  Stadt 
verstehen  müssen,  wenn  wir  die  bei  dieser  Erscheinung  wirt 
schaftlich  bedeutsamen  Umstände  erkennen  und  würdigen  wollen. 
Ich  definiere:  eine  Stadt  im  ökonomischen  Sinne  ist  eine 
größere  Ansiedlung  von  Menschen ,  die  für  ihren  Unterhalt  aiu 
die  Erzeugnisse  fremder  landwirtschaftlicher  Arbeit  angewiesen 
ist1.  Die  besondere  wirtschaftliche  I ärbung  dieses  Begriffs  wild 
sofort  deutlich,  wenn  wir  ihn  mit  anderen  Stadtbegriffen :  etwa 
dem  architektonischen  oder  dem  juristischen  oder  dem  statisti¬ 
schen  oder  sonst  einem  in  Vergleich  setzen. 

Eine  Stadt  im  ökonomischen  Sinne  kann  sehr  wohl  ein  Dorf 
im  administrativen  Sinne  sein:  Langenbielau  etwa  in  der  Gegen¬ 
wart;  Kempen  bis  zum  Jahre  1294 2. 

Ein  Dorf  im  ökonomischen  Sinne  wird  keine  Stadt,  wenn  es 
befestigt  wird,  wie  etwa  die  „vici  in  modum  municipiorum“  des 
römischen  Afrika,  von  denen  Front  in  spricht,  die  sonst  castella 
genannt  werden ,  das  heißt  eben  auf  eine  Verteidigung  ein¬ 
gerichtete  Dörfer  waren3 *. 

Es  wird  ebensowenig  eine  Stadt,  wenn  in  ihm  ein  Markt  ab¬ 
gehalten  oder  wenn  ihm  sogar  Marktrecht  verliehen  wird. 

Ein  Dorf  wird  aber  auch  keine  Stadt  im  ökonomischen  Sinne, 


1  Ich  habe  meiner  Definition,  die  ich  in  der  ersten  Auflage  (Bd.  II 
S.  191)  gegeben  hatte,  das  Wort  "größere5  hinzugefügt ;  im  vollen 
Bewußtsein  der  leisen  Unbestimmtheit,  die'  ich  damit  in  die  Begriffs¬ 
bestimmung  hineintrage.  Man  wird  niemals  ziffernmäßig  feststellen 
können,  wann  eine  Gruppe  "nach  städtischer  Art  lebender  Menschen 
groß  genug  ist,  um  eine  „Stadt“  zu  bilden.  Eine  gewisse  Größe  aber 
muß  wohl  vorhanden  sein:  ein  einzelner  Mensch  kann  keine  „Stadt“ 
bilden.  Die  Quantität  schlägt  an  einer  bestimmten  Stelle  in  die 
Qualität  (Stadt)  um.  Für  meine  Zwecke  ist,  wie  man  sehen  wird, 
die  kleine  Unbestimmtheit  nicht  von  Belang. 

2  Th.  Ilgen,  Die  Entstehung  der  Städte  des  Erzstifts  Köln  am 

Niederrhein  in  den  Annalen  des  historischen  Vereins  für  den  Nieder¬ 

rhein  74  (1902),  14. 

2  A.  Schulten,  Die  römischen  Grundherrschaften,  S.  45. 


Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung 


129 


und  wenn  es  zehnmal  im  administrativen  Sinne  Stadt  wäre;  die 
zahlreichen  „Dörfer“,  die  im  Mittelalter  „zu  Städten  erhoben“ 
Avurden  durch  Beleihung  mit  Stadtrecht1  blieben  wirtschaftlich 
natürlich,  was  sie  bis  dahin  gewesen  waren:  Dörfer. 

Endlich  unterscheidet  sich  der  ökonomische  Begriff  der  Stadt 
auch  von  dem  statistischen:  der  großen  Anzahl  .„agglomeriert“ 
lebender  Personen.  Die  Biesen,, städte“  des  orientalischen  Alter¬ 
tums,  wie  Ninive  und  Babylon,  werden  wir  uns  als  Städte  im 
ökonomischen  Sinne  zu  betrachten  abgewöhnen  müssen 2,  ebenso 
wie  wir  dem  alten  indischen  Großgemeinwesen,  nach  Art  Kal¬ 
kuttas3  oder  dem  modernen  Teheran  und  ähnlichen  Ansiedlungen  4 * 
den  Charakter  einer  Stadt  nicht  werden  zuerkennen  dürfen. 

TT.  Das  Schema  einer  Theorie  der  Städtebildung 

Offenbar  muß  nun  aber  die  Darstellung  vom  Werden  und 
Wesen  der  „Stadt“  ganz  verschieden  gestaltet  werden,  je  nachdem 
es  sich  um  diese  oder  jene  „Stadt“  handelt.  Offenbar  ist  es  ein 
anderes :  wann,  woher,  warum  eine  Ortschaft  mit  Stadtrecht  be¬ 
lehnt  ist  oder  einen  Stadtrat  bekommen  hat  als  dieses:  wann, 
woher,  warum  sie  einen  Kranz  von  Mauern  una  Türmen  erhielt: 
ist  es  ein  anderes :  wann,  woher,  warum  dort  ein  Markt  errichtet 
wurde  als  dieses :  wann,  woher,  warum  an  diesen  Ort  eine  Uni¬ 
versität  gelangte ;  ist  es  ein  anderes :  wann,  woher,  aa  arum  sich 
Tausende  von  Ackerbauern  an  einem  Punkt  zusammenfanden, 

1  Rietschel,  Markt  und  Stadt,  S.  147  f- ;  Keutgen,  Ämter 
und  Zünfte,  S.  75. 

2  Es  waren  „von  kolossalen  Enceinten  umschlossene,  einen  ganzen 
Komplex  mehr  oder  minder  lose  zusammenhängender  Stadtanlagen  ent¬ 
haltende  Territorien“  mit  Acker  und  Weide,  um  die  Bevölkerung  im 
Fall  einer  Einschließung  ernähren  zu  können.  R.  Pöhlmann,  Die 
Übervölkerung  der  antiken  Großstädte.  1884.  S.  3/4. 

8  Die  älteren  indischen  Städte  werden  uns  als  eine  Gruppe  von 
Dörfern  geschildert,  die  „in  der  Stadt“  nur  ihre  gemeinsamen  Weide¬ 
plätze  hatten.  Alte  Mark?  Hunter,  The  Indian  Empire.  1886. 

46’  Die  ummauerten  Städte  Mittelasiens  umschließen  in  ihren  Lehm- 
AVällen  A'iel  größere  Räume  als  für  die  Stadt  allein  notwendig  sind. 
In  Buchara,  China  u.  a.  nehmen  weit  meljr  als  die  Hälfte  der  Boden¬ 
fläche  Acker-  und  Gartenland,  öde  Plätze,  Teiche  und  Sümpfe,  Haine 
von  Ulmen  und  Pappeln,  ausgedehnte  Viehhöfe  ein  .  .  .  Man  rechnet 
bei  diesen  Anlagen  mit  der  Notwendigkeit  der  selbständigen  inneren 
Erhaltung  bei  Belagerungen.“  F.  Ratzel,  Anthropogeographie  2 

(1891),  447. 

Sombart,  Her  moderne  Kapitalismus.  X. 


130 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


die  eine  Stadt  im  statistischen  Sinne  bilden  als  dieses:  wann, 
woher,  warum  eine  Stadt  im  ökonomischen  Sinne  entstand,  das 
heißt  also :  wann,  woher,  warum  eine  größere  Anzahl  von  Leuten 
sich  auf  einem  Fleck  ansiedelten,  die  von  den  Erzeugnissen 
fremder  Schollenarbeit  leben  mußten. 

Wenn  wir  die  JTrage  nach  der  Genesis  einer  Stadt  im  öko¬ 
nomischen  Sinne  aufwerfen,  so  müssen  wir,  denke  ich,  zweierlei 
beantworten : 

Erstens:  woher  kamen  die  Menschen  ohne  Halm  und  Ar,  die 
berufen  waren,  die  Stadt  zu  bilden,  und  was  veranlaßte  sie,  sich 
zu  einer  städtischen  Ansiedlung  zusammenzufinden.  Das  ist  die 
Frage  nach  den  Gründen,  die  zu  einer  Entwurzelung  der  boden¬ 
ständigen  Bevölkerung  führten,  ist  die  Frage  nach  den  Gründen, 
die  die  einzelnen  bewogen,  Städter  zu  werden.  Zweitens  aber 
(und  vor  allem)  wird  es  uns  obliegen,  zu  erklären:  wie  es  denn 
(ökonomisch)  möglich  wurde,  daß  sich  so  eigentümliche  An¬ 
siedlungen  bilden  konnten,  die  aller  natürlichen  Daseinsweise 
entfremdet  sind.  Um  hierauf  die  Antwort  zu  finden,  müssen 
wir  uns  zunächst  gegenwärtig  halten,  daß  eine  Stadt  vom  Uber¬ 
schuß  des  Landes  lebt,  ihre  Lebensbedingungen,  ihr  Lebens¬ 
spielraum  also  abhängig  sind  von  dem  Ausmaß  dieses  Überschu߬ 
produktes,  das  sie  an  sich  zu  ziehen  vermag1.  Diesel  Tat¬ 
bestand  kann  durch  folgende  Sätze  etwa  in  seinen  Einzelheiten 
verdeutlicht  werden: 

1.  Die  Größe  einer  Stadt  wird  bedingt  durch  die  Größe  des 
Produkts  ihres  Unterhaltsgebiets  und  die  Höhe  ihres  Anteils 
daran,  den  wir  Mehrprodukt  nennen  können. 

2.  Bei  gegebener  Größe  des  Unterhaltsgebiets  und  (durch 
Fruchtbarkeitsgrad  der  Gegend  oder  Stand  der  landwirtschaft¬ 
lichen  Technik)  gegebener  Größe  des  Gesamtprodukts  hängt  ihre 
Größe  von  der  Höhe  des  Mehrprodukts  ab. 

Daher  zum  Beispiel  unter  sonst  gleichen  Umständen  in  des¬ 
potischen  Staaten  mit  einem  hohen  Ausbeutungskoeffizienten  des 
Landvolks  größere  Städte  als  in  Ländern  mit  demokratischer 
Verfassung. 

1  „It  is  the  surplus  produce  of  tlxe  country  only  .  .  .  that  con- 
stitutes  tke  subsistence  of  the  town,  wkick  can  tkerefore  increase 
only  with  the  increase  of  this  surplus  produce.“  Ad.  Smith,  Book  III, 
Ch.  I.  Sehr  ausführlich,  wenn  auch  nicht  immer  sehr  glücklich,  ist 
von  den  Älteren  das  Thema  behandelt  in  der  Abhandlung  des  Grafen 
d’Arco,  Dell’  armonia  politico-economica  tra  la  cittä  e  il  suo  terri- 
torio  (1771),  Custodi,  Scrittori  dass.  ital.  di  econ.  pol.  P.  M.  Tomo  30. 


Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung 


181 


B.  Bei  gegebener  Größe  des  Unterbaltsgebiets  und  gegebener 
Höbe  des  Mehrprodukts  ist  die  Größe  der  Stadt  bedingt  durch 
die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  oder  den  Stand  der  landwirt¬ 
schaftlichen  Technik. 

Daher  fruchtbare  Länder  u.  s.  g.  U.  größere  Städte  haben  können 
als  unfruchtbare1. 

4.  Bei  gegebener  Höhe  des  Mehrprodukts  und  gegebener  Er¬ 
giebigkeit  des  Bodens  ist  die  Größe  der  Stadt  bedingt  durch 
die  "Weite  ihres  Unterhaltsgebiets. 

Daher  zum  Beispiel  die  Möglichkeit  größerer  Handelsstädte ; 
die  Möglichkeit  größerer  Hauptstädte  in  größeren  Deichen. 

5.  Die  Weite  des  Unterhaltsgebiets  ist  bedingt  durch  den 
Entwicklungsgrad  der  Verkehrstechnik. 

Daher  u.  s.  g.  U.  Fluß-  oder  Seelage  auf  die  Ausdehnungs¬ 
fähigkeit  der  Städte  günstig  wirkt2  und  in  einem  Lande  mit 
Chausseen  —  wiederum  u.  s.  g.  U.  —  die  Städte  größer  sein 
können  als  dort,  wo  nur  Feldwege  sind,  in  einem  Lande  mit 
Eisenbahnen  größer  als  wo  nur  Chausseen  sind. 

Sodann  werden  wir  uns  klar  sein  müssen  darüber ,  daß  es 
unter  den  „städtegründenden“  Menschen  zwei  wesentlich  von 
einander  verschiedene  Arten  giebt :  solche ,  die  kraft  irgend¬ 
welcher  Macht,  irgendwelchen  Vermögens,  irgendwelcher  Tätig¬ 
keit  selbstherrisch  imstande  sind ,  die  für  ihren  Unterhalt 
erforderlichen  Erzeugnisse  des  Landes  herbeizuziehen :  für  ihren 
und  vielleicht  auch  anderer  Leute  Unterhalt.  Das  sind  die 
eigentlichen  Städte gründer;  die  Subj ekte  der  Städtebildung ; 
die  aktiven  oder  originären  oder  primären  Städtebildner.  Also 
ein  König,  der  Steuern  erhebt;  ein  Grundherr,  dem  gezinst  wird ; 
ein  Kaufmann,  der  im  Handel  mit  Fremden  Profit  macht;  ein 
Handwerker,  ein  Industrieller,  die  gewerbliche  Erzeugnisse 

1  J.  Botero,  Delle  cause  della  grandezza  delle  cittä  (1589), 
Libro  I,  cap.  IX. 

2  „On  coDstruit  ordinairement  les  grandes  villes  sur  le  bord  de 
la  Mer  ou  des  grandes  Rivieres ,  pour  la  commodite  des  transports ; 
parce  que  le  transport  par  eau  des  denrees  et  marchandises  necessaires 
pour  la  subsistance  et  commodite  des  liabitants ,  est  ä  bien  meilleur 
rnarchä,  que  les  voitures  et  transport  parterre.“  Cantilion,  Essai 
sur  la  nature  du  commerce.  1755.  p.  22.  23.  Im  Zeitalter  der 
Eisenbahnen  wird  die  Richtigkeit  dieses  Satzes  stark  angezweifelt 
werden  müssen  Für  das  Mittelalter  siehe  die  Studie  von  K.  W.  Nitzsch, 
Die  oberrheinische  Tiefebene  und  das  Deutsche  Reich  im  MA,  in  den 
Preuß.  Jahrb.  Nr.  30.  S.  239  ff. 


0* 


132 


Drittel-  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

nach  auswärts  verkaufen;  ein  Schriftsteller,  dessen  Schriften 
draußen  vor  den  Toren  gekauft  werden;  ein  Arzt,  der 
Kundschaft  im  Lande  hat;  ein  Student,  dessen  Eltern  an 
einem  anderen  Orte  wohnen  und  der  vom  „Wechsel“  seiner 
Eltern  lebt  usw. 

Das  sind  die  Leute,  die  leben  und  leben  lassen. 

Leben  lassen:  die  anderen  Städtebewohner,  die  nicht  aus 
eigener  Kraft  die  notwendigen  Unterhaltsmittel  (will  sagen 
Landeserzeugnisse)  sich  zu  verschaffen  vermögen,  sondern  die 
nur  teilnehmen  an  denen  der  primären  Städtebildner.  Wir 
können  sie  bezeichnen  als  Städtefüller;  als  Objekte  der  Städte¬ 
bildung;  als  passive  oder  abgeleitete  oder  sekundäre  (tertiäre, 
quartäre  usw.)  Städtebildner.  Sekundäre  Städtebildner  sind  sie, 
wenn  sie  unmittelbar  ihren  Unterhalt  von  einem  primären  Städte¬ 
bildner  beziehen:  der  Schuster,  der  dem  König  die  Stiefel 
macht;  der  Sänger,  der  ihm  seine  Lieder  singt;  der  Wirt,  bei 
dem  der  Grundherr  speist;  der  Juwelier,  bei  dem  der  Kaufmann 
seiner  Geliebten  den  Schmuck  kauft;  der  Theaterdirektor,  in 
dessen  Theater  der  Handwerker  geht ;  der  Buchhändler ,  der 
unserm  Schriftsteller  die  Bücher  liefert;  der  Friseur,  bei  dem 
sich  unser  Arzt  rasieren  läßt ;  die  Phileuse,  bei  der  unser  Student 
sich  sein  Zimmer  mietet  usw. 

„Verdient“  nun  wieder  an  einem  sekundären  Städtebildner 
ein  anderer  Städter,  so  ist  dieser  tertiärer  Städtebiidner  usw. 
Nehmen  wir  einen  beliebigen  Fall  an:  ein  Kellner  trinkt  in 
einem  Restaurant  ein  Glas  Bier:  der  Wirt  lebt  von  ihm,  vom 
Wirt  der  Bierbrauer ;  der  Kellner  bezahlt  mit  Trinkgeld,  das  ihm 
ein  Arzt  bezahlt  hat;  der  Arzt  hat  Stadtkundschaft,  z.  B.  bei 
einem  Schauspieler ;  der  Schauspieler  erhält  seine  Gage  aus  den 
Verdiensten  des  Theaterdirektors;  diese  stammen  (zu  diesem 
kleinen  Teile)  von  den  Theaterbilletten,  die  ein  Professor  ge¬ 
nommen  hat;  der  Professor  bezieht  sein  Gehalt  vom  Staat:  hier 
erst  erscheint  der  erste  originäre  Städtebildner:  der  Steuern  er¬ 
hebende  Staat:  alle  anderen  sind  abgeleitete  Städtebildner.  All¬ 
gemein  :  alle  Gewerbetreibenden ,  alle  Händler ,  alle  liberalen 
Berufe,  die  den  Bedarf  der  Städter  selbst  befriedigen,  sind  nie¬ 
mals  Städteg-ründer,  sondern  Städtefüller1.  Die  klare  Einsicht 

1  Merkwürdig ,  wie  richtig’  das  Pi’oblem  der  Städtebildung  die 
Männer  früherer  Zeit  erkannten.  Lag  das  an  den  einfacheren  Verhält¬ 
nissen,  die  man  eher  durchschauen  konnte?  Wo  begegnet  man  in 
der  Literatur  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  einer  Ausführung  wie 


Neuntes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Städtebildung 


133 


in  den  Unterschied  dieser  beiden  grundverschieden  gestellten 
Gruppen  der  städtischen  Bevölkerung  ist  die  notwendige  Voraus¬ 
setzung  jedes  Verständnisses  für  die  Genesis  einer  Stadt. 

Diese  selbst  ist  ein  geschichtliches  Phänomen;  sie  erhält  ihr 
besonderes  Gepräge  von  der  eigentümlichen  Gestaltung  der  Zeit¬ 
umstände.  Aufgabe  des  Historikers  ist  es,  aus  dieser  die  Ent¬ 
stehung  der  historischen  Stadt  zu  erklären.  Ist  es  also :  die 
jeweils  besonderen  Ursachen  aufzudecken ,  die  Menschenmassen 
von  der  Scholle  trennen;  die  jeweils  besonderen  Motive  blo߬ 
zulegen,  die  Menschen  zu  einer  städtischen  Siedlung  zusammen¬ 
führen;  die  jeweils  besonderen  Bedingungen  festzustellen,  unter 
denen  die  Städtegründung  erfolgt;  die  jeweils  besonderen  Typen 
originärer  und  abgeleiteter  Städtebildnei’  zu  schildern  und  zu 
deuten.  Das  möchte  ich  im  folgenden  für  die  mittelalterliche 
Stadt  versuchen. 

dieser:  „Wenn  man  behaupten  will,  daß  die  Gewerbe,  die  man  ge¬ 
wöhnlich  unter  Zünfte  bringt,  seit  jener  Zeit  bedeutend  zugenommen 
haben,  so  kommt  dieses  gar  nicht  in  Betracht.  Denn  da  diese 
nur  von  dem  örtlichen  Verbrauch  und  von  der  Einwohnerzahl  ab- 
hängen,  können  bekanntlich  alle,  die  sich  damit  beschäftigen,  nie  eine 
volkreiche  und  blühende  Stadt  bilden,  sondern  müssen  im  Gegen¬ 
teil  als  eine  notwendige  Folge  der  nützlichen  Einwohner  von 
einer  blühenden  Stadt  angesehen  werden.“  Het  Welvaren  van  Leiden 
Handschrift  uit  het  Jaar  1659.  Herausgeg.  (mit  deutscher  Übersetzung) 
von  Felix  Driessen.  1911.  c.  11.  Vgl.  auch  des  Verfassers  un 
wesentlichen  richtige  „Städtetheorie“  im  Kap.  1. 


134 


Zehntes  Kapitel 

Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt 

Literatur  und  Quellen 

Dieses  ist  ein  Versuch,  die  Entstehung  der  Stadt  im  europäischen 
Mittelalter  als  eines  realen  Phänomens  des  sozialen  Lebens  zu  er¬ 
klären.  Ansätze  finden  sich  namentlich  in  der  lokalen  Geschichts¬ 
forschung  vielfach.  Aber  im  großen  ganzen  ist  die  ungeheuer  um¬ 
fangreiche  Literatur  zur  mittelalterlichen  Städtegeschichte  dem  hier 
gestellten  Probleme  aus  dem  Wege  gegangen.  Sie  hat  sich  —  dem 
alten  psychologischen  Gesetze  gemäß ,  daß  eine  Bewegung  nach  der 
Seite  des  geringsten  Widerstandes  erfolgt  —  fast  ausschließlich  der 
Frage  nach  der  Entstehung  der  Stadt v e rfa s s ung  zugewandt.  Be¬ 
greiflicherweise,  da  in  diese  Dichtung  die  im  Augenblick  beliebtesten 
Quellen,  nämlich  die  Urkunden,  wiesen.  Neben  diesen  sind  die 
anderen  Quellen,  aus  denen  man  für  das  Lebensphänomen  „Stadt“ 
viel  mehr  hätte  lernen  können,  so  gut  wie  ganz  vernachlässigt.  Nur 
wenige  Forscher  haben  die  kartographische  Methode,  die  für 
die  Besiedlungsgeschichte  des  platten  Landes  so  reiche  Ausbeute  ge¬ 
währte,  auf  die  Städte  angewandt.  In  Deutschland  haben  sich  ihrer 
mit  Vorteil  bedient  außer  einigen  Lokalhistorikern  wie  H.  Er  misch 
für  Freiberg  i.  S.,  Friedr.  Haagen  für  Aachen,  vor  allem  J.  Fritz 
und  A.  Püschel;  in  England  Raymond  Unwin  und  H.  Inigo 
Triggs.  Viel  zu  wenig  ausgenützt  sind  die  Chronisten.  Wenn 
irgend  etwas,  kann  man  aus  ihnen  die  äußeren  Bedingungen  erfahren, 
unter  denen  Städte  entstanden  sind.  Beachtenswerte  Anfänge  sind 
gemacht  worden  in  der  Verwertung  des  bevölkerungsstatisti¬ 
schen  und  vermögensstatistischen  Materials ,  das  uns  auch 
über  die  Entstehung  (weil  soziale  Struktur)  der  m.a.  Städte  auf  Um¬ 
wegen  Aufschluß  geben  kann.  Von  besonderem  Werte  sind  hier  die 
in  letzter  Zeit  zahlreich  veröffentlichten  Untersuchungen  über  die 
Geschichte  der  Kirchen  und  Klöster  in  den  Städten. 

Einzelne  Werke  aus  der  Literatur  zur  Städtegeschichte  hier  nam¬ 
haft  zu  machen,  hat  keinen  Zweck.  Wo  ich  mich  auf  einen  Schrift¬ 
steller  beziehe,  nenne  ich  ihn  an  seinem  Orte.  Im  übrigen  verweise 
ich  auf  einige  kritische  Übersichten  über  die  neueren  Erscheinungen 
dieser  Literatur:  so  die  von  K.  Uhlirz  in  den  Mitteilungen  des 
Instituts  für  Österreich.  Geschichtsforschung  vom  7.  Bande  an  (es  sind 
schon  weit  über  100  Schriften  daselbst  angezeigt);  ferner  die  von 
J.  Ziehen  in  der  Zeitschrift  für  Kommunalwissenschaft.  Jahrgg.  I. 
H.  1  u.  2. 

Sucht  man  nach  einem  besonderen  Grunde,  weshalb  in  der  großen 
Masse  von  Büchern ,  die  im  letzten  Menschenalter  über  mittelalter- 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  135 

liehe  Städte  geschrieben  sind,  so  sehr  wenig  über  die  realen  Lebens¬ 
erscheinungen  enthalten  ist,  so  mag  man  ihn  in  dem  Umstande  finden, 
daß  viele  Autoren  glaubten,  über  Entstehung  der  Städte  zu  reden, 
während  sie  tatsächlich  nur  über  Entstehung  der  Stadtverfassung 
sprachen;  also  daß  sie  gar  nicht  die  Lücke  empfanden,  die  ihre  Aus¬ 
führungen  ließen.  Was  wiederum  sich  daraus  erklären  dürfte,  daß 
ihnen  die  richtige  Problemstellung  verborgen  blieb. 

Dieser  Zusammenhang  tritt  am  deutlichsten  zutage  bei  den  Ver¬ 
tretern  der  sogen.  Marktrechtstheorie,  also  denjenigen  Gelehrten,  die 
die  „Städte“  des  Mittelalters  aus  einer  Marktansiedlung  „entstehen“ 
lassen.  Da  hier  offenbar  ein  sehr  reales  Phänomen  als  Ursache  der 
Stadtentstehung  bezeichnet  war,  so  wurde  der  Anschein  erweckt,  als 
habe  gerade  diese  Theorie  eine  ökonomische  und  damit  also  sehr 
realistische  Erklärung  gegeben.  So  urteilte  z.  B.  v.  Bel ow  (Ursprung 
der  deutschen  StadtVerf.,  14):  die  Marktrechtstheorie  sei  wohl  vom 
„wirtschaftsgeschichtlichen“  Standpunkt  aus  richtig,  weil  sie  die  Ent¬ 
stehung  des  Städtewesens  ins  Auge  fasse,  während  er  sie  vom  ver¬ 
fassungsgeschichtlichen  Standpunkt  aus  bekämpft.  Die  Sache  ist  nun 
die :  daß  gerade  vom  „wirtschaftsgeschichtlichen“  Standpunkt  aus  die 
Marktrechtstheorie  ganz  und  gar  unhaltbar  ist.  Die  Städte  ökonomisch 
aus  den  Märkten  erklären  wollen,  heißt  ähnlich  wie  Onkel  Bräsig  ver¬ 
fahren,  der  bekanntlich  „die  Armut  aus  der  Poverteh“  ableitete.  Der 
kausale  Zusammenhang  ist  doch  wohl  umgekehrt,  als  die  Marktrechts - 
theoi’etiker  annehmen:  es  entstehen  nicht  Städte,  weil  Märkte  ab¬ 
gehalten  (oder  gar  weil  Marktprivilegien  erteilt!)  werden,  sondern 
Märkte  werden  abgehalten,  weil  Städte  entstanden  oder  im  Entstehen 
sind.  Zur  Genesis  der  Städte  haben  die  Märkte  nichts,  aber  auch 
rein  gar  nichts  beigetragen.  Als  mit  welcher  Feststellung  natürlich  nichts 
in  der  Frage  entschieden  ist:  welche  Bedeutung  die  Erteilung  des  Markt¬ 
rechts  etwa  für  die  Entstehung  der  städtischen  V erfassung  gehabt  habe. 

Meine  eigene  Darstellung  will  nur  andeuten,  wo  die  Probleme  liegen 
und  wde  man  ihrer  wohl  Herr  werden  könne;  sie  kann  nichts  abschließend 
behandeln. 


I.  Der  Ursprung  der  Städte  aus  Dörfern,  ins¬ 
besondere  die  Grrixndungsstädte 

Man  kann  zweifelhaft  sein,  ob  es  überhaupt  Städte  (im  öko¬ 
nomischen  Sinne)  während  des  europäischen  Mittelalters  gegeben 
habe.  Jedenfalls  sind  sie  zu  keiner  Zeit  innerhalb  eines  kurzen 
Zeitraums  „entstanden“,  wie  etwa  eine  amerikanische  Stadt  ent¬ 
steht;  sondern  sie  sind  samt  und  sonders  in  einem,  meist  wohl 
über  Jahrhunderte  sieb  erstreckenden,  Umbildungsprozesse,  aus 
Dörfern  langsam,  organisch  erwachsen  (samt  und  sonders  aus 
Dörfern :  im  ökonomischen  Sinne !)  Wie  sehr  langsam  die  Um¬ 
bildung  der  Dörfer  in  Städte  erfolgt  sein  muß,  können  wir  aus 
der  Tatsache  ersehen,  daß  selbst  die  größten  Städte  (vom  Troß 


53g  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

der  mittleren  und  kleinen  zu  schweigen)  noch  im  Hoch-  und 
Spätmittelalter  starke  Spuren  von  Land-  oder  Ackerstädten  au 
sich  tragen,  das  heißt  von  halb  städtischen  Ansiedlungen,  in  denen 
ein  Teil  der  Bevölkerung  noch  Landwirtschaft  treibt,  also  noch 
nicht  eigentlich  zum  Städter  geworden  ist. 

Ein  lebendiges  Bild  von  dem  dorfähnlichen  Charakter  der 

o 

mittelalterlichen  Städte  entwirft  Gustav  Freytag  in  seinen 
Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit1: 

„Wer  am  Morgen  die  Stadt  betritt,  der  begegnet  sicher  zuerst 
dem  Stadtvieh.  Denn  auch  in  den  großen  Reichsstädten  treibt 
der  Bürger  Landbau  auf  Wiesen,  Weiden,  Äckern,  Weinbergen 
der  Stadtflur;  die  meisten  Häuser,  auch  vornehme,  haben  im 
engen  Hofraum  Viehställe  und  Schuppen.  Der  Schlag  des  Dresch¬ 
flegels  wird  noch  1350  in  Nürnberg,  Augsburg,  Ulm  nahe  an 
dem  Rathause  gehört ;  unweit  der  Stadtmauern  stehen  Scheunen 
und  Stadel,  jedes  Haus  hat  seinen  Getreideboden  und  häufig 
einen  Kelterraum  ...  In  den  Gassen  der  Stadt  traben  die 
Kühe,  ein  Schäfer  führt  mit  seinem  Hunde  die  Schafherde  auf 
die  nahen  Höhen;  auch  im  Städtwalde  weidet  das  Vieh  .  .  . 
Die  Schweine  fahren  durch  die  Haustüren  in  die  Häuser  und 
suchen  auf  dem  Wege  ihre  unsaubere  Nahrung.  Li  den  Flu߬ 
armen,  vrelche  durch  die  Stadt  führen,  hat  das  Vieh  seine 
Schwämme  ...  Da  fehlt  auch  die  Mühle  nicht ;  auf  abgelegenen 
Plätzen  lagern  große  Haufen“  usw.  Ich  glaube,  daß  kein  Zug 
an  diesem  Bilde  falsch  ist,  und  daß  das,  was  Frey  tag  hier 
von  den  deutschen  Großstädten  des  Hochmittelalters  sagt,  in 
gleicher  Weise  für  die  italienischen  Städte,  mindestens  bis  ins 
12.  Jahrhundert  hinein,  ebenso  für  die  englischen  wie  für  alle 
mittelalterlichen  Städte  zutrifft. 

Die  Tatsache  ist  so  oft  „quellenmäßig“  festgestellt  worden,  daß 
es  erübrigt,  im  einzelnen  Belege  anzuführen.  Ich  verweise  den  Leser  für 
Deutschland  auf  die  zusammenfassenden  Darstellungen  bei  v.  Maurer, 
StädteVerf.  2,  176 ff.  und  öfters;  v.  Below,  Ursprung  der  Stadtgemeinde, 
22 ff.;  vgl.  desselben  Werk:  Das  ältere  deutsche  Städtewesen  (1905), 
38  ;  W.  V  arges,  Zur  Entstehung  der  deutschen  Stadtverfassung  in 

den  Jahrbüchern  für  N.ö.  6  (1894),  163  f.  Auch  Michael,  Geschichte 
des  deutschen  Volkes  1  (1897),  129  f.  hat  eine  Menge  Belegstellen 
gesammelt.  Ich  füge  noch  hinzu:  für  Salzburg  im  14.  Jahrhundert 
F.  V.  Zillner,  Gesch.  der  Stadt  Salzburg  2,  234;  für  Lübeck  im 
Jahre  1300  H offmann,  Gesch.  Lübecks;  Pauli,  Lübische  Zu¬ 
stände,  UB.  Nr.  47;  für  Köln  im  16.  Jahrhundert  Jos.  Greving, 


1  2,  119  f. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  137 

Wohnungs-  und  Besitzverhältnisse  im  Kölner  Kirchspiel  St.  Kolomba, 
in  den  Annalen  des  histor.  Vereins  für  den  Niederrhein,  78.  Heft 
(1904),  S.  11.  Im  13.  und  14.  Jahrhundert  wurde  noch  jede  „bürger¬ 
liche“  Hantierung  wie  z.  B.  der  Mauerbau  in  den  Städten  durch  die 
landwirtschaftlichen  Arbeiten  unterbrochen.  Lamp  recht,  DWL. 
2,  523.  Den  tiefsten  Einblick  in  die  ökonomische  Struktur  der  mittel¬ 
alterlichen  (Mittel-)Stadt  gewährt  uns  immer  noch  Karl  Bü chers 
Werk:  Die  Bevölkerung  von  Frankfurt  a.  M.  im  14.  und  15.  Jahrhundert. 
Band  I.  1886.  Siehe  für  die  hier  erörterte  Frage  z.  B.  die  Dar¬ 
stellung  auf  S.  260  ff.,  die  wohl  die  gründlichste  ist,  die  wir  besitzen. 

Daß  in  vielen  italienischen  „Städten“  sicher  noch  im  11.  und  12.  Jahr¬ 
hundert  die  Landwirtschaft  ein  sehr  wichtiger  Berufszweig  war,  zeigen 
uns  die  Urkunden  mit  voller  Deutlichkeit.  Siehe  z.  B.  für  Mantua, 
Pisa,  Cremona  (11.  12  sc.)  die  Urkunden  nach  Muratori  Antiqu.  IV, 
13.  16.  20.  23  bei  Bethmann-Hollweg,  Ursprung  der  Lombardischen 
Städtefreiheit  (1846),  S.  129  f.  Ferner  die  Quellenbelege  bei  Max 
Handloike,  Die  lombardischen  Städte  (1883),  S.  708  ff.  Wir  dürfen 
daraus  mit  Gewißheit  schließen,  daß  ein,  zwei  Jahrhunderte  nach  jener 
Zeit  noch  immer  starke  landwirtschaftliche  Interessen  auch  in  den 
italienischen  Städten  vertreten  waren.  „Auch  die  negotiatores  waren 
ansässig  und  gerade  die  kleineren  Grundbesitzer  bedurften  der  Weide¬ 
ländereien“  :  L.  M.  Hartmann,  Zur  W. Gesell.,  S.  112. 

Von  den  englischen  Städten  haben  wir  genug  Zeugnisse,  die  den 
Nachweis  führen,  daß  sie  ganz  denselben  Charakter  trugen  wie 
die  deutschen,  nämlich  halbstädtischen.  Für  die  Zeit  des  Domesday 
siehe  vor  allem  F.  W.  Maitland,  S.  203  und  öfters.  Aber  „even 
long  after  the  Conquest  the  agricultural  element  prevailed  in  English 
borouglis  far  more  then  is  commonly  supposed“,  meint  der  sehr  vor¬ 
sichtige  Charles  Gross,  The  Gild  merchant  1  (1890),  4,  wo  er 
auch  eine  reiche  Auswahl  von  Literatur  und  Quellenbelegen  uns  dar¬ 
bietet.  Selbst  in  London  begegnen  wir  noch  im  13.  Jahrhundert  der 
Aufzucht  von  Schweinen  und  selbst  Ochsen.  Ashley,  Engl.  WG. 
1,  .74  und  117  nach  dem  Lib.  Albus  XLI — XLII. 

„Die  Tätigkeit  der  Stadtbewohner  beschränkte  sich  nicht  auf  ihr 
besonderes  Gewerbe.  Zur  Erntezeit  strömte  alles  auf  das  flache  Land 
hinaus.  Wenn  der  König  im  Mittelalter  die  Parlamentssession  schließt, 
entläßt  er  die  hohen  Adeligen  zu  ihren  Sports  Vergnügungen ,  die  Ge¬ 
meinen  zur  Erntearbeit  und  macht  dabei  keinen  Unterschied  zwischen 
den  Landedelleuten  und  den  Bürgern.  So  lesen  wir  auch,  daß  die 
langen  Gerichts-  und  Universitätsferien  vom  Juli  bis  Oktober  dauerten, 
damit  die  des  Rechts  und  der  Wissenschaft  Beflissenen  reichlich  Muße 
für  das  so  überaus  wichtige  Erntegeschäft  hätten.  Freilich  kam  die 
gesamte  Stadtbevölkerung  der  Masse  des  Landvolkes  gegenüber  für 
die  Erntearbeiten  nur  wenig  in  Betracht.  Aber  sicher  war  das  den 
Städten  zunächst  gelegene  Land  besser  bestellt  und  gedüngt  als  das 
von  jedem  größeren  Beförderungsmittel  ferner  liegende,  und  die  zu- 
schtissigen  Arbeitskräfte  aus  der  Stadt  waren  den  großen  Grund¬ 
besitzern  willkommen.“  Th.  Rogers,  Six  Centimes  of  work  and 
wages,  2  Vol.,  1884,  deutsche  Übersetzung  S.  89.  Vgl.  auch  des- 


188 


Dritter  Abschnitt  Das  Übergangszeitalter 


selben  Verfassers  Hist,  of  Agriculture  1  (1866),  252,  und  J.  R. 
Green,  Town  Life  in  the  fifteenth  Century  1  (1894),  171. 

Neuerdings  hat  wieder  ein  reiches  Material  für  alle  Länder  zu- 
samm engetragen,  das  die  von  mir  angeführten  Quellen  und  Darstellungen 
ergänzen  mag:  R.  Maunier,  1.  c.,  p.  72  ff. 

Von  dieser  Regel:  daß  alle  mittelalterlichen  Städte  in  Jahr¬ 
hunderte  währender  Umbildung  langsam  aus  Dörfern  erwachsen 
sind,  machen  auch  keine  Ausnahme  etwa  die  sogenannten  „Grün- 
dungsstädte“,  das  heißt  die  künstlich  von  einem  Landes-  oder 
Grundherrn  plötzlich  ins  Leben  gerufenen  „Städte“,  wie  wir  sie 
im  Osten  Deutschlands,  in  Böhmen,  in  Frankreich,  in  Spanien 
in  völlig  übereinstimmenden  Formen  seit  dem  12.  Jahrhundert 
entstehen  sahen.  Man  hat  sich  hier  nämlich  offenbar  durch  das 
Aushängeschild,  auf  dem  ‘Städtegründling5  stand,  täuschen  lassen 
imd  hat  geglaubt,  es  habe  sich  bei  diesen  Gründungsstädten  um 
„künstliche  Ansiedlungen  von  Händlern  und  Handwerkern“ 1 
gehandelt.  Diese  Vorstellung  ist  geradezu  abenteuerlich.  Sie 
hätte  nie  entstehen  können ,  wenn  man  sich  auch  nur  einen 
Augenblick  die  Frage  vorgelegt  hätte  (die  im  Mittelpunkte  dieser 
Betrachtungen  steht):  wovon  sollte  eine  solche  Amsiedlung  leben? 
Noch  dazu  in  den  ödesten  Teilen  des  Landes,  zum  Beispiel  im 
„entvölkerten  Wendenlande“ 2,  wo  Lübeck  „gegründet“  wurde. 
Man  versetze  sich  in  die  Lage  einer  solchen  Kolonie,  selbst 
heute,  in  einem  reichlich  besiedelten  Lande:  woher  sie  ihre 
Kundschaft  nehmen  soll,  da  doch  niemand  nach  ihr  verlangt  hat. 
Man  vergegenwärtige  sich,  welche  Not  oft  ein  einziger  Schuster 
oder  Bäcker  oder  Krämer  hat,  der  neu  in  eine  Kleinstadt 
oder  in  ein  Dorf  einzieht.  Und  bedenke  nun  das  Mittelalter! 
Es  ist  ein  furchtbarer  Wahn,  der  viele  der  scharfsinnigsten 
Historiker  beherrscht:  daß  Rechtsakte  Leben  schaffen  können. 
Dieser  Glaube  hat  ja  auch  Anlaß  zu  der  Behauptung  gegeben, 
der  wir  oben  schon  begegneten:  ein  Markt  oder  gar  ein  Markt¬ 
privileg  könne  eine  Stadt  entstehen  machen.  Man  denke  zum 
Beispiel:  „das  auf  einem  bestimmten  Wochentag  beschränkte 
Marktrecht  (sic)  vermochte  demnach  wie  es  scheint,  nicht  in 
gleicher  Weise  wie  das  unumschränkte  zum  Aufblühen  einer 
Handelsniederlassung  beizutragen“  (sic)3.  Es  ist  der  alte 

1  Keutgen,  Ämter  und  Zünfte,  110.  Derselbe  Gedanke  durch¬ 
zieht  Rietschels  Markt  und  Stadt  wie' ein  roter  Faden. 

2  Pauli,  Lübische  Zustände,  59. 

3  Rietschel,  Markt  und  Stadt,  46. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  139 

preußische  Grundsatz,  den  Deutschland  erst  jetzt  aufzugeben  im 
Begriffe  ist:  die  Verordnung  schafft  das  Leben.  Daß  der  Kauf¬ 
mann  zunächst  Kundschaft  und  keine  Privilegien  braucht,  liegt 
außerhalb  dieser  Denkungsweise.  Und  so  ist  denn  auch  der 
Aberglaube  entstanden:  im  Mittelalter  seien  die  entvölkerten 
Länder  mit  einem  Netz  von  Städten  im  ökonomischen  Sinne 
(denn  das  wären  ja  wohl  „Ansiedlungen  von  Händlern  und 
Handwerkern“)  bedeckt  worden':  den  sogenannten  „Gründungs¬ 
städten“  in  Deutschland,  den  Villes  neuves  in  Frankreich  usw. 
Und  wenn  alle  Quellen  übereinstimmend,  in  einwandfreier  Lesart, 
dieses  ausdrücklich  aussprächen,  so  dürfte  der  Forscher  dem¬ 
gegenüber  nichts  anderes  sagen  als:  die  Verfasser  der  „Quellen“ 
waren  entweder  irrsinnig  oder  sie  haben  sich  auf  Kosten  der 
deutschen  Professoren  im  19.  und  20.  Jahrhundert  einen  Spaß 
machen  wollen. 

Nun  ist  es  mir  aber  völlig  unverständlich,  wie  man  angesichts 
der  erdrückenden  Fülle  von  Urkunden,  die  das  Gegenteil  be¬ 
sagen,  jemals  selbst  auf  Grund  des  Quellenstudiums  zu  jener 
seltsamen  Ansicht  kommen  konnte:  im  11.  und  12.  Jahrhundert 
seien  Städte  (im  ökonomischen  Sinne)  „gegründet“  worden. 
Die  Quellen  belehren  uns  vielmehr  so  deutlich,  wie  man  es  sich 
nur  wünschen  kann :  daß  in  allen  Fällen  das  „gegründet“  wurde, 
was  allein  einen  Sinn  hatte,  gegründet  zu  werden :  nämlich  Dörfer. 
Meinetwegen  mit  einer  Zugabe  von  ein  Paar  Krämern  und 
Handwerkern.  Das  gilt  sogar  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle 
bei  der  „Gründung“  einer  „Marktansiedlung“  im  Anschluß  an 
eine  schon  bestehende  Stadt;  geschweige  denn  bei  den  Städte¬ 
gründungen  im  freien  Felde.  Wir  müssen  uns  jene  „Gründungs¬ 
städte“  als  eine  Art  römischer  Kolonie  mit  Zenturiatassignationen 
vorstellen :  die  bekannte  quadratische  Straßenanlage  in  den  neu- 
begründeten  Dörfern  läßt  sogar  den  Gedanken  aufkommen,  die 
römische  Militärkolonie  habe  bei  den  mittelalterlichen  „Grün¬ 
dungs  Städten“  Pate  gestanden.  Wenn  wir  nicht  annehmen  wollen, 
daß  die  quadratische  Form  bei  gleichmäßiger  Ansiedlung  die 
natürliche  ist.  Warum  nur  das  Dorf,  nicht  auch  die  Feldflur 
(soviel  wir  wissen)  nach  Art  der  römischen  Kolonien  in  Schach¬ 
brettmanier  aufgeteilt  ist,  vermögen  wir  mit  dem  Hinweis  auf 
die  Eigenart  des  deutschen  Pfluges  (der  also  wohl  auch  in  Süd¬ 
frankreich  und  Spanien,  wo  wir  dieselben  Schachbrett,, Städte“ 
antreffen,  Verbreitung  durch  die  germanischen  Stämme  gefunden 
hatte;  oder  sind  dort  auch  die  Feldfluren  in  Quadraten  auf- 


140  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergaugszeitalter 

geteilt?)  einwandsfrei  zn  erklären.  Der  mächtige  „Ding“  in  dei 
Mitte  der  Dorfstadt,  der  übrigens  von  vornherein  auch  meist 
ein  „Kaufhaus“  —  also  etwa  einen  Schuppen  zum  Abstellen  der 
Traglasten  oder  zum  Einstellen  der  Karren  usw.  —  bekam,  war 
offenbar  so  groß  angelegt,  um  als  Auftriebplatz  für  das  Vieh  zu 
dienen,  das  in  den  öden  Gegenden,  in  denen  die  Ansiedlungen 
häufig  entstanden ,  einen  größeren  Schutz  als  anderswo  nötig 
hatte.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  die  Ställe  und  Scheunen  der 
bäuerlichen  Ansiedler  ursprünglich  alle  um  den  Ring  lagen, 
während  die  Paar  Handwerker  in  den  nach  ihnen  später  be¬ 
nannten  Nebenstraßen  untergebracht  wurden. 

Was  sagen  denn  nun  die  Quellen  aus,  das  heißt  also  die 
Urkunden ,  mittels  deren  einem  Locator  oder  einer  Gruppe  von 
Ansiedlern  die  Rechte  und  Privilegien  zur  Niederlassung  an 
einem  bestimmten  Orte  erteilt  wurden? 

Nun  in  der  Hauptsache  überweisen  sie  den  Kolonisten,  die  die 
neue  Stadt  „gründen“  sollen,  eine  große,  meist  sehr  große 
Feldflur  mit  allem  Zubehör,  vor  allem  also  der  Gemeinde¬ 
weide  und  dem  Gemeindewalde.  Daß  also  mindestens  auch  eine 
starke  Bauernschaft  sich  in  der  „Gründungstadt“  niederließ,  das 
dürfte  durch  die  Quellen  außer  Zweifel  gestellt  sein.  Und  das 
ist  die  Hauptsache.  Daß  es  sich  aber  um  wesentlich  dorfähn¬ 
liche  Siedlungen  bei  den  sogenannten  Gründungsstädten  ge¬ 
handelt  habe ,  beweist  auch  der  Umstand ,  daß  von  insgesamt 
etwa  300  uns  in  Ostdeutschland  bekannt  gewordenen  Gründungen 
nur  etwa  30  über  das  Niveau  einer  kleinen  Ackerstadt  hinaus¬ 
gekommen  sind  b  Diese  aber  verdanken  ihre  Entwicklung,  wie 
sich  leicht  nachweisen  läßt,  dem  Vorhandensein  der  auch  in 
anderen  Städten  wirksamen  städtebildnerischen  Kräfte ,  von 
denen  im  weiteren  Verlauf  dieser.  Darstellung  die  Rede  sein 
wird. 

Hier  ein  paar  beliebig  herausgegriffene  Beispiele  aus  den 
Quellen : 

Lübeck  (gegründet  1165)  erhält  von  Heinrich  dem  Löwen  zu 
der  ihm  bereits  vom  Grafen  Adolph  II.  geschenkten  Feldmark  „alle 
Dorpe  ghelegen  vor  der  Stadt  over  dem  Horeghen  berge“.  Nach 
Detmars  Chronik  a.  1165  (Städtechron.  Bd.  19)  Pauli,  Lüb.  Zustände, 
10/11,  der  übrigens  selbst  Lübeck  als  „Handelskolonie“  (!)  entstehen 
läßt. 


1  Joh.  Fritz,  Deutsche  Stadtanlagen,  Straßburger  Programm 
(1894),  26. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  141 

Stettin  erhält  100  +  30  Hufen  (Blümcke,  Die  Handwerks¬ 
zünfte  im  mittelalterlichen  Stettin,  Baltische  Studien  34,  90).  Die 
Hufe  nur  zu  30  Morgen  gerechnet:  eine  stattliche  Dorfflur!  Es  finden 
sich  aber  auch  150,  200,  sogar  300  Hufen  als  Dotation  der  neuen 
„Städte“  (Fritz,  a.  a.  O.). 

Besonders  lehrreich  ist  die  Gründungsurkunde  für  Frankfurt  a.  O. 
(ausgestellt  vom  Markgrafen  Johann  von  Brandenburg,  abgedruckt  bei 
Gerken,  Cod.  YI.  563,  Auszug  bei  Kl  öden,  Geschichte  des  Oder¬ 
handels,  1.  Stück  (1845): 

1.  Der  Markgraf  überträgt  die  Einrichtung  (constructionem)  der 
Stadt  dem  Godinus  von  Herzberg. 

2.  Der  Markgraf  überträgt  der  Stadt  das  Eigentum  an  124  Hufen 
Weiden  und  Äcker  und  bestimmt,  daß  von  den  104  zum  Ackerbau 
bestimmten  Hufen  jährlich  je  ein  Vierding  Hufenzins  bezahlt  werde. 
Außerdem  weist  er  ihr  60  Hufen  jenseits  der  Oder  an ,  die ,  sofern 
sie  angebaut  werden,  ebenfalls  zinspflichtig  werden.  Das  übrige  Land 
ist  Almende. 

3.  Käufer  und  Verkäufer  werden  bei  Meinen  Einkäufen  vom  Zoll 
befreit;  wer  Waren  nach  der  Stadt  bringt,  zahlt  Zoll;  wer  Waren 
bar  kauft,  zahlt  keinen  Zoll. 

4.  Der  Markgraf  behält  sich  in  der  Markthalle  und  auf  den  Jahr¬ 
märkten  von  jedem  ‘Stande5  eine  Pensio  von  3  Pfenn.  vor.  Der 
übrige  Gewinn  von  den  Ständen  im  Kaufhause  (also  wohl  durch  Ver¬ 
mietung  an  die  Hökerweiber)  fließt  der  Stadt  zu ;  ebenso  der  Gewinn 
ans  Einrichtungen,  die  die  Stadt  etwa  zum  Nutzen  des  Marktes  schafft. 

Also :  Deutlich  tritt  uns  das  Bild  eines  Dorfes  entgegen,  das  nach 
Möglichkeit  sich  zu  einer  kleinen  Ackerstadt  entwickeln  soll:  die 
164  Hufen  sind  das  sichere  Fundamentum;  die  ‘Markteinrichtungen5 
die  Zukunftshoffnungen. 

Den  klarsten  Einblick  in  die  Welt  der  „Gründungsstädte“  gewähren 
uns  aber  die  böhmischen  Urkunden,  deren  Inhalt  uns  das  ausgezeichnete 
Werk  Julius  Lipperts,  Sozialgeschichte  Böhmens,  Band  2  (1898) 
erschlossen  hat.  Böhmen  ist  bekanntlich  unter  Ottokar  II.  von  diesem 
selbst  und  zahlreichen  geistlichen  und  weltlichen  Herren,  die  sich 
gegenseitig  den  Ruhm  als  ‘Städtegründer5  streitig  zu  machen  suchten, 
mit  einem  Netz  deutscher  Ansiedlungen,  die  wir  als  ‘Gründungsstädte' 
bezeichnen,  bedeckt  worden.  Bei.  keiner  dieser  Gründungen  aber 
fehlt  die  Anweisung  einer  großen  Dorfflur ,  selbst  wenn  die  neue 
„Stadt“  sich  an  eine  schon  bestehende  Stadt  anschloß.  So  ist  es  der 
Fall  bei  Neu- Prag,  Neu-Pilsen  (168  Hufen),  Neu-Budweis  (bekommt 
die  Dörfer  Plawen  und  Malaie),  Neu-Glatz  (60  Hufen),  Außig  (26  Hufen), 
Nimburg  (Neuenburg)  (117  Hufen),  Melnik  (72  Hufen) ;  so  bei  Trübau, 
Landskron,  Chotzen,  Äupa,  Trautenau,  Leitmeritz  u.  a.  Nur  wenn 
ein  Ort  einen  sichern  Broterwerb  wo  anders  fand,  wie  z.  B.  die  Ein¬ 
wohner  Kolins,  die  von  der  Holzlieferung  an  das  nahe  Kuttenberg 
lebten,  konnte  die  bäuerliche  Tätigkeit  etwas  eingeschränkt  werden. 
Aber  selbst  in  diesen  Fällen  scheinen  die  vorsorglichen  „Gründer“  die 
neuen  Ansiedler  mit  Grund  und  Boden  zur  Landwirtschaft  ausgestattet 
zu  haben.  Siehe  a.  a.  O.  S.  42  ff. 


|42  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitaltei' 

Daß  nun  aber  auch  die  ganz  ähnlichen  Städtegründungen  m  Frank¬ 
reich  —  die  Villes  neuves  des  11.  sc.,  die  „bastides“  des  13.  Jahr¬ 
hunderts  in  Südfrankreich  —  sowie  in  Spanien  nie  ohne  Anweisung 
einer  genügend  großen  Feldflur  an  die  Ansiedler  ins  Werk  gesetzt 
wurden,  beweisen  uns  die  neuerdings  verarbeiteten  Quellen  ebenfalls 
zur  vollen  Genüge.  Ich  verweise  für  Spanien  auf  die  Quellensammlung 
von  P.  de  Bofarull  y  Mascaro,  Coleccion  de  documentos  m- 
edictos  del  archivio  general  de  la  corona  de  Aragon,  1851 ;  für  Frank¬ 
reich  auf  J.  Flach,  Origines  de  l’ancienne  France  2,  165  ff.  325. 
334.  343  ff- ,  dem  ich  auch  die  Namhaftmachung  des  vorstehend  ge¬ 
nannten  Quellenwerkes  verdanke ;  sowie  auf  die  Spezialuntersuchung 
von  A.  du  Bourg,  Etüde  sur  les  coutumes  communales  du  Sud-Ouest 
de  la  France  in  den  Memoires  de  la  Soc.  arch.  du  midi  de  la  France. 
Ile  ser.  t.  XII  (1880—1882),  250  ff.  Siehe  namentlich  p.  272  f.  Die 
neuen  Städtebewohner  mußten  dem  Herrn  sogar  Ackerfronden  leisten! 

1  Will  man  sich  ein  Bild  von  der  Gründung  von  Kolonistenstädten 
machen,  so  muß  man  sich  die  Vorgänge  bei  der  Entstehung  dei  (alt-) 
amerikanischen  Städte  vergegenwärtigen.  Siehe  Charles  M.  Andrews, 
Die  Stadt  in  Neu-England,  ihr  Ursprung  und  ihre  agrarische  Grund¬ 
lage  in  der  Zeitschr.  für  Soz.  u.  WG.,  Bd.  II. 

Ich  gebe  nunmehr  einen  möglichst  schematischen  Überblick 
über  die  Struktur  und  die  Entstehungsweise  der  Städte  im  Mittel- 
alter  und  beginne  mit  einer  Analyse  derjenigen  Elemente,  die 
ich  als  Städtebildner  oder  Subjekte  der  Städtebildung  bezeichnet 
habe. 

II.  Die  Subjekte  der  Städtebildung 

1.  Die  Konsumenten 

Wer  die  Genesis  der  mittelalterlichen  Städte  richtig  ver¬ 
stehen  will,  der  muß  vor  allem  einsehen  lernen,  daß  diese  Städte 
in  ihrer  großen  Mehrzahl  —  und  sicher  wohl  alle  bedeutenden  — 
während  .der  ersten  Jahrhunderte  ihres  Bestehens  fast  reine 
Konsumtionsstädte  gewesen  sind.  So  daß  also  ihre  Genesis  ver¬ 
stehen  begreifen  heißt:  wie  eine  Konsumtionsstadt  unter  den  Be¬ 
dingungen,  die  das  Mittelalter  bot,  erwachsen  konnte. 

Eine  Konsumtionsstadt  nenne  ich  diejenige  Stadt,  die 
ihren  Lebensunterhalt  (soweit  sie  ihn  von  außerhalb  bezieht, 
also  das  Überschußprodukt  der  landwirtschaftlichen  Arbeit)  nicht 
mit  eigenen  Produkten  bezahlt,  weil  sie  es  nicht  nötig  hat.  Sie 
bezieht  vielmehr  diesen  Lebensunterhalt  auf  Grund  irgendeines 
Rechtstitels  (Steuern,  Rente  oder  dergleichen)  ohne  Gegenwerte 
leisten  zu  müssen.  „Sie  bezieht“:  heißt  natürlich:  eine  Anzahl 
Personen  bezieht,  die  damit  die  Gründer  dieser  Stadt  werden. 
Die  absonderliche  Eigenart  der  Konsumtionsstadt  besteht  also 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  ]43 

darin,  daß  ihre  Gründer  jene  Konsumenten  sind,  ihre  Füller 
dagegen  alle  die  für  jene  arbeiten  und  damit  Anteil  an  ihrem 
Konsumtionsionds  erhalten.  Die  originären ,  primären  Städte¬ 
bildner  sind  somit  die  Konsumenten,  die  abgeleiteten  sekundären 
(tertiären  usw.)  die  Produzenten.  Die  Konsumenten  sind  in 
diesem  Falle  die  Selbständigen,  die  Leute  mit  eigener  Lebens¬ 
kraft,  während  die  Produzenten  die  Abhängigen  sind,  deren 
Existenzmöglichkeit  durch  die  Größe  des  Anteils  bestimmt  wird, 
den  die  Konsumentenklasse  ihnen  von  ihrem  Konsumtionsfonds 
gewähren  will.  (Das  "Wort  „Abhängigkeit“  richtig  verstanden : 
natürlich  sind  im  Grunde  in  jeder  Gesellschaft  alle  von  allen 
abhängig,  wenn  man  damit  meint,  daß  keiner  den  anderen  ent¬ 
behren  kann,  ohne  an  Lebensinhalt  zu  verlieren.) 

Damit  also  Konsumtionsstädte  entstehen,  ist  es  vor  allem 
nötig,  daß  an  einer  Stelle  ein  großer  Konsumtionsfonds  sich  an¬ 
sammelt,  der  hier  zum  Verzehr  gelangt.  Der  Konsumtionsfonds 
kann  von  einem  (oder  wenigen)  mächtigen  Konsumenten  oder 
von  einer  größeren  Anzahl  mittlerer  oder  kleiner  Konsumenten 
zusammen  gebracht  werden:  ein  König  kann  ebensogut  eine 
Konsumtionsstadt  gründen  wie  1000  pensionierte  Generäle.  Wer 
nun  aber  waren  im  Mittelalter  diese  Konsumenten?  Wohl  im 
wesentlichen  Landesherrn,  die  von  Steuern  und  Grundherrn,  die 
von  Landrenten  lebten;  wobei  zu  bemerken  ist,  daß  die  Grenze 
zwischen  Landesherrn  und  Grundherrn  in  dem  hier  gebrauchten 
Wortsinn  fließend  war:  der  steuererhebende  Fürst  war  gleich¬ 
zeitig  Großgrundbesitzer,  bezog  also  vom  eigenen  Grund  und 
Boden  ebenfalls  Revenuen,  die  sich  als  Landrenten  darstellten. 
Eine  scharfe  Trennung  zwischen  Krongut  und  Staatsbesitz  war 
noch  nicht  eingetreten. 

Ich  sehe  nun  im  Mittelalter  eine  erste  Gruppe  bedeutender 
Städte  entstehen  als  Residenzen  weltlicher  oder  geistlicher 
Fürsten.  Es  sind  diejenigen,  in  denen  der  Grundherr,  der  überall 
die  Zelle  der  mittelalterlichen  Stadt  bildet  (um  Gottes  willen: 
nicht  im  verfassungsrechtlichen  Sinne !  wenn  ich  doch  das  end¬ 
lich  klar  gestellt  hätte ,  daß  ich  meine  Begriffe ,  soweit  nichts 
besonderes  bemerkt  ist,  ökonomisch  fasse.  Man  soll  mich  nun 
aber  auch  in  Ruhe  lassen  und  mit  der  unleidlichen  Melodie  von 
der  ‘Hofrechtstheorie’  aufhören  I)  in  denen  der  Grundherr  (sage 
ich),  der  überall  die  Zelle  der  mittelalterlichen  Stadt  bildet,  sich 
zum  größeren  Fürsten ,  zum  Landesherrn  auswächst  in  dem 
Sinne,  daß  er  seine  Revenuen  aus  Grundrenten  durch  Revenuen 


144 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

aus  Steuern  vermehrt.  Das  ist  ein  langwieriger  Prozeß,  und 
demgemäß  erfolgt  die  Städtebildung  in  diesen  Fällen  ebenfalls 
langsam  und  schrittweise. 

Die  Städte,  um  die  es  sich  hier  handelt,  sind  also  die  Sitze 
der  Bischöfe1  und  Erzbischöfe,  der  Grafen,  Duces,  Markgrafen, 
Herzoge,  Könige. 

Sehr  häufig  sind  weltlicher  und  geistlicher  Fürstensitz  in  einer 
und  derselben  Stadt,  die  dadurch  also  zweifache  Förderung  er¬ 
fährt.  So  waren  die  Bischofsstädte  Oberitaliens  dieselben  wie 
die  Sitze  der  Duces  der  Langobarden  und  später  der  fränkischen 
Comites:  Vicenza,  Verona,  Brescia,  Bergamo,  Mailand,  Pavia, 
Parma,  Piacenza,  Modena,  Mantua,  Turin  und  andere 2.  Ebenso 
waren  in  Deutschland  die  „Civitates“  der  Karolingerzeit  auch 
Sitze  des  Gaugrafen  und  des  Grafengerichts3.  Daß  die  bedeutenden 
„Pfalzstädte“  in  Deutschland  auch  Bischofssitze  waren,  ist  be¬ 
kannt,  ebenso  natürlich,  daß  es  die  großen  Hauptstädte  Englands 
und  Frankreichs  waren.  In  Hamburg  z.  B.  residierte  im  11.  Jahr¬ 
hundert  der  Erzbischof  und  der  Herzog  von  Sachsen4;  in  Florenz 
der  Markgraf  von  Tuscien  und  der  Erzbischof 5 ;  in  Amsterdam 


1  Der  Name  ‘Bischofsstadt’  ist  zweideutig.  Er  kann  verfassungs¬ 
rechtliche  oder  (wie  hier)  reale  Bedeutung  haben.  Die  bisherige 
Städtegeschichte  sprach  von  Bischofsstädten  nur  in  jenem  ersten  Sinne 
und  hat  für  die  Stadtverfassungsgeschichte  natürlich  recht,  wenn 
sie  das  tut.  Für  die  Genesis  der  Stadt  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob 
der  Bischof  jemals  Stadtherr  war  oder  nicht.  Florenz  ist  stadt¬ 
geschichtlich  im  hervorragenden  Sinne  „Bischofsstadt“,  denn  der,  Bischof 
ist  es  vornehmlich,  der  Florenz  zu  Macht  und  Ansehn,  zu  Größe  und 
Reichtum  gebracht  hat.  Und  doch  war  Florenz  überhaupt  niemals 
eine  Immunität;  seine  Verfassung  ist  gleich  aus  der  grafschaftlichen 
eine  kommunale  geworden.  Siehe  Davidsohn,  Gesell,  von  Florenz 
1,  336. 

2  H.  Pabst,  Geschichte  des  langobardischen  Herzogtums  in  den 
Forschungen  zur  deutschen  Geschichte  2  (1862),  S.  437  f.  Bethmann- 
Hollweg,  Ursprung  der  lombardischen  Städtefreiheit  (1846),  S.  66  f., 
74  ff. 

3  Rietschel,  Civitas,  94. 

4  „basiliea  eadem  ex  una  parte  habuit  domum  episcopi,  ex  alia 
praetorium  ducis“,  Adam  Brem.  2,  68  zit.  bei  Maurer,  1,  63. 

5  Nach  der  Ansicht  eines  gründlichen  Kenners  der  Florentiner 
Frühzeit  vergrößert  sich  die  Stadt  während  des  11.  Jahrhunderts  des¬ 
halb  „sehr  bedeutend“,  weil  sie  in  dieser  Zeit  Mittelpunkt  der  anti¬ 
kaiserlichen,  hierarchischen  Partei  in  Tuscien  wird:  0.  Hartwig, 
Quellen  und  Forschungen  zur  älteren  Geschichte  von  Florenz  1 
(1875),  93. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  ]45 

der  Bischof  und  die  Herren  von  Amstel 1 ;  in  Ypern  der  Bischof 
und  die  Grafen  von  Flandern2  usw. 

Oft  genug,  ja  man  darf  sagen,  dort,  wo  es  überhaupt  möglich 
war ,  nämlich  in  dem  alten  Kulturgebiet ,  der  Regel  nach  lagen 
die  Residenzen  der  mittelalterlichen  Fürsten  im  Bereich  der 
schon  von  den  Römern  bewohnten  Städte.  Man  hat  daraus  den 
Schluß  gezogen,  daß  die  Bedeutung  der  mittelalterlichen  Städte 
irgendwie  bestimmt  worden  sei  durch  ihre  römische  Vergangen¬ 
heit.  V  eil  sie  „Sitze  des  städtischen  Lebens“  damals  gewesen 
seien,  seien  sie  es  jetzt  wieder  geworden.  Das  ist  sicherlich 
falsch.  Die  römischen  Städte  hatten  ihre  Bedeutung  als  Städte 
längst  verloren,  wie  wir  an  anderen  Stellen  schon  feststellen 
konnten ,  als  im  Mittelalter  oft  an  denselben  Stellen  neues 
städtisches  Leben  sich  entwickelte.  Insbesondere  im  römischen 
Koloniallande  waren  die  Städte  nichts  anderes  gewesen  als  Garni¬ 
sonen  und  Residenzen  der  Gouverneure.  In  dem  Augenblick, 
als  die  Legionen  und  die  Statthalter  abzogen,  sanken  die  Städte 
in  nichts  zusammen.  Nicht  das  geringste  verknüpft  innerlich 
römisches  und  mittelalterliches  Städtewesen;  es  sei  denn  die 
gedankenlose  Redensart  von  dem  „Handel  und  Verkehr“,  der  sich 
in  das  Mittelalter  „hinübergerettet“  habe.  Daß  äußerlich  an 
denselben  Stellen,  wo  im  Römerreiche  Städte  gestanden  hatten, 
auch  im  Mittelalter  Städte  erblühten,  hat  seinen  Grund  in  zwei 
Tatsachen : 

1.  daß  die  Kirche  vorschrieb,  die  Bischofssitze  sollten  in 
„Städten“  (Civitates)  errichtet  werden; 

2.  daß  die  Ruinen,  namentlich  die  Mauerreste  eine  gute  Vor¬ 
arbeit  für  eine  Befestigung,  darboten ,  auf  die  man  wie  bekannt 
bei  „Begründung“  der  Städte  das  Hauptaugenmerk  richtete. 
Deshalb  kamen  sie  als  Festungen,  von  denen  gleich  die  Rede 
sein  wird,  vornehmlich  in  Betracht. 

Wie  groß  die  Bedeutung  der  Residenz  für  das  Emporkommen 
der  mittelalterlichen  Städte  war,  werden  wir  erst  (soweit  es  sich 
überhaupt  im  einzelnen  nachweisen  läßt)  ermessen  können,  wenn 
wir  die  Städtefüller  kennen  lernen  werden,  die  von  den  Revenuen 
der  residierenden  Herren  ihren  Unterhalt  gewannen.  Hier  möchte 
ich  aber  doch  schon  auf  zwei  Symptome  aufmerksam  machen, 

1  J.  Ter  Gouw,  Geschiedenes  van  Amsterdam  1  (1879),  43  ff. 
Gijsbrecht  III :  „Hem  komt  regt  de  eertitel  toe :  Stichter  van 
Amsterdam.“ 

2  A.  Vandenpeereboom,  Ypriana  3  (1880),  94  ff. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I 


10 


146 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


aus  denen  die  überragende  Bedeutung  der  fürstlichen  Residenz  für 
die  Entwicklung  der  Städte  im  Mittelalter  geschlossen  werden  darf. 

Das  ist  erstens  dies,  daß  blühende  Städte,  wenn  beispielsweise 
der  Bischofssitz  aus  ihnen  verlegt  wurde ,  eine  starke  Einbuße 
erlitten  h  Zweitens  die  bedeutsame  Tatsache ,  daß  Größe  und 
Reichtum  der  Städte  vielfach  in  einem  geraden  Verhältnis  stehen 
zu  der  Macht-  und  Herrschaftssphäre  des  in  ihnen  residierenden 
Fürsten.  Mit  anderen  Worten :  Die  mittelalterlichen  Städte  sind 
um  so  größer,  je  größer  (und  reicher  natürlich)  das  Gebiet  ist, 
dessen  „Hauptstädte“  sie  sind.  Wo  wir  frühzeitig  zentralistische 
Tendenzen  der  Landesfürsten  beobachten,  finden  wir  auch  zuerst 
Städte  von  größerem  Umfang.  Wo  es  überhaupt  während  des 
Mittelalters  nicht  zu  größeren  „  Reichen“  und  „Reichshauptstädten 
kommt,  sind  auch  keine  sehr  großen  Städte  vorhanden. 

Daher  wir  in  Süditalien  eher  Großstädte  erwachsen  sehen 
(Palermo,  Neapel)  als  in  Norditalien;  in  Österreich  (Wien)  eher 
als  im  übrigen  Deutschland1  2 ;  in  Frankreich  (Paris)  und  England 
(London)  eher  als  in  Flandern  und  Brabant.  Das  wird  niemand 
in  Erstaunen  setzen,  der  sich  einmal  vergegenwärtigt  hat,  welche 
bedeutenden  Einkünfte  schon  im*  frühen  Mittelalter  beispielsweise 
die  englischen  oder  französischen  Könige  bezogen.  So  sollen 
die  Revenuen  des  englischen  Königs  schon  unter  Heinrich  I. 
(also  im  Anfang  des  12.  Jahrhunderts)  66000  L.,  das  sind  etwa 
5  850000  Mark  heutige  Währung  betragen  haben3.  Aber  selbst 
die  Einkünfte  des  in  Wien  residierenden  Landesherm  von  Ober¬ 
und  Niederösterreich  betrugen  im  13.  Jahrhundert  35  000  Wiener 
Pfennige,  also  etwa  100  000  Mark  heutiger  Währung4.  Erwägt 

1  Siehe  z.  B.  Flach,  Origines  2,  329. 

2  Das  einen  so  schönen  Anlauf  zur  „ Großstadt“  entwicklung  ge¬ 
nommen  hatte.  Ich  zweifle  keinen  Augenblick,  daß  nächst  Byzanz 
im  Jahre  800  Aachen  die  größte  europäische  „Stadt“  war.  Wenn 
wir  die  Zahl  der  hier  dauernd  oder  vorübergehend  die  Sonne  Karls 
umschwirrenden  Schmetterlinge  ganz  gering  veranschlagen,  werden  wir 
doch  ein  paar  Tausend  „Einwohner“  des  „Palatiums"  und  seiner 
Dependenzen  annehmen  müssen.  Den  deutlichsten  Eindruck  von  der 
Größe  Aachens  in  der  Karolingerzeit  erhält  man  aus  der  Darstellung 
F.  Dahns  (Könige  der  Germanen  VIII.  6  [1900],  102  ff.),  wo  wohl 
alles  Quellenmaterial,  das  wir  besitzen,  benutzt  worden  ist. 

8  W.  Stubbs,  Constitutional  History  l5,  415. 

4  Siehe: 'Die  landesfürstlichen  Urbare  Nieder-  und  Oberösterreichs 
aus  dem  13.  und  14.  Jahrhundert;  herausgegeben  von  Alf.  Dopsch 

(Österr.  Urbare  I.  1  [1904].  S.  CCXXV).  Vgl.  H.  v.  Voltelini, 
Die  Anfänge  der  Stadt  Wien,  44  ff. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  147 

man,  daß  der  Warenumsatz  einer  bedeutenden  Hansastadt  im 
Hochmittelalter  1—3  Millionen  Mark  heutiger  Währung’  betrug, 
rechnet  man  selbst  diesen  ganzen  Betrag  auf  auswärtigen  Handel 
und  nimmt  man  (sehr  hoch !)  einen  .Durchschnittsprofit  von  20  °/o 
vom  Umsatz  an,  so  würde  der  Gesamtprofit,  der  also  den  Fonds 
darstellt,  aus  dem  eine  städtische  Bevölkerung  ernährt  werden 
kann,  etwa  200  000 — 600  000  Mark  heutiger  Währung  sein.  Man 
kann  somit  sagen: 

Der  einzige  König  von  England  ernährte  im  Jahre  1100  mit 
seinen  Revenuen  zehn-  bis  dreißigmal  soviel  Menschen  als  Lübecks 
oder  Revals  Handel  im  14.  Jahrhundert. 

Neben  diesen  fürstlichen  Gfroßkonsumenten  finden  sich  nun 
in  der  mittelalterlichen  Stadt  eine  Menge  mittlerer  und  kleiner 
Grundrentenbezieher  zusammen,  die  wiederum  einen  beträcht¬ 
lichen  Konsumtionsfonds  bilden  können.  Ich  denke  zunächst 
an  alle  Kirchen  und  Klöster,  die,  wie  man  weiß,  zum  Teil 
über  recht  bedeutende  Einkünfte  verfügten.  Wenn  man  jetzt  an¬ 
fangen  wird,  die  Wirtschaftsgeschichte  der  mittelalterlichen  Städte 
zu  schreiben,  dann  wird  man  den  Betrag  dieser  Einkünfte  zu  er¬ 
mitteln  trachten  müssen.  Ich  führe  beispielshalber  an:  Das 
St.  Tlmmasstift  und  das  St.  Peterstift  in  Straßburg  hatten  ein 
Einkommen  (im  15.  Jahrhundert)  von  zusammen  2374  Mark  oder 
33000  Mark  heutiger  Währung1.  Im  Jahre  1487  besaßen  die 
geistlichen  Anstalten  (Pfarrkirchen,  Stifte,  Klöster)  im  Kölner 
Kirchspiel  St.  Kolumba  ^  1 59  Mietliäuser,  die  einen  Mietsertrag 
von  2830V6  Mark  lieferten2  (ein  Viertel  des  gesamten  Miets¬ 
ertrages  in  diesem  Kirchspiel).  Der  Zehnte,  den  die  Kirchen 
Kölns  im  14.  Jahrhundert  zu  zahlen  hatten,  belief  sich  auf  rund 
300  Mark3,  ihre  Einkünfte  betrugen  also  rund  3000  Mark,  das  sind 
rund  150000  Mark  heutiger  Währung  (sollte  das  nicht  noch  zu 
niedrig  berechnet  sein?). 

Um  den  Anteil  der  geistlichen  Grundherrschaften  am  Auf- 


1  Willi.  Kothe,  Kirchliche  Zustände  Straßburgs  im  14.  Jahrh. 
1903,  S.  2. 

2  Jos.  Greving,  Wohnungs-  und  Besitzverhältnisse  usw.  in  den 
Annalen  des  histor.  Vereins  für  den  Niederrhein  78,  24  f. 

8  Nach  dem  Liber  valoris  eccl.  Coh,  der  abgedruckt  ist  bei  Ant. 
Jos.  Binterim  und  Jos.  Hub.  Mooren,  Die  alte  und  neue  Erz¬ 
diözese  Köln,  1.  Teil  1828,  S.  51  ff.  Über  die  Verhältnisse  in  Hildes¬ 
heim  unterrichtet  (schlecht)  H.  A.  Lüntzel,  Geschichte  der  Diözese 
und  Stadt  H.  1  (1858),  288  ff;  2,  23  ff 


io* 


148  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

bau  der  mittelalterlichen  Stadt  einigermaßen  ziffernmäßig  fest¬ 
stellen  zu  können,  müßte  man  dann  auch  über  ihre  Anzahl  ge¬ 
nauer  unterrichtet  sein,  als  wir  es  bisher  sind.  Nach  allem,  was 
wir  wissen,  können  wir  einstweilen  nur  soviel  mit  Sicherheit 
sagen,  daß  diese  verhältnismäßig  sehr  groß  gewesen  sein  muß. 
Was  wir  von  einzelnen  Angaben  besitzen,  macht  das  unzweifelhaft1. 

In  Florenz  läuteten  schon  Ende  des  12.  Jahrhunderts  80  Glocken. 
Davidsohn,  Gesch.  v.  Florenz  1,  732. 

Über  die  große  Zahl  von  Geistlichen  überhaupt  während  des  Früh¬ 
mittelalters  :  Lamprecht,  DWL.  1.  2,  846. 

Einen  Überblick  über  den  Bestand  an  Kirchen  und  Stiftern  in 
15  deutschen  Städten  gibt  A.  Püschel,  Das  Anwachsen  der  deutschen 
Städte.  1910.  Für  Wien  siehe  Ant.  Mayer,  Das  kirchliche  Leben  usw. 
in  der  Gesch.  der  Stadt  Wien  1  (1897),  445  ff.  Für  Strafsburg  Karl 
Achtaich,  Der  Bürgerstand  in  Str.  (1910),  6  ff. 

Im  13.  Jahrhundert  sind  uns  in  Paris  die  Namen  von  96  Kirchen 
und  Klöstern  überliefert  (in  der  Steuerrolle  von  1292).  Siehe  die  Zu¬ 
sammenstellung  des  Herausgebers  H.  Gerard  in  der  Coli,  des  docum. 
in4d.  I  ser.  8.  tome  (1837),  p.  624 — 626. 

Von  den  Klöstern  insbesondere  wissen  wir,  daß  sie  in  dem  Maße 
wie  die  Städte  erstarkten  und  durch  ihre  Mauern  Schutz  gegen  räuberische 
Überfälle  gewährten,  ihren  Sitz  in  diese  verlegten,  namentlich  auch,  wie 
uns  die  Chronisten  berichten ,  um  die  Gebeine  der  Heiligen  und  die 
Reliquien  vor  den  Plünderungen  der  Feinde  in  Sicherheit  zu  bringen. 
Belege  für  Frankreich  bei  Flach,  Origines  2,  331.  Für  Deutschland 
hat  W.  Arnold,  Verf.Gesch.  d.  deutsch.  Freistädte  2,  162  ff.,  die 
Verlegung  wichtiger  Klöster  in  die  von  ihm  behandelten  Städte  urkund¬ 
lich  festgestellt,  während  er  nachweist,  daß  seit  dem  13.  Jahrhundert 
die  meisten  Klöster  von  vornherein  in  denJStädten  begründet  wurden. 
Waren  das  auch  vorwiegend  Klöster  der  „ärmeren  Orden“  :  Franzis¬ 
kaner,  Dominikaner  und.  Augustiner,  so  dürfen  wir  doch  annehmen, 
daß  auch  sie  in  den  meisten  Fällen  Grundbesitz  auf  dem  Lande  be¬ 
saßen,  also  Renten  bezogen.  Ein  Klarissen-  oder  Franziskanerkloster 
z.  B.  wurde  1282  durch  den  Patrizier  Humbert  zum  Widder  und  seine 
Ehefrau  Elisabeth  zum  Jungen  in  Mainz  gegründet.  Sie  schenkten  alle 
ihre  Güter,  Einkünfte  und  Gerechtsame  in  den  elf  Dörfern  Weiterstatt 
Astheim ,  Bubenheim ,  Fiersheim ,  Partenheim  und  Alsheim  an  das 
Kloster,  das  bald  durch  weitere  Schenkungen  noch  begüterter  wurde. 
Belege  bei  Arnold,  a.  a.  0.  S.  175.  Nach  den  Angaben  desselben 
Gewährsmannes  gab  es  im  13.  Jahrhundert  in  Worms  acht  Klöster, 
in  Mainz  zehn,  in  Speier  sechs.  Über  die  Klöster  in  Wien:  H.  von 
Voltelini,  a.  a.  0.  S.  25  f. ;  über  den  reichen  Grundbesitz  der  kirch¬ 
lichen  Institute  Wiens  im  Lande  ebenda  S.  48  f.  Die  Klöster  Wiens 
werden  gegründet,  um  den  Glanz  der  Stadt  zu  heben:  Rieh.  Müller, 

1  Allgemeine  Klösterverzeichnisse  für  Deutschland  bei  A.  Hauck, 
Kirchengeschichte  4  (1913),  975  ff.  M.  Schulte,  Der  Adel  und  die 
deutsche  Kirche.  1910. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  149 

Wiens  räumliche  EntA.  usw.  in  Gesch.  d.  St.  W.  II.  1,  155  ff.  Über 
die  Klöster  in  London:  W.  Stanhope,  Monastic  London.  1887. 

Neben  den  Kirchen  und  Klöstern  sind  für  viele  deutsche 
Städte  auch  die  geistlichen  Kitter orden  von  Bedeutung 
geworden ,  die  hier  eine  eigene  Kommende  errichteten  und  bei 
ihrem  bekannten  Keichtum  erhebliche  Rentenbeträge  in  den 
Städten  zusammenziehen  und  zum  Verzehr  bringen  konnten1. 

Den  geistlichen  Rentnern  gesellen  sich  nun  die  weltlichen 
Rentenberechtigten  zu.  Zunächst  will  ich  wenigstens  im  Vorbei¬ 
gehen  einer  Kategorie  originärer  Städtebildner  Erwähnung  tim, 
die  doch  wohl  für  manche  Stadt  (Bologna,  Paris,  Oxford)  nicht 
ganz  ohne  Bedeutung  gewesen  sind:  ich  meine  die  Schüler-2 
und  Studenten3,  die  ihren  „Wechsel“  von  auswärts  bezogen. 
Sie  erhielten  gewiß  sich  selbst  aus  ihrer  eigenen  Tasche  und 
manchen  caupo,  manche  puella  außerdem. 

Daß  die  Städte  des  Mittelalters,  zumal  in  den  ersten  Jahr¬ 
hunderten  ihres  Bestehens,  überreich  gewesen  seien  an  welt¬ 
lichen  „Grundherrn“,  das  heißt  Personen,  die  auf  einem. 
Hofe,  in  einer  burgartigen  Behausung,  einem  Kastell,  einer  torre 
innerhalb  der  Stadtmauern  wohnten  und  außen  Grundbesitz  hatten, 
den  sie  entweder  von  hörigen  Bauern  in  eigener  Regie  bewirt¬ 
schaften  ließen  oder  den  sie  verpachtet  hatten  oder  von  dem  sie 
Zins  erhoben :  darüber  herrscht  wohl  keine  Meinungsverschieden¬ 
heit.  Und  das  allein  ist  das  Phänomen,  um  dessen  Feststellung 
mir  hier  zu  tun  ist.  Während  ich  dahingestellt  sein  lasse :  welchen 
Ursprungs  der  Landbesitz  dieser  Grundherrn,  welchen  ständischen 
Charakters  sie  selbst  gewesen  seien;  ob  Freie,  ob  Ministeriale, 
ob  Landadel,  ob  Stadtadel.  Denn  für  die  Frage,  die  uns  hier 
beschäftigt,  sind  alle  diese  Unterschiede  belanglos.  Hier  ist  allein 
von  Bedeutung  die  Tatsache,  daß  in  den  mittelalterlichen  Städten 
in  großer  Anzahl  Landrentenberechtigte  ansässig  waren.  Leider 
besitzen  wir  (meines  Wissens)  für  keine  Stadt  zitfernmäßige  Fest¬ 
stellungen  über  die  Zahl  und  den  Besitz  der  weltlichen  Grund- 


1  Arnold,  a.  a.  0.  S.  178  ff.  (Regensburg,  Speier,  Köln,  Mainz, 
Straßburg,  Basel,  Worms);  Bücher,  a.  a.  0.  S.  514  (Frankfurt 
a.  M.). 

2  Über  Klosterschulen  und  ihre  Verbreitung  in  Europa  handelt 
ausführlich  Montalembert,  Die  Mönche  des  Abendlandes,  deutsche 
Ausgabe  6  (1878),  169  ff.  Vgl.  auch  v.  Maurer,  St.V.  3,  57  ff. 

3  Für  die  spätere  Zeit  siehe  vor  allem  das  Werk  von  F.  Eulen¬ 
burg,  Die  Frequenz  der  deutschen  Universitäten.  1904. 


150 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Herren,  die  städtisch  siedelten :  die  beste  Untersuchung  ist  wohl 
für  Florenz  angestellt  worden.  Und  hier  lassen  sich  bis  Anfang 
der  1180  er  Jahre  35  „torri“ ,  das  heißt  also  burgartige  Be¬ 
hausungen  grundherrlicher  Familien  nachweisen1 2,  „doch  die 
wirkliche  Zahl  mag  eine  dreifach  so  große  gewesen  sein“ 

Und  diese ,  in  den  größeren  Städten  gewiß  sehr  zahlreichen, 
großgrundbesitzenden  Familien  wurden  nun  um  den  Betrag  ihrer 
Renten  Städtebildner :  das  ist  es,  worauf  ich  die  Aufmerksamkeit 
des  Lesers  hinlenken  wollte,  da  ich  ihm  sonst  mit  diesen  Fest¬ 
stellungen  nichts  neues  bieten  konnte. 

Nur  zweierlei  will  ich  noch,  um  das  Bild  etwas  zu  beleben, 
hinzufügen : 

Erstens :  wenn  Grundrentenbezieher,  die  in  der  Stadt  leben, 
Städtebildner  sind  (woran  niemand  mehr  zweifeln  dürfte,  der 
meine  Darlegungen  gelesen  hat),  so  ist  es  offensichtlich,  daß  eine 
Stadt  umso  größer  und  reicher  sein  wird,  je  mehr  Grundrenten 
in  ihr  zum  Verzehr  gelangen.  Also  je  mehr  der  einzelne  Rentner 
an  Revenuen  bezieht,  oder  je  mehr  Rentner  sich  in  der  Stadt 
vereinigen. 

Mit  anderen  Worten: 

Die  Höhe  der  ländlichen  Grundrente ,  die  in  der  Stadt  ver¬ 
zehrt  wurde,  hing  ab  von  der  Anziehungskraft,  die  eine  Stadt 
auf  die  Großgrundbesitzer  des  Landes  auszuüben  vermochte, 
einerseits,  von  der  Fruchtbarkeit  der  Gebiete  andererseits,  die 
sich  in  der  Verfügungsgewalt  der  ursprünglich  städtischen  oder 
später  urbanisierten  Grundeigner  befanden.  Man  muß  mehr,  als 
bisher  geschehen,  darauf  achten,  daß  für  die  Entwicklung  der 
Städte  im  Mittelalter  (aus  den  angeführten  Gründen)  viel  weniger 
ihre  sogenannte  Verkehrslage,  als  die  Fruchtbarkeit  und  die  Be¬ 
völkerungsdichtigkeit  ihrer  Landschaft,  bestimmend  waren.  Hier 
lag  der  Vorsprung,  den  schon  die  Natur  Italiens  und  Flanderns 


1  Santini,  Societä  delle  torri  im  Arcli.  stör.  Ser.  IV.  Vol.  20. 
Davidsoh-w.  in  seinen  „Forschungen“,  S.  121:  „Türme  in  der  Stadt“. 

2  Davidsohn,  Gesell,  von  Florenz  1,  554. 

Über  die  bürgerlichen  Behausungen  der  weltlichen  Grundherreu  in 
den  deutschen  Städten  verbreitet  sich  v.  Maurer,  St.V.  2,  9  ff. 

In  Frankreich :  „multi  nobiles  oppidani  erant,  qui  magnorum 
possessores  fundorum,  in  praecipuis  baronibus  nativae  regionis  pollebant, 
et  multis  magnae  strenuitatis  militibus,  hereditario  jure  praeminebant“ 
(1098).  Orderic  Vital.  IV,  p.  49,  bei  Flach  2,  368.  —  Das  Verzeichnis 
der  Hotels  des  Grands  in  Paris  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  siehe 
in  der  Coli,  des  docum.  ined,  Ser.  I,  8  (1837),  627  f. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  151 


gewährte;  denn  die  Länder  dieser  glichen  schon  früh  im  Mittel- 
alter  einem  üppigen ,  wohlangelegten  Garten.  Man  muß  di6 
Schilderungen  von  der  flandrischen  Landschaft  in  der  Philippide 
lesen,  um  sich  das  richtige  Verständnis  für  die  frühe  Blüte  der 
niederrheinischen  Städte  zu  verschaffen.  Man  muß  auch  beachten, 
daß  beispielsweise  die  flandrischen  Seestädte  wie  Nieuport,  Arden- 
burg ,  Dam  und  auch  Brügge  viel  später  zu  Reichtum  gelangen 
als  die  binnenländischen  Städte  wie  Ypern  und  Gent.  Abei 
natürlich  war  die  Voraussetzung  für  die  Ausnutzung  jener  gün¬ 
stigen  Naturbedingungen,  daß  die  Mehrprodukte  des  Landes  in 
der  Stadt  verzehrt  werden  konnten ,  und  dazu  bedurfte  es  der 
Einbeziehung  der  Grundherrn  in  die  Kreise  der  städtischen  Be¬ 
völkerung.  Diese  aber  ist  in  verschiedenen  Ländern  in  sehr  ver 
schiedenem  Maße  erfolgt.  Weshalb ,  ist  hier  nicht  zu  erörtern. 
Man  wird  annehmen  dürfen,  daß  der  Einfluß  der  römischen,  voi- 
wiegend  städtischen  Kultur  einen  wesentlich  bestimmenden  Ein¬ 
fluß  ausgeübt  hat.  Deshalb  doch  wohl  in  Italien 1  die  starke  Tendenz 
des  Landadels  zur  freiwilligen  Urbanisierung,  deshalb  eine  stärkere 
Konzentration  ländlicher  Großgrundbesitzer  in  den  Städten  über¬ 
all,  wo  außerhalb  Italiens  das  Römertum  seine  Spuren  zurück¬ 
gelassen  hatte :  stärker  in  den  rheinischen  und  südlichen  Gebieten 
Deutschlands,  als  in  den  unwirtlichen  Kolonisationsländern  des 
Nordens  und  Ostens.  Aber  es  mögen  auch  andere  Umstände 
bestimmend  mitgewirkt  haben.  So  hat  in  England  eine  eigen¬ 
tümliche  Gestaltung  des  Verfassungslebens  wie  des  Erbrechts 
frühzeitig  eine  Abstoßung  der  jüngeren  Söhne  des  hohen  Adels 
in  die  Städte,  sowie  eine  Verschmelzung  der  Gentry  mit  dem 
Bürgertum  zuwege  gebracht.  In  Italien  hat  fernei  die  zw  angs 
■weise  Einsperrung  des  Landadels  in  die  Städte  eine  große  Rolle 
gespielt2;  in  Flandern  und  Brabant  war  die  Entwicklung  ähnlich3. 


1  Lange  vor  dem  gewaltsamen  inurbamento  „batten  die  Lockungen 
des  Behagens  und  der  Geselligkeit  einzelne  Geschlechter  veranlaßt, 
statt  in  einem  Turme  auf  einsamem  Bergesgipfel  sich  m  der  Stadt 
niederzulassen“.  Davidsohn,  Geschichte  von  Florenz  1,  343.  1  ür 
Venedig:  R.  Heynen,  Zur  Entstehung  des  modernen  Kapitalismus 

in  Venedig  (1905),  88.  ,  ,  , 

2  Über  das  ‘Inurbamento  defla  nobiltä’  findet  man  den  gesuchten 

Aufschluß  z.  B.  bei  Muratori,  Antiqu.  Diss  47 ;  v.  Bethmann- 
Hollwe0-  Ursprung  der  lombardischen  Städtefreiheit,  o.  104  n. ; 
0  Bertagnolli,  Vicende  delfagricoltura  (1881),  p.  175;  E.  Poggi, 
(’enni  storici  delle  Leggi  sull’agricoltura  (1848),  2,  163  ff,  und  in  der 

ersten  Auflage  dieses  Werkes  1,  313  ft.;  2,  198  f. 

a  piehe  die  erste  Auflage  1,  311  f-  und  die  dort  angeführte  Literatur. 


152 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


In  derselben  Zeit,  in  der  die  italienischen  Kommunen  für  die 
Zusammenballung  vieler  Bentenfonds  in  ihren  Mauern  durch  das 
Inurbamento  Sorge  trugen,  warfen  die  deutschen  Städte  den 
Adel  zu  den  Toren  hinaus : 

Das  Freiburger,  das  Hamburger  (1120)  und  andere  Stadtrechte 
verboten  dem  Adel,  in  der  Stadt  zu  wohnen  —  nullus  de  homi- 
nibus  vel  ministerialibus  ducis  vel  miles  aliquis  in  civitate  habi- 
tabit,  bestimmt  das  Stadtrecht  von  Freiburg  —  zu  derselben 
Zeit  als  die  mächtige  Janua  den  Markgraf  Alderamo  (1135),  den 
Grafen  von  Lavagna  (1138)  und  andere  Große  der  Landschaft' 
schwören  läßt :  ero  habitator  Janue  per  me  vel  per*  filium  meum 
et  tenebor  adimplere  sacramentum  compagne,  als  in  einer  kleinen 
Stadt,  wie  Treviso,  während  eines  Jahres  (1200)  über  60  zum 
Teil  mächtige  und  reiche  Land  her  ren  gezählt  werden,  die  Bürger¬ 
recht  erworben  hatten1. 

Kein  Wunder,  daß  bei  dieser  verschieden  gestalteten  Politik 
Freiburg  Freiburg  und  Genua  Genua  wurde  —  möchte  man  fast 
sagen.  Jedenfalls:  darüber  darf  kein  Zweifel  obwalten,  daß,  wenn 
als  starkbestimmender  Faktor  für  die  Entwicklung-  der  Städte  im 
Mittelalter  die  größere  oder  geringere  Agglomeration  des  Gro߬ 
grundbesitzerstandes  sehr  erheblich  in  Betracht  kommt,  auch 
ein  großer  Teil  der  Unterschiedlichkeit,  den  die  Geschichte  der 
Städte  hier  oder  dort  aufweist,  auf  die  unterschiedliche  Gestaltung 
des  uns  eben  beschäftigenden  Verhältnisses  zurückzuführen  ist. 
Diese  schlichte  Erkenntnis  hatten  die  Beobachter  im  16.  Jahr¬ 
hundert  auch  schon  gewonnen:  „pleraeque  Italiae  urbes  augustiores 
et  majores  sunt  urbißus  Galliae  aut  reliquae  Europae  idque 
quoniam  nobiles  Italiae  urbes  inhabitant“  sagt  der  bis  heute 
beste  Städtetheoretiker2.  Heutzutage  sieht  man  so  einfache  Zu¬ 
sammenhänge  nicht  mehr. 

Die  zweite  Anmerkung,  die  ich  zu  diesem  Punkte:  Städte¬ 
bildung  durch  Landrentenagglomeration  machen  wollte,  ist  diese : 

Es  muß  im  Mittelalter  eine  Zeit  gegeben  haben  —  ich  denke 
es  ist  das  10.  und  11.  Jahrhundert  vornehmlich  — ,  in  der  eine 
plötzliche  Zusammenballung  ländlicher  Grundbesitzer  an  ein¬ 
zelnen  Punkten  erfolgt.  Diese  Punkte  sind  die  befestigten  oder  zu 
befestigenden  oder  doch  als  Verteidigungspunkte,  also  in  Summa 

1  Bonifaccio,  Istoria  di  Trivigi  (1744),  p.  153. 

2  Joh.  Boteri,  Libri  tres  de  origine  urbium  earumque  excellentia 
et  augendi  ratione  etc.  1665.  Lib.  II,  Cap.  X.  (Die  Schrift  erschien 
zuerst  in  italienischer  Sprache  1589.) 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  158 


als  Festungen  ausersehenen  Plätze,  und  die  an  diesen  Punkten 
sich  in  größerer  Anzahl  vereinigenden  Landrentenbezieher,  und 
also  Städtebildner  sind  die  Milites,  ist  die  Besatzung  der  Burg¬ 
mannen,  die  man  zur  Verteidigung  jener  bald  sich  zu  Städten 
entwickelnden  Orte  heranzog.  Sie  wurden,  soviel  ich  sehe,  ein 
wichtiger  Faktor  in  der  Entstehung  der  Stadt.  Denn  sie  schufen 
mit  einem  Male  einen  größeren  Nahrungsspielraum  für  zahlreiches 
Volk.  So  daß  man  auch  sagen  könnte :  die  mittelalterliche  Stadt 
ist  (nicht  nur  in  fortifikatorisch-architektonischem,  sondern  auch 
—  und  gerade  —  im  ökonomischen  Verstände)  vielfach  als  Festung 
erwachsen;  richtiger  als  Garnisonstadt;  denn  nicht  die  Mauern 
und  die  Burg  ernährten  ihre  Bevölkerung,  sondern  die  Milites, 
die  in  der  Burg  lagen  und  Konsumtionsfonds  heranzogen.  Denn 
natürlich  waren  die  Castrenses ,  die  Castellani ,  die  milites  mit 
irgendwelchen  Gütern  —  den  Burglehen  —  belehnte  Männer, 
die  also  die  Renten  dieser  Güter  in  der  Stadt,  wo  sie  garni- 
sonierten  zum  Verzehr  brachten. 

Eine  sehr  anschauliche  Darstellung  der  ökonomischen  Stellung  des 
Males  gibt  Widukind,  c.  35  (MG.  SS.  3,  432). 

Der  sich  an  diese  Stelle  anknüpfende  Streit:  ob  die  milites  agrarii 
heerbaunpflichtige  Bauern  oder  Dienstleute  des  Königs  waren:  siehe 
Dietr.  Schäfer  in  den  Sitzungsberichten  der  Berl.  Akad.  der  Wiss. 
XXVI,  1905,  25.  Mai,  und  vgl.  dazu  H.  Delbrück,  Geschichte  der 
Kriegskunst  3  (1907),  93  f.  109  f.  ist  für  die  hier  belichteten  Zu¬ 
sammenhänge  belanglos.  Hauptsache  ist:  daß  „ceteri  .  .  octo  seminarent 
et  meterent  frugesque  colligerent  nono  et  suis  eas  locis  reconderent.“ 

Bisher  ist  in  der  allgemeinen  Wirtschaftsgeschichte  der  mittelalter¬ 
lichen  Städte  die  Stadt  als  Garnison  nur  nebenbei  behandelt,  zudem 
meistens  unter  verfassungsgeschichtlichem  oder  topographischem  Ge¬ 
sichtspunkt. 

Ich  verweise  einstweilen  auf  folgende  Schriften,  in  denen  die 
verfassungsrechtliche ,  fortifikatorische  usw.  Seite  des  Problems  der 
mittelalterlichen  Festung  beleuchtet  ist: 

Deutschland:  Inama,  DWG.  2,  99  Bf.  Emil  v.  Loeffler,  Ge¬ 
schichte  der  Festung  Ulm.  1881.  Seb.  Schwarz,  Anfänge  des 
Städtewesens  in  den  Elbe-  und  Saale-Gegenden.  1892.  G.  Köhler, 
Geschichte  der  Festungen  Danzig  und  Weichselmünde.  2  Tie.  1893. 
W.  Varges,  Zur  Entstehung  der  deutschen  Stadtverfassung  in  Jahrb. 
f.  N.Ö.  6,  163  ff..  „Die  Stadt  als  Festung“.  S.  Rietschel,  Das 
Burggrafenamt.  1905.  Clem.  Kissel,  Die  Garnisonbewegungen  in 
Mainz  von  der  Römerzeit  an.  1907.  Außerdem  natürlich  sind  die 
allgemeinen  Werke  zurate  zu  ziehen,  vor  allem  immer  die  riesige 
Materiaisammiung  v.  Maurers. 

Für  Böhmen  insbesondere  siehe  J.  Lippert,  Soz.Gesch.  von  Böhmen 
2  (1898),  169.  Alle  böhmischen  Städte  von  Bedeutung  waren  Gauburgen, 


154 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Für  England  hat  Maitland,  Domesday  and  beyond  I.  §  9  eine 
ganz  ähnliche  Verfassung  nachgewiesen,  wie  sie  Deutschland  in  seiner 
Burgwardverfassung  besaß.  Die  stärkste  Festung  des  Landes  war 
London.  In  ihr  spielt  die  Besatzung  auch  verfassungsgeschichtlich 
(wie  ja  übrigens  in  den  meisten  größeren  Städten  überall)  eine  hervor¬ 
ragende  Bolle.  Als  der  Bekenner  ein  Schreiben  nach  London  schickt, 
adressierte  er  es  an  den  Bischof,  den  Portreeve  und  die  burh-thegns 
(das  sind  also  just  die  drei  hervorragenden  Städtebildner!).  Der  Stadt¬ 
graf  von  London  heißt  schon  in  den  ältesten  angelsächsischen  Quellen 
Wicgerefa. 

Frankreich  im  allgemeinen  behandelt  Flach,  Origines  2,  79. 
330  ff.;  die  Champagne  im  besonderen  Eene  Bourgeois,  Du 
mouvement  communal  dans  le  comte  de  Champagne  aus  XII®  et 
XIII®  siede.  Pariser  Diss.  1904.  Dieselbe  Verfassung  wie  in  Eng¬ 
land  und  Deutschland:  „Le  domaine  propre  (sc.  du  comte  de  Ch.) 
etait  .  .  .  divise  en  Chätellenies  ou  Prevötes ,  qui  avaient  chacune 
pour  chef-lieu  le  principal  centre  de  population ,  point  specialement 
fortifie,  oü  se  trouvait  une  forteresse  qualifie  de  chäteau  ä  l’exclusion 
des  autres  forteresses  du  meme  district.  Les  Prevötes  des  comtes 
de  Ch.  etaient  en  1152  au  nombre  de  vingt-huit,  dont  les  chefs-lieux 
sont  aujourd’hui  dans  six  departements “ :  Siehe  die  Liste  a.  a.  0. 
S.  19. 

Für  Belgien  siehe  z.  B.  Alph.  Wauters,  Les  libertes  communales 
1  (1878),  209.  Alle  belgischen  (Groß-)Städte  sind  Garnisonen  seit 
dem  10.  Jahrhundert:  Cambrai,  Utrecht,  Lüttich,  Brüssel usw.  Pirenne, 
Les  villes  flamandes  avant  le  XII.  siede  in  den  Annales  de  l’Est  et 
du  Nord.  Vol.  I.  1905. 

Für  Italien  ist  auf  die  lokalgeschichtlichen  Werke  zu  verweisen. 
Am  besten  sind  wir  natürlich  über  Toscana  und  Florenz  unterrichtet : 
die  Stadt  glich  „einem  großen  und  volkreichen  Kastell,  das  zur  Graf¬ 
schaft  in  einem  sehr  ähnlichen  Verhältnis  stand  wde  die  einzelnen 
Burgen  zu  ihrem  Bezirk“.  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz  1,  331. 
Aber  auch  Gregorovius,  Geschichte  der  Stadt  Born  im  Mittelalter, 
enthält  viel  Material. 


2.  Die  Produzenten 

Es  ist  kaum  eine  Stadt  denkbar,  in  der  nicht  ein  Teil  der 
Bevölkerung  sich  selbst  und  andere  durch  gewerbliche  oder 
kommerzielle  Tätigkeit  erhielte,  das  heißt  also  (wie  wir  aus  dem 
vorigen  Kapitel  wissen)  sich  den  Lebensunterhalt  durch  Austausch 
der  eigenen  Leistungen  von  außen  her  selbst  beschaffte.  Auch  im 
Mittelalter  haben  diese  Bestandteile  in  keiner  Stadt  ganz  ge¬ 
fehlt.  Es  wird  Zeit,  daß  wir  uns  ihrer  erinnern  und  sie  einen 
mich  dem  andern  in  ihrer  Eigenart  begreifen  lernen. 

La  wird  zunächst  die  Arbeit  der  Städte  für  die  umliegende 
Landschaft  zu  erwähnen  sein:  Erzeugung  gewerblicher  Gegen¬ 
stände  für  die  Bauern;  Lieferung  fremder  Einfuhrartikel  an  die- 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  155 


selben.  Eine  Stadt,  deren  Bewohner  vorwiegend  von  diesem 
Verkehr  mit  der  umliegenden  Landschaft  lebt,  nennen  wir  eine 
Landstadt,  auch  wohl  einen  Marktort.  Im  Mittelalter  wird 
zweifellos  in  noch  größerem  Umfange  als  heute  dieser  Typus 
der  Stadt  bestanden  haben;  es  werden  die  Flecken  von  500  bis 
1000  Einwohnern  gewesen  sein,  in  denen  nebenher  stark  Landwirt¬ 
schaft  wie  heute  getrieben  wurde,  die  also  kleine  Ackerstädtchen 
ihr  Lebtag  blieben.  Die  allermeisten  jener  270  „ Gründungsstädte “ 
im  Osten  Deutschlands  zum  Beispiel,  von  denen  wir  schon  erfuhren. 
Auch  in  den  großen  Städten,  denen  also,  an  die  wir  vornehmlich 
denken,  wenn  wir  von  Städten  sprechen,  wird  ein  Austausch 
mit  den  Bauern  (und  noch  mehr  mit  den  Grundherren)  der 
Umgegend  bestanden,  und  ein  Teil  der  Bevölkerung  (Hand¬ 
werker  und  Krämer)  wird  davon  gelebt  haben.  Allzu  umfang¬ 
reich  wird  man  sich  jedoch  diesen  Absatz  an  das  platte  Land 
im  Mittelalter  nicht  vorstellen  dürfen:  dazu  war  die  Eigen¬ 
wirtschaft  noch  zu  stark  verbreitet  und  der  Kulturstand  der 
ländlichen  Bevölkerung  nicht  hoch  genug.  Man  darf  nicht  etwa 
denken,  daß  dieser  Austausch  zwischen  Land  und  Stadt  den 
Lebensnerv  der  mittelalterlichen  Stadt  gebildet  hätte.  Davon 
kann  keine  Kede  sein,  daß  die  Bauern  etwa  um  den  Betrag, 
um  den  sie  auf  den  Wochenmärkten  ihre  Erzeugnisse  an  die 
Städter  verkauften,  nun  gewerbliche  und  fremdländlische  Er¬ 
zeugnisse  bei  diesen  eingekauft  hätten.  Vielmehr  wunderte  von 
dem  Barerlös  wohl  der  größere  Teil  in  die  Taschen  der  Grund¬ 
herren  in  Land  und  Stadt,  und  diese  kauften  nun  mit  dem  Zins- 
gelde  (oder  dem  Erlös  für  die  ihnen  gelieferten  Naturalien)  den 
städtischen  Handwerkern  und  Händlern  ihre  Waren  ab.  So  daß, 
wenn  sie  in  der  Stadt,  wohnten,  diese  von  ihnen  und  nicht  von 
sich  selber  lebten. 

Etwas  größere  Bedeutung  mag  für  manche  der  mittelalter¬ 
lichen  Städte  der  internationale  Handel  gehabt  haben. 
Aber  auch  von  dessen  städtebildender  Kraft  darf  man  sich  keine 
übertriebenen  Vorstellungen  machen. 

Die  Handelsstadt  hat  ökonomisch  das  Eigenartige,  daß  sie 
ihren  Unterhalt  in  kleinen  Beträgen  aus  einem  sehr  weiten 
Kreise  bezieht  h  Und  diese  Eigenart  ihrer  Existenz  steckt  der 
Ausdehnung  der  reinen  Handelsstadt  enge  Grenzen.  Ganz  große 


1  „ils  tirerent  leur  subsistance  de  tont  l’univers“  :  Montesquieu, 
Esprit  des  Lois.  Livre  XX,  Ch,  V, 


156 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


reine  Handelsstädte  hat  es  niemals  gegeben  und  kann  es  nioht 
geben,  denn  entweder  ist  die  Transporttechnik  noch  so  wenig 
entwickelt,  daß  die  Ausdehnung  des  Handels  nur  eine  geringe  sein 
kann1,  oder  aber  bei  entwickelterer  Transporttechnik  ist  die 
Handelsprofitrate  verhältnismäßig  so  niedrig,  daß  schon  un¬ 
geheure  Warenmengen  umgesetzt  werden  müssen,  um  ein  be¬ 
trächtliches  Wertquantum  in  den  Händen  der  Kaufleute  als  Ge¬ 
winn  und  damit  Unterhaltsstoff  für  die  städtische  Bevölkerung 
zurückzulassen.  Der  Laie  —  und  die  meisten  „Theoretiker“,  die 
über  Städtebildung  geschrieben  haben,  sind  nationalökomiscli 
Laien  —  pflegt  sich  nicht  klarzumachen,  daß  von  dem  Waren¬ 
strom,  der  durch  eine  Stadt  hindurchgeht  ,  noch  kein  Sperling 
in  dieser  Stadt  leben  kann,  es  sei  denn,  er  pickte  sich  aus  den 
Getreide-  oder  Erbsensäcken  sein  Futter  heraus.  Worauf  es 
allein  ankommt,  ist  ja  wohl  doch  der  Wertbetrag,  auf  dessen 
Bezug  sich  die  Kaufleute  ein  Hecht  erwerben,  indem  sie  die 
Güter  durch  ihre  Stadt  bewegen,  ist  das,  „was  hängen  bleibt“, 
was  „verdient“  wird,  ist  der  Handelsprofit  mit  einem  Wort, 
und  der  pflegt  bekanntlich  im  umgekehrten  Verhältnis  zu  dem 
gehandelten  Wertquantum  zu  stehen.  Ist  er  verhältnismäßig- 
hoch  (wie  im  Mittelalter)  so  ist  der  Umsatz  klein.  Und  wie 
klein  er  im  Mittelalter  war,  werden  wir  noch  sehen.  Also  selbst 
in  den  Handelsmetropolen  wird  immer  nur  ein  kleiner  Teil  der 
Bevölkerung  vom  „Handel“  haben  leben  können.  Wenn  wir 
ein  Durchschnittseinkommen  von  nur  100  Mk.  heutiger  Währung 
für  das  Lübeck  des  14.  Jahrhunderts  annehmen  und  einen  Profit¬ 
satz  von  20  °/o  vom  Umsatz  (!),  hätte  der  Handel  selbst  in  Lübeck 
nur  etwa  6000  Menschen  ernährt2 3. 

Bleibt  das  Exportgewerbe  als  städtebildender  Faktor  zu  er¬ 
wähnen  übrig.  Soweit  es  in  Betracht  kommt,  läßt  es  den  Typ 
der  Industriestadt  entstehen.  Und  den  hat  es  sicher  auch 
im  Mittelalter  schon  gegeben,  zweifellos  auch  auf  der  Grundlage 
einer  gewerblichen  Produktion  im  engeren  Sinne  (d.  h.  der  Stoff¬ 
veredelung).  Hier  werden  Städte,  die  eine  gewerbliche  Spezialität 
erzeugten,  gewiß  mit  dieser  ein  paar  Hundert,  in  wenigen  Fällen 
ein  Paar  Tausend  Menschen  haben  ernähren  können:  Mailand 
mit  Waffen,  Nürnberg  mit  seinen  „Nürnberger  Waren“,  Konstanz 
mit  seiner  Leinwand,  Florenz  mit  seinen  Tüchern.  Doch  sind 

1  „extensive  commerce  checks  itself ,  by  raising  the  price  of  all 

labour  and  Commodities“:  D.  Hume,  Essays  2  (1793),  208. 

3  Siehe  die  dieser  Rechnung  zugrunde  liegenden  Ziffern  oben  S.  1 46. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  det  mittelalterlichen  Stadt  157 

das  immer  nur  Ausnahmen.  Und  die  Entwicklung  dieser 
Industrien  fällt  zumeist  in  die  späteren  Zeiten  des  Mittelalters, 
so  daß  sie  für  die  erste  Entstehung  und  Ausweitung  der  Stadt 
kaum  in  Betracht  kommen. 

Eher  haben  schon  für  die  Anfänge  des  Städtewesens  be¬ 
stimmte  Erzeugnisse  des  Grund  und  Bodens  (oder  des  Meeres), 
auf  dem  oder  an  dem  die  Stadt  lag,  Bedeutung  erlangt.  Ich 
denke  an  die  Salzstädte 1 ,  an  die  Berg-  (Silber)-Städte ,  an  die 
Weinstädte,  am  die  Heringsstädte.  Aber  ich  muß  wiederum 
davor  warnen,  die  städtebildende  Kraft  auch  dieser  Erwerbsquellen 
zu  überschätzen. 

Sehen  wir  uns  eine  der  ersten  und  meistbedeutenden  Berg¬ 
städte  des  Mittelalters  an:  die  Silberstadt  Freiberg  in  Sachsen. 

Sie  fängt  etwa  1185  an,  sich  zu  entwickeln.  Und  zwar  rasch, 
wie  das  begreiflich  ist.  „Dieselben  Ursachen,  die  in  unserer  Zeit 
in  den  Minendistrikten  Kaliforniens  über  Nacht  volkreiche  Städte 
entstehen  ließen ,  führten  auch  im  Münzbachtal  Ansiedler  aus 
allen  Gegenden  zusammen;  die  neue  Ansiedlung  wuchs  daher 
sehr  schnell  und  hatte  bald  den  Umfang  erreicht,  den  sie  dann 
Jahrhunderte  lang  bewahren  sollte.“ 2  Und  das  Ergebnis?  Im 
Jahre  1259  überläßt  Heinrich  der  Erlauchte  den  „fimum  qui 
colligitur  in  foro“  schenkweise  dem  Hospital,  woraus  wir  schließen 
können,  erstens  „daß  seine  Menge  nicht  gering  war“,  zweitens 
daß  nachts  auf  dem  Markte  das  Stadtvieh  kampierte.  (Freilich 
wäre  es  auch  denkbar,  daß  der  Mist  von  dem  aufgetriebenen 
Schlachtvieh  herrührte?)  Allerdings  wurde  Freiberg  in  Laufe 
des  Mittelalters  'die  größte  sächsische  Stadt.  Das  heißt  aber? 
Es  hatte  379  Hausgrundstücke  und  somit  höchstens  4500— 5000  Ein¬ 
wohner  3.  Also  von  allzu  starker  Wirkung  ist  der  Bergbau  selbst 
dieser  ersten  Silberstadt  Deutschlands  nimmer  gewesen. 

Nur  ein  Faktor  spielt,  soviel  ich  sehe,  bei  der  Entwicklung 
der  mittelalterlichen  Städte  neben  der  Akkumulation  von  Land- 

1  Lüneburg  war  im  Jahre  1227  die  bedeutendste  Stadt  des  Herzog¬ 
tums  neben  —  Braunschweig:  Herrn.  Heineken,  Der  Salzhandel 
Lüneburgs  (Hist.  Studien  Heft  63.  1908),  21. 

2  Hub.  Ermisch,  Wanderungen  durch  die  Stadt  Freiberg  im 
Mittelalter  (Neues  Archiv  für  sächsische  Geschichte;  herausgeg.  von 
H.  Ermisch  12  [1891],  S.  92).  Vgl.  damit  C.  E.  Leuthold,  Unter¬ 
suchungen  zur  älteren  Geschichte  Freibergs  (in  demselben  Archiv 
Bd.  10  [1889]),  304  ff. 

8  H.  Ermisch,  Zur  Statistik  der  sächsischen  Städte  im  Jahre  1474 
(in  demselben  Archiv  11,  148.  150). 


|58  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitaltet 

renten  eine  erhebliche  Rolle,  das  ist  der  Geldkandel,  das 
Bankiergeschäft  oder  der  Wucher,  wie  man  in  den  einzelnen 
Fällen  entscheiden  mag.  Von  ihm  und  seiner  Bedeutung  werde 
ich  noch  näheres  im  weiteren  Verlauf  dieser  Darstellung  mitteilen. 
Hier  will  ich  nur  schon  darauf  hinweisen,  daß. aus  der  instinktiv 
richtigen  Wertung  des  Wuchers  als  städtebildenden  Faktors  sich 
wohl  das  Bemühen  mancher  um  das  Gedeihen  ihrer  Stadt  besorgter 
Stadt-herm  erklärt,  die  Juden  zur  Ansiedlung  zu  veranlassen. 
So  sagt  im  Eingang  des  Speyer-Privilegiums  vom  Jahre  1084 
der  Bischof  Rüdiger:  „Cum  ex  Spirensi  villa  urbem  facerem, 
putavi  milies  amplificare  honorem  loci  nostri ,  si  Iudaeos  colli  - 
gerem.“  1  Immerhin  wird  auch  der  Geldhandel  nur  für  einige  große 
Städte  einen  wesentlichen  Einfluß  auf  die  Bevölkerungszahl  ge¬ 
habt  haben  und  wird  in  den  meisten  Städten  hinter  der  städte¬ 
bildenden  Kraft  des  direkten  Dandrentenbezuges  der  städtischen 
Grundherrn  in  den  Hintergrund  getreten  sein.  Wie  überragend 
dessen  Bedeutung  für  die  mittelalterliche  Stadt  gewesen  sein 
muß,  ergeben  schon  die  wenigen  Andeutungen ,  die  ich  auf  den 
vorigen  Blättern  gemacht  habe.  Dieser  Eindruck  seiner  Prä- 
ponderanz  wird  verstärkt ,  wenn  wir  irgendeine  der  größeren 
Städte  des  Mittelalters  auf  ihren  ökonomischen  Artcharakter  hin 
prüfen.  Wir  finden  dann,  daß  reine  „Industriestädte“  (wie  Frei¬ 
berg)  ganz  klein  bleiben,  daß  aber  in  jeder  Stadt  über  10000  Ein¬ 
wohner  eine  Häufung  mächtiger  Konsumenten  stattfindet.  Mag 
es  Venedig  oder  Florenz,  Genua  oder  Mailand,  Basel  oder  Stra߬ 
burg,  Nürnberg  oder  Augsburg,  Lübeck  oder  Hamburg,  Brügge 
oder  Gent,  Ypern  oder  Lüttich,  Paris  oder  London,  Wien  oder 
Prag;  sein:  immer  treffen  wir  in  diesen  Städten  an:  einen  oder 
mehrere  residierende  Fürsten,  König,  Markgraf,  Herzog,  Erz¬ 
bischof,  Bischof  usw. ;  eine  überwältigende  Menge  geistlicher 
Anstalten;  eine  sehr  große  Zahl  weltlicher  Grundherrn.  Freilich, 
ziffernmäßig  läßt  sich  der  Anteil,  den  diese  Elemente  an  der 
Städtebildung  haben,  nicht  nachweisen,  aber  daß  sie  die  hervor¬ 
ragenden,  ausschlaggebenden  Städtebildner  gewesen  seien ,  wird 
außerordentlich  wahrscheinlich : 

1.  auf  Grund  der  allgemeinen  Sacherwägung; 

2.  durch  die  eben  erwähnte  Tatsache ,  daß  sie  in  keiner  be¬ 
deutenden  Stadt  des  Mittelalters  fehlen; 


1  J.  Aronius,  Regesten  zur  Geschichte  der  Juden  im  fränkischen 
und  deutschen  Reiche  bis  zum  Jahre  1273  (1902),  Nr.  168, 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  159 

3.  durch  die  Beobachtung,  daß,  wo  sie  sich  zusammenfanden, 
jedesmal  auch  eine  größere  Stadt  entstanden  ist; 

4.  durch  die  andere  Beobachtung,  daß  dort,  wo  sie  fehlen, 
niemals  im  Mittelalter  eine  hervorragende  Stadt  er¬ 
wachsen  ist. 

Möchte  aber  jemand  trotz  alledem  noch  an  der  Richtigkeit 
meiner  These  zweifeln,  daß  die  mittelalterliche  Stadt  vornehmlich 
und  jedenfalls  in  den  ersten  Zeiten  ihres  Bestehens  Konsumtions¬ 
stadt  gewesen  ist  und  also  ihre  Entwicklung  der  Masse  der 
an  eurem  Punkte  angehäuften  Landrenten  (rrnd  Steuern)  zu 
danken  hat,  der,  glaube  ich,  wird  von  seinem  Zweifel  befreit 
werden,  wenn  er  sich  die  Objekte  der  Städtebildung  im  Mittel- 
alter  anschaut ,  jene  sekundären,  tertiären  usw.,  also  abgeleiteten 
Städtebildner,  die  ja  recht  eigentlich  erst  die  Städte  füllen.  Yon 
ihnen  soll  nunmehr  die  Rede  sein. 

III.  Die  Objekte  der  Städtebildung 

Ich  teile  die  Stadtfüller  in  zwei  Gruppen,  unmittelbare  und 
mittelbare  Brotnehmer.  Die  unmittelbaren  Brotnehmer  sind  die¬ 
jenigen,  die  im  Dienste  der  Städtebildner  stehen  und  für  Dienste, 
die  sie  diesen  leisten,  bezahlt,  also  von  ihnen  selbst  unterhalten 
werden :  hierher  gehört  die  Dienerschaft  im  weitesten  Sinne ; 
gehören  die  Hofleute,  aber  auch  die  Beamten  des  Königs, 
des  Bischofs;  gehört  endlich  auch  die  ganze  Klerisei:  Priester, 
Mönche  usw.  Mittelbare  Brotnehmer  sind  die  unabhängigen 
Handwerker  imd  Händler,  die  für  die  Städtebildner  gewerbliche 
Erzeugnisse*  hersteilen  oder  aus  der  Fremde  Güter  herbeischaffen. 

Leider  fehlt  es  man  meines  Wissens  wiederum  an  einer  irgendwie 
brauchbaren  Übersicht  über  den  zahlenmäßigen  Umfang  dieser  ver¬ 
schiedenen  Gruppen  der  mittelalterlichen  Bevölkerung,  denn  auch 
die  außerordentlich  wertvollen  Auszählungen,  die  Bücher 
für  Frankfurt  a.  M.  gemacht  hat,  gewähren  noch  immer  keinen 
zuverlässigen  Anhalt,  ganz  abgesehen  davon,  daß  gerade  Frank¬ 
furt  kein  typisches  Bild  der  mittelalterlichen  größeren  Stadt  (um 
die  es  uns  doch  in  erster  Linie  zu  tun  ist)  gibt,  sowie  davon, 
daß  die  späte  Zeit,  für  die  Büchers  Ermittelungen  angestellt 
sind,  nicht  mehr  maßgebend  für  die  Entstehung  der  mittelalter¬ 
lichen  Stadt  ist,  mit  der  wir  uns  hier  beschäftigen. 

Da  mir  Lust  und  Muße  fehlen,  die  Untersuchungen,  die  hier 
nötig  wären,  um  sich  ein  statistisch  einigermaßen  gefestigtes 
Urteil  über  den  Anteil  der  einzelnen  sozialen  Gruppen  der  mittel- 


j(50  Dritter  Abschnitt.-  Das  Ü b  er  gangs  z  ei  talte i 

alterliclien  Stadt  an  ihrer  Gesamtgröße  zn  bilden,  insbesondere 
aber  um  festzustellen,  wieviele  der  Städtefüller,  namentlich  auch 
der  mittelbaren  Brotnehmer,  von  dieser,  wie  viele  von  jener 
Kategorie  der  originären  Städtebildner  ihren  Unterhalt  bezogen 
(daß  diese  Untersuchungen  mit  Erfolg  ausführbar  wären,  daran 
zweifle  ich  auf  Grund  meiner  eigenen  Studien  keinen  Augen¬ 
blick),  so  sind  die  folgenden  Darlegungen  nur  als  eine  Art  von 
Grundriß,  von  Disposition,  von  Wegweiser  als  Fingerzeige  für 
künftige  Forschungen  zu  betrachten  (so  wie  dereinst  meine  Aus¬ 
führungen  über  die  Entstellung  des  bürgerlichen  Reichtums  in 
der  ersten  Auflage  dieses  Werkes,  die  auf  so  fruchtbaren  Boden 
gefallen  sind). 

1.  Die  Klerisei 

„Eo  tempore  .  .  Unwanus  archiepiscopus  metropolem  Flamm  a- 
burgum  renovavit,  clerumque  dispersum  colligens,  magnam  ibidem 
tarn  civium  quam  fratrum  adunavit  multitudinem“,  berichtet  uns 
der  Chronist1.  Und  das  wird,  wenigstens  was  die  Fratres  an¬ 
belangt,  kaum  übertrieben  sein.  Denn  der  Eindruck,  den  wir 
aus  jeder  Beschreibung  einer  mittelalterlichen  Stadt  empfangen, 
ist  der,  daß  es  in  ihr  von  Kutten  und  Soutanen  schwarz  ge¬ 
wesen  sein  muß.  Man  stelle  sich  nur  vor,  daß  der  größte 
Teil  der  Kirchen  und  Klöster,  die  wir  heute  in  den  großen 
Städten  antreften,  schon  im  Mittelalter  gestanden  hat,  als  die 
Stadt  vielleicht  den  zehnten  Teil  ihres  heutigen  Areals  umfaßte. 
Man  muß  in  den  Domvierteln  alter,  katholischer  Städte  etwa  am 
Sonntag  spazieren,  wenn  die  Priester  in  Scharen  über  die  Straße 
ziehen,  wenn  in  jedem  Hause  ein  priesterliches  Gewand  ver¬ 
schwindet,  um  sich  eine  annähernde  Vorstellung  zu  machen  von 
dem  regelmäßigen  Aussehen  einer  mittel  alterlichen  Stadt,  in  der 
ein  Bischof  oder  ein  Erzbischof  seinen  Sitz  hatte.  Die  Quellen 
belehren  uns  auch,  daß  in  manchen  Städten,  zum  Beispiel  Passau, 
die  Altstadt  ausschließlich  von  der  bischöflichen  oder  klöster¬ 
lichen  Familia  bewohnt  wurde,  während  freie  Einwohner  nur  in 
der  Vorstadt  ansässig  waren2. 

Wer  war  da  auch  alles!  Zunächst  die  Herren  Prioren,  die 
Kanoniker,  der  Clerge  primaire:  das  Domkapital,  die  Pröbste 
und  Dechanten  der  städtischen  Stifte,  die  Äbte  der  angesehenen 
Klöster  usw.  Dann  aber  die  ganze  Schar  der  niederen  Geistlich¬ 
keit,  der  Dienerschaft  usw.,  die  Vicarii,  mansionarii,  portionarii, 


1  M.  Adami,  Gesta  Hamm.  II,  58  (10.  Jahrh.)  MG.  SS.  7,  826.  327. 
9  S.  Rietschel,  Markt  und  Stadt,  S.  36. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  161 

capellani ,  kurz  alles,  was  nicht  zum  Kapitel  gehörte,  sondern 
hauptsächlich  für  den  Chordienst  und  zur  Verrichtung  anderer 
geistlicher  Funktionen  angestellt  war. 

Einige  Ziffern  besitzen  wir  immerhin,  um  uns  von  der  großen 
Zahl  der  geistlichen  Bevölkerung  eine  Vorstellung  machen 
zu  können.  Freilich  betrifft  die  Statistik  meist  nur  die  höhere 
Geistlichkeit  und  das  spätere  Mittelalter.  Aber  auch  diese  Ziffern 
sind  wertvoll,  weil  sie  uns  einen  Anhalt  gewähren,  um  danach 
die  Menge  der  Gesamtgeistlichkeit  wenigstens  annähernd  ab¬ 
zuschätzen. 


Aus  einer 

späteren  Zeit  sind 

uns  die  Stellen  der  Kanoniker 

an  den  Domkapiteln  ihrer  Zahl  nach  bekannt1.  So  hatten  bei- 

spielsweise  das  Domkapitel  von 

Würzburg : 

24  Kanoniker 

28 

domicelli 

=  52 

(■„domini“) 

(d  h.  jüngere 

Mainz : 

24 

17 

Kanoniker) 

—  41 

Köln: 

23 

16 

=  39 

Bamberg: 

20 

14 

JJ 

=  34 

Trier: 

16 

24 

=  40 

Speier : 

15 

12 

;? 

=  27  ■ 

Das  war  nur  die  höhere  Geistlichkeit  des  Domkapitels,  ähn¬ 
liche  Ziffern  wiesen  dann  die  Kapitel  der  Kollegiatstifte  auf. 

In  Straßburg  bestanden  im  15.  Jahrhundert  116  Präbenden  und 
Kaplaneien  am  Dom  für  die  niedere  Geistlichkeit,  26  bei  St.  Thomas, 
31  bei  St.  Peter2.  Nach  den  Ansetzungen  Kothes3  gab  es  im 
14.  Jahrhundert  in  Straßburg  343  männliche  Geistliche  und  626 
Nonnen  und  Beginnen;  also  etwa  1000  Personen,  das  wird  reich¬ 
lich  ein  Zwanzigstel  der'  gesamten  Bevölkerung  gewesen  sein. 
Die  Straßburger  Diözese  hatte  gegen  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
über  800  Weltpriester ,  die  zahlreichen  Mönche  ungerechnet4. 
Die  Zahl  der  Kanoniker  am  Kathedralkapitel  in  Lüttich  betrug 
im  13.  Jahrhundert  60 5.  Nach  der  Zählung  von  1449  belief  sich 

1  Dürr  im  dritten  Bande  von  Ant.  Schmidts  Thesaurus  etc. 
(7  Vol.  1772  ff.),  §§  23.  24,  p.  190  ff. 

2  Grandidier,  Etat  ecclesiastique  de  la  dioecese  de  Strassbourg 
en  1454  im  Bulletin  de  la  Societe  pour  la  Conservation  des  monu- 
ments  historiques  d’Alsace.  2  6 *  ser.  18  (1897),  363  ;  zit.  bei  W.  K  o  th  e , 
Kirchliche  Zustände  Straßburgs  im  14.  Jahrhundert  (1903),  S.  36. 

8  K  o  t  h  e ,  a.  a.  S.  123. 

4  Nach  dem  Straßburger  UB.  2  (1886),  Nr.  71. 

6  Ferd.  Henau x,  Hist,  du  pays  de  Liege  1  8  (1872),  200.  Vgl. 

M.  L.  Polain,  Hist,  de  l’ancien  Pays  de  Liege.  Vol.  I.  1884. 

Sombftrt,  Dev  moderne  Kapitalismus,  I.  ü 


162 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


in  Nürnberg,  das  damals  rund  20  000  Einwohner  hatte,  die  Pfarr- 
und  Klostergeistlichkeit  „samt  ihren  Dienern“  auf  446  Personen, 
während  Bücher  für  Frankfurt  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
bei  einer  nur  halb  so  großen  Einwohnerzahl  einen  Personenstand 
in  den  geistlichen  Haushalten  der  Stadt  von  390 — 450  heraus¬ 
rechnet1,  das  waren  etwa  5°/o  der  Gesamtbevölkerung  am  Ende 
des  Mittelalters.  In  der  Reichsstadt  Ulm  gab  es  am  Beginn  des 
16.  Jahrh.  93  Pfründen  n.  0. 2.  Münster  i.  W.  hatte  (gegen  Ende 
des  16.  Jahrhunderts)  213  Klosterinsassen,  373  Weltgeistliche  mit 
Anhang,  also  596  Geistliche  bei  10600  Einwohnern3. 

Eine  interessante  Statistik  des  Klerus  im  Mittelalter,  die 
meist  umfassende  und  am  genauesten  unterscheidende,  die  mir 
bekannt  ist,  teilt  W.  Stubbs  in  seiner  Yerfassungsgeschichte 
für  einige  englische  Städte  mit4.  Danach  betrug  die  Zahl  der 
ordinierten  Personen : 


In  der  Stadt 

Akolyten 

Subdiakone 

Diakone 

Priester 

Insgesamt 

Cirencester  (1314): 

105 

140 

133 

85 

463 

Worcester  (1314): 

50 

115 

136 

109 

310 

Cambden  (1331): 

221 

100 

47 

51 

419 

Worcester  (1337): 

391 

180 

154 

124 

849 

Das  sind  recht 

stattliche 

Ziffern , 

die  sogar  nur 

für  kleine 

und  mittlere  Städte  gelten  und  einen  Schluß  zulassen  auf  das 
imposante  Heer  der  Kleriker  in  den  größeren  Bischofsstädten. 
Daß  diese  in  der  Tat  einen  nicht  unbeträchtlichen  Teil  der  Stadt 
schon  durch  sich  selber  ausgefüllt  haben,  darf  nach  allem,  was 
wir  wissen  und  schließen  können,  nicht  zweifelhaft  sein. 

Die  Geistlichen  unterhielten  nun  aber  wiederum  eine  Menge 
Gesinde.  Seit  der  Auflösung  der  Yita  communis,  sahen  wir 
schon,  bezog  jeder  Kanonikus  sein  eigenes  Haus,  seine  Curia. 
Der  Besitz  eines  eigenen  Hauses  bedingte  aber  mehr  eigene 
Dienerschaft.  Wir  begegnen  in  den  Urkunden  den  mannig¬ 
fachsten  Arten  von  Dienstboten,  die  im  Dienst  der  Prälaten 


1  Bücher,  Bevölkerung  Frankfurts  a.  M.,  S.  520. 

2  Gerh.  Kallen,  Die  oberschwäbischen  Pfründen  des  Bistums 
Konstanz  usw.  (1907),  103.  Vgl.  nochHeinr.  Schäfer,  Pfarrkirche 
und  Stift  (1903),  159  f.,  und  W.  Kisky,  Die  Domkapitel  der  geistl. 
Kurfürsten.  1906. 

8  Franz  Lethmate,  Die  Bevölkerung  M.s  in  der  2.  Hälfte  des 
16.  Jahrh.  (1912),  34. 

4  W.  Stubbs,  Const.  Hist.  8S,  378. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  163 

stehen:  Köchen,  Schlüsselverwahrern,  Kellermeistern  (servientes 
cellarii)  usw.  h 

Daneben  oleiben  die  niederen  Beamten  nnd  Dienstboten  der 
Kapitel  selbst  bestehen :  die  ecclesiastici,  subsacristae,  camerarii, 
scntellarii ;  die  Pförtner,  die  pnlsatores  campanarnm,  die  portitores 
aqnae  etc.  Beim  Halberstädter  Domkapitel1 2 3  werden  3  ecclesiastici, 
1  subsacrista,  4  camerarii,  1  scutellarius  erwähnt;  von  den  unteren 
Dienstbotenchargen  meist  12,  einmal  24. 

2.  Krieger  nnd  Beamte 

Über  die  Größe  dieser  Kategorie  sekundärer  Städtebilder  sind 
wir  noch  weniger  unterrichtet. 

Daß  die  Zahl  der  'Scutarii5  keine  ganz  geringe  war,  dürfen 
wir  wenigstens  für  die  größeren  Städte  mit  Sicherheit  annehmen. 
Kietschel  nimmt  an,  daß  die  1000  Schilde,  über  die  der  Magde¬ 
burger  Burggraf  verfügte3 *,  möglicherweise  die  Besatzung  dar¬ 
stellte4.  Das  wäre  ganz  enorm.  Das  gäbe  ja  schon  einen  An¬ 
blick  wie  ihn  heute  etwa  Potsdam  oder  Metz  darbieten,  wo  man 
über  die  Kriegsleute  stolpert.  Aber  daß  die  Burggrafen  jeden¬ 
falls  über  eine  „starke  Schar  Krieger“  zu  verfügen  hatten,  ist 
gewiß5.  Sonst  würde  beispielsweise  eine  Bauferei,  wie  sie  ge¬ 
legentlich  zwischen  den  Philistern  und  den  Kriegsleuten  ent¬ 
stand,  in  einer  Stadt  wie  Straßburg  nicht  einen  solchen  Skandal 
—  solchen  clamor  ingens  —  verursacht  haben,  daß  man  die 
Glocken  der  Stadt  läutete8. 

Und  die  Be  amtenschaft?  Stellte  sie  nicht  auch  ein  an¬ 
sehnliches  Corpus  dar  ?  Sie  wurde  ja  im  wesentlichen  von  den 
Ministerialen  gebildet,  von  Below,  dem  diese  Leute  schon 
so  manchen  Gram  bereitet  haben,  möchte  sie  am  liebsten  ganz 

1  UB.  des  Hochstifts  Halberstadt  2,  1594;  4,  2678. 

2  A.  Brackmann,  Geschichte  des  Halberstädter  Domkapitels  im 
Mittelalter  in  der  Zeitschrift  des  Harzvereins  32  (1899),  69  f. 

3  MG.  SS.  16,  253. 

4  Rietschel,  Das  Burggrafenamt,  S.  330. 

°  Siehe  z.  B.  für  Halle:  Perd.  Hertzberg,  Geschichte  der  Stadt 
Halle  a.  S.  1  (1889),  18  ff.  Die  Besatzung  der  Harzburg  bezifferte 
sich  auf  300  Mann,  die  der  gegenüberliegenden  Sachsenburg  auf  200. 
Quellen  bei  Waitz,  VG.  8,  406.  Warum  Wh  im  Text  von  „sogar 
1200“  spricht,  weiß  ich  nicht. 

6  „orta  est  .  .  .  inter  vendentes  et  ementes  sedicio  per  scutarios 

regis  in  suburbio.  deinde  clamor  ingens  tollitur,  forenses  campanae 
pulsantur.“  Udalr.  Cod.  260.  Jaffe,  Bibi.  V,  p.  445;  zitiert  bei 
Kietschel,  a.  a.  O.  S.  67. 


n* 


164 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergaugszeitaltei* 


aus  den  Städten  verbannen.  „Die  meisten  Städte  weisen  in 
ihren  Mauern  kaum  einen  Ministerialen  auf“,  meint  er 1  in 
seinem  Zorn  gegen  die  Hofrechtstheoretiker.  Das  geht  wohl 
—  selbst  vom  rein  „verfassungsgeschichtlichen“  Standpunkt  aus 
betrachtet  —  ein  wenig  zu  weit.  Daß  aber  Beamte  der  welt¬ 
lichen  und  geistlichen  Fürsten  in  den  Residenzstädten  wohnten, 
mochten  sie  nun  einen  Standescharakter  haben,  welchen  sie 
wollten,  wird  auch  von  Below  nicht  leugnen  wollen.  "Wo 
sonst  als  in  der  nächsten  Umgebung  ihres  Herrn  hätten  denn 
die  zahlreichen  Würdenträger  wohnen  sollen,  von  denen  uns  die 
Quellen  berichten2?  Werden  doch  zum  Beispiel  in  Köln  einmal 
ausdrücklich  25  Personen  im  bischöflichen  Hofhalt  genannt3. 
Also :  es  wird  schon  einen  ganz  stattlichen  Stab  von  Hofleuten 
und  „Staatsbeamten“  in  den  mittelalterlichen  Städten  gegeben 
haben4.  Wie  viele?  vermögen  wir  allerdings  noch  weniger  mit 
Bestimmtheit  zu  sagen,  als  bei  den  Geistlichen. 

3.  Die  Handwerker 

Daß  unter  den  Handwerkern,  die  später  einen  so  großen 
Bestandteil  der  städtischen  Bevölkerung  ausmachten,  von  Anfang 
an  solche  gewesen  seien,  die  ihre  Arbeit  den  Bauern  in  der 
Dorfstadt  ebenso  zur  Verfügung  stellten,  wie  sie  es  früher  im 
Dorfe  getan  hatten,  oder  die  ihre  Erzeugnisse  in  der  Umgebung 
der  Stadt  verwerteten  oder  gar  damit  ferne  Messen  und  Märkte 
bezogen,  also  (mit  einem  Worte)  daß  unter  den  Handwerkern  in 
den  mittelalterlichen  Städten  von  Anfang  an  originäre  Städte - 
bildner  sich  befunden  haben,  brauchen  wir  nicht  in  Zweifel  zu 
ziehen.  Vielleicht  gehören  jene  Wanderhandwerker  oder  jene, 
die  wir  im  11.  Jahrhundert  schon  nach  Worms  fahren  sahen, 
dieser  Kategorie  gewerblicher  Produzenten  an. 

1  v.  Below,  Ursprung  usw.,  S.  115. 

2  Das  meiste  Material  ist  zusammengetragen  von  v.  Maurer  in 
seiner  Geschichte  der  Fronhöfe  usw.  Bd.  I  u.  II.  Vgl.  auch  Waitz, 
VG.  6 2  (1896),  323  ff. ;  7,  302  ff.  (Beamt,  der  Fürsten.)  Nirgends 
aber  findet  man  Ziffernangaben. 

3  Alb.  Barth,  Das  bischöfliche  Beamtentum  im  Mittelalter,  vor¬ 
nämlich  in  den  Diözesen  Halberstadt,  Hildesheim,  Magdeburg  und 
Merseburg,  in  der  Zeitschr.  des  Harzvereins,  Bd.  33,  S.  322 — 428. 

4  Über  die  frühzeitig  (seit  Heinrich  I.)  in  London  zentralisierte 
Verwaltungsorganisation  der  englischen  Könige  unterrichtet  W.  Stubbs, 

Const.  hist.  I5,  406  ff.  Die  Curia  regis  umfaßte  den  Exchequer  und 
supreme  tribunal  of  judicatur  and  ministry  of  justice;  in  ihr  saßen  die 
Großwürdenträger  mit  einem  Stabe  von  Beamten. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  1(35 

Daß  sie  aber  nur  einen  kleinen  Teil  der  städtischen  Hand¬ 
werker,  namentlich  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  städtischen 
Entwicklung,  ausgemacht  haben,  daß  sie  daher  für  diese  selbst 
nur  gering  ins  Gewicht  fallen,  scheint  mir  sicher  zu  sein  an¬ 
gesichts  des  Gesamtcharakters  der  frühen  Städtezeit.  Ich  meine : 
nicht  nur  die  allgemeinen  Erwägungen,  sondern  auch  die  wenigen 
Quellenstellen,  die  uns  von  den  ersten  Phasen  des  Handwerks 
einige  Kunde  geben,  führen  uns  zu  der  Annahme,  daß  sich  das 
Gros  der  Handwerker  um  die  in  der  Stadt  ansässigen  Grund¬ 
herrn  gruppierte;  daß  sie  von  diesen  die  Aufträge  erhielten; 
daß  sie  diesen  also  die  Möglichkeit  allein  verdankten,  als  freie 
Städter  zu  leben. 

Dieser  Sachverhalt  tritt  besonders  deutlich  in  die  Erscheinung, 
wo  die  Städte  gründende  Grundherr schaft  ein  einsames  Kloster 
ist;  wenigstens  können  wir  hierfür  einige  besonders  lebendige 
Schilderungen  aus  den  Quellen  namhaft  machen.  Aber  der 
Hergang  war  imgrtm.de  überall  derselbe ,  genau  so  wie  er  uns 
etwa  für  St.  Edmundsburg  in  England,  für  die  Abtei  Tiron  in 
Frankreich,  für  Zweifalten  in  Deutschland  überliefert  ist:  wo 
wir  genau  verfolgen  können,  wie  sich  eine  Anzahl  Handwerker 
itm  das  Kloster  herum  ansiedelt,  um  für  dieses  zu  arbeiten. 

Über  die  Entstehung  St.  Edmundsburg  berichtet  uns  Domesday 
wie  folgt:  „In  der  Stadt,  wo  St.  Edmund  begraben  ist,  hielt  zur  Zeit 
des  Königs  Edward  der  Abt  Balduin  118  Männer,  um  für  die  Lebens¬ 
bedürfnisse  der  Mönche  zu  sorgen.  Die  Stadt  war  früher  10  Mk. 
wert,  jetzt  20.  Jetzt  umfaßt  die  Stadt  ein  größeres  Landgebiet, 
welches  damals  (zur  Zeit  Edwards)  noch  gepflügt  und  besäet  war. 
Es  befinden  sich  dort  im  ganzen:  80  Priester,  Diakone  und  Kleriker; 
28  Nonnen  und  arme  Brüder.  Der  Handwerker  sind  75:  Bäcker, 
Brauer,  Walker,  Schuhmacher,  Schneider,  Köche,  Türhalter,  Diener, 
und  diese  alle  bedienen  den  Abt  und  die  geistlichen  Brüder.  Jetzt 
stehen  dort  im  ganzen  342  Wohnhäuser  auf  dem  Grund  und  Boden 
von  St.  Edmund,  wo  zur  Zeit  des  König  Edward  noch  Ackerland  war.“ 

Diese  Schilderung  könnte  mit  geringen  Änderungen  (statt  Abt 
setze  Bischof,  König,  Markgraf,  Ritter  oder  dergl.)  für  alle  mittel¬ 
alterlichen  .Städtegründungen  wiederholt  werden. 

Ferner  wollen  wir  doch  nicht  vergessen,  daß  in  der  fronwirt¬ 
schaftlichen  Organisation  schon  eine  Menge  gewerblicher  Arbeiter 
im  Dienste  des  Grundherrn  tätig  gewesen  waren,  die  nun  zwar 
rechtlich  „selbständige“  Produzenten  waren,  ökonomisch  aber  ihre 
Existenz  von  der  Grundherrschaft  nach  wie  vor  ableiteten. 

Vor  allem  aber  scheint  mir  diese  Erwägung  meine  Auffassung 
zu  bestätigen:  daß  die  Natur  der  meisten  spezifisch  städtischen 


1G6 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Handwerker  gerade  in  den  frühen  Zeiten  der  Städte  nur  eine 
Beschäftigung  im  Aufträge  des  städtischen  Grundherrn  denken 
läßt.  Alles  was  über  das  allernotdürftigste  hinaus  produziert 
wurde  (und  gerade  in  dessen  Herstellung  betätigten  sich  doch 
die  nun  sich  entwickelnden  städtischen  Handwerker)  konnte 
ja  nur  von  den  Grundherrn  bezahlt  werden.  Freilich  auch  von 
denen,  die  auf  dem  Lande  saßen.  Und  soweit  der  Absatz  an 
diese  stattfand,  war  der  Handwerker  originärer  Städtebildner. 

Aber  wir  dürfen  doch  nicht  vergessen,  daß  (zumal  in  Italien 
und  den  Niederlanden,  aber  vielfach  doch  auch  in  den  übrigen 
Ländern)  gerade  die  wichtigsten  und  reichsten  Grundherrn  — 
vor  allem  die  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten,  fast  alle  wohl¬ 
habenden  Kirchen  usw.  —  in  den  Städten  ihren  Sitz  hatten. 
Nur  der  Kitter  saß  oft  auf  seiner  einsamen  Burg  im  Lande 
außerhalb  der  Stadt.  Und  dessen  Bedarf  an  gewerblichen  Er¬ 
zeugnissen  konnte  ganz  gewiß  nicht  in  Betracht  kommen  gegen¬ 
über  dem  Bedarf  all  der  grund-  und  landesherrlichen  Besteller 
in  der  Stadt  selbst. 

An  einem  für  die  Entwicklung  des  städtischen  Handwerks 
besonders  wichtigen  Gewerbszweige  können  wir  nun  aber  mit 
Bestimmtheit  nachweisen,  daß  er  sich  nur  im  Schatten  der 
Grundherrschaft  entfalten  konnte:  ich  meine  das  Baugewerbe. 

Bauten  aufführen  und  Städte  gründen  waren  für  die  Zeiten 
als  die  Städte  ihren  ersten  bedeutenden  Aufschwung  nahmen, 
fast  identische  Begriffe :  „Magadaburgensem  aedificare  cepit  civi- 
tatem  .  .  .  nam  urbem  hanc  ...  et  acquisivit  et  construxit  h 

Die  Mauern  wurden  nun  freilich  wohl  oft  genug  von  den 
umliegenden  Bauern  erbaut,  die  diese  Arbeit  als  Frondienst  zu 
leisten  hatten1 2.  Aber  es  wurden  wohl  auch  dauernd  Arbeiter 
dadurch  herangezogen3.  Und  wenn  es  nun  innerhalb  der  Mauern 
zu  bauen  galt,  da  mußten  jedenfalls  freie  Handwerker  herbei¬ 
geholt  werden:  „Acquiescente  abbate  circumquaque  invitati 
sunt  artifices  et  cimentarii,  cesores  lapidum  et  alii  operarii“4. 

1  Tliietm.  Chron.  II.  2  MG.  SS.  3,  714. 

2  „opus  construendae  m'bis  a  circummanentibus  illarum  partium 
incolis  nostro  regio  jure  debitum.“  Urk.  von  965  MG.  D.  Nr.  300. 

3  „  .  .  .  eos  qui  ad  civitatem  vestram  edificandam  confluxerunt“, 
Magdeb.  Schöffenweistum  aus  dem  13.  Jahrh.  bei  von  Maurer: 
St.Verf.  1,  122. 

4  Wilhelmi  Chronicon  Andrensis  monasterü  MG.  SS.  24,  724.  Siehe 

andere  Stellen  bei  Waitz,  VG.,  8,  210  ff.  Für  England:  Maitland, 
1.  c.  p.  186  ff,  ' 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  167 


Das  waren  gewiß  gut  bezahlte  Arbeiter,  für  die  nun  wieder  eine 
Menge  Bäcker,  Fleischer,  Schuster,  Schneider  usw.  tätig  sein 
mußte,  um  ihren  Unterhalt  zu  bestreiten. 

Nun  aber:  wer  baute  denn  in  den  Städten  des  10.,  11.  und 
12.  Jahrhunderts?  Baute  so,  daß  er  jenen  Stab  gelernter  Bau¬ 
handwerker  brauchte?  Doch  niemand  anders  als  die  Grundherrn; 
unter  ihnen  vor  allem  die  Kirchen.  Kirchenbau  ist  einer  der 
wichtigsten  Bevölkerung  agglomerierenden,  das  heißt  Städte 
bildenden  Vorgänge  im  frühen  Mittelalter. 

Wenn  wir  gerade  das  11.  Jahrhundert  als  dasjenige  betrachten, 
in  dem  die  Städte  sich  am  raschesten  entwickelt  haben,  so  ist 
das  ganz  gewiß  dem  Umstande  nicht  zum  wenigsten  zu  danken, 
daß  in  diesem  Jahrhundert  fast  alle  größeren  Städte  eine  rege 
Bautätigkeit  entfalteten,  in  erster  Linie  natürlich  zur  Errichtung 
kirchlicher  Baudenkmäler.  Es  würde  zu  weit  führen ,  und  ist 
auch  nicht  nötig,  da  wir  eine  Reihe  tüchtiger  Arbeiten  besitzen, 
die  über  diese  Vorgänge  helles  Licht  verbreiten*  1 :  nachzuweisen, 
in  welch  hervorragendem  Maße  gerade  im  11.  Jahrhundert  der 
Kirchenbau  allerorts  gefördert  wurde. 

Das  11.  Jahrhundert  ist  ja  auch  die  Zeit,  in  der  in  vielen 
Städten  kraftvolle,  tätige,,  und  oft  genug  prunkliebende  Kirchen¬ 
fürsten  das  Regiment  führten,  denen  nachweislich  die  bauliche 
Entwicklung  der  Stadt  vornehmlich  zu  danken  ist.  Ich  nenne 
aufs  Geratewohl  die  Namen:  Adalbert  von  Utrecht,  Notger  von 
Lüttich,  Poppo  von  Trier,  Hildebrand  von  Florenz,  Adalbert, 
Bezelin  von  Bremen,  Godohard  von  Hildesheim,  Meinwerk  von 
Paderborn,  Aribo  von  Mainz,  Pilgrim,  Hermann  von  Köln,  Arnulf 

1  Siehe  für  Deutschland  z.  B.  Paul  Damas,  Beiträge  zur  Geschichte 
der  deutschen  Städte  z.  Z.  der  fränkischen  Kaiser,  Breslauer  Diss. 
1879;  eine  der  wenigen  Schriften,  aus  der  man  über  die  Geschichte 
der  Städte  etwas  erfährt.  H.  Breßlau,  Konrad  II.  2  (1884). 
A.  Hauck,  Kirchengeschichte  3,  334 ff.  (10.  Jahrh.),  924 ff.  (11.  Jahrh.). 
Für  einzelne  Städte:  Fried r.  besser,  Erzbischof  Poppo  von  Tiiei 
(1016—1047),  1888,  S.  32  ff.  Hermann  Cardauns,  Konrad  von 
Hostaden,  Erzbischof  von  Köln  (1888),  S.  142  ff.  (spätere  Zeit). 

Eine  Liste  der  großen  französischen  Kirchenbauten  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts  findet  man  bei  E.  Levasseur,  Hist,  de  findustrie 

1,  394  ff.  Für  England  nimmt  Cunningham  an,  daß  diebedeutende 
Entwicklung  der  Bautätigkeit  im  12.  Jahrhundert  eine  starke  Ein¬ 
wanderung  °namentlich  flandrischer  Handwerker  bewirkt  habe.  Mit 
"'uten  Gründen  gegen  Ashley:  W.  Cunningham,  Die  Einwanderung 
von  Ausländern  nach  England  im  12.  Jahrh.  in  der  Zeitschr.  für  Soz. 
und  W.Gesch.  1  (1892),  192  f. 


168 


Dritter  Abselmitt:  Das  Übergangszeitalter 


von  Hälberstadt,  Werner,  Wilhelm  von  Straßburg ,  Burchhard 
von  Worms,  Benno  von  Osnabrück.  Das  und  die  andern  ihres¬ 
gleichen  sind  die  Väter  des  städtischen  Handwerks. 

Was  an  ansehnlichen  Gebäuden  selbst  in  einer  Stadt  wie 
Paris  im  14.  Jahrhundert  sich  vorfand,  waren  außer  den  öffent¬ 
lichen  Gebäuden,  die  Paläste  der  Grundherrn.  „Welche  großen 
und  schönen  Hotels  gibt  es  in  Paris“!  ruft  Jean  de  Jeandun 
aus,  der  Paris  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  beschreibt :  „Die 
einen  gehören  dem  König,  den  Grafen,  den  Herzogen,  den 
Bittern  und  andern  Baronen,  die  andern  den  Prälaten.  Alle 
sind  groß,  gut  gebaut,  schön  und  prächtig.  Für  sich  allem, 
und  abgesondert  von  den  übrigen  Häusern,  könnten  sie  eine 
wundervolle  Stadt  bilden“  h 

4.  Die  Händler 

Deutlicher  noch  als  bei  den  Handwerkern  tritt  bei  den 
Händlern,  den  Negotiatores ,  ihre  Geburt  aus  dem  Schoße  der 
Grundherrschaft  zutage. 

Die  augenblicklich  „herrschende“  Schulmeinung  freilich  ist  eine 
andere.  Nach  ihr  sollen  die  „Kaufleute“  recht  eigentlich  die 
„Begründer“  der  mittelalterlichen  Städte  gewesen,  sollen  diese 
recht  eigentlich  aus  „Marktansiedlungen“  hervorgegangen  sein. 
Ich  habe  schon  meine  Bedenken  gegenüber  dieser  „Theorie“ 
geäußert  und  möchte  hier  noch  einige  Bemerkungen  zu  den 
früher  gemachten  hinzufügen,  aus  denen  hervorgehen  soll,  weshalb 
ich  diese  Erklärung  der  Städte  aus  den  Märkten  für  irrtümlich 
halte. 

Haben  sich,  so  möchte  ich  zunächst  fragen,  die  Vertreter 
jener  Anschauung  einmal  völlig  klar  gemacht,  welche  Bedeutung 
denn  ein  „Markt“  vom  siedlungsgeschichtlichen  Standpunkt  aus 
für  die  Agglomeration  von  Menschenmassen  an  einem  Punkte 
überhaupt  haben  kann? 

Ob  Jahrmarkt,  ob  Monatsmarkt,  ob  Wochenmarkt,  gleichviel: 
die  bloße  Tatsache,  daß  an  einem  Punkte  ein  Markt  abgehalten 
wird,  das  heißt:  daß  Leute  dort  sich  periodisch  einfinden,  die 
kaufen  und  verkaufen,  gibt  noch  nicht  einer  einzigen  Person 
Gelegenheit,  sich  dort,  wo  der  Markt  stattfindet,  anzusiedeln. 

1  Der  Tractus  de  laudibus  Parisius  ist  im  Jahre  1323  verfaßt. 
Abgedruckt  bei  Le  Eoux  de  Lincy  und  Tisserand,  Paris  et 
ses  historiens  aux  XIV.  et  XV.  siecles  in  der  Hist.  gen.  de  Par. 
Vgl.  Louis  Boutie,  Paris  au  temps  de  Saint  Louis  (1911),  333, 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  1(39 

In  dem  Angenblick,  in  dem  die  Marktbuden  abgebrochen  werden, 
die  Marktbesucher  davon  ziehen,  ist  der  Ort  wieder  verödet. 
Ein  periodischer  Markt,  auf  denen  sich  aus  aller  Herren  Ländern 
Käufer  und  Verkäufer  zusammenfinden,  ist  geradezu  ein  Hinder¬ 
nis  für  die  Entstehung  einer  dauernden  Niederlassung,  wie  sie 
eine  Stadt  doch  darstellt.  Man  könnte  also  mit  größerem  Rechte 
sagen:  eine  Stadt  entstand  dort,  wo  man  aufhörte,  Märkte  ab¬ 
zuhalten,  entstand  darum,  weil  man  an  einem  Punkte  auf¬ 
hörte,  marktmäßig  Handel  zu  treiben,  darum,  weil  die  Händler 
seßhaft  wurden  und  nun  den  Handelsprofit  mehr  als  früher  an  einem 
Ort  verzehrten.  Das  hieße  aber  doch  allzusehr  die  Formulierung 
des  Gedankens  zuspitzen  und  nach  der  andern  Seite  hin  über¬ 
treiben.  Ein  richtiger  Kern  ist  in  der  ‘Marktrechtstheorie’  (auch 
vom  national- ökonomischen  Standpunkt  aus)  verborgen;  ich 
werde  ihn  gleich  herausschälen.  Vorläufig  wollte  ich  nur  zeigen, 
daß  sie  in  der  Art,  wie  sie  gewöhnlich  vertreten  wird,  alle  realen 
Verhältnisse  auf  den  Kopf  stellt. 

Um  den  wirklichen  Verlauf  der  Dinge  möglichst  getreu  uns 
vor  Augen  zu  führen ,  werden  wir  gut  tun ,  die  Lage  und  die 
Daseinsbedingungen  des  Handels  in  der  eigenwirtschaftlichen 
Periode  uns  noch  einmal  recht  deutlich  zu  vergegenwärtigen, 
um  von  dort  aus  dann  die  Weiterentwicklung  bis  in  die  Stadt 
hinein  verfolgen  zu  können. 

Alsdann:  im  8.  und  9.  Jahrhundert  geht,  wie  es  scheint, 
der  Hausierhandel,  der  natürlich  die  erste  Etappe  in  der  Ent¬ 
wicklung  des  Handels  gebildet  hatte ,  ziemlich  rasch  in  den 
Markthandel  über.  Darauf  läßt  die  gerade  in  dieser  Zeit 
häufige  Erteilung  von  Marktprivilegien  schließen  h 

Wie  müssen  wir  uns  nun  das  Dasein  der  Händler  vorstellen, 
die  von  jetzt  ab  zu  den  Märkten  zogen,  statt  von  Villa  zu  Villa? 

Waren  sie  im  Auslande  ansässig,  so  gingen  sie  wohl  für 
einen  bestimmten  Teil  des  Jahres  dauernd  auf  die  Reise  und 
besuchten  der  Reihe  nach  mehrere  benachbarte  Marktorte  hinter¬ 
einander,  um  dann  nach  drei,  vier  Monaten  in  ihre  ferne  Hei¬ 
mat  zurückzukehren.  Waren  es  Händler  aus  nicht  so  fernen 
Landen,  so  mochten  sie  wohl  von  ihrem  Dorfe  aus,  wo  sie 
wohnten,  je  einen  Markt  aufsuchen  und  danach  in  ihren 
Heimatsort  zurückkehren,  wo  sie  dann  wohl  wieder  die  land- 

1  K.  Rathgen,  Die  Entstehung  der  Märkte  in  Deutschland,  1881. 
Imbart  de  la  Tour,  Des  immunites  commerciales  accordees  aux 
Eglises  in  den  Etudes  .  .  .  dediees  ä  G.  Monod,  1896. 


170 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


wirtschaftlichen  Arbeiten  aufnahmen,  die  in  ihrer  Abwesenheit 
Frau  und  Kinder  allein  besorgt  hatten.  Denn  die  zogen  doch 
wohl  nicht  mit  auf  den  Märkten  herum?  Die  Händler  hatten 
also  ihren  Herd  je  an  verschiedenen  Punkten  und  fanden  sich 
nur  immer  zu  bestimmten  Zeiten  zu  Karawanen1  zusammen, 
um  sich  bei  der  Durchquerung  der  öden  Länder  von  Markt  zu 
Markt  gegenseitig  Schutz  zu  gewähren.  Wie  sich  die  Störche 
zu  langem  Zuge  sammeln,  wenn  sie  in  ihre  Heimat  ab  ziehen. 
Dann,  wenn  die  Marktreise  zu  Ende  war,  sagte  man  sich  am 
Kreuzwege  Lebewohl  und  ging  auseinander  mit  einem:  Auf 
Wiedersehn  im  nächsten  Frühjahr! 

An  den  Marktorten  also  trafen  sich  die  einzeln  oder  in  Kara- 
Avanen  heranziehenden  Händlerscharen.  Wie  sie  hier  die  paar 
Tage  über,  die  der  Markt  dauerte,  hausten,  können  wir  ziemlich 
genau  an  der  Hand  der  Quellen  verfolgen. 

Ihre  Waren  hielten  sie  in  Marktbuden  (Stationes)  feil,  deren 
zuweilen  mehrere  in  einer  Art  Markthalle 2  untergebracht  waren, 
in  der  dann  die  Kaufleute  einzelne  Stände  bezogen.  Die  Markt¬ 
buden  oder  Markthallen  wurden  von  den  Grundherren  errichtet 
und  eenen  Ento-elt  für  die  Zeit  des  Marktes  den  Händlern  über- 
lassen3 4.  Vielfach  waren  die  hörigen  Bauern  zur  Herrichtung 
der  Marktbuden  verpflichtet1,  wenn  sich  der  Markt  nicht  zwischen 
den  Häusern  der  Bauern  selbst  abspielte.  Es  war  nämlich  hier 
und  da  (wir  erfahren  es  von  England)5 6  Sitte,  daß  die  Bauern 


1  ßietschel,  Markt  und  Stadt,  39. 

2  „sala  .  .  .  cum  stationibus  inibi  banculas  ante  se  habentibus“ 
DO.  I.  145  bei  Hart  mann,  Zur  Wirtsch.Gesch.  Italiens,  103. 

3  Daher  der  Ausdruck:  jus  aedificandi  et  construendi  mercatum 
Cod.  Lang.  c.  764  (No.  442);  „mercatum  erigere  decrevimus“:  UB. 
von  Quedlinburg  S.  5  Nr.  7 ,  dem  wir  so  oft  in  den  frühmittelalter¬ 
lichen  Quellen  begegnen.  Daher  aber  auch  die  Schenkungen  von 
‘Stationes’  und  ihren  Gefällen,  denen  wir  die  häufige  Erwähnung  dieser 

1  Einrichtung  in  den  Urkunden  verdanken.  Siehe  z.  B.  die  Urkunden, 
die  Ad.  Schaube,  Handelsgeschichte  der  rom.  Völker,  S.  9.  11  und 
öfters,  oder  Hartmann,  a.  a.  0.  erwähnen. 

4  Die  Villani  von  Aucklandskire  haben  18  Buden  (bothas)  auf  der 
Messe  von  St.  Cutkbert  zu  errichten.  Bei  P.  Seebohm,  Village 

Community,  71. 

6  „Johannes  Ballard  tenet  mansum  suurn  in  Villa  de  Sancto  Ivone 
juxta  portam  prioratus  pro  quo  dat  infirmario  Bamesiae  XX  solidos 
per  annum  et  locat  tempore  nundinarum  front  es  et 
arreragia  domorum  suarum  in  eodem  manso  existentium“ 
(a.  1251).  Cart.  Mon,  de  Bameseia  1  (1884),  286.  87.  Von  einem 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  171 

ihre  Häuser  für  die  Zeit  des  Marktes  zur  Aufstapelung  der 
Waren  hergeben  mußten. 

Die  Marktbuden  standen  natürlich  vor  den  Toren  der  Pfalz, 
des  Klosters  usw. x. 

Für  ihre  eigene  Unterkunft  in  der  Nacht,  wohl  auch  als 
Schuppen  und  Stall  für  ihre  Karren  und  Maultiere  errichtete 
man  den  Händlern,  oder  errichteten  diese  selbst  sich  größere  Ge¬ 
bäude* 1 2  nach  Art  der  Karawansereien,  denen  wir  heute  noch  in 
Gebieten  extensiven  Handels  begegnen.  (Aus  ihnen  haben  sich 
dann  wohl  die  Stahlhöfe,  die  fondaci  etc.  entwickelt). 

Solange  die  Händler  in  dieser  Weise  lebten,  kamen  sie  natür¬ 
lich  weder  als  Städtefüller  noch  als  Städtegründer  in  Betracht. 
Ebensowenig  wie  die  200  000  Kirgisen  und  Afghanen,  die  während 
der  Monate  Juli  und  August  in  den  6500  Buden  in  Nishni- 
Nowgorod  ihre  Waren  feilhalten,  die  Stadt  Nishni-Nowgorod 
bilden. 

Der  entscheidende ,  das  heißt  für  die  Städtegeschichte  be¬ 
deutsame  Schritt  wurde  erst  in  dem  Augenblick  getan,  als  die 
Marktbesucher  eines  schönen  Tages  beschlossen,  nicht  mehr 
weiter  zu  ziehen,  vielmehr  in  ihren  stationes  ständig  ihre  Waren 
feilzubieten,  ihre  Frauen  und  Kinder  nachkomm en  zu  lassen 
und  sich  hinter  der  Bude  ein  Häuschen  zu  bauen.  So  daß  die 
statio  zur  mansio  sich  auswächst;  ein  Vorgang,  den  wir  an  der 
Bauart  mancher  Städte  tnit  Deutlichkeit  verfolgen  können3 * * * * 8.  Be¬ 


amtem  Bauern  heißt  es  ebenda  (p.  291):  „Et  sustinet  tres  frontes 
in  nundinis  ad  opus  Abbatis.“ 

1  Quellenstellen  bei  R.  So  hm,  Die  Entstehung  d.  deutsch.  Städte¬ 
wesens  (1890),  20.  Besonders  anschaulich  geschildert  von  F.  V. 
Zillner  in  seiner  Geschichte  der  Stadt  Salzburg  1  (1885),  66  ff. 

2  „In  eadem  valle  est  vicus  celeberimus,  Briston  (—  Bristol) 
nomine,  in  quo  est  portus  navium  ab  Hibernia  et  Norvegia  et  ceteris 
transmarinis  terris  venientium  receptaculum“  (12.  sc.).  Will. 
Malmesbiriensis  Monachi  Gesta  pontif.  Angl.  p.  292  (Rer.  brit.  med. 

SS.  52). 

Die  negotiatores  in  Virten  hatten  ein  „claustrum  muro  instar  oppidi 

exstructum,  ab  urbe  quidem  Mose  interfluente  seiunctum,  sed  pontibus 

duobus  interstratis  ei  annexum“,  Richer  3,  103  (10.  sc.).  Ähnliche  Ver¬ 

anstaltungen  in  Magdeburg:  Thietmar  1,  7  zit.  bei  Lamprecht, 
DWL.  2,  252. 

8  So  verraten  die  Häuser  in  Münster,  die  am  Markt  entlang  stehen, 
noch  heute  durch  ihre  Bauart,  „daß  sie  durch  den  Ausbau  von  Markt¬ 
buden  entstanden  sind“.  Philippi,  Zur  Verfassungsgeschichte  der 
westfälischen  Bischofsstädte  (1894),  S,  14. 


272  Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

deutsam  wurde  also,  daß  die  Händler  A,  B,  C,  die  in  den  Dörfern 
X,  Y,  Z  domiziliert  gewesen  waren  und  regelmäßig  den  Markt 
in  M.  befahren  hatten,  nun  aus  X,  Y,  Z  nach  M.  zu  dauerndem 
Aufenthalte  übersiedelten.  Oder  vielleicht,  später,  von  M.,  wo 
sie  nicht  so  auf  ihre  Kosten  kamen,  wie  sie  gehofft  hatten,  nach 
N  umzogen1.  Das  gab  dann  Füllsel  für  die  in  M  oder  N  sich 
entwickelnden  Städte,  die  damit  für  unsere  Freunde  A,  B,  C 
aufgehört  hatten,  Marktorte  zu  sein,  die  ihre  Wohnorte  geworden 
waren. 

Und  nun  würde  der  Geschichtsschreiber  mittelalterlichen 
Städtewesens  sich  vor  den  Hauptteil  seiner  Aufgabe  gestellt 
sehen.  Er  müßte  nämlich  den  Nachweis  zu  führen  versuchen: 
warum  erfolgt  die  dauernde  Niederlassung,  warum  erfolgt  sie 
hier  und  nicht  dort?  Wir  sind  einstweilen  auf  Vermutungen 
oder  richtiger  auf  die  nie  ganz  gering  zu  achtende  „Quelle“ 
unserer  vernünftigen  Überlegung  angewiesen.  Daß  unseren  kleinen 
Händler  irgendein  „Marktprivilegium“  veranlaßte,  sich  und  die 
Seinen  hinter  der  Marktbude  ein  Häuschen  zu  bauen,  mag  hier 
und  da  zutreffen.  Häufig  wird  es  nicht  der  Grund  seines  Ent¬ 
schlusses  gewesen  sein.  Denn  die  meisten  wertvollen  Privilegien : 
den  Marktfrieden,  das  personale  Recht  usw.  genoß  er  ja  gerade 
als  Marktbesucher,  darum  brauchte  er  nicht  in  London  sich 
dauernd  niederzulassen.  Und:  Privilegium  hin,  Privilegium  her. 
Solange  er  keine  Käufer  für  seine  Waren  fand,  nützte  ihm  das 
schönste  Privilegium  nichts.  Nämlich  auch  das  schönste  Privi¬ 
legium  stampfte  noch  keine  Kundschaft  aus  dem  Boden.  Und 
an  dieser  —  wie  oft  soll  es  wiederholt  werden  —  lag  doch 
wohl  auch  im  11.  Jahrhundert  schon  dem  Kaufmann  allein. 
Hatte  er  sie ,  kam  er  im  Notfall  auch  ohne  Privilegium  aus, 
batte  er  sie  nicht,  so  nützten  ihm  alle  Königsbriefe  nichts2 3. 

1  Wie  die  Negotiatores,  die  im  11.  sc.  von  Rouen  und  Caen  dem 
Eroberer  nach  nach  London  übersiedelten.  „No  sooner  had  London 
submitted  to  the  Norman  Conqueror  than  we  are  told,  ünany  of  the 
citizens  of  Rouen  and  Caen  passed  over  thither,  prefei'ring  to  be 
dwellers  in  that  city’“.  Nach  Vita  S.  Thomae  ed.  Giles  2,  73  (Text 
bei  Groß,  Gildmerch  1,  4),  Reg.  R.  Sharpe,  London  and  the  Ivingdom 

1  (1894),  36.  Die  Händler  von  Bardowick  zogen  nach  Lübeck  um: 
J.  Warncke,  Handwerk  und  Zünfte  in  Lübeck  (1912),  13. 

3  Einen  etwas  größeren  Einfluß  auf  die  Entschließungen  des 
schwankenden  Händlei'S  werden  die  positiven  Vergünstigungen  ausgeübt 
haben  (wie  Gewährung  freien  Baulandes  usw.).  Siehe  v.  Maurer, 
St.Verf.  1,  407.  Waitz,  VG.  8,  388  ff.  Ebenso  kann  er  veranlaßt 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  173 

Warum  also  denn  entschloß  er  sich,  seinen  Wohnsitz  dauernd 
an  dem  Orte  aufzuschlagen,  den  er  bis  dahin  nur  vorübergehend 
besucht  hatte?  Olfenbar  darum,  weil  er  sich  sagte:  hier  in 
London,  in  Brügge,  in  Straßburg  sind  jetzt  so  viel  ständige  Ab¬ 
nehmer  deiner  Waren,  daß  du  es  schon  riskieren  kannst,  einen 
größeren  Teil  des  Jahres  als  bisher  (denn  einen  anderen  Teil 
des  Jahres  wird  er  doch  noch  nach  wie  vor  wo  anders  seinen 
Kram  feilgeboten  haben)  an  diesem  einen  Orte  deinen  Laden 
aufzumachen.  Oder  so:  daß  du  mit  dem  Absatz  an  die  Orts¬ 
angesessenen  ebensoviel  verdienst,  als  wenn  du  an  zehn  Orten 
herumziehst  auf  allen  Messen  und  Märkten.  Vielleicht  setzt  du 
etwas  weniger  an  sie  ab,  aber  dafür  sparst  du  ja  beträchtlich 
an  Spesen.  Du  gewinnst  auch  Zeit ,  die  du  der  Pflege  deines 
kleinen  Anwesens  widmen  kannst,  das  durch  deine  Abwesenheit 
eh’  ganz  vernachlässigt  wurde. 

Theoretisch  formuliert,  was  der  kleine  Händler  eben  räson- 
niert  hat:  die  Seßhaftwerdung  der  negotiatores,  die  Entstehung 
einer  „Marktan Siedlung“  wurde  möglich,  wenn  die  Agglomeration 
der  Konsumenten  an  einem  Orte  einen  entsprechend  hohen  Grad 
erreicht  hatte. 

Wann  sie  den  erreicht  hatte,  wodurch  sie  ihn  (in  der 
großen  Mehrzahl  der  Fälle)  allein  erreichen  konnte  im  Mittelalter, 
wissen  wir:  durch  Anhäufung  eines  genügend  großen  Kon¬ 
sumtionsfonds  an  Steuern  und  Kenten.  Mit  anderen  Worten: 
die  negotiatores  bildeten  an  einem  Orte  eine  Marktansiedlung 
und  halfen  damit  diesen  Ort  sich  rascher  ein  städtisches  Aus¬ 
sehen  zu  verschaffen,  weil  an  diesem  Orte  jetzt  schon  so  viel 
Grundherrn  ansässig  waren,  wie  vorher  an  zehn  verschiedenen 
Orten. 

Hatte  ein  kleiner  Gewandschneider  seine  6  Stück  flandrisches 
Tuch,  die  seinen  Jahresumsatz  ausmachten,  vorher  auf  6  Messen 
herumschleppen  müssen  und  hatte  er  auf  jeder  an  je  ein  Kapitel 


sein,  an  einem  Orte  ständig  zu  bleiben,  durch  Bestimmungen,  die  Ver¬ 
günstigungen  ausdrücklich  an  die  Bedingung  der  Seßhaftigkeit 
knüpften,  wie  etwa  diejenigen  des  Grafen  von  Flandern  vom  Jahre 
1127,  in  denen  er  St.  Omer  Zollprivilegien  erteilte:  „omnes  qui 
gildam  eorum  habent,  et  ad  illam  pertinent  et  infra  cingulam  ville  sue 
manent,  liberos  omnes  a  teloneo  facio  ad  portam  Dichesmude  et 
Graveningis“  etc.  Bei  Ch.  Groß,  The  Gild  merchant  1,  290.  Aber 
die  Hauptsache  blieb  doch  immer  für  den  Entscheid  unseres  „Kauf¬ 
manns“  die  Aussicht  auf  eine  geschäftsfähige  Kundschaft. 


174 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 

oder  einen  Bischof,  oder  einen  Comes  eins  der  6  Stück  ab-, 
gesetzt,  so  verkaufte  er  nun  alle  (3  in  London:  2  an  den  König, 
1  an  den  Erzbischof,  1  an  den  Port-greeve,  1  an  die  West- 
minsterabtei,  und  1  schnitt  er  für  ein  paar  Milites  oder  Münzer 
aus.  So  entstand  das,  was  man  mit  dem  stolzen  Namen  der 
„Kaufmannstadt“  zu  bezeichnen  pflegt:  eine  Niederlassung  vor 
den  Toren  der  herrschaftlichen  Stadt  dort,  wo  ehedem  der 
Markt  abgehalten  war :  ein  paar  Buden ,  ein  paar  Häuschen 
daneben,  wo  die  kleine  Händlerfamilie  nun  wohnte;  daneben 
ein  paar  Kneipen  und  Handwerksbuden ,  denn  die  „Kaufmann¬ 
schaft“  mußte  ja  doch  selbst  wieder  unterhalten  werden.  Ein 
Häufchen  von  armen  Hascherin,  das  in  tiefster  Untertänigkeit 
das  Brot  der  stolzen  Herren  aß,  die  jenseits  des  Flusses  in  ihren 
Palatien,  ihren  Kurien,  ihren  Türmen  tronten.  Wie  es  Flach 
(für  Narbonne  im  11.  Jahrh.)  sehr  hübsch  •  beschreibt 1 :  „Les 
negociants ,  les  changeurs ,  les  banquiers ,  les  armateurs  habitent 
pres  du  port  dans  le  bourg,  toute  autour  de  la  Porte  Aiguiere 
et  dans  les  maisons  construites,  suivant  l’usage  du  moyen  äge, 
sur  le  pont  qui  la  reliait  ä  l’autre  rive.  Ils  ne  peuvent  evidem- 
ment  rien  entreprendre  contre  la  formidable  citadelle  qui  les 
domine ,  ils  n’ont  que  les  droits  que  l’interet  bien  entendu  des 
seigneurs  leurs  laisse  ou  qu’ils  acquierent  ä  prix  d’argent.“ 

Oder  wie  es  eine  der  hübschesten  Quellenstellen,  die  wir 
zur  Geschichte  der  Städte  im  Mittelalter  besitzen,  uns  erzählt: 
(aus  Joh.  Longi  Chronica  Sancti  Bertini  in  den  MG.  SS.  XXV. 
768)  „Posthoc  ad  opus  seu  necessitates  illorum  de 
castello  —  es  handelt  sich  um  die  Burg  des  Balduin  Bas- 
de-Fer,  Grafen  von  Flandern,  Schwiegersohns  Karls  des  Kahlen : 
„Brugis  =  Brügge  —  ceperunt  ante  portam  ad  pontem  confluere 
mercemanni,  id  est  cariorum  (?)  rerum  mercatores,  deinde  taber- 
narii,  deinde  hospitarii  pro  victu  et  hospicio  eorum  qui  negotia 
coram  principe,  qui  ibidem  seperat,  prosequebantur ,  domus 
construere  et  hospicia  preparare  ubi  se  recipiebant  illi  qui  non 
poterant  intra  castellum  hospitari ;  et  erat  verbum  eorum :  „Yada- 
mus  ad  pontem“ ;  ubi  tantum  accreverunt  habitaciones,  ut  statim 
fieret  villa  magna,  que  adhuc  in  vulgari  suo  nomen  pontis  habet, 
nempe  Brugghe  in  eorum  vulgari  pontem  sonat.“  „Ad  opus  seu 
necessitates  illorum  de  castello“:  in  diesen  Worten  ist  der  ganze 
Sinn  der  mittelalterlichen  Städtegeschichte,  wenigstens  in  ihren 
Anfängen,  enthalten. 


1  Flach,  Origines  2,  268  f. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  17g 

Der  bekannte  Ausspruch  Pirennes,  in  dem  er  seine  Auf¬ 
fassung  von  der  Entstehung  der  mittelalterlichen  Städte  zu¬ 
sammenfaßt,  muß  also  genau  in  sein  Gegenteil  verkehrt  werden, 
wenn  er  den  Tatsachen  -Rechnung  tragen  will.  Pirenne  meint1: 
„Les  villes  sont  l’ceuvre  des  marchands ;  eiles  n1  existent  que 
par  eux“.  Richtig  müßte  es  heißen:  Die  Städte  des  Mittelalters 
sind  (ökonomisch)  das  Werk  der  Grundrenten-  imd  Steuerbezieher ; 
die  „Kaufleute“  existieren  nur  durch  sie. 

5.  Die  Almosenempfäiiger 

Daß  ihre  Zahl  in  den  mittelalterlichen  Städten  bedeutend 
gewesen  sein  muß,  können  wir  aus  der  Tatsache  schließen,  daß 
eine  der  Aufgaben  der  Klöster  in  der  Fürsorge  für  die  Armen 
und  Siechen  bestand  und  daß  namentlich  in  den  späteren  Jahr¬ 
hunderten  des  Mittelalters  auch  von  weltlichen  Reichen  Stif¬ 
tungen  gemacht  wurden,  sei  es  aus  humanen,  sei  es  aus  religiösen 
Gründen,  um  bedürftige  Personen,  namentlich  Frauen  zu  unter¬ 
halten.  Hier  ist  an  die  Beginenhäuser 2  zu  erinnern,  die  sich 
in  den  meisten  Städten  in  beträchtlicher  Zahl  nachweisen  lassen. 

Daß  für  eine  Stadt  eine  ziffermäßige  Erfassung  der  Almosen¬ 
empfänger  versucht  wäre,  ist  mir  nicht  bekannt3 * * * * 8. 

IV.  Der  „Zug  nach  der  Stadt“ 

Bisher  war  die  Rede  nur  von  dem  Interesse  der  originären 
Städtebildner  (also  vorwiegend  der  Grundherrn)  an  dem  Ent¬ 
stehen  einer  Stadt  sowie  von  deren  (ökonomischen)  Möglich¬ 
keiten.  Damit  die  Stadt  nun  in  Wirklichkeit  erwachsen  konnte, 
mußten  die  Objekte  der  Städtebildung  sich  auch  einstellen.  Eine 
Geschichte  der  Städte  heischte  also  noch  den  Nachweis,  welche 


1  H.  Pirenne,  L’origine  des  constitutions  urbaines  in  der  Revue 
historique,  57,  70. 

2  Arnold,  Freistätte  2,  173  (Worms,  Speier);  v.  Maurer,  St.V. 

3,  44  (Köln,  Basel,  Regensburg).  Der  Ursprung  der  Beginen  ist  in 

Belgien.  Vgl.  im  allg.  G.  Uhlhorn,  Die  christliche  Liebestätigkeit  in 

der  alten  Kirche,  ßd.  II,  Mittelalter,  1884,  neue  Aufl.  in  1  Bande  1895, 

und  die  gründliche  Studie  von  V.  von  Woikowsky-Biedau,  Das 

Armenwesen  des  mittelalterlichen  Köln  usw.,  Breslauer  Diss.  1891. 

8  Angaben  über  die  Zahl  der  Pfründner  in  den  Hospitälern  Lüne¬ 
burgs  macht  Erich  Zechlin,  Lüneburgs  Hospitäler  im  M.A.  in  den 
Forschungen  z.  Gesch.  Niedersachsens  I.  6  (1907),  48.  Sie  sind 
jedoch  für  das  Mittelalter  nicht  vollständig.  Immerhin  ergeben  sich 
ein  paar  Hundert. 


176 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


Motivreihen  die  Städte  füllenden  Menschen  bewogen,  sich  in  den 
Mauern  der  Stadt  niederzulassen. 

Ein  Teil  von  ihnen  saß  ja  schon  von  früher  an  dem  Ort,  wo 
die  Stadt  entstand :  die  ganze  Dienerschaft  im  weitesten  Sinne, 
alle  die  „fratribus  et  ecclesie  (und  natürlich  auch  die  anderen 
Grundherren)  cottidie  in  propria  persona  servientes“ ;  ferner  die 
gewerblichen  Arbeiter,  die  für  den  Grundherrn  gearbeitet  hatten 
und,  nun  allmählich  (wie  wir  das  gesehen  haben)  zu  selbständigen 
Handwerkern  sich  entwickelten.  Sie  und  ihr  Nachwuchs  bildeten 
den  Stamm  der  Städtefüller. 

Zu  ihnen  gesellten  sich  dann  die  fluktuierenden  Elemente, 
soweit  sie  seßhaft  wurden:  ich  denke  etwa  an  die  freien  Wander- 
kandwerker,  von  denen  wir  Kunde  erhielten. 

Aber  ein  sehr  beträchtlicher  Teil  der  städtischen  Bevölkerung 
wurde  doch,  wie  wir  aus  zahlreichen  Anzeichen  mit  Sicherheit 
schließen  dürfen,  durch  Einwanderung  vom  platten  Lande  her 
gebildet. 

Leider  ist  die  Tatsache,  daß  diese  Einwanderung  stattgefunden 
hat  und  daß  sie  verhältnismäßig  stark  gewesen  sein  muß,  so  un¬ 
gefähr  alles,  was  wir  von  ihr  wissen* 1.  Das  meiste  müssen  wir 
vermuten;  nur  weniges  läßt  sich  mit  Quellenstellen  belegen. 

Damit  eine  Einwanderung  vom  platten  Lande  als  Massen¬ 
erscheinung  stattfindet,  müssen  zwei  Reihen  bestimmter  Um¬ 
stände  Zusammentreffen:  das  Land  muß  abstoßen  (repeliieren), 
die  Stadt  muß  anziehen  (attrahieren). 

Was  den  Leuten  den  Aufenthalt  auf  dem  Lande  während 
der  Jahrhunderte,  die  namentlich  für  die  erste  innere  Festigung 
der  Städte  in  Betracht  kommen,  verleidete,  scheint  hauptsächlich 
folgendes  gewesen  zu  sein: 

1  Das  meiste  und  beste  Material  enthält  immer  noch  Büch  er  s 
Werk  über  die  Bevölkerung  Frankfurts.  Aber  auch  B.  bekennt  sich 
zu  einem  „ignoramus“.  Ebenso  wie  die  einzige  mir  bekannte  Monographie, 
die  diese  Erscheinung  behandelt,  die  Schrift  von  Aug.  Kniecke,  Die 
Einwanderung  in  den  westfälischen  Städten  bis  1400  (1893),  die  infolge 
des  Mangels  an  tatsächlichem  Material  sich  lediglich  mit  formal¬ 
juristischen  Problemen  beschäftigt.  Charakteristisch:  in  dem  Riesen¬ 
materialmagazin,  das  sich  v.  Maurer,  Gesch.  der  Stadtverfassung 
nennt,  ist  die  Seite,  die  von  unserm  Problem  handelt  (die  408.  des 

1.  Bandes),  ungefähr  die  einzige  im  ganzen  Werk  ohne  Anmerkungen. 
Ygl.  noch  Ed.  Otto,  Die  Bevölkerung  der  Stadt  Butzbach  (1893), 
69  ff.  (15.  Jahrh.  nach  Büch  er  scher  Methode  gearbeitet).  Hans 
Bungers,  Beiträge  z.  mittelalt.  Topographie  usw.  der  Stadt  Köln 
(1897),  44  ff.  (13.  Jahrh.  und  folg.  Quelle:  Grundbücher). 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt 


177 


1.  Die  gioße  Unsicherheit,  die  sich  namentlich  während  des 
10.  Jahrhunderts  eingestellt  hatte  als  Folgeerscheinung  der  Ein¬ 
fälle  plündernder  Völkerschaften  und  einer  daran  anschließenden 
Ausuferung  der  heimischen  Ritter.  Die  ausführlichste  Be¬ 
schreibung  dieser  Zustände  findet  man  im  2.  Bande  des  Werkes 
von  Flach,  der  dieser  Unsicherheit  des  Landes  (für  die  Ent¬ 
wicklung  Frankreichs)  eine  überragende  Bedeutung  beimißt. 
Aber  auch  in  anderen  Gebieten  ist  offenbar  das  allgemeine 
Kennzeichen  der  Zeiten  um  das  Jahr  1000:  Unsicherheit1.  Daher 
ja  auch  die  Mauerbauerei. 

2.  Der  Frondienst  in  manchen  Gegenden.  So  wenigstens 
belichtet  uns  ausdrücklich  ein  Mönch  von  den  weltlichen  Grund  - 
herren,  denen  die  Hörigen  fortliefen,  um  beim  Kloster  ihre  Zu¬ 
flucht  zu  suchen:  „cum  multos  haec  possideat  aecclesia,  qui 
semet  ipsos  propter  afflictionem  et  multitudinem  servi- 
tutis  qua  durissime  premebantur  a  propriis  dominis,  in  ius  nostrum 

,  coemerint  causa  quietis  et  quibus  alii  ruriculae  alii  vinitores, 
quidam  panifici,  sutores,  fabri  sunt  ac  mercatores  artiumque  diver- 
sorum  vel  operum  executores“ 2. 

Die  Tatsache,  daß  sich  zahlreiche  Hörige  in  den  Städten 
wirklich  einstellten,  läßt  darauf  schließen,  daß  sie  den  Frondienst 
mindestens  satt  hatten;  wie  unsere  Insten  heute  ihre  Gutstage¬ 
löhnerschaft. 

3.  Hie  und  da  scheint  seit  dem  12.  Jahrhundert  das  Bauern¬ 
legen,  d.  h.  Einziehen  selbständiger  Bauernstellen  beliebt  zu  sein. 

1  „In  metu  erant  omnes  Saxoniae  civitates“  Adam  Brem.  2,  31. 
von  Maurer  1,  62.  „For  the  skelter  of  the  folk“  sind  nach  den 
englischen  Quellen  die  Städte  gebaut.  In  der  ersten  Urkunde  von 
London  (Liberias  von  1133—1154  c.  10  §  2)  heißt  es:  „Servare  debent 
(cives)  civitatem  -sicut  refugium  et  propugnaculum  regni :  omnes  (enim) 
ibi  refugium  et  egressum  habent“.  Zit.  bei  Brodnitz,  Die  Stadt¬ 
wirtschaft  in  England  in  Jahrbücher  f.  NÖ.  III.  P.  47,  2. 

2  Ortliebi  Zwifaltensis  Chronicon  Cap.  9  MG.  SS.  10,  77/78.  Den¬ 
selben  Zustrom  Höriger  finden  wir  in  anderen  Städten:  Konstanz: 
Mone,  Quellensammlung  zur  badischen  Landesgesch.  1,  140;  Basel: 
Damas,  a.  a.  O.  S.  43;  Florenz:  Davidsohn,  G.  v.  Flor.  1,  607  f. 
Daß  seit  der  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  die  Weber  des  platten 
Landes  in  den  flandrisch-brabantischen  Städte  sich  niederließen ,  be¬ 
richtet  uns  Pirenne.  Ob  das  „hörige“  oder  „freie“  Landweber 
waren,  bleibt  dahingestellt.  Für  den  ökonomischen  Effekt  ist  es 
natürlich  auch  ganz  gleichgültig.  Pirenne,  Les  anciennes  demo- 
craties  des  Pays  Bas  (1910),  21.  Ohne  Quellenangabe.  Vgl.  auch 
Erich  Kober,  Die  Anfänge  d.  deutsch.  Wollgewerbes,  45  f. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


12 


Dritter  Abschnitt:  Das  Übergangszeitalter 


178 

Diese  gelegten  Bauern  sahen  sich  also  ihrer  Existenzmöglichkeit 
auf  dem  Lande  beraubt  h 

4.  müssen  wir  für  die  Zeit  vom  9. — 12.  Jahrhundert  und  darüber 
hinaus,  wenigstens  in  manchen  Ländern,  eine  stärkere  Zunahme 
der  Bevölkerung  in  Rechnung  stellen1 2,  wodurch  eine  Überschu߬ 
bevölkerung  geschaffen  wurde,  die  das  Heer  der  vom  Lande  Ab¬ 
wandernden  verstärken  half.  Sie  verschwand  entweder  in  den  neu 
besiedelten  Gebieten  oder  bot  sich  als  Stoff  zur  Städtefüllung  dar. 

AVas  diese  nun  zu  Anziehungspunkten  für  die  vom  platten 
Lande  Abgestoßenen  machte,  haben  wir  im  wesentlichen  kennen 
gelernt :  es  war  vor  allem  die  Möglichkeit ,  auch  ohne  Grund¬ 
besitz  sich  und  seiner  Familie  einen  Unterhalt  zu  verschaffen; 
war  die  Möglichkeit,  sich  eine  sichere  Existenz  zu  begründen. 
Und  zwar  im  Stande  der  Freiheit. 

Dieses  Ideal  der  Freiheit  scheint  eine  mindestens  ebenso 
mächtige  Anziehung  ausgeübt  zu  haben  wie  die  Aussicht  auf 
Sicherheit  und  Erwerb.  Wir  wissen,  daß  die  Städte  das  ihrige 
taten,  um  den  Zuwandernden  auch  wirklich  die  Freiheit  zu  ver¬ 
schaffen  oder  zu  erhalten,  nach  der  sie  sich  sehnten.  In  allen 
Ländern  wurde  es  ein  Grundsatz  des  Stadtrechts :  daß  Stadtluft 
frei  mache,  daß  der  Hörige  (unter  bestimmten,  sehr  leichten  Be¬ 
dingungen)  den  Verfolgungen  seines  Herrn  entzogen  wurde3 * * * * 8. 

So  mochte  sich  schließlich  aus  dem  Zusammenwirken  aller 
Umstände  in  der  ländlichen  Bevölkerung  eine  am  Ende  gar  nicht 
mehr  im  Einzelfall  begründete  Vorliebe  für  das  Leben  in  der 
Stadt  einnisten,  die  dann  zum  „Vorurteil“  wurde  und  ein 
allgemeines  Drängen  nach  der  Stadt,  denselben  „Zug  nach  der 

1  Das  berichtet  z.  B.  W.  Wittick  von  den  freigelassenen  Leten 
in  Nordwestdeutschland  a.  a.  0.  S.  329. 

2  „la  population  de  la  France  parait  avoir  trös  notablement 
augmente“  urteilt  über  diese  Zeit  ein  so  guter  Ivenner  wie  Levasseur, 
1.  c.  1,  235. 

Der  Überschuß  der  deutschen  Bevölkerung  in  der  Zeit  vom  12.  bis 

13.  Jahrhundert  war  so  groß,  daß  er  genügte,  um  den  Osten  Deutsch¬ 
lands  zurückzuerobern  und  die  deutschen  Städte  zu  füllen,  die  im 

14.  Jahrhundert  großen  Teils  den  Umfang  erreicht  hatten,  den  sie  bis 

ins  19.  Jahrhundert  gehabt  haben.  Dies  das  Ergebnis  der  Arbeit  von 

A.  Püschel,  Das  Anwachsen  der  deutschen  Städte.  1910. 

8  Für  Deutschland:  Kniecke,  a.  a.  0.  S.  61  ff.  und  öfters;  dort 
finden  sich  die  Hinweise  auf  Quellen  und  Literatur;  für  Frankreich: 
W.  Stubbs,  Const.  Hist.  1,457;  Flach,  2,  159  ff,  208;  für  Eng¬ 
land:  Ch.  Groß,  Gildmerchant  1,  8;  Green,  Town  Life  1  (1894), 
174  f.  Für  Italien:  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz  1,  608. 


Zehntes  Kapitel:  Die  Entstehung  der  mittelalterlichen  Stadt  179 

Stadt“  erzeugte,  wie  wir  ihn  1000  Jahre  später  in  unserer  Zeit 
wieder  so  mächtig  in  Wirksamkeit  sehen. 

*  * 

* 

In  diesen  Städten,  deren  Emporkommen  wir  verfolgt  haben,  ent¬ 
faltete  sich  nun  ein  neues,  eigen  geartetes  Wirtschaftsleben,  das 
für  die  folgende  Entwicklung  der  europäischen  Kultur  von  aus¬ 
schlaggebender  Bedeutung  wurde.  Zwei  Kräfte  haben  es  ge¬ 
schaffen:  das  Interesse  jener  kleinen  Handwerkerexistenzen,  die 
wir  in  den  Marktbuden  kampieren  sahen  oder  in  den  kleinen 
Holzhäuschen,  die  wie  Schwalbennester  an  die  Burg,  an  das 
Palatium  der  reichen  Grundherren  geklebt  waren. 

Und  das  Interesse  der  Stadt  selbst. 

Wollen  wir  also  verstehen,  was  es  mit  dem  Wirtschaftsleben 
in  einer  mittelalterlichen  Stadt  auf  sich  hatte;  insonderheit: 
welcher  Art  die  neuen  Gebilde  waren,  die  hier  entstanden,  so 
werden  wir  uns  vorerst  klarmachen  müssen,  in  welcher  Richtung 
sich  die  Interessen  der  beiden  schöpferischen  Faktoren  bewegten ; 
will  sagen:  welcher  Geist  sie  beseelte,  welches  Ideal  ihnen  vor¬ 
schwebte,  auf  dessen  Verwirklichung  ihr  Streben  gerichtet  war. 

Leicht  lassen  sich  die  Endziele  des  einen  feststellen:  denn 
was  die  Stadt  als  Ganzes,  was  ihre  gesetzlichen  Organe  wollten, 
ist  niedergeschlagen  in  den  Leitsätzen  der  städtischen  Politik. 
Mit  diesen  wollen  wir  uns  zuerst  vertraut  machen. 


12* 


180 


Vierter  Abschnitt 

Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen 

Wirtschaft 

Elftes  Kapitel 

Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt 

„Und  so  ist  auch  die  Stadt  nach  der  aristotelischen  Be¬ 
schreibung  und  nach  der  Idee,  welche  ihren  natürlichen  Er¬ 
scheinungen  unterliegt,  ein  sich  selbst  genügender  Haushalt,  ein 
gemeinschaftlich  lebender  Organismus.  Wie  auch  immer  ihre 
empirische  Entstehung  sein  mag,  ihrem  Dasein  nach  muß  sie  als 
Ganzes  betrachtet  werden ,  in  Bezug  worauf  die  einzelnen  Ge¬ 
nossenschaften  und  Familien,  aus  welchen  sie  besteht,  in  not¬ 
wendiger  Abhängigkeit  sich  befinden.  So  ist  sie  mit  ihrer  Sprache, 
ihrem  Brauch,  ihrem  Glauben  wie  mit  ihrem  Boden,  ihren  Ge¬ 
bäuden  und  Schätzen  ein  Beharrendes ,  das  die  Wechsel  vieler 
Generationen  überdauert  und  teils  aus  sich  selber,  teils  durch 
Vererbung  und  Erziehung  ihrer  Bürgerhäuser  wesentlich  gleichen 
Charakter  und  Denkungsart  immer  aufs  neue  hervorbringt.“ 

Mit  diesen  wahren  Worten  leitet  Tönnies1  seine  schönen 
Betrachtungen  über  das  Wesen  der  Stadt  an  sich,  der 
ein.  Und  mit  denselben  Worten  sollte  jede  Abhandlung  auch 
über  die  Stadt  des  Mittelalters  und  ihre  Eigenart  begonnen 
werden 2. 

1  Ferd.  Tönnies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft  üsw.  §  18. 
Ich  verzichte  darauf,  die  in  diesem  Kapitel  gegebene  Darstellung  Schritt 
vor  Schritt  mit  anderer  Literatur  oder  Quellennachweisen  zu  beschweren. 
Es  handelt  sich  im  wesentlichen  um  bekannte  Dinge,  die  ich  nur  in 
den  Zusammenhang  meiner  Ausführungen  einzuordnen  habe.  Die  be¬ 
sondere  Art,  diese  Dinge  zu  sehen,  die  vielleicht  hier  und  da  hervor¬ 
tritt,  kann  aber  naturgemäß  nicht  durch  „Quellennachweise“  begründet 
werden. 

2  Ich  meine,  man  versperrt  sich  jeden  Weg  zum  Verständnis  des 
inneren  Wesens  der  mittelalterlichen  Stadt,  wenn  man  sie  der  modernen 
Stadt  gleich  und  in  einen  Gegensatz  zu  den  nicht-städtischen  Ver- 


181 


Elftes  Kapitel:  Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt 

In  der  Tat,  in  diesen  W orten  liegt  der  Hinweis  eingeschlossen 
auf  jene  Idee,  aus  der  heraus  allein  das  wahre  Wesen  dieser  selt¬ 
samen  Gebilde  des  Mittelalters,  die  wir  Stadt  nennen,  begriffen 
werden  kann:  auf  die  Idee  der  Gemeinschaft,  die  wir  nicht  nur 
in  die  Dinge,  um  deren  Erkenntnis  uns  zu  tun  ist,  hineintragen, 
die  also  in  diesem  Falle  nicht  nur  als  philosophisches  Hilfsmittel 
unserer  Betrachtung  erscheint,  die  vielmehr  die  Zentralsonne 
darstellt,  von  der  alles,  was  in  der  mittelalterlichen  Stadt  ge¬ 
schah,  das  Leben  erhielt,  weil  sie  als  tatkräftige  Idee  die  Seelen 
der  Einwohner  und  gewiß  derer  erfüllte,  die  bestimmend  in  die 
Gestaltung  des  städtischen  Wesens  eingriffen. 

So  wundersam  diese  Erscheinung  ist,  so  ist  sie  doch  durch 
tausendfaches  Zeugnis  als  unzweifelhafte  geschichtliche  Tatsache 
uns  verbürgt :  jenes  sonderbare  Gemisch  von  Menschen,  das,  wie 
wir  gesehen  haben,  sich  in  der  Stadt  des  Mittelalters  zusammen¬ 
fand,  wurde  ergriffen  von  derselben  starken  Idee  der  Gemein¬ 
schaft,  der  Zusammengehörigkeit,  der  Gleichartigkeit  in  sich, 
der  Fremdheit  gegenüber  allem,  was  draußen  vor  den  Toren  lag. 
Weltliche  und  Geistliche,  Fürsten  und  Bettler,  Deiche  und  Arme, 
Patrizier  und  Plebejer,  Freie  und  Unfreie,  Bauern  und  Hand¬ 
werker  umschloß  das  Band  eines  innerlichen,  erlebten  Einheits¬ 
und  Gemeinheitsgefühls,  das  die  ersten  Menschengruppen  gebildet, 
das  dem  Stamm,  dem  Dorf  ihr  Leben  verliehen  hatte.  Wieder 
empfand  eine  große  Anzahl  von  Menschen  sich-  als  eine  organische 
Einheit,  fühlten  sich  viele  als  Glieder  einer  Familie,  war  das  Be¬ 
wußtsein  der  Zusammengehörigkeit  so  stark,  daß  es  alle  auf¬ 
lösenden,  zersetzenden  Mächte  im  Innern  überwand  und  alle  zu 
gemeinsamem  Handeln,  zu  geschlossenem  Auftreten  gegen  die 
Außenwelt  hinführte. 

Aus  diesem  Gemeinschaftsgefühl  floß  also  auch  wie  ein 
natürlicher  Strom  die  Gesamtheit  der  Maßnahmen,  die  wir  als 

bänden  des  Mittelalters  stellt,  wie  es  Paul  Sander  in  seinem  Buche 
„Feudalstaat  und  bürgerliche  Verfassung“  (1906)  tut.  So  sehr  ich 
den  von  ihm  behaupteten  Gegensatz  zwischen  Mittelalter  und  Neuzeit 
als  richtig  gesehen  anerkenne  (es  ist  im  Grunde  der  von  Tönnies 
gezeigte  von  Gemeinschaft  und  Gesellschaft,  organischem  und  mecha¬ 
nischem  Verbundensein,  traditionalistisch-empirischer  und  rationaler 
Gestaltung,  der  auch  meinen  Ausführungen  überall  zugrunde  liegt),  so 
sehr  halte  ich  es  für  verfehlt,  die  mittelalterliche  Stadt  den  rationalen 
Gebilden  zuzurechnen.  S.  räumt  dem  Umstand  der  Ausdehnung  (großer, 
kleiner  sozialer  Kreis)  eine  zu  ausschlaggebende  Bedeutung  ein :  Auf 
den  Geist  kommt  es  an,  der  eine  Gruppe  beherrscht. 


182  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

die  Politik  der  Städte  zu  bezeichnen  pflegen.  In  ihr  tritt 
dieses  starke  Einheitsbewußtsein  gleichsam  in  die  Erscheinung. 
Ob  es  die  Stadtherrn  in  den  Anfängen  der  städtischen  Ent¬ 
wicklung  waren ,  ob  später  die  patrizischen  Geschlechter ,  ob 
schließlich  die  plebejischen  Zünfte,  von  denen  diese  Maßnahmen 
ausgingen :  immer  waren  sie  von  demselben  Geiste  erfüllt ;  immer 
waren  sie  getragen  von  naivem  Egoismus  dieser  kleinen  Gruppe 
von  Menschen,  die  sich  als  Einheit  empfand  und  sich  als  Einheit 
durchzusetzen  entschlossen  war  der  gesamten  Außenwelt  gegen¬ 
über,  die  für  sie  die  Fremde  bedeutete.  Die  Fremde,  gegen  die 
man  keinerlei  Verpflichtungen  empfand,  die  man  als  Objekt  dem 
eigenen  Ermessen  dienstbar  zu  machen  bestrebt  war ;  die  Fremde, 
deren  Abgesandten  man  mit  Mißtrauen  begegnete,  weil  man  von 
ihnen  wiederum  nichts  Gutes  erwartete. 

Die  Grundidee ,  aus  der  heraus  die  Wirtschaftspolitik  der  mittel¬ 
alterlichen  Stadt  geboren  ist,  ist  überall  dieselbe;  deshalb  sind  auch 
die  Maßnahmen  dieser  Politik  in  den  Grundzügen  überall  die  gleichen; 
auch  in  England,  für  das  man  neuerdings  eine  Abweichung  behauptet 
hat:  G.  Brodnitz,  Die  Stadtwirtschaft  in  England  (Jahrbücher  für 
N.Ö.  47,  1  ff.).  Selbstverständlich  bestehen  Unterschiede  zwischen 
den  städtischen  Gesetzgebungen  in  Deutschland  und  England,  ebenso 
wie  zwischen  denen  in  Deutschland  und  Frankreich  oder  Italien.  Vor 
allem  ist  die  Stellung  der  Städte  zum  Staat  wie  allbekannt  in  England 
und  Frankreich  anders  nuanciert  wie  in  Deutschland  und  Italien.  In 
diesen  beiden  Ländern  kommt,  dank  der  stärkeren  Autonomie  der 
Städte ,  die  Idee  der  Stadtwirtschaftspolitik  deshalb  vielleicht  etwas 
reiner  zum  Ausdruck,  insbesondere  ig  der  egoistischen  Geltendmachung 
der  städtischen  Interessen  gegenüber  dem  platten  Lande.  So  hatten 
beispielsweise  die  englischen  «Städte,  wie  Brodnitz  behauptet,  kein 
Straßenrecht.  Ihre  Getreideversorgungspolitik  war  darum  doch  aus 
gleichem  Geiste  geboren  wie  die  der  deutschen  Städte.  Das  erkennen 
wir  an  den  Bestimmungen  über  Stapelung,  Fürkauf,  Preistaxen,  die 
wortwörtlich  in  den  englischen  Statuten  ebenso  lauten  wie  in  den 
deutschen  oder  italienischen.  Die  Unterschiede  zwischen  den  ein¬ 
zelnen  Ländern  sind  also  nur  Grad-,  keine  Wesensunterschiede:  just 
das  zeigt  jetzt  wieder  die  Arbeit  von  Brodnitz. 

Im  Grunde  waren  gerade  auch  die  englischen  Städte  dieselben 
starren  und  eigenlebigen  Gebilde  wie  überall  im  Mittelalter:  „a  free 
self-governing  Community,  a  state  within  the  state“,  wie  sie  einer  ihrer 
besten  Kenner  nennt :  J.  R.  G  r  e  e  n ,  The  town  Life  in  the  XV.  Cen¬ 
tury  1  (1894),  1  ff.,  wo  sich  eine  summarische  Aufzählung  der  Freiheits¬ 
rechte  der  Städte  findet,  die  an  Umfang  hinter  den  Prärogativen  keiner 
deutschen  oder  italienischen  Stadt  zurückstehen. 

Wir  haben  hier  nicht  die  tausendfachen  Ausstrahlungen  dieser 
leitenden  Ideen  aller  städtischen  Politik  zu  verfolgen:  hier  gilt 


Elftes  Kapitel:  Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt  Jgg 

es  nur,  ihren  Wirkungen  in  einer  bestimmten  Richtung  nach¬ 
zugehen,  dorthin,  wo  sie  sich  zu  dem  System  einer  Wirtschafts¬ 
politik  verdichten.  Auch  in  diesem  finden  wir  in  der  Tat  die¬ 
selbe  Idee  der  Gemeinschaft  wieder,  die  alles  städtische  Leben 
beherrscht.  Sie  bestimmt  zunächst  formell  das  Verhalten  der 
politischen  Mächte,  das  heißt  der  Organe  der  Gemeinschaft,  zu 
den  wirtschaftlichen  Einzelvorgängen.  Und  zwar  in  dem  Sinne, 
daß  sie  nicht  etwa  dem  Belieben  des  Einzelnen  überläßt,  wie  er 
seinen  Lebensunterhalt  gewinnen  will,  ebensowenig  wie  das 
Haupt  einer  Familie  dies  seinen  unmündigen  Kindern  anheim¬ 
stellt.  Daß  vielmehr  die  Gemeinschaft  und  ihre  Vertreter  über 
allen  Vorgängen  des  Wirtschaftslebens  wacht,  sie  alle  nach  einem 
einheitlichen  Plan  regelt,  daß  sie  dem  Einzelnen  sein  Verhalten 
vorschreibt,  für  das  Wohlergehen  des  Einzelnen  sorgt.  Ganz 
wie  von  selbst  folgt  aus  der  leitenden  Idee  der  Gemeinschaft 
jenes  kraftvolle  System  regelnder  Normen,  wegweisender  Ma߬ 
regeln,  denen  wir  alle  wirtschaftlichen  Vorgänge  in  den  Städten 
des  Mittelalters  unterworfen  sehen. 

Dieselbe  Idee  der  Gemeinschaft  bestimmt  aber  auch  das 
materielle  Grundprinzip,  auf  dem  alle  Wirtschaftspolitik  der 
mittelalterlichen  Städte  fußt;  jenes  Grundprinzip,  das  kein 
anderes  ist  als  das,  das  die  Wirtschaftsverfassung  des  Stammes, 
des  Dorfes,  des  Fronhofs  geregelt  hatte:  das  Prinzip  der  wirt¬ 
schaftlichen  Selbstgenügsamkeit,  der  ökonomischen  Autarkie,  das 
Bedarfsdeckungsprinzip.  Die  Bewohner  der  Stadt  sollen 
reichlich  mit  guten  Dingen  versorgt  sein,  deren  sie  zu  ihres  Leibes 
Nahrung  und  Notdurft  benötigen  1.  Aber  was  sich  von  selbst  ver¬ 
steht:  da  das  Leben  der  Stadt  auf  so  durchaus  anderem  Grunde 
ruht  als  das  aller  früheren  Gemeinschaften,  da  ja  dem  Wesen  der 
Stadt  gemäß  zum  ersten  Male  Menschen  ohne  Scholle  leben  sollen, 
so  mußte  derselbe  Grundgedanke,  den  Bedarf  dieser  Menschen 
an  wirtschaftlichen  Gütern  zu  decken ,  zu  Maßnahmen  führen, 
die  sehr  verschieden  waren  von  denen,  die  die  Wirtschaft  der 
Dorfgenossen  oder  der  Fronhofsleute  geregelt  hatten.  Aus  dem¬ 
selben  Grundgedanken  der  Bedarfsdeckung  erwächst  also  ein  ganz 

1  In  der  Einleitung  zu  dem  Bergwerksstatut  der  Stadt  Goslar 
vom  Jahre  1494  wird  der  Rammeisberg  ausschließlich  für  die  Bürger 
und  die  Stadt  in  Anspruch  genommen  und  jedes  Eindringen  Fremder 
in  den  Besitz  und  Bau  des  Berges  als  „Verwüstung  derNahrung 
der  Stadt“  bezeichnet.  Wagner,  Corp.  jur.  metallici,  p.  1033  t“. 
Vgl.  dazu  C.  Neu  bürg,  Goslars  Bergbau  bis  1552  (1892),  S.  120. 


184  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

neues  wirtschaftspolitisches  System,  das  wir  nun  in  seinen  Haupt-1 
zügen  uns  vergegenwärtigen  müssen. 

Wenn  man  sich  dieses  Ziel  aller  städtischen  Wirtschaftspolitik, 
Fürsorge  für  ein  nach  Menge  und  Art  befriedigendes  Giiter- 
quantum  zu  treffen,  deutlich  vor  die  Augen  hält,  so  wird  man 
die  tausend  einzelnen  Maßregeln,  in  denen  die  Tätigkeit  der 
städtischen  Gewalten  sich  ausdrückt ,  sehr  leicht  verstehen 
und  zu  einem  innerlich  geschlossenen  System  zusammenfügen 
können. 

Dem  Wesen  der  Stadt  entspricht  es,  wie  wir  wissen,  daß  sie 
einen  großen  Teil  ihres  Lebensunterhaltes  sich  -durch  Zufuhr  von 
außen  verschaffen  muß.  Dieselben  Erwägungen  also,  die  im 
Rahmen  der  geschlossenen  Eigenwirtschaft  zu  Maßregeln  führen, 
die  bestimmt  sind,  jedes  einzelne  Produktionsgebiet  zu  voller 
Wirksamkeit  zu  bringen  —  man  denke  an  die  Vorschriften  des 
sogenannten  Capitulare  de  villis  — ,  müssen  den  städtischen 
Wirtschaftspolitiker  zu  Vorkehrungen  veranlassen,  mittels  deren 
er  bewirkt,  daß  die  notwendigen  Gütermengen,  die  aber  die 
Stadt  nicht  mehr  selbst  erzeugt,  ihr  von  außen  her  zugeführt 
werden.  An  die  Stelle  einer  reinen  Produktionspolitik  muß  eine 
Zufuhrpolitik  treten,  die  denn  auch  wirklich  den  wichtigsten 
Bestandteil  der  gesamten  städtischen  Wirtschaftspolitik  aus¬ 
macht. 

Wir  fassen  einen  ersten  Teil  der  hierher  gehörigen  Maßregeln 
zusammen  unter  der  Bezeichnung  des  Straßen-,  Meilen-  und 
Stapelrechts,  das  sich  die  Stadt  zu  erkämpfen  sucht.  Das  heißt, 
des  Rechtes,  jeden  Warenzug  (insbesondere  sind  es  natürlich 
immer  die  Lebensmittel,  ist  es  vor  allem  das  Brotgetreide,  auf 
dessen  Herbeischaffung  die  Stadtgemeinde  sinnt),  der  sich  in 
einem  bestimmten  Umkreise  der  Stadt  bewegt,  durch  die  Stadt 
hindurchzuleiten  und  die  auf  diese  Weise  herbeigezogene  Waren¬ 
menge  mindestens  einige  Tage  in  der  Stadt  anzuhalten  und  den 
Bürgern  zur  Deckung  eines  etwa  vorhandenen  Bedarfes  zur  Ver¬ 
fügung  zu  stellen.  Das  heißt  also:  man  zwang  die  Getreide¬ 
händler  usw. ,  die  Getreide  irgendwo  aufgekauft  hatten,  dieses 
—  und  wenn  auch  auf  Umwegen  —  durch  die  Stadt  zu  trans¬ 
portieren  und  hier  zu  „stapeln“,  ehe  es  seinem  Bestimmungsorte 
zugeführt  werden  konnte. 

Oder  man  hinderte  gar  die  Landwirte  in  der  Umo-eo-end  der 
Stadt  —  je  weiter  desto  besser  —  ihre  Erzeugnisse  wo  anders 
als  in  der  Stadt  abzusetzen.  Das  „Recht“,  dieses  zu  erzwingen, 


Elftes  Kapitel:  Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt 


185 


hieß  das  Marktrecht,  kraft  dessen  also  die  Stadtbewohner  sich 
ein  Bezugsmonopol  sicherten. 

Kamen  nun  die  Landleute  mit  ihren  Produkten  zur  Stadt,  so 
wollte  man  auch  verhindern,  daß  ein  spekulativer  Kopf  etwa 
die  Waren  schon  auf  dem  Wege,  ehe  sie  zum  Markte  gelangten, 
aufkaufte.  Man  verbot  daher  entweder  den  Ankauf  vor  dem 
Eintreffen  auf  dem  Markte,  oder  man  verbot  überhaupt  jeden 
Kauf  von  Lebensmitteln  zum  Zweck  des  Wiederverkaufs,  oder 
man  verbot  wenigstens  jeden  Lieferungshandel  mit  Lebensmitteln. 
Die  Verpflichtung,  die  Ware  zu  Markte  zu  bringen,  wurde  auch 
noch  damit  begründet,  daß  man  nur  so  sich  von  ihrer  Güte  und 
„Legalität“  überzeugen  könne. 

Das  Interesse  des  Konsumenten  dem  Händler  gegenüber  suchte 
man  auch  noch  dadurch  zu  wahren,  daß  man  ihm  das  sogenannte 
„Einstandsrecht“  verlieh,  das  heißt  das  Recht,  von  irgendeiner 
Warenpartie,  die  ein  Händler  hereingebracht  hatte,  (auch  gegen 
den  Willen  des  Händlers)  soviel  er  brauchte,  für  sich  einzukaufen1. 
Oder  man  gestattete  dem  Händler  erst  den  Einkauf,  nachdem 
die  Konsumenten  sich  versorgt  hatten:  „donec  burgenses  ad 
suum  opus  ernennt“ ;  und  was  dergleichen  Bestimmungen  mehr 
sind. 

Daß  man  sich  um  die  gute  Beschaffenheit  der  zum  Verkauf 
gelangenden  Waren  ebenfalls  sorgte,  geht  schon  aus  der  er¬ 
wähnten  Bestimmung  hervor,  die  fast  in  allen  Städten  überein¬ 
stimmend  wiederkehrt :  die  in  die  Stadt  gebrachten  Lebensmittel 
sollen  nur  auf  den  dazu  ausersehenen  öffentlichen  Marktplätzen 
feilgehalten  werden.  Dann  aber  suchte  man  auch  zu  verhüten, 
daß  verdorbene  Gegenstände  zum  Verkauf  gebracht  wurden ;  daß 
zu  hohe  Preise  gefordert  wurden ;  daß  etwa  falsch  gewogen,  falsch 
gemessen  wurde  usw.:  ein  ausgedehntes  System  „marktpolizeilicher“ 
Vorschriften  regelte  den  Verkehr  auf  dem  Markte  im  Interesse 
des  Käufers.  Dagegen  stand  nichts  im  Wege,  daß  man  krankes 
Vieh  oder  faules  Fleisch  seinen  lieben  Mitchristen  in  der  Nachbar¬ 
schaft  aufhalse:  „so  mögent  sie  semmliche  bresthafte  schofe  und 
liemmel  lebendig  wol  ins  land  treiben  und  verkaufen,“  bestimmt 


1  Nicht  nur  in  'kleinere®  Verhältnissen’  ist  dieses  Einstandsrecht 
dem  Bürger  zugestanden  worden,  wie  Inama  (III.  2,  255)  meint. 
Es  galt  in  der  größten  Stadt  des  europäischen  Mittelalters  als  sogen, 
droit  de  „part“  ganz  allgemein:  Livre  des  metiers,  p.  CXXXII.  In 
England:  „the  right  of  Cavil“, 


136  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Straßburg  im  15.  Jahrhundert ;  ebenso  Nürnberg  im  Jahre  1497: 
„alles  solich  unfertig  und  tadelhafftig  \:ihe  forderlich  von  dannen 
zu  thun  und  treiben“. 

Aber  man  schuf  auch  selbst  Einrichtungen,  die  eine  gute  Ver¬ 
sorgung  der  Stadt  vor  allem  auch  mit  Getreide  verbürgte:  man 
erbaute  auf  Kosten  der  Stadt  Speicher  und  legte  dort  Getreide 
ein  und  dergleichen. 

Nicht  ganz  so  ängstlich  brauchte  der  Kat  der  Stadt  um  die 
Versorgung  mit  gewerblichen  Erzeugnissen  zu  sein.  Erstens 
weil  ihr  Ausbleiben  keine  wirkliche  Not  hervorrief,  zweitens 
weil  der  Kegel  nach  in  der  Stadt  selber  genug  davon  hergestellt 
wurde.  Immerhin  widmete  er  auch  ihnen  seine  Aufmerksamkeit : 
er  sorgte  dafür,  daß  fremde  Handwerker  und  Händler  auf  den 
Jahrmärkten  ihre  Waren  feil  boten,  daß  die  Handwerke  stets 
gut  besetzt  seien,  daß  die  Produktion  in  der  Stadt  selbst  ehr- 
und  gewissenhaft  besorgt  wurde,  (daß  keine  Surrogate  zur  An¬ 
wendung  gelangten,  nicht  verschiedene  Stoffe  gemischt  wurden, 
nicht  altes  und  neues  Material  zusammen  verarbeitet  werde,  daß 
bei  subtilen  Dingen  man  nicht  in  der  Nacht  —  das  heißt  nach 
Eintritt  der  Dunkelheit  arbeite)  usw. 

Bestimmungen  der  zuletzt  genannten  Art  verfolgten  aber  noch 
einen  anderen  Zweck,  sie  sollten  den  gewerblichen  Erzeugnissen 
der  städtischen  Produzenten  den  Absatz  draußen  im  Lande  oder 
in  der  Ferne  sichern.  Denn  man  mußte  sich  sagen,  daß  in  einer 
Verkehrswirtschaft  die  Bedarfsdeckung  zur  Hälfte  ein  Absatz¬ 
problem  sei:  daß  nur  derjenige  Handwerker  die  Mittel  erwerbe, 
sich  mit  den  wirklich  zur  Stadt  kommenden  (oder  auch  in  der 
Stadt  hergestellten)  Gebrauchsgegenständen  zu  versorgen,  welcher 
zuvor  seine  eigenen  Erzeugnisse  verkauft  habe.  Daher  die  be¬ 
sondere  Fürsorge  für  die  zum  Export  bestimmten  Waren  (die 
man  erst  noch  einer  amtlichen  Prüfung  unterzog).  Kürzer  frei¬ 
lich  gelangte  man  zu  demselben  Ziele  (den  Absatz  der  Hand¬ 
werksprodukte  zu  sichern),  wenn  man  das  platte  Land  in  einem 
wiederum  möglichst  weit  gezogenen  Umkreise  zwang,  sich  in 
der  Stadt  mit  gewerblichen  Erzeugnissen  zu  versorgen.  Man  er¬ 
reichte  das  durch  das  Verbot  aller  gewerblichen  Tätigkeit  auf 
dem  platten  Lande :  der  Inhalt  des  sogenannten  Bannrechts. 

Mit  dieser  Fürsorge  für  den  Absatz  der  Handwerksprodukte 
berührte  die  städtische  Politik  nun  aber  schon  ein  anderes  Problem : 
das  der  Erhaltung  einer  bestimmten  Organisation  der  städtischen 
Produktion,  der  handwerksmäßigen.  Und  damit  dasjenige  Problem, 


187 


Elftes  Kapitel:  Die  Wirtschaftspolitik  der  Stadt 

dessen  Lösung  für  die  Ausbildung  städtischen  Wesens  die  gleiche 
Bedeutung  hatte  wie  die  Versorgung  des  städtischen  Marktes. 
J3enn  darin  gerade  ist  die  Eigenart  der  Stadtwirtschaft  verborgen, 
daß  sie  dieses  System  der  handwerksmäßigen  Wirtschaftsverfassung 
zu  voller  Entfaltung  brachte.  Am  Ende  des  Mittelalters  sind  es 
geradezu  die  Handwerksinteressen,  die  die  Interessen  der  Stadt 
schlechthin  bilden.  Vom  „Handwerk“  müssen  wir  uns  jetzt  also 
zunächst  eine  klare  Vorstellung  zu  verschaffen  suchen. 


188 


Zwölftes  Kapitel 

Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks 

I.  Der  Begriff  des  Handwerks 

Gemäß  unserem  Arbeitsplan  müssen  wir  uns  nunmehr  zunächst 
eine  klare  Vorstellung  von  der  „Idee  des  Handwerks“  machen, 
das  heißt  müssen  die  Wesenheit  desjenigen  Wirtschaftssystemes, 
das  wir  als  Handwerk  oder  als  handwerksmäßige  Organisation 
der  Wirtschaft  bezeichnen  und  von  dem  wir  wissen,  daß  es 
während  des  europäischen  Mittelalters  das  Wirtschaftsleben  be¬ 
herrscht  hat,  in  begrifflicher  Reinheit  zu  erkennen  trachten. 

Handwerk  als  Wirtschafts  System  ist  diejenige 
Form  der  tauschwirtschaftlichen  Organisation  der 
Unterhaltsfürsorge,  bei  welcher  die  Wirtschafts¬ 
subjekte  rechtlich  und  ökonomisch  selbständige, 
von  der  Idee  der  Nahrung  beherrschte,  traditio* 
nalistisch  handelnde,  im  Dienste  einer  Gesamtor¬ 
ganisation  stehende,  technische  Arbeiter  sind.  Die 
Analyse  dieses  Begriffs  ergibt  folgende  Bestandteile1. 

Handwerker  nennen  wir  alle  Wirtschaftssubjekte  in  einer 
handwerksmäßig  organisierten  Wirtschaft,  mögen  sie  landwirt¬ 
schaftliche  oder  gewerbliche  Güterproduzenten  sein  oder  Güter 
umsetzen  oder  Güter  transportieren.  Im  engeren  Sinne  heißen 
Handwerker  nur  die  gewerblichen  Produzenten  in  einer  hand¬ 
werksmäßigen  Wirtschaft.  Diese  sind  für  das  Wirtschaftssystem 
des  Handwerks  ebenso  repräsentativ  wie  die  landAvirtschaftlichen 
Produzenten  für  die  Eigenwirtschaft  und  die  Händler  für  die 
kapitalistische  Verkehrs  Wirtschaft.  Ich  werde  sie  deshalb  hier 
als  Vertreter  aller  andern  Wirtschaftssubjekte  der  handwerks¬ 
mäßig  organisierten  Wirtschaft  behandeln  und  an  ihnen  die 
Wesenheit  dieses  Wirtschaftssystems  aufweisen. 

1  In  der  ersten  Auflage  habe  ich  mich  gründlich  mit  den  Vertretern 
einer  von  der  meinen  abweichenden  Auffassung  vom  Handwerk  aus-  - 
einandergesetzt.  Ich  empfinde  jetzt  die  Zwecklosigkeit  solcher  Polemiken 
zu  stark,  um  ihnen  noch  einen  Teil  des  kostbaren  Raumes  in  diesem 
Werke  einzuräumen. 


Zwölftes  Kapitel:  Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks 


189 


Was  seiner  innersten  Natur  nach  „ein  Handwerker“  sei, 
werden  wir  aber,  scheint  mir,  am  sichersten  zum  Ausdruck 
bringen  kennen,  wenn  wir  zunächst  unsere  Aussage  negativ 
dahin  zusammenfassen,  daß  wir  einen  „Handwerker“  denjenigen 
gewerblichen  Arbeiter  nennen,  dem  keine  für  die  Gütererzeugung 
und  den  Güterabsatz  erforderliche  Bedingung  fehlt,  sei  sie  per¬ 
sönlicher,  sei  sie  sachlicher  Natur,  in  dessen  Persönlichkeit  somit 
alle  Eigenschaften  eines  gewerblichen  Produzenten  oder,  wie 
wir  zusammenfassend  sagen  können,  die  Produktionsqualifikation 
noch  ohne  irgendwelche  Differenzierung  eingeschlossen  sind. 
Da  zur  Produktion  stets  eine  Vereinigung  von  Sachvermögen 
und  persönlichen  Fähigkeiten  erfolgen  muß,  so  ergibt  sich  aus 
dem  Gesagten  zunächst,  daß  der  Handwerker  außer  den  persön¬ 
lichen  Qualitäten  die  Verfügungsgewalt  über  alle  zur  Produktion 
erforderlichen  Sachgüter,  das  heißt  über  die  Produktions¬ 
mittel  besitzt1:  im  Handwerker  hat  noch  keine  Differenzierung 
von  Personal-  und  Sachvermögen  stattgefunden ;  oder  in  anderer 
Wendung  mit  gleichem  Sinne:  das  Sachvermögen  des  Hand¬ 
werkers  hat  noch  nicht  die  Eigenschaft/des  Kapitals  angenommen. 

Aber  der  Handwerker  besitzt  nicht  nur  das  für  die  Ausübung 
seines  Gewerbes  notwendige  Sachvermögen,  er  besitzt  auch  alle 
dazu  erforderlichen  persönlichen  Eigenschaften:  er  ist 
eine  Art  von  gewerblichem  „Herrn  Mikrokosmos“.  Was  sich 
später  in  zahlreichen  Individuen  zu  besonderen  Veranlagungen  aus¬ 
wächst:  das  alles  vereinigt  der  Handwerker  auf  seinem  „Ehren¬ 
scheitel“.  Selbsverständlich  alles  in  einem  en-miniature-Ausmaße. 
Seiner  Universalität  entspricht  mit  Notwendigkeit  seine  Mittel¬ 
mäßigkeit. 

Der  Kern  des  Handwerkertums  ist  seine  Eignung  zum 
gewerblichen  Arbeiter,  in  dem  Sinne,  daß  er  die  tech¬ 
nischen  Fähigkeiten  besitzt,  die  zur  Herstellung  eines  Gebrauchs¬ 
gegenstandes  an  einem  Kohstoff  vorzunehmenden  Handgriffe 
auszuführen.  Aber  mit  dieser,  sagen  wir  technischen,  Veran¬ 
lagung  vereinigt  er: 

1 .  die  etwa  erforderliche  künstlerische  Schau ,  das 
künstlerische  Empfinden, 

2.  die  für  die  Produktion,  insbesondere  auch  für  die  Über¬ 
lieferung  des  Könnens  erforderlichen  Kenntnisse,  um  nicht 

1  Was  die  französischen  Statuten  in  einer  stereotypen  Formel  sehr 
hübsch  so  ausdrücken:  „Quiconques  veut  estre  de  tel  mestier,  estre 
le  puet  poer  tant  qu’il  sache  le  mestier  et  ait  de  coi.“ 


190  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

den  irreführenden  Ansdruck  zu  gebrauchen:  wissenschaftliche 
Befähigung.  Alle  Weisheit  unserer  „Doktor-Ingenieure“,  alle 
Forschungsergebnisse  unserer  chemischen  Laboratorien  vereinigt 
er  in  seiner  Persönlichkeit. 

Daneben  funktioniert  er 

3.  als  Organisator  ebensowohl  wie  als  Leiter  der  Pro¬ 
duktion.  Er  ist  Generaldirektor,  Werkmeister  und  Handlanger 
in  einer  Person. 

Er  ist  aber 

4.  auch  Kaufmann.  Alle  Einkaufs-  und  Verkaufstätigkeit, 
alle  Absatzorganisation,  kurz  alles,  was  später  als  spekulative 
Leistung  von  einigen  überdurchschnittlichen  Persönlichkeiten  be¬ 
sorgt  wird,  umfaßt  sein  persönliches  Vermögen. 

II.  Die  Gesamtorganisation  der  Wirtschaft 

Will  man  die  Grundidee  erkennen,  von  der  alles  handwerks¬ 
mäßige  Denken  und  Wollen  bestimmt  wird,  so  muß  man  sich,  wie 
ich  das  in  dem  vierten  Kapitel  schon  angedeutet  habe,  des  leiten¬ 
den  Prinzips  bewußt  werden,  von  dem  die  alte  bäuerliche  Hufen¬ 
verfassung  getragen  war.  Denn  das  System  handwerksmäßigen 
Schaffens  ist  nichts  anderes  als  die  Übertragung  der 
Hufenverfassung  auf  gewerbliche  (und  kommerzielle  usw.) 
Verhältnisse.  Bis  ins  einzelne  läßt  sich  die  Analogie  verfolgen,  die 
zwischen  einer  bäuerlichen  Hüfnergemeinde  und  einer  in  einer 
Zunft  geeinten  Korporation  von  Handwerkern  obwaltet.  Beide 
wollen  in  genossenschaftlichem  Einvernehmen  die  wirtschaftliche 
Tätigkeit  der  einzelnen  Teilnehmer  ordnen.  Beide  gehen  von 
einer  gegebenen  Größe  der  zu  vollbringenden  Arbeit  und  des 
zu  befriedigenden  Bedarfs  aus,  das  heißt  sind  von  der  Idee  ge¬ 
leitet,  daß  ein  bestimmtes  Ausmaß  von  Leistung  und  Einkommen 
jedem  Genossen  zukomme :  sind  orientiert  unter  dem  Gesichts¬ 
punkt  der  ‘Nahrung’.  Beide  verteilen  die  Gesamtleistung  unter 
die  einzelnen  und  lassen  einen  Teil  übrig,  der  von  der  Genossen¬ 
schaft  als  solcher  zu  vollbringen  ist:  der  Gemeindeweide  auf 
der  Almende  im  Dorfe  entspricht  die  Kollektivnutzung  der  von 
der  Zunft  (oder  Stadt)  errichteten  Anstalten.  Beide  regeln  bis 
ins  einzelne  das  wirtschaftliche  Verhalten  jedes  Genossen  usw. 

Der  immer  wiederkehrende  Grundgedanke  jedes  echten  Hand¬ 
werkers  oder  Handwerkerfreundes  ist:  das  Handwerk  solle  seinen 
Mann  ‘ernähren’.  Er  will  so  viel  arbeiten,  daß  er  seinen  Unter¬ 
halt  gewinnt,  er  hat  wie  die  Handwerker  in  Jena  (von  denen 


Zwölftes  Kapitel:  Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks 


191 


uns  Goethe  erzählt)  „meist  den  vernünftigen  Sinn,  nicht  mehr 
zu  ai beiten,  als  sie  allenfalls  zu  einem  lustigen  Leben  brauchen“. 

Und  wer  die  Zeugnisse  insbesondere  des  Mittelalters  kennt, 
weiß,  daß  dieser  Grundgedanke  aus  jedem  Zunftstatut  tausend¬ 
fach  spricht: 

„ wolt  ir  aber  hören,  was  kaiserlich  recht  gepuitet,  —  unser 
vordem  sind  nit  naren  gewessen  —  es  sind  hantwerck  darumb 
erdacht  das  yederman  sein  täglich  brot  darmit  gewin  und  sol 
niemant  den  andern  greiffen  in  sein  hantwerck.  damit  schickt 
die  weit  ihr  notdurft  und  mag  sich  yederman  erneren,“ 
heißt  es  in  der  sogenannten  Reformation  Sigismunds1. 

'Aus  der  Verschiedenheit  nun  aber  der  Personen,  aus  der  Ver¬ 
schiedenheit  der  Erwerbsquellen,  die  zwischen  Bauer  und  nicht  land¬ 
wirtschaftlichem  Handwerker  obwaltet,  muß  sich  auch  eine  ver¬ 
schiedene  Auffassung  vom  Wesen  der  „Nahrung“  ergeben.  Der 
Bauer  will  als  eigener  Herr  auf  seiner  Scholle  sitzen  und  aus  dieser 
im  Rahmen  der  Eigenwirtschaft  seinen  Unterhalt  ziehen.  Der 
Handwerker  ist  auf  den  Absatz  seiner  Erzeugnisse  angewiesen: 
er  steht  stets  im  Rahmen  einer  verkehrswirtschaftlicken  Organi¬ 
sation.  Er  will  (und  muß  seiner  Wesenheit  nach)  gewerblicher 
Produzent,  und  er  will  freier,  selbständiger  Produzent  sein. 

Was  für  den  Bauern  also  die  hinreichende  Größe  seines 
Besitztums  ist,  ist  für  den  Handwerker  der  genügende  Umfang 
seines  Absatzes ;  was  für  jenen  der  Landbesitz  überhaupt,  istfür  diesen 
die  Eigenschaft  des  freien  und  selbständigen  Gewerbetreibenden. 

Man  darf  annehmen,  daß  erst  durch  Loslösung  des  Arbeiters 
von  der  Scholle,  also  in  der  Stadt,  diese  starke  Betonung  gerade 
der  Selbständigkeit  eintritt,  wie  wir  sie  in  aller  handwerks¬ 
mäßigen  Sinnesart  antreffen.  Der  städtische  Handwerker  stellte 
sich  damit  in  einen  bewußten  Gegensatz  zu  äußerlich  ähnlichen 
Existenzen  auch  gewerblicher  Arbeiter  und  bildete  damit  einen 
wesentlichen  Grundzug  echt  handwerksmäßiger  Organisation  erst 
recht  aus2 3. 


1  Willy  Boekrn,  Friedrich  Reisers  Reformation  des  K.  Sigmund. 

(1876),  S.  218,  auch  S.  45  f.  Dazu  Carl  Koehne,  Zur  sogen. 
Reformation  K.  Sigismunds  im  Neuen  Archiv  der  Gesellschaft  für 
ältere  deutsche  Geschichtskunde  ßd.  31  (1905)  Heft  1.  Die  gegen 
mich  und  meine  Verwendung  des  obigen  Zitates  aus  dem  genannten 
Werke  gemachten  Einwendungen  K.s  erledigen  sich,  glaube  ich,  durch 
meine  Bemerkungen  auf  S.  29  ä. 

3  Über  den  Unterschied  zwischen  dem  „Handwerker“  als  Wirt,- 


192  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


III.  Die  Aufgabe  der  Handwerkergenossenschaft 

Die  Hufenverfassung  ruhte  auf  dem  Zusammenwirken  der 
Dorfgenossen  in  der  Dorfgemeinde.  Es  liegt  nahe  als  das  Organ, 
das  für  die  gewerblichen  'Hüfner5  die  Funktionen  der  Dorf¬ 
gemeinde  übernehmen  mußte,  die  Handwerkergenossenschaft,  die 
Zunft  oder  Innung  anzusprechen. 

Man  hat  wohl  mit  Hecht  die  mittelalterliche  Innung  über¬ 
haupt  als  eine  Fortsetzung  der  alten  Bluts-  und  Ortsgemein¬ 
schaften  zu  betrachten  uns  gelehrt :  Die  Gilde  soll  in  den  Städten 
ersetzen,  was  die  natürliche  Gemeinschaft  auf  dem  Lande  von 
selbst  bot;  ergänzen,  was  die  größere  Stadtgemeinschaft  dem 
einzelnen  doch  nicht  zu  leisten  vermochte  x. 

Ganz  gewiß  aber  hilft  die  Zunft  dem  einzelnen  Handwerker 
bei  der  Durchführung  seiner  Wirtschaftszwecke  in  ähnlicher 
Weise  wie  die  Dorfgemeinde  den  Bauern  geholfen  hatte.  Sie 
ist  es  zunächst,  die  da  Sorge  trägt,  daß  ein  genügend  großes 
Tätigkeit^-  (und  Absatz- jgebiet  dem  Handwerk  als  Ganzem  ge¬ 
sichert  werde  (wie  die  Dorfgemeinde  die  Größe  der  Dorfflur 
den  Interessen  ihrer  Genossen  gemäß  bestimmte).  Das  suchte 
sie  dadurch  zu  erreichen,  daß  sie,  wo  irgend  möglich,  den  Ab¬ 
satz  für  das  Handwerk  einer  bestimmten  Stadt,  sei  es  in  dieser 
Stadt  selbst,  sei  es  auf  fremden  Plätzen,  monopolisierte,  und 
ferner  dadurch,  daß  sie,  wo  das  Monopol  nicht  völlig  durch¬ 
geführt  werden  konnte,  das  Eindringen  Fremder  in  das  eigene 
Absatzgebiet  tunlichst  zu  erschweren  suchte.  Daher  die  zahl¬ 
reichen,  immer  wiederkehrenden  scharfen  Bestimmungen  des 
Gästerechts,  der  Markt-  und  Meßvorschriffcen  usw.,  wodurch  den 
Nichtheimischen  grundsätzlich  ungünstigere  oder  wenigstens  doch 
nur  gleichgünstige  Bedingungen  des  Absatzes  gewährt  werden 
sollten 2. 


schaftssubjekt  in  einer  handwerksmäßig  organisierten  Wirtschaft  und 
dem  „Handwerker“  (im  technischen  Sinne)  in  den  mittelalterlichen 
Eigenwirtschaften  oder  auch  in  einer  modernen  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmung  siehe  die  ausführliche  Darlegung  in  der  1.  Auflage  S.  88  f. 

Da  es  sich  hier  nicht  um  den  Nachweis  einer  empirischen  Ver¬ 
wirklichung  bestimmter  Bestandteile  der  handwerksmäßigen  Organisation 
in  der  Geschichte  handelt,  so  bedarf  es  keiner  Quellenbelege.  Wer  sich 
liir  diese  interessiert,  sei  auf  die  erste  Auflage  verwiesen,  wo  er  sie 
in  Menge  finden  wird. 

Der  Gedanke  des  Produktionsmonopols,  der  ursprünglich  nur  für 
das  Handwerk  als  solches  ohne  Rücksicht  auf  die  jeweils  das  Hand- 


Zwölftes  Kapitel:  Das  Wirtschaftssystem  des  tlandwerks 

Und  dem  Streben  nach  einem  Yerwertnngsmonopol  ent¬ 
sprach  das  Streben  nach  Monopolisierung  des  Rohstoffbezuges. 
Daher  die  zahlreichen  Bestimmungen,  welche  die  Ausfuhr  der 
Rohstoffe  oder  auch  der  Halbfabrikate  aus  dem  „natürlichen“ 
Bezugsgebiet  eines  Handwerks  zu  verhindern  suchten. 

Der  Zunft  aber  obliegen  auch  alle  Tätigkeiten,  die  über  die 
Kraft,  des  einzelnen  hinausgehen  würden,  etwa  die  Besormmo-  des 
notwendigen  Rohstoffs  im  großen  oder  von  weit  her,  oder  die 
Organisation  des  Absatzes  der  Erzeugnisse  über  ein  größeres 
Gebiet. 

Obliegt,  soweit  die  Stadt  selber  nicht  für  sie  eintritt,  die  Er¬ 
richtung  von  Anstalten,  die  einen  großen  Aufwand  erheischen 
und  deshalb  vom  einzelnen  Handwerker  nicht  errichtet  werden 
können.  Sie  werden  dann  von  den  Zunftgenossen  gemeinsam 
genutzt  (wie  die  Ahnende,  der  Wald  in  der  Dorfgemeinde!). 

Bekannte  Beispiele  dafür  sind :  jiie  W ollküchen,  in  denen  die 
rohe  Wolle  gereinigt;  Kamnahäuser,  in  denen  sie  gekämmt 
wurde;  Ölmühlen,  Walkmühlen,  Schleifereien,  Tuchrollen,  Mang- 
und  Färbehäuser,  Sägewerke;  Plätze,  wo  die  Tuchrahmen  zum 
Trocknen  aufgestellt  wurden;  Gärten,  wo  gebleicht  wurde; 
Materialhäuser  für  die  Baugewerbe  (Ziegeleien  usw.);  Gewand¬ 
häuser,  in  denen  die  Tücher  verkauft  wurden.  In  Summa:  überall, 
wo  eine  gemeinsame  Arbeitsleistung  oder  Anordnung  der  Pro¬ 
duktionsmittel  im  großen  erforderlich  wird,  tritt  die  Zunft,  wir 
würden  heute  sagen,  als  Werkgenossenschaft  auf. 

IY.  Die  Eigenart  der  Hand  werkerarbeit 

Die  eigene  wirtschaftliche  Tätigkeit  des  einzelnen  Hand¬ 
werkers  besteht  im  wesentlichen  in  der  technischen  Bearbeitung 
und  Verarbeitung  der  Rohstoffe  und  Halbfabrikate  zu  Gebrauchs¬ 
gegenständen,  die  er  in  eigener  Person  vornimmt,  wie  wir  sahen. 
Damit  aber  wird  die  Eigenart  dieser  Tätigkeit  selbst  bestimmt. 
Was  seiner  Hände  Geschicklichkeit  zu  leisten,  was  seiner  Arme 
Spannweite  zu  umschließen  vermag,  das  ist  die  Sphäre  seines 
Wirkens,  das  also  als  ein  unmittelbarer  Ausfluß  seiner  Persön- 


werk  bildenden  Personen  gedacht  war,  wurde  dann  mit  der  Zeit  dahin 
nuanciert,  daß  sich  das  Vorrecht  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von 
Meistern  zu  beschränken  habe :  ein  Gedanke ,  der  in  der  allmählich 
allgemeiner  werdenden  „Schließung“  des  Handwerks  seinen  folge¬ 
richtigen  Ausdruck  findet. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


13 


194  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

lichkeit  erscheint.  In  diesem  Sinne  hat  man  das  „Handwerk-' 
sehr  treffend  bezeichnet  als  den  „Ausdruck  einer  zum  Lebens¬ 
beruf  ausgeprägten  bestimmten  Tätigkeit  des  Individuums ,  die 
sich  sozusagen  so  weit  ausdehnt,  als  die  Kraft  der 
ein  zelnen  Hand  zu  herrschen  und  zu  schaffen  vermag  h 
Und  wie  es  dabei  nicht  anders  sein  kann:  das  Werk  selbst, 
also  das  Ergebnis  des  handwerklichen  Wirkens,  ist  der  getreue 
Ausdruck  der  Persönlichkeit  seines  Schöpfers.  Handwerker¬ 
ware  ist  bei  aller  Traditionalität  des  Verfahrens  doch  immer 
individuelles  Werk.  Es  trägt  ein  Stück  Seele  in  die  Weh 
hinaus,  weil  es  ja  die  Schöpfung  eines  wenn  auch  noch  so  be¬ 
schränkten,  aber  doch  lebendigen  Menschen  bleibt.  Von  den 
Leiden  und  Freuden  seines  Schöpfers  weiß  es  zu  erzählen. 
Kommt  auch  nicht  jedes  Paar  Schuhe  zustande,  wie  es  der  Sachs 
in  der  Johannisnacht  zusammenschlägt:  —  „ mit  dem  Hammer 
auf  dem  Leisten  halt’  ich  Gericht“  — ,  Einflüsse  mannigfachster 
Art  werden  sich  immer  bemerkbar  machen:  „jeder  Ärger  über 
das  Kind,  jeder  Zank  mit  der  Frau“,  die  tausenderlei  Fährnisse 
des  häuslichen  Lebens  gehen  nicht  spurlos  an  dem  Werk  des 
Handwerkers  vorüber.  Es  bleibt  in  den  Kreis  seines  Könnens 
gebannt:  das  aber  ist  verschieden  von  Meister  zu  Meister,  ver¬ 
schieden  von  Tag  zu  Tag. 

V.  Hie  Berufsgliederung  des  Handwerks 

Der  Idee  handwerksmäßiger  Arbeit  als  einer  Betätigung  der 
Gesamtpersönlichkeit  entspricht  nun  auch  die  dem  Handwerk 
eigentümliche  Berufsgliederung,  die  dem  Gedanken  Rechnung 
träo-t,  daß  die  Individualität  eines  Menschen  seine  Kräfte  über 
einen  gewissen  Kreis  von  Tätigkeiten  erstrecken  kann  und  soll, 
die  durch  ein  geistiges  Band,  durch  die  Idee  eines  Ganzen  zu¬ 
sammengehalten  werden;  daß  eine  Ausweitung  dieses  Kreises 
seine  Kräfte  zersplittern  muß,  während  anderseits,  wenn  diese 
Kräfte  in  zu  engem  Kreise  oder  wohl  gar  nur  nach  einer  Rich¬ 
tung  hin  betätigt  werden,  der  Arbeiter  in  die  Stumpfheit  des 


1  Denkschrift  des  Zentralvereins  zur  Reorganisierung  des  Hand¬ 
werkerstandes  in  Breslau  als  Entwurf  der  Generalversammlung  der 
Handwerksgenossen  Schlesiens  am  19.  Juni  1848  zur  Prüfung  und 
Beratung  vorgelegt  vom  provisorischen  Komitee  des  Vereins  (o.  0. 
o.  J.),  S.  3.  Diese  Denkschrift  enthält  auch  im  übrigen  eine  Fülle 
treffender  und  feiner  Bemerkungen. 


Zwölftes  Kapitel:  Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks  195 

rein  mechanischen  Betriebes  versinkt.  Was  gleichsam  die  quali¬ 
tative  Abgrenzung  der  einzelnen  Handwerke  charakterisiert, 
während  die  quantitative  Zuteilung  des  Wirkungskreises  deut- 
lichst  unter  dem  Einfluß  des  Leitsatzes  von  der  „Nahrung“  steht. 
Lach  beiden  Bichtungen  hin  —  das  wollen  wir  festhalten  — 
sind  also  für  die  Abgrenzung  der  einzelnen  Handwerke  subjektive, 
in  der  Persönlichkeit  des  Handwerkers  begTündete  Momente 
maßgebend. 

Die  Größe  des  Wirkungskreises,  innerhalb  dessen  der  Hand¬ 
werker  seine  Tätigkeit  ausübt,  findet  aber  ihren  Ausdruck  in 
der  Größe  seines  Betriebes.  Daß  dieser  der  Begel  nach  die 
Grenzen  des  Individualbetriebes  nicht  überschreiten  wird ,  ent¬ 
spricht  mir  der  Wesenheit  des  Handwerks. 

VI.  Die  Ordnung  der  Handwerksarbeit 

Daß  nun  dem  Handwerker  stets  ein  bestimmter  Betriebs¬ 
umfang  gesichert  sei  (das  heißt  also  ein  bestimmter  Abnehmer¬ 
kreis),  daß  der  eine  sich  nicht  auf  Kosten  des  anderen  ver¬ 
größere  und  bereichere,  daß  vielmehr  alle  einen  möglichst 
gleichen  Anteil  an  dem  gesamten  Absatzgebiet  behalten;  auf 
die  Erreichung  dieser  Ziele  (die  also  recht  eigentlich  die  Siche¬ 
rung  der  „Nahrung“  bedeuten)  ist  das  Hauptaugenmerk  der 
Handwerkerordnungen  gerichtet ,  weshalb  wir  häufig  diesen 
Teil  ihrer  Bestimmungen  schlechthin  als  Zunftordnung  be¬ 
zeichnen. 

Der  Erreichung  dieses  Zieles  dienen: 

1.  Vorschriften,  die  die  Bedingungen  des  Bohstoffbezugs 
für  alle  Handwerker  gleich  gestalten  sollen;  sei  es,  daß  sie  be-^ 
stimmen:  kein  Meister  dürfe  anders  als  am  Markttage,  am  an 
gezeigten  und  bestimmten  Orte  und  nirgends  anderswo  einkaufen, 
sei  es,  daß  die  Preise  des  Bohstofls  amtlich  festgesetzt  und  von 
®|dermann  eingehalten  werden  müssen,  sei  es,  daß  die  Größe 
der  von  einer  Person  einzukaufenden  Menge  beschränkt  wird, 
sei  es,  daß  ganz  allgemein  jederart  „Vorkauf“  verboten  wird, 
sei  es ,  daß  jedem  Handwerker  das  Becht  eingeräumt  wird,  an 
dem  Einkäufe  eines  anderen  teilzunehmen  (sogenanntes  Ein¬ 
standsrecht). 

2.  Bestimmungen,  in  denen  die  Ausdehnung  des  Be¬ 
triebes  oder  die  Menge  der  Produktion  Beschränkungen 
unterworfen  werden.  Hierher  gehört  die  Festsetzung  der  Höchst- 

13* 


196  Vierter  Abschnitt:  l)as  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

zalil  der  Gesellen  und  Lehrlinge,  die  e  in  Meister  beschäftigen  darf. 
AVo  eine  solche  Beschränkung  durch  die  Natur  des  Gewerbes 
untunlich  oder  sonst  unausführbar  scheint,  werden  andere  Mittel 
angewandt,  um  das  Produktionsquantum  des  einzelnen  nicht  zu 
stark  werden  zu  lassen  und  die  Entwicklung  zum  Großbetriebe 
zu  verhindern. 

Oder  es  wird  die  zulässige  Produktionsmenge  direkt  fest¬ 
gesetzt,  die  der  einzelne  während  einer  bestimmten  Zeit  erzeugen 
darf.  Das  ist  namentlich  dort  der  Fall,  wo  die  Produkte  wesent¬ 
lich  gleicher  Art  sind,  also  vor  allem  in  der  Weberei,  dann  aber 
auch  in  der  Kürschnerei,  Gerberei  und  anderen. 

3.  Bestimmungen,  die  ein  möglichst  gleichzeitiges,  wie 
gleichartiges  Angebot  herbeizuführen  bezwecken.  Hierher 
gehören  die  mannigfachen  Vorschriften  über  die  Art,  den  Ort 
und  die  Zeit  des  Verkaufs,  die  Verbote,  dem  Zunftgenossen 
dessen  Kunden  oder  Käufer  abspenstig  zu  machen  oder  ihm  ein 
Stück  Arbeit  fortzunehmen;  hierher  gehört  auch  das  Verbot,  das 
von  einem  Zunftgenossen  begonnene  AVerk  weiter  zu  führen, 
und  manches  andere. 

AHI.  Die  innere  Gliederung  des  Handwerks 

Das  Handwerk  wird  dargestellt  von  den  Meistern  (denen,  die 
das  Handwerk  verstehen:  wie  die  Dorfgemeinde  vertreten 
wurde  durch  die  Hufen:  denen,  die  Grund  und  Boden  besaßen). 
Aber  der  Meister  muß  für  Nachwuchs  sorgen,  damit  das  Hand¬ 
werk  nicht  aussterbe;  der  Meister  braucht  in  vielen  Fällen  der 
Hilfe  anderer  Personen  in  seinem  Betriebe.  So  kommt  es,  daß 
neben  ihm  auch  noch  andere  im  Handwerk  arbeiten,  daß  die 
einzelnen  Handwerksbetriebe  häufig  nicht  Alleinbetriebe  sind,  in 
denen  nur  der  Meister  tätig  wäre,  sondern  (und  das  darf  sogar 
als  der  typische  Fall  angesehen  werden)  Gehilfenbetriebe. 

Da  ist  denn  nun  wiederum  ein  dem  Handwerk  besonderer 
Zug  die  Art  und  AVeise,  wie  die  in  ihm  zu  einheitlichem  AVirken 
zusammengefaßten  Personen  rechtlich  und  ökonomisch  zueinander 
in  ein  Verhältnis  gebracht  werden;  dasjenige,  was  man  die 
innere  Gliederung  des  Handwerks  nennen  kann.  Demi 
ihre  Eigenart  folgt  aus  dem  obersten  Prinzipe  handwerksmäßiger 
Organisation,  wie  es  in  der  Zwecksetzung  ihrer  Träger  zum 
Ausdruck  gelangt. 

Das  A7erhältnis  des  Leiters  handwerksmäßiger  Produktion 


Zwölftes  Kr.pitel :  Das  Wirtschaftssystem  des  Handwerks  197 

des  „Meisters“  —  zu  seinen  Hilfspersonen  —  den  Gesellen, 
Knechten ,  Knappen,  Knaben,  Dienern,  Helfern,  Gehilfen  und 
wie  die  Bezeichnungen  sonst  noch  lauten  mögen,  sowie  den 
Lehrlingen  —  und  dieser  zu  ihm,  ,wird  man  nur  dann  richtig 
verstehen ,  wenn  man  sich  den  familienhaften  Charakter  ver¬ 
gegenwärtigt ,  den  alles  Handwerk  ursprünglich  trägt:  die 
Familiengemeinschaft  ist  der  älteste  Träger  dieser 
Wirtschaftsfo  r  m ,  und  sie  bleibt  es  auch  dann  noch ,  wrenn 
schon  fremde  Personen  zur  Mitwirkung  herangezogen  werden. 
Geselle  und  Lehrling  treten  in  den  Familienverband  ein  mit 
ihrer  ganzen  Persönlichkeit  und  werden  von  ihm  umschlossen 
zunächst  in  der  gesamten  Betätigung  ihres  Daseins.  Die  Familie 
samt  Gesellen  und  Lehrlingen  ist  Produktions-  und  Haushai tunns- 
einheit.  Alle  ihre  Glieder  sind  Schutzangehörige  des  Meisters; 
sie  bilden  mit  ihm  ein  organisches  Ganze,  ebenso  wie  es  die 
Kinder  mit  ihren  Eltern  tun. 

Wie  nun  aber  gar  nie  die  Vorstellung  aufkommen  kann,  daß 
die  Eltern  der  Kinder  oder  die  Kinder  der  Eltern  wegen  da 
seien,  ebenso  wie  es  töricht  wäre,  zu  denken,  daß  das  Herz  um 
des  Kopfes  oder  dieser  um  jenes  willen  da  sei,  so  folgt  auch 
für  das  Verhältnis  von  Meister  zu  Gesellen  und  Lehrlingen,  daß 
keiner  der  Mitwirkenden  als  um  des  anderen  willen  wirkend  ^e- 

o 

dacht  werden  darf,  sondern  daß  sämtliche  Personengruppen, 
also  auch  die  Hilfspersonen  —  Geselle  und  Lehrling  —  als  Selbst¬ 
zweck  erscheinen,  oder  was  dasselbe  ist,  als  Organ  im  Dienste 
eines  gemeinsamen  Ganzen. 

Stets  erscheinen  dem  Wesen  des  Handwerks  entsprechend 
Lehrlings-  und  Gesellentum  nur  als  Vorstufen  zur  Meister¬ 
schaft.  Das,  möchte  ich  sagen,  ist  fast  das  wichtigste  Merk¬ 
mal  echt  handwerksmäßiger  Organisation.  Wie  der  Student  nur 
der  angehende  Referendar  und  dieser  nur  der  angehende  Richter 
ist,  so  ist  der  Lehrling  werdender  Geselle,  der  Geselle  werdender 
Meister.  Daß  hierfür  die  Voraussetzung  auch  ein  entsprechendes 
zahlenmäßiges  Verhältnis  der  Aspiranten  auf  die  Meisterstellen 
zu  diesen  selbst  ist,  ist  oft  und  mit  Recht  betont  worden:  man 
darf  annehmen,  daß  dort,  wo  die  Zahl  der  Gesellen  mehr  als 
die  Hälfte  der  Zahl  der  Meister  beträgt,  ein  Einrücken  in  die 
Meisterstellen  schon  nicht  mehr  jedem  Gesellen  gewährleistet  ist  h 


1  Siehe  die  Berechnungen  J.  G.  Hofmanns  und  die  darauf 
fußenden  Ausführungen  Schmoll  er  s,  Zur  Geschichte  der  deutschen 


198  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Wo  aber  etwa  aus  betriebstechnischen  oder  anderen  Gründen 
eine  größere  Gchilfcnzahl  erforderlich  ist ,  da  hilft  man  sich  m 
der  Weise,  daß  man  materiell  wie  ideell  den  Unterschied  zwischen 
Meister  und  Gesellen  fast  völlig  auslöscht  und  den  Meister  als 
einen  Primus  inter  pares  ansieht.  Das  war  der  Grundgedanke 
beispielsweise  der  Baugewerke,  namentlich  der  Steinmetzen  im 
Mittelalter,  bei  denen  der  Meister  zwar  als  Organisator  und  Leiter 
unentbehrlich  war,  die  Gesellen  ihm  aber  in  Lohn  sowie  Achtung 
und  Ansehen  fast  völlig  gleichstanden. 

Bei  aller  gelegentlichen  Auflehnung  gegen  das  Meisterregiment 
soll  der  Geselle  doch  eingedenk  bleiben,  daß  ihm  dasselbe  der¬ 
einst  widerfahren  könne,  was  er  gegen  den  Meister  unternimmt. 
Welche  Erwägung  der  folgende  Spruch  zu  greifbarem  Ausdruck 
bringt : 

Ein  jeder  Gesell  oder  Knecht 

Der  seinen  stand  wil  brauchen  recht. 

Es  sey  mit  Arbeit  oder  wandien, 

Was  dah  sein  Herrschaft  hat  zu  handlen. 

Darinn  soll  er  sich  brauchen  schon, 

Wie  er  wolt  das  man  im  solt  thon. 

Dann  wie  einer  dienet  auff  Erden, 

So  wird  im  auch  gedienet  werden. 

Gedenk  wenn  ich  zu  Ehren  kom, 

Dient  man  mir  also  wiederumb  h 


Kleingewerbe  im  19.  Jahrhundert  (1870),  338/39;  auch  Bücher  in 
den  Untersuchungen  des  Vereins  für  Sozialpolitik  über  die  Lage  des 
Handwerks  (zit.  U.)  III  444/45  kommt  zu  ähnlichen  Ergebnissen. 

1  Von  einem  Holzschnitt  um  1600.  Faksim.  bei  E.  Mummen¬ 
hoff,  Der  Handwerker  in  der  deutschen  Vergangenheit  (1901),  94. 


199 


Dreizehntes  Kapitel 

Die  Daseinsbedingungen  des  Handwerks 

Da  wir  unsere  Untersuchung  auf  den  Kreis  der  westeuro¬ 
päischen  Kulturvölker  beschränken,  so  kann  die  Bedingtheit 
unserer  Wirtschaftsform  durch  Eigenart  des  Landes  und  des 
Volks  außer  Betracht  bleiben.  Vielmehr  werden  wir  die  Mög- 
lichkeit  handwerksmäßiger  Organisation  im  wesentlichen  aus 
einer  bestimmten  (quantitativen)  Gestaltung  der  Bevölkerungs¬ 
verhältnisse  und  der  Technik  abzuleiten  uns  angelegen  sein  lassen. 

I.  Die  Bevölkerung 

Die  Bevölkerung  ist  nach  drei  Seiten  von  bestimmendem 
Einfluß  auf  die  Lebensfähigkeit  handwerksmäßiger  Organisation  *, 

1.  Durch  die  Beschaffenheit  ihrer  Vermehr ungstendenzen. 
Da  ist  festzustellen:  je  geringer  die  allgemeine  Zuwachsrate 
einer  Bevölkerung  ist,  das  heißt  also,  je  langsamer  ihre  absolute 
Vermehrung  fortschreitet,  desto  besser  für  das  Handwerk; 

2.  ist  für  die  Lebensfähigkeit  einer  Wirtschaftsform  der  ge¬ 
werblichen  Produktion  von  entscheidender  Bedeutung  die  Zu¬ 
wachsrate  der  landwirtschaftlichen  Überschußbevölkerung,  also 
desjenigen  Bevölkerungsteils,  für  den  in  der  Sphäre  der  land¬ 
wirtschaftlichen  Tätigkeit  kein  Spielraum  mehr  ist.  Handwerk 
in  Handel  und  Gewerbe  ist  an  die  Voraussetzung  geknüpft,  daß 
die  agrarische  Überschußbevölkerung  gering  sei  oder  —  was 
auf  dasselbe  hinausläuft  —  daß  für  die  ländliche  Zuwachs¬ 
bevölkerung  die  Möglichkeit  bestehe,  durch  Intensität  des  An¬ 
baus  oder  Besiedlung  von  Neuland  ihre  Arbeitskraft  zu  ver¬ 
werten  ; 

3.  kommt  für  die  Daseinsmöglichkeit  einer  gewerblichen 
Wirtschaftsform  erheblich  in  Betracht  der  Grad  der  Bevölkerungs¬ 
dichtigkeit  und  der  Bevölkerungsagglomeration :  Handwerk  setzt 
für  beide  einen  niedrigen  Grad  voraus. 


1  j  Siehe  die  Begründung  auf  Seite  203  ff. 


200  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


II.  Die  Technik 

Die  Technik  ist  bedeutsam  für  das  Handwerk  durch  die 
Art  des  Verfahrens  sowie  durch  die  quantitative  Leistungsfähig¬ 
keit.  Die  Art  des  Verfahrens,  die  der  Idee  handwerks¬ 
mäßiger  Organisation  entspricht,  ist  die  empirisch- organische. 

Empirisch  wollten  wir  eine  Technik  nennen,  wenn  sie  auf 
einem  Kunstverfahren  beruht.  Das  technische  Können  baut  sich 
alsdann  auf  auf  dem  praktisch-persönlichen  Wissen  dessen,  der 
die  „Kunst“  erlernt  hat,  und  zwar  erlernt  hat  durch  Unter¬ 
weisung  eines  anderen  Könners,  eines  anderen  Meisters  der 
Kunst.  Empirisch,  erfahrungsmäßig  ist  die  Handhabung  der 
Technik,  weil  sie  auf  nichts  anderem  beruht  als  auf  dem  Er¬ 
probtsein,  weil  sie  keine  andere  Richtschnur  hat  als  subjektiv 
für  wahr  befundene  Kegeln,  die  der  „Meister“  aus  dem  tatsäch¬ 
lichen  Vorgänge  des  eigenen  Wirken s  abgezogen  und  dem  „Lehr¬ 
ling“  als  die  Regeln  seiner  Kunst  wie  einen  persönlichen  Besitz 
übertragen  hat.  Der  die  Kunst  versteht,  kennt  doch  immer  nur 
das  Wie?  und  das  Wozu?  des  Gesamtverfahrens  und  aller  Einzel¬ 
heiten;  nicht  das  Warum?  Der  Bauer  düngt  seinen  Boden,  weil 
er  persönlich  erfahren  und  darin  von  seinem  Vater  unterwiesen 
ist  (wie  dieser  es  vom  Großvater  gelernt  hat),  daß  die  Saat  auf 
gedüngtem  Boden  besser  wächst  als  auf  ungedüngtem ;  der  Gerber 
bereitet  eine  Lohbrühe  aus  Eichenrinde  und  bestimmtem  Wasser¬ 
zusatz  und  legt  die  Ochsenhaut  ein  Jahr  hinein,  weil  sein  Meister 
es  ihm  so  gezeigt  hat  und  weil  der  Augenschein  bestätigt,  daß 
dieses  Verfahren  zweckmäßig  ist,  um  Häute  in  Leder  zu  ver¬ 
wandeln. 

Organisch  nenne  ich  diejenige  Technik,  deren  Verfalirungs- 
weisen  durch  Ausmaß  und  Art  lebendiger  Wesen  bestimmt  sind, 
deren  Prozesse  durch  aktive  wie  passive  Teilnahme  menschlich¬ 
tierischer  oder  pflanzlicher  Organismen  wesentlich  zustande 
kommen.  Organisch  im  passiven  Sinn  ist  diejenige  Technik 
also,  bei  der  als  Hilfskräfte  und  Stoffe  vornehmlich  Menschen, 
Tiere  und  Pflanzen  verwendet  werden,  im  aktiven  Sinn  diejenige 
Technik,  bei  der  das  Werk  selbst  individuelles  Menschenwerk, 
das  heißt  unmittelbarer  Ausfluß  eines  lebendigen  Menschen  ist, 
der  im  Mittelpunkt  der  Werkschöpfung  steht  und  von  dessen 
natürlicher  Organbetätigung  der  ungestörte  Verlauf  des  Arbeits¬ 
prozesses  abhängig  ist.  Der  Arbeiter  schafft  sich  selbst  ein 
System  von  Hilfsmitteln  —  die  Werkzeuge  —  um  sein  Werk 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseiusbedingungen  des  Handwerks  201 


besser  vollbringen  zu  können.  Das  Werkzeug,  das  den  Arbeiter 
bei  seiner  Arbeit  nur  unterstützt,  ist  das  dem  organischen  Ver¬ 
fahren  entsprechende  Arbeitsmittel. 

Es  bedarf  nun  wohl  kaum  einer  besonderen  Begründung, 
weshalb  die  empirisch-organische  Technik  und  die  handwerks¬ 
mäßige  Organisation  der  Wirtschaft  (ebenso  natürlich  wie  die 
Formen  der  Individualbetriebe)  ihrem  Wesen  nach  zusammen¬ 
gehören:  der  Handwerker  will  ja  gerade  sich  als  ganze,  lebendige 
Persönlichkeit  in  seinem  Wirken  betätigen,  will  Werk  schaffen 
mit  seines  Kopfes  und  seiner  Hände  Arbeit,  will  seine  Wesenheit 
einem  Teil  der  äußeren  Natur,  die  er  formen  soll,  mitteilen: 
was  Wunder,  daß  ihm  eine  Technik  gemäß  ist,  die  alles  Wirken 
um  die  lebendige  Persönlichkeit  eines  Arbeiters  gruppiert:  bei 
der  der  Landmann  hinter  dem  Pfluge  herschreitet,  der  Schuster 
unter  der  Wasserkugel  mit  Pfriemen  und  Draht  Sohlen  annäht, 
der  Kärrner  mit  dem  Spitz  im  W agenkorbe  sitzt  und  der  Kahn¬ 
führer  seinem  Fahrzeug  eigenhändig  stromabwärts  die  Richtung 
gibt,  stromaufwärts  selbst  die  Bewegung  mitteilt. 

Wie  aber  soll  in  jenem  seiner  innersten  Natur  erfahrungsmäßig¬ 
traditionell  veranlagten  Wesen,  als  welches  wir  den  Handwerker 
kennen  lernten ,  technisches  Können  anders  Wurzel  schlafen 
als  durch  die  persönliche  Unterweisung,  die  er  vom  Meister 
empfängt?  Wie  soll  er  seine  Kunst  anders  handhaben  können 
als  wie  er  es  geleimt  hat,  wie  es  seine  Vorfahren  ihm  über¬ 
liefert  haben:  er,  dem  ein  wissenschaftliches  Erfassen  des  Arbeits¬ 
prozesses  bei  der  Vielseitigkeit  seiner  Talente  und  seiner  Tätigkeit 
naturgemäß  völlig  fern  liegen  muß? 

Wie  innerlich  handwerksmäßiges  Wesen  und  empirisch¬ 
organische  Technik  miteinander  verwachsen  sind,  sehen  wir  an 
einer  ganzen  Reihe  echter  Züge  handwerksmäßiger  Organisation, 
die  immittelbar  in  der  Anwendung  jener  Technik  ihren  Grund 
haben. 

So  wurzelt  die  eigentümliche  hierarchische  Gliederung  allen 
Handwerks:  die  „Meister“-  und  „Lehrlings “schaff  letzten  Endes 
in  der  Eigenart,  der  empirischen  Technik.  Das  technische 
Können  haftet  bei  ihr  an  einer  bestimmten  Person:  dem  „Meister“. 
Mit  ihm  lebt  es ,  mit  ihm  stirbt  es.  Und  darum  bedarf  es  der 
persönlichen  Unterweisung  eines  „Lehrlings“  durch  den  Meister, 
damit  die  Kunst  erhalten  bleibe  und  sich  fortpflanze.  Solange 
alle  Wirtschaft  im  Hause  eingeschlossen  ist,  sorgt  die  Familien¬ 
tradition,  sorgt  das  natürliche  Eltern-Kinder- Verhältnis  dafür,  daß 


202  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

die  Vorräte  an  technischem  Wissen  und  Können  mit  dem  Tode 
der  einen  Generation  nicht  verloren  gehen,  sondern  auf  die 
nächste  Generation  übertragen  werden.  »Fällt  diese  natur¬ 
wüchsige  Art  der  Übermittlung  fort,  so  müssen  künstliche  Vor¬ 
richtungen  getroffen  werden,  die  die  Stetigkeit  des  Besitzes 
an  Technik  den  kommenden  Geschlechtern  verbürgen.  Diesem 
Zwecke  dienen  die  korporativen  Verbände  (Zünfte,  Gilden),  die 
wir  bei  allem  Handwerk  wiederfinden. 

Aus  der  Eigenart  des  organischen  Verfahrens  erklärt  sich 
ferner  im  Handwerk  die  Bildung  der  Berufssphären:  sie  erfolgt 
in  wirklich  „organischer“  Entwicklung,  das  heißt  im  Anschluß 
und  unter  ausschließlicher  Berücksichtigung  des  persönlichen 
Vermögens  der  Produzenten;  das  heißt  also  ohne  jede  Rück¬ 
sichtnahme  auf  die  objektiven  Anforderungen  des  Produktions¬ 
prozesses. 

Aber  auch  der  Berufsstolz,  die  besondere,  handwerksmäßige 
„Berufsehre“  ist  ohne  empirisches  Verfahren  nicht  denkbar.  Es 
bedurfte  der  durch  die  Jahrhunderte  überlieferten,  rein  persön¬ 
lichen  Kunstfertigkeit,  um  deren  Träger  das  Gefühl  einer  be¬ 
stimmten  Berufszugehörigkeit  als  besonderen  Reiz  empfinden  zu 
lassen.  Der  Bergmann,  der  Steinmetz,  der  Schwertschmied 
waren  jeweils  die  Verweser  ihrer  speziellen  Kunst,  deren  gemein¬ 
samer  durch  persönliche  Vermittlung  erworbener  Besitz  sie 
selbstverständlich  gegen  alle  Uneingeweihten  abschließen  mußte. 
Daß  eine  Düngerfabrik,  eine  Anstalt  zur  Herstellung  des  besten 
Haarwassers  oder  der  haltbarsten  Pneumatik  ähnliche  Seelen¬ 
stimmungen  weder  im  Unternehmer  noch  im  Arbeiter  zu  er¬ 
zeugen  vermögen,  ist  handgreiflich. 

Aus  der  Natur  des  empirischen  Verfahrens  lassen  sich  aber 
auch  alle  Erscheinungen  mühelos  ableiten,  in  denen  eine  scheue 
Ehrfurcht  vor  den  „Mysterien“  einer  gewerblichen  Kunst  oder 
das  Bestreben  ihrer  Jünger  zutage  tritt,  selbst  ihr  Können  mit 
einem  geheimnisvollen  Schleier  zu  umgeben  und  vor  Profanierung 
zu  schützen. 

Es  mag  daran  erinnert  werden,  wie  diese  Auffassung  der  ge- 
werblichen  Tätigkeit  als  etwas  Übernatürliches  weil  Unerklär¬ 
liches  uns  zurückführt  zu  den  Sagen  von  der  göttlichen  Herkunft 
der  Künste  und  Fertigkeiten,  die  allen  europäischen  Völkern 
gemeinsam  sind.  In  den  Airfängen  der  Kultur  ist  es  vor 
allem  die  Eisenbereitung  und  Eisenverarbeitung ,  die  man  mit 
mystischen  Vorstellungen  umspann.  „Wie  das  Staunen  der  Mensch- 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbedingnngen  des  Handwerks  203 


heit  über  die  wunderbare  Kunst,  welche  es  versteht,  das  harte 
Metall  im  Feuer  zu  schmelzen  und  kostbare  Dinge  aus  ihm  zu 
schmieden,  dazu  geführt  hat,  die  Erfindung  derselben  über¬ 
irdischen  Wesen  zuzuschreiben,  so  kann  man  sich  auch'  die 
Ausübung  derselben  durch  irdische  Geschöpfe  nicht  ohne  die 
Zuhilfenahme  geheimnisvoller  und  zauberhafter  Mittel  vorstellen. 
Diese  Anschauung  gilt .  .  .  durch  ganz  Europa1.“ 

Aber  gerade  auch  in  der  Periode  handwerksmäßiger  Pro¬ 
duktion  begegnet  uns  jene  Auffassung  auf  Schritt  und  Tritt. 
Die  Geheimniskrämerei  in  so  vielen  Handwerken,  namentlich  in 
den  ,Baugewerben ,  namentlich  während  des  Mittelalters  hängt 
aufs  engste  damit  zusammen.  „Die  Baukunst“  wurde  geheim 
gehalten  und  daher  in  eine  symbolische  Sprache  und  in  sym¬ 
bolische  Formen  gehüllt.  Jede  Mitteilung  an  Fremde  war  ver¬ 
boten.  Ebenso  die  schriftliche  Abfassung  der  Geheimlehre2.“ 
Hierher  gehört  auch  die  Sitte  des  Verbleibungseides,  die  uns  so 
häufig  im  Handwerk  begegnet. 

In  quantitativer  Hinsicht  muß  die  Technik  ebenfalls  be¬ 
stimmte  Anforderungen  erfüllen,  damit  Handwerk  möglich  sei. 

Die  Produktivität  der  landwirtschaftlichen  Arbeit  muß  infolge 
einer  entsprechend  entwickelten  Technik  einen  solchen  Grad 
erreicht  haben,  daß  einer  genug  für  zwei  Nahrungsmittel  und 
Rohstoffe  zu  erzeugen  vermag.  Erst  dann  offenbar  kann  die 
Verarbeitung  und  Bearbeitung  jener  zu  gewerblichen  Erzeug¬ 
nissen  so  sehr  verfeinert  werden,  daß  nun  eine  Person  sich 
ausschließlich  dieser  Tätigkeit  widmet,  erst  dann  also  ist  eine  be¬ 
rufliche  Verselbständigung  gewerblicher,  kommerzieller,  transport- 
licher  Tätigkeit  möglich,  auf  der  ja  alle  handwerksmäßige  Organi¬ 
sation  fußt. 

Ist  somit  ein  Mindestmaß  für  die  Entwicklung  der  landwirt¬ 
schaftlichen  Technik  als  selbstverständliche  Vorbedingung  übrigens 
jeder  berufsmäßig  ausgeübten  gewerblichen  Tätigkeit  anzunehmen, 
so  ist  umgekehrt  das  Wohlergehen  des  Handwerks,  wie  dann 
zu  zeigen  sein  wird,  geknüpft  an  ein  Maximum  von  Produktivität 
der  gewerblichen  und  transportierenden  Arbeit,  hat  also  zur 
Voraussetzung  einen  entsprechend  niedrigen  Stand  der  gewerb¬ 
lichen  sowie  der  Transporttechnik. 

1  0.  Schräder,  Sprachvergleichung  und  Urgeschichte.  2.  AuÜ. 
1890.  S.  236  ff. 

2  Vgl.  Heideloff,  Die  Bauhütte  des  M.-A.  (1844),  S.  16—18, 
und  dazu  v.  Maurer  2,  483. 


204  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Durch  den  Produktivitätsgrad  der  Technik  werden  nämlich 
im  Verein  mit  den  eigentümlichen  populationistischen  Verhält¬ 
nissen,  die  ohen  Seite  199  als  dem  Handwerk  angemessene  be¬ 
zeichnet  wurden,  die  Absatzverhältnisse  wesentlich  bestimmt. 
Diese  aber  dürfen  als  die  entscheidende  Bedingung  jedes  Wirt¬ 
schaftssystems  angesprochen  werden.  Es  gilt  also  zu  untersuchen, 
welcher  Art  die  Absatzverhältnisse  sein  müssen,  damit  Handwerk 
möglich  sei,  wie  sie  beschaffen  sein  müssen,  damit  Handwerk 
blühe,  welches  also  ihre  für  die  handwerksmäßige  Organisation 
optimale  Gestaltung  sei. 

HI.  Die  Gestaltung  der  Absatzverhältnisse1 

Unter  Absatzverhältnissen  im  weiteren  Sinne  verstehe  ich  ein 
Zweifaches : 

1.  die  Bedingungen,  unter  denen  sich  der  Produzent  in  den 
Besitz  der  nötigen  Produktionsmittel  setzt; 

2.  die  Bedingungen,  unter  denen  er  seine  Produkte  ver¬ 
äußert. 

Wir  können  im  ersten  Palle  von  Bezugs  Verhältnissen ,  im 
anderen  von  Absatzverhältnissen  im  engeren  Sinne  oder  Ver¬ 
wertungsverhältnissen  sprechen. 

1.  Die  Bezugs  Verhältnisse,  damit  sie  einer  handwerks¬ 
mäßigen  Organisation  angepaßt  seien,  müssen  am  liebsten  so 
übersichtlich  und  einfach  gestaltet  sein,  daß  sie  ein  Durch¬ 
schnittshandwerker  mit  seinem  Durchschnittsverstande  ohne  be¬ 
sondere  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  neben  seiner  Tätigkeit 
als  gewerblicher  Arbeiter  gleichsam  im  Nebenamte  zu  über¬ 
schauen  und  zu  beherrschen  vermag.  Das  trifft  überall  dort 
zu,  wo  Rohstoff  oder  Halbfabrikat  in  herkömmlicher  Weise  vom 
Nachbar-Bauern  aus  der  Umgegend  oder  vom  Nachbar-Hand¬ 
werker  aus  der  Nebenstraße  bezogen  werden,  wie  es  in  primi¬ 
tiven  Wirtschaftszuständen  häufig  der  Fall  ist:  Holz,  Häute, 
Hörner,  Getreide,  Melil,  Leder,  Flachs,  Wolle,  Farbstoffe,  ge¬ 
wöhnliche  Felle  stammen  in  den  Anfängen  der  Tauschwirtschaft 
meist  aus  der  nächsten  Umgebung  der  Stadt  oder  aus  dieser 

1  Ich  habe  in  diesem  Abschnitt  hier  und  da  einige  Hinweise  auf 
die  tatsächliche  Herstellung  der  Absatzverhältnisse  während  des  euro¬ 
päischen  Mittelalters  gegeben,  um  zu  zeigen,  daß  sie  während  dieser 
Zeit  der  handwerksmäßigen  Organisation  des  Wirtschaftslebens  in  der 
Tat  günstig  waren.  Im  allgemeinen  ist  aber  auch  hier  der  „theore¬ 
tische“  Charakter  der  Darstellung  gewahrt, 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbedingungeu  des  Handwerks  205 

selbst.  Unter  Voraussetzung  der  noch  zu  erörternden  Stabilität 
und  geringen  Expansionsfähigkeit  der  *  gewerblichen  Produktion 
des  alten  Handwerks  muß  es  unter  solchen  Umständen  für  den 
Handwerker  ein  leichtes  sein,  sich  ohne  viel  Umschweife  die 
nötigen  Materiahen  für  seine  Produktion  zu  verschaffen. 

Oder,  wo  die  Kreise  schon  anfangen  weiter  gezogen  zu  werden, 
von  einem  größeren  Gebiete  die  Erzeugnisse  bedurft  werden, 
zum  Beispiel  die  "Wolle  aus  einer  ganzen  Landschaft,  und  Roh¬ 
stoffe  in  größeren  Mengen  eingekauft  werden,  da  kann  doch  immer 
noch  die  Vertreterschaft  der  Zunft  oder  können  angestellte  Auf¬ 
käufer  genügen,  so  lange  es  sich  um  regelmäßig  wiederkehrende, 
jederzeit  überblickbare,  ungestörte  Vorgänge  handelt.  Wenn 
nur  dafür  gesorgt  wird,  daß  nicht  etwa  die  erforderlichen  Roh¬ 
stoffe  aus  dem  „natürlichen“  Bezugsgebiete  weggeführt  werden. 
Es  ist  schon  eine  bedenkliche  Erschütterung  der  Grundlagen,  auf 
denen  das  Handwerk  ruht,  wenn  jene  Selbstverständlichkeit  der 
Rohstoffbeschaffung  in  Frage  gestellt  wird. 

Aber  man  darf  nicht  etwa  wähnen,  das  Handwerk  sei  not¬ 
wendig  und  immer  auf  eine  Verarbeitung  der  Rohstoffe  aus 
nächster  Umgebung  angewiesen.  Es  genügt  eine  oberflächliche 
Überlegung,  um  einzusehen,  daß  auch  nur  ein  mäßig  entwickeltes 
Gewerbewesen  der  Erzeugnisse  spezialisierter  Fund-  und  Pro¬ 
duktionsstätten  als  Materialien  nicht  entraten  kann:  Eisen  und 
Bronze,  Edelmetalle,  kostbare  Pelze,  wertvolle  Bausteine  und 
Edelsteine,  einzelne  Färbemittel  wie  Alaun  haben  von  jeher  aus 
weiterer  Umgebung  herbeigeholt  werden  müssen.  Und  jahr¬ 
hundertelang  hat  sich  eine  echt  handwerksmäßige  Produktion 
damit  recht  gut  abgefunden. 

Die  Voraussetzung  aber  ist  auch  hier,  daß  die  B ezugs Ver¬ 
hältnisse  sichere,  stabile  seien  und  jedes  spekulativen 
Momentes  entbehren.  Mag  nun  der  Handwerker  oder  seine 
Zunftvertreter  selbst  die  weite  Reise  unternehmen 1  oder  mag  er 
des  Händlers  harren,  der  ihm  die  nötigen  Materialien  in  her¬ 
kömmlicher  Weise  zu  bringen  pflegt. 

Auch  vor  dem  Händler  braucht  der  Handwerker  sich  nicht  zu 
fürchten,  solange  dieser  selbst  in  das  feste  Gefüge  des  gleichsam 
stereotypierten  Wirtschaftslebens  eingegliedert  ist,  das  heißt 

1  Dem  ersten  Straßburger  Stadtreckte  zufolge  gehen  die  Kürschner 
selbst  nach  Frankfurt  zum  Einkauf  des  Rohmaterials.  Vgl.  auch 
v.  Below,  Großhändler  und  Kleinhändler  im  deutschen  Mittelalter 
in  den  Jahrbüchern  für  N.Ö.,  III.  F.,  Bd.  20,  S.  48. 


206  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

gleiche  Waren  zu  gleichen  Bedingungen  in  regelmäßigen  Be¬ 
ziehungen  als  ein  Handwerker  des  Warenabsatzes  liefert1. 

Was  aber  dem  Handwerker  bei  der  Gestaltung  der  Bezugs¬ 
verhältnisse  auch  zugute  kommt,  außer  gleichsam  ihrer  Struktur, 
ist  ein  niedriger  Preis  der  Rohstoffe  und  Halbfabrikate. 
Denn  ein  solcher  weitet  den  Kreis  derjenigen  Personen  aus,  die 
imstande  sind,  mit  eigenem  Vermögen  zu  produzieren,  sich  also 
selbständig  zu  erhalten.  Nun  ist  aber  der  Preis  der  Rohstoffe 
im  Verhältnis  zu  dem  Wertbetrage,  den  die  Arbeit  des  Hand¬ 
werkers  den  Materialien  durch  ihre  Verarbeitung  zusetzt,  dann 
niedrig,  wenn  Nahebezug  stattfindet,  also  nur  Produktionsauf- 
wand  und  nicht  auch  Transportkosten  vergütet  zu  werden  brauchen 
und  (bzw.  oder)  der  die  Preise  der  Agrarprodukte  so  mächtig 
in  die  Höhe  treibende  Anteil  der  Grundrente  sich  noch  nicht 
bemerkbar  macht. 

2.  Welcher  Art  aber  müssen  die  Absatz  Verhältnisse  im 
engern  Sinne,  das  heißt  muß  die  Art  und  Weise  sein,  wie  die 
Produkte  an  den  Mann  gebracht  werden,  um  den  Anforderungen 
des  Handwerks  zu  entsprechen?  Auch  auf  diese  Frage  lautet 
die  Antwort  zunächst  wieder  ganz  allgemein :  der  Absatz 
muß  gesichert  und  stabil  nach  Qualität  und  Quantität,  mit 
andern  Worten:  er  darf  noch  kein  Problem  geworden  sein. 
Mag  er  dann  vom  Handwerker  selbst  als  Nebenftuiktion,  mag 
er  von  einer  berufsmäßigen  Händlerklasse  ausgeübt  werden :  das 
bleibt  sich  gleich.  Auch  in  diesem  Falle  können  alle  Bedingungen 
erfüllt  sein,  die  eine  handwerksmäßige  Organisation  der  Pro¬ 
duktion  möglich  oder  sogar  vielleicht  notwendig  machen. 

Worauf  es  nur  ankommt  ist  dieses,  daß  der  Produzent  keiner 
anderen  Qualitäten  benötigt  als  der  eines  technischen  Arbeiters. 
Das  trifft  aber  dann  zu,  wenn  der  gewerbliche  Arbeiter  bei 
ruhiger  Fortsetzung  seines  Werkes  niemals  Gefahr  läuft,  sein 
Produkt  überhaupt  nicht  oder  zu  nicht  lohnenden  Preisen  ver¬ 
werten  zu  können. 

Wann  aber  ist  dies  der  Fall,  wann  ist  der  Absatz  solcherart 
gesichert  und  stabil? 

Die  herrschende  Theorie  antwortet  darauf:  wenn  und  solange 

1  Ein  besonders  lehrreiches  Beispiel  für  die  Regelung  der  Bezugs¬ 
verhältnisse  für  Importrohstoffe  zugunsten  des  Handwerks  bietet  die 
Baumwolle ,  die  von  der  Baseler  Shirtingweberei  verbraucht  wurde, 
bei  Traug.  Geering,  Basels  Industrie  (1879),  S.  306  f.  Vgl.  auch 
noch  Br.  Hildebrand  in  seinen  Jahrbüchern  6,  129  f. 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbeclingungen  des  Handwerks  207 

das  Verhältnis  zwischen  Produzent  nnd  Konsument  das  Kunden- 
Verhältnis  ist,  das  heißt  der  Absatz '  ohne  Zwischenglieder 
oder  sogar  nur  an  bekannte  Personen  auf  Bestellung  erfolgt. 
Unzweifelhaft  ist  nun  das  Moment  eines  regelmäßigen  Verkehrs 
zwischen  Produzenten  und  einem  geschlossenen  Kreise  von  be¬ 
stellenden  Konsumenten  ein  sehr  wesentliches  für  die  Sicherung 
und  Stabilisierung  der  Absatzverhältnisse  und  ganz  gewiß  wird 
ein  großer  Teil  aller  handwerksmäßigen  Produktion  durch  dieses 
Kundenverhältnis  gekennzeichnet.  Aber  ebenso  unzweifelhaft, 
darauf  wurde  schon  hingewiesen ,  deckt  sich  handwerksmäßige 
Produktion  und  Kundenproduktion  keineswegs.  Die  Kunden¬ 
produktion  schafft  keineswegs  immer  derartige  Absatzverhältnisse, 
daß  sie  die  Existenz  handwerksmäßigen  Produzenten  ermöglichen. 
Das  Schneiderhandwerk  beispielsweise  ist  zugrunde  gegangen, 
trotzdem  in  weitem  Umfange  an  dem  Kundenverhältnis  der 
Konsumenten  nichts  verändert  ist.  Zu  den  frühesten  kapitalistisch 
betriebenen  G-ewerben  gehört  die  Kundenschneiderei,  die  als 
Handwerk  in  London  schon  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  er¬ 
schüttert  ist  h  Und  die  Fälle  sind  gar  nicht  so  selten,  in  denen 
die  handwerksmäßige  Organisation  eines  Gewerbes  dort  zuerst 
zerstört  wird,  wo  es  sich  nicht  etwa  um  Export  nach  außen, 
sondern  um  den  Absatz  am  selben  Orte,  also  im  Rahmen  einer 
mehr  oder  weniger  abgeschlossenen  Kundschaft  handelt.  Um¬ 
gekehrt  gibt  es  genug  Fälle,  in  denen  eine  zweifellos  handwerks¬ 
mäßige  Organisation  der  Produktion  bei  ganz  und  gar  nicht 
kundenmäßigem  Abnehmerkreise,  sondern  trotz  Export  und  trotz 
Zwischenhandel  vortrefflich  gedeiht. 

Sicher  und  stabil  ist  der  Absatz  vielmehr  überall 
dort,  aber  auch  nur  dort,  wo  zwischen  Angebot  und 
Nachfrage  ein  stetes  Gleichgewicht  oder  ein  Mi߬ 
verhältnis  derart  besteht,  daß  die  Nachfrage  dem 
Angebot  vorauseilt;  wo  aber  für  den  einzelnen  Pro¬ 
duzenten  Produktions-  und  Absatzbedingungen  an¬ 
nähernd  natürlich  gleiche  sind. 

Daß  nun  diese  Kennzeichen  sicheren  und  stabilen  Absatzes 
nicht  nur  bei  dem  reinen  Kundenverhäitnis  sich  finden,  dürfte  bei 
genauer  Prüfung  außer  Zweifel  sein.  Auch  der  marktbesuchende 
oder  hausierende  Handwerker  ist  in  gleicher  Lage  wie  der  an 
Kunden  auf  Bestellung  liefernde,  wenn  er  bestimmt  darauf  rechnen 


1  Vgl.  S.  und  B.  Webb,  History  of  Trade  Unionism  (1894),  25  f. 


208  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

kann,  daß  kein  anderer  seinen  Platz  am  Markte  einnelnnen  wird, 
ehe  er  eintrifft  und  kein  anderer  die-  Straße  gezogen  sein  wird, 
ehe  er  mit  seinem  Pack  oder  seinem  Karren  des  "Weges  daher 
kommt.  Und  nicht  minder  der  an  den  Händler  verkaufende  Hand¬ 
werker,  vor  dessen  Tür  zu  den  nämlichen  Zeiten  der  nämliche 
Kaufmann  erscheint,  um  ihm  die  nämliche  Menge  Erzeugnisse  zu 
den  nämlichen  Preisen  wie  bisher  abzunehmen.  Also  müssen 
die  Gründe ,  die  den  Absatz  sicher  und  stabil  gestalten ,  tiefer 
gesucht  werden.  Und  da  ergeben  sich  etwa  folgende: 

1.  Gründe  auf  der  Seite  der  Nachfrage 

Die  Nachfrage  muß  qualitativ  lind  quantitativ  stabil  und  sicher 
sein,  das  heißt  es  muß  stets  eine  Menge  gleichartiger  Dinge  nach- 
gefragt  werden. 

Nun  wird  die  Nachfrage  qualitativ  um  so  unwandelbarer 
sein,  je  weniger  die  Kategorien  von  Personen  sich  verändern,  die 
als  Käufer  auftreten,  und  je  weniger  der  Geschmack  dieser  Per¬ 
sonen  "Wandlungen  unterworfen  ist.  Je  weniger  die  Schichtung 
der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  sich  ändert,  das  heißt  je  stabiler 
die  Struktur  der  Gesellschaft  ist,  desto  mehr  werden  die  Käufer¬ 
arten  immer  dieselben  bleiben.  Jahrhundertelange  Gliederung 
eines  Volkes  in  die  althergebrachten  „Stände“  der  Geistlichkeit, 
Ritterschaft,  Bauern  und  Bürger  bedeutet  also  stereotype  Nach¬ 
frage,  die  qualitativ  um  so  stabiler  ist,  je  weniger  sich  innerhalb 
dieser  Gruppen  die  Sitten  und  Gebräuche  ändern,  in  moderner 
Terminologie:  je  seltener  die  Mode  wechselt.  Eine  Bauern¬ 
schaft,  die  in  mehreren  Jahrhunderten  eine  einheitliche  Tracht 
entwickelt  und  bewahrt,  und  eine  moderne  Großstadtbevölkerung, 
die  in  zehn  Jahren  zehn  Kleidermoden  und  fünf  Möbelstilarten  zu 
Tode  hetzt,  sind  etwa  die  Extreme  in  dieser  Hinsicht. 

Die  wesentlichste  Garantie  einer  qualitativ  stabilen  Nachfrage 
bietet  aber  die  schwere  Wandelbarkeit  der  Produktionsprozesse, 
wie  sie  dem  empirischen  Verfahren  entspricht.  Bei  diesem  bleibt 
die  Mehrung  des  technischen  Wissens  und  Könnens  (und  damit 
die  Möglichkeit  einer  Veränderung)  entweder  ganz  und  gar  dem 
Zufall  überlassen,  so  daß  gar  kein  Wille  der  Änderung  oder  des 
Bessermachens,  sondern  nur  der  "Wille  des  Wiederebensomachens 
vorhanden  ist,  und  lediglich  das  als  Neuerung  hinzutritt,  was 
zufällig  im  Laufe  der  Tätigkeit  gleichsam  von  außen  herein  dem 
Arbeiter  als  neue  Erfahrung  in  den  Schoß  fällt.  Oder  aber  wo 
überhaupt  nach  Verbesserung  gestrebt  wird,  da  ist  es  ein  un- 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbedingungen  des  Handwerks  209 


geschicktes  Herumtasten  und  Herumprobieren  im  Dunkeln  ohne 
klares  Bewußtsein  einer  bestimmt  zu  lösenden  Aufgabe. 

Quantitativ  stabil  und  sicher  wird  die  Nachfrage  aber  dann 
sein,  wenn  die  Menge  der  erzeugten  Waren  nicht  in  einem 
rascheren  Verhältnisse  wächst  als  die  Kaufkraft  der  Käufer. 

2.  Gründe  auf  der  Seite  des  Angebots 

Was  von  der  Seite  des  Angebots  her  die  ruhige  Behaglich¬ 
keit  eines  wie  selbstverständlich  gesicherten  Absatzes  stört,  ist 
die  Gefahr,  vom  Nachbar  an  Güte  der  Erzeugnisse  oder  Billig¬ 
keit  der  Preise  unterboten  zu  werden.  Was  also  den  Absatz 
sichert,  ist  der  Wegfall  der  Unterbietungsmöglichkeit,  wenigstens 
als  einer  regelmäßigen  Erscheinung  des  Wirtschaftslebens,  mit 
der  man  rechnen  muß.  Denn  daß  gelegentliches  Zuvorkommen 
niemals  ganz  ausgeschlossen  ist,  bedarf  keiner  weiteren  Be¬ 
gründung.  Was  wir  nun  mit  einem  modernen  Schlagwort  auch 
so  ausdrücken  können:  wenn  Handwerk  soll  bestehen 
können,  darf  keine  Konkurrenz  möglich  sein. 

Wann  aber  ist  Konkurrenz  der  Produzenten  untereinander 
nicht  oder  nur  schwach  vorhanden? 

Zunächst  offenbar  dann,  wenn  im  ganzen,  im  Verhältnis  zur 
Nachfrage  wenig  produziert  wird.  Denn  dann  wird  das 
Konkurrieren  Sache  des  Konsumenten;  die  Produzenten  können 
sich  abwartend  verhalten,  wie  es  jedem  echten  Handwerker  zu 
allen  Zeiten  als  die  natürliche  Ordnung  der  Dinge  erschienen 
ist1.  Es  wird  aber  das  Ausmaß  der  Produktion  stets  von  zwei 
Faktoren  bestimmt  werden:  der  Menge  von  Arbeitskräften  und 
der  Höhe  ihrer  Produktivität. 

Je  weniger  Produzenten,  desto  geringer  die  Gefahr  einer 
„Überproduktion“,  also  einer  Erschwerung  des  Absatzes.  Wenig 
Produzenten  aber  werden  da  sein,  wenn  die  Bevölkerung 
langsam  wächst,  wenn  der  Nachwuchs  unter  großen  Schwierig¬ 
keiten  herangebildet  wird  (empirisches  Verfahren!),  wenig  Pro¬ 
duzenten  auf  nicht  landwirtschaftlichen  Gebieten  wird  es  aber 


1  Im  Jahre  1646  beschweren  sich  die  Baseler  Passementer  über 
die,  denen  der  Rat  für  zwei  Jahre ‘den  Aufenthalt  in  Mönchenstein 
vergönnte,  daß  sie  sich  „aller  Ordnung  zuwider“  betrügen:  sie  „durch¬ 
jagen  alle  Orte  und  Dörfer  mit  Arbeit“.  Geering,  S.  600.  Es  wird 
ganz  richtig  noch  heute  geradezu  als  eine  „Maxime  des  Handwerks“ 
bezeichnet,  daß  der  Kunde  den  Produzenten  aufsuchen  müsse  (U.  VI. 
662). 

Sombart,  De»  moderne  Kapitalismus.  X.  14 


210  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

insonderheit  geben,  wenn  die  agrarische  Üb erschußbevöl kcrong 
gering  ist. 

Ist  aber  die  Ziffer  der  Produzenten  festgegeben,  so  wird 
offenbar  ihr  Gesamtangebot  abhängig  sein  von  dem  Ausmaß  ihrer 
Produktivität.  Je  unentwickelter  diese,  desto  geringer  die  Gefahr 
einer  Absatzschwierigkeit. 

Aber  alles,  was  bisher  an  Gründen  beigebracht  wurde,  die 
auf  der  Seite  des  Angebots  dem  Handwerk  die  Existenz  möglich 
machen,  galt  doch  nur  für  die  durch  die  Gesamtproduktion  be¬ 
stimmte  Gestaltung  der  Absatzverhältnisse.  Bleibt  zu  prüfen,  welche 
Umstände  es  sind ,  die  auch  den  einzelnen  Teilnehmern  an  der 
Gesamtproduktion,  den  einzelnen  Handwerkern  jedem  für  sich, 
ein  verhältnismäßig  sicheres  Dasein  gewährleisten,  das  heißt  also 
auch  unter  den  Angehörigen  des  gleichen  Gewerbes 
Konkurrenz  ausschließen. 

"Was  das  Wesen  der  Konkurrenz  der  Warenverkäufer  unter¬ 
einander  ausmacht,  ist  die  Fähigkeit  des  einzelnen  Produzenten, 
die  Ware  besser  oder  billiger  als  sein  Nachbar  auf  den  Markt 
bringen  zu  können,  ist  mit  einem  Worte  jene  schon  erwähnte 
Unterbietungsmöglichkeit.  Wo  diese  fehlt,  fehlt  die  Konkurrenz1. 
Sie  ist  aber  stets  nur  im  beschränkten  Umfange  vorhanden 
dort,  wo 

1.  das  empirische  Verfahren  herrscht.  Deshalb,  weil 
dieses  die  Verbilligung  oder  Verbesserung  jedenfalls  nur  in  einem 
langen  Umbildungsprozesse  möglich  macht.  Wir  wissen ,  wie 
sehr  die  raschen  Fortschritte  der  Technik  dem  Wesen  der  Em¬ 
pirie  fremd  sind.  Wir  wissen,  daß  es  nur  gleichsam  Glücksfälle 
sind,  die  ein  althergebrachtes  Verfahren  durch  ein  zweckmäßigeres 
ablösen.  Wir  wissen  aber  auch,  daß  alles,  empirische  Können 
an  der  Person  haftet  und  nur  durch  diese,  mit  dieser  übertragen 
werden  kann.  Selbst  einmal  angenommen  also ,  daß  irgendein 
Handwerker  eine  wesentliche  Verbesserung  in  Anwendung  brächte, 
wodurch  ein  Erzeugnis  schöner  oder  billiger  geliefert  werden 
könnte,  so  würde  zunächst  dieses  Verfahren  in  die  Sphäre  seiner 
persönlichen  Wirksamkeit  gebannt  sein.  Es  ist  gleichsam.’-  ein 
natürliches  Patent,  das  der  Erfinder  ausnützt.  Und  nur  in  dem 
Maße,  wie  er  sein  höheres*  Können  durch  persönliche  TJnter- 


1  Man  kann  diese  Konkurrenz  als  qualitative  bezeichnen  und  sie 
der  quantitativen  gegenüberstellen,  die  durch  die  bloße  Tatsache  der 
Übersetzung  eines  Gewerbes  hervorgerufen  wird. 


Dreizehntes  Kapitel:  Die  Daseinsbedingungen  des  Handwerks  211 

Weisung  überträgt,  verallgemeinert  es  sich.  Zunächst  bleibt  es 
nur  Alleinbesitz  und  wirkt  auf  die  Gestaltung  der  Absatz¬ 
verhältnisse  nur  in  dem  bescheidenen  Rahmen,  in  dem  sich  die 
Arbeitsleistung  seines  Inhabers  bewegt.  AVas  uns  heute  ein 
Ahn-recht  künstlerischer  Gestaltung  erscheint:  die  Bannung  des 
Ausmaßes  der  Produktion  an  die  AVirkungsspliäre  einer  Persönlich¬ 
keit  ,  das  müssen  wir  uns  für  die  Zeit  der  rein  empirischen 
Technik  verallgemeinert  denken  für  die  meisten  Verbesserungen 
des  Verfahrens,  durch  die  eine  Steigerung  der  qualitativen  Reize 
oder  eine  Verringerung  der  Produktionskosten  eines  Erzeugnisses 
herbeigeführt  werden  konnten. 

2.  Diese  in  der  Natur  des  empirischen  Verfahrens  begründete 
Verlangsamung  des  technischen  Fortschritts  und  die  daraus  fol¬ 
gende  Behinderung  erfolgreichen  AVettbewerbs  auf  dem  AVaren- 
markte  wird  nun  aber  in  ihrer  AVirkung  erst  recht  empfunden 
dort,  wo  die  Mittel  fehlen,  die  recht  eigentlich  erst  Verbesserungen 
der  Verfahrungsweisen  zu  bewirken  beziehungsweise  in  die  Praxis 
einzuführen  imstande  sind.  Dieses  sind,  wie  noch  des  näheren 
zu  zeigen  sein  wird,  die  Nutzbarmachung  größerer  und  mächtigerer 
Naturgewalten ,  vor  allem  aber,  wie  wir  schon  wissen,  die  Zu¬ 
sammenfassung  zahlreicher  Arbeitskräfte  zu  einem  gesellschaft¬ 
lichen  (Groß-)Betriebe.  Ist  jene  abhängig  von  den  Fortschritten 
des  technischen  AVissens,  so  diese  von  zwei  sozialen  Be¬ 
dingungen:  erstens  dem  Vorhandensein  arbeitswilliger  Menschen¬ 
massen,  und  zweitens  der  Anhäufung  von  AVerten,  die  zum  einst¬ 
weiligen  Unterhalt  der  im  großen  tätigen  Arbeitskräfte  sowie  zur 
Beschaffung  der  für  ihre  Beschäftigung  erforderlichen  Produktions¬ 
mittel  dienen  können,  vulgo  einer  entsprechenden  „Kapitalaccu- 
mulation“. 

AVo  eine  dieser  Bedingungen  oder  gar  beide  unerfüllt  sind, 
da  ist  es  beim  besten  AVillen  unmöglich,  auch  wenn  ein  Pro¬ 
duzent  im  Besitze  eines  vollkommeneren  Verfahrens  wäre,  den 
Nachbar  durch  eine  erfolgreiche  Konkurrenz  aus  dem  Felde  zu 
schlagen.  Aber  damit  greift  unsere  Untersuchung  schon  auf  ein 
Gebiet  hinüber,  das  erst  später  betreten  werden  soll.  AVas  in 
den  letzten  Sätzen  zum  Ausdruck  kam,  war  der  im  Grunde  selbst¬ 
verständliche  Gedanke,  daß  Handwerk  zur  Voraussetzung 
seines  Gedeihens  die  Nichterfüllung  derjenigen  Be- 
dino-uno-en  hat,  an  die  die  Existenz  des  Kapitalis- 
mus  geknüpft  ist.  AVelches  diese  sind,  soll  aber  erst  genauer 
festgestellt  werden. 


11* 


212  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

• 

Nur  dem  Gedanken  möchte  ich  hier  noch  Ausdruck  gehen, 
daß,  auch  von  allen  bisher  angeführten  Momenten  abgesehen, 
immer  noch  ein  Umstand  bestehen  bleibt,  der  bei  dem  von  uns 
angenommenen  Stande  der  Technik  eine  Konkurreuz  im  mo¬ 
dernen  Sinne,  wenigstens  zwischen  Produzenten  an  verschiedenen 
Orten,  so  gut  wie  ausschließen  würde :  ich  meine  die  Schwierig¬ 
keit,  die  mit  einem  bevorzugten  Verfahren  oder  unter  sonstwie 
günstigeren  Bedingungen  hergestellten  Erzeugnisse  über  ein 
größeres  Gebiet  zu  versenden.  Denn  an  der  Unvollkommenheit 
der  Technik  einer  Zeit  nimmt  ja  nicht  zum  wenigsten  die  Trans¬ 
porttechnik  teil. 


213 


Vierzehntes  Kapitel 

Die  Gestaltung  des  Güterbedarfs 

Vorbemerkung.  Quellen  und  Literatur 

(zu  Kap.  14  bis  16) 

Was  wir  in  den  voraufgehenden  Kapiteln  betrachtet  haben,  waren 
Ideale.  Es  gilt  nunmehr  die  Untersuchung:  wie  sich  denn  in  Wirk¬ 
lichkeit  das  wirtschaftliche  Leben  einer  mittelalter¬ 
lichen  Stadt  gestaltet  habe;  das  heißt  —  genau  gesprochen  — 
die  Beantwortung  der  Fragen:  ob  und  wenn  ja:  in  welchem  Umfange, 
in  welcher  Abweichung  vom  Ideal  in  den  Städten  Handwerk  verbreitet 
gewesen  sei.  Womit  dann  gleichzeitig  die  Frage  nach  dem  Maße 
beantwortet  werden  wird,  in  dem  die  objektiven  Daseinsbedingungen 
des  Handwerks  im  Mittelalter  erfüllt  waren. 

So  reich  unsere  Kenntnis  von  der  Gewerbeordnung  des  Mittelalters 
ist,  so  wenig  wissen  wir  von  dem  Gewerbe  selber.  Die  meisten  Quellen 
sagen  immer  nur  wieder  aus,  wie  es  hätte  sein  sollen,  und  ihre  Be¬ 
arbeiter  haben  sich  fast  durchweg  damit  begnügt,  uns  diesen  Zustand, 
den  man  herbeiführen  wollte,  in  systematischer  Schilderung  vor  die 
Augen  zu  bringen. 

Wir  besitzen  nur  ganz,  ganz  wenig  Darstellungen  des  Wirtschafts¬ 
lebens  selber,  und  soweit  ich  die  bisher  veröffentlichten  Quellen¬ 
materialien  zu  überschauen  vermag,  wird  es  auch  schwer  sein,  wenigstens 
über  das  gewerbliche  Leben  im  engeren  Sinne  mehr  Licht  zu  vei  ■ 
breiten.  Viel  besser  steht  es  um  die  Geschichte  des  Handels.  Die 
könnte  wenigstens  geschrieben  werden,  denn  für  sie  liegen  doch 
eine  größere  Menge  Documents  humains  sowie  mehr  statistisches 
Material  vor.  (In  letzter  Zeit  fängt  sie  auch  an,  geschrieben  zu 

werden.)  .  , 

Für  die  Kekonstruktion  des  gewerblichen  Lebens  dagegen  sind  wir 
auf  die  nur  wenig  ergiebigen  Bürgerverzeichnisse  und  Steuerrollen  als 
Hauptquelle  angewiesen  und  müssen  versuchen,  die  Zunftstatuten  und 
andere  Rechtsquellen  so  gut  es  geht  für  eine  indirekte  Beweisführung 
zu  nützen.  Daneben  kommen  gelegentliche  Schilderungen  und  nament¬ 
lich  auch  bildliche  Darstellungen  in  Betracht. 

Jedenfalls  sollte  alles  Augenmerk  der  Geschichtsschreiber  des 
Mittelalters  auf  Vermehrung  des  Quellenmaterials  für  eine  Gewerbe¬ 
geschichte  gerichtet  sein.  Zunftgeschichte  haben  wir  nun  nachgerade 

SeilDie  folgende  Darstellung  soll  wiederum  nicht  mehr  sein  als  ein 
Programm.  _ 


214  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Wir  werden  gut  tun,  um  uns  ein  möglichst  deutliches  Bild 
von  dem  wirklichen  Wirtschaftsleben  einer  mittelalterlichen  Stadt 
zu  machen,  dieses  nacheinander  vom  Standpunkt  des  Kon¬ 
sumenten  und  dann  von  dem  des  Produzenten  zu  betrachten. 
Ich  beginne  mit  der  Feststellung  des  Güterbedarfs. 

Welcher  Art,  welchen  Umfangs  war  der  Bedarf,  den  es  in 
der  Stadt  zu  befriedigen  galt?  Darauf  wird  zunächst  zu  ant¬ 
worten  sein :  er  hielt  sich  dem  Umfange  nach  stets  in  verhältnis¬ 
mäßig  (d.  h.  für  unsere  Begriffe)  engen  Grenzen.  Als  Kon¬ 
sumenten  gewerblicher  Erzeugnisse  (und  auf  diese  wollen  wir 
vor  allem  unsere  Aufmerksamkeit  lenken)  kamen  in  Betracht: 

^1.  die  Bewohner  der  Stadt  selbst.; 

2.  die  Umwohner  als  Besucher  namentlich  der  Wochenmärkte ; 

>,3.  die  Fremden,  die  die  Jahrmärkte  besuchten. 

Die  Bewohner  der  Stadt  selbst  haben  während  des  Mittel¬ 
alters  nie  eine  große  Menge  dargestellt,  denn  die  Einwohnerzahl 
der  Städte  hat  sich  stets,  wie  wir  jetzt  mit  Sicherheit  aussagen 
können,  während  des  ganzen  Mittelalters  in  engen  Grenzen  ge¬ 
halten.  Die  regelmäßigen  Besuche  dei\(Wochen-)Märkte  aus  der 
näheren  Umgegend  konnten  ebenfalls  nicht  sehr  zahlreich  sein: 
1.  weil  die  Länder  sehr  dünn  besiedelt  waren;  2.  weil  es  ver¬ 
hältnismäßig  viel  über  das  ganze  Land  zerstreute  „Städte“  gab; 
3.  weil  die  bäuerliche  Eigenwirtschaft  jedenfalls  noch  eine  große 
Ausdehnung  hatte. 

Über  die  Bevölkerungsdichte  und  Bevölkerungs - 
agglomeration  während  des  Mittelalters  unterrichten  folgende 
Ziffern. 

England  hat  nach  der  Berechnung  des  sehr  gewissenhaften 
Th.  ßogers  bis  ins  16.  Jahrhundert  vom  14.  an  etwa  2V2  Million 
Einwohner  gehabt1,  nach  der  Schätzung  P.  Fabres  zu  Zeiten 
Heinrichs  H.  2  880  000 2. 

In  Frankreich  sollen  im  14.  Jahrhundert  40  Menschen  auf 
dem  Quadratkilometer  gewohnt  haben,  dann  sinkt  die  Bevölke¬ 
rungsziffer  und  erreicht  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  erst 
wieder  den  Stand,  den  sie  200  Jahre  früher  inne  hatte3. 

1  Th.  Rogers,  Six  Centuries  of  Work  and  Wages.  Deutsche 
Übersetzung  1896,  S.  87  ff.  Grundlage:  Weizenproduktion. 

2  P.  Fahre,  Eine  Nachricht  usw.  in  der  Zeitschrift  für  Soz.  u. 
Wirtsch.Gesch.  1,  149  ff.  Grundlage:  eine  Abrechnung  über  den 
Peterspfennig. 

3  E,  Levasseur,  Popul.  franp.  1,  166  ff.  288  (Übersicht). 


Vierzehntes  Kapitel:  Die  Gestaltung  des  Güterbedarfs 


215 


Die  größte  Stadt  des  europäischen  Mittelalters  (also  von 
Byzanz  abgesehen)  wird  wohl  Paris  gewesen  sein.  Ich  glaube 
aber  nicht,  daß  es  im  18.  Jahrhundert  schon,  wie  man  meistens 
meint,  die  Ziffer  von  100  000  Einwohner  erreicht  hat,  denn  die 
Berechnung  Gerauds  auf  Grund  des  Registre  de  la  Taille,  der 
anf  mehr  als  200  000  kommt ,  halte  ich  nicht  für  einwandsfrei  h 

London  hatte  1377  35000  Einwohner1 2. 

Städte  mit  annähernd  gleicher  oder  etwas  größerer  Einwohner¬ 
zahl  (40 — 50  000)  waren  wohl  im  14.  Jahrhundert  außerdem  nur 
in  Italien  und  Flandern-Brabant  zu  finden:  Mailand,  Venedig, 
Genua,  Bologna,  Florenz,  Neapel,  Palermo,  Ypern,  Brügge, 
Gent 3.  In  Deutschland  wird  keine  Stadt  an  diese  Ziffern  heran¬ 
gereicht  haben;.  Lübeck  hatte  in  jener  Zeit  zwischen  17  und 
24000  Einwohner4,  Hamburg  (1419)  22  000;  Augsburg  (1475!) 
18300,  Nürnberg  (1449)  20—25  000,  Straßburg  (1473—77)  20  bis 
30000,  Ulm  (1427)  ca.  20000,  Breslau  (1415)  21 866 5.  Die  über. 
wieo-ende  Mehrzahl  aber  der  mittelalterlichen  Städte  werden 


1  Die  Anhaltspunkte  sind:  ca.  15  200  im  Reg-  de  la  Taille  (1292) 

namhaft  gemachte  Steuerzahler  und  349  ha  61  a  bebaute  Fläche 
(Collect,  des  doc.  inedits  etc.  Ser.  I.  8  [1837],  p.  179.  471).  Ich 
glaube,  daß  danach  eine  Bevölkerung  von  60—70  000  Köpfen  das 
Maximum  darstellt.  Der  von  den^Mauern  umschlossene  Raum  ist  etwas 
größer  als  die  Gesamtfläche  der  Festung  Metz  (1902/03  =  317,33  La). 
Metz  hatte  1910  68  598  Einwohner.  Vgl.  noch:  Paris  et  ses  historiens 
au  13.  et  14.  sc.  (1867),  nam.  p.  485  seq.  . 

2  Nach  den  Berechnungen  To phams  in  der  Archaeologia  (Bd.  7), 
deren  Methode  sich  Rogers,  a.  a.  O.  S.  85,  zu  eigen  macht.  Grund¬ 
lage:  Steuerlisten,  die  jede  über  14  Jahre  alte  Laien-Person  nennen. 

&3J.  Beloch,  Die  Entwicklung  der  Großstädte  in  Europa  in 
Comptes  rendus  et  Memoires  du  VIII.  Congres  international  d  Hygiene 
et  de  Demographie  (1894),  7,  58.  Ypern  sollte  nach  einer  „glaub¬ 
würdigen“  Urkunde  im  13.  Jahrhundert  200  000  (!)  Einwohner  haben. 
A.  Van  d  e  np  e  e  r  e  b  o  o  m  ,  Ypriana  4  (1880),  24.  Urk.  von  1257 
reduziert  die  Ziffer  auf  40  000.  Pirenne,  Gesch.  Belgiens  1,  311. 

4  Wilh.  Reisner,  Die  Einwohnerzahl  deutscher  Städte  in 
früheren  Jahrh.  m.  bes.  Berücksichtigung  Lübecks  (1903),  68.  78. 

5  Siehe  die  Zusammenstellung  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen¬ 
schaften  („Bevölkerungswesen“),  wo  für  jede  Ziffer  die  Quelle  genannt 
ist,  der  sie  entstammt.  Über  die  Ermittlungsmethoden  handelt  am 
ausführlichsten  J.  Jastrow,  Die  Volkszahl  deutscher  Städte  zu  Ende 
des  Mittelalters.  1886.  Vgl.  jetzt  G.  Schm  oll  er,  Die  Bevölkerungs¬ 
bewegung  der  deutschen  Städte  von  ihrem  Ursprung  bis  ins  19.  Jahr¬ 
hundert  ln  der  Festschrift  Otto  Gierke  zum  70.  Geburtstag  dar¬ 
gebracht  (1911),  167  ff. 


216  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

kleine  Mittelstädte  von  weniger  als  10000  Einwohnern  gebildet 
haben:  zählten  doch  immerhin  wichtige  Handelsstädte  wie  Frank¬ 
furt  a.  M.  und  Rostock  nicht  mehr:  jenes  (1440)  etwa  9000. 
dieses  (1387)  10  785.  Dresden  hatte  um  jene  Zeit  3—5000,  Frei¬ 
berg  i.  S.  5000,  Leipzig  4000  Einwohner  usw. 

In  England  gab  es  im  14.  Jahrhundert  außer  London  nur 
zwei  Städte  mit  mehr  als  bzw.  annähernd  10  000  Einwohnern : 
York  mit  ]  1  000,  Bristol  mit  9500  h  Der  Durchschnitt  selbst  der 
größeren  Städte  lag  unter  5000 2. 

Auf  den  Jahrmärkten,  zumal  auf  den  berühmten  Messen,  wird 
eine  erkleckliche  Menge  von  Käufern  zusammengekommen  sein; 
wieviel,  entzieht  sich  natürlich  jeder  Mutmaßung.  Es  bleibt  aber 
zu  bedenken,  daß  (wie  ich  noch  zeigen  werde)  die  Zahl  der 
Verkäufer  ebenfalls  sehr  beträchtlich  war  und  daß  diese  aus 
zahlreichen  Städten  stammten.  Also  entfiel  auf  die  Produzenten 
einer  Stadt  immer  nur  ein  bescheidener  Teil  jener  Gesamt¬ 
menge  aller  Besucher. 

Die  gewiß  auch  mit  Einschluß  der  Meßkundschaft  geringe 
Anzahl  von  Konsumenten,  für  die  das  städtische  Gewerbe  über¬ 
haupt  produzieren  konnte,  wird  nun  aber  noch  beträchtlich  ver¬ 
ringert  durch  den  Umstand,  daß  der  bei  weitem  größte  Teil  als 
Käufer  gewerblicher  Erzeugnisse  so  gut  wie  gar  nicht  in  Be¬ 
tracht  kam.  Gründe: 

Die  besonders  auf  dem  Lande  nach  wie  vor  stark  entwickelte 
Eigenproduktion ; 

der  geringe  Reichtumsgrad; 

die  ungleiche  Vermögensverteilung. 

Für  die  erste  Behauptung  läßt  sich  ziffernmäßig  kein  Beweis 
.führen.  Zur  Beurteilung  des  Reichtumsgrades  besitzen  wir 
wertvolles  Zahlenmaterial,  ebenso  für  die  Vermögens  Verteilung. 

Wenn  Rogers  die  (Boden-)Produktivität  im  Mittelalter  für 
England  auf  ein  Viertel  der  heutigen  bemißt3,  so  besagt  das 
noch  nicht  sehr  viel.  Mehr  Licht  dagegen  verbreiten  die  Ver¬ 
mögens-  und  Einkommensstatistiken,  die  wir  wenigstens  für 
manche  Städte  des  Mittelalters  besitzen ,  wenn  wir  sie  etwa  in 
Vergleich  stellen  mit  den  Preisen  für  gewerbliche  Erzeugnisse. 


1  Siehe  die  Anm.  2  auf  S.  215. 

3  Vgl.  Ch.  Gross,  Gild  merchant  1  (1890),  73  Anm.  4,  wo  auch 
noch  mehr  einschlägige  Literatur  verzeichnet  ist. 

8  Rogers,  A  Hist,  of  agriculture  and  prices.  1,  55. 


Vierzehntes  Kapitel:  Die  Gestaltung  des  Güterbedarfs 


217 


Nach  den  Ermittlungen  Eulenburgs1  betrugen  in  der 
Rheinpfalz  (im  14.  Jahrhundert)  die  Vermögen 

bis  zu  20  Gulden  (je  7  Mk.  heutiger  Währung)  29,5% 
bis  zu  60  „  „  „  „  „  61  °/o 

bis  zu  300  „  „  „  „  „  „  93  °/o 

aller  Vermögen,  so  daß  nur  7  °/o  der  Bevölkerung  mehr  als 
300  Gulden  (also  2100  Mk.  heutiger  Währung)  im  Vermögen 
besaßen.  Ganz  ähnliche  Ergebnisse  liefern  die  Untersuchungen 
über  Meißen,  Dresden,  Mülhausen  i.  Th. 2  u.  a.  0. 

In  Paris  hatten  (1292)  von  1324  Handwerkern  weniger  als 
250  Franken  heutiger  Währung  821 ,  das  sind  62,2  % ,  weniger 
als  1000  Franken  1196,  das  sind  90,6%  der  Gesamtzahl.  (Nach 
Berechnungen  Martin  St.  Leons.)  N 

In  Basel3  haben  (1429)  von  969  Handwerkern 
488  (=  50  %)  weniger  als  50  fl. 

904  (=91%)  „  „  300  fl. 

im  Vermögen. 

Dem  ist  gegenüber  zu  halten,  daß  die  Preise  der  gewerb¬ 
lichen  Erzeugnisse  im  Mittelalter  keineswegs  niedriger,  sondern 
eher  höher  als  heute  waren,  wie  jeder  Vergleich  der  Ziffern  — 
soweit  sie  überhaupt  vergleichbar  sind  —  ergibt. 

Wenn  wir  trotzdem  die  „Kaufkraft“  des  Geldes  gegenüber  den 
gewerblichen  Erzeugnissen  im  Mittelalter  mit  der  heutigen  gleich¬ 
setzen  wollen :  was  bedeuten  dann  Einkommen  wie  sie  den  oben 
genannten  Vermögen  entsprechen?  Noch  dazu  bei  stärker  ent¬ 
wickelter  hausgewerblicher  Eigenproduktion.  Und  solcher  Käufer 
gab  es  im  Mittelalter  1,  wo  es  jetzt  10  oder  100  gibt. 

Als  Konsumenten  gewerblicher  Erzeugnisse  städtischer  Pro¬ 
duzenten  kommen  also  außer  etwa  den  Stadtverwaltungen  ernst¬ 
lich  nur  die  wenigen  Angehörigen  der  obersten  Keiclitums- 
schichten  in  Betracht.  Im  wesentlichen  wieder  die  Grundherren, 
denen  sich  im  Laufe  des  Mittelalters  eine  Handvoll  wohlhabender 
Geldmänner  (Lombarden  in  Paris!)  anschließt4.  Vom  Gesamt- 

1  F.  Eulenburg,  Zur  Bevölkerung^-  und  Vermögensstatistik  des 
15.  Jahrhunderts  in  der  Zeitschrift  für  Soz.  u.  Wirtsch.Gesch.  3,  450. 

2  Arno  Vetter,  Bevölkerungsverh.  der  ehemals  freien  Reichsst. 
Mühlhausen  i.  Th.  im  15.  u.  16.  Jahrh.  (1910),  63  ff. 

8  G.  Schönberg,  Finanzverhältnisse  der  Stadt  Basel  im  14.  und 
15.  Jahrhundert  (1879),  180/81. 

4  Vgl.  die  hübsche  Darstellung  bei  P.  du  Maroussem,  La 
question  ouvriere  2  (1892),  29  ff.,  wo  die  Kundschaft  eines  Pariser 
Möbeltischlers  im  13.  Jahrhundert  analysiert  wird. 


218  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

reichtum  des  Landes  entfiel  auf  sie  als  Gruppe  schon  der 
Löwenanteil:  in  der  Rheinpfalz  hatten  nach  den  schon  zitierten 
Berechnungen  Eulenburgs  (S.  450)  die  3  %  „reichen“  Leute 
(über  600  fl.)  fast  ein  Drittel  des  Besitzes  und  des  Stadtwohl¬ 
standes  in  ihren  Händen:  42  von  ihnen  besitzen  55292  fl.,  435 
der  armen  in  der  letzten  Vermögensklasse  zusammen  nur  8554. 
So  daß  also  (was  das  wichtige  ist)  auf  den  einzelnen  Haushalt 
ein  beträchtliches  Einkommen  (Vermögen)  entfiel. 

Aus  dem  Eegistre  de  la  Taille  rechne  ich  heraus,  daß  161  Per¬ 
sonen  mehr  als  10  1.  Steuern  bezahlten:  zusammen  3134  1.  oder 
27°/o  des  überhaupt  aufkomm  enden  Steuerbetrages  (12243  livres 
et  8  sous),  während  ihr  Anteil  an  der  Zahl  der  Steuerpflichtigen 
nur  wenig  über  1  °/o  betrug.  Der  durchschnittliche  Steuerbetrag, 
den  jeder  dieser  „oberen  161“  zahlte,  betrug  20  1.  oder  in  heutiger 
Reichswährung  rund  550  Mk.  Da  die  Steuer  le  cinquantieme 
des  Einkommens  erhob,  so  hätten  diese  161  ein  Einkommen  von 
durchschnittlich  27  500  Mk.  versteuert :  da  fiel  schon  eher  etwas 
für  Handwerkserzeugnisse  ab.  Frei  von  der  taille  aber  waren 
—  Adel  und  Geistlichkeit! 

Was  wir  also  von  der  Höhe  und  von  der  Verteilung  des  Ein¬ 
kommens  im  Mittelalter  wissen,  nötigt  uns  zu  dem  Schlüsse: 
daß  das  Handwerk  (vielleicht  —  aber  auch  nur  zum  Teil  —  ab¬ 
gesehen  von  den  Nahrungsmittelgewerben)  überwiegend  für  eine 
kleine  Minderheit  wohlhabender  Leute  gearbeitet  hat.  Das 
würde  zweifellos  auch  eine  Untersuchung  bestätigen,  die  sich 
zur  Aufgabe  setzte,  aus  der  Natur  des  Handwerks  die  Art  von 
Kundschaft  abzuleiten,  für  die  das  Handwerk  produzierte:  ich 
glaube,  man  würde  feststellen  können,  daß  die  überwiegende 
Mehrzahl  aller  Metallindustrien,  die  meisten  Bekleidungsgewerbe 
(alle,  die  irgendwie  bessere  Stoffe  herstellten  und  verarbeiteten), 
fast  das  ganze  Baugewerbe,  von  der  eigentlichen  Luxusindustrie 
ganz  zu  schweigen,  nur  an  die  Reichen  absetzten,  womit  ich 
natürlich  auch  den  ganzen  Klerus  meine,  ebenso  wie  die  niedere 
Ritterschaft  usw.  Daß  daneben  das  „Volk“  auch  Abnehmer  ge¬ 
werblicher  Erzeugnisse  war,  leugne  ich  natürlich  nicht.  Ich 
meine  nur:  sein  Bedarf  gab  dem  Gesamtbedarf  nicht  die  cha¬ 
rakteristische  Note  (wie  zum  Teil  heute)1. 

1  In  England  hören  wir  gelegentlich  von  Lieferungen  größerer 
Mengen  von  Kleidungsstücke  an  die  Armen:  Salz  mann,  1.  c.  p.  137 
(1000  Ellen  Stoff:  13.  Jahrh.);  p.  183  (150  Paar  Schuhe).  Aber  das 
waren  wohl  seltene  Ausnahmen. 


Vierzehntes  Kapitel:  Die  G-estaltung  des  Güterbedarfs  219 

Fragen  wir,  welcher  Art  der  Bedarf  des  Mittelalters  an 
gewerblichen  Erzeugnissen  war,  so  können  wir  einige  Züge,  die 
ihn  kennzeichnen,  wie  mir  scheint,  mit  ziemlicher  Sicherheit 
feststellen. 

Er  war  zunächst  doch  wohl  mannigfaltiger  als  man  öfters 
angenommen  hat.  Wenigstens  in  den  größeren  Städten  Frank¬ 
reichs  und  Italiens,  gar  etwa  in  Paris,  begegnen  wir  einem  Reich¬ 
tum  an  gewerblichen  Gegenständen,  der  uns  in  Erstaunen  setzt. 
Welche  Fülle  von  Bedarfsartikeln  (von  denen  offenbar  ein  großer 
Teil  schon  handwerksmäßig  hergestellt  wurde)  zählt  Meister 
Johannes  de  Garlandia  in  seinem  Dictionarins 1  auf,  der  in  der 
ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  schrieb. 

Sodann  dürfen  wir  annehmen,  daß  der  Sinn  der  Zeit  zwar 
auf  das  Glänzende,  Prunkende,  aber  doch  auch  auf  das  Dauer¬ 
hafte,  Kostbare,  Solide  gerichtet  war.  Die  Empfänglichkeit  für 
die  bloße  Show,  für  Talmi,  für  Kitch,  für  Schund,  kurz  für 
alles,  was  man  heute  unter  der  Bezeichnung  „hochmodern“  zu¬ 
sammenfaßt,  besaß  wohl  das  Mittelalter  nicht.  Ich  will  nicht 
entscheiden,  weshalb  es  sie  nicht  besaß:  vielleicht,  weil  es  noch 
keine  moderne  Industrie  gab,  deren  Lebensnerv  die  Erzeugung 
des  Schundes  bildet;  vielleicht,  weil  die  Masse  überhaupt  noch 
nicht  als  Konsumentin  auftrat.  Genug,  daß  der  Geschmack  der 
Zeit  in  diesem  Punkte  ein  wesensanderer  war  als  heute. 

Endlich  war  der  Bedarf  ein  verhältnismäßig  stabiler.  Jenen 
Zeiten  fehlte  noch  fast  gänzlich  dasjenige,  was  wir  heute  mit 
dem  Worte  „Modewechsel“  zu  bezeichnen  gewohnt  sind.  „Der 
Sinn  des  Mittelalters  war  an  sich  auf  das  Hergebrachte,  Über- 

1  Zuerst  publiziert  von  Geraud  in  Ser.  I  Bd.  8  der  Coli,  des 
doc.  in.  (1837),  dann  von  Scheller.  Leipzig  1867.  Es  wäre  eine 
außerordentlich  dankbare  Aufgabe  für  einen  Wirtschaftshistoriker  (mit 
etwas  Geist),  das  Dict.  des  Garlande  einmal  unter  modernen  Gesichts¬ 
punkten  zu  bearbeiten.  Es  enthält  eine  Fülle  von  Material  und  ver¬ 
spricht  reichlich  so  viel  Einsicht  in  mittelalterliches  Gewerbewesen 
als  zehn  der  besten  Zunftstatuten.  —  Eine  andere  ungefähr  derselben 
Zeit  angehörende  wertvolle  Quelle,  aus  der  wir  über  die  Menge  und 
Art  der  zum  Verkauf  ausgebotenen  Waren  interessante  Angaben  ent¬ 
nehmen  können,  sind  einige  der  Fabliaux  des  13.  Jahrhunderts;  nament¬ 
lich  Le  Dit  des  Marcheanz ,  der  in  dem  zweiten  Bande  des  von 
Montaiglon-Raynaud  herausgegebenen  Becueil  des  Fabliaux 
(1872  — 1890)  abgedruckt  ist.  Eine  Inhaltsangabe  findet  man  bei 
Ferd.  Herrmann,  Schilderung  und  Beurteilung  der  gesellschaftlichen 
Verhältnisse  Frankreichs  in  der  Fabliaux-Dichtung  des  12.  u.  13.  Jahr¬ 
hunderts  (1900),  S.  36  f. 


220  Vierter  Abschnitt :  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

lieferte  gerichtet.  Ein  rascher  "Wechsel  der  Mode  ist  in  Deutsch¬ 
land  vor  Mitte  des  14.  Jahrhundert  nicht  zu  beobachten  und  hat 
auch  von  da  an  mehr  den  Schnitt  der  Kleider  als  die  Arten  der 
Gewebe  ergriffen.  Man  glaubte  im  Mittelalter  unbeschränkt  an 
ein  schlechthin  Seinsollendes  auf  allen  Gebieten,  auch  auf  dem 
Gebiete  der  wirtschaftlichen  Bedürfnisse  und  der  Technik1.“ 

Denjenigen,  die  das  leugnen  und  dem  Mittelalter  ebensoviel 
Modewechsel  zusprechen  wollen ,  wie  unserer  Zeit ,  ist  in  Er¬ 
innerung  zu  bringen,  daß  es  sich  bei  dem  Wechsel  der  Ge¬ 
brauchs  sitten  im  Mittelalter  um  unvergleichlich  viel  längere 
Perioden  handelte.  Ich  verweise  den  Leser  einstweilen  auf  meine 
Erörterung  dieses  Problems  im  zweiten  Buche  dieses  Werkes. 

Alles  in  allem :  die  Kundschaft  für  gewerbliche  Produkte  war 
im  Mittelalter  so  geartet,  wie  sie  ein  Handwerker  sich  nicht 
besser  wünschen  konnte.  Die  Bedingungen  handwerksmäßiger 
Produktion  waren,  soweit  die  Gestaltung  der  Absatzverhältnisse 
in  Betracht  kamen,  in  optimalem  Sinne  erfüllt. 

Aber  wir  wollen  nun  zusehen:  in  welcher  Art  und  Weise  der 
Bedarf  an  gewerblichen  Erzeugnissen  im  Mittelalter  gedeckt 
wurde. 

1  G.  Schm  oller,  Die  Straßburger  Tücher-  und  Weberzunft 
(1879),  S.  20. 


221 


Fünfzehntes  Kapitel 

Die  Art  der  Bedarfsdeckung 

I.  Die  letzten  Konsumenten 

Wie  deckte  die  städtische  Bevölkerung  ihren  Bedarf  an  ge¬ 
werblichen  Erzeugnissen?  (das  heißt  also  beinahe:  ihren  Bedarf 
an  wirtschaftlichen  Gütern  überhaupt ,  da  bis  auf  Kleinigkeiten 
von  Nahrungsmitteln  [Eier,  Milch,  Gemüse,  Obst]  aller  Bedarf 
des  Menschen  ein  Bedarf  an  schon  verarbeiteten  „veredelten“ 
Rohstoffen,  also  an  gewerblichen  Produkten,  ist.  Auch  die 
wichtigsten  Nahrungsmittel,  die  wir  genießen,  haben  schon  eine 
Reihe  von  Veredelungsprozessen  hinter  sich:  Brot,  Fleisch,  Salz, 
Getränke  usw.). 

Nun:  zum  großen  Teil  nach  wie  vor  durch  Produktion  in 
der  eigenen  Wirtschaft.  Hier  gewann  man  selbst  noch 
manche  Rohstoffe:  das  Getreide,  solange  noch  Landwirtschaft  von 
den  Städtern  betrieben  wurde ;  obwohl  das  wohl  in  den  größeren 
Städten  während  des  Hochmittelalters  die  Ausnahme  bildete1. 
Aber  sicher  noch  in  weitem  Umfange  einen  Teil  des  Yiehs :  die 
Schweine,  ja  am  Ende  sogar  das  Rindvieh 2 ;  Geflügel  usw. ;  dann 
in  den  Gärten,  die  fast  jedes  größere  Haus  hatte,  Gemüse,  Obst, 
und  wo  die  Lage  es  gestattete,  den  Wein. 

Wir  wollen  uns  auch  erinnern,  daß  eine  besonders  wichtige 
Gruppe  der  Städtebewohner  die  reichen  Grundherrn  weltlicher 
oder  geistlicher  Natur  waren.  Und  diese  haben  offenbar  ihre  Eigen- 
Wirtschaft  eine  lange  Weile  noch  in  den  Städten  fortgesetzt. 

1  Siehe,  was  oben  Seite  136  f.  über  den  starken  agrarischen  Ein¬ 
schlag  bemerkt  wurde ,  den  selbst  die  größeren  Städte  bis  tief  ins 
Mittelalter  hinein  hatten. 

2  Wenn  das  Augsburger  Stadtrecht  von  1276  das  Hausschlachten 
für  Schweine  ausdrücklich  gestattet ,  für  Rindvieh  aber  verbietet ,  so 
kann  es  sich  dabei  wohl  nur  um  selbst  gezogenes  Vieh  handeln. 
Denn  kein  vernünftiger  Mensch  wird  daran  gedacht  haben,  sich  einen 
Ochsen  auf  dem  Markte  zu  kaufen  und  ihn  bei  sich  zu  Hause  zu 
schlachten ! 


222  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 
Sie  gewannen  also  einen  großen  Teil  der  Bohstoffe,  insonderheit 

o  ^  # 

der  Nahrungsmittel  in  der  eigenen  Wirtschaft  (auf  ihren  Gütern 
fern  von  der  Stadt)  und  ließen  sie  auch  noch  zum  Teil  in  ihrer 
Stadtwirtschaft  verarbeiten,  wie  gleich  zu  zeigen  sein  wird.  So 
verzehrt  der  Herzog  von  Berry  oder  das  Kapitel  von  Notre  Dame 
in  Paris  noch  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  das  Getreide  der 
eigenen  Güter1. 

Einen  sehr  erheblichen  Teil  der  Bohstoffe  oder  Halbfabrikate 
mußte  man  aber  natürlich  kaufen:  das  Getreide  oder  das  Mehl, 
das  Malz,  den  zubereiteten  Flachs,  Stoffe,  Leder  usw.  Dann 
nämlich  —  und  dieser  Fall  soll  hier  zunächst  behandelt  werden  — 
wenn  im  wesentlichen  Umfange  die  gewerbliche  Produktion  noch 
im  eigenen  Hause  stattfand. 

Daß  in  allen  Städten,  auch  den  größten,  während  des  ganzen 
Mittelalters  die  hausgewerbliche  Tätigkeit  eine  große  Bolle 
gespielt  hat,  dürfte  außer  allem  Zweifel  sein. 

Zu  Hause  wurde  selbstverständlichgekocht2 3 * * * *,  aber  auch  gebacken8, 

1  „De  Guillaume  de  S.  Germain,  receveur  de  Berry,  qu’il  a  livre 
pour  la  depense  de  l’ostel  de  mond.  seigneur  du  froment  des  molins 
dud.  seigneur  ä  Raoulet  de  Ruelle,  boulengier  k  Meun  sur  Yevre  qui 
en  a  cuit  et  livre  le  pain  pour  lad.  despense  faicte  ä  Meun  sur  Yevre 
ou  mois  d’aoust  [mil]  CCCLXXI.“  „Pro  blado  quod  capitulum  ipsum 
d.  bolengario  suo  de  quoquendo  ministrat.“  Bei  G.  Fagniez, 
Etudes  sur  l’industrie  et  la  classe  industrielle  ä  Paris  au  XIII.  et 
au  XIV.  siede  (1877),  p.  166.  F.s  Buch  ist  eine  der  besten  Arbeiten 
zur  Gewerbegeschichte  im  Mittelalter. 

2  In  den  großen  (südlichen !)  Städten  gab  es  aber  auch  schon 
öffentliche  Garküchen  nach  Art  der  heutigen  Bosticcerie  in  Italien. 
So  finden  wir  in  Paris  im  13.  Jahrhundert  die  Zunft  der  „oyers 
hasteurs“  (=  rötisseurs  d’oie),  denen  Et.  Boileau  vorschreibt,  daß 
sie  nur  gutes  Fleisch  kochen  oder  rösten  sollen. 

3  In  deutschen  Städten:  Zeugnisse  bei  Inama  III.  2,  105; 
Eulenburg  in  der  Zeitschr.  f.  Gesch.  d.  Oberrheins  11,  130.  Aber 
selbst  in  Paris  muß  man  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  noch  zu  Hause 
gebacken  haben.  Ich  schließe  das  aus  der  Tatsache,  daß  die  Müller  einen 
doppelten  Tarif  haben:  sie  erhalten  von  den  Bäckern  1  boisseau  für 
je  2  setier,  von  der  übrigen  Kundschaft  für  je  1  setier;  das  sind 
aber  die  ‘borgois’.  Livre  des  metiers,  p.  16.  —  Es  scheint  jedoch, 

als  ob  die  Backöfen,  deren  jedes  bessere  Haus  in  Paris  und  anderen 
französischen  Städten  einen  hatte  („.  .  .  les  menus  menagiers  de  lad. 
ville  [Melun] ,  qui  ne  sont  pas  aisi6s  de  cuire  en  leurs  hostelz  .  .  .“ 

Ord.  des  rois  de  Fr.  4,  593),  für  gewöhnlich  nur  zum  Backen  kleiner 

Backwaren  (nicht  des  Brotes)  bestimmt  gewesen  seien  und  nur  zu 

bestimmten  Zeiten  (z.  B.  in  Teuerungsjahren!)  zum  Brotbacken  Ver¬ 

wendung  fanden.  Die  Großwirtschaften  der  reichen  Herren  sowie  der 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  223 

wurden  AVein  und  Bier  bereitet* 1,  wurde  geschlachtet2,  selbst¬ 
verständlich  auch  geräuchert,  eingepökelt  usw.  Zu  Hause 
wurden  Lichte  gezogen3.  Zu  Hause  wurde  gesponnen4,  teil¬ 
weise  auch  gewebt5;  wurde  geschneidert6  und  geschustert7.  Zu 
vielen  dieser  Verrichtungen  zog  man  einen  gelernten  Handwerker 
hinzu,  den  wir  im  Deutschen  einen  Störer  nennen,  (der  Hand¬ 
werker  im  Hause  arbeitet  „auf  der  Stör“):  einen  Bäcker,  einen 
Schuster ,  einen  Schneider ,  einen  Metzger ,  einen  Tuchscherer, 


geistlichen  Anstalten  buken  dagegen  wohl  der  Regel  nach  noch  im 
14.  Jahrhundert,  selbst  in  einer  Großstadt  wie  Paris,  noch  in  eigenen 
Backöfen.  Siehe  G.  Fagniez,  Etudes,  p.  166  ff*. ,  und  die  oben 
S.  222  Anm.  1  zitierten  Quellenstellen.  Für  die  Eigenbäckerei  der 
Grundherren  in  den  Städten  des  13.  und  zum  Teil  noch  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  spricht  auch  die  Banalität  zahlreicher  Backöfen  daselbst. 

1  Sitte  des  Reihebrau ens !  Inama,  a.  a.  0.  S.  105  (Regensburg' 
1230).  Aber  es  gab  in  den  größeren  Städten  auch  schon  AVein-  und 
Bierwirte,  die  selbstverfertigte  oder  gekaufte  Getränke  darboten:  im 
Paris  des  13.  Jahrhunderts  finden  wir  56  „bufetiers  vinetiers“  und 
37  „cervoisiers“. 

2  Siehe  oben  die  Anm.  2  auf  S.  221. 

3  In  Paris  wird  das  Lichteziehen  im  Hause  ausdrücklich  gestattet 
unter  der  Bedingung,  daß  ein  Meister  Chandelier  dabei  mitwirkt.  Die 
Hausfrau  wird  sich  natürlich  über  das  hohe  Entgelt  geärgert  haben, 
das  sie  dem  Meister  (der  gewiß  gänzlich  überflüssig  war)  spendete 
und  wird  sich  irgendeinen  angehenden  Lichtemacher  als  Hilfe  gesucht 
haben.  Da  kam  aber  das  Zunftverbot:  kein  Lehrling  oder  Geselle 
(valet)  darf  in  einem  Privathause  beim  Lichtemachen  mithelfen,  der 
nicht  eine  sechsjährige  Lehrzeit  hinter  sich  hat.  Livre  des  metiers 
tit.  LXIV. 

4  Schm  oll  er,  T.  u.  AVeb.Z.,  S.  412;  Inama,  S.  125.  Livre 
des  met.  tit.  LVII. 

5  Selbst  noch  in  Paris  ums  Jahr  1400.  Oder  ist  die  Poncete,  die 
Frau  des  Cardinot  Auvry,  die  uns  als  „ligniere“  bezeichnet  wird,  und 
von  der  wir  erfahren ,  daß  sie  bald  in  diesem  Hause ,  bald  in  jenem 
arbeitete  (eile  alait  aucune  fois  ouvrer  par  cy  et  par  lä),  keine  Leinen¬ 
weberin?  Im  großen  Sachs -Villatte  steht  unter  linier  nur  die 
Übersetzung  Flachshändler,  was  aber  offenbar  keinen  Sinn  gibt. 
AVar  sie  eine  Spinnerin?  Machte  sie  den  Flachs  zurecht,  damit  ihn 
die  Fräuleins  dann  verspönnen?  Die  Quellenstelle  ist:  22.  Okt.  1399, 
Reg.  d’aud.  du  Chat.  Y  5222  fo.  142  zitiert  bei  Fagniez,  Etudes,  67. 

6  In  Heidelberg:  Eulenburg,  a.  a.  O.;  Wien:  Eulen  bürg 
in  der  Zeitschr.  für  Soz.  u.  W.G.  1,  282,  282,  Gesell,  d.  St.  Wien 
I.  2,  714;  in  Frankfurt  a.  M.  „durchweg“:  Bücher,  230. 

7  Bücher,,  a.  a.  O. 


224  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

einen  Goldschmied,  einen  Küfer  usw.  Auch  zum  Flicken  der 
Geräte  kamen  gelegentlich  Handwerker1  ins  Haus  oder  nahmen 
das  Gerät  auf  die  Straße  2.  Wie  verbreitet  die  Störarbeit  m  den 
deutschen  Städten  bis  in  die  späten  Jahrhunderte  gewesen  sein 
muß,  beweisen  die  Verbote  dieser  Arbeitsweise  abseiten  der  Zünfte, 
als  diese  eine  exklusivere  Politik  beginnen:  so  verbieten  sie  die 
Schneider  in  Helmstädt  1301,  die  Schuster  in  Frankfurt  135o, 
die  Goldschmiede  in  Lübeck  1371  und  andere  mehr3. 

Der  übrige  Teil  der  gewerblichen  Arbeit  war  dann  nun  aus¬ 
schließlich  Handwerkerarbeit,  wurde  also  von  Spezialisten  gegen 
Bezahlung  ausgeübt. 

Häufig  in  der  Form  dessen,  was  wir  als  Lohn  werk  be- 
zeichneten:  das  heißt  in  der  Weise,  daß  der  Konsument  (Kunde) 
das  Material  für  die  Produktion  dem  Handwerker  lieferte. 

Die  Müllerei  war  sicher  in  beträchtlichem  Umfange  Lohn¬ 
müllerei.  Wir  dürfen  das  aus  den  starken  Vorräten  an  Getreide 
schließen,  die  die  einzelnen  Bürger  hielten  (z.  T.  halten  mußten)4. 
Wir  besitzen  aber  auch  sonst  genug  Zeugnisse  dafür5. 

Ebenso  war  die  Bäckerei  vielfach  Lohnbäckerei. 

Wer  keinen  eigenen  Ofen  hatte,  schickte  den  Brot-  oder 
Kuchenteig  zum  Bäcker6. 

Die  Bäcker  wurden  allgemein  in  Feil-  und  Hausbäcker  ge¬ 
schieden. 


1  So  die  „magnans  ou  chaudronniers  ambulants“  —  die  ambulanten 
Kesselflicker  in  Paris.  L.  des  m.  tit.  XII.  Vgl.  auch,  was  unten 
S.  233  über  die  Hausierhandwerke  des  M.  A.  gesagt  ist. 

2  So  die  wandernden  Möbelflicker,  deren  in  den  ‘Criees  de  Paris’ 
Guillaume  de  Villeneuves  Erwähnung  geschieht. 

8  Siehe  die  Zusammenstellung  der  Quellenzeugnisse  bei  Inama, 
DWG.  III.  2,  78.  Im  allgemeinen  vgl.  hierzu  Büchers  verschiedene 
Arbeiten:  Artikel  Gewerbe  im  HSt.,  Entstehung  der  Volkswirtschaft. 
B.  hat  den  ‘Störer’  für  die  Wissenschaft  wieder  entdeckt! 

4  Siehe  für  Lübeck:  Joh.  Hansen,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Getreide¬ 
handels  und  der  Getr.Pol.  Lübecks  (1912),  56  ff.  142  f.  Im  Jahre 
1579  hatten  78,4 °/o  aller  Familien  Getreidevorräte  im  Hause.  In 
Straßburg  hatten  (1473—77)  von  26198  Einwohnern  nur  8369  keinen 
Vorrat  an  Getreide.  Ant.  Herzog,  Die  Lebensmittelpolitik  der  St. 

Straßburg  im  M.A.  (1909),  17. 

6  Z.  B.  Ant.  Herzog,  a.  a.  0.  S.  19  ff. 

6  Belege  bei  Inama,  a.  a.  0.  S.  101;  für  Straßburg  siehe  noch 
Herzog,  a.  a.  0.  S.  38;  für  London  (14.  Jahrh.)  Biley,  Mem.  of 
London,  163;  a.  a.  0.  S.  29;  für  Paris  (14.  Jahrh.)  Fagniez,  Etudes, 
165;  für  Wien  (15.  Jahrh.)  Gesch.  d.  St.  Wien  II.  2,  694. 


Fünfzehntes  Kapitel :  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  225 

Wir  dürfen  annehmen,  daß  die  große  Mehrzahl  aller  Bauten 
nn  Lohn  ausgeführt  wurden:  der  Bauherr  beschaffte  sich  die 
Rohmaterialien  auf  seine  Kosten  und  ließ  sie  von  Maurern, 
Steinmetzen  und  Zimmerleuten  gegen  Tagelohn  verarbeiten. 
Dafür  spricht  die  eigenartige  Organisation  der  Baugewerbe 
während  des  Mittelalters  1 2,  spricht  die  Tatsache,  daß  wir  immer 
nur  von  Tagelöhnen  der  Bauhandwerker  hören3,  spricht  so 
manche  Beschreibung,  die  wir  von  den  Einkäufen  der  Bauherrn, 
namentlich  geistlichen  Bauherrn  besitzen8,  sprechen  die  Kon¬ 
tiakte  selbst  zwischen  Bauherren  und  Bauhandwerkern,  deren 
Originale  uns  überliefert  sind 4 5 ;  sprechen  manche  Bestimmungen 
der  Zunftordnungen  °.  Vielleicht  kauften  die  Bauherren  sogar 
die  Rohmaterialien  (Kalksteine  und  Lehm)  und  ließen  von  Kalk- 
imd  Ziegelbrennern  gegen  Lohn  Kalk,  Ziegeln  und  Mauersteine 
hersteilen 6. 

Der  Eigentümer  lieferte  nicht  nur  die  Baumaterialien,  sondern 
auch  die  Gerüste  (die  er  dann  erst  vorher  von  Lohnwerkem  her- 
stellen  ließ,  wenn  möglich  aus  Hölzern  eigener  Zucht),  die  Eimer 
und  Kübel  zur  Bereitung  des  Mörtels 7  und  verpflichtete  sich,  bei 

1  Siehe  Heideloff,  Die  Bauhütten,  1844;  Jänner,  Die  B.H. 
des  Mittelalters.  1876. 

2  Z.  B.  Lamprecht,  DWL.  2,  570  f.  613,  und  die  Werke  von 
D’Avenel,  Rogers  usw.,  wo  Bauhandwerkerlöhne  im  Überfluß  sich 
finden. 

3  Z.  B.  Rogers,  Six  Centuries,  deutsch  S.  106.  —  Wie  ein 
Kapitel  sich  durch  Aussendung  seines  Baumeisters  und  eines  Kanonikus 
in  den  Besitz  der  Baumaterialien  für  den  Bau  seiner  Kirche  zu  setzen 
pflegte,  schildert  in  anschaulicher  Weise  für  Xanten  St.  B  eis  sei, 
S.  J.,  Geldwert  und  Arbeitslohn  im  Mittelalter  (1885)  37  ff. 

4  Z.  B.  G.  Fagniez,  Documents  relatifs  ä  l’histoire  de  l’industrie 
et  du  commerce  en  France.  2  Vol.  1898.  1900  (zit.  Doc.)  Vol.  2 
No.  21.  42.  51  (Bauglaser).  59.  61.  67  (Glockenguß),  idem,  Etudes 
(1877)  No.  42. 

5  Die  Londoner  Maurerordnung  von  1356  sieht  das  „work  in  gross“ 
(die  Übernahme  ganzer  Bauten  durch  einen  Bauunternehmer)  noch 
als  so  ungewöhnlich  an,  daß  bei  jeder  Übernahme  eines  ganzen  Baues 
vier  oder  sechs  Meister  Garantie  leisten  müssen.  Vgl.  G.  Brodnitz, 
Die  Stadtwirtschaft  in  England  (Jahrbücher  f.  N.ö.  47,  28). 

6  Daß  die  Kalk-  und  Ziegelbrenner  in  Venedig  bis  ins  14.  Jahrh. 
‘Lohnwerker1  waren,  ergeben  ihre  Statuten.  Es  ist  jedoch  nicht  er¬ 
sichtlich,  ob  sie  für  die  Kalk-,  Ziegel-  und  Steinhändler  oder  für  die 
Bauherrn  lohnwirkten.  Siehe  ihre  Statuten  im  26.  Bande  der  Fonti 
per  la  storia  d’Italia,  1896. 

7  Beleg©  bei  Fagniez,  Etudes,  203  und  App.  42. 

8omh»rt.,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


15 


226  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft. 

lang-dauernden  Arbeiten  die  Geräte  der  Handwerker  zu  erneuern1. 
Zuweilen  wurden  diese  vom  Bauherrn  beköstigt  und  behaust2 
und  erhielten  einen  Teil  des  Lohnes  in  Kleiderstoffen  ausbezahlt3. 

Daneben  wurden  auch  schon  die  einzelnen  Bestandteile  des 
Baues  in  Entreprise  gegeben,  so  daß  der  Handwerker  „Kauf¬ 
handwerker“  wurde.  Und  dann  tauchen  auch  schon  in  embryo¬ 
nalem  Zustande  der  Architekt  und  der  Bauunternehmer  auf,  zu¬ 
erst  wohl  bei  den  großen  Bauten  in  Italien  und  bei  den  Königs¬ 
bauten  in  Paris4,  die  —  wie  -wir  noch  sehen  werden  —  für  die 
Organisation  des  Baugewerbes  in  mehr  als  einer  Hinsicht  vor¬ 
bildlich  gewesen  sind. 

Sehr  häufig  wird  die  Form  des  Lohnwerks  in  der  Textil¬ 
industrie  und  den  dazu  gehörigen  Bekleidungsgewerben  gewesen 
sein:  man  gab  das  selbst  gesponnene  Garn  dem  Weber  zum 
Verweben5,  gab  das  rohe  Gewebe  dann  wohl  zum  Verfeinern 
weiter  an  den  Tuchscherer,  den  Färber,  den  Kalanderer6.  Dann 
gab  man  den  fertigen  Stoff  dem  Schneider. 

Oder  man  kaufte  sich  fertiges  Tuch  beim  Tuchhändler,  um  es 
dem  Schneider  dann  zu  übergeben.  Wir  sehen  den  reichen 
Kunden  in  Paris ,  in  Bologna ,  in  Venedig  in  Begleitung  des 

1  „Pro  fabricando  marteilos“  ;  „pro  acuendo  martelos  .  .  .“  1.  c. 

3  Das  bildete  wohl  die  Regel,  wenn  die  Bauten  von  Ortsfremden 
ausgeführt  wurden,  wie  der  Lettner  im  Kapitel  zu  Troyes,  den  Pariser 
Maurer  aufführten;  ib.  p.  208. 

8  „et  une  robe“  ;  „aulne  et  demie  de  draps“  ;  „une  robe  et  unes 
chauces“  sind  häufig  wiederkehrende  Lohnsätze:  ib. 

4  Auch  zur  Geschichte  des  „Architekten“  und  des  „Bauunter¬ 

nehmers“  im  Mittelalter  hat  ein  reiches  Material  beigebracht  F  agni  e  z 
im  3.  Kap.  des  2.  Buches  der  „Etudes“.  S.  das  3.  Buch  dieses  Werkes. 

6  Das  Leinengarn  wohl  meist,  namentlich  in  kleinen  Städten ;  aber 
selbst  in  Paris,  wo  der  Weber  das  Garn  entweder  in  Strähnen  oder 
schon  auf  der  Kette  vom  Kunden  empfing:  „se  aucuns  ou  aucune 
engagoit  autruie  file  en  pelote  ou  en  chaine“,  Ord.  relat.  aux  met.  p.  390: 
Fagniez,  Etudes,  229;  in  Florenz  noch  im  15.  Jahrh.  H.  Sieveking, 
Die  Handlungsbücher  der  Medici  (1905),  33.  Ebenso  das  Wollengarn, 
von  dem  uns  wiederum  für  Paris  berichtet  wird,  daß  es  vom  Lohn¬ 
weber  verwebt  wurde:  „Si  mesme  mestre  doivent  .mettre  en  euvre  le 
fil  come  l’en  leurbaillera  ä  tistre  les  blans  desus  diz.“  Ord. 
rel.  aux  met.  p.  394  Fagniez,  223.  Zuweilen  lieferte  der  Kunde  dem 
Weber  sogar  die  Zutaten  (suif  et  son  in  Paris  bei  der  Leinenweberei : 
1.  c.  p.  229). 

6  „si  aliquem  pannum  ad  chilendrandum  datum  fuerit“  kann  vom 
Privatmann  ebenso  wie  vom  Tuchmacher  verstanden  werden.  Venetianer 
Zunftstatuten  in  den  Fonti  per  la  storia  dTtalia  26,  140. 


227 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung 

Schneiders,  der  mit  seinem  Rat  dem  Käufer  zur  Seite  stehen 
soll,  das  Tuch  einkaufen.  Wie  wir  es  heute  erleben,  wenn  wir 
mit  dem  Dragoman  in  Konstantinopel  Teppiche  erstehen:  es  kam 
offenbar  häufig-  genug  vor,  daß  der  Tuchhändler  den  Schneider 
„schmierte  ,  damit  dieser  seinen  Kunden  zu  ihm  und  nicht  zur 
„Konkurrenz1'  geleite.  Das  soll  ihm  verwehrt  sein1. 

Mützen  ließ  man  sich  aus  selbstgeliefertem  Stoff  beim  Mützen¬ 
macher  anfertigen2. 

Unter  den  Pariser  Schneidern  begegnen  wir  im  13.  Jahr¬ 
hundert3 4  dem  tailleur  le  Roy,  tailleur  madame  la  Royne,  tailleur 
aux  enfans  le  Roy,  tailleur  Monseigneur  Challes,  tailleur  la  Com- 
tess©  de  "V  alois,  tailleur  1  Kvesque,  tailleur  des  Marmousetz,  tailleur 
du  Temple.  Der  Duc  de  Normandie,  der  duc  de  Berry  haben 
ebenso  ihre  eigenen  Schneider.  Ein  gewisser  Gfauteron  ist  im 
14.  Jahrhundert  „couturier  du  vicomte  d’Aunay“  L 

Dieselbe  Sitte  bestand  in  England ,  wie  wir  aus  der  Be¬ 
stimmung  englischer  Zunftordnungen  schließen  dürfen:  daß  es 
den  Mitgliedern  einer  Zunft  verboten  sein  soll,  die  Livree  ihrer 
Herrschaft  zu  tragen.  In  Frankreich  trugen  diese  Hofschneider 
Abzeichen  des  Hauses,  in  dem  sie  arbeiteten,  wurden  aber  gleich¬ 
wohl  an  der  Spitze  der  Zunftmitglieder  aufgeführt.  Sie  waren 
gegen  festen  Gehalt  und  freie  Station  angestellt.  Gingen  sie 
auf  Reisen,  etwa  um  Stoff  einzukaufen,  so  bekamen  sie  Reise¬ 
entschädigung.  Ebenso  gab  es  Schneiderinnen  in  den  Schlössern 
der  Großen5. 

Dieselbe  Sitte  in  Wien:  sartor,  serviens  domini  abbatis  Sco- 
torum;  sartor  ducis6. 


1  Stat.  della  Soc.  dei  mercanti  in  Bologna  (XIII.  sc.).  Fonti  ec. 
4,  133.  In  die  Verhältnisse  des  mittelalterlichen  Schneidergewerbes 
geben  sehr  deutliche  Einblicke  die  Statuten  der  Schneider  von  Paris : 
Livre  des  möt.  tit.  LVI;  Venedig:  Fonti  ec.  26,  10—12;  Bologna: 
Fonti  ec.  4,  274  ff. 

Es  gab  Herren-  und  Damenschneider  in  Paris :  1.  c.  p.  15.  Die 
genannten  Statuten  stammen  sämtlich  aus  dem  13.  Jahrhundert. 

2  Venedig,  Fonti  26,  24. 

3  Statuts  et  ordonnances  des  marchands  maitres  tailleurs  d’habits 
etc.,  1763.  Zit.  bei  A.  Franklin,  Les  magasins  de  nouveaut&s 
(1891),  89. 

4  P.  Boissonade,  Essai  sur  l’organ.  du  travail  en  Poitou  1 

(1900),  294. 

6  Siehe  die  Quellenstellen  bei  Fagniez,  Etudes,  246  f. 

6  Gesch.  d.  Stadt  Wien  II.  2,  714. 


228  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Wir  haben  hier  die  Abkömmlinge  der  alten  hofhörigen  Hand¬ 
werker  vor  uns,  die  es  auch  in  anderen  Gewerbezweigen,  wie 
zum  Beispiel  im  Baugewerbe,  während  des  ganzen  Mittelalters 
o'eo-eben  hat  und  die  wiederum  —  offenbar  —  die  Stammväter 

o  o 

der  „Hoflieferanten“  der  neueren  Zeit  geworden  sind.  Es  lohnte 
sich,  ihre  Geschichte  zu  schreiben. 

Aber  auch  in  anderen  Gewerben  begegnen  wir  dem  Lohn¬ 
werk: 

Man  brachte  die  edlen  Metalle  zum  Goldschmied,  um  sie  zu 
Geschmeiden  oder  Gefäßen  verarbeiten  zu  lassen1;  Eisen  zum 
Schildner2,  daß  er  Rüstungen,  zum  Hufschmied,  daß  er  Huf¬ 
eisen  daraus  fertige :  kam  ein  Knappe  mit  seinem  Rößlein  zum  fabbro- 
ferraio  in  Bologna  und  brachte  er  das  Eisen  in  unbearbeitetem 
Zustände  mit,  so  sollte  er  für  ein  Hufeisen  mit  8  Nägeln  6  bon. 
zahlen,  brachte  er  aber  das  ganze  Eisen  schon  fertig  mit,  so 
kostete,  das  bloße  Anbringen  nur  4  bon.  Offenbar  waren  es  nur 
die  Wohlhabenden,  die  das  Material  lieferten;  die  Taxe  ist  nur 
für  das  Beschlagen  von  Pferden  aufgeführt.  Kam  ein  Bauer 
oder  ein  Wasserverkäufer  oder  sonst  ein  kleiner  Mann  mit  seinem 
Eselchen,  so  lieferte  unser  Schmied  das  ganze  Eisen;  er  ver¬ 
wandelte  sich  in  einen  „  Pr  eis  werker !“  3 

Wer  noch  im  eigenen  Hause  schlachtete,  ließ  die  Haut  der 
Tiere  beim  Gerber  zu  Leder  verarbeiten4,  damit  es  der  Störer 
zu  Stiefeln  umforme. 

Und  was  derart  Möglichkeiten  sonst  noch  sind. 

Einen  sehr  großen  Teil  des  Bedarfs  an  gewerblichen  Erzeug¬ 
nissen  wird  man  aber  beim  Kauf-  oder  Preishandwerker 
gedeckt  haben,  das  heißt  bei  demjenigen  Bäcker,  Fleischer, 
Tischler,  Schmied,  Schlosser,  Kürschner,  Täschner,  Stellmacher, 
der  selbst  den  Rohstoff  lieferte. 

Gewiß  hat  die  Produktion  „auf  Bestellung“  in  der  mittel¬ 
alterlichen  Stadt  dieselbe  wichtige  Rolle  gespielt  wie  bis  in 
unsere  Zeit  hinein.  Und  zwar  bestellte  man  —  darf  man  an¬ 
nehmen  —  bei  dem  in  der  Stadt  selber  angesessenen  Handwerker; 
nicht  wie  es  später  üblich  wurde,  bei  den  Produzenten  in  der 

1  Venedig:  Fonti,  116;  Breslau:  Eulenburg,  Innungen  der  Stadt 
Breslau  (1892),  73;  London:  Riley,  Memorials  of  London,  29  bei 
Br ödnitz,  28. 

2  Osnabrück:  Inama,  III.  2,  81. 

8  Stat.  soc.  Ferratorum  (1248)  Fonti..  4,  186.  189. 

4  Lübeck  (1454)  bei  Inama,  a.  a.  0.  S.  81. 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung-  229 

größeren  Stadt.  Ich  meine :  der  Ritter ,  der  in  der  kleinen 
Provinzstadt  wohnte,  bestellte  sein  Hausgestühl  nicht  beim 
Tischler  in  Florenz  oder  Paris  (wie  der  Hütten-  oder  Gntsbesitzer 
heute,  der  in  einem  „Kohlendistrikt“  oder  einer  entlegenen  Gegend 
wohnen  muß),  sondern  ließ  „in  seiner  Heimatstadt“  arbeiten.  Fand 
er  dort  nicht  den  Meister,  den  er  brauchte,  so  wird  er  mehr  auf 
Ansetzung  der  fehlenden  Arbeitskräfte  gedrungen  haben.  Doch 
können  wir  alle  diese  Dinge  nur  vermuten. 

Dagegen  wissen  wir  wiederum,  daß  ein  gewiß  beträchtlicher 
Teil  der  Gebrauchsgüter  nicht  erst  bestellt,  sondern  „im  Laden“ 
oder  auf  dem  Markte  fertig  gekauft  wurde,  auch  wenn  die 
Erzeuger  in  der  Stadt  selbst  ansässig  waren.  Bei  manchem  Artikel 
vei’stekt  sich  das  ja  von  selbst,  wie  Backwaren,  Fleisch  usw. 
„Im  Laden“,  den  wir  uns  nun  so  primitiv  wie  möglich  vorzu¬ 
stellen  haben.  In  den  meisten  Fällen  wird  es  die  Stube  neben 
der  Werkstatt  gewesen  sein,  wenn  überhaupt  ein  besonderer 
Raum  für  den  Verkauf  bestimmt  war. 

Auf  den  hübschen  Holzschnitten,  die  Szenen  aus  dem  Hand¬ 
werkerleben  —  leider  erst  des  16.  Jahrhunderts  —  in  Nürnberg: 
darstellen1,  ist  es  so  die  Regel:  die  Frau  Meisterin  verkauft  in 
dem  einen  Gelaß,  während  der  Meister  nebenan  in  der  Werk¬ 
stätte  arbeitet,  so  im  Täschnerhandwerk,  in  der  Kürschnerei,  in 
der  Fleischerei  (nebenan  wird  ein  Rind  geschlagen!),  in  der 
Seilerei,  in  der  Tischlerei;  während  Schuhwaren  in  einer  Art 
offener  Halle  verkauft  werden,  die  sich  an  die  Werkstatt  an¬ 
schließt.  In  den  Verkaufsstuben  hegt,  hängt  oder  steht  je  eine 
kleine  „Kollektion“  fertiger  Waren. 

Der  Gürtler  hat  18  Gretchentaschen  „auf  Lager“,  der  Schuster 
etwa  ein  Dutzend  Paar  Stiefeln  und  Schuhe,  der  Kürschner  ein 
halbes  Dutzend  Pelzstücke,  der  Seiler  ein  Dutzend  fertige  Seile, 
Taue  usw.  Die  Käufer  beim  Seiler,  Fleischer  und  Schuster  sind 
Landleute  bei  den  andern  reiche  Patrizier  oder  Rittersfrauen. 

Vielleicht  waren  derartige  Zustände  schon  ein  spätes  Ent¬ 
wicklungsprodukt;  vielleicht  müssen  wir  uns  die  Zeiten  des 
Mittelalters  noch  primitiver  vorstellen,  etwa  wie  auf  den  Holz¬ 
schnitten  in  J.  Ammans  Beschreibung  aller  Stände,  wo  Werk¬ 
statt  und  „Verkaufsladen“  ein  und  derselbe  kleine  Raum  sind 


1  Im  Nürnberger  Germanischen  Museum.  Jetzt  wiedergegeben  in 
dem  lehrreichen  Werke  von  Ernst  Mummenhoff,  Der  Handwerker 
in  der  deutschen  Vergangenheit  (1901),  S.  40  ff. 


230  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

und  nur  ganz  wenige  Stücke  (vielleicht  bestellte?)  herumstehen 
oder  herumhängen. 

Aber  kleine  Verkaufs  stände ,  „Läden“  oder  wenn  man  will 
Fenster,  in  denen  fertige  Erzeugnisse  zum  Verkauf  ausgestellt 
wurden,  hat  es  auch  in  früherer  Zeit  sicher  schon  gegeben.  Die 
Pariser  Bäcker  im  13.  Jahrhundert  haben  ihr  Brot  in  den 
„Schaufenstern“  ausliegen1,  die  Goldschmiede  in  Stettin  stellen 
fertiges  Silbergerät  auf  ihren  Brettfenstern  zum  Verkauf  aus2. 
Ebenso  wissen  wir  genug  von  Brotbänken,  Fleischbänken  usw., 
die  uns  in  ihrer  mittelalterlichen  Gestalt  noch  heute  in  manchen 
Städten  (z.  B.  Breslau!)  erhalten  sind. 

Im  allgemeinen  freilich  werden  die  Einkäufe  fertiger  Waren 
der  Regel  nach  wohl  auf  den  dazu  bestimmten  öffentlichen  Ver¬ 
kaufsstellen,  den  Märkten,  vorgenommen  worden  sein.  Auch  die 
ortsangesessenen  Handwerker  zogen  an  bestimmten  Tagen  mit 
ihren  Waren  in  die  Verkaufsbuden  auf  die  Marktplätze  der  Stadt, 
wo  sich  dann  die  kauflustige  Menge  zusammenfand.  Diese 
(Wochen-)  Märkte  wurden  dann  gleicherweise  von  den  ländlichen 
Verkäufern  von  Gemüse,  Obst  usw.  besucht  und  hier  fand  wohl 
der  berühmte  „Austausch“  zwischen  Handwerker  und  Bauern 
statt,  den  man  irrtümlicherweise  zum  Angelpunkt  des  städtischen 
Wirtschaftslebens  hat  machen  wollen. 

So  wissen  wir,  daß  die  Pariser  Handwerker  von  Montag  bis 
Donnerstag  jede  Woche  ihre  Waren  in  ihren  Läden  in  der  Stadt 
feilhielten,  während  sie  Freitag  und  Sonnabend  damit  „aux 
Halles“  zogen  (zu  ziehen  verpflichtet  waren,  so  daß  es  als  ein 
Privilegium  angesehen  wurde,  wenn  man  diesen  wöchentlichen 
Auszug  nicht  vorzunehmen  brauchte)3. 

Für  den  an  jedem  Mittwoch  und  Sonnabend  zu  Oxford  ab¬ 
gehaltenen  Markt  wurde  im  Jahre  1319  durch  die  Universität  die 
Marktordnung  festgestellt.  Die  Verkaufsartikel  bestanden  außer 
in  landwirtschaftlichen  Erzeugnissen  (Heu,  Stroh,  Holz,  Schweinen, 
Korn,  Molkereiprodukte  usw.)  in  Bier,  Kohle,  Lack,  Handschuhen, 
Pelzen,  Leinwand.  Also  auch  hier  standen  die  Handwerker  hinter 
Verkaufsständen  in  der  Hochstraße  und  am  Kornmarkt. 

Gleichsam  ständige  Märkte  wurden  in  den  Kaufhäusern 

1  Siehe  Stat.  der  Talemeliers  art.  XX  im  L.  d.  M.  und  vgl.  im 
allgemeinen  Fagniez,  Etudes,  108  f. 

2  Blümcke,  Die  Handwerkerzünfte  im  mittelalterl.  Stettin, 
a.  a.  0.  S.  210. 

3  L.  d.  M.  p.  CXXXIV  und  in  den  einzelnen  Statuten. 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  231 

oder  Kaufhallen  abgehalten,  denen  wir  namentlich  in  deutschen 
Städten  häufig  begegnen.  Sie  dienten  dem  Absatz  einer  einzelnen 
Ware ,  mochte  diese,  so  dürfen  wir  annehmen,  am  Orte  selber 
erzeugt  sein  oder  von  auswärts  kommen.  Fast  überall  gibt  es 
Tuchhallen,  die  entweder  ein  ganzes  Haus  (Gewandhaus)  ein¬ 
nehmen  oder  in  anderen  Gebäuden  untergebracht  sind.  Daneben 
finden  wir  Schuhhäuser1,  Leinwandhäuser,  Brothäuser,  Korn¬ 
häuser,  Schlachthäuser,  Pelzhäuser2;  aber  auch  für  die  Speziali¬ 
täten  eines  Ortes  —  zum  Beispiel  für  den  AVaid  in  Görlitz  — 
wurden  besondere  Kaufhäuser  errichtet.  Auch  die  Salzhäuser 
gehören  hierher.  Die  meisten  Kaufhäuser  in  deutschen  Städten 
sind  im  14.  und  15.  Jahrhundert  erbaut,  es  sind  ihrer  aber  schon 
im  13.  Jahrhundert  nachweisbar3. 

In  den  größeren  Städten  gab  es  dann  aber  auch  schon 
überall  eine  größere  Anzahl  berufsmäßiger,  seßhafter 
Detailhändler,  bei  denen  der  Bedarf  an  Nahrungsmitteln 
und  gewerblichen  Erzeugnissen,  wohl  meist  auswärtigen  Ur¬ 
sprungs,  gedeckt  wurde.  Jedenfalls  seit  dem  13.  Jahrhundert¬ 
haben  wir  Kunde  von  ihrem  Dasein  und  auch  schon  von  der 
Art  ihres  Geschäftsbetriebes4. 

Wir  wissen  bis  ins  einzelne,  was  ein  Pariser  „mercier“  im 
14.  Jahrhundert  an  Waren  feil  hatte5  und  wie  der  „Laden“  in 
den  Städten  des  Mittelalters  ausschaute.  Denn  offenbar  handelt 
es  sich  in  allen  Anfängen  des  Detailhandels  um  ein  noch  un¬ 
differenziertes  Warenlager,  einen  sogenannten  Kram,  in  dem  un- 


1  In  AVien  am  Hohen  Markt  (13.  Jakrh.),  wo  die  Schuhmacher  an 
Markttagen  ihre  Erzeugnisse  feilhielten:  Karl  Uhlirz  in  der  G.  d. 
St.  AVien  II.  2  (1905),  712. 

2  In  Zürich  (14.  Jahrh.):  Ottmar  Fecht,  Die  Gewerbe  der 
Stadt  Zürich  i.  M.A.  (1909),  29. 

3  Siehe  die  zusammenfassende  Darstellung  bei  G.  v.  B  e  1  o  w ,  Das 
ältere  deutsche  Städtewesen  (1905),  57  ff. 

4  Siehe  z.  B.  Livre  des  metiers  tome  IX  und  X.  Für  die  süd¬ 
deutschen  Städte  (Augsburg,  Ulm,  Straßburg,  AVorms)  siehe  Heinr. 
Eckert,  Die  Krämer  in  südd.  Städten  bis  zum  Ausgang  des  M.A., 
1910. 

5  Von  der  halb  seßhaften,  halb  hausiermäßigen  Organisation  des 
Geschäftsbetriebes  eines  solchen  mercier  gibt  einen  guten  Begriff  ein 
Gedicht  aus  dem  14.  Jahrh.,  das  mitgeteilt  wird  von  A„  Franklin, 
Les  magasins  de  nouveautes  (1894),  5  ff. ;  vgl.  noch  Levass eur  1, 
332,  und  die  Statuten  der  merciers  vom  Jahre  1324  (abgedruckt  bei 
Fagniez,  Doc.  2  [1900],  Nr.  27). 


232  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

geschieden  noch  alles  zum  Verkauf  stand,  was  überhaupt  von 
einem  besonderen  Detaillistenstande  vertrieben  wurde. 

Die  Lübecker  Bürgerrolle  von  1353  erlaubt  den  Krämern  zu  ver¬ 
kaufen:  Kolonialwaren,  Rohstoffe,  Manufaktur-  und  Kurzwaren.  Wehr¬ 
mann,  Lüb.  Zunftrollen,  S.  272  ff.  Ähnliche  Zustände  in  Breslau: 
W.  Borgius,  Wandlungen  im  modernen  Detailhandel  Archiv  13, 
44;  in  Leipzig:  S.  Moltke,  Die  Leipz.  Krämerinnung  (1901),  73  ff; 
in  süddeutschen  Städten:  H.  Eckert,  a.  a.  0.  S.  32  ff  —  In  den 
französischen  Statuten  selbst  des  15.  Jahrhunderts  laufen  die  drei 
großen  Warengruppen:  mercerie,  quincaillerie  und  epicerie  noch  in¬ 
einander  über;  die  Vorsteher  der  Merciers  (roy  des  merciers)  haben 
Aufsicht  zu  führen  über  alle  Händler,  die  mit  Fackeln,  Kerzen,  Pfund¬ 
waren  wie  Pfeffer,  Saffran  usw.  ...  „et  toutes  aultres  merceries 
et  espiceries“  handeln  .  .  .  über  alle  „portants  mercerie  pour 
vendre  ou  chose  qui  touche  mercerie  ou  poids,  balances,  aulnes  ou 
mesures,  soyent  quinqualleries  ou  aultres  choses  sub- 
jectes  audict  roy  des  merciers“  .  .  .  „generalement  toutes 
choses  qui  se  vendent  ou  puissent  vendre  en  faict  de  marchandise, 
les  quelle s  ne  se  peuvent  priser  ne  estimer  que  trop  ou  peu,  est 
chose  subjecte  a  mercerie.“  Ord.  et  reiglements  concemant  les 
marchands  merciers  (XV.  siede);  abgedruckt  bei  Fagniez,  Doc., 
Nr.  166.  Mit  den  Epiciers  vermischen  sich  die  Apotheker:  bis  ins 
15.  Jahrh.  bestand  der  „Corps  des  marchands  grossiers,  espiciers  et 
apothicaires“.  Vgl.  A.  Philippe,  Gesch.  der  Apotheker;  deutsch 
von  H.  Ludwig,  2.  Aufl.  1859,  5.  Kapitel. 

Über  die  innere  Struktur  des  mittelalterlichen  Handels,  ins¬ 
besondere  seinen  handwerkerhaften  Charakter  spreche  ich  im 
17.  Kapitel.  Hier  interessierte  er  uns  nur  als  eine  der  Formen 
der  Darbietung  gewerblicher  Erzeugnisse. 

Blieben  schließlich,  um  alles  Fehlende  einzukaufen,  die 
Jahrmärkte1,  die  wohl  in  jeder  größeren  Stadt  regelmäßig  ab¬ 
gehalten  wurden  und  die  sich  an  manchen  Orten  zu  imposanten 
Messen  auswuchsen,  auf  denen  „en  gros“,  also  Fertigfabrikate 
an  Händler,  Kok-  und  Hilfsstoffe,  Werkzeuge  usw.  an  Produ¬ 
zenten  oder  Händler,  ab  er  in  beträchtlichem  Umfange  auch  an 
letzte  Konsumenten  Waren  abgesetzt  wurden.  Gewiß  ein  sehr 
erheblicher  Teil  des  Bedarfs  an  gewerblichen  Erzeugnissen  wurde 
auch  abseiten  der  Städter  aus  diesen  Marktwaren  gedeckt,  die 
also  nicht  am  Orte  des  Konsums  erwachsen  waren,  sondern  von 

1  Über  ihre  Entwicklung  in  Deutschland  unterrichtet  v.  Maurer, 
a.  a.  0.  1,  282  ff. ;  für  Frankreich  siehe  vor  allem  P.  Huvelin,  Essai 
historique  sur  le  droit  des  marches  et  des  foires  (1897),  der  p.  604 
bis  617  eine  ausführliche  Bibliographie  der  einschlägigen  Literatur 
mitteilt. 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung 

O 


233 


auswärts,  oft  wohl  von  weit  her  hier  an  dem  Marktort  zusammen- 
strömten.  Über  den  interlokalen  Absatz  gewerblicher  Erzeugnisse 
lassen  sich  folgende  Angaben  machen,  die  sich  sowohl  auf  die 
I  alle  beziehen,  in  denen  die  Handwerker  in  eigener  Person  ihre 
Waren,  sei  es  auf  dem  Wege  der  Hausiererei,  sei  es  auf  Märkten 
und  Messen  feilboten,  als  auch  diejenigen,  in  denen  berufsmäßige 
Händler  den  Vertrieb  übernahmen.  Diese  werden  wohl  der  Regel 
nach  (aber  nicht  immer:  seßhafte  Detailhändler!  Gewandschneider 
in  den  Tuchhallen!)  auf  den  Jahrmärkten  ihre  Ware  abgesetzt 
haben. 

Der  ortsferne  Güterabsatz  während  des  Mittelalters 1 

In  allen  Ländern  begegnen  wir  während  des  Mittelalters .  dem 
Handwerker  oder  der  Handwerkersflau,  die  in  derselben  Weise, 
wie  sie  es  heute  noch  tun,  mit  ihrer  selbsterzeugten  Ware  auf 
dem  Rücken  oder  im  Schubkarren  von  Ort  zu  Ort  ziehen,  um 
die  Kundschaft  aufzusuchen. 

Die  bekanntesten  Hausierhandwerke  des  deutschen 
Mittelalters,  die  teilweise  auch  Wanderhandwerke  waren,  sind 
die  Keßler  und  Kaltschmiede.  Über  sie  und  ihre  Organisation  handeln 
v.  Maurer,  Städteverfassung  2,  490  ff.;  E.  Gothein,  Bilder  aus 
der  Geschichte  des  Handwerks  (1885),  S.  12  ff.,  und  R.  Eberstadt, 
Französ.  Gewerberecht  (1899),  259  ff.  Sie  sind  in  Frankreich  in  der 
Normandie ,  in  Deutschland  im  Südwesten ,  in  Belgien  in  der  Stadt 
Dinant  hauptsächlich  zu  Hause.  Übrigens  werden  diese  Hausierhand- 


1  Die  folgende  Übersicht  hatte  ich  im  wesentlichen  schon  in  der 
ersten  Auflage  (1,  96 — 113)  gegeben.  Um  dem  Bilde  seine  Buntheit 
zu  bewahren,  wiederhole  ich  sie  hier  mit  einigen  Zusätzen.  Ich  könnte 
die  Belege  für  das  Vorkommen  von  Handelsartikeln  im  interlokalen 
Verkehre  während  des  Mittelalters  leicht  um  ein  Beträchtliches  ver¬ 
mehren,  wenn  ich  von  der  überaus  fleißigen  Zusammenstellung  Gebrauch 
machen  wollte,  die  sich  jetzt  findet  in  dem  stattlichen  Werke  von 
J.  G.  van  Dillen,  Het  economisch  Karakter  der  middelleuwschen 
Stad  1914,  III.  u.  IV.  Hoofdstuk;  verzichte  aber  darauf  und  verweise 
den  geduldigen  Leser  auf  diese  Arbeit.  Der  Verfasser  möchte  im 
Anschluß  an  meine  Ausführungen  in  der  ersten  Auflage  noch  einmal 
und  noch  gründlicher  die  „Theorie“  Bü chers  von  der  „geschlossenen 
Stadtwirtschaft“  widerlegen.  Er  kündigt  als  Fortsetzung  dieses,  224 
eng  gedruckte  Großquartseiten  umfassenden  Bandes  einen  zweiten  an, 
der  sich  mit  dem  von  mir  geprägten  Gegensatz  der  Bedarfsdeckungs¬ 
wirtschaft  und  der  Erwerbswirtschaft  beschäftigen  soll.  Neuerdings 
bringt  ein  reiches  Material  zur  Kenntnis  des  internationalen  Handels¬ 
verkehrs  während  des  Mittelalters  bei:  Alex.  Bugge  in  der  Viertel¬ 
jahrsschrift  12  (1914),  106  ff 


234  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

werker,  die  gewiß  nebenbei  auch  Lohnwerk  verrichteten,  wohl  eben¬ 
falls  mit  Vorliebe  die  Messen  und  Märkte  mit  ihren  Waren  aufgesucht 
haben.  In  unsere  Zeit  ragen  die  südslavischen  Mausefallenfabrikanten 
hinein.  Aber  auch  die  Töpfer,  später  die  Uhrmacher,  gehören  hierher. 
Über  den  hausiermäßigen  Vertrieb  der  Glaswaren  durch  Glasfuhr  - 
genossenschaften:  E.  Gothein,  W.Gesch.  des  Schwarzwaldes  1,  846. 
Auch  die  Erzeugnisse  der  Weberei  wurden  häufig  hausierend  von  den 
Handwerkern  abgesetzt.  Über  hausierende  Tuchmacher  im  Kreise 
Hagen  vor  der  Franzosenherrschaft  s.  Jacobi,  Berg-,  Hütten-  und 
Gewerbewesen  des  Reg.Bez.  Arnsberg  (1856),  S.  104.  Historisches 
Material  findet  man  auch  in  der  Enquete  des  Ver.  für  Sozialpolitik. 
Schriften,  Bd.  77  ff. 

Noch,  häufiger  aber  naturgemäß  sind  die  Zeugnisse  für  den 
Marktbesuch  ortsferner  Handwerker  ebenso  wie  über  die  Aus¬ 
breitung  des  Handels  mit  gewerblichen  Erzeugnissen. 

Wenn  auch  die  auswärtigen  Bäcker1  auf  den  städtischen 
Märkten,  von  denen  uns  die  Urkunden  schon  des  12.  J ahrhunderts 
berichten,  nicht  aus  allzuweiter  Feme  gekommen  sein  mögen, 
so  brauchen  wir  für  die  gleichzeitig  erwähnten  Schuhmacher2 
eine  solche  räumliche  Beschränkung  nicht  ohne  weiteres  an¬ 
zunehmen.  Fremde  Handwerker  (aus  Winchester)  finden  wir 
im  frühen  Mittelalter  auf  den  Messen  der  Nachbarstädte  in 
England3. 

Zahlreiche  urkundliche  Bestätigungen  haben  wir  für  den 
fernen  Marktbesuch  von  Webern4. 

Daß  das  12.  Jahrhundert  bereits  einen  ausgedehnten  H  a  n  d  e  1 
mit  handwerksmäßig  erzeugtem  Tuch  hatte  5,  dürfen  wir  als  aus¬ 
gemacht  betrachten. 

1  Urkunde  von  1104.  Vgl.  Lamp  recht,  Deutsches  Wirtschafts¬ 
leben  2,  313  f. 

2  v.  Maurer,  Städteverfassung  1,  318/19,  und  v.  Below,  Ent¬ 
stehung  des  Handwerks,  a.  a.  0.  5,  236.  Erhebung  eines  Marktstands¬ 
geldes  auch  von  fremden  Schustern  in  Nordhausen  Anfang  des  14.  Jahr¬ 
hunderts.  Vgl.  Falke,  Gesch.  des  deutschen  Zollwesens  (1869),  142. 

3  Ashley  1,  100. 

4  Vgl.  z.  B.  Zeitschr.  für  Geschichte  des  Oberrheins,  Bd.  4,  und 
Schm  oll  er,  Straßb.  Tücher-  und  Weberzunft,  S.  104,  110. 

s  Auch  im  11.  Jahrhundert  finden  wir  schon  Tücher  als  Objekte 
des  internationalen  Handels;  so  in  England  nach  Aelfrics  Colloquy 
(ca.  1000)  bei  Thorpe,  Analecta  Anglo-Saxonica  (1868)  zitiert  bei 
Ashley  1,  70.  Und  in  noch  frühere  Zeit  reicht  der  Handel  mit 
sogen,  „friesischen  Tüchern“  zurück:  J.  Klumker,  Der  friesische 
Tuchhandel  zur  Zeit  Karls  d.  Gr.  und  sein  Verhältnis  zur  Weberei 
jener  Zeit.  S.-A.  aus  den  Jahrb.  d.  Gesellsch.  für  bild.  Kunst  usw. 
zu  Embden.  Bd.  13.  1899.  Es  ist  aber  nicht  wahrscheinlich,  daß 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  235 

Für  das  13.  Jahrhundert  häufen  sich  die  nachweisbaren  Fälle 
interlokalen  Tuchhandels.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  der  Ab¬ 
satz  der  Tuche  teils,  wie  schon  erwähnt,  durch  die  Handwerker 
selbst  besorgt  wurde ,  teils  von  den  Gewandschneidern ,  den 
drapiers ,  drapers ,  das  heißt  berufsmäßigen  Tuchhändlern ,  die 
ebenso  wie  die  Handwerker  gleichzeitig  detaillierten.  Was  das 
charakteristische  Merkmal  der  Entwicklung  im  14.  Jahrhundert 
ausmacht,  ist  aber  ein  gewaltiger  Aufschwung  der  Tuchindustrie 
in  sämtlichen  Produktionsländern* 1. 

V on  ebenfalls  großer  Bedeutung  war  im  Mittelalter  die  inter¬ 
lokale  Leinenproduktion2. 

Die  Leinwand  wurde  teilweise  auch  schon  in  konfektio¬ 
niertem  Zustande  in  den  Handel  gebracht.  In  der  Kramer¬ 
rolle  der  Stadt  Anklarn  aus  dem  Jahre  1330  finden  wir  als  Hand¬ 
werksgegenstände  erwähnt:  Tischtücher,  Handtücher,  Rollaken, 
Bettüberzüge,  Kissenüberzüge.  Alle  diese  Artikel  wurden  en  gros 
und  en  detail  gehandelt3. 

Von  Anfang  ihres  Bestehens  an,  so  dürfen  wir  annehmen, 
waren  die  Seidenindustrie  ebenso  wie  die  Baum  wo  11- 
und  Barchentweberei  auf  den  Absatz  ihrer  Erzeugnisse  in 
einem  interurbanen  bzw.  internationalen  Rahmen  angewiesen. 

Da  die  Gewinnung  der  Mineralien  und  Metalle  nur  an 
einzelnen  über  die  ganze  Erde  verstreuten  Fundstätten  erfolgte, 
so  konnte  ihr  Verbrauch  nie  in  größeren  Mengen  stattfinden,  ohne 
daß  sie  Objekte  des  interlokalen  und  internationalen  Handels 
geworden  wären.  Das  sind  sie  denn  auch  während  des  ganzen 
Mittelalters  gewesen.  Zinn  bildet  von  altersher  den  Gegen¬ 
stand  eines  internationalen  Handels4,  Steinkohle  %drd  seit 

es  sich  vor  dem  12.  Jahrhundert  schon  um  die  Erzeugnisse  hand¬ 
werksmäßiger  Weberei  gehandelt  habe.  Vgl.  E.  Kober,  a.  a.  0. 
und  R.  Häpke  in  den  Hans.  Gesch.Bl.  1906. 

1  Von  der  großen  Ausdehnung  des  internationalen  Tuchhandels 
im  14.  und  15.  Jahrhundert  gibt  eine  gute  Vorstellung  die  Übersicht 
über  die  in  Danzig  zum  Verkauf  kommenden  Laken-  oder  Tuchsorten 
bei  Th.  Hirsch,  Danzigs  Handels-  und  Gewerbegeschichte  (1858), 
250  ff. 

2  Siehe  über  den  Leinenhandel  im  Mittelalter  im  allgemeinen,  und 
den  von  Konstanz  im  besonderen  die  Ausführungen  von  Schulte, 
M.A.Handel  1,  112  ff. 

3  Bei  K.  F.  Kl  öden,  Über  die  Stellung  des  Kaufmanns  während 
des  Mittelalters.  1.  Stück.  1841.  S.  33. 

4  G.  R.  Lewis,  The  Stannaries.  A  Study  in  english  tin  miner 
(1908),  33  ff. 


236  Vierter  Abschnitt :  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

dem  13.  Jahrhundert  in  England  als  Sea-coal  bezeichnet,  seit  sie 
über  See  exportiert  wird1.  Ziegeln  in  England  aus  Flandern 
eingeführt  (14,  Jahrh.) 2. 

Eisen  und  Erze  werden  schon  im  10.  Jahrhundert  nach 
Oberitalien  eingeführt3.  Wir  finden  Eisen  als  Einfuhrartikel  aus 
Europa  nach  Ägypten  im  12.  und  13.  Jahrhundert4,  als  Import¬ 
artikel  nach  England  Anfang  des  14.  Jahrhunderts5,  als  Gegen¬ 
stand  des  deutsch-italienischen6,  des  hansischen 7  Handels  während 
des  ganzen  Mittelalters. 

Deutsches  Silber  begegnet  uns  im  13.  Jahrhundert  auf  den 
Messen  der  Champagne8  und  auf  dem  Wege  nach  England9. 
Es  wird  im  14.  und  15.  Jahrhundert  von  den  Großkaxifleuten 
Danzigs10  ebenso  wie  von  den  Krämern  Lübecks 1 1  gehandelt;  es 
erfreut  sich  zunehmender  Beliebtheit  im  deutsch-italienischen 
Handelsverkehr 12. 

Ebenso  sind  Kupfer,  Messing,  Blei  oft  genannte  Objekte 
des  internationalen  Güteraustauschs  schon  im  frühen  Mittelalter. 
Wir  hören  davon  im  10.  Jahrhundert  im  deutsch-italienischen 
Verkehr13,  im  11.  Jahrhundert  im  Handel  mit  England14,  im 
12.  Jahrhundert  am  Ehein15,  im  13.  Jahrhundert  in  Eise- 

1  Matth.  Dünn,  View  of  the  coal  trade  of  the  north  of  England 
(1844),  11  ff-  Salzmann,  1.  c.  1  ff .  (auf  Grund  neuen  hdschr. 
Materials). 

'A  üalzmann,  1.  c.  p.  125. 

3  Dem  ältesten  Zollkatalog  aus  der  Alpenwelt  zufolge,  dem  von 
Bischof  Giso  von  Aosta  900  abgefaßten ;  vgl.  Schulte  1,  68. 

4  Heyd,  Gesch.  des  Levantehandels.  2  Bde.  1879.  1,  424.  426. 

437. 

6  Hansaakten  aus  England  1275 — 1412,  bearbeitet  von  K.  Kunze, 
1891.  S.  XLV  (Hansische  Geschichtsquellen  Bd.  VI). 

6  Schulte  1,  693  u.  öfters. 

7  Hans.  U.B.  Bd.  I  Nr.  432  und  öfters. 

8  Schaube,  Ein  italienischer  Kursbericht  usw.  Zeitschr.  f.  Soz. 
u.  Wirtschaftsgesch.  5,  248). 

9  W.  Cunningham,  The  growth  of  english  industry  and  com¬ 
merce  1  (1890),  184. 

10  Th.  Hirsch,  a.  a.  O.  S.  257  ff. 

11  Wehrmann,  a.  a.  O.  S.  273. 

19  Schulte  1,  594. 

13  Zollkatalog  Gisos  von  Aosta  bei  Schulte  1,  68. 

14  Ashley  1,  70  nach  Aelfrics  Colloquy  (um  1000). 

15  Zollprivileg  der  Abtei  S.  Simeon  von  1104  bei  Falke,  a.  a.  O. 
S.  139;  Zollprivileg  der  Kaufleute  von  Dinant,  erteilt  vom  Senat  der 
Stadt  Köln,  Ennen,  Quellen  1,  7  Nr.  5.  Schreiber,  TJ.B.  der 
Stadt  Freiburg  i.  B.  1  (1828),  5/6, 


237 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Ärt  dev  Bedarfsdeckung 

nach1,  in  Hamburg 2,  in  Flandern8 ;  im  14.  Jahrhundert  bilden  die 
genannten  Metalle  ein  beliebtes  Handelsobjekt  in  England4,  in 
Lübeck5,  in  Danzig0,  im  deutsch-italienischen  Handel7,  werden 

sie  en  gros  und  en  detail  gehandelt  in  Städten  wie  Anklam 
Goslar8. 

,  Aber  nicllt  die  -Rohstoffe  und  Halbfabrikate,  auch  die 
fertigen  Erzeugnisse  der  Metallindustrie  kamen  früh¬ 
zeitig  in  den  Handel.  Allen  voran  Schutz-  und  Trutzwaffen. 
Bereits  im  10.  Jahrhundert  bringen  die  Venetianer  Waffen  aus 
den  Schmieden  der  Lombardei,  Steiermarks  und  Kärntens  zu  den. 
überseeischen  Völkern 9.  Schwerter,  Lanzen  und  Panzer  finden 
wir  während  des  10.  Jahrhunderts  als  Handelsgegenstände  auf 
den  Verkehrsstraßen  der  Alpen 10.  Von  den  „Kölner  Schwertern“ 
aber  erhalten  wir  Kunde  am  Oberrhein  schon  im  12.  Jahrhundert n, 
im  Handel  mit  England  Ende  des  13.,  Anfang  des  14.  Jahr¬ 
hunderts1";  einem  Waffenhandel  begegnen  wir  dann  häufig 
während  des  13.  Jahrhunderts,  so  in  Pirna13,  in  Eisenach 13,  und 
noch  mehr  in  den  folgenden  Jahrhunderten,  so  in  Osnabrück14, 
in  Danzig  5,  in  Lübeck 16.  Aus  diesen  beliebig  herausgegriffenen 
Urkundenbelegen  dürfte  ohne  weiteres  auf  einen  blühenden,  aus¬ 
gedehnten  jinternationalen  Waffenhandel 17  während  des  ganzen 


1  Falke,  Zollweseu,  144. 

2  Ebenda,  146. 

3  Hans.  TJ.B.  Bd.  I  Nr.  432. 

4  Hans.  Geschichtsquellen  Bd.  6  S.  XLV,  334. 

5  Wehr  mann,  272  ff. 

6  Hirsch,  a.  a.  0. 

7  Schulte  1,  692  ff. 

8  Kramerordnungen  der  genannten  Städte  bei  Kl  öden,  1.  Stück 

§  3. 

9  W.  Heyd,  Gesch.  des  Levantehandels  1,  125/26.  A.  Schaube 
Hand.Gesch.  23  f. 

10  Zollkatalog  von  Aosta  960  bei  Schulte  1,  68.  Nach  Schultes 
Meinung  handelt  es  sich  dabei  um  Erzeugnisse  der  Mailänder 
Waffenindustrie  (1,  69). 

11  Mitt.ßh.  U.B.  1,  409.  2,  242.  Falke,  a.  a.  O.  S.  139. 
v.  Below,  a.  a.  0.  S.  148. 

12  Hans.  Geschichtsquellen  5,  XLV. 

13  Falke,  144. 

14  Frensdorf f,  Dortmunder  Stat.  CXXXI. 

16  Hirsch,  261. 

16  Wehrmann,  456. 

17  Vgl.  noch  W.  Bö  heim,  Die  Waffe  und  ihre  einstige  Bedeutung 
im  Welthandel.  Zeitschr.  f.  histor.  Waffenkunde  1,  171  ff. 


238  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Mittelalters  geschlossen  werden,  auch  wenn  die  Annahme  eines 
solchen  aus  allgemeinen  Erwägungen  heraus  nicht  allein  schon 
selbstverständlich  wäre. 

Mit  den  Waffen  wetteiferten  als  Gegenstände  interlokalen 
Güteraustausches  und  nahmen  vielfach  die  Stelle  der  Schwerter, 
Harnische,  Kappen  usw.  ein,  als  diese  durch  die  Entwicklung 
der  modernen  Kriegstechnik  anfingen ,  ihren  Abnehmerkreis  zu 
verlieren,  andere  Erzeugnisse  der  Metallindustrie, 
besonders  Eisenwaren:  Werkzeuge,  Messer,  Schlösser,  Steck¬ 
nadeln,  Nähnadeln,  Haken,  Ösen  und  was  sonst  heute  unter  der 
Bezeichnung  „eiserne  Kurzwaren“ 1  zusammengefaßt  zu  werden 
pflegt.  Daß  sie  in  größeren  Mengen  in  den  Handel  kamen, 
dürfen  wir  aus  den  Bestimmungen  der  Zolltarife  des  13.  bzw. 
14.  Jahrhunderts  entnehmen ,  in  denen  bestimmt  wird ,  daß  sie 
nach  Stück,  Dutzend  oder  Schock  zur  Y erzollung  kommen 
sollen2.  Berühmt  während  des  Mittelalters  als  Erzeugungsort 
eiserner  Kurzwaren  war  bekanntlich  Nürnberg;  daher  für  der¬ 
artige  Dinge  ebenso  wie  für  sogenannte  Galanteriewaren 
lange  —  bis  in  unsere  Zeit  hinein  —  der  Ausdruck  „Nürnberger 
Ware“  gebraucht  zu  werden  pflegte3. 


1  Das  Mittelalter  hatte  dafür  die  Bezeichnung  minuta,  minuta 
.  inercimonia.  Ygl.  Hans.  Geschichtsquellen  5  Nr.  56,  154,  374  (Ein¬ 
fuhrartikel  nach  England  während  des  13.  und  14.  Jahrh.).  Auch 
unter  cromerey,  merserie,  merc.  institoria  verstand  man  vielfach  das¬ 
selbe:  calibem  et  ferrum  et  alia  merc.  institoria.  Hans.  U.B.  Bd.  4 
Nr.  224.  Vgl.  Nr.  965  (1). 

2  Siehe  z.  B.  den  Zolltarif  für  die  Niederlage  der  Stadt  Pirna  bei 
Falke,  Zollwesen,  144.  Zahlreiche  Sorten  von  eisernen  Kurzwaren 
in  den  Kramerrollen  von  Anklam  (1330),  Goslar  (vor  1359),  mitgeteilt 
bei  Kl  öden,  1.  Stück  S.  31  ff. 

8  In  Lübeck  durften  die  Nürnberger  folgende  von  ihren  Hand¬ 
werkern  angefertigten  Waren  in  offenen  Kellern  verkaufen  (15.  Jahr¬ 
hundert):  Schlösser,  Messer,  Spiegel,  hölzerne  und  bleierne  Pater¬ 
noster,  Pfriemen,  Blech,  Waffenhandschuhe,  stählerne  Bügel,  Flöten, 
messingene  Spangen,  Kinderglocken,  zinnerne  Schüsseln,  Pferdezäume, 
Steigbügel,  Sporen,  Brillen,  messingene  Fingerhüte,  bleierne  Spangen, 
Dosen,  Tafeln,  Kinderbinden.  Wehrmann,  Einleitung  S.  107.  Im 
Handel  mit  Italien  während  des  14.  und  15.  Jahrh.  finden  wir  ferner 
von  Erzeugnissen  der  Nürnberger  Metallindustrie :  Altarle uchter, 
Schreibleuchter,  Hängelampen,  Messingschüsseln,  Wagen,  Klistier¬ 
spritzen,  Kompasse,  Scherbecken,  Schermesser,  Zirkel  u.  a.  Schulte 
1,  719.  Von  der  Ausdehnung  des  Nürnberger  Exports  legen  Zeugnis 
ab  die  überaus  zahlreichen  Zollbefreiungen,  die  sich  Nürnberg 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  239 

\  on  andeien  gewerblichen  Erzeugnissen,  die  wir  außer  den 
genannten  noch  als  Gegenstände  des  interlokalen  Handels  während 
des  Mittelalters  finden,  mögen  einige  der  wichtigeren  nur  noch 
kurz  mit  Angabe  der  Belegstellen  registriert  werden. 

Holz  war  en: 

10.  Jahrh.:  Schüsseln,  hölzerne  Näpfe  auf  den  deutsch-italieni¬ 

schen  Verkehrsstraßen  h 

11.  Jahrh.:  Wannen,  Schüsseln2,  Fässer  (dolia),  vasa  lignea 3  sind 

Handelsartikel. 

12.  Jahrh.:  Holzwaren  auf  den  Messen  zu  Enns  feilgeboten4. 

13.  Jahrh.:  Holzwaren  einer  der  Einfuhrgegenstände  nach  Eno-- 

land 5. 

14.  Jahih. :  Dauben,  Reifen,  Stickholz,  Schüsseln  in  Moselland r>, 

Mulden,  Schaufeln,  Schüsseln  in  Danzig  gehandelt7. 

15.  Jahrh.:  Hamburger  Tonnen  ; dürfen  in  Sneek  (Friesland)8 

auch  außer  auf  Jahrmärkten  feilgeboten  werden. 

Häute  und  Leder 

sind  frühzeitig  in  den  Handel  gekommen:  Rinds-,  Bocks-,  Kuh-, 
Schafshäute  im  Trierer  Tarif  von  1248 9,  die  Gerberei  eines 
der  häufigsten  Exporthandwerke:  Basel  im  15.  Jahrhundert 
hat  59  reiche  Gerbermeister  mit  einem  Arbeitsmaximum  von 
360  Häuten  jährlich  (insgesamt  21240  Häute,  also  durchaus 
handwerksmäßiger  Umfang  der  Produktion)  bei  ca.  10  000  Ein¬ 
wohnern  mit  133  Schuhmachern10.  Wir  erfahren  von  einem 
Lederhandel  in  England  während  des  13.  Jahrhunderts11,  in 

an  verschiedenen  Zollstätten  auszuwirken  wußte.  Das  Verzeichnis 
von  1332  zählt  nicht  weniger  als  69  Orte  auf,  in  denen  Zoll¬ 
befreiungen  bestanden,  und  zudem  das  ganze  Königreich  Arelat 
Schulte  1  658. 

1  Zolltarif  Gisos  von  Aosta  bei  Schulte  1,  68. 

2  A.  Schaube,  Handelsgeschichte,  24. 

v.  Below,  Entstehung  des  Handwerks,  a.  a.  O.  S.  152 

4  Falke,  Handel  1,  77. 

5  Hans.  Geschichtsquellen  5,  XLV. 

0  Tarif  des  erzstiftischen  Kochemer  Zolls:  Lamprecht,  DWL. 

2,  311. 

7  Hirsch,  253. 

8  Stadtbuch  von  1456,  vgl.  Hegel,  Städte  und  Gilden  2,  290. 

9  Originalauszug  bei  Lamprecht,  DWL.  2,  315. 

10  Geering,  141. 

Hegel,  Städte  und  Gilden  1,  99.  Vgl.  Salzmann,  1.  c.  p.  174, 


240  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Schweden  während  des  14.  Jahrhunderts1.  Leder  ist  Gegen¬ 
stand  des  Dortmunder2 *,  Breslauer8,  Erfurter4,  Nürnberger5 
Handels  im  Mittelalter.  Leder  als  en  gros-  und  en  detail- 
Handelsartikel  erwähnt  in  der  Kramerordnung  von  Goslar 
(14.  Jahrhundert)6.  In  der  Zollrolle  Margaretes  von  Flandern 
•  (1252)  werden  zahlreiche  Ledersorten  aufgefiihrt 7.  Lebhafter 
Lederhandel  in  Poitou  im  13.  und  14,  Jahrhundert s. 

Der  Weg,  den  das  Leder  vom  Produzenten  zum  Konsumenten 
nimmt,  ist  im  Mittelalter  häufig  länger  als  heute.  Jetzt  kauft 
die  große  Schuhfabrik  in  der  Lederfabrik,  die  vielleicht  selbst 
ihre  Aufkäufer  in  Indien  hat.  Aus  dem  mittelalterlichen  Eng¬ 
land  erfahren  wir  dagegen ,  daß  die  Gildemitglieder  das  Privi¬ 
legium  hatten,  ungegerbte  Häute  aufzukaufen  (corea  recencia 
emere),  die  sie  an  die  Gerber  absetzten,  um  dann  deren  Produkt, 
das  gegerbte  Leder,  an  die  Schuster  zu  übermitteln9. 

Lederwaren: 

Deutsche  Sattlerarbeiten  im  10.  Jahrhundert  im  Auslande  ge¬ 
schätzt10;  im  ganz  frühen  Mittelalter  deutsche  Zügel  und  säch¬ 
sische  Sättel  von  lombardischen  Bischöfen  benutzt11;  Geschirre, 
Gegenstände  des  Dortmunder  Handels  im  Mittelalter12 *.  Beutel, 
Gürtel,  Taschen  usw.  aus  „vrendim  steten  von  gesten“  in  Schweid¬ 
nitz  feilgehalten  (1336) ia. 

Verschiedene  Kurz  waren: 

Elfenbeinene  Kämme  sind  Objekte  des  internationalen  Handels 
im  frühesten  Mittelalter14.  Hornkämme  finden  sich  (14.  Jahr- 

1  Hegel  1,  280/81.  293. 

2  Frensdorff,  Dortmunder  Statuten  und  Urteile,  in  Hans.  Ge¬ 
schichtsquellen  3  (1882),  CXVI. 

8  C.  Grünhagen,  Schles.  am  Ausgange  d.  MA. ,  Zeitschr.  f. 
Gesch.  u.  Alt.  Schles.  18  (1884),  39. 

4  Falke,  Handel  1,  135. 

5  Falke,  127. 

6  Bei  Kl  öden,  Stellung  des  Kaufmanns,  1.  Stück  S.  86. 

7  Hans.  U.B.  Bd.  I  Nr.  432. 

8  Boissonade  1,  14. 

9  Nach  Groß,  Guild  Merchant;  Doren,  150. 

10  v.  Below,  a.  a.  0.  S.  153. 

11  Schulte  1,  74. 

12  Hans.  Geschichtsquellen  3,  CXVI. 

18  Cod.  dipl.  silesiac.  5,  19.  20. 

14  Schulte  1,  74, 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung 


241 


hundert)  in  den  Tarifen  von  Basel  und  Straßburg  \  in  den  Läden 
Anklams1  2,  allerhand  „kleyne  ding“  in  denen  von  Schweidnitz3. 
Paternoster  aus  verschiedenen  Stoffen  bildeten  während  des 
ganzen  Mittelalters  aus  naheliegenden  Gründen  einen  wichtigen 
Handelsartikel:  Wachs,  getrocknete  Fische  und  Paternoster  sym¬ 
bolisieren  gleichsam  den  tiefreligiösen  Zug  jener  Zeiten.  Von 
hölzernen  und  bleiernen  Paternostern  war  schon  die  Rede.  Vor 
allem  aber  kommen  diejenigen  aus  Bernstein  als  gesuchte  Handels¬ 
artikel  in  Betracht.  Der  Ort,  wo  sie  am  meisten  hergestellt 
wurden,  war  Lübeck.  Hier  bildeten  die  Paternosterer  während 
des  ganzen  Mittelalters  ein  kräftiges,  wohlhäbiges,  reich  besetztes 
Handwerk,  das  genossenschaftlich  den  Einkauf  des  Bernsteins 
besorgte  4. 

Bekleidung  und  Putz: 

12.  Jahrh. :  Kleider  als  Handelsartikel  im  Freiburger  Stadtrecht 

erwähnt5. 

13.  Jahrh.:  Kaufleute  aus  Lille  handeln  mit  Brügger  Hosen  nach 

Italien  6 ; 

—  Hosen  1252  in  der  Zunftrolle  Margaretes  von  Flandern7, 

12(32  in  der  Hamburger  Zollrolle  „packweise“  erwähnt8; 

—  Schuhe  finden  wir  gehandelt  auf  der  Messe  unterhalb  der 

Burg  von  Lags,  dem  Sitz  der  Grafschaft  für  Oberrhätien 9 ; 

—  Handschuhe,  Gürtel,  Börsen,  Yiolinsaiten  bei  den  Pariser 

„merciers“ 10. 

—  Pelzwerk  Gegenstand  des  Pisaner  Handels11  (1218). 

14.  Jahrh. :  Hosen,  Mützen,  Filzhüte,  Bänder,  Borten,  Spangen  usw. 

in  den  Kramläden  von  Lübeck12,  Danzig13,  Anklam 13 
Goslar14,  Schweidnitz 15  verkauft; 


1  Schulte  2,  105. 

2  Kramerordnung  von  1330  bei  Kloeden,  1,  33. 

3  Cod.  dipl.  silesiac.  5,  19.  20. 

4  C.  W.  Pauli,  Lübeckische  Zustände  1  (1874),  52. 

5  Schreiber,  Urkundenbuch  der  Stadt  Freiburg  1,  6. 

6  Schulte  2,  105  (Urk.  Nr.  188). 

7  Hans.  U.B.  Bd.  I  Nr.  432. 

8  Stieda,  a.  a.  0.  S.  111.  9  Schulte  1,  167. 

10  Dict.  du  mercier,  Crapelet,  Proverbes  et  dictons  populaires 

(1831). 


11  Santini,  Doc.  dell’antica  costit. 
p.  190. 

12  Wehrmann,  272  ff.  286  f. 

14  Klöden  1,  33.  53. 


del  com.  di  Firenze  (1895), 


Sombart,  Der  modern«  Kapitalismus.  I. 


13  Hirsch,  256. 

15  Cod.  dipl.  Siles.  5,  19  f. 


IC 


242  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

14.  Jahrh. :  Schuster  und  Schneider  in  Bergen  verkaufen  ihre 
Erzeugnisse  über  See 1 ; 

—  Straßburger  Barette  und  Hosen  nach  Italien  gehandelt2, 

Lübecksche  nach  Venedig3; 

—  in  Neustadt  Brandenburg  werden  in  einer  Ausstattung  an¬ 

getroffen  „delremundsche  Kleder“  4;  ausgedehnten  Handel 
mit  Kleidern  und  Putz  treiben  die  G-ebrüder  Bonis  in 
Montauban5,  auch  Vick  von  Geldersen  handelt  damit6. 

—  deutsche  Hüte  werden  nach  Mailand  eingeführt7,  sind  in 

Basel  starke  Importartikel8. 

Wie  sich  das  alles  nun  auf  einer  großen  Messe  zu  einem 
bunten  und  lebendigen  Ganzen  zusammenfügte:  das  zeigt  uns 
eine  Schilderung  der  Vorgänge  auf  der  berühmten  Messe  zu 
Winchester  in  England,  im  14.  Jahrhundert,  die  ich  hier  (in 
der  Übertragung  durch  Ashley)  in  ihren  Hauptzügen  wieder¬ 
geben  will9. 

Wilhelm  H.  gestattete  dem  Bischof  von  Winchester,  auf  dem 
östlichen  Hügel  außerhalb  der  Stadt  eine  dreitägige  Messe  ab¬ 
zuhalten.  Die  unmittelbaren  Nachfolger  des  Königs  bewilligten 
ihr  eine  längere  Dauer,  bis  sie  endlich  durch  einen  Freibrief 
Heinrichs  H.  auf  16  Tage  ausgedehnt  wurde,  vom  31.  August 
bis  zum  15.  September.  Am  Morgen  des  31.  August  riefen  die 
Iusticiare  des  bischöflichen  Zeltes  von  der  Spitze  des  Hügels 
die  Messe  als  eröffnet  aus;  darauf  ritten  sie  durch  die  Stadt, 
empfingen  die  Schlüssel  der  Tore,  belegten  die  Wage  auf  dem 
städtischen  Wollmarkt  mit  Beschlag,  auf  daß  sie  während  der 
Messe  nicht  benutzt  würde,  und  ritten,  mit  dem  Bürgermeister 


1  Hegel,  a.  a.  0.  1,  407- 

2  Schulte  1,  706. 

3  Stieda,  a.  a.  0.  S.  111.  Vgl.  dazu  noch  Hans.  U.B.  Bd.  4 
Nr.  621,  1017  (3),  1018  (8). 

4  G.  Sello,  Brandenb.  Stadtrechtsquell.  (Mark.  Forsch.  18 
[1884],  12.) 

5  Le  livre  de  comte  de  freres  Bonis;  ed.  E.  Forestie.  Arch. 
hist,  de  la  Gascogne,  fase.  20.  23.  26.  1890 — 94.  20,  LII  ff. 

6  Das  Handlungsbuch  Vickos  von  Geldersen;  bearb.  v.  H.  Nirrn- 
heim  (1895),  LVIII. 

7  Schulte  1,  718. 

8  Geerin  g,  233. 

9  Siehe  Dean  Kitchins  Einleitung  zu  dem  Freibriefe  Eduards  III. 
für  die  S.  Giles  Fair  in  den  Winchester  Cathedral  Records  No.  2 
(1886). 


243 


Fünfzehntes  Kapitel :  Die  Art  der  Bedarfsdeckung 

und  den  bailifis  in  ihrem  Gefolge,  nach  dem  großen  Zelt  oder 
Pavillon  auf  dem  Hügel  zurück.  Hier  ernannten  sie  einen  be¬ 
sonderen  Bürgermeister,  einen  bailiff  und  einen  Gerichtsbeamten, 
um.  die  Stadt  während  der  Meßzeit  in  des  Bischofs  Namen  zu 
legieren.  Der  Hügel  bedeckt  sich  bald  mit  Reihen  hölzerner 
Buden ;  in  einer  standen  die  Kauf leute  von  Flandern ,  in  einer 
zrweiten  die  von  Caen  oder  einer  anderen  normannischen  Stadt, 
in  einer  dritten  die  Handelsleute  von  Bristol.  Hier  gab  es  eine 
Goldschmied-  dort  eine  Tuchmacherreihe.  Um  das  Ganze  zog 
sicn  ein  Zaiui  mit  bewachtem  Eingang:  Vorsichtsmaßregeln, 
welche  unternehmende  Abenteuerer  nicht  immer  daran  hinderten, 
sich  der  Zahlung  von  Zöllen  zu  entziehen,  indem  sie  sich  durch 
Untergrabung  der  Umfriedigung  einen  Weg  in  das  Innere  des 
Marktes  bahnten.  Zu  Pferde  und  in  voller  Rüstung  erschienen 
am  ersten  Tage  vor  des  Bischofs  Iusticiarien  auch  alle  jene 
bischöflichen  Hintersassen,  die  durch  ihr  Lehen  zum  Kommen 
verpflichtet  waren,  unter  ihnen  hatten  drei  oder  vier  darüber  zu 
wachen,  daß  die  Urteile  des  Meßgerichtes  und  die  Anordnungen 
des  bischöflichen  Marschalls  in  gehöriger  Weise  zur  Ausführung 
gelangten,  auf  der  Messe  sowohl  als  in  Winchester  und  South¬ 
ampton. 

Jeder  Handelsverkehr  in  Winchester  und  innerhalb  eines 
Umkreises  von  t  Meilen  wurde  für  die  Meßzeit  zwangsweise 
aufgehoben.  An  abseitshegenden  Posten,  auf  Brücken  und  an¬ 
deren  Verkehrswegen  waren  Wachen  aufgestellt,  die  daraufzu 
sehen  hatten,  daß  den  bischöflichen  Rechten  nicht  Abbruch  ge¬ 
schehe.  In  Southampton,  welches  außerhalb  des  Bannkreises 
lag,  durften  während  der  Messe  nur  Lebensmittel  verkauft 
werden,  und  selbst  die  Handelsleute  aus  Winchester  mußten  auf 
den  Hügel  übersiedeln  und  dort  ihrem  Gewerbe  nachgehen.  Es 
gab  eine  Stufenfolge  von  Zöllen  und  Abgaben :  alle  während  der 
ersten  Woche  aus  London,  Winchester  oder  Wallingford  kom¬ 
menden  Kaufleute  waren  frei  von  Eingangszöllen;  nach  dieser 
Zeit  kommende  zahlten  Zoll,  ausgenommen  die  Mitglieder  der 
Kaufmannsgilde  von  Winchester.  Für  das  Wägen  eines  Ballens 
Wolle  wurden  als  „bischöfliche  Wägegebühr''  4  Pence  bezahlt, 
außerdem  vom  Käufer  und  Verkäufer  je  1  Pfennig  für  den 
Wägemeister;  ähnlich  verhielt  es  sich  mit  den  Abgaben  für 
andere  Waren.  Auf  jeder  Messe  gab  es  einen  court  of  pie- 
ponder  (so  genannt  von  den  staubigen  Füßen  der  Rechtssuchenden) 
ein  besonderes  Meßgericht,  auf  welchem  der  Vertreter  des 


244  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Grundherrn  über  alle  vorkommenden  Streitigkeiten  nach  kauf¬ 
männischem  Recht  entschied,  indem  er  zugleich  die  sonst  geltende 
Gerichtsbarkeit  der  Stadt  zeitweilig  aufhob;  in  Winchester 
wurde  dieses  Gericht  „Pavilion-bourt“  (Zeltgericht)  genannt. 
Hierher  brachten  die  bischöflichen  Diener  alle  Maße  und  Ge¬ 
wichte  zur  Prüfung;  hier  setzten  die  Richter  eine  Taxe  oder 
ein  bestimmtes  Gewicht  für  Brot,  Wein,  Bier  und  andere  Lebens¬ 
mittel  fest,  und  jeder  Bäcker,  dessen  Brot  sich  nicht  als  voll¬ 
wichtig  erwies,  wurde  zum  Pranger  verurteilt;  hier  endlich 
wurden  täglich  unter  Vorlegung  und  Vergleichung  der  ein¬ 
gekerbten  Kerbhölzer  von  den  Geschworenen  Schuldstreitigkeiten 
zwischen  den  Kaufleuten  geschlichtet. 

Ein  Gegenstück  zu  dieser  Schilderung  bildet  das  Gedicht,  das  den 
„Lendit“,  das  heißt  die  Messe  in  St.  Denis,  im  14.  Jahrhundert  besingt : 

„La  plus  roial  foire  du  monde.“ 

Der  Dichter  schildert  zunächst,  wie  die  Prozession  von  Notre-Dame 
vorüberzieht,  die  die  gesamte  Kaufmannschaft  segnet.  Dann  beginnt 
er  die  Aufzählung  der  Stände  mit  den  verschiedenen  Handwerkern 
und  Händlern,  die  ihre  Dienste  (barbiers,  tavenciers  u.  a.)  oder  Waren 
feilbieten.  Es  ist  eine  ebenso  bunte  Reihe,  wie  wir  sie  in  Winchester 
angetroffen  haben:  unnütz,  sie  einzeln  zu  nennen.  Besonderes  Inter¬ 
esse  bietet  das  Gedicht  dem  Wirtschaftsgeographen  durch  die  lange 
Liste  von  Bezugsorten,  aus  denen  die  hier  feilgebotenen  Waren  stammen. 
Das  Gedicht  ist  im  zweiten  Bande  der  Sammlung  Barbazan  und 
M 6 o n  abgedruckt  und  bildet  die  Nr.  79  bei  Fagniez,  Doc.  2  (1900). 

II.  Die  Produzenten 

Die  Art  und  Weise ,  wie  die  Produzenten  ihren  Bedarf  an 
Produktionsmitteln  deckten,  ist  in  den  vorhergehenden  Blättern 
schon  mitbehandelt  worden;  denn  es  ist  im  Grunde  dieselbe  wie 
die,  deren  sich  die  letzten  Konsumenten  bedienten,  um  sich  die 
von  ihnen  begehrten  Gebrauchsgüter  zu  beschaffen.  Es  erübrigt 
sich  daher,  eine  quellenmäßige  Darstellung  der  hier  befolgten 
Geschäftspraxis  zu  geben.  Des  Zusammenhangs  und  besseren 
Überblicks  wegen  will  ich  nur  noch  in  Kürze  bei  den  wichtigsten 
Gewerben  die  in  Frage  kommenden  Bezugsmöglichkeiten  an¬ 
geben. 

Der  Bäcker  bekommt  entweder  das  Mehl  vom  Kunden  ge¬ 
liefert  oder  er  läßt  beim  Müller  das  Getreide  vermahlen,  das  er 
selbst  gekauft  oder  das  ihm  der  Kunde  geliefert  hat.  Seinen 
Backofen  läßt  er  sich  vom  Maurer  nebenan  bauen,  indem  er 
selbst  die  Materialien  dazu  hergibt  oder  nicht.  Seine  Gerät¬ 
schaften  bestellt  er  beim  benachbarten  Schmied  oder  Stellmacher, 


Fünfzehntes  Kapitel:  Die  Art  der  Bedarfsdeckung  245 

oder  Böttcher  oder  Pinselmacher,  oder  kauft  er  auf  den  Jahr¬ 
märkten  fertig. 

Der  Fleischer  kauft  das  Vieh  auf  den  städtischen  Vieh¬ 
märkten  vom  Produzenten  oder  vom  vereidigten  Viehmakler 
(wie  in  Paris)  oder  er  geht  auf  die  Dörfer  oder  auf  benachbarte 
Märkte  einkaufen,  oder  er  zieht  selbst  Vieh  auf1. 

Vom  Fleischer  kauft  der  Lichtzieher  den  Talg;  der  Spinner 
die  Schafshaut. 

Die  Eisen,  Blei,  Kupfer  verarbeitenden  Gewerbe 
decken  ihren  Bedarf  an  Rohstoffen  auf  den  Märkten  vom 
Händler. 

Die  Holz  verarbeitenden  Gewerbe  kaufen  das  Holz  in 
den  benachbarten  Wäldern  oder  von  den  Flößern  in  der  Stadt, 
wenn  diese  an  einem  Strome  liegt.  Es  wird  wohl  aber  auch 
Holzhändler  gegeben  haben. 

Die  Leder  verarbeitenden  Gewerbe  fanden  ihren 
Rohstoff  auf  dem  Ledermarkte,  wenn  sie  nicht  Häute  einkauften, 
die  sie  vom  Gerber  gegen  Lohn  gerben  ließen. 

Im  Baugewerbe  gab  es  Kalk-,  Ziegel-,  Steinhändler,  von 
denen  die  Maurer  oder  Steinmetzen  (falls  ihnen  der  Bauherr 
nicht  das  Material  lieferte)  kaufen  konnten.  Sie  ließen  bei 
Kalk-  und  Ziegelbrennern  das  Rohmaterial  zum  Stufenfabrikat 
verarbeiten  (wir  lernten  solche  Fälle  oben  kennen).  Glas  wird 
der  Bauglaser  wohl  auf  den  Ständen  der  Jahrmärkte  gefunden 
oder  von  herumziehenden  Glasmachern  gekauft  haben,  wenn  er 
nicht  selbst  die  Hütte  aufsuchte. 

In  der  Textilindustrie  laufen  alle  Bezugsarten  durch¬ 
einander.  Wolle,  Flachs,  Hanf  wurden  vom  Produzenten  oder 
Händler  auf  den  Märkten  feil  geboten.  Seide  war  beim  Mercier 
zu  kaufen.  Die  einzelnen  Stufenprozesse  der  Gewebeherstellung 
wurden  vielfach  in  wechselseitiger  Lohnarbeit  verrichtet:  der 
Weber  ließ  vom  Spinner  den  Rohstoff  verspinnen,  der  Färber 
arbeitete  gegen  Lohn  für  den  Weber  oder  der  Weber  für 
den  Färber,  der  Walker  für  den  Weber,  der  Färber  für  den 
Schneider  und  so  fort  in  buntem  Durcheinander.  Häufig  läßt 
der  Verkäufer  des  fertigen  Gewebes  (der  Gewandschneider, 
Drapier,  draper)  einige  oder  alle  Stufenprozesse  im  Lohnwerk 
ausführen.  Gerätschaften,  Handwerkszeug,  Hilfsstoffe  lieferte 

1  Bezeugt  für  England :  Green,  Town  Life  2,  40;  Frankreich: 
Fagniez,  Etudes,  p.  184;  für  Strafshurg:  A.  Herzog,  a.  a.  0. 
S.  60  f. 


246  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

auch  für  die  Textilindustrie  teilweise  der  Nachbar  Handwerker 
auf  Bestellung  (wer  fertigte  "Webstühle  an?  ich  habe  in  den 
Quellen  nie  etwas  gefunden:  der  Stellmacher?  der  Tischler?); 
teilweise  wurden  sie  auf  Speziaknärkten  (Krapp !  Waid !),  teil¬ 
weise  auf  den  Jahrmärkten  (ausländische  Farbstoffe !)  eingekauft. 

Zusammenfassend  läßt  sich  sagen:  daß  die  Beschaffung  der 
Produktionsmittel  in  derselben  Weise  wie  heute  sich  abspielte 
mit,  folgenden  Abweichungen  vom  heutigen  Verfahren:  der  Ein¬ 
kauf  der  fertigen  Gegenstände  erfolgte  immer  in  Form  des  Loko- 
kaufs  und  zwar  fast  regelmäßig  in  den  dazu  bestimmten  öffent¬ 
lichen  Kaufstätten  (Kaufhäusern,  Hallen,  Marktbuden).  In  fast 
allen  Städten  ist  der  Absatz  direkt  vom  Händler  (oder  Produ¬ 
zenten)  an  den  Käufer  mit  Umgehung  der  öffentlichen  Kauf¬ 
stätten  verboten.  Und  das  Verbot  wurde  durchgeführt,  wie 
zahlreiche  Gerichtsverhandlungen  es  erweisen.  Es  fehlte  so  gut 
wie  ganz  der  Kauf  nach  Probe,  also  der  Lieferungshandel,  der 
eich  im  wesentlichen  auf  schriftlichem  Wege  abspielt. 


247 


Sechzehntes  Kapitel 

Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit 

I.  Die  Verknüpfung  der  Produzenten  mit  dem 

Markte 

Wenn  wir  jetzt  das  gewerbliche  Leben  der  mittelalterlichen 
Stadt  vom  Standpunkt  des  absetzenden  Produzenten  aus  be¬ 
trachten  wollen,  so  werden  wir  —  in  unmittelbarer  Anknüpfung 
an  die  bisher  gewonnene  Einsicht  —  zuvörderst  die  verschie&- 
denen  gewerblichen  Arbeiter  klassifizieren  nach  der  Art  und 
Weise,  wie  sie  ihre  Erzeugnisse  oder  ihre  Dienste  an  den  Mann 
(oder  an  die  Frau)  bringen.  Wir  haben  diese  Arten  alle  schon 
kennen  gelernt  und  brauchen  jetzt  nur  noch  einmal  ausdrücklich 
festzustellen:  Es  gibt  in  den  mittelalterlichen  Städten: 

1.  Gewerbliche  Produzenten,  die  im  Hause  des  Konsumenten 
arbeiten ; 

2.  Gewerbliche  Produzenten,  die  für  letzte  Konsumenten  lohn¬ 
wirken  und  dann  in  großem  Umfange  solche,  die  für  andere 
Produzenten  lohnwirken:  Färber,  Walker  usw.; 

3.  Gewerbliche  Produzenten,  die  für  den  lokalen  Markt  Güter 
produzieren,  sei  es  wiederum  auf  Bestellung,  sei  es  auf 
Vorrat; 

4.  Gewerbliche  Produzenten,  die  für  einen  großen  (interlokalen) 
Markt  produzieren:  „Exportgewerbe“. 

Mit  einem  AVorte:  alle  Arten,  wie  der  Produzent  mit  dem 
Markte  überhaupt  verknüpft  sein  kann,  kommen  in  den  Städten 
des  Mittelalters  vor. 

H.  Der  Standort  der  Gewerbe 

Aus  der  vorhergehenden  Aufzählung  der  Typen  gewerblicher 
Produzenten  ist  ohne  weiteres  zu  entnehmen,  daß  es  auch  im 
Mittelalter  nicht  etwa  bloß  ein  auf  den  lokalen  Markt  beschränktes 
Gewerbe  1  gab,  daß  vielmehr  die  eine  Stadt  für  die  andere  produ¬ 
zierte.  Es  fragt  sich :  nach  welchen  Gesetzen  bestimmte  sich 

1  Ubiquitäten  im  Sinne  von  Alfred  Weber,  Der  Standort  der 
Gewerbe.  1.  Teil  1912. 


248  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

in  jenen  Zeiten  der  Standort  derjenigen  Gewerbe,  die  für  einen 
großen  Markt  produzierten.  Hierüber  ist  meines  "Wissens  noch 
niemals  eine  Untersuchung  angestellt  worden  und  es  steht  hier 
abermals  für  den  Wirtschaftshistoriker  (mit  etwas  Geist)  eine 
dankenswerte  Aufgabe  auf. 

Was  sich  jetzt  schon  mit  einiger  Sicherheit  aussagen  läßt, 
ist  dieses: 

1.  Hie  lokale  Spezialisation  war  für  zahlreiche,  wich¬ 
tige  Gewerbe  im  Mittelalter  sehr  groß,  wahrscheinlich  größer 
als  heute.  Das  heißt :  bestimmte  Erzeugnisse  wurden  nur  in  dieser, 
andere  nur  in  jener  Stadt  hergestellt. 

In  dem  bekannten  Handbuch  eines  englischen  Hechtsgelehrten 
aus  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts1  finden  wir  als  Städte  mit 
Tuchfabrikation  verzeichnet:  Lincoln  für  Scharlachtuch,  Bligh 
für  Wollendecken,  Beverley  für  braunes  Tuch  (burnet),  Colchester 
für  grobes  Tuch  (russet)  —  in  den  Parlamentsakten  aus  dem 
Jahre  1301  sind  acht  Weber  aus  dieser  Stadt  aufgeführt.  Leinen¬ 
produktion  wird  verzeichnet  in  Shaftesbury,  Lewes  und  Aylesham, 
Seilerwaren  in  Warwich  und  Bridpart;  dieses  wird  auch  wegen 
seiner  Hanfwaren  gerühmt.  Feines  Brot  liefern  Wycombes, 
Hungerford  und  St.  Albans,  Messer  Maastead,  Nadeln  Wilton, 
Rasirmesser  Leicester.  Banbury  ist  durch  seine  Getränke  be¬ 
kannt;  Hitchin  durch  seinen  Met  und  Ely  durch  sein  Ale. 
Gloucester  ist  der  Hauptplatz  für  Eisen,  Bristol  für  Leder,  Coventry 
für  Seife,  Doncaster  für  Sattelgurte,  Chester  und  Shrewsbury 
für  Häute  und  Pelze,  Corfe  für  Marmor,  Cornwall  für  Zinn. 
Grimsby  liefert  Stockfische,  Eye  Weißlinge,  Yarmouth  Heringe, 
Berwick  Lachs,  Eipon  war  ein  Pferdemarkt  auch  noch  im 
16.  Jahrhundert,  Handschuhe  kaufte  man  in  Haverhill,  Ochsen 
in  Nottingham,  und  Sattelzeug  in  Northampton. 

Die  lokale  Spezialisation  war  besonders  groß  in  der  Textil¬ 
industrie,  aber  auch  in  anderen  Exportgewerben,  wie  z.  B. 
der  Waffenindustrie. 

Yon  einer  gleichmäßigen  Beherrschung  aller  Zweige  jener 
war  keine  Eede ;  das  Gegenteil  traf  zu :  hier  wurde  besser  blau, 
dort  besser  rot  gefärbt;  hier  verstand  man  sich  besser  auf  die 
Zubereitung  von  Lodentuchen,  dort  von  Leinwand2 3. 

Schon  früh  hatte  sich  beispielsweise  die  Schürlitzweberei 

1  Siehe  die  Auszüge  bei  Th.  Rogers,  Six  Centuries  etc.  Deutsche 

Übers.  S.  75  f. 

3  Siehe  z.  B.  A.  Schulte,  Gesch.  d.  Handels  1,  112. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  249 

spezialisiert :  in  Ulm  wurde  rot,  in  Augsburg  schwarz  gefärbt; 
Köln  war  neben  grün  und  schwarz  namentlich  für  den  blau  und 
weiß  gewürfelten  „Cölsch“  berühmt;  der  Baseler  Vogelschürlitz 
war  blau  oder  blau  und  weiß 1  usw. 

Noch  viel  länger  als  die  "Woll-  oder  Leinenindustrie  war  die 
Seidenindustrie  auf  einzelne  Städte  beschränkt  geblieben.  Es 
dauert  Jahrhunderte,  ehe  sie  selbst  in  Italien  von  Lucca  auf 
Genua,  Mailand  und  andere  Städte  sich  ausbreitete. 

Wie  sehr  das  zweite  große  Exportgewerbe  des  Mittelalters  — 
die  Metallindustrie,  namentlich  in  der  Waffenbranche — die 
Spezialität  entwickelte,  ist  bekannt.  Die  Klingen  von  Toledo, 
Brescia  und  Passau ,  die  Panzer  und  Harnische  von  Mailand, 
Innsbruck,  Nürnberg  hatten  allerorts  ein  Monopol2 3 * * * *. 

Um  uns  eine  richtige  Vorstellung  von  der  Bodenständig¬ 
keit  des  mittelalterlichen  Gewerbewesens  zu  machen,  müssen 
wir  es  etwa  mit  der  modernen  agrarischen  Spezialitäten¬ 
produktion  vergleichen:  Die  Landwirtschaft  hat  dank  ihrer 
Abhängigkeit  von  den  natürlichen  Bedingungen  des  Produktions¬ 
ortes  noch  heute,  namentlich  für  Delikatessen,  eine  weitgetriebene 
Lokalisierung  ihrer  Erzeugnisse  bewahrt.  Es  gibt  für  Gourmets 
Spezialkarten,  auf  denen  die  berühmtesten  Produktionsorte  für 
die  Bestandteile  einer  guten  Küche  verzeichnet  sind8.  Ähnlich 
würde  eine  gewerbegeographische  Karte  des  Mittelalters  aus- 
scliauen. 

Bekannt  ist  die  Vorliebe  des  Mittelalters,  den  verschiedenen 
Städten  je  ein  bestimmtes  Beiwort  zu  verleihen,  oder  sie  sonst 
durch  eine  bestimmte  Eigenart  zu  charakterisieren,  das  sie  von¬ 
einander  scheiden  sollte.  Da  finden  wir  häufig  die  Herstellung 
von  gewerblichen  Spezialitäten  als  Unterscheidungsmerkmal  in 
Anwendung  gebracht. 

Es  muß  jedoch  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  daß  die 
örtliche  Verteilung  der  Gewerbe  im  Mittelalter  auch  dort,  wo 

1  Geering  S.  308.  Einen  guten  Überblick  über  die  weitgehende 

Entwicklung  von  Spezialitäten  im  Tuchergewerbe  gibt  das  in 
Eiandern  im  12.  Jahrhundert  entstandene  Gedicht  Conflictus  ovis  et 
lini  von  169 — 212,  abgedruckt  in  M.  Haupts  Zeitschr.  f.  deutsches 
Altertum  11  (1859),  220  f. 

3  Vgl.  mit  den  bereits  genannten  Werken  W.  Böheims  etwa 

noch  H.  v.  Duyse,  Über  den  Handel  mit  Hiebwaffen  in  verschiedenen 

Epochen  in  der  Zeitschr.  f.  histor.  Waffenkunde  1,  65  ff. 

3  Z.  B.  Chatillon-Plessis,La  vie  ä  table  ä  la  fin  du  XIX.  siede 

(1894),  p.  225. 


250  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

sie  spezialisiert  war,  sich  in  einem  Punkte  wesentlich  von  der 
heutigen  Anordnung  der  einzelnen  Gewerbezweige  unterscheidet : 
die  Herstellung  eines  Spezialartikels  erfolgte  nur  in  einer  Stadt, 
dafür  aber  erfolgte  sie  auch  ganz,  von  Anfang  bis  zu  Ende  in 
dieser  Stadt.  "Während  heute  die  Teilprozesse  der  Produktion 
häufig  an  verschiedene  Orte  verlegt  sind,  spielen  sie  sich  im 
Mittelalter  häufiger  an  einem  und  demselben  Orte  ab.  Beispiele : 
Wenn  eine  Stadt  berühmt  wegen  ihrer  Klingen  war,  so  bezog 
sie  nicht  etwa  die  vorbereiteten  Stahlstäbe  und  die  Griffe  von 
zwei  anderen  Städten,  sondern  sie  erzeugte  sie  selbst.  Während 
heute  eine  Weberei  aus  verschiedenen  Orten  ihre  Garne  bezieht, 
wurden  im  Mittelalter  alle  für  die  Erzeugung  von  Stoffen  nötigen 
Verrichtungen  von  dem  Rohstoffe  bis  zum  fertigen  Gewebe  in 
einer  und  derselben  Stadt  vorgenommen:  man  denke  an  Weber¬ 
städte  wie  Florenz !  Zuweilen  schreiben  die  Zunftstatuten  diese 
Vereinigung  sämtlicher  Stufenprozesse  an  demselben  Orte  vor, 
so  die  der  Leineweber  in  Paris.  Keine  Tischlerei  wird  heute 
ihre  Bretter  an  Ort  und  Stelle  kaufen,  sie  bezieht  sie  von  der 
Sägemühle  an  der  fernen  Grenze  usw. 

Wohlgemerkt:  Es  handelt  sich  hier  nicht  etwa  um  eine  ver¬ 
schiedene  Spezialisierung  des  Arbeitsprozesses  selbst.  Diese 
kann  vielmehr  in  derselben  Weise  wie  heute  gestaltet  sein;  das 
heißt  auch  in  horizontaler  Richtung  die  Berufstätigkeiten  trennen: 
das  Schlagen,  Strecken,  Spinnen,  Weben  der  Wolle,  das  Scheren, 
Färben,  Appretieren  des  Tuches  kann  genau  so  wie  heute  (oder 
mehr  wie  heute)  den  Inhalt  besonderer  Berufe  bilden ;  was  allein 
den  Unterschied  zwischen  einst  und  jetzt  macht,  ist  die  (häufig, 
nicht  immer!)  verschiedene  räumliche  Anordnung  der  ver¬ 
schiedenen  Berufstätigkeiten. 

2.  Die  Gründe  für  diese  starke  und  eigenartige  Spezialisierung 
der  gewerblichen  Produktion  waren  zum  Teil  dieselben,  die  heute 
noch  den  Standort  der  Gewerbe  bestimmen.  Zum  sehr  beträcht¬ 
lichen  anderen  Teil  waren  es  im  Mittelalter  eigenartige  Gründe, 
die  sich  hier  wirksam  erwiesen:  in  einer  Zeit,  in  der  das  em¬ 
pirische  Verfahren  allein  herrschte,  mußte  nämlich  eine  bestimmte 
Kunstfertigkeit  (zu  weben,  zu  färben,  zu  schmelzen,  zu  ziselieren 
usw.)  weit  länger,  ja  unter  Umständen  dauernd,  auf  einen  kleinen 
Kreis  eingeweihter  Produzenten  beschränkt  bleiben,  weil  die 
Ausübung  dieser  Fertigkeit  das  „Geheimnis“  dieses  Kreises  blieb, 
jedenfalls  nur  sehr  schwer  von  anderen  erlernt  werden  konnte, 
die  nicht  an  Ort  und  Stelle  das  Gewerbe  austibten.  Nur  durch 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  251 

♦ 

die  Wanderung  der  Meister  konnte  die  Kunst  von  einem  Ort 
auf  den  anderen  übertragen  werden.  (Während  beute  die  techno¬ 
logische  Wissenschaft  allgegenwärtig  ist.) 

In  welchem  quantitativen  Verhältnis  die  gewerbliche  Pro¬ 
duktion  für  den  lokalen  Markt  zu  der  für  einen  interurbanen 
Markt  gestanden  habe,  werden  wir  genau  ziffernmäßig  für  das 
Mittelalter  voraussichtlich  ebensowenig  je  feststellen  können,  wie 
iüi  die  Gegenwart.  Daß  die  lokale  Gütererzeugung  eine  ver¬ 
hältnismäßig  größere  Bedeutung  gehabt  habe  als  heute,  darf 
nach  allem,  was  wir  über  die  wirtschaftlichen  Zustände  des 
Mittelalters  wissen,  nicht  in  Zweifel  gezogen  werden.  Manche 
Gewerbe,  die  heutigentags  sich  nur  an  einzelnen  Orten  finden, 
gab  es  im  Mittelalter  in  fast  jeder  Stadt,  so  zum  Beispiel  (und 
vor  allem!)  die  Weberei.  Will  man  mit  dem  Ausdruck  „ge¬ 
schlossene  Stadtwirtschaft“  dieses  Überwiegen  einer  räumlich 
begrenzten  Bedarfsdeckung  andeuten,  so  ist  gegen  seinen  Ge¬ 
brauch  nichts  einzuwenden.  Aber  Vorsicht! 

III.  Die  Zahl  der  gewerblichen  Produzenten  und 
ihre  Leistungsfähigkeit 

Über  den  ziffernmäßigen  Anteil  der  gewerblichen  Arbeiter  an 
der  Gesamtbevölkerung  oder  auch  nur  der  städtischen  Bevölkerung 
wissen  wir  sehr  wenig.  Man  hat  behauptet,  daß  die  Gewerbe 
im  engeren  Sinne  in  den  Städten  eher  einen  breiteren  Baum 
eingenommen  hätten  als  heute.  Aber  ob  die  wenigen  Ermittlungen, 
die  wir  besitzen,  typisch  sind,  vermögen  wir  nicht  zu  sagen  und 
Erwägungen  allgemeiner  Natur  lassen  sich  zugunsten  einer  be¬ 
stimmten  Annahme  kaum  anstellen.  Bücher  nimmt  für  das 
Ende  des  14.  Jahrhunderts  50 — 60%  als  den  Anteil  des  Hand¬ 
werkerstandes  an  der  (städtischen!)  Bevölkerung  an1.  Für  die 
Gewerbegruppen  H — IX  (also  die  Gewerbe  im  engeren  Sinne) 
rechnet  er  für  Frankfurt  im  Jahre  1387  51,4%  gegen  36,7  %  im 
Jahre  1875  heraus.  Dagegen  kommt  Eulenburg2  zu  wesentlich 
anderen  Ergebnissen:  Die  gewerbliche  Bevölkerung  Heidelbergs 
habe  nur  46,6%  im  Jahre  1588  gegen  47,7%  im  Jahre  1882  von 
der  Gesamtbevölkerung  ausgemacht. 

1  K.  Bücher,  Die  Bevölkerung  von  Frankfurt  a.  M.  im  14.  und 
15.  Jahrhundert.  1,  148  ff. 

2  Eulenburg,  Berufs-  und  Gewerbestatistik  Heidelbergs  usw., 
a.  a.  0.  S.  112. 


252  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


Einen  noch,  viel  geringeren  Anteil  an  der  Gesamtbevölkerung 
haben  aber  die  gewerblichen  Produzenten  wohl  in  den  großen 
Städten  des  Mittelalters  gebildet.  In  Paris  betrug  (nach  den 
Steuerlisten)  die  Zahl  der  „Handwerker“  (artisans ;  zu  denen  aber 
alle  „Detailhändler“  gezählt  sind)  im  Jahre  1292  4159,  im  Jahre 
.1300  5844  b  In  diesen  Ziffern  stecken  aber  auch  zum  Teil  die 
Gehilfen.  Wir  werden  sie  demnach  höchstens  mit  4  multiplizieren 
dürfen,  um  die  gewerbliche  Bevölkerung  zu  ermitteln ;  diese  hätte 
also  in  den  beiden  Jahren  rund  je  17  000  und  23000  Köpfe  ge¬ 
zählt  ;  das  würden  bei  meiner  Schätzung  der  Einwohnerzahl  von 
Paris  etwa  25—30%  sein.  Legt  man  die  üblichen  Schätzungen 
der  Einwohnerzahl  (100  000 — 200000)  zugrunde,  so  würden  nur 
10 — 20%  herauskommen. 

Sicher  dagegen  ist  wiederum  zweierlei: 

1.  Der  Anteil  der  Gewerbetreibenden  im  engeren  Sinne  an 
der  Gesamtbevölkerung  ist  im  Mittelalter  ganz  erheblich  ge¬ 
ringer  als  etwa  heute:  da  ja  die  große  Mehrzahl  der  gewerb¬ 
lichen  Produzenten  in  den  Städten  saß  und  diese  im  höchsten 
Falle  10%  der  Landesbevölkerung  umschlossen  (Rogers sehe 
Schätzung) ; 

2.  Die  Anzahl  der  gewerblichen  Produzenten  war  während 
des  ganzen  Mittelalters  verhältnismäßig,  das  heißt,  im  Verhältnis 
zu  der  Nachfrage  nach  ihren  Leistungen  knapp.  Ja  —  zu  be¬ 
stimmten  Zeiten  herrschte  geradezu  ein  Mangel  an  Handwerkern. 
Im  14.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  sehen  wir 
(in  Deutschland)  häufig  ganze  Städte  sich  bemühen,  einen  oder 
einige  Färber  zu  erhalten,  so  Brietzen  1355,  Eßlingen  1401, 
Leipzig  14691  2.  In  Wien  fehlt  es  im  14.  Jahrhundert  „überall  an 
Handwerkern“  3. 

Der  beste  Beweis  für  die  Knappheit  an  Handwerkern  sind 
die  aller  früheren  Zeit  eigenen  Begünstigungen  durch  Privilegs 
aller  Art,  wodurch  Fürsten  und  Städte  fremde  Handwerker  an 
ihr  Gebiet  zu  fesseln  versuchten. 

Auch  die  Preismaxima,  die  man  um  jene  Zeit  vielerorts  für 
Handwerksarbeit  erließ4,  bestätigen  diese  Kargheit  gewerblicher 
Arbeit. 


1  Siehe  die  Berechnungen  bei  G.  Fagniez,  Etudes  p.  6  ff . 

2  Schmolle r,  Tücher-  und  Weberzunft,  S.  92. 

3  F.  Eulenburg,  Das  Wiener  Zunftwesen  in  der  Zeitschrift  f. 
Soz.  u.  W.G.  1,  286. 

4  Siehe  für  Frankreich  Levasseur  l  2,  500;  für  Italien  Kowa- 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  253 

Fragen  wir  nun  aber,  welches  Zusammentreffen  von  Umständen 
nötig  war,  um  einen  solchen  Zustand  herbeizuführen,  so  mögen 
wir  etwa  folgende  als  die  hauptsächlich  ausschlaggebenden 
anführen : 

Zunächst  ist  die  Schwierigkeit  zu  bedenken,  den  Nachwuchs 
technisch  heranzubilden.  Solange  es  dazu  eines  langen  Stufen¬ 
ganges,  einer  regelrechten  Lehr-  und  Lernzeit,  der  persönlichen, 
gewissenhaften  Unterweisung  durch  den  Meister  bedarf,  wie  das 
empirische  Verfahren  es  erheischt,  solange  ist  die  Züchtung 
einer  Nachkommenschaft  gewerblicher  Produzenten  von  Natur  in 
enge  Schranken  gebannt.  Daß  ebenfalls  die  empirische  Technik 
die  Übertragung  eines  Kunstverfahrens  auf  andere  Gruppen 
erschwert,  wurde  in  anderem  Zusammenhänge  schon  fest¬ 
gestellt. 

Sodann  aber  —  und  vor  allem  —  werden  wir  zur  Erklärung  die 
Eigenart  der  Bevölkerungsverhältnisse  im  Mittelalter 
heranziehen  müssen.  Diese  bestand: 

1.  in  einer  langsamen  Vermehrung  der  Bevölkerung  über¬ 
haupt  ; 

2.  in  einer  verhältnismäßig  niedrigen  Rate  der  agrarischen! 
Uberschußbevölkeruno'. 

o 

Wofür  im  folgenden,  soweit  die  Dürftigkeit  des  Materials  es 
zirläßt,  einige  Angaben  zu  machen  sind. 

So  spärlich  auch  die  bevölkerungsstatistischen  Quellen  für 
das  Mittelalter  fließen *  1,  so  läßt  sich  doch  folgendes  mit  einiger 
Sicherheit  feststellen. 

In  Deutschland  müssen  wir  eine  langsame  Zunahme  der 
Bevölkerung  bis  in  das  13.  Jahrhundert  annehmen.  Die  jährliche 
Zuwachsrate  betrug  in  den  von  Lamprecht  untersuchten  Ge¬ 
bietsteilen  0,5%  für  1100—1150,  0,4%  1150—1200,  0,35%  für 
1200 — 1237 2.  Dagegen  ist  dem  Urteil  Sch  m  o  1 1  e  r  s  zuzustimmen, 
„daß  von  einer  allgemeinen  Zunahme  der  Bevölkerung  von  1250 
bis  1450  kaum  die  Rede  sein  kann“  3. 


lewsky  in  der  Zeitschrift  für  Soz.  u.  W.G.  3,  414  ff. ;  für  England 
Cunningham  1,  306  f. 

1  Über  die  Dürftigkeit  der  Quellen  Inama-Sternegg,  Art. 
„Bevölkerung“  im  H.  St.  2  2. 

2  Lamprecht,  DWL.  1,  164. 

8  Schmoller,  Die  historische  Entwickl.  des  Fleischkonsums  usw. 
in  Deutschland  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Staatswiss.  27  (1871), 
299. 


254  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 
Dasselbe  Bild  gewähren  andere  Länder: 

in  England  Zunahme  zwischen  Domesday  Book  und  Hundred 
Rolls,  dann  Stillstand  bis  1500 1 ; 

in  Frankreich  Anwachsen  bis  ins  14.  Jahrhundert,  dann 
Stagnation  bzw.  Abnahme  bis  ins  16.  Jahrhundert2 3; 

in  Belgien  starke  Bevölkerungszunahme  im  12.  und  13.  Jahr¬ 
hundert8,  die  offenbar  im  14.  Jahrhundert  nachläßt4. 

Angesichts  der  Daseinsbedingungen  der  mittelalterlichen  Be¬ 
völkerung  werden  uns  diese  Feststellungen  nicht  in  Erstaunen 
setzen.  Denn  die  positiven  „checks  to  population“  waren,  wie  wir 
wissen,  so  mächtig,  daß  auch  die  höchsten  Geburtenziffern  die 
entstehenden  Lücken  nicht  zu  stopfen  vermochten.  Es  braucht 
nur  an  bekannte  Dinge  erinnert  zu  werden: 

1.  den  Mangel  an  aller  Hygiene  in  Stadt  und  Land5; 

2.  die  Häufigkeit  und  Blutigkeit  der  Kriege ;  vor  allem  aber 

3.  die  beiden  Geißeln  des  Mittelalters :  Hungersnöte  und 
Seuchen,  die  gern  in  Gemeinschaft  sich  einstellten6. 

Alle  Länder  werden  gleichmäßig  von  ihnen  heimgesucht 7  und 


1  Cunningham,  Growth  1,  170.  W.  Denton,  England  in  the 
XV.  cent.  (1888),  p.  128 — 131.  Th.  Rogers,  The  industrial  and 
commercial  history  of  England  (1898),  p.  46  f. 

2  Levasseur,  La  Population  fran^aise  1  (1889),  140  ff. 

3  E.  de  Borchgrave,  Hist,  des  colonies  beiges  du  Nord  de 
l’Allemagne  (1865),  S.  37. 

4  V  ander  hindere  S.  135  ff. 

6  Über  die  große  Kindersterblichkeit  im  Mittelalter :  Bücher, 
Bevölkerung  usw.,  S.  45  f. 

6  „Auf  die  Not  folgen,  man  kann  fast  sagen,  immer  große  Volks¬ 
krankheiten;  mortalitas  und  pestilentia  sind  untrennbare  Begleiter 
einer  jeden  Hungersnot.“  F.  C urschmann,  Hungersnöte  im  Mittel- 
alter  (1900),  S.  60. 

7  Für  die  Hungersnöte  siehe  das  in  Anm.  6  genannte  Buch,  das 
als  6.  Band  der  Leipziger  Studien  aus  dem  Gebiete  der  Geschichte 
erschienen  ist.  Damit  vgl.:  Denton,  1.  c. ,  S.  91  ff. :  „famine  ..  . 
was  so  common  in  England,  that  all  attemps  to  specify  the  years 

of  scarcity  would  only  mislead“  (92),  das  unten  zit.  Buch  von 
Creighton,  p.  15 — 52  (gute  Darstellung  für  die  Zeit  von  679  bis 
1322),  und  Levasseur  (l  2,  523),  der  für  Frankreich  im  14.  Jahr¬ 
hundert  19,  im  15.  Jahrhundert  16  Hungerjahre  annimmt.  —  Über  die 
Pest  vgl.  mit  dem  bekannten  Werk  von  Hecker-Hirsch,  Die 
großen  Volkskrankheiten  des  Mittelalters  (1865),  für  Deutschland: 
R.  Höniger,  Der  schwarze  Tod  in  Deutschland  (1882)  ;  K.  L  e  c hn e r , 
Das  große  Sterben  in  Deutschland  (1884) ;  für  Frankreich :  Levasseur, 
Classes  ouvrieres,  p.  521  ff. ;  Pop.  franc.  1,  176  und  die  daselbst  zit. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  255 

überall  wirken  sie  in  derselben  verheerenden  Weise.  Das  14.  Jahr¬ 
hundert  hat  am  meisten  zu  leiden :  es  ist  das  Jahrhundert  der 
Pest  xat’  i;o)djv.  * 

Man  mag  darüber  streiten,  bis  zu  welchem  Grade  die  An¬ 
gaben  der  Zeitgenossen  über  die  Höhe  der  Sterbeziffern  Glauben 
verdienen  —  ob  zum  Beispiel  in  England  ein  Drittel  oder  die 
Hälfte  der  Bevölkerung  oder  noch  mehr  der  Pest  zum  Opfer 
gefallen  sind 1  — ,  darüber  kann  kein  Zweifel  herrschen,  daß  die 
\  erwüstungen  hinreichend  waren,  um  die  Bevölkerungszunahme 
lange  aufzuhalten. 

Die  agrarische  Überschußbevölkerung  in  geringen  Grenzen  zu 
halten,  wirkte  dann  noch  eine  Reihe  anderer  Umstände  mit, 
namentlich  die  während  des  ganzen  Mittelalters  nicht  geringer 
werdende  Möglichkeit,  sich  auf  eigener  Scholle  seßhaft  zu  machen, 
wenn  auch  nur  als  Hintersasse  eines  Grundherrn. 

In  Deutschland  bedeutet  allein  die  Rückeroberung1  des 
Ostens  durch  das  Deutschtum  eine  ungeheure  Expansion  des 
vorhandenen  Siedlungsgebietes.  Aber  auch  in  anderen  Ländern 
schwindet  die  terra  libera  erst  im  späteren  Verlauf  des  Mittel¬ 
alters  dahin.  Von  Frankreich  heißt  es  für  die  Zeit  von 
1200 — 1350:  „chaque  jour  signale  de  nouvelles  appropriations 
du  sol,  de  nouvelles  conquetes  du  laboureur2“.  In  dem  Eng¬ 
land  des  14.  Jahrhunderts  wird,  wie  in  Deutschland,  das 
Siedlungsgebiet  künstlich  durch  Auflösung  der  Gutswirtschaften 
ausgeweitet3.  Ein  verhältnismäßig  dicht  besiedeltes  Gebiet  wie 

Literatur;  für  Italien:  das  große  Werk  von  A.  Corradi,  Annali 
delle  Epidemie,  P.  I  (1865)  bis  1500,  umfaßt  auch  die  Hungersnöte, 
und  M.  Kowalewsky  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.  u.  W.G.  3,  406;  für 
die  Niederlande,  insbesondere  für  Belgien:  das  ausführliche  Werk  von 
L.  Torfs,  Fastes  des  calamites  publiques  survenues  dans  les  Pays- 
Bas  et  particulierement  en  Belgique  etc. :  Epidemies  —  Famines  — 
Inondations  (1859);  für  England:  Ch.  Creighton,  A  History  of 
/  £  Epidemies  in  Britain  from  A.  D.  664  to  the  extinction  of  Plague 
(1666),  1891.  In  England  hat  das  Problem  eine  besonders  eingehende 
Behandlung  erfahren.  Die  wichtigsten  Schriften  sind  zusammengestellt 
und  besprochen  bei  C h.  P e t i t - D u t aillis  ,  Introduction  histor.,  zu: 
A.  Reville,  Le  soulevement  des  travailleurs  d’Angleterre  en  1381 
in  den  Mem.  et  doc.  publ.  par  la  Soc.  de  l’6cole  des  chartes  2  (1898), 
XXX  ff. 

1  Rogers  nimmt  1/s,  Cunningham  V 2,  Denton  noch  mehr  an. 

2  D’Avenel  1,  273  ff. 

3  Rogers,  Hist,  of  Agriculture  and  Prices  in  England  1  (1866), 
24  ff.  Seebohm,  Engl.  Vill.  Comra.  (1883),  33  f.  54. 


256  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Belgien  sendet  seine  Überschußbevölkerung  in  die  benach¬ 
barten,  dünnbevölkerten  Länder  Deutschland1  und  England2. 
Und  dann  die  Kreuzzüge  und  was  dazu  gehört! 

Ein  letzter  Grund  für  das  geringe  Angebot  gewerblicher  Er¬ 
zeugnisse  liegt  darin,  daß  die  schon  wenigen  Produzenten  auch 
noch  wenig  zu  produzieren  vermochten,  weil  der  Produktivitäts¬ 
grad  der  gewerblichen  Technik  während  jener  Jahrhunderte 
als  ungewöhnlich  niedrig  wird  angenommen  werden  müssen. 

Da  wir  leider  keinen  Gradmesser  besitzen,  tun  die  Höhe  der 
Produktivität  der  Arbeit  zu  messen,  so  sind  wir  auf  Schlüsse 
aus  Symptomen  angewiesen.  Solche  Symptome  eines  niedrigen 
Produktivitätsgrades  sind  folgende: 

1.  Die  Höhe  der  Preise  zahlreicher  gewerblicher  Er¬ 
zeugnisse 

So'  unzweifelhaft  richtig  diese  Behauptung  ist,  so  schwer  ist  es, 
sie  ziffernmäßig  zu  belegen,  weil  wir  fast  nie  die  völlige  Gleichheit 
der  Qualität  gewerblicher  Erzeugnisse ,  deren  Preise  wir  vergleichen 
wollen ,  feststellen  können.  Mit  annähernder  Sicherheit  ist  das  z.  B. 
bei  Eisen  möglich:  eine  Tonne  Eisen  kostete  im  14.  Jahrhundert  in 
England  9  jj^,  das  sind  in  heutiger  Währung  27  j^,  während  die  Tonne 
besten  deutschen  Gießereiroheisens  ab  Werk  in  Düsseldorf  1918  = 
77,5  Mk.  kostete.  Th.  Rogers,  Ind.  and  comm.  hist.  10.  Dagegen 
ist  die  Bezeichnung  „ein  Hut“,  „ein  Paar  Stiefeln“,  „ein  Mantel“  ganz 
unbestimmt;  selbst  bei  Geweben  kann  der  Unterschied  der  Qualität  sehr 
groß  sein.  Wir  können  aber  mit  Sicherheit  feststellen,  daß  die  ge¬ 
werblichen  Erzeugnisse,  wie  z.  B.  Stoffe,  um  so  teurer  waren,  je  mehr 
Arbeit,  je  weniger  Material  in  ihnen  steckte,  und  daß  die  Differenz 
zwischen  den  höchsten  und  niedrigsten  Preisen  viel  größer  gewesen 
ist  als  heute.  Beweis  für  die  geringere  Produktivität  und  geringere 
technische  Leistungsfähigkeit  der  gewerblichen  Arbeit!  Cibrario 
teilt  Preise  für  Stoffe  aus  der  Zeit  von  1261 — 1400  mit,  deren  Preis 
von  1:140  auseinandergeht;  Uzzano  (15.  Jahrhundert)  gibt  für  das 
teuerste  Tuch  einen  35 — 40  mal  so  hohen  Preis  wie  für  das  billigste 
an.  Ygl.  im  übrigen  Roscher,  System  Bd.  I,  §  134,  und  die  zahl¬ 
reichen  Preisangaben  gerade  für  gewerbliche  Erzeugnisse  bei  D’Avenel, 
Hist.  3,  339  ff.,  und  Yol.  IV. 

2.  die  Menge  der  beschäftigten  Arbeiter:  inWesei 
wurden  im  Jahre  1428  5140  Stück  Tuch  von  342  Webermeistern 
hergestellt3.  Rechnet  man  auf  1  Webermeister  (bzw.  Weber 

1  Siehe  das  S.  254  Anm.  3  zit.  Werk  von  Borchgrave. 

3  W.  Cunn  ingham,  Die  Einwanderung  von  Ausländern  nach 
England  im  12.  Jahrhundert  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.  u.  W.G.  3,  177  ff. 

3  Mitgeteilt  bei  E.  Liesegang,  Niederrh.  Städteleben  (1897), 
S.  640.  680. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  257 

überhaupt  nach  Schmolle r)  auch  nur  2  andere  bei  der  Tuch¬ 
bereitung  beschäftigte  Personen  (was  sicher  viel  zu  niedrig  ge¬ 
griffen  ist),  so  würden  für  die  Herstellung  jener  5140  Stück  (das 
ist  die  heutige  Monatsproduktion  einer  großen  Fabrik)  14)00  Per¬ 
sonen  benötigt  sein,  reichlich  das  zwanzigfache  der  jetzigen  Zahl. 
Diese .  Ziffern  scheinen  typisch  für  das  Mittelalter  gewesen  zu 
sein:  inBeauvais  geben  die  Webermeister  an,  daß  sie  400  Köpfe 
stark  seien  und  wöchentlich  „bis  100  Stück  Tuch“  gemacht  hätten1. 

°"  c^e  Länge  der  Produktionsdauer:  ein  gutes  Schloß 
zu  fertigen,  nahm  noch  Ende  des  15.  Jahrhunderts  14  Tage  in 
Anspiuch2.  TV  o  es  sich  um  kunstvolle  Leistungen  handelte, 
lechnete  man  nach  Jahren.  Das  ganze  Geheimnis  der  archi¬ 
tektonischen  und  kunstgewerblichen  Leistungen  des  Mittelalters, 
die  uns  oft  in  Erstaunen  setzen,  liegt  in  der  ungeheuren  Länge 
der  Herstellungsperioden.  Bekannt  sind  die  Jahrhunderte  langen 
Bauzeiten  der  Stadthäuser  und  Kirchen.  Aber  auch  die  Her¬ 
stellung  der  Mobilien  nahm  oft  Jahre  in  Anspruch:  man  lese 
nur  CL©  Namenlisten  der  Verfertiger  von  Chorstühlen,  Intarsien, 
Schränken  usw.  durch,  die  wir  in  großer  Anzahl  besitzen,  um 
zu  sehen,  wie  Generationen  sich  ablösten  bei  der  Herstellung 
irgend  hervorragender  Gegenstände3.  An  den  Altären  von 
S.  Jacob  zu  Pistoja  und  in  der  Taufkirche  zu  Florenz  sind  länger 
als  150  Jahre  die  ersten  Goldschmiede  beschäftigt;  an  den  Pracht¬ 
toren,  die  wert  waren,  den  Eingang  zum  Paradiese  zu  verschließen, 
arbeitete  Ghiberti  40  Jahre4. 

IV.  Die  Wirtschaftsform 

War  nun  die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  in  den 
Städten  des  Mittelalters  eine  handwerksmäßige?  War  die  Idee 
des  Handwerks  verwirklicht?  Hatte  der  zünftige  Geist  sich  in 
den  Gebilden  des  Lebens  verkörpert? 

Darauf  wird  sich  voraussichtlich  niemals  eine  ganz  bestimmte 
Antwort  geben  lassen.  Wir  werden  immer  im  wesentlichen  auf 
eine  Schlußfolgerung  aus  gewissen  Anzeichen  angewiesen  sein, 
und  je  nach  dem  Material,  das  dem  einzelnen  bekannt  ist,  ie 

1  Urk.  vom  19.  April  1399  bei  Fagniez,  Documenta  2  (1900), 

Nr.  70.  V  ’ 

2  Boissonade,  Org.  du  travail  en  Poitou  1,  370. 

3  E.  Foerster,  Gesch.  der  italienischen  Kunst  3  (1872),  130  f  • 

4  (1875),  69  f.  ’ 

4  G.  Semper,  Der  Stil  2  2  (1879),  514. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


17 


258  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

nach  der  höheren  oder  geringeren  Wertung,  die  er  diesem  oder 
jenem  Symptom  zuteil  werden  läßt,  wird  das  Urteil  verschieden 
sich  gestalten.  Sehen  wir  zu,  was  für  Beweisstücke  uns  zur  Ver¬ 
fügung  stehen  und  was  wir  aus  ihnen  schließen  dürfen. 

Zuvörderst:  daß  von  dem  Ideale  einer  vollkommenen  Hand- 
werkerkaftigkeit  des  gewerblichen  Lebens ,  wie  es  der  Zunft¬ 
ordnung  zugrundelag,  die  Wirklichkeit  sich  in  sehr  wesentlichen 
Punkten  und  oft  recht  weit  entfernte :  darüber  sollte  kein  Zweifel 
herrschen.  Das  eine  ist  einmal  ganz  sicher: 

Ihr  oberstes  Ziel:  das  gesamte  Gebiet  des  gewerblichen 
Lebens  zu  umspannen,  haben  die  Zünfte  wohl  nirgends  im  Mittel- 
alter  erreicht.  Was  wir  von  dem  Herrschaftsbereich  der  Zünfte 
in  deü  verschiedenen  Städten  kennen,  bestätigt  die  Richtigkeit 
dessen,  was  Bücher  über  die  Verhältnisse  in  Frankfurt  a.  M. 
behauptet 1 : 

„Immer  hat  sich  ein  Teil  der  industriellen  Produktion  auf 
dem  Boden  des  freien  Betriebes  vollzogen,  so  große  Mühe  sich 
auch  in  späteren  Jahrhunderten  die  städtischen  Regierungen, 
oft  auch  die  Beteiligten  selbst  gegeben  haben,  die  anderwärts 
bewährte  Organisation  auch  auf  diese  Kreise  der  Arbeit  aus¬ 
zudehnen.  Gewöhnlich  sind  es  diejenigen  Produzenten,  für  deren 
Erzeugnisse  nie  ein  ausgedehnter  Bedarf  vorhanden  gewesen  ist; 
oft  sind  es  aber  auch  solche,  welche  später  zu  großer  Bedeutung 
gelangten  und  diese  noch  heute  behaupten  (z.  B.  die  Schreiner, 
Bierbrauer,  Sattler,  Goldschmiede),  während  andere  (in  Frankfurt 
zum  Beispiel  die  Posamentierer,  Kattunglätter,  Barchentweber, 
Knopfmacher)  nach  kurzer  oder  längerer  Blüte  wieder  von  der 
Bildfläche  verschwunden  sind.  Für  die  Zeit  des  14.  Jahr¬ 
hunderts,  in  welcher  der  Rat  mit  der  Erteilung  des  Rechtes, 
Zünfte  zu  bilden  und  Trinkstuben  zu  halten,  sehr  sparsam  um¬ 
ging,  stand  noch  ein  ziemlich  bedeutender  Teil  der  gewerbe¬ 
treibenden  Bevölkerung  der  Stadt  außerhalb  der  öffentlich  an¬ 
erkannten  „Handwerke“,  wenn  auch  nicht  außerhalb  jeder  Organi¬ 
sation“  usw. 

Häufig  beobachten  wir,  wie  Gegentendenzen  anderer  Kreise 
die  Interessenrichtung  der  Zünfte  kreuzen :  z.  B.  landesherrlichen 
Ursprung,  wie  schon  in  früher  Zeit  in  Wien  und  ähnliches.  So 
daß  formal  zunächst  wohl  nirgends  das  Zunftideal  —  der  Zunft¬ 
zwang  —  voll  verwirklicht  ist. 


1  Bücher,  Bevölkerung  1,  116  f. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  259 


Aber  was  mich  das  viel  wichtigere  dünkt :  auch  materiell  be¬ 
obachten  wir  von  .den  Idealen  der  handwerksmäßigen  Organi¬ 
sation  wesentliche  Abweichungen.  Vor  allem  kann  keine  Rede 
davon  sein,  daß  die  „Nahrung“,  die  dem  einzelnen  Ilufnerhand- 
werker  zugewiesen  wurde  oder  im  Laufe  der  Entwicklung  zuwuchs, 
etwa  m  einer  völlig  gleich  großen  Produktionssphäre  oder  einem 
völlig  gleich  hohen  Einkommen  bestanden  hätte. 

^  Die  Vorstellung  von  einer  Masse  ökonomisch  gleichgestellter 
Gewerbetreibender  kann,  soviel  sich  erkennen  läßt,  für  keine 
Zeit,  in  der  überhaupt  das  Handwerk  schon  zu  größerer  Ent¬ 
faltung  gekommen  war ,  auf  Richtigkeit  Anspruch  machen.  Zu 
aden  Zeiten  hat  es  Handwerke  gegeben,  die  andere  im  ganzen 
um  ein  Vielfaches  an  Wohlhabenheit  übertrafen,  und  innerhalb 
des  einzelnen  Handwerks  Meister,  die  ihre  Kollegen  an  Reichtum, 
wenn  das  Wort  hier  anwendbar  ist,  turmhoch  überragten1. 
Einige.  Ziffern  werden  zum  Beweise  dieser  Tatsache  genügen, 
v  eil  sie  tiir  ganz  verschiedene  Zeiten  und  ganz  verschiedene 
0rte  ©in  ganz  übereinstimmendes  Bild  einer  starken  Vermögens- 
differenzierung  unter  den  Handwerkern  ergeben. 

Uber  die  Einkommensverhältnisse  der  Pariser  Handwerker 
im  13.  Jahrhundert  sind  wir  gut  unterrichtet  durch  das  Registre 
de  la  taille  J292).  Danach  gab  es  einen  Filzhutmacher  mit 
19000  frc.,  einen  Tuchmacher  mit  9000  frc.  Einkommen,  einige 
andere  Handwerker  mit  einem  Einkommen  von  mehr  als  5000  frc. 
und  über  100  mit  einem  solchen  von  mehr  als  1000  frc.,  während 
die  große  Mehrzahl  der  Handwerker  weniger  als  250  frc.  Ein¬ 
kommen  bezog.  Im  einzelnen  ergibt  sich  das  folgende  Ziffernbild : 


Einkommen  von: 


Handwerker : 


mehr  als  10000  frc.  1 

5000—10000  „  0 

1000-  5  000  „  121 

250—  1000  „  375 

50—  250  „  821. 


Ganz  ähnlich  ist  das  Bild,  das  uns  die  Baseler  Hand¬ 
werker  im  15.  Jahrhundert  gewähren2.  Hier  haben  (1429)  ein 
Vermögen  von 


1  „C’est  que  mille  inegalites  naturelles  empechaient  l’uniformitö,  k 
laquelle  tendaient  les  reglements.“  G.  Fagniez,  Etudes,  p.  120. 

2  G.  Schönberg,  Finanzverhältnisse  der  Stadt  Basel  im  14.  und 
15.  Jahrhundert  (1879),  S.  180/81. 


260  Vierter  Abschnitt :  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


weniger  von  50  300  bis  über 

als  50  fl.  bis  300  fl.  1000  fl.  1000  fl. 


Schmiede 

42 

86 

36 

8 

Metzger  ........ 

34 

35 

18 

10 

Bäcker . 

19 

31 

14 

6 

Schneider  und  Kürschner  . 

65 

47 

9 

2 

Zimmerleute  und  Maurer  . 

86 

100 

28 

5 

Scherer?,  Maler  und  Sattler 

24 

34 

16 

2 

Leinweber  und  Weber  .  . 

53 

32 

3 

— 

'X 

488 

416 

131 

34 

Folgende  Vermögensunterschiede 

weisen  die 

Handwerker 

Heidelbergs  im  15.  Ja 

hr  hundert  auf. 

Es  entfielen 1 

Gulden  Vermögen  auf  den  Kopf  in  der 

Metzgerzunft 

•  •  • 

.  .  199 

Bäckerzunfb 

•  •  • 

.  .  167 

Schneiderzunft  .  . 

.  .  119 

Schuhmacherzunft  . 

.  .  113 

Schmiedezunft  .  . 

.  .  100 

Weberzunft 

•  •  • 

.  .  62 

Und  auch,  innerhalb  der  einzelnen  Zünfte  herrschte  keine 
Gleichheit  des  Besitzes,  sondern  recht  große  Verschiedenheit; 
wiederum  bilden  die  mittleren  Einkommen  nicht  durchweg  die 
Regel,  sondern  nur  einige  erheben  sich  über  den  Durchschnitt. 
Unter  den  91  Schmieden  Heidelbergs  gehören  im  15.  Jahrhundert 
9  zu  den  „großen“  Vermögen  und  58  zu  den  „kleinen“  usw. 2.  • 
"Welche  grellen  Vermögensunterschiede  zwischen  den  einzelnen 
Meistern  desselben  Handwerks  im  Mittelalter  bestanden,  zeigt 
auch  folgende  Gegenüberstellung.  Von  den  Wollen  webern 
in  Frankfurt  a.  M.  im  14.  Jahrhundert  hatten  11  das  Recht, 
36  Stück  Tuch,  22  je  24  Stück,  10  je  18  Stück,  8  je  12  Stück, 
20  je  10  Stück,  13  je  8  Stück,  49  nur  4  Stück  Tuch  auf  der 
Messe  abzuliefern3.  Es  gab  also  auch  in  der  Produktions¬ 
ausdehnung  Differenzen  wie  1 :  9. 


1  P.  Eulenburg,  Zur  Bevölkerungs-  und  Vermögensstatistik  des 
15.  Jahrhunderts  (Zeitschr.  f.  Sozial-  u.  W.G.  3,  457):  „Es  findet  sich 
durchaus  nicht  bestätigt,  daß  damals  ein  mittlerer  Besitz  das  Normale 
gebildet,  .  .  .  wir  beobachten  vielmehr  unter  der  städtischen  Bevölkerung 
die  größten  (?)  Gegensätze  von  reich  und  arm“  (S.  459). 

2  Eulenburg,  ebenda  S.  460. 

8  Iv.  Bücher,  Bevölkerung  1,  S.  91. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  261 

Fast  noch  größer  scheinen  die  Abstände  in  der  englischen 
Tuchmacherei  gewesen  zu  sein1. 

Für  Köln  unterscheiden  einzelne  Zünfte  die  selbständigen, 
d.  h.  für  eigene  Rechnung  arbeitenden  Mitglieder  in  Brüder  und 
Meister.  Als  Grund  dieses  Unterschieds  nimmt  Mo  ne 2 3  an,  daß 
zwischen  Meister  und  Gesellen  die  Mittelstufe  der  sogenannten 
Brüder  errichtet  wurde,  damit  sie  als-  kleine  Gewerbsleute  doch 
schon  selbständig  ein  Handwerk  treiben  konnten ;  deshalb  hatten 
sie  nur  die  Hälfte  des  Eintrittsgeldes  zu  bezahlen.  Hatten  sie 
das  nötige  Vermögen  erworben,  so  traten  sie  in  die  Klasse  der 
Meister  ein. 

Übrigens  erwähnen,  wie  man  weiß,  die  Urkunden  des  Mittel¬ 
alters  selbst  häufig  arme  und  reiche  Mitglieder  der  Zünfte,  und 
viele  Bestimmungen  werden  in  ihnen  getroffen,  um  die  armen 
Mitglieder  von  den  reichen  trotz  des  materiellen  Unterschiedes 
unabhängig  zu  erhalten  und  die  grundsätzliche  Gleichberechtigung 
beider  durchzuführen. 

Welch  lebendiges  Bild  von  der  starken  Differenzierung  in 
dem  Pariser  Fleischergewerbe  gibt  uns  etwa  die  Klage  der  armen 
Hascherln,  die  ihre  10  Stück  Fleisch  und  vielleicht  ein  paar 
Scheiben  Speck  auf  ihrem  Tische  feil  haben  und  denen  ihr 
Handwerk  von  den  zünftig-protzigen  Großfleisckern  gelegt 
werden  soll4. 

Und  wie  schon  die  eben  mitgeteilten  Ziffern  erkennen  lassen 
und  andere  Anzeichen  bestätigen:  sicher  hat  es  im  Mittelalter 
Formen  gewerblicher  Produktions  wirtschaften  gegeben,  die  kaum 
noch  den  Namen  Handwerk  verdienen;  sei  es,  daß  Meister  in 
starke  Abhängigkeit  vom  Kaufmann  gerieten,  sei  es,  daß  sie 
selbst  sich  zu  kleinen  Unternehmern  auswuchsen.  Wir  wissen 
beispielsweise  zwar  nicht,  ob  der  Tuchmacher,  der  in  Paris  im 
Jahre  des  Heils  1292  9000  frc.  Einkommen  hatte,  dies  aus  der 
Tuchmacherei  allein  bezog.  Wahrscheinlich  ist  es  nicht.  Aber 
daß  unter  den  Pariser  Tuchmachern,  deren  doch  eine  ganze 
Anzahl  mit  recht  hohen  Einkommen  in  der  Statistik  erscheint, 


1  Nach  den  Ziffern  der  Ulnagers  Accounts  für  1395,  die  nach 
einer  Handschrift  Salz  mann,  1.  c.,  p.  157  f.  mitteilt.  Vgl.  unten 
S.  262  und  267. 

2  Mo  ne,  Zunftorganisation  vom  13.  bis  16.  Jahrhundert  in  seiner 
Zeitschrift,  S.  15.  19. 

3  Urk.  von  1415  bei  Fagniez,  Doc.,  No.  18. 

4  Livre  des  metiers,  tit.  L. 


2G2  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

gewiß  schon  mancheiner  war,  der  den  Rahmen  handwerksmäßiger 
Organisation  überschritt,  können  wir  sogar  ans  einigen  Be¬ 
stimmungen  der  Zunftstatuten  schließen.  Diese  nämlich  schreiben 
als  Maximum  der  Anzahl  Webstühle,  die  jemand  in  seinem  Hause 
(NB.  das  ist  die  Bedingung!)  beschäftigen  darf  für  den  Meister, 
jeden  ledigen  Sohn,  1  Neffen  und  1  Bruder  je  2  breite  und 
1  schmalen  Stuhl  vor:  Also  wenn  das  voll  von  jemand  aus¬ 
genutzt  wurde,  konnten  sich  leicht  15 — 20  Webstühle  unter 
einem  Dache  zusammenfinden.  Nach  den  von  Salzmann1  mit¬ 
geteilten  Ziffern  würden  im  Jahr  1395  in  Westengland  ein  Tuch¬ 
macher  1080,  ein  anderer  1005,  9  andere  zusammen  1600  (kurze) 
Stück  (von  12  Yards  Länge)  schmales  Tuch  beim  Tuchmesser 
vorgelegt  haben.  Wenn  das  wirklich  ein  Jahreserzeugnis  war, 
so  dürfen  wir  auf  eine"  Arbeiterzahl  bis  30  bei  den  größten  Tuch¬ 
machern  schließen. 

Und  daß  bei  solcher  Sachlage  die  handwerksmäßige  Gliede¬ 
rung  zersprengt  wurde ,  ein  lebenslänglicher  Gehilfenstand  sich 
zu  bilden  anfing,  darf  als  selbstverständliche  Folge  der  Betriebs¬ 
vergrößerung  angesehen  werden.  (Obwohl  man  nicht  bei  jedem 
Gesellenverein  schon  an  moderne  Gewerkvereine  denken  sollte) 2. 

Selbst  das  wird  nicht  zu  bestreiten  sein,  daß  in  manchen 
Städten  ein  ganzer  Industriezweig  schon  während  des  Mittelalters 
aufgehört  hat ,  Handwerk  zu  sein  und  die  Entwicklung  zum 
Kapitalismus  begonnen  hat.  Den  Eindruck,  den  wir  auf  Grund 
der  eingehenden  und  sorgfältigen  Schilderung  Dörens  vom  Zu¬ 
stand  der  Florentiner  Tuchindustrie  in  der  zweiten  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts  empfangen,  ist  der:  daß  dieses  Gewerbe  damals 
schon  stark  von  kapitalistischen  Elementen  durchsetzt  war.  Und 
ähnliche  Industrien  hat  es  gewiß  in  anderen  Städten  des  Mittel¬ 
alters  auch  gegeben. 

Und  dennoch!  Trotz  alledem  und  alledem  wird  unser  Urteil 
doch  lauten  müssen:  die  Organisationsform  der  gewerblichen 
Arbeit  während  des  Mittelalters  war  auch  in  Wirklichkeit  die 
des  Handwerks.  Das  Handwerk  verlieh  der  Gesamtstruktur  des 
gewerblichen  Lebens  ihr  eigentümliches  Gepräge.  Das  Hand¬ 
werk  war  nicht  nur  die  vorherrschende,  sondern  die  fast  aus¬ 
schließlich  herrschende  Wirtschaftsform. 


1  Salz  mann,  1.  c.  p.  157  f. 

2  Wie  es  z.  B.  Schanz  in  seinem  sonst  verdienstlichen  Buche; 
Zur  Geschichte  der  deutschen  Gesellenverbände  (1876)  tut, 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  263 

Um  die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  zu  erweisen  —  sagte 
ick.  sclion  — ,  besitzen  wir  kein  authentisches  Material.  Wir 
müssen  versuchen,  auf  Umwegen  dahin  zu  gelangen:  wenigstens 
um  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  die  aufgestellte  Behauptung 
richtig  ist.  Diese  Umwege  sind  zweifacher  Art:  ein  Indizien 
(symptomatischer)  Beweis  und  ein  theoretischer  (deduktiver) 
Beweis  (sozusagen).  Ich  versuche  den  Leser  auf  beiden  Wegen 
zu  führen. 

Scharren  wir  uns  also  zunächst  um,  welche  Symptome  für 
die  Existenz  des  Handwerks  wir  kennen. 

Da  ist  zunächst  —  mit  voller  Deutlichkeit  erkennbar  — -  als 
sicheres  Wahrzeichen  handwerksmäßiger  Organisation: 

1.  Die  (wie  man  sagen  könnte)  organische  Berufs- 
spezialisat-ion.  Sie  kehrt  überall,  wo  wir  im  Mittelalter  ge¬ 
werbliche  Arbeit  in  den  Städten  finden,  mit  fast  ganz  überein¬ 
stimmenden  Zügen  wieder.  Überall  auf  demselben  Grundgedanken 
fußend :  die  einzelnen  gewerblichen  Berufstätigkeiten  sollen  der¬ 
maßen  gegeneinander  abgegrenzt  sein,  daß  sie  eben  einem 
lebendigen  „Handwerker“  angemessen  sind;  daß  sie  seinem 
höchstpersönlichen  Wirken  einen  sinnvollen  Inhalt  verleihen. 

Ich  sagte :  dieses  Wahrzeichen  echt  handwerksmäßiger  Ordnung 
sei  deutlich  erkennbar.  In  der  Tat  ist  es  so  ziemlich  das  einzige, 
was  die  Forschung  von  der  Struktur  des  gewerblichen  Lebens 
im  Mittelalter  zu  leidlich  einwandfreier  Erkenntnis  bloßgelegt 
hat.  Wir  besitzen  von  verschiedenen  Typen  mittelalterlicher 
Städte  die  Liste  der  gewerblich  Berufstätigen,  so  daß  wir  mit 
einiger  Sicherheit  die  gleichmäßigen  Grundzüge  der  Gestaltung 
wahrzunehmen  vermögen.  Wir  können  sogar  dieses  mit  Ge¬ 
wißheit  aussagen:  daß  in  der  Berufsgliederung  der  mittelalter¬ 
lichen  Städte  das  Maß  der  gewerblichen  Spezialisierung  bestimmt 
wurde  von  dem  Höhegrade  der  industriellen  Entwicklung.  Will 
sagen:  daß  sich  die  fortschreitende  Verfeinerung  der  gewerb¬ 
lichen  Produktion  äußert  in  einer  zunehmenden  Abgliederung 
einzelner  zu  selbständigen  Berufen  sich  verdichtenden  Spezial¬ 
verrichtungen  ;  also  daß  die  Anzahl  der  Berufsbenennungen  einen 
annähernd  sicheren  Maßstab  zur  Erkenntnis  des  Entwicklungs¬ 
grades  bietet,  den  das  gewerbliche  Leben  einer  Stadt  erreicht 
hat.  Ein  „Gesetz“ ! 

Natürlich  muß  dabei  vorausgesetzt  werden,  daß  die  Berichte, 
die  wir  über  die  einzelnen  Städte  besitzen,  das  gleiche  Maß  von 
Genauigkeit  aufweisen  (und  die  Bearbeiter  das  gleiche  Maß  von 


264  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

rechnerischer  Begabung!).  Wenn  z.  B.  Hirsch  für  Danzig’ 
im  Spätmittelalter  nur  60  verschiedene  Gewerbe  ermittelt,  so 
können  wir  (nach  dem,  was  wir  von  Danzigs  Wirtschaftsleben 
im  Vergleich  zu  dem  anderer  Städte  wissen)  ohne  weiteres  sagen: 
hier  ist  die  Liste  unvollständig.  Auch  daß  Biga  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  nur  75  Berufsarten  im  weiteren  Sinne  gehabt 
haben  soll,  kommt  mir  zweifelhaft  vor.  Dagegen  scheinen  mir 
die  Ziffern  einwandsfrei,  die  Eulenburg  für  Heidelberg, 
Bücher  für  Frankfurt,  Schönberg  für  Basel  ermittelt  haben. 
Wir  können  sie,  denke  ich,  ruhig  miteinander  vergleichen. 

Selbständige  Berufsarten  wiesen  auf: 

Heidelberg  .  .  .  .  103 

Basel . 120 

Frankfurt  (1440)  .  .  191 

In  diesen  Ziffern  kann  sich  der  verschieden  hohe  Entwick¬ 
lungsgrad  der  drei  Städte  ausdrücken,  obwohl  die  Baseler  Ziffer 
reichlich  niedrig  ist.  Vielleicht  hat  dies  darin  seinen  Grund, 
daß  sie  nur  für  zwei  Kirchspiele  gilt.  Wollen  wir  ganz  sicher 
gehen,  so  schalten  wir  sie  auch  noch  aus  und  stellen  nur  Heidel¬ 
berg  und  Frankfurt  in  Vergleich.  Wobei  dann  gleich  noch  zu 
bemerken  ist,  daß  sich  die  Zahl  der  Berufsarten  in  Frankfurt  von 
1387 — 1440  um  43  vermehrt  hat,  was  ein  neuer  Beweis  für  die 
Gültigkeit  unseres  „Gesetzes“  ist. 

Ihre  volle  Bedeutung  aber  gewinnen  diese  Ziffern  erst,  wenn 
wir  sie  nun  wiederum  vergleichen  mit  den  Ziffern,  die  wir  von 
wirklichen  „Großstädten“  des  Mittelalters  besitzen.  Wie  bekannt, 
fließen  die  Quellen  am  reichsten  in  der  größten  Stadt  des  Mittel¬ 
alters:  Paris.  Und  wer  erfahren  will,  was  mittelalterliches  Ge¬ 
werbewesen  in  vollster  Entwicklung  war,  wird  seinen  Blick  von 
Heidelberg  und  Frankfurt  abwenden  müssen  und  wird  immer 
Paris  ins  Auge  zu  fassen  haben. 

Da  sprudelt  nun  doch  noch  ein  ganz  anderes  Leben  als  in 
jenen  Städten  und  insbesondere  der  Grad  der  gewerblichen 
Spezialisation  ist  ein  ungemein  viel  höherer  als  dort.  Wenn 
Bücher  (Bevölkerung,  227)  meinte:  „der  Reichtum  der  Arbeits¬ 
gliederung,  der  sich  hier  vor  uns  auftut  —  nämlich  in  Frank¬ 
furt  —  übertrifft  alles,  was  seither  aus  irgendeiner  mittelalter¬ 
lichen  Stadt  ähnliches  bekannt  geworden  ist,“  so  ist  das  angesichts 
der  Ziffern,  die  uns  das  Eegistre  de  la  Taille  (herausgegeben 
1837)  darbietet,  nicht  aufrecht  zu  erhalten.  Denn  in  diesem 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  265 

beträgt  die  Zahl  der  aufgeführten  Berufsbenennungen  mehr  als 
doppelt  soviel  wie  in  Frankfurt:  ich  zähle  unter  Weglassung 
der  als  Chamberiere  und  Valet  bezeiclmeten  Personen  448  heraus. 
Und  davon  sind  etwa  zwei  Drittel  gewerbliche  Berufe  im  engeren 
Sinne:  nach  den  Feststellungen  von  Fagniez  wurden  350  ver¬ 
schiedene  Handwerker  namhaft  gemacht:  das  wäre  also  der 
Höhepunkt  mittelalterlicher  Gewerbeverfassung  was  Berufs¬ 
gliederung  anbetrifft.. 

(Leider  muß  ich  mir  versagen,  näher  auf  das  Registre  ein¬ 
zugehen;  hier  ruhen  abermals  ungehobene  Schätze  —  trotz  der 
anerkennenswerten  Arbeiten,  die  Geraud,  Fagniez  und  andere 
darüber  veröffentlicht  haben.  Abermals  eine  lockende  Aufgabe 
für  einen  Wirtschaftshistoriker  [mit  etwas  Geist] :  die  Bearbeitung 
des  Registre  de  la  Taille  unter  den  in  diesem  Werke  aufgestellten 
Gesichtspunkten !) 

2.  Ein  anderes  wichtiges  Symptom  für  das  Vorherrschen 
handwerksmäßiger  Organisation  ist  die  Kleinheit  der  Be¬ 
triebe.  Leider  wissen  wir  darüber  nicht  viel;  längst  nicht 
soviel  wie  über  die  Berufsspezialisation.  Denn  die  Quellen,  aus 
denen  wir  diese  erkennen,  sind  nicht  so  ergiebig,  wo  es  sich 
um  die  Betriebsgestaltuhg  handelt.  Im  besten  Falle  kennen 
wir  die  Zahl  der  Hilfspersonen  (Gesellen),  die  in  einer  Stadt 
lebten,  nicht  aber  die  Verteilung  auf  die  einzelnen  Handwerks¬ 
betriebe  (mit  einer  —  meines  Wissens  —  einzigen  Ausnahme). 
Immerhin  gewährt  die  Gesamtzahl  der  Hilfspersonen  einigen 
Anhalt,  weil  sie  dort,  wo  sie  uns  bekannt  geworden  ist,  immer 
erheblich  geringer  war  als  die  Zahl  der  selbständigen  Gewerbe¬ 
treibenden,  so  daß  wir  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf  sehr 
kleine  Betriebe  als  Regel  schließen  dürfen.  So  nimmt  Bücher 
für  Frankfurt  060—700  Gesellen  bei  insgesamt  1498  Selbständigen 
an  (Schätzung !).  II.  P  a  a  s  c  h  e  ermittelt  für  Rostock  (1584)  neben 
2350  Selbständigen  1036  Knechte  und  1423  Mägde.  220  fremde 
Schuhmacher  in  London  sollen  (um  1528)  „über“  400  Hilfskräfte 
beschäftigt  haben.  Die  Angabe  ist  aber  einer  Beschwerde  der 
einheimischen  Schuster  entnommen ,  in  der  sie  sich  über  das 
Überhandnehmen  der  Fremden  beklagen,  wird  also  vermutlich 
übertrieben  sein1.  Und  das  war  schon  im  16.  Jahrhundert!  Im 
Livre  des  metiers  werden  nur  aufgeführt:  47  Sergents,  113  Valets, 


1  Text  bei  G.  Schanz,  Engl.  Handelspol.  2  (1881),  598—600. 


266  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

199  Chamberieres,  zusammen  359  Hilfspersonen.  Das  sind  natür¬ 
lich  längst  nicht  alle.  Wo  stecken  die  übrigen,  da  doch  jede 
erwachsene  Person  versteuert  wurde?  Unter  denen,  die  keine 
Berufsbezeichnung  tragen?  Oder  (was  noch  wahrscheinlicher 
ist)  in  den  Haushaltungen  der  Meister?  Das  ließe  ebenfalls  den 
Schluß  zu  auf  durchschnittlich  geringe  Betriebsgröße.  Aus  den 
Bestimmungen  der  Zunftstatuten  über  Betriebsmaxima  möchte 
ich  dagegen  nicht  ohne  weiteres  auf  die  Gestaltung  der  Wirk¬ 
lichkeit  schließen.  Im  Gegenteil,  ich  möchte  so  folgern:  wo  ein 
Maximum  der  Produktion  oder  eine  Minimalzahl  zulässiger  Hilfs- 
personen  vorgeschrieben  ist,  obwaltet  schon  eine  Tendenz  zur 
Betriebsvergrößerung.  Gerade  in  diesen  Gewerben  dürfen  wir 
daher  etwas  über  durchschnittlich  große  Betriebe  erwarten.  Wo 
dagegen  (dürfen  wir  schließen?)  —  natürlich  in  Orten  und  zu 
Zeiten ,  wo  überhaupt  schon  derartige  Bestimmungen  erlassen 
wurden  - —  die  Beschränkungen  in  den  Statuten  fehlen,  bildet 
der  kleine  Betrieb  noch  die  Regel.  Im  Livre  des  metiers  sind 
es  in  der  Tat  nur  wenige  Gewerbe  (Tuchmacherei!),  in  denen 
Höchstzahlen  der  zulässigen  Gehilfen  festgesetzt  sind.  Also  (?) 
war  im  Pariser  Handwerk  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  der 
Kleinbetrieb  die  Regel. 

Die  statistische  Ausnahme,  von  der  oben  die  Rede  war,  be¬ 
trifft  die  Handwerker  in  Heidelberg,  über  deren  Betriebsverhält¬ 
nisse  uns  Eulenburg  (a.  a.  0.  S.  132)  erfreulich  genaue  Mit¬ 
teilungen  macht.  Danach  waren  von  den  Gewerbebetrieben 

53.3  % 

27,5  % 

1 2.4  °/o 
5,3  °/o 
1,3% 

0,2  °/o 

Dieser  größte  Betrieb  gehört  dem  Steinmetzgewerbe  an. 
Sonst  wie  gesagt  sind  wir  auf  Schlüsse  oder  doch  wenigstens 
auf  Berechnungen  angewiesen.  So  könnte  man  allenfalls  zum 
Beispiel  die  oben  mitgeteilten  Zitfern  der  Produktionsmaxima 
in  der  Frankfurter  Tuchmacherei  verwenden,  um  folgende  Be- 
triebsgrößenstatistik  zu  bilden:  wir  nehmen  an,  daß  das  Pro¬ 
duktionsminimum  das  Jahreserzeugnis  eines  Alleinmeisters  ist: 
2X4  Stück  Tuch.  (Möglicherweise  ist  dies  Quantum  aber  auch 
das  Jahresprodukt  eines  nicht  dauernd  oder  teilweise  gegen 


Alleinbetriebe  240 
Betriebe  mit  1  männlichen  Gesellen  123 


2 

3 

4 

5 


55 

24 

6 

1 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  267 

Lohn  wehenden  Arbeiters,  doch  können  wir  von  dieser  Even¬ 
tualität  einmal  absehen:  träfe  sie  zu,  würde  das  Niveau  der 
Betriebsgrößen  entsprechend  sinken.)  Unter  dieser  Voraussetzung 
hätten  also  in  der  Frankfurter  Tuchmacherei  folgende  Betriebs¬ 
größen  bestanden: 

Alleinbetrieb  49  —  37,5  °/o 
Betriebe  mit  1 — 2  männlichen  Gehilfen  41  =  30,7  °/o 
„  3-5  „  „  32  =  24,0  > 

6—8  „  11  —  7,3  °/o 

Bedenkt  man,  daß  die  Ziffern  für  Frankfurts  größtes  Export¬ 
gewerbe  gelten  und  zieht  man  die  verschiedene  Höhe  der  wirt¬ 
schaftlichen  Entwicklung  in  beiden  Städten  in  Betracht,  so 
stimmen  diese  Ziffern  mit  den  quellenmäßig  festgestellten  Heidel¬ 
bergern  recht  wohl  und  können  vielleicht  als  ein  Abbild  dei 
Wirklichkeit  gelten. 

Auch  für  die  englische  Tuchindustrie  im  14.  Jahrhundert 
erhalten  wir  aus  den  oben  erwähnten  Ziffern  der  Tuchmesser¬ 
rechnungen  doch  denselben  Eindruck:  daß  die  große  Masse  der 
Produzenten  Kleinbetriebler  waren:  in  Suffolk  werden  733  Stück 
breite  Tuche  von  120  Personen  gemacht,  nur  7  oder  8  erzeugen 
je  20  Stück.  9200  kurze  Stück  schmalen  Tuchs  (von  denen  ich 
30  als  Jahreserzeugnis  eines  Webers  rechne)  werden  von  300 
Tuchmachern  hergestellt;  15  davon  liefern  120—160  Stuck  ab. 
In  Essex  stammen  1200  schmale  Stück  von  9,  m  Bramtree  2400 
von  8  Tüchern.  Darunter  sind  Jahresproduktionen  von  200  bis 
600  Stück.  Das  sind  also  (wenn’s  wahr  ist!)  jene  Großbetriebe, 
von  denen  ich  oben  sprach.  In  Devonshire:  65  Meister  3565 
Stück.  In  Cornwallis:  13  Tuchmacher  liefern  90  Stück  (wohl 
breites)  Tuch  ab.  In  Salisbury  158  Meister  6600  Stuck,  nur  / 
mehr  als  150.  In  Winchester  werden  3000  Stück  erzeugt:  nur 
3  Tuchmacher  produzieren  je  mehr  als  100  Stück.  In  Yorkshire: 
durchschnittliche  Produktion  10  Stück  (breites)  Tuch.  In  Ken , 
gibt  es  nur  1  Tücher,  der  mehr  als  50,  3  andere,  die  mehr  als 

25  Stück  fertigen.  „  .  .  , 

Daß  die  Gewerbebetriebe  des  Mittelalters  Individualbetriebe 

waren  und  daß  die  Alleinbetriebe  unter  ihnen  wohl  in  den  meisten 
Produktionszweigen  überwogen,  scheinen  mir  auch  die  bild  liehen 
Darstellungen  au  bestätigen,  die  wir  von  den  Vorgängen  des 
gewerblichen  Lebens  ans  dem  Mittelalter  (oder  gar  einer  etwas 
späteren  Zeit)  besitzen.  Ich  denke  an  die  Handwerkerbilder  aut 
den  Holzschnitten  im  germanischen  Museum  sowie  m  J,  Ammans 


268  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


Beschreibung  aller  Stände,  von  denen  oben  schon  die  Bede  war. 
Namentlich  die  selbständigen  Holzschnitte  sind  lehrreich  für  uns. 
Sie  stammen  erstens  aus  sehr  später  Zeit  (16.  Jahrhundert)  und 
hatten  zweitens  zweifellos  den  Zweck,  das  Nürnberger  Gewerbe 
in  seinem  Glanze  zu  zeigen.  Da  sehen  wir  nun: 

in  der  Gürtlerwerkstatt :  den  Meister,  der  das  Leder  zuschneidet, 
neben  ihm  zwei  Gesellen,  die  Taschen  anfertigen; 
in  der  Schuhmacherwerkstatt:  den  Meister,  der  wiederum  das 
Leder  zuschneidet  und  drei  Gesellen,  die  Stiefel  machen; 
in  der  Kürschnerwerkstatt:  den  Meister  und  zwei  Gesellen,  alle  drei 
gleichmäßig  beschäftigt,  Pelzsachen  zu  nähen,  ein  dritter 
trägt  eben  der  Meisterin  (die  im  Nebenraume  verkauft)  ein 
Pelzstück  hin,  auf  der  Straße  klopfen  drei  junge  Leute 
(Lehrlinge?)  Felle  aus; 

in  der  Fleischerwerkstatt:  zwei  Gesellen,  die  ein  Rind  schlagen, 
während  im  Verkaufsladen  der  Meister  Fleisch  zerhackt  zum 
Austeilen ; 

in  der  Gerberei:  den  Meister  mit  drei  Gesellen; 
in  der  Seilerwerkstatt:  den  Seiler,  der  spinnt,  mit  einem  Lehr¬ 
ling,  der  Hanf  zuträgt; 

in  der  Tischlerwerkstatt:  den  Meister,  der  hobelt,  mit  einem  Ge¬ 
sellen,  der  ein  Brett  zersägt. 

Ich  meine :  derartig  stereotype  Darstellungen  haben  doch  eine 
gewisse  Beweiskraft,  namentlich  wenn  sie  mit  Ergebnissen,  die 
auf  anderem  Wege  gewonnen  sind,  auffallend  übereinstimmen. 
Daß  wieder  mancher  Meister,  der  Nürnberger  Ware  erzeugte, 
ebenso  wie  mancher  Kunsthandwerker  (Veit  Stoss  i)  mehr  als 
zwei  bis  drei  Gesellen  beschäftigt  haben  wird,  braucht  nicht 
in  Zweifel  gezogen  zu  werden1.  Aber  die  Regel,  das  Typische, 
das  Überwiegende,  das  Normale,  das  Gewohnte  sehen  wir  auf 
unsern  netten  Holzschnitten  doch  wohl  vor  uns. 

o.  Ein  Rückschluß  auf  die  Kleinheit  der  Betriebe  und  damit 
die  handwerksmäßige  Organisation  läßt  sich  machen  aus  der  Zahl 
der  an  einem  Ort  ansässigen  Handwerker,  wenn  wir  sie  in 
Vergleich  stellen  mit  der  Einwohnerzahl  der  Stadt,  vorausgesetzt, 
daß  es  sich  um  lokale  Handwerker  handelt.  Man  müßte  einmal 

1  Meister  Tönnies  Evers  in  Lübeck  (16.  Jahrh.)  hatte  zuzeiten 
12  Gesellen  und  7  Lehrlinge  im  Dienst .  die  Zunft  setzte  aber  ihre 
Entlassung  durch:  J.  Warnke,  Handwerk  und  Zünfte  in  L 
(1912),  87. 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  269 

in  weiterem  Umfange  solche  Berechnungen  für  eine  -Reihe  der 
wichtigeren  Handwerke  vornehmen:  sie  würden  alle  dasselbe 
Ergebnis  zeitigen.  Um  nur  an  einem  Beispiel  zu  zeigen,  was 
ich  meine:  Paris  hatte  im  13.  Jahrhundert  allein  68  Seine-Mühlen, 
außerdem  lagen  nachweislich  an  der  Bievre  Mühlen  und  es  gab 
auch  Windmühlen.  Die  Müllerei  war  fast  durchgängig  Lohn- 
.müllerei,  sämtliche  Mühlen  arbeiteten  also  für  den  Ortskonsum. 
Also  entfielen  noch  nicht.  1000  Menschen  auf  eine  Mühle,  also 
konnten  diese  nur  Kleinbetriebe  sein.  Freilich  unter  der  Voraus¬ 
setzung,  daß  nicht,  etwa  wenige  den  größten  Teil  der  Produktion 
besorgt  hätten.  Diese  Möglichkeit  können  wir  ausschließen,  wenn 
wir  die  Lage  der  Mühlen,  über  deren  Topographie  wir  genau 
unterrichtet  sind,  in  Rücksicht  ziehen  h 

Ich  nenne  noch  kurz  einige  andere  Symptome,  aus  deren 
Auftreten  (das  außer  Zweifel  ist  und  deshalb  nicht  im  einzelnen 
belegt  zu  werden  braucht)  die  Herrschaft  handwerksmäßiger  Or¬ 
ganisation  gefolgert  werden  darf. 

4.  Der  Meister  bleibt,  soviel  wir  wissen,  überall  während  des 
Mittelalters  (mit  Ausnahme  vielleicht  einiger  Textilgewerbe  in 
Italien  und  Flandern  und  Brabant)  gewerblicher  Arbeiter,  das 
heißt,  er  arbeitet  in  der  Werkstatt  mit :  die  Funktion  der  bloßen 
Leitung  ist  noch  nicht  ausgeschieden. 

5.  Die  Grliederung  der  Gesellschaft  bleibt  noch  durchaus 
die  zünftige,  ja  während  der  letzten  Jahrhunderte  gelangt  sie 
erst  recht  in  der  politischen  Organisation  zum  vollen  Ausdruck. 
Was  wir  (immer  abgesehen  von  den  sozialen  Bewegungen  in 
einigen  italienischen  und  belgischen  Großstädten)  von  den  Ge¬ 
sellenverbänden  und  ihrer  Politik,  von  Gesellenunzufriedenheit 
und  Gesellenaufständen  wissen,  berechtigt  uns  nicht  zu  der  An¬ 
nahme,  daß  die  vertikale  Gliederung  der  Gesellschaft  schon  durch 
die  horizontale  verdrängt  gewesen  sei.  Das  wäre  ja  auch  selt¬ 
sam.  Sehen  wir  doch  noch  1789  und  selbst  1848  die  Struktur 
des  Handwerks  soweit  intakt,  daß  die  Gesellen  größtenteils  für 
die  Meister  die  Schlachten  schlagen.  Freilich  in  diesen  Zeiten 
war  neben  dem  Handwerk  schon  eine  neue  Organisationsform, 
die  kapitalistische ,  zur  Entwicklung  gelangt  und  mit  ihr  die 
Elemente  einer  horizontalen  Gesellschaftsgliederung.  Aber  davon 
konnte  im  Mittelalter  noch  keine  Rede  sein. 


1  Am  ausführlichsten  handelt  über  die  Pariser  Mühlen  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  G.  Pagniez  in  seinen  Etudes,  p.  156  ff. 


270  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Mit  diesen  letzten  Bemerkungen  führe  ich  den  Leser  zu  dem 
zweiten  Beweis  hinüber,  von  dem  ich  sprach:  dem  theo¬ 
retischen,  den  ich  mit  wenigen  Worten  erledigen  kann. 

Ich  verstehe  darunter  folgende  Besinnung:  wenn  man  die 
Bedingungen ,  unter  denen  gewerbliche  Produktion  im  Mittel- 
alter  stattfand,  genau  prüft  (wie  es  im  Verlauf  dieser  Darstellung 
zu  verschiedenen  Malen  geschehen  ist),  so  kommt  man  zu  dem 
Lrgebnis,  daß  sie  in  optimalem  Grade  denjenigen  Idealbedingungen 
nahe  kommen ,  die  wir  als  dem  Handwerk  günstige  theoretisch 
feststellen  konnten  (siehe  Kapitel  12).  Vor  allen  Dingen:  em¬ 
pirische  Technik  und  langsame  Bevölkerungsvermehrung  sorgten 
in  Verbindung  mit  der  stets  vorhandenen  kaufkräftigen  Nachfrage 
nach  gewerblichen  Erzeugnissen  für  große  Stabilität  des  Absatzes 
und  schlossen  die  Konkurrenz  der  Handwerker  untereinander 
bis  zu  einem  hohen  Grade  aus.  Wie  das  hier  nicht  noch  ein¬ 
mal  dargelegt  zu  werden  braucht.  Handwerk  konnte  also 
sein.  Daß  aber  Handwerk  sein  sollte,  dafür  spricht  der  Geist 
der  Zeit,  den  wir  kennen  lernten,  als  wir  die  Idee  des  Handwerks 
uns  zu  veranschaulichen  versuchten. 

Ich  könnte  nun  noch  hinzufügen:  ebenso  wie  alle  Bedingungen 
iür  handwerksmäßige  Organisation  im  Mittelalter  erfüllt  waren, 
so  blieben  noch  fast  alle  Bedingungen  einer  anderen  Wirtschafts¬ 
form  unerfüllt,  die  allein  bestimmt  war,  die  handwerksmäßige 
Produktion  zu  verdrängen:  der  kapitalistischen;  aber  davon 
handeln  die  folgenden  Bücher. 

Hier  will  ich  nur  noch  dieses  anmerken,  daß  unser  Ergebnis, 
zu  dem  die  Untersuchung  auf  den  letzten  Seiten  uns  führte  (daß 
die  Wirtschaftsform  der  gewerblichen  Produktion  während  des 
Mittelalters  Handwerk  war),  für  jede  Form  des  Handwerks  gleich¬ 
mäßig  gilt,  also  auch  für  dasjenige  Handwerk,  das  für  einen 
intei  lokalen  Mai  kt  arbeitete.  Damit  ist  der  Beweis  für  die 
Richtigkeit  des  Satzes  erbracht,  daß  die  handwerksmäßige  Or¬ 
ganisation  keineswegs  an  das  Kundenverhältnis  gebunden  ist: 
mit  anderen  W  orten :  daß  zu  den  Bedingungen,  deren  Erfüllung 
Handwerk  möglich  macht,  nicht  notwendig  Produktion  für  einen 
lokalen  Markt  gehört.  Vielmehr  Handwerk  sehr  wohl  auch  als 
Exportgewerbe,  das  für  den  „Weltmarkt“  produziert,  bestehen 
kann,  wenn  nur  sonst  die  Bedingungen  für  seine  Existenz  erfüllt 
sind.  Da  diese  Tatsache  so  oft  nicht  beachtet  oder  die  Richtig¬ 
keit  dieser  Feststellung  geradezu  geleugnet  wird,  so  will  ich  im 
folgenden  Kapitel  noch  einige  Belege  dafür  beibringen,  daß  auch 


Sechzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  gewerblichen  Arbeit  271 

diejenigen  Gewerbe,  von  denen  wir  wissen,  daß  sie  auch  im 
Mittelalter  für  den  „Weltmarkt“  produzierten,  ihre  handwerks¬ 
mäßige  Organisation  bewahrten.  Wenn  ich  dabei  die  Leser  zum 
Teil  auf  die  Darstellungen  glaubwürdiger  Gewährsmänner  ver¬ 
weise,  so  geschieht  es,  um  den  Raum  dieser  Blätter  nicht  allzu 
sehr  mit  Tatsachenmaterial  zu  füllen.  Der  interessierte  Leser 
kann  ja  leicht  in  den  angegebenen  Werken  die  quellenmäßigen 
Nachweise  selber  nachprüfen. 


272 


Siebzehntes  Kapitel 

Die  Organisation  der  Exportgewerbe. 

Waren  denn  die  im  14.  Jahrhundert  an  die  Gewandschneider 
liefernden  Tuchmacher  wirklich  noch  „Handwerker“  und  nicht 
etwa  schon  Hausindustrielle?  Diese  Frage  wirft  auch  Schm  oller1 
aiif-  „es  wäre  von  großem  Interesse,  festzustellen,  ob  etwa  ander¬ 
wärts  —  sc.  außer  in  Köln,  wo  sich  die  Weber  das  Hecht  des 
Gewandausschnitts  bewahrten  —  die  Gewandschneider  die  Ver¬ 
leger  und  Arbeitgeber  der  Tuchmacher  waren“  h 

Schmoller  selbst  vermeidet,  auf  seine  eigene  Frage  eine  runde 
und  nette  Antwort  zu  geben.  In  der  Tat  wird  sich  ein  urkund¬ 
licher  Beweis  schwer  führen  lassen.  Wir  sind  also  auf  Rück¬ 
schlüsse  aus  anderen  Umständen  angewiesen.  Schmoller  führt  unter 
diesen  mit  Recht  in  erster  Reihe  die  Tatsache  auf,  daß  in  den 
Zunftkämpfen  des  14.  Jahrhunderts  fast  überall  die  Tuchmacher 
die  führende  Zunft  waren  und  daß  der  Kampf  gegen  den  Rat 
und  die  Kaufmannschaft  sogar  vielerorts  zu  einem  Kampfe  gegen 
die  Gewandschneider  um  den  Gewandschnitt  ausartete.  Mir 
scheint  nun  aber  gerade  diese  politische  Rolle,  die  durchgängig 
die  Tuchmacher  und  Weber  im  14.  Jahrhundert  spielen,  ihr 
Streben,  ihrer  Zunft  und  den  andern  Handwerkern  zu  Sitz  und 
Stimme  im  Rat  zu  verhelfen,  der  ganz  und  gar  zünftlerische 
Geist,  den  ihre  Ordnungen  noch  im  15.  Jahrhundert  atmen2, 
durchaus  für  ihren  noch  reinen  handwerksmäßigen  Charakter  zu 
sprechen.  Hausindustrielle  hätten  weder  die  Spannkraft,  noch 

1  Tucherbuch,  S.  110. 

2  Vgl.  die  detaillierte  Schilderung  der  Aachener  Tuchmacherei  bei 
Thun,  Industrie  am  Niederrhein  1,  8  ff.,  und  jener  der  Schwarzwald¬ 
orte  bei  Gothein,  W.G.  1,  531.  Aus  beiden  Werken  habe  ich  den 
Eindruck  gewonnen,  daß  der  rein  handwerksmäßige  Charakter  auch  der 
Export-Tuchmacherei  bis  weit  in  die  sogen,  neue  Zeit  erhalten  ge¬ 
blieben.  ist.  Bis  tief  ins  18.  Jahrhundert  hinein  handwerksmäßig 
organisiert  war  auch  ein  Teil  der  englischen  und  französischen 
Tuchindustrie.  Davon  spreche  ich  ausführlich  in  diesem  Werke  im 
zweiten  Bande  bei  der  Darstellung  des  frühkapitalistischen  Gewerbe¬ 
wesens. 


Siebzehntes  Kapitel :  Die  Organisation  der  Exportgewerbe  273 


die  spezifisch  zünftlerische  Interessiertheit  für  jene  Vorkämpfer- 
Stellung  besessen,  wie  sie  die  Tuchmacher  jener  Zeit  einnahmen. 
Aber  auch  für  die  ökonomisch  gedrückte  Lage  des  damaligen 
Weberhandwerks  läßt  sich  meiner  Ansicht  nach  kein  Beweis 
erbringen.  Die  Schlußfolgerungen,  die  Schm  oller  zu  der  Be¬ 
hauptung  führen,  daß  das  Verhältnis  des  Tuchmachers  zum  Ge¬ 
wandschneider,  wo  ihm  jeder  Einzelverkauf  untersagt  war,  „ein 
gedrücktes,  durchaus  ungünstiges“  gewesen  sein  müsse,  sind 
meiner  Ansicht  nach  nicht  stichhaltig.  Dasselbe  gilt  für  die 
kampflustigen  flandrischenW  eberzünfte  im  14.  J  ahrhundert 1. 
Das  neu  erschlossene  Quellenmaterial 2  verstärkt  den  Eindruck, 
daß  die  flandrische  Textilindustrie  im  14.  Jahrhundert  eine  im 
wesentlichen  handwerksmäßige  Organisation  gehabt  hat. 

Besonders  früh  ist,  wie  wir  wissen,  die  Florentiner  Tuch¬ 
macherei  kapitalistisch  organisiert  gewesen,  aber  selbst  für  Florenz 
dürfen  wir  annehmen,  daß  bis  um  die  Wende  des  13.  Jahr¬ 
hunderts  die  kaufmännisch-großindustriellen  Elemente  noch  nicht 
die  Übermacht  über  die  Kleinmeister  bekommen  hatten3. 

Auch  die  interlokale  Leineweberei  hat  sich  lange  über  das 
Mittelalter  hinaus  als  Handwerk  erhalten.  Noch  im  18.  Jahr¬ 
hundert  sind  die  schlesischen  Leinwandhändler  ganz  und 
gar  nicht  immer  Verleger,  sondern  oft  nur  Abnehmer  der  von 
selbständigen  kleinen  Produzenten  hergestellten  Leinwand4. 

Daß  die  Seidenindustrie,  die  ja  wohl  sehr  frühzeitig 
Exportgewerbe  wurde ,  doch  auch  handwerksmäßig  organisiert 
war:  diesen  Nachweis  besitzen  wir  für  Genua,  von  wo  schon 
im  13.  und  14.  Jahrhundert  Seidenzeuge  ausgeführt  wurden, 
während  die  hausindustrielle  kapitalistische  Organisation  erst 
im  15.  Jahrhundert  ihren  Anfang  nimmt  und  das  ganze  Jahr¬ 
hundert  gebraucht,  wie  von  sachkundiger  Seite  gezeigt  worden 
ist5,  um  sich  gegen  die  handwerksmäßige  Organisation  durch¬ 
zusetzen.  Noch  lange  Zeit,  nachdem  das  Verlagssystem  Wurzel 


1  Vgl.  die  anschauliche  Schilderung  jener  Kämpfe  bei  L.  Vander- 
kindere,  Le  siede  des  Artevelde  (1879),  p.-  147  ff. 

2  Recueil  de  Docum.  rel.  ä  l’Histoire  de  lTndustrie  drapiere  en 

Flandre.  1906  ff. 

3  A.  Doren,  Studien  aus  der  Florentiner  W.Gesch.  I  (1901),  27. 

4  Wiederum  ist  auf  die  Darstellung  im  2.  Bande  dieses  Werkes 
zu  verweisen. 

5  H.  Sieveking,  Die  Genueser  Seidenindustrie  im  15.  und 
16.  Jahrhundert,  in  Schmollers  Jahrbuch  21  S.  101  ff. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  18 


274  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

geschlagen  hat,  finden  wir  beispielsweise  die  Seidenweber  außer 
für  Verleger,  auch  noch  für  eigne  Rechnung  arbeiten. 

Ganz  ähnlich  wie  in  Genua  lagen  die  Verhältnisse  in  Venedig 
und  in  der  Mutterstadt  der  europäischen  Seidenindustrie  Luc  ca. 
Auch  in  Venedig  und  Lucca  hat  es  zweifellos  handwerksmäßig 
organisierte  Seidenindustrie  gegeben.  Diejenigen  Seidenweber, 
die  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  von  Lucca  nach  Venedig 
auswanderten  —  man  nennt  die  Zahl  31  —  waren  sicher  weder 
Lohnarbeiter  (sie  beschäftigten  vielmehr  selbst  Gesellen)  noch 
auch  Hausindustrielle  (wie  hätten  sie  dann  auswandern  können?), 
sondern  sicher  meist  Handwerker'1. 

Noch  1432  wird  den  Venetianischen  Seidenwebern  erlaubt, 
an  einem  Webstuhl  für  eigene  Rechnung  zu  weben2 *.  Ebenso 
erlangten  die  Seidenweber  in  Lucca  durch  den  Aufstand  der 
Straccioni  sogar  noch  1531  das  Recht,  an  einem  Stuhl  für  eigene 
Rechnung  zu  weben0. 

Auch  die  Seidenindustrie  in  den  schweizerischen  Städten 
ist  anfangs  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein  ein  Handwerk4. 

Aber  selbst  die  Barchent-  und  Baumwollweberei, 
die  von  vornherein  eine  Tendenz  zum  Export  hatte,  finden  wir 
anfangs  oft  noch  in  durchaus  handwerksmäßigem  Rahmen.  Be¬ 
sonders  deutlich  tritt  dies  bei  der  Baseler  Schürlitzweberei  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  hervor,  die  trotzdem  sie  für  den  inter¬ 
lokalen  Markt  arbeitete,  reines  Handwerk  war5. 

Ein  Irrtum,  dem  viele  Historiker  der  mittelalterlichen  Textil¬ 
industrie  zum  Opfer  gefallen  sind,  ist  der:  daß  sie  dort,  wo 
z.  B.  ein  Tuchhändler  für  sich  „weben  läßt“,  schon  eine  kapi¬ 
talistische  Organisation  unterlegten;  zumal  wenn  sie  in  den 
Quellen  Verbote  des  Trucksystems  fanden.  Man  muß  sich  aber 
klar  machen,  daß  dieses  „andere  für  sich  gegen  Lohn  arbeiten 
lassen“  sehr  wohl  mit  handwerksmäßiger  Organisation  vereinbar 
ist:  es  sind  dann  eben  „Lohnwerker“,  die  aber  ebensogut  Hand¬ 
werker  wie  die  Kaufhandwerker  sind. 

1  San  di,  Istoria  ciyile  di  Venezia.  Parte  II.  Vol.  I.  p.  247.  256; 
zit.  bei  Ad.  Smith,  III.  B.  3  ch. 

2  Che  ciascun  niercadante  testor  abbia  libertä  di  poter  tessere  al 
suo  proprio  con  un  solo  tellar  con  le  sue  man  proprie  potendo  tuor 
un  garzon  e  non  piü  per  aida  quel  tellar.  Broglio  d’ Ajano,  Die 
venetianische  Seidenindustrie  (1893),  S.  49  f. 

8  Tommasi,  Arch.  stör.  ital.  10,  397  ff.;  zit.  .bei  Sieveking, 
a.  a.  0.  S.  129. 

4  Geering,  S.  465  f. 


6  Geering,  S.  306  f. 


Siebzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  Exportgewerbe  275 

Die  Lohngewerbe  waren  im  Mittelalter  sehr  häufig,  häufiger 
wie  heute  (sie  spielen  übrigens  auch  im  Rahmen  der  kapita¬ 
listischen  Organisation  eine  große  Rolle),  beweisen  aber  selbst¬ 
verständlich  an  und  für  sich  nichts  gegen  eine  streng  handwerks¬ 
mäßige  Organisation  des  Gewerbes.  Auch  das  Truckverbot  be¬ 
weist  noch  nicht,  daß  nun  Kapitalismus  in  das  Gewerbe  ein¬ 
gezogen  sei.  Wir  erfahren  aus  den  Quellen  vielmehr,  daß  auch 
von  Handwerker  zu  Handwerker  die  Sitte  oder  Unsitte  der 
Bezahlung  in  Waren  statt  in  barem  Gelde  bestand:  die  Walker 
der  Stadt  Paris,  denen  im  Jahre  1293  und  später  verboten  (!) 
wurde,  sich  anders  als  in  Geld  bezahlen  zu  lassen,  waren  echte 
zünftige  Handwerksmeister,  die  selbst  Gesellen  beschäftigten. 

Aber  waren  denn  die  Metalle  Erzeugnisse  von  Hand¬ 
werkern?  Auch  diese  Frage  ist  zu  bejahen.  Wir  sind  durch 
eine  Reihe  neuerer  Untersuchungen 1  über  die  Anfänge  des 
Bergbaus  und  der  Metallgewinnung  genugsam  davon  unter¬ 
richtet,  daß  die  früheste  Organisation  auch  dieser  Gewerbszweige 
durchaus  eine  handwerksmäßige  war.  Allerdings  in  einer  spezi¬ 
fischen  Nüance:  es  sind  fast  immer  von  Anfang  an,  jedenfalls 
sehr  frühzeitig,  Handwerkergenossenschaften,  die  nach  einem 
cremeinsamen  Plane  die  Ausbeute  der  Gruben  und  teilweise  auch 
die  Verhüttung  der  Erze  besorgten.  Da  uns  der  Gang  unserer 
Untersuchung  noch  einmal  auf  die  eigenartige  Form  der  hand¬ 
werksmäßigen  Organisation  im  Bergbau  führen  wird,  so  soll  ein 
näheres  Eingehen  bis  dahin  unterbleiben.  Hier  mag  nur  noch 
erwähnt  werden,  daß  ganz  analog  wie  der  Bergbau  die  Salz¬ 
gewinnung  ursprünglich  organisiert  war. 

Zweifellos  bewegt  sich  das  ganze  Mittelalter  hindurch,  bis 
in  das  16.  und  17.  Jahrhundert  hinein  die  Gewinnung  des 
Eisens  im  handwerksmäßigen  Rahmen:  ganz  sicher,  so  lange 
der  Rennwerksbetrieb  vorherrschte  (und  das  tat  er  lange  über 
das  Mittelalter  hinaus,  als  schon  längst  der  Hochofen  „erfunden“ 
war),  teils  aber  auch  noch,  als  man  Eisen  schon  im  Hochofen 
verhüttete 2. 

Daß  aber  auch  die  Waffenerzeugung  Handwerk  war,  wissen 
wir  aus  zahlreichen  Untersuchungen,  unter  denen  die  Arbeit 

1  Siehe  die  genauen  Literaturangaben  im  2.  Buche,  Kap.  29  und 
im  2.  Bande. 

2  L.  Beck,  Geschichte  des  Eisens  l3  (1891),  letzte  Abteilung, 

und  2  (1893),  177  ff.  und  öfter.  Siehe  auch  den  2.  Band. 


18* 


276  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Thuns  über  die  Solinger  Schwertfabrik  noch  immer  einen  her¬ 
vorragenden  Platz  einnimmt 1. 

Ein  fast  immer  sicheres  Zeichen  für  die  Intaktheit  der  hand¬ 
werksmäßigen  Organisation  eines  Gewerbes  ist  die  streng  durch¬ 
geführte  Scheidung  zwischen  der  Zunft  der  gewerblichen  Produ¬ 
zenten  und  derjenigen  der  Händler  derselben  Branche,  bzw.  das 
Verbot  für  die  Händler,  die  von  ihnen  gehandelte  Ware  selbst 
hersteilen  zu  lassen.  Ein  solches  Verbot  begegnet  uns  in  der 
Florentiner  Waffenindustrie.  Hier  war  der  Zunft,  der  Arma- 
iuoli  (Waffenhändler)  der  Betrieb  des  Harnisch-  und  Speer¬ 
schmiedehandwerks  streng  verboten;  sie  handelten  durchaus 
nur  mit  eingekaufter  Ware. 

Wer  waren  die  Produzenten  der  Nürnberger  Waren,- 
insonderheit  der  Erzeugnisse  seiner  Metallindustrie  ?  Wir  wissen, 
daß  schon  frühzeitig  eine  weitgehende  Spezialisierung  unter  den 
einzelnen  Produktionsstätten  durchgeführt  war:  es  gab  im  13.  Jahr¬ 
hundert  Schermesserer,  Sensenschmiede,  Gabelschmiede,  Zirkel¬ 
schmiede,  Kettenschmiede.  Dann  unter  den  Waffenschmieden: 
Harnischmacher,  Panzerhemdenmacher,  Haubenschmiede,  Klingen¬ 
schmiede,  Schwertfeger  usw.  Das  allein  würde  darauf  schließen 
lassen,  auch  wenn  wir  sonst  keinerlei  Zeugnisse  hätten,  die 
dafür  sprächen,  daß  wir  es  wenigstens  äußerlich  mit  einer  durch¬ 
aus  handwerksmäßigen  Organisation  der  Metallgewerbe  zu  tun 
haben :  das  Produktionsgebiet  wird-  in  voller  Reinheit  durch  das 
technische  Können  des  Meisters  nach  Quantum  und  Qualität 
begrenzt.  Waren  aber  diese  Handwerksmeister  als  solche  viel¬ 
leicht  nur  Scheinexistenzen,  waren  sie  imgrunde  verlegte  Stück¬ 
meister?  Daß  das  Verlagssystem  frühzeitig  in  Nürnberg  Boden 
faßt,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Die  Untersuchungen  Schoen- 
lanks  haben  sein  Vorkommen  schon  im  Anfang  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  nachgewiesen2.  Wenn  wir  aber  das  Urkundenmaterial 
durchsehen,  das  sich  auf  das  Verbot  oder  die  Regelung  der  Haus¬ 
industrie  bezieht,  und  von  dem  Schoenlank  einen  großen  Teil 
verwertet  hat,  so  müssen  wir  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß  es 
sich  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein  doch  immer  nur  um  Aus¬ 
nahmen  handelt,  daß  erst  in  dieser  Epoche  eine  allgemeine 
•Tendenz  zur  kapitalistischen  Organisation  Platz  greift. 

1  Thun,  2,  8  ff.  Vgl.  Bö  he  im,  Meister  der  Waffenschmiede¬ 
kunst.  1897,  und  L.  Beck,  Gesch.  des  Eisens  2,  342  ff.  987  ff. 

2B.  Schoenlank,  Soziale  Kämpfe  vor  300  Jahren  (.1894), 
S.  48.  Vgl.  auch  J.  Falke,  Gesch.  des  deutschen  Handels  1  (1859), 
125  f. 


Siebzehntes  Kapitel:  Die  Organisation  der  Exportgewerbe  277 


Was  wir  aus  Hans  Sachsens  Beschreibung  aller  Stände 
(1568)  entnehmen  können,  läßt  auch  auf  wesentlich  handwerks¬ 
mäßige  Organisation  aller  Nürnberger  Exportgewerbe  noch  im 
IG.  Jahrhundert  schließen. 

Dafür,  daß  die  Erzeuger  dieser  „Nürnberger  Waren“  im 
Mittelalter  Handwerker  waren1,  jedenfalls  sein  konnten,  spricht 
auch  die  Tatsache,  daß  die  vielfach  ähnliche  Produkte  für  den 
großen  Markt  herstellende  sogenannte  rheinische  Kleineisen¬ 
industrie —  die  Solinger  Messerfabrik,  die  Kemscheider  Industrie 
und  die  Schmalkaldener  Industrie  bis  tief  in  die  neue  Zeit 
hinein  ihren  rein  handwerksmäßigen  Charakter  bewahrt  haben. 
Das  Handwerk  ist  in  Solingen  bis  ins  16.  Jahrhundert  noch 
völlig  intakt,  im  17.  beginnt  der  Kampf,  aber  noch  1687  erfolgt 
formell  die  vollständige  Wiederherstellung  der  Zunftverfassung. 
Die  Kemscheider  Industrie  dagegen  findet  Thun  noch  in  den 
1870  er  Jahren  in  einer  wesentlich  handwerksmäßigen  Organisation 
vor.  Die  Schmalkaldener  Kleineisenindustrie  ist  während 
ihrer  Blütezeit  im  16.  Jahrhundert  streng  zünftlerisch 2  und 
bewahrt  ihren  Handwerks  Charakter  bis  ins  18.  Jahrhundert 
hinein3. 

-Ich  verweise  den  Leser  im  übrigen  nochmals  auf  meine  Dar¬ 
stellung  der  gewerblichen  Produktionsverhältnisse  im  Zeitalter 
des  Frühkapitalismus  (im  2.  Bande),  wo  ich  immer  an  die  ehemals 
handwerksmäßige  Organisation  eines  Gewerbezweigs  ankniipie, 
wenn  er  in  kapitalistischem  Sinne  umgebildet  ist  und  seine  Be¬ 
harrung  in  handwerksmäßiger  Verfassung  hervorhebe,  wenn  jene 
Umbildung  bis  zum  Ende  des  frühkapitalistischen  Zeitalters 
nicht  erfolgte. 

•i» 

* 

Aber  meine  Behauptung  geht  nun  noch  weiter :  nicht  nur  alle 
berufsmäßige  gewerbliche  Produktion  trug  während  des  Mittel¬ 
alters  handwerksmäßiges  Gepräge.  Auch  der  berufsmäßig  aus¬ 
geübte  Handel  tat  es,  von  dem  ich  in  einem  folgenden  Kapitel 
ausführlich  reden  will.  Eine  gründliche  Aussprache  über  den 
mittelalterlichen  Handel  ist  um  so  notwendiger,  als  gar  zu  häufig 

1  Vgl.  zu  ihrer  Charakteristik  auch  noch  J.  F.  Roth,  Gesch.  des 

Nürnberger  Handels  3  (1801).  .  Tr  . 

2  K.  Frankenstein,  Bevölkerung  und  Hausindustrie  rni  Kreise 

Schmalkalden  (1887),  S.  48.  . 

3  Beckmann,  Beyträge  zur  Ökonomie,  Technologie  usw.  10 

(1786),  148. 


278  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Handel  und  Handwerk  in  einen  Gegensatz  zueinander  gebracht 
werden,  weil  man  sich  gern  jeden  Handel  als  eine  Erscheinungs¬ 
form  des  Kapitalismus  vorstellt1.  Demgegenüber  ist  zu  zeigen, 
daß  ebenso  wie  die  gewerbliche  Produktion  auch  der  Handel 
lange  Zeit  als  ebenbürtiger  und  verträglicher  Bruder  des  hand¬ 
werksmäßigen  Gewerbes  bestanden  hat.  Der  Darstellung  dieses 
vorkapitalistischen  Handels  ist  das  folgende  Kapitel  gewidmet. 

1  „Der  Handel  muß  seiner  Natur  nach  kapitalistisch  betrieben 
werden.“  Rieh.  Ehrenberg,  Entstehung  und  Bedeutung  großer 
Vermögen,  in  der  Deutschen  Rundschau  vom  15.  April  1901.  S.  123. 


Achtzehntes  Kapitel 

Der  Handel  als  Handwerk 

Vorbemerkung 

Ich  schicke  der  Darstellung  folgende  Bemerkungen  voraus: 

1,  Zur  Terminologie:  Es  muß  nun  endlich  der  Unterschied  zwischen 
En  gros-  und  en  detail-Handel  festgelegt  werden:  jener  ist  Waren¬ 
absatz  (als  Beruf)  an  Produzenten  und  Händler ;  dieser  an  letzte  Kon¬ 
sumenten.  Der  Unterschied  ist  derselbe  wie  zwischen  Groß-  und 
Kleinhandel,  hat  aber  nichts  zu  tun  mit  dem  Unterschied  zwischen 
kleinem  und  großem  Handel.  Ein  kleiner  Schnorrer  kann  „Gioßhändlei 
sein,  das  Bon  Marche  in  Paris  mit  200  Millionen  Franken  Jahresumsatz 
treibt  „Kleinhandel“.  Daß  selbst  Eulenburg  (Zeitschrift  für  Soz. 
und  Wirtsch.Gesch.  1,  278)  diese  verschiedene  Unterscheidung  nicht 
scharf  auseinanderhält,  ist  erstaunlich. 

2.  Es  gab  im  Mittelalter  nicht  nur  handwerksmäßigen  Handel, 
sondern  auch  (in  beträchtlichem  Umfange  daneben)  Gelegenheit  s- 
handel,  von  dem  schon  die  Rede  war  und  über  den  ich  noch 

folgendes  bemerke:  . 

Im  europäischen  Mittelalter  bildet  es  nicht  minder  wie  im 
klassischen  Altertum  einen  häufigen  Fall,  daß  gerade  bedeutende 
Handelsoperationen  von  Nichtkaufleuten  ausgeführt  wurden.  Diejenigen 
Kategorien,  die  als  Gelegenheitshändler  vornehmlich  m  Betracht  kommen, 
waren  (und  zwar  im  Süden  genau  so  wie  im  Norden) 

1.  die  Katsherren  und  Bürgermeister  der  Städte:  der  Doge  von 
Venedig  nicht  minder  als  der  Ratsherr  von  Hamburg  oder 

Lübeck  (Vicko  von  Geldersen!  die  Wittenborgs!); 

2.  die  Geschlechter,  insonderheit  die  reichen  grundbesitzenden 

Familien ; 

3.  die  Stifte,  Klöster,  Orden,  Geistlichen  aller  Grade. 

Kurz  alles,  was  im  Mittelalter  vermögend  war. 

Bei  zahlreichen  dieser  Vermögensmächte  des  Mittelalters  stellte 
sich  im  Laufe  der  Zeit,  wie  wir  noch  sehen  werden,  eine  Art  Geld¬ 
plethora  ein,  und  der  Gedanke,  das  überflüssige  Geld  in  anderer  Weise 
als  durch  Ausweitung  des  Grundbesitzes,  nutzbringend  anzulegen 
lao-  nahe.  Jetzt  kommt  die  Zeit,  da  gelegentlich  Betrage  vielleicht 
noch  erst  unentgeltlich  der  bedürfenden  Stadtgemeinde,  bald  aber  auch 
eeeen  Entgelt  vornehmen  Herren  leihweise  überlassen  werden.  Es 
kommt  die  Zeit,  da  man  einem  Faktor  Summen  anvertraut,  mR  denen 
er  auswärts  Handelsgeschäfte  betreiben  soll:  also  die  Zeit  des 
Gelegenheitshandels.  Es  handelt  sich  zunächst  immer  um  gelegentliche 
Handelsunternehmungen ,  um  Kompagniegeschafte  auf  kurze  Zei  . 


280  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Die  wohlhäbigen  Bürger  bleiben  in  den  Anfängen  meist  selbst  in 
der  Vaterstadt,  wo  sie  sich  den  öffentlichen  Interessen  und  der 
Verwaltung  ihrer  liegenden  Güter  widmen.  (Vgl.  Bücher,  Be¬ 
völkerung,  216/47.)  Nur  als  solchen  Gelegenheitshändler  wird  man 
einen  venetianischen  Nobile  oder  einen  Wittenborg  'oder  Geldersen 
richtig  verstehen.  Wenn  man  sich  einmal  die  Mühe  nimmt,  die  An¬ 
zahl  Warenposten  zu  zählen,  die  in  dem  „Handlungsbuche“  eines 
solchen  Ratsherrn  verzeichnet  sind,  so  kommt  man  zu  erstaunlichen 
Ergebnissen:  in  einem  Jahre  sind  nicht  mehr  als  20 — 30  Einträge  ge¬ 
macht;  also  alle  vierzehn  Tage  einer.  Was  hätte  der  Mann  mit  seiner 
Zeit  anfangen  sollen,  wenn  er  wirklich,  wie  man  wohl  gelegentlich 
annimmt,  ein  Berufskaufmann  gewesen  wäre?  Der  Unterschied  zwischen 
den  handwerksmäßigen  Berufshändlern  und  den  alten  (Gelegenheits-) 
handeltreibenden  Geschlechtern  ist  besonders  deutlich  in  Wien.  Siehe 
Voltelini,  a.  a.  0.  S.  67  ff.  Dann  natürlich  wächst  sich  im  Laufe 
der  Zeit  bei  einzelnen  Familien  diese  sporadische ,  intermittierende 
Tätigkeit  als  Bankier  oder  Händler  zu  einem  Berufe  aus.  Von  diesen 
Gelegenheitshändlern  ist  hier  nun  nicht  die  Rede :  hier  soll  nur  der 
Handel  als  Handwerk  zur  Darstellung' gebracht  werden. 

I.  Der  Geschäftsumfang 

Von  entscheidender  Bedeutung  für  ein  richtiges  Verständnis 
des  vorkapitalistischen  Handels  würde  die  genaue  Kenntnis  seiner 
Größenverhältnisse  insonderheit  der  von  einem  Händler  um¬ 
gesetzten  Gütermengen  oder  Wertbeträge  sein.  Leider  sind  wir 
bis  jetzt  hierfür  auf  gelegentliche  Mitteilungen  der  Quellen  an¬ 
gewiesen  und  werden  es  wohl  in  aller  Zukunft  im  wesentlichen 
bleiben.  Immerhin  ist  das,  was  wir  heute  von  dem  Geschäfts¬ 
umfang  des  mittelalterlichen  Handels  wissen,  genug,  um  uns  eine 
ungefähre  Vorstellung  von  seiner  quantitativen  Bedeutung  zu 
machen.  Quellenmäßig  verbürgte  Ziffern  verschiedenster  Art 
verbunden  mit  einer  allmählichen  Entwicklung  des  statistischen 
Sinnes  auch  für  die  Zahlen  des  Handelsverkehrs  beginnen  all¬ 
mählich  —  freilich  viel  langsamer  als  auf  dem  Gebiete  der  Be¬ 
völkerungsstatistik  !  —  mit  den  phantastischen  Größenvorstel¬ 
lungen  aufzuräumen ,  wie  sie  etwa  die  Zifferangaben.  Mocenigos 
und  Marino  Sanutos  für  Venedig,  Villanis  für  Florenz  in  den 
Köpfen  vieler  Historiker  erzeugt  hatten ,  wie  sie  beispielsweise 
noch  in  der  bekannten  Abhandlung  des  Generalpostmeisters 
Stephan 1  eine  Rolle  spielen.  Wir  müssen  uns  gewöhnen ,  auch 
und  gerade  mit  Bezug  auf  den  Handel  und  Verkehr,  Ziffern  der 


1  Stephan,  Das  Verkekrsleben  im  Mittelalter,  in  Räumers 
Historischem  Taschenbuch.  Vierte  Folge,  zehnter  Jahrgang.  1869. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


281 


Vero-angenheit,  deren  Entstellungsart  wir  nicht  ganz  genau  nach- 
prüfen  können,  mit  Argwohn  zu  betrachten.  Es  ist  auffallend, 
daß  die  Historiker  von  Fach ,  deren  Akribie  in  bezug  auf  lite¬ 
rarische  und  urkundliche  Überlieferung  die  höchste  Ausbildung 
erfahren  hat,  alles,  was  sie.  an  statistischen  Ziffern  in  den  Quellen 
finden,  häufig  genug  unkritisch  mit  einem  naiven  Dilettantismus 
verwenden.  Wer  schriebe  beispielsweise  nicht  unbesehens 
seinem  Vorgänger  nach,  daß  der  Warenumsatz  im  Fondaco  dei 
Tedeschi  in  Venedig  jährlich  1000000  Dukaten  betragen  habe. 
Und  doch  ist  mir  nicht  bekannt,  daß  irgendein  sachlicher  Anhalt 
vorhegt,  der  uns  geneigt  machen  könnte,  jene  phantastische 
Ziffer°eines  blagierenden  Bürgermeisters  glaubhaft  zu  finden. 

Eine  gleich  verdächtige  Ziffer  sind  die  berühmten  100000  Stück 
Tuch  des  Vill  ani,  die  anno  1308  in  Florenz  fabriziert  sein  sollen, 
und  die  noch  Doren  als  „einwandsfrei“  bezeichnet1.  Man 
braucht  aber,  um  ihre  Unglaubwürdigkeit  zu  erweisen,  mw 
folgende  Rechnung  anzustellen:  Ende  des  13.  Jahrhundert  be¬ 
trug  die  Gesamtausfuhr  an  Wolle  aus  England  nach  Italien  etwa 
4000  Sack2.  Nun  rechnet  man  in  damaliger  Zeit  auf  einen  Sack 
Wolle  drei  Stück  Tücher3.  Der  Gesamtbetrag  der  nach  Italien 
‘gelangenden  Wolle  hätte  also  eine  Ausbeute  von  12000  Stück 
ergeben.  Mochte  nun  Florenz  auch  noch  anderswoher  seine 
Wolle  beziehen:  Hauptausfuhrland  war  doch  England.  Und  jene 
Ausfuhrziffer  bezieht  sich  ja  nicht  nur  auf  die  nach  Florenz, 
sondern  die  nach  ganz  Italien  gelangende  Wolle! 

Dies  nur  exempli  gratia4. 

Um  zu  richtigen  Vorstellungen  von  dem  Geschäftsumfange 
eines  Händlers  in  früherer  Zeit  zu  gelangen,  stehen  uns  zwei 
Weo-e  offen:  die  Division  von  Gesamtumsätzen  eines  Platzes 
durch  die  Zahl  der  an  ihnen  beteiligten  Kaufleute  und  der 
direkte  Geschäftsausweis  des  einzelnen  Händlers  bzw.  die  Fest¬ 
stellung  der  von  dem  einzelnen  gehandelten  Gütermenge. 

Ziffern  über  den  Gesamtumsatz  eines  Platzes  oder 


i  Doren,  Studien  aus  der  Florentiner  Wirtschaftsgeschichte  1 

<'19(21j)ie  Lizenzen  bezifferten  sich  (1277/78)  auf  4235  Sack.  K.  Kunze, 
Hanseakten  aus  England  1275—1412.  Hans.  Geschichtsquellen  Bd.  6 
(1891),  S.  332. 

s  Doren,  Studien  1,  54.  .  , T  „u 

4  über  die  Unfähigkeit  des  Mittelalters  zur  Statistik:  Lamprecht, 

DWL.  2,  6  ff. 


282  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


der  über  eine  Verkehrsstraße  bewegten  Gütermengen  sind  natur¬ 
gemäß  für  die  frühere  Zeit  besonders  selten.  Immerhin  stehen 
uns  einige  sehr  lehrreiche  und  ganz  zuverlässige  Statistiken  zu 
Gebote,  von  denen  die  folgenden  als  Stichproben  hier  mitgeteilt 
werden  mögen. 

Zunächst  die  Beträge  des  Ausfuhrhandels  der  wichtigsten 
Hansastädte  im  14.  Jahrhundert.  Sie  betrugen  in  dem  letzten 
Jahre,  für  das  unser  Gewährsmann1  Ziffern  mitteilt  in: 

Reval  (1384)  131  085  Mk.  lüb.  oder  1  245  305  Mk.  heutiger  Währung 

Hamburg  (1400)  336  000  „  „  „  3 192  000  „  „ 

Lübeck  (1384)  293  760  „  „  „  2  790  720  ,, 

Rostock  (1334)  76  640  „  ,,  „  728  080  „  „  ’ 

Stralsund  (1378)  330  240  „  „  „  3  137  280  „  „  „ 

Nach  den  Berechnungen  Schulte s  ist  der  sich  über  den 
St.  Gotthard  bewegende  Jahresverkehr  im  Spätmittelalter  auf 
eine  Gewichtsmenge  von  1250  t  anzusetzen;  das  ist,  wie  bekannt, 
de!-  Inhalt  von  ein  bis  zwei  Güterzügen. 

Recht  genau  sind  wir  über  die  Ausmaße  des  städtischen  G  e - 
treidehandels  im  Mittelalter  und  zum  Beginn  der  Neuzeit 
unterrichtet.  Die  Menge  des  Getreides,  das  im  16.  und  17.  Jahr¬ 
hundert  in  den  bedeutenden  Getreidehandelsplätzen  Stettin  und 
Hamburg  in  den  Handel  kam,  betrug  in  Stettin  2—3000  t,  in 
Hambuig  das  Doppelte,  der  gesamte  Jahresumsatz  Stettins  an 
Getreide  in  seiner  Blütezeit  umfaßte  also  eine,  derjenige  Ham¬ 
burgs  zwei  unserer  heutigen  Schiffsladungen2 3 * * * *. 

Noch  genauer  kennen  wir  die  Mengen  der  aus  England 
während  des  Mittelalters  von  den  Ausländern  ausgeführten 
Wolle8.  Sie  betrug  beispielsweise  im  Jahre  1277/78  14301  Sack. 


1  W.  Stieda,  Revaler  Zollbücher  und  -Quittungen  des  14.  Jahr¬ 
hunderts.  Hans.  Geschichtsquellen  Bd.  5  (1887)  LVI,  LVII.  Die 
Einleitung  Stiedas  zu  dieser  Edition  gehört  unzweifelhaft  zu  den 
wertvollsten  Publikationen  über  mittelalterlichen  Handel.  Vgl  auch 

Oskar  Wendt,  Lübecks  Schiffs-  und  Warenverkehr  in  den  Jahren 
1368  und  1369  (1902). 

3  W.  Naude,  Deutsche  städtische  Getreidehandelspolitik  vom 

15.  bis  17.  Jahrhundert  usw.  1889;  dazu  meine  Anzeige  des  Buches 

m  Schmollers  Jahrbuch  XIV,  312  ff.  Ich  habe  dort  versucht  auf 

rechnerischem  Wege  und  durch  Vergleiche  mit  modernen  Verhältnissen 

eine  genauere  Vorstellung  von  dem  Umfange  des  Getreidehandels 
Hamburgs  und  Stettins  in  ihrer  Blütezeit  zu  gewinnen. 

8  Das  war  etwa  zwei  Drittel  der  Gesamtausfuhr  nach  den  Be¬ 
rechnungen  Schaubes  in  dem  unten  auf  S.  309  zit.  Aufsatze  S.  68- 


Achtzehntes  Kapitel:  -Der  Handel  als  Handwerk 


283 


den  Sack  zu  rund  2  dz  gerechnet,  also  noch  nicht  ganz  30  000  dz 
oder  3000  t ;  die  von  den  hansischen  Kaufleuten  in  diesem  Jahre 
exportierte  Wolle  bezifferte  sich  dagegen  auf  1655  Sack,  rund 
3300  dz  oder  330  t\  während  in  den  letzten  Jahren  nach  Deutsch¬ 
land  etwa  200000  t  Wolle  jährlich  ein  geführt  wurden. 

An  diesem  Bilde  ändert  sich  auch  nichts,  wenn  wir  den  Geld¬ 
ausdruck  für  die  W arenmenge  einsetzen.  Der  Preis  für  den  Sack 
Wolle  betrug  in  England  während  des  14.  Jahrhunderts  etwa 

90 _ 100  sh,  das  wären  in  heutiger  Reichs  Währung  etwa  300  Mk. 

(den  damaligen  englischen  Penny  zu  20,625  troygrains  Feinsilbei 
o-erechnet).  Die  Gesamtausfuhr  der  englischen  Wolle  würde  also 
einem  Werte  von  4-5  Mill.  Mk.  heutiger  Währung,  diejenige 
der  Hanseaten  einem  solchen  von  etwa  500  000  Mk.  heutiger 
Währung  entsprochen  haben.  Im  Jahre  1913  wurde  aber  füi 
412.7  Mill.  Mk.  heutiger  Währung  rohe  Schafwolle  eingeführt. 

Kun  gewinnen  aber  alle  diese  Ziffern  für  uns  erst  ein  Inter¬ 
esse,  wenn  wir  gleichzeitig  die  Zahl  der  Händler  kennen, 

die  jenen  Umsatz  bewirkt  haben. 

Die  Zahl  der  Getreidehändler  in  Hamburg  während  des 
16.  Jahrhunderts  wird  uns  mit  6 — 12  angegeben,  alleidings  von 
einem  Gewährsmann,  dessen  Interesse  eine  Unterschätzung  der 
Ziffer  wahrscheinlich  macht.  Immerhin  lassen  auch  andere  An- 
o-aben  den  Schluß  zu,  daß  ein  „großer“  Getreidehändler  jener 
schon  verhältnismäßig  späten  Periode  nicht  mehr  als  höchstens 
400  Last  Getreide  umsetzte1 2. 

An  der  Wollausfuhr  aus  England  waren  aber  m  dem  an- 


1  Hans.  Geschichtsquellen  6  (1891),  332.  Die  angeführten  Zahlen 
betreffen  die  erteilten  Lizenzen,  stellen  also  das  meist  nicht  er¬ 
reichte  Maximum  der  Ausfuhr  dar. 

2  Ein  renommistischer  Chronist  schreibt  gegen  1500  (Naud6,  o*J, 
es  gäbe  Bürger,  die  in  einem  Jahre  wohl  400  Last  Korn  verschi  en. 
Dasgwar  also  ein  Wunder.  1580  petitionieren  die  Stettiner  Kaufleute . 
man  möchte  doch  lieber,  statt  ihnen  einen  Eid  aufzuerlegen,  vor- 
schreiben,  wieviel  Getreide  -  60  oder  100  Last  -  der  Kaufmann,  nach 
Gelegenheit  der  Zeit,  als  Maximum  kaufen  dürfe.  Innerhalb  des  ganzen 
Jahres?  es  möchte  fast  unglaublich  erscheinen.  Wenn  aber  400  Last 
etwas  Besonderes  war,  dann  sind  100  Last  durchschnittlich,  als 
rrebnis  einer  zwangsweisen  Beschränkung ,  noch  gar  nicht  so  wen  g. 
In  demselben  Jahre  (1580)  klagen  die  Gildebrüdei^  „es  sei  zum  Er- 
barmen,  daß  6,  8,  höchstens  11  oder  12  Personen  den  Q^nleams^ 
ausschließlich  in  Händen  hätten“  (a.  a.  O.  b.  73).  Das  war  also 
schon  ein  Zustand,  der  als  ungesund  empfunden  wurde,  so  daß  wir 
für  die  frühere  Zeit  eine  viel  größere  Anzahl  Händler  annehmen  müssen. 


284  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

gegebenen  Jahre  nicht  weniger  als  252  Händler  beteiligt,  so  daß 
auf  jeden  Händler  ein  Durchschnitt  von  56  Sack  oder  etwa 
110  dz  Wolle,  ein  Umsatz  von  etwa  15000  Mk.  heutiger  Währung 
entfällt,  während  die  Zahl  der  deutschen  Händler  37  betrug,  ihr 
Diu  chschnittsanteil  sich  also  auf  45  Sack  oder  90  dz,  ihr  durch- 
schnittlicher  Umsatz  auf  13—14000  Mk.  heutiger  Währung  be¬ 
zifferte. 

Im  allgemeinen  dürfen  wir  annehmen ,  daß  ebenso  klein  wie 
die  Menge  der  insgesamt  umgesetzten  Waren  im  Mittelalter 
gewesen  ist,  ebenso  groß  die  Ziffer  der  daran  beteiligten 
Händler  war. 

Man  hat  diejenigen  Historiker  verspottet,  welche  „die  zahl¬ 
losen  Städte  von  Köln  und  Augsburg  bis  Medebach  und  Kadolf- 
zell  mit  Kaufleuten  im  modernen  Sinne,  also  einem  berufsmäßig 
entwickelten  Stand  von  Händlern  bevölkert“  haben.  Gewiß  mit 
Hecht,  soweit  es  sich  um  Übertragung  des  modernen  Großkauf¬ 
manns  in  die  mittelalterlichen  Städte  handelt.  Mit  Unrecht 
jedoch  meines  Erachtens,  sofern  nur  die  Zahl  der  (allerdings 
durchaus  handwerkerhaften)  Händler  in  Frage  kommt.  Diese 
war  gewiß  sehr  hoch.  Es  hat  in  der  Tat  in  den  mittelalterlichen 
Städten,  wenigstens  soweit  sie  Handel  trieben,  von  Händlern 
und  Handelshilfspersonen  förmlich  gewimmelt.  Man  mag  sich 
in  die  Zustände  Genuas  oder  Venedigs  im  12.  oder  13.  Jahr- 
hundert,  in  die  einer  hanseatischen  Stadt  noch  am  Ausgange 
des  Mittelalters  versenken:  immer  stößt  man  auf  denselben 
Haufen  kleiner  und  mittlerer  Händler.  Man  ermesse  doch,  was 
das  heißt:  252  Wollhändler  sind  bei  der  Ausfuhr  von  30  000  dz 
Wolle  beteiligt!  Man  bedenke,  daß  es  zur  Bewältigung  des  oben 
charakterisierten  Getreidehandels  in  Hamburg  48  "beeidigter 
Kornmesser  und  132  beeidigter  Kornträger  bedurfte.  Oder  man 
vergegenwärtige  sich  das  Gewimmel  im  Fondaco  dei  Tedeschi 
m  Venedig,  der  bis  1505  allein  zu  Wohnzwecken  56  Gelasse 
enthielt,  später  72  und  80,  die  immer  besetzt  waren,  und  in  dem 
30  Makler,  38  Ballenbinder,  40  Auktionatoren  und  eine  Unmenge 
von  Verwaltungspersonal  ihr  Wesen  trieben1.  Oder  man  denke 
an  das  Heer  von  arbeitsteilig  organisierten  Beamten,  das  unter 
dem  prevost  und  den  echevins  in  Paris  steht,  zur  Besorguno- 

1  Simonsfeld,  Der  Fondaco  dei  Tedeschi  2  (1887),  10,  18  ff 
112.  „Eine  Eigenart  des  Mittelalters  ist  das  starke  Hervortreteu  der 
kaufmännischen  Beamten-  und  Mittlerelemente  (Makler,  öffentl.  Messer 
Wäger  usw.).“  ’ 


285 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


der  scharf  voneinander  abgegrenzten  Handelshilfsgeschäfte.  Oder 
man  blättere  die  Chartae  in  den  Historiae  patriae  Monumenta 
durch,  tun  zu  erstaunen,  daß  fast  alle  Tage  ein  Commendavertrag 
in  dem  Genua  des  12.  Jahrhunderts  abgeschlossen  wird  über 
irgendein  Handelsunternehmen  kleinsten  Umtangs. 

Doch  wird  es  sich  für  unsere  Zwecke  mehr  empfehlen,  statt 
uns  auf  diese  Erwägungen  allgemeiner  Natur  einzulassen1,  uns 
nach  konkretem  Zahlenmaterial  für  den  Geschäftsumfang  odei 
den  Warenumsatz  einzelner  Händler  umzusehen.,  Glücklichei - 
weise  fehlt  es  daran  nicht.  Gleich  die  zuletzt  erwähnte  Quelle 
gibt  uns  in  ihren  Notariatsverträgen  über  temporäre  „Handels¬ 
unternehmungen“,  weil  darin  die  Beträge  des  eingeschossenen 
Betriebsfonds  angegeben  sind,  einen  vortrefflichen  Anhaltspunkt 
für  die  richtige  Bemessung  der  Größenverhältnisse  mittelaltei- 
lichen  Handels.  In  dem  1858  veröffentlichten  zweiten  Band  der 
Chartae  finden  sich  von  Nr.  293  ab,  das  heißt  seit  dem  16.  April 
1156  eine  große  Anzahl  von  Commenda-  und  Societas-Verträgen 
mit  Angabe  des  eingeschossenen  Vermögens.  Solcher  Verträge 
habe  ich  die  ersten  50  zusammengestellt  und  den  Durchschnitt 
der  darin  angegebenen  „Gesellschaftsvermögen“  gezogen.  Es 
gibt  bei  einem  Gesamtbetrag  von  7470  genuesischen  Libre,  über 
die  die  50  Verträge  lauten,  einen  Durchschnitt  von  rund  150  lb., 
das  heißt  bei  einem  Verhältnis  der  Lira  zum  Florin  von  5  :  4,  von 
120V2  fl.,  das  sind  also  etwa  1000—1100  Mk.  heutiger  Währung-. 

Unter  den  Beträgen  lautet  der  höchste  über  900  lb.,  zwei 
weitere  über  mehr  als  400  lb.,  zwei  über  300  lb.,  der  Best  bleibt 
unter  dieser  Summe.  Dabei  handelt  es  sich  vielfach  um  Ge¬ 
schäfte  mit  fernen  Ländern:  Nr.  431  Vertrag  über  297  lb.  Handel 
nach  Alexandria,  434  (224  lb.)  nach  Tunis,  441  (150  lb.)  nach 
Alexandria,  457  (300  lb.)  nach  Sizilien  usw.  Häufig  wird  der 
eine  der  Anteile  in  Waren  (in  pannis)  geleistet:  es  assoziiert 
sich  ein  Handwerker,  der  Tücher  macht,  mit  einem  anderen,  der 
die  Tücher  über  Land  oder  See  verführen  soll. 

Ganz  ähnliche  Ziffern  wie  in  dem  Genua  des  12.  Jahrhunderts 
finden  wir  in  den  Gesellschaftsverträgen  Lübecks  im  14.  und 
15.  Jahrhundert.  In  den  von  P.Eehme  veröffentlichten  Sozietas- 


1  Als  ein  Symptom  geringen  Umsatzes,  das  ebenfalls  noch  all¬ 
gemeiner  Natur  ist,  wäre  auch  das  lange  Verharren  bei  der  effektiven 
Silberwährung  anzuführen.  Die  ersten  Goldmünzen  werden  m  Deutsch- 
land  1325  geprägt  (Schulte  1,  329);  m  England  1341.  •  }  1 

Foedera  etc.  5,  403. 


286  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 


vei  ti ägen,  die  im  Lübecker  Niederstadtbuch  eingetragen  sind  (wo 
übrigens  nur  die  erheblichen  Geschäfte  insbesondere  mit  ferner- 
stehenden  Personen  gebucht  wurden),  bleibt  der  größte  Teil  der 
Beträge  (72)  unter  100  liib.  Mark  (etwa  1000  Mk.  h.  W.),  die 
Beträge  gehen  bis  auf  4  Mark  hinunter.  Ein  kleiner  Teil  bewegt 
sich  um  200  Mark.  Beträge  zwischen  460  und  1000  Mark  finden 
sich  5  darunter,  ferner  Beträge  zu  1350,  1400,  3200  und  4600 : 
die  beiden  letzten,  die  einzigen  also,  die  aus  dem  Lahmen  eines 
handwerksmäßigen  Geschäftsumfanges  heraustreten,  sind  von  je 
denselben  beiden  Personen  (Abr.  Bere  und  Joh.  de  Alen)  be¬ 
zahlt  b  b 

Hätte  man  sich  die  kleine  Mühe  schon  früher  gemacht,  die 
Summen,  die  den  Commenda-  und  Societas -Verträgen  zugrunde 
liegen,  aufzurechnen:  es  wäre  viel  unnützes  Gerede  über  die 
„wirtschaftliche  Natur“  dieser  Gesellschaftsformen  vermieden 
worden2,  in  denen  man  von  Anbeginn  an  die  Flügelschläge  des 
Kapitalismus  hat  wollen  rauschen  hören. 

Ebenso  wie  die  Gesellschaftsverträge  gewähren  einen  Anhalt 
lür  die  Abmessung  der  Warenumsätze  mittelalterlicher  Handels¬ 
geschäfte  die  Ziffern,  die  die  Vermögen  der  Kaufleute  zum 
Ausdruck  bringen 

Wir  dürfen  bei  der  Länge  der  Umschlagsperioden  damaliger 
Zeit  getrost  annehmen ,  daß  kein  Händler  für  mehr  Waren  Im 
Jahre  umsetzte,  als  sein  Vermögen  Wert  hatte,  das  ja  noch 
großenteils  in  Liegenschaften  angelegt  war.  Nun  hören  wir  aber 
beispielsweise,  daß  1429  in  der  reichen  Handelsstadt  Basel  nur 
5  Kaufleute  mehr  als  4000  fl.  besaßen,  davon  4  zwischen  4000 
und  6500  fl.,  30  ein  Vermögen  zwischen  1000  und  4000  fl.,  14 
ein  solches  zwischen  500  und  1000  fl.,  22  zwischen  100  und 
500  fl.,  6  unter  100  fl.  ihr  eigen  nannten8.  Selbst  in  Augs¬ 
burg  finden  wir  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  erst  70  Per- 


,,  '  P--DEe!lm®  in  ^er  Zeitschr.  f.  d.  ges.  HR.  Bd.  42.  Vgl.  auch 
*-'•  W.  r  auli,  Liibeckiscke  Zustände,  3  Bde.  1846 — 78  1,  140  ff. 

..  “  4U®  der  Literatur  über  Kommenda-  und  ähnliche  Verhältnisse 
uie  bei  Goldschmidt  im  übrigen  wohl  vollständig  verarbeitet  ist,  ra-en 
hervor:  Lästig,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Handelsrechts,  in  der 
Zeitschrift  für  das  ges.  Handelsrecht  Bd.  24,  Lattes,  II  diritto  com- 
merciale  nella  legislazione  statutaria  della  cittä  italiane  (1884),  154  ff. 

?naS  Weber  Zur  Geschichte  der  Handelsgesellschaften  im 
Mittelalter,  1889.  Vgl.  noch  die  unten  S.  312  f.  genannten  Werke. 

180/81  bchönberS>  Finanzverhältnisse  der  Stadt  Basel  (1879), 


287 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


sonen,  die  ein  Vermögen  von  je  mehr  als  6000  fl.,  15,  die  ein 
solches  je  über  15000  fl.,  4  je  über  30000.fi.  besitzen1 * 3..  Und 
von  den  70  Personen  gehörte  wohl  nur  ein  kleiner  Teil  der 
Berufshändlerkaste  an. 

Bin  weiteres  Symptom  für  die  Kleinheit  auch  des  Seehandels 
in  vorkapitalistischer  Zeit  ist  das  geringe  Ausmaß  dei 
Schiffe,  die  ja  zudem  noch,  trotz  ihrer  geringen  Größe,  meist 
von  mehreren  besessen  wurden:  bekanntlich  ist  der  Partenbesitz 
bis  tief  in  die  Neuzeit  hinein  die  charakteristische  Form  der 

Die  Schiffe,  die  im  13.  Jahrhundert  von  New  Castle  mit 
Steinkohle  als  Ballast  ausliefen,  hatten  weniger  als  40  t  Gehalt“. 

Im  Jahre  1470  wurden  sieben  spanische  Schiffe  mit  Eisen, 
Wein,  Früchten  und  Wolle  beladen,  auf  dem  Wege  nach  Flandern 
von  englischen  Fahrzeugen  gefangen  und  in  englische  Seehäfen 
erbracht.  Die  Eigentümer  wandten  sich  an  den  König  Hein¬ 
rich  VI.  um  Losgebung  und  legten  einen  Eid  ab  über  den  Wert 
der  Schiffe  und  der  Ladung.  Folgendes  sind  die  Wertangaben 4 : 
1  Schiff  von  100  t  =  107  £  10  sh.  Geldwert 
1  ,  .,  70  t  =  70  —  sh.  „  . 

1  „  „  120  t  =  110  £  —  sh. 

1  M  „  40  t  =  70  Ji^  sh.  „ 

1  „  „  110  t  =  140  £  —  sh. 

1  r  „  110  t  =  150  £g  —  sh. 

1  l  „  120  t  =  180  £  —  sh. 

In  den  Jahren  1368—1384  wurden  Seeschiffe,  die  in  den 
Häfen  Reval,  Riga  oder  Pernau  verkehrten,  mit  475—3421  Mk. 


1  J.  Hartung,  Die  Augsburger  Zuschlagsteuer  von  1475;  der¬ 
selbe,  Die  augsburgische  Vermögenssteuer  und  die  Entwicklung  der 
Besitzverhältnisse  im  16.  Jahrh.,  beide  Aufsätze  in  Schmollers  Jahrb.  19 
/-irqo  Die  Vermögenssteuer  betrug  für  Immobilien  h  Io,  tui 
Mobilien  1U  °/o ;  wie  sich  das  Vermögen  auf  die  beiden  Kategorien 
verteilt,  wissen  wir  nicht,  da  wir  nur  die  von  einer  Person- gezahlte 
Gesamtsteuer  kennen.  Ich  habe  ein  gleiches  Verhältnis  zwischen 
beiden  Vermögenskategorien  angenommen.  Jene  6000  fl.  würden  also 
==  4000  fl.  in  Immobilien  =  8000  fl.  in  Mobilien  sein.  Der  Steuei- 

Siehe  darüber  v.  Below  in  den  Jahrbüchern  20,  42  ff.,  und  vgl. 

meine  Darstellung  im  2.  Bande  dieses  Werkes. 

3  Th.  Rogers,  Six  Centuries  ec.,  deutsche  Übersetzung,  S.  90. 

4  Die  Rechnung  findet  sich  in  Rymers  Foedera.  Sie  ist  abgedruckt 
bei  W.  Jacob -Klei  nschrod,  Über  Produktion  und  Konsumtion 
der  edlen  Metalle  1  (1838),  222. 


288  Vierter  Abschnitt-:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

heutiger  Währung  bezahlt1.  Während  des  14.  Jahrhunderts 
waren  in  norddeutschen  Städten  Seeschiffe  von  mehr  als  100  Last 
noch  nicht  häufig,  solche  von  150  Last  außerordentlich  selten2. 

Selbst  die  Seeschiffe  der  venetianischen  Handelsflotte,  die  wahr¬ 
scheinlich  die  größten  ihrer  Zeit  gewesen  sind,  waren,  an  den 
Größenverhältnissen  unserer  Tage  gemessen ,  winzig :  kleinere 
Spreekähne.  Nach  den  Stat.  nav. 3,  die  für  das  13.  Jahrhundert 
galten,  betrug  die  Tragfähigkeit  der  venetianischen  Seefahrer 
200000  bis  1  Million  Pfund;  das  wären,  wenn  wir  das  U  subt. 
annehmen  662/s — 333V3  t,  beim  U  gross  96 — 480  t.  Zudem  lassen 
die  Statuten  nicht  erkennen,  ob  die  größeren  Typen  gebaut 
wurden:  nur  für  den  Fall,  daß  sie  gebaut  werden,  werden  sie 
bestimmten  Vorschriften  unterworfen.  Dagegen  gab  es  (1912) 
unter  den  deutschen  Binnenschiffen  9100  mit  mehr  als  250  t 
Tragfähigkeit,  darunter  2317  mit  400 — 600,  1423  mit  600 — 800, 
1650  mit  1800  und  mehr.  Der  Bheinkakn  hat  bereits  eine  durch¬ 
schnittliche  Tragfähigkeit  von  mehr  als  500  t. 

Wenn  nun  an  der  überhaupt  geringen  Ladung  eines  solchen 
Schiffes,  wie  es  die  Hegel  war,  noch  obendrein  eine  ganze  An¬ 
zahl  von  Kaufleuten  beteiligt  war,  so  läßt  sich  daraus  auf  den 
geringen  Umfang  der  einzelnen  Geschäfte  ein  sicherer  Schluß 
ziehen.  Stieda  hat  uns  für  das  Jahr  1369  über  den  AVert  der 
Ladungen  von  12  aus  Reval  abgehenden  Schiffen,  sowie  über 
die  Zahl  der  daran  beteiligten  Kaufleüte  außerordentlich  lehr¬ 
reiche  Angaben  gemacht.  Danach  betrug  die  Zahl  der  Kaufleute, 
die  auf  diesen  12  Schiffen  Waren  versandten,  178;  der  Gesamt- 

!  Stieda,  Revaler  Zollbücher,  LXIX. 

*  Hirsch,  264.  „In  jener  Zeit  lag  es  im  Interesse  der  See¬ 
schiffer  ,  möglichst  flachgehende  Fahrzeuge  zu  führen ,  weil  sie  mit 
diesen  am  bequemsten  auch  in  flache  Häfen  hineinsegeln  konnten. 
An  Baggerarbeiten  in  größerem  Maßstabe,  an  Vertiefung  der  Mündung 
dachte  wohl  niemand“,  bemerkt  für  Stettin  im  14.  Jahrhundert 
Th.  Schmidt,  Zur  Geschichte  der  früheren  Stettiner  Handels¬ 
kompagnien  usw.  (1859),  8.  Vgl.  F.  Sie  wert,  Geschichte  und 
Urkunden  der  Rigafahrer  in  Lübeck,  Hans.  Geschichtsquellen.  N.  F. 
Bd.  I  (1899),  207  ff.  Sehr  anschaulich  stellen  die  Zeichnungen  Willy 
Stöwers  die  verschiedenen  Typen  der  Hansaschiffe  im  14.  und 
15.  Jahrhundert  dar.  Es  sind  in  der  Tat  im  heutigen  Sinne  Nachen, 
wie  sie  auf  den  deutschen  Flüssen  zu  wirtschaftlichen  Zwecken  nur 
noch  selten  verkehren.  Siehe  die  Tafel  im  VII.  Bde.  der  von  Hans 
F.  Helmolt  herausgegebenen  AVeltgeschichte  (1900)  zwischen  S.  36 
u.  37. 

3  Abgedruckt  bei  Tafel  und  Thomas,  3,  404 — 448. 


Achtzehntes  Kapitel :  Der  Handel  als  Handwerk 


289 


wert  sämtlicher  12  Schiffsladungen  aber  bezifferte  sich  auf 
29  304 '/2  Mk.  lüb.  Jeder  einzelne  Kaufmann  hatte  also  im  Durch¬ 
schnitt  einen  Warenwert  von  164  Mk.  lüb.  oder  etwa  1600  Mk. 
heutiger  Währung  verfrachtet1.  Daß  die  Größenverhältnisse 
aber  keineswegs  vereinzelte  waren,  lehren  uns  zahlreiche  andere 
Fälle,  die  ein  ganz  ähnliches  Bild  gewähren.  Der  Wollhändler 
in  England  wurde  schon  im  allgemeinen  gedacht.  Kehren  wir 
noch  einen  Augenblick  zu  ihnen  zurück,  um  sie  noch  etwas 
genauer  zu  betrachten.  Versetzen  wir  uns  in  den  englischen 
Hauptausfuhrhafen  für  Wollen  im  13.  und  14.  Jahrhundert: 
Boston.  So  begegnen  uns  dort2 *  beispielsweise  im  Jahre  1303 
nicht  weniger  als  47  hanseatische  Wollhändler,  die  zusammen 
749  Sack  Wolle  ausführen.  Von  ihnen  ist  der  bedeutendste 
ein  Walter  aus  Reval ,  der  91  Sack  P/2  Stein  (für  etwa 
30000  Mk.  heutiger  Währung)  exportiert;  der  nächstgrößte 
hat  68  Sack  löVz  Stein  zu  Schiff  gebracht;  dann  folgen  drei, 
die  mehr  als  40  Sack,  sieben,  die  mehr  als  je  10  Sack  ex¬ 
portieren;  auf  den  Best  —  35  Händler  —  entfallen  zusammen 
305  Sack  17x/2  Stein,  jeder  einzelne  von  ihnen  ist  also  nach 
England  gefahren,  um  weniger  als  20  dz  Wolle  für  weniger  als 
300  Mk.  heutiger  Währung  nach  Hause  zu  bringen. 

Welche  Quoten  bei  einer  hansischen  Schiffsladung  auf  die 
einzelnen  Verfrachter  entfielen,  zeigt  Urk.  Nr.  352  im  Bremer 
ÜB.  4,  462 8.  Einschließlich  des  Kapitäns  Kolingh,  der  auch 
Waren  an  Bord  hatte,  sind  es  15  Verfrachter,  die  zusammen  für 
384  nobelen  (a  1/a  verladen  haben.  10  von  ihnen  haben 
Waren  im  W erte  bis  30  nobelen;  darunter  2  für  6,  einer  für 
3  nobelen.  Einer  verlädt  für  42,  einer  für  44  nobelen,  3  für  je 
60,  einer  für  80,  einer  für  100,  einer  für  22o  (6  Last  Weizen 
und  2  Last  Bier). 

Ganz  dasselbe  Bild  selbst  in  Venedig:  der  Wertbetrag  einer 
Schiffsladung  wird  (im  12.  Jahrhundert)  beispielsweise  auf 
632  Perpern  (ca.  6000  Mk.)  angegeben,  davon  einer  der  Teilhaber 
158  Perpern  eingelegt  hat.  Ein  anderer  gibt  79  Perpern  dazu4 *; 
alles  also  Summen,  mit  denen  heute  der  Kolonialwarenhändler 

1  Stieda,  Revaler  Zollbücher  LXXXVTII  ff.  Vgl.  dazu  Stieda, 
Schiffahrtsregister,  in  Hans.  Geschichtsblätter  1884,  77  ff. 

2  Hans.  Geschichtsquellen  6,  340  ff. 

8  Vgl.  noch  Rud.  Häpke,  Die  Entstehung  der  großen  bürger¬ 
lichen  Vermögen  im  M.A.  in  Schmollers  Jahrbuch  29  (1905),  1079. 

4  R.  Heynen,  Entst.  des  Kapitalismus  (1905),  91. 

Sombart,  Ber  moderne  Kapitalismus.  I.  14 


290  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

in  Bentschen  Handel  treibt.  Winzig  sind  selbst  die  Waren¬ 
umsätze  der  großen  Florentiner  Handelshäuser  noch  im  14.  Jahr¬ 
hundert,  die  doch  als  Geldleihgeschäfte  so  bedeutend  waren: 
1312  empfangen  die  Bardi  für  zwei  Scharlachtücher  aus  Ypern 
270  fl.,  für  13  Stücke  französisches  Tuch  389  j£,  17  sh.,  2  d.,  im 
Jahre  1322  führen  sie  74  Stücke  Tuch  und  5  Ballen  Seidenzeug 
nach  Pisa  aus :  also  Grossistenumsatz  in  Leitomischel.  Im 
Oktober  1330  waren  ihnen  im  Hafen  mehrere  Schiffe  beschlag¬ 
nahmt,  deren  Ladung  zusammen  (!)  einen  Wert  von  11000  fl. 
darstellte  h  Darunter  waren  360  000  U  Käse.  Das  sieht  nach 
etwas  aus,  ist  aber  nichts :  es  sind  180  t.  (Einfuhr  nach  Deutsch¬ 
land  im  Jahre  1913:  26  264  t).  Fast  unglaublich  klein  sind  die 
Warenumsätze,  mit  denen  sich  im  15.  Jahrhundert  die  Medici  in 
Florenz  befaßten2 3. 

Daß  der  Landhandel  eher  noch  in  kleineren  Mengen  sich 
abwickelte,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich  und  wird  durch 
ein  umfangreiches  Quellenmaterial  bestätigt.  Daß  es  im  13.  Jahr¬ 
hundert  verlohnte,  über  „3  pecias  telarum  de  Basic“  einen  Com- 
mendavertrag  abzuschließen0,  wird  uns  nicht  in  Erstaunen  setzen, 
wenn  wir  noch  im  16.  Jahrhundert  Jos.  Kramer,  einen  der 
reichsten  Männer  Augsburgs,  seinen  Faktor  nach  Venedig  schicken 
sehen,  um  16  Sack  Baumwolle,  den  Zentner  um  4  Dukaten 
17  gross  einzukaufen4.  Zwei  Kaufleute  aus  Lille,  die  1222  bei 
Como  ausgeraubt  werden,  führen  13x/2  Stück  Tuch  und  12  Paar 
Hosen  bei  sich5.  Der  Wert  einer  im  Jahre  1391  von  Kittern 
geplünderten  Karawane  Basler  Kaufleute,  die  zur  Frankfurter 
Messe  zogen,  wurde  auf  9544  fl.  oder  12  430  lb.  geschätzt.  Daran 
waren  aber  nicht  weniger  als  61  (!)  Kaufleute  beteiligt,  deren  jeder 
also  mit  einem  Warenwerte  von  durchschnittlich  156  fl.  die  be¬ 
schwerliche  Keise  angetreten  hatte.  Der  Jahresumsatz  der  reichsten 
Basler  Kaufleute  betrug  damals  1200 — 1400  fl.,  die  meisten  aber 
erreichten  mit  ihrem  Umsatz  diesen  Betrag  nicht  annähernd. 
Unter  jenen  61  die  Frankfurter  Messe  besuchenden  Händlern 
waren  27,  die  weniger  als  100  fl.  Verlust  anzumelden  hatten, 
einzelne  hinab  bis  zu  13,  10,  9,  8,  71/4  fl.6. 

1  David sohn,  Forschungen  Bd.  III  Nr.  623.  635.  770.  974. 

2  H.  Sieveking,  Die  Handlungsbücher  der  Medici  (1905),  17  f. 

3  Schulte  1,  116. 

4  Chroniken  deutscher  Städte  5,  128.  132  (Chron.  d.  Burkard  Zink). 

5  Schulte  2,  105  (Urkunde  188). 

6  Geering,  145.  Zum  Vergleiche  ziehe  man  etwa  noch  die 
Klageartikel  Rigas  gegen  England  vom  Jahre  1406  heran,  worin  die 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk  291 

Mit  diesen  Ziffern  stimmen  die  Beträge  überein,  über  die  die 
Wechsel  auf  den  flandrischen  Handelsplätzen  in  ihrer  Blütezeit 
lauten.  Yon  102  Yprer  Meßbriefen  aus  der  Zeit  von  1251 — 1291 
weisen  nur  17  einen  größeren  Betrag  als  100  auf;  der  Höchst¬ 
betrag  ist  £  239  s.  6  \ 

Interessant  sind  auch  die  Ziffernangaben  über  die  Umsätze  der 
Kölner  Krautwage  in  den  Jahren  1491 — 1495* 1  2.  Sie  sind  un¬ 
glaublich  gering. 

Was  wiederum  an  Glaubwürdigkeit  gewinnt,  wenn  wir  hören, 
daß  der  gemeine  deutsche  Kaufmann  in  Nowgorod  im  14.  Jahr¬ 
hundert  in  maximo  1000  Mk.,  also  noch  nicht  10000  Mk.  heutiger 
Währung  umsetzte. 

Überall  bietet  sich  uns  dasselbe  Bild  dar:  von  wenigen 
größeren,  oft  vielleicht  gar  nicht  berufsmäßigen  Kaufleuten  ab¬ 
gesehen,  eine  wimmelnde  Schar  kleiner  und  kleinster  Händler. 

H.  Der  Händler 

Die  Träger  des  berufsmäßigen  Handels  in  vorkapitalistischer 
Zeit  waren,  wie  es  die  Größe  ihres  Geschäftsbetriebes  vermuten 
läßt,  nichts  anderes  als  handwerksmäßige  Existenzen.  Ihr  ganzes 
Denken  und  Fühlen,  ihre  soziale  Stellung,  die  Axt  ihrer  Tätig¬ 
keit,  alles  läßt  sie  den  kleinen  und  mittleren  Gewerbetreibenden 
ihrer  Zeit  verwandt  erscheinen.  Es  gibt  in  der  Tat  nichts 
Törichteres,  als  das  Mittelalter  mit  kapitalistisch  empfindenden 
und  ökonomisch  geschulten  Kaufleuten  zu  bevölkern.  Das 
handwerksmäßige  Wesen  des  Händlers  alten  Schlages  tritt  vor 
allem  in  der  Eigenart  seiner  Zwecksetzung  zutage.  Auch  ihm 
liecrt  im  Grunde  seines  Herzens  nichts  ferner  als  ein  Gewinn- 

o 

streben  im  Sinne  modernen  Unternehmertums;  auch  er  will  nichts 
anderes,  nicht  weniger,  aber  auch  nicht  mehr,  als  durch  seiner 
Hände  Arbeit  sich  recht  und  schlecht  den  standesgemäßen  Unter- 

Waren  dreier  untergegangener  Handelsschiffe  und  ihre  Besitzer  auf¬ 
gezählt  werden.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  Hunderte  kleiner 
Händler,  deren  jeder  einzelne  soviel  Waren  auf  dem  Schiffe  hatte,  als 
heute  ein  Packenträger  auf  dem  Rücken  oder  allenfalls  ein  „fahrender 
Hausierer“  auf  seinem  Karren  mit  sich  führt.  Die  Urkunden  sind 
abgedruckt  in  Hans.  Geschichtsquellen  5,  241  ff.  (Nr.  326). 

1  Rud.  Häpke,  Brügges  Entwicklung  zum  mittelalterlichen  Welt¬ 
markt.  1908.  Anhang. 

2  Geering  in  den  Mitteilungen  aus  dem  Stadtarchiv  von  Köln 
11.  Heft  1887  S.  43.  Abgedruckt  auch  als  Beil.  VIII  zu  Inama, 
DWG.  m.  2,  523. 


19* 


292  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

halt  verdienen;  auch  seine  ganze  Tätigkeit  wird  von  der  Idee 
der  Nahrung  beherrscht. 

"Wir  werden  sehen,  wie  dieser  Gedanke  vor  allem  in  der 
eigentümlichen  Gestaltung  der  Rechts-  und  Sittenordnung  des 
alten  Handels  zum  Ausdruck  kommt. 

Hier  mag  nur  daran  erinnert  werden,  wie  der  handwerks¬ 
mäßige  Geist  des  urwüchsigen  Handels  als  die  selbstverständliche 
Seelenstimmung  der  langen  Jahrhunderte  des  Mittelalters  gleich¬ 
sam  seine  Bestätigung  findet  in  all  den  zahlreichen  Buß-  und 
Reformschriften,  die  bei  Beginn  der  neuen  Zeit  aus  dem  Boden 
wachsen.  Dieselbe  Reformation  Kaiser  Sigismunds,  die  wir  schon 
zur  Charakterisierung  des  handwerksmäßigen  Gewerbetreibenden 
heranziehen  konnten ,  hatte  den  Kaufleuten  nur  den  Ersatz  der 
Reise-  und  Transportkosten  gestatten  und  jeden  Unternehmer¬ 
gewinn  verbieten  wollen.  Wie  aber  die  Reformatoren,  vor  allem 
Luther,  mit  treffsicherem  Listinkte  den  alten  die  „Nahrung“  ver¬ 
bürgenden  Handel  richtig  gezeichnet  hatten,  bringt  die  folgende 
Stelle  deutlichst  zum  Ausdruck1 :  „Darumb  mustu  dyr  fursetzen, 
nichts  denn  deyne  zymliche  narunge  zu  suchen  ynn  solchem 
handel,  darnach  kost,  muhe,  erbeyt  und  fahr  rechen  und  uber- 
schlahen  und  also  denn  die  wahr  selbst  setzen,  steygern  oder 
nyddem,  das  du  solcher  erbeyt  und  muhe  lohn  davon  habest.“ 
In  ganz  der  gleichen  Richtung  bewegen  sich  die  Gedankengänge 
der  berühmten  Schrift  Christian  Kuppeners  über  den  Wucher 
(1508).  Auch  hier  dieselbe  Gegenüberstellung :  die  neuen  Männer, 
die  den  grenzenlosen  Gewinn  erstreben  nnd  der  petit  commerce 
solide,  der  dem  ehrsamen  Handwerkshändler  samt  seiner  Familie 
ein  standesgemäßes  Auskommen  gewährt  hatte 2.  Im  Mittelpunkt 


1  M.  Luther,  Von  Kaufshandlung  und  Wucher  (1524).  Werke- 
Krit.  Ges.  Ausg.  15  (1899),  296. 

2  „Kaufmannschatz“  ist  „ziemlich“  „dy  do  geschieht  .  .  .  czu  einer 
erlichen  entliehen  unn  wirgklichen  that  als  nemlichen  czu  enthaltunge 
seins  hauszes  und  seiner  kinder  unn  hauszgesindes  nach  seinem 
stände  .  ..“;  sie  wird  „unziemlich“  und  „ungöttlich“  „czum  ersten 
durch  den  grausamen,  ungesetigten,  unmessigen  geitz  eines  menschen“. 
Nach  den  Auszügen  aus  der  Schrift  Christ.  Kuppeners  über  den 
Wucher  bei  M.  Neumann,  Geschichte  des  Wuchers  in  Deutschland. 
Beilage  E,  S.  594.  595.  Db  und  El.  Durchaus  handwerksmäßigen 
Geist  atmen  denn  auch  die  „Regeln  frommer  Kaufmannschaft“  a.  a.  0. 
S.  606.  (F  3V) ,  deren  Nr,  4  besagt:  der  Gewinn  der  Kaufgeschäfte 
solle  nicht  aus  Habgier,  sondern  als  Ersatz  der  aufgewendeten  Arbeit 
genommen  werden. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk  293 

der  Erwägungen  aller  dieser  Kritiker  steht  der  Gedanke:  auch 
der  Händler  solle  in  seinem  Verdienst  nur  einen  Ersatz  für  auf¬ 
gewandte  Arbeit  erblicken:  hier  ist  die  Wurzel  für  die  Idee  von 
dem  „gerechten“  Preise ,  die  das  ganze  Mittelalter  beherrscht. 
Demi  auch  der  Händler  ist  in  ihren  Augen  —  oder  wenigstens 
soll  es  sein,  weil  es  so  seit  jeher  Brauch  und  Übung  war  — 
nichts  anderes  als  ein  technischer  Arbeiter1.  Und  damit 
treffen  sie  wiederum  den  Kern  der  Sache.  Wollen  wir  uns  ein 
richtiges  Bild  von  dem  Kaufmann  alten  Schlages  machen,  so 
müssen  wir  zunächst  alles  vergessen,  was  wir  vom  modernen 
Handel  und  seinen  Trägern  wissen. 

Dieser  ist  ja  vor  allem  und  heute  fast  ausschließlich  Or¬ 
ganisator  des  Absatzes.  Seine  Kunst,  die  er  ausübt  und  di e  ( 
zu  einer  Wissenschaft  weitergebildet  hat  —  aus  Gründen,  die  in 
anderem  Zusammenhänge  genauer  dargelegt  werden  —  besteht, 
wie  wir  es  nennen,  in  der  „Beherrschung  des  Marktes“.  Das 
heißt:  er  macht  es  sich  zur  Aufgabe  —  und  die  Eigenart  des  mo¬ 
dernen  Wirtschaftslebens  bringt  es  mit  sich  daß  die  Erfüllung 
dieser  Aufgabe  als  die  Ausübung  einer  hoch  zu  lohnenden  P  unktion 
betrachtet  wird  —  die  Waren  an  den  Mann  zu  bringen.  Überall 
dort  ist  das  eigentliche  Tätigkeitsgebiet  modernen  kaufmännischen 
Wesens,  wo  der  Markt  übersetzt  ist,  wo  zwei  Produzenten  einem 
Käufer  nachlaufen.  Dann  wird  der  Kaufmann  Herr  der  Situation, 
dann  beginnt  er,  den  Produzenten  in  Abhängigkeit  von  sich  zu 
bringen.  Dann  ist  er  aber  ein  guter  Kaufmann  auch  nur,  wenn 
er  scharfsinnig  zu  disponieren,  zu  kalkulieren,  zu  spekulieren 
versteht.  Von  alledem  aber  weiß  ja  nun  die  frühere  Zeit,  wissen 
die  Jahrhunderte  insbesondere,  die  wir  Mittelalter  nennen,  dank 
der  unentwickelten  Produktionstechnik  so  gut  wie  nichts.  Absatz¬ 
not  ist  ihnen  fremd.  Zwei  Käufer  laufen  in  der  Regel  einem 
Produzenten  nach.  Der  Absatz  bewegt  sich  in  gewohntem 
Rahmen,  in  ausgefahrenen  Geleisen.  Die  Mengen  der  um¬ 
zusetzenden  Waren  sind  gering.  Wo  also  in  aller  Welt  sollte 


1  So  nennt  noch  Heinrich  von  Langenstein  den  Kaufmann 
neben  dem  Bauern  und  Handwerker  als  einen  Mann,  der  „für  sich 
und  andere  im  Schweiße  seines  Angesichts  durch 
körperliche  Arbeit  den  nötigen  Lebensunterhalt“  be¬ 
schaffe  im  Gegensatz  zu  dem  geistigen  Arbeiter  und  dem  Müßiggänger, 
zu  denen  die  vertragschließenden  Wucherer  gehören.  Tractatus  de 
contractibus  emtionis  et  venditionis,  im  Anhänge  der  Kölner  Ausgabe 
von  Gersons  Opp.  4,  185  f.,  bei  Janssen  1,  480. 


294  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

der  Händler  etwas  zu  disponieren,  zu  kalkulieren  oder  zu  speku¬ 
lieren  finden?  Aber  dieselben  Umstände,  die  seine  Entwicklung 
zum  kapitalistischen  Unternehmer  kintanhalten,  sie  zwingen  ihm 
eine  Menge  von  Arbeitsverrichtungen  technischer  Natur  auf,  die 
dem  Kaufmann  heutigen  Tages  abgenommen  sind.  Fand  sich 
für  ihn  keine  Gelegenheit,  zu  disponieren,  zu  kalkulieren  und  zu 
spekulieren,  so .  hatte  er  umsomehr  zu  emballieren,  zu  misurieren, 
zu.  transportieren,  zu  detaillieren,  ja  auch  gelegentlich,  noch,  zu 
fabrizieren.  Man  weiß  1,  welch  mühsames  und  meist  gefährliches 
Werk  jedes  Handelsgeschäft  war,  das  eine  Ortsveränderung  der 
AVare  (und  darum  handelte  es  sich  ja  fast  immer)  zur  Voraus¬ 
setzung  hatte,  weiß,  daß  der  Händler  selbst  mit  dem  Schwert 
umgürtet  sich  auf  die  Heise  begeben,  Wochen-  und  monatelang 
lang  in.  eigener  Person  Wagenführer  und  Herbergsvater  spielen 
mußte,  um  seine  paar  Colli  glücklich  an  ihren  Bestimmungsort 
zu  bringen.  Viel  mehr  als  heute  war  der  Kaufmann  unterwegs ; 
die  zahllosen  kleinen  Händler  des  Mittelalters  finden  wir  fort¬ 
während  über  ganze  weite  Länder  zerstreut,  bald  in  dieser,  bald 
in  jener  Stadt  auftauchend2. 

Eine  Urkunde  von  1271  schildert  treffend  den  mittelalterlichen 
Kaufmann:  „Mercatöres,  qui  de  loco  ad  locum  merces  etnecessaria 
deferre  consueverunt.“  3 

Andreas  Kyff  besucht  jährlich  30  und  mehr  Märkte.  Er  sagt 
von  sich:  „Hab  wenig  Ruh  gehabt,  daß  mich  der  Sattel  nicht 
an  das  Hinterteil  gebrennt  hat.“  4 

Kam  er  aber  in  die  Heimat  zurück ,  so  galt  es ,  ebenso  wie 
vorher  auf  den  Messen  und  Märkten  in  fremden  Orten,  hinter 
dein  Ladentisch  stehen  und  Elle  und  AVage  fleißig  führen5.  Der 

1  Siehe  darüber  die  zusammenfassende  Darstellung  bei  Sckmoller, 
Die  Tatsachen  der  Arbeitsteilung,  in  seinem  Jahrbuch  13,  1055  ff., 
und  Gengier,  Deutsche  Stadtrechtsaltertümer  (1882),  456  ff.  Abel 
Material  bei  Kl  öden,  namentlich  Stück  2  und  3,  und  Falke,  Zoll¬ 
wesen,  197  ff.  Aus  der  neueren  Literatur  seien  hervorgehoben 
A.  Doren,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Kaufmannsgilden  des 
Mittelalters,  1893,  und  Des  Marez,  La  lettre  de  foire  ä  Ypres  au 
XIII.  siede  (1901),  75  ff.  Es  sei  auch  an  dieser  Stelle  daran  erinnert, 
daß  der  Begriff  des  „Handels“  sich  ursprünglich  mit  dem  des  „Wandels“, 
Transportierens  bzw.  AVanderns  vielfach  deckt.  Das  hat  Schräder, 
a.  a.  0.  S.  63.  79  und  öfters,  überzeugend  nachgewiesen. 

2  v.  Maurer,  Städteverfassung  1,  403  ff. 

3  Hans.  UB.  1,  Nr.  692.  4  Geering,  412. 

5  Es  ist  meiner  Auffassung  nach  v.  Below  in  seinem  öfters  an¬ 

gezogenen  Aufsatze  in  den  Jahrbüchern  für  N.O.  20,  1  ff.  vollständig 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


295 


Krämer  bereitete  aus  dem  eingehandelten  Saffran,  Pfeifer  und 
Ingwer  den  Spieswurz,  Gutwurz,  Kintpetterwurz  oder  gefärbten 
Wurz* 1.  Welch,  großer  Wert  auf  die  technischen  Fertigkeiten 
des  Gewürzkrämers  gelegt  wurde,  zeigt  eine  Verordnung  Karls  VIII. 
von  Frankreich  aus  dem  Jahre  1484 ,  die  eine  genaue  Revision 
der  Gewichte  und  Wagen  aller  derer  befiehlt,  die  Zucker  und 
Gewürze  verkaufen  und  vorschreibt:  „daß  wegen  der  Wichtigkeit 
der  Arbeiten  mit  Zucker  und  Konfekten  auf  die  Einhaltung  einer 
vierjährigen  Lehrzeit  und  die  Anfertigung  eines  gelungenen 
Meisterstückes  streng  zu  sehen  sei“ 2.  Also  eine  Analogie  zu  den 
Apothekern!  Technische  Arbeitsverrichtungen,  wo  immer  wir 
hinblicken,  bilden  die  Haupttätigkeit  des  vorkapitalistischen 
Händlers.  Selbstverständlich  lag  ihm  daneben  dann  auch  die 
besondere  kaufmännische  Funktion  des  Warenumsatzes,  also  des 
Einkaufens  und  Verkaufens  ob.  Und  mehr  als  seinen  Kollegen 
hinter  dem  Schraubstock  oder  der  Hobelbank  wies  ihn  sein  Beruf 
in  die  geheimnisvolle  Welt  der  Zahlen  hinein.  Aber  auch  soweit 
er  im  engeren  und  eigentlichen  Verstände  Händler  war,  müssen 
wir  uns  seine  Tätigkeit  noch  bar  jedes  ökonomischen  Rationalismus 
denken.  Seine  „Geschäftsführung“,  sein  „Verfahren“  ist,  wie 
das  seines  gewerblichen  Kollegen,  durchaus  empirisch-traditionell. 

Die  Kunst  des  Schreibens  und  Lesens  war  in  Italien 
bis  in  das  13.  Jahrhundert,  hinein,  im  übrigen  Europa  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  sicherlich  nur  einem  Bruchteil  der 
Berufshändler  vertraut.  Wir  wissen  es  gerade  aus  dem  Venedig 
des  10.  Jahrhunderts,  daß  nur  wenige  Kaufleute  auch  nur 
ihren  Namen  unterschreiben  konnten3:  vermutlich  wird  dieses 
Verhältnis  der  Schreib-  und  Leseunkundigen  zu  den  Schnft- 
o-elehrten  auch  in  späteren  Jahrhunderten  des  Mittelalters  sich 


o-elungen  den  Nachweis  zu  führen,  daß  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein 
ein  selbständiger  „Engroshandel“  (in  Deutschland)  nicht  bestanden 
habe,  vielmehr  alle  Importeure  und  Exporteure  auch  detaillierten, 
d.  h.’  „Krämer“  oder  „Gewandschneider“  waren. 

1  G  e  e  r  i  n  g ,  240/42. 

2  A.  Philippe,  Gesch.  der  Apotheker,  2.  Aufi.  deutsch  1859. 

If  nn  ^ 

3  Von  69  Vertretern,  die  die  Urkunde  von  960  betreffend  Veibot 
des  Handels  mit  Sklaven  unterzeichnen,  schreiben  nur  35  ihren  Namen 
mit  eigner  Hand;  in  der  Urkunde  von  971,  betreffend  Handel  in  Holz 
und  Waffen  mit  Sarazenen  von  81  gar  nur  18;  bei  den  übrigen  Namen 
steht  „signum  manus“.  Fontes  rer.  austr.  12,  22  ff.,  bzw.  28  ff.  Vg  , 
dazu  jetzt  R.  Heynen,  Entst.  des  Kap.,  81  f. 


296  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

nur  sehr  allmählich  verschoben  haben.  Sicher  wissen  wir  da¬ 
gegen,  daß  die  für  den  Kaufmann  von  Beruf  fast  noch  wichtigere 
Rechenkunst  während  langer  Jahrhunderte  sich  auf  niedrigster 
Stufe  bewegt  hat  und  fast  das  ganze  Mittelalter  hindurch  ohne 
das  Hilfsmittel  der  Schrift  sich  hat  behelfen  müssen.  Auch  hier 
müssen  wir  zwischen  Italien  und  dem  übrigen  Europa  an  die 
200  Jahre  Abstand  annehmen.  Italien  ist  während  des  ganzen 
Spätmittelalters  Lehrmeisterin  des  Nordens  in  der  ars  compu- 
tandi  gewesen.  Noch  Lukas  Rem  geht  im  Beginne  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  nach  Venedig,  um  rechnen  zu  lernen1.  Und  um  was 
für  ein  Rechnen  handelte  es  sich  noch !  Um  kaum  mehr  als  um 
die  Erlernung  der  vier  Spezies  im  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen, 
um  Lösung  einfacher  Regeldetriaufgaben  und  ein  elementares 
„G-esellschaftsrechnen“.  Es  war  schon  Zeichen  hoher  kauf¬ 
männischer  Schulung,  wenn  jemand  sogar  richtig  dividieren 
konnte.  Noch  Ende  des  16.  Jahrhunderts  tun  sich  Hieronymus 
Eroben  und  Andreas  Ryff  etwas  darauf  zugute,  daß  sie  bei 
Teilung  den  Quotienten. richtig  herausfinden2 3. 

Das  Rechnen  selbst  bewegte  sich  in  den  schwerfälligen  Formen 
des  Rechenbretts,  der  Rechenpfennige,  und  mußte  sich  noch  (in 
Italien  bis  zum  16.,  im  Norden  bis  zum  15.  Jahrhundert)  ohne 
Ziffern  mit  Stellenwert,  ohne  Null  behelfen.  • 

Über  die  Rechenkunst  im  Mittelalter  stelle  ich  noch  folgende  Ingaben 

zusammen : 

Anfang  des  15.  Jahrhunderts  tretet  in  Deutschland  die  Modisten 
auf.  „Auf  allen  diesen  Schulen  .  .  .  kann  der  Rechenunterricht  nicht 
elementar  genug  gedacht  werden.  Kaum  irgendwo  wird  er  das  Rechnen 
mit  ganzen  Zahlen  überschritten  haben.“  Unger,  Methodik  der  prak¬ 
tischen  Arithmethik  (1888),  17—19.  Ein  deutliches  Bild  von  dem 
Stande  der  Rechenkunst  geben  uns  die  frühesten  Rechenbücher  oder 
Kompendien  der  Mathematik  des  europäischen  Mittelalters.  Was 
'  Leonardo  Pisano,  der  übrigens  wie  Jordanus  seiner  Zeit  vorausgeeilt 
war,  für  Italien  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  leistete,  erreichen  für 
Deutschland  kaum  die  Rechenbücher  aus  dem  Ende  des  15.  Jahr¬ 
hunderts.  .  Wie  tief  selbst  das  Niveau  der  Klosterschuien  war,  zeigt 
uns  beispielsweise  das  Rechenbuch  Bernards  vom  Jahre  1445,  das 


1  Von  Rem  selber  in  seinem  Tagebuche  (ed.  Greiff,  118611,  5) 

erzählt,  wie  er  nach  Venedig  kommt,  um  den  Abacus,  d.  h.  Rechnen, 
zu  erlernen:  „da  lernet,  ich  rechnen  in  öVä  monat  gar  aus“.  Andere 
Beispiele  von  Deutschen,  die  in  Venedig  das  Rechnen  lernten,  bringt 
oimonsfeld,  Pondaco  2  (1887),  39/40. 

3  Ge  e  ring,  212. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


297 


nichts  anderes  als  das  alte  gelehrte  Rechnen ,  das  wir  in  Europa  bis 
auf  Jordanus  zurückverfolgen,  lehren  wollte.  Und  sogar  auf  den  Uni¬ 
versitäten  finden  wir  „das  Rechnen  .  .  .  auf  keiner  höheren  Stufe  als 
auf  den  vorbereitenden  Schulen“.  M.  Cantor,  Vorlesungen  über 
Geschichte  der  Mathematik  2  (1892),  159/160.  Von  Grammateus  er¬ 
fahren  wir,  daß  der  Algorithmus  M.  Georgii  Beurbachii,  der  etwa  das¬ 
jenige  Maß  arithmetischen  Wissens  enthält,  welches  gegenwärtig  zehn¬ 
jährige  Kinder  besitzen,  „gemacht  sei  für  die  Studenten  der  hohen 
schul  zu  Wien“.  Unger,  S.  25. 

Das  erste  deutsche  gedruckte  Rechenbuch ,  das  Bamberger  von 
1-488,  enthält  ebenfalls  nur  die  ersten  Elemente  der  Algebra.  Und 
doch  bedeutete  die  Veröffentlichung  solcher  für  Kaufleute  heraus¬ 
gegebenen  Leitfaden  schon  einen  ungeheuren  Fortschritt  gegen  früher. 
Es  war  schon  arabischer  Geist  in  Italien,  italienischer  im  Norden,  der 
diese  Blüten  trieb.  Über  die  verschiedenen  Typen  von  Rechenbüchern 
vgl.  Unger,  8 7  ff. ;  Cantor,  202  ff. 

Für  das  16.  Jahrhundert  bemerkt  zusammenfassend  Unger, 
Methodik,  112:  „Tüchtig  rechnen  können  galt  für  keine  leichte  Sache, 
sondern  für  eine  Kunst  im  vollsten  Sinne  des  Wortes.“ 

In  Italien  bürgern  sich  die  arabischen  Ziffern  mit  Stellen¬ 
wert  und  Null  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts,  offenbar  aber  doch 
nur  langsam  ein.  Noch  1299  wird  den  Mitgliedern  der  Calimala- Zunft 
iu  Florenz  ihr  Gebrauch  verboten!  In  Deutschland  sind  sie  nicht 
früher  als  ums  Jahr  1500  Volkseigentum  geworden,  in  England  um 
dieselbe  Zeit;  vgl.  außer  den  Werken  von  Unger  und  Cantor  noch 
II.  Hankel,  Zur  Geschichte  der  Mathematik  im  Altertum  und  Mittel- 
alter  (1874),  340  ff.  Der  älteste  bekannte  deutsche  Algorismus  (eine 
Baseler  Handschrift)  stammt  aus  dem  Jahre  1445.  Sie  ist  heraus¬ 
gegeben  und  übersetzt  von  F.  Unger,  Das  älteste  deutsche  Rechen¬ 
buch,  in  der  Zeitschrift  für  Mathematik  und  Physik.  KXXIII.  Jahrg. 
(1888),  Histor.-literar.  Abteilung,  125  ff. 

Wie  langsam  selbst  in  Italien  die  Rechenkunst  Fortschritte  machte, 
zeigt  noch  die  Handschrift  des  Introduetorius  über  qui  et  pulveris 
dicitur  in  matkematicam  disciplinam  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts,  dessen  Verfasser  durcheinander  arabische  Ziffern 
mit  Stellenwert,  römische  Zahlzeichen,  Finger-  und  Gelenkzahlen  be¬ 
nutzt.  Cantor  2,  143. 

Das  Rechnen  mit  dem  Rechenbrett  ist  nördlich  der  Alpen  noch 
während  des  ganzen  Spätmittelalters  ebenso  allgemein  wie  die  Ver¬ 
wendung  von  Rechenpfennigen  (jetons,  counters),  die  bis  ins  18.  Jahr¬ 
hundert  hinein  in  Übung  bleibt. 

In  Italien  war  damit  schon  früher  gebrochen;  Ende  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  spricht  Ermolao  Barbaro  (j*  1495)  von  dem  Jetonsrechnen 
als  von  einer  Sitte,  „qui  .  .  .  hodie  apud  barbaros  fere  omnes  servatur“, 
also  in  Italien  überwunden  war.  Vgl.  wiederum  Cantor,  a.  a.  O. 
S.  100.  112.  197  ff.  Wie  schwerfällig  aber  das  Rechnen  auf  der  Linie 
verglichen  mit  dem  Ziff errechnen  war,  hatte  schon  der  Rechenmeistei 
Simon  Jacob  von  Koburg  richtig  erkannt,  wenn  er  schrieb:  „soviel 
vortheils  ein  Fußgänger,  der  leichtfertig  und  mit  keiner  last  beladen 


298  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

ist,  gegen  einen,  der  unter  einer  schweren  last  stecket,  hat,  soviel 
vortheil  hat  auch  ein  Kunstrechner  mit  den  Ziffern  für  einen  mit  den 
Linien.“  Unger,  70. 

Daß  bei  diesem  Zustande  der  Rechenkunst  von  einer  genauen 
Kalkulation  keine  Rede  sein  konnte,  liegt  auf  der  Hand.  Auch 
wenn  man  mehr  "Wert  als  jene  Zeit  auf  sie  gelegt  hätte.  In 
Wirklichkeit  wollte  man  aber  auch  noch  gar  nicht  „exakt“  sein. 
Das  ist  eine  durchaus  moderne  Vorstellung,  daß  Rechnungen  not¬ 
wendig  „stimmen“  müssen.  Alle  frühere  Zeit  ging  bei  der  Neu¬ 
heit  ziffernmäßiger  Ausdrucksweise  immer  nur  auf  eine  ganz  un¬ 
gefähre  Umschreibung  der  Größenverhältnisse  hinaus.  Jeder, 
der  sich  mit  Rechnungen  des  Mittelalters  befaßt  hat,  weiß,  daß 
bei  Nachprüfungen  der  von  ihnen  aufgeführten  Summe  oft  sehr 
abweichende  Ziffern  herauskommen.  Flüchtigkeits-  und  Rechen¬ 
fehler  sind  gang  und  gäbe  b  Der  W echsel  von  Ziffern  im  An¬ 
satz  einer  Beispielrechnung  bildet,  fast  möchte  man  sagen,  die 
Regel.  Wir  müssen  uns  eben  die  Schwierigkeiten  für  jene 
Menschen,  Ziffern  auch  nur  kurze  Zeit  im  Kopfe  zu  behalten,  als 
ungeheuer  große  denken.  Wie  heute  bei  Kindern. 

Aller  dieser  Mangel  an  exakt-rechnerischem  Wollen  und 
Können  kommt  nun  aber  in  der  Buchführung  des  Mittel¬ 
alters  zum  deutlichsten  Ausdruck.  Wer  die  Aufzeichnungen 
eines  Tölner,  eines  Viko  von  Geldern,  eines  Wittenborg, 
eines  Ott  Ruland  durchblättert,  hat  Mühe,  sich  vorzustellen, 
daß  die  Schreiber  bedeutende  Kaufleute  ihrer  Zeit  gewesen  sind. 
Denn  ihre  ganze  Rechnungsführung  besteht  in  nichts  anderem 
als  einer  ungeordneten  Notierung  der  Beträge  ihrer  Ein-  und 
Verkäufe,  wie  sie  heute  jeder  Krämer  in  der  kleinen  Provinz¬ 
stadt  vorzunehmen  pflegt.  Es  sind  im  wahren  Sinne  nur  „Journale“, 
„Memoriale“,  das  heißt  Notizbücher,  die  die  Stelle  der  Knoten 
in  den  Taschentüchern  von  Bauern  vertreten,  die  zu  Markte  in 
die  Stadt  ziehen.  Obendrein  noch  mit  Ungenauigkeiten  gespickt. 
Auch  lax  und  liberal  in  der  Festhaltung  von  Schuld-  oder 
Forderungssummen.  „Item  und  ain  bellin  mit  hentschüchen, 
nit  waiss  ich  wie  viel  der  ist;“  „item  und  noch  ist  ainer,  hat 


1  Siehe  z.  B.  C.  Sattler,  Handelsrechnungen  des  deutschen 
Ordens  (1887),  8,  oder  die  Einleitung  Koppmanns  zu  Tölners 
Handlungsbuch  in  den  Geschichtsquellen  der  Stadt  Rostock  1  (1885), 
XVIII  f.  oder  die  Steuerlisten  für  Paris  aus  dem  Jahre  1292,  die 
Ger  and  herausgegeben  hat  (Coli,  des  doc.  ined.  I.  8).  „La  plupart 
des  additions  sont  inexactes,“  p.  V, 


Achtzehntes  Kapitel :  Der  Handel  als  Handwerk 


299 


mit  den  obgeschriebnen  gekauft;  bleibt  mir  och  19  gülden 
rhe'in.  umb  mischtlin  paternoster  .  .  .  ich  hab  des  Namens  ver¬ 
gessen.“  Auch  den  Soranzos  (im  Venedig  des  15.  Jahr¬ 
hunderts!)  „entfällt“  gelegentlich  der  Name  eines  Kunden1. 
Was  aber  diese  Notizensammlungen  der  mittelalterlichen  Kauf¬ 
leute  zu  ganz  besonders  deutlichen  Kennzeichen  eines  durch  und 
durch  handwerksmäßigen  Betriebes  stempelt,  ist  ihre  Höchst¬ 
persönlichkeit.  Sie  sind  von  ihrem  Veranstalter  gar  nicht  zu 
trennen.  Kein  anderer  kann  und  soll  sich  in  diesem  Wirrwarr 
von  einzelnen  Aufzeichnungen  zurechtfinden.  Sie  tragen  also 
ein  ausgesprochen  empirisches  Gepräge2.  Von  einer  irgend¬ 
welchen  systematischen  Objektivierung  der  Vermögensverwertung 
ist  ganz  und  gar  noch  keine  Hede.  Führten  aber  die  größeren 
Händler  solcherweise  Buch,  so  dürfen  wir  schließen,  daß  die 
große  Mehrzahl  der  Kaufleute  jener  Zeit  sich  ohne  alles  Buch¬ 
wesen  behalfen. 

Und  diesem  gänzlichen  Mangel  an  kalkulatorischem  und  ob¬ 
jektivierend- systematischem  Sinne  entspricht  der  Zustand  des 
Maß-  und  Gewichtswesens,  das,  wie  bekannt,  ebenfalls 
noch  in  durchaus  empirischer  Weise,  in  noch  starker  Anlehnung 
an  die  organischen  Maß-  und  Wägemethoden  geordnet  ist. 

IH.  Die  Ordnung  des  vorkapitalistischen  Handels 

Es  liegt  nicht  in  meiner  Absicht,  das  weitschichtige  Problem, 
das  mit  dieser  Überschrift  angedeutet  wird,  auch  nur  in  seinen 
Grundzügen  zu  erörtern.  Es  ist  das  nicht  ohne  Aufwand  von 
Geist  und  mit  vielem  Wissen  in  letzter  Zeit  von  zahlreichen 
Gelehrten  unternommen  worden,  deren  Untersuchungen  den 
folgenden  kurzen  Bemerkungen  zugrunde  gelegt  werden.  Diese 
haben  keinen  andern  Zweck,  als  den  Nachweis  zu  führen,  daß 
auch  aus  der  Gestaltung  kaufmännischen  Rechts  und  kauf¬ 
männischer  Sitte  auf  den  unkapitalistischen  Ghaiaktei  des 
Handels  im  Mittelalter  geschlossen  werden  darf. 

Dabei  denke  ich  nicht  sowohl  an  jene  Bestandteile  der  Rechts- 

1  Sie.veking,  Aus  venat.  Handl. -Büchern.  Schmollers  Jalirb. 
26,  215.  Vgl.  noch  W.  von  Slaski,  Danziger  Handel  im  15.  Jahr¬ 
hundert  auf  Grund  eines  im  Danziger  Stadtarchiv  befindlichen  Hand¬ 
lungsbuches  (1905),  21  f. 

2  Vgl.  jetzt  die  guten  Ausführungen  bei  Luschin  v.  Ebengreuth 
in  der  Gesch.  der  Stadt  Wien  II.  2  (1905),  847  ff.  und  bei  Paul 
Sander,  Feudalstaat  und  bürgerliche  Verfassung  (1906),  107  ff. 


300  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Ordnung,  die  ihre  Erklärung  in  der  ursprünglichen  Gleichsetzuug 
von  Handel  und  Raub  finden:  wohin  ich  das  Recht  der  Grund¬ 
ruhr,  das  Strandrecht,  das  Eremdenrecht  und  vieles  andere 
rechne ,  als  vielmehr  an  die  Ordnung  des  handwerksrhäßigen 
Handels  selbst.  Es  ist  an  einzelnen  Beispielen  zu  zeigen,  wie 
die  Handwerksliaftigkeit  des  vorkapitalistischen  Handels  aus  den 
ihn  regelnden  Normen  mit  Deutlichkeit  ersichtlich  ist. 

1.  Das  Gesellschaftsrecht  und  seine  Entwicklung  vor 
allem  gestattet  uns  tiefe  Einblicke  in  den  Artcharakter  des 
Handels  quo  ante. 

Es  ist  bekannt,  wie  mühsam  sich  die  Vorstellung  eines 
quotenmäßigen  Anteils  der  einzelnen  Genossen  an  Kosten  und 
Gewinn  herausbildet.  Die  ursprünglich  ja  meist  familienhaften 
Vereinigungen  kennen  nur  eine  gemeinsame  Kasse,  aus  der  die 
einzelnen  Teilhaber  je  nach  ihrem  persönlichen  Bedarf  ihren 
Unterhalt  bestreiten1.  Läßt  sich  das  Prinzip  der  Bedarfs¬ 
deckung  als  Zweck  wirtschaftlicher  Tätigkeit  schroffer  ver¬ 
treten  denken  als  in  dieser  alten  Anschauungsweise  von  gemein¬ 
samem  Nutzen  und  gemeinsamer  Unterhaltung?  Ich  denke  nicht. 
Wie  sehr  dann  aber  die  ganze  Händlertätigkeit  unter  der  Idee 
der  Handwerksmäßigkeit  stand,  wie  im  Händler  nichts  anderes 
als  der  technische  Arbeiter  erblickt  wurde,  möchte  ich  aus  der 
Art  und  Weise  entnehmen,  wie  die  Beziehungen  zwischen  den 
einzelnen  Genossen  auf  den  von  mehreren  ausgeführten  Handels¬ 
reisen,  insbesondere  aber  diejenigen  zwischen  den  herumziehenden 
Handwerker-Händlern  und  den  daheim  bleibenden  Geldgebern 
geknüpft  und  juristisch  formuliert  wurden.  Ich  denke  hier  vor 
allem  an  das  viel  umstrittene  Institut  der  Oommenda  und  ver¬ 
wandter  Gesellschaftsformen.  Es  ist  bekannt,  daß  man  gern  in 
allen  Commenda -Verhältnissen  Formen  kapitalistischer  Handels¬ 
organisation  erblickt.  Nichts  aber  scheint  mir  verkehrter  als 
dies.  Die  Commenda  ist  recht  eigentlich  die  Betätigung  für  den 


1  „Der  Gedanke  quotenmäßiger  Mitrechte  tritt  während  des  Be¬ 
stehens  der  Gemeinschaft  überhaupt  nicht  als  Maßstab  für  die  Be¬ 
rechtigungen  der  einzelnen  hervor;  ihre  Bedürfnisse  werden. vielmehr, 
seien  sie  groß  oder  klein  .  .  .  aus  der  gemeinsamen  Kasse  ohne  Ab¬ 
rechnung  der  Lasten  des  einzelnen  bestritten,  in  welche  anderseits 
—  was  gleichfalls  besonders  charakteristisch  ist  —  der  gesamte  Er¬ 
werb  des  einzelnen,  sei  er  groß  oder  gering,  ohne  irgendwelche  An¬ 
rechnung  zu  seinen  persönlichen  Gunsten  eingeworfen  wird.“  Max 
Weber,  Zur  Geschichte  der  Handelsgesellschaften  (1889),  45/46. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


301 


durch  und  durch  handwerksmäßigen  Charakter  jener  Zeit.  Das 
haben  meines  Erachtens  gerade  auch  Lästig s  Untersuchungen 
erwiesen,  so  sehr  Lastigs  Terminologie  und  wohl  auch  seine 
eigene  Auffassung  der  entgegengesetzten  Deutung  der  Commenda 
(als  einer  Form  kapitalistischen  Handels)  zuzuneigen  scheinen. 
Nach  Lästig1  ist  die  Commenda  „ein  Arbeitsverhältnis;  der 
Kapitalist,  Accommendant,  zieht  eine  andere  Person  (Arbeiter), 
Accommendatarius  in  seine  Dienste,  damit  diese  mit  einem  ihr 
übergebenen  Kapital  (!)...  für  seine  (des  Kapitalisten)  Rechnung 
aber  in  eigenem  (des  Arbeiters)  Namen  gegen  Anteil  am  Gewinn 
Handelsgeschäfte  treibe“.  Die  Commenda  ist  seiner  Auffassung 
nach  eine  „einseitige  Arbeitsgesellschaft“.  „Der  Commendatarius 
oder  Komplementär  steht  einfach  im  Dienste  des  Comandor  oder 
Accomandans,  resp.  der  Societas  accomendantium  ...  er  hat  die 
Verpflichtung,  mit  dem  ihm  übergebenen  Kapital  innerhalb  der 
ihm  gesteckten  Grenzen  für  Rechnung  seines  Herrn  aber  auf 
eigenen  Namen  Geschäfte  zu  treiben  und  erhält  dafür  —  häufig 
neben  einem  festen  Gehalt  —  eine  Quote  des  Geschäftsrein¬ 
ertrags  .  .  .  Allein  der  Commendatarius  oder  Komplementär  ist 
Dritten  gegenüber  berechtigt  und  verpflichtet.“  Diese  Konstruk¬ 
tion  hat  auf  den  ersten  Blick  für  den  Nationalökonomen  etwas 
geradezu  Abstoßendes;  sie  scheint  den  wirklichen  Sachverhalt  auf 
den  Kopf  zu  stellen.  Bei  näherem  Zusehen  ist  sie  dagegen 
durchaus  berechtigt,  trägt  sie  auch  den  ökonomischen  Vei'hält- 
nissen  durchaus  Rechnung.  Sie  bestätigt  nämlich  gerade  den 
schlechthin  handwerksmäßigen  Charakter  des  Handels  jener  Zeit 
dadurch,  daß  sie  die  vollständige  Trennung  zwischen  Geld¬ 
besitzer  und  Händler  zum  deutlichen  Ausdruck  bringt.  Der 
Geldbesitzer  steht  noch  außer  jedem  Konnex  mit  der 
Handelstätigkeit  selbst,  die  vielmehr  ausschließlich  Sache  eines 
technischen  Arbeiters  ist.  Das  zur  Verwertung  überwiesene 
Geld  hat  noch  nicht  den  Charakter  des  Kapitals  angenommen, 
sondern  ist  nichts  anderes  als  Betriebsfonds2.  Ich  erinnere 
ferner  an  die  Höhe  der  Summen,  die  den  Commendaverträgen 
meist  zugrunde  lagen:  Beträge  von  einigen  Hundert  Mark  in 
unserm  Gelde,  die  schon  wegen  ihrer  Geringfügigkeit  außerstande 
sein  würden,  Kapitaleigenschaft  anzunehmen  angesichts  der 

1  Zeitschrift  für  das  gesamte  Handelsrecht  24,  S.  400  u.  414. 

3  „stock-in-trade  there  undoubtedly  was,  but  no  Capital  as  we 
now  use  the  term.“  Cunningham,  Growth  1,  4,  Vgl.  das  im  Nach¬ 
trag  zu  diesem  Kapitel  Gesagte. 


302  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Hoch  Wertigkeit  der  Arbeitskraft  in  früherer  Zeit.  Daß  dann  im 
weiteren  Verlauf  der  Entwicklung  aus  jenen  Kompagniegeschäften 
zwischen  Geldbesitzern  und  Handwerkern  Abhängigkeitsverhält¬ 
nisse  und  am  Ende  kapitalistische  Unternehmungen  erwachsen 
sind,  soll  natürlich  nicht  geleugnet  werden.  Das  schließt  aber 
nicht  aus ,  daß  ursprünglich  jene  Geschäftsformen  gerade  der 
rein  handwerksmäßigen  Organisation  des  Wirtschaftslebens  ihre 
Entstehung  verdanken. 

Endlich  aber  möchte  ich  noch  einen  letzten  Gesichtspunkt 
herauskehren,  der  mir  in  der  Literatur  über  das  vorkapitalistische 
Handelsrecht  (die  ja  freilich  fast  ausschließlich  von  Juristen 
geschrieben  ist!)  nie  recht  die  ihm  gebührende  Beachtung  findet: 
daß  nämlich  in  der  bloßen  Tatsache  des  Vorwiegens 
gesellschaftlich  betriebener  Handels  Unterneh¬ 
mungen  auch  ein  Beweis  für  deren  Handwerkshaftigkeit  ge¬ 
legen  ist:  Es  war  überhaupt  meistens  erst  durch  Aufstauung 
der  winzigen  Saohvermögen ,  die  in  den  Händen  einzelner  Per¬ 
sonen  angehäuft  waren ,  möglich ,  einen  Handel  auch  nur  in 
bescheidenen  Grenzen  in  die  Ferne  zu  betreiben1.  Gerade  wie 
ein  Schiff,  selbst  von  den  geringen  Ausmessungen  der  damaligen 
Seefahrzeuge ,  doch  immer  nur  von  mehreren  zusammen  aus¬ 
gerüstet  werden  konnte.  Daher  die  Schiffergesellschaften 2,  rich¬ 
tiger  Schiffergenossenschaften,  ebenso  wie  die  Handelsgesell¬ 
schaften,  richtiger  Händlergenossenschaften,  durchaus  die  den 
mittelalterlichen  Handel  und  Verkehr  kennzeichnenden  Rechts¬ 
formen  sind. 

2.  Nicht  minder  bedeutsam  für  die  Erkenntnis  des  hand¬ 
werksmäßigen  Charakters  mittelalterlichen  Handels  sind  die 


1  Die  häufig  wiederkehrende  Form  gesellschaftlichen  Handels¬ 
betriebes  findet  aber  des  weiteren  ihre  Erklärung  auch  in  dem ,  wie 
wir  Wissen,  in  aller  früheren  Zeit  noch  stark  verbreiteten  Gelegen¬ 
heitshandel.  Eben  jene  „vornehmen“  Leute,  die  dank  ihres 
Reichtums  am  ehesten  in  der  Lage  waren ,  einen  ausgedehnteren 
Handel  zu  betreiben,  konnten  oder  wollten  dies  vielfach  nur  in  der 
1  orm  tun ,  daß  sie  einen  berufsmäßigen  (Handwerker-)Händler  damit 
beauftragten,  mit  dem  sie  dann  selbstverständlich  in  ein  Gewinn¬ 
beteiligungsverhältnis  eintraten.  Vgl.  auch  v.  Below  in  den  Jahr¬ 
büchern  20,  38  ff. 

2  Über  die  vorkapitalistischen  Schiffergesellschaften  :  Gold- 
Schmidt,  S.  336  ff. ,  und  dazu  die  besonders  lehrreiche  Tabula  de 
Amalfa,  die  von  Lab  and  herausgegeben  und  kommentiert  ist  in  der 
Zeitschrift  für  das  ges.  Handelsrecht  7,  305  ff. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk  303 

Rechts-  und  Sittennormen ,  die  die  Formen  der  Handels¬ 
geschäfte  regeln,  ebenso  wie  diese  selbst  natürlich.  Ich  darf 
daran  erinnern,  daß  der  älteste  bekannte  Wechsel,  der  von 
deutschen  Kaufleuten  gezogen  wurde,  aus  dem  Jahre  1323 
stammt1,  daß  aber  selbst  in  Frankreich  die  Anfänge  des  Wechsels 
nicht  über  das  13.  Jahrhundert  zurückreichen2;  ich  darf  daran 
erinnern,  daß  wir  in  Frankreich  noch  hn  13.  Jahrhundert3,  in 
Deutschland  noch  während  des  15.  Jahrhunderts  einem  Verbot 
der  Lieferungsgeschäfte,  ja  wohl  aller  Kreditgeschäfte  begegnen4; 
daß  selbst  in  dem  Florenz  des  14.  Jahrhunderts  die  Formen  des 
Geldhandels ,  verglichen  mit  den  modernen ,  noch  durchaus  in 
den  Anfängen  der  Entwicklung  steckten5. 

Was  ich  aber  hier  der  Erwähnung  noch  für  wert  halte,  ist 
die  Beweiskraft  des  kanonischen  Zinsverbots  für  die 
Handwerkshaftigkeit  des  mittelalterlichen  Handels6.  Es  sollte, 
meine  ich,  in  dem  Streite  um  die  Frage  nach  der  praktischen 
Tragweite  jenes  Verbots  der  Gedanke  noch  mehr  Berücksich¬ 
tigung  finden,  daß  ein  Gewinn  ohne  technisch  ausführende  Arbeit, 
das  heißt  ohne  sichtbare  Hantierung  an  Gegenständen  der  äußeren 


1  Schulte,  Gesoh.  des  Handels  1,  281. 

2  Nr.  135,  167,  171  der  Documents  relatifs  ä  l’histoire  de  l’industrie 
et  du  commerce  en  France,  publ.  par  G.  Fagniez  (1898).  Vgl.  dazu 
Introduction  XLV  ff. 

3  Siehe  die  außerordentlich  interessante  Stelle  im  Livre  des  metiers, 
tit.  L  art.  6.  Vgl.  auch  mein  Buch  „Die  Juden  und  das  W.Leben“ 
(1911),  60  ff. 

4  Das  Verbot  der  Lieferungsgeschäfte  wird  noch  1417  auf  der 
Tagfahrt  in  Lübeck  ausgesprochen :  „Niemand  solle  Hering  kaufen, 

ehe  er  gefangen,  Korn,  ehe  es  gewachsen,  Gewand,  ehe  es  gemacht“. 
Neumann,  Geschichte  des  Wuchers,  S.  37.  Verbot  aller  Kredit¬ 
geschäfte  Hoch  in  deutschen  Stadtrechten  des  15.  Jahrhunderts. 
Neumann,  S.  88  ff. 

6  „Le  cambiali  a  scadenza  protatta,  il  deposito  a  interesse  fermo, 
il  nome  stesso  di  banchieri,  le  fiere  dei  cambi,  i  banchi  pubblici, 
operazioni  ed  istituti  che  s’  incardiano  sopra  V  uso  generale  e  costante 
del  mutuo  feneratizio  appartengono  tutte  all’  etä  moderna. “  G.  Toniolo, 
L’  economia  di  credito  ec.  in  der  Rivista  internazionale  di  Science 
sociali  8,  571. 

6  Was  ich  hier  über  das  kanonische  Zinsverbot  sage,  ist  im  wesent¬ 
lichen  schon  in  der  ersten  Auflage  enthalten.  Es  behält  für  das 
frühe  und  zum  Teil  noch  hohe  Mittelalter  seine  Geltung.  Daß  im 
Spätmittelalter  das  kanonische  Zinsverbot  auf  den  Konsumtivkredit 
beschränkt  wurde  und  den  Kapitalprofit  nicht  mehr  betraf,  habe  ich 
nachgewiesen  in  meinem  „Bourgeois“  (1913). 


304  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Natur  für  alle  in  handwerksmäßigen  Anschauungen  befangene 
Zeiten  in  der  Tat  nur  als  unehrlich,  als  unstatthaft  angesehen 
werden  konnte  h  Es  kommt  doch  wohl  in  jenem  Rechtssatze 
des  Zinsverbots  nichts  anderes  zum  Ausdruck,  als  die  Anerkenntnis 
des  dem  handwerksmäßig  organisierten  Wirtschaftsleben  an¬ 
gemessenen  Wirtschaftsprinzips  der  Bedarfsdeckung  durch  Werk¬ 
schaffung.  Weshalb  denn  das  Verbot  sich  schon  auf  das  bloße 
Gewinnstreben  erstreckte1 2.  Objektiv  fand  aber  die  Achtung 
oder  Verachtung  des  Zinsnehmens  ihre  Rechtfertigung  in  dem 
Umstande,  daß  der  Regel  nach,  ja  in  der  überwiegenden  Mehr¬ 
zahl  aller  Fälle,  tatsächlich  das  Geld  nicht  die  Kraft  besaß,  sich 
aus  sich  selbst  heraus  zu  vermehren,  so  lange  es  nämlich  noch 
keine  Kapitalsqualität  angenommen  hatte,  das  heißt  seine  Ver¬ 
wendung  noch  keine  Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit 
herbeizuführen  vermochte.  Ursprünglich  ist  daher  auch  die 
Geldleihe  nicht  anderes  als  ein  Nobile  officium,  ein  Dienst,  den 
der  Genosse  dem  Genossen,  der  Stadtbürger  seiner  Stadt,  der 
Wohltäter  den  Armen  und  Bedrängten  leistet,  selbstverständlich^ 
ohne  dabei  Gewinn  zu  erzielen,  nihil  inde  sperans,  gerade  wie 
man  heute  dem  Freunde  in  der  Not  aushilft  und  nur  auf  dessen 
Drängen  sich  die  vorgestreckte  Summe  verzinsen  läßt. 

„Item  si  ascun  homme  ou  femme  de  la  dite  fraternite  .  .  .  sanz 
sa  defaute  propre  chiete  en  pouert,  la  dite  fraternite  luy  apprestera 
une  somme  dargent  pur  merchander  et  profiter  pur  un  an  ou  deux  a 
lour  auys  sanz  rien  prendre  de  gayn.“  Stat.  der  „Gilda  Mercatoria 
de  Couentre“  (14.  Jahrh.)  bei  Groß,  Gild  merchant  2,  50.  Ebenso 
lieben  die  deutschen  Gesellenverbände  ihren  Mitgliedern  ohne  Zinsen ; 
vgl.  G.  Schanz,  Zur  Gesch.  d.  deutsch.  Ges. -Verbände  (1877),  72. 
Zahllose  Beispiele  zinsloser  Darlehen,  namentlich  an  Städte, 
die  sich  in  Not  befinden,  noch  im  15.  Jahrhundert  bei  Neumann, 
S.  507  ff.,  der  übrigens  m.  E.  die  Bedeutung,  ja  die  ursprüngliche 
Selbstverständlichkeit  des  zinslosen  Darlehens  nicht  genügend  würdigt. 
Es  ist  doch  im  Grunde  nur  die  dem  natürlichen  Empfinden  entsprechende 
Auffassung,  wenn  es  beispielsweise  in  einer  venetianischen  Urkunde 

1  „Sind  denn  die  Juden,“  fragte  noch  Geiler  von  Kaisersberg, 
„ besser  als  die  Christen ,  daß  sie  nicht  arbeiten  wollen  mit 
ihrer  Hände  Werk?  Stehen  sie  nicht  unter  dem  Spruche  Gottes: 
Im  Schweiße  deines  Angesichts  sollst  du  dein  Brot  verdienen?  Mit 
Geld  wuchern  heißt  nicht  arbeiten,  sondern  andere 
schinden  in  Müßiggang.“ 

2  „huiusmodi  homines  prointentione  lucri,  quam  habent  (cum 
omnis  lesura  et  superabundantia  prohibentur  in  lege)  judicandi  sunt 
male  agere.“  Decr.  Greg.  Lib.  V,  tit.  XVIII,  cap.  10  (1186).  Weitere 
Belege  für  die  Verpönung  der  usuraria  voluntas  bei  Neumann,  95  f. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


305 


von  1187  heißt:  „cum  nos  —  dum  videremus  nostro  comuni  neces- 
sarium  esse  pro  guerra  —  pecuniam  invenire  ad  eos  precibus  duximus 
recurrendum,  qui  possunt  nostre  patrie  hoc  necessitatis  temporis  sub- 
venire.  Rogavimus  igitur  omnes  viros ,  quorum  nomina  inferius  con- 
tinentur,  ut  pro  sua  liberalitate  comuni  nostro  in  tali  necessitate  hoc 
tempore  constituto  de  praefata  pecunia  subveniret,  qui  quoniam  terre 
nostre  veri  sunt  amatores  promiserunt  nostro  communi  dictam  pecuniam 
se  daturos“  ec.  Abgedruckt  bei  W.  Lenel,  Die  Entstehung  der  Vor¬ 
herrschaft  Venedigs  an  der  Adria  (1897),  43.  Ganz  ähnliche  Be¬ 
gründung  in  den  Winchester- Ordinances.  Archäol.  Journal  9,  73.  — 
Eine  der  beliebtesten  Formen,  in  denen  die  Klöster  während  der 
frühen  Zeit  des  Mittelalters  ihren  Hintersassen  und  Gläubigen  mit 
materiellen  Diensten  zu  Hilfe  kamen ,  war  die  Geld-  oder  Güterleihe, 
bei  der  jedoch  abermals  von  Zinszahlung  keine  Rede  war,  wenn  man 
auch  streng  auf  Rückgabe  des  Geliehenen  sah.  Vgl.  Sackur,  Bei¬ 
träge  zur  Wirtschaftsgeschichte  französischer  und  lothring.  Klöster 
im  10.  und  11.  Jahrh.,  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.  u.  W.Gesch.  1,  163  ff. 
Von  einem  Privatmann  (12.  Jahrh.),  der  „vicinis  suis  indigentibus 
nummos  non  tarnen  ad  usuras  accommodabat“,  berichtet  CJunningham 
1,  239.  In  Tirol  sind  bis  zum  Ende  des  13.  Jahrhunderts  zinslose  Dar¬ 
lehen  üblich.  Hans  v.  Voltelini,  Die  ältesten  Pfandleihbanken 
und  Lombardenprivilegien  Tirols  (1904),  S.  25.  Fedor  Schneider 
vermerkt  in  seiner  Besprechung  des  Buches  (Vierteljahrschr.  f.  Soz. 
u.  W.G.  4,  392)  diese  Feststellung  mit  dem  Zusatz:  „eine  neue  Tat¬ 
sache,  die  Ref.  den  Forschern  zur  Beachtung  empfiehlt,  die  für  die 
früheste  Geldwirtschaft,  ja  schon  für  die  Naturalwirtschaft  den  Zins 
als  selbstverständlich  erklären“. 

Erst  im  Verkehr  mit  Fremden  (Juden!  Lombarden!)  konnte 
überhaupt  die  für  das  naive  Empfinden  häßliche  Idee  eines  zins¬ 
tragenden  Darlehns  entstehen;  wer  sich  aber  zu  dieser  abscheu¬ 
lichen  Handlung  hergab,  von  dem  in  Not  befindlichen  Geldsucher 
Zinsen  zu  nehmen,  mußte  selbstverständlich  als  geächtet  er¬ 
scheinen,  und  wäre  es  durch  die  Sitte  gewesen,  ob  ein  kirch¬ 
liches  Zinsverbot  bestanden  hätte  oder  nicht,  als  welches  viel¬ 
mehr  nur  der  Ausdruck  der  Volksstimme  in  diesem  Falle  war. 
Es  wäre  sonst  gewiß  nicht  zu  verstehen,  daß  selbst  in  den 
italienischen  Städten  bis  ins  15.  und  16.  Jahrhundert  hinein  die 
„usurarii“  aus  den  Kaufmannsgilden  und  Handelskammern  aus¬ 
geschlossen  blieben. 

Nach  den  Statuten  der  Tuchkrämer  in  Florenz  (14.  Jahrh.) 
ist  der  Wucherer  entweder  ganz  von  ihrer  Zunft  ausgeschlossen  oder 
hat,  wenn  die  wucherischen  Handlungen  bereits  verjährt  sind,  den 
Makel  mit  doppelter  Matrikel  zu  büßen.  Derselben  Zunft  ist  der 
Wucher  auch  genügendes  Motiv,  ein  Mitglied,  das  das  Votum  der 
Genossen  für  schuldig  erkennt,  auszustoßen.  Seit  1429  schloß  auch 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  SM 


306  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

die  Seidenzunft  den  rückfälligen  Wucherer  aus.  Im  Statut  der  Wechsler- 
zunft  von  1367  war  ausdrücklich  verboten,  „auf  Zins  zu  leihen,  sei 
es  gegen  Pfand  oder  Schuldschein,  oder  sonstigen  Wucher  zu  treiben 
bei  Strafe  von  100  Lire“.  Ende  des  14.  Jahrhunderts  fand  dann  das 
Zinsverbot  in  schroffster  Form  Eingang  in  den  Statuten  aller  Florentiner 
Zünfte.  E.  Pöhlmann,  Die  Wirtschaftspolitik  der  florentiner 
Eenaissance  (1878),  53.  84.  Ähnliche  Bestimmungen  in  den  Statuten 
von  Mailand  (1396),  Bergamo  (1497),  Pesaro  (1532).  Vgl.  Lattes, 
II  diritto  commerciale  etc.  32/33.  147  f.,  und  L.  Z dekauer  im  Arcli. 
stör.  it.  V.  Ser.  t.  XVII  (1895),  p.  63  ff. 

Erst  die  Verwandlung  des  Geldes  in  Kapital,  die  damit  ge¬ 
schaffene  Selbstverständlichkeit  des  Zinses  hat  auch  den  Wucher 
(der  jedes  Darlehn  zu  Konsumtivzwecken  ist)  in  gewissen 
Schranken  von  seiner  Anrüchigkeit  befreit.  Woraus  wir  aber 
offenbar  den  Schluß  zu  ziehen  berechtigt  sind,  daß  J ahrhunderte, 
in  denen  das  zinstragende  Darlehn  von  Gesetzgebung  und  Volks¬ 
gefühl  verpönt  war,  von  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise 
noch  keinen  Hauch  verspürt  haben  konnten. 

3.  Besonders  durchsichtig  ist  aber  endlich  das  Korpora¬ 
tionsrecht  des  mittelalterlichen  Handels.  Hier  schimmert  in 
deutlichen  Umrissen  die  echt  handwerksmäßige  Struktur  des 
damaligen  Handels  hindurch. 

Es  ist  ja  bekannt,  daß  häufig  genug  zwischen  Handwerker¬ 
zünften  und  Händlerzünften  gar  keine  strenge  Scheidung  bestand, 
und  daß  die  Gilden  der  Großkaufleute  mit  denen  der  Krämer 
engste  Beziehungen  hatten.  Wir  müssen  uns  aber  an  die  Vor¬ 
stellung  gewöhnen,  daß  der  Berufshändler  des  Mittelalters  sich 
wohl  gelegentlich  vornehmer  dünkte  als  mancher  Handwerker, 
aber  nicht  anders  als  der  Angehörige  einer  beliebigen  gewerb¬ 
lichen  „höheren“  Zunft.  Was  den  Kaufmann  vom  Handwerker 
unterschied,  waren  nur  immer  erst  Grad-,  keine  Wesensver¬ 
schiedenheiten;  er  war  oft  ein  „besserer“  Handwerker,  wie  der 
Goldschmied  oder  der  Bäcker  andernorts ,  aber  er  gehörte 
mit  seinem  Denken  und  Empfinden  den  Kreisen  der  Hand¬ 
werker  an. 

Wer  daran  noch  zweifeln  sollte,  braucht  nur  die  Statuten 
der  Kaufmannsgilden,  die  Ordnungen  der  „Höfe“  und  „Kontore“ 
in  fremden  Städten1  zu  durchblättern.  Dort  wird  er  auf  jeder 
Seite  eine  Bestätigung  für  die  Kichtigkeit  meiner  Auffassung 

1  Eine  anschauliche  Schilderung  von  dem  Leben  des  deutschen 
Kaufmanns  in  den  fremden  Ländern  entwirft  J.  Falke,  Gesch.  dea 
deutschen  Handels  1,  200  ff. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


307 


finden.  Der  Ideenkreis  der  Handwerkerzünfte  ist  fast  ohne 
Veränderung  in  jene  übertragen. 

Vor  allem  begegnen  wir  in  den  Statuten  der  Händlerzunft 
überall  dem  obersten  Grundsätze  handwerksmäßiger  Ordnung: 
daß  jedem  Genossen,  der  in  der  Väter  "Weise  seine  Arbeit  ver¬ 
richtet,  ein  Auskommen  gesichert,  die  Nahrung  gewährleistet 
sein  solle  b  Erkämpfung  eines  möglichst  großen ,  gegen  nach¬ 
barliche  Einfälle  gesicherten  Absatzgebietes;  gleichmäßige  ge¬ 
ordnete  Verteilung  der  einzelnen  Anteile  unter  die  Genossen, 
also  Ausschließung  jeder  Konkurrenz  nach  außen  wie  im  Innern2: 
das  ist  das  Fundamentum,  auf  dem  auch  aller  vorkapitalistischer 
Handel  ruht.  Und  der  Erreichung  jenes  Ziels,  der  Gewähr¬ 
leistung  eines  konkurrenzlosen,  der  Veränderung  durch  individuelle 
Spekulation  und  Intrigue  entrückten,  ruhigen  Dahinarbeitens  sind 
dann  im  einzelnen  alle  Verbote  und  Gebote  der  Innungsstatuten 
gewidmet.  Was  wir  bei  den  Handwerkerzünften  finden:  hier  kehrt 
es  in  stereotypen  Wendungen  wieder:  die  Beschränkung  der 
Betriebsgröße3;  das  Verbot  des  Vorkaufs4;  die  Verpflichtung, 
den  Genossen  in  den  Kaufvertrag  eintreten  zu  lassen5;  das  Verbot 


1  Es  ist  kaum  nötig,  dafür  Beleg©  anzuführen,  daß  die  Idee  der 
Nahrung  auch  die  Ordnungen  der  Händlerzünfte  beherrscht. 
Besonders  lehrreich  sind  die  Verhältnisse  der  englischen  Händler¬ 
zünfte,  wie  sie  uns  von  Charles  Groß  geschildert  werden.  Zur 
allgemeinen  Orientierung  ist  auch  A.  Doren,  Kaufmannsgilden  im 
Mittelalter,  geeignet.  Vgl.  daselbst  u.  a.  S.  60,  97,  147.  W.  Kießel- 
bach,  Der  Gang  des  Welthandels  (1860),  206.  Für  Frankreich 
insbes.  sind  zu  vergleichen :  Levasseur,  Fagniez,  Pigeonneau. 

Die  Hausierer  sind  Störer  der  festen  örtlichen  Nahrung  der  Krämer.“ 
Ersch  und  Gruber  s.  v.  „Hausierer“  (1828). 

2  „Es  galt  hier  die  Konkurrenz  der  Konstanzer  Verkäufer  (sc.  von 
Leinwand)  unter  einander  aufzuheben  und  das  Ansehen  der  Konstanzer 
Kaufmannschaft  zu  stärken.“  Schulte  1,  163. 

8  Das  Statut  für  Nowgorod  bestimmt:  es  solle  niemand  über 
1000  Mk.  im  Jahre  umsetzen  (oder  auf  Lager  haben?),  sei  es  sein 
eigenes  oder  fremdes  Gut  (das  er  im  Sendeve- Vertrag  hat)  oder  Ge¬ 
sellschaftsgut. 

4  Statut  der  Ripen-  und  Dänemarkfahrer  zu  Stade  (14.  Jahrh.): 
„were  dat  yement  in  der  kumpenye  deme  andern  dar  vorekop  dede  de 
schal  der  kumpenye  dat  beteren  mit  4  olden  groten“.  Hans.  Urkanden- 
buch  III,  Nr.  183,  Art.  7. 

5  ,  The  gildsman  was  generally  under  Obligation  to  share  all  pur- 
chases”  with  his  brethren ,  that  is  to  say,  if  he  bought  a  quantity  of 
a  given  commodity ,  any  other  gildsmen  could  claim  a  portion  of  lt 
at  the  same  price  at  which  he  purchased  it. 1  Groß  1,  49.  Belege 

£0* 


*308  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

der  Kundenabtreibung ;  das  Verbot  der  Preisverabredung  und 
viele  ähnliche  Bestimmungen. 

„nullus  de  societate  vocet  aliquem  comparatorem  donec  est  ad 
bancam  alterius  ad  emendum  nec  sibi  faciat  cignum  vel  insignam 
aliquam.“  Statut  der  Pizzicagnoli  von  Bologna  (um  1242).  Stat. 
delle  Soc.  del  Pop.  di  B.  2  (1896),  175.  Das  Statut  der  Florentiner 
Societas  campsorum  vom  Jahre  1299  verbot  den  Mitgliedern  der  Zunft, 
in  der  Stadt  umherzugehen,  um  sich  nach  Wechselgeschäften  um¬ 
zusehen.  Die  „Bankiers“  sollten  ruhig  bei  ihren  Ständen  warten,  bis 
die  Kunden  zu  ihnen  kämen,  damit  die  Gelegenheit  des  Verdienens 
für  alle  Mitglieder  der  Zunft  eine  möglichst  gleiche  sei.  H.  Sieve- 
king,  Genueser  Finanzwesen  2  (1899),  44.  Dasselbe  besagt  ein 
Straßburger  Weistum  über  die  Rechte  der  Hausgenossen  aus  den 
1380er  Jahren:  35.  „Es  sol  ouch  nieman  in  deheins  würtes  husz  gon 
wehssein,  der  würt  sende  dann  mit  namen  nach  ime  oder  der  gaste, 
der  do  wehssein  wil“  .  .  .  37.  „Die  an  dem  fritage  uff  dem  bloche 

sitzent  und  wechsselnt ,  die  sollent  nieman  ruffen  über  den  graben 
noch  winken  .  .  .“  Abgedruckt  bei  K.  Eheberg,  Über  das  ältere 
deutsche  Münzwesen  und  die  Hausgenossenschaften  (1879),  S.  188.  189. 
Die  von  E.  abweichende  Datierung  nach  J.  Cahn,  Münz-  und  Geld¬ 
geschichte  der  Stadt  Straßburg  im  Mittelalter  (1895),  S.  31. 

Verbote  von  Preisverabredungen  in  den  italienischen  Städten 
siehe  bei  J.  Köhler,  Strafrecht  der  italienischen  Kommunen,  1892. 
Dazu  vgl.  A.  Lizier,  La  vita  sociale  del  secolo  XII. — XVI.  nella 
legislazione  penale  degli  Statuti  italiani  di  quel  tempo  in  der  Rivista 
intern,  di  scienze  soc.  Aprile  1900,  p.  510. 

Also  von  allen  Seiten  her  die  Bestätigung  des  Satzes:  der 
berufsmäßige  Handel  des  Mittelalters,  genauer  gesprochen  der 
Handel  Italiens  bis  tief  in  das  14. ,  der  des  übrigen  Europas 
bis  in  das  16.  Jahrhundert  hinein  trägt  das  unverkennbare  Ge¬ 
präge  der  Handwerkshaftigkeit.  Auf  eine  Darstellung  der  realen 
Existenzbedingungen  des  vorkapitalistischen  Handels  kann  ver¬ 
zichtet  werden:  es  sind  dieselben,  die  den  Bestand  des  Hand¬ 
werks  ermöglichen. 

2,  46.  150.  161.  185.  218.  219.  226.  290.  352.  Die  Statuten  der 
Gilde  vc-n  St.  Omer  enthalten  die  Bestimmung  in  §  2 :  „si  quis  vero 
guildam  habens  mercatum  aliquid  non  ad  victum  pertinens  valens  V 
gr.  s.  et  supra  taxaverit  et  alius  gildam  habens  supervenerit  si  voluerit 
in  mercato  illo  porcionem  habebit.“  Doren,  60.  Häufig  lauten  auch 
die  Bestimmungen  dahin,  daß  ein  Käufer  verpflichtet  sei,  solange  der 
Kauf  nicht  perfekt,  jedes  andere  Mitglied  der  Genossenschaft  auf  Ver¬ 
langen  zur  Hälfte  am  Kaufe  teilnehmen  zu  lassen.  Vgl.  F.  Conze, 
Kauf  nach  hanseatischen  Quellen.  Bonner  J.  D.  1889.  S.  16  f. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


309 


Nachtrag  zur  zweiten  Auflage 

Die  vorstehende  Darstellung  ist  im  wesentlichen  unverändert,  nur 
durch  neues  Material  ergänzt,  aus  der  ersten  Auflage  übernommen 
worden.  Kaum  ein  zweites  Kapitel  habe  ich  solcherweise  als  Ganzes 
wieder  verwerten  können  wie  dieses,  obwohl  gegen  kein  zweites  (mit 
Ausnahme  desjenigen,  das  meine  sog.  „Grundrententheorie“  enthält) 
soviel  kritische  Bedenken  erhoben  sind  wie  gegen  dieses.  Ich  habe 
meine  Darstellung  nach  reiflicher  Überlegung  in  wesentlich  gleicher 
Passung  wiederholt.  Denn  die  Kritik,  die  sich  auf  diesen  Teil  meines 
Werkes  bezieht,  hat  mich  in  keinem  einzigen  wesentlichen  Punkte 
widerlegt. 

Es  sind  namentlich  folgende  Schriften,  die  sich  mit  meinen  An¬ 
schauungen  auseinandersetzen : 

A.  Nuglisch,  Zur  Frage  nach  der  Entstehung  des  modernen 
Kapitalismus  in  den  Jahrbüchern  für  Nat.Ökon.  III.  F.  28,  238 — 250. 

GustavBeckmann,  Die  Bedeutung  des  Handwerks  im  Wirt¬ 
schaftsleben  nach  den  Darstellungen  Sombarts  usw.  in  der  Beilage 
zur  Allgemeinen  Zeitung.  Jahrgang  1904.  Nr.  106.  107.  108. 

F.  Keutgen,  Hansische  Handelsgesellschaften  vornehmlich  des 
14.  Jahrhunderts  in  der  Yierteljahrsschrift  für  Soz.  u.  W.G. 
Bd.  IV. 

Silberschmidt,  Das  Senden  und  Befehlen  der  Waren  nach 
der  kaufmännischen  Korrespondenz  des  15.  Jahrhunderts  im  Archiv 
f.  bürgerl.  Recht  25  (1905),  129  ff.,  insbes.  S.  148  f. 

Derselbe,  Das  Sendegeschäft  im  Hansagebiet  in  der  Zeitschrift 
für  das  ges.  HR.  68  (1910). 

R.  Heynen,  Zur  Entstehung  des  Kapitalismus  in  Venedig. 
1905.  H.  spottet  seiner  selbst  und  weiß  nicht  wie,  wenn  er  „die 
Größe“  des  mittelalterlichen  Handels  damit  beweisen  will,  daß  er 
seinen  Helden  Mairano,  einen  durch  Reichtum  ausgezeichneten  Mann 
(ttXou-w  matpsptov),  den  Bau  eines  riesigen  (!)  mit  drei  (!)  gewaltigen  (!) 
Segeln  ausgestatteten  Schiffes  vornehmen  läßt  (S.  101),  das  später 
in  Konstantinopel  allgemeines  Aufsehen  erregte  (!),  denselben  Mairano, 
der,  als  sein  Geschäft  auf  dem  Zenith  angelangt  war,  einen  Kommis 
engagiert  (104)  und  von  seinem  Schwiegervater  150,  von  seinem 
Vetter  50  Mk.  borgt  (!). 

Eine  ausführliche,  wertvolle  Anzeige  des  H.schen  Buches  hat 
Silberschmidt  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  HR.  58  (1906)  ver¬ 
öffentlicht. 

Adolf  Schaube,  Die  Wollausfuhr  vom  Jahre  1273  in  der 
Vierteljahrsschrift  für  Soz.  u.  W.G.  Bd.  VI.  Sch.  weist  mir  in  der  Tat 
einen  Fehler  nach:  ich  habe  die  Menge  der  aus  England  im  Jahre  1273 
von  Ausländern  ausgeführten  Wolle  gleich  gesetzt  der  überhaupt 
ausgeführten  V^olle:  es  ist  etwa  2la.  Im*  übrigen  enthält  der  in. 
gehässigem  Tone  geschriebene  Aufsatz  eine  willkommene  Bestätigung 
der  Richtigkeit  meiner  eigenen  Darstellung.  Wohin  kommen  wir 
aber,  wenn  wir-  einen  Autor,  weil  ihm  das  genannte  Versehen  unter¬ 
gelaufen  ist,  in  Grund  und  Boden  kritisieren,  so  daß  kein  Hund  ein 


310  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

Stück  Brot  mehr  von  ihm  nimmt !  Das  ist  doch  eine  unerträgliche, 
geistlose  Oberlehrerwissenschaft  im  schlimmen  Sinne. 

R.  Davidsohn,  Über  die  Entstehung  des  Kapitalismus  in 
seinen  Forschungen  z.  Gesch.  v.  Florenz  IV  (1908),  268  ff. 

Was  die  Kritiker  gegen  meine  Auffassung  vo&  mittelalterlichen 
Handel  eingewendet  haben,  ist  vornehmlich  folgendes : 

1.  Der  Händler  ging  immer  —  auch  im  Mittelalter  —  auf  Erwerb 
aus,  suchte  nicht  nur  seinen  Unterhalt  zu  befriedigen:  die  Idee  der 
'■Nahrung’  beherrschte  ihn  also  nicht.  Zu  diesem  Einwande  habe  ich 
schon  mich  geäußert,  und  ich  verweise  den  Leser  auf  das,  was  ich 
S.  29  ff.  bemerkt  habe.  Ich  bleibe  dabei:  die  regulative  Idee  blieb  auch 
für  den  Handel  während  des  Mittelalters  lange  Zeit  dieselbe  wie  für 
das  (gewerbliche)  Handwerk.  Die  Ideenwelt  des  Händlers  war  im 
wesentlichen  dieselbe  wie  bei  seinem  Bruder,  dem  gewerblichen  Pro¬ 
duzenten.  Zuzugeben  ist,  daß  die  neuen  Ideen  sich  in  der  Sphäre 
des  Handels  eher  bemerkbar  machten  als  in  anderen  Wirtschafts¬ 
sphären.  Ich  bitte  auch  immer  die  Totalität  des  kapitalisti¬ 
schen  Geistes  (Gewinnstreben  im  Zusammenhang  mit  ökono¬ 
mischem  Rationalismus  und  Auflösung  aller  Qualitäten  in  die  eine 
Quantität  Geld:  darüber  handelt  ja  erst  das  zweite  Buch!)  als  den 
Gegensatz  zum  Geist  des  mittelalterlichen  Händlers  zu  betrachten. 
Natürlich  will  der  Gepäckträger  in  Neapel  auch  lieber  3  als  1  Lira 
haben.  Aber  wer  zwischen  ihm  und  Pierpont  Morgan  keinen  Unter¬ 
schied  in  der  Geistesrichtung  wahrnimmt,  der  ist  eben  psychologisch 
farbenblind  und  scheidet  als  Kritiker  (oder  gar  Geschichtsschreiber) 
aus. 

2.  Der  Handel  im  Mittelalter  sei  gar  nicht  „so  klein“  gewesen, 
wie  ich  ihn  darstellte.  Nun:  tatsächlich  ist  keine  einzige  meiner 
Zahlenangaben  (bis  auf  die  von  Schaube  richtig  gestellte  Ziffer)  als 
unrichtig  nachgewiesen  worden x. 

Man  wirft  mir  dann  vor:  ich  hätte  die  Kleinheit  des  mittelalter¬ 
lichen  Handels  nicht  richtig  gewürdigt.  Die  einen  (Nuglisch) 
verweisen  mich  darauf,  daß  die  Kaufkraft  des  Geldes  in  Rücksicht 
zu  ziehen  sei,  wenn  man  die  Bedeutung  einer  Geldsumme  für  eine 
Zeit  feststellen  will.  Das  war  mir  auch  vorher  nicht  ganz  unbekannt. 
Aber  wer  auch  nur  ein  klein  wenig  die  Schwierigkeit  des  Problems 
kennt,  das  wir  mit  dem  Worte  „Zahlungskraft  des  Geldes“  andeuten, 
wird  sich  hüten,  eine  Geldsumme  je  anders  als  nach  ihrem  Metallwert 
auszudrücken,  wie  ich  es  getan  habe.  Wie  sich  die  „Zahlungskraft“ 
des  Geldes  im  Mittelalter  (will  ich  nur  im  Vorbeigehen  dem  genannten 

1  Das  einzige,  was  G.  Beckmann  gegen  mich  anführt,  ist  die 
Tatsache,  daß  die  Kleinheit  der  Schiffe  nichts  für  den  geringen  Um¬ 
fang  des  Handels  beweise,  weil  öfters  eine  „merkwürdig  große  Zahl“ 
von  Schiffen  in  den  Dienst  von  Handelsunternehmungen  gestellt  wurde. 
Einer  Handelsunternehmung,  das  bezweifele  ich.  B.  scheint  das  Zu¬ 
sammenausfahren  mehrerer  Schiffe  zu  meinen.  Auf  einem  Schiffe 
—  so  klein  es  war  —  finden  wir  ja  meist  einen  ganzen  Haufen  von 
Kaufleuten  in  eigener  Person  oder  durch  ihre  Waren  vertreten. 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


311 


Herrn  verraten)  zu  der  in  unserer  Zeit  verhalten  habe,  läßt  sich  ganz 
und  gar  nicht  in  einer  Verhältniszahl  ausdrücken.  Was  sollen  solche 
Feststellungen,  wie  diese:  „für  wenige  Pfennige  konnte  man  sich 
schon  satt  essen,  für  einen  Gulden  wohnen“  (a.  a.  0.  S.  241).  Sie 
besagen  nichts,  aber  rein  gar  nichts.  Was  heißt:  „satt  essen“,  womit? 
Qualität  der  Kost!  Was  heißt  „wohnen“?  Wo?  Auch  heute  wohnt 
man  auf  dem  Lande  nicht  viel  teurer  als  im  Mittelalter.  Und  die 
Preise  für  andere  wichtige  Dinge?  Z.  B.  für  alle  gewerblichen  Er¬ 
zeugnisse,  die  im  Mittelalter  ein  vielfaches  gegenüber  heute  kosteten? 
für  alle  Beförderung?  für  alle  sogenannten  Vergnügungen?  für  die 
„geistige  Nahrung“  ?  für  alle  Genußmittel?  für  die  Nutzung  einer  Arbeits¬ 
kraft?  und  was  sonst  noch  für  Geld  gekauft  werden  kann?  Siehe 
im  übrigen  das,  was  ich  im  zweiten  Bande  darüber  sage. 

Andere  halten  meine  Methode  für  verfehlt,  die  Ziffern  der  mittel¬ 
alterlichen  Handelsstatistik  mit  der  Gegenwart  zu  vergleichen. 
Neuerdings  hat  sich  in  diesem  Sinne  Rud.  Häpke,  dessen  Uiteil 
in  handelsgeschichtlichen  Dingen  gehört  zu  werden  verdient,  in  seinem 
Buche:  Brügges  Entwicklung  zum  mittelalterlichen  Weltmarkt  (1908), 
geäußert.  Seine  tatsächlichen  Ergebnisse,  zu  denen  er  gelangt, ^be¬ 
stätigen  in  erfreulicher  WTeise  die  Richtigkeit  meiner  Auffassung.  Sein 
Urteil  faßt  er  wie  folgt  zusammen  (S.  268):  „Im  ganzen  ruhte  der 
Handel  auf  breiter  demokratischer  Basis,  und  Handelsmagnaten  waren 
im  Warenhandel  nur  selten.  Um  so  weniger  sind  bei  diesen  Gro߬ 
kaufleuten  Warenmengen  zu  erwarten,  die  dem  modernen  Auge  einiger¬ 
maßen  imponieren.“  Dann  aber  fügt  er  hinzu:  „Mittelalterlicher  und 
heutiger  Umsatz  läßt  aber  gar  keine  Vergleiche  zu“,  und  an  einer 
anderen  Stelle  sagt  er  „ .  .  .  große  Dimensionen  wird  er  vergebens 
suchen,  auch  wenn  er  mit  mittelalterlichen,  Augen  zu  sehen  gewöhnt 
ist.“ 

Demgegenüber  habe  ich  folgendes  zu  bemerken: 

1)  gerade  müssen  wir  Ziffern  der  Vergangenheit  mit  heutigen  Ziffern 
vergleichen:  es  ist  die  einzige  Möglichkeit,  sie  uns  in  ihrer 
Größe  anschaulich  zu  machen; 

2)  gerade  müssen  wir  mit  „modernen“  und  nicht  mit  „mittelalter¬ 
lichen“  Augen  das  Mittelalter  betrachten,  um  es  in  seiner 
Eigenart  und  in  seiner  Abweichung  von  der  Gegenwart  verstehen 
zu  lernen.  Wir  sollen  uns  gerade  losmachen  von  der  Anschauung 
des  Zeitgenossen,  für  den  natürlich  die  jeweils  erreichte  Höhe 
z.  B.  eines  Handelsverkehrs  der  Gipfel  war.  Häpke  warnt 
selbst  vor  Phrasen  wie  „enormer  Warenumsatz“  u.  dgl.,  die  gar 
nichts  besagen.  Alle  fruchtbare  historische  Forschung  beruht 
darauf,  mit  eigenen  Augen  zu  sehen  und  dadurch  die  Be¬ 
sonderheit  früherer  Zustände  zu  erkennen.  Ich  erinnere  an 
die  glücklichen  Ergebnisse  der  bevölkerungs-,  namentlich  städte¬ 
statistischen  Forschung:  jetzt  erst  begreifen  wir  das  Wesen  einer 
mittelalterlichen  Stadt,  wenn  wir  wissen,  daß  sie  nicht  200  000, 
sondern  20  000  Einwohner  hatte. 

Aber  offenbar  schwebt  meinen  Kritikern  noch  etwas  anderes  vor: 
sonst  könnte  ich  mir  den  feindseligen  Ton  nicht  erklären,  in  den  sie 


312  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

alle  geraten,  wenn  sie  auf  meine  Auffassung  von  der  „Kleinheit“  des 
mittelalterlichen  Handels  zu  sprechen  kommen.  Sie  vermuten ,  ich 
habe  damit  den  Wert,  die  Bedeutung  des  Mittelalters 
herabsetzen  wollen.  Als  ob  die  Größe  einer  Zeit  an  der  Menge  der 
gehandelten  Waren  gemessen  werden  könnte!  Ich  meine:  durch  nichts 
sei  die  „Größe  des  Mittelalters  so  deutlich  gemacht  worden  als  durch 
meinen  Nachweis,  daß  die  Ausdehnung  des  Handels  im  Mittelalter 
ganz  geringfügig  war,  wenn  wir  sie  mit  der  Gegenwart  vergleichen. 
Groß  war  die  Zeit,  weil  sie  die  Minnesänger  und  das  Straßburger 
Münster,  Dante  und  Giotto,  Kaiser  Rotbart  und  Thomas  von  Aquino 
hervorgebracht  hat,  trotzdem  vielleicht  nur  ein  Hundertstel  ^oder 
Tausendstel  soviel  Käse  vom  Handel  „bewegt“  wurde  wie  heute. 

3.  Am  liebsten  hätte  ich  den  Abschnitt  über  das  Recht,  in  Sonder¬ 
heit  das  Gesellschaftsrecht  des  mittelalterlichen  Handels,  in 
manchen  Punkten  verbessern,  nach  manchen  Seiten  hin  vertiefen 
mögen.  Ich  werde  einiges  nachholen,  wenn  ich  im  zweiten  Bande 
die  Entwicklung  der  Handelsgesellschaften  während  des  frühkapitalisti¬ 
schen  Zeitalters  zur  Sprache  bringe.  Aber  in  der  Grundauffassung 
bin  ich  auch  hier  nicht  wankend  gemacht  worden,  so  berechtigt  manche 
Einwendungen  meiner  juristischen  Kritiker,  namentlich  in  den  aus¬ 
gezeichneten  Arbeiten  Silberschmidts,  zu  sein  scheinen.  Eher 
haben  gerade  die  Ausführungen  dieses  scharfsinnigen  und  kenntnis¬ 
reichen  Forschers  in  den  entscheidenden  Punkten  meine  Ansichten 
zu  bekräftigen  beigetragen,  wie  ich  denn  glaube  daß  unsere  Meinungen 
nicht  weiter  auseinandergehen,  als  es  der  mehr  juristischen  und  mehr 
soziologischen  Betrachtung  der  Dinge  entspricht. 

Ich  will  die  Kritik  S.s  hier  im  Wortlaut  in  ihren  Hauptpunkten 
wiedergeben : 

In  seinem  Aufsatze:  Das  Senden  und  Befehlen  der  Waren  nach 
der  kaufmännischen  Korrespondenz  des  15.  Jahrh.  im  Arch.  f.  bürg.  R. 
25  (1905),  S.  148  sagt  Silberschmidt:  „In  neuester  Zeit  hat 
W.  S.  den  Gegensatz  zwischen  handwerksmäßigem  und  kapitalistischem 
Betrieb  auch  in  der  Geschichte  des  Handels  untersuchend,  gerade 
hierin  den  schlechthin  handwerksmäßigen  Charakter  des  Handels  jener 
Zeit  gefunden  (sc.  daß  in  allen  Beteiligungsverhältnissen  die  Tätigkeit 
des  Auswärtigen  für  den  Abwesenden,  die  Arbeit  in  jener  Zeit  das 
Entscheidende  war).  Auch  wenn  man  das  zugeben  will,  so  wird  sich 
der  weitere  Satz,  daß  der  „Geldbesitzer  noch  außer  jedem  Kontakt 
mit  der  Handelstätigkeit  selbst  stehe,  die  vielmehr  Sache  eines  tech¬ 
nischen  Arbeiters  sei“,  nach  den  Quellen  nicht  aufrechterhalten 
lassen.  In  einer  späteren  Zeit  wird  von  Nichtkaufleuten  die  Kommenda 
als  Kapitalsanlage  benutzt,  aber  gerade  für  die  frühere  Zeit  ist  der 
Auftraggeber  immer  (?)  Kaufmann.  Daß  das  hingegebene  Geld  —  zuerst 
wurde  überhaupt  Ware  gegeben  —  niemals  den  Charakter  des  Kapitals, 
auch  im  S. sehen  Sinne,  gehabt  habe,  muß  ebenso  bezweifelt  werden 
vie  dei  Satz,  daß  das  Vorwiegen  gesellschaftlich  betriebener  Unter¬ 
nehmungen  den  besten  Beweis  für  die  Handwerksmäßigkeit  des  Be¬ 
triebes  bilde.  Im  Gegenteil  dürfte  sich  aus  der  obigen  Korrespondenz 
im  Zusammenhalt  mit  den  früheren  Quellen  der  Satz  rechtfertigen 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk  313 

lassen:  der  in  der  Natur  des  Handels  begründete  Di’ang,  über  die 
Bedürfnisbefriedigung,  über  die  Mannesnahrung  hinaus  die  vorhandenen 
Waren  möglichst  vorteilhaft  oft  und  rasch  (!)  zu  vefkaufen  und  zu 
vertauschen,  war  die  Veranlassung,  solche  Waren  auch  fremden  Leuten 
zu  senden,  und  zu  befehlen,  damit  sie  so  auch  an  einem  Orte,  an 
dem  der  Kaufmann  persönlich  nicht  sein  konnte,  umgesetzt  würden; 
um  diesen  Fremden  ein  höheres  Interesse  an  der  Sache  zu  geben, 
beteiligte  man  sie,  und  so  entstanden  partiarische  und  gesellschaftliche 
Verhältnisse.“ 

Darauf  erwidere  ich  folgendes:  Formell  hat  S.  zweifellos  recht,  wenn 
er  behauptet,  daß  die  Kommendanten  häufig  (sicher  nicht  immer)  selber 
Berufshändler  gewesen  wären.  Sachlich  wird  dadurch  meine  Behauptung 
nicht  entkräftet :  durch  die  Hingabe  einer  Geldsumme  (oder  einer  Ware 
zum  Verkauf)  an  einen  Handwerker-Händler,  auch  wenn  der  Geber  ein 
Berufshändler  ist-,  wird  der  handwerksmäßige  Charakter  des  Handels  noch 
keineswegs  aufgehoben.  Das  meinte  ich  mit  der  Trennung  von  Geld¬ 
geber  und  geldnehmendem  Händler,  daß  die  Leitung  des  Geschäfts 
damit  noch  nicht  auf  den  Geldgeber  übergeht.  Weder  dieser,  wenn 
er  ein  Handwerker  ist,  noch  der  in  die  Fremde  ziehende  Händler 
werden  kapitalistische  Unternehmer  bloß  durch  die  Tatsache,  daß  sie 
sich  vereinigen.  Silberschmidt  selbst  hat  uns  in  anschaulicher 
Weise  diese  Kommendaverhältnisse  geschildert.  Er  zeigt  (schon  in 
der  Schrift:  Die  Commenda  in  ihrer  frühesten  Entwicklung  bis  zum 
13.  Jahrhundert,  1884;  dann  im  Archiv  für  bürgerl.  Recht  Bd.  23 
und  Bd.  25),  wie  in  der  Kommenda  man  zuerst  nur  gelegentlich  und 
für  einzelne  Reisen,  später  immer  allgemeiner  einem  Verwandten  oder 
Freunde ,  der  selbst  die  Reise  machte ,  die  eigenen  Waren  kommen- 
dierte,  d.  h.  „anvertraute  im  eigenen  Interesse  des  Gebers“,  wobei 
der  Kommendatar  den  Auftrag  ganz  unentgeltlich  erfüllte  oder  in 
ehrenvoller  Weise  am  Ertrage  des  Unternehmens  beteiligt  wurde.  So 
entstand  das  Sendevegeschäft  und  daneben  die  Colleganza  (deutsch 
Kumpanei):  die  Vereinigung  mehrerer  Geldbeträge  zu  gemeinsamem 
Geschäft.  S.  vergleicht  mit  vollem  Recht  die  primitive  Commenda  der 
Socida,  dem  Viehverstellungsvertrag  (Arch.  f.  b.  R.  23,  7)  und  bemerkt 
einmal  (Arch.  f.  b.  R.  25,  147)  treffend:  wie  heute  noch  in  einfachen 
ländlichen  Verhältnissen  der  zur  „nächsten  Stadt  fahrende  Bauer  für 
seine  Mitbürger  Ein-  und  Verkäufe  mitbesorgt,  so  finden  wir  auch  hier 
Fälle  reiner  Gefälligkeit.  Diese  Tätigkeit  am  fremden  Orte  für  andere 
wird  aber  häufig  zu  einer  ständigen,  berufsmäßigen“  usw. 

Also,  denkbar  ist  jedenfalls  die  Form  der  verschiedenen  Ge¬ 
sellschaftsverträge  auch  im  Rahmen  handwerksmäßiger  Wirtschaft. 
Ihr  Vorkommen  an  sich  beweist  also  nichts  gegen  diese.  Und  da 
entsinne  ich  mich  nun  aller  der  Anzeichen,  die  sonst  für  den  hand¬ 
werksmäßigen  Charakter  des  mittelalterlichen  Handels  sprechen ,  er¬ 
innere  mich  der  winzig  kleinen  Commendabeträge,  des  geringen  Um¬ 
satzes ,  der  zunftmäßigen  Ordnung  usw.  usw.  und  komme  zu  dem 
Schlüsse:  auch  dieser  Gesellschaftshandel,  sei  es  in  Commenda-,  sei 
es  in  Societasform,  war  in  seinem  typischen  Vorkommen,  d.  h.  als 
Massenerscheinung,  noch  lange  Jahrhunderte  hindurch  Handwerk.  Wie 


314  Vierter  Abschnitt:  Das  Zeitalter  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

er  sich  allmählich  zu  kapitalistischen  Formen  entwickelte,  werde  ich 
selbst  im  zweiten  Bande  zu  zeigen  versuchen. 

*  * 

* 

Hier  möchte  ich  nur  noch  zwei  Bemerkungen  allgemeinerer  Art 
machen,  die  vielleicht  dazu  beitragen,  daß  sich  die  Spannung  zwischen 
der  juristischen  Kritik  und  mir  verringert. 

Ich  wies  schon  auf  die  verschiedene  Betrachtungsweise  des  Juristen 
und  des  soziologischen  Nationalökonomen  hin:  jenen  interessiert  im 
wesentlichen  die  Form,  uns  der  Inhalt  des  Wirtschaftslebens.  Zum 
Inhalt  gehört  in  erster  Linie  der  in  den  Wirtschaftssubjekten  lebendige 
Geist  und  gehört  die  Größenabmessung  der  Vorgänge  und  Zustände. 
Eine  und  dieselbe  Rechtsbeziehung  (wie  in  diesem  Falle  die  Com- 
menda)  kann  nun  einem  nach  Qualität  und  Quantität  ganz  und  gar 
verschiedenen  Wirtscbaftsakte  zugrunde  liegen.  Ob  ich  100  Mk.  oder 
100  000  Mk.  einem  Produzenten  darleihe,  damit  er  sie  in  seinem 
Geschäfte  verwende ,  macht  juristisch  keinen  Unterschied  aus ,  wenn 
die  Rechtsform  des  Geschäftes  die  gleiche  ist;  ökonomisch  begründet 
es  den  Wesensunterschied  der  beiden  Geschäfte. 

Sodann  aber  müssen  sich  die  Juristen  auf  dem  Laufenden  halten 
auch  auf  dem  Gebiete  der  nationalökonomisch-soziologischen  Forschung 
und  müssen  mit  den  Begriffen  vertraut  sein,  die  diese  im  Laufe  des 
letzten  Menschenalters,  namentlich  auch  für  die  historische  Forschung, 
ausgebildet  hat.  Es  ergeht  uns  eigenartig:  die  Historiker  werfen  uns 
vor,  daß  wir  zu  viele  Begriffe  und  zu  viele  „Theorien“  haben,  die 
Juristen  beklagen  sich  über  die  Unzulänglichkeit  unserer  Begriffs¬ 
bildung.  Diesen  Vorwurf  einer  starken  Rückständigkeit  national¬ 
ökonomischer  Begriffe  hat  z.  B.  Lästig  in  seinen  handelsrechts¬ 
geschichtlichen  Arbeiten  öfters  erhoben.  So  sagt  er  z.  B.  in  der  Zeit¬ 
schrift  f.  d.  ges.  HR.  24,  408 :  „Die  Wirtschaftslehre  operiert  mit  den 
Begriffen  Kapital  und  Arbeit,  die  Rechtslehre  dagegen  mit  unendlich 
feineren  Terminis.“  Damals,  als  er  seine  grundlegenden  Forschungen 
veröffentlichte  (1879),  hatte  Lästig  mit  solchem  Vorwurf  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  Recht.  Seitdem  ist  nun  aber  auch  bei  uns  gearbeitet 
worden,  und  das  scheinen  viele  Rechtshistoriker  unbeachtet  zu  lassen. 
Sie  verwenden,  wenn  sie  auf  wirtschaftliche  Verhältnisse  zu  sprechen 
kommen,  oft  noch  heute  solch  simplizistische  Begriffe  wie  „Geldwirt¬ 
schaft“,  „Kapital“  (im  Sinne  von  Geld  oder  Produktionsmitteln),  sprechen 
vom  „Handel“  als  einer  einförmigen  Erscheinung  usw. 

Um  nur  ein  Beispiel  aus  den  letzten  Jahren  anzuführen,  will  ich  auf 
einige  Sätze  aus  einer  im  übrigen  vortrefflichen  rechtsgeschichtlichen 
Arbeit  Haemanns  (in  der  Zeitschrift  f.  d.  ges.  HR.  68  [1910],  467) 
hinweisen.  Sie  lauten:  „Damit  (mit  dem  Beginn  der  Tauschwirtschaft; 
seit  dem  8.  Jahrh.)  wird  aber  auch  das  gesamte  Leben  in  neue  Bahnen 
gelenkt,  in  jene,  in  denen  es  sich  noch  heute  fast  ausschlie߬ 
lich  bewegt,  nämlich  in  die  Bahnen  (!)  des  Handels  (!).  Daß  dieser 
bald  zu  einer  so  üppigen  Entfaltung  gelangen  konnte,  ist  dem  Um¬ 
stande  zuzuschreiben ,  daß  er  sich  als  ein  vorzügliches  Mittel  zur 
Mehrung  des  Wohlstandes  (!)  erwies,  worauf  es  in  der  Hauptsache 


Achtzehntes  Kapitel:  Der  Handel  als  Handwerk 


315 


ankam  (!).  Wo  nun  die  Kräfte  des  einzelnen  nicht  ausreichten,  um 
zum  heißersehnten  Ziele  (1),  zu  großem  Reichtum  zu  gelangen,  da 
suchte  er  den  Anschluß  an  andere  Gleichgesinnte ,  und  die  fanden 
sich  sehr  bald(!)“,  „in  der  Zeit,  in  der  sich  auf  dem  Gebiete  der 
allgemeinen  (!)  Volkswirtschaft  jene  grundlegende  Umwälzung  vollzog, 
die  zur  Annahme  einer  besonderen  Entwicklungsstufe  in  der  Ge¬ 
schichte  der  VW,  geführt  hat,  unter  der  Herrschaft  des  Geld-  und 
Kreditwesens  (!)...“ 

Wenn  wir  in  solchen  allgemeinen,  nichtssagenden  Redensarten  über 
juristische  Dinge  schreiben  wollten,  würde  die  Rechtshistoriker  gewiß 
ein  Schrecken  anwandeln.  Dann  sollen  sie  aber  sich  auch  gewöhnen, 
unsere  Probleme  in  der  strengen  Begriffssystematik  zu  behandeln, 
die  wir  nun  allmählich  herausgebildet  haben.  Ich  zweifle  nicht,  daß 
das  zum  Einanderverstehen  wesentlich  beitragen  wird. 


- 


Zweites  Buch 


Die  historischen  Grundlagen 
des  modernen  Kapitalismus 


. 


\ 


319 


Erster  Abschnitt 

Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 

Neunzehntes  Kapitel 

Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem 

Ich  zeichne  zunächst,  ehe  ich  die  Entstehung  der  kapitalisti¬ 
schen  Wirtschaft  verfolge,  die  Idee  dieser  Wirtschaftsweise,  wie 
sie  im  kapitalistischen  Wirtschaftssystem  erscheint,  in  begriff¬ 
licher  Reinheit. 

I.  Begriff 

Unter  Kapitalismus  verstehen  wir  ein  bestimmtes  Wirtschafts¬ 
system1,  das  folgendermaßen  sich  kennzeichnen  läßt:  es  ist  eine 
verkehrswirtschaftliche  Organisation,  bei  der 
regelmäßig  zwei  verschiedene  Bevölkerungsgruppen: 
die  Inhaber  der  Produktionsmittel,  die  gleichzeitig 
die  Leitung  haben,  Wirt  Schafts  Subjekte  sind  und 
besitzlose  Nurarbeiter  (als  Wirtschaftsobjekte), 
durch  den  Markt  verbunden,  Zusammenwirken,  und 
die  von  dem  Erwerbsprinzip  und  dem  ökonomischen 
Rationalismus  beherrscht  wird. 

Die  verkehrswirtschaftliche  Organisation,  zu  der  Einzel-  oder 
Privatwirtschaft,  Berufsdifferenzierung  zwischen  den  einzelnen 
Wirtschaften  und  marktmäßige  Verknüpfung  gehören,  hat  der 
Kapitalismus  also  mit  dem  Handwerk  gemein2);  morphologisch 
unterscheidet  er  sich  von  diesem  durch  die  soziale  Differenzierung 
des  persönlichen  Produktionsfaktors  in  die  beiden  Bestandteile 
des  leitenden  und  ansführenden  Arbeiters,  die  sich  gleichzeitig  als 


1  Siehe  das  3.  Kapitel. 

2  Zur  Ergänzung  dieses  Kapitels  dient  meine  Darstellung  im 
4.  Bande  des  Grundrisses  der  Sozialökonomik,  wo  ich  alle, 
hier  nur  in  den  Grundzögen  gezeichneten ,  Gedanken  ausführlicher 
entwickelt  habe. 


320  Erster  Abschnitt:  Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 

Besitzer  der  Produktionsmittel  und  technische  Nurarbeiter  gegen¬ 
übertreten  und  sich  vom  Markte  zu  der  notwendigen  Vereinigung 
im  Produktionsprozesse  zusammenführen  lassen  müssen. 

Die  herrschenden  Wirtschaftsprinzipien  sind  das 
Erwerbsprinzip  und  der  ökonomische  Eationalismus,  die  an  die 
.Stelle  der  Prinzipien  der  Bedarfsdeckung  und  des  Traditionalismus 
treten,  die,  wie  wir  sahen,  Eigenwirtschaft  und  Handwerk  beseelen. 

Ich  habe  die  Wesenheit  dieser  Wirtschaftsprinzipien  schon 
in  der  Einleitung  dargetan  und  füge  zur  Ergänzung  des  dort 
Gesagten  folgendes  hinzu: 

Die  Eigenart  des  Erwerbsprinzips  äußert  sich  darin, 
daß  unter  seiner  Herrschaft  der  unmittelbare  Zweck  des  Wirt¬ 
schaften  nicht  mehr  die  Bedarfsbeffiedigung  eines  lebendigen 
Menschen,  sondern  ausschließlich  die  Vermehrung  einer  Geld¬ 
summe  ist.  Diese  Zwecksetzung  ist  der  Idee  der  kapitalistischen 
Organisation  immanent ;  man  kann  also  die  Erzielung  von  Gewinn 
(das  heißt  die  Vergrößerung  einer  Anfangssumme  durch  wirt¬ 
schaftliche  Tätigkeit)  als  den  objektiven  Zweck  der  kapitalisti¬ 
schen  Wirtschaft  bezeichnen,  mit  dem  (zumal  bei  vollentwickelter 
kapitalistischer  Wirtschaft)  die  subjektive  Zwecksetzung  des 
einzelnen  Wirtschaftssubjektes  nicht  notwendig  zusammenzufallen 
braucht x). 

Der  ökonomische  Eationalismus,  das  heißt  also  die 
grundsätzliche  Einstellung  aller  Handlungen  auf  höchstmögliche 
Zweckmäßigkeit,  äußert  sich  in  dreifacher  Weise: 

1.  als  Planmäßigkeit  der  Wirtschaftsführung; 

2.  als  Zweckmäßigkeit  im  engeren  Sinne; 

3.  als  Eechnungsmäßigkeit. 

Die  Planmäßigkeit  bringt  in  das  kapitalistische  Wirtschafts¬ 
system  das  Wirtschaften  nach  weitausschauenden  Plänen;  die 
Zweckmäßigkeit  sorgt  für  die  richtige  Mittelwahl;  die  Eechnungs¬ 
mäßigkeit  für  die  exakt-ziffernmäßige  Berechnung  und  Eegistrie- 
rung  aller  wirtschaftlichen  Einzelerscheinungen  und  ihre  rechne¬ 
rische  Zusammenfassung  zu  einem  sinnvoll  geordneten  Zahlen¬ 
systeme. 

1  Diese  komplizierten,  dem  gemeinen  Verstände  nicht  sichtbaren 
Zusammenhänge  habe  ich  klargelegt  an  dem  in  der  vorigen  Anmerkung- 
genannten  Orte.  Dortselbst  findet  der  Leser  auch  die  erst  für  das 
Verständnis  der  hochkapitalistischen  Wirtschaft  notwendige  Ent¬ 
wicklung  der  in  der  Erwerbsidee  eingeschlossenen  Entwicklungsformen 
der  wirtschaftlichen  Orientierung. 


Neunzehntes  Kapitel;  Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem  321 

II.  Die  kapitalistische  Unternehmung' 

Die  Wirtschaftsform  des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems 
ist  die  kapitalistische  Unternehmung.  Sie  bildet  eine  abstrakte 
Einheit:  das  Geschäft.  Ihr  Zweck  ist  die  Erzielung  von  Ge¬ 
winn.  Das  eigentümliche  Mittel  zur  Erfüllung  dieses  Zwecks 
ist  die  Vertragschließung  über  geldwerte  Leistungen  und  Gegen¬ 
leistungen.  Jedes  technische  Problem  muß  sich  im  Rahmen 
der  kapitalistischen  Unternehmung  in  einen  Vertragsabschluß 
auflösen  lassen,  auf  dessen  vorteilhafte  Gestaltung  alles  Sinnen 
und  Trachten  des  kapitalistischen  Unternehmers  gerichtet  ist. 
Mögen  Arbeitsleistungen  gegen  Sachgüter  oder  Sachgüter  gegen 
Sachgüter  eingetauscht  werden;  immer  kommt  es  darauf  an, 
daß  am  letzten  Ende  jenes  Plus  an  Tauschwert  (Geld)  in  den 
Händen  des  kapitalistischen  Unternehmers  zurückbleibt,  auf 
dessen  Erlangung  seine  ganze  Tätigkeit  eingestellt  ist.  Alle  Vor¬ 
gänge  der  Wirtschaft  verlieren  dadurch  ihre  qualitative  Färbung 
und  werden  zu  reinen  in  Geld  ausdrückbaren  und  ausgedrückten 
Quantitäten.- 

Die  kapitalistische  Unternehmung  weist  verschiedene 
Formen  auf,  die  wir  wie  folgt  unterscheiden  können1: 

1.  nach  dem  Inhalte  der  in  einer  Unternehmung: 
verrichteten  Tätigkeit: 

a)  Unternehmungen  zur  Erzeugung  von  Sachgütern; 

b)  Unternehmungen  zur  Übermittlung  von  Sachgütern; 

c)  Unternehmungen  zur  Darbietung  von  Diensten; 

d)  Unternehmungen  zur  Bereitstellung  genußreicher  Sachgüter ; 

e)  Unternehmungen  zur  Gewährung  oder  Vermittlung  von 
Kredit ; 

f)  Unternehmungen  mit  einem  aus  a  bis  e  verschieden  kom¬ 
binierten  Inhalt. 

2.  nach  der  Bildung  des  Unternehmungskapitals: 

a)  Einzeluntemekmimgen,  die  auf  dem  Vermögen  einer  Person 
beruhen ; 

b)  Kollektivunternehmungen,  deren  Kapital  mehrere  Personen 
zusammengeschossen  haben. 

3.  nach  der  Stellung  des  Unternehmers  zum  Ar¬ 
beiter: 

1  Ausführlich  in  der  1.  Aufl.  S.  199  ff.  und  im  GDS.  Vgl.  auch 
das  Kapitel  im  2.  Bande :  „Die  Entstehung  der  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmung“. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus,  t.  21 


322  Erster  Abschnitt:  Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 

Da  es  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  folgenden  Buches 
ist,  zu  zeigen,  wie  sich  aus  lockeren  Gel egenheits Verknüpfungen 
zwischen  Geldgeber  und  Arbeiter  die  kapitalistische  Unter¬ 
nehmung  als  Arbeitsorganisation  historisch  aufbaut,  so  werde 
ich,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  die  verschiedenen  theo¬ 
retischen  Möglichkeiten  der  Stellung  des  Unternehmers  zum 
Arbeiter  dort  behandeln,  wo  ich  den  empirischen  Werdegang 
der  verschiedenen  Arbeitsorganisationen  zur  Darstellung  bringe. 

4.  nach  der  Stellung  des  Unternehmens  zur  öffent¬ 
lichen  Gewalt: 

a)  freie  Unternehmungen,  die  völlig  unabhängig  von  der  öffent¬ 
lichen  Gewalt  sind; 

b)  gebundene  Unternehmungen,  die  in  irgendwelcher  umnittel¬ 
baren  Abhängigkeit  von  der  öffentlichen  Gewalt  stehen; 
besonderer  Fall:  die  gemischt- Öffentlichen  Unternehmungen. 

IU.  Die  Funktionen  des  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmers 

sind *  1 : 

1.  organisatorische 

Da  das  Werk,  das  der  Unternehmer  vollbringt,  stets  ein  Werk 
ist,  bei  dem  andere  Menschen  mithelfen,  da  also  andere  Menschen 
seinem  Willen  dienstbar  zu  machen  sind,  damit  sie  mit  ihm  Zu¬ 
sammenwirken,  so  muß  der  Unternehmer  vor  allem  ein  Organi¬ 
sator  sein. 

Organisieren  heißt:  viele  Menschen  zu  einem  glücklichen, 
erfolgreichen  Schaffen  zusammenfugen;  heißt  Menschen  und  Dinge 
so  disponieren,  daß  die  gewünschte  Nutzwirkung  uneingeschränkt 
zutage  tritt.  Darin  ist  wieder  ein  sehr  mannigfaches  Vermögen 
und  Handeln  eingeschlossen.  Zum  ersten  muß,  wer  organisieren 
will,  die  Fähigkeit  besitzen,  Menschen  auf  ihre  Leistungsfähigkeit 
hin  zu  beurteilen,  die  zu  einem  bestimmten  Zweck  geeigneten 
Menschen  also  aus  einem  großen  Haufen  herauszufinden.  Dann 
muß  er  das  Talent  haben,  sie  statt  seiner  arbeiten  zu  lassen,  und 
zwar  so,  daß  jeder  an  der  richtigen  Stelle  steht,  wo  er  das 
Maximum  von  Leistung  vollbringt,  und  alle  immer  so  anzutreiben, 
daß  sie  die  ihrer  Leistungsfähigkeit  entsprechende  Höchstsumme 
von  Tätigkeit  auch  wirklich  entfalten.  Endlich  liegt  es  dem 
Unternehmer  ob,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  die  zu  gemeinsamer 

1  Ausführliches  siehe  in  meinem  Bourgeois,  70  ff.  Vgl.  auch 

1.  Anfl.  1,  197  ff. 


Neunzehntes  Kapitel:  Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem  323* 

Wirksamkeit  vereinigten  Menschen  auch  zu  einem  leistungsfähigen 
Ganzen  zusammengefügt  werden,  daß  das  Nebeneinander  und  das 
Über-  und  Untereinander  der  einzelnen  Teilnehmer  an  dem  Werke 
wohlgeordnet  sei,  und  daß  ihre  Tätigkeiten  nacheinander  richtig 
ineinander  greifen:  „Sammlung  der  Kräfte  im  Kaum“;  „Ver¬ 
einigung  der  Kräfte  in  der  Zeit“,  wie  es  Clausewitz  vom  Feld¬ 
herrn  verlangt. 

2.  händlerische 

Die  Beziehungen,  die  der  Unternehmer  mit  Menschen  eingeht, 
sind  noch  anderer  Art,  als  sie  mit  dem  Worte  „organisieren“ 
bezeichnet  werden.  Er  hat  seine  Leute  selbst  erst  anzuwerben; 
er  hat  dann  unausgesetzt  fremde  Menschen  seinen  Zwecken 
dienstbar  zu  machen,  indem  er  sie  zu  gewissen  Handlungen  oder 
Unterlassungen  anders  als  durch  Zwangsmittel  anhält:  Zu  diesem 
Behufe  muß  er  „verhandeln“:  Zwiesprache  halten  mit  einem 
andern,  um  ihn  durch  Beibringung  von  Gründen  und  Wider¬ 
legung  seiner  Gegengründe  zur  Annahme  eines  bestimmten  Vor¬ 
schlags,  zur  Ausführung  oder  Unterlassung  einer  bestimmten 
Handlung  zu  bewegen.  Verhandeln  heißt  ein  ßingkampf  mit 
geistigen  Waffen. 

Der  Unternehmer  muß  also  auch  ein  guter  Ver handle r, 
Unterhändler,  Händler  sein,  -wie  wir  denselben  Vorgang 
in  verschiedener  Nuancierung  ausdrücken.  Der  Händler  im 
engeren  Sinne,  das  heißt  der  Verhandler  in  wirtschaftlichen  An¬ 
gelegenheiten,  ist  nur  eine  der  vielen  Erscheinungen,  in  denen 
der  Verhandler  auffcritt. 

Immer  handelt  es  sich  darum,  Käufer  (oder  Verkäufer)  von 
der  Vorteilhaftigkeit  des  Vertragsabschlusses  zu  überzeugen. 
Das  Ideal  des  Verkäufers  ist  dann  erreicht,  wenn  die  ganze  Be¬ 
völkerung  nichts  mehr  für  wichtiger  erachtet  als  den  von  ihm 
gerade  angepriesenen  Artikel  einzukaufen.  Wenn  sich  der 
Menschenmassen  eine  Panik  bemächtigt,  nicht  rechtzeitig  mehr 
zum  Erwerb  zu  kommen  (wie  es  der  Fall  ist  in  Zeiten  fieber¬ 
hafter  Erregung  auf  dem  Effektenmärkte). 

Interesse  erregen,  Vertrauen  erwerben,  die  Kauflust  wecken: 
in  dieser  Klimax  stellt  sich  die  Wirksamkeit  des  glücklichen 
-  Händlers  dar.  Womit  er  das  erreicht,  bleibt  sich  gleich.  Genug, 
daß  es  keine  äußeren,  sondern  nur  innere  Zwangsmittel  sind, 
daß  der  Gegenpart  nicht  wider  Willen,  sondern  aus  eigenem 
Entschlüsse  den  Pakt  eingeht.  Suggestion  muß  die  Wirkung 
des  Händlers  sein.  Der  inneren  Zwangsmittel  aber  gibt  es  viele. 


324  Erster  Abschnitt:  Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 

3.  rechnerisch-haushälterische 

Sind  die  vorbenannten  Funktionen  allem  Unternehmertum 
eigen ,  so  hat  der  kapitalistische  Unternehmer  die  spezifische 
Funktion,  das  Rechnen  (Kalkulieren),  auszuüben.  Da  sich  seine 
Tätigkeit  in  Vertrags chließung  über  geldwerte  Leistungen  und 
Gegenleistungen  auflöst,  so  muß  er  den  Inhalt  jedes  Vertrages 
sofort  in  einer  Geldsumme  sich  vorzustellen  wissen,  die  in  be¬ 
ständigem  Einnehmen  und  Ausgeben  schließlich  ein  Aktiv-Saldo 
ergeben  müssen:  diese  Funktion  aber  nennen  wir  Rechnen.  Wo 
das  Rechnen  ein  Rechnen  mit  unbekannten  Größen  ist,  sprechen 
wir  von  Spekulation.  Er  muß  aber  ebenso  ein  guter  Haushalter 
sein ,  da  nur  durch  bedachte  Sparsamkeit  das  oberste  Ziel  der 
kapitalistischen  Unternehmung  erreicht  wird. 

IV.  Das  Kapital  und  seine  Verwertung 

Die  einer  kapitalistischen  Unternehmung  als  sachliche  Unter¬ 
lage  dienende  Tauschwertsumme  ist  das  Kapital.  Dieses  be¬ 
ginnt  und  endigt  in  der  Form  des  Geldes,  während  es  dazwischen 
in  wechselnden  Formen  als  Produktionsmittel  oder  Ware  er¬ 
scheint. 

Wir  nennen  Produktionszeit  diejenige  Zeit,  während  welcher 
das  Kapital  sich  in  der  Produktionssphäre,  Umlaufszeit,  während 
welcher  es  in  der  Zirkulationssphäre  sich  aufhält.  Umschlagszeit 
ist  die  Summe  von  Produktions-  und  Umlaufszeit1. 

AVir  nennen  Realkapital  dasjenige,  das  zum  Ankauf  von  Pro¬ 
duktionsmitteln,  Personalkapital  dasjenige,  das  zum  Ankauf  von 
Arbeitskräften  dient.  Diese  wichtige  Unterscheidung  tritt  er¬ 
gänzend  neben  die  übliche  Einteilung  in  fixes  oder  stehendes 
und  zirkulierendes  oder  umlaufendes  Kapital1. 

Das  in  einer  Unternehmung  angelegte  Kapital  zu  „verwerten“, 
das  heißt  mit  einem  Aufschlag  (Gewinn,  Profit)  zu  reproduzieren, 
ist  also  der  Zweck  der  kapitalistischen  AVirtschaft.  Die  Möglich¬ 
keiten,  den  Profit  eines  Kapitals  von  gegebener  Größe  zu  steigern, 
sind  aber  folgende: 

I.  Ist  die  Gewinnquote  am  einzelnen  Produkt  gegeben,  so 
entscheidet  über  die  Höhe  des  Profits  die  Menge  der  m  einer 
gegebenen  Zeit  hergestellten  Pr  o  dukteinheiten: 
diese  wird  vergrößert  durch  Beschleunigung  (Intensivierung) 


1  Ausführlicher  in  der  1.  Aufl.  1,  204  ff. 


325 


Neunzehntes  Kapitel:  Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem 

des  Produktionsprozesses,  kapitalistisch  ausgedrückt:  durch  Be¬ 
schleunigung  des  Kapitalumschlags. 

II.  Ist  die  Menge  der  in  einer  bestimmten  Zeit  herstellbaren 
Güter  gegeben,  so  entscheidet  über  die  Höhe  des  Profits  die 
Gewinnquote  am  einzelnen  Produkt.  Diese  wird  ge¬ 
bildet  durch  die  Differenz  zwischen  Verkaufspreis  und  Kosten. 
Das  Streben  ist  also  auf  Vergrößerung  dieser  Differenz  gerichtet. 
Diese  Vergrößerung  kann  grundsätzlich  auf  zweifache  Weise 
bewirkt  werden: 

1.  dxirch  Steigerung  der  Verkaufspreise:  diese  findet 
ihre  Grenze  in  der  Notwendigkeit,  den  Konkurrenten  im  Preise 
zu  unterbieten.  Daraus  ergibt  sich  für  das  Kapital  die  Anti¬ 
nomie:  möglichst  teuer  und  möglichst  billig  zugleich  zu  ver¬ 
kaufen.  Eine  Lösung  dieser  Antinomie  wird  angestrebt  durch 
künstliche  Ausschaltung  der  Konkurrenz,  sei  es  auf  gesetzlichem 
Wege  (Monopolisierung,  Privilegisierung  usw.)  oder  auf  dem  Wege 
der  gegenseitigen  Verständigung:  Tendenz  zu  Preisverabredungen, 
Kartellbildung  usw.  Lassen  sich  die  Preise  nicht  erhöhen,  so 
bleibt  übrig  als  letztes  Mittel,  den  Profit  zu  steigern: 

2.  die  Verringerung  der  Kosten.  Diese  kann  erzielt 
werden : 

a)  durch  P  r  o  d  u  k  t  i  o  n  s  v  e  r  b  i  1 1  i g  u  n  g ,  das  heißt  dadurch, 
daß  man  durch  Steigerung  der  Produktivität  mit  demselben  Auf¬ 
wand  mehr  Güter  herstellt.  Die  Steigerung  der  Produktivität 
erfolgt : 

a)  durch  Vervollkommnung  des  Arbeitsprozesses  (der  Betriebs¬ 
organisation), 

ß)  durch  Vervollkommnung  der  Technik; 

b)  durch  Produktionsfaktoren  Verbilligung,  das 
heißt  dadurch,  daß  man  ein  gleiches  Quantum  Produkt  mit  ge¬ 
ringerem  Aufwande  herstellt,  ohne  eine  gleichzeitige  Steigerung 
der  Produktivität,  also  lediglich  durch  Ersparnisse,  die  man  an 
den  Auslagen  für  Beschaffung  der  Produktionsfaktoren  macht; 
und  zwar 

a)  an  den  sachlichen  Produktionsfaktoren:  durch 
vorteilhaften  Bezug,  sorgfältige  Konservierung  usw.,  Ver¬ 
wertung  der  Abfälle  usw.. 

ß)  an  den  persönlichen  Produktionsfaktoren. 

aai)  durch  Herabsetzung  des  Entgelts  für  die  gleiche  Arbeits¬ 
leistung  (Lohndruck,  Beschäftigung  billigerer  Arbeits¬ 
kräfte  wie  Kinder  und  Frauen), 


326  Erster  Abschnitt:  Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 

ßß)  durch  Steigerung  der  Arbeitsleistung  bei  gleichem  Ent¬ 
gelt,  sei  es  durch  Extensivisierung  der  Arbeit  (Ver¬ 
längerung  der  Arbeitszeit),  sei  es  durch  Intensivisierung 
der  Arbeit  (strengere  Aufsicht,  Akkordlohn  usw.). 

IV.  Die  Bedingungen  kapitalistischer  Wirtschaft 

Wie  jede  besondere  Art  zu  wirtschaften  ist  auch  der  Kapitalis¬ 
mus  an  die  Erfüllung  bestimmter,  sei  es  in  dem  wirtschaftenden 
Menschen,  sei  es  in  der  Umwelt  gelegener  Bedingungen  ge¬ 
knüpft.  Diese  festzustellen,  stehen  uns^zwei  Wege  offen:  wir 
können  entweder  Umstände  aufzählen,  die  jeder  Kapitalismus 
theoretisch  voraussetzt,  damit  er  da  sein  könne.  Diesen  Weg 
habe  ich,  als  ich  das  Handwerk  darstellte,  in  diesem  Werke 
(siehe  Kapitel  13),  bezüglich  des  Kapitalismus  in  meiner  Ab¬ 
handlung  im  GDS.,  beschritten.  Oder  aber,  wir  können  diejenigen 
Ereignisse  feststellen,  deren  Eintritt  eine  historische  Erscheinungs¬ 
form  des  Kapitalismus,  den  „modernen“  Kapitalismus  möglich 
gemacht  und  zur  Entwicklung  gebracht  haben.  Das  ist  der  Weg, 
den  wir  hier  zu  gehen  haben.  Denn  wir  wollen  uns  der  Gesamt¬ 
anlage  dieses  Werkes  erinnern,  das  sich  zur  Aufgabe  gestellt  hat, 
das  Werden  und  Wachsen  der  unserer  Zeit  und  unseren  Völkern 
angehörigen  kapitalistischen  Wirtschaftsweise  zu  schildern.  Da 
liegt  es  uns  nunmehr  also  ob,  zu  verfolgen:  wie  aus  den  uns 
bekannten  Wirtschaftsformen  des  europäischen  Mittelalters  in 
langsamer  Umbildung  der  moderne  Kapitalismus  hervorgegangen 
ist.  Und  gerade  der  Nachweis ,  wie  sich  die  für  seine  Ent¬ 
stehung  unerläßlichen  Vorbedingungen  erfüllt  haben,  ist  zu  dem 
Hauptproblem  in  diesem  Bande  gemacht  worden.  Die  eigenartige 
historisch  engbegrenzte  Fragestellung  ist  somit  diese:  nachdem 
die  Wirtschaft  der  europäischen  Völker  die  besondere  Form  der 
feudal-handwerksmäßigen  während  des  Mittelalters  angenommen 
hatte,  die  wir  also  als  gegeben  setzen,  nachdem  der  neue  Geist 
den  Willen  zum  Kapitalismus  aus  sich  geboren  hatte:  welche 
Umstände  sind  zusammengetroffen,  die  es  ermöglicht  haben,  daß 
jener  Wille  zum  Ziele  gelangt  ist.  Darüber  ist  ein  Mehreres  im 
Zusammenhänge  zu  bemerken. 


327 


Zwanzigstes  Kapitel 

Das  Werden  des  Kapitalismus 

I.  Die  treibenden  Kräfte 

Aus  dem  tiefen  Grunde  der  europäischen  Seele  ist  der  Kapi¬ 
talismus  erwachsen. 

Derselbe  Geist,  aus  dem  der  neue  Staat  und  die  neue  Religion, 
die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Technik  geboren  werden: 
er  schafft  auch  das  neue  Wirtschaftsleben.  Wir  wissen:  es  ist 
ein  Geist  der  Irdischheit  und  Weltlichkeit;  ein  Geist  mit  un¬ 
geheurer  Kraft  zur  Zerstörung  alter  Naturgebilde,  alter  Gebunden¬ 
heiten,  alter  Schranken,  aber  auch  stark  zum  Wiederaufbau  neuer 
Lebensformen,  kunstvoller  und  künstlicher  Zweckgebilde.  Es 
ist  jener  Geist,  der  seit  dem  ausgehenden  Mittelalter  die  Menschen 
aus  den  stillen,  organisch  gewachsenen  Liebes-  und  Gemeinschafts - 
beziehungen  herausreißt  und  sie  hinschleudert  auf  die  Bahn 
ruheloser  Eigensucht  und  Selbstbestimmung. 

Erst  in  diesem  und  jenem  starken  Menschen  Wurzel  schlagend 
und  ihn  hinausjagend  aus  der  Masse  ruheliebender,  bequemer  Ge¬ 
nossen;  dann  immer  weitere  Kreise  erfüllend,  belebend,  bewegend. 

Es  ist  Faustens  Geist:  der  Geist  der  Unruhe,  der  Unrast, 
der  nun  die  Menschen  beseelt.  „Ihn  treibt  die  Gährung  in  die 
Ferne...“  Will  man  es  Unendlichkeitsstreben  nennen,  was  wir 
hier  sich  betätigen  sehen,  so  hat  man  Recht,  weil  das  Ziel  ins 
Grenzenlose  hinausverlegt  ist,  weil  alle  natürlichen  Maße  der 
organischen  Gebundenheiten  als  unzulänglich,  beengend  von  den 
Vorwärtsdringenden  empfunden  werden.  Will  man  es  Macht¬ 
streben  nennen,  so  wird  man  auch  nichts  Falsches  sagen;  denn 
aus  einem  tiefsten  Grunde,  in  den  unsere  Erkenntnis  nicht  hinab¬ 
zublicken  vermag,  quillt  dieser  unbeschreibliche  Drang  des  ein¬ 
zelnen  Starken,  sich  durchzusetzen,  sein  Selbst  gegen  alle  Ge¬ 
walten  trotzig  zu  behaupten,  die  andern  seinem  Willen  und 
seinen  Taten  zu  unterwerfen,  den  wir  als  Willen  zur  Macht  be¬ 
zeichnen  können.  Will  man  es  Unternehmungs drang  nennen,  so 
drückt  man  gewiß  auch  überall  dort  etwas  Richtiges  aus,  wo 
jener  Wille  zur  Macht  die  Mitwirkung  anderer  zur  Vollbringung 
eines  gemeinsamen  Werkes  erheischt,  Die  „Unternehmenden 


328  Erster  Abschnitt:  Wesen  uud  Werden  des  Kapitalismus 

sind  es,  die  sicli  die  Welt  erobern;  die  Schaffenden,  die  Leben¬ 
digen:  die  Nicht-Beschaulichen,  Nicht-Genießenden,  Nicht- Welt¬ 
flüchtigen,  Nicht- Weltvemein  enden. 

Wir  wissen  es:  auf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Lebens 
ringt  dieser  neue  „unternehmende“  Geist  sich  zur  Herrschaft 
durch.  Im  Staate  vor  allem:  da  heißt  sein  Ziel:  erobern, 
herrschen.  Aber  ebenso  gut  wird  er  in  der  Religion,  in  der 
Kirche  lebendig:  hier  will  erbefreien,  entfesseln;  in  der  Wissen¬ 
schaft:  hier  will  er  enträtseln;  in  der  Technik:  da  will  er  er¬ 
finden  ;  auf  der  Erdoberfläche :  da  will  er  entdecken. 

Dieser  selbe  Geist  beginnt  nun  auch  das  Wirtschaftsleben  zu 
beherrschen.  Er  durchbricht  die  Schranken  der  auf  geruhsamer 
Genügsamkeit  aufgebauten,  sich  selbst  im  Gleichgewicht  haltenden, 
statischen,  feudal  -  handwerksmäßigen  Bedarfsdeckungs-Wirtschaft 
und  treibt  die  Menschen  in  die  "Wirb  e  1  der  Erwerbs  Wirtschaft 
hinein.  Erobern  heißt  hier  im  Gebiete  des  materiellen  Strebens 
erwerben:  eine  Geldsumme  vergrößern.  Und  nirgends  findet  das 
Unendlichkeitsstreben,  findet  das  Machtstreben  ein  seinem  inner¬ 
sten  Wesen  so  sehr  gemäßes  Feld  der  Betätigung  wie  in  dem 
Jagen  nach  dem  Gelde,  diesem  völlig  abstrakten,  aller  organisch¬ 
natürlichen  Begrenztheit  enthobenen  Wertsymbole,  dessen  Besitz 
dann  immer  mehr  auch  als  Machtsymbol  erscheint. 

Ich  habe  an  anderer  Stelle  ausführlich  dargetan,  wie  sich 
diese  Gier  nach  Gold  und  Geld  zunächst  und  lange  Zeit  hin¬ 
durch  neben  dem  Wirtschaftsleben  ein  Bett  gräbt  und  zu  einer 
Reihe  von  Erscheinungen  führt,  die  mit  dem  Wirtschaftsleben 
nichts  zu  tun  haben ,  da  die  Menschen  zunächst  das  Gold  oder 
das  Geld  außerhalb  des  Kreises  ihrer  normalen  wirtschaftlichen 
Betätigung  zu  erlangen  trachten.  Es  sind  jene  für  die  letzten 
Jahrhunderte  des  Mittelalters  und  die  ersten  Jahrhunderte  der 
neuen  Zeit  charakteristischen  Massenphänomenen : 

a)  des  Raubrittertums ; 

b)  der  Schatzgräberei ; 

c)  der  Alchymie ; 

d)  der  Projektenmacherei; 

e)  des  Darlehnswuchers. 

Dann  aber  dringt  dieser  Geist  der  Eroberung  auch  in  das 
Wirtschaftsleben  ein,  und  damit  tritt  der  Kapitalismus  in  die 
Erscheinung:  jenes  Wirtschaftssystem,  das  in  wunderbar  kunst¬ 
voller  Weise  dem  Unendlichkeitsstreben,  dem  Willen  zur  Macht 
dem  Unternehmungsgeiste  auch  und  gerade  im  Gebiete  der  All- 


Zwanzigstes  Kapitel:  Das  Werden  des  Kapitalismus  329 

tagssorge  für  den  Unterhalt  ein  besonders  fruchtbares  Feld  der 
Betätigung  eröffnet.  Die  kapitalistische  Wirtschaftsweise  besitzt 
diese  Eignung  deshalb',  weil  unter  ihrer  Herrschaft  im  Mittel¬ 
punkte  aller  Zwecksetzung  nicht  eine  lebendige  Persönlichkeit 
mit  ihrem  natürlichen  Bedarf,  sondern  ein  Abstraktum:  das 
Kapital  steht.  In  dieser  Abstraktheit  des  Zweckes  liegt  seine 
Unbegrenztheit.  In  der  Überwindung  der  Konkretheit  aller 
Zwecke  liegt  die  Überwindung  ihrer  Beschränktheit. 

Machtstreben  und  Erwerbsstreben  gehen  nun  ineinander  über : 
der  kapitalistische  Unternehmer,  denn  so  nennen  wir  die  neuen 
Wirtschaftssubjekte,  erstrebt  die  Macht,  um  zu  erwerben,  und 
null  erwerben  um  der  Macht  nullen.  Nur  wer  Macht  besitzt, 
kann  erwerben;  und  wer  erwirbt,  vergrößert  seine  Macht.  Wir 
werden  sehen,  daß  sich  dabei  im  Verlauf  der  Entwicklung:  der 
Begriff  der  Macht  verschiebt.  Wie  infolgedessen  sich  auch  die 
Typen  der  Unternehmer  verändern ;  wie  allmählich  die  Machtmittel 
der  List  und  der  Überredung  die  Machtmittel  der  Gewalt  ver¬ 
drängen;  wie  immer  mehr  die  händlerischen  Veranlagungen  über 
die  Geltung  als  Unternehmer  im  'Wirtschaftsleben  entscheidet. 

Aber  der  Kapitalismus  ist  nicht  allein  aus  diesem  Unendlich¬ 
keitsstreben,  aus  diesem  Machtwillen,  aus  diesem  Unternehmungs- 
geiste  geboren.  Mit  diesem  hat  sich  ein  anderer  Geist  gepaart, 
der  dem  Wirtschaftsleben  der  neuen  Zeit  die. sichere  Ordnung, 
die  rechnerische  Exaktheit,  die  kalte  Zweckbestimmtheit  ge¬ 
bracht  hat:  das  ist  der  Bürgergeist,  der  sehr  wohl  außerhalb 
des  Kreises  der  kapitalistischen  Wirtschaft  wirksam  sein  kami 
und  jahrhundertelang  wirksam  gewesen  ist  in  den  unteren 
Schichten  der  städtischen  Wirtschaftssubjekte,  der  Berufshändler 
und  Handwerker. 

Will  der  Untemehmergeist  erobern,  erwerben,  so  will  der 
Bürgergeist  ordnen,  erhalten.  Er  drückt  sich  in  einer  Reihe-von 
Tugenden  aus,  die  alle  darin  übereinstimmen,  daß  als  sittlich 
gut  dasjenige  Verhalten  gilt,  das  eine  wohlgefügte  kapitalistische 
Haushaltung  verbürgt.  Daher  sind  die  Tugenden,  die  den  Bürger 
zieren,  vornehmlich:  Fleiß,  Mäßigkeit,  Sparsamkeit,  Wirtschaft¬ 
lichkeit,  Vertragstreue.  Die  aus  Unternehmungsgeist  und 
Bürge rgeist  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  ver¬ 
wobene  Seelenstimmung  nennen  wir  dann  den  kapi¬ 
talistischen  Geist.  Er  bat  den  Kapitalismus  geschaffen. 

Das  Problem  des  „kapitalistischen  Geistes“  habe  ich  ausführlich 
und  nach  allen  Seiten  behandelt  in  meinem  Buche :  Der  Bourgeois,  das 
1913  erschienen  ist  und  den  Untertitel  trägt:  „Zur  Geistesgeschichte 


330 


Erster  Abschnitt:  Wesen  und  Werden  des  Kapitalismus 


des  modernen  Wirtsehaftsmenscken“.  Ich  habe  deshalb  hier,  indem 
ich  mich  auf  jenes  Buch  beziehe,  nur  ganz  kurz  das  Wesen 
des  kapitalistischen  Geistes  skizziert  und  verzichte  ganz  an  dieser 
Stelle  auf  seine  Ableitung,  der  der  größte  Teil  meines 
„Bourgeois“  gewidmet  ist,  um  mich  nicht  wiederholen  zu  müssen. 
Ebenso  verweise  ich  den  Leser,  der  sich  für  das  Problem  interessiert : 
ob  der  „Geist“  das  „Wirtschaftsleben“  oder  dieses  jenen  „erzeuge“, 
auf  meine  Ausführungen  an  derselben  Stelle.  Ich  halte  im  übrigen 
das,  was  ich  dort  zur  Lösung  dieses  Problems  gesagt  habe,  sehr  wohl 
der  Erweiterung  und  Vertiefung,  vor  allem  nach  der  metaphysischen 
Seite  hin  bedürftig,'  will  aber  dieses  Werk  nicht  mit  der  weitschichtigen 
Erörterung  gerade  dieses  Themas  belasten,  und  behalte  mir  vor,  darauf 
bei  anderer  Gelegenheit  zurückzukommen. 

II.  Der  h  i  s  t  o  ri  s  c  h  e  Aufbau  des  modernen  Kapita¬ 
lismus 

Geschichte  schreiben  heißt :  den  Nachweis  führen,  auf  welchen 
Wegen  sich  der  Völkergeist  seinem  Ziele  nähert;  was  ihn  bei 
seinem  Bestreben  fördert,  was  hindert.  Anders  ausgedrückt: 
heißt  aufzeigen:  in  welchem  Umfange  und  durch  welche  Mittel 
die  einem  Volke  oder  einer  Völkergruppe  zugrunde  liegende 
Idee  verwirklicht  wird.  Auf  das  Wirtschaftsgeschichtliche  und 
unsere  besondere  Aufgabe  angewandt:  die  Geschichte  des  mo¬ 
dernen  Kapitalismus  schreiben  heißt:  nachzeichnen,  wie  sich  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  die  Idee  des  kapitalistischen  Wirtschafts¬ 
systems  in  Tatsächlichkeit  verwandelt;  wie  sich  das  Wirtschafts¬ 
leben  der  europäischen  Völker  aus  dem  neuen  Geiste  in  allen 
seinen  Verzweigungen  herausentwickelt. 

Im  Bilde  gesprochen  (das  auch  der  Überschrift  dieses  Unter¬ 
abschnitts  die  Fassung  gab):  wir  wollen  den  „Aufbau“  des 
modernen  Kapitalismus  begreifen.  Zu  diesem  Behufs  nehmen 
■wir  die  Wirksamkeit  eines  unbekannten  Baumeisters  an,  dessen 
„Baugesinnung“  uns  aber  sehr  wohl  bekannt  ist,  weil  sie  uns 
in  der  Seelenveranlagung  strebender  Menschen  offenbar  wird, 
und  verfolgen  nun,  aus  welchen  Bestandteilen  er  seinen  Bau 
zusammenfügt.  Den  Bau  selber  werden  wir  erst  in  dem  nächsten 
Bande  dieses  Werkes  erwachsen  sehen.  Hier  gilt  es,  zunächst 
einmal  die  „Grundlagen“  und  auch  die  Baumaterialien  und  die 
Bauarbeiter  kennen  zu  lernen. 

Der  Leser  möge  sich  durch  "einen  Blick  in  das  Inhalts¬ 
verzeichnis  überzeugen,  auf  welche  Erscheinungen  bei  der  gene¬ 
tischen  Betrachtung  des  modernen  Wirtschaftslebens  ich  ent¬ 
scheidendes  Gewicht  lege.  Ob  ich  die  richtige  Wahl  getroffen 


Zwanzigstes  Kapitel:  Das  Werden  des  Kapitalismus. 


331 


habe,  kann  selbstverständlich  erst  das  Studium  dieses  Werkes 
erweisen.  Hier  will  ich  dem  Leser  dieses  dadurch  zu  erleichtern 
trachten ,  daß  ich  ihm  einen  Überblick  über  das  weit¬ 
schichtige  Material  verschaffe.  Ich  tue  dies,  indem  ich  ihm 
die  Zusammenhänge  aufzeige ,  die  ich  erblicke  zwischen  den 
wirkenden  Kräften  und  den  verschiedenen  Gebieten  der  geschicht¬ 
lichen  Wirksamkeit,  die  die  folgenden  sieben  Abschnitte  um¬ 
spannen;  zwischen  diesen  untereinander  und  zwischen  ihnen  und 
der  kapitalistischen  Wirtschaft. 

Ich  sage  an  einer  Stelle  einmal:  „im  Anfang  war  die  Armee“, 
und  will  damit  ausdrücken,  daß  ich  in  den  modernen  Heeren 
das  erste  und  wichtigste  "Werkzeug  erblicke  ,  das  sich  der  neue 
Geist  formt,  um  sein  Werk  zu  vollbringen.  Mit  Hilfe  der  Armee 
wird  der  Staat  (2.  Abschnitt)  geschaffen,  dieses  erste  vollendete 
Gebilde  des  neuen  Geistes,  in  dem  und  durch  den  dieser  sich 
vor  allem  auswirkt.  Um  der  Naturgewalten  Herr  zu  werden, 
trachtet  er  dann  die  Technik  (3.  Abschnitt)  umzugestalten, 
und  sein  ihm  innewohnender  Drang  nach  Geld  und  Macht  führt 
ihn  zu  den  Edelmetallagern  (4.  Abschnitt),  die  er  ausbeutet. 

Diese  drei  Gebiete  erscheinen  als  selbständige  Felder  der 
Tätigkeit  des  neuen  Geistes,  und  es  läßt  sich  die  eine  Strebung 
nicht  restlos  aus  der  andern  ableiten.  Wohl  aber  bemerken  wir, 
wie  sie  alle  drei  in  engster  Wechselwirkung  miteinander  stehen. 
Das  Staatsinteresse  ist  es  vor  allem,  das,  um  die  Schlagkraft 
der  Heere  zu  steigern,  auf  unausgesetzte  Verbesserung  der  Technik 
drängt;  es  ist  es,  das  die  Vermehrung  der  Edelmetall  Vorräte  als 
wichtigstes  Ziel  der  Politik  betrachtet  und  deshalb  die  Steigerung 
der  Edelmetallproduktion  betreibt.  Sind  aber  technische^-  Fort¬ 
schritt  und  Edelmetallproduktion  staatsbewirkte  Vorgänge,  so 
sind  es  doch  ebenso  sehr  Bedingungen  staatlicher  Entwicklung: 
ohne  Hochofentechnik  keine  Kanonen  und  darum  keine  modernen 
Heere;  ohne  Kompaß  und  Astrolabium  keine  Entdeckung  Amerikas 
und  keine  kolonialen  Reiche.  Ohne  die  Erschließung  reicher 
Silberminen  und  Goldfelder  in  Amerika  kein  modernes  Steuer¬ 
system,  kein  Staatskredit,  kein  Heer,  kein  Berufsbeamtentum  und 
also  kein  moderner  Staat.  Aber  auch  Technik  und  Edelmetall¬ 
produktion  stehen  im  Verhältnis  engster  Wechselwirkung:  ohne 
Wasserhaltungsmaschine,  ohne  Amalgam  verfahren  keine  Silber- 
*  produktion;  ohne  die  Fortschritte  der  Münzprägung  kein  modernes 
Währungs  System.  Und  umgekehrt:  ohne  die  Sucht  nach  dem  Golde 
längst  nicht  so  rasche  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Technil^, 


332  Erster  Abschnitt:  Wesen  lind  Werden  des  Kapitalismus 

Staat,  Technik  lind  Edelmetallproduktion  sind  gleichsam  die 
Grundbedingungen  der  kapitalistischen  Entwicklung :  immer  den 
Willen  zum  Kapitalismus  als  einen  Bestandteil  des  neuen  Geistes 
vorausgesetzt.  Jede  dieser  Grundbedingungen  läßt  sich  getrennt 
in  ihrem  Einflüsse  verfolgen: 

Der  Staat,  durch  sein  Heer  vor  allem,  schafft  für  den  Kapi¬ 
talismus  einen  großen  Markt;  durchdringt  das  'Wirtschaftsleben 
mit  dem  Geiste  der  Ordnung  und  Disziplin.  Der  Staat  erzeugt 
durch  seine  Kirchenpolitik  den  Ketzer  und,  indem  er  die  Wande¬ 
rungen  aus  religiösen  Gründen  bewirkt,  den  „Fremden“:  zwei 
beim  Aufbau  des  Kapitalismus  unentbehrliche  Elemente.  Der 
Staat  drängt  in  die  Ferne,  er  erobert  die  Kolonien  und  treibt 
mit  Hilfe  der  Sklaverei  die  ersten  kapitalistischen  Großbetriebe 
hervor.  Der  Staat  pflegt  und  fördert  durch  bewußtes  Eingreifen 
seiner  Politik  die  kapitalistischen  Interessen. 

Die  Technik  macht  die  Produktion  und  den  Gütertransport 
im  Großen  erst  möglich  (und  notwendig) ;  sie  schafft  durch  neue 
Verfahrungsweisen  die  Möglichkeiten  neuer  Industrien,  die  im 
Rahmen  der  kapitalistischen  Organisation  erwachsen. 

Die  Edelmetalle  beeinflussen  das  Wirtschaftsleben  in  viel¬ 
facher  Hinsicht  und  wirken  selbständig  durch  ihre  Fülle  Wunder : 
sie  bilden  den  Markt  in  einer  der  kapitalistischen  Entwicklung 
förderlichen  Richtung;  sie  steigern  den  kapitalistischen  Geist, 
indem  sie  den  Erwerbstrieb  verstärken  und  die  Rechenmäßigkeit 
vervollkommnen. 

So  wirken  Staat,  Technik  und  Edelmetalle  unmittelbar  auf 
den  Kapitalismus  ein.  Ihre  Förderung  der  kapitalistischen  Ent¬ 
wicklung  ist  nun  aber  in  noch  stärkerem  Maße  eine  mittelbare, 
indem  sie  nämlich  es  sind,  die  eine  Reihe  anderer  wichtiger  Be¬ 
dingungen  dieser  Entwicklung  zur  Erfüllung  bringen. 

Sie  sind  es,  die  durch  ihr  Zusammenwirken  die  Ent¬ 
stehung  des  bürgerlichen  Reichtums  (5.  Abschnitt) 
möglich  machen.  Dieser  aber  ist  eine  notwendige  Vorbedinguno' 
des  Kapitalismus ,  sofern  durch  ihn :  einerseits  die  Bildung  des 
Kapitals  erleichtert,  andererseits  ein  Ausgabefonds  geschaffen 
wird,  der  bei  der  Neugestaltung  des  Güterbedarfs  (6.  Ab¬ 
schnitt)  eine  wichtige  Rolle  spielt.  Durch  diese  erst  wird  die 
Möglichkeit  eines  Absatzes  im  Großen  geg’eben ,  wie  ihn  der 
Kapitalismus  braucht.  Diese  Neugestaltung  ist  aber  wiederum 
das  Werk  der  drei  Grundkräfte:  Staat,  Technik,  Edelmetall¬ 
produktion,  die  teilweise  direkt  (Luxusbedarf  der  Höfe!  Heeres- 
bedaifj  Schiffsbedarf!  Kolonialbedarf!),  teilweise  durch  das 


338 


Zwanzigstes  Kapitel:  Das  Werden  des  Kapitalismus 

Mittelglied  des  bürgerlichen  Reichtums  (Luxusbedarf  der  neuen 
Reichen!)  ihren  Einfluß  ausüben. 

Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte  (7.  Abschnitt)  er¬ 
folgt  unter  der  Einwirkung  der  Technik  größtenteils  durch  Ver¬ 
mittlung  des  Staates  auf  direktem  oder  indirektem  Wege. 

In  der  Unternehmerschaft,  deren  Ursprung  dann  noch 
(8.  Abschnitt)  aufgedeckt  wird,  werden  die  Kräfte  lebendig,  die 
bestimmt  sind,  alle  einzeln  analysierten  Elemente  zu  dem  Kosmos 
der  kapitalistischen  Wirtschaft  zusammenzufügen.  Sie  bewirken 
und  zwar  verschieden  je  nach  der  Herkunft;  sie  sind  aber  ebenso 
bewirkt  und  bedingt  durch  all  die  Umstände,  die  in  diesem  Buche 
aufgezählt  werden:  der  Staat  beeinflußt  ihre  Zusammensetzung, 
sofern  er  aus  seiner  Mitte  zahlreiche  Leiter  der  neuen  Wirt¬ 
schaftsformen  stellt,  sofern  er  durch  seine  Politik,  wie  ich  schon 
sagte,  wichtige  Typen  neuer  Wirtschaftssubjekte  erzeugt;  die 
Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums  bewirkt,  daß  in  außer¬ 
bürgerlichen  Kreisen  ein  Anreiz  zum  erwerbenden  Unternehmer- 
tum  geboten,  in  vielen  Fällen  die  sachliche  Möglichkeit  zur 
Unternehmertätigkeit  erst  geschaffen  wird  usw. 

Das  alles  im  einzelnen  nachzuweisen,  ist  ja  die  Aufgabe 
dieses  Werkes. 

Noch  eine  einschränkende  Bemerkung  muß  ich  der  geschicht¬ 
lichen  Darstellung  voraufschicken:  in  den  folgenden  sieben  Ab¬ 
schnitten  dieses  Buches  werden  die  Vorbedingungen  der  kapita¬ 
listischen  Wirtschaft  aufgewiesen,  die  deren  Entfaltung  in  ihren 
Anfängen  bis  zum  Ende  des  früh  kapitalistischen 
Zeitalters  ermöglicht  haben.  Damit  der  Kapitalismus  in  seine 
Hochepoche  eintreten  konnte,  mußten  andere  Bedingungen  erfüllt 
werden,  wie  später  zu  zeigen  sein  wird.  Solange  sie  nicht  erfüllt 
waren,  also  bis  etwa  in  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts, 
bestanden  „Hemmungen“  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Welche 
das  waren,  wird  auch  zur  gegebenen  Zeit  zu  sagen  sein. 

Jetzt  müssen  wir  erst  in  langem,  innigem  Nacherleben  uns  die 
ungeheure  Fülle  von  verwirrenden  und  sich  vielfach  durch¬ 
kreuzenden  Tatsachen  ins  Bewußtsein  bringen  und  vor  Augen 
stellen,  deren  Zusammentreffen  überhaupt  erst  kapitalistische 
Wirtschaft  möglich  gemacht  hat.  Die  stete  Ausrichtung  aller 
Geschehnisse  und  Begebenheiten  auf  den  einen  Punkt :  was  be¬ 
deuten  sie  für  die  Entwicklung  des  Kapitalismus? 
wird  uns  befähigen,  des  gewaltigen  Stoffes,  der  sich  vor  uns 
auftürmt,  Herr  zu  werden. 


334 


Zweiter  Abschnitt 
Der  Staat 

Einundzwanzigstes  Kapitel 

Wesen  und  Ursprung  des  modernen  Staates 

I.  Der  Begriff  des  modernen  Staates 

Das  Sachphänomen  des  Fürstenstaates  oder  des  absoluten 
Staates,  wie  er  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters  in  Europa  zur 
Entfaltung  gelangt,  beruht  in  der  Tatsache,  daß  eine  große  An¬ 
zahl  Menschen  —  eine  große  Anzahl:  das  heißt  zunächst  mehr 
als  in  einer  Stadtgemeinde  oder  auch  in  einer  „Landschaft11 
siedeln  —  durch  den  Willen  eines  Herrschers  (oder  seines  Statt¬ 
halters)  den  Interessen  dieser  Machthaber  unterworfen  werden. 
Daß  diese  Menschen  durch  kein  Gemeinschaftsband:  nicht  das  des 
Blutes,  aber  auch  nicht  das  der  Nachbarschaft  oder  der  Gefolg¬ 
schaft  aneinander  geknüpft  sind,  daß  ihre  „Vereinigung“  vielmehr 
eine  „mechanische“  (keine  „organische“),  eine  gemachte  (keine 
gewachsene)  ist,  daß  sie  unter  rationalem  Gesichtspunkte  zu¬ 
stande  kommt :  das  ist  es,  was  diese  Gebilde  von  allen  früheren 
politischen  Verbänden  von  Menschen  wesentlich  unterscheidet. 

In  dem  Staate  bricht  sich  jenes  Unendlichkeitsstreben,  das 
die  neue  Zeit  erfüllt,  zuerst  und  am  erfolgreichsten  Bahn.  Wir 
sehen  zunächst  kraftvolle  Einzelpersönlichkeiten  sich  zu  „Ty¬ 
rannen“  aufschwingen,  die  dann  aber  gleichsam  über  sich  selber 
hinauswachsen,  indem  sie  sich  zur  Idee  des  Staates  erweitern. 
Das  L’etat,  c’est  moi  hat  doch  auch  den  Sinn:  moi,  c’est  l’etat. 
Und  in  dieser  Ausweitung  der  fürstlichen  Interessen  zu  den 
Staatsinteressen  liegt  ja  die  Besonderheit  der  europäischen 
Staatsentwicklung ,  die  diese  scharf  von  allen  orientalischen 
Despotien  scheidet.  Das  Staatswohl  deckt  sich  mit  dem  Wohl 
des  Fürsten,  aus  dessen  Machtvollkommenheit  heraus  die  Idee 
der  Obrigkeit  sich  entwickelt. 


Einundzwanzigstes  Kapitel :  Wesen  Und  Ursprung  des  modernen  Staates  335 

Aber  so  wie  sich  die  Staatsidee  von  der  Person  des  Fürsten 
loslöst,  der  nur  noch  ihr  sichtbarer  Führer,  ihre  „verkörpernde 
Erscheinungsform“  ist  und  sich  verselbständigt:  so  setzt  der 
Gedanke  der  Obrigkeit  den  Staat  auch  als  etwas  vom  Volk  Ver¬ 
schiedenes.  Und  damit  gewinnt  die  Staatsidee  wohl  eigentlich 
erst  ihre  expansive  Kraft ;  wird  sie  wohl  eigentlich  erst  befähigt, 
dem  imendlichen  Machtstreben  als  regulatives  Prinzip  zu  dienen 
und  ihm  gleichzeitig  die  Bahn  für  seine  Betätigung  frei  zu  machen. 

Losgelöst  von  den  organischen  Schranken  der  Volksgemein¬ 
schaft  entwickelt  sich  der  Staat  nach  mechanischen  Grundsätzen 
zum  absoluten  Staat.  Nach  außen:  indem  er  nach  grenzen¬ 
loser  Expansion  strebt,  die  er  durch  das  mechanisch  gegliederte 
und  damit  ebenfalls  unbeschränkt  ausdehnungsfähige  moderne 
Massenheer  durchzuführen  trachtet,  das  heißt,  indem  er  zum  reinen 
Machtstaat  wird ;  nach  innen,  indem  er  alle  Lebensgebiete 
einer  bewußten  Pegelung  unterwirft  und  seinen  Willen  zu  dem 
einzigen  Quell  des  Lebendigen  zu  machen  die  Tendenz  hat,  das 
heißt,  indem  er  zum  Polizeistaat  wird. 

Seltsam  ist  die  Übereinstimmung  der  Entwicklungsreihen  des 
modern-staatlichen  und  modern-wirtschaftlichen  Lebens.  Aber 
es  wäre  ein  vergebliches  Bemühen,  den  einen  Erscheinungs¬ 
komplex  aus  dem  andern,  die  Wirtschaft  aus  dem  Staat,  den 
Staat  aus  der  Wirtschaft  „ableiten“  zu  wollen.  Beide  entspringen 
aus  gemeinsamer  Wurzel  und  bedingen  und  bestimmen  sich  dann 
freilich  auch  wechselseitig. 

Wie  der  Staat  durchaus  sein  eigenes  Leben  lebt,  seine  eigenen 
Wege  geht,  unabhängig  von  aller  Wirtschaft,  sehen  wir  ein,  so¬ 
bald  wir  uns  seinen  Werdegang  vor  Augen  halten. 

H.  Der  Ur  sprung  des  modernen  Staates 

Woher  der  moderne  Staat  seinen  Ursprung  genommen  habe, 
welches  Vorbild  für  ihn  bestimmend  geworden  sei:  diese  Frage 
hat  man  oft  in  ganz  verschiedenem  Sinne  zu  beantworten  unter¬ 
nommen.  Wenn  man,  wie  es  oft  geschieht,  Kaiser  Friedrich  II. 
als  den  ersten  modernen  Fürsten  bezeichnet,  so  liegt  es  nahe, 
die  Constitutio  von  1231  für  die  Entstehung  des  modernen 
Staates  verantwortlich  zu  machen  und  diesen  somit  auf  byzan¬ 
tinischen  oder  arabischen  Einfluß  zurückzuführen1.  In  der  Tat 

1  Hans  Wilda,  Zur  sicilischen  Gesetzgebung,  Staats-  und  Finanz¬ 
verwaltung  unter  Kaiser  Friedrich  II.  und  seinen  normannischen  Vor¬ 
fahren.  I.-D.  1889. 


336 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


enthält  die  Const.  Friedr.  zum  ersten  Male  eine  Eeilie  ganz  und 
gar  moderner  Verwaltungsgrundsätze:  vor  allem  das  Berufs¬ 
beamtentum,  das  bis  auf  Boger  zurückreicbt  und  in  der  Const. 
Friedr.  seine  systematische  Ausbildung  erfahren  hat.  Dann  aber 
kommen  doch  wieder  Bedenken.  Im  Staate  Friedrichs  II.  waren 
ebenso  wesentliche  Bestandteile  noch  mittelalterlich-feudal  ge- 
blieben:  dem  Kriegswesen  liegt  noch  die  Lehnsidee  zugrunde 
und  was  dergleichen  mehr  ist.  Dann  ist  es  aber  auch  zweifel¬ 
haft,  ob  die  Staaten  der  Benaissance  ihren  Stammbaum  auf  den 
Friederizianischen  Staat  wirklich  zurückführen.  In  Sizilien  selbst, 
namentlich  auf  dem  sizilianischen  Festlande,  sind  die  Bestim¬ 
mungen  der  Const.  Friedr.  bald  von  andern  Gesetzen  über¬ 
wuchert  worden.  In  Neapel  war  der  Feudalismus  selbst  durch 
Friedrichs  II.  Gesetzgebung  nicht  bewältigt  worden:  unter  den 
Anjou  wurde  er  wieder  die  Grundlage  der  Verfassung  und  des 
Wirtschaftslebens  und  so  folgerichtig  durchgeführt,  daß  dies 
noch  nach  200  Jahren  die  Verwunderung  des  Franzosen  Com- 
mines  erregt:  die  Beziehungen  des  Besitzes  zum  Amt,  des  Amtes 
zum  Hofdienst  wurden  überall  streng  festgehalten.  Freilich 
müssen  wir  uns  auch  der  Tatsache  erinnern,  daß  einer  der  ersten 
ganz  modernen  Fürsten  Alfonso  von  Aragonien  ist,  der  1416 — 1458 
König  von  Neapel  war,  und  den  wir  als  den  „Musterkönig  der 
Benaissance“  zu  bezeichnen  gewohnt  sind.  Hatte  er  seine  An¬ 
regungen  von  seinen  Vorgängern  auf  dem  Thron  empfangen? 
Oder  war  in  ihm  türkischer  Einfluß  lebendig  geworden?  Denn 
schon  fing  man  an,  das  osmanische  Eeich  zu  studieren  und  zu 
bewundern,  das  im  16.  Jahrhundert  im  Mittelpunkte  des  Inter¬ 
esses  aller  Staatsmänner  stand,  und  von  dem  Luther  schrieb: 
„man  sagt,  daß  kein  feiner  weltlich  Eegiment  irgend  sei  als  bei 
den  Türken.“ 

Aber  vielleicht  brauchen  wir  unsern  Blick  gar  nicht  auf  die 
Länder  des  Ostens  zu  richten,  wenn  wir  die  Genesis  des  mo¬ 
dernen  Staates  erklären  wollen :  vielleicht  genügen  die  Elemente 
der  europäischen  Gesellschaft  des  Mittelalters  vollauf,  um  aus 
ihnen  das  absolute  Fürstentum  und  mit  ihm  den  modernen  Staat 
abzuleiten.  Mir  scheint  doch,  als  ob  sich  ein  großer  Teil  der 
Grundsätze  und  Ideen  der  modernen  Staatskunst  folgerichtig 
aus  der  mittelalterlichen  Stadt  dort,  wo  sie  ihre  reinste  Aus¬ 
bildung  erfahren  hat:  in  Italien  entwickelt  hätte.  Vor  allem 
die  beiden  Grundgedanken  des  absoluten  Staates :  den  Bationalis- 
mus  und  die  Vielregiererei  finden  wir  in  den  italienischen  Städten 


Eimmdzwanzigstes  Kapitel:  Wesen  und  Ursprung  des  modernen  Staates  337 

und  Stadtstaaten  des  14.  Jahrhunderts  schon  völlig  entwickelt. 
„Die  bewußte  Berechnung  aller  Mittel,  wovon  kein  damaliger 
aüßeritalienischer  Fürst  eine  Idee  hatte,  verbunden  mit  einer 
innei  halb  der  Staatsgrenzen  fast  absoluten  Machtvollkommenheit, 
brachte  hier  ganz  besondere  Menschen  und  Lebensformen  her¬ 
vor.“  (Burckhardt.)  „Der  Fürst,  so  hören  wir  schon  zur 
Zeit  des  Trecento  in  Italien,  soll  selbständig,  unabhängig  von 
den  Hofleuten,  dabei  aber  bescheiden  und  einfach  regieren,  für 
alles  sorgen !  Küchen  und  öffentliche  Gebäude  hersteilen  und 
unterhalten,  die  Gassenpolizei  aufrechterhalten,  Sümpfe  aus¬ 
trocknen,  über  Wein  und  Getreide  wachen;  strenge  Gerechtig¬ 
keit  walten  lassen,  die  Steuern  so  ausschreiben  und  verteilen, 
daß  das  Volk  ihre  Notwendigkeit  und  das  Unbehagen  des 
Herrschers,  die  Kassen  anderer  in  Anspruch  zu  nehmen,  erkenne, 
Hilflose  und  Kranke  unterstützen  und  ausgezeichneten  Gelehrten 
seinen  Schutz  und  Umgang  widmen.“  Wiederum  "wird  sich  der 
Einfluß  der  italienischen  Entwicklung  auf  die  übrigen  europäischen 
Staaten  nicht  im  einzelnen  einwandsfrei  nachweisen  lassen.  Un¬ 
verkennbar  ist  jedoch,  daß  die  Staatsverfassung  und  die  Staats¬ 
kunst  der  italienischen  Renaissance  nicht  nur  die  Theoretiker, 
sondern  auch  die  Welt  des  politischen  Handelns  überall  in  hohem 
Grade  beschäftigt,  angezogen  und  abgestoßen  haben.  „Unver¬ 
hüllter  und  übersichtlicher  als  anderwärts  trat  hier  die  Verwelt¬ 
lichung  des  Staates  zutage.  Hier  wurde  ganz  offen  die  Macht 
zum  Selbstzweck,  die  ratio  Status  zum  obersten  Gesetz  erhoben, 
vor  dessen  Allgewalt  jede  sittliche  und  religiöse  Rücksicht  .  .  . 
zurückstehen  sollte.“ 

Die  Ableitung  der  Idee  des  modernen  Staates  aus  den  italienischen 
Städtestaaten  wird  uns  noch  mehr  einleuchten,  wenn  wir  uns  erinnern, 
daß  auch  der  Name  „Staat“  zuerst  in  der  italienischen  Sprache  im 
modernen  Sinne  gebraucht  wird.  Das  Wort  Stato  finden  wir  erst  in 
Verbindung  mit  dem  Namen  einer  Stadt  (stato  di  Firenze  etc.),  dann 
für  jeden  Staat  angewandt.  Nach  der  Meinung  J.  Burckhardts 
(Kult,  der  Renaiss.  1  8,  121)  hießen  die  Herrschenden  und  ihr  Anhang 
zusammen  lo  stato,  „und  dieser  Name  durfte  dann  die  Bedeutung  des 
gesamten  Daseins  eines  Territoriums  usurpieren“.  In  diesem  Wandel 
der  Wortbedeutung  käme  die  Grundidee  des  modernen  Fürstentums: 
daß  sich  das  Wohl  des  Fürsten  zum  Wohl  des  Staates  erweitert, 
zu  greifbarem  Ausdruck.  Vgl.  noch  G.  Je  Hin  ek,  Allgemeine  Staats¬ 
lehre.  3.  Aufl.  1914,  S.  131  f. 

Als  dann  diese  Ideen  anf  größere  Gebiete  hinübergriffen,  als 
aus  den  kleinen  Tyrannen  der  italienischen  Stadtstaaten  „Könige“ 
geworden  waren,  die  nun  für  ihre  großen  Reiche  dieselbe  Macht- 

Sombarfc,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  2 1 


338 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Vollkommenheit  in  Ansprach  nahmen  wie  jene  für  ihre  Zwerg  - 
fürstentümer,  da  mußte  bald  der  Gedanke  auftauchen,  diese  neu¬ 
entstandenen  Herrschaftsverhältnisse  mit  dem  alten  imperium  in 
einen  inneren  Zusammenhang  zu  bringen.  Mit  Hilfe  des  römischen 
Hechtes  bildeten  die  Staatsrechtslehrer  des  16.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts  den  modernen  Souveränitätsbegriff  aus:  sie  gaben  damit 
„dem  aufgeklärten  Despotismus  das  gute  Gewissen  und  die  Über¬ 
zeugungskraft,  deren  er  bei  seinem  willkürlichen  Verhalten  sehr 
bedurfte.“  Bodin  (1530 — 1596),  der  dieses  Werk  begann,  de¬ 
finierte  ja  die  Souveränität  (majestas)  als  „summa  in  cives 
legibusque  soluta  potestas“,  gab  also  dem  praktischen  „l’etat,  c’est 
moi“  die  theoretische  Weihe.  Was  Bodin,  Hobbesu.  a.  für 
die  formale  Staatslehre  leisteten,  unternahm  Montchretien  für 
die  materiale  Staatslehre:  die  Rechtfertigung  der  Staatszentrali¬ 
sation.  Damit  war  der  moderne  Groß  Staat  auch  als  systema¬ 
tische  Einheit  vollendet,  nachdem  er  von  den  „Drei  Magiern“, 
wie  man  die  großen  Könige,  die  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
regierten:  Ferdinand  den  Katholischen,  Ludwig  XI.  und  Heinrich 
Tudor  genannt  hat,  praktisch  zum  Leben  erweckt  worden  war. 

Eine  Stärkung  erfährt  der  absolute  Staat  dami  durch  den 
Protestantismus,  durch  den  der  Begriff  des  christlichen  Staates 
und  der  christlichen  Obrigkeit,  die  unmittelbar  von  Gott  ist,  erst 
recht  begründet  werden1. 

Die  Ideen  dieses  absoluten  Staates  und  seiner  Politik,  nament¬ 
lich  auch  seiner  Wirtschaftspolitik,  verbreiteten  sich  dann  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  über  alle  Länder.  Mag  das  aufgeklärte 
Fürstentum  vielleicht  auch  im  Sonnenkönige  und  in  Preußens 
Königen  seine  typischen  Vertreter  gefunden  haben:  die  Grund¬ 
sätze  ihrer  Politik  finden  wir  ebenso  in  den  holländischen  Frei¬ 
staaten  wie  in  dem  konstitutionellen,  in  dem  republikanischen 
und  in  dem  absoluten  England  in  Anwendung.  Wir  können  sogar 
im  einzelnen  verfolgen,  wie  die  Politik  des  einen  Landes  dem 
andern  Lande  die  Befolgung  derselben  Politik  abnötigt:  wie 
beispielsweise  Holland  durch  die  Politik  Englands  und  dann 
namentlich  Frankreichs  in  das  Fahrwasser  der  merkantilistischen 
Politik  hineingezogen  wird,  in  dem  es  dann  im  18.  Jahrhundert 


1  Diese  Zusammenhänge  werden  mit  vielem  Geist  aufgewiesen  von 
C.  B.  Hundeshagen,  Über  einige  Momente  in  der  geschichtlichen 
Entwicklung  des  Verhältnisses  zwischen  Staat  und  Kirche,  in  Doves 
Zeitschrift  f.  Kirchenrecht  1  (1861)  232  ff.,  444  ff. 


Einimdzwanzigstes  Kapitel:  Ursprung  und  Wesen  des  modernen  Staates  339 

segelt,  als  es  sich  darum  handelt,  die  von  den  französischen 
Refugies  ins  Leben  gerufenen  Industrien  zu  schützen1. 

HL  Die  Bedeutung  des  Staats  für  den  Kapitalismus 

Die  bedeutsamen  Wirkungen,  die  eine  solche  künstliche  Zu¬ 
sammenfassung  vieler  Menschen  unter  dem  Willen  einer  Person 
im  Gefolge  hat,  sind  vor  allem  diese: 

Erstens  wird,  damit  jener  Zweck  des  Fürstenstaates :  die  Be¬ 
völkerung  eines  weiteren  Landstriches  dem  Staatszweck  dienstbar 
zu  machen,  erfüllt  werde,  ein  System  von  Mitteln  geschaffen, 
die  selbst  von  stärkstem  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Menschen¬ 
schicksals  werden :  Kräfte  müssen  zusammengefaßt ,  Menschen  , 
müssen  zu  bestimmten  Handlungen  und  Unterlassungen  angeleitet 
werden:  eine  „Organisation“,  ein  Verwaltungsapparat  entsteht' 
Und  dieses  System  von  Herrschaftsmitteln  gewinnt  dann  selbst 
wieder  Leben  und  wirkt  weiter  als  Subjekt  und  Objekt  im  Ablauf 
der  Geschichte. 

Zweitens  werden  die  „Untertanen“,  das  heißt  also  die  Objekte 
der  Staatszwecke  in  ihrer  eigenen  Lebensgestaltung  beeinflußt: 
die  Einrichtungen  des  Staates  greifen  in  jedes  Einzelnen  Leben 
hinein  und  führen  gleichzeitig  die  vielen  zu  einer  engeren  Lebens¬ 
gemeinschaft  zusammen,  verbinden  sie,  die  früher  unverbunden 
waren. 

In  Europa,  wissen  wir,  ist  die  lange  Epoche  seit  den  Kreuz¬ 
zügen  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  just  jene  Zeitspanne, 
die  wir  als  die  Epoche  des  Frühkapitalismus  bezeichnen,  durch 
die  Entwicklung  des  absoluten  Fürstentums  gekennzeichnet,  im 
Rahmen  dessen  also  rein  äußerlich  der  moderne  Kapitalismus 
zur  Entfaltung  kommt. 

Aber  ein  großer  Teil  der  Lebensäußerungen  des  modernen 
Staates  steht  auch  innerlich  mit  der  Genesis  des  modernen 
Kapitalismus  in  irgendwelchem  Zusammenhänge ;  hat  für  ihn  als 
Vorbedingung  oder  als  Förderung  oder  auch  als  Hemmung  zu 
gelten.  Das  sind  aber  mehr  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
möchte.  Denn  wenn  auch  eine  bewußte  unmittelbare  Förderung 
der  kapitalistischen  Entwicklung  nur  in  der  Wirtschaftspolitik 
des  „Merkantilismus“  zutage  tritt,  so  sind  doch  andere  Zweige 
des  staatlichen  Lebens  ungewollt  und  mittelbar  für  die  Aus- 


1  E.  Laspeyres,  Geschichte  der  Volkswirtschaft!.  Anschauungen 
der  Niederländer  (1863)  124  ff.,  134  ff. 


340 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Wirkung  kapitalistischen  Wesens  von  außerordentlich  hoher  Be¬ 
deutung  geworden,  wie  das  im  Verlaufe  dieser  Untersuchungen 
im  einzelnen  nachgewiesen  werden  wird. 

Diejenigen  Gebiete  der  staatlichen  Verwaltung,  die  solcher¬ 
weise  für  unsere  Betrachtungen  von  Wichtigkeit  sind ,  sind 
folgende : 

1.  das  Heerwesen; 

2.  die  Gewerbe-  und  Handelspolitik; 

3.  die  Verkehrspolitik; 

4.  die  Münz-  und  Währungspolitik; 

5.  die  Kolonialpolitik; 

6.  die  Kirchenpolitik ; 

7.  die  Arbeiterpolitik ; 

8.  die  Finanz  Wirtschaft. 

Die  ersten  sechs  Gebiete  werden  in  diesem  Abschnitte  ab¬ 
gehandelt,  da  sie  ausschließlich  Äußerungen  der  Staatsgewalt 
sind  und  als  solche  verstanden  werden  können.  Der  unter  7 
genannte  Zweig  der  Politik  muß  dagegen  im  Zusammenhang 
mit  anderen  Erscheinungen  behandelt  werden,  die  erst  in  einem 
späteren  Stadium  der  Gedankenentwicklung  auftauchen,  da  sie 
ohne  diese  unverständlich  sind.  Er  bildet  deshalb  den  Gegen¬ 
stand  eines  besonderen  Abschnittes. 

Die  staatliche  Einanzwirtschaft  wird  dem  Plane  dieses  Werkes 
gemäß  in  folgendem  Zusammenhänge  ihre  Erledigung  finden: 
1.  in  dem  Kapitel  über  das  Geldwesen;  2.  als  „Hemmung“  der 
kapitalistischen  Entwicklung  (2.  Band) ;  3.  als  Anregerin  für 
Lebensäußerungen  kapitalistischen  Wesens,  deren  Erörterung  und 
genetische  Darstellung  einem  späteren  Bande  Vorbehalten  sind 
(Börsenwesen,  Efiektenwesen  usw.);  4.  als  Quelle  der  Bereiche¬ 
rung  findet  die  Finanzwirtschaft  der  modernen  Staaten  ausgiebige 
Berücksichtigung  in  dem  Abschnitt,  der  der  Geschichte  des 
bürgerlichen  Eeichtums  gewidmet  ist. 

Literatur  zu  diesen  wenigen  allgemeinen  Bemerkungen  aber  Wesen 
und  Ursprung  des  modernen  Staates,  die  lediglich  den  Zweck  einer  Ein¬ 
führung  in  das  folgende  haben,  anzugeben,  hat  wenig  Sinn.  Werke,  die  sich 
das  hier  erörterte  Problem  grundsätzlich  und  in  allgemeiner  Betrachtung 
eigens  zum  Vorwurf  gemacht  hätten,  gibt  es  meines  Wissens  nicht. 
Bücher  wie  die  von  J.  Ferrari,  Iiistoire  de  la  raison  d’Etat,  1860 
(das  übrigens  durch  seine  eigenartige  Bibliographie  der  italienischen 
politischen  Literatur  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  wertvoll  ist), 
Franz  Oppenheimer,  Der  Staat  (1907),  und  ähnliche  sind  doch  zu 
allgemeinen  Inhalts,  um  die  hier  gesuchte  Einsicht  wesentlich  zu  fördern. 


Einundzwanzigstes  Kapitel :  Wesen  undUrsprung  des  modernen  Staates  341 

Das  Werk  von  Sam.  Max  Melamed,  Der  Staat  im  Wandel  der  Jahr¬ 
hunderte  (1910),  enthält  nicht,  was  man  dem  Titel  nach  erwartet:  nicht 
der  Staat,  sondern  die  Staatstheorien  werden  in  ihren  Wandlungen  ver¬ 
folgt.  Einige  der  Allgemeinen  Staatslehren  enthalten  kurze 
geschichtliche  Übersichten  über  die  verschiedenen  Staatsformen  der 
Vergangenheit.  So  namentlich  Jellinek,  a,  a.  0.  S.  287  ff.  Man  ist  aber* 
doch  hier  im  wesentlichen  angewiesen  auf  die  Geschichtsdarstellungen, 
die  diese  Periode  zum  Gegenstände  haben.  Am  meisten  Aufklärung 
findet  der  für  die  Allgemeinheit  der  Entwicklung  interessierte  Studien¬ 
beflissene  noch  immer  in  Jacob  Burckhardts  unübertroffener  „Kultur 
der  Renaissance“  sowie  in  den  Werken  Rankes,  die  sich  ja  gerade 
mit  dem  16.,  17.  und  18.  Jahrhundert  besonders  eingehend  befassen. 
Leider  versagt  Ranke  freilich  in  den  wirtschaftshistorischen  Teilen 
fast  ganz.  Aus  der  neuen  Literatur  sei  auf  den  Band  in  der  „Kultur  der 
Gegenwart“  verwiesen,  der  „Staat  und  Gesellschaft  der  neueren  Zeit“ 
behandelt  (V erf.  Bezold,  Gothein,  Koser),  und  in  dem  die  Arbeit 
von  Bezold  über  die  Reformationszeit  besonders  wertvoll  ist. 

Daß  in  die  hier  umschriebene  Interessensphäre  auch  diejenige 
Literatur  hineinragt,  die  die  Staatstheorien  in  ihrer  geschicht¬ 
lichen  Entwicklung  zur  Darstellung  bringt,  versteht  sich  von 
selbst.  Einen  interessanten  Versuch,  die  Bildung  der  modernen  Staaten 
unter  wesentlich  geographischem  Gesichtspunkt  zu  schildern,  enthält 
das  Buch  von  Aug.  Hirn  ly,  Histoire  de  la  formation  territoriale  de 
l’Europe  centrale.  2  Vol.  1876. 


342 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel 

Das  Heeres  wesen 

Vorbemerkung.  Literatur 

Aus  Blut  und  Eisen  ist  der  moderne  Fürstenstaat  aufgebaut.  Nach 
innen  wie  nach  außen  wurde  er  so  stark  und  so  groß,  wie  die  Macht 
seines  Schwertes  reichte.  Entwicklung  des  modernen  Staates  und 
Entwicklung  des  Heereswesens  sind  daher  gleichwertige  Begriffe.  Aus 
diesem  Grunde  wird  jeder,  der  irgend  etwas  vom  modernen  Staat 
aussagen  will,  die  Eigenart  der  militärischen  Verhältnisse  in  Rücksicht 
ziehen  müssen. 

Aber  nicht  nur  deshalb  spreche  ich  hier  von  der  Begründung  und 
Ausweitung  der  modernen  Heere,  sondern  auch  und  vor  allem  aus 
dem  Grunde :  weil  gerade  von  dieser  Seite  her  der  Kapitalismus  eine 
wesentliche  und  weite  Gebiete  berührende  Förderung  erfahren  hat, 
also  daß  die  Herausbildung  des  Militarismus  als  eine  der  Vor¬ 
bedingungen  des  Kapitalismus  erscheint. 

Ich  bin  diesen  Zusammenhängen ,  die  zwischen  Militarismus  und 
Kapitalismus  obwalten,  nachgegangen  in  meiner  Studie:  ..Krieg  und 
Kapitalismus“  (1912),  auf  die  ich  den  Leser  verweise,  wenn  er 
ausführlicher  den  Sachverhalt  erfahren  will,  als  ich  ihn  hier  darstellen 
kann.  Der  Leser  findet  dortselbst  im  Anhänge  auch  eine  Auswahl 
der  wichtigsten  militärwissenschaftlichen  Werke  verzeichnet,  die  ihm 
als  literarischer  Wegweiser  bei  weiterem  Eindringen  in  das 
Gebiet  der  heeresgeschichtlichen  Probleme  dienen  können. 

Dem  Gesamtplan  dieses  Werkes  gemäß  bringe  ich  in  diesem 
Kapitel  zunächst  nur  die  Tatsache  der  militärischen  Organisation  der 
modernen  Heere  und  Flotten,  die  als  ein  Werk  der  Staatsverwaltung 
erscheint,  sowie  ihre  Entstehungsweise,  soweit  sie  zum  Verständnis 
notwendig  ist,  zur  Abhandlung.  Je  an  den  besonderen  Stellen  werden 
dann  später  die  Wirkungen  aufgewiesen,  die  von  der  Neuordnung 
des  Heereswesens  auf  den  Gang  der  wirtschaftlichen  Entwicklung 
ausgegangen  sind. 

I.  Die  Entstehung  der  modernen  Heere 

1.  Die  Herausbildung'  der  neuen  Organisationsfornien 

a)  Das  iMndlieer 

>  Das  moderne  Heer  ist  ein  stehendes  und  ist  ein  Staatsheer. 
Die  beiden  schon  immer  vorhandenen  Tendenzen:  den  Fürsten 
(als  Vertreter  des  Staates)  zum  alleinigen  Befehlshaber  zu  machen 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen 


348 


und  ihm  dauernd  die  Truppen  zur  Verfügung  zu  stellen,  wirken 
also  bis  zrun  letzten  Ende  weiter,  bis  die  Grundsätze  zu  all¬ 
gemeiner  Geltung  gelangt  sind.  Dieser  Sieg  der  beiden  Prinzipien 
findet  seinen  äußeren,  man  wäre  versucht,  zu  sagen :  symbolischen 
Ausdruck,  wenn  dieser  Ausdruck  nicht  gleichzeitig  eine  so  sehr 
reale  Bedeutung  für  die  Grundideen  des  modernen  Heeres  hätte : 
in  der  dauernden  Bereithaltung  oder  Bereitstellung  von  Geld¬ 
mitteln  zur  Beschaffung  und  Ausrüstung  der  stehenden,  staat¬ 
lichen  Truppen;  von  Mitteln,  über  die  der  Fürst  frei  zu  verfügen 
hat,  also  daß  er  dadurch  die  zeitliche  Dauer  wie  auch  die  ad¬ 
ministrative  Durchdringung  des  Heeres  von  seinem  V  illen  ab¬ 
hängig  machen  kann:  in  dieser  nunmehr  geschaffenen  materiellen 
Potenz  des  Fürsten  vereinigen  sich  die  beiden  wesentlichen 
Merkmale  des  modernen  Heeres:  daß  es  stehend  und  daß  es 
staatlich  ist,  wie  von  selbst  zu  einer  organischen  Einheit.  .  Der 
Fürst  verfügt  nunmehr  über  „Mittel  und  Volk  ,  und  damit  ist 
das  Heer  in  seiner  neuen  Form  gewährleistet;  damit  ist  es  zu 
dem  geworden,  was  es  zu  sein  bestimmt  war:  zum  Schwert  in 
der  Hand  des  Fürsten,  dem  es  wiederum  erst  zu  seiner  Eigenart 
verhilft:  da  in  der  politischen  Welt  „ein  Herr  in  keiner  Con- 
sideration  ist,  wann  er  selber  nicht  Mittel  und  Volk  hat  ,  wie 
es  der  Große  Kurfürst  in  seinem  politischen  Testamente  von 

16C7  ausdrückt. 

Hat  man  die  innige  Zusammengehörigkeit  der  drei  Momente : 
Mittelbeschaffung,  Kontinuität  und  staatliche  Verwaltung  und 
ihre  grundlegende  Bedeutung  für  die  Herausbildung  des  modernen 
Heeres  erkannt,  so  ist  man  allerdings  geneigt,  den  Reformen 
Karls  VII.  von  Frankreich  epochemachenden  Charakter  zu¬ 
zusprechen  h 

Was  sich  in  Frankreich  schon  um  die  Mitte  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  abspielte,  wiederholte  sich  in  anderen  europäischen 
Staaten  erst  zwei  Jahrhunderte  später.  In  England  fallt  die 
Konsolidierung  der  Armee  doch  erst  in  die  Zeit  des  Common¬ 
wealth 1  2. 

Für  Deutschland,  das  heißt  für  die  deutschen  Landesfursten, 
ist,  möchte  mir  scheinen,  der  Artikel  180  des  Reichstags- 


1  Über  diese  unterrichtet  am  klarsten  und  kürzesten  Ranke, 
Franzos.  Geschichte  la  (1877),  55  ff.  Vgl.  Krieg  u.  Kap*,  25  f. 

2  Quellen  bei  J.  W.  Fortes  cue,  Hist,  of  the  British  Army  1 

(1889),  204  sag. 


344 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


abschieds  vom  17.  Mai  1654  von  entscheidender  Wichtigkeit 

o 

geworden x. 

Im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  steht  das  moderne  Heer  in 
seiner  staatsrechtlich-verwaltungstechnischen  Gestalt  fertig  da. 
In  Preußen,  dem  nunmehr  führenden  Lande,  bezeichnet  die 
Kabinettsorder  vom  15.  Mai  1713  den  Abschluß  der  Neubildung1 2. 

o 

Aber  wenn  wir  uns  „das  moderne  Heer“  in  seiner  ganzen 
Eigenart  vor  Augen  stellen,  so  erscheinen  in  dem  Bilde  doch 
deutlich  noch  andere  Züge  als  sein  verfassungs-  und  verwaltungs- 
hafter  Charakter:  das  moderne  Heer  ist  auch  militärtechnisch 
eigenartig  bestimmt.  Und  zwar  stellt  es  sich  uns  dar  als  das, 
was  man  ein  Kollektivheer  oder  ein  Massenheer  oder  auch 
ein  Truppenheer  nennen  könnte  und  unterscheidet  sich  dadurch 
ebenfalls  scharf  von  allen  mittelalterlichen  Heeren. 

Die  Besonderheit  eines  solchen  Massenheeres  liegt  darin,  daß 
es  vor  allem  durch  seine  Größe,  durch  die  zu  einer  taktischen 
Einheit  zusammengefaßten,  von  einem  gemeinsamen  Geist  be¬ 
seelten  vielköpfigen  Kriegerhaufen  wirkt.  Die  Gemeinsamkeit  des 
Geistes  wird  durch  das  Kommando  hergestellt,  das  von  den 
Führern  ausgeht.  Die  Funktionen  der  (geistigen)  Leitung  und 
der  (körperlichen)  Aktion  sind  also  getrennt  und -werden  von 
verschiedenen  Personen  ausgeübt,  während  sie  früher  in  einer 
und  derselben  Person  zusammengefügt  waren.  Es  hat  sich  jener 
Differenzierungsprozeß  vollzogen,  der  für  die  gesamte  moderne 
Kulturentwicklung  so  außerordentlich  charakteristisch  ist. 

Vor  allem  drängt  sich  die  Analogie  der  Entwicklung  in  der 
Organisation  des  Wirtschaftslebens  auf:  vom  Handwerk  zum 
Kapitalismus. 

Diese  Differenzierung  der  leitenden  und  aus¬ 
führenden  Funktionen  zieht  dann  eine  ganze  Menge  von 
Erscheinungen  nach  sich,  die  das  moderne  Heerwesen  kenn¬ 
zeichnen  :  vor  allem  das  Exerzieren  und  die  Disziplin,  durch  die 
auf  mechanischem  Wege  die  Verbindung  zwischen  leitenden  und 
ausführenden  Organen  hergestellt  werden  muß.  Im  „Gleichtritt“, 
den  die  Griechen  und  Römer  geübt  hatten,  den  die  Schweizer  und 

1  J  a  n  y ,  Die  Anfänge  der  alten  Armeen.  Urk.  Beiträge  und 
Forschungen  z.  Gesch.  des  preuß.  Heeres,  hrsg.  vom  Großen  General¬ 
stab,  Heft  1  (1901),  118  f. 

2  Zum  ersten  Male  verwertet  bei  M.  Jähns,  Gesch.  der  Kriegs- 
Wiss.  (1889 — 4891)  2,  1554.  Vgl.  G.  Schmoller,  Die  Entstehung 
des  preuß.  Heeres  in  seinen  „Umrissen“,  267. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen  345 

Schweden  wieder  übten,  den  Leopold  von  Dessau  in  der  preußischen 
Armee  zur  Regel  machte,  begrüßt  das  moderne  Heer  gleichsam 
sein  Symbol. 

Sicherlich  hätte  das  moderne  Fürstentum  diese  Form  der 
Heeresbildung  aus  sich  selber  heraus  erzeugt,  auch  ohne  Vor¬ 
bilder,  just  wie  der  moderne  Kapitalismus  mit  zwingender  Not¬ 
wendigkeit  die  großbetrieblichen  Formen  der  Arbeitsorganisation 
aus  sich  und  seinem  innersten  "Wesen  heraus  entwickeln  mußte, 
weil  diese  äußeren  Erscheinungsformen  in  ihnen  selbst  ein¬ 
geschlossen  lagen. 

Das  moderne  Fürstentum  mußte  das  differenzierte  Massenheer 
aus  sich  heraus  erzeugen,  weil  dieses  allein  dem  ihm  innewohnenden 
Drang  nach  Ausdehnung,  nach  Machtentfaltung  gerecht 
wurde.  Die  Waffentechnik  mag  dabei  mitgesprochen  haben.  Aber 
eine  primär  wirkende  Ursache  ist  sie  bei  der  Herausbildung  der 
modernen  Heeresorganisation  nicht  gewesen  (ebensowenig  —  der 
Vergleich  drängt  sich  unwillkürlich  immer  wieder  auf  —  wie 
bei  der  Herausbildung  der  großbetrieblichen  Formen  im  Rahmen 
des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems).  Die  taktische  Einheit 
des  G-e vierthaufens ,  in  dem  das  moderne  Massenheer  zuerst  in 
die  Erscheinung  tritt,  hat  zur  waffentechnischen  Grundlage  die 
Pike  und  hat  erst  stark  umgeändert  werden  müssen,  um  das 
Schießen  mit  Feuerwaffen  zu  ermöglichen.  Dann  hat  später  natür¬ 
lich  die  Feuerwaffentechnik  mit  ihrer  monoton-mechanischen 
Wirkung  die  Organisation  des  Massenheeres  gefestigt,  hat  dieser 
gleichsam  den  automatischen  Zug  eingeprägt  und  hat  die  ehedem 
rein  aus  freiem  Entschlüsse  gebildete  Formation  zur  Notwendig¬ 
keit  gemacht  (wie  die  Dampftechnik  die  Manufaktur  zur  Fabrik 
übergeführt  hat). 

Ursprünglich  aber  ist  die  Form  des  Massenheeres  frei  vom 
modernen  Fürsten  geschaffen  worden,  um  seinem  innersten  Wesen 
Ausdruck  zu  verleihen:  nur  in  ihm  lag  die  Möglichkeit  einer 
raschen  und  unausgesetzten  Ausweitung  eingeschlossen.  In  der 
Differenzierung  zwischen  leitender  und  ausführender  Arbeit,  in 
der  dadurch  bedingten  mechanischen  Übertragung  der  Fertig¬ 
keiten  lag  die  Gewähr,  in  kurzer  Zeit  eine  beliebige  Masse  un¬ 
geschulter  Menschen  zu  tüchtigen  Kriegern  heranzubilden.  In 
dem  Maße  natürlich,  wie  der  taktische  Erfolg  immer  mehr  auf 
der  Massenwirkung  aufgebaut  wurde,  was  in  steigendem  Umfange 
der  Fall  war  mit  dem  Eindringen  der  Feuerwaffen,  wuchs  der 
Zwang  zur  Vergrößerung  der  Heere,  von  deren  Umfang  (bei 


346 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


sonst  gleichen  Umständen  der  Ausbildung,  Ausrüstung  usw.)  die 
Größe  der  Macht  des  Staates  nunmehr  abhing. 

b )  Die  Flotte 

Gewiß  weist  die  Organisation  des  Seekriegs  viel  gemeinsame 
Züge  mit  der  des  Landkriegs  auf.  Vor  allem  begegnen  wir  bei 
der  Marine  vielfach  den  gleichen  Formen  der  Heeresaufbringung 
wie  beim  Landheer:  es  gibt  ebenso  das  Aufgebot  wie  das  Söldner- 
tnm  wie  das  Condottieriwesen  zu  Wasser  wie  zu  Lande. 

Aber  was  das  Seekriegswesen  vom  Landkrieg  unterscheidet, 
ist  doch  vielleicht  noch  mehr  und  bedeutsamer.  Vor  allem:  es 
hat  nie  einen  Ritter  zur  See  gegeben.  Jene  aus  dem  Mutter¬ 
boden  der  eigenen  Scholle  erwachsenen  Einzelkrieger,  die  das 
Heerwesen  des  Mittelalters  so  charakteristisch  gestalten,  fehlten 
aus  rein  äußerlichen  Gründen  im  Seekriege.  Die  Taktik  mußte 
hier  grundsätzlich  von  Anfang  an  auf  Massenwirkung  ausgehen. 
Wenn  auch  beim  Entern  des  feindlichen  Schiffes  der  Einzeikampf 
gepflegt  wurde:  die  kriegerischen  Erfolge  hingen  doch  im  wesent¬ 
lichen  ab  von  der  guten  Manövrierung  des  Schiffes,  die  immer 
das  Werk  von  vielen  ist,  unter  denen  einer  befiehlt,  während 
die  anderen  seine  AVeisungen  ausführen.  AVelch  ein  Unterschied 
(genau  in  denselben  Jahrhunderten)  zwischen  einer  Ritters chlacht 
und  dem  Kampf  etwa  venetianischer  und  Genueser  Galeeren, 
wo  Hunderte  von  Sklaven  auf  den  Ruderbänken  sitzen! 

Die  zweite  Eigenart  des  Seekrieges  liegt  in  der  Tatsache  be¬ 
gründet,  daß  die  Kriegführung  immer  an  einen  außerordentlich 
starken  Aufwand  sachlicher  Natur  gebunden  ist,  der  die  persön¬ 
liche  Leistung  oft  weit  an  Bedeutung  übertrifft.  Zu  der  voll¬ 
ständigen  Ausrüstung  des  Kriegers  tritt  noch  das  Schiff,  das 
herzustellen  und  zu  bewegen  unverhältnismäßig  viel  größere 
Mittel  erfordert  als  die  Bereitstellung  von  AVaffen  für  den  Einzel¬ 
krieger  und  selbst  als  die  Herbeischaffung  eines  Streitrosses. 

Und  was  das  Sonderbare  ist :  diese  allerwichtigsten  Zubehöre 
bei  der  Kriegsführung  hält  der  gewöhnliche  Kaufmann  jederzeit 
bereit  in  Gestalt  seiner  Handelsschiffe. 

Aus  dieser  seltsamen  Tatsächlichkeit  hat  sich  frühzeitig  ein 
dem  Seekriegswesen  eigentümliches  System  der  Heeresorganisation 
herausentwickelt:  die  Nutzbarmachung  der  Handelsflotte  für 
Kriegszwecke.  Dieses  System  finden  wir  bei  allen  seefahrenden 
Nationen  Europas  während  des  ganzen  Mittelalters  in  Anwendung  b 


1  Siehe  Krieg  und  Kap.,  S.  35. 


Zweiundzwauzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen 


347 


Auf  der  anderen  Seite  liat  die  überwiegende  Bedeutung  des 
Sachaufwandes  beim  Seekriege  früher  zu  so  etwas  geführt,  was 
man  eine  stehende  Flotte  nennen  könnte.  Hat  ein  Fürst 
einmal  die  Mittel,  sich  Schiffe  zu  bauen,  so  bleiben  ihm  diese 
auf  längere  Zeit  zur  Verfügung;  sie  heischen  nicht  wie  der 
Krieger  unausgesetzt  neue  Aufwendungen.  Natürlich  bedarf  es 
nun  erst  noch  der  Matrosen  und  der  Seesoldaten,  um  Krieg  zu 
führen.  Aber  in  den  Schiffen  besitzt  der  Fürst  doch  einen  wesent¬ 
lichen  Teil  der  Heeresmacht,  die  also  „stehend“  ist,  solange  die 
Schiffe  brauchbar  sind.  Es  scheint  fast,  als  ob  Könige  und 
Städte  schon  frühzeitig  einen  Bestand  an  eigenen  Schiffen  ge¬ 
habt  haben1. 

Auch  die  Verstaatlichung  der  Kriegsmarine  reicht 
viel  weiter  zurück  als  die  Verstaatlichung  der  Landheere.  Es 
scheint  liier  die  strafrichterliche  Gewalt  des  Königs  die  Brücke 
gebildet  zu  haben  zwischen  den  selbständigen  Schiffsmannschaften 
und  der  Oberhoheit  des  Königs2. 

2.  Die  Ausweitung  des  Heereskörpers 

Ich  sagte,  daß  die  dem  modernen  Heere  innewohnende  Ver¬ 
größerungstendenz  seine  für  uns  in  diesem  Zusammenhänge 
wichtigste  Eigenart  darstelle,  weil  sie,  wie  sich  aus  der  späteren 
Darstellung  ergeben  wird,  wichtigste  ökonomische  Wirkungen 
nach  sich  zieht. 

Um  eine  deutlichere  Vorstellung  von  diesem  Phänomen  der 
Expansion  der  modernen  Heere  zu  geben,  will  ich  die  Ziffern 
der  Heeresstärken  für  die  Hauptstaaten  hier  mitteilen. 

a)  Die  Lanclheere 

Eines  der  wichtigsten  Ergebnisse,  zu  dem  Hans  Delbrück 
im  dritten  Band  seiner  Geschichte  der  Kriegskunst  gelangt3,  ist 
der  Nachweis,  daß  das  Mittelalter  durchgehend  kleinere 
Heere  gehabt  hat,  als  man  bisher  annahm.  Damit  ist  für  die 
Kriegführung  dasselbe  nachgewiesen ,  was  ich  für  den  Handel 
gezeigt  habe,  was  viele  andere  schon  früher  für  die  allgemeinen 


1  Krieg  und  Kap.,  S.  35. 

3  So  in  England:  Laird  Clowes,  The  Royal  Navy,  1897  f-,  und 

Frankreich:  Krieg  und  Kap.,  S.  36  f. 

8H  Delbrück,  Geschichte  der  Kriegskunst  im  Rahmen  der 

politischen  Geschichte.  Dritter  Band:  Das  Mittelalter.  1906. 


348 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Bevölkerungsverhältnisse ,  namentlich  •  die  Einwohnerzahl  der 
Städte,  dargetan  hatten :  die  äußere  Kleinheit  der  mittelalterlichen 
Welt  (die  ihre  innere  Größe  um  so  imposanter  erscheinen  läßt). 
In  der  Schlacht  vor  Hastings  hatte  man  früher  Hunderttausende, 
ja  Millionen  (eine  Schätzung  kommt  bis  auf  1  200000)  miteinander 
streiten  lassen;  sehr  wahrscheinlich  zählte  in  Wirklichkeit  das 
normannische  Heer  weniger  als  7000  Krieger,  sicher  nicht  viel 
mehr;  das  Heer  Haralds  war  noch  schwächer:  4000 — 7000. 

Selbst  die  Kreuzzugsheere,  die  wohl  die  größten  des  Mittel¬ 
alters  waren,  sind  verhältnismäßig  klein:  die  höchste  Zahl  der 
Reiter,  die  in  einer  Schlacht  in  Palästina  gekämpft  haben,  dürfen 
wir  auf  1200,  die  der  Fußgänger  auf  9000  ansetzen. 

Die  größte  Armee,  die  das  Mittelalter  wohl  gesehen  hat,  war 
die,  die  Eduard  in.  1347  bei  Calais  zusammenzog;  sie  be¬ 
stand  aus  32  000  Mann:  eine  wie  Delbrück  seiner  Berechnung 
hinzufügt1,  „für  das  Mittelalter  unerhörte  Kriegsmacht“.  Und 
wir  müssen  bei  all  diesen  Ziffern  immer  noch  bedenken,  daß 
diese  großen  Heere  immer  auf  ganz  kurze  Zeit  beieinander  ge¬ 
halten  werden  konnten. 

Demgegenüber  erscheinen  uns  die  modernen  Heere’ schon  am 
Ende  des  18.  Jahrhunderts,  bis  zu  dem  wir  ihre  Entwicklung 
liier  verfolgen,  ins  Riesenhafte  gewachsen. 

Die  Stärke  der  stehenden  Heere  sämtlicher 
europäischer  Staaten  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  gibt  der  kundige  Mitarbeiter  bei  Krünitz  (Bd.  50, 
S.  746),  dessen  die  Bände  50  bis  53  füllenden  Artikel  über  das 
Kriegswesen  sich  durch  große  Sachkenntnis  auszeichnen,  auf 
Grund  offenbar  bester  Quellen  einzeln  an,  bis  auf  Mecklenburg- 
Strelitz,  dessen  Kriegsmacht  50  Mann  groß  war,  herab.  Danach 
betrug  die  Zahl  der  Truppen  in  den  vier  großen  Militärstaaten: 


Österreich  im  Frieden  ....  297  000  Mann, 
„  im  Kriege  ....  363000  „ 

Rußland,  reguläre  Truppen  .  .  224  500  „ 

Preußen .  190  000  „ 

Frankreich .  182  000 


1  H.  Delbrück,  a.  a.  O.  S.  476;  die  übrigen  Zahlen  ebenda 
S.  153.  229.  344.  363.  404.  Vgl.,  auch  für  die  folgende  Darstellung, 
Krieg  und  Kap.,  S.  37  ff. 


Zweiundzwanzigates  Kapitel :  Das  Heereswesen 


349 


h)  Die  Flotten 
ß)  Die  italienischen  St aaten 

Im  13.  Jahrhundert  war  die  größte  Seemacht  Europas  die 
Republik  Genua.  Ihre  Kriegsflotte  war  um  diese  Zeit  selbst  für 
heutige  Begriffe  nicht  klein,  für  mittelalterliche  Verhältnisse 
geradezu  unwahrscheinlich  groß.  Die  Ziffern  sind  aber  kaum 
zu  beanstanden;  sie  erwecken  durch  ihre  Ungeradheit  Vertrauen. 
Die  Quelle  sind  die  Annales  Januenses.  Auch  der  gewissenhafte 
Heyok1 *  nimmt  an,  daß  sie  der  Wirklichkeit  entsprechen. 

Schon  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  (1147 — 1148)  werden 
G3  Galeeren  und  163  andere  Fahrzeuge  gegen  die  spanischen 
Sarazenen  ausgesandt.  1242  fochten  83  Galeeren,  13  Tariden 
und  4  große  Lastschiffe  gegen  die  sizilianisch-pisanische  Flotte. 
1263  kreuzen  60  genuesische  Kriegsgaleeren  in  den  griechischen 
Gewässern.  1283  sollen  gar,  die  kleineren  Geschwader  ein¬ 
gerechnet,  199  Galeeren  in  Dienst  gestellt  sein.  Bedenken  wir,  daß 
eine  Galeere  140  Ruderer  hatte,  daß  also  auf  199  Galeeren 
27  860  Ruderer  (olme  die  Krieger !)  gewesen  wären.  Da  werden 
wir  annehmen  müssen,  daß  die  199  Galeeren  nacheinander 
bemannt  und  ausgesandt  wurden.  Wir  sind  aber  auch  über  die 
Größe  des  Mannschaftsaufgebots  unterrichtet:  1285  stellte  die 
Republik  12085  Mann  aus  ihrem  Bezirk  an  der  Riviera  in  Dienst; 
davon  waren  9191  Ruderer,  2615  Seesoldaten  und  279  Schiffer 
(nauclerii).  Sie  verteilen  sich  auf  65  Galeeren  und  1  Galion. 

ß)  Spanien 

Die  „Felicisima  Armada“,  die  1588  von  England  besiegt  wurde, 
bestand,  als  sie  aus  Lissabon  aussegelte  (ins  Gefecht  kamen  dann 
2  Schiffe  weniger),  aus  130  Segeln  und  65  Galeeren.  Diese 
Schiffe  hatten  einen  Ladegehalt  von  57  868  t  und  eine  Besatzung 
von  30656  Mann  „ohne  Freiwillige,  Priester  und  andere  Zivil¬ 
personen“  3. 

y)  Frankreich 

Frankreichs  Kriegsflotte  wird  zu  ihrer  imponierenden  Größe 
vornehmlich  durch  Colbert  hinaufgehoben. 

Bei  seinem  Tode  (1683)  war  die  Gesamtzahl  der  bereits  fertigen 

1  Ed.  Heyck,  Genua  und  seine  Marine.  1886;  ein  vorzügliches 

Werk.  .  .  . 

3  C.  F.  Duro,  La  Armada  Invincible,  1884,  doe.  110;  zitiert  bei 

Laird  Clowes,  1,  560. 


B50 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Kriegsschiffe  auf  176  gestiegen1,  zu  denen  noch  68  im  Bau  be¬ 
findliche  kamen,  so  daß  sich  ein  Gesamtbestand  von  244  ergab. 
Davon  waren: 


ersten  Banges . 12 

zweiten  „  20 

dritten  „  39 

vierten  bis  sechsten  Banges  ....  71 
Hilfsschiffe . 44 


ö )  Niederlande 

Auch  die  holländische  Kriegsflotte  entwickelt  sich  innerhalb 
weniger  Jahrzehnte  während  des  großen  17.  Jahrhunderts  aus 
kleinen  Anfängen  zur  damals  vielleicht  ersten  und  stärksten  Flotte 
Europas. 

Noch  in  den  Jahren  1615 — 1616 2  besteht  die  niederländische 
Seemacht  aus  nur  43  meist  winzigen  Schiffen,  von  denen  4  je 
90,  11  zwischen  50  und  80,  9  je  52  Mann  Besatzung  hatten, 
während  19  noch  kleiner  waren.  Das  ergibt  2000  bis  höchstens 
3000  Mann  Besatzung.  Im  Jahre  1666  stellten  die  Vereinigten 
Niederlande  den  Engländern  eine  Flotte  von  85  Schiffen  mit  einer 
Besatzung  von  21 909  Offizieren  und  Mannschaften  gegenüber. 

f)  Schweden 

Schweden  war  im  16.  und  17.  Jahrhundert  eine  bedeutende 
Seemacht.  Seine  Kriegsflotte  nimmt  ihren  Anfang  unter  Gustav 
Wasa  im  Jahre  1522.  Im  Jahre  1566  weist  die  Schiffsliste  schon 
einen  Bestand  von  70  Schiffen  auf.  Einen  neuen  Aufschwung 
erlebt  sie  dann  zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts:  1625  werden 
21  neue  Schiffe  gebaut,  30  Galeeren  dienstbereit  gemacht3. 

t)  England 

Das  rasche  Aufsteigen  dieser  größten  europäischen  Seemacht 
hat  seinesgleichen  nur  in  der  plötzlichen  Entfaltung  des  preußi- 


1  Nach  den  amtlichen  Listen :  E.  Sue,  Histoire  de  la  marine 
francaise.  4  Vol.  1837.  4,  170. 

2  J.  C.  de  Jonge,  Geschiedenes  van  het  Nederlandsche  Zee- 
Avezen.  10  Bde.  1858  Vol.  I,  Bijlage  XII. 

8  App.  A.  in  Publ.  of  the  Navy  Records  Society  Vol.  XV,  1899. 
Für  Rußland  unter  Peter  d.  Gr.  vgl. :  History  of  the  Russian  Fleet 
during  the  Reign  of  Peter  the  Great.  By  a  Contemporary  Englishman 
(1724).  Edit.  by  Vice-Adm.  Cyprian  A.  G.  Bridge  in  den  genannten 
Publications. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heeresweeen 


851 


sehen  Heerwesens.  Die  Entwicklung1  setzt  etwa  zur  Zeit 
Heinrichs  VIXI.  ein. 

Gegen  Ende  unserer  Epoche  ist  der  Bestand  der  englischen 
Marine  folgender  (am  31.  Mai  1786  nach  den  Admiralitätsregistern) : 


292  Kriegsschiffe,  davon 
114  Linienschiffe, 

13  5ö-Kanonenschiffe  (den  Linienschiffen  ähnlich), 

113  Fregatten, 

52  Kriegsschaluppen. 

Die  Linienschiffe  haben  zwischen  500  und  850  Mann  Be¬ 
satzung.  In  beständigem  Solde  stehen  18000  Seeleute,  nämlich 
14140  Matrosen  und  3860  Seesoldaten. 

Ihr  Gesamttonnengehalt  hatte  schon  1749  228  215  t  betragen. 

Der  Kriegsflottenbestand  in  den  europäischen  Staaten 
am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  (nach  Krünitz:  siehe  die  Be¬ 
merkung  auf  S.  348)  war  folgende : 


Gr  o  ßbr  itanni  en 


Frankreich . 

Vereinigte  Niederlande  . 
Dänemark  und  Norwegen 
Sardinien  .  . 

Venedig  .  . 

Beide  Sizilien 
Schweden  .  . 

Portugal  .  . 

Kirchenstaat 
Toscana  .  . 


.  278  Kriegsschiffe 

(davon  114  Linienschiffe) 

.  221  Kriegsschiffe 
95 

60  armierte  Fahrzeuge 
32  Kriegsschiffe 
30 

25  „ 

25  Linienschiffe 
24  Kriegsschiffe 

20  . 

„einige  Fragatten“. 


II.  Die  Grundsätze  der  Heeresausrüstung 

Die  Or gani s atio n  der  Heeresausrüstung2  bildet  einen 
Teil  der  Heeresverwaltung.  Sie  stellt  sich  zur  Aufgabe,  das 
Heer  mit  allen  für  seine  Existenz  und  sein  richtiges  Funktionieren 
notwendigen  Sachgütern  zu  versorgen.  Diese  Sachgüter  sind ; 
1.  die  Waffen;.  2.  die  Beförderungsmittel,  also  namentlich  Pferde 
und  Wagen;  3.  die  Unterhaltsmittel,  also  die  Nahrung,  die 
•Kleidung  und  die  Wohnung.  Je  nachdem  es  sich  um  die  Be- 

1  Ausführlich  dargestellt  in  Krieg  und  Kap.,  S.  46  ff. 

2  Siehe  die  ausführliche  Darstellung  in  Krieg  und  Kap.,  S.  66  ff. 


352 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Schaffung  dieser  oder  jener  Kategorie  von  Sachgütern  handelt, 
erwächst  das  Problem  der 
Bewaffnung, 

Berittenmaclfung  (Beförderung), 

Beköstigung, 

Bekleidung,  * 

Behausung 

des  Heeres. 

Die  wichtigsten  Zweige  der  Heeresausrüstung  haben  folgende 
Entwicklung  genommen : 

1.  Die  Bewaffnung 

Der  Krieger  des  Mittelalters,  mochte  er  Ritter  oder  Land¬ 
stürmer  oder  Söldner  sein,  brachte  der  Regel  nach  seine  Waffe 
und  Wehr  selbst  mit. 

Das  mußte  sich  ändern,  und  zwar  zunächst  aus -rein  pro¬ 
duktionstechnischen,  äußeren  Gründen,  als  man  aus  Kanonen 
mit  Pulver  zxx  schießen  gelernt  hatte.  Diese  Waffen  konnte 
der  Einzelkrieger  beim  besten  Willen  nicht  selbst  mitbringen. 
Wir  sehen  deshalb  frühzeitig  Städte  und  Staaten  sich  um  die 
Beschaffung  der  groben  Geschütze  kümmern.  Den  äußeren  Aus¬ 
druck  findet  diese  Fürsorge  in  der  Anlage  von  Zeughäusern  oder 
Arsenalen,  in  denen  die  Kanonen,  die  man  jeweils  einer  Truppe 
zur  Verfügung  stellte,  aufbewahrt  wurden.  Anfangs  sind  es 
städtische,  später  staatliche  Arsenale.  So  hat  im  15.  Jahrhundert 
die  Stadt  Paris  ein  prächtig  ausgestattetes  Zeughaus  1 2 ;  ebenso 
die  Städte  Mons,  Brügge3. 

Im  16.  Jahrhundert  bemühten  sich  die  Fürsten,  zahlreiche 
Arsenale  zu  errichten.  Allen  voran  waren  die  beiden  großen 
Militärmächte  der  Zukunft,  Frankreich  und  Brandenburg-Preußen. 

Welche  Ausdehnung  die  Zeughäuser  bis  zum  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  in  allen  europäischen  Staaten  gewonnen  hatten, 
lehrt  uns  ein  Blick  in  „Das  neueröffnete  Arsenal“  3,  das  uns  im 
vierten  Abschnitt  ein  Verzeichnis  gibt  „von  den  Stellen,  wo  Ge¬ 
schütz  und  Ammunition  verfertigt,  aufbehalten  und  gebraucht 
wird“. 

1  E.  Bo  utaric;  Institutions  militaires  de  la  France  (1863),  360  seg. 

2  M.  Guillaume,  Hist,  de  1’ Organisation  mil.  sous  les  ducs  de 
Bourgogne  (1847),  78,  102/3. 

3  „Das  neueröffnete  Arsenal“  bildet  einen  Teil  des  „Neueröffneten 
Rittersaales“.  1704. 


Zweiiindzwanzigstes  Kapitel:  l)^s  Hecrcswcsoii 


353 


Nun  ist  aber  hier  anzumerken ,  daß  in  den  Arsenalen  und 
Zeughäusern  keineswegs  nur  das  „grobe  Geschütz“  aufbewahrt 
wurde ,  daß  in  ihnen  vielmehr  auch  Schutz-  und  Trutzwaffen 
anderer  Axt  lagen.  Damit  ist  die  Tatsache  erwiesen,  daß  das 
gesamte  Bewaffmmgswesen  in  der  Zeit  vom  15.  bis  17.  Jahr¬ 
hundert  von  einer  Tendenz  zur  Verstaatlichung  ergriffen  wird, 
da  natürlich  die  in  den  Zeughäusern  stapelnden  "Waffen  dazu 
dienten,  den  Kriegern  unentgeltlich  oder  gegen  Entgelt,  das 
bleibt  sich  gleich,  geliefert  zu  werden. 

Die  nachweislich  erste  Versorgung  der  Krieger  mit  Waffen 
durch  den  Staat  fand  bei  dem  nach  der  alten  Heeresfolge  übrig¬ 
gebliebenen  Aufgebote  der  Bevölkerung  statt,  wenn  ein  Krieg 
ausgebrochen  war  K 

Dann  dehnt  sich  das  System  der  staatlichen  Waffenlieferung 
allmählich  auf  alle  Truppen  aus.  Im  17.  Jahrhundert,  in  dem 
so  vieles  Neue  zur  Welt  gebracht  wird,  vollzieht  sich  die  Wand- 
lung.  V  ir  können  in  jener  Zeit  noch  deutlich  die  verschiedenen 
Übergangszustände  beobachten,  die  sich  aus  der  Umwandlung 
der  privaten  in  eine  staatliche  Versorgung  mit  Waffen  ergeben 
können : 

1.  Der  Krieger  bringt  einen  Teil  der  Waffen  mit,  die  andern 
liefert  ihm  der  Staat1 2. 

Ein  Abzug  vom  Sold  wurde  die  übliche  Form  des  Entgeltes. 

2.  'Der  Oberst  beschafft  die  Waffen  einheitlich  und  zieht  den 
Knechten  den  Betrag  monatsweise  ab3. 

3.  Die  Waffen  werden  entweder  in  natura  geliefert,  oder  die 
Soldaten  bekommen  ein  besonderes  Waffeno-eld4. 

o 

Daneben  kommt  aber  das  ganze  17.  Jahrhundert  hindurch  auch 
schon  die  vollständige  Lieferung  der  Waffen  durch  den  Staat  vor5. 

Aber  die  Neuordnung  des  Bewaffnungswesens  wird  uns  doch 
erst  dann  in  seiner  ganzen  charakteristischen  Bedeutung  ver¬ 
ständlich,  wenn  wir  in  Erfahrung  bringen,  daß  im  Zusammen- 

1  M.  Thierbach,  Die  geschichtl.  Entwicklung  der  Handfeuer¬ 
waffen  (1888 — 90),  21. 

2  Beispiel  bei  G.  Droysen,  Beitr.  z.  Gesch.  des  Militärwesens 
in  Deutschland  während  der  Epoche  des  30jährigen  Krieges,  in  der 
Zeitschr.  f.  Kult. -Gesch.  4  (1875),  404  ff. 

3  Beispiel  bei  Jany,  Anfänge,  45. 

4  Beispiel  in  der  Geschichte  der  Bekleidung  usw.  der  Kgl.  preuß. 
Armee  2,  277. 

5  Jany,  55.  Gesch.  der  Bekleidung  2,  203. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I,  23 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


354 

hange  mit  der  Verstaatlichung  sich  gleichzeitig  eine  Vereinheit¬ 
lichung  in  der  Gestaltung  der  "Waffen ,  eine  Uniformierung 
also  des  gesamten  Waffenwesens  vollzog. 

Bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein  waren  Waffen  und  Wehr  jedes 
einzelnen  Kriegers  von  denen  des  andern  verschieden  gewesen . 
beim  Kitter  natürlich,  aber  auch  beim  Fußvolk,  selbst  noch  bei 
den  neuen  Gewalthaufen  der  Schweizer,  die  noch  allerhand  Kurz¬ 
wehren,  Streitäxte,  Morgensterne  und  vor  allem  Hellebarden 
führten,  selbst  noch  als  die  Feuerwaffen  aufkommen:  „Kaliber, 
Form  und  Name  sind  in  das  Belieben  derer  gestellt ,  die  sie 
kaufen  oder  machen  lassen“  („Calibres,  fa9ons  et  noms  etant 
selon  la  volonte  de  ceulx  qui  les  acheptent  ou  les  iont  faire  ) 
heißt  es  in  der  Treille  1567  J. 

Das  erste  Beispiel  einer  gleichförmigen  Bewaffnung  größerer 
Scharen  bieten  wohl  die  langen  Spieße  der  Landsknechte  im 
16.  Jahrhundert,  deren  Einheitlichkeit  unmittelbar  aus  der  Grund¬ 
idee  des  auf  Massenwirkung  hinzielenden  modernen  Truppen¬ 
körpers  folgte.  Entindividualisierung  hier  wie  dort. 

Dann  aber  bedeutet  natürlich  die  Feuerwaffe  einen  neuen, 
gleichsam  produktionstechnischen  Anlaß  zur  Uniformierung.  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  bieten  die  Augsburger  Büchsenmacher  dem 
Herzog  Wilhelm  von  Bayern  900  Handrohre  an,  „so  alle  auf  eine 
Kugel  gerichtet“8,  was  also  noch  ungewöhnlich  war. 

Nun  hält  der  Begriff  des  Kalibers  seinen  Einzug  in 
die  Welt  der  Waffen1 2 3 4. 

2.  Die  Beköstigung 

Wir  werden  gut  tun,  Landheer  und  Marine  gesondert  zu  be¬ 
trachten,  da  die  Verpflegung  ihrer  Truppen  doch  zu  viel  innere 
Verschiedenheiten  aufweist,  um  sie  in  einem  zu  betrachten. 

Das  ganze  Mittelalter  hindurch  bis  tief  in  die  neuere  Zeit 
hinein  war  es  bei  den  Landtruppen  die  Kegel,  daß  jeder 
Krieger  für  seinen  Unterhalt  selbst  sorgte  oder  daß  die  Nächst¬ 
stehenden  ihn  mit  Unterhaltsmitteln  in  natura  versahen,  ganz 


1  Fran<y  16  691;  fol.  102 vo  bei  Ch.  de  la  Ronciere,  Hist,  de  la 
marine  frani;.  2,  493. 

2  Georg  Liebe,  Der  Soldat  in  der  deutschen  Vergangenheit 
(1899),  21. 

3  Jälms,  Gesell,  d.  Kriegswiss.  1,  662. 

4  Krieg  und  Kap.,  S.  84  f. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen 


355  * 


gleich  ob  es  Reiterheere  oder  Fußheere ,  ob  Aufgebots-  oder 
Söldnertruppen  waren. 

Es  ist  der  Zustand,  der  noch  zur  Zeit  Wallensteins  herrscht  h 

Mit  der  fortschreitenden  Verstaatlichung  der  Heere  wird  die 
Regelung  des  Verpflegungs  Wesens  nach  und  nach  auch  als  eine 
Aufgabe  des  Staates  anerkannt1 2. 

überall,  soviel  ich  sehe,  beginnt  die  Staatsgewalt  die  Regelung 
des  Verpflegungs wesens  mit  einer  Art  von  indirekter  Für¬ 
sorge:  Die  Beamten  des  Königs  oder  der  andern  Obrigkeit 
wachen  darüber,  daß  die  für  den  Unterhalt  der  Truppen  not¬ 
wendigen  Lebensmittel  in  hinreichender  Menge ,  guter  Qualität 
und  zu  zivilen  Preisen  dem  einkaufenden  Soldaten  zur  Verfügung 
stehen.  Von  einer  solchen  Fürsorge  erfahren  wir  im  15.  Jahr¬ 
hundert  bei  dem  Schweizer  Aufgebot,  von  dem  schon  die  Rede 
war3.  Wir  hören  davon  noch  früher  in  Frankreich4.  Sie  begegnet 
uns  bei  den  Heeren  des  Dreißigjährigen  Krieges5. 

Aber  frühzeitig  wurde  die  Mitwirkung  des  Staates  bei  der 
Beköstigung  der  Truppen  doch  eine  inhaltlich  helfende.  Der 
Fürst  hatte  von  alters  her  eine  Leibwache :  für  deren  leiblichen 
Unterhalt  mußte  er  selbst  sorgen.  Er  mußte  ferner  die  Festungen 
verproviantieren.  Er  mußte  die  Truppen  mit  Lebensmitteln  ver¬ 
sehen,  die  er  über  See  sandte.  So  sehen  wir  abermals  schon  im 
Mittelalter  den  König  von  Frankreich  am  Werke,  durch  die  Bailles 
und  Senechaux  Lebensmittel  aufkaufen  zu  lassen,  die  er  für  die 
eben  genannten  Zwecke  verwandte6. 

Daneben  finden  wir  frühzeitig  öffentliche  Körperschaften  vom 
Staate  damit  beauftragt,  für  den  Unterhalt  der  Truppen  zu  sorgen : 

1  Über  die  Verpflegung  der  Wallensteinschen  Heere  unterrichten 
(beide  nicht  sehr  genau):  J.  Heilmann,  Kriegswesen  zur  Zeit  des 
Dreißigjährigen  Krieges  (1850);  V.  Loewe,  Die  Organisation  und 
Verwaltung  der  Wallensteinschen  Heere  (1895).  Vgl.  Fr.  Foerster, 
Lebensbeschreibung  Wallensteins,  1834  (mit  wichtigem  Material),  und 
M.  Ritter,  Das  Kontributionssystem  W.s  (Histor.  Zeitschr.  Bd.  90). 

2  Über  die  Entwicklung  der  mit  der  Fürsorge  für  das  Verpflegungs¬ 
wesen  betrauten  Organe  der  Staatsgewalt  (Kriegskommissariat !)  siehe 
Krieg  und  Kap.  S.  118  ff.  Vgl.  außer  der  dort  genannten  Literatur 
noch  0.  Hintze,  Der  Kommissarius  und  seine  Bedeutung  in  der  all¬ 
gemeinen  Verwaltungsgeschichte.  Aufsätze  für  K.  Zeumer,  S.  493  ff., 
und  dazu  Gr.  v.  Below,  Landtagsakten  von  Jülich  und  Berg  II,  S.  IXf. 

3  H.  Delbrück,  Gesch.  d.  Kriegskunst  3,  608  f. 

4  Boutaric,  Inst,  milit.,  S.  277 — 280. 

5  G.  Droysen,  Beiträge,  a.  a.  O.  623  ff. 

6  Boutaric,  1.  c.  p.  277  seg. 

8S* 


856 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


♦ 


die  Ordonnanzkompagnien  Karls  VII.  wurden  von  den  Provinzen 
in  natura  verpflegt1. 

Bei  der  zunehmenden  Erstarkung  des  Staatsgedankens  konnte 
es  nicht  ausbleiben,  daß  der  Fürst  auf  die  Idee  verfiel,  nachdem 
er  sein  Heer  verstaatlicht  hatte ,  nun  auch  das  gesamte  Ver¬ 
pflegungswesen  zu  verstaatlichen.  Es  scheint,  als  ob  das  System 
der  Verpflegung  der  Truppen  durch  den  Staat  zu 
voller  Entwicklung  zuerst  in  Spanien  während  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  gelangt  sei.  Von  hier  fand  es  Verbreitung  auch  in 
andern  Staaten,  wie  in  Brandenburg-Preußen.  Hier  sehen  wir 
es  bis  zur  Zeit  des  Großen  Kurfürsten  in  der  Form  der  „Speisung“, 
d.  li.  der  Verpflegung  durch  den  Quartierwirt,  in  Übung. 

Dieses  System  der  vollen  Verpflegung  durch  den  Staat  hielt 
sich  jedoch  nicht  lange.  Die  Schwierigkeiten  der  Durchführung, 
die  damit  für  die  bequartierten  Gegenden  verknüpften  Unzu¬ 
träglichkeiten  bestimmten  schon  den  Großen  Kurfürsten  dazu, 
die  Speisung  der  Armee  wieder  zu  beseitigen,  die  Geldzahlung 
wieder  an  die  Stelle  zu  setzen.  Friedrich  Wilhelm  I.  suchte 
noch  mehr  die  fiskalische  Naturalverwaltung  zu  beschränken :  die 
Regimenter,  Kompagnien  und  die  einzelnen  auf  feste  Geld¬ 
einnahmen  zu  setzen,  mit  denen  sie  auskommen  mußten.  So 
bildete  sich  im  Laufe  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  in  den  meisten 
Staaten  eine  Art  von  gemischtem  System  heraus,  das  ziem¬ 
lich  einheitlich  auf  folgenden  Grundsätzen  beruhte:  der  Staat 
verpflegt  den  Soldaten  ganz  auf  dem  Marsche  und  im  Felde ;  in 
der  Garnison  überläßt  er  es  im  wesentlichen  dem  einzelnen,  wie 
er  sich  für  den  Geldsold,  den  er  empfängt,  beköstigt.  In  den 
einzelnen  Staaten  wird  dieser  oder  jener  Bestandteil  des  Unter¬ 
halts  dem  Soldaten  vom  Staat  oder  vom  Quartiergeber  (in  Gestalt 
des  sogenannten  Servis)  in  natura  verabreicht. 

Sobald  der  Staat  irgendwelche  Fürsorge  für  den  Unterhalt 
des  Soldaten  übernahm,  also  namentlich  sobald  er  ihm  das  Brot 
—  sei  es  immer,  wie  in  Frankreich,  sei  es  zuzeiten,  wie  in  den 
meisten  deutschen  Staaten  —  lieferte,  mußte  er  für  Bereithaltung 
von  Vorräten,  insonderheit  also  -wieder  für  Aufstapelung  von 
Getreide  sorgen. 

Das  geschah  dadurch,  daß  er  möglichst  über  das  ganze  Land 
verstreut  Magazine  anlegte:  in  Frankreich  geschieht  dies  be¬ 
reits  unter  Heinrich  IV.,  dann  unter  Ludwig  XIII.  in  weitem 


1  Boutaric,  311;  nach  dem  Ms.  im  Brit.  Mus.  W  115  u.  2. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen 


357 


Umfange1;  in  Preußen  namentlich  unter  Friedrich  Wilhelm  I. 
(1726  waren  21  Kriegsmagazine  errichtet)2;  von  andern  deutschen 
Staaten  waren  Sachsen,  Böhmen  und  Württemberg  in  gleicher 
Richtung  schon  seit  dem  16.  Jahrhundert  vorangegangen3. 

% 

*  * 

Die  Verhältnisse  bei  der  Marine  liegen  insofern  anders  wie 
beim  Landheer,  als  die  Selbstverpflegung  der  Mannschaft  bei 
irgendwie  größeren  Schifistypen  und  längeren  Reisen  kaum  durch¬ 
führbar  ‘  ist.  Man  vergegenwärtige  sich ,  daß  auf  einem  Kriegs¬ 
schiffe  ein  paar  hundert  oder  tausend  Menschen  wochen-  oder 
monatelang  von  allem  Verkehr  mit  der  Außenwelt  abgeschlossen 
sind.  Sie  müssen  also  jedenfalls  mit  großen  Vorräten  an 
Lebensmitteln  versehen  sein.  Die  Beschaffung  dieser  Vorräte 
dem  einzelnen  zu  überlassen,  sie  einzeln  im  Schiffe  aufzustapeln, 
zu  bewachen  und  sie  dann  auch  einzeln  verzehren  zu  lassen,  ist 
außerordentlich  lästig.  Vorgekommen  scheint  auch  diese  Art  der 
Selbstbeköstigungen  auf  Schiffen  zu  sein,  wohl  unter  kleinen 
Verhältnissen  4. 

Die  großen  seefahrenden  Staaten,  also  namentlich  Spanien, 
Holland,  Frankreich  und  England,  scheinen  das  System  der 
Selbstbeköstigung  ihrer  Schiffsmannschaften  niemals  gekannt  zu 
haben.  Was  verschieden  gestaltet  ist,  ist  nur  die  Form,  in  der 
die  kollektive  Beschaffung  der  Lebensmittel  für  die  Schiffs¬ 
besatzung  erfolgt.  Hier  sind,  soviel  ich  sehe,  im  Laufe  der  Jahr¬ 
hunderte  zwei  Systeme  angewandt  worden:  eins,  das  man  das 
französische  nennen  kann,  bei  dem  den  Schiffskapitänen  die  Ver¬ 
proviantierung  ihrer  Schiffe  überlassen  ist,  und  ein  englisches, 
bei  dem  der  Staat  für  die  Verpflegung  der  Schiffsmannschaften 
Sorge  trägt5. 

3.  Die  Bekleidung 

«)  Die  Beldeidungssysteme 

Den  Anfang  macht  auch  hier  die  Eigenfürsorge  jedes  Kriegers 
für  seine  Bekleidung.  Der  Landsknecht  brachte  seine  Anzüge 

1  Boutaric,  384. 

2  Acta  Borussica,  Getreidehandelpolitik  2,  272. 

3  Acta  Bor.,  d.  c.  2,  87  ff. 

4  Z.  B.  in  Genua  im  13.  Jahrh. :  Ed.  Heyck,  Genua  und  seine 
Marine  158.  160.  169. 

5  Für  Frankreich:  Principes  de  Mr  Colbert  sur  la  marine,  ab¬ 
gedruckt  bei  Sue,  1.  c.  1,  317.  Für  England:  Close  Rolls  48,  71, 
'und  15  John  158,  bei  Laird  Clowes  1,  119, 


358 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


mit,  so  wie  er  sie  für  gut  hielt.  Aber  auch  die  Krieger  in  den 
Ordonnanzkompagnien  Karls  des  Kühnen  (1471),  also  schon  einer 
Art  von  „stehendem  Heer“,  haben  noch  selbst  für  ihre  Bekleidung 
(ebenso  wie  für  ihre  Bewaffnung)  zu  sorgen x.  Denselben  Zustand 
treffen  wir  auf  der  englischen  Flotte  zur  Zeit  der  Elisabeth  an 

Wenn  eine  höhere  Instanz  sich  um  das  Bekleidungswesen  zu 
bekümmern  anfängt,  so  geschieht  es  manchmal,  ähnlich  wie  wir 
es  bei  der  Beköstigung  schon  kennen  gelernt  haben,  in  der  I  orm 
einer  indirekten  Fürsorge :  man  überläßt  es  zwar  dem  einzelnen 
Krieger  noch,  sich  nach  eigenem  Gfutdünken  und  auf  seine  Kosten 
zu  equipieren,  achtet  aber  darauf,  daß  er  gute  und  preiswerte 
Ware  beim  Einkauf  vorfindet. 

So  verfuhr  die  englische  Regierung  auf  ihrer  Flotte  im 
17.  Jahrhundert1 2 3. 

Aber  in  dem  Maße,  wie  die  einzelnen  Truppenkörper  sich  in 
sich  selbst  festigten  und  zu  einem  einheitlichen  Heere  zusammen - 
geschweißt  wurden,  trat  doch  die  kollektive  Bedarfsdeckung  an 
die  Stelle  der  Einzelversorgung. 

Das  militärische  Unternehmertum,  das  namentlich  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  das  Heerwesen  beherrschte,  brachte  es  von  selbst 
mit  sich,  daß  diejenige  Instanz,  der  die  Bekleidung  eines  Truppen¬ 
körpers  zufiel,  wenn  schon  die  Individualversorgung  aufhören 
sollte,  der  Oberst  des  Regiments  oder  der  Kompagniechef  wurden. 

Dieses  System  der  regiments-  oder  kompagnieweisen  Be¬ 
schaffung  der  Kleidung  hat  wohl  in  allen  Militärstaaten  von 
Beginn  der  modernen  Heere  an  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein 
geherrscht 4. 

Frühzeitig  griff  aber  dann  auch  der  Staat  in  das  Be¬ 
kleidungswesen  ein,  indem  er  sicli  an  der  Ausrüstung  des  Heeres 
selbst  beteiligte.  Zunächst  neben  den  andern  Instanzen,  sei 

1  M.  Guillaume,  Hist,  de  l’organ.  militaire  sous  les  ducs  de 
Bourgogne  (1874),  140. 

2  M.  Oppenheim,  Hist,  of  the  administration  of  the  Royal  Navy 
(1896),  138.  139. 

8  W.  Laird  Clowes,  1.  c.  2,  20.  St.  P.  D.  11.  Dez.  1655; 
St.  P.  D.  CXXXIY,  64;  St.  P.  D.  Sept.  1656;  bei  Oppenheim  329. 

4  Für  England:  Handschr.  Quellen  bei  P.  Gr  ose,  Military  Anti- 
quities  resp.  a  History  of  the  English  Army  1  (1812),  310  seg. ; 
Fortescue,  Hist,  of  the  British  Army  1,  283  seg.  Für  Frankreich: 
L.  Mention,  L’armee  de  Fanden  regime  (1900),  255.  Für  Branden¬ 
burg-Preußen:  Geschichte  der  Bekleidung  usw.  der  Kgl.  preuß.  Armee, 
2.  Teil.  Dm  Kütassier-  u.  Dragonerregimenter  (bearb.  von  C.  Kling), 
1906,  S.  3/4, 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heereswesen 


359 


es  daß  er  einen  Teil  der  Truppen  völlig  einkleidete,  sei  es  daß 
er  einen  Teil  der  Bekleidung  aller  Truppen  auf  sieb,  übernahm. 

In  diesem  Falle  stellte  er  entweder  den  Obersten  und  H’aupt- 
leuten  das  Rohmaterial  für  die  Kleidung,  also  namentlich  das 
Tuch  für  die  Anzüge,  gegen  entsprechendes  Entgelt  zur  Ver¬ 
fügung.  Das  geschah  z.  B.  in  Brandenburg-Preußen  ’. 

Oder  der  Fürst  lieferte  einen  Teil  der  Kleidung,  die  Offiziere 
den  andern1 2. 

Der  andere  Weg,  den  der  Fürst  einschlug,  um  an  der  Bekleidung 
seiner  Truppen  teilzunehmen,  führte  ihn  zur  völligen  Versorgung 
eines  Teiles  des  Heeres,  so  daß  in  diesem  Falle  sich  die  Armee 
in  staatlich  und  sonst  woher  bekleidete  Regimenter  schied. 

Von  Anfang  an  hatte  der  Fürst  wohl  für  die  Equipierung 
seiner  Leibgarde  gesorgt.  Und  auf  deren  reichliche  und  kostbare 
Ausstattung  blieb  dann  auch  später,  als  sie  sich  beträchtlich 
erweiterte  und  in  Frankreich  z.  B.  sich  zu  den  „Truppen  des 
königlichen  Hauses“  auswuchs,  das  Hauptbestreben  gerichtet. 
Daneben  gab  der  Fürst  andern  Truppen  Monturen,  je  nach  deren 
Bedarf  imd  je  nach  seinem  Können3. 

Im  18.  Jahrhundert  vollendet  sich  dann  in  allen  Militärländern 
die  Verstaatlichung  des  Bekleidungswesens. 

Vorbildlich  für  die  Organisation  des  Militärbekleidungswesens 
wurden  die  1768  errichteten  österreichischen  Monturs¬ 
kommissionen,  die  den  Zweck  hatten,  „sämtliche  Truppenteile 
der  Armee  sowohl  in  Friedens-  als  Kriegszeiten  mit  den  erforder¬ 
lichen  Monturs-,  Armaturs-,  Lederwerks-  und  Pferdeausrüstungs¬ 
gegenständen  und  Feldrequisiten  aller  Art  zu  versehen“ ,  und 
die  auch  gleichzeitig  für  die  Beschaffung  der  Spitalgerätschaften 
und  Bettfurnituren  zu  sorgen  hatten4. 

b)  Die  Uniform 

Engstens  mit  den  Wandlungen  der  Bekleidungssysteme  im 
Zusammenhang  stehen  die  für  die  ökonomischen  Piobleme  be- 

1  Jany,  Anfänge,  33.  Frh.  v.  Richthofen,  Der  Haushalt  der  ' 
Kriegsheere,  in  der  Handbibliothek  für  Offiziere  5  (1839),  628  ff. 

2  Siehe  z.  B.  den  Vertrag  über  die  Bekleidung  des  Regiments 
Anhalt  zu  Fuß  vom  23.  Jan.  1681,  in  der  Geschichte  der  Bekleidung 

usw.  2)  2 1. 2 •  _  .  ..  ...  / ~.  tt  -i 

3  Beispiele  für  England:  F.  Grose,  Military  Antiquities  (2  Vol. 

1812)  1,  310  ff.  Hub.  Hall,  Society  in  the  Elizabeth  Age  (4.  ed. 
1901)  p  127;  für  Frankreich:  L.  Mention,  1.  c.  255  seg. 

4  Frb.  v.  Richthofen,  Der  Haushalt  der  Kriegsheere  a.  a.  0. 


3G0 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


sonders  wichtigen  Veränderungen,  die  die  Form  der  Bekleidung 
erfahrt. 

Wenn  jeder  Krieger  ganz  nach  Gutdünken  und  Vermögen  für 
seine  Kleidung  selbst  zu  sorgen  hat,  so  kommt  bei  einer  ganzen 
Truppe,  ähnlich  wie  wir  es  bei  der  Bewaffnung  sahen,  eine  große 
Buntscheckigkeit  heraus.  Jedem  steht  das  Bild  eines  Haufens 
Landsknechte  vor  Augen,  in  dem  jeder  einzelne  seinem  absonder¬ 
lichen  Geschmacke  in  der  Kleidung  Ausdruck  verleiht1. 

Die  moderne  Uniform2  ist  ein  durch  und  durch  rationales 
Gebilde :  sie  ist  geboren  aus  einer  Reihe  ganz  intensiver  und  ganz 
subtiler  Zweckmäßigkeitserwägungen  heraus.  Zweckmäßigkeits¬ 
erwägungen  zunächst  militaristischer  Natur. 

Da  war  der  rein  äußerliche  Grund :  daß  man  an  einer  Uniform 
eine  Truppe  leichter  erkennen  und  leichter  von  der  andern  unter¬ 
scheiden  konnte.  Aber  zu  diesem  äußerlichen  gesellten  sich 
schwerwiegende  innerliche  Gründe,  die  eine  Uniformierung  der 
Heere  nahelegten:  die  Uniform  verleiht  den  Trägem,  sagte  man 
sich,  ein  Gefühl  der  Solidarität,  das  sie  ohne  die  gleiche 
Tracht  nicht  besitzen. 

Verwandt,  aber  nicht  identisch  mit  dieser  Erwägung  war  die 
andere,  die  später  die  großen  Truppenorganisatoren  anstellten: 
wenn  sie  meinten,  zur  guten  Disziplinierung  eines  Heeres  gehöre 
die  Uniform.  Hier  war  es  gleichsam  eine  heteronome  Unter¬ 
werfung  des  einzelnen  unter  die  Zwecke  des  Ganzen,  die  man 
von  der  Uniformierung  erwartete.  Ohne  Uniform  keine 
Disziplin:  diesen  Gedanken  spricht  Friedrich  der  Große 
einmal  aus,  als  er  den  Zustand  der  Armee  des  Großen  Kurfürsten 
beschreibt3. 

Zu  diesen,  wie  ich  sie  nannte,  militaristischen  Zweckmäßig¬ 
keitserwägungen  gesellen  sich  nun  aber  als  Helfer  die  starken 
Gründe  der  ökonomischen  Ratio,  die  eben  gleichfalls  auf 


1  Die  Mannigfaltigkeit  der  Kleidung  reicht  noch  bis  in  das  17.  Jahr¬ 
hundert  hinein.  Über  die  Buntscheckigkeit  der  schwedischen  Truppen 
im  30jährigen  Kriege  siehe  z.  B.  J.  Heilmann,  Das  Kriegwesen 
der  Kaiserlichen  usw.  (1850),  18;  der  Armee  des  Großen  Kurfürsten : 
Geschichte  der  Bekleidung  usw.  2,  213.  Weshalb  die  Heere  noch  im 
17.  Jahrhundert  Erkennungszeichen  irgendwelcher  Art  trugen:  Ge¬ 
schichte  der  Bekleidung  2,  4"  vgl.  Anlage  41 — 43. 

2  Über  ihre  Entstehung  siehe  Krieg  und  Kap.  S.  156  ff. 

3  Mem.  pour  servir  ä  l’histoire  de  la  Maison  de  Brandenburg  1767 
par  Frederic  II,  abgedr.  in  der  Geschichte  der  Bekleidung  2,  201. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Heeres  wesen 


361 


die  Uniformierung  hindrängen :  die  Gleichförmigkeit  schafft  die 
Möglichkeit  des  Massenbezuges  und  der  Massenherstellung,  und 
diese  gewähren  zahlreiche  Vorteile,  deren  wichtigster  der 
niedrigere  Preis  ist. 

Die  Uniform  dehnt  sich  in  gleichem  Maße  und  in  gleichem 
Schritt  aus  wie  die  Verstaatlichung  des  Bekleidungswesens. 

In  dem  Maße  nun,  wie  der  Fürst  die  Truppen  überhaupt  mit 
Kleidung  versah,  uniformierte  er  sie  auch.  So  daß  wir  während 
des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts  das  Fortschreiten  des  staat¬ 
lichen  Bekleidungssystems  an  dem  Fortschreiten  der  Unifor¬ 
mierung  verfolgen  können:  bis  zum  völligen  Siege  der  beiden 
Prinzipien  h 

1  Über  den  allmählichen  Sieg  der  Uniformen  in  den  verschiedenen 
Heeren  unterrichten :  Xav.  Andouin,  Hist,  de  l’admin.  de  la  guerre 
1  (1811),  52seg.;  de  Chennevieres,  Details  militaires  2  (1750), 
116  ff. ;  Boutaric,  Inst,  mil.,  359.  425;  Fortescue,  op.  cit.  3, 
213;  Laird  Clowes,  op.  cit.  3,  20;  König,  Alte  und  neue  Denk¬ 
würdigkeiten  der  Kgl.  preußischen  Armee  (1787),  24,  zit.  in  der  Gesch. 
der  Bekleidung  2,  211;  Jany,  Anfänge,  45  f. ;  Gesch.  der  Bekleidung 
2,  3;  A.  v.  Crousaz,  Die  Organisation  des  brandenburgischen  und 
preußischen  Heeres  1640 — 1665  1  (1865),  11  ff.  Vgl.  Krieg  und  Kap. 
S.  161  ff. 


i 


362 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel 

Der  Merkantilismus  als  Ganzes 

Quellen  und  Literatur 

Als  Quellen  für  das  Studium  des  Merkantilismus  kommen 
natürlich  fast  ausschließlich  die  Gesetze,  Verordnungen  usw.  mit  ihren 
Begründungen  in  Betracht.  Sie  finden  sich  für  alle  Länder  in  leicht 
zugänglichen  Sammelwerken  zusammengestellt. 

Eine  vollständige  Übersicht  aller  englischen  Quellenwerke  findet 
man  bei  Cunningham,  Growth,  im  Anhang. 

Für  Frankreich  kommt  vor  allem  in  Betracht  Isambert,  Jourdan 
et  Decrusy,  Becueil  general  des  anciennes  lois  fhu^aises  de  420 
ä  1789.  1822  —  27.  29  Vol.  in  8 0  (v.  Index  sub  Manufactures, 

Mines  etc.),  und  dann  zu  bequemerer  Benutzung  die  Spezialsammlung 
Becueil  de  reglements  generaux  sur  les  manufactures.  4  Vol.  in  4° 
et  2  Vol.  de  suppl.  1730—32,  wo  man  alle  Gesetze,  die  sich  auf  die 
große  Industrie  beziehen,  aus  den  Jahren  1660 — 1730  zusammengestellt 
findet.  Der  Code  du  Fabricant,  2  Vol.  1788,  war  mir  nicht  zugänglich. 
Die  Begesten  der  auf  die  Manufakturen  bezüglichen  Eeglements  von 
1650—1751  im  App.  Nr.  2  des  Seite  372  genannten  Buches  von  Martin 
(Louis  XIV). 

Für  Spanien:  Becopilacion  de  las  Leyes  destos  Beynos.  3  Tom. 
1640. 

Für  Holland:  Groot  Placcaetboek,  9  dln,  1658 — 1797. 

Für  Österreich:  Jos.  Kropatschek,  Kais.  Kön.  österr.  Gesetze, 
welche  den  Kommerzialgewerben  und  den  Gewerbsleuten  insbesondere 
vorgeschrieben  sind.  2  Bde.  1804.  F.  Xav.  Wekebrod,  Samm¬ 
lungen  der  Verordnungen  und  Generalien  für  sämtliche  Zünfte  und 
Innungen.  1799. 

Für  Deutschland:  Schmauss-Senckenberg,  Sammlung  der 
Beichsabschiede  (bis  1736).  4  Bde.  1747.  Brandenburg  -  Preufsen: 

Mylius,  C.  C.  N.  Cod.  dipl.  Brand.,  ed.  Biedel.  Acta  borussica, 
hrsg.  von  der  Kgl.  Akad.  der  Wiss.  1892  ff. 

Neben  dem  gesetzgeberischen  Material  sind  dann  noch  zu  Bäte 
zu  ziehen  die  Korrespondenzen  usw.  der  Fürsten,  der  großen  Staats¬ 
männer  und  der  höheren  Beamten,  von  denen  wir  namentlich  für  Frank¬ 
reich  eine  Beihe  guter  Sammlungen  besitzen,  wie  die  Correspondance 
administrative  sous  le  regne  de  Louis  XIV.  Tome  III:  Affaires  de 
Finances  —  Commerce  —  Industrie.  De  Boislisle,  Correspondance 
des  contröleurs  des  finances  avec  les  intendants.  3  Vol.  in  fol.  1874. 
1883.  1878.  Clement,  Lettres,  instructions  et  memoires  de  Colbert. 
7  Vol.  4°.  1861 — 82.  (Der  zweite  Band  bezieht  sich  vornehmlich  auf 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  als  Ganzes  363 

die  Industrie.)  Für  England':  Thom.  Carlyle,  Oliver  Cromwell’s 

Letters  and  Speeches.  4  Vol.  1902. 

Werke,  die  den  Merkantilismus  unter  allgemeinem  Gesichtspunkte 
behandeln,  sind,  wenn  wir  von  den  rein  literar-historischen  Arbeiten 
absehen,  nicht  zahlreich.  Die  wichtigsten  sind:  H.  J.  Bidermann, 
Der  Merkantilismus.  1870.  Edm.  Frh.  v.  Heyking,  Zur  Geschichte 
der  Handelsbilanztheorie.  I.  (einziger)  Teil:  Einleitendes.  Altere 
englische  Systeme  und  Theorien.  1880.  Für  die  Zeit  ihres  Erscheinens 
eine  ganz  hervorragende  Schrift,  G.  Sc  hm  oll  er,  Das  Merkantil¬ 
system  in  seiner  historischen  Bedeutung:  städtische,  territoriale  und 
staatliche  Wirtschaftspolitik,  in  seinem  Jahrbuch  8  (1884),  S.  15  ff. 
H.  Sieveking,  Grundzüge  der  neueren  Wirtschaftsgeschichte  vom 
17.  Jahrh.  bis  zur  Gegenwart,  in  Meisters  Grundriß  II,  2.  19 07 • 

'  Um  so  zahlreicher  sind  die  Darstellungen  der  merkantilistischen 
Epoche  in  den  einzelnen  Ländern,  die  ich  in  den  folgenden  Kapiteln 
nennen  werde. 


Die  gleichförmigen  Eigenarten  der  merkantilistischen  Wirt¬ 
schaftspolitik  wird  man,  wie  mir  scheint,  am  besten  verstehen, 
wenn  man  sich  klar  macht,  was  an  Ideen  und  Grundsätzen  aus 
der  früheren  (stadtwirtschaftlichen)  Periode  übernommen  wurde 
und  welche  Neuerungen  mit  Notwendigkeit  aus  dem  veränderten 
Interesse  des  Fürsten  sich  ergeben  mußten. 

Der  Merkantilismus  ist  zunächst  in  der  Tat  nichts  anderes 
als  die  auf  ein  größeres  Territorium  ausgedehnte 
Wirtschaftspolitik  der  Stadt.  Wie  diese  den  Mittelpunkt 
der  Welt  mit  ihren  Interessen  gebildet  hatte,  denen  selbstverständ¬ 
lich  alle  übrigen  Interessen  untergeordnet  waren,  so  wird  dies  jetzt 
das  vom  Fürsten  beherrschte  Gebiet  :  egozentrisch  bleibt  die  Politik 
in  ihrer  Grundauffassung.  Aber  auch  die  alte  Gemeinschaftsidee 
setzt  sich  in  der  allgemeinen  Staatsidee  bis  zu  ihren  letzten 
Konsequenzen  fort:  das  Wohl  des  Ganzen  geht  dem  einzelnen 
vor;  die  Gesamtheit,  wenn  auch  vertreten  durch  den  absoluten 
Monarchen,  steht  solidarisch  ein1.  Aus  dieser  Grundauffassung 
folgt  zunächst  eine  weitgehende  Fürsorge  auch  des  absoluten 
Staates  für  den  wirtschaftlichen  Verzehr  seiner  Angehörigen :  die 
„Versorgungspolitik“  der  mittelalterlichen  Städte  wird  von  ihm 
in  allen  ihren  Teilen  apf  das  gewissenhafteste  fortgeführt. 

Die  Versorgungspolitik“  der  Städte  hatte  den  Zweck  ver¬ 
folgt  die  Einwohner  mit  den  nötigen  Lebensmitteln  (Getreide,  Vieh) 
zu  versehen.  Daher  das  Bestreben,  soviel  wie  möglich  von  diesen 


i  Diese  Ideen,  die  in  Frankreich  am  höchsten  entwickelt  sind,  hat 
meisterhaft  dargestellt  Ranke  in  seiner  Französischen  Geschichte. 


364 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Gütern  in  die  Stadt  zu  ziehen,  was  mafi  dadurch  zu  erreichen  suchte, 
daß  man  die  Ausfuhr  aus  der  Landschaft  verbot ,  die  Produzenten 
verpflichtete ,  ihre  Erzeugnisse  zu  Markte  zu  bringen ,  daß  man  den 
Fürkauf  untersagte,  vorüberziehende  Händler  zum  „Stapeln“  ver- 
anlaßte  und  für  den  Fall  der  Not  Magazine  anlegte.  In  allen  diesen 
Punkten  führen  die  Fürsten  die  städtische  Politik  weiter. 

In  Spanien  begegnen  wir  königlichen  Ausfuhrverboten  für  Vieh  und 
Brot  1307,  1312,  1351,  1371,  1377,  1390,  für  Getreide  und  Herden 
1455,  Herden  und  Vieh  1502.  Rec.  Buch  VI  u.  VII. 

In  Frankreich  beginnt  die  Versorgungspolitik  der  Könige  mit  den 
Ordonnanzen  Philipps  IV.  von  1305  und  1307:  in  ihnen  wird  die 
Getreideausfuhr  verboten,  die  Marktbeschickung  geboten,  wird  der 
Aufkauf  untersagt,  werden  Preise  für  Nahrungsmittel  festgesetzt.  Diese 
Grundsätze  bleiben  in  allen  folgenden  Jahrhunderten  in  Kraft:  1577 
wird  die  Ausfuhr  von  Getreide  nur  gegen  Erlaubnisschein  gestattet; 
Getreideausfuhrzölle  (22  livres  pro  muid)  enthält  der  Tarif  von  1614. 
Die  Reglementierung  des  Getreidehandels  wird  im  17.  und  18.  Jahr¬ 
hundert  eher  noch  strenger:  die  Pächter  sollen  ihr  Getreide  nicht 
länger  als  zwei  Jahre  auf  dem  Speicher  haben;  die  Städte  sollen 
sich  für  drei  Jahre  mindestens  verproviantieren;  die  Kaufleute  sollen 
kein  Getreide  kaufen  in  einem  Umkreis  von  mehr  als  2  Meilen  um 
jede  Stadt,  von  7 — 8  Meilen  um  Paris;  auswärtige  Händler  müssen 
ihr  Getreide  in  persona  anbringen  und  verkaufen  usw.  usw.  Siehe 
z.  B.  die  Ordonnance  du  Roy  sur  le  faict  de  la  police  generale  de 
son  royaume  1578.  Eine  sehr  ausführliche  Darstellung  dieser  Gesetz¬ 
gebung  gibt  P.  Boissonade,  Essai  sur  l’organ.  du  travail  au  Poitou 
1  (1900).  Livre  II  Ch.  I:  die  Hauptreglements  stammen  aus  dem  17. 
und  18.  Jahrhundert.  Vgl.  G.  Afanassiev,  Le  commerce  des 
Cereales  en  France  au  XVIII  siede.  1894. 

'In  England  beginnt  die  Fürsorge  der  Könige  mit  Heinrich  III.  Es 
kommt  ebenfalls  zu  einem  Verbot  der  Getreideausfuhr  (solange  der 
Preis  nicht  auf  6/8  pro  Quarter  sinkt)  sowie  zu  sehr  strengen  Be¬ 
stimmungen  über  den  Fürkauf  und  Zwischenhandel  mit  Lebensmitteln. 
Siehe  namentlich  5  u.  6  Edw.  VI  c  14  und  13  Elis.  c  25. 

Seit  der  Zeit  der  Elisabeth  wurden  die  Bestimmungen  über  die 
Getreideausfuhr  etwas  milder:  das  hatte  seinen  natürlichen  Grund  in 
der  zunehmenden  Rücksicht,  die  die  Könige  auf  die  Getreide-  und 
Viehproduzenten  nehmen  mußten,  und  macht  sich  gleichzeitig  in  allen 
Ländern  bemerkbar.  Es  kommt  zu  einer  Art  von  Kompromiß  zwischen 
städtischem  Konsumenten-  und  ländlichem  Produzenteninteresse,  der 
meist  darin  gipfelte,  daß  die  Getreideausfuhr  grundsätzlich  gestattet 
wurde,  aber  in  Zeiten  hoher  Preise  wieder  verboten  werden  konnte.  So 
in  Frankreich  im  16.  Jahrhundert,  wie  oben  schon  erwähnt  wurde.  So  in 
England  seit  1571:  die  Ausfuhr  wird  gestattet,  nur  in  Teuerungszeiten 
können  sie  die  Friedensrichter  verbieten.  Fürkaufsverbot,  Preistaxen, 
Aufsicht  über  Kauf  und  Verkauf  bleiben  aber  auch  nach  dieser  Zeit 
in  Kraft.  Siehe  für  England  R.  Fab  er,  Die  Entstehung  des  Agrar - 
gchutzes  in  E.  1888, 


Drenmdz-wanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  als  Ganzes  365 

Es  folgt  daraus  ferner  der  Grundsatz,  daß  das  einzelne  Wirt¬ 
schaftssubjekt  sein  Recht ,  Güter  zu  erzeugen  oder  .Handel  zu 
treiben,  von  der  Gemeinschaft  ableitet:  daß  diese,  die  nun  vom 
Monarchen  dargestellt  wird,  ihm  nach  ihrem  Gutdünken  so  viel 
Rechte  verleiht  und  Pflichten  auferlegt,  als  sie  im  eigenen  Inter¬ 
esse  für  richtig  hält:  alle  wirtschaftliche  Tätigkeit  ist  eine 
„privilegierte“. 

Und  es  folgt  endlich  aus  jener  Grundauffassung,  daß  der 
einzelne  sein  Verhalten  streng  den  "Weisungen  der  Obrigkeit  an¬ 
zupassen,  daß  diese  die  wirtschaftliche  Tätigkeit  zu  überwachen 
habe  und  für  ihre  sorgfältige  Ausübung  verantwortlich  sei:  als 
zu  welchem  Zwecke  sie  jede  Handlung  der  Wirtschaftssubjekte 
mit  einer  zurechtweisenden  Vorschrift  zu  begleiten  verpflichtet 
sei:  alle  wirtschaftliche  Tätigkeit  ist  eine  „reglementierte“. 

An  dieses  festgefügte  System  der  städtischen  Wirtschafts¬ 
politik  trat  nun  der  Fürst  mit  seinen  besonderen  Interessen 
heran.  Wir  wissen,  daß  er  seine  Macht  gründete  vor  allem  auf 
zwei  Einrichtungen :  dem  Söldnerheere  und  dem  Berufsbeamten¬ 
tum,  und  wissen  auch,  daß  diese  beiden  Einrichtungen  von  vorn¬ 
herein  grundsätzlich  auf  geldwirtschaftlicher  Basis  aufgebaut 
waren.  Um  Armee  und  Beamtenschaft  (zu  denen  sich  noch  der 
teure  Hofstaat  gesellt)  erhalten  zu  können,  bedurfte  der  Fürst 
also  vor  allem  Geld  und  nochmal  Geld  und  zum  drittenmal  Geld. 
(Erst  später  machte  sich  der  Mangel  an  Menschen  in  einzelnen 
Ländern  fühlbar  und  führte  zur  Peuplierungspolitik  zum  Beispiel 
in  dem  armen  Preußen.) 

Der  Fürst  verschaffte  sich  das  Geld,  dessen  er  für  seine 
Zwecke  benötigte,  auf  dem  Steuerwege  oder  durch  Anleihen. 
Damit  aber  Steuern  erhoben  und  Anleihen  aufgenommen  werden 
konnten,  mußte  .ein  Mindestvorrat  von  Edelmetall  im 
Lande  aufgespeichert  sein,  der  um  so  größer  zu  bemessen  war, 
je  geringer  entwickelt  die  Kreditformen  waren. 

Wir  können  von  der  Warte  des  Historikers  hier  wahmehmen, 
wie  also  auch  eine  bestimmte  Mindestmenge  von  Edelmetall  auf 
der  Erde  produziert  werden  mußte,  um  den  Anforderungen 
des  modernen  Fürstenstaates  zu  genügen.  Und  können  hinzufügen, 
daß  die  starke  Vermehrung  der  Edelmetallproduktion  in  diesen 
Jahrhunderten,  von  der  wir  uns  im  vierten  Abschnitt  noch 
genauer  überzeugen  werden,  eine  wesentliche  Förderung  für  die 
Entwicklung  des  modernen  Staatswesens  bedeutete.  Wenn  ein 
guter  Kenner  der  Heeresgeschichte  gelegentlich  einmal  den  Aus- 


366 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


spruch  tut:  „seine  (Sachsens)  Zeughäuser  und  Armeen  erwuchsen 
aus  den  Silberschachten  Schneebergs“  *,  so  können  wir  diesem 
Satz  die  allgemeinere  Fassung  geben :  aus  den  Silbergruben 
Mexikos  und  Perus  und  aus  den  Goldwäschen  Brasiliens  ist  der 
moderne  Staat  emporgetaucht.  Oder  anders  gefaßt:  Soviel 
Silber  (später  Gold)  —  soviel  Staat!  Selbstverständlich  nur  im 
Sinne  des  Bedingtseins:  ohne  eine  so  ergiebige  Edelmetall¬ 
produktion,  wie  sie  seit  der  Entdeckung  Amerikas  sich  einstellte, 
wäre  auch  der  moderne  Pürstenstaat  nicht  zu  solch  rascher  und 
allgemeiner  Entwicklung  gelangt. 

Geld  zu  beschaffen,  wird  also  das  Zentralproblem  der  fürst¬ 
lichen  Staatskunst,  und  es  ist  ja  sattsam  bekannt,  daß  sich  um 
dieses  Streben  nach  Geld  alle  Ideen  und  Maßnahmen  der  mer- 
kantilistischen  Politik  herumgelagert  haben.  War  es  das  eifrigste 
Bemühen  der  städtischen  Obrigkeiten  gewesen,  ihre  Stadt  mit 
Gebrauchsgütern  gut  zu  versorgen,  so  (könnte  man  sagen)  wurde 
es  zum  Kernstreben  aller  großen  Staatsmänner  des  ancien  regime, 
Tauschwerte  in  der  Form  des  Geldes  in  die  Kassen  ihrer  Fürsten 
und  zu  diesem  Behufe  vorher  Geld  in  die  ihnen  unterworfenen 
Länder  zu  bringen,  damit  es  direkt  oder  auf  Umwegen  zu  den 
Staatskassen  ströme.  Aus  der  Güterversorgungspolitik 
der  Städte  wurde  eine  Geldversorgungspolitik  der 
Staaten. 

„Je  crois  que  l’on  demeurera  facilement  d’accord  de  ce  prin¬ 
cipe  qu’il  n’y  a  que  l’abondance  d’argent  dans  un  Etat,  qui  fasse 
la  difference  de  sa  grandeur  et  de  sa  puissance“:  mit  diesen 
Worten  drückt  Colbert1 2  tatsächlich  die  Überzeugung  nicht  nur 
seiner  Zeit  aus,  sondern  der  Jahrhunderte,  die  ihr  vorausgehen, 
und  des  Jahrhunderts,  das  ihr  folgt.  Dieses  Streben  nach 
Geldvermehrung  lag  allen  merkantilistischen  Politikern,  lag  der 
merkantilistischen  Theorie  wie  der  merkantilistischen  Praxis 
gleichermaßen  zugrunde.  Was  sich  im  Laufe  der  Zeit  änderte 
oder  was  die  einzelnen  unterschied,  war  nur  die  verschiedene 
Auffassung  von  der  zweckmäßigsten  Art,  wie  man  am  leichtesten 
und  ausgiebigsten  das  ersehnte  Geld  sich  verschaffen  könne. 
In  England  sehen  wir  den  Kampf  der  Meinungen  im  17.  Jahr¬ 
hundert  sich  ausfechten  zwischen  den  Bullionists,  die  die  direkte 
Beeinflussung  des  Edelmetall-Zuflusses  und  -Abflusses  fordern, 

1  Jähns,  Geschichte  der  Kriegswiss.  1,  686. 

•  2  Lettres ,  instruct.  etc.  de  Colbert  par  P.  Clement,  t.  II 

2e  partie  p.  CCVII. 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  als  Ganzes  367 


lind  den  Mercantilists ,  die  eine  indirekte  Regelung  durch,  die 
Richtung  des  Warenstroms  (Handelsbilanz!)  für  zweckmäßiger 
halten;  und  sehen  dann,  wie  in  den  letzten  Jahren  der  Stuarts 
jene  Auffassung  zum  Durchbruch  kommt,  die  vor  allem  von  der 
Entwicklung  der  Industrie  die  Vermehrung  des  Geldvorrats  er¬ 
wartet.  Einer  der  ersten,  der  diese  Meinung  in  England  vertritt, 
ist  der  Verfasser  der  Britannia  Languens  (1680)  h 

Wir  werden  deshalb  am  leichtesten  einen  Überblick  über  die 
bunte  Welt  der  merkantilistischen  Politik  gewinnen,  wenn  wir 
die  einzelnen  Äußerungen  dieser  Politik  uns  als  ebensoviele  Ver¬ 
suche  verständlich  machen,  den  obersten  Zweck  der  Staatskunst, 
soweit  sie  materieller  Natur  war,  zu  verwirklichen,  und  wenn 
wir  sie  gruppieren  nach  der  Verschiedenheit  der  Methode,  das 
gesteckte  Ziel  zu  erreichen.  Wir  werden  uns  dabei  nur  immer 
wieder  der  Tatsache  erinnern  müssen,  die  wir  oben  feststellen 
konnten:  daß  die  merkantilistische  Staatskunst  ihre  eigenartigen 
Ziele  im  wesentlichen  auf  den  Wegen  zu  erreichen  suchte,  die 
vorher  schon  von  den  städtischen  Obrigkeiten  begangen  worden 
waren. 

Das  eifrigste  Streben  aller  merkantilistischen  Politik  mußte 
natürlich  darauf  gerichtet  sein,  sich  des  Geldes  auf 
direktem  Wege  zu  bemächtigen,  sei  es  dadurch,  daß 
man  das  im  Lande  vorhandene  Gold  und  Silber  darin  zu  erhalten 
trachtete,  sei  es  daß  man  Edelmetalle  im  eigenen  Lande  zu 
produzieren  sich  bemühte. 

Wenn  die  Könige  die  Ausfuhr  des  Bargeldes  aus  ihren  Staaten 
verboten:  solche  Ausfuhrverbote  finden  wir  in  Frankreich  schon 
im  Jahre  1303  und  1322,  ebenso  in  England  (unter  Eduard  III.), 
Spanien  u.  a. ,  so  treten  sie  damit  nur  in  die  Fußtapfen  der 
Stadtregierungen,  wie  wir  in  anderm  Zusammenhang  noch  ge¬ 
nauer  sehen  werden. 

Auch  Edelmetallbau  hatten  die  Städte  schon  —  freilich  nur 
vereinzelt  —  getrieben.  Seit  dem  16.  Jahrhundert  tritt  nun  aber 
bei  den  Staatsverwaltungen  immer  deutlicher  die  Tendenz  her¬ 
vor,  die  Silbergruben  in  eigene  Regie  zu  nehmen,  um  den  Strom 
der  Edelmetalle  im  eigenen  Lande  nicht  versiegen  zu  lassen1 2. 

1  Am  frühesten  formen  sich  die  merkantilistischen  Theorien  wohl 
in  England,  wo  z.  B.  das  1436  erschienene  Libell  of  English  Policy 
schon  Gold  und  Wohlstand  gleichsetzt.  Vgl.  Alb.  Hahl,  Zur  Ge¬ 
schichte  der  volkswirtsch.  Ideen  in  England  (1893),  S.  45  f. 

2  Tatsachen  bei  Schmoller  in  seinem  Jahrbuche  Band  XV, 
3.  Artikel. 


368 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Es  wird  sogar  zu  einem  Grundsatz  der  merkantilistisclien  Theorie  : 
daß  ein  Edelmetallbau  auch  dann  volkswirtschaftlichen  Nutzen 
bringe,  wenn  er  mit  Schaden  betrieben  werde  h 

Aber  die  Hauptsache  war  doch,  daß  das  Verlangen  nach  dem 
Besitz  eigener  Silbergruben  oder  eigener  Goldfelder  die  Staaten 
über  ihre  Grenzen  hinaus  „nach  Indien“,  dem  Zauberlande, 
trieb,  und  daß  aus  dieser  Jagd  nach  dem  Golde,  an  der  sich 
alle  Staaten  während  jener  Jahrhunderte  beteiligten,  die  großen 
Kolonialreiche  der  europäischen  Völker  emporwuchsen.  Über 
ihre  Entstehung  spreche  ich  aber  im  Zusammenhänge  ausführlich 
im  27.  Kapitel. 

Wie  die  Kolonialpolitik  auf  Umwegen  der  merkantilistiscken  Idee 
dienen  sollte,  drückt  in  klassischer  Form  in  folgenden  Worten  einer 
der  besten  Kenner  der  Kolonialgeschichte  aus:  „They  (the  disciples 
of  the  Mercantile  System)  .  .  .  have  carried  into  execution,  in  this 
brauch  of  policy,  the  most  elaborate ,  and  the  most  violent  of  their 
artificial  schemes ,  for  powring  into  the  nation  an  abondance  of  the 
precious  metals.  Colonies  have  not,  indeed,  always  furnished,  directly, 
those  precious  supplies;  but  they  have  been  used  as  means  of  ob- 
taining  the  supplies  from  other  markets,  and  of  unlocking  the  money- 
chests  of  different  nations  in  Europe:  their  produce  has  been  en- 
grossed,  as  a  weight,  by  which  to  procure,  in  other  countries,  the 
great  object  of  the  Mercantile  System:  a  favorable  balance  of  trade.“ 
H.  Brougham,  An  inquiry  into  the  colonial  policy  of  the  European 
powers.  1  (1803),  5/6. 

Ebenso  erwähne  ich  hier  einstweilen  nur  kurz,  um  später 
noch  einmal  darauf  zurückzukommen,  daß  aus  dem  Streben,  den 
fürstlichen  Kassen  möglichst  große  Geldmengen  auf  direktem 
Wege  zuzuführen,  natürlich  der  ganze  kunstvolle  Bau  der  Steuer- 
und  Schuldenwirtschäft  hervorwuchs,  und  daß  dasselbe  Streben 
zu  einer  eigenartigen  Münz-  und  Währungspolitik  führte,  die  für 
die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  von  großer  Bedeutung  ge¬ 
worden  ist. 

Dann  aber  wurde  der  Staat  selbst  Unternehmer,  um  sich  auf 
dem  Wege  des  Profits  das  fehlende  Geld  zu.  verschaffen:  wir 
werden  ihm  in  dieser  Eigenschaft  dort  begegnen,  wo  wir  den 
Aufbau  der  kapitalistischen  Wirtschaft  selbst  verfolgen  und  nach 
den  Wirtschaftssubjekten  der  frü '  kapitalistischen  Epoche  Um¬ 
schau  halten  (siehe  den  ersten  Abschnitt  des  zweiten  Bandes). 

Hier  ist  vor  allem  jener  Bestandteile  der  merkantilistisclien 

1  v.  Hörnigk,  Österreich  über  alles.  1684,  Ausgabe  von  1727, 
S.  30,  173.  Andere  Stellen  bei  Roscher,  System  Band  III  §  179 
Anm.  6. 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  als  Ganzes  369 


Wirtschaftspolitik  zu  gedenken,  in  denen  das  Streben  des  Staates 
zutage  tritt,  auf  Umwegen  sein  Ziel:  die  Geldbeschaffung ,  zu 
erreichen.  Diese  Umwege  führten  ihn  aber  zu  einer  Art  von 
Kompagniegeschäft  mit  dem  empor  streben  den 
Kapitalismus,  und  die  Abwicklung  dieses  Kompagnie¬ 
geschäftes  ist  recht  eigentlich  das,  an  was  man  gemeinhin  denkt, 
wenn  man  von  Merkantilismus  spricht. 

Wir  müssen  uns  zum  Bewußtsein  bringen,  daß  der  Fürst  und 
der  kapitalistische  Unternehmer  in  jenen  Jahrhunderten  natür¬ 
liche  Bundesgenossen  waren,  weil  sie  zu  einem  guten  Teile 
gleiche  Interessen  verfolgten.  Vor  allem  wurden  die  beiden  zu¬ 
sammengeführt  durch  ihre  gemeinsame  Gegnerschaft  gegen  die 
mittelalterlich-städtisch-feudalen  Gewalten.  Wie  diese  es  waren, 
die  der  Ausbreitung  der,  fürstlichen  Herrschaft  über  ein  großes 
Gebiet  Hindernisse  in  den  Weg  warfen,  so  waren  sie  es,  die 
dem  aufstrebenden  Kapitalismus  durch  ihre  Zunft-  oder  Zoll¬ 
schranken  Fesseln  anlegten.  Gemeinsam  aber  war  den  beiden 
neuen  Mächten  das  Interesse  an  einem  möglichst  ausgedehnten 
Vorrat  an  Edelmetallen  im  Lande.  So  kam  es  ganz  von  selbst, 
daß  die  beiden  zusammenhielten;  daß  insbesondere  —  was  uns 
hier  angeht  —  der  absolute  Staat  zum  Förderer  und  Helfer  der 

<Ü5 

kapitalistischen  Interessen,  also  in  erster  Linie  der  kapitalistischen 
Industrien  und  des  großen  auswärtigen  Handels  wurde :  die  Arts 
et  manufactures  müssen  gefördert  werden,  heißt  es  in  der  Pre- 
ambule  des  Edikts  Heinrichs  IV.  vom  August  1603  „ .  .  .  pour 
estre  .  .  .  le  seul  moyen  de  ne  point  transporter  hors  du 
royaume  l’or  et  l’argent,  pour  enrichir  nos  voisins“  .  .  .  „Das 
Geld  ist  sanguis  corporis  politici  und  solches  nicht  allein  zu 
erzügeln ,  sondern  beizubehalten  kein  anderes  Mittel ,  als  daß 
fremde  Waren  entweder  in  einem  Lande  nicht  admittiert  oder 
wenn  sie  unvermeidlich  und  zur  allgemeinen  Notdurft  erforder¬ 
lich  sind,  im  Lande  selbst  per  naturam  vel  industriam  erzeugt 
und  zuwege  gebracht  werden ,  allermahlen  solcher  gestalten 
occasio  et  causa  movens  cessat,  das  Geld  außer  Landes  gehen 
zu  machen.“ 1  Der  Keichtum  an  Edelmetallen  im  Lande  be¬ 
fördert  die  Industrie,  meint  Colbert:  „quant  l’argent  est  dans  le 
royaume,  l’envie  etant  universelle  d’en  tirer  profit,  fait  que  les 
hommes  lui  donnent  du  mouvement“  — ,  und  dabei  profitiert 

1  Hofkamraer-Keferat  16/III  1700  (2/VI  1710),  Hoff.  13  917,  bei 
H.  von  Srbik,  Exporthandel  Österreichs.  (1907),  270. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


21 


370 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


wiederum  die  Staatskasse:  „c’est  dans  ce  mouvement  que  le 
Tresor  trouve  sa  part.“  Um  aber  jene  günstige  Wirkung  zu  er¬ 
zielen,  gilt  es  vor  allem,  den  auswärtigen  Handel  zu  entwickeln : 
„il  n’y  a  que  le  commerce  seul  et  tout  ce  qui  en  depend  qui 
peut  produire  le  grand  effet  d’amener  de  l’argent;  il  fallait  lin- 
troduire  en  France  oü  ni  le  general  ni  meine  les  particuliers  ne 
s’y  sont  jamais  appliques“  ... 1 

Die  andere  Seite  des  Problems :  wie  die  kapitalistische  Industrie 
dem  aufstrebenden  Staate  nützte ,  verfolge  ich  hier  nicht.  Es  mag 
nur  hervorgehoben  werden,  daß,  abgesehen  von  der  indirekten  Förde¬ 
rung,  die  die  Entfaltung  des  Kapitalismus  dem  Fürsten  und  seinem 
Lande  gewährte ,  die  Staatskassen  unmittelbar  an  dem  Gedeihen  der 
kapitalistischen  Unternehmungen  Anteil  nahmen  durch  Schatzung 
mannigfachster  Ai't.  Die  unten  zu  erwähnenden  Privilegien  wurden 
meist  nur  gegen  Entgelt  erteilt.  Bei  vielen  Unternehmungen,  nament¬ 
lich  den  großen  Handelskompagnien ,  war  es  üblich ,  daß  das  ganze 
Aktienkapital  oder  doch  ein  beträchtlicher  Teil  dem  Staate  als  Anleihe 
zur  Verfügung  gestellt  wurde:  die  (neue)  englisch-ostindische  Kom¬ 
pagnie  beispielsweise  leiht  Wilhelm  III.  2  000  000  ü^,  Anna  1  200  000  j^, 
zusammen  3  200  000  „what  may  properly  be  called  the  Capital  stock 
of  this  Company“.  P  o  stlethway  t,  Dict.  1,  682.  Im  Jahre  1743 
gibt  sie  für  die  Verlängerung  ihres  Privilegs  auf  14  Jahre  1  000  000 
zu  3°/o.  Anderson,  Annals  3,  241.  Die  Südseekompagnie  wurde 
im  neunten  Jahre  der  Königin  Anna  errichtet,  um  eine  Schuld  von 
9  177  967  £  abzutragen,  die  die  Regierung  aufgenommen  hatte.  Po  st  - 
lethwayt  2,255.  Anderson  3,  43  ff.  1715  kommen  822 082.4.8  £ 
dazu.  Dafür  erhält  die  Gesellschaft  das  Recht  auf  den  Bezug  der 
Zölle  (Steuern)  auf  Salz,  Lichte  usw. 

Die  französische  Mississippi-Gesellschaft  (Law)  wird  begründet  und 
privilegiert ,  um  einen  Betrag  von  60  Mill.  livres  Staatsschulden  zu 
tilgen :  die  ersten  60  Mill.  Kapital  werden  in  Staatspapieren  gezeichnet ; 
dann  vergrößert  der  Staat  das  Kapital  auf  100  Mill. 

Die  holländisch-ostindische  Kompagnie  zahlt  bei  der  Erweiterung 
ihres  Privilegs  im  Jahre  1643  an  die  Regierung  1600  000  fl.,  und  so 
fort  jedesmal  wieder,  z.  B.  1729,  3  600  000  fl.  . 

Oder  man  besteuerte  die  Gesellschaften  direkt  während  ihres  Be¬ 
stehens:  4/5  Will.  &  Mary  c.  15  (1693)  besteuert  die  ostindische 
Kompagnie  mit  5  von  jeden  100  Aktien;  die  afrikanische  Kom¬ 
pagnie  mit  20%  von  jeder  Aktie;  die  Hudson  Bay  Co.  mit  5  von 
jeder  Aktie  usw.  Anderson  2,  598.  Die  Staatsregierung  nahm 
ganz  naiv  an,  daß  die  wirtschaftliche  Tätigkeit  im  Lande  immer  gleich¬ 
zeitig  auch  zum  Besten  der  Staatskasse  betrieben  würde.  So  spricht 
die  Charte  von  Leeds  im  Jahre  1626  davon,  daß  diese  Stadt  „zum 
Ruhme  und  zum  Besten  der  Einkünfte  der  englischen  Krone“  seit 


1  Mein,  de  Colbert  au  roi.  1670.  Lettres  etc.,  ed.  Clement, 
t.  VII  p.  233. 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Merkantilismus  im  Ganzen  371 

langem  Tuch  fabriziert  habe;  1661  beklagt  sich  eine  neue  Verfassungs¬ 
urkunde  über  die  Betrügereien  bei  der  Wollindustrie ,  die  nicht  nur 
der  Industrie,  sondern  auch  den  öffentlichen  Einkünften  zum  Schaden 
gereichten  usw. 

Zahlreiche  Beispiele  einer  unverblümt  entgeltlichen  Gewährung  von 
Privilegien  usw.  findet  der  Leser  in  den  im  folgenden  Kapitel  ge¬ 
nannten  Spezialwerken. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel 

Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik 

Quellen  und  Literatur 

Die  Quellen  habe  ich  im  vorigen  Kapitel  schon  genannt.  Die 
Literatur  ist  unübersehbar:  nächst  der  Zunft-  und  Stadtverfassungs¬ 
geschichte  ist  kein  Zweig  der  Wirtschaftsgeschichte  so  stark  entwickelt 
wie  die  Literatur  über  die  merkantilistische  Gewerbe-  und  Handelspolitik. 
So  viel  Belehrung  sie  uns  über  die  Vorgänge  in  der  Staats  Verwaltung 
gebracht  hat,  so  hat  sie  doch  (ähnlich  wie  wir  es  bei  der  Literatur 
zur  Geschichte  des  Städtewesens  gesehen  haben)  die  eigentlich  wirt¬ 
schaftsgeschichtliche  Forschung  vielfach  gnfgehalten :  man  glaubte, 
Wirtschaftsgeschichte  zu  schreiben,  während  man  Verwaltungsgeschichte 
schrieb ,  die  doch  gewiß  nicht  dasselbe  sind.  Ich  stelle  eine  kleine 
Auswahl  von  Schriften  zusammen,  die  zur  ersten  Einführung  geeignet 
sind: 

Frankreich.  1.  Gewerbepolitik:  (bis  1581)  Rud.  Eberstadt, 
Das  französische  Gewerberecht  und  die  Schaffung  staatlicher  Gesetz¬ 
gebung  und  Verwaltung  usw.  1899;  für  das  17.  und  18.  Jahrhundert: 
G.  Fagniez,  L’economie  sociale  de  la  France  sous  Henry  IV.  1897. 
Alfred  des  Cilleuls,  Histoire  et  regiine  de  la  grande  industrie 
en  France  aux  XVII  et  XVIII  sc.  1898.  L.  Mosnier,  Origines  et 
developpement  de  la  grande  industrie  en  Fr,  1898.  G.  Martin,  La 
grande  industrie  sous  Louis  XIV.  1899.  Idem,  La  grande  industrie 
sous  Louis  XV.  1900.  Natürlich  ist  zu  allererst  E.  Levasseur 
zur  Hand  zu  nehmen. 

2.  Handelspolitik:  Charles  Gouraud,  Hist,  de  la  politique 
commerciale  de  la  France.  2  Vol.  1854.  Aus  der  Literatur  über  die 
großen  Handelskompagnien:  P.  Bonnassieux,  Les  grandes  com- 
pagnies  de  commerce.  1892.  Paul  Kaeppelin,  La  Compagnie  des 
Indes  Orientales.  1908. —  H.  Pigeonneau,  Hist,  du  Comm.  de  la 
France.  2  Vol.  1885.  1889  (bis  Richelieu).  E.  Levasseur,  Hist,  du 
Comm.  de  la  France.  2  Vol.  1900. 

Paris  insbesondere:  M.  Fr  e  gier,  Hist,  de  l’administrat.  de  la 
police  de  Paris.  2  Vol.  1850. 

Dann  gehört  hierher  die  große  Literatur  über  Colbert.  Hauptwerk: 
Clement,  Hist,  de  C.  et  de  son  administration.  3  ed.  1892.  2  Vol. 

England.  1.  Die  Gewerbepolitik  ist  in  zahlreichen  Mono¬ 
graphien  einzelner  Industrien  behandelt,  u.  a. :  J.  J  a  m  e  s ,  Hist,  of 
the  Worsted  Manufacture  in  England.  1857.  J.  Burnley,  The 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  373 

history  of  Wool  and  Wool  Combing.  1889.  L.  Duchesne,  L’evo- 
lution  economique  et  sociale  de  l’industrie  de  la  laine  en  Angleterre. 
1900.  F.  Lohmann,  Die  staatliche  Regelung  der  englischen  Woll¬ 
industrie.  1900. 

Allgemeines:  Ad.  Held,  Zwei  Bücher  zur  sozialen  Ge¬ 
schichte  Englands.  1881.  W.  A.  S.  Hewins,  The  english  trade 
and  finance  chiefly  in  the  XVII.  cent.  1892.  Ch.  I  and  II  behandeln 
die  „Monopolpolitik“.  George  Unwin,  Industrial  Organisation  in 
the  16.  and  17.  centuries.  1904.  William  Hyde  Price,  The 
English  Patents  of  Monopoly.  1906.  Herrn.  Levy,  Monopole  usw. 
1909. 

2.  Handelspolitik:  G.  Schanz,  Englische  Handelspolitik. 
2  Bde.  1881  (behandelt  vor  allem  die  Regierungen  der  beiden  ersten 
Tüders).  W.  A.  S.  Hewins,  1.  c. 

Ein  guter  Wegweiser  gerade  in  wirtschafts p  o litis  chen  Dingen 
ist  auch  Cunningham.  Durch  seine  klaren  und  richtigen  Urteile 
ausgezeichnet  ist  das  noch  heute  lesenswerte  Buch  von  W.  v.  Ochen- 
kowski,  Englands  wirtschaftliche  Entwicklung  im  Ausgange  des 
Mittelalters.  1879. 

Spanien.  G.  de  Ustariz,  Theorie  et  pratique  du  commerce. 
Trad.  sur  l’espagnol  1753.  Bern,  de  Ulloa,  Retablissement  des 
manufactures  et  du  commerce  d’Espagne.  Trad.  sur  l’espagnol  1758. 
Don  Man.  Colmeiro,  Hist.de  la  economia  en  Espana.  2  t.  1863. 
M.  J.  Bonn,  Spaniens  Niedergang.  1896. 

Niederlande.  E.  Laspeyres,  Geschichte  der  volkswirtschaftl. 
Anschauungen  der  Niederländer  usw.  1863.  Otto  Pringsheim, 
Beiträge  zur  wirtschaftl.  Entwicklungsgeschichte  der  ver.  Niederlande 
im  17.  und  18.  Jahrh.  1890. 

Österreich.  1.  Gewerbepolitik:  Karl  Pfibram,  Geschichte 
der  österreichischen  Gewerbepolitik  von  1740—1860.  Erster  Band: 
1740 — 1798.  1907.  Ein  vortreffliches,  außerordentlich  inhalts-  und 
lehrreiches  Buch.  Daneben  sind  von  früheren  Schriften  zu  vergleichen : 
A.  Beer,  Die  österreichische  Industriepolitik  unter  Maria  Theresia. 
1894.  H.  Waentig,  Gewerbliche  Mittelstandspolitik.  1898.  S.  7 
bis  47.  Hans  Rizzi,  Das  österreichische  Gewerbe  (in  Wirklichkeit 
behandelt  der  Verf.  im  wesentlichen  auch  die  Gewerbe  p  o litik)  im 
Zeitalter  des  Merkantilismus,  in  der  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft, 
Soz.-Pol.  und  Verw.  Bd.  XII.  1903.  Gibt  einen  Gesamtüberblick. 
Max  Adler,  Die  Anfänge  der  merkantilistischen  Gewerbepolitik  in 
Österreich.  1903.  Über  die  merkantilistische  Epoche  hinaus  ragt  die 
Darstellung  bei  Joh.  Slokar,  Geschichte  der  österreichischen  In¬ 
dustrie  und  ihrer  Förderung  unter  Franz  I.  1914.  Das  Werk  reiht 
sich  ergänzend  an  die  früheren  an.  Es  ist  wohl  ein  Ausfluß  der  be¬ 
sonders  starken  Bureaukratisierung  der  österreichischen  Wirtschafts¬ 
politik,  daß  ihre  Geschichte  so  viele  —  gute!  —  Bearbeitungen  ge- 
*  funden  hat. 

2.  Handelspolitik:  A.  Beer,  Die  österreichische  Handels¬ 
politik  unter  Maria  Theresia  und  Josef  II.  1898.  Helene  Landau, 


374 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Die  Anfänge  des  Warenhandels  in  Österreich,  in  der  Zeitschrift  für 
V.-W.  usw.  Bd.  XV.  1906.  Behandelt  im  wesentlichen  die  innere 
Handelspolitik.  Heinr.  Bitt.  v.  Srbik,  Der  staatliche  Exporthandel 
Österreichs  von  Leopold  I.  bis  Maria  Theresia.  Untersuchungen  zur 
Wirtschaftsgeschichte  Österreichs  im  Zeitalter  des  Merkantilismus. 
1907.  Ebenfalls  ein  gutes  Buch. 

Brandcnburg-Preufsen.  G.  Schmoller,  Studien  über  die  wirtschaft¬ 
liche  Politik  Friedrichs  II.  und  Preußens  überhaupt  von  1680 — 1786, 
in  seinem  Jahrbuch  Bd.  8.  10.  11.  Derselbe,  Das  brandenburg¬ 
preußische  Innungswesen  von  1640  — 1800,  wurde  abgedruckt  in 
dem  Sammelbande  Umrisse  und  Untersuchungen  zur  Verfassungs-, 
Verwaltungs-  und  Wirtschaftsgeschichte  besonders  des  preußischen 
Staates  im  17.  und  18.  Jahrh.  1898.  Dort  sind  auch  noch  andere 
einschlagende  Arbeiten  Schmollers  vereinigt.  G.  Schmoller  und 
O.  Hintze,  Die  Preußische  Seidenindustrie  im  18.  Jahrhundert  und 
ihre  Begründung  durch  Friedrich  d.  Gr.  3  Bde.  1892  (Acta  borussica). 
K.  v.  Bohrscheidt,  Vom  Zunftzwang  zur  Gewerbefreiheit.  1898. 
C.  Matschoss,  Friedrich  d.  Gr.  als  Beförderer  des  Gewerbefleißes. 
1912. 

H.  Freymark,  Zur  preußischen  Handels-  und  Zollpolitik  von 
1648  — 1818.  Hall.  Diss.  1898.  O.  Meinardus,  Beiträge  zur  Ge¬ 
schichte  der  Handelspolitik  des  Großen  Kurfürsten.  Histor.  Zeitschr. 
Bd.  66. 

H.  Fechner,  Wirtschaftsgeschichte  der  preußischen  Provinz 
Schlesien  in  der  Zeit  ihrer  provinziellen  Selbständigkeit  (1741 — 1806). 
1907.  (Seite  1 — 453  behandelt  die  Wirtschaftspolitik.) 

Deutschland  im  allgemeinen.  G.  v.  Below,  Der  Untergang  der 
mittelalterlichen  Stadt  Wirtschaft ,  in  den  Jahrb.  f.  Nationalök.  III.  F. 
21,  S.  449  ff.  593  ff. 

Auf  verschiedene  Länder  erstreckt  sich  W.  Naude,  Die  Getreide¬ 
handelspolitik  der  europäischen  Staaten  vom  13.  bis  zum  18.  Jahrh., 
Acta  Borussica  1896. 

Ein  Mittelding  zwischen  Literatur  und  Quellen  sind  die  großen 
Kaufmannslexika  Savary,  Postlethwayt,  Schatzkammer  usw., 
in  denen  sich  ein  reiches  Material  findet.  Sehr  viel  Angaben  ent¬ 
halten  auch  die  verschiedenen  Bände  der  Encyclopedie ,  die  die 
tManufactures5  und  den  cCommercec  behandeln  (Bearbeiter:  Boland 
de  la  Platiere). 

I.  Übersicht 

Die  folgende  Skizze  der  merkantilistischen  Politik  bringt  dem 
Kundigen  im  einzelnen  nichts  Neues.  Was  ich  mit  ihr  bezwecke, 
ist:  den  Nachweis  zu  führen,  daß  diese  Politik  (trotz  beträcht¬ 
licher  nationaler  Verschiedenheiten)  in  ihren  Grrundzügen  doch 
in  allen  europäischen  Ländern  sich  gleich  gestaltet  hat.  Dies^ 
Zusammenstellung  der  in  ihrem  Wesen  übereinstimmenden  gesetz¬ 
geberischen  Maßnahmen  der  wichtigsten  Staaten  ist  auch  dem- 


Vierimdzwauzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  375 

jenigen  vielleicht  willkommen,  der  die  einzelnen  nationalen  Ver- 
waltungssysteme  von  Grund  aus  kennt.  Dem  andern  soll  meine 
Übersicht  als  Einführung  in  das  Studium  dienen.  Sie  durfte  aber 
auch  deshalb  an  dieser  Stelle  nicht  fehlen,  weil  sie  ein  not¬ 
wendiges  Glied  in  der  Gesamtstruktur  meines  Geschichtsaufbaus 
bildet. 

Schauen  wir  uns  nun  die  Maßregeln  im  einzelnen  an,  die 
der  Staat  im  Interesse  der  kapitalistischen  Wirtschaftselemente 
ergriff,  so  sehen  wir,  daß  er  wirklich  im  Grunde  nichts  anderes 
tat,  als  die  Maximen  der  städtischen  Wirtschaftspolitik  anzu¬ 
wenden  auf  das  Staatsganze  und  seinen  besonderen  Zwecken  ent¬ 
sprechend  im  einzelnen  weiter  zu  entwickeln.  Das  heißt :  die 
merkantilistische  Wirtschaftspolitik  erschöpft  sich  wie  die  Politik 
der  Städte  in 

(1.)  Privilegierung  und 

(2.)  Reglementierung  von  Produktion  und  Handel,  um 
dem  dann  allerdings  einen  wichtigen  neuen  Komplex  von  Ma߬ 
nahmen  hinzuzufügen,  die  wir  am  ehesten  unter  der  Bezeich¬ 
nung  der 

(3.)  Unifizierung 
zusammenfassen  können. 

Die  folgenden  Angaben  haben  den  Zweck,  an  einigen  Bei¬ 
spielen  Sinn  und  Bedeutung  dieser  Politik  dem  Leser  zum  Be¬ 
wußtsein  zu  bringen. 

II.  Die  Privilegierung 

Unter  Privilegierung  verstehe  ich  hier  ganz  allgemein  die 
Einsetzung  staatlicher  Machtmittel  zu  dem  Zwecke,  die  wirt¬ 
schaftliche  Tätigkeit  Privater  überhaupt  erst  ins  Leben  zu  rufen 
oder  sie  dort,  wo  sie  bereits  geübt  wird,  rentabel  oder  rentabler 
zu  gestalten.  Hier  handelt  es  sich  selbstverständlich  nur  um  die 
„Privilegierung“  kapitalistischer  Unternehmungen,  an  deren 
Emporkommen,  wie  wir  sahen,  die  modernen  Staaten  ja  auch 
in  erster  Linie  interessiert  waren.  Will  man  genau  unterscheiden, 
so  wird  man  sagen  müssen,  daß  also  die  staatlichen  Machtmittel 
eingesetzt  wurden:  sei  es,  um  vorhandene  kapitalistische  Inter¬ 
essen  zu  fördern;  sei  es,  um  zum  Leben  drängende,  aber  erst 
keimhaft  schlummernde  kapitalistische  Interessen  zur  Entwick¬ 
lung  zu  bringen;  sei  es  endlich,  um  die  Keime  solcher  Interessen 
erst  zu  pflanzen.  Vielfach  dienten  auch  die  Privilegierungen 
dazu,  um  die  kapitalistische  Wirtschaftsweise  den  entgegen- 


376 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


stehenden  Ausschließungsrechten  der  Handwerkerzünfte  zum 
Trotze  zu  ermöglichen. 

Der  ganze  Sinn  der  staatlichen  „Privilegierungen“  kommt 
aber  in  folgendem  Briefe  Heinrichs  H.  (vom  13.  Juni  1568)  zum 
Ausdruck 1 :  „Nous  voulons  accroistre  le  desir  ä  tous  et  chacuns 
de  nos  subjetz  et  les  exciter  ä  s’exercer  a  choses  bonnes  et 
prouffitables  au  publicq  de  nostre  royaume,  et  s’occuper  et  em- 
ployer,  en  recongnoissant  et  authorisant  par  dessus  les  autres 
par  Privileges  et  bienfaits  les  personnes  vertueuses  et  industrieuses 
en  tous  artz.“ 

Die  „Privilegierungen“  haben  nun  sehr  verschiedene  Formen 
angenommen,  nach  denen  sie  im  folgenden  der  besseren  Über¬ 
sicht  halber  gruppiert  werden  sollen. 

1.  Die  Monopolisierung 

hat  im  Systeme  des  Merkantilismus  eine  sehr  große  Rolle  ge¬ 
spielt.  Sie  besteht  grundsätzlich  in  der  Ausschließung  anderer; 
ist  also,  wie  man  sagen  könnte,  eine  Art  negativer  Privilegierung 2. 

In  historischer  Ableitung  geht  das  Hecht  der  Monopolgewäh¬ 
rung  wohl  auf  die  alten  Ideen  des  Feudalismus  zurück:  der 
König  ist  Inhaber  aller  Macht  und  aller  aus  ihr  ableitbaren 
Rechte  und  verleiht  deren,  soviel  ihm  gutdünkt,  an  seine  Diener, 
die  selbst  die  ihnen  verliehenen  Rechte  ganz  oder  zum  Teil  an 
andere  weitergeben.  Dieser  Feudalismus  leuchtet  oft  mit  wunder¬ 
barer  Klarheit  aus  der  Verleihung  und  Afterverleihuno-  o-anz 
moderner  Industriemonopole  heraus.  Die  unmittelbaren  Vor¬ 
gänger  der  Fürsten  waren  ja  auch  hier  die  Städte  gewesen: 
„Die  Stadt  als  Ganzes  empfing  den  Absatz  von  Gewerbeprodukten 
innerhalb  ihrer  Bannmeile  als  eine  Art  Lehn.  Von  diesem  großen 
Lehn  wurden  einige  Zweige  allen  Bürgern  als  solchen  freigegeben, 
andere  dem  Rate  ausschließlich  Vorbehalten,  die  meisten  aber 
den  Zünften  gleichsam  als  Afterlehn  ausgetan.“  (Roscher.) 

1  Ms.  bei  Levasse ur  2,  37. 

2  Die  Privilegierung  der  merkantilistischen  Zeit  in  Gestalt  der 
Monopolisierung  unterscheidet  sich  von  der  Privilegierung  unserer  Zeit 
in  Gestalt  der  Patentierung  dadurch,  daß  jene  erfolgt  unter  der 
Autorität  der  Regierung  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  durch  jeden 
einzelnen  Akt  der  Privilegierung  das  öffentliche  (oder  fürstliche)  Inter¬ 
esse  zu  fördern,  während  die  Patentierung  einer  Erfindung  auf  einem 
individuellen  (Privat-)  Rechte  beruht,  dessen  Gewährung  nicht  ver¬ 
weigert  werden  kann.  Darüber  handelt  E.  Wyndham  Hulme,  The 
Historv  of  the  Patent  System  under  the  Prerogative  and  at  Common 
Law  in  The  Law  Quarterly  Review  12  (1898)  und  16  (1900). 


Vicrundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  377 


"Wie  dann  sich  in  langsamer  Umbildung  das  Regal  als  die 
der  nachmittelalterlichen  Zeit  entsprechende  Rechtsform  der 
fürstlichen  Ausschließungsbefugnisse  entwickelte ,  ist  hier ,  weil 
für  den  Zweck,  d6r  hier  verfolgt  wird,  belanglos,  nicht  darzu¬ 
stellen  1 :  genug  daß  der  moderne  Fürst  sich  das  Recht  zuschrieb, 
alle  wirtschaftliche  Tätigkeit  zu  gestatten  und  zu  verbieten,  zu 
ihrer  Ausübung  bestimmte  Personen  zuzulassen  und  andern  sie 
zu  untersagen.  Zuweilen  ließ  der  Monarch  sein  alleiniges  Ver¬ 
fügungsrecht  über  Gewerbe  oder  Handel  ausdrücklich  erklären; 
so  begegnen  wir  schon  in  der  Const.  Frider.  (1213)  einem  Monopol 
des  Königs  für  den  Handel  mit  Getreide,  Salz,  Eisen,  roher  Seide ; 
so  wird  im  15.  Jahrhundert  in  den  italienischen  Staaten  der  ge¬ 
samte  Handel  vom  Fürsten  „monopolisiert“2 3;  im  16.  Jahrhundert 
wird  in  Portugal  der  gesamte  Gewürzhandel  zum  Monopol;  in 
Frankreich  werden  unter  Heinrich  III.  Gewerbe  und  Handel 
zum  droit  domanial  erklärt  usw.  Das  Wichtige  aber  war  doch 
eben,  daß  alle  Monarchen  —  mit  oder  ohne  solche  ausdrück¬ 
liche  Erklärung  —  so  handelten,  als  ob  sie  die  Alleinberech¬ 
tigten  seien. 

Man  hat  die  moderne  Form  der  Privilegierung  von  der  mittel¬ 
alterlichen,  also  die  kapitalistische  von  der  handwerksmäßigen, 
dadurch  unterscheiden  wollen,  daß  man  die  Zunftmonopole  als 
Korporationsprivilegien ,  die  staatlichen  (königlichen)  Monopole 
als  Personalprivilegien  charakterisierte8.  Das  trifft  aber  doch 
nicht  in  allen  Fällen  zu.  Vielmehr  erscheint  auch  das  kapita¬ 
listische  Monopol  sowohl  als  Korporations-  wie  als  Personal¬ 
privileg,  wenn  auch  dieses  die  Regel  bilden  mag.  Wir  sehen 
z.  B.,  wie  in  England  einzelnen  Korporationen  die  Kontrolle  über 
andere  Zünfte,  z.  B.  in  der  Seifen-  und  Stecknadelfabrikation, 
in  einer  Zeit  übertragen  wTird,  in  der  diese  Gewerbe  schon  längst 
kapitalistisch  organisiert  waren4;  oder  wir  finden  die  Communaute 
der  Händler  von  Paris  im  aus  schließenden  Besitz  des  Rechtes, 
mit  bestimmten  Waren  zu  handeln5:  oder  wir  erfahren,  daß  eine 
Anzahl  Kohlenhändler  im  Jahre  1600  das  Recht  einer  inkorpo- 


1  Daß  verschiedene  Rechtsquellen  den  Regalismus  gespeist 
haben  (neben  dem  Feudalismus  der  Imperialismus) ,  ist  sehr  wahr¬ 
scheinlich. 

2  Burckhardt,  Kult,  der  Ren.  1,  35  ff- 

3  R.  Eberstadt,  Franz.  Gew.R.  (1897),  325  ff. 

4  Unwin,  Organ.  164  ff-,  und  pass.  Levy,  Monopole  38. 

5  Sa vary,  Dict,  s.  h.  v. 


378 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


rierten  Gilde  erlangen  und  damit  das  Recht,  Kohlen  an  die 
Schiffe  zu  verkaufen,  die  den  Ty ne -Fluß  befahren1  usf. 

Wenn  einer  Korporation  das  Recht  zugesprochen  wurde,  so 
konnte  damit  gleichzeitig  das  Recht  verbunden  sein,  die  Zahl 
der  Mitglieder  zu  beschränken,  dieses  Recht,  also  der  Numerus 
clausus,  konnte  aber  auch  fehlen:  Typen  solcher  Art  privilegierter, 
das  heißt  mit  dem  Monopol  ausgestatteter  Vereinigungen  waren 
die  meisten  „regulated  Companies“  in  England  während  des  IG., 
17.  und  18.  Jahrhunderts 2. 

Das  Monopol,  das  einer  Person  oder  einer  Korporation  erteilt 
wurde,  konnte  sich  grundsätzlich  auf  jede  beliebige  gewinn¬ 
bringende  Beschäftigung  erstrecken:  wir  begegnen  ebenso  oft 
Produktionsmonopolen  wie  Handels-  oder  Verkehrsmonopolen. 

Produktionsmonopole  waren  natürlich  im  wesentlichen 
Industriemonopole.  Sie  wurden  entweder  (das  heißt  bei  schon 
bestehenden  Gewerben,  die  in  die  kapitalistische  Organisation 
übergeführt  werden  sollten:  meist  an  der  Hand  eines  neuen 
Verfahrens,  das  den  Anlaß  zur  Monopolisierung  bot)  in  der  schon 
beregten  Weise  verwirklicht,  daß  eine  einzelne  Korporation  die 
Kontrolle  über  das  gesamte  Gewerbe  erhielt,  oder  so,  daß  von 
vornherein  ein  nationales  Monopol  geschaffen  wurde:  die  Reo-©l 
bei  neubegründeten  Industrien,  wie  etwa  der  Glas-,  Salz-  oder 
Drahtindustrie  in  England. 

Zuweilen  wurde  das  Vorrecht,  Güter  einer  bestimmten  Art 
herzustellen,  auch  einer  Stadt  oder  einer  Landschaft  gewährt: 
das  heißt  allen  Personen,  die  jeweils  an  jenem  Orte  produzierten. 
So  erhielt  Lyon  das  ausschließliche  Recht,  Strümpfe  aus  schwarz¬ 
gefärbter  Seide  herzustellen. 

Das  Monopol  konnte  auf  ewige  Zeiten  oder  auf  Lebenszeiten 
des  ersten  Empfängers  oder  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von 
Jahren  erteilt  werden.  In  dieser  letzten  Form  nähert  es  sich 
dem  modernen  Patent,  und  als  solches  erscheint  es  schon  häufig 
im  England  der  Elisabeth:  15G5  Monopol-Patent  (auf  20  Jahre') 


1  Ralph  Gardiner,  Englands  Grievance  discovered  in  relation 
to  the  coal  trade  .  .  .  the  tyi'annical  oppressions  of  those  magistrates, 
their  Charters  and  grants  .  .  .  1655.  Repr.  1796. 

2  Vgl.  die  Darstellung  der  Wirtschaftsformen  im  2.  Bande.  In 
dem  Streit  um  die  Monopole  hat  diese  Frage:  ob  Monopol  mit  oder 
ohne  numerus  clausus  natürlich  eine  hervorragende  Rolle  gespielt.  So 
verteidigt  die  Handelsmonopole,  aber  ohne  num.  claus. ,  z.  B.  Jos. 
Child,  A  new  discourse  of  Trade  Ch.  III. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  379 

zur  Erzeugung  von  Salz;  1567  (auf  21  Jahre)  zur  Erzeugung  von 
h  ensterglas  usw. 1  Auch  in  Frankreich  begegnen  wir  frühzeitig 
solchen  befristeten  Monopolen :  so  war  gleich  das  erste  Monopol, 
das  Heinrich  H.  iin  Jahre  1551  zur  Errichtung  der  Glashütte  in 
S.  Germain-en-Laye  erteilte,  auf  10  Jahre  beschränkt2. 

In  Österreich  können  wir  zwei  Epochen  unterscheiden :  in  den  An¬ 
fängen  der  merkantilistischen  Politik  (unter  Leopold  I.)  bildete  die 
gesetzliche  Grundlage  der  neuen  Wirtschaftsformen  das  Privilegium 
exclusivum,  das  einzelnen  Unternehmern  den  Alleinverkauf  en  gros 
im  Gesamtgebiete  der  österreichischen  Erbländer  für  ihre  Erzeugnisse 
sicherte.  Unter  Maria  Theresia  treten  an  die  Stelle  „die  Fabriks¬ 
befugnisse“,  die  zweifacher  Art  waren.  Man  unterschied  „einfache 
fabrikmäßige  Befugnisse“,  die  die  Anerkennung  der  Nützlichkeit  der 
Unternehmung,  die  Befreiung  von  jedem  Zunftzwange  und  das  Recht, 
ahe  Arten  gewerblicher  Hilfsarbeiter  in  dem  Betriebe  zu  vereinigen, 
in  sich  schlossen,  und  die  „Landesfabriksbefugnisse“.  Diese  enthielten 
die  Anerkennung  der  „besonderen  Wichtigkeit  und  Solidität“  der 
Unternehmung.  Sie  berechtigten  zur  Führung  des  kaiserlichen  Adlers 
und  zur  Aufdingung  und  Freisprechung  von  Lehrlingen,  was  bei  der 
andern  Klasse  den  Zünften  Vorbehalten  war. 

Oder  das  Monopol  war  ein  Handelsmonopol.  Dann  um¬ 
schloß  es  entweder  das  Recht,  ausschließlich  mit  einer  bestimmten 
Ware  oder  einer  Warengattung  Handel  zu  treiben:  solch  ein 
Monopol  besaßen  die  New  Castler  Kohlenhändler  während  des 
17.  Jahrhunderts,  besaßen  die  privilegierten  Kaufleute  in  der 
Solinger  Messerindustrie3,  besaß  die  Gesellschaft,  der  schon 
Ludwig  XI.  das  Privileg  der  Gewürzeinfuhr  erteilt  hatte 4 5. 
Wiederum  konnte  das  Monopol  einem  Orte  statt  einer  Person 
verliehen  sein :  wenn  etwa  alle  Seide,  die  in  Frankreich  gehandelt 
wurde,  ihren  Weg  über  Lyon  nehmen  mußte. 

Oder  das  Monopol  gewährte  das  Recht,  ausschließlich  mit 
einer  bestimmten  Gegend,  mit  einem  bestimmten  Lande  Handel 
zu  treiben:  wenn  die  Merchant  Adventurers  (noch  im  17.  Jahr¬ 
hundert)  allein  das  Recht  haben,  alle  Arten  Tuchwaren  nach 
Deutschland  und  den  Niederlanden  auszuführen6.  Die  geogra- 

1  Eine  Liste  der  Patente  bei  Hulme,  Hist,  of  Patent  System,  in 
Law  Quarterly  Review  XII,  1896,  und  XIV,  1900.  Vgl.  Cunning- 
bam,  Growth  2,  58  ff.  76  ff.,  und  die  neue,  gründliche  Arbeit  von 
H.  Hyde  Price,  The  English  Patents  of  Monopoly.  1906. 

2  Levasseur,  2,  37. 

3  W.  Thun,  Ind.  am  Niederrhein  2,  27. 

4  Pigeonneau,  Hist,  du  comm.  1,  435. 

5  Rymers,  Foedera  19.  583.  Vgl.  James,  Worst.  Manuf. 

(1857),  148. 


380 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


phische  Monopolisierung,  von  der  man  in  diesen  Fällen  sprechen 
könnte,  fand  ja  ihr  bedeutsamstes  Anwendungsgebiet  bei  allen 
großen  überseeischen  Handelsgesellschaften.  Inder 
'  Regel  war  in  der  Charte  das  der  Gesellschaft  zu  unbeschränkter 
Ausbeutung  überwiesene  Land  ausdrücklich  genannt:  die  be¬ 
rühmteste  von  ihnen:  die  1600  begründete  englisch-ostindische 
Handelskompagnie,  hieß  „The  Governor  and  Company  ofMerchants 
of  London  trading  into  the  East  In  dies“  und  erlangte  das  Handels¬ 
monopol  für  alle  Länder  am  Indischen  und  Stillen  Ozean  zwischen 
der  Magelhaensstraße  und  dem  Kap  der  guten  Hoffnung.  Die 
1719  aus  drei  andern  Gesellschaften  gebildete  französische  Com¬ 
pagnie  des  Indes  war  „chargee  de  tout  le  commerce  colonial  de 
la  France“  h 

Solcherart  Monopolpolitik  haben  nun,  wie  schon  die  Beispiele 
zeigen,  mit  denen  ich  die  verschiedenen  Formen  der  Monopoli¬ 
sierung  kenntlich  gemacht  habe,  alle  Staaten  getrieben,  seit  und 
soweit  sie  in  die  Bahnen  der  Beförderung  kapitalistischer  Inter¬ 
essen  einmündeten :  auch  hierin  als  Erben  der  städtischen  Wirt¬ 
schaftspolitik. 

In  dem  einen  Lande  ist  die  Neigung  zur  monopolistischen 
Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  vielleicht  stärker  gewesen  als 
im  andern;  in  diesem  hat  sie  früher  nachgelassen  als  in  jenem; 
hier  hat  sie  alle  Zweige  des  Wirtschaftslebens  gleichmäßig  er¬ 
griffen,  dort  einige  stärker,  andere  schwächer:  aber  in  den  Grund¬ 
sätzen  war  die  Politik  überall  dieselbe.  Während  in  Frankreich 
die  Industriemonopole  im  18.  Jahrhundert  die  größte  Ausdehnung 
und  ihr  Ende  erleben,  während  sie  in  der  Form  des  Konzessio- 
nierungssystems  sich  in  den  deutschen  Staaten  bis  tief  ins 
19.  Jahrhundert  erhalten,  verschwindet  diese  Form  der  Monopoli¬ 
sierung  in  England  schon  seit  1687.  Dafür  sind  in  keinem  Lande 
die  Handels-  und  Verkehrsmonopole  bis  in  das  19.  Jahrhundert 
hinein  so  rigoros  gehandhabt  worden  wie  in  Großbritannien :  erst 
1813  wird  der  indische  Handel  den  Außenseitern  freigegeben;  erst 
1796  wird  das  Schiffahrtsmonopol,  das,  wie  wir  sehen  werden,  seit 
Richard  H.  datiert  und,  wie  bekannt,  in  Cromwells  Navigations¬ 
akte  (1651)  seine  endgültige  Prägung  erfährt,  zum  ersten  Male 
durchbrochen,  erst  1849  wird  die  Navigationsakte  aufgehoben. 

Was  ein  Schriftsteller  in  den  1770  er  Jahren  von  Österreich 
schrieb,  hätte  für  alle  Staaten  gelten  können:  „Les  monopoles 


1  Vgl.  die  Darstellung  der  Wirtschaftsformen  im  2,  Bande. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  381 

dans  nos  provinces  sont  innombrables ,  partie  ignores,  partie 
toteres  et  partie  legalement  antorises  par  le  Gouvernement. 
Presque  tous  nos  fabriquants,  manufacturiers  et  gros  negociants 
sont  monopoleurs.“ 1 

2.  Die  Handelspolitik 

Eine  Form  der  Privilegierung  der  kapitalistischen  Industrie, 
die  im  Grunde  auch  auf  die  Gewährung  eines  Monopols  wenigstens 
für  einen  ganzen  Industriezweig  hinausläuft,  ist  die  künstliche 
Beeinflussung  des  Warenmarktes,  durch  Maßregeln  befördernd 
oder  hemmend  auf  den  Warenzustrom  oder  -abstrom  einzuwirken. 
Man  sucht  dasselbe  Ziel,  dem  die  Monopolisierung  zustrebt :  den 
Wettbewerb  auszuschließen  oder  einzuschränken  statt  auf  geradem 
Wege  auf  Umwegen  zu  erreichen.  Wozu  dann  freilich  eine  Reihe 
anderer  Wirkungen  handelspolitischer  Maßnahmen  neu  hinzutritt. 

Die  Handelspolitik  des  Merkantilismus  ist  wiederum  in  gerader 
Linie  aus  der  städtischen  Handelspolitik  erwachsen  wie  wir  schon 
festzustellen  Gelegenheit  hatten,  als  wir  der  „Versorgungspolitik“ 
gedachten.  Der  Zweck,  den  die  Fürsten  in  ihren  Staaten  ver¬ 
folgten,  war  ja  derselbe  gebheben,  den  schon  die  Stadtverwal¬ 
tungen  zu  erfüllen  getrachtet  hatten:  die  gewerblichen  Produzenten 
sollten  über  reichliche  Rohstoffe  verfügen  und  gegen  die  Kon¬ 
kurrenz  der  fremden  Erzeugnisse  geschützt  werden.  So  bleiben 
denn  in  den  Anfängen  der  staatlichen  Handelspolitik  auch  die 
Mittel  dieselben:  man  verbot  die  Ausfuhr  der’  Rohstoffe  (und 
Halbfabrikate)  ebenso  wie  die  Einfuhr  der  Fertigfabrikate. 

In  Spanien  wird  die  Ausfuhr  von  (Nahrungsmitteln  und)  Rohstoffen 
schon  während  des  14.  Jahrhunderts  von  den  Königen,  z.  B.  Arra- 
goniens,  verboten.  1462  bestimmt  Heinrich  IV.,  daß  bei  der  Ausfuhr 
von  Wolle  auf  der  einheimischen  Produzenten  Wunsch  ihnen  ein  Drittel 
preiswürdig  zu  überlassen  sei:  diese  Vergünstigung  wird  noch  aus¬ 
gedehnt  durch  Gesetze  von  1551,  1552,  1558,  1560-  Im  Jahre  1537 
wird  die  Ausfuhr  von  Eisenerzen  untersagt;  1548,  1550,  1552,  1560 
wird  die  Lederausfuhr  verboten. 

In  Frankreich  gehen  die  ältesten  Ordonnanzen,  in  denen  die  Könige 
die  Ausschließungspolitik  der  Städte  aufnehmen,  auf  Philipp  III.  zu¬ 
rück,  der  bereits  1278  die  Ausfuhr  der  einheimischen  Wollen  verboten 
hatte.  Die  Ordonnanzen,  in  denen  dieses  Verbot  erneuert  und  auf 
andere  Rohstoffe  und  Halbfabrikate ,  wie  Flachs ,  Färbematerialien, 
Garne,  rohe  Tücher  usw.,  ausgedehnt  wird,  sind  dann  in  den  folgenden 
Jahrhunderten  zahlreich:  wir  begegnen  ihnen  z.  B.  1305,  1320,  1567, 
1572,  1577  usf.  Zu  ihnen  gesellen  sich  frühzeitig  die  Ordonnanzen, 


1  Mitgeteilt  bei  Pf ihr  am,  273. 


382 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


die  die  Einfuhr  fertiger  Erzeugnisse ,  namentlich  der  Textilindustrie, 
verbieten :  1469  verbietet  Ludwig  XI.  die  Einfuhr  der  indischen  Leinen, 
1538  Franz  I.  die  der  Tuche  von  Katalonien  und  Perpignan,  1567 
die  der  flämischen  sayetteries ;  1567,  1572,  1577  wird  die  Einfuhr  der 
draps  d’or,  d’argent  et  de  soie  verboten. 

In  England  verbietet  schon  das  Oxforder  Parlament  im  Jahre  1258 
die  Wollausfuhr,  Eduard  II.  die  Ausfuhr  von  Weberkarden.  Dann 
kommen  diese  Ausfuhrverbote  wohl  eine  Zeitlang  in  Vergessenheit, 
als  der  Wollexport  die  große  volkswirtschaftliche  Bedeutung  für  Eng¬ 
land  erlangt.  Aber  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  werden  die  alten 
Verbote  wieder  aufgenommen:  4  H.  VII.  c.  10;  22  H.  VIII.  c.  2; 
37  H.  VIII.  c.  15  enthalten  Wollausfuhrverbote ,  2.  u.  3.  Edw.  VI. 
c.  26  das  Verbot  der  Ausfuhr  weißer  Asche.  Unter  Jakob  I.  wird 
die  Ausfuhr  nicht  vollendeter  Wollwaren  verboten;  1648,  1660  wird 
das  Verbot  der  Wollausfuhr  wiederholt.  Das  Verbot  bleibt  dann  bis 
1825  in  Kraft.  Noch  im  letzten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  sind 
die  Bestrebungen  zur  Verhinderung  der  Wollausfuhr  besonders  lebhaft. 
James,  Worsted  Manufacture  (1857),  301  ff.  Vgl.  auch  J.  Bon- 
wick,  ßomance  of  the  Wool  Trade  (1887),  14  ff.  167  ff. 

Ebenso  wie  die  Ausfuhr  der  Wolle  war  die  der  Häute  verboten 
(1  El.  c.  10;  18  El.  c.  9)  (eine  Zusammenstellung  der  auf  das  Leder 
bezüglichen  Gesetze  findet  sich  in  der  Flugschrift  Leather,  A  dis- 
course  tendered  to  the  High  Court  of  Parliament  1629.  Abgedr.  in 
Soc.  Engl,  illustr.  A  Collection  of  XVIIth  Century  Tracts  (1903), 
331  ff.),  ferner  die  von  Hörnern  (4  Edw.  IV.  c.  8;  7  Jac.  I.  c.  14); 
von  Metallen  (21  H.  VIII.  c.  10). 

Und  auf  der  andern  Seite  sind  noch  während  des  15.  Jahrhunderts 
zahlreiche  Fertigfabrikate  von  der  Einfuhr  nach  England  ausgeschlossen : 
33  H.  VI.  c.  5  (1455);  3  Ed.  IV.  c.  3  (1463);  22  E.  IV.  c.  3  (1483) 
verbieten  die  Einfuhr  von  Seide  und  verschiedener  Seidenwaren ; 
3  Ed.  IV  c.  4  die  Einfuhr  von  fast  hundert  Artikeln  aller  Branchen. 

Ganz  ebenso  lagen  die  Dinge  in  andern  Ländern:  zahlreiche  Aus¬ 
fuhrverbote  für  rohe  Häute  und  Felle,  für  Eichenrinde  und  Borke  in 
den  verschiedenen  deutschen  Staaten  (Übersichten,  bei  Bergius, 
Neues  Policey  und  Cam.  Magaz.  4  (1778),  25  ff.  27);  in  Holland 
Ausfuhrverbote  für  Schiffsbaumaterialien  (Laspeyres,  154). 

Setzte  der  Fürstenstaat  in  den  Einfuhr-  und  Ausfuhrverboten 
die  städtische  Wirtschaftspolitik  nur  fort,  so  hat  er  im  weiteren 
Verlauf  doch  auch  ein  Mittel  der  Handelspolitik  entwickelt,-  das 
die  frühere  Zeit  nicht  gekannt  hat  und  um  dessentwillen  man 
die  ganze  merkantilistische  Handelspolitik  oft  als  eine  voll¬ 
ständige  Neuerung  kennzeichnet:  den  Schutzzoll. 

Abgaben  von  den  in  Bewegung  befindlichen  Sachgütern  zu 
erheben,  war  das  ganze  Mittelalter  hindurch  üblich  gewesen :  ur¬ 
sprünglich  hatten  diese  Abgaben  den  Sinn  der  Gebühr  gehabt, 
dann  waren  sie  allmählich  zur  Steuerquelle  für  Herren  und  Städte 
geworden.  Es  war  eine  geniale  Idee,  diese  Finanzzölle,  wie  wir  sie 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  383 

heute  nennen  würden,  den  Zwecken  des  Industrieschlitzes  dienst¬ 
bar  zu  machen.  Wann  diese  Wandlung  erfolgt  ist,  können  wir  mit 
voller  Gewißheit  nicht  sagen 1 :  vielleicht  oder  sogar  wahrschein¬ 
lich  ist  die  Umbildung  des  Finanzzollsystems  in  ein  Schutzzoll¬ 
system  ganz  allmählich  erfolgt,  als  ein  Werk  kasuistischer  Politik. 

Soviel  wir  zu  sehen  vermögen ,  tauchen  in  größerer  Menge 
Schutzzölle  in  Frankreich  und  England  während  des  16.  Jahr- 
hunderts  auf:  in  England  könnte  man  den  Tarif  von  1534,  in 
Frankreich  die  Tarife  von  1564,  1577  und  namentlich  den  von 
1581  als  erste  Schutzzolltarife  ansprechen. 

Bekannt  ist,  daß  dann  in  den  Tarifen  Colberts  von  1*664  und 
1667  das  Schutzzollsystem  seine  volle  systematische  Ausbildung 
erfahrt:  hohe  Ausfuhrzölle  auf  .Rohstoffe,  hohe  Einfuhrzölle  auf 
Fertigfabrikate,  Einfuhrerleichterungen  für  Rohstoffe,  Ausfuhr¬ 
begünstigungen  für  Fertigfabrikate :  dieses  waren  die  Grundsätze 
der  Politik,  die  wir  ihres  Vollenders  wegen  auch  als  Colbertismug/-' 
bezeichnen,  und  die  ebenso  wie  die  Monopolisierungspolitik  alle 
Länder  bis  tief  hinein  ins  19.  Jahrhundert  beherrscht  hat:  in 
England,  dem  „Freihandelslande“  par  excellence,  wurde  durch 
den  Handelsvertrag,  den  Pitt  im  Jahre  1786  mit  Frankreich 
schloß ,  die  erste  Bresche  in  das  Hochschutzzollsystem  gelegt, 
das  bis  dahin  bestanden  hatte.  Trotz  der  Reformen  Huskissons 
in  den  Jahren  1824  und  1825  fand  die  Peelsche  Tarifreform  des 
Jahres  1845  noch  Zölle  auf  130  verschiedene  Artikel  zum  Ab¬ 
schaffen  vor. 

*  * 

* 

Nun  hieße  es  aber  der  Handelspolitik  des  Merkantilismus  nur 
sehr  unvollkommen  gerecht  werden,  wollte  man  eine  Maßnahme 
unerwähnt  lassen,  durch  die  die  kapitalistischen  Interessen  eine 
ganz  besonders  starke  Förderung  erhielten:  die  Aufhebung 
der  Binnenzölle.  Die  Grenze  des  alten  Weichbildes  war 
jetzt  gleichsam  an  die  Landesgrenze  gerückt:  das  Gebiet  aber, 
das  von  diesen  eingeschlossen  war,  sollte  einheitlich  und  durch 
keine  Zollschranke  in  einzelne  Teile  zerschnitten  sein.  Besonders 
stark  entwickelt  war  das  Binnenzollsystem  in  Frankreich  und 
Deutschland.  In  Frankreich  gelang  es  Colbert  (1664),  wenigstens 

1  Siehe  für  Frankreich:  A.  Callery,  Les  douanes  avant  Colbert 
et  l’ordonnance  de  1664,  in  der  Revue  historique,  7e  annee,  tome  18 
(1882),  47  ff ;  auch  u.  d.  T.  Histoire  generale  du  Systeme  des  droits 
de  douane  aux  XVI  et  XVII  siecles,  1882;  für  England  Hub.  Hall, 

A  history  of  the  Custom  Revenue  in  England,  1885. 


384 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


einen  Teil  der  Binnenzollschranken  anfznheben:  diejenigen,  die 
in  den  20  „provinces  des  cinq  grosses  fermes“  bestanden,  so  daß 
seitdem  Normandie,  Picardie,  Champagne,  Bourgogne,  Touraine, 
Poitou,  Anjou  mit  Isle  de  France  und  Paris  zu  einem  gleich¬ 
artigen  Ganzen  zusammengeschlossen  waren.  Die  französische 
Revolution  vollendete  das  Werk,  während,  wie  bekannt,  in 
Deutschland  wenigstens  die  Staatsgrenzzölle  (die  etwa  den  fran¬ 
zösischen  Provinzzöllen  entsprachen)  erst  durch  den  Zollverein 
(1834)  aufgehoben  wurden. 

.  3.  Prämiierungen 

Neben  der  Monopolisierung  und  dem  Schutz  durch  künstliche 
Beeinflussung  der  Warenbewegung  fanden  sich  aber  noch  andere 
Mittel  der  Privilegierung  kapitalistischer  Interessen  in  dem 
Arsenal  der  merkantilistischen  Wirtschaftspolitik  vor. 

Man  kann  sie  alle  zusammen  als  „Unterstützungen“  oder 
„Prämiierungen“  bezeichnen,  durch  deren  Gewährung  man  ent¬ 
weder  die  Menschen  geneigt  machen  wollte,  sich  als  kapitalistische 
Unternehmer  zu  betätigen,  oder  ihnen,  wenn  sie  schon  den  Ent¬ 
schluß  gefaßt  hatten,  eine  Industrie  oder  einen  Handel  oder 
sonst  eine  gewinnbringende  Beschäftigung  auszuüben,  die  Mög¬ 
lichkeit  verschaffen  wollte,  Profite  zu  machen. 

S  a  v  a  r  y  1  zählt  in  seinem  Dictionnaire  alle  die  Vergünstigungen 
auf,  die  der  Staat  den  Unternehmern  und  den  Arbeitern  in  den 
königlichen  Manufakturen  zuteil  werden  ließ.  Es  sind  folgende : 

1.  die  Unternehmer  empfangen: 

den  erblichen  Adel  (die  bedeutendsten); 
die  Erlaubnis  zur  Naturalisation  (wenn  sie  Fremde  sind); 
Erlaß  der  Eingangszölle  oder  Ausfuhrzölle,  die  auf  den  von 
ihnen  gebrauchten  Rohstoffen  oder  gefertigten  Fabrikaten 
ruhen ; 

zinslose  Darlehen  auf  mehrere  Jahre; 

Jahrespensionen  (deren  Höhe  sich  nach  dem  Erfolge  ihrer 
Unternehmungen  bemißt) ; 
die  Erlaubnis  des  Salzbezuges  zu  Engrospreisen; 
die  Erlaubnis,  Bier  für  sich,  ihre  Angehörigen  und  ihre 
Arbeiter  zu  brauen; 

Bauplätze  für  ihre  Werkstätten; 
das  Recht  „Committimus“ ; 

Befreiung  von  der  Gewerbeaufsicht; 


1  Savarv,  Dict.  du  Comm,  s.  v.  Mavmfactures  2,  632. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  385 

2.  die  Arbeiter  erhalten: 

Steuerfreiheit ; 
das  Meisterrecht. 

Die  Hauptsache  waren  für  den  Unternehmer  natürlich  die 
Zuschüsse,  die  er  in  bar  aus  der  Staatskasse  empfing.  Das  waren, 
zumal  unter  der  Regierung  Colberts,  in  Frankreich  recht  be¬ 
trächtliche  Summen.  Man  hat  berechnet,  daß  zwischen  1664 
und  1683  zur  Gründung  oder  Subventionierung  industrieller 
Unternehmungen  1  800  000  1.  ausgegeben  worden  sind :  ohne  die 
Manufactures  d’Etat,  die  allein  3  Mill.  1.  gekostet  haben,  ohne 
die  Ankäufe,  die  Louis  XIV.  bei  privilegierten  Unternehmungen 
machte,  und  ohne  die  Pensionen,  die  den  Unternehmern  gewährt 
wurden.  M.  Guiffrey,  der  Verfasser  der  Comptes  des  bäti- 
ments  du  roi,  kommt  auf  eine  Gesamtsumme  von  öVa  Mill.  1., 
die  zur  direkten  Unterstützung  der  Textilindustrie  ausgegeben 
wurden:  2  Mill.  für  Pensionen  und  Subventionen,  3  Mill.  für 
Bestellung  von  Teppichen  und  Geweben.  Außerdem  wurden  die 
Provinzen  und  die  Städte  veranlaßt,  industrielle  Unternehmungen 
zu  finanzieren,  und  zahlreiche  Etats  provinciaux,  namentlich  die 
von  Languedoc  und  Bourgogne 1  und  Städte  wie  Lille ,  unter¬ 
hielten  denn  auch  wirklich  Industrien  aus  ihren  Mitteln.  „Allen 
Erfindungen  wurde  durch  Privilegien  und  Protektion  zu  Hilfe 
gekommen,  des  Königs  Kasse  stand  gleichsam  an  Märkten  und 
Landstraßen  und  harrte  derer,  denen  nur  irgendeine  Erfindung 
zu  Gebote  stand,  um  sie  zu  belohnen“.  (Heinrich  Laube) 

Vielleicht  nicht  mit  demselben  Feuereifer  und  mit  denselben 
Opfern  an  Geld,  aber  im  Grunde  doch  mit  gleichen  Mitteln 
suchten  die  Fürsten  allerorten  die  kapitalistische  Industrie  zu 
fördern.  Insbesondere  waren  die  Prämien  bei  der  Ausfuhr  fertiger 
Fabrikate  namentlich  auch  in  England  beliebt2 * *.  Oder  man  fand 
auf  anderem  Wege  Gelegenheit,  den  Industriellen  Zuwendungen 
zu  machen:  indem  man  z.  B.  Vorkaufsrechte,  die  der  Krone  zu¬ 
standen,  an  Kapitalisten  abtrat,  wie  seit  der  Elisabeth  die  eng¬ 
lischen  Könige  es  taten  mit  den  Erzvorkaufsrechten,  die  sie 
gegenüber  den  Zinnbergwerken  in  Cornwall  hatten8. 

Dieselben  Maßnahmen  kehren  in  allen  andern  Ländern  wieder. 

1  Sie  schießen  (1667)  400  000  1.  vor,  um  200  Serge-Stühle  auf¬ 
zustellen;  in  den  folgenden  Jahren  fahren  sie  mit  den  Subventionen 
fort:  Levasseur,  Ind.  2,  241. 

2  Cunningham,  2,  516. 

2  G.  R.  Lewis,  The  Stannaries  (1908). 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


25 


386 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


An  Unterstützungen  und  Vorschüssen  wurden  in  Österreich  seit 
Mitte  der  1760  er  Jahr  alljährlich  50—80000  fl.  ausgegeben1. 

II.  Die  Reglementierung 

Wie  die  erste  Grundidee  des  mittelalterlichen  Wirtschafts¬ 
lebens:  daß  niemand  wirtschaften  solle,  er  habe  denn  von  oben 
die  Ermächtigung  dazu  erhalten ,  von  dem  Fürstenstaate  über¬ 
nommen  wurde,  so  nicht  weniger  streng  die  zweite:  daß  jeder¬ 
mann  sein  (wirtschaftliches)  Verhalten  den  Anweisungen  der 
Obrigkeit  gemäß  einzurichten  habe.  Ich  nannte  die  erste  Grund¬ 
idee  die  des  Privilegs  und  nenne  die  andere  die  des  Reglements, 
unter  dessen  Zwange  die  ganze  frühkapitalistische  Epoche  eben¬ 
falls  noch  steht. 

Was  man  wohl  als  die  dem  absoluten  Staate  eigene  „Viel¬ 
regiererei“  bezeichnet:  darin  eben  schlägt  sich  die  Herrschaft 
dieser  Reglementierungsidee  nieder,  von  Friedrich  n.  und  den 
italienischen  Fürsten  des  Trecento  angefangen  bis  zu  den  Stuarts 
und  Louis  XIV.  oder  Friedrich  M.  Was  man  in  den  Anfängen 
des  absoluten  Fürstentums  als  dessen  Pflichten  pries  und  als  ein 
Ideal  erstrebte  —  wir  hörten  Burckhardt  darüber  — ,  das 
wurde  im  17.  und  18.  Jahrhundert  Wirklichkeit  in  reichster 
Fülle.  Horen  wir,  um  was  alles  sich  selbst  in  dem  immer  noch 
am  wenigsten  „reglementierten“  Lande:  England,  die  Regierung 
(allerdings  zur  Zeit  der  Stuarts:  ich  wähle  als  Beispiel  das  Jahr 
1630)  kümmerte: 

die  Seide  soll  schlecht  gefärbt  sein:  verordnet,  daß  nur 
Spanisch-Schwarz  zum  Färben  genommen  wird; 

das  Getreide  wird  knapp :  verordnet,  daß  Freitag  abend  kein 
Abendbrot  gegessen  wird,  noch  an  andern  Fasttagen; 

die  Fischerei  gedeiht  nicht :  verordnet :  es  wird  eine  Kom¬ 
mission  zur  Untersuchung  eingesetzt; 

die  ausgeführten  Tuche  sollen  zuweilen  an  Länge,  Breite 
und  Gewicht  Defekte  gehabt  haben:  verordnet  die  Bestellung 
von  Kommissionen  für  Somerset,  Wilts,  Gloucester  und  Oxon, 
die  die  Aufseher  beaufsichtigen  sollen; 

die  Wollindustrie  bedarf  der  Unterstützung:  verordnet,  daß 
Tuchstoffe  nur  aus  heimischen  Wollstoffen  hergestellt  werden; 

falsche  Färbung  kommt  vor:  verordnet,  daß  kein  logwood 
oder  blockwood  zum  Färben  genommen  wird; 


1  PHbram,  a.  a.  O.  S.  71  ff.  132. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  387 

zu  viel  fremder  Draht  wird  verbraucht:  verordnet,  daß 
kein  fremder  Draht  mehr  eingeführt  wird  usw.; 

London  droht  übervölkert  zu  werden :  verordnet,  daß  keine 
neuen  Häuser  in  London  und  innerhalb  drei  Meilen  errichtet 
werden ; 

der  Verbrauch  von  Tabak  nimmt  überhand:  verordnet,  daß 
in  England  kein  Tabak  gepflanzt  werden  soll 1  usw.  usw. 

Hier  interessiert  uns  nur  die  Ordnung  der  wirtschaftlichen, 
insonderheit  der  gewerblichen  und  kommerziellen  Tätigkeit  (so¬ 
weit  sie  nicht  schon  in  der  Privilegierung  enthalten  ist),  und 
es  soll  auf  den  folgenden  Blättern  versucht  werden,  festzustellen : 
worin  die  "Wesenheit  dieser  Ordnung  im  absoluten  Staate  be¬ 
standen  hat :  was  aus  früherer  Zeit  übernommen,  was  neu  hinzu¬ 
gefügt  wurde. 

Da  haben  wir  denn,  was  sich  schon  aus  den  Eino-anns- 
Worten  ergibt,  vor  allem  festzustellen :  daß  die  in  der  Zunft¬ 
ordnung  niedergeschlagene  Wirtschaftsverfassung 
des  Mittelalters  in  ihren  Grundgedanken  während 
der  ganzen  frühkapitalistischen  Epoche  unver¬ 
ändert  in  (Geltung  geblieben  ist.  Das  "Wirtschaftsrecht 
bleibt  also  grundsätzlich  ein  gebundenes. 

"Was  nun  freilich  nicht  ausschließt,  daß  das  absolute  Fürsten¬ 
tum  wesentliche  Änderungen  an  der  alten  Wirtschaftsordnung 
vorgenommen  hat,  von  denen  im  folgenden  die  Rede  sein  soll. 

Zunächst  ist  in  den  Jahrhunderten  des  absoluten  Staates  die 
Zunftordnung  in  zahlreichen  Punkten  verschärft  und 
ihre  Geltung  verallgemeinert  worden.  Die  Ordonnanzen 
der  französischen  Könige  seit  dem  Ende  des  IG.  Jahrhunderts 
führen  die  Zwangsinnungen  überall  erst  recht  ein  und  führen  den 
Zunftzwang  streng  durch:  vor  allem  die  beiden  wichtigsten:  die 
Ordonnanz  Heinrichs  IH.  vom  Dezember  1581  und  Colberts 
Ordonnanz  von  1673.  Und  als  dann  um  die  Mitte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  viele  Zünfte  ihre  Statuten  erneuern,  geschieht  es  mit 
der  ausgesprochenen  Absicht,  durch  die  Neupublikation  den 
Geist  der  Exklusivität  zu  stärken.  Die  Sammlung  sei  nützlich, 
meinten  z.  B.  die  Chaudronniers,  „surtout  quand  il  s’agira  d’avoir 
affaire  ä  des  marchands  ou  maitres  de  differentes  communautes 
qui  entreprennent  continuellement  contre  le  commerce  de  la  dite 


1  Die  Texte  der  Verordnungen  finden  sich  in  Rymers  Foedera 
19,  187—235. 


388 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


communaute  au  prejudice  de  ses  droits  et  des  differents  arrets 
et  sentences  obtenues“ 1. 

Auch  die  englischen  Zünfte,  die  während  des  16.  bis  18.  Jahr¬ 
hunderts  neu  gegründet  werden,  sind  teilweise  ausschließender 
und  eno-er  in  ihren  Grundsätzen  als  die  des  Mittelalters 2.  Ebenso 

o 

ist  es  bekannt,  daß  in  Deutschland  das  Zunftwesen  während  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  starrer  und  düsterer  wird3. 

Auch  vermehrte  sich  die  Zahl  der  Zünfte  in  dieser  Zeit  noch 
beträchtlich:  in  Paris  gab  es  1672  60,  kurz  nach  Erlaß  der 
Colbertschen  Gewerbeordnung  83,  1691  schon  129 4 ;  in  Poitiers 
gab  es  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  25,  1708  35,  1717  43  ge¬ 
schworene  Handwerke 5. 

Diese  Verschärfung  der  zünftlerischen  Tendenzen  ging  ja  nun 
freilich  vornehmlich  das  Handwerk  an,  und  sie  entsprang  wohl 
großenteils  der  Bedrängnis,  in  die  manche  Handwerke  durch  das 
Fortschreiten  des  Kapitalismus  gerieten.  Aber  zum  nicht  un¬ 
erheblichen  Teil  wurden  doch  auch  die  kapitalistischen 
Interessen  durch  die  Neuerungen  mit  getroffen: 
so  hatten  beispielsweise  alle  jene  Vorschriften  der  Statuten,  die 
sich  auf  die  Aufsicht  der  Gewerbe  bezogen,  also  für  die  Güte 
des  Fabrikats,  die  ordnungsmäßige  Einrichtung  der  Betriebe 
usw.,  sorgten,  ihr  Hauptaugenmerk  gerade  auf  die  kapitalistische 
Industrie  gerichtet.  Wir  hören  das  lebhafte  Interesse  an  deren 
Reglementierung  aus  den  Worten  Colberts  heraus,  mit  denen 
er  die  französische  Gewerbeordnung  des  Jahres  1669  einleitet 
(in  der  150  frühere  Spezialordnungen  aufgingen!):  „Nous  de- 
sirons  remedier  autant  qu’il  nous  est  possible,  aux  abus  qui  se 
commettent  depuis  plusieurs  annees .  aux  longueurs ,  largeurs, 
force  et  bonte  des  draps,  serges  et  autres  etofies  de  laine  et  fil, 
et  rendre  uniforme  toutes  celles  de  mesme  Sorte,  nom  et  qualite, 
en  quelque  lieu  qu’elles  puissent  estre  fabriquees  tant  pour  en 
augmenter  le  debit  dedans  et  dehors  nostre  royaume  que  pour 
empescher  que  le  public  ne  soit  trompe!“  „II  n’y  a  de  plus  im¬ 
portant“  als  Reglements  zu  erlassen,  hat  er  ein  anderes  Mal  gesagt 6. 


1  Siehe  die  Liste  der  neuen  Statuten  bei  Levasseur,  Ind.  2,  461  f. 

2  Unwin,  Ind.  Org.,  103  ff. 

3  Siehe  z.  B.  Stieda,  Art.  Zunftwesen  in  HSt. 

4  Savary,  Dict.  Art.  Corps  et  Com. 

6  Boissonade,  Essai  sur  l’origine  du  trav.  en  Poitou  2,  6.  15. 

6  Depping,  Introd.  ä  la  correspondance  administr.  de  Louis  NIV 
Tome  III  p.  IV/VI. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  389 

Im  18.  Jahrhundert  werden  die  Reglements  immer  strenger, 
immer  minutiöser :  sie  zählen  bis  100  und  200  Artikel  auf  und 
enthalten  immer  mehr  Produktionsanweisungen:  die  Gesetzgebung 
wird  immer  komplizierter.  Bis  1683  hatte  die  Zahl  der  Regle¬ 
ments  48  betragen,  von  1683  bis  1739  zählen  wir  230  „edits 
arrets  et  reglements  sur  les  arts  et  metiers“  h  „Ein  Wahnsinn 
hat  die  Zeitgenossen  ergriffen,  dessen  man  den  menschlichen 
Geist  niemals  fähig  gehalten  haben  würde“,  ruft  M1'  Roland,  der 
das  Gewerbewesen  für  die  Encyclopedie  zu  bearbeiten  hatte, 
ganz  entsetzt  aus2. 

In  den  übrigen  Ländern  lagen  die  Dinge  nicht  viel  anders: 
die  englische  Textilindustrie  war  seit  jeher  in  enge  Fesseln  gelegt 
(bis  auf  die  Baumwollindustrie,  die  sich  etwas  freier  entwickelte). 
Gesetze  von  1329,  1469,  1484,  1585,  1593  u.  a.  regeln  die  Aus¬ 
maße  der  Stücke;  Gesetze  von  1515,  1518  ü.  a.  den  Fabrikations¬ 
prozeß,  das  Markenwesen  usw.  Behufs  Durchführung  der  Gesetze 
bestand  eine  strenge  Gewerbeaufsicht,  ebenfalls  bis  ins  18.  Jahr¬ 
hundert  hinein:  im  Jahre  1806  fand  die  Untersuchungskommission 
in  der  Wollindustrie  allein  noch  70  reglementierende  Gesetze  in 
Kraft. 

In  Holland  finden  wir  im  17.  und  18.  Jahrhundert  ganz  genaue 
Bestimmungen  über  die  Art  der  Fabrikation,  die  Art  des  Ver¬ 
kaufs,  die  obrigkeitliche  Kontrolle  usw.,  nicht  nur  als  Überbleibsel 
aus  dem  Mittelalter,  sondern  häufig  erneuert  und  vermehrt:  „in 
der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  suchte  die  Obrigkeit 
mehr  als  je  die  Hilfe  für  die  Gewerbe  in  (deren)  Gängelung“ 
(L  a  s  p  e  y  r  e  s).  Es  folgt  V erbot  auf  V erbot,  V erfälschungen  vor¬ 
zunehmen:  von  Hopfen  (1721),  Milch  und  Käse  (1727),  Butter 
(1725),  Indigo  (1739)  usf.  In  einem  Gewerbezweig  nach  dem 
andern  wird  der  Produktionsprozeß  immer  wieder  neu  geregelt: 
in  der  Wollweberei  (1724),  der  Färberei  (1767),  der  Hanfbereitung 
(1770,  1790),  fier  Bereitung  der  Kette  für  Segeltuch  (1759)  usw. 

In  Österreich  dasselbe  Bild 3 :  Garnordnungen,  Tuchordnungen, 
Leinwandordnungen.  „Die  österreichische  Politik  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  wandelt  völlig  in  den  Bahnen  Oolberts.  Die 

1  Siehe  Anm.  6  S.  388. 

2  „C’est  l’epoque  d’un  delire  dont  on  n’aurait  jamais  cru  l’esprit 
humain  susceptible.“  Enc.  meth.  Mf.  1 ,  4.  Hier  findet  man  auch 
unter  dem  Stichwort  Reglement  die  sehr  detaillierten  Vorschriften  der 
1770  er  und  1780  er  Jahre  im  Wortlaut. 

8  Pfibram,  a.  a.  O.  S.  76  ff. 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


*390 

Ausdrücke:  Reglementierung,  staatliche  Bevormundung,  Polizei¬ 
aufsicht  bezeichnen  kurz  das  System,  durch  das  die  Regieiung 
nach  Colbertschem  Brauch  auf  das  Gewerbe  erzieherisch  einzu- 
wirken  suchte;  Reellität  der  Produktion  wollte  man  durch 
strenge  Kontrollierung  und  Gleichartigkeit  der  Arbeit  sichern  ... 

Am  beliebtesten  war  die  Reglementierung  natürlich  in  der 
Standardindustrie  jener  Zeit:  in  der  Textilindustrie.  Aber  auch 
in  andern  Gewerbezweigen  war  die  Produktion  strengen  Regeln 
unterworfen:  so  enthalten  die  deutschen  Blechhammel  Ordnungen 
genaue  Bestimmungen  über  Zahl  und  Größe  der  Blechhämmer, 
über  Größe,  Länge,  Breite,  Beschneidung,  Verzierung  usw.  der 
Bleche1  2. 

Ingleichen  besitzen  wir  sehr  peinliche  Reglementierungen  der 
Papierindustrie  3  usw. 

Trafen  diese  Reglements  die  kapitalistische  Industrie  (und 
auch  den  kapitalistischen  Handel)  in  manchen  Fällen,  weil  es 
Gewerbe  und  Handel-  waren  (nicht  weil  sie  in  kapitalistischer 
Form  betrieben  wurden),  so  gab  es  doch  eine  Fülle  von  Be¬ 
stimmungen,  gab  es  eine  Menge  von  Maßnahmen,  die  neu  getroffen 
wurden  im  Hinblick  auf  den  kapitalistischen  Charakter  von  Handel 
und  Industrie,  die  geradezu  eine  Durchbrechung  oder 
Umbiegung  oder  Weiterbildung  der  handwerksmäßigen 
Ordnung  bedeuteten,  mit  denen  also  das  absolute  hürstentum 
wiederum  den  kapitalistischen  Interessen  —  vielfach  auf  Kosten 
des  Handwerks  —  zu  dienen  beflissen  war. 

Ich  denke  in  erster  Linie  an  die  Beseitigung  aller  derjenigen 
Beschränkungen  des  zünftlerischen  Gewerberechts,  die  den  Zweck 
hatten,  die  Ausdehnung  der  Betriebe  zu  hindern:  also  der  Be¬ 
schränkung  in  der  Zahl  der  Gehilfen  oder  Produktionsmittel 
(Webstühle  usw.).  Entweder  die  neuen  Industrien  wurden  aus¬ 
drücklich  von  diesen  Gesetzen  befreit  oder  in  den  Gewerbe¬ 
ordnungen  selbst  wurden  diese  einschränkenden  Bestimmungen 
gestrichen:  so  enthielt  das  Statute  of  Artificers  der  Elisabeth 
zwar  noch  die  Vorschrift  einer  mindestens  7jährigen  Lehrzeit, 

1  H.  v.  Srbik,  304;  vgl.  S.  286  ff. 

2  Siehe  z.  B.  die  kurfürstl.  sächsischen  von  1660  und  1666,  die 
abgedruckt  sind  in  der  Allg«m.  Schatzkammer  der  Kaufm.  1  (1741), 
585/86 

3  Siehe  z.  B.  die  Regl.  von  1671.  1730.  1739.  1741,  die  auf  das 
genaueste  die  Papierind.  von  Angoumois  regeln,  bei  P.  Boissonade, 
L’ind.  du  papier  en  Charente.  Bibi,  du  „Pays  Poitevin“  Nr.  9  (1899), 

13  ff. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  391 

jedoch  keine  Beschränkung  mehr  in  der  Zahl  der  Lehrlinge, 
vorausgesetzt  daß  sie  in  einem  richtigen  Verhältnis  zur  Zahl  der 
Arbeiter  standen. 

III.  Die  Unifizierung 

Eine  wesentliche  Förderung  der  kapitalistischen  Interessen 
bedeuteten  aber  vor  allem  diejenigen  Maßnahmen  der  merkanti- 
listischen  Politik,  die  man  als  die  Nationalisierung  der 
Zunftordnung  bezeichnen  kann,  durch  die  alle  Hindernisse 
beseitigt  werden  sollten,  die  die  mittelalterlichen  Städte  im 
lokalen  Interesse  aufgerichtet  hatten ,  durch  die  vor  allem  das 
Gewerberecht  im  ganzen  Lande  nach  Möglichkeit  vereinheitlicht 
wurde. 

Diese  Nationalisierung  erreichte  man  entweder  dadurch,  daß 
der  Staat  als  Aufsichts-  oder  Kontrollorgan  an  die  Stelle  der 
Stadt  oder  der  Zunft  trat;  oder  dadurch,  daß  man  die  Zünfte 
zu  nationalen  Verbänden  machte;  oder  daß  man  von  vornherein 
für  neu  auftauchende  Gewerbezweige  nationale  Zünfte  ins  Leben 
rief.  Entsprechend  der  Umbildung,  die  die  Wirtschaftsform 
in  jener  Zeit  gerade  in  zahlreichen  Gewerben  erlebte:  aus  dem 
Handwerk  in  die  Hausindustrie,  empfingen  die  neuen  nationalen 
Zünfte  von  vornherein  schon  den  Charakter  von  Hausindustrie  - 
ordnungen:  demjenigen  Typ  des  staatlichen  Gewerbevereins, 
der  in  allen  Ländern  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  neu 
und  massenhaft  auftaucht  und  der  Gewerbefassung  jener  Zeit  ihr 
eigentümliches  Gepräge  verleiht.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese 
Wandlungen  im  einzelnen  zu  verfolgen:  sie  sind  durch  eine 
.Reihe  guter  Bücher  in  ein  besonders  helles  Licht  gerückt  und 
jedem,  der  sich  mit  der  frühkapitalistischen  Epoche  beschäftigt 
hat,  ganz  und  gar  vertraut.  Ich  gebe  nur  der  Vollständigkeit 
halber  ein  paar  Hinweise  auf  einige  der  wichtigsten  Gesetze  und 
Verordnungen. 

Die  Nationalisierung  des  Zunftwesens  beginnt  in  Eng¬ 
land  und  Frankreich,  den  dort  herrschenden  starken  Einheitstendenzen 
gemäß ,  bereits  während  des  Mittelalters ;  unter  den  letzten  Planta¬ 
genets  und  den  ersten  Valois:  die  Ordonnanzen  von  1307,  1351  und 
1383  tun  die  ersten  Schritte.  Sie  wird  vollendet  in  beiden  Ländern 
ungefähr  gleichzeitig:  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts:  in 
England  durch  die  Statute  of  Artificers  und  Statute  of  Apprentices 
der  Elisabeth;  in  Frankreich  durch  die  Ordonnanzen  Heinrichs  III. 
von  1581  und  Heinrichs  IV.  von  1597.  Der  Inhalt  dieser  Gesetze 
war  im  wesentlichen  derselbe :  die  Zunftverfassung  wird  bestätigt,  aber 
ihres  lokalen  Charakters  entkleidet.  In  den  englischen  Gesetzen  werden 


892 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


ausdrücklich  nationale  Zünfte  errichtet,  zum  Teil  auf  den  Trümmern 
der  lokalen,  deren  Kompetenz  in  der  Aufsicht  über  das  Gewerbe  be¬ 
steht  und  vom  Könige  sich  ableitet.  In  den  französischen  Ordonnanzen 
wird  ausdrücklich  Freizügigkeit  innerhalb  gewisser  Grenzen  gewährt: 
jeder  Meister  kann  sich  in  seinem  Gewerbe  auch  an  einem  andern 
Orte  innerhalb  derselben  bailliage  oder  Senechaussee  ohne  weiteres 
niederlassen:  nur  nicht  in  Paris;  die  Pariser  Meister  können  sich 
ohne  weiteres  im  ganzen  Königreich  niederlassen. 

Diesen  Grad  der  Vereinheitlichung  wie  in  Frankreich  und  England 
hat  das  Zunftwesen  in  den  übrigen  Ländern,  namentlich  auch  in 
Deutschland,  vor  der  Einführung  der  Gewerbefreiheit  nicht  erreicht. 

Immerhin  versuchte  die  Reichszunftordnung  vom  16.  August  1731 
(in  Österreich  als  Generalzunftpatent  am  16.  November  1731  verkündet) 
in  gleichem  unifizierenden  Sinne  zu  wirken  wie  die  entsprechenden 
westeuropäischen  Gesetze,  während  die  größeren  deutschen  Einzel¬ 
staaten  ( Brandenhurg-Preufsen  1668)  selbständig  das  Zunftwesen  zu 
ordnen ,  das  heißt ,  wie  man  es  bezeichnen  kann ,  zu  verstaatlichen 
bemüht  waren. 

Die  wichtigste  Maßregel  aber,  um  das  Zunftwesen  mit  den  An¬ 
forderungen  der  kapitalistischen  Organisation  in  Einklang  zu  bringen, 
war  die  Schaffung  neuer,  eigenartiger  Verbände  für  die 
aufkommenden  Hausindustrien  oder  hausindustrieähnlichen 
Arbeitsverfassungen,  die  vielfach  noch  zwischen  Handwerk  und  Kapita¬ 
lismus  in  der  Mitte  standen.  Solche  Hausindustrieordnungen  werden 
in  Frankreich  und  England  wiederum  ziemlich  gleichzeitig  —  während 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  und  in  den  ersten  Jahrzehnten 
des  17.  Jahrhunderts  —  in  großer  Fülle  ins  Leben  gerufen:  in  Frank¬ 
reich  gehören  hierher  die  Kürschner- Ordonnanz  von  1583,  die  Hosen- 
macher-O.  von  1575,  die  Gürtler-O.  von  1575,  die  Handschuhmacher- 
0.  von  1656,  vor  allem  aber  die  Lyoner  Seidenweber  -  0.,  die  ihre 
Vollendung  1700  findet.  Für  die  Pariser  Gewerbe  ist  der  3.  Band 
von  Les pinasse,  Metiers  de  Paris,  zu  Rate  zu  ziehen;  für  die 
Lyoner  Seidenweber-O.  die  Spezialliteratur  über  die  Lyoner  Seiden¬ 
industrie,  unter  der  Godard,  L’ouvrier  en  soie  (1899),  hervorragt. 
Vgl.  auch  A.  du  Bourg,  Tableau  de  l’ancienne  Organisation  du 
Travail  dans  le  midi  de  la  France,  und  H.  Hauser,  Les  questions 
industr.  et  comm.  dans  les  cahiers  de  la  Ville  et  des  Communautes 
de  Paris  aux  Etats  generaux  de  1614,  in  der  Vierteil ahrsschrift  für 
Soz.  u.  WG.  1,  376  ff. 

In  England  haben  wir  als  entsprechende  Gebilde  die  Tuchmacher- 
Company,  die  Gilde  der  Gerber,  Goldschmiede,  Galanteriewarenhändler 
(haberdashers),  Maßschneider,  Eisenhändler,  Sattler,  Messerschmiede, 
Lederhändler,  Schwarz schmie de,  Gürtler,  Tischler,  Zinngießer  (pew- 
terers)  u.  a. :  alle  ungefähr  aus  derselben  Zeit,  dem  Zeitalter  der 
Elisabeth.  Ein  besonders  lehrreiches  Beispiel  für  die  Neuzünfte  auf 
kapitalistischer  Basis  ist  die  Company  of  Stationers,  in  der  Verlegei' 
und  Drucker  zu  gemeinsamem  Werke  geeint  waren.  Über  die  Ver¬ 
bände  der  englischen  Hausindustrie  hat  jetzt  das  Unwinsche  Buch 
neues  Licht  verbreitet. 


Vienmdzwanzigstes  Kapitel:  Die  Gewerbe-  und  Handelspolitik  393 

Ganz  dieselben  Verbände  finden  wir  dann  aber  auch  in  andern 
Ländern;  in  Holland  wird  1752  die  Betttucliweber-  und  Seidenband- 
webergilde,  1756  die  Spitzentuchwebergilde  gegründet. 

In  Deutschland  sind  die  bekanntesten  Beispiele  die  der  Solinger 
Schwert-  und  Messerschmiede,  der  Calwer  Zeughandlungskompagnie, 
der  fränkischen  Strumpfwirker,  der  H.  -J.  -  Verbände  in  der  Sonne¬ 
berger  Spiel  Warenindustrie.  Zur  Orientierung  über  die  deutschen  Ver¬ 
hältnisse  dienen  noch  außer  den  genannten  Schriften:  A.  Thun, 
Industrie  am  Niederrhein.  Bd.  II  (1879);  W.  Tr  0  eit  sch,  Die  Calwer 
Zeughandlungskompagnie.  1897;  Georg  Schanz,  Zur  Geschichte 
der  Colonisation  und  Industrie  in  Franken.  1884;  dazu:  Schmoller, 
in  seinem  Jahrb.  11  (1887),  369  ff. ;  Louis  Bein,  Die  Industrie  des 
sächsischen  Voigtlandes.  1884;  G.  Schmoller,  Das  Recht  und  die 
Verbände  der  Hausindustrie,  in  seinem  Jahrb.  15  (1890),  1  ff.; 
H.  Dressei,  Die  Entwicklung  von  Handel  und  Industrie  in  Sonne¬ 
berg  (1909),  55  ff. 

Die  gleichartige  Entwicklung  in  Österreich  ist  dargestellt  von 
Pfibram,  a.  a.  0.  S.  42  ff. 


394 


Fünfundzwanzigstes  Kapitel 

Die  Verkehrspolitik 

Literatur 

Zahlreiche  Monographien,  die  ich  im  2.  Bande  bei  der  Darstellung 
des  Verkehrswesens  anführen  werde.  Eine  zusammenfassende  Behand¬ 
lung  haben  wenigstens  einige  Teile  der  Verkehrspolitik  des  absoluten 
Staates  in  Frankreich  erfahren  in  dem  ausgezeichneten  Quellenwerke 
von  E.  J.  M.  Vignon,  Etudes  historiques  sur  l’administration  des 
voies  publiques  en  France  aux  17  et  18  siecles.  4  Vol.  1862  bis 
1880.  Auch  viele  der  im  vorigen  Kapitel  genannten  Schriften  befassen 
sich  mit  der  Verkehrspolitik. 

I.  Maßnahmen  zur  Förderung  privater  Unternehmer 

Die  merkantilistische  Verkehrspolitik  bedient  sich  zum  Teil 
derselben  Mittel  wie  die  Gewerbe-  und  Handelspolitik,  um  ihren 
Zweck:  „Hebung  des  Verkehrs“,  zu  erreichen.  Die  wichtigsten 
Maßregeln  dieser  Art  sind  folgende: 

1.  Monopolisierung  und  Privilegisieruug 

Verkehrsmonopole  schufen  die  der  nationalen  Schiffahrt 
(als  Ganzes)  gewährten  Vergünstigungen:  wenn  etwa  die  Be¬ 
förderung  der  Waren  zwischen  bestimmten  Plätzen,  insbesondere 
der  Verkehr  in  den  Häfen  des  Landes,  den  Schiffen  des  eigenen 
Landes  Vorbehalten  war. 

Die  merkantilistische  Schiffahrtspolitik ,  die  wiederum  nur  eine 
Fortsetzung  der  städtischen  Schiffahrtspolitik  ist,  trägt  überall  den¬ 
selben  stark  protektionistischen  Zug.  Am  ausgeprägtesten,  wie  bekannt, 
in  England ,  wo  die  Monopolisierungstendenzen  schon  unter  Richard  II. 
beginnen:  5  Richard  II.  c  3  bestimmt:  „none  of  the  Kings  subjects 
should  bring  in  or  carry  out  any  merchandise  but  in  English  ships.“ 
Eine  Weiterbildung  erfuhr  diese  Politik  unter  dem  ersten  Tudor,  dann 
erlebte  sie  einige  Rückschläge,  wurde  aber  seit  Elisabeth  (Verbot 
der  Küstenschiffahrt  für  fremde  Schiffe !)  wieder  aufgenommen  und 
erreichte  in  Cromwells  Navigation  act  (1651)  ihren  Höhepunkt,  auf 
dem  sie  bis  ins  19.  Jahrhundert  verharrt  ist.  Die  berühmte  Navi¬ 
gationsakte  bestimmte  aber: 

1.  daß  Waren  asiatischen,  afrikanischen  oder  amerikanischen  Ur¬ 
sprungs,  sei  es  aus  britischen  Kolonien  oder  aus  andern  Gebieten, 


Fünfundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Verkehrspolitik 


395 


nach  England  und  Irland  nur  auf  Schilfen  eingeführt  werden  durften, 
die  britischen  Untertanen  gehörten  und  der  Mehrzahl  nach  mit  solchen 
bemannt  seien; 

2.  daß  die  aus  europäischen  Ländern  stammenden  Waren  nur  auf 
englischen  Schiffen  oder  Schiffen  derjenigen  Länder,  aus  denen  die 
Waren  kamen,  eingeführt  werden  durften; 

3.  Vorbehalt  der  Fischerei  für  englische  Schiffe; 

4.  Vorbehalt  der  Küstenschifffahrt  für  englische  Schiffe. 

Ähnliche  Maßnahmen  in  Frankreich:  Nach  der  Ord.  vom  8.  Febr. 

1555  durften  Franzosen  nur  französische  Schiffe  befrachten;  1659  wurde 
das  „droit  de  fret“  eingeführt:  eine  Differential taxe  von  50  sols  von  der 
Tonne  ausländischer  Schiffe;  1670  wurde  der  Verkehr  mit  den  Kolonien 
französischen  Schiffen  Vorbehalten  usw.  Siehe  die  Zusammenstellung 
bei  Lexis,  Art.  Schiffahrt  im  HSt.  7,  258  ff. 

Auf  dem  Wege  der  Monopolisierung  und  Privilegisierung  be¬ 
strebt  man  sich  aber  auch,  die  Verkehrseinrichtungen  im  Lande 
zur  rascheren  Entwicklung  zu  bringen. 

Der  Verkehr  auf  den  Land-  und  Wasserstraßen  ist  —  ins¬ 
besondere  der  Briefverkehr  —  frühzeitig  in  den  meisten  Staaten 
zum  Regal  erklärt  worden. 

2.  Prämiierung 

Alle  seefahrenden  Staaten  haben  sich  die  größte  Mühe  ge¬ 
geben,  mittels  eines  kunstvollen  Prämiensystems  die  nationale 
Schiffahrt  zu  fördern.  Schon  in  den  italienischen  Staaten,  dann 
in  Spanien  (Gesetz  von  1498),  in  Frankreich  und  namentlich  in 
England  finden  wir  die  Prämiierung  des  Schiffsbaues  als  eine 
ständige  Einrichtung:  Elisabeth  und  Jakob  I.  vergüten  5  s.  für 
jede  Tonne  bei  Schiffen  über  100  t,  Karl  I.  (1626)  dieselbe  Summe 
bei  Schiffen  über  200  tj;  Cromwell  setzt  diese  Politik  fort,  die 
das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  noch  in  Übung  bleibt2. 

Zu  diesen  baren  Prämien  kamen  andere  Vergünstigungen  des 
Schiffsbaues:  unter  Elisabeth  traf  Burleigh  Fürsorge  für  die 
Produktion  von  Holz,  Hanf,  Seilerwaren;  für  Beförderung  der 
Seefischerei  (um  Matrosen  heranzubilden)  usw.  Und  auch  diese 
Politik  wird  in  England  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
fortgesetzt 2. 

3.  Unifizierung 

Die  Verkehrspolitik  des  absoluten  Staates  machte  sich  zur 

Aufgabe,  das  öffentliche  Verkehrsrecht  in  einheitlicher 

Weise  zu  ordnen  und  den  Bedürfnissen  des  reger  gewordenen 

* 

1  Anderson,  Orig.  2,  318. 

3  Cunningham,  (jrowtk  2,  483  ff. 


396 


ZAveiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Verkehrs  anzupassen:  das  Markt-  und  Meßrecht,  das  Maß-  und 
Gewichtswesen,  zum  Teil  auch,  wie  wir  sehen  werden,  das  Münz-  und 
Geldwesen  wurden  vom  Staate  für  sein  Gesamtgebiet  neu  gestaltet. 

II.  Selbsttätige  Förderung  der  Verkehrsinteressen 

durch  den  Staat 

Die  Eigenart  des  Verkehrs  und  seiner  Bedingungen  brachte 
es  mit  sich,  daß  der  Staat,  wollte  er  die  Entwicklung  des  Ver¬ 
kehrswesens  befördern,  sich  genötigt  sah,  vielfach  selbst  Hand 
anzulegen  und  Verkehrseinrichtungen  aus  eigener  Initiative  zu 
schaffen.  So  richtet  die  moderne  Fürstengewalt  ihr  besonderes 
Augenmerk  auf  die  Verbesserung  der  Land-  und 
Wasserstraßen  und  trägt  für  die  erste  Organisation  des 
Verkehrs  im  Innern  des  Landes  Sorge:  die  Anfänge  der  staat¬ 
lichen  Post  fallen  in  diese  Periode. 

Vor  allem  die  französischen  Könige  von  Philipp  dem  Schönen 
an,  der  schon  die  Seine  bis  Troyes  schiffbar  machte,  haben  auf 
diesem  Gebiete  Großes  geleistet:  seit  Heinrich  IV.  war  das  Ver¬ 
kehrswesen  zentralisiert  durch  die  Einrichtung  des  grand  voyer 
de  France,  deren  erster  Vertreter  Sully  war.  Ausgaben  für  den 
Bau  von  Wegen  und  Brücken  erscheinen  nun  regelmäßig  im 
Staatsbudget:  sie  betrugen  schon  in  der  Zeit  Heinrichs  IV.  im 
Jahre  etwa  400  000  liv. 1  Dazu  kamen  die  Ausgaben  der  Provinzen 
und  der  Städte. 

Im  Jahre  1609  wurden  870000  1.  für  Schiffbarmachung  von 
Flüssen  ausgegeben,  genau  wie  Sully  uns  in  seinen  Memoires 
berichtet,  „pour  divers  canaux,  pour  rendre  communicables 
plusieurs  ri vieres,  comme  Loire,  Seine,  Aisne,  Veile,  Vienne  et 
Chin“.  Unter  Sully  wurde  der  erste  Kanalbau  in  Frankreich 
begonnen 2 :  der  Canal  de  Briare ,  der  nicht  nur  dazu  dienen 
sollte,  die  Versorgung  der  Hauptstadt  zu  erleichtern,  sondern 
auch  das  Mittelmeer  mit  dem  Ozean  zu  verbinden  (einstweilen 
Seine  und  Loire).  6000  Mann  Truppen  wurden  bei  dem  Bau  be¬ 
schäftigt.  Der  1605  begonnene  Bau  wird  1642  vollendet. 

Unter  Colbert  wurde  diese  Politik  mit  Entschiedenheit  weiter¬ 
geführt:  die  Straßen  werden  verbessert;  Flüsse  korrigiert;  der 

1  Siehe  die  genauen  Ziffern  der  Ausgaben  für  Verbesserung  der 
Land-  und  Wasserstraßen  in  den  Jahren  1600 — 1661  bei  Vignon, 
Voies  publiques.  App.  au  tome  premier  p.  2  im  4.  Vol.  des  ganzen 
Werkes. 

2  Vignon,  1.  c.  1,  61.  * 


Fünfundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Verkehrspolitik 


397 


große  Kanal  zwischen  dem  Mittelmeer  (Rhone)  und  dem  Atlan¬ 
tischen  Ozean  (Garonne),  der  Canal  du  midi,  wird  unter  Leitung 
von  Riquet  erbaut  (1666—1681).  Die  Ausgaben  beziffern  sich  in 
den  Jahren  1666 — 1683  L 

für  Brücken  und  Wege  ....  auf  4860489  livres  tourn. 

„  das  Pflaster  von  Paris  ...  „  1436641  „  „ 

„  Kanalbauten . „  9619315  „  „ 

»  Hebung  d.  Verkehrswege  insgesamt  15916445  livres  tourn. 

In  den  Jahren  1737 — 1769,  für  die  wir  die  genauen  Auf¬ 
stellungen  besitzen,  schwankten  die  Ausgaben  für  die  genannten 
Zwecke  zwischen  2  297  001  liv.  und  4011125  liv. ,  hielten  sich 
aber  in  den  letzten  Jahren  nahe  an  4  Mill.  liv. 

In  England  wurde  die  Fürsorge  für  die  Landstraßen  den  An¬ 
wohnern,  die  für  den  Bau  künstlicher  Wasserstraßen  dem  Privat¬ 
kapital  überlassen1  2 3.  Die  Flußkorrektionen  führte  die  Regierung  aus  s. 

In  Deutschland  waren  es  einige  der  westdeutschen  Territorien, 
die  seit  dem  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  den  Chausseebau,  war 
es  vor  allem  Brandenbimg-Preußen ,  das  seit  dem  Großen  Kur¬ 
fürsten  den  Kanalbau  von  Staats  wegen  betrieben. 

Da  jedoch  die  staatliche  Verkehrsfürsorge  sich  engstens  mit 
den  Bestrebungen  Privater  berührt,  da  sich  ein  Urteil  über  die 
Leistungen  der  positiven  Verkehrspolitik  nicht  fällen  läßt,  ohne 
auf  die  tatsächliche  Gestaltung  der  Verkehrs  Verhältnisse  einzu¬ 
gehen,  da  diese  aber  noch  andere  als  staatliche  Bedingungen  für 
ihre  Entwicklung  haben,  so  habe  ich  mir  ein  näheres  Eingehen 
auf  die  Maßnahmen  der  staatlichen  Verkehrspolitik  sowie  eine 
Würdigung  ihrer  Erfolge  Vorbehalten  für  die  Darstellung  des 
Verkehrswesens  im  zweiten  Bande.  Auf  diese  verweise  ich 
den  Leser,  dem  die  hier  gegebene  Übersicht  allzu  dürftig  er¬ 
scheint.  Dort  findet  er  auch  eine  eingehende  Behandlung  des 
Postwesens,  dessen  Organisation  in  vielen  Ländern  vom  Staate 
ausging  und  deshalb  genau  genommen  einen  Teil  der  staatlichen 
Verkehrspolitik  oder  Verkehrsver’waltung  bildet.  Eine  so  strenge 
Scheidung  der  verschiedenen  Seiten  eines  und  desselben  Tat¬ 
sachenkomplexes,  wie  es  dem  Bedürfnis  einer  sauber  durch¬ 
geführten  Stoffanordnung  entsprechen  würde,  verbietet  sich  oft 
aus  sachlichen  Gründen. 


1  Vignon,  1.  c.  1,  183. 

2  Cunningham,  2,  532  ff. 

3  F  orb  es- A  shford,  Our  Waterways  (1906),  Gl  f.  64  f. 


398 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel 

Das  Geldwesen 

Vorbemerkung 

Das  Kapitel  über  das  Geldwesen  nimmt  im  Rahmen  dieses  Ab¬ 
schnittes  eine  Sonderstellung  ein.  Wie  der  Leser  weiß,  ist  dieser  im 
wesentlichen  der  Darstellung  derjenigen  Lebensäußerungen  des  modernen 
’  Staates  gewidmet,  die  eine  Förderung  der  kapitalistischen  Wirtschafts¬ 
weise  bedeuteten.  Das  gilt  nun  aber  für  einen  großen  Bestandteil 
der  staatlichen  Geldpolitik  gewiß  nicht,  die  vielmehr  als  „Hemmungen “ 
der  kapitalistischen  Entwicklung  angesehen  werden  müssen,  obwohl 
sie  (ungewollt  vom  Gesetzgeber)  auf  Umwegen  sehr  häufig  zur  Ent¬ 
faltung  gerade  kapitalistischen  Wesens  beigetragen  haben.  Nun  lassen 
sich  aber  diese  Bestandteile  aus  dem  Ganzen  der  staatlichen  Geldpolitik 
nicht  aussondern,  ohne  das  Verständnis  der  übrigen,  auch  vorhandenen, 
der  Entfaltung  kapitalistischen  Wesens  günstigen  Maßregeln  zu  er¬ 
schweren.  Ja  —  um  den  Sinn  der  staatlichen  Münz-  und  Währungs¬ 
politik  von  Grund  aus  zu  verstehen,  ist  es  sogar  unvermeidlich,  die 
tatsächliche  Gestaltung  des  Geldwesens  selbst  wenigstens 
in  einigen  besonders  hervorragenden  Erscheinungen  zu  skizzieren,  wobei 
auf  die  Zeit  des  Mittelalters  zurückgegriffen  werden  muß.  Andererseits 
bleibt  nun  aber  das  Gebiet  des  Geldwesens  eine  Provinz  der  staatlichen 
Verwaltung  und  tritt  der  wirtschaftenden  Welt  als  Gegebenheit  gegen¬ 
über,  bleibt  in  seiner  Ganzheit  „Grundlage“,  weshalb  es  nicht  in  die 
Darstellung  des  Ablaufs  des  wirtschaftlichen  Prozesses,  die  im  zweiten 
Band  gegeben  wird,  verwiesen  werden  kann  wie  das  Verkehrswesen. 

Das  Ergebnis  all  dieser  Erwägungen  ist  die  folgende  Skizze,  die 
(nach  kurzer  theoretischer  Orientierung)  den  Versuch  darstellt,  den 
Verlauf  der  Geldgeschichte  im  Zeitalter  des  Früh¬ 
kapitalismus  zu  schildern.  Einen  Teil  dieser  Geschichte :  die  Ver¬ 
wandlung  der  Edelmetalle  in  gemünztes  Geld,  kann  ich  aber  erst  dort 
erledigen,  wo  ich  die  Verwertung  der  Edelmetalle  und  ihren  Zusammen¬ 
hang  mit  der  Preisbildung  erörtere,  nämlich  im  36.  Kapitel. 

Daß  es  dabei  wie  immer  nur  auf  die  Hervorhebung  einiger  Haupt¬ 
punkte  abgesehen  ist,  versteht  sich  von  selbst.  Ich  möchte  mir  zur 
Charakterisierung  der  Art  dieses  „Abrisses  der  Geldgeschichte“  die 
Wendung  eines  der  ersten  Münzforscher  (H.  Grote)  zu  eigen  machen, 
der  seine  meisterhafte  „Übersicht  der  Geschichte  des  deutschen  Geld- 
und  Münzwesens  und  der  jetzigen  Münzsorten“  (in  seinen  „Münz¬ 
studien“  1  [1855],  S.  139  ff.)  mit  den  hübschen  Worten  einleitete:  „ich 
Avill  kein  Schwimmlehrer  sein,  sondern  ein  Pfahl  mit  der  Inschrift: 
‘Untiefe’.“  Das  Hauptaugenmerk  ist  auch  hier  auf  den  Nachweis  der 
Gleichförmigkeit  der  Entwicklung  in  den  Hauptländern  Europas 
gerichtet. 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


399 


Quellen  und  Literatur 

Zu  I  (Verkehrs  ge ld  und  Staatsgeld).  Es  genügt,  wenn 
ich  einerseits  auf  das  Buch  von  G.  F.  Knapp,  Staatliche  Theorie 
des  Geldes  (1905;  2.  Aufl.  1912),  verweise  und  aus  der  älteren 
Literatur  Karl  Marx,  Zur  Kritik  der  pol.  Ökonomie  (1859),  nenne. 
Marx  kann  repräsentativ  für  alle  modernen  „metallistischen“  Geld¬ 
theoretiker  stehen,  die  sämtlich  (wie  z.  B.  Knies  und  Meng  er,  um 
die  beiden  bedeutendsten  zu  nennen)  in  seinen  Bahnen  wandeln. 

Zu  II  (Metallgeld).  Literatur  und  Quellen  sind  hier  zweifacher 
Art.  In  Betracht  kommen  Werke  sowohl  münzgeschichtlichen  als 
geldgeschichtlichen  Inhalts.  Nach  Menge  und  Güte  sind  die  beiden 
Gruppen  außerordentlich  verschieden.  Die  münzgeschichtliche 
(numismatische)  Literatur  ist  (soviel  ich  zu  beurteilen  vermag) 
in  glänzendem  Zustande :  spezielle  Bearbeitungen  sind  ebenso  zahlreich 
und  gut  wie  zusammenfassende  Darstellungen.  Eine  Keihe  vortreff¬ 
licher  Zeitschriften  sorgt  für  eine  methodische  Behandlung  einschlägiger 
Fragen.  Für  unsere  Zwecke  genügt  es ,  wenn  ich  hier  die  beiden 
neuesten  Publikationen  namhaft  mache,  die  wohl  auch  auf  lange  Zeit 
hinaus  einen  Höhepunkt  der  wissenschaftlichen  Entwicklung  bilden 
werden:  als  Materialiensammlung  das  große  Werk  von  A.  Engel  et 
R.  Serrure,  Traite  du  numismatique  du  moyen  äge.  3  Vol.  1894 
bis  1901,  und  A.  Engel  et  R.  Serrure,  Traite  du  numismatique 
moderne  et  contemporain.  (16.— 18.  sc.)  1897  ff. ;  als  systematische 
Bearbeitung  das  ausgezeichnete  Buch  von  A.  von  Luschin  von 
Ebengreuth,  Allgemeine  Münzkunde  und  Geldgeschichte  des  Mittel¬ 
alters  und  der  neueren  Zeit.  1904 ;  wobei  ich  allerdings  den  Ton  auf 
Münzkunde  legen  möchte,  da  diese  es  ist,  die  jene  meisterhafte 
Behandlung  erfahren  hat;  während  der  geldgeschichtliche  Teil  des 
Buches  ganz  erheblich  an  Wert  gegenüber  dem  andern  zurücksteht. 
Trotzdem  wird  man  auch  die  Darstellung  der  Geldgeschichte 
bei  Luschin  mit  Dank  entgegennehmen  müssen,  weil  sie  als  all¬ 
gemeine  zusammenfassende  Behandlung  des  Gegenstandes  doch  in 
neuerer  Zeit  auch  kaum  ihresgleichen  hat.  Was  insbesondere  der 
Nationalökonom  an  ihr  vermissen  wird:  den  geldtheoretisch  festen 
Untergrund  und  damit  auch  die  spezifisch  nationalökonomische 
Problemstellung,  das  findet  er  in  den  Artikeln  von  Lexis  im  H.St. 
(Edelmetalle,  Doppelwährung,  Gold,  Silber,  Münzwesen).  Sie  stellen 
wohl  das  höchste  dar,  das  die  Wissenschaft  bisher  auf  geldgeschicht¬ 
lichem  Gebiete  an  systematischer  Betrachtung  geleistet  hat.  Nur  daß 
sie  ihrer  Zweckbestimmung  entsprechend  die  Darstellung  in  zer¬ 
stückelter  und  aphoristischer  Form  bringen  (und  —  leider!  —  un¬ 
endlich  schwer  zu  lesen  sind).  Außer  jenen  Artikeln  kommen  von 
neueren  Bearbeitungen  allgemeiner  Natur  (da  die  Bücher  Del  Mars 
auf  geldgeschichtlichem  Gebiete  ihrer  Kritiklosigkeit  wegen  völlig  ver¬ 
sagen)  noch  Ad.  Wagners  einschlägige  Abschnitte  in  seiner  Theoret. 
Sozialökonomik.  2.  Bd.  1909,  sowie  das  Buch  von  W.  A.  Shaw,  The 
History  of  Currency  1252  to  1894  (2.  Aufl.  1896,  von  mir  ist  die  Auflage' 
von  1894  benutzt)  in  Betracht:  eine  gewiß  auch  hochverdienstliche,  un- 


400 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


ersetzliche  Leistung.  Nur  daß  Shaw  doch  im  wesentlichen  nur  ein 
Problem  der  Geldgesehichte  (wenn  auch  eines  der  allerwichtigsten) 
behandelt:  den  Kampf  zwischen  Staat  und  Verkehr  um  das  Geld  (wie 
man  kurz  sagen  kann).  Vgl.  auch  die  Einleitung  zu  dem  unten  ge¬ 
nannten  Buch  von  E.  Nübling.  Andere  gute  geldgeschichtliche 
Arbeiten  der  letzten  Jahre  behandeln  kleinere  Ausschnitte  aus  dem 
großen  Ganzen:  einzelne  Epochen  des  Geldwesens  in  Köln,  Branden¬ 
burg-Preußen,  Pommern,  Florenz,  Wien,  im  Elsaß,  in  England  usw. 
Besondere  Hervorhebung  verdienen  die  gründliche  „Münz-  und  Geld¬ 
geschichte  der  im  Großh.  Baden  vereinigten  Gebiete“,  herausgegeben 
von  der  Badischen  Histor.  Kommission,  bearbeitet  von  Dr.  Julius 
Cahn.  I.  Teil.  Konstanz  und  das  Bodenseegebiet  im  Mittelalter. 
1906,  ferner  die  Darstellung  des  preußischen  Münzwesens  im  18.  Jahr¬ 
hundert,  in  den  Acta  bor.  1904  lf.  Bearbeiter:  F.  Frh.  v.  Schrötter; 
sowie  das  Buch  von  Alfr.  Schmidt,  Geschichte  des  englischen 
Geldwesens  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  1914. 

Dagegen  fehlt  es  leider,  soviel  ich  sehe,  ganz  an  brauchbaren  und 
umfassenden  Herausgaben  von  Urkunden  zur  Geldgeschichte, 
so  daß  wir  noch  immer  auf  die  älteren,  zum  Teil  recht  alten  Sammel¬ 
werke  zurückgreifen  müssen.  Eine  sichtende  Publikation  der  wichtigsten 
Münzordnungen,  Ordonnanzen,  Reichstagsabschiede  usw.,  das  Geld¬ 
wesen  aller  europäischen  Staaten  betreffend,  wäre  eine  dankens¬ 
werte  Aufgabe.  Einstweilen  geben  wohl  folgende  Werke  die  beste 
Auskunft : 

über  Frankreich:  Le  Blanc,  Traite  historique  des  monnoies  de 
France.  1690.  (Dupre  de  St.  Maur),  Essai  sur  les  mon¬ 
noies  etc.  1746. 

über  Italien:  Ph.  Ar  ge  latus,  De  monetis  Italiae  varior.  illustr. 
viroi’um  dissertationes.  6  Vol.  1750 — 59;  enthält  außer  den 
Diss.  eine  reiche  Urkundensammlung. 

über  England:  Ru  ding,  Annals  of  the  Coinage  of  Britain.  8  Vol. 
1840.  W.  A.  Shaw,  Select  Tracts  and  Documents  illustrative 
of  English  Monetary  History  1626 — 1730.  1896;  enthält  Ab¬ 

handlungen,  kein  Gesetzesmaterial. 

über  Spanien:  A.  Heiss,  Descripcion  general  de  las  monedas 
Hispano  -  Cristianas.  3  Vol.  1865 — 69;  bringt  außer  der  Münz¬ 
beschreibung  ein  wertvolles  Belegmaterial  zur  Münz-  und  Geld¬ 
geschichte. 

über  Deutschland:  Melchior  Goldast,  Catholicon  rei  monetariae 
sive  leges  monarchicae  generales  de  rebus  numariis  et  pecu- 
niariis  etc.  1620.  Joh.  Chr.  Hirsch,  Des  Teutschen  Reichs 
Münz-Arcliiv.  9  Bde.  in  fol.  1756 — 68.  Allerlei  interessantes 
Material,  meist  aus  den  Ulmer  Ratsprotokollen,  findet  man  bei 
Eugen  Nübling,  Zur  Währungsgeschichte  des  Merkantilzeit¬ 
alters.  Ein  Beitrag  zur  deutschen  Wirtschaftsgeschichte.  1903. 
Für  Brandenburg-Preußen  liegt  jetzt  die  schon  erwähnte  Publi¬ 
kation  in  den  Acta  bor.  vor. 

Zu  III  (Banco-Geld).  P.  J.  Marperger,  Beschreibung  der 
Banquen  (1717),  beschreibt  (unter  Anführung  der  Bankordnungen)  im 
7. — 10.  Kapitel  die  vier  bekannten  Girobanken  seiner  Zeit. 


401 


Secjisundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 

Über  sie  unterrichtet  ebenfalls  die  Allg.  Schatzkammer  der  Kauf'm. 
unter  den  verschiedenen  Schlagworten.  Vgl.  noch  0.  Hübner,  Die 
Banken.  1854  (der  aber  alle  Arten  von  „Banken“  durcheinanderwirft), 
und  R.  Ehrenberg  im  HSt.  23,  860  ff. 

Uber  die  Amsterdamsche  Wisselbank  insbesondere:  Le  Mo  ine 
de  l’Espine,  Le  negoce  d’A.  (1710):  Ch.  I  et  II;  Ricard,  Le 
nögoce  d’A.  (1723);  Ch.  XXVI. 

Über  die  Hamburger  Girobank:  Levy  von  Halle,  Die  Ham¬ 
burger  Girobank  und  ihr  Ausgang.  1891. 

Andere  Spezialliteratur  gebe  ich  noch  im  Text  an. 

Zu  IV  (Papiergeld).  Es  genügt,  da  das  Thema  hier  noch 
nicht  von  Grund  auf  erörtert  wird ,  der  Hinweis  auf  die  verschie¬ 
denen  Aufsätze  unter  dem  Stichwort  „Banken“  und  „Papiergeld“  im 
HSt.,  wo  auch  die  geschichtliche  Entwicklung  in  den  Grundzügen  dar¬ 
gestellt  ist,  und  auf  die  dort  genannte  Literatur. 


I.  Verkehrsgeld  und  Staatsgeld 

Für  die  im  folgenden  zur  Behandlung  gelangenden  Probleme 
ist  die  scharfe  begriffliche  Unterscheidung  der  beiden  in  der 
Tiberschrift  genannten  Gelder  unerläßliche  Bedingung. 

Knapp,  wenn  er  das  Geld  für  eine  staatliche  Einrichtung, 
für  ein  „Geschöpf  der  Rechtsordnung“  hält,  hat  gewiß  Recht; 
aber  Marx,  wenn  er  das  Geld  als  „allgemeines  Warenäquivalent“ 
definiert,  ganz  gewiß  auch.  Das  bedeutet,  daß  wir  mit  dem 
Worte  Geld  zwei  recht  verschiedene  Dinge  be- 
zeichn  e  n ,  wie  die  folgenden  Besinnungen  zeigen  werden. 

Einigkeit  herrscht  darüber,  welche  „Funktionen“  in  der  Ver¬ 
kehrswirtschaft  jenes  Etwas  ausübt,  das  wir  Geld  nennen,  das 
wir  aber  auch  als  G  oder  X  bezeichnen  können.  Es  dient  dazu : 

1.  „Tauschwerte“  zu  messen:  es  ist  Ausdruck  aller  Tauschwerte ; 

2.  Tauschakte  zu  vermitteln:  es  ist  allgemeines  Austausch-  und 
Zirkulationsmittel;  3.  Tauschwerte  zu  übertragen:  es  ist  all- 
gemeines  Zahlungsmittel;  4.  Tauschwerte  aufzubewahren :  es  ist 
Schatzbildungsmittel. 

Der  Streit  beginnt,  wenn  es  sich  darum  handelt,  festzustellen, 
was  dieses  „Etwas“  ist;  worin  sein  „Wesen“  bestehe. 

Nun  scheint  mir  diese  Frage  nach  der  „Wesenheit“  des  Geldes 
nicht  sehr  glücklich  zu  sein,  so  daß  ich  an  ihre  Stelle  lieber  die 
andere  setzen  möchte :  was  (welche  Autorität)  bewirkt  es ,  daß 
■jenes  unbestimmte  Etwas  die  Funktionen  ausübt,  die  wir  es  tat¬ 
sächlich  ausüben  sehen;  woher  leitet  es  seine  „Kompetenz“  her? 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  -  2<3 


402 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Denn  nur  diese  Frage  ist  es,  deren  Antwort  in  den  Bereich  eines 
sozialwissenschaftlichen  Interesses  fällt.  Gerade  wie  den  Ver¬ 
waltungstheoretiker  an  der  Frage:  was  ist  ein  Polizist?  (das 
heißt  also  ein  Mann,  der  die  und  die  Funktionen  ausübt)  nur 
die  Alternative  interessiert:  ob  er  ein  Organ  dieser  oder  jener 
Behörde  ist. 

Stellen  wir  die  Frage  nach  dem  „Wesen“  des  Geldes  so,  dann 
ergibt  sich  eben,  daß  mit  dem  Worte  zwei  ganz  und  gar  ver¬ 
schiedene  Dinge  bezeichnet  werden,  weil  jenes  Etwas  seine 
Machtvollkommenheit,  Ausdruck  aller  Tauschwerte,  allgemeines 
Austauschmittel  usw.  zu  sein,  aus  zwei  ganz  verschiedenen 
Quellen  ableitet.  Im  einen  Falle  ist  es  der  stillschweigende 
Consensus  aller  an  einer  Verkehrsgesellschaft  teilnehmenden 
Personen,  das  andere  Mal  ist  es  der  Willkürakt  der  rechtsetzenden 
Gewalt  (des  Staates),  was  dem  Etwas  jene  autoritative  Stellung 
verleiht;  und  das  wir  nun  je  nach  dem  Ursprung  seines  „Geltens“ 
als  Verkehrsgeld  oder  Staats geld1  bezeichnen  können. 

Ist  am  Ende  der  Umkreis  der  Funktionen  des  Verkehrs-  wie 
des  Staatsgeldes  derselbe,  so  wird  er  doch  von  zwei  ganz  ver¬ 
schiedenen  Punkten  aus  erfüllt:  das  Verkehrsgeld  nimmt  seinen 
Ausgang  immer  von  der  Funktion  des  Tauschwertmaßes  oder 
Tauschaktvermittlers,  die  immer  nur  ein  Gebrauchsgut  mit  eigenem 
Wert,  das  zur  Ware  geworden  ist,  ausüben  kann:  im  Anfang 
ist  ein  Sachgut  (oder  eine  Wertung).  Das  Staatsgeld 
dagegen  kommt  auf  die  Welt  als  Zahlungsmittel,  das  von  da 
aus  die  übrigen  Funktionen  des  Geldes  auszuüben  sich  unterfängt: 
seine  Anfangsfunktion  auszuüben,  wird  es  befähigt  dadurch,  daß 
es  vom  Staate  mit  der  Macht  ausgestattet  wird,  gesetzliche  Ver¬ 
bindlichkeiten  zu  begleichen,  daß  es  zum  „gesetzlichen“ 
Zahlungsmittel  erklärt  wird:  im  Anfang  ist  ein  Staatsakt. 

Was  der  Staat  (in  der  Währung)  für  Geld  erklärt,  das  heißt 
also  immer  nur :  welchem  Ding  er  gesetzliche  Zahlungskraft  ver¬ 
leiht,  steht  (formal)  völlig  in  seinem  Belieben:  ob  alten  Hüten 
oder  Papierzetteln  oder  Metallen.  „Weshalb  sollen  nicht  Stücke 
aus  beliebigem  Stoffe  chartal  behandelt  werden?“  (Knapp.) 

1  Es  geht  unmöglich  an,  statt  dessen,  wie  Knapp  es  tut,  das 
Wort  Geld  für  den  Begriff  Staatsgeld  oder  in  seiner  Terminologie  für 
„chartales  Zahlungsmittel“  allein  zu  verwenden,  um  dann  freilich, 
ohne  Widerspruch  gewärtigen  zu  brauchen,  nachweisen  zu  können, 
daß  „das  Geld“  eine  Staatseinrichtung  sei.  Das  heißt  doch  dem 
Sprachgebrauch,  vielleicht  sogar  der  Logik  Gewalt  antun. 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen  403 

Es  leuchtet  ein,  daß  Geld  im  Verkehrssinne  und  Geld  im 
Staatssinne  sehr  voneinander  verschiedene  Begriffe  sind.  In 
Wirklichkeit  berühren  sich  nun  aber  die  beiden  Erscheinungen 
häufig,  oft  sogar  decken  sie  sich  äußerlich.  Bas  ist  der  Fall, 
wenn  der  Staat  das  Verkehrsgeld  als  sein  Geld  an¬ 
erkennt  oder  umgekehrt  der  Verkehr  das  staatliche 
Geld  an  nimmt.  Immer  aber  ist  der  Bereich,  in  dem  die 
beiden  Gelder  sich  decken  können,  örtlich  durch  die  Machtsphäre 
des  Staates  bestimmt,  also  räumlich  begrenzt.  Sehr  wohl  können 
aber  selbst  innerhalb  des  Staatsbereichs  Geld  im  staatlichen 
Sinne  und  Geld  im  Sinne  eines  allgemeinen  Warenäquivalents 
sehr  verschieden  voneinander  sein.  Bas  zeigt  sich,  wenn  etwa 
(wie  es  im  Mittelalter  wohl  der  Fall  war)  der  Verkehr  auf  der 
Grundlage  einer  „Barrenwährung“  sich  abspielt,  unbekümmert 
um  das,  was  der  Staat  (die  Stadt)  für  Geld  erklärt  hatte,  oder 
wenn  fremde  Münzen  in  einem  Lande  umlaufen,  ohne  daß  sie 
daselbst  vom  Staate  anerkannt  sind. 

Beutlich  aber  tritt  die  Boppelnatur  des  Geldbegriffs  regel¬ 
mäßig  in  die  Erscheinung  im  internationalen  Verkehr,  für  den 
kein  Staatsgesetz  zwingende  Normen  schaffen  kann.  Bieser  kennt 
nur  das  Geld  als  allgemeines  Warenäquivalent,  als  Verkehrs¬ 
erscheinung,  die  ihre  Existenzberechtigung  nur  aus  dem  still¬ 
schweigenden  Consensus  omnium  ableitet.  Und  wenn  sämtliche 
Staaten  der  Erde  heute  zur  Kochtopfwährung  übergingen:  Geld 
im  internationalen  Verkehr  würde  (einstweilen,  bis  es  etwa  durch 
ein  anderes  Gebrauchsgut  ersetzt  wäre,  was  natürlich  denkbar 
ist)  nur  das  Gold  sein. 

(Inwieweit  die  Währungspolitik  des  Staates  an  die  Wahl 
des  Verkehrsgeldes  zum  Staatsgelde  gebunden  ist,  inwieweit  sie 
bei  der  Kreirung  des  Staatsgeldes  vom  Verkehrsgelde  abhängig 
ist,  haben  wir  hier  nicht  zu  entscheiden). 

In  dieser  Feststellung  kommt  die  Tatsache  zu  ihrem  Recht: 
daß  ein  entwickelter  Verkehr  aus  seinen  Bedürfnissen  heraus 
sich  ohne,  staatliche  Beihilfe  und  selbst  gegen  sie  ein  Geld  zu 
schaffen  vermag.  Und  wiederum  damit  im  Zusammenhänge  steht 
eine  Reihe  von  sog.  „Gesetzen“,  besser  Entwicklungstendenzen, 
die  das  Geldwesen  in  allen  seinen  Stadien,  sobald  es  überhaupt 
erst  vom  großen  Verkehr  ergriffen  ist,  beherrschen.  Ich  meine 
1.  das  „Gesetz“,  daß  ein  Metall,  von  mehreren  in  einem  Land 
als  Geld  benützten,  das  gesetzlich  unterwertet  ist,  aus  dem 
Verkehre  verschwindet; 


404 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


2.  das  „Gesetz“,  daß  Münzen,  die  Übergewicht  haben,  eben¬ 
falls  verschwinden,  und  in  diesem  Falle  das  leichtere  Geld 
zurückbleibt. 

Beide  Tendenzen  finden  in  der  Erwägung  ihre  Begründung, 
daß  die  Menschen,  die  ihren  Vorteil  suchen  (und  wissen,  wo  er 
liegt),  ihre  Verpflichtungen  mit  geringeren  Werten  lieber  als  mit 
höheren  begleichen  werden. 

Beide  „Gesetze“  lassen  sich  übrigens  auch  zu  dem  einen  zu¬ 
sammenfassen:  wenn  in  einem  Lande  „gutes“  und  „schlechtes“ 
(das  heißt :  höher-  und  minderwertiges)  Geld  umläuft  mit  gleicher 
Zahlungskraft,  so  hat  das  „gute“  Geld  die  Tendenz,  aus  dem 
Verkehre  zu  verschwinden.  Für  alle  Geldgeschichte,  der  wir 
uns  nunmehr  zuwenden,  ist  die  Wirksamkeit  dieser  Tendenz  von 
überwiegend  großer  Bedeutung  gewesen. 

II.  Das  Metallgeld 

1.  Die  allgemeinen  Grundlagen  des  Geldwesens  vom  13.  bis  zum  18.  Jahr¬ 
hundert 

Der  Zeitraum,  den  wir  hier  überblicken,  die  frühkapitalistische 
Epoche,  beginnt  mit  den  ersten  Lebensregungen  eines  größeren, 
interlokalen  Verkehrs  (womit  eine  „Geschichte“  des  Geldwesens 
erst  recht  eigentlich  ihren  Anfang  nimmt)  und  schließt  mit  den 
Wirkungen  einer  Reihe  bedeutsamer  Ereignisse  des  17.  Jahr¬ 
hunderts:  der  Prägetechnik  einerseits;  des  Gesetzes  18th  (6th) 
Charles  II  (1666,  c.  5),  der  Gründung  der  englischen  Bank,  und  des 
Aufkommens  des  Papiergeldes  andererseits,  der  geldtheoretischen 
Schriften  dritterseits. 

Was  aber  für  die  Gestaltung  des  Geldwesens  in  diesem  Zeit¬ 
raum  bestimmend  werden  sollte,  waren  vornehmlich  folgende 

o 

Momente : 

1.  eine  große  Unvollkommenheit  des  Wissens  und 
Könnens  auf  technischem  sowohl  wie  ökonomischem  Gebiete. 

Die  Technik  der  Münzherstellung1  war  primitiv  und 
erlebte  während  des  ganzen  Zeitraums  (da  die  unten -Seite  496 
erwähnten  Fortschritte  der  Münzprägetechnik  in  England  erst  seit 
dem  18.  Jahrhundert,  in  den  übrigen  Ländern  noch  später  zur  An¬ 
wendung  gelangten)  fast  gar  keine  Veränderung.  Die  ganze  Arbeit 
von  der  Bereitung  des  Gusses  an  bis  zur  Prägung  beruhte  auf  rein 

1  C.  von  Ernst,  Die  Kunst  des  Münzens  von  den  ältesten  Zeiten 
bis  zur  Gegenwart,  in  der  (Wiener)  Numismatischen  Zeitschrift  12 
(1880),  22  ff.,  insbesondere  55  ff. 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel :  Das  Geldwesen 


405 


empirisch-handwerksmäßiger  Grundlage;  sie  wurde  von  Anfang 
bis  zu  Ende  von  Handarbeitern  verrichtet,  die  sich  keines  andern 
Arbeitsmittels  als  der  nötigen  Pfannen ,  Ambosse  und  Hämmer 
bedienten.  Eine  Menge  von  Handwerkern  arbeitete  sich  in  die 
Hände  (wenn  man  will,  kann  man  in  den  Münzwerkstätten  schon 
frühzeitig  Ansätze  zum  Manufakturbetriebe  entdecken)1.  Gold¬ 
schmiede  (1)  scheinen  das  Gravieren  der  Münzstempel  besorgt 
zu  haben  (aber  wohl  in  ihrer  eigenen  Werkstatt).  Daneben  werden 
(z.  B.  im  sog.  Wiener  Münzrecht  von  1450)  Eisengraber  (2)  er¬ 
wähnt,  die  ebenfalls  die  „Eysen“  (Stempel)  herzustellen  hatten. 
Die  Münzgüsse  wurden  von  dem  Versucher  (3)  und  Nachver¬ 
sucher  (4)  geprüft;  nach  der  Prüfung  goß  der  Gießer  (5)  das 
beschickte  Gut  in  Zaine  aus ;  diese  wurden  vom  Zainmeister  (6) 
auf  die  erforderliche  Münzstärke  ausgeschlagen  und  dann  vom 
Schrotmeister  (7)  gestückelt  mittels  einer  besonderen  Scheere, 
der  sog.  Benehmscheere.  Die  ausgeschnittenen  Schrötlinge 
wurden  nun  durch  Hammerschläge  geebnet  (8)  und  dann  dem 
Setzmeister  (9)  übergeben,  der  das  Aufsetzen  des  Gepräges  zu 
bewerkstelligen  hatte.  Das  Prägen  selbst  wurde  in  folgender 
Weise  besorgt:  der  eine  Stempel  wurde  in  einem  Holz-  oder 
Steinblock  befestigt,  welcher  groß  und  fest  genug  sein  mußte, 
um  die  durch  die  Hammerschläge  bewirkte  Vibration  aufzuhalten. 
Auf  diesen  Stempel  wurde  die  Münzplatte  gelegt,  und  der  obere 
Stempel  wurde  senkrecht  darauf  gestellt ;  dieser  wurde  von  einem 
Arbeiter  (10)  gehalten,  während  ein  anderer  Arbeiter  (11)  mit 
einem  schweren  zweihändigen  Schmiedehammer  die  Schläge  nach 
Bedarf  ausführte.  Später  wurde  wohl  (darauf  ließe  schon,  meint 
von  Ernst,  das  auffallend  glatt  gehauene  obere  Ende  der  noch 
heute  erhaltenen  Stempel  schließen;  für  Frankreich  wurde  es 
auch  ausdrücklich  bestätigt)  eine  Art  Fallhammer  statt  des  fiei 
o-eschwungenen  Schmiedehammers  angewendet,  um  die  Schläge 
mit  größerer  Sicherheit  führen  zu  können.  Aber  auch  dann 
blieb  das  Münzen  eine  langwierige,  mühsame  Tätigkeit,  wie  unser 
Überblick  über  den  Verlauf  des  Arbeitsprozesses  erkennen  läßt. 
Die  bedeutsamen  Folgen  dieser  unvollkommenen  Münztechnik 
waren  diese  zwei:  daß  die  Herstellung  der  Münzen  teuer 
und  ungenau  war.  Teuer:  die  Prägekosten  betrugen  bei  den 
Goldmünzen  0,6%,  bei  den  silbernen  Großmünzen  1,5—3%,  beiden 

1  Der  gesetzmäßige  Arbeiterbestand  betrug  1497  in  der  Münze  von 
Sevilla  170,  von  Granada  100,  von  Burgos  98,  außerdem  gab  es  62 
Münzer. 


406 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


kleineren  Münzen  $—25  %  der  ausgeprägten  Münze  h  Ungenau: 
da  man  weder  die  genügenden  chemischen  Kenntnisse  besaß,  um 
sicher  einen  bestimmten  Gehalt  des  Gusses  zu  erzielen;  noch 
vor  allem  die  erforderlichen  Wägeinstrumente,  um  genau  gleich¬ 
schwere  Münzen  herzustellen.  Die  Abweichungen  des  Gewichtes 
der  einen  Münze  von  der  andern  gleicher  Art  konnten  mehrere 
Gramm  ausmachen. 

Beispielsweise  waren  die  Gewichtsdifferenzen  bei  den  eng¬ 
lischen  Münzen  noch  Ende  des  17.  Jahrhunderts  folgende2: 


Wert  der 
leichtesten  Stücke 


Kronenstücke  .  . 

Halbkronenstücke 
Schillinge  .  .  . 

Sixpences  .  .  . 


d. 

11 

0 

0 


Wert  der 
schwersten  Stücke 
d.  d.  d. 
1, 

7, 

1, 


s. 

5. 

2. 

1. 


2, 

8, 

2, 


3 

0 

0 


s.  d.  d. 

4.  9,  10, 

2.  4,  5, 

0.  IOV2,  11, 

0.  5,  51/2  .  .  . 

Nicht  besser  als  mit  der  Technik  war  es  mit  dem  sozialökono¬ 
mischen  Wissen  vom  Wesen  und  von  der  Funktion  des  Geldes 
bestellt  3  ./Noch  im  14.  und  15.  Jahrhundert  standen  selbst  die  Männer 
der  italienischen  Handelsstädte  wie  vor  einem  Wunder:  wenn  sie 
plötzlich  alles  Silber  außer  Landes  gehen  sahen  oder  wahrnahmen, 
daß  ihre  Landsleute  die  eigene  Landesmünze  nicht  in  Zahlung 
nehmen  wollten.  Und  halb  drollig,  halb  rührend  sind  die  immer 
wiederholten  Klagen  der  französischen  Ordonnanzen  über  die 
Unvernunft  oder  die  Böswilligkeit  des  Volkes,  das  sich  eine  be¬ 
liebige  Münzverschlechterung  nicht  ohne  weiteres  gefallen  lassen 
wollte.  In  einem  Satze  zusammengefaßt:  es  fehlte  noch  in  den 


1  G.  Schm  oll  er,  Grundriß  der  Allg.  Volkswirts  cbaftslehre,  532. 
In  Basel  während  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  5,72 — 11,83  °/o  des 
Münzwertes:  B.  Harms,  Die  Münz-  und  Geldpolitik  der  Stadt  Basel 
im  Mittelalter  (1907),  78. 

2  Haynes,  Brief  Memoirs  relating  to  the  Silver  and  Gold  Coins 
of  England  with  an  Account  of  the  Corruption  of  the  Hammer’d  Monys 
and  of  the  Reform  by  the  Late  Grand  Coynage  at  the  Tower  and  the 
five  Coüntry  Mints  1700.  Brit.  Mus.  Laus.  M.S.  DCCCI  p.  63,  mit¬ 
geteilt  von  Cunningham,  Growth  2,  434. 

3  Über  den  verhältnismäßig  hohen  Grad  geldtheoretischer  Einsicht 
bei  Kopernikus  siehe  den  lehrreichen  Aufsatz  von  J.  Jastrow, 
K.  Münz-  und  Geldtheorie,  im  Archiv  Bd.  38.  Dagegen  Oresimus 
ist  geradezu  die  Schwalbe,  die  noch  keinen  Sommer  macht.  (Gegenstück 
zu  der  Stellung  Lionardos  in  der  Geschichte  der  Technik!  s.  unten 
Kap.  29). 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwese* 


407 


maßgebenden  Kreisen  die  Einsicht  in  den  Unterschied  zwischen 
Staatsgeld  und  Verkehrsgeld. 

Also  auch  beim  besten  Willen  wäre  es  der  Zeit  nicht  möglich 
gewesen ,  ein  (in  unserm  heutigen  merkantilischen  Sinne)  voll¬ 
kommenes  Geldwesen  zu  schaffen.  Was  nun  aber  jene  Epoche 
des  weiteren  kennzeichnet,  ist  dieses :  daß 

2.  jener  Wille  des  Staates:  ein  im  merkantilen 
Verstände  gutes  Münz-  und  Währungssystem  zu 
schaffen,  gar  nicht  einmal  vorhanden,  daß  vielmehr 
die  Geldpolitik  der  Staaten  teilweise  bis  in  die  allerneueste 
Zeit  hinein  (Frankreich,  Deutschland),  überall  aber  bis  tief  ins 
17.  Jahrhundert  ausschließlich  fiskalisch  orientiert  war.  Das 
heißt :  die  Fürsten  sahen  im  Gelde  nichts  anderes  als  eine  Quelle, 
aus  der  sie  ihre  immer  leeren  Kassen  mit  Reichtümern  füllen 
konnten.  Es  ist,  finanzgeschichtlich  gesprochen,  die  Zeit  zwischen 
der  rein  auf  Domanialbesitz  aufgebauten  Epoche  und  der  modernen 
Epoche  des  öffentlichen  Kredits,  von  der  ich  spreche.  Da  die 
Einsicht  in  die  Verkehrsbedingtheit  des  Geldes  aber  noch  fehlte, 
so  behandelten  die  öffentlichen  Gewalten  (übrigens  bis  in  die 
Handelsstädte  Italiens  hinein:  selbst  Venedigs  und  Florenzens  Ver¬ 
waltungen  hielten  sich  nicht  völlig  frei  von  Fehl,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  wenn  auch  freier  als  die  aus  feudalem  Holze  geschnitzten 
Fürsten  der  andern  Länder)  das  Geld  nur  als  Staatsinstitution, 
die  sie  nach  ihrem  Ermessen  einzurichten  in  der  Lage  seien. 
Die  Theoretiker  der  Zeit  beeilten  sich,  die  dieser  Auffassung 
entsprechende  „staatliche  Theorie  des. Geldes“  zu  formulieren: 
man  lese  die  Schriften  der  Geldtheoretiker  des  15.  und  16.  Jahr¬ 
hunderts,  die  Budelius  in  seinem  Werke  De  monetis  et  re 
nummaria,  1591,  zusammengestellt  hat! 

Aber  wir  dürfen  uns  nicht  vorstellen,  daß  „der  Verkehr“  sich 
diese  Willkür  ohne  weiteres  habe  gefallen  lassen.  Das  war  wohl 
der  Fall  gewesen  im  frühen  Mittelalter  bis  ins  12.  und  13.  Jahr¬ 
hundert  hinein,  als  sich  der  Handel  noch  in  ganz  bescheidenem 
Umfange  rein  handwerksmäßig  abgespielt  hatte.  *Mit  der  Auf¬ 
schwungsperiode  im  13/ Jahrhundert,  als  die  italienischen  Städte 
auf  die  Höhe  ihrer  kommerziellen  Macht  hinaufzusteigen  be¬ 
gannen,  änderte  sich  das  von  Grund  auf.  I  „Der  Verkehr“,  und 
vor  allem  natürlich  der  internationale  Verkehr,  die  Großhändler 
in  Waren  und  (namentlich)  Geld  in  den  italienischen  Republiken 
begannen  gegen  die  Willkür  der  Staatsgewalten 
sich  aufzulehnen.  Auf  verschiedenen  Wegen  strebten  sie 


408 


Zweiter  Abschnitt  :  Der  Staat 


dem  für  jeden  (vor  allem  natürlich  für  jeden  kapitalistisch  aus¬ 
gerichteten)  Handel  selbstverständlichen  Ziele  zu :  ein  sicheres 
allgemeines  "Warenäquivalent  im  Gielde  zu  haben.  Will  man  jene 
Jahrhunderte  der  Genese  des  Geldes  richtig  verstehen,  so  darf 
man  die  Internationalität  der  damaligen  Verkehrsbeziehungen 
wenigstens  in  ihren  intensiven  "Wirkungen  nicht  zu  gering  ein¬ 
schätzen.  Wir  müssen  uns  vielmehr  gegenwärtig  halten ,  daß 
wenigstens  vom  18.  Jahrhundert  an  eine  regelmäßige  kauf¬ 
männische  Kontrolle  des  Geldwesens  in  den  verschiedenen 
Ländern  stattfand ,  die  zu  einer  genauen  Registrierung  der 
„Stück  “kurse  und  auf  Grund  davon  zu  einem  lebhaften  Arbitrage  - 
geschäft  und  einer  regelmäßigen  internationalen  Geld-  und  Edel- 
metal lb e w egung  den  Anlaß  gab.  Der  Markt,  auf  dem  die  Kurse 
für  ganz  Europa  festgestellt  wurden,  war  vom  13.  bis  zum  Ende 
des  15.  Jahrhunderts  Florenz,  dann  wurde  es  Antwerpen,  bis  an 
dessen  Stelle  (seit  dem  Ende  unserer  Epoche)  London  trat1. 

Daß  das  Geldwesen,  das  sich  auf  diesen  Grundlagen  aufbaute 
den  Stempel  der  Unsicherheit,  der  Unstetigkeit,  der  Unordnung- 
trägen  mußte,  leuchtet  von  vornherein  ein.  Die  folgende  Dar¬ 
stellung  soll  es  an  einigen  markanten  Symptomen  im  einzelnen 
nachweisen,  um  dann  die  Anfänge  einer  Besserung,  das  heißt 
einei  Anpassung  an  kapitalistische  Interessen,  aufzuzeio-en. 

2.  Die  Gestaltung-  der  Münz-  und  Geldverliältnisse 

a)  Der  räumliche  Geltungsbereich  der  Münzen 

Das  Mittelalter  hatte  den  Grundsatz  entwickelt :  der  Heller 
gilt  nur  da,  wo  er.  geprägt  ist.  Und  für  einen  im  wesentlichen 
lokalen  Verkehr,  in  den  nur  hie  und  da  einmal  ein  fremder 
Händler  hineinschneite ,  hatte  sich  dieser  Grundsatz  ganz  wohl 
bewährt.  Mehr  als  auf  alles  andere  legte  man  Gewicht  auf  die 
bekannte  Prägung,  die  allein  das  einheimische  Geld  gewährte. 
Der  Münzherr  hatte  natürlich  ein  lebhaftes  Interesse  daran,  daß 
jenei  Grundsatz  aufrechterhalten  bliebe.  Galt  er,  so  war  der 
Machtbereich  des  reinen  Staatsgeldes  gesichert.  Auch  „der  Ver- 

1  Im  Jahre  1606  enthalten  die  niederländischen  Plakkate  Ab¬ 
bildungen  und  Kurse  von  fast  1000  fremden  Münzen!  Es  ist  eines 
der  Verdienste  des  S h aw sehen  Buches,  gerade  diese  Zusammenhänge 
klargelegt  zu  haben.  Insbesondere  hat  er  die  Bolle,  die  Antwerpen 
als  zentraler  „Stückemarkt“  gespielt  hat,  mit  vielem  Fleiße  geschildert. 
Eine  entsprechende  Arbeit  für  Florenz  wäre  noch  zu  leisten.  Einiges 
Material  bringt  jetzt  bei  G.  Arrias,  159, 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


400 


kehr“  konnte  sich  dabei  beruhigen,  solange  der  Gehalt  der 
Münzen  überall  gleich  blieb.  Dann  erwuchs  dem  internationalen 
Händler  nur  die  Mühe,  erwuchsen  ihm  nur  die  Kosten  des  Um- 
wechselns  (das  in  der  Kegel  auch  als  ein  nutzbringendes,  selbst 
von  der  Obrigkeit  ausgeübtes  oder  verpachtetes  oder  sonstwie 
vergabtes  Hoheitsrecht  angesehen  wurde).  Die  Sachlage  änderte 
sich  aber  ganz  und  gar,  als  die  Münz  Systeme  sich  in  verschie¬ 
dener  Richtung  entwickelten,  als  sich  vor  allem  „gute“  und 
„schlechte“  Münzen,  höher  und  geringer  metallwertige  Münzen 
zu  differenziieren  anfingen.  Da  wurde  es  als  vorteilhaft  und 
zweckmäßig  erachtet,  mit  andern  als  den  Landesmünzen  zu 
zahlen.  Und  zwar  —  so  paradox  es  im  ersten  Augenblicke 
klingt  —  entweder  weil  die  fremde  Münze  besser  oder  weil  sie 
schlechter  war.  In  jenem  Falle  leistete  sie  die  größere  Gewähr 
und  bot  die  größere  Sicherheit;  in  diesem  Falle  ermöglichte  sie 
die  Begleichung  einer  Schuld  mit  einem  geringeren  (Metall-) 
Betrage. 

Aus  dem  einen  oder  andern  Grunde  floß  daher  immer  fremde 
Münze  in  die  Landesmünze  hinein.  Und  es  ist  durchaus  ein 
Kennzeichen  unserer  Epoche,  daß  die  Umlaufs  mittel  ein 
stark  internationales  Gepräge  trugen.  Und  es  ist  der 
ewige  Kampf  zwischen  Staat  und  Verkehr  um  die  Reinheit  der 
Landeswährung,  der  die  Jahrhunderte  erfüllt.  Ein  ewiges  Einerlei 
in  hunderten  von  Verordnungen  und  Gesetzen:  Klagen  über 
das  Überhandnehmen  fremder  Münzen,  Verbot  ihrer  Benutzung, 
das  offenbar  in  den  meisten  Fällen  wirkungslos  geblieben  ist, 
wie  wir  aus  den  häufigen  Wiederholungen  schließen  dürfen,  teil¬ 
weise  auch  Gestattung  fremder  Münzen. 

Ein  paar  beliebig  herausgegriffene  Beispiele  werden  die  Richtig¬ 
keit  dieser  Feststellungen  bestätigen. 

In  Florenz ,  erfahren  wir,  werden  die  Lohnarbeiter  im  14.  Jahr¬ 
hundert  mit  schlechter  ausländischer  Münze  bezahlt.  N.  Rodolico, 
II  sistema  monetario  e  le  classi  sociali  nel  medio  evo,  in  der  Bivista 
ital.  di  Sociologia  8  (1904),  467.  Ebenda  wird  im  Jahre  1382  alle 
fremde  Münze  —  sie  sei  denn  eque  bona  vel  melior  als  die  Floren¬ 
tiner  —  verboten.  Arch.  di  Stato  Balia  Reg.  n.  19,  bei  N.  Rodo¬ 
lico,  1.  c.  Verbote  der  fremden  Silbermünzen  werden  in  Florenz 
häufig  erlassen:  von  1534 — 1660  13-  oder  14 mal.  Shaw,  93. 

In  Frankreich  verbietet  eine  Ordonnanz  nach  der  andern  den  Um¬ 
lauf  fremder  Münze.  Unter  Philipp  dem  Schönen  (1309)  sind  es  die 
Sterlinge  und  die  goldenen  Fiorinen,  die  verboten  werden.  Weiter 
finden  Verbote  statt:  1355,  1577  usf.  Le  Blanc,  227  und  öfters. 
Vgl.  Sully,  Memoires  4  (1752),  6  ff.  (s.  a.  1601).  Das  Edikt 


410 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


vom  10.  März  1500  erlaubt  die  Zirkulation  Venetianer,  Florentiner, 
Sieneser,  Ungarischer  Dukaten ;  von  englischen  „angelots,  lions,  saluts 
et  nobles“ ;  von  spanischen  und  portugiesischen  Cruzados. 

Klagen  der  Österreicher  über  schlechte  bayrische  Münzen,  die  nach 
Österreich  gedrungen  seien  und  hier  vielfach  Mißstände  hervorgerufen 
hätten.  Karajan,  Beiträge  zur  Geschichte  der  landesfürstl.  Münze 
Wiens  im  Mittelalter,  in  Chm  eis,  Österr.  Geschichtsforscher  1,  293, 
und  Urk.  LXXXI  bei  Eheberg,  59. 

Deutschland:  Auf  dem  Reichstag  zu  Nürnberg  (1522):  Klage  über 
die  unbrauchbare ,  falsche  und  entwertete  Münze ,  die  an  Stelle  der 
Goldgulden  und  guten  Silbermünzen  im  Lande  umlaufe. 

Ein  Münzedikt  Ferdinands  I.  vom  Jahre  1559  bestimmt,  daß  ein 
halbes  Jahr  nach  Erlaß  des  Ediktes  „kein  fremb  Gold  so  ausserhalb 
Teutschen  Nation  geschlagen  in  Reich  sol  ausgegeben  und  genommen 
werden  dann  allein  nachfolgende  stuck  die  ihr  geordnet  gewicht  haben“, 
bis  dahin  sollen  alle  andern  Guldenmünzen,  „wie  die  jetzo  gang  und 
gebe,  gegeben  und  genommen  werden“  dürfen.  Die  für  die  Folgezeit 
zugelassenen  und  mit  einem  gesetzlichen  Kurse  (in  „guten  Rheinischen 
goldgulden“)  versehenen  Goldmünzen  sind  aber  diese: 

Alle  kastilischen,  arragonischen,  valentianischen ,  navarresischen, 
sizilischen,  mailändischen,  französischen  Doppel-Dukaten; 
alle  spanischen,  kastilischen,  arragonischen,  neapolitanischen, 
münsterbergisclien,  polnischen,  genuesischen,  venedischen,  päpst¬ 
lichen,  bononischen,  breslauer  (sowohl  bischöflichen  wie  städti¬ 
schen),  liegnitzer,  weidischen,  glatzer,  florentiner,  mailändischen, 
salzburgischen,  augsburgischen,  kaufbeurischen,  hamburgiscken, 
lübeckischen  und  portugiesischen  Dukaten; 
alle  burgundischen ,  niederländischen ,  französischen ,  spanischen, 
kastilischen,  valentianischen,  mailändischen,  sizilianischen,  genue¬ 
sischen  und  päpstlichen  Kronen.  Bei  Goldast,  148  f. 

Immerhin  noch  eine  ganz  hübsche  Anzahl  fremder  Münzsorten! 

Vgl.  auch  die  Münzordnung  Karls  V.  von  1551,  ebenda  S.  162  ff. 
und  S.  188  ff.,  wo  ein  paar  Dutzend  Silbermünzen  aufgezählt  werden, 
die  im  Reich  zirkulieren  und  nach  Jahresfrist  „außer  Kurs  gesetzt“ 
sein  sollen.  Offenbar  hatte  das  Verbot  nichts  genutzt.  Denn  allerhand 
minderwertiges  Silbermünzenzeug  kroch  auch  später  noch  unausgesetzt 
in  das  heil,  römische  Reich  hinein.  In  den  Speirischen  Dekreten  Maxi¬ 
milians  II.  vom  Jahre  1570  heißt  es,  „dass  man  im  h.  Reich  teutscher 
Nation  an  stat  der  guten  probierten  Reichsmüntzen  nichts  anders  als 
böse  frembde  verfälschte  Müntzsorten  sehen  und  haben  muss.  Welches 
dann  auch  nit  die  geringste  ursach  der  beharrlichen  steygerung  in 
allen  Victualien  und  Commercien“.  Goldast,  178.  Vgl.  den  ganzen 
tit.  XLV  und  tit.  LIV. 

In  England  beklagen  sich  die  englischen  Kaufleute  im  Jahre  1346, 
daß  das  gute  Geld  außer  Landes  gehe  und  falsche  Lusshebournes 
(Luxemburger),  die  nur  8  s.  im  Pfund  wert  seien,  hereingebracht 
würden.  1401  beklagt  sich  das  Parlament:  flandrische  Nobles  seien 
so  häufig  in  England,  daß  man  nicht  eine  Summe  von  100  sh. 
empfangen  könne,  ohne  3  oder  4  solcher  Nobles  darunter  zu  finden; 


Sechsundzwanzigtes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


411 


und  seien  doch  um  2  p.  weniger  wert  als  die  englischen  Nobles. 
Shaw,  44.  55.  Für  das  17.  Jahrhundert  charakteristisch  z.  B.  Th. 
Mun,  Englands  Treasure  by  forraign  Trade  1664,  Ch.  VIII  und 
folgende.  Wie  zahlreich  im  18.  Jahrhundert  die  portugiesischen  Gold¬ 
münzen  waren,,  die  in  England  umliefen,  wurde  schon  erwähnt. 

Ausdrückliche  Anerkenntnis  fremder  Münzen  finden  wir  z.  B.  in 
Spanien.  In  einer  Ordonnanz  Karls  von  Navarra  (1356)  heißt  es:  „nos 
place  y  queremos  que  toda  manera  do  mercedores  tanto  de  nuestro 
Kegno  como  de  fuera  puedan  traher,  poner  y  sacar  fuera  y  allober 
en  aqueil  todas  maneras  de  monedas  francament  y  sin  arrest  o  em- 
pachamiento  alguno  .  .  .“  Doc.  ined.  del  Reino  de  Navarra  ec.,  ab¬ 
gedruckt  bei  Heiss,  3  (1869),  231. 

Der  Ersatz  der  eigenen  durch  fremde  Münzen  konnte  soweit  gehen, 
daß  die  fremde  Münze  die  einheimische  in  ihrer  Stellung  bedrohte.  So 
enthält  die  Const.  vulg.  von  Siena  (aus  dem  Anfang  des  14.  Jahrh.) 
das  ausdrückliche  Gebot:  die  Landesmünze  in  Zahlung  zu  nehmen: 
„che  neuna  persona  scusi  la  moneta  senese.“  Bei  Arrias,  150. 

b)  Währangs-  und  Münzsysteme 

Fragen  wir  zunächst  nach  der  Substanz  der  "Währung, 
nacli  dem  Metall  oder  den  Metallen,  die  jeweils  als  Währungs- 
geldware  gedient  haben,  so  müssen  wir  ganz  und  gar  auf  eine 
knappe  Antwort  verzichten,  wie  wir  sie  heute  auf  jene  Frage 
zu  erhalten  beanspruchen  können.  Von  Begriffen  wie  Gold¬ 
währung,  Silberwährung,  Bimetallismus:  in  dem  Sinne,  daß  von 
Gesetzes  wegen  einem  der  beiden  oder  beiden  Metallen  ausdrück¬ 
lich  die  Eigenschaft  als  gesetzliches  Zahlungsmittel  zugesprochen, 
dem  andern  beschränkte  Zahlungskraft  verliehen  oder,  falls  beide 
volle  Zahlungskraft  besessen  hätten,  eine  Relation  zwischen 
beiden  aufgestellt  und  —  was  die  Hauptsache  ist  —  alles  das 
konsequent  festgehalten  wäre:  davon  ist  in  jenen  Jahrhunderten 
keine  Rede.  Vielmehr  ist  hier  alles  schwankend,  alles  empirisch, 
alles  kasuistisch:  ohne  auch  nur  das  Bemühen  der  grundsätz¬ 
lichen  und  systematischen  Ordnung  jener  Verhältnisse.  Man  kann 
deshalb  nicht  sagen:  jene  Währungsbestimmungen  waren  da; 
man  kann  aber  auch  nicht  sagen :  sie  waren  nicht  da.  Ich  möchte 
z.  B.  angesichts  der  zahlreichen  Bestimmungen  über  die  Eignung 
eines  bestimmten  Metalls,  als  Zahlungsmittel  zu  dienen,  nicht 
mit  Shaw  übereinstimmen,  wenn  er  (in  der  Preface  p.  IX)  die 
Meinung  äußert:  vom  13.  bis  zum  18.  Jahrhundert  sei  nie  die 
Rede  davon  gewesen,  die  gesetzliche  Zahlungskraft  —  sei  es 
von  Gold  oder  Silber  —  ausdrücklich  festzusetzen  oder  zu  be¬ 
schränken:  Shaw  selber  führt  in  seinem  Buche  (45)  die  Ver¬ 
ordnung  Eduards  III.  vom  Jahre  1346  an:  wonach  alle  Waren 


412  Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 

in  Gold  bezahlt  werden  sollen,  auch  keine  Verabredung  über  die 
Zahlungsart  getroffen  werden  dürfe,  im  Falle  aber,  daß  doch 
eine  Verabredung  schon  bestehe,  trotzdem  der  Käufer  das  Recht 
der  Option  zwischen  Gold  oder  Silber  haben  solle.  Er  hätte  sich 
auch  2  H.  VI.  c.  12  und  19  H.  VII.  c.  5  erinnern  können.  Aber 
auch  in  den  italienischen  Gesetzen  finden  sich  häufig  ähnliche  Be¬ 
stimmungen.  Nur  daß  wir  nicht  an  ihre  Wirksamkeit  zu  glauben 
brauchen. 

In  Wirklichkeit  gestalteten  sich  die  Dinge  wohl  so :  Gold 
und  Silber  war  während  der  ganzen  Periode  vom  13.  bis  zum 
18.  Jahrhundert  nebeneinander  als  Geld  im  Gebrauch;  eines  der 
beiden  Metalle  wurde  vom  Handel  jeweils  bevorzugt  als 
Rieht- Geld:  im  14.  und  15.  Jahrhundert  wohl  das  Gold,  im 
16.  und  17.  Jahrhundert  wieder  mehr  das  Silber,  das  in  wirt¬ 
schaftlich  rückständigen  Staaten  bis  ins  19.  Jahrhundert  das  haupt¬ 
sächliche  Geldmetall  blieb,  während  namentlich  England  seit  dem 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  sich  immer  mehr  dem  Golde  zuwandte. 

Die  Wertrelation  zwischen  den  beiden  Metallen 
wurde  teils  vom  Gesetzgeber  (dann  in  der  Regel  bewußt  falsch), 
teils  vom  Verkehr  —  ausschließlich  (wenn  die  gesetzliche  Relation 
etwa  fehlte)  oder  neben  der  gesetzlichen  Normierung  —  festgesetzt. 
Es  ergeben  sich  also  in  dieser  Zeit  immer  mehrere  Relationen: 
eine  nach  den  Preisen,  die  die  Münzstätten  für  die  rohen  Metalle 
bezahlten,  und  die  man  mit  allen  Mitteln  auch  dem  Verkehr  auf¬ 
zuzwingen  suchte:  das  Münzpreis  Verhältnis,  wie  es  Lexis  nennt; 
sodann  die  Relation,  die  sich  ergab  aus  den  Edelmetallmengen, 
die  bei  gleichem  Nominalbeträge  in  den  Münzen  erhalten  waren : 
das  Nominalwertverhältnis.  (Die  erste  und  zweite  Relation  hätte 
übereinstimmen  müssen,  wenn  der  Schlagschatz  bei  beiden  Me¬ 
tallen  derselbe  gewesen  wäre ;  tatsächlich  war  er  aber  bei  Silber¬ 
münzen  höher.)  Diesen  beiden  Relationen,  die  (wie  man  es 
ausdrücken  kann)  ein  reines  Staatsgeldverhältnis  (an  artificial 
arbitrary  mint  rate,  wie  es  Shaw  bezeichnet)  darstellten,  trat 
nun  als  dritte  Relation  diejenige  gegenüber,  die  sich  im  Verkehr 
bildete:  das  Verkehrsgeldverhältnis.  Es  entstand  oder  vielmehr 
stellte  sich  dar  in  dem  erhöhten  Kurswert  der  Münzen,  die  aus  dem 
bevorzugten  (gesetzlich  unterwerteten)  Metall  hergestellt  waren. 

Die  Folgen  dieses  Zustandes  lassen  sich  leicht  denken:  stete 
Kursschwankungen  der  Münzen  eines  Metalls  ausgedrückt  in  den 
Münzen  des  andern;  unausgesetzte  Bewegungen  der  Geld-  und 
Edelmetallmengen :  aus  einem  Lande  in  das  andere  oder  aus  der 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


413 


Münzform  in  die  Barrenform ;  endlich  häufige  Entblößungen  eines 
Landes  von  dem  einen  Metalle:  wie  es  etwa  1345  in  Florenz 
geschah,  aus  dem  damals  alles  Silber,  weil  unterwertet ,  ver¬ 
schwunden  war1. 

Die  Unruhe,’  die  damit  über  alles  Geldwesen  kam,  wurde  nun 
aber  noch  gesteigert  durch  eine  Reihe  von  Eigenarten,  die  die 
Münzsysteme  jener  Zeit  als  solche  unabhängig  von  der  Wahl 
des  einen  oder  des  andern  Metalls  aufwiesen. 

Die  erste^  dieser  Eigenarten  ist  die  durch  Jahrhunderte  fast 
imunterbrochen  fortschreitende  Entwertung  der  einzelnen 
Münze,  sei  es  durch  Verringerung  ihrer  Feinheit,  sei  es,  was 
der  bei  weitem  wichtigere  Fall  ist,  durch  Verringerung  ihres 
Gewichts,  immer  bei  gleichbleibendem  Nominalwerte.  Diese 
Entwicklung  hat  sich  wie  folgt  vollzogen." 

Als  die  europäische  Wirtschaftsgeschichte  ihren  Anfang  nahm, 
wurde  auch  das  Münzwesenjneu  geordnet;  es  entstand  das  Pfund¬ 
system  Karls  des  Großen:  1  Pfund  Silber  wurde  in  20  Solidi, 
1  Solidus  in  12  denare ,  also  das  Pfund  in  240  denare  geteilt. 
Dieses  Karolische  Münzsystem  fand  in  fast  ganz  Nord-  und 
Westeuropa  Verbreitung  und  hat  als  Rechnungssystem  das 
Geldwesen  fast  ein  Jahrtausönd  lang  beherrscht:  überall 
rechnete  man  nach  Pfund,  Schillingen,  Pfennigen;  Livre,  sols, 
deniers;  Libbra,  Solidi,  quattrini;  Pound,  Shillings,  pence  usw., 
während  die  wirklich  geprägten  Münzen  ihre  eigene  Entwick¬ 
lung  durchmachten.  Von  den  Münzen  des  Karolischen  Systems 
wurden  zunächst  nur  die  Pfennige  (den.)  ausgemünzt:  entsprechend 
der  Kleinheit  der  Umsätze.  Mehrere  Jahrhunderte  lang  begnügte 
man  sich  mit  Pfennigen:  numismatisch  läßt  sich  die  Zeit  vom 
Ende  des  8.  bis  zum  Ende  des  12.  Jahrhunderts  als  das  Zeitalter 
der  Pfennige  bezeichnen.  Dann,  mit  steigendem  Verkehr,  begann 
man  (um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts)  auch  den  Solidus  aus¬ 
zuprägen,  der  bis  dahin  nur  als  Rechnungseinheit  bestanden 
hatte.  Die  12-Pfennigstücke,  die  silbernen  Solidi  in  specie,  waren 
die  großen  Münzen,  die  nummi  grossi,  und  da  sie  zuerst  in  Tours 
geprägt  wurden,  so  hießen  sie  grossi  turonenses,  gros  tournois, 
Toumosgroschen,  Tournosen.  Fast  um  dieselbe  Zeit  ging  man 
dann  auch  dazu  über,  das  Pfund  (in  Gold)  auszuprägen,  von  dem 
nachher  die  Rede  ist.  Vorerst  müssen  wir  uns  noch  etwas  ge- 

1  „avendo  in  Firenze  grande  difetto  e  nulla  moneta  d  argento  .  .  . 
che  tutte  le  monete  d’  argento  si  fondeano  e  portavansi  oltremare.“ 
Villani,  Cron.  lib.  XII,  c.  53  (ein  sehr  lehrreiches  Kapitel). 


414 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Bauer  Biit  den  Pfennigen  und  den  Dickmünzen  beschäftigen  und 
festzustellen  suchen,  welche  Art  Münzen  das  denn  nun  waren. 

Nach  dem  System  Karls  des  Großen  gingen,  wie  wir  sahen, 
240  d.  auf  das  Pfund.  Dessen  Schwere  steht  noch  nicht  fest. 
Grote  setzte  es  noch  auf  326,6  g  an;  nach  neueren  Forschungen 
soll  es  409,32  g  schwer  gewesen  sein  h  Wie  der  Entscheid  auch 
ausfallen  möge:  immer  war  der  Solidus  ein  Silberstück  von  der 
Größe  unseres  Talers  und  darüber;  der  Pfennig  stellte  einen 
Silbergehalt  von  25 — 30  Pfennigen  in  unserer  heutigen  Währung 
dar.  Wie  aber  schauten  diese  Münzen  ein  paar  Jahrhunderte 
nach  der  Zeit  Karls  des  Großen  aus?  Sie  waren  immer  kleiner 
und  kleiner  geworden:  wie  die  Semmel  beim  Bäcker  in  Teuerungs¬ 
zeiten,  und  hatten,  wie  diese;  immer  denselben  „Wertbetrag“ 
(rechnerisch)  dargestellt:  waren  immer  Pfennige  =  V240  Pfund 
und  Solidi  =  V 20  Pfund  gebheben.  Als  man  anfing,  den  Solidus 
auszuprägen,  da  stellte  er,  stellten  also  12  d.  nur  noch  ein  Silber¬ 
stück  von  der  Größe  etwa  eines  heutigen  Franc  dar :  so  war  der 
Pfennig  schon  entwertet,  das  heißt  schlechter  und  leichter  aus¬ 
geprägt  worden.  Und  doch  begann  die  Zeit  der  Valutaentwertung 
erst  recht  eigentlich  mit  den  grossi,  den  Dickmünzen,  die  nun 
selbst  wieder  zusammenschrumpften,  bald  wieder  Dünnmünzen 
geworden  waren.  Aber  immer  blieben  sie  12  d.  wert  und  immer 
gingen  ihrer  20  auf  das  Pfund,  also  stellte  auch  das  Pfund  einen 
immer  geringeren  Silberbetrag  dar.  Zur  Belebung  des  Bildes 
teile  ich  die  Ziffern  für  einige  Münzsysteme  mit,  aus  denen  sich 
diese  unerhörte  Entwertung  ohne  alle  Mühe  ablesen  läßt.  Sie 
ist  eine  allgemeine  Erscheinung  in  allen  Ländern ;  nur  sind  Größe 
und  Tempo  der  Entwertung  von  Land  zu  Land  verschieden. 

1.  Deutschland:  a)  in  Hamburg-Lübeck  wurden  aus  1  Mark 
(ca.  234  g)  feinen  Silbers  ausgebrackt : 


Mk. 

Sch. 

Pf. 

Mk. 

Sch. 

Pf. 

1226  . 

...  2 

2 

0 

1398 

....  4 

15 

2 

1255  . 

...  2 

9 

5 

1403 

....  5 

1 

11 

1293  . 

...  2 

9 

8 

1411 

....  5 

12 

5 

1305  . 

...  2 

15 

5 

1430 

....  8 

8 

0 

1325  . 

...  3 

0 

9 

1450 

....  9 

12 

2 

1353  . 

...  3 

10 

11 

1461 

....  11 

8 

10 

1375  . 

...  4 

3 

0 

1506 

....  12 

8 

0 

Benno 

Hilliger,  Studien 

zu  mittelalterlichen  Maßen  und  Ge- 

wichten,  in  Seeligers  Historischer  Vierteljahrsschrift  1900,  S.  202  ff. 
Siehe  den  Art.  Münzwesen  (Mittelalter),  Verf.  So  mm  er  lad,  im  HSt. 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


415 


b)  in  Straß  bürg  betrug: 


Tolir» 

Anzahl  der  Pfennige  Gewicht  der 

«j  am 

auf  die  rauhe  Mark 

Pfennige 

12.  Jahrh. 

.  240 

0,979  g 

1313  .  . 

.  480 

0,487  „ 

1319  .  . 

.  490 

0,476  „ 

1321  .  . 

.  494 

0,473  „ 

1329  .  , 

.  510 

0,455  , 

1340  .  . 

.  516 

0,453  „ 

1362  .  . 

'.  540 

0,432  „ 

(Jul.  C  ahn , 

Münz-  und  Geldgeschichte 

der 

Stadt  Straßburg 

Mittelalter.  Straßb.  Diss. 

1895, 

S.  44.) 

2.  In  England  wog  ein  Silber-Penny  in  Troy  Gi’ains: 

1300  .... 

22 

1346 

....  20 

1412  ....  15 

1344  .... 

201U 

1351 

....  18 

1464  ....  12 

3.  In  Spanien 

wurden  Maravedi  (eine  billon-Münze)  geprägt 

der  kölnischen  Mark: 

1312  130 

1868 

200 

1390  500 

1454  2250 

1324  125 

1379 

250 

1406  1000 

1550  2210 

4.  In  Frankreich  wurden  aus  der  Mark  Silber  ausgeprägt: 


Livres 

(Tournois) 

Sols 

Livres 

(Tournois) 

Sols 

1309 

.  .  .  .  2 

19 

1561 

....  15 

15 

1315 

.  .  .  .  2 

14 

1573 

....  17 

0 

1343 

.  .  .  .  3 

4 

1602 

....  20 

5 

1350 

.  .  .  5 

5 

1636 

....  23 

10 

1361 

.  .  .  .  5 

0 

1641 

....  26 

10 

1381 

.  .  .  .  5 

8 

1679 

....  29 

11 

1422 

.  .  .  .  7 

0 

1693 

,  .  .  .  33. 

16 

1427 

.  .  .  .  8 

0 

1713 

....  43 

Vn 

1429 

.  .  .  .  7 

0 

1719 

....  69 

V  8 

1446 

.  .  v  .  7 

10 

1720 

....  98 

2  In 

1456 

.  .  .  .  8 

10 

(dann  steigt  der  Wert  wieder  etwas, 

1473 

...  10 

0 

bis  er  durch  das  Gesetz  von  1803 

1519 

...  12 

10 

auf  222 2/g  Francs  aus 

1  kg  Silber 

1540 

...  14 

0 

festgesetzt  wurde). 

Zu  bemerken  ist  zu  all  diesen  Ziffern  noch ,  daß  sie  nicht  etwa 
die  einzigen  Änderungen  darstellen,  die  die  Währung  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  erfuhr,  sondern  nur  die  großen  Etappen  der  Senkung 
bezeichnen.  Zwischen  den  hier  verzeichneten  Jahren  ging  dann  der 
Münzwert  oft  unzählige  Male  herauf  und  herab.  Speziell  das  französische 
Münzwesen  ist  reich  an  diesen  unausgesetzten  Wertwechseln.  Beispiel : 
im  Jahre  1348  wechselte  man  elfmal  die  Münzen,  1349  neunmal,  1351 


416 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


achtzehnmal,  1353  dreizehmnal,  1355  achtzehnmal.  Innerhalb  dieses 
kurzen  Zeiti’aums  ging  der  Kurs  von  4  Livres  (auf  die  Mark)  bis 
1 71 */2  Livres  in  die  Höhe  und  sank  wieder  auf  43/s  Livres. 

Welches  waren  die  Gründe  für  diese  rasche  und  ganz 
allgemeine  Entwertung  des  Geldes?  fragen  wir. 

Die  blinde  Gewinnsucht  oder,  wenn  man  lieber  will:  die 
wachsende  Finanznot/ der  Fürsten,  gibt  man  uns  zur  Antwort. 
Und  zweifellos  haben  sie  ihr  gut  Teil  zu  dieser  seltsamen  Münz¬ 
politik  beigetragen.  In  einer  Zeit,  in  der  der  öffentliche  Kredit 
erst  wenig  entwickelt,  in  der  das  Papiergeld  noch  unbekannt 
war,  sagte  ich  selbst  schon,  mußte  den  geldbedürftigen  Fürsten 
dieser  Ausweg  außerordentlich  glücklich  erscheinen:  für  3  oder 
4  Geldstücke,  die  sie  verwarfen  und  einzogen,  5  oder  6  (nominal) 
gleichwertige  ausgeben  zu  können.  Aber  mir  scheint  dieser  Hin¬ 
weis  auf  die  Finanznöte  der  Regierung  doch  nicht  hinzureichen, 
um  diese  ganze  riesige  Erscheinung  ohne  Rest  verständlich  zu 
machen.  Woher  diese  Verbreitung  in  allen  Ländern?  Waren 
alle  Regierungen  gleich  bedürftig,  alle  gleich  gewissenlos? 

Nein  ich  glaube,  man  muß  noch  nach  andern  Gründen 
Umschau  halten.  Und  man  hat  denn  auch  schon  andere  Gründe 
namhaft  gemacht.  Shaw  z.  B.  meint:  die  Geldentwertung  des 
14.  und  15.  Jahrhunderts  hinge  mit  dem  Steigen  des  Silberwertes 
in  jener  Zeit  zusammen :  die  Städte  und  Staaten  hätten,  um  die 
daraus  folgende  Preissenkung  aufzuhalten,  den  Silbergehalt  der 
Münzen  in  der  geschilderten  Weise  herabgesetzt.  Sicher  hat 
diese  Erwägung  oft  wenigstens  die  Maßnahmen  der  Entwertung- 
äußerlich  motivieren  müssen  h  Aber  war  diese  Einsicht  allgemein 
verbreitet?  Und  was  erklärte  dann  die  Tatsache,  daß  die  Ent¬ 
wertung  fortgesetzt  wird,  nachdem  der  Edelmetallbestand  sich 
längst  wieder  vermehrt  hatte  und  die  Preise  eine  rasche  Steige¬ 
rung  erfuhren? 

Ich  glaube  vielmehr,  daß  eine  Tendenz  zur  Entwertung  zu¬ 
nächst  schon  in  der  technischen/Natur  des  Münzwesens  jener 
Zeit  gelegen  war,  daß  aber,  sobald  das  Münzsystem  eines 
Landes  aus  irgendeinem  Grunde  einmal  entwertet  worden  war, 

1  Siehe  z.  B.  die  Begründung,  die  im  Jahre  1411  Heinrich  V. 

seiner  Geldverschlechterung  gab,  bei  Shaw,  55:  „because  of  the 
great  scarsity  of  money  at  the  time“  wolle  er  jetzt  50  Nobles  aus 

dem  Pfund  Gold  und  30  sh.  aus  dem  Pfund  Silber  schlagen  lassen 
(wodurch  das  Gewicht  des  Silberpenny  von  18  auf  15,  das  der  Gold¬ 
nobles  von  120  auf  108  Grains  sank).  Vgl.  hierzu  das  31.  Kapitel. 


Sechäunclzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen  41? 

diese  Tatsache  das  andere  fast  dazu  zwang,  künstlich  ebenfalls 
eine  Entwertung  der  eigenen  Münzen  vorzunehmen. 

Aus  der  Unvollkommenheit  der  Münztechnik,  neben  der  her 
gewiß  in  zahlreichen  Fällen  eine  bewußt  betrügerische  Falsch- 
münzung  ging,  folgte,  wie  wir  schon  feststellen  konnten,  eine 
oft  sehr  erhebliche  Ungleichheit  der  Münzen  nach 
Schrot  und  Korn.  Also  enthielt  von  vornherein  jede  Münz¬ 
menge  eines  Landes  schwere  und  leichte,  gute  und  schlechte 
Münzen.  Dieses  aber  bot  den  Händlern  (es  werden  wohl  meist 
die  Goldschmiede  oder  die  Wucherer  [Juden]  gewesen  sein,  die 
sich  hier  betätigten)  eine  willkommene  Gelegenheit,  dadurch 
Gewinne  zu  machen,  daß  sie  die  guten  Stücke  aus  dem  Verkehr 
zogen  und  entweder  einschmolzen  oder  in  das  Ätisland  brachten, 
wo  sie  sie  vorteilhaft  einwechseln  konnten. 

Daß  diese  Praxis  zu  allen  Zeiten  geübt  wurde :  dafür  besitzen 
wir  eine  ganze  Reihe  urkundlicher  Beweise :  siehe  z.  B.  den  Schwur 
der  Wiener  Hausgenossen :  daß  sie  das  durch  den  Wechsel  gewonnene 
Geld  nicht  aussuchen  und  das  schwere  nicht  einschmelzen ,  sondern 
ohne  Auswahl  damit  handeln  wollen.  Karajan,  Beyträge  zur  Ge¬ 
schichte  der  landesfürstl.  Münze  Wiens  im  Mittelalter,  in  Chmels 
österr.  Geschichtsforscher  1,  321,  und  Urk.  LXXI  u.  LXXII. 

Die  Straßburger  Münzordnung  von  1470  beginnt  mit  den  Worten: 
„Als  untzhar  vil  uffsatz  und  vorteil  gesücht  ist  an  allen  silbernen 
milnssen,  die  sweresten  und  besten  von  den  andern  usgelesen  und 
die  gebrant  und  das  silber  liinweggeschicket  und  ouch  etlich  geschirre 
daraus  liessent  machen.“  Bei  Ehe  b  erg,  Hausgenossenschaften,  200. 
Vgl.  auch  Nr.  16  derselben  Ordnung  a.  a.  0.  S.  206. 

Wir  erfahren  sogar:  wer  sich  jenen  „uffsatz  und  vorteil“  zu  ver¬ 
schaffen  wußte  und  wie  hoch  er  sich  belief:  bis  zu  80  Mark  Silber 
wurden  von  einzelnen  Straßburgern  eingeschmolzen  und  außer  Stadts 
geschickt.  Besonders  auf  der  Frankfurter  Messe,  die  damals  viele 
Münzen  des  Rheinlandes  mit  Edelmetall  versorgte,  hatte  man  heimlich 
Silber  verkaufen  lassen.  Die  älteren  schweren  Engelpfennige  wurden 
von  den  Wechslern  allgemein  ausgelesen  und  eingeschmolzen:  „Clein 
Rülin  Lentzelin  het  ouch  geseit,  daz  man  ime  die  engeier  Sonderlinge 
zu  hoffen  habe  geben,  .  .  .  unde  habe  sü  dun  bürnen  unde  verkfifft 
habe  das  silber  und  hat  öch  geseit,  daz  ez  mengelich  füge.“  (15.  Jahrh.) 
Bei  J.  Cahn,  a.  a.  O.  S.  60. 

Ähnliche  Klagen  sind  in  den  Kaiserl.  Dekreten  häufig:  z.  B.  Frankf. 
Dekret  Maximilians  II.  vom  Jahre  1571,  bei  Goldast,  41. 

England:  In  einer  Verordnung  Karls  I.  vom  Jahre  1627  heißt  es: 
„some  of  them  (sc.  goldsmiths)  have  grown  to  that  licentiousness  that 
they  have  for  divers  years  presumed,  for  their  private  gain,  to  sort  and 
weigh  all  sorts  of  money  current  within  our  realm  to  the  end  to  cull 
out  the  old  and  new  monies,  which,  either  by  not  wearing  or  by  any 
other  accident,  are  weightier  than  the  rest;  which  weightiest  moneies 
Sorabart.  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  £7 


418 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


liave  not  only  been  molten  down  for  the  naaking  of  plate  etc.  but 
even  traded  in  and  sold  to  merchant-strangers  etc.,  wbo  bave  exported 
them.“  Rhymer,  Foedera  18,  896  ;  bei  Anderson,  Orig,  of  Comm. 
2,  324. 

Über  die  Zustände  in  England  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
unterrichtet  uns  ein  zeitgenössischer  Schriitsteller  wie  folgt:  „But 
tho’  all  the  pieces  together  might  come  near  the  pound  weight  or  be 
within  remedy  •  yet  diverse  of  ’em  compar’d  one  with  the  other  were 
very  disproportionable ;  as  was  too  well  known  to  many  persons  who 
pick’d  out  the  heavjr  pieces  and  threw  ’em  into  the  Melting  pott,  to 
litt  ’em  for  exportation  or  to  supply  the  Silver  Smiths.  And  ’twas  a 
thing  at  last  so  notorious,  _  tliat  it  ’scap’d  the  observation  of  very  few.“ 
Haynes,  1.  c.  p.  63.  Über  die  rapide  Entwertung  des  Silbers  in¬ 
folge  Beschneidens  in  den  Jahren  1672  ff.,  die  zurümprägung  in  dem 
Jahre  1696  führte,  unterrichtet  jedes  Geschichtsbuch. 

Die  bekannten  Vorgänge  in  Deutschland  während  der  Jahre  1621 
bis  1623,  die  diesen  die  Bezeichnung  der  „Kipper-  und  Wipper¬ 
zeit“  eingetragen  haben  (siehe  die  anschauliche,  wenn  auch  wohl  etwas 
dichterisch  gesteigerte  Schilderung  bei  Gust.  Frey  tag,  Bilder  aus 
der  deutschen  Vergangenheit  3  5  [1867],  152  ff.),  waren  nur  ein  akuter 
Ausbruch  eines  ganz  allgemeinen ,  schleichenden  Übels ,  ähnlich  wie 
die  englische  Clipping-Zeit  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  Eine  „Kipper¬ 
und  Wipperzeit“  ist  fast  die  gesamte  Epoche  des  Frühkapitalismus 
gewesen.  Die  Erscheinung  trug  auch  durchaus  europäisches  Gepräge. 

So  wurde  das  Geld  eines  Landes  zunächst  ganz  von  selbst 
schlechter:  seine  Münzstücke  enthielten  nach  einiger  Zeit  nicht 
mehr  soviel  Metall,  als  ihr  Nominalwert  angab. 

Kam  nun  diese  unterwertige  Münze  in  ein  Land,  wo  noch\ 
vollwertige  umlief,  so  verdrängte  sie  wiederum  diese,  die  nun 
ihrerseits  aus  dem  Verkehr  zu  verschwinden,  drohte.  Das  aber 
mußte  die  Regierungen  veranlassen,  die  Währung  des  eigenen 
Landes  nun  ebenfalls  herabzusetzen,  'damit  sie  die  Konkurrenz 
der  fremden  Münze  auslialten  könne  und  im  Lande  verbleibe. 
Nun  kam  diese  im  AVert  herabgesetzte  Münze  selbst  wieder  ins 
Ausland  und  wirkte  hier  in  gleichem  Sinne,  wie  vorher  die  des 
fremden  Staates  auf  sie  selbst  gewirkt  hatte :  sie  verdrängte  die 
gute  Münze  aus  dem  Verkehr  und  zwang  die  Machthaber  zur 
Entwertung,  und  so  immer  fort. 

Die  Entwicklung  konnte  aber  auch  gerade  umgekehrt  ver¬ 
laufen  und  doch  dasselbe  Endergebnis  zeitigen:  den  Zwang  zur 
Geldverschlechterung.  AV ährend  nämlich  in  dem  eben  betrach¬ 
teten  Falle  das  schlechte  fremde  Geld  das  bessere  Geld  des 
eigenen  Landes  verdrängte  (weil  es  bei  dem  gleichen  Nominal¬ 
werte  eine  geringere  Menge  Silber  enthielt,  also  daß  derselbe 
Preis  in  Münze  mit  einer  geringeren  Menge  Silber  beglichen 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen  449 

werden  konnte),  war  es  ebenso  gut  möglich,  daß  das  gute  Geld 
in  ein  Gand  mit  entwerteter  Münze  abfloß,  um  hier  mit  seinem 
höheren  Metallgehalt  sich  in  einer  größeren  Anzahl  minderwertiger 
Landesmünzen  darzustellen.  Das  eine  Mal  kam  dem  schlechten 
Gelde  der  gleiche  Nominalwert,  das  andere  Mal  dem  guten  Gelde 
sein  höherei’  Metallwert  zustatten.  Diese  doppelte  Verwendung 
erklärt  es,  weshalb  wir  bald  in  den  Urkunden  lesen,  daß  schlechtes 
Geld,  bald  daß  gutes  Geld  abfloß.  Aber  immer  bestand  die 
Tendenz,  daß  das  gute  Geld  aus  dem  Verkehr  verschwand,  und 
damit  wurde  die  Notwendigkeit  erzeugt ,  die  Entwertung,  mit 
der  ein  fremdes  Land  angefangen  hatte,  im  eigenen  Lande  nach¬ 
zumachen. 

Belege  dafür  im  einzelnen  beizubringen,  daß  sich  tatsächlich 
die  Vorgänge  in.  der  geschilderten  "Weise  abspielten,  ist  unnötig: 
nicht  nur  daß  die  Geldgeschichte  voll  von  Beispielen  ist;  man 
kann  geradezu  sagen :  jenes  Hin-  und  Hei’fließen  der  Geldbestände 
aus  einem  Lande  in  das  andere,  jenes  unausgesetzte  Verschwinden 
des  guten  Geldes,  jene  dadurch  hei'beigeführte  Nötigung  zur 
Entwertung  der  Landesmünze:  das  ist  die  Geldgeschichte  in 
dem  von  uns  betrachteten  Zeiträume. 

Denn  auch  die  andere  Eigenart  des  Münzwesens  jener  Jahr¬ 
hunderte  ,  die  ich  im  Sinne  habe ,  stellt  mit  diesen  eben  ge¬ 
schilderten  Vorgängen  in  allercngstem  Zusammenhänge:  ich 
meine  das  Doppelmünzsystem,  das  sich  in  allen  europäischen  - 
Ländern  seit  dem  13.  Jahrhundert  etwa  einbüi’gert  und  mit  dem 
es  folgende  Bewandtnis  hat. 

Es  ist  ersichtlich,  daß  dies  l’äumliche  Durcheinander  ver¬ 
schiedenwertiger  Münzen  aller  Herren  Länder,  wie  es  sich  als 
eine  Folge  des  Herüberfließens  der  Geldmassen  ei’geben  mußte; 
die3  zeitliche  Wechseln  des  Wertes  einer  und  derselben  Münze, 
wie  es  aus  der  Gepflogenheit  der  Münzherrcn,  den  Wert  einer 
Münze  beliebig  oft  und  beliebig  hoch  festzusetzen,  notwendig 
hervoi’gehen  mußte,  einen  Zustand  lästigster  Unsicherheit  heibei- 
zuführen  geeignet  war,  der  um  so  unerträglicher  erscheinen 
mußte,  je  regelmäßiger  und  zahlreicher  die  internationalen  Ver¬ 
kehrsakte  wurden,  je  mehr  kapitalistisches  Wesen  zur  Entfaltung 
drängte.  „Der  Verkehr“  mußte  auf  Abhilfe  sinnen.  Und  erfand 
Mittel  und  AVege,  den  Übelständen  wenigstens  die  größte  Schärfe 
zu  nehmen.  Der  eine  Ausweg,  den  er  einschlug,  um  sich  vom 
der  immer  schlimmer  werdenden  Münzverwirrung  zu  retten,  war 
die  .Rückkehr  zum  reinen  staatslosen  Verkehrs- 

27* 


420 


Zweiter  Abschnitt  :  Der  Staat 


gelde:  er  brauchte  das  Edelmetall  wieder  ohne  Rücksicht  auf’ 
seine  Münzgestalt  oder  in  ungemünzter  Gestalt  als  Geld.  Knapp/ 
würde  sagen:  als  pensatorisches,' Zahlungsmittel.  Jenes  tat  er, 
wenn  er  die  Münzen  wog  und  effektive  (nicht  etwa  die  rech¬ 
nungsmäßig  fiktiven)  Gewichtsgrößen  den  Abmachungen  zu¬ 
grunde  legte  („morphische  Zahlungsmittel  mit  pensatorischer 
Verwendung“);  dieses,  wenn  er  die  Edelmetalle  in  Barrenform 
beließ  oder  sie  in  die  Barrenform/zurück  verwandelte.  So  wurden 
z.  B.  die  Zahlungen  an  den  englischen  Exckequer  lange  Zeit 
hindurch  ad  scalam/  —  d.  h.  nach  dem  Gewicht  —  geleistet 1 
(die  Schatzkammer  wußte  am  besten  Bescheid ,  wie  es  um  die 
Münzen  stand !) ;  ebenso  wurden  in  Deutschland  eine  Zeitlang 
die  Denare  nach  Gewicht  genommen 2.  Die  Barrenpraxis  ist  aber 
gleichfalls  namentlich  in  Deutschland  während  des  Mittelalters 
verbreitet  gewesen:  wTir  begegnen  ihr  am  Rhein  und  in  Schwaben, 
Bayern,  Österreich  und  Schlesien  seit  Beginn  des  13.  Jahrhunderts; 
in  Niedersachsen,  Engern  und  Westfalen  während  des  ganzen 
14.  Jahrhunderts3. 

Auf  die  Dauer  konnte  aber  der  Verkehr  sich  mit  diesen 
Ersatzmitteln  eines  rechtschaffenen  Geldsystems  nicht  zufrieden 
geben.  Er  mußte  auch  im  Bereiche  des  staatlichen  Geldes  seinen 
Interessen  Geltung  zu  verschaffen  trachten  dadurch,  daß  er 
wenigstens  eine  Münzsorte  vor  der  „Pest“  der  Entwertung4 
schützte.  In  der  Tat  gelang  es ,  zunächst  in  den  italienischen 
Städterepubliken,  eine  Münze  zu  schaffen,  deren  Metall¬ 
wert  ein-  für  allemal  derselbe  (oder  doch  wenigstens  an¬ 
nähernd  derselbe)  blieb,  und  die  nun  der  ruhende  Pol  in  der 
Erscheinungen  Flucht  wurde :  das  war  das  goldene  „Pfund“, 
das  zuerst  in  Florenz- als  „fiorino“  im  Jahre  1252  das  Licht 
dieser  Welt  erblickte. 

Der  Florentiner  Gulden  hatte  in  der  Tat  eine  für  jene  Zeiten 
unerhörte  Wertkonstanz :  er  wurde  Jahrhunderte  hindurch  ganz  fein 
ausgeprägt  und  wog. Jahrhunderte  hindurch  3,519  g./  Diese  Eigenschaft 

1  Madox,  Hist,  of  the  Exchequer  1,  274  f. 

2  Inama,  DWG.  3  n,  390  ff. 

3  Inama,  DWG.  3  u,  391.  Verbot  des  Barrengeldes :  „in  civitate 
et  aliis  locis ,  ubi  propria  et  justa  moneta  esse  consuevit  nemo  mer- 
eatum  aliquod  facere  debeat  cum  argento  sed  cum  denariis  proprie 
sue  monete.“  Sentent.  de  cambio  et  imag.  den.  MG.  Const.  II 
Nr.  301/2  (1231),  p.  416. 

4  So  drückt  sich  Carli  in  seiner  Abhandlung  über  das  Geld  aus 
(SS.  dass.  P.M.  13,  323). 


Scchsundz wanzigstes  Kapitel : 


Das  Geldwd 


421 


machte  ihn  bald  zur  beliebtesten  Handelsmünze,  die  überall  gern  ge¬ 
nommen  wurde  und  nun  auch  in  andern  Staaten  Nachahmung  fand. 
Das  Vorbild  der  italienischen  Goldstücke  (noch  im  13.  Jahrhundert 
prägte  Venedig,  seine  Zechinen  oder  Dukaten,  Genua  seine  Genovinen) 
zwang  die  Regierungen  der  andern  Länder,  nun  ebenfalls  eine  unver¬ 
änderliche  Goldmünze  zu  schaffen,  wollten  sie  vermeiden,  daß  die 
italienischen  Goldgulden  ausschließlich  in  Umlauf  blieben.  Man  prägte 
mit  Vorliebe  die  eigenen  Münzen  auch  äußerlich  dem  fiorino  nach: 
ein  Beweis,  welche  Verbreitung  dieser  gefunden  haben,  in  welchem 
Ansehen  er  bei  den  Händlern  stehen  mußte.  Denn  offenbar  wollte 
man  mit  der  Nachahmung  des  Gepräges  die  einheimischen  Münzen 
dem  fiorino  zum  Verwechseln  ähnlich  machen. 

Siehe  die  Abbildungen  der  nachgeprägten  Florene  in  den  Beilagen 
zu  der  Abhandlung  von  H.  Dannenberg,  Die  Goldgulden  vom 
Florentiner  Gepräge  in  der  (Wiener)  Numismatischen  Zeitschrift  12 
(1880),  146  ff.  Die  Geschichte  der  Goldprägungen  im  Mittelalter  am 
besten  dargestellt  von  S h  a w/  Zu  vergleichen  v.  Inam a/,  Die  Gold¬ 
währung  im  Deutschen  Reiche  während  des  Mittelalters,  in  der  Zeit¬ 
schrift  für  Soc.  u.  W.Gesch.  3  (1895),  1 — 60. 

Ganz  wurde  dieses  Ideal  der  Unveränderlichkeit  außerhalb  Italiens 
freilich  nicht  erreicht.  So  verschlechterte  sich  der  Gulden  z.  B.  in 
Deutschland  seit  dem  15.  Jahrhundert  weniger  im  Schrot  als  im  Korn. 
Man  unterschied  von  da  ab  den  ungarischen  (italienischen)  Gulden/ 
und  den  rheinischen  Gulden:  so  genannt,  weil  die  vier  rheinischen 
Kurfürsten  sich  um  seine  Stabilisierung  mit  Erfolg  bemühten.  Vom 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  an  ist  der  Metallgehalt  des  rheinischen 
Gulden  ebenfalls  ziemlich  stabil:  er  stellt  etwa  3/i  des  Wertes  des 
Dukaten  dar. 

Über  das  Schicksal  des  rheinischen  Gulden  unterrichtet  folgende 
Übersicht  bei  Julius  Cahn,  a.  a.  O.  S.  154. 


Jahr 

Korn 

(Karat  und  Grän)/ 

Gewicht 

nach 

Goldgehalt 

jframm 

Goldwert 
in  heutiger 
Keichswährung 

1891 

23 

Kar.  — 

Gr. 

3,542 

3,396 

9,48  Mk. 

1402 

22 

»  6 

55 

3,542 

3,322 

9,27  „ 

1409 

22 

51 

55 

3,542 

3,248 

9,06  „ 

1417 

20 

55 

51 

3,542 

2,953 

8,23  „ 

1425 

19 

55 

55 

3,507 

2,777 

7,95  „ 

1464 

19 

55 

55 

3,405 

2,696 

7,52  „ 

1477 

18 

»  10 

55 

3,372 

2,647 

7,89  „ 

1490 

18 

„  6 

55 

3,278 

2,527 

7,05  „ 

Damit  wurde  nun  aber  (seit  der  Mitte  des  14.  Jahr¬ 


hunderts)  der  Goldgulden  auch  die  allgemeine  Rech¬ 
nungsmünze:  man  rechnete  in  der  großen  Handels¬ 
welt  nach  Gulden,  während  die  Pfundrechnung  dem  Lokal- 


422 


Zweiter  Abschnitt  :  Der  Staat 


» 

¥  t 

' 

verkehr  verblieb.  Der  Gulden  wurde  dann  je  nach  dem  Stande 
der  Pfundr e clinung  tarifiert1.  Es  gab  also  immer  zwei  Geld¬ 
ausdrücke,  deren  Verhältnis  zueinander  fortgesetzt  schwankte: 
den  Ausdruck  in  Gulden  und  den  Ausdruck  in  (Pfunden,  die 
man  häufig  wegließ)  Schillingen  und  Pfennigen. 

Dieser  Zustand  ist  bis  zum  Ende  unserer  Epoche  annähernd 
unverändert  geblieben.  AVas  sich  änderte,  war  nur  die  Metall¬ 
substanz  und  der  Name  des  Gulden :  aus  dem  Golde  wurde 
Silber,  aus  dem  Gulden  der  Taler  (Piaster,  Louis  d’argent  usw.). 

Diese  Umgestaltung  hing  mit  der  Zunahme  der  Silber¬ 
produktion  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  zu¬ 
sammen2 3.  Silber  war  bis  dahin  zur  Ausprägung  der  Groschen 
und  Pfennige  verwandt,  die  je  mehr  und  mehr  zur  „Scheide¬ 
münze“  herabgesunken  waren.  Als  nun  zunächst  in  Deutschland 
und  Österreich  plötzlich  so  sehr  viel  Silber  gewonnen  wurde, 
konnte  dieses  nicht  alles  als  Scheidemünze  untergebracht  werden. 
Deshalb  verfiel  man  auf  die  Idee,  die  Kurantmünze  (den  Gulden) 
nun  ebenfalls  in  Silber  auszuprägen.  So  entstanden  um  die 
Wende  des  10.  Jahrhunderts  die  großen  Silbermünzen,  die  bei 
einem  Gewicht  von  2  Lot  und  einer  Feinheit  von  15  Lot  nach 
dem  damaligen  Kurse  des  Silbers  tatsächlich  einen  Gulden  an 
Wert  darstellten.  Weil  man  bisher  keine  größeren  Silbermünzen 
als  die  Groschen  gekannt  hatte,  so  nannte  man  die  neue  Münze 
Guldengroschen,  bis  eine  neue  Bezeichnung:  (Joachims-)  Taler 
auf  kam.  Ebenso  aber  wie  das  deutsche  Silber  drängte  dann  das 
amerikanische  Silber  dazu,  große  silberne  Kurantmünzen  herzu¬ 
stellen:  das  waren  die  Piaster  in  Spanien  und  ähnliche  Gro߬ 
silberstücke  in  andern  Ländern. 

Je  mehr  und  mehr  eroberte  sich  auf  diesem  Wege  das  Silber 
wieder  seine  herrschende  Stellung  im  Verkehr,  die  es  drei  Jahr¬ 
hunderte  früher  besessen  hatte,  und  die  es  dann  bis  in  die 
neueste  Zeit  hinein  (in  England  bis  zum  Beginn  des  18.  Jahr¬ 
hunderts,  in  den  übrigen  Ländern  bis  um  die  Mitte  des  19.  Jahr¬ 
hunderts)  sich  bewahrt  hat. 

Das  alte  Verhältnis  aber  der  vollwertigen,  „guten“  Kurant¬ 
münzen  zu  den  kleineren,  sich  immer  noch  verschlechternden 
Schillingen  und  Pfennigen  bleibt  bestehen 

1  Die  beste  mir  bekannte  Spezialuntersuchung  über  die  mittelalter¬ 
lichen  Gold-(Gulden-)Kurse  ist  die  Arbeit  von  C.  Schalk,  Der  Münz¬ 

fuß  der  Wiener  Pfennige,  in  der  Num.  Zeitschr.  12,  186  ff.  324  ff. 

3  Siehe  hierzu  den  vierten  Abschnitt,  namentlich  Kapitel  31, 


Sechsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen  423 

In  Frankreich  erreicht  die  Münz  Zerrüttung  im  18f  Jahrhundert,  nach 
den  unglücklichen  Finanzspekulationen  der  .Regierung,  erst  recht 
eigentlich  ihren  Höhepunkt.  Auch  in  Deutschland  änderte  sich  bis 
um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  hinein  wenig.  „Darstellung  des 
fruchtlosen  Kampfes ,  den  etwa  zehn  ignorante  Falschmünzer  gegen 
den  sich  allmählich  entwickelnden  Welthandel  führen,  heißt:  Geschichte 
des  deutschen  Münzwesens  während  der  vorletzten  drei  Jahrhunderte.“ 
H.  Grote  in  seinen  „Münzstudien“. 

An  die  Stelle  des  (Zähl-)  Pfundes  trat  in  einigen  Ländern 
eine  neue  Zähleinheit:  in  Deutschland  der  Zähltaler,  der  nun 
ebenso  wie  früher  das  Pfund  ein  wechselndes  Disagio  gegen  den 
Speziestaler  (so  genannt,  weil  „in  specie“  vorhanden)  oder  den 
Piaster  oder  den  Louis  d’argent  usw.  erhält.  Daneben  bleiben 
dann  die  Goldstücke  ebenfalls  in  Umlauf  und  helfen  die  Kon¬ 
fusion  vergrößern.  Vom  IG.  bis  18.  Jahrhundert  schloß  man  die 
Verträge  teils  auf  Gold,  teils  auf  Silbergeld  ab  oder  war  bei 
gewissen  Geschäften  das  eine  oder  das  andere  Metall  herkömm¬ 
lich  im  Gebrauch.  Natürlich  ergab  das  wiederum  zwei  verschiedene 
Preise,  je  nach  der  augenblicklichen  Relation  zwischen  Silber 
und  Gold,  die  ebenso  wie  die  Tarifierung  der  Kurantmünze  nach 
wie  vor  vom  Verkehr  allen  gesetzlichen  Tarifierungen  und  allen 
Verboten  (z.  B.  in  der  Reichsmtinzordnung  von  1509)  zum  Trotz 
den  Uarktverhältnissen  gemäß  festgesetzt  wurde. 

Die  Pfennige  wurden  gelegentlich  in  ihrer  Fähigkeit,  als 
gesetzliches  Zahlungsmittel  zu  dienen,  beschränkt,  also  zur 
Scheidemünze  erklärt l,  mit  welchem  Erfolge,  steht  dahin. 

Eine  neue  Epoche  des  Geldwesens  bahnte  sich  schon  während 
des  18.  Jahrhunderts  in  England  an,  vornehmlich  infolge  der 
Tatsache,  daß  die  englische  Regierung  als  erste  (und  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  einzige)  das  Geldwesen  vom  mer¬ 
kantil-rationalen  Gesichtspunkt  aus  zu  behandeln  anfing.  Das 
Gesetz  18  Karl  II.  c.  5  (1666),  wodurch  der  Schlagschatz  auf¬ 
gehoben  wurde,  machte  den  Anfang.  Als  dann  die  starke  Ent¬ 
wertung  des  Silbergeldes  Ende  des  17.  Jahrhunderts  infolge  des 
akut  auftretenden  Kippens  und  Wippens  einsetzte,  widerstand  der 
Staat  der  Versuchung,  den  Silbergehalt  der  Münzen  entsprechend 
zu  verringern,  schritt  vielmehr  zu  einer  Umprägung  im  Interesse 
des  Verkehrs.  Er  wachte  dann  über  der  neuen  Währung,  indem 

1  Die  Münzordnung  von  1551  schränkt  die  Annahmepflicht  bei 
Pfennigen  auf  10  fl.  ein,  das  Münzedikt  von  1559  bestimmt  sogar,  daß 
„niemands  in  einiger  grossen  bezahlung  wenig  oder  viel  pfennig  wider 
seinen  willen  zunemmen  schuldig  sein“  soll,  Goldast,  184. 


424 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


er  ein  Passiergewicht  einführte ,  und  hielt  sie  dank  der  gleich¬ 
zeitigen  Fortschritte  der  Prägetechnik  leidlich  intakt.  Dazu  kam, 
daß  seit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  die  Goldwährung 
erst  faktisch,  dann  rechtlich  zur  Einführung  gelangte.  Diese  —  eine 
unmittelbare  Wirkung  der  Erschließung  der  brasilianischen  und 
afrikanischen  Goldfelder,  wie  wir  noch  sehen  werden  —  leitet 
die  neue  Epoche,  die  hochkapitalistische,  die  goldene  ein.  Ihre 
Anfänge  fallen  in  die  frühkapitalistische  Epoche  und  sind  durch 
folgende  Etappen  bezeichnet: 

1.  Erklärung  der  freien  Ausprägbarkeit  des  (Silbers  und)  Goldes 
durch  das  Gesetz  von  1666; 

2.  Überfüllung  der  öffentlichen  Kassen  mit  Gold,  da  diese 
einstweilen  allein  dem  Annahmezwang  unterliegen; 

3.  Erklärung  der  Annahmepflicht  für  jedermann  im  Jahre  1717  ; 

4.  Abstrom  des  Silbers  infolge  Überwertung  des  Goldes  (21  s. 
die  Guinea); 

5.  Erklärung  des  Silbers  zur  Scheidemünze  im  Jahre  1774; 

6.  Aufhebung  der  freien  Ausprägbarkeit  des  Silbers  im  Jahre 

1798. 

III.  Das  Bancogeld 

Die  schlimmen  Münzwirren  namentlich  im  16.  und  17.  Jahr¬ 
hundert  führten  zu  einer  Einrichtung,  die  —  ähnlich  wie  das 
„goldene  Pfund“  —  dazu  dienen  sollte,  dem  kaufmännischen  Ver¬ 
kehr  ein  von  den  unaufhörlichen  Kursschwankungen  nicht  be¬ 
troffenes,  also  in  seinem  Werte  beständiges  Zahlungsmittel  zu 
verschaffen,  genauer:  Zahlungen,  die  jene  Bedingungen  der 
Sicherheit  erfüllten,  zu  ermöglichen:  das  war  die  Einrichtung 
des  Bancogeldes.  Sie  bestand  darin,  daß  Kaufleute  Metallgeld 
vorgeschriebener  Prägung  in  einer  „Bank“  hinterlegten,  wo  dieser 
Betrag  in  einem  zu  diesem  Behufe  geschaffenen  Zählgelde  (oder 
auch  in  der  als  fest  angenommenen  Landesmünze)  gebucht  wurde. 
Über  diesen  Betrag,  der  also  einer  ganz  bestimmten  Menge  Edel¬ 
metall  entsprach,  und  der  unberührt  in  den  Kellern  der  „Bank“ 
liegen  blieb,  konnte  der  Einleger  durch  Anweisungen  verfügen. 
Da  die  meisten  Geschäftsleute  der  Orte,  wo  diese  „Banken“  be¬ 
standen,  ein  Konto  bei  ihnen  hatten,  so  konnten  die  Zahlungen 
auf  dem  Wege  des  Giro  erfolgen,  woraus  sich  ein  zweiter  wesent¬ 
licher  Vorteil  ergab. 

Daß  diese  Anstalten  mit  dem,  was  wir  heute  unter  einer  Bank 
verstehen,  nichts  zu  tun  hatten,  leuchtet  ein.  Gleichwohl  nannte 


Scchsundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen  425 

man  sie  zu  ihrer  Zeit.  „Banken“,  ja  im  17.  Jahrhundert  verstand/ 
man  unter  „Banken“  geradezu  jene  Girokassen. 

So  heißt  es  bei  Marperger,  a.  a.  0.:  „Eine  Banco  heißt  nach 
der  heutigs  Tags  .  .  .  gewöhnlichen  Redensart  derjenige  Ort,  oder  die 
löbliche  Veranstaltung,  in  welcher  große  und  kleine  Geld -Summen 
sicher  in  Verwahrung  können  niedergesetzet,  von  ihrem  Eigeuthümer 
aber  jedesmal  wann  es  ihm  beliebt  .  .  .  wieder  abgefordert  und  zurück¬ 
genommen  werden“  (können).  Sie  sind  eingeführt,  „umb  des  vielen 
Geld-Zahlens  überhoben  zu  sein“.  Das  war  wohl  erst  der  zweite 
Grund:  hauptsächlich  wurden  sie  ins  Leben  gerufen,  um  dem  Jammer 
der  Münzunsicherheit  zu  entgehen. 

Und  die  Definition  in  der  Allg.  Schatzkammer  der  Kaufmannschaft 
1  (1741),  362  lautet:  „Banco,  Banque  oder  Banck  heißt  bei  den  Kauf¬ 
leuten  ein  aus  öffentlicher  Autorität  etabliertes  und  privilegiertes  Haus, 
in  welchem  sie  ihre  Gelder  teils  zur  Verwahrung  und  mehren  Sicher¬ 
heit,  teils  zur  Commodität  (des  vielen  Auszahlens  überhoben  zu  seyn) 
niedersetzen  und  hernach,  dem  sie  schuldig  von  solchen  Geldern  je 
gewisse  Summam  zu ,  von  ihrer  Rechnung  aber  abschreiben  lassen, 
dahingegen  ihnen  von  andern  auch  wieder  dasjenige,  was  sie  in  Banco- 
Geld  von  ihnen  zu  fordern  haben  solchergestalt  zugeschrieben  wird, 
und  dieses  nennt  man  ein  Giro“  .  .  . 

Die  Geschichtsschreibung  des  „Bankwesens“  hat  (ähnlich  wie  die 
der  Post)  sehr  darunter  zu  leiden  gehabt,  daß  man  unter  Bank  (wie 
unter  Post)  jeweils  etwas  ganz  und  gar  Verschiedenes  verstanden  hat. 
Ich  komme  darauf  bei  der  Darstellung  des  Wirtschaftslebens  im  Zeit¬ 
alter  des  Frühkapitalismus  im  zweiten  Bande  zu  sprechen. 

In  der  zeitgenössischen  Literatur  werden  meist  vier  solcher 
Bancogeldanstalten  namhaft  gemacht,  nämlich  (in  der  Reihenfolge 
ihrer  Gründungsjahre) : 

1.  Banco  di  Rialto  (1587),  seit  1619  Bänco  del  giro  in  Venedig  ; 

2.  die  Amsterdamsche  Wisselbank  (1609); 

3.  die  Hamburger  Girobank  (1629); 

4.  der  Banco  publico  in  Nürnberg  (1621). 

Es  tragen  aber,  soviel  ich  sehe,  noch  mehr  Anstalten  dasselbe 
oder  ein  sehr  ähnliches  Gepräge,  nämlich: 

5.  die  Bank  von  Lyon1; 

6.  die  Casa  di  S.  Giorgio  in  Genua  (seit  1586),  zu  der  sich 
1675  die  Banchi  di  moneta  corrente  gesellen2; 

7.  der  Banco  di  S.  Ambrogio  in  Mailand  (seit  1593) 3 ; 

8.  der  Banco  di  deposito  in  Leipzig4; 

9.  die  Bank  von  Rotterdam  (1635). 

1  Über  diese  siehe  Vigne,  La  banque  de  Lyon  (1903),  84. 

2  H.  Sieveking,  Die  Casa  die  S.  Giorgio  (1899),  202.  205  ff. 

3  E.  Greppi,  11  banco  die  S.  Ambrogio,  im  Arch.  Stör.  Lomb. 
10  (1883),  514  seq. 

4  Siehe  Allgem.  Schatzkammer  der  Kaufmannschaft  4,  540  ff. 


■126 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Das  berühmteste  dieser  Institute  ist  die  Amsterdamschc  Wissel  - 
bank,  über  die  ich  deshalb  noch  etwas  eingehender  berichten  will. 
Sie  wurde  am  31.  Januar  1609  auf  Grund  eines  Privilegiums  der 
Herren  Generalstaaten  sowie  der  Bürgermeister  der  Stadt  Amster¬ 
dam  errichtet,  unter  deren  Obhut  das  in  der  Bank  niedergelegte  Geld 
stand.  Als  Zweck  ihrer  Gründung  wird  in  ihrem  Statut  bezeichnet: 
„um  allen  den  Münzwirren  zu  entgehen  und  um  denen,  die  Geld  um¬ 
zusetzen  haben,  eine  bequeme  Zahlungsgelegenheit  zu  schaffen“  (om 
alle  steygering  ende  confusie  in  ’t  stuck  van  de  munte  te  weeren,  ende 
den  luvden,  die  eenige  specien  in  de  koopmanschappe  van  doen  hebben, 
te  gerieven).  „Sie  ist“,  schreibt  ein  urteilsfähiger  Zeitgenosse,  „von  einer 
so  großen  Bequemlichkeit  für  die  handeltreibende  Welt,  daß  man  es 
nicht  für  möglich  hält,  wenn  man  nicht  einige  Zeit  in  dieser  Stadt 
gelebt  und  Geschäfte  gemacht  hat,  da  man  mit  ihrer  Hilfe  täglich 
Millionen  bezahlen  kann  vermittels  einfacher  Zahlungsanweisungen,  die 
man  Bankbillete  nennt.“  Es  gab  deshalb  auch  sehr  wenige  Kaufleute 
in  Amsterdam  und  den  Nachbarstädten,  die  sich  ihrer  nicht  bedient,  das 
heißt:  die  kein  Bankkonto  gehabt  hätten.  Dieses  erwarb  man:  1.  durch 
Ankauf  von  Bankgeld  an  der  Börse;  2.  durch  Erwerb  eines  Wechsels, 
der  in  Bankgeld  zahlbar  ist;  3.  durch  Verkauf  einer  in  Bankgeld  zu 
bezahlenden  Ware ;  4.  durch  Einzahlung  von  Münzen.  Die  Bank  nahm 
an:  1.  Golddukaten;  2.  Rigksdaler/;  3.  Piaster;  4.  Louis  d’Or,  alle  zu 
einem  bestimmten,  unter  dem  Metallwerte  stehenden  Kurse.  Barren¬ 
gold  oder  -silber  konnte  nicht  eingeliefert  werden.  Man  konnte  (außer 
an  drei  Tagen  im  Jahre)  erst  den  folgenden  Tag  über  eine  angewiesene 
Summe  verfügen.  Der  Mindestbetrag  einer  Anweisung  waren  300  fl. 
Man  mußte  die  Anweisungen  persönlich  überreichen,  bis  3  Uhr  nach¬ 
mittags  (nach  11  Uhr  vormittags  gegen  eine  besondere  Gebühr),  und 
persönlich  die  Zahlungen  in  Empfang  nehmen.  Alle  Wechsel  über 
600  fl.  mußten  auf  Bankgeld^  lauten. 

Ich  teile  noch  die  Urteile  zweier  besonders  kenntnisreicher  Aus¬ 
länder  mit,  aus  denen  man  am  besten  die  Eigenart  dieser  Anstalt  ersieht: 

„cette  banque  est  proprement  la  caisse  generale,  oü  chacun  serre 
son  argent,  parce  qu’on  le  juge  lä  en  plus  grande  seurete  et  l’on  en 
dispose  plus  facilement,  tant  en  payant  qu’en  recevant,  que  si  on  le 
tenait  en  ses  propres  coffres.  Et  tant  s’en  faut  que  la  banque  paye 
interest  de  l’argent  que  Fon  y  depose  que  mesmes  celuy  qui  y  est, 
vaut  plus  que  la  monnoye  courante ,  dont  les  payements  se  font 
manuellement;  parce  que  Fon  n’y  apporte  point  d’autres  especes  que 
les  meilleurs  les  plus  approuvees  et  les  plus  generalement  connues 
tant  en  Allemagne  qu’ä  un  Pais-bas.“  Temple,  Remarques  sur 
l’Estat  des  Provinces-Unies  des  Pays-bas,  faites  en  l’an  1672.  (1674), 
132/33. 

„The  proper  definition  of  this  bank  is  not  a  bank  of  current 
money  to  be  received  and  issued  daily  like  those  of  London,  Venice 
ec.,  but  is  purely  a  deposit  of  money,  the  credit  whereof  passes 
from  hand  to  hand  daily,  by  signed  tickets  .  .  .  But  although  it  be, 
without  doubt,  an  excellent  Institution  for  safety,  ease,  dispatch  and 
re  cord ,  yet  it  cannot  be  said  to  increase  the  general  quantity  of 


Seclisundzwanzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


427 


circulation  of  moiiej^  as  some  otlier  banks  certainly  do“ :  da  immer 
die  volle  Summe,  über  die  ein  Geschäftsmann  verfügt,  bar  in  der 
Bank  liegt.  Anderson  2,  235.  Vgl.  aucli  noch  die  bekannte  Dar¬ 
stellung  und  Beurteilung  der  Amsterd.  Bank  bei  Ad.  Smith,  W.  of 
N.  B.  IV,  ch.  III,  Part  I.  Digression.  ^ 

Eine  ziffernmäßige  Angabe  über  die  Höhe  ihrer  Umsätze  ist  mir 
nicht  bekannt.  Sie  wäre  sehr  lehrreich,  um  uns  eine  Vorstellung  vom 
Umfang  des  holländischen  Handels  in  seiner  Blütezeit  zu  geben.  Die 
Zeitgenossen  nennen  sie  nur  übereinstimmend  die  „reichste“  Bank. 
Ternple,  1.  c.  p.  131,  meint:  der  in  ihr  aufgehäufte  Schatz  sei  der 
größte  von  allen,  die  man  kenne,  „reels  ou  imaginaires“.  Bekannt  ist 
die  Schätzung,  die  Adam  Smith  vorgenommen  hat:  2000  Konten 

zu  1500  SS  =  3  Milk  SS  oder  33  Mffl.  fl. 

Dagegen  besitzen  wir  erfreulicherweise  eine  genaue  Statistik  der 
Hamburger  Girobank  aus  ihrer  letzten  Zeit,  die  ich  hier  mitteile: 

Bankfonds .  1772  3^2  Mill.  Mk. 

1799  38 Va  „ 

Zahl  der  benutzten  Bankfolien  .  .  .  1774  7570 

1799  24151 

Gesamtumsatz .  1774  230  Milk  Mk. 

1799  1506  „ 

E.  Baas  ch,  Hamburgs  Handel  und  Schiffahrt  am  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts,  in  H.  um  die  Jahrhundertwende  (1900),  166. 

IV.  Die  Anfänge  des  Papiergeldes 

Man  wird  die  Eigenheit  des  Geldwesens  im  Zeitalter  des 
Frühkapitalismus  nur  begreifen,  wenn  man  sich  zu  vollem  Be¬ 
wußtsein  bringt,  daß  alles,  was  wir  mit  dem  Namen  Papiergeld 
oder  Papierwährung  bezeichnen,  dem  Geiste  jener  Epoche  fremd 
war,  daß  also  diese  Geldformen,  wo  sie  uns  etwa  damals  ent¬ 
gegentreten,  als  normale  Bestandteile  des  wirtschaftlichen  Gesamt¬ 
lebens  (bis  auf  einen  Fall)  nicht  anzusehen  sind. 

Was  die  Geschichte  des  Papiergeldes  in  der  Frühzeit  des 
Kapitalismus  vielmehr  kennzeichnet,  ist  \1.  das  Unvermögen  der 
Staatsorgane,  mit  diesem  gefährlichen  Werkzeug  umzugehen, 
\2.  das  tiefe  Mißtrauen  des  Publikums  gegen  diese  Geldform,  das 
sich  namentlich  im  18.  Jahrhundert  erst  recht  einstellte  (als 
Folge  der  Schwindelmanöver  in  der  ersten  „Gründerzeit“). 

Noch  umspielte  den  Begriff  des  Papiergeldes  ein  Zauber  der 
Romantik;  noch  wurde  es  von  den  Fürsten  als  eine  neue  Alt 
des  Goldmachens  angesehen;  noch  hatte  man  die  innere  Gesetz¬ 
mäßigkeit  dieser  Geldform  nicht  durchschaut;  noch  galt  es  als 
..Teufelswerk“,  als  Zauberwerk.  Wie  das  alles  ja  in  den  Kaiser- 
Szenen  des  „Faust“  zu  klassischer  Darstellung  gelangt  ist. 


428 


Zweiter  Abschnitt::  Der  Staat 


Deshalb  muß  man  aber  auch  das  Lawsche  Bank  unter¬ 
nehmen  als  den  eigentlichen  Typus  aller  damaligen  Versuche  an- 
sehen,  Papiergeld  einzuführen.  Man  weiß,  daß  diese  Episode,  in  der 
es  schließlich  zur  Verausgabung  von  2  Milliarden  Frcs.  Banknoten 
kam,  von  sehr  kurzefDauer  war:  1720  hörte  alles  auf,  und  erst 
ein  halbes  Jahrhundert  später  begann  man  in  Frankreich,  wieder 
an  die  Schaffung  einer  Notenbank  zu  denken.  Daß  aber  die  Zeit 
des  Papiergeldes  auch  damals  noch  nicht  erfüllet  war,  beweist 
das  Schicksal  der  Assignaten. 

Nicht  viel  anders,  wenn  auch  weniger  dramatisch,  verliefen 
die  Experimente,  die  man  im  18.  Jahrhundert  mit  dem  Papier¬ 
geld  in  Dänemark  und  Nonvegen,  in  Schiveden,  in  Rußland,  in 
den  amerikanischen  Staaten  machte.  Überall  ist  der  Verlauf  der¬ 
selbe:  das  Unternehmen  endigt  überall  mit  einer  starken  Ent¬ 
wertung  des  Papiergeldes :  in  den  meisten  amerikanischen  Staaten 
z.  B.  betrug  die  Entwertung  mindestens  100  °/o,  in  einzelnen  bis 
zu  1000%,  einmal  sogar  1400%,  also  schon  beinahe  Assignaten¬ 
verhältnisse. 

Das  Mißtrauen  der  Bevölkerung  und  namentlich  der  Geschäfts¬ 
welt  gegen  das  Papiergeld  war  also  begreiflich. 

Es  wird  nur  der  Ausdruck  der  allgemeinen  Stimmung  gewesen 
sein,  wenn  ein  Hamburger  im  Jahre  1782  schrieb1:  „Sie  sehen, 
daß  unsere  Bank  einzig  und  allein  zur  Sicherheit,  Bequemlich¬ 
keit  und  Richtigkeit  unserer  Handlung  angelegt  ist ;  daß  sie  sich 
folglich  von  allen  Credit-Banken  unterscheidet,  die  so  oft  nur 
durch  allerhand  künstliche  Finanzprojekte  zusammengeklebet  und 
erhalten  werden,  und  aus  welchen  man  so  viel  schöne  in  Kupfer 
gestochene  Bankzettel,  die  die  klingende  Münze  vorstellen  sollen, 
in  die  Welt  hineinjagt:  wodurch  dann  aber  auch  am  Ende  der 
Credit  so  sehr  geschwächet  und  die  Handlung  eines  Landes  so 
sehr  in  Unordnung  gebracht  werden  kann  .  .  .“  usw. 

Die  Ausnahme,  von  der  ich  oben  sprach,  sind  die  Noten 
der  Bank  von  England.  Da  hier  das  Recht  der  Notenaus¬ 
gabe  auf  den  Betrag  des  Bankkapitals  beschränkt  war,  so  konnte 
ein  Mißbrauch  der  Papiergeldpresse  wie  in  andern  Ländern  nicht 
eintreten.  Wir  hören  deshalb  auch  nur  von  geringen  Ent¬ 
wertungen  der  Noten  dieser  Bank,  die  wir  uns  vielmehr  als  einen 
Teil  des  normalen  Geldvorrats  Englands  im  18.  Jahrhundert  vor- 


1  Schlözers  Staatsanzeigen  1  (1782),  76.  Vgl.  auch  die  Aus¬ 
führungen  ebenda  Band  11  (1787),  369  ff. 


Sechsundzwauzigstes  Kapitel:  Das  Geldwesen 


429 


zustellen  haben.  Doch  möchte  ich  auch  in  diesem  Falle  davor 
warnen,  nun  etwa  anzunehmen,  daß  das  Papiergeld  oder  die 
Banknoten  in  England  schon  während  des  18.  Jahrhunderts  auch 
nur  annähernd  die  Bedeutung  gehabt  hätten  wie  etwa  heute. 
Sie  blieben  vielmehr  auch  in  England  bis  zum  Beginne  des  19. 
(oder  mindestens  bis  in  die  letzten  Jahrzehnte  des  18.)  Jahr¬ 
hunderts  durchaus  eine  nebensächliche  Erscheinung,  die  für  die 
Gesamtheit  des  englischen  Geldwesens  ohne  erhebliche  Be¬ 
deutung  war.  Wir  dürfen  dies  einerseits  aus  der  Art,  wie  die 
Noten  ausgegeben  wurden,  andererseits  (und  vor  allem!)  aus 
der  Geringfügigkeit  der  in  den  Verkehr  gebrachten  Notenmenge 
schließen. 

Anfangs  mußten  die  Noten  indossiert  werden;  bis  1759  wurden 
nur  Noten  von  20  £  und  mehr  ausgegeben. 

Bis  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  mußten  die  Noten  der  Bank 
von  England  um  ihre  Geldeigenschaft  kämpfen.  Noch  im  Jahre  1758 
mußte  erst  durch  Entscheidung  des  obersten  Gerichtshofs  festgestellt 
werden,  daß  eine  testamentarische  Verfügung  eines  Mannes  über  alles 
in  seinem  Besitz  befindliche  Geld  auch  etwaige  Noten  der  Bank  ein¬ 
schließe,  weil  diese  Noten,  so  gut  wie  die  Guinea,  Geld  seien.  Quittungen 
über  den  Empfang  von  Noten  der  Bank  seien  gleichbedeutend  mit 
Quittungen  über  den  Empfang  von  Geld.  Auch  bei  Bankrotten  seien 
die  Noten  als  Geld  zu  behandeln.  Alfr.  Schmidt,  Gesch.  des  engl. 
Geldwesens,  170/71. 

Der  Betrag  der  ausgegebenen  Noten  betrug  aber  die  längste 
Zeit  im  18.  Jahrhundert  nicht  viel  mehr  als  2  Mill.  £  (entsprechend 
der  Höhe  des  Bankkapitals).  Selbst  1780  waren  erst  für  8,41  Mill.  £, 
1796/97  erst  für  9,67  hüll.  £  Noten  im  Verkehr. 

Diesen  Ziffern  müssen  wir  die  Mengen  Münzgeld  gegenüber¬ 
stellen,  die  damals  in  England  umliefen.  Das  waren  aber,  wie 
wir  noch  genauer  feststellen  werden,  annähernd  100  Mill.  £. 
Das  Papiergeld  verhielt  sich  also  zu  dem  Hartgelde  in  England 
in  den  ersten  Jahrzehnten  des  18.  Jahrhunderts  seiner  Menge 
nach  wie  etwa  1  zu  50,  ein  Verhältnis,  das  sich  dann  allmählich 
zugunsten  des  Papiergeldes  bis  zum  Schlüsse  des  Jahrhunderts 
verschob,  so  daß  es  schließlich  wie  1  zu  10  stand.  Das  ist  aber 
immer  noch  ein  wesentlich  anderes  Verhältnis  wie  das  heutige. 
Heute  haben  wir  (selbst  in  einem  Lande  wie  Deutschland,  das 
eine  starke  Vorliebe  für  Metallgeld  hat)  in  normalen  Zeiten  doch 
nur  etwa  doppelt  soviel  Hartgeld  im  Lande  wie  Papiergeld. 


Siebemmdzwanzigstes  Kapitel 

Die  Kolonialpolitik 

Vorbemerkung 

Genau  genommen  bildet  die  Gründung  großer  Kolonialreiche,  wie 
wir  sie  seit  den  Tagen  Venedigs  und  Genuas  während  des  Mittelalters 
und  der  neueren  Zeit  erleben,  einen  Teil  der  merkantilistischen  Handels¬ 
politik  und  hätte  deshalb  in  dem  24.  Kapitel  mit  behandelt  werden 
müssen,  wenn  der  Systematik  des  Aufbaus  volle  Genüge  hätte  ge¬ 
schehen  sollen.  Daß  ich  den  Kolonien  oder  richtiger:  der  Kolonial¬ 
politik  ebenfalls  ein  besonderes  Kapitel  widme,  hat  seinen  Grund  vor 
allem  in  der  außerordentlichen  Mächtigkeit,  mit  der  gerade  dieser 
Strom  aus  den  merkantilistischen  Gewässern  in  die  Geschichte  herein¬ 
bricht;  dann  aber  auch  in  den  vielen  Besonderheiten,  die  sich  von 
allen  Seiten  an  die  kolonialen  Bestrebungen  ansetzen  und  ihnen  eine 
ganz  selbständige  Bedeutung  verleihen,  die  sie  zu  einer  ganz  eigenen 
Entwicklung  hintreiben.  Diese  Sonderstellung  des  Kolonialproblems 
hat  seit  jeher  ihre  Anerkennung  auch  in  der  Literatur  gefunden,  in¬ 
sofern  sich  eine  außerordentlich  reiche  Spezialliteratur  mit  ihm  immer 
beschäftigt  hat:  ein  letzter  Grund,  das  Problem  auch  in  dieser  Dar¬ 
stellung  abgeteilt  von  der  allgemeinen  merkantilen  Politik  zu  er¬ 
örtern.  Die  Systematik  des  Werkes  wird  aber  insofern  gewahrt,  als 
dieses  Kapitel  sich  in  den  Abschnitt  einfügt,  der  vom  Staate  handelt, 
so  daß  also  alles,  was  hier  über  Kolonien  und  Koloniengründung  zu 
sagen  ist,  immer  nur  das  ist,  was  mit  dem  Staat  in  einem  unmittel¬ 
baren  Zusammenhänge  steht:  Eroberung,  Organisation,  Verwaltung. 
(Während  die  Bedeutung  der  Kolonial  wirts  chaft  je  an  verschiedenen 
andern  Stellen  des  Buches  gewürdigt  wird.) 

Endlich  bedarf  noch  der  Umstand  eines  Wortes  der  Erklärung: 
daß  ich  meine  Skizze  des  modernen  Kolonialwesens  mit  den  italie¬ 
nischen  Kolonien  beginne,  und  diese  gerade  so  besonders  ausführlich 
dar  stelle. 

Die  erste  Tatsache  hat  einen  inneren  Grund:  ich  glaube  wirklich, 
daß  mit  der  Besitzergreifung  der  Levante  die  Wendung  vom  Mittel- 
alter  zur  neuen  Zeit  wenigstens  für  Italien  einsetzt,  und  daß  Dantes 
Zeitalter  nicht  nur  geistig,  sondern  auch  wirtschaftlich  und  namentlich 
staatlich  als  der  Anfang  der  neuen  Geschichtsepoche  anzusehen  ist: 
nicht  zuletzt  gerade  wegen  der  kolonialen  Expansion  der  italienischen 
Stadtstaaten.  Wir  werden  sehen,  daß  auch  die  Kolonisation  zunächst 
durchaus  in  den  Formen  des  mittelalterlichen  Lebens  einsetzt,  was 
ja  aber,  wie  wir  feststellen  konnten,  von  aller  Politik  des  modernen 
Staates  gilt,  daß  dann  aber  an  den  kolonialen  Bestrebungen  sich  eine 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel :  Die  Kolonialpolitik  431 

moderne  Einrichtung  nach  der  andern ,  ein  moderner  Gedanke  nach 
dem  andern  emporrankt.  Vor  allem  aber  wäre  auch  das  Kolonisations- 
werk  des  Cinquecento  in  seinem  inneren  Aufbau  ganz  und  gar  un¬ 
verständlich  ohne  einen  Einblick  in  die  Grundlagen  der  italienischen 
Levantekolonien.  Daß  ich  ihnen  dann  einen  verhältnismäßig  so  großen 
Raum  in  meiner  Darstellung  widme,  hat  den  äußeren  Grund,  daß  man 
von  ihnen  so  wenig  weiß :  von  all  den  ex  professo  die  Geschichte  des 
Kolonialwesens  behandelnden  Werken  haben  die  italienischen  Kolonien 
erst  in  dem  neuesten  eine  nennenswerte  Berücksichtigung  gefunden, 
nämlich  in  dem  Buche  von  Morris. 

Quellen  und  Literatur 

Als  Quellen  kommen  großenteils  dieselben  in  Betracht,  aus  denen 
wir  unsere  Erkenntnis  der  merkantilistischen  Politik  im  allgemeinen 
schöpfen.  Von  Materialsammlungen,  die  sich  besonders  auf  die  Kolonial¬ 
geschichte  beziehen,  seien  zu  den  im  24.  Kapitel  genannten  noch 
folgende  hinzugefügt:  für  die  italienischen  Kolonien  (außer  Tafel  und 
Thomas)  H.  Noiret,  Docum.  inedits  pour  servir  ä  l’histoire  de  la 
domination  venetienne  ä  Crete  (Bibliotheque  des  ecoles  franqaises 
d’Athenes  et  de  Rome  fase.  21  [1892]).  Mas  Latrie,  Histoire  de 
l’ile  de  Chypre.  3  Vol.  1851—61. 

Für  die  spanische  Kolonisation":  Colleccion  de  documentos  ineditos 
relativos  al  descubrimento,  conquista  y  colonizacion  de  las  posesiones 
Espanoles  en  America  e  Oceania.  1864  seg. 

Für  die  holländische  Kolonisation:  De  Jonge,  Opkomst  van  hed 
Nederlandsch  gezag  in  Oostindie.  1862. 

Für  die  englische  Kolonisation :  Calendar  of  State  Papers.  Colonial 
Series. 

Für  die  nordamerikanischen  Kolonien  insbesondere :  Docum.  relat. 
the  Colon.  Hist,  of  the  State  of  New  York. 

Viel  Urkundenmaterial  ist  auch  selbständig  in  neueren  Monographien 
veröffentlicht,  wie  ich  am  passenden  Ort  berichten  werde. 

Außer  den  „Urkunden“  kommen  für  die  ältere  Kolonialgeschichte 
als  Quellen  vor  allem  auch  die  Reiseberichte  in  Betracht.  Ich 
begnüge  mich,  die  beiden  wichtigsten  Sammlungen  von  Reiseberichten 
aus  dem  Cinquecento  namhaft  zu  machen:  Ramus  io,  Delle  navi- 
gationi  ec.  3.  ed.  1563,  und  Rieh.  Hackluyt,  Principal  Voyages 
etc.  3  Vol.  1600. 

Die  Literatur  über  die  Geschichte  der  Kolonien  ist  außerordent¬ 
lich  umfangreich.  Ich  werde  am  geeigneten  Ort  die  von  mir  benutzten 
Werke  anführen  und  nenne  deshalb  hier  nur  die  ganz  allgemeinen 
Darstellungen.  Mehr  kolonialpolitischer,  aber  doch  auch  geschicht¬ 
licher  Natur  sind:  H.  Brougham,  An  inquiry  into  the  colonial  policy 
of  the  European  powers.  2  Vol.  1803;  H.  M er i vale,  Lectures  on 
Colonization  and  Colonies.  1861  (beide  Werke  gehören  noch  immer 
zu  den  besten  Büchern  über  Kolonisationspolitik).  Roscher  und 
Jannasch,  Kolonien,  Kolonialpolitik  und  Auswanderung.  3.Aufl.  1885; 


432 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


A.  Zimmer  mann,  Kolonialpolitik,  1905  (vorwiegend  historischen 
Charakters).  Wesentlich  geschichtliche  Darstellungen:  Guillaume 
F.  T.  Eaynal,  Hist,  philos.  et  politique  des  Etablissements  et  du 
Commerce  des  Europeens  dans  les  deux  Indes ;  öfters  aufgelegt ;  von 
mir  benutzte  Ausgabe:  3  Vol.  1775.  Paul  Leroy-Beaulieu,  La 
colonisation  chez  les  peuples  modernes.  4Vol.  1891.  Alfr.  Zimmer¬ 
mann,  Die  europäischen  Kolonien.  5  Bde.  1896 — 1908.  Henry  C. 
Morris,  The  History  of  Colonization  from  the  earliest  times  to  the 
present  da}^.  2  Vol.  1904.  Diese  neueste  Darstellung  der  Kolonial¬ 
geschichte  ist  zugleich  die  vollständigste.  Sie  enthält  im  Anhang  eine 
sehr  gut  zusammengestellte  Bibliographie,  auf  die  im  übrigen  zu  ver¬ 
weisen  ist.  Eine  umfassende  Bibliographie  der  gesamten  Kolonialliteratur 
(auf  156  Seiten  gr.  8  0 !)  hat  herausgegeben  A.  P.  C.  Griffin,  List  of 
Books  relating  to  the  theory  of  colonization  etc.  2.  ed.  1900. 

Zur  Ergänzung  dienen  die  Werke  der  historischen  Geo¬ 
graphie,  soweit  sie  die  Entstehung  der  Kolonialreiche  zum  Gegen¬ 
stände  haben.  Zu  den  klassischen  Büchern  der  deutschen  Literatur 
gehört  das  schöne  Werk  von  Osc.  Peschei,  Geschichte  des  Zeit¬ 
alters  der  Entwicklungen.  1858.  Die  wichtigsten  Erscheinungen  der 
neueren  Zeit  sind  Sophus  Buge,  Das  Zeitalter  der  Entdeckungen. 
1881,  und  Al.  Supan,  Die  territoriale  Entwicklung  der  europäischen 
Kolonien.  1906.  Beide  hervorragenden  Werke  befassen  sich  ihrer 
Aufgabe  entsprechend  auch  viel  mit  der  (äußeren)  Kolonialgeschichte. 
Beide  beschränken  sich  auf  die  Zeit  seit  dem  15.  Jahrhundert.  Supans 
Darstellung  ist  chronologisch.  Einen  Gesamtüberblick  gibt  die 
geistvolle  Skizze  von  Ferd.  Toennies,  Die  historisch-geographischen 
Eichtungen  der  Neuzeit,  im  Weltwirtsch.  Archiv  Bd.  6,  1915,  S.  307  ff. 

Einen  besonderen  Zweig  der  allgemeinen  kolonialgeschichtlichen 
Literatur,  der  in  dem  Zusammenhänge  dieses  Werkes  von  ganz  be¬ 
sonderer  Bedeutung  ist,  bildet  die  Literatur  über  Sklaverei 
und  Sklavenhandel,  über  die  ich  aber  weiter  unten  Angaben 
mache. 

I.  Die  Idee  der  Kolonien 

Wenn  man,  wie  es  in  diesem  Buche  geschieht,  die  Politik  der 
absoluten  Staaten  in  ihren  äußeren  Formen  als  eine  Fortsetzung  und 
Vollendung  der  Politik  mittelalterlicher  Städte  betrachtet,  so  liegt 
es  nahe,  die  Kolonialgebiete,  die  sich  um  alle  diese  Staaten  herum¬ 
legen,  mit  der  „Landschaft“  zu  vergleichen,  über  die  sich  wenigstens 
die  wirtschaftliche  Machtsphäre  der  mittelalterlichen  Stadt  aus¬ 
dehnte:  der  Staat  trat  an  die  Stelle  der  Stadt,  wie  wir  an  un¬ 
zähligen  Beispielen  verfolgen  konnten,  und  schuf  sich  nun  in  den 
Kolonien  ein  Gebiet,  das  er  ebenso  ausbeuten  konnte,  wie  die 
Stadt  die  Landschaft  ausgebeutet  hatte :  indem  er  es  zwang,  ihm 
ausschließlich  seine  Erzeugnisse  zu  liefern  und  dafür  die  Pro¬ 
dukte  des  Staates  aufzunehmen.  Kein  Zweifel  in  der  Tat,  daß 
dieses  Grundverhältnis  zwischen  Stadt  und  Landschaft  in  den 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik  433 

wirtschaftlichen  Beziehungen  zwischen  Mutterland  und  Kolonie 
wiederkehrt. 

Läßt  sich  doch  die  Kolonialwirtschaftspolitik  der  meisten 
europäischen  Völker  in  folgende  Sätze  zusammenfassen: 

1.  Die  Kolonien  dürfen  ihre  Erzeugnisse  nur  an  das  Mutter¬ 
land  liefern:  „no  sugar,  tohacco,  cotton-wool,  indigo,  ginger, 
fustic  and  other  dying  woods,  of  the  growth  or  manufacture  of 
our  Asian,  African  or  American  colonies  shall  be  shipped  from 
the  said  Colonies  to  any  place  but  to  England,  Ireland,  or  to 
some  other  of  His  Majestys  said  plantations,  there  be  landed“ 1 : 
das  Straßenrecht! 

2.  Die  Kolonien  dürfen  Erzeugnisse,  namentlich  gewerbliche, 
nur  aus  dem  Mutterlande  beziehen:  das  Marktrecht! 

3.  Die  Kolonien  dürfen  Produkte,  die  das  Mutterland  erzeugt, 
selbst  nicht  hersteilen:  das  Bannrecht! 

4.  Das  Mutterland  behält  sich  das  Transportmonopol  vor. 

5.  Die  Waren,  die  aus  den  Kolonien  kommen,  werden  verzollt 
(versteuert),  wenn  sie  aus  den  Häfen  der  Kolonien  aus-  und  wenn 
sie  in  die  Häfen  des  Mutterlandes  einlaufen. 

Aber  dann,  bei  näherem  Hinsehen,  finden  sich  doch  auch 
wieder  zahlreiche  Abweichungen,  weist  das  Kolonialverhältnis 
wesentliche  Unterschiede  von  dem  alten  Verhältnis  der  Land¬ 
schaft  zur  Stadt  auf.  Will  man  den  Gegensatz,  der  zwischen 
beiden  besteht,  mit  dem  Gegensatz  der  großen  Wirtschaftsideen 
in  Verbindung  bringen,  so  kann  man  sagen,  daß  das  Expansions- 
bedürfhis  der  mittelalterlichen  Stadt  von  der  Idee  der  Nahrung, 
das  der  modernen  Städtestaaten  und  Großstaaten  von  der  Idee 
des  Erwerbes^geleitet  und  beherrscht  war.  Die  alte  Stadt  wollte 
so  viel  Land  zu  ihrer  wirtschaftlichen  Verfügung  haben,  als  sie 
für  ihren  Unterhalt  brauchte,  der  selbst  durch  die  ziemlich 
konstante  Einwohnerzahl  nach  Maß  und  Art  bestimmt  war. 
Der  moderne  Staat  kannte  schon  bei  seiner  Entstehung  diese 
natürliche  Begrenztheit  nicht :  es  ist  eine  uns  bekannte  Tatsache, 
daß  gerade  eine  Wesenseigentümlichkeit  des  modernen  Staates 
(dem  wir  die  italienischen  großen  Städtestaaten  immer  zuzählen 
müssen)  in  dem  unbegrenzten  Streben  nach  Ausdehnung  sich 
bemerkbar  machte.  Und  diese  Vergrößerungstendenz  tritt  dann 
in  der  kolonialen  Expansion  recht  eigentlich  zutage.  Daß 


1  Art.  XIII  der  Schiffahrtsakte  vom  Jahre  1660  (1.  Karl  II.  c.  18) 
bestätigt  durch  25  Karl  II.  c.  7. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


28 


434 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


dies©  eine  schrankenlose  war,  fand  dann  eine  besondere  Be¬ 
gründung  noch  in  dem  Ziele,  dem  alle  Staaten  bei  ihren  Beute- 
zügen  znstrebten:  dem  Golde/  Sobald  und  weil  dieses  sie  alle 
vornehmlich  über  ihre  europäischen  Grenzen  hinauslockte,  ergriff 
sie  derselbe  Taumel  nach  "unbegrenztem  Besitz ,  der  die  'Wirt¬ 
schaftssubjekte  erfaßte  und  sie  aus  den  engen  Kreisen  des 
Nahrungsideals  herausschleuderte. 

Dieser  Drang  leitet  dann  die  Staaten  in  fast  überall  gleiche 
Bahnen  und  läßt  allerorts  ähnliche  Normen  der  kolonialen  Herr¬ 
schaft  sich  entfalten. 

H.  Die  Entstehung  der  Kolonialreiche 

Wie  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  die  einzelnen  Kolonial¬ 
reiche  bildeten,  wie  die  verschiedenen  Staaten  und  Städtestaaten 
sich  die  Gebiete  der  Erde  nacheinander  streitig  machten,  wie 
bald  diese,  bald  jene  Macht  die  Vorherrschaft  in  den  umstrittenen 
Landesteilen  besaß  :  das  ist  im  allgemeinen  bekannt  und  kann 
hier  nur  andeutungsweise  erzählt  werden,  ~ 

/Die  Geschichte  der  modernen  Kolonien  nimmt  ihren  Anfang 
mit  den  Kreuzzügen  und  der  Ansiedlung  der  Europäer  im  heiligen 
Lande. 

Die  Kreuzfahrer  Staaten 1  selbst  waren  keine  Kolonien  im 
modernen  Sinne,  wohl  aber  bieten  sie  die  erste  Gelegenheit 
für  die  italienischen  Städte,  in  die  Poren  fremden  Volkstums 
einzudringen  und  damit  den  Grund  zu  der  späteren  Kolonial¬ 
wirtschaft  zu  legen.  Von  den  1101  und  1104  eroberten  Städten 
Arsuf,  Cäsarea  und  Accon  erhielt  Genua  je  den  dritten  Teil, 
ebenso  wie  von  dem  umliegenden  Gebiete.  Ihm  folgten  Pisa 
und  Venedig,  das  seit  1100  am  Kampfe  beteiligt,  1110  von 
dem  reichen  Sidon,  1123  von  Tyrus  je  ein  Drittel  sich  zusprechen 
läßt1 2.  Zu  den  Städten  gehörte  stets  eine  große  Landschaft;  be¬ 
saßen  doch  die  Venetianer  allein  in  der  Umgegend  von  Tyrus 
einige  80  Casalien3. 

Von  nun  an  war  alles  Sinnen  und  Trachten  der  großen,  führen¬ 
den  Stadtgemeinden  Italiens  auf  Erweiterung  ihres  Kolonialbesitzes 
in  den  Mittelmeergebieten  gerichtet.  Und  es  entstanden  denn 
auch  Kolonialreiche  von  einer  Mächtigkeit  (im  Vergleich  natür- 

1  E.  Rey,  Les  colonies  franques  de  Syrie  aux  XIl  et  XIII  siede. 
1883. 

2  H.  Prutz,  Kulturgeschichte  der  Kreuzzüge  (1883),  377  u. 

3  H.  Prutz,  a.  a.  O.  S.  390.  Heyd  1,  170  f. 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik  435 

lieh  zu  der  Größe  der  Mutterstadt),  wie  sie  die  Weltgeschichte 
—  trotz  Rom  und  England  —  wohl  ein  zweites  Mal  nicht  ge¬ 
sehen  hat. 

Venedigs  Kolonialbesitz  erfuhr  bekanntermaßen  eine  plötz¬ 
liche  Ausdehnung  infolge  der  Aufteilung  des  byzantinischen 
Reichs ,  bei  welcher  die  Lagunenstadt  drei  Achtel  des  riesigen 
Gebietes  erhielt  h  Damit  kamen  in  seinen  Besitz  die  Länder 
Epirus,  Akarnanien,  Ätolien,  die  ionischen  Inseln,  der  Peloponnes, 
die  gegen  Süden  und  Westen  gelegenen  Inseln  des  Archipelagus1  2, 
eine  Anzahl  Städte  an  der  Meerenge  der  Dardanellen  und  am 
Marmarameer,  thrazische  Binnenstädte  wie  Adrianopel  u.  a.,  Pera, 
die  Vorstadt  von  Konstantinopel,  Kandia  und  bald  nachher  auch 
das  wichtige  Cypern.  Dieses  Gebiet  wurde  dann  im  Verlauf  der 
Jahrhunderte  fortgesetzt  abgerundet  durch  Erwerbungen  in  Ar¬ 
menien,  am  Schwarzen  Meer  usw. 

Hier  jedoch  hatte  die  Vorherrschaft  Venedigs  gefährlichste 
Rivalin:  Genua3.  Die  Genuesen  besaßen  in  der  Krim  ebenso 
wie  auf  dem  Festlande  ausgedehnten  Grundbesitz.  Den  Mittel¬ 
punkt  ihrer  Kolonien  am  Schwarzen  Meer  bildete  Kaffa,  in  dem 
sie  seit  1266  herrschten.  Diese  Stadt  soll  im  14.  Jahrhundert 
100000  Einwohner  gezählt  haben  (?).  Dann  aber  befanden  sich  in 
den  Händen  der  Genuesen,  die  ertragreichen  Inseln  Chios,  Samos, 
Nikaria,  Önussa,  Sa.  Panagia,  Teile  von  Cypem  (Famagusta), 
Korsika  (bis  1768)  und  Sardinien,  das  Genua  dann  an  das  ara- 
gonische  Königreich  verlor,  Besitzungen  in  Spanien,  in  Griechen¬ 
land4,  an  der  armenischen  Küste,  in  Syrien  und  Palästina. 

1  „Vint  ä  la  part  de  Venise  la  quarte  part  et  la  moitie  de  la 
quarte  part  de  tout  l’empire  de  Romanie.“  Le  livre  de  la  Conqueste. 
Edit.  Buchon  (1845),  2L  Die  genannten  Angaben  siehe  bei  J.  A.  C. 
Buchon,  Recherches  et  materiaux  pour  servil’  ä  une  histoire  de  la 
domination  framyaise  aux  XIII.,  XIV.  et  XV.  sc.  dans  les  provinces 
demembrees  de  l’empire  grec.  1  (1851),  13  ff.  Die  Urkunden  sind 
abgedruckt  bei  Thomas  und  Tafel  1,  452  ff. 

2  Hier  herrschten  die  Sanudos,  die  sich  ducs  des  douze  lies  nannten, 
bis  sie  1372  die  Crispo  ablösten.  Buchon,  352  ff.,  357  f.  Man  nannte 
das  „conquete  de  familles“. 

3  Über  den  Genueser  Kolonialbesitz  unterrichten  im  Vorbeigehen 
Heyck,  Genua  und  seine  Marine  (1886),  154;  Sieveking,  Genues. 
Finanzwesen  1,  178  f.;  2,  102;  Cibrario,  Ec.  pol.  3 2,  280  (der  ein 
Ms.  Semino,  Mem.  stör,  sul  commercio  de’  Genovesi  dal  sec.  X  al 
XV,  zitiert),  und  natürlich  auch  Heyd. 

4  Über  die  Besitzungen  der  genuesischen  Familie  der  Centarioni 
in  Griechenland  vgl.  Buchon,  1.  c.  304  ff. 


28* 


436 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Neben  Venedigs  und  Genuas  Kolonialreichen  verschwinden 
diejenigen  der  übrigen  italienischen  Staaten.  Immerhin  ist  auch 
der  Kolonialbesitz  von  Pisa 1 2  und  Florenz2,  nicht  unbedeutend 
gewesen.  Beide  Städte  waren  seit  dem  12.  Jahrhundert  in  Syrien 
und  Palästina  angesiedelt;  Pisa  hatte  frühzeitig  an  der  afrika¬ 
nischen  Küste  Fuß  gefaßt  und  Florentiner  Familien  herrschten 
in  Griechenland3. 

Als  dann  seit  der  Entdeckung  Amerikas  und  des  Seeweges 
nach  Ostindien  neue,  große  Kolonialreiche  jenseits  des  Ozeans 
entstehen,  sind  es,  wie  man  weiß4,  andere  Nationen,  die  sie  be¬ 
gründen:  im  16.  Jahrhundert  vor  allem  Spanien  und  Portugal; 
im  17.  und  18.  Jahrhundert  Frankreich,  Holland  und  England, 
während  die  deutschen  Staaten  beiseite  stehen  und  nur  das 
winzige  Brandenburg  einige  vergebliche  Versuche  macht,  sich 
auch  als  Großstaat  zu  betätigen. 

Die  Spanier  sind  zeitlich  die  erste  der  modernen  Kolonial¬ 
mächte.  Ihr  Besitz  erstreckte  sich  schon  im  16.  Jahrhundert 
über  ganz  Südamerika  (ohne  Brasilien),  Mittelamerika  und  den 
Südteil  von  Nordamerika  von  Kalifornien  bis  Florida,  sowie  über 
einige  kleinere  Landstrecken  in  Afrika  und  der  Südsee ;  ein  Ge¬ 
biet,  das  sie  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  besessen  haben. 

Im  16.  Jahrhundert  stand  Spanien  ebenbürtig  zur  Seite : 
Portugal,  das  damals  die  West-  und  Ostküste  Afrikas,  die  Küsten 
des  Arabischen  Meeres  einschließlich  der  Westküste  Indiens, 
einzelne  hinterindische  Küstenplätze ,  die  Molukken  und  vor 
allem  das  große  Brasilien  beherrschte.  Dieser  Besitz  wurde  aber 
schon  im  16.  und  noch  mehr  im  17.  Jahrhundert  durch  das  Vor¬ 
dringen  der  übrigen  Staat  en  stark  ge  schmäle rt._ 

Unter  ihnen  nimmt  während  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  die  führende  Stellung  ein:  Frankreich.  Schöpfer  des 
französischen  Kolonialreichs  ist  Richelieu  (1624 — 1642).  Als  er 

1  A.  Main,  I  Pisani  alle  prime  crociate  (1893),  zit.  bei  Toniolo, 
L’  economia  di  credito  e  le  origini  del  capitalismo  nella  rep.  fior.,  in 
der  Riv.  intern.  8,  37  f. 

2  Toniolo,  a.  a.  0.  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz  1,  282. 
Ida  Masetti-Bencini,  F.  e  le  isole  della  Capraia  e  della  Pianosa, 
im  Arch.  stör.  ital.  Ser.  V  t.  XIX  (1897),  p.  110  ff. 

8  Im  14.  Jahrhundert  erlangt  die  Familie  der  Acciaiuoli  die  Herzogs¬ 
würde  von  Athen.  Buchon,  346  ff. 

4  Am  übersichtlichsten  findet  man  die  Tatsachen  der  neueren 
Kolonialgeschichte  zusammengestellt  in  dem  obengenannten  Werke 
von  Al.  Supan,  14  ff. 


Siebenuudzwanzigsteg  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik  487 

zur  Regierung  kommt,  besitzt  Frankreich  nur  Quebec,  bei  seinem 
Tode:  Kanada,  Martinique,  Guadeloupe,  Dominique  und  andere 
Antillen.  1682  wurde  Louisiana  begründet,  und  auch  in  Hinter¬ 
indien  fa,ßte  Frankreich  festen  Fuß.  Der  Zusammenbruch  dieses 
großen  französischen  Kolonialreichs  erfolgte  am  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts,  als  Kanada  in  die  Hände  der  Engländer  fiel  und  (1803) 
Louisiana  an  die  Vereinigten  Staaten  verkauft  wurde. 

Im  17.  Jahrhundert  entstehen  dann  neben  den  französischen 
Besitzungen  die  beiden  größten  Kolonialreiche  der  neueren  Zeit : 
das  holländische  und  das  englische. 

Die  Holländer  verdrängen  zum  Teil  die  Spanier  und  Portu¬ 
giesen  aus  ihren  Ansiedlungen  und  setzen  sich  im  Laufe  des 
17.  Jahrhunderts  in  Brasilien,  Afrika  und  Ostindien  fest,  wo  bis 
dahin  die  Portugiesen  gesessen  hatten.  Dazu  aber  erwarben  sie 
das  Kapland  und  vor  allem  die  Sundainseln. 

Den  Holländern  folgen  auf  dem  Fuße  die  Engländer,  die  ihnen 
einen  Teil  ihrer  Beute  abjagen:  New  York,  Ceylon,  das  Kapland; 
während  sie  den  Spaniern  mehrere  der  westindischen  Inseln, 
den  Franzosen  Kanada  und  Vorderindien  Wegnahmen,  um  dann 
als  die  letzten  auf  ihrer  reichen  Beute  sitzen  zu  bleiben. 

In  langwierigen,  harten  und  erbarmungslosen  Kämpfen  sind 
die  Kolonien  von  jedem  Staate  erworben:  sie  sind  erobert 
worden. 

Erobert  worden  sind  die  Kolonien  im  Kampfe  mit  den  Eingeborenen, 
erobert  im  Kampfe  mit  den  eifersüchtigen,  um  die  Wette  streitenden 
europäischen  Nationen.  Gewiß  mag  hier  und  da  das  diplomatische 
Geschick  mitgeholfen  haben,  um  einem  Lande  Vorteile  im  Handel  mit 
einem  fremden  Volke  zu  verschaffen;  wir  kennen  zahlreiche  Verträge, 
die  mit  den  eingeborenen  Fürsten  abgeschlossen  wurden,  und  in  denen 
die  europäische  Nation  Privilegien  aller  Art  zugesichert  bekam.  Be¬ 
sonders  in  den  Levantekolonien,  wo  man  es  mit  halb-  und  ganzzivili¬ 
sierten  Völkern  zu  tun  hatte,  waren  Vertragsschließungen  häufig.  Und 
auch  in  den  asiatisch- amerikanischen  Gebieten  kamen  sie  vor.  Fran¬ 
zösisch  hießen  solche  Verträge  „Firman“,  in  denen  (wie  beispielsweise 
in  dem  Firman  aus  dem  Jahre  1692,  den  Destandes  für  die  französische 
Comp,  des  J.  0.  in  Chandemagor  vom  Mogul  erwirkt)  etwa  folgendes 
vereinbart  wurde:  Die  Kompagnie  zahlt  dem  Mogul  40  000  Kop.,  10  000 
sofort,  5000  in  Jahresraten;  die  Franzosen  erhalten  das  Recht,  frei 
zu  handeln  in  den  Provinzen  Bengalen,  Orissa  und  Behar ;  mit  den¬ 
selben  Privilegien  und  auch  denselben  Gewohnheiten  wie  die  Holländer; 
sie  zahlen  wie  diese  3  x/s  °/o  Douane. 

Aber  so  vortrefflich  derartige  Abmachungen  waren,  getan  war  es 
mit  ihnen  gewiß  nicht.  Schon  daß  sie  von  den  Eingeborenen  gehalten 
wurden,  setzte  eine  Machtentfaltung  des  vertragschließenden  Landes 


438 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


voraus,  die  dem  Fürsten  drüben  genügende  Achtung  einflößte.  Und 
dann  blieb  ja  immer  noch  der  rivalisierende  europäische  Staat,  der 
jeden  Augenblick  bereit  war,  mit  dem  Schwert  in  der  Hand  sich  seinen 
Platz  zu  erkämpfen. 

So  ist  schon  die  Kolonialgeschichte  der  Genuesen  und  Venetianer 
eine  Geschichte  von  ewigen  Kriegen.  Ein  großer  Teil  des  Buches  von 
H  e  y  d  ist  der  Aufzählung  solcher  Kämpfe  gewidmet.  Auch  hier  schon 
bekamen  gute  Verträge  diejenigen  Staaten,  die  am  trutzigsten  auf¬ 
traten:  „Während  dieser  Kämpfe  beschränkte  sich  die  Republik 
(Venedig)  im  wesentlichen  darauf,  ihr  Quartier  in  der  Stadt  Negrepont 
in  guten  Verteidigungszustand  zu  setzen.  Wahrscheinlich  trug  dies 
dazu  bei,  daß  sie  im  Jahre  1272,  als  abermals  ein  Vertrag  auf  zwei 
Jahre  mit  Michael  Paläologus  abgeschlossen  wurde,  günstigere  Be¬ 
dingungen  erlangte.“  (He yd.)  Und  nicht  minder  die  der  westeuropä¬ 
ischen  Nationen  seit  dem  16.  Jahrhundert:  Machtentfaltung  durch 
kriegerisches  Auftreten  blieb  auch  hier  die  Losung:  „11  faudrait  en- 
voyer  des  vaisseaux  du  Roi  afin  de  les  faire  voir  sur  les  cötes  et 
surtout  n’epargner  ni  poudre  ni  boulets  ,  et  c’est  d’une  grande  con- 
sequence  afin  d’abattre  l’orgueil  des  Hollandais  . .  . ,  fomenter  la  guerre 
entre  Anglais  et  Hollandais  et  secourir  toujours  le  plus  faible  .  .  . ;  la 
Comp,  etant  etablie  une  fois,  il  ne  tiendra  qu’au  Roi  d’etre  le  maitre 
des  Indes“  .  .  .  heißt  es  in  einer  Denkschrift  der  Direktoren  der  fran¬ 
zösisch-ostindischen  Kompagnie  aus  dem  Jahre  1668.  V.  Kaeppelin, 
La  compagnie  des  Indes  orientales  (1908),  322. 

Man  weiß,  daß  seit  dem  17.  Jahrhundert  es  üblich  wurde,  die 
staatlichen  'Hoheitsrechte,  vor  allem  auch  die  Kriegsmittel,  den  privi¬ 
legierten  Handelsgesellschaften  zu  übertragen,  denen  dadurch  recht 
eigentlich  die  Eroberung  der  Kolonien  als  Aufgabe  anheimfiel,  und 
zwischen  denen  der  Kampf  um  den  Futterplatz  (soweit  er  außerhalb 
Europas  entschieden  wurde)  zum  Austrag  kam.  Daß  in  diesem  Kampfe 
die  Größe  der  staatlichen  Machtmittel  letzten  Endes  die  Entscheidung 
gab,  und  daß  der  Sieg  nicht  von  friedlichen  Kaufleuten,  sondern  von 
gewandten  Geschäftsleuten  und  brutalen  Seehelden  erfochten  wurde, 
liegt  auf  der  Hand. 

„L’on  connaitra  par  lä  qu’il  faut  que  les  personnes  qui  sont  ä  la 
tete  des  Compagnies  dans  les  Indes,  aient  d’autres  qualites  que  celle 
qui  regarde  la  fonction  simplement  d’un  habile  marchand:  c’est  un 
Service  mele,  oü  il  est  necessaire  de  savoir  un  peu  de  tout“  berichtet 
der  immer  klar  schauende  F.  Martin  nach  Hause.  Kaeppelin,  63. 
Und  das  hat  für  alle  Nationen  gegolten:  die  brutalsten,  die  rücksichts¬ 
losesten  haben  in  dem  Kampfe  zuletzt  den  Sieg  davongetragen. 

Wie  der  Hergang  bei  dem  Erwerbe  kolonialen  Besitzes  war,  dafür 
liefert  die  Geschichte  der  afrikanischen  Handelsgesellschaften  ein  be¬ 
sonders  gutes,  weil  außerordentlich  durchsichtiges  Beispiel: 

Zunächst  wird  Afrika  von  den  Portugiesen  besetzt.  Daneben  fassen 
auch  die  Engländer  festen  Fuß :  die  Königin  Elisabeth  privilegiert  eine 
Gesellschaft.  Die  Engländer  bauen  nun  ihr  erstes  Fort  an  der  Gold¬ 
küste,  dann  am  River  Gambia,  zur  Zeit  der  Stuarts.  1621  wird  die 
holländisch-westindische  Kompagnie  errichtet,  mit  dem  Rechte,  alles 


Siebemindzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik 


439 


Land  an  der  afrikanischen  West-  und  amerikanischen  Ostküste  in 
Besitz  zu  nehmen;  sowie  mit  dem  alleinigen  Recht,  daselbst  Handel 
zu  treiben.  Da  die  Portugiesen  die  Plätze ,  die  für  die  Gesellschaft 
wichtig  waren,  schon  in  Besitz  genommen  hatten,  so  waren  Zusammen¬ 
stöße  unvermeidlich,  und  sie  traten  auch  bald  genug  ein :  1637  erobern 
die  Holländer  das  erste  portugiesische  Fort  in  Afrika,  bald  alle  andern, 
die  ihnen  im  Vertrage  von  1641  formell  zugesprochen  wurden.  Nun 
sind  aber  die  Engländer  noch  im  Wege,  und  die  Holländer  beanspruchen 
jetzt  das  Recht  des  Alleinhandels  auch  ihnen  gegenüber:  sie  lassen 
beständig  zwei  Kriegsschiffe  an  der  Küste  kreuzen,  die  auf  ankommende 
englische  Handelsschiffe  Jagd  machen  sollen:  die  Namen  der  gekaperten 
Schiffe  bei  Postlethwayt,  Dict.  1,  927.  Es  war  nun  klar  geworden: 

1.  daß  englische  Privatkaufleute  nicht  gegen  die  vereinigte  Macht 
der  holländisch -westindischen  Gesellschaft  aufkommen  konnten; 

2.  daß  auf  einen  Vertrag  zwischen  den  beteiligten  Staaten  wenig 
Wert  zu  legen  war  (ostindische  Erfahrung!); 

3.  daß  es  nur  ein  Mittel  gebe,  gegen  einen  solchen  Gegner  wie 
die  holländisch- westindische  Kompagnie  zu  bestehen:  auch  die  eng¬ 
lischen  Kaufleute  gleicherweise  zu  einer  Gesellschaft  zusammenzu¬ 
schließen  und  dieser  alle  Machtbefugnisse  und  Privilegien  zu  geben, 
deren  sie  bedürfte. 

Das  Ergebnis  dieser  Erwägungen  war  die  Gründung  der  „Company 
of  Royal  Adventurers  of  English  trading  into  Africa“  im  Jahre  1662. 

Nun  beginnt  ein  wohlgeordneter  Kampf  zwischen  beiden  Gesell¬ 
schaften  :  die  Engländer  legen  nun  auch  Forts  an,  rüsten  auch  Kriegs¬ 
schiffe  aus  usw.  Welcher  Aufwand  dabei  in  Frage  kam,  zeigen  folgende 
Ziffern:  für  Erbauung  und  Erhaltung  der  Forts  an  der  afrikanischen 
Küste  verausgabte  die  Gesellschaft  von  1672 — 1678  390  000  von 
1678—1712  206  000  von  1712—1729  255  000  £,  zusammen  also 
851000  £  in  diesen  57  Jahren!  Aber  die  Engländer  wurden  nun 
auch  in  ihrem  Besitze  nicht  mehr  gestört.  Postlethwayt,  der  nach 
guten  zeitgenössischen  Quellen  diesen  Bericht  gibt,  fügt  hinzu  (Dict.  1, 
725):  „For  250  years  past,  it  has  been  the  constant  policy  of  all  such 
European  nations  ...  die  fremde  Länder  entdeckt  haben  .  .  .  to  build 
and  maintain  forts  and  castles;  and  in  virtue  of  such  possessions  to 
claim  a  right  to  whole  Kingdoms  and  to  tracts  of  land  of  a  vaste  extent 
and  to  exclude  all  other  nations  from  trading  into  or  from  them.“ 

Erst  im  Verlaufe  unserer  Epoche,  im  18.  Jahrhundert,  fängt  der 
Vertrag“  mehr  und  mehr  an  Bedeutung  als  Machtmittel  zu  gewinnen: 
die  Gewalt  weicht  der  List  als  vorherrschende  Kategorie  der  Unter¬ 
werfung,  und  es  sind  wohl  vornehmlich  die  Engländer,  die  diese  neue 
Form  entwickeln.  Aber  für  den  größten  Teil  des  frühkapitalistischen 
Zeitalters  gilt  doch,  daß  die  Gewalt  der  Waffen  das  Schicksal  der 
Staaten  in  Europa  und  in  den  Kolonien  entschied ;  gilt  also  der  Satz : 

Im  Anfang  war  die  Armee.  . 

Die  Geschichte  der  Kolonien  ist  daher  großenteils  Kriegs- 
geschichte,  und  die  meisten  Geschichtsschreiber  sind  sogar  der 
Meinung,  daß  es  nur  Kriegsgeschichte  sei:  daher  man  in  den  all¬ 
gemeinen  kolonialgeschichtlichen  Werken  meist  eine  ausgiebige  Dar- 


440 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Stellung  der  Eroberungskriege  findet.  Zur  Ergänzung  füge  ich  noch 
folgende  Schriften  hinzu,  die  sich  ganz  besonders  mit  den  Kämpfen 
um  die  Kolonien  beschäftigen:  vor  allem  ist  für  die  Levantekolonie 
hier  das  Buch  von  W.  Heyd,  Geschichte  des  Levantehandels.  2  Bde., 
1879,  zu  nennen,  das  sich  fast  ganz  in  der  Aufzählung  diplomatischer 
und  kriegerischer  Aktionen  erschöpft. 

Ganz  besonders  dornenvoll  waren  in  der  weiteren  Zeit  naturgemäß 
die  Pfade  der  Bahnbrecher,  also  im  Osten  der  Portugiesen.  Über  ihre 
Erlebnisse  berichtet  treuherzig  E.  Saalfeld,  Geschichte  des  portu¬ 
giesischen  Kolonialwesens  in  Ostindien  (1810).  Eine  sehr  eingehende 
Darstellung  der  Kämpfe  der  Portugiesen  in  Ostindien  liefert  neuerdings 
H.  Bokemeyer,  Die  Molukken,  45 — 79.  Von  älteren  Beschreibungen 
ist  noch  zu  vergleichen  de  Veer,  Heinrich  der  Seefahrer  (1864),  86  ff. 

Die  spanische  Kolonisationsgeschichte  (als  Eroberungsgeschichte) 
hat  in  unübertroffener  Weise  dargestellt  W.  H.  Prescott  in  seinen 
beiden  Werken:  History  of  the  Conquest  of  Mexico.  3  Bde,  zuerst 
1843,  und  History  of  the  Conquest  of  Peru.  3  Bde,'  zuerst  1847. 
Ein  sehr  brauchbares  Buch  ist  noch  heute  Arth.  Helps,  The  Spanish 
Conquest  in  America  etc.  4  Vol.,  1855 — 61.  Von  neueren  Bearbei¬ 
tungen  seien  hervorgehoben  die  Werke  von  K.  Häbler:  Amerika, 
in  Helmolts  Weltgeschichte  Bd.  I,  1899,  und  Geschichte  Spaniens 
unter  den  Habsburgern  Bd.  I,  1907. 

Die  Kämpfe  der  Holländer  behandelt  wiederum  eingehend  P.  Saal- 
feld  in  seiner  Geschichte  des  holländischen  Kolonialwesens,  1812, 
ohne  jedoch  (sehr  zum  vorteilhaften  Unterschiede  zu  den  meisten 
andern  Kolonialschriftstellern)  die  wirtschaftliche  Seite  unberücksichtigt 
zu  lassen.  Eine  ausführliche  Kriegsgeschichte  der  holländischen  Kolonien 
findet  man  bei  G.  C.  Klerk  de  Heus,  Geschichtlicher  Überblick  der 
.  .  .  niederl.-ostind.  Komp.  (1894),  S.  XI — XLVI.  Zu  vergleichen: 
J.  P.  J.  Dubois,  Vie  des  gouverneurs  generaux  etc.,  1763. 

Über  die  Kämpfe  der  Franzosen  enthält  viel  Material  das  öfters 
zitierte  Buch  von  Kaeppelin. 

Die  letzten  Entscheidungskäxapfe  wurden  aber  noch  nicht 
einmal  in  den  überseeischen  Gewässern,  sondern  wurden  in  Europa 
ausgefochten.  Ganz  deutlich  haben  die  meisten  der  zahllosen 
Kriege,  die  das  17.  und  18/ Jahrhundert  erfüllen,  handeis-  oder 
kolonialpolitische  Veranlassungen,  die,  namentlich  seit  England 
bestimmenden  Einfluß  gewinnt,  immer  ausschließlicher  werden: 
„Der  heroische  religiöse  Befreiungskrieg  der  Niederländer  vom 
spanischen  Joche  ist  bei  Lichte  besehen  ein  fast  hundertjähriger 
Kolonieeroberungskrieg  in  Ostindien  und  ein  ebenso  langer 
Kaperkrieg  gegenüber  der  spanischen  Silberflotte  und  dem 
spanisch  -  amerikanischen  Kolonialhandel“  (S  c  h  m  o  1 1  e  r).  /  Der 
Krieg,  den  die  Vereinigten  Provinzen  1652  bis  1654  mit  England 
führten,  war  veranlaßt  worden  durch  die  Navigationsakte  Crom- 
wells ;  als  umgekehrt  England  im  Jahre  1664  den  Holländern  den 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik 


441 


Krieg  erklärte,  war  dies  die  Antwort  auf  das  feindselige  Verhalten 
der  holländisch-westindischen  Kompagnie  in  Afrika.  Louis  XIV., 
dessen  Kriege  im  allgemeinen  freilich  tiefer  begründet  waren  als 
in  bloßen  Handelsinteressen,  fiel  doch.  1672  in  Holland  ein,  um 
die  Holländer  für  ihre  maßlosen  Repressalien  zu  strafen,  die  sie 
gegen  die  Colbertschen  Zolltarife  ergriffen  batten.  Der  spanische 
Erbfolgekrieg  war  ebenso  wie  der  große  Koalitionskrieg  von 
1689  bis  1697  in  erster  Linie  ein  Kampf  Englands  und  Hollands 
gegen  die  Gefahr,  die  von  Frankreich  her  und  von  der  Ver¬ 
einigung  des  französischen  Handels  mit  der  spanischen  Kolonial¬ 
macht  drohte.  Endlich  fochten  im  18.  Jahrhundert  wiederholt, 
zuletzt  und  mit  entscheidendem  Erfolge  einen  Zweikampf  aus 
die  beiden  großen  Kolonialmächte  England  und  Frankreich.  Daß 
England  in  den  Kriegen  von  1756 — 1763  Sieger  blieb,  entschied 
seine  Vormachtstellung  im  Welthandel  und  im  Kolonialbesitze. 

TTb  Die  Nutzung  der  Kolonien 

Verschieden  gestaltete  sich  natürlich  die  Nutzung,  je  nachdem 
es  sich  um  die  bloße  Anlage  von  Faktoreien  oder  um  Plantagen¬ 
betrieb  oder  um  Ansiedlung  handelte.  Ansiedlung  kam  ja  damals 
im  wesentlichen  nur  in  den  nördlichen  der  nordamerikanischen 
Kolonien  in  Frage,  während  alle  übrigen:  sowohl  die  levanti- 
nischen  wie  die  späteren  überseeischen  Kolonien  „Handels-6  oder 
„Pflanzungs-“Kolonien  waren.  Deren  Nutzung  (die  uns  allein 
hier  angeht)  erfolgte  abermals  in  verschiedener  Weise,  je  nach 
dem  Verwaltungssysteme,  das  die  Staaten  zur  Anwendung 
brachten.  Wir  unterscheiden  deren  zwei:  die  direkte  staatliche 
Verwaltung  und  die  Vergebung  an  Kolonisationskompagnien. 
Jene  finden  wir  bei  den  venetianischen  und  später  bei  den 
spanisch-portugiesischen,  diese  bei  den  genuesischen  und  dann 
bei  den  Kolonien  der  Niederländer,  der  Franzosen  und  der 
Engländer. 

Die  früheste  Form  der  Kolonisationskompagnien  ist  die  genuesische 
Maona.  Die  berühmteste  Mao  na  ist  die  von  Chios,  die  im  Jahre 
1347  wie  folgt  zustande  kam:  eine  zu  andern  Zwecken  von  Privat¬ 
reedern  ausgerüstete  Flotte  hatte  Chios  erobert.  Bei  ihrer  Rückkehr 
verlangten  sie,  wie  ausbedungen  war,  von  der  Regierung  203  000  Lire 
Ersatz.  Da  die  Regierung  nicht  zahlen  konnte,  so  wurde  am  26.  Februar 
1347  diese  Schuld  in  die  Compera  oder  Maona  Chii  verwandelt.  Zur 
Sicherheit  und  zur  Verzinsung  der  Schuld  wurden  die  Gläubiger  mit 
Chios  und  Phokäa  belehnt.  Zwei  Jahrhunderte  hindurch  ist  dann  die 
Maona  im  Besitz  des  dominium  utile  nicht  nur  von  Chios  und  Phokäa, 


442 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


sondern  auch  der  Inseln  Samos,  Nikäa,  Önussa  und  Sa.  Panagia  ge¬ 
wesen,  und  lange  hat  sie  das  Monopol  des  Mastixhandels  von  Chios 
und  des  Alaunhandels  von  Phokäa  besessen.  Art.  Giustiniani,  bei 
Ersch  und  Gruber,  316  ff.,  327  ff.  1374  wird  die  Maona  Cipri,  1403  die 
Maona  nuova  Cipri  begründet;  1378  wird  Korsika  einer  Maona  über¬ 
tragen;  später  auch  die  Krim.  Vgl.  Sieveking,  Genues.  Finanz¬ 
wesen  1,  177  ff;  2,  99  ff. 

Seit  dem  16.  Jahrhundert  tritt  dann  die  große  Handelskompagnie 
auf,  der  wir  in  anderem  Zusammenhänge  schon  begegnet  sind  und  in 
abermals  anderem  begegnen  werden. 

Aber  im  Kern  ist  das  Kolonialsystem  doch  in  all  den  Jahr¬ 
hunderten,  seit  die  Italiener  in  der  Levante  festen  Fuß  faßten, 
bis  zum  Untergang  der  großen  Handelskompagnien  und  bis  zur 
Aufhebung  der  Sklaverei  dasselbe  gewesen,  weil  es  auf  folgenden 
Grundlagen  ruhte : 

1.  der  Privilegierung,  die  hier  in  den  Kolonien  ihre 
höchste  Ausbildung  erfahren  hat.  Wenn  einer  Handelsgesell¬ 
schaft  die  alleinige  Ausnutzung  einer  Kolonie  zugesprochen 
wurde,  so  liegt  die  Form  des  Privilegs  deutlich  zutage.  Aber 
auch  dort,  wo  wir  keinen  privilegierten  Kompagnien  begegnen, 
finden  wir  das  Privilegierungssystem  in  Anwendung.  In  den 
Anfängen  der  italienischen  Kolonisation,  aber  auch  der  spanisch¬ 
portugiesischen  wird  sogar  das  alte  Feudalsystem  ohne  weiteres 
verwendet,  um  einzelne  Personen  mit  Vorrechten  auszustatten: 
es  finden  gleichsam  „Belehnungen“  mit  bestimmten  Gebietsteilen 
der  Kolonie  statt.  Später  tritt  die  .Regalisierung  an  die  Stelle, 
und  einzelne  Personen  erhalten  gegen  Erstattung  einer  bestimmten 
Pachtsumme  das  Recht  zur  Ausbeutung  der  Regale. 

Über  die  feudalartigen  Verteilungen  in  der  Levante:  Beugnot, 
Mein,  sur  le  regime  des  terres  dans  les  principautes  fondees  en  Syrie 
par  les  Francs  (Bibliotheque  de  l’ecole  des  chartes  3  ser.  t.  5  [1854]); 
H.  Noiret,  Doc.  inedits  pour  servir  ä  l’kist.  de  la  domin.  venetienne 
ä  Crete  (Bibi,  des  ecoles  fran^.  d’Athenes  et  de  Rome  21  [1892]); 
Heyd,  a.  a.  0.  Vgl.  1.  Aufl.  1,  336  ff. 

Im  spanischen  Amerika  heißen  die  „Lehen“  encomiendas ,  die  zu¬ 
gehörige  Bevölkerung  repartiementos.  Am  ausführlichsten  handelt  über 
die  Encomiendas  Arth.  Helps,  The  Spanish  conquest  in  America 
3  (1857),  99  ff. ;  daselbst  (S.  135)  findet  sich  auch  die  berühmte 
Definition  des  repartiemento  nach  Ant.  de  Leon  (Confirmaciones  reales 
parte  I  cap.  I). 

In  den  ■portugiesischen  Kolonien  sprach  man  von  Kapitanien  und 
Sesmarias:  H.  Handelmann,  Gesch.  von  Brasilien  (1860),  47. 

Eine  besondere  Art  der  persönlichen  Verleihung  von  Vorrechten 
waren  die  sog.  Entdeckungsverträge.  Solche  Entdeckungsverträg» 
schlossen  die  Fugger,  die  Welser,  die  Ehinger  u.  a.  häufig  ab.  Eine 


Siebemmdzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolomalpolitik 


443 


ausführliche  Wiedergabe  eines  derartigen  Vertrages  findet  sich  bei 
K.  Häbler,  Geschichte  der  .Fuggers chen  Handlung,  56  ff.  Vgl.  ferner 
Herrn.  A.  Schuhmacher,  Die  Unternehmungen  der  Augsburg.  Welser 
in  Venezuela  usw.,  in  der  Hamburger  Festschrift  zur  Erinnerung  an 
die  Entdeckung  Amerikas  Bd.  II,  1892,  und  K.  Häbler,  Welser  und 
Ehinger  in  Venezuela,  in  der  Zeitschr.  des  Histor.  Ver.  für  Schwaben 
und  Neuburg,  1895,  S.  66  ff.,  und  von  demselben,  Die  überseeischen 
Unternehmungen  der  Welser  und  ihrer  Gesellschafter,  1903.  Dazu  die 
Kritik  von  Franz  Eulenburg  in  der  Historischen  Zeitschrift  1904, 
S.  104  ff.  Die  reiche  Literatur  über  die  Beziehungen  der  Welser  zu 
Venezuela  ist  zusammengestellt  von  Victor  Hantsch,  Deutsche 
Reisende  des  16.  Jahrhunderts,  im  4.  Hefte  des  I.  Bandes  der  Leipz. 
Studien  aus  dem  Gebiet  der  Geschichte  (1898),  17/18. 

Ganz  moderne  Privilegierungen  weist  die  Verwaltung  der  venetia- 
nisclien  Kolonien  im  15.  Jahrhundert  schon  in  großer  Fülle  auf. 
16.  März  1429  wird  dem  Petrus  Quirino  das  ausschließliche  Recht 
der  Alaungewinnung  auf  der  Insel  Kreta  auf  zehn  Jahre  übertragen. 
Noiret,  Doc.  ined.,  327/28;  20.  Juni  1465  desgl.  zur  Anlage  eines 
Bergwerks  auf  Kupfer,  Silber  oder  Golderze  dem  Nicolao  Genus. 
Noiret,  495/96;  3.  April  1480  desgl.  zur  Gewinnung  von  Nitrium 
unter  Gewährung  eines  Kredits  von  300  Duk.,  ib.  547 ;  16.  März  1445 
findet  eine  Versteigerung  des  zehnjährigen  Monopols  für  die  Gewinnung 
von  Alaun  statt,  ib.  410;  31.  Juli  1442  wird  dem  Thomas  Quirino 
und  seinen  Associes  das  Privilegium  zur  Einführung  des  Mastixbaums 
nach  Kreta  erteilt,  gleichzeitig  wird  ihm  für  die  nächsten  20  Jahre 
das  alleinige  Recht  zum  Anbau  von  Mastixbäxxmen  zugesprochen,  ib. 
402  •  24.  Juli  1428  wird  dem  Marcus  de  Zanono  für  die  nächsten  zehn 
Jahre  das  alleinige  Recht  zuerkannt,  Zuckerrohr  auf  der  Insel  Kreta 
zu  pflanzen,  ib.  324/25,  usw. 

2.  Die  zweite  staatliche  Maßnahme,  die  aller  Kolonialpolitik 
der  früheren  Zeit  ihr  eigentümliches  Gepräge  verlieh,  war  die 
Ausrüstung  der  Kolonisten  —  es  mochten  Einzelpersonen  oder 
Korporationen  sein  —  mit  einem  außerordentlich  starken 
militärischen  Apparat.  Wir  müssen  uns  alle  kolonialen 
Ansiedlungen  jener  Jahrhunderte  mit  Festungen  besetzt  vor¬ 
stellen,  in  denen  meist  eine  starke  Mannschaft  mit  reichlicher 
Munition  ihren  ständigen  Aufenthalt  hatte,  soweit  nicht  etwa  die 
Kaufleute  oder  Farmer  selber  die  Verteidigung  des  Forts,  das 
sie  allein  schützte,  unterhielten. 

Das  gilt  wiederum  gleichermaßen  von  den  italienischen  Kolo¬ 
nien  in  der  Levante  wie  von  denen  der  späteren  Zeit.  Um  nur 
ein  paar  beliebig  ausgewählte  Beispiele  herauszugreifen:  „Als 
sehr  bedeutend  müssen  wir  uns  nach  der  Schilderung  Giov. 
Bembos  die  venetianischen  Befestigungen  in  Tana  denken.  Es 
war  nämlich  nicht  bloß  das  von  den  Venetianern  bewohnte 
Quartier  in  der  Stadt  selbst  mit  Mauern  und  Türmen  umgeben, 


444 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


sondern  die  Yenetianer  besaßen  aucb  ein  eigenes  Kastell  mit 
zwei  Türmen  nnd  von  einem  großen  Graben  umgeben,  außerhalb 
der  Stadt  auf  einer  Anhöhe,  wohin  sie  sich,  wenn  die  Stadt  von 
einem  Feinde  angegriffen  wurde,  mit  ihrer  Habe  zurückziehen 
konnten.“  1  Und :  Die  holländische  Faktorei  in  Bengalen  „looks 
more  like  a  castle,  being  incompassed  with  deep  ditches,  full  of 
water,  high  stone  walls  and  bastions  faced  with  stone  and  mounted 
with  canon.  Their  spacious  warehouses  are  also  of  stone  and 
apartments  for  the  officers  and  merchants  are  large  and  com- 
modious“ 2. 

Die  holländisch  -  ostindische  Kompagnie  hielt  an  ständigen 
Truppen  (Anfang  des  18.  Jahrhunderts)  12000/  Mann  in  ihren 
indischen  Besitzungen,  während  100000  Einheimische  für  die 
Waffe  ausgebildet  waren,  um  gelegentliche  Verwendung  zw.  finden. 
Regelmäßig  mußten  die  großen  Kompagnien  auch  ihre  Kauffahrtei¬ 
schiffe  in  Kriegszustand  halten,  da  sie  ebenso  oft  als  Kriegs¬ 
schiffe  zu  dienen  hatten.  Die  Flotte  der  holländisch  -  indischen 
Kompagnie  bestand  aus  etwa  60  Seglern,  „fit  for  Service“,  mit 
je  30 — 60  Geschützen  ausgerüstet3 4 *. 

Die  Ausgaben  der  englisch- ostindischen  Kompagnie  für 
Zivil-  und  —  hauptsächlich!  —  Militärverwaltung  einschließlich 
Festungsbauten  in  der  Provinz  Bengalen  beliefen  sich  beispiels¬ 
weise  in  den  sechs  Jahren  von  1765 — 1771  auf  9  027  609 

Die  Stärke  der  militärischen  Besatzung  in  den  englischen 
Kolonien  während  des  18.  Jahrhunderts  ist  aus  folgenden  Ziffern 
ersichtlich  6 : 

Jamaica  (1734):  7644  weiße  Bevölkerung,  davon  3000  Mann  Be¬ 
satzung;  6  Forts; 

Barbados  (1734):  18295  weiße  Bevölkerung,  davon  4812  Mann 
Besatzung;  21  Forts;  26  Batterien  mit  463  Kanonen; 
Leeward  Islands  (1734):  10262  weiße  Bevölkerung,  davon 

militia  3772. 


1  Heyd,  2,  376.  2  P  o  s  tle  thway  t ,  Dict.  1,  241. 

8  Ohslow  Burrish,  Batavia  illustrata  (1728),  327.  Vgl.  das 

Kapitel  „Seeschiffahrt“  im  2.  Bande. 

4  Fourth  Report  .  .  .  on  Administration  of  Justice  in  India,  1773, 

p.  535,  bei  Dult,  Econ.  Hist,  of  India  3.  ed.,  1908,  p.  46. 

6  Bericht  des  Lord  Comm.  of  Trade  and  Plantat.  bei  Anderson, 
3,  203;  Im  Dict.  des  Postlethwayt  (1,  728)  findet  sich  eine  ge¬ 
naue  Übersicht  über  den  Bestand  an  Forts,  Ausrüstung,  Munition, 
Besatzung  usw.  an  der  afrikanischen  Küste. 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel:  Die  Kolonialpolitik 


445 


3.  Die  Hauptsache  war  aber  doch,  daß  die  Staaten,  die 
Kolonien  gründeten,  ihre  Machtmittel  dafür  einsetzten,  daß  die 
Arbeit,  die  in  diesen  Kolonien  von  einheimischen  oder  fremden 
Arbeitern  zu  verrichten  war ,  und  auf  deren  Ausnutzung ,  wie 
Colon  sehr  richtig  erkannte,  als  er  Amerika  entdeckt  hatte,  aller 
Wert  der  Kolonien  beruhte1:  daß  die  Arbeit  in  der  Form  der 
Zwangsarbeit  vom  Gesletze  anerkannt  wurde,  das  heißt  also,  daß 
die  Sklaverei  in  irgendeiner  Gestalt  als  Arbeitssystem  zu¬ 
gelassen  war.  Auf  Sklaverei  (oder  Hörigkeit)  ruhte  die  Kolonial¬ 
wirtschaft  der  Italiener  in  der  Levante  ebenso  wie  die  der 
Spanier,  Portugiesen,  Franzosen,  Holländer  und  Engländer  in 
Afrika,  Amerika  und  Asien.  Über  diese  ist  das  nötige  zu  sagen 
in  dem  47.  Kapitel,'  das  von  der  Kolonial  Wirtschaft  handelt 
und  als  eine  Ergänzung  der  hier  gemachten  Ausführungen  anzu¬ 
sehen  ist. 

1  „Los  Indias  desta  isla  espaäola  eran  y  son  la  riqueza  della“ : 
Memorial  aus  dem  Jahre  1505. 


446 


Achtundzwanzig’stes  Kapitel 

Staat  und  Kirche 

Vorbemerkung.  Literatur 

Durch  das  jeweils  verschiedene  Verhalten  der  Staatsgewalt  den 
Religionsgemeinschaften  und  Religionsbekenntnissen  gegenüber  sind 
eigenartige  Bedingungen  für  die  Entfaltung  des  kapitalistischen  Wbsens 
geschaffen  worden,  weshalb  es  notwendig  wird,  die  Beziehungen  zwischen 
Kirche  und  Staat,  wie  sie  seit  dem  Ausgange  des  Mittelalters  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  oder  zum  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  sich 
gestaltet  haben,  in  den  Grundzügen  hier  darzulegen.  (Die  Bedeutung 
der  religiösen  Überzeugung  für  das  Wirtschaftsleben  ist  dagegen 
in  einem  ganz  andern  Zusammenhänge  zu  würdigen.  Siehe  die  ein¬ 
schlägigen  Kapitel  in  meinem  „Bourgeois“,  wo  ich  eine  solche  Würdigung 
versucht  habe.)  Die  Beziehungen  des  Staates  zur  Kirche  üben  nun  aber, 
zumal  in  der  von  uns  überblickten  Zeitspanne,  auf  die  Gestaltung  des 
Wirtschaftslebens  vor  allem  dadurch  einen  bestimmenden  Einfluß  aus, 
daß  sie  über  die  Duldung  oder  Ausschließung  der  verschiedenen  Re¬ 
ligionsgemeinschaften  innerhalb  des  Staatsgebietes  entscheiden.  Was 
wir  also  hauptsächlich  zu  verfolgen  haben ,  ist ,  abgesehen  von  der 
tatsächlichen  Verbreitung  der  verschiedenen  Religionssysteme  über  die 
,  Kulturvölker,  die  Herrschaft  des  Toleranz-  oder  Intoleranz prinzips  in 
den  einzelnen  Ländern  zu  den  verschiedenen  Zeiten.  Unter  diesem 
Gesichtspunkt  wähle  ich  aus  der  großen  Literatur  auch  die  wich¬ 
tigsten  Werke  aus. 

Das  Problem  der  religiösen  Toleranz  unter  geschichtlichem 
Gesichtspunkte  versuchen  in  ganz  allgemeinem  Zusammenhänge  zu  be¬ 
handeln  die  Bücher  von  Franc.  Ruff  in  i,  La  libertä  religiosa.  Vol.  I. 
Storia  dell’  idea.  1901,  und  von  Amadee  Matagrin,  Histoire  de 
la  tolerance  religieuse,  1905 ;  beides  gute  Arbeiten,  die  aber  doch  das 
Thema  -keineswegs  erschöpfen :  dazu  ist  die  Fragestellung  eine  zu  vor¬ 
wiegend  literarische.  Eine  Skizze  ist  die  Darstellung  bei  Jules 
Simon,  La  liberte.  2  ed.  1859.  partie.  In  mehr  philosophierender 
und  räsonierender  Weise  behandelt  das  Problem  W.  E.  H.  Lecky, 
History  of  the  rise  and  influence  of  the  spirit  of  Rationalism  in  Europe. 
Deutsch.  2  Bde.  1868.  Mehr  vom  dogmatischen  als  vom  historischen 
Standpunkt  aus  erörtert  das  Problem  Ernst  TroeltscÜ,  Die  Sozial¬ 
lehren  der  christlichen  Gruppen  und  Kirchen.  1912.  Einen  Überblick 
geben  die  Art.  „Toleranz“  in  der  Prot.  Real.-Enc.  (Verf.  Friedberg) 
und  in  Wetz  er s  und  Weltes  Kirchenlexikon.  Bd.  11.  (Katholisch.) 

Für  das  Studium  des  wirklichen  Verlaufs  der  Dinge  ist  man 
immer  noch  auf  die  monographischen  Bearbeitungen  des  Gegenstandes 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche 


447 


für  die  einzelnen  Länder  angewiesen.  Diese  findet  man  in  jedem  all¬ 
gemeinen  Geschichtswerke  sowie  in  jeder  Kirchengeschichte.  Aus  der 
Spezialliteratur  seien  folgende  Schriften  genannt: 

Frankreich:  Gottl.  von  Pole nz,  Geschichte  des  französischen 
Calvinismus.  5  Bde.  1857  ff.  (nur  bis  1629  geführt).  Theod.  Schott, 
Die  Aufhebung  des  Edikts  von  Nantes  usw.  1885.  Th.  Buckle, 
Hist,  of  Civil.  1.  Vol.  Ch.  8 — 14;  das  Werk  von  Matagrin. 

Spanien:  E.  Schäfer,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Protestantis¬ 
mus  und  der  Inquisition  im  16.  Jahrhundert.  3  Bde.  (Bd.  II  u.  III 
Urkunden).  1902.  Das  vortreffliche  Werk,  das  auf  gründlichen  Quellen¬ 
studien  beruht,  enthält  in  der  Einleitung  einen  kritischen  Überblick 
über  die  einschlägige  Literatur.  In  ihr  hat  jahrzehntelang  eine 
herrschende  Stellung  eingenommen  Don  Juan  Ant.  Llorentes 
Historia  critica  de  la  Inquisicion  de  Espafia,  die  zuerst  1817  in 
französischer  Sprache  erschien  und  dann  oft  aufgelegt  und  in  viele 
fremde  Sprachen  übersetzt  ist:  deutsch  1820 — 22.  4  Bde.  Das  Werk 
hat  lange  Zeit  als  eine  objektiv  quellenmäßige  Darstellung  gegolten, 
ist  aber  heute  doch  als  stark  tendenziös  erkannt:  siehe  darüber 
Schäfer,  a.  a.  0.  1,  24  ff.  Zu  vergleichen  aus  der  nicht-zünftigen 
Literatur  ist  noch  Th.  Buckle,  1.  c.  2.  Vol.,  Ch.  I. 

Encßand  und  die  englischen  Kolonien:  Th.  Buckle,  1.  c.  1.  Vol. 
Ch.  7  und  2.  Vol.  Ch.  II — VI  (Schottland).  James  S.  M.  Ander¬ 
son,  The  History  of  the  Church  of  England  in  the  Colonies.  2.  ed. 
3  Vol.  1856  (sehr  brauchbar).  Zur  Ergänzung  dient  Sanford  H. 
Cobb,  The  rise  of  religious  liberty  in  America.  1902-  Über  den 
Puritanismus  insbes.  Dougl.  Campbell,  The  Puritan  in  Holland, 
England  and  America.  2  Vol.  1892.  Ezra  Hoyt  Byington,  The 
Puritan  in  England  and  New  England.  1906:  beides  in  ihrer  Art  vor¬ 
treffliche  Darstellungen.  Oft  ist  man  aber  doch  noch  heute  genötigt, 
zurückzugreifen  auf  das  Werk  von  Neal,  History  of  the  Puritan. 
5  Vol.  1822.  Einen  guten  Gesamtüberblick  gibt  jetzt  Henry  W. 
Clark,  Hist,  of  Engl,  nonconformity.  2  Vol.  1911/13. 

Holland:  Dougl.  Campbell,  1.  c.  L  o  uis  Ulb  a  c  h,  La  Hollande 
et  la  liberte  de  penser  aux  XVII  et  XVIII  sc.  1884.  Der  Band  enthält 
drei  Preisschriften,  die  alle  drei  ziemlich  dürftig  und  phrasenhaft  sind. 

Deutschland:  H.  Landwehr,  Die  Kirchenpolitik  Friedrich  Wil¬ 
helms,  des  Großen  Kurfürsten.  Auf  Grund  archivalischer  Quellen.  1894. 
L.  Keller,  Der  Große  Kurfürst  und  die  Begründung  des  modernen 
Toleranzstaates.  1901,  in  dem  Sammelwerk:  Der  Protestantismus  am 
Ende  des  19.  Jahrh.,  hrsg.  von  Pastor  C.  Werckskagen.  Bd.  I, 
S.  229  ff.  (eine  vorzügliche  Arbeit).  G.  Pariset,  L’Etat  et  les 
Eglises  en  Prusse  sous  Frederic  Guillaume  I  (1713—1740).  1897 

(behandelt  hauptsächlich  die  kirchliche  Organisation).  C.  F.  Arnold, 
Die  Ausrottung  des  Protestantismus  in  Salzburg  unter  Erzbischof 
Firmian  und  seinen  Nachfolgern.  2  Bde.  1900 — 1901  (Schriften  zur 
Keformationsgeschichte  Schrift  67  und  69).  Vgl.  auch  O.  Hintze, 
Die  Epochen  des  evangelischen  Kirchenregiments  in  Preußen.  Hist. 
Zeitschr.  Bd.  97  (1906,  S.  67  ff. 


448 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Ferner  gehört  hierher  die  Sektengeschichte  und  die  Lite¬ 
ratur  über  die  Emigranten,  die  ich  aber  in  anderm  Zusammen¬ 
hänge  anführe. 

Die  Stellung  der  Juden  ist  in  meinem  Buche :  Die  Juden  und 
das  Wirtschaftsleben  (1911)  erörtert. 


I.  Die  Steigerung  der  Intoleranz 

Der  Geist  der  Duldsamkeit,  der  uns  aus  den  Sitten  der  Re¬ 
naissance  entgegenweht,  hatte  doch  nur  die  wenigen  feinen  und 
gebildeten  Geister  gestreift:  er  war  nicht  eingedrungen  in  die 
Massen,  er  hatte  aber  auch  diejenigen  Mächte  noch  nicht  er¬ 
griffen,  von  denen  die  äußeren  Formen  des  menschlichen  Zu¬ 
sammenlebens  geschaffen  werden.  Er  verflog  wie  ein  Hauch,  er 
zerfloß  wie  eine  Wolke  am  Himmel. 

Die  Zeit  des  Toleranzgedankens  war  noch  nicht  erfüllt. 
Es  war  als  sollte  sich  der  Geist  der  Unduldsamkeit  erst  noch 
einmal  recht  ausleben,  ehe  er  aus  der  Geschichte  verschwände. 
Die  Entwicklung  der  Staaten  gerade  auch  durch  das  Walten  der 
Kräfte,  die  in  der  Renaissance  zum  Leben  erwacht  waren,  drängte 
zunächst  noch  auf  die  Verschärfung  der  religiösen  Intoleranz 
hin.  Die  Anfänge  dieser  Entwicklung  liegen  schon  in  den  Jahr¬ 
hunderten  des  Spätmittelalters:  die  Reformation  brachte  dann 
alle  Keime  zur  vollen  Entfaltung. 

Was  den  Grund  für  die  zunehmende  Intoleranz  abgeben 
mußte,  war  zunächst  das,  was  wir  als  die  Verweltlichung  der 
Staaten  bezeichnen  können,  die  logischerweise  zur  Aufrichtung 
eines  Staatskirchentums  führen  mußte.  „Das  frühere  Ver¬ 
hältnis  zwischen  der  Kirche  und  dem  weltlichen  Arm  verkehrte 
sich  ins  Gegenteil;  die  Religion  hatte  als  wertvolles  instrumentum 
regni  ihre  Kräfte  in  den  Dienst  der  Politik  zu  stellen“ :  das  war 
die  einfache  Konsequenz  der  Idee  von  der  Absolutheit  der 
Fürstengewalt:  wenn  einmal  die  ganze  Ordnung  dem  Landes¬ 
herrn  anvertraut  war,  so  konnte  ihm  die  Ordnung  der  kirchlichen 
Angelegenheiten  nicht  vorenthalten  werden.  Kirchengebiet  und 
Staatsgebiet  fielen  nun  zusammen,  ebenso  wde  Kirchengewalt  und 
Staatsgewalt,  wie  das  Kirchliche  und  Politische  sich  in  dem 
Begriff  einer  christlichen  Gesellschaft  vereinigte. 

Es  ist  bekannt,  daß  diese  Bewegung  etwa  seit  dem  zweiten 
Drittel  des  14.  Jahrhunderts  zunächst  in  Spanien  und  Frankreich 
sowie  in  einigen  städtischen  Territorien  Deutschlands  eingesetzt 
hatte.  Und  man  weiß  ebenso,  daß  sie  außerordentlich  verstärkt 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  449 

und  belebt  und  recht  eigentlich  erst  zum  Ziele  geführt  wurde 
durch  die  Vorgänge  der  kirchlichen  Reformation :  das  Luthertum 
drängte  mit  innerer  Notwendigkeit  zum  Landeskirchentum  hin1. 

Aus  dem  Kirchentypus,  der  die  Luthersohe  Lehre  kennzeichnet, 
ergao  sich  die  Uniformität/»  Einheit /und  allgemeine  Herrschaft 
dei  Kirche ,  die  bei  der  Unmöglichkeit  einer  europäischen  oder 
deutschen  Gesamtreform  schließlich  in  die  Aufrichtung  einheit¬ 
licher  Landeskirchen  ausmündete.  „Sein  —  des  Luthertums  — 
Fundament  ist  überall  der  Gedanke  einer  kirchlichen,  von  reli¬ 
giösen  Ideen  zwangsmäßig  beherrschten  Kultur  ...  So  bleibt 
das  Zentrum  seiner  Soziallehren  doch  überall  der  Begriff  der 
Staatskirche.“ 

Trägt  nun  alles  Landeskirchentum  an  sich  schon  den  Keim 
zur  Intoleranz  in  sich 2,  so  wurde  diese  zu  rascher  Entwicklung 
gebracht  durch  die  Gestaltung,  die  die  religiösen  An¬ 
schauungen  selber  während  des  16.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts  erfuhren.  Was  da  an  neuen  Glaubensgemeinschaften 
erwachsen  war,  war  von  einer  harten  Unduldsamkeit  erfüllt :  eine 
mehr  wie  die  andere.  Und  im  Kampf  mit  den  Häretikern  gewann 
der  Katholizismus  natürlich  auch  wieder  an  Unversöhnlichkeit  und 
Sprödigkeit :  Calvin  und  Ignatius  von  Loyola  stellen  zwei  Seiten 
derselben  Sache  dar. 

Dem  Luthertum  hatte  vielleicht  in  seinen  Anfängen,  seinem 
innern  Wesen  entsprechend,  eine  Tendenz  zur  Toleranz  inne¬ 
gewohnt:  Luther  erwartete,  daß  die  Macht  des  Wortes  die 
Universalität  des  Bekenntnisses  herbeiführen  werde.  Da  diese 
Hoffnung  aber  getäuscht  wurde,  so  mußte  auch  er  zu  Zwangs¬ 
maßregeln  greifen,  die  er,  wie  die  katholische  Kirche,  nicht  durch 
die  Kirche,  sondern  durch  den  Staat  ausüben  ließ.  Die  Kultur 
des  Protestantismus  wurde  ebenso  eine  „Zwangskultur“  (E. 
Troeltsch)  wie  die  mittelalterliche.  Und  so  forderte  Luther 
schließlich  die  Beseitigung  aller  die  Ordnung  des  christlichen 
Gemeinwesens  störenden  Häresien  mit  Gewalt  durch  die  Obrig¬ 
keit.  „Was  den  Rebellen  bestraft  und  gewaltsam  beseitigt,  ist 
nicht  die  Kirche  als  solche,  sondern  das  aus  ihr  folgende  Ideal 
einer  universalen  Herrschaft  der  absoluten  und  allein  selig- 

1  Das  ist  unlängst  wieder  mit  feinem  Verständnis  aus  dem  Wesen 
der  Lutherschen  Lehre  abgeleitet  worden  von  E.  Troeltsch/  a.  a.  0. 
S.  516  f.  und  öfters. 

2  Siehe  die  feinsinnigen  Bemerkungen  von  C.  B.  Hundeshagen, 
a.  a.  0. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


Zweiter  Abschnitt:  t)er  Staat 

machenden  Wahrheit  über  die  Gesellschaft,  der  absolutistisch- 
objektive  Wahrheitsbegriff  und  die  von  ihm  getragene  allgemeine 

christliche  Gesellschaftsidee.“1 2  .  .  , 

Diese  selben  Anschauungen,  nur  um  einige  Nuancen  dusteiei, 
finden  wir  dann  bei  den  übrigen  protestantischen  Glaubens¬ 
gemeinschaften  wieder:  mit  fürchterlichem  Ernst  vertritt  die 
Idee  der  Strenggläubigkeit  und  damit  der  völligen  Unduidsa 
keit  Calvin.  Nachdem  er  Mich.  Servet  wegen  dogmatischei  Drtt 
renzen  hatte  verbrennen  lassen,  verteidigte  _  er  sein  Vorgehen  m 
einer  Schrift '  (1 554) :  „ubi  ostenditur  haereticos  jure  gladn  coei 

Und  Calvinscher  Geist  lebte  ja  dann  in  den  Puritanern  weiter . 
sie  lehnen  jedes  Entgegenkommen  gegen  Andersgläubige  grün  - 
sätzlich  ab:  „A  toleration  is  the  grand  design  of  the  devil,  his 
master  piece  and  chief  engine  he  works  by  at  this  time  to  up- 
hold  his  tottering  Kingdome ;  the  most  compendious,  ready,  suie 
way  to  destroy  all  religion  lay  all  waste  and  m  bring  all  evi  . . . 

Ebenso  ist  für  John  Knox  die  Ketzerei  em  mit  der  Todes¬ 
strafe  zu  belegendes  Verbrechen. 

Wie  dann  auch  der  staatlich  approbierte  Protestantismus  m 
England  um  jene  Zeit  durch  seine  offiziellen  Vertreter  die  Un¬ 
duldsamkeit  verfechten  ließ:  „Liberty  of  conscience  heißt  es  m 
einer  Streitschrift  eines  Hochkirchlers  aus  dem  Jahre  1081,  „is 
an  instrument  of  mischief  and  dissettlement  .  to  stnve  tor 
toleration  is  to  contend  against  all  government. 

Diese  letzten  Worte  weisen  uns  aber  noch  auf  einen  andern 
Umstand  hin,  der  die  schroffe  Unduldsamkeit  dieses  Zeitalters 
uns  erklärlich  macht.  Es  scheint  fast,  als  ob  die  Glaubensgegen¬ 
sätze  allein,  so  sehr  wir  verstehen,  wie  ihr  Austrag  die  Geis  er 
zum  Fanatismus  aufstacheln  mußte,  doch  nicht  stark  genug  ge¬ 
wesen  wären,  um  die  langen  und  erbitterten  Kämpfe  herbeizu¬ 
führen,  von  denen  alle  Länder  im  16.  und  17.  Jahrhundert  eifia  t 
sind.  Als  ob  erst  die  Verschlingung  der  religiösen  mit  den 
politischen  Interessen  jene  ungeheure  dynamische  Wirkung 
hätte  ausüben  können.  Denn  das  ist  ja  jedenfalls  das  Kennzeichen 
dieser  Jahrhunderte:  daß  sich  m  den  Keligionskampfen  auch 
immer  erbitterte  politische  Gegner  gegenüberstehen;  wie  denn 
auch  umgekehrt  alle  großen  politischen  Bewegungen  jener  Zeit 

1  E.  Troeltscli,  a.  a.  0.  S.  472.  ,1ß.rv 

2  Aus  der  bekannten  Streitschrift  Edwards:  Gangraena  (164u), 

121;  zit.  bei  Anderson,  Ckurch  2,  233. 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  451 

einen  religiösen  oder  kirchlichen  Charakter  tragen  h  Wir  können 
uns  gar  nicht  vorstellen,  daß  ein  Mann  wie  Richelieu  soviel 
Feindschaft  gegen  eine  reine  Religionsgemeinschaft  gehabt  haben 
sollte,  wie  er  in  der  Niederwerfung  der  Hugenotten  offenbarte, 
hätte  er  in  diesen  nicht  vor  allem  die  aufrührerische,  in  starken 
Plätzen  zum  Widerstand  vereinigte  politische  Partei  bekäiüpft: 
„ce  furent  lä  les  citadelles  de  cet  Etat  dans  l’Etat  que  redoutait 
Richelieu.“ 

Wie  denn  gleicherweise  die  Spannungen  zwischen  Protestanten 
und  Katholiken  in  Deutschland,  zwischen  Episkopalen  und  Pres¬ 
byterianern  in  England  niemals  jene  Stärke  hätten  annehmen 
können,  wären  die  Parteien  nicht  ebenso  sehr  nach  politischen 
wie  nach  religiösen  Anschauungen  gebildet  worden. 

Aber  wo  die  Intoleranz  ihre  Wurzeln  hatte,  war  am  Ende 
für  die  Wirklichkeit  des  Lebens  gleichgültig :  für  diese  war  ent¬ 
scheidend,  daß  zwei  Jahrhunderte  lang  die  Politik  der  Staaten 
darauf  eingestellt  war:  eine  Religionsgemeinschaft  —  die  an¬ 
erkannte  Staatskirche  —  zur  alleinherrschenden  zu  machen  und 
demgemäß  allen  Häretizismus  zu  unterdrücken  und  die  Häre¬ 
tiker,  wenn  nicht  zu  verbrennen,  so  doch  zur  Auswanderung  zu 
zwingen. 

So  lautete  das  Programm  der  katholischen,  so  das  der  pro¬ 
testantischen  Staaten. 

Spanien  war  mit  dieser  Politik  vorangegangen :  hier  hatte  das 
Inquisitionstribunal  zuerst  seine  Wirksamkeit  entfaltet;  hier  war 
die  Ausschließung  der  Andersgläubigen  am  rücksichtslosesten 
erfolgt:  im  Mutterlande,  wie  auch  vor  allem  in  den  nieder¬ 
ländischen  Besitzungen. 

In  Frankreich  beginnt  die  Gegnerschaft  gegen  die  Protestanten 
unter  Franz  I.,  der  anfangs  unter  dem  Einfluß  seiner  Schwester 
Katharina  von  Navarra  mit  den  Reformatoren  sympathisiert  hatte. 
Aber  seit  1535  wird  die  Ära  der  Verfolgungen  eröffnet,  die  sich 
nun  anderthalb  Jahrhunderte  mit  kurzen  Unterbrechungen  fort¬ 
setzen;  noch  unter  Franz  I.  werden  im  Kampf  mit  den  Vaudois 
3000  Menschen  getötet,  Städte  und  Dörfer  verbrannt,  so  daß 
Voltaire  seine  Schilderung  mit  den  Worten  schließen  konnte: 
„la  contree  demeura  deserte  et  la  terre,  arrosee  de  sang,  -  reste 
sans  culture.“  Dann  kam  (unter  Heinrich  II.)  die  Inquisition 

1  H.  Delbrück,  Über  den  politischen  Charakter  der  englischen 
Kirchenspaltung  im  17.  Jahrhundert,  in  der  Histor  Zeitschr.  Bd.  36; 
wieder  abgedruckt  in  den  „Aufsätzen“  1887.  ' 

Z9* 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


452 

ins  Land;  1548  eröffnet  die  Chambre  ardente  ihre  Sitzungen; 
1559  ergeht  das  Edikt  von  Ecouen,  das  die  Richter  zwingt,  jeden 
Lutheraner  wegen  seines  bloßen  Bekenntnisses  zum  Tode  zu 
verurteilen.  Die  Zeit  Heinrichs  IV.  bedeutet  nichts  als  einen 
kurzen  Waffenstillstand  in  diesem  Kampf  auf  Leben  und  Tod, 
der  unter  Richelieu  und  Ludwig  XIV. ,  nicht  zuletzt  aus  poli¬ 
tischen  Gründen :  innerpolitischen,  wie  wir  sahen,  aber  auch  aus 
kirchenpolitischen  Gründen1,  seinen  Höhepunkt  erreicht:  1681 
beginnen  die  Dragonaden,  die  Aufhebung  des  Edikts  von  Nantes 
(1685)  schließt  die  Reihe  der  Maßregeln,  die  den  Protestantismus 

in  Frankreich  ausrotten  sollen,  ab. 

In  j England,  wo  die  Reformation  seit  1582  ihren  Einzug  ge¬ 
halten  hatte,  sind  die  A^ts  of  Supremacy  and  Conformity  (1558/59) 
und  die  39  Artikel  (1562)  die  ersten  Schritte  zur  Konsolidierung 
der  Staatskirche,  gegen  die  sich  alsobald  die  Dissenters  erheben: 
in  die  Jahre  1563/64  müssen  wir  die  Entstehung  der  Puritaner 
ansetzen  (von  denen  sich  Ende  der  1570  er  Jahre  die  —  später 
Independents  genannten  —  Brownists  ablösen);  in  das  Jahr  1567 
fällt  das  erste  Vorgehen  gegen  die  Non-Conformists 2 *,  als  mehr 
als  200  Personen  während  des  Gottesdienstes  in  Plumners  Hall 
verhaftet  werden.  Die  Exkommunikation  der  Elisabeth  (1569) 
gibt  andererseits  Anlaß  zu  scharfen  Gesetzen  gegen  die  Katho¬ 
liken8.  Die  Gegensätze  zwischen  der  Hochkirche  und  den  Dis¬ 
senters  spitzen  sich  nun,  wie  bekannt,  unter  den  Stuaits  immei 
mehr  zu:  die  Wirksamkeit  der  Westminster  Assembly  of  Divines 
(seit  1643) 4  ist  ein  deutlicher  Ausdruck  ihrer  Schärfe ; .  steigern 
sich  während  der  Zeit  des  Commonwealth  noch  weiter  und 
bleiben  dieselben  während  der  Restauration:  1664  wird  noch  ein 
Gesetz  erlassen,  das  alle  über  16  Jahre  alten  Personen  mit  Ge¬ 
fängnis  oder  Verbannung  bestraft,  die  einem  andern  als  dem  hoch¬ 
kirchlichen  Gottesdienste  beiwohnten5 *. 

Mit  Verbannung  werden  die  Ketzer  bestraft:  mit  Verbannung 

i  C’est  moins  peut-etre  par  le  fanatisme  de  la  cour  de  Louis  XIV 
que  par  les  scrupules  du  roi ,  luttant  alors  contre  la  papaute  pour 
PEglise  gallicane,  qu’il  faut  expliquer  le  paroxisme  de  persecutions 
qui  preceda  la  revocation  de  l’edit  de  Nantes.“  Michele t,  Hist.de 

France  t.  XII  p.  245. 

a  Hallarn,  Const.  Hist.  1  (1827),  246. 

8  Abgedruckt  ebenda  1,  185  seq. 

4  Anderson,  Church  1,  425 — 428. 

5  Vgl.  noch  H.  Levy,  Die  Grundlagen  d.  ökon.  Liberalismus,  in 

der  Gesch.  der  engl.  Volkswirtschaft  (1912),  8  ff. 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  453 

in  die  Kolonien,  in  denen  —  teilweise  wenigstens  —  die  Non- 
Conformisten  Buhe  fanden:  1617/1019  waren  die  nach  Holland 
geflüchteten  Puritaner  nach  Amerika  gekommen  und  hatten  hier, 
auf  Grund  einer  von  der  Virginia  Co.  ihnen  gewährten  Charter, 
die  Kolonie  Massachusetts  gegründet,  nach  deren  Muster  dann 
später  Connecticut,  Long  Island  und  andere  „Neu -England-“ 
Staaten  sich  bildeten.  Hier  also  fanden  die  aus  England  ver¬ 
triebenen  Ketzer  Unterkunft,  und  hier  konnten  sie  nun  selbst 
all  die  Intoleranz  ausüben,  unter  der  sie  vorher  gelitten  hatten : 
die  Neu-Englandstaaten  wurden  die  unduldsamsten  Staaten,  die 
es  gegeben  hat.  Mit  grausamer  Härte  wurden  alle  Bichtungen 
verfolgt,  die  nicht  den  Presbyterianismus  vertraten.  So  ver¬ 
bannen  die  Gesetze  von  1652  und  1657  die  Quaker:  diese  Cursed- 
sect,  deren  Anhänger,  wo  sie  betroffen  werden,  mit  dem  Tode 
zu  bestrafen  sind  1. 

In  andern  englischen  Kolonien,  in  denen  die  Hochkirche  die 
anerkannte  Staatskirche  war,  wurden  ebenso  wie  im  Mutterlande 
die  Dissenters  verfolgt.  So  in  Virginia,  wo  im  Jahre  1631  ein 
Act  der  General  Assembly  verfügt:  „that  theire  bee  a  uniformitie 
throughout  this  colony  both  in  substance  and  circumstances  to 
the  canons  and  Constitution  of  the  Church  of  England  as  neare 
as  may  bee“  2,  daher  Feindschaft  gegen  die  Puritaner,  die  an¬ 
fangs  freundlich  aufgenommen  werden,  und  schließlich  ein  Gesetz, 
das  die  Ausweisung  aller  Non-Conformists  verfügt3. 

In  Deutschland  erleben  wir  dasselbe  Schauspiel.  Hier  gehen 
die  Städte  mit  scharfen  Erlassen  gegen  die  Unkirchlichkeit  und 
Häresie  voran:  eine  unmittelbare  Wirkung  des  immer  mehr  um 
sich  greifenden  Gedankens  des  Landeskirchentums. 

Schon  1531  wird  im  Vorwort  zu  der  0.  für  das  lübeckische 
Landgebiet  als  Pflicht  der  Obrigkeit,  deren  Versäumnis  göttliche 
Strafgerichte  über  sie  herabziehen  müsse,  die  Sorge  für  die  Reinheit 
der  Lehre  und  des  Kultus  hingestellt.  Ae  in.  L.  Richter,  Die 
evangelischen  Kirchenordnungen  des  16.  Jahrhunderts  (2  ßde.  1846) 
1,  149  ff.  Im  gleichen  Jahre  geht  die  Kirchen-O.  der  Stadt  Goslar 
mit  der  Strafe  der  Landesverweisung  gegen  Zwinglische  und  wieder- 
täuferische  Lehren  im  Namen  von  „Bürgermeister,  Rathmannen,  Gilden 
und  Gemeinde“  vor.  Richter  1,  154.  Nach  der  Straßburger  Kirchen- 
0.  von  1534  haben  die  „Kirchspielpfleger“  im  Namen  des  Magistrats 
Wachsamkeit  zu  üben  gegen  Abweichungen  von  der  Augsburgischen 
Konfession,  ferner  über  Kirchenbesuch  und  Teilnahme  am  Abendmahle. 


1  Anderson,  Church  2,  211  seq.  Vgl.  2,  157  ff.  175  ff.  210  ff. 

2  Anderson,  1.  c.  1,  462.  3  Anderson,  1.  c,  2,  7  ff. 


454 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


A.  a.  0.  1,  231.  237.  Ebenso  lauten  die  Bestimmungen  in  andern 
städtischen  Kirchenordnungen. 

Aber  auch  die  Fürstentümer  blieben  nicht  zurück. 

Bereits  1527  sieht  es  der  Herzog  von  Liegnitz  als  seine  Ver¬ 
pflichtung,  und  zwar  bei  Vermeidung  des  göttlichen  Zorns,  an,  „in 
dem  was  das  Seelenheil  anbetrifft,  allen  Fleiss  fürzuwenden,  dass 
seine  Untertanen  mit  dem  reinen,  klaren  Worte  des  heiligen  Evan¬ 
geliums  .  .  .  versorget  werden“.  A.  a.  0.  1,  247  f.  Ähnliche  Worte 
enthalten  die  Kirchenordnungen  von  Hessen,  Württemberg,  Braun¬ 
schweig  u.  a.  A.  a.  0.  Bd.  II.  Im  Chursächsischen  Generalartikel 
von  1557  heißt  es:  „wo  einer  oder  mehr  anders  lehren  .  .  .  der  oder 
dieselbigen  sollen  in  seiner  Churf.  Gn.  Landen  länger  nicht  geduldet, 
sondern  nach  Gelegenheit  des  Irrtums,  Verführung  und  Verwirkung 
in  gebührliche  Strafe  genommen  werden.“  Vgl.  auch  noch  C.  B. 
Hundeshagen  a.  a.  0. 

Im  engen  Zusammenhänge  mit  der  Steigerung  des  religiösen 
Empfindens  in  der  Christenheit  steht  die  feindselige  Behandlung, 
die  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  die  Juden  in  ver¬ 
schiedenen  Ländern  wieder  einmal  zu  erdulden  haben.  Sie  werden 
aus  Spanien  (1492  ff.),  Portugal  (1497),  aus  verschiedenen  deutschen 
und  italienischen  Städten  (im  15.  und  16.  Jahrhundert)  vertrieben. 

Daß  diese  Politik  der  Unduldsamkeit  und  der  Verfolgung, 
wie  wir  sie  alle  Staaten  während  der  Zeit  der  Gegenreformation, 
in  der  der  Kapitalismus  in  starker  Entwicklung  sich  befand,  be¬ 
folgen  sehen,  auf  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  einen 
bestimmenden  Einfluß  ausüben  mußte,  läßt  sich  von  vornherein 
annehmen  und  wird  von  mir  im  weiteren  Verlauf  dieser  Darstellung 
je  an  der  geeigneten  Stelle  nachgewiesen  werden.  Hier  will 
ich  nur  die  Richtungen  andeuten,  in  denen  wir  vornehmlich  die 
Wirkungen  der  Litoleranz  suchen  müssen.  Ich  denke,  diese 
Wirkungen  sind : 

1.  innerlicher  Natur:  das  religiöse  Empfinden  wird  auf 
das  äußerste  gesteigert;  der  religiöse  Fanatismus  erlebt  seine 
vielleicht  stärkste  Ausbildung.  Im  Gegensatz  der  verschiedenen 
Dogmen  untereinander  schärft  sich  aber  auch  der  Sinn  für  die 

o 

feinerenNuancen  des  religiösen  Erlebnisses:  wir  beobachten  nament¬ 
lich  in  England  eine  wucherische  Entfaltung  der  Sektenbildung : 
zum  Teil  als  unmittelbare  Folge  des  äußeren  Kampfes  der  ver¬ 
schiedenen  Religionsgemeinschaften.  Die  englischen  Sekten  sind 
vornehmlich  in  den  Anfängen  des  Bürgerkrieges  entstanden,  als 
Reaktion  gegen  das  Verhalten  des  Langen  Parlaments  und  der 
Assembly  of  Divines :  als  der  alte  Kultus  beiseite  geschoben,  ein 
neuer  aber  noch  nicht  fertig  war:  „during  which  time,  no  wonder 


* 


Achtmi (Zwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  455 

sects  and  divisions  arrived  to  such  a  pitch  that  it  was  not  in 
their  power  afterwards  to  destroy  them.“ 1 

Die  Wirkungen  der  Intoleranz  sind: 

2.  äußerlicher  Natur.  Solcher  können  wir  —  allgemeiner 
Natur  —  vornehmlich  drei  verfolgen,  die  von  allergrößter  Be¬ 
deutung  für  die  Entwicklung  des  Kapitalismus  geworden  sind  : 

a)  das  Ketzertum  als  soziale  Erscheinung; 

b)  die  Wanderungen  von  Land  zu  Land,  zu  denen  die  Ketzer 
gezwungen  wurden ; 

c)  die  Kriege,  zu  denen  die  Religionsstreitigkeiten  während 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  in  allen  Ländern  den  Anlaß 
boten. 

Zu  ihnen  gesellt  sich  ein  für  England  besonders  wichtiges 
Ereignis : 

d)  die  Aufhebung  der  Klöster  und  die  Einziehung  des  Kirchen¬ 
gutes  unter  Heinrich  VIII. 

H.  Die  Entwicklung  des  Toleranzgedankens 

In  derselben  Zeit,  in  der  die  Menschen  sich  wegen  nichtiger 
Unterschiede  im  Bekenntnis  zu  Gott  zerfleischten,  glomm  der 
Gedanke  der  Toleranz  unter  der  Asche  weiter,  bis  er  end¬ 
lich  zur  Flamme  emporschlug. 

Die  Gründe,  die  den  einzelnen  zur  Duldung  fremder  Mei¬ 
nungen,  insonderheit  eines  fremden  Glaubens  veranlassen,  können 
mannigfaltiger  Natur  sein  und  sind  offenbar  auch  mannigfaltiger 
Natur  gewesen,  als  sich  in  unserer  Geschichtsepoche  der  Gedanke 
Bahn  brach.  Wenn  Ficinus  oder  Montaigne  religiöse  In¬ 
differenz  zu  toleranten  Männern  machte,  so  war  es  bei  vielen 
gerade  die  religiöse  Überzeugung  selbst,  die  sie  zur  Tolerierung 
anderer  Religionen  führte:  wie  im  17.  Jahrhundert  etwa  Balzac 
oder  Milton  oder  Jeremy  Taylor  oder  William  Penn. 
Andere,  wie  Bayle,  gelangten  auf  dem  Wege  logischer  Deduk¬ 
tionen  zu  einer  weitherzigeren  Auffassung.  Männer  wie  der 
Kanzler  L’Hopital,  wie  die  „Politiker“  in  Frankreich  wünschten 
eine  Politik  der  Duldsamkeit  herbei,  weil  sie  die  schweren  poli¬ 
tischen  Schäden  wahrnahmen,  die  aus  der  Entzweiung  der  Na¬ 
tionen  erwachsen.  Noch  andere  stellten  die  wirtschaftlichen 
Gesichtspunkte  in  den  Vordergrund,  wenn  sie  für  die  Duldung 
der  verschiedenen  Religionsgemeinschaften  eintraten:  ich  denke 


1  Neal,  Hist,  of  the  Puritans  2,  271. 


450 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


an  Männer  wieVauban  oder  Willem  IY.  von  Holland,  aber 
auch  an  Cromwell,  als  er  die  Juden  hereinließ,  oder  an  Jakob  II., 
der  in  seiner  Indulgenzerklärung  (1687)  meinte :  „persecution  was 
unfavourable  to  population  and  to  trade  ,  oder  an  die  allei 
katholischste  österreichische  Kaiserin,  die  verfugte,  den  Alt¬ 
katholiken,  die  sich  im  Lande  nicht  ansässig  machen  konnten, 
sei  „der  Weeg  zu  eröffnen,  sich  in  erbländische  Handelssocie- 
täten  einzulassen,  solchenfalls  aber,  .  .  .  ihnen  der  jeweilige 
Aufenthalt  ihrer  Handelsgeschäfte  wegen  ...  zu  gestatten“  h 
Oder  das  allgemeine  Staatsinteresse  gab  den  Ausschlag,  wie  bei 
Friedrich  Wilhelm  I.,  als  er  den  Salzburgern  Zuflucht  ge¬ 
währte 1  2. 

Wir  können  an  der  Art  und  Weise,  wie  gerade  der  Toleranz¬ 
gedanke  sich  im  Leben  Geltung  verschafft,  deutlich  wahrnehmen, 
welche  Mächte  letzten  Endes  über  die  Gestaltung  dieser  Menschen¬ 
welt  entscheiden;  wir  können  ganz  genau  verfolgen,  wie  dieser 
Gedanke  solange  ohne  Wirkung  bleibt,  als  er  nur  in  den  Köpfen 
und  Herzen  wohlwollender  Menschenfreunde  lebt,  wie  er  sich 
erst  Bahn  bricht  in  dem  Augenblick,  da  er  von  starken  Inter¬ 
essen,  sei  es  staatlichen,  sei  es  wirtschaftlichen,  unterstützt  und 
befördert  wird;  in  dem  Augenblicke  aber  auch,  wo  er  als  Not¬ 
wendigkeit  sich  aus  den  Widersprüchen  ergibt,  in  die  sich  die 
Politik  der  Intoleranz  verwickelt  hatte. 

Hier  ist  nicht  der  Ort,  die  Genesis  des  Toleranzgedankens 
und  seines  Eindringens  in  die  Politik  der  modernen  Staaten  zu 
verfolgen.  Es  muß  genügen,  wenn  wir  uns  die  wichtigsten 
Etappen  ins  Gedächtnis  rufen,  die  seinen  Siegeszug  bezeichnen. 

Man  wird  nicht  irre  gehen,  wenn  man  Wilhelm  v on  Oranien 
den  ersten  Fürsten  nennt,  der  das  Toleranzprinzip  grundsätzlich 
vertritt,  und  die  Sieben  Provinzen  als  den  ersten  Staat  bezeichnet, 
in  dem  die  religiöse  Duldung  einen  wesentlichen*  Bestandteil  der 
Politik  gebildet  habe.  Mit  vollem  Rechte  konnte  Willem  IY.  in 
seiner  Propositie  ter  Generaliteit  erklären3:  Toleranz  sei  gewesen 

1  Ptibram,  Österr.  Gewerbepol.  1,  146. 

2  Bekanntlich  besteht  seit  Menschengedenken  ein  heftiger  Streit 
über  die  Motive,  die  Friedrich  Wilhelm  I.  zu  jenem  Schritte  veranlaßt 
haben  sollen:  ob  berechnende  Politik  oder  religiöses  Mitgefühl.  Noch 
jetzt  wieder  polemisiert  Arnold  gegen  Pariset.  Mir  scheint 
Paris  et  für  diesen  Fall  das  richtige  zu  treffen,  wenn  er  schreibt: 
bei  dem  preußischen  Könige  habe  gewiß  „une  intime  Union  des  sentiments 
religieux  et  des  interets  materiels“  bestanden:  P ar i s e t ,  1.  c.  p.  797. 

3  Zit.  bei  Koenen,  Geschiedenes  der  Joden  in  Ned.  (1843),  156/5/. 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  457 

von  Anbeginn  an  „de  standvastige  Staatkunde  van  de  Republiek, 
oni  deze  landen  te  maken  tot  eene  veilige  en  altoos  verzekerde 
vnjplaats  voor  alle  vervolgde  en  verdrukte  vreemdelingen“.  So 
wurde,  wie  Bayle  es  ausdrückte,  Holland  zu  einer  Arche,’  die 
die  allerorts  Schiffbrüchigen  aufnahm.  Und  kaum  hundert  Jahre 
nach  der  Utrechter  Union,  zu  einer  Zeit,  als  das  übrige  Europa 
noch  von  den  Flammen  der  Religionskriege  blutrot  beschienen 
war,  schildert  uns  ein  helläugiger  Beobachter  die  Zustände  in 
den  Niederlanden  wie  folgt*:  .  .  .  les  Juifs  ont  leurs  Sinagogues 
a  Amsterdam  et  ä  Rotterdam,  il  n’y  a  point  de  secte  qui  soit 
connue  parmy  les  Chrestiens  qui  n’ait  ses  Assemblees  publiques 
,  ans  la  premiere  de  ces  deux  places  .  .  .  “  „L’on  a  de  la  peine 
a  s  imaginer  comment  cette  violence  et  cette  aigreur ,  qui  est 
comme  mseparable  de  la  diversite  des  Religions  dans  les  autres 
pais,  semble  estre  appaissee  et  adoucie  en  celuy-cy,  ä  cause  de 
la  liberte  generale ,  dont  tont  le  monde  joüit  ou  par  adveu  ou 
par  connivence.“  „II  se  peut  que  la  Religion  fasse  plus  de  bien 

en  d  autre  pays ;  mais  c’est  en  celuicy  oü  eile  fait  le  moins  de 
mal.“ 

A  on  dem  Mutterlande  aus  ist  dann  die  Idee  der  Toleranz 
auch  in  die  holländischen  Kolonien  übertragen  worden:  das  erste 
Abkommen  mit  einer  kolonialen  Bevölkerung,  in  dem  neben 
dem  Monopol  des  Gewürzbezuges  freie  Religionsausübung  aus¬ 
drücklich  ausbedungen  wurde,  ist  der  Vertrag  mit  der  kleinen 
Republik  auf  Banda  vom  Jahre  1602 2. 

Aber  an  einer  andern  Stelle  brach,  ohne  Zusammenhang  mit 
dem  Vorgehen  der  Holländer,  eine  zweite  Quelle  der  Toleranz 
auf:  m  den  englischen  Kolonien ,  zunächst  denen  in  Nordamerika. 

Diese  weisen  neben  .den  Typen  unduldsamer  Puritanerstaaten 
und  ebenso  unduldsamer  Hochkirchstaaten  einen  dritten  Typus: 
den  der  religionsparitätischen  oder  wenigstens  religiös-duldsamen 
Staaten  auf.  Die  erste  Kolonie,  die  das  Prinzip  der  Toleranz  in 
Gesetzgebung  und  Verwaltung  aufnahm,  war  wohl  das  von  dem 
katholischen  Lord  Baltimore  gegründete  Maryland ,  dessen 
Assembly  (zwischen  1637  und  1657)  für  Governor  und  Council 
folgende  Eidesformel  beschließt:  „I  will  not,  by  myself  or  any 
othei ,  directly  or  indirectly  trouble ,  molest  or  discountenance 
any  person  professing  t’o  believe  in  Jesus  Christ,  for  or  in  respect 

1  "William  Temple  in  seinen  Remarques  sur  l’estat  des  pro- 
vmees  unies  des  Pai's-bas,  faites  en  Pan  1672  (1674),  263.  270. 

J.  L.  Motley,  Hist,  of  the  United  Netherlands  4  (1867),  109. 


458 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


of  religion.“ 1  Ein  Akt  von  1649  bestätigt  diese  Auffassung,  der 
zufolge  sich  nun  —  ähnlich  wie  in  Holland  —  in  dieser  Kolonie 
ein  buntes  Gemisch  von  Sekten  aller  Art  ansammelt2. 

Ebenso  enthält  die  erste  Charte  für  Carolina  vom  Jahre  1662/63 
in  Art.  18  die  Zusicherung  von  „indulgences  and  dispensations“ 
für  Nicht -Konformisten 3 ,  und  die  Const.  97  der  zweiten  Charte 
(von  1669)  (als  deren  Verfasser -bekanntlich  Locke  angesehen 
wird)  bestimmt:  „Any  seven  or  more  persons  agreeing  any  reli¬ 
gion  shall  constitute  a  church  or  profession,  to  which  they  shall 
give  some  name,  to  distinguisli  it  from  others.“4  Auf  durchaus 
toleranter  Basis  ruht  von  vornherein  die  Verfassung  der  An¬ 
siedlung  William  Penns:  Pennsylvania5. 

Dann  endlich  greift  der  Toleranzgedanke  auf  das  Mutterland, 
England,  hinüber,  in  dem  das  Jahr  1689  den  Toleration  Act  bringt. 
Dieser  enthält  zwar  noch  keineswegs  eine  grundsätzliche  An¬ 
erkennung  der  nicht  -  konformistischen  Religionsgemeinschaften 
(behielt  vielmehr  die  „persecution“  als  Regel  bei),  legt  doch  aber 
den  offenen  Kampf  gegen  die  Dissenters  bei :  er  läßt  die  Sekten 
unter  bestimmten  Bedingungen  (Unterschreibung  bestimmter 
Glaubensartikel,  Ableistung  des  Treueides  usw.)  ihren  Gottes¬ 
dienst’  halten.  (In  Irland  dauern  die  Verfolgungen  und  Be¬ 
drängungen  der  Non-Conformists  das  ganze  18.  Jahrhundert  hin¬ 
durch  noch  an:  erst  im  Jahre  1782  wird  ein  irischer  Toleration 
Act  Gesetz.) 

Ein  gewisses  Maß  von  Duldung  übte  von  den  größeren  Staaten 
während  des  17.  Jahrhunderts  nur  noch  Brandenburg  -  Preußen 
unter  der  Regierung  des  Großen  Kurfürsten,  dessen  Idee  stark 
unter  oranischem  Einflüsse  sich  gebildet  hatte  6.  Hier  öffnete  das 


1  Bei  Anderson,  Church  1,  488..  In  einer  einzelnen  Stadt 
(Providence)  war  schon  kurz  vorher  (1636),  von  dem  aus  Massachusetts 
vertriebenen  Independenten  Rogers  Williams  gepredigt,  in  dem  grund¬ 
legenden  Vertrag  der  Sezessionisten  die  unbeschränkte  Freiheit  der 
religiösen  Überzeugung  anerkannt  dadurch ,  daß  die  Gründer  dieser 
Stadt  Gehorsam  den  Gesetzen  „only  in  civil  things“  versprachen. 
S.  Green  Arnold,  History  of  the  State  of  Rhode  Island  1  (1859), 

103,  zitiert  bei  G.  Jellinek,  Die  Erklärung  der  Menschen-  und 
Bürgerrechte  (1895),  35. 

3  Anderson,  1.  c.  2,  29. 

8  Anderson,  1.  c.  2,  317  ff. 

4  Anderson,  1.  c.  2,  324. 

5  Anderson,  1.  c.  2,  423  ff. 

8  Das  weist  mit  guten  Gründen  L.  Keller  a.  a.  0.  nach. 


Aclitundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche  459 

Edikt  von  Potsdam  (8.  Nov.  1685)  den  flüchtigen  französischen 
Reformierten  die  Tore  der  kurfürstlichen  Lande;  am  2.  Febr.  1732 
wurde  das  Patent  zugunsten  der  Salzburger  erlassen. 

Die  allgemeine  Anerkenntnis  der  Toleranzidee  als  eines  wesent¬ 
lichen  Bestandteils  der  Staatsverfassung  fällt  erst  in  das  Ende 
des  18.  Jahrhunderts,  als  die  Josefinischen  Reformen,  die  ameri¬ 
kanischen  und  französischen  Menschenrechtserklärungen  kurz  auf- 
einander  folgen.  Damit  wird  die  hochkapitalistische  Epoche  ein- 
geleitet,  mit  der  wir  es  hier  noch  nicht  zu  tun  haben. 

Hier  muß  mit  einem  Worte  nur  wieder  der  staatsrechtlichen 
Sonderstellung  der  Juden  Erwähnung  geschehen. 

Die  Juden  werden  geduldet  und  genießen  weiter  Rechte  in 
Holland  seit  der  Unabhängigkeitserklärung,  in  England  seit  1654, 
in  einigen  amerikanischen  Staaten  und  einigen  deutschen  Städten 
seit  dem  Ende  des  16.  bzw.  dem  17.  Jahrhundert.  Aber  auch 
in  denjenigen  Ländern,  in  denen  die  Juden  erst  viel  später  zu¬ 
gelassen  wurden,  fanden  die  Fürsten  Auswege,  um  den  Juden 
—  wenigstens  den  reichen  unter  ihnen  —  die  Ausübung  der  wirt¬ 
schaftlichen  Tätigkeit  zu  ermöglichen :  durch  das  System  der 
Privilegierungen  und  namentlich  durch  die  Ausbildung  der  In¬ 
stitution  des  Hofjudentums  l. 

Worin  die  große  Bedeutung  des  wenigstens  vereinzelten 
Durchdringens  des  Toleranzgedankens  für  das  Wirtschaftsleben 
beruht,  bedarf  nicht  erst  besonderer  Hervorhebung :  die  Duldung 
der  verschiedenen  Religionsgemeinschaften  in  einem  Lande  übt 
denselben  Einfluß  auf  die  Wanderungsbewegung  (im  umgekehrten 
Sinne),  wie  die  Verfolgungen  ihn  ausgeübt  hatten:  Anhänger 
bestimmter  Religionsgemeinschaften  werden  in  den  toleranten 
Ländern  zurückgehalten ,  die  sonst  auswandern  würden ,  oder 
werden  nach  ihnen  hingezogen,  wenn  sie  aus  andern  Ländern 
wegzuwandern  gezwungen  werden.  Was  L.  Keller2  von  den 
Wirkungen  des  Edikts  von  Potsdam  sagt:  daß  es  „Wanderungen 
und  Wandelungen  einleitete,  die  die  Machtverhältnisse  und  die 
Kulturzustände  Mitteleuropas  dauernd  beeinflussen  sollten“ :  das 
gilt  von  den  kirchenpolitischen  Maßnahmen  jener  Tage  überhaupt. 

1  Näheres  über  diese  Dinge  in  meinem  Judenbuclie. 

2  L.  Keller,  Der  Große  Kurfürst  und  die  Begründung  des  mo¬ 
dernen  Toleranzstaates,  a.  a.  0.  S.  251. 


460 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


Anhang:  Die  Ordnung  des  Privatrechts 

Die  entscheidenden  und  grundsätzlichen  Wandlungen  des 
Privatrechts  sowohl  in  formaler  wie  materialer  Beziehung  — 
fallen  in  die  folgende  Epoche  oder  doch  an  das  Ende  des  früh- 
kapitalistischen  Zeitalters. 

Unter  der  Herrschaft  des  absoluten  Fürstentums  vollziehen 
sich  nur  diese  Neugestaltungen : 

1.  Das  Handelsrecht,  das  bis  zum  17.  Jahrhundert  über¬ 
wiegend  auf  Gewohnheitsrecht  beruht  hatte,  fängt  an,  kodifiziert 
zu  werden.  Die  ersten  staatlichen  Kodifikationen  sind  die  fran¬ 
zösische  Ord.  de  commerce  (1673)  und  die  Ord.  touch.  la  marine 
(1681).  In  Deutschland  werden  durch  Landesgesetze  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  nur  einzelne  handelsrechtliche  In¬ 
stitute  geregelt1,  während  die  erste  größere  Kodifikation  durch 
das  Preußische  Landrecht  von  1794  erfolgt. 

2.  Das  Wechselrecht  insbesondere  wurde  in  zahlreichen 
staatlichen  und  städtischen  Wechselordnungen  während  des 
17.  Jahrhunderts  festgelegt  und  inhaltlich  den  Anforderungen 
der  Zeit  angepaßt.  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  gab  es  48  Wechsel¬ 
ordnungen  2 * * *. 

Dei  entscheidende  Schritt,  den  das  neue  Wechselrecht  tat, 
wai  der  Übergang  zu  einem  allgemeinen ,  nicht  mehr  standes- 
mäßig  gesonderten  Recht. 

•  bestimmt  z.  B.  das  Branderiburgische  Wechselrecht  Art.  4 : 

„  Alle  diejenigen,  so  sich  unternehmen  einen  Wechselbrief  auszustellen 
sie  seyn  gleich  männlichen  oder  weiblichen  Geschlechts,  Pürsten’ 
Grafen,  Freyherrn,  Hofbediente,  Adeliche ,  Gelehrte  oder  Militair- 
Personen ,  wes  Condition ,  Standeswürde  und  Bedienung  sie  immer 
wollen,  sollen  ebenso  fest  als  die  Handelsleute  an  die  Wechsel- 
oidnung,  ohne  Unterschied  und  Exception  verbunden  seyn  .  . 

Will  man  das,  was  sich  hier  zum  ersten  Male  in  dem  Gebiete 
der  Rechtsbildung  vollzog,  in  seiner  grundsätzlichen  Bedeutung 

1  Siehe  die  Zusammenstellung  bei  K.  Co  sack,  Lehrb.  d.  H.R 

§  4  n  2  a-  DJ®  Edikte  der  französischen  Könige  im  16.  Jahrhundert 
(z.  B.  das  Ed.  Karls  IX.  von  1563,  durch  welches  das  Pariser  Handels¬ 
gericht  geregelt  wurde),  haben  einen  verwaltungsreehtlichen  Inhalt, 
während  die  Regelung  des  privaten  Handelsrechts  erst  durch  die  ge¬ 
nannte  Kodifikation  erfolgte.  6 

2  sinc*  gesammelt  in  D.  Siegels  Corp.  jur.  cambialis.  1742. 

2  Ile.,  nebst  Uhls  zwei  Fortsetzungen,  1758  u.  1764  Vgl  noch 

L*d°vici  Kmfm,  Syst.  (1768)  §  889,  und  Siegels  Einleitung 

zum  Wechselrechte,  1751.  B 


Achtundzwanzigstes  Kapitel:  Staat  und  Kirche 


461 


richtig  erfassen,  so  muß  man  in  den  neuen  Gesetzen  eine  Ent¬ 
persönlichung  auch  des  Rechts  Erkennen.  Aber  wie  ge 
sagt :  gleichwie  auf  vielen  andern  Gebieten  der  Kulturentwicklung 
beobachten  wir  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  erst  die 
ersten  Anfänge  der  neuen  Bildungen. 

3.  Eine  nicht  imwesentliche  Umbildung,  die  den  kapitalistischen 
Interessen  zu  dienen  bestimmt  war,  erfuhr  schon  während  des 
frühkapitalistischen  Zeitalters  die  Rechtsordnung  auf  prozes¬ 
sualem  Gebiet.  Die  Hauptpunkte  waren  folgende:  a)  den 
kaufmännischen  Urkunden  wird  eine  möglichst  feste  Beweiskraft 
und  eine  möglichst  feste  Obligationswirkung  zugeteilt  (Ent¬ 
persönlichung  !) ;  b)  der  Exekutivprozeß  oder  die  exekutive  Kraft 
der  Schuldurkunde  wird  ausgebildet.  Natürlich  im  Interesse  vor¬ 
nehmlich  des  Handels,  für  den  die  Ordinarprozedur  unerträglich 
war.  Für  ihn  bedeutet  es  die  größte  Wohltat,  wenn  er  auf 
klare  Darlegung  der  Schuld  hin  wenigstens  vorläufig  die  Voll¬ 
streckung  gegen  den  Schuldner  erreicht.  Die  Exekutivkraft  der 
Schuldurkunde  dehnt  sich  von  den  Handelsstädten  Toskanas  und 
der  Lombardei  über  ganz  Italien  und  weiter  seit  dem  15.  Jahr¬ 
hundert  aus.  Damit  entwickelt  sich  auch  das  Exekutiv  verfahren 1 . 

4.  Daß  die  Rezeption  des  römischen  Rechts  in 
Deutschland  nicht  im  „kapitalistischen“  Interesse  erfolgt  ist,  ja 
wahrscheinlich  überhaupt  wenig  mit  wirtschaftlichen  Vorgängen 
und  Forderungen  im  Zusammenhänge  steht,  scheint  jetzt  mehr 
und  mehr  die  Ansicht  der  Rechtshistoriker  zu  werden 2.  In  der 
Tat:  warum  hätte  gerade  Deutschland  diesen  Wandel  aus  öko¬ 
nomischen  Gründen  vollziehen  sollen,  nicht  Frankl  eich,  nicht 
Holland,  nicht  England,  die  doch  damals  ein  viel  höher  ent¬ 
wickeltes  Wirtschaftsleben  hatten.  Auch  ist  zu  erwägen,  daß 
die  -der  kapitalistischen  Entwicklung  hauptsächlich  dienenden 
Rechtsgebiete:  Seerecht,  Handels-  und  Wechselrecht,  insbesondere 
Gesellschaftsrecht,  nur  in  sehr  geringem  Umfange  aus  römisch- 

1  Siehe  z.  B.  W.  En  de  mann,  Beiträge  zur  Kenntniss  des 
Handelsrechts  im  M.A. ,  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  HR.  5  (1862), 
333  ff.,  nam.  393  ff.  Vgl.  Marquardns,  De  jure  merc.  Cap.  VII  ff. 
des  III.  Buches. 

2  Siehe  die  Übersicht  über  die  bisherige  Literatur  bei  v.  Below, 
Die  Ursachen  der  Rezeption  des  'römischen  Rechts.  1905.  v.  B. 
selbst  lehnt  mit  Entschiedenheit  die  Ansicht  ab,  wonach  das  römische 
Recht  in  Deutschland  eingeführt  sei,  um  den  „Anforderungen  des 
Verkehrs“  zu  genügen,  die  angeblich  das  deutsche  Recht  nicht  zu 
befriedigen  vermocht  habe. 


462 


Zweiter  Abschnitt:  Der  Staat 


rechtlichen  Quellen  stammten,  jedenfalls  ihre  Entstehung  nicht 
einer  „Rezeption  des  römischen  Rechts“  verdankten,  sondern 
höchstens  allmählich  römisch-rechtliche  Gedanken  aufnahmen. 

Auch  für  Italien  sucht  man  jetzt  den  Nachweis  zu  führen, 
daß  die  neue  (römische)  Rechtsschule  die  längste  Zeit  eine  rein 
wissenschaftliche  Bewegung  gewesen  sei :  von  der  Rechtswissen¬ 
schaft  sei  im  12.  Jahrhundert  aus  rein  wissenschaftlichem  Inter¬ 
esse  die  Wiederbelebung  der  Antike  begonnen ,  die  nach  der 
Rechtswissenschaft  die  Scholastik  auf  philosophischem  Gebiete 
dann  fortsetzte  b 

1  Walter  Goetze,  Das  Wiederaufleben  des  römischen  Rechts 
im  12.  Jahrhundert,  im  Archiv  f.  Kulturgesch.  10  (1912),  25  ff. 


DATE  DUE 


0 


TRENT  UNI  VERS 


64  0230736 


HB501 


. S67  1919  Bd.l 


pt .  1 

UTLAS 

Sombart,  Werner,  1863-1941 
Der  moderne  Kapitalismus; 

historisch-systematische  Darstel¬ 
lung  des  gesamteuropäischen 
Wirtschaftslebens  ~ 

Anfängen  bis  zur  O  3  I  U 


iFn  to 


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