DERMODERNE KAPITALISMUS
DI. AUFLAGE
ERSTER BAND/ ERSTE HÄLFTE
NUNC COGNOSCO EX PARTE
TRENT UNIVERSITY
LIBRARY
PRESENTED BY
KARL HELLEINER
Werner Sombart
Der moderne Kapitalismus
Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen
Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart
Dritte unveränderte Auflage
Mit Registern über Band 1 und II
Erster Band
Einleitung — Die vorkapitalistische Wirtschaft — Die
historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus
Erster Halbband
München und Leipzig
Verlag von Duncker & Humblot
1919
Alle Rechte Vorbehalten
Copyright by Duncker & Humblot, München and Leipzig 1916
Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Oeibel & Co.
Inhaltsverzeichnis
Seite
Geleitwort zur zweiten Auflage . . XI
Einleitung
Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens . 3
I. Die Unterhaltsfürsorge . 3
II. Die Technik . 4
III. Die Arbeit und ihre Organisation . 7
IV. Die Wirtschaft . 13
*
Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit des Wirt¬
schaftslebens . 14
I. Die Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens . 14
II. Die Bedingtheit des Wirtschaftslebens . 16
Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 20
I. Die Differenzierung der Wirtschaftswissenschaft .... 20
II. Die Richtlinien der Volkswirtschaftslehre . 21
III. Die Aufgabe dieses Werkes . 22
Allgemeine Literatur . 26
Erstes Buch
Die vorkapitalistische Wirtschaft
Erster Abschnitt
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung 29
Quellen und Literatur . 29
Zweiter Abschnitt
Das eigenwirtschaftliclie Zeitalter
Fünftes Kapitel: Der Zustand der materiellen Kultur Europas
während des Friihinittelalters . 40
Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaft . 45
Literatur . . . * . 45
Siebentes Kapitel : Die Fronhofwirtschaft . 53
Literatur . 53
I. Die Verbreitung der Grundherrschaften . 56
II. Die Grundzüge der Fronhofwirtschaft . 59
IV
Inhaltsverzeichnis
Seite
G6
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91
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117
121
124
124
129
III. Die Organisation der Arbeit in der Fronkofwirtschaft
1. Die Landwirtschaft S. 66. Die gewerbliche Pro¬
duktion S. 72. a) Die Nahrungsmittelgewerbe S. 74.
b) Die Bekleidungsgewerbe S. 77. c) Die Baugewerbe
S. 81. d) Gerätschaftsgewerbe S. 84. Kunstgewerbe
S. 87. 3. Der Gütertransport S. 88.
Dritter Abschnitt
Das Übergangszeitalter
Achtes Kapitel: Die Wiedergeh urt der Tauschwirtschaft.
Literatur und Quellen .
I. Die Tauschwirtschaft und ihre Entstehung überhaupt
II. Die Entfaltung der Tauschwirtschaft im europäischen
Mittelalter . .
III. Die Vorstufen des berufsmäßigen Handels .
IV. Die Anfänge des berufsmäßigen Handels .
V. Die «Anfänge des gewerblichen Handwerks
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung
I. Der Begriff der Stadt .
II. Das Schema einer Theorie der Städtebildung
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittel alter licheu Stadt 134
Literatur und Quellen . 134
I. Der Ursprung der Städte aus Dörfern, insbesondere die
Gründungsstädte . 135
II. Die Subjekte der Städtebildung . 142
1. Die Konsumenten S. 142. 2. Die Produzenten
S. 154.
III. Die Objekte der Städtebildung . 159
1. Die Klerisei S. 160. 2. Krieger und Beamte
S. 163. 3. Die Handwerker S. 164. 4. Die Händler
S. 168. 5. Die Almosenempfänger S. 175.
IV. Der „Zug nach der Stadt“ . 175
Vierter Abschnitt
Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt. . . .
Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks
I. Der Begriff des Handwerks .
II. Die Gesamtorganisation der Wirtschaft .
III. Die Aufgabe der Handwerkergenossenschaft ....
IV. Die Eigenart der Handwerkerarbeit .
V. Die Berufsgliederung des Handwerks .
VI. Die Ordnung der Handwerksarbeit .
VII. Die innere Gliederung des Handwerks .
180
188
188
190
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195
196
Inhaltsverzeichnis
V
Saite
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedin gungen des Handwerks 199
I. Die Bevölkerung . 199
II. Die Technik . 200
III. Die Gestaltung der Absatzverhältnisse . 204
1. Gründe auf der Seite der Nachfrage S. 208.
2. Gründe auf der Seite des Angebots S. 209.
Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs . . 213
Vorbemerkung. Quellen und Literatur (zu Kap. 14 bis 16) 213
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung. . . . 221
I. Die letzten Konsumenten . . 221
Der orlsferne Güterabsatz während des Mittelalters . . . 238
II. Die Produzenten . 244
Sechzehntes Kapitel : Die Organisation der gewerblichen Arbeit 247
I. Die Verknüpfung der Produzenten mit dem Markte . . 247
II. Der Standort der Gewerbe . 247
III. Die Zahl der gewerblichen Produzenten und ihre Leistungs¬
fähigkeit . 251
IV. Die Wirtschaftsform . 257
Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe . 272
Achtzehntes Kapitel: Der Handel «als Handwerk . 279
Vorbemerkung . 279
I. Der Geschäftsumfang . 280
II. Der Händler . 291
Über die Rechenkunst im Mittelalter . 296
III. Die Ordnung des vorkapitalistischen Handels .... 299
Nachtrag zur zweiten Auflage. . , . . . . 309
Zweites Buch
Die historischen Grundlagen des modernen
Kapitalismus
Erster Abschnitt
Wesen und Werden des Kapitalismus
Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem 319
I. Begriff . 319
II. Die kapitalistische Unternehmung . 321
III. Die Punktionen des kapitalistischen Unternehmers . . 322
1. organisatorische S. 322. 2. händlerische S. 323.
• 3. rechnerisch-haushälterische S. 324.
IV. Das Kapital und seine Verwertung . 324
V. Die Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft . 326
Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus . . . 327
I. Die treibenden Kräfte . .- . 327
II. Der historische Aufbau des modernen Kapitalismus . . 330
VI
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zweiter Abschnitt
Der Staat
Einundzwanzigstes Kapitel: Wesen und Ursprung des mo¬
dernen Staates . 334
I. Der Begriff des modernen Staates . 334
II. Der Ursprung des modernen Staates . 335
III. Die Bedeutung des Staates für den Kapitalismus . . . 339
Literatur . 340
Zweiundzwanzigstes Kapitel : Das Heereswesen . 342
Vorbemerkung. Literatur . . 342
I. Die Entstehung der modernen Heere . 342
1. Die Herausbildung der neuen Organisationsformen
S. 342. a) Das Landheer S. 342. b) Die Flotte S. 346.
2. Die Ausweitung des Heereskörpers S. 347. a) Die
Landheere S. 347. b) Die Flotten S. 349.
II. Die Grundsätze der Heeresausrüstung . 351
1. Die Bewaffnung S. 352. 2. Die Beköstigung
S. 354. 3. Die Bekleidung S. 357. a) Die Bekleidungs¬
systeme S. 357. b) Die Uniform S. 359.
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 362
Quellen und Literatur . 362
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 372
Quellen und LAteratur . 372
I. Übersicht . 374
II. Die Privilegierung . 375
1. Die Monopolisierung S. 376. 2. Die Handels¬
politik S. 381. 3. Prämiierungen S. 384.
III. Die Reglementierung . 386
IV. Die Unifizierung . 391
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik .... 394
Literatur . 394
I. Maßnahmen zur Förderung privater Unternehmer . . . 394
1. Monopolisierung und Privilegisierung S. 394.
2. Prämiierung S. 395. 3. Unifizierung S. 395.
II. Selbsttätige Förderung der Verkehrsinteressen durch den
Staat . 396
Soelisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen . 398
Vorbemerkung . 398
Quellen und LAteratur . . 399 4
I. Verkehrsgeld und Staatsgeld . 401
II. Das Metallgeld . 404
1. Die allgemeinen Grundlagen des Geldwesens vom
13. bis zum 18. Jahrhundert S. 404. 2. Die Gestaltung
der Münz- und Geldverhältnisse, a) Der räumliche Ge]-
Inhaltsverzeichnis
VII
Seite
tungsbereich der Münzen S. 408. b) Währungs- und
Münzsysteme S. 411.
III. Das Banco-Geld . 424
IV. Die Anfäuge des Papiergeldes . 427
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik .... 430
Vorbemerkung . 430
Quellen und Literatur . 431
I. Die Idee der Kolonien . 432
II. Die Entstehung der Kolonialreiche . 434
III. Die Nutzung der Kolonien . 441
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche . 446
Vorbemerkung. Literatur . 446
I. Die Steigerung der Intoleranz . . . 448
II. Die Entwicklung des Toleranzgedankens . 455
Anhang: Die Ordnung des Privat rechts. . , 460
IX
Geleitwort zur zweiten Auflage
Daß die zweite Auflage des Buches „Der moderne Kapitalis¬
mus“, von der ich ein halbes Menschenalter nach dem Erscheinen
der ersten hiermit zwei Bände vorlege, äußerlich ein völlig
neues Werk sei, lehrt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis.
Von dem früheren Text ist kaum ein Zehntel wieder verwendet,
und auch dieser Bruchteil des alten Textes findet sich zumeist
in ganz neue Gedankengefüge eingeordnet.
Wenn ich gleichwohl den Titel (so wenig ich ihn liebe) bei¬
behalten habe, so geschieht es, um damit auszudrücken, daß das
Grundproblem, dessen Behandlung sich das Werk zur Aufgabe
gestellt hat, dasselbe geblieben ist; das Grundproblem und mit
ihm eine Reihe grundlegender Gedanken. Im übrigen ist die
neue Auflage auch inhaltlich ein neues Werk, wie derjenige,
der sich seinem Studium unterzieht, schon nach dem Lesen der
ersten Kapitel wahrnehmen wird.
Was das Werk in seiner neuen Gestalt zu leisten unternimmt,
will ich in diesem Geleitwort nicht darlegen ; ich habe die Auf¬
gabe, die es sich stellt, auf Seite 22 ff. dieses Bandes aufgezeichnet.
Dagegen möchte ich dem Leser schon hier an der Pforte des
Buches über zweierlei Aufschluß geben: über die wesentlichen
Verschiedenheiten, die die neue Auflage im Vergleich mit der
ersten aufweist, und über den Platz, auf den ich das Buch seiner
wissenschaftlichen Eigenart nach gestellt wissen möchte oder —
was auf dasselbe hinausläuft: über den Standpunkt, von dem
aus ich die Dinge in diesem Buche gesehen habe.
Die Abweichungen dieser zweiten Airflage von
der ersten sind hauptsächlich folgende :
1. stofflich ist die neue Auflage erheblich ausgeweitet
worden. Während die erste nur Bruchstücke der historischen
Entwicklung enthielt, versucht diese neue Auflage, ein Bild von
der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung der europäischen Völker
zu geben. Deshalb beginne ich meine Darstellung jetzt mit der
X
Geleitwort zur zweiten Auflage
Karolingerzeit und führe sie mit besonderer Ausführlichkeit
durch die Epoche des Frühkapitalismus, also namentlich des
16., 17. und 18. Jahrhunderts, die in der ersten Auflage fast
ganz unberücksichtigt geblieben waren, hindurch bis zur Gegen¬
wart.
Diejenigen Länder, aus deren Wirtschaftsleben ich vornehm¬
lich das Material für meine Darstellung genommen habe, sind
Italien, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, die Niederlande,
Deutschland und Österreich, während ich Spanien, Portugal,
Skandinavien und Kußland seltener in den Kreis meiner Be¬
obachtung einbezogen habe. Selbstverständlich sind die asiatischen,
afrikanischen und amerikanischen Kolonien der europäischen
Länder gebührend berücksichtigt worden.
Die Verteilung des Stoffes auf die verschiedenen Bände ist
ebenfalls eine andere geworden. Der erste Band enthält jetzt
neben einer begrifflich grundlegenden Einleitung die Darstellung
der vorkapitalistischen Wirtschaft und der historischen Grund¬
lagen des modernen Kapitalismus, während der ganze, umfang¬
reiche zweite, völlig neugeschriebene Band der Darstellung
des Wirtschaftslebens im Zeitalter des Frühkapitalismus gewidmet
ist. Ein dritter, später erscheinender Band soll dann die
Vollendung des Kapitalismus im Zeitalter des Hochkapitalismus
schildern.
2. konstruktiv unterscheidet sich die zweite Auflage von
der ersten durch ihre sehr viel größere Kompliziertheit im Auf¬
bau. An die Stelle eines „extemporierten Discantus“ ist eine
auf strenger kontrapunktischer Behandlung beruhende Symphonie
getreten, die dem Leser eine größere Arbeit und Vertiefung zu¬
mutet. Einen Einblick in die zum Teil recht verwickelte Stimm¬
lührung versucht das 20. Kapitel des ersten Bandes zu geben.
AVird mir diese neue Weise, den Stoff zu behandeln, zweifellos
auch den Vorwurf größerer Schwerfälligkeit und UnübersichtlicL-
keit eintragen, so wird sie das Buch doch vor der leichtfertigen
und gedankenlosen Art der Kritik bewahren, die sich bei der
Beurteilung an einen einzigen hervorspringenden Punkt hält und
das ganze Werk etwa mit dem Bemerken ab tut: das ist das
Buch mit der „ Grundrenten theorie“ oder so ähnlich.
Vielmehr wünsche ich sehnlichst, daß der tiefste Eindruck,
der beim Leser nach dem Studium meines Werkes zurückbleibt,
die lebendige Empfindung des ungeheuren Reichtums von
Problemen sei, der in depAVorten; Entstehung des modernen
Geleitwort zur zweiten Auflage
XI
Kapitalismus eingeschlossen ist. Es wäre mir eine besondere
Genugtuung, wenn von jetzt ab solche auf die grüne Wiese ge¬
baute „Entwicklungsgeschichten“ des Kapitalismus, wie sie noch
unlängst Fritz Gerlich geschrieben hat, unmöglich sein würden
und es noch unmöglicher wäre, daß ein angesehener Historiker
wie v. B e 1 o w solchen leichtfertigen Unternehmungen öffentlich
„das Lob einer nützlichen Arbeit“ zuspräche.
AVenn ich in meinen letzten Schriften mit bewußter Willkür
eine Seite der kapitalistischen Entwicklung hervorgehoben habe,
so hat man diese Methode gründlich verkannt; man hat die
weisen Köpfe geschüttelt und an dem Verstände eines Autors
zu zweifeln angefangen, der heute die städtische Grundrente,
morgen die Edelmetallproduktion, übermorgen die Juden, dann
den Luxus , dann den Krieg für die Entstehung des modernen
Kapitalismus verantwortlich gemacht wissen wollte. Man hat
seltsamerweise gar nicht beachtet, daß es sich dabei lun Teil¬
studien handelte ; man hat nicht eingesehen, daß ich mit dieser
Scheinwerfermethode nichts anderes bezweckte, als jedesmal den
Blick des Beschauers auf eine Seite des Problems einzustellen,
damit er genötigt wäre, sich eine Zeitlang intensiv mit diesem
Teilproblem zu beschäftigen. Nun fasse ich alle diese einzel¬
gesponnenen Fäden zu einem Gewebe zusammen und zeige, daß
nicht etwa nur die von mir schon gewürdigten, sondern noch
viel mehr Mächte an dem Aufbau des modernen Kapitalismus
beteiligt gewesen sind.
3. methodisch sucht die zweite Auflage den vielleicht
schlimmsten Fehler der ersten (den übrigens, im Vorbeigehen
sei es bemerkt, kein einziger Kritiker, so scharf er auch sonst
gegen mich vorgegangen ist, zu rügen für nötig befunden hat,
nur Max Weber hat mich in persönlichen Gesprächen öfters
darauf hingewiesen) nach Möglichkeit zu vermeiden, das ist die
unzulässige Vermischung der theoretischen und der empirisch¬
realistischen Betrachtungsweise. Dieser Fehler machte sich be¬
sonders fühlbar bei der Darstellung des Handwerks, trat aber
auch sonst des öfteren unliebsam zutage. Nun habe ich auf die
Trennung des theoretischen und des empirischen Teils bei der
Behandlung jedes einzelnen Problems ein Hauptaugenmerk ge¬
richtet und habe diese Doppelbetrachtung durch das ganze Wei’k
streng durchgeführt, wie ich es auf Seite 23 f. in diesem Bande
noch weiter erläutert habe. Ich lege auf diese Neuerung großes
Gewicht und hoffe, damit auch in methodologischer Hinsicht
XII
Geleitwort zur zweiten Auflage
unsere Wissenschaft gefördert zu haben. Damit komme ich auf
den zweiten Punkt zu sprechen, den ich in diesem Geleitwort
erörtern wollte: die Stellung dieses Werkes (und seines Ver¬
fassers) zu den verschiedenen „Richtungen“ oder „Schulen“ oder
„Methoden“ der Nationalökonomie.
* $
*
Wer noch heute die Richtungen unserer Wissenschaft nicht
anders einzuteilen weiß als in die „abstrakt-theoretische“ und
die „empirisch-historische“ Schule, wird diesem Werke ratlos
gegenüberstehen. Denn es wird ihm beim besten Willen nicht
gelingen, es einer der beiden „Schulen“ oder „Richtungen“ oder
„Methoden“ zuzuweisen. Das gilt aber von jeder sozialwissen¬
schaftlichen Arbeit unserer Tage, die neue Wege gehen will.
Ünd daß es gilt, ist nicht zu verwundern, da jener Gegensatz
zwischen „historischer5 und „abstrakter5 Nationalökonomie für
uns allen Sinn und alle Bedeutung verloren hat oder wenigstens
verloren haben sollte.
W enn noch heute eine Anzahl einseitig begabter , jüngerer
Nationalökonomen etwas wie eine „theoretische“ Richtung in
unserer Wissenschaft in einen bewußten Gegensatz zu den von
der „historischen . Schule“ vertretenen Forschungsgrundsätzen
stellt, so beruht das auf einer, durch nichts als einen gewissen
fraditionalismus gerechtfertigten , willkürlichen Einschränkung
des Begriffes „Theorie“ auf die Pflege eines ganz bestimmten
Komplexes von Problemen, nämlich derjenigen Probleme, die
sich auf die Erhaltung und Weiterbildung der von den sog.
„Klassikern“ unserer Wissenschaft begründeten Begriffsschematik
und der mit Hilfe dieser Begriffsschematik nach der isolierenden
Methode aufgestellten „Gesetzmäßigkeit“ der Erscheinungen
(richtiger Denkvorgänge) beziehen.
Nun kann niemand den Wert dieser sog. „Theorie“, also
insbesondere des abstrakt - isolierenden Verfahrens, höher ein¬
schätzen als der Verfasser dieses AVerkes. AVer sich der Mühe
eines Studiums unterzieht, wird an unzähligen Stellen in diesem
AVerke diese Methode angewandt finden: er lese beispielsweise
das 33. Kapitel des ersten Bandes, das ganz nach ihr gearbeitet
ist. Aber nun zu wähnen, in diesen Abstraktionen und Iso¬
lierungen erschöpfe sich das AVesen und der Inhalt derjenigen
Soziahvissenschaft vom Wirtschaftsleben, die man bisher National¬
ökonomie oder Volkswirtschaftslehre genannt hat, oder auch
Geleitwort zur zweiten Auflage
XIII
nur: die Vornahme solcher Konstruktionen bilde einen irgendwie
als selbständig zu betrachtenden Teil dieser Wissenschaft, er¬
scheint mir durchaus unzulässig. Wer das annimmt, müßte
einen Mann, der immer nur Rechnungen über Tragfähigkeit usw.
des Baumaterials anstellt, einen Baumeister nennen, während
dieser Mann doch nur ein Teilarbeiter ist. So gewiß ist auch
der nur abstrahierende Isolateur in der Nationalökonomie nichts
weiter als ein Teilarbeiter, ebensogut wie sein Gegenstück: der
Forscher, der nur Tatsachen aufhäuft. Es erscheint uns heute
selbstverständlich, daß erst die Vereinigung beider Tätigkeiten
die Gesamtleistung der wissenschaftlichen Nationalökonomie aus¬
macht; es ist fast eine Trivialität festzustellen, daß sich „Theorie“
und „Empirie“ wie Form und Inhalt desselben Objektes zu¬
einander verhalten. (Was ich meine, ergibt mit besonderer
Deutlichkeit ein Vergleich des 33. mit dem 35. Kapitel des ersten
Bandes: das 33. Kapitel stellt mittels des isolierenden Verfahrens
die „Gesetzmäßigkeiten“ fest, die zwischen Geldwert und Preis
„theoretisch“ obwalten, das 35. Kapitel untersucht an der Hand
dieses Schemas die tatsächliche Beziehung zwischen Edelmetall¬
produktion und Preisbildung in einer bestimmten historischen
Epoche.)
Diese Auffassung wurde übrigens schon von den führenden
Köpfen der älteren sog. „historischen“ Schule vertreten; sie ist
heute die herrschende bei allen Forschern meiner Generation,
die etwas Lebendiges in unserer Wissenschaft zutage gefördert
haben. Auf keinen von ihnen wird sich das alte entweder
„Theoretiker“ oder „Historiker“ anwenden lassen; sie alle,
ebenso übrigens wie die begabteren Vertreter der jüngeren
Generation, sind selbstverständlich „Theoretiker“ und „Histo¬
riker“. Theoretisch und historisch ist auch dieses Werk.
Nun hat man es als eine Eigentümlichkeit der Forschungs¬
richtung gerade unserer Zeit bezeichnet, daß in ihr die „theo¬
retischen“ Probleme (wie in andern Wissenschaften, so auch in
den Sozialwissenschaften) wieder mehr in den Vordergrund ge¬
treten seien; man hat geradezu von einer „Renaissance des
theoretischen Interesses“ gesprochen. Und man tut das
mit gutem Recht. Nur darf man, soweit unsere Wissenschaft in
Frage kommt, das Wort „Theorie“ nicht in dem oben angeführten
engen Sinne fassen. Wenn jene „theoretische Renaissance“ auch
für die Nationalökonomie eine Neubelebung, einen Fortschritt
bedeutet, so sind ganz gewiß nicht die Träger dieses Fortschritts
XIV
Geleitwort zur zweiten Auflage
jene Charakterstärken Männer, die die Fahne der „abstrakten“
Forschung unentwegt hochhalten. Wer in der Weiterbildung
der Ricardo sehen Formeln (die ich, wie ich noch einmal aus¬
drücklich bemerken will, für sehr nützlich und ersprießlich halte,
vorausgesetzt immer, daß man sich ihres beschränkten Erkenntnis¬
wertes bewußt und vor allem eingedenk bleibt, daß alle Ab¬
straktionen und Isolierungen nur einen Sinn im Rahmen eines
nach historischen Merkmalen abgegrenzten Wirtschaftssystemes
haben), wer, sage ich, in der Pflege und Weiterbildung dieser
Begriffsschematik die Aufgabe unserer Wissenschaft erblickt, der
kann — wenn er auch noch begabt ist — zweifellos nützliche
Arbeit verrichten; aber ein Neuerer, ein Lebendiger, ein Refor¬
mator ist er nicht. Er ist vielmehr ein Epigone.
Was man die theoretische Renaissance unserer Zeit nennt,
die zusammenfällt mit einer philosophischen Renaissance, hat
ganz eine andere Bedeutung. Philosophischer ist unser Zeitalter
geworden, sofern wieder mehr als früher nachdem „Sinn“ der
Erscheinungen und nach dem „Sinn“ ihrer Erkenntnis ge¬
fragt wird. Theoretischer aber sind die Einzelwissenschaften,
und auch die Sozialwissenschaften, geworden, sofern wieder mehr
als früher Wert gelegt wird auf begriffliche Schärfe, auf syste¬
matische Durchdringung des Stoffs und vor allem auf die Syn¬
these des Einzelwissens. In diesem Bedürfnis nach syn¬
thetischer Zusammenfassung der zerstreuten Forschungs¬
ergebnisse möchte ich recht eigentlich das Kennzeichen unserer
Zeit erblicken.
Wir empfinden die Last, die uns der sich immerfort mehrende
Stoff auf die Brust legt, als einen zuletzt unerträglichen Druck
und suchen uns von dieser Last, so gut es geht, zu befreien.
Das ist aber nicht anders möglich, wenn wir uns nicht von
aller „Wissenschaft“ abkehren und „auf hinaus ins weite Land“
fliehen wollen, als dadurch, daß wir den toten Stoff zu beleben,
daß wir seiner Herr zu werden versuchen durch Beseelung mittels
ordnender und systematischer Kategorien. Als einen solchen
Versuch geistiger Befreiung möchte ich auch dieses Werk an¬
gesehen wissen, das deshalb die Begriffs- und Systembildung mit
besonderer Liebe pflegt, um mit ihrer Hilfe einen Stoff zu meistern
und zu beseelen, den mehrere Generationen mit unermüdlichem
Fleiße aufgehäuft haben.
Geleitwort zur zweiten Auflage
XV
Massig, weil ein Streit um Worte, ist der Streit, ob die in
diesem Werke (und äbnliclien, geistesverwandten) vorgetragene
Wissenschaft denn noch „Nationalökonomie“ sei, oder viel¬
mehr Wirtschaftssoziologie oder etwas ähnliches. Richtig ist,
daß sie etwas anderes ist als das, was etwa die Vertreter der
Manchesterschule vor 50 Jahren Nationalökonomie nannten, näm¬
lich jene Disziplin, die, ohne von historischem oder philosophischem
Ballast beschwert zu sein, die ökonomischen Fragen (das heißt
meist : die merkantilen Probleme) des Tages für den Tag behandelt,
jene Lehre des gesunden Menschenverstandes, jene „Wissenschaft“
vom Markte für den Markt, aus der Praxis für die Praxis, jene
Business-Doktrin, das, was man auch als Handelskammersekretär-
Nationalökonomie bezeichnen kann. Nun bin ich wiederum weit
davon entfernt, die. hohe Nützlichkeit einer solchen Tagesmarkt¬
lehre in Zweifel zu ziehen. Aber was ich mit aller Entschieden¬
heit bestreite, ist dieses : daß das nun die Wissenschaft von der
menschlichen Wirtschaft überhaupt sei. Jene Handelskammer¬
sekretär-Nationalökonomie vermehrt vielmehr nur die immer zahl¬
reicher werdenden Kunstlehren innerhalb des weiten Kreises der
Wirtschaftswissenschaften um eine. Daneben bleibt diejenige
Wissenschaft als die eigentliche Zentralwissenschaft der Wissen¬
schaften vom Wirtschaftsleben bestehen, die es sich zur Aufgabe
macht, dieses in den großen Zusammenhang des menschlichen
Gesellschaftsdaseins einzuordnen, was nun einmal nicht anders
möglich ist als auf historisch-philosophischer Grundlage.
Wir können unmöglich zugeben, daß die Wissenschaft, die
man bis heute Nationalökonomie nennt, auf den Stand zurück¬
geworfen werde, auf dem sie vor 50 Jahren angelangt war, als
die deutschen Meister, sei es der sog. „historischen Schule“, sei
es der sog. sozialistischen Richtung, ihre Reformarbeit begannen,-
deren Grundergebnisse für uns einen unverlierbaren Besitz be-
' deuten sollen.
Daß mein Werk nicht einer bestimmten politischen oder
wirtschafts- oder sozialpolitischen Parteirichtung dient,
sollte gar nicht erst ausdrücklich hervorgehoben werden müssen.
So sehr versteht es sich von selbst. Es ist ein schlimmes
Zeichen unserer Zeit und erinnert bedenklich an amerikanische
Zustände, daß man in den letzten Jahrzehnten auch in Deutsch¬
land angefangen hat, die Vertreter unserer Wissenschaft nicht
XVI
Geleitwort zür zweiten Auflage
nach ihren wissenschaftlichen Methoden und Leistungen, sondern
nach ihren politischen Ansichten zu unterscheiden. "Wenn Ver¬
treter praktischer Interessen so verfahren, so ist ihnen das im
Grunde nicht so sehr zu verübeln, denn sie brauchen als solche
nicht zu wissen, was Wissenschaft sei. Daß aber auch in Ge¬
lehrtenkreisen dieser Unfug um sich greift, ist im höchsten Grade
bedenklich. Ich meine, daß nur subalterne und in ihrem innersten
Wesen unwissenschaftliche Geister auf den Gedanken kommen
können, bei Beurteilung einer wissenschaftlichen Persönlichkeit
danach zu fragen, wie sie etwa zum Reichstage wählt, ob sie
„unternehmerfreundlich“ oder „arbeiterfreundlich“ denkt und
ähnliches.
* *
%
Meine Kennzeichnung der Ansichten, von denen dieses Werk
beherrscht wird, wäre unvollständig, wollte ich nicht mit einem
Worte noch der Stellung gedenken, die ich der Geschichts¬
forschung und den Historikern gegenüber einnehme.
In den Kreisen der zünftigen Historiker gilt es als ausgemacht,
daß dieses Werk in der Fassung der ersten Auflage ein schlechtes
und verfehltes Buch sei. Und die Historiker haben mit ihrer ab¬
fälligen Kritik zum guten Teil recht gehabt. Die erste Auflage
hat böse Schnitzer im einzelnen enthalten und mußte mit ihrer
ganzen wilden und ungestümen Art die an peinliche Akribie ge¬
wöhnten und in einer strengen Schule aufgewachsenen Historiker
zum Widerspruch und zur Ablehnung herausfordem. Ich hoffe,
daß ein erheblicher Teil jener Fehler, die die erste Auflage ent¬
hielt, in dieser zweiten beseitigt ist.
Aber ich kann den Historikern nicht zugeben, daß ihre ab¬
fällige Kritik in allen ihren Teilen berechtigt war. Was ich
vielen derjenigen Historiker, die sich öffentlich über mein Buch
geäußert haben, vorzuwerfen habe, ist nicht sowohl der feind¬
selige Ton ihrer Kritik, obwohl es mehr der Sache genützt
hätte, wenn er vermieden wäre. Zumal wenn die Skolaren sich
für verpflichtet halten, in den Ton einzustimmen, den die Meister
angeschlagen haben. Es hat mich fast erheitert, zu beobachten,
wie es zur guten Sitte an manchen Universitäten gehört, daß
der junge Doktorand, der ein wirtschaftsgeschichtliches Problem
behandelt, oft an ganz entlegener Stelle seines Werkchens einen
Kratzfuß nach hinten gegen mich macht und erklärt, daß er
„selbstverständlich“ nichts mit meinen Ansichten zu tun haben
Geleitwort zur zweiten Auflage XVIt
Wolle. (Die ihm doch oft recht nützlich bei der Abfassung seiner
Arbeit gewesen sind.)
Aber das ist am Ende nicht so wichtig. Wichtiger ist, daß
viele Historiker auch die Art der Gescliichtsdarstellunp\ wie sie
in meinem Werke enthalten ist, also das Konstruktive, Generali¬
sierende meiner Methode, als unberechtigt ablehnen. Dieser Auf¬
fassung gegenüber möchte ich folgendes geltend machen : Offen¬
bar gibt es zwei Möglichkeiten, die geschichtliche Welt zu be¬
fragen, indem man entweder fragt: was einmal sich ereignete,
oder: was sich wiederholte. Man mag jene Frage nach der
Einzigheit des Geschehnisses die spezifisch historische, diese
nach der Wiederholung die soziologische nennen: genug, sie
bestehen beide zu Recht, und alle Geschichtsschreibung bedient
sich beider Fragestellungen. Je nach dem Objekte der Be¬
trachtung wird nun die eine oder die andere vorwiegen. Die
äußersten Gegensätze werden die Biographie und die Zustands¬
geschichte darstellen. Auch in der Wirtschaftsgeschichte sind
beide Fragestellungen am Platze. Auch hier gibt es kein Ent¬
weder-oder, sondern nur ein Sowohl - als - auch. Es muß aber
betont werden , daß auch eine ersprießliche Wirtschafts-
geschichte in dem besondern Verstände einer Ermittlung
von Besonderheiten der historisch - soziologischen Forschung
nicht nur zur Ergänzung, sondern geradezu zur Unterlage be¬
darf. Dann erst, wenn festgestellt ist, welche wirtschaftlichen
Erscheinungen allgemeine, das heißt wiederkehrende sind, können
wir mit Sicherheit aussagen, worin die Besonderheit des von
uns betrachteten Problemkomplexes liegt.
Die Eigenart dieses Werkes besteht nun darin r daß in ihm
die Frage nach der Allgemeinheit der wirtschaft¬
lichen Erscheinungen bis an die äußerste noch zu¬
lässige Grenze ausgedehnt worden ist. Diese Grenze
ist der durch die süd- und westeuropäischen Völker, die seit
der Völkerwanderung die Träger der Geschichte Europas sind,
gebildete Kulturkreis. Soweit dieser in Betracht kommt, ist
also die Frage wiederum die spezifisch geschichtliche: es gibt
nur eine Geschichte des „modernen Kapitalismus“, nicht
eine Geschichte des Kapitalismus schlechthin. Innerhalb aber
dieses nun einmal gegebenen Kulturkreises ist dann jede Be¬
sonderheit der verschiedenen Völker außer acht gelassen und
gefragt worden: welche wirtschaftlichen Erscheinungen, die zur
Entstehung des modernen Kapitalismus führen , sind allen
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. Ii
Nytft Geleitwort zur zweiten Auflage
europäischen Völkern gemein? Ich halte diese Fragestellung
nicht nur für vollauf berechtigt, sondern, wie ich schon sagte:
die Ermittlung dieser allgemein - europäischen Züge der wirt¬
schaftlichen Entwicklung ist die notwendige Voraussetzung, um
nun mit Aussicht auf reichen Ertrag die wirtschaftlichen Schick¬
sale der engeren Verbände zu untersuchen.
Also nicht, daß meine Arbeit die Spezialforschung ausschlösse,
sie möge sich nun auf ein ganzes Land oder ein einzelnes
Dorf beziehen: im Gegenteil, sie macht sie erst recht frucht¬
bar. Nun erst, nachdem man weiß, was europäische Wirtschafts¬
geschichte ist, wird man die deutsche, französische, englische
und so weiter Wirtschaftsgeschichten schreiben können. Wie
der Mathematiker, den in allen Werten wiederkehrenden Buch¬
staben herausnimmt und vor eine Klammer setzt, so daß er statt
ab -f ac + ad . . . a (6 + c + d . . .) sagt, so bin ich verfahren, in¬
dem ich aus allen europäischen Wirtschaftsgeschichten, die jede
für sich das Produkt aus europäischem und nationalem AVesen
sind, die europäische Note herausgesucht und in ihrer eigen¬
tümlichen Gestaltung verfolgt habe. Jeder Historiker muß dieses
Verfahren bei reiflicher Überlegung als berechtigt neben der in
engerem Sinne geschichtlichen Forschung anerkennen.
Er muß sich dann freilich noch ein weiteres klar machen :
daß nämlich die Lösung eines Problems, wie ich es mir gestellt
habe, die Anwendung eines wissenschaftlichen Apparates nötig
macht, dessen sich der Historiker bei der Lösung der ihm ge¬
läufigen Probleme nicht zu bedienen pflegt. Dieser Apparat ist
die kunstvolle Schematik der systematischen Wissenschaft
vom Wirtschaftsleben. Nur die gründliche theoretische Durch¬
dringung des gesamten Wissensstoffes macht es möglich, die all¬
gemeinsten Zusammenhänge der Erscheinungen aufzudecken. Die
Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus kann nur ein
theoretisch durchgebildeter Nationalökonom schreiben, der
vor allem auch das Wirtschaftsleben der Gegenwart kennt. Ge¬
wiß kann das auch ein Historiker von Fach sein. Aber daß er
es sein muß, ist eine in den Kreisen namentlich der älteren
Historiker leider noch nicht allgemein verbreitete Ansicht. Sonst
wäre es nicht möglich , daß ein berühmter Geschichtsforscher
wie Henry Pirenne den Fachgenossen der ganzen Erde (auf
dem Londoner Historikerkongreß des Jahres 191*3) einen Vortrag
über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus hielt, der von
einer geradezu staunenswerten Ahnungslosigkeit Zeugnis ablegt.
Geleitwort zur zweiten Auflage
XIX
Spurlos sind an diesem Gelehrten alle die mühseligen Gedanken¬
arbeiten der letzten Jahrzehnte vorübergegangen, und er steht
den Problemen, mit denen wir uns seit einem Menschenalter ab¬
quälen, mit der Unschuld eines Kindes gegenüber. Dieser Typus
der "Wirtschaftshistoriker muß aussterben, sonst kommen wir
nicht weiter. Und daß er in der Tat schon halb der Vergangen¬
heit angehört , dafür bürgen die Arbeiten einiger jüngerer
'Wirtschaftshistoriker in verschiedenen Ländern, die sich nicht
über die Probleme, die wir aufgeworfen haben, großzügig hin¬
wegsetzen, sondern ihnen von ihrem Standpunkt aus mit Eifer
und Sachkunde zuleibe gehen. Ich hege die feste Zuversicht,
daß der heranwachsenden Generation auch unter den
Historikern Arbeiten wie die meinige nicht als unnütze und ver¬
fehlte Unternehmungen, sondern als notwendige Ergänzung ihrer
eigenen, im engeren Sinne wirtschaftsgeschichtlichen Unter¬
suchungen erscheinen werden.
>>>
*
Endlich muß ich noch einen Punkt von mehr nebensächlicher
Bedeutung berühren: die Art meines Zitieren s. Auch sie
ist von zahlreichen Kritikern beanstandet worden (was wäre in
meinem Buch nicht beanstandet !). Die Bedenken, die man gegen
sie erhoben hat, geben mir die willkommene Gelegenheit, in
Kürze die Methode meines Zitierens zu kennzeichnen. Zunächst,
was die Menge der Zitate anbetrifft, so zitiere ich den einen zu
viel, „belaste“ das Werk mit zu viel „totem Material“. Diesen
Kritikern erwidere ich, daß ich mir nicht bewußt bin, „totes
Material“ aufgehäuft zu haben, daß ich vielmehr glaube, jeder
meiner Belege sei lebendig. Wie der Leser sieht, sind fast alle
meine Zitate Quellenzitate, auch dort, wo sie literarischen
Bearbeitungen des Gegenstandes entnommen sind. Nur ausnahms¬
weise führe ich Ansichten anderer Forscher an, nicht weil ich
sie gering schätze, sondern weil ich aus einem Werke wie diesem
nach Möglichkeit alle Polemik ausschalten möchte, die nach
meinen Erfahrungen doch zu nichts dient. Jene Quellenbelege
brauche ich aber, oft in gehäufter Menge und womöglich im
Wortlaut, um die aufgewiesene Erscheinung dem Leser in die
Seele einzuprägen und ihm den dargelegten Einzelfall zum inten¬
siven Erlebnis werden zu lassen. Nur dadurch konnte ich die
extreme Generalisierung erträglich machen , daß ich dem Leser
immerfort die eindringlichsten Bilder von der Wirklichkeit vor
O
II#
XX Geleitwort 2ur zweiten Auflage
Augen stelle. Mein Bemühen ist es, die letzte Allgemeinheit
aus der intimsten Besonderheit abzuleiten. Darum muhte ich
ganz konkrete Anschauung geben, um dann ganz allgemeine
Züge festzustellen. Darum war aber ein gewisses hohes Maß
von stofflicher Fülle unerläßlich. Daher die oft lästige Menge
von Zitaten.
Den andern zitiere ich zuwenig; das heißt sie vermissen an
dieser oder jener Stelle den Hinweis auf diese oder jene Schrift
oder Quelle. Ihnen halte ich entgegen, daß ich mir durchaus be¬
wußt bin, nicht die gesamte in Betracht kommende Literatur zu
beherrschen. Es ist das auch schwer möglich angesichts des
ziemlich umfassenden Untersuchungsgebietes. Darum bin ich
jedem dankbar, der mir nachweist, daß ich hier oder dort eine
wesentliche Quelle übersehen habe (vorausgesetzt, daß sie geeignet
ist, das Ergebnis meiner Untersuchungen in einem wichtigen
Punkte zu berichtigen). Als kleinlich dagegen empfinde ich das
Verfahren, das bei manchen, sogar namhaften Kritikern behebt ist,
zu beanstanden : wenn man zwölf Schriften genannt hat, daß man
eine dreizehnte, wahrscheinlich ganz belanglose Arbeit, nicht auch
erwähnt habe, die der Kritiker gerade kennt. Im übrigen ist
VoUständigkeit der Quellenbelege bei der Problemstellung, wie
sie diesem Werk zugrunde liegt, auch nicht einmal ein not¬
wendiges Erfordernis zwingender Beweisführung.
Mancher wird es als eine Schwäche des Buches empfinden,
daß ich nur gedruckte, nicht auch handschriftliche Quellen
herangezogen habe. Ihnen gebe ich zu bedenken, daß dieses
Werk nicht hätte geschrieben werden können, wenn ich mich
in archivalische Studien verloren hätte. Gewiß ist es richtig,
daß viele Punkte der europäischen Wirtschaftsgeschichte noch
heute im Dunkeln liegen, und daß nur archivalische Forschungen
sie aufhellen können. Aber ein klarer Gesamtüberblick läßt
sich schon heute auf Grund der gedruckten Quellen geben. Und
der mußte erst einmal zu geben versucht werden, gerade um
die spätere Forschung um so fruchtbarer zu machen. Welche
Fülle neuer Aufschlüsse aber schon die Durcharbeitung des
heute gedruckten Quellenmaterials ergibt, wird, denke ich, ein
Studium dieses Werkes erweisen.
Was dann die Art und Weise, wie ich zitiere, anbetrifft, so
sind Zweifel laut geworden, ob ich meine Zitate selbst gefunden
und nicht vielleicht aus andern Schriften entlehnt habe. Dazu
bemerke ich, daß ich die in weitem Umfange (auch lind
Geleitwort zur zweiten Auflage ,XX1
gerade bei Historikern!) beliebte Gepflogenheit, Zitate
aus andern Schriftstellern abzuschreiben, ohne diese Entlehnung
ausdrücklich zu bemerken , stets als eine Art von Diebstahl am
geistigen Eigentum empfunden habe. Eigentlich sollte man
immer, wenn man den Hinweis auf eine Quellenstelle einem
andern verdankt, diesen namhaft machen. Aber das ist auf die
Dauer nicht durchführbar. Was aber durchaus vom wissen¬
schaftlichen Anstande verlangt werden muß, ist das, daß man
jede Stelle, die man anführt, mit eigenen Augen vergleicht (oder
bei nicht erreichbaren Werken durch einen Schüler oder einen
guten Freund nachiesen läßt). Dieser Grundsatz ist auch für
mich bei der Abfassung dieses Werkes maßgebend gewesen.
Eine ebensolche Unsitte , die immer mehr in Gelehrten¬
kreisen einreißt , ist die : Literatur Übersichten zu
geben, ohne die angeführten Werke zu kennen. Beim heutigen
Stande unserer bibliographischen Technik ist es dann nicht
schwer, beliebig lange Listen von Büchern aufzustellen, die
freilich nur dem Laien den Eindruck der Gelehrsamkeit
machen, während cler Eingeweihte meistens die Eselsbrücken
bemerkt, denen die Listen ihre Entstehung verdanken. Einem
solchen Unfug sollte mit der stillschweigend angenommenen
Regel gesteuert werden, kein Buch in einer Literaturübersicht
anzuführen, von dessen Verwendbarkeit für den bestimmten
Zweck man sich nicht hinreichend unterrichtet hat. Einen Nutzen
haben nach meinen Erfahrungen Literaturnachweise für den Leser,
namentlich den Anfänger nur, wenn sie gleichzeitig eine Art von
Führung durch die einschlägige Literatur enthalten. Deshalb
habe ich es mir angelegen sein lassen, möglichst jedem an¬
geführten Werke ein ganz kurzes Kennwort beizufügen, aus dem
der Leser ungefähr eine Vorstellung bekommt, um was es sich
handelt.
Einige sachliche Auseinandersetzungen mit Kritikern, die
einzelne Teile meines Buches beanstandet haben, nehme ich
besser je am besonderen Orte im Texte vor. Sehr zahlreich
sind die Kritiker, die sich die Mühe genommen haben, über¬
haupt auf meine Gedankengänge einzugehen, nicht. Im Interesse
der Sache wünsche ich, daß ihre Zahl dieser zweiten Auflage
gegenüber sich vermehrt. Die meisten Kritiker haben im Zweifel
gelassen, ob es am Mangel des guten Willens oder an ihrem.
XXII
Geleitwort zur zweiten Auflage
geringen Verständnis gelegen war, daß sie so gar nichts von
Belang über das Buch zu sagen gewußt haben. Es sei denn,
daß sie es ablehnten. Ihnen möchte ich die Worte des alten
Goethe ins Stammbuch schreiben: „Gegen die Kritik kann man
sich weder schützen noch wehren ; man muß ihr zum Trutz handeln,
und das läßt sie sich nach und nach gefallen.“ Ein tröstendes
Bewußtsein ist es, daß dort, wo die Kritik in der Wissenschaft
haust, nur selten die Quellen des Lebens entspringen, und daß
das, was lebendig im Geiste ist, keine Kritik zerstören kann,
selbst die gehässigste nicht.
Mittel-Sch reiberhau i. K., im September 1916
Werner Sombart
Einleitung
Bombart, Der moderne Kapitalismus. T.
Erstes Kapitel
Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens
I. Die Unterhalts für sorge
Wie alle lebendige Kreatur muß der Mensch, uni sein Leben
zu erhalten , unausgesetzt sein individuelles Dasein durch Be¬
standteile der stofflichen Natur ergänzen, die er zu seinem Ver¬
zehr von außen hereinnimmt und seinen Bedarfszwecken an¬
zupassen trachtet. Daß der Mensch den Kreis seiner Bedürfnisse
über die elementaren Unterhaltsmittel hinaus ausgeweitet und
eine neue Bedarfswelt im „Kulturbedarf“ geschaffen hat, macht
nur einen Gradunterschied aus. Auch die Tierwelt hat einen
außerordentlich verschiedenen, nach Menge und Güte abgestuften
Sachgüterbedarf.
Gemeinsam mit aller lebendigen Kreatur ist der Mensch aber
auch vor die Notwendigkeit gestellt, einen großen Teil seiner
Lebenskraft der Beschaffung jenes Sachgütervorrats, an dem sein
Leben hängt, zu widmen. Er muß sich, weil die ihn umgebende
Natur im Verhältnis zu seinem Bedarf spröde ist, um die
„Deckung seines Bedarfs“ kümmern, er muß „Unterhaltsfürsorge“
betreiben.
Diese Unterhaltsfürsorge , die ein wie gesagt gemeinsames
Kennzeichen aller Lebewesen auf dieser Erde ist, stellt sich in
einem regelmäßigen Kreislauf dar, der in der natürlichen Be¬
schaffenheit der bedürfenden Wesen und der zu ihrem Verzehr
notwendigen Sachdinge begründet ist : Gegenstände der äußeren
Natur werden hereingenommen und dem Bedarfszweck angepaßt:
der Vogel holt sich Federn und legt sie zum Nest zurecht: er
„baut“ sein Nest: wir nennen diesen ersten Akt Produktion.
Die Güter werden, nachdem sie produziert worden sind, ihrer
Bestimmung (dem Verzehr) zugeführt: der Vogel speist die
einzelnen Jungen mit den herbeigeschleppten Mücken: das ist,
wie wir sagen, der Akt der Verteilung. Dann werden die
Güter. ge- oder verbraucht : Akt der Konsumtion, auf den mit
Notwendigkeit wieder ein Produktionsakt folgen muß. Produktion
4
Einleitung
(„Erzeugung“) — Verteilung — Konsumtion („Verzehr“) wieder¬
holen sich so immerfort , bis das letzte Leben von dieser Erde
verschwunden sein wird.
Alle Gegenstände der äußeren Natur, die für" die Unterhalts¬
fürsorge in Betracht kommen, bezeichnen wir als (Sach-) Güter
oder materielle Güter (im Gegensatz zu den rein geistigen [im¬
materiellen] Gütern). Sie sind entweder schon als solche erkannt
(effektive Güter) oder nicht, obschon sie eine sachliche Eignung
besitzen, bei der Unterhaltsfürsorge Verwendung zu finden: der
Wollfaden konnte dem Vogel von jeher als Baumaterial dienen;
erst im Getriebe der Städte aber wurde er als solches „entdeckt“.
Dienen die Sachdinge dem unmittelbaren Verzehr, so sprechen
wir von Konsumtivgütern, dienen sie zur Herstellung anderer
Güter, so sind es Produktivgüter. Jene bezeichnen wir nach
dem Vorgänge Carl Mengers als Güter erster Ordnung, diese
als Güter höherer (zweiter, dritter usw.) Ordnung.
Alle Produktion oder Gütererzeugung, wie wir etwas voll-
mäulig sagen, beruht darauf, daß wir lebendige Wesen einen
Aufwand von Energie machen, mittels dessen wir in der Umwelt
(der „Natur“) vorhandene Stoffe oder Kräfte unserm Bedarfs¬
zweck entsprechend formen. In jedem Produktionsakt wirken
also Arbeit und Natur notwendig zusammen, die wir deshalb als
Produktionsfaktoren bezeichnen können, jene als den
persönlichen, diese als den sachlichen Produktionsfaktor.
Die äußere Natur erscheint in jedem Produktions vorgange
1. als Arbeitsbedingung; 2. als Arbeitsgegenstand. In ihrer ersten
Funktion schafft sie die sachlichen Bedingungen produktiver
Arbeit, mögen nun diese Bedingungen von Natur gegeben sein,
wie die Erde als Standort, die Luft als Atmosphäre, die Kräfte ;
oder erst in der dem Produktionszwecke entsprechenden Form
hergestellt werden, wie Arbeitsgebäude, Wege, Kanäle, Wachs¬
zellen der Bienen. Der Arbeitsgegenstand ist dasjenige Ding,
an dem sich die Arbeit betätigt. Auch er wird entweder in der
Natur fertig vorgefunden, oder er ist selbst schon Produkt. In
diesem Falle nennen wir den Arbeitsgegenstand Rohmaterial.
II. Die Technik
Die bisherige Darstellung hat die Bestandteile der Unterhalts¬
fürsorge aufgewiesen, wie sie in jeder Unterhaltsfürsorge
- — tierischer wie menschlicher — gleichmäßig wiederkehren.
Erstes Kapitel: Die Gruudtatsacheu des Wirtschaftslebens 5
Nunmehr sind die der menschlichen Unterhaltsfürsorge besonderen
Erscheinungen zu betrachten, die diese zur Wirtschaft machen.
Das erste, was die menschliche Unterhaltsfürsorge auszeichnet,
ist ein dem Menschen eigenes Verfahren bei der Gfütererzeugung
(die immer für alle Sachbehandlung, also auch namentlich den
Gütertransport steht) : die Anwendung dessen , was wir füglich
die instrumentale Technik, oder wenn wir den Sinn dieses
Wortes beschränken wollen: die Technik überhaupt nennen.
Unter Technik verstehen wir im weitesten Sinne alle Ver-
fahrungsweisen zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, unter
materieller oder ökonomischer Technik also alle Verfahrungs-
weisen zur Gütererzeugung.
Im einzelnen besteht die technische Fähigkeit:
1. in den Kenntnissen von den Eigenschaften der uns um¬
gebenden Natur. Dieses technische Wissen erstreckt sich auf
die Nutzbarkeit der Stoffe, der Kräfte und der Umbildungsprozesse
der Natur selbst;
2. in dem technischen Können. Dieses äußert sich entweder
bloß in einer bestimmten Methode zur Ausführung von Tätig¬
keiten. Solcher Methoden sind vor allem zwei als besonders
bedeutsam hervorzuheben: die Zerlegung der Gesamttätigkeit
in ihre einzelnen Bestandteile, die dann als besondere Ver¬
richtungen erscheinen; und die Vereinigung des Materials, bei
der ein und dieselbe Verrichtung gleichzeitig statt nacheinander
an gleichartigen Gegenständen ausgeführt wird.
Oder aber das technische Können entwickelt sich zu einer
instrumentalen Technik. Darunter verstehe ich ein solches
Verfahren, bei dem zur Herbeiführung des technischen Erfolges
irgendwelche Sachdinge, Instrumente, zur Verwendung gelangen.
Bei der Gütererzeugung bezeichnen wir diese Instrumente als
Arbeitsmittel, die also als dritte Form der Naturbeteiligung
(neben Arbeitsgegenstand und Arbeitsbedingung, die aller
Unterhaltsfürsorge eigentümlich sind) bei der menschlichen Unter¬
haltsfürsorge zu betrachten sind. Sämtliche Bestandteile des
sachlichen Produktionsfaktors können wir auch Produktions¬
mittel im weiteren Sinne nennen und unter ihnen diejenigen
als Produktionsmittel im engeren Sinne unterscheiden, die bereits
Arbeitsprodukte sind. Ich werde im folgenden, wo nichts be¬
sonders gesagt ist, von Produktionsmitteln in jenem weiteren
Verstände als dem Inbegriff sämtlicher sachlicher Produktions¬
faktoren sprechen.
6
Einleitung
Genauer angesehen ist das Arbeitsmittel (nach der
Marx sehen Begriffsbestimmung) ein Ding oder ein Komplex
von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeits¬
gegenstand schiebt, um sie als Machtmittel auf andere Dinge
seinem Zwecke gemäß wirken zu lassen. Wir können aktive
und passive Arbeitsmittel unterscheiden. Marx bezeichnet
jene als „die mechanischen Arbeitsmittel, deren Gesamtheit
man das Knochen- und Muskelsystem der Produktion nennen
kann“; es sind Werkzeuge und Maschinen, die tätig unter der
Leitung des Menschen in die neuzuformende Materie ein-
greifen, während die andere Kategorie der Arbeitsmittel die mehr
passive Bolle in der Produktion spielt, als Behälter für Stoffe
und Kräfte zu dienen; es sind -dies die Kessel, Böhren, Bottiche,
Fässer, Körbe, Krüge usw., jene Arbeitsmittel, „deren Gesamtheit
ganz allgemein als das Gefäßsystem der Produktion bezeichnet
werden kann“.
Ein Werkzeug ist ein Arbeitsmittel, das zur Unterstützung
der menschlichen Arbeit dient (Nähnadel), eine Maschine ist
ein Arbeitsmittel, das menschliche Arbeit ersetzen soll, das also
das selbst tut, was ohne es der Mensch tun würde (Nähmaschine).
Die umfangreiche Literatur, die sich an diese meine Unter¬
scheidung von Werkzeug und Maschine knüpft, veranlaßt mich nicht
zu irgendwelcher Änderung. Wenn man festhält, daß die Begriffe
der beiden Arbeitsmittel im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit für
wirtschafts-wissenschafüiche Erkenntnis gebildet worden sind (und hier
gebildet werden müssen), kann man nicht wohl anders unterscheiden,
als ich es tue : denn nur bei dieser Gegenüberstellung wird das
ökonomisch Wesentliche , die Beziehung zur Arbeitsverrichtung als
Hauptmerkmal der Begriffe anerkannt.
Tn der Verwendung von Arbeitsmitteln äußert sich also die
erste, ganz bedeutsame Eigenart menschlicher Unterhaltsfürsorge.
Es bleibt dabei: Der Mensch ist „ein Werkzeug machendes
Tier“ (a tool making animal).
Nicht nur in dem äußerlichen Sinne, daß (vielleicht rein zu¬
fällig) der Mensch sich des Arbeitsmittels bedient, das Tier nicht.
Sondern in dem tieferen Sinne, daß in der Verwendung von
Werkzeugen (die hier für alle Arbeitsmittel und alle Waffen
stehen) das dem Menschen eigentümliche Gebaren : ein bewußtes
Handeln nach Zweckvorstellungen am deutlichsten zum Ausdruck
kommt, daß aber auch (was noch bedeutsamer ist) aller Ver¬
mutung nach sich dieses besondere Menschtum an dem Werk¬
zeuge in die Höhe gerankt hat. Da dieses es dem Menschen
Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens
7
möglich und dann wieder notwendig machte, durch die Ent¬
faltung der rein geistigen Fähigkeiten sich zum Herren der Erde
aufzus ch wingen .
in. Die Arbeit und ihre Organisation
1. Der Mensch lebt, indem er seine Kräfte betätigt. Die
menschliche Tätigkeit unterscheidet sich dadurch (oder wird von
uns unterschieden) von der tierischen, daß sie ein vernunftgemäßes
Handeln, d. h. ein Handeln nach Zwecken ist. Diejenige mensch¬
liche Tätigkeit, die einem außer ihr liegenden Zwecke dient,
können wir als Arbeit dem Spiel gegenüberstellen, das in sich
selbst jenen Zweck findet.
Damit versuche ich, den Begriff der Arbeit nach rein objektiven
Merkmalen zu bestimmen. Nur so gewinnt er, scheint mir, die er¬
forderliche Eindeutigkeit, während ihm jede Einfügung subjektiver
Momente notwendig etwas Unbestimmtes und Schwankendes gibt. Der
meist gegangene Weg, um zu dem Begriffe der Arbeit zu gelangen,
führt über die Werturteile der Mühsal einerseits , der Nützlichkeit
anderseits. Jeder Versuch, diese beiden Kategorien eindeutig fest¬
zustellen, muß jedoch, eben wegen ihrer Eigenschaft als Werturteile,
scheitern. Nach meiner Definition ist also Arbeit ebenso die Tätig¬
keit, die der Dieb aufwendet, um einen Einbruch auszuüben, obwohl
sie (sozial) schädlich ist wie diejenige Beschäftigung, die „keine
Mühe“ macht, wenn sie nur auf einen außer ihr selbst liegenden Zweck
gerichtet ist.
Produktivität (oder Ergiebigkeit) der Arbeit nennen wir
ihre Fähigkeit, in einer gegebenen Zeit eine bestimmte Menge
Güter zu erzeugen •, Intensität der Arbeit die Größe des Energie¬
aufwands in einer gegebenen Zeit.
2. Alle menschliche Arbeit ist gesellschaftliche Arbeit,
das Problem der menschlichen Arbeit ist deshalb immer (auch)
ein soziologisches.
Gesellschaftlich ist alle menschliche Arbeit in dem Sinne,
daß die Arbeit keines Menschen ohne die Arbeit eines anderen
Menschen möglich ist. Die Menschwerdung hat sich nur im
Rahmen einer menschlichen Gemeinschaft vollziehen können, und
auf der Arbeit aller früheren Geschlechter ruht die Arbeit heute
auch des einsamsten Menschen.
Es ist oft mit Recht betont worden, daß Robinson, als er
(was nicht einmal in vollem Umfange der Fall war, da er ein
Kleidungsstück oder sonst eine Kleinigkeit gerettet hatte) ohne
alle Habe an den Strand einer unbewohnten Insel gespült wurde,
8
Einleitung
0
doch die Erinnerung an viele Kenntnisse und Fertigkeiten als
unerläßliche Ausrüstung für seinen Daseinskampf mit auf den
Weg bekommen hatte, ohne die er nicht imstande gewesen
wäre, sein Leben aufzubauen. Das heißt: nur als kunstvolles
Erzeugnis einer Jahrtausende alten Kultur ist ein Kobinson
denkbar. Diese Verkettung der menschlichen Arbeit in der Zeit
besteht also immer; die Verkettung ist entweder eine rein ideelle
(erinnerungsmäßige) oder eine materielle : durch Arbeitsprodukte
vermittelte. Unsere Arbeit ruht zu jeder Zeit auch auf den
Arbeitsprodukten der Vergangenheit. Ist die rein ideelle Ver¬
kettung der menschlichen Arbeit in der Zeit kein besonderes
menschliches Phänomen, sondern allen Lebewesen gemeinsam,
so ist die materielle Verkettung fast ausschließlich den Menschen
eigen. Das gilt in noch höherem Grade von der anderen Art
der Verkettung: der Verkettung im Kaum: Immer ist der Erfolg
der menschlichen Arbeit an die Arbeit anderer zu seinen Leb¬
zeiten geknüpft. In primitiven Zuständen wird die Arbeit des
einzelnen ermöglicht durch die Mitarbeit oder Aucharbeit seiner
Genossen in der Gemeinschaft, in der er lebt. Heute ist die
Arbeit des einzelnen verknüpft mit der Arbeit Tausender und
Abertausender, deren Arbeitserzeugnis er sich auf dem Wege des
Produktenaustausches zu eigen macht. Es ist nur ein Grad¬
unterschied in dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, wenn
eine bestimmte Arbeit in räumlicher Gemeinsamkeit von mehreren
zugleich ausgeführt wird.
3. Alle menschliche Arbeit, da sie eine gesellschaftliche Tat¬
sache ist, steht unter einer bestimmten Ordnung. Denn ord¬
nungsmäßig muß jede planvolle Tätigkeit sich vollziehen, sobald
sie mehrere Menschen miteinander in Verbindung bringt. In
der Ordnung wird der Plan objektiviert. Wir sprechen, wenn
wir die Ordnung der menschlichen Arbeit im Auge haben, von
ihrer Organisation. Der Organisation der menschlichen Arbeit
liegen zwei — und nur zwei — Prinzipien zugrunde : die S p e -
zialisation und die Kooperation. Alle anderen Möglich¬
keiten, die menschliche Arbeit in einer bestimmten Weise zu
ordnen, sind nur Unterarten dieser beiden Prinzipien.
Ob man diese verschiedenen Möglichkeiten mit besonderen Aus¬
drücken bezeichnen will oder nicht, wird der einzelne nach seinen
Neigungen entscheiden. Neuerdings hat eine sehr weit spezialisierende
Nomenklatur wiederum Willy Hellpach vorgeschlagen in seinem
Aufsatz, den er im 35. Bande des Archivs für Sozial Wissen¬
schaft (zitiert: Archiv) veröffentlicht hat. Mir sagen die einzelnen
Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens 9
Ausdrücke und die einzelnen Unterscheidungen wenig • sie verwirren
mich eher, als daß sie mir Klarheit geben. Ich bleibe deshalb lieber
bei den zwei Kategorien der Spezialisation und Kooperation, die, wie
gesagt, alle denkbaren Möglichkeiten der Arbeitsorganisation ein¬
schließen. Ganz verfehlt erscheint mir das Beginnen, die objektive
Unterscheidung der verschiedenen Orgauisationsprinzipien in einen
irgendwelchen Zusammenhang mit der rein subjektiven Beziehung der
menschlichen Natur, oder gar des menschlichen Bewußtseins, oder des
menschlichen Lust- oder Unlustgefühls zu den Arbeitsverrichtungen zu
bringen. Wie eine bestimmte Arbeit auf den Menschen wirkt, ist ein
(nebenbei bemerkt psychologisches und nicht soziologisches) Problem
ganz für sich.
Unter Spezialisation verstehe ich diejenige Art der An¬
ordnung. welche einem und demselben Arbeiter gleiche, wieder¬
kehrende Verrichtungen dauernd zuweist. Der Grad der Speziali¬
sation kann außerordentlich verschieden sein. Es war eine
Anwendung des Prinzips der Spezialisation, als zuert die Frauen
Frauenarbeit, die Männer Männerarbeit verrichteten, als zuerst
die Schmiedearbeit oder die Töpferei dauernd von je demselben
Arbeiter ausgeübt wurde , und es ist nur eine gesteigerte An¬
wendung desselben Prinzips, wenn in der modernen Konfektion
eine Arbeiterin ihr ganzes Lebenlang nur Hornknöpfe an Männer¬
westen annäht. Es bleibt sich grundsätzlich ebenso gleich, ob
die Teilverrichtung, die ein Arbeiter dauernd vornimmt, durch
horizontale oder vertikale Spaltung des vorher vereinigt ge¬
wesenen oder gedachten Gesamtarbeitsprozesses entsteht: ob
zwischen Schlosserei und Schmiederei oder zwischen Gerberei
und Schuhmacherei die Trennung sich vollzieht. Es ist aber
endlich für den Begriff der Spezialisation gleichgültig, ob die
Spezialisation zwischen Betrieben (worüber sogleich zu reden
sein wird) oder innerhalb eines Betriebes erfolgt. In jenem Falle
entsteht das , was wir Spezialbetriebe nennen , unter denen es
abermals eine außerordentlich mannigfache Gradabstufung gibt,
innerhalb deren aber keinerlei irgendwie feste Grenze für eine
spezifische Unterscheidung zu ziehen ist.
Die Schmiederei als Ganzes ist ein Spezialbetrieb, verglichen mit
der ehemals sie mitumfassenden hausgewerblichen Gesamtproduktion;
die Schmiederei ist ein spezialisierter Betrieb , nachdem sich die
Schlosserei von ihr geschieden hat; die Werkzeugschmiederei ist
innerhalb der so spezialisierten Schmiederei wiederum ein Spezialbetrieb,
die Sensenschmiederei innerhalb der Werkzeugschmiederei usw. Statt¬
haft ist es natürlich, bei historischen Betrachtungen einen bestimmten
Grad der Spezialisation als fest gegeben anzunehmen, diejenigen Be¬
triebe, die ihn aufweisen, als „Vollbetriebe“ und alle nur Teile dieses
10
Einleitung
Vollbetriebes umfassende Betriebe als „Spezialbetriebe“ zu bezeichnen.
So verfahren wir mit vollem Recht, wo wir die Zersetzungsprozesse
des alten „Handwerks“ uns klar zu machen haben.
Kooperation ist die Mitwirkung mehrerer an einem Gesamt¬
werk, das selbst nur durch die konsumtive Verwendung oder
gegenständlich bestimmt sein kann. Kooperation kann statt¬
haben, wenn die Arbeit nicht spezialisiert ist, sie muß statt¬
haben. wenn diese spezialisiert ist. Denn alsdann stellt sie die
notwendige Vereinigung der Teilarbeiten her.
Ersichtlich ist, daß Kooperation und Spezialisation alsdann
in demselben Verhältnis zueinander stehen , wie in der organi¬
schen 'Welt oder in der mathematischen Vorstellung Integrierung
und Differenzierung. Es steht natürlich nichts im Wege, diese
Bezeichnungen auch auf die Organisation der menschlichen Arbeit
anzuwenden, vorausgesetzt, daß man sich der rein bildmäßigen
Bedeutung der andern Welten entlehnten Ausdrücke jederzeit
bewußt bleibt.
4. Wenn wir das große Phänomen: menschliche Arbeit als
Ausfluß vernünftigen Tuns denken, so erscheinen uns die tausend
verschiedenen Einzelhandlungen zu innerlich zusammenhängenden
Einheiten von Tätigkeiten verbunden durch ihre Abhängigkeit
je von einem besonderen Arbeitspläne. Die Welt der Arbeit
gliedert sich also in unserer Vorstellung in ebensoviele einheitlich
gestaltete Arbeitsprozesse als Arbeitspläne vorhanden sind. Bei
einem höheren Grade von Zusammenhang bei dauerndem Ver¬
bundensein einzelner Handlungen zu einem Ganzen sprechen
wir von Betrieben. Und wir können genauer als Betriebe be¬
zeichnen: Veranstaltungen zum Zwecke fortgesetzter
Werkverrichtung.
Betreibt eine Person allein eine Arbeit, bildet sie mit ihrer
AVerkverrichtung allein den Betrieb, so genügt zur Regelung
ihrer Tätigkeit, zur Einrichtung und Auffechterhaltung des Be¬
triebes ein rein subjektiver Plan. Dieser muß sich aber not¬
wendig in einer Ordnung objektivieren, sobald mehrere Personen
ihre Arbeit zu gemeinsamem Wirken vereinigen. Denn damit
aldann die Tätigkeit des einzelnen sich planmäßig einfüge in die
Gesamtarbeit, muß sie von vornherein an die richtige Stelle und
die richtige Zeit und zur richtigen Art disponiert sein. Es er¬
gibt sich danach stets eine Betriebsordnung; sie mag gedacht,
gesprochen, geschrieben, gedruckt sein; sie mag stillschweigend
Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens H
vereinbart oder ausdrücklich erlassen, sie mag autonom oder
heteronom für die einzelnen Organe des Arbeitsprozesses sein —
das bleibt sich gleich, genug sie ist da.
Die Gesamtaufgabe der Betriebsanordnung, können wir sagen,
ist die zweckentsprechende Zusammenfügung der einzelnen Pro¬
duktionsfaktoren zu einem Ganzen durch ihre richtige Verteilung
über Raum und Zeit. Im einzelnen bezieht sich die Betriebs¬
anordnung auf folgende Punkte, in denen allen die Einheit der
Anordnung nachweisbar sein muß, damit wir von einem Be¬
triebe reden dürfen:
a) die Einleitung des Arbeitsprozesses; dazu gehört Ver¬
fügungsgewalt über Annahme, Anstellung, Entlassung der
Arbeiter in quantitativer wie qualitativer Hinsicht sowie
Verfügungsgewalt über die zur Produktion nötige Werk-
stätte und die erforderlichen Arbeitsmittel;
b) die Gestaltung des Arbeitsprozesses, d. h. die Be¬
stimmung über den Ort, wo? und die Zeit, wann? ge¬
arbeitet werden soll;
c) die Ausführung des Arbeitsprozesses, d. h. die Für¬
sorge für die tatsächliche Durchführung des vorgezeich¬
neten Planes, für die vorschriftsmäßige Abwicklung des
Arbeitsprozesses; mit anderen Worten: auch die Leitung
muß eine einheitliche sein , was sich äußerlich in der
Identität der leitenden, aufsichtsführenden Organe kundgibt b
Was ein Betrieb sei, ist oft gefragt und in sehr verschiedenem
Sinne beantwortet worden. Man wird am besten tun, in der
Einheit der Betriebsordnung auch die Einheit des Be¬
triebes zu erblicken. Was die Einheit ■ herbeiführt , kann ent¬
weder in der Sache begründet sein: objektive oder Werkeinheit;
oder aus der willkürlichen Zwecksetzung des Arbeitenden her¬
rühren; subjektive oder Zweckeinheit. Der Zweck kann ein
verschiedener in ein und demselben Arbeitsumkreis sein.
„Bisweilen ist ein anderer der Zweck des Wirkenden und
ein anderer der Zweck des Werkes an sich betrachtet; wie
der Baumeister zum Zweck haben kann den Geldgewinn, der
Zweck des Bauens aber ist das Haus.“ (S. Thomas.)
Das wird namentlich eine grundlegend wichtige Unterschei¬
dung in der kapitalistischen Wirtschaft, wo der Zweck des
1 Genaueres siehe in der ersten Auflage dieses Werks und in dem
Aufsatze im „Archiv“ Bd. 37, S. 12 ff.
12
Einleitung
Wirkenden und der Zweck des Werkes immer auseinandei-
fallen. Ick hake früher die durch jenen geschaffene Einheit
Wirtschaft, die durch diesen geschaffene Betrieb genannt und
jene Einheit als Yerwertungsgemeinschaft, diese als Werkgemein¬
schaft bezeichnet. Besser ist es, einen Oberbegriff Betrieb zu bilden
und innerhalb dieses Betriebsbegriffes : einen Wirtschafts- (oder
V erwertungs-jbetrieb von den Werkbetrieben zu unterscheiden.
5. Die sehr verschiedenen Formen, die die Betriebe an¬
nehmen können, werden wir uns in ihrer Eigenart am besten
verständlich machen, wenn wir als das unterscheidende Merkmal
je die besondere Anordnung der Produktionsfaktoren heraus¬
greifen, und zwar in der Weise, daß wir vor allem das Ver¬
hältnis des einzelnen Arbeiters zu dem Gesamtprozeß und dem
Gesamtprodukt uns zu vergegenwärtigen suchen. Denn alle
Wesenheit der Betriebsgestaltung tritt letzten Endes in der Be¬
sonderheit dieses Verhältnisses in die Erscheinung. Das Ver¬
hältnis des Arbeiters zu seinem Werk kann grundsätzlich ein
zweifaches sein-, entweder Wirken und Werk gehören einem
Individuum eigentümlich an, sind der erkennbare Ausfluß seiner
und nur seiner höchstpersönlichen Tätigkeit, sind somit selbst
individuell und persönlich (wohlverstanden: soweit es sich um
diejenige Arbeit handelt, die sich innerhalb des Rahmens eines
Betriebes abspielt); oder Wirken und Werk sind das gemein¬
same, in seinen Einzelteilen nicht als individuelle Arbeit unter¬
scheidbare Ergebnis der Tätigkeit vieler, bestehen nur als Ge¬
samtwirken und Gesamtwerk, sind also nicht persönlich, nicht
individuell, sondern kollektiv, gesellschaftlich. Danach lassen
sich die Betriebe in die zwei Gruppen der individuellen und
der gesellschaftlichen Betriebe einteilen, je nachdem in
ihnen das Produkt als das Werk eines Arbeiters oder einer
Gesamtheit von Arbeitern erscheint.
Eines Arbeiters: Das ist streng genommen nur der Fall im
Alleinbetriebe. Man wird aber den Individualbetrieben auch
diejenigen zurechnen dürfen, in denen entweder ein paar Arbeiter
nebeneinander je ein besonderes Werk verrichten oder in denen
der Hauptarbeiter von einigen wenigen Hilfspersonen unterstützt
wird: das sind die Gehilfenbetriebe. Nach der Zahl der
beschäftigten Personen (dem einzigen Kriterium, das die Statistik
kennt) gehören die Individualbetriebe der Kategorie der „Klein“ -
oder „Mittelbetriebe an, während die gesellschaftlichen Betriebe
meist „Groß “betriebe sind,
Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens 13
Unter den gesellschaftlichen Großbetrieben unterscheiden wir,
insbesondere in der gewerblichen Produktion, Manufaktur und
Fabrik.
Manufaktur nenne ich denjenigen gesellschaftlichen Gro߬
betrieb, in dem wesentliche Teile des Produktionsprozesses durch
Handarbeit ausgeführt werden. Fabrik nenne ich denjenigen
gesellschaftlichen Großbetrieb , in welchem die entscheidend
wichtigen Teile des Produktionsprozesses von der formenden Mit¬
wirkung des Arbeiters unabhängig gemacht, einem selbsttätig
wirkenden System lebloser Körper übertragen worden sind. Ihre
besondere Funktion ist die : die durch die Einführung der
Maschinerie und des wissenschaftlich chemischen Verfahrens in
die Produktion ermöglichte Überwindung der qualitativen wie
quantitativen Beschränktheit des individuellen Arbeiters in jeweils
höchst vollendeter Weise in die Wirklichkeit zu übertragen.
Dafür ist in ihr für die Entfaltung individuell -persönlichen
Wirkens kein Raum mehr k
Besondere Formen nimmt der Wirtschaftsbetrieb an : Wirt-
schaftsformen nenne ich sie.
IV. Die Wirtschaft
Wirtschaft heißt die menschliche Unterhaltsfürsorge. Mithin
werden wir in aller Wirtschaft antreffen:
1. eine bestimmte Wirtschaft sgesinnung, womit ich
alles Geistige bezeichne, von dem die einzelnen wirtschaftlichen
Tätigkeiten bestimmt werden : also alle Wertvor Stellungen, Zweck¬
setzungen, Maximen, die in den die Wirtschaft gestaltenden
Personen, die wir Wirtschaftssubjekte nennen wollen,
lebendig werden. Die Wirtschaftsgesinnung der Wirtschafts¬
subjekte objektiviert sich in den Wirtschaftsprinzipien.
2. eine bestimmte Technik, also bestimmte Verfahrungs-
weisen, deren sich die Wirts chafts Subjekte zur Durchführung ihrer
Zwecke bedienen;
3. eine bestimmte Organisation der Arbeit, also eine
bestimmte Ordnung, der alle einzelnen wirtschaftlichen Vor¬
nahmen unterliegen.
1 Eingehender habe ich das Problem der Betriebsformen in der
ersten Auflage und in dem erwähnten Archivaufsatze behandelt. Dort¬
selbst habe ich mich auch mit der im Anschluß an meine Systematik
entstandenen Literatur auseinandergesetzt.
14
Zweites Kapitel
Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft
I. Die Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens
Ein Blick in die Wirklichkeit des wirtschaftlichen Geschehens
in der Gegenwart, eine Betrachtung des Wirtschaftslebens in
vergangenen Zeiten überzeugen uns davon, daß die Menschen
zwar zu allen Zeiten und an allen Orten gewirtschaftet haben
und daß in aller menschlichen Wirtschaft eine Reihe von Grund¬
tatsachen wiederkehrt, aber doch ebenso von der Wahrheit,
daß die Formen, in denen sich das Wirtschaftsleben abspielt,
von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort außerordentliche Verschieden¬
heiten aufweisen. Ein näheres Zusehen und eine kurze Besinnung
belehren uns, daß diese Verschiedenheit aus der verschiedenen
Gestaltung der drei die menschliche Wirtschaft kennzeichnenden
Grundtatsachen sich ableitet. Wir vergegenwärtigen uns, welche
Möglichkeiten solcher Gestaltungen bestehen1.
1. Die Wirtschaftsprinzipien. Unterschiedlichkeiten
ergeben sich zunächst durch die verschiedene Zwecksetzung der
Wirtschaftssubjekte. Dabei können wir zwei wesentlich ver¬
schiedene Arten der Zwecksetzung vor allem unterscheiden.
Die Menschen streben nämlich entweder nach der Beschaffung
eines nach Umfang und Art fest umschriebenen Vorrats von
Gebrauchsgüte rn , das heißt: sie suchen ihren naturalen Bedarf
zu decken; oder, sie erstreben Gewinn, das heißt: sie suchen
eine möglichst große Geldmenge durch ihre wirtschaftliche Tätig¬
keit zu erwerben. Im ersten Falle, sagen wir, stehen ihre Hand-
lungen-im Banne des Bedarfsdeckungsprinzips, im andern
Falle im Banne des Erwerbsprinzips.
Eine Verschiedenheit der Wirtschaftsprinzipien ergibt sich
ferner durch die verschiedene Möglichkeit der Wirtschaftsführung.
Diese ist entweder traditionalistisch oder rationalistisch.»
1 Es wird hier nur das Schema der Möglichkeiten aufgestellt, und
diese werden kurz skizziert. Je am passenden Ort werden die ver¬
schiedenen „Möglichkeiten“ ausführlich beschrieben werden.
Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft 15
Traditionalistisch , wenn sie auf einer gedankenlosen Befolgung
überkommener .Regeln , rationalistisch , wenn sie auf dem be¬
wußten Willen zu einer grundsätzlichen Zweckmäßigkeit aller
Vornahmen beruht.
2. Die Tech nik. Deren Verschiedenheit wird ebenfalls vor
allem durch den Gegensatz des rationellen und empirischen
Verfahrens bewirkt. Ist die Herbeiführung des technischen
Enderfolges das Ergebnis einer bewußt - vernünftigen Zweck¬
mäßigkeitserwägung, so sprechen wir von einem rationellen
Verfahren, und ruht dieses auf der kausalen Erklärung der Natur¬
erscheinungen, von einem wissenschaftlichen Verfahren;
beruht die technische Fähigkeit dagegen auf einer bloß über¬
kommenen und gedankenlos übernommenen Kunstfertigkeit, so
nennen wir das Verfahren empirisch.
3. Die Organisation. Eine bunte Mannigfaltigkeit ergibt
sich gar erst, wenn wir alle möglichen Anordnungen und Ein¬
richtungen uns vergegenwärtigen, die durch die Organisation der
Wirtschaft ins Leben gerufen werden. Diese bestimmt:
a) die Art und Weise, wie die für die Produktion not¬
wendigen Faktoren — Produktionsmittel und Arbeits¬
kräfte — zu produktiver Tätigkeit herangezogen werden: ob
beispielsweise die Arbeitskräfte als Familienangehörige dem Be¬
fehle des Familienoberhauptes folgend zur Arbeit kommen; oder
ob sie als Fremde zwangsweise herbeigeschleppt werden; ob
sie von der staatlichen Obrigkeit in einer Gesellschaft freier
Menschen zu Arbeiten bestimmt werden; ob sie als gleich¬
berechtigte Genossen sich zu gemeinsamer Arbeit verabreden ;
ob sie als Ware auf dem Markte gekauft, ob als Gehilfen gegen
Entgelt vielleicht nach obrigkeitlich festgestellten Taxen ange¬
worben werden usw. ;
b) die Art und Weise, wie die bei der Produktion mit¬
wirkenden Personen Einfluß aus üben auf die Gestaltung und
den Gang jener. Produktionsleiter ist ja das Wirtschaftssubjekt.
Aber' die Stellung der übrigen Produktionsteilnehmer zu diesem
kann außerordentlich verschieden sein: vom unbeschränktesten
Despotismus bis zur freiesten demokratischen Verfassung sind
hier Abstufungen in den Beziehungen des Leiters zu den Ge¬
leiteten denkbar und wirklich;
c) die Art und Weise, wie das Produkt verwendet wird :
ob es bestellenden Kunden gegen Entgelt geliefert, ob es auf
dem Markte verkauft, ob es in der Wirtschaft des Produzenten
16
Einleitung
verzehrt, oh es auf dem Meierhofe oder in der Abtei abgeliefert,
ob es in einem staatlichen Magazine deponiert wird usw. ;
d) die Art, und Weise, wie die bei der Produktion Mit-
wirkenden am Produktionsertrage teilnehmen: ob
gar nicht — man denke an die abgabenpflichtigen Fronbauern — ;
ob mit einer Quote des Ertrages, ob mit einer unabhängig vom
Ertrage festgesetzten Wertsumme — in natura oder in Geld — ;
ob die Anteilnahme auf dem Wege stillschweigender Vereinbarung
oder freier ausdrücklicher Abmachung oder obrigkeitlicher Nor¬
mierung oder sonstwie stattfindet;
e) die Art und Weise, wie der Arbeitsprozeß organi¬
siert ist: ob in kleinen oder großen Betrieben usw.;
f) die Art und Weise, wie die Wirtschaftsform gestaltet ist.
II. Die Bedingtheit des Wirtschaftslebens
Eine ebenfalls schlichte Besinnung führt uns zu der Einsicht,
daß die eigenartige Gestaltung, die das Wirtschaftsleben erfährt,
von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig ist, anders
ausgedrückt, daß sich ein besonderes Wirtschaftsleben auf einer
Anzahl geistiger und materieller , natürlicher und künstlicher
Gegebenheiten aufbaut.
Die Bedingungen des Wirtschaftslebens sind entweder homo¬
gene oder heterogene. Homogene Erscheinungen sind solche,
die der Verwirklichung der in den Wirtschaftssubjekten vor¬
herrschenden Zweckreihen günstig sind. Heterogene Erschei¬
nungen dagegen nenne ich diejenigen, die der Erreichung der
von den führenden Wirtschaftssubjekten erstrebten Ziele Hinder¬
nisse bereiten.
Ihrer eigenen Art nach sind unsere Bedingungen entweder
Natur- oder Kulturbedingungen, je nachdem sie dem
Menschen von der Natur fertig gegeben oder von ihm selbst erst
geschaffen werden.
Land und Volk sind die beiden Kreise, innerhalb deren sich
die Naturbedingungen bewegen.
Das Land kann bestimmend für die Gestaltung des Wirt-
Schaftslebens werden durch das, was der Boden in sich birgt:
sei es an Pflanzennährstoffen, sei es an Mineralien. Kann be¬
stimmend werden durch das Klima, durch seine geographische
Lage, durch seine innere Gliederung.
Das Volk ist gewiß zum guten Teil ein Gebilde von Menschen¬
hand, und seine Art, muß insoweit als Kulturbedingung des
Wirtschaftslebens gewürdigt werden, Al: er es stellt doch auch
Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft 17
für alle Kultur ein von Natur Gegebenes dar und ist auch eine
(mächtig wirksame) Naturbedingung. Die Bevölkerung gewinnt
Einfluß auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens von zwei Seiten
her: durch ihre Blutsbeschalfenheit, die Weltauffassung, Leistungs¬
fähigkeit, Temperament bestimmt und durch ihre Mengenver¬
hältnisse, die sich in Dichtigkeit, Altersaufbau und Zuwachsrate
äußern.
Die „Kultürbedingungen“ der Wirtschaft sind so mannig¬
faltig als es Äußerungen der Kultur gibt. In systematischer
Anordnung ergibt sich folgende Übersicht: Bedingungen
A. der objektiven Kultur: das heißt aller Kultur, die
außerhalb des Individuums ihre Existenz hat, deren Bestand das
Einzelleben überdauert, weil sie in irgendeinem Gegenstände,
mag dieser auch nur die Bedeutung eines Symbols haben: wie
etwa eine Fahne oder ein Standbild des Monarchen „ob¬
jektiviert“ ist.
Die objektive Kultur stellt sich also dar in einem bestimmten
Kulturbesitz, dieser ist
I. materieller Natur. Der materielle Kulturbesitz wird
gebildet durch die Gesamtheit der einer Gemeinschaft von
Menschen zur Verfügung stehenden Sachgüter.
II. ideeller Natur. Der ideelle Kulturbesitz knüpft zwar
auch an irgendein Sachgut als an sein materielles Substrat an,
stellt aber über dieses hinaus selbst einen geistigen Besitz dar.
Solcher ideeller Kulturbesitz ist zwiefacher Art. Er begründet
einerseits das, was ich die institutioneile Kultur nenne, andrer¬
seits die sogenannte geistige Kultur.
1. Die institutionelle Kultur (wie wir der Einfachheit halber statt
Kulturbesitz sagen können) besteht in dem Besitz von Ordnungen,
Einrichtungen, Organisationsformen, deren sich ein Volk bedienen
kann. Sie objektivieren sich in Verfassungsurkunden, Gesetz¬
büchern, Keligionssystemen , Fabrikordnungen, Zunftstatuteu,
Zolltarifen usw. , aus denen die Menschen die Weisungen ent¬
nehmen, wie sie ihr Verhalten untereinander einzurichten haben.
Wir können vier große Komplexe innerhalb der gesamten institu¬
tionellen Kultur unterscheiden, in denen die Jahrtausende ihre
Erfahrungen niedergeschlagen und angehäuft haben : a) den Staat,
b) die Kirche, c) die Wirtschaft und d) die Sitte.
2, Die geistige Kultur, soweit sie einen Kulturbesitz darstellt,
wird gebildet durch all denjenigen ideellen Kulturbesitz, der
sich nicht in Ordnungen irgendwelcher Art erschöpft. Hierher
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. t
18
Einleitung-
gehört also aller Besitz an Idealen , an W ertvorstellungen , an
Strebungen usw. Es macht einen Bestandteil des Kulturbesitzes
eines Volkes aus, wenn in ihm ein starkes Staatsgefühl oder ein
tiefer religiöser Sinn oder eine humanitäre Weltauffassung oder
ein mammonistischer Geist zu Hause sind.
Daneben kommt alles das in Betracht, an das man in der
Regel allein denkt, wenn man von dem geistigen Kulturbesitz
eines Volkes spricht: die Erzeugnisse der Wissenschaft und der
Kunst, mit deren Segnungen es sich erfüllen kann.
Hierher gehört auch der für die Gestaltung des Wirtschafts¬
lebens besonders bedeutsame Besitz an technischem Wissen und
technischem Können.
Dieser objektiven Kultur steht nun das gegenüber, was man
B. die persönliche Kultur, die Eigenkultur nennen kann.
Sie besteht in der Nutzbarmachung der Kulturgüter- durch einen
lebendigen Menschen. Sie ist die „Bildung“ dieses Menschen
selbst; ist sein höchst persönliches Eigen, entsteht mit ihm, durch
ihn und stirbt mit ihm. Die Eigen-Kultur ist 1. eine körper¬
liche oder 2. eine seelische. Alle Schulung des Körpers
durch Sport usw., aber auch alle Sauberkeit, alle Eleganz der
Kleidung u. dgl. gehört jener an, während diese, die seelische
Eigenkultur, in der moralischen, intellektuellen oder künstlerischen
Vervollkommnung des Individuums ihren Ausdruck findet. Es
ist ersichtlich, daß zwischen der objektiven Kultur und der
subjektiven weite Spalten klaffen können, daß vor allem eine und
dieselbe objektive Kultur — z. B. ein bestimmter Besitz von
wissenschaftlichen oder künstlerischen Werken — sich sehr ver¬
schieden in der Eigenkultur widerspiegeln kann: qualitativ, je
nach der verschiedenen Art der Wirkung, die die Nutzbarmachung
der Kulturgüter auf die Menschen ausübt; quantitativ, je nach
dem Umkreis yon Individuen, die überhaupt an der Ausschöpfung
des Inhalts der objektiven Kultur teilnehmen.
Sprechen wir von der Kultur eines Volkes , so denken wir
sowohl an die Gesamtheit seines (objektiven) Kulturbesitzes wie
an die Ausdehnung und Eigenart der persönlichen Kultur der
Angehörigen dieses Volkes. Daneben gibt es dann aber noch
ein Drittes, das- uns vorschwebt, insbesondere wenn wir von der
Kultur einer bestimmten „Zeit“ reden, was objektive und sub¬
jektive Kultur gleichsam in einem, nur in ihnen existent und
aufweisbar und doch ein anderes neben ihnen ist. Es ist
C. der Inbegriff aller Kulturerscheinungen, die wir in unserem
Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft IQ
Geiste zu einer Einheit zusannnenfassen und mit besonders kenn¬
zeichnenden Merkmalen ausstatten. Man könnte es etwa den
Kulturstil (einer Zeit, eines Landes) nennen, den wir zweifellos
als eine Einheit empfinden, wenn er auch als solcher in nichts
anderm sich darstellt als in den tausendfachen, disparaten Äuße¬
rungen der objektiven und subjektiven Kultur dieser Zeit oder
dieses Landes. Wenn wir von der „Kultur der Renaissance“ im
Gegensatz etwa zur „modernen Kultur“ sprechen, so ist es der
eigentümliche „Kulturstil“, den wir im Sinne haben.
Daß auch dieser besondere Kulturstil großen Einfluß auf das
Wirtschaftsleben ausüben kann, sagt die Überlegung und lehrt
die Geschichte.
2*
20
Drittes Kapitel
Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften
I. Die Differenzierung der Wirtschaftswissenschaft
Ursprünglich, das heißt als man zuerst das Wirtschaften zum
Gegenstände des Nachdenkens machte , gab es nur eine einzige
„Wissenschaft“ vom Wirtschaftsleben. Das war die Hauswirt¬
schaftslehre: die Ökonomik, die aber auch Ökonomie (oixovopia)
selbst genannt wurde, wie wir sie bei den Griechen zuerst sich
entwickeln sehen.
„Wir hatten also gefunden, sagte Sokrates, daß Hauswirtschaft
der Name einer Wissenschaft ist und daß diese den Menschen
befähigt, sein Hauswesen zu fördern. Unter Hauswesen aber
verstanden wir das Gesamtvermögen; als solches betrachten wir
das, was einem jeden nutzbringend für seine Lebensführung ist,
nutzbringend endlich erschien uns das, was einer zu gebrauchen
versteht l.“
Die oixovojna umfaßte ebenso die Fürsorge eines Hausvaters
für seinen und der Seinen Unterhalt: die Anordnungen, die er
traf, um Schafe zu züchten, Wein zu keltern und Wolle zu
spinnen , seine Maßregeln zur Kindererziehung und Sklaven¬
behandlung; seine Einkäufe und Verkäufe wie etwaigen Vertrags¬
schlüsse wie alle ausführende Tätigkeit : das Pflügen und Ernten,
das Spinnen und Weben, das Aufspeichern und Zuteilen.
Die Wissenschaft von der oixovojna hatte die Aufgabe, dem
guten Hausvater in allen diesen seinen Obliegenheiten ein guter
Ratgeber zu sein.
Das war aber auch noch die Auffassung der Kameralisten
von dem Sinne der Kameralwissenschaft , in der alles gelehrt
werden sollte, was ein guter Verwaltungsbeamter wissen mußte :
wie man Schweine züchtete , wie man die Länder bevölkerte,
wie man den fürstlichen Haushalt in Ordnung hielt und wie man
die Industrie und den Handel zur Blüte brachte.
Die Auflösung der alten Wirtschaftsverbände, die immer
kunstvollere Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens führten zur
} Oeconomicus. 6. Kapitel deutsch, von M. Ho d ermann.
Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 21
Herausbildung zunächst einer Eeilie von Knnstlebren, denen
die Aufgabe zufiel, besonders schwierige Teile der Unterhalts-
fursorge eingehend zu behandeln, uni dem Praktiker eine ge¬
diegene Sachkenntnis zu übermitteln. Alle im „Recht“ nieder¬
geschlagene Ordnung wurde in der Jurisprudenz wissenschaftlich
erörtert; alle Technik, sei es die des Landbaus, sei es die der
Stoffverarbeitung, sei es die des Gütertransports, sei es die der
kaufmännischen und industriellen Geschäftsführung, wurde be¬
sonderen „technologischen“ Wissenschaften zur gründlichen Be¬
handlung zugewiesen.
So blieb schließlich ein Rest der alten Wirtschaftswissenschaft
übrig, der nicht Jurisprudenz und nicht Technologie war , und
diesen Rest bezeichnen wir als Volkswirtschaftslehre oder
Nationalökonomie oder politische Ökonomie. Ihr Gegenstand wird
sich am besten negativ umschreiben lassen: Objekt der National¬
ökonomie (oder wie man diese Wissenschaft sonst benamsen will)
ist die menschliche Unterhaltsfürsorge, soweit diese nicht von
der Rechtslehre oder den verschiedenen Kunstlehren behandelt
wird. Positiv können wir sagen: Nationalökonomie ist die
Lehre von den Wirtschaftssystemen (s. u.). Damit sind
die Richtlinien für diese Wissenschaft vorgezeichnet.
H. Die Richtlinien der Volkswirtschaftslehre
I. Da die menschliche Unterhaltsfürsorge eine gesellschaft¬
liche Erscheinung ist, so ist die Wissenschaft, die sie als ein
Ganzes zum Gegenstände hat, eine Sozialwissenschaft:' alle
ihre Begriffe müssen, nachdem die technischen Wissenschaften
ausgesondert sind, sozialwissenschaftliches Gepräge tragen.
2. Will man Wirtschaft denken und ihre Erscheinungen
wissenschaftlich erfassen, so kann man sie nur inmitten einer
bereits gewordenen, historischen Umwelt sich vorstellen, also
als ein bestimmt gestaltetes geschichtliches Gebilde. Daß die
Nationalökonomie eine historische Sozialwissenschaft sei, ist
ihr a priori. Also sind auch alle Begriffe der Nationalökonomie,
„historische Kategorien“. Was man diesen als „ökonomische
Kategorien“ gegenübergestellt hat, waren keine sozialwissenschaft¬
lichen, sondern technologische Begriffe (Kapital Produktions¬
mittel). Diese sind nur als Hilfsbegrifife zulässig.
3. Der tragende Begriff der Nationalökonomie ist der Be¬
griff des Wirtschaftssystems. Darunter verstehe ich eine
22
Einleitung
bestimmt geartete Wirtschaftsweise, das heißt eine bestimmte
Organisation des Wirtschaftslebens , innerhalb deren eine be¬
stimmte Wirtschaftsgesimmng herrscht und eine bestimmte
Technik zur Anwendung gelangt. In dem Begriffe des Wirt¬
schaftssystems wird die historisch bedingte Eigenart des Wirt¬
schaftslebens zu einer begrifflichen Einheit zusammengefaßt.
Alle übrigen nationalökonomischen Begriffe sind auf diesen Ober¬
oder Grundbegriff auszurichten.
4. Die wissenschaftlichen Methoden, deren sich die
Nationalökonomie bedient, werden verschieden sein, je nach der
Art des Wirtschaftssystems , um dessen Erforschung es sich
handelt. Immer aber werden es drei verschiedene Gesichtspunkte
sein, unter denen die Betrachtung steht:
a) der theoretische: begrifflich reine Erfassung aller Er¬
scheinungen und ihrer Zusammenhänge;
b) der realistisch-empirische: Feststellung der tat¬
sächlichen Gestaltung des Wirtschaftslebens und seiner Ver¬
änderungen im Ablauf der Zeiten mit Hilfe der „theoretischen"
Erkenntnisse.
Der dem Begriff des Wirtschaftssystems entsprechende Begriff
bei der realistisch - empirischen Betrachtungsweise ist der der
Wirtschaftsepoche. Darunter verstehe ich eine historische
Zeitspanne, in der ein bestimmtes Wirtschaftssystem oder ge¬
nauer: die einem bestimmten Wirtschaftssysteme gemäße Wirt¬
schaftsweise vor geherrscht hat.
c) der politische: Ausrichtung aller Erscheinungen auf ein
Ideal und Abmessung der Mittel und Wege, die zur Verwirk¬
lichung des Ideals dienen.
IH. Die Aufgabe dieses Werkes
Gemäß den soeben entwickelten Grundsätzen ist dieses Werk
entworfen, das sich zur Aufgabe gemacht hat: das Wirtschafts¬
leben der europäischen Völker von seinen Anfängen an bis zur
Gegenwart genetisch-systematisch zur Darstellung zu bringen.
Dazu bemerke ich folgendes:
1. „Von seinen Anfängen an“: das heißt von der Zeit
an, da das Wirtschaftsleben der Völker, die Europa seit der
Völkerwanderung in Besitz genommen hatten, aus eigener Wurzel
neu zu wachsen beginnt: von der Zeit der Karolinger an etwa.
2. „Das Wirtschaftsleben der europäischen (insonderheit
Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 23
süd-, west- und mitteleuropäischer) Völker“ : soweit, muß hinzu¬
gefügt werden, es sieh einheitlich gestaltet und einheitlich verläuft.
Die Fragestellung ist also gerichtet auf das möglichst Allgemeine
in den wirts chaftlichen Erscheinungen; nicht auf die Besonder¬
heit von Land zu Land. Beide Fragestellungen: die nach der
Übereinstimmung und Allgemeinheit und die nach der Ver¬
schiedenheit und Besonderheit, die man als soziologische und
historische bezeichnen kann, sind offenbar gleich berechtigt: sie
schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Neben den
zahllosen Bearbeitungen der Wirtschaftsgeschichte einzelner Ge¬
biete bedeutet dieses Werk den ersten Versuch einer gesamt¬
europäischen Wirtschaftsgeschichte.
3. „Genetisch- systematisch“ soll das europäische
„Wirtschaftsleben“ zur Darstellung gebracht werden. Das
bedeutet folgendes: jede Einzelerscheinung des Wirtschaftslebens
wird ausgerichtet auf das jeweils herrschende Wirtschaftssystem.
Der Begriff des Wirtschaftssystems und demnach der der Wirt¬
schaftsepoche dienen zur Ordnung des gesamten ungeheuerlich
großen Stoffes , der nur unter steter Beihilfe dieser beiden
tragenden Begriffe gemeistert werden konnte.
Es mußten also die verschiedenen Wirtschaftssysteme, die
in den elf Jahrhunderten von 800 — 1900 vorgeherrseht hatten, er¬
mittelt und zunächst in begrifflicher Feinheit („idealtypisch“) be¬
schrieben werden. Die solcherweise beschriebenen Wirtschafts¬
systeme sind:
a) die Eigenwirtschaft in ihrer doppelten Gestalt: als bäuer¬
liche und grundherrliche Eigenwirtschaft;
b) das Handwerk;
c) der Kapitalismus.
Diesen drei Wirtschaftssystemen entsprechen die drei Wirt-
schaftsepochen, die in dem letzten Jahrtausend aufeinander in
Europa gefolgt sind. Die wirkliche Gestaltung des Wirtschafts¬
lebens in diesen drei Epochen darzustellen ist die eigentliche
Aufgabe dieses Werks. Es ist zum ersten Male der Versuch
unternommen, die Wirtschaftsweise zu schildern, während
bisher, von engumgrenzten Monographien abgesehen, alle um¬
fassenden sogenannten Wirtschaftsgeschichten nichts anderes
als Geschichten der Wirtschaftsordnungen waren. Weder Cun-
ningham noch Levasseur noch Inama-Sternegg noch
Kowale wsky sind etwas wesentlich anderes als Rechtsgeschichten.
Dieses Werk will dagegen zeigen, wie sich die Unterhaltsfursorge
24
Einleitung
in Wirklichkeit gestaltet, wie sich die wirtschaftlichen Vorgänge
in Wirklichkeit abgespielt haben. Was der Bauer und der
Grundherr, der Handwerker und der Kaufmann gedacht, gewollt,
getan haben, wie ihre Einzelhandlungen sich zu dem wunder¬
samen Gebilde der allgemeinen, gesellschaftlichen Wirtschaft zu¬
sammengefügt haben , möchte dieses W erk zur lebendigen An¬
schauung bringen. Das Problem , das zu lösen war , bestand
darin: dem Leser eine „Fülle der Gesichte“ vor Augen zu
stellen, ihn den unermeßlichen Reichtum der Einzelerscheinungen
intensiv erleben zu lassen und ihm doch jederzeit den klaren
Überblick über das Ganze zu bewahren, ihm das sichere Gefühl
zu geben, daß er sich unbedenklich der Betrachtung der tausend
Einzelheiten überlassen könne, ohne Gefahr zu laufen, sich in
dem Wirrwarr der Tatsächlichkeiten zu verlieren. Ihm diese
Sicherheit zu verschaffen, dient einerseits die allgemeine streng
durchgeführte Ausrichtung aller Erscheinungen auf das jeweils
herrschende Wirtschaftssystem, anderseits die im einzelnen durch¬
geführte Doppelbehandlung jedes Problems: die theoretisch¬
abstrakte und realistischrempirische. Von was immer ich in
diesem Werke auch spreche: ob von Handwerk oder Kapitalis¬
mus, von Städte- oder Vermögensbildung, von Preis- oder Markt¬
bildung, von Geld- oder Naturalwirtschaft, immer wird der Leser
dort, wo ich den Gegenstand zum ersten Male behandle, auf die
empirische Darstellung des Tatsächlichen vorbereitet durch eine
theoretische Konstruktion des Erscheinungskomplexes. Ich hoffe,
daß diese hier zum ersten Male angewandte Methode sich als
fruchtbar erweisen werde.
4. Das Wirtschaftsleben in seiner verschiedenen Gestaltung
lebendig werden zu lassen, war das Ziel, das ich mir in diesem
Werke gesteckt habe. Also mußte vor allem die Methode, die
schon Mephisto verspottet hat, die aber leider noch immer im
Schwange ist, vermieden werden :
„Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben . . .“
Vielmehr war es mein heißes Bemühen, das „geistige Band“,
das alle' lebendige Wirtschaft zusammenhält, bei meiner Unter¬
suchung nicht zu zerstören , sondern in seiner allzusammen-
fassenden Kraft gerade aufzuweisen. Deshalb habe ich vor allem
mich bemüht, den Geist, der je eine bestimmte Wirtschafts¬
epoche beherrscht hat, aus dem heraus das Wirtschaftsleben in
dieser Epoche gestaltet worden ist, aufzusuchen und in seiner
Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 25
Wirksamkeit zu verfolgen. Es ist ein Grundgedanke dieses
Werkes, daß je zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Wirt¬
schaftsgesinnung geherrscht habe, und daß es der Geist ist, der
sich eine ihm angemessene Form gibt und dadurch die wirt¬
schaftliche Organisation schafft. Diese Grundansicht, die schon
in der 1. Auflage dieses Werkes sich findet, ist noch viel mehr
ausgeprägt worden und zur Leitidee aller meiner Darlegungen
gemacht worden b Wie ich das verstehe, werde ich noch häufig
auszuführen Gelegenheit haben.
5. Aber der Geist ist auf Erden nicht allmächtig. Damit er
das Leben nach seinem Bilde forme , müssen bestimmte B e -
dinguhgen erfüllt sein. Und gerade dem Nachweise dieser für
die Verwirklichung der wirtschaftlichen Ideen unerläßlichen Be¬
dingungen ist ein großer Teil der Darstellung dieses Werkes
gewidmet. Da, wie wir wissen, die Gestaltung des Wirtschafts¬
lebens von der Gestaltung der gesamten übrigen Kultur bedingt
ist, so führt die Darlegung der Bedingungen des Wirtschafts¬
lebens in alle Zweige des staatlichen und geistigen Lebens hinein
und trägt zur Belebung wesentlich bei.
Die Bedingungen einer bestimmten Wirtschaftsweise habe ich
in einem Falle (beim Handwerk) systematisch, im andern Falle
(beim Kapitalismus) genetisch dargestellt. Auf diese genetische
Darstellung ist in dem Hauptteile dieses Werkes, der die Ent¬
stehung des modernen Kapitalismus schildert, ein entscheidendes
Gewicht gelegt worden.
6. Bei dieser Art der Untersuchung wird sich wie von selbst
eine bestimmte Gliederung des geschichtlichen Ablaufs der
Ereignisse zwanglos ergeben. Man wird in empirisch umgrenz¬
baren Zeiträumen die Herrschaft eines Wirtschaftsprinzips und
des ibm entsprechenden Wirtschaftssystems so gut wie un¬
beschränkt finden ; in andern dagegen neue Wirtschaftsprinzipien
im Kähmen des herrschenden Wirtschaftssystems nach An¬
erkennung ringen sehen. Anders ausgedrückt: jedes neue Wirt-
1 Die Einwände , die gegen diese meine Grundanschauung von
zahllosen Kritikern der ersten Auflage dieses Werkes erhoben worden
sind, haben mich nur in der Überzeugung bestärkt, daß allein meine
Betrachtungsweise eine vertiefte Einsicht in das Wesen wirtschaftlicher
Organisationen gewährt. Ich habe die gegen mich angeführten Gründe
zu entkräften und die Berechtigung meines Standpunkts zu erweisen
versucht in meinem Werke: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte
des modernen Wirtschaftsmenschen (1913). S. 3 ff., 441 ff.
26
Einleitung
schaftsprmzip muß sich, zunächst im Rahmen eines bestehenden
Wirtschaftssystems durchzusetzen versuchen. Es wird zu seiner
Verwirklichung sich Wirtschaftsformen schaffen, deren Gestaltung
noch wesentlich von der Eigenart der aus einem andern (dem
z. Z. herrschenden) Wirtschaftsprinzip erzeugten Wirtschafts¬
ordnung bestimmt wird und vermag erst allmählich sich das ge¬
samte Wirtschaftsleben nach seinem Geiste zu formen. Vom
Standpunkt des neuen Wirtschaftssystems aus ist diese Epoche,
in der die neuen Wirtschaftsprinzipien im Rahmen der alten Ord¬
nung sich betätigen, seine Frühepoche, vom Standpunkt des
alten Wirtschaftssystems aus dessen Spät epo che. Dazwischen
liegt die Hochepoche eines Wirtschaftssystems , in welcher
der Geist nur eines Wirtschaftssystems zu reiner Entfaltung
gelangt. Dieses Schema einer genetischen Betrachtungsweise
auf empirisch bestimmte Wirtschaftsperioden angewandt ist es
nun, was den folgenden Untersuchungen zugrunde liegt.
Allgemeine Literatur
Ein Werk, das dieselben Wege wie dieses ginge, gibt es meines
Wissens nicht. Ähnlichen Gedanken wird man am ehesten begegnen
in Gustav Schmolle rs Grundriß der politischen Ökonomie, zuerst
1900; und Karl Büchers Entstehung der Volkswirtschaft, zuerst
1893. Doch liegt beiden Werken ihrer Anlage gemäß fern eine
systematische Darstellung des geschichtlichen Verlaufs der Wirtschaft
in den verschiedenen Ländern. Eine solche ist bisher nur im nationalen
Rahmen unternommen worden. Die bekanntesten „Wirtschafts¬
geschichten“ der wichtigsten Völker sind: W. Cunningham,
The growth of english industry and commerce. 2 Vol. E. Levasseur'
Histoire des classes ouvrieres et de l’industrie en France. 4 Vol.
Th. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 3 Bde.
Diese drei Werke, wenn sie auch, wie ich schon sagte, eher Ge¬
schichten der wirtschaftlichen Ordnung als des wirtschaftlichen
Lebens darstellen, sind jedes in seiner Art ganz hervorragende
Leistungen. Heute sind sie nach Fragestellung, Methode und Be¬
griffsbildung großenteils veraltet. Ganz auf der Höhe der heutigen
F orschung steht von zusammenfassenden Darstellungen die ausgezeichnete
Skizze von R. Kötschke, Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum
16. Jahrhundert im Grundriß der Geschichtswissenschaft, herausee°'
von A. Meister, Bd. II. 1.
Das Werk von Maxime Kowalewsky, Die ökonomische Ent¬
wicklung Europas bis zum Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsform
(Deutsch in 7 Bänden), enthält nicht, was der Titel verheißt : es ist
reine Rechtsgeschichte im wesentlichen der Agrarverhältnisse,
übrigens ebenfalls in nationalem Rahmen.
Erstes Buch
Die vorkapitalistische Wirtschaft
4
29
Erster Abschnitt
Viertes Kapitel
Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung
Quellen und Literatur
Eine Literatur, die sich mit dem Probleme des historisch be¬
sonderen Geistes im Wirtschaftsleben beschäftigt, gibt es kaum. Zu
nennen sind die Kritiken, die sich mit den einschlägigen Kapiteln der
ersten Auflage auseinandersetzen, und die ich gelegentlich anführen
werde. Außer mir hat nur Max Weber in seinen Aufsätzen „Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (im Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Band 21 ff.) das Thema selbständig
behandelt. An diese Arbeit schließen sich dann wieder eine Reihe
kritischer Auslassungen.
Eine Darstellung, wie die hier versuchte, ist daher ausschließlich
auf die Benutzung der Quellen angewiesen. Über deren Natur und
Erkenntniswert will ich folgendes im vorhinein bemerken.
Die Quellen zur Erschließung des Geistes im Wirtschaftsleben
fließen für jeden, dessen Auge erst einmal geöffnet ist für das Problem,
reichlich. Es sind auch hier unmittelbare und mittelbare Erkenntnis¬
quellen. Unmittelbare Erfahrung vom wirtschaftlichen Geist über¬
mitteln uns die wirtschaftenden Menschen selbst durch ihre Äußerungen.
Solche
1. Selbstzeugnisse können gelegentlicher Natur sein: Gespräche,
schriftliche Mitteilungen usw., oder sie sind systematisch geordnet : in
Selbstbiographien, Testamenten, „Reflexionen“ und ähnlichem. Aber
viel zahlreicher sind die Möglichkeifen, auf Umwegen Einblicke in die
Psyche des Wirtschaftenden zu gewinnen. Diese Möglichkeiten können
wir also als mittelbare Erkenntnisquellen zusammenfassen. Hier
kommen in Betracht:
2. Die „Werke“ der Wirtschaftenden im weitesten Sinne; in denen
sich also gleichsam ihr Geist „niedergeschlagen“ hat. Ich denke an
allgemeine Organisationen, die sie schaffen: Dorfanlagen, Fabrikbetriebe,
Verkehrsunternehmungen; an technische Werke: Einrichtung von
Werkstätten, Gestaltung der Arbeitsmittel, Anlage von Eisenbahnen,
von Bewässerungen, von Kanälen und Häfen usw. ; an besondere Ein¬
richtungen zur Durchführung wirtschaftlicher Zwecke.: das Rechnungs¬
wesen; an Wohlfahrtseinrichtungen; an das Tempo der Entwicklung ;
an den Rhythmus des Wirtschaftslebens: rasche Neugestaltung, rasche
Ausdehnung des Wirtschaftskörpers und ähnliches mehr.
3. Rechtsnormen : Bestimmungen über das Recht der freien Selbst¬
bestimmung, über Konkurrenz, über Reklame, über Preisbildung, über
Zinsnehmen usw.
BO
Erster Abschnitt
4. Sittenleliren : religiösen oder weltlichen Ursprungs. Zu ihnen
kann man auch zählen alle kritischen Äußerungen: Satiren, Kampfes¬
schriften, Reformvorschläge usw.
5. Zeitspiegelungen: in der öffentlichen Meinung: z. B. Geltung
der verschiedenen Berufe (Handel!) bei der Gesamtheit oder inner¬
halb bestimmter Klassen (Stellung des Adels zum Erwerb !) ; in
Literatur, Kunst und Wissenschaft: Darstellung von Typen, Art¬
beschaffenheit der beliebten „Richtungen“.
6. Soziale Stellung der einzelnen Gruppen der Bevölkerung zu¬
einander: friedliches Zusammenleben, feindliche Haltung (etwa der
Arbeiter zu den Unternehmern), patriarchalische Beziehung, geschäft¬
liche Regelung.
7. Die Gestaltung der Politik, in der die Wirtschaftsgesinnung
der einzelnen sich ausstrahlt: Machtpolitik oder Freihandel und der¬
gleichen.
Daß der Erkenntniswert der aus diesen Quellen zu entnehmenden
Zeugnisse ein sehr verschiedener ist, leuchtet ohne weiteres ein.
Die Selbstzeugnisse (1.) sind vor allem sehr selten und schon des¬
halb nicht sehr ergiebig. Sie können freilich unter Umständen von
ganz großer Bedeutung für das richtige Verstehen eines Zustandes
werden. Meist muß man freilich zwischen den Zeilen lesen. Das
gilt insbesondere bei allen systematischen Äußerungen der gedachten
Art. In den Selbstbiographien oder Memoiren etwa hervorragender
Wirtschaftsmenschen (deren es eine ganze Reihe gibt) stellen sich
die Verfasser natürlich immer als ganz selbstlose, nur dem Gemein¬
wohl dienende Menschen hin, denen Geldverdienen ganz fern gelegen
hat. Manche sind auch ehrlich gegen sich selbst, und die geben uns
natürlich die besten Aufschlüsse. Zu berücksichtigen ist auch der
Umstand, daß wir solche systematische Selbstzeugnisse meist nur von
ganz hervorragenden Menschen haben, deren Überlebensgroße also auf
das Durchschnittsmaß zurückzuführen ist, wenn wir ihre Leistungen
und Ansichten verallgemeinern wollen.
Von den übrigen Quellen sind die zuverlässigsten die „Werke“
der Wirtschaftssubjekte (2.). Sie lügen wenigstens niemals.
Die unter 3 und 4 genannten Quellen sind sehr wichtig, aber be¬
sonders gefährlich zu benutzen, so daß es Forscher gibt, die sie über¬
haupt als Erkenntnisquelle für eine bestimmte tatsächliche Gestaltung
der Dinge, hier also des „Geistes“ einer Zeit, nicht gelten lassen
wollen. So haben mir seinerzeit viele Kritiker zum Vorwurf gemacht,
daß ich die Ideenrichtung des mittelalterlichen Handwerkers aus Zunft¬
ordnungen oder auch aus Kritiken und Reformvorschlägen, wie etwa
der Reform Kaiser Sigismunds, habe abnehmen wollen. Ich bemerke
deshalb noch folgendes zu dieser Art Quellen und ihrer Verwendbarkeit:
Der Fehler, der häufig begangen wird, ist nicht der, daß man aus
jenen Quellen Erkenntnis schöpfen will, sondern daß man falsche Er¬
kenntnis schöpfen will. Man wird auch nicht aus dem Strafgesetzbuch
sich über die Verbreitung und die Arten des Diebstahls, aus der
Gewerbeordnung nicht sich über die Gestaltung der Arbeiterverhältnisse
in der Gegenwart unterrichten wollen. Aber was man aus ihnen sehr
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtscliaftsgesirmung gj
wohl lernen kann , ist die unsere Zeit beherrschende Durchschnitts¬
auffassung von Diebstahl und Arbeiterschutz. Natürlich kann die in
der Gesetzgebung niedergelegte oder in einer Streitschriftenliteratur
(für die ähnliche Regeln gelten) ausgesprochene Ansicht „veraltet“ sein
und nicht mehr dem „Zeitgeist“ entsprechen. Dann wird man das fest¬
zustellen haben. Vor allem an der Hand der gegnerischen Äußerungen.
Ein nicht allzu dummer Geschichtsschreiber unserer Zeit wird beispiels¬
weise aus der Mittelstandsliteratur zwar entnehmen müssen , daß in
Deutschland noch eine beträchtliche Menge Menschen in handwerks¬
mäßigem Geiste denkt, wird aber feststellen müssen, daß die Grund¬
auffassung unserer Zeit, wie sie in der maßgebenden Literatur zxxtage
tritt, wie sie sich in Gesetzgebung und Verwaltung bestimmend durch¬
setzt, eine andere, kapitalistische war. Umgekehrt wird unser Urteil
über den „Geist“, der das mittelalterliche Wirtschaftsleben beherrschte,
lauten müssen: zwar gab es gewiß täglich unzählige Handlungen und
Gedanken, die gegen die handwerksmäßige Auffassung, wie sie die
Sittennormen fordern und die Rechtsnormen festlegen, verstießen; ja
gegen das Ende des Mittelalters werden sie sich gehäuft haben. Aber
sie waren doch eben Verstöße. Und der „Zeitgeist“ (5.) verdammte
sie. Der Zeitgeist empfand sie als Verstöße. Und niemand wagte,
diese Verstöße zu rechtfertigen. Oder gibt es eine einzige, A ma߬
gebende Auslassung während des ganzen Mittelalters, die das Ote toi
que je m’y mette-Prinzip, die die individuelle Selbstverantwortlichkeit,
die das unbeschränkte Gewinnstreben zu verteidigen gewagt hätte?
Im Mittelpunkt aller Bemülmngen und aller Sorgen steht,
ehe denn Kapitalismus wurde, der lebendige Mensch. Er ist
der „Maßstab aller Dinge“ : mensura omnium rerum homo. Damit
ist aber auch die Stellung des Menschen zur Wirtschaft schon
bestimmt: diese dient wie alles übrige Menschenwerk mensch¬
lichen Zwecken1. Also: das ist die grundlegend wichtige Folge¬
rung aus dieser Auffassung — ist der Ausgangspunkt aller wirt¬
schaftlichen Tätigkeit der Bedarf des Menschen, das heißt sein
naturaler Bedarf an Gütern. Wieviel Güter er konsumiert, soviel
müssen produziert werden; wieviel er ausgibt, soviel muß er
einnehmen. Erst sind die Ausgaben gegeben, danach bestimmen
sich Einnahmen. Ich nenne diese Art der Wirtschaftsführung eine
Ausgabewirtschaft. Alle vorkapitalistische und vorbürger¬
liche Wirtschaft ist Ausgabewirtschaft in diesem Sinne.
1 „Divitiae comparantur ad oeconomicam non sicut finis ultimus,
sed . sicut instrumenta quaedam, ut dicitur in I. Pol. Finis autem
ultimus oeconomice- est totum bene vivere secundum domesticam con-
versationem.“ S. Tliom. S. th. II a IIae qu, 50a. 3. Vgl. die An¬
merkung auf S. 32.
32
Erster Abschnitt
Dei Bedarf selbst wird nicht von der Willkür des Indivi¬
duums bestimmt, sondern hat im Laufe der Zeit innerhalb der
einzelnen sozialen Gruppen eine bestimmte Größe und Art an¬
genommen, die nun als fest gegeben angesehen wird. Das ist
die Idee des standesgemäßen Unterhalts, die alle vor¬
kapitalistische Wirtschaftsführung beherrscht. Was das Leben
in langsamer Entwicklung ausgebildet hatte, empfängt dann von
den Autoritäten des Rechts und der Moral die Weihe der grund¬
sätzlichen Anerkennung und Vorschrift. In dem thomistischen
Lehrgebäude bildet die Idee des standesgemäßen Unterhalts ein
wichtiges Fundamentum: es ist nötig, daß die Beziehungen des
Menschen zur äußeren Güterwelt irgendwie einer Beschränkung,
einem Maßstabe unterworfen werden: necesse est quod bonum
hominis circa ea (sc. bona exteriora) consistat in quadam men-
sura. Dieses Maß bildet den standesgemäßen Unterhalt: prout
sunt necessaria ad vitam eius secundum suam conditionem 1.
Standesgemäß soll der Unterhalt sein. Also verschieden groß
und verschieden geartet innerhalb der verschiedenen Stände. Da
heben sich denn deutlich zwei Schichten voneinander ab, deren
Lebensführung das vorkapitalistische Dasein kennzeichet: die
Henen und die Masse des Volks, die Reichen und die Armen,
die Seigneure und die Bauern, Handwerker und Krämer, die
Leute die ein freies, unabhängiges Leben führen, ohne wirt¬
schaftliche Arbeit, und diejenigen, die im Schweiße ihres An¬
gesichts ihr Brot verdienen, die Wirtschaftsmenschen.
Ein s eigne uriales Dasein führen heißt aus dem Vollen
leben und viele leben lassen; heißt im Kriege und auf der Ja^d
seine Tage verbringen und im lustigen Kreise froher Zecher
ä •
Uies Hauptstelle lautet bei S. Thomas in der Summa theol
11 IIa* 3U- 118 Art. 1 in der Passung der neuen Ausgabe der ge-
saimen Werke (Romae 1886), nach der ich immer zitiere, im ganzen
wieiolgt: „Bona exteriora habent rationem utilium ad fmern, _ : Unde
necesse est, quod bonum hominis circa ea consistat in quadam mensura:
dum scilicet homo secundum ab'quam mensuram quaerit habere ex-
enores divitias, prout sunt necessaria ad vitam eius secun-
dum suam conditionem. Et ideo in excessu huius mensurae
consistit peccatum: dum scilicet aliquis supra debitum modum vult
acquirere vel retmere. Quod pertinet ad rationem avaritiae quae de-
nnitur esse immoderatus amor habendi.“ Von dem Glossator Card,
üaietanus werden diese Leitsätze verteidigt und wie folgt erklärt:
„appellatione vitae mtelüge non solum cibum et poturn, sed quae-
cunque opportuna commoda et delectabilia, salva honestate“.
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung
beim Würfelspiel oder in den Armen schöner Frauen die Nächte
vertun. Heißt Schlösser bauen und Kirchen, heißt Glanz und
Pracht auf den Turnieren oder bei anderen festlichen Gelegen¬
heiten entfalten, heißt Luxus treiben, soweit es die Mittel er¬
lauben und über diese hinaus. Immer sind die Ausgaben größer
als die Einnahmen. Dann muß dafür gesorgt werden, daß diese
entsprechend sich vergrößern: Der Vogt muß die Abgaben der
Bauern erhöhen, der Rendant muß die Pachte steigern, oder
man sucht (wie wir noch sehen werden) außerhalb der Kreise
des normalen wirtschaftlichen Gütererwerbs die Mittel, um das
Defizit zu decken. Das Geld verachtet der Seigneur. Es ist
schmutzig, ebenso wie alle Erwerbstätigkeit schmutzig ist. Geld
ist zum Ausgeben da1: „usus pecuniae est in emissione ipsius“
(S. Thomas).
So lebten die weltlichen, so lange Zeiten hindurch auch die
geistlichen Herren. Ein deutliches Bild von der seigneurialen
Lebensführung der Geistlichkeit in Florenz während des Quattro¬
cento, das durchaus als typisch gelten darf für alles Leben der
Reichen in vorkapitalistischer Zeit, entwirft L. B. Alberti,
wenn er folgendes sagt: „Die Priester wollen alle anderen an
Glanz und Prachtentfaltung übertreffen, wollen eine große An¬
zahl wohlgepflegter und schöngeschmückter Rosse haben, wollen
öffentlich auftreten mit einem großen Gefolge, und von Tag zu
Tag steigert sich ihr Hang zum Nichtstun und ihre freche Laster¬
haftigkeit. Obwohl ihnen das Schicksal große Mittel in den
Schoß wirft, sind sie doch immer unzufrieden und, ohne einen
Gedanken ans Sparen , ohne Wirtschaftlichkeit , sinnen sie nur
darauf, wie sie ihre angestachelten Begierden befriedigen können.
Immer fehlt es an Einnahmen, immer sind die Ausgaben größer
als ihre ordentlichen Einnahmen. So müssen sie das Fehlende
anderswo her zu ergattern suchen“ 2 usw.
1 Vgl. auch mein Buch „Luxus und Kapitalismus“ (1912) S. 102ff.
2 I preti . . . „vogliono tutti soprastare agli altri di pompa e
ostentatione , vogliono molto numero di grassissime e ornatissime
cavalcature , vogliono uscire in pubblico con molto exercitio di man-
giatori, et insieme änno di dl in di voglie per troppo otio et per poca
virtü lascivissime , temerarie, inconsulte. A’quali, perche pur gli
soppedita et soministra la fortuna, sono incontentissimi, e senza
risparmio o masserizia, solo curano satisfare a’suoi incitati appetiti . . .
sempre l’entrata manca et piü sono le spese che l’ordi-
narie sue ricchezze. Cosi loro conviene altronde essere rapaci
e alle onestissime spese, ad aitare e suoi, a sovenire agli amici, a
Sombart, Der moderne Kapitalismus I. 8
Erster Abschnitt
Ö i
04
Für die große Masse des Volkes war es auch in vorkapitalistischer
Zeit notwendig, da man immer nur über beschränkte Mittel ver¬
fügte, Ausgabe und Einnahme, Bedarf und Güterbeschaffung in
ein dauernd geordnetes Verhältnis zueinander zu bringen. Auch
hier freilich mit derselben Voranstellung des Bedarfs, der also
ein traditionell festgegebener war, und den es zu befriedigen
galt. Das führte zu der Idee der Nahrung, die aller vor¬
kapitalistischen Wirtschaftsgestaltung ihr Gepräge verleiht.
Die Idee der Nahrung ist in den Wäldern Europas von den
sich seßhaft machenden Stämmen der jungen Völker geboren
worden. Es ist der Gedanke, daß jede Bauernfamilie so viel
Hofland, so viel Ackerland, so viel Anteil an der Gemeinde¬
weide und dem Gemeindewalde erhalten soll, wie sie zu ihrem
Unterhalte benötigt. Dieser Komplex von Produktionsgelegen¬
heiten und Produktionsmitteln war die altdeutsche Hufe , die
im germanischen Gewanndorfe, wie wir noch sehen werden, ihre
vollendete Ausbildung erfahren hat, aber doch auch in allen An¬
siedlungen der keltischen und slawischen Völker ihrer Grundidee
nach sich wieder findet. Das heißt also : Art und Umfang der ein¬
zelnen Wirtschaft werden bestimmt durch die Art und den Umfang
des als gegeben angenommenen Bedarfs. Aller Zweck des Wirt-
schaftens ist die Befriedigung dieses Bedarfs. Die Wirtschaft
untersteht, wie ich es genannt habe, dem Bedarfsdeckungsprinzip.
Aus dem bäuerlichen Anschauungskreise ist dann die Idee
der Nahrung auf die gewerbliche Produktion, auf Handel und
Verkehr übertragen worden und hat hier die Geister beherrscht,
solange diese Wirtschaftssphären handwerksmäßig organisiert
waren. Auch das werden wir im einzelnen nachprüfen.
Man hat mir, als ich schon früher ähnliche Gedanken entwickelte,
entgegengehalten: es sei ganz verkehrt, für irgendeine Zeit an¬
zunehmen, daß die Menschen sich beschränkt hätten, nur ihren Unter¬
halt zu befriedigen, nur ihre „Nahrung“ zu haben, nur ihren natur¬
gemäßen traditionellen Bedarf zu decken. Vielmehr sei es zu allen
Zeiten „in der Natur des Menschen“ gelegen gewesen, so viel wie
möglich zu verdienen, so reich wie möglich zu werden. Ich bestreite
das heute noch ebenso entschieden wie früher und behaupte heute
dezidierter denn je, daß das Wirtschaftsleben in der Tat im vor¬
kapitalistischen Zeitalter unter dem Bedarfsdeckungsprinzip gestanden
hat, daß Bauer und Handwerker ihre Nahrung und nichts weiter mit
ihrer normalen wirtschaftlichen Tätigkeit gesucht haben. Die gegen
levare la famiglia sua in onorato stato e degno grado, sono inumani,
tenacissimi, tardi, miserimi.“ L. B. Alberti, I libri della famiglia;
editi da Gir. Mancini (1908), p. 265.
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtscliaftsgesinming 35
diese meine Auffassung erhobenen Einwände , soweit man sie über¬
haupt zu begründen versucht hat, sind vornehmlich zwei, die aber
beide nicht stichhaltig sind :
1. Es hätten immer einzelne Handwerker über den Rahmen der
„Nahrung“ hinausgestrebt, hätten ihre Geschäfte erweitert und hätten
mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Gewinn erjagt. Das ist richtig.
Beweist aber- nur, daß es Ausnahmen von der Regel stets gibt, und
diese Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Der Leser erinnere
sich dessen, was ich über den Begriff des „Vorherrschens“ eines
bestimmten Geistes gesagt habe. Niemals hat nur ein Geist geherrscht.
2. Die Geschichte des europäischen Mittelalters lehre uns, daß
zu allen Zeiten in weiten Kreisen auch des wirtschaftenden Volks
eine starke Geldsucht geherrscht habe. Auch das gebe ich zu. Und
ich werde im weiteren Verlauf dieser Darstellung von dieser wachsenden
Geldsucht selbst zu reden haben. Aber ich behaupte, sie habe den
Geist des vorkapitalistischen Wirtschaftslebens in seinen Grundlagen
nicht zu erschüttern vermocht. Es ist vielmehr gerade wieder ein
Beweis für den allem Gewinnstreben abgekehrten Geist der vor¬
kapitalistischen Wirtschaft, daß sich alle Erwerbslust, alle
Geldgier -außerhalb des Nexus der Güter produktion,
des Gütertransports und sogar zum großen Teil auch
des Güter handeis zu befriedigen trachtet. Man läuft in
die Bergwerke , man gräbt nach Schätzen , man treibt Alchimie und
allerhand Zauberkünste , um Geld zu erlangen , man leiht Geld gegen
Zinsen aus, weil man es im Rahmen der Alltagswirtschaft nicht er¬
werben kann. Aristoteles, der am tiefsten das Wesen der vor¬
kapitalistischen Wirtschaft erkannt hat, sieht deshalb durchaus sach¬
gemäß den Gelderwerb über den naturalen Bedarf hinaus als nicht
zur wirtschaftlichen Tätigkeit gehörig an. Ebensowenig dient der
Reichtum an barem Gelde wirtschaftlichen Zwecken: für den nötigen
Unterhalt sorgt vielmehr der oixo?, sondern er ist nur zu außerwirt¬
schaftlicher, „unsittlicher“ Verwendung geeignet. Alle Wirtschaft hat
Maß und Grenzen, der Gelderwerb nicht. (Pol. Lib. I.)
Fragen wir nun, in welch. em Geiste gemäß diesen Leitsätzen
die Wirtschaftsführung der Bauern und Handwerker sich ge¬
staltet, so genügt es, daß wir uns vergegenwärtigen, wer die
Wirtschaftssubjekte waren, die alle vorkommende Arbeit: die
leitende , organisierende , disponierende und ausführende selbst
Vornahmen oder durch wenige Hilfskräfte vornehmen ließen. Fs
sind einfache Durchschnittsmenschen mit starkem Triebleben,
stark entwickelten Gefühls- und Gemütseigenschaften und ebenso
gering entfalteten intellektuellen Kräften. Unvollkommenheiten
im Denken, mangelnde geistige Energie, mangelnde geistige Dis¬
ziplin begegnen uns bei den Menschen jener Zeit nicht nur auf
dem Lande, sondern auch in den Städten, die lange Jahrhunderte
hindurch noch große, organisch gewachsene Dörfer sind.
Erster Abschnitt
86
Es waren dieselben Menschen, deren gering entwickelten In¬
tellektualismus wir auch auf anderen Kulturgebieten beobachten.
So bemerkt einmal Keutgen sehr feinsinnig von der Art der
Rechtserzeugung im Mittelalter: „Es handelt sich nur um einen
Mangel an geistiger Energie, der sich bei unseren älteren Rechts-
aufzeichnungen häufig erkennen läßt, die von an intensive Geistes¬
arbeit nicht gewohnten Männern ausgegangen sind. ... Ich
erinnere nur daran, wie überraschend lückenhaft in der Berück¬
sichtigung der verschiedenen Gebiete des Rechtslebens unsere
älteren Stadtrechte sich erweisen“ h .
Ein Analogon dazu in der Sphäre der Wirtschaft bietet der
gering entwickelte Sinn für das Rechnungsmäßige, für das exakte
Abmessen von Größen, für die richtige Handhabung von Ziffern.
Diesem Mangel an kalkulatorischem Sinn entspricht auf der
anderen Seite die rein qualitative Beziehung der Wirtschafts-
subjekte zu der Güterwelt. Man stellt (um in heutiger Termino¬
logie zu sprechen) noch keine Tauschwerte her (die ’rein quanti¬
tativ bestimmt sind), sondern ausschließlich Gebrauchsgüter, also
qualitativ unterschiedliche Dinge.
Die Arbeit des echten Bauern ebenso wie des echten Hand¬
werkers ist einsame Werkschöpfung: in stiller Versunkenheit
gibt er sich seiner Beschäftigung hin. Er lebt in seinem Werk,
wie der Künstler darin lebt, er gäbe es am liebsten gar nicht
dem Markte preis. Unter bitteren Tränen der Bäuerin wird die
geliebte Schecke aus dem Stalle geholt und zur Schlachtbank
geführt; der alte Bourras kämpft um seinen Pfeifenkopf, den
ihm der Händler abkaufen will. Kommt es aber zum Verkauf
(und das muß ja wenigstens bei verkehrswirtschaftlicher Ver¬
knüpfung die Regel bilden), so soll das erzeugte Gut seines
Schöpfers würdig sein. Der Bauer wie der Handwerker stehen
hinter ihrem Erzeugnis; sie vertreten es mit Künstlerehre. Aus
dieser Tatsache erklärt sich z. B. die tiefe Abneigung alles
Handwerkertums gegen Falsifikate oder selbst Surrogate, ja auch
nur gegen Schleuderarbeit.
Ebenso wenig wie die Geistesenergie ist nun aber beim vor¬
kapitalistischen Wirtschaftsmenschen die Willensenergie ent¬
wickelt. Das äußert sich in dem langsamen Tempo der wirt¬
schaftlichen Tätigkeit. Vor allem und zunächst sucht man sie
sich so viel als irgend möglich vom Leibe zu halten. Wo mau
1 Friedrich Keutgen, Ämter und Zünfte (1903), 84,
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnuug S7
„feiern“ kann, tut man es. Man hat zur wirtschaftlichen Tätig¬
keit seelisch etwa dieselben Beziehungen wie das Kind zum
Schulunterricht, dem es sich gewiß nicht unterzieht, wenn es
nicht muß. Keine Spur von einer Liebe zur Wirtschaft oder
zur wirtschaftlichen Arbeit. Diese Grundstimmung können wir
ohne weiteres aus der bekannten Tatsache ableiten, daß in aller
vorkapitalistischen Zeit die Zahl der Feiertage im Jahre enorm
groß war. Eine hübsche Übersicht über die zahlreichen Feier¬
tage im bayrischen Bergbau noch während des 16. Jahrhunderts
gibt H P e e t z x. Danach waren in verschiedenen Fällen :
von
203 Tagen .
. . 123 Feiertage
T)
161 „
. . 99
n
287 „
. . 193
jf
366 „
. . 260
Y)
366 „
. . 263
ünd bei der Arbeit selbst eilt man sich nicht. Es ist gar
kein Interesse vorhanden, daß etwas in sehr kurzer Zeit oder
daß in einer bestimmten Zeit sehr viel erzeugt oder vollbracht
werde. Die Dauer der Produktionsperiode wird durch zwei
Momente bestimmt: durch die Anforderungen, die das Werk an
gute up.d solide Ausführung stellt und durch die natürlichen
Bedürfnisse des arbeitenden Menschen selbst. Die Produktion
von Gütern ist eine Betätigung lebendiger Menschen, die sich
in ihrem Werke „ausleben“ ; sie folgt daher ebenso den Gesetzen
dieser blutdurchströmten Personenheiten , wie der Wachstums¬
prozeß eines Baumes oder der Zeugungsakt eines Tieres von
den inneren Notwendigkeiten dieser Lebewesen Richtung, Ziel
und Maß empfängt.
Ebenso wie bei dem Tempo der Arbeit ist auch bei der Zu¬
sammenstellung der einzelnen Arbeitsverrichtungen zu einem
Berufe die menschliche Natur mit ihren Anforderungen allein
maßgebend: mensura omnium rerum homo gi't auch hier.
Dieser höchstpersönlichen Art der Wirtschaftsführung ent¬
spricht nun ihr Empirismus, oder wie man es neuerdings
genannt hat, ihr Traditionalismus. Empirisch, traditio-
nalistisch wird ge wirtschaftet ; das heißt, so wie man es über¬
kommen hat, so wie man gelernt hat, so wie man es gewohnt
ist. Man blickt bei dem Entscheide über eine Vornahme oder
Maßregel nicht zuerst nach vorn, nach dem Zwecke, fragt nicht
1 B. Peetz, Volkswissensckaftliche Studien (1885), 186 ff,
38
Erster Abschnitt
ausschließlich nach ihrer Zweckmäßigkeit, sondern schaut nach
hinten, nach den Vorbildern und Mustern und Erfahrungen.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß dieses traditionalistische
Verhalten durchaus das Verhalten aller natürlichen Menschen
ist, daß es auf allen Kulturgebieten in der früheren Zeit des
menschlichen Daseins durchaus vorgeherrscht hat aus Gründen,
die in der Natur des Menschen selbst zu suchen sind, und die
alle letztlich in der starken Tendenz der menschlichen Seele zur
Beharrung wurzeln.
Von unserer Geburt an, vielleicht schon vorher, werden wir
von unserer Umgebung, die uns als geeignete Autorität gegen¬
übersteht, in eine bestimmte Richtung des Könnens und Wollens
hineingedrängt: alle Mitteilungen, Lehren, Handlungen, Gefühle,
Anschauungen der Eltern und Lehrer werden von uns zunächst
ohne weiteres angenommen. „Je unentwickelter ein Mensch ist,
desto stärker ist er dieser Gewalt des Vorbilds, der Tradition,
der Autorität und der Suggestion unterworfen“ b
Zu dieser Macht der Überlieferung gesellt sich nun im
weiteren Verlauf des menschlichen Lebens eine zweite ebenso
starke: die Macht der Gewohnheit, die den Menschen immer
lieber das tun läßt, was er schon getan hat, und was er infolge¬
dessen „kann“, die ihn also ebenfalls in den Bahnen festhält, die
er bereits eingeschlagen hat.
Sehr fein nennt Tönnies1 2 die Gewohnheit: Wille oder Lust
durch Erfahrung entstanden. Ursprünglich indifferente oder
unangenehme Ideen werden durch ihre Assoziation und Ver¬
mischung mit ursprünglich angenehmen selber angenehme, bis
sie endlich in die Zirkulation des Lebens und gleichsam in das
Blut übergehen. Erfahrung ist Übung und Übung hier die
bildende Tätigkeit. Übung, zuerst schwer, wird leicht durch
vielfache Wiederholung, macht unsichere und unbestimmte Be¬
wegungen sicher und bestimmt, bildet besondere Organe und
Kräftevorräte aus. Damit aber wird der tätige Mensch immer
wieder dazu veranlaßt, das ihm leicht gewordene zu wieder-
1 A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kultur wandel (1908), 103 ff.,
wo viele feinsinnige Bemerkungen zu dem Thema des „Traditionalismus“
gemacht werden. Begreiflicherweise besteht eine ziemlich weitgehende
Parallelität zwischen der. Psyche des vorkapitalistischen europäischen
Menschen und der der „Naturvölker“ ; siehe ebenda S. 120 ff.
2 P. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 2- Aufl, 1912,
S. 112 f
Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung 39
holen, das heißt bei dem einmal Erlernten zu bleiben, gleich¬
gültig, ja feindselig gegenüber Neuerungen, kurz traditionalistisch
zu werden.
Es kommt dazu ein Moment, auf das Vier kandt mit Recht
hinweist, daß der einzelne als Glied einer Gruppe im Bestreben,
sich als würdiges Glied zu erweisen, die diese Gruppe aus¬
zeichnenden Kulturgüter besonders pflegt. Was wiederum die
Wirkung hat, daß der einzelne grundsätzlich nicht das Neue
erstrebt, sondern eher das Alte zur Vollendung zu bringen
trachtet.
So wird der ursprüngliche Mensch durch mannigfaltige Kräfte
gleichsam in die Bahnen der bestehenden Kultur hineingeschoben,
und dadurch wird seine gesamte seelische Kultur in einer be¬
stimmten Richtung beeinflußt: „Die Fähigkeit der Spontaneität,
der Initiative, der Selbständigkeit, die ohnehin gering ist, wird
noch mehr abgeschwächt entsprechend dem allgemeinen Satze,
daß Anlagen sich nur nach Maßgabe ihrer fortgesetzten Au¬
wendung entwickeln können und mangels einer solchen ver¬
kümmern“ h
Alle diese Einzelzüge des vorkapitalistischen Wirtschafts¬
lebens wie des vorkapitalistischen Kulturlebens überhaupt finden
ihre innere Einheit in der Grundidee eines auf Beharrung und
Auswirkung des Lebendigen im räumlichen Nebeneinander be¬
ruhenden Lebens. Das höchste Ideal jener Zeit, wie es in seiner
letzten Vollkommenheit das wundervolle System des heiligen
Thomas durchleuchtet, ist die in sich ruhende und aus ihrem
Wesenskern zur Vollendung aufsteigende Einzelseele als ein orga¬
nischer Bestandteil der lebendigen Menschheit gedacht. Diesem
Ideal sind alle Lebensforderungen und alle Lebensformen an¬
gepaßt. Ihm entspricht die feste Gliederung der Menschen in
bestimmte Berufe und Stände, die alle als gleichwertig in ihren
gemeinsamen Beziehungen auf das Ganze angesehen werden und
die dem einzelnen die festen Formen darbieten, innerhalb deren
er sein individuelles Dasein zur Vollkommenheit entfalten kann.
Ihm entsprechen die Leitideen, unter denen das Wirtschaftsleben
steht: das Prinzip der Bedarfsdeckung und des Traditionalismus,
die beide Prinzipien der Beharrung sind. Der Grundzug des
vorkapitalistischen Daseins ist der der sicheren Ruhe , wie er
allem organischen Leben eigentümlich ist.
1 A, Vierkandt a. a. 0. S. 105,
Zweiter Abschnitt
Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Fünftes Kapitel
Der Zustand der materiellen Kultur Europas
während des Frühmittelalters
Wenn Kaiser Carolus die Eindrücke hätte sammeln wollen,
die er mit seinen Goetheaugen auf seinen Reisen und seinen
Kriegsfahrten im Sorbenlande, auf dem Wege nach Kom oder
nach Roncevall empfangen hatte, wenn er sich ein Bild hätte
machen wollen von der Lebensweise der Völker, die er kennen
gelernt hatte, insonderheit von ihrem materiellen Dasein und
dessen Grundlagen : ich glaube, es wäre recht gleichförmig aus¬
gefallen. Zwar wohnten die Menschen an der Elbe in Rund¬
dörfern und pflügten ihre viereckigen Äcker mit dem Haken¬
pflug, während an der Mündung des Rheins die Stämme in
Haufendörfern siedelten und ihre bunt durcheinander gewürfelten
langen Ackerstreifen mit dem Räderpflug umwarfen ; zwar lebten
sie an der Weser, im Westen Frankreichs, in den Alpentälern
und anderwärts auf einsamen Höfen, während sie jenseits der
Alpen in stadtartigen, Mauer an Mauer gebauten Dörfern in
Haufen beieinander hausten. Aber das war doch nur die Ober¬
fläche j war nur gleichsam die äußere Form ihrer Daseinsweise. Die
innere Wesenheit ihrer Kultur wies doch mehr übereinstimmende
als unterschiedliche Merkmale auf. Wenigstens lassen sich ganz
bestimmte gleiche Grundzüge in den sachlichen Daseinsbedin¬
gungen jenes Zeitalters nachweisen, die ihm ein starkes Gepräge
verleihen und es deutlich gegen frühere und spätere Epochen
abheben: vorausgesetzt, daß wir den zeitlichen Rahmen nicht
allzu eng spannen und ein paar Jahrhunderte — etwa das achte,
neunte und zehnte unserer Zeitrechnung — unserer Betrachtung
zugrunde legen.
Da war denn nun doch wohl der allgemeine Charakter der
Fünftes Kapitel: Europäische Kultur während des Frühmittelalters 41
materiellen Kultur in allen Teilen Europas während jener Zeit
annähernd der gleiche. Das heißt vor allem: die Kultur war
primitiv und trug rein ländliches Gepräge. Keine Stadt, kein
städtisches Leben in dem weiten Reiche des Frankenkaisers.
Was außer Zweifel steht für jene Gebiete, in die die römische
Kultur nicht vorgedrungen war ; was aber auch gilt für die ehe¬
mals dem römischen Weltreich zugehörigen Lande. Schon im
4. Jahrhundert waren die Römerstädte in den blühenden Rhein¬
landen fast verschwunden. Im Jahre 311 schildert Eumenius
die burgundischen und lothringischen Landschaften als un-
angebaut, schmutzig, stumm und finster und sogar die Militär¬
straßen als verfallen1. Und dem vielleicht übertreibenden Pan¬
egyriker tritt ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller bei, der
uns von der Gegend des Rheintals berichtet, daß sie ohne alle
Städte sei2 3. 406 wurden Worms und Mainz zerstört8, während
die römischen Städte am rechten Rheinufer und an der Rhein¬
mündung schon im 4. Jahrhundert untergegangen waren4 *.
Architektonisch brauchen wir uns diese Städte nicht völlig
vernichtet zu denken, obwohl auch die Gebäude oft genug mit
zerstört sein mögen : wurden doch die Tempel und Amphitheater
beliebte Steinbrüche, aus denen sich die Abte das Baumaterial
für ihre Kirchen und Klöster holten6 *. Aber für manche Stadt
läßt sich derselbe Mauerzug wie zur Römerzeit nachweisen 6. Und
manches Bauwerk hat sich hier bis auf unsere Zeit erhalten. Das
Wichtige ist: daß kulturell, das heißt vor allem ökonomisch die
Städte so gut wie verschwunden waren. Denn hinter ihren Mauern,
wo diese stehen geblieben waren, saßen in der Karolingerzeit
dieselben Menschen wie draußen: Ackerbauer. „Es fehlt jeder
Grund, in den Bischofssitzen und den befestigten Orten andere
1 Eumenius pan. in Constant. Recueil des Hist, des Gaules etc.
1, 713.
2 »Per üuos tractus — von Mainz bis Cöln — nec civitas ulla
visitur nec castellum nisi quod apud Confluentes . . . Rimomagum
oppidum est et una prope ipsam Coloniam turris“. Amm. Marc. 16, 3.
3 Hieron. ep. 123 ad Ageruchiam ed. Vallarsi 1766 zit. bei
S. Rietschel, Die Civitas auf deutschem Boden bis zum Ausgang
der Karolingerzeit (1894), 32.
4 Rietschel, a. a. 0. 33.
6 Siehe die Stellen bei K. Lamprecht, Deutsches Wirtschafts¬
leben im Mittelalter, 3 Teile in 4 Bänden 1884 (zit. D.W.L.), 1, 78.
e Z. B. für Cöln L. Ennen, Gesch, der Stadt C., 5 Bände 1863
bis 1880, 1, 81; so für Wien,
42 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Bevölkerungsverhältnisse wie auf dem Lande anzunehmen . . .
es war dieselbe Markgemeinde wie auf dem Lande . . .“ 1. Daher
auch die Ausdrücke Megunzan Marca, Marca Wormacia, Marca
Bingiorum! Der Araber, der im 10. oder 11. Jahrhundert
Deutschland bereiste, fand Mainz noch als eine Stadt, von der
ein Teil bewohnt, das übrige Areal besät war 2.
Noch im Jahre 845 war die Altstadt Straßburgs — das alte
Argentoratus — - teilweise unbewohnt: wir erfahren, daß das
Kloster St. Stephan daselbst „mitten unter Schutt und Trümmern“
gegründet wird.
Auch die Römerkastelle längs der Donau von Batava castra
bis Sirmium, einschließlich Vindobona, waren in Schutt ver¬
sunken 3.
Nicht viel anders aber werden die Verhältnisse in den andern
römischen Kolonien4, viel anders auch in Italien selbst nicht
gelegen haben. Hier hatte der Jahrhunderte lang währende
Rückbildungsprozeß die Städte allmählich ihres Charakters ent¬
kleidet. Die Munizipien hatten längst aufgehört, unentbehrliche
Mittelpunkte des gewerblichen Lebens oder der Kapitalbildung
oder auch unentbehrliche Marktorte zu sein. Sie saßen schon
seit der späteren Kaiserzeit „im Grunde nur als Schröpfköpfe
im Interesse der staatlichen Steuerverwaltung“ 5 über dem
Reiche. Mit dem Untergange des Römischen Reichs war auch
diese Funktion weggefallen, und sie fingen nun wohl auch an,
als architektonische Erscheinung mehr und mehr zu verschwinden.
Die langen Gothenkriege, vor allem aber der Einbruch der Longo-
barden, gaben ihnen den Rest. Von den Longobardenfürsten
hören wir, daß sie die Städte, die sie eroberten — Padova,
Cremona, Mantova, die Städte von Luni in Tuscien bis zur
Grenze der Franken und viele andere — von Grund aus zer¬
störten. König Rothari ebenso wie König Agilulf: „ad solum
usque destruxit“ ; „expugnavit et diruit“ ; „murus civitatebus
1 Rietscliel, Civitas, 85. Dort auch Belege für das Vorhandensein
landwirtschaftlich genutzten Bodens in den „Städten“ jener Zeit. Vgl.
auch Kap. 10.
2 G. Jacob, Ein arabischer Berichterstatter aus dem 10. oder
11. Jahrhundert usw. (1890), 13.
3 Hans v. Voltelini, Die Anfänge der Stadt Wien (1913), 8^9.
4 Über das Schicksal der französischen Städte äußert sich Flach,
Origines de l’ancienne France 2 (1893), 237 ff. und passim.
5 Max Weber, Röm. Agrar ge schichte (1891), S, 267, wo diese
Vorgänge am besten dargestellt sind,
Füuftes Kapitel: Europäische Kultur während des Frühmittelalters 43
subscriptis usque ad fundamento distruens vious laas civitates
nomenare praecepit“1: „er ließ sie Dörfer nennen“, was sie im
ökonomischen Sinne schon längst geworden waren: Wohnsitze
einer ackerbautreibenden Bevölkerung. Das galt aber nicht nur
vom germanischen Eroberungsgebiet, wo der agrarische Charakter
der neuen Kultur freilich am deutlichsten zutage trat (ich spreche
noch davon): auch in den Kastellen des Exarchats hauste der
Grundbesitzer, der hier seit dem siebenten Jahrhundert die aus¬
schlaggebende Gewalt geworden war und selbst in den Castren,
die auf den Lidi der venetianischen Küste errichtet waren, mag
es nicht anders ausgeschaut haben2.
Das platte Land selbst: ganz dünn besiedelt; zwischen den
wenigen Dörfern, Weilern und Höfen weite Strecken öden Landes:
Sumpf und Wald, darin die Wölfe in Rudeln zu Hunderten
hausen3. Italien ein Bild der Verwüstung: die Ent- und Be¬
wässerungsanlagen in Verfall; daher Dürre und Sümpfe, wo
ehedem blühende Felder gewesen waren (ein Land so künst¬
licher Bodenkultur wie Italien leidet doppelt unter Vernach¬
lässigung oder gar Zerstörung) : „Nunc . . desolata ab hominibus
praedia atque ab omni cultore destituta, in solitudine vacat terra :
nullus hanc possessor inhabitat“; „in hac terra, in qua nos vivimus
finem suum mundus non nunciat , sed ostendit“ (!) 4. Ebenso
spricht Paulus Diaconus (V. 29) von den „spatiosa ad habitandum
loca, quae usque ad illud tempus deserta erant . . .“ Auf den
verödeten Feldern dehnten sich dann die Sümpfe und in ihrem
Gefolge stellte sich die Malaria ein5 oder die Bäume und Sträucher
schlugen wieder Wurzel und bildeten jene mächtigen Wälder,
von denen uns um jene Zeit die Quellen berichten: in der
1 Fredegarius Chron. c. 71; vgl. Paul. Diac. IV, c. 23. 24.
28. 46.
2 Ludo M. Hart mann, Gesell. Ital. im Mittelalter, 1898 ff.,
II, 2, 100. 105 ff.
3 Für Aquitanien siehe die Berichte der Annalen von St. Bertiir
zum Jahre 846. „Luporum incursio inferiorum Galliae partium homines
audentissime devorat, sed et in partibus Aquitaniae in modum exercitus
usque ad trecentos ferme conglobati et per viam facto agmine gradientes,
volentibusque resistere fortiter unanimiterque contrastare feruntur.“
Prudentii Trecensis Ann. s. a. 846. MG.SS. 1, 442.
4 Gregorii M., Dial. III c. 38.
5 L. N. Muratori, Ant. It. M. Ab, t. II. Diss., XXI, p. 154.
164. 171. 180; G. Verci, Storia della Marca trivigiana 1 (1786)
Poe, No. IV,
44 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Landschaft von Benevent, Regio Emilia, Modena, Pavia, Bologna,
Parma, Ferrara, Verona (hier lag die „immanis silva Nogariensis“)
nnd anderen1, wo heute meist jede Spur einer Bewaldung ver¬
schwunden ist.
Viel brachliegendes Land in Spanien, als die spanische Mark
der fränkischen Krone einverleibt wurde2 3. Riesige Waldungen
in Frankreich8, in Deutschland4 — selbstverständlich.
Also: was kaum hervorgehoben zu werden braucht: eine
äußerst dünne Besiedlung.
Leider haben wir keine Möglichkeit, die Bevölkerungsdichtig¬
keit jener Zeit auch nur annähernd genau festzustellen. Aber die
schon angeführten Symptome, zusammen mit einer Reihe von
statistisch-topographischen Studien6 *, lassen keinen Zweifel da¬
rüber, daß die Bevölkerungsziffer sehr niedrig war.
1 Muratori, 1. c. p. 150. 164. 171. 180. Beweisstellen für
die „überaus reiche Bewaldung des Gebietes von Florenz-Fiesole“
zusammengestellt von Hob. Davidsohn, Forschungen zur älteren
Geschichte von Florenz, 1 (1896), S. 86 f. : bis ins 11. Jahrhundert
hinein.
2 Siehe die Belege bei M. Kowalewsky, Die ökonomische Ent¬
wicklung Europas, deutsch 1901 ff., 3, 431.
3 Die Wälder machen in allen Schenkungen jener Zeit den bei
weitem größten Teil des Areals aus.
4 Siehe die Beispiele bei K. Th. Inama-Sternegg, Deutsche
Wirtschaftsgeschichte 1879 ff. (zit. D.W.G.), 1, 215; Lamprecht,
DWL. 1, 94. "Über die ‘solitudines5 in Bayern siehe Th. Bitterauf,
Die Traditionen des Hochstifts Freising, 1. Bd. (744 — 926) (Quellen
und Erörterungen zur bayer. und deutschen Geschichte, N. F. IV. Bd.
[1905] S. LXXXI).
5 Hierher gehören die Untersuchungen von Lamprecht im
1. Bande seines' DWL., ferner die sehr gewissenhaften Arbeiten von
F. Will. Maitland, Domesday Book and Beyond (1897) p. 20 f.
Sechstes Kapitel
Die Dorfwirtscliaft
Literatur
Die im Folgenden entworfene Skizze der Dorfwirtschaft des europä¬
ischen Mittelalters ist im wesentlichen dem Bilde nachgezeichnet, das
die jetzt sogenannte „ältere“ Forschung herausgearbeitet hat. Die
Männer, denen wir dieses Werk verdanken, sind vor allem v. Maurer,
Landau, Guerard, Meitzen, v.Inama, Lamprecht, Gierke,
S e e b o h m. Da ich meine Darstellung im wesentlichen an die Schriften
dieser Forscher angelehnt habe , habe ich auf die Mitteilung von
Quellenbelegen verzichtet. Diese Ansichten sind in den letzten Jahr¬
zehnten mehrfach kritisiert worden, namentlich — um nur die wich¬
tigsten Vertreter der „neueren“ Forschung zu nennen — von Caro,
Wittich, R. Hildebrand, S. Rietschel, Joh. Reichel,
T hevenin, Fustel de Coulanges, Tamassia, zuletzt von
D o p s c h. — Was diese Kritiker vorgebracht haben , läßt sich beim
besten Willen zu einem einheitlichen Gesamtbilde noch nicht zusammen¬
fügen. Ich verzichte daher darauf, auf diesen Streit im einzelnen ein¬
zugehen, der übrigens, so viel ich zu sehen vermag, selbst wenn die
„neuere“ Forschung in allen Fragen Recht behalten sollte, die uns
hier in erster Linie interessierenden Grundzüge des Bildes der alten
Dorfwirtschaft unberührt läßt. Denn ob die Hufe dereinst gleich groß
war oder nicht, ob sie und die Mark ein autonomes oder grundherr¬
liches Gebilde gewesen sind , ändert nichts an dem , was mir das
wesentliche der Wirtschaftsorganisation des mittelalterlichen Dorfes
zu sein scheint: Wirtschaftliche Autonomie, Bedarfsdeckung im wesent¬
lichen auf dem Wege der Eigenwirtschaft, Privatwirtschaft in Größen¬
abstufung mit teilweiser Eingliederung in eine gemeinwirtschaftliche
Organisation.
Wie nun gestaltete sich in dieser Umwelt das AVirt-
scha ft sieben? in welchen Formen sorgten die Menschen jener
Jahrhunderte für die Beschaffung ihres Unterhalts?
In der Wirtschaftsverfassung jener Zeit lassen sich zwei ver¬
schiedene Organisationen deutlich unterscheiden, die wir auch
nacheinander betrachten wollen : Die bäuerliche Wirtschaft in den
Dorfgemeinden und die Fronhofwirtschaft auf den Grundherr-
schäften.
Die Völker Europas (im Westen der russischen Grenze)
waren in der Epoche, die wir hier im Auge haben, seit geraumer
40 Zweiter Abschnitt: Das eigen wirtschaftliche 5£eitaitei‘
Zeit seßhaft geworden. Von den alten Kulturvölkern ganz ab¬
gesehen: auch die Germanen wohnten seit den ersten Jahr¬
hunderten unserer Zeitrechnung in festen Ansiedlungen und trieben
Ackerbau, die Slawen hatten ebenfalls seit ihren Wanderungen
in die frei gewordenen deutschen Gaue den Übergang zur Se߬
haftigkeit vollzogen und zuletzt (um 600) waren die Kelten in
Irland aus Nomaden Ackerbauer geworden. Auch die großen
Völkerzüge hatten seit einigen Jahrhunderten aufgehört. • Das
Agrarwesen Europas hatte angefangen, sich zu stabilisieren; in
den festen Formen sich zu entwickeln, die es bei der endgültigen
Siedlung der Bebauer des Landes erhalten hatte.
Diese Siedlungsformen waren — wie ich schon angedeutet
habe — recht mannigfaltig gewesen und gaben — rein äußerlich
betrachtet — dem europäischen Agrarwesen zunächst ein sehr
buntes Gepräge, zumal ja verschiedene Nationalitäten, verschiedene
Völker auf demselben Gebiete nacheinander gesiedelt hatten,'
oft genug jede mit nachhaltigen Wirkungen auf die Gestaltung
der Siedlungsform.
Von einem einzigen Volksstamm besiedelt gewesen sind, wie
man weiß 1, nur ganz kleine Strecken Europas : Niederdeutsch¬
land zwischen Elbe, Weser, Mittelgebirge und Nordsee: das
einzig rein-deutsche Land und Irland: das einzig rein-keltische
Land. Über alle andern Länder sind verschiedene Völker hin¬
weggegangen und haben ihre Kultur abgelagert wie geologische
Schichten.
Bei der Besiedlung Europas hat es sich im wesentlichen um
die verschiedenen nationalen Siedlungsweisen der Börner, Kelten,
Germanen und Slawen gehandelt; unter sie ist das europäische
Land aufgeteilt und zwar bis zu der Epoche, in der wir Um¬
schau halten , so , daß Deutschland bis zur Elbe slawisch , im
übrigen teils deutsch, teils keltisch besiedelt ist, daß ebenso
Frankreich und Großbritannien eine Mischung keltischer und
germanischer Siedlungsformen aufweisen , während südlich der
Alpen — soweit nicht Beste ursprünglicher Ansiedlung noch er-
1 Die unerschöpflich reiche Quelle für alle Probleme der Siedelung
ist das Werk von August Meitzen, Siedelung und Agrarwesen
der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und
Slaven. 3 Bde. und Atlasband. 1895. — Soweit die Untersuchungen
M.s reichen, gehen wir auf sicherem Grunde ; wo sie aufhören, hört
meist auch unsere Wissenschaft von diesen Dingen auf. Das gilt
• — leider! — für das Gebiet südlich der Alpen.
Sechstes Kapitel: I)le Lorfwirtschaft 4?
halten sind — die römische Centuriataufteilung des Landes neben
der deutschen Dorfsiedlung sich vorfindet1.
Es gehört nun nicht zu der Aufgabe, die ich mir hier ge¬
stellt habe, auch nur in den Grundzügen, die vier nationalen
Siedlungsweisen zu beschreiben. Ich begnüge mich vielmehr
mit der kurzen Bezeichnung der den verschiedenen Siedlungs¬
formen charakteristischen Merkmale und verweise für alles
übrige den Leser auf das Meitzensche Werk.
Slawische Siedlung: geht von der Hauskommunion aus.
Die Bauern wohnen in Bunddörfern, an deren Peripherie die
einzelnen Gehöfte liegen. Yon diesen gehen strahlenförmig die
-zum einzelnen Bauernhof gehörigen Ländereien aus; jeder Hof
hat seinen Besitz in einem Stück.
Keltische Siedlung: geht von der Clanverfassung aus.
Siedlung in Einzelhöfen, um die herum das gesamte Areal, das
dem Bauern gehört, in einer abgerundeten Masse gelegen ist.
Germanische Siedlung: ruht auf genossenschaftlicher
Basis. Die Bauerngemeinde wohnt in unregelmäßigen Haufen¬
dörfern. Das Ackerland jeder Bauernfamilie liegt zerstreut an
verschiedenen Stellen der Flur in den sogenannten Gewannen.
Daher Gewannendorf.
Bomanische Siedlung: in städteartigen Dörfern, in denen
die steinernen Häuser Mauer an Mauer stehen. Speziell die
Zenturiatansiedlung der Kolonien: in regelmäßigen Beclitecken
von je 200 jugera.
Worauf es mir vielmehr hier ankommt, ist: den Nachweis
zu führen, daß die bäuerliche Wirtschaft in jener Zeit — trotz
der äußerlich so außerordentlich mannigfaltigen Siedlungsart —
doch in ihrem Wesen in Nord und Süd, Ost und West sehr
ähnlich war, daß sie jedenfalls eine sehr große Menge über¬
einstimmender Züge aufwies , die teilweise in der „Natur der
Sache“ 2 begründet waren.
Wollen wir irgendein soziales Gebilde, wie es ein bestimmtes
Wirtschaftssystem ist, in seiner organischen Einheit und Eigenart
begreifen, so müssen wir, wie wir wissen, nach der leitenden
Idee suchen, die zu seiner Entstehung geführt hat und die es
1 Ygl. die Übersichtskarte im Atlasband des M e i t z e n sehen Werkes,
wo die geographische Verbreitung der verschiedenen Siedlungsformen
wenigstens für Europa nördlich der Alpen graphisch dargestellt ist.
2 G. Haussen, Agrarhistorische Abhandlungen 2 Bde. 1880.84;
1, 497.
4g
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitaltei1
in seinem Weiterbestände erhält: der leitenden, tragenden Idee,
die wiederum nichts anderes ist als die zu einer gedanklichen
Einheit zusammengefaßten und im Bewußtsein reflektierten
treibenden Interessen der den Ausschlag gebenden Personenkreise.
Was die eigentümliche Siedlung aller europäischen Volks¬
stämme bestimmte, konnte nur das Bestreben der Genossen eines
Nomadenstammes sein, sich — angesichts des knapper werdenden
Landes und der zunehmenden Übergriffe der reichen Herden¬
besitzer — eine gesicherte Existenz zu verschaffen, war die
Idee der „Nahrung“, wie man dieses Streben später genannt hat.
Vergegenwärtigt man sich die objektiven Bedingungen eines
AVirtschaftsbetriebes in jener frühen Zeit, in der die Seßhaft-
werdung erfolgte :
1. das Land: zwar zu knapp für Nomaden Wirtschaft, aber
reichlich genug für extensiven Ackerbau;
2. die Technik: ganz primitiv sowohl als Ackerbau wie
Viehzucht, wie als gewerbliche, wie als Transporttechnik;
3. die Bevölkerung : verschwindend gering, in ihren einzelnen
Gruppen noch wesentlich durch Blutsverwandtschaft verbunden —
so mußte jenes Streben, die „Idee der Nahrung“ zu verwirk¬
lichen, mit Notwendigkeit zu einer Wirtschaftsverfassung führen,
wie wir sie tatsächlich bei den europäischen Völkerschaften in
ihrer Kindheit vorfinden.
Das Siedlungswerk wird vollbracht auf einem Gebiet, das ge¬
meinsamer Besitz einer Gruppe blutsverwandter, nomadisierender
Familien gewesen und von den Ansiedlern bis dahin gemein¬
schaftlich genutzt worden war. Der Schwerpunkt der AVirt-
schaft wird aus der Viehzucht in den Ackerbau verlegt. Zu
diesem Behufe erhält jede Familie ein Stück Land zu ausschlie߬
licher Benutzung — dauernd oder vorübergehend — zugewiesen :
groß genug, um den traditionellen Unterhalt seinen Bebauern zu
gewähren und deren Arbeitskräfte, die durch ein Pfluggespann
unterstützt werden, zu beschäftigen. Die Ackerlose sollen nach
Möglichkeit gleich groß und gleich gut sein. Das Besitztum
heißt selbst vielerorts „Pflug“, aratrum, plough-land oder auch
possessio familiae, terra familia oder schlechthin familia.
Diese Grundidee: jede Bauernfamilie erhält ein ihrem Bedarf
und ihrer Arbeitskraft angepaßtes Grundstück, kehrt bei allen
Völkern gleichmäßig wieder. Sie ist in der deutschen Hufen-
verfasssung am peinlichsten durchgeführt ; aber tatsächlich „bilden
auch die (keltischen) Einzelhöfe Bauerngüter von ungleicher
Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaft.
49
Größe, jedoch, von gl eichgedachter , für die Ernährung einer
Bauernfamilie ausreichender Leistungsfähigkeit“, weshalb wir denn
beispielsweise in den französischen Urkunden auch den Aus¬
druck „mansus“ für die Tates angewandt finden. Und dasselbe
gilt von den Dzedzinengütem der Slawen.
Von dem Gesamtareal der Flur bleibt bei allen Siedlungs¬
formen oft ein erheblicher Teil von der Vergabung an die Einzel¬
familien ausgeschlossen in gemeinsamem Besitze der gesamten
Gemeinde zurück: die Almende. Dieser Teil der Dorfflur dient
dann zur Unterlage einer gemeinsamen Wirtschaftsführung meist
der Viehzucht als Weideland. Das hat seinen Grund vor allem
wohl in den Verhältnissen, die in jener frühen Zeit eine andere als
eine kollektiv betriebene Viehzucht nicht gestatten. Der primi¬
tiven Viehzucht entspricht wiederum ein primitiver Ackerbau.
Wir dürfen annehmen, daß die ersten Feldsysteme, die nach
der Seßhaftwerdung zur Anwendung gelangten, eine ziemlich
rohe Feldgraswirtschaft oder aber eine ganz primitive Einfelder-
wirtsckaffc waren.
Die innere Zusammengehörigkeit der Mitglieder einer Bauern¬
gemeinde , die blutlich in der ursprünglichen Verwandtschaft
ihre Wurzel hat und in den aus dieser entspringenden sym¬
pathetischen Gefühlen, wie sie zur Bildung einer „Gemeinschaft“
im Tönnies sehen Sinne1 führen, findet dann ökonomisch ihren
xAusdruck in dem Aufsichselbstgestelltsein der ganzen Gemeinde
und dem Aufeinanderangewiesensein der einzelnen Bauern¬
familien. Denn nach außen findet so gut wie kein Verkehr
statt. Die ursprünglichen Dorfanlagen kennen keine Wege
zwischen den einzelnen Dörfern. Das gesamte Dasein ist ein¬
geschlossen in den engen Kreis der Dorfflur. Da jede einzelne
Familie auf ihrer Scholle selbständig sein will, so folgt aus dieser
Sachlage von selbst als das die Produktion regelnde Prinzip:
die Deckung des eigenen naturalen Bedarfs.
Das Bedarfsdeckungsprinzip regelt die Anteilnahme
des einzelnen an den Gemeindenutzungen: jeder soll so viel
davon nehmen als er braucht (so wenigstens ursprünglich), nur
verkaufen darf er nichts.
Dasselbe Prinzip bestimmt den Kreis der zu gewinnenden
1 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft usw. 1887. 2. Aufl.
1912.
Sombart, Der moderne Kapitalismus, I,
4
50
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche 2eitaltei!
Produkte : das sind die volkstümlichen Nalirungsfr lichte , Ge-
spinnststoffe usw.
Dasselbe Prinzip gibt die Veranlassung zu den in aller
früheren Zeit selbstverständlichen gegenseitigen Hilfeleistungen
der Bauern untereinander.
Dasselbe Prinzip nötigt jeder Familie außer der landwirt¬
schaftlichen auch die gewerbliche Produktion auf. Daß
diese zum größten Teil in jeder Bauernwirtschaft mitbesorgt
wurde, versteht sich von selbst. Hat sich ja die hausgewerb¬
liche Tätigkeit der Bauernwirtschaften bis in unsere Zeit er¬
halten, wie an geeigneter Stelle noch zu zeigen sein wird. Der
Hausbau, die Herstellung der Kleidung, der AVerkzeuge und
des Schmuckes, das Backen des Brotes waren sicher von jeher
Zweige der bäuerlichen Eigenwirtschaft. Auch was der Bauer
an Eisengeräten nötig hatte, Nägel, Hufeisen usw., erzeugte er
sich selbst, vom Eisenerz an, das er in der Gemarkung fand
und in den einfachen Schmelzöfen, den Ilennfeuern , zu Eisen
ausschmolz1). Wo größere Anlagen erheischt wurden, sorgte
die Gemeinde als solche für ihre Errichtung. Das galt von der
(Wasser-)Mühle 2 3 * * * * ; aber auch von der Schmiede8. Endlich
wird es frühzeitig in den Dörfern einzelne Spezialarbeiter ge¬
geben haben, die für die andern die notwendigen gewerblichen
Arbeiten ausführten: in erster Linie einen Schmied und einen
1 Viel neues Material bei Alfons Müller, Geschichte des Eisens
in Inner- Österreich 1 (1909), 111 ff.
2 Siehe Lex Sal. 22. Lamprecht, DWL. 1, 17. Im Domesday-
Book: „sometimes the ownership of a mill is divided into so many
shares that we are tempted to think that this mill has been erected
at the cost of the vill“. F. W. Maitland, D. Book and beyond
(1897), p. 144.
3 In einer bekannten Stelle der Lex Baiuv. (IX, 2) werden
Kirche, 'Herzogspalast, Mühle und Schmiede als öffentliche Ge¬
bäude genannt, die einen höheren Flieden genossen. „Wie schutzlos
auf dem Felde gelassenes Ackergerät wurden solche Gebäude, welche
nicht dauernd bewohnt, vielmehr nur behufs der Arbeit aufgesucht
wurden und oft einsam am Flusse lagen, durch erhöhten Frieden ge¬
schirmt-, sie standen stets offen, ebenso (nämlich wie die Mühlen)
die Schmieden: Diese öffentlichen Arbeitsstätten waren
Eigentum der Gemeinde; alle Gemeindegenossen durften
sie abwechselnd benutzen.“ F. Dahn, Könige der Germanen,
IX, 2 (1905), 443. Dem Streit: ob die Mühlen im „Privateigentum“
oder im Eigentum der Gemeinde (Markgenossenschaft) gestanden haben,
ist das Buch gewidmet von Carl Koehne, Das Recht der Mühlen
Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaf’t
51
Stellmacher, diese beiden Urtypen des ländlichen Handwerks* 1.
Nur daß sie ursprünglich nicht selbständige Handwerker waren,
sondern eine Art von G-emeindebeamten, die von der Gemeinde
unterhalten wurden gegen die Verpflichtung, alle vorkommende
Schmiede- oder Stellmacherarbeit kostenlos auszuführen. Auch
diese Gebilde ragen mit ihren Trümmern in die Gegenwart
hinein und haben sich in etwas veränderter Gestalt als sogenannte
Gutshandwerker bis heute auf großen Gütern ganz allgemein,
hie und da aber auch als Dorfhandwerker, gehalten.
Daß dieses gebundene Leben sich in den Formen eines ge¬
bundenen Hechts abspielte, ist selbstverständlich. Nur langsam
öffnet sich die Gemeinde der blutsverwandten Dorfgenossen
fremden Zuzüglingen ; nur langsam gewinnt die einzelne Bauem-
familie die freie Verfügungsgewalt über ihr Ackerloos. Und wo,
wie in den deutschen Gewanndörfern, der Acker des einzelnen
Bauern „im Gemenge“ mit den anderen liegt, übt die Gemeinde
strenge Ordnung in der gesamten Wirtschaftsführung aus, deren
Gestaltung der Verfügungsgewalt des einzelnen Bauern ganz
und gar entzogen ist. (Flurzwang!)
Diese ursprüngliche Form der bäuerlichen Wirtschaft, wie
ich sie eben mit wenigen Strichen gezeichnet habe, hatte sich
nun zweifellos in ihren Grundzügen durch alle die Jahrhunderte
bis in die Karolingerzeit erhalten. Was sich geändert hatte,
war wohl wesentlich folgendes: Die affinitas hatte mehr und
mehr der propinquitas weichen müssen : die ehemals bluts¬
verwandten Dörfler waren mit fremdblütigen Elementen durch¬
setzt. Vor allem hatte eine schon ziemlich starke Differen¬
zierung in den Besitzverhältnissen Platz gegriffen. Die alten
Hüfner waren zum Teil verschwunden; ihre Plätze wurden von
größeren Bauern oder Teilhüfnern eingenommen. Und neben
dem Hüfner erscheint schon der Kötter, der Kothsasse, der
cottarius, croftmann, cotsettle der englischen Quellen.
Dis zum Ende der Karolingerzeit. 1904. Es gab m. E. 1. „Privat¬
mühlen“ der Bauern (ganz primitiver Art); 2. Gemeindemühlen;
3. Privatmühlen der Grundherrn, die von den Bauern genutzt werden
konnten oder (später) mußten. Siehe Seite 74 ff. Vgl. zu obigem
Streit noch M. Thövenin, Etudes sur la propriete au moyen age
in der Revue Histor. 1886.
1 Der Faber, faber ferrarius in der Lex Sal. 35, 6; 10, 26; lex
Bai. 9, 2; lex Alem. 81, 7 und öfters; der Carpentarius in der lex
Sal. 35, 6; 10, 26 (nur daß man an diesen Stellen ebensogut an
grundherrliche Arbeiter denken kann).
4*
62
Zweiter Abschnitt: i)as eigen wirtschaftliche Zeitalter
Aber der Geist der alten Bauernwirtschaft war sicherlich
derselbe geblieben — wie er es noch 1000 Jahre hindurch weiter
blieb — und auch die Wirtschaftsführung hatte keine wesent¬
lichen Veränderungen erfahren. Wissen wir doch, daß selbst
die Dreifelderwirtschaft, die dann das ganze Mittelalter- hindurch
bis in unsere Zeit hinein die bäuerliche Wirtschaftsführung be¬
einflussen sollte, nicht vor Ende des 8. Jahrhunderts sich aus¬
zubreiten beginnt1 * 3.
Nun wäre aber das Wirtschaftsleben zur Karolinger zeit doch
vielleicht nicht so gleichförmig in ganz Europa gestaltet ge¬
wesen, wie es tatsächlich der Fall war, wenn es ausschließlich
von der bäuerlichen Wirtschaft beherrscht gewesen wäre. Denn
so viele übereinstimmende Züge wir auch an dieser nachweisen
konnten: es haftete ihr doch immer die charakteristische Eigen¬
art der nationalen Siedlungsweise an. Was dem europäischen
Wirtschaftsleben jener Zeit vielmehr den hohen Grad von Gleich¬
förmigkeit verlieh, war die zweite Organisation, von der bereits
die Rede war : die Erohnhofwirtschaft auf den Grundherrschaften,
die tatsächlich fast keine Unterschiede von Sizilien bis Schott¬
land, vom Sorbenland bis zur spanischen Mark aufwies. Von
ihr soll im folgenden die Rede sein.
1 Siehe z. B. F. Dahn, Könige der Germanen IX, 1, 443; IX,
2, 419. NachMeitzen, Siedelungen, 2, 592 f., wird die Dreifelder¬
wirtschaft erstmalig 771 im räthisch-gallischen Gebiete erwähnt. Die
landwirtschaftlichen „Altertümer“ findet man noch am besten zusammen¬
getragen bei Karl Gottlob Anton, Geschichte der teutschen Land¬
wirtschaft von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts.
3 Bde. 1799. — Freilich sind Mißverständnisse bei A. keine Selten¬
heit.
i
53
Siebentes Kapitel
Die Fronhofswirtschaft
Literatur
In den letzten Jahren ist die Literatur über die Grundherr¬
schaften und ihre Wirtschaftsverfassung in Deutschland und nament¬
lich auch im Auslande mächtig angeschwollen. Eine Zusammen¬
stellung der englischen Literatur über die englischen Grundherr¬
schaften findet man bei Nathaniel J. Hone, The Manor and
manorial records, zuerst 1906, p. 312 ff. Dieses Buch selbst ist eine
anschauliche Schilderung einzelner Seiten des grundherrschaftlichen
Lebens in England, die es durch alte bildliche Darstellungen glücklich
unterstützt. Vgl. auch noch P. Vinogradoff, The growth of the
Manor 1905 und English society in the XI Century, 1908. Die meist
monographische Literatur der Franzosen , Italiener und Deutschen findet
man berücksichtigt in der neuesten und umfangreichsten Darstellung
in deutscher Sprache, dem Werke von Alfons Dopsch, Die Wirt¬
schaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland.
2 Bde. 1912/13. Aus der späteren Literatur sei noch besonders hin-,
gewiesen auf die gute Arbeit von He inr. Pauen, Die Klostergrund¬
herrschaft Heisterbach. Beiträge z. Gesch. des alten Mönchtums usw.
Her. v. II d. Herwegen, Heft 4. 1913. (Die Grundherrschaft ent¬
wickelt sich erst seit dem 12. Jahrhundert.)
Obwohl ich diesen Abschnitt über die Fronhofwirtschaft schon vor
etwa acht Jahren niedergeschrieben habe, hat die neuere Forschung,
hat namentlich auch das Werk von Dopsch mich zu keiner einzigen
Änderung veranlaßt. Zu meiner Freude kann ich feststellen, daß ich
insbesondere mit den Ansichten von Dopsch in vielen Punkten über¬
einstimme, so weit ein Historiker und ein Nationalökonom von Wirt¬
schaftszuständen überhaupt gleiche „Ansichten“ haben können.
Das gilt namentlich vom ersten Bande, worin auch irrtümliche Auf¬
fassungen früherer Forscher (insonderheit v. Inamas) richtig gestellt
werden, auf Grund einer interessanten Kritik der Quellen. Den
Geltungswert des Cap. de villis schätze ich genau wie Dopsch ein :
meine darauf bezüglichen Bemerkungen kann ich unverändert lassen.
Anders verhält es sich mit dem zweiten Bande , worin D o p s c h
„aufbauend“ Vorgehen möchte. Hier trennen sich unsere Wege. Vor
allem, weil sich unsere Grundauffassungen von der Aufgabe der Ge¬
schichtschreibung scharf entgegenstehen. Ich gebe ohne weiteres zu,
daß das von Dopsch beigebrachte Quellenmaterial reichlicher ist wie
in irgendeiner früheren Gesamtdarstellung jener Zeitepoche (bis auf
das Kapitel „Gewerbe“ , das auffallend dürftig ist). Aber dieses
Material ist noch keine Geschichte. Hm Geschichte zu werden, hätte
54
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
es Dop sch mit dem Lichte einer „Theorie“ durchleuchten müssen.
Und gerade das lehnt ja der Verfasser ganz energisch ab. Sem Haupt¬
eifer ist auf die Bekämpfung der „Theoretiker“, insonderheit dei
„Nationalökonomen“ — v. Inama, Bücher — gerichtet. Und da be¬
ginnt sein Irrtum. Hätte er die falschen und schlechten Theorien
dieser Männer bekämpft — und die „Theorie“ v. Inamas ist wirk¬
lich herzlich schlecht, vor allem weil sie keine (geschlossene) Theorie
ist, diejenige Büch er s ist mindestens verbesserungsfähig—, so wäre
das sehr dankenswert gewesen, wenn Dop sch gleichzeitig eine eigene
„Theorie“ dagegengestellt hätte. Statt dessen will er von „Theorie
überhaupt nichts wissen — und trotzdem will er „auf bauen ! ?
Ich will hier ein für allemal meinen Standpunkt gegenüber dem
Streit zwischen „Theoretikern“ und „Historikern darlegen.
Machen wir uns folgendes klar: von zwei Dingen kann nur eins
bestehen : entweder die Historiker begnügen sich damit, unsere Hand¬
langer zu sein, das heißt das Quellenmaterial zu unserer Verfügung zu
stellen, damit wir „aufbauen“, oder aber sie bauen selber auf. In
diesem Falle müssen sie aber einen Bauplan haben, und dieser Bauplan
ist eben das, was sie verächtlich „Theorie“ nennen. Diese Theorie
besteht aus zweierlei: 1. einem System klarer, eindeutiger B e grir e;
2. einem Schema, nach dem man die Einzeltatsachen zu einem
Ganzen zusammenfügt •, in unserem Falle bietet dieses Schema die
Idee eines bestimmten Wirtschaftssystems. Wer über diese beiden
geistigen Requisite nicht verfügt, kann nicht „auf bauen . Unternimmt
er gleichwohl eine Ordnung der Tatsachen, so passiert ein Unglück.
Es entsteht heillose Konfusion, die schlimmer ist als eine bloße
Bereitstellung von Material, das dann ein anderer klarer und systema¬
tischer Kopf zur Einheit fügen mag. Ebensowenig, beispielsweise, wie
jemand Heeresgeschichte schreiben sollte, der von einem berufsmäßigen
Volksheere spricht, ebenso wenig sollte man Wirtschaftsgeschichte
schreiben dürfen, wenn man einen zu gewerblichen Leistungen vei-
pflicliteten Hintersassen mit einem Lohnwerker (im Büch er sehen
Sinne) verwechselt (Dop sch 2, 154), oder wenn man von „natural-
wirtschaftlichem Kapitalismus“ (sic) spricht (2, 52) und unter dem
Rubrum „Die Geldwirtschaft“ Preisgestaltung und Kreditvorgänge ab¬
handelt (§ 12).
Da kommen denn solche wahrhaft groteske Vorstellungen hei aus,
als ob die karolingischen WTicher- und Zinsverbote erlassen seien, um
das Publikum vor einer „monopolistischen Preistreiberei des Kapitalis¬
mus“ (sic) zu schützen (2, 275). Natürlich: ohne „Kapitalismus“
geht es jetzt in keiner Epoche mehr ab. Nehmen Geldgeber hohe
Zinsen für Konsumtivkredit, treiben Grundherren die Preise für die
notwenigen Lebensmittel : flugs ist „Kapitalismus da. Nun also schon
zur Karolingerzeit. Nunmehr ist fällig der Nachweis des „Kapitalis¬
mus“ bei den alten Deutschen zur Zeit des Tacitus: „Da staunt dei
Fachmann und der Laie wundert sich“, kann man wirklich solchen
„Theorien“ (ja wohl es sind „Theorien“, bloß vorsintflutliche und
schlechte) gegenüber nur noch sprechen. Nein — solange die Historiker
mit so gänzlich unzulänglicher Vorbildung „Wirtschaftsgeschichte“
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
55
schreiben, ist eine Verständigung nicht möglich. Einer der ganz wenigen
Historiker von Ruf, der anders verfährt, ist Georg von Below, mit
dem wir uns deshalb auch jederzeit gern und leicht auseinandersetzen.
Ich kann es mir nicht versagen, die goldenen Worte hier anzuführen, die
v. Below in seinem neuesten Werke (Der deutsche Staat des Mittel¬
alters, 1914, S. 107 ff.) über die Voraussetzungen ersprießlicher Ge¬
schichtschreibung macht und die ich Punkt für Punkt unterschreibe.
Ihr Gewicht bekommen sie dadurch, daß sie von einem unserer ersten
Historiker gesprochen werden, da man ja uns „Systematiker“
stets als verschrobene „Theoretiker“ beiseite schiebt, "wenn wir ähn¬
liches sagen, v. B e 1 o w s Ausführungen beziehen sich auf die Rechts¬
geschichte ‘ für die Wirtschaftsgeschichte gilt aber natürlich genau
das gleiche :
„Ganz gewiß ist es das Recht und die Pflicht des Historikers,
vor willkürlichen , das heißt ohne Rücksicht auf das Quellenmaterial
unternommenen, juristischen Konstruktionen zu warnen. Die juristische
Betrachtung ist ferner selbstverständlich nicht die einzig zulässige Be¬
trachtung der Vergangenheit. Allein wenn wir die alten rechtlichen
Verhältnisse darlegen wollen, so vermögen wir es nur mit den Mitteln
der Rechtswissenschaft.“ „Die Rechtsgeschichte befaßt sich mit
juristischen Fragen und muß sie folglich auch juristisch beantworten“
(v. Amira). Für die Rechtsgeschichte „bleibt totliegender Stoff, was
sie dogmatisch nicht erfassen kann“ (Brunner).- — - Meine Forderung
besteht lediglich darin, daß eine historische Darstellung alle Bildungs¬
elemente unseres Jahrhunderts in sich aufnehmen soll, und daß daher
der Historiker in seinen Arbeiten auch diejenige Sauberkeit und Prä¬
zision und Klarheit der Vorstellungen zu zeigen hat, die wir heute
nun einmal von allen Darstellungen verlangen“ . . . „Ich selbst habe
bereits mehrfach meine Meinung dahin abgegeben, daß Schärfe und
Klarheit der Begriffe an sich keineswegs Feind echter
Geschichtsforschung sind.“ (Von mir gesperrt.)
Wann endlich werden sich die „Wirtschaftshistoriker“ diese Auf¬
fassung ihres prominenten Kollegen zu eigen machen? Es ist also gar
nicht der Gegensatz zwischen „Nationalökonomen“ und „Historiker“,
was mich und andere Nationalökonomien von den meisten Wirtschafts¬
historikern der älteren Schule trennt. Es gibt auch Geschichtsschreiber,
die mit unseren Voraussetzungen an das Studium der Vergangenheit
herantreten, und — das möchte ich doch nicht ungesagt lassen —
auf der anderen Seite genug „Nationalökonomen“, die es an Ver¬
schwommenheit der Begriffe mit jedem Vertreter einer anderen Wissen¬
schaft aufnehmen.
* *
*
Mein Urteil über das Werk von Dop sch steht nicht vereinzelt
da : zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt vom Standpunkt der
Historik aus Paul Sander in seiner Antwort auf eine „Berichtigung“,
die D. der Sanderschen Kritik seines Buches hat zu teil werden lassen.
Sanders Kritik: in Schmollers Jahrbuch, 37. Jahrg. ; die Polemik ebenda
im 38. Jahrg.
56
Zweiter Abschnitt: Das eigen wirtschaftliche Zeitalter
I. Die Verbreitung der Grundherrschaften
Daß die „Grundherr schäften“ mit der auf ihnen ausgebildeten
eigentümlichen Wirtschafts Verfassung: der „Fronhofwirtschaft“
eine den europäischen Völkern während des Mittelalters gemein¬
same Erscheinung gewesen seien , die auf die gesamte Kultur¬
entwicklung dieser Völker, vor allem aber auch auf die Ge¬
staltung ihres Wirtschaftslebens den allergrößten Einfluß aus-
o-eübt hat, wird heute von niemand bestritten.
Strittig ist nur (1.) die Bedeutung der „Grundherrschaften“ (im
Sinne von Immunitäten mit eigenem [„Hof“]Recht) für die Entwick¬
lung des Verfassungsrechts (ob das Stadtrecht aus dem Hofrecht oder
dem Landrecht entstanden ist ; ob das Bürgerrecht durch das Hofrecht
hindurchgegangen und erst nach und nach aus der Unfreiheit empor1
gestiegen ist; ob die Zünfte hofrechtlichen oder landrechtlichen, un¬
freien oder freien Ursprungs waren usw.). Diese Fragen scheiden
natürlich aus unserer Betrachtung vollständig aus.
Ebenso (2.) das andere Problem, das insbesondere von Gerhard
Seeliger (Die soziale und politische Bedeutung der Grundherrschaft
im früheren Mittelalter. Abhandlungen der phil.-histor. Klasse der
K. sächs. Gesellschaft der Wiss. XXII. Bd., Heft 1. 1904) zur
Diskussion gestellt ist: welche Wirkungen die Grundherrschaften
auf den persönlichen Rechtsstatus der in ihrem Bereich lebenden
Personen ausgeübt haben (S. vertritt, wie ich glaube, mit Recht den
Standpunkt, daß „auch innerhalb der Grundherrschaft das freie Be¬
völkerungselement nicht verschwunden , mitunter sogar reichlich ver¬
treten gewesen“ [ist] ; a. a. 0. S. 196). Ebenso lasse ich (3.) dahin¬
gestellt, welchen räumlichen Umfang die Grundherrschaften besessen
haben: das heißt in welchem quantitativen Verhältnis während der
ersten Hälfte des Mittelalters das von den Grundherrschaften ein¬
genommene Land zu dem freien Bauernlande gestanden habe. Zweifel¬
los eine Übertreibung war die Annahme , der man früher häufig be¬
gegnete, es habe im 10. und 11. Jahrh. nur noch Grundherrschaften
gegeben. Das hatten z. B. für England Seebohm, Ashley u. a.
behauptet, deren extreme Anschauungen aber seitdem durch die Unter¬
suchungen von Vinogradoff, Earle, Round, Maitland,
Pollock u. a. berichtigt sind. Ebenso haben Flach u. a. für Frank¬
reich das Weiterbestehen freier Bauerngemeinden neben den Grundherr¬
schaften nachgewiesen. Merkwürdigerweise vertritt jetzt für Italien
wieder den alten Standpunkt Ludo M. Har’tmann, Geschichte
Italiens II, 40 ff.; II, 2, 15 ff.
Ick sagte schon, daß die grundherrschafthch-fronhofwirtschaft-
liche Organisation ein sehr gleichförmiges Gepräge in den ver¬
schiedenen Ländern Europas getragen habe. In der Tat: ob
wir die Verfassung der Klöster Bobbio, oder Farfa, oder der Be¬
sitzungen des Patriarchen von Grado, oder des Bischofs von
Ravenna in Italien; ob die der Abtei Saint Germain des Pres,
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft 57
oder de la Sainte Trinite de Tiron, oder der Klöster Clairvaux,
oder Corbie, oder St. Remy in Frankreich; ob die des Klosters
St. Gallen in der Schweiz, oder der Klöster Prüm, oder Weißen¬
burg, oder der Domänen Karls des Großen, oder der Abteien
Reichenau, oder Fulda, oder Lorsch, oder Werden a. d. Ruhr,
oder der Besitzungen des Grafen Siboto von Falkenstein in
Deutschland, oder die der Klöster Ramsey, oder Malmesbury,
oder Worcester, oder Peterborough in England, oder des Klosters
St. Troud bei Lüttich anschauen: immer tritt uns, wie im Ver¬
lauf dieser Darstellung noch im einzelnen zu zeigen sein wird,
annähernd dasselbe Bild entgegen.
Wohlverstanden: soweit es sich um die reale Gestaltung des
technisch-wirtschaftlichen Prozesses , die Organisation der Güter¬
erzeugung, der Güterverteilung und des Güterverzehrs als eines Komplexes
von Lebensverhältnissen handelt. Andere Seiten der Grundherrschaft
weisen dagegen große Mannigfaltigkeit auf: so die politische Stellung
des Grundherrn im Lande ; so der persönliche Rechtsstatus des Bauern
bzw. Arbeiters, der vom reinen Sklavenverhältnis im altrömischen Sinne
in einigen Teilen Italiens bis zur persönlichen Vollfreiheit der socmanni
und alodiarü alle möglichen Nuancen aufweist; so die Besitzrechte der
Bauern, die ebenfalls ein ganz buntes Büd gewähren, wo reines Eigen¬
tum neben kurzfristiger Pacht, Erbleihe neben Livellarbesitz, Emphy-
teuse neben teilpachtähnlichen Verhältnissen oft länderweise ver¬
schieden , oft nebeneinander auf derselben Grundherrschaft auftreten.
Die Anlage dieses Werkes erlaubt nicht nur, sondern fordert geradezu,
von allen diesen Unterschiedlichkeiten abzusehen und das Realphänomen
allein ins Auge zu fassen.
Das Wirtschafts leben will ich schildern. Und da sollten wir uns
wieder mehr zum Bewußtsein bringen , daß die Rechtsformen in der
früheren Zeit, in der das formale Recht längst nicht so entscheidend
war wie Überlieferung und Sitte, für die Lebensgestaltung nur eine
nebensächliche Bedeutung hatten. Das Getriebe auf einem Fronhofe
oder in einem Dorfe des 10. und 11. Jahrhunderts war ganz und gar
nicht bestimmt durch den mehr oder weniger freien Rechtstatus der
handelnden Personen. Alles lief bunt durcheinander : von den ingenui
homines bis zu den servi, und ziemlich unabhängig von diesem Unter¬
schiede baute sich das System der Leistungen und Verpflichtungen auf.
Saß eine Familie auf einer Scholle, so war es für ihr Leben im Grunde
ziemlich gleichgültig, ob sie ingenua oder serva war, ob terrae adscripta
oder ob sie potebat ire ubi voluerit ; ob sie das Gut als beneficium,
als precarium , als Colonia partiaria, als Erbzinsleihe oder als sonst
etwas inne hatte. Wichtig war für sie nur: 1. wieviel sie von
der Ernte abgeben; 2. wieviel Tage im Jahre sie auf dem Herrenlande
frohnden mußte; 3. ob sie tatsächlich auf der Scholle sitzen blieb,
von Geschlecht zu Geschleckte.
Man fragt sich unwillkürlick : woher jene überraschend große
Ähnlichkeit stamme. Die Antwort, die gewöhnlich auf diese
58
Zweiter Abschnitt : Das eigenwirtschaftliehe Zeitalter
Frage erteilt wird, besteht in dem Hinweise auf die gemeinsame
Quelle der mittelalterlichen Fronhofverfassung: die römische
Grundherr schaft und auf den gleichmachenden Einfluß , den die
christliche Kirche ausgeübt habe. Ich halte diese Erklärung
doch nicht für ausreichend, glaube vielmehr, daß ein dritter
Faktor bei der Bildung der mittelalterlichen Grundherrschaften
zu berücksichtigen ist: das ist wiederum die „Natur der Sache“,
wie man nicht sehr glücklich den Tatbestand bezeichnen kann,
daß Erscheinungen , wie die hier betrachtete , sich unter be¬
stimmten Bedingungen mit einer gewissen Notwendigkeit ein¬
stellen müssen. Jedenfalls ist es eine feststehende Tatsache,
daß wir der grundherrschaftlichen Organisation in ganz anderen
Kulturen ebenfalls begegnen: daß aber insbesondere diejenigen
Völker, die die Geschichte des Mittelalters gemacht haben, ganz
ähnliche Gebilde erzeugt hatten, lange, ehe von einem römischen
Einfluß die Rede war. Was uns Tacitus von den Germanen
berichtet \ enthält im Kern schon die grundherrschaftliche Wirt¬
schaftsverfassung des Mittelalters.
Man wird also wohl zu dem Schlüsse kommen, daß die
Ausbreitung der grundherrschaftlichen Organisation in Europa
während des Mittelalters wesentlich gefördert ist durch die
schon in den Volksstämmen urwüchsig zur Entwicklung ge¬
langten ähnlichen Gebilde. Daß die Fronhofverfassung während
der letzten Jahrhunderte des Römerreiches zur vollen Entfaltung
gelangte, ist ja hinlänglich bekannt1 2; ebenso ist der Zusammen¬
hang, der zwischen der römischen und mittelalterlichen Grund¬
herrschaft besteht, oft Gegenstand der Untersuchung gewesen3.
1 „Ceteris servis non in uostrum niorem discriptis per familiam
ministeriis utuntur : suam quisque sedem, suos penates regit, frumenti
modum dominus aut pecoris aut vestis ut colono iniungit et servus
hactenus paret: cetera domus officia uxor ac liberi exsequuntur.“
Germ. c. 25. Über ähnliche Verhältnisse bei den Kelten s. Meitzen,
Siedlungen 1, 88.
2 Max Weber, Röm. Agrargeschichte, S. 243ff. A. Schulten,
Die römischen Grundherrschaften, 1896. Vgl. auch Oskar Siebeck,
Das Arbeitssystem der Grundherrschaft des deutschen M.A., Leipz.
In.Diss., 1904, S. 11 ff. 23.
3 Vgl. z. B. Seebohm, Englisch Village Community (1883),
Oh. VIII. Kowalewskya. a. 0. passim. Meitzen a. a. 0. u. a.
P. Vinogradoff, Growth of the Manor, 37 ff. Einen guten zusammen¬
fassenden Überblick über den Stand der Forschung gibt Silvio
Pivano, Sistema curtense im Bullettino dell’ istituto storico italiano,
No. 30, 1909; insbes. p. 107 seq.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
59
Aber auch die Rolle , die die Kirche bei der Entwicklung und
Ausbreitung dieser Wirtschaftsverfassung gespielt hat, ist klar¬
gelegt worden1. Wir wissen, daß erst die Kirche, später die
erobernden Stämme im Gebiete der römischen Kultur einfach
an Stelle der römischen Possessoren getreten sind, daß aber in
den übrigen Teilen Europas namentlich die direkte Beeinflussung
durch die Vertreter der Kirche die gleiche Art zu wirtschaften
verbreitet hat.
Von großer Bedeutung ist die Benedicti Regula monachorum
(rec. Wölfflin 1895) geworden, von der ich noch Gelegenheit haben
werde zu sprechen. Von vornherein wurden bei Neugründungen von
Klöstern die Verwaltungsgrundsätze der Mutterklöster zur Anwendung
gebracht. So läßt sich deutlich verfolgen , wie die Organisation der
Abtei Werden durch die beiden ersten Vorsteher Liudger und Hildigrim,
die beide in Montecasino gelebt hatten , der Ben. reg. mon. nach¬
gebildet ist. R. Kötzschke, Studien zur Verwaltungsgeschichte
der Großgrundherrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 103 ff. Dann
geht die Beeinflussung herüber und hinüber : von einem Kloster zum
andern, sei es durch Überweisung der Ordnung, sei es durch den
Austausch der Personen. So ist die Instruktion Walas für das Kloster
Bobbio in Oberitalien (veröffentlicht von L. M. Hartmann, Zur
Wirtschaftsgeschichte Italiens, S. 129 ff.) offenbar beeinflußt durch
Adalhards Statuta abbatiae Corbeiensis (veröffentlicht von Guerard
im Pol. d’Arm. 2, 306 ff.). Daß die Abte der Klöster häufig auf sehr
weite Strecken „versetzt“ wurden, ist bekannt. So erhielt Prüm Mitte des
9. Jahrhunderts einen seiner bedeutendsten Abte, Markward, aus dem
Kloster Ferneres. J. IST. ab Hontheim, Hist. Trev. 1, 185 Note,
zit. bei Lamp recht, DWL. 1, 79. Der berühmte Bauriß, der 820
für den Neubau des Klosters S. Gallen entworfen wurde , war
italienischen Ursprungs: siehe J. v. Schlosser, Die abendländischen
Klosteranlagen des früheren Mittelalters, 1889.
II. Die Gr und züge der Fr onhofwir t schaff
Fragen wir nun aber, worin die Wesenheit des neuen Wirt¬
schaftssystems bestand, das mit den Grundherrschaften in die
Welt kam, so können wir zunächst ganz allgemein beschreibend
sagen: es war die Wirtschaftsverfassung, die sich eine Klasse
1 Aug. Rivet, Le regime des biens de l’eglise avant Justinien.
These pour le doctorat. Lyon 1891. U. Stutz, Die Verwaltung und
Nutzung des kirchlichen Vermögens in den Gebieten des west¬
europäischen Reichs von Konstantin d. Gr. bis zum Eintritt der
germanischen Stämme in die katholische Kirche. In.Diss. Berlin 1892.
Th. Mommsen, Die Bewirtschaftung der Kirchengüter unter Papst
Gregor I. in der Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaltsgeschichte,
Bd. I (1893) S. 43 ff.
(30 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
von reichen Leuten schuf zu dem Zwecke, ihren Bedarf an
Gütern durch fremde Arbeiter in eigener Wirtschaft decken
zu lassen.
Da es sich hier nicht um die Darstellung der Genesis dieses
Wirtschaftssystems handeln kann, so können wir auch davon
Abstand nehmen, die Entstehung dieser neuen Klasse führender
Wirtschaftssubjekte und ihres Reichtums zu schildern: ihres
Reichtums, der im wesentlichen in der Verfügungsgewalt über
einen ausgedehnten Grundbesitz und die zu seiner Bebauung
erforderlichen Arbeitskräfte bestand.
Es muß genügen, die wichtigsten Ursachen namhaft zu machen,
die zu der Entstehung des mittelalterlichen Großgrundbesitzes geführt
haben.
Die Ursachen waren:
1. Aneignung größerer Stücke des Marklandes durch die Principes
bei der Seßhaftwerdung (also schon vor den V/ anderungen) ;
2. Okkupation während der Völkerwanderung durch die Könige
und Weitervergabung dieses Krön- und Staatslandes, und zwar
sowohl des gesamten ausgedehnten Großgrundbesitzes in den
römischen Gebieten als auch des Markenlandes in den alten
Volkssiedlungsgebieten ;
Auch unmittelbare Fortsetzung römischer Besitzverhältnisse
kam vor: so waren die Ansiedler See-Venetiens im 6. und 7. Jahr¬
hundert, die aus den bedrohten Städten der terra ferma kamen,
tribuniziscke Geschlechter, die ihre servi und coloni mitbrachten
und ihre grundherrlichen Verhältnisse unmittelbar in die Lagunen
verpflanzten. Siehe das Chron. Alt. und dazu Hartmann, Die
wirtschaftl. Anfänge Venedigs in der Vierteljahrsschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1904), 434 ff.
3. die sein: verbreitete Eigengabe gemeinfreier Grundbesitzer an
kirchliche und weltliche Große ;
4. die fortschreitende Aussonderung aus Marken- und Almende¬
ländereien ;
5. der in den Volksgesetzen früh erleichterte Landerwerb durch
Pfandbesitz und Kauf;
6. unberechtigte , irrige und gewaltsame Besitzergreifung, die un¬
angefochten blieb und durch Besitzverjährung Eigentum wurde.
Vielmehr wenden wir unsere Aufmerksamkeit alsobald den
neuen Wirtschaftssubjekten selbst zu: ihren Bestrebungen, ihren
Bedürfnissen, dem Geist, von dem sie erfüllt waren, als sie die
Wirtschaft auf einer neuen Grundlage aufbauten, sowie der von
ihnen geschaffenen Wirtschaftsorganisation selbst.
Zunächst also: wer waren die „neuen“ Männer, auf die
ein großer Teil der Wirtschaftsführung schon übergegangen war,
ein wachsender Teil im Begriff war, überzugehen, was unter’
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
schied sie von den bisher allein bekannten Wirtschaftssubjekten:
den Bauern in der Dorfgemeinde?
Die Männer, die sich nach dem Untergange des römischen
Reiches aus der großen Masse der Volksgenossen heraushoben,
trugen, wie man weiß, teils geistlichen, teils weltlichen Charakter.
Es waren die frommen, einsamen Mönche und die Würdenträger*
der Kirche; es waren die Könige und Fürsten und diejenigen
der Freien, die über eine kriegsbereite Gefolgschaft verfügten;
und es waren deren Dienstmannen, die von ihren Herren mit
Grund und Boden als Entgelt für ihre Dienste ausgestattet
wurden.
Allen diesen Männern gemeinsam war, daß sje Vermögen
und damit Einkommen genug besaßen, um nicht selbst wirt¬
schaftlich tätig sein zu müssen. Sie konnten als leisured dass
leben und wollten es. Die artes sordidae wurden gemieden.
Man füllte sein Leben mit anderen Dingen aus : mit Kriegsdienst
öder Gottesdienst; oder man verbrachte es in einsamer Muße
oder im lustigen Freundeskreise, bei fröhlichen Gelagen und
beschaulicher Andacht, auf Jagden und beim Spiel. Man führte,
ein seigneuriales Leben. Nur die Mönche, zumal im ganz frühen
Mittelalter, griffen öfters zum Spaten oder zur Axt, um die
Wälder zu roden und sich auf dem neu erschlossenen Grund und
Boden mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Unterhalt zu be¬
schaffen. Aber dann waren sie halt Bauern und keine „Grund¬
herrn“ wie ihre Nachfolger in den späteren Jahrhunderten.
Wir müssen uns den Umfang des einzelnen grundherrlichen
Besitzes und somit des arbeitslosen Einkommens, das der Grund¬
herr bezog, ganz verschieden groß denken. Vom kleinen Kriegs¬
mann, der über den Ertrag von zwei, drei Hufen gebot1, gab
es alle Abstufungen des Reichtums bis zu den weltlichen und
geistlichen Magnaten, die über den Ertrag ganzer Länder ver¬
fügten2. Zweifellos gab es eine große Anzahl von Grundherrn,
deren Einkommen weit über den traditionellen Bedarf einer
1 Nach den englischen Quellen wird das Einkommen des kleinsten
Grundherrn (Lord of the manor) auf 5 — 20 (gleich 100 — 400 £
h. W.) geschätzt. Nathaniel J. Hone, 1. c. p. 14.
2 Eine Liste der Schenkungen und Lehen an weltliche Grundherrn
aus Königsgut stellt mit Angabe der Besitzgröße für die Karolingerzeit
zusammen Dopsch 1, 271 ff. Schon in dieser Liste von Einzel¬
schenkungen schwankt die Größe zwischen 1 Hufe und 104 Mansen
mit 300 Hörigen außer dem Salland.
(32 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Familie hinausging, ja diese Kategorie von Großgrundbesitzern
bildete wobl je mehr und mehr den normalen Typus des Grund¬
herrn. Was fing dieser wohlhabende Grundherr mit den Über¬
schüssen seiner Revenuen an?
In erster Linie war er wohl darauf bedacht, den Kreis von
Personen. zu erweitern, die fern von den Mühen des Broterwerbs
in Gemeinschaft mit ihm oder in Abhängigkeit von ihm an dem
Verzehr seines Einkommens teilnahmen. Die weltlichen Großen
schufen sich einen Hofstaat; vor allem aber eine Gefolgschaft
kriegsbereiter Männer, sei es, weil vom König ein dienstbereites
militärisches Aufgebot gefordert wurde, sei es, weil sie es für
ihre eigene Sicherheit oder für die Entfaltung eigener Macht
als notwendig erachteten. Die geistlichen Herrn, deren Um¬
gebung sich oft genug zu ansehnlichen Hofhaltungen entwickelte,
waren auf die V ermehrung der Diener der Kirche, der Insassen
der Klöster bedacht oder sorgten durch Almosen für den Unter¬
halt der Armen.
Neben dieser bloßen Ausweitung der Konsumentenschar ging
nun aber auch das Bestreben her, die Lebenshaltung zu heben,
den Bedarf zu verfeinern. Bei den weltlichen Herrn kam der
Trieb nach Prachtentfaltung und allmählich wohl auch der Sinn
für eine wohlhäbige und luxuriöse Lebensführung zur Entfaltung,
der alsobald von den Frauen besonders gepflegt wurde1. Bei
den Äbten und Bischöfen trat noch das Streben hinzu, ihre
Kirche, ihr Kloster zur Ehre Gottes reich und prächtig aus¬
zustatten; ihrem eigenen Leben aber durch materielle und geistige
Genüsse einen würdigeren Inhalt zu geben: der Geistlichkeit
1 Siehe z. B. die Aufzählung der Frauenschmuckstücke in der
Karolingerzeit bei dem Verfasser der Lebensgeschichte der hl. Hathumod
von Gandersheim MG. SS. 4, 167 c. 2. Natürlich wird der heilige Mann den
Mund reichlich voll genommen haben. Man hüte sich angesichts solcher
Zeugnisse um Gottes willen vor der Annahme, als sei nun jene Zeit
schon im Luxus verkommen, eine Annahme, der sich jetzt Dop sch
zuneigt. Will man sich eine richtige Vorstellung von dem Lebens¬
zuschnitt eines Geschlechtes machen, so darf man nicht, so wenigstens
sagt mir mein Laienverstand, die Aufzählung von Schmuckgegenständen
bei einem zelotischen Sittenprediger seinem Urteil zugrunde legen,
sondern muß etwa nachschauen, wie ein Fronhof gebaut war, und was
die Inventare in einem mittelalterlichen Herrenhofe an Möbeln und
Gerätschaften aufzählen. Man wird dann zu einem ganz anderen Bilde
kommen. Siehe z. B. die Beschreibung eines englischen Manor der
früheren Zeit bei Nath. J. Hone, 1. c. p. 26 ff.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft (33
haben wir wohl vor allem die Verfeinerung der Tafelfreuden zu
danken.
Das Streben, diese Bedarfszwecke sicher und reichlich zu er¬
füllen, gab das Leitmotiv für die gesamte Wirtschaftsführung
der Grundherrn ab. Wie es eine Verordnung Karls des Großen
ausspricht, die also lautet1: „et qui nostrum habet beneficium,
diligentissime praevideat, quantum potest Deo donante, ut nullus
ex mancipiis ad illum pertinentes beneficium fame moriatur,
et quod super est illius familiae necessitatem, hoc libere vendat
jure praescripto.“ Und wenn wir auch während des Mittelalters
das unverkennbare Bestreben der Grundherrn beobachten, ihr
Vermögen, das heißt ihren Grundbesitz zu vergrößern, so lag
diesem Streben doch immer der Wunsch zugrunde: die einmal
vorhandenen Bedarfszwecke noch besser, noch ausgiebiger er¬
füllen zu können: über mehr Personen als Gefolge zu verfügen,
mehr Hintersassen zu haben, auf mehr Seelen Einfluß zu ge¬
winnen. Oder aber mehr Pracht zu entfalten, die geliebte Kirche
noch reicher auszustatten. Will sagen in der von mir geprägten
Terminologie: Das Bedarfsdeckungsprinzip bleibt in
der grundherrlichen Wirts chaftsver fas sung das
regulierende Prinzip2.
Die Wirtschaftsführung selbst wurde nun durch eine Reihe
äußerer Umstände ganz eigenartig bestimmt.
Da ergab sich zunächst die Tatsache, daß in vielen Fällen
eine größere Anzahl von Personen ein gemeinschaftliches Leben
führen, also eine große einheitliche Konsumtionswirt¬
schaft bilden wollten. Das war die nähere dienende Umgebung
auf dem Herrensitze der weltlichen und geistlichen Fürsten ; das
waren aber vor allem die religiösen Gemeinschaften der Mönche
(die seit Begründung der christlichen Kirche bestanden hatten)
und nachher auch der Weltgeistlichen. Seit dem 6. Jahrhundert
1 Schluß der Preistaxe, die Karl M. auf der Synode zu Frankfurt
a. 794 erließ. MG. LL. 2. (Abgedruckt bei Fagniez, Doc.
No. 88.)
2 Vgl. dazu noch die Ausführungen Lamprechts, DWL. 1. 2,
844 und die dort in Note 3 angeführten Quellenstellen. Ferner das
Breve Walas für das Kloster Bobbio bei Hart mann, Zur W.G.
Italiens, 63 ff. „ . . . die Sorge, die in den verschiedenen Regeln dieser
Zeit wie der früheren niedergelegt is"-, ist nicht, wie durch die Er¬
trägnisse der Reichtum des Klosters etwa vermehrt werden könnte,
sondern in welcher Weise der Konsum zu regeln ist“ a. a. 0. S. 37.
64
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitaltei*
vollzieht sich der Übergang des- Weltklerus zum gemeinschaft¬
lichen Leben3.
Die vereinzelten Bestrebungen in dieser Richtung, die wir
während des 6. und 7. Jahrhunderts beobachten, werden dann
im 8. und 9. Jahrhundert systematisiert und verallgemeinert
durch Verbreitung der Chrodegangschen und Aachener Regel.
760 hatte Chrodegang, der Bischof von Metz, eine Regel für den
Klerus seiner Kathedralkirche nach dem Vorbilde jener des
heil. Benedict und der Kanoniker vom Lateran verfaßt, deren
Grundlage die Vorschriften über das gemeinschaftliche Leben
bildeten. Diese Regel fand rasche Verbreitung und ihre Tendenz
wurde durch die staatliche Gesetzgebung verstärkt: auch die
Kapitularien Pipins und Karls M. schreiben das gemeinsame
Leben vor, dessen eifrigster Vertreter dann Ludwig der Fromme
wird. Er läßt denn auch im Jahre 817 auf der Synode zu Aachen
die regula Aquisgranensis beschließen, die der Chrodegangschen
nachgebildet war, und die von der Geistlichkeit ganz allgemein
verlangte, daß sie in einem bestimmten Hause gemeinschaftlich
wohne, esse und schlafe. Die Gesamtheit der an einer Kirche
zu der vita communis vereinigten Kleriker wurde Kapitel ge¬
nannt, und diese Kapitel stellten, im 9. Jahrhundert über die
ganze Christenheit verbreitet, einen neuen wichtigen Typus einei
großen Konsum Wirtschaft dar, dessen Bedeutung für die Ent¬
wicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse während des Mittel-
alters man, wie mir scheint, nicht gering anschlagen darf.
Leider bieten uns die Quellen gar keinen Anhalt, um die
Zahl dieser Großkonsume festzustellen. Auf ihren Umfang im
einzelnen können wir nur aus einigen statistischen Angaben
schließen, die wir hie und da in den Quellen zerstreut finden.
Diese beziehen sich freilich fast ausschließlich (soweit sie zu¬
verlässig sind) auf große Klöster, also die größten Konsumtions¬
zentralen (außer etwa den königlichen Pfalzen oder ein paar
Erzbistümern). Im Kloster Corbie1 2 betrug ums Jahr 822 die
Zahl der Münder, die täglich zu stopfen waren, nicht weniger
als 300, selten mehr als 400; die Zahl der täglich zu backenden
Brote bezifferte der fürsorgliche Abt (nach dem Grundsatz :
„omnis substantia nostra quae per ministros nostros dispensanda
1 Siehe Phil. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel (1885),
S. 26 ff.
2 Stat. antiqua Abb. S. Petri Corbeiensis im App. zu Guörard,
Pol. d’Irminon 2, 806 ff.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
65
est semper magis volumus ut supercrescat quam deficiat“) 1 auf
450 (von 15 Mühlen), die Zahl der Schweine, die jährlich zum
Konsum gelangten, auf 600. Das Kloster bestand aus mehreren
getrennt verwalteten Abteilungen: 1. der Herberge für die
Pilger usw. ; 2. dem Stift, wo 150 provendarii (die Novizen und
Angestellten) Unterhalt erhielten; 3. dem eigentlichen Kloster.
Im englischen Kloster Peterborough sind (Anfang des .12. Jahr¬
hunderts) 100 Personen zu beköstigen: 40 servientes und 60 „mo-
nachi äd plenum victum monachorum“ 2.
Echternach hat 885 einen Bestand von 40 Brüdern; Prüm
weist (im 10. Jahrhundert) einen Gesamtbestand von 186, S. Maxi-
min einen solchen von 20 Köpfen auf; Fulda besaß um 920
180 Insassen, und von Hersfeld erzählt Lambert, es habe schon
früh eine Zahl von 150 Mönchen gehabt3.
Was aber bei dem Entscheide, wie nun die Produktion zu
organisieren sei, schwer ins Gewicht fiel, war der Umstand, daß
offenbar genügend viele und geeignete Arbeitskräfte, um eine
Oikenwirtschaft nach Art derer in der römischen Kaiserzeit, ja
wohl auch nur eine Guts Wirtschaft großen Stils ins Leben zu
rufen, nicht vorhanden waren. Vielleicht, daß auch den Leitern
der neuen Wirtschaftseinheiten die erforderlichen technischen
Kenntnisse gefehlt hätten, um einer komplizierten Großwirtschaft
vorzustehen.
Ferner war zu berücksichtigen , daß von einer irgendwie
nennenswerten Klasse berufsmäßiger und selbständiger gewerb¬
licher Produzenten — alias Handwerkern — natürlich ebenfalls
keine Hede war, der Gedanke also einer auf eine marktmäßige
Deckung des Bedarfs gerichteten Wirtschaft ausgeschlossen war.
Endlich mußte die Wirtschaftsführung dadurch in ganz eigene
Bahnen gedrängt werden, daß der Grundbesitz wohl aller größeren
Grundherrschaften sogenannter Streubesitz war, das heißt nicht
in einem geschlossenen Areal bestand, sondern über weite
Strecken zerstreut lag, oft über viele Dörfer verteilt, in denen je
einige Hufen dem Grundherrn gehörten, in einem und demselben
Dorf dann wieder verschiedenen Herren. Das änderte sich erst
1 1. c. p. 312.
2 Liber niger des Klosters P. App. zum Ckron. Peterburgense
(Cambr. Society 1849J p. 167 ff.
8 Siehe für den Bestand der deutschen Klöster die Quellen bei
Lamp recht, DWL. I. 2, 845 f. Vgl. auch die Lieferordnung der
Abtei Reichenau im Wirtemb. UB. 1, 424 — 126 (Urk. von 843).
gombart, Der moderne Kapitalismus. I. ö
66
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
mit der Zeit, als die Grundherren auf ihrem eigenen Grund und
Boden roden ließen und ganze Dörfer ansiedelten.
So kam man zu der eigentümlichen Organisation, die wir
Fronhofwirtschaft nennen und die nun also folgendermaßen aus¬
schaute.
III. Die Organisation der Arbeit in der Fron hof¬
wirtschaft
Im großen ganzen sollte der gesamte Güterbedarf, der inner¬
halb der grundherrschaftlichen Konsumtionswirtschafb entstand,
aus den Erträgnissen des eigenen Vermögens auf dem Wege der
Eigenproduktion gedeckt werden. Das heißt: die Fronhofwirt¬
schaft war grundsätzlich Eigenwirtschaft, wie die Bauernwirt¬
schaft, unterschied sich von dieser jedoch wesentlich dadurch,
daß der Kreis der in einer Wirtschaft vereinigten Personen
zahlreiche fremde (und gerade fremde) Elemente einschloß,
weshalb ich diesen Wirtschaftstypus erweiterte Eigenwirtschaft
nenne.
1. Die Landwirtschaft
Schauen wir nun zunächst zu, wie sich die Gewinnung der
Nahrungsmittel und organischen Rohstoffe, also die landwirt¬
schaftliche Produktion abspielte. Da begegnen wir denn
der überraschenden Tatsache, daß diese sich zum großen Teil
in denselben Bauernwirtschaften vollzog, die wir von früher her
schon kennen. Das Eigentumsrecht des Grundherrn am Boden
änderte in der Mehrzahl der Fälle die Gestalt der Wirtschaft
in keinem Punkte ; es trat ökonomisch in nichts anderem in die
Erscheinung als in der Verpflichtung des Bauern, Teile seines
Produktionsertrages an den Grundhern abzuführen. So bestand
denn dessen Sorge zunächst nur darin, jene Abgaben zu 'sammeln.
Mit dieser Aufgabe betraute er bestimmte Personen — Meier
oder Villici genannt — , von denen er je einen (das war wohl
die Regel) in jedem Dorfe ansetzte; in jedem Dorfe nämlich,
in dem zu Abgaben an ihn verpflichtete Bauern wohnten. Oft
war es wohl einer der Bauern selbst, wenn es sich um geringe
Beträge handelte, die es einzusammeln galt; oder es war selbst
ein mit mehreren Hufen ausgestatteter kleiner Grundherr, der
die Funktionen des Einsammelns auszuüben hatte. Die Räum¬
lichkeiten, in denen die Bauern ihre Abgaben abzuliefern hatten,
hießen in Deutschland Fronhot, in Italien rectorium, dominicalia,
Siebentes Kapitel : Die Fronhofwirtsckaft ß7
dom. doroinicata usw. 1 ; der Administrationsbezirk eines Villicus
hieß in Frankreich fiscus (= terre) 2. Die Abgaben bestanden in
allen Produkten des Feldes und des Stalles: in Getreide, Yieh,
Geflügel, Honig, Wachs, Wolle, Wein usw. und wurden zum Teil
unter Berücksichtigung der besonderen Beschaffenheit des
einzelnen Bauerngutes verteilt.
Für die wirtschaftliche Struktur belanglos sind:
1. die Eigentumsrechte des Bauern am Grund und Boden:
ob es sein eigener war oder ob er dem Grundherrn zu eigen
gehörte ;
2. die Rechtstitel, die den Bauern zu der Abgabe ver¬
pflichteten ;
8. die persönliche Rechtsstellung des Bauern.
Nach den neuen Feststellungen gewinnt es den Anschein, als
ob die „freien Vertragsverhältnisse“, unter ihnen auch der Teil¬
bau schon in der Karolingerzeit eine größere Rolle gespielt
haben, als man früher anzunehmen geneigt war3. Der Teilbau
ist übrigens seinem innersten Wesen nach eine „eigenwirtschaft¬
liche“ Nutzungsform4.
Der Villicus führt nun die bei ihm abgelieferten Produkte
an den Herrenhof oder einen der Herrenhöfe ab, wo sie zum
Verzehr gelangen. Auf großen Grundherrschaften war die Liefe¬
rung in der Weise über das ganze Jahr verteilt, daß jeder Fron¬
hof die gesamten Vorräte für den grundherrlichen Unterhalt auf
eine bestimmte Reihe von Tagen zu beschaffen hatte : die Leistung
für je einen solchen Tag hieß Servitium, dessen schon im Cap.
de villis Erwähnung geschieht. Auf großen Grundherrschaften
gab es zwischen der Zentrale des Herrenhofes und den einzelnen
Meiern noch Zwischeninstanzen : die Probsteien oder Präposi¬
turen, denen der Praepositus oder Procurator Vorstand. So war
z. B. die Herrschaft des Grafen Siboto von Falkenstein (in
1 Im Codex Bavarus (Mitte des X. sc.), der uns über die Organi¬
sation des Grundbesitzes des Erzbischofs von Ravenna Aufschluß gibt.
Siehe Hartmann, in den Mitteilungen des Instituts für öster¬
reichische Geschichtsforschung XI. Bd. 3. Heft.
2 Guerard, Pol. d’Irm. 1, 45.
3 Für Italien siehe die gründliche Arbeit von Silvio Pivano,
I contratti agrari in Italia nell’ alto medio-evo. 1904. Dort findet
man auch weitere Literatur. Vgl. auch Dop sch, W.Entwicklung.
4 Vgl. das auf S. 104 Gesagte.
5*
68
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Bayern) in vier Probsteien gegliedert, denen je eine größere An¬
zahl von Fronhöfen oder Meiereien zngehörte b
Aber die Bauernwirtschaft war doch nur die eine Quelle, aus
der die landwirtschaftlichen Erzeugnisse in die Konsumtions¬
wirtschaft des Grundherrn flössen. Ein anderer Teil stammte
aus der Gutswirtschaft, die der Grundherr durch seine
Beamten auf seinem eigenen Grund und Boden betreiben ließ.
Dieser in eigener Regie bewirtschaftete Teil des grundherrlichen
Besitzes war das Salland, auch terra dominica, indominicata, in
England lords demesne, angelsächsisch fthanes5 inland genannt.
Daß alle Grundherrn während des frühen Mittelalters eine eigene
Produktionswirtschaft betrieben haben, ist neuerdings von kundiger
Seite bezweifelt worden: W. Wittich, Die Frage der Freibauern
(Zeitschr. der Saviguyst. Germ. 22); Altfreiheit und Dienstbarkeit des
Uradels in Niedersachsen (Vierteljahrsschrift für Soc. u. W.Gesch.
Bd. 4 S. 77). W. nimmt an, daß es auch „kleine Grundherrn“ ge¬
geben habe, „die in der Hauptsache von den Abgaben ihrer auf
wenigen Höfen angesiedelten Hörigen lebten“. Ich halte das nicht
für wahrscheinlich und glaube, daß die Gründe, die Ph. Heck gegen
W.s Auffassung anführt, stichhaltig sind. Siehe P h. Heck, Beiträge
zur Rechtsgeschichte der deutschen Stände im M.A. I, Die Gemein¬
freien der Karolingischen Volksrechte, 1900, und weiter unten den
genannten Aufsatz. Ihm pflichtet jetzt auch Dop sch, 1, 287 bei.
Außerdem sprechen auch, wie mir scheint, eine Menge „in der Natur
der Sache“ gelegene Gründe gegen Wittichs Hypothese, die übrigens
W. selbst nur noch in geringerem Umfange aufrecht erhält.
Über die Größe des Sallandes sollte einmal eine besondere Unter¬
suchung angestellt werden. Die bisherigen Darstellungen behandeln diese
wichtige Frage immer nur im Vorbeigehen. Auch was Inama in seiner
Monographie Sallandstudien (S.A. aus der Festgabe für Georg Hanssen
zum 31. 5. 1889) S. 25 f. dazu beibringt, läßt unbefriedigt. Ich glaube,
daß in den bisherigen Feststellungen viel Irrtümer untergelaufen sind.
Hauptsächlich deshalb, weil es sehr schwer ist, in den Quellen zwischen
dem Sallande und dem Hufenbesitz eines einfachen , zur Sammlung
bestellten Villicus einerseits, dem Administrationsbezirk eines Meiers
oder eines Probstes anderseits scharf zu unterscheiden. So scheinen
mir z. B. Lamprecht (DWL. 1, 2, 756 ff.) ebenso wie Inama,
DWG. 2, 161 fehlzugehen, wenn für die Größe des Sallandes
Lamprecht für seinen Distrikt in der Karolinger- und Ottonenzeit,
Inama für das 10. — 12. sc. auch nur 1 Hufe ansetzen, wenn
Lamprecht für den Schluß des 12. Jahrhunderts für S. Maximin, nur
einen Durchschnitt von 26,5 Morgen, für Rupertsberg von etwa
30 Morgen, für das Trierer Stift von 50 Morgen berechnet. Dagegen
sprechen die ganz verschiedenen Größenangaben in den Schenkungs-
1 Codex Falkensteiniensis ed. Hans Petz. (Drei bayerische
Traditionsbücher aus dem 12. Jahrhundert. 1880.) S. XXII. XXIII,
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
69
urkunden des 8., 9., 10. Jahrhunderts gerade in L.s Untersuchungs¬
gebiet (vgl. z. B. Mitt.Rhein. U.B. Bd. I Nr. 59. 52. 63), vor allem
aber eine Menge Gründe der Ratio. Mir scheint, hier liegt eine Ver¬
wechslung zwischen Gutsland und Meierland vor (der mans. indom.
war in den meisten Fällen nur Sammelstelle). Umgekehrt würde man,
glaube ich, zu zu hohen Ziffern gelangen, wenn man aus den Pol.
d’Irm. den Durchschnitt der cterra ind.’, die auf einen Fiskus ent¬
fiele , als Größe des Gutslandes ansprechen wollte (man würde dann
einen Umfang des einzelnen Gutsareals von 250 ha = ca. 1000 Morgen
annehmen müssen). Möglicherweise hat es im Verwaltungsbezirk
eines Fiskus mehrere Gutswirtschaften gegeben. Sichere Berechnungen
hegen folgenden Größenangaben zugrunde : das Salland des der Abtei
Werden gehörigen Haupthofs Friemersheim betrug gegen Ausgang
des 9. Jahrhunderts 607Va Morgen (einschließlich I2V2 sog. Bede-
morgen). Rud. Kötzschke, Studien zur V erwaltungsgesch. der
Großgrundherrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 13. An dienenden
Hufen gab es 1 1 95/a , die K. m. E. richtig zu je 30 Morgen ansetzt,
so daß sich ein fronpflichtiges Bauernland von 3645 Morgen ergibt:
das Salland verhielt sich also zu dem Hufenland wie 1:6. (Die
„Studien“ K.s gehören zu dem besten, wTas über grundherrliche
Organisation in letzter Zeit geschrieben ist: der Verfasser hat An¬
schauung.) Ich selbst rechne z. B. für das Kloster Prüm einen
Durchschnitt von 92,4 preußische Morgen heraus (MRh. UB. Bd. I
Nr. 135); für die Abtei Lorsch 165 Morgen, für Fulda 122 Morgen;
für das Kloster Weißenburg (13. sc.) 362 Morgen (Trad. poss. que
Wirz. ed. Zeuss, p. 273 ff.); für das englische Kloster Ramsey ergeben
sich 300 acrae und mehr (Cart. Mon. de Ramesia 1 [1884], 405. 490).
Seebohm, The Englisch Village Community (1883), deutsch 1885, 137
nimmt für das 10. Jahrhundert die Größe des inland sogar auf 9 hidae,
die des Bauernlandes auf 21 hidae als den Durchschnitt des Manor
an (1 hida = 6 virgata; 1 virg. = 24 acrae). Vgl. auch Ph. Heck,
Die kleinen Grundbesitzer der brevium exempla in der Vierteljahrschrift
für Soz. und Wirtsch.Gesch. IV. Bd. S. 354. H. nimmt selbst für
die kleinste Kategorie der „Grundherrn“ eine Größe des Sallandes von
„erheblich mehr als 30 Morgen“ bis 240 Morgen an. M. E. mit Recht.
Und jetzt A. Dop sch, Wirtschaftsentwicklung 1, 233 ff. , der zu
ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. D. vertritt die Ansicht, daß
Dominikalgut und Eigenwirtschaft (D. meint Gutswirtschaft) sich „nicht
völlig“ decken. Seine Gründe, mit denen er diese Ansicht verteidigt,
scheinen mir nicht immer stichhaltig. Insbesondere sehe ich das Ge¬
wicht seines Hauptarguments : daß die Quellen auch von mansi in-
dominicati, von Salhufen sprechen, nicht ein. Wie sollten sie nicht?
Das Herrenland, das wir uns — darin stimme ich D. völlig bei —
in den meisten Fällen als Streubesitz denken müssen, war doch in
allen Dorfsiedlungen mit Hufenverfassung aus einzelnen Hufen zusammen¬
gesetzt, die selbstverständlich auch im Gemenge mit Bauernland lagen.
Wie sollten sie anders als mit dem Ausdruck „Salhufen“ bezeichnet
werden? Es scheint mir immer noch die ganz irrtümliche Vorstellung
in den Köpfen zu spuken, als bedeute eine Gutswirtschaft im Mittel-
70 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
alter Wirtschaft auf arrondiertem Areal oder auch nur mit Notwendig¬
keit mit eigenem Personal und Geschirr. Es wird alsobald gezeigt
werden, daß das keinesfalls die Regel bildete.
Das Salland wurde vom Frordiof aus, unter der Leitung' des
Meier, bewirtschaftet. Der Umfang dieser Eigenwirtschaft scheint
geschwankt zu haben. Die Regel war wohl der Umfang einer
großen Bauernwirtschaft, das heißt die Wirtschaft eines Drei¬
oder Vierhufners.
Die Arbeitskräfte, mit denen die Gutswirtschaft be¬
trieben wurde, bestanden zum Teil aus ledigem Gesinde und
verheirateten Gutstagelöhnern , die (aber wohl nicht regel¬
mäßig?) auf dem Hofe selbst wohnten und entweder ein kleines
Anwesen bewirtschafteten, um ihren Unterhalt zu gewinnen oder
ein festes Deputat von der Herrschaft erhielten: nicht viel
anders als die kontraktlich gebundenen Arbeiter unserer großen
Güter bis in die Gegenwart. Dabei war das persönliche Rechts¬
verhältnis dieser Gutsarbeiter verschieden gestaltet. In Italien
scheinen sie sich nicht weit von den antiken Sklaven entfernt
zu haben.
Diese Gutsarbeiter sind die servi und ancillae (oder praebendarii,
servi cottidiani) der deutschen Quellen (MRh. UB. Bd. I Nr. 41 a. 804)
„ut servi et ancillae coniugati et in mansis manentes“ Wirtemberg.
UB. 1, 92; wer kein beneficium erhält, unde vivit, „qui hoc non habuerit,
de dominica accipiat provendam“ Cap. de villis c. 50 ; in den Italien.
Urkunden werden sie „massarii“ genannt = servi mass. : Inquisitiones
von 862 und 888 für das Kloster Bobbio (Hart mann, Zur W.Gesch.
Italiens, S. 5 0 ff.) ; Cotsetles in England , die schon nach den Rectitudines
singularum personarum entweder festes Deputat oder den Morgen im
Felde, einen Anteil am Erdrusch oder an anderen Erträgen, ein oder
mehrere Stück Vieh in der herrschaftlichen Herde als Entgelt für ihre
Arbeitsleistung empfangen. (Der sächsische Text der Reet, stammt
aus dem 10. sc.; die lateinische Übersetzung aus dem 11. sc., publ.
in Thorpes Ancient Laws and institutions of E. 1 [1840] p. 433 — 441 ;
in Sonderausgabe von H. L e o 1842 mit einer interessanten, jedoch
nicht einwandsfreien Einleitung.) Ob die ‘mancipia’, die z. B. das
Fragm. ampl. Pol. Sithiensis erwähnt (App. zum Pol. d’Irm., 397) in
diese Kategorien des unfreien Gesindes gehören , wie v. Maure r ,
Fronhöfe 1, 335 annimmt, ist mir zweifelhaft. Mancipia stehen oft
im Gegensatz zu familia: cum familiis et mancipiis. Cod. Laur. 1,
100. 113.
Bei der Inventuraufnahme der Villa Asnapium werden 17 Holz¬
häuschen auf dem Hofe mit ebensoviel Stuben und reichlichem Zu¬
behör ermittelt. Das waren wohl die Wohnungen der Gutstagelöhner?
Brev. rer. fisc. Auszüge und Übersetzungen im App. zum Pol. d’Irm.,
301, und bei Meitzen, Siedlungen 1, 603 ff.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
71
Wenn uns aus den Quellen1 das Bild einer stark differen¬
zierten Arbeiterschaft schon im 9. und 10. Jahrhundert ent¬
gegentritt, so wird man dieses nicht ohne weiteres für ein Ab¬
bild der Wirklichkeit, halten dürfen. Man hat allzuoft den
Fehler begangen, aus dem Cap. de villis den Zustand der Gfuts-
wirtschafb zur Karolingerzeit zu rekonstruieren. Man darf aber
nicht vergessen, daß in derartigen Anweisungen oder in Auf¬
zählungen aller möglichen Fälle, wie sie die Rechtsbücher ent¬
halten, eben überwirkliche Idealbilder zutage treten.
Die zweite Gruppe von Arbeitskräften, über die der Herr oder
sein Meier verfügt, sind die zu Frondiensten verpflichteten
Bauern im Dorf. Diese Einrichtung, daß wirtschaftlich im übrigen
selbständige Bauern (wohlgemerkt rechtlich durchaus verschie¬
dener Qualität) einen Teil ihrer Arbeitskraft zur Bestellung des
herrschaft hohen Gutslandes verwenden, sei es in Form von Spann¬
diensten, wenn sie über ein eigenes Gespann verfügten, sei es in
Form von Handdiensten, wenn nicht2, sei es endlich in Form von
„Kopfdiensten“ 3, ist dem Mittelalter wohl aus der römischen
Welt überkommen. Jedenfalls ist sie während des Mittelalters in
ganz Europa, und zwar in einer fast völlig übereinstimmenden
Form und Gestalt verbreitet. Als der Mönch Cesarius im 13. Jahr¬
hundert das Prüm er Pfründenbuch glossierte, konnte er zu dem
Kapitel der bäuerlichen Frondienste die Anmerkung machen :
„quo modo mansionarii debent jugera dominica arare Seminare
colligere et in orreum deducere suo tempore, et sepem facere
ac triturare, fere omnibus patet“ 4. Eine eingehende Beschrei¬
bung der überall wiederkehrenden Frondienste erübrigt sich
also wohl heute erst recht5.
1 Schon in den Volksrechten • dann im Cap. de villis; dann in
den Reet. sing. pers. , in denen nicht weniger als 16 verschiedene
Berufsarten von Gutstagelöhnern aufgezählt werden.
2 „qui . . . non habet animalia . sive animal ad hoc utile veniet
quando ei precipitur a nostro ministro cum suo fossorio et cooperabitur
aliis hominibus quod ei iniunctum fuerit.“ Cesarius zum Prümer
Urbar MRh. UB. 1, 145 Note 3.
3 In England (auch in andern Ländern?) waren die Aufsichts¬
beamten fronpflichtige Bauern, die in den Hofgerichten von ihren Ge¬
nossen gewählt wurden. So der Reeve, der das Pflügen überwacht,
der Hayward, dem die Verantwortung für die Erntearbeit obliegt, der
Constable u. a. Hone 67 ff.
4 MRh. UB. 1, 144 Note 1.
5 Die besten Übersichten enthalten das Pol. d’Irm. (9. Jahrb.)
und das Gart. Mon. de Rameseia (13. Jahrh.) a. a. 0. p. CCIV f. 281 ff.
72
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Die Fronpflicht der Bauern verknüpfte die Bauernwirtschaft
mit der Guts Wirtschaft auf das innigste. Wie wir uns denn nur
ein richtiges Bild von der Wirtschaftsverfassung des Mittelalters
machen, wenn wir uns die grundherrliche Wirtschaft ein¬
geschachtelt denken in die volkstümliche Dorfwirtschaft, von
der sie einen integrierenden Bestandteil bildet. Wo Flurzwang
bestand, unterlag ihm das Herrenland ebenso wie das Bauern¬
land ; die herrschaftliche Herde trieb zusammen mit der Bauern¬
herde auf die Gemeinweide ; oft ist der Herr der Curtis domini-
calis (des Fronhofs) verpflichtet, die Zuchttiere zu halten, die
von der ganzen Dorf herde benutzt werden konnten 1 usw. Selbst
wo der Grundherr neue Ansiedlungen auf seinem eigenen Grund
und Boden ins Leben rief, wird doch in den meisten Fällen
eine Art von Dorfgemeinschaft, in die die Guts Wirtschaft frei¬
willig eintrat, geschaffen sein.
2. Die gewerbliche Produktion
Gerade hier in der Schilderung dessen, was wir gewöhnlich
gewerbliche Tätigkeit nennen, lassen uns die meisten
Darstellungen im Stich 2, weshalb ich es für meine Aufgabe ge¬
halten habe, über die Organisation der gewerblichen Arbeit im
Rahmen der Fronhofwirtschaft etwas eingehender zu berichten.
Die Quellen bieten dafür einen überreichen Stoff dar, der merk¬
würdigerweise nur zum geringen Teil verarbeitet worden ist.
In der Regel, wenn von der gewerblichen Tätigkeit auf
den Fronhöfen des früheren Mittelalters gehandelt wird, begnügt
man sich damit, die bekannte Liste derjenigen Berufe aufzu¬
zählen, von denen Karl M. im Cap. de villis den Wunsch aus¬
spricht, daß sie auf allen seinen Villen vertreten sein sollen.
Damit aber macht man sich die Sache denn doch etwas zu leicht.
Denn man würde zweifellos ein ganz falsches Bild von der
gewerblichen Organisation jener Jahrhunderte bekommen, wenn
man die im Cap. de villis aufgezählten „Handwerker“ einfach
auf alle Grundherrschaften übertragen wollte 3. Das ist aus mehr
1 Siehe die Belege bei G. Landau, Das Salgut (1862), 35 ff.
Vgl. auch v. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde
(1889), S. 16.
2 Am ausführlichsten handelt Inama, DWG. 2, 253 ff. 290 ff. von
diesen Dingen.
3 Vgl. auch v. Below, Die Entstehung des Handwerks in Deutsch¬
land in der Zeitschrift für Soz, u. Wirtschaftsgesch. 5 (1897), S. 128 f.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
73
als einem Grund unzulässig. Erstens nämlich muß doch bedacht
werden, daß jene Liste ein Programm darstellt, das keineswegs
auch zur strengen Ausführung gelangt sein wird. Selbst nicht
auf den kaiserlichen Domänen, wie uns die Inventaraufnahmen
erkennen lassen, die wir aus den Zeiten Karls selber besitzen* 1.
Und dann dürfen doch die Organisationen der kaiserlichen Güter
nicht ohne weiteres gleichgedacht werden mit denen kleinerer
oder mittlerer Grundherrschaften. Ferner wird man unterscheiden
müssen zwischen geistlichen und weltlichen Grundherrschaften.
Gerade für die Organisation der gewerblichen Tätigkeit wurde der
Umstand bestimmend, daß in jenen (meist, nicht immer!) die
weiblichen Hände fehlten. Endlich muß man ganz besonders in
Rücksicht ziehen die großen Klöster, in denen ein Teil der Mönche
selbst gewerblich tätig war.
Ich will im folgenden versuchen die genannten Verschieden¬
heiten tunlichst zu berücksichtigen und ein Bild zu entwerfen
von dem normalen Zustande der gewerblichen Produktion auf
den Grundherrschaften oder besser: von dem, was überall an¬
nähernd gleichmäßig wiederkehrt.
Da ergibt sich nun vor allem, daß auch der Bedarf an ge¬
werblichen Erzeugnissen (genau wie der an landwirtschaftlichen
Produkten) gedeckt wurde durch ein Zusammenwirken der
eigenen (Fronhof-) Wirtschaft mit den bäuerlichen "Wirtschaften
im Dorfe2. Wir machen uns von dem kunstvollen System der
gewerblichen Produktion, das dadurch entstand, am besten ein
klares Bild, wenn wir den Produktionsprozeß fächerweise in
seinen einzelnen Stufen uns zu vergegenwärtigen trachten.
und jetzt vor allem die eindringende Kritik des von ihm nur „so¬
genannten“ Cap. de villis bei Dop sch, W.Entw. 1, 26 fif.
1 In dem Spec. brev. rer. fisc. Car. M. heißt es von einer Villa:
„ministeriales non invenimus aurifices neque argentarios ferrarios neque
ad venandum neque in reliquis obsequiis.“
2 Für diese zu „gewerblichen“ Fronden verpflichteten Hintersassen
im Dorfe haben wir bisher keine Bezeichnung. Ich habe nichts da¬
gegen, sie als „Handwerker“ und dann im Gegensatz zu den auf dem
Fronhof selbst beschäftigten „Hofhandwerkern“ als „Landhandwerker“
zu bezeichnen nach dem Vorgang von F. Philippi, Die erste
Industrialisierung Deutschlands (im Mittelalter), 1909, S. 9. Aber,
aber, Vorsicht! Lieber „ “ setzen, und noch lieber sie etwas um¬
ständlich als Gewerbefronpflichtige Hintersassen (Bauern) bezeichnen.
Jedenfalls nicht vergessen: sie bilden das Rückgrat der Fron¬
hof- d. h. einer Eigenwirtschaft!
74
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
a) Die Nahrungsmittelgewerbe
Das Brot lieferten die Bauern zum Teil in gebrauchsfertigem
Zustande1, nachdem sie das Korn vorher in den Dorfmühlen
hatten mahlen lassen und das Mehl im eigenen Backofen (?)
verbacken hatten. Die Kegel war das aber auf dem Kontinente
jedenfalls nicht. Vielmehr scheint durchaus der normale Fall
der gewesen zu sein, daß die Bauern nur das Getreide oder
(die Müller) das Mehl lieferten2 3, die Herrschaft aber das Brot
in den eigenen Backhäusern hersteilen ließ. Ein (bahchus (und
wie hier gleich vorweg erwähnt werden mag : ,bruhus ) scheint
zu den Wirtschaftsgebäuden jedes halbwegs ansehnlichen Fron¬
hofs gehört zu haben8. Auch eigene Mühlen haben wohl die
meisten Grundherrn früh besessen4 * * *, wenn sie es nicht vorzogen,
1 Das gilt vor allem für England: siehe Kemble, Cod. diplorn.
1, 193 ; vgl. 1, 296. 299. 311; 2, 46. 355; ferner das Ramsey Cartular,
und vgl. dazu die fleißige Arbeit von Nellie Neilson, Economic
conditions on the Manors of Ramsey Abbey. Philadelphiaer Diss.
1898. In den Quellen anderer Länder sind mir Brotlieferungen selten
begegnet. Z. B. im Urb. von Prüm: siehe Lamp recht, DWL. 1,
2, 787; ferner im Urb. der Abtei Werden: dazu R. Kötschke,
Studien, 17: hier müssen (abermals eine etwas andere Form!) aus den
2 Modii Roggen, die der Fronhof lieferte, 24 Brote von den Bauern
o-ebacken werden; vielleicht eben in dem grundherrlichen ‘Bachus’?
2 Das Kloster St. Germain empfängt den Zins — - bestehend in
Getreide, Mehl, Malz, Geld — von 71 Mühlen. Guerard, Pol. d’Irm.
Vol. I § 342. Dem Kloster Corbie zinsen 15 Mühlen zusammen
2000 modia Mehl; Statuta ant. abb. St. Petri Corb. von 828 im App.
zum Pol. d'Irm. p. 312. Im Traditionsbuch des Klosters Weißenburg
ist die Wendung üblich: „molendini . . . unde veniunt modii . . .“ 1. c.
passim.
3 Die beiden Gebäude zusammen heißen ‘Camba’ : Cambam vul-
gariter appellamus ‘bahchus’ et cbruhus\ Glosse des Cesarius zum
Prümer Urbar. Cambae waren sehr häufig, aber doch wohl nicht auf
jedem Fronhof, wie wir aus der Tatsache schließen dürfen, daß in
den Güterverzeichnissen ihr Vorhandensein besonders hervorgehoben
wird. MRh. UB. Bd. I. Wir finden die ‘Camba’ ebenso in Frankreich:
siehe den Plan der Abtei De la Sainte Trinite de Tiron im Cartulaire
de l’Abbaye . . . publ. par M. Luc. Merl et 2 Vol. 1883; ferner die
sämtl. Polypt. , die Irm. publiziert hat; in England: Ramsey Cart. ;
Lib. niger im App. zum Chron. Peterb. 1. c. 167 ff.
4 Gutsmühlen werden schon in den Schenkungsurk. Chlodwigs
erwähnt; ebenso häufig in allen späteren Urk. Siehe z. B. die Kauf¬
verträge der Kirche S. Bertin aus dem 8. sc.; im folgenden Jahr¬
hundert errichtet dann das Kloster die ersten unterschlächtigen Mühlen.
Cart. Folguini. No. 48; zit. bei Kowalewsky, 1, 40. Vgl. die vorhin
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
75
den Dorfniühlen die Mahlung und Schrotung eines bestimmten
Quantums Getreides als Fron aufzulegen* 1. Auf den Mühlen
bzw. den dazu gehörigen Ländern wurden Bauern eingesetzt2,
in den Back- (und Brau)häusern arbeiteten entweder ständig
gegen Deputat angestellte Gutstagelöhner; oder die Arbeit wurde
von dazu verpflichteten Bauern oder Stellenbesitzern die Reihe
um verrichtet3 * * * * 8.
erwähnten englischen Quellen und außerdem Reg. . Priorat. B. M.
Wigomiensis. Ed. Will. Haie Haie (Cambd. Soc.) 1865.
Die Gutsmühlen wurden dann mit der Zeit „Bannalitäten“ : „est ibi
molendinum venterititum, ad quod omnes villani de Broughtone, Warde-
boys, Caldecote, Wodehyrst et Waldhyrst debent sectam“, Cart. Mon.
de Rameseia 1 (1884), 833. Über Bannmühlen und Verwandtes im
deutschen Recht siehe Waitz, Verf.Gesch. 8, 275 ff. In den Be¬
schreibungen der französischen Klösteranlagen fehlt die Mühle nicht:
Clairvaux (XIII. sc.) Descriptio Positionis seu situationis Mon. Clarae
Vallensis in den Opp. S. Bernardi ed. Mabillon. Nova ed. (1719)
2, 1324. 25 : Abtei De la Sainte Trinite de Tiron 1. c.
1 „unicuique molinario mansus et VI bonuaria de terra dentur:
quia volumus ut habeat unde ea quae ei jubentur perficere valeat et
illam molturam salviam faciat: id est ut boves et reliquam pecuniam
habeat, cum quibus laborare possit, unde et ipse et omnis familia eius
possit vivere“, Stat. Corbei. im App. zum Pol. d’Irm. p. 312 f. Als¬
dann : Der Müller hatte: 1. Mehl zu zinsen (s. Anm. 2 S. 74); 2. statt
der Frondienste , von denen er ausdrücklich befreit wird , herrschaft¬
liches Korn zu mahlen. Für England siehe Kowalewskya. a. 0.
3, 183. Das Getreide wurde wohl häufig gleich auf dem Transport
aus der zinsenden Bauernwirtschaft in den Fronhof vermahlen, wie es
anschaulich im Cart. Mon. de Ram., 290 beschrieben wird: „ducet
unam ringam frumenti ad molendinum de Houcthone ; quam unus
cottarius de Sancto Ivone custodiet salvo, quousque illud frumentum
redactum fuerit in farinam quam postmodum idem Ricardus ibidem
recipiet et ducet apud Rameseyam.“ Übrigens kann man in diesen
und ähnlichen Fällen nie wissen, ob es sich um eine alte fronpflichtig
gewordene Dorfmühle oder um eine vom Herrn errichtete Gutsmühle
handelt.
2 „sunt ibi farinarii 3, unus molendinarius, tenet de terra iornalem
pro sua vestimenta“, Reg. Prum. c. 2. „illi farinarii, qui in circuitu
sunt, unusquisque facit dies 5 inter messem et pratum et corvadas“,
ib. c. 34. Wahrscheinlich hatten die Mahlfron (Anm. 1) nur die
bequem zum Herrenhof gelegenen Mühlen, während man den cin circuitu’
belegenen die gewöhnliche Ackerfron auferlegte.
8 In der Camba „tenentur homines ibidem manentes panem
fermentatum coquere et cervisiam braxare“. Von den Insten hatten
einige das Amt des Brotbackens und Bierbrauens regelmäßig aus¬
zuüben. Dazu kamen dann Extraleistungen (der Bauern?), z. B. wenn
der Herr Abt in die Gegend kam „tenentur frumentum de curia
7ß Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Daß der Bedarf an Bier auf ganz ähnliche Weise wie der
Brotbedarf gedeckt wurde, ist schon aus der vorhergehenden
Darstellung ersichtlich. Nur daß eben Malz (bratsa) statt Ge¬
treide oder Mehl geliefert wurde. Ganz ähnlich wurde der
Wein* 1 und in den südlichen Ländern das Öl2 gewonnen.
Salz mußte entweder gekauft werden (wie ich am geeigneten
Orte noch zeigen werde), oder wurde ebenfalls vom Grundherrn
auf eigenen Salinen hergestellt3; oder wurde als Zins von bäuer¬
lichen Salinen erhoben oder als Zollgefälle 4.
dominica ad molendinum deducere et molere et ad cambarn dominicam
reportare et paneni facere et coquere et cervisiam braxare ; ebenso
wenn den Leuten auf dem Felde (während der Ernte ?) Brot und Bier
verabreicht wurde „illum panem ac cexwisiam ipsa familia in suo
ordine tenetur et coquere et brazare“. Oomm. des Abtes Cesarius
zum lieg. Prum. ; „bracium et panem per ordinem preparare“ ; „per
ordinem panem et cervisiam parare“ ; „et panem quando opus est
parare“. Tracl. possessionesque Wizenb. (ed. Zeuss 1842), 274. 277.
Vgl. auch Kowalewsky, a. a. 0. 8, 59. Im Kloster Peterborough
linden wir im Backhaus: 2 Bäcker, cqui victum militis habent’,
1 vannator (Getreidereiniger) , 2 Bäcker mit täglich 2 Broten und
2 cbisos cum cervisia’, 2 Caratores, 2 servientes molantes ; im Brau¬
haus : 1 Braumeister (braccharius) , 2 Caratores ligni , 8 servientes
aquarum. Die Beköstigung erfolgt entweder cad panes5 oder cad blada5,
das heißt , das Deputat wird in Form von Brot oder von Getreide
gegeben. Daneben wird schon Geldlohn bezahlt (Anfang des 12. sc.).
App. zum Chron. Pet., 187 ff.
1 Lamprecht, DWL., dessen Untersuchungsgebiet ja ein spezi¬
fisches Weinland ist.
2 Ein anschauliches Bild von der Ölgewinnung gibt das Plac.
Arpirandi Diaconi (A. 882), das im App. zum Pol. d Irm. mitgeteilt
ist (p. 348). Es bezieht sich auf oberitalienische Verhältnisse: servi
homines etc. „querunt se subtrahere ad colligendum olivas ex olivetis
illas qui sunt dominicatas de ista curte de Lemunta et eas premere,
vel oleum que exinde exiit evegere nolunt, sicut suorum fecerunt
parentes et consortes de ipsas locas Cevenna, Cantoligo, Selvaniaco
et Mandrenino a lungo tempore“. Einem ‘pressoir banal’ begegnen
wir auch auf der Abtei De la Sainte Trinite de Tiron. Siehe den
Grundriß des Klosters im Cart. der Abtei publ. par Me riet. Über
Ölgewinnung des Klosters der Hl. Julia in Brescia: Cod. Langob.
p. 713; des Klosters Bobbio Hartmann, 52 f.
3 In einer Urk. von 716 (Cod. dipl. LXVII) tauscht König Athelbad
mit dem Kloster Worcester Land, um ein Salzwerk anzulegen: 3 sheds
(casuli) und 6 Öfen. Im 13. sc. finden wir das Kloster selbst im
Besitz eines Salzwerks in Wich (Droitwich), das ihm jährlich 280 mittae
(= 2800 busheis) — also schon wesentlich zum Verkauf — liefert.
Reg. Prior. B. M. Wigorniensis ed. W. Haie Haie (Cambr. Soc.)
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
77
b) Die Bekleidungsgewerbe
Zunächst sind „Textilindustrie“ und Schneiderei ins Auge zu
fassen, jene Gewerbe, die uns mit gewebten Stoffen bekleiden.
Wir finden sie auf den Grundherrschäften auf ganz verschiedene
Weise organisiert, ohne daß wir die Gründe anzugeben ver¬
möchten, weshalb im einzelnen Falle die eine oder die andere
Form gewählt ist. Entweder nämlich ist der gesamte Pro¬
duktionsprozeß: von der ersten Behandlung des rohen Flachses
oder der rohen Wolle an bis zum fertigen Gebrauchsgegenstande
(Kleidungs- oder Schmuckstück) in die Bauernwirtschaft verlegt,
mag eine einzige Bauernfamilie alle Teilverrichtungen nach¬
einander vorgenommen haben, oder mag die Herstellung ver¬
schiedenen Bauernfamilien obgelegen haben: jedenfalls finden wir
den fertigen Gebrauchsgegenstand unmittelbar vom zinspflichtigen
Bauern an den Herrn übergehen.
Die 'femoralia’ , die die .Mönche des Klosters Prüm trugen,
wurden (noch im 13. sc.) von den Frauen der Bauern genäht, nach
dem die Stoffe (aus Leinwand) von ihnen auch hergestellt waren, wie
uns Cesarius mitteilt : „mansi nostri tenentur annuatim camsiles facere.
Camsil enim est lineus pannus , de puro lino compositus , habens in
longitudine VTH ulnas et in latitudine II que femoralia tenentur
femine hominum nostrorum suere et camerario conventus ita consuta . . .
debent representare.“
Die Weiber der Bauern im Gebiete der Abtei Fulda hatten dem
Kloster zu liefern: mappae (Altardecken?), mensales, mensalia (Tisch¬
decken?), lodices (andere Decken), tunicae, pellicia etc. Schannat,
Hist. Fuld. 1 (1729), 26 ff. aus dem Urb. der Abtei (9. — 11. sc.).
'Tunicae ad opus ecclesiae’ (also Meßgewänder?) finden wir auch
unter den Abgaben im Reg. Prum.
Manchmal leisteten auch fleißige Nonnen die Arbeit, die sonst den
ßauerfrauen zufiel. So hatten die Klosterfrauen von S. Andrea ur¬
sprünglich an den Königshof in Florenz , später an den Bischof ein
Gewand aus Ziegenwolle zu liefern. Die Nonnen von Or San Michele
hatten ein 'Laboratorium’, in dem sie (mit ihren Mägden) webten.
Der Abt von Nonantula' legte ihnen als Oberhem des Klosters die
1, XI. Andere Stellen bei Leo, Reet., 203. Häufige Schenkung
von Salinenanteilen an Kirchen und Klöster in Italien. Belege bei
Ad. Schaube, Handelsgesch. der roman. Völker usw. (1906), S. 46
Anm. 3 (11. sc.). Ebenso wie wir zahlreiche Kirchen und Klöster
im Besitze von Salinen finden (10. sc.). Vgl. Schaube, a. a. 0.
S. 72. 83. Für Deutschland siehe die ausführliche Darstellung bei
Inama, DWG. 2, 238 ff., und bei Dahn, Könige der Germanen
IX, 2 (1905), 428 ff. (für das Gebiet der „Baiern“).
4 Über Salinenzölle und Salinenzinse siehe Schaube, a. a. O., nam.
S. 83 f.
7g Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
Pflicht auf, ihm jährlich aus Wolle, die er durch seinen Boten schicken
würde, 5 Stück starken Stoffes anzufertigen. Die Belege bei David -
sohn, Gesch. von Florenz 1, 91. Betrachtet man das Nonnenkloster
selbst als c Fronhof’, so gehört die Form der Bedarfsdeckung dem
gleich zu besprechenden nächsten Typus an.
Es mag daran erinnert werden , daß von den hörigen Bauern dei
Germanen schon zu Tacitus Zeiten Westes’ geliefert werden (Germ., 25),
wie denn wohl die ganze eigentümliche Verquickung der bäuerlichen
mit der herrschaftlichen Wirtschaft bei der Erzeugung der geweib-
lichen Gegenstände spezifisch deutschen Ursprungs ist.
Oder aber (und das war wohl, worauf die häufige Erwähnung
dieses Falles' in den Quellen schließen läßt, die Regel): Die
Bauern lieferten nur das fertige Gr e w e b e (aus Leinwand oder
Wolle) \ Sei es , daß sie zu dessen Herstellung die selbst ge¬
wonnenen und verarbeiteten Rohstoffe verwendeten2, sei es,
daß sie von der Herrschaft die Rohstoffe bekamen3. Diese
waren dann von anderen Bauernwirtschaften gezinst oder in der
Gutswirtschaft hergestellt worden.
Auf dem Herrenhofe wurde natürlich in allen den Fällen, in
1 Vgl. aus der Fülle der Quellenstellen z. B. für England: das
Lib. niger des Klosters Peterborough, a. a. 0. p. 159. 162. 163. 165
(B . . . ulnas de panno“ „ . . . ulnas de lineo panno“);
für Frankreich: das Urb. der Abtei St. Bertin in der Coli, des
C artul. de la France Tome IV (1840) Nr. XNI: „ ancillae XXII faciunt
ladmones XII („ladmo est pensum textile mulieribus lidis vel obnoxiis
impositum“: Guerard, Glossar, zum Pol. dTrm.) „de illis ingenuis
feminis XIII veniunt ladmones VI et dimid. “ • ähnl. XXIV. XXV
und öfters ;
für Deutschland: die Urb. von Prüm, Fulda, Lauresh., Weißen¬
burg u. a. ; ferner W. Wittich, Die Grundherrschaft in Nordwest¬
deutschland (1896), insbes. S. 297 ff. (12. sc.)
Vgl. auch die in Anm. 2 und 3 angeführten Belegstellen.
2 „feminae, quae camsiles faciunt, colligunt linum et trahunt de
aqua et parant“. MRh. UB. 1, 150. „Pannum ex proprio lino . . .
debent“ Cod. Lauresh. III. p. 178. 219. „Lidi LX quorum singuli
pannum ex proprio lino“ (debent) Schannat, Hist. Fuld. 1, 31;
„de proprio lino camsile . . . facere debent“ Cod. Wirz. ed. Zeuss, 275.
3 „Iste lidae ancillae si datur eis linificium faciunt camsilos. Et
illa ancilla facit de lana dominica sarcillam.“ Pol. d’Irm. p. 150. 176;
vgl. ebenda p. 109. 212. 244 und öfters.
Es ist wohl nicht richtig, wenn v. Below, Territorium und Stadt
(1900), S. 342 annimmt, daß die abgabepflichtigen Bauern immer nur
selbstbeschaffte Rohstoffe verarbeitet hätten. Nebenbei bemerkt: daß
hier weder von „Lohnwerk“ noch von „Handwerk“ die Rede ist, ist
selbstverständlich. Vgl. für die Gesamtorganisation des Wollgewerbes
in den deutschen Fronhöfen noch Erich Kober, Die Anfänge des
deutschen Wollgewerbes (1908), 13 ff.
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
79
denen die Bauern schon die fertigen Gebrauchsgegenstände
lieferten, überhaupt keine gewerbliche Tätigkeit mehr verrichtet.
Lieferten die Bauern jedoch nur die Gewebe ab, so mußten sie
in der Wirtschaft des Grundherrn vielfach wohl noch veredelt
und immer zu Kleidern usw. weiter verarbeitet werden. Wir
dürfen annehmen, daß die Schneide rarbeit in der Regel von
den Frauen des Hauses samt ihren Mägden verrichtet wurde.
Wo weibliche Arbeitskräfte fehlten, wie in den Kapiteln und
Klöstern, sorgten eigens gehaltene Schneider für die Anfertigung
der Kleider. Kein Kloster wohl ohne eigene Schneiderwerkstatt b
Wo wurden die Tuche gewalkt? Wohl in den herrschaft¬
lichen Walkmühlen, die sich jedenfalls auf den größeren Fron¬
höfen vorfanden1 2 3.
Wo wurde gefärbt? Ebenfalls auf dem Herrenhofe ? Darauf
läßt die Tatsache schließen, daß die Grundherrn sich mit Farb¬
stoff versehen, sei es durch Kauf auf den Märkten, wie die
Mönche von St. Germain, sei es dadurch, daß sie die Bauern
zur Lieferung verpflichten3.
Aber auch ausdrücklich genannt wird der ctintor5 in den
Quellen als gewerblicher Arbeiter im Herrenhofe (Abtei!)4.
Nun war aber endlich noch ein dritter Fall möglich : daß die
gesamte Herstellung der Kleider (von der ersten Behandlung
der Rohstoffe an oder wenigstens das Spinnen und Weben) der
herrschaftlichen Wirtschaft oblag. Das trat wohl namentlich
1 Kloster Farfa (10. sc.): „in fronte ipsius sit alia domns longi-
tudinis pedes XL et V , latitudines XXX. Nam ipsius longitudo
pertingat usque ad sacristiam et ibi sedeant omnes sartores atque
sutores ad suendum, quod camerarius eis praecipit. Et ut prae-
paratam habeant ibi tabulam longitudinis XXX pedes et alia tabula
afixa sit cum ea, quarum latitudo ambarum tabularuni habeat VII pedes“
Consuetudines Monasticae Vol. I Cons. Farf. (1900) p. 138. 39.
„In sartrino“ des Klosters Peterborough sitzen 2 Schneider,
2 homines qui abluunt pannos, 1 homo qui affert ligna, 1 corvesarius
(Flickschuster) 1. c. p. 167 ff.
Vgl. im übrigen J. von Schlosser, Die abendländischen Kloster¬
anlagen des frühen M.A. 1889.
2 Auf dem Kloster Corbie im 9. sc., ebenso wie auf dem Kloster
Clairvaux im 13. sc. (s. unten S. 80), wie auf dem Kloster Subiaco
im 11. sc. Reg. Sublac. 98 u. 154 bei Schaube, 46.
3 Vermiculum (= vermeil = Scharlach?) müssen die Bauern den
Mönchen von St. Remi de Reims liefern; Guerard, Pol. d’Irm.,
p. XXX; ebenso findet es sich als Abgabe im Prümer Urbar; vgl.
Lamprecht, DWL. 12, 787.
4 Davidsohn, Forschungen 3, 211. Vgl. S. 80 Anm. 1.
80 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliclie Zeitalter
auf größeren weltlichen Grundherrschaften häufig ein, weshalb
denn hier die Anzahl der geschäftigen Mägde im eigenen Hause
so groß wurde, daß ihnen besondere Räume angewiesen werden
mußten. Das sind die ominösen Ginecien.
Man findet in den Quellen selten Ginecien erwähnt; begreiflicher¬
weise , da sie auf den geistlichen Herrenhöfen häufig fehlten. Doch
begegnen wir ihnen auch hier; wenn zwar nicht auf den Haupthöfen,
so doch auf größeren Meierhöfen. So wurden auf dem der Abtei
Werden a. d. Ruhr gehörigen Fronhof Leer während des 11. und
12. Jahrhunderts regelmäßig sieben Frauen mit Wollarbeit beschäftigt,
für deren Unterhalt bestimmte Einkünfte angewiesen waren.
R. Kötzschke, Studien, 80. Die Darstellungen stützen sich fast
immer nur auf die darauf bezüglichen Stellen des Cap. de villis; so
die beste, die aus der Feder v. Maurers stammt (Fronhöfe, 1, 241 ff.).
Aber es gab G. offenbar auch auf anderen großen weltlichen Grund¬
herrschaften , wie es heute noch auf jedem Rittergute Ginecien gibt.
Siehe z. B. die Urkunde über die Schenkung des Grafen Eberhard an
das Kloster Mosbach vom Jahre 728, in der es heißt: „de mancipio
nostro scopulicolas quas in genicio nostro habuimus plus minus numero
quadraginta. “ Brequigny, Dipl., 1, 458. Das G. des Gutes Stephans¬
wert enthält 24 Weiber, die Kleider und Fußlappen herstellten. Ygl.
noch das Geneceum puellarum auf der Besitzung des Grafen Egbert
in Flandern im 10. Jahrh. MG. SS. 15. U. p. 583. Z. 2.
Aber in geistlichen Fronhofwirtschaften (Klöstern !) begegnen
wir auch gewerblichen Arbeitern, die die Anfangsprozesse der
Weberei ausüben, z. B. die Wolle verarbeiten1.
Werden in diesem Falle die Spindeln von den Bauern ge¬
liefert? Ich bin zweifelhaft, ob die im Prümer Urbar2 genannten
‘linum fusa XXX3, cde lino fusa XXX’ Spindeln oder eine
Spindel voll Garn bedeuteten.
Das zweite große Gebiet der Bekleidungsgewerbe, das die
Bekleidung der Füße mit gegerbtem Leder betrifft, zerfällt in
die beiden Hauptzweige der Gerberei und Schuhmacherei-
Beide Produktionsprozesse scheinen sich im Rahmen der Guts¬
wirtschaft abgespielt zu haben. Wenigstens ist mir kein einziger
Fall bekannt geworden, in dem Bauern zur Lieferung von Leder
oder Schuhwerk verpflichtet gewesen wären. Dagegen finden
wir auf den größeren Grundherrschaften oft die Gerbereianlage
erwähnt3 und ebenso sehr häufig eine Schusterwerkstatt oder
wenigstens ein paar Schuster.
1 battitor lane: Davidsohn, Forschungen 3, 211. Daneben finden
sich ein tintor und ein tirator pannorum (Urk. v. 1303).
2 MRh. UB. 1, 170.
8 Die englische Abtei Meaux hat noch im Jahre 1396 ihre eigene
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
81
Ein sehr anschauliches Bild von den verschiedenen gewerblichen
Anlagen auf einem großen Fronhofe , unter denen sich eine Walk¬
mühle , eine Mahlmühle und eine Gerberei befinden, gibt die schon
erwähnte Beschreibung, die wir in den Werken des heil. Bernhard
(ed. Mabillon. 1719. 2, 1324 f.) finden. Da sie wenig bekannt ist
— ich bin nur in einer einzigen Darstellung auf sie gestoßen : in dem
Buche von H. D’Arbois de Jub ai nvill e , Etudes sur l’etat interieur
des abbayes cisterciennes 1858, wo Auszüge in französischer Über¬
setzung wiedergegeben sind — , so will ich die Hauptstellen im Original¬
text hierhersetzen. Die Beschreibung stammt aus der Feder eines
Zeitgenossen und ist im 13. Jahrhundert niedergeschrieben; sie ist
sehr cpoetisch’ gehalten und sucht die Trockenheit der Aufzählung
der einzelnen Gebäude dadurch zu vermeiden, daß sie alle um das
Flüßchen gruppiert, das (eine Abzweigung von der Aube) durch den
Klosterhof hindurchfließt: „Fluvius . . . primurn in molendinum
impetum facitf ; deinde „eum ... ad se fullones invitant, qui sunt
molendino confines . . . graves illos sive pistillos sive malleos dicere
mavis vel certe pedes ligneos . . . alternatim elevans atque deponens
gravi labore fullones absolvit . . . tot ergo volubiles rotas rotatu rapido
circumducens , sic spumans exit ut ipse quasi moli et mollior fieri
videatur . . . excipitur dehinc a domo coriaria ubi conficiendis his
quae ad fratrum calceamenta sunt necessaria operosam exhibet
sedulitatem. Deinde minuatim se et per membra multa distribuens
singulas officinas officioso discursu perscrutatur, ubique diligenter in-
quirens, quid quo ipsius ministerio opus habeat: coquendis, cri-
brandis, vertendis, terendis, rigandis, lavandis,
ruscendis . . .“
c) Die Baugewerbe
Wollte- der Grundherr bauen, so standen ihm zunächst eine
Menge von Rohstoffen und Arbeitskräften in seiner Guts-
Wirtschaft zu Gebote. Er fand das Holz in seinem Walde, den
Sand und die Steine in seinen Sand- und Steingruben, das Stroh
in seinen Scheunen. „Ungelernte“ Arbeitskräfte fanden sich
genug unter dem Gesinde oder den Gutstagelöhnern, von denen
der eine oder andere aber gelernter Maurer oder (was für die
frühere Zeit das wichtigere ist) gelernter Zimmermann war.
Wir begegnen in den Quellen dem cementarius sowohl als
(noch häufiger) dem carpentarius unter den auf dem Herrenhof
wohnenden Arbeitern. Dieser ist ursprünglich nicht nur Zimmer¬
mann, sondern auch Stellmacher* 1. Die fehlenden Arbeitskräfte,
Gerberei. Genauere Angaben bei L. F. Salzmann, Engl. ind. of
the Middle Ages (1913), 173.
1 Auf einem Schultenhöfe der Abtei Werden begegnen wir unter
dem Gesinde einem Steinmetz, den der Schulte jährlich auf längere
Zeit nach Werden zur Verfügung des Grundherrn senden muß
(11., 12. Jahrh.). R. Kötzschke, Studien, 80.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
6
g2 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
wenn sie sich der Grundherr nicht unter seinem Gesinde hielt,
ebenso wie die fehlenden Materialien , lieferte wiederum die
Bauernschaft.
Wir finden folgende Fronden und Abgaben erwähnt:
a) Errichtung eines Kalkofens , Herbeischaffung der dazu
nötigen Materialien : der Stecken , der Buten , der Hölzer,
o
der Kalksteine;
Wie ein Kalkofen errichtet wurde, hat uns in sehr anschaulicher
Weise wieder Cesarius erzählt, dem wir wohl den meisten Aufschluß
über die Organisation der Fronhofwirtschaft verdanken. Die Stelle
verdient wiederum ihrem vollen "Wortlaut nach hierhergesetzt zu werden
(MKh. TJB. 1, 151): „sciendum est, quod dominus abbas quolibet anno
si vult ad edificationem ecclesie calcis furnum potest facere et ad
hoc ornnes curie citra Kile tenantur eum iuvare. Curia enim de
denesbure et hermansbanyde adducent palos (‘stehchen’) et perticas
(cgerten’) ad tunicam furni sepiendam. Omnes alie curie de oslihc
adducent truncos laudabiles et magnos; quilibet mansus adducet IIII
truncos quorum quilibet habebit XVI pedes in longitudine et duos et
dimidium in grossitudine (latitudine). Curie autem alie sicut rumers-
heym sarensdorpht et valmersheym adducent lapides calcis quilibet
mansus carratas XVI.“ (NB. welche Masse!) Auch sonst wird diese
Kalkofenfron erwähnt: „ad furnum calcem de petris carradas V“,
Cod. Lauresh. 3, 212.
b) Erbauung bzw. Ausbesserung des Hauses 1 ;
c) Erbauung der Mauern, Instandhaltung der Zäune usw. 2;
d) Dachdeckerarbeiben 3 ;
e) Lieferung der Bauhölzer4;
f) Lieferung der Ziegeln 5 ;
g) Lieferung der Holzlatten und Schindeln für das hölzerne
Dach 6 ;
1 (mansionarii) „horreum nostrum usque ad tectum construunt“ bei
Lamprecht, DWL. 1, 588.
„XV unusquisque ex hiis quando opus est edificare“ ; „quando
opus est edificium quod infra dom. curtem est meliorare“ ; „. . . dom.
eclificium facere V“ (sc. von 26 Vs Höfen in der Herrschaft Greyzingen),
Trad. Wiz. ed. Zeuss; p. 277 — 279.
2 „sepes . . . facere“ Trad. Wiz., 279; „immun facere“ Cart.
Mon. de Rameseia 1, 335. 366. Werden: R. Kötzschke, Studien, 17.
8 „Item habet (sc. monasterium) in Boningaham mansa IIII per
bunaria XII ; nihil aliud faciunt per totum annum nisi emendant tecta
monasterii.“ Fragm. ampl. Pol. Sithiensis im App. zum Pol. d’Irm. p. 403.
4 Jeder (?) Bauernhof des Klosters Weißenburg liefert je „V 2 carra-
tam lignorum“ (Bau- oder Brennholz?) 1. c. 273 ff.
5 Dgl. (wie in Anm. 4) je „L tegulae“ 1. c. (Ziegeln oder Schindeln?).
6 Diese Abgabe ist sehr allgemein verbreitet. Schindeln sind die
scintuli, scintulae , scindulae etc., Latten die axiles, asiles , axiculi,
Siebentes Kapitel; Die Fronhofwivtschaft
83
h) Lieferung von Mühlsteinen* 1.
Natürlich, konnten auf diesem Wege nur die gewöhnlichen,
während des frühen Mittelalters wahrscheinlich sehr primitiven
Holz- und Fachwerkbauten hergestellt werden. Galt es die Er¬
richtung eines Palatiums, einer Kirche aus Stein, so mußte man
einen der wenigen Künstler und Handwerker an sich zu fesseln
trachten, die jene Kunst, in Stein zu bauen, bewahrt hatten.
Diese Künstler weilten je während der Bauzeit an den Höfen der
großen Bauherrn, die sie sich einer vom anderen ausbaten. So
erbittet der Pictenkönig Nechtan vom Abt Ceolfrid (710) „archi-
tectos , qui juxta morem Komanorum ecclesiam 'de lapide in
gente ipsius facerent“ 2. So schickt der Bischof von Salzburg
Maurermeister (magistros murarios), Schmiede und Zimmerleute
zum Bau von Kirchen3. Oder man setzte den offiziellen Ver¬
waltungsapparat in Bewegung und ließ sich durch Vermittlung
der Beamtenschaft die zum Bau notwendigen seltenen Materialien
liefern. So ersucht Papst Hadrian den König Karl im Jahre 768:
er möchte die 2000 tt Zinn, die er für die Bedachung des Vor¬
hofes von S. Peter brauchte, durch die Grafen, jeden 100 U
aufbringen lassen4.
Diese berufsmäßigen Bauhandwerker werden nur zum Teil Fron¬
pflichtige gewesen sein, zum vielleicht größeren Teil waren es
wohl freie Wanderhandwerker. Als solche begegnen wir ihnen
später noch einmal.
(vulgariter appellati „esselinge“ nach Cesarius) der Quellen. Woran
Lamprecht (a. a. O. 1, 787) denkt, wenn er axiculi mit ‘Scheithölzer’
übersetzt, weiß ich nicht. Nach Lamprechts Berechnungen empfing
beispielsweise das Kloster Prüm im ganzen 14 232 axiles und 57 038
scindulae ; a. a. O. 2, 143. Zahlreiche Belege für das Vorhandensein
dieser Abgabe in der Sammlung von Pol. im Pol. d’Irm.
1 Entweder „sine precio“ oder zu einem vereinbarten Preise (dann
war es schon der Anfang eines tauschwirtschaftlichen Verhältnisses):
Abteien St. Maixent und Montierneuf. Belege bei P. Boissonnade,
Essai sur l’organisation du travail au Poitou 1 (1900), 117.
2 Beda, Hist. eccl. V, 21, zit. bei Montalembert, Die Mönche
des Abendlandes 5 (1868), 6. Nach derselben Quelle ließ Abt Benedikt
im Jahre 674 französische Glasmacher kommen, um beim Neubau der
Abtei von Weremouth Fenster einzusetzen. Anderson, Hist, of
Com. 1, 49.
3 Conv. Baj. (a. 872) bei Dahn, Könige IX. 2, 444.
4 „ . . . petimus, ut per comites vestros, qui in Italia sunt actores,
ipsum jam dictum stannum dirigere jubeatis, per unumquemque comitem
libras centum“. Ep. Hadr. ed. Cenni 1, 472; zit. bei Hegel, Städte-
verfassung Ital. 2, 12.
6*
84 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
"Was der einzelne G-rundlierr von seinen Hintersassen als
Frondienst verlangte, das wurde vom Könige den Freien als öffent¬
liche Leistung auferlegt: die Herstellung bzw. Instandhaltung
der Pfalzen , der Kirchen und anderer öffentlicher G-ebäude,
der Brücken und Landstraßen. Die Anwohner waren zuächst
verpflichtet. In einem Kapitulare Kaiser Ludwig II. (Cap. a. 850.
c 8 — 8) wird über den Verfall der genannten Gebäude geklagt,
mit Zwang soll jeder zur Arbeit angehalten und er soll nicht
eher von Ort und Stelle entlassen werden als bis er seinen An¬
teil ausgeführt hat. Wir sehen hier die Beste der römischen
munera publica.
d) Gerätschaftsgewerbe
Sie umfassen alle Gewerbe, die in den drei genannten Gruppen
nicht enthalten sind, also vor allem die Gewerbe zur Erzeugung
der Werkzeuge und Waffen (Schmiede und Stellmacher) sowie
des Hausgeräts (außer den genannten: Böttcher und Töpfer).
Diese Gewerbe wurden nun wohl der Begel nach von Bauern
betrieben, die der Herrschaft zu Fron oder Zins verpflichtet
waren. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Produktion
fällt in den Bahmen der Guts Wirtschaft selbst: Die Quellen be¬
richten durchgehends von den Lieferungen fertiger Gebrauchs -
gegenstände durch die Bauern.
Italien: Die Besitzung Luliatica des Klosters Bobbio liefert
5 Pflugscharen. L. M. Hartmann, Zur W. Gesch. Italiens, 64.
In einer Urkunde vom Jahre 907 verpflichtet sich ein Höriger des
Klosters Nonontola zur jährlichen Lieferung von 15 Sicheln. Cod.
dipl. Lang. Mon. Hist. Patr. XIII. Nr. 422, c 730 ; im Inventarium
von S. Julia in Brescia begegnen wir den Lieferungen von Sicheln,
eisernen Gabeln, Beilen, Pflugscharen; 1. c. Nr. 419 c 706 ff.
Deutschland: Anfang des 12. Jahrhunderts vereinnahmt das
Kloster Corvey an Zinsen: „. . . quinquaginta frustra (!) de cultellis,
de rasoriis, de forcipibus.“ Nik. Kindlinger, Münster. Beiträge 2
(1790), 133 Urkunden. — Je ein „securis et achia“ (Beil und Axt) liefern
(im 13. Jahrhundert) die Bauernhufen dem Kloster Weißenburg; ferner
lastet auf einzelnen Hufen „opus fabricandi vomeres ad tria aratra
et malleos cementariorum“ (Hämmer) ; „idem opus persolvit hugo de
fabbrica in colle“ (das ist der Schmied vom Berge!), „item oggerus
persolvit vomerem“. Trad. ed. Zeuss, 273 ff. Andere Hufen in
demselben Gebiet liefern die Weinbottiche „in autumno vascula . . ad
vinum“ 1. c. p. 278. — Patella liefert ein kleiner Kötter, der quar-
tulam I besitzt, dem Kloster Prüm. M. Rh. U. B. 1, 169.
Hausgerät liefern die Laten auf den Grundherrschaften Nordwest¬
deutschlands W. Wittich, a. a. O. insbesondere S. 297 ff.
Frankreich : 30 Hacken liefern 22 mansi ingenuiles im Gebiete des
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft 85
Klosters St. Gennain. Pol. d’Irm. Prol. 1, 731; 8 Beile liefert ein
Villicüs ebenda , 6 Lanzen der Inhaber einer halben Hufe , 6 Wurf¬
spieße dgl. ; der Handwerker Hadon bezahlt den Zins einer halben
Hufe mit seinen Erzeugnissen. 1. c. p. 149. — 12 Flaschen (?) und
100 Näpfe (?) liefert ein Bauer der Abtei St. Bertin. Pol. Sith.
1. c. p. 400. Antlemarus servus und seine dem Colonenstande an-
gehörige Frau in Nova villa leisten jährlich u. a. 6 Stück Holzgeschirr,
3 hölzerne Radkränze, 7 Holzfackeln. Pol. XIII, 64, p. 143.
Oder wir erfahren von Pauschalverpflicht ungen zur Leistung be¬
stimmter Arbeiten: aller Schmiede-, aller Stellmacherarbeiten usw.,
wofür ein entsprechender Grundbesitz vom Herrn gewährt wird.
England: „Faber (de Wermouth tenet) XII acras pro ferramentis
carucae“ ; „Faber (de Queryndonshire tenet) XII acras pro ferra-
mento carrucae fabricando“; „Faber I bovat pro suo servicio“. Aus
Boldon Book, Hundred Rolls , Domesday zit. bei Seebohm, 1. c.
p. 70. In gleichem Verhältnis steht der Carpentarius in den eng¬
lischen Quellen. Vgl. noch Reg. Worc. 56 a. James E. Thor. Rogers,
A Hist, of Agricult. and Prices in England. 7 Vol. 1866 ff. 1, 469.
Der Stellmacher in South Brent hat einen Pflug und eine Egge aus
Holz, das er selbst liefert, zu machen ; außerdem den Bauern bei der
Herstellung ihrer Wagen zu helfen. Der Schmied hat mit dem Stell¬
macher gemeinsam Pflüge herzustellen und ferner bestimmte Pferde
des Herrn (ein Reitpferd und ein Lastpferd, einen „aver“) mit Huf¬
eisen zu versehen ; geht ein Pferd ein, so bekommt er dafür die Haut
für seinen Blasebalg; er hat endlich die Sicheln der Mäher in der
Heuernte zu schärfen, wofür er in Chalgrove einen Acre Wiese erhält.
In Winterborne hat er die Gefäße, in denen der Käse bereitet wird,
zu rejDarieren und mit Eisenbändern zu versehen. Dafür empfängt
er ein Lamm und ein Vließ und einen Käse, der vor Johannistag ge¬
macht ist, ingleichen einen Napf voll Butter zum Einscbmieren seines
Blasebalgs. Hone, 73.
Deutschland: Die Hufe, „quod pertinet ad fabrile opus“ zahlt
nur 12 d., die übrigen zahlen 24 d. Kopfzins. Schenkungsbuch des
Bischofs Megingod zugunsten der Kirche St. Martini zu Münster
(10. Jahrhundert) Mittelrh. UB. 1, 339.
Hierher gehört wohl auch der Reginhardus tornator apud Veldern
(bei Utendorf, Pinzgau), der mit anderen kleinen Gütchen vom Grafen
Chunrad von Sulzau (um 1150/60) dem Stifte Berchtesgaden aufgegeben
und gegen Abgabepflicht zu Lehen genommen wird. Berchtesgadener
Schenkungsbuch CXII, 1; vgl. F. V. Zillner, Geschichte der Stadt
Salzburg 2 (1890), 154.
Frankreich: „Mansi unde opera carpentaria exeunt;“ Urkunde
von 682 Cart. de St. Bertin. Cart. Folquini Nr. 9. „praeter illam
terram unde opera carpentaria exeunt“: Urkunde von 721 ib. Nr. 27.
Daneben werden natürlich auch von den auf dem Gute an¬
sässigen, wie wir sagen würden „Gutshandwerkern“ Arbeiten
gleicher Art ausgeführt worden sein. Sehr häufig begegnen
86
Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
wir auf den Herrenhöfen dem Gutsschmied und Guts-
stellmacher1.
Aber auch Böttcherei scheint auf dem Herrenhofe betrieben
worden zu sein. Darauf läßt die Verpflichtung mancher Bauern
zur Lieferung von Faßdauben und Faßreifen schließen. Ich denke,
das war der Fall 'auf denjenigen Grundherrschaften , die viel
Weinbau trieben. Hier gehörte natürlich zum Küfereibetriebe
auch die Anfertigung der „vasa magna ad vindemiam valde
necessaria que appellantur rbuden5 “ 2.
Sollten die genannten Gewerbe ohne Störung betrieben
werden, sei es von den Bauern, sei es von den Gutsleuten, so
mußten die erforderlichen Rohstoffe und Halbfabrikate vorhanden
sein. Deren Beschaffung machte nun keine Schwierigkeiten, wenn
es sich um Holz oder Ton oder Lehm handelte. Ganz eine andere
Sache aber war es, wo Eisen verarbeitet wurde. Hier lag ein
schwieriges Problem vor, wie man zu diesem Materiale gelangen
könnte. Das Problem wurde in dreifach verschiedener Weise gelöst.
Entweder der Grundherr kaufte das nötige Eisen auf den
Märkten. Dieser Fall geht uns hier nichts an.
Oder er legte selbst ein kleines Eisenwerk auf seinem Grund
und Boden an3.
Oder (davon sprechen die Quellen am häufigsten) er legte die
Eisenlieferung seinen Bauern als Zinsverpflichtung auf. Das konnte
er natürlich nur, wenn in der Gegend Raseneisenstein gefunden
wurde, den die Leute auf primitivste Art zu Eisen verarbeiteten 4.
1 Im Kloster Corbie finden wir a. 822 nicht weniger als sechs Grob¬
schmiede, zwei Goldschmiede, zwei Schildmacher, vier Stellmacher.
Von den angelsächsischen Grundherrn erfahren wir, daß sie mit
ihrem „Schmiede“ auf die Reise gehen. War das ein Waffenschmied?
der Schildknappe? eine Art „Büchsenspanner“? Siehe die Ines dö-
mas § 63; die Adelbirthes dömas § 7, die Gespräche und die leges
Edwardi conf. (21), auf die H. Leo in der Einleitung zu seiner Aus¬
gabe der Reet. (1842) S. 132 hinweist. Bemerkenswert ist, daß alle
„Handwerker“ angelsächsisch „Smidas“ heißen, wie im Altnordischen
sogar der Schuster „sko-smidr“ benamst wird.
2 Glosse des Cesarius 1. c. p. 145. Vgl. die Stellen im Mittelrh.
UB. 1, 144 ff. in Pol. d’Irm. und Pol. Rem. bei Guörard, 1. c.
§ 392, 2, 288.
3 Dem Kloster Lorsch schenkt jemand „tertiam partem de sua
mina ad faciendum ferrum“ Cod. Laur. n. 3701. t. III p. 239. Vgl.
auch die Stellen im MRh. UB. Bd. 2, die sich auf das Trierer Erz¬
stift beziehen.
4 Sämtliche Pol., die Guerard ediert und kommentiert hat, enthalten
Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft
87
Das Eisen wurde dann -weiter an die zu Schmiedearbeiten
verpflichteten Bauern gegeben, wenn es nicht in den "Werk¬
stätten der Gutsschmiede seine Verwendung fand* 1. Dasselbe
galt von der zum Schmiedeprozeß erforderlichen (Holz-)Kohle,
die wohl Köhlerhufen zu liefern hatten.
* *
«.u
So etwa gestaltete sich das gewerbliche Leben auf den Grund¬
herrschaften in der großen Mehrzahl der Fälle. Es weist, glaube
ich, während der langen Zeit von der Bildung der Grundherr¬
schaften an bis tief ins Mittelalter — bis ins 12. und 13. Jahr¬
hundert — nur unwesentliche Veränderungen auf. Von einer
„Auflösung“ etwa vorhandener großer Wirtschaftsbetriebe auf
den Gütern ist, soviel ich sehe, nirgends die Rede. Diese Be¬
triebe haben außer vielleicht auf ein paar königlichen Domänen
und ganz wenigen großen Klöstern nirgends in Wirklichkeit
bestanden. In der Regel handelte es sich immer um eine kleine
Guts Wirtschaft , die auch gewerbliche Tätigkeit einschloß, und
die in ihrem wesentlichen Inhalt, ich möchte sagen, bis in
unsere Zeit, kaum umgestaltet ist. Neben ihr entwickelten sich
unter dem Einfluß der Grundherrschaft im Dorfe die Keime
eines selbständigen gewerblichen Lebens, das sich (wie wir sehen
werden) allmählich zu Städten verdichtete.
Hier soll einstweilen nur noch darauf hingewiesen werden,
daß die primitive gewerbliche Tätigkeit, wie sie als Regel auf
den Grundherrschaften geübt wurde, sich an einigen Stellen
schon während des frühen Mittelalters zu hohen kunstgewerb¬
lichen Leistungen steigerte.
Man weiß, daß die Klöster deren Sitz waren; daß kunst¬
sinnige und fleißige Mönche recht eigentlich die Erhalter und
Vermehrer der alten römischen gewerblichen Techniken sind.
Sie waren die Baukünstler jener Zeit; sie pflegten die Glas-
Eisenlieferung als bäuerliche Zinspflicht. Ebenso der Cod. Laur.
(Lorsch) n. 3881, der Cod. Fuld. bei Schannat, das Urbar S. Emmeran.
Auch dem Grafen Siboto von Falkenstein wird Eisen gezinst. Cod.
Falk, in Drei bayer. Trad. Büchern aus dem 12. Jahrh. (1880) S. XXIV.
Gleiche Abgabe im Inventar von S. Julia in Brescia: Cod. dipl. Lang.
No. 419. p. 716. 712. Kloster Bobbio: Hartmann, Zur W.G. 64
und 86.
1 „N . . . facit ferra carrucarum et Prior inveniet ei ferrum et
carbonem . . .“ Reg. Worc. 56a bei Rogers, Hist. 1, 469.
„Faber . . . carbones inveniet“, zit. bei Seebohm, 1. c. p. 70.
88 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
malerei, die Emailliererei , die Ziselierkunst, die Juwelierkunst,
den Orgelbau, die Kunstweberei 4, die Goldschlägerei und Gold¬
spinnerei 1 2. Und mit den Mönchen wetteiferten kunstsinnige
Kirchenftirsten wie der Abt Bernwardl der spätere Bischof von
Hildesheim.
Er selbst war in viel Kunst 'bewandert : nec aliquid artis erat quod
non attentarit . . und errichtete in seinem Palaste Werkstätten, wo
zahlreiche Arbeiter die Metalle bearbeiteten : er selbst besichtigt sie
alle Tage : „inde officinas, ubi diversi usus metalla fiebant, circumiens,
singulorum opera librabat“ Tangmarus , Yita S. Bernardi zit. bei
J. Labarte, Histoire des arts industriels au moyen age etc. 4 Vol.
1864—1866. 1, 146.
Aber auch auf mancher weltlichen Grundherrschaft mag das
Kunstgewerbe geblüht haben. So wird uns erzählt von der kunst¬
reichen Tochter Wichmanns, des Grafen des Gaues Hamalant,
daß sie in der Verfertigung kostbarer Kleider fast alle Frauen
ihres Landes übertroffen habe. Sie verfügte über eine Schar
geschickter Gehilfinnen, die sie sich herangezogen hatte3 4. So
hören wir von Seidenwebereien, die die normannischen Könige
in Sizilien unterhielten (12. Jahrhundert)4.
3. Der Gütertransport
Ebenso wie die landwirtschaftliche und die gewerbliche
Tätigkeit war von den Grundherren auch der Transport zu
1 Gegen 985 existierte im Kloster von St. Florent de Saumur eine
‘Manufaktur’, in der die Mönche webten „des tapisseries ornees de
fleurs et de figures d’animaux“ ; 1025 findet man in Poitiers eine ähn¬
liche Anstalt. F. Michel, Recherches sur les etoffes de soie 1
(1852), 71.
2 Siehe den in der Kathedrale von Lucca gefundenen technischen
Traktat, den Muratori in den Antiquit, II, 365 — 388 veröffentlicht
hat. Z. T. a’bgedruckt bei Fagniez, Doc. No. 94. Noch im
13. Jahrh. blüht die Goldschmiedekunst in den englischen (S. Alban!)
und französischen Klöstern: Belege bei H. Baudrillart, Hist, du
Luxe 3 2 (1881), 188 f.
3 scimus, eam . . „numerosas cubicularias ad varietatem textrilium
rerum instructas habere et in preciosis vestibus conficiendis pene
omnes nostrarum regionum mulieres superare“ Alpertus von Metz
MG. SS. 3, 702.
4 „nec vero nobiles illas palatio adhaerentes silentio praeteriri
convenit officinas, ubi in fila variis distincta coloribus serum vellera
tenuantur“ Hugonis Falc. Hist. Sic. zit. bei F. Michel, 1. c. p. 81/82.
Dieses eigenwirtschaftlich organisierte Kunstgewerbe grundsätzlich zu
würdigen, habe ich versucht in meiner Schrift: Kunstgewerbe und
Kultur (1908), 19 ff.
Siebentes Kapitel: Die Fronliofwirtschaft
89
Wasser und zu Lande auf der Unterlage der -.Fronpflichtigkeit
organisiert und zur Entwicklung gebracht worden. Ja — für
ihn galt, daß er oft von den Grundherren als besondere wirt¬
schaftliche Funktion erst geschaffen werden mußte. Die Güter¬
produktion kannte man, wenn auch in wesentlich einfacherer
Form, auch schon vor der grundherrschaftlichen Organisation
der Wirtschaft. Der ortsferne Gütertransport dagegen hat im
Rahmen der urwüchsigen Bauernwirtschaft keinen Platz, da alle
Güter an Ort und Stelle, wo sie erzeugt waren, auch zum Ver¬
zehr gelangten. Erst auf den Grundherrschaften mit ihren oft
weit auseinander gelegenen Besitzungen entstand die Notwendig¬
keit .eines interlokalen Gütertransports, und damit nebenbei be¬
merkt, wie schon Meitzen richtig hervorgehoben hat, die Not¬
wendigkeit, ein Wegenetz zwischen den einzelnen Ortschaften
zu entwickeln. Die erforderlich werdenden Transportleistungen
wurden nun, wie gesagt, einzelnen Bauern als Fron auferlegt,
die dadurch den Anstoß erhielten, sich zu berufsmäßigen Schiffern
oder Kärrnern auszubilden, denen wir dann, in der nächsten
Wirtschaftsepoche, im Rahmen der tau sch wirtschaftlichen Organi¬
sation begegnen. Hier seien nur noch einige Quellenstellen nam¬
haft gemacht, aus denen die Transportfron ersichtlich ist.
Tn den französischen Urbaren finden sich als Fron die Ver¬
pflichtung :
1. Wagen zu stellen, um Getreide und Wein usw. zu transportieren;
2. Pferde für Reisezwecke zu stellen;
3. Schiffe zu stellen, wo der Transport zu Wasser erfolgen muß.
Die Belege siehe bei Guerard in den Prolog, zum Pol. d’Irm.
§§ 411 ff.
Deutschland: „Navigium facit,“ „scaram facit cum nave,“ „scaram
debet facere in navi usque ad Covelenze vel quantum in IV diebus possunt
ambulare“ und ähnlich lauten die Formeln im Reg. Prum. Von den
120 Fronhöfen, die das Kloster besaß, leisteten 30 die Cscarac, das ist
eben die Transportfron. Nach der Zusammenstellung bei Imbart
de la Tour, Des immunites commerciales accordes aux eglises in
den Etudes . . . dediees ä Gabr. Monod' (1896), p. 77 ff. Im Cod.
Laur. Nr. 3671 heißt es: „item serviles hubae XXX, quarum una-
quaeque servit, sicut ei praecipitur, cum navi et aliis instrumentis“ ;
oder: „octava [mansa servilis] non solvit sed navigat“ ib. Nr. 3660.
Im Cod. Wiz. (ed. Zeuss, 277): „unusquisque ... cum navi per
ordinem pergere (debet) aut ad frankenvort aut ad lidrichesheim“ ;
et illi XIII . . . qui vinum solvunt cum suis carris infra magonciam
et wormaciam et frankenvort pergere debent“ : ib. p. 278. Ebenso gab
es eine Fährdienstfron: Lacomblet, UB. 1, 95, Nr. 153.
Italien: Auf den Besitzungen des Klosters Bobbio müssen dieMassarii
von Sorlasco: „colligere olivas in Garda et trahere oleum et ferrum cum
90 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter
annona dominica de Sorlasco usque Placentia“, das lieißt von einer
Besitzung des Klosters zur anderen. Siehe L. M. Hart mann, Zur
Wirtschaftsgeschichte Italiens, S. 86, und die Tabelle im Anhang V,
Nr. 55.
England: „et idem, faciet averagium apud BristolT et apud Wellias
per totum annum et apud Pridie et post hokeday apud Brugge-
wauter cum affro suo ducente bladum domini , caseum et lanam et
cetera omnia quae sibi serviens praecipere voluerint ... Et debet
facere averagium apud Axebrugge aut ad navem quotiens dominus
voluerit . . . Proceedings of Archaeol. Inst. Salisbury, p. 203. App.
to Notice of the Custumal of Bleadon, p. 182 — 210. Zit. bei See-
b o hm , S. 57.
91
Dritter Abschnitt
• •
Das Ubergangszeitalter
Achtes Kapitel
Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
Literatur und Quellen
Zu I.: Als erster hat wohl K. Andree, Geographie des Welt¬
handels 1 (1867), 23 ff. , im Zusammenhang den „stummen Handel“
dargestellt. Grundlegend für die meisten späteren Arbeiten sind
0. Schräders Linguistisch-historische Forschungen zur Handels¬
geschichte und Warenkunde. 1886. Frappante Aufschlüsse hat dann
die Hereinziehung des. von den Reisenden aus primitiven Kulturen
beigebrachten Beobachtungsmaterials geliefert. Es ist urteilsvoll zu¬
sammengestellt in den Arbeiten von Jos. Kulischer, deren eine
in deutscher Sprache veröffentlichte (Zur Entwicklungsgeschichte des
Kapitalzinses, in den Jahrbüchern für NÖ. III. F. Bd. XVIII,
S. 305 ff.) die Ergebnisse der früheren Studien zusammenfaßt.
Wertvoll ist auch der Beitrag von Sartorius von Waltershausen,
Entstehung des Tauschhandels in Polynesien in der Zeitschrift für
Soz.- und W.geschichte Bd. IV S. 1 ff. Dasselbe gilt von der gründ¬
lichen Bearbeitung des Gegenstandes durch M. Pantaleon!, L’origine
del baratto : A proposito di un nuovo studio del Cognetti im Giornale
pegli Economisti. Ser. II a. Vol. XVIII. XIX. XX. (1899. 1900).
Zu II.: Um die Tatsache eines kontinuierlichen Tausch¬
verkehrs während des frühen Mittelalters festzustellen, besitzen wir
ein hinreichendes Quellenmateriah Siehe A. Schulte, Geschichte
des mittelalterlichen Handels und Verkehrs etc., 2 Bände 1900 und die
daselbst auf S. 69 in Anm. 1 genannten Werke. Ich füge
von wichtigeren Erscheinungen der letzten Jahre hinzu : W. Varges,
Der deutsche Handel von der Urzeit bis zur Entstehung des Franken¬
reichs. Progr. Ruhrort 1903. Alex. Bugge, Die nordeuropäischen
Verkehrswege im frühen Mittelalter etc. in der Vierteljahrsschrift für
Soc. und W. G. Bd. IV (1906) S. 227, 277. Ad. Schaube, Handele-
geschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets bis zum Ende
der Kreuzzüge. 1906. Alf. Dopsch, Die W.entwicklung der Karo¬
linger 2 (1913), 180 ff.
92 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Leider fehlt den meisten Geschichtsschreibern des Handels die
nötige national-ökonomische Schulung, so daß man mehr als die Tat¬
sache der Handelsakte selten aus den Büchern erfährt. Aber auch
um diese festzustellen, geht es ohne genaue Kenntnis der wirtschaft¬
lichen Welt nicht ab. So begegnen wir nur allzuhäufig einer falschen
Deutung an sich für die Handelsgeschichte wertvoller Symptome, wie
z. B. der Zolltarife. Gewiß ist ein Zolltarif ein wichtiger Anhalts¬
punkt, um die Güterbewegung, ,die Art der bewegten Güter etc. zu
ermitteln. Nur darf man nicht aus der Tatsache eines Zolltarifs immer
schon auf das Vorhandensein eines Tauschverkehrs, geschweige denn
eines berufsmäßigen Waren h an d el s schließen. Die Quellen belehren
uns, daß Zölle auch von denjenigen Gütern erhoben wurden, die (ohne
irgendwie ausgetauscht oder gar gehandelt zu werden) innerhalb der
grundherrlichen Eigenwirtschaften transloziert wurden. So vermerkt
z. B. das Kap. von 805 in § 13 (MG. LL. Ia, 134) ausdrücklich, daß
kein Zoll erhoben werden soll, wenn die Leute: „sine negotiandi
causa substantiam suam de uno domo suo in aliam ducunt aut ad
palatiam aut ad exercitium.“ Also werden wohl in anderen Fällen auch
diese Güter verzollt worden sein. — Andererseits können Zolltarife
geradezu ein Beweis sein für die Verbreitung nicht-tauschwirtschaft¬
licher Organisation, dann nämlich, wenn die kraft seiner erhobenen Zölle
Naturalzölle sind. Diese spielen während des ganzen früheren
Mittelalters eine große Rolle. Siehe für das 8. Jahrhundert J. M.
Pardessus, Diplom, etc. 2 Vol. 1843/45, 2, 501 (Zölle für Corbie) ;
für das 9. Jahrhundert die Leges portoriae in MG. LL. 3, 480; ferner
etwa noch die Charta Bosonis de Monasterio Dervensi im App. zum
Pol. dTrm. p. 347 (Salzzölle); L. M. Hart mann, Zur Wirtschafts¬
geschichte It. 77 (Zölle in Salz, Pfeifer, Zimmt, Leim etc. auf dem
Po); für das 10. Jahrhundert die Naturalzölle, die auf den Alpen¬
straßen erhoben wurden, bei Schulte, 1, 68; aber auch noch für
das 11. Jahrhundert, die Zeit Heinrichs IV., die Zollrolle für Koblenz,
in der eherne Kessel, metallene Becken, Wein, Käse, Ziegenfelle,
Bocksfelle, Pische, Wachs, Schwerter als Zölle erhoben wurden.
Mrh. TJB, 9, 409.
I. Die Tauschwirtschaft und ihre Entstehung
überhaupt
Eine tauschwirtschaftliche (oder verkehrswirtschaftliche)
Organisation ist überall dort vorhanden, wo der Güterbedarf
mehrerer Wirtschaften in der Weise gedeckt wird, daß die eine
Wirtschaft Erzeugnisse der anderen Wirtschaft freiwillig gegen
Hingabe eines Äquivalents hereinnimmt und zum Verzehr bringt.
Sie schließt praktisch alle Wirts chafts Verfassungen ein, die nicht
grundsätzlich Eigenwirtschaften sind. Sie kann ebensogut auf
dem Naturaltausch wie auf dem Tausch unter Vermittelung des
Geldes beruhen, das heißt Natural- oder „Geld “Wirtschaft sein;
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
98
sie kann auf handwerksmäßiger oder kapitalistischer Grundlage
sich aufbauen.
Es gab eine Zeit: da glaubte man, Wirtschaften und Tauschen
seien synonym: die Menschheit habe ihre Entwicklung von den
Vorgängen des Tausch ens genommen; Tauschverkehr sei ein
Bestandteil aller menschlichen Wirtschaft, gleich wie Produktion
oder Konsumtion ; sei (wie wir es heute nennen) keine historisch¬
ökonomische , sondern eine elementar - ökonomische Kategorie.
Wir wissen jetzt, daß ungefähr das Gegenteil richtig ist: daß
die Menschheit wahrscheinlich erst verhältnismäßig spät den
Tauschverkehr entwickelt hat, daß es jedenfalls eines lang¬
wierigen Erziehungsprozesses bedurft hat, ehe sich die Menschen
daran gewöhnten, mit anderen etwas „auszutauschen“, das heißt
also vor allem: ehe sie das Mißtrauen verloren: der andere
(Fremde !) könne sie mit seiner Gegengabe betrügen wollen.
„Wer Lust zum Tauschen, hat auch Lust zum Betrügen“, gilt
noch heute unter unseren Kindern1. Wir kennen aber auch die
Formen, in denen sich diese Erziehung zum Tauschverkehr voll¬
zogen hat: wenn anders wir aus den Sitten der heute oder bis
vor Kurzem lebenden Naturvölker auf Einrichtungen der Urzeit
schließen dürfen. Dann würde die eigentümliche Form der so¬
genannte stumme Tauschhandel gewesen sein, wie ihn uns
Herodot schon beschreibt als eine Erfahrung, die ihm die
Karthager mitgeteilt haben, und wie er in unserer Zeit im Ver¬
kehr mit zahlreichen Naturvölkern übereinstimmend beobachtet
worden ist; sei es, daß diese untereinander Güter austauschten,
sei es, daß sie mit Europäern in Tauschverkehr treten wollten.
JT. Die Entfaltung der Tauschwirtschaft im
europäischen Mittelalter
Von einer „Entstehung der Tauschwirtschaft“ in dem ursprüng¬
lichen Sinne kann nun bei den europäischen Völkern in ihrer
geschichtlichen Zeit keine Bede sein. Nur von einzelnen
Stämmen im äußersten Nordosten Europas (an der sibirischen
1 Im europäischen Mittelalter ist dieses Mißtrauen bei den neu in
die Geschichte eintretenden Naturvölkern rascher besiegt worden in
dem Maße, als sie mit höheren Kulturen plötzlich durchsetzt wurden.
Es findet gleichwohl noch seinen Ausdruck in dem kunstvollen Systeme
des Eremdenrechts, das nichts anderes als eine Summe von Schutz¬
maßregeln der Genossen gegen gefürchtete Übergriffe der Stammes-
(Stadt-)fremden darstellt.
94
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Grenze) erfahren wir, daß sie sich der Form des „stummen
Handels“ im Verkehr mit den westlichen Händlern bedient
haben b Im übrigen dürfen wir mit Sicherheit annehmen , daß
die drei größten Völker, Kelten, Slawen und Germanen, seit wir
von ihnen Kunde haben, sich bereits an den Gütertausch, auch
unter Vermittlung des Gelder, gewöhnt hatten1 2, während selbst¬
verständlich im Gebiete der römischen Kultur ein hochentwickelter,
Jahrhunderte alter Tauschverkehr bestand, als die nordischen
Völker sich auf ihm nie der ließen3.
Freilich vollzog sich schon während der römischen Kaiser¬
zeit eine starke Rückbildung in eigenwirtschaftliche Zustände4,
die sich wohl jahrhundertelang nach dem Untergang des Römi¬
schen Reiches fortsetzte, bis sie zwischen dem 8. und 10. Jahr¬
hundert ihren äußersten Punkt erreichte5- Trotzdem haben zu
allen Zeiten während des Mittelalters mehr oder minder starke
tauschwirtschaftliche Beziehungen bestanden, ist in allen Jahr¬
hunderten die Eigenwirtschaft durch Kauf und Verkauf von
1 Nach arabischen Quellen. Siehe Georg Jacob, Der nordisch¬
baltische Handel der Araber im Mittelalter (1897), S. 124.
2 Wenn wir den Erzählungen Diodors (5, 22 §§ 1, 2) Glauben
schenken wollen, so hätten die Stämme, die in der sogenannten
jüngeren Steinzeit (1500 — 1000 v. Chr.) Großbritanniens und West¬
deutschlands Küsten bewohnten, schon „Handel“ (mit Zinn und Bern¬
stein) getrieben. Varges, a. a. O. S. 7 ff. Über den „Handels¬
verkehr“ der germanischen Stämme in den Anfängen der historischen
Zeit spricht Varges, a. a. O. S. 24 ff. Vgl. dazu die allgemeinen
Werke über die primitive Kultur der europäischen Völker.
3 Ich denke , immer noch das beste Gesamtbild auch von der
wirtschaftlichen Kultur der römischen Kaiserzeit bietet uns Ludw.
Friedländer in seinen Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms,
7. Aufl. 1901, dar. Der Streit Bücher-Meyer hat keine neuen Er¬
kenntnisse zutage gefördert
4 Siehe Max Weber, Römische Agrargeschichte (1891) S. 262ff.
6 Man kann zweifelig sein, ob nach den Zügen der Longobarden
und Sarazenen, also etwa im 8., oder erst nach den Einfällen und
Plünderungen der Ungarn, also in der zweiten Hälfte des 10. Jahr¬
hunderts die tauschwirtschaftliche Organisation am weitesten zurück¬
gedrängt sei. Ad. Schaube nimmt für die Mittelmeervölker als diesen
Punkt das 10. Jahrhundert an (Handelsgeschichte der rom. Völker
1906). Ich sehe in den beiden Jahrhunderten keine wesentlichen
Veränderungen. Beachtung verdient auch der Umstand, daß die Geld¬
menge in Europa, namentlich in Deutschland, bis zum Schluß der
Karolingerzeit beständig abnimmt und daß erst unter Otto I. eine
Steigerung der Edelmetallproduktion einsetzt. Siehe die Darstellung
auf Seite 104 ff.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 95
Leistungen und Gütern ergänzt worden1. Wenn ich also die
Zeit etwa bis zum Ablauf des ersten Jahrtausends unserer
Zeitrechnung als Zeitalter der Eigenwirtschaft bezeichne, so ist
das in dem Sinne zu verstehen, den ich in der Einleitung diesem
Sprachgebrauche beigelegt habe. Es soll heißen, daß die Wirt¬
schaftsführung grundsätzlich auf das Prinzip der Eigenwirtschaft
ausgerichtet war, daß diese die regulative Idee der Wirtschaft,
ihren Geist darstellte , das heißt : daß das Streben der Wirt¬
schaftssubjekte zunächst auf die Deckung des Bedarfs in der
eigenen Wirtschaft gerichtet war , daß der Tausch mit anderen
Wirtschaften die sekundäre Erscheinung bildete , die nicht im¬
stande war , den Gesamtcharakter der Wirtschaftsführung zu
ändern.
Ich habe demgemäß die Überschrift dieses Kapitels gewählt.
Nicht von der Entstehung der Tauschwirtschaft im europäischen
Mittelalter kann hier die Rede sein, sondern immer nur von
deren Neubelebung, deren Entfaltung. Die Keime sind vor¬
handen. Nun verfolgen wir, wie sie sich zu der kräftigen Pflanze
entfalten, die schon im 13. und 14. Jahrhundert vor uns steht.
Zu denjenigen Kräften, die beständig auf eine Erweiterung
des Tauschverkehrs hindrängten, gehörte
1. die Berufshändlerschaft, die Europa vom Orient
aus heimsuchte, sei es, um namentlich im Norden und Osten
Europas wertvolle Landeserzeugnisse einzuhandeln als Bernstein,
kostbare Felle 2 usw., sei es, um die Erzeugnisse des Orients
(Schmuck, Gewänder usw.) loszuwerden (wovon noch zu sprechen
sein wird). Wir dürfen eben nie vergessen, wenn wir den Gang
des europäischen Lebens im Mittelalter verfolgen, daß im Osten
Byzanz und Bagdad lagen : zwei Zentren höchster Kultur , von
denen Einwirkungen auf das „barbarische oder in „Barbarei
versunkene Europa ausgingen, die wohl manchen Ziig gemein
hatten mit denen, die heute aus unsern Kulturzentren sich wieder
1 Nicht der grundherrliche Haushalt, aber auch nicht die bauei-
liche Wirtschaft ist vollkommen abgeschlossen gewesen.“ v. Below,
Der deutsche Staat des Mittelalters (1914), 127.
2 Der Handel mit diesen östlichen Gebieten wird stark aktiv zu
deren Gunsten sich gestaltet haben. Darauf läßt — meines Erachtens -
vor allem die große Menge in Masse gefundener arabischer Münzen
schließen. Die Verkäufer der Pelze etc. kauften den arabischen
Händlern nichts ab und wurden deshalb in bar bezahlt. Die Münzen
vergruben sie oder benutzten sie als Schmuck. Siehe Jacob, a. a. 0.
S. 59 ff.
96
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
zurück nach dem Osten oder in die Giebiete afrikanischer oder
asiatischer Naturvölker wenden.
2. Daneben wirkten im Stillen die Kräfte weiter, die in jeder
noch so volkstümlich geordneten bäuerlichen Eigenwirt¬
schaft Tendenzen erwecken zu ihrer Umbildung in tausch wirt¬
schaftliche Lebensformen. Immer besteht die Möglichkeit, Über¬
schüsse zu erzeugen , die in dem Maße , als die urwüchsige
Gremeinschaftsidee an Kraft verliert1, geeignete Verkaufs objekte
darstellen2. Zu diesen im Falle besonders günstiger Ernte sich
einstellenden Überschüssen der Bauernwirtschaften gesellten sich
nun wohl immer häufiger -ständige Überschüsse oder schon
besser Produktionserträge bestimmter Spezialitäten , deren Her¬
vorbringung eine Wirtschaft dauernd sich angelegen sein ließ:
Honig, Wachs, Wein, Gfeflügel (siehe den Hühner-Thorir !).
Hierher gehören denn auch die ,an unwirtliche Küsten ver¬
schlagenen Bauern, die sich auf den Fischfang und bald auf den
Fischhandel 8 oder auf den Salzhandel4 warfen und damit die
Entwicklung der Tauschwirtschaft erheblich förderten.
Nach beiden Richtungen hin — sowohl was die gelegentliche
Produktion von Überschüssen als die von Spezialitäten an¬
betrifft — wird nun die Tendenz zur Auflösung oder wenigstens
doch Einschränkung der Eigenwirtschaft verstärkt durch einen
Prozeß, der sich gerade in den Jahrhunderten, auf die sich unser
Interesse besonders richtet, mit größter Stetigkeit vollzieht: die
Differenzierung der bäuerlichen Besitzgrößen. In dem Maße
nämlich, wie auf der einen Seite Gfroßbauernwirtschaften. mit
mehr als einer Hufe sich bilden, wächst die Wahrscheinlichkeit
eines rein quantitativen Überschusses an Nahrungsmitteln; in
dem Maße aber, wie auf der anderen Seite der Besitz zusammen¬
schrumpft zur halben und viertel Hufe oder gar zum Parzellen-
_ _ •
1 Siehe, was ich darüber auf S. 51 bemerkt habe.
2 Aus einer Urkunde vom Jahre 1168 erfahren wir z. B., wie die
Beamten der Grundherren im Monat August bei sämtlichen Bauern
herumfragen mußten, ob jemand verkäuflichen Wein habe. Bei
Schöpplin, Alsatia diplom. Bd. I Nr. 249; Zit. von Kowalewsky,
3, 289.
8 Schon im 9. Jahrhundert hat die Ausfuhr getrockneter Fische
von den Küsten der Nordmeere beträchtliche Ausdehnung gewonnen.
Siehe Al. Bugge, a. a. 0. S. 229 ff.
4 Hauptbeispiele Commachio und Venedig. Siehe Hartmann,
Commachio und der Pohandel (Zur Wirtschaftsgeschichte S. 74 ff.)
8. Jahrhundert.
Achtes Kapitel : Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 97
besitz, stellt sich die Notwendigkeit ein, entweder wertvolle
landwirtschaftliche Spezialitäten zu erzeugen (etwa Bienenzucht
zu treiben) oder sich auf andere Weise (etwa durch gewerbliche
Tätigkeit) einen Unterhalt zu verschaffen. (Daß die an be¬
stimmten Orten sich ausbildenden Lokalgewerbe vielfach die
Keimzellen einer tauschwirtschaftlichen Organisation gewesen
sind , läßt sich an mehr als einem Beispiel sogar quellenmäßig
nachweisen). Wobei natürlich die Bevölkerungsvermehrung auch
als ein wichtiger Umstand in Rechnung zu ziehen ist.
3. Nun kann es aber gar keinem Zweifel unterliegen, daß die
Herausbildung der tauschwirtschaftlichen Organisation während
des Mittelalters nicht annähernd so rasch sich vollzogen hätte,
wie es tatsächlich der Ball war, wenn nicht noch ein dritter
Faktor die Entwicklung in gleicher Richtung beeinflußt hätte :
die Grundherrs chaft.
Die Wirtschaft des Grundherrn mußte von Anfang ihres Be-
Stehens an eine starke Hinneigung zu anderen Wirtschaften
haben. Zunächst als Verkäuferin. Es war doch außerordent¬
lich wahrscheinlich, daß die Größe der Konsumwirtschaft, nament¬
lich bei den reichen Grundherrn, nicht im gleichen Verhältnis
wuchs, wie der Besitz und damit die Naturalabgaben der Bauern
sich ausweiteten. Zumal, wenn es sich bei diesen um Speziali¬
täten handelte. Da war der Wein, der so reichlich zuströmte,
daß ihn selbst ein geräumiger Klosterkeller nicht mehr zu fassen
vermochte ; da war das Salz , das die grundherrlichen Salinen
malterweise lieferten. Was sollte man mit ihnen anfangen? „Dem
Kloster strömte eine derartige Menge Wein und Salz von seinen
Höfen zu, daß es geradezu zur Notwendigkeit wurde, das Über¬
flüssige zu verkaufen,“ lehrt uns wieder der treffliche Cesarius h
Weinländer sehen -wir daher besonders frühzeitig in die Bahnen
der Tauschwirtschaft einlenken, zumal in ihnen auch die Bauern
besonders frühzeitig Überschußprodukte in ihren Wirtschaften
erzeugten. Bereits im 9. Jahrhundert preist der lateinische
Dichter die Straßburger, daß sie nicht allen heimischen Wein
selbst trinken müßten , da es sonst schlimm in der Stadt aus-
sehen würde : der elsässische Wein bildete bald einen Haupt¬
bestandteil des kölnischen Handels. Da war die Wolle, die
1 „Antiquitus tanta copia vini ac salis proveniebat ecclesie de
curtibus nostris quod opportebat quasi de necessitate superflua (man
beachte den , Geist1 !) venundare“. 1. c.
Sombart, Der raodema Kapitalismus, I.
7
gg Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaltel1
namentlich auf englischen Grandherrschaften seit jeher ein
wichtiges Erzeugnis darstellt \ und die natürlich verkauft werden
mußte, wenn man nicht Spinnerei und Weberei selbst im Großen
betreiben wollte. Da waren die Käse. Was sollte der Graf
Siboto von Ealkenstein, und mochte er eine noch so stattliche
Schar kriegerischer Dienstmannen um sich versammeln, mit 9694
Käsen im Jahre anfangen2, was die Tridentiner Domherren gai
mit 14000 Käs3, wenn sie sie nicht zum Verkauf brachten ? Da,
war aber auch das Getreide, das man nicht alles selbst zu Biot
backen konnte 4, auch wenn Hunderte von Menschen zu sättigen
waren.
So wird es uns nicht in Erstaunen versetzen, wenn wir häufig
von Bestimmungen hören, die den Verkauf der Überschüsse in
der Fronhofwirtschaft regeln sollen.
Die Stat. ant. des Klosters Corbie (a. 822) bestimmen : Die Zehnten
der entfernt gelegenen Villen sollen nicht zum Kloster gefahren (sondern
verkauft?), von den näher gelegenen Gütern jedoch soll ein zweites
Zehntel angekauft werden. Die Gartenzehnten sollen, wo es sich mit
Nutzen bewerkstelligen läßt, verkauft werden: quae rationabilitei
venundari possunt, venundentur aut contra denarios aut contra an-
nona (!) et ad portarium deferatur“. Vom Viehzehnt sollen nur die
Schweine konsumiert werden: Dagegen die Füllen, die Kälber, die
Zicklein sollen gleich oder nach 2 Jahren verkauft oder vertauscht
werden: „. . portarius eos non servando , sed . . venundando vel
• commutando ad utilitatem hospitalis prout ratio docuerit et melius
potuerit, eos convertere studeat“ (App. zum Pol. d Irm. 2, 325/26,
332). Bekannt sind die Preistaxen für Getreide etc,, die schon Karl M.
1 Über die beträchtliche Anzahl von Weideplätzen auf den Be¬
sitzungen der Kirche _S. Paul in London um die Wende des 12. Jahr¬
hunderts unterrichten die bei Kowalewsky, 3, 73 mitgeteilten
Quellen. Ein reiches Material enthält der Aufsatz von Rob. Jowitt
Whitwell, English Monasteries and the Wool Trade in the 13* Cen¬
tury in der Vierteljahrsschrift für Soz.- und W.geschichte 2 (1904),
_ gg
3 Cod. Falk. Introductio p. XXVI.
8 Chr. Schneller, Tridentiner Urbare aus dem 13. Jahrhundert
(Quellen und Forschungen zur Geschichte etc. Österreichs und seiner
Kronländer 4 [1898], 6).
4 Ende des 12. Jahrhunderts vereinnahmt die Abtei S. Pantaleon
in Köln 438 Mir. „tritici“ (Roggen?), davon werden 187 Mir. ver¬
zehrt; 577 Mir. „siliginis“ (Weizen?), wovon 313 Mir. zum Konsum^
gelangen; 891 Mir. avene (Hafer), von dem fast alles zum Verkauf
übrig bleibt. Nach einer ungedruckten Urk. Lamp recht, DWL. 1,
2, 839.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft $9
erließ. Siehe z. B. den Beschluß der Frankfurter Synode vom Jahre 794
bei Fagniez, Doc. Nr. 88.
( Das Ed. Rothari (643) in lex 234 (ed. Bluhrne, 49) gibt dem
„Servus massarius“ die Befugnis: „de peculio suo, id est bove vacca
cavallo simul et de minuto peculio“ zu verkaufen: „quod pro utilitate
casae ipsius est, quatenusr casa proficiet et non depereat“. „Et sunt
in Charna manentes 13, qui reddunt de serico 1. 10 et de ipsis in
Papia ducitur et ibi venundabitur ad solidos 50“ (Cod. Lang. p. 726).
Im Cap. de villis heißt es (nach der Ausgabe von Iv. Gar eis 1895):
in c. 33: „quicquid reliquum fuerit exinde de omni collaboratu
usque ad verbum nostrum salvetur , quatenus secundum jussionem
nostram aut venundetur aut reservetur . .“ ;
in c. 39: „quando non servierint ipsos (sc. ova et pulli) venun-
dare faciant.“
in c. 65 : „ut pisces de wiwariis nostris venundentur et alii
mittantur in locum ita ut pisces semper habeant; tarnen quando nos
in villas non venimus, tune fiant venundati et ipsos ad nostrum pro-
fectum iudices nostri conlucrare faciant . .“.
Immer kehrt der Gedanke wieder : erst für den Bedarf sorgen,
was übrig ist, verkaufen!
Aber noch häufiger sehen wir die Grundherren auf dem
Markte als Käufer auftreten. Begreiflicherweise, da sie Geld¬
einnahmen nicht nur aus dem Erlös ihrer eigenen Erzeugnisse,
sondern von früh an auch in der Form von Geld zinsen
hatten, die sie von den Bauern erhielten.
Die bäuerlichen Geldzinse haben wohl zu keiner Zeit während
des Mittelalters völlig gefehlt: in den Urkunden begegnet man
ihnen in jedem Jahrhundert. Daß sie im 5. Jahrhundert in
Gallien Vorkommen \ ist nicht so bedeutsam , weil sie in jener
Zeit und in jener Gegend noch erhoben werden konnten, wie
daß sie uns überall im 8. und 9. Jahrhundert entgegentreten.
Beispielshalber: im 8. Jahrh. : in Italien Abtei Farfa u. a.,
zitiert bei Kowalewsky, 1, 388. 411; England: ebenda 1, 538;
Deutschland (Trier) : Fragm. Chartae Leodoini im App. zum Pol.
d’Irm., 341.
Im 9. Jahrh.: in Italien (Bobbio): L. M. Hart mann, S. 58;
Frankreich: Kloster St. Germain de Pres. Pol. d’Irm. 1, 892 ff. ;
Kloster St. Remi de Keims. Pol. dieses Klosters p. XL VII. Abtei
St. Bertin. Cartulaire de St. Bertin in der Coli, des Cart. de la France
4 (1840). Pars I Folquini No. XXV, XXVII, XXIX und passim;
Deutschland: Kloster Prüm: Lamprecht 2, 143. Kloster Weißen-
burg. Trad. poss. ed. Zeuss, p. 273.
1 Im Pfründenbuch des Klosters St. Petri in Soissons: „solvunt
in anno friscingas duas ... in villa Uscladinas coloni tres . . . solidos
tres solvunt.“ Pardessus, Dipl. 1, Nr. 65.
7*
100
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Die Beträge, die aus den bäuerlichen Zinsen in bar den
Kassen der Grundherrn zuflossen, waren sogar nicht einmal
immer gering. Nach den eben genannten Quellen habe ich
folgende Zusammenstellung gemacht. Die Einnahmen betrugen
in heutiger "Währung beim *
Kloster Bobbio . . ca. 100 Mk.
„ Prüm . . „ 6 000 „
„ St. Germain „ 10 000 „
„ St. Demi . „ 12 600 „
Die Tatsache dieser verhältnismäßig hohen Bareinkünfte , zu
denen noch die Einnahmen aus dem Verkauf der eigenen Er¬
zeugnisse traten, würde es von vornherein wahrscheinlich machen,
daß die Grundherren kauften. Wir haben nun aber genug Zeug¬
nisse, die diese Vermutung zur Gewißheit machen, wie folgende
Auslese erweisen wird :
Zunächst sprechen wiederum die zahlreichen Zollprivilegien , die
namentlich den geistlichen Grundherrschaften für ihre Schiffe oder
Fuhren oder Saumlasten zuteil wurden, eine deutliche Sprache, zumal,
wenn wir erfahren , daß es sich z. B. um Salzschiffe handelte ; oder
wenn in dem Zollprivilegium ausdrücklich vom Einkauf die Bede ist;
siehe z. B. den Zollfreibrief, den Prüm vom König Pipin erhält (MRh.
UB. Bd. I Nr. 18), in dem es heißt: „ubicunque infra regna nostra
homines ipsius monasterii pro verilitate vel stipendia monachorum in
quacunque civitate vel porto negotiandi porrexerint“ . . . „homines
suprascripti mon. qui pro necessitate eorundem monachorum discurrere
videntur.“ Ähnliche Wendungen sind häufig: die Mönche des Klosters
St. Germain sollen zollfrei überall hin ziehen dürfen : „tarn ad luminaria
comparanda vel pro reliqua necessitate“. Dipl. Car. M. a. 779 bei
Bouquet, 5, 742. Auch in anderem Zusammenhang sprechen die
Quellen oft genug unmittelbar von den Einkäufen der Grundherren:
St. Gallen schickt seinen Itinerarius nach Mainz „pro pannis laneis
emendis“ MG. SS. 2, 97. Mon. Sang. 16. 2, 752. (Fremdländisches
Tuch finden wir bereits im 8. Jahrh. in der Abtei St. Bertin: „drappos
kamisias ultra marinas quae vulgo berniscris vocitentur“ Cart. de
St. Bertin, 1. c., Nr. 46.) Fehlender Bedarf soll durch Zukauf ergänzt
werden: „si vero hoc ei non sufficit — sc. humlo (Hopfen) — ipse
vel comparando vel quolibet alio modo (!) sibi adquirat“ App. zum
Pol. d’Irm. 2, 333. In den Schenkungsurkunden wird gelegentlich die
Verwendungsart einer Geldschenkung stipuliert: es werden geschenkt
„ argen ti sol. X ad pisces emendos ad pastum unum fratribus ibidem
exibendum“ (MRh. UB. Bd. I Nr. 110. a. 868). Jene vier Leute, die wir
auf dem Wege von Helmstädt nach Bardewik an treffen werden, sollen als
„Rückfracht“ Fische heimbringen: „quod cum frumento et insuper
6 sol. piscium emi potest plaustro suo reportabunt“. Zu vergleichen
auch Ansegisi Cap. Lib. I (Cap. reg. Franc. 1. 410): „De thesauris
ecclesiasticis. Ut singuli episcopi, abbates, abbatessiae diligenter
Achtes Kapitel : Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
101
considerent thesauros ecclesiasticos , ne propter perfidiam aut negli-
gentiam custodum aliquid de gemmis aut de vasis vel de reliquo quo-
que thesauro perditum sit, quia dictum est nobis, quod negotiatores
Judaei necnon et alii gloriantur, quia quiequid eis placeat
possint ab eis emere.“
Oder wir erfahren aus Anekdoten, die uns die Quellen überliefert
haben , von den Einkäufen , die die Grundherren zu machen pflegten.
Am bekanntesten ist die kleine nette Geschichte, wie der große Karl
seinen Hofschranzen einen Possen spielte, als er sie zwang, eben von
italienischen Händlern frisch erstandene Seidengewänder auf einer Hetz¬
jagd durch das Gestrüpp der nassen Wälder anzuziehen und damit
natürlich dem Untergange zu weihen. Weniger bekannt ist ein anderer
Witz , den derselbe König sich mit einem seiner geistlichen Herren
machte: den er eine in Aachen gefangene und getrocknete Maus von
einem jüdischen Häudler (der ins Vertrauen gezogen war) um ein
Sündengeld als wertvolle Reliquie einkaufen läßt. Beide Anekdoten
sind nach den Quellen (Mon. Sang.) anmutig nacherzählt von Gustav
Frey tag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit 1, 323 ff.
Ebenso dürfen wir aus den Waren, die wir im Handel finden, auf
regelmäßige Einkäufe durch die Grundherren schließen : wir sehen die
Mönche von Corbie in Cambray Gewürze und Spezereien erstehen.
App. zum Pol. d’Irm. 2, 33ö ; während die Pariser Mönche sich mit
anderen an dem seinerzeit berühmten Stapelplatz Quentawic an der
nordfranzösischen Küste treffen, um Honig, Krapp, Gewürze usw. zu
kaufen: ibid. 1, 786 f. Vgl. auch Otto Fengler, Quentovic, seine
maritime Bedeutung unter Merovingern und Karolingern in den Hans.
Gesch.Bl. 1907, 1. Heft, S. 91 ff.
In den Zollrollen des achten und neunten Jahrhunderts werden als
Kaufmannsgüter aufgeführt: Gold, Silber, Gemmen, Waffen, Kleider,
Wachs, Bosse, Sklaven, kurz lauter Gegenstände, die nur die reichen
Grundherren erwerben konnten. Siehe z. B. Ed. Bothari (a. 643) ed.
Bluhme p. 48. Sicardi Pactio (a. 836) ed. Bluhme p. 193. Div. imp.
LL. 1, 142 c. 11. Leg. port. LL. 3, 480 ff. Cap. von 805 c. 7 mit
der bekannten Stelle „ut arma et brunias non ducant ad venundandum“,
nämlich zum „Erbfeind“. Abgedruckt auch bei Fagniez, Doc. Nr. 90.
In den Dialogen Aelfrids werden als Einfuhrgüter aufgezählt : Purpur,
Seide, Geschmeide, Elfenbein, Gold, farbige Stoffe, Farben, Wein, Öl,
Bier, Zinn, Glas und Schwefel. Thorpe, Analecta Anglo-Saxonica,
p, 101, bei Gibbins, Industry in England. 4. ed. (1906), p. 45.
Endlich reden auch noch die Gräber eine deutliche Sprache. Die
Gräberfunde aus der Merovingerzeit, auch in Deutschland,^ zeigen eine
Fülle von Schmuckgegenständen , die sich „als Erzeugnisse fremder
Industrie und Überlieferungen des Handels kennzeichnen“. L. Linden-
schmit, Handbuch der deutschen Altertumskunde 1 (1880— -89),
Die Altertümer der merovingischen Zeit, S. 381 ff. 437. Daß Kauf-
leute von „Übersee“ Schmuckgegenstände nach Europa brachten, ist
ui s auch sonst überliefert. So spricht die Lex Wisigothorum (lib. XT
t. III) „de transmarinis negotiatoribus“, die Gold, Gewänder „vel
quaelibet ornamenta provincialibus nostris“ verkaufen.
102
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Und wenn wir den Schiffen begegnen, auf denen der Be¬
vollmächtigte des Grundherrn die Getreideladungen zu Markte
führt, oder den Lastwagen oder Saumtieren der fronpflichtigen
Bauern, die ebenfalls beladen dem Marktorte zustreben, so
werden wir das auch nur natürlich finden.
Die Schiffe der Kirchen und Klöster, denen von den Kaisern
Freiheit von Zöllen und Abgaben gewährt werden, sind — zumal in
Italien — eine oft wiederkehrende Erscheinung in den Quellen : für
Italien siehe die zahlreichen Belege bei Hart mann, Zur Wirt.Gesch.,
S. 87; Schaube, S. 87 ff. 72 ff. ; für Deutschland bei Inama 1,
440, MRh. IJB. 1 Nr. 18; für Frankreich bei Guerard, Pol. d’Irm.
1, 789.
Diese Schiffe dienten wohl besonders häufig dazu, um die ein-
gekauften Güter (Salz!) heimzuführen. Wir dürfen aber annehmen,
daß sie, wenn irgend möglich, beladen ausgingen. Daß dies jedenfalls
vorkam, bestätigen uns sogar die Quellen: Im Jahre 860 gestattet
Ludwig II. einem Bevollmächtigten des Klosters von Brescia frei von
ripaticum und Verkaufs abgabe zu handeln: „quocumque cum propriis
mercimoniis negotiando perrexerit“. Mühlbacher, S. 1184.
Die Fronbauern der Abtei von St. Remi in Reims finden wir (9. sc.)
auf dem Wege nach Chälons (80 km), St. Quentin (70 — 110 km),
Aachen, das heißt den Orten, wo das Getreide des Klosters seinen
Markt fand. Es wurde entweder auf Lastwagen, die mit Ochsen be¬
spannt waren, oder auf Eseln als Saumlast befördert: „duos asinos
in Vero mandense“ sind zu stellen. Pol. de l’abbaye de St. Remi
de Reims etc., p. XXVI. XXVII. XXIX. Vier Fronbauern des Klosters
Helmstädt haben jährlich 9V2 maldaria Getreide „ad vendendum in
Bardewik“ zu fahren. Urb. Helmstädt p. 38, zit. bei Inama 2, 372.
Aber die Grundlierrscbaften werden nickt nur dadurch zu
Beförderern der Tauscli Wirtschaft, daß sie selber in den Markt
hineingezogen werden: sie werden auch zu einem Ferment,
das die Eigenwirtschaften der Bauern rascher zur
Auflösung bringt, als es sonst geschehen wäre. Die eine
Tatsache der Geldzinse, die sie von den Bauern fordern, genügt,
um das einzusehen. Denn offenbar: sobald eine Wirtschaft zu
regelmäßigen Geldzahlungen verpflichtet ist, muß sie trachten,
durch Verkauf ihrer Erzeugnisse sich Geldeinnahmen zu ver¬
schaffen.
Dann hat auch die Entwicklung der grundherrlichen Bann¬
rechte an Mühlen, Tuchwalken, Bäckereien, Brauereien usw.,
in gleichem Sinne gewirkt. Wir finden nämlich häufig ver¬
bunden mit der Verpflichtung, allein der herrschaftlichen An¬
stalt sich zu bedienen, geradezu das Verbot, die Verrichtung
des Mahlens, Backens, Brauens, Walkens usw. im eigenen Hause
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
103
vorzunehmen h Dadurch, wurde den Bauern ein tauschwirtschaft¬
licher Nexus förmlich aufgezwungen, und es wäre wohl der Mühe
wert, dem Zusammenhang zwischen Entwicklung der Bannrechte
und der Ausbildung der tauschwirtschaftlichen Organisation
einmal näher nachzugehen. Wobei auch gleich zu prüfen wäre:
wie weit die Grundherren durch ihr Interesse an hohen Markt¬
einnahmen die Bauernwirtschaften zum Besuche der Märkte
drängten.
Endlich kann ich mir auch denken, daßMie Grundherrschaften
die Bauernwirtschaften durch die Förderung der Produktions¬
spezialisierung in die Tauschwirtschaft hineindrängten. Je mehr
ein abgabepflichtiger Bauer zur Lieferung besonderer Speziali¬
täten agrarischer oder namentlich auch gewerblicher Natur durch
den Grundherrn angehalten wurde, desto mehr mußte er den
Boden eigenwirtschaftlicher Selbständigkeit unter seinen Füßen
wanken fühlen, desto mehr wurde es sein Interesse, nun von
der Spezialität, die er beherrschte, dadurch Nutzen zu ziehen, daß
er sich ihr ausschließlich widmete und nach und nach an andere
Personen auf dem Wege des Verkaufs absetzte, was der Grund¬
herr nicht von ihm als Abgabe verlangte.
In der grundherrschaftlichen Organisation als solcher liegt,
also die Tendenz eingeschlossen, die eigene und die bäuerliche
Eigenwirtschaft zu zersprengen. Also daß der Auflösungsprozeß
sich, wenn auch langsam, so doch stetig mit dem Anwachsen
der Grundherrschaften vollziehen mußte. Daß er sich seit dem
11. Jahrhundert etwa fast plötzlich, sprunghaft vollzog, daß das
europäische Mittelalter in dem kurzen Zeitraum von ein oder
zwei Jahrhunderten aus einer grundsätzlich eigen wirtschaftlichen
in eine grundsätzlich tauschwirtschaftliche Organisation über¬
ging, ist dem Zusammentreffen einer Beihe besonderer Um¬
stände geschuldet und etwa in folgender Weise zu erklären.
Wir können zunächst eine Beihe umgestaltender Maßnahmen
der Grundherrn (die zum Teil wiederum untereinander sich be¬
dingen) feststellen :
1. Die Naturalzinse der Bauern werden in Geldzinse ver¬
wandelt.
Die Wirkung, die diese Wandlung auf die Bauernwirtschaft
1 Für England dargestellt von Kowalewsky 3, 139; analoge
Entwicklung bei den Normannen in Sizilien; a. a. 0. S. 381 f. Siehe
für Deutschland z. B. das Prümer Urbar. MRh. UB. 1, 147—149; für
Frankreich: Flach, Origines 2, 198 u. pass.
104
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
ansüben mußte, haben wir schon festgestellt: der Bauer wurde
zum Verkaufen gezwungen.
2. Das alte Verwaltungs System der Grundherr¬
schaften wird aufgelöst. Die Meier (Villici, bailliffs) werden
zu Pächtern des Sallandes bzw. Fronhofes, auf dem sie früher
nur als Verwalter des Grundherrn gesessen hatten oder auch zu
Pächtern der Bauerngüter, deren Abgaben, sie früher nur ge¬
sammelt hatten.
3. Die Bauerngüter werden ebenfalls vielfach aus dem alten
Hörigkeitsverhältnisse befreit und freierenFormen der Ver¬
pachtung unterworfen.
Die Tauschwirtschaft brauchte durch diese Entwicklung an
O
sich noch keine Förderung zu erfahren: wenn nämlich die Pacht¬
zinse auch nachher in natura bezahlt wurden, wie es z. B. in
manchen Gebieten Nordwestdeutschlands 1 und Italiens 2 der Fall
war, wo der Teilbau in der Form der Getreidepacht eingeführt
wurde. Nur daß ein größerer Überschuß über den eigenen Be¬
darf herausge wirtschaftet wurde (durch Einsetzung des Eigen¬
interesses) und damit der Verkauf landwirtschaftlicher Produkte
zu gleicher Zeit möglich und notwendig wurde. Überdies ver¬
band sich die Deform des Verwaltungssystems in der Mehrzahl
der Fälle wohl mit einer Umwandlung der Natural- in Geldzinse.
Die hier geschilderten Vorgänge haben sich mit großer Gleich¬
förmigkeit in allen Ländern Europas vollzogen und sind von der
Forschung ziemlich klargelegt worden. Aus der umfassenden Literatur
will ich nur ganz wenige Werke anführen, die mir besonders guten
Aufschluß *u geben scheinen.
Gesamtdarstellungen für Europa: S. Sugenheim, Geschichte der
Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa. 1861. (Teil¬
weise veraltet.) Kowalewsky, a. a. 0.
In Frankreich soll die Umwandlung schon im 9. Jahrhundert ein-
setzen und im 12. im wesentlichen abgeschlossen sein nach Flach,
Origines 2, 87 ff. Aber es bestanden natürlich „ Vülikationen“ weiter,
namentlich auf den großen Klosterbesitznngen, wo die Eigenverwaltung
erst im 13. Jahrhundert sich auflöst: H. D’Arbois de Jubainville,
Etudes sur l’etat interieur des Abbayes cisterciennes (1858), 309 f.
In England findet die entscheidende Wandlung nach Seebohm,
Vill. Comm., p. 75, zwischen Liber niger (1125) und Hundred Rolls
1 W. Witt ich, Grundherrschaft, S. 312 ff. 317 ff.
2 E. Poggi, Cenni storici delle leggi sull’Agricoltura (1848) 2,
184 ff. ; C. F. von R umohr, Ursprung der Besitzlosigkeit des Colonen
im neuen Toskana (1830), S, 110 ff. (Urkundensammlung für die Zeit
nach 1250),
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 105
(1279) statt; nach dem Herausgeber des Registrum Prioratus Beatae
Mariae Wigorniensis (Will. Haie Haie, Cambden Soo. 1865) erst
zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und dem Yalor Ecclesiasticus
von 1534. Das ist wohl in dieser Allgemeinheit nicht richtig.
Ashley, Wirtsch. Gesell. Englands (§§ 3. 4), dessen Quelle im wesent¬
lichen das eben genannte Registrum ist, setzt die Umwandlung der
Natural- in Geldzinse in den Anfang des 13. Jahrhunderts. Auch in
England wird sich die Reform auf den weltlichen Grundherrschaften
früher als auf den geistlichen vollzogen haben. Die gewerblichen
Leistungen sind in England wahrscheinlich früher als irgendwo anders
abgelöst -worden. In den Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts sind
sie schon sehr selten. Diese Ansicht teilt Meitzen, Siedlungen
2, 132, der sie sogar auf alle Abgaben und Dienste ausdehnt. Vgl.
auch Kowalewsky 3, 164 ff. Im Cart. Mon. Rameseia (13. Jahr¬
hundert) z. B. sind aber die landwirtschaftlichen Naturalleistungen
noch völlig intakt. Ygl. auch Gust. F. Steffen, Studien zur Ge¬
schichte der englischen Lohnarbeiter (1901), 174 ff.; R. M. Garnier,
History of the english landed interest (1908), 214 ff.
Tri Italien dürfen wir wohl den Anfang der geschilderten Um¬
wandlung in das 11. Jahrhundert oder noch früher verlegen. Siehe
z. B. die Urk. der Abtei Ripa aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts
bei Kowalewsky 3, 352. Im übrigen vergl. außer der in Anm. 2
auf S. 104 genannten Literatur etwa noch G. Bianchi, La proprietä
fondiaria e le classi rurali nel medio evo etc. (1891), p. 51 ff., wo die
ältere Literatur verarbeitet ist.
Die Entwicklung in Belgien hat dargestellt Brants, Essais
historiques sur la condition des classes rurales en Belgique, 1880.
Für Deutschland kommt zunächst die Darstellung bei Lam-
precht, DWL. 1, 620 ff. 947; 2, 587 ff, und Inama, DWG. 2,
167 ff 204 ff. in Betracht. Aus der nachher erschienenen Literatur sind
hervorzuheben: Wittich, a. a. O. S. 312 ff 317 ff., und Meitzen
2, 139 ff. 599. Außerordentlich lehrreich die Darstellung bei
Kötschke, a. a. O. S. 133 ff. und öfters.
Insbesondere für die österreichischen Lande siehe Dop sch in der
Einleitung zu den von ihm herausgegebenen „Landesfürstlichen Urbaren
Nieder- und Oberösterreichs aus dem 13. und 14. Jahrh.“ (Österr.
Urbare I, 1. 1904) S. C XII ff. CXC ff. CCXI ff. Auch hier in Öster¬
reich der spätere Übergang der geistlichen Grundherrschaften. „Hier
scheint im Werden, was bei den landesfürstlichen Grundherrschaften
abgeschlossen war.“ D. weist nach, daß die Entwicklung Österreichs
im 13. Jahrhundert ebenso weit vorgeschritten ist wie in den anderen
deutschen Territorien (S. CXCI).
Diese Umgestaltungen - sind offenbar dem bewußten Willen
der Grundherrn entsprungen. Dieser Wille erklärt sich zunächst
und vor allem aus dem Bedürfnis , die Erträgnisse des Grund
und Bodens zu steigern und diese Erträgnisse nach freier Wahl,
insbesondere auch zur Beschaffung kostbarerer Gebrauchsgüter
Verwenden zu können. Daher die Vorliebe für die Geldform,
106
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Das Streben nach gesteigerten Gelderträgen wiederum war die
Folge einer allgemeinen Höherbewertung der bequemen, präch¬
tigen oder luxuriösen Lebensführung, Avie wir sie im 11. und
12. Jahrhundert allgemein in Europa beobachten können: eine
Äußerung des neu erwachenden Geistes, den wir noch oft auch
in anderen Dichtungen am Werke sehen werden.
Diese Tendenz der oberen Schichten, auch des Klerus, zur
„Verweltlichung“ , wie wir ganz schlicht es ausdrücken können,
wurde nun unterstützt durch eine Reihe äußerer Umstände, die
teilweise jener Tendenz selbst ihre Entstehung verdankten, teil¬
weise auf andere Ursachen zurückzuführen sind. Die wichtigsten
sind folgende :
1. die Steigerung des Reichtums, die sich zweifellos seit
dem 11., dann vor allem im 12. Jahrhundert in starkem Maße fühl¬
bar macht. Die Zeiten sind ruhiger geworden. Die Plünderungen
haben aufgehört. Die Einöden beleben sich mit Ansiedlern, die
sich zumeist auf herrschaftlichem Grund und Boden niederlassen.
Die landwirtschaftliche Arbeit wird produktiver. Seit der
zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts steigt (im westlichen Deutsch¬
land) die Intensität des Anbaus durch Übergang zur Pflege
größerer Spezialkulturen; seit der Mitte des 12. Jahrhunderts
wird der Terrassenbau für Weinberge, und ein wenig später der
Neubruch von Wiesen eine gewöhnliche Form der Urbarmachung1.
Der Ackerboden wird allmählich besser bestellt: mit drei und
vier Pflugarbeiten. Die Düngung wird intensiver. Man beginnt
mit dem Anbau von Futterkräutern2.
In Italien werden Weinstock und Olive wieder gepflanzt3.
In England folgen sich die Rodungen seit dem 12. Jahr¬
hundert rasch hintereinander ; das Dreifeldersystem ist mindestens
seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in raschem Vordringen4.
Aus Frankreich hören wir ähnliche Kunde. Daß sich jeden¬
falls am Ende des 12. Jahrhunderts die doppelte Bepflügung des
Winterfeldes eingebürgert hat, bestätigen uns die Urkunden5.
In den Niederungen des Rheins, bei Holländern und Flämingen ,
1 Lamprecht, DWL. 1, 148 f.
2 Lamprecht, DWL. 1, 529 ff. 557 ff. nach dem MRh. UB. 1,
650; 3, 504.
8 C. Bertagnolli, Delle Vicende dell’agricoltura in Italia (1881).
p. 180.
4 Siehe die Belege bei Kowalewsky 3, 169 ff.
5 Siehe z. B. die Urk. bei Guerard, Pol. d’Irm. 1. 383.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
107
blühte eine Ackerwirtschaft des Moor- und Sumpfbodens, die
durch zahlreiche Kolonisten dieser Stämme in die Elblandschaften
und bis tief in den Osten getragen wurde h
Die gewerbliche Arbeit aber wurde produktiver vor allem in¬
folge der fortschreitenden Spezialisierung. Yon grundstürzenden
Änderungen der Technik ist uns nichts bekannt. Aber die zu¬
nehmende Spezialisation genügte zweifellos, wie die Handfertig¬
keit ebenso die Leistungsfähigkeit der natürlich gleichfalls
spezialisierten Produktionsmittel dermaßen in ihren Wirkungen
zu heben, daß der produktive Erfolg beträchtlich größer wurde.
2. die immer häufiger und enger werdenden Beziehungen
zum Orient. Daß sie es waren, die die weltliche Stimmung,
die Freude an behaglicher und prächtiger Lebensführung gleich¬
sam auslösten, ff eimachten ; daß sie erst zeigten, wie man denn
die zuwachsenden Leichtümer zum eigenen Vorteil verwenden
könne, ist bekannt.
3. die Auflösung der Vita communis in den Kapiteln
und Abteien. Diese beginnt in den Kapiteln schon im 10. Jahr¬
hundert, wird dann immer wieder aufzuhalten versucht (asketische
Reaktion gegen die „Verweltlichung“ der Geistlichkeit im 11. und
12. Jahrhundert!), ist aber im 13. Jahrhundert eine vollendete
Tatsache1 2. Man kann sie in Zusammenhang mit der allgemeinen
Wendung zu einer mehr weltlichen Wertung des Lebens
bringen. Der Wunsch nach einer freieren Lebensführung trifft
sich mit dem Wunsche , die reichen Einkünfte, über die die
Kapitel verfügten, mehr zu genießen, als es die „kanonisch“
einfache Lebenshaltung ermöglichte. Zu diesen allgemein
wirkenden Ursachen treten bei den bischöflichen Kapiteln
folgende besondere Gründe hinzu. Im 11. Jahrhundert, zum
Teil noch früher, hatten die Bischöfe ihre Diözesen in ver¬
schiedene Bezirke eingeteilt und diese den Geistlichen ihrer
Bischofskirche zugewiesen. Dadurch waren die Domkanoniker
zu Archidiakonen, zu kirchlichen Würdenträgern geworden und
hatten eine besondere Stellung vor allen Diözesangeistlichen ge¬
wonnen. Das aber wurde" ein Hauptgrund für die Zerstörung
1 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit 2, 46.
Im übrigen geben die landläufigen Geschichtsdarstellungen der Land¬
wirtschaft den etwa noch gewünschten Aufschluß.
2 Siehe Ph. S chneider, Die bischöflichen Domkapitel, ihre Ent¬
wicklung und rechtliche Stellung im Organismus der Kirche (1885),
S. 41 ff.
108
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
ihrer mönchisch-einfachen Lebensweise : für hohe kirchliche
Würdenträger wurde es auf die Dauer unmöglich, daß sie wie
Mönche lebten1. Die Umwandlung der Lebensweise bestand
aber darin, daß die täglich gelieferten Rationen in ein festes
Jahreseinkommen umgewandelt wurden, ferner daß von nun ab,
im Gegensatz zu früher, als die Präbende wesentlich in zu¬
bereiteten Speisen und Getränken bestand , den Domherren die
unbereiteten Naturalien, die er verkaufen mußte, und in steigendem
Maße Geld geliefert wurde. Jeder Domherr hatte nun sein Haus
— seine Curia — und der Besitz des Hauses bedingte eine
eigene Dienerschaft und vor allem eine eigene , von vorn¬
herein auf Einbeziehung in den Marktverkehr zugeschnittene
Wirtschaft. Ganz ähnlich vollzieht sich die Entwicklung der
zahlreichen Kanonissenstifter 2. Diese Auflösung der Vita com¬
munis half naturgemäß die Auflösung der alten Villikations-
verfassung beschleunigen.
Eine ähnliche Umbildung erfährt die Organisation der Klöster
und Abteien, und zwar augenscheinlich aus gleichen Gründen.
Seit dem 10. und 11. Jahrhundert „verweltlichen“ die Äbte: die
„Abteien wandelten sich damals mehr und mehr in reichsfürst¬
liche Institute mit weltlichen, politischen Zwecken um“. Die
Lebensziele und die Lebensführung der Äbte, denen die Ver¬
folgung dieser Zwecke zufiel, trennten sich von denen der
Mönche ; ihre fürstliche Hofhaltung entfernte sich von dem ein¬
fachen Mönchshaushalte. So kam es naturgemäß auch zu einer
Aufteilung des Klostergutes zwischen Abt und Konvent: die
einzelnen wichtigen Klösterämter werden mit besonderen Ein¬
künften ausgestattet, mit denen sie die Brüder zu ernähren
haben, während dem Abte andere Güter Vorbehalten bleiben,
die zur Bestreitung seines fürstlichen Aufwandes dienen. Alles
bei gleichzeitiger Umwandlung der Dienste in feste Abgaben.
„So gibt es statt des ursprünglich einheitlich verwalteten Kloster¬
gutes jetzt eine Anzahl von einander gesonderter Gütermengen,
deren jede für sich verwaltet wird.“ Aber auch im Innern der
1 Diese Zusammenhänge sind dargestellt von A. Bräckmann,
Geschichte des Halberstädter Domkapitels im Mittelalter in der Zeit¬
schrift des Harzvereins 32 (1899), 2. Rud. Bückmann, Das Dom¬
kapitel zu Verden im M.A. (1912), 16 f. Vgl. Schulte, Adel und
deutsche Kirche (1910), 274 ff.
2 Anschaulich geschildert von K. Heinr. Schäfer, Die Kanonissen¬
stifter im deutschen M.A. (1907), 191 ff.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
109
Klöster vollzog sich, eine Wandlung: das klösterliche Leben
wurde stark individualisiert; „der pfründenmäßige Charakter der
Stellen im Kloster prägte sich aus“1. Manche Klöster, wie zum
Beispiel die Abtei Werden a. d. Ruhr, wandelten sich schließlich
in Stifte um und die Stifte selbst nahmen vielfach im Laufe
der Zeit den Charakter von Yersorgungsanstalten für die jüngeren
Söhne des Herren- und Ritterstandes an, in welchen Bällen sie
ganz verweltlichten2.
Also auch von hier aus entwickeln sich Antriebe zur Aus¬
dehnung der tausch- und verkehr swirtschaftlichen Beziehungen.
4. die Tatsache, daß im 10. und 11. Jahrhundert die Edel¬
metallproduktion, vor allem also die Silbergewinnung, sich
neu belebt3. Seit dem Ende des 10. Jahrhunderts beginnen die
Erschließungen gerade der für das Mittelalter wuchtigsten Silber¬
minen (Gfold spielt in jener Zeit wirtschaftlich keine Rolle): in
Schlesien , im Harz (Gfoslar , Klausthal) , in Sachsen (Ereiberg),
in Kärnten, im Salzburgischen, in Böhmen, im Elsaß usw.
Da ich der Entwicklung der Edelmetallproduktion eine große
Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus beimesse , so
handle ich ausführlich darüber dort, wo ich schildere, wie die
1 R. Kötzschke, Studien z. Verwaltungsgesch. der Großgrund¬
herrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 114, wo diese Umbildung der
Klosterverfassung besonders eingehend und lebendig geschildert wird.
Über die allgemeine Entwicklung: G. Matthaei, Die Klosterpolitik
Heinrichs II. (1877), 14 ff.; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutsch¬
lands, 3, 814 (1906), 443 ff.
2 Arnold, Verf.Gesch. der deutschen Freistädte 2, 162 f. ; vgl.
Kötzschke a. a. O.
3 Unsere Kenntnis von der frühen Geschichte des Bergbaus auf
Edelmetalle ist außerordentlich dürftig. Was an Quellenmaterial vor¬
handen ist, wird man an folgenden Stellen gesammelt finden: Will.
Jacob, Über Produktion und Konsumtion der edlen Metalle; übers,
von C. Th. Kleinschrod (1838) S. 151 ff. Der Übersetzer hat
wertvolle Zusätze gemacht. Soetbeer, Beiträge z. Gesch. des Geld-
und Münzwesens in Deutschland in den Forschungen zur deutschen
Geschichte, Bd. I. II. IV. VI. A. Hanauer, Etudes economiques
sur l’Alsace ancienne et moderne. 2 Vol. 1876. 1878. Inama, DWG.
2, 330 f. Dop sch 2, 173 f. Ich trage noch nach: Ad annum 963 :
Widukind cap. 63: „terra Saxonia venas argenti aperuerit“.. MG. SS.
3, 462 ; ad 961 : Thietmari Chron. cap. 8 : „temporibus suis aureum
illuxit seculum; apud nos inventa est primum vena argenti“. MG. SS.
3 747. Über die Urzeit unterrichtet Matth. Much, Prähistorischer
Bergbau in den Alpen in der Zeitschr. des deutsch, u. österr, Alpen-
Vereins 1902, S. 1 ff.
HO Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
„Vorbedingungen“ des Kapitalismus erfüllt worden sind. Die
Edelmetallproduktion ist aber auch schon von Einfluß gewesen
auf den Entwicklungsgang des vorkapitalistischen Wirtschafts¬
lebens und hat insbesondere bei der Umbildung der Eigenwirt¬
schaft in die Tauschwirtschaft eine nicht unbedeutende Dolle
gespielt. Deshalb muß ihrer schon an dieser Stelle Erwähnung
geschehen. Und zwar soll hier zunächst auf diejenige Wirkung
einer Vermehrung des Edelmetallvorrats hingewiesen werden,
die sich ebenfalls in einer „Verweltlichung“ der Lebensauffassung
äußert: die rasche Bereicherung, die stets mit einer plötzlichen
Steigerung der Gold- und Silberproduktion verbunden ist, weckt
und vergrößert die Begierde nach dem Gelde, vermehrt die Beize
des Reichtums und erhöht die allgemeine Bewertung des Geld¬
besitzes. Wir erfahren seit den frühesten Zeiten, wie eine Er¬
schließung reicher Minen immer dieselben Seelenstimmungen
ausgelöst habt.
Nun reicht aber auch in dem uns vorliegenden Problem¬
komplexe die Bedeutung einer Vermehrung der Edelmetall¬
produktion weit über diese Stimmungsmache hinaus, sofern sich
nachweisen läßt, daß die ganze Umbildung der sozialen Organi¬
sation ohne sie nicht hätte erfolgen können.
AVollen wir uns aber die Rolle klar machen, die bei diesen
Umbildungen die Vermehrung der Edelmetallproduktion gespielt
hat, so müssen wir einige wirtschaftswissenschaftliche Begriffe revi¬
dieren beziehungsweise richtig fassen, die wir bei der Feststellung
der in Frage kommenden Zusammenhänge dringend benötigen.
In vielen Köpfen nämlich — namentlich wohl der Historiker —
laufen die Begriffe Eigenwirtschaft und Naturalwirtschaft
einerseits, Tauschwirtschaft und Geldwirtschaft anderer¬
seits ineinander, wodurch schlimme Konfusion entsteht. Eigen¬
wirtschaft und Naturalwirtschaft sind ebensowenig dasselbe wie
Tausch- und Geldwirtschaft, und Gegensätze sind nicht Eigen¬
wirtschaft und Geldwirtschaft, Naturalwirtschaft und Tausch¬
wirtschaft, sondern nur Eigen- und Tauschwirtschaft, Geld- und
Naturalwirtschaft. Was jene bedeuten, haben wir im Verlaufe
dieser Darstellung, denke ich, zur Genüge uns klar gemacht.
Die Ausdrücke Geld- und Naturalwirtschaft dagegen können nur
den Sinn haben, daß jene eine Wirtschaftsverfassung bezeichnet,
bei der neben den Gebrauchsgütern ein Geldgut auftritt, während
Naturalwirtschaft ohne dieses geführt wird. Sofern nun schon
ein Geldgut besteht, wenn in irgendwelchem Gute der Wert
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
111
anderer Güter geschätzt, gemessen und ausgedrückt wird, so ist
ersichtlich, daß es ztnn Vorhandensein des Geldes keiner tausch¬
wirtschaftlichen Organisation bedarf, wenn etwa der Geldausdruck
und das Geldgut nur bei der Erlegung von Bußen, der Erhebung
von Steuern usw. in die Erscheinung treten. Auch wenn bei¬
spielsweise im Rahmen einer grundherrschaftlichen Organisation
die Abgaben in Geld umgewandelt werden, wenn der Arbeits¬
lohn statt in Konsumgütern in Geld bezahlt wird , wenn Zölle
statt in Waren in Geld eingenommen werden, so bedeuten alle
diese Wendungen zwar einen Übergang von der „Natural“- in die
„Geld“wirtschaft, keineswegs aber auch notwendig einen Über¬
gang aus eigenwirtschaftliche in tausch wirtschaftliche Verhältnisse.
Auf der anderen Seite kann eine Tauschwirtschaft bestehen in
friedlichem Einvernehmen mit einer Naturalwirtschaft. Denn der
Tausch kann ohne Vermittlung des Geldes erfolgen, die Pacht¬
sätze können in Bodenprodukten statt in Geld festgesetzt sein,
die Arbeitslöhne können in Nahrungsmitteln gezahlt werden:
alles inmitten einer grundsätzlich tauschwirtschaftlichen Organi¬
sation.
Muß man die Begriffe Eigen- und Naturalwirtschaft, Tausch¬
und Geldwirtschaft scharf trennen , so kann zugegeben werden,
daß die eigenwirtschafbliche Organisation und die Naturalwirt¬
schaft ebenso wie die tauschwirtschaftliche Organisation und die
Geldwirtschaft in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis von¬
einander stehen: geldwirtschaftliche Verhältnisse bewirken oder
befördern eine Auflösung der Eigenwirtschaft und erzeugen oder
festigen tauschwirtschaftliche Beziehungen, ebenso wie um-
o-ekehrt die Tauschwirtschaft aus sich heraus Tendenzen zur
Geldverwendung entwickelt.
Halten wir uns diese Zusammenhänge deutlich vor die Augen,
so vermögen wir nun auch einzusehen, worin die Bedeutung der
Edelmetallproduktion für die hier verfolgte Umbildung
der Eigenwirtschaft in die Tauschwirtschaft beruht. Eine
Vermehrung des Edelmetallvorrats bewirkt zunächst (a) die Er¬
setzung anderer Geldgüter durch Gold und (in diesem Fall) Silber,
dank der diesen Gütern anhaftenden technischen Vorzüge. Erst
mit der Einbürgerung der edlen Metalle als Geld wird dieses so
dauerbar, hochwertig und beweglich, daß es bei ortsfernem Güter¬
tausch verwendet werden kann, den es also damit erst ermöglicht.
Dasselbe gilt von einer einigermaßen, das heißt bis zur berufs¬
mäßigen Ausübung, fortgeschrittenen Spezialisation der produktiven
112
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaitei'
Tätigkeit. Ein gewisser Vorrat an Metallgeld ist also notwendig,
damit diese Vorbedingungen tausclr wirtschaftlicher Organisation
erfüllt werden, und diese hat einen um so größeren Spielraum,
sich zu entfalten, je größer jener Vorrat ist.
Aber die Vermehrung des Edelmetallvorrats wirkt — wenig¬
stens in einem Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung wie
es Europa im 10. und 11. Jahrhundert erreicht hatte, das heißt
zu einer Zeit, in der das Volk die Periode der Fortbildung
überwunden hat und die Edelmetalle schon im wesentlichen als
Geldgut wertet — , noch unmittelbarer zersetzend auf die Eigen¬
wirtschaft, das heißt also, die Tauschwirtschaft befördernd ein. Und
zwar dadurch zunächst, daß sie (b) an bestimmten Stellen im Lande,
eine Nachfrage nach Gütern erzeugt, die durch Kauf erworben
werden sollen, so daß sie also für den Austausch erzeugt sein
müssen. Nun wird sich zwar in einer Sachlage wie der, in der sich
die Menschen jener Epoche befanden, diese Nachfrage zunächst
auf solche Güter richten, die aus wirtschaftlich höher stehenden
Gebieten stammen und auf dem Wege des ortsfernen Handels
in die unentwickelteren Gegenden gebracht werden: das waren
die Orientgüter. Aber im Laufe der Zeit wird die aus dem
Nichts erwachsende Nachfrage der Edelmetallproduzenten auch
im eigenen Lande zur Produktion für den Absatz anregen.
Dazu kommt nun, daß durch einen reicheren Zustrom von
Edelmetallen (c) eine Reihe von geldwirtschaftlichen Beziehungen
geschaffen werden, die ihrerseits wiederum die tausch wirtschaft¬
liche Organisation fördern. Ich meine die Verwandlung der
Naturalzinse in Geldzinse, (oder gar ihre Ablösung durch Zahlung
einer Hauptsumme), der Naturallöhne in Geldlöhne, der Natural¬
zölle in Geldzölle , und die Einführung der Geldsteuern. Alle
die in diesen Maßnahmen enthaltenen Verpflichtungen zur Geld¬
leistung setzen mit Notwendigkeit das Vorhandensein einer Mindest¬
menge der Geldware voraus und können um so leichter auferlegt
werden, je mehr Metallgeld unter die Leute kommt: die vorher¬
gegangene Tauschwirtschaft ermöglicht so wiederum die Geld¬
wirtschaft. Wird diese nun aber in der gedachten Weise durch¬
geführt, so befördert sie dann natürlich wieder die tausch wirt¬
schaftlichen Beziehungen: der zur Geldleistung Verpflichtete
wird gezwungen, Verkäufer zu werden, der zum Empfang der
Geldleistung Berechtigte wird in den Stand gesetzt, Käufer zu
werden, wie wir das an anderer Stelle schon festgestellt haben.
Es mag endlich daran erinnert werden, daß die Vermehrung
113
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
des Geldvorrates infolge der gesteigerten Edelmetallproduktion
noch andere geldwirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen o 61
ins Große auszugestalten geeignet war, die ihrerseits wieder
direkt oder indirekt dazu beitrugen, die Eigenwirtschaft zu zer¬
stören. Ich meine (d) die Ausbildung der Geldleihe, die in diese
Jahrhunderte fällt und ihr gut Teil dazu beigetragen hat die
feudale Gesellschaft und die ihr angemessene eigenwirtschaftliche
Organisation aufzulösen. Da ich von ihr in anderem Zusammen¬
hänge noch ausführlich sprechen werde, erübrigt an diesei
Stelle ein näheres Eingehen. Erwähnen wenigstens will ich hier
noch, daß auch (e) die bedeutungsvolle, die Bande der Eigen¬
wirtschaft zerreißende Einführung geldgelohnter Truppen, der
„Soldati“, an die Voraussetzung einer voraufgegangenen starken
Vermehrung der Edelmetallproduktion geknüpft gewesen ist.
* *
sN
Alle jene Tendenzen, die auf die Umgestaltung des Wirt
schaftslebens in eine tauschwirtschaftliche Organisation hin-
drängen, erfahren nun aber eine ungeheure Verstärkung durch
dasjenige Ereignis, dem ja auch in anderer Hinsicht überragende
Bedeutung innewohnt: durch (5.) die Entstehung der Stä e.
Über sie , die recht eigentlich (nicht etwa , wie man woh ge¬
glaubt hat, die Kinder, sondern) die Mütter der Tauschwirtscha
und der auf ihr aufgebauten handwerksmäßigen Ordnung des
Wirtschaftslebens sind , über sie und die Gründe ihres Werdens
und Wachsens spreche ich ausführlich in den folgenden Kapiteln.
Hier muß ich aber einen Augenblick noch verweilen bei den
Neugestaltungen , die durch die sich entwickelnde Tauschwirt¬
schaft die Struktur der Gesellschaft erfährt, muß erst noc
einiges aussagen über die Träger der neuen Wirtschaftsverfassung:
über Händler und Handwerker.
HI. Die Vorstufen des berufsmäßigen Handels
Tauschwirtschaft bedeutet noch keinen Handel, bedeutet noch
kein Handwerk. Das heißt: die einzelnen Wirtschaften können
durch das Band des Tausches (mit oder ohne Vermitt ung es
Geldes) verknüpft sein, ohne daß darum die tauschvermittelnde
(händlerische , kaufmännische) oder die gewerbliche (handwerk¬
liche) Tätigkeit berufsmäßig von besonderen Gruppen der Be¬
völkerung ausgeübt werden müßten. Die gewerbliche Tätigkeit
kann sich mit landwirtschaftlicher paaren, wie es sichei m allen
T 8
Sombart, Der moderne Kapitalismus. 1.
114
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Anfängen der Tauschwirtschaft auch während des europäischen
Mittelalters die Regel bildet; die 'kaufmännischen’ Funktionen
können von den Produzenten selbst ausgeübt werden. Auch
das ist in den Anfängen tausch wirtschaftlicher Organisation wohl
der normale Fall, wenigstens dort, wo es sich um ortsnahen
Austausch handelt. Was Bauern, Gutsherrn und Gewerbetreibende
im engen Bereich der Landschaft untereinander auszutauschen
haben, ist ja bis in unsere Zeit von ihnen selbst — ohne Ver¬
mittlung eines Händlers — ausgetauscht worden. Aber wir er¬
fahren auch, daß in den frühen Zeiten des Mittelalters über weite
Strecken die Güter von ihren Produzenten (oder deren Be¬
auftragten) selbst abgesetzt wurden.
Wir sehen die Handwerker mit ihren Erzeugnissen ortsferne
Messen beziehen (wovon ich in einem andern Zusammenhänge
noch zu sprechen habe). Wir begegnen den kleinen Salzschiffern
aus Venedig und Commacchio auf den Flüssen und an den Küsten
Italiens. Wir treffen die Mönche auf dem Wege zu entlegenen
Marktorten1 und lernen Bevollmächtigte der Kirchen und Klöster
kennen, die eigens angestellt sind, um den Tauschverkehr ihrer
Anstalten zu vermitteln, die deshalb geradezu als 'Kaufleute’,
'negotiatores’ bezeichnet werden, ohne darum natürlich etwas
anderes vorzustellen als Wirtschaftsbeamte der Stifte und Klöster2.
Und oft genug, wenn wir in den Quellen von Güterbewegung
und selbst von 'mercatores’ lesen, wird es sich um den Vertrieb
der eigenen Erzeugnisse handeln ; öfter vielleicht, als wir früher
1 Siehe die lehrreiche Instruktion für marktbesuchende Mönche,
die anhebt: „periculosum quidem est minusque honestum religiosis
frequentare nundinas“, die dann aber doch ihnen gestattet, hinzugehen,
aber längstens drei Tage auszubleiben im Nomast. Cisterciense ed.
Jul. Paris. (1670) p. 260/61.
2 Eigene „negotiatores“ der Klöster werden zum ersten Male er¬
wähnt in einer Urkunde des Klosters St. Denys vom Jahre 775, seit¬
dem öfters. Imbart de la Tour, Des immunites commerciales etc.
in den Etudes . . . dediees ä Cf. Monod (1896), p. 79. Wenn v. Below
(Ztschr. für Soz. u. W. Gesch. 5, 140 f.) den Versuch eines quellen¬
mäßigen Nachweises der Tatsache, daß auch in Deutschland die
Klöster usw. eigene „negotiatores“ besessen haben, als mißlungen
krtisiert- , so mag er recht haben. Daß aber die Einrichtung der
eigenen 'negotiatores’ überall, wo es größere Grundherrschaften gab,
bestanden hat, kann wohl von niemand in Zweifel gezogen werden,
der sich einmal in die Lage eines Klosters versetzt hat, das regel-
mäßig große Mengen eigener Erzeugnisse verkaufen und dafür von
weither andere Dinge einkaufen muß.
115
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft
o-eneigt waren, anzunebmen. Aber wir wissen heute doc i
wenigstens, daß wir nicht überall in den Texten des Mittelalters
cmercator ’ mit '■Kaufmann5 übersetzen dürfen, daß das Wort vielmehr
ebenso häufig den selbstproduzierenden Marktbesucher bedeutet .
Aber auch nachdem sich schon die Vermittlung des Waren¬
austausches als Verrichtung besonderer Personenkategorien neben
den Produzenten herausgebildet hat , dürfen wir nicht o ne
weiteres auf die Existenz eines berufsmäßigen Handels schließen.
Zwischen diesen und den unmittelbaren Güteraustausch von Pro¬
duzent und Konsument schieben sich vielmehr noch zwei andere
Entwicklungsstufen ein , die wir als V o r s t u f e n d e s b e r u t s -
mäßigen Handels bezeichnen können. Es sind die ö tuten
des Kaubhandels und des Gelegenheitshandels.
Der Kaubhandel ist der Zwillingsbruder des Kaubes. Er
besteht darin, daß (meistens berufsmäßig) Waren verkauft werden,
die von den Verkäufern weder produziert noch gekauft, sondern
durch Gewalt erworben worden sind. Man kann in diesem Falle
auch von einem einseitigen Handel sprechen. Wie bekannt, ist
das eigentliche Feld der Tätigkeit für den Kaubhandel das
Meer, wo er als Piraterie jahrtausendelang berufsmäßig ausgeübt
worden ist,
Nur mit zwei Schiffen ging es fort,
Mit zwanzig sind wir nun im Port ;
Was große Dinge wir getan,
Das sieht man unsrer Ladung an.
Das freie Meer befreit den Geist,
Wer weiß da, was besinnen heißt.
Da fördert nur ein rascher Griff,
Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff;
Und ist man erst der Herr zu drei,
Dann hackelt man das vierte bei;
Da geht es dann dem fünften schlecht ;
Man hat Gewalt, so hat man Kecht.
Man fragt ums Was? und nicht ums Wie.
1 Aus der umfangreichen Literatur über diese Frage sind zu ve
o-leichen: v. Maurer, Städte Verfassung 1, 322 ff. : Go.1^sc^m5, ’
Univ.Gesch. des Handelsrechts 1 (1891), 127 ff (mit reichen Quellen¬
belegen); W. V arges, Zur Entstehung der deutschen aStad(Jv®ria^L^S
in den Jahrbüchern iav NÖ., HI. F. Bd. VI (1894), S 172 ff 205 ff ;
S Rietschel, Markt und Stadt (1897), 42 ff 140 ff (Zusammen¬
fassung) und sonst öfters; v. Below, in der Zeitschrift für Soz. und
Wirtschaftsgeschichte 5, 138, in den Jahrbüchern für NO. 20, 23
H Pirenne, Villes , marches et marchands au moyen age , m
67 (1898), 64ff. K. Bücher, Eotrt. d. VW. ^
116 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
wie die geistvollste Abhandlung von dem Piratengewerbe es uns
gelehrt hat.
Daß alle handeltreibenden Völker vor und neben dem berufs¬
mäßigen Handel den Raubhandel gekannt, ist eine ebenso sicher
verbürgte Tatsache, wie es erwiesen ist, daß das europäische
Mittelalter von der Regel keine Ausnahme gemacht hat und
sogar die neueste Zeit mit der Piraterie noch als mit einer
allgemein verbreiteten Gewohnheit hat rechnen müssen.
Die Worte „lucrurn“ und „Lohn“ bedeuten ursprünglich nichts
anderes wie Beute, Kampfpreis. Schräder, 59. Über die All¬
gemeinheit des Raubhandels auf primitiven Kulturstufen sprechen
Schräder, 68 ff. ; Kulischer, Jahrbücher 18, 318 f. und öfters.
Viel Material, obwohl nicht immer gesichtetes, enthält K. Andre e,
Geographie des Welthandels 1 (1867), 314 ff. Vgl. auch Letourneau,
L’evolution du commerce (1897), 95 ff. 335 ff. In aller früheren Zeit
ist die Piraterie als ein durchaus statthaftes, nicht einmal unehrlich
machendes Gewerbe betrachtet worden. Bekannt ist die Anerkennung
der Piratenassoziation (eitl Xei'av) durch das solonische Gesetz sowie
noch durch den Staatsvertrag zwischen Chalaeum und Oeanthia in
Lokris. Goldschmidt, 27. Über den Raubhandel während des
Mittelalters und der Neuzeit spreche ich noch in anderm Zusammen¬
hang. Siehe Kap. 39. Die psychologische Notwendigkeit des Raubes
als einer dem Tausch voraufgehenden Art des Besitzwechsels ist in
feiner Weise entwickelt worden von G. Simmel, Die Psychologie
des Geldes (1900), 53 ff. Eine poetische Verherrlichung des Raubes
liest man in dem Beduinenroman „Anthar“. Translated from the Arabio
by Terrick Hamilton. 1819.
Eine zweite Vorstufe des berufsmäßigen Handels, die aber
Läufig neben jener eben erwähnten herläuft, ist diejenige Form
der Warenvermittlung, die ich den Gelegenheitshandel
nenne. Dieser wird dadurch gekennzeichnet, daß er zwar bereits
zweiseitiger Handel ist, das heißt also auf dem Einkauf von
Waren zum Zweck des Verkaufs beruht, daß ihm aber zur vollen
Wesenheit des Handels noch die Berufsmäßigkeit mangelt. Die
Handelstätigkeit wird vielmehr auf dieser Stufe gelegentlich,
gleichsam im Nebenberufe, von beliebigen Personen (die nur
nicht selbst die Produzenten der gehandelten Waren sind) aus¬
geübt. Auch der Gelegenheitshandel ist eine in allen primi¬
tiven Kulturen verbreitete Erscheinung (Häuptlingshandel!) und
spielt insbesondere im europäischen Mittelalter eine bedeutend
größere Rolle, als die bisherigen Darstellungen des mittelalter¬
lichen Handels vermuten lassen. Wie ich noch in anderem Zu¬
sammenhänge in diesem Werke glaube nachweisen zu können.
Eine besonders wichtige Form des Gelegenheitshandels ist
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 117
das, was man den Saisonhandel nennen könnte: der Handel,
den namentlich Bauern neben ihrer landwirtschaftlichen Tätig¬
keit ausüben. Ich glaube, daß diese Kreuzung zwischen Handel
und Landwirtschaft im frühen Mittelalter mindestens ebenso
häufig war wie zwischen Gewerbe und Landwirtschaft 1 2 * *.
IV. Die Anfänge des berufsmäßigen Handels
Nun würde man aber zweifellos irren, wollte man für irgend¬
eine Zeit des europäischen Mittelalters die Existenz auch b e -
rufsmäßiger Kaufleute oder wenigstens als solche geltender,
von den übrigen Bevölkerungsklassen scharf unterschiedener
Personen leugnen. Die Quellen gerade auch des frühen Mittel¬
alters stellen oft genug die Megotiatores5 bewußt in einen Gegen¬
satz zu den übrigen Bewohnern eines Ortes2 * * *, und auch die
Privilegien, die den ‘negotiatores’ namentlich in der Merowmger-
und Karolingerzeit zuteil werden, kraft deren sie vom König
ein eigenes (personales) Hecht erhalten, dem sie in allen Teilen
des Deiches unterstehen, macht die Annahme wahrscheinlich,
daß in jener' Zeit schon eine besondere Klasse berufsmäßiger
Händler dagewesen sei.
Wer waren diese Händler des frühen Mittelalters ? Zunächst
ihrer Herkunft nach?
Man kann zusammenfassend sagen : in den Amängen großen¬
teils Fremde. Anderen Nationen voran: die Syrer. Die nego¬
tiatores syrici bildeten bis zum Ausgang des 7. Jahrhunderts
des Bindeglied zwischen Asien und Mitteleuropa. „Bis heute
wohnt in den Syrern solch ein eingeborener Geschäftseifer, sagt
1 .Die gotischen Kaufleute (von der Insel Gotland), die Nowgorod
und England besuchten, wohnten alle auf dem Lande und waren
Bauern. ° Al. Bugge, a. a. 0. S. 267. Auch die „negotiatores
waren • ansässig und . . . bedurften der Weideländereien“. Hart¬
mann, Zu W.Gesch., 112, . , „ .
2 In Vico qui hodieque Trajectus (Maestncht a. 828) vocatur
est que Habitantium et praecipue negotiatorum multitudme
frequentissimus“. Eginardi Historia de transl. S. Marcellini c. 81
zit. bei Eerd. Henaux, Histoire du pays de Liege 1 (1872), lob.
Forum quoque quod erat ante portam -mediam (sc. Trevir.) con¬
stitutum et frequentia comprovincialium satis celebre et famosum orto
jnter cives et ne g o ti ato r e s gravi simultate, ex ®° lo°°
satiam translatum est.“ Gesta Trevirorum , 24. MG. SS 8, 162.
Gehört hierher auch die Wendung (MG. Dipl. No. 198) : „mhabitan nbus
aut in posterum habitaturis negotiatoribus sive{.) Judaeis ,
118
Dritter Abschnitt: Das Übexgangszeitalter
Martian in seinen Erklärungen zu Ezechiel, daß sie des Gewinnes
wegen die ganze Erde durchziehen; und so groß ist ihre. Lust
zu handeln, daß sie überall iin römischen Reich zwischen Kriegen,
Mord und Totschlag Reichtümer zu erwerben trachten.“ 1
Nach ihnen kamen die Juden, die nicht mit den syrischen
Kaufleuten gleichgesetzt werden dürfen, wie es Kiesselbach
tut. Auch sie waren ja „Fremde“ in allen Ländern Europas
geworden, nachdem sie aufgehört hatten, als cives Romani be¬
trachtet zu werden2. Die Erwähnung der Juden in den Quellen
des Merowinger- und Karolingerreichs in der fast stereotypen
Form „vel Judaei vel ceteri ibi manentes negotiatores“ ist so
häufig3, daß wir eine starke Beteiligung der Juden am Handel
jener Zeit ohne weiteres annehmen dürfen.
Außer den Juden: in Italien Araber, Libyer, Afrikaner4 5 und
Griechen6; in Spanien Nordafrikaner6; im Norden dieselben
Völker und dazu Italiener7. London wird im 8. Jahrhundert
„multorum emporium populorum“ genannt8. Ebenso Paris9.
Von den „transmarini negotiatores“ ist in den Quellen des frühen
1 W. Kiesselbach, Der Gang des Welthandels (1860), 25.
Vgl. Scheffer-Boichorst, Zur Geschichte der Syrer im Abend¬
lande (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts¬
forschung VI).
2 J. Schipper, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen
Juden (1907), 14. G.' Caro, Soz. u. WG. der Juden usw. 1
(1908), 53 ff. 128 ff. Vgl. noch besonders die gute Arbeit von
R. Saitschik, Beitr. zur Gesch. der rechtl. Stellung der J., namentlich
im Gebiete des heutigen Oesterr.-Ungarn vom 10. — 16. Jahrh., Berner
In.Diss. 1890, S. 2 ff.
3 Siehe z. B. Cap. de discipl. pal. 809. Cap. de Judaeis 814.
Cap. 832 (MG. Cap. Reg. Franc. 1, 363). Ansegisi Cap. (Cap. Reg.
Franc. 1, 410) MG. Dipl. No. 29. 198. 300.
Und vgl. Heyd, Lev.Handel 1, 87. Inama, DWG. 1, 448.
Goldschmidt, 107 ff. Schulte, 1, 77 f. Schaube (siehe Sach¬
register s. h. v.), J. Schipper, Anfänge usw., S. 15 ff.
4 Schaube, 33 (Amalfi) allerdings im 11. sc.
5 Davidsohn, Gesch. v. Florenz 1, 39 f.
6 F. Dahn, Bausteine 2, 301 f.
7 Schulte, Jacob, Heyd. Für das Frankenreich viele Hin¬
weise bei F. Dahn, Könige der Germanen VIII. 4, 232 ff.
8 Beda, Hist. eccl. bei Anderson, Orig, of Comm.
9 „de omnes nationes quod ibidem ad ipso marcado adveniunt“.
Urk. v. 769 bei Mabillon, de re dipl. p. 496, zit. von v. Maurer,
St.V. r, 254.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 119
Mittelalters die Rede1. In Bremen finden wir im 11. Jahrhundert
neo-otiatores qui ex omni terrarum parte“ gekommen waren .
” öAber wir hören doch auch frühzeitig von nordischen Völkern,
daß sie sich aktiv am Handel beteiligen, freilich ob als Berufs¬
händler oder nur als Gelegenheitshändler verraten uns die
Quellen nicht. ^ .. , ,
So treffen wir im 9. Jahrhundert auf den Donaumarkten
Sclavi, qui de Rugis vel de Boemanis mercandi causa exeunt“,
um hier Pferde und Sklaven gegen Wachs und anderes ein¬
zutauschen* 3. Wir begegnen russischen Kaufleuten aus Kiew,
Gernigow und Perejaslawl im 10. Jahrhundert m Konstantinopel,
wohin sie auf dem Dnjepr gefahren waren, um Seidenstoffe,
goldgewirkte Stoffe, Wein, Stiefel aus Saffian, Gewürze gegen
Pelzwerk, Wachs und Sklaven einzuhandeln4.
Und sicherlich haben sich den fremden Kaufleuten bald ein¬
heimische hinzugesellt, in dem Maße, wie die einzelnen Lander
sich wirtschaftlich hoben. Die aufkommenden Städte finden
schon überall einen Stamm einheimischer Händler vor, von denen
uns aber gelegentlich auch schon aus viel früherer Zeit die
Quellen Kunde geben . . .. n-i •. 6
Welcher Art der Geschäftsbetrieb dieser „Großhändler
in vorstädtischer Zeit war, werden wir uns auf Grund unserer
Kenntnisse vom Gesamtcharakter des Wirtschaftslebens leie
vorstellen können, auch wenn uns die Quellen nicht so reici-
liches Material an die Hand gäben, wie sie es tun. _
Es waren kleine Schnorrer, ‘Marktbesucher’, wie sie heute
noch auf den Jahrmärkten der kleinen Städte sich regelmäßig ein¬
finden, Packenträger, Hausierer, die mit ihrer Hucke ihr emSaum-
tier oder ihrem Karren von Dorf zuDorf, von Herrensitz zu Herren¬
sitz zogen, wie heute noch in abgelegenen Gebirgsgegenden, kleine
Schiffer, wie sie auf unsern Strömen längst ausgestorben smc
mit denen verglichen der Schiffer Wulkow ein Großreeder ist.
i Lex Wisigothor. lib. XI. tit. III.
3 tnqm de^theloneis Raffelstettensis (903—906) MG. Cap. 5, 251.
5 Man^enlm an den Hühner- Tkorir ! In den Gesetzen des Kg.
120
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Daß es keinen seßhaften Handel vor Entstehung der Städte gab,
jst wohl nicht zu bezweifeln. Die Regel seit dem 8. und 9. Jahr-
hundert wai dei Markt- und Meßhandel (über den ich im weiteren Ver¬
lauf noch einiges mitteilen werde). Vorher wird der H a u s i e r h a nd e 1
die Regel gebildet haben, der aber natürlich auch neben dem Markthandel
Weiterbestand: „omnium negotiatorum sive in mercato sive aliubi
negotientur“ (Cap. de disc. pal. 809. c. 2 Cap. Reg. Fr. 1, 158) be¬
stätigt auch „quellenmäßig“ seine Existenz.
Eine russische Urkunde nennt noch im Jahre 1190 die in Nowgorod
verkehrenden Gotländer „Waräger“. Bugge, a. a. O. S. 250. b Das
Wort ‘Waräger’ (BAPHL'B) existiert noch im Russischen; es bedeutet
„einen herumziehenden Krämer; Hausierer, Ankäufer“.
Die Ti ansportmittel zu Lande waren die Karre oder das Saumtier
(z. B. „cum carris et saumariis“ Dipl. Lud. P. a. 831 beiGuerard,
1, 787) oder der eigene Rücken (Sclavi etc. — siehe oben S. 119 _ -
„de onere unius hominis massiola una solvere cogantur“. MG.
Cap. 2, 251) oder (wenn irgend möglich) das Schiff? Der Handel
war Flußhandel, soweit es irgend die Verhältnisse gestatteten. Daher
schon frühzeitig das Streben der Grundherrn nach Flußhäfen : siehe
die zahlreichen Beispiele bei Imbart de la Tour, 1. c. p. 76 Für
das Vorwiegen des Flußhandels zeugt die Verwendung von ‘port’ und
Handelsplatz als Synonyma im frühmittelalterlichen England: Mait-
land, 1. c. p. 195 f. , dgl. von ‘portus’ in Flandern (poorter?)
Pi renne, Revue histor. 57, 75.
.Über ^en ^'ransPor*: zur See in jener Zeit handelt ausführlich
w it. freüiah unter vorwiegend technologischem Gesichtspunkte)
Walther Vogel, Zur nord- und westeuropäischen Seeschiffahrt im
frühen Mittelalter (Hans. Gesch.Bl. 1907, 1. Heft S. 153—205).
Uber den Umfang jenes frühmittelalterlichen Handels würden
wir uns ebenfalls schon ein deutliches Bild mit Hilfe der bereits mit¬
geteilten Tatsachen machen können. Er war natürlich winzig. FoKende
Angaben bestätigen die Richtigkeit dieser Annahme „quellenmäßig“:
Die Flußschiffe wurden gewöhnlich von drei Mann bedient: de
unaquaque navi legittima, id est quam tres homines navigant“. Raffelst.
ZollO. MG. Cap. 2, 251. Diesen Größenverhältnissen entspricht es
wenn wir hören, daß man die Bote an Pfählen befestigte, die jedesmal
Z*Ui ,,iesfm Zwecke erst eingeschlagen wurden. Priv." Bereng. II und
Adalb. (22. 9. 95l). Cod. Lang. No. 595 p. 1019; oder daß man sie,
um Stromschnellen zu entgehen, ein Stück über Land trug (bei der
Dnj epr- Schiffahrt), A. Bugge, a. a. O. S. 247.
In einem Handelsverträge , den ein byzantinischer Kaiser mit
russischen Kaufleuten abschloß (10. sc.), wurde diesen gestattet, einen
Monat in Konstantinopel zu verweilen. Doch durften nicht mehr als
50 Kautleute auf einmal kommen, und keiner durfte für mehr
als 50 Gulden Seidenstoffe einkaufen. Bugge, a a O
S. 246. 66
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 121
V. Die Anfänge des Handwerks
Und wie sckante es mit den ge werk licken ‘Handwerkern'
in der Hier betrackteten Epocke, also bis zum Beginn der Städte,
aus? Gab es freie Handwerker im Sinne von selbständigen ge¬
werblichen Produzenten? -
Ick fürckte, auf diese Prägen werden wir nie eine befriedigende
Antwort erkalten.’ Jedenfalls müßten ganz neue und unbekannte
Quellen erschlossen werden. Das Material, das wir heute be¬
sitzen, läßt aHe möglichen Deutungen zu.
Ziemlich klar sehen wir, wie sich die gewerblichen Arbeiter
auf den Grundherrschaften allmählich zu selbständigen Hand¬
werkern entwickeln : wie sie zuerst nur einen Teil ihrer Arbeits¬
kraft verwenden dürfen , um für das große Publikum gegen
Entgelt zu arbeiten: Status der lex Burg. 1 ; wie dann die Eigen¬
arbeit je mehr und mehr zur Hauptsache wird und dem Grund¬
herrn nur noch bestimmte Arbeiten in beschränktem Umfange
zu leisten sind : Status etwa des älteren Straßburger Stadtrechts ;
bis endlich auch diese Verpflichtungen ohne Gegenleistung ent¬
fallen oder dem Grundherrn abgekauft werden. Das Interesse
des Grundherrn an den gewerblichen Leistungen seiner Hinter¬
sassen erlosch und wurde verdrängt durch das Interesse an einem
regen Marktverkehr.
Aber ob es von jeher neben den gewerblichen Fronhof¬
arbeitern, die großenteils wie wir sahen im Dorfe saßen, „freie“
Handwerker gegeben habe , das scheint mir , können wir nur
vermuten2. Dafür spricht die Erwägung, daß es in den Dörfern
1 „Quicunque vero servum suum aurificem, argentarium, ferrarium,
fab rum aerarium, sartorem vel sutorem, in publico attributum artificium
exercere permiserit . . .“ Lex Burg. tit. XXI § 2.
2 Trotz des nun schon mächtig abgegriffenen „puer Parisiacus
cuius artis erat vestimenta componere“, der „ingenuus genere“ war
(Greg. mir. S. Martini 2, 58 bei Maurer, Fronhöfe 1, 181 und überall
sonst, wo von den „Anfängen des Handwerks“ die Rede ist). Denn
wir wissen , daß ein ‘homo ingenuus’ fronpflichtig sehr wohl sein
konnte. Verwechslung der persönlichen mit der Produktionsfreiheit!
Siehe „Mod. Kap.“ 1. Aufl. 1, 88. Noch viel weniger beweist natürlich
der ‘faber publice probatus’ der Lex Alam. LXXIV. 5 für die Existenz
eines „freien“ Handwerks. „Publice probatus“ heißt nicht etwa
„öffentlich geprüft“ oder so etwas Ähnliches, sondern nur „öffentlich“ =
allgemein erprobt und wird vom Arbeiter m dei herrschaftlichen "Wirt¬
schaft ausgesagt, wie neuerdings mit guten Gründen behauptet worden
ist von C. Ko ebne in der Vierteljahrschrift für Soz. und WG. 4,
122
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaiter.
doch, auch gewerbliche Arbeiter gab, auch schon in der Zeit der
Volksfreiheit, und daß sicher nicht alle Dörfer oder Dorfinsassen
in den grundherrlichen Nexus verstrickt wurden. Dafür spricht
eine gewisse Wahrscheinlichkeit (mehr nicht!), daß sich, wenig¬
stens in Italien, Beste des römischen Handwerks in das Mittel-
alter hinüber gerettet haben. Die besten Kenner des italienischen
Frühmittelalters nehmen es an* 1 (die Quellen schweigen vom 7.
bis zum 11. Jahrhundert!). Dasselbe gilt von den Bömerstädten
außerhalb Italiens. D afür spricht die Existenz von gewerblichen
Wanderarbeitern, die doch also unmöglich in irgendeiner Ab¬
hängigkeit von einem Grundherrn gestanden haben können.
Auf diese „Wanderhandwerker“ sollten die Forscher, deren
Spezialität „die Anfänge des Handwerks“ sind, ihr Hauptaugen¬
merk richten. Wenn überhaupt zwischen 500 und 1000 ein
„freies“ „Handwerk“ in nennenswertem Umfang bestanden hat,
so sicher in der Form des Wanderhandwerks, dessen Hauptver¬
treter wohl die Bauhandwerker gewesen sein werden. Ich ver¬
weise einstweilen auf folgende Quellenstellen:
Edict. Bothari (a. 643) ed. F. Bluhme, p. 29 (lex 144): „si
magister commacinus cum collegantes suos cuiuscunque domum ad
restaurandam vel fabricandam super se, placitum finito de mercedes,
susceperit.“ Wozu zu vergleichen wäre die Anmerkung, die Muratori
zu dieser Lex macht, und Thom. Hodgkin, Italy and her Invaders
600—744. 6 (1895), 191.
186 ff. Im Vorbeigehen: K. irrt, wenn er meint, der aurifex käme
nur in denjenigen Volksrechten vor, „wrnlche die lediglich auf römischen
Kulturgebieten sich niederlassenden germanischen Völkerschaften,
Burgunder und Westgoten, sich gaben“. Auch die Lex Salica X hat
den aurifex. Ganz unzulässig ist es aber, aus der Auffassung von
gewerblichen Arbeitern (faber, carpentarius etc.) als Zeugen in Ur¬
kunden auf ein selbständiges Handwerk zu schließen. Einen Überblick
über den Stand der Forschung gibt Walther Müller, Zur Frage
des Ursprungs der mittelalterlichen Zünfte. 1910. An diese Schrift,
die die S e e 1 i g e r sehe Auffassung vertritt , knüpft sich wieder ein
Streit; siehe v. Below in der Zeitschr. f. Soz.Wiss. 1912, in der
Vierteljahrs sehr. f. Soz. u. WG. 12 (1914); sowie Seeliger und
Sander in der Historischen Vierteljahrsschrift. 1913. Neue Er¬
gebnisse sind nicht zutage gefördert. Vgl. auch B. Eberstadt,
Entstehung des Zunftwesens. 2. Aufl. 1916.
1 L. M. Hartmann, Urkunde einer römischen Gärtnergenossen¬
schaft vom Jahre 1030 (1892), S. 1.0 ff. ; Derselbe, Zur Geschichte
der Zünfte im frühen Mittelalter in der Zeitschr. f. Soz. u. W.Gesch.
3, 109 ff. ; Derselbe, Zur W.Gesch. Italiens, S. 94 ff. (Daselbst
S. 16 ff. ist auch der an zweiter Stelle genannte Aufsatz wieder ab-
gedruckt.) Vgl. auch Hegel, Städteverf, Ital. 2, 61 ff.
Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 123
Liutprant Leges Anni VIII Cap. 18 (713—735) ed. Blulime,
p. 93: „si quis ad negotium peragendum vel pro qualicunque
artifioio intra provincia vel extra provincia ambola/verit et in ties
annos regressus non fuerit . . Urk. Ottos I. : „quanticunque negotia-
tores vel ar tific e s seu et Frisones apud Worm. urbem advenissent .
(Hier kann aber auch von Handwerkern die Eede sein, die ihre Er¬
zeugnisse nach Worms bringen; immerhin läuft es auf dasselbe hinaus,
■wenn sie (von wo anders her) nach Worms kommen konnten, mußten
sie Produktionsfreiheit besitzen, „frei“ sein, Handwerker sein.)
Freie Wanderhandwerker waren wohl auch, wenigstens zum l ei ,
die gewerblichen Arbeiter, die Karl d. Gr. bei seinen Bauten be¬
schäftigte: Ad cuius (basilicae) fabricam de omnibus cismannis regio -
nibus magistros et opitices omnium id genus artium advocavit. Super
quos unum abbatem cunctorum peritissimum ad executionem opens . .
constituit . . Provid . . Karolus quibuscumque pnmonbus . . praecepit, ,
ut opifices a se directos omni industria sustentare et cuncta ad opus
illud necessaria subministrare curarent. Qui vero ex longmquis partibus
advenissent, commendavit eos praeposito domus suae . . ut eos de
publicis rebus aleret et vestiret . . .“ Mon. Sang. Gesta Kar. Lib.
SS 28 31- Mon. Germ. SS. 2, 744. 745.
' Besonders lehrreich scheint mir auch folgender Bericht über den
Bau der Abtei Hyde in Hampshire , den ich noch nirgends verwertet
gefunden habe; der Bau fand im Jahre 902 statt und wird wie folg,
vom Chronisten beschrieben : . „ ,
Artificibus itaque plurimis et operariis coadunatis, jactisque iunda-
mentis, coeptum opus quotidie certatim acceleravit et m duobus anms,
SLd mirum est dictu et difficile videtur, perfecit. Hex autem magnam
pecuniam et largis diversarum specierum doms in argento et auro
sancto patri obtuht.“ Lib. Mon. de Hyda ed. Edward Edwards
( 1 8 Alsdann : Künstler und Arbeiter «wurden von auswärts angeworben
und mit Geld gelohnt. Das können nicht nur fronpflichtige Gewerb-
leute gewesen sein. Diese Stelle scheint mir besser a s irgendeine
andereSdas Vorhandensein eines „freien“ (W ander )Handwerks im 9. Jahr
hundert zu erweisen. Daß es sich in ganz bescheidenen Grenzen hielt
versteht sich von selbst. Aber da war es sehr wahrscheinlich Und
das ist bedeutsam geworden für den ganzen weiteren Verlauf dei
Geschichte.
124
Neuntes Kapitel
Zur Theorie der Städtebildung
I. Der Begriff der Stadt
Auf den ersten Blick scheint es fast, als ob das Wort „Stadt“
ziemlich eindeutig ein ganz bestimmtes Phänomen bezeichne.
Wenigstens steigt vor unserem geistigen Auge, wenn wir das
Wort nennen hören, ein klar umschriebenes Bild auf: das Bild
einer Ansiedlung vieler Menschen in Häusern und Straßen, wo¬
möglich mit Mauern und Zinnen umgeben, einer Ansiedlung, die
sich scharf gegen das „platte Land“ abhebt und die auf der
Landkarte mit einem mehr oder weniger großen Punkte be¬
zeichnet wird. Etwa das Bild Nürnbergs wie es uns Albrecht
Dürer gezeichnet hat. Schauen wir aber genauer hin, versuchen
wir mit Worten zu sagen, was wir unter einer „Stadt“ verstehen,
das heißt also: versuchen wir den Begriff der Stadt scharf
und eindeutig hinzustellen, so werden wir sehr bald gewahr, daß
das gar nicht so einfach ist. Wir merken, daß die Merkmale
des Begriffes Stadt keineswegs feststehen. Nicht im täglichen
Sprachgebrauch; aber auch nicht (oder vielmehr noch viel
weniger) in der Wissenschaft.
Um nur aus der Literatur über mittelalterliches Städtewesen
einige Beispiele anzuführen: am meisten verbreitet dürfte die
Definition v. Maurers sein: „Städte sind ummauerte Dörfer“,
die sich an den bekannten Spruch des Mittelalters anschließt:
„burger und gebauer zweiet nichts als zaun und mauer.“ Da¬
gegen protestiert ein anderer Gelehrter 1 : „Nicht Mauer und
Graben, nicht die Zahl der Einwohner, nicht die Blüte des
Handels und Gewerbes geben das entscheidende Kennzeichen
einer Stadt. Der frei von den Bürgern gewählte durch die be¬
treffende Oberbehörde bestätigte Stadtrat ist das sichere Kenn¬
zeichen der in ihre volle Blüte eingetretenen deutschen Stadt.
1 K. H. Roth von Schreckenstein, Das Patriziat in den
Städten (1856), 28.
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung 125
Ln Itatssiegel symbolisiert sieb nicht weniger als in der Mauer
der rechtlich anerkannte, organisierte Unterschied zwischen Stadt
und Land.“
Etwas anders gefärbt erscheint derselbe Gedanke bei
Kalls en1: „Nicht die Aussonderung eines Ortes von dem um¬
gebenden Lande durch eine ihn umschließende Mauer, sondern
das im Schutz der Mauer erwachsende, eigenartige auf selb¬
ständiger Gemeinde Verbindung beruhende Leben ist das Charakte¬
ristische der Stadt.“
Die Stadt ist ein Ort, dem Marktrecht verliehen ist; „die
Stadt ist eine Marktansiedluug“, sagen die Vertreter der Markt¬
rechtstheorie.
Noch andere verlangen, daß mehrere Merkmale Zusammen¬
treffen, um den Begriff „Stadt“ zu bilden: ein Ort muß be¬
festigt und er muß der Mittelpunkt eines Burgwards sein 2 ;
er muß befestigt, befriedet, im Besitze des usus negotiandi und
eine Korporation des öffentlichen .Rechtes sein3. „Die Stadt
hat einen Markt ... Sie ist von einer Befestigung umgeben.
Sie bildet einen besonderen Gerichtsbezirk . . . Sie besitzt
größere Unabhängigkeit in Gemeindeangelegenheiten und einen
größeren Reichtum der Gemeindeeinrichtungen ... als die Land¬
gemeinden . . . Sie ist endlich in bezug auf die öffentlichen . . .
Leistungen und Pflichten vor dem platten Lande bevorzugt . . .
Die Privilegierung ist überhaupt das Kennzeichen der mittel¬
alterlichen Stadt“ 4.
Sehr nett definiert Johann Heinrich Gottlob von Justi in
seiner „Staatswirtschaft“ (1758) Bd. I § 477 die Stadt: „Eine
Stadt ist ein Zusammenhang von Gesellschaften, Familien und
einzelnen Personen, die in einem verwahrten Orte unter Auf¬
sicht und Direction eines Policeycollegii , welches man einen
Stadtrat nennet, oder anderer zur Handhabung der Policey-
anstalten verordneten obrigkeitlichen Personen bey einander
wohnen, um mit desto besserem Erfolge, Wirkung und Zu¬
sammenhänge solche Gewerbe und Nahrungsarten zu treiben,
1 0. Kallsen, Geschichte der deutschen Städte, S. 238.
2 Seb. Schwarz, Anfänge des Städtewesens in den Elbe- und
Saalegegenden (1892), S. 10.
s W. Varges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in
den Jahrbüchern für Nat.wkon. III. F. 6, 164.
4 G. v. Below, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum
(1905), 4/5.
126
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
die unmittelbar sowol zu der Landes Notlidurft und Bequemlich¬
keit, als zu der Verbindung des gesamten Nahrungsstandes im
Lande erfordert werden.“ Jus ti analysiert dann seine Definition
wie folgt: „Verwahrt“ (durch Natur oder Kunst) muß eine Stadt
dergestalt sein, „daß der Zugang nur an einigen darzu ausdrück¬
lich bestimmten Orten, welche man Thore oder Pforten nennet,
geschehen kann; weil die zu dem Hauptmittel des Endzwecks
der Städte erforderlichen Policeyanstalten anderer Gestalt nicht
stattfinden können.“
Dagegen sind für die neuere Zeit beispielsweise folgende
Definitionen der „Stadt“ aufgestellt: vom Internationalen Statisti¬
schen Kongreß: „Städte sind Wohnplätze von mehr als 2000 Ein¬
wohnern“, eine Begriffsbestimmung, der die amtliche Statistik
in den meisten Kulturländern heute sich anschließt; von der
preußischen Städteordnung von 1858: „alle bisher auf dem Pro¬
vinziallandtage im Stande der Städte vertretenen Ortschaften ;
von einem gelungenen Amerikaner: „eine Stadt ist ein Ort, der
eine Universität besitzt“ 1 ; von einem jüngeren Rechtshistoriker :
„die Stadt ist die lokale Siedlungsform des großen sozialen
Kreises“2. In der umfangreichsten neueren Schrift, die dem
Problem der Städtebildung gewidmet ist und die beansprucht,
es vom Standpunkte der „Soziologie“ aus zu lösen, wird die
Stadt wie folgt definiert: «une societe complexe dont la base
geographique est particulierement restreinte relativement ä son
volume ou dont lelement territoriale est en quantite relativement
faible par rapport ä celle de ses elements humains» 3.
Es soll auch Leute geben, die über „Städte“, und was mit
ihnen zusammenhängt, reden oder schreiben, ohne sich überhaupt
der Mühe zu unterziehen, uns ihre Meinung darüber mitzuteilen,
was sie unter einer „Stadt“ verstanden wissen wollen.
Wer hat nun recht?
Man könnte versucht sein , angesichts der offenbaren Viel¬
deutigkeit des Begriffes „Stadt“, sich zu denen zu schlagen, die
überhaupt auf eine Definition verzichten. Wenn nicht in der
Literatur über das Städtewesen, namentlich aber in der über
1 Victor V. Branford, Science and citizenskips in The American
Journal of Sociology. May 1906. p. 733.
2 P. Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung (1906), S. 129.
3 Ren6 Mau nier, L’origine et la fonction economique des villes
(1910), 44. Dortselbst findet sich auf S. 34 und den folgenden auch
eine Zusammenstellung noch anderer früherer Definitionen der „Stadt“.
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung 127
die Geschichte der Inittelalterlichen Städte , gerade durch be¬
griffliche Unklarheiten so viel Unheil angerichtet wäre. Wir
werden uns also wohl oder übel zu einer bestimmten Auffassung
entscheiden müssen. Aber welcher?
Ich denke, zunächst werden wir einmal feststellen, daß die
Antwort: was unter einer „Stadt“ zu verstehen sei, verschieden
ausfallen wird, je nachdem die Merkmale uns von einer anderen
Stelle gegeben oder von uns erst zu schaffen sind. Jenes ist
der Fall , wenn wir Gesetzeskunde treiben , bestimmte Ur¬
kunden interpretieren wollen oder dergleichen. Selbstverständ¬
lich haben wir dann nur zu fragen: was ist eine „Stadt“ im
Sinne des Gesetzes vom . . ., was im Sinne der Urkunden (zum
Beispiel im ostelbischen Deutschland während des 9. und 10 Jahr¬
hunderts : was bedeutet hier urbs, civitas, oppidum usw.). Hier
ist die Begriffsbestimmung eine Interpretationskunst. Der von
der Wissenschaft durch Interpretation gewonnene Begriff mag
als analytischer Begriff bezeichnet werden.
Ganz etwas anderes ist es aber , wenn wir den Begriff
selbst bilden dadurch , daß wir beliebige Merkmale zusammen¬
stellen und zur Einheit zusammenfügen. Alsdann ist keine
Stadt da, ehe wir sie nicht gedacht haben1. Man kann
die diesem Yexffahren entspringenden Begriffe ganz allgemein
synthetische Begriffe nennen. Über ihre „Dichtigkeit“ ent¬
scheidet allein der Zweck: sie sind richtig, wenn sie zweckmäßig
sind. Nun ist aber ersichtlich, daß der Zwecke gar viele sein
können, denen ein Begriff, wie der der „Stadt“, zu dienen hat.
Der Zweck kann ein praktischer sein : zum Beispiel der,
einem Landkutscher Ausweisungen zu geben, wenn er in die
„Stadt“ fahren soll; oder der, die Bevölkerung eines Landes nach
bestimmten Merkmalen statistisch zu erfassen und dergleichen.
Oder der Zweck ist ein wissenschaftlicher : bestimmte Zusammen¬
hänge menschlicher Gesellschaft, insonderheit der Menschheits¬
geschichte, sollen klargelegt werden. Da wird es sich also
darum handeln, unter welchem Gesichtspunkt man jeweils die
Geschichte betrachtet: ob unter kriegsgeschichtlichem, kunst¬
geschichtlichem , geistesgeschichtlichem , rechtsgeschichtlichem,
1 Das verkennt jetzt wieder gründlich R. Maunier in dem auf
S. 126 in Anm. 3 erwähnten Buche, das sonst manche hübsche Be¬
trachtung enthält. Sein unglücklicher Begriff erweist sich denn auch
als ein schlechter Kompaß in dem ungeheuren Meer von Tatsachen, in
dem das wissenschaftliche Schifflein des Verfassers hilflos herum treibt.
128
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
wiHschaftsgescMchtlichem oder welchem sonst. Für jede dieser
Betrachtungsweisen kann ein besonderer Begriff der „Stadt“ auf¬
gestellt werden, über dessen „Richtigkeit“ allein die Fülle von
Erkenntnis entscheidet, die uns sein Bildner vom geschichtlichen
Leben mit seiner Hilfe erschließt.
Also das Ergebnis: wer Wirtschaftsgeschichte treibt, wird
einen ökonomischen Stadtbegriff aufzustellen haben;
deutlicher : wird uns zu sagen haben, was wir unter einer Stadt
verstehen müssen, wenn wir die bei dieser Erscheinung wirt
schaftlich bedeutsamen Umstände erkennen und würdigen wollen.
Ich definiere: eine Stadt im ökonomischen Sinne ist eine
größere Ansiedlung von Menschen , die für ihren Unterhalt aiu
die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen
ist1. Die besondere wirtschaftliche I ärbung dieses Begriffs wild
sofort deutlich, wenn wir ihn mit anderen Stadtbegriffen : etwa
dem architektonischen oder dem juristischen oder dem statisti¬
schen oder sonst einem in Vergleich setzen.
Eine Stadt im ökonomischen Sinne kann sehr wohl ein Dorf
im administrativen Sinne sein: Langenbielau etwa in der Gegen¬
wart; Kempen bis zum Jahre 1294 2.
Ein Dorf im ökonomischen Sinne wird keine Stadt, wenn es
befestigt wird, wie etwa die „vici in modum municipiorum“ des
römischen Afrika, von denen Front in spricht, die sonst castella
genannt werden , das heißt eben auf eine Verteidigung ein¬
gerichtete Dörfer waren3 *.
Es wird ebensowenig eine Stadt, wenn in ihm ein Markt ab¬
gehalten oder wenn ihm sogar Marktrecht verliehen wird.
Ein Dorf wird aber auch keine Stadt im ökonomischen Sinne,
1 Ich habe meiner Definition, die ich in der ersten Auflage (Bd. II
S. 191) gegeben hatte, das Wort "größere5 hinzugefügt ; im vollen
Bewußtsein der leisen Unbestimmtheit, die' ich damit in die Begriffs¬
bestimmung hineintrage. Man wird niemals ziffernmäßig feststellen
können, wann eine Gruppe "nach städtischer Art lebender Menschen
groß genug ist, um eine „Stadt“ zu bilden. Eine gewisse Größe aber
muß wohl vorhanden sein: ein einzelner Mensch kann keine „Stadt“
bilden. Die Quantität schlägt an einer bestimmten Stelle in die
Qualität (Stadt) um. Für meine Zwecke ist, wie man sehen wird,
die kleine Unbestimmtheit nicht von Belang.
2 Th. Ilgen, Die Entstehung der Städte des Erzstifts Köln am
Niederrhein in den Annalen des historischen Vereins für den Nieder¬
rhein 74 (1902), 14.
2 A. Schulten, Die römischen Grundherrschaften, S. 45.
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung
129
und wenn es zehnmal im administrativen Sinne Stadt wäre; die
zahlreichen „Dörfer“, die im Mittelalter „zu Städten erhoben“
Avurden durch Beleihung mit Stadtrecht1 blieben wirtschaftlich
natürlich, was sie bis dahin gewesen waren: Dörfer.
Endlich unterscheidet sich der ökonomische Begriff der Stadt
auch von dem statistischen: der großen Anzahl .„agglomeriert“
lebender Personen. Die Biesen,, städte“ des orientalischen Alter¬
tums, wie Ninive und Babylon, werden wir uns als Städte im
ökonomischen Sinne zu betrachten abgewöhnen müssen 2, ebenso
wie wir dem alten indischen Großgemeinwesen, nach Art Kal¬
kuttas3 oder dem modernen Teheran und ähnlichen Ansiedlungen 4 *
den Charakter einer Stadt nicht werden zuerkennen dürfen.
TT. Das Schema einer Theorie der Städtebildung
Offenbar muß nun aber die Darstellung vom Werden und
Wesen der „Stadt“ ganz verschieden gestaltet werden, je nachdem
es sich um diese oder jene „Stadt“ handelt. Offenbar ist es ein
anderes : wann, woher, warum eine Ortschaft mit Stadtrecht be¬
lehnt ist oder einen Stadtrat bekommen hat als dieses: wann,
woher, warum sie einen Kranz von Mauern una Türmen erhielt:
ist es ein anderes : wann, woher, warum dort ein Markt errichtet
wurde als dieses : wann, woher, warum an diesen Ort eine Uni¬
versität gelangte ; ist es ein anderes : wann, woher, aa arum sich
Tausende von Ackerbauern an einem Punkt zusammenfanden,
1 Rietschel, Markt und Stadt, S. 147 f- ; Keutgen, Ämter
und Zünfte, S. 75.
2 Es waren „von kolossalen Enceinten umschlossene, einen ganzen
Komplex mehr oder minder lose zusammenhängender Stadtanlagen ent¬
haltende Territorien“ mit Acker und Weide, um die Bevölkerung im
Fall einer Einschließung ernähren zu können. R. Pöhlmann, Die
Übervölkerung der antiken Großstädte. 1884. S. 3/4.
8 Die älteren indischen Städte werden uns als eine Gruppe von
Dörfern geschildert, die „in der Stadt“ nur ihre gemeinsamen Weide¬
plätze hatten. Alte Mark? Hunter, The Indian Empire. 1886.
46’ Die ummauerten Städte Mittelasiens umschließen in ihren Lehm-
AVällen A'iel größere Räume als für die Stadt allein notwendig sind.
In Buchara, China u. a. nehmen weit meljr als die Hälfte der Boden¬
fläche Acker- und Gartenland, öde Plätze, Teiche und Sümpfe, Haine
von Ulmen und Pappeln, ausgedehnte Viehhöfe ein . . . Man rechnet
bei diesen Anlagen mit der Notwendigkeit der selbständigen inneren
Erhaltung bei Belagerungen.“ F. Ratzel, Anthropogeographie 2
(1891), 447.
Sombart, Her moderne Kapitalismus. X.
130
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
die eine Stadt im statistischen Sinne bilden als dieses: wann,
woher, warum eine Stadt im ökonomischen Sinne entstand, das
heißt also : wann, woher, warum eine größere Anzahl von Leuten
sich auf einem Fleck ansiedelten, die von den Erzeugnissen
fremder Schollenarbeit leben mußten.
Wenn wir die JTrage nach der Genesis einer Stadt im öko¬
nomischen Sinne aufwerfen, so müssen wir, denke ich, zweierlei
beantworten :
Erstens: woher kamen die Menschen ohne Halm und Ar, die
berufen waren, die Stadt zu bilden, und was veranlaßte sie, sich
zu einer städtischen Ansiedlung zusammenzufinden. Das ist die
Frage nach den Gründen, die zu einer Entwurzelung der boden¬
ständigen Bevölkerung führten, ist die Frage nach den Gründen,
die die einzelnen bewogen, Städter zu werden. Zweitens aber
(und vor allem) wird es uns obliegen, zu erklären: wie es denn
(ökonomisch) möglich wurde, daß sich so eigentümliche An¬
siedlungen bilden konnten, die aller natürlichen Daseinsweise
entfremdet sind. Um hierauf die Antwort zu finden, müssen
wir uns zunächst gegenwärtig halten, daß eine Stadt vom Uber¬
schuß des Landes lebt, ihre Lebensbedingungen, ihr Lebens¬
spielraum also abhängig sind von dem Ausmaß dieses Überschu߬
produktes, das sie an sich zu ziehen vermag1. Diesel Tat¬
bestand kann durch folgende Sätze etwa in seinen Einzelheiten
verdeutlicht werden:
1. Die Größe einer Stadt wird bedingt durch die Größe des
Produkts ihres Unterhaltsgebiets und die Höhe ihres Anteils
daran, den wir Mehrprodukt nennen können.
2. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiets und (durch
Fruchtbarkeitsgrad der Gegend oder Stand der landwirtschaft¬
lichen Technik) gegebener Größe des Gesamtprodukts hängt ihre
Größe von der Höhe des Mehrprodukts ab.
Daher zum Beispiel unter sonst gleichen Umständen in des¬
potischen Staaten mit einem hohen Ausbeutungskoeffizienten des
Landvolks größere Städte als in Ländern mit demokratischer
Verfassung.
1 „It is the surplus produce of tlxe country only . . . that con-
stitutes tke subsistence of the town, wkick can tkerefore increase
only with the increase of this surplus produce.“ Ad. Smith, Book III,
Ch. I. Sehr ausführlich, wenn auch nicht immer sehr glücklich, ist
von den Älteren das Thema behandelt in der Abhandlung des Grafen
d’Arco, Dell’ armonia politico-economica tra la cittä e il suo terri-
torio (1771), Custodi, Scrittori dass. ital. di econ. pol. P. M. Tomo 30.
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung
181
B. Bei gegebener Größe des Unterbaltsgebiets und gegebener
Höbe des Mehrprodukts ist die Größe der Stadt bedingt durch
die Fruchtbarkeit des Bodens oder den Stand der landwirt¬
schaftlichen Technik.
Daher fruchtbare Länder u. s. g. U. größere Städte haben können
als unfruchtbare1.
4. Bei gegebener Höhe des Mehrprodukts und gegebener Er¬
giebigkeit des Bodens ist die Größe der Stadt bedingt durch
die "Weite ihres Unterhaltsgebiets.
Daher zum Beispiel die Möglichkeit größerer Handelsstädte ;
die Möglichkeit größerer Hauptstädte in größeren Deichen.
5. Die Weite des Unterhaltsgebiets ist bedingt durch den
Entwicklungsgrad der Verkehrstechnik.
Daher u. s. g. U. Fluß- oder Seelage auf die Ausdehnungs¬
fähigkeit der Städte günstig wirkt2 und in einem Lande mit
Chausseen — wiederum u. s. g. U. — die Städte größer sein
können als dort, wo nur Feldwege sind, in einem Lande mit
Eisenbahnen größer als wo nur Chausseen sind.
Sodann werden wir uns klar sein müssen darüber , daß es
unter den „städtegründenden“ Menschen zwei wesentlich von
einander verschiedene Arten giebt : solche , die kraft irgend¬
welcher Macht, irgendwelchen Vermögens, irgendwelcher Tätig¬
keit selbstherrisch imstande sind , die für ihren Unterhalt
erforderlichen Erzeugnisse des Landes herbeizuziehen : für ihren
und vielleicht auch anderer Leute Unterhalt. Das sind die
eigentlichen Städte gründer; die Subj ekte der Städtebildung ;
die aktiven oder originären oder primären Städtebildner. Also
ein König, der Steuern erhebt; ein Grundherr, dem gezinst wird ;
ein Kaufmann, der im Handel mit Fremden Profit macht; ein
Handwerker, ein Industrieller, die gewerbliche Erzeugnisse
1 J. Botero, Delle cause della grandezza delle cittä (1589),
Libro I, cap. IX.
2 „On coDstruit ordinairement les grandes villes sur le bord de
la Mer ou des grandes Rivieres , pour la commodite des transports ;
parce que le transport par eau des denrees et marchandises necessaires
pour la subsistance et commodite des liabitants , est ä bien meilleur
rnarchä, que les voitures et transport parterre.“ Cantilion, Essai
sur la nature du commerce. 1755. p. 22. 23. Im Zeitalter der
Eisenbahnen wird die Richtigkeit dieses Satzes stark angezweifelt
werden müssen Für das Mittelalter siehe die Studie von K. W. Nitzsch,
Die oberrheinische Tiefebene und das Deutsche Reich im MA, in den
Preuß. Jahrb. Nr. 30. S. 239 ff.
0*
132
Drittel- Abschnitt: Das Übergangszeitalter
nach auswärts verkaufen; ein Schriftsteller, dessen Schriften
draußen vor den Toren gekauft werden; ein Arzt, der
Kundschaft im Lande hat; ein Student, dessen Eltern an
einem anderen Orte wohnen und der vom „Wechsel“ seiner
Eltern lebt usw.
Das sind die Leute, die leben und leben lassen.
Leben lassen: die anderen Städtebewohner, die nicht aus
eigener Kraft die notwendigen Unterhaltsmittel (will sagen
Landeserzeugnisse) sich zu verschaffen vermögen, sondern die
nur teilnehmen an denen der primären Städtebildner. Wir
können sie bezeichnen als Städtefüller; als Objekte der Städte¬
bildung; als passive oder abgeleitete oder sekundäre (tertiäre,
quartäre usw.) Städtebildner. Sekundäre Städtebildner sind sie,
wenn sie unmittelbar ihren Unterhalt von einem primären Städte¬
bildner beziehen: der Schuster, der dem König die Stiefel
macht; der Sänger, der ihm seine Lieder singt; der Wirt, bei
dem der Grundherr speist; der Juwelier, bei dem der Kaufmann
seiner Geliebten den Schmuck kauft; der Theaterdirektor, in
dessen Theater der Handwerker geht ; der Buchhändler , der
unserm Schriftsteller die Bücher liefert; der Friseur, bei dem
sich unser Arzt rasieren läßt ; die Phileuse, bei der unser Student
sich sein Zimmer mietet usw.
„Verdient“ nun wieder an einem sekundären Städtebildner
ein anderer Städter, so ist dieser tertiärer Städtebiidner usw.
Nehmen wir einen beliebigen Fall an: ein Kellner trinkt in
einem Restaurant ein Glas Bier: der Wirt lebt von ihm, vom
Wirt der Bierbrauer ; der Kellner bezahlt mit Trinkgeld, das ihm
ein Arzt bezahlt hat; der Arzt hat Stadtkundschaft, z. B. bei
einem Schauspieler ; der Schauspieler erhält seine Gage aus den
Verdiensten des Theaterdirektors; diese stammen (zu diesem
kleinen Teile) von den Theaterbilletten, die ein Professor ge¬
nommen hat; der Professor bezieht sein Gehalt vom Staat: hier
erst erscheint der erste originäre Städtebildner: der Steuern er¬
hebende Staat: alle anderen sind abgeleitete Städtebildner. All¬
gemein : alle Gewerbetreibenden , alle Händler , alle liberalen
Berufe, die den Bedarf der Städter selbst befriedigen, sind nie¬
mals Städteg-ründer, sondern Städtefüller1. Die klare Einsicht
1 Merkwürdig , wie richtig’ das Pi’oblem der Städtebildung die
Männer früherer Zeit erkannten. Lag das an den einfacheren Verhält¬
nissen, die man eher durchschauen konnte? Wo begegnet man in
der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts einer Ausführung wie
Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung
133
in den Unterschied dieser beiden grundverschieden gestellten
Gruppen der städtischen Bevölkerung ist die notwendige Voraus¬
setzung jedes Verständnisses für die Genesis einer Stadt.
Diese selbst ist ein geschichtliches Phänomen; sie erhält ihr
besonderes Gepräge von der eigentümlichen Gestaltung der Zeit¬
umstände. Aufgabe des Historikers ist es, aus dieser die Ent¬
stehung der historischen Stadt zu erklären. Ist es also : die
jeweils besonderen Ursachen aufzudecken , die Menschenmassen
von der Scholle trennen; die jeweils besonderen Motive blo߬
zulegen, die Menschen zu einer städtischen Siedlung zusammen¬
führen; die jeweils besonderen Bedingungen festzustellen, unter
denen die Städtegründung erfolgt; die jeweils besonderen Typen
originärer und abgeleiteter Städtebildnei’ zu schildern und zu
deuten. Das möchte ich im folgenden für die mittelalterliche
Stadt versuchen.
dieser: „Wenn man behaupten will, daß die Gewerbe, die man ge¬
wöhnlich unter Zünfte bringt, seit jener Zeit bedeutend zugenommen
haben, so kommt dieses gar nicht in Betracht. Denn da diese
nur von dem örtlichen Verbrauch und von der Einwohnerzahl ab-
hängen, können bekanntlich alle, die sich damit beschäftigen, nie eine
volkreiche und blühende Stadt bilden, sondern müssen im Gegen¬
teil als eine notwendige Folge der nützlichen Einwohner von
einer blühenden Stadt angesehen werden.“ Het Welvaren van Leiden
Handschrift uit het Jaar 1659. Herausgeg. (mit deutscher Übersetzung)
von Felix Driessen. 1911. c. 11. Vgl. auch des Verfassers un
wesentlichen richtige „Städtetheorie“ im Kap. 1.
134
Zehntes Kapitel
Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt
Literatur und Quellen
Dieses ist ein Versuch, die Entstehung der Stadt im europäischen
Mittelalter als eines realen Phänomens des sozialen Lebens zu er¬
klären. Ansätze finden sich namentlich in der lokalen Geschichts¬
forschung vielfach. Aber im großen ganzen ist die ungeheuer um¬
fangreiche Literatur zur mittelalterlichen Städtegeschichte dem hier
gestellten Probleme aus dem Wege gegangen. Sie hat sich — dem
alten psychologischen Gesetze gemäß , daß eine Bewegung nach der
Seite des geringsten Widerstandes erfolgt — fast ausschließlich der
Frage nach der Entstehung der Stadt v e rfa s s ung zugewandt. Be¬
greiflicherweise, da in diese Dichtung die im Augenblick beliebtesten
Quellen, nämlich die Urkunden, wiesen. Neben diesen sind die
anderen Quellen, aus denen man für das Lebensphänomen „Stadt“
viel mehr hätte lernen können, so gut wie ganz vernachlässigt. Nur
wenige Forscher haben die kartographische Methode, die für
die Besiedlungsgeschichte des platten Landes so reiche Ausbeute ge¬
währte, auf die Städte angewandt. In Deutschland haben sich ihrer
mit Vorteil bedient außer einigen Lokalhistorikern wie H. Er misch
für Freiberg i. S., Friedr. Haagen für Aachen, vor allem J. Fritz
und A. Püschel; in England Raymond Unwin und H. Inigo
Triggs. Viel zu wenig ausgenützt sind die Chronisten. Wenn
irgend etwas, kann man aus ihnen die äußeren Bedingungen erfahren,
unter denen Städte entstanden sind. Beachtenswerte Anfänge sind
gemacht worden in der Verwertung des bevölkerungsstatisti¬
schen und vermögensstatistischen Materials , das uns auch
über die Entstehung (weil soziale Struktur) der m.a. Städte auf Um¬
wegen Aufschluß geben kann. Von besonderem Werte sind hier die
in letzter Zeit zahlreich veröffentlichten Untersuchungen über die
Geschichte der Kirchen und Klöster in den Städten.
Einzelne Werke aus der Literatur zur Städtegeschichte hier nam¬
haft zu machen, hat keinen Zweck. Wo ich mich auf einen Schrift¬
steller beziehe, nenne ich ihn an seinem Orte. Im übrigen verweise
ich auf einige kritische Übersichten über die neueren Erscheinungen
dieser Literatur: so die von K. Uhlirz in den Mitteilungen des
Instituts für Österreich. Geschichtsforschung vom 7. Bande an (es sind
schon weit über 100 Schriften daselbst angezeigt); ferner die von
J. Ziehen in der Zeitschrift für Kommunalwissenschaft. Jahrgg. I.
H. 1 u. 2.
Sucht man nach einem besonderen Grunde, weshalb in der großen
Masse von Büchern , die im letzten Menschenalter über mittelalter-
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 135
liehe Städte geschrieben sind, so sehr wenig über die realen Lebens¬
erscheinungen enthalten ist, so mag man ihn in dem Umstande finden,
daß viele Autoren glaubten, über Entstehung der Städte zu reden,
während sie tatsächlich nur über Entstehung der Stadtverfassung
sprachen; also daß sie gar nicht die Lücke empfanden, die ihre Aus¬
führungen ließen. Was wiederum sich daraus erklären dürfte, daß
ihnen die richtige Problemstellung verborgen blieb.
Dieser Zusammenhang tritt am deutlichsten zutage bei den Ver¬
tretern der sogen. Marktrechtstheorie, also denjenigen Gelehrten, die
die „Städte“ des Mittelalters aus einer Marktansiedlung „entstehen“
lassen. Da hier offenbar ein sehr reales Phänomen als Ursache der
Stadtentstehung bezeichnet war, so wurde der Anschein erweckt, als
habe gerade diese Theorie eine ökonomische und damit also sehr
realistische Erklärung gegeben. So urteilte z. B. v. Bel ow (Ursprung
der deutschen StadtVerf., 14): die Marktrechtstheorie sei wohl vom
„wirtschaftsgeschichtlichen“ Standpunkt aus richtig, weil sie die Ent¬
stehung des Städtewesens ins Auge fasse, während er sie vom ver¬
fassungsgeschichtlichen Standpunkt aus bekämpft. Die Sache ist nun
die : daß gerade vom „wirtschaftsgeschichtlichen“ Standpunkt aus die
Marktrechtstheorie ganz und gar unhaltbar ist. Die Städte ökonomisch
aus den Märkten erklären wollen, heißt ähnlich wie Onkel Bräsig ver¬
fahren, der bekanntlich „die Armut aus der Poverteh“ ableitete. Der
kausale Zusammenhang ist doch wohl umgekehrt, als die Marktrechts -
theoi’etiker annehmen: es entstehen nicht Städte, weil Märkte ab¬
gehalten (oder gar weil Marktprivilegien erteilt!) werden, sondern
Märkte werden abgehalten, weil Städte entstanden oder im Entstehen
sind. Zur Genesis der Städte haben die Märkte nichts, aber auch
rein gar nichts beigetragen. Als mit welcher Feststellung natürlich nichts
in der Frage entschieden ist: welche Bedeutung die Erteilung des Markt¬
rechts etwa für die Entstehung der städtischen V erfassung gehabt habe.
Meine eigene Darstellung will nur andeuten, wo die Probleme liegen
und wde man ihrer wohl Herr werden könne; sie kann nichts abschließend
behandeln.
I. Der Ursprung der Städte aus Dörfern, ins¬
besondere die Grrixndungsstädte
Man kann zweifelhaft sein, ob es überhaupt Städte (im öko¬
nomischen Sinne) während des europäischen Mittelalters gegeben
habe. Jedenfalls sind sie zu keiner Zeit innerhalb eines kurzen
Zeitraums „entstanden“, wie etwa eine amerikanische Stadt ent¬
steht; sondern sie sind samt und sonders in einem, meist wohl
über Jahrhunderte sieb erstreckenden, Umbildungsprozesse, aus
Dörfern langsam, organisch erwachsen (samt und sonders aus
Dörfern : im ökonomischen Sinne !) Wie sehr langsam die Um¬
bildung der Dörfer in Städte erfolgt sein muß, können wir aus
der Tatsache ersehen, daß selbst die größten Städte (vom Troß
53g Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
der mittleren und kleinen zu schweigen) noch im Hoch- und
Spätmittelalter starke Spuren von Land- oder Ackerstädten au
sich tragen, das heißt von halb städtischen Ansiedlungen, in denen
ein Teil der Bevölkerung noch Landwirtschaft treibt, also noch
nicht eigentlich zum Städter geworden ist.
Ein lebendiges Bild von dem dorfähnlichen Charakter der
o
mittelalterlichen Städte entwirft Gustav Freytag in seinen
Bildern aus der deutschen Vergangenheit1:
„Wer am Morgen die Stadt betritt, der begegnet sicher zuerst
dem Stadtvieh. Denn auch in den großen Reichsstädten treibt
der Bürger Landbau auf Wiesen, Weiden, Äckern, Weinbergen
der Stadtflur; die meisten Häuser, auch vornehme, haben im
engen Hofraum Viehställe und Schuppen. Der Schlag des Dresch¬
flegels wird noch 1350 in Nürnberg, Augsburg, Ulm nahe an
dem Rathause gehört ; unweit der Stadtmauern stehen Scheunen
und Stadel, jedes Haus hat seinen Getreideboden und häufig
einen Kelterraum ... In den Gassen der Stadt traben die
Kühe, ein Schäfer führt mit seinem Hunde die Schafherde auf
die nahen Höhen; auch im Städtwalde weidet das Vieh . . .
Die Schweine fahren durch die Haustüren in die Häuser und
suchen auf dem Wege ihre unsaubere Nahrung. Li den Flu߬
armen, vrelche durch die Stadt führen, hat das Vieh seine
Schwämme ... Da fehlt auch die Mühle nicht ; auf abgelegenen
Plätzen lagern große Haufen“ usw. Ich glaube, daß kein Zug
an diesem Bilde falsch ist, und daß das, was Frey tag hier
von den deutschen Großstädten des Hochmittelalters sagt, in
gleicher Weise für die italienischen Städte, mindestens bis ins
12. Jahrhundert hinein, ebenso für die englischen wie für alle
mittelalterlichen Städte zutrifft.
Die Tatsache ist so oft „quellenmäßig“ festgestellt worden, daß
es erübrigt, im einzelnen Belege anzuführen. Ich verweise den Leser für
Deutschland auf die zusammenfassenden Darstellungen bei v. Maurer,
StädteVerf. 2, 176 ff. und öfters; v. Below, Ursprung der Stadtgemeinde,
22 ff.; vgl. desselben Werk: Das ältere deutsche Städtewesen (1905),
38 ; W. V arges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in
den Jahrbüchern für N.ö. 6 (1894), 163 f. Auch Michael, Geschichte
des deutschen Volkes 1 (1897), 129 f. hat eine Menge Belegstellen
gesammelt. Ich füge noch hinzu: für Salzburg im 14. Jahrhundert
F. V. Zillner, Gesch. der Stadt Salzburg 2, 234; für Lübeck im
Jahre 1300 H offmann, Gesch. Lübecks; Pauli, Lübische Zu¬
stände, UB. Nr. 47; für Köln im 16. Jahrhundert Jos. Greving,
1 2, 119 f.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 137
Wohnungs- und Besitzverhältnisse im Kölner Kirchspiel St. Kolomba,
in den Annalen des histor. Vereins für den Niederrhein, 78. Heft
(1904), S. 11. Im 13. und 14. Jahrhundert wurde noch jede „bürger¬
liche“ Hantierung wie z. B. der Mauerbau in den Städten durch die
landwirtschaftlichen Arbeiten unterbrochen. Lamp recht, DWL.
2, 523. Den tiefsten Einblick in die ökonomische Struktur der mittel¬
alterlichen (Mittel-)Stadt gewährt uns immer noch Karl Bü chers
Werk: Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrhundert.
Band I. 1886. Siehe für die hier erörterte Frage z. B. die Dar¬
stellung auf S. 260 ff., die wohl die gründlichste ist, die wir besitzen.
Daß in vielen italienischen „Städten“ sicher noch im 11. und 12. Jahr¬
hundert die Landwirtschaft ein sehr wichtiger Berufszweig war, zeigen
uns die Urkunden mit voller Deutlichkeit. Siehe z. B. für Mantua,
Pisa, Cremona (11. 12 sc.) die Urkunden nach Muratori Antiqu. IV,
13. 16. 20. 23 bei Bethmann-Hollweg, Ursprung der Lombardischen
Städtefreiheit (1846), S. 129 f. Ferner die Quellenbelege bei Max
Handloike, Die lombardischen Städte (1883), S. 708 ff. Wir dürfen
daraus mit Gewißheit schließen, daß ein, zwei Jahrhunderte nach jener
Zeit noch immer starke landwirtschaftliche Interessen auch in den
italienischen Städten vertreten waren. „Auch die negotiatores waren
ansässig und gerade die kleineren Grundbesitzer bedurften der Weide¬
ländereien“ : L. M. Hartmann, Zur W. Gesell., S. 112.
Von den englischen Städten haben wir genug Zeugnisse, die den
Nachweis führen, daß sie ganz denselben Charakter trugen wie
die deutschen, nämlich halbstädtischen. Für die Zeit des Domesday
siehe vor allem F. W. Maitland, S. 203 und öfters. Aber „even
long after the Conquest the agricultural element prevailed in English
borouglis far more then is commonly supposed“, meint der sehr vor¬
sichtige Charles Gross, The Gild merchant 1 (1890), 4, wo er
auch eine reiche Auswahl von Literatur und Quellenbelegen uns dar¬
bietet. Selbst in London begegnen wir noch im 13. Jahrhundert der
Aufzucht von Schweinen und selbst Ochsen. Ashley, Engl. WG.
1, .74 und 117 nach dem Lib. Albus XLI — XLII.
„Die Tätigkeit der Stadtbewohner beschränkte sich nicht auf ihr
besonderes Gewerbe. Zur Erntezeit strömte alles auf das flache Land
hinaus. Wenn der König im Mittelalter die Parlamentssession schließt,
entläßt er die hohen Adeligen zu ihren Sports Vergnügungen , die Ge¬
meinen zur Erntearbeit und macht dabei keinen Unterschied zwischen
den Landedelleuten und den Bürgern. So lesen wir auch, daß die
langen Gerichts- und Universitätsferien vom Juli bis Oktober dauerten,
damit die des Rechts und der Wissenschaft Beflissenen reichlich Muße
für das so überaus wichtige Erntegeschäft hätten. Freilich kam die
gesamte Stadtbevölkerung der Masse des Landvolkes gegenüber für
die Erntearbeiten nur wenig in Betracht. Aber sicher war das den
Städten zunächst gelegene Land besser bestellt und gedüngt als das
von jedem größeren Beförderungsmittel ferner liegende, und die zu-
schtissigen Arbeitskräfte aus der Stadt waren den großen Grund¬
besitzern willkommen.“ Th. Rogers, Six Centimes of work and
wages, 2 Vol., 1884, deutsche Übersetzung S. 89. Vgl. auch des-
188
Dritter Abschnitt Das Übergangszeitalter
selben Verfassers Hist, of Agriculture 1 (1866), 252, und J. R.
Green, Town Life in the fifteenth Century 1 (1894), 171.
Neuerdings hat wieder ein reiches Material für alle Länder zu-
samm engetragen, das die von mir angeführten Quellen und Darstellungen
ergänzen mag: R. Maunier, 1. c., p. 72 ff.
Von dieser Regel: daß alle mittelalterlichen Städte in Jahr¬
hunderte währender Umbildung langsam aus Dörfern erwachsen
sind, machen auch keine Ausnahme etwa die sogenannten „Grün-
dungsstädte“, das heißt die künstlich von einem Landes- oder
Grundherrn plötzlich ins Leben gerufenen „Städte“, wie wir sie
im Osten Deutschlands, in Böhmen, in Frankreich, in Spanien
in völlig übereinstimmenden Formen seit dem 12. Jahrhundert
entstehen sahen. Man hat sich hier nämlich offenbar durch das
Aushängeschild, auf dem ‘Städtegründling5 stand, täuschen lassen
imd hat geglaubt, es habe sich bei diesen Gründungsstädten um
„künstliche Ansiedlungen von Händlern und Handwerkern“ 1
gehandelt. Diese Vorstellung ist geradezu abenteuerlich. Sie
hätte nie entstehen können , wenn man sich auch nur einen
Augenblick die Frage vorgelegt hätte (die im Mittelpunkte dieser
Betrachtungen steht): wovon sollte eine solche Amsiedlung leben?
Noch dazu in den ödesten Teilen des Landes, zum Beispiel im
„entvölkerten Wendenlande“ 2, wo Lübeck „gegründet“ wurde.
Man versetze sich in die Lage einer solchen Kolonie, selbst
heute, in einem reichlich besiedelten Lande: woher sie ihre
Kundschaft nehmen soll, da doch niemand nach ihr verlangt hat.
Man vergegenwärtige sich, welche Not oft ein einziger Schuster
oder Bäcker oder Krämer hat, der neu in eine Kleinstadt
oder in ein Dorf einzieht. Und bedenke nun das Mittelalter!
Es ist ein furchtbarer Wahn, der viele der scharfsinnigsten
Historiker beherrscht: daß Rechtsakte Leben schaffen können.
Dieser Glaube hat ja auch Anlaß zu der Behauptung gegeben,
der wir oben schon begegneten: ein Markt oder gar ein Markt¬
privileg könne eine Stadt entstehen machen. Man denke zum
Beispiel: „das auf einem bestimmten Wochentag beschränkte
Marktrecht (sic) vermochte demnach wie es scheint, nicht in
gleicher Weise wie das unumschränkte zum Aufblühen einer
Handelsniederlassung beizutragen“ (sic)3. Es ist der alte
1 Keutgen, Ämter und Zünfte, 110. Derselbe Gedanke durch¬
zieht Rietschels Markt und Stadt wie' ein roter Faden.
2 Pauli, Lübische Zustände, 59.
3 Rietschel, Markt und Stadt, 46.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 139
preußische Grundsatz, den Deutschland erst jetzt aufzugeben im
Begriffe ist: die Verordnung schafft das Leben. Daß der Kauf¬
mann zunächst Kundschaft und keine Privilegien braucht, liegt
außerhalb dieser Denkungsweise. Und so ist denn auch der
Aberglaube entstanden: im Mittelalter seien die entvölkerten
Länder mit einem Netz von Städten im ökonomischen Sinne
(denn das wären ja wohl „Ansiedlungen von Händlern und
Handwerkern“) bedeckt worden': den sogenannten „Gründungs¬
städten“ in Deutschland, den Villes neuves in Frankreich usw.
Und wenn alle Quellen übereinstimmend, in einwandfreier Lesart,
dieses ausdrücklich aussprächen, so dürfte der Forscher dem¬
gegenüber nichts anderes sagen als: die Verfasser der „Quellen“
waren entweder irrsinnig oder sie haben sich auf Kosten der
deutschen Professoren im 19. und 20. Jahrhundert einen Spaß
machen wollen.
Nun ist es mir aber völlig unverständlich, wie man angesichts
der erdrückenden Fülle von Urkunden, die das Gegenteil be¬
sagen, jemals selbst auf Grund des Quellenstudiums zu jener
seltsamen Ansicht kommen konnte: im 11. und 12. Jahrhundert
seien Städte (im ökonomischen Sinne) „gegründet“ worden.
Die Quellen belehren uns vielmehr so deutlich, wie man es sich
nur wünschen kann : daß in allen Fällen das „gegründet“ wurde,
was allein einen Sinn hatte, gegründet zu werden : nämlich Dörfer.
Meinetwegen mit einer Zugabe von ein Paar Krämern und
Handwerkern. Das gilt sogar in der großen Mehrzahl der Fälle
bei der „Gründung“ einer „Marktansiedlung“ im Anschluß an
eine schon bestehende Stadt; geschweige denn bei den Städte¬
gründungen im freien Felde. Wir müssen uns jene „Gründungs¬
städte“ als eine Art römischer Kolonie mit Zenturiatassignationen
vorstellen : die bekannte quadratische Straßenanlage in den neu-
begründeten Dörfern läßt sogar den Gedanken aufkommen, die
römische Militärkolonie habe bei den mittelalterlichen „Grün¬
dungs Städten“ Pate gestanden. Wenn wir nicht annehmen wollen,
daß die quadratische Form bei gleichmäßiger Ansiedlung die
natürliche ist. Warum nur das Dorf, nicht auch die Feldflur
(soviel wir wissen) nach Art der römischen Kolonien in Schach¬
brettmanier aufgeteilt ist, vermögen wir mit dem Hinweis auf
die Eigenart des deutschen Pfluges (der also wohl auch in Süd¬
frankreich und Spanien, wo wir dieselben Schachbrett,, Städte“
antreffen, Verbreitung durch die germanischen Stämme gefunden
hatte; oder sind dort auch die Feldfluren in Quadraten auf-
140 Dritter Abschnitt: Das Übergaugszeitalter
geteilt?) einwandsfrei zn erklären. Der mächtige „Ding“ in dei
Mitte der Dorfstadt, der übrigens von vornherein auch meist
ein „Kaufhaus“ — also etwa einen Schuppen zum Abstellen der
Traglasten oder zum Einstellen der Karren usw. — bekam, war
offenbar so groß angelegt, um als Auftriebplatz für das Vieh zu
dienen, das in den öden Gegenden, in denen die Ansiedlungen
häufig entstanden , einen größeren Schutz als anderswo nötig
hatte. Wir dürfen annehmen, daß die Ställe und Scheunen der
bäuerlichen Ansiedler ursprünglich alle um den Ring lagen,
während die Paar Handwerker in den nach ihnen später be¬
nannten Nebenstraßen untergebracht wurden.
Was sagen denn nun die Quellen aus, das heißt also die
Urkunden , mittels deren einem Locator oder einer Gruppe von
Ansiedlern die Rechte und Privilegien zur Niederlassung an
einem bestimmten Orte erteilt wurden?
Nun in der Hauptsache überweisen sie den Kolonisten, die die
neue Stadt „gründen“ sollen, eine große, meist sehr große
Feldflur mit allem Zubehör, vor allem also der Gemeinde¬
weide und dem Gemeindewalde. Daß also mindestens auch eine
starke Bauernschaft sich in der „Gründungstadt“ niederließ, das
dürfte durch die Quellen außer Zweifel gestellt sein. Und das
ist die Hauptsache. Daß es sich aber um wesentlich dorfähn¬
liche Siedlungen bei den sogenannten Gründungsstädten ge¬
handelt habe , beweist auch der Umstand , daß von insgesamt
etwa 300 uns in Ostdeutschland bekannt gewordenen Gründungen
nur etwa 30 über das Niveau einer kleinen Ackerstadt hinaus¬
gekommen sind b Diese aber verdanken ihre Entwicklung, wie
sich leicht nachweisen läßt, dem Vorhandensein der auch in
anderen Städten wirksamen städtebildnerischen Kräfte , von
denen im weiteren Verlauf dieser. Darstellung die Rede sein
wird.
Hier ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele aus den
Quellen :
Lübeck (gegründet 1165) erhält von Heinrich dem Löwen zu
der ihm bereits vom Grafen Adolph II. geschenkten Feldmark „alle
Dorpe ghelegen vor der Stadt over dem Horeghen berge“. Nach
Detmars Chronik a. 1165 (Städtechron. Bd. 19) Pauli, Lüb. Zustände,
10/11, der übrigens selbst Lübeck als „Handelskolonie“ (!) entstehen
läßt.
1 Joh. Fritz, Deutsche Stadtanlagen, Straßburger Programm
(1894), 26.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 141
Stettin erhält 100 + 30 Hufen (Blümcke, Die Handwerks¬
zünfte im mittelalterlichen Stettin, Baltische Studien 34, 90). Die
Hufe nur zu 30 Morgen gerechnet: eine stattliche Dorfflur! Es finden
sich aber auch 150, 200, sogar 300 Hufen als Dotation der neuen
„Städte“ (Fritz, a. a. O.).
Besonders lehrreich ist die Gründungsurkunde für Frankfurt a. O.
(ausgestellt vom Markgrafen Johann von Brandenburg, abgedruckt bei
Gerken, Cod. YI. 563, Auszug bei Kl öden, Geschichte des Oder¬
handels, 1. Stück (1845):
1. Der Markgraf überträgt die Einrichtung (constructionem) der
Stadt dem Godinus von Herzberg.
2. Der Markgraf überträgt der Stadt das Eigentum an 124 Hufen
Weiden und Äcker und bestimmt, daß von den 104 zum Ackerbau
bestimmten Hufen jährlich je ein Vierding Hufenzins bezahlt werde.
Außerdem weist er ihr 60 Hufen jenseits der Oder an , die , sofern
sie angebaut werden, ebenfalls zinspflichtig werden. Das übrige Land
ist Almende.
3. Käufer und Verkäufer werden bei Meinen Einkäufen vom Zoll
befreit; wer Waren nach der Stadt bringt, zahlt Zoll; wer Waren
bar kauft, zahlt keinen Zoll.
4. Der Markgraf behält sich in der Markthalle und auf den Jahr¬
märkten von jedem ‘Stande5 eine Pensio von 3 Pfenn. vor. Der
übrige Gewinn von den Ständen im Kaufhause (also wohl durch Ver¬
mietung an die Hökerweiber) fließt der Stadt zu ; ebenso der Gewinn
ans Einrichtungen, die die Stadt etwa zum Nutzen des Marktes schafft.
Also : Deutlich tritt uns das Bild eines Dorfes entgegen, das nach
Möglichkeit sich zu einer kleinen Ackerstadt entwickeln soll: die
164 Hufen sind das sichere Fundamentum; die ‘Markteinrichtungen5
die Zukunftshoffnungen.
Den klarsten Einblick in die Welt der „Gründungsstädte“ gewähren
uns aber die böhmischen Urkunden, deren Inhalt uns das ausgezeichnete
Werk Julius Lipperts, Sozialgeschichte Böhmens, Band 2 (1898)
erschlossen hat. Böhmen ist bekanntlich unter Ottokar II. von diesem
selbst und zahlreichen geistlichen und weltlichen Herren, die sich
gegenseitig den Ruhm als ‘Städtegründer5 streitig zu machen suchten,
mit einem Netz deutscher Ansiedlungen, die wir als ‘Gründungsstädte'
bezeichnen, bedeckt worden. Bei. keiner dieser Gründungen aber
fehlt die Anweisung einer großen Dorfflur , selbst wenn die neue
„Stadt“ sich an eine schon bestehende Stadt anschloß. So ist es der
Fall bei Neu- Prag, Neu-Pilsen (168 Hufen), Neu-Budweis (bekommt
die Dörfer Plawen und Malaie), Neu-Glatz (60 Hufen), Außig (26 Hufen),
Nimburg (Neuenburg) (117 Hufen), Melnik (72 Hufen) ; so bei Trübau,
Landskron, Chotzen, Äupa, Trautenau, Leitmeritz u. a. Nur wenn
ein Ort einen sichern Broterwerb wo anders fand, wie z. B. die Ein¬
wohner Kolins, die von der Holzlieferung an das nahe Kuttenberg
lebten, konnte die bäuerliche Tätigkeit etwas eingeschränkt werden.
Aber selbst in diesen Fällen scheinen die vorsorglichen „Gründer“ die
neuen Ansiedler mit Grund und Boden zur Landwirtschaft ausgestattet
zu haben. Siehe a. a. O. S. 42 ff.
|42 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaltei'
Daß nun aber auch die ganz ähnlichen Städtegründungen m Frank¬
reich — die Villes neuves des 11. sc., die „bastides“ des 13. Jahr¬
hunderts in Südfrankreich — sowie in Spanien nie ohne Anweisung
einer genügend großen Feldflur an die Ansiedler ins Werk gesetzt
wurden, beweisen uns die neuerdings verarbeiteten Quellen ebenfalls
zur vollen Genüge. Ich verweise für Spanien auf die Quellensammlung
von P. de Bofarull y Mascaro, Coleccion de documentos m-
edictos del archivio general de la corona de Aragon, 1851 ; für Frank¬
reich auf J. Flach, Origines de l’ancienne France 2, 165 ff. 325.
334. 343 ff- , dem ich auch die Namhaftmachung des vorstehend ge¬
nannten Quellenwerkes verdanke ; sowie auf die Spezialuntersuchung
von A. du Bourg, Etüde sur les coutumes communales du Sud-Ouest
de la France in den Memoires de la Soc. arch. du midi de la France.
Ile ser. t. XII (1880—1882), 250 ff. Siehe namentlich p. 272 f. Die
neuen Städtebewohner mußten dem Herrn sogar Ackerfronden leisten!
1 Will man sich ein Bild von der Gründung von Kolonistenstädten
machen, so muß man sich die Vorgänge bei der Entstehung dei (alt-)
amerikanischen Städte vergegenwärtigen. Siehe Charles M. Andrews,
Die Stadt in Neu-England, ihr Ursprung und ihre agrarische Grund¬
lage in der Zeitschr. für Soz. u. WG., Bd. II.
Ich gebe nunmehr einen möglichst schematischen Überblick
über die Struktur und die Entstehungsweise der Städte im Mittel-
alter und beginne mit einer Analyse derjenigen Elemente, die
ich als Städtebildner oder Subjekte der Städtebildung bezeichnet
habe.
II. Die Subjekte der Städtebildung
1. Die Konsumenten
Wer die Genesis der mittelalterlichen Städte richtig ver¬
stehen will, der muß vor allem einsehen lernen, daß diese Städte
in ihrer großen Mehrzahl — und sicher wohl alle bedeutenden —
während .der ersten Jahrhunderte ihres Bestehens fast reine
Konsumtionsstädte gewesen sind. So daß also ihre Genesis ver¬
stehen begreifen heißt: wie eine Konsumtionsstadt unter den Be¬
dingungen, die das Mittelalter bot, erwachsen konnte.
Eine Konsumtionsstadt nenne ich diejenige Stadt, die
ihren Lebensunterhalt (soweit sie ihn von außerhalb bezieht,
also das Überschußprodukt der landwirtschaftlichen Arbeit) nicht
mit eigenen Produkten bezahlt, weil sie es nicht nötig hat. Sie
bezieht vielmehr diesen Lebensunterhalt auf Grund irgendeines
Rechtstitels (Steuern, Rente oder dergleichen) ohne Gegenwerte
leisten zu müssen. „Sie bezieht“: heißt natürlich: eine Anzahl
Personen bezieht, die damit die Gründer dieser Stadt werden.
Die absonderliche Eigenart der Konsumtionsstadt besteht also
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt ]43
darin, daß ihre Gründer jene Konsumenten sind, ihre Füller
dagegen alle die für jene arbeiten und damit Anteil an ihrem
Konsumtionsionds erhalten. Die originären , primären Städte¬
bildner sind somit die Konsumenten, die abgeleiteten sekundären
(tertiären usw.) die Produzenten. Die Konsumenten sind in
diesem Falle die Selbständigen, die Leute mit eigener Lebens¬
kraft, während die Produzenten die Abhängigen sind, deren
Existenzmöglichkeit durch die Größe des Anteils bestimmt wird,
den die Konsumentenklasse ihnen von ihrem Konsumtionsfonds
gewähren will. (Das "Wort „Abhängigkeit“ richtig verstanden :
natürlich sind im Grunde in jeder Gesellschaft alle von allen
abhängig, wenn man damit meint, daß keiner den anderen ent¬
behren kann, ohne an Lebensinhalt zu verlieren.)
Damit also Konsumtionsstädte entstehen, ist es vor allem
nötig, daß an einer Stelle ein großer Konsumtionsfonds sich an¬
sammelt, der hier zum Verzehr gelangt. Der Konsumtionsfonds
kann von einem (oder wenigen) mächtigen Konsumenten oder
von einer größeren Anzahl mittlerer oder kleiner Konsumenten
zusammen gebracht werden: ein König kann ebensogut eine
Konsumtionsstadt gründen wie 1000 pensionierte Generäle. Wer
nun aber waren im Mittelalter diese Konsumenten? Wohl im
wesentlichen Landesherrn, die von Steuern und Grundherrn, die
von Landrenten lebten; wobei zu bemerken ist, daß die Grenze
zwischen Landesherrn und Grundherrn in dem hier gebrauchten
Wortsinn fließend war: der steuererhebende Fürst war gleich¬
zeitig Großgrundbesitzer, bezog also vom eigenen Grund und
Boden ebenfalls Revenuen, die sich als Landrenten darstellten.
Eine scharfe Trennung zwischen Krongut und Staatsbesitz war
noch nicht eingetreten.
Ich sehe nun im Mittelalter eine erste Gruppe bedeutender
Städte entstehen als Residenzen weltlicher oder geistlicher
Fürsten. Es sind diejenigen, in denen der Grundherr, der überall
die Zelle der mittelalterlichen Stadt bildet (um Gottes willen:
nicht im verfassungsrechtlichen Sinne ! wenn ich doch das end¬
lich klar gestellt hätte , daß ich meine Begriffe , soweit nichts
besonderes bemerkt ist, ökonomisch fasse. Man soll mich nun
aber auch in Ruhe lassen und mit der unleidlichen Melodie von
der ‘Hofrechtstheorie’ aufhören I) in denen der Grundherr (sage
ich), der überall die Zelle der mittelalterlichen Stadt bildet, sich
zum größeren Fürsten , zum Landesherrn auswächst in dem
Sinne, daß er seine Revenuen aus Grundrenten durch Revenuen
144
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
aus Steuern vermehrt. Das ist ein langwieriger Prozeß, und
demgemäß erfolgt die Städtebildung in diesen Fällen ebenfalls
langsam und schrittweise.
Die Städte, um die es sich hier handelt, sind also die Sitze
der Bischöfe1 und Erzbischöfe, der Grafen, Duces, Markgrafen,
Herzoge, Könige.
Sehr häufig sind weltlicher und geistlicher Fürstensitz in einer
und derselben Stadt, die dadurch also zweifache Förderung er¬
fährt. So waren die Bischofsstädte Oberitaliens dieselben wie
die Sitze der Duces der Langobarden und später der fränkischen
Comites: Vicenza, Verona, Brescia, Bergamo, Mailand, Pavia,
Parma, Piacenza, Modena, Mantua, Turin und andere 2. Ebenso
waren in Deutschland die „Civitates“ der Karolingerzeit auch
Sitze des Gaugrafen und des Grafengerichts3. Daß die bedeutenden
„Pfalzstädte“ in Deutschland auch Bischofssitze waren, ist be¬
kannt, ebenso natürlich, daß es die großen Hauptstädte Englands
und Frankreichs waren. In Hamburg z. B. residierte im 11. Jahr¬
hundert der Erzbischof und der Herzog von Sachsen4; in Florenz
der Markgraf von Tuscien und der Erzbischof 5 ; in Amsterdam
1 Der Name ‘Bischofsstadt’ ist zweideutig. Er kann verfassungs¬
rechtliche oder (wie hier) reale Bedeutung haben. Die bisherige
Städtegeschichte sprach von Bischofsstädten nur in jenem ersten Sinne
und hat für die Stadtverfassungsgeschichte natürlich recht, wenn
sie das tut. Für die Genesis der Stadt ist es ganz gleichgültig, ob
der Bischof jemals Stadtherr war oder nicht. Florenz ist stadt¬
geschichtlich im hervorragenden Sinne „Bischofsstadt“, denn der, Bischof
ist es vornehmlich, der Florenz zu Macht und Ansehn, zu Größe und
Reichtum gebracht hat. Und doch war Florenz überhaupt niemals
eine Immunität; seine Verfassung ist gleich aus der grafschaftlichen
eine kommunale geworden. Siehe Davidsohn, Gesell, von Florenz
1, 336.
2 H. Pabst, Geschichte des langobardischen Herzogtums in den
Forschungen zur deutschen Geschichte 2 (1862), S. 437 f. Bethmann-
Hollweg, Ursprung der lombardischen Städtefreiheit (1846), S. 66 f.,
74 ff.
3 Rietschel, Civitas, 94.
4 „basiliea eadem ex una parte habuit domum episcopi, ex alia
praetorium ducis“, Adam Brem. 2, 68 zit. bei Maurer, 1, 63.
5 Nach der Ansicht eines gründlichen Kenners der Florentiner
Frühzeit vergrößert sich die Stadt während des 11. Jahrhunderts des¬
halb „sehr bedeutend“, weil sie in dieser Zeit Mittelpunkt der anti¬
kaiserlichen, hierarchischen Partei in Tuscien wird: 0. Hartwig,
Quellen und Forschungen zur älteren Geschichte von Florenz 1
(1875), 93.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt ]45
der Bischof und die Herren von Amstel 1 ; in Ypern der Bischof
und die Grafen von Flandern2 usw.
Oft genug, ja man darf sagen, dort, wo es überhaupt möglich
war , nämlich in dem alten Kulturgebiet , der Regel nach lagen
die Residenzen der mittelalterlichen Fürsten im Bereich der
schon von den Römern bewohnten Städte. Man hat daraus den
Schluß gezogen, daß die Bedeutung der mittelalterlichen Städte
irgendwie bestimmt worden sei durch ihre römische Vergangen¬
heit. V eil sie „Sitze des städtischen Lebens“ damals gewesen
seien, seien sie es jetzt wieder geworden. Das ist sicherlich
falsch. Die römischen Städte hatten ihre Bedeutung als Städte
längst verloren, wie wir an anderen Stellen schon feststellen
konnten , als im Mittelalter oft an denselben Stellen neues
städtisches Leben sich entwickelte. Insbesondere im römischen
Koloniallande waren die Städte nichts anderes gewesen als Garni¬
sonen und Residenzen der Gouverneure. In dem Augenblick,
als die Legionen und die Statthalter abzogen, sanken die Städte
in nichts zusammen. Nicht das geringste verknüpft innerlich
römisches und mittelalterliches Städtewesen; es sei denn die
gedankenlose Redensart von dem „Handel und Verkehr“, der sich
in das Mittelalter „hinübergerettet“ habe. Daß äußerlich an
denselben Stellen, wo im Römerreiche Städte gestanden hatten,
auch im Mittelalter Städte erblühten, hat seinen Grund in zwei
Tatsachen :
1. daß die Kirche vorschrieb, die Bischofssitze sollten in
„Städten“ (Civitates) errichtet werden;
2. daß die Ruinen, namentlich die Mauerreste eine gute Vor¬
arbeit für eine Befestigung, darboten , auf die man wie bekannt
bei „Begründung“ der Städte das Hauptaugenmerk richtete.
Deshalb kamen sie als Festungen, von denen gleich die Rede
sein wird, vornehmlich in Betracht.
Wie groß die Bedeutung der Residenz für das Emporkommen
der mittelalterlichen Städte war, werden wir erst (soweit es sich
überhaupt im einzelnen nachweisen läßt) ermessen können, wenn
wir die Städtefüller kennen lernen werden, die von den Revenuen
der residierenden Herren ihren Unterhalt gewannen. Hier möchte
ich aber doch schon auf zwei Symptome aufmerksam machen,
1 J. Ter Gouw, Geschiedenes van Amsterdam 1 (1879), 43 ff.
Gijsbrecht III : „Hem komt regt de eertitel toe : Stichter van
Amsterdam.“
2 A. Vandenpeereboom, Ypriana 3 (1880), 94 ff.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I
10
146
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
aus denen die überragende Bedeutung der fürstlichen Residenz für
die Entwicklung der Städte im Mittelalter geschlossen werden darf.
Das ist erstens dies, daß blühende Städte, wenn beispielsweise
der Bischofssitz aus ihnen verlegt wurde , eine starke Einbuße
erlitten h Zweitens die bedeutsame Tatsache , daß Größe und
Reichtum der Städte vielfach in einem geraden Verhältnis stehen
zu der Macht- und Herrschaftssphäre des in ihnen residierenden
Fürsten. Mit anderen Worten : Die mittelalterlichen Städte sind
um so größer, je größer (und reicher natürlich) das Gebiet ist,
dessen „Hauptstädte“ sie sind. Wo wir frühzeitig zentralistische
Tendenzen der Landesfürsten beobachten, finden wir auch zuerst
Städte von größerem Umfang. Wo es überhaupt während des
Mittelalters nicht zu größeren „ Reichen“ und „Reichshauptstädten
kommt, sind auch keine sehr großen Städte vorhanden.
Daher wir in Süditalien eher Großstädte erwachsen sehen
(Palermo, Neapel) als in Norditalien; in Österreich (Wien) eher
als im übrigen Deutschland1 2 ; in Frankreich (Paris) und England
(London) eher als in Flandern und Brabant. Das wird niemand
in Erstaunen setzen, der sich einmal vergegenwärtigt hat, welche
bedeutenden Einkünfte schon im* frühen Mittelalter beispielsweise
die englischen oder französischen Könige bezogen. So sollen
die Revenuen des englischen Königs schon unter Heinrich I.
(also im Anfang des 12. Jahrhunderts) 66000 L., das sind etwa
5 850000 Mark heutige Währung betragen haben3. Aber selbst
die Einkünfte des in Wien residierenden Landesherm von Ober¬
und Niederösterreich betrugen im 13. Jahrhundert 35 000 Wiener
Pfennige, also etwa 100 000 Mark heutiger Währung4. Erwägt
1 Siehe z. B. Flach, Origines 2, 329.
2 Das einen so schönen Anlauf zur „ Großstadt“ entwicklung ge¬
nommen hatte. Ich zweifle keinen Augenblick, daß nächst Byzanz
im Jahre 800 Aachen die größte europäische „Stadt“ war. Wenn
wir die Zahl der hier dauernd oder vorübergehend die Sonne Karls
umschwirrenden Schmetterlinge ganz gering veranschlagen, werden wir
doch ein paar Tausend „Einwohner“ des „Palatiums" und seiner
Dependenzen annehmen müssen. Den deutlichsten Eindruck von der
Größe Aachens in der Karolingerzeit erhält man aus der Darstellung
F. Dahns (Könige der Germanen VIII. 6 [1900], 102 ff.), wo wohl
alles Quellenmaterial, das wir besitzen, benutzt worden ist.
8 W. Stubbs, Constitutional History l5, 415.
4 Siehe: 'Die landesfürstlichen Urbare Nieder- und Oberösterreichs
aus dem 13. und 14. Jahrhundert; herausgegeben von Alf. Dopsch
(Österr. Urbare I. 1 [1904]. S. CCXXV). Vgl. H. v. Voltelini,
Die Anfänge der Stadt Wien, 44 ff.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 147
man, daß der Warenumsatz einer bedeutenden Hansastadt im
Hochmittelalter 1—3 Millionen Mark heutiger Währung’ betrug,
rechnet man selbst diesen ganzen Betrag auf auswärtigen Handel
und nimmt man (sehr hoch !) einen .Durchschnittsprofit von 20 °/o
vom Umsatz an, so würde der Gesamtprofit, der also den Fonds
darstellt, aus dem eine städtische Bevölkerung ernährt werden
kann, etwa 200 000 — 600 000 Mark heutiger Währung sein. Man
kann somit sagen:
Der einzige König von England ernährte im Jahre 1100 mit
seinen Revenuen zehn- bis dreißigmal soviel Menschen als Lübecks
oder Revals Handel im 14. Jahrhundert.
Neben diesen fürstlichen Gfroßkonsumenten finden sich nun
in der mittelalterlichen Stadt eine Menge mittlerer und kleiner
Grundrentenbezieher zusammen, die wiederum einen beträcht¬
lichen Konsumtionsfonds bilden können. Ich denke zunächst
an alle Kirchen und Klöster, die, wie man weiß, zum Teil
über recht bedeutende Einkünfte verfügten. Wenn man jetzt an¬
fangen wird, die Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Städte
zu schreiben, dann wird man den Betrag dieser Einkünfte zu er¬
mitteln trachten müssen. Ich führe beispielshalber an: Das
St. Tlmmasstift und das St. Peterstift in Straßburg hatten ein
Einkommen (im 15. Jahrhundert) von zusammen 2374 Mark oder
33000 Mark heutiger Währung1. Im Jahre 1487 besaßen die
geistlichen Anstalten (Pfarrkirchen, Stifte, Klöster) im Kölner
Kirchspiel St. Kolumba ^ 1 59 Mietliäuser, die einen Mietsertrag
von 2830V6 Mark lieferten2 (ein Viertel des gesamten Miets¬
ertrages in diesem Kirchspiel). Der Zehnte, den die Kirchen
Kölns im 14. Jahrhundert zu zahlen hatten, belief sich auf rund
300 Mark3, ihre Einkünfte betrugen also rund 3000 Mark, das sind
rund 150000 Mark heutiger Währung (sollte das nicht noch zu
niedrig berechnet sein?).
Um den Anteil der geistlichen Grundherrschaften am Auf-
1 Willi. Kothe, Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jahrh.
1903, S. 2.
2 Jos. Greving, Wohnungs- und Besitzverhältnisse usw. in den
Annalen des histor. Vereins für den Niederrhein 78, 24 f.
8 Nach dem Liber valoris eccl. Coh, der abgedruckt ist bei Ant.
Jos. Binterim und Jos. Hub. Mooren, Die alte und neue Erz¬
diözese Köln, 1. Teil 1828, S. 51 ff. Über die Verhältnisse in Hildes¬
heim unterrichtet (schlecht) H. A. Lüntzel, Geschichte der Diözese
und Stadt H. 1 (1858), 288 ff; 2, 23 ff
io*
148 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
bau der mittelalterlichen Stadt einigermaßen ziffernmäßig fest¬
stellen zu können, müßte man dann auch über ihre Anzahl ge¬
nauer unterrichtet sein, als wir es bisher sind. Nach allem, was
wir wissen, können wir einstweilen nur soviel mit Sicherheit
sagen, daß diese verhältnismäßig sehr groß gewesen sein muß.
Was wir von einzelnen Angaben besitzen, macht das unzweifelhaft1.
In Florenz läuteten schon Ende des 12. Jahrhunderts 80 Glocken.
Davidsohn, Gesch. v. Florenz 1, 732.
Über die große Zahl von Geistlichen überhaupt während des Früh¬
mittelalters : Lamprecht, DWL. 1. 2, 846.
Einen Überblick über den Bestand an Kirchen und Stiftern in
15 deutschen Städten gibt A. Püschel, Das Anwachsen der deutschen
Städte. 1910. Für Wien siehe Ant. Mayer, Das kirchliche Leben usw.
in der Gesch. der Stadt Wien 1 (1897), 445 ff. Für Strafsburg Karl
Achtaich, Der Bürgerstand in Str. (1910), 6 ff.
Im 13. Jahrhundert sind uns in Paris die Namen von 96 Kirchen
und Klöstern überliefert (in der Steuerrolle von 1292). Siehe die Zu¬
sammenstellung des Herausgebers H. Gerard in der Coli, des docum.
in4d. I ser. 8. tome (1837), p. 624 — 626.
Von den Klöstern insbesondere wissen wir, daß sie in dem Maße
wie die Städte erstarkten und durch ihre Mauern Schutz gegen räuberische
Überfälle gewährten, ihren Sitz in diese verlegten, namentlich auch, wie
uns die Chronisten berichten , um die Gebeine der Heiligen und die
Reliquien vor den Plünderungen der Feinde in Sicherheit zu bringen.
Belege für Frankreich bei Flach, Origines 2, 331. Für Deutschland
hat W. Arnold, Verf.Gesch. d. deutsch. Freistädte 2, 162 ff., die
Verlegung wichtiger Klöster in die von ihm behandelten Städte urkund¬
lich festgestellt, während er nachweist, daß seit dem 13. Jahrhundert
die meisten Klöster von vornherein in denJStädten begründet wurden.
Waren das auch vorwiegend Klöster der „ärmeren Orden“ : Franzis¬
kaner, Dominikaner und. Augustiner, so dürfen wir doch annehmen,
daß auch sie in den meisten Fällen Grundbesitz auf dem Lande be¬
saßen, also Renten bezogen. Ein Klarissen- oder Franziskanerkloster
z. B. wurde 1282 durch den Patrizier Humbert zum Widder und seine
Ehefrau Elisabeth zum Jungen in Mainz gegründet. Sie schenkten alle
ihre Güter, Einkünfte und Gerechtsame in den elf Dörfern Weiterstatt
Astheim , Bubenheim , Fiersheim , Partenheim und Alsheim an das
Kloster, das bald durch weitere Schenkungen noch begüterter wurde.
Belege bei Arnold, a. a. 0. S. 175. Nach den Angaben desselben
Gewährsmannes gab es im 13. Jahrhundert in Worms acht Klöster,
in Mainz zehn, in Speier sechs. Über die Klöster in Wien: H. von
Voltelini, a. a. 0. S. 25 f. ; über den reichen Grundbesitz der kirch¬
lichen Institute Wiens im Lande ebenda S. 48 f. Die Klöster Wiens
werden gegründet, um den Glanz der Stadt zu heben: Rieh. Müller,
1 Allgemeine Klösterverzeichnisse für Deutschland bei A. Hauck,
Kirchengeschichte 4 (1913), 975 ff. M. Schulte, Der Adel und die
deutsche Kirche. 1910.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 149
Wiens räumliche EntA. usw. in Gesch. d. St. W. II. 1, 155 ff. Über
die Klöster in London: W. Stanhope, Monastic London. 1887.
Neben den Kirchen und Klöstern sind für viele deutsche
Städte auch die geistlichen Kitter orden von Bedeutung
geworden , die hier eine eigene Kommende errichteten und bei
ihrem bekannten Keichtum erhebliche Rentenbeträge in den
Städten zusammenziehen und zum Verzehr bringen konnten1.
Den geistlichen Rentnern gesellen sich nun die weltlichen
Rentenberechtigten zu. Zunächst will ich wenigstens im Vorbei¬
gehen einer Kategorie originärer Städtebildner Erwähnung tim,
die doch wohl für manche Stadt (Bologna, Paris, Oxford) nicht
ganz ohne Bedeutung gewesen sind: ich meine die Schüler-2
und Studenten3, die ihren „Wechsel“ von auswärts bezogen.
Sie erhielten gewiß sich selbst aus ihrer eigenen Tasche und
manchen caupo, manche puella außerdem.
Daß die Städte des Mittelalters, zumal in den ersten Jahr¬
hunderten ihres Bestehens, überreich gewesen seien an welt¬
lichen „Grundherrn“, das heißt Personen, die auf einem.
Hofe, in einer burgartigen Behausung, einem Kastell, einer torre
innerhalb der Stadtmauern wohnten und außen Grundbesitz hatten,
den sie entweder von hörigen Bauern in eigener Regie bewirt¬
schaften ließen oder den sie verpachtet hatten oder von dem sie
Zins erhoben : darüber herrscht wohl keine Meinungsverschieden¬
heit. Und das allein ist das Phänomen, um dessen Feststellung
mir hier zu tun ist. Während ich dahingestellt sein lasse : welchen
Ursprungs der Landbesitz dieser Grundherrn, welchen ständischen
Charakters sie selbst gewesen seien; ob Freie, ob Ministeriale,
ob Landadel, ob Stadtadel. Denn für die Frage, die uns hier
beschäftigt, sind alle diese Unterschiede belanglos. Hier ist allein
von Bedeutung die Tatsache, daß in den mittelalterlichen Städten
in großer Anzahl Landrentenberechtigte ansässig waren. Leider
besitzen wir (meines Wissens) für keine Stadt zitfernmäßige Fest¬
stellungen über die Zahl und den Besitz der weltlichen Grund-
1 Arnold, a. a. 0. S. 178 ff. (Regensburg, Speier, Köln, Mainz,
Straßburg, Basel, Worms); Bücher, a. a. 0. S. 514 (Frankfurt
a. M.).
2 Über Klosterschulen und ihre Verbreitung in Europa handelt
ausführlich Montalembert, Die Mönche des Abendlandes, deutsche
Ausgabe 6 (1878), 169 ff. Vgl. auch v. Maurer, St.V. 3, 57 ff.
3 Für die spätere Zeit siehe vor allem das Werk von F. Eulen¬
burg, Die Frequenz der deutschen Universitäten. 1904.
150
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Herren, die städtisch siedelten : die beste Untersuchung ist wohl
für Florenz angestellt worden. Und hier lassen sich bis Anfang
der 1180 er Jahre 35 „torri“ , das heißt also burgartige Be¬
hausungen grundherrlicher Familien nachweisen1 2, „doch die
wirkliche Zahl mag eine dreifach so große gewesen sein“
Und diese , in den größeren Städten gewiß sehr zahlreichen,
großgrundbesitzenden Familien wurden nun um den Betrag ihrer
Renten Städtebildner : das ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit
des Lesers hinlenken wollte, da ich ihm sonst mit diesen Fest¬
stellungen nichts neues bieten konnte.
Nur zweierlei will ich noch, um das Bild etwas zu beleben,
hinzufügen :
Erstens : wenn Grundrentenbezieher, die in der Stadt leben,
Städtebildner sind (woran niemand mehr zweifeln dürfte, der
meine Darlegungen gelesen hat), so ist es offensichtlich, daß eine
Stadt umso größer und reicher sein wird, je mehr Grundrenten
in ihr zum Verzehr gelangen. Also je mehr der einzelne Rentner
an Revenuen bezieht, oder je mehr Rentner sich in der Stadt
vereinigen.
Mit anderen Worten:
Die Höhe der ländlichen Grundrente , die in der Stadt ver¬
zehrt wurde, hing ab von der Anziehungskraft, die eine Stadt
auf die Großgrundbesitzer des Landes auszuüben vermochte,
einerseits, von der Fruchtbarkeit der Gebiete andererseits, die
sich in der Verfügungsgewalt der ursprünglich städtischen oder
später urbanisierten Grundeigner befanden. Man muß mehr, als
bisher geschehen, darauf achten, daß für die Entwicklung der
Städte im Mittelalter (aus den angeführten Gründen) viel weniger
ihre sogenannte Verkehrslage, als die Fruchtbarkeit und die Be¬
völkerungsdichtigkeit ihrer Landschaft, bestimmend waren. Hier
lag der Vorsprung, den schon die Natur Italiens und Flanderns
1 Santini, Societä delle torri im Arcli. stör. Ser. IV. Vol. 20.
Davidsoh-w. in seinen „Forschungen“, S. 121: „Türme in der Stadt“.
2 Davidsohn, Gesell, von Florenz 1, 554.
Über die bürgerlichen Behausungen der weltlichen Grundherreu in
den deutschen Städten verbreitet sich v. Maurer, St.V. 2, 9 ff.
In Frankreich : „multi nobiles oppidani erant, qui magnorum
possessores fundorum, in praecipuis baronibus nativae regionis pollebant,
et multis magnae strenuitatis militibus, hereditario jure praeminebant“
(1098). Orderic Vital. IV, p. 49, bei Flach 2, 368. — Das Verzeichnis
der Hotels des Grands in Paris am Ende des 13. Jahrhunderts siehe
in der Coli, des docum. ined, Ser. I, 8 (1837), 627 f.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 151
gewährte; denn die Länder dieser glichen schon früh im Mittel-
alter einem üppigen , wohlangelegten Garten. Man muß di6
Schilderungen von der flandrischen Landschaft in der Philippide
lesen, um sich das richtige Verständnis für die frühe Blüte der
niederrheinischen Städte zu verschaffen. Man muß auch beachten,
daß beispielsweise die flandrischen Seestädte wie Nieuport, Arden-
burg , Dam und auch Brügge viel später zu Reichtum gelangen
als die binnenländischen Städte wie Ypern und Gent. Abei
natürlich war die Voraussetzung für die Ausnutzung jener gün¬
stigen Naturbedingungen, daß die Mehrprodukte des Landes in
der Stadt verzehrt werden konnten , und dazu bedurfte es der
Einbeziehung der Grundherrn in die Kreise der städtischen Be¬
völkerung. Diese aber ist in verschiedenen Ländern in sehr ver
schiedenem Maße erfolgt. Weshalb , ist hier nicht zu erörtern.
Man wird annehmen dürfen, daß der Einfluß der römischen, voi-
wiegend städtischen Kultur einen wesentlich bestimmenden Ein¬
fluß ausgeübt hat. Deshalb doch wohl in Italien 1 die starke Tendenz
des Landadels zur freiwilligen Urbanisierung, deshalb eine stärkere
Konzentration ländlicher Großgrundbesitzer in den Städten über¬
all, wo außerhalb Italiens das Römertum seine Spuren zurück¬
gelassen hatte : stärker in den rheinischen und südlichen Gebieten
Deutschlands, als in den unwirtlichen Kolonisationsländern des
Nordens und Ostens. Aber es mögen auch andere Umstände
bestimmend mitgewirkt haben. So hat in England eine eigen¬
tümliche Gestaltung des Verfassungslebens wie des Erbrechts
frühzeitig eine Abstoßung der jüngeren Söhne des hohen Adels
in die Städte, sowie eine Verschmelzung der Gentry mit dem
Bürgertum zuwege gebracht. In Italien hat fernei die zw angs
■weise Einsperrung des Landadels in die Städte eine große Rolle
gespielt2; in Flandern und Brabant war die Entwicklung ähnlich3.
1 Lange vor dem gewaltsamen inurbamento „batten die Lockungen
des Behagens und der Geselligkeit einzelne Geschlechter veranlaßt,
statt in einem Turme auf einsamem Bergesgipfel sich m der Stadt
niederzulassen“. Davidsohn, Geschichte von Florenz 1, 343. 1 ür
Venedig: R. Heynen, Zur Entstehung des modernen Kapitalismus
in Venedig (1905), 88. , , ,
2 Über das ‘Inurbamento defla nobiltä’ findet man den gesuchten
Aufschluß z. B. bei Muratori, Antiqu. Diss 47 ; v. Bethmann-
Hollwe0- Ursprung der lombardischen Städtefreiheit, o. 104 n. ;
0 Bertagnolli, Vicende delfagricoltura (1881), p. 175; E. Poggi,
(’enni storici delle Leggi sull’agricoltura (1848), 2, 163 ff, und in der
ersten Auflage dieses Werkes 1, 313 ft.; 2, 198 f.
a piehe die erste Auflage 1, 311 f- und die dort angeführte Literatur.
152
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
In derselben Zeit, in der die italienischen Kommunen für die
Zusammenballung vieler Bentenfonds in ihren Mauern durch das
Inurbamento Sorge trugen, warfen die deutschen Städte den
Adel zu den Toren hinaus :
Das Freiburger, das Hamburger (1120) und andere Stadtrechte
verboten dem Adel, in der Stadt zu wohnen — nullus de homi-
nibus vel ministerialibus ducis vel miles aliquis in civitate habi-
tabit, bestimmt das Stadtrecht von Freiburg — zu derselben
Zeit als die mächtige Janua den Markgraf Alderamo (1135), den
Grafen von Lavagna (1138) und andere Große der Landschaft'
schwören läßt : ero habitator Janue per me vel per* filium meum
et tenebor adimplere sacramentum compagne, als in einer kleinen
Stadt, wie Treviso, während eines Jahres (1200) über 60 zum
Teil mächtige und reiche Land her ren gezählt werden, die Bürger¬
recht erworben hatten1.
Kein Wunder, daß bei dieser verschieden gestalteten Politik
Freiburg Freiburg und Genua Genua wurde — möchte man fast
sagen. Jedenfalls: darüber darf kein Zweifel obwalten, daß, wenn
als starkbestimmender Faktor für die Entwicklung- der Städte im
Mittelalter die größere oder geringere Agglomeration des Gro߬
grundbesitzerstandes sehr erheblich in Betracht kommt, auch
ein großer Teil der Unterschiedlichkeit, den die Geschichte der
Städte hier oder dort aufweist, auf die unterschiedliche Gestaltung
des uns eben beschäftigenden Verhältnisses zurückzuführen ist.
Diese schlichte Erkenntnis hatten die Beobachter im 16. Jahr¬
hundert auch schon gewonnen: „pleraeque Italiae urbes augustiores
et majores sunt urbißus Galliae aut reliquae Europae idque
quoniam nobiles Italiae urbes inhabitant“ sagt der bis heute
beste Städtetheoretiker2. Heutzutage sieht man so einfache Zu¬
sammenhänge nicht mehr.
Die zweite Anmerkung, die ich zu diesem Punkte: Städte¬
bildung durch Landrentenagglomeration machen wollte, ist diese :
Es muß im Mittelalter eine Zeit gegeben haben — ich denke
es ist das 10. und 11. Jahrhundert vornehmlich — , in der eine
plötzliche Zusammenballung ländlicher Grundbesitzer an ein¬
zelnen Punkten erfolgt. Diese Punkte sind die befestigten oder zu
befestigenden oder doch als Verteidigungspunkte, also in Summa
1 Bonifaccio, Istoria di Trivigi (1744), p. 153.
2 Joh. Boteri, Libri tres de origine urbium earumque excellentia
et augendi ratione etc. 1665. Lib. II, Cap. X. (Die Schrift erschien
zuerst in italienischer Sprache 1589.)
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 158
als Festungen ausersehenen Plätze, und die an diesen Punkten
sich in größerer Anzahl vereinigenden Landrentenbezieher, und
also Städtebildner sind die Milites, ist die Besatzung der Burg¬
mannen, die man zur Verteidigung jener bald sich zu Städten
entwickelnden Orte heranzog. Sie wurden, soviel ich sehe, ein
wichtiger Faktor in der Entstehung der Stadt. Denn sie schufen
mit einem Male einen größeren Nahrungsspielraum für zahlreiches
Volk. So daß man auch sagen könnte : die mittelalterliche Stadt
ist (nicht nur in fortifikatorisch-architektonischem, sondern auch
— und gerade — im ökonomischen Verstände) vielfach als Festung
erwachsen; richtiger als Garnisonstadt; denn nicht die Mauern
und die Burg ernährten ihre Bevölkerung, sondern die Milites,
die in der Burg lagen und Konsumtionsfonds heranzogen. Denn
natürlich waren die Castrenses , die Castellani , die milites mit
irgendwelchen Gütern — den Burglehen — belehnte Männer,
die also die Renten dieser Güter in der Stadt, wo sie garni-
sonierten zum Verzehr brachten.
Eine sehr anschauliche Darstellung der ökonomischen Stellung des
Males gibt Widukind, c. 35 (MG. SS. 3, 432).
Der sich an diese Stelle anknüpfende Streit: ob die milites agrarii
heerbaunpflichtige Bauern oder Dienstleute des Königs waren: siehe
Dietr. Schäfer in den Sitzungsberichten der Berl. Akad. der Wiss.
XXVI, 1905, 25. Mai, und vgl. dazu H. Delbrück, Geschichte der
Kriegskunst 3 (1907), 93 f. 109 f. ist für die hier belichteten Zu¬
sammenhänge belanglos. Hauptsache ist: daß „ceteri . . octo seminarent
et meterent frugesque colligerent nono et suis eas locis reconderent.“
Bisher ist in der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte der mittelalter¬
lichen Städte die Stadt als Garnison nur nebenbei behandelt, zudem
meistens unter verfassungsgeschichtlichem oder topographischem Ge¬
sichtspunkt.
Ich verweise einstweilen auf folgende Schriften, in denen die
verfassungsrechtliche , fortifikatorische usw. Seite des Problems der
mittelalterlichen Festung beleuchtet ist:
Deutschland: Inama, DWG. 2, 99 Bf. Emil v. Loeffler, Ge¬
schichte der Festung Ulm. 1881. Seb. Schwarz, Anfänge des
Städtewesens in den Elbe- und Saale-Gegenden. 1892. G. Köhler,
Geschichte der Festungen Danzig und Weichselmünde. 2 Tie. 1893.
W. Varges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in Jahrb.
f. N.Ö. 6, 163 ff.. „Die Stadt als Festung“. S. Rietschel, Das
Burggrafenamt. 1905. Clem. Kissel, Die Garnisonbewegungen in
Mainz von der Römerzeit an. 1907. Außerdem natürlich sind die
allgemeinen Werke zurate zu ziehen, vor allem immer die riesige
Materiaisammiung v. Maurers.
Für Böhmen insbesondere siehe J. Lippert, Soz.Gesch. von Böhmen
2 (1898), 169. Alle böhmischen Städte von Bedeutung waren Gauburgen,
154
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Für England hat Maitland, Domesday and beyond I. § 9 eine
ganz ähnliche Verfassung nachgewiesen, wie sie Deutschland in seiner
Burgwardverfassung besaß. Die stärkste Festung des Landes war
London. In ihr spielt die Besatzung auch verfassungsgeschichtlich
(wie ja übrigens in den meisten größeren Städten überall) eine hervor¬
ragende Bolle. Als der Bekenner ein Schreiben nach London schickt,
adressierte er es an den Bischof, den Portreeve und die burh-thegns
(das sind also just die drei hervorragenden Städtebildner!). Der Stadt¬
graf von London heißt schon in den ältesten angelsächsischen Quellen
Wicgerefa.
Frankreich im allgemeinen behandelt Flach, Origines 2, 79.
330 ff.; die Champagne im besonderen Eene Bourgeois, Du
mouvement communal dans le comte de Champagne aus XII® et
XIII® siede. Pariser Diss. 1904. Dieselbe Verfassung wie in Eng¬
land und Deutschland: „Le domaine propre (sc. du comte de Ch.)
etait . . . divise en Chätellenies ou Prevötes , qui avaient chacune
pour chef-lieu le principal centre de population , point specialement
fortifie, oü se trouvait une forteresse qualifie de chäteau ä l’exclusion
des autres forteresses du meme district. Les Prevötes des comtes
de Ch. etaient en 1152 au nombre de vingt-huit, dont les chefs-lieux
sont aujourd’hui dans six departements “ : Siehe die Liste a. a. 0.
S. 19.
Für Belgien siehe z. B. Alph. Wauters, Les libertes communales
1 (1878), 209. Alle belgischen (Groß-)Städte sind Garnisonen seit
dem 10. Jahrhundert: Cambrai, Utrecht, Lüttich, Brüssel usw. Pirenne,
Les villes flamandes avant le XII. siede in den Annales de l’Est et
du Nord. Vol. I. 1905.
Für Italien ist auf die lokalgeschichtlichen Werke zu verweisen.
Am besten sind wir natürlich über Toscana und Florenz unterrichtet :
die Stadt glich „einem großen und volkreichen Kastell, das zur Graf¬
schaft in einem sehr ähnlichen Verhältnis stand wde die einzelnen
Burgen zu ihrem Bezirk“. Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 331.
Aber auch Gregorovius, Geschichte der Stadt Born im Mittelalter,
enthält viel Material.
2. Die Produzenten
Es ist kaum eine Stadt denkbar, in der nicht ein Teil der
Bevölkerung sich selbst und andere durch gewerbliche oder
kommerzielle Tätigkeit erhielte, das heißt also (wie wir aus dem
vorigen Kapitel wissen) sich den Lebensunterhalt durch Austausch
der eigenen Leistungen von außen her selbst beschaffte. Auch im
Mittelalter haben diese Bestandteile in keiner Stadt ganz ge¬
fehlt. Es wird Zeit, daß wir uns ihrer erinnern und sie einen
mich dem andern in ihrer Eigenart begreifen lernen.
La wird zunächst die Arbeit der Städte für die umliegende
Landschaft zu erwähnen sein: Erzeugung gewerblicher Gegen¬
stände für die Bauern; Lieferung fremder Einfuhrartikel an die-
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 155
selben. Eine Stadt, deren Bewohner vorwiegend von diesem
Verkehr mit der umliegenden Landschaft lebt, nennen wir eine
Landstadt, auch wohl einen Marktort. Im Mittelalter wird
zweifellos in noch größerem Umfange als heute dieser Typus
der Stadt bestanden haben; es werden die Flecken von 500 bis
1000 Einwohnern gewesen sein, in denen nebenher stark Landwirt¬
schaft wie heute getrieben wurde, die also kleine Ackerstädtchen
ihr Lebtag blieben. Die allermeisten jener 270 „ Gründungsstädte “
im Osten Deutschlands zum Beispiel, von denen wir schon erfuhren.
Auch in den großen Städten, denen also, an die wir vornehmlich
denken, wenn wir von Städten sprechen, wird ein Austausch
mit den Bauern (und noch mehr mit den Grundherren) der
Umgegend bestanden, und ein Teil der Bevölkerung (Hand¬
werker und Krämer) wird davon gelebt haben. Allzu umfang¬
reich wird man sich jedoch diesen Absatz an das platte Land
im Mittelalter nicht vorstellen dürfen: dazu war die Eigen¬
wirtschaft noch zu stark verbreitet und der Kulturstand der
ländlichen Bevölkerung nicht hoch genug. Man darf nicht etwa
denken, daß dieser Austausch zwischen Land und Stadt den
Lebensnerv der mittelalterlichen Stadt gebildet hätte. Davon
kann keine Kede sein, daß die Bauern etwa um den Betrag,
um den sie auf den Wochenmärkten ihre Erzeugnisse an die
Städter verkauften, nun gewerbliche und fremdländlische Er¬
zeugnisse bei diesen eingekauft hätten. Vielmehr wunderte von
dem Barerlös wohl der größere Teil in die Taschen der Grund¬
herren in Land und Stadt, und diese kauften nun mit dem Zins-
gelde (oder dem Erlös für die ihnen gelieferten Naturalien) den
städtischen Handwerkern und Händlern ihre Waren ab. So daß,
wenn sie in der Stadt, wohnten, diese von ihnen und nicht von
sich selber lebten.
Etwas größere Bedeutung mag für manche der mittelalter¬
lichen Städte der internationale Handel gehabt haben.
Aber auch von dessen städtebildender Kraft darf man sich keine
übertriebenen Vorstellungen machen.
Die Handelsstadt hat ökonomisch das Eigenartige, daß sie
ihren Unterhalt in kleinen Beträgen aus einem sehr weiten
Kreise bezieht h Und diese Eigenart ihrer Existenz steckt der
Ausdehnung der reinen Handelsstadt enge Grenzen. Ganz große
1 „ils tirerent leur subsistance de tont l’univers“ : Montesquieu,
Esprit des Lois. Livre XX, Ch, V,
156
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
reine Handelsstädte hat es niemals gegeben und kann es nioht
geben, denn entweder ist die Transporttechnik noch so wenig
entwickelt, daß die Ausdehnung des Handels nur eine geringe sein
kann1, oder aber bei entwickelterer Transporttechnik ist die
Handelsprofitrate verhältnismäßig so niedrig, daß schon un¬
geheure Warenmengen umgesetzt werden müssen, um ein be¬
trächtliches Wertquantum in den Händen der Kaufleute als Ge¬
winn und damit Unterhaltsstoff für die städtische Bevölkerung
zurückzulassen. Der Laie — und die meisten „Theoretiker“, die
über Städtebildung geschrieben haben, sind nationalökomiscli
Laien — pflegt sich nicht klarzumachen, daß von dem Waren¬
strom, der durch eine Stadt hindurchgeht , noch kein Sperling
in dieser Stadt leben kann, es sei denn, er pickte sich aus den
Getreide- oder Erbsensäcken sein Futter heraus. Worauf es
allein ankommt, ist ja wohl doch der Wertbetrag, auf dessen
Bezug sich die Kaufleute ein Hecht erwerben, indem sie die
Güter durch ihre Stadt bewegen, ist das, „was hängen bleibt“,
was „verdient“ wird, ist der Handelsprofit mit einem Wort,
und der pflegt bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zu dem
gehandelten Wertquantum zu stehen. Ist er verhältnismäßig-
hoch (wie im Mittelalter) so ist der Umsatz klein. Und wie
klein er im Mittelalter war, werden wir noch sehen. Also selbst
in den Handelsmetropolen wird immer nur ein kleiner Teil der
Bevölkerung vom „Handel“ haben leben können. Wenn wir
ein Durchschnittseinkommen von nur 100 Mk. heutiger Währung
für das Lübeck des 14. Jahrhunderts annehmen und einen Profit¬
satz von 20 °/o vom Umsatz (!), hätte der Handel selbst in Lübeck
nur etwa 6000 Menschen ernährt2 3.
Bleibt das Exportgewerbe als städtebildender Faktor zu er¬
wähnen übrig. Soweit es in Betracht kommt, läßt es den Typ
der Industriestadt entstehen. Und den hat es sicher auch
im Mittelalter schon gegeben, zweifellos auch auf der Grundlage
einer gewerblichen Produktion im engeren Sinne (d. h. der Stoff¬
veredelung). Hier werden Städte, die eine gewerbliche Spezialität
erzeugten, gewiß mit dieser ein paar Hundert, in wenigen Fällen
ein Paar Tausend Menschen haben ernähren können: Mailand
mit Waffen, Nürnberg mit seinen „Nürnberger Waren“, Konstanz
mit seiner Leinwand, Florenz mit seinen Tüchern. Doch sind
1 „extensive commerce checks itself , by raising the price of all
labour and Commodities“: D. Hume, Essays 2 (1793), 208.
3 Siehe die dieser Rechnung zugrunde liegenden Ziffern oben S. 1 46.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung det mittelalterlichen Stadt 157
das immer nur Ausnahmen. Und die Entwicklung dieser
Industrien fällt zumeist in die späteren Zeiten des Mittelalters,
so daß sie für die erste Entstehung und Ausweitung der Stadt
kaum in Betracht kommen.
Eher haben schon für die Anfänge des Städtewesens be¬
stimmte Erzeugnisse des Grund und Bodens (oder des Meeres),
auf dem oder an dem die Stadt lag, Bedeutung erlangt. Ich
denke an die Salzstädte 1 , an die Berg- (Silber)-Städte , an die
Weinstädte, am die Heringsstädte. Aber ich muß wiederum
davor warnen, die städtebildende Kraft auch dieser Erwerbsquellen
zu überschätzen.
Sehen wir uns eine der ersten und meistbedeutenden Berg¬
städte des Mittelalters an: die Silberstadt Freiberg in Sachsen.
Sie fängt etwa 1185 an, sich zu entwickeln. Und zwar rasch,
wie das begreiflich ist. „Dieselben Ursachen, die in unserer Zeit
in den Minendistrikten Kaliforniens über Nacht volkreiche Städte
entstehen ließen , führten auch im Münzbachtal Ansiedler aus
allen Gegenden zusammen; die neue Ansiedlung wuchs daher
sehr schnell und hatte bald den Umfang erreicht, den sie dann
Jahrhunderte lang bewahren sollte.“ 2 Und das Ergebnis? Im
Jahre 1259 überläßt Heinrich der Erlauchte den „fimum qui
colligitur in foro“ schenkweise dem Hospital, woraus wir schließen
können, erstens „daß seine Menge nicht gering war“, zweitens
daß nachts auf dem Markte das Stadtvieh kampierte. (Freilich
wäre es auch denkbar, daß der Mist von dem aufgetriebenen
Schlachtvieh herrührte?) Allerdings wurde Freiberg in Laufe
des Mittelalters 'die größte sächsische Stadt. Das heißt aber?
Es hatte 379 Hausgrundstücke und somit höchstens 4500— 5000 Ein¬
wohner 3. Also von allzu starker Wirkung ist der Bergbau selbst
dieser ersten Silberstadt Deutschlands nimmer gewesen.
Nur ein Faktor spielt, soviel ich sehe, bei der Entwicklung
der mittelalterlichen Städte neben der Akkumulation von Land-
1 Lüneburg war im Jahre 1227 die bedeutendste Stadt des Herzog¬
tums neben — Braunschweig: Herrn. Heineken, Der Salzhandel
Lüneburgs (Hist. Studien Heft 63. 1908), 21.
2 Hub. Ermisch, Wanderungen durch die Stadt Freiberg im
Mittelalter (Neues Archiv für sächsische Geschichte; herausgeg. von
H. Ermisch 12 [1891], S. 92). Vgl. damit C. E. Leuthold, Unter¬
suchungen zur älteren Geschichte Freibergs (in demselben Archiv
Bd. 10 [1889]), 304 ff.
8 H. Ermisch, Zur Statistik der sächsischen Städte im Jahre 1474
(in demselben Archiv 11, 148. 150).
|58 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaltet
renten eine erhebliche Rolle, das ist der Geldkandel, das
Bankiergeschäft oder der Wucher, wie man in den einzelnen
Fällen entscheiden mag. Von ihm und seiner Bedeutung werde
ich noch näheres im weiteren Verlauf dieser Darstellung mitteilen.
Hier will ich nur schon darauf hinweisen, daß. aus der instinktiv
richtigen Wertung des Wuchers als städtebildenden Faktors sich
wohl das Bemühen mancher um das Gedeihen ihrer Stadt besorgter
Stadt-herm erklärt, die Juden zur Ansiedlung zu veranlassen.
So sagt im Eingang des Speyer-Privilegiums vom Jahre 1084
der Bischof Rüdiger: „Cum ex Spirensi villa urbem facerem,
putavi milies amplificare honorem loci nostri , si Iudaeos colli -
gerem.“ 1 Immerhin wird auch der Geldhandel nur für einige große
Städte einen wesentlichen Einfluß auf die Bevölkerungszahl ge¬
habt haben und wird in den meisten Städten hinter der städte¬
bildenden Kraft des direkten Dandrentenbezuges der städtischen
Grundherrn in den Hintergrund getreten sein. Wie überragend
dessen Bedeutung für die mittelalterliche Stadt gewesen sein
muß, ergeben schon die wenigen Andeutungen , die ich auf den
vorigen Blättern gemacht habe. Dieser Eindruck seiner Prä-
ponderanz wird verstärkt , wenn wir irgendeine der größeren
Städte des Mittelalters auf ihren ökonomischen Artcharakter hin
prüfen. Wir finden dann, daß reine „Industriestädte“ (wie Frei¬
berg) ganz klein bleiben, daß aber in jeder Stadt über 10000 Ein¬
wohner eine Häufung mächtiger Konsumenten stattfindet. Mag
es Venedig oder Florenz, Genua oder Mailand, Basel oder Stra߬
burg, Nürnberg oder Augsburg, Lübeck oder Hamburg, Brügge
oder Gent, Ypern oder Lüttich, Paris oder London, Wien oder
Prag; sein: immer treffen wir in diesen Städten an: einen oder
mehrere residierende Fürsten, König, Markgraf, Herzog, Erz¬
bischof, Bischof usw. ; eine überwältigende Menge geistlicher
Anstalten; eine sehr große Zahl weltlicher Grundherrn. Freilich,
ziffernmäßig läßt sich der Anteil, den diese Elemente an der
Städtebildung haben, nicht nachweisen, aber daß sie die hervor¬
ragenden, ausschlaggebenden Städtebildner gewesen seien , wird
außerordentlich wahrscheinlich :
1. auf Grund der allgemeinen Sacherwägung;
2. durch die eben erwähnte Tatsache , daß sie in keiner be¬
deutenden Stadt des Mittelalters fehlen;
1 J. Aronius, Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen
und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273 (1902), Nr. 168,
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 159
3. durch die Beobachtung, daß, wo sie sich zusammenfanden,
jedesmal auch eine größere Stadt entstanden ist;
4. durch die andere Beobachtung, daß dort, wo sie fehlen,
niemals im Mittelalter eine hervorragende Stadt er¬
wachsen ist.
Möchte aber jemand trotz alledem noch an der Richtigkeit
meiner These zweifeln, daß die mittelalterliche Stadt vornehmlich
und jedenfalls in den ersten Zeiten ihres Bestehens Konsumtions¬
stadt gewesen ist und also ihre Entwicklung der Masse der
an eurem Punkte angehäuften Landrenten (rrnd Steuern) zu
danken hat, der, glaube ich, wird von seinem Zweifel befreit
werden, wenn er sich die Objekte der Städtebildung im Mittel-
alter anschaut , jene sekundären, tertiären usw., also abgeleiteten
Städtebildner, die ja recht eigentlich erst die Städte füllen. Yon
ihnen soll nunmehr die Rede sein.
III. Die Objekte der Städtebildung
Ich teile die Stadtfüller in zwei Gruppen, unmittelbare und
mittelbare Brotnehmer. Die unmittelbaren Brotnehmer sind die¬
jenigen, die im Dienste der Städtebildner stehen und für Dienste,
die sie diesen leisten, bezahlt, also von ihnen selbst unterhalten
werden : hierher gehört die Dienerschaft im weitesten Sinne ;
gehören die Hofleute, aber auch die Beamten des Königs,
des Bischofs; gehört endlich auch die ganze Klerisei: Priester,
Mönche usw. Mittelbare Brotnehmer sind die unabhängigen
Handwerker imd Händler, die für die Städtebildner gewerbliche
Erzeugnisse* hersteilen oder aus der Fremde Güter herbeischaffen.
Leider fehlt es man meines Wissens wiederum an einer irgendwie
brauchbaren Übersicht über den zahlenmäßigen Umfang dieser ver¬
schiedenen Gruppen der mittelalterlichen Bevölkerung, denn auch
die außerordentlich wertvollen Auszählungen, die Bücher
für Frankfurt a. M. gemacht hat, gewähren noch immer keinen
zuverlässigen Anhalt, ganz abgesehen davon, daß gerade Frank¬
furt kein typisches Bild der mittelalterlichen größeren Stadt (um
die es uns doch in erster Linie zu tun ist) gibt, sowie davon,
daß die späte Zeit, für die Büchers Ermittelungen angestellt
sind, nicht mehr maßgebend für die Entstehung der mittelalter¬
lichen Stadt ist, mit der wir uns hier beschäftigen.
Da mir Lust und Muße fehlen, die Untersuchungen, die hier
nötig wären, um sich ein statistisch einigermaßen gefestigtes
Urteil über den Anteil der einzelnen sozialen Gruppen der mittel-
j(50 Dritter Abschnitt.- Das Ü b er gangs z ei talte i
alterliclien Stadt an ihrer Gesamtgröße zn bilden, insbesondere
aber um festzustellen, wieviele der Städtefüller, namentlich auch
der mittelbaren Brotnehmer, von dieser, wie viele von jener
Kategorie der originären Städtebildner ihren Unterhalt bezogen
(daß diese Untersuchungen mit Erfolg ausführbar wären, daran
zweifle ich auf Grund meiner eigenen Studien keinen Augen¬
blick), so sind die folgenden Darlegungen nur als eine Art von
Grundriß, von Disposition, von Wegweiser als Fingerzeige für
künftige Forschungen zu betrachten (so wie dereinst meine Aus¬
führungen über die Entstellung des bürgerlichen Reichtums in
der ersten Auflage dieses Werkes, die auf so fruchtbaren Boden
gefallen sind).
1. Die Klerisei
„Eo tempore . . Unwanus archiepiscopus metropolem Flamm a-
burgum renovavit, clerumque dispersum colligens, magnam ibidem
tarn civium quam fratrum adunavit multitudinem“, berichtet uns
der Chronist1. Und das wird, wenigstens was die Fratres an¬
belangt, kaum übertrieben sein. Denn der Eindruck, den wir
aus jeder Beschreibung einer mittelalterlichen Stadt empfangen,
ist der, daß es in ihr von Kutten und Soutanen schwarz ge¬
wesen sein muß. Man stelle sich nur vor, daß der größte
Teil der Kirchen und Klöster, die wir heute in den großen
Städten antreften, schon im Mittelalter gestanden hat, als die
Stadt vielleicht den zehnten Teil ihres heutigen Areals umfaßte.
Man muß in den Domvierteln alter, katholischer Städte etwa am
Sonntag spazieren, wenn die Priester in Scharen über die Straße
ziehen, wenn in jedem Hause ein priesterliches Gewand ver¬
schwindet, um sich eine annähernde Vorstellung zu machen von
dem regelmäßigen Aussehen einer mittel alterlichen Stadt, in der
ein Bischof oder ein Erzbischof seinen Sitz hatte. Die Quellen
belehren uns auch, daß in manchen Städten, zum Beispiel Passau,
die Altstadt ausschließlich von der bischöflichen oder klöster¬
lichen Familia bewohnt wurde, während freie Einwohner nur in
der Vorstadt ansässig waren2.
Wer war da auch alles! Zunächst die Herren Prioren, die
Kanoniker, der Clerge primaire: das Domkapital, die Pröbste
und Dechanten der städtischen Stifte, die Äbte der angesehenen
Klöster usw. Dann aber die ganze Schar der niederen Geistlich¬
keit, der Dienerschaft usw., die Vicarii, mansionarii, portionarii,
1 M. Adami, Gesta Hamm. II, 58 (10. Jahrh.) MG. SS. 7, 826. 327.
9 S. Rietschel, Markt und Stadt, S. 36.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 161
capellani , kurz alles, was nicht zum Kapitel gehörte, sondern
hauptsächlich für den Chordienst und zur Verrichtung anderer
geistlicher Funktionen angestellt war.
Einige Ziffern besitzen wir immerhin, um uns von der großen
Zahl der geistlichen Bevölkerung eine Vorstellung machen
zu können. Freilich betrifft die Statistik meist nur die höhere
Geistlichkeit und das spätere Mittelalter. Aber auch diese Ziffern
sind wertvoll, weil sie uns einen Anhalt gewähren, um danach
die Menge der Gesamtgeistlichkeit wenigstens annähernd ab¬
zuschätzen.
Aus einer
späteren Zeit sind
uns die Stellen der Kanoniker
an den Domkapiteln ihrer Zahl nach bekannt1. So hatten bei-
spielsweise das Domkapitel von
Würzburg :
24 Kanoniker
28
domicelli
= 52
(■„domini“)
(d h. jüngere
Mainz :
24
17
Kanoniker)
— 41
Köln:
23
16
= 39
Bamberg:
20
14
JJ
= 34
Trier:
16
24
= 40
Speier :
15
12
;?
= 27 ■
Das war nur die höhere Geistlichkeit des Domkapitels, ähn¬
liche Ziffern wiesen dann die Kapitel der Kollegiatstifte auf.
In Straßburg bestanden im 15. Jahrhundert 116 Präbenden und
Kaplaneien am Dom für die niedere Geistlichkeit, 26 bei St. Thomas,
31 bei St. Peter2. Nach den Ansetzungen Kothes3 gab es im
14. Jahrhundert in Straßburg 343 männliche Geistliche und 626
Nonnen und Beginnen; also etwa 1000 Personen, das wird reich¬
lich ein Zwanzigstel der' gesamten Bevölkerung gewesen sein.
Die Straßburger Diözese hatte gegen Ende des 13. Jahrhunderts
über 800 Weltpriester , die zahlreichen Mönche ungerechnet4.
Die Zahl der Kanoniker am Kathedralkapitel in Lüttich betrug
im 13. Jahrhundert 60 5. Nach der Zählung von 1449 belief sich
1 Dürr im dritten Bande von Ant. Schmidts Thesaurus etc.
(7 Vol. 1772 ff.), §§ 23. 24, p. 190 ff.
2 Grandidier, Etat ecclesiastique de la dioecese de Strassbourg
en 1454 im Bulletin de la Societe pour la Conservation des monu-
ments historiques d’Alsace. 2 6 * ser. 18 (1897), 363 ; zit. bei W. K o th e ,
Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jahrhundert (1903), S. 36.
8 K o t h e , a. a. S. 123.
4 Nach dem Straßburger UB. 2 (1886), Nr. 71.
6 Ferd. Henau x, Hist, du pays de Liege 1 8 (1872), 200. Vgl.
M. L. Polain, Hist, de l’ancien Pays de Liege. Vol. I. 1884.
Sombftrt, Dev moderne Kapitalismus, I. ü
162
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
in Nürnberg, das damals rund 20 000 Einwohner hatte, die Pfarr-
und Klostergeistlichkeit „samt ihren Dienern“ auf 446 Personen,
während Bücher für Frankfurt am Ende des 15. Jahrhunderts
bei einer nur halb so großen Einwohnerzahl einen Personenstand
in den geistlichen Haushalten der Stadt von 390 — 450 heraus¬
rechnet1, das waren etwa 5°/o der Gesamtbevölkerung am Ende
des Mittelalters. In der Reichsstadt Ulm gab es am Beginn des
16. Jahrh. 93 Pfründen n. 0. 2. Münster i. W. hatte (gegen Ende
des 16. Jahrhunderts) 213 Klosterinsassen, 373 Weltgeistliche mit
Anhang, also 596 Geistliche bei 10600 Einwohnern3.
Eine interessante Statistik des Klerus im Mittelalter, die
meist umfassende und am genauesten unterscheidende, die mir
bekannt ist, teilt W. Stubbs in seiner Yerfassungsgeschichte
für einige englische Städte mit4. Danach betrug die Zahl der
ordinierten Personen :
In der Stadt
Akolyten
Subdiakone
Diakone
Priester
Insgesamt
Cirencester (1314):
105
140
133
85
463
Worcester (1314):
50
115
136
109
310
Cambden (1331):
221
100
47
51
419
Worcester (1337):
391
180
154
124
849
Das sind recht
stattliche
Ziffern ,
die sogar nur
für kleine
und mittlere Städte gelten und einen Schluß zulassen auf das
imposante Heer der Kleriker in den größeren Bischofsstädten.
Daß diese in der Tat einen nicht unbeträchtlichen Teil der Stadt
schon durch sich selber ausgefüllt haben, darf nach allem, was
wir wissen und schließen können, nicht zweifelhaft sein.
Die Geistlichen unterhielten nun aber wiederum eine Menge
Gesinde. Seit der Auflösung der Yita communis, sahen wir
schon, bezog jeder Kanonikus sein eigenes Haus, seine Curia.
Der Besitz eines eigenen Hauses bedingte aber mehr eigene
Dienerschaft. Wir begegnen in den Urkunden den mannig¬
fachsten Arten von Dienstboten, die im Dienst der Prälaten
1 Bücher, Bevölkerung Frankfurts a. M., S. 520.
2 Gerh. Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen des Bistums
Konstanz usw. (1907), 103. Vgl. nochHeinr. Schäfer, Pfarrkirche
und Stift (1903), 159 f., und W. Kisky, Die Domkapitel der geistl.
Kurfürsten. 1906.
8 Franz Lethmate, Die Bevölkerung M.s in der 2. Hälfte des
16. Jahrh. (1912), 34.
4 W. Stubbs, Const. Hist. 8S, 378.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 163
stehen: Köchen, Schlüsselverwahrern, Kellermeistern (servientes
cellarii) usw. h
Daneben oleiben die niederen Beamten nnd Dienstboten der
Kapitel selbst bestehen : die ecclesiastici, subsacristae, camerarii,
scntellarii ; die Pförtner, die pnlsatores campanarnm, die portitores
aqnae etc. Beim Halberstädter Domkapitel1 2 3 werden 3 ecclesiastici,
1 subsacrista, 4 camerarii, 1 scutellarius erwähnt; von den unteren
Dienstbotenchargen meist 12, einmal 24.
2. Krieger nnd Beamte
Über die Größe dieser Kategorie sekundärer Städtebilder sind
wir noch weniger unterrichtet.
Daß die Zahl der 'Scutarii5 keine ganz geringe war, dürfen
wir wenigstens für die größeren Städte mit Sicherheit annehmen.
Kietschel nimmt an, daß die 1000 Schilde, über die der Magde¬
burger Burggraf verfügte3 *, möglicherweise die Besatzung dar¬
stellte4. Das wäre ganz enorm. Das gäbe ja schon einen An¬
blick wie ihn heute etwa Potsdam oder Metz darbieten, wo man
über die Kriegsleute stolpert. Aber daß die Burggrafen jeden¬
falls über eine „starke Schar Krieger“ zu verfügen hatten, ist
gewiß5. Sonst würde beispielsweise eine Bauferei, wie sie ge¬
legentlich zwischen den Philistern und den Kriegsleuten ent¬
stand, in einer Stadt wie Straßburg nicht einen solchen Skandal
— solchen clamor ingens — verursacht haben, daß man die
Glocken der Stadt läutete8.
Und die Be amtenschaft? Stellte sie nicht auch ein an¬
sehnliches Corpus dar ? Sie wurde ja im wesentlichen von den
Ministerialen gebildet, von Below, dem diese Leute schon
so manchen Gram bereitet haben, möchte sie am liebsten ganz
1 UB. des Hochstifts Halberstadt 2, 1594; 4, 2678.
2 A. Brackmann, Geschichte des Halberstädter Domkapitels im
Mittelalter in der Zeitschrift des Harzvereins 32 (1899), 69 f.
3 MG. SS. 16, 253.
4 Rietschel, Das Burggrafenamt, S. 330.
° Siehe z. B. für Halle: Perd. Hertzberg, Geschichte der Stadt
Halle a. S. 1 (1889), 18 ff. Die Besatzung der Harzburg bezifferte
sich auf 300 Mann, die der gegenüberliegenden Sachsenburg auf 200.
Quellen bei Waitz, VG. 8, 406. Warum Wh im Text von „sogar
1200“ spricht, weiß ich nicht.
6 „orta est . . . inter vendentes et ementes sedicio per scutarios
regis in suburbio. deinde clamor ingens tollitur, forenses campanae
pulsantur.“ Udalr. Cod. 260. Jaffe, Bibi. V, p. 445; zitiert bei
Kietschel, a. a. O. S. 67.
n*
164
Dritter Abschnitt: Das Übergaugszeitaltei*
aus den Städten verbannen. „Die meisten Städte weisen in
ihren Mauern kaum einen Ministerialen auf“, meint er 1 in
seinem Zorn gegen die Hofrechtstheoretiker. Das geht wohl
— selbst vom rein „verfassungsgeschichtlichen“ Standpunkt aus
betrachtet — ein wenig zu weit. Daß aber Beamte der welt¬
lichen und geistlichen Fürsten in den Residenzstädten wohnten,
mochten sie nun einen Standescharakter haben, welchen sie
wollten, wird auch von Below nicht leugnen wollen. "Wo
sonst als in der nächsten Umgebung ihres Herrn hätten denn
die zahlreichen Würdenträger wohnen sollen, von denen uns die
Quellen berichten2? Werden doch zum Beispiel in Köln einmal
ausdrücklich 25 Personen im bischöflichen Hofhalt genannt3.
Also : es wird schon einen ganz stattlichen Stab von Hofleuten
und „Staatsbeamten“ in den mittelalterlichen Städten gegeben
haben4. Wie viele? vermögen wir allerdings noch weniger mit
Bestimmtheit zu sagen, als bei den Geistlichen.
3. Die Handwerker
Daß unter den Handwerkern, die später einen so großen
Bestandteil der städtischen Bevölkerung ausmachten, von Anfang
an solche gewesen seien, die ihre Arbeit den Bauern in der
Dorfstadt ebenso zur Verfügung stellten, wie sie es früher im
Dorfe getan hatten, oder die ihre Erzeugnisse in der Umgebung
der Stadt verwerteten oder gar damit ferne Messen und Märkte
bezogen, also (mit einem Worte) daß unter den Handwerkern in
den mittelalterlichen Städten von Anfang an originäre Städte -
bildner sich befunden haben, brauchen wir nicht in Zweifel zu
ziehen. Vielleicht gehören jene Wanderhandwerker oder jene,
die wir im 11. Jahrhundert schon nach Worms fahren sahen,
dieser Kategorie gewerblicher Produzenten an.
1 v. Below, Ursprung usw., S. 115.
2 Das meiste Material ist zusammengetragen von v. Maurer in
seiner Geschichte der Fronhöfe usw. Bd. I u. II. Vgl. auch Waitz,
VG. 6 2 (1896), 323 ff. ; 7, 302 ff. (Beamt, der Fürsten.) Nirgends
aber findet man Ziffernangaben.
3 Alb. Barth, Das bischöfliche Beamtentum im Mittelalter, vor¬
nämlich in den Diözesen Halberstadt, Hildesheim, Magdeburg und
Merseburg, in der Zeitschr. des Harzvereins, Bd. 33, S. 322 — 428.
4 Über die frühzeitig (seit Heinrich I.) in London zentralisierte
Verwaltungsorganisation der englischen Könige unterrichtet W. Stubbs,
Const. hist. I5, 406 ff. Die Curia regis umfaßte den Exchequer und
supreme tribunal of judicatur and ministry of justice; in ihr saßen die
Großwürdenträger mit einem Stabe von Beamten.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 1(35
Daß sie aber nur einen kleinen Teil der städtischen Hand¬
werker, namentlich in den ersten Jahrhunderten der städtischen
Entwicklung, ausgemacht haben, daß sie daher für diese selbst
nur gering ins Gewicht fallen, scheint mir sicher zu sein an¬
gesichts des Gesamtcharakters der frühen Städtezeit. Ich meine :
nicht nur die allgemeinen Erwägungen, sondern auch die wenigen
Quellenstellen, die uns von den ersten Phasen des Handwerks
einige Kunde geben, führen uns zu der Annahme, daß sich das
Gros der Handwerker um die in der Stadt ansässigen Grund¬
herrn gruppierte; daß sie von diesen die Aufträge erhielten;
daß sie diesen also die Möglichkeit allein verdankten, als freie
Städter zu leben.
Dieser Sachverhalt tritt besonders deutlich in die Erscheinung,
wo die Städte gründende Grundherr schaft ein einsames Kloster
ist; wenigstens können wir hierfür einige besonders lebendige
Schilderungen aus den Quellen namhaft machen. Aber der
Hergang war imgrtm.de überall derselbe , genau so wie er uns
etwa für St. Edmundsburg in England, für die Abtei Tiron in
Frankreich, für Zweifalten in Deutschland überliefert ist: wo
wir genau verfolgen können, wie sich eine Anzahl Handwerker
itm das Kloster herum ansiedelt, um für dieses zu arbeiten.
Über die Entstehung St. Edmundsburg berichtet uns Domesday
wie folgt: „In der Stadt, wo St. Edmund begraben ist, hielt zur Zeit
des Königs Edward der Abt Balduin 118 Männer, um für die Lebens¬
bedürfnisse der Mönche zu sorgen. Die Stadt war früher 10 Mk.
wert, jetzt 20. Jetzt umfaßt die Stadt ein größeres Landgebiet,
welches damals (zur Zeit Edwards) noch gepflügt und besäet war.
Es befinden sich dort im ganzen: 80 Priester, Diakone und Kleriker;
28 Nonnen und arme Brüder. Der Handwerker sind 75: Bäcker,
Brauer, Walker, Schuhmacher, Schneider, Köche, Türhalter, Diener,
und diese alle bedienen den Abt und die geistlichen Brüder. Jetzt
stehen dort im ganzen 342 Wohnhäuser auf dem Grund und Boden
von St. Edmund, wo zur Zeit des König Edward noch Ackerland war.“
Diese Schilderung könnte mit geringen Änderungen (statt Abt
setze Bischof, König, Markgraf, Ritter oder dergl.) für alle mittel¬
alterlichen .Städtegründungen wiederholt werden.
Ferner wollen wir doch nicht vergessen, daß in der fronwirt¬
schaftlichen Organisation schon eine Menge gewerblicher Arbeiter
im Dienste des Grundherrn tätig gewesen waren, die nun zwar
rechtlich „selbständige“ Produzenten waren, ökonomisch aber ihre
Existenz von der Grundherrschaft nach wie vor ableiteten.
Vor allem aber scheint mir diese Erwägung meine Auffassung
zu bestätigen: daß die Natur der meisten spezifisch städtischen
1G6
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Handwerker gerade in den frühen Zeiten der Städte nur eine
Beschäftigung im Aufträge des städtischen Grundherrn denken
läßt. Alles was über das allernotdürftigste hinaus produziert
wurde (und gerade in dessen Herstellung betätigten sich doch
die nun sich entwickelnden städtischen Handwerker) konnte
ja nur von den Grundherrn bezahlt werden. Freilich auch von
denen, die auf dem Lande saßen. Und soweit der Absatz an
diese stattfand, war der Handwerker originärer Städtebildner.
Aber wir dürfen doch nicht vergessen, daß (zumal in Italien
und den Niederlanden, aber vielfach doch auch in den übrigen
Ländern) gerade die wichtigsten und reichsten Grundherrn —
vor allem die geistlichen und weltlichen Fürsten, fast alle wohl¬
habenden Kirchen usw. — in den Städten ihren Sitz hatten.
Nur der Kitter saß oft auf seiner einsamen Burg im Lande
außerhalb der Stadt. Und dessen Bedarf an gewerblichen Er¬
zeugnissen konnte ganz gewiß nicht in Betracht kommen gegen¬
über dem Bedarf all der grund- und landesherrlichen Besteller
in der Stadt selbst.
An einem für die Entwicklung des städtischen Handwerks
besonders wichtigen Gewerbszweige können wir nun aber mit
Bestimmtheit nachweisen, daß er sich nur im Schatten der
Grundherrschaft entfalten konnte: ich meine das Baugewerbe.
Bauten aufführen und Städte gründen waren für die Zeiten
als die Städte ihren ersten bedeutenden Aufschwung nahmen,
fast identische Begriffe : „Magadaburgensem aedificare cepit civi-
tatem . . . nam urbem hanc ... et acquisivit et construxit h
Die Mauern wurden nun freilich wohl oft genug von den
umliegenden Bauern erbaut, die diese Arbeit als Frondienst zu
leisten hatten1 2. Aber es wurden wohl auch dauernd Arbeiter
dadurch herangezogen3. Und wenn es nun innerhalb der Mauern
zu bauen galt, da mußten jedenfalls freie Handwerker herbei¬
geholt werden: „Acquiescente abbate circumquaque invitati
sunt artifices et cimentarii, cesores lapidum et alii operarii“4.
1 Tliietm. Chron. II. 2 MG. SS. 3, 714.
2 „opus construendae m'bis a circummanentibus illarum partium
incolis nostro regio jure debitum.“ Urk. von 965 MG. D. Nr. 300.
3 „ . . . eos qui ad civitatem vestram edificandam confluxerunt“,
Magdeb. Schöffenweistum aus dem 13. Jahrh. bei von Maurer:
St.Verf. 1, 122.
4 Wilhelmi Chronicon Andrensis monasterü MG. SS. 24, 724. Siehe
andere Stellen bei Waitz, VG., 8, 210 ff. Für England: Maitland,
1. c. p. 186 ff, '
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 167
Das waren gewiß gut bezahlte Arbeiter, für die nun wieder eine
Menge Bäcker, Fleischer, Schuster, Schneider usw. tätig sein
mußte, um ihren Unterhalt zu bestreiten.
Nun aber: wer baute denn in den Städten des 10., 11. und
12. Jahrhunderts? Baute so, daß er jenen Stab gelernter Bau¬
handwerker brauchte? Doch niemand anders als die Grundherrn;
unter ihnen vor allem die Kirchen. Kirchenbau ist einer der
wichtigsten Bevölkerung agglomerierenden, das heißt Städte
bildenden Vorgänge im frühen Mittelalter.
Wenn wir gerade das 11. Jahrhundert als dasjenige betrachten,
in dem die Städte sich am raschesten entwickelt haben, so ist
das ganz gewiß dem Umstande nicht zum wenigsten zu danken,
daß in diesem Jahrhundert fast alle größeren Städte eine rege
Bautätigkeit entfalteten, in erster Linie natürlich zur Errichtung
kirchlicher Baudenkmäler. Es würde zu weit führen , und ist
auch nicht nötig, da wir eine Reihe tüchtiger Arbeiten besitzen,
die über diese Vorgänge helles Licht verbreiten* 1 : nachzuweisen,
in welch hervorragendem Maße gerade im 11. Jahrhundert der
Kirchenbau allerorts gefördert wurde.
Das 11. Jahrhundert ist ja auch die Zeit, in der in vielen
Städten kraftvolle, tätige,, und oft genug prunkliebende Kirchen¬
fürsten das Regiment führten, denen nachweislich die bauliche
Entwicklung der Stadt vornehmlich zu danken ist. Ich nenne
aufs Geratewohl die Namen: Adalbert von Utrecht, Notger von
Lüttich, Poppo von Trier, Hildebrand von Florenz, Adalbert,
Bezelin von Bremen, Godohard von Hildesheim, Meinwerk von
Paderborn, Aribo von Mainz, Pilgrim, Hermann von Köln, Arnulf
1 Siehe für Deutschland z. B. Paul Damas, Beiträge zur Geschichte
der deutschen Städte z. Z. der fränkischen Kaiser, Breslauer Diss.
1879; eine der wenigen Schriften, aus der man über die Geschichte
der Städte etwas erfährt. H. Breßlau, Konrad II. 2 (1884).
A. Hauck, Kirchengeschichte 3, 334 ff. (10. Jahrh.), 924 ff. (11. Jahrh.).
Für einzelne Städte: Fried r. besser, Erzbischof Poppo von Tiiei
(1016—1047), 1888, S. 32 ff. Hermann Cardauns, Konrad von
Hostaden, Erzbischof von Köln (1888), S. 142 ff. (spätere Zeit).
Eine Liste der großen französischen Kirchenbauten des 11. und
12. Jahrhunderts findet man bei E. Levasseur, Hist, de findustrie
1, 394 ff. Für England nimmt Cunningham an, daß diebedeutende
Entwicklung der Bautätigkeit im 12. Jahrhundert eine starke Ein¬
wanderung °namentlich flandrischer Handwerker bewirkt habe. Mit
"'uten Gründen gegen Ashley: W. Cunningham, Die Einwanderung
von Ausländern nach England im 12. Jahrh. in der Zeitschr. für Soz.
und W.Gesch. 1 (1892), 192 f.
168
Dritter Abselmitt: Das Übergangszeitalter
von Hälberstadt, Werner, Wilhelm von Straßburg , Burchhard
von Worms, Benno von Osnabrück. Das und die andern ihres¬
gleichen sind die Väter des städtischen Handwerks.
Was an ansehnlichen Gebäuden selbst in einer Stadt wie
Paris im 14. Jahrhundert sich vorfand, waren außer den öffent¬
lichen Gebäuden, die Paläste der Grundherrn. „Welche großen
und schönen Hotels gibt es in Paris“! ruft Jean de Jeandun
aus, der Paris im Anfang des 14. Jahrhunderts beschreibt : „Die
einen gehören dem König, den Grafen, den Herzogen, den
Bittern und andern Baronen, die andern den Prälaten. Alle
sind groß, gut gebaut, schön und prächtig. Für sich allem,
und abgesondert von den übrigen Häusern, könnten sie eine
wundervolle Stadt bilden“ h
4. Die Händler
Deutlicher noch als bei den Handwerkern tritt bei den
Händlern, den Negotiatores , ihre Geburt aus dem Schoße der
Grundherrschaft zutage.
Die augenblicklich „herrschende“ Schulmeinung freilich ist eine
andere. Nach ihr sollen die „Kaufleute“ recht eigentlich die
„Begründer“ der mittelalterlichen Städte gewesen, sollen diese
recht eigentlich aus „Marktansiedlungen“ hervorgegangen sein.
Ich habe schon meine Bedenken gegenüber dieser „Theorie“
geäußert und möchte hier noch einige Bemerkungen zu den
früher gemachten hinzufügen, aus denen hervorgehen soll, weshalb
ich diese Erklärung der Städte aus den Märkten für irrtümlich
halte.
Haben sich, so möchte ich zunächst fragen, die Vertreter
jener Anschauung einmal völlig klar gemacht, welche Bedeutung
denn ein „Markt“ vom siedlungsgeschichtlichen Standpunkt aus
für die Agglomeration von Menschenmassen an einem Punkte
überhaupt haben kann?
Ob Jahrmarkt, ob Monatsmarkt, ob Wochenmarkt, gleichviel:
die bloße Tatsache, daß an einem Punkte ein Markt abgehalten
wird, das heißt: daß Leute dort sich periodisch einfinden, die
kaufen und verkaufen, gibt noch nicht einer einzigen Person
Gelegenheit, sich dort, wo der Markt stattfindet, anzusiedeln.
1 Der Tractus de laudibus Parisius ist im Jahre 1323 verfaßt.
Abgedruckt bei Le Eoux de Lincy und Tisserand, Paris et
ses historiens aux XIV. et XV. siecles in der Hist. gen. de Par.
Vgl. Louis Boutie, Paris au temps de Saint Louis (1911), 333,
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 1(39
In dem Angenblick, in dem die Marktbuden abgebrochen werden,
die Marktbesucher davon ziehen, ist der Ort wieder verödet.
Ein periodischer Markt, auf denen sich aus aller Herren Ländern
Käufer und Verkäufer zusammenfinden, ist geradezu ein Hinder¬
nis für die Entstehung einer dauernden Niederlassung, wie sie
eine Stadt doch darstellt. Man könnte also mit größerem Rechte
sagen: eine Stadt entstand dort, wo man aufhörte, Märkte ab¬
zuhalten, entstand darum, weil man an einem Punkte auf¬
hörte, marktmäßig Handel zu treiben, darum, weil die Händler
seßhaft wurden und nun den Handelsprofit mehr als früher an einem
Ort verzehrten. Das hieße aber doch allzusehr die Formulierung
des Gedankens zuspitzen und nach der andern Seite hin über¬
treiben. Ein richtiger Kern ist in der ‘Marktrechtstheorie’ (auch
vom national- ökonomischen Standpunkt aus) verborgen; ich
werde ihn gleich herausschälen. Vorläufig wollte ich nur zeigen,
daß sie in der Art, wie sie gewöhnlich vertreten wird, alle realen
Verhältnisse auf den Kopf stellt.
Um den wirklichen Verlauf der Dinge möglichst getreu uns
vor Augen zu führen , werden wir gut tun , die Lage und die
Daseinsbedingungen des Handels in der eigenwirtschaftlichen
Periode uns noch einmal recht deutlich zu vergegenwärtigen,
um von dort aus dann die Weiterentwicklung bis in die Stadt
hinein verfolgen zu können.
Alsdann: im 8. und 9. Jahrhundert geht, wie es scheint,
der Hausierhandel, der natürlich die erste Etappe in der Ent¬
wicklung des Handels gebildet hatte , ziemlich rasch in den
Markthandel über. Darauf läßt die gerade in dieser Zeit
häufige Erteilung von Marktprivilegien schließen h
Wie müssen wir uns nun das Dasein der Händler vorstellen,
die von jetzt ab zu den Märkten zogen, statt von Villa zu Villa?
Waren sie im Auslande ansässig, so gingen sie wohl für
einen bestimmten Teil des Jahres dauernd auf die Reise und
besuchten der Reihe nach mehrere benachbarte Marktorte hinter¬
einander, um dann nach drei, vier Monaten in ihre ferne Hei¬
mat zurückzukehren. Waren es Händler aus nicht so fernen
Landen, so mochten sie wohl von ihrem Dorfe aus, wo sie
wohnten, je einen Markt aufsuchen und danach in ihren
Heimatsort zurückkehren, wo sie dann wohl wieder die land-
1 K. Rathgen, Die Entstehung der Märkte in Deutschland, 1881.
Imbart de la Tour, Des immunites commerciales accordees aux
Eglises in den Etudes . . . dediees ä G. Monod, 1896.
170
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
wirtschaftlichen Arbeiten aufnahmen, die in ihrer Abwesenheit
Frau und Kinder allein besorgt hatten. Denn die zogen doch
wohl nicht mit auf den Märkten herum? Die Händler hatten
also ihren Herd je an verschiedenen Punkten und fanden sich
nur immer zu bestimmten Zeiten zu Karawanen1 zusammen,
um sich bei der Durchquerung der öden Länder von Markt zu
Markt gegenseitig Schutz zu gewähren. Wie sich die Störche
zu langem Zuge sammeln, wenn sie in ihre Heimat ab ziehen.
Dann, wenn die Marktreise zu Ende war, sagte man sich am
Kreuzwege Lebewohl und ging auseinander mit einem: Auf
Wiedersehn im nächsten Frühjahr!
An den Marktorten also trafen sich die einzeln oder in Kara-
Avanen heranziehenden Händlerscharen. Wie sie hier die paar
Tage über, die der Markt dauerte, hausten, können wir ziemlich
genau an der Hand der Quellen verfolgen.
Ihre Waren hielten sie in Marktbuden (Stationes) feil, deren
zuweilen mehrere in einer Art Markthalle 2 untergebracht waren,
in der dann die Kaufleute einzelne Stände bezogen. Die Markt¬
buden oder Markthallen wurden von den Grundherren errichtet
und eenen Ento-elt für die Zeit des Marktes den Händlern über-
lassen3 4. Vielfach waren die hörigen Bauern zur Herrichtung
der Marktbuden verpflichtet1, wenn sich der Markt nicht zwischen
den Häusern der Bauern selbst abspielte. Es war nämlich hier
und da (wir erfahren es von England)5 6 Sitte, daß die Bauern
1 ßietschel, Markt und Stadt, 39.
2 „sala . . . cum stationibus inibi banculas ante se habentibus“
DO. I. 145 bei Hart mann, Zur Wirtsch.Gesch. Italiens, 103.
3 Daher der Ausdruck: jus aedificandi et construendi mercatum
Cod. Lang. c. 764 (No. 442); „mercatum erigere decrevimus“: UB.
von Quedlinburg S. 5 Nr. 7 , dem wir so oft in den frühmittelalter¬
lichen Quellen begegnen. Daher aber auch die Schenkungen von
‘Stationes’ und ihren Gefällen, denen wir die häufige Erwähnung dieser
1 Einrichtung in den Urkunden verdanken. Siehe z. B. die Urkunden,
die Ad. Schaube, Handelsgeschichte der rom. Völker, S. 9. 11 und
öfters, oder Hartmann, a. a. 0. erwähnen.
4 Die Villani von Aucklandskire haben 18 Buden (bothas) auf der
Messe von St. Cutkbert zu errichten. Bei P. Seebohm, Village
Community, 71.
6 „Johannes Ballard tenet mansum suurn in Villa de Sancto Ivone
juxta portam prioratus pro quo dat infirmario Bamesiae XX solidos
per annum et locat tempore nundinarum front es et
arreragia domorum suarum in eodem manso existentium“
(a. 1251). Cart. Mon, de Bameseia 1 (1884), 286. 87. Von einem
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 171
ihre Häuser für die Zeit des Marktes zur Aufstapelung der
Waren hergeben mußten.
Die Marktbuden standen natürlich vor den Toren der Pfalz,
des Klosters usw. x.
Für ihre eigene Unterkunft in der Nacht, wohl auch als
Schuppen und Stall für ihre Karren und Maultiere errichtete
man den Händlern, oder errichteten diese selbst sich größere Ge¬
bäude* 1 2 nach Art der Karawansereien, denen wir heute noch in
Gebieten extensiven Handels begegnen. (Aus ihnen haben sich
dann wohl die Stahlhöfe, die fondaci etc. entwickelt).
Solange die Händler in dieser Weise lebten, kamen sie natür¬
lich weder als Städtefüller noch als Städtegründer in Betracht.
Ebensowenig wie die 200 000 Kirgisen und Afghanen, die während
der Monate Juli und August in den 6500 Buden in Nishni-
Nowgorod ihre Waren feilhalten, die Stadt Nishni-Nowgorod
bilden.
Der entscheidende , das heißt für die Städtegeschichte be¬
deutsame Schritt wurde erst in dem Augenblick getan, als die
Marktbesucher eines schönen Tages beschlossen, nicht mehr
weiter zu ziehen, vielmehr in ihren stationes ständig ihre Waren
feilzubieten, ihre Frauen und Kinder nachkomm en zu lassen
und sich hinter der Bude ein Häuschen zu bauen. So daß die
statio zur mansio sich auswächst; ein Vorgang, den wir an der
Bauart mancher Städte tnit Deutlichkeit verfolgen können3 * * * * 8. Be¬
amtem Bauern heißt es ebenda (p. 291): „Et sustinet tres frontes
in nundinis ad opus Abbatis.“
1 Quellenstellen bei R. So hm, Die Entstehung d. deutsch. Städte¬
wesens (1890), 20. Besonders anschaulich geschildert von F. V.
Zillner in seiner Geschichte der Stadt Salzburg 1 (1885), 66 ff.
2 „In eadem valle est vicus celeberimus, Briston (— Bristol)
nomine, in quo est portus navium ab Hibernia et Norvegia et ceteris
transmarinis terris venientium receptaculum“ (12. sc.). Will.
Malmesbiriensis Monachi Gesta pontif. Angl. p. 292 (Rer. brit. med.
SS. 52).
Die negotiatores in Virten hatten ein „claustrum muro instar oppidi
exstructum, ab urbe quidem Mose interfluente seiunctum, sed pontibus
duobus interstratis ei annexum“, Richer 3, 103 (10. sc.). Ähnliche Ver¬
anstaltungen in Magdeburg: Thietmar 1, 7 zit. bei Lamprecht,
DWL. 2, 252.
8 So verraten die Häuser in Münster, die am Markt entlang stehen,
noch heute durch ihre Bauart, „daß sie durch den Ausbau von Markt¬
buden entstanden sind“. Philippi, Zur Verfassungsgeschichte der
westfälischen Bischofsstädte (1894), S, 14.
272 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
deutsam wurde also, daß die Händler A, B, C, die in den Dörfern
X, Y, Z domiziliert gewesen waren und regelmäßig den Markt
in M. befahren hatten, nun aus X, Y, Z nach M. zu dauerndem
Aufenthalte übersiedelten. Oder vielleicht, später, von M., wo
sie nicht so auf ihre Kosten kamen, wie sie gehofft hatten, nach
N umzogen1. Das gab dann Füllsel für die in M oder N sich
entwickelnden Städte, die damit für unsere Freunde A, B, C
aufgehört hatten, Marktorte zu sein, die ihre Wohnorte geworden
waren.
Und nun würde der Geschichtsschreiber mittelalterlichen
Städtewesens sich vor den Hauptteil seiner Aufgabe gestellt
sehen. Er müßte nämlich den Nachweis zu führen versuchen:
warum erfolgt die dauernde Niederlassung, warum erfolgt sie
hier und nicht dort? Wir sind einstweilen auf Vermutungen
oder richtiger auf die nie ganz gering zu achtende „Quelle“
unserer vernünftigen Überlegung angewiesen. Daß unseren kleinen
Händler irgendein „Marktprivilegium“ veranlaßte, sich und die
Seinen hinter der Marktbude ein Häuschen zu bauen, mag hier
und da zutreffen. Häufig wird es nicht der Grund seines Ent¬
schlusses gewesen sein. Denn die meisten wertvollen Privilegien :
den Marktfrieden, das personale Recht usw. genoß er ja gerade
als Marktbesucher, darum brauchte er nicht in London sich
dauernd niederzulassen. Und: Privilegium hin, Privilegium her.
Solange er keine Käufer für seine Waren fand, nützte ihm das
schönste Privilegium nichts. Nämlich auch das schönste Privi¬
legium stampfte noch keine Kundschaft aus dem Boden. Und
an dieser — wie oft soll es wiederholt werden — lag doch
wohl auch im 11. Jahrhundert schon dem Kaufmann allein.
Hatte er sie , kam er im Notfall auch ohne Privilegium aus,
batte er sie nicht, so nützten ihm alle Königsbriefe nichts2 3.
1 Wie die Negotiatores, die im 11. sc. von Rouen und Caen dem
Eroberer nach nach London übersiedelten. „No sooner had London
submitted to the Norman Conqueror than we are told, ünany of the
citizens of Rouen and Caen passed over thither, prefei'ring to be
dwellers in that city’“. Nach Vita S. Thomae ed. Giles 2, 73 (Text
bei Groß, Gildmerch 1, 4), Reg. R. Sharpe, London and the Ivingdom
1 (1894), 36. Die Händler von Bardowick zogen nach Lübeck um:
J. Warncke, Handwerk und Zünfte in Lübeck (1912), 13.
3 Einen etwas größeren Einfluß auf die Entschließungen des
schwankenden Händlei'S werden die positiven Vergünstigungen ausgeübt
haben (wie Gewährung freien Baulandes usw.). Siehe v. Maurer,
St.Verf. 1, 407. Waitz, VG. 8, 388 ff. Ebenso kann er veranlaßt
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 173
Warum also denn entschloß er sich, seinen Wohnsitz dauernd
an dem Orte aufzuschlagen, den er bis dahin nur vorübergehend
besucht hatte? Olfenbar darum, weil er sich sagte: hier in
London, in Brügge, in Straßburg sind jetzt so viel ständige Ab¬
nehmer deiner Waren, daß du es schon riskieren kannst, einen
größeren Teil des Jahres als bisher (denn einen anderen Teil
des Jahres wird er doch noch nach wie vor wo anders seinen
Kram feilgeboten haben) an diesem einen Orte deinen Laden
aufzumachen. Oder so: daß du mit dem Absatz an die Orts¬
angesessenen ebensoviel verdienst, als wenn du an zehn Orten
herumziehst auf allen Messen und Märkten. Vielleicht setzt du
etwas weniger an sie ab, aber dafür sparst du ja beträchtlich
an Spesen. Du gewinnst auch Zeit , die du der Pflege deines
kleinen Anwesens widmen kannst, das durch deine Abwesenheit
eh’ ganz vernachlässigt wurde.
Theoretisch formuliert, was der kleine Händler eben räson-
niert hat: die Seßhaftwerdung der negotiatores, die Entstehung
einer „Marktan Siedlung“ wurde möglich, wenn die Agglomeration
der Konsumenten an einem Orte einen entsprechend hohen Grad
erreicht hatte.
Wann sie den erreicht hatte, wodurch sie ihn (in der
großen Mehrzahl der Fälle) allein erreichen konnte im Mittelalter,
wissen wir: durch Anhäufung eines genügend großen Kon¬
sumtionsfonds an Steuern und Kenten. Mit anderen Worten:
die negotiatores bildeten an einem Orte eine Marktansiedlung
und halfen damit diesen Ort sich rascher ein städtisches Aus¬
sehen zu verschaffen, weil an diesem Orte jetzt schon so viel
Grundherrn ansässig waren, wie vorher an zehn verschiedenen
Orten.
Hatte ein kleiner Gewandschneider seine 6 Stück flandrisches
Tuch, die seinen Jahresumsatz ausmachten, vorher auf 6 Messen
herumschleppen müssen und hatte er auf jeder an je ein Kapitel
sein, an einem Orte ständig zu bleiben, durch Bestimmungen, die Ver¬
günstigungen ausdrücklich an die Bedingung der Seßhaftigkeit
knüpften, wie etwa diejenigen des Grafen von Flandern vom Jahre
1127, in denen er St. Omer Zollprivilegien erteilte: „omnes qui
gildam eorum habent, et ad illam pertinent et infra cingulam ville sue
manent, liberos omnes a teloneo facio ad portam Dichesmude et
Graveningis“ etc. Bei Ch. Groß, The Gild merchant 1, 290. Aber
die Hauptsache blieb doch immer für den Entscheid unseres „Kauf¬
manns“ die Aussicht auf eine geschäftsfähige Kundschaft.
174
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
oder einen Bischof, oder einen Comes eins der 6 Stück ab-,
gesetzt, so verkaufte er nun alle (3 in London: 2 an den König,
1 an den Erzbischof, 1 an den Port-greeve, 1 an die West-
minsterabtei, und 1 schnitt er für ein paar Milites oder Münzer
aus. So entstand das, was man mit dem stolzen Namen der
„Kaufmannstadt“ zu bezeichnen pflegt: eine Niederlassung vor
den Toren der herrschaftlichen Stadt dort, wo ehedem der
Markt abgehalten war : ein paar Buden , ein paar Häuschen
daneben, wo die kleine Händlerfamilie nun wohnte; daneben
ein paar Kneipen und Handwerksbuden , denn die „Kaufmann¬
schaft“ mußte ja doch selbst wieder unterhalten werden. Ein
Häufchen von armen Hascherin, das in tiefster Untertänigkeit
das Brot der stolzen Herren aß, die jenseits des Flusses in ihren
Palatien, ihren Kurien, ihren Türmen tronten. Wie es Flach
(für Narbonne im 11. Jahrh.) sehr hübsch • beschreibt 1 : „Les
negociants , les changeurs , les banquiers , les armateurs habitent
pres du port dans le bourg, toute autour de la Porte Aiguiere
et dans les maisons construites, suivant l’usage du moyen äge,
sur le pont qui la reliait ä l’autre rive. Ils ne peuvent evidem-
ment rien entreprendre contre la formidable citadelle qui les
domine , ils n’ont que les droits que l’interet bien entendu des
seigneurs leurs laisse ou qu’ils acquierent ä prix d’argent.“
Oder wie es eine der hübschesten Quellenstellen, die wir
zur Geschichte der Städte im Mittelalter besitzen, uns erzählt:
(aus Joh. Longi Chronica Sancti Bertini in den MG. SS. XXV.
768) „Posthoc ad opus seu necessitates illorum de
castello — es handelt sich um die Burg des Balduin Bas-
de-Fer, Grafen von Flandern, Schwiegersohns Karls des Kahlen :
„Brugis = Brügge — ceperunt ante portam ad pontem confluere
mercemanni, id est cariorum (?) rerum mercatores, deinde taber-
narii, deinde hospitarii pro victu et hospicio eorum qui negotia
coram principe, qui ibidem seperat, prosequebantur , domus
construere et hospicia preparare ubi se recipiebant illi qui non
poterant intra castellum hospitari ; et erat verbum eorum : „Yada-
mus ad pontem“ ; ubi tantum accreverunt habitaciones, ut statim
fieret villa magna, que adhuc in vulgari suo nomen pontis habet,
nempe Brugghe in eorum vulgari pontem sonat.“ „Ad opus seu
necessitates illorum de castello“: in diesen Worten ist der ganze
Sinn der mittelalterlichen Städtegeschichte, wenigstens in ihren
Anfängen, enthalten.
1 Flach, Origines 2, 268 f.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 17g
Der bekannte Ausspruch Pirennes, in dem er seine Auf¬
fassung von der Entstehung der mittelalterlichen Städte zu¬
sammenfaßt, muß also genau in sein Gegenteil verkehrt werden,
wenn er den Tatsachen -Rechnung tragen will. Pirenne meint1:
„Les villes sont l’ceuvre des marchands ; eiles n1 existent que
par eux“. Richtig müßte es heißen: Die Städte des Mittelalters
sind (ökonomisch) das Werk der Grundrenten- imd Steuerbezieher ;
die „Kaufleute“ existieren nur durch sie.
5. Die Almosenempfäiiger
Daß ihre Zahl in den mittelalterlichen Städten bedeutend
gewesen sein muß, können wir aus der Tatsache schließen, daß
eine der Aufgaben der Klöster in der Fürsorge für die Armen
und Siechen bestand und daß namentlich in den späteren Jahr¬
hunderten des Mittelalters auch von weltlichen Reichen Stif¬
tungen gemacht wurden, sei es aus humanen, sei es aus religiösen
Gründen, um bedürftige Personen, namentlich Frauen zu unter¬
halten. Hier ist an die Beginenhäuser 2 zu erinnern, die sich
in den meisten Städten in beträchtlicher Zahl nachweisen lassen.
Daß für eine Stadt eine ziffermäßige Erfassung der Almosen¬
empfänger versucht wäre, ist mir nicht bekannt3 * * * * 8.
IV. Der „Zug nach der Stadt“
Bisher war die Rede nur von dem Interesse der originären
Städtebildner (also vorwiegend der Grundherrn) an dem Ent¬
stehen einer Stadt sowie von deren (ökonomischen) Möglich¬
keiten. Damit die Stadt nun in Wirklichkeit erwachsen konnte,
mußten die Objekte der Städtebildung sich auch einstellen. Eine
Geschichte der Städte heischte also noch den Nachweis, welche
1 H. Pirenne, L’origine des constitutions urbaines in der Revue
historique, 57, 70.
2 Arnold, Freistätte 2, 173 (Worms, Speier); v. Maurer, St.V.
3, 44 (Köln, Basel, Regensburg). Der Ursprung der Beginen ist in
Belgien. Vgl. im allg. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in
der alten Kirche, ßd. II, Mittelalter, 1884, neue Aufl. in 1 Bande 1895,
und die gründliche Studie von V. von Woikowsky-Biedau, Das
Armenwesen des mittelalterlichen Köln usw., Breslauer Diss. 1891.
8 Angaben über die Zahl der Pfründner in den Hospitälern Lüne¬
burgs macht Erich Zechlin, Lüneburgs Hospitäler im M.A. in den
Forschungen z. Gesch. Niedersachsens I. 6 (1907), 48. Sie sind
jedoch für das Mittelalter nicht vollständig. Immerhin ergeben sich
ein paar Hundert.
176
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
Motivreihen die Städte füllenden Menschen bewogen, sich in den
Mauern der Stadt niederzulassen.
Ein Teil von ihnen saß ja schon von früher an dem Ort, wo
die Stadt entstand : die ganze Dienerschaft im weitesten Sinne,
alle die „fratribus et ecclesie (und natürlich auch die anderen
Grundherren) cottidie in propria persona servientes“ ; ferner die
gewerblichen Arbeiter, die für den Grundherrn gearbeitet hatten
und, nun allmählich (wie wir das gesehen haben) zu selbständigen
Handwerkern sich entwickelten. Sie und ihr Nachwuchs bildeten
den Stamm der Städtefüller.
Zu ihnen gesellten sich dann die fluktuierenden Elemente,
soweit sie seßhaft wurden: ich denke etwa an die freien Wander-
kandwerker, von denen wir Kunde erhielten.
Aber ein sehr beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung
wurde doch, wie wir aus zahlreichen Anzeichen mit Sicherheit
schließen dürfen, durch Einwanderung vom platten Lande her
gebildet.
Leider ist die Tatsache, daß diese Einwanderung stattgefunden
hat und daß sie verhältnismäßig stark gewesen sein muß, so un¬
gefähr alles, was wir von ihr wissen* 1. Das meiste müssen wir
vermuten; nur weniges läßt sich mit Quellenstellen belegen.
Damit eine Einwanderung vom platten Lande als Massen¬
erscheinung stattfindet, müssen zwei Reihen bestimmter Um¬
stände Zusammentreffen: das Land muß abstoßen (repeliieren),
die Stadt muß anziehen (attrahieren).
Was den Leuten den Aufenthalt auf dem Lande während
der Jahrhunderte, die namentlich für die erste innere Festigung
der Städte in Betracht kommen, verleidete, scheint hauptsächlich
folgendes gewesen zu sein:
1 Das meiste und beste Material enthält immer noch Büch er s
Werk über die Bevölkerung Frankfurts. Aber auch B. bekennt sich
zu einem „ignoramus“. Ebenso wie die einzige mir bekannte Monographie,
die diese Erscheinung behandelt, die Schrift von Aug. Kniecke, Die
Einwanderung in den westfälischen Städten bis 1400 (1893), die infolge
des Mangels an tatsächlichem Material sich lediglich mit formal¬
juristischen Problemen beschäftigt. Charakteristisch: in dem Riesen¬
materialmagazin, das sich v. Maurer, Gesch. der Stadtverfassung
nennt, ist die Seite, die von unserm Problem handelt (die 408. des
1. Bandes), ungefähr die einzige im ganzen Werk ohne Anmerkungen.
Ygl. noch Ed. Otto, Die Bevölkerung der Stadt Butzbach (1893),
69 ff. (15. Jahrh. nach Büch er scher Methode gearbeitet). Hans
Bungers, Beiträge z. mittelalt. Topographie usw. der Stadt Köln
(1897), 44 ff. (13. Jahrh. und folg. Quelle: Grundbücher).
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt
177
1. Die gioße Unsicherheit, die sich namentlich während des
10. Jahrhunderts eingestellt hatte als Folgeerscheinung der Ein¬
fälle plündernder Völkerschaften und einer daran anschließenden
Ausuferung der heimischen Ritter. Die ausführlichste Be¬
schreibung dieser Zustände findet man im 2. Bande des Werkes
von Flach, der dieser Unsicherheit des Landes (für die Ent¬
wicklung Frankreichs) eine überragende Bedeutung beimißt.
Aber auch in anderen Gebieten ist offenbar das allgemeine
Kennzeichen der Zeiten um das Jahr 1000: Unsicherheit1. Daher
ja auch die Mauerbauerei.
2. Der Frondienst in manchen Gegenden. So wenigstens
belichtet uns ausdrücklich ein Mönch von den weltlichen Grund -
herren, denen die Hörigen fortliefen, um beim Kloster ihre Zu¬
flucht zu suchen: „cum multos haec possideat aecclesia, qui
semet ipsos propter afflictionem et multitudinem servi-
tutis qua durissime premebantur a propriis dominis, in ius nostrum
, coemerint causa quietis et quibus alii ruriculae alii vinitores,
quidam panifici, sutores, fabri sunt ac mercatores artiumque diver-
sorum vel operum executores“ 2.
Die Tatsache, daß sich zahlreiche Hörige in den Städten
wirklich einstellten, läßt darauf schließen, daß sie den Frondienst
mindestens satt hatten; wie unsere Insten heute ihre Gutstage¬
löhnerschaft.
3. Hie und da scheint seit dem 12. Jahrhundert das Bauern¬
legen, d. h. Einziehen selbständiger Bauernstellen beliebt zu sein.
1 „In metu erant omnes Saxoniae civitates“ Adam Brem. 2, 31.
von Maurer 1, 62. „For the skelter of the folk“ sind nach den
englischen Quellen die Städte gebaut. In der ersten Urkunde von
London (Liberias von 1133—1154 c. 10 § 2) heißt es: „Servare debent
(cives) civitatem -sicut refugium et propugnaculum regni : omnes (enim)
ibi refugium et egressum habent“. Zit. bei Brodnitz, Die Stadt¬
wirtschaft in England in Jahrbücher f. NÖ. III. P. 47, 2.
2 Ortliebi Zwifaltensis Chronicon Cap. 9 MG. SS. 10, 77/78. Den¬
selben Zustrom Höriger finden wir in anderen Städten: Konstanz:
Mone, Quellensammlung zur badischen Landesgesch. 1, 140; Basel:
Damas, a. a. O. S. 43; Florenz: Davidsohn, G. v. Flor. 1, 607 f.
Daß seit der Mitte des 11. Jahrhunderts die Weber des platten
Landes in den flandrisch-brabantischen Städte sich niederließen , be¬
richtet uns Pirenne. Ob das „hörige“ oder „freie“ Landweber
waren, bleibt dahingestellt. Für den ökonomischen Effekt ist es
natürlich auch ganz gleichgültig. Pirenne, Les anciennes demo-
craties des Pays Bas (1910), 21. Ohne Quellenangabe. Vgl. auch
Erich Kober, Die Anfänge d. deutsch. Wollgewerbes, 45 f.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
12
Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter
178
Diese gelegten Bauern sahen sich also ihrer Existenzmöglichkeit
auf dem Lande beraubt h
4. müssen wir für die Zeit vom 9. — 12. Jahrhundert und darüber
hinaus, wenigstens in manchen Ländern, eine stärkere Zunahme
der Bevölkerung in Rechnung stellen1 2, wodurch eine Überschu߬
bevölkerung geschaffen wurde, die das Heer der vom Lande Ab¬
wandernden verstärken half. Sie verschwand entweder in den neu
besiedelten Gebieten oder bot sich als Stoff zur Städtefüllung dar.
AVas diese nun zu Anziehungspunkten für die vom platten
Lande Abgestoßenen machte, haben wir im wesentlichen kennen
gelernt : es war vor allem die Möglichkeit , auch ohne Grund¬
besitz sich und seiner Familie einen Unterhalt zu verschaffen;
war die Möglichkeit, sich eine sichere Existenz zu begründen.
Und zwar im Stande der Freiheit.
Dieses Ideal der Freiheit scheint eine mindestens ebenso
mächtige Anziehung ausgeübt zu haben wie die Aussicht auf
Sicherheit und Erwerb. Wir wissen, daß die Städte das ihrige
taten, um den Zuwandernden auch wirklich die Freiheit zu ver¬
schaffen oder zu erhalten, nach der sie sich sehnten. In allen
Ländern wurde es ein Grundsatz des Stadtrechts : daß Stadtluft
frei mache, daß der Hörige (unter bestimmten, sehr leichten Be¬
dingungen) den Verfolgungen seines Herrn entzogen wurde3 * * * * 8.
So mochte sich schließlich aus dem Zusammenwirken aller
Umstände in der ländlichen Bevölkerung eine am Ende gar nicht
mehr im Einzelfall begründete Vorliebe für das Leben in der
Stadt einnisten, die dann zum „Vorurteil“ wurde und ein
allgemeines Drängen nach der Stadt, denselben „Zug nach der
1 Das berichtet z. B. W. Wittick von den freigelassenen Leten
in Nordwestdeutschland a. a. 0. S. 329.
2 „la population de la France parait avoir trös notablement
augmente“ urteilt über diese Zeit ein so guter Ivenner wie Levasseur,
1. c. 1, 235.
Der Überschuß der deutschen Bevölkerung in der Zeit vom 12. bis
13. Jahrhundert war so groß, daß er genügte, um den Osten Deutsch¬
lands zurückzuerobern und die deutschen Städte zu füllen, die im
14. Jahrhundert großen Teils den Umfang erreicht hatten, den sie bis
ins 19. Jahrhundert gehabt haben. Dies das Ergebnis der Arbeit von
A. Püschel, Das Anwachsen der deutschen Städte. 1910.
8 Für Deutschland: Kniecke, a. a. 0. S. 61 ff. und öfters; dort
finden sich die Hinweise auf Quellen und Literatur; für Frankreich:
W. Stubbs, Const. Hist. 1,457; Flach, 2, 159 ff, 208; für Eng¬
land: Ch. Groß, Gildmerchant 1, 8; Green, Town Life 1 (1894),
174 f. Für Italien: Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 608.
Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 179
Stadt“ erzeugte, wie wir ihn 1000 Jahre später in unserer Zeit
wieder so mächtig in Wirksamkeit sehen.
* *
*
In diesen Städten, deren Emporkommen wir verfolgt haben, ent¬
faltete sich nun ein neues, eigen geartetes Wirtschaftsleben, das
für die folgende Entwicklung der europäischen Kultur von aus¬
schlaggebender Bedeutung wurde. Zwei Kräfte haben es ge¬
schaffen: das Interesse jener kleinen Handwerkerexistenzen, die
wir in den Marktbuden kampieren sahen oder in den kleinen
Holzhäuschen, die wie Schwalbennester an die Burg, an das
Palatium der reichen Grundherren geklebt waren.
Und das Interesse der Stadt selbst.
Wollen wir also verstehen, was es mit dem Wirtschaftsleben
in einer mittelalterlichen Stadt auf sich hatte; insonderheit:
welcher Art die neuen Gebilde waren, die hier entstanden, so
werden wir uns vorerst klarmachen müssen, in welcher Richtung
sich die Interessen der beiden schöpferischen Faktoren bewegten ;
will sagen: welcher Geist sie beseelte, welches Ideal ihnen vor¬
schwebte, auf dessen Verwirklichung ihr Streben gerichtet war.
Leicht lassen sich die Endziele des einen feststellen: denn
was die Stadt als Ganzes, was ihre gesetzlichen Organe wollten,
ist niedergeschlagen in den Leitsätzen der städtischen Politik.
Mit diesen wollen wir uns zuerst vertraut machen.
12*
180
Vierter Abschnitt
Das Zeitalter der handwerksmäßigen
Wirtschaft
Elftes Kapitel
Die Wirtschaftspolitik der Stadt
„Und so ist auch die Stadt nach der aristotelischen Be¬
schreibung und nach der Idee, welche ihren natürlichen Er¬
scheinungen unterliegt, ein sich selbst genügender Haushalt, ein
gemeinschaftlich lebender Organismus. Wie auch immer ihre
empirische Entstehung sein mag, ihrem Dasein nach muß sie als
Ganzes betrachtet werden , in Bezug worauf die einzelnen Ge¬
nossenschaften und Familien, aus welchen sie besteht, in not¬
wendiger Abhängigkeit sich befinden. So ist sie mit ihrer Sprache,
ihrem Brauch, ihrem Glauben wie mit ihrem Boden, ihren Ge¬
bäuden und Schätzen ein Beharrendes , das die Wechsel vieler
Generationen überdauert und teils aus sich selber, teils durch
Vererbung und Erziehung ihrer Bürgerhäuser wesentlich gleichen
Charakter und Denkungsart immer aufs neue hervorbringt.“
Mit diesen wahren Worten leitet Tönnies1 seine schönen
Betrachtungen über das Wesen der Stadt an sich, der
ein. Und mit denselben Worten sollte jede Abhandlung auch
über die Stadt des Mittelalters und ihre Eigenart begonnen
werden 2.
1 Ferd. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft üsw. § 18.
Ich verzichte darauf, die in diesem Kapitel gegebene Darstellung Schritt
vor Schritt mit anderer Literatur oder Quellennachweisen zu beschweren.
Es handelt sich im wesentlichen um bekannte Dinge, die ich nur in
den Zusammenhang meiner Ausführungen einzuordnen habe. Die be¬
sondere Art, diese Dinge zu sehen, die vielleicht hier und da hervor¬
tritt, kann aber naturgemäß nicht durch „Quellennachweise“ begründet
werden.
2 Ich meine, man versperrt sich jeden Weg zum Verständnis des
inneren Wesens der mittelalterlichen Stadt, wenn man sie der modernen
Stadt gleich und in einen Gegensatz zu den nicht-städtischen Ver-
181
Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt
In der Tat, in diesen W orten liegt der Hinweis eingeschlossen
auf jene Idee, aus der heraus allein das wahre Wesen dieser selt¬
samen Gebilde des Mittelalters, die wir Stadt nennen, begriffen
werden kann: auf die Idee der Gemeinschaft, die wir nicht nur
in die Dinge, um deren Erkenntnis uns zu tun ist, hineintragen,
die also in diesem Falle nicht nur als philosophisches Hilfsmittel
unserer Betrachtung erscheint, die vielmehr die Zentralsonne
darstellt, von der alles, was in der mittelalterlichen Stadt ge¬
schah, das Leben erhielt, weil sie als tatkräftige Idee die Seelen
der Einwohner und gewiß derer erfüllte, die bestimmend in die
Gestaltung des städtischen Wesens eingriffen.
So wundersam diese Erscheinung ist, so ist sie doch durch
tausendfaches Zeugnis als unzweifelhafte geschichtliche Tatsache
uns verbürgt : jenes sonderbare Gemisch von Menschen, das, wie
wir gesehen haben, sich in der Stadt des Mittelalters zusammen¬
fand, wurde ergriffen von derselben starken Idee der Gemein¬
schaft, der Zusammengehörigkeit, der Gleichartigkeit in sich,
der Fremdheit gegenüber allem, was draußen vor den Toren lag.
Weltliche und Geistliche, Fürsten und Bettler, Deiche und Arme,
Patrizier und Plebejer, Freie und Unfreie, Bauern und Hand¬
werker umschloß das Band eines innerlichen, erlebten Einheits¬
und Gemeinheitsgefühls, das die ersten Menschengruppen gebildet,
das dem Stamm, dem Dorf ihr Leben verliehen hatte. Wieder
empfand eine große Anzahl von Menschen sich- als eine organische
Einheit, fühlten sich viele als Glieder einer Familie, war das Be¬
wußtsein der Zusammengehörigkeit so stark, daß es alle auf¬
lösenden, zersetzenden Mächte im Innern überwand und alle zu
gemeinsamem Handeln, zu geschlossenem Auftreten gegen die
Außenwelt hinführte.
Aus diesem Gemeinschaftsgefühl floß also auch wie ein
natürlicher Strom die Gesamtheit der Maßnahmen, die wir als
bänden des Mittelalters stellt, wie es Paul Sander in seinem Buche
„Feudalstaat und bürgerliche Verfassung“ (1906) tut. So sehr ich
den von ihm behaupteten Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit
als richtig gesehen anerkenne (es ist im Grunde der von Tönnies
gezeigte von Gemeinschaft und Gesellschaft, organischem und mecha¬
nischem Verbundensein, traditionalistisch-empirischer und rationaler
Gestaltung, der auch meinen Ausführungen überall zugrunde liegt), so
sehr halte ich es für verfehlt, die mittelalterliche Stadt den rationalen
Gebilden zuzurechnen. S. räumt dem Umstand der Ausdehnung (großer,
kleiner sozialer Kreis) eine zu ausschlaggebende Bedeutung ein : Auf
den Geist kommt es an, der eine Gruppe beherrscht.
182 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
die Politik der Städte zu bezeichnen pflegen. In ihr tritt
dieses starke Einheitsbewußtsein gleichsam in die Erscheinung.
Ob es die Stadtherrn in den Anfängen der städtischen Ent¬
wicklung waren , ob später die patrizischen Geschlechter , ob
schließlich die plebejischen Zünfte, von denen diese Maßnahmen
ausgingen : immer waren sie von demselben Geiste erfüllt ; immer
waren sie getragen von naivem Egoismus dieser kleinen Gruppe
von Menschen, die sich als Einheit empfand und sich als Einheit
durchzusetzen entschlossen war der gesamten Außenwelt gegen¬
über, die für sie die Fremde bedeutete. Die Fremde, gegen die
man keinerlei Verpflichtungen empfand, die man als Objekt dem
eigenen Ermessen dienstbar zu machen bestrebt war ; die Fremde,
deren Abgesandten man mit Mißtrauen begegnete, weil man von
ihnen wiederum nichts Gutes erwartete.
Die Grundidee , aus der heraus die Wirtschaftspolitik der mittel¬
alterlichen Stadt geboren ist, ist überall dieselbe; deshalb sind auch
die Maßnahmen dieser Politik in den Grundzügen überall die gleichen;
auch in England, für das man neuerdings eine Abweichung behauptet
hat: G. Brodnitz, Die Stadtwirtschaft in England (Jahrbücher für
N.Ö. 47, 1 ff.). Selbstverständlich bestehen Unterschiede zwischen
den städtischen Gesetzgebungen in Deutschland und England, ebenso
wie zwischen denen in Deutschland und Frankreich oder Italien. Vor
allem ist die Stellung der Städte zum Staat wie allbekannt in England
und Frankreich anders nuanciert wie in Deutschland und Italien. In
diesen beiden Ländern kommt, dank der stärkeren Autonomie der
Städte , die Idee der Stadtwirtschaftspolitik deshalb vielleicht etwas
reiner zum Ausdruck, insbesondere ig der egoistischen Geltendmachung
der städtischen Interessen gegenüber dem platten Lande. So hatten
beispielsweise die englischen «Städte, wie Brodnitz behauptet, kein
Straßenrecht. Ihre Getreideversorgungspolitik war darum doch aus
gleichem Geiste geboren wie die der deutschen Städte. Das erkennen
wir an den Bestimmungen über Stapelung, Fürkauf, Preistaxen, die
wortwörtlich in den englischen Statuten ebenso lauten wie in den
deutschen oder italienischen. Die Unterschiede zwischen den ein¬
zelnen Ländern sind also nur Grad-, keine Wesensunterschiede: just
das zeigt jetzt wieder die Arbeit von Brodnitz.
Im Grunde waren gerade auch die englischen Städte dieselben
starren und eigenlebigen Gebilde wie überall im Mittelalter: „a free
self-governing Community, a state within the state“, wie sie einer ihrer
besten Kenner nennt : J. R. G r e e n , The town Life in the XV. Cen¬
tury 1 (1894), 1 ff., wo sich eine summarische Aufzählung der Freiheits¬
rechte der Städte findet, die an Umfang hinter den Prärogativen keiner
deutschen oder italienischen Stadt zurückstehen.
Wir haben hier nicht die tausendfachen Ausstrahlungen dieser
leitenden Ideen aller städtischen Politik zu verfolgen: hier gilt
Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt Jgg
es nur, ihren Wirkungen in einer bestimmten Richtung nach¬
zugehen, dorthin, wo sie sich zu dem System einer Wirtschafts¬
politik verdichten. Auch in diesem finden wir in der Tat die¬
selbe Idee der Gemeinschaft wieder, die alles städtische Leben
beherrscht. Sie bestimmt zunächst formell das Verhalten der
politischen Mächte, das heißt der Organe der Gemeinschaft, zu
den wirtschaftlichen Einzelvorgängen. Und zwar in dem Sinne,
daß sie nicht etwa dem Belieben des Einzelnen überläßt, wie er
seinen Lebensunterhalt gewinnen will, ebensowenig wie das
Haupt einer Familie dies seinen unmündigen Kindern anheim¬
stellt. Daß vielmehr die Gemeinschaft und ihre Vertreter über
allen Vorgängen des Wirtschaftslebens wacht, sie alle nach einem
einheitlichen Plan regelt, daß sie dem Einzelnen sein Verhalten
vorschreibt, für das Wohlergehen des Einzelnen sorgt. Ganz
wie von selbst folgt aus der leitenden Idee der Gemeinschaft
jenes kraftvolle System regelnder Normen, wegweisender Ma߬
regeln, denen wir alle wirtschaftlichen Vorgänge in den Städten
des Mittelalters unterworfen sehen.
Dieselbe Idee der Gemeinschaft bestimmt aber auch das
materielle Grundprinzip, auf dem alle Wirtschaftspolitik der
mittelalterlichen Städte fußt; jenes Grundprinzip, das kein
anderes ist als das, das die Wirtschaftsverfassung des Stammes,
des Dorfes, des Fronhofs geregelt hatte: das Prinzip der wirt¬
schaftlichen Selbstgenügsamkeit, der ökonomischen Autarkie, das
Bedarfsdeckungsprinzip. Die Bewohner der Stadt sollen
reichlich mit guten Dingen versorgt sein, deren sie zu ihres Leibes
Nahrung und Notdurft benötigen 1. Aber was sich von selbst ver¬
steht: da das Leben der Stadt auf so durchaus anderem Grunde
ruht als das aller früheren Gemeinschaften, da ja dem Wesen der
Stadt gemäß zum ersten Male Menschen ohne Scholle leben sollen,
so mußte derselbe Grundgedanke, den Bedarf dieser Menschen
an wirtschaftlichen Gütern zu decken , zu Maßnahmen führen,
die sehr verschieden waren von denen, die die Wirtschaft der
Dorfgenossen oder der Fronhofsleute geregelt hatten. Aus dem¬
selben Grundgedanken der Bedarfsdeckung erwächst also ein ganz
1 In der Einleitung zu dem Bergwerksstatut der Stadt Goslar
vom Jahre 1494 wird der Rammeisberg ausschließlich für die Bürger
und die Stadt in Anspruch genommen und jedes Eindringen Fremder
in den Besitz und Bau des Berges als „Verwüstung derNahrung
der Stadt“ bezeichnet. Wagner, Corp. jur. metallici, p. 1033 t“.
Vgl. dazu C. Neu bürg, Goslars Bergbau bis 1552 (1892), S. 120.
184 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
neues wirtschaftspolitisches System, das wir nun in seinen Haupt-1
zügen uns vergegenwärtigen müssen.
Wenn man sich dieses Ziel aller städtischen Wirtschaftspolitik,
Fürsorge für ein nach Menge und Art befriedigendes Giiter-
quantum zu treffen, deutlich vor die Augen hält, so wird man
die tausend einzelnen Maßregeln, in denen die Tätigkeit der
städtischen Gewalten sich ausdrückt , sehr leicht verstehen
und zu einem innerlich geschlossenen System zusammenfügen
können.
Dem Wesen der Stadt entspricht es, wie wir wissen, daß sie
einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sich -durch Zufuhr von
außen verschaffen muß. Dieselben Erwägungen also, die im
Rahmen der geschlossenen Eigenwirtschaft zu Maßregeln führen,
die bestimmt sind, jedes einzelne Produktionsgebiet zu voller
Wirksamkeit zu bringen — man denke an die Vorschriften des
sogenannten Capitulare de villis — , müssen den städtischen
Wirtschaftspolitiker zu Vorkehrungen veranlassen, mittels deren
er bewirkt, daß die notwendigen Gütermengen, die aber die
Stadt nicht mehr selbst erzeugt, ihr von außen her zugeführt
werden. An die Stelle einer reinen Produktionspolitik muß eine
Zufuhrpolitik treten, die denn auch wirklich den wichtigsten
Bestandteil der gesamten städtischen Wirtschaftspolitik aus¬
macht.
Wir fassen einen ersten Teil der hierher gehörigen Maßregeln
zusammen unter der Bezeichnung des Straßen-, Meilen- und
Stapelrechts, das sich die Stadt zu erkämpfen sucht. Das heißt,
des Rechtes, jeden Warenzug (insbesondere sind es natürlich
immer die Lebensmittel, ist es vor allem das Brotgetreide, auf
dessen Herbeischaffung die Stadtgemeinde sinnt), der sich in
einem bestimmten Umkreise der Stadt bewegt, durch die Stadt
hindurchzuleiten und die auf diese Weise herbeigezogene Waren¬
menge mindestens einige Tage in der Stadt anzuhalten und den
Bürgern zur Deckung eines etwa vorhandenen Bedarfes zur Ver¬
fügung zu stellen. Das heißt also: man zwang die Getreide¬
händler usw. , die Getreide irgendwo aufgekauft hatten, dieses
— und wenn auch auf Umwegen — durch die Stadt zu trans¬
portieren und hier zu „stapeln“, ehe es seinem Bestimmungsorte
zugeführt werden konnte.
Oder man hinderte gar die Landwirte in der Umo-eo-end der
Stadt — je weiter desto besser — ihre Erzeugnisse wo anders
als in der Stadt abzusetzen. Das „Recht“, dieses zu erzwingen,
Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt
185
hieß das Marktrecht, kraft dessen also die Stadtbewohner sich
ein Bezugsmonopol sicherten.
Kamen nun die Landleute mit ihren Produkten zur Stadt, so
wollte man auch verhindern, daß ein spekulativer Kopf etwa
die Waren schon auf dem Wege, ehe sie zum Markte gelangten,
aufkaufte. Man verbot daher entweder den Ankauf vor dem
Eintreffen auf dem Markte, oder man verbot überhaupt jeden
Kauf von Lebensmitteln zum Zweck des Wiederverkaufs, oder
man verbot wenigstens jeden Lieferungshandel mit Lebensmitteln.
Die Verpflichtung, die Ware zu Markte zu bringen, wurde auch
noch damit begründet, daß man nur so sich von ihrer Güte und
„Legalität“ überzeugen könne.
Das Interesse des Konsumenten dem Händler gegenüber suchte
man auch noch dadurch zu wahren, daß man ihm das sogenannte
„Einstandsrecht“ verlieh, das heißt das Recht, von irgendeiner
Warenpartie, die ein Händler hereingebracht hatte, (auch gegen
den Willen des Händlers) soviel er brauchte, für sich einzukaufen1.
Oder man gestattete dem Händler erst den Einkauf, nachdem
die Konsumenten sich versorgt hatten: „donec burgenses ad
suum opus ernennt“ ; und was dergleichen Bestimmungen mehr
sind.
Daß man sich um die gute Beschaffenheit der zum Verkauf
gelangenden Waren ebenfalls sorgte, geht schon aus der er¬
wähnten Bestimmung hervor, die fast in allen Städten überein¬
stimmend wiederkehrt : die in die Stadt gebrachten Lebensmittel
sollen nur auf den dazu ausersehenen öffentlichen Marktplätzen
feilgehalten werden. Dann aber suchte man auch zu verhüten,
daß verdorbene Gegenstände zum Verkauf gebracht wurden ; daß
zu hohe Preise gefordert wurden ; daß etwa falsch gewogen, falsch
gemessen wurde usw.: ein ausgedehntes System „marktpolizeilicher“
Vorschriften regelte den Verkehr auf dem Markte im Interesse
des Käufers. Dagegen stand nichts im Wege, daß man krankes
Vieh oder faules Fleisch seinen lieben Mitchristen in der Nachbar¬
schaft aufhalse: „so mögent sie semmliche bresthafte schofe und
liemmel lebendig wol ins land treiben und verkaufen,“ bestimmt
1 Nicht nur in 'kleinere® Verhältnissen’ ist dieses Einstandsrecht
dem Bürger zugestanden worden, wie Inama (III. 2, 255) meint.
Es galt in der größten Stadt des europäischen Mittelalters als sogen,
droit de „part“ ganz allgemein: Livre des metiers, p. CXXXII. In
England: „the right of Cavil“,
136 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Straßburg im 15. Jahrhundert ; ebenso Nürnberg im Jahre 1497:
„alles solich unfertig und tadelhafftig \:ihe forderlich von dannen
zu thun und treiben“.
Aber man schuf auch selbst Einrichtungen, die eine gute Ver¬
sorgung der Stadt vor allem auch mit Getreide verbürgte: man
erbaute auf Kosten der Stadt Speicher und legte dort Getreide
ein und dergleichen.
Nicht ganz so ängstlich brauchte der Kat der Stadt um die
Versorgung mit gewerblichen Erzeugnissen zu sein. Erstens
weil ihr Ausbleiben keine wirkliche Not hervorrief, zweitens
weil der Kegel nach in der Stadt selber genug davon hergestellt
wurde. Immerhin widmete er auch ihnen seine Aufmerksamkeit :
er sorgte dafür, daß fremde Handwerker und Händler auf den
Jahrmärkten ihre Waren feil boten, daß die Handwerke stets
gut besetzt seien, daß die Produktion in der Stadt selbst ehr-
und gewissenhaft besorgt wurde, (daß keine Surrogate zur An¬
wendung gelangten, nicht verschiedene Stoffe gemischt wurden,
nicht altes und neues Material zusammen verarbeitet werde, daß
bei subtilen Dingen man nicht in der Nacht — das heißt nach
Eintritt der Dunkelheit arbeite) usw.
Bestimmungen der zuletzt genannten Art verfolgten aber noch
einen anderen Zweck, sie sollten den gewerblichen Erzeugnissen
der städtischen Produzenten den Absatz draußen im Lande oder
in der Ferne sichern. Denn man mußte sich sagen, daß in einer
Verkehrswirtschaft die Bedarfsdeckung zur Hälfte ein Absatz¬
problem sei: daß nur derjenige Handwerker die Mittel erwerbe,
sich mit den wirklich zur Stadt kommenden (oder auch in der
Stadt hergestellten) Gebrauchsgegenständen zu versorgen, welcher
zuvor seine eigenen Erzeugnisse verkauft habe. Daher die be¬
sondere Fürsorge für die zum Export bestimmten Waren (die
man erst noch einer amtlichen Prüfung unterzog). Kürzer frei¬
lich gelangte man zu demselben Ziele (den Absatz der Hand¬
werksprodukte zu sichern), wenn man das platte Land in einem
wiederum möglichst weit gezogenen Umkreise zwang, sich in
der Stadt mit gewerblichen Erzeugnissen zu versorgen. Man er¬
reichte das durch das Verbot aller gewerblichen Tätigkeit auf
dem platten Lande : der Inhalt des sogenannten Bannrechts.
Mit dieser Fürsorge für den Absatz der Handwerksprodukte
berührte die städtische Politik nun aber schon ein anderes Problem :
das der Erhaltung einer bestimmten Organisation der städtischen
Produktion, der handwerksmäßigen. Und damit dasjenige Problem,
187
Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt
dessen Lösung für die Ausbildung städtischen Wesens die gleiche
Bedeutung hatte wie die Versorgung des städtischen Marktes.
J3enn darin gerade ist die Eigenart der Stadtwirtschaft verborgen,
daß sie dieses System der handwerksmäßigen Wirtschaftsverfassung
zu voller Entfaltung brachte. Am Ende des Mittelalters sind es
geradezu die Handwerksinteressen, die die Interessen der Stadt
schlechthin bilden. Vom „Handwerk“ müssen wir uns jetzt also
zunächst eine klare Vorstellung zu verschaffen suchen.
188
Zwölftes Kapitel
Das Wirtschaftssystem des Handwerks
I. Der Begriff des Handwerks
Gemäß unserem Arbeitsplan müssen wir uns nunmehr zunächst
eine klare Vorstellung von der „Idee des Handwerks“ machen,
das heißt müssen die Wesenheit desjenigen Wirtschaftssystemes,
das wir als Handwerk oder als handwerksmäßige Organisation
der Wirtschaft bezeichnen und von dem wir wissen, daß es
während des europäischen Mittelalters das Wirtschaftsleben be¬
herrscht hat, in begrifflicher Reinheit zu erkennen trachten.
Handwerk als Wirtschafts System ist diejenige
Form der tauschwirtschaftlichen Organisation der
Unterhaltsfürsorge, bei welcher die Wirtschafts¬
subjekte rechtlich und ökonomisch selbständige,
von der Idee der Nahrung beherrschte, traditio*
nalistisch handelnde, im Dienste einer Gesamtor¬
ganisation stehende, technische Arbeiter sind. Die
Analyse dieses Begriffs ergibt folgende Bestandteile1.
Handwerker nennen wir alle Wirtschaftssubjekte in einer
handwerksmäßig organisierten Wirtschaft, mögen sie landwirt¬
schaftliche oder gewerbliche Güterproduzenten sein oder Güter
umsetzen oder Güter transportieren. Im engeren Sinne heißen
Handwerker nur die gewerblichen Produzenten in einer hand¬
werksmäßigen Wirtschaft. Diese sind für das Wirtschaftssystem
des Handwerks ebenso repräsentativ wie die landAvirtschaftlichen
Produzenten für die Eigenwirtschaft und die Händler für die
kapitalistische Verkehrs Wirtschaft. Ich werde sie deshalb hier
als Vertreter aller andern Wirtschaftssubjekte der handwerks¬
mäßig organisierten Wirtschaft behandeln und an ihnen die
Wesenheit dieses Wirtschaftssystems aufweisen.
1 In der ersten Auflage habe ich mich gründlich mit den Vertretern
einer von der meinen abweichenden Auffassung vom Handwerk aus- -
einandergesetzt. Ich empfinde jetzt die Zwecklosigkeit solcher Polemiken
zu stark, um ihnen noch einen Teil des kostbaren Raumes in diesem
Werke einzuräumen.
Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks
189
Was seiner innersten Natur nach „ein Handwerker“ sei,
werden wir aber, scheint mir, am sichersten zum Ausdruck
bringen kennen, wenn wir zunächst unsere Aussage negativ
dahin zusammenfassen, daß wir einen „Handwerker“ denjenigen
gewerblichen Arbeiter nennen, dem keine für die Gütererzeugung
und den Güterabsatz erforderliche Bedingung fehlt, sei sie per¬
sönlicher, sei sie sachlicher Natur, in dessen Persönlichkeit somit
alle Eigenschaften eines gewerblichen Produzenten oder, wie
wir zusammenfassend sagen können, die Produktionsqualifikation
noch ohne irgendwelche Differenzierung eingeschlossen sind.
Da zur Produktion stets eine Vereinigung von Sachvermögen
und persönlichen Fähigkeiten erfolgen muß, so ergibt sich aus
dem Gesagten zunächst, daß der Handwerker außer den persön¬
lichen Qualitäten die Verfügungsgewalt über alle zur Produktion
erforderlichen Sachgüter, das heißt über die Produktions¬
mittel besitzt1: im Handwerker hat noch keine Differenzierung
von Personal- und Sachvermögen stattgefunden ; oder in anderer
Wendung mit gleichem Sinne: das Sachvermögen des Hand¬
werkers hat noch nicht die Eigenschaft/des Kapitals angenommen.
Aber der Handwerker besitzt nicht nur das für die Ausübung
seines Gewerbes notwendige Sachvermögen, er besitzt auch alle
dazu erforderlichen persönlichen Eigenschaften: er ist
eine Art von gewerblichem „Herrn Mikrokosmos“. Was sich
später in zahlreichen Individuen zu besonderen Veranlagungen aus¬
wächst: das alles vereinigt der Handwerker auf seinem „Ehren¬
scheitel“. Selbsverständlich alles in einem en-miniature-Ausmaße.
Seiner Universalität entspricht mit Notwendigkeit seine Mittel¬
mäßigkeit.
Der Kern des Handwerkertums ist seine Eignung zum
gewerblichen Arbeiter, in dem Sinne, daß er die tech¬
nischen Fähigkeiten besitzt, die zur Herstellung eines Gebrauchs¬
gegenstandes an einem Kohstoff vorzunehmenden Handgriffe
auszuführen. Aber mit dieser, sagen wir technischen, Veran¬
lagung vereinigt er:
1 . die etwa erforderliche künstlerische Schau , das
künstlerische Empfinden,
2. die für die Produktion, insbesondere auch für die Über¬
lieferung des Könnens erforderlichen Kenntnisse, um nicht
1 Was die französischen Statuten in einer stereotypen Formel sehr
hübsch so ausdrücken: „Quiconques veut estre de tel mestier, estre
le puet poer tant qu’il sache le mestier et ait de coi.“
190 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
den irreführenden Ansdruck zu gebrauchen: wissenschaftliche
Befähigung. Alle Weisheit unserer „Doktor-Ingenieure“, alle
Forschungsergebnisse unserer chemischen Laboratorien vereinigt
er in seiner Persönlichkeit.
Daneben funktioniert er
3. als Organisator ebensowohl wie als Leiter der Pro¬
duktion. Er ist Generaldirektor, Werkmeister und Handlanger
in einer Person.
Er ist aber
4. auch Kaufmann. Alle Einkaufs- und Verkaufstätigkeit,
alle Absatzorganisation, kurz alles, was später als spekulative
Leistung von einigen überdurchschnittlichen Persönlichkeiten be¬
sorgt wird, umfaßt sein persönliches Vermögen.
II. Die Gesamtorganisation der Wirtschaft
Will man die Grundidee erkennen, von der alles handwerks¬
mäßige Denken und Wollen bestimmt wird, so muß man sich, wie
ich das in dem vierten Kapitel schon angedeutet habe, des leiten¬
den Prinzips bewußt werden, von dem die alte bäuerliche Hufen¬
verfassung getragen war. Denn das System handwerksmäßigen
Schaffens ist nichts anderes als die Übertragung der
Hufenverfassung auf gewerbliche (und kommerzielle usw.)
Verhältnisse. Bis ins einzelne läßt sich die Analogie verfolgen, die
zwischen einer bäuerlichen Hüfnergemeinde und einer in einer
Zunft geeinten Korporation von Handwerkern obwaltet. Beide
wollen in genossenschaftlichem Einvernehmen die wirtschaftliche
Tätigkeit der einzelnen Teilnehmer ordnen. Beide gehen von
einer gegebenen Größe der zu vollbringenden Arbeit und des
zu befriedigenden Bedarfs aus, das heißt sind von der Idee ge¬
leitet, daß ein bestimmtes Ausmaß von Leistung und Einkommen
jedem Genossen zukomme : sind orientiert unter dem Gesichts¬
punkt der ‘Nahrung’. Beide verteilen die Gesamtleistung unter
die einzelnen und lassen einen Teil übrig, der von der Genossen¬
schaft als solcher zu vollbringen ist: der Gemeindeweide auf
der Almende im Dorfe entspricht die Kollektivnutzung der von
der Zunft (oder Stadt) errichteten Anstalten. Beide regeln bis
ins einzelne das wirtschaftliche Verhalten jedes Genossen usw.
Der immer wiederkehrende Grundgedanke jedes echten Hand¬
werkers oder Handwerkerfreundes ist: das Handwerk solle seinen
Mann ‘ernähren’. Er will so viel arbeiten, daß er seinen Unter¬
halt gewinnt, er hat wie die Handwerker in Jena (von denen
Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks
191
uns Goethe erzählt) „meist den vernünftigen Sinn, nicht mehr
zu ai beiten, als sie allenfalls zu einem lustigen Leben brauchen“.
Und wer die Zeugnisse insbesondere des Mittelalters kennt,
weiß, daß dieser Grundgedanke aus jedem Zunftstatut tausend¬
fach spricht:
„ wolt ir aber hören, was kaiserlich recht gepuitet, — unser
vordem sind nit naren gewessen — es sind hantwerck darumb
erdacht das yederman sein täglich brot darmit gewin und sol
niemant den andern greiffen in sein hantwerck. damit schickt
die weit ihr notdurft und mag sich yederman erneren,“
heißt es in der sogenannten Reformation Sigismunds1.
'Aus der Verschiedenheit nun aber der Personen, aus der Ver¬
schiedenheit der Erwerbsquellen, die zwischen Bauer und nicht land¬
wirtschaftlichem Handwerker obwaltet, muß sich auch eine ver¬
schiedene Auffassung vom Wesen der „Nahrung“ ergeben. Der
Bauer will als eigener Herr auf seiner Scholle sitzen und aus dieser
im Rahmen der Eigenwirtschaft seinen Unterhalt ziehen. Der
Handwerker ist auf den Absatz seiner Erzeugnisse angewiesen:
er steht stets im Rahmen einer verkehrswirtschaftlicken Organi¬
sation. Er will (und muß seiner Wesenheit nach) gewerblicher
Produzent, und er will freier, selbständiger Produzent sein.
Was für den Bauern also die hinreichende Größe seines
Besitztums ist, ist für den Handwerker der genügende Umfang
seines Absatzes ; was für jenen der Landbesitz überhaupt, istfür diesen
die Eigenschaft des freien und selbständigen Gewerbetreibenden.
Man darf annehmen, daß erst durch Loslösung des Arbeiters
von der Scholle, also in der Stadt, diese starke Betonung gerade
der Selbständigkeit eintritt, wie wir sie in aller handwerks¬
mäßigen Sinnesart antreffen. Der städtische Handwerker stellte
sich damit in einen bewußten Gegensatz zu äußerlich ähnlichen
Existenzen auch gewerblicher Arbeiter und bildete damit einen
wesentlichen Grundzug echt handwerksmäßiger Organisation erst
recht aus2 3.
1 Willy Boekrn, Friedrich Reisers Reformation des K. Sigmund.
(1876), S. 218, auch S. 45 f. Dazu Carl Koehne, Zur sogen.
Reformation K. Sigismunds im Neuen Archiv der Gesellschaft für
ältere deutsche Geschichtskunde ßd. 31 (1905) Heft 1. Die gegen
mich und meine Verwendung des obigen Zitates aus dem genannten
Werke gemachten Einwendungen K.s erledigen sich, glaube ich, durch
meine Bemerkungen auf S. 29 ä.
3 Über den Unterschied zwischen dem „Handwerker“ als Wirt,-
192 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
III. Die Aufgabe der Handwerkergenossenschaft
Die Hufenverfassung ruhte auf dem Zusammenwirken der
Dorfgenossen in der Dorfgemeinde. Es liegt nahe als das Organ,
das für die gewerblichen 'Hüfner5 die Funktionen der Dorf¬
gemeinde übernehmen mußte, die Handwerkergenossenschaft, die
Zunft oder Innung anzusprechen.
Man hat wohl mit Hecht die mittelalterliche Innung über¬
haupt als eine Fortsetzung der alten Bluts- und Ortsgemein¬
schaften zu betrachten uns gelehrt : Die Gilde soll in den Städten
ersetzen, was die natürliche Gemeinschaft auf dem Lande von
selbst bot; ergänzen, was die größere Stadtgemeinschaft dem
einzelnen doch nicht zu leisten vermochte x.
Ganz gewiß aber hilft die Zunft dem einzelnen Handwerker
bei der Durchführung seiner Wirtschaftszwecke in ähnlicher
Weise wie die Dorfgemeinde den Bauern geholfen hatte. Sie
ist es zunächst, die da Sorge trägt, daß ein genügend großes
Tätigkeit^- (und Absatz- jgebiet dem Handwerk als Ganzem ge¬
sichert werde (wie die Dorfgemeinde die Größe der Dorfflur
den Interessen ihrer Genossen gemäß bestimmte). Das suchte
sie dadurch zu erreichen, daß sie, wo irgend möglich, den Ab¬
satz für das Handwerk einer bestimmten Stadt, sei es in dieser
Stadt selbst, sei es auf fremden Plätzen, monopolisierte, und
ferner dadurch, daß sie, wo das Monopol nicht völlig durch¬
geführt werden konnte, das Eindringen Fremder in das eigene
Absatzgebiet tunlichst zu erschweren suchte. Daher die zahl¬
reichen, immer wiederkehrenden scharfen Bestimmungen des
Gästerechts, der Markt- und Meßvorschriffcen usw., wodurch den
Nichtheimischen grundsätzlich ungünstigere oder wenigstens doch
nur gleichgünstige Bedingungen des Absatzes gewährt werden
sollten 2.
schaftssubjekt in einer handwerksmäßig organisierten Wirtschaft und
dem „Handwerker“ (im technischen Sinne) in den mittelalterlichen
Eigenwirtschaften oder auch in einer modernen kapitalistischen Unter¬
nehmung siehe die ausführliche Darlegung in der 1. Auflage S. 88 f.
Da es sich hier nicht um den Nachweis einer empirischen Ver¬
wirklichung bestimmter Bestandteile der handwerksmäßigen Organisation
in der Geschichte handelt, so bedarf es keiner Quellenbelege. Wer sich
liir diese interessiert, sei auf die erste Auflage verwiesen, wo er sie
in Menge finden wird.
Der Gedanke des Produktionsmonopols, der ursprünglich nur für
das Handwerk als solches ohne Rücksicht auf die jeweils das Hand-
Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des tlandwerks
Und dem Streben nach einem Yerwertnngsmonopol ent¬
sprach das Streben nach Monopolisierung des Rohstoffbezuges.
Daher die zahlreichen Bestimmungen, welche die Ausfuhr der
Rohstoffe oder auch der Halbfabrikate aus dem „natürlichen“
Bezugsgebiet eines Handwerks zu verhindern suchten.
Der Zunft aber obliegen auch alle Tätigkeiten, die über die
Kraft, des einzelnen hinausgehen würden, etwa die Besormmo- des
notwendigen Rohstoffs im großen oder von weit her, oder die
Organisation des Absatzes der Erzeugnisse über ein größeres
Gebiet.
Obliegt, soweit die Stadt selber nicht für sie eintritt, die Er¬
richtung von Anstalten, die einen großen Aufwand erheischen
und deshalb vom einzelnen Handwerker nicht errichtet werden
können. Sie werden dann von den Zunftgenossen gemeinsam
genutzt (wie die Ahnende, der Wald in der Dorfgemeinde!).
Bekannte Beispiele dafür sind : jiie W ollküchen, in denen die
rohe Wolle gereinigt; Kamnahäuser, in denen sie gekämmt
wurde; Ölmühlen, Walkmühlen, Schleifereien, Tuchrollen, Mang-
und Färbehäuser, Sägewerke; Plätze, wo die Tuchrahmen zum
Trocknen aufgestellt wurden; Gärten, wo gebleicht wurde;
Materialhäuser für die Baugewerbe (Ziegeleien usw.); Gewand¬
häuser, in denen die Tücher verkauft wurden. In Summa: überall,
wo eine gemeinsame Arbeitsleistung oder Anordnung der Pro¬
duktionsmittel im großen erforderlich wird, tritt die Zunft, wir
würden heute sagen, als Werkgenossenschaft auf.
IY. Die Eigenart der Hand werkerarbeit
Die eigene wirtschaftliche Tätigkeit des einzelnen Hand¬
werkers besteht im wesentlichen in der technischen Bearbeitung
und Verarbeitung der Rohstoffe und Halbfabrikate zu Gebrauchs¬
gegenständen, die er in eigener Person vornimmt, wie wir sahen.
Damit aber wird die Eigenart dieser Tätigkeit selbst bestimmt.
Was seiner Hände Geschicklichkeit zu leisten, was seiner Arme
Spannweite zu umschließen vermag, das ist die Sphäre seines
Wirkens, das also als ein unmittelbarer Ausfluß seiner Persön-
werk bildenden Personen gedacht war, wurde dann mit der Zeit dahin
nuanciert, daß sich das Vorrecht auf eine bestimmte Anzahl von
Meistern zu beschränken habe : ein Gedanke , der in der allmählich
allgemeiner werdenden „Schließung“ des Handwerks seinen folge¬
richtigen Ausdruck findet.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
13
194 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
lichkeit erscheint. In diesem Sinne hat man das „Handwerk-'
sehr treffend bezeichnet als den „Ausdruck einer zum Lebens¬
beruf ausgeprägten bestimmten Tätigkeit des Individuums , die
sich sozusagen so weit ausdehnt, als die Kraft der
ein zelnen Hand zu herrschen und zu schaffen vermag h
Und wie es dabei nicht anders sein kann: das Werk selbst,
also das Ergebnis des handwerklichen Wirkens, ist der getreue
Ausdruck der Persönlichkeit seines Schöpfers. Handwerker¬
ware ist bei aller Traditionalität des Verfahrens doch immer
individuelles Werk. Es trägt ein Stück Seele in die Weh
hinaus, weil es ja die Schöpfung eines wenn auch noch so be¬
schränkten, aber doch lebendigen Menschen bleibt. Von den
Leiden und Freuden seines Schöpfers weiß es zu erzählen.
Kommt auch nicht jedes Paar Schuhe zustande, wie es der Sachs
in der Johannisnacht zusammenschlägt: — „ mit dem Hammer
auf dem Leisten halt’ ich Gericht“ — , Einflüsse mannigfachster
Art werden sich immer bemerkbar machen: „jeder Ärger über
das Kind, jeder Zank mit der Frau“, die tausenderlei Fährnisse
des häuslichen Lebens gehen nicht spurlos an dem Werk des
Handwerkers vorüber. Es bleibt in den Kreis seines Könnens
gebannt: das aber ist verschieden von Meister zu Meister, ver¬
schieden von Tag zu Tag.
V. Hie Berufsgliederung des Handwerks
Der Idee handwerksmäßiger Arbeit als einer Betätigung der
Gesamtpersönlichkeit entspricht nun auch die dem Handwerk
eigentümliche Berufsgliederung, die dem Gedanken Rechnung
träo-t, daß die Individualität eines Menschen seine Kräfte über
einen gewissen Kreis von Tätigkeiten erstrecken kann und soll,
die durch ein geistiges Band, durch die Idee eines Ganzen zu¬
sammengehalten werden; daß eine Ausweitung dieses Kreises
seine Kräfte zersplittern muß, während anderseits, wenn diese
Kräfte in zu engem Kreise oder wohl gar nur nach einer Rich¬
tung hin betätigt werden, der Arbeiter in die Stumpfheit des
1 Denkschrift des Zentralvereins zur Reorganisierung des Hand¬
werkerstandes in Breslau als Entwurf der Generalversammlung der
Handwerksgenossen Schlesiens am 19. Juni 1848 zur Prüfung und
Beratung vorgelegt vom provisorischen Komitee des Vereins (o. 0.
o. J.), S. 3. Diese Denkschrift enthält auch im übrigen eine Fülle
treffender und feiner Bemerkungen.
Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks 195
rein mechanischen Betriebes versinkt. Was gleichsam die quali¬
tative Abgrenzung der einzelnen Handwerke charakterisiert,
während die quantitative Zuteilung des Wirkungskreises deut-
lichst unter dem Einfluß des Leitsatzes von der „Nahrung“ steht.
Lach beiden Bichtungen hin — das wollen wir festhalten —
sind also für die Abgrenzung der einzelnen Handwerke subjektive,
in der Persönlichkeit des Handwerkers begTündete Momente
maßgebend.
Die Größe des Wirkungskreises, innerhalb dessen der Hand¬
werker seine Tätigkeit ausübt, findet aber ihren Ausdruck in
der Größe seines Betriebes. Daß dieser der Begel nach die
Grenzen des Individualbetriebes nicht überschreiten wird , ent¬
spricht mir der Wesenheit des Handwerks.
VI. Die Ordnung der Handwerksarbeit
Daß nun dem Handwerker stets ein bestimmter Betriebs¬
umfang gesichert sei (das heißt also ein bestimmter Abnehmer¬
kreis), daß der eine sich nicht auf Kosten des anderen ver¬
größere und bereichere, daß vielmehr alle einen möglichst
gleichen Anteil an dem gesamten Absatzgebiet behalten; auf
die Erreichung dieser Ziele (die also recht eigentlich die Siche¬
rung der „Nahrung“ bedeuten) ist das Hauptaugenmerk der
Handwerkerordnungen gerichtet , weshalb wir häufig diesen
Teil ihrer Bestimmungen schlechthin als Zunftordnung be¬
zeichnen.
Der Erreichung dieses Zieles dienen:
1. Vorschriften, die die Bedingungen des Bohstoffbezugs
für alle Handwerker gleich gestalten sollen; sei es, daß sie be-^
stimmen: kein Meister dürfe anders als am Markttage, am an
gezeigten und bestimmten Orte und nirgends anderswo einkaufen,
sei es, daß die Preise des Bohstofls amtlich festgesetzt und von
®|dermann eingehalten werden müssen, sei es, daß die Größe
der von einer Person einzukaufenden Menge beschränkt wird,
sei es, daß ganz allgemein jederart „Vorkauf“ verboten wird,
sei es , daß jedem Handwerker das Becht eingeräumt wird, an
dem Einkäufe eines anderen teilzunehmen (sogenanntes Ein¬
standsrecht).
2. Bestimmungen, in denen die Ausdehnung des Be¬
triebes oder die Menge der Produktion Beschränkungen
unterworfen werden. Hierher gehört die Festsetzung der Höchst-
13*
196 Vierter Abschnitt: l)as Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
zalil der Gesellen und Lehrlinge, die e in Meister beschäftigen darf.
AVo eine solche Beschränkung durch die Natur des Gewerbes
untunlich oder sonst unausführbar scheint, werden andere Mittel
angewandt, um das Produktionsquantum des einzelnen nicht zu
stark werden zu lassen und die Entwicklung zum Großbetriebe
zu verhindern.
Oder es wird die zulässige Produktionsmenge direkt fest¬
gesetzt, die der einzelne während einer bestimmten Zeit erzeugen
darf. Das ist namentlich dort der Fall, wo die Produkte wesent¬
lich gleicher Art sind, also vor allem in der Weberei, dann aber
auch in der Kürschnerei, Gerberei und anderen.
3. Bestimmungen, die ein möglichst gleichzeitiges, wie
gleichartiges Angebot herbeizuführen bezwecken. Hierher
gehören die mannigfachen Vorschriften über die Art, den Ort
und die Zeit des Verkaufs, die Verbote, dem Zunftgenossen
dessen Kunden oder Käufer abspenstig zu machen oder ihm ein
Stück Arbeit fortzunehmen; hierher gehört auch das Verbot, das
von einem Zunftgenossen begonnene AVerk weiter zu führen,
und manches andere.
AHI. Die innere Gliederung des Handwerks
Das Handwerk wird dargestellt von den Meistern (denen, die
das Handwerk verstehen: wie die Dorfgemeinde vertreten
wurde durch die Hufen: denen, die Grund und Boden besaßen).
Aber der Meister muß für Nachwuchs sorgen, damit das Hand¬
werk nicht aussterbe; der Meister braucht in vielen Fällen der
Hilfe anderer Personen in seinem Betriebe. So kommt es, daß
neben ihm auch noch andere im Handwerk arbeiten, daß die
einzelnen Handwerksbetriebe häufig nicht Alleinbetriebe sind, in
denen nur der Meister tätig wäre, sondern (und das darf sogar
als der typische Fall angesehen werden) Gehilfenbetriebe.
Da ist denn nun wiederum ein dem Handwerk besonderer
Zug die Art und AVeise, wie die in ihm zu einheitlichem AVirken
zusammengefaßten Personen rechtlich und ökonomisch zueinander
in ein Verhältnis gebracht werden; dasjenige, was man die
innere Gliederung des Handwerks nennen kann. Demi
ihre Eigenart folgt aus dem obersten Prinzipe handwerksmäßiger
Organisation, wie es in der Zwecksetzung ihrer Träger zum
Ausdruck gelangt.
Das A7erhältnis des Leiters handwerksmäßiger Produktion
Zwölftes Kr.pitel : Das Wirtschaftssystem des Handwerks 197
des „Meisters“ — zu seinen Hilfspersonen — den Gesellen,
Knechten , Knappen, Knaben, Dienern, Helfern, Gehilfen und
wie die Bezeichnungen sonst noch lauten mögen, sowie den
Lehrlingen — und dieser zu ihm, ,wird man nur dann richtig
verstehen , wenn man sich den familienhaften Charakter ver¬
gegenwärtigt , den alles Handwerk ursprünglich trägt: die
Familiengemeinschaft ist der älteste Träger dieser
Wirtschaftsfo r m , und sie bleibt es auch dann noch , wrenn
schon fremde Personen zur Mitwirkung herangezogen werden.
Geselle und Lehrling treten in den Familienverband ein mit
ihrer ganzen Persönlichkeit und werden von ihm umschlossen
zunächst in der gesamten Betätigung ihres Daseins. Die Familie
samt Gesellen und Lehrlingen ist Produktions- und Haushai tunns-
einheit. Alle ihre Glieder sind Schutzangehörige des Meisters;
sie bilden mit ihm ein organisches Ganze, ebenso wie es die
Kinder mit ihren Eltern tun.
Wie nun aber gar nie die Vorstellung aufkommen kann, daß
die Eltern der Kinder oder die Kinder der Eltern wegen da
seien, ebenso wie es töricht wäre, zu denken, daß das Herz um
des Kopfes oder dieser um jenes willen da sei, so folgt auch
für das Verhältnis von Meister zu Gesellen und Lehrlingen, daß
keiner der Mitwirkenden als um des anderen willen wirkend ^e-
o
dacht werden darf, sondern daß sämtliche Personengruppen,
also auch die Hilfspersonen — Geselle und Lehrling — als Selbst¬
zweck erscheinen, oder was dasselbe ist, als Organ im Dienste
eines gemeinsamen Ganzen.
Stets erscheinen dem Wesen des Handwerks entsprechend
Lehrlings- und Gesellentum nur als Vorstufen zur Meister¬
schaft. Das, möchte ich sagen, ist fast das wichtigste Merk¬
mal echt handwerksmäßiger Organisation. Wie der Student nur
der angehende Referendar und dieser nur der angehende Richter
ist, so ist der Lehrling werdender Geselle, der Geselle werdender
Meister. Daß hierfür die Voraussetzung auch ein entsprechendes
zahlenmäßiges Verhältnis der Aspiranten auf die Meisterstellen
zu diesen selbst ist, ist oft und mit Recht betont worden: man
darf annehmen, daß dort, wo die Zahl der Gesellen mehr als
die Hälfte der Zahl der Meister beträgt, ein Einrücken in die
Meisterstellen schon nicht mehr jedem Gesellen gewährleistet ist h
1 Siehe die Berechnungen J. G. Hofmanns und die darauf
fußenden Ausführungen Schmoll er s, Zur Geschichte der deutschen
198 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Wo aber etwa aus betriebstechnischen oder anderen Gründen
eine größere Gchilfcnzahl erforderlich ist , da hilft man sich m
der Weise, daß man materiell wie ideell den Unterschied zwischen
Meister und Gesellen fast völlig auslöscht und den Meister als
einen Primus inter pares ansieht. Das war der Grundgedanke
beispielsweise der Baugewerke, namentlich der Steinmetzen im
Mittelalter, bei denen der Meister zwar als Organisator und Leiter
unentbehrlich war, die Gesellen ihm aber in Lohn sowie Achtung
und Ansehen fast völlig gleichstanden.
Bei aller gelegentlichen Auflehnung gegen das Meisterregiment
soll der Geselle doch eingedenk bleiben, daß ihm dasselbe der¬
einst widerfahren könne, was er gegen den Meister unternimmt.
Welche Erwägung der folgende Spruch zu greifbarem Ausdruck
bringt :
Ein jeder Gesell oder Knecht
Der seinen stand wil brauchen recht.
Es sey mit Arbeit oder wandien,
Was dah sein Herrschaft hat zu handlen.
Darinn soll er sich brauchen schon,
Wie er wolt das man im solt thon.
Dann wie einer dienet auff Erden,
So wird im auch gedienet werden.
Gedenk wenn ich zu Ehren kom,
Dient man mir also wiederumb h
Kleingewerbe im 19. Jahrhundert (1870), 338/39; auch Bücher in
den Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des
Handwerks (zit. U.) III 444/45 kommt zu ähnlichen Ergebnissen.
1 Von einem Holzschnitt um 1600. Faksim. bei E. Mummen¬
hoff, Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit (1901), 94.
199
Dreizehntes Kapitel
Die Daseinsbedingungen des Handwerks
Da wir unsere Untersuchung auf den Kreis der westeuro¬
päischen Kulturvölker beschränken, so kann die Bedingtheit
unserer Wirtschaftsform durch Eigenart des Landes und des
Volks außer Betracht bleiben. Vielmehr werden wir die Mög-
lichkeit handwerksmäßiger Organisation im wesentlichen aus
einer bestimmten (quantitativen) Gestaltung der Bevölkerungs¬
verhältnisse und der Technik abzuleiten uns angelegen sein lassen.
I. Die Bevölkerung
Die Bevölkerung ist nach drei Seiten von bestimmendem
Einfluß auf die Lebensfähigkeit handwerksmäßiger Organisation *,
1. Durch die Beschaffenheit ihrer Vermehr ungstendenzen.
Da ist festzustellen: je geringer die allgemeine Zuwachsrate
einer Bevölkerung ist, das heißt also, je langsamer ihre absolute
Vermehrung fortschreitet, desto besser für das Handwerk;
2. ist für die Lebensfähigkeit einer Wirtschaftsform der ge¬
werblichen Produktion von entscheidender Bedeutung die Zu¬
wachsrate der landwirtschaftlichen Überschußbevölkerung, also
desjenigen Bevölkerungsteils, für den in der Sphäre der land¬
wirtschaftlichen Tätigkeit kein Spielraum mehr ist. Handwerk
in Handel und Gewerbe ist an die Voraussetzung geknüpft, daß
die agrarische Überschußbevölkerung gering sei oder — was
auf dasselbe hinausläuft — daß für die ländliche Zuwachs¬
bevölkerung die Möglichkeit bestehe, durch Intensität des An¬
baus oder Besiedlung von Neuland ihre Arbeitskraft zu ver¬
werten ;
3. kommt für die Daseinsmöglichkeit einer gewerblichen
Wirtschaftsform erheblich in Betracht der Grad der Bevölkerungs¬
dichtigkeit und der Bevölkerungsagglomeration : Handwerk setzt
für beide einen niedrigen Grad voraus.
1 j Siehe die Begründung auf Seite 203 ff.
200 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
II. Die Technik
Die Technik ist bedeutsam für das Handwerk durch die
Art des Verfahrens sowie durch die quantitative Leistungsfähig¬
keit. Die Art des Verfahrens, die der Idee handwerks¬
mäßiger Organisation entspricht, ist die empirisch- organische.
Empirisch wollten wir eine Technik nennen, wenn sie auf
einem Kunstverfahren beruht. Das technische Können baut sich
alsdann auf auf dem praktisch-persönlichen Wissen dessen, der
die „Kunst“ erlernt hat, und zwar erlernt hat durch Unter¬
weisung eines anderen Könners, eines anderen Meisters der
Kunst. Empirisch, erfahrungsmäßig ist die Handhabung der
Technik, weil sie auf nichts anderem beruht als auf dem Er¬
probtsein, weil sie keine andere Richtschnur hat als subjektiv
für wahr befundene Kegeln, die der „Meister“ aus dem tatsäch¬
lichen Vorgänge des eigenen Wirken s abgezogen und dem „Lehr¬
ling“ als die Regeln seiner Kunst wie einen persönlichen Besitz
übertragen hat. Der die Kunst versteht, kennt doch immer nur
das Wie? und das Wozu? des Gesamtverfahrens und aller Einzel¬
heiten; nicht das Warum? Der Bauer düngt seinen Boden, weil
er persönlich erfahren und darin von seinem Vater unterwiesen
ist (wie dieser es vom Großvater gelernt hat), daß die Saat auf
gedüngtem Boden besser wächst als auf ungedüngtem ; der Gerber
bereitet eine Lohbrühe aus Eichenrinde und bestimmtem Wasser¬
zusatz und legt die Ochsenhaut ein Jahr hinein, weil sein Meister
es ihm so gezeigt hat und weil der Augenschein bestätigt, daß
dieses Verfahren zweckmäßig ist, um Häute in Leder zu ver¬
wandeln.
Organisch nenne ich diejenige Technik, deren Verfalirungs-
weisen durch Ausmaß und Art lebendiger Wesen bestimmt sind,
deren Prozesse durch aktive wie passive Teilnahme menschlich¬
tierischer oder pflanzlicher Organismen wesentlich zustande
kommen. Organisch im passiven Sinn ist diejenige Technik
also, bei der als Hilfskräfte und Stoffe vornehmlich Menschen,
Tiere und Pflanzen verwendet werden, im aktiven Sinn diejenige
Technik, bei der das Werk selbst individuelles Menschenwerk,
das heißt unmittelbarer Ausfluß eines lebendigen Menschen ist,
der im Mittelpunkt der Werkschöpfung steht und von dessen
natürlicher Organbetätigung der ungestörte Verlauf des Arbeits¬
prozesses abhängig ist. Der Arbeiter schafft sich selbst ein
System von Hilfsmitteln — die Werkzeuge — um sein Werk
Dreizehntes Kapitel: Die Daseiusbedingungen des Handwerks 201
besser vollbringen zu können. Das Werkzeug, das den Arbeiter
bei seiner Arbeit nur unterstützt, ist das dem organischen Ver¬
fahren entsprechende Arbeitsmittel.
Es bedarf nun wohl kaum einer besonderen Begründung,
weshalb die empirisch-organische Technik und die handwerks¬
mäßige Organisation der Wirtschaft (ebenso natürlich wie die
Formen der Individualbetriebe) ihrem Wesen nach zusammen¬
gehören: der Handwerker will ja gerade sich als ganze, lebendige
Persönlichkeit in seinem Wirken betätigen, will Werk schaffen
mit seines Kopfes und seiner Hände Arbeit, will seine Wesenheit
einem Teil der äußeren Natur, die er formen soll, mitteilen:
was Wunder, daß ihm eine Technik gemäß ist, die alles Wirken
um die lebendige Persönlichkeit eines Arbeiters gruppiert: bei
der der Landmann hinter dem Pfluge herschreitet, der Schuster
unter der Wasserkugel mit Pfriemen und Draht Sohlen annäht,
der Kärrner mit dem Spitz im W agenkorbe sitzt und der Kahn¬
führer seinem Fahrzeug eigenhändig stromabwärts die Richtung
gibt, stromaufwärts selbst die Bewegung mitteilt.
Wie aber soll in jenem seiner innersten Natur erfahrungsmäßig¬
traditionell veranlagten Wesen, als welches wir den Handwerker
kennen lernten , technisches Können anders Wurzel schlafen
als durch die persönliche Unterweisung, die er vom Meister
empfängt? Wie soll er seine Kunst anders handhaben können
als wie er es geleimt hat, wie es seine Vorfahren ihm über¬
liefert haben: er, dem ein wissenschaftliches Erfassen des Arbeits¬
prozesses bei der Vielseitigkeit seiner Talente und seiner Tätigkeit
naturgemäß völlig fern liegen muß?
Wie innerlich handwerksmäßiges Wesen und empirisch¬
organische Technik miteinander verwachsen sind, sehen wir an
einer ganzen Reihe echter Züge handwerksmäßiger Organisation,
die immittelbar in der Anwendung jener Technik ihren Grund
haben.
So wurzelt die eigentümliche hierarchische Gliederung allen
Handwerks: die „Meister“- und „Lehrlings “schaff letzten Endes
in der Eigenart, der empirischen Technik. Das technische
Können haftet bei ihr an einer bestimmten Person: dem „Meister“.
Mit ihm lebt es , mit ihm stirbt es. Und darum bedarf es der
persönlichen Unterweisung eines „Lehrlings“ durch den Meister,
damit die Kunst erhalten bleibe und sich fortpflanze. Solange
alle Wirtschaft im Hause eingeschlossen ist, sorgt die Familien¬
tradition, sorgt das natürliche Eltern-Kinder- Verhältnis dafür, daß
202 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
die Vorräte an technischem Wissen und Können mit dem Tode
der einen Generation nicht verloren gehen, sondern auf die
nächste Generation übertragen werden. »Fällt diese natur¬
wüchsige Art der Übermittlung fort, so müssen künstliche Vor¬
richtungen getroffen werden, die die Stetigkeit des Besitzes
an Technik den kommenden Geschlechtern verbürgen. Diesem
Zwecke dienen die korporativen Verbände (Zünfte, Gilden), die
wir bei allem Handwerk wiederfinden.
Aus der Eigenart des organischen Verfahrens erklärt sich
ferner im Handwerk die Bildung der Berufssphären: sie erfolgt
in wirklich „organischer“ Entwicklung, das heißt im Anschluß
und unter ausschließlicher Berücksichtigung des persönlichen
Vermögens der Produzenten; das heißt also ohne jede Rück¬
sichtnahme auf die objektiven Anforderungen des Produktions¬
prozesses.
Aber auch der Berufsstolz, die besondere, handwerksmäßige
„Berufsehre“ ist ohne empirisches Verfahren nicht denkbar. Es
bedurfte der durch die Jahrhunderte überlieferten, rein persön¬
lichen Kunstfertigkeit, um deren Träger das Gefühl einer be¬
stimmten Berufszugehörigkeit als besonderen Reiz empfinden zu
lassen. Der Bergmann, der Steinmetz, der Schwertschmied
waren jeweils die Verweser ihrer speziellen Kunst, deren gemein¬
samer durch persönliche Vermittlung erworbener Besitz sie
selbstverständlich gegen alle Uneingeweihten abschließen mußte.
Daß eine Düngerfabrik, eine Anstalt zur Herstellung des besten
Haarwassers oder der haltbarsten Pneumatik ähnliche Seelen¬
stimmungen weder im Unternehmer noch im Arbeiter zu er¬
zeugen vermögen, ist handgreiflich.
Aus der Natur des empirischen Verfahrens lassen sich aber
auch alle Erscheinungen mühelos ableiten, in denen eine scheue
Ehrfurcht vor den „Mysterien“ einer gewerblichen Kunst oder
das Bestreben ihrer Jünger zutage tritt, selbst ihr Können mit
einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben und vor Profanierung
zu schützen.
Es mag daran erinnert werden, wie diese Auffassung der ge-
werblichen Tätigkeit als etwas Übernatürliches weil Unerklär¬
liches uns zurückführt zu den Sagen von der göttlichen Herkunft
der Künste und Fertigkeiten, die allen europäischen Völkern
gemeinsam sind. In den Airfängen der Kultur ist es vor
allem die Eisenbereitung und Eisenverarbeitung , die man mit
mystischen Vorstellungen umspann. „Wie das Staunen der Mensch-
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingnngen des Handwerks 203
heit über die wunderbare Kunst, welche es versteht, das harte
Metall im Feuer zu schmelzen und kostbare Dinge aus ihm zu
schmieden, dazu geführt hat, die Erfindung derselben über¬
irdischen Wesen zuzuschreiben, so kann man sich auch' die
Ausübung derselben durch irdische Geschöpfe nicht ohne die
Zuhilfenahme geheimnisvoller und zauberhafter Mittel vorstellen.
Diese Anschauung gilt . . . durch ganz Europa1.“
Aber gerade auch in der Periode handwerksmäßiger Pro¬
duktion begegnet uns jene Auffassung auf Schritt und Tritt.
Die Geheimniskrämerei in so vielen Handwerken, namentlich in
den ,Baugewerben , namentlich während des Mittelalters hängt
aufs engste damit zusammen. „Die Baukunst“ wurde geheim
gehalten und daher in eine symbolische Sprache und in sym¬
bolische Formen gehüllt. Jede Mitteilung an Fremde war ver¬
boten. Ebenso die schriftliche Abfassung der Geheimlehre2.“
Hierher gehört auch die Sitte des Verbleibungseides, die uns so
häufig im Handwerk begegnet.
In quantitativer Hinsicht muß die Technik ebenfalls be¬
stimmte Anforderungen erfüllen, damit Handwerk möglich sei.
Die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit muß infolge
einer entsprechend entwickelten Technik einen solchen Grad
erreicht haben, daß einer genug für zwei Nahrungsmittel und
Rohstoffe zu erzeugen vermag. Erst dann offenbar kann die
Verarbeitung und Bearbeitung jener zu gewerblichen Erzeug¬
nissen so sehr verfeinert werden, daß nun eine Person sich
ausschließlich dieser Tätigkeit widmet, erst dann also ist eine be¬
rufliche Verselbständigung gewerblicher, kommerzieller, transport-
licher Tätigkeit möglich, auf der ja alle handwerksmäßige Organi¬
sation fußt.
Ist somit ein Mindestmaß für die Entwicklung der landwirt¬
schaftlichen Technik als selbstverständliche Vorbedingung übrigens
jeder berufsmäßig ausgeübten gewerblichen Tätigkeit anzunehmen,
so ist umgekehrt das Wohlergehen des Handwerks, wie dann
zu zeigen sein wird, geknüpft an ein Maximum von Produktivität
der gewerblichen und transportierenden Arbeit, hat also zur
Voraussetzung einen entsprechend niedrigen Stand der gewerb¬
lichen sowie der Transporttechnik.
1 0. Schräder, Sprachvergleichung und Urgeschichte. 2. AuÜ.
1890. S. 236 ff.
2 Vgl. Heideloff, Die Bauhütte des M.-A. (1844), S. 16—18,
und dazu v. Maurer 2, 483.
204 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Durch den Produktivitätsgrad der Technik werden nämlich
im Verein mit den eigentümlichen populationistischen Verhält¬
nissen, die ohen Seite 199 als dem Handwerk angemessene be¬
zeichnet wurden, die Absatzverhältnisse wesentlich bestimmt.
Diese aber dürfen als die entscheidende Bedingung jedes Wirt¬
schaftssystems angesprochen werden. Es gilt also zu untersuchen,
welcher Art die Absatzverhältnisse sein müssen, damit Handwerk
möglich sei, wie sie beschaffen sein müssen, damit Handwerk
blühe, welches also ihre für die handwerksmäßige Organisation
optimale Gestaltung sei.
HI. Die Gestaltung der Absatzverhältnisse1
Unter Absatzverhältnissen im weiteren Sinne verstehe ich ein
Zweifaches :
1. die Bedingungen, unter denen sich der Produzent in den
Besitz der nötigen Produktionsmittel setzt;
2. die Bedingungen, unter denen er seine Produkte ver¬
äußert.
Wir können im ersten Palle von Bezugs Verhältnissen , im
anderen von Absatzverhältnissen im engeren Sinne oder Ver¬
wertungsverhältnissen sprechen.
1. Die Bezugs Verhältnisse, damit sie einer handwerks¬
mäßigen Organisation angepaßt seien, müssen am liebsten so
übersichtlich und einfach gestaltet sein, daß sie ein Durch¬
schnittshandwerker mit seinem Durchschnittsverstande ohne be¬
sondere Kenntnisse und Fertigkeiten neben seiner Tätigkeit
als gewerblicher Arbeiter gleichsam im Nebenamte zu über¬
schauen und zu beherrschen vermag. Das trifft überall dort
zu, wo Rohstoff oder Halbfabrikat in herkömmlicher Weise vom
Nachbar-Bauern aus der Umgegend oder vom Nachbar-Hand¬
werker aus der Nebenstraße bezogen werden, wie es in primi¬
tiven Wirtschaftszuständen häufig der Fall ist: Holz, Häute,
Hörner, Getreide, Melil, Leder, Flachs, Wolle, Farbstoffe, ge¬
wöhnliche Felle stammen in den Anfängen der Tauschwirtschaft
meist aus der nächsten Umgebung der Stadt oder aus dieser
1 Ich habe in diesem Abschnitt hier und da einige Hinweise auf
die tatsächliche Herstellung der Absatzverhältnisse während des euro¬
päischen Mittelalters gegeben, um zu zeigen, daß sie während dieser
Zeit der handwerksmäßigen Organisation des Wirtschaftslebens in der
Tat günstig waren. Im allgemeinen ist aber auch hier der „theore¬
tische“ Charakter der Darstellung gewahrt,
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungeu des Handwerks 205
selbst. Unter Voraussetzung der noch zu erörternden Stabilität
und geringen Expansionsfähigkeit der * gewerblichen Produktion
des alten Handwerks muß es unter solchen Umständen für den
Handwerker ein leichtes sein, sich ohne viel Umschweife die
nötigen Materiahen für seine Produktion zu verschaffen.
Oder, wo die Kreise schon anfangen weiter gezogen zu werden,
von einem größeren Gebiete die Erzeugnisse bedurft werden,
zum Beispiel die "Wolle aus einer ganzen Landschaft, und Roh¬
stoffe in größeren Mengen eingekauft werden, da kann doch immer
noch die Vertreterschaft der Zunft oder können angestellte Auf¬
käufer genügen, so lange es sich um regelmäßig wiederkehrende,
jederzeit überblickbare, ungestörte Vorgänge handelt. Wenn
nur dafür gesorgt wird, daß nicht etwa die erforderlichen Roh¬
stoffe aus dem „natürlichen“ Bezugsgebiete weggeführt werden.
Es ist schon eine bedenkliche Erschütterung der Grundlagen, auf
denen das Handwerk ruht, wenn jene Selbstverständlichkeit der
Rohstoffbeschaffung in Frage gestellt wird.
Aber man darf nicht etwa wähnen, das Handwerk sei not¬
wendig und immer auf eine Verarbeitung der Rohstoffe aus
nächster Umgebung angewiesen. Es genügt eine oberflächliche
Überlegung, um einzusehen, daß auch nur ein mäßig entwickeltes
Gewerbewesen der Erzeugnisse spezialisierter Fund- und Pro¬
duktionsstätten als Materialien nicht entraten kann: Eisen und
Bronze, Edelmetalle, kostbare Pelze, wertvolle Bausteine und
Edelsteine, einzelne Färbemittel wie Alaun haben von jeher aus
weiterer Umgebung herbeigeholt werden müssen. Und jahr¬
hundertelang hat sich eine echt handwerksmäßige Produktion
damit recht gut abgefunden.
Die Voraussetzung aber ist auch hier, daß die B ezugs Ver¬
hältnisse sichere, stabile seien und jedes spekulativen
Momentes entbehren. Mag nun der Handwerker oder seine
Zunftvertreter selbst die weite Reise unternehmen 1 oder mag er
des Händlers harren, der ihm die nötigen Materialien in her¬
kömmlicher Weise zu bringen pflegt.
Auch vor dem Händler braucht der Handwerker sich nicht zu
fürchten, solange dieser selbst in das feste Gefüge des gleichsam
stereotypierten Wirtschaftslebens eingegliedert ist, das heißt
1 Dem ersten Straßburger Stadtreckte zufolge gehen die Kürschner
selbst nach Frankfurt zum Einkauf des Rohmaterials. Vgl. auch
v. Below, Großhändler und Kleinhändler im deutschen Mittelalter
in den Jahrbüchern für N.Ö., III. F., Bd. 20, S. 48.
206 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
gleiche Waren zu gleichen Bedingungen in regelmäßigen Be¬
ziehungen als ein Handwerker des Warenabsatzes liefert1.
Was aber dem Handwerker bei der Gestaltung der Bezugs¬
verhältnisse auch zugute kommt, außer gleichsam ihrer Struktur,
ist ein niedriger Preis der Rohstoffe und Halbfabrikate.
Denn ein solcher weitet den Kreis derjenigen Personen aus, die
imstande sind, mit eigenem Vermögen zu produzieren, sich also
selbständig zu erhalten. Nun ist aber der Preis der Rohstoffe
im Verhältnis zu dem Wertbetrage, den die Arbeit des Hand¬
werkers den Materialien durch ihre Verarbeitung zusetzt, dann
niedrig, wenn Nahebezug stattfindet, also nur Produktionsauf-
wand und nicht auch Transportkosten vergütet zu werden brauchen
und (bzw. oder) der die Preise der Agrarprodukte so mächtig
in die Höhe treibende Anteil der Grundrente sich noch nicht
bemerkbar macht.
2. Welcher Art aber müssen die Absatz Verhältnisse im
engern Sinne, das heißt muß die Art und Weise sein, wie die
Produkte an den Mann gebracht werden, um den Anforderungen
des Handwerks zu entsprechen? Auch auf diese Frage lautet
die Antwort zunächst wieder ganz allgemein : der Absatz
muß gesichert und stabil nach Qualität und Quantität, mit
andern Worten: er darf noch kein Problem geworden sein.
Mag er dann vom Handwerker selbst als Nebenftuiktion, mag
er von einer berufsmäßigen Händlerklasse ausgeübt werden : das
bleibt sich gleich. Auch in diesem Falle können alle Bedingungen
erfüllt sein, die eine handwerksmäßige Organisation der Pro¬
duktion möglich oder sogar vielleicht notwendig machen.
Worauf es nur ankommt ist dieses, daß der Produzent keiner
anderen Qualitäten benötigt als der eines technischen Arbeiters.
Das trifft aber dann zu, wenn der gewerbliche Arbeiter bei
ruhiger Fortsetzung seines Werkes niemals Gefahr läuft, sein
Produkt überhaupt nicht oder zu nicht lohnenden Preisen ver¬
werten zu können.
Wann aber ist dies der Fall, wann ist der Absatz solcherart
gesichert und stabil?
Die herrschende Theorie antwortet darauf: wenn und solange
1 Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Regelung der Bezugs¬
verhältnisse für Importrohstoffe zugunsten des Handwerks bietet die
Baumwolle , die von der Baseler Shirtingweberei verbraucht wurde,
bei Traug. Geering, Basels Industrie (1879), S. 306 f. Vgl. auch
noch Br. Hildebrand in seinen Jahrbüchern 6, 129 f.
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbeclingungen des Handwerks 207
das Verhältnis zwischen Produzent nnd Konsument das Kunden-
Verhältnis ist, das heißt der Absatz ' ohne Zwischenglieder
oder sogar nur an bekannte Personen auf Bestellung erfolgt.
Unzweifelhaft ist nun das Moment eines regelmäßigen Verkehrs
zwischen Produzenten und einem geschlossenen Kreise von be¬
stellenden Konsumenten ein sehr wesentliches für die Sicherung
und Stabilisierung der Absatzverhältnisse und ganz gewiß wird
ein großer Teil aller handwerksmäßigen Produktion durch dieses
Kundenverhältnis gekennzeichnet. Aber ebenso unzweifelhaft,
darauf wurde schon hingewiesen , deckt sich handwerksmäßige
Produktion und Kundenproduktion keineswegs. Die Kunden¬
produktion schafft keineswegs immer derartige Absatzverhältnisse,
daß sie die Existenz handwerksmäßigen Produzenten ermöglichen.
Das Schneiderhandwerk beispielsweise ist zugrunde gegangen,
trotzdem in weitem Umfange an dem Kundenverhältnis der
Konsumenten nichts verändert ist. Zu den frühesten kapitalistisch
betriebenen G-ewerben gehört die Kundenschneiderei, die als
Handwerk in London schon Anfang des 18. Jahrhunderts er¬
schüttert ist h Und die Fälle sind gar nicht so selten, in denen
die handwerksmäßige Organisation eines Gewerbes dort zuerst
zerstört wird, wo es sich nicht etwa um Export nach außen,
sondern um den Absatz am selben Orte, also im Rahmen einer
mehr oder weniger abgeschlossenen Kundschaft handelt. Um¬
gekehrt gibt es genug Fälle, in denen eine zweifellos handwerks¬
mäßige Organisation der Produktion bei ganz und gar nicht
kundenmäßigem Abnehmerkreise, sondern trotz Export und trotz
Zwischenhandel vortrefflich gedeiht.
Sicher und stabil ist der Absatz vielmehr überall
dort, aber auch nur dort, wo zwischen Angebot und
Nachfrage ein stetes Gleichgewicht oder ein Mi߬
verhältnis derart besteht, daß die Nachfrage dem
Angebot vorauseilt; wo aber für den einzelnen Pro¬
duzenten Produktions- und Absatzbedingungen an¬
nähernd natürlich gleiche sind.
Daß nun diese Kennzeichen sicheren und stabilen Absatzes
nicht nur bei dem reinen Kundenverhäitnis sich finden, dürfte bei
genauer Prüfung außer Zweifel sein. Auch der marktbesuchende
oder hausierende Handwerker ist in gleicher Lage wie der an
Kunden auf Bestellung liefernde, wenn er bestimmt darauf rechnen
1 Vgl. S. und B. Webb, History of Trade Unionism (1894), 25 f.
208 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
kann, daß kein anderer seinen Platz am Markte einnelnnen wird,
ehe er eintrifft und kein anderer die- Straße gezogen sein wird,
ehe er mit seinem Pack oder seinem Karren des "Weges daher
kommt. Und nicht minder der an den Händler verkaufende Hand¬
werker, vor dessen Tür zu den nämlichen Zeiten der nämliche
Kaufmann erscheint, um ihm die nämliche Menge Erzeugnisse zu
den nämlichen Preisen wie bisher abzunehmen. Also müssen
die Gründe , die den Absatz sicher und stabil gestalten , tiefer
gesucht werden. Und da ergeben sich etwa folgende:
1. Gründe auf der Seite der Nachfrage
Die Nachfrage muß qualitativ lind quantitativ stabil und sicher
sein, das heißt es muß stets eine Menge gleichartiger Dinge nach-
gefragt werden.
Nun wird die Nachfrage qualitativ um so unwandelbarer
sein, je weniger die Kategorien von Personen sich verändern, die
als Käufer auftreten, und je weniger der Geschmack dieser Per¬
sonen "Wandlungen unterworfen ist. Je weniger die Schichtung
der gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändert, das heißt je stabiler
die Struktur der Gesellschaft ist, desto mehr werden die Käufer¬
arten immer dieselben bleiben. Jahrhundertelange Gliederung
eines Volkes in die althergebrachten „Stände“ der Geistlichkeit,
Ritterschaft, Bauern und Bürger bedeutet also stereotype Nach¬
frage, die qualitativ um so stabiler ist, je weniger sich innerhalb
dieser Gruppen die Sitten und Gebräuche ändern, in moderner
Terminologie: je seltener die Mode wechselt. Eine Bauern¬
schaft, die in mehreren Jahrhunderten eine einheitliche Tracht
entwickelt und bewahrt, und eine moderne Großstadtbevölkerung,
die in zehn Jahren zehn Kleidermoden und fünf Möbelstilarten zu
Tode hetzt, sind etwa die Extreme in dieser Hinsicht.
Die wesentlichste Garantie einer qualitativ stabilen Nachfrage
bietet aber die schwere Wandelbarkeit der Produktionsprozesse,
wie sie dem empirischen Verfahren entspricht. Bei diesem bleibt
die Mehrung des technischen Wissens und Könnens (und damit
die Möglichkeit einer Veränderung) entweder ganz und gar dem
Zufall überlassen, so daß gar kein Wille der Änderung oder des
Bessermachens, sondern nur der "Wille des Wiederebensomachens
vorhanden ist, und lediglich das als Neuerung hinzutritt, was
zufällig im Laufe der Tätigkeit gleichsam von außen herein dem
Arbeiter als neue Erfahrung in den Schoß fällt. Oder aber wo
überhaupt nach Verbesserung gestrebt wird, da ist es ein un-
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungen des Handwerks 209
geschicktes Herumtasten und Herumprobieren im Dunkeln ohne
klares Bewußtsein einer bestimmt zu lösenden Aufgabe.
Quantitativ stabil und sicher wird die Nachfrage aber dann
sein, wenn die Menge der erzeugten Waren nicht in einem
rascheren Verhältnisse wächst als die Kaufkraft der Käufer.
2. Gründe auf der Seite des Angebots
Was von der Seite des Angebots her die ruhige Behaglich¬
keit eines wie selbstverständlich gesicherten Absatzes stört, ist
die Gefahr, vom Nachbar an Güte der Erzeugnisse oder Billig¬
keit der Preise unterboten zu werden. Was also den Absatz
sichert, ist der Wegfall der Unterbietungsmöglichkeit, wenigstens
als einer regelmäßigen Erscheinung des Wirtschaftslebens, mit
der man rechnen muß. Denn daß gelegentliches Zuvorkommen
niemals ganz ausgeschlossen ist, bedarf keiner weiteren Be¬
gründung. Was wir nun mit einem modernen Schlagwort auch
so ausdrücken können: wenn Handwerk soll bestehen
können, darf keine Konkurrenz möglich sein.
Wann aber ist Konkurrenz der Produzenten untereinander
nicht oder nur schwach vorhanden?
Zunächst offenbar dann, wenn im ganzen, im Verhältnis zur
Nachfrage wenig produziert wird. Denn dann wird das
Konkurrieren Sache des Konsumenten; die Produzenten können
sich abwartend verhalten, wie es jedem echten Handwerker zu
allen Zeiten als die natürliche Ordnung der Dinge erschienen
ist1. Es wird aber das Ausmaß der Produktion stets von zwei
Faktoren bestimmt werden: der Menge von Arbeitskräften und
der Höhe ihrer Produktivität.
Je weniger Produzenten, desto geringer die Gefahr einer
„Überproduktion“, also einer Erschwerung des Absatzes. Wenig
Produzenten aber werden da sein, wenn die Bevölkerung
langsam wächst, wenn der Nachwuchs unter großen Schwierig¬
keiten herangebildet wird (empirisches Verfahren!), wenig Pro¬
duzenten auf nicht landwirtschaftlichen Gebieten wird es aber
1 Im Jahre 1646 beschweren sich die Baseler Passementer über
die, denen der Rat für zwei Jahre ‘den Aufenthalt in Mönchenstein
vergönnte, daß sie sich „aller Ordnung zuwider“ betrügen: sie „durch¬
jagen alle Orte und Dörfer mit Arbeit“. Geering, S. 600. Es wird
ganz richtig noch heute geradezu als eine „Maxime des Handwerks“
bezeichnet, daß der Kunde den Produzenten aufsuchen müsse (U. VI.
662).
Sombart, De» moderne Kapitalismus. X. 14
210 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
insonderheit geben, wenn die agrarische Üb erschußbevöl kcrong
gering ist.
Ist aber die Ziffer der Produzenten festgegeben, so wird
offenbar ihr Gesamtangebot abhängig sein von dem Ausmaß ihrer
Produktivität. Je unentwickelter diese, desto geringer die Gefahr
einer Absatzschwierigkeit.
Aber alles, was bisher an Gründen beigebracht wurde, die
auf der Seite des Angebots dem Handwerk die Existenz möglich
machen, galt doch nur für die durch die Gesamtproduktion be¬
stimmte Gestaltung der Absatzverhältnisse. Bleibt zu prüfen, welche
Umstände es sind , die auch den einzelnen Teilnehmern an der
Gesamtproduktion, den einzelnen Handwerkern jedem für sich,
ein verhältnismäßig sicheres Dasein gewährleisten, das heißt also
auch unter den Angehörigen des gleichen Gewerbes
Konkurrenz ausschließen.
"Was das Wesen der Konkurrenz der Warenverkäufer unter¬
einander ausmacht, ist die Fähigkeit des einzelnen Produzenten,
die Ware besser oder billiger als sein Nachbar auf den Markt
bringen zu können, ist mit einem Worte jene schon erwähnte
Unterbietungsmöglichkeit. Wo diese fehlt, fehlt die Konkurrenz1.
Sie ist aber stets nur im beschränkten Umfange vorhanden
dort, wo
1. das empirische Verfahren herrscht. Deshalb, weil
dieses die Verbilligung oder Verbesserung jedenfalls nur in einem
langen Umbildungsprozesse möglich macht. Wir wissen , wie
sehr die raschen Fortschritte der Technik dem Wesen der Em¬
pirie fremd sind. Wir wissen, daß es nur gleichsam Glücksfälle
sind, die ein althergebrachtes Verfahren durch ein zweckmäßigeres
ablösen. Wir wissen aber auch, daß alles, empirische Können
an der Person haftet und nur durch diese, mit dieser übertragen
werden kann. Selbst einmal angenommen also , daß irgendein
Handwerker eine wesentliche Verbesserung in Anwendung brächte,
wodurch ein Erzeugnis schöner oder billiger geliefert werden
könnte, so würde zunächst dieses Verfahren in die Sphäre seiner
persönlichen Wirksamkeit gebannt sein. Es ist gleichsam.’- ein
natürliches Patent, das der Erfinder ausnützt. Und nur in dem
Maße, wie er sein höheres* Können durch persönliche TJnter-
1 Man kann diese Konkurrenz als qualitative bezeichnen und sie
der quantitativen gegenüberstellen, die durch die bloße Tatsache der
Übersetzung eines Gewerbes hervorgerufen wird.
Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungen des Handwerks 211
Weisung überträgt, verallgemeinert es sich. Zunächst bleibt es
nur Alleinbesitz und wirkt auf die Gestaltung der Absatz¬
verhältnisse nur in dem bescheidenen Rahmen, in dem sich die
Arbeitsleistung seines Inhabers bewegt. AVas uns heute ein
Ahn-recht künstlerischer Gestaltung erscheint: die Bannung des
Ausmaßes der Produktion an die AVirkungsspliäre einer Persönlich¬
keit , das müssen wir uns für die Zeit der rein empirischen
Technik verallgemeinert denken für die meisten Verbesserungen
des Verfahrens, durch die eine Steigerung der qualitativen Reize
oder eine Verringerung der Produktionskosten eines Erzeugnisses
herbeigeführt werden konnten.
2. Diese in der Natur des empirischen Verfahrens begründete
Verlangsamung des technischen Fortschritts und die daraus fol¬
gende Behinderung erfolgreichen AVettbewerbs auf dem AVaren-
markte wird nun aber in ihrer AVirkung erst recht empfunden
dort, wo die Mittel fehlen, die recht eigentlich erst Verbesserungen
der Verfahrungsweisen zu bewirken beziehungsweise in die Praxis
einzuführen imstande sind. Dieses sind, wie noch des näheren
zu zeigen sein wird, die Nutzbarmachung größerer und mächtigerer
Naturgewalten , vor allem aber, wie wir schon wissen, die Zu¬
sammenfassung zahlreicher Arbeitskräfte zu einem gesellschaft¬
lichen (Groß-)Betriebe. Ist jene abhängig von den Fortschritten
des technischen AVissens, so diese von zwei sozialen Be¬
dingungen: erstens dem Vorhandensein arbeitswilliger Menschen¬
massen, und zweitens der Anhäufung von AVerten, die zum einst¬
weiligen Unterhalt der im großen tätigen Arbeitskräfte sowie zur
Beschaffung der für ihre Beschäftigung erforderlichen Produktions¬
mittel dienen können, vulgo einer entsprechenden „Kapitalaccu-
mulation“.
AVo eine dieser Bedingungen oder gar beide unerfüllt sind,
da ist es beim besten AVillen unmöglich, auch wenn ein Pro¬
duzent im Besitze eines vollkommeneren Verfahrens wäre, den
Nachbar durch eine erfolgreiche Konkurrenz aus dem Felde zu
schlagen. Aber damit greift unsere Untersuchung schon auf ein
Gebiet hinüber, das erst später betreten werden soll. AVas in
den letzten Sätzen zum Ausdruck kam, war der im Grunde selbst¬
verständliche Gedanke, daß Handwerk zur Voraussetzung
seines Gedeihens die Nichterfüllung derjenigen Be-
dino-uno-en hat, an die die Existenz des Kapitalis-
mus geknüpft ist. AVelches diese sind, soll aber erst genauer
festgestellt werden.
11*
212 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
•
Nur dem Gedanken möchte ich hier noch Ausdruck gehen,
daß, auch von allen bisher angeführten Momenten abgesehen,
immer noch ein Umstand bestehen bleibt, der bei dem von uns
angenommenen Stande der Technik eine Konkurreuz im mo¬
dernen Sinne, wenigstens zwischen Produzenten an verschiedenen
Orten, so gut wie ausschließen würde : ich meine die Schwierig¬
keit, die mit einem bevorzugten Verfahren oder unter sonstwie
günstigeren Bedingungen hergestellten Erzeugnisse über ein
größeres Gebiet zu versenden. Denn an der Unvollkommenheit
der Technik einer Zeit nimmt ja nicht zum wenigsten die Trans¬
porttechnik teil.
213
Vierzehntes Kapitel
Die Gestaltung des Güterbedarfs
Vorbemerkung. Quellen und Literatur
(zu Kap. 14 bis 16)
Was wir in den voraufgehenden Kapiteln betrachtet haben, waren
Ideale. Es gilt nunmehr die Untersuchung: wie sich denn in Wirk¬
lichkeit das wirtschaftliche Leben einer mittelalter¬
lichen Stadt gestaltet habe; das heißt — genau gesprochen —
die Beantwortung der Fragen: ob und wenn ja: in welchem Umfange,
in welcher Abweichung vom Ideal in den Städten Handwerk verbreitet
gewesen sei. Womit dann gleichzeitig die Frage nach dem Maße
beantwortet werden wird, in dem die objektiven Daseinsbedingungen
des Handwerks im Mittelalter erfüllt waren.
So reich unsere Kenntnis von der Gewerbeordnung des Mittelalters
ist, so wenig wissen wir von dem Gewerbe selber. Die meisten Quellen
sagen immer nur wieder aus, wie es hätte sein sollen, und ihre Be¬
arbeiter haben sich fast durchweg damit begnügt, uns diesen Zustand,
den man herbeiführen wollte, in systematischer Schilderung vor die
Augen zu bringen.
Wir besitzen nur ganz, ganz wenig Darstellungen des Wirtschafts¬
lebens selber, und soweit ich die bisher veröffentlichten Quellen¬
materialien zu überschauen vermag, wird es auch schwer sein, wenigstens
über das gewerbliche Leben im engeren Sinne mehr Licht zu vei ■
breiten. Viel besser steht es um die Geschichte des Handels. Die
könnte wenigstens geschrieben werden, denn für sie liegen doch
eine größere Menge Documents humains sowie mehr statistisches
Material vor. (In letzter Zeit fängt sie auch an, geschrieben zu
werden.) . ,
Für die Kekonstruktion des gewerblichen Lebens dagegen sind wir
auf die nur wenig ergiebigen Bürgerverzeichnisse und Steuerrollen als
Hauptquelle angewiesen und müssen versuchen, die Zunftstatuten und
andere Rechtsquellen so gut es geht für eine indirekte Beweisführung
zu nützen. Daneben kommen gelegentliche Schilderungen und nament¬
lich auch bildliche Darstellungen in Betracht.
Jedenfalls sollte alles Augenmerk der Geschichtsschreiber des
Mittelalters auf Vermehrung des Quellenmaterials für eine Gewerbe¬
geschichte gerichtet sein. Zunftgeschichte haben wir nun nachgerade
SeilDie folgende Darstellung soll wiederum nicht mehr sein als ein
Programm. _
214 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Wir werden gut tun, um uns ein möglichst deutliches Bild
von dem wirklichen Wirtschaftsleben einer mittelalterlichen Stadt
zu machen, dieses nacheinander vom Standpunkt des Kon¬
sumenten und dann von dem des Produzenten zu betrachten.
Ich beginne mit der Feststellung des Güterbedarfs.
Welcher Art, welchen Umfangs war der Bedarf, den es in
der Stadt zu befriedigen galt? Darauf wird zunächst zu ant¬
worten sein : er hielt sich dem Umfange nach stets in verhältnis¬
mäßig (d. h. für unsere Begriffe) engen Grenzen. Als Kon¬
sumenten gewerblicher Erzeugnisse (und auf diese wollen wir
vor allem unsere Aufmerksamkeit lenken) kamen in Betracht:
^1. die Bewohner der Stadt selbst.;
2. die Umwohner als Besucher namentlich der Wochenmärkte ;
>,3. die Fremden, die die Jahrmärkte besuchten.
Die Bewohner der Stadt selbst haben während des Mittel¬
alters nie eine große Menge dargestellt, denn die Einwohnerzahl
der Städte hat sich stets, wie wir jetzt mit Sicherheit aussagen
können, während des ganzen Mittelalters in engen Grenzen ge¬
halten. Die regelmäßigen Besuche dei\(Wochen-)Märkte aus der
näheren Umgegend konnten ebenfalls nicht sehr zahlreich sein:
1. weil die Länder sehr dünn besiedelt waren; 2. weil es ver¬
hältnismäßig viel über das ganze Land zerstreute „Städte“ gab;
3. weil die bäuerliche Eigenwirtschaft jedenfalls noch eine große
Ausdehnung hatte.
Über die Bevölkerungsdichte und Bevölkerungs -
agglomeration während des Mittelalters unterrichten folgende
Ziffern.
England hat nach der Berechnung des sehr gewissenhaften
Th. ßogers bis ins 16. Jahrhundert vom 14. an etwa 2V2 Million
Einwohner gehabt1, nach der Schätzung P. Fabres zu Zeiten
Heinrichs H. 2 880 000 2.
In Frankreich sollen im 14. Jahrhundert 40 Menschen auf
dem Quadratkilometer gewohnt haben, dann sinkt die Bevölke¬
rungsziffer und erreicht am Ende des 16. Jahrhunderts erst
wieder den Stand, den sie 200 Jahre früher inne hatte3.
1 Th. Rogers, Six Centuries of Work and Wages. Deutsche
Übersetzung 1896, S. 87 ff. Grundlage: Weizenproduktion.
2 P. Fahre, Eine Nachricht usw. in der Zeitschrift für Soz. u.
Wirtsch.Gesch. 1, 149 ff. Grundlage: eine Abrechnung über den
Peterspfennig.
3 E, Levasseur, Popul. franp. 1, 166 ff. 288 (Übersicht).
Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs
215
Die größte Stadt des europäischen Mittelalters (also von
Byzanz abgesehen) wird wohl Paris gewesen sein. Ich glaube
aber nicht, daß es im 18. Jahrhundert schon, wie man meistens
meint, die Ziffer von 100 000 Einwohner erreicht hat, denn die
Berechnung Gerauds auf Grund des Registre de la Taille, der
anf mehr als 200 000 kommt , halte ich nicht für einwandsfrei h
London hatte 1377 35000 Einwohner1 2.
Städte mit annähernd gleicher oder etwas größerer Einwohner¬
zahl (40 — 50 000) waren wohl im 14. Jahrhundert außerdem nur
in Italien und Flandern-Brabant zu finden: Mailand, Venedig,
Genua, Bologna, Florenz, Neapel, Palermo, Ypern, Brügge,
Gent 3. In Deutschland wird keine Stadt an diese Ziffern heran¬
gereicht haben;. Lübeck hatte in jener Zeit zwischen 17 und
24000 Einwohner4, Hamburg (1419) 22 000; Augsburg (1475!)
18300, Nürnberg (1449) 20—25 000, Straßburg (1473—77) 20 bis
30000, Ulm (1427) ca. 20000, Breslau (1415) 21 866 5. Die über.
wieo-ende Mehrzahl aber der mittelalterlichen Städte werden
1 Die Anhaltspunkte sind: ca. 15 200 im Reg- de la Taille (1292)
namhaft gemachte Steuerzahler und 349 ha 61 a bebaute Fläche
(Collect, des doc. inedits etc. Ser. I. 8 [1837], p. 179. 471). Ich
glaube, daß danach eine Bevölkerung von 60—70 000 Köpfen das
Maximum darstellt. Der von den^Mauern umschlossene Raum ist etwas
größer als die Gesamtfläche der Festung Metz (1902/03 = 317,33 La).
Metz hatte 1910 68 598 Einwohner. Vgl. noch: Paris et ses historiens
au 13. et 14. sc. (1867), nam. p. 485 seq. .
2 Nach den Berechnungen To phams in der Archaeologia (Bd. 7),
deren Methode sich Rogers, a. a. O. S. 85, zu eigen macht. Grund¬
lage: Steuerlisten, die jede über 14 Jahre alte Laien-Person nennen.
&3J. Beloch, Die Entwicklung der Großstädte in Europa in
Comptes rendus et Memoires du VIII. Congres international d Hygiene
et de Demographie (1894), 7, 58. Ypern sollte nach einer „glaub¬
würdigen“ Urkunde im 13. Jahrhundert 200 000 (!) Einwohner haben.
A. Van d e np e e r e b o o m , Ypriana 4 (1880), 24. Urk. von 1257
reduziert die Ziffer auf 40 000. Pirenne, Gesch. Belgiens 1, 311.
4 Wilh. Reisner, Die Einwohnerzahl deutscher Städte in
früheren Jahrh. m. bes. Berücksichtigung Lübecks (1903), 68. 78.
5 Siehe die Zusammenstellung im Handwörterbuch der Staatswissen¬
schaften („Bevölkerungswesen“), wo für jede Ziffer die Quelle genannt
ist, der sie entstammt. Über die Ermittlungsmethoden handelt am
ausführlichsten J. Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende
des Mittelalters. 1886. Vgl. jetzt G. Schm oll er, Die Bevölkerungs¬
bewegung der deutschen Städte von ihrem Ursprung bis ins 19. Jahr¬
hundert ln der Festschrift Otto Gierke zum 70. Geburtstag dar¬
gebracht (1911), 167 ff.
216 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
kleine Mittelstädte von weniger als 10000 Einwohnern gebildet
haben: zählten doch immerhin wichtige Handelsstädte wie Frank¬
furt a. M. und Rostock nicht mehr: jenes (1440) etwa 9000.
dieses (1387) 10 785. Dresden hatte um jene Zeit 3—5000, Frei¬
berg i. S. 5000, Leipzig 4000 Einwohner usw.
In England gab es im 14. Jahrhundert außer London nur
zwei Städte mit mehr als bzw. annähernd 10 000 Einwohnern :
York mit ] 1 000, Bristol mit 9500 h Der Durchschnitt selbst der
größeren Städte lag unter 5000 2.
Auf den Jahrmärkten, zumal auf den berühmten Messen, wird
eine erkleckliche Menge von Käufern zusammengekommen sein;
wieviel, entzieht sich natürlich jeder Mutmaßung. Es bleibt aber
zu bedenken, daß (wie ich noch zeigen werde) die Zahl der
Verkäufer ebenfalls sehr beträchtlich war und daß diese aus
zahlreichen Städten stammten. Also entfiel auf die Produzenten
einer Stadt immer nur ein bescheidener Teil jener Gesamt¬
menge aller Besucher.
Die gewiß auch mit Einschluß der Meßkundschaft geringe
Anzahl von Konsumenten, für die das städtische Gewerbe über¬
haupt produzieren konnte, wird nun aber noch beträchtlich ver¬
ringert durch den Umstand, daß der bei weitem größte Teil als
Käufer gewerblicher Erzeugnisse so gut wie gar nicht in Be¬
tracht kam. Gründe:
Die besonders auf dem Lande nach wie vor stark entwickelte
Eigenproduktion ;
der geringe Reichtumsgrad;
die ungleiche Vermögensverteilung.
Für die erste Behauptung läßt sich ziffernmäßig kein Beweis
.führen. Zur Beurteilung des Reichtumsgrades besitzen wir
wertvolles Zahlenmaterial, ebenso für die Vermögens Verteilung.
Wenn Rogers die (Boden-)Produktivität im Mittelalter für
England auf ein Viertel der heutigen bemißt3, so besagt das
noch nicht sehr viel. Mehr Licht dagegen verbreiten die Ver¬
mögens- und Einkommensstatistiken, die wir wenigstens für
manche Städte des Mittelalters besitzen , wenn wir sie etwa in
Vergleich stellen mit den Preisen für gewerbliche Erzeugnisse.
1 Siehe die Anm. 2 auf S. 215.
3 Vgl. Ch. Gross, Gild merchant 1 (1890), 73 Anm. 4, wo auch
noch mehr einschlägige Literatur verzeichnet ist.
8 Rogers, A Hist, of agriculture and prices. 1, 55.
Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs
217
Nach den Ermittlungen Eulenburgs1 betrugen in der
Rheinpfalz (im 14. Jahrhundert) die Vermögen
bis zu 20 Gulden (je 7 Mk. heutiger Währung) 29,5%
bis zu 60 „ „ „ „ „ 61 °/o
bis zu 300 „ „ „ „ „ „ 93 °/o
aller Vermögen, so daß nur 7 °/o der Bevölkerung mehr als
300 Gulden (also 2100 Mk. heutiger Währung) im Vermögen
besaßen. Ganz ähnliche Ergebnisse liefern die Untersuchungen
über Meißen, Dresden, Mülhausen i. Th. 2 u. a. 0.
In Paris hatten (1292) von 1324 Handwerkern weniger als
250 Franken heutiger Währung 821 , das sind 62,2 % , weniger
als 1000 Franken 1196, das sind 90,6% der Gesamtzahl. (Nach
Berechnungen Martin St. Leons.) N
In Basel3 haben (1429) von 969 Handwerkern
488 (= 50 %) weniger als 50 fl.
904 (=91%) „ „ 300 fl.
im Vermögen.
Dem ist gegenüber zu halten, daß die Preise der gewerb¬
lichen Erzeugnisse im Mittelalter keineswegs niedriger, sondern
eher höher als heute waren, wie jeder Vergleich der Ziffern —
soweit sie überhaupt vergleichbar sind — ergibt.
Wenn wir trotzdem die „Kaufkraft“ des Geldes gegenüber den
gewerblichen Erzeugnissen im Mittelalter mit der heutigen gleich¬
setzen wollen : was bedeuten dann Einkommen wie sie den oben
genannten Vermögen entsprechen? Noch dazu bei stärker ent¬
wickelter hausgewerblicher Eigenproduktion. Und solcher Käufer
gab es im Mittelalter 1, wo es jetzt 10 oder 100 gibt.
Als Konsumenten gewerblicher Erzeugnisse städtischer Pro¬
duzenten kommen also außer etwa den Stadtverwaltungen ernst¬
lich nur die wenigen Angehörigen der obersten Keiclitums-
schichten in Betracht. Im wesentlichen wieder die Grundherren,
denen sich im Laufe des Mittelalters eine Handvoll wohlhabender
Geldmänner (Lombarden in Paris!) anschließt4. Vom Gesamt-
1 F. Eulenburg, Zur Bevölkerung^- und Vermögensstatistik des
15. Jahrhunderts in der Zeitschrift für Soz. u. Wirtsch.Gesch. 3, 450.
2 Arno Vetter, Bevölkerungsverh. der ehemals freien Reichsst.
Mühlhausen i. Th. im 15. u. 16. Jahrh. (1910), 63 ff.
8 G. Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt Basel im 14. und
15. Jahrhundert (1879), 180/81.
4 Vgl. die hübsche Darstellung bei P. du Maroussem, La
question ouvriere 2 (1892), 29 ff., wo die Kundschaft eines Pariser
Möbeltischlers im 13. Jahrhundert analysiert wird.
218 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
reichtum des Landes entfiel auf sie als Gruppe schon der
Löwenanteil: in der Rheinpfalz hatten nach den schon zitierten
Berechnungen Eulenburgs (S. 450) die 3 % „reichen“ Leute
(über 600 fl.) fast ein Drittel des Besitzes und des Stadtwohl¬
standes in ihren Händen: 42 von ihnen besitzen 55292 fl., 435
der armen in der letzten Vermögensklasse zusammen nur 8554.
So daß also (was das wichtige ist) auf den einzelnen Haushalt
ein beträchtliches Einkommen (Vermögen) entfiel.
Aus dem Eegistre de la Taille rechne ich heraus, daß 161 Per¬
sonen mehr als 10 1. Steuern bezahlten: zusammen 3134 1. oder
27°/o des überhaupt aufkomm enden Steuerbetrages (12243 livres
et 8 sous), während ihr Anteil an der Zahl der Steuerpflichtigen
nur wenig über 1 °/o betrug. Der durchschnittliche Steuerbetrag,
den jeder dieser „oberen 161“ zahlte, betrug 20 1. oder in heutiger
Reichswährung rund 550 Mk. Da die Steuer le cinquantieme
des Einkommens erhob, so hätten diese 161 ein Einkommen von
durchschnittlich 27 500 Mk. versteuert : da fiel schon eher etwas
für Handwerkserzeugnisse ab. Frei von der taille aber waren
— Adel und Geistlichkeit!
Was wir also von der Höhe und von der Verteilung des Ein¬
kommens im Mittelalter wissen, nötigt uns zu dem Schlüsse:
daß das Handwerk (vielleicht — aber auch nur zum Teil — ab¬
gesehen von den Nahrungsmittelgewerben) überwiegend für eine
kleine Minderheit wohlhabender Leute gearbeitet hat. Das
würde zweifellos auch eine Untersuchung bestätigen, die sich
zur Aufgabe setzte, aus der Natur des Handwerks die Art von
Kundschaft abzuleiten, für die das Handwerk produzierte: ich
glaube, man würde feststellen können, daß die überwiegende
Mehrzahl aller Metallindustrien, die meisten Bekleidungsgewerbe
(alle, die irgendwie bessere Stoffe herstellten und verarbeiteten),
fast das ganze Baugewerbe, von der eigentlichen Luxusindustrie
ganz zu schweigen, nur an die Reichen absetzten, womit ich
natürlich auch den ganzen Klerus meine, ebenso wie die niedere
Ritterschaft usw. Daß daneben das „Volk“ auch Abnehmer ge¬
werblicher Erzeugnisse war, leugne ich natürlich nicht. Ich
meine nur: sein Bedarf gab dem Gesamtbedarf nicht die cha¬
rakteristische Note (wie zum Teil heute)1.
1 In England hören wir gelegentlich von Lieferungen größerer
Mengen von Kleidungsstücke an die Armen: Salz mann, 1. c. p. 137
(1000 Ellen Stoff: 13. Jahrh.); p. 183 (150 Paar Schuhe). Aber das
waren wohl seltene Ausnahmen.
Vierzehntes Kapitel: Die G-estaltung des Güterbedarfs 219
Fragen wir, welcher Art der Bedarf des Mittelalters an
gewerblichen Erzeugnissen war, so können wir einige Züge, die
ihn kennzeichnen, wie mir scheint, mit ziemlicher Sicherheit
feststellen.
Er war zunächst doch wohl mannigfaltiger als man öfters
angenommen hat. Wenigstens in den größeren Städten Frank¬
reichs und Italiens, gar etwa in Paris, begegnen wir einem Reich¬
tum an gewerblichen Gegenständen, der uns in Erstaunen setzt.
Welche Fülle von Bedarfsartikeln (von denen offenbar ein großer
Teil schon handwerksmäßig hergestellt wurde) zählt Meister
Johannes de Garlandia in seinem Dictionarins 1 auf, der in der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts schrieb.
Sodann dürfen wir annehmen, daß der Sinn der Zeit zwar
auf das Glänzende, Prunkende, aber doch auch auf das Dauer¬
hafte, Kostbare, Solide gerichtet war. Die Empfänglichkeit für
die bloße Show, für Talmi, für Kitch, für Schund, kurz für
alles, was man heute unter der Bezeichnung „hochmodern“ zu¬
sammenfaßt, besaß wohl das Mittelalter nicht. Ich will nicht
entscheiden, weshalb es sie nicht besaß: vielleicht, weil es noch
keine moderne Industrie gab, deren Lebensnerv die Erzeugung
des Schundes bildet; vielleicht, weil die Masse überhaupt noch
nicht als Konsumentin auftrat. Genug, daß der Geschmack der
Zeit in diesem Punkte ein wesensanderer war als heute.
Endlich war der Bedarf ein verhältnismäßig stabiler. Jenen
Zeiten fehlte noch fast gänzlich dasjenige, was wir heute mit
dem Worte „Modewechsel“ zu bezeichnen gewohnt sind. „Der
Sinn des Mittelalters war an sich auf das Hergebrachte, Über-
1 Zuerst publiziert von Geraud in Ser. I Bd. 8 der Coli, des
doc. in. (1837), dann von Scheller. Leipzig 1867. Es wäre eine
außerordentlich dankbare Aufgabe für einen Wirtschaftshistoriker (mit
etwas Geist), das Dict. des Garlande einmal unter modernen Gesichts¬
punkten zu bearbeiten. Es enthält eine Fülle von Material und ver¬
spricht reichlich so viel Einsicht in mittelalterliches Gewerbewesen
als zehn der besten Zunftstatuten. — Eine andere ungefähr derselben
Zeit angehörende wertvolle Quelle, aus der wir über die Menge und
Art der zum Verkauf ausgebotenen Waren interessante Angaben ent¬
nehmen können, sind einige der Fabliaux des 13. Jahrhunderts; nament¬
lich Le Dit des Marcheanz , der in dem zweiten Bande des von
Montaiglon-Raynaud herausgegebenen Becueil des Fabliaux
(1872 — 1890) abgedruckt ist. Eine Inhaltsangabe findet man bei
Ferd. Herrmann, Schilderung und Beurteilung der gesellschaftlichen
Verhältnisse Frankreichs in der Fabliaux-Dichtung des 12. u. 13. Jahr¬
hunderts (1900), S. 36 f.
220 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
lieferte gerichtet. Ein rascher "Wechsel der Mode ist in Deutsch¬
land vor Mitte des 14. Jahrhundert nicht zu beobachten und hat
auch von da an mehr den Schnitt der Kleider als die Arten der
Gewebe ergriffen. Man glaubte im Mittelalter unbeschränkt an
ein schlechthin Seinsollendes auf allen Gebieten, auch auf dem
Gebiete der wirtschaftlichen Bedürfnisse und der Technik1.“
Denjenigen, die das leugnen und dem Mittelalter ebensoviel
Modewechsel zusprechen wollen , wie unserer Zeit , ist in Er¬
innerung zu bringen, daß es sich bei dem Wechsel der Ge¬
brauchs sitten im Mittelalter um unvergleichlich viel längere
Perioden handelte. Ich verweise den Leser einstweilen auf meine
Erörterung dieses Problems im zweiten Buche dieses Werkes.
Alles in allem : die Kundschaft für gewerbliche Produkte war
im Mittelalter so geartet, wie sie ein Handwerker sich nicht
besser wünschen konnte. Die Bedingungen handwerksmäßiger
Produktion waren, soweit die Gestaltung der Absatzverhältnisse
in Betracht kamen, in optimalem Sinne erfüllt.
Aber wir wollen nun zusehen: in welcher Art und Weise der
Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen im Mittelalter gedeckt
wurde.
1 G. Schm oller, Die Straßburger Tücher- und Weberzunft
(1879), S. 20.
221
Fünfzehntes Kapitel
Die Art der Bedarfsdeckung
I. Die letzten Konsumenten
Wie deckte die städtische Bevölkerung ihren Bedarf an ge¬
werblichen Erzeugnissen? (das heißt also beinahe: ihren Bedarf
an wirtschaftlichen Gütern überhaupt , da bis auf Kleinigkeiten
von Nahrungsmitteln [Eier, Milch, Gemüse, Obst] aller Bedarf
des Menschen ein Bedarf an schon verarbeiteten „veredelten“
Rohstoffen, also an gewerblichen Produkten, ist. Auch die
wichtigsten Nahrungsmittel, die wir genießen, haben schon eine
Reihe von Veredelungsprozessen hinter sich: Brot, Fleisch, Salz,
Getränke usw.).
Nun: zum großen Teil nach wie vor durch Produktion in
der eigenen Wirtschaft. Hier gewann man selbst noch
manche Rohstoffe: das Getreide, solange noch Landwirtschaft von
den Städtern betrieben wurde ; obwohl das wohl in den größeren
Städten während des Hochmittelalters die Ausnahme bildete1.
Aber sicher noch in weitem Umfange einen Teil des Yiehs : die
Schweine, ja am Ende sogar das Rindvieh 2 ; Geflügel usw. ; dann
in den Gärten, die fast jedes größere Haus hatte, Gemüse, Obst,
und wo die Lage es gestattete, den Wein.
Wir wollen uns auch erinnern, daß eine besonders wichtige
Gruppe der Städtebewohner die reichen Grundherrn weltlicher
oder geistlicher Natur waren. Und diese haben offenbar ihre Eigen-
Wirtschaft eine lange Weile noch in den Städten fortgesetzt.
1 Siehe, was oben Seite 136 f. über den starken agrarischen Ein¬
schlag bemerkt wurde , den selbst die größeren Städte bis tief ins
Mittelalter hinein hatten.
2 Wenn das Augsburger Stadtrecht von 1276 das Hausschlachten
für Schweine ausdrücklich gestattet , für Rindvieh aber verbietet , so
kann es sich dabei wohl nur um selbst gezogenes Vieh handeln.
Denn kein vernünftiger Mensch wird daran gedacht haben, sich einen
Ochsen auf dem Markte zu kaufen und ihn bei sich zu Hause zu
schlachten !
222 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Sie gewannen also einen großen Teil der Bohstoffe, insonderheit
o ^ #
der Nahrungsmittel in der eigenen Wirtschaft (auf ihren Gütern
fern von der Stadt) und ließen sie auch noch zum Teil in ihrer
Stadtwirtschaft verarbeiten, wie gleich zu zeigen sein wird. So
verzehrt der Herzog von Berry oder das Kapitel von Notre Dame
in Paris noch am Ende des 14. Jahrhunderts das Getreide der
eigenen Güter1.
Einen sehr erheblichen Teil der Bohstoffe oder Halbfabrikate
mußte man aber natürlich kaufen: das Getreide oder das Mehl,
das Malz, den zubereiteten Flachs, Stoffe, Leder usw. Dann
nämlich — und dieser Fall soll hier zunächst behandelt werden —
wenn im wesentlichen Umfange die gewerbliche Produktion noch
im eigenen Hause stattfand.
Daß in allen Städten, auch den größten, während des ganzen
Mittelalters die hausgewerbliche Tätigkeit eine große Bolle
gespielt hat, dürfte außer allem Zweifel sein.
Zu Hause wurde selbstverständlichgekocht2 3 * * * *, aber auch gebacken8,
1 „De Guillaume de S. Germain, receveur de Berry, qu’il a livre
pour la depense de l’ostel de mond. seigneur du froment des molins
dud. seigneur ä Raoulet de Ruelle, boulengier k Meun sur Yevre qui
en a cuit et livre le pain pour lad. despense faicte ä Meun sur Yevre
ou mois d’aoust [mil] CCCLXXI.“ „Pro blado quod capitulum ipsum
d. bolengario suo de quoquendo ministrat.“ Bei G. Fagniez,
Etudes sur l’industrie et la classe industrielle ä Paris au XIII. et
au XIV. siede (1877), p. 166. F.s Buch ist eine der besten Arbeiten
zur Gewerbegeschichte im Mittelalter.
2 In den großen (südlichen !) Städten gab es aber auch schon
öffentliche Garküchen nach Art der heutigen Bosticcerie in Italien.
So finden wir in Paris im 13. Jahrhundert die Zunft der „oyers
hasteurs“ (= rötisseurs d’oie), denen Et. Boileau vorschreibt, daß
sie nur gutes Fleisch kochen oder rösten sollen.
3 In deutschen Städten: Zeugnisse bei Inama III. 2, 105;
Eulenburg in der Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins 11, 130. Aber
selbst in Paris muß man am Ende des 13. Jahrhunderts noch zu Hause
gebacken haben. Ich schließe das aus der Tatsache, daß die Müller einen
doppelten Tarif haben: sie erhalten von den Bäckern 1 boisseau für
je 2 setier, von der übrigen Kundschaft für je 1 setier; das sind
aber die ‘borgois’. Livre des metiers, p. 16. — Es scheint jedoch,
als ob die Backöfen, deren jedes bessere Haus in Paris und anderen
französischen Städten einen hatte („. . . les menus menagiers de lad.
ville [Melun] , qui ne sont pas aisi6s de cuire en leurs hostelz . . .“
Ord. des rois de Fr. 4, 593), für gewöhnlich nur zum Backen kleiner
Backwaren (nicht des Brotes) bestimmt gewesen seien und nur zu
bestimmten Zeiten (z. B. in Teuerungsjahren!) zum Brotbacken Ver¬
wendung fanden. Die Großwirtschaften der reichen Herren sowie der
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 223
wurden AVein und Bier bereitet* 1, wurde geschlachtet2, selbst¬
verständlich auch geräuchert, eingepökelt usw. Zu Hause
wurden Lichte gezogen3. Zu Hause wurde gesponnen4, teil¬
weise auch gewebt5; wurde geschneidert6 und geschustert7. Zu
vielen dieser Verrichtungen zog man einen gelernten Handwerker
hinzu, den wir im Deutschen einen Störer nennen, (der Hand¬
werker im Hause arbeitet „auf der Stör“): einen Bäcker, einen
Schuster , einen Schneider , einen Metzger , einen Tuchscherer,
geistlichen Anstalten buken dagegen wohl der Regel nach noch im
14. Jahrhundert, selbst in einer Großstadt wie Paris, noch in eigenen
Backöfen. Siehe G. Fagniez, Etudes, p. 166 ff*. , und die oben
S. 222 Anm. 1 zitierten Quellenstellen. Für die Eigenbäckerei der
Grundherren in den Städten des 13. und zum Teil noch des 14. Jahr¬
hunderts spricht auch die Banalität zahlreicher Backöfen daselbst.
1 Sitte des Reihebrau ens ! Inama, a. a. 0. S. 105 (Regensburg'
1230). Aber es gab in den größeren Städten auch schon AVein- und
Bierwirte, die selbstverfertigte oder gekaufte Getränke darboten: im
Paris des 13. Jahrhunderts finden wir 56 „bufetiers vinetiers“ und
37 „cervoisiers“.
2 Siehe oben die Anm. 2 auf S. 221.
3 In Paris wird das Lichteziehen im Hause ausdrücklich gestattet
unter der Bedingung, daß ein Meister Chandelier dabei mitwirkt. Die
Hausfrau wird sich natürlich über das hohe Entgelt geärgert haben,
das sie dem Meister (der gewiß gänzlich überflüssig war) spendete
und wird sich irgendeinen angehenden Lichtemacher als Hilfe gesucht
haben. Da kam aber das Zunftverbot: kein Lehrling oder Geselle
(valet) darf in einem Privathause beim Lichtemachen mithelfen, der
nicht eine sechsjährige Lehrzeit hinter sich hat. Livre des metiers
tit. LXIV.
4 Schm oll er, T. u. AVeb.Z., S. 412; Inama, S. 125. Livre
des met. tit. LVII.
5 Selbst noch in Paris ums Jahr 1400. Oder ist die Poncete, die
Frau des Cardinot Auvry, die uns als „ligniere“ bezeichnet wird, und
von der wir erfahren , daß sie bald in diesem Hause , bald in jenem
arbeitete (eile alait aucune fois ouvrer par cy et par lä), keine Leinen¬
weberin? Im großen Sachs -Villatte steht unter linier nur die
Übersetzung Flachshändler, was aber offenbar keinen Sinn gibt.
AVar sie eine Spinnerin? Machte sie den Flachs zurecht, damit ihn
die Fräuleins dann verspönnen? Die Quellenstelle ist: 22. Okt. 1399,
Reg. d’aud. du Chat. Y 5222 fo. 142 zitiert bei Fagniez, Etudes, 67.
6 In Heidelberg: Eulenburg, a. a. O.; Wien: Eulen bürg
in der Zeitschr. für Soz. u. W.G. 1, 282, 282, Gesell, d. St. Wien
I. 2, 714; in Frankfurt a. M. „durchweg“: Bücher, 230.
7 Bücher,, a. a. O.
224 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
einen Goldschmied, einen Küfer usw. Auch zum Flicken der
Geräte kamen gelegentlich Handwerker1 ins Haus oder nahmen
das Gerät auf die Straße 2. Wie verbreitet die Störarbeit m den
deutschen Städten bis in die späten Jahrhunderte gewesen sein
muß, beweisen die Verbote dieser Arbeitsweise abseiten der Zünfte,
als diese eine exklusivere Politik beginnen: so verbieten sie die
Schneider in Helmstädt 1301, die Schuster in Frankfurt 135o,
die Goldschmiede in Lübeck 1371 und andere mehr3.
Der übrige Teil der gewerblichen Arbeit war dann nun aus¬
schließlich Handwerkerarbeit, wurde also von Spezialisten gegen
Bezahlung ausgeübt.
Häufig in der Form dessen, was wir als Lohn werk be-
zeichneten: das heißt in der Weise, daß der Konsument (Kunde)
das Material für die Produktion dem Handwerker lieferte.
Die Müllerei war sicher in beträchtlichem Umfange Lohn¬
müllerei. Wir dürfen das aus den starken Vorräten an Getreide
schließen, die die einzelnen Bürger hielten (z. T. halten mußten)4.
Wir besitzen aber auch sonst genug Zeugnisse dafür5.
Ebenso war die Bäckerei vielfach Lohnbäckerei.
Wer keinen eigenen Ofen hatte, schickte den Brot- oder
Kuchenteig zum Bäcker6.
Die Bäcker wurden allgemein in Feil- und Hausbäcker ge¬
schieden.
1 So die „magnans ou chaudronniers ambulants“ — die ambulanten
Kesselflicker in Paris. L. des m. tit. XII. Vgl. auch, was unten
S. 233 über die Hausierhandwerke des M. A. gesagt ist.
2 So die wandernden Möbelflicker, deren in den ‘Criees de Paris’
Guillaume de Villeneuves Erwähnung geschieht.
8 Siehe die Zusammenstellung der Quellenzeugnisse bei Inama,
DWG. III. 2, 78. Im allgemeinen vgl. hierzu Büchers verschiedene
Arbeiten: Artikel Gewerbe im HSt., Entstehung der Volkswirtschaft.
B. hat den ‘Störer’ für die Wissenschaft wieder entdeckt!
4 Siehe für Lübeck: Joh. Hansen, Beitr. z. Gesch. d. Getreide¬
handels und der Getr.Pol. Lübecks (1912), 56 ff. 142 f. Im Jahre
1579 hatten 78,4 °/o aller Familien Getreidevorräte im Hause. In
Straßburg hatten (1473—77) von 26198 Einwohnern nur 8369 keinen
Vorrat an Getreide. Ant. Herzog, Die Lebensmittelpolitik der St.
Straßburg im M.A. (1909), 17.
6 Z. B. Ant. Herzog, a. a. 0. S. 19 ff.
6 Belege bei Inama, a. a. 0. S. 101; für Straßburg siehe noch
Herzog, a. a. 0. S. 38; für London (14. Jahrh.) Biley, Mem. of
London, 163; a. a. 0. S. 29; für Paris (14. Jahrh.) Fagniez, Etudes,
165; für Wien (15. Jahrh.) Gesch. d. St. Wien II. 2, 694.
Fünfzehntes Kapitel : Die Art der Bedarfsdeckung 225
Wir dürfen annehmen, daß die große Mehrzahl aller Bauten
nn Lohn ausgeführt wurden: der Bauherr beschaffte sich die
Rohmaterialien auf seine Kosten und ließ sie von Maurern,
Steinmetzen und Zimmerleuten gegen Tagelohn verarbeiten.
Dafür spricht die eigenartige Organisation der Baugewerbe
während des Mittelalters 1 2, spricht die Tatsache, daß wir immer
nur von Tagelöhnen der Bauhandwerker hören3, spricht so
manche Beschreibung, die wir von den Einkäufen der Bauherrn,
namentlich geistlichen Bauherrn besitzen8, sprechen die Kon¬
tiakte selbst zwischen Bauherren und Bauhandwerkern, deren
Originale uns überliefert sind 4 5 ; sprechen manche Bestimmungen
der Zunftordnungen °. Vielleicht kauften die Bauherren sogar
die Rohmaterialien (Kalksteine und Lehm) und ließen von Kalk-
imd Ziegelbrennern gegen Lohn Kalk, Ziegeln und Mauersteine
hersteilen 6.
Der Eigentümer lieferte nicht nur die Baumaterialien, sondern
auch die Gerüste (die er dann erst vorher von Lohnwerkem her-
stellen ließ, wenn möglich aus Hölzern eigener Zucht), die Eimer
und Kübel zur Bereitung des Mörtels 7 und verpflichtete sich, bei
1 Siehe Heideloff, Die Bauhütten, 1844; Jänner, Die B.H.
des Mittelalters. 1876.
2 Z. B. Lamprecht, DWL. 2, 570 f. 613, und die Werke von
D’Avenel, Rogers usw., wo Bauhandwerkerlöhne im Überfluß sich
finden.
3 Z. B. Rogers, Six Centuries, deutsch S. 106. — Wie ein
Kapitel sich durch Aussendung seines Baumeisters und eines Kanonikus
in den Besitz der Baumaterialien für den Bau seiner Kirche zu setzen
pflegte, schildert in anschaulicher Weise für Xanten St. B eis sei,
S. J., Geldwert und Arbeitslohn im Mittelalter (1885) 37 ff.
4 Z. B. G. Fagniez, Documents relatifs ä l’histoire de l’industrie
et du commerce en France. 2 Vol. 1898. 1900 (zit. Doc.) Vol. 2
No. 21. 42. 51 (Bauglaser). 59. 61. 67 (Glockenguß), idem, Etudes
(1877) No. 42.
5 Die Londoner Maurerordnung von 1356 sieht das „work in gross“
(die Übernahme ganzer Bauten durch einen Bauunternehmer) noch
als so ungewöhnlich an, daß bei jeder Übernahme eines ganzen Baues
vier oder sechs Meister Garantie leisten müssen. Vgl. G. Brodnitz,
Die Stadtwirtschaft in England (Jahrbücher f. N.ö. 47, 28).
6 Daß die Kalk- und Ziegelbrenner in Venedig bis ins 14. Jahrh.
‘Lohnwerker1 waren, ergeben ihre Statuten. Es ist jedoch nicht er¬
sichtlich, ob sie für die Kalk-, Ziegel- und Steinhändler oder für die
Bauherrn lohnwirkten. Siehe ihre Statuten im 26. Bande der Fonti
per la storia d’Italia, 1896.
7 Beleg© bei Fagniez, Etudes, 203 und App. 42.
8omh»rt., Der moderne Kapitalismus. I.
15
226 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft.
lang-dauernden Arbeiten die Geräte der Handwerker zu erneuern1.
Zuweilen wurden diese vom Bauherrn beköstigt und behaust2
und erhielten einen Teil des Lohnes in Kleiderstoffen ausbezahlt3.
Daneben wurden auch schon die einzelnen Bestandteile des
Baues in Entreprise gegeben, so daß der Handwerker „Kauf¬
handwerker“ wurde. Und dann tauchen auch schon in embryo¬
nalem Zustande der Architekt und der Bauunternehmer auf, zu¬
erst wohl bei den großen Bauten in Italien und bei den Königs¬
bauten in Paris4, die — wie -wir noch sehen werden — für die
Organisation des Baugewerbes in mehr als einer Hinsicht vor¬
bildlich gewesen sind.
Sehr häufig wird die Form des Lohnwerks in der Textil¬
industrie und den dazu gehörigen Bekleidungsgewerben gewesen
sein: man gab das selbst gesponnene Garn dem Weber zum
Verweben5, gab das rohe Gewebe dann wohl zum Verfeinern
weiter an den Tuchscherer, den Färber, den Kalanderer6. Dann
gab man den fertigen Stoff dem Schneider.
Oder man kaufte sich fertiges Tuch beim Tuchhändler, um es
dem Schneider dann zu übergeben. Wir sehen den reichen
Kunden in Paris , in Bologna , in Venedig in Begleitung des
1 „Pro fabricando marteilos“ ; „pro acuendo martelos . . .“ 1. c.
3 Das bildete wohl die Regel, wenn die Bauten von Ortsfremden
ausgeführt wurden, wie der Lettner im Kapitel zu Troyes, den Pariser
Maurer aufführten; ib. p. 208.
8 „et une robe“ ; „aulne et demie de draps“ ; „une robe et unes
chauces“ sind häufig wiederkehrende Lohnsätze: ib.
4 Auch zur Geschichte des „Architekten“ und des „Bauunter¬
nehmers“ im Mittelalter hat ein reiches Material beigebracht F agni e z
im 3. Kap. des 2. Buches der „Etudes“. S. das 3. Buch dieses Werkes.
6 Das Leinengarn wohl meist, namentlich in kleinen Städten ; aber
selbst in Paris, wo der Weber das Garn entweder in Strähnen oder
schon auf der Kette vom Kunden empfing: „se aucuns ou aucune
engagoit autruie file en pelote ou en chaine“, Ord. relat. aux met. p. 390:
Fagniez, Etudes, 229; in Florenz noch im 15. Jahrh. H. Sieveking,
Die Handlungsbücher der Medici (1905), 33. Ebenso das Wollengarn,
von dem uns wiederum für Paris berichtet wird, daß es vom Lohn¬
weber verwebt wurde: „Si mesme mestre doivent .mettre en euvre le
fil come l’en leurbaillera ä tistre les blans desus diz.“ Ord.
rel. aux met. p. 394 Fagniez, 223. Zuweilen lieferte der Kunde dem
Weber sogar die Zutaten (suif et son in Paris bei der Leinenweberei :
1. c. p. 229).
6 „si aliquem pannum ad chilendrandum datum fuerit“ kann vom
Privatmann ebenso wie vom Tuchmacher verstanden werden. Venetianer
Zunftstatuten in den Fonti per la storia dTtalia 26, 140.
227
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung
Schneiders, der mit seinem Rat dem Käufer zur Seite stehen
soll, das Tuch einkaufen. Wie wir es heute erleben, wenn wir
mit dem Dragoman in Konstantinopel Teppiche erstehen: es kam
offenbar häufig- genug vor, daß der Tuchhändler den Schneider
„schmierte , damit dieser seinen Kunden zu ihm und nicht zur
„Konkurrenz1' geleite. Das soll ihm verwehrt sein1.
Mützen ließ man sich aus selbstgeliefertem Stoff beim Mützen¬
macher anfertigen2.
Unter den Pariser Schneidern begegnen wir im 13. Jahr¬
hundert3 4 dem tailleur le Roy, tailleur madame la Royne, tailleur
aux enfans le Roy, tailleur Monseigneur Challes, tailleur la Com-
tess© de "V alois, tailleur 1 Kvesque, tailleur des Marmousetz, tailleur
du Temple. Der Duc de Normandie, der duc de Berry haben
ebenso ihre eigenen Schneider. Ein gewisser Gfauteron ist im
14. Jahrhundert „couturier du vicomte d’Aunay“ L
Dieselbe Sitte bestand in England , wie wir aus der Be¬
stimmung englischer Zunftordnungen schließen dürfen: daß es
den Mitgliedern einer Zunft verboten sein soll, die Livree ihrer
Herrschaft zu tragen. In Frankreich trugen diese Hofschneider
Abzeichen des Hauses, in dem sie arbeiteten, wurden aber gleich¬
wohl an der Spitze der Zunftmitglieder aufgeführt. Sie waren
gegen festen Gehalt und freie Station angestellt. Gingen sie
auf Reisen, etwa um Stoff einzukaufen, so bekamen sie Reise¬
entschädigung. Ebenso gab es Schneiderinnen in den Schlössern
der Großen5.
Dieselbe Sitte in Wien: sartor, serviens domini abbatis Sco-
torum; sartor ducis6.
1 Stat. della Soc. dei mercanti in Bologna (XIII. sc.). Fonti ec.
4, 133. In die Verhältnisse des mittelalterlichen Schneidergewerbes
geben sehr deutliche Einblicke die Statuten der Schneider von Paris :
Livre des möt. tit. LVI; Venedig: Fonti ec. 26, 10—12; Bologna:
Fonti ec. 4, 274 ff.
Es gab Herren- und Damenschneider in Paris : 1. c. p. 15. Die
genannten Statuten stammen sämtlich aus dem 13. Jahrhundert.
2 Venedig, Fonti 26, 24.
3 Statuts et ordonnances des marchands maitres tailleurs d’habits
etc., 1763. Zit. bei A. Franklin, Les magasins de nouveaut&s
(1891), 89.
4 P. Boissonade, Essai sur l’organ. du travail en Poitou 1
(1900), 294.
6 Siehe die Quellenstellen bei Fagniez, Etudes, 246 f.
6 Gesch. d. Stadt Wien II. 2, 714.
228 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Wir haben hier die Abkömmlinge der alten hofhörigen Hand¬
werker vor uns, die es auch in anderen Gewerbezweigen, wie
zum Beispiel im Baugewerbe, während des ganzen Mittelalters
o'eo-eben hat und die wiederum — offenbar — die Stammväter
o o
der „Hoflieferanten“ der neueren Zeit geworden sind. Es lohnte
sich, ihre Geschichte zu schreiben.
Aber auch in anderen Gewerben begegnen wir dem Lohn¬
werk:
Man brachte die edlen Metalle zum Goldschmied, um sie zu
Geschmeiden oder Gefäßen verarbeiten zu lassen1; Eisen zum
Schildner2, daß er Rüstungen, zum Hufschmied, daß er Huf¬
eisen daraus fertige : kam ein Knappe mit seinem Rößlein zum fabbro-
ferraio in Bologna und brachte er das Eisen in unbearbeitetem
Zustände mit, so sollte er für ein Hufeisen mit 8 Nägeln 6 bon.
zahlen, brachte er aber das ganze Eisen schon fertig mit, so
kostete, das bloße Anbringen nur 4 bon. Offenbar waren es nur
die Wohlhabenden, die das Material lieferten; die Taxe ist nur
für das Beschlagen von Pferden aufgeführt. Kam ein Bauer
oder ein Wasserverkäufer oder sonst ein kleiner Mann mit seinem
Eselchen, so lieferte unser Schmied das ganze Eisen; er ver¬
wandelte sich in einen „ Pr eis werker !“ 3
Wer noch im eigenen Hause schlachtete, ließ die Haut der
Tiere beim Gerber zu Leder verarbeiten4, damit es der Störer
zu Stiefeln umforme.
Und was derart Möglichkeiten sonst noch sind.
Einen sehr großen Teil des Bedarfs an gewerblichen Erzeug¬
nissen wird man aber beim Kauf- oder Preishandwerker
gedeckt haben, das heißt bei demjenigen Bäcker, Fleischer,
Tischler, Schmied, Schlosser, Kürschner, Täschner, Stellmacher,
der selbst den Rohstoff lieferte.
Gewiß hat die Produktion „auf Bestellung“ in der mittel¬
alterlichen Stadt dieselbe wichtige Rolle gespielt wie bis in
unsere Zeit hinein. Und zwar bestellte man — darf man an¬
nehmen — bei dem in der Stadt selber angesessenen Handwerker;
nicht wie es später üblich wurde, bei den Produzenten in der
1 Venedig: Fonti, 116; Breslau: Eulenburg, Innungen der Stadt
Breslau (1892), 73; London: Riley, Memorials of London, 29 bei
Br ödnitz, 28.
2 Osnabrück: Inama, III. 2, 81.
8 Stat. soc. Ferratorum (1248) Fonti.. 4, 186. 189.
4 Lübeck (1454) bei Inama, a. a. 0. S. 81.
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung- 229
größeren Stadt. Ich meine : der Ritter , der in der kleinen
Provinzstadt wohnte, bestellte sein Hausgestühl nicht beim
Tischler in Florenz oder Paris (wie der Hütten- oder Gntsbesitzer
heute, der in einem „Kohlendistrikt“ oder einer entlegenen Gegend
wohnen muß), sondern ließ „in seiner Heimatstadt“ arbeiten. Fand
er dort nicht den Meister, den er brauchte, so wird er mehr auf
Ansetzung der fehlenden Arbeitskräfte gedrungen haben. Doch
können wir alle diese Dinge nur vermuten.
Dagegen wissen wir wiederum, daß ein gewiß beträchtlicher
Teil der Gebrauchsgüter nicht erst bestellt, sondern „im Laden“
oder auf dem Markte fertig gekauft wurde, auch wenn die
Erzeuger in der Stadt selbst ansässig waren. Bei manchem Artikel
vei’stekt sich das ja von selbst, wie Backwaren, Fleisch usw.
„Im Laden“, den wir uns nun so primitiv wie möglich vorzu¬
stellen haben. In den meisten Fällen wird es die Stube neben
der Werkstatt gewesen sein, wenn überhaupt ein besonderer
Raum für den Verkauf bestimmt war.
Auf den hübschen Holzschnitten, die Szenen aus dem Hand¬
werkerleben — leider erst des 16. Jahrhunderts — in Nürnberg:
darstellen1, ist es so die Regel: die Frau Meisterin verkauft in
dem einen Gelaß, während der Meister nebenan in der Werk¬
stätte arbeitet, so im Täschnerhandwerk, in der Kürschnerei, in
der Fleischerei (nebenan wird ein Rind geschlagen!), in der
Seilerei, in der Tischlerei; während Schuhwaren in einer Art
offener Halle verkauft werden, die sich an die Werkstatt an¬
schließt. In den Verkaufsstuben hegt, hängt oder steht je eine
kleine „Kollektion“ fertiger Waren.
Der Gürtler hat 18 Gretchentaschen „auf Lager“, der Schuster
etwa ein Dutzend Paar Stiefeln und Schuhe, der Kürschner ein
halbes Dutzend Pelzstücke, der Seiler ein Dutzend fertige Seile,
Taue usw. Die Käufer beim Seiler, Fleischer und Schuster sind
Landleute bei den andern reiche Patrizier oder Rittersfrauen.
Vielleicht waren derartige Zustände schon ein spätes Ent¬
wicklungsprodukt; vielleicht müssen wir uns die Zeiten des
Mittelalters noch primitiver vorstellen, etwa wie auf den Holz¬
schnitten in J. Ammans Beschreibung aller Stände, wo Werk¬
statt und „Verkaufsladen“ ein und derselbe kleine Raum sind
1 Im Nürnberger Germanischen Museum. Jetzt wiedergegeben in
dem lehrreichen Werke von Ernst Mummenhoff, Der Handwerker
in der deutschen Vergangenheit (1901), S. 40 ff.
230 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
und nur ganz wenige Stücke (vielleicht bestellte?) herumstehen
oder herumhängen.
Aber kleine Verkaufs stände , „Läden“ oder wenn man will
Fenster, in denen fertige Erzeugnisse zum Verkauf ausgestellt
wurden, hat es auch in früherer Zeit sicher schon gegeben. Die
Pariser Bäcker im 13. Jahrhundert haben ihr Brot in den
„Schaufenstern“ ausliegen1, die Goldschmiede in Stettin stellen
fertiges Silbergerät auf ihren Brettfenstern zum Verkauf aus2.
Ebenso wissen wir genug von Brotbänken, Fleischbänken usw.,
die uns in ihrer mittelalterlichen Gestalt noch heute in manchen
Städten (z. B. Breslau!) erhalten sind.
Im allgemeinen freilich werden die Einkäufe fertiger Waren
der Regel nach wohl auf den dazu bestimmten öffentlichen Ver¬
kaufsstellen, den Märkten, vorgenommen worden sein. Auch die
ortsangesessenen Handwerker zogen an bestimmten Tagen mit
ihren Waren in die Verkaufsbuden auf die Marktplätze der Stadt,
wo sich dann die kauflustige Menge zusammenfand. Diese
(Wochen-) Märkte wurden dann gleicherweise von den ländlichen
Verkäufern von Gemüse, Obst usw. besucht und hier fand wohl
der berühmte „Austausch“ zwischen Handwerker und Bauern
statt, den man irrtümlicherweise zum Angelpunkt des städtischen
Wirtschaftslebens hat machen wollen.
So wissen wir, daß die Pariser Handwerker von Montag bis
Donnerstag jede Woche ihre Waren in ihren Läden in der Stadt
feilhielten, während sie Freitag und Sonnabend damit „aux
Halles“ zogen (zu ziehen verpflichtet waren, so daß es als ein
Privilegium angesehen wurde, wenn man diesen wöchentlichen
Auszug nicht vorzunehmen brauchte)3.
Für den an jedem Mittwoch und Sonnabend zu Oxford ab¬
gehaltenen Markt wurde im Jahre 1319 durch die Universität die
Marktordnung festgestellt. Die Verkaufsartikel bestanden außer
in landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Heu, Stroh, Holz, Schweinen,
Korn, Molkereiprodukte usw.) in Bier, Kohle, Lack, Handschuhen,
Pelzen, Leinwand. Also auch hier standen die Handwerker hinter
Verkaufsständen in der Hochstraße und am Kornmarkt.
Gleichsam ständige Märkte wurden in den Kaufhäusern
1 Siehe Stat. der Talemeliers art. XX im L. d. M. und vgl. im
allgemeinen Fagniez, Etudes, 108 f.
2 Blümcke, Die Handwerkerzünfte im mittelalterl. Stettin,
a. a. 0. S. 210.
3 L. d. M. p. CXXXIV und in den einzelnen Statuten.
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 231
oder Kaufhallen abgehalten, denen wir namentlich in deutschen
Städten häufig begegnen. Sie dienten dem Absatz einer einzelnen
Ware , mochte diese, so dürfen wir annehmen, am Orte selber
erzeugt sein oder von auswärts kommen. Fast überall gibt es
Tuchhallen, die entweder ein ganzes Haus (Gewandhaus) ein¬
nehmen oder in anderen Gebäuden untergebracht sind. Daneben
finden wir Schuhhäuser1, Leinwandhäuser, Brothäuser, Korn¬
häuser, Schlachthäuser, Pelzhäuser2; aber auch für die Speziali¬
täten eines Ortes — zum Beispiel für den AVaid in Görlitz —
wurden besondere Kaufhäuser errichtet. Auch die Salzhäuser
gehören hierher. Die meisten Kaufhäuser in deutschen Städten
sind im 14. und 15. Jahrhundert erbaut, es sind ihrer aber schon
im 13. Jahrhundert nachweisbar3.
In den größeren Städten gab es dann aber auch schon
überall eine größere Anzahl berufsmäßiger, seßhafter
Detailhändler, bei denen der Bedarf an Nahrungsmitteln
und gewerblichen Erzeugnissen, wohl meist auswärtigen Ur¬
sprungs, gedeckt wurde. Jedenfalls seit dem 13. Jahrhundert¬
haben wir Kunde von ihrem Dasein und auch schon von der
Art ihres Geschäftsbetriebes4.
Wir wissen bis ins einzelne, was ein Pariser „mercier“ im
14. Jahrhundert an Waren feil hatte5 und wie der „Laden“ in
den Städten des Mittelalters ausschaute. Denn offenbar handelt
es sich in allen Anfängen des Detailhandels um ein noch un¬
differenziertes Warenlager, einen sogenannten Kram, in dem un-
1 In AVien am Hohen Markt (13. Jakrh.), wo die Schuhmacher an
Markttagen ihre Erzeugnisse feilhielten: Karl Uhlirz in der G. d.
St. AVien II. 2 (1905), 712.
2 In Zürich (14. Jahrh.): Ottmar Fecht, Die Gewerbe der
Stadt Zürich i. M.A. (1909), 29.
3 Siehe die zusammenfassende Darstellung bei G. v. B e 1 o w , Das
ältere deutsche Städtewesen (1905), 57 ff.
4 Siehe z. B. Livre des metiers tome IX und X. Für die süd¬
deutschen Städte (Augsburg, Ulm, Straßburg, AVorms) siehe Heinr.
Eckert, Die Krämer in südd. Städten bis zum Ausgang des M.A.,
1910.
5 Von der halb seßhaften, halb hausiermäßigen Organisation des
Geschäftsbetriebes eines solchen mercier gibt einen guten Begriff ein
Gedicht aus dem 14. Jahrh., das mitgeteilt wird von A„ Franklin,
Les magasins de nouveautes (1894), 5 ff. ; vgl. noch Levass eur 1,
332, und die Statuten der merciers vom Jahre 1324 (abgedruckt bei
Fagniez, Doc. 2 [1900], Nr. 27).
232 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
geschieden noch alles zum Verkauf stand, was überhaupt von
einem besonderen Detaillistenstande vertrieben wurde.
Die Lübecker Bürgerrolle von 1353 erlaubt den Krämern zu ver¬
kaufen: Kolonialwaren, Rohstoffe, Manufaktur- und Kurzwaren. Wehr¬
mann, Lüb. Zunftrollen, S. 272 ff. Ähnliche Zustände in Breslau:
W. Borgius, Wandlungen im modernen Detailhandel Archiv 13,
44; in Leipzig: S. Moltke, Die Leipz. Krämerinnung (1901), 73 ff;
in süddeutschen Städten: H. Eckert, a. a. 0. S. 32 ff — In den
französischen Statuten selbst des 15. Jahrhunderts laufen die drei
großen Warengruppen: mercerie, quincaillerie und epicerie noch in¬
einander über; die Vorsteher der Merciers (roy des merciers) haben
Aufsicht zu führen über alle Händler, die mit Fackeln, Kerzen, Pfund¬
waren wie Pfeffer, Saffran usw. ... „et toutes aultres merceries
et espiceries“ handeln . . . über alle „portants mercerie pour
vendre ou chose qui touche mercerie ou poids, balances, aulnes ou
mesures, soyent quinqualleries ou aultres choses sub-
jectes audict roy des merciers“ . . . „generalement toutes
choses qui se vendent ou puissent vendre en faict de marchandise,
les quelle s ne se peuvent priser ne estimer que trop ou peu, est
chose subjecte a mercerie.“ Ord. et reiglements concemant les
marchands merciers (XV. siede); abgedruckt bei Fagniez, Doc.,
Nr. 166. Mit den Epiciers vermischen sich die Apotheker: bis ins
15. Jahrh. bestand der „Corps des marchands grossiers, espiciers et
apothicaires“. Vgl. A. Philippe, Gesch. der Apotheker; deutsch
von H. Ludwig, 2. Aufl. 1859, 5. Kapitel.
Über die innere Struktur des mittelalterlichen Handels, ins¬
besondere seinen handwerkerhaften Charakter spreche ich im
17. Kapitel. Hier interessierte er uns nur als eine der Formen
der Darbietung gewerblicher Erzeugnisse.
Blieben schließlich, um alles Fehlende einzukaufen, die
Jahrmärkte1, die wohl in jeder größeren Stadt regelmäßig ab¬
gehalten wurden und die sich an manchen Orten zu imposanten
Messen auswuchsen, auf denen „en gros“, also Fertigfabrikate
an Händler, Kok- und Hilfsstoffe, Werkzeuge usw. an Produ¬
zenten oder Händler, ab er in beträchtlichem Umfange auch an
letzte Konsumenten Waren abgesetzt wurden. Gewiß ein sehr
erheblicher Teil des Bedarfs an gewerblichen Erzeugnissen wurde
auch abseiten der Städter aus diesen Marktwaren gedeckt, die
also nicht am Orte des Konsums erwachsen waren, sondern von
1 Über ihre Entwicklung in Deutschland unterrichtet v. Maurer,
a. a. 0. 1, 282 ff. ; für Frankreich siehe vor allem P. Huvelin, Essai
historique sur le droit des marches et des foires (1897), der p. 604
bis 617 eine ausführliche Bibliographie der einschlägigen Literatur
mitteilt.
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung
O
233
auswärts, oft wohl von weit her hier an dem Marktort zusammen-
strömten. Über den interlokalen Absatz gewerblicher Erzeugnisse
lassen sich folgende Angaben machen, die sich sowohl auf die
I alle beziehen, in denen die Handwerker in eigener Person ihre
Waren, sei es auf dem Wege der Hausiererei, sei es auf Märkten
und Messen feilboten, als auch diejenigen, in denen berufsmäßige
Händler den Vertrieb übernahmen. Diese werden wohl der Regel
nach (aber nicht immer: seßhafte Detailhändler! Gewandschneider
in den Tuchhallen!) auf den Jahrmärkten ihre Ware abgesetzt
haben.
Der ortsferne Güterabsatz während des Mittelalters 1
In allen Ländern begegnen wir während des Mittelalters . dem
Handwerker oder der Handwerkersflau, die in derselben Weise,
wie sie es heute noch tun, mit ihrer selbsterzeugten Ware auf
dem Rücken oder im Schubkarren von Ort zu Ort ziehen, um
die Kundschaft aufzusuchen.
Die bekanntesten Hausierhandwerke des deutschen
Mittelalters, die teilweise auch Wanderhandwerke waren, sind
die Keßler und Kaltschmiede. Über sie und ihre Organisation handeln
v. Maurer, Städteverfassung 2, 490 ff.; E. Gothein, Bilder aus
der Geschichte des Handwerks (1885), S. 12 ff., und R. Eberstadt,
Französ. Gewerberecht (1899), 259 ff. Sie sind in Frankreich in der
Normandie , in Deutschland im Südwesten , in Belgien in der Stadt
Dinant hauptsächlich zu Hause. Übrigens werden diese Hausierhand-
1 Die folgende Übersicht hatte ich im wesentlichen schon in der
ersten Auflage (1, 96 — 113) gegeben. Um dem Bilde seine Buntheit
zu bewahren, wiederhole ich sie hier mit einigen Zusätzen. Ich könnte
die Belege für das Vorkommen von Handelsartikeln im interlokalen
Verkehre während des Mittelalters leicht um ein Beträchtliches ver¬
mehren, wenn ich von der überaus fleißigen Zusammenstellung Gebrauch
machen wollte, die sich jetzt findet in dem stattlichen Werke von
J. G. van Dillen, Het economisch Karakter der middelleuwschen
Stad 1914, III. u. IV. Hoofdstuk; verzichte aber darauf und verweise
den geduldigen Leser auf diese Arbeit. Der Verfasser möchte im
Anschluß an meine Ausführungen in der ersten Auflage noch einmal
und noch gründlicher die „Theorie“ Bü chers von der „geschlossenen
Stadtwirtschaft“ widerlegen. Er kündigt als Fortsetzung dieses, 224
eng gedruckte Großquartseiten umfassenden Bandes einen zweiten an,
der sich mit dem von mir geprägten Gegensatz der Bedarfsdeckungs¬
wirtschaft und der Erwerbswirtschaft beschäftigen soll. Neuerdings
bringt ein reiches Material zur Kenntnis des internationalen Handels¬
verkehrs während des Mittelalters bei: Alex. Bugge in der Viertel¬
jahrsschrift 12 (1914), 106 ff
234 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
werker, die gewiß nebenbei auch Lohnwerk verrichteten, wohl eben¬
falls mit Vorliebe die Messen und Märkte mit ihren Waren aufgesucht
haben. In unsere Zeit ragen die südslavischen Mausefallenfabrikanten
hinein. Aber auch die Töpfer, später die Uhrmacher, gehören hierher.
Über den hausiermäßigen Vertrieb der Glaswaren durch Glasfuhr -
genossenschaften: E. Gothein, W.Gesch. des Schwarzwaldes 1, 846.
Auch die Erzeugnisse der Weberei wurden häufig hausierend von den
Handwerkern abgesetzt. Über hausierende Tuchmacher im Kreise
Hagen vor der Franzosenherrschaft s. Jacobi, Berg-, Hütten- und
Gewerbewesen des Reg.Bez. Arnsberg (1856), S. 104. Historisches
Material findet man auch in der Enquete des Ver. für Sozialpolitik.
Schriften, Bd. 77 ff.
Noch, häufiger aber naturgemäß sind die Zeugnisse für den
Marktbesuch ortsferner Handwerker ebenso wie über die Aus¬
breitung des Handels mit gewerblichen Erzeugnissen.
Wenn auch die auswärtigen Bäcker1 auf den städtischen
Märkten, von denen uns die Urkunden schon des 12. J ahrhunderts
berichten, nicht aus allzuweiter Feme gekommen sein mögen,
so brauchen wir für die gleichzeitig erwähnten Schuhmacher2
eine solche räumliche Beschränkung nicht ohne weiteres an¬
zunehmen. Fremde Handwerker (aus Winchester) finden wir
im frühen Mittelalter auf den Messen der Nachbarstädte in
England3.
Zahlreiche urkundliche Bestätigungen haben wir für den
fernen Marktbesuch von Webern4.
Daß das 12. Jahrhundert bereits einen ausgedehnten H a n d e 1
mit handwerksmäßig erzeugtem Tuch hatte 5, dürfen wir als aus¬
gemacht betrachten.
1 Urkunde von 1104. Vgl. Lamp recht, Deutsches Wirtschafts¬
leben 2, 313 f.
2 v. Maurer, Städteverfassung 1, 318/19, und v. Below, Ent¬
stehung des Handwerks, a. a. 0. 5, 236. Erhebung eines Marktstands¬
geldes auch von fremden Schustern in Nordhausen Anfang des 14. Jahr¬
hunderts. Vgl. Falke, Gesch. des deutschen Zollwesens (1869), 142.
3 Ashley 1, 100.
4 Vgl. z. B. Zeitschr. für Geschichte des Oberrheins, Bd. 4, und
Schm oll er, Straßb. Tücher- und Weberzunft, S. 104, 110.
s Auch im 11. Jahrhundert finden wir schon Tücher als Objekte
des internationalen Handels; so in England nach Aelfrics Colloquy
(ca. 1000) bei Thorpe, Analecta Anglo-Saxonica (1868) zitiert bei
Ashley 1, 70. Und in noch frühere Zeit reicht der Handel mit
sogen, „friesischen Tüchern“ zurück: J. Klumker, Der friesische
Tuchhandel zur Zeit Karls d. Gr. und sein Verhältnis zur Weberei
jener Zeit. S.-A. aus den Jahrb. d. Gesellsch. für bild. Kunst usw.
zu Embden. Bd. 13. 1899. Es ist aber nicht wahrscheinlich, daß
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 235
Für das 13. Jahrhundert häufen sich die nachweisbaren Fälle
interlokalen Tuchhandels. Wir dürfen annehmen, daß der Ab¬
satz der Tuche teils, wie schon erwähnt, durch die Handwerker
selbst besorgt wurde , teils von den Gewandschneidern , den
drapiers , drapers , das heißt berufsmäßigen Tuchhändlern , die
ebenso wie die Handwerker gleichzeitig detaillierten. Was das
charakteristische Merkmal der Entwicklung im 14. Jahrhundert
ausmacht, ist aber ein gewaltiger Aufschwung der Tuchindustrie
in sämtlichen Produktionsländern* 1.
V on ebenfalls großer Bedeutung war im Mittelalter die inter¬
lokale Leinenproduktion2.
Die Leinwand wurde teilweise auch schon in konfektio¬
niertem Zustande in den Handel gebracht. In der Kramer¬
rolle der Stadt Anklarn aus dem Jahre 1330 finden wir als Hand¬
werksgegenstände erwähnt: Tischtücher, Handtücher, Rollaken,
Bettüberzüge, Kissenüberzüge. Alle diese Artikel wurden en gros
und en detail gehandelt3.
Von Anfang ihres Bestehens an, so dürfen wir annehmen,
waren die Seidenindustrie ebenso wie die Baum wo 11-
und Barchentweberei auf den Absatz ihrer Erzeugnisse in
einem interurbanen bzw. internationalen Rahmen angewiesen.
Da die Gewinnung der Mineralien und Metalle nur an
einzelnen über die ganze Erde verstreuten Fundstätten erfolgte,
so konnte ihr Verbrauch nie in größeren Mengen stattfinden, ohne
daß sie Objekte des interlokalen und internationalen Handels
geworden wären. Das sind sie denn auch während des ganzen
Mittelalters gewesen. Zinn bildet von altersher den Gegen¬
stand eines internationalen Handels4, Steinkohle %drd seit
es sich vor dem 12. Jahrhundert schon um die Erzeugnisse hand¬
werksmäßiger Weberei gehandelt habe. Vgl. E. Kober, a. a. 0.
und R. Häpke in den Hans. Gesch.Bl. 1906.
1 Von der großen Ausdehnung des internationalen Tuchhandels
im 14. und 15. Jahrhundert gibt eine gute Vorstellung die Übersicht
über die in Danzig zum Verkauf kommenden Laken- oder Tuchsorten
bei Th. Hirsch, Danzigs Handels- und Gewerbegeschichte (1858),
250 ff.
2 Siehe über den Leinenhandel im Mittelalter im allgemeinen, und
den von Konstanz im besonderen die Ausführungen von Schulte,
M.A.Handel 1, 112 ff.
3 Bei K. F. Kl öden, Über die Stellung des Kaufmanns während
des Mittelalters. 1. Stück. 1841. S. 33.
4 G. R. Lewis, The Stannaries. A Study in english tin miner
(1908), 33 ff.
236 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
dem 13. Jahrhundert in England als Sea-coal bezeichnet, seit sie
über See exportiert wird1. Ziegeln in England aus Flandern
eingeführt (14, Jahrh.) 2.
Eisen und Erze werden schon im 10. Jahrhundert nach
Oberitalien eingeführt3. Wir finden Eisen als Einfuhrartikel aus
Europa nach Ägypten im 12. und 13. Jahrhundert4, als Import¬
artikel nach England Anfang des 14. Jahrhunderts5, als Gegen¬
stand des deutsch-italienischen6, des hansischen 7 Handels während
des ganzen Mittelalters.
Deutsches Silber begegnet uns im 13. Jahrhundert auf den
Messen der Champagne8 und auf dem Wege nach England9.
Es wird im 14. und 15. Jahrhundert von den Großkaxifleuten
Danzigs10 ebenso wie von den Krämern Lübecks 1 1 gehandelt; es
erfreut sich zunehmender Beliebtheit im deutsch-italienischen
Handelsverkehr 12.
Ebenso sind Kupfer, Messing, Blei oft genannte Objekte
des internationalen Güteraustauschs schon im frühen Mittelalter.
Wir hören davon im 10. Jahrhundert im deutsch-italienischen
Verkehr13, im 11. Jahrhundert im Handel mit England14, im
12. Jahrhundert am Ehein15, im 13. Jahrhundert in Eise-
1 Matth. Dünn, View of the coal trade of the north of England
(1844), 11 ff- Salzmann, 1. c. 1 ff . (auf Grund neuen hdschr.
Materials).
'A üalzmann, 1. c. p. 125.
3 Dem ältesten Zollkatalog aus der Alpenwelt zufolge, dem von
Bischof Giso von Aosta 900 abgefaßten ; vgl. Schulte 1, 68.
4 Heyd, Gesch. des Levantehandels. 2 Bde. 1879. 1, 424. 426.
437.
6 Hansaakten aus England 1275 — 1412, bearbeitet von K. Kunze,
1891. S. XLV (Hansische Geschichtsquellen Bd. VI).
6 Schulte 1, 693 u. öfters.
7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432 und öfters.
8 Schaube, Ein italienischer Kursbericht usw. Zeitschr. f. Soz.
u. Wirtschaftsgesch. 5, 248).
9 W. Cunningham, The growth of english industry and com¬
merce 1 (1890), 184.
10 Th. Hirsch, a. a. O. S. 257 ff.
11 Wehrmann, a. a. O. S. 273.
19 Schulte 1, 594.
13 Zollkatalog Gisos von Aosta bei Schulte 1, 68.
14 Ashley 1, 70 nach Aelfrics Colloquy (um 1000).
15 Zollprivileg der Abtei S. Simeon von 1104 bei Falke, a. a. O.
S. 139; Zollprivileg der Kaufleute von Dinant, erteilt vom Senat der
Stadt Köln, Ennen, Quellen 1, 7 Nr. 5. Schreiber, TJ.B. der
Stadt Freiburg i. B. 1 (1828), 5/6,
237
Fünfzehntes Kapitel: Die Ärt dev Bedarfsdeckung
nach1, in Hamburg 2, in Flandern8 ; im 14. Jahrhundert bilden die
genannten Metalle ein beliebtes Handelsobjekt in England4, in
Lübeck5, in Danzig0, im deutsch-italienischen Handel7, werden
sie en gros und en detail gehandelt in Städten wie Anklam
Goslar8.
, Aber nicllt die -Rohstoffe und Halbfabrikate, auch die
fertigen Erzeugnisse der Metallindustrie kamen früh¬
zeitig in den Handel. Allen voran Schutz- und Trutzwaffen.
Bereits im 10. Jahrhundert bringen die Venetianer Waffen aus
den Schmieden der Lombardei, Steiermarks und Kärntens zu den.
überseeischen Völkern 9. Schwerter, Lanzen und Panzer finden
wir während des 10. Jahrhunderts als Handelsgegenstände auf
den Verkehrsstraßen der Alpen 10. Von den „Kölner Schwertern“
aber erhalten wir Kunde am Oberrhein schon im 12. Jahrhundert n,
im Handel mit England Ende des 13., Anfang des 14. Jahr¬
hunderts1"; einem Waffenhandel begegnen wir dann häufig
während des 13. Jahrhunderts, so in Pirna13, in Eisenach 13, und
noch mehr in den folgenden Jahrhunderten, so in Osnabrück14,
in Danzig 5, in Lübeck 16. Aus diesen beliebig herausgegriffenen
Urkundenbelegen dürfte ohne weiteres auf einen blühenden, aus¬
gedehnten jinternationalen Waffenhandel 17 während des ganzen
1 Falke, Zollweseu, 144.
2 Ebenda, 146.
3 Hans. TJ.B. Bd. I Nr. 432.
4 Hans. Geschichtsquellen Bd. 6 S. XLV, 334.
5 Wehr mann, 272 ff.
6 Hirsch, a. a. 0.
7 Schulte 1, 692 ff.
8 Kramerordnungen der genannten Städte bei Kl öden, 1. Stück
§ 3.
9 W. Heyd, Gesch. des Levantehandels 1, 125/26. A. Schaube
Hand.Gesch. 23 f.
10 Zollkatalog von Aosta 960 bei Schulte 1, 68. Nach Schultes
Meinung handelt es sich dabei um Erzeugnisse der Mailänder
Waffenindustrie (1, 69).
11 Mitt.ßh. U.B. 1, 409. 2, 242. Falke, a. a. O. S. 139.
v. Below, a. a. 0. S. 148.
12 Hans. Geschichtsquellen 5, XLV.
13 Falke, 144.
14 Frensdorf f, Dortmunder Stat. CXXXI.
16 Hirsch, 261.
16 Wehrmann, 456.
17 Vgl. noch W. Bö heim, Die Waffe und ihre einstige Bedeutung
im Welthandel. Zeitschr. f. histor. Waffenkunde 1, 171 ff.
238 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Mittelalters geschlossen werden, auch wenn die Annahme eines
solchen aus allgemeinen Erwägungen heraus nicht allein schon
selbstverständlich wäre.
Mit den Waffen wetteiferten als Gegenstände interlokalen
Güteraustausches und nahmen vielfach die Stelle der Schwerter,
Harnische, Kappen usw. ein, als diese durch die Entwicklung
der modernen Kriegstechnik anfingen , ihren Abnehmerkreis zu
verlieren, andere Erzeugnisse der Metallindustrie,
besonders Eisenwaren: Werkzeuge, Messer, Schlösser, Steck¬
nadeln, Nähnadeln, Haken, Ösen und was sonst heute unter der
Bezeichnung „eiserne Kurzwaren“ 1 zusammengefaßt zu werden
pflegt. Daß sie in größeren Mengen in den Handel kamen,
dürfen wir aus den Bestimmungen der Zolltarife des 13. bzw.
14. Jahrhunderts entnehmen , in denen bestimmt wird , daß sie
nach Stück, Dutzend oder Schock zur Y erzollung kommen
sollen2. Berühmt während des Mittelalters als Erzeugungsort
eiserner Kurzwaren war bekanntlich Nürnberg; daher für der¬
artige Dinge ebenso wie für sogenannte Galanteriewaren
lange — bis in unsere Zeit hinein — der Ausdruck „Nürnberger
Ware“ gebraucht zu werden pflegte3.
1 Das Mittelalter hatte dafür die Bezeichnung minuta, minuta
. inercimonia. Ygl. Hans. Geschichtsquellen 5 Nr. 56, 154, 374 (Ein¬
fuhrartikel nach England während des 13. und 14. Jahrh.). Auch
unter cromerey, merserie, merc. institoria verstand man vielfach das¬
selbe: calibem et ferrum et alia merc. institoria. Hans. U.B. Bd. 4
Nr. 224. Vgl. Nr. 965 (1).
2 Siehe z. B. den Zolltarif für die Niederlage der Stadt Pirna bei
Falke, Zollwesen, 144. Zahlreiche Sorten von eisernen Kurzwaren
in den Kramerrollen von Anklam (1330), Goslar (vor 1359), mitgeteilt
bei Kl öden, 1. Stück S. 31 ff.
8 In Lübeck durften die Nürnberger folgende von ihren Hand¬
werkern angefertigten Waren in offenen Kellern verkaufen (15. Jahr¬
hundert): Schlösser, Messer, Spiegel, hölzerne und bleierne Pater¬
noster, Pfriemen, Blech, Waffenhandschuhe, stählerne Bügel, Flöten,
messingene Spangen, Kinderglocken, zinnerne Schüsseln, Pferdezäume,
Steigbügel, Sporen, Brillen, messingene Fingerhüte, bleierne Spangen,
Dosen, Tafeln, Kinderbinden. Wehrmann, Einleitung S. 107. Im
Handel mit Italien während des 14. und 15. Jahrh. finden wir ferner
von Erzeugnissen der Nürnberger Metallindustrie : Altarle uchter,
Schreibleuchter, Hängelampen, Messingschüsseln, Wagen, Klistier¬
spritzen, Kompasse, Scherbecken, Schermesser, Zirkel u. a. Schulte
1, 719. Von der Ausdehnung des Nürnberger Exports legen Zeugnis
ab die überaus zahlreichen Zollbefreiungen, die sich Nürnberg
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 239
\ on andeien gewerblichen Erzeugnissen, die wir außer den
genannten noch als Gegenstände des interlokalen Handels während
des Mittelalters finden, mögen einige der wichtigeren nur noch
kurz mit Angabe der Belegstellen registriert werden.
Holz war en:
10. Jahrh.: Schüsseln, hölzerne Näpfe auf den deutsch-italieni¬
schen Verkehrsstraßen h
11. Jahrh.: Wannen, Schüsseln2, Fässer (dolia), vasa lignea 3 sind
Handelsartikel.
12. Jahrh.: Holzwaren auf den Messen zu Enns feilgeboten4.
13. Jahrh.: Holzwaren einer der Einfuhrgegenstände nach Eno--
land 5.
14. Jahih. : Dauben, Reifen, Stickholz, Schüsseln in Moselland r>,
Mulden, Schaufeln, Schüsseln in Danzig gehandelt7.
15. Jahrh.: Hamburger Tonnen ; dürfen in Sneek (Friesland)8
auch außer auf Jahrmärkten feilgeboten werden.
Häute und Leder
sind frühzeitig in den Handel gekommen: Rinds-, Bocks-, Kuh-,
Schafshäute im Trierer Tarif von 1248 9, die Gerberei eines
der häufigsten Exporthandwerke: Basel im 15. Jahrhundert
hat 59 reiche Gerbermeister mit einem Arbeitsmaximum von
360 Häuten jährlich (insgesamt 21240 Häute, also durchaus
handwerksmäßiger Umfang der Produktion) bei ca. 10 000 Ein¬
wohnern mit 133 Schuhmachern10. Wir erfahren von einem
Lederhandel in England während des 13. Jahrhunderts11, in
an verschiedenen Zollstätten auszuwirken wußte. Das Verzeichnis
von 1332 zählt nicht weniger als 69 Orte auf, in denen Zoll¬
befreiungen bestanden, und zudem das ganze Königreich Arelat
Schulte 1 658.
1 Zolltarif Gisos von Aosta bei Schulte 1, 68.
2 A. Schaube, Handelsgeschichte, 24.
v. Below, Entstehung des Handwerks, a. a. O. S. 152
4 Falke, Handel 1, 77.
5 Hans. Geschichtsquellen 5, XLV.
0 Tarif des erzstiftischen Kochemer Zolls: Lamprecht, DWL.
2, 311.
7 Hirsch, 253.
8 Stadtbuch von 1456, vgl. Hegel, Städte und Gilden 2, 290.
9 Originalauszug bei Lamprecht, DWL. 2, 315.
10 Geering, 141.
Hegel, Städte und Gilden 1, 99. Vgl. Salzmann, 1. c. p. 174,
240 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Schweden während des 14. Jahrhunderts1. Leder ist Gegen¬
stand des Dortmunder2 *, Breslauer8, Erfurter4, Nürnberger5
Handels im Mittelalter. Leder als en gros- und en detail-
Handelsartikel erwähnt in der Kramerordnung von Goslar
(14. Jahrhundert)6. In der Zollrolle Margaretes von Flandern
• (1252) werden zahlreiche Ledersorten aufgefiihrt 7. Lebhafter
Lederhandel in Poitou im 13. und 14, Jahrhundert s.
Der Weg, den das Leder vom Produzenten zum Konsumenten
nimmt, ist im Mittelalter häufig länger als heute. Jetzt kauft
die große Schuhfabrik in der Lederfabrik, die vielleicht selbst
ihre Aufkäufer in Indien hat. Aus dem mittelalterlichen Eng¬
land erfahren wir dagegen , daß die Gildemitglieder das Privi¬
legium hatten, ungegerbte Häute aufzukaufen (corea recencia
emere), die sie an die Gerber absetzten, um dann deren Produkt,
das gegerbte Leder, an die Schuster zu übermitteln9.
Lederwaren:
Deutsche Sattlerarbeiten im 10. Jahrhundert im Auslande ge¬
schätzt10; im ganz frühen Mittelalter deutsche Zügel und säch¬
sische Sättel von lombardischen Bischöfen benutzt11; Geschirre,
Gegenstände des Dortmunder Handels im Mittelalter12 *. Beutel,
Gürtel, Taschen usw. aus „vrendim steten von gesten“ in Schweid¬
nitz feilgehalten (1336) ia.
Verschiedene Kurz waren:
Elfenbeinene Kämme sind Objekte des internationalen Handels
im frühesten Mittelalter14. Hornkämme finden sich (14. Jahr-
1 Hegel 1, 280/81. 293.
2 Frensdorff, Dortmunder Statuten und Urteile, in Hans. Ge¬
schichtsquellen 3 (1882), CXVI.
8 C. Grünhagen, Schles. am Ausgange d. MA. , Zeitschr. f.
Gesch. u. Alt. Schles. 18 (1884), 39.
4 Falke, Handel 1, 135.
5 Falke, 127.
6 Bei Kl öden, Stellung des Kaufmanns, 1. Stück S. 86.
7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432.
8 Boissonade 1, 14.
9 Nach Groß, Guild Merchant; Doren, 150.
10 v. Below, a. a. 0. S. 153.
11 Schulte 1, 74.
12 Hans. Geschichtsquellen 3, CXVI.
18 Cod. dipl. silesiac. 5, 19. 20.
14 Schulte 1, 74,
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung
241
hundert) in den Tarifen von Basel und Straßburg \ in den Läden
Anklams1 2, allerhand „kleyne ding“ in denen von Schweidnitz3.
Paternoster aus verschiedenen Stoffen bildeten während des
ganzen Mittelalters aus naheliegenden Gründen einen wichtigen
Handelsartikel: Wachs, getrocknete Fische und Paternoster sym¬
bolisieren gleichsam den tiefreligiösen Zug jener Zeiten. Von
hölzernen und bleiernen Paternostern war schon die Rede. Vor
allem aber kommen diejenigen aus Bernstein als gesuchte Handels¬
artikel in Betracht. Der Ort, wo sie am meisten hergestellt
wurden, war Lübeck. Hier bildeten die Paternosterer während
des ganzen Mittelalters ein kräftiges, wohlhäbiges, reich besetztes
Handwerk, das genossenschaftlich den Einkauf des Bernsteins
besorgte 4.
Bekleidung und Putz:
12. Jahrh. : Kleider als Handelsartikel im Freiburger Stadtrecht
erwähnt5.
13. Jahrh.: Kaufleute aus Lille handeln mit Brügger Hosen nach
Italien 6 ;
— Hosen 1252 in der Zunftrolle Margaretes von Flandern7,
12(32 in der Hamburger Zollrolle „packweise“ erwähnt8;
— Schuhe finden wir gehandelt auf der Messe unterhalb der
Burg von Lags, dem Sitz der Grafschaft für Oberrhätien 9 ;
— Handschuhe, Gürtel, Börsen, Yiolinsaiten bei den Pariser
„merciers“ 10.
— Pelzwerk Gegenstand des Pisaner Handels11 (1218).
14. Jahrh. : Hosen, Mützen, Filzhüte, Bänder, Borten, Spangen usw.
in den Kramläden von Lübeck12, Danzig13, Anklam 13
Goslar14, Schweidnitz 15 verkauft;
1 Schulte 2, 105.
2 Kramerordnung von 1330 bei Kloeden, 1, 33.
3 Cod. dipl. silesiac. 5, 19. 20.
4 C. W. Pauli, Lübeckische Zustände 1 (1874), 52.
5 Schreiber, Urkundenbuch der Stadt Freiburg 1, 6.
6 Schulte 2, 105 (Urk. Nr. 188).
7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432.
8 Stieda, a. a. 0. S. 111. 9 Schulte 1, 167.
10 Dict. du mercier, Crapelet, Proverbes et dictons populaires
(1831).
11 Santini, Doc. dell’antica costit.
p. 190.
12 Wehrmann, 272 ff. 286 f.
14 Klöden 1, 33. 53.
del com. di Firenze (1895),
Sombart, Der modern« Kapitalismus. I.
13 Hirsch, 256.
15 Cod. dipl. Siles. 5, 19 f.
IC
242 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
14. Jahrh. : Schuster und Schneider in Bergen verkaufen ihre
Erzeugnisse über See 1 ;
— Straßburger Barette und Hosen nach Italien gehandelt2,
Lübecksche nach Venedig3;
— in Neustadt Brandenburg werden in einer Ausstattung an¬
getroffen „delremundsche Kleder“ 4; ausgedehnten Handel
mit Kleidern und Putz treiben die G-ebrüder Bonis in
Montauban5, auch Vick von Geldersen handelt damit6.
— deutsche Hüte werden nach Mailand eingeführt7, sind in
Basel starke Importartikel8.
Wie sich das alles nun auf einer großen Messe zu einem
bunten und lebendigen Ganzen zusammenfügte: das zeigt uns
eine Schilderung der Vorgänge auf der berühmten Messe zu
Winchester in England, im 14. Jahrhundert, die ich hier (in
der Übertragung durch Ashley) in ihren Hauptzügen wieder¬
geben will9.
Wilhelm H. gestattete dem Bischof von Winchester, auf dem
östlichen Hügel außerhalb der Stadt eine dreitägige Messe ab¬
zuhalten. Die unmittelbaren Nachfolger des Königs bewilligten
ihr eine längere Dauer, bis sie endlich durch einen Freibrief
Heinrichs H. auf 16 Tage ausgedehnt wurde, vom 31. August
bis zum 15. September. Am Morgen des 31. August riefen die
Iusticiare des bischöflichen Zeltes von der Spitze des Hügels
die Messe als eröffnet aus; darauf ritten sie durch die Stadt,
empfingen die Schlüssel der Tore, belegten die Wage auf dem
städtischen Wollmarkt mit Beschlag, auf daß sie während der
Messe nicht benutzt würde, und ritten, mit dem Bürgermeister
1 Hegel, a. a. 0. 1, 407-
2 Schulte 1, 706.
3 Stieda, a. a. 0. S. 111. Vgl. dazu noch Hans. U.B. Bd. 4
Nr. 621, 1017 (3), 1018 (8).
4 G. Sello, Brandenb. Stadtrechtsquell. (Mark. Forsch. 18
[1884], 12.)
5 Le livre de comte de freres Bonis; ed. E. Forestie. Arch.
hist, de la Gascogne, fase. 20. 23. 26. 1890 — 94. 20, LII ff.
6 Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen; bearb. v. H. Nirrn-
heim (1895), LVIII.
7 Schulte 1, 718.
8 Geerin g, 233.
9 Siehe Dean Kitchins Einleitung zu dem Freibriefe Eduards III.
für die S. Giles Fair in den Winchester Cathedral Records No. 2
(1886).
243
Fünfzehntes Kapitel : Die Art der Bedarfsdeckung
und den bailifis in ihrem Gefolge, nach dem großen Zelt oder
Pavillon auf dem Hügel zurück. Hier ernannten sie einen be¬
sonderen Bürgermeister, einen bailiff und einen Gerichtsbeamten,
um. die Stadt während der Meßzeit in des Bischofs Namen zu
legieren. Der Hügel bedeckt sich bald mit Reihen hölzerner
Buden ; in einer standen die Kauf leute von Flandern , in einer
zrweiten die von Caen oder einer anderen normannischen Stadt,
in einer dritten die Handelsleute von Bristol. Hier gab es eine
Goldschmied- dort eine Tuchmacherreihe. Um das Ganze zog
sicn ein Zaiui mit bewachtem Eingang: Vorsichtsmaßregeln,
welche unternehmende Abenteuerer nicht immer daran hinderten,
sich der Zahlung von Zöllen zu entziehen, indem sie sich durch
Untergrabung der Umfriedigung einen Weg in das Innere des
Marktes bahnten. Zu Pferde und in voller Rüstung erschienen
am ersten Tage vor des Bischofs Iusticiarien auch alle jene
bischöflichen Hintersassen, die durch ihr Lehen zum Kommen
verpflichtet waren, unter ihnen hatten drei oder vier darüber zu
wachen, daß die Urteile des Meßgerichtes und die Anordnungen
des bischöflichen Marschalls in gehöriger Weise zur Ausführung
gelangten, auf der Messe sowohl als in Winchester und South¬
ampton.
Jeder Handelsverkehr in Winchester und innerhalb eines
Umkreises von t Meilen wurde für die Meßzeit zwangsweise
aufgehoben. An abseitshegenden Posten, auf Brücken und an¬
deren Verkehrswegen waren Wachen aufgestellt, die daraufzu
sehen hatten, daß den bischöflichen Rechten nicht Abbruch ge¬
schehe. In Southampton, welches außerhalb des Bannkreises
lag, durften während der Messe nur Lebensmittel verkauft
werden, und selbst die Handelsleute aus Winchester mußten auf
den Hügel übersiedeln und dort ihrem Gewerbe nachgehen. Es
gab eine Stufenfolge von Zöllen und Abgaben : alle während der
ersten Woche aus London, Winchester oder Wallingford kom¬
menden Kaufleute waren frei von Eingangszöllen; nach dieser
Zeit kommende zahlten Zoll, ausgenommen die Mitglieder der
Kaufmannsgilde von Winchester. Für das Wägen eines Ballens
Wolle wurden als „bischöfliche Wägegebühr'' 4 Pence bezahlt,
außerdem vom Käufer und Verkäufer je 1 Pfennig für den
Wägemeister; ähnlich verhielt es sich mit den Abgaben für
andere Waren. Auf jeder Messe gab es einen court of pie-
ponder (so genannt von den staubigen Füßen der Rechtssuchenden)
ein besonderes Meßgericht, auf welchem der Vertreter des
244 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Grundherrn über alle vorkommenden Streitigkeiten nach kauf¬
männischem Recht entschied, indem er zugleich die sonst geltende
Gerichtsbarkeit der Stadt zeitweilig aufhob; in Winchester
wurde dieses Gericht „Pavilion-bourt“ (Zeltgericht) genannt.
Hierher brachten die bischöflichen Diener alle Maße und Ge¬
wichte zur Prüfung; hier setzten die Richter eine Taxe oder
ein bestimmtes Gewicht für Brot, Wein, Bier und andere Lebens¬
mittel fest, und jeder Bäcker, dessen Brot sich nicht als voll¬
wichtig erwies, wurde zum Pranger verurteilt; hier endlich
wurden täglich unter Vorlegung und Vergleichung der ein¬
gekerbten Kerbhölzer von den Geschworenen Schuldstreitigkeiten
zwischen den Kaufleuten geschlichtet.
Ein Gegenstück zu dieser Schilderung bildet das Gedicht, das den
„Lendit“, das heißt die Messe in St. Denis, im 14. Jahrhundert besingt :
„La plus roial foire du monde.“
Der Dichter schildert zunächst, wie die Prozession von Notre-Dame
vorüberzieht, die die gesamte Kaufmannschaft segnet. Dann beginnt
er die Aufzählung der Stände mit den verschiedenen Handwerkern
und Händlern, die ihre Dienste (barbiers, tavenciers u. a.) oder Waren
feilbieten. Es ist eine ebenso bunte Reihe, wie wir sie in Winchester
angetroffen haben: unnütz, sie einzeln zu nennen. Besonderes Inter¬
esse bietet das Gedicht dem Wirtschaftsgeographen durch die lange
Liste von Bezugsorten, aus denen die hier feilgebotenen Waren stammen.
Das Gedicht ist im zweiten Bande der Sammlung Barbazan und
M 6 o n abgedruckt und bildet die Nr. 79 bei Fagniez, Doc. 2 (1900).
II. Die Produzenten
Die Art und Weise , wie die Produzenten ihren Bedarf an
Produktionsmitteln deckten, ist in den vorhergehenden Blättern
schon mitbehandelt worden; denn es ist im Grunde dieselbe wie
die, deren sich die letzten Konsumenten bedienten, um sich die
von ihnen begehrten Gebrauchsgüter zu beschaffen. Es erübrigt
sich daher, eine quellenmäßige Darstellung der hier befolgten
Geschäftspraxis zu geben. Des Zusammenhangs und besseren
Überblicks wegen will ich nur noch in Kürze bei den wichtigsten
Gewerben die in Frage kommenden Bezugsmöglichkeiten an¬
geben.
Der Bäcker bekommt entweder das Mehl vom Kunden ge¬
liefert oder er läßt beim Müller das Getreide vermahlen, das er
selbst gekauft oder das ihm der Kunde geliefert hat. Seinen
Backofen läßt er sich vom Maurer nebenan bauen, indem er
selbst die Materialien dazu hergibt oder nicht. Seine Gerät¬
schaften bestellt er beim benachbarten Schmied oder Stellmacher,
Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 245
oder Böttcher oder Pinselmacher, oder kauft er auf den Jahr¬
märkten fertig.
Der Fleischer kauft das Vieh auf den städtischen Vieh¬
märkten vom Produzenten oder vom vereidigten Viehmakler
(wie in Paris) oder er geht auf die Dörfer oder auf benachbarte
Märkte einkaufen, oder er zieht selbst Vieh auf1.
Vom Fleischer kauft der Lichtzieher den Talg; der Spinner
die Schafshaut.
Die Eisen, Blei, Kupfer verarbeitenden Gewerbe
decken ihren Bedarf an Rohstoffen auf den Märkten vom
Händler.
Die Holz verarbeitenden Gewerbe kaufen das Holz in
den benachbarten Wäldern oder von den Flößern in der Stadt,
wenn diese an einem Strome liegt. Es wird wohl aber auch
Holzhändler gegeben haben.
Die Leder verarbeitenden Gewerbe fanden ihren
Rohstoff auf dem Ledermarkte, wenn sie nicht Häute einkauften,
die sie vom Gerber gegen Lohn gerben ließen.
Im Baugewerbe gab es Kalk-, Ziegel-, Steinhändler, von
denen die Maurer oder Steinmetzen (falls ihnen der Bauherr
nicht das Material lieferte) kaufen konnten. Sie ließen bei
Kalk- und Ziegelbrennern das Rohmaterial zum Stufenfabrikat
verarbeiten (wir lernten solche Fälle oben kennen). Glas wird
der Bauglaser wohl auf den Ständen der Jahrmärkte gefunden
oder von herumziehenden Glasmachern gekauft haben, wenn er
nicht selbst die Hütte aufsuchte.
In der Textilindustrie laufen alle Bezugsarten durch¬
einander. Wolle, Flachs, Hanf wurden vom Produzenten oder
Händler auf den Märkten feil geboten. Seide war beim Mercier
zu kaufen. Die einzelnen Stufenprozesse der Gewebeherstellung
wurden vielfach in wechselseitiger Lohnarbeit verrichtet: der
Weber ließ vom Spinner den Rohstoff verspinnen, der Färber
arbeitete gegen Lohn für den Weber oder der Weber für
den Färber, der Walker für den Weber, der Färber für den
Schneider und so fort in buntem Durcheinander. Häufig läßt
der Verkäufer des fertigen Gewebes (der Gewandschneider,
Drapier, draper) einige oder alle Stufenprozesse im Lohnwerk
ausführen. Gerätschaften, Handwerkszeug, Hilfsstoffe lieferte
1 Bezeugt für England : Green, Town Life 2, 40; Frankreich:
Fagniez, Etudes, p. 184; für Strafshurg: A. Herzog, a. a. 0.
S. 60 f.
246 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
auch für die Textilindustrie teilweise der Nachbar Handwerker
auf Bestellung (wer fertigte "Webstühle an? ich habe in den
Quellen nie etwas gefunden: der Stellmacher? der Tischler?);
teilweise wurden sie auf Speziaknärkten (Krapp ! Waid !), teil¬
weise auf den Jahrmärkten (ausländische Farbstoffe !) eingekauft.
Zusammenfassend läßt sich sagen: daß die Beschaffung der
Produktionsmittel in derselben Weise wie heute sich abspielte
mit, folgenden Abweichungen vom heutigen Verfahren: der Ein¬
kauf der fertigen Gegenstände erfolgte immer in Form des Loko-
kaufs und zwar fast regelmäßig in den dazu bestimmten öffent¬
lichen Kaufstätten (Kaufhäusern, Hallen, Marktbuden). In fast
allen Städten ist der Absatz direkt vom Händler (oder Produ¬
zenten) an den Käufer mit Umgehung der öffentlichen Kauf¬
stätten verboten. Und das Verbot wurde durchgeführt, wie
zahlreiche Gerichtsverhandlungen es erweisen. Es fehlte so gut
wie ganz der Kauf nach Probe, also der Lieferungshandel, der
eich im wesentlichen auf schriftlichem Wege abspielt.
247
Sechzehntes Kapitel
Die Organisation der gewerblichen Arbeit
I. Die Verknüpfung der Produzenten mit dem
Markte
Wenn wir jetzt das gewerbliche Leben der mittelalterlichen
Stadt vom Standpunkt des absetzenden Produzenten aus be¬
trachten wollen, so werden wir — in unmittelbarer Anknüpfung
an die bisher gewonnene Einsicht — zuvörderst die verschie&-
denen gewerblichen Arbeiter klassifizieren nach der Art und
Weise, wie sie ihre Erzeugnisse oder ihre Dienste an den Mann
(oder an die Frau) bringen. Wir haben diese Arten alle schon
kennen gelernt und brauchen jetzt nur noch einmal ausdrücklich
festzustellen: Es gibt in den mittelalterlichen Städten:
1. Gewerbliche Produzenten, die im Hause des Konsumenten
arbeiten ;
2. Gewerbliche Produzenten, die für letzte Konsumenten lohn¬
wirken und dann in großem Umfange solche, die für andere
Produzenten lohnwirken: Färber, Walker usw.;
3. Gewerbliche Produzenten, die für den lokalen Markt Güter
produzieren, sei es wiederum auf Bestellung, sei es auf
Vorrat;
4. Gewerbliche Produzenten, die für einen großen (interlokalen)
Markt produzieren: „Exportgewerbe“.
Mit einem AVorte: alle Arten, wie der Produzent mit dem
Markte überhaupt verknüpft sein kann, kommen in den Städten
des Mittelalters vor.
H. Der Standort der Gewerbe
Aus der vorhergehenden Aufzählung der Typen gewerblicher
Produzenten ist ohne weiteres zu entnehmen, daß es auch im
Mittelalter nicht etwa bloß ein auf den lokalen Markt beschränktes
Gewerbe 1 gab, daß vielmehr die eine Stadt für die andere produ¬
zierte. Es fragt sich : nach welchen Gesetzen bestimmte sich
1 Ubiquitäten im Sinne von Alfred Weber, Der Standort der
Gewerbe. 1. Teil 1912.
248 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
in jenen Zeiten der Standort derjenigen Gewerbe, die für einen
großen Markt produzierten. Hierüber ist meines "Wissens noch
niemals eine Untersuchung angestellt worden und es steht hier
abermals für den Wirtschaftshistoriker (mit etwas Geist) eine
dankenswerte Aufgabe auf.
Was sich jetzt schon mit einiger Sicherheit aussagen läßt,
ist dieses:
1. Hie lokale Spezialisation war für zahlreiche, wich¬
tige Gewerbe im Mittelalter sehr groß, wahrscheinlich größer
als heute. Das heißt : bestimmte Erzeugnisse wurden nur in dieser,
andere nur in jener Stadt hergestellt.
In dem bekannten Handbuch eines englischen Hechtsgelehrten
aus der Mitte des 13. Jahrhunderts1 finden wir als Städte mit
Tuchfabrikation verzeichnet: Lincoln für Scharlachtuch, Bligh
für Wollendecken, Beverley für braunes Tuch (burnet), Colchester
für grobes Tuch (russet) — in den Parlamentsakten aus dem
Jahre 1301 sind acht Weber aus dieser Stadt aufgeführt. Leinen¬
produktion wird verzeichnet in Shaftesbury, Lewes und Aylesham,
Seilerwaren in Warwich und Bridpart; dieses wird auch wegen
seiner Hanfwaren gerühmt. Feines Brot liefern Wycombes,
Hungerford und St. Albans, Messer Maastead, Nadeln Wilton,
Rasirmesser Leicester. Banbury ist durch seine Getränke be¬
kannt; Hitchin durch seinen Met und Ely durch sein Ale.
Gloucester ist der Hauptplatz für Eisen, Bristol für Leder, Coventry
für Seife, Doncaster für Sattelgurte, Chester und Shrewsbury
für Häute und Pelze, Corfe für Marmor, Cornwall für Zinn.
Grimsby liefert Stockfische, Eye Weißlinge, Yarmouth Heringe,
Berwick Lachs, Eipon war ein Pferdemarkt auch noch im
16. Jahrhundert, Handschuhe kaufte man in Haverhill, Ochsen
in Nottingham, und Sattelzeug in Northampton.
Die lokale Spezialisation war besonders groß in der Textil¬
industrie, aber auch in anderen Exportgewerben, wie z. B.
der Waffenindustrie.
Yon einer gleichmäßigen Beherrschung aller Zweige jener
war keine Eede ; das Gegenteil traf zu : hier wurde besser blau,
dort besser rot gefärbt; hier verstand man sich besser auf die
Zubereitung von Lodentuchen, dort von Leinwand2 3.
Schon früh hatte sich beispielsweise die Schürlitzweberei
1 Siehe die Auszüge bei Th. Rogers, Six Centuries etc. Deutsche
Übers. S. 75 f.
3 Siehe z. B. A. Schulte, Gesch. d. Handels 1, 112.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 249
spezialisiert : in Ulm wurde rot, in Augsburg schwarz gefärbt;
Köln war neben grün und schwarz namentlich für den blau und
weiß gewürfelten „Cölsch“ berühmt; der Baseler Vogelschürlitz
war blau oder blau und weiß 1 usw.
Noch viel länger als die "Woll- oder Leinenindustrie war die
Seidenindustrie auf einzelne Städte beschränkt geblieben. Es
dauert Jahrhunderte, ehe sie selbst in Italien von Lucca auf
Genua, Mailand und andere Städte sich ausbreitete.
Wie sehr das zweite große Exportgewerbe des Mittelalters —
die Metallindustrie, namentlich in der Waffenbranche — die
Spezialität entwickelte, ist bekannt. Die Klingen von Toledo,
Brescia und Passau , die Panzer und Harnische von Mailand,
Innsbruck, Nürnberg hatten allerorts ein Monopol2 3 * * * *.
Um uns eine richtige Vorstellung von der Bodenständig¬
keit des mittelalterlichen Gewerbewesens zu machen, müssen
wir es etwa mit der modernen agrarischen Spezialitäten¬
produktion vergleichen: Die Landwirtschaft hat dank ihrer
Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen des Produktions¬
ortes noch heute, namentlich für Delikatessen, eine weitgetriebene
Lokalisierung ihrer Erzeugnisse bewahrt. Es gibt für Gourmets
Spezialkarten, auf denen die berühmtesten Produktionsorte für
die Bestandteile einer guten Küche verzeichnet sind8. Ähnlich
würde eine gewerbegeographische Karte des Mittelalters aus-
scliauen.
Bekannt ist die Vorliebe des Mittelalters, den verschiedenen
Städten je ein bestimmtes Beiwort zu verleihen, oder sie sonst
durch eine bestimmte Eigenart zu charakterisieren, das sie von¬
einander scheiden sollte. Da finden wir häufig die Herstellung
von gewerblichen Spezialitäten als Unterscheidungsmerkmal in
Anwendung gebracht.
Es muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß die
örtliche Verteilung der Gewerbe im Mittelalter auch dort, wo
1 Geering S. 308. Einen guten Überblick über die weitgehende
Entwicklung von Spezialitäten im Tuchergewerbe gibt das in
Eiandern im 12. Jahrhundert entstandene Gedicht Conflictus ovis et
lini von 169 — 212, abgedruckt in M. Haupts Zeitschr. f. deutsches
Altertum 11 (1859), 220 f.
3 Vgl. mit den bereits genannten Werken W. Böheims etwa
noch H. v. Duyse, Über den Handel mit Hiebwaffen in verschiedenen
Epochen in der Zeitschr. f. histor. Waffenkunde 1, 65 ff.
3 Z. B. Chatillon-Plessis,La vie ä table ä la fin du XIX. siede
(1894), p. 225.
250 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
sie spezialisiert war, sich in einem Punkte wesentlich von der
heutigen Anordnung der einzelnen Gewerbezweige unterscheidet :
die Herstellung eines Spezialartikels erfolgte nur in einer Stadt,
dafür aber erfolgte sie auch ganz, von Anfang bis zu Ende in
dieser Stadt. "Während heute die Teilprozesse der Produktion
häufig an verschiedene Orte verlegt sind, spielen sie sich im
Mittelalter häufiger an einem und demselben Orte ab. Beispiele :
Wenn eine Stadt berühmt wegen ihrer Klingen war, so bezog
sie nicht etwa die vorbereiteten Stahlstäbe und die Griffe von
zwei anderen Städten, sondern sie erzeugte sie selbst. Während
heute eine Weberei aus verschiedenen Orten ihre Garne bezieht,
wurden im Mittelalter alle für die Erzeugung von Stoffen nötigen
Verrichtungen von dem Rohstoffe bis zum fertigen Gewebe in
einer und derselben Stadt vorgenommen: man denke an Weber¬
städte wie Florenz ! Zuweilen schreiben die Zunftstatuten diese
Vereinigung sämtlicher Stufenprozesse an demselben Orte vor,
so die der Leineweber in Paris. Keine Tischlerei wird heute
ihre Bretter an Ort und Stelle kaufen, sie bezieht sie von der
Sägemühle an der fernen Grenze usw.
Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht etwa um eine ver¬
schiedene Spezialisierung des Arbeitsprozesses selbst. Diese
kann vielmehr in derselben Weise wie heute gestaltet sein; das
heißt auch in horizontaler Richtung die Berufstätigkeiten trennen:
das Schlagen, Strecken, Spinnen, Weben der Wolle, das Scheren,
Färben, Appretieren des Tuches kann genau so wie heute (oder
mehr wie heute) den Inhalt besonderer Berufe bilden ; was allein
den Unterschied zwischen einst und jetzt macht, ist die (häufig,
nicht immer!) verschiedene räumliche Anordnung der ver¬
schiedenen Berufstätigkeiten.
2. Die Gründe für diese starke und eigenartige Spezialisierung
der gewerblichen Produktion waren zum Teil dieselben, die heute
noch den Standort der Gewerbe bestimmen. Zum sehr beträcht¬
lichen anderen Teil waren es im Mittelalter eigenartige Gründe,
die sich hier wirksam erwiesen: in einer Zeit, in der das em¬
pirische Verfahren allein herrschte, mußte nämlich eine bestimmte
Kunstfertigkeit (zu weben, zu färben, zu schmelzen, zu ziselieren
usw.) weit länger, ja unter Umständen dauernd, auf einen kleinen
Kreis eingeweihter Produzenten beschränkt bleiben, weil die
Ausübung dieser Fertigkeit das „Geheimnis“ dieses Kreises blieb,
jedenfalls nur sehr schwer von anderen erlernt werden konnte,
die nicht an Ort und Stelle das Gewerbe austibten. Nur durch
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 251
♦
die Wanderung der Meister konnte die Kunst von einem Ort
auf den anderen übertragen werden. (Während beute die techno¬
logische Wissenschaft allgegenwärtig ist.)
In welchem quantitativen Verhältnis die gewerbliche Pro¬
duktion für den lokalen Markt zu der für einen interurbanen
Markt gestanden habe, werden wir genau ziffernmäßig für das
Mittelalter voraussichtlich ebensowenig je feststellen können, wie
iüi die Gegenwart. Daß die lokale Gütererzeugung eine ver¬
hältnismäßig größere Bedeutung gehabt habe als heute, darf
nach allem, was wir über die wirtschaftlichen Zustände des
Mittelalters wissen, nicht in Zweifel gezogen werden. Manche
Gewerbe, die heutigentags sich nur an einzelnen Orten finden,
gab es im Mittelalter in fast jeder Stadt, so zum Beispiel (und
vor allem!) die Weberei. Will man mit dem Ausdruck „ge¬
schlossene Stadtwirtschaft“ dieses Überwiegen einer räumlich
begrenzten Bedarfsdeckung andeuten, so ist gegen seinen Ge¬
brauch nichts einzuwenden. Aber Vorsicht!
III. Die Zahl der gewerblichen Produzenten und
ihre Leistungsfähigkeit
Über den ziffernmäßigen Anteil der gewerblichen Arbeiter an
der Gesamtbevölkerung oder auch nur der städtischen Bevölkerung
wissen wir sehr wenig. Man hat behauptet, daß die Gewerbe
im engeren Sinne in den Städten eher einen breiteren Baum
eingenommen hätten als heute. Aber ob die wenigen Ermittlungen,
die wir besitzen, typisch sind, vermögen wir nicht zu sagen und
Erwägungen allgemeiner Natur lassen sich zugunsten einer be¬
stimmten Annahme kaum anstellen. Bücher nimmt für das
Ende des 14. Jahrhunderts 50 — 60% als den Anteil des Hand¬
werkerstandes an der (städtischen!) Bevölkerung an1. Für die
Gewerbegruppen H — IX (also die Gewerbe im engeren Sinne)
rechnet er für Frankfurt im Jahre 1387 51,4% gegen 36,7 % im
Jahre 1875 heraus. Dagegen kommt Eulenburg2 zu wesentlich
anderen Ergebnissen: Die gewerbliche Bevölkerung Heidelbergs
habe nur 46,6% im Jahre 1588 gegen 47,7% im Jahre 1882 von
der Gesamtbevölkerung ausgemacht.
1 K. Bücher, Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und
15. Jahrhundert. 1, 148 ff.
2 Eulenburg, Berufs- und Gewerbestatistik Heidelbergs usw.,
a. a. 0. S. 112.
252 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Einen noch, viel geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung
haben aber die gewerblichen Produzenten wohl in den großen
Städten des Mittelalters gebildet. In Paris betrug (nach den
Steuerlisten) die Zahl der „Handwerker“ (artisans ; zu denen aber
alle „Detailhändler“ gezählt sind) im Jahre 1292 4159, im Jahre
.1300 5844 b In diesen Ziffern stecken aber auch zum Teil die
Gehilfen. Wir werden sie demnach höchstens mit 4 multiplizieren
dürfen, um die gewerbliche Bevölkerung zu ermitteln ; diese hätte
also in den beiden Jahren rund je 17 000 und 23000 Köpfe ge¬
zählt ; das würden bei meiner Schätzung der Einwohnerzahl von
Paris etwa 25—30% sein. Legt man die üblichen Schätzungen
der Einwohnerzahl (100 000 — 200000) zugrunde, so würden nur
10 — 20% herauskommen.
Sicher dagegen ist wiederum zweierlei:
1. Der Anteil der Gewerbetreibenden im engeren Sinne an
der Gesamtbevölkerung ist im Mittelalter ganz erheblich ge¬
ringer als etwa heute: da ja die große Mehrzahl der gewerb¬
lichen Produzenten in den Städten saß und diese im höchsten
Falle 10% der Landesbevölkerung umschlossen (Rogers sehe
Schätzung) ;
2. Die Anzahl der gewerblichen Produzenten war während
des ganzen Mittelalters verhältnismäßig, das heißt, im Verhältnis
zu der Nachfrage nach ihren Leistungen knapp. Ja — zu be¬
stimmten Zeiten herrschte geradezu ein Mangel an Handwerkern.
Im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sehen wir
(in Deutschland) häufig ganze Städte sich bemühen, einen oder
einige Färber zu erhalten, so Brietzen 1355, Eßlingen 1401,
Leipzig 14691 2. In Wien fehlt es im 14. Jahrhundert „überall an
Handwerkern“ 3.
Der beste Beweis für die Knappheit an Handwerkern sind
die aller früheren Zeit eigenen Begünstigungen durch Privilegs
aller Art, wodurch Fürsten und Städte fremde Handwerker an
ihr Gebiet zu fesseln versuchten.
Auch die Preismaxima, die man um jene Zeit vielerorts für
Handwerksarbeit erließ4, bestätigen diese Kargheit gewerblicher
Arbeit.
1 Siehe die Berechnungen bei G. Fagniez, Etudes p. 6 ff .
2 Schmolle r, Tücher- und Weberzunft, S. 92.
3 F. Eulenburg, Das Wiener Zunftwesen in der Zeitschrift f.
Soz. u. W.G. 1, 286.
4 Siehe für Frankreich Levasseur l 2, 500; für Italien Kowa-
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 253
Fragen wir nun aber, welches Zusammentreffen von Umständen
nötig war, um einen solchen Zustand herbeizuführen, so mögen
wir etwa folgende als die hauptsächlich ausschlaggebenden
anführen :
Zunächst ist die Schwierigkeit zu bedenken, den Nachwuchs
technisch heranzubilden. Solange es dazu eines langen Stufen¬
ganges, einer regelrechten Lehr- und Lernzeit, der persönlichen,
gewissenhaften Unterweisung durch den Meister bedarf, wie das
empirische Verfahren es erheischt, solange ist die Züchtung
einer Nachkommenschaft gewerblicher Produzenten von Natur in
enge Schranken gebannt. Daß ebenfalls die empirische Technik
die Übertragung eines Kunstverfahrens auf andere Gruppen
erschwert, wurde in anderem Zusammenhänge schon fest¬
gestellt.
Sodann aber — und vor allem — werden wir zur Erklärung die
Eigenart der Bevölkerungsverhältnisse im Mittelalter
heranziehen müssen. Diese bestand:
1. in einer langsamen Vermehrung der Bevölkerung über¬
haupt ;
2. in einer verhältnismäßig niedrigen Rate der agrarischen!
Uberschußbevölkeruno'.
o
Wofür im folgenden, soweit die Dürftigkeit des Materials es
zirläßt, einige Angaben zu machen sind.
So spärlich auch die bevölkerungsstatistischen Quellen für
das Mittelalter fließen * 1, so läßt sich doch folgendes mit einiger
Sicherheit feststellen.
In Deutschland müssen wir eine langsame Zunahme der
Bevölkerung bis in das 13. Jahrhundert annehmen. Die jährliche
Zuwachsrate betrug in den von Lamprecht untersuchten Ge¬
bietsteilen 0,5% für 1100—1150, 0,4% 1150—1200, 0,35% für
1200 — 1237 2. Dagegen ist dem Urteil Sch m o 1 1 e r s zuzustimmen,
„daß von einer allgemeinen Zunahme der Bevölkerung von 1250
bis 1450 kaum die Rede sein kann“ 3.
lewsky in der Zeitschrift für Soz. u. W.G. 3, 414 ff. ; für England
Cunningham 1, 306 f.
1 Über die Dürftigkeit der Quellen Inama-Sternegg, Art.
„Bevölkerung“ im H. St. 2 2.
2 Lamprecht, DWL. 1, 164.
8 Schmoller, Die historische Entwickl. des Fleischkonsums usw.
in Deutschland in der Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 27 (1871),
299.
254 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Dasselbe Bild gewähren andere Länder:
in England Zunahme zwischen Domesday Book und Hundred
Rolls, dann Stillstand bis 1500 1 ;
in Frankreich Anwachsen bis ins 14. Jahrhundert, dann
Stagnation bzw. Abnahme bis ins 16. Jahrhundert2 3;
in Belgien starke Bevölkerungszunahme im 12. und 13. Jahr¬
hundert8, die offenbar im 14. Jahrhundert nachläßt4.
Angesichts der Daseinsbedingungen der mittelalterlichen Be¬
völkerung werden uns diese Feststellungen nicht in Erstaunen
setzen. Denn die positiven „checks to population“ waren, wie wir
wissen, so mächtig, daß auch die höchsten Geburtenziffern die
entstehenden Lücken nicht zu stopfen vermochten. Es braucht
nur an bekannte Dinge erinnert zu werden:
1. den Mangel an aller Hygiene in Stadt und Land5;
2. die Häufigkeit und Blutigkeit der Kriege ; vor allem aber
3. die beiden Geißeln des Mittelalters : Hungersnöte und
Seuchen, die gern in Gemeinschaft sich einstellten6.
Alle Länder werden gleichmäßig von ihnen heimgesucht 7 und
1 Cunningham, Growth 1, 170. W. Denton, England in the
XV. cent. (1888), p. 128 — 131. Th. Rogers, The industrial and
commercial history of England (1898), p. 46 f.
2 Levasseur, La Population fran^aise 1 (1889), 140 ff.
3 E. de Borchgrave, Hist, des colonies beiges du Nord de
l’Allemagne (1865), S. 37.
4 V ander hindere S. 135 ff.
6 Über die große Kindersterblichkeit im Mittelalter : Bücher,
Bevölkerung usw., S. 45 f.
6 „Auf die Not folgen, man kann fast sagen, immer große Volks¬
krankheiten; mortalitas und pestilentia sind untrennbare Begleiter
einer jeden Hungersnot.“ F. C urschmann, Hungersnöte im Mittel-
alter (1900), S. 60.
7 Für die Hungersnöte siehe das in Anm. 6 genannte Buch, das
als 6. Band der Leipziger Studien aus dem Gebiete der Geschichte
erschienen ist. Damit vgl.: Denton, 1. c. , S. 91 ff. : „famine .. .
was so common in England, that all attemps to specify the years
of scarcity would only mislead“ (92), das unten zit. Buch von
Creighton, p. 15 — 52 (gute Darstellung für die Zeit von 679 bis
1322), und Levasseur (l 2, 523), der für Frankreich im 14. Jahr¬
hundert 19, im 15. Jahrhundert 16 Hungerjahre annimmt. — Über die
Pest vgl. mit dem bekannten Werk von Hecker-Hirsch, Die
großen Volkskrankheiten des Mittelalters (1865), für Deutschland:
R. Höniger, Der schwarze Tod in Deutschland (1882) ; K. L e c hn e r ,
Das große Sterben in Deutschland (1884) ; für Frankreich : Levasseur,
Classes ouvrieres, p. 521 ff. ; Pop. franc. 1, 176 und die daselbst zit.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 255
überall wirken sie in derselben verheerenden Weise. Das 14. Jahr¬
hundert hat am meisten zu leiden : es ist das Jahrhundert der
Pest xat’ i;o)djv. *
Man mag darüber streiten, bis zu welchem Grade die An¬
gaben der Zeitgenossen über die Höhe der Sterbeziffern Glauben
verdienen — ob zum Beispiel in England ein Drittel oder die
Hälfte der Bevölkerung oder noch mehr der Pest zum Opfer
gefallen sind 1 — , darüber kann kein Zweifel herrschen, daß die
\ erwüstungen hinreichend waren, um die Bevölkerungszunahme
lange aufzuhalten.
Die agrarische Überschußbevölkerung in geringen Grenzen zu
halten, wirkte dann noch eine Reihe anderer Umstände mit,
namentlich die während des ganzen Mittelalters nicht geringer
werdende Möglichkeit, sich auf eigener Scholle seßhaft zu machen,
wenn auch nur als Hintersasse eines Grundherrn.
In Deutschland bedeutet allein die Rückeroberung1 des
Ostens durch das Deutschtum eine ungeheure Expansion des
vorhandenen Siedlungsgebietes. Aber auch in anderen Ländern
schwindet die terra libera erst im späteren Verlauf des Mittel¬
alters dahin. Von Frankreich heißt es für die Zeit von
1200 — 1350: „chaque jour signale de nouvelles appropriations
du sol, de nouvelles conquetes du laboureur2“. In dem Eng¬
land des 14. Jahrhunderts wird, wie in Deutschland, das
Siedlungsgebiet künstlich durch Auflösung der Gutswirtschaften
ausgeweitet3. Ein verhältnismäßig dicht besiedeltes Gebiet wie
Literatur; für Italien: das große Werk von A. Corradi, Annali
delle Epidemie, P. I (1865) bis 1500, umfaßt auch die Hungersnöte,
und M. Kowalewsky in der Zeitschr. f. Soz. u. W.G. 3, 406; für
die Niederlande, insbesondere für Belgien: das ausführliche Werk von
L. Torfs, Fastes des calamites publiques survenues dans les Pays-
Bas et particulierement en Belgique etc. : Epidemies — Famines —
Inondations (1859); für England: Ch. Creighton, A History of
/ £ Epidemies in Britain from A. D. 664 to the extinction of Plague
(1666), 1891. In England hat das Problem eine besonders eingehende
Behandlung erfahren. Die wichtigsten Schriften sind zusammengestellt
und besprochen bei C h. P e t i t - D u t aillis , Introduction histor., zu:
A. Reville, Le soulevement des travailleurs d’Angleterre en 1381
in den Mem. et doc. publ. par la Soc. de l’6cole des chartes 2 (1898),
XXX ff.
1 Rogers nimmt 1/s, Cunningham V 2, Denton noch mehr an.
2 D’Avenel 1, 273 ff.
3 Rogers, Hist, of Agriculture and Prices in England 1 (1866),
24 ff. Seebohm, Engl. Vill. Comra. (1883), 33 f. 54.
256 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Belgien sendet seine Überschußbevölkerung in die benach¬
barten, dünnbevölkerten Länder Deutschland1 und England2.
Und dann die Kreuzzüge und was dazu gehört!
Ein letzter Grund für das geringe Angebot gewerblicher Er¬
zeugnisse liegt darin, daß die schon wenigen Produzenten auch
noch wenig zu produzieren vermochten, weil der Produktivitäts¬
grad der gewerblichen Technik während jener Jahrhunderte
als ungewöhnlich niedrig wird angenommen werden müssen.
Da wir leider keinen Gradmesser besitzen, tun die Höhe der
Produktivität der Arbeit zu messen, so sind wir auf Schlüsse
aus Symptomen angewiesen. Solche Symptome eines niedrigen
Produktivitätsgrades sind folgende:
1. Die Höhe der Preise zahlreicher gewerblicher Er¬
zeugnisse
So' unzweifelhaft richtig diese Behauptung ist, so schwer ist es,
sie ziffernmäßig zu belegen, weil wir fast nie die völlige Gleichheit
der Qualität gewerblicher Erzeugnisse , deren Preise wir vergleichen
wollen , feststellen können. Mit annähernder Sicherheit ist das z. B.
bei Eisen möglich: eine Tonne Eisen kostete im 14. Jahrhundert in
England 9 jj^, das sind in heutiger Währung 27 j^, während die Tonne
besten deutschen Gießereiroheisens ab Werk in Düsseldorf 1918 =
77,5 Mk. kostete. Th. Rogers, Ind. and comm. hist. 10. Dagegen
ist die Bezeichnung „ein Hut“, „ein Paar Stiefeln“, „ein Mantel“ ganz
unbestimmt; selbst bei Geweben kann der Unterschied der Qualität sehr
groß sein. Wir können aber mit Sicherheit feststellen, daß die ge¬
werblichen Erzeugnisse, wie z. B. Stoffe, um so teurer waren, je mehr
Arbeit, je weniger Material in ihnen steckte, und daß die Differenz
zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen viel größer gewesen
ist als heute. Beweis für die geringere Produktivität und geringere
technische Leistungsfähigkeit der gewerblichen Arbeit! Cibrario
teilt Preise für Stoffe aus der Zeit von 1261 — 1400 mit, deren Preis
von 1:140 auseinandergeht; Uzzano (15. Jahrhundert) gibt für das
teuerste Tuch einen 35 — 40 mal so hohen Preis wie für das billigste
an. Ygl. im übrigen Roscher, System Bd. I, § 134, und die zahl¬
reichen Preisangaben gerade für gewerbliche Erzeugnisse bei D’Avenel,
Hist. 3, 339 ff., und Yol. IV.
2. die Menge der beschäftigten Arbeiter: inWesei
wurden im Jahre 1428 5140 Stück Tuch von 342 Webermeistern
hergestellt3. Rechnet man auf 1 Webermeister (bzw. Weber
1 Siehe das S. 254 Anm. 3 zit. Werk von Borchgrave.
3 W. Cunn ingham, Die Einwanderung von Ausländern nach
England im 12. Jahrhundert in der Zeitschr. f. Soz. u. W.G. 3, 177 ff.
3 Mitgeteilt bei E. Liesegang, Niederrh. Städteleben (1897),
S. 640. 680.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 257
überhaupt nach Schmolle r) auch nur 2 andere bei der Tuch¬
bereitung beschäftigte Personen (was sicher viel zu niedrig ge¬
griffen ist), so würden für die Herstellung jener 5140 Stück (das
ist die heutige Monatsproduktion einer großen Fabrik) 14)00 Per¬
sonen benötigt sein, reichlich das zwanzigfache der jetzigen Zahl.
Diese . Ziffern scheinen typisch für das Mittelalter gewesen zu
sein: inBeauvais geben die Webermeister an, daß sie 400 Köpfe
stark seien und wöchentlich „bis 100 Stück Tuch“ gemacht hätten1.
°" c^e Länge der Produktionsdauer: ein gutes Schloß
zu fertigen, nahm noch Ende des 15. Jahrhunderts 14 Tage in
Anspiuch2. TV o es sich um kunstvolle Leistungen handelte,
lechnete man nach Jahren. Das ganze Geheimnis der archi¬
tektonischen und kunstgewerblichen Leistungen des Mittelalters,
die uns oft in Erstaunen setzen, liegt in der ungeheuren Länge
der Herstellungsperioden. Bekannt sind die Jahrhunderte langen
Bauzeiten der Stadthäuser und Kirchen. Aber auch die Her¬
stellung der Mobilien nahm oft Jahre in Anspruch: man lese
nur CL© Namenlisten der Verfertiger von Chorstühlen, Intarsien,
Schränken usw. durch, die wir in großer Anzahl besitzen, um
zu sehen, wie Generationen sich ablösten bei der Herstellung
irgend hervorragender Gegenstände3. An den Altären von
S. Jacob zu Pistoja und in der Taufkirche zu Florenz sind länger
als 150 Jahre die ersten Goldschmiede beschäftigt; an den Pracht¬
toren, die wert waren, den Eingang zum Paradiese zu verschließen,
arbeitete Ghiberti 40 Jahre4.
IV. Die Wirtschaftsform
War nun die Organisation der gewerblichen Arbeit in den
Städten des Mittelalters eine handwerksmäßige? War die Idee
des Handwerks verwirklicht? Hatte der zünftige Geist sich in
den Gebilden des Lebens verkörpert?
Darauf wird sich voraussichtlich niemals eine ganz bestimmte
Antwort geben lassen. Wir werden immer im wesentlichen auf
eine Schlußfolgerung aus gewissen Anzeichen angewiesen sein,
und je nach dem Material, das dem einzelnen bekannt ist, ie
1 Urk. vom 19. April 1399 bei Fagniez, Documenta 2 (1900),
Nr. 70. V ’
2 Boissonade, Org. du travail en Poitou 1, 370.
3 E. Foerster, Gesch. der italienischen Kunst 3 (1872), 130 f •
4 (1875), 69 f. ’
4 G. Semper, Der Stil 2 2 (1879), 514.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
17
258 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
nach der höheren oder geringeren Wertung, die er diesem oder
jenem Symptom zuteil werden läßt, wird das Urteil verschieden
sich gestalten. Sehen wir zu, was für Beweisstücke uns zur Ver¬
fügung stehen und was wir aus ihnen schließen dürfen.
Zuvörderst: daß von dem Ideale einer vollkommenen Hand-
werkerkaftigkeit des gewerblichen Lebens , wie es der Zunft¬
ordnung zugrundelag, die Wirklichkeit sich in sehr wesentlichen
Punkten und oft recht weit entfernte : darüber sollte kein Zweifel
herrschen. Das eine ist einmal ganz sicher:
Ihr oberstes Ziel: das gesamte Gebiet des gewerblichen
Lebens zu umspannen, haben die Zünfte wohl nirgends im Mittel-
alter erreicht. Was wir von dem Herrschaftsbereich der Zünfte
in deü verschiedenen Städten kennen, bestätigt die Richtigkeit
dessen, was Bücher über die Verhältnisse in Frankfurt a. M.
behauptet 1 :
„Immer hat sich ein Teil der industriellen Produktion auf
dem Boden des freien Betriebes vollzogen, so große Mühe sich
auch in späteren Jahrhunderten die städtischen Regierungen,
oft auch die Beteiligten selbst gegeben haben, die anderwärts
bewährte Organisation auch auf diese Kreise der Arbeit aus¬
zudehnen. Gewöhnlich sind es diejenigen Produzenten, für deren
Erzeugnisse nie ein ausgedehnter Bedarf vorhanden gewesen ist;
oft sind es aber auch solche, welche später zu großer Bedeutung
gelangten und diese noch heute behaupten (z. B. die Schreiner,
Bierbrauer, Sattler, Goldschmiede), während andere (in Frankfurt
zum Beispiel die Posamentierer, Kattunglätter, Barchentweber,
Knopfmacher) nach kurzer oder längerer Blüte wieder von der
Bildfläche verschwunden sind. Für die Zeit des 14. Jahr¬
hunderts, in welcher der Rat mit der Erteilung des Rechtes,
Zünfte zu bilden und Trinkstuben zu halten, sehr sparsam um¬
ging, stand noch ein ziemlich bedeutender Teil der gewerbe¬
treibenden Bevölkerung der Stadt außerhalb der öffentlich an¬
erkannten „Handwerke“, wenn auch nicht außerhalb jeder Organi¬
sation“ usw.
Häufig beobachten wir, wie Gegentendenzen anderer Kreise
die Interessenrichtung der Zünfte kreuzen : z. B. landesherrlichen
Ursprung, wie schon in früher Zeit in Wien und ähnliches. So
daß formal zunächst wohl nirgends das Zunftideal — der Zunft¬
zwang — voll verwirklicht ist.
1 Bücher, Bevölkerung 1, 116 f.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 259
Aber was mich das viel wichtigere dünkt : auch materiell be¬
obachten wir von .den Idealen der handwerksmäßigen Organi¬
sation wesentliche Abweichungen. Vor allem kann keine Rede
davon sein, daß die „Nahrung“, die dem einzelnen Ilufnerhand-
werker zugewiesen wurde oder im Laufe der Entwicklung zuwuchs,
etwa m einer völlig gleich großen Produktionssphäre oder einem
völlig gleich hohen Einkommen bestanden hätte.
^ Die Vorstellung von einer Masse ökonomisch gleichgestellter
Gewerbetreibender kann, soviel sich erkennen läßt, für keine
Zeit, in der überhaupt das Handwerk schon zu größerer Ent¬
faltung gekommen war , auf Richtigkeit Anspruch machen. Zu
aden Zeiten hat es Handwerke gegeben, die andere im ganzen
um ein Vielfaches an Wohlhabenheit übertrafen, und innerhalb
des einzelnen Handwerks Meister, die ihre Kollegen an Reichtum,
wenn das Wort hier anwendbar ist, turmhoch überragten1.
Einige. Ziffern werden zum Beweise dieser Tatsache genügen,
v eil sie tiir ganz verschiedene Zeiten und ganz verschiedene
0rte ©in ganz übereinstimmendes Bild einer starken Vermögens-
differenzierung unter den Handwerkern ergeben.
Uber die Einkommensverhältnisse der Pariser Handwerker
im 13. Jahrhundert sind wir gut unterrichtet durch das Registre
de la taille J292). Danach gab es einen Filzhutmacher mit
19000 frc., einen Tuchmacher mit 9000 frc. Einkommen, einige
andere Handwerker mit einem Einkommen von mehr als 5000 frc.
und über 100 mit einem solchen von mehr als 1000 frc., während
die große Mehrzahl der Handwerker weniger als 250 frc. Ein¬
kommen bezog. Im einzelnen ergibt sich das folgende Ziffernbild :
Einkommen von:
Handwerker :
mehr als 10000 frc. 1
5000—10000 „ 0
1000- 5 000 „ 121
250— 1000 „ 375
50— 250 „ 821.
Ganz ähnlich ist das Bild, das uns die Baseler Hand¬
werker im 15. Jahrhundert gewähren2. Hier haben (1429) ein
Vermögen von
1 „C’est que mille inegalites naturelles empechaient l’uniformitö, k
laquelle tendaient les reglements.“ G. Fagniez, Etudes, p. 120.
2 G. Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt Basel im 14. und
15. Jahrhundert (1879), S. 180/81.
260 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
weniger von 50 300 bis über
als 50 fl. bis 300 fl. 1000 fl. 1000 fl.
Schmiede
42
86
36
8
Metzger ........
34
35
18
10
Bäcker .
19
31
14
6
Schneider und Kürschner .
65
47
9
2
Zimmerleute und Maurer .
86
100
28
5
Scherer?, Maler und Sattler
24
34
16
2
Leinweber und Weber . .
53
32
3
—
'X
488
416
131
34
Folgende Vermögensunterschiede
weisen die
Handwerker
Heidelbergs im 15. Ja
hr hundert auf.
Es entfielen 1
Gulden Vermögen auf den Kopf in der
Metzgerzunft
• • •
. . 199
Bäckerzunfb
• • •
. . 167
Schneiderzunft . .
. . 119
Schuhmacherzunft .
. . 113
Schmiedezunft . .
. . 100
Weberzunft
• • •
. . 62
Und auch, innerhalb der einzelnen Zünfte herrschte keine
Gleichheit des Besitzes, sondern recht große Verschiedenheit;
wiederum bilden die mittleren Einkommen nicht durchweg die
Regel, sondern nur einige erheben sich über den Durchschnitt.
Unter den 91 Schmieden Heidelbergs gehören im 15. Jahrhundert
9 zu den „großen“ Vermögen und 58 zu den „kleinen“ usw. 2. •
"Welche grellen Vermögensunterschiede zwischen den einzelnen
Meistern desselben Handwerks im Mittelalter bestanden, zeigt
auch folgende Gegenüberstellung. Von den Wollen webern
in Frankfurt a. M. im 14. Jahrhundert hatten 11 das Recht,
36 Stück Tuch, 22 je 24 Stück, 10 je 18 Stück, 8 je 12 Stück,
20 je 10 Stück, 13 je 8 Stück, 49 nur 4 Stück Tuch auf der
Messe abzuliefern3. Es gab also auch in der Produktions¬
ausdehnung Differenzen wie 1 : 9.
1 P. Eulenburg, Zur Bevölkerungs- und Vermögensstatistik des
15. Jahrhunderts (Zeitschr. f. Sozial- u. W.G. 3, 457): „Es findet sich
durchaus nicht bestätigt, daß damals ein mittlerer Besitz das Normale
gebildet, . . . wir beobachten vielmehr unter der städtischen Bevölkerung
die größten (?) Gegensätze von reich und arm“ (S. 459).
2 Eulenburg, ebenda S. 460.
8 Iv. Bücher, Bevölkerung 1, S. 91.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 261
Fast noch größer scheinen die Abstände in der englischen
Tuchmacherei gewesen zu sein1.
Für Köln unterscheiden einzelne Zünfte die selbständigen,
d. h. für eigene Rechnung arbeitenden Mitglieder in Brüder und
Meister. Als Grund dieses Unterschieds nimmt Mo ne 2 3 an, daß
zwischen Meister und Gesellen die Mittelstufe der sogenannten
Brüder errichtet wurde, damit sie als- kleine Gewerbsleute doch
schon selbständig ein Handwerk treiben konnten ; deshalb hatten
sie nur die Hälfte des Eintrittsgeldes zu bezahlen. Hatten sie
das nötige Vermögen erworben, so traten sie in die Klasse der
Meister ein.
Übrigens erwähnen, wie man weiß, die Urkunden des Mittel¬
alters selbst häufig arme und reiche Mitglieder der Zünfte, und
viele Bestimmungen werden in ihnen getroffen, um die armen
Mitglieder von den reichen trotz des materiellen Unterschiedes
unabhängig zu erhalten und die grundsätzliche Gleichberechtigung
beider durchzuführen.
Welch lebendiges Bild von der starken Differenzierung in
dem Pariser Fleischergewerbe gibt uns etwa die Klage der armen
Hascherln, die ihre 10 Stück Fleisch und vielleicht ein paar
Scheiben Speck auf ihrem Tische feil haben und denen ihr
Handwerk von den zünftig-protzigen Großfleisckern gelegt
werden soll4.
Und wie schon die eben mitgeteilten Ziffern erkennen lassen
und andere Anzeichen bestätigen: sicher hat es im Mittelalter
Formen gewerblicher Produktions wirtschaften gegeben, die kaum
noch den Namen Handwerk verdienen; sei es, daß Meister in
starke Abhängigkeit vom Kaufmann gerieten, sei es, daß sie
selbst sich zu kleinen Unternehmern auswuchsen. Wir wissen
beispielsweise zwar nicht, ob der Tuchmacher, der in Paris im
Jahre des Heils 1292 9000 frc. Einkommen hatte, dies aus der
Tuchmacherei allein bezog. Wahrscheinlich ist es nicht. Aber
daß unter den Pariser Tuchmachern, deren doch eine ganze
Anzahl mit recht hohen Einkommen in der Statistik erscheint,
1 Nach den Ziffern der Ulnagers Accounts für 1395, die nach
einer Handschrift Salz mann, 1. c., p. 157 f. mitteilt. Vgl. unten
S. 262 und 267.
2 Mo ne, Zunftorganisation vom 13. bis 16. Jahrhundert in seiner
Zeitschrift, S. 15. 19.
3 Urk. von 1415 bei Fagniez, Doc., No. 18.
4 Livre des metiers, tit. L.
2G2 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
gewiß schon mancheiner war, der den Rahmen handwerksmäßiger
Organisation überschritt, können wir sogar ans einigen Be¬
stimmungen der Zunftstatuten schließen. Diese nämlich schreiben
als Maximum der Anzahl Webstühle, die jemand in seinem Hause
(NB. das ist die Bedingung!) beschäftigen darf für den Meister,
jeden ledigen Sohn, 1 Neffen und 1 Bruder je 2 breite und
1 schmalen Stuhl vor: Also wenn das voll von jemand aus¬
genutzt wurde, konnten sich leicht 15 — 20 Webstühle unter
einem Dache zusammenfinden. Nach den von Salzmann1 mit¬
geteilten Ziffern würden im Jahr 1395 in Westengland ein Tuch¬
macher 1080, ein anderer 1005, 9 andere zusammen 1600 (kurze)
Stück (von 12 Yards Länge) schmales Tuch beim Tuchmesser
vorgelegt haben. Wenn das wirklich ein Jahreserzeugnis war,
so dürfen wir auf eine" Arbeiterzahl bis 30 bei den größten Tuch¬
machern schließen.
Und daß bei solcher Sachlage die handwerksmäßige Gliede¬
rung zersprengt wurde , ein lebenslänglicher Gehilfenstand sich
zu bilden anfing, darf als selbstverständliche Folge der Betriebs¬
vergrößerung angesehen werden. (Obwohl man nicht bei jedem
Gesellenverein schon an moderne Gewerkvereine denken sollte) 2.
Selbst das wird nicht zu bestreiten sein, daß in manchen
Städten ein ganzer Industriezweig schon während des Mittelalters
aufgehört hat , Handwerk zu sein und die Entwicklung zum
Kapitalismus begonnen hat. Den Eindruck, den wir auf Grund
der eingehenden und sorgfältigen Schilderung Dörens vom Zu¬
stand der Florentiner Tuchindustrie in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts empfangen, ist der: daß dieses Gewerbe damals
schon stark von kapitalistischen Elementen durchsetzt war. Und
ähnliche Industrien hat es gewiß in anderen Städten des Mittel¬
alters auch gegeben.
Und dennoch! Trotz alledem und alledem wird unser Urteil
doch lauten müssen: die Organisationsform der gewerblichen
Arbeit während des Mittelalters war auch in Wirklichkeit die
des Handwerks. Das Handwerk verlieh der Gesamtstruktur des
gewerblichen Lebens ihr eigentümliches Gepräge. Das Hand¬
werk war nicht nur die vorherrschende, sondern die fast aus¬
schließlich herrschende Wirtschaftsform.
1 Salz mann, 1. c. p. 157 f.
2 Wie es z. B. Schanz in seinem sonst verdienstlichen Buche;
Zur Geschichte der deutschen Gesellenverbände (1876) tut,
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 263
Um die Richtigkeit dieser Auffassung zu erweisen — sagte
ick. sclion — , besitzen wir kein authentisches Material. Wir
müssen versuchen, auf Umwegen dahin zu gelangen: wenigstens
um wahrscheinlich zu machen, daß die aufgestellte Behauptung
richtig ist. Diese Umwege sind zweifacher Art: ein Indizien
(symptomatischer) Beweis und ein theoretischer (deduktiver)
Beweis (sozusagen). Ich versuche den Leser auf beiden Wegen
zu führen.
Scharren wir uns also zunächst um, welche Symptome für
die Existenz des Handwerks wir kennen.
Da ist zunächst — mit voller Deutlichkeit erkennbar — - als
sicheres Wahrzeichen handwerksmäßiger Organisation:
1. Die (wie man sagen könnte) organische Berufs-
spezialisat-ion. Sie kehrt überall, wo wir im Mittelalter ge¬
werbliche Arbeit in den Städten finden, mit fast ganz überein¬
stimmenden Zügen wieder. Überall auf demselben Grundgedanken
fußend : die einzelnen gewerblichen Berufstätigkeiten sollen der¬
maßen gegeneinander abgegrenzt sein, daß sie eben einem
lebendigen „Handwerker“ angemessen sind; daß sie seinem
höchstpersönlichen Wirken einen sinnvollen Inhalt verleihen.
Ich sagte : dieses Wahrzeichen echt handwerksmäßiger Ordnung
sei deutlich erkennbar. In der Tat ist es so ziemlich das einzige,
was die Forschung von der Struktur des gewerblichen Lebens
im Mittelalter zu leidlich einwandfreier Erkenntnis bloßgelegt
hat. Wir besitzen von verschiedenen Typen mittelalterlicher
Städte die Liste der gewerblich Berufstätigen, so daß wir mit
einiger Sicherheit die gleichmäßigen Grundzüge der Gestaltung
wahrzunehmen vermögen. Wir können sogar dieses mit Ge¬
wißheit aussagen: daß in der Berufsgliederung der mittelalter¬
lichen Städte das Maß der gewerblichen Spezialisierung bestimmt
wurde von dem Höhegrade der industriellen Entwicklung. Will
sagen: daß sich die fortschreitende Verfeinerung der gewerb¬
lichen Produktion äußert in einer zunehmenden Abgliederung
einzelner zu selbständigen Berufen sich verdichtenden Spezial¬
verrichtungen ; also daß die Anzahl der Berufsbenennungen einen
annähernd sicheren Maßstab zur Erkenntnis des Entwicklungs¬
grades bietet, den das gewerbliche Leben einer Stadt erreicht
hat. Ein „Gesetz“ !
Natürlich muß dabei vorausgesetzt werden, daß die Berichte,
die wir über die einzelnen Städte besitzen, das gleiche Maß von
Genauigkeit aufweisen (und die Bearbeiter das gleiche Maß von
264 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
rechnerischer Begabung!). Wenn z. B. Hirsch für Danzig’
im Spätmittelalter nur 60 verschiedene Gewerbe ermittelt, so
können wir (nach dem, was wir von Danzigs Wirtschaftsleben
im Vergleich zu dem anderer Städte wissen) ohne weiteres sagen:
hier ist die Liste unvollständig. Auch daß Biga im 13. und
14. Jahrhundert nur 75 Berufsarten im weiteren Sinne gehabt
haben soll, kommt mir zweifelhaft vor. Dagegen scheinen mir
die Ziffern einwandsfrei, die Eulenburg für Heidelberg,
Bücher für Frankfurt, Schönberg für Basel ermittelt haben.
Wir können sie, denke ich, ruhig miteinander vergleichen.
Selbständige Berufsarten wiesen auf:
Heidelberg . . . . 103
Basel . 120
Frankfurt (1440) . . 191
In diesen Ziffern kann sich der verschieden hohe Entwick¬
lungsgrad der drei Städte ausdrücken, obwohl die Baseler Ziffer
reichlich niedrig ist. Vielleicht hat dies darin seinen Grund,
daß sie nur für zwei Kirchspiele gilt. Wollen wir ganz sicher
gehen, so schalten wir sie auch noch aus und stellen nur Heidel¬
berg und Frankfurt in Vergleich. Wobei dann gleich noch zu
bemerken ist, daß sich die Zahl der Berufsarten in Frankfurt von
1387 — 1440 um 43 vermehrt hat, was ein neuer Beweis für die
Gültigkeit unseres „Gesetzes“ ist.
Ihre volle Bedeutung aber gewinnen diese Ziffern erst, wenn
wir sie nun wiederum vergleichen mit den Ziffern, die wir von
wirklichen „Großstädten“ des Mittelalters besitzen. Wie bekannt,
fließen die Quellen am reichsten in der größten Stadt des Mittel¬
alters: Paris. Und wer erfahren will, was mittelalterliches Ge¬
werbewesen in vollster Entwicklung war, wird seinen Blick von
Heidelberg und Frankfurt abwenden müssen und wird immer
Paris ins Auge zu fassen haben.
Da sprudelt nun doch noch ein ganz anderes Leben als in
jenen Städten und insbesondere der Grad der gewerblichen
Spezialisation ist ein ungemein viel höherer als dort. Wenn
Bücher (Bevölkerung, 227) meinte: „der Reichtum der Arbeits¬
gliederung, der sich hier vor uns auftut — nämlich in Frank¬
furt — übertrifft alles, was seither aus irgendeiner mittelalter¬
lichen Stadt ähnliches bekannt geworden ist,“ so ist das angesichts
der Ziffern, die uns das Eegistre de la Taille (herausgegeben
1837) darbietet, nicht aufrecht zu erhalten. Denn in diesem
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 265
beträgt die Zahl der aufgeführten Berufsbenennungen mehr als
doppelt soviel wie in Frankfurt: ich zähle unter Weglassung
der als Chamberiere und Valet bezeiclmeten Personen 448 heraus.
Und davon sind etwa zwei Drittel gewerbliche Berufe im engeren
Sinne: nach den Feststellungen von Fagniez wurden 350 ver¬
schiedene Handwerker namhaft gemacht: das wäre also der
Höhepunkt mittelalterlicher Gewerbeverfassung was Berufs¬
gliederung anbetrifft..
(Leider muß ich mir versagen, näher auf das Registre ein¬
zugehen; hier ruhen abermals ungehobene Schätze — trotz der
anerkennenswerten Arbeiten, die Geraud, Fagniez und andere
darüber veröffentlicht haben. Abermals eine lockende Aufgabe
für einen Wirtschaftshistoriker [mit etwas Geist] : die Bearbeitung
des Registre de la Taille unter den in diesem Werke aufgestellten
Gesichtspunkten !)
2. Ein anderes wichtiges Symptom für das Vorherrschen
handwerksmäßiger Organisation ist die Kleinheit der Be¬
triebe. Leider wissen wir darüber nicht viel; längst nicht
soviel wie über die Berufsspezialisation. Denn die Quellen, aus
denen wir diese erkennen, sind nicht so ergiebig, wo es sich
um die Betriebsgestaltuhg handelt. Im besten Falle kennen
wir die Zahl der Hilfspersonen (Gesellen), die in einer Stadt
lebten, nicht aber die Verteilung auf die einzelnen Handwerks¬
betriebe (mit einer — meines Wissens — einzigen Ausnahme).
Immerhin gewährt die Gesamtzahl der Hilfspersonen einigen
Anhalt, weil sie dort, wo sie uns bekannt geworden ist, immer
erheblich geringer war als die Zahl der selbständigen Gewerbe¬
treibenden, so daß wir mit einiger Wahrscheinlichkeit auf sehr
kleine Betriebe als Regel schließen dürfen. So nimmt Bücher
für Frankfurt 060—700 Gesellen bei insgesamt 1498 Selbständigen
an (Schätzung !). II. P a a s c h e ermittelt für Rostock (1584) neben
2350 Selbständigen 1036 Knechte und 1423 Mägde. 220 fremde
Schuhmacher in London sollen (um 1528) „über“ 400 Hilfskräfte
beschäftigt haben. Die Angabe ist aber einer Beschwerde der
einheimischen Schuster entnommen , in der sie sich über das
Überhandnehmen der Fremden beklagen, wird also vermutlich
übertrieben sein1. Und das war schon im 16. Jahrhundert! Im
Livre des metiers werden nur aufgeführt: 47 Sergents, 113 Valets,
1 Text bei G. Schanz, Engl. Handelspol. 2 (1881), 598—600.
266 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
199 Chamberieres, zusammen 359 Hilfspersonen. Das sind natür¬
lich längst nicht alle. Wo stecken die übrigen, da doch jede
erwachsene Person versteuert wurde? Unter denen, die keine
Berufsbezeichnung tragen? Oder (was noch wahrscheinlicher
ist) in den Haushaltungen der Meister? Das ließe ebenfalls den
Schluß zu auf durchschnittlich geringe Betriebsgröße. Aus den
Bestimmungen der Zunftstatuten über Betriebsmaxima möchte
ich dagegen nicht ohne weiteres auf die Gestaltung der Wirk¬
lichkeit schließen. Im Gegenteil, ich möchte so folgern: wo ein
Maximum der Produktion oder eine Minimalzahl zulässiger Hilfs-
personen vorgeschrieben ist, obwaltet schon eine Tendenz zur
Betriebsvergrößerung. Gerade in diesen Gewerben dürfen wir
daher etwas über durchschnittlich große Betriebe erwarten. Wo
dagegen (dürfen wir schließen?) — natürlich in Orten und zu
Zeiten , wo überhaupt schon derartige Bestimmungen erlassen
wurden - — die Beschränkungen in den Statuten fehlen, bildet
der kleine Betrieb noch die Regel. Im Livre des metiers sind
es in der Tat nur wenige Gewerbe (Tuchmacherei!), in denen
Höchstzahlen der zulässigen Gehilfen festgesetzt sind. Also (?)
war im Pariser Handwerk am Ende des 13. Jahrhunderts der
Kleinbetrieb die Regel.
Die statistische Ausnahme, von der oben die Rede war, be¬
trifft die Handwerker in Heidelberg, über deren Betriebsverhält¬
nisse uns Eulenburg (a. a. 0. S. 132) erfreulich genaue Mit¬
teilungen macht. Danach waren von den Gewerbebetrieben
53.3 %
27,5 %
1 2.4 °/o
5,3 °/o
1,3%
0,2 °/o
Dieser größte Betrieb gehört dem Steinmetzgewerbe an.
Sonst wie gesagt sind wir auf Schlüsse oder doch wenigstens
auf Berechnungen angewiesen. So könnte man allenfalls zum
Beispiel die oben mitgeteilten Zitfern der Produktionsmaxima
in der Frankfurter Tuchmacherei verwenden, um folgende Be-
triebsgrößenstatistik zu bilden: wir nehmen an, daß das Pro¬
duktionsminimum das Jahreserzeugnis eines Alleinmeisters ist:
2X4 Stück Tuch. (Möglicherweise ist dies Quantum aber auch
das Jahresprodukt eines nicht dauernd oder teilweise gegen
Alleinbetriebe 240
Betriebe mit 1 männlichen Gesellen 123
2
3
4
5
55
24
6
1
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 267
Lohn wehenden Arbeiters, doch können wir von dieser Even¬
tualität einmal absehen: träfe sie zu, würde das Niveau der
Betriebsgrößen entsprechend sinken.) Unter dieser Voraussetzung
hätten also in der Frankfurter Tuchmacherei folgende Betriebs¬
größen bestanden:
Alleinbetrieb 49 — 37,5 °/o
Betriebe mit 1 — 2 männlichen Gehilfen 41 = 30,7 °/o
„ 3-5 „ „ 32 = 24,0 >
6—8 „ 11 — 7,3 °/o
Bedenkt man, daß die Ziffern für Frankfurts größtes Export¬
gewerbe gelten und zieht man die verschiedene Höhe der wirt¬
schaftlichen Entwicklung in beiden Städten in Betracht, so
stimmen diese Ziffern mit den quellenmäßig festgestellten Heidel¬
bergern recht wohl und können vielleicht als ein Abbild dei
Wirklichkeit gelten.
Auch für die englische Tuchindustrie im 14. Jahrhundert
erhalten wir aus den oben erwähnten Ziffern der Tuchmesser¬
rechnungen doch denselben Eindruck: daß die große Masse der
Produzenten Kleinbetriebler waren: in Suffolk werden 733 Stück
breite Tuche von 120 Personen gemacht, nur 7 oder 8 erzeugen
je 20 Stück. 9200 kurze Stück schmalen Tuchs (von denen ich
30 als Jahreserzeugnis eines Webers rechne) werden von 300
Tuchmachern hergestellt; 15 davon liefern 120—160 Stuck ab.
In Essex stammen 1200 schmale Stück von 9, m Bramtree 2400
von 8 Tüchern. Darunter sind Jahresproduktionen von 200 bis
600 Stück. Das sind also (wenn’s wahr ist!) jene Großbetriebe,
von denen ich oben sprach. In Devonshire: 65 Meister 3565
Stück. In Cornwallis: 13 Tuchmacher liefern 90 Stück (wohl
breites) Tuch ab. In Salisbury 158 Meister 6600 Stuck, nur /
mehr als 150. In Winchester werden 3000 Stück erzeugt: nur
3 Tuchmacher produzieren je mehr als 100 Stück. In Yorkshire:
durchschnittliche Produktion 10 Stück (breites) Tuch. In Ken ,
gibt es nur 1 Tücher, der mehr als 50, 3 andere, die mehr als
25 Stück fertigen. „ . . ,
Daß die Gewerbebetriebe des Mittelalters Individualbetriebe
waren und daß die Alleinbetriebe unter ihnen wohl in den meisten
Produktionszweigen überwogen, scheinen mir auch die bild liehen
Darstellungen au bestätigen, die wir von den Vorgängen des
gewerblichen Lebens ans dem Mittelalter (oder gar einer etwas
späteren Zeit) besitzen. Ich denke an die Handwerkerbilder aut
den Holzschnitten im germanischen Museum sowie m J, Ammans
268 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Beschreibung aller Stände, von denen oben schon die Bede war.
Namentlich die selbständigen Holzschnitte sind lehrreich für uns.
Sie stammen erstens aus sehr später Zeit (16. Jahrhundert) und
hatten zweitens zweifellos den Zweck, das Nürnberger Gewerbe
in seinem Glanze zu zeigen. Da sehen wir nun:
in der Gürtlerwerkstatt : den Meister, der das Leder zuschneidet,
neben ihm zwei Gesellen, die Taschen anfertigen;
in der Schuhmacherwerkstatt: den Meister, der wiederum das
Leder zuschneidet und drei Gesellen, die Stiefel machen;
in der Kürschnerwerkstatt: den Meister und zwei Gesellen, alle drei
gleichmäßig beschäftigt, Pelzsachen zu nähen, ein dritter
trägt eben der Meisterin (die im Nebenraume verkauft) ein
Pelzstück hin, auf der Straße klopfen drei junge Leute
(Lehrlinge?) Felle aus;
in der Fleischerwerkstatt: zwei Gesellen, die ein Rind schlagen,
während im Verkaufsladen der Meister Fleisch zerhackt zum
Austeilen ;
in der Gerberei: den Meister mit drei Gesellen;
in der Seilerwerkstatt: den Seiler, der spinnt, mit einem Lehr¬
ling, der Hanf zuträgt;
in der Tischlerwerkstatt: den Meister, der hobelt, mit einem Ge¬
sellen, der ein Brett zersägt.
Ich meine : derartig stereotype Darstellungen haben doch eine
gewisse Beweiskraft, namentlich wenn sie mit Ergebnissen, die
auf anderem Wege gewonnen sind, auffallend übereinstimmen.
Daß wieder mancher Meister, der Nürnberger Ware erzeugte,
ebenso wie mancher Kunsthandwerker (Veit Stoss i) mehr als
zwei bis drei Gesellen beschäftigt haben wird, braucht nicht
in Zweifel gezogen zu werden1. Aber die Regel, das Typische,
das Überwiegende, das Normale, das Gewohnte sehen wir auf
unsern netten Holzschnitten doch wohl vor uns.
o. Ein Rückschluß auf die Kleinheit der Betriebe und damit
die handwerksmäßige Organisation läßt sich machen aus der Zahl
der an einem Ort ansässigen Handwerker, wenn wir sie in
Vergleich stellen mit der Einwohnerzahl der Stadt, vorausgesetzt,
daß es sich um lokale Handwerker handelt. Man müßte einmal
1 Meister Tönnies Evers in Lübeck (16. Jahrh.) hatte zuzeiten
12 Gesellen und 7 Lehrlinge im Dienst . die Zunft setzte aber ihre
Entlassung durch: J. Warnke, Handwerk und Zünfte in L
(1912), 87.
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 269
in weiterem Umfange solche Berechnungen für eine -Reihe der
wichtigeren Handwerke vornehmen: sie würden alle dasselbe
Ergebnis zeitigen. Um nur an einem Beispiel zu zeigen, was
ich meine: Paris hatte im 13. Jahrhundert allein 68 Seine-Mühlen,
außerdem lagen nachweislich an der Bievre Mühlen und es gab
auch Windmühlen. Die Müllerei war fast durchgängig Lohn-
.müllerei, sämtliche Mühlen arbeiteten also für den Ortskonsum.
Also entfielen noch nicht. 1000 Menschen auf eine Mühle, also
konnten diese nur Kleinbetriebe sein. Freilich unter der Voraus¬
setzung, daß nicht, etwa wenige den größten Teil der Produktion
besorgt hätten. Diese Möglichkeit können wir ausschließen, wenn
wir die Lage der Mühlen, über deren Topographie wir genau
unterrichtet sind, in Rücksicht ziehen h
Ich nenne noch kurz einige andere Symptome, aus deren
Auftreten (das außer Zweifel ist und deshalb nicht im einzelnen
belegt zu werden braucht) die Herrschaft handwerksmäßiger Or¬
ganisation gefolgert werden darf.
4. Der Meister bleibt, soviel wir wissen, überall während des
Mittelalters (mit Ausnahme vielleicht einiger Textilgewerbe in
Italien und Flandern und Brabant) gewerblicher Arbeiter, das
heißt, er arbeitet in der Werkstatt mit : die Funktion der bloßen
Leitung ist noch nicht ausgeschieden.
5. Die Grliederung der Gesellschaft bleibt noch durchaus
die zünftige, ja während der letzten Jahrhunderte gelangt sie
erst recht in der politischen Organisation zum vollen Ausdruck.
Was wir (immer abgesehen von den sozialen Bewegungen in
einigen italienischen und belgischen Großstädten) von den Ge¬
sellenverbänden und ihrer Politik, von Gesellenunzufriedenheit
und Gesellenaufständen wissen, berechtigt uns nicht zu der An¬
nahme, daß die vertikale Gliederung der Gesellschaft schon durch
die horizontale verdrängt gewesen sei. Das wäre ja auch selt¬
sam. Sehen wir doch noch 1789 und selbst 1848 die Struktur
des Handwerks soweit intakt, daß die Gesellen größtenteils für
die Meister die Schlachten schlagen. Freilich in diesen Zeiten
war neben dem Handwerk schon eine neue Organisationsform,
die kapitalistische , zur Entwicklung gelangt und mit ihr die
Elemente einer horizontalen Gesellschaftsgliederung. Aber davon
konnte im Mittelalter noch keine Rede sein.
1 Am ausführlichsten handelt über die Pariser Mühlen im 13. und
14. Jahrhundert G. Pagniez in seinen Etudes, p. 156 ff.
270 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Mit diesen letzten Bemerkungen führe ich den Leser zu dem
zweiten Beweis hinüber, von dem ich sprach: dem theo¬
retischen, den ich mit wenigen Worten erledigen kann.
Ich verstehe darunter folgende Besinnung: wenn man die
Bedingungen , unter denen gewerbliche Produktion im Mittel-
alter stattfand, genau prüft (wie es im Verlauf dieser Darstellung
zu verschiedenen Malen geschehen ist), so kommt man zu dem
Lrgebnis, daß sie in optimalem Grade denjenigen Idealbedingungen
nahe kommen , die wir als dem Handwerk günstige theoretisch
feststellen konnten (siehe Kapitel 12). Vor allen Dingen: em¬
pirische Technik und langsame Bevölkerungsvermehrung sorgten
in Verbindung mit der stets vorhandenen kaufkräftigen Nachfrage
nach gewerblichen Erzeugnissen für große Stabilität des Absatzes
und schlossen die Konkurrenz der Handwerker untereinander
bis zu einem hohen Grade aus. Wie das hier nicht noch ein¬
mal dargelegt zu werden braucht. Handwerk konnte also
sein. Daß aber Handwerk sein sollte, dafür spricht der Geist
der Zeit, den wir kennen lernten, als wir die Idee des Handwerks
uns zu veranschaulichen versuchten.
Ich könnte nun noch hinzufügen: ebenso wie alle Bedingungen
iür handwerksmäßige Organisation im Mittelalter erfüllt waren,
so blieben noch fast alle Bedingungen einer anderen Wirtschafts¬
form unerfüllt, die allein bestimmt war, die handwerksmäßige
Produktion zu verdrängen: der kapitalistischen; aber davon
handeln die folgenden Bücher.
Hier will ich nur noch dieses anmerken, daß unser Ergebnis,
zu dem die Untersuchung auf den letzten Seiten uns führte (daß
die Wirtschaftsform der gewerblichen Produktion während des
Mittelalters Handwerk war), für jede Form des Handwerks gleich¬
mäßig gilt, also auch für dasjenige Handwerk, das für einen
intei lokalen Mai kt arbeitete. Damit ist der Beweis für die
Richtigkeit des Satzes erbracht, daß die handwerksmäßige Or¬
ganisation keineswegs an das Kundenverhältnis gebunden ist:
mit anderen W orten : daß zu den Bedingungen, deren Erfüllung
Handwerk möglich macht, nicht notwendig Produktion für einen
lokalen Markt gehört. Vielmehr Handwerk sehr wohl auch als
Exportgewerbe, das für den „Weltmarkt“ produziert, bestehen
kann, wenn nur sonst die Bedingungen für seine Existenz erfüllt
sind. Da diese Tatsache so oft nicht beachtet oder die Richtig¬
keit dieser Feststellung geradezu geleugnet wird, so will ich im
folgenden Kapitel noch einige Belege dafür beibringen, daß auch
Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 271
diejenigen Gewerbe, von denen wir wissen, daß sie auch im
Mittelalter für den „Weltmarkt“ produzierten, ihre handwerks¬
mäßige Organisation bewahrten. Wenn ich dabei die Leser zum
Teil auf die Darstellungen glaubwürdiger Gewährsmänner ver¬
weise, so geschieht es, um den Raum dieser Blätter nicht allzu
sehr mit Tatsachenmaterial zu füllen. Der interessierte Leser
kann ja leicht in den angegebenen Werken die quellenmäßigen
Nachweise selber nachprüfen.
272
Siebzehntes Kapitel
Die Organisation der Exportgewerbe.
Waren denn die im 14. Jahrhundert an die Gewandschneider
liefernden Tuchmacher wirklich noch „Handwerker“ und nicht
etwa schon Hausindustrielle? Diese Frage wirft auch Schm oller1
aiif- „es wäre von großem Interesse, festzustellen, ob etwa ander¬
wärts — sc. außer in Köln, wo sich die Weber das Hecht des
Gewandausschnitts bewahrten — die Gewandschneider die Ver¬
leger und Arbeitgeber der Tuchmacher waren“ h
Schmoller selbst vermeidet, auf seine eigene Frage eine runde
und nette Antwort zu geben. In der Tat wird sich ein urkund¬
licher Beweis schwer führen lassen. Wir sind also auf Rück¬
schlüsse aus anderen Umständen angewiesen. Schmoller führt unter
diesen mit Recht in erster Reihe die Tatsache auf, daß in den
Zunftkämpfen des 14. Jahrhunderts fast überall die Tuchmacher
die führende Zunft waren und daß der Kampf gegen den Rat
und die Kaufmannschaft sogar vielerorts zu einem Kampfe gegen
die Gewandschneider um den Gewandschnitt ausartete. Mir
scheint nun aber gerade diese politische Rolle, die durchgängig
die Tuchmacher und Weber im 14. Jahrhundert spielen, ihr
Streben, ihrer Zunft und den andern Handwerkern zu Sitz und
Stimme im Rat zu verhelfen, der ganz und gar zünftlerische
Geist, den ihre Ordnungen noch im 15. Jahrhundert atmen2,
durchaus für ihren noch reinen handwerksmäßigen Charakter zu
sprechen. Hausindustrielle hätten weder die Spannkraft, noch
1 Tucherbuch, S. 110.
2 Vgl. die detaillierte Schilderung der Aachener Tuchmacherei bei
Thun, Industrie am Niederrhein 1, 8 ff., und jener der Schwarzwald¬
orte bei Gothein, W.G. 1, 531. Aus beiden Werken habe ich den
Eindruck gewonnen, daß der rein handwerksmäßige Charakter auch der
Export-Tuchmacherei bis weit in die sogen, neue Zeit erhalten ge¬
blieben. ist. Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein handwerksmäßig
organisiert war auch ein Teil der englischen und französischen
Tuchindustrie. Davon spreche ich ausführlich in diesem Werke im
zweiten Bande bei der Darstellung des frühkapitalistischen Gewerbe¬
wesens.
Siebzehntes Kapitel : Die Organisation der Exportgewerbe 273
die spezifisch zünftlerische Interessiertheit für jene Vorkämpfer-
Stellung besessen, wie sie die Tuchmacher jener Zeit einnahmen.
Aber auch für die ökonomisch gedrückte Lage des damaligen
Weberhandwerks läßt sich meiner Ansicht nach kein Beweis
erbringen. Die Schlußfolgerungen, die Schm oller zu der Be¬
hauptung führen, daß das Verhältnis des Tuchmachers zum Ge¬
wandschneider, wo ihm jeder Einzelverkauf untersagt war, „ein
gedrücktes, durchaus ungünstiges“ gewesen sein müsse, sind
meiner Ansicht nach nicht stichhaltig. Dasselbe gilt für die
kampflustigen flandrischenW eberzünfte im 14. J ahrhundert 1.
Das neu erschlossene Quellenmaterial 2 verstärkt den Eindruck,
daß die flandrische Textilindustrie im 14. Jahrhundert eine im
wesentlichen handwerksmäßige Organisation gehabt hat.
Besonders früh ist, wie wir wissen, die Florentiner Tuch¬
macherei kapitalistisch organisiert gewesen, aber selbst für Florenz
dürfen wir annehmen, daß bis um die Wende des 13. Jahr¬
hunderts die kaufmännisch-großindustriellen Elemente noch nicht
die Übermacht über die Kleinmeister bekommen hatten3.
Auch die interlokale Leineweberei hat sich lange über das
Mittelalter hinaus als Handwerk erhalten. Noch im 18. Jahr¬
hundert sind die schlesischen Leinwandhändler ganz und
gar nicht immer Verleger, sondern oft nur Abnehmer der von
selbständigen kleinen Produzenten hergestellten Leinwand4.
Daß die Seidenindustrie, die ja wohl sehr frühzeitig
Exportgewerbe wurde , doch auch handwerksmäßig organisiert
war: diesen Nachweis besitzen wir für Genua, von wo schon
im 13. und 14. Jahrhundert Seidenzeuge ausgeführt wurden,
während die hausindustrielle kapitalistische Organisation erst
im 15. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und das ganze Jahr¬
hundert gebraucht, wie von sachkundiger Seite gezeigt worden
ist5, um sich gegen die handwerksmäßige Organisation durch¬
zusetzen. Noch lange Zeit, nachdem das Verlagssystem Wurzel
1 Vgl. die anschauliche Schilderung jener Kämpfe bei L. Vander-
kindere, Le siede des Artevelde (1879), p.- 147 ff.
2 Recueil de Docum. rel. ä l’Histoire de lTndustrie drapiere en
Flandre. 1906 ff.
3 A. Doren, Studien aus der Florentiner W.Gesch. I (1901), 27.
4 Wiederum ist auf die Darstellung im 2. Bande dieses Werkes
zu verweisen.
5 H. Sieveking, Die Genueser Seidenindustrie im 15. und
16. Jahrhundert, in Schmollers Jahrbuch 21 S. 101 ff.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 18
274 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
geschlagen hat, finden wir beispielsweise die Seidenweber außer
für Verleger, auch noch für eigne Rechnung arbeiten.
Ganz ähnlich wie in Genua lagen die Verhältnisse in Venedig
und in der Mutterstadt der europäischen Seidenindustrie Luc ca.
Auch in Venedig und Lucca hat es zweifellos handwerksmäßig
organisierte Seidenindustrie gegeben. Diejenigen Seidenweber,
die im Anfang des 14. Jahrhunderts von Lucca nach Venedig
auswanderten — man nennt die Zahl 31 — waren sicher weder
Lohnarbeiter (sie beschäftigten vielmehr selbst Gesellen) noch
auch Hausindustrielle (wie hätten sie dann auswandern können?),
sondern sicher meist Handwerker'1.
Noch 1432 wird den Venetianischen Seidenwebern erlaubt,
an einem Webstuhl für eigene Rechnung zu weben2 *. Ebenso
erlangten die Seidenweber in Lucca durch den Aufstand der
Straccioni sogar noch 1531 das Recht, an einem Stuhl für eigene
Rechnung zu weben0.
Auch die Seidenindustrie in den schweizerischen Städten
ist anfangs bis ins 16. Jahrhundert hinein ein Handwerk4.
Aber selbst die Barchent- und Baumwollweberei,
die von vornherein eine Tendenz zum Export hatte, finden wir
anfangs oft noch in durchaus handwerksmäßigem Rahmen. Be¬
sonders deutlich tritt dies bei der Baseler Schürlitzweberei des
15. und 16. Jahrhunderts hervor, die trotzdem sie für den inter¬
lokalen Markt arbeitete, reines Handwerk war5.
Ein Irrtum, dem viele Historiker der mittelalterlichen Textil¬
industrie zum Opfer gefallen sind, ist der: daß sie dort, wo
z. B. ein Tuchhändler für sich „weben läßt“, schon eine kapi¬
talistische Organisation unterlegten; zumal wenn sie in den
Quellen Verbote des Trucksystems fanden. Man muß sich aber
klar machen, daß dieses „andere für sich gegen Lohn arbeiten
lassen“ sehr wohl mit handwerksmäßiger Organisation vereinbar
ist: es sind dann eben „Lohnwerker“, die aber ebensogut Hand¬
werker wie die Kaufhandwerker sind.
1 San di, Istoria ciyile di Venezia. Parte II. Vol. I. p. 247. 256;
zit. bei Ad. Smith, III. B. 3 ch.
2 Che ciascun niercadante testor abbia libertä di poter tessere al
suo proprio con un solo tellar con le sue man proprie potendo tuor
un garzon e non piü per aida quel tellar. Broglio d’ Ajano, Die
venetianische Seidenindustrie (1893), S. 49 f.
8 Tommasi, Arch. stör. ital. 10, 397 ff.; zit. .bei Sieveking,
a. a. 0. S. 129.
4 Geering, S. 465 f.
6 Geering, S. 306 f.
Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe 275
Die Lohngewerbe waren im Mittelalter sehr häufig, häufiger
wie heute (sie spielen übrigens auch im Rahmen der kapita¬
listischen Organisation eine große Rolle), beweisen aber selbst¬
verständlich an und für sich nichts gegen eine streng handwerks¬
mäßige Organisation des Gewerbes. Auch das Truckverbot be¬
weist noch nicht, daß nun Kapitalismus in das Gewerbe ein¬
gezogen sei. Wir erfahren aus den Quellen vielmehr, daß auch
von Handwerker zu Handwerker die Sitte oder Unsitte der
Bezahlung in Waren statt in barem Gelde bestand: die Walker
der Stadt Paris, denen im Jahre 1293 und später verboten (!)
wurde, sich anders als in Geld bezahlen zu lassen, waren echte
zünftige Handwerksmeister, die selbst Gesellen beschäftigten.
Aber waren denn die Metalle Erzeugnisse von Hand¬
werkern? Auch diese Frage ist zu bejahen. Wir sind durch
eine Reihe neuerer Untersuchungen 1 über die Anfänge des
Bergbaus und der Metallgewinnung genugsam davon unter¬
richtet, daß die früheste Organisation auch dieser Gewerbszweige
durchaus eine handwerksmäßige war. Allerdings in einer spezi¬
fischen Nüance: es sind fast immer von Anfang an, jedenfalls
sehr frühzeitig, Handwerkergenossenschaften, die nach einem
cremeinsamen Plane die Ausbeute der Gruben und teilweise auch
die Verhüttung der Erze besorgten. Da uns der Gang unserer
Untersuchung noch einmal auf die eigenartige Form der hand¬
werksmäßigen Organisation im Bergbau führen wird, so soll ein
näheres Eingehen bis dahin unterbleiben. Hier mag nur noch
erwähnt werden, daß ganz analog wie der Bergbau die Salz¬
gewinnung ursprünglich organisiert war.
Zweifellos bewegt sich das ganze Mittelalter hindurch, bis
in das 16. und 17. Jahrhundert hinein die Gewinnung des
Eisens im handwerksmäßigen Rahmen: ganz sicher, so lange
der Rennwerksbetrieb vorherrschte (und das tat er lange über
das Mittelalter hinaus, als schon längst der Hochofen „erfunden“
war), teils aber auch noch, als man Eisen schon im Hochofen
verhüttete 2.
Daß aber auch die Waffenerzeugung Handwerk war, wissen
wir aus zahlreichen Untersuchungen, unter denen die Arbeit
1 Siehe die genauen Literaturangaben im 2. Buche, Kap. 29 und
im 2. Bande.
2 L. Beck, Geschichte des Eisens l3 (1891), letzte Abteilung,
und 2 (1893), 177 ff. und öfter. Siehe auch den 2. Band.
18*
276 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Thuns über die Solinger Schwertfabrik noch immer einen her¬
vorragenden Platz einnimmt 1.
Ein fast immer sicheres Zeichen für die Intaktheit der hand¬
werksmäßigen Organisation eines Gewerbes ist die streng durch¬
geführte Scheidung zwischen der Zunft der gewerblichen Produ¬
zenten und derjenigen der Händler derselben Branche, bzw. das
Verbot für die Händler, die von ihnen gehandelte Ware selbst
hersteilen zu lassen. Ein solches Verbot begegnet uns in der
Florentiner Waffenindustrie. Hier war der Zunft, der Arma-
iuoli (Waffenhändler) der Betrieb des Harnisch- und Speer¬
schmiedehandwerks streng verboten; sie handelten durchaus
nur mit eingekaufter Ware.
Wer waren die Produzenten der Nürnberger Waren,-
insonderheit der Erzeugnisse seiner Metallindustrie ? Wir wissen,
daß schon frühzeitig eine weitgehende Spezialisierung unter den
einzelnen Produktionsstätten durchgeführt war: es gab im 13. Jahr¬
hundert Schermesserer, Sensenschmiede, Gabelschmiede, Zirkel¬
schmiede, Kettenschmiede. Dann unter den Waffenschmieden:
Harnischmacher, Panzerhemdenmacher, Haubenschmiede, Klingen¬
schmiede, Schwertfeger usw. Das allein würde darauf schließen
lassen, auch wenn wir sonst keinerlei Zeugnisse hätten, die
dafür sprächen, daß wir es wenigstens äußerlich mit einer durch¬
aus handwerksmäßigen Organisation der Metallgewerbe zu tun
haben : das Produktionsgebiet wird- in voller Reinheit durch das
technische Können des Meisters nach Quantum und Qualität
begrenzt. Waren aber diese Handwerksmeister als solche viel¬
leicht nur Scheinexistenzen, waren sie imgrunde verlegte Stück¬
meister? Daß das Verlagssystem frühzeitig in Nürnberg Boden
faßt, unterliegt keinem Zweifel. Die Untersuchungen Schoen-
lanks haben sein Vorkommen schon im Anfang des 14. Jahr¬
hunderts nachgewiesen2. Wenn wir aber das Urkundenmaterial
durchsehen, das sich auf das Verbot oder die Regelung der Haus¬
industrie bezieht, und von dem Schoenlank einen großen Teil
verwertet hat, so müssen wir zu dem Schlüsse kommen, daß es
sich bis ins 16. Jahrhundert hinein doch immer nur um Aus¬
nahmen handelt, daß erst in dieser Epoche eine allgemeine
•Tendenz zur kapitalistischen Organisation Platz greift.
1 Thun, 2, 8 ff. Vgl. Bö he im, Meister der Waffenschmiede¬
kunst. 1897, und L. Beck, Gesch. des Eisens 2, 342 ff. 987 ff.
2B. Schoenlank, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren (.1894),
S. 48. Vgl. auch J. Falke, Gesch. des deutschen Handels 1 (1859),
125 f.
Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe 277
Was wir aus Hans Sachsens Beschreibung aller Stände
(1568) entnehmen können, läßt auch auf wesentlich handwerks¬
mäßige Organisation aller Nürnberger Exportgewerbe noch im
IG. Jahrhundert schließen.
Dafür, daß die Erzeuger dieser „Nürnberger Waren“ im
Mittelalter Handwerker waren1, jedenfalls sein konnten, spricht
auch die Tatsache, daß die vielfach ähnliche Produkte für den
großen Markt herstellende sogenannte rheinische Kleineisen¬
industrie — die Solinger Messerfabrik, die Kemscheider Industrie
und die Schmalkaldener Industrie bis tief in die neue Zeit
hinein ihren rein handwerksmäßigen Charakter bewahrt haben.
Das Handwerk ist in Solingen bis ins 16. Jahrhundert noch
völlig intakt, im 17. beginnt der Kampf, aber noch 1687 erfolgt
formell die vollständige Wiederherstellung der Zunftverfassung.
Die Kemscheider Industrie dagegen findet Thun noch in den
1870 er Jahren in einer wesentlich handwerksmäßigen Organisation
vor. Die Schmalkaldener Kleineisenindustrie ist während
ihrer Blütezeit im 16. Jahrhundert streng zünftlerisch 2 und
bewahrt ihren Handwerks Charakter bis ins 18. Jahrhundert
hinein3.
-Ich verweise den Leser im übrigen nochmals auf meine Dar¬
stellung der gewerblichen Produktionsverhältnisse im Zeitalter
des Frühkapitalismus (im 2. Bande), wo ich immer an die ehemals
handwerksmäßige Organisation eines Gewerbezweigs ankniipie,
wenn er in kapitalistischem Sinne umgebildet ist und seine Be¬
harrung in handwerksmäßiger Verfassung hervorhebe, wenn jene
Umbildung bis zum Ende des frühkapitalistischen Zeitalters
nicht erfolgte.
•i»
*
Aber meine Behauptung geht nun noch weiter : nicht nur alle
berufsmäßige gewerbliche Produktion trug während des Mittel¬
alters handwerksmäßiges Gepräge. Auch der berufsmäßig aus¬
geübte Handel tat es, von dem ich in einem folgenden Kapitel
ausführlich reden will. Eine gründliche Aussprache über den
mittelalterlichen Handel ist um so notwendiger, als gar zu häufig
1 Vgl. zu ihrer Charakteristik auch noch J. F. Roth, Gesch. des
Nürnberger Handels 3 (1801). . Tr .
2 K. Frankenstein, Bevölkerung und Hausindustrie rni Kreise
Schmalkalden (1887), S. 48. .
3 Beckmann, Beyträge zur Ökonomie, Technologie usw. 10
(1786), 148.
278 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Handel und Handwerk in einen Gegensatz zueinander gebracht
werden, weil man sich gern jeden Handel als eine Erscheinungs¬
form des Kapitalismus vorstellt1. Demgegenüber ist zu zeigen,
daß ebenso wie die gewerbliche Produktion auch der Handel
lange Zeit als ebenbürtiger und verträglicher Bruder des hand¬
werksmäßigen Gewerbes bestanden hat. Der Darstellung dieses
vorkapitalistischen Handels ist das folgende Kapitel gewidmet.
1 „Der Handel muß seiner Natur nach kapitalistisch betrieben
werden.“ Rieh. Ehrenberg, Entstehung und Bedeutung großer
Vermögen, in der Deutschen Rundschau vom 15. April 1901. S. 123.
Achtzehntes Kapitel
Der Handel als Handwerk
Vorbemerkung
Ich schicke der Darstellung folgende Bemerkungen voraus:
1, Zur Terminologie: Es muß nun endlich der Unterschied zwischen
En gros- und en detail-Handel festgelegt werden: jener ist Waren¬
absatz (als Beruf) an Produzenten und Händler ; dieser an letzte Kon¬
sumenten. Der Unterschied ist derselbe wie zwischen Groß- und
Kleinhandel, hat aber nichts zu tun mit dem Unterschied zwischen
kleinem und großem Handel. Ein kleiner Schnorrer kann „Gioßhändlei
sein, das Bon Marche in Paris mit 200 Millionen Franken Jahresumsatz
treibt „Kleinhandel“. Daß selbst Eulenburg (Zeitschrift für Soz.
und Wirtsch.Gesch. 1, 278) diese verschiedene Unterscheidung nicht
scharf auseinanderhält, ist erstaunlich.
2. Es gab im Mittelalter nicht nur handwerksmäßigen Handel,
sondern auch (in beträchtlichem Umfange daneben) Gelegenheit s-
handel, von dem schon die Rede war und über den ich noch
folgendes bemerke: .
Im europäischen Mittelalter bildet es nicht minder wie im
klassischen Altertum einen häufigen Fall, daß gerade bedeutende
Handelsoperationen von Nichtkaufleuten ausgeführt wurden. Diejenigen
Kategorien, die als Gelegenheitshändler vornehmlich m Betracht kommen,
waren (und zwar im Süden genau so wie im Norden)
1. die Katsherren und Bürgermeister der Städte: der Doge von
Venedig nicht minder als der Ratsherr von Hamburg oder
Lübeck (Vicko von Geldersen! die Wittenborgs!);
2. die Geschlechter, insonderheit die reichen grundbesitzenden
Familien ;
3. die Stifte, Klöster, Orden, Geistlichen aller Grade.
Kurz alles, was im Mittelalter vermögend war.
Bei zahlreichen dieser Vermögensmächte des Mittelalters stellte
sich im Laufe der Zeit, wie wir noch sehen werden, eine Art Geld¬
plethora ein, und der Gedanke, das überflüssige Geld in anderer Weise
als durch Ausweitung des Grundbesitzes, nutzbringend anzulegen
lao- nahe. Jetzt kommt die Zeit, da gelegentlich Betrage vielleicht
noch erst unentgeltlich der bedürfenden Stadtgemeinde, bald aber auch
eeeen Entgelt vornehmen Herren leihweise überlassen werden. Es
kommt die Zeit, da man einem Faktor Summen anvertraut, mR denen
er auswärts Handelsgeschäfte betreiben soll: also die Zeit des
Gelegenheitshandels. Es handelt sich zunächst immer um gelegentliche
Handelsunternehmungen , um Kompagniegeschafte auf kurze Zei .
280 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Die wohlhäbigen Bürger bleiben in den Anfängen meist selbst in
der Vaterstadt, wo sie sich den öffentlichen Interessen und der
Verwaltung ihrer liegenden Güter widmen. (Vgl. Bücher, Be¬
völkerung, 216/47.) Nur als solchen Gelegenheitshändler wird man
einen venetianischen Nobile oder einen Wittenborg 'oder Geldersen
richtig verstehen. Wenn man sich einmal die Mühe nimmt, die An¬
zahl Warenposten zu zählen, die in dem „Handlungsbuche“ eines
solchen Ratsherrn verzeichnet sind, so kommt man zu erstaunlichen
Ergebnissen: in einem Jahre sind nicht mehr als 20 — 30 Einträge ge¬
macht; also alle vierzehn Tage einer. Was hätte der Mann mit seiner
Zeit anfangen sollen, wenn er wirklich, wie man wohl gelegentlich
annimmt, ein Berufskaufmann gewesen wäre? Der Unterschied zwischen
den handwerksmäßigen Berufshändlern und den alten (Gelegenheits-)
handeltreibenden Geschlechtern ist besonders deutlich in Wien. Siehe
Voltelini, a. a. 0. S. 67 ff. Dann natürlich wächst sich im Laufe
der Zeit bei einzelnen Familien diese sporadische , intermittierende
Tätigkeit als Bankier oder Händler zu einem Berufe aus. Von diesen
Gelegenheitshändlern ist hier nun nicht die Rede : hier soll nur der
Handel als Handwerk zur Darstellung' gebracht werden.
I. Der Geschäftsumfang
Von entscheidender Bedeutung für ein richtiges Verständnis
des vorkapitalistischen Handels würde die genaue Kenntnis seiner
Größenverhältnisse insonderheit der von einem Händler um¬
gesetzten Gütermengen oder Wertbeträge sein. Leider sind wir
bis jetzt hierfür auf gelegentliche Mitteilungen der Quellen an¬
gewiesen und werden es wohl in aller Zukunft im wesentlichen
bleiben. Immerhin ist das, was wir heute von dem Geschäfts¬
umfang des mittelalterlichen Handels wissen, genug, um uns eine
ungefähre Vorstellung von seiner quantitativen Bedeutung zu
machen. Quellenmäßig verbürgte Ziffern verschiedenster Art
verbunden mit einer allmählichen Entwicklung des statistischen
Sinnes auch für die Zahlen des Handelsverkehrs beginnen all¬
mählich — freilich viel langsamer als auf dem Gebiete der Be¬
völkerungsstatistik ! — mit den phantastischen Größenvorstel¬
lungen aufzuräumen , wie sie etwa die Zifferangaben. Mocenigos
und Marino Sanutos für Venedig, Villanis für Florenz in den
Köpfen vieler Historiker erzeugt hatten , wie sie beispielsweise
noch in der bekannten Abhandlung des Generalpostmeisters
Stephan 1 eine Rolle spielen. Wir müssen uns gewöhnen , auch
und gerade mit Bezug auf den Handel und Verkehr, Ziffern der
1 Stephan, Das Verkekrsleben im Mittelalter, in Räumers
Historischem Taschenbuch. Vierte Folge, zehnter Jahrgang. 1869.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
281
Vero-angenheit, deren Entstellungsart wir nicht ganz genau nach-
prüfen können, mit Argwohn zu betrachten. Es ist auffallend,
daß die Historiker von Fach , deren Akribie in bezug auf lite¬
rarische und urkundliche Überlieferung die höchste Ausbildung
erfahren hat, alles, was sie. an statistischen Ziffern in den Quellen
finden, häufig genug unkritisch mit einem naiven Dilettantismus
verwenden. Wer schriebe beispielsweise nicht unbesehens
seinem Vorgänger nach, daß der Warenumsatz im Fondaco dei
Tedeschi in Venedig jährlich 1000000 Dukaten betragen habe.
Und doch ist mir nicht bekannt, daß irgendein sachlicher Anhalt
vorhegt, der uns geneigt machen könnte, jene phantastische
Ziffer°eines blagierenden Bürgermeisters glaubhaft zu finden.
Eine gleich verdächtige Ziffer sind die berühmten 100000 Stück
Tuch des Vill ani, die anno 1308 in Florenz fabriziert sein sollen,
und die noch Doren als „einwandsfrei“ bezeichnet1. Man
braucht aber, um ihre Unglaubwürdigkeit zu erweisen, mw
folgende Rechnung anzustellen: Ende des 13. Jahrhundert be¬
trug die Gesamtausfuhr an Wolle aus England nach Italien etwa
4000 Sack2. Nun rechnet man in damaliger Zeit auf einen Sack
Wolle drei Stück Tücher3. Der Gesamtbetrag der nach Italien
‘gelangenden Wolle hätte also eine Ausbeute von 12000 Stück
ergeben. Mochte nun Florenz auch noch anderswoher seine
Wolle beziehen: Hauptausfuhrland war doch England. Und jene
Ausfuhrziffer bezieht sich ja nicht nur auf die nach Florenz,
sondern die nach ganz Italien gelangende Wolle!
Dies nur exempli gratia4.
Um zu richtigen Vorstellungen von dem Geschäftsumfange
eines Händlers in früherer Zeit zu gelangen, stehen uns zwei
Weo-e offen: die Division von Gesamtumsätzen eines Platzes
durch die Zahl der an ihnen beteiligten Kaufleute und der
direkte Geschäftsausweis des einzelnen Händlers bzw. die Fest¬
stellung der von dem einzelnen gehandelten Gütermenge.
Ziffern über den Gesamtumsatz eines Platzes oder
i Doren, Studien aus der Florentiner Wirtschaftsgeschichte 1
<'19(21j)ie Lizenzen bezifferten sich (1277/78) auf 4235 Sack. K. Kunze,
Hanseakten aus England 1275—1412. Hans. Geschichtsquellen Bd. 6
(1891), S. 332.
s Doren, Studien 1, 54. . , T „u
4 über die Unfähigkeit des Mittelalters zur Statistik: Lamprecht,
DWL. 2, 6 ff.
282 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
der über eine Verkehrsstraße bewegten Gütermengen sind natur¬
gemäß für die frühere Zeit besonders selten. Immerhin stehen
uns einige sehr lehrreiche und ganz zuverlässige Statistiken zu
Gebote, von denen die folgenden als Stichproben hier mitgeteilt
werden mögen.
Zunächst die Beträge des Ausfuhrhandels der wichtigsten
Hansastädte im 14. Jahrhundert. Sie betrugen in dem letzten
Jahre, für das unser Gewährsmann1 Ziffern mitteilt in:
Reval (1384) 131 085 Mk. lüb. oder 1 245 305 Mk. heutiger Währung
Hamburg (1400) 336 000 „ „ „ 3 192 000 „ „
Lübeck (1384) 293 760 „ „ „ 2 790 720 ,,
Rostock (1334) 76 640 „ ,, „ 728 080 „ „ ’
Stralsund (1378) 330 240 „ „ „ 3 137 280 „ „ „
Nach den Berechnungen Schulte s ist der sich über den
St. Gotthard bewegende Jahresverkehr im Spätmittelalter auf
eine Gewichtsmenge von 1250 t anzusetzen; das ist, wie bekannt,
de!- Inhalt von ein bis zwei Güterzügen.
Recht genau sind wir über die Ausmaße des städtischen G e -
treidehandels im Mittelalter und zum Beginn der Neuzeit
unterrichtet. Die Menge des Getreides, das im 16. und 17. Jahr¬
hundert in den bedeutenden Getreidehandelsplätzen Stettin und
Hamburg in den Handel kam, betrug in Stettin 2—3000 t, in
Hambuig das Doppelte, der gesamte Jahresumsatz Stettins an
Getreide in seiner Blütezeit umfaßte also eine, derjenige Ham¬
burgs zwei unserer heutigen Schiffsladungen2 3 * * * *.
Noch genauer kennen wir die Mengen der aus England
während des Mittelalters von den Ausländern ausgeführten
Wolle8. Sie betrug beispielsweise im Jahre 1277/78 14301 Sack.
1 W. Stieda, Revaler Zollbücher und -Quittungen des 14. Jahr¬
hunderts. Hans. Geschichtsquellen Bd. 5 (1887) LVI, LVII. Die
Einleitung Stiedas zu dieser Edition gehört unzweifelhaft zu den
wertvollsten Publikationen über mittelalterlichen Handel. Vgl auch
Oskar Wendt, Lübecks Schiffs- und Warenverkehr in den Jahren
1368 und 1369 (1902).
3 W. Naude, Deutsche städtische Getreidehandelspolitik vom
15. bis 17. Jahrhundert usw. 1889; dazu meine Anzeige des Buches
m Schmollers Jahrbuch XIV, 312 ff. Ich habe dort versucht auf
rechnerischem Wege und durch Vergleiche mit modernen Verhältnissen
eine genauere Vorstellung von dem Umfange des Getreidehandels
Hamburgs und Stettins in ihrer Blütezeit zu gewinnen.
8 Das war etwa zwei Drittel der Gesamtausfuhr nach den Be¬
rechnungen Schaubes in dem unten auf S. 309 zit. Aufsatze S. 68-
Achtzehntes Kapitel: -Der Handel als Handwerk
283
den Sack zu rund 2 dz gerechnet, also noch nicht ganz 30 000 dz
oder 3000 t ; die von den hansischen Kaufleuten in diesem Jahre
exportierte Wolle bezifferte sich dagegen auf 1655 Sack, rund
3300 dz oder 330 t\ während in den letzten Jahren nach Deutsch¬
land etwa 200000 t Wolle jährlich ein geführt wurden.
An diesem Bilde ändert sich auch nichts, wenn wir den Geld¬
ausdruck für die W arenmenge einsetzen. Der Preis für den Sack
Wolle betrug in England während des 14. Jahrhunderts etwa
90 _ 100 sh, das wären in heutiger Reichs Währung etwa 300 Mk.
(den damaligen englischen Penny zu 20,625 troygrains Feinsilbei
o-erechnet). Die Gesamtausfuhr der englischen Wolle würde also
einem Werte von 4-5 Mill. Mk. heutiger Währung, diejenige
der Hanseaten einem solchen von etwa 500 000 Mk. heutiger
Währung entsprochen haben. Im Jahre 1913 wurde aber füi
412.7 Mill. Mk. heutiger Währung rohe Schafwolle eingeführt.
Kun gewinnen aber alle diese Ziffern für uns erst ein Inter¬
esse, wenn wir gleichzeitig die Zahl der Händler kennen,
die jenen Umsatz bewirkt haben.
Die Zahl der Getreidehändler in Hamburg während des
16. Jahrhunderts wird uns mit 6 — 12 angegeben, alleidings von
einem Gewährsmann, dessen Interesse eine Unterschätzung der
Ziffer wahrscheinlich macht. Immerhin lassen auch andere An-
o-aben den Schluß zu, daß ein „großer“ Getreidehändler jener
schon verhältnismäßig späten Periode nicht mehr als höchstens
400 Last Getreide umsetzte1 2.
An der Wollausfuhr aus England waren aber m dem an-
1 Hans. Geschichtsquellen 6 (1891), 332. Die angeführten Zahlen
betreffen die erteilten Lizenzen, stellen also das meist nicht er¬
reichte Maximum der Ausfuhr dar.
2 Ein renommistischer Chronist schreibt gegen 1500 (Naud6, o*J,
es gäbe Bürger, die in einem Jahre wohl 400 Last Korn verschi en.
Dasgwar also ein Wunder. 1580 petitionieren die Stettiner Kaufleute .
man möchte doch lieber, statt ihnen einen Eid aufzuerlegen, vor-
schreiben, wieviel Getreide - 60 oder 100 Last - der Kaufmann, nach
Gelegenheit der Zeit, als Maximum kaufen dürfe. Innerhalb des ganzen
Jahres? es möchte fast unglaublich erscheinen. Wenn aber 400 Last
etwas Besonderes war, dann sind 100 Last durchschnittlich, als
rrebnis einer zwangsweisen Beschränkung , noch gar nicht so wen g.
In demselben Jahre (1580) klagen die Gildebrüdei^ „es sei zum Er-
barmen, daß 6, 8, höchstens 11 oder 12 Personen den Q^nleams^
ausschließlich in Händen hätten“ (a. a. O. b. 73). Das war also
schon ein Zustand, der als ungesund empfunden wurde, so daß wir
für die frühere Zeit eine viel größere Anzahl Händler annehmen müssen.
284 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
gegebenen Jahre nicht weniger als 252 Händler beteiligt, so daß
auf jeden Händler ein Durchschnitt von 56 Sack oder etwa
110 dz Wolle, ein Umsatz von etwa 15000 Mk. heutiger Währung
entfällt, während die Zahl der deutschen Händler 37 betrug, ihr
Diu chschnittsanteil sich also auf 45 Sack oder 90 dz, ihr durch-
schnittlicher Umsatz auf 13—14000 Mk. heutiger Währung be¬
zifferte.
Im allgemeinen dürfen wir annehmen , daß ebenso klein wie
die Menge der insgesamt umgesetzten Waren im Mittelalter
gewesen ist, ebenso groß die Ziffer der daran beteiligten
Händler war.
Man hat diejenigen Historiker verspottet, welche „die zahl¬
losen Städte von Köln und Augsburg bis Medebach und Kadolf-
zell mit Kaufleuten im modernen Sinne, also einem berufsmäßig
entwickelten Stand von Händlern bevölkert“ haben. Gewiß mit
Hecht, soweit es sich um Übertragung des modernen Großkauf¬
manns in die mittelalterlichen Städte handelt. Mit Unrecht
jedoch meines Erachtens, sofern nur die Zahl der (allerdings
durchaus handwerkerhaften) Händler in Frage kommt. Diese
war gewiß sehr hoch. Es hat in der Tat in den mittelalterlichen
Städten, wenigstens soweit sie Handel trieben, von Händlern
und Handelshilfspersonen förmlich gewimmelt. Man mag sich
in die Zustände Genuas oder Venedigs im 12. oder 13. Jahr-
hundert, in die einer hanseatischen Stadt noch am Ausgange
des Mittelalters versenken: immer stößt man auf denselben
Haufen kleiner und mittlerer Händler. Man ermesse doch, was
das heißt: 252 Wollhändler sind bei der Ausfuhr von 30 000 dz
Wolle beteiligt! Man bedenke, daß es zur Bewältigung des oben
charakterisierten Getreidehandels in Hamburg 48 "beeidigter
Kornmesser und 132 beeidigter Kornträger bedurfte. Oder man
vergegenwärtige sich das Gewimmel im Fondaco dei Tedeschi
m Venedig, der bis 1505 allein zu Wohnzwecken 56 Gelasse
enthielt, später 72 und 80, die immer besetzt waren, und in dem
30 Makler, 38 Ballenbinder, 40 Auktionatoren und eine Unmenge
von Verwaltungspersonal ihr Wesen trieben1. Oder man denke
an das Heer von arbeitsteilig organisierten Beamten, das unter
dem prevost und den echevins in Paris steht, zur Besorguno-
1 Simonsfeld, Der Fondaco dei Tedeschi 2 (1887), 10, 18 ff
112. „Eine Eigenart des Mittelalters ist das starke Hervortreteu der
kaufmännischen Beamten- und Mittlerelemente (Makler, öffentl. Messer
Wäger usw.).“ ’
285
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
der scharf voneinander abgegrenzten Handelshilfsgeschäfte. Oder
man blättere die Chartae in den Historiae patriae Monumenta
durch, tun zu erstaunen, daß fast alle Tage ein Commendavertrag
in dem Genua des 12. Jahrhunderts abgeschlossen wird über
irgendein Handelsunternehmen kleinsten Umtangs.
Doch wird es sich für unsere Zwecke mehr empfehlen, statt
uns auf diese Erwägungen allgemeiner Natur einzulassen1, uns
nach konkretem Zahlenmaterial für den Geschäftsumfang odei
den Warenumsatz einzelner Händler umzusehen., Glücklichei -
weise fehlt es daran nicht. Gleich die zuletzt erwähnte Quelle
gibt uns in ihren Notariatsverträgen über temporäre „Handels¬
unternehmungen“, weil darin die Beträge des eingeschossenen
Betriebsfonds angegeben sind, einen vortrefflichen Anhaltspunkt
für die richtige Bemessung der Größenverhältnisse mittelaltei-
lichen Handels. In dem 1858 veröffentlichten zweiten Band der
Chartae finden sich von Nr. 293 ab, das heißt seit dem 16. April
1156 eine große Anzahl von Commenda- und Societas-Verträgen
mit Angabe des eingeschossenen Vermögens. Solcher Verträge
habe ich die ersten 50 zusammengestellt und den Durchschnitt
der darin angegebenen „Gesellschaftsvermögen“ gezogen. Es
gibt bei einem Gesamtbetrag von 7470 genuesischen Libre, über
die die 50 Verträge lauten, einen Durchschnitt von rund 150 lb.,
das heißt bei einem Verhältnis der Lira zum Florin von 5 : 4, von
120V2 fl., das sind also etwa 1000—1100 Mk. heutiger Währung-.
Unter den Beträgen lautet der höchste über 900 lb., zwei
weitere über mehr als 400 lb., zwei über 300 lb., der Best bleibt
unter dieser Summe. Dabei handelt es sich vielfach um Ge¬
schäfte mit fernen Ländern: Nr. 431 Vertrag über 297 lb. Handel
nach Alexandria, 434 (224 lb.) nach Tunis, 441 (150 lb.) nach
Alexandria, 457 (300 lb.) nach Sizilien usw. Häufig wird der
eine der Anteile in Waren (in pannis) geleistet: es assoziiert
sich ein Handwerker, der Tücher macht, mit einem anderen, der
die Tücher über Land oder See verführen soll.
Ganz ähnliche Ziffern wie in dem Genua des 12. Jahrhunderts
finden wir in den Gesellschaftsverträgen Lübecks im 14. und
15. Jahrhundert. In den von P.Eehme veröffentlichten Sozietas-
1 Als ein Symptom geringen Umsatzes, das ebenfalls noch all¬
gemeiner Natur ist, wäre auch das lange Verharren bei der effektiven
Silberwährung anzuführen. Die ersten Goldmünzen werden m Deutsch-
land 1325 geprägt (Schulte 1, 329); m England 1341. • } 1
Foedera etc. 5, 403.
286 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
vei ti ägen, die im Lübecker Niederstadtbuch eingetragen sind (wo
übrigens nur die erheblichen Geschäfte insbesondere mit ferner-
stehenden Personen gebucht wurden), bleibt der größte Teil der
Beträge (72) unter 100 liib. Mark (etwa 1000 Mk. h. W.), die
Beträge gehen bis auf 4 Mark hinunter. Ein kleiner Teil bewegt
sich um 200 Mark. Beträge zwischen 460 und 1000 Mark finden
sich 5 darunter, ferner Beträge zu 1350, 1400, 3200 und 4600 :
die beiden letzten, die einzigen also, die aus dem Lahmen eines
handwerksmäßigen Geschäftsumfanges heraustreten, sind von je
denselben beiden Personen (Abr. Bere und Joh. de Alen) be¬
zahlt b b
Hätte man sich die kleine Mühe schon früher gemacht, die
Summen, die den Commenda- und Societas -Verträgen zugrunde
liegen, aufzurechnen: es wäre viel unnützes Gerede über die
„wirtschaftliche Natur“ dieser Gesellschaftsformen vermieden
worden2, in denen man von Anbeginn an die Flügelschläge des
Kapitalismus hat wollen rauschen hören.
Ebenso wie die Gesellschaftsverträge gewähren einen Anhalt
lür die Abmessung der Warenumsätze mittelalterlicher Handels¬
geschäfte die Ziffern, die die Vermögen der Kaufleute zum
Ausdruck bringen
Wir dürfen bei der Länge der Umschlagsperioden damaliger
Zeit getrost annehmen , daß kein Händler für mehr Waren Im
Jahre umsetzte, als sein Vermögen Wert hatte, das ja noch
großenteils in Liegenschaften angelegt war. Nun hören wir aber
beispielsweise, daß 1429 in der reichen Handelsstadt Basel nur
5 Kaufleute mehr als 4000 fl. besaßen, davon 4 zwischen 4000
und 6500 fl., 30 ein Vermögen zwischen 1000 und 4000 fl., 14
ein solches zwischen 500 und 1000 fl., 22 zwischen 100 und
500 fl., 6 unter 100 fl. ihr eigen nannten8. Selbst in Augs¬
burg finden wir am Ende des 15. Jahrhunderts erst 70 Per-
,, ' P--DEe!lm® in ^er Zeitschr. f. d. ges. HR. Bd. 42. Vgl. auch
*-'• W. r auli, Liibeckiscke Zustände, 3 Bde. 1846 — 78 1, 140 ff.
.. “ 4U® der Literatur über Kommenda- und ähnliche Verhältnisse
uie bei Goldschmidt im übrigen wohl vollständig verarbeitet ist, ra-en
hervor: Lästig, Beiträge zur Geschichte des Handelsrechts, in der
Zeitschrift für das ges. Handelsrecht Bd. 24, Lattes, II diritto com-
merciale nella legislazione statutaria della cittä italiane (1884), 154 ff.
?naS Weber Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im
Mittelalter, 1889. Vgl. noch die unten S. 312 f. genannten Werke.
180/81 bchönberS> Finanzverhältnisse der Stadt Basel (1879),
287
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
sonen, die ein Vermögen von je mehr als 6000 fl., 15, die ein
solches je über 15000 fl., 4 je über 30000.fi. besitzen1 * 3.. Und
von den 70 Personen gehörte wohl nur ein kleiner Teil der
Berufshändlerkaste an.
Bin weiteres Symptom für die Kleinheit auch des Seehandels
in vorkapitalistischer Zeit ist das geringe Ausmaß dei
Schiffe, die ja zudem noch, trotz ihrer geringen Größe, meist
von mehreren besessen wurden: bekanntlich ist der Partenbesitz
bis tief in die Neuzeit hinein die charakteristische Form der
Die Schiffe, die im 13. Jahrhundert von New Castle mit
Steinkohle als Ballast ausliefen, hatten weniger als 40 t Gehalt“.
Im Jahre 1470 wurden sieben spanische Schiffe mit Eisen,
Wein, Früchten und Wolle beladen, auf dem Wege nach Flandern
von englischen Fahrzeugen gefangen und in englische Seehäfen
erbracht. Die Eigentümer wandten sich an den König Hein¬
rich VI. um Losgebung und legten einen Eid ab über den Wert
der Schiffe und der Ladung. Folgendes sind die Wertangaben 4 :
1 Schiff von 100 t = 107 £ 10 sh. Geldwert
1 , ., 70 t = 70 — sh. „ .
1 „ „ 120 t = 110 £ — sh.
1 M „ 40 t = 70 Ji^ sh. „
1 „ „ 110 t = 140 £ — sh.
1 r „ 110 t = 150 £g — sh.
1 l „ 120 t = 180 £ — sh.
In den Jahren 1368—1384 wurden Seeschiffe, die in den
Häfen Reval, Riga oder Pernau verkehrten, mit 475—3421 Mk.
1 J. Hartung, Die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475; der¬
selbe, Die augsburgische Vermögenssteuer und die Entwicklung der
Besitzverhältnisse im 16. Jahrh., beide Aufsätze in Schmollers Jahrb. 19
/-irqo Die Vermögenssteuer betrug für Immobilien h Io, tui
Mobilien 1U °/o ; wie sich das Vermögen auf die beiden Kategorien
verteilt, wissen wir nicht, da wir nur die von einer Person- gezahlte
Gesamtsteuer kennen. Ich habe ein gleiches Verhältnis zwischen
beiden Vermögenskategorien angenommen. Jene 6000 fl. würden also
== 4000 fl. in Immobilien = 8000 fl. in Mobilien sein. Der Steuei-
Siehe darüber v. Below in den Jahrbüchern 20, 42 ff., und vgl.
meine Darstellung im 2. Bande dieses Werkes.
3 Th. Rogers, Six Centuries ec., deutsche Übersetzung, S. 90.
4 Die Rechnung findet sich in Rymers Foedera. Sie ist abgedruckt
bei W. Jacob -Klei nschrod, Über Produktion und Konsumtion
der edlen Metalle 1 (1838), 222.
288 Vierter Abschnitt-: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
heutiger Währung bezahlt1. Während des 14. Jahrhunderts
waren in norddeutschen Städten Seeschiffe von mehr als 100 Last
noch nicht häufig, solche von 150 Last außerordentlich selten2.
Selbst die Seeschiffe der venetianischen Handelsflotte, die wahr¬
scheinlich die größten ihrer Zeit gewesen sind, waren, an den
Größenverhältnissen unserer Tage gemessen , winzig : kleinere
Spreekähne. Nach den Stat. nav. 3, die für das 13. Jahrhundert
galten, betrug die Tragfähigkeit der venetianischen Seefahrer
200000 bis 1 Million Pfund; das wären, wenn wir das U subt.
annehmen 662/s — 333V3 t, beim U gross 96 — 480 t. Zudem lassen
die Statuten nicht erkennen, ob die größeren Typen gebaut
wurden: nur für den Fall, daß sie gebaut werden, werden sie
bestimmten Vorschriften unterworfen. Dagegen gab es (1912)
unter den deutschen Binnenschiffen 9100 mit mehr als 250 t
Tragfähigkeit, darunter 2317 mit 400 — 600, 1423 mit 600 — 800,
1650 mit 1800 und mehr. Der Bheinkakn hat bereits eine durch¬
schnittliche Tragfähigkeit von mehr als 500 t.
Wenn nun an der überhaupt geringen Ladung eines solchen
Schiffes, wie es die Hegel war, noch obendrein eine ganze An¬
zahl von Kaufleuten beteiligt war, so läßt sich daraus auf den
geringen Umfang der einzelnen Geschäfte ein sicherer Schluß
ziehen. Stieda hat uns für das Jahr 1369 über den AVert der
Ladungen von 12 aus Reval abgehenden Schiffen, sowie über
die Zahl der daran beteiligten Kaufleüte außerordentlich lehr¬
reiche Angaben gemacht. Danach betrug die Zahl der Kaufleute,
die auf diesen 12 Schiffen Waren versandten, 178; der Gesamt-
! Stieda, Revaler Zollbücher, LXIX.
* Hirsch, 264. „In jener Zeit lag es im Interesse der See¬
schiffer , möglichst flachgehende Fahrzeuge zu führen , weil sie mit
diesen am bequemsten auch in flache Häfen hineinsegeln konnten.
An Baggerarbeiten in größerem Maßstabe, an Vertiefung der Mündung
dachte wohl niemand“, bemerkt für Stettin im 14. Jahrhundert
Th. Schmidt, Zur Geschichte der früheren Stettiner Handels¬
kompagnien usw. (1859), 8. Vgl. F. Sie wert, Geschichte und
Urkunden der Rigafahrer in Lübeck, Hans. Geschichtsquellen. N. F.
Bd. I (1899), 207 ff. Sehr anschaulich stellen die Zeichnungen Willy
Stöwers die verschiedenen Typen der Hansaschiffe im 14. und
15. Jahrhundert dar. Es sind in der Tat im heutigen Sinne Nachen,
wie sie auf den deutschen Flüssen zu wirtschaftlichen Zwecken nur
noch selten verkehren. Siehe die Tafel im VII. Bde. der von Hans
F. Helmolt herausgegebenen AVeltgeschichte (1900) zwischen S. 36
u. 37.
3 Abgedruckt bei Tafel und Thomas, 3, 404 — 448.
Achtzehntes Kapitel : Der Handel als Handwerk
289
wert sämtlicher 12 Schiffsladungen aber bezifferte sich auf
29 304 '/2 Mk. lüb. Jeder einzelne Kaufmann hatte also im Durch¬
schnitt einen Warenwert von 164 Mk. lüb. oder etwa 1600 Mk.
heutiger Währung verfrachtet1. Daß die Größenverhältnisse
aber keineswegs vereinzelte waren, lehren uns zahlreiche andere
Fälle, die ein ganz ähnliches Bild gewähren. Der Wollhändler
in England wurde schon im allgemeinen gedacht. Kehren wir
noch einen Augenblick zu ihnen zurück, um sie noch etwas
genauer zu betrachten. Versetzen wir uns in den englischen
Hauptausfuhrhafen für Wollen im 13. und 14. Jahrhundert:
Boston. So begegnen uns dort2 * beispielsweise im Jahre 1303
nicht weniger als 47 hanseatische Wollhändler, die zusammen
749 Sack Wolle ausführen. Von ihnen ist der bedeutendste
ein Walter aus Reval , der 91 Sack P/2 Stein (für etwa
30000 Mk. heutiger Währung) exportiert; der nächstgrößte
hat 68 Sack löVz Stein zu Schiff gebracht; dann folgen drei,
die mehr als 40 Sack, sieben, die mehr als je 10 Sack ex¬
portieren; auf den Best — 35 Händler — entfallen zusammen
305 Sack 17x/2 Stein, jeder einzelne von ihnen ist also nach
England gefahren, um weniger als 20 dz Wolle für weniger als
300 Mk. heutiger Währung nach Hause zu bringen.
Welche Quoten bei einer hansischen Schiffsladung auf die
einzelnen Verfrachter entfielen, zeigt Urk. Nr. 352 im Bremer
ÜB. 4, 462 8. Einschließlich des Kapitäns Kolingh, der auch
Waren an Bord hatte, sind es 15 Verfrachter, die zusammen für
384 nobelen (a 1/a verladen haben. 10 von ihnen haben
Waren im W erte bis 30 nobelen; darunter 2 für 6, einer für
3 nobelen. Einer verlädt für 42, einer für 44 nobelen, 3 für je
60, einer für 80, einer für 100, einer für 22o (6 Last Weizen
und 2 Last Bier).
Ganz dasselbe Bild selbst in Venedig: der Wertbetrag einer
Schiffsladung wird (im 12. Jahrhundert) beispielsweise auf
632 Perpern (ca. 6000 Mk.) angegeben, davon einer der Teilhaber
158 Perpern eingelegt hat. Ein anderer gibt 79 Perpern dazu4 *;
alles also Summen, mit denen heute der Kolonialwarenhändler
1 Stieda, Revaler Zollbücher LXXXVTII ff. Vgl. dazu Stieda,
Schiffahrtsregister, in Hans. Geschichtsblätter 1884, 77 ff.
2 Hans. Geschichtsquellen 6, 340 ff.
8 Vgl. noch Rud. Häpke, Die Entstehung der großen bürger¬
lichen Vermögen im M.A. in Schmollers Jahrbuch 29 (1905), 1079.
4 R. Heynen, Entst. des Kapitalismus (1905), 91.
Sombart, Ber moderne Kapitalismus. I. 14
290 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
in Bentschen Handel treibt. Winzig sind selbst die Waren¬
umsätze der großen Florentiner Handelshäuser noch im 14. Jahr¬
hundert, die doch als Geldleihgeschäfte so bedeutend waren:
1312 empfangen die Bardi für zwei Scharlachtücher aus Ypern
270 fl., für 13 Stücke französisches Tuch 389 j£, 17 sh., 2 d., im
Jahre 1322 führen sie 74 Stücke Tuch und 5 Ballen Seidenzeug
nach Pisa aus : also Grossistenumsatz in Leitomischel. Im
Oktober 1330 waren ihnen im Hafen mehrere Schiffe beschlag¬
nahmt, deren Ladung zusammen (!) einen Wert von 11000 fl.
darstellte h Darunter waren 360 000 U Käse. Das sieht nach
etwas aus, ist aber nichts : es sind 180 t. (Einfuhr nach Deutsch¬
land im Jahre 1913: 26 264 t). Fast unglaublich klein sind die
Warenumsätze, mit denen sich im 15. Jahrhundert die Medici in
Florenz befaßten2 3.
Daß der Landhandel eher noch in kleineren Mengen sich
abwickelte, ist von vornherein wahrscheinlich und wird durch
ein umfangreiches Quellenmaterial bestätigt. Daß es im 13. Jahr¬
hundert verlohnte, über „3 pecias telarum de Basic“ einen Com-
mendavertrag abzuschließen0, wird uns nicht in Erstaunen setzen,
wenn wir noch im 16. Jahrhundert Jos. Kramer, einen der
reichsten Männer Augsburgs, seinen Faktor nach Venedig schicken
sehen, um 16 Sack Baumwolle, den Zentner um 4 Dukaten
17 gross einzukaufen4. Zwei Kaufleute aus Lille, die 1222 bei
Como ausgeraubt werden, führen 13x/2 Stück Tuch und 12 Paar
Hosen bei sich5. Der Wert einer im Jahre 1391 von Kittern
geplünderten Karawane Basler Kaufleute, die zur Frankfurter
Messe zogen, wurde auf 9544 fl. oder 12 430 lb. geschätzt. Daran
waren aber nicht weniger als 61 (!) Kaufleute beteiligt, deren jeder
also mit einem Warenwerte von durchschnittlich 156 fl. die be¬
schwerliche Keise angetreten hatte. Der Jahresumsatz der reichsten
Basler Kaufleute betrug damals 1200 — 1400 fl., die meisten aber
erreichten mit ihrem Umsatz diesen Betrag nicht annähernd.
Unter jenen 61 die Frankfurter Messe besuchenden Händlern
waren 27, die weniger als 100 fl. Verlust anzumelden hatten,
einzelne hinab bis zu 13, 10, 9, 8, 71/4 fl.6.
1 David sohn, Forschungen Bd. III Nr. 623. 635. 770. 974.
2 H. Sieveking, Die Handlungsbücher der Medici (1905), 17 f.
3 Schulte 1, 116.
4 Chroniken deutscher Städte 5, 128. 132 (Chron. d. Burkard Zink).
5 Schulte 2, 105 (Urkunde 188).
6 Geering, 145. Zum Vergleiche ziehe man etwa noch die
Klageartikel Rigas gegen England vom Jahre 1406 heran, worin die
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 291
Mit diesen Ziffern stimmen die Beträge überein, über die die
Wechsel auf den flandrischen Handelsplätzen in ihrer Blütezeit
lauten. Yon 102 Yprer Meßbriefen aus der Zeit von 1251 — 1291
weisen nur 17 einen größeren Betrag als 100 auf; der Höchst¬
betrag ist £ 239 s. 6 \
Interessant sind auch die Ziffernangaben über die Umsätze der
Kölner Krautwage in den Jahren 1491 — 1495* 1 2. Sie sind un¬
glaublich gering.
Was wiederum an Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn wir hören,
daß der gemeine deutsche Kaufmann in Nowgorod im 14. Jahr¬
hundert in maximo 1000 Mk., also noch nicht 10000 Mk. heutiger
Währung umsetzte.
Überall bietet sich uns dasselbe Bild dar: von wenigen
größeren, oft vielleicht gar nicht berufsmäßigen Kaufleuten ab¬
gesehen, eine wimmelnde Schar kleiner und kleinster Händler.
H. Der Händler
Die Träger des berufsmäßigen Handels in vorkapitalistischer
Zeit waren, wie es die Größe ihres Geschäftsbetriebes vermuten
läßt, nichts anderes als handwerksmäßige Existenzen. Ihr ganzes
Denken und Fühlen, ihre soziale Stellung, die Axt ihrer Tätig¬
keit, alles läßt sie den kleinen und mittleren Gewerbetreibenden
ihrer Zeit verwandt erscheinen. Es gibt in der Tat nichts
Törichteres, als das Mittelalter mit kapitalistisch empfindenden
und ökonomisch geschulten Kaufleuten zu bevölkern. Das
handwerksmäßige Wesen des Händlers alten Schlages tritt vor
allem in der Eigenart seiner Zwecksetzung zutage. Auch ihm
liecrt im Grunde seines Herzens nichts ferner als ein Gewinn-
o
streben im Sinne modernen Unternehmertums; auch er will nichts
anderes, nicht weniger, aber auch nicht mehr, als durch seiner
Hände Arbeit sich recht und schlecht den standesgemäßen Unter-
Waren dreier untergegangener Handelsschiffe und ihre Besitzer auf¬
gezählt werden. Auch hier handelt es sich um Hunderte kleiner
Händler, deren jeder einzelne soviel Waren auf dem Schiffe hatte, als
heute ein Packenträger auf dem Rücken oder allenfalls ein „fahrender
Hausierer“ auf seinem Karren mit sich führt. Die Urkunden sind
abgedruckt in Hans. Geschichtsquellen 5, 241 ff. (Nr. 326).
1 Rud. Häpke, Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Welt¬
markt. 1908. Anhang.
2 Geering in den Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln
11. Heft 1887 S. 43. Abgedruckt auch als Beil. VIII zu Inama,
DWG. m. 2, 523.
19*
292 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
halt verdienen; auch seine ganze Tätigkeit wird von der Idee
der Nahrung beherrscht.
"Wir werden sehen, wie dieser Gedanke vor allem in der
eigentümlichen Gestaltung der Rechts- und Sittenordnung des
alten Handels zum Ausdruck kommt.
Hier mag nur daran erinnert werden, wie der handwerks¬
mäßige Geist des urwüchsigen Handels als die selbstverständliche
Seelenstimmung der langen Jahrhunderte des Mittelalters gleich¬
sam seine Bestätigung findet in all den zahlreichen Buß- und
Reformschriften, die bei Beginn der neuen Zeit aus dem Boden
wachsen. Dieselbe Reformation Kaiser Sigismunds, die wir schon
zur Charakterisierung des handwerksmäßigen Gewerbetreibenden
heranziehen konnten , hatte den Kaufleuten nur den Ersatz der
Reise- und Transportkosten gestatten und jeden Unternehmer¬
gewinn verbieten wollen. Wie aber die Reformatoren, vor allem
Luther, mit treffsicherem Listinkte den alten die „Nahrung“ ver¬
bürgenden Handel richtig gezeichnet hatten, bringt die folgende
Stelle deutlichst zum Ausdruck1 : „Darumb mustu dyr fursetzen,
nichts denn deyne zymliche narunge zu suchen ynn solchem
handel, darnach kost, muhe, erbeyt und fahr rechen und uber-
schlahen und also denn die wahr selbst setzen, steygern oder
nyddem, das du solcher erbeyt und muhe lohn davon habest.“
In ganz der gleichen Richtung bewegen sich die Gedankengänge
der berühmten Schrift Christian Kuppeners über den Wucher
(1508). Auch hier dieselbe Gegenüberstellung : die neuen Männer,
die den grenzenlosen Gewinn erstreben nnd der petit commerce
solide, der dem ehrsamen Handwerkshändler samt seiner Familie
ein standesgemäßes Auskommen gewährt hatte 2. Im Mittelpunkt
1 M. Luther, Von Kaufshandlung und Wucher (1524). Werke-
Krit. Ges. Ausg. 15 (1899), 296.
2 „Kaufmannschatz“ ist „ziemlich“ „dy do geschieht . . . czu einer
erlichen entliehen unn wirgklichen that als nemlichen czu enthaltunge
seins hauszes und seiner kinder unn hauszgesindes nach seinem
stände . ..“; sie wird „unziemlich“ und „ungöttlich“ „czum ersten
durch den grausamen, ungesetigten, unmessigen geitz eines menschen“.
Nach den Auszügen aus der Schrift Christ. Kuppeners über den
Wucher bei M. Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland.
Beilage E, S. 594. 595. Db und El. Durchaus handwerksmäßigen
Geist atmen denn auch die „Regeln frommer Kaufmannschaft“ a. a. 0.
S. 606. (F 3V) , deren Nr, 4 besagt: der Gewinn der Kaufgeschäfte
solle nicht aus Habgier, sondern als Ersatz der aufgewendeten Arbeit
genommen werden.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 293
der Erwägungen aller dieser Kritiker steht der Gedanke: auch
der Händler solle in seinem Verdienst nur einen Ersatz für auf¬
gewandte Arbeit erblicken: hier ist die Wurzel für die Idee von
dem „gerechten“ Preise , die das ganze Mittelalter beherrscht.
Demi auch der Händler ist in ihren Augen — oder wenigstens
soll es sein, weil es so seit jeher Brauch und Übung war —
nichts anderes als ein technischer Arbeiter1. Und damit
treffen sie wiederum den Kern der Sache. Wollen wir uns ein
richtiges Bild von dem Kaufmann alten Schlages machen, so
müssen wir zunächst alles vergessen, was wir vom modernen
Handel und seinen Trägern wissen.
Dieser ist ja vor allem und heute fast ausschließlich Or¬
ganisator des Absatzes. Seine Kunst, die er ausübt und di e (
zu einer Wissenschaft weitergebildet hat — aus Gründen, die in
anderem Zusammenhänge genauer dargelegt werden — besteht,
wie wir es nennen, in der „Beherrschung des Marktes“. Das
heißt: er macht es sich zur Aufgabe — und die Eigenart des mo¬
dernen Wirtschaftslebens bringt es mit sich daß die Erfüllung
dieser Aufgabe als die Ausübung einer hoch zu lohnenden P unktion
betrachtet wird — die Waren an den Mann zu bringen. Überall
dort ist das eigentliche Tätigkeitsgebiet modernen kaufmännischen
Wesens, wo der Markt übersetzt ist, wo zwei Produzenten einem
Käufer nachlaufen. Dann wird der Kaufmann Herr der Situation,
dann beginnt er, den Produzenten in Abhängigkeit von sich zu
bringen. Dann ist er aber ein guter Kaufmann auch nur, wenn
er scharfsinnig zu disponieren, zu kalkulieren, zu spekulieren
versteht. Von alledem aber weiß ja nun die frühere Zeit, wissen
die Jahrhunderte insbesondere, die wir Mittelalter nennen, dank
der unentwickelten Produktionstechnik so gut wie nichts. Absatz¬
not ist ihnen fremd. Zwei Käufer laufen in der Regel einem
Produzenten nach. Der Absatz bewegt sich in gewohntem
Rahmen, in ausgefahrenen Geleisen. Die Mengen der um¬
zusetzenden Waren sind gering. Wo also in aller Welt sollte
1 So nennt noch Heinrich von Langenstein den Kaufmann
neben dem Bauern und Handwerker als einen Mann, der „für sich
und andere im Schweiße seines Angesichts durch
körperliche Arbeit den nötigen Lebensunterhalt“ be¬
schaffe im Gegensatz zu dem geistigen Arbeiter und dem Müßiggänger,
zu denen die vertragschließenden Wucherer gehören. Tractatus de
contractibus emtionis et venditionis, im Anhänge der Kölner Ausgabe
von Gersons Opp. 4, 185 f., bei Janssen 1, 480.
294 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
der Händler etwas zu disponieren, zu kalkulieren oder zu speku¬
lieren finden? Aber dieselben Umstände, die seine Entwicklung
zum kapitalistischen Unternehmer kintanhalten, sie zwingen ihm
eine Menge von Arbeitsverrichtungen technischer Natur auf, die
dem Kaufmann heutigen Tages abgenommen sind. Fand sich
für ihn keine Gelegenheit, zu disponieren, zu kalkulieren und zu
spekulieren, so . hatte er umsomehr zu emballieren, zu misurieren,
zu. transportieren, zu detaillieren, ja auch gelegentlich, noch, zu
fabrizieren. Man weiß 1, welch mühsames und meist gefährliches
Werk jedes Handelsgeschäft war, das eine Ortsveränderung der
AVare (und darum handelte es sich ja fast immer) zur Voraus¬
setzung hatte, weiß, daß der Händler selbst mit dem Schwert
umgürtet sich auf die Heise begeben, Wochen- und monatelang
lang in. eigener Person Wagenführer und Herbergsvater spielen
mußte, um seine paar Colli glücklich an ihren Bestimmungsort
zu bringen. Viel mehr als heute war der Kaufmann unterwegs ;
die zahllosen kleinen Händler des Mittelalters finden wir fort¬
während über ganze weite Länder zerstreut, bald in dieser, bald
in jener Stadt auftauchend2.
Eine Urkunde von 1271 schildert treffend den mittelalterlichen
Kaufmann: „Mercatöres, qui de loco ad locum merces etnecessaria
deferre consueverunt.“ 3
Andreas Kyff besucht jährlich 30 und mehr Märkte. Er sagt
von sich: „Hab wenig Ruh gehabt, daß mich der Sattel nicht
an das Hinterteil gebrennt hat.“ 4
Kam er aber in die Heimat zurück , so galt es , ebenso wie
vorher auf den Messen und Märkten in fremden Orten, hinter
dein Ladentisch stehen und Elle und AVage fleißig führen5. Der
1 Siehe darüber die zusammenfassende Darstellung bei Sckmoller,
Die Tatsachen der Arbeitsteilung, in seinem Jahrbuch 13, 1055 ff.,
und Gengier, Deutsche Stadtrechtsaltertümer (1882), 456 ff. Abel
Material bei Kl öden, namentlich Stück 2 und 3, und Falke, Zoll¬
wesen, 197 ff. Aus der neueren Literatur seien hervorgehoben
A. Doren, Untersuchungen zur Geschichte der Kaufmannsgilden des
Mittelalters, 1893, und Des Marez, La lettre de foire ä Ypres au
XIII. siede (1901), 75 ff. Es sei auch an dieser Stelle daran erinnert,
daß der Begriff des „Handels“ sich ursprünglich mit dem des „Wandels“,
Transportierens bzw. AVanderns vielfach deckt. Das hat Schräder,
a. a. 0. S. 63. 79 und öfters, überzeugend nachgewiesen.
2 v. Maurer, Städteverfassung 1, 403 ff.
3 Hans. UB. 1, Nr. 692. 4 Geering, 412.
5 Es ist meiner Auffassung nach v. Below in seinem öfters an¬
gezogenen Aufsatze in den Jahrbüchern für N.O. 20, 1 ff. vollständig
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
295
Krämer bereitete aus dem eingehandelten Saffran, Pfeifer und
Ingwer den Spieswurz, Gutwurz, Kintpetterwurz oder gefärbten
Wurz* 1. Welch, großer Wert auf die technischen Fertigkeiten
des Gewürzkrämers gelegt wurde, zeigt eine Verordnung Karls VIII.
von Frankreich aus dem Jahre 1484 , die eine genaue Revision
der Gewichte und Wagen aller derer befiehlt, die Zucker und
Gewürze verkaufen und vorschreibt: „daß wegen der Wichtigkeit
der Arbeiten mit Zucker und Konfekten auf die Einhaltung einer
vierjährigen Lehrzeit und die Anfertigung eines gelungenen
Meisterstückes streng zu sehen sei“ 2. Also eine Analogie zu den
Apothekern! Technische Arbeitsverrichtungen, wo immer wir
hinblicken, bilden die Haupttätigkeit des vorkapitalistischen
Händlers. Selbstverständlich lag ihm daneben dann auch die
besondere kaufmännische Funktion des Warenumsatzes, also des
Einkaufens und Verkaufens ob. Und mehr als seinen Kollegen
hinter dem Schraubstock oder der Hobelbank wies ihn sein Beruf
in die geheimnisvolle Welt der Zahlen hinein. Aber auch soweit
er im engeren und eigentlichen Verstände Händler war, müssen
wir uns seine Tätigkeit noch bar jedes ökonomischen Rationalismus
denken. Seine „Geschäftsführung“, sein „Verfahren“ ist, wie
das seines gewerblichen Kollegen, durchaus empirisch-traditionell.
Die Kunst des Schreibens und Lesens war in Italien
bis in das 13. Jahrhundert, hinein, im übrigen Europa das
ganze Mittelalter hindurch sicherlich nur einem Bruchteil der
Berufshändler vertraut. Wir wissen es gerade aus dem Venedig
des 10. Jahrhunderts, daß nur wenige Kaufleute auch nur
ihren Namen unterschreiben konnten3: vermutlich wird dieses
Verhältnis der Schreib- und Leseunkundigen zu den Schnft-
o-elehrten auch in späteren Jahrhunderten des Mittelalters sich
o-elungen den Nachweis zu führen, daß bis ins 16. Jahrhundert hinein
ein selbständiger „Engroshandel“ (in Deutschland) nicht bestanden
habe, vielmehr alle Importeure und Exporteure auch detaillierten,
d. h.’ „Krämer“ oder „Gewandschneider“ waren.
1 G e e r i n g , 240/42.
2 A. Philippe, Gesch. der Apotheker, 2. Aufi. deutsch 1859.
If nn ^
3 Von 69 Vertretern, die die Urkunde von 960 betreffend Veibot
des Handels mit Sklaven unterzeichnen, schreiben nur 35 ihren Namen
mit eigner Hand; in der Urkunde von 971, betreffend Handel in Holz
und Waffen mit Sarazenen von 81 gar nur 18; bei den übrigen Namen
steht „signum manus“. Fontes rer. austr. 12, 22 ff., bzw. 28 ff. Vg ,
dazu jetzt R. Heynen, Entst. des Kap., 81 f.
296 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
nur sehr allmählich verschoben haben. Sicher wissen wir da¬
gegen, daß die für den Kaufmann von Beruf fast noch wichtigere
Rechenkunst während langer Jahrhunderte sich auf niedrigster
Stufe bewegt hat und fast das ganze Mittelalter hindurch ohne
das Hilfsmittel der Schrift sich hat behelfen müssen. Auch hier
müssen wir zwischen Italien und dem übrigen Europa an die
200 Jahre Abstand annehmen. Italien ist während des ganzen
Spätmittelalters Lehrmeisterin des Nordens in der ars compu-
tandi gewesen. Noch Lukas Rem geht im Beginne des 16. Jahr¬
hunderts nach Venedig, um rechnen zu lernen1. Und um was
für ein Rechnen handelte es sich noch ! Um kaum mehr als um
die Erlernung der vier Spezies im Rechnen mit ganzen Zahlen,
um Lösung einfacher Regeldetriaufgaben und ein elementares
„G-esellschaftsrechnen“. Es war schon Zeichen hoher kauf¬
männischer Schulung, wenn jemand sogar richtig dividieren
konnte. Noch Ende des 16. Jahrhunderts tun sich Hieronymus
Eroben und Andreas Ryff etwas darauf zugute, daß sie bei
Teilung den Quotienten. richtig herausfinden2 3.
Das Rechnen selbst bewegte sich in den schwerfälligen Formen
des Rechenbretts, der Rechenpfennige, und mußte sich noch (in
Italien bis zum 16., im Norden bis zum 15. Jahrhundert) ohne
Ziffern mit Stellenwert, ohne Null behelfen. •
Über die Rechenkunst im Mittelalter stelle ich noch folgende Ingaben
zusammen :
Anfang des 15. Jahrhunderts tretet in Deutschland die Modisten
auf. „Auf allen diesen Schulen . . . kann der Rechenunterricht nicht
elementar genug gedacht werden. Kaum irgendwo wird er das Rechnen
mit ganzen Zahlen überschritten haben.“ Unger, Methodik der prak¬
tischen Arithmethik (1888), 17—19. Ein deutliches Bild von dem
Stande der Rechenkunst geben uns die frühesten Rechenbücher oder
Kompendien der Mathematik des europäischen Mittelalters. Was
' Leonardo Pisano, der übrigens wie Jordanus seiner Zeit vorausgeeilt
war, für Italien anfangs des 13. Jahrhunderts leistete, erreichen für
Deutschland kaum die Rechenbücher aus dem Ende des 15. Jahr¬
hunderts. . Wie tief selbst das Niveau der Klosterschuien war, zeigt
uns beispielsweise das Rechenbuch Bernards vom Jahre 1445, das
1 Von Rem selber in seinem Tagebuche (ed. Greiff, 118611, 5)
erzählt, wie er nach Venedig kommt, um den Abacus, d. h. Rechnen,
zu erlernen: „da lernet, ich rechnen in öVä monat gar aus“. Andere
Beispiele von Deutschen, die in Venedig das Rechnen lernten, bringt
oimonsfeld, Pondaco 2 (1887), 39/40.
3 Ge e ring, 212.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
297
nichts anderes als das alte gelehrte Rechnen , das wir in Europa bis
auf Jordanus zurückverfolgen, lehren wollte. Und sogar auf den Uni¬
versitäten finden wir „das Rechnen . . . auf keiner höheren Stufe als
auf den vorbereitenden Schulen“. M. Cantor, Vorlesungen über
Geschichte der Mathematik 2 (1892), 159/160. Von Grammateus er¬
fahren wir, daß der Algorithmus M. Georgii Beurbachii, der etwa das¬
jenige Maß arithmetischen Wissens enthält, welches gegenwärtig zehn¬
jährige Kinder besitzen, „gemacht sei für die Studenten der hohen
schul zu Wien“. Unger, S. 25.
Das erste deutsche gedruckte Rechenbuch , das Bamberger von
1-488, enthält ebenfalls nur die ersten Elemente der Algebra. Und
doch bedeutete die Veröffentlichung solcher für Kaufleute heraus¬
gegebenen Leitfaden schon einen ungeheuren Fortschritt gegen früher.
Es war schon arabischer Geist in Italien, italienischer im Norden, der
diese Blüten trieb. Über die verschiedenen Typen von Rechenbüchern
vgl. Unger, 8 7 ff. ; Cantor, 202 ff.
Für das 16. Jahrhundert bemerkt zusammenfassend Unger,
Methodik, 112: „Tüchtig rechnen können galt für keine leichte Sache,
sondern für eine Kunst im vollsten Sinne des Wortes.“
In Italien bürgern sich die arabischen Ziffern mit Stellen¬
wert und Null im Laufe des 18. Jahrhunderts, offenbar aber doch
nur langsam ein. Noch 1299 wird den Mitgliedern der Calimala- Zunft
iu Florenz ihr Gebrauch verboten! In Deutschland sind sie nicht
früher als ums Jahr 1500 Volkseigentum geworden, in England um
dieselbe Zeit; vgl. außer den Werken von Unger und Cantor noch
II. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittel-
alter (1874), 340 ff. Der älteste bekannte deutsche Algorismus (eine
Baseler Handschrift) stammt aus dem Jahre 1445. Sie ist heraus¬
gegeben und übersetzt von F. Unger, Das älteste deutsche Rechen¬
buch, in der Zeitschrift für Mathematik und Physik. KXXIII. Jahrg.
(1888), Histor.-literar. Abteilung, 125 ff.
Wie langsam selbst in Italien die Rechenkunst Fortschritte machte,
zeigt noch die Handschrift des Introduetorius über qui et pulveris
dicitur in matkematicam disciplinam aus der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts, dessen Verfasser durcheinander arabische Ziffern
mit Stellenwert, römische Zahlzeichen, Finger- und Gelenkzahlen be¬
nutzt. Cantor 2, 143.
Das Rechnen mit dem Rechenbrett ist nördlich der Alpen noch
während des ganzen Spätmittelalters ebenso allgemein wie die Ver¬
wendung von Rechenpfennigen (jetons, counters), die bis ins 18. Jahr¬
hundert hinein in Übung bleibt.
In Italien war damit schon früher gebrochen; Ende des 15. Jahr¬
hunderts spricht Ermolao Barbaro (j* 1495) von dem Jetonsrechnen
als von einer Sitte, „qui . . . hodie apud barbaros fere omnes servatur“,
also in Italien überwunden war. Vgl. wiederum Cantor, a. a. O.
S. 100. 112. 197 ff. Wie schwerfällig aber das Rechnen auf der Linie
verglichen mit dem Ziff errechnen war, hatte schon der Rechenmeistei
Simon Jacob von Koburg richtig erkannt, wenn er schrieb: „soviel
vortheils ein Fußgänger, der leichtfertig und mit keiner last beladen
298 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
ist, gegen einen, der unter einer schweren last stecket, hat, soviel
vortheil hat auch ein Kunstrechner mit den Ziffern für einen mit den
Linien.“ Unger, 70.
Daß bei diesem Zustande der Rechenkunst von einer genauen
Kalkulation keine Rede sein konnte, liegt auf der Hand. Auch
wenn man mehr "Wert als jene Zeit auf sie gelegt hätte. In
Wirklichkeit wollte man aber auch noch gar nicht „exakt“ sein.
Das ist eine durchaus moderne Vorstellung, daß Rechnungen not¬
wendig „stimmen“ müssen. Alle frühere Zeit ging bei der Neu¬
heit ziffernmäßiger Ausdrucksweise immer nur auf eine ganz un¬
gefähre Umschreibung der Größenverhältnisse hinaus. Jeder,
der sich mit Rechnungen des Mittelalters befaßt hat, weiß, daß
bei Nachprüfungen der von ihnen aufgeführten Summe oft sehr
abweichende Ziffern herauskommen. Flüchtigkeits- und Rechen¬
fehler sind gang und gäbe b Der W echsel von Ziffern im An¬
satz einer Beispielrechnung bildet, fast möchte man sagen, die
Regel. Wir müssen uns eben die Schwierigkeiten für jene
Menschen, Ziffern auch nur kurze Zeit im Kopfe zu behalten, als
ungeheuer große denken. Wie heute bei Kindern.
Aller dieser Mangel an exakt-rechnerischem Wollen und
Können kommt nun aber in der Buchführung des Mittel¬
alters zum deutlichsten Ausdruck. Wer die Aufzeichnungen
eines Tölner, eines Viko von Geldern, eines Wittenborg,
eines Ott Ruland durchblättert, hat Mühe, sich vorzustellen,
daß die Schreiber bedeutende Kaufleute ihrer Zeit gewesen sind.
Denn ihre ganze Rechnungsführung besteht in nichts anderem
als einer ungeordneten Notierung der Beträge ihrer Ein- und
Verkäufe, wie sie heute jeder Krämer in der kleinen Provinz¬
stadt vorzunehmen pflegt. Es sind im wahren Sinne nur „Journale“,
„Memoriale“, das heißt Notizbücher, die die Stelle der Knoten
in den Taschentüchern von Bauern vertreten, die zu Markte in
die Stadt ziehen. Obendrein noch mit Ungenauigkeiten gespickt.
Auch lax und liberal in der Festhaltung von Schuld- oder
Forderungssummen. „Item und ain bellin mit hentschüchen,
nit waiss ich wie viel der ist;“ „item und noch ist ainer, hat
1 Siehe z. B. C. Sattler, Handelsrechnungen des deutschen
Ordens (1887), 8, oder die Einleitung Koppmanns zu Tölners
Handlungsbuch in den Geschichtsquellen der Stadt Rostock 1 (1885),
XVIII f. oder die Steuerlisten für Paris aus dem Jahre 1292, die
Ger and herausgegeben hat (Coli, des doc. ined. I. 8). „La plupart
des additions sont inexactes,“ p. V,
Achtzehntes Kapitel : Der Handel als Handwerk
299
mit den obgeschriebnen gekauft; bleibt mir och 19 gülden
rhe'in. umb mischtlin paternoster . . . ich hab des Namens ver¬
gessen.“ Auch den Soranzos (im Venedig des 15. Jahr¬
hunderts!) „entfällt“ gelegentlich der Name eines Kunden1.
Was aber diese Notizensammlungen der mittelalterlichen Kauf¬
leute zu ganz besonders deutlichen Kennzeichen eines durch und
durch handwerksmäßigen Betriebes stempelt, ist ihre Höchst¬
persönlichkeit. Sie sind von ihrem Veranstalter gar nicht zu
trennen. Kein anderer kann und soll sich in diesem Wirrwarr
von einzelnen Aufzeichnungen zurechtfinden. Sie tragen also
ein ausgesprochen empirisches Gepräge2. Von einer irgend¬
welchen systematischen Objektivierung der Vermögensverwertung
ist ganz und gar noch keine Hede. Führten aber die größeren
Händler solcherweise Buch, so dürfen wir schließen, daß die
große Mehrzahl der Kaufleute jener Zeit sich ohne alles Buch¬
wesen behalfen.
Und diesem gänzlichen Mangel an kalkulatorischem und ob¬
jektivierend- systematischem Sinne entspricht der Zustand des
Maß- und Gewichtswesens, das, wie bekannt, ebenfalls
noch in durchaus empirischer Weise, in noch starker Anlehnung
an die organischen Maß- und Wägemethoden geordnet ist.
IH. Die Ordnung des vorkapitalistischen Handels
Es liegt nicht in meiner Absicht, das weitschichtige Problem,
das mit dieser Überschrift angedeutet wird, auch nur in seinen
Grundzügen zu erörtern. Es ist das nicht ohne Aufwand von
Geist und mit vielem Wissen in letzter Zeit von zahlreichen
Gelehrten unternommen worden, deren Untersuchungen den
folgenden kurzen Bemerkungen zugrunde gelegt werden. Diese
haben keinen andern Zweck, als den Nachweis zu führen, daß
auch aus der Gestaltung kaufmännischen Rechts und kauf¬
männischer Sitte auf den unkapitalistischen Ghaiaktei des
Handels im Mittelalter geschlossen werden darf.
Dabei denke ich nicht sowohl an jene Bestandteile der Rechts-
1 Sie.veking, Aus venat. Handl. -Büchern. Schmollers Jalirb.
26, 215. Vgl. noch W. von Slaski, Danziger Handel im 15. Jahr¬
hundert auf Grund eines im Danziger Stadtarchiv befindlichen Hand¬
lungsbuches (1905), 21 f.
2 Vgl. jetzt die guten Ausführungen bei Luschin v. Ebengreuth
in der Gesch. der Stadt Wien II. 2 (1905), 847 ff. und bei Paul
Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung (1906), 107 ff.
300 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Ordnung, die ihre Erklärung in der ursprünglichen Gleichsetzuug
von Handel und Raub finden: wohin ich das Recht der Grund¬
ruhr, das Strandrecht, das Eremdenrecht und vieles andere
rechne , als vielmehr an die Ordnung des handwerksrhäßigen
Handels selbst. Es ist an einzelnen Beispielen zu zeigen, wie
die Handwerksliaftigkeit des vorkapitalistischen Handels aus den
ihn regelnden Normen mit Deutlichkeit ersichtlich ist.
1. Das Gesellschaftsrecht und seine Entwicklung vor
allem gestattet uns tiefe Einblicke in den Artcharakter des
Handels quo ante.
Es ist bekannt, wie mühsam sich die Vorstellung eines
quotenmäßigen Anteils der einzelnen Genossen an Kosten und
Gewinn herausbildet. Die ursprünglich ja meist familienhaften
Vereinigungen kennen nur eine gemeinsame Kasse, aus der die
einzelnen Teilhaber je nach ihrem persönlichen Bedarf ihren
Unterhalt bestreiten1. Läßt sich das Prinzip der Bedarfs¬
deckung als Zweck wirtschaftlicher Tätigkeit schroffer ver¬
treten denken als in dieser alten Anschauungsweise von gemein¬
samem Nutzen und gemeinsamer Unterhaltung? Ich denke nicht.
Wie sehr dann aber die ganze Händlertätigkeit unter der Idee
der Handwerksmäßigkeit stand, wie im Händler nichts anderes
als der technische Arbeiter erblickt wurde, möchte ich aus der
Art und Weise entnehmen, wie die Beziehungen zwischen den
einzelnen Genossen auf den von mehreren ausgeführten Handels¬
reisen, insbesondere aber diejenigen zwischen den herumziehenden
Handwerker-Händlern und den daheim bleibenden Geldgebern
geknüpft und juristisch formuliert wurden. Ich denke hier vor
allem an das viel umstrittene Institut der Oommenda und ver¬
wandter Gesellschaftsformen. Es ist bekannt, daß man gern in
allen Commenda -Verhältnissen Formen kapitalistischer Handels¬
organisation erblickt. Nichts aber scheint mir verkehrter als
dies. Die Commenda ist recht eigentlich die Betätigung für den
1 „Der Gedanke quotenmäßiger Mitrechte tritt während des Be¬
stehens der Gemeinschaft überhaupt nicht als Maßstab für die Be¬
rechtigungen der einzelnen hervor; ihre Bedürfnisse werden. vielmehr,
seien sie groß oder klein . . . aus der gemeinsamen Kasse ohne Ab¬
rechnung der Lasten des einzelnen bestritten, in welche anderseits
— was gleichfalls besonders charakteristisch ist — der gesamte Er¬
werb des einzelnen, sei er groß oder gering, ohne irgendwelche An¬
rechnung zu seinen persönlichen Gunsten eingeworfen wird.“ Max
Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften (1889), 45/46.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
301
durch und durch handwerksmäßigen Charakter jener Zeit. Das
haben meines Erachtens gerade auch Lästig s Untersuchungen
erwiesen, so sehr Lastigs Terminologie und wohl auch seine
eigene Auffassung der entgegengesetzten Deutung der Commenda
(als einer Form kapitalistischen Handels) zuzuneigen scheinen.
Nach Lästig1 ist die Commenda „ein Arbeitsverhältnis; der
Kapitalist, Accommendant, zieht eine andere Person (Arbeiter),
Accommendatarius in seine Dienste, damit diese mit einem ihr
übergebenen Kapital (!)... für seine (des Kapitalisten) Rechnung
aber in eigenem (des Arbeiters) Namen gegen Anteil am Gewinn
Handelsgeschäfte treibe“. Die Commenda ist seiner Auffassung
nach eine „einseitige Arbeitsgesellschaft“. „Der Commendatarius
oder Komplementär steht einfach im Dienste des Comandor oder
Accomandans, resp. der Societas accomendantium ... er hat die
Verpflichtung, mit dem ihm übergebenen Kapital innerhalb der
ihm gesteckten Grenzen für Rechnung seines Herrn aber auf
eigenen Namen Geschäfte zu treiben und erhält dafür — häufig
neben einem festen Gehalt — eine Quote des Geschäftsrein¬
ertrags . . . Allein der Commendatarius oder Komplementär ist
Dritten gegenüber berechtigt und verpflichtet.“ Diese Konstruk¬
tion hat auf den ersten Blick für den Nationalökonomen etwas
geradezu Abstoßendes; sie scheint den wirklichen Sachverhalt auf
den Kopf zu stellen. Bei näherem Zusehen ist sie dagegen
durchaus berechtigt, trägt sie auch den ökonomischen Vei'hält-
nissen durchaus Rechnung. Sie bestätigt nämlich gerade den
schlechthin handwerksmäßigen Charakter des Handels jener Zeit
dadurch, daß sie die vollständige Trennung zwischen Geld¬
besitzer und Händler zum deutlichen Ausdruck bringt. Der
Geldbesitzer steht noch außer jedem Konnex mit der
Handelstätigkeit selbst, die vielmehr ausschließlich Sache eines
technischen Arbeiters ist. Das zur Verwertung überwiesene
Geld hat noch nicht den Charakter des Kapitals angenommen,
sondern ist nichts anderes als Betriebsfonds2. Ich erinnere
ferner an die Höhe der Summen, die den Commendaverträgen
meist zugrunde lagen: Beträge von einigen Hundert Mark in
unserm Gelde, die schon wegen ihrer Geringfügigkeit außerstande
sein würden, Kapitaleigenschaft anzunehmen angesichts der
1 Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 24, S. 400 u. 414.
3 „stock-in-trade there undoubtedly was, but no Capital as we
now use the term.“ Cunningham, Growth 1, 4, Vgl. das im Nach¬
trag zu diesem Kapitel Gesagte.
302 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Hoch Wertigkeit der Arbeitskraft in früherer Zeit. Daß dann im
weiteren Verlauf der Entwicklung aus jenen Kompagniegeschäften
zwischen Geldbesitzern und Handwerkern Abhängigkeitsverhält¬
nisse und am Ende kapitalistische Unternehmungen erwachsen
sind, soll natürlich nicht geleugnet werden. Das schließt aber
nicht aus , daß ursprünglich jene Geschäftsformen gerade der
rein handwerksmäßigen Organisation des Wirtschaftslebens ihre
Entstehung verdanken.
Endlich aber möchte ich noch einen letzten Gesichtspunkt
herauskehren, der mir in der Literatur über das vorkapitalistische
Handelsrecht (die ja freilich fast ausschließlich von Juristen
geschrieben ist!) nie recht die ihm gebührende Beachtung findet:
daß nämlich in der bloßen Tatsache des Vorwiegens
gesellschaftlich betriebener Handels Unterneh¬
mungen auch ein Beweis für deren Handwerkshaftigkeit ge¬
legen ist: Es war überhaupt meistens erst durch Aufstauung
der winzigen Saohvermögen , die in den Händen einzelner Per¬
sonen angehäuft waren , möglich , einen Handel auch nur in
bescheidenen Grenzen in die Ferne zu betreiben1. Gerade wie
ein Schiff, selbst von den geringen Ausmessungen der damaligen
Seefahrzeuge , doch immer nur von mehreren zusammen aus¬
gerüstet werden konnte. Daher die Schiffergesellschaften 2, rich¬
tiger Schiffergenossenschaften, ebenso wie die Handelsgesell¬
schaften, richtiger Händlergenossenschaften, durchaus die den
mittelalterlichen Handel und Verkehr kennzeichnenden Rechts¬
formen sind.
2. Nicht minder bedeutsam für die Erkenntnis des hand¬
werksmäßigen Charakters mittelalterlichen Handels sind die
1 Die häufig wiederkehrende Form gesellschaftlichen Handels¬
betriebes findet aber des weiteren ihre Erklärung auch in dem , wie
wir Wissen, in aller früheren Zeit noch stark verbreiteten Gelegen¬
heitshandel. Eben jene „vornehmen“ Leute, die dank ihres
Reichtums am ehesten in der Lage waren , einen ausgedehnteren
Handel zu betreiben, konnten oder wollten dies vielfach nur in der
1 orm tun , daß sie einen berufsmäßigen (Handwerker-)Händler damit
beauftragten, mit dem sie dann selbstverständlich in ein Gewinn¬
beteiligungsverhältnis eintraten. Vgl. auch v. Below in den Jahr¬
büchern 20, 38 ff.
2 Über die vorkapitalistischen Schiffergesellschaften : Gold-
Schmidt, S. 336 ff. , und dazu die besonders lehrreiche Tabula de
Amalfa, die von Lab and herausgegeben und kommentiert ist in der
Zeitschrift für das ges. Handelsrecht 7, 305 ff.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 303
Rechts- und Sittennormen , die die Formen der Handels¬
geschäfte regeln, ebenso wie diese selbst natürlich. Ich darf
daran erinnern, daß der älteste bekannte Wechsel, der von
deutschen Kaufleuten gezogen wurde, aus dem Jahre 1323
stammt1, daß aber selbst in Frankreich die Anfänge des Wechsels
nicht über das 13. Jahrhundert zurückreichen2; ich darf daran
erinnern, daß wir in Frankreich noch hn 13. Jahrhundert3, in
Deutschland noch während des 15. Jahrhunderts einem Verbot
der Lieferungsgeschäfte, ja wohl aller Kreditgeschäfte begegnen4;
daß selbst in dem Florenz des 14. Jahrhunderts die Formen des
Geldhandels , verglichen mit den modernen , noch durchaus in
den Anfängen der Entwicklung steckten5.
Was ich aber hier der Erwähnung noch für wert halte, ist
die Beweiskraft des kanonischen Zinsverbots für die
Handwerkshaftigkeit des mittelalterlichen Handels6. Es sollte,
meine ich, in dem Streite um die Frage nach der praktischen
Tragweite jenes Verbots der Gedanke noch mehr Berücksich¬
tigung finden, daß ein Gewinn ohne technisch ausführende Arbeit,
das heißt ohne sichtbare Hantierung an Gegenständen der äußeren
1 Schulte, Gesoh. des Handels 1, 281.
2 Nr. 135, 167, 171 der Documents relatifs ä l’histoire de l’industrie
et du commerce en France, publ. par G. Fagniez (1898). Vgl. dazu
Introduction XLV ff.
3 Siehe die außerordentlich interessante Stelle im Livre des metiers,
tit. L art. 6. Vgl. auch mein Buch „Die Juden und das W.Leben“
(1911), 60 ff.
4 Das Verbot der Lieferungsgeschäfte wird noch 1417 auf der
Tagfahrt in Lübeck ausgesprochen : „Niemand solle Hering kaufen,
ehe er gefangen, Korn, ehe es gewachsen, Gewand, ehe es gemacht“.
Neumann, Geschichte des Wuchers, S. 37. Verbot aller Kredit¬
geschäfte Hoch in deutschen Stadtrechten des 15. Jahrhunderts.
Neumann, S. 88 ff.
6 „Le cambiali a scadenza protatta, il deposito a interesse fermo,
il nome stesso di banchieri, le fiere dei cambi, i banchi pubblici,
operazioni ed istituti che s’ incardiano sopra V uso generale e costante
del mutuo feneratizio appartengono tutte all’ etä moderna. “ G. Toniolo,
L’ economia di credito ec. in der Rivista internazionale di Science
sociali 8, 571.
6 Was ich hier über das kanonische Zinsverbot sage, ist im wesent¬
lichen schon in der ersten Auflage enthalten. Es behält für das
frühe und zum Teil noch hohe Mittelalter seine Geltung. Daß im
Spätmittelalter das kanonische Zinsverbot auf den Konsumtivkredit
beschränkt wurde und den Kapitalprofit nicht mehr betraf, habe ich
nachgewiesen in meinem „Bourgeois“ (1913).
304 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Natur für alle in handwerksmäßigen Anschauungen befangene
Zeiten in der Tat nur als unehrlich, als unstatthaft angesehen
werden konnte h Es kommt doch wohl in jenem Rechtssatze
des Zinsverbots nichts anderes zum Ausdruck, als die Anerkenntnis
des dem handwerksmäßig organisierten Wirtschaftsleben an¬
gemessenen Wirtschaftsprinzips der Bedarfsdeckung durch Werk¬
schaffung. Weshalb denn das Verbot sich schon auf das bloße
Gewinnstreben erstreckte1 2. Objektiv fand aber die Achtung
oder Verachtung des Zinsnehmens ihre Rechtfertigung in dem
Umstande, daß der Regel nach, ja in der überwiegenden Mehr¬
zahl aller Fälle, tatsächlich das Geld nicht die Kraft besaß, sich
aus sich selbst heraus zu vermehren, so lange es nämlich noch
keine Kapitalsqualität angenommen hatte, das heißt seine Ver¬
wendung noch keine Steigerung der Produktivität der Arbeit
herbeizuführen vermochte. Ursprünglich ist daher auch die
Geldleihe nicht anderes als ein Nobile officium, ein Dienst, den
der Genosse dem Genossen, der Stadtbürger seiner Stadt, der
Wohltäter den Armen und Bedrängten leistet, selbstverständlich^
ohne dabei Gewinn zu erzielen, nihil inde sperans, gerade wie
man heute dem Freunde in der Not aushilft und nur auf dessen
Drängen sich die vorgestreckte Summe verzinsen läßt.
„Item si ascun homme ou femme de la dite fraternite . . . sanz
sa defaute propre chiete en pouert, la dite fraternite luy apprestera
une somme dargent pur merchander et profiter pur un an ou deux a
lour auys sanz rien prendre de gayn.“ Stat. der „Gilda Mercatoria
de Couentre“ (14. Jahrh.) bei Groß, Gild merchant 2, 50. Ebenso
lieben die deutschen Gesellenverbände ihren Mitgliedern ohne Zinsen ;
vgl. G. Schanz, Zur Gesch. d. deutsch. Ges. -Verbände (1877), 72.
Zahllose Beispiele zinsloser Darlehen, namentlich an Städte,
die sich in Not befinden, noch im 15. Jahrhundert bei Neumann,
S. 507 ff., der übrigens m. E. die Bedeutung, ja die ursprüngliche
Selbstverständlichkeit des zinslosen Darlehens nicht genügend würdigt.
Es ist doch im Grunde nur die dem natürlichen Empfinden entsprechende
Auffassung, wenn es beispielsweise in einer venetianischen Urkunde
1 „Sind denn die Juden,“ fragte noch Geiler von Kaisersberg,
„ besser als die Christen , daß sie nicht arbeiten wollen mit
ihrer Hände Werk? Stehen sie nicht unter dem Spruche Gottes:
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen? Mit
Geld wuchern heißt nicht arbeiten, sondern andere
schinden in Müßiggang.“
2 „huiusmodi homines prointentione lucri, quam habent (cum
omnis lesura et superabundantia prohibentur in lege) judicandi sunt
male agere.“ Decr. Greg. Lib. V, tit. XVIII, cap. 10 (1186). Weitere
Belege für die Verpönung der usuraria voluntas bei Neumann, 95 f.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
305
von 1187 heißt: „cum nos — dum videremus nostro comuni neces-
sarium esse pro guerra — pecuniam invenire ad eos precibus duximus
recurrendum, qui possunt nostre patrie hoc necessitatis temporis sub-
venire. Rogavimus igitur omnes viros , quorum nomina inferius con-
tinentur, ut pro sua liberalitate comuni nostro in tali necessitate hoc
tempore constituto de praefata pecunia subveniret, qui quoniam terre
nostre veri sunt amatores promiserunt nostro communi dictam pecuniam
se daturos“ ec. Abgedruckt bei W. Lenel, Die Entstehung der Vor¬
herrschaft Venedigs an der Adria (1897), 43. Ganz ähnliche Be¬
gründung in den Winchester- Ordinances. Archäol. Journal 9, 73. —
Eine der beliebtesten Formen, in denen die Klöster während der
frühen Zeit des Mittelalters ihren Hintersassen und Gläubigen mit
materiellen Diensten zu Hilfe kamen , war die Geld- oder Güterleihe,
bei der jedoch abermals von Zinszahlung keine Rede war, wenn man
auch streng auf Rückgabe des Geliehenen sah. Vgl. Sackur, Bei¬
träge zur Wirtschaftsgeschichte französischer und lothring. Klöster
im 10. und 11. Jahrh., in der Zeitschr. f. Soz. u. W.Gesch. 1, 163 ff.
Von einem Privatmann (12. Jahrh.), der „vicinis suis indigentibus
nummos non tarnen ad usuras accommodabat“, berichtet CJunningham
1, 239. In Tirol sind bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zinslose Dar¬
lehen üblich. Hans v. Voltelini, Die ältesten Pfandleihbanken
und Lombardenprivilegien Tirols (1904), S. 25. Fedor Schneider
vermerkt in seiner Besprechung des Buches (Vierteljahrschr. f. Soz.
u. W.G. 4, 392) diese Feststellung mit dem Zusatz: „eine neue Tat¬
sache, die Ref. den Forschern zur Beachtung empfiehlt, die für die
früheste Geldwirtschaft, ja schon für die Naturalwirtschaft den Zins
als selbstverständlich erklären“.
Erst im Verkehr mit Fremden (Juden! Lombarden!) konnte
überhaupt die für das naive Empfinden häßliche Idee eines zins¬
tragenden Darlehns entstehen; wer sich aber zu dieser abscheu¬
lichen Handlung hergab, von dem in Not befindlichen Geldsucher
Zinsen zu nehmen, mußte selbstverständlich als geächtet er¬
scheinen, und wäre es durch die Sitte gewesen, ob ein kirch¬
liches Zinsverbot bestanden hätte oder nicht, als welches viel¬
mehr nur der Ausdruck der Volksstimme in diesem Falle war.
Es wäre sonst gewiß nicht zu verstehen, daß selbst in den
italienischen Städten bis ins 15. und 16. Jahrhundert hinein die
„usurarii“ aus den Kaufmannsgilden und Handelskammern aus¬
geschlossen blieben.
Nach den Statuten der Tuchkrämer in Florenz (14. Jahrh.)
ist der Wucherer entweder ganz von ihrer Zunft ausgeschlossen oder
hat, wenn die wucherischen Handlungen bereits verjährt sind, den
Makel mit doppelter Matrikel zu büßen. Derselben Zunft ist der
Wucher auch genügendes Motiv, ein Mitglied, das das Votum der
Genossen für schuldig erkennt, auszustoßen. Seit 1429 schloß auch
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. SM
306 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
die Seidenzunft den rückfälligen Wucherer aus. Im Statut der Wechsler-
zunft von 1367 war ausdrücklich verboten, „auf Zins zu leihen, sei
es gegen Pfand oder Schuldschein, oder sonstigen Wucher zu treiben
bei Strafe von 100 Lire“. Ende des 14. Jahrhunderts fand dann das
Zinsverbot in schroffster Form Eingang in den Statuten aller Florentiner
Zünfte. E. Pöhlmann, Die Wirtschaftspolitik der florentiner
Eenaissance (1878), 53. 84. Ähnliche Bestimmungen in den Statuten
von Mailand (1396), Bergamo (1497), Pesaro (1532). Vgl. Lattes,
II diritto commerciale etc. 32/33. 147 f., und L. Z dekauer im Arcli.
stör. it. V. Ser. t. XVII (1895), p. 63 ff.
Erst die Verwandlung des Geldes in Kapital, die damit ge¬
schaffene Selbstverständlichkeit des Zinses hat auch den Wucher
(der jedes Darlehn zu Konsumtivzwecken ist) in gewissen
Schranken von seiner Anrüchigkeit befreit. Woraus wir aber
offenbar den Schluß zu ziehen berechtigt sind, daß J ahrhunderte,
in denen das zinstragende Darlehn von Gesetzgebung und Volks¬
gefühl verpönt war, von der kapitalistischen Wirtschaftsweise
noch keinen Hauch verspürt haben konnten.
3. Besonders durchsichtig ist aber endlich das Korpora¬
tionsrecht des mittelalterlichen Handels. Hier schimmert in
deutlichen Umrissen die echt handwerksmäßige Struktur des
damaligen Handels hindurch.
Es ist ja bekannt, daß häufig genug zwischen Handwerker¬
zünften und Händlerzünften gar keine strenge Scheidung bestand,
und daß die Gilden der Großkaufleute mit denen der Krämer
engste Beziehungen hatten. Wir müssen uns aber an die Vor¬
stellung gewöhnen, daß der Berufshändler des Mittelalters sich
wohl gelegentlich vornehmer dünkte als mancher Handwerker,
aber nicht anders als der Angehörige einer beliebigen gewerb¬
lichen „höheren“ Zunft. Was den Kaufmann vom Handwerker
unterschied, waren nur immer erst Grad-, keine Wesensver¬
schiedenheiten; er war oft ein „besserer“ Handwerker, wie der
Goldschmied oder der Bäcker andernorts , aber er gehörte
mit seinem Denken und Empfinden den Kreisen der Hand¬
werker an.
Wer daran noch zweifeln sollte, braucht nur die Statuten
der Kaufmannsgilden, die Ordnungen der „Höfe“ und „Kontore“
in fremden Städten1 zu durchblättern. Dort wird er auf jeder
Seite eine Bestätigung für die Kichtigkeit meiner Auffassung
1 Eine anschauliche Schilderung von dem Leben des deutschen
Kaufmanns in den fremden Ländern entwirft J. Falke, Gesch. dea
deutschen Handels 1, 200 ff.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
307
finden. Der Ideenkreis der Handwerkerzünfte ist fast ohne
Veränderung in jene übertragen.
Vor allem begegnen wir in den Statuten der Händlerzunft
überall dem obersten Grundsätze handwerksmäßiger Ordnung:
daß jedem Genossen, der in der Väter "Weise seine Arbeit ver¬
richtet, ein Auskommen gesichert, die Nahrung gewährleistet
sein solle b Erkämpfung eines möglichst großen , gegen nach¬
barliche Einfälle gesicherten Absatzgebietes; gleichmäßige ge¬
ordnete Verteilung der einzelnen Anteile unter die Genossen,
also Ausschließung jeder Konkurrenz nach außen wie im Innern2:
das ist das Fundamentum, auf dem auch aller vorkapitalistischer
Handel ruht. Und der Erreichung jenes Ziels, der Gewähr¬
leistung eines konkurrenzlosen, der Veränderung durch individuelle
Spekulation und Intrigue entrückten, ruhigen Dahinarbeitens sind
dann im einzelnen alle Verbote und Gebote der Innungsstatuten
gewidmet. Was wir bei den Handwerkerzünften finden: hier kehrt
es in stereotypen Wendungen wieder: die Beschränkung der
Betriebsgröße3; das Verbot des Vorkaufs4; die Verpflichtung,
den Genossen in den Kaufvertrag eintreten zu lassen5; das Verbot
1 Es ist kaum nötig, dafür Beleg© anzuführen, daß die Idee der
Nahrung auch die Ordnungen der Händlerzünfte beherrscht.
Besonders lehrreich sind die Verhältnisse der englischen Händler¬
zünfte, wie sie uns von Charles Groß geschildert werden. Zur
allgemeinen Orientierung ist auch A. Doren, Kaufmannsgilden im
Mittelalter, geeignet. Vgl. daselbst u. a. S. 60, 97, 147. W. Kießel-
bach, Der Gang des Welthandels (1860), 206. Für Frankreich
insbes. sind zu vergleichen : Levasseur, Fagniez, Pigeonneau.
Die Hausierer sind Störer der festen örtlichen Nahrung der Krämer.“
Ersch und Gruber s. v. „Hausierer“ (1828).
2 „Es galt hier die Konkurrenz der Konstanzer Verkäufer (sc. von
Leinwand) unter einander aufzuheben und das Ansehen der Konstanzer
Kaufmannschaft zu stärken.“ Schulte 1, 163.
8 Das Statut für Nowgorod bestimmt: es solle niemand über
1000 Mk. im Jahre umsetzen (oder auf Lager haben?), sei es sein
eigenes oder fremdes Gut (das er im Sendeve- Vertrag hat) oder Ge¬
sellschaftsgut.
4 Statut der Ripen- und Dänemarkfahrer zu Stade (14. Jahrh.):
„were dat yement in der kumpenye deme andern dar vorekop dede de
schal der kumpenye dat beteren mit 4 olden groten“. Hans. Urkanden-
buch III, Nr. 183, Art. 7.
5 , The gildsman was generally under Obligation to share all pur-
chases” with his brethren , that is to say, if he bought a quantity of
a given commodity , any other gildsmen could claim a portion of lt
at the same price at which he purchased it. 1 Groß 1, 49. Belege
£0*
*308 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
der Kundenabtreibung ; das Verbot der Preisverabredung und
viele ähnliche Bestimmungen.
„nullus de societate vocet aliquem comparatorem donec est ad
bancam alterius ad emendum nec sibi faciat cignum vel insignam
aliquam.“ Statut der Pizzicagnoli von Bologna (um 1242). Stat.
delle Soc. del Pop. di B. 2 (1896), 175. Das Statut der Florentiner
Societas campsorum vom Jahre 1299 verbot den Mitgliedern der Zunft,
in der Stadt umherzugehen, um sich nach Wechselgeschäften um¬
zusehen. Die „Bankiers“ sollten ruhig bei ihren Ständen warten, bis
die Kunden zu ihnen kämen, damit die Gelegenheit des Verdienens
für alle Mitglieder der Zunft eine möglichst gleiche sei. H. Sieve-
king, Genueser Finanzwesen 2 (1899), 44. Dasselbe besagt ein
Straßburger Weistum über die Rechte der Hausgenossen aus den
1380er Jahren: 35. „Es sol ouch nieman in deheins würtes husz gon
wehssein, der würt sende dann mit namen nach ime oder der gaste,
der do wehssein wil“ . . . 37. „Die an dem fritage uff dem bloche
sitzent und wechsselnt , die sollent nieman ruffen über den graben
noch winken . . .“ Abgedruckt bei K. Eheberg, Über das ältere
deutsche Münzwesen und die Hausgenossenschaften (1879), S. 188. 189.
Die von E. abweichende Datierung nach J. Cahn, Münz- und Geld¬
geschichte der Stadt Straßburg im Mittelalter (1895), S. 31.
Verbote von Preisverabredungen in den italienischen Städten
siehe bei J. Köhler, Strafrecht der italienischen Kommunen, 1892.
Dazu vgl. A. Lizier, La vita sociale del secolo XII. — XVI. nella
legislazione penale degli Statuti italiani di quel tempo in der Rivista
intern, di scienze soc. Aprile 1900, p. 510.
Also von allen Seiten her die Bestätigung des Satzes: der
berufsmäßige Handel des Mittelalters, genauer gesprochen der
Handel Italiens bis tief in das 14. , der des übrigen Europas
bis in das 16. Jahrhundert hinein trägt das unverkennbare Ge¬
präge der Handwerkshaftigkeit. Auf eine Darstellung der realen
Existenzbedingungen des vorkapitalistischen Handels kann ver¬
zichtet werden: es sind dieselben, die den Bestand des Hand¬
werks ermöglichen.
2, 46. 150. 161. 185. 218. 219. 226. 290. 352. Die Statuten der
Gilde vc-n St. Omer enthalten die Bestimmung in § 2 : „si quis vero
guildam habens mercatum aliquid non ad victum pertinens valens V
gr. s. et supra taxaverit et alius gildam habens supervenerit si voluerit
in mercato illo porcionem habebit.“ Doren, 60. Häufig lauten auch
die Bestimmungen dahin, daß ein Käufer verpflichtet sei, solange der
Kauf nicht perfekt, jedes andere Mitglied der Genossenschaft auf Ver¬
langen zur Hälfte am Kaufe teilnehmen zu lassen. Vgl. F. Conze,
Kauf nach hanseatischen Quellen. Bonner J. D. 1889. S. 16 f.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
309
Nachtrag zur zweiten Auflage
Die vorstehende Darstellung ist im wesentlichen unverändert, nur
durch neues Material ergänzt, aus der ersten Auflage übernommen
worden. Kaum ein zweites Kapitel habe ich solcherweise als Ganzes
wieder verwerten können wie dieses, obwohl gegen kein zweites (mit
Ausnahme desjenigen, das meine sog. „Grundrententheorie“ enthält)
soviel kritische Bedenken erhoben sind wie gegen dieses. Ich habe
meine Darstellung nach reiflicher Überlegung in wesentlich gleicher
Passung wiederholt. Denn die Kritik, die sich auf diesen Teil meines
Werkes bezieht, hat mich in keinem einzigen wesentlichen Punkte
widerlegt.
Es sind namentlich folgende Schriften, die sich mit meinen An¬
schauungen auseinandersetzen :
A. Nuglisch, Zur Frage nach der Entstehung des modernen
Kapitalismus in den Jahrbüchern für Nat.Ökon. III. F. 28, 238 — 250.
GustavBeckmann, Die Bedeutung des Handwerks im Wirt¬
schaftsleben nach den Darstellungen Sombarts usw. in der Beilage
zur Allgemeinen Zeitung. Jahrgang 1904. Nr. 106. 107. 108.
F. Keutgen, Hansische Handelsgesellschaften vornehmlich des
14. Jahrhunderts in der Yierteljahrsschrift für Soz. u. W.G.
Bd. IV.
Silberschmidt, Das Senden und Befehlen der Waren nach
der kaufmännischen Korrespondenz des 15. Jahrhunderts im Archiv
f. bürgerl. Recht 25 (1905), 129 ff., insbes. S. 148 f.
Derselbe, Das Sendegeschäft im Hansagebiet in der Zeitschrift
für das ges. HR. 68 (1910).
R. Heynen, Zur Entstehung des Kapitalismus in Venedig.
1905. H. spottet seiner selbst und weiß nicht wie, wenn er „die
Größe“ des mittelalterlichen Handels damit beweisen will, daß er
seinen Helden Mairano, einen durch Reichtum ausgezeichneten Mann
(ttXou-w matpsptov), den Bau eines riesigen (!) mit drei (!) gewaltigen (!)
Segeln ausgestatteten Schiffes vornehmen läßt (S. 101), das später
in Konstantinopel allgemeines Aufsehen erregte (!), denselben Mairano,
der, als sein Geschäft auf dem Zenith angelangt war, einen Kommis
engagiert (104) und von seinem Schwiegervater 150, von seinem
Vetter 50 Mk. borgt (!).
Eine ausführliche, wertvolle Anzeige des H.schen Buches hat
Silberschmidt in der Zeitschr. f. d. ges. HR. 58 (1906) ver¬
öffentlicht.
Adolf Schaube, Die Wollausfuhr vom Jahre 1273 in der
Vierteljahrsschrift für Soz. u. W.G. Bd. VI. Sch. weist mir in der Tat
einen Fehler nach: ich habe die Menge der aus England im Jahre 1273
von Ausländern ausgeführten Wolle gleich gesetzt der überhaupt
ausgeführten V^olle: es ist etwa 2la. Im* übrigen enthält der in.
gehässigem Tone geschriebene Aufsatz eine willkommene Bestätigung
der Richtigkeit meiner eigenen Darstellung. Wohin kommen wir
aber, wenn wir- einen Autor, weil ihm das genannte Versehen unter¬
gelaufen ist, in Grund und Boden kritisieren, so daß kein Hund ein
310 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
Stück Brot mehr von ihm nimmt ! Das ist doch eine unerträgliche,
geistlose Oberlehrerwissenschaft im schlimmen Sinne.
R. Davidsohn, Über die Entstehung des Kapitalismus in
seinen Forschungen z. Gesch. v. Florenz IV (1908), 268 ff.
Was die Kritiker gegen meine Auffassung vo& mittelalterlichen
Handel eingewendet haben, ist vornehmlich folgendes :
1. Der Händler ging immer — auch im Mittelalter — auf Erwerb
aus, suchte nicht nur seinen Unterhalt zu befriedigen: die Idee der
'■Nahrung’ beherrschte ihn also nicht. Zu diesem Einwande habe ich
schon mich geäußert, und ich verweise den Leser auf das, was ich
S. 29 ff. bemerkt habe. Ich bleibe dabei: die regulative Idee blieb auch
für den Handel während des Mittelalters lange Zeit dieselbe wie für
das (gewerbliche) Handwerk. Die Ideenwelt des Händlers war im
wesentlichen dieselbe wie bei seinem Bruder, dem gewerblichen Pro¬
duzenten. Zuzugeben ist, daß die neuen Ideen sich in der Sphäre
des Handels eher bemerkbar machten als in anderen Wirtschafts¬
sphären. Ich bitte auch immer die Totalität des kapitalisti¬
schen Geistes (Gewinnstreben im Zusammenhang mit ökono¬
mischem Rationalismus und Auflösung aller Qualitäten in die eine
Quantität Geld: darüber handelt ja erst das zweite Buch!) als den
Gegensatz zum Geist des mittelalterlichen Händlers zu betrachten.
Natürlich will der Gepäckträger in Neapel auch lieber 3 als 1 Lira
haben. Aber wer zwischen ihm und Pierpont Morgan keinen Unter¬
schied in der Geistesrichtung wahrnimmt, der ist eben psychologisch
farbenblind und scheidet als Kritiker (oder gar Geschichtsschreiber)
aus.
2. Der Handel im Mittelalter sei gar nicht „so klein“ gewesen,
wie ich ihn darstellte. Nun: tatsächlich ist keine einzige meiner
Zahlenangaben (bis auf die von Schaube richtig gestellte Ziffer) als
unrichtig nachgewiesen worden x.
Man wirft mir dann vor: ich hätte die Kleinheit des mittelalter¬
lichen Handels nicht richtig gewürdigt. Die einen (Nuglisch)
verweisen mich darauf, daß die Kaufkraft des Geldes in Rücksicht
zu ziehen sei, wenn man die Bedeutung einer Geldsumme für eine
Zeit feststellen will. Das war mir auch vorher nicht ganz unbekannt.
Aber wer auch nur ein klein wenig die Schwierigkeit des Problems
kennt, das wir mit dem Worte „Zahlungskraft des Geldes“ andeuten,
wird sich hüten, eine Geldsumme je anders als nach ihrem Metallwert
auszudrücken, wie ich es getan habe. Wie sich die „Zahlungskraft“
des Geldes im Mittelalter (will ich nur im Vorbeigehen dem genannten
1 Das einzige, was G. Beckmann gegen mich anführt, ist die
Tatsache, daß die Kleinheit der Schiffe nichts für den geringen Um¬
fang des Handels beweise, weil öfters eine „merkwürdig große Zahl“
von Schiffen in den Dienst von Handelsunternehmungen gestellt wurde.
Einer Handelsunternehmung, das bezweifele ich. B. scheint das Zu¬
sammenausfahren mehrerer Schiffe zu meinen. Auf einem Schiffe
— so klein es war — finden wir ja meist einen ganzen Haufen von
Kaufleuten in eigener Person oder durch ihre Waren vertreten.
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
311
Herrn verraten) zu der in unserer Zeit verhalten habe, läßt sich ganz
und gar nicht in einer Verhältniszahl ausdrücken. Was sollen solche
Feststellungen, wie diese: „für wenige Pfennige konnte man sich
schon satt essen, für einen Gulden wohnen“ (a. a. 0. S. 241). Sie
besagen nichts, aber rein gar nichts. Was heißt: „satt essen“, womit?
Qualität der Kost! Was heißt „wohnen“? Wo? Auch heute wohnt
man auf dem Lande nicht viel teurer als im Mittelalter. Und die
Preise für andere wichtige Dinge? Z. B. für alle gewerblichen Er¬
zeugnisse, die im Mittelalter ein vielfaches gegenüber heute kosteten?
für alle Beförderung? für alle sogenannten Vergnügungen? für die
„geistige Nahrung“ ? für alle Genußmittel? für die Nutzung einer Arbeits¬
kraft? und was sonst noch für Geld gekauft werden kann? Siehe
im übrigen das, was ich im zweiten Bande darüber sage.
Andere halten meine Methode für verfehlt, die Ziffern der mittel¬
alterlichen Handelsstatistik mit der Gegenwart zu vergleichen.
Neuerdings hat sich in diesem Sinne Rud. Häpke, dessen Uiteil
in handelsgeschichtlichen Dingen gehört zu werden verdient, in seinem
Buche: Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt (1908),
geäußert. Seine tatsächlichen Ergebnisse, zu denen er gelangt, ^be¬
stätigen in erfreulicher WTeise die Richtigkeit meiner Auffassung. Sein
Urteil faßt er wie folgt zusammen (S. 268): „Im ganzen ruhte der
Handel auf breiter demokratischer Basis, und Handelsmagnaten waren
im Warenhandel nur selten. Um so weniger sind bei diesen Gro߬
kaufleuten Warenmengen zu erwarten, die dem modernen Auge einiger¬
maßen imponieren.“ Dann aber fügt er hinzu: „Mittelalterlicher und
heutiger Umsatz läßt aber gar keine Vergleiche zu“, und an einer
anderen Stelle sagt er „ . . . große Dimensionen wird er vergebens
suchen, auch wenn er mit mittelalterlichen, Augen zu sehen gewöhnt
ist.“
Demgegenüber habe ich folgendes zu bemerken:
1) gerade müssen wir Ziffern der Vergangenheit mit heutigen Ziffern
vergleichen: es ist die einzige Möglichkeit, sie uns in ihrer
Größe anschaulich zu machen;
2) gerade müssen wir mit „modernen“ und nicht mit „mittelalter¬
lichen“ Augen das Mittelalter betrachten, um es in seiner
Eigenart und in seiner Abweichung von der Gegenwart verstehen
zu lernen. Wir sollen uns gerade losmachen von der Anschauung
des Zeitgenossen, für den natürlich die jeweils erreichte Höhe
z. B. eines Handelsverkehrs der Gipfel war. Häpke warnt
selbst vor Phrasen wie „enormer Warenumsatz“ u. dgl., die gar
nichts besagen. Alle fruchtbare historische Forschung beruht
darauf, mit eigenen Augen zu sehen und dadurch die Be¬
sonderheit früherer Zustände zu erkennen. Ich erinnere an
die glücklichen Ergebnisse der bevölkerungs-, namentlich städte¬
statistischen Forschung: jetzt erst begreifen wir das Wesen einer
mittelalterlichen Stadt, wenn wir wissen, daß sie nicht 200 000,
sondern 20 000 Einwohner hatte.
Aber offenbar schwebt meinen Kritikern noch etwas anderes vor:
sonst könnte ich mir den feindseligen Ton nicht erklären, in den sie
312 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
alle geraten, wenn sie auf meine Auffassung von der „Kleinheit“ des
mittelalterlichen Handels zu sprechen kommen. Sie vermuten , ich
habe damit den Wert, die Bedeutung des Mittelalters
herabsetzen wollen. Als ob die Größe einer Zeit an der Menge der
gehandelten Waren gemessen werden könnte! Ich meine: durch nichts
sei die „Größe des Mittelalters so deutlich gemacht worden als durch
meinen Nachweis, daß die Ausdehnung des Handels im Mittelalter
ganz geringfügig war, wenn wir sie mit der Gegenwart vergleichen.
Groß war die Zeit, weil sie die Minnesänger und das Straßburger
Münster, Dante und Giotto, Kaiser Rotbart und Thomas von Aquino
hervorgebracht hat, trotzdem vielleicht nur ein Hundertstel ^oder
Tausendstel soviel Käse vom Handel „bewegt“ wurde wie heute.
3. Am liebsten hätte ich den Abschnitt über das Recht, in Sonder¬
heit das Gesellschaftsrecht des mittelalterlichen Handels, in
manchen Punkten verbessern, nach manchen Seiten hin vertiefen
mögen. Ich werde einiges nachholen, wenn ich im zweiten Bande
die Entwicklung der Handelsgesellschaften während des frühkapitalisti¬
schen Zeitalters zur Sprache bringe. Aber in der Grundauffassung
bin ich auch hier nicht wankend gemacht worden, so berechtigt manche
Einwendungen meiner juristischen Kritiker, namentlich in den aus¬
gezeichneten Arbeiten Silberschmidts, zu sein scheinen. Eher
haben gerade die Ausführungen dieses scharfsinnigen und kenntnis¬
reichen Forschers in den entscheidenden Punkten meine Ansichten
zu bekräftigen beigetragen, wie ich denn glaube daß unsere Meinungen
nicht weiter auseinandergehen, als es der mehr juristischen und mehr
soziologischen Betrachtung der Dinge entspricht.
Ich will die Kritik S.s hier im Wortlaut in ihren Hauptpunkten
wiedergeben :
In seinem Aufsatze: Das Senden und Befehlen der Waren nach
der kaufmännischen Korrespondenz des 15. Jahrh. im Arch. f. bürg. R.
25 (1905), S. 148 sagt Silberschmidt: „In neuester Zeit hat
W. S. den Gegensatz zwischen handwerksmäßigem und kapitalistischem
Betrieb auch in der Geschichte des Handels untersuchend, gerade
hierin den schlechthin handwerksmäßigen Charakter des Handels jener
Zeit gefunden (sc. daß in allen Beteiligungsverhältnissen die Tätigkeit
des Auswärtigen für den Abwesenden, die Arbeit in jener Zeit das
Entscheidende war). Auch wenn man das zugeben will, so wird sich
der weitere Satz, daß der „Geldbesitzer noch außer jedem Kontakt
mit der Handelstätigkeit selbst stehe, die vielmehr Sache eines tech¬
nischen Arbeiters sei“, nach den Quellen nicht aufrechterhalten
lassen. In einer späteren Zeit wird von Nichtkaufleuten die Kommenda
als Kapitalsanlage benutzt, aber gerade für die frühere Zeit ist der
Auftraggeber immer (?) Kaufmann. Daß das hingegebene Geld — zuerst
wurde überhaupt Ware gegeben — niemals den Charakter des Kapitals,
auch im S. sehen Sinne, gehabt habe, muß ebenso bezweifelt werden
vie dei Satz, daß das Vorwiegen gesellschaftlich betriebener Unter¬
nehmungen den besten Beweis für die Handwerksmäßigkeit des Be¬
triebes bilde. Im Gegenteil dürfte sich aus der obigen Korrespondenz
im Zusammenhalt mit den früheren Quellen der Satz rechtfertigen
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 313
lassen: der in der Natur des Handels begründete Di’ang, über die
Bedürfnisbefriedigung, über die Mannesnahrung hinaus die vorhandenen
Waren möglichst vorteilhaft oft und rasch (!) zu vefkaufen und zu
vertauschen, war die Veranlassung, solche Waren auch fremden Leuten
zu senden, und zu befehlen, damit sie so auch an einem Orte, an
dem der Kaufmann persönlich nicht sein konnte, umgesetzt würden;
um diesen Fremden ein höheres Interesse an der Sache zu geben,
beteiligte man sie, und so entstanden partiarische und gesellschaftliche
Verhältnisse.“
Darauf erwidere ich folgendes: Formell hat S. zweifellos recht, wenn
er behauptet, daß die Kommendanten häufig (sicher nicht immer) selber
Berufshändler gewesen wären. Sachlich wird dadurch meine Behauptung
nicht entkräftet : durch die Hingabe einer Geldsumme (oder einer Ware
zum Verkauf) an einen Handwerker-Händler, auch wenn der Geber ein
Berufshändler ist-, wird der handwerksmäßige Charakter des Handels noch
keineswegs aufgehoben. Das meinte ich mit der Trennung von Geld¬
geber und geldnehmendem Händler, daß die Leitung des Geschäfts
damit noch nicht auf den Geldgeber übergeht. Weder dieser, wenn
er ein Handwerker ist, noch der in die Fremde ziehende Händler
werden kapitalistische Unternehmer bloß durch die Tatsache, daß sie
sich vereinigen. Silberschmidt selbst hat uns in anschaulicher
Weise diese Kommendaverhältnisse geschildert. Er zeigt (schon in
der Schrift: Die Commenda in ihrer frühesten Entwicklung bis zum
13. Jahrhundert, 1884; dann im Archiv für bürgerl. Recht Bd. 23
und Bd. 25), wie in der Kommenda man zuerst nur gelegentlich und
für einzelne Reisen, später immer allgemeiner einem Verwandten oder
Freunde , der selbst die Reise machte , die eigenen Waren kommen-
dierte, d. h. „anvertraute im eigenen Interesse des Gebers“, wobei
der Kommendatar den Auftrag ganz unentgeltlich erfüllte oder in
ehrenvoller Weise am Ertrage des Unternehmens beteiligt wurde. So
entstand das Sendevegeschäft und daneben die Colleganza (deutsch
Kumpanei): die Vereinigung mehrerer Geldbeträge zu gemeinsamem
Geschäft. S. vergleicht mit vollem Recht die primitive Commenda der
Socida, dem Viehverstellungsvertrag (Arch. f. b. R. 23, 7) und bemerkt
einmal (Arch. f. b. R. 25, 147) treffend: wie heute noch in einfachen
ländlichen Verhältnissen der zur „nächsten Stadt fahrende Bauer für
seine Mitbürger Ein- und Verkäufe mitbesorgt, so finden wir auch hier
Fälle reiner Gefälligkeit. Diese Tätigkeit am fremden Orte für andere
wird aber häufig zu einer ständigen, berufsmäßigen“ usw.
Also, denkbar ist jedenfalls die Form der verschiedenen Ge¬
sellschaftsverträge auch im Rahmen handwerksmäßiger Wirtschaft.
Ihr Vorkommen an sich beweist also nichts gegen diese. Und da
entsinne ich mich nun aller der Anzeichen, die sonst für den hand¬
werksmäßigen Charakter des mittelalterlichen Handels sprechen , er¬
innere mich der winzig kleinen Commendabeträge, des geringen Um¬
satzes , der zunftmäßigen Ordnung usw. usw. und komme zu dem
Schlüsse: auch dieser Gesellschaftshandel, sei es in Commenda-, sei
es in Societasform, war in seinem typischen Vorkommen, d. h. als
Massenerscheinung, noch lange Jahrhunderte hindurch Handwerk. Wie
314 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft
er sich allmählich zu kapitalistischen Formen entwickelte, werde ich
selbst im zweiten Bande zu zeigen versuchen.
* *
*
Hier möchte ich nur noch zwei Bemerkungen allgemeinerer Art
machen, die vielleicht dazu beitragen, daß sich die Spannung zwischen
der juristischen Kritik und mir verringert.
Ich wies schon auf die verschiedene Betrachtungsweise des Juristen
und des soziologischen Nationalökonomen hin: jenen interessiert im
wesentlichen die Form, uns der Inhalt des Wirtschaftslebens. Zum
Inhalt gehört in erster Linie der in den Wirtschaftssubjekten lebendige
Geist und gehört die Größenabmessung der Vorgänge und Zustände.
Eine und dieselbe Rechtsbeziehung (wie in diesem Falle die Com-
menda) kann nun einem nach Qualität und Quantität ganz und gar
verschiedenen Wirtscbaftsakte zugrunde liegen. Ob ich 100 Mk. oder
100 000 Mk. einem Produzenten darleihe, damit er sie in seinem
Geschäfte verwende , macht juristisch keinen Unterschied aus , wenn
die Rechtsform des Geschäftes die gleiche ist; ökonomisch begründet
es den Wesensunterschied der beiden Geschäfte.
Sodann aber müssen sich die Juristen auf dem Laufenden halten
auch auf dem Gebiete der nationalökonomisch-soziologischen Forschung
und müssen mit den Begriffen vertraut sein, die diese im Laufe des
letzten Menschenalters, namentlich auch für die historische Forschung,
ausgebildet hat. Es ergeht uns eigenartig: die Historiker werfen uns
vor, daß wir zu viele Begriffe und zu viele „Theorien“ haben, die
Juristen beklagen sich über die Unzulänglichkeit unserer Begriffs¬
bildung. Diesen Vorwurf einer starken Rückständigkeit national¬
ökonomischer Begriffe hat z. B. Lästig in seinen handelsrechts¬
geschichtlichen Arbeiten öfters erhoben. So sagt er z. B. in der Zeit¬
schrift f. d. ges. HR. 24, 408 : „Die Wirtschaftslehre operiert mit den
Begriffen Kapital und Arbeit, die Rechtslehre dagegen mit unendlich
feineren Terminis.“ Damals, als er seine grundlegenden Forschungen
veröffentlichte (1879), hatte Lästig mit solchem Vorwurf bis zu einem
gewissen Grade Recht. Seitdem ist nun aber auch bei uns gearbeitet
worden, und das scheinen viele Rechtshistoriker unbeachtet zu lassen.
Sie verwenden, wenn sie auf wirtschaftliche Verhältnisse zu sprechen
kommen, oft noch heute solch simplizistische Begriffe wie „Geldwirt¬
schaft“, „Kapital“ (im Sinne von Geld oder Produktionsmitteln), sprechen
vom „Handel“ als einer einförmigen Erscheinung usw.
Um nur ein Beispiel aus den letzten Jahren anzuführen, will ich auf
einige Sätze aus einer im übrigen vortrefflichen rechtsgeschichtlichen
Arbeit Haemanns (in der Zeitschrift f. d. ges. HR. 68 [1910], 467)
hinweisen. Sie lauten: „Damit (mit dem Beginn der Tauschwirtschaft;
seit dem 8. Jahrh.) wird aber auch das gesamte Leben in neue Bahnen
gelenkt, in jene, in denen es sich noch heute fast ausschlie߬
lich bewegt, nämlich in die Bahnen (!) des Handels (!). Daß dieser
bald zu einer so üppigen Entfaltung gelangen konnte, ist dem Um¬
stande zuzuschreiben , daß er sich als ein vorzügliches Mittel zur
Mehrung des Wohlstandes (!) erwies, worauf es in der Hauptsache
Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk
315
ankam (!). Wo nun die Kräfte des einzelnen nicht ausreichten, um
zum heißersehnten Ziele (1), zu großem Reichtum zu gelangen, da
suchte er den Anschluß an andere Gleichgesinnte , und die fanden
sich sehr bald(!)“, „in der Zeit, in der sich auf dem Gebiete der
allgemeinen (!) Volkswirtschaft jene grundlegende Umwälzung vollzog,
die zur Annahme einer besonderen Entwicklungsstufe in der Ge¬
schichte der VW, geführt hat, unter der Herrschaft des Geld- und
Kreditwesens (!)...“
Wenn wir in solchen allgemeinen, nichtssagenden Redensarten über
juristische Dinge schreiben wollten, würde die Rechtshistoriker gewiß
ein Schrecken anwandeln. Dann sollen sie aber sich auch gewöhnen,
unsere Probleme in der strengen Begriffssystematik zu behandeln,
die wir nun allmählich herausgebildet haben. Ich zweifle nicht, daß
das zum Einanderverstehen wesentlich beitragen wird.
-
Zweites Buch
Die historischen Grundlagen
des modernen Kapitalismus
.
\
319
Erster Abschnitt
Wesen und Werden des Kapitalismus
Neunzehntes Kapitel
Das kapitalistische Wirtschaftssystem
Ich zeichne zunächst, ehe ich die Entstehung der kapitalisti¬
schen Wirtschaft verfolge, die Idee dieser Wirtschaftsweise, wie
sie im kapitalistischen Wirtschaftssystem erscheint, in begriff¬
licher Reinheit.
I. Begriff
Unter Kapitalismus verstehen wir ein bestimmtes Wirtschafts¬
system1, das folgendermaßen sich kennzeichnen läßt: es ist eine
verkehrswirtschaftliche Organisation, bei der
regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen:
die Inhaber der Produktionsmittel, die gleichzeitig
die Leitung haben, Wirt Schafts Subjekte sind und
besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte),
durch den Markt verbunden, Zusammenwirken, und
die von dem Erwerbsprinzip und dem ökonomischen
Rationalismus beherrscht wird.
Die verkehrswirtschaftliche Organisation, zu der Einzel- oder
Privatwirtschaft, Berufsdifferenzierung zwischen den einzelnen
Wirtschaften und marktmäßige Verknüpfung gehören, hat der
Kapitalismus also mit dem Handwerk gemein2); morphologisch
unterscheidet er sich von diesem durch die soziale Differenzierung
des persönlichen Produktionsfaktors in die beiden Bestandteile
des leitenden und ansführenden Arbeiters, die sich gleichzeitig als
1 Siehe das 3. Kapitel.
2 Zur Ergänzung dieses Kapitels dient meine Darstellung im
4. Bande des Grundrisses der Sozialökonomik, wo ich alle,
hier nur in den Grundzögen gezeichneten , Gedanken ausführlicher
entwickelt habe.
320 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus
Besitzer der Produktionsmittel und technische Nurarbeiter gegen¬
übertreten und sich vom Markte zu der notwendigen Vereinigung
im Produktionsprozesse zusammenführen lassen müssen.
Die herrschenden Wirtschaftsprinzipien sind das
Erwerbsprinzip und der ökonomische Eationalismus, die an die
.Stelle der Prinzipien der Bedarfsdeckung und des Traditionalismus
treten, die, wie wir sahen, Eigenwirtschaft und Handwerk beseelen.
Ich habe die Wesenheit dieser Wirtschaftsprinzipien schon
in der Einleitung dargetan und füge zur Ergänzung des dort
Gesagten folgendes hinzu:
Die Eigenart des Erwerbsprinzips äußert sich darin,
daß unter seiner Herrschaft der unmittelbare Zweck des Wirt¬
schaften nicht mehr die Bedarfsbeffiedigung eines lebendigen
Menschen, sondern ausschließlich die Vermehrung einer Geld¬
summe ist. Diese Zwecksetzung ist der Idee der kapitalistischen
Organisation immanent ; man kann also die Erzielung von Gewinn
(das heißt die Vergrößerung einer Anfangssumme durch wirt¬
schaftliche Tätigkeit) als den objektiven Zweck der kapitalisti¬
schen Wirtschaft bezeichnen, mit dem (zumal bei vollentwickelter
kapitalistischer Wirtschaft) die subjektive Zwecksetzung des
einzelnen Wirtschaftssubjektes nicht notwendig zusammenzufallen
braucht x).
Der ökonomische Eationalismus, das heißt also die
grundsätzliche Einstellung aller Handlungen auf höchstmögliche
Zweckmäßigkeit, äußert sich in dreifacher Weise:
1. als Planmäßigkeit der Wirtschaftsführung;
2. als Zweckmäßigkeit im engeren Sinne;
3. als Eechnungsmäßigkeit.
Die Planmäßigkeit bringt in das kapitalistische Wirtschafts¬
system das Wirtschaften nach weitausschauenden Plänen; die
Zweckmäßigkeit sorgt für die richtige Mittelwahl; die Eechnungs¬
mäßigkeit für die exakt-ziffernmäßige Berechnung und Eegistrie-
rung aller wirtschaftlichen Einzelerscheinungen und ihre rechne¬
rische Zusammenfassung zu einem sinnvoll geordneten Zahlen¬
systeme.
1 Diese komplizierten, dem gemeinen Verstände nicht sichtbaren
Zusammenhänge habe ich klargelegt an dem in der vorigen Anmerkung-
genannten Orte. Dortselbst findet der Leser auch die erst für das
Verständnis der hochkapitalistischen Wirtschaft notwendige Ent¬
wicklung der in der Erwerbsidee eingeschlossenen Entwicklungsformen
der wirtschaftlichen Orientierung.
Neunzehntes Kapitel; Das kapitalistische Wirtschaftssystem 321
II. Die kapitalistische Unternehmung'
Die Wirtschaftsform des kapitalistischen Wirtschaftssystems
ist die kapitalistische Unternehmung. Sie bildet eine abstrakte
Einheit: das Geschäft. Ihr Zweck ist die Erzielung von Ge¬
winn. Das eigentümliche Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks
ist die Vertragschließung über geldwerte Leistungen und Gegen¬
leistungen. Jedes technische Problem muß sich im Rahmen
der kapitalistischen Unternehmung in einen Vertragsabschluß
auflösen lassen, auf dessen vorteilhafte Gestaltung alles Sinnen
und Trachten des kapitalistischen Unternehmers gerichtet ist.
Mögen Arbeitsleistungen gegen Sachgüter oder Sachgüter gegen
Sachgüter eingetauscht werden; immer kommt es darauf an,
daß am letzten Ende jenes Plus an Tauschwert (Geld) in den
Händen des kapitalistischen Unternehmers zurückbleibt, auf
dessen Erlangung seine ganze Tätigkeit eingestellt ist. Alle Vor¬
gänge der Wirtschaft verlieren dadurch ihre qualitative Färbung
und werden zu reinen in Geld ausdrückbaren und ausgedrückten
Quantitäten.-
Die kapitalistische Unternehmung weist verschiedene
Formen auf, die wir wie folgt unterscheiden können1:
1. nach dem Inhalte der in einer Unternehmung:
verrichteten Tätigkeit:
a) Unternehmungen zur Erzeugung von Sachgütern;
b) Unternehmungen zur Übermittlung von Sachgütern;
c) Unternehmungen zur Darbietung von Diensten;
d) Unternehmungen zur Bereitstellung genußreicher Sachgüter ;
e) Unternehmungen zur Gewährung oder Vermittlung von
Kredit ;
f) Unternehmungen mit einem aus a bis e verschieden kom¬
binierten Inhalt.
2. nach der Bildung des Unternehmungskapitals:
a) Einzeluntemekmimgen, die auf dem Vermögen einer Person
beruhen ;
b) Kollektivunternehmungen, deren Kapital mehrere Personen
zusammengeschossen haben.
3. nach der Stellung des Unternehmers zum Ar¬
beiter:
1 Ausführlich in der 1. Aufl. S. 199 ff. und im GDS. Vgl. auch
das Kapitel im 2. Bande : „Die Entstehung der kapitalistischen Unter¬
nehmung“.
Sombart, Der moderne Kapitalismus, t. 21
322 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus
Da es eine der wichtigsten Aufgaben des folgenden Buches
ist, zu zeigen, wie sich aus lockeren Gel egenheits Verknüpfungen
zwischen Geldgeber und Arbeiter die kapitalistische Unter¬
nehmung als Arbeitsorganisation historisch aufbaut, so werde
ich, um Wiederholungen zu vermeiden, die verschiedenen theo¬
retischen Möglichkeiten der Stellung des Unternehmers zum
Arbeiter dort behandeln, wo ich den empirischen Werdegang
der verschiedenen Arbeitsorganisationen zur Darstellung bringe.
4. nach der Stellung des Unternehmens zur öffent¬
lichen Gewalt:
a) freie Unternehmungen, die völlig unabhängig von der öffent¬
lichen Gewalt sind;
b) gebundene Unternehmungen, die in irgendwelcher umnittel¬
baren Abhängigkeit von der öffentlichen Gewalt stehen;
besonderer Fall: die gemischt- Öffentlichen Unternehmungen.
IU. Die Funktionen des kapitalistischen Unter¬
nehmers
sind * 1 :
1. organisatorische
Da das Werk, das der Unternehmer vollbringt, stets ein Werk
ist, bei dem andere Menschen mithelfen, da also andere Menschen
seinem Willen dienstbar zu machen sind, damit sie mit ihm Zu¬
sammenwirken, so muß der Unternehmer vor allem ein Organi¬
sator sein.
Organisieren heißt: viele Menschen zu einem glücklichen,
erfolgreichen Schaffen zusammenfugen; heißt Menschen und Dinge
so disponieren, daß die gewünschte Nutzwirkung uneingeschränkt
zutage tritt. Darin ist wieder ein sehr mannigfaches Vermögen
und Handeln eingeschlossen. Zum ersten muß, wer organisieren
will, die Fähigkeit besitzen, Menschen auf ihre Leistungsfähigkeit
hin zu beurteilen, die zu einem bestimmten Zweck geeigneten
Menschen also aus einem großen Haufen herauszufinden. Dann
muß er das Talent haben, sie statt seiner arbeiten zu lassen, und
zwar so, daß jeder an der richtigen Stelle steht, wo er das
Maximum von Leistung vollbringt, und alle immer so anzutreiben,
daß sie die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Höchstsumme
von Tätigkeit auch wirklich entfalten. Endlich liegt es dem
Unternehmer ob, dafür Sorge zu tragen, daß die zu gemeinsamer
1 Ausführliches siehe in meinem Bourgeois, 70 ff. Vgl. auch
1. Anfl. 1, 197 ff.
Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem 323*
Wirksamkeit vereinigten Menschen auch zu einem leistungsfähigen
Ganzen zusammengefügt werden, daß das Nebeneinander und das
Über- und Untereinander der einzelnen Teilnehmer an dem Werke
wohlgeordnet sei, und daß ihre Tätigkeiten nacheinander richtig
ineinander greifen: „Sammlung der Kräfte im Kaum“; „Ver¬
einigung der Kräfte in der Zeit“, wie es Clausewitz vom Feld¬
herrn verlangt.
2. händlerische
Die Beziehungen, die der Unternehmer mit Menschen eingeht,
sind noch anderer Art, als sie mit dem Worte „organisieren“
bezeichnet werden. Er hat seine Leute selbst erst anzuwerben;
er hat dann unausgesetzt fremde Menschen seinen Zwecken
dienstbar zu machen, indem er sie zu gewissen Handlungen oder
Unterlassungen anders als durch Zwangsmittel anhält: Zu diesem
Behufe muß er „verhandeln“: Zwiesprache halten mit einem
andern, um ihn durch Beibringung von Gründen und Wider¬
legung seiner Gegengründe zur Annahme eines bestimmten Vor¬
schlags, zur Ausführung oder Unterlassung einer bestimmten
Handlung zu bewegen. Verhandeln heißt ein ßingkampf mit
geistigen Waffen.
Der Unternehmer muß also auch ein guter Ver handle r,
Unterhändler, Händler sein, -wie wir denselben Vorgang
in verschiedener Nuancierung ausdrücken. Der Händler im
engeren Sinne, das heißt der Verhandler in wirtschaftlichen An¬
gelegenheiten, ist nur eine der vielen Erscheinungen, in denen
der Verhandler auffcritt.
Immer handelt es sich darum, Käufer (oder Verkäufer) von
der Vorteilhaftigkeit des Vertragsabschlusses zu überzeugen.
Das Ideal des Verkäufers ist dann erreicht, wenn die ganze Be¬
völkerung nichts mehr für wichtiger erachtet als den von ihm
gerade angepriesenen Artikel einzukaufen. Wenn sich der
Menschenmassen eine Panik bemächtigt, nicht rechtzeitig mehr
zum Erwerb zu kommen (wie es der Fall ist in Zeiten fieber¬
hafter Erregung auf dem Effektenmärkte).
Interesse erregen, Vertrauen erwerben, die Kauflust wecken:
in dieser Klimax stellt sich die Wirksamkeit des glücklichen
- Händlers dar. Womit er das erreicht, bleibt sich gleich. Genug,
daß es keine äußeren, sondern nur innere Zwangsmittel sind,
daß der Gegenpart nicht wider Willen, sondern aus eigenem
Entschlüsse den Pakt eingeht. Suggestion muß die Wirkung
des Händlers sein. Der inneren Zwangsmittel aber gibt es viele.
324 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus
3. rechnerisch-haushälterische
Sind die vorbenannten Funktionen allem Unternehmertum
eigen , so hat der kapitalistische Unternehmer die spezifische
Funktion, das Rechnen (Kalkulieren), auszuüben. Da sich seine
Tätigkeit in Vertrags chließung über geldwerte Leistungen und
Gegenleistungen auflöst, so muß er den Inhalt jedes Vertrages
sofort in einer Geldsumme sich vorzustellen wissen, die in be¬
ständigem Einnehmen und Ausgeben schließlich ein Aktiv-Saldo
ergeben müssen: diese Funktion aber nennen wir Rechnen. Wo
das Rechnen ein Rechnen mit unbekannten Größen ist, sprechen
wir von Spekulation. Er muß aber ebenso ein guter Haushalter
sein , da nur durch bedachte Sparsamkeit das oberste Ziel der
kapitalistischen Unternehmung erreicht wird.
IV. Das Kapital und seine Verwertung
Die einer kapitalistischen Unternehmung als sachliche Unter¬
lage dienende Tauschwertsumme ist das Kapital. Dieses be¬
ginnt und endigt in der Form des Geldes, während es dazwischen
in wechselnden Formen als Produktionsmittel oder Ware er¬
scheint.
Wir nennen Produktionszeit diejenige Zeit, während welcher
das Kapital sich in der Produktionssphäre, Umlaufszeit, während
welcher es in der Zirkulationssphäre sich aufhält. Umschlagszeit
ist die Summe von Produktions- und Umlaufszeit1.
AVir nennen Realkapital dasjenige, das zum Ankauf von Pro¬
duktionsmitteln, Personalkapital dasjenige, das zum Ankauf von
Arbeitskräften dient. Diese wichtige Unterscheidung tritt er¬
gänzend neben die übliche Einteilung in fixes oder stehendes
und zirkulierendes oder umlaufendes Kapital1.
Das in einer Unternehmung angelegte Kapital zu „verwerten“,
das heißt mit einem Aufschlag (Gewinn, Profit) zu reproduzieren,
ist also der Zweck der kapitalistischen AVirtschaft. Die Möglich¬
keiten, den Profit eines Kapitals von gegebener Größe zu steigern,
sind aber folgende:
I. Ist die Gewinnquote am einzelnen Produkt gegeben, so
entscheidet über die Höhe des Profits die Menge der m einer
gegebenen Zeit hergestellten Pr o dukteinheiten:
diese wird vergrößert durch Beschleunigung (Intensivierung)
1 Ausführlicher in der 1. Aufl. 1, 204 ff.
325
Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem
des Produktionsprozesses, kapitalistisch ausgedrückt: durch Be¬
schleunigung des Kapitalumschlags.
II. Ist die Menge der in einer bestimmten Zeit herstellbaren
Güter gegeben, so entscheidet über die Höhe des Profits die
Gewinnquote am einzelnen Produkt. Diese wird ge¬
bildet durch die Differenz zwischen Verkaufspreis und Kosten.
Das Streben ist also auf Vergrößerung dieser Differenz gerichtet.
Diese Vergrößerung kann grundsätzlich auf zweifache Weise
bewirkt werden:
1. dxirch Steigerung der Verkaufspreise: diese findet
ihre Grenze in der Notwendigkeit, den Konkurrenten im Preise
zu unterbieten. Daraus ergibt sich für das Kapital die Anti¬
nomie: möglichst teuer und möglichst billig zugleich zu ver¬
kaufen. Eine Lösung dieser Antinomie wird angestrebt durch
künstliche Ausschaltung der Konkurrenz, sei es auf gesetzlichem
Wege (Monopolisierung, Privilegisierung usw.) oder auf dem Wege
der gegenseitigen Verständigung: Tendenz zu Preisverabredungen,
Kartellbildung usw. Lassen sich die Preise nicht erhöhen, so
bleibt übrig als letztes Mittel, den Profit zu steigern:
2. die Verringerung der Kosten. Diese kann erzielt
werden :
a) durch P r o d u k t i o n s v e r b i 1 1 i g u n g , das heißt dadurch,
daß man durch Steigerung der Produktivität mit demselben Auf¬
wand mehr Güter herstellt. Die Steigerung der Produktivität
erfolgt :
a) durch Vervollkommnung des Arbeitsprozesses (der Betriebs¬
organisation),
ß) durch Vervollkommnung der Technik;
b) durch Produktionsfaktoren Verbilligung, das
heißt dadurch, daß man ein gleiches Quantum Produkt mit ge¬
ringerem Aufwande herstellt, ohne eine gleichzeitige Steigerung
der Produktivität, also lediglich durch Ersparnisse, die man an
den Auslagen für Beschaffung der Produktionsfaktoren macht;
und zwar
a) an den sachlichen Produktionsfaktoren: durch
vorteilhaften Bezug, sorgfältige Konservierung usw., Ver¬
wertung der Abfälle usw..
ß) an den persönlichen Produktionsfaktoren.
aai) durch Herabsetzung des Entgelts für die gleiche Arbeits¬
leistung (Lohndruck, Beschäftigung billigerer Arbeits¬
kräfte wie Kinder und Frauen),
326 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus
ßß) durch Steigerung der Arbeitsleistung bei gleichem Ent¬
gelt, sei es durch Extensivisierung der Arbeit (Ver¬
längerung der Arbeitszeit), sei es durch Intensivisierung
der Arbeit (strengere Aufsicht, Akkordlohn usw.).
IV. Die Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft
Wie jede besondere Art zu wirtschaften ist auch der Kapitalis¬
mus an die Erfüllung bestimmter, sei es in dem wirtschaftenden
Menschen, sei es in der Umwelt gelegener Bedingungen ge¬
knüpft. Diese festzustellen, stehen uns^zwei Wege offen: wir
können entweder Umstände aufzählen, die jeder Kapitalismus
theoretisch voraussetzt, damit er da sein könne. Diesen Weg
habe ich, als ich das Handwerk darstellte, in diesem Werke
(siehe Kapitel 13), bezüglich des Kapitalismus in meiner Ab¬
handlung im GDS., beschritten. Oder aber, wir können diejenigen
Ereignisse feststellen, deren Eintritt eine historische Erscheinungs¬
form des Kapitalismus, den „modernen“ Kapitalismus möglich
gemacht und zur Entwicklung gebracht haben. Das ist der Weg,
den wir hier zu gehen haben. Denn wir wollen uns der Gesamt¬
anlage dieses Werkes erinnern, das sich zur Aufgabe gestellt hat,
das Werden und Wachsen der unserer Zeit und unseren Völkern
angehörigen kapitalistischen Wirtschaftsweise zu schildern. Da
liegt es uns nunmehr also ob, zu verfolgen: wie aus den uns
bekannten Wirtschaftsformen des europäischen Mittelalters in
langsamer Umbildung der moderne Kapitalismus hervorgegangen
ist. Und gerade der Nachweis , wie sich die für seine Ent¬
stehung unerläßlichen Vorbedingungen erfüllt haben, ist zu dem
Hauptproblem in diesem Bande gemacht worden. Die eigenartige
historisch engbegrenzte Fragestellung ist somit diese: nachdem
die Wirtschaft der europäischen Völker die besondere Form der
feudal-handwerksmäßigen während des Mittelalters angenommen
hatte, die wir also als gegeben setzen, nachdem der neue Geist
den Willen zum Kapitalismus aus sich geboren hatte: welche
Umstände sind zusammengetroffen, die es ermöglicht haben, daß
jener Wille zum Ziele gelangt ist. Darüber ist ein Mehreres im
Zusammenhänge zu bemerken.
327
Zwanzigstes Kapitel
Das Werden des Kapitalismus
I. Die treibenden Kräfte
Aus dem tiefen Grunde der europäischen Seele ist der Kapi¬
talismus erwachsen.
Derselbe Geist, aus dem der neue Staat und die neue Religion,
die neue Wissenschaft und die neue Technik geboren werden:
er schafft auch das neue Wirtschaftsleben. Wir wissen: es ist
ein Geist der Irdischheit und Weltlichkeit; ein Geist mit un¬
geheurer Kraft zur Zerstörung alter Naturgebilde, alter Gebunden¬
heiten, alter Schranken, aber auch stark zum Wiederaufbau neuer
Lebensformen, kunstvoller und künstlicher Zweckgebilde. Es
ist jener Geist, der seit dem ausgehenden Mittelalter die Menschen
aus den stillen, organisch gewachsenen Liebes- und Gemeinschafts -
beziehungen herausreißt und sie hinschleudert auf die Bahn
ruheloser Eigensucht und Selbstbestimmung.
Erst in diesem und jenem starken Menschen Wurzel schlagend
und ihn hinausjagend aus der Masse ruheliebender, bequemer Ge¬
nossen; dann immer weitere Kreise erfüllend, belebend, bewegend.
Es ist Faustens Geist: der Geist der Unruhe, der Unrast,
der nun die Menschen beseelt. „Ihn treibt die Gährung in die
Ferne...“ Will man es Unendlichkeitsstreben nennen, was wir
hier sich betätigen sehen, so hat man Recht, weil das Ziel ins
Grenzenlose hinausverlegt ist, weil alle natürlichen Maße der
organischen Gebundenheiten als unzulänglich, beengend von den
Vorwärtsdringenden empfunden werden. Will man es Macht¬
streben nennen, so wird man auch nichts Falsches sagen; denn
aus einem tiefsten Grunde, in den unsere Erkenntnis nicht hinab¬
zublicken vermag, quillt dieser unbeschreibliche Drang des ein¬
zelnen Starken, sich durchzusetzen, sein Selbst gegen alle Ge¬
walten trotzig zu behaupten, die andern seinem Willen und
seinen Taten zu unterwerfen, den wir als Willen zur Macht be¬
zeichnen können. Will man es Unternehmungs drang nennen, so
drückt man gewiß auch überall dort etwas Richtiges aus, wo
jener Wille zur Macht die Mitwirkung anderer zur Vollbringung
eines gemeinsamen Werkes erheischt, Die „Unternehmenden
328 Erster Abschnitt: Wesen uud Werden des Kapitalismus
sind es, die sicli die Welt erobern; die Schaffenden, die Leben¬
digen: die Nicht-Beschaulichen, Nicht-Genießenden, Nicht- Welt¬
flüchtigen, Nicht- Weltvemein enden.
Wir wissen es: auf allen Gebieten des menschlichen Lebens
ringt dieser neue „unternehmende“ Geist sich zur Herrschaft
durch. Im Staate vor allem: da heißt sein Ziel: erobern,
herrschen. Aber ebenso gut wird er in der Religion, in der
Kirche lebendig: hier will erbefreien, entfesseln; in der Wissen¬
schaft: hier will er enträtseln; in der Technik: da will er er¬
finden ; auf der Erdoberfläche : da will er entdecken.
Dieser selbe Geist beginnt nun auch das Wirtschaftsleben zu
beherrschen. Er durchbricht die Schranken der auf geruhsamer
Genügsamkeit aufgebauten, sich selbst im Gleichgewicht haltenden,
statischen, feudal - handwerksmäßigen Bedarfsdeckungs-Wirtschaft
und treibt die Menschen in die "Wirb e 1 der Erwerbs Wirtschaft
hinein. Erobern heißt hier im Gebiete des materiellen Strebens
erwerben: eine Geldsumme vergrößern. Und nirgends findet das
Unendlichkeitsstreben, findet das Machtstreben ein seinem inner¬
sten Wesen so sehr gemäßes Feld der Betätigung wie in dem
Jagen nach dem Gelde, diesem völlig abstrakten, aller organisch¬
natürlichen Begrenztheit enthobenen Wertsymbole, dessen Besitz
dann immer mehr auch als Machtsymbol erscheint.
Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargetan, wie sich
diese Gier nach Gold und Geld zunächst und lange Zeit hin¬
durch neben dem Wirtschaftsleben ein Bett gräbt und zu einer
Reihe von Erscheinungen führt, die mit dem Wirtschaftsleben
nichts zu tun haben , da die Menschen zunächst das Gold oder
das Geld außerhalb des Kreises ihrer normalen wirtschaftlichen
Betätigung zu erlangen trachten. Es sind jene für die letzten
Jahrhunderte des Mittelalters und die ersten Jahrhunderte der
neuen Zeit charakteristischen Massenphänomenen :
a) des Raubrittertums ;
b) der Schatzgräberei ;
c) der Alchymie ;
d) der Projektenmacherei;
e) des Darlehnswuchers.
Dann aber dringt dieser Geist der Eroberung auch in das
Wirtschaftsleben ein, und damit tritt der Kapitalismus in die
Erscheinung: jenes Wirtschaftssystem, das in wunderbar kunst¬
voller Weise dem Unendlichkeitsstreben, dem Willen zur Macht
dem Unternehmungsgeiste auch und gerade im Gebiete der All-
Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus 329
tagssorge für den Unterhalt ein besonders fruchtbares Feld der
Betätigung eröffnet. Die kapitalistische Wirtschaftsweise besitzt
diese Eignung deshalb', weil unter ihrer Herrschaft im Mittel¬
punkte aller Zwecksetzung nicht eine lebendige Persönlichkeit
mit ihrem natürlichen Bedarf, sondern ein Abstraktum: das
Kapital steht. In dieser Abstraktheit des Zweckes liegt seine
Unbegrenztheit. In der Überwindung der Konkretheit aller
Zwecke liegt die Überwindung ihrer Beschränktheit.
Machtstreben und Erwerbsstreben gehen nun ineinander über :
der kapitalistische Unternehmer, denn so nennen wir die neuen
Wirtschaftssubjekte, erstrebt die Macht, um zu erwerben, und
null erwerben um der Macht nullen. Nur wer Macht besitzt,
kann erwerben; und wer erwirbt, vergrößert seine Macht. Wir
werden sehen, daß sich dabei im Verlauf der Entwicklung: der
Begriff der Macht verschiebt. Wie infolgedessen sich auch die
Typen der Unternehmer verändern ; wie allmählich die Machtmittel
der List und der Überredung die Machtmittel der Gewalt ver¬
drängen; wie immer mehr die händlerischen Veranlagungen über
die Geltung als Unternehmer im 'Wirtschaftsleben entscheidet.
Aber der Kapitalismus ist nicht allein aus diesem Unendlich¬
keitsstreben, aus diesem Machtwillen, aus diesem Unternehmungs-
geiste geboren. Mit diesem hat sich ein anderer Geist gepaart,
der dem Wirtschaftsleben der neuen Zeit die. sichere Ordnung,
die rechnerische Exaktheit, die kalte Zweckbestimmtheit ge¬
bracht hat: das ist der Bürgergeist, der sehr wohl außerhalb
des Kreises der kapitalistischen Wirtschaft wirksam sein kami
und jahrhundertelang wirksam gewesen ist in den unteren
Schichten der städtischen Wirtschaftssubjekte, der Berufshändler
und Handwerker.
Will der Untemehmergeist erobern, erwerben, so will der
Bürgergeist ordnen, erhalten. Er drückt sich in einer Reihe-von
Tugenden aus, die alle darin übereinstimmen, daß als sittlich
gut dasjenige Verhalten gilt, das eine wohlgefügte kapitalistische
Haushaltung verbürgt. Daher sind die Tugenden, die den Bürger
zieren, vornehmlich: Fleiß, Mäßigkeit, Sparsamkeit, Wirtschaft¬
lichkeit, Vertragstreue. Die aus Unternehmungsgeist und
Bürge rgeist zu einem einheitlichen Ganzen ver¬
wobene Seelenstimmung nennen wir dann den kapi¬
talistischen Geist. Er bat den Kapitalismus geschaffen.
Das Problem des „kapitalistischen Geistes“ habe ich ausführlich
und nach allen Seiten behandelt in meinem Buche : Der Bourgeois, das
1913 erschienen ist und den Untertitel trägt: „Zur Geistesgeschichte
330
Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus
des modernen Wirtsehaftsmenscken“. Ich habe deshalb hier, indem
ich mich auf jenes Buch beziehe, nur ganz kurz das Wesen
des kapitalistischen Geistes skizziert und verzichte ganz an dieser
Stelle auf seine Ableitung, der der größte Teil meines
„Bourgeois“ gewidmet ist, um mich nicht wiederholen zu müssen.
Ebenso verweise ich den Leser, der sich für das Problem interessiert :
ob der „Geist“ das „Wirtschaftsleben“ oder dieses jenen „erzeuge“,
auf meine Ausführungen an derselben Stelle. Ich halte im übrigen
das, was ich dort zur Lösung dieses Problems gesagt habe, sehr wohl
der Erweiterung und Vertiefung, vor allem nach der metaphysischen
Seite hin bedürftig,' will aber dieses Werk nicht mit der weitschichtigen
Erörterung gerade dieses Themas belasten, und behalte mir vor, darauf
bei anderer Gelegenheit zurückzukommen.
II. Der h i s t o ri s c h e Aufbau des modernen Kapita¬
lismus
Geschichte schreiben heißt : den Nachweis führen, auf welchen
Wegen sich der Völkergeist seinem Ziele nähert; was ihn bei
seinem Bestreben fördert, was hindert. Anders ausgedrückt:
heißt aufzeigen: in welchem Umfange und durch welche Mittel
die einem Volke oder einer Völkergruppe zugrunde liegende
Idee verwirklicht wird. Auf das Wirtschaftsgeschichtliche und
unsere besondere Aufgabe angewandt: die Geschichte des mo¬
dernen Kapitalismus schreiben heißt: nachzeichnen, wie sich im
Laufe der Jahrhunderte die Idee des kapitalistischen Wirtschafts¬
systems in Tatsächlichkeit verwandelt; wie sich das Wirtschafts¬
leben der europäischen Völker aus dem neuen Geiste in allen
seinen Verzweigungen herausentwickelt.
Im Bilde gesprochen (das auch der Überschrift dieses Unter¬
abschnitts die Fassung gab): wir wollen den „Aufbau“ des
modernen Kapitalismus begreifen. Zu diesem Behufs nehmen
■wir die Wirksamkeit eines unbekannten Baumeisters an, dessen
„Baugesinnung“ uns aber sehr wohl bekannt ist, weil sie uns
in der Seelenveranlagung strebender Menschen offenbar wird,
und verfolgen nun, aus welchen Bestandteilen er seinen Bau
zusammenfügt. Den Bau selber werden wir erst in dem nächsten
Bande dieses Werkes erwachsen sehen. Hier gilt es, zunächst
einmal die „Grundlagen“ und auch die Baumaterialien und die
Bauarbeiter kennen zu lernen.
Der Leser möge sich durch "einen Blick in das Inhalts¬
verzeichnis überzeugen, auf welche Erscheinungen bei der gene¬
tischen Betrachtung des modernen Wirtschaftslebens ich ent¬
scheidendes Gewicht lege. Ob ich die richtige Wahl getroffen
Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus.
331
habe, kann selbstverständlich erst das Studium dieses Werkes
erweisen. Hier will ich dem Leser dieses dadurch zu erleichtern
trachten , daß ich ihm einen Überblick über das weit¬
schichtige Material verschaffe. Ich tue dies, indem ich ihm
die Zusammenhänge aufzeige , die ich erblicke zwischen den
wirkenden Kräften und den verschiedenen Gebieten der geschicht¬
lichen Wirksamkeit, die die folgenden sieben Abschnitte um¬
spannen; zwischen diesen untereinander und zwischen ihnen und
der kapitalistischen Wirtschaft.
Ich sage an einer Stelle einmal: „im Anfang war die Armee“,
und will damit ausdrücken, daß ich in den modernen Heeren
das erste und wichtigste "Werkzeug erblicke , das sich der neue
Geist formt, um sein Werk zu vollbringen. Mit Hilfe der Armee
wird der Staat (2. Abschnitt) geschaffen, dieses erste vollendete
Gebilde des neuen Geistes, in dem und durch den dieser sich
vor allem auswirkt. Um der Naturgewalten Herr zu werden,
trachtet er dann die Technik (3. Abschnitt) umzugestalten,
und sein ihm innewohnender Drang nach Geld und Macht führt
ihn zu den Edelmetallagern (4. Abschnitt), die er ausbeutet.
Diese drei Gebiete erscheinen als selbständige Felder der
Tätigkeit des neuen Geistes, und es läßt sich die eine Strebung
nicht restlos aus der andern ableiten. Wohl aber bemerken wir,
wie sie alle drei in engster Wechselwirkung miteinander stehen.
Das Staatsinteresse ist es vor allem, das, um die Schlagkraft
der Heere zu steigern, auf unausgesetzte Verbesserung der Technik
drängt; es ist es, das die Vermehrung der Edelmetall Vorräte als
wichtigstes Ziel der Politik betrachtet und deshalb die Steigerung
der Edelmetallproduktion betreibt. Sind aber technische^- Fort¬
schritt und Edelmetallproduktion staatsbewirkte Vorgänge, so
sind es doch ebenso sehr Bedingungen staatlicher Entwicklung:
ohne Hochofentechnik keine Kanonen und darum keine modernen
Heere; ohne Kompaß und Astrolabium keine Entdeckung Amerikas
und keine kolonialen Reiche. Ohne die Erschließung reicher
Silberminen und Goldfelder in Amerika kein modernes Steuer¬
system, kein Staatskredit, kein Heer, kein Berufsbeamtentum und
also kein moderner Staat. Aber auch Technik und Edelmetall¬
produktion stehen im Verhältnis engster Wechselwirkung: ohne
Wasserhaltungsmaschine, ohne Amalgam verfahren keine Silber-
* produktion; ohne die Fortschritte der Münzprägung kein modernes
Währungs System. Und umgekehrt: ohne die Sucht nach dem Golde
längst nicht so rasche Fortschritte auf dem Gebiete der Technil^,
332 Erster Abschnitt: Wesen lind Werden des Kapitalismus
Staat, Technik lind Edelmetallproduktion sind gleichsam die
Grundbedingungen der kapitalistischen Entwicklung : immer den
Willen zum Kapitalismus als einen Bestandteil des neuen Geistes
vorausgesetzt. Jede dieser Grundbedingungen läßt sich getrennt
in ihrem Einflüsse verfolgen:
Der Staat, durch sein Heer vor allem, schafft für den Kapi¬
talismus einen großen Markt; durchdringt das 'Wirtschaftsleben
mit dem Geiste der Ordnung und Disziplin. Der Staat erzeugt
durch seine Kirchenpolitik den Ketzer und, indem er die Wande¬
rungen aus religiösen Gründen bewirkt, den „Fremden“: zwei
beim Aufbau des Kapitalismus unentbehrliche Elemente. Der
Staat drängt in die Ferne, er erobert die Kolonien und treibt
mit Hilfe der Sklaverei die ersten kapitalistischen Großbetriebe
hervor. Der Staat pflegt und fördert durch bewußtes Eingreifen
seiner Politik die kapitalistischen Interessen.
Die Technik macht die Produktion und den Gütertransport
im Großen erst möglich (und notwendig) ; sie schafft durch neue
Verfahrungsweisen die Möglichkeiten neuer Industrien, die im
Rahmen der kapitalistischen Organisation erwachsen.
Die Edelmetalle beeinflussen das Wirtschaftsleben in viel¬
facher Hinsicht und wirken selbständig durch ihre Fülle Wunder :
sie bilden den Markt in einer der kapitalistischen Entwicklung
förderlichen Richtung; sie steigern den kapitalistischen Geist,
indem sie den Erwerbstrieb verstärken und die Rechenmäßigkeit
vervollkommnen.
So wirken Staat, Technik und Edelmetalle unmittelbar auf
den Kapitalismus ein. Ihre Förderung der kapitalistischen Ent¬
wicklung ist nun aber in noch stärkerem Maße eine mittelbare,
indem sie nämlich es sind, die eine Reihe anderer wichtiger Be¬
dingungen dieser Entwicklung zur Erfüllung bringen.
Sie sind es, die durch ihr Zusammenwirken die Ent¬
stehung des bürgerlichen Reichtums (5. Abschnitt)
möglich machen. Dieser aber ist eine notwendige Vorbedinguno'
des Kapitalismus , sofern durch ihn : einerseits die Bildung des
Kapitals erleichtert, andererseits ein Ausgabefonds geschaffen
wird, der bei der Neugestaltung des Güterbedarfs (6. Ab¬
schnitt) eine wichtige Rolle spielt. Durch diese erst wird die
Möglichkeit eines Absatzes im Großen geg’eben , wie ihn der
Kapitalismus braucht. Diese Neugestaltung ist aber wiederum
das Werk der drei Grundkräfte: Staat, Technik, Edelmetall¬
produktion, die teilweise direkt (Luxusbedarf der Höfe! Heeres-
bedaifj Schiffsbedarf! Kolonialbedarf!), teilweise durch das
338
Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus
Mittelglied des bürgerlichen Reichtums (Luxusbedarf der neuen
Reichen!) ihren Einfluß ausüben.
Die Beschaffung der Arbeitskräfte (7. Abschnitt) er¬
folgt unter der Einwirkung der Technik größtenteils durch Ver¬
mittlung des Staates auf direktem oder indirektem Wege.
In der Unternehmerschaft, deren Ursprung dann noch
(8. Abschnitt) aufgedeckt wird, werden die Kräfte lebendig, die
bestimmt sind, alle einzeln analysierten Elemente zu dem Kosmos
der kapitalistischen Wirtschaft zusammenzufügen. Sie bewirken
und zwar verschieden je nach der Herkunft; sie sind aber ebenso
bewirkt und bedingt durch all die Umstände, die in diesem Buche
aufgezählt werden: der Staat beeinflußt ihre Zusammensetzung,
sofern er aus seiner Mitte zahlreiche Leiter der neuen Wirt¬
schaftsformen stellt, sofern er durch seine Politik, wie ich schon
sagte, wichtige Typen neuer Wirtschaftssubjekte erzeugt; die
Entstehung des bürgerlichen Reichtums bewirkt, daß in außer¬
bürgerlichen Kreisen ein Anreiz zum erwerbenden Unternehmer-
tum geboten, in vielen Fällen die sachliche Möglichkeit zur
Unternehmertätigkeit erst geschaffen wird usw.
Das alles im einzelnen nachzuweisen, ist ja die Aufgabe
dieses Werkes.
Noch eine einschränkende Bemerkung muß ich der geschicht¬
lichen Darstellung voraufschicken: in den folgenden sieben Ab¬
schnitten dieses Buches werden die Vorbedingungen der kapita¬
listischen Wirtschaft aufgewiesen, die deren Entfaltung in ihren
Anfängen bis zum Ende des früh kapitalistischen
Zeitalters ermöglicht haben. Damit der Kapitalismus in seine
Hochepoche eintreten konnte, mußten andere Bedingungen erfüllt
werden, wie später zu zeigen sein wird. Solange sie nicht erfüllt
waren, also bis etwa in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts,
bestanden „Hemmungen“ der kapitalistischen Entwicklung. Welche
das waren, wird auch zur gegebenen Zeit zu sagen sein.
Jetzt müssen wir erst in langem, innigem Nacherleben uns die
ungeheure Fülle von verwirrenden und sich vielfach durch¬
kreuzenden Tatsachen ins Bewußtsein bringen und vor Augen
stellen, deren Zusammentreffen überhaupt erst kapitalistische
Wirtschaft möglich gemacht hat. Die stete Ausrichtung aller
Geschehnisse und Begebenheiten auf den einen Punkt : was be¬
deuten sie für die Entwicklung des Kapitalismus?
wird uns befähigen, des gewaltigen Stoffes, der sich vor uns
auftürmt, Herr zu werden.
334
Zweiter Abschnitt
Der Staat
Einundzwanzigstes Kapitel
Wesen und Ursprung des modernen Staates
I. Der Begriff des modernen Staates
Das Sachphänomen des Fürstenstaates oder des absoluten
Staates, wie er seit dem Ausgang des Mittelalters in Europa zur
Entfaltung gelangt, beruht in der Tatsache, daß eine große An¬
zahl Menschen — eine große Anzahl: das heißt zunächst mehr
als in einer Stadtgemeinde oder auch in einer „Landschaft11
siedeln — durch den Willen eines Herrschers (oder seines Statt¬
halters) den Interessen dieser Machthaber unterworfen werden.
Daß diese Menschen durch kein Gemeinschaftsband: nicht das des
Blutes, aber auch nicht das der Nachbarschaft oder der Gefolg¬
schaft aneinander geknüpft sind, daß ihre „Vereinigung“ vielmehr
eine „mechanische“ (keine „organische“), eine gemachte (keine
gewachsene) ist, daß sie unter rationalem Gesichtspunkte zu¬
stande kommt : das ist es, was diese Gebilde von allen früheren
politischen Verbänden von Menschen wesentlich unterscheidet.
In dem Staate bricht sich jenes Unendlichkeitsstreben, das
die neue Zeit erfüllt, zuerst und am erfolgreichsten Bahn. Wir
sehen zunächst kraftvolle Einzelpersönlichkeiten sich zu „Ty¬
rannen“ aufschwingen, die dann aber gleichsam über sich selber
hinauswachsen, indem sie sich zur Idee des Staates erweitern.
Das L’etat, c’est moi hat doch auch den Sinn: moi, c’est l’etat.
Und in dieser Ausweitung der fürstlichen Interessen zu den
Staatsinteressen liegt ja die Besonderheit der europäischen
Staatsentwicklung , die diese scharf von allen orientalischen
Despotien scheidet. Das Staatswohl deckt sich mit dem Wohl
des Fürsten, aus dessen Machtvollkommenheit heraus die Idee
der Obrigkeit sich entwickelt.
Einundzwanzigstes Kapitel : Wesen Und Ursprung des modernen Staates 335
Aber so wie sich die Staatsidee von der Person des Fürsten
loslöst, der nur noch ihr sichtbarer Führer, ihre „verkörpernde
Erscheinungsform“ ist und sich verselbständigt: so setzt der
Gedanke der Obrigkeit den Staat auch als etwas vom Volk Ver¬
schiedenes. Und damit gewinnt die Staatsidee wohl eigentlich
erst ihre expansive Kraft ; wird sie wohl eigentlich erst befähigt,
dem imendlichen Machtstreben als regulatives Prinzip zu dienen
und ihm gleichzeitig die Bahn für seine Betätigung frei zu machen.
Losgelöst von den organischen Schranken der Volksgemein¬
schaft entwickelt sich der Staat nach mechanischen Grundsätzen
zum absoluten Staat. Nach außen: indem er nach grenzen¬
loser Expansion strebt, die er durch das mechanisch gegliederte
und damit ebenfalls unbeschränkt ausdehnungsfähige moderne
Massenheer durchzuführen trachtet, das heißt, indem er zum reinen
Machtstaat wird ; nach innen, indem er alle Lebensgebiete
einer bewußten Pegelung unterwirft und seinen Willen zu dem
einzigen Quell des Lebendigen zu machen die Tendenz hat, das
heißt, indem er zum Polizeistaat wird.
Seltsam ist die Übereinstimmung der Entwicklungsreihen des
modern-staatlichen und modern-wirtschaftlichen Lebens. Aber
es wäre ein vergebliches Bemühen, den einen Erscheinungs¬
komplex aus dem andern, die Wirtschaft aus dem Staat, den
Staat aus der Wirtschaft „ableiten“ zu wollen. Beide entspringen
aus gemeinsamer Wurzel und bedingen und bestimmen sich dann
freilich auch wechselseitig.
Wie der Staat durchaus sein eigenes Leben lebt, seine eigenen
Wege geht, unabhängig von aller Wirtschaft, sehen wir ein, so¬
bald wir uns seinen Werdegang vor Augen halten.
H. Der Ur sprung des modernen Staates
Woher der moderne Staat seinen Ursprung genommen habe,
welches Vorbild für ihn bestimmend geworden sei: diese Frage
hat man oft in ganz verschiedenem Sinne zu beantworten unter¬
nommen. Wenn man, wie es oft geschieht, Kaiser Friedrich II.
als den ersten modernen Fürsten bezeichnet, so liegt es nahe,
die Constitutio von 1231 für die Entstehung des modernen
Staates verantwortlich zu machen und diesen somit auf byzan¬
tinischen oder arabischen Einfluß zurückzuführen1. In der Tat
1 Hans Wilda, Zur sicilischen Gesetzgebung, Staats- und Finanz¬
verwaltung unter Kaiser Friedrich II. und seinen normannischen Vor¬
fahren. I.-D. 1889.
336
Zweiter Abschnitt: Der Staat
enthält die Const. Friedr. zum ersten Male eine Eeilie ganz und
gar moderner Verwaltungsgrundsätze: vor allem das Berufs¬
beamtentum, das bis auf Boger zurückreicbt und in der Const.
Friedr. seine systematische Ausbildung erfahren hat. Dann aber
kommen doch wieder Bedenken. Im Staate Friedrichs II. waren
ebenso wesentliche Bestandteile noch mittelalterlich-feudal ge-
blieben: dem Kriegswesen liegt noch die Lehnsidee zugrunde
und was dergleichen mehr ist. Dann ist es aber auch zweifel¬
haft, ob die Staaten der Benaissance ihren Stammbaum auf den
Friederizianischen Staat wirklich zurückführen. In Sizilien selbst,
namentlich auf dem sizilianischen Festlande, sind die Bestim¬
mungen der Const. Friedr. bald von andern Gesetzen über¬
wuchert worden. In Neapel war der Feudalismus selbst durch
Friedrichs II. Gesetzgebung nicht bewältigt worden: unter den
Anjou wurde er wieder die Grundlage der Verfassung und des
Wirtschaftslebens und so folgerichtig durchgeführt, daß dies
noch nach 200 Jahren die Verwunderung des Franzosen Com-
mines erregt: die Beziehungen des Besitzes zum Amt, des Amtes
zum Hofdienst wurden überall streng festgehalten. Freilich
müssen wir uns auch der Tatsache erinnern, daß einer der ersten
ganz modernen Fürsten Alfonso von Aragonien ist, der 1416 — 1458
König von Neapel war, und den wir als den „Musterkönig der
Benaissance“ zu bezeichnen gewohnt sind. Hatte er seine An¬
regungen von seinen Vorgängern auf dem Thron empfangen?
Oder war in ihm türkischer Einfluß lebendig geworden? Denn
schon fing man an, das osmanische Eeich zu studieren und zu
bewundern, das im 16. Jahrhundert im Mittelpunkte des Inter¬
esses aller Staatsmänner stand, und von dem Luther schrieb:
„man sagt, daß kein feiner weltlich Eegiment irgend sei als bei
den Türken.“
Aber vielleicht brauchen wir unsern Blick gar nicht auf die
Länder des Ostens zu richten, wenn wir die Genesis des mo¬
dernen Staates erklären wollen : vielleicht genügen die Elemente
der europäischen Gesellschaft des Mittelalters vollauf, um aus
ihnen das absolute Fürstentum und mit ihm den modernen Staat
abzuleiten. Mir scheint doch, als ob sich ein großer Teil der
Grundsätze und Ideen der modernen Staatskunst folgerichtig
aus der mittelalterlichen Stadt dort, wo sie ihre reinste Aus¬
bildung erfahren hat: in Italien entwickelt hätte. Vor allem
die beiden Grundgedanken des absoluten Staates : den Bationalis-
mus und die Vielregiererei finden wir in den italienischen Städten
Eimmdzwanzigstes Kapitel: Wesen und Ursprung des modernen Staates 337
und Stadtstaaten des 14. Jahrhunderts schon völlig entwickelt.
„Die bewußte Berechnung aller Mittel, wovon kein damaliger
aüßeritalienischer Fürst eine Idee hatte, verbunden mit einer
innei halb der Staatsgrenzen fast absoluten Machtvollkommenheit,
brachte hier ganz besondere Menschen und Lebensformen her¬
vor.“ (Burckhardt.) „Der Fürst, so hören wir schon zur
Zeit des Trecento in Italien, soll selbständig, unabhängig von
den Hofleuten, dabei aber bescheiden und einfach regieren, für
alles sorgen ! Küchen und öffentliche Gebäude hersteilen und
unterhalten, die Gassenpolizei aufrechterhalten, Sümpfe aus¬
trocknen, über Wein und Getreide wachen; strenge Gerechtig¬
keit walten lassen, die Steuern so ausschreiben und verteilen,
daß das Volk ihre Notwendigkeit und das Unbehagen des
Herrschers, die Kassen anderer in Anspruch zu nehmen, erkenne,
Hilflose und Kranke unterstützen und ausgezeichneten Gelehrten
seinen Schutz und Umgang widmen.“ Wiederum "wird sich der
Einfluß der italienischen Entwicklung auf die übrigen europäischen
Staaten nicht im einzelnen einwandsfrei nachweisen lassen. Un¬
verkennbar ist jedoch, daß die Staatsverfassung und die Staats¬
kunst der italienischen Renaissance nicht nur die Theoretiker,
sondern auch die Welt des politischen Handelns überall in hohem
Grade beschäftigt, angezogen und abgestoßen haben. „Unver¬
hüllter und übersichtlicher als anderwärts trat hier die Verwelt¬
lichung des Staates zutage. Hier wurde ganz offen die Macht
zum Selbstzweck, die ratio Status zum obersten Gesetz erhoben,
vor dessen Allgewalt jede sittliche und religiöse Rücksicht . . .
zurückstehen sollte.“
Die Ableitung der Idee des modernen Staates aus den italienischen
Städtestaaten wird uns noch mehr einleuchten, wenn wir uns erinnern,
daß auch der Name „Staat“ zuerst in der italienischen Sprache im
modernen Sinne gebraucht wird. Das Wort Stato finden wir erst in
Verbindung mit dem Namen einer Stadt (stato di Firenze etc.), dann
für jeden Staat angewandt. Nach der Meinung J. Burckhardts
(Kult, der Renaiss. 1 8, 121) hießen die Herrschenden und ihr Anhang
zusammen lo stato, „und dieser Name durfte dann die Bedeutung des
gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren“. In diesem Wandel
der Wortbedeutung käme die Grundidee des modernen Fürstentums:
daß sich das Wohl des Fürsten zum Wohl des Staates erweitert,
zu greifbarem Ausdruck. Vgl. noch G. Je Hin ek, Allgemeine Staats¬
lehre. 3. Aufl. 1914, S. 131 f.
Als dann diese Ideen anf größere Gebiete hinübergriffen, als
aus den kleinen Tyrannen der italienischen Stadtstaaten „Könige“
geworden waren, die nun für ihre großen Reiche dieselbe Macht-
Sombarfc, Der moderne Kapitalismus. I. 2 1
338
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Vollkommenheit in Ansprach nahmen wie jene für ihre Zwerg -
fürstentümer, da mußte bald der Gedanke auftauchen, diese neu¬
entstandenen Herrschaftsverhältnisse mit dem alten imperium in
einen inneren Zusammenhang zu bringen. Mit Hilfe des römischen
Hechtes bildeten die Staatsrechtslehrer des 16. und 17. Jahr¬
hunderts den modernen Souveränitätsbegriff aus: sie gaben damit
„dem aufgeklärten Despotismus das gute Gewissen und die Über¬
zeugungskraft, deren er bei seinem willkürlichen Verhalten sehr
bedurfte.“ Bodin (1530 — 1596), der dieses Werk begann, de¬
finierte ja die Souveränität (majestas) als „summa in cives
legibusque soluta potestas“, gab also dem praktischen „l’etat, c’est
moi“ die theoretische Weihe. Was Bodin, Hobbesu. a. für
die formale Staatslehre leisteten, unternahm Montchretien für
die materiale Staatslehre: die Rechtfertigung der Staatszentrali¬
sation. Damit war der moderne Groß Staat auch als systema¬
tische Einheit vollendet, nachdem er von den „Drei Magiern“,
wie man die großen Könige, die Ende des 15. Jahrhunderts
regierten: Ferdinand den Katholischen, Ludwig XI. und Heinrich
Tudor genannt hat, praktisch zum Leben erweckt worden war.
Eine Stärkung erfährt der absolute Staat dami durch den
Protestantismus, durch den der Begriff des christlichen Staates
und der christlichen Obrigkeit, die unmittelbar von Gott ist, erst
recht begründet werden1.
Die Ideen dieses absoluten Staates und seiner Politik, nament¬
lich auch seiner Wirtschaftspolitik, verbreiteten sich dann in den
folgenden Jahrhunderten über alle Länder. Mag das aufgeklärte
Fürstentum vielleicht auch im Sonnenkönige und in Preußens
Königen seine typischen Vertreter gefunden haben: die Grund¬
sätze ihrer Politik finden wir ebenso in den holländischen Frei¬
staaten wie in dem konstitutionellen, in dem republikanischen
und in dem absoluten England in Anwendung. Wir können sogar
im einzelnen verfolgen, wie die Politik des einen Landes dem
andern Lande die Befolgung derselben Politik abnötigt: wie
beispielsweise Holland durch die Politik Englands und dann
namentlich Frankreichs in das Fahrwasser der merkantilistischen
Politik hineingezogen wird, in dem es dann im 18. Jahrhundert
1 Diese Zusammenhänge werden mit vielem Geist aufgewiesen von
C. B. Hundeshagen, Über einige Momente in der geschichtlichen
Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, in Doves
Zeitschrift f. Kirchenrecht 1 (1861) 232 ff., 444 ff.
Einimdzwanzigstes Kapitel: Ursprung und Wesen des modernen Staates 339
segelt, als es sich darum handelt, die von den französischen
Refugies ins Leben gerufenen Industrien zu schützen1.
HL Die Bedeutung des Staats für den Kapitalismus
Die bedeutsamen Wirkungen, die eine solche künstliche Zu¬
sammenfassung vieler Menschen unter dem Willen einer Person
im Gefolge hat, sind vor allem diese:
Erstens wird, damit jener Zweck des Fürstenstaates : die Be¬
völkerung eines weiteren Landstriches dem Staatszweck dienstbar
zu machen, erfüllt werde, ein System von Mitteln geschaffen,
die selbst von stärkstem Einfluß auf die Gestaltung des Menschen¬
schicksals werden : Kräfte müssen zusammengefaßt , Menschen ,
müssen zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen angeleitet
werden: eine „Organisation“, ein Verwaltungsapparat entsteht'
Und dieses System von Herrschaftsmitteln gewinnt dann selbst
wieder Leben und wirkt weiter als Subjekt und Objekt im Ablauf
der Geschichte.
Zweitens werden die „Untertanen“, das heißt also die Objekte
der Staatszwecke in ihrer eigenen Lebensgestaltung beeinflußt:
die Einrichtungen des Staates greifen in jedes Einzelnen Leben
hinein und führen gleichzeitig die vielen zu einer engeren Lebens¬
gemeinschaft zusammen, verbinden sie, die früher unverbunden
waren.
In Europa, wissen wir, ist die lange Epoche seit den Kreuz¬
zügen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, just jene Zeitspanne,
die wir als die Epoche des Frühkapitalismus bezeichnen, durch
die Entwicklung des absoluten Fürstentums gekennzeichnet, im
Rahmen dessen also rein äußerlich der moderne Kapitalismus
zur Entfaltung kommt.
Aber ein großer Teil der Lebensäußerungen des modernen
Staates steht auch innerlich mit der Genesis des modernen
Kapitalismus in irgendwelchem Zusammenhänge ; hat für ihn als
Vorbedingung oder als Förderung oder auch als Hemmung zu
gelten. Das sind aber mehr als es auf den ersten Blick scheinen
möchte. Denn wenn auch eine bewußte unmittelbare Förderung
der kapitalistischen Entwicklung nur in der Wirtschaftspolitik
des „Merkantilismus“ zutage tritt, so sind doch andere Zweige
des staatlichen Lebens ungewollt und mittelbar für die Aus-
1 E. Laspeyres, Geschichte der Volkswirtschaft!. Anschauungen
der Niederländer (1863) 124 ff., 134 ff.
340
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Wirkung kapitalistischen Wesens von außerordentlich hoher Be¬
deutung geworden, wie das im Verlaufe dieser Untersuchungen
im einzelnen nachgewiesen werden wird.
Diejenigen Gebiete der staatlichen Verwaltung, die solcher¬
weise für unsere Betrachtungen von Wichtigkeit sind , sind
folgende :
1. das Heerwesen;
2. die Gewerbe- und Handelspolitik;
3. die Verkehrspolitik;
4. die Münz- und Währungspolitik;
5. die Kolonialpolitik;
6. die Kirchenpolitik ;
7. die Arbeiterpolitik ;
8. die Finanz Wirtschaft.
Die ersten sechs Gebiete werden in diesem Abschnitte ab¬
gehandelt, da sie ausschließlich Äußerungen der Staatsgewalt
sind und als solche verstanden werden können. Der unter 7
genannte Zweig der Politik muß dagegen im Zusammenhang
mit anderen Erscheinungen behandelt werden, die erst in einem
späteren Stadium der Gedankenentwicklung auftauchen, da sie
ohne diese unverständlich sind. Er bildet deshalb den Gegen¬
stand eines besonderen Abschnittes.
Die staatliche Einanzwirtschaft wird dem Plane dieses Werkes
gemäß in folgendem Zusammenhänge ihre Erledigung finden:
1. in dem Kapitel über das Geldwesen; 2. als „Hemmung“ der
kapitalistischen Entwicklung (2. Band) ; 3. als Anregerin für
Lebensäußerungen kapitalistischen Wesens, deren Erörterung und
genetische Darstellung einem späteren Bande Vorbehalten sind
(Börsenwesen, Efiektenwesen usw.); 4. als Quelle der Bereiche¬
rung findet die Finanzwirtschaft der modernen Staaten ausgiebige
Berücksichtigung in dem Abschnitt, der der Geschichte des
bürgerlichen Eeichtums gewidmet ist.
Literatur zu diesen wenigen allgemeinen Bemerkungen aber Wesen
und Ursprung des modernen Staates, die lediglich den Zweck einer Ein¬
führung in das folgende haben, anzugeben, hat wenig Sinn. Werke, die sich
das hier erörterte Problem grundsätzlich und in allgemeiner Betrachtung
eigens zum Vorwurf gemacht hätten, gibt es meines Wissens nicht.
Bücher wie die von J. Ferrari, Iiistoire de la raison d’Etat, 1860
(das übrigens durch seine eigenartige Bibliographie der italienischen
politischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts wertvoll ist),
Franz Oppenheimer, Der Staat (1907), und ähnliche sind doch zu
allgemeinen Inhalts, um die hier gesuchte Einsicht wesentlich zu fördern.
Einundzwanzigstes Kapitel : Wesen undUrsprung des modernen Staates 341
Das Werk von Sam. Max Melamed, Der Staat im Wandel der Jahr¬
hunderte (1910), enthält nicht, was man dem Titel nach erwartet: nicht
der Staat, sondern die Staatstheorien werden in ihren Wandlungen ver¬
folgt. Einige der Allgemeinen Staatslehren enthalten kurze
geschichtliche Übersichten über die verschiedenen Staatsformen der
Vergangenheit. So namentlich Jellinek, a, a. 0. S. 287 ff. Man ist aber*
doch hier im wesentlichen angewiesen auf die Geschichtsdarstellungen,
die diese Periode zum Gegenstände haben. Am meisten Aufklärung
findet der für die Allgemeinheit der Entwicklung interessierte Studien¬
beflissene noch immer in Jacob Burckhardts unübertroffener „Kultur
der Renaissance“ sowie in den Werken Rankes, die sich ja gerade
mit dem 16., 17. und 18. Jahrhundert besonders eingehend befassen.
Leider versagt Ranke freilich in den wirtschaftshistorischen Teilen
fast ganz. Aus der neuen Literatur sei auf den Band in der „Kultur der
Gegenwart“ verwiesen, der „Staat und Gesellschaft der neueren Zeit“
behandelt (V erf. Bezold, Gothein, Koser), und in dem die Arbeit
von Bezold über die Reformationszeit besonders wertvoll ist.
Daß in die hier umschriebene Interessensphäre auch diejenige
Literatur hineinragt, die die Staatstheorien in ihrer geschicht¬
lichen Entwicklung zur Darstellung bringt, versteht sich von
selbst. Einen interessanten Versuch, die Bildung der modernen Staaten
unter wesentlich geographischem Gesichtspunkt zu schildern, enthält
das Buch von Aug. Hirn ly, Histoire de la formation territoriale de
l’Europe centrale. 2 Vol. 1876.
342
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Das Heeres wesen
Vorbemerkung. Literatur
Aus Blut und Eisen ist der moderne Fürstenstaat aufgebaut. Nach
innen wie nach außen wurde er so stark und so groß, wie die Macht
seines Schwertes reichte. Entwicklung des modernen Staates und
Entwicklung des Heereswesens sind daher gleichwertige Begriffe. Aus
diesem Grunde wird jeder, der irgend etwas vom modernen Staat
aussagen will, die Eigenart der militärischen Verhältnisse in Rücksicht
ziehen müssen.
Aber nicht nur deshalb spreche ich hier von der Begründung und
Ausweitung der modernen Heere, sondern auch und vor allem aus
dem Grunde : weil gerade von dieser Seite her der Kapitalismus eine
wesentliche und weite Gebiete berührende Förderung erfahren hat,
also daß die Herausbildung des Militarismus als eine der Vor¬
bedingungen des Kapitalismus erscheint.
Ich bin diesen Zusammenhängen , die zwischen Militarismus und
Kapitalismus obwalten, nachgegangen in meiner Studie: ..Krieg und
Kapitalismus“ (1912), auf die ich den Leser verweise, wenn er
ausführlicher den Sachverhalt erfahren will, als ich ihn hier darstellen
kann. Der Leser findet dortselbst im Anhänge auch eine Auswahl
der wichtigsten militärwissenschaftlichen Werke verzeichnet, die ihm
als literarischer Wegweiser bei weiterem Eindringen in das
Gebiet der heeresgeschichtlichen Probleme dienen können.
Dem Gesamtplan dieses Werkes gemäß bringe ich in diesem
Kapitel zunächst nur die Tatsache der militärischen Organisation der
modernen Heere und Flotten, die als ein Werk der Staatsverwaltung
erscheint, sowie ihre Entstehungsweise, soweit sie zum Verständnis
notwendig ist, zur Abhandlung. Je an den besonderen Stellen werden
dann später die Wirkungen aufgewiesen, die von der Neuordnung
des Heereswesens auf den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung
ausgegangen sind.
I. Die Entstehung der modernen Heere
1. Die Herausbildung' der neuen Organisationsfornien
a) Das iMndlieer
> Das moderne Heer ist ein stehendes und ist ein Staatsheer.
Die beiden schon immer vorhandenen Tendenzen: den Fürsten
(als Vertreter des Staates) zum alleinigen Befehlshaber zu machen
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen
348
und ihm dauernd die Truppen zur Verfügung zu stellen, wirken
also bis zrun letzten Ende weiter, bis die Grundsätze zu all¬
gemeiner Geltung gelangt sind. Dieser Sieg der beiden Prinzipien
findet seinen äußeren, man wäre versucht, zu sagen : symbolischen
Ausdruck, wenn dieser Ausdruck nicht gleichzeitig eine so sehr
reale Bedeutung für die Grundideen des modernen Heeres hätte :
in der dauernden Bereithaltung oder Bereitstellung von Geld¬
mitteln zur Beschaffung und Ausrüstung der stehenden, staat¬
lichen Truppen; von Mitteln, über die der Fürst frei zu verfügen
hat, also daß er dadurch die zeitliche Dauer wie auch die ad¬
ministrative Durchdringung des Heeres von seinem V illen ab¬
hängig machen kann: in dieser nunmehr geschaffenen materiellen
Potenz des Fürsten vereinigen sich die beiden wesentlichen
Merkmale des modernen Heeres: daß es stehend und daß es
staatlich ist, wie von selbst zu einer organischen Einheit. . Der
Fürst verfügt nunmehr über „Mittel und Volk , und damit ist
das Heer in seiner neuen Form gewährleistet; damit ist es zu
dem geworden, was es zu sein bestimmt war: zum Schwert in
der Hand des Fürsten, dem es wiederum erst zu seiner Eigenart
verhilft: da in der politischen Welt „ein Herr in keiner Con-
sideration ist, wann er selber nicht Mittel und Volk hat , wie
es der Große Kurfürst in seinem politischen Testamente von
16C7 ausdrückt.
Hat man die innige Zusammengehörigkeit der drei Momente :
Mittelbeschaffung, Kontinuität und staatliche Verwaltung und
ihre grundlegende Bedeutung für die Herausbildung des modernen
Heeres erkannt, so ist man allerdings geneigt, den Reformen
Karls VII. von Frankreich epochemachenden Charakter zu¬
zusprechen h
Was sich in Frankreich schon um die Mitte des 15. Jahr¬
hunderts abspielte, wiederholte sich in anderen europäischen
Staaten erst zwei Jahrhunderte später. In England fallt die
Konsolidierung der Armee doch erst in die Zeit des Common¬
wealth 1 2.
Für Deutschland, das heißt für die deutschen Landesfursten,
ist, möchte mir scheinen, der Artikel 180 des Reichstags-
1 Über diese unterrichtet am klarsten und kürzesten Ranke,
Franzos. Geschichte la (1877), 55 ff. Vgl. Krieg u. Kap*, 25 f.
2 Quellen bei J. W. Fortes cue, Hist, of the British Army 1
(1889), 204 sag.
344
Zweiter Abschnitt: Der Staat
abschieds vom 17. Mai 1654 von entscheidender Wichtigkeit
o
geworden x.
Im Anfang des 18. Jahrhunderts steht das moderne Heer in
seiner staatsrechtlich-verwaltungstechnischen Gestalt fertig da.
In Preußen, dem nunmehr führenden Lande, bezeichnet die
Kabinettsorder vom 15. Mai 1713 den Abschluß der Neubildung1 2.
o
Aber wenn wir uns „das moderne Heer“ in seiner ganzen
Eigenart vor Augen stellen, so erscheinen in dem Bilde doch
deutlich noch andere Züge als sein verfassungs- und verwaltungs-
hafter Charakter: das moderne Heer ist auch militärtechnisch
eigenartig bestimmt. Und zwar stellt es sich uns dar als das,
was man ein Kollektivheer oder ein Massenheer oder auch
ein Truppenheer nennen könnte und unterscheidet sich dadurch
ebenfalls scharf von allen mittelalterlichen Heeren.
Die Besonderheit eines solchen Massenheeres liegt darin, daß
es vor allem durch seine Größe, durch die zu einer taktischen
Einheit zusammengefaßten, von einem gemeinsamen Geist be¬
seelten vielköpfigen Kriegerhaufen wirkt. Die Gemeinsamkeit des
Geistes wird durch das Kommando hergestellt, das von den
Führern ausgeht. Die Funktionen der (geistigen) Leitung und
der (körperlichen) Aktion sind also getrennt und -werden von
verschiedenen Personen ausgeübt, während sie früher in einer
und derselben Person zusammengefügt waren. Es hat sich jener
Differenzierungsprozeß vollzogen, der für die gesamte moderne
Kulturentwicklung so außerordentlich charakteristisch ist.
Vor allem drängt sich die Analogie der Entwicklung in der
Organisation des Wirtschaftslebens auf: vom Handwerk zum
Kapitalismus.
Diese Differenzierung der leitenden und aus¬
führenden Funktionen zieht dann eine ganze Menge von
Erscheinungen nach sich, die das moderne Heerwesen kenn¬
zeichnen : vor allem das Exerzieren und die Disziplin, durch die
auf mechanischem Wege die Verbindung zwischen leitenden und
ausführenden Organen hergestellt werden muß. Im „Gleichtritt“,
den die Griechen und Römer geübt hatten, den die Schweizer und
1 J a n y , Die Anfänge der alten Armeen. Urk. Beiträge und
Forschungen z. Gesch. des preuß. Heeres, hrsg. vom Großen General¬
stab, Heft 1 (1901), 118 f.
2 Zum ersten Male verwertet bei M. Jähns, Gesch. der Kriegs-
Wiss. (1889 — 4891) 2, 1554. Vgl. G. Schmoller, Die Entstehung
des preuß. Heeres in seinen „Umrissen“, 267.
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen 345
Schweden wieder übten, den Leopold von Dessau in der preußischen
Armee zur Regel machte, begrüßt das moderne Heer gleichsam
sein Symbol.
Sicherlich hätte das moderne Fürstentum diese Form der
Heeresbildung aus sich selber heraus erzeugt, auch ohne Vor¬
bilder, just wie der moderne Kapitalismus mit zwingender Not¬
wendigkeit die großbetrieblichen Formen der Arbeitsorganisation
aus sich und seinem innersten "Wesen heraus entwickeln mußte,
weil diese äußeren Erscheinungsformen in ihnen selbst ein¬
geschlossen lagen.
Das moderne Fürstentum mußte das differenzierte Massenheer
aus sich heraus erzeugen, weil dieses allein dem ihm innewohnenden
Drang nach Ausdehnung, nach Machtentfaltung gerecht
wurde. Die Waffentechnik mag dabei mitgesprochen haben. Aber
eine primär wirkende Ursache ist sie bei der Herausbildung der
modernen Heeresorganisation nicht gewesen (ebensowenig — der
Vergleich drängt sich unwillkürlich immer wieder auf — wie
bei der Herausbildung der großbetrieblichen Formen im Rahmen
des kapitalistischen Wirtschaftssystems). Die taktische Einheit
des G-e vierthaufens , in dem das moderne Massenheer zuerst in
die Erscheinung tritt, hat zur waffentechnischen Grundlage die
Pike und hat erst stark umgeändert werden müssen, um das
Schießen mit Feuerwaffen zu ermöglichen. Dann hat später natür¬
lich die Feuerwaffentechnik mit ihrer monoton-mechanischen
Wirkung die Organisation des Massenheeres gefestigt, hat dieser
gleichsam den automatischen Zug eingeprägt und hat die ehedem
rein aus freiem Entschlüsse gebildete Formation zur Notwendig¬
keit gemacht (wie die Dampftechnik die Manufaktur zur Fabrik
übergeführt hat).
Ursprünglich aber ist die Form des Massenheeres frei vom
modernen Fürsten geschaffen worden, um seinem innersten Wesen
Ausdruck zu verleihen: nur in ihm lag die Möglichkeit einer
raschen und unausgesetzten Ausweitung eingeschlossen. In der
Differenzierung zwischen leitender und ausführender Arbeit, in
der dadurch bedingten mechanischen Übertragung der Fertig¬
keiten lag die Gewähr, in kurzer Zeit eine beliebige Masse un¬
geschulter Menschen zu tüchtigen Kriegern heranzubilden. In
dem Maße natürlich, wie der taktische Erfolg immer mehr auf
der Massenwirkung aufgebaut wurde, was in steigendem Umfange
der Fall war mit dem Eindringen der Feuerwaffen, wuchs der
Zwang zur Vergrößerung der Heere, von deren Umfang (bei
346
Zweiter Abschnitt: Der Staat
sonst gleichen Umständen der Ausbildung, Ausrüstung usw.) die
Größe der Macht des Staates nunmehr abhing.
b ) Die Flotte
Gewiß weist die Organisation des Seekriegs viel gemeinsame
Züge mit der des Landkriegs auf. Vor allem begegnen wir bei
der Marine vielfach den gleichen Formen der Heeresaufbringung
wie beim Landheer: es gibt ebenso das Aufgebot wie das Söldner-
tnm wie das Condottieriwesen zu Wasser wie zu Lande.
Aber was das Seekriegswesen vom Landkrieg unterscheidet,
ist doch vielleicht noch mehr und bedeutsamer. Vor allem: es
hat nie einen Ritter zur See gegeben. Jene aus dem Mutter¬
boden der eigenen Scholle erwachsenen Einzelkrieger, die das
Heerwesen des Mittelalters so charakteristisch gestalten, fehlten
aus rein äußerlichen Gründen im Seekriege. Die Taktik mußte
hier grundsätzlich von Anfang an auf Massenwirkung ausgehen.
Wenn auch beim Entern des feindlichen Schiffes der Einzeikampf
gepflegt wurde: die kriegerischen Erfolge hingen doch im wesent¬
lichen ab von der guten Manövrierung des Schiffes, die immer
das Werk von vielen ist, unter denen einer befiehlt, während
die anderen seine AVeisungen ausführen. AVelch ein Unterschied
(genau in denselben Jahrhunderten) zwischen einer Ritters chlacht
und dem Kampf etwa venetianischer und Genueser Galeeren,
wo Hunderte von Sklaven auf den Ruderbänken sitzen!
Die zweite Eigenart des Seekrieges liegt in der Tatsache be¬
gründet, daß die Kriegführung immer an einen außerordentlich
starken Aufwand sachlicher Natur gebunden ist, der die persön¬
liche Leistung oft weit an Bedeutung übertrifft. Zu der voll¬
ständigen Ausrüstung des Kriegers tritt noch das Schiff, das
herzustellen und zu bewegen unverhältnismäßig viel größere
Mittel erfordert als die Bereitstellung von AVaffen für den Einzel¬
krieger und selbst als die Herbeischaffung eines Streitrosses.
Und was das Sonderbare ist : diese allerwichtigsten Zubehöre
bei der Kriegsführung hält der gewöhnliche Kaufmann jederzeit
bereit in Gestalt seiner Handelsschiffe.
Aus dieser seltsamen Tatsächlichkeit hat sich frühzeitig ein
dem Seekriegswesen eigentümliches System der Heeresorganisation
herausentwickelt: die Nutzbarmachung der Handelsflotte für
Kriegszwecke. Dieses System finden wir bei allen seefahrenden
Nationen Europas während des ganzen Mittelalters in Anwendung b
1 Siehe Krieg und Kap., S. 35.
Zweiundzwauzigstes Kapitel: Das Heereswesen
347
Auf der anderen Seite liat die überwiegende Bedeutung des
Sachaufwandes beim Seekriege früher zu so etwas geführt, was
man eine stehende Flotte nennen könnte. Hat ein Fürst
einmal die Mittel, sich Schiffe zu bauen, so bleiben ihm diese
auf längere Zeit zur Verfügung; sie heischen nicht wie der
Krieger unausgesetzt neue Aufwendungen. Natürlich bedarf es
nun erst noch der Matrosen und der Seesoldaten, um Krieg zu
führen. Aber in den Schiffen besitzt der Fürst doch einen wesent¬
lichen Teil der Heeresmacht, die also „stehend“ ist, solange die
Schiffe brauchbar sind. Es scheint fast, als ob Könige und
Städte schon frühzeitig einen Bestand an eigenen Schiffen ge¬
habt haben1.
Auch die Verstaatlichung der Kriegsmarine reicht
viel weiter zurück als die Verstaatlichung der Landheere. Es
scheint liier die strafrichterliche Gewalt des Königs die Brücke
gebildet zu haben zwischen den selbständigen Schiffsmannschaften
und der Oberhoheit des Königs2.
2. Die Ausweitung des Heereskörpers
Ich sagte, daß die dem modernen Heere innewohnende Ver¬
größerungstendenz seine für uns in diesem Zusammenhänge
wichtigste Eigenart darstelle, weil sie, wie sich aus der späteren
Darstellung ergeben wird, wichtigste ökonomische Wirkungen
nach sich zieht.
Um eine deutlichere Vorstellung von diesem Phänomen der
Expansion der modernen Heere zu geben, will ich die Ziffern
der Heeresstärken für die Hauptstaaten hier mitteilen.
a) Die Lanclheere
Eines der wichtigsten Ergebnisse, zu dem Hans Delbrück
im dritten Band seiner Geschichte der Kriegskunst gelangt3, ist
der Nachweis, daß das Mittelalter durchgehend kleinere
Heere gehabt hat, als man bisher annahm. Damit ist für die
Kriegführung dasselbe nachgewiesen , was ich für den Handel
gezeigt habe, was viele andere schon früher für die allgemeinen
1 Krieg und Kap., S. 35.
3 So in England: Laird Clowes, The Royal Navy, 1897 f-, und
Frankreich: Krieg und Kap., S. 36 f.
8H Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der
politischen Geschichte. Dritter Band: Das Mittelalter. 1906.
348
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Bevölkerungsverhältnisse , namentlich • die Einwohnerzahl der
Städte, dargetan hatten : die äußere Kleinheit der mittelalterlichen
Welt (die ihre innere Größe um so imposanter erscheinen läßt).
In der Schlacht vor Hastings hatte man früher Hunderttausende,
ja Millionen (eine Schätzung kommt bis auf 1 200000) miteinander
streiten lassen; sehr wahrscheinlich zählte in Wirklichkeit das
normannische Heer weniger als 7000 Krieger, sicher nicht viel
mehr; das Heer Haralds war noch schwächer: 4000 — 7000.
Selbst die Kreuzzugsheere, die wohl die größten des Mittel¬
alters waren, sind verhältnismäßig klein: die höchste Zahl der
Reiter, die in einer Schlacht in Palästina gekämpft haben, dürfen
wir auf 1200, die der Fußgänger auf 9000 ansetzen.
Die größte Armee, die das Mittelalter wohl gesehen hat, war
die, die Eduard in. 1347 bei Calais zusammenzog; sie be¬
stand aus 32 000 Mann: eine wie Delbrück seiner Berechnung
hinzufügt1, „für das Mittelalter unerhörte Kriegsmacht“. Und
wir müssen bei all diesen Ziffern immer noch bedenken, daß
diese großen Heere immer auf ganz kurze Zeit beieinander ge¬
halten werden konnten.
Demgegenüber erscheinen uns die modernen Heere’ schon am
Ende des 18. Jahrhunderts, bis zu dem wir ihre Entwicklung
liier verfolgen, ins Riesenhafte gewachsen.
Die Stärke der stehenden Heere sämtlicher
europäischer Staaten in der zweiten Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts gibt der kundige Mitarbeiter bei Krünitz (Bd. 50,
S. 746), dessen die Bände 50 bis 53 füllenden Artikel über das
Kriegswesen sich durch große Sachkenntnis auszeichnen, auf
Grund offenbar bester Quellen einzeln an, bis auf Mecklenburg-
Strelitz, dessen Kriegsmacht 50 Mann groß war, herab. Danach
betrug die Zahl der Truppen in den vier großen Militärstaaten:
Österreich im Frieden .... 297 000 Mann,
„ im Kriege .... 363000 „
Rußland, reguläre Truppen . . 224 500 „
Preußen . 190 000 „
Frankreich . 182 000
1 H. Delbrück, a. a. O. S. 476; die übrigen Zahlen ebenda
S. 153. 229. 344. 363. 404. Vgl., auch für die folgende Darstellung,
Krieg und Kap., S. 37 ff.
Zweiundzwanzigates Kapitel : Das Heereswesen
349
h) Die Flotten
ß) Die italienischen St aaten
Im 13. Jahrhundert war die größte Seemacht Europas die
Republik Genua. Ihre Kriegsflotte war um diese Zeit selbst für
heutige Begriffe nicht klein, für mittelalterliche Verhältnisse
geradezu unwahrscheinlich groß. Die Ziffern sind aber kaum
zu beanstanden; sie erwecken durch ihre Ungeradheit Vertrauen.
Die Quelle sind die Annales Januenses. Auch der gewissenhafte
Heyok1 * nimmt an, daß sie der Wirklichkeit entsprechen.
Schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts (1147 — 1148) werden
G3 Galeeren und 163 andere Fahrzeuge gegen die spanischen
Sarazenen ausgesandt. 1242 fochten 83 Galeeren, 13 Tariden
und 4 große Lastschiffe gegen die sizilianisch-pisanische Flotte.
1263 kreuzen 60 genuesische Kriegsgaleeren in den griechischen
Gewässern. 1283 sollen gar, die kleineren Geschwader ein¬
gerechnet, 199 Galeeren in Dienst gestellt sein. Bedenken wir, daß
eine Galeere 140 Ruderer hatte, daß also auf 199 Galeeren
27 860 Ruderer (olme die Krieger !) gewesen wären. Da werden
wir annehmen müssen, daß die 199 Galeeren nacheinander
bemannt und ausgesandt wurden. Wir sind aber auch über die
Größe des Mannschaftsaufgebots unterrichtet: 1285 stellte die
Republik 12085 Mann aus ihrem Bezirk an der Riviera in Dienst;
davon waren 9191 Ruderer, 2615 Seesoldaten und 279 Schiffer
(nauclerii). Sie verteilen sich auf 65 Galeeren und 1 Galion.
ß) Spanien
Die „Felicisima Armada“, die 1588 von England besiegt wurde,
bestand, als sie aus Lissabon aussegelte (ins Gefecht kamen dann
2 Schiffe weniger), aus 130 Segeln und 65 Galeeren. Diese
Schiffe hatten einen Ladegehalt von 57 868 t und eine Besatzung
von 30656 Mann „ohne Freiwillige, Priester und andere Zivil¬
personen“ 3.
y) Frankreich
Frankreichs Kriegsflotte wird zu ihrer imponierenden Größe
vornehmlich durch Colbert hinaufgehoben.
Bei seinem Tode (1683) war die Gesamtzahl der bereits fertigen
1 Ed. Heyck, Genua und seine Marine. 1886; ein vorzügliches
Werk. . . .
3 C. F. Duro, La Armada Invincible, 1884, doe. 110; zitiert bei
Laird Clowes, 1, 560.
B50
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Kriegsschiffe auf 176 gestiegen1, zu denen noch 68 im Bau be¬
findliche kamen, so daß sich ein Gesamtbestand von 244 ergab.
Davon waren:
ersten Banges . 12
zweiten „ 20
dritten „ 39
vierten bis sechsten Banges .... 71
Hilfsschiffe . 44
ö ) Niederlande
Auch die holländische Kriegsflotte entwickelt sich innerhalb
weniger Jahrzehnte während des großen 17. Jahrhunderts aus
kleinen Anfängen zur damals vielleicht ersten und stärksten Flotte
Europas.
Noch in den Jahren 1615 — 1616 2 besteht die niederländische
Seemacht aus nur 43 meist winzigen Schiffen, von denen 4 je
90, 11 zwischen 50 und 80, 9 je 52 Mann Besatzung hatten,
während 19 noch kleiner waren. Das ergibt 2000 bis höchstens
3000 Mann Besatzung. Im Jahre 1666 stellten die Vereinigten
Niederlande den Engländern eine Flotte von 85 Schiffen mit einer
Besatzung von 21 909 Offizieren und Mannschaften gegenüber.
f) Schweden
Schweden war im 16. und 17. Jahrhundert eine bedeutende
Seemacht. Seine Kriegsflotte nimmt ihren Anfang unter Gustav
Wasa im Jahre 1522. Im Jahre 1566 weist die Schiffsliste schon
einen Bestand von 70 Schiffen auf. Einen neuen Aufschwung
erlebt sie dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts: 1625 werden
21 neue Schiffe gebaut, 30 Galeeren dienstbereit gemacht3.
t) England
Das rasche Aufsteigen dieser größten europäischen Seemacht
hat seinesgleichen nur in der plötzlichen Entfaltung des preußi-
1 Nach den amtlichen Listen : E. Sue, Histoire de la marine
francaise. 4 Vol. 1837. 4, 170.
2 J. C. de Jonge, Geschiedenes van het Nederlandsche Zee-
Avezen. 10 Bde. 1858 Vol. I, Bijlage XII.
8 App. A. in Publ. of the Navy Records Society Vol. XV, 1899.
Für Rußland unter Peter d. Gr. vgl. : History of the Russian Fleet
during the Reign of Peter the Great. By a Contemporary Englishman
(1724). Edit. by Vice-Adm. Cyprian A. G. Bridge in den genannten
Publications.
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heeresweeen
851
sehen Heerwesens. Die Entwicklung1 setzt etwa zur Zeit
Heinrichs VIXI. ein.
Gegen Ende unserer Epoche ist der Bestand der englischen
Marine folgender (am 31. Mai 1786 nach den Admiralitätsregistern) :
292 Kriegsschiffe, davon
114 Linienschiffe,
13 5ö-Kanonenschiffe (den Linienschiffen ähnlich),
113 Fregatten,
52 Kriegsschaluppen.
Die Linienschiffe haben zwischen 500 und 850 Mann Be¬
satzung. In beständigem Solde stehen 18000 Seeleute, nämlich
14140 Matrosen und 3860 Seesoldaten.
Ihr Gesamttonnengehalt hatte schon 1749 228 215 t betragen.
Der Kriegsflottenbestand in den europäischen Staaten
am Ende des 18. Jahrhunderts (nach Krünitz: siehe die Be¬
merkung auf S. 348) war folgende :
Gr o ßbr itanni en
Frankreich .
Vereinigte Niederlande .
Dänemark und Norwegen
Sardinien . .
Venedig . .
Beide Sizilien
Schweden . .
Portugal . .
Kirchenstaat
Toscana . .
. 278 Kriegsschiffe
(davon 114 Linienschiffe)
. 221 Kriegsschiffe
95
60 armierte Fahrzeuge
32 Kriegsschiffe
30
25 „
25 Linienschiffe
24 Kriegsschiffe
20 .
„einige Fragatten“.
II. Die Grundsätze der Heeresausrüstung
Die Or gani s atio n der Heeresausrüstung2 bildet einen
Teil der Heeresverwaltung. Sie stellt sich zur Aufgabe, das
Heer mit allen für seine Existenz und sein richtiges Funktionieren
notwendigen Sachgütern zu versorgen. Diese Sachgüter sind ;
1. die Waffen;. 2. die Beförderungsmittel, also namentlich Pferde
und Wagen; 3. die Unterhaltsmittel, also die Nahrung, die
•Kleidung und die Wohnung. Je nachdem es sich um die Be-
1 Ausführlich dargestellt in Krieg und Kap., S. 46 ff.
2 Siehe die ausführliche Darstellung in Krieg und Kap., S. 66 ff.
352
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Schaffung dieser oder jener Kategorie von Sachgütern handelt,
erwächst das Problem der
Bewaffnung,
Berittenmaclfung (Beförderung),
Beköstigung,
Bekleidung, *
Behausung
des Heeres.
Die wichtigsten Zweige der Heeresausrüstung haben folgende
Entwicklung genommen :
1. Die Bewaffnung
Der Krieger des Mittelalters, mochte er Ritter oder Land¬
stürmer oder Söldner sein, brachte der Regel nach seine Waffe
und Wehr selbst mit.
Das mußte sich ändern, und zwar zunächst aus -rein pro¬
duktionstechnischen, äußeren Gründen, als man aus Kanonen
mit Pulver zxx schießen gelernt hatte. Diese Waffen konnte
der Einzelkrieger beim besten Willen nicht selbst mitbringen.
Wir sehen deshalb frühzeitig Städte und Staaten sich um die
Beschaffung der groben Geschütze kümmern. Den äußeren Aus¬
druck findet diese Fürsorge in der Anlage von Zeughäusern oder
Arsenalen, in denen die Kanonen, die man jeweils einer Truppe
zur Verfügung stellte, aufbewahrt wurden. Anfangs sind es
städtische, später staatliche Arsenale. So hat im 15. Jahrhundert
die Stadt Paris ein prächtig ausgestattetes Zeughaus 1 2 ; ebenso
die Städte Mons, Brügge3.
Im 16. Jahrhundert bemühten sich die Fürsten, zahlreiche
Arsenale zu errichten. Allen voran waren die beiden großen
Militärmächte der Zukunft, Frankreich und Brandenburg-Preußen.
Welche Ausdehnung die Zeughäuser bis zum Ende des
17. Jahrhunderts in allen europäischen Staaten gewonnen hatten,
lehrt uns ein Blick in „Das neueröffnete Arsenal“ 3, das uns im
vierten Abschnitt ein Verzeichnis gibt „von den Stellen, wo Ge¬
schütz und Ammunition verfertigt, aufbehalten und gebraucht
wird“.
1 E. Bo utaric; Institutions militaires de la France (1863), 360 seg.
2 M. Guillaume, Hist, de 1’ Organisation mil. sous les ducs de
Bourgogne (1847), 78, 102/3.
3 „Das neueröffnete Arsenal“ bildet einen Teil des „Neueröffneten
Rittersaales“. 1704.
Zweiiindzwanzigstes Kapitel: l)^s Hecrcswcsoii
353
Nun ist aber hier anzumerken , daß in den Arsenalen und
Zeughäusern keineswegs nur das „grobe Geschütz“ aufbewahrt
wurde , daß in ihnen vielmehr auch Schutz- und Trutzwaffen
anderer Axt lagen. Damit ist die Tatsache erwiesen, daß das
gesamte Bewaffmmgswesen in der Zeit vom 15. bis 17. Jahr¬
hundert von einer Tendenz zur Verstaatlichung ergriffen wird,
da natürlich die in den Zeughäusern stapelnden "Waffen dazu
dienten, den Kriegern unentgeltlich oder gegen Entgelt, das
bleibt sich gleich, geliefert zu werden.
Die nachweislich erste Versorgung der Krieger mit Waffen
durch den Staat fand bei dem nach der alten Heeresfolge übrig¬
gebliebenen Aufgebote der Bevölkerung statt, wenn ein Krieg
ausgebrochen war K
Dann dehnt sich das System der staatlichen Waffenlieferung
allmählich auf alle Truppen aus. Im 17. Jahrhundert, in dem
so vieles Neue zur Welt gebracht wird, vollzieht sich die Wand-
lung. V ir können in jener Zeit noch deutlich die verschiedenen
Übergangszustände beobachten, die sich aus der Umwandlung
der privaten in eine staatliche Versorgung mit Waffen ergeben
können :
1. Der Krieger bringt einen Teil der Waffen mit, die andern
liefert ihm der Staat1 2.
Ein Abzug vom Sold wurde die übliche Form des Entgeltes.
2. 'Der Oberst beschafft die Waffen einheitlich und zieht den
Knechten den Betrag monatsweise ab3.
3. Die Waffen werden entweder in natura geliefert, oder die
Soldaten bekommen ein besonderes Waffeno-eld4.
o
Daneben kommt aber das ganze 17. Jahrhundert hindurch auch
schon die vollständige Lieferung der Waffen durch den Staat vor5.
Aber die Neuordnung des Bewaffnungswesens wird uns doch
erst dann in seiner ganzen charakteristischen Bedeutung ver¬
ständlich, wenn wir in Erfahrung bringen, daß im Zusammen-
1 M. Thierbach, Die geschichtl. Entwicklung der Handfeuer¬
waffen (1888 — 90), 21.
2 Beispiel bei G. Droysen, Beitr. z. Gesch. des Militärwesens
in Deutschland während der Epoche des 30jährigen Krieges, in der
Zeitschr. f. Kult. -Gesch. 4 (1875), 404 ff.
3 Beispiel bei Jany, Anfänge, 45.
4 Beispiel in der Geschichte der Bekleidung usw. der Kgl. preuß.
Armee 2, 277.
5 Jany, 55. Gesch. der Bekleidung 2, 203.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I, 23
Zweiter Abschnitt: Der Staat
354
hange mit der Verstaatlichung sich gleichzeitig eine Vereinheit¬
lichung in der Gestaltung der "Waffen , eine Uniformierung
also des gesamten Waffenwesens vollzog.
Bis ins 16. Jahrhundert hinein waren Waffen und Wehr jedes
einzelnen Kriegers von denen des andern verschieden gewesen .
beim Kitter natürlich, aber auch beim Fußvolk, selbst noch bei
den neuen Gewalthaufen der Schweizer, die noch allerhand Kurz¬
wehren, Streitäxte, Morgensterne und vor allem Hellebarden
führten, selbst noch als die Feuerwaffen aufkommen: „Kaliber,
Form und Name sind in das Belieben derer gestellt , die sie
kaufen oder machen lassen“ („Calibres, fa9ons et noms etant
selon la volonte de ceulx qui les acheptent ou les iont faire )
heißt es in der Treille 1567 J.
Das erste Beispiel einer gleichförmigen Bewaffnung größerer
Scharen bieten wohl die langen Spieße der Landsknechte im
16. Jahrhundert, deren Einheitlichkeit unmittelbar aus der Grund¬
idee des auf Massenwirkung hinzielenden modernen Truppen¬
körpers folgte. Entindividualisierung hier wie dort.
Dann aber bedeutet natürlich die Feuerwaffe einen neuen,
gleichsam produktionstechnischen Anlaß zur Uniformierung. Ende
des 16. Jahrhunderts bieten die Augsburger Büchsenmacher dem
Herzog Wilhelm von Bayern 900 Handrohre an, „so alle auf eine
Kugel gerichtet“8, was also noch ungewöhnlich war.
Nun hält der Begriff des Kalibers seinen Einzug in
die Welt der Waffen1 2 3 4.
2. Die Beköstigung
Wir werden gut tun, Landheer und Marine gesondert zu be¬
trachten, da die Verpflegung ihrer Truppen doch zu viel innere
Verschiedenheiten aufweist, um sie in einem zu betrachten.
Das ganze Mittelalter hindurch bis tief in die neuere Zeit
hinein war es bei den Landtruppen die Kegel, daß jeder
Krieger für seinen Unterhalt selbst sorgte oder daß die Nächst¬
stehenden ihn mit Unterhaltsmitteln in natura versahen, ganz
1 Fran<y 16 691; fol. 102 vo bei Ch. de la Ronciere, Hist, de la
marine frani;. 2, 493.
2 Georg Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit
(1899), 21.
3 Jälms, Gesell, d. Kriegswiss. 1, 662.
4 Krieg und Kap., S. 84 f.
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen
355 *
gleich ob es Reiterheere oder Fußheere , ob Aufgebots- oder
Söldnertruppen waren.
Es ist der Zustand, der noch zur Zeit Wallensteins herrscht h
Mit der fortschreitenden Verstaatlichung der Heere wird die
Regelung des Verpflegungs Wesens nach und nach auch als eine
Aufgabe des Staates anerkannt1 2.
überall, soviel ich sehe, beginnt die Staatsgewalt die Regelung
des Verpflegungs wesens mit einer Art von indirekter Für¬
sorge: Die Beamten des Königs oder der andern Obrigkeit
wachen darüber, daß die für den Unterhalt der Truppen not¬
wendigen Lebensmittel in hinreichender Menge , guter Qualität
und zu zivilen Preisen dem einkaufenden Soldaten zur Verfügung
stehen. Von einer solchen Fürsorge erfahren wir im 15. Jahr¬
hundert bei dem Schweizer Aufgebot, von dem schon die Rede
war3. Wir hören davon noch früher in Frankreich4. Sie begegnet
uns bei den Heeren des Dreißigjährigen Krieges5.
Aber frühzeitig wurde die Mitwirkung des Staates bei der
Beköstigung der Truppen doch eine inhaltlich helfende. Der
Fürst hatte von alters her eine Leibwache : für deren leiblichen
Unterhalt mußte er selbst sorgen. Er mußte ferner die Festungen
verproviantieren. Er mußte die Truppen mit Lebensmitteln ver¬
sehen, die er über See sandte. So sehen wir abermals schon im
Mittelalter den König von Frankreich am Werke, durch die Bailles
und Senechaux Lebensmittel aufkaufen zu lassen, die er für die
eben genannten Zwecke verwandte6.
Daneben finden wir frühzeitig öffentliche Körperschaften vom
Staate damit beauftragt, für den Unterhalt der Truppen zu sorgen :
1 Über die Verpflegung der Wallensteinschen Heere unterrichten
(beide nicht sehr genau): J. Heilmann, Kriegswesen zur Zeit des
Dreißigjährigen Krieges (1850); V. Loewe, Die Organisation und
Verwaltung der Wallensteinschen Heere (1895). Vgl. Fr. Foerster,
Lebensbeschreibung Wallensteins, 1834 (mit wichtigem Material), und
M. Ritter, Das Kontributionssystem W.s (Histor. Zeitschr. Bd. 90).
2 Über die Entwicklung der mit der Fürsorge für das Verpflegungs¬
wesen betrauten Organe der Staatsgewalt (Kriegskommissariat !) siehe
Krieg und Kap. S. 118 ff. Vgl. außer der dort genannten Literatur
noch 0. Hintze, Der Kommissarius und seine Bedeutung in der all¬
gemeinen Verwaltungsgeschichte. Aufsätze für K. Zeumer, S. 493 ff.,
und dazu Gr. v. Below, Landtagsakten von Jülich und Berg II, S. IXf.
3 H. Delbrück, Gesch. d. Kriegskunst 3, 608 f.
4 Boutaric, Inst, milit., S. 277 — 280.
5 G. Droysen, Beiträge, a. a. O. 623 ff.
6 Boutaric, 1. c. p. 277 seg.
8S*
856
Zweiter Abschnitt: Der Staat
♦
die Ordonnanzkompagnien Karls VII. wurden von den Provinzen
in natura verpflegt1.
Bei der zunehmenden Erstarkung des Staatsgedankens konnte
es nicht ausbleiben, daß der Fürst auf die Idee verfiel, nachdem
er sein Heer verstaatlicht hatte , nun auch das gesamte Ver¬
pflegungswesen zu verstaatlichen. Es scheint, als ob das System
der Verpflegung der Truppen durch den Staat zu
voller Entwicklung zuerst in Spanien während des 17. Jahr¬
hunderts gelangt sei. Von hier fand es Verbreitung auch in
andern Staaten, wie in Brandenburg-Preußen. Hier sehen wir
es bis zur Zeit des Großen Kurfürsten in der Form der „Speisung“,
d. li. der Verpflegung durch den Quartierwirt, in Übung.
Dieses System der vollen Verpflegung durch den Staat hielt
sich jedoch nicht lange. Die Schwierigkeiten der Durchführung,
die damit für die bequartierten Gegenden verknüpften Unzu¬
träglichkeiten bestimmten schon den Großen Kurfürsten dazu,
die Speisung der Armee wieder zu beseitigen, die Geldzahlung
wieder an die Stelle zu setzen. Friedrich Wilhelm I. suchte
noch mehr die fiskalische Naturalverwaltung zu beschränken : die
Regimenter, Kompagnien und die einzelnen auf feste Geld¬
einnahmen zu setzen, mit denen sie auskommen mußten. So
bildete sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in den meisten
Staaten eine Art von gemischtem System heraus, das ziem¬
lich einheitlich auf folgenden Grundsätzen beruhte: der Staat
verpflegt den Soldaten ganz auf dem Marsche und im Felde ; in
der Garnison überläßt er es im wesentlichen dem einzelnen, wie
er sich für den Geldsold, den er empfängt, beköstigt. In den
einzelnen Staaten wird dieser oder jener Bestandteil des Unter¬
halts dem Soldaten vom Staat oder vom Quartiergeber (in Gestalt
des sogenannten Servis) in natura verabreicht.
Sobald der Staat irgendwelche Fürsorge für den Unterhalt
des Soldaten übernahm, also namentlich sobald er ihm das Brot
— sei es immer, wie in Frankreich, sei es zuzeiten, wie in den
meisten deutschen Staaten — lieferte, mußte er für Bereithaltung
von Vorräten, insonderheit also -wieder für Aufstapelung von
Getreide sorgen.
Das geschah dadurch, daß er möglichst über das ganze Land
verstreut Magazine anlegte: in Frankreich geschieht dies be¬
reits unter Heinrich IV., dann unter Ludwig XIII. in weitem
1 Boutaric, 311; nach dem Ms. im Brit. Mus. W 115 u. 2.
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen
357
Umfange1; in Preußen namentlich unter Friedrich Wilhelm I.
(1726 waren 21 Kriegsmagazine errichtet)2; von andern deutschen
Staaten waren Sachsen, Böhmen und Württemberg in gleicher
Richtung schon seit dem 16. Jahrhundert vorangegangen3.
%
* *
Die Verhältnisse bei der Marine liegen insofern anders wie
beim Landheer, als die Selbstverpflegung der Mannschaft bei
irgendwie größeren Schifistypen und längeren Reisen kaum durch¬
führbar ‘ ist. Man vergegenwärtige sich , daß auf einem Kriegs¬
schiffe ein paar hundert oder tausend Menschen wochen- oder
monatelang von allem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen
sind. Sie müssen also jedenfalls mit großen Vorräten an
Lebensmitteln versehen sein. Die Beschaffung dieser Vorräte
dem einzelnen zu überlassen, sie einzeln im Schiffe aufzustapeln,
zu bewachen und sie dann auch einzeln verzehren zu lassen, ist
außerordentlich lästig. Vorgekommen scheint auch diese Art der
Selbstbeköstigungen auf Schiffen zu sein, wohl unter kleinen
Verhältnissen 4.
Die großen seefahrenden Staaten, also namentlich Spanien,
Holland, Frankreich und England, scheinen das System der
Selbstbeköstigung ihrer Schiffsmannschaften niemals gekannt zu
haben. Was verschieden gestaltet ist, ist nur die Form, in der
die kollektive Beschaffung der Lebensmittel für die Schiffs¬
besatzung erfolgt. Hier sind, soviel ich sehe, im Laufe der Jahr¬
hunderte zwei Systeme angewandt worden: eins, das man das
französische nennen kann, bei dem den Schiffskapitänen die Ver¬
proviantierung ihrer Schiffe überlassen ist, und ein englisches,
bei dem der Staat für die Verpflegung der Schiffsmannschaften
Sorge trägt5.
3. Die Bekleidung
«) Die Beldeidungssysteme
Den Anfang macht auch hier die Eigenfürsorge jedes Kriegers
für seine Bekleidung. Der Landsknecht brachte seine Anzüge
1 Boutaric, 384.
2 Acta Borussica, Getreidehandelpolitik 2, 272.
3 Acta Bor., d. c. 2, 87 ff.
4 Z. B. in Genua im 13. Jahrh. : Ed. Heyck, Genua und seine
Marine 158. 160. 169.
5 Für Frankreich: Principes de Mr Colbert sur la marine, ab¬
gedruckt bei Sue, 1. c. 1, 317. Für England: Close Rolls 48, 71,
'und 15 John 158, bei Laird Clowes 1, 119,
358
Zweiter Abschnitt: Der Staat
mit, so wie er sie für gut hielt. Aber auch die Krieger in den
Ordonnanzkompagnien Karls des Kühnen (1471), also schon einer
Art von „stehendem Heer“, haben noch selbst für ihre Bekleidung
(ebenso wie für ihre Bewaffnung) zu sorgen x. Denselben Zustand
treffen wir auf der englischen Flotte zur Zeit der Elisabeth an
Wenn eine höhere Instanz sich um das Bekleidungswesen zu
bekümmern anfängt, so geschieht es manchmal, ähnlich wie wir
es bei der Beköstigung schon kennen gelernt haben, in der I orm
einer indirekten Fürsorge : man überläßt es zwar dem einzelnen
Krieger noch, sich nach eigenem Gfutdünken und auf seine Kosten
zu equipieren, achtet aber darauf, daß er gute und preiswerte
Ware beim Einkauf vorfindet.
So verfuhr die englische Regierung auf ihrer Flotte im
17. Jahrhundert1 2 3.
Aber in dem Maße, wie die einzelnen Truppenkörper sich in
sich selbst festigten und zu einem einheitlichen Heere zusammen -
geschweißt wurden, trat doch die kollektive Bedarfsdeckung an
die Stelle der Einzelversorgung.
Das militärische Unternehmertum, das namentlich im 16. und
17. Jahrhundert das Heerwesen beherrschte, brachte es von selbst
mit sich, daß diejenige Instanz, der die Bekleidung eines Truppen¬
körpers zufiel, wenn schon die Individualversorgung aufhören
sollte, der Oberst des Regiments oder der Kompagniechef wurden.
Dieses System der regiments- oder kompagnieweisen Be¬
schaffung der Kleidung hat wohl in allen Militärstaaten von
Beginn der modernen Heere an bis ins 18. Jahrhundert hinein
geherrscht 4.
Frühzeitig griff aber dann auch der Staat in das Be¬
kleidungswesen ein, indem er sicli an der Ausrüstung des Heeres
selbst beteiligte. Zunächst neben den andern Instanzen, sei
1 M. Guillaume, Hist, de l’organ. militaire sous les ducs de
Bourgogne (1874), 140.
2 M. Oppenheim, Hist, of the administration of the Royal Navy
(1896), 138. 139.
8 W. Laird Clowes, 1. c. 2, 20. St. P. D. 11. Dez. 1655;
St. P. D. CXXXIY, 64; St. P. D. Sept. 1656; bei Oppenheim 329.
4 Für England: Handschr. Quellen bei P. Gr ose, Military Anti-
quities resp. a History of the English Army 1 (1812), 310 seg. ;
Fortescue, Hist, of the British Army 1, 283 seg. Für Frankreich:
L. Mention, L’armee de Fanden regime (1900), 255. Für Branden¬
burg-Preußen: Geschichte der Bekleidung usw. der Kgl. preuß. Armee,
2. Teil. Dm Kütassier- u. Dragonerregimenter (bearb. von C. Kling),
1906, S. 3/4,
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen
359
es daß er einen Teil der Truppen völlig einkleidete, sei es daß
er einen Teil der Bekleidung aller Truppen auf sieb, übernahm.
In diesem Falle stellte er entweder den Obersten und H’aupt-
leuten das Rohmaterial für die Kleidung, also namentlich das
Tuch für die Anzüge, gegen entsprechendes Entgelt zur Ver¬
fügung. Das geschah z. B. in Brandenburg-Preußen ’.
Oder der Fürst lieferte einen Teil der Kleidung, die Offiziere
den andern1 2.
Der andere Weg, den der Fürst einschlug, um an der Bekleidung
seiner Truppen teilzunehmen, führte ihn zur völligen Versorgung
eines Teiles des Heeres, so daß in diesem Falle sich die Armee
in staatlich und sonst woher bekleidete Regimenter schied.
Von Anfang an hatte der Fürst wohl für die Equipierung
seiner Leibgarde gesorgt. Und auf deren reichliche und kostbare
Ausstattung blieb dann auch später, als sie sich beträchtlich
erweiterte und in Frankreich z. B. sich zu den „Truppen des
königlichen Hauses“ auswuchs, das Hauptbestreben gerichtet.
Daneben gab der Fürst andern Truppen Monturen, je nach deren
Bedarf imd je nach seinem Können3.
Im 18. Jahrhundert vollendet sich dann in allen Militärländern
die Verstaatlichung des Bekleidungswesens.
Vorbildlich für die Organisation des Militärbekleidungswesens
wurden die 1768 errichteten österreichischen Monturs¬
kommissionen, die den Zweck hatten, „sämtliche Truppenteile
der Armee sowohl in Friedens- als Kriegszeiten mit den erforder¬
lichen Monturs-, Armaturs-, Lederwerks- und Pferdeausrüstungs¬
gegenständen und Feldrequisiten aller Art zu versehen“ , und
die auch gleichzeitig für die Beschaffung der Spitalgerätschaften
und Bettfurnituren zu sorgen hatten4.
b) Die Uniform
Engstens mit den Wandlungen der Bekleidungssysteme im
Zusammenhang stehen die für die ökonomischen Piobleme be-
1 Jany, Anfänge, 33. Frh. v. Richthofen, Der Haushalt der '
Kriegsheere, in der Handbibliothek für Offiziere 5 (1839), 628 ff.
2 Siehe z. B. den Vertrag über die Bekleidung des Regiments
Anhalt zu Fuß vom 23. Jan. 1681, in der Geschichte der Bekleidung
usw. 2) 2 1. 2 • _ . .. ... / ~. tt -i
3 Beispiele für England: F. Grose, Military Antiquities (2 Vol.
1812) 1, 310 ff. Hub. Hall, Society in the Elizabeth Age (4. ed.
1901) p 127; für Frankreich: L. Mention, 1. c. 255 seg.
4 Frb. v. Richthofen, Der Haushalt der Kriegsheere a. a. 0.
3G0
Zweiter Abschnitt: Der Staat
sonders wichtigen Veränderungen, die die Form der Bekleidung
erfahrt.
Wenn jeder Krieger ganz nach Gutdünken und Vermögen für
seine Kleidung selbst zu sorgen hat, so kommt bei einer ganzen
Truppe, ähnlich wie wir es bei der Bewaffnung sahen, eine große
Buntscheckigkeit heraus. Jedem steht das Bild eines Haufens
Landsknechte vor Augen, in dem jeder einzelne seinem absonder¬
lichen Geschmacke in der Kleidung Ausdruck verleiht1.
Die moderne Uniform2 ist ein durch und durch rationales
Gebilde : sie ist geboren aus einer Reihe ganz intensiver und ganz
subtiler Zweckmäßigkeitserwägungen heraus. Zweckmäßigkeits¬
erwägungen zunächst militaristischer Natur.
Da war der rein äußerliche Grund : daß man an einer Uniform
eine Truppe leichter erkennen und leichter von der andern unter¬
scheiden konnte. Aber zu diesem äußerlichen gesellten sich
schwerwiegende innerliche Gründe, die eine Uniformierung der
Heere nahelegten: die Uniform verleiht den Trägem, sagte man
sich, ein Gefühl der Solidarität, das sie ohne die gleiche
Tracht nicht besitzen.
Verwandt, aber nicht identisch mit dieser Erwägung war die
andere, die später die großen Truppenorganisatoren anstellten:
wenn sie meinten, zur guten Disziplinierung eines Heeres gehöre
die Uniform. Hier war es gleichsam eine heteronome Unter¬
werfung des einzelnen unter die Zwecke des Ganzen, die man
von der Uniformierung erwartete. Ohne Uniform keine
Disziplin: diesen Gedanken spricht Friedrich der Große
einmal aus, als er den Zustand der Armee des Großen Kurfürsten
beschreibt3.
Zu diesen, wie ich sie nannte, militaristischen Zweckmäßig¬
keitserwägungen gesellen sich nun aber als Helfer die starken
Gründe der ökonomischen Ratio, die eben gleichfalls auf
1 Die Mannigfaltigkeit der Kleidung reicht noch bis in das 17. Jahr¬
hundert hinein. Über die Buntscheckigkeit der schwedischen Truppen
im 30jährigen Kriege siehe z. B. J. Heilmann, Das Kriegwesen
der Kaiserlichen usw. (1850), 18; der Armee des Großen Kurfürsten :
Geschichte der Bekleidung usw. 2, 213. Weshalb die Heere noch im
17. Jahrhundert Erkennungszeichen irgendwelcher Art trugen: Ge¬
schichte der Bekleidung 2, 4" vgl. Anlage 41 — 43.
2 Über ihre Entstehung siehe Krieg und Kap. S. 156 ff.
3 Mem. pour servir ä l’histoire de la Maison de Brandenburg 1767
par Frederic II, abgedr. in der Geschichte der Bekleidung 2, 201.
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heeres wesen
361
die Uniformierung hindrängen : die Gleichförmigkeit schafft die
Möglichkeit des Massenbezuges und der Massenherstellung, und
diese gewähren zahlreiche Vorteile, deren wichtigster der
niedrigere Preis ist.
Die Uniform dehnt sich in gleichem Maße und in gleichem
Schritt aus wie die Verstaatlichung des Bekleidungswesens.
In dem Maße nun, wie der Fürst die Truppen überhaupt mit
Kleidung versah, uniformierte er sie auch. So daß wir während
des 16., 17. und 18. Jahrhunderts das Fortschreiten des staat¬
lichen Bekleidungssystems an dem Fortschreiten der Unifor¬
mierung verfolgen können: bis zum völligen Siege der beiden
Prinzipien h
1 Über den allmählichen Sieg der Uniformen in den verschiedenen
Heeren unterrichten : Xav. Andouin, Hist, de l’admin. de la guerre
1 (1811), 52seg.; de Chennevieres, Details militaires 2 (1750),
116 ff. ; Boutaric, Inst, mil., 359. 425; Fortescue, op. cit. 3,
213; Laird Clowes, op. cit. 3, 20; König, Alte und neue Denk¬
würdigkeiten der Kgl. preußischen Armee (1787), 24, zit. in der Gesch.
der Bekleidung 2, 211; Jany, Anfänge, 45 f. ; Gesch. der Bekleidung
2, 3; A. v. Crousaz, Die Organisation des brandenburgischen und
preußischen Heeres 1640 — 1665 1 (1865), 11 ff. Vgl. Krieg und Kap.
S. 161 ff.
i
362
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Der Merkantilismus als Ganzes
Quellen und Literatur
Als Quellen für das Studium des Merkantilismus kommen
natürlich fast ausschließlich die Gesetze, Verordnungen usw. mit ihren
Begründungen in Betracht. Sie finden sich für alle Länder in leicht
zugänglichen Sammelwerken zusammengestellt.
Eine vollständige Übersicht aller englischen Quellenwerke findet
man bei Cunningham, Growth, im Anhang.
Für Frankreich kommt vor allem in Betracht Isambert, Jourdan
et Decrusy, Becueil general des anciennes lois fhu^aises de 420
ä 1789. 1822 — 27. 29 Vol. in 8 0 (v. Index sub Manufactures,
Mines etc.), und dann zu bequemerer Benutzung die Spezialsammlung
Becueil de reglements generaux sur les manufactures. 4 Vol. in 4°
et 2 Vol. de suppl. 1730—32, wo man alle Gesetze, die sich auf die
große Industrie beziehen, aus den Jahren 1660 — 1730 zusammengestellt
findet. Der Code du Fabricant, 2 Vol. 1788, war mir nicht zugänglich.
Die Begesten der auf die Manufakturen bezüglichen Eeglements von
1650—1751 im App. Nr. 2 des Seite 372 genannten Buches von Martin
(Louis XIV).
Für Spanien: Becopilacion de las Leyes destos Beynos. 3 Tom.
1640.
Für Holland: Groot Placcaetboek, 9 dln, 1658 — 1797.
Für Österreich: Jos. Kropatschek, Kais. Kön. österr. Gesetze,
welche den Kommerzialgewerben und den Gewerbsleuten insbesondere
vorgeschrieben sind. 2 Bde. 1804. F. Xav. Wekebrod, Samm¬
lungen der Verordnungen und Generalien für sämtliche Zünfte und
Innungen. 1799.
Für Deutschland: Schmauss-Senckenberg, Sammlung der
Beichsabschiede (bis 1736). 4 Bde. 1747. Brandenburg - Preufsen:
Mylius, C. C. N. Cod. dipl. Brand., ed. Biedel. Acta borussica,
hrsg. von der Kgl. Akad. der Wiss. 1892 ff.
Neben dem gesetzgeberischen Material sind dann noch zu Bäte
zu ziehen die Korrespondenzen usw. der Fürsten, der großen Staats¬
männer und der höheren Beamten, von denen wir namentlich für Frank¬
reich eine Beihe guter Sammlungen besitzen, wie die Correspondance
administrative sous le regne de Louis XIV. Tome III: Affaires de
Finances — Commerce — Industrie. De Boislisle, Correspondance
des contröleurs des finances avec les intendants. 3 Vol. in fol. 1874.
1883. 1878. Clement, Lettres, instructions et memoires de Colbert.
7 Vol. 4°. 1861 — 82. (Der zweite Band bezieht sich vornehmlich auf
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 363
die Industrie.) Für England': Thom. Carlyle, Oliver Cromwell’s
Letters and Speeches. 4 Vol. 1902.
Werke, die den Merkantilismus unter allgemeinem Gesichtspunkte
behandeln, sind, wenn wir von den rein literar-historischen Arbeiten
absehen, nicht zahlreich. Die wichtigsten sind: H. J. Bidermann,
Der Merkantilismus. 1870. Edm. Frh. v. Heyking, Zur Geschichte
der Handelsbilanztheorie. I. (einziger) Teil: Einleitendes. Altere
englische Systeme und Theorien. 1880. Für die Zeit ihres Erscheinens
eine ganz hervorragende Schrift, G. Sc hm oll er, Das Merkantil¬
system in seiner historischen Bedeutung: städtische, territoriale und
staatliche Wirtschaftspolitik, in seinem Jahrbuch 8 (1884), S. 15 ff.
H. Sieveking, Grundzüge der neueren Wirtschaftsgeschichte vom
17. Jahrh. bis zur Gegenwart, in Meisters Grundriß II, 2. 19 07 •
' Um so zahlreicher sind die Darstellungen der merkantilistischen
Epoche in den einzelnen Ländern, die ich in den folgenden Kapiteln
nennen werde.
Die gleichförmigen Eigenarten der merkantilistischen Wirt¬
schaftspolitik wird man, wie mir scheint, am besten verstehen,
wenn man sich klar macht, was an Ideen und Grundsätzen aus
der früheren (stadtwirtschaftlichen) Periode übernommen wurde
und welche Neuerungen mit Notwendigkeit aus dem veränderten
Interesse des Fürsten sich ergeben mußten.
Der Merkantilismus ist zunächst in der Tat nichts anderes
als die auf ein größeres Territorium ausgedehnte
Wirtschaftspolitik der Stadt. Wie diese den Mittelpunkt
der Welt mit ihren Interessen gebildet hatte, denen selbstverständ¬
lich alle übrigen Interessen untergeordnet waren, so wird dies jetzt
das vom Fürsten beherrschte Gebiet : egozentrisch bleibt die Politik
in ihrer Grundauffassung. Aber auch die alte Gemeinschaftsidee
setzt sich in der allgemeinen Staatsidee bis zu ihren letzten
Konsequenzen fort: das Wohl des Ganzen geht dem einzelnen
vor; die Gesamtheit, wenn auch vertreten durch den absoluten
Monarchen, steht solidarisch ein1. Aus dieser Grundauffassung
folgt zunächst eine weitgehende Fürsorge auch des absoluten
Staates für den wirtschaftlichen Verzehr seiner Angehörigen : die
„Versorgungspolitik“ der mittelalterlichen Städte wird von ihm
in allen ihren Teilen apf das gewissenhafteste fortgeführt.
Die Versorgungspolitik“ der Städte hatte den Zweck ver¬
folgt die Einwohner mit den nötigen Lebensmitteln (Getreide, Vieh)
zu versehen. Daher das Bestreben, soviel wie möglich von diesen
i Diese Ideen, die in Frankreich am höchsten entwickelt sind, hat
meisterhaft dargestellt Ranke in seiner Französischen Geschichte.
364
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Gütern in die Stadt zu ziehen, was mafi dadurch zu erreichen suchte,
daß man die Ausfuhr aus der Landschaft verbot , die Produzenten
verpflichtete , ihre Erzeugnisse zu Markte zu bringen , daß man den
Fürkauf untersagte, vorüberziehende Händler zum „Stapeln“ ver-
anlaßte und für den Fall der Not Magazine anlegte. In allen diesen
Punkten führen die Fürsten die städtische Politik weiter.
In Spanien begegnen wir königlichen Ausfuhrverboten für Vieh und
Brot 1307, 1312, 1351, 1371, 1377, 1390, für Getreide und Herden
1455, Herden und Vieh 1502. Rec. Buch VI u. VII.
In Frankreich beginnt die Versorgungspolitik der Könige mit den
Ordonnanzen Philipps IV. von 1305 und 1307: in ihnen wird die
Getreideausfuhr verboten, die Marktbeschickung geboten, wird der
Aufkauf untersagt, werden Preise für Nahrungsmittel festgesetzt. Diese
Grundsätze bleiben in allen folgenden Jahrhunderten in Kraft: 1577
wird die Ausfuhr von Getreide nur gegen Erlaubnisschein gestattet;
Getreideausfuhrzölle (22 livres pro muid) enthält der Tarif von 1614.
Die Reglementierung des Getreidehandels wird im 17. und 18. Jahr¬
hundert eher noch strenger: die Pächter sollen ihr Getreide nicht
länger als zwei Jahre auf dem Speicher haben; die Städte sollen
sich für drei Jahre mindestens verproviantieren; die Kaufleute sollen
kein Getreide kaufen in einem Umkreis von mehr als 2 Meilen um
jede Stadt, von 7 — 8 Meilen um Paris; auswärtige Händler müssen
ihr Getreide in persona anbringen und verkaufen usw. usw. Siehe
z. B. die Ordonnance du Roy sur le faict de la police generale de
son royaume 1578. Eine sehr ausführliche Darstellung dieser Gesetz¬
gebung gibt P. Boissonade, Essai sur l’organ. du travail au Poitou
1 (1900). Livre II Ch. I: die Hauptreglements stammen aus dem 17.
und 18. Jahrhundert. Vgl. G. Afanassiev, Le commerce des
Cereales en France au XVIII siede. 1894.
'In England beginnt die Fürsorge der Könige mit Heinrich III. Es
kommt ebenfalls zu einem Verbot der Getreideausfuhr (solange der
Preis nicht auf 6/8 pro Quarter sinkt) sowie zu sehr strengen Be¬
stimmungen über den Fürkauf und Zwischenhandel mit Lebensmitteln.
Siehe namentlich 5 u. 6 Edw. VI c 14 und 13 Elis. c 25.
Seit der Zeit der Elisabeth wurden die Bestimmungen über die
Getreideausfuhr etwas milder: das hatte seinen natürlichen Grund in
der zunehmenden Rücksicht, die die Könige auf die Getreide- und
Viehproduzenten nehmen mußten, und macht sich gleichzeitig in allen
Ländern bemerkbar. Es kommt zu einer Art von Kompromiß zwischen
städtischem Konsumenten- und ländlichem Produzenteninteresse, der
meist darin gipfelte, daß die Getreideausfuhr grundsätzlich gestattet
wurde, aber in Zeiten hoher Preise wieder verboten werden konnte. So
in Frankreich im 16. Jahrhundert, wie oben schon erwähnt wurde. So in
England seit 1571: die Ausfuhr wird gestattet, nur in Teuerungszeiten
können sie die Friedensrichter verbieten. Fürkaufsverbot, Preistaxen,
Aufsicht über Kauf und Verkauf bleiben aber auch nach dieser Zeit
in Kraft. Siehe für England R. Fab er, Die Entstehung des Agrar -
gchutzes in E. 1888,
Drenmdz-wanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 365
Es folgt daraus ferner der Grundsatz, daß das einzelne Wirt¬
schaftssubjekt sein Recht , Güter zu erzeugen oder .Handel zu
treiben, von der Gemeinschaft ableitet: daß diese, die nun vom
Monarchen dargestellt wird, ihm nach ihrem Gutdünken so viel
Rechte verleiht und Pflichten auferlegt, als sie im eigenen Inter¬
esse für richtig hält: alle wirtschaftliche Tätigkeit ist eine
„privilegierte“.
Und es folgt endlich aus jener Grundauffassung, daß der
einzelne sein Verhalten streng den "Weisungen der Obrigkeit an¬
zupassen, daß diese die wirtschaftliche Tätigkeit zu überwachen
habe und für ihre sorgfältige Ausübung verantwortlich sei: als
zu welchem Zwecke sie jede Handlung der Wirtschaftssubjekte
mit einer zurechtweisenden Vorschrift zu begleiten verpflichtet
sei: alle wirtschaftliche Tätigkeit ist eine „reglementierte“.
An dieses festgefügte System der städtischen Wirtschafts¬
politik trat nun der Fürst mit seinen besonderen Interessen
heran. Wir wissen, daß er seine Macht gründete vor allem auf
zwei Einrichtungen : dem Söldnerheere und dem Berufsbeamten¬
tum, und wissen auch, daß diese beiden Einrichtungen von vorn¬
herein grundsätzlich auf geldwirtschaftlicher Basis aufgebaut
waren. Um Armee und Beamtenschaft (zu denen sich noch der
teure Hofstaat gesellt) erhalten zu können, bedurfte der Fürst
also vor allem Geld und nochmal Geld und zum drittenmal Geld.
(Erst später machte sich der Mangel an Menschen in einzelnen
Ländern fühlbar und führte zur Peuplierungspolitik zum Beispiel
in dem armen Preußen.)
Der Fürst verschaffte sich das Geld, dessen er für seine
Zwecke benötigte, auf dem Steuerwege oder durch Anleihen.
Damit aber Steuern erhoben und Anleihen aufgenommen werden
konnten, mußte .ein Mindestvorrat von Edelmetall im
Lande aufgespeichert sein, der um so größer zu bemessen war,
je geringer entwickelt die Kreditformen waren.
Wir können von der Warte des Historikers hier wahmehmen,
wie also auch eine bestimmte Mindestmenge von Edelmetall auf
der Erde produziert werden mußte, um den Anforderungen
des modernen Fürstenstaates zu genügen. Und können hinzufügen,
daß die starke Vermehrung der Edelmetallproduktion in diesen
Jahrhunderten, von der wir uns im vierten Abschnitt noch
genauer überzeugen werden, eine wesentliche Förderung für die
Entwicklung des modernen Staatswesens bedeutete. Wenn ein
guter Kenner der Heeresgeschichte gelegentlich einmal den Aus-
366
Zweiter Abschnitt: Der Staat
spruch tut: „seine (Sachsens) Zeughäuser und Armeen erwuchsen
aus den Silberschachten Schneebergs“ *, so können wir diesem
Satz die allgemeinere Fassung geben : aus den Silbergruben
Mexikos und Perus und aus den Goldwäschen Brasiliens ist der
moderne Staat emporgetaucht. Oder anders gefaßt: Soviel
Silber (später Gold) — soviel Staat! Selbstverständlich nur im
Sinne des Bedingtseins: ohne eine so ergiebige Edelmetall¬
produktion, wie sie seit der Entdeckung Amerikas sich einstellte,
wäre auch der moderne Pürstenstaat nicht zu solch rascher und
allgemeiner Entwicklung gelangt.
Geld zu beschaffen, wird also das Zentralproblem der fürst¬
lichen Staatskunst, und es ist ja sattsam bekannt, daß sich um
dieses Streben nach Geld alle Ideen und Maßnahmen der mer-
kantilistischen Politik herumgelagert haben. War es das eifrigste
Bemühen der städtischen Obrigkeiten gewesen, ihre Stadt mit
Gebrauchsgütern gut zu versorgen, so (könnte man sagen) wurde
es zum Kernstreben aller großen Staatsmänner des ancien regime,
Tauschwerte in der Form des Geldes in die Kassen ihrer Fürsten
und zu diesem Behufe vorher Geld in die ihnen unterworfenen
Länder zu bringen, damit es direkt oder auf Umwegen zu den
Staatskassen ströme. Aus der Güterversorgungspolitik
der Städte wurde eine Geldversorgungspolitik der
Staaten.
„Je crois que l’on demeurera facilement d’accord de ce prin¬
cipe qu’il n’y a que l’abondance d’argent dans un Etat, qui fasse
la difference de sa grandeur et de sa puissance“: mit diesen
Worten drückt Colbert1 2 tatsächlich die Überzeugung nicht nur
seiner Zeit aus, sondern der Jahrhunderte, die ihr vorausgehen,
und des Jahrhunderts, das ihr folgt. Dieses Streben nach
Geldvermehrung lag allen merkantilistischen Politikern, lag der
merkantilistischen Theorie wie der merkantilistischen Praxis
gleichermaßen zugrunde. Was sich im Laufe der Zeit änderte
oder was die einzelnen unterschied, war nur die verschiedene
Auffassung von der zweckmäßigsten Art, wie man am leichtesten
und ausgiebigsten das ersehnte Geld sich verschaffen könne.
In England sehen wir den Kampf der Meinungen im 17. Jahr¬
hundert sich ausfechten zwischen den Bullionists, die die direkte
Beeinflussung des Edelmetall-Zuflusses und -Abflusses fordern,
1 Jähns, Geschichte der Kriegswiss. 1, 686.
• 2 Lettres , instruct. etc. de Colbert par P. Clement, t. II
2e partie p. CCVII.
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 367
lind den Mercantilists , die eine indirekte Regelung durch, die
Richtung des Warenstroms (Handelsbilanz!) für zweckmäßiger
halten; und sehen dann, wie in den letzten Jahren der Stuarts
jene Auffassung zum Durchbruch kommt, die vor allem von der
Entwicklung der Industrie die Vermehrung des Geldvorrats er¬
wartet. Einer der ersten, der diese Meinung in England vertritt,
ist der Verfasser der Britannia Languens (1680) h
Wir werden deshalb am leichtesten einen Überblick über die
bunte Welt der merkantilistischen Politik gewinnen, wenn wir
die einzelnen Äußerungen dieser Politik uns als ebensoviele Ver¬
suche verständlich machen, den obersten Zweck der Staatskunst,
soweit sie materieller Natur war, zu verwirklichen, und wenn
wir sie gruppieren nach der Verschiedenheit der Methode, das
gesteckte Ziel zu erreichen. Wir werden uns dabei nur immer
wieder der Tatsache erinnern müssen, die wir oben feststellen
konnten: daß die merkantilistische Staatskunst ihre eigenartigen
Ziele im wesentlichen auf den Wegen zu erreichen suchte, die
vorher schon von den städtischen Obrigkeiten begangen worden
waren.
Das eifrigste Streben aller merkantilistischen Politik mußte
natürlich darauf gerichtet sein, sich des Geldes auf
direktem Wege zu bemächtigen, sei es dadurch, daß
man das im Lande vorhandene Gold und Silber darin zu erhalten
trachtete, sei es daß man Edelmetalle im eigenen Lande zu
produzieren sich bemühte.
Wenn die Könige die Ausfuhr des Bargeldes aus ihren Staaten
verboten: solche Ausfuhrverbote finden wir in Frankreich schon
im Jahre 1303 und 1322, ebenso in England (unter Eduard III.),
Spanien u. a. , so treten sie damit nur in die Fußtapfen der
Stadtregierungen, wie wir in anderm Zusammenhang noch ge¬
nauer sehen werden.
Auch Edelmetallbau hatten die Städte schon — freilich nur
vereinzelt — getrieben. Seit dem 16. Jahrhundert tritt nun aber
bei den Staatsverwaltungen immer deutlicher die Tendenz her¬
vor, die Silbergruben in eigene Regie zu nehmen, um den Strom
der Edelmetalle im eigenen Lande nicht versiegen zu lassen1 2.
1 Am frühesten formen sich die merkantilistischen Theorien wohl
in England, wo z. B. das 1436 erschienene Libell of English Policy
schon Gold und Wohlstand gleichsetzt. Vgl. Alb. Hahl, Zur Ge¬
schichte der volkswirtsch. Ideen in England (1893), S. 45 f.
2 Tatsachen bei Schmoller in seinem Jahrbuche Band XV,
3. Artikel.
368
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Es wird sogar zu einem Grundsatz der merkantilistisclien Theorie :
daß ein Edelmetallbau auch dann volkswirtschaftlichen Nutzen
bringe, wenn er mit Schaden betrieben werde h
Aber die Hauptsache war doch, daß das Verlangen nach dem
Besitz eigener Silbergruben oder eigener Goldfelder die Staaten
über ihre Grenzen hinaus „nach Indien“, dem Zauberlande,
trieb, und daß aus dieser Jagd nach dem Golde, an der sich
alle Staaten während jener Jahrhunderte beteiligten, die großen
Kolonialreiche der europäischen Völker emporwuchsen. Über
ihre Entstehung spreche ich aber im Zusammenhänge ausführlich
im 27. Kapitel.
Wie die Kolonialpolitik auf Umwegen der merkantilistiscken Idee
dienen sollte, drückt in klassischer Form in folgenden Worten einer
der besten Kenner der Kolonialgeschichte aus: „They (the disciples
of the Mercantile System) . . . have carried into execution, in this
brauch of policy, the most elaborate , and the most violent of their
artificial schemes , for powring into the nation an abondance of the
precious metals. Colonies have not, indeed, always furnished, directly,
those precious supplies; but they have been used as means of ob-
taining the supplies from other markets, and of unlocking the money-
chests of different nations in Europe: their produce has been en-
grossed, as a weight, by which to procure, in other countries, the
great object of the Mercantile System: a favorable balance of trade.“
H. Brougham, An inquiry into the colonial policy of the European
powers. 1 (1803), 5/6.
Ebenso erwähne ich hier einstweilen nur kurz, um später
noch einmal darauf zurückzukommen, daß aus dem Streben, den
fürstlichen Kassen möglichst große Geldmengen auf direktem
Wege zuzuführen, natürlich der ganze kunstvolle Bau der Steuer-
und Schuldenwirtschäft hervorwuchs, und daß dasselbe Streben
zu einer eigenartigen Münz- und Währungspolitik führte, die für
die Gestaltung des Wirtschaftslebens von großer Bedeutung ge¬
worden ist.
Dann aber wurde der Staat selbst Unternehmer, um sich auf
dem Wege des Profits das fehlende Geld zu. verschaffen: wir
werden ihm in dieser Eigenschaft dort begegnen, wo wir den
Aufbau der kapitalistischen Wirtschaft selbst verfolgen und nach
den Wirtschaftssubjekten der frü ' kapitalistischen Epoche Um¬
schau halten (siehe den ersten Abschnitt des zweiten Bandes).
Hier ist vor allem jener Bestandteile der merkantilistisclien
1 v. Hörnigk, Österreich über alles. 1684, Ausgabe von 1727,
S. 30, 173. Andere Stellen bei Roscher, System Band III § 179
Anm. 6.
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 369
Wirtschaftspolitik zu gedenken, in denen das Streben des Staates
zutage tritt, auf Umwegen sein Ziel: die Geldbeschaffung , zu
erreichen. Diese Umwege führten ihn aber zu einer Art von
Kompagniegeschäft mit dem empor streben den
Kapitalismus, und die Abwicklung dieses Kompagnie¬
geschäftes ist recht eigentlich das, an was man gemeinhin denkt,
wenn man von Merkantilismus spricht.
Wir müssen uns zum Bewußtsein bringen, daß der Fürst und
der kapitalistische Unternehmer in jenen Jahrhunderten natür¬
liche Bundesgenossen waren, weil sie zu einem guten Teile
gleiche Interessen verfolgten. Vor allem wurden die beiden zu¬
sammengeführt durch ihre gemeinsame Gegnerschaft gegen die
mittelalterlich-städtisch-feudalen Gewalten. Wie diese es waren,
die der Ausbreitung der, fürstlichen Herrschaft über ein großes
Gebiet Hindernisse in den Weg warfen, so waren sie es, die
dem aufstrebenden Kapitalismus durch ihre Zunft- oder Zoll¬
schranken Fesseln anlegten. Gemeinsam aber war den beiden
neuen Mächten das Interesse an einem möglichst ausgedehnten
Vorrat an Edelmetallen im Lande. So kam es ganz von selbst,
daß die beiden zusammenhielten; daß insbesondere — was uns
hier angeht — der absolute Staat zum Förderer und Helfer der
<Ü5
kapitalistischen Interessen, also in erster Linie der kapitalistischen
Industrien und des großen auswärtigen Handels wurde : die Arts
et manufactures müssen gefördert werden, heißt es in der Pre-
ambule des Edikts Heinrichs IV. vom August 1603 „ . . . pour
estre . . . le seul moyen de ne point transporter hors du
royaume l’or et l’argent, pour enrichir nos voisins“ . . . „Das
Geld ist sanguis corporis politici und solches nicht allein zu
erzügeln , sondern beizubehalten kein anderes Mittel , als daß
fremde Waren entweder in einem Lande nicht admittiert oder
wenn sie unvermeidlich und zur allgemeinen Notdurft erforder¬
lich sind, im Lande selbst per naturam vel industriam erzeugt
und zuwege gebracht werden , allermahlen solcher gestalten
occasio et causa movens cessat, das Geld außer Landes gehen
zu machen.“ 1 Der Keichtum an Edelmetallen im Lande be¬
fördert die Industrie, meint Colbert: „quant l’argent est dans le
royaume, l’envie etant universelle d’en tirer profit, fait que les
hommes lui donnent du mouvement“ — , und dabei profitiert
1 Hofkamraer-Keferat 16/III 1700 (2/VI 1710), Hoff. 13 917, bei
H. von Srbik, Exporthandel Österreichs. (1907), 270.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
21
370
Zweiter Abschnitt: Der Staat
wiederum die Staatskasse: „c’est dans ce mouvement que le
Tresor trouve sa part.“ Um aber jene günstige Wirkung zu er¬
zielen, gilt es vor allem, den auswärtigen Handel zu entwickeln :
„il n’y a que le commerce seul et tout ce qui en depend qui
peut produire le grand effet d’amener de l’argent; il fallait lin-
troduire en France oü ni le general ni meine les particuliers ne
s’y sont jamais appliques“ ... 1
Die andere Seite des Problems : wie die kapitalistische Industrie
dem aufstrebenden Staate nützte , verfolge ich hier nicht. Es mag
nur hervorgehoben werden, daß, abgesehen von der indirekten Förde¬
rung, die die Entfaltung des Kapitalismus dem Fürsten und seinem
Lande gewährte , die Staatskassen unmittelbar an dem Gedeihen der
kapitalistischen Unternehmungen Anteil nahmen durch Schatzung
mannigfachster Ai't. Die unten zu erwähnenden Privilegien wurden
meist nur gegen Entgelt erteilt. Bei vielen Unternehmungen, nament¬
lich den großen Handelskompagnien , war es üblich , daß das ganze
Aktienkapital oder doch ein beträchtlicher Teil dem Staate als Anleihe
zur Verfügung gestellt wurde: die (neue) englisch-ostindische Kom¬
pagnie beispielsweise leiht Wilhelm III. 2 000 000 ü^, Anna 1 200 000 j^,
zusammen 3 200 000 „what may properly be called the Capital stock
of this Company“. P o stlethway t, Dict. 1, 682. Im Jahre 1743
gibt sie für die Verlängerung ihres Privilegs auf 14 Jahre 1 000 000
zu 3°/o. Anderson, Annals 3, 241. Die Südseekompagnie wurde
im neunten Jahre der Königin Anna errichtet, um eine Schuld von
9 177 967 £ abzutragen, die die Regierung aufgenommen hatte. Po st -
lethwayt 2,255. Anderson 3, 43 ff. 1715 kommen 822 082.4.8 £
dazu. Dafür erhält die Gesellschaft das Recht auf den Bezug der
Zölle (Steuern) auf Salz, Lichte usw.
Die französische Mississippi-Gesellschaft (Law) wird begründet und
privilegiert , um einen Betrag von 60 Mill. livres Staatsschulden zu
tilgen : die ersten 60 Mill. Kapital werden in Staatspapieren gezeichnet ;
dann vergrößert der Staat das Kapital auf 100 Mill.
Die holländisch-ostindische Kompagnie zahlt bei der Erweiterung
ihres Privilegs im Jahre 1643 an die Regierung 1600 000 fl., und so
fort jedesmal wieder, z. B. 1729, 3 600 000 fl. .
Oder man besteuerte die Gesellschaften direkt während ihres Be¬
stehens: 4/5 Will. & Mary c. 15 (1693) besteuert die ostindische
Kompagnie mit 5 von jeden 100 Aktien; die afrikanische Kom¬
pagnie mit 20% von jeder Aktie; die Hudson Bay Co. mit 5 von
jeder Aktie usw. Anderson 2, 598. Die Staatsregierung nahm
ganz naiv an, daß die wirtschaftliche Tätigkeit im Lande immer gleich¬
zeitig auch zum Besten der Staatskasse betrieben würde. So spricht
die Charte von Leeds im Jahre 1626 davon, daß diese Stadt „zum
Ruhme und zum Besten der Einkünfte der englischen Krone“ seit
1 Mein, de Colbert au roi. 1670. Lettres etc., ed. Clement,
t. VII p. 233.
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus im Ganzen 371
langem Tuch fabriziert habe; 1661 beklagt sich eine neue Verfassungs¬
urkunde über die Betrügereien bei der Wollindustrie , die nicht nur
der Industrie, sondern auch den öffentlichen Einkünften zum Schaden
gereichten usw.
Zahlreiche Beispiele einer unverblümt entgeltlichen Gewährung von
Privilegien usw. findet der Leser in den im folgenden Kapitel ge¬
nannten Spezialwerken.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Die Gewerbe- und Handelspolitik
Quellen und Literatur
Die Quellen habe ich im vorigen Kapitel schon genannt. Die
Literatur ist unübersehbar: nächst der Zunft- und Stadtverfassungs¬
geschichte ist kein Zweig der Wirtschaftsgeschichte so stark entwickelt
wie die Literatur über die merkantilistische Gewerbe- und Handelspolitik.
So viel Belehrung sie uns über die Vorgänge in der Staats Verwaltung
gebracht hat, so hat sie doch (ähnlich wie wir es bei der Literatur
zur Geschichte des Städtewesens gesehen haben) die eigentlich wirt¬
schaftsgeschichtliche Forschung vielfach gnfgehalten : man glaubte,
Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, während man Verwaltungsgeschichte
schrieb , die doch gewiß nicht dasselbe sind. Ich stelle eine kleine
Auswahl von Schriften zusammen, die zur ersten Einführung geeignet
sind:
Frankreich. 1. Gewerbepolitik: (bis 1581) Rud. Eberstadt,
Das französische Gewerberecht und die Schaffung staatlicher Gesetz¬
gebung und Verwaltung usw. 1899; für das 17. und 18. Jahrhundert:
G. Fagniez, L’economie sociale de la France sous Henry IV. 1897.
Alfred des Cilleuls, Histoire et regiine de la grande industrie
en France aux XVII et XVIII sc. 1898. L. Mosnier, Origines et
developpement de la grande industrie en Fr, 1898. G. Martin, La
grande industrie sous Louis XIV. 1899. Idem, La grande industrie
sous Louis XV. 1900. Natürlich ist zu allererst E. Levasseur
zur Hand zu nehmen.
2. Handelspolitik: Charles Gouraud, Hist, de la politique
commerciale de la France. 2 Vol. 1854. Aus der Literatur über die
großen Handelskompagnien: P. Bonnassieux, Les grandes com-
pagnies de commerce. 1892. Paul Kaeppelin, La Compagnie des
Indes Orientales. 1908. — H. Pigeonneau, Hist, du Comm. de la
France. 2 Vol. 1885. 1889 (bis Richelieu). E. Levasseur, Hist, du
Comm. de la France. 2 Vol. 1900.
Paris insbesondere: M. Fr e gier, Hist, de l’administrat. de la
police de Paris. 2 Vol. 1850.
Dann gehört hierher die große Literatur über Colbert. Hauptwerk:
Clement, Hist, de C. et de son administration. 3 ed. 1892. 2 Vol.
England. 1. Die Gewerbepolitik ist in zahlreichen Mono¬
graphien einzelner Industrien behandelt, u. a. : J. J a m e s , Hist, of
the Worsted Manufacture in England. 1857. J. Burnley, The
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 373
history of Wool and Wool Combing. 1889. L. Duchesne, L’evo-
lution economique et sociale de l’industrie de la laine en Angleterre.
1900. F. Lohmann, Die staatliche Regelung der englischen Woll¬
industrie. 1900.
Allgemeines: Ad. Held, Zwei Bücher zur sozialen Ge¬
schichte Englands. 1881. W. A. S. Hewins, The english trade
and finance chiefly in the XVII. cent. 1892. Ch. I and II behandeln
die „Monopolpolitik“. George Unwin, Industrial Organisation in
the 16. and 17. centuries. 1904. William Hyde Price, The
English Patents of Monopoly. 1906. Herrn. Levy, Monopole usw.
1909.
2. Handelspolitik: G. Schanz, Englische Handelspolitik.
2 Bde. 1881 (behandelt vor allem die Regierungen der beiden ersten
Tüders). W. A. S. Hewins, 1. c.
Ein guter Wegweiser gerade in wirtschafts p o litis chen Dingen
ist auch Cunningham. Durch seine klaren und richtigen Urteile
ausgezeichnet ist das noch heute lesenswerte Buch von W. v. Ochen-
kowski, Englands wirtschaftliche Entwicklung im Ausgange des
Mittelalters. 1879.
Spanien. G. de Ustariz, Theorie et pratique du commerce.
Trad. sur l’espagnol 1753. Bern, de Ulloa, Retablissement des
manufactures et du commerce d’Espagne. Trad. sur l’espagnol 1758.
Don Man. Colmeiro, Hist.de la economia en Espana. 2 t. 1863.
M. J. Bonn, Spaniens Niedergang. 1896.
Niederlande. E. Laspeyres, Geschichte der volkswirtschaftl.
Anschauungen der Niederländer usw. 1863. Otto Pringsheim,
Beiträge zur wirtschaftl. Entwicklungsgeschichte der ver. Niederlande
im 17. und 18. Jahrh. 1890.
Österreich. 1. Gewerbepolitik: Karl Pfibram, Geschichte
der österreichischen Gewerbepolitik von 1740—1860. Erster Band:
1740 — 1798. 1907. Ein vortreffliches, außerordentlich inhalts- und
lehrreiches Buch. Daneben sind von früheren Schriften zu vergleichen :
A. Beer, Die österreichische Industriepolitik unter Maria Theresia.
1894. H. Waentig, Gewerbliche Mittelstandspolitik. 1898. S. 7
bis 47. Hans Rizzi, Das österreichische Gewerbe (in Wirklichkeit
behandelt der Verf. im wesentlichen auch die Gewerbe p o litik) im
Zeitalter des Merkantilismus, in der Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Soz.-Pol. und Verw. Bd. XII. 1903. Gibt einen Gesamtüberblick.
Max Adler, Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in
Österreich. 1903. Über die merkantilistische Epoche hinaus ragt die
Darstellung bei Joh. Slokar, Geschichte der österreichischen In¬
dustrie und ihrer Förderung unter Franz I. 1914. Das Werk reiht
sich ergänzend an die früheren an. Es ist wohl ein Ausfluß der be¬
sonders starken Bureaukratisierung der österreichischen Wirtschafts¬
politik, daß ihre Geschichte so viele — gute! — Bearbeitungen ge-
* funden hat.
2. Handelspolitik: A. Beer, Die österreichische Handels¬
politik unter Maria Theresia und Josef II. 1898. Helene Landau,
374
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Die Anfänge des Warenhandels in Österreich, in der Zeitschrift für
V.-W. usw. Bd. XV. 1906. Behandelt im wesentlichen die innere
Handelspolitik. Heinr. Bitt. v. Srbik, Der staatliche Exporthandel
Österreichs von Leopold I. bis Maria Theresia. Untersuchungen zur
Wirtschaftsgeschichte Österreichs im Zeitalter des Merkantilismus.
1907. Ebenfalls ein gutes Buch.
Brandcnburg-Preufsen. G. Schmoller, Studien über die wirtschaft¬
liche Politik Friedrichs II. und Preußens überhaupt von 1680 — 1786,
in seinem Jahrbuch Bd. 8. 10. 11. Derselbe, Das brandenburg¬
preußische Innungswesen von 1640 — 1800, wurde abgedruckt in
dem Sammelbande Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-,
Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen
Staates im 17. und 18. Jahrh. 1898. Dort sind auch noch andere
einschlagende Arbeiten Schmollers vereinigt. G. Schmoller und
O. Hintze, Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und
ihre Begründung durch Friedrich d. Gr. 3 Bde. 1892 (Acta borussica).
K. v. Bohrscheidt, Vom Zunftzwang zur Gewerbefreiheit. 1898.
C. Matschoss, Friedrich d. Gr. als Beförderer des Gewerbefleißes.
1912.
H. Freymark, Zur preußischen Handels- und Zollpolitik von
1648 — 1818. Hall. Diss. 1898. O. Meinardus, Beiträge zur Ge¬
schichte der Handelspolitik des Großen Kurfürsten. Histor. Zeitschr.
Bd. 66.
H. Fechner, Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz
Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit (1741 — 1806).
1907. (Seite 1 — 453 behandelt die Wirtschaftspolitik.)
Deutschland im allgemeinen. G. v. Below, Der Untergang der
mittelalterlichen Stadt Wirtschaft , in den Jahrb. f. Nationalök. III. F.
21, S. 449 ff. 593 ff.
Auf verschiedene Länder erstreckt sich W. Naude, Die Getreide¬
handelspolitik der europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrh.,
Acta Borussica 1896.
Ein Mittelding zwischen Literatur und Quellen sind die großen
Kaufmannslexika Savary, Postlethwayt, Schatzkammer usw.,
in denen sich ein reiches Material findet. Sehr viel Angaben ent¬
halten auch die verschiedenen Bände der Encyclopedie , die die
tManufactures5 und den cCommercec behandeln (Bearbeiter: Boland
de la Platiere).
I. Übersicht
Die folgende Skizze der merkantilistischen Politik bringt dem
Kundigen im einzelnen nichts Neues. Was ich mit ihr bezwecke,
ist: den Nachweis zu führen, daß diese Politik (trotz beträcht¬
licher nationaler Verschiedenheiten) in ihren Grrundzügen doch
in allen europäischen Ländern sich gleich gestaltet hat. Dies^
Zusammenstellung der in ihrem Wesen übereinstimmenden gesetz¬
geberischen Maßnahmen der wichtigsten Staaten ist auch dem-
Vierimdzwauzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 375
jenigen vielleicht willkommen, der die einzelnen nationalen Ver-
waltungssysteme von Grund aus kennt. Dem andern soll meine
Übersicht als Einführung in das Studium dienen. Sie durfte aber
auch deshalb an dieser Stelle nicht fehlen, weil sie ein not¬
wendiges Glied in der Gesamtstruktur meines Geschichtsaufbaus
bildet.
Schauen wir uns nun die Maßregeln im einzelnen an, die
der Staat im Interesse der kapitalistischen Wirtschaftselemente
ergriff, so sehen wir, daß er wirklich im Grunde nichts anderes
tat, als die Maximen der städtischen Wirtschaftspolitik anzu¬
wenden auf das Staatsganze und seinen besonderen Zwecken ent¬
sprechend im einzelnen weiter zu entwickeln. Das heißt : die
merkantilistische Wirtschaftspolitik erschöpft sich wie die Politik
der Städte in
(1.) Privilegierung und
(2.) Reglementierung von Produktion und Handel, um
dem dann allerdings einen wichtigen neuen Komplex von Ma߬
nahmen hinzuzufügen, die wir am ehesten unter der Bezeich¬
nung der
(3.) Unifizierung
zusammenfassen können.
Die folgenden Angaben haben den Zweck, an einigen Bei¬
spielen Sinn und Bedeutung dieser Politik dem Leser zum Be¬
wußtsein zu bringen.
II. Die Privilegierung
Unter Privilegierung verstehe ich hier ganz allgemein die
Einsetzung staatlicher Machtmittel zu dem Zwecke, die wirt¬
schaftliche Tätigkeit Privater überhaupt erst ins Leben zu rufen
oder sie dort, wo sie bereits geübt wird, rentabel oder rentabler
zu gestalten. Hier handelt es sich selbstverständlich nur um die
„Privilegierung“ kapitalistischer Unternehmungen, an deren
Emporkommen, wie wir sahen, die modernen Staaten ja auch
in erster Linie interessiert waren. Will man genau unterscheiden,
so wird man sagen müssen, daß also die staatlichen Machtmittel
eingesetzt wurden: sei es, um vorhandene kapitalistische Inter¬
essen zu fördern; sei es, um zum Leben drängende, aber erst
keimhaft schlummernde kapitalistische Interessen zur Entwick¬
lung zu bringen; sei es endlich, um die Keime solcher Interessen
erst zu pflanzen. Vielfach dienten auch die Privilegierungen
dazu, um die kapitalistische Wirtschaftsweise den entgegen-
376
Zweiter Abschnitt: Der Staat
stehenden Ausschließungsrechten der Handwerkerzünfte zum
Trotze zu ermöglichen.
Der ganze Sinn der staatlichen „Privilegierungen“ kommt
aber in folgendem Briefe Heinrichs H. (vom 13. Juni 1568) zum
Ausdruck 1 : „Nous voulons accroistre le desir ä tous et chacuns
de nos subjetz et les exciter ä s’exercer a choses bonnes et
prouffitables au publicq de nostre royaume, et s’occuper et em-
ployer, en recongnoissant et authorisant par dessus les autres
par Privileges et bienfaits les personnes vertueuses et industrieuses
en tous artz.“
Die „Privilegierungen“ haben nun sehr verschiedene Formen
angenommen, nach denen sie im folgenden der besseren Über¬
sicht halber gruppiert werden sollen.
1. Die Monopolisierung
hat im Systeme des Merkantilismus eine sehr große Rolle ge¬
spielt. Sie besteht grundsätzlich in der Ausschließung anderer;
ist also, wie man sagen könnte, eine Art negativer Privilegierung 2.
In historischer Ableitung geht das Hecht der Monopolgewäh¬
rung wohl auf die alten Ideen des Feudalismus zurück: der
König ist Inhaber aller Macht und aller aus ihr ableitbaren
Rechte und verleiht deren, soviel ihm gutdünkt, an seine Diener,
die selbst die ihnen verliehenen Rechte ganz oder zum Teil an
andere weitergeben. Dieser Feudalismus leuchtet oft mit wunder¬
barer Klarheit aus der Verleihung und Afterverleihuno- o-anz
moderner Industriemonopole heraus. Die unmittelbaren Vor¬
gänger der Fürsten waren ja auch hier die Städte gewesen:
„Die Stadt als Ganzes empfing den Absatz von Gewerbeprodukten
innerhalb ihrer Bannmeile als eine Art Lehn. Von diesem großen
Lehn wurden einige Zweige allen Bürgern als solchen freigegeben,
andere dem Rate ausschließlich Vorbehalten, die meisten aber
den Zünften gleichsam als Afterlehn ausgetan.“ (Roscher.)
1 Ms. bei Levasse ur 2, 37.
2 Die Privilegierung der merkantilistischen Zeit in Gestalt der
Monopolisierung unterscheidet sich von der Privilegierung unserer Zeit
in Gestalt der Patentierung dadurch, daß jene erfolgt unter der
Autorität der Regierung in der ausgesprochenen Absicht, durch jeden
einzelnen Akt der Privilegierung das öffentliche (oder fürstliche) Inter¬
esse zu fördern, während die Patentierung einer Erfindung auf einem
individuellen (Privat-) Rechte beruht, dessen Gewährung nicht ver¬
weigert werden kann. Darüber handelt E. Wyndham Hulme, The
Historv of the Patent System under the Prerogative and at Common
Law in The Law Quarterly Review 12 (1898) und 16 (1900).
Vicrundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 377
"Wie dann sich in langsamer Umbildung das Regal als die
der nachmittelalterlichen Zeit entsprechende Rechtsform der
fürstlichen Ausschließungsbefugnisse entwickelte , ist hier , weil
für den Zweck, d6r hier verfolgt wird, belanglos, nicht darzu¬
stellen 1 : genug daß der moderne Fürst sich das Recht zuschrieb,
alle wirtschaftliche Tätigkeit zu gestatten und zu verbieten, zu
ihrer Ausübung bestimmte Personen zuzulassen und andern sie
zu untersagen. Zuweilen ließ der Monarch sein alleiniges Ver¬
fügungsrecht über Gewerbe oder Handel ausdrücklich erklären;
so begegnen wir schon in der Const. Frider. (1213) einem Monopol
des Königs für den Handel mit Getreide, Salz, Eisen, roher Seide ;
so wird im 15. Jahrhundert in den italienischen Staaten der ge¬
samte Handel vom Fürsten „monopolisiert“2 3; im 16. Jahrhundert
wird in Portugal der gesamte Gewürzhandel zum Monopol; in
Frankreich werden unter Heinrich III. Gewerbe und Handel
zum droit domanial erklärt usw. Das Wichtige aber war doch
eben, daß alle Monarchen — mit oder ohne solche ausdrück¬
liche Erklärung — so handelten, als ob sie die Alleinberech¬
tigten seien.
Man hat die moderne Form der Privilegierung von der mittel¬
alterlichen, also die kapitalistische von der handwerksmäßigen,
dadurch unterscheiden wollen, daß man die Zunftmonopole als
Korporationsprivilegien , die staatlichen (königlichen) Monopole
als Personalprivilegien charakterisierte8. Das trifft aber doch
nicht in allen Fällen zu. Vielmehr erscheint auch das kapita¬
listische Monopol sowohl als Korporations- wie als Personal¬
privileg, wenn auch dieses die Regel bilden mag. Wir sehen
z. B., wie in England einzelnen Korporationen die Kontrolle über
andere Zünfte, z. B. in der Seifen- und Stecknadelfabrikation,
in einer Zeit übertragen wTird, in der diese Gewerbe schon längst
kapitalistisch organisiert waren4; oder wir finden die Communaute
der Händler von Paris im aus schließenden Besitz des Rechtes,
mit bestimmten Waren zu handeln5: oder wir erfahren, daß eine
Anzahl Kohlenhändler im Jahre 1600 das Recht einer inkorpo-
1 Daß verschiedene Rechtsquellen den Regalismus gespeist
haben (neben dem Feudalismus der Imperialismus) , ist sehr wahr¬
scheinlich.
2 Burckhardt, Kult, der Ren. 1, 35 ff-
3 R. Eberstadt, Franz. Gew.R. (1897), 325 ff.
4 Unwin, Organ. 164 ff-, und pass. Levy, Monopole 38.
5 Sa vary, Dict, s. h. v.
378
Zweiter Abschnitt: Der Staat
rierten Gilde erlangen und damit das Recht, Kohlen an die
Schiffe zu verkaufen, die den Ty ne -Fluß befahren1 usf.
Wenn einer Korporation das Recht zugesprochen wurde, so
konnte damit gleichzeitig das Recht verbunden sein, die Zahl
der Mitglieder zu beschränken, dieses Recht, also der Numerus
clausus, konnte aber auch fehlen: Typen solcher Art privilegierter,
das heißt mit dem Monopol ausgestatteter Vereinigungen waren
die meisten „regulated Companies“ in England während des IG.,
17. und 18. Jahrhunderts 2.
Das Monopol, das einer Person oder einer Korporation erteilt
wurde, konnte sich grundsätzlich auf jede beliebige gewinn¬
bringende Beschäftigung erstrecken: wir begegnen ebenso oft
Produktionsmonopolen wie Handels- oder Verkehrsmonopolen.
Produktionsmonopole waren natürlich im wesentlichen
Industriemonopole. Sie wurden entweder (das heißt bei schon
bestehenden Gewerben, die in die kapitalistische Organisation
übergeführt werden sollten: meist an der Hand eines neuen
Verfahrens, das den Anlaß zur Monopolisierung bot) in der schon
beregten Weise verwirklicht, daß eine einzelne Korporation die
Kontrolle über das gesamte Gewerbe erhielt, oder so, daß von
vornherein ein nationales Monopol geschaffen wurde: die Reo-©l
bei neubegründeten Industrien, wie etwa der Glas-, Salz- oder
Drahtindustrie in England.
Zuweilen wurde das Vorrecht, Güter einer bestimmten Art
herzustellen, auch einer Stadt oder einer Landschaft gewährt:
das heißt allen Personen, die jeweils an jenem Orte produzierten.
So erhielt Lyon das ausschließliche Recht, Strümpfe aus schwarz¬
gefärbter Seide herzustellen.
Das Monopol konnte auf ewige Zeiten oder auf Lebenszeiten
des ersten Empfängers oder auf eine bestimmte Anzahl von
Jahren erteilt werden. In dieser letzten Form nähert es sich
dem modernen Patent, und als solches erscheint es schon häufig
im England der Elisabeth: 15G5 Monopol-Patent (auf 20 Jahre')
1 Ralph Gardiner, Englands Grievance discovered in relation
to the coal trade . . . the tyi'annical oppressions of those magistrates,
their Charters and grants . . . 1655. Repr. 1796.
2 Vgl. die Darstellung der Wirtschaftsformen im 2. Bande. In
dem Streit um die Monopole hat diese Frage: ob Monopol mit oder
ohne numerus clausus natürlich eine hervorragende Rolle gespielt. So
verteidigt die Handelsmonopole, aber ohne num. claus. , z. B. Jos.
Child, A new discourse of Trade Ch. III.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 379
zur Erzeugung von Salz; 1567 (auf 21 Jahre) zur Erzeugung von
h ensterglas usw. 1 Auch in Frankreich begegnen wir frühzeitig
solchen befristeten Monopolen : so war gleich das erste Monopol,
das Heinrich H. iin Jahre 1551 zur Errichtung der Glashütte in
S. Germain-en-Laye erteilte, auf 10 Jahre beschränkt2.
In Österreich können wir zwei Epochen unterscheiden : in den An¬
fängen der merkantilistischen Politik (unter Leopold I.) bildete die
gesetzliche Grundlage der neuen Wirtschaftsformen das Privilegium
exclusivum, das einzelnen Unternehmern den Alleinverkauf en gros
im Gesamtgebiete der österreichischen Erbländer für ihre Erzeugnisse
sicherte. Unter Maria Theresia treten an die Stelle „die Fabriks¬
befugnisse“, die zweifacher Art waren. Man unterschied „einfache
fabrikmäßige Befugnisse“, die die Anerkennung der Nützlichkeit der
Unternehmung, die Befreiung von jedem Zunftzwange und das Recht,
ahe Arten gewerblicher Hilfsarbeiter in dem Betriebe zu vereinigen,
in sich schlossen, und die „Landesfabriksbefugnisse“. Diese enthielten
die Anerkennung der „besonderen Wichtigkeit und Solidität“ der
Unternehmung. Sie berechtigten zur Führung des kaiserlichen Adlers
und zur Aufdingung und Freisprechung von Lehrlingen, was bei der
andern Klasse den Zünften Vorbehalten war.
Oder das Monopol war ein Handelsmonopol. Dann um¬
schloß es entweder das Recht, ausschließlich mit einer bestimmten
Ware oder einer Warengattung Handel zu treiben: solch ein
Monopol besaßen die New Castler Kohlenhändler während des
17. Jahrhunderts, besaßen die privilegierten Kaufleute in der
Solinger Messerindustrie3, besaß die Gesellschaft, der schon
Ludwig XI. das Privileg der Gewürzeinfuhr erteilt hatte 4 5.
Wiederum konnte das Monopol einem Orte statt einer Person
verliehen sein : wenn etwa alle Seide, die in Frankreich gehandelt
wurde, ihren Weg über Lyon nehmen mußte.
Oder das Monopol gewährte das Recht, ausschließlich mit
einer bestimmten Gegend, mit einem bestimmten Lande Handel
zu treiben: wenn die Merchant Adventurers (noch im 17. Jahr¬
hundert) allein das Recht haben, alle Arten Tuchwaren nach
Deutschland und den Niederlanden auszuführen6. Die geogra-
1 Eine Liste der Patente bei Hulme, Hist, of Patent System, in
Law Quarterly Review XII, 1896, und XIV, 1900. Vgl. Cunning-
bam, Growth 2, 58 ff. 76 ff., und die neue, gründliche Arbeit von
H. Hyde Price, The English Patents of Monopoly. 1906.
2 Levasseur, 2, 37.
3 W. Thun, Ind. am Niederrhein 2, 27.
4 Pigeonneau, Hist, du comm. 1, 435.
5 Rymers, Foedera 19. 583. Vgl. James, Worst. Manuf.
(1857), 148.
380
Zweiter Abschnitt: Der Staat
phische Monopolisierung, von der man in diesen Fällen sprechen
könnte, fand ja ihr bedeutsamstes Anwendungsgebiet bei allen
großen überseeischen Handelsgesellschaften. Inder
' Regel war in der Charte das der Gesellschaft zu unbeschränkter
Ausbeutung überwiesene Land ausdrücklich genannt: die be¬
rühmteste von ihnen: die 1600 begründete englisch-ostindische
Handelskompagnie, hieß „The Governor and Company ofMerchants
of London trading into the East In dies“ und erlangte das Handels¬
monopol für alle Länder am Indischen und Stillen Ozean zwischen
der Magelhaensstraße und dem Kap der guten Hoffnung. Die
1719 aus drei andern Gesellschaften gebildete französische Com¬
pagnie des Indes war „chargee de tout le commerce colonial de
la France“ h
Solcherart Monopolpolitik haben nun, wie schon die Beispiele
zeigen, mit denen ich die verschiedenen Formen der Monopoli¬
sierung kenntlich gemacht habe, alle Staaten getrieben, seit und
soweit sie in die Bahnen der Beförderung kapitalistischer Inter¬
essen einmündeten : auch hierin als Erben der städtischen Wirt¬
schaftspolitik.
In dem einen Lande ist die Neigung zur monopolistischen
Gestaltung des Wirtschaftslebens vielleicht stärker gewesen als
im andern; in diesem hat sie früher nachgelassen als in jenem;
hier hat sie alle Zweige des Wirtschaftslebens gleichmäßig er¬
griffen, dort einige stärker, andere schwächer: aber in den Grund¬
sätzen war die Politik überall dieselbe. Während in Frankreich
die Industriemonopole im 18. Jahrhundert die größte Ausdehnung
und ihr Ende erleben, während sie in der Form des Konzessio-
nierungssystems sich in den deutschen Staaten bis tief ins
19. Jahrhundert erhalten, verschwindet diese Form der Monopoli¬
sierung in England schon seit 1687. Dafür sind in keinem Lande
die Handels- und Verkehrsmonopole bis in das 19. Jahrhundert
hinein so rigoros gehandhabt worden wie in Großbritannien : erst
1813 wird der indische Handel den Außenseitern freigegeben; erst
1796 wird das Schiffahrtsmonopol, das, wie wir sehen werden, seit
Richard H. datiert und, wie bekannt, in Cromwells Navigations¬
akte (1651) seine endgültige Prägung erfährt, zum ersten Male
durchbrochen, erst 1849 wird die Navigationsakte aufgehoben.
Was ein Schriftsteller in den 1770 er Jahren von Österreich
schrieb, hätte für alle Staaten gelten können: „Les monopoles
1 Vgl. die Darstellung der Wirtschaftsformen im 2, Bande.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 381
dans nos provinces sont innombrables , partie ignores, partie
toteres et partie legalement antorises par le Gouvernement.
Presque tous nos fabriquants, manufacturiers et gros negociants
sont monopoleurs.“ 1
2. Die Handelspolitik
Eine Form der Privilegierung der kapitalistischen Industrie,
die im Grunde auch auf die Gewährung eines Monopols wenigstens
für einen ganzen Industriezweig hinausläuft, ist die künstliche
Beeinflussung des Warenmarktes, durch Maßregeln befördernd
oder hemmend auf den Warenzustrom oder -abstrom einzuwirken.
Man sucht dasselbe Ziel, dem die Monopolisierung zustrebt : den
Wettbewerb auszuschließen oder einzuschränken statt auf geradem
Wege auf Umwegen zu erreichen. Wozu dann freilich eine Reihe
anderer Wirkungen handelspolitischer Maßnahmen neu hinzutritt.
Die Handelspolitik des Merkantilismus ist wiederum in gerader
Linie aus der städtischen Handelspolitik erwachsen wie wir schon
festzustellen Gelegenheit hatten, als wir der „Versorgungspolitik“
gedachten. Der Zweck, den die Fürsten in ihren Staaten ver¬
folgten, war ja derselbe gebheben, den schon die Stadtverwal¬
tungen zu erfüllen getrachtet hatten: die gewerblichen Produzenten
sollten über reichliche Rohstoffe verfügen und gegen die Kon¬
kurrenz der fremden Erzeugnisse geschützt werden. So bleiben
denn in den Anfängen der staatlichen Handelspolitik auch die
Mittel dieselben: man verbot die Ausfuhr der’ Rohstoffe (und
Halbfabrikate) ebenso wie die Einfuhr der Fertigfabrikate.
In Spanien wird die Ausfuhr von (Nahrungsmitteln und) Rohstoffen
schon während des 14. Jahrhunderts von den Königen, z. B. Arra-
goniens, verboten. 1462 bestimmt Heinrich IV., daß bei der Ausfuhr
von Wolle auf der einheimischen Produzenten Wunsch ihnen ein Drittel
preiswürdig zu überlassen sei: diese Vergünstigung wird noch aus¬
gedehnt durch Gesetze von 1551, 1552, 1558, 1560- Im Jahre 1537
wird die Ausfuhr von Eisenerzen untersagt; 1548, 1550, 1552, 1560
wird die Lederausfuhr verboten.
In Frankreich gehen die ältesten Ordonnanzen, in denen die Könige
die Ausschließungspolitik der Städte aufnehmen, auf Philipp III. zu¬
rück, der bereits 1278 die Ausfuhr der einheimischen Wollen verboten
hatte. Die Ordonnanzen, in denen dieses Verbot erneuert und auf
andere Rohstoffe und Halbfabrikate , wie Flachs , Färbematerialien,
Garne, rohe Tücher usw., ausgedehnt wird, sind dann in den folgenden
Jahrhunderten zahlreich: wir begegnen ihnen z. B. 1305, 1320, 1567,
1572, 1577 usf. Zu ihnen gesellen sich frühzeitig die Ordonnanzen,
1 Mitgeteilt bei Pf ihr am, 273.
382
Zweiter Abschnitt: Der Staat
die die Einfuhr fertiger Erzeugnisse , namentlich der Textilindustrie,
verbieten : 1469 verbietet Ludwig XI. die Einfuhr der indischen Leinen,
1538 Franz I. die der Tuche von Katalonien und Perpignan, 1567
die der flämischen sayetteries ; 1567, 1572, 1577 wird die Einfuhr der
draps d’or, d’argent et de soie verboten.
In England verbietet schon das Oxforder Parlament im Jahre 1258
die Wollausfuhr, Eduard II. die Ausfuhr von Weberkarden. Dann
kommen diese Ausfuhrverbote wohl eine Zeitlang in Vergessenheit,
als der Wollexport die große volkswirtschaftliche Bedeutung für Eng¬
land erlangt. Aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden die alten
Verbote wieder aufgenommen: 4 H. VII. c. 10; 22 H. VIII. c. 2;
37 H. VIII. c. 15 enthalten Wollausfuhrverbote , 2. u. 3. Edw. VI.
c. 26 das Verbot der Ausfuhr weißer Asche. Unter Jakob I. wird
die Ausfuhr nicht vollendeter Wollwaren verboten; 1648, 1660 wird
das Verbot der Wollausfuhr wiederholt. Das Verbot bleibt dann bis
1825 in Kraft. Noch im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts sind
die Bestrebungen zur Verhinderung der Wollausfuhr besonders lebhaft.
James, Worsted Manufacture (1857), 301 ff. Vgl. auch J. Bon-
wick, ßomance of the Wool Trade (1887), 14 ff. 167 ff.
Ebenso wie die Ausfuhr der Wolle war die der Häute verboten
(1 El. c. 10; 18 El. c. 9) (eine Zusammenstellung der auf das Leder
bezüglichen Gesetze findet sich in der Flugschrift Leather, A dis-
course tendered to the High Court of Parliament 1629. Abgedr. in
Soc. Engl, illustr. A Collection of XVIIth Century Tracts (1903),
331 ff.), ferner die von Hörnern (4 Edw. IV. c. 8; 7 Jac. I. c. 14);
von Metallen (21 H. VIII. c. 10).
Und auf der andern Seite sind noch während des 15. Jahrhunderts
zahlreiche Fertigfabrikate von der Einfuhr nach England ausgeschlossen :
33 H. VI. c. 5 (1455); 3 Ed. IV. c. 3 (1463); 22 E. IV. c. 3 (1483)
verbieten die Einfuhr von Seide und verschiedener Seidenwaren ;
3 Ed. IV c. 4 die Einfuhr von fast hundert Artikeln aller Branchen.
Ganz ebenso lagen die Dinge in andern Ländern: zahlreiche Aus¬
fuhrverbote für rohe Häute und Felle, für Eichenrinde und Borke in
den verschiedenen deutschen Staaten (Übersichten, bei Bergius,
Neues Policey und Cam. Magaz. 4 (1778), 25 ff. 27); in Holland
Ausfuhrverbote für Schiffsbaumaterialien (Laspeyres, 154).
Setzte der Fürstenstaat in den Einfuhr- und Ausfuhrverboten
die städtische Wirtschaftspolitik nur fort, so hat er im weiteren
Verlauf doch auch ein Mittel der Handelspolitik entwickelt,- das
die frühere Zeit nicht gekannt hat und um dessentwillen man
die ganze merkantilistische Handelspolitik oft als eine voll¬
ständige Neuerung kennzeichnet: den Schutzzoll.
Abgaben von den in Bewegung befindlichen Sachgütern zu
erheben, war das ganze Mittelalter hindurch üblich gewesen : ur¬
sprünglich hatten diese Abgaben den Sinn der Gebühr gehabt,
dann waren sie allmählich zur Steuerquelle für Herren und Städte
geworden. Es war eine geniale Idee, diese Finanzzölle, wie wir sie
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 383
heute nennen würden, den Zwecken des Industrieschlitzes dienst¬
bar zu machen. Wann diese Wandlung erfolgt ist, können wir mit
voller Gewißheit nicht sagen 1 : vielleicht oder sogar wahrschein¬
lich ist die Umbildung des Finanzzollsystems in ein Schutzzoll¬
system ganz allmählich erfolgt, als ein Werk kasuistischer Politik.
Soviel wir zu sehen vermögen , tauchen in größerer Menge
Schutzzölle in Frankreich und England während des 16. Jahr-
hunderts auf: in England könnte man den Tarif von 1534, in
Frankreich die Tarife von 1564, 1577 und namentlich den von
1581 als erste Schutzzolltarife ansprechen.
Bekannt ist, daß dann in den Tarifen Colberts von 1*664 und
1667 das Schutzzollsystem seine volle systematische Ausbildung
erfahrt: hohe Ausfuhrzölle auf .Rohstoffe, hohe Einfuhrzölle auf
Fertigfabrikate, Einfuhrerleichterungen für Rohstoffe, Ausfuhr¬
begünstigungen für Fertigfabrikate : dieses waren die Grundsätze
der Politik, die wir ihres Vollenders wegen auch als Colbertismug/-'
bezeichnen, und die ebenso wie die Monopolisierungspolitik alle
Länder bis tief hinein ins 19. Jahrhundert beherrscht hat: in
England, dem „Freihandelslande“ par excellence, wurde durch
den Handelsvertrag, den Pitt im Jahre 1786 mit Frankreich
schloß , die erste Bresche in das Hochschutzzollsystem gelegt,
das bis dahin bestanden hatte. Trotz der Reformen Huskissons
in den Jahren 1824 und 1825 fand die Peelsche Tarifreform des
Jahres 1845 noch Zölle auf 130 verschiedene Artikel zum Ab¬
schaffen vor.
* *
*
Nun hieße es aber der Handelspolitik des Merkantilismus nur
sehr unvollkommen gerecht werden, wollte man eine Maßnahme
unerwähnt lassen, durch die die kapitalistischen Interessen eine
ganz besonders starke Förderung erhielten: die Aufhebung
der Binnenzölle. Die Grenze des alten Weichbildes war
jetzt gleichsam an die Landesgrenze gerückt: das Gebiet aber,
das von diesen eingeschlossen war, sollte einheitlich und durch
keine Zollschranke in einzelne Teile zerschnitten sein. Besonders
stark entwickelt war das Binnenzollsystem in Frankreich und
Deutschland. In Frankreich gelang es Colbert (1664), wenigstens
1 Siehe für Frankreich: A. Callery, Les douanes avant Colbert
et l’ordonnance de 1664, in der Revue historique, 7e annee, tome 18
(1882), 47 ff ; auch u. d. T. Histoire generale du Systeme des droits
de douane aux XVI et XVII siecles, 1882; für England Hub. Hall,
A history of the Custom Revenue in England, 1885.
384
Zweiter Abschnitt: Der Staat
einen Teil der Binnenzollschranken anfznheben: diejenigen, die
in den 20 „provinces des cinq grosses fermes“ bestanden, so daß
seitdem Normandie, Picardie, Champagne, Bourgogne, Touraine,
Poitou, Anjou mit Isle de France und Paris zu einem gleich¬
artigen Ganzen zusammengeschlossen waren. Die französische
Revolution vollendete das Werk, während, wie bekannt, in
Deutschland wenigstens die Staatsgrenzzölle (die etwa den fran¬
zösischen Provinzzöllen entsprachen) erst durch den Zollverein
(1834) aufgehoben wurden.
. 3. Prämiierungen
Neben der Monopolisierung und dem Schutz durch künstliche
Beeinflussung der Warenbewegung fanden sich aber noch andere
Mittel der Privilegierung kapitalistischer Interessen in dem
Arsenal der merkantilistischen Wirtschaftspolitik vor.
Man kann sie alle zusammen als „Unterstützungen“ oder
„Prämiierungen“ bezeichnen, durch deren Gewährung man ent¬
weder die Menschen geneigt machen wollte, sich als kapitalistische
Unternehmer zu betätigen, oder ihnen, wenn sie schon den Ent¬
schluß gefaßt hatten, eine Industrie oder einen Handel oder
sonst eine gewinnbringende Beschäftigung auszuüben, die Mög¬
lichkeit verschaffen wollte, Profite zu machen.
S a v a r y 1 zählt in seinem Dictionnaire alle die Vergünstigungen
auf, die der Staat den Unternehmern und den Arbeitern in den
königlichen Manufakturen zuteil werden ließ. Es sind folgende :
1. die Unternehmer empfangen:
den erblichen Adel (die bedeutendsten);
die Erlaubnis zur Naturalisation (wenn sie Fremde sind);
Erlaß der Eingangszölle oder Ausfuhrzölle, die auf den von
ihnen gebrauchten Rohstoffen oder gefertigten Fabrikaten
ruhen ;
zinslose Darlehen auf mehrere Jahre;
Jahrespensionen (deren Höhe sich nach dem Erfolge ihrer
Unternehmungen bemißt) ;
die Erlaubnis des Salzbezuges zu Engrospreisen;
die Erlaubnis, Bier für sich, ihre Angehörigen und ihre
Arbeiter zu brauen;
Bauplätze für ihre Werkstätten;
das Recht „Committimus“ ;
Befreiung von der Gewerbeaufsicht;
1 Savarv, Dict. du Comm, s. v. Mavmfactures 2, 632.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 385
2. die Arbeiter erhalten:
Steuerfreiheit ;
das Meisterrecht.
Die Hauptsache waren für den Unternehmer natürlich die
Zuschüsse, die er in bar aus der Staatskasse empfing. Das waren,
zumal unter der Regierung Colberts, in Frankreich recht be¬
trächtliche Summen. Man hat berechnet, daß zwischen 1664
und 1683 zur Gründung oder Subventionierung industrieller
Unternehmungen 1 800 000 1. ausgegeben worden sind : ohne die
Manufactures d’Etat, die allein 3 Mill. 1. gekostet haben, ohne
die Ankäufe, die Louis XIV. bei privilegierten Unternehmungen
machte, und ohne die Pensionen, die den Unternehmern gewährt
wurden. M. Guiffrey, der Verfasser der Comptes des bäti-
ments du roi, kommt auf eine Gesamtsumme von öVa Mill. 1.,
die zur direkten Unterstützung der Textilindustrie ausgegeben
wurden: 2 Mill. für Pensionen und Subventionen, 3 Mill. für
Bestellung von Teppichen und Geweben. Außerdem wurden die
Provinzen und die Städte veranlaßt, industrielle Unternehmungen
zu finanzieren, und zahlreiche Etats provinciaux, namentlich die
von Languedoc und Bourgogne 1 und Städte wie Lille , unter¬
hielten denn auch wirklich Industrien aus ihren Mitteln. „Allen
Erfindungen wurde durch Privilegien und Protektion zu Hilfe
gekommen, des Königs Kasse stand gleichsam an Märkten und
Landstraßen und harrte derer, denen nur irgendeine Erfindung
zu Gebote stand, um sie zu belohnen“. (Heinrich Laube)
Vielleicht nicht mit demselben Feuereifer und mit denselben
Opfern an Geld, aber im Grunde doch mit gleichen Mitteln
suchten die Fürsten allerorten die kapitalistische Industrie zu
fördern. Insbesondere waren die Prämien bei der Ausfuhr fertiger
Fabrikate namentlich auch in England beliebt2 * *. Oder man fand
auf anderem Wege Gelegenheit, den Industriellen Zuwendungen
zu machen: indem man z. B. Vorkaufsrechte, die der Krone zu¬
standen, an Kapitalisten abtrat, wie seit der Elisabeth die eng¬
lischen Könige es taten mit den Erzvorkaufsrechten, die sie
gegenüber den Zinnbergwerken in Cornwall hatten8.
Dieselben Maßnahmen kehren in allen andern Ländern wieder.
1 Sie schießen (1667) 400 000 1. vor, um 200 Serge-Stühle auf¬
zustellen; in den folgenden Jahren fahren sie mit den Subventionen
fort: Levasseur, Ind. 2, 241.
2 Cunningham, 2, 516.
2 G. R. Lewis, The Stannaries (1908).
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
25
386
Zweiter Abschnitt: Der Staat
An Unterstützungen und Vorschüssen wurden in Österreich seit
Mitte der 1760 er Jahr alljährlich 50—80000 fl. ausgegeben1.
II. Die Reglementierung
Wie die erste Grundidee des mittelalterlichen Wirtschafts¬
lebens: daß niemand wirtschaften solle, er habe denn von oben
die Ermächtigung dazu erhalten , von dem Fürstenstaate über¬
nommen wurde, so nicht weniger streng die zweite: daß jeder¬
mann sein (wirtschaftliches) Verhalten den Anweisungen der
Obrigkeit gemäß einzurichten habe. Ich nannte die erste Grund¬
idee die des Privilegs und nenne die andere die des Reglements,
unter dessen Zwange die ganze frühkapitalistische Epoche eben¬
falls noch steht.
Was man wohl als die dem absoluten Staate eigene „Viel¬
regiererei“ bezeichnet: darin eben schlägt sich die Herrschaft
dieser Reglementierungsidee nieder, von Friedrich n. und den
italienischen Fürsten des Trecento angefangen bis zu den Stuarts
und Louis XIV. oder Friedrich M. Was man in den Anfängen
des absoluten Fürstentums als dessen Pflichten pries und als ein
Ideal erstrebte — wir hörten Burckhardt darüber — , das
wurde im 17. und 18. Jahrhundert Wirklichkeit in reichster
Fülle. Horen wir, um was alles sich selbst in dem immer noch
am wenigsten „reglementierten“ Lande: England, die Regierung
(allerdings zur Zeit der Stuarts: ich wähle als Beispiel das Jahr
1630) kümmerte:
die Seide soll schlecht gefärbt sein: verordnet, daß nur
Spanisch-Schwarz zum Färben genommen wird;
das Getreide wird knapp : verordnet, daß Freitag abend kein
Abendbrot gegessen wird, noch an andern Fasttagen;
die Fischerei gedeiht nicht : verordnet : es wird eine Kom¬
mission zur Untersuchung eingesetzt;
die ausgeführten Tuche sollen zuweilen an Länge, Breite
und Gewicht Defekte gehabt haben: verordnet die Bestellung
von Kommissionen für Somerset, Wilts, Gloucester und Oxon,
die die Aufseher beaufsichtigen sollen;
die Wollindustrie bedarf der Unterstützung: verordnet, daß
Tuchstoffe nur aus heimischen Wollstoffen hergestellt werden;
falsche Färbung kommt vor: verordnet, daß kein logwood
oder blockwood zum Färben genommen wird;
1 PHbram, a. a. O. S. 71 ff. 132.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 387
zu viel fremder Draht wird verbraucht: verordnet, daß
kein fremder Draht mehr eingeführt wird usw.;
London droht übervölkert zu werden : verordnet, daß keine
neuen Häuser in London und innerhalb drei Meilen errichtet
werden ;
der Verbrauch von Tabak nimmt überhand: verordnet, daß
in England kein Tabak gepflanzt werden soll 1 usw. usw.
Hier interessiert uns nur die Ordnung der wirtschaftlichen,
insonderheit der gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit (so¬
weit sie nicht schon in der Privilegierung enthalten ist), und
es soll auf den folgenden Blättern versucht werden, festzustellen :
worin die "Wesenheit dieser Ordnung im absoluten Staate be¬
standen hat : was aus früherer Zeit übernommen, was neu hinzu¬
gefügt wurde.
Da haben wir denn, was sich schon aus den Eino-anns-
Worten ergibt, vor allem festzustellen : daß die in der Zunft¬
ordnung niedergeschlagene Wirtschaftsverfassung
des Mittelalters in ihren Grundgedanken während
der ganzen frühkapitalistischen Epoche unver¬
ändert in (Geltung geblieben ist. Das "Wirtschaftsrecht
bleibt also grundsätzlich ein gebundenes.
"Was nun freilich nicht ausschließt, daß das absolute Fürsten¬
tum wesentliche Änderungen an der alten Wirtschaftsordnung
vorgenommen hat, von denen im folgenden die Rede sein soll.
Zunächst ist in den Jahrhunderten des absoluten Staates die
Zunftordnung in zahlreichen Punkten verschärft und
ihre Geltung verallgemeinert worden. Die Ordonnanzen
der französischen Könige seit dem Ende des IG. Jahrhunderts
führen die Zwangsinnungen überall erst recht ein und führen den
Zunftzwang streng durch: vor allem die beiden wichtigsten: die
Ordonnanz Heinrichs IH. vom Dezember 1581 und Colberts
Ordonnanz von 1673. Und als dann um die Mitte des 18. Jahr¬
hunderts viele Zünfte ihre Statuten erneuern, geschieht es mit
der ausgesprochenen Absicht, durch die Neupublikation den
Geist der Exklusivität zu stärken. Die Sammlung sei nützlich,
meinten z. B. die Chaudronniers, „surtout quand il s’agira d’avoir
affaire ä des marchands ou maitres de differentes communautes
qui entreprennent continuellement contre le commerce de la dite
1 Die Texte der Verordnungen finden sich in Rymers Foedera
19, 187—235.
388
Zweiter Abschnitt: Der Staat
communaute au prejudice de ses droits et des differents arrets
et sentences obtenues“ 1.
Auch die englischen Zünfte, die während des 16. bis 18. Jahr¬
hunderts neu gegründet werden, sind teilweise ausschließender
und eno-er in ihren Grundsätzen als die des Mittelalters 2. Ebenso
o
ist es bekannt, daß in Deutschland das Zunftwesen während des
17. und 18. Jahrhunderts starrer und düsterer wird3.
Auch vermehrte sich die Zahl der Zünfte in dieser Zeit noch
beträchtlich: in Paris gab es 1672 60, kurz nach Erlaß der
Colbertschen Gewerbeordnung 83, 1691 schon 129 4 ; in Poitiers
gab es Mitte des 16. Jahrhunderts 25, 1708 35, 1717 43 ge¬
schworene Handwerke 5.
Diese Verschärfung der zünftlerischen Tendenzen ging ja nun
freilich vornehmlich das Handwerk an, und sie entsprang wohl
großenteils der Bedrängnis, in die manche Handwerke durch das
Fortschreiten des Kapitalismus gerieten. Aber zum nicht un¬
erheblichen Teil wurden doch auch die kapitalistischen
Interessen durch die Neuerungen mit getroffen:
so hatten beispielsweise alle jene Vorschriften der Statuten, die
sich auf die Aufsicht der Gewerbe bezogen, also für die Güte
des Fabrikats, die ordnungsmäßige Einrichtung der Betriebe
usw., sorgten, ihr Hauptaugenmerk gerade auf die kapitalistische
Industrie gerichtet. Wir hören das lebhafte Interesse an deren
Reglementierung aus den Worten Colberts heraus, mit denen
er die französische Gewerbeordnung des Jahres 1669 einleitet
(in der 150 frühere Spezialordnungen aufgingen!): „Nous de-
sirons remedier autant qu’il nous est possible, aux abus qui se
commettent depuis plusieurs annees . aux longueurs , largeurs,
force et bonte des draps, serges et autres etofies de laine et fil,
et rendre uniforme toutes celles de mesme Sorte, nom et qualite,
en quelque lieu qu’elles puissent estre fabriquees tant pour en
augmenter le debit dedans et dehors nostre royaume que pour
empescher que le public ne soit trompe!“ „II n’y a de plus im¬
portant“ als Reglements zu erlassen, hat er ein anderes Mal gesagt 6.
1 Siehe die Liste der neuen Statuten bei Levasseur, Ind. 2, 461 f.
2 Unwin, Ind. Org., 103 ff.
3 Siehe z. B. Stieda, Art. Zunftwesen in HSt.
4 Savary, Dict. Art. Corps et Com.
6 Boissonade, Essai sur l’origine du trav. en Poitou 2, 6. 15.
6 Depping, Introd. ä la correspondance administr. de Louis NIV
Tome III p. IV/VI.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 389
Im 18. Jahrhundert werden die Reglements immer strenger,
immer minutiöser : sie zählen bis 100 und 200 Artikel auf und
enthalten immer mehr Produktionsanweisungen: die Gesetzgebung
wird immer komplizierter. Bis 1683 hatte die Zahl der Regle¬
ments 48 betragen, von 1683 bis 1739 zählen wir 230 „edits
arrets et reglements sur les arts et metiers“ h „Ein Wahnsinn
hat die Zeitgenossen ergriffen, dessen man den menschlichen
Geist niemals fähig gehalten haben würde“, ruft M1' Roland, der
das Gewerbewesen für die Encyclopedie zu bearbeiten hatte,
ganz entsetzt aus2.
In den übrigen Ländern lagen die Dinge nicht viel anders:
die englische Textilindustrie war seit jeher in enge Fesseln gelegt
(bis auf die Baumwollindustrie, die sich etwas freier entwickelte).
Gesetze von 1329, 1469, 1484, 1585, 1593 u. a. regeln die Aus¬
maße der Stücke; Gesetze von 1515, 1518 ü. a. den Fabrikations¬
prozeß, das Markenwesen usw. Behufs Durchführung der Gesetze
bestand eine strenge Gewerbeaufsicht, ebenfalls bis ins 18. Jahr¬
hundert hinein: im Jahre 1806 fand die Untersuchungskommission
in der Wollindustrie allein noch 70 reglementierende Gesetze in
Kraft.
In Holland finden wir im 17. und 18. Jahrhundert ganz genaue
Bestimmungen über die Art der Fabrikation, die Art des Ver¬
kaufs, die obrigkeitliche Kontrolle usw., nicht nur als Überbleibsel
aus dem Mittelalter, sondern häufig erneuert und vermehrt: „in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchte die Obrigkeit
mehr als je die Hilfe für die Gewerbe in (deren) Gängelung“
(L a s p e y r e s). Es folgt V erbot auf V erbot, V erfälschungen vor¬
zunehmen: von Hopfen (1721), Milch und Käse (1727), Butter
(1725), Indigo (1739) usf. In einem Gewerbezweig nach dem
andern wird der Produktionsprozeß immer wieder neu geregelt:
in der Wollweberei (1724), der Färberei (1767), der Hanfbereitung
(1770, 1790), fier Bereitung der Kette für Segeltuch (1759) usw.
In Österreich dasselbe Bild 3 : Garnordnungen, Tuchordnungen,
Leinwandordnungen. „Die österreichische Politik des 17. und
18. Jahrhunderts wandelt völlig in den Bahnen Oolberts. Die
1 Siehe Anm. 6 S. 388.
2 „C’est l’epoque d’un delire dont on n’aurait jamais cru l’esprit
humain susceptible.“ Enc. meth. Mf. 1 , 4. Hier findet man auch
unter dem Stichwort Reglement die sehr detaillierten Vorschriften der
1770 er und 1780 er Jahre im Wortlaut.
8 Pfibram, a. a. O. S. 76 ff.
Zweiter Abschnitt: Der Staat
*390
Ausdrücke: Reglementierung, staatliche Bevormundung, Polizei¬
aufsicht bezeichnen kurz das System, durch das die Regieiung
nach Colbertschem Brauch auf das Gewerbe erzieherisch einzu-
wirken suchte; Reellität der Produktion wollte man durch
strenge Kontrollierung und Gleichartigkeit der Arbeit sichern ...
Am beliebtesten war die Reglementierung natürlich in der
Standardindustrie jener Zeit: in der Textilindustrie. Aber auch
in andern Gewerbezweigen war die Produktion strengen Regeln
unterworfen: so enthalten die deutschen Blechhammel Ordnungen
genaue Bestimmungen über Zahl und Größe der Blechhämmer,
über Größe, Länge, Breite, Beschneidung, Verzierung usw. der
Bleche1 2.
Ingleichen besitzen wir sehr peinliche Reglementierungen der
Papierindustrie 3 usw.
Trafen diese Reglements die kapitalistische Industrie (und
auch den kapitalistischen Handel) in manchen Fällen, weil es
Gewerbe und Handel- waren (nicht weil sie in kapitalistischer
Form betrieben wurden), so gab es doch eine Fülle von Be¬
stimmungen, gab es eine Menge von Maßnahmen, die neu getroffen
wurden im Hinblick auf den kapitalistischen Charakter von Handel
und Industrie, die geradezu eine Durchbrechung oder
Umbiegung oder Weiterbildung der handwerksmäßigen
Ordnung bedeuteten, mit denen also das absolute hürstentum
wiederum den kapitalistischen Interessen — vielfach auf Kosten
des Handwerks — zu dienen beflissen war.
Ich denke in erster Linie an die Beseitigung aller derjenigen
Beschränkungen des zünftlerischen Gewerberechts, die den Zweck
hatten, die Ausdehnung der Betriebe zu hindern: also der Be¬
schränkung in der Zahl der Gehilfen oder Produktionsmittel
(Webstühle usw.). Entweder die neuen Industrien wurden aus¬
drücklich von diesen Gesetzen befreit oder in den Gewerbe¬
ordnungen selbst wurden diese einschränkenden Bestimmungen
gestrichen: so enthielt das Statute of Artificers der Elisabeth
zwar noch die Vorschrift einer mindestens 7jährigen Lehrzeit,
1 H. v. Srbik, 304; vgl. S. 286 ff.
2 Siehe z. B. die kurfürstl. sächsischen von 1660 und 1666, die
abgedruckt sind in der Allg«m. Schatzkammer der Kaufm. 1 (1741),
585/86
3 Siehe z. B. die Regl. von 1671. 1730. 1739. 1741, die auf das
genaueste die Papierind. von Angoumois regeln, bei P. Boissonade,
L’ind. du papier en Charente. Bibi, du „Pays Poitevin“ Nr. 9 (1899),
13 ff.
Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 391
jedoch keine Beschränkung mehr in der Zahl der Lehrlinge,
vorausgesetzt daß sie in einem richtigen Verhältnis zur Zahl der
Arbeiter standen.
III. Die Unifizierung
Eine wesentliche Förderung der kapitalistischen Interessen
bedeuteten aber vor allem diejenigen Maßnahmen der merkanti-
listischen Politik, die man als die Nationalisierung der
Zunftordnung bezeichnen kann, durch die alle Hindernisse
beseitigt werden sollten, die die mittelalterlichen Städte im
lokalen Interesse aufgerichtet hatten , durch die vor allem das
Gewerberecht im ganzen Lande nach Möglichkeit vereinheitlicht
wurde.
Diese Nationalisierung erreichte man entweder dadurch, daß
der Staat als Aufsichts- oder Kontrollorgan an die Stelle der
Stadt oder der Zunft trat; oder dadurch, daß man die Zünfte
zu nationalen Verbänden machte; oder daß man von vornherein
für neu auftauchende Gewerbezweige nationale Zünfte ins Leben
rief. Entsprechend der Umbildung, die die Wirtschaftsform
in jener Zeit gerade in zahlreichen Gewerben erlebte: aus dem
Handwerk in die Hausindustrie, empfingen die neuen nationalen
Zünfte von vornherein schon den Charakter von Hausindustrie -
ordnungen: demjenigen Typ des staatlichen Gewerbevereins,
der in allen Ländern während des 17. und 18. Jahrhunderts neu
und massenhaft auftaucht und der Gewerbefassung jener Zeit ihr
eigentümliches Gepräge verleiht. Es ist hier nicht der Ort, diese
Wandlungen im einzelnen zu verfolgen: sie sind durch eine
.Reihe guter Bücher in ein besonders helles Licht gerückt und
jedem, der sich mit der frühkapitalistischen Epoche beschäftigt
hat, ganz und gar vertraut. Ich gebe nur der Vollständigkeit
halber ein paar Hinweise auf einige der wichtigsten Gesetze und
Verordnungen.
Die Nationalisierung des Zunftwesens beginnt in Eng¬
land und Frankreich, den dort herrschenden starken Einheitstendenzen
gemäß , bereits während des Mittelalters ; unter den letzten Planta¬
genets und den ersten Valois: die Ordonnanzen von 1307, 1351 und
1383 tun die ersten Schritte. Sie wird vollendet in beiden Ländern
ungefähr gleichzeitig: in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: in
England durch die Statute of Artificers und Statute of Apprentices
der Elisabeth; in Frankreich durch die Ordonnanzen Heinrichs III.
von 1581 und Heinrichs IV. von 1597. Der Inhalt dieser Gesetze
war im wesentlichen derselbe : die Zunftverfassung wird bestätigt, aber
ihres lokalen Charakters entkleidet. In den englischen Gesetzen werden
892
Zweiter Abschnitt: Der Staat
ausdrücklich nationale Zünfte errichtet, zum Teil auf den Trümmern
der lokalen, deren Kompetenz in der Aufsicht über das Gewerbe be¬
steht und vom Könige sich ableitet. In den französischen Ordonnanzen
wird ausdrücklich Freizügigkeit innerhalb gewisser Grenzen gewährt:
jeder Meister kann sich in seinem Gewerbe auch an einem andern
Orte innerhalb derselben bailliage oder Senechaussee ohne weiteres
niederlassen: nur nicht in Paris; die Pariser Meister können sich
ohne weiteres im ganzen Königreich niederlassen.
Diesen Grad der Vereinheitlichung wie in Frankreich und England
hat das Zunftwesen in den übrigen Ländern, namentlich auch in
Deutschland, vor der Einführung der Gewerbefreiheit nicht erreicht.
Immerhin versuchte die Reichszunftordnung vom 16. August 1731
(in Österreich als Generalzunftpatent am 16. November 1731 verkündet)
in gleichem unifizierenden Sinne zu wirken wie die entsprechenden
westeuropäischen Gesetze, während die größeren deutschen Einzel¬
staaten ( Brandenhurg-Preufsen 1668) selbständig das Zunftwesen zu
ordnen , das heißt , wie man es bezeichnen kann , zu verstaatlichen
bemüht waren.
Die wichtigste Maßregel aber, um das Zunftwesen mit den An¬
forderungen der kapitalistischen Organisation in Einklang zu bringen,
war die Schaffung neuer, eigenartiger Verbände für die
aufkommenden Hausindustrien oder hausindustrieähnlichen
Arbeitsverfassungen, die vielfach noch zwischen Handwerk und Kapita¬
lismus in der Mitte standen. Solche Hausindustrieordnungen werden
in Frankreich und England wiederum ziemlich gleichzeitig — während
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten
des 17. Jahrhunderts — in großer Fülle ins Leben gerufen: in Frank¬
reich gehören hierher die Kürschner- Ordonnanz von 1583, die Hosen-
macher-O. von 1575, die Gürtler-O. von 1575, die Handschuhmacher-
0. von 1656, vor allem aber die Lyoner Seidenweber - 0., die ihre
Vollendung 1700 findet. Für die Pariser Gewerbe ist der 3. Band
von Les pinasse, Metiers de Paris, zu Rate zu ziehen; für die
Lyoner Seidenweber-O. die Spezialliteratur über die Lyoner Seiden¬
industrie, unter der Godard, L’ouvrier en soie (1899), hervorragt.
Vgl. auch A. du Bourg, Tableau de l’ancienne Organisation du
Travail dans le midi de la France, und H. Hauser, Les questions
industr. et comm. dans les cahiers de la Ville et des Communautes
de Paris aux Etats generaux de 1614, in der Vierteil ahrsschrift für
Soz. u. WG. 1, 376 ff.
In England haben wir als entsprechende Gebilde die Tuchmacher-
Company, die Gilde der Gerber, Goldschmiede, Galanteriewarenhändler
(haberdashers), Maßschneider, Eisenhändler, Sattler, Messerschmiede,
Lederhändler, Schwarz schmie de, Gürtler, Tischler, Zinngießer (pew-
terers) u. a. : alle ungefähr aus derselben Zeit, dem Zeitalter der
Elisabeth. Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Neuzünfte auf
kapitalistischer Basis ist die Company of Stationers, in der Verlegei'
und Drucker zu gemeinsamem Werke geeint waren. Über die Ver¬
bände der englischen Hausindustrie hat jetzt das Unwinsche Buch
neues Licht verbreitet.
Vienmdzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 393
Ganz dieselben Verbände finden wir dann aber auch in andern
Ländern; in Holland wird 1752 die Betttucliweber- und Seidenband-
webergilde, 1756 die Spitzentuchwebergilde gegründet.
In Deutschland sind die bekanntesten Beispiele die der Solinger
Schwert- und Messerschmiede, der Calwer Zeughandlungskompagnie,
der fränkischen Strumpfwirker, der H. -J. - Verbände in der Sonne¬
berger Spiel Warenindustrie. Zur Orientierung über die deutschen Ver¬
hältnisse dienen noch außer den genannten Schriften: A. Thun,
Industrie am Niederrhein. Bd. II (1879); W. Tr 0 eit sch, Die Calwer
Zeughandlungskompagnie. 1897; Georg Schanz, Zur Geschichte
der Colonisation und Industrie in Franken. 1884; dazu: Schmoller,
in seinem Jahrb. 11 (1887), 369 ff. ; Louis Bein, Die Industrie des
sächsischen Voigtlandes. 1884; G. Schmoller, Das Recht und die
Verbände der Hausindustrie, in seinem Jahrb. 15 (1890), 1 ff.;
H. Dressei, Die Entwicklung von Handel und Industrie in Sonne¬
berg (1909), 55 ff.
Die gleichartige Entwicklung in Österreich ist dargestellt von
Pfibram, a. a. 0. S. 42 ff.
394
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Die Verkehrspolitik
Literatur
Zahlreiche Monographien, die ich im 2. Bande bei der Darstellung
des Verkehrswesens anführen werde. Eine zusammenfassende Behand¬
lung haben wenigstens einige Teile der Verkehrspolitik des absoluten
Staates in Frankreich erfahren in dem ausgezeichneten Quellenwerke
von E. J. M. Vignon, Etudes historiques sur l’administration des
voies publiques en France aux 17 et 18 siecles. 4 Vol. 1862 bis
1880. Auch viele der im vorigen Kapitel genannten Schriften befassen
sich mit der Verkehrspolitik.
I. Maßnahmen zur Förderung privater Unternehmer
Die merkantilistische Verkehrspolitik bedient sich zum Teil
derselben Mittel wie die Gewerbe- und Handelspolitik, um ihren
Zweck: „Hebung des Verkehrs“, zu erreichen. Die wichtigsten
Maßregeln dieser Art sind folgende:
1. Monopolisierung und Privilegisieruug
Verkehrsmonopole schufen die der nationalen Schiffahrt
(als Ganzes) gewährten Vergünstigungen: wenn etwa die Be¬
förderung der Waren zwischen bestimmten Plätzen, insbesondere
der Verkehr in den Häfen des Landes, den Schiffen des eigenen
Landes Vorbehalten war.
Die merkantilistische Schiffahrtspolitik , die wiederum nur eine
Fortsetzung der städtischen Schiffahrtspolitik ist, trägt überall den¬
selben stark protektionistischen Zug. Am ausgeprägtesten, wie bekannt,
in England , wo die Monopolisierungstendenzen schon unter Richard II.
beginnen: 5 Richard II. c 3 bestimmt: „none of the Kings subjects
should bring in or carry out any merchandise but in English ships.“
Eine Weiterbildung erfuhr diese Politik unter dem ersten Tudor, dann
erlebte sie einige Rückschläge, wurde aber seit Elisabeth (Verbot
der Küstenschiffahrt für fremde Schiffe !) wieder aufgenommen und
erreichte in Cromwells Navigation act (1651) ihren Höhepunkt, auf
dem sie bis ins 19. Jahrhundert verharrt ist. Die berühmte Navi¬
gationsakte bestimmte aber:
1. daß Waren asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen Ur¬
sprungs, sei es aus britischen Kolonien oder aus andern Gebieten,
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik
395
nach England und Irland nur auf Schilfen eingeführt werden durften,
die britischen Untertanen gehörten und der Mehrzahl nach mit solchen
bemannt seien;
2. daß die aus europäischen Ländern stammenden Waren nur auf
englischen Schiffen oder Schiffen derjenigen Länder, aus denen die
Waren kamen, eingeführt werden durften;
3. Vorbehalt der Fischerei für englische Schiffe;
4. Vorbehalt der Küstenschifffahrt für englische Schiffe.
Ähnliche Maßnahmen in Frankreich: Nach der Ord. vom 8. Febr.
1555 durften Franzosen nur französische Schiffe befrachten; 1659 wurde
das „droit de fret“ eingeführt: eine Differential taxe von 50 sols von der
Tonne ausländischer Schiffe; 1670 wurde der Verkehr mit den Kolonien
französischen Schiffen Vorbehalten usw. Siehe die Zusammenstellung
bei Lexis, Art. Schiffahrt im HSt. 7, 258 ff.
Auf dem Wege der Monopolisierung und Privilegisierung be¬
strebt man sich aber auch, die Verkehrseinrichtungen im Lande
zur rascheren Entwicklung zu bringen.
Der Verkehr auf den Land- und Wasserstraßen ist — ins¬
besondere der Briefverkehr — frühzeitig in den meisten Staaten
zum Regal erklärt worden.
2. Prämiierung
Alle seefahrenden Staaten haben sich die größte Mühe ge¬
geben, mittels eines kunstvollen Prämiensystems die nationale
Schiffahrt zu fördern. Schon in den italienischen Staaten, dann
in Spanien (Gesetz von 1498), in Frankreich und namentlich in
England finden wir die Prämiierung des Schiffsbaues als eine
ständige Einrichtung: Elisabeth und Jakob I. vergüten 5 s. für
jede Tonne bei Schiffen über 100 t, Karl I. (1626) dieselbe Summe
bei Schiffen über 200 tj; Cromwell setzt diese Politik fort, die
das ganze 18. Jahrhundert hindurch noch in Übung bleibt2.
Zu diesen baren Prämien kamen andere Vergünstigungen des
Schiffsbaues: unter Elisabeth traf Burleigh Fürsorge für die
Produktion von Holz, Hanf, Seilerwaren; für Beförderung der
Seefischerei (um Matrosen heranzubilden) usw. Und auch diese
Politik wird in England während des 17. und 18. Jahrhunderts
fortgesetzt 2.
3. Unifizierung
Die Verkehrspolitik des absoluten Staates machte sich zur
Aufgabe, das öffentliche Verkehrsrecht in einheitlicher
Weise zu ordnen und den Bedürfnissen des reger gewordenen
*
1 Anderson, Orig. 2, 318.
3 Cunningham, (jrowtk 2, 483 ff.
396
ZAveiter Abschnitt: Der Staat
Verkehrs anzupassen: das Markt- und Meßrecht, das Maß- und
Gewichtswesen, zum Teil auch, wie wir sehen werden, das Münz- und
Geldwesen wurden vom Staate für sein Gesamtgebiet neu gestaltet.
II. Selbsttätige Förderung der Verkehrsinteressen
durch den Staat
Die Eigenart des Verkehrs und seiner Bedingungen brachte
es mit sich, daß der Staat, wollte er die Entwicklung des Ver¬
kehrswesens befördern, sich genötigt sah, vielfach selbst Hand
anzulegen und Verkehrseinrichtungen aus eigener Initiative zu
schaffen. So richtet die moderne Fürstengewalt ihr besonderes
Augenmerk auf die Verbesserung der Land- und
Wasserstraßen und trägt für die erste Organisation des
Verkehrs im Innern des Landes Sorge: die Anfänge der staat¬
lichen Post fallen in diese Periode.
Vor allem die französischen Könige von Philipp dem Schönen
an, der schon die Seine bis Troyes schiffbar machte, haben auf
diesem Gebiete Großes geleistet: seit Heinrich IV. war das Ver¬
kehrswesen zentralisiert durch die Einrichtung des grand voyer
de France, deren erster Vertreter Sully war. Ausgaben für den
Bau von Wegen und Brücken erscheinen nun regelmäßig im
Staatsbudget: sie betrugen schon in der Zeit Heinrichs IV. im
Jahre etwa 400 000 liv. 1 Dazu kamen die Ausgaben der Provinzen
und der Städte.
Im Jahre 1609 wurden 870000 1. für Schiffbarmachung von
Flüssen ausgegeben, genau wie Sully uns in seinen Memoires
berichtet, „pour divers canaux, pour rendre communicables
plusieurs ri vieres, comme Loire, Seine, Aisne, Veile, Vienne et
Chin“. Unter Sully wurde der erste Kanalbau in Frankreich
begonnen 2 : der Canal de Briare , der nicht nur dazu dienen
sollte, die Versorgung der Hauptstadt zu erleichtern, sondern
auch das Mittelmeer mit dem Ozean zu verbinden (einstweilen
Seine und Loire). 6000 Mann Truppen wurden bei dem Bau be¬
schäftigt. Der 1605 begonnene Bau wird 1642 vollendet.
Unter Colbert wurde diese Politik mit Entschiedenheit weiter¬
geführt: die Straßen werden verbessert; Flüsse korrigiert; der
1 Siehe die genauen Ziffern der Ausgaben für Verbesserung der
Land- und Wasserstraßen in den Jahren 1600 — 1661 bei Vignon,
Voies publiques. App. au tome premier p. 2 im 4. Vol. des ganzen
Werkes.
2 Vignon, 1. c. 1, 61. *
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik
397
große Kanal zwischen dem Mittelmeer (Rhone) und dem Atlan¬
tischen Ozean (Garonne), der Canal du midi, wird unter Leitung
von Riquet erbaut (1666—1681). Die Ausgaben beziffern sich in
den Jahren 1666 — 1683 L
für Brücken und Wege .... auf 4860489 livres tourn.
„ das Pflaster von Paris ... „ 1436641 „ „
„ Kanalbauten . „ 9619315 „ „
» Hebung d. Verkehrswege insgesamt 15916445 livres tourn.
In den Jahren 1737 — 1769, für die wir die genauen Auf¬
stellungen besitzen, schwankten die Ausgaben für die genannten
Zwecke zwischen 2 297 001 liv. und 4011125 liv. , hielten sich
aber in den letzten Jahren nahe an 4 Mill. liv.
In England wurde die Fürsorge für die Landstraßen den An¬
wohnern, die für den Bau künstlicher Wasserstraßen dem Privat¬
kapital überlassen1 2 3. Die Flußkorrektionen führte die Regierung aus s.
In Deutschland waren es einige der westdeutschen Territorien,
die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts den Chausseebau, war
es vor allem Brandenbimg-Preußen , das seit dem Großen Kur¬
fürsten den Kanalbau von Staats wegen betrieben.
Da jedoch die staatliche Verkehrsfürsorge sich engstens mit
den Bestrebungen Privater berührt, da sich ein Urteil über die
Leistungen der positiven Verkehrspolitik nicht fällen läßt, ohne
auf die tatsächliche Gestaltung der Verkehrs Verhältnisse einzu¬
gehen, da diese aber noch andere als staatliche Bedingungen für
ihre Entwicklung haben, so habe ich mir ein näheres Eingehen
auf die Maßnahmen der staatlichen Verkehrspolitik sowie eine
Würdigung ihrer Erfolge Vorbehalten für die Darstellung des
Verkehrswesens im zweiten Bande. Auf diese verweise ich
den Leser, dem die hier gegebene Übersicht allzu dürftig er¬
scheint. Dort findet er auch eine eingehende Behandlung des
Postwesens, dessen Organisation in vielen Ländern vom Staate
ausging und deshalb genau genommen einen Teil der staatlichen
Verkehrspolitik oder Verkehrsver’waltung bildet. Eine so strenge
Scheidung der verschiedenen Seiten eines und desselben Tat¬
sachenkomplexes, wie es dem Bedürfnis einer sauber durch¬
geführten Stoffanordnung entsprechen würde, verbietet sich oft
aus sachlichen Gründen.
1 Vignon, 1. c. 1, 183.
2 Cunningham, 2, 532 ff.
3 F orb es- A shford, Our Waterways (1906), Gl f. 64 f.
398
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Das Geldwesen
Vorbemerkung
Das Kapitel über das Geldwesen nimmt im Rahmen dieses Ab¬
schnittes eine Sonderstellung ein. Wie der Leser weiß, ist dieser im
wesentlichen der Darstellung derjenigen Lebensäußerungen des modernen
’ Staates gewidmet, die eine Förderung der kapitalistischen Wirtschafts¬
weise bedeuteten. Das gilt nun aber für einen großen Bestandteil
der staatlichen Geldpolitik gewiß nicht, die vielmehr als „Hemmungen “
der kapitalistischen Entwicklung angesehen werden müssen, obwohl
sie (ungewollt vom Gesetzgeber) auf Umwegen sehr häufig zur Ent¬
faltung gerade kapitalistischen Wesens beigetragen haben. Nun lassen
sich aber diese Bestandteile aus dem Ganzen der staatlichen Geldpolitik
nicht aussondern, ohne das Verständnis der übrigen, auch vorhandenen,
der Entfaltung kapitalistischen Wesens günstigen Maßregeln zu er¬
schweren. Ja — um den Sinn der staatlichen Münz- und Währungs¬
politik von Grund aus zu verstehen, ist es sogar unvermeidlich, die
tatsächliche Gestaltung des Geldwesens selbst wenigstens
in einigen besonders hervorragenden Erscheinungen zu skizzieren, wobei
auf die Zeit des Mittelalters zurückgegriffen werden muß. Andererseits
bleibt nun aber das Gebiet des Geldwesens eine Provinz der staatlichen
Verwaltung und tritt der wirtschaftenden Welt als Gegebenheit gegen¬
über, bleibt in seiner Ganzheit „Grundlage“, weshalb es nicht in die
Darstellung des Ablaufs des wirtschaftlichen Prozesses, die im zweiten
Band gegeben wird, verwiesen werden kann wie das Verkehrswesen.
Das Ergebnis all dieser Erwägungen ist die folgende Skizze, die
(nach kurzer theoretischer Orientierung) den Versuch darstellt, den
Verlauf der Geldgeschichte im Zeitalter des Früh¬
kapitalismus zu schildern. Einen Teil dieser Geschichte : die Ver¬
wandlung der Edelmetalle in gemünztes Geld, kann ich aber erst dort
erledigen, wo ich die Verwertung der Edelmetalle und ihren Zusammen¬
hang mit der Preisbildung erörtere, nämlich im 36. Kapitel.
Daß es dabei wie immer nur auf die Hervorhebung einiger Haupt¬
punkte abgesehen ist, versteht sich von selbst. Ich möchte mir zur
Charakterisierung der Art dieses „Abrisses der Geldgeschichte“ die
Wendung eines der ersten Münzforscher (H. Grote) zu eigen machen,
der seine meisterhafte „Übersicht der Geschichte des deutschen Geld-
und Münzwesens und der jetzigen Münzsorten“ (in seinen „Münz¬
studien“ 1 [1855], S. 139 ff.) mit den hübschen Worten einleitete: „ich
Avill kein Schwimmlehrer sein, sondern ein Pfahl mit der Inschrift:
‘Untiefe’.“ Das Hauptaugenmerk ist auch hier auf den Nachweis der
Gleichförmigkeit der Entwicklung in den Hauptländern Europas
gerichtet.
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
399
Quellen und Literatur
Zu I (Verkehrs ge ld und Staatsgeld). Es genügt, wenn
ich einerseits auf das Buch von G. F. Knapp, Staatliche Theorie
des Geldes (1905; 2. Aufl. 1912), verweise und aus der älteren
Literatur Karl Marx, Zur Kritik der pol. Ökonomie (1859), nenne.
Marx kann repräsentativ für alle modernen „metallistischen“ Geld¬
theoretiker stehen, die sämtlich (wie z. B. Knies und Meng er, um
die beiden bedeutendsten zu nennen) in seinen Bahnen wandeln.
Zu II (Metallgeld). Literatur und Quellen sind hier zweifacher
Art. In Betracht kommen Werke sowohl münzgeschichtlichen als
geldgeschichtlichen Inhalts. Nach Menge und Güte sind die beiden
Gruppen außerordentlich verschieden. Die münzgeschichtliche
(numismatische) Literatur ist (soviel ich zu beurteilen vermag)
in glänzendem Zustande : spezielle Bearbeitungen sind ebenso zahlreich
und gut wie zusammenfassende Darstellungen. Eine Keihe vortreff¬
licher Zeitschriften sorgt für eine methodische Behandlung einschlägiger
Fragen. Für unsere Zwecke genügt es , wenn ich hier die beiden
neuesten Publikationen namhaft mache, die wohl auch auf lange Zeit
hinaus einen Höhepunkt der wissenschaftlichen Entwicklung bilden
werden: als Materialiensammlung das große Werk von A. Engel et
R. Serrure, Traite du numismatique du moyen äge. 3 Vol. 1894
bis 1901, und A. Engel et R. Serrure, Traite du numismatique
moderne et contemporain. (16.— 18. sc.) 1897 ff. ; als systematische
Bearbeitung das ausgezeichnete Buch von A. von Luschin von
Ebengreuth, Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittel¬
alters und der neueren Zeit. 1904 ; wobei ich allerdings den Ton auf
Münzkunde legen möchte, da diese es ist, die jene meisterhafte
Behandlung erfahren hat; während der geldgeschichtliche Teil des
Buches ganz erheblich an Wert gegenüber dem andern zurücksteht.
Trotzdem wird man auch die Darstellung der Geldgeschichte
bei Luschin mit Dank entgegennehmen müssen, weil sie als all¬
gemeine zusammenfassende Behandlung des Gegenstandes doch in
neuerer Zeit auch kaum ihresgleichen hat. Was insbesondere der
Nationalökonom an ihr vermissen wird: den geldtheoretisch festen
Untergrund und damit auch die spezifisch nationalökonomische
Problemstellung, das findet er in den Artikeln von Lexis im H.St.
(Edelmetalle, Doppelwährung, Gold, Silber, Münzwesen). Sie stellen
wohl das höchste dar, das die Wissenschaft bisher auf geldgeschicht¬
lichem Gebiete an systematischer Betrachtung geleistet hat. Nur daß
sie ihrer Zweckbestimmung entsprechend die Darstellung in zer¬
stückelter und aphoristischer Form bringen (und — leider! — un¬
endlich schwer zu lesen sind). Außer jenen Artikeln kommen von
neueren Bearbeitungen allgemeiner Natur (da die Bücher Del Mars
auf geldgeschichtlichem Gebiete ihrer Kritiklosigkeit wegen völlig ver¬
sagen) noch Ad. Wagners einschlägige Abschnitte in seiner Theoret.
Sozialökonomik. 2. Bd. 1909, sowie das Buch von W. A. Shaw, The
History of Currency 1252 to 1894 (2. Aufl. 1896, von mir ist die Auflage'
von 1894 benutzt) in Betracht: eine gewiß auch hochverdienstliche, un-
400
Zweiter Abschnitt: Der Staat
ersetzliche Leistung. Nur daß Shaw doch im wesentlichen nur ein
Problem der Geldgesehichte (wenn auch eines der allerwichtigsten)
behandelt: den Kampf zwischen Staat und Verkehr um das Geld (wie
man kurz sagen kann). Vgl. auch die Einleitung zu dem unten ge¬
nannten Buch von E. Nübling. Andere gute geldgeschichtliche
Arbeiten der letzten Jahre behandeln kleinere Ausschnitte aus dem
großen Ganzen: einzelne Epochen des Geldwesens in Köln, Branden¬
burg-Preußen, Pommern, Florenz, Wien, im Elsaß, in England usw.
Besondere Hervorhebung verdienen die gründliche „Münz- und Geld¬
geschichte der im Großh. Baden vereinigten Gebiete“, herausgegeben
von der Badischen Histor. Kommission, bearbeitet von Dr. Julius
Cahn. I. Teil. Konstanz und das Bodenseegebiet im Mittelalter.
1906, ferner die Darstellung des preußischen Münzwesens im 18. Jahr¬
hundert, in den Acta bor. 1904 lf. Bearbeiter: F. Frh. v. Schrötter;
sowie das Buch von Alfr. Schmidt, Geschichte des englischen
Geldwesens im 17. und 18. Jahrhundert. 1914.
Dagegen fehlt es leider, soviel ich sehe, ganz an brauchbaren und
umfassenden Herausgaben von Urkunden zur Geldgeschichte,
so daß wir noch immer auf die älteren, zum Teil recht alten Sammel¬
werke zurückgreifen müssen. Eine sichtende Publikation der wichtigsten
Münzordnungen, Ordonnanzen, Reichstagsabschiede usw., das Geld¬
wesen aller europäischen Staaten betreffend, wäre eine dankens¬
werte Aufgabe. Einstweilen geben wohl folgende Werke die beste
Auskunft :
über Frankreich: Le Blanc, Traite historique des monnoies de
France. 1690. (Dupre de St. Maur), Essai sur les mon¬
noies etc. 1746.
über Italien: Ph. Ar ge latus, De monetis Italiae varior. illustr.
viroi’um dissertationes. 6 Vol. 1750 — 59; enthält außer den
Diss. eine reiche Urkundensammlung.
über England: Ru ding, Annals of the Coinage of Britain. 8 Vol.
1840. W. A. Shaw, Select Tracts and Documents illustrative
of English Monetary History 1626 — 1730. 1896; enthält Ab¬
handlungen, kein Gesetzesmaterial.
über Spanien: A. Heiss, Descripcion general de las monedas
Hispano - Cristianas. 3 Vol. 1865 — 69; bringt außer der Münz¬
beschreibung ein wertvolles Belegmaterial zur Münz- und Geld¬
geschichte.
über Deutschland: Melchior Goldast, Catholicon rei monetariae
sive leges monarchicae generales de rebus numariis et pecu-
niariis etc. 1620. Joh. Chr. Hirsch, Des Teutschen Reichs
Münz-Arcliiv. 9 Bde. in fol. 1756 — 68. Allerlei interessantes
Material, meist aus den Ulmer Ratsprotokollen, findet man bei
Eugen Nübling, Zur Währungsgeschichte des Merkantilzeit¬
alters. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. 1903.
Für Brandenburg-Preußen liegt jetzt die schon erwähnte Publi¬
kation in den Acta bor. vor.
Zu III (Banco-Geld). P. J. Marperger, Beschreibung der
Banquen (1717), beschreibt (unter Anführung der Bankordnungen) im
7. — 10. Kapitel die vier bekannten Girobanken seiner Zeit.
401
Secjisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
Über sie unterrichtet ebenfalls die Allg. Schatzkammer der Kauf'm.
unter den verschiedenen Schlagworten. Vgl. noch 0. Hübner, Die
Banken. 1854 (der aber alle Arten von „Banken“ durcheinanderwirft),
und R. Ehrenberg im HSt. 23, 860 ff.
Uber die Amsterdamsche Wisselbank insbesondere: Le Mo ine
de l’Espine, Le negoce d’A. (1710): Ch. I et II; Ricard, Le
nögoce d’A. (1723); Ch. XXVI.
Über die Hamburger Girobank: Levy von Halle, Die Ham¬
burger Girobank und ihr Ausgang. 1891.
Andere Spezialliteratur gebe ich noch im Text an.
Zu IV (Papiergeld). Es genügt, da das Thema hier noch
nicht von Grund auf erörtert wird , der Hinweis auf die verschie¬
denen Aufsätze unter dem Stichwort „Banken“ und „Papiergeld“ im
HSt., wo auch die geschichtliche Entwicklung in den Grundzügen dar¬
gestellt ist, und auf die dort genannte Literatur.
I. Verkehrsgeld und Staatsgeld
Für die im folgenden zur Behandlung gelangenden Probleme
ist die scharfe begriffliche Unterscheidung der beiden in der
Tiberschrift genannten Gelder unerläßliche Bedingung.
Knapp, wenn er das Geld für eine staatliche Einrichtung,
für ein „Geschöpf der Rechtsordnung“ hält, hat gewiß Recht;
aber Marx, wenn er das Geld als „allgemeines Warenäquivalent“
definiert, ganz gewiß auch. Das bedeutet, daß wir mit dem
Worte Geld zwei recht verschiedene Dinge be-
zeichn e n , wie die folgenden Besinnungen zeigen werden.
Einigkeit herrscht darüber, welche „Funktionen“ in der Ver¬
kehrswirtschaft jenes Etwas ausübt, das wir Geld nennen, das
wir aber auch als G oder X bezeichnen können. Es dient dazu :
1. „Tauschwerte“ zu messen: es ist Ausdruck aller Tauschwerte ;
2. Tauschakte zu vermitteln: es ist allgemeines Austausch- und
Zirkulationsmittel; 3. Tauschwerte zu übertragen: es ist all-
gemeines Zahlungsmittel; 4. Tauschwerte aufzubewahren : es ist
Schatzbildungsmittel.
Der Streit beginnt, wenn es sich darum handelt, festzustellen,
was dieses „Etwas“ ist; worin sein „Wesen“ bestehe.
Nun scheint mir diese Frage nach der „Wesenheit“ des Geldes
nicht sehr glücklich zu sein, so daß ich an ihre Stelle lieber die
andere setzen möchte : was (welche Autorität) bewirkt es , daß
■jenes unbestimmte Etwas die Funktionen ausübt, die wir es tat¬
sächlich ausüben sehen; woher leitet es seine „Kompetenz“ her?
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. - 2<3
402
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Denn nur diese Frage ist es, deren Antwort in den Bereich eines
sozialwissenschaftlichen Interesses fällt. Gerade wie den Ver¬
waltungstheoretiker an der Frage: was ist ein Polizist? (das
heißt also ein Mann, der die und die Funktionen ausübt) nur
die Alternative interessiert: ob er ein Organ dieser oder jener
Behörde ist.
Stellen wir die Frage nach dem „Wesen“ des Geldes so, dann
ergibt sich eben, daß mit dem Worte zwei ganz und gar ver¬
schiedene Dinge bezeichnet werden, weil jenes Etwas seine
Machtvollkommenheit, Ausdruck aller Tauschwerte, allgemeines
Austauschmittel usw. zu sein, aus zwei ganz verschiedenen
Quellen ableitet. Im einen Falle ist es der stillschweigende
Consensus aller an einer Verkehrsgesellschaft teilnehmenden
Personen, das andere Mal ist es der Willkürakt der rechtsetzenden
Gewalt (des Staates), was dem Etwas jene autoritative Stellung
verleiht; und das wir nun je nach dem Ursprung seines „Geltens“
als Verkehrsgeld oder Staats geld1 bezeichnen können.
Ist am Ende der Umkreis der Funktionen des Verkehrs- wie
des Staatsgeldes derselbe, so wird er doch von zwei ganz ver¬
schiedenen Punkten aus erfüllt: das Verkehrsgeld nimmt seinen
Ausgang immer von der Funktion des Tauschwertmaßes oder
Tauschaktvermittlers, die immer nur ein Gebrauchsgut mit eigenem
Wert, das zur Ware geworden ist, ausüben kann: im Anfang
ist ein Sachgut (oder eine Wertung). Das Staatsgeld
dagegen kommt auf die Welt als Zahlungsmittel, das von da
aus die übrigen Funktionen des Geldes auszuüben sich unterfängt:
seine Anfangsfunktion auszuüben, wird es befähigt dadurch, daß
es vom Staate mit der Macht ausgestattet wird, gesetzliche Ver¬
bindlichkeiten zu begleichen, daß es zum „gesetzlichen“
Zahlungsmittel erklärt wird: im Anfang ist ein Staatsakt.
Was der Staat (in der Währung) für Geld erklärt, das heißt
also immer nur : welchem Ding er gesetzliche Zahlungskraft ver¬
leiht, steht (formal) völlig in seinem Belieben: ob alten Hüten
oder Papierzetteln oder Metallen. „Weshalb sollen nicht Stücke
aus beliebigem Stoffe chartal behandelt werden?“ (Knapp.)
1 Es geht unmöglich an, statt dessen, wie Knapp es tut, das
Wort Geld für den Begriff Staatsgeld oder in seiner Terminologie für
„chartales Zahlungsmittel“ allein zu verwenden, um dann freilich,
ohne Widerspruch gewärtigen zu brauchen, nachweisen zu können,
daß „das Geld“ eine Staatseinrichtung sei. Das heißt doch dem
Sprachgebrauch, vielleicht sogar der Logik Gewalt antun.
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 403
Es leuchtet ein, daß Geld im Verkehrssinne und Geld im
Staatssinne sehr voneinander verschiedene Begriffe sind. In
Wirklichkeit berühren sich nun aber die beiden Erscheinungen
häufig, oft sogar decken sie sich äußerlich. Bas ist der Fall,
wenn der Staat das Verkehrsgeld als sein Geld an¬
erkennt oder umgekehrt der Verkehr das staatliche
Geld an nimmt. Immer aber ist der Bereich, in dem die
beiden Gelder sich decken können, örtlich durch die Machtsphäre
des Staates bestimmt, also räumlich begrenzt. Sehr wohl können
aber selbst innerhalb des Staatsbereichs Geld im staatlichen
Sinne und Geld im Sinne eines allgemeinen Warenäquivalents
sehr verschieden voneinander sein. Bas zeigt sich, wenn etwa
(wie es im Mittelalter wohl der Fall war) der Verkehr auf der
Grundlage einer „Barrenwährung“ sich abspielt, unbekümmert
um das, was der Staat (die Stadt) für Geld erklärt hatte, oder
wenn fremde Münzen in einem Lande umlaufen, ohne daß sie
daselbst vom Staate anerkannt sind.
Beutlich aber tritt die Boppelnatur des Geldbegriffs regel¬
mäßig in die Erscheinung im internationalen Verkehr, für den
kein Staatsgesetz zwingende Normen schaffen kann. Bieser kennt
nur das Geld als allgemeines Warenäquivalent, als Verkehrs¬
erscheinung, die ihre Existenzberechtigung nur aus dem still¬
schweigenden Consensus omnium ableitet. Und wenn sämtliche
Staaten der Erde heute zur Kochtopfwährung übergingen: Geld
im internationalen Verkehr würde (einstweilen, bis es etwa durch
ein anderes Gebrauchsgut ersetzt wäre, was natürlich denkbar
ist) nur das Gold sein.
(Inwieweit die Währungspolitik des Staates an die Wahl
des Verkehrsgeldes zum Staatsgelde gebunden ist, inwieweit sie
bei der Kreirung des Staatsgeldes vom Verkehrsgelde abhängig
ist, haben wir hier nicht zu entscheiden).
In dieser Feststellung kommt die Tatsache zu ihrem Recht:
daß ein entwickelter Verkehr aus seinen Bedürfnissen heraus
sich ohne, staatliche Beihilfe und selbst gegen sie ein Geld zu
schaffen vermag. Und wiederum damit im Zusammenhänge steht
eine Reihe von sog. „Gesetzen“, besser Entwicklungstendenzen,
die das Geldwesen in allen seinen Stadien, sobald es überhaupt
erst vom großen Verkehr ergriffen ist, beherrschen. Ich meine
1. das „Gesetz“, daß ein Metall, von mehreren in einem Land
als Geld benützten, das gesetzlich unterwertet ist, aus dem
Verkehre verschwindet;
404
Zweiter Abschnitt: Der Staat
2. das „Gesetz“, daß Münzen, die Übergewicht haben, eben¬
falls verschwinden, und in diesem Falle das leichtere Geld
zurückbleibt.
Beide Tendenzen finden in der Erwägung ihre Begründung,
daß die Menschen, die ihren Vorteil suchen (und wissen, wo er
liegt), ihre Verpflichtungen mit geringeren Werten lieber als mit
höheren begleichen werden.
Beide „Gesetze“ lassen sich übrigens auch zu dem einen zu¬
sammenfassen: wenn in einem Lande „gutes“ und „schlechtes“
(das heißt : höher- und minderwertiges) Geld umläuft mit gleicher
Zahlungskraft, so hat das „gute“ Geld die Tendenz, aus dem
Verkehre zu verschwinden. Für alle Geldgeschichte, der wir
uns nunmehr zuwenden, ist die Wirksamkeit dieser Tendenz von
überwiegend großer Bedeutung gewesen.
II. Das Metallgeld
1. Die allgemeinen Grundlagen des Geldwesens vom 13. bis zum 18. Jahr¬
hundert
Der Zeitraum, den wir hier überblicken, die frühkapitalistische
Epoche, beginnt mit den ersten Lebensregungen eines größeren,
interlokalen Verkehrs (womit eine „Geschichte“ des Geldwesens
erst recht eigentlich ihren Anfang nimmt) und schließt mit den
Wirkungen einer Reihe bedeutsamer Ereignisse des 17. Jahr¬
hunderts: der Prägetechnik einerseits; des Gesetzes 18th (6th)
Charles II (1666, c. 5), der Gründung der englischen Bank, und des
Aufkommens des Papiergeldes andererseits, der geldtheoretischen
Schriften dritterseits.
Was aber für die Gestaltung des Geldwesens in diesem Zeit¬
raum bestimmend werden sollte, waren vornehmlich folgende
o
Momente :
1. eine große Unvollkommenheit des Wissens und
Könnens auf technischem sowohl wie ökonomischem Gebiete.
Die Technik der Münzherstellung1 war primitiv und
erlebte während des ganzen Zeitraums (da die unten -Seite 496
erwähnten Fortschritte der Münzprägetechnik in England erst seit
dem 18. Jahrhundert, in den übrigen Ländern noch später zur An¬
wendung gelangten) fast gar keine Veränderung. Die ganze Arbeit
von der Bereitung des Gusses an bis zur Prägung beruhte auf rein
1 C. von Ernst, Die Kunst des Münzens von den ältesten Zeiten
bis zur Gegenwart, in der (Wiener) Numismatischen Zeitschrift 12
(1880), 22 ff., insbesondere 55 ff.
Sechsundzwanzigstes Kapitel : Das Geldwesen
405
empirisch-handwerksmäßiger Grundlage; sie wurde von Anfang
bis zu Ende von Handarbeitern verrichtet, die sich keines andern
Arbeitsmittels als der nötigen Pfannen , Ambosse und Hämmer
bedienten. Eine Menge von Handwerkern arbeitete sich in die
Hände (wenn man will, kann man in den Münzwerkstätten schon
frühzeitig Ansätze zum Manufakturbetriebe entdecken)1. Gold¬
schmiede (1) scheinen das Gravieren der Münzstempel besorgt
zu haben (aber wohl in ihrer eigenen Werkstatt). Daneben werden
(z. B. im sog. Wiener Münzrecht von 1450) Eisengraber (2) er¬
wähnt, die ebenfalls die „Eysen“ (Stempel) herzustellen hatten.
Die Münzgüsse wurden von dem Versucher (3) und Nachver¬
sucher (4) geprüft; nach der Prüfung goß der Gießer (5) das
beschickte Gut in Zaine aus ; diese wurden vom Zainmeister (6)
auf die erforderliche Münzstärke ausgeschlagen und dann vom
Schrotmeister (7) gestückelt mittels einer besonderen Scheere,
der sog. Benehmscheere. Die ausgeschnittenen Schrötlinge
wurden nun durch Hammerschläge geebnet (8) und dann dem
Setzmeister (9) übergeben, der das Aufsetzen des Gepräges zu
bewerkstelligen hatte. Das Prägen selbst wurde in folgender
Weise besorgt: der eine Stempel wurde in einem Holz- oder
Steinblock befestigt, welcher groß und fest genug sein mußte,
um die durch die Hammerschläge bewirkte Vibration aufzuhalten.
Auf diesen Stempel wurde die Münzplatte gelegt, und der obere
Stempel wurde senkrecht darauf gestellt ; dieser wurde von einem
Arbeiter (10) gehalten, während ein anderer Arbeiter (11) mit
einem schweren zweihändigen Schmiedehammer die Schläge nach
Bedarf ausführte. Später wurde wohl (darauf ließe schon, meint
von Ernst, das auffallend glatt gehauene obere Ende der noch
heute erhaltenen Stempel schließen; für Frankreich wurde es
auch ausdrücklich bestätigt) eine Art Fallhammer statt des fiei
o-eschwungenen Schmiedehammers angewendet, um die Schläge
mit größerer Sicherheit führen zu können. Aber auch dann
blieb das Münzen eine langwierige, mühsame Tätigkeit, wie unser
Überblick über den Verlauf des Arbeitsprozesses erkennen läßt.
Die bedeutsamen Folgen dieser unvollkommenen Münztechnik
waren diese zwei: daß die Herstellung der Münzen teuer
und ungenau war. Teuer: die Prägekosten betrugen bei den
Goldmünzen 0,6%, bei den silbernen Großmünzen 1,5—3%, beiden
1 Der gesetzmäßige Arbeiterbestand betrug 1497 in der Münze von
Sevilla 170, von Granada 100, von Burgos 98, außerdem gab es 62
Münzer.
406
Zweiter Abschnitt: Der Staat
kleineren Münzen $—25 % der ausgeprägten Münze h Ungenau:
da man weder die genügenden chemischen Kenntnisse besaß, um
sicher einen bestimmten Gehalt des Gusses zu erzielen; noch
vor allem die erforderlichen Wägeinstrumente, um genau gleich¬
schwere Münzen herzustellen. Die Abweichungen des Gewichtes
der einen Münze von der andern gleicher Art konnten mehrere
Gramm ausmachen.
Beispielsweise waren die Gewichtsdifferenzen bei den eng¬
lischen Münzen noch Ende des 17. Jahrhunderts folgende2:
Wert der
leichtesten Stücke
Kronenstücke . .
Halbkronenstücke
Schillinge . . .
Sixpences . . .
d.
11
0
0
Wert der
schwersten Stücke
d. d. d.
1,
7,
1,
s.
5.
2.
1.
2,
8,
2,
3
0
0
s. d. d.
4. 9, 10,
2. 4, 5,
0. IOV2, 11,
0. 5, 51/2 . . .
Nicht besser als mit der Technik war es mit dem sozialökono¬
mischen Wissen vom Wesen und von der Funktion des Geldes
bestellt 3 ./Noch im 14. und 15. Jahrhundert standen selbst die Männer
der italienischen Handelsstädte wie vor einem Wunder: wenn sie
plötzlich alles Silber außer Landes gehen sahen oder wahrnahmen,
daß ihre Landsleute die eigene Landesmünze nicht in Zahlung
nehmen wollten. Und halb drollig, halb rührend sind die immer
wiederholten Klagen der französischen Ordonnanzen über die
Unvernunft oder die Böswilligkeit des Volkes, das sich eine be¬
liebige Münzverschlechterung nicht ohne weiteres gefallen lassen
wollte. In einem Satze zusammengefaßt: es fehlte noch in den
1 G. Schm oll er, Grundriß der Allg. Volkswirts cbaftslehre, 532.
In Basel während des 14. und 15. Jahrhunderts 5,72 — 11,83 °/o des
Münzwertes: B. Harms, Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel
im Mittelalter (1907), 78.
2 Haynes, Brief Memoirs relating to the Silver and Gold Coins
of England with an Account of the Corruption of the Hammer’d Monys
and of the Reform by the Late Grand Coynage at the Tower and the
five Coüntry Mints 1700. Brit. Mus. Laus. M.S. DCCCI p. 63, mit¬
geteilt von Cunningham, Growth 2, 434.
3 Über den verhältnismäßig hohen Grad geldtheoretischer Einsicht
bei Kopernikus siehe den lehrreichen Aufsatz von J. Jastrow,
K. Münz- und Geldtheorie, im Archiv Bd. 38. Dagegen Oresimus
ist geradezu die Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. (Gegenstück
zu der Stellung Lionardos in der Geschichte der Technik! s. unten
Kap. 29).
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwese*
407
maßgebenden Kreisen die Einsicht in den Unterschied zwischen
Staatsgeld und Verkehrsgeld.
Also auch beim besten Willen wäre es der Zeit nicht möglich
gewesen , ein (in unserm heutigen merkantilischen Sinne) voll¬
kommenes Geldwesen zu schaffen. Was nun aber jene Epoche
des weiteren kennzeichnet, ist dieses : daß
2. jener Wille des Staates: ein im merkantilen
Verstände gutes Münz- und Währungssystem zu
schaffen, gar nicht einmal vorhanden, daß vielmehr
die Geldpolitik der Staaten teilweise bis in die allerneueste
Zeit hinein (Frankreich, Deutschland), überall aber bis tief ins
17. Jahrhundert ausschließlich fiskalisch orientiert war. Das
heißt : die Fürsten sahen im Gelde nichts anderes als eine Quelle,
aus der sie ihre immer leeren Kassen mit Reichtümern füllen
konnten. Es ist, finanzgeschichtlich gesprochen, die Zeit zwischen
der rein auf Domanialbesitz aufgebauten Epoche und der modernen
Epoche des öffentlichen Kredits, von der ich spreche. Da die
Einsicht in die Verkehrsbedingtheit des Geldes aber noch fehlte,
so behandelten die öffentlichen Gewalten (übrigens bis in die
Handelsstädte Italiens hinein: selbst Venedigs und Florenzens Ver¬
waltungen hielten sich nicht völlig frei von Fehl, wie wir noch sehen
werden, wenn auch freier als die aus feudalem Holze geschnitzten
Fürsten der andern Länder) das Geld nur als Staatsinstitution,
die sie nach ihrem Ermessen einzurichten in der Lage seien.
Die Theoretiker der Zeit beeilten sich, die dieser Auffassung
entsprechende „staatliche Theorie des. Geldes“ zu formulieren:
man lese die Schriften der Geldtheoretiker des 15. und 16. Jahr¬
hunderts, die Budelius in seinem Werke De monetis et re
nummaria, 1591, zusammengestellt hat!
Aber wir dürfen uns nicht vorstellen, daß „der Verkehr“ sich
diese Willkür ohne weiteres habe gefallen lassen. Das war wohl
der Fall gewesen im frühen Mittelalter bis ins 12. und 13. Jahr¬
hundert hinein, als sich der Handel noch in ganz bescheidenem
Umfange rein handwerksmäßig abgespielt hatte. *Mit der Auf¬
schwungsperiode im 13/ Jahrhundert, als die italienischen Städte
auf die Höhe ihrer kommerziellen Macht hinaufzusteigen be¬
gannen, änderte sich das von Grund auf. I „Der Verkehr“, und
vor allem natürlich der internationale Verkehr, die Großhändler
in Waren und (namentlich) Geld in den italienischen Republiken
begannen gegen die Willkür der Staatsgewalten
sich aufzulehnen. Auf verschiedenen Wegen strebten sie
408
Zweiter Abschnitt : Der Staat
dem für jeden (vor allem natürlich für jeden kapitalistisch aus¬
gerichteten) Handel selbstverständlichen Ziele zu : ein sicheres
allgemeines "Warenäquivalent im Gielde zu haben. Will man jene
Jahrhunderte der Genese des Geldes richtig verstehen, so darf
man die Internationalität der damaligen Verkehrsbeziehungen
wenigstens in ihren intensiven "Wirkungen nicht zu gering ein¬
schätzen. Wir müssen uns vielmehr gegenwärtig halten , daß
wenigstens vom 18. Jahrhundert an eine regelmäßige kauf¬
männische Kontrolle des Geldwesens in den verschiedenen
Ländern stattfand , die zu einer genauen Registrierung der
„Stück “kurse und auf Grund davon zu einem lebhaften Arbitrage -
geschäft und einer regelmäßigen internationalen Geld- und Edel-
metal lb e w egung den Anlaß gab. Der Markt, auf dem die Kurse
für ganz Europa festgestellt wurden, war vom 13. bis zum Ende
des 15. Jahrhunderts Florenz, dann wurde es Antwerpen, bis an
dessen Stelle (seit dem Ende unserer Epoche) London trat1.
Daß das Geldwesen, das sich auf diesen Grundlagen aufbaute
den Stempel der Unsicherheit, der Unstetigkeit, der Unordnung-
trägen mußte, leuchtet von vornherein ein. Die folgende Dar¬
stellung soll es an einigen markanten Symptomen im einzelnen
nachweisen, um dann die Anfänge einer Besserung, das heißt
einei Anpassung an kapitalistische Interessen, aufzuzeio-en.
2. Die Gestaltung- der Münz- und Geldverliältnisse
a) Der räumliche Geltungsbereich der Münzen
Das Mittelalter hatte den Grundsatz entwickelt : der Heller
gilt nur da, wo er. geprägt ist. Und für einen im wesentlichen
lokalen Verkehr, in den nur hie und da einmal ein fremder
Händler hineinschneite , hatte sich dieser Grundsatz ganz wohl
bewährt. Mehr als auf alles andere legte man Gewicht auf die
bekannte Prägung, die allein das einheimische Geld gewährte.
Der Münzherr hatte natürlich ein lebhaftes Interesse daran, daß
jenei Grundsatz aufrechterhalten bliebe. Galt er, so war der
Machtbereich des reinen Staatsgeldes gesichert. Auch „der Ver-
1 Im Jahre 1606 enthalten die niederländischen Plakkate Ab¬
bildungen und Kurse von fast 1000 fremden Münzen! Es ist eines
der Verdienste des S h aw sehen Buches, gerade diese Zusammenhänge
klargelegt zu haben. Insbesondere hat er die Bolle, die Antwerpen
als zentraler „Stückemarkt“ gespielt hat, mit vielem Fleiße geschildert.
Eine entsprechende Arbeit für Florenz wäre noch zu leisten. Einiges
Material bringt jetzt bei G. Arrias, 159,
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
400
kehr“ konnte sich dabei beruhigen, solange der Gehalt der
Münzen überall gleich blieb. Dann erwuchs dem internationalen
Händler nur die Mühe, erwuchsen ihm nur die Kosten des Um-
wechselns (das in der Kegel auch als ein nutzbringendes, selbst
von der Obrigkeit ausgeübtes oder verpachtetes oder sonstwie
vergabtes Hoheitsrecht angesehen wurde). Die Sachlage änderte
sich aber ganz und gar, als die Münz Systeme sich in verschie¬
dener Richtung entwickelten, als sich vor allem „gute“ und
„schlechte“ Münzen, höher und geringer metallwertige Münzen
zu differenziieren anfingen. Da wurde es als vorteilhaft und
zweckmäßig erachtet, mit andern als den Landesmünzen zu
zahlen. Und zwar — so paradox es im ersten Augenblicke
klingt — entweder weil die fremde Münze besser oder weil sie
schlechter war. In jenem Falle leistete sie die größere Gewähr
und bot die größere Sicherheit; in diesem Falle ermöglichte sie
die Begleichung einer Schuld mit einem geringeren (Metall-)
Betrage.
Aus dem einen oder andern Grunde floß daher immer fremde
Münze in die Landesmünze hinein. Und es ist durchaus ein
Kennzeichen unserer Epoche, daß die Umlaufs mittel ein
stark internationales Gepräge trugen. Und es ist der
ewige Kampf zwischen Staat und Verkehr um die Reinheit der
Landeswährung, der die Jahrhunderte erfüllt. Ein ewiges Einerlei
in hunderten von Verordnungen und Gesetzen: Klagen über
das Überhandnehmen fremder Münzen, Verbot ihrer Benutzung,
das offenbar in den meisten Fällen wirkungslos geblieben ist,
wie wir aus den häufigen Wiederholungen schließen dürfen, teil¬
weise auch Gestattung fremder Münzen.
Ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele werden die Richtig¬
keit dieser Feststellungen bestätigen.
In Florenz , erfahren wir, werden die Lohnarbeiter im 14. Jahr¬
hundert mit schlechter ausländischer Münze bezahlt. N. Rodolico,
II sistema monetario e le classi sociali nel medio evo, in der Bivista
ital. di Sociologia 8 (1904), 467. Ebenda wird im Jahre 1382 alle
fremde Münze — sie sei denn eque bona vel melior als die Floren¬
tiner — verboten. Arch. di Stato Balia Reg. n. 19, bei N. Rodo¬
lico, 1. c. Verbote der fremden Silbermünzen werden in Florenz
häufig erlassen: von 1534 — 1660 13- oder 14 mal. Shaw, 93.
In Frankreich verbietet eine Ordonnanz nach der andern den Um¬
lauf fremder Münze. Unter Philipp dem Schönen (1309) sind es die
Sterlinge und die goldenen Fiorinen, die verboten werden. Weiter
finden Verbote statt: 1355, 1577 usf. Le Blanc, 227 und öfters.
Vgl. Sully, Memoires 4 (1752), 6 ff. (s. a. 1601). Das Edikt
410
Zweiter Abschnitt: Der Staat
vom 10. März 1500 erlaubt die Zirkulation Venetianer, Florentiner,
Sieneser, Ungarischer Dukaten ; von englischen „angelots, lions, saluts
et nobles“ ; von spanischen und portugiesischen Cruzados.
Klagen der Österreicher über schlechte bayrische Münzen, die nach
Österreich gedrungen seien und hier vielfach Mißstände hervorgerufen
hätten. Karajan, Beiträge zur Geschichte der landesfürstl. Münze
Wiens im Mittelalter, in Chm eis, Österr. Geschichtsforscher 1, 293,
und Urk. LXXXI bei Eheberg, 59.
Deutschland: Auf dem Reichstag zu Nürnberg (1522): Klage über
die unbrauchbare , falsche und entwertete Münze , die an Stelle der
Goldgulden und guten Silbermünzen im Lande umlaufe.
Ein Münzedikt Ferdinands I. vom Jahre 1559 bestimmt, daß ein
halbes Jahr nach Erlaß des Ediktes „kein fremb Gold so ausserhalb
Teutschen Nation geschlagen in Reich sol ausgegeben und genommen
werden dann allein nachfolgende stuck die ihr geordnet gewicht haben“,
bis dahin sollen alle andern Guldenmünzen, „wie die jetzo gang und
gebe, gegeben und genommen werden“ dürfen. Die für die Folgezeit
zugelassenen und mit einem gesetzlichen Kurse (in „guten Rheinischen
goldgulden“) versehenen Goldmünzen sind aber diese:
Alle kastilischen, arragonischen, valentianischen , navarresischen,
sizilischen, mailändischen, französischen Doppel-Dukaten;
alle spanischen, kastilischen, arragonischen, neapolitanischen,
münsterbergisclien, polnischen, genuesischen, venedischen, päpst¬
lichen, bononischen, breslauer (sowohl bischöflichen wie städti¬
schen), liegnitzer, weidischen, glatzer, florentiner, mailändischen,
salzburgischen, augsburgischen, kaufbeurischen, hamburgiscken,
lübeckischen und portugiesischen Dukaten;
alle burgundischen , niederländischen , französischen , spanischen,
kastilischen, valentianischen, mailändischen, sizilianischen, genue¬
sischen und päpstlichen Kronen. Bei Goldast, 148 f.
Immerhin noch eine ganz hübsche Anzahl fremder Münzsorten!
Vgl. auch die Münzordnung Karls V. von 1551, ebenda S. 162 ff.
und S. 188 ff., wo ein paar Dutzend Silbermünzen aufgezählt werden,
die im Reich zirkulieren und nach Jahresfrist „außer Kurs gesetzt“
sein sollen. Offenbar hatte das Verbot nichts genutzt. Denn allerhand
minderwertiges Silbermünzenzeug kroch auch später noch unausgesetzt
in das heil, römische Reich hinein. In den Speirischen Dekreten Maxi¬
milians II. vom Jahre 1570 heißt es, „dass man im h. Reich teutscher
Nation an stat der guten probierten Reichsmüntzen nichts anders als
böse frembde verfälschte Müntzsorten sehen und haben muss. Welches
dann auch nit die geringste ursach der beharrlichen steygerung in
allen Victualien und Commercien“. Goldast, 178. Vgl. den ganzen
tit. XLV und tit. LIV.
In England beklagen sich die englischen Kaufleute im Jahre 1346,
daß das gute Geld außer Landes gehe und falsche Lusshebournes
(Luxemburger), die nur 8 s. im Pfund wert seien, hereingebracht
würden. 1401 beklagt sich das Parlament: flandrische Nobles seien
so häufig in England, daß man nicht eine Summe von 100 sh.
empfangen könne, ohne 3 oder 4 solcher Nobles darunter zu finden;
Sechsundzwanzigtes Kapitel: Das Geldwesen
411
und seien doch um 2 p. weniger wert als die englischen Nobles.
Shaw, 44. 55. Für das 17. Jahrhundert charakteristisch z. B. Th.
Mun, Englands Treasure by forraign Trade 1664, Ch. VIII und
folgende. Wie zahlreich im 18. Jahrhundert die portugiesischen Gold¬
münzen waren,, die in England umliefen, wurde schon erwähnt.
Ausdrückliche Anerkenntnis fremder Münzen finden wir z. B. in
Spanien. In einer Ordonnanz Karls von Navarra (1356) heißt es: „nos
place y queremos que toda manera do mercedores tanto de nuestro
Kegno como de fuera puedan traher, poner y sacar fuera y allober
en aqueil todas maneras de monedas francament y sin arrest o em-
pachamiento alguno . . .“ Doc. ined. del Reino de Navarra ec., ab¬
gedruckt bei Heiss, 3 (1869), 231.
Der Ersatz der eigenen durch fremde Münzen konnte soweit gehen,
daß die fremde Münze die einheimische in ihrer Stellung bedrohte. So
enthält die Const. vulg. von Siena (aus dem Anfang des 14. Jahrh.)
das ausdrückliche Gebot: die Landesmünze in Zahlung zu nehmen:
„che neuna persona scusi la moneta senese.“ Bei Arrias, 150.
b) Währangs- und Münzsysteme
Fragen wir zunächst nach der Substanz der "Währung,
nacli dem Metall oder den Metallen, die jeweils als Währungs-
geldware gedient haben, so müssen wir ganz und gar auf eine
knappe Antwort verzichten, wie wir sie heute auf jene Frage
zu erhalten beanspruchen können. Von Begriffen wie Gold¬
währung, Silberwährung, Bimetallismus: in dem Sinne, daß von
Gesetzes wegen einem der beiden oder beiden Metallen ausdrück¬
lich die Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel zugesprochen,
dem andern beschränkte Zahlungskraft verliehen oder, falls beide
volle Zahlungskraft besessen hätten, eine Relation zwischen
beiden aufgestellt und — was die Hauptsache ist — alles das
konsequent festgehalten wäre: davon ist in jenen Jahrhunderten
keine Rede. Vielmehr ist hier alles schwankend, alles empirisch,
alles kasuistisch: ohne auch nur das Bemühen der grundsätz¬
lichen und systematischen Ordnung jener Verhältnisse. Man kann
deshalb nicht sagen: jene Währungsbestimmungen waren da;
man kann aber auch nicht sagen : sie waren nicht da. Ich möchte
z. B. angesichts der zahlreichen Bestimmungen über die Eignung
eines bestimmten Metalls, als Zahlungsmittel zu dienen, nicht
mit Shaw übereinstimmen, wenn er (in der Preface p. IX) die
Meinung äußert: vom 13. bis zum 18. Jahrhundert sei nie die
Rede davon gewesen, die gesetzliche Zahlungskraft — sei es
von Gold oder Silber — ausdrücklich festzusetzen oder zu be¬
schränken: Shaw selber führt in seinem Buche (45) die Ver¬
ordnung Eduards III. vom Jahre 1346 an: wonach alle Waren
412 Zweiter Abschnitt: Der Staat
in Gold bezahlt werden sollen, auch keine Verabredung über die
Zahlungsart getroffen werden dürfe, im Falle aber, daß doch
eine Verabredung schon bestehe, trotzdem der Käufer das Recht
der Option zwischen Gold oder Silber haben solle. Er hätte sich
auch 2 H. VI. c. 12 und 19 H. VII. c. 5 erinnern können. Aber
auch in den italienischen Gesetzen finden sich häufig ähnliche Be¬
stimmungen. Nur daß wir nicht an ihre Wirksamkeit zu glauben
brauchen.
In Wirklichkeit gestalteten sich die Dinge wohl so : Gold
und Silber war während der ganzen Periode vom 13. bis zum
18. Jahrhundert nebeneinander als Geld im Gebrauch; eines der
beiden Metalle wurde vom Handel jeweils bevorzugt als
Rieht- Geld: im 14. und 15. Jahrhundert wohl das Gold, im
16. und 17. Jahrhundert wieder mehr das Silber, das in wirt¬
schaftlich rückständigen Staaten bis ins 19. Jahrhundert das haupt¬
sächliche Geldmetall blieb, während namentlich England seit dem
Ende des 17. Jahrhunderts sich immer mehr dem Golde zuwandte.
Die Wertrelation zwischen den beiden Metallen
wurde teils vom Gesetzgeber (dann in der Regel bewußt falsch),
teils vom Verkehr — ausschließlich (wenn die gesetzliche Relation
etwa fehlte) oder neben der gesetzlichen Normierung — festgesetzt.
Es ergeben sich also in dieser Zeit immer mehrere Relationen:
eine nach den Preisen, die die Münzstätten für die rohen Metalle
bezahlten, und die man mit allen Mitteln auch dem Verkehr auf¬
zuzwingen suchte: das Münzpreis Verhältnis, wie es Lexis nennt;
sodann die Relation, die sich ergab aus den Edelmetallmengen,
die bei gleichem Nominalbeträge in den Münzen erhalten waren :
das Nominalwertverhältnis. (Die erste und zweite Relation hätte
übereinstimmen müssen, wenn der Schlagschatz bei beiden Me¬
tallen derselbe gewesen wäre ; tatsächlich war er aber bei Silber¬
münzen höher.) Diesen beiden Relationen, die (wie man es
ausdrücken kann) ein reines Staatsgeldverhältnis (an artificial
arbitrary mint rate, wie es Shaw bezeichnet) darstellten, trat
nun als dritte Relation diejenige gegenüber, die sich im Verkehr
bildete: das Verkehrsgeldverhältnis. Es entstand oder vielmehr
stellte sich dar in dem erhöhten Kurswert der Münzen, die aus dem
bevorzugten (gesetzlich unterwerteten) Metall hergestellt waren.
Die Folgen dieses Zustandes lassen sich leicht denken: stete
Kursschwankungen der Münzen eines Metalls ausgedrückt in den
Münzen des andern; unausgesetzte Bewegungen der Geld- und
Edelmetallmengen : aus einem Lande in das andere oder aus der
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
413
Münzform in die Barrenform ; endlich häufige Entblößungen eines
Landes von dem einen Metalle: wie es etwa 1345 in Florenz
geschah, aus dem damals alles Silber, weil unterwertet , ver¬
schwunden war1.
Die Unruhe,’ die damit über alles Geldwesen kam, wurde nun
aber noch gesteigert durch eine Reihe von Eigenarten, die die
Münzsysteme jener Zeit als solche unabhängig von der Wahl
des einen oder des andern Metalls aufwiesen.
Die erste^ dieser Eigenarten ist die durch Jahrhunderte fast
imunterbrochen fortschreitende Entwertung der einzelnen
Münze, sei es durch Verringerung ihrer Feinheit, sei es, was
der bei weitem wichtigere Fall ist, durch Verringerung ihres
Gewichts, immer bei gleichbleibendem Nominalwerte. Diese
Entwicklung hat sich wie folgt vollzogen."
Als die europäische Wirtschaftsgeschichte ihren Anfang nahm,
wurde auch das Münzwesenjneu geordnet; es entstand das Pfund¬
system Karls des Großen: 1 Pfund Silber wurde in 20 Solidi,
1 Solidus in 12 denare , also das Pfund in 240 denare geteilt.
Dieses Karolische Münzsystem fand in fast ganz Nord- und
Westeuropa Verbreitung und hat als Rechnungssystem das
Geldwesen fast ein Jahrtausönd lang beherrscht: überall
rechnete man nach Pfund, Schillingen, Pfennigen; Livre, sols,
deniers; Libbra, Solidi, quattrini; Pound, Shillings, pence usw.,
während die wirklich geprägten Münzen ihre eigene Entwick¬
lung durchmachten. Von den Münzen des Karolischen Systems
wurden zunächst nur die Pfennige (den.) ausgemünzt: entsprechend
der Kleinheit der Umsätze. Mehrere Jahrhunderte lang begnügte
man sich mit Pfennigen: numismatisch läßt sich die Zeit vom
Ende des 8. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts als das Zeitalter
der Pfennige bezeichnen. Dann, mit steigendem Verkehr, begann
man (um die Mitte des 13. Jahrhunderts) auch den Solidus aus¬
zuprägen, der bis dahin nur als Rechnungseinheit bestanden
hatte. Die 12-Pfennigstücke, die silbernen Solidi in specie, waren
die großen Münzen, die nummi grossi, und da sie zuerst in Tours
geprägt wurden, so hießen sie grossi turonenses, gros tournois,
Toumosgroschen, Tournosen. Fast um dieselbe Zeit ging man
dann auch dazu über, das Pfund (in Gold) auszuprägen, von dem
nachher die Rede ist. Vorerst müssen wir uns noch etwas ge-
1 „avendo in Firenze grande difetto e nulla moneta d argento . . .
che tutte le monete d’ argento si fondeano e portavansi oltremare.“
Villani, Cron. lib. XII, c. 53 (ein sehr lehrreiches Kapitel).
414
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Bauer Biit den Pfennigen und den Dickmünzen beschäftigen und
festzustellen suchen, welche Art Münzen das denn nun waren.
Nach dem System Karls des Großen gingen, wie wir sahen,
240 d. auf das Pfund. Dessen Schwere steht noch nicht fest.
Grote setzte es noch auf 326,6 g an; nach neueren Forschungen
soll es 409,32 g schwer gewesen sein h Wie der Entscheid auch
ausfallen möge: immer war der Solidus ein Silberstück von der
Größe unseres Talers und darüber; der Pfennig stellte einen
Silbergehalt von 25 — 30 Pfennigen in unserer heutigen Währung
dar. Wie aber schauten diese Münzen ein paar Jahrhunderte
nach der Zeit Karls des Großen aus? Sie waren immer kleiner
und kleiner geworden: wie die Semmel beim Bäcker in Teuerungs¬
zeiten, und hatten, wie diese; immer denselben „Wertbetrag“
(rechnerisch) dargestellt: waren immer Pfennige = V240 Pfund
und Solidi = V 20 Pfund gebheben. Als man anfing, den Solidus
auszuprägen, da stellte er, stellten also 12 d. nur noch ein Silber¬
stück von der Größe etwa eines heutigen Franc dar : so war der
Pfennig schon entwertet, das heißt schlechter und leichter aus¬
geprägt worden. Und doch begann die Zeit der Valutaentwertung
erst recht eigentlich mit den grossi, den Dickmünzen, die nun
selbst wieder zusammenschrumpften, bald wieder Dünnmünzen
geworden waren. Aber immer blieben sie 12 d. wert und immer
gingen ihrer 20 auf das Pfund, also stellte auch das Pfund einen
immer geringeren Silberbetrag dar. Zur Belebung des Bildes
teile ich die Ziffern für einige Münzsysteme mit, aus denen sich
diese unerhörte Entwertung ohne alle Mühe ablesen läßt. Sie
ist eine allgemeine Erscheinung in allen Ländern ; nur sind Größe
und Tempo der Entwertung von Land zu Land verschieden.
1. Deutschland: a) in Hamburg-Lübeck wurden aus 1 Mark
(ca. 234 g) feinen Silbers ausgebrackt :
Mk.
Sch.
Pf.
Mk.
Sch.
Pf.
1226 .
... 2
2
0
1398
.... 4
15
2
1255 .
... 2
9
5
1403
.... 5
1
11
1293 .
... 2
9
8
1411
.... 5
12
5
1305 .
... 2
15
5
1430
.... 8
8
0
1325 .
... 3
0
9
1450
.... 9
12
2
1353 .
... 3
10
11
1461
.... 11
8
10
1375 .
... 4
3
0
1506
.... 12
8
0
Benno
Hilliger, Studien
zu mittelalterlichen Maßen und Ge-
wichten, in Seeligers Historischer Vierteljahrsschrift 1900, S. 202 ff.
Siehe den Art. Münzwesen (Mittelalter), Verf. So mm er lad, im HSt.
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
415
b) in Straß bürg betrug:
Tolir»
Anzahl der Pfennige Gewicht der
«j am
auf die rauhe Mark
Pfennige
12. Jahrh.
. 240
0,979 g
1313 . .
. 480
0,487 „
1319 . .
. 490
0,476 „
1321 . .
. 494
0,473 „
1329 . ,
. 510
0,455 ,
1340 . .
. 516
0,453 „
1362 . .
'. 540
0,432 „
(Jul. C ahn ,
Münz- und Geldgeschichte
der
Stadt Straßburg
Mittelalter. Straßb. Diss.
1895,
S. 44.)
2. In England wog ein Silber-Penny in Troy Gi’ains:
1300 ....
22
1346
.... 20
1412 .... 15
1344 ....
201U
1351
.... 18
1464 .... 12
3. In Spanien
wurden Maravedi (eine billon-Münze) geprägt
der kölnischen Mark:
1312 130
1868
200
1390 500
1454 2250
1324 125
1379
250
1406 1000
1550 2210
4. In Frankreich wurden aus der Mark Silber ausgeprägt:
Livres
(Tournois)
Sols
Livres
(Tournois)
Sols
1309
. . . . 2
19
1561
.... 15
15
1315
. . . . 2
14
1573
.... 17
0
1343
. . . . 3
4
1602
.... 20
5
1350
. . . 5
5
1636
.... 23
10
1361
. . . . 5
0
1641
.... 26
10
1381
. . . . 5
8
1679
.... 29
11
1422
. . . . 7
0
1693
, . . . 33.
16
1427
. . . . 8
0
1713
.... 43
Vn
1429
. . . . 7
0
1719
.... 69
V 8
1446
. . v . 7
10
1720
.... 98
2 In
1456
. . . . 8
10
(dann steigt der Wert wieder etwas,
1473
... 10
0
bis er durch das Gesetz von 1803
1519
... 12
10
auf 222 2/g Francs aus
1 kg Silber
1540
... 14
0
festgesetzt wurde).
Zu bemerken ist zu all diesen Ziffern noch , daß sie nicht etwa
die einzigen Änderungen darstellen, die die Währung im Laufe der
Jahrhunderte erfuhr, sondern nur die großen Etappen der Senkung
bezeichnen. Zwischen den hier verzeichneten Jahren ging dann der
Münzwert oft unzählige Male herauf und herab. Speziell das französische
Münzwesen ist reich an diesen unausgesetzten Wertwechseln. Beispiel :
im Jahre 1348 wechselte man elfmal die Münzen, 1349 neunmal, 1351
416
Zweiter Abschnitt: Der Staat
achtzehnmal, 1353 dreizehmnal, 1355 achtzehnmal. Innerhalb dieses
kurzen Zeiti’aums ging der Kurs von 4 Livres (auf die Mark) bis
1 71 */2 Livres in die Höhe und sank wieder auf 43/s Livres.
Welches waren die Gründe für diese rasche und ganz
allgemeine Entwertung des Geldes? fragen wir.
Die blinde Gewinnsucht oder, wenn man lieber will: die
wachsende Finanznot/ der Fürsten, gibt man uns zur Antwort.
Und zweifellos haben sie ihr gut Teil zu dieser seltsamen Münz¬
politik beigetragen. In einer Zeit, in der der öffentliche Kredit
erst wenig entwickelt, in der das Papiergeld noch unbekannt
war, sagte ich selbst schon, mußte den geldbedürftigen Fürsten
dieser Ausweg außerordentlich glücklich erscheinen: für 3 oder
4 Geldstücke, die sie verwarfen und einzogen, 5 oder 6 (nominal)
gleichwertige ausgeben zu können. Aber mir scheint dieser Hin¬
weis auf die Finanznöte der Regierung doch nicht hinzureichen,
um diese ganze riesige Erscheinung ohne Rest verständlich zu
machen. Woher diese Verbreitung in allen Ländern? Waren
alle Regierungen gleich bedürftig, alle gleich gewissenlos?
Nein ich glaube, man muß noch nach andern Gründen
Umschau halten. Und man hat denn auch schon andere Gründe
namhaft gemacht. Shaw z. B. meint: die Geldentwertung des
14. und 15. Jahrhunderts hinge mit dem Steigen des Silberwertes
in jener Zeit zusammen : die Städte und Staaten hätten, um die
daraus folgende Preissenkung aufzuhalten, den Silbergehalt der
Münzen in der geschilderten Weise herabgesetzt. Sicher hat
diese Erwägung oft wenigstens die Maßnahmen der Entwertung-
äußerlich motivieren müssen h Aber war diese Einsicht allgemein
verbreitet? Und was erklärte dann die Tatsache, daß die Ent¬
wertung fortgesetzt wird, nachdem der Edelmetallbestand sich
längst wieder vermehrt hatte und die Preise eine rasche Steige¬
rung erfuhren?
Ich glaube vielmehr, daß eine Tendenz zur Entwertung zu¬
nächst schon in der technischen/Natur des Münzwesens jener
Zeit gelegen war, daß aber, sobald das Münzsystem eines
Landes aus irgendeinem Grunde einmal entwertet worden war,
1 Siehe z. B. die Begründung, die im Jahre 1411 Heinrich V.
seiner Geldverschlechterung gab, bei Shaw, 55: „because of the
great scarsity of money at the time“ wolle er jetzt 50 Nobles aus
dem Pfund Gold und 30 sh. aus dem Pfund Silber schlagen lassen
(wodurch das Gewicht des Silberpenny von 18 auf 15, das der Gold¬
nobles von 120 auf 108 Grains sank). Vgl. hierzu das 31. Kapitel.
Sechäunclzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 41?
diese Tatsache das andere fast dazu zwang, künstlich ebenfalls
eine Entwertung der eigenen Münzen vorzunehmen.
Aus der Unvollkommenheit der Münztechnik, neben der her
gewiß in zahlreichen Fällen eine bewußt betrügerische Falsch-
münzung ging, folgte, wie wir schon feststellen konnten, eine
oft sehr erhebliche Ungleichheit der Münzen nach
Schrot und Korn. Also enthielt von vornherein jede Münz¬
menge eines Landes schwere und leichte, gute und schlechte
Münzen. Dieses aber bot den Händlern (es werden wohl meist
die Goldschmiede oder die Wucherer [Juden] gewesen sein, die
sich hier betätigten) eine willkommene Gelegenheit, dadurch
Gewinne zu machen, daß sie die guten Stücke aus dem Verkehr
zogen und entweder einschmolzen oder in das Ätisland brachten,
wo sie sie vorteilhaft einwechseln konnten.
Daß diese Praxis zu allen Zeiten geübt wurde : dafür besitzen
wir eine ganze Reihe urkundlicher Beweise : siehe z. B. den Schwur
der Wiener Hausgenossen : daß sie das durch den Wechsel gewonnene
Geld nicht aussuchen und das schwere nicht einschmelzen , sondern
ohne Auswahl damit handeln wollen. Karajan, Beyträge zur Ge¬
schichte der landesfürstl. Münze Wiens im Mittelalter, in Chmels
österr. Geschichtsforscher 1, 321, und Urk. LXXI u. LXXII.
Die Straßburger Münzordnung von 1470 beginnt mit den Worten:
„Als untzhar vil uffsatz und vorteil gesücht ist an allen silbernen
milnssen, die sweresten und besten von den andern usgelesen und
die gebrant und das silber liinweggeschicket und ouch etlich geschirre
daraus liessent machen.“ Bei Ehe b erg, Hausgenossenschaften, 200.
Vgl. auch Nr. 16 derselben Ordnung a. a. 0. S. 206.
Wir erfahren sogar: wer sich jenen „uffsatz und vorteil“ zu ver¬
schaffen wußte und wie hoch er sich belief: bis zu 80 Mark Silber
wurden von einzelnen Straßburgern eingeschmolzen und außer Stadts
geschickt. Besonders auf der Frankfurter Messe, die damals viele
Münzen des Rheinlandes mit Edelmetall versorgte, hatte man heimlich
Silber verkaufen lassen. Die älteren schweren Engelpfennige wurden
von den Wechslern allgemein ausgelesen und eingeschmolzen: „Clein
Rülin Lentzelin het ouch geseit, daz man ime die engeier Sonderlinge
zu hoffen habe geben, . . . unde habe sü dun bürnen unde verkfifft
habe das silber und hat öch geseit, daz ez mengelich füge.“ (15. Jahrh.)
Bei J. Cahn, a. a. O. S. 60.
Ähnliche Klagen sind in den Kaiserl. Dekreten häufig: z. B. Frankf.
Dekret Maximilians II. vom Jahre 1571, bei Goldast, 41.
England: In einer Verordnung Karls I. vom Jahre 1627 heißt es:
„some of them (sc. goldsmiths) have grown to that licentiousness that
they have for divers years presumed, for their private gain, to sort and
weigh all sorts of money current within our realm to the end to cull
out the old and new monies, which, either by not wearing or by any
other accident, are weightier than the rest; which weightiest moneies
Sorabart. Der moderne Kapitalismus. I. £7
418
Zweiter Abschnitt: Der Staat
liave not only been molten down for the naaking of plate etc. but
even traded in and sold to merchant-strangers etc., wbo bave exported
them.“ Rhymer, Foedera 18, 896 ; bei Anderson, Orig, of Comm.
2, 324.
Über die Zustände in England am Ende des 17. Jahrhunderts
unterrichtet uns ein zeitgenössischer Schriitsteller wie folgt: „But
tho’ all the pieces together might come near the pound weight or be
within remedy • yet diverse of ’em compar’d one with the other were
very disproportionable ; as was too well known to many persons who
pick’d out the heavjr pieces and threw ’em into the Melting pott, to
litt ’em for exportation or to supply the Silver Smiths. And ’twas a
thing at last so notorious, _ tliat it ’scap’d the observation of very few.“
Haynes, 1. c. p. 63. Über die rapide Entwertung des Silbers in¬
folge Beschneidens in den Jahren 1672 ff., die zurümprägung in dem
Jahre 1696 führte, unterrichtet jedes Geschichtsbuch.
Die bekannten Vorgänge in Deutschland während der Jahre 1621
bis 1623, die diesen die Bezeichnung der „Kipper- und Wipper¬
zeit“ eingetragen haben (siehe die anschauliche, wenn auch wohl etwas
dichterisch gesteigerte Schilderung bei Gust. Frey tag, Bilder aus
der deutschen Vergangenheit 3 5 [1867], 152 ff.), waren nur ein akuter
Ausbruch eines ganz allgemeinen , schleichenden Übels , ähnlich wie
die englische Clipping-Zeit Ende des 17. Jahrhunderts. Eine „Kipper¬
und Wipperzeit“ ist fast die gesamte Epoche des Frühkapitalismus
gewesen. Die Erscheinung trug auch durchaus europäisches Gepräge.
So wurde das Geld eines Landes zunächst ganz von selbst
schlechter: seine Münzstücke enthielten nach einiger Zeit nicht
mehr soviel Metall, als ihr Nominalwert angab.
Kam nun diese unterwertige Münze in ein Land, wo noch\
vollwertige umlief, so verdrängte sie wiederum diese, die nun
ihrerseits aus dem Verkehr zu verschwinden, drohte. Das aber
mußte die Regierungen veranlassen, die Währung des eigenen
Landes nun ebenfalls herabzusetzen, 'damit sie die Konkurrenz
der fremden Münze auslialten könne und im Lande verbleibe.
Nun kam diese im AVert herabgesetzte Münze selbst wieder ins
Ausland und wirkte hier in gleichem Sinne, wie vorher die des
fremden Staates auf sie selbst gewirkt hatte : sie verdrängte die
gute Münze aus dem Verkehr und zwang die Machthaber zur
Entwertung, und so immer fort.
Die Entwicklung konnte aber auch gerade umgekehrt ver¬
laufen und doch dasselbe Endergebnis zeitigen: den Zwang zur
Geldverschlechterung. AV ährend nämlich in dem eben betrach¬
teten Falle das schlechte fremde Geld das bessere Geld des
eigenen Landes verdrängte (weil es bei dem gleichen Nominal¬
werte eine geringere Menge Silber enthielt, also daß derselbe
Preis in Münze mit einer geringeren Menge Silber beglichen
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 449
werden konnte), war es ebenso gut möglich, daß das gute Geld
in ein Gand mit entwerteter Münze abfloß, um hier mit seinem
höheren Metallgehalt sich in einer größeren Anzahl minderwertiger
Landesmünzen darzustellen. Das eine Mal kam dem schlechten
Gelde der gleiche Nominalwert, das andere Mal dem guten Gelde
sein höherei’ Metallwert zustatten. Diese doppelte Verwendung
erklärt es, weshalb wir bald in den Urkunden lesen, daß schlechtes
Geld, bald daß gutes Geld abfloß. Aber immer bestand die
Tendenz, daß das gute Geld aus dem Verkehr verschwand, und
damit wurde die Notwendigkeit erzeugt , die Entwertung, mit
der ein fremdes Land angefangen hatte, im eigenen Lande nach¬
zumachen.
Belege dafür im einzelnen beizubringen, daß sich tatsächlich
die Vorgänge in. der geschilderten "Weise abspielten, ist unnötig:
nicht nur daß die Geldgeschichte voll von Beispielen ist; man
kann geradezu sagen : jenes Hin- und Hei’fließen der Geldbestände
aus einem Lande in das andere, jenes unausgesetzte Verschwinden
des guten Geldes, jene dadurch hei'beigeführte Nötigung zur
Entwertung der Landesmünze: das ist die Geldgeschichte in
dem von uns betrachteten Zeiträume.
Denn auch die andere Eigenart des Münzwesens jener Jahr¬
hunderte , die ich im Sinne habe , stellt mit diesen eben ge¬
schilderten Vorgängen in allercngstem Zusammenhänge: ich
meine das Doppelmünzsystem, das sich in allen europäischen -
Ländern seit dem 13. Jahrhundert etwa einbüi’gert und mit dem
es folgende Bewandtnis hat.
Es ist ersichtlich, daß dies l’äumliche Durcheinander ver¬
schiedenwertiger Münzen aller Herren Länder, wie es sich als
eine Folge des Herüberfließens der Geldmassen ei’geben mußte;
die3 zeitliche Wechseln des Wertes einer und derselben Münze,
wie es aus der Gepflogenheit der Münzherrcn, den Wert einer
Münze beliebig oft und beliebig hoch festzusetzen, notwendig
hervoi’gehen mußte, einen Zustand lästigster Unsicherheit heibei-
zuführen geeignet war, der um so unerträglicher erscheinen
mußte, je regelmäßiger und zahlreicher die internationalen Ver¬
kehrsakte wurden, je mehr kapitalistisches Wesen zur Entfaltung
drängte. „Der Verkehr“ mußte auf Abhilfe sinnen. Und erfand
Mittel und AVege, den Übelständen wenigstens die größte Schärfe
zu nehmen. Der eine Ausweg, den er einschlug, um sich vom
der immer schlimmer werdenden Münzverwirrung zu retten, war
die .Rückkehr zum reinen staatslosen Verkehrs-
27*
420
Zweiter Abschnitt : Der Staat
gelde: er brauchte das Edelmetall wieder ohne Rücksicht auf’
seine Münzgestalt oder in ungemünzter Gestalt als Geld. Knapp/
würde sagen: als pensatorisches,' Zahlungsmittel. Jenes tat er,
wenn er die Münzen wog und effektive (nicht etwa die rech¬
nungsmäßig fiktiven) Gewichtsgrößen den Abmachungen zu¬
grunde legte („morphische Zahlungsmittel mit pensatorischer
Verwendung“); dieses, wenn er die Edelmetalle in Barrenform
beließ oder sie in die Barrenform/zurück verwandelte. So wurden
z. B. die Zahlungen an den englischen Exckequer lange Zeit
hindurch ad scalam/ — d. h. nach dem Gewicht — geleistet 1
(die Schatzkammer wußte am besten Bescheid , wie es um die
Münzen stand !) ; ebenso wurden in Deutschland eine Zeitlang
die Denare nach Gewicht genommen 2. Die Barrenpraxis ist aber
gleichfalls namentlich in Deutschland während des Mittelalters
verbreitet gewesen: wTir begegnen ihr am Rhein und in Schwaben,
Bayern, Österreich und Schlesien seit Beginn des 13. Jahrhunderts;
in Niedersachsen, Engern und Westfalen während des ganzen
14. Jahrhunderts3.
Auf die Dauer konnte aber der Verkehr sich mit diesen
Ersatzmitteln eines rechtschaffenen Geldsystems nicht zufrieden
geben. Er mußte auch im Bereiche des staatlichen Geldes seinen
Interessen Geltung zu verschaffen trachten dadurch, daß er
wenigstens eine Münzsorte vor der „Pest“ der Entwertung4
schützte. In der Tat gelang es , zunächst in den italienischen
Städterepubliken, eine Münze zu schaffen, deren Metall¬
wert ein- für allemal derselbe (oder doch wenigstens an¬
nähernd derselbe) blieb, und die nun der ruhende Pol in der
Erscheinungen Flucht wurde : das war das goldene „Pfund“,
das zuerst in Florenz- als „fiorino“ im Jahre 1252 das Licht
dieser Welt erblickte.
Der Florentiner Gulden hatte in der Tat eine für jene Zeiten
unerhörte Wertkonstanz : er wurde Jahrhunderte hindurch ganz fein
ausgeprägt und wog. Jahrhunderte hindurch 3,519 g./ Diese Eigenschaft
1 Madox, Hist, of the Exchequer 1, 274 f.
2 Inama, DWG. 3 n, 390 ff.
3 Inama, DWG. 3 u, 391. Verbot des Barrengeldes : „in civitate
et aliis locis , ubi propria et justa moneta esse consuevit nemo mer-
eatum aliquod facere debeat cum argento sed cum denariis proprie
sue monete.“ Sentent. de cambio et imag. den. MG. Const. II
Nr. 301/2 (1231), p. 416.
4 So drückt sich Carli in seiner Abhandlung über das Geld aus
(SS. dass. P.M. 13, 323).
Scchsundz wanzigstes Kapitel :
Das Geldwd
421
machte ihn bald zur beliebtesten Handelsmünze, die überall gern ge¬
nommen wurde und nun auch in andern Staaten Nachahmung fand.
Das Vorbild der italienischen Goldstücke (noch im 13. Jahrhundert
prägte Venedig, seine Zechinen oder Dukaten, Genua seine Genovinen)
zwang die Regierungen der andern Länder, nun ebenfalls eine unver¬
änderliche Goldmünze zu schaffen, wollten sie vermeiden, daß die
italienischen Goldgulden ausschließlich in Umlauf blieben. Man prägte
mit Vorliebe die eigenen Münzen auch äußerlich dem fiorino nach:
ein Beweis, welche Verbreitung dieser gefunden haben, in welchem
Ansehen er bei den Händlern stehen mußte. Denn offenbar wollte
man mit der Nachahmung des Gepräges die einheimischen Münzen
dem fiorino zum Verwechseln ähnlich machen.
Siehe die Abbildungen der nachgeprägten Florene in den Beilagen
zu der Abhandlung von H. Dannenberg, Die Goldgulden vom
Florentiner Gepräge in der (Wiener) Numismatischen Zeitschrift 12
(1880), 146 ff. Die Geschichte der Goldprägungen im Mittelalter am
besten dargestellt von S h a w/ Zu vergleichen v. Inam a/, Die Gold¬
währung im Deutschen Reiche während des Mittelalters, in der Zeit¬
schrift für Soc. u. W.Gesch. 3 (1895), 1 — 60.
Ganz wurde dieses Ideal der Unveränderlichkeit außerhalb Italiens
freilich nicht erreicht. So verschlechterte sich der Gulden z. B. in
Deutschland seit dem 15. Jahrhundert weniger im Schrot als im Korn.
Man unterschied von da ab den ungarischen (italienischen) Gulden/
und den rheinischen Gulden: so genannt, weil die vier rheinischen
Kurfürsten sich um seine Stabilisierung mit Erfolg bemühten. Vom
Ende des 15. Jahrhunderts an ist der Metallgehalt des rheinischen
Gulden ebenfalls ziemlich stabil: er stellt etwa 3/i des Wertes des
Dukaten dar.
Über das Schicksal des rheinischen Gulden unterrichtet folgende
Übersicht bei Julius Cahn, a. a. O. S. 154.
Jahr
Korn
(Karat und Grän)/
Gewicht
nach
Goldgehalt
jframm
Goldwert
in heutiger
Keichswährung
1891
23
Kar. —
Gr.
3,542
3,396
9,48 Mk.
1402
22
» 6
55
3,542
3,322
9,27 „
1409
22
51
55
3,542
3,248
9,06 „
1417
20
55
51
3,542
2,953
8,23 „
1425
19
55
55
3,507
2,777
7,95 „
1464
19
55
55
3,405
2,696
7,52 „
1477
18
» 10
55
3,372
2,647
7,89 „
1490
18
„ 6
55
3,278
2,527
7,05 „
Damit wurde nun aber (seit der Mitte des 14. Jahr¬
hunderts) der Goldgulden auch die allgemeine Rech¬
nungsmünze: man rechnete in der großen Handels¬
welt nach Gulden, während die Pfundrechnung dem Lokal-
422
Zweiter Abschnitt : Der Staat
»
¥ t
'
verkehr verblieb. Der Gulden wurde dann je nach dem Stande
der Pfundr e clinung tarifiert1. Es gab also immer zwei Geld¬
ausdrücke, deren Verhältnis zueinander fortgesetzt schwankte:
den Ausdruck in Gulden und den Ausdruck in (Pfunden, die
man häufig wegließ) Schillingen und Pfennigen.
Dieser Zustand ist bis zum Ende unserer Epoche annähernd
unverändert geblieben. AVas sich änderte, war nur die Metall¬
substanz und der Name des Gulden : aus dem Golde wurde
Silber, aus dem Gulden der Taler (Piaster, Louis d’argent usw.).
Diese Umgestaltung hing mit der Zunahme der Silber¬
produktion seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu¬
sammen2 3. Silber war bis dahin zur Ausprägung der Groschen
und Pfennige verwandt, die je mehr und mehr zur „Scheide¬
münze“ herabgesunken waren. Als nun zunächst in Deutschland
und Österreich plötzlich so sehr viel Silber gewonnen wurde,
konnte dieses nicht alles als Scheidemünze untergebracht werden.
Deshalb verfiel man auf die Idee, die Kurantmünze (den Gulden)
nun ebenfalls in Silber auszuprägen. So entstanden um die
Wende des 10. Jahrhunderts die großen Silbermünzen, die bei
einem Gewicht von 2 Lot und einer Feinheit von 15 Lot nach
dem damaligen Kurse des Silbers tatsächlich einen Gulden an
Wert darstellten. Weil man bisher keine größeren Silbermünzen
als die Groschen gekannt hatte, so nannte man die neue Münze
Guldengroschen, bis eine neue Bezeichnung: (Joachims-) Taler
auf kam. Ebenso aber wie das deutsche Silber drängte dann das
amerikanische Silber dazu, große silberne Kurantmünzen herzu¬
stellen: das waren die Piaster in Spanien und ähnliche Gro߬
silberstücke in andern Ländern.
Je mehr und mehr eroberte sich auf diesem Wege das Silber
wieder seine herrschende Stellung im Verkehr, die es drei Jahr¬
hunderte früher besessen hatte, und die es dann bis in die
neueste Zeit hinein (in England bis zum Beginn des 18. Jahr¬
hunderts, in den übrigen Ländern bis um die Mitte des 19. Jahr¬
hunderts) sich bewahrt hat.
Das alte Verhältnis aber der vollwertigen, „guten“ Kurant¬
münzen zu den kleineren, sich immer noch verschlechternden
Schillingen und Pfennigen bleibt bestehen
1 Die beste mir bekannte Spezialuntersuchung über die mittelalter¬
lichen Gold-(Gulden-)Kurse ist die Arbeit von C. Schalk, Der Münz¬
fuß der Wiener Pfennige, in der Num. Zeitschr. 12, 186 ff. 324 ff.
3 Siehe hierzu den vierten Abschnitt, namentlich Kapitel 31,
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 423
In Frankreich erreicht die Münz Zerrüttung im 18f Jahrhundert, nach
den unglücklichen Finanzspekulationen der .Regierung, erst recht
eigentlich ihren Höhepunkt. Auch in Deutschland änderte sich bis
um die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein wenig. „Darstellung des
fruchtlosen Kampfes , den etwa zehn ignorante Falschmünzer gegen
den sich allmählich entwickelnden Welthandel führen, heißt: Geschichte
des deutschen Münzwesens während der vorletzten drei Jahrhunderte.“
H. Grote in seinen „Münzstudien“.
An die Stelle des (Zähl-) Pfundes trat in einigen Ländern
eine neue Zähleinheit: in Deutschland der Zähltaler, der nun
ebenso wie früher das Pfund ein wechselndes Disagio gegen den
Speziestaler (so genannt, weil „in specie“ vorhanden) oder den
Piaster oder den Louis d’argent usw. erhält. Daneben bleiben
dann die Goldstücke ebenfalls in Umlauf und helfen die Kon¬
fusion vergrößern. Vom IG. bis 18. Jahrhundert schloß man die
Verträge teils auf Gold, teils auf Silbergeld ab oder war bei
gewissen Geschäften das eine oder das andere Metall herkömm¬
lich im Gebrauch. Natürlich ergab das wiederum zwei verschiedene
Preise, je nach der augenblicklichen Relation zwischen Silber
und Gold, die ebenso wie die Tarifierung der Kurantmünze nach
wie vor vom Verkehr allen gesetzlichen Tarifierungen und allen
Verboten (z. B. in der Reichsmtinzordnung von 1509) zum Trotz
den Uarktverhältnissen gemäß festgesetzt wurde.
Die Pfennige wurden gelegentlich in ihrer Fähigkeit, als
gesetzliches Zahlungsmittel zu dienen, beschränkt, also zur
Scheidemünze erklärt l, mit welchem Erfolge, steht dahin.
Eine neue Epoche des Geldwesens bahnte sich schon während
des 18. Jahrhunderts in England an, vornehmlich infolge der
Tatsache, daß die englische Regierung als erste (und bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts einzige) das Geldwesen vom mer¬
kantil-rationalen Gesichtspunkt aus zu behandeln anfing. Das
Gesetz 18 Karl II. c. 5 (1666), wodurch der Schlagschatz auf¬
gehoben wurde, machte den Anfang. Als dann die starke Ent¬
wertung des Silbergeldes Ende des 17. Jahrhunderts infolge des
akut auftretenden Kippens und Wippens einsetzte, widerstand der
Staat der Versuchung, den Silbergehalt der Münzen entsprechend
zu verringern, schritt vielmehr zu einer Umprägung im Interesse
des Verkehrs. Er wachte dann über der neuen Währung, indem
1 Die Münzordnung von 1551 schränkt die Annahmepflicht bei
Pfennigen auf 10 fl. ein, das Münzedikt von 1559 bestimmt sogar, daß
„niemands in einiger grossen bezahlung wenig oder viel pfennig wider
seinen willen zunemmen schuldig sein“ soll, Goldast, 184.
424
Zweiter Abschnitt: Der Staat
er ein Passiergewicht einführte , und hielt sie dank der gleich¬
zeitigen Fortschritte der Prägetechnik leidlich intakt. Dazu kam,
daß seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Goldwährung
erst faktisch, dann rechtlich zur Einführung gelangte. Diese — eine
unmittelbare Wirkung der Erschließung der brasilianischen und
afrikanischen Goldfelder, wie wir noch sehen werden — leitet
die neue Epoche, die hochkapitalistische, die goldene ein. Ihre
Anfänge fallen in die frühkapitalistische Epoche und sind durch
folgende Etappen bezeichnet:
1. Erklärung der freien Ausprägbarkeit des (Silbers und) Goldes
durch das Gesetz von 1666;
2. Überfüllung der öffentlichen Kassen mit Gold, da diese
einstweilen allein dem Annahmezwang unterliegen;
3. Erklärung der Annahmepflicht für jedermann im Jahre 1717 ;
4. Abstrom des Silbers infolge Überwertung des Goldes (21 s.
die Guinea);
5. Erklärung des Silbers zur Scheidemünze im Jahre 1774;
6. Aufhebung der freien Ausprägbarkeit des Silbers im Jahre
1798.
III. Das Bancogeld
Die schlimmen Münzwirren namentlich im 16. und 17. Jahr¬
hundert führten zu einer Einrichtung, die — ähnlich wie das
„goldene Pfund“ — dazu dienen sollte, dem kaufmännischen Ver¬
kehr ein von den unaufhörlichen Kursschwankungen nicht be¬
troffenes, also in seinem Werte beständiges Zahlungsmittel zu
verschaffen, genauer: Zahlungen, die jene Bedingungen der
Sicherheit erfüllten, zu ermöglichen: das war die Einrichtung
des Bancogeldes. Sie bestand darin, daß Kaufleute Metallgeld
vorgeschriebener Prägung in einer „Bank“ hinterlegten, wo dieser
Betrag in einem zu diesem Behufe geschaffenen Zählgelde (oder
auch in der als fest angenommenen Landesmünze) gebucht wurde.
Über diesen Betrag, der also einer ganz bestimmten Menge Edel¬
metall entsprach, und der unberührt in den Kellern der „Bank“
liegen blieb, konnte der Einleger durch Anweisungen verfügen.
Da die meisten Geschäftsleute der Orte, wo diese „Banken“ be¬
standen, ein Konto bei ihnen hatten, so konnten die Zahlungen
auf dem Wege des Giro erfolgen, woraus sich ein zweiter wesent¬
licher Vorteil ergab.
Daß diese Anstalten mit dem, was wir heute unter einer Bank
verstehen, nichts zu tun hatten, leuchtet ein. Gleichwohl nannte
Scchsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 425
man sie zu ihrer Zeit. „Banken“, ja im 17. Jahrhundert verstand/
man unter „Banken“ geradezu jene Girokassen.
So heißt es bei Marperger, a. a. 0.: „Eine Banco heißt nach
der heutigs Tags . . . gewöhnlichen Redensart derjenige Ort, oder die
löbliche Veranstaltung, in welcher große und kleine Geld -Summen
sicher in Verwahrung können niedergesetzet, von ihrem Eigeuthümer
aber jedesmal wann es ihm beliebt . . . wieder abgefordert und zurück¬
genommen werden“ (können). Sie sind eingeführt, „umb des vielen
Geld-Zahlens überhoben zu sein“. Das war wohl erst der zweite
Grund: hauptsächlich wurden sie ins Leben gerufen, um dem Jammer
der Münzunsicherheit zu entgehen.
Und die Definition in der Allg. Schatzkammer der Kaufmannschaft
1 (1741), 362 lautet: „Banco, Banque oder Banck heißt bei den Kauf¬
leuten ein aus öffentlicher Autorität etabliertes und privilegiertes Haus,
in welchem sie ihre Gelder teils zur Verwahrung und mehren Sicher¬
heit, teils zur Commodität (des vielen Auszahlens überhoben zu seyn)
niedersetzen und hernach, dem sie schuldig von solchen Geldern je
gewisse Summam zu , von ihrer Rechnung aber abschreiben lassen,
dahingegen ihnen von andern auch wieder dasjenige, was sie in Banco-
Geld von ihnen zu fordern haben solchergestalt zugeschrieben wird,
und dieses nennt man ein Giro“ . . .
Die Geschichtsschreibung des „Bankwesens“ hat (ähnlich wie die
der Post) sehr darunter zu leiden gehabt, daß man unter Bank (wie
unter Post) jeweils etwas ganz und gar Verschiedenes verstanden hat.
Ich komme darauf bei der Darstellung des Wirtschaftslebens im Zeit¬
alter des Frühkapitalismus im zweiten Bande zu sprechen.
In der zeitgenössischen Literatur werden meist vier solcher
Bancogeldanstalten namhaft gemacht, nämlich (in der Reihenfolge
ihrer Gründungsjahre) :
1. Banco di Rialto (1587), seit 1619 Bänco del giro in Venedig ;
2. die Amsterdamsche Wisselbank (1609);
3. die Hamburger Girobank (1629);
4. der Banco publico in Nürnberg (1621).
Es tragen aber, soviel ich sehe, noch mehr Anstalten dasselbe
oder ein sehr ähnliches Gepräge, nämlich:
5. die Bank von Lyon1;
6. die Casa di S. Giorgio in Genua (seit 1586), zu der sich
1675 die Banchi di moneta corrente gesellen2;
7. der Banco di S. Ambrogio in Mailand (seit 1593) 3 ;
8. der Banco di deposito in Leipzig4;
9. die Bank von Rotterdam (1635).
1 Über diese siehe Vigne, La banque de Lyon (1903), 84.
2 H. Sieveking, Die Casa die S. Giorgio (1899), 202. 205 ff.
3 E. Greppi, 11 banco die S. Ambrogio, im Arch. Stör. Lomb.
10 (1883), 514 seq.
4 Siehe Allgem. Schatzkammer der Kaufmannschaft 4, 540 ff.
■126
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Das berühmteste dieser Institute ist die Amsterdamschc Wissel -
bank, über die ich deshalb noch etwas eingehender berichten will.
Sie wurde am 31. Januar 1609 auf Grund eines Privilegiums der
Herren Generalstaaten sowie der Bürgermeister der Stadt Amster¬
dam errichtet, unter deren Obhut das in der Bank niedergelegte Geld
stand. Als Zweck ihrer Gründung wird in ihrem Statut bezeichnet:
„um allen den Münzwirren zu entgehen und um denen, die Geld um¬
zusetzen haben, eine bequeme Zahlungsgelegenheit zu schaffen“ (om
alle steygering ende confusie in ’t stuck van de munte te weeren, ende
den luvden, die eenige specien in de koopmanschappe van doen hebben,
te gerieven). „Sie ist“, schreibt ein urteilsfähiger Zeitgenosse, „von einer
so großen Bequemlichkeit für die handeltreibende Welt, daß man es
nicht für möglich hält, wenn man nicht einige Zeit in dieser Stadt
gelebt und Geschäfte gemacht hat, da man mit ihrer Hilfe täglich
Millionen bezahlen kann vermittels einfacher Zahlungsanweisungen, die
man Bankbillete nennt.“ Es gab deshalb auch sehr wenige Kaufleute
in Amsterdam und den Nachbarstädten, die sich ihrer nicht bedient, das
heißt: die kein Bankkonto gehabt hätten. Dieses erwarb man: 1. durch
Ankauf von Bankgeld an der Börse; 2. durch Erwerb eines Wechsels,
der in Bankgeld zahlbar ist; 3. durch Verkauf einer in Bankgeld zu
bezahlenden Ware ; 4. durch Einzahlung von Münzen. Die Bank nahm
an: 1. Golddukaten; 2. Rigksdaler/; 3. Piaster; 4. Louis d’Or, alle zu
einem bestimmten, unter dem Metallwerte stehenden Kurse. Barren¬
gold oder -silber konnte nicht eingeliefert werden. Man konnte (außer
an drei Tagen im Jahre) erst den folgenden Tag über eine angewiesene
Summe verfügen. Der Mindestbetrag einer Anweisung waren 300 fl.
Man mußte die Anweisungen persönlich überreichen, bis 3 Uhr nach¬
mittags (nach 11 Uhr vormittags gegen eine besondere Gebühr), und
persönlich die Zahlungen in Empfang nehmen. Alle Wechsel über
600 fl. mußten auf Bankgeld^ lauten.
Ich teile noch die Urteile zweier besonders kenntnisreicher Aus¬
länder mit, aus denen man am besten die Eigenart dieser Anstalt ersieht:
„cette banque est proprement la caisse generale, oü chacun serre
son argent, parce qu’on le juge lä en plus grande seurete et l’on en
dispose plus facilement, tant en payant qu’en recevant, que si on le
tenait en ses propres coffres. Et tant s’en faut que la banque paye
interest de l’argent que Fon y depose que mesmes celuy qui y est,
vaut plus que la monnoye courante , dont les payements se font
manuellement; parce que Fon n’y apporte point d’autres especes que
les meilleurs les plus approuvees et les plus generalement connues
tant en Allemagne qu’ä un Pais-bas.“ Temple, Remarques sur
l’Estat des Provinces-Unies des Pays-bas, faites en l’an 1672. (1674),
132/33.
„The proper definition of this bank is not a bank of current
money to be received and issued daily like those of London, Venice
ec., but is purely a deposit of money, the credit whereof passes
from hand to hand daily, by signed tickets . . . But although it be,
without doubt, an excellent Institution for safety, ease, dispatch and
re cord , yet it cannot be said to increase the general quantity of
Seclisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen
427
circulation of moiiej^ as some otlier banks certainly do“ : da immer
die volle Summe, über die ein Geschäftsmann verfügt, bar in der
Bank liegt. Anderson 2, 235. Vgl. aucli noch die bekannte Dar¬
stellung und Beurteilung der Amsterd. Bank bei Ad. Smith, W. of
N. B. IV, ch. III, Part I. Digression. ^
Eine ziffernmäßige Angabe über die Höhe ihrer Umsätze ist mir
nicht bekannt. Sie wäre sehr lehrreich, um uns eine Vorstellung vom
Umfang des holländischen Handels in seiner Blütezeit zu geben. Die
Zeitgenossen nennen sie nur übereinstimmend die „reichste“ Bank.
Ternple, 1. c. p. 131, meint: der in ihr aufgehäufte Schatz sei der
größte von allen, die man kenne, „reels ou imaginaires“. Bekannt ist
die Schätzung, die Adam Smith vorgenommen hat: 2000 Konten
zu 1500 SS = 3 Milk SS oder 33 Mffl. fl.
Dagegen besitzen wir erfreulicherweise eine genaue Statistik der
Hamburger Girobank aus ihrer letzten Zeit, die ich hier mitteile:
Bankfonds . 1772 3^2 Mill. Mk.
1799 38 Va „
Zahl der benutzten Bankfolien . . . 1774 7570
1799 24151
Gesamtumsatz . 1774 230 Milk Mk.
1799 1506 „
E. Baas ch, Hamburgs Handel und Schiffahrt am Ende des 18. Jahr¬
hunderts, in H. um die Jahrhundertwende (1900), 166.
IV. Die Anfänge des Papiergeldes
Man wird die Eigenheit des Geldwesens im Zeitalter des
Frühkapitalismus nur begreifen, wenn man sich zu vollem Be¬
wußtsein bringt, daß alles, was wir mit dem Namen Papiergeld
oder Papierwährung bezeichnen, dem Geiste jener Epoche fremd
war, daß also diese Geldformen, wo sie uns etwa damals ent¬
gegentreten, als normale Bestandteile des wirtschaftlichen Gesamt¬
lebens (bis auf einen Fall) nicht anzusehen sind.
Was die Geschichte des Papiergeldes in der Frühzeit des
Kapitalismus vielmehr kennzeichnet, ist \1. das Unvermögen der
Staatsorgane, mit diesem gefährlichen Werkzeug umzugehen,
\2. das tiefe Mißtrauen des Publikums gegen diese Geldform, das
sich namentlich im 18. Jahrhundert erst recht einstellte (als
Folge der Schwindelmanöver in der ersten „Gründerzeit“).
Noch umspielte den Begriff des Papiergeldes ein Zauber der
Romantik; noch wurde es von den Fürsten als eine neue Alt
des Goldmachens angesehen; noch hatte man die innere Gesetz¬
mäßigkeit dieser Geldform nicht durchschaut; noch galt es als
..Teufelswerk“, als Zauberwerk. Wie das alles ja in den Kaiser-
Szenen des „Faust“ zu klassischer Darstellung gelangt ist.
428
Zweiter Abschnitt:: Der Staat
Deshalb muß man aber auch das Lawsche Bank unter¬
nehmen als den eigentlichen Typus aller damaligen Versuche an-
sehen, Papiergeld einzuführen. Man weiß, daß diese Episode, in der
es schließlich zur Verausgabung von 2 Milliarden Frcs. Banknoten
kam, von sehr kurzefDauer war: 1720 hörte alles auf, und erst
ein halbes Jahrhundert später begann man in Frankreich, wieder
an die Schaffung einer Notenbank zu denken. Daß aber die Zeit
des Papiergeldes auch damals noch nicht erfüllet war, beweist
das Schicksal der Assignaten.
Nicht viel anders, wenn auch weniger dramatisch, verliefen
die Experimente, die man im 18. Jahrhundert mit dem Papier¬
geld in Dänemark und Nonvegen, in Schiveden, in Rußland, in
den amerikanischen Staaten machte. Überall ist der Verlauf der¬
selbe: das Unternehmen endigt überall mit einer starken Ent¬
wertung des Papiergeldes : in den meisten amerikanischen Staaten
z. B. betrug die Entwertung mindestens 100 °/o, in einzelnen bis
zu 1000%, einmal sogar 1400%, also schon beinahe Assignaten¬
verhältnisse.
Das Mißtrauen der Bevölkerung und namentlich der Geschäfts¬
welt gegen das Papiergeld war also begreiflich.
Es wird nur der Ausdruck der allgemeinen Stimmung gewesen
sein, wenn ein Hamburger im Jahre 1782 schrieb1: „Sie sehen,
daß unsere Bank einzig und allein zur Sicherheit, Bequemlich¬
keit und Richtigkeit unserer Handlung angelegt ist ; daß sie sich
folglich von allen Credit-Banken unterscheidet, die so oft nur
durch allerhand künstliche Finanzprojekte zusammengeklebet und
erhalten werden, und aus welchen man so viel schöne in Kupfer
gestochene Bankzettel, die die klingende Münze vorstellen sollen,
in die Welt hineinjagt: wodurch dann aber auch am Ende der
Credit so sehr geschwächet und die Handlung eines Landes so
sehr in Unordnung gebracht werden kann . . .“ usw.
Die Ausnahme, von der ich oben sprach, sind die Noten
der Bank von England. Da hier das Recht der Notenaus¬
gabe auf den Betrag des Bankkapitals beschränkt war, so konnte
ein Mißbrauch der Papiergeldpresse wie in andern Ländern nicht
eintreten. Wir hören deshalb auch nur von geringen Ent¬
wertungen der Noten dieser Bank, die wir uns vielmehr als einen
Teil des normalen Geldvorrats Englands im 18. Jahrhundert vor-
1 Schlözers Staatsanzeigen 1 (1782), 76. Vgl. auch die Aus¬
führungen ebenda Band 11 (1787), 369 ff.
Sechsundzwauzigstes Kapitel: Das Geldwesen
429
zustellen haben. Doch möchte ich auch in diesem Falle davor
warnen, nun etwa anzunehmen, daß das Papiergeld oder die
Banknoten in England schon während des 18. Jahrhunderts auch
nur annähernd die Bedeutung gehabt hätten wie etwa heute.
Sie blieben vielmehr auch in England bis zum Beginne des 19.
(oder mindestens bis in die letzten Jahrzehnte des 18.) Jahr¬
hunderts durchaus eine nebensächliche Erscheinung, die für die
Gesamtheit des englischen Geldwesens ohne erhebliche Be¬
deutung war. Wir dürfen dies einerseits aus der Art, wie die
Noten ausgegeben wurden, andererseits (und vor allem!) aus
der Geringfügigkeit der in den Verkehr gebrachten Notenmenge
schließen.
Anfangs mußten die Noten indossiert werden; bis 1759 wurden
nur Noten von 20 £ und mehr ausgegeben.
Bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts mußten die Noten der Bank
von England um ihre Geldeigenschaft kämpfen. Noch im Jahre 1758
mußte erst durch Entscheidung des obersten Gerichtshofs festgestellt
werden, daß eine testamentarische Verfügung eines Mannes über alles
in seinem Besitz befindliche Geld auch etwaige Noten der Bank ein¬
schließe, weil diese Noten, so gut wie die Guinea, Geld seien. Quittungen
über den Empfang von Noten der Bank seien gleichbedeutend mit
Quittungen über den Empfang von Geld. Auch bei Bankrotten seien
die Noten als Geld zu behandeln. Alfr. Schmidt, Gesch. des engl.
Geldwesens, 170/71.
Der Betrag der ausgegebenen Noten betrug aber die längste
Zeit im 18. Jahrhundert nicht viel mehr als 2 Mill. £ (entsprechend
der Höhe des Bankkapitals). Selbst 1780 waren erst für 8,41 Mill. £,
1796/97 erst für 9,67 hüll. £ Noten im Verkehr.
Diesen Ziffern müssen wir die Mengen Münzgeld gegenüber¬
stellen, die damals in England umliefen. Das waren aber, wie
wir noch genauer feststellen werden, annähernd 100 Mill. £.
Das Papiergeld verhielt sich also zu dem Hartgelde in England
in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts seiner Menge
nach wie etwa 1 zu 50, ein Verhältnis, das sich dann allmählich
zugunsten des Papiergeldes bis zum Schlüsse des Jahrhunderts
verschob, so daß es schließlich wie 1 zu 10 stand. Das ist aber
immer noch ein wesentlich anderes Verhältnis wie das heutige.
Heute haben wir (selbst in einem Lande wie Deutschland, das
eine starke Vorliebe für Metallgeld hat) in normalen Zeiten doch
nur etwa doppelt soviel Hartgeld im Lande wie Papiergeld.
Siebemmdzwanzigstes Kapitel
Die Kolonialpolitik
Vorbemerkung
Genau genommen bildet die Gründung großer Kolonialreiche, wie
wir sie seit den Tagen Venedigs und Genuas während des Mittelalters
und der neueren Zeit erleben, einen Teil der merkantilistischen Handels¬
politik und hätte deshalb in dem 24. Kapitel mit behandelt werden
müssen, wenn der Systematik des Aufbaus volle Genüge hätte ge¬
schehen sollen. Daß ich den Kolonien oder richtiger: der Kolonial¬
politik ebenfalls ein besonderes Kapitel widme, hat seinen Grund vor
allem in der außerordentlichen Mächtigkeit, mit der gerade dieser
Strom aus den merkantilistischen Gewässern in die Geschichte herein¬
bricht; dann aber auch in den vielen Besonderheiten, die sich von
allen Seiten an die kolonialen Bestrebungen ansetzen und ihnen eine
ganz selbständige Bedeutung verleihen, die sie zu einer ganz eigenen
Entwicklung hintreiben. Diese Sonderstellung des Kolonialproblems
hat seit jeher ihre Anerkennung auch in der Literatur gefunden, in¬
sofern sich eine außerordentlich reiche Spezialliteratur mit ihm immer
beschäftigt hat: ein letzter Grund, das Problem auch in dieser Dar¬
stellung abgeteilt von der allgemeinen merkantilen Politik zu er¬
örtern. Die Systematik des Werkes wird aber insofern gewahrt, als
dieses Kapitel sich in den Abschnitt einfügt, der vom Staate handelt,
so daß also alles, was hier über Kolonien und Koloniengründung zu
sagen ist, immer nur das ist, was mit dem Staat in einem unmittel¬
baren Zusammenhänge steht: Eroberung, Organisation, Verwaltung.
(Während die Bedeutung der Kolonial wirts chaft je an verschiedenen
andern Stellen des Buches gewürdigt wird.)
Endlich bedarf noch der Umstand eines Wortes der Erklärung:
daß ich meine Skizze des modernen Kolonialwesens mit den italie¬
nischen Kolonien beginne, und diese gerade so besonders ausführlich
dar stelle.
Die erste Tatsache hat einen inneren Grund: ich glaube wirklich,
daß mit der Besitzergreifung der Levante die Wendung vom Mittel-
alter zur neuen Zeit wenigstens für Italien einsetzt, und daß Dantes
Zeitalter nicht nur geistig, sondern auch wirtschaftlich und namentlich
staatlich als der Anfang der neuen Geschichtsepoche anzusehen ist:
nicht zuletzt gerade wegen der kolonialen Expansion der italienischen
Stadtstaaten. Wir werden sehen, daß auch die Kolonisation zunächst
durchaus in den Formen des mittelalterlichen Lebens einsetzt, was
ja aber, wie wir feststellen konnten, von aller Politik des modernen
Staates gilt, daß dann aber an den kolonialen Bestrebungen sich eine
Siebenundzwanzigstes Kapitel : Die Kolonialpolitik 431
moderne Einrichtung nach der andern , ein moderner Gedanke nach
dem andern emporrankt. Vor allem aber wäre auch das Kolonisations-
werk des Cinquecento in seinem inneren Aufbau ganz und gar un¬
verständlich ohne einen Einblick in die Grundlagen der italienischen
Levantekolonien. Daß ich ihnen dann einen verhältnismäßig so großen
Raum in meiner Darstellung widme, hat den äußeren Grund, daß man
von ihnen so wenig weiß : von all den ex professo die Geschichte des
Kolonialwesens behandelnden Werken haben die italienischen Kolonien
erst in dem neuesten eine nennenswerte Berücksichtigung gefunden,
nämlich in dem Buche von Morris.
Quellen und Literatur
Als Quellen kommen großenteils dieselben in Betracht, aus denen
wir unsere Erkenntnis der merkantilistischen Politik im allgemeinen
schöpfen. Von Materialsammlungen, die sich besonders auf die Kolonial¬
geschichte beziehen, seien zu den im 24. Kapitel genannten noch
folgende hinzugefügt: für die italienischen Kolonien (außer Tafel und
Thomas) H. Noiret, Docum. inedits pour servir ä l’histoire de la
domination venetienne ä Crete (Bibliotheque des ecoles franqaises
d’Athenes et de Rome fase. 21 [1892]). Mas Latrie, Histoire de
l’ile de Chypre. 3 Vol. 1851—61.
Für die spanische Kolonisation": Colleccion de documentos ineditos
relativos al descubrimento, conquista y colonizacion de las posesiones
Espanoles en America e Oceania. 1864 seg.
Für die holländische Kolonisation: De Jonge, Opkomst van hed
Nederlandsch gezag in Oostindie. 1862.
Für die englische Kolonisation : Calendar of State Papers. Colonial
Series.
Für die nordamerikanischen Kolonien insbesondere : Docum. relat.
the Colon. Hist, of the State of New York.
Viel Urkundenmaterial ist auch selbständig in neueren Monographien
veröffentlicht, wie ich am passenden Ort berichten werde.
Außer den „Urkunden“ kommen für die ältere Kolonialgeschichte
als Quellen vor allem auch die Reiseberichte in Betracht. Ich
begnüge mich, die beiden wichtigsten Sammlungen von Reiseberichten
aus dem Cinquecento namhaft zu machen: Ramus io, Delle navi-
gationi ec. 3. ed. 1563, und Rieh. Hackluyt, Principal Voyages
etc. 3 Vol. 1600.
Die Literatur über die Geschichte der Kolonien ist außerordent¬
lich umfangreich. Ich werde am geeigneten Ort die von mir benutzten
Werke anführen und nenne deshalb hier nur die ganz allgemeinen
Darstellungen. Mehr kolonialpolitischer, aber doch auch geschicht¬
licher Natur sind: H. Brougham, An inquiry into the colonial policy
of the European powers. 2 Vol. 1803; H. M er i vale, Lectures on
Colonization and Colonies. 1861 (beide Werke gehören noch immer
zu den besten Büchern über Kolonisationspolitik). Roscher und
Jannasch, Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung. 3.Aufl. 1885;
432
Zweiter Abschnitt: Der Staat
A. Zimmer mann, Kolonialpolitik, 1905 (vorwiegend historischen
Charakters). Wesentlich geschichtliche Darstellungen: Guillaume
F. T. Eaynal, Hist, philos. et politique des Etablissements et du
Commerce des Europeens dans les deux Indes ; öfters aufgelegt ; von
mir benutzte Ausgabe: 3 Vol. 1775. Paul Leroy-Beaulieu, La
colonisation chez les peuples modernes. 4Vol. 1891. Alfr. Zimmer¬
mann, Die europäischen Kolonien. 5 Bde. 1896 — 1908. Henry C.
Morris, The History of Colonization from the earliest times to the
present da}^. 2 Vol. 1904. Diese neueste Darstellung der Kolonial¬
geschichte ist zugleich die vollständigste. Sie enthält im Anhang eine
sehr gut zusammengestellte Bibliographie, auf die im übrigen zu ver¬
weisen ist. Eine umfassende Bibliographie der gesamten Kolonialliteratur
(auf 156 Seiten gr. 8 0 !) hat herausgegeben A. P. C. Griffin, List of
Books relating to the theory of colonization etc. 2. ed. 1900.
Zur Ergänzung dienen die Werke der historischen Geo¬
graphie, soweit sie die Entstehung der Kolonialreiche zum Gegen¬
stände haben. Zu den klassischen Büchern der deutschen Literatur
gehört das schöne Werk von Osc. Peschei, Geschichte des Zeit¬
alters der Entwicklungen. 1858. Die wichtigsten Erscheinungen der
neueren Zeit sind Sophus Buge, Das Zeitalter der Entdeckungen.
1881, und Al. Supan, Die territoriale Entwicklung der europäischen
Kolonien. 1906. Beide hervorragenden Werke befassen sich ihrer
Aufgabe entsprechend auch viel mit der (äußeren) Kolonialgeschichte.
Beide beschränken sich auf die Zeit seit dem 15. Jahrhundert. Supans
Darstellung ist chronologisch. Einen Gesamtüberblick gibt die
geistvolle Skizze von Ferd. Toennies, Die historisch-geographischen
Eichtungen der Neuzeit, im Weltwirtsch. Archiv Bd. 6, 1915, S. 307 ff.
Einen besonderen Zweig der allgemeinen kolonialgeschichtlichen
Literatur, der in dem Zusammenhänge dieses Werkes von ganz be¬
sonderer Bedeutung ist, bildet die Literatur über Sklaverei
und Sklavenhandel, über die ich aber weiter unten Angaben
mache.
I. Die Idee der Kolonien
Wenn man, wie es in diesem Buche geschieht, die Politik der
absoluten Staaten in ihren äußeren Formen als eine Fortsetzung und
Vollendung der Politik mittelalterlicher Städte betrachtet, so liegt
es nahe, die Kolonialgebiete, die sich um alle diese Staaten herum¬
legen, mit der „Landschaft“ zu vergleichen, über die sich wenigstens
die wirtschaftliche Machtsphäre der mittelalterlichen Stadt aus¬
dehnte: der Staat trat an die Stelle der Stadt, wie wir an un¬
zähligen Beispielen verfolgen konnten, und schuf sich nun in den
Kolonien ein Gebiet, das er ebenso ausbeuten konnte, wie die
Stadt die Landschaft ausgebeutet hatte : indem er es zwang, ihm
ausschließlich seine Erzeugnisse zu liefern und dafür die Pro¬
dukte des Staates aufzunehmen. Kein Zweifel in der Tat, daß
dieses Grundverhältnis zwischen Stadt und Landschaft in den
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik 433
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonie
wiederkehrt.
Läßt sich doch die Kolonialwirtschaftspolitik der meisten
europäischen Völker in folgende Sätze zusammenfassen:
1. Die Kolonien dürfen ihre Erzeugnisse nur an das Mutter¬
land liefern: „no sugar, tohacco, cotton-wool, indigo, ginger,
fustic and other dying woods, of the growth or manufacture of
our Asian, African or American colonies shall be shipped from
the said Colonies to any place but to England, Ireland, or to
some other of His Majestys said plantations, there be landed“ 1 :
das Straßenrecht!
2. Die Kolonien dürfen Erzeugnisse, namentlich gewerbliche,
nur aus dem Mutterlande beziehen: das Marktrecht!
3. Die Kolonien dürfen Produkte, die das Mutterland erzeugt,
selbst nicht hersteilen: das Bannrecht!
4. Das Mutterland behält sich das Transportmonopol vor.
5. Die Waren, die aus den Kolonien kommen, werden verzollt
(versteuert), wenn sie aus den Häfen der Kolonien aus- und wenn
sie in die Häfen des Mutterlandes einlaufen.
Aber dann, bei näherem Hinsehen, finden sich doch auch
wieder zahlreiche Abweichungen, weist das Kolonialverhältnis
wesentliche Unterschiede von dem alten Verhältnis der Land¬
schaft zur Stadt auf. Will man den Gegensatz, der zwischen
beiden besteht, mit dem Gegensatz der großen Wirtschaftsideen
in Verbindung bringen, so kann man sagen, daß das Expansions-
bedürfhis der mittelalterlichen Stadt von der Idee der Nahrung,
das der modernen Städtestaaten und Großstaaten von der Idee
des Erwerbes^geleitet und beherrscht war. Die alte Stadt wollte
so viel Land zu ihrer wirtschaftlichen Verfügung haben, als sie
für ihren Unterhalt brauchte, der selbst durch die ziemlich
konstante Einwohnerzahl nach Maß und Art bestimmt war.
Der moderne Staat kannte schon bei seiner Entstehung diese
natürliche Begrenztheit nicht : es ist eine uns bekannte Tatsache,
daß gerade eine Wesenseigentümlichkeit des modernen Staates
(dem wir die italienischen großen Städtestaaten immer zuzählen
müssen) in dem unbegrenzten Streben nach Ausdehnung sich
bemerkbar machte. Und diese Vergrößerungstendenz tritt dann
in der kolonialen Expansion recht eigentlich zutage. Daß
1 Art. XIII der Schiffahrtsakte vom Jahre 1660 (1. Karl II. c. 18)
bestätigt durch 25 Karl II. c. 7.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
28
434
Zweiter Abschnitt: Der Staat
dies© eine schrankenlose war, fand dann eine besondere Be¬
gründung noch in dem Ziele, dem alle Staaten bei ihren Beute-
zügen znstrebten: dem Golde/ Sobald und weil dieses sie alle
vornehmlich über ihre europäischen Grenzen hinauslockte, ergriff
sie derselbe Taumel nach "unbegrenztem Besitz , der die 'Wirt¬
schaftssubjekte erfaßte und sie aus den engen Kreisen des
Nahrungsideals herausschleuderte.
Dieser Drang leitet dann die Staaten in fast überall gleiche
Bahnen und läßt allerorts ähnliche Normen der kolonialen Herr¬
schaft sich entfalten.
H. Die Entstehung der Kolonialreiche
Wie sich im Laufe der Jahrhunderte die einzelnen Kolonial¬
reiche bildeten, wie die verschiedenen Staaten und Städtestaaten
sich die Gebiete der Erde nacheinander streitig machten, wie
bald diese, bald jene Macht die Vorherrschaft in den umstrittenen
Landesteilen besaß : das ist im allgemeinen bekannt und kann
hier nur andeutungsweise erzählt werden, ~
/Die Geschichte der modernen Kolonien nimmt ihren Anfang
mit den Kreuzzügen und der Ansiedlung der Europäer im heiligen
Lande.
Die Kreuzfahrer Staaten 1 selbst waren keine Kolonien im
modernen Sinne, wohl aber bieten sie die erste Gelegenheit
für die italienischen Städte, in die Poren fremden Volkstums
einzudringen und damit den Grund zu der späteren Kolonial¬
wirtschaft zu legen. Von den 1101 und 1104 eroberten Städten
Arsuf, Cäsarea und Accon erhielt Genua je den dritten Teil,
ebenso wie von dem umliegenden Gebiete. Ihm folgten Pisa
und Venedig, das seit 1100 am Kampfe beteiligt, 1110 von
dem reichen Sidon, 1123 von Tyrus je ein Drittel sich zusprechen
läßt1 2. Zu den Städten gehörte stets eine große Landschaft; be¬
saßen doch die Venetianer allein in der Umgegend von Tyrus
einige 80 Casalien3.
Von nun an war alles Sinnen und Trachten der großen, führen¬
den Stadtgemeinden Italiens auf Erweiterung ihres Kolonialbesitzes
in den Mittelmeergebieten gerichtet. Und es entstanden denn
auch Kolonialreiche von einer Mächtigkeit (im Vergleich natür-
1 E. Rey, Les colonies franques de Syrie aux XIl et XIII siede.
1883.
2 H. Prutz, Kulturgeschichte der Kreuzzüge (1883), 377 u.
3 H. Prutz, a. a. O. S. 390. Heyd 1, 170 f.
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik 435
lieh zu der Größe der Mutterstadt), wie sie die Weltgeschichte
— trotz Rom und England — wohl ein zweites Mal nicht ge¬
sehen hat.
Venedigs Kolonialbesitz erfuhr bekanntermaßen eine plötz¬
liche Ausdehnung infolge der Aufteilung des byzantinischen
Reichs , bei welcher die Lagunenstadt drei Achtel des riesigen
Gebietes erhielt h Damit kamen in seinen Besitz die Länder
Epirus, Akarnanien, Ätolien, die ionischen Inseln, der Peloponnes,
die gegen Süden und Westen gelegenen Inseln des Archipelagus1 2,
eine Anzahl Städte an der Meerenge der Dardanellen und am
Marmarameer, thrazische Binnenstädte wie Adrianopel u. a., Pera,
die Vorstadt von Konstantinopel, Kandia und bald nachher auch
das wichtige Cypern. Dieses Gebiet wurde dann im Verlauf der
Jahrhunderte fortgesetzt abgerundet durch Erwerbungen in Ar¬
menien, am Schwarzen Meer usw.
Hier jedoch hatte die Vorherrschaft Venedigs gefährlichste
Rivalin: Genua3. Die Genuesen besaßen in der Krim ebenso
wie auf dem Festlande ausgedehnten Grundbesitz. Den Mittel¬
punkt ihrer Kolonien am Schwarzen Meer bildete Kaffa, in dem
sie seit 1266 herrschten. Diese Stadt soll im 14. Jahrhundert
100000 Einwohner gezählt haben (?). Dann aber befanden sich in
den Händen der Genuesen, die ertragreichen Inseln Chios, Samos,
Nikaria, Önussa, Sa. Panagia, Teile von Cypem (Famagusta),
Korsika (bis 1768) und Sardinien, das Genua dann an das ara-
gonische Königreich verlor, Besitzungen in Spanien, in Griechen¬
land4, an der armenischen Küste, in Syrien und Palästina.
1 „Vint ä la part de Venise la quarte part et la moitie de la
quarte part de tout l’empire de Romanie.“ Le livre de la Conqueste.
Edit. Buchon (1845), 2L Die genannten Angaben siehe bei J. A. C.
Buchon, Recherches et materiaux pour servil’ ä une histoire de la
domination framyaise aux XIII., XIV. et XV. sc. dans les provinces
demembrees de l’empire grec. 1 (1851), 13 ff. Die Urkunden sind
abgedruckt bei Thomas und Tafel 1, 452 ff.
2 Hier herrschten die Sanudos, die sich ducs des douze lies nannten,
bis sie 1372 die Crispo ablösten. Buchon, 352 ff., 357 f. Man nannte
das „conquete de familles“.
3 Über den Genueser Kolonialbesitz unterrichten im Vorbeigehen
Heyck, Genua und seine Marine (1886), 154; Sieveking, Genues.
Finanzwesen 1, 178 f.; 2, 102; Cibrario, Ec. pol. 3 2, 280 (der ein
Ms. Semino, Mem. stör, sul commercio de’ Genovesi dal sec. X al
XV, zitiert), und natürlich auch Heyd.
4 Über die Besitzungen der genuesischen Familie der Centarioni
in Griechenland vgl. Buchon, 1. c. 304 ff.
28*
436
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Neben Venedigs und Genuas Kolonialreichen verschwinden
diejenigen der übrigen italienischen Staaten. Immerhin ist auch
der Kolonialbesitz von Pisa 1 2 und Florenz2, nicht unbedeutend
gewesen. Beide Städte waren seit dem 12. Jahrhundert in Syrien
und Palästina angesiedelt; Pisa hatte frühzeitig an der afrika¬
nischen Küste Fuß gefaßt und Florentiner Familien herrschten
in Griechenland3.
Als dann seit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges
nach Ostindien neue, große Kolonialreiche jenseits des Ozeans
entstehen, sind es, wie man weiß4, andere Nationen, die sie be¬
gründen: im 16. Jahrhundert vor allem Spanien und Portugal;
im 17. und 18. Jahrhundert Frankreich, Holland und England,
während die deutschen Staaten beiseite stehen und nur das
winzige Brandenburg einige vergebliche Versuche macht, sich
auch als Großstaat zu betätigen.
Die Spanier sind zeitlich die erste der modernen Kolonial¬
mächte. Ihr Besitz erstreckte sich schon im 16. Jahrhundert
über ganz Südamerika (ohne Brasilien), Mittelamerika und den
Südteil von Nordamerika von Kalifornien bis Florida, sowie über
einige kleinere Landstrecken in Afrika und der Südsee ; ein Ge¬
biet, das sie bis in das 19. Jahrhundert hinein besessen haben.
Im 16. Jahrhundert stand Spanien ebenbürtig zur Seite :
Portugal, das damals die West- und Ostküste Afrikas, die Küsten
des Arabischen Meeres einschließlich der Westküste Indiens,
einzelne hinterindische Küstenplätze , die Molukken und vor
allem das große Brasilien beherrschte. Dieser Besitz wurde aber
schon im 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert durch das Vor¬
dringen der übrigen Staat en stark ge schmäle rt._
Unter ihnen nimmt während der ersten Hälfte des 17. Jahr¬
hunderts die führende Stellung ein: Frankreich. Schöpfer des
französischen Kolonialreichs ist Richelieu (1624 — 1642). Als er
1 A. Main, I Pisani alle prime crociate (1893), zit. bei Toniolo,
L’ economia di credito e le origini del capitalismo nella rep. fior., in
der Riv. intern. 8, 37 f.
2 Toniolo, a. a. 0. Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 282.
Ida Masetti-Bencini, F. e le isole della Capraia e della Pianosa,
im Arch. stör. ital. Ser. V t. XIX (1897), p. 110 ff.
8 Im 14. Jahrhundert erlangt die Familie der Acciaiuoli die Herzogs¬
würde von Athen. Buchon, 346 ff.
4 Am übersichtlichsten findet man die Tatsachen der neueren
Kolonialgeschichte zusammengestellt in dem obengenannten Werke
von Al. Supan, 14 ff.
Siebenuudzwanzigsteg Kapitel: Die Kolonialpolitik 487
zur Regierung kommt, besitzt Frankreich nur Quebec, bei seinem
Tode: Kanada, Martinique, Guadeloupe, Dominique und andere
Antillen. 1682 wurde Louisiana begründet, und auch in Hinter¬
indien fa,ßte Frankreich festen Fuß. Der Zusammenbruch dieses
großen französischen Kolonialreichs erfolgte am Ende des 18. Jahr¬
hunderts, als Kanada in die Hände der Engländer fiel und (1803)
Louisiana an die Vereinigten Staaten verkauft wurde.
Im 17. Jahrhundert entstehen dann neben den französischen
Besitzungen die beiden größten Kolonialreiche der neueren Zeit :
das holländische und das englische.
Die Holländer verdrängen zum Teil die Spanier und Portu¬
giesen aus ihren Ansiedlungen und setzen sich im Laufe des
17. Jahrhunderts in Brasilien, Afrika und Ostindien fest, wo bis
dahin die Portugiesen gesessen hatten. Dazu aber erwarben sie
das Kapland und vor allem die Sundainseln.
Den Holländern folgen auf dem Fuße die Engländer, die ihnen
einen Teil ihrer Beute abjagen: New York, Ceylon, das Kapland;
während sie den Spaniern mehrere der westindischen Inseln,
den Franzosen Kanada und Vorderindien Wegnahmen, um dann
als die letzten auf ihrer reichen Beute sitzen zu bleiben.
In langwierigen, harten und erbarmungslosen Kämpfen sind
die Kolonien von jedem Staate erworben: sie sind erobert
worden.
Erobert worden sind die Kolonien im Kampfe mit den Eingeborenen,
erobert im Kampfe mit den eifersüchtigen, um die Wette streitenden
europäischen Nationen. Gewiß mag hier und da das diplomatische
Geschick mitgeholfen haben, um einem Lande Vorteile im Handel mit
einem fremden Volke zu verschaffen; wir kennen zahlreiche Verträge,
die mit den eingeborenen Fürsten abgeschlossen wurden, und in denen
die europäische Nation Privilegien aller Art zugesichert bekam. Be¬
sonders in den Levantekolonien, wo man es mit halb- und ganzzivili¬
sierten Völkern zu tun hatte, waren Vertragsschließungen häufig. Und
auch in den asiatisch- amerikanischen Gebieten kamen sie vor. Fran¬
zösisch hießen solche Verträge „Firman“, in denen (wie beispielsweise
in dem Firman aus dem Jahre 1692, den Destandes für die französische
Comp, des J. 0. in Chandemagor vom Mogul erwirkt) etwa folgendes
vereinbart wurde: Die Kompagnie zahlt dem Mogul 40 000 Kop., 10 000
sofort, 5000 in Jahresraten; die Franzosen erhalten das Recht, frei
zu handeln in den Provinzen Bengalen, Orissa und Behar ; mit den¬
selben Privilegien und auch denselben Gewohnheiten wie die Holländer;
sie zahlen wie diese 3 x/s °/o Douane.
Aber so vortrefflich derartige Abmachungen waren, getan war es
mit ihnen gewiß nicht. Schon daß sie von den Eingeborenen gehalten
wurden, setzte eine Machtentfaltung des vertragschließenden Landes
438
Zweiter Abschnitt: Der Staat
voraus, die dem Fürsten drüben genügende Achtung einflößte. Und
dann blieb ja immer noch der rivalisierende europäische Staat, der
jeden Augenblick bereit war, mit dem Schwert in der Hand sich seinen
Platz zu erkämpfen.
So ist schon die Kolonialgeschichte der Genuesen und Venetianer
eine Geschichte von ewigen Kriegen. Ein großer Teil des Buches von
H e y d ist der Aufzählung solcher Kämpfe gewidmet. Auch hier schon
bekamen gute Verträge diejenigen Staaten, die am trutzigsten auf¬
traten: „Während dieser Kämpfe beschränkte sich die Republik
(Venedig) im wesentlichen darauf, ihr Quartier in der Stadt Negrepont
in guten Verteidigungszustand zu setzen. Wahrscheinlich trug dies
dazu bei, daß sie im Jahre 1272, als abermals ein Vertrag auf zwei
Jahre mit Michael Paläologus abgeschlossen wurde, günstigere Be¬
dingungen erlangte.“ (He yd.) Und nicht minder die der westeuropä¬
ischen Nationen seit dem 16. Jahrhundert: Machtentfaltung durch
kriegerisches Auftreten blieb auch hier die Losung: „11 faudrait en-
voyer des vaisseaux du Roi afin de les faire voir sur les cötes et
surtout n’epargner ni poudre ni boulets , et c’est d’une grande con-
sequence afin d’abattre l’orgueil des Hollandais . . . , fomenter la guerre
entre Anglais et Hollandais et secourir toujours le plus faible . . . ; la
Comp, etant etablie une fois, il ne tiendra qu’au Roi d’etre le maitre
des Indes“ . . . heißt es in einer Denkschrift der Direktoren der fran¬
zösisch-ostindischen Kompagnie aus dem Jahre 1668. V. Kaeppelin,
La compagnie des Indes orientales (1908), 322.
Man weiß, daß seit dem 17. Jahrhundert es üblich wurde, die
staatlichen 'Hoheitsrechte, vor allem auch die Kriegsmittel, den privi¬
legierten Handelsgesellschaften zu übertragen, denen dadurch recht
eigentlich die Eroberung der Kolonien als Aufgabe anheimfiel, und
zwischen denen der Kampf um den Futterplatz (soweit er außerhalb
Europas entschieden wurde) zum Austrag kam. Daß in diesem Kampfe
die Größe der staatlichen Machtmittel letzten Endes die Entscheidung
gab, und daß der Sieg nicht von friedlichen Kaufleuten, sondern von
gewandten Geschäftsleuten und brutalen Seehelden erfochten wurde,
liegt auf der Hand.
„L’on connaitra par lä qu’il faut que les personnes qui sont ä la
tete des Compagnies dans les Indes, aient d’autres qualites que celle
qui regarde la fonction simplement d’un habile marchand: c’est un
Service mele, oü il est necessaire de savoir un peu de tout“ berichtet
der immer klar schauende F. Martin nach Hause. Kaeppelin, 63.
Und das hat für alle Nationen gegolten: die brutalsten, die rücksichts¬
losesten haben in dem Kampfe zuletzt den Sieg davongetragen.
Wie der Hergang bei dem Erwerbe kolonialen Besitzes war, dafür
liefert die Geschichte der afrikanischen Handelsgesellschaften ein be¬
sonders gutes, weil außerordentlich durchsichtiges Beispiel:
Zunächst wird Afrika von den Portugiesen besetzt. Daneben fassen
auch die Engländer festen Fuß : die Königin Elisabeth privilegiert eine
Gesellschaft. Die Engländer bauen nun ihr erstes Fort an der Gold¬
küste, dann am River Gambia, zur Zeit der Stuarts. 1621 wird die
holländisch-westindische Kompagnie errichtet, mit dem Rechte, alles
Siebemindzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik
439
Land an der afrikanischen West- und amerikanischen Ostküste in
Besitz zu nehmen; sowie mit dem alleinigen Recht, daselbst Handel
zu treiben. Da die Portugiesen die Plätze , die für die Gesellschaft
wichtig waren, schon in Besitz genommen hatten, so waren Zusammen¬
stöße unvermeidlich, und sie traten auch bald genug ein : 1637 erobern
die Holländer das erste portugiesische Fort in Afrika, bald alle andern,
die ihnen im Vertrage von 1641 formell zugesprochen wurden. Nun
sind aber die Engländer noch im Wege, und die Holländer beanspruchen
jetzt das Recht des Alleinhandels auch ihnen gegenüber: sie lassen
beständig zwei Kriegsschiffe an der Küste kreuzen, die auf ankommende
englische Handelsschiffe Jagd machen sollen: die Namen der gekaperten
Schiffe bei Postlethwayt, Dict. 1, 927. Es war nun klar geworden:
1. daß englische Privatkaufleute nicht gegen die vereinigte Macht
der holländisch -westindischen Gesellschaft aufkommen konnten;
2. daß auf einen Vertrag zwischen den beteiligten Staaten wenig
Wert zu legen war (ostindische Erfahrung!);
3. daß es nur ein Mittel gebe, gegen einen solchen Gegner wie
die holländisch- westindische Kompagnie zu bestehen: auch die eng¬
lischen Kaufleute gleicherweise zu einer Gesellschaft zusammenzu¬
schließen und dieser alle Machtbefugnisse und Privilegien zu geben,
deren sie bedürfte.
Das Ergebnis dieser Erwägungen war die Gründung der „Company
of Royal Adventurers of English trading into Africa“ im Jahre 1662.
Nun beginnt ein wohlgeordneter Kampf zwischen beiden Gesell¬
schaften : die Engländer legen nun auch Forts an, rüsten auch Kriegs¬
schiffe aus usw. Welcher Aufwand dabei in Frage kam, zeigen folgende
Ziffern: für Erbauung und Erhaltung der Forts an der afrikanischen
Küste verausgabte die Gesellschaft von 1672 — 1678 390 000 von
1678—1712 206 000 von 1712—1729 255 000 £, zusammen also
851000 £ in diesen 57 Jahren! Aber die Engländer wurden nun
auch in ihrem Besitze nicht mehr gestört. Postlethwayt, der nach
guten zeitgenössischen Quellen diesen Bericht gibt, fügt hinzu (Dict. 1,
725): „For 250 years past, it has been the constant policy of all such
European nations ... die fremde Länder entdeckt haben . . . to build
and maintain forts and castles; and in virtue of such possessions to
claim a right to whole Kingdoms and to tracts of land of a vaste extent
and to exclude all other nations from trading into or from them.“
Erst im Verlaufe unserer Epoche, im 18. Jahrhundert, fängt der
Vertrag“ mehr und mehr an Bedeutung als Machtmittel zu gewinnen:
die Gewalt weicht der List als vorherrschende Kategorie der Unter¬
werfung, und es sind wohl vornehmlich die Engländer, die diese neue
Form entwickeln. Aber für den größten Teil des frühkapitalistischen
Zeitalters gilt doch, daß die Gewalt der Waffen das Schicksal der
Staaten in Europa und in den Kolonien entschied ; gilt also der Satz :
Im Anfang war die Armee. .
Die Geschichte der Kolonien ist daher großenteils Kriegs-
geschichte, und die meisten Geschichtsschreiber sind sogar der
Meinung, daß es nur Kriegsgeschichte sei: daher man in den all¬
gemeinen kolonialgeschichtlichen Werken meist eine ausgiebige Dar-
440
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Stellung der Eroberungskriege findet. Zur Ergänzung füge ich noch
folgende Schriften hinzu, die sich ganz besonders mit den Kämpfen
um die Kolonien beschäftigen: vor allem ist für die Levantekolonie
hier das Buch von W. Heyd, Geschichte des Levantehandels. 2 Bde.,
1879, zu nennen, das sich fast ganz in der Aufzählung diplomatischer
und kriegerischer Aktionen erschöpft.
Ganz besonders dornenvoll waren in der weiteren Zeit naturgemäß
die Pfade der Bahnbrecher, also im Osten der Portugiesen. Über ihre
Erlebnisse berichtet treuherzig E. Saalfeld, Geschichte des portu¬
giesischen Kolonialwesens in Ostindien (1810). Eine sehr eingehende
Darstellung der Kämpfe der Portugiesen in Ostindien liefert neuerdings
H. Bokemeyer, Die Molukken, 45 — 79. Von älteren Beschreibungen
ist noch zu vergleichen de Veer, Heinrich der Seefahrer (1864), 86 ff.
Die spanische Kolonisationsgeschichte (als Eroberungsgeschichte)
hat in unübertroffener Weise dargestellt W. H. Prescott in seinen
beiden Werken: History of the Conquest of Mexico. 3 Bde, zuerst
1843, und History of the Conquest of Peru. 3 Bde,' zuerst 1847.
Ein sehr brauchbares Buch ist noch heute Arth. Helps, The Spanish
Conquest in America etc. 4 Vol., 1855 — 61. Von neueren Bearbei¬
tungen seien hervorgehoben die Werke von K. Häbler: Amerika,
in Helmolts Weltgeschichte Bd. I, 1899, und Geschichte Spaniens
unter den Habsburgern Bd. I, 1907.
Die Kämpfe der Holländer behandelt wiederum eingehend P. Saal-
feld in seiner Geschichte des holländischen Kolonialwesens, 1812,
ohne jedoch (sehr zum vorteilhaften Unterschiede zu den meisten
andern Kolonialschriftstellern) die wirtschaftliche Seite unberücksichtigt
zu lassen. Eine ausführliche Kriegsgeschichte der holländischen Kolonien
findet man bei G. C. Klerk de Heus, Geschichtlicher Überblick der
. . . niederl.-ostind. Komp. (1894), S. XI — XLVI. Zu vergleichen:
J. P. J. Dubois, Vie des gouverneurs generaux etc., 1763.
Über die Kämpfe der Franzosen enthält viel Material das öfters
zitierte Buch von Kaeppelin.
Die letzten Entscheidungskäxapfe wurden aber noch nicht
einmal in den überseeischen Gewässern, sondern wurden in Europa
ausgefochten. Ganz deutlich haben die meisten der zahllosen
Kriege, die das 17. und 18/ Jahrhundert erfüllen, handeis- oder
kolonialpolitische Veranlassungen, die, namentlich seit England
bestimmenden Einfluß gewinnt, immer ausschließlicher werden:
„Der heroische religiöse Befreiungskrieg der Niederländer vom
spanischen Joche ist bei Lichte besehen ein fast hundertjähriger
Kolonieeroberungskrieg in Ostindien und ein ebenso langer
Kaperkrieg gegenüber der spanischen Silberflotte und dem
spanisch - amerikanischen Kolonialhandel“ (S c h m o 1 1 e r). / Der
Krieg, den die Vereinigten Provinzen 1652 bis 1654 mit England
führten, war veranlaßt worden durch die Navigationsakte Crom-
wells ; als umgekehrt England im Jahre 1664 den Holländern den
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik
441
Krieg erklärte, war dies die Antwort auf das feindselige Verhalten
der holländisch-westindischen Kompagnie in Afrika. Louis XIV.,
dessen Kriege im allgemeinen freilich tiefer begründet waren als
in bloßen Handelsinteressen, fiel doch. 1672 in Holland ein, um
die Holländer für ihre maßlosen Repressalien zu strafen, die sie
gegen die Colbertschen Zolltarife ergriffen batten. Der spanische
Erbfolgekrieg war ebenso wie der große Koalitionskrieg von
1689 bis 1697 in erster Linie ein Kampf Englands und Hollands
gegen die Gefahr, die von Frankreich her und von der Ver¬
einigung des französischen Handels mit der spanischen Kolonial¬
macht drohte. Endlich fochten im 18. Jahrhundert wiederholt,
zuletzt und mit entscheidendem Erfolge einen Zweikampf aus
die beiden großen Kolonialmächte England und Frankreich. Daß
England in den Kriegen von 1756 — 1763 Sieger blieb, entschied
seine Vormachtstellung im Welthandel und im Kolonialbesitze.
TTb Die Nutzung der Kolonien
Verschieden gestaltete sich natürlich die Nutzung, je nachdem
es sich um die bloße Anlage von Faktoreien oder um Plantagen¬
betrieb oder um Ansiedlung handelte. Ansiedlung kam ja damals
im wesentlichen nur in den nördlichen der nordamerikanischen
Kolonien in Frage, während alle übrigen: sowohl die levanti-
nischen wie die späteren überseeischen Kolonien „Handels-6 oder
„Pflanzungs-“Kolonien waren. Deren Nutzung (die uns allein
hier angeht) erfolgte abermals in verschiedener Weise, je nach
dem Verwaltungssysteme, das die Staaten zur Anwendung
brachten. Wir unterscheiden deren zwei: die direkte staatliche
Verwaltung und die Vergebung an Kolonisationskompagnien.
Jene finden wir bei den venetianischen und später bei den
spanisch-portugiesischen, diese bei den genuesischen und dann
bei den Kolonien der Niederländer, der Franzosen und der
Engländer.
Die früheste Form der Kolonisationskompagnien ist die genuesische
Maona. Die berühmteste Mao na ist die von Chios, die im Jahre
1347 wie folgt zustande kam: eine zu andern Zwecken von Privat¬
reedern ausgerüstete Flotte hatte Chios erobert. Bei ihrer Rückkehr
verlangten sie, wie ausbedungen war, von der Regierung 203 000 Lire
Ersatz. Da die Regierung nicht zahlen konnte, so wurde am 26. Februar
1347 diese Schuld in die Compera oder Maona Chii verwandelt. Zur
Sicherheit und zur Verzinsung der Schuld wurden die Gläubiger mit
Chios und Phokäa belehnt. Zwei Jahrhunderte hindurch ist dann die
Maona im Besitz des dominium utile nicht nur von Chios und Phokäa,
442
Zweiter Abschnitt: Der Staat
sondern auch der Inseln Samos, Nikäa, Önussa und Sa. Panagia ge¬
wesen, und lange hat sie das Monopol des Mastixhandels von Chios
und des Alaunhandels von Phokäa besessen. Art. Giustiniani, bei
Ersch und Gruber, 316 ff., 327 ff. 1374 wird die Maona Cipri, 1403 die
Maona nuova Cipri begründet; 1378 wird Korsika einer Maona über¬
tragen; später auch die Krim. Vgl. Sieveking, Genues. Finanz¬
wesen 1, 177 ff; 2, 99 ff.
Seit dem 16. Jahrhundert tritt dann die große Handelskompagnie
auf, der wir in anderem Zusammenhänge schon begegnet sind und in
abermals anderem begegnen werden.
Aber im Kern ist das Kolonialsystem doch in all den Jahr¬
hunderten, seit die Italiener in der Levante festen Fuß faßten,
bis zum Untergang der großen Handelskompagnien und bis zur
Aufhebung der Sklaverei dasselbe gewesen, weil es auf folgenden
Grundlagen ruhte :
1. der Privilegierung, die hier in den Kolonien ihre
höchste Ausbildung erfahren hat. Wenn einer Handelsgesell¬
schaft die alleinige Ausnutzung einer Kolonie zugesprochen
wurde, so liegt die Form des Privilegs deutlich zutage. Aber
auch dort, wo wir keinen privilegierten Kompagnien begegnen,
finden wir das Privilegierungssystem in Anwendung. In den
Anfängen der italienischen Kolonisation, aber auch der spanisch¬
portugiesischen wird sogar das alte Feudalsystem ohne weiteres
verwendet, um einzelne Personen mit Vorrechten auszustatten:
es finden gleichsam „Belehnungen“ mit bestimmten Gebietsteilen
der Kolonie statt. Später tritt die .Regalisierung an die Stelle,
und einzelne Personen erhalten gegen Erstattung einer bestimmten
Pachtsumme das Recht zur Ausbeutung der Regale.
Über die feudalartigen Verteilungen in der Levante: Beugnot,
Mein, sur le regime des terres dans les principautes fondees en Syrie
par les Francs (Bibliotheque de l’ecole des chartes 3 ser. t. 5 [1854]);
H. Noiret, Doc. inedits pour servir ä l’kist. de la domin. venetienne
ä Crete (Bibi, des ecoles fran^. d’Athenes et de Rome 21 [1892]);
Heyd, a. a. 0. Vgl. 1. Aufl. 1, 336 ff.
Im spanischen Amerika heißen die „Lehen“ encomiendas , die zu¬
gehörige Bevölkerung repartiementos. Am ausführlichsten handelt über
die Encomiendas Arth. Helps, The Spanish conquest in America
3 (1857), 99 ff. ; daselbst (S. 135) findet sich auch die berühmte
Definition des repartiemento nach Ant. de Leon (Confirmaciones reales
parte I cap. I).
In den ■portugiesischen Kolonien sprach man von Kapitanien und
Sesmarias: H. Handelmann, Gesch. von Brasilien (1860), 47.
Eine besondere Art der persönlichen Verleihung von Vorrechten
waren die sog. Entdeckungsverträge. Solche Entdeckungsverträg»
schlossen die Fugger, die Welser, die Ehinger u. a. häufig ab. Eine
Siebemmdzwanzigstes Kapitel: Die Kolomalpolitik
443
ausführliche Wiedergabe eines derartigen Vertrages findet sich bei
K. Häbler, Geschichte der .Fuggers chen Handlung, 56 ff. Vgl. ferner
Herrn. A. Schuhmacher, Die Unternehmungen der Augsburg. Welser
in Venezuela usw., in der Hamburger Festschrift zur Erinnerung an
die Entdeckung Amerikas Bd. II, 1892, und K. Häbler, Welser und
Ehinger in Venezuela, in der Zeitschr. des Histor. Ver. für Schwaben
und Neuburg, 1895, S. 66 ff., und von demselben, Die überseeischen
Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter, 1903. Dazu die
Kritik von Franz Eulenburg in der Historischen Zeitschrift 1904,
S. 104 ff. Die reiche Literatur über die Beziehungen der Welser zu
Venezuela ist zusammengestellt von Victor Hantsch, Deutsche
Reisende des 16. Jahrhunderts, im 4. Hefte des I. Bandes der Leipz.
Studien aus dem Gebiet der Geschichte (1898), 17/18.
Ganz moderne Privilegierungen weist die Verwaltung der venetia-
nisclien Kolonien im 15. Jahrhundert schon in großer Fülle auf.
16. März 1429 wird dem Petrus Quirino das ausschließliche Recht
der Alaungewinnung auf der Insel Kreta auf zehn Jahre übertragen.
Noiret, Doc. ined., 327/28; 20. Juni 1465 desgl. zur Anlage eines
Bergwerks auf Kupfer, Silber oder Golderze dem Nicolao Genus.
Noiret, 495/96; 3. April 1480 desgl. zur Gewinnung von Nitrium
unter Gewährung eines Kredits von 300 Duk., ib. 547 ; 16. März 1445
findet eine Versteigerung des zehnjährigen Monopols für die Gewinnung
von Alaun statt, ib. 410; 31. Juli 1442 wird dem Thomas Quirino
und seinen Associes das Privilegium zur Einführung des Mastixbaums
nach Kreta erteilt, gleichzeitig wird ihm für die nächsten 20 Jahre
das alleinige Recht zum Anbau von Mastixbäxxmen zugesprochen, ib.
402 • 24. Juli 1428 wird dem Marcus de Zanono für die nächsten zehn
Jahre das alleinige Recht zuerkannt, Zuckerrohr auf der Insel Kreta
zu pflanzen, ib. 324/25, usw.
2. Die zweite staatliche Maßnahme, die aller Kolonialpolitik
der früheren Zeit ihr eigentümliches Gepräge verlieh, war die
Ausrüstung der Kolonisten — es mochten Einzelpersonen oder
Korporationen sein — mit einem außerordentlich starken
militärischen Apparat. Wir müssen uns alle kolonialen
Ansiedlungen jener Jahrhunderte mit Festungen besetzt vor¬
stellen, in denen meist eine starke Mannschaft mit reichlicher
Munition ihren ständigen Aufenthalt hatte, soweit nicht etwa die
Kaufleute oder Farmer selber die Verteidigung des Forts, das
sie allein schützte, unterhielten.
Das gilt wiederum gleichermaßen von den italienischen Kolo¬
nien in der Levante wie von denen der späteren Zeit. Um nur
ein paar beliebig ausgewählte Beispiele herauszugreifen: „Als
sehr bedeutend müssen wir uns nach der Schilderung Giov.
Bembos die venetianischen Befestigungen in Tana denken. Es
war nämlich nicht bloß das von den Venetianern bewohnte
Quartier in der Stadt selbst mit Mauern und Türmen umgeben,
444
Zweiter Abschnitt: Der Staat
sondern die Yenetianer besaßen aucb ein eigenes Kastell mit
zwei Türmen nnd von einem großen Graben umgeben, außerhalb
der Stadt auf einer Anhöhe, wohin sie sich, wenn die Stadt von
einem Feinde angegriffen wurde, mit ihrer Habe zurückziehen
konnten.“ 1 Und : Die holländische Faktorei in Bengalen „looks
more like a castle, being incompassed with deep ditches, full of
water, high stone walls and bastions faced with stone and mounted
with canon. Their spacious warehouses are also of stone and
apartments for the officers and merchants are large and com-
modious“ 2.
Die holländisch - ostindische Kompagnie hielt an ständigen
Truppen (Anfang des 18. Jahrhunderts) 12000/ Mann in ihren
indischen Besitzungen, während 100000 Einheimische für die
Waffe ausgebildet waren, um gelegentliche Verwendung zw. finden.
Regelmäßig mußten die großen Kompagnien auch ihre Kauffahrtei¬
schiffe in Kriegszustand halten, da sie ebenso oft als Kriegs¬
schiffe zu dienen hatten. Die Flotte der holländisch - indischen
Kompagnie bestand aus etwa 60 Seglern, „fit for Service“, mit
je 30 — 60 Geschützen ausgerüstet3 4 *.
Die Ausgaben der englisch- ostindischen Kompagnie für
Zivil- und — hauptsächlich! — Militärverwaltung einschließlich
Festungsbauten in der Provinz Bengalen beliefen sich beispiels¬
weise in den sechs Jahren von 1765 — 1771 auf 9 027 609
Die Stärke der militärischen Besatzung in den englischen
Kolonien während des 18. Jahrhunderts ist aus folgenden Ziffern
ersichtlich 6 :
Jamaica (1734): 7644 weiße Bevölkerung, davon 3000 Mann Be¬
satzung; 6 Forts;
Barbados (1734): 18295 weiße Bevölkerung, davon 4812 Mann
Besatzung; 21 Forts; 26 Batterien mit 463 Kanonen;
Leeward Islands (1734): 10262 weiße Bevölkerung, davon
militia 3772.
1 Heyd, 2, 376. 2 P o s tle thway t , Dict. 1, 241.
8 Ohslow Burrish, Batavia illustrata (1728), 327. Vgl. das
Kapitel „Seeschiffahrt“ im 2. Bande.
4 Fourth Report . . . on Administration of Justice in India, 1773,
p. 535, bei Dult, Econ. Hist, of India 3. ed., 1908, p. 46.
6 Bericht des Lord Comm. of Trade and Plantat. bei Anderson,
3, 203; Im Dict. des Postlethwayt (1, 728) findet sich eine ge¬
naue Übersicht über den Bestand an Forts, Ausrüstung, Munition,
Besatzung usw. an der afrikanischen Küste.
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik
445
3. Die Hauptsache war aber doch, daß die Staaten, die
Kolonien gründeten, ihre Machtmittel dafür einsetzten, daß die
Arbeit, die in diesen Kolonien von einheimischen oder fremden
Arbeitern zu verrichten war , und auf deren Ausnutzung , wie
Colon sehr richtig erkannte, als er Amerika entdeckt hatte, aller
Wert der Kolonien beruhte1: daß die Arbeit in der Form der
Zwangsarbeit vom Gesletze anerkannt wurde, das heißt also, daß
die Sklaverei in irgendeiner Gestalt als Arbeitssystem zu¬
gelassen war. Auf Sklaverei (oder Hörigkeit) ruhte die Kolonial¬
wirtschaft der Italiener in der Levante ebenso wie die der
Spanier, Portugiesen, Franzosen, Holländer und Engländer in
Afrika, Amerika und Asien. Über diese ist das nötige zu sagen
in dem 47. Kapitel,' das von der Kolonial Wirtschaft handelt
und als eine Ergänzung der hier gemachten Ausführungen anzu¬
sehen ist.
1 „Los Indias desta isla espaäola eran y son la riqueza della“ :
Memorial aus dem Jahre 1505.
446
Achtundzwanzig’stes Kapitel
Staat und Kirche
Vorbemerkung. Literatur
Durch das jeweils verschiedene Verhalten der Staatsgewalt den
Religionsgemeinschaften und Religionsbekenntnissen gegenüber sind
eigenartige Bedingungen für die Entfaltung des kapitalistischen Wbsens
geschaffen worden, weshalb es notwendig wird, die Beziehungen zwischen
Kirche und Staat, wie sie seit dem Ausgange des Mittelalters bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts oder zum Beginn des 19. Jahrhunderts sich
gestaltet haben, in den Grundzügen hier darzulegen. (Die Bedeutung
der religiösen Überzeugung für das Wirtschaftsleben ist dagegen
in einem ganz andern Zusammenhänge zu würdigen. Siehe die ein¬
schlägigen Kapitel in meinem „Bourgeois“, wo ich eine solche Würdigung
versucht habe.) Die Beziehungen des Staates zur Kirche üben nun aber,
zumal in der von uns überblickten Zeitspanne, auf die Gestaltung des
Wirtschaftslebens vor allem dadurch einen bestimmenden Einfluß aus,
daß sie über die Duldung oder Ausschließung der verschiedenen Re¬
ligionsgemeinschaften innerhalb des Staatsgebietes entscheiden. Was
wir also hauptsächlich zu verfolgen haben , ist , abgesehen von der
tatsächlichen Verbreitung der verschiedenen Religionssysteme über die
, Kulturvölker, die Herrschaft des Toleranz- oder Intoleranz prinzips in
den einzelnen Ländern zu den verschiedenen Zeiten. Unter diesem
Gesichtspunkt wähle ich aus der großen Literatur auch die wich¬
tigsten Werke aus.
Das Problem der religiösen Toleranz unter geschichtlichem
Gesichtspunkte versuchen in ganz allgemeinem Zusammenhänge zu be¬
handeln die Bücher von Franc. Ruff in i, La libertä religiosa. Vol. I.
Storia dell’ idea. 1901, und von Amadee Matagrin, Histoire de
la tolerance religieuse, 1905 ; beides gute Arbeiten, die aber doch das
Thema -keineswegs erschöpfen : dazu ist die Fragestellung eine zu vor¬
wiegend literarische. Eine Skizze ist die Darstellung bei Jules
Simon, La liberte. 2 ed. 1859. partie. In mehr philosophierender
und räsonierender Weise behandelt das Problem W. E. H. Lecky,
History of the rise and influence of the spirit of Rationalism in Europe.
Deutsch. 2 Bde. 1868. Mehr vom dogmatischen als vom historischen
Standpunkt aus erörtert das Problem Ernst TroeltscÜ, Die Sozial¬
lehren der christlichen Gruppen und Kirchen. 1912. Einen Überblick
geben die Art. „Toleranz“ in der Prot. Real.-Enc. (Verf. Friedberg)
und in Wetz er s und Weltes Kirchenlexikon. Bd. 11. (Katholisch.)
Für das Studium des wirklichen Verlaufs der Dinge ist man
immer noch auf die monographischen Bearbeitungen des Gegenstandes
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche
447
für die einzelnen Länder angewiesen. Diese findet man in jedem all¬
gemeinen Geschichtswerke sowie in jeder Kirchengeschichte. Aus der
Spezialliteratur seien folgende Schriften genannt:
Frankreich: Gottl. von Pole nz, Geschichte des französischen
Calvinismus. 5 Bde. 1857 ff. (nur bis 1629 geführt). Theod. Schott,
Die Aufhebung des Edikts von Nantes usw. 1885. Th. Buckle,
Hist, of Civil. 1. Vol. Ch. 8 — 14; das Werk von Matagrin.
Spanien: E. Schäfer, Beiträge zur Geschichte des Protestantis¬
mus und der Inquisition im 16. Jahrhundert. 3 Bde. (Bd. II u. III
Urkunden). 1902. Das vortreffliche Werk, das auf gründlichen Quellen¬
studien beruht, enthält in der Einleitung einen kritischen Überblick
über die einschlägige Literatur. In ihr hat jahrzehntelang eine
herrschende Stellung eingenommen Don Juan Ant. Llorentes
Historia critica de la Inquisicion de Espafia, die zuerst 1817 in
französischer Sprache erschien und dann oft aufgelegt und in viele
fremde Sprachen übersetzt ist: deutsch 1820 — 22. 4 Bde. Das Werk
hat lange Zeit als eine objektiv quellenmäßige Darstellung gegolten,
ist aber heute doch als stark tendenziös erkannt: siehe darüber
Schäfer, a. a. 0. 1, 24 ff. Zu vergleichen aus der nicht-zünftigen
Literatur ist noch Th. Buckle, 1. c. 2. Vol., Ch. I.
Encßand und die englischen Kolonien: Th. Buckle, 1. c. 1. Vol.
Ch. 7 und 2. Vol. Ch. II — VI (Schottland). James S. M. Ander¬
son, The History of the Church of England in the Colonies. 2. ed.
3 Vol. 1856 (sehr brauchbar). Zur Ergänzung dient Sanford H.
Cobb, The rise of religious liberty in America. 1902- Über den
Puritanismus insbes. Dougl. Campbell, The Puritan in Holland,
England and America. 2 Vol. 1892. Ezra Hoyt Byington, The
Puritan in England and New England. 1906: beides in ihrer Art vor¬
treffliche Darstellungen. Oft ist man aber doch noch heute genötigt,
zurückzugreifen auf das Werk von Neal, History of the Puritan.
5 Vol. 1822. Einen guten Gesamtüberblick gibt jetzt Henry W.
Clark, Hist, of Engl, nonconformity. 2 Vol. 1911/13.
Holland: Dougl. Campbell, 1. c. L o uis Ulb a c h, La Hollande
et la liberte de penser aux XVII et XVIII sc. 1884. Der Band enthält
drei Preisschriften, die alle drei ziemlich dürftig und phrasenhaft sind.
Deutschland: H. Landwehr, Die Kirchenpolitik Friedrich Wil¬
helms, des Großen Kurfürsten. Auf Grund archivalischer Quellen. 1894.
L. Keller, Der Große Kurfürst und die Begründung des modernen
Toleranzstaates. 1901, in dem Sammelwerk: Der Protestantismus am
Ende des 19. Jahrh., hrsg. von Pastor C. Werckskagen. Bd. I,
S. 229 ff. (eine vorzügliche Arbeit). G. Pariset, L’Etat et les
Eglises en Prusse sous Frederic Guillaume I (1713—1740). 1897
(behandelt hauptsächlich die kirchliche Organisation). C. F. Arnold,
Die Ausrottung des Protestantismus in Salzburg unter Erzbischof
Firmian und seinen Nachfolgern. 2 Bde. 1900 — 1901 (Schriften zur
Keformationsgeschichte Schrift 67 und 69). Vgl. auch O. Hintze,
Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen. Hist.
Zeitschr. Bd. 97 (1906, S. 67 ff.
448
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Ferner gehört hierher die Sektengeschichte und die Lite¬
ratur über die Emigranten, die ich aber in anderm Zusammen¬
hänge anführe.
Die Stellung der Juden ist in meinem Buche : Die Juden und
das Wirtschaftsleben (1911) erörtert.
I. Die Steigerung der Intoleranz
Der Geist der Duldsamkeit, der uns aus den Sitten der Re¬
naissance entgegenweht, hatte doch nur die wenigen feinen und
gebildeten Geister gestreift: er war nicht eingedrungen in die
Massen, er hatte aber auch diejenigen Mächte noch nicht er¬
griffen, von denen die äußeren Formen des menschlichen Zu¬
sammenlebens geschaffen werden. Er verflog wie ein Hauch, er
zerfloß wie eine Wolke am Himmel.
Die Zeit des Toleranzgedankens war noch nicht erfüllt.
Es war als sollte sich der Geist der Unduldsamkeit erst noch
einmal recht ausleben, ehe er aus der Geschichte verschwände.
Die Entwicklung der Staaten gerade auch durch das Walten der
Kräfte, die in der Renaissance zum Leben erwacht waren, drängte
zunächst noch auf die Verschärfung der religiösen Intoleranz
hin. Die Anfänge dieser Entwicklung liegen schon in den Jahr¬
hunderten des Spätmittelalters: die Reformation brachte dann
alle Keime zur vollen Entfaltung.
Was den Grund für die zunehmende Intoleranz abgeben
mußte, war zunächst das, was wir als die Verweltlichung der
Staaten bezeichnen können, die logischerweise zur Aufrichtung
eines Staatskirchentums führen mußte. „Das frühere Ver¬
hältnis zwischen der Kirche und dem weltlichen Arm verkehrte
sich ins Gegenteil; die Religion hatte als wertvolles instrumentum
regni ihre Kräfte in den Dienst der Politik zu stellen“ : das war
die einfache Konsequenz der Idee von der Absolutheit der
Fürstengewalt: wenn einmal die ganze Ordnung dem Landes¬
herrn anvertraut war, so konnte ihm die Ordnung der kirchlichen
Angelegenheiten nicht vorenthalten werden. Kirchengebiet und
Staatsgebiet fielen nun zusammen, ebenso wde Kirchengewalt und
Staatsgewalt, wie das Kirchliche und Politische sich in dem
Begriff einer christlichen Gesellschaft vereinigte.
Es ist bekannt, daß diese Bewegung etwa seit dem zweiten
Drittel des 14. Jahrhunderts zunächst in Spanien und Frankreich
sowie in einigen städtischen Territorien Deutschlands eingesetzt
hatte. Und man weiß ebenso, daß sie außerordentlich verstärkt
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 449
und belebt und recht eigentlich erst zum Ziele geführt wurde
durch die Vorgänge der kirchlichen Reformation : das Luthertum
drängte mit innerer Notwendigkeit zum Landeskirchentum hin1.
Aus dem Kirchentypus, der die Luthersohe Lehre kennzeichnet,
ergao sich die Uniformität/» Einheit /und allgemeine Herrschaft
dei Kirche , die bei der Unmöglichkeit einer europäischen oder
deutschen Gesamtreform schließlich in die Aufrichtung einheit¬
licher Landeskirchen ausmündete. „Sein — des Luthertums —
Fundament ist überall der Gedanke einer kirchlichen, von reli¬
giösen Ideen zwangsmäßig beherrschten Kultur ... So bleibt
das Zentrum seiner Soziallehren doch überall der Begriff der
Staatskirche.“
Trägt nun alles Landeskirchentum an sich schon den Keim
zur Intoleranz in sich 2, so wurde diese zu rascher Entwicklung
gebracht durch die Gestaltung, die die religiösen An¬
schauungen selber während des 16. und 17. Jahr¬
hunderts erfuhren. Was da an neuen Glaubensgemeinschaften
erwachsen war, war von einer harten Unduldsamkeit erfüllt : eine
mehr wie die andere. Und im Kampf mit den Häretikern gewann
der Katholizismus natürlich auch wieder an Unversöhnlichkeit und
Sprödigkeit : Calvin und Ignatius von Loyola stellen zwei Seiten
derselben Sache dar.
Dem Luthertum hatte vielleicht in seinen Anfängen, seinem
innern Wesen entsprechend, eine Tendenz zur Toleranz inne¬
gewohnt: Luther erwartete, daß die Macht des Wortes die
Universalität des Bekenntnisses herbeiführen werde. Da diese
Hoffnung aber getäuscht wurde, so mußte auch er zu Zwangs¬
maßregeln greifen, die er, wie die katholische Kirche, nicht durch
die Kirche, sondern durch den Staat ausüben ließ. Die Kultur
des Protestantismus wurde ebenso eine „Zwangskultur“ (E.
Troeltsch) wie die mittelalterliche. Und so forderte Luther
schließlich die Beseitigung aller die Ordnung des christlichen
Gemeinwesens störenden Häresien mit Gewalt durch die Obrig¬
keit. „Was den Rebellen bestraft und gewaltsam beseitigt, ist
nicht die Kirche als solche, sondern das aus ihr folgende Ideal
einer universalen Herrschaft der absoluten und allein selig-
1 Das ist unlängst wieder mit feinem Verständnis aus dem Wesen
der Lutherschen Lehre abgeleitet worden von E. Troeltsch/ a. a. 0.
S. 516 f. und öfters.
2 Siehe die feinsinnigen Bemerkungen von C. B. Hundeshagen,
a. a. 0.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
Zweiter Abschnitt: t)er Staat
machenden Wahrheit über die Gesellschaft, der absolutistisch-
objektive Wahrheitsbegriff und die von ihm getragene allgemeine
christliche Gesellschaftsidee.“1 2 . . ,
Diese selben Anschauungen, nur um einige Nuancen dusteiei,
finden wir dann bei den übrigen protestantischen Glaubens¬
gemeinschaften wieder: mit fürchterlichem Ernst vertritt die
Idee der Strenggläubigkeit und damit der völligen Unduidsa
keit Calvin. Nachdem er Mich. Servet wegen dogmatischei Drtt
renzen hatte verbrennen lassen, verteidigte _ er sein Vorgehen m
einer Schrift ' (1 554) : „ubi ostenditur haereticos jure gladn coei
Und Calvinscher Geist lebte ja dann in den Puritanern weiter .
sie lehnen jedes Entgegenkommen gegen Andersgläubige grün -
sätzlich ab: „A toleration is the grand design of the devil, his
master piece and chief engine he works by at this time to up-
hold his tottering Kingdome ; the most compendious, ready, suie
way to destroy all religion lay all waste and m bring all evi . . .
Ebenso ist für John Knox die Ketzerei em mit der Todes¬
strafe zu belegendes Verbrechen.
Wie dann auch der staatlich approbierte Protestantismus m
England um jene Zeit durch seine offiziellen Vertreter die Un¬
duldsamkeit verfechten ließ: „Liberty of conscience heißt es m
einer Streitschrift eines Hochkirchlers aus dem Jahre 1081, „is
an instrument of mischief and dissettlement . to stnve tor
toleration is to contend against all government.
Diese letzten Worte weisen uns aber noch auf einen andern
Umstand hin, der die schroffe Unduldsamkeit dieses Zeitalters
uns erklärlich macht. Es scheint fast, als ob die Glaubensgegen¬
sätze allein, so sehr wir verstehen, wie ihr Austrag die Geis er
zum Fanatismus aufstacheln mußte, doch nicht stark genug ge¬
wesen wären, um die langen und erbitterten Kämpfe herbeizu¬
führen, von denen alle Länder im 16. und 17. Jahrhundert eifia t
sind. Als ob erst die Verschlingung der religiösen mit den
politischen Interessen jene ungeheure dynamische Wirkung
hätte ausüben können. Denn das ist ja jedenfalls das Kennzeichen
dieser Jahrhunderte: daß sich m den Keligionskampfen auch
immer erbitterte politische Gegner gegenüberstehen; wie denn
auch umgekehrt alle großen politischen Bewegungen jener Zeit
1 E. Troeltscli, a. a. 0. S. 472. ,1ß.rv
2 Aus der bekannten Streitschrift Edwards: Gangraena (164u),
121; zit. bei Anderson, Ckurch 2, 233.
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 451
einen religiösen oder kirchlichen Charakter tragen h Wir können
uns gar nicht vorstellen, daß ein Mann wie Richelieu soviel
Feindschaft gegen eine reine Religionsgemeinschaft gehabt haben
sollte, wie er in der Niederwerfung der Hugenotten offenbarte,
hätte er in diesen nicht vor allem die aufrührerische, in starken
Plätzen zum Widerstand vereinigte politische Partei bekäiüpft:
„ce furent lä les citadelles de cet Etat dans l’Etat que redoutait
Richelieu.“
Wie denn gleicherweise die Spannungen zwischen Protestanten
und Katholiken in Deutschland, zwischen Episkopalen und Pres¬
byterianern in England niemals jene Stärke hätten annehmen
können, wären die Parteien nicht ebenso sehr nach politischen
wie nach religiösen Anschauungen gebildet worden.
Aber wo die Intoleranz ihre Wurzeln hatte, war am Ende
für die Wirklichkeit des Lebens gleichgültig : für diese war ent¬
scheidend, daß zwei Jahrhunderte lang die Politik der Staaten
darauf eingestellt war: eine Religionsgemeinschaft — die an¬
erkannte Staatskirche — zur alleinherrschenden zu machen und
demgemäß allen Häretizismus zu unterdrücken und die Häre¬
tiker, wenn nicht zu verbrennen, so doch zur Auswanderung zu
zwingen.
So lautete das Programm der katholischen, so das der pro¬
testantischen Staaten.
Spanien war mit dieser Politik vorangegangen : hier hatte das
Inquisitionstribunal zuerst seine Wirksamkeit entfaltet; hier war
die Ausschließung der Andersgläubigen am rücksichtslosesten
erfolgt: im Mutterlande, wie auch vor allem in den nieder¬
ländischen Besitzungen.
In Frankreich beginnt die Gegnerschaft gegen die Protestanten
unter Franz I., der anfangs unter dem Einfluß seiner Schwester
Katharina von Navarra mit den Reformatoren sympathisiert hatte.
Aber seit 1535 wird die Ära der Verfolgungen eröffnet, die sich
nun anderthalb Jahrhunderte mit kurzen Unterbrechungen fort¬
setzen; noch unter Franz I. werden im Kampf mit den Vaudois
3000 Menschen getötet, Städte und Dörfer verbrannt, so daß
Voltaire seine Schilderung mit den Worten schließen konnte:
„la contree demeura deserte et la terre, arrosee de sang, - reste
sans culture.“ Dann kam (unter Heinrich II.) die Inquisition
1 H. Delbrück, Über den politischen Charakter der englischen
Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert, in der Histor Zeitschr. Bd. 36;
wieder abgedruckt in den „Aufsätzen“ 1887. '
Z9*
Zweiter Abschnitt: Der Staat
452
ins Land; 1548 eröffnet die Chambre ardente ihre Sitzungen;
1559 ergeht das Edikt von Ecouen, das die Richter zwingt, jeden
Lutheraner wegen seines bloßen Bekenntnisses zum Tode zu
verurteilen. Die Zeit Heinrichs IV. bedeutet nichts als einen
kurzen Waffenstillstand in diesem Kampf auf Leben und Tod,
der unter Richelieu und Ludwig XIV. , nicht zuletzt aus poli¬
tischen Gründen : innerpolitischen, wie wir sahen, aber auch aus
kirchenpolitischen Gründen1, seinen Höhepunkt erreicht: 1681
beginnen die Dragonaden, die Aufhebung des Edikts von Nantes
(1685) schließt die Reihe der Maßregeln, die den Protestantismus
in Frankreich ausrotten sollen, ab.
In j England, wo die Reformation seit 1582 ihren Einzug ge¬
halten hatte, sind die A^ts of Supremacy and Conformity (1558/59)
und die 39 Artikel (1562) die ersten Schritte zur Konsolidierung
der Staatskirche, gegen die sich alsobald die Dissenters erheben:
in die Jahre 1563/64 müssen wir die Entstehung der Puritaner
ansetzen (von denen sich Ende der 1570 er Jahre die — später
Independents genannten — Brownists ablösen); in das Jahr 1567
fällt das erste Vorgehen gegen die Non-Conformists 2 *, als mehr
als 200 Personen während des Gottesdienstes in Plumners Hall
verhaftet werden. Die Exkommunikation der Elisabeth (1569)
gibt andererseits Anlaß zu scharfen Gesetzen gegen die Katho¬
liken8. Die Gegensätze zwischen der Hochkirche und den Dis¬
senters spitzen sich nun, wie bekannt, unter den Stuaits immei
mehr zu: die Wirksamkeit der Westminster Assembly of Divines
(seit 1643) 4 ist ein deutlicher Ausdruck ihrer Schärfe ; . steigern
sich während der Zeit des Commonwealth noch weiter und
bleiben dieselben während der Restauration: 1664 wird noch ein
Gesetz erlassen, das alle über 16 Jahre alten Personen mit Ge¬
fängnis oder Verbannung bestraft, die einem andern als dem hoch¬
kirchlichen Gottesdienste beiwohnten5 *.
Mit Verbannung werden die Ketzer bestraft: mit Verbannung
i C’est moins peut-etre par le fanatisme de la cour de Louis XIV
que par les scrupules du roi , luttant alors contre la papaute pour
PEglise gallicane, qu’il faut expliquer le paroxisme de persecutions
qui preceda la revocation de l’edit de Nantes.“ Michele t, Hist.de
France t. XII p. 245.
a Hallarn, Const. Hist. 1 (1827), 246.
8 Abgedruckt ebenda 1, 185 seq.
4 Anderson, Church 1, 425 — 428.
5 Vgl. noch H. Levy, Die Grundlagen d. ökon. Liberalismus, in
der Gesch. der engl. Volkswirtschaft (1912), 8 ff.
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 453
in die Kolonien, in denen — teilweise wenigstens — die Non-
Conformisten Buhe fanden: 1617/1019 waren die nach Holland
geflüchteten Puritaner nach Amerika gekommen und hatten hier,
auf Grund einer von der Virginia Co. ihnen gewährten Charter,
die Kolonie Massachusetts gegründet, nach deren Muster dann
später Connecticut, Long Island und andere „Neu -England-“
Staaten sich bildeten. Hier also fanden die aus England ver¬
triebenen Ketzer Unterkunft, und hier konnten sie nun selbst
all die Intoleranz ausüben, unter der sie vorher gelitten hatten :
die Neu-Englandstaaten wurden die unduldsamsten Staaten, die
es gegeben hat. Mit grausamer Härte wurden alle Bichtungen
verfolgt, die nicht den Presbyterianismus vertraten. So ver¬
bannen die Gesetze von 1652 und 1657 die Quaker: diese Cursed-
sect, deren Anhänger, wo sie betroffen werden, mit dem Tode
zu bestrafen sind 1.
In andern englischen Kolonien, in denen die Hochkirche die
anerkannte Staatskirche war, wurden ebenso wie im Mutterlande
die Dissenters verfolgt. So in Virginia, wo im Jahre 1631 ein
Act der General Assembly verfügt: „that theire bee a uniformitie
throughout this colony both in substance and circumstances to
the canons and Constitution of the Church of England as neare
as may bee“ 2, daher Feindschaft gegen die Puritaner, die an¬
fangs freundlich aufgenommen werden, und schließlich ein Gesetz,
das die Ausweisung aller Non-Conformists verfügt3.
In Deutschland erleben wir dasselbe Schauspiel. Hier gehen
die Städte mit scharfen Erlassen gegen die Unkirchlichkeit und
Häresie voran: eine unmittelbare Wirkung des immer mehr um
sich greifenden Gedankens des Landeskirchentums.
Schon 1531 wird im Vorwort zu der 0. für das lübeckische
Landgebiet als Pflicht der Obrigkeit, deren Versäumnis göttliche
Strafgerichte über sie herabziehen müsse, die Sorge für die Reinheit
der Lehre und des Kultus hingestellt. Ae in. L. Richter, Die
evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (2 ßde. 1846)
1, 149 ff. Im gleichen Jahre geht die Kirchen-O. der Stadt Goslar
mit der Strafe der Landesverweisung gegen Zwinglische und wieder-
täuferische Lehren im Namen von „Bürgermeister, Rathmannen, Gilden
und Gemeinde“ vor. Richter 1, 154. Nach der Straßburger Kirchen-
0. von 1534 haben die „Kirchspielpfleger“ im Namen des Magistrats
Wachsamkeit zu üben gegen Abweichungen von der Augsburgischen
Konfession, ferner über Kirchenbesuch und Teilnahme am Abendmahle.
1 Anderson, Church 2, 211 seq. Vgl. 2, 157 ff. 175 ff. 210 ff.
2 Anderson, 1. c. 1, 462. 3 Anderson, 1. c, 2, 7 ff.
454
Zweiter Abschnitt: Der Staat
A. a. 0. 1, 231. 237. Ebenso lauten die Bestimmungen in andern
städtischen Kirchenordnungen.
Aber auch die Fürstentümer blieben nicht zurück.
Bereits 1527 sieht es der Herzog von Liegnitz als seine Ver¬
pflichtung, und zwar bei Vermeidung des göttlichen Zorns, an, „in
dem was das Seelenheil anbetrifft, allen Fleiss fürzuwenden, dass
seine Untertanen mit dem reinen, klaren Worte des heiligen Evan¬
geliums . . . versorget werden“. A. a. 0. 1, 247 f. Ähnliche Worte
enthalten die Kirchenordnungen von Hessen, Württemberg, Braun¬
schweig u. a. A. a. 0. Bd. II. Im Chursächsischen Generalartikel
von 1557 heißt es: „wo einer oder mehr anders lehren . . . der oder
dieselbigen sollen in seiner Churf. Gn. Landen länger nicht geduldet,
sondern nach Gelegenheit des Irrtums, Verführung und Verwirkung
in gebührliche Strafe genommen werden.“ Vgl. auch noch C. B.
Hundeshagen a. a. 0.
Im engen Zusammenhänge mit der Steigerung des religiösen
Empfindens in der Christenheit steht die feindselige Behandlung,
die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Juden in ver¬
schiedenen Ländern wieder einmal zu erdulden haben. Sie werden
aus Spanien (1492 ff.), Portugal (1497), aus verschiedenen deutschen
und italienischen Städten (im 15. und 16. Jahrhundert) vertrieben.
Daß diese Politik der Unduldsamkeit und der Verfolgung,
wie wir sie alle Staaten während der Zeit der Gegenreformation,
in der der Kapitalismus in starker Entwicklung sich befand, be¬
folgen sehen, auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens einen
bestimmenden Einfluß ausüben mußte, läßt sich von vornherein
annehmen und wird von mir im weiteren Verlauf dieser Darstellung
je an der geeigneten Stelle nachgewiesen werden. Hier will
ich nur die Richtungen andeuten, in denen wir vornehmlich die
Wirkungen der Litoleranz suchen müssen. Ich denke, diese
Wirkungen sind :
1. innerlicher Natur: das religiöse Empfinden wird auf
das äußerste gesteigert; der religiöse Fanatismus erlebt seine
vielleicht stärkste Ausbildung. Im Gegensatz der verschiedenen
Dogmen untereinander schärft sich aber auch der Sinn für die
o
feinerenNuancen des religiösen Erlebnisses: wir beobachten nament¬
lich in England eine wucherische Entfaltung der Sektenbildung :
zum Teil als unmittelbare Folge des äußeren Kampfes der ver¬
schiedenen Religionsgemeinschaften. Die englischen Sekten sind
vornehmlich in den Anfängen des Bürgerkrieges entstanden, als
Reaktion gegen das Verhalten des Langen Parlaments und der
Assembly of Divines : als der alte Kultus beiseite geschoben, ein
neuer aber noch nicht fertig war: „during which time, no wonder
*
Achtmi (Zwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 455
sects and divisions arrived to such a pitch that it was not in
their power afterwards to destroy them.“ 1
Die Wirkungen der Intoleranz sind:
2. äußerlicher Natur. Solcher können wir — allgemeiner
Natur — vornehmlich drei verfolgen, die von allergrößter Be¬
deutung für die Entwicklung des Kapitalismus geworden sind :
a) das Ketzertum als soziale Erscheinung;
b) die Wanderungen von Land zu Land, zu denen die Ketzer
gezwungen wurden ;
c) die Kriege, zu denen die Religionsstreitigkeiten während
des 16. und 17. Jahrhunderts in allen Ländern den Anlaß
boten.
Zu ihnen gesellt sich ein für England besonders wichtiges
Ereignis :
d) die Aufhebung der Klöster und die Einziehung des Kirchen¬
gutes unter Heinrich VIII.
H. Die Entwicklung des Toleranzgedankens
In derselben Zeit, in der die Menschen sich wegen nichtiger
Unterschiede im Bekenntnis zu Gott zerfleischten, glomm der
Gedanke der Toleranz unter der Asche weiter, bis er end¬
lich zur Flamme emporschlug.
Die Gründe, die den einzelnen zur Duldung fremder Mei¬
nungen, insonderheit eines fremden Glaubens veranlassen, können
mannigfaltiger Natur sein und sind offenbar auch mannigfaltiger
Natur gewesen, als sich in unserer Geschichtsepoche der Gedanke
Bahn brach. Wenn Ficinus oder Montaigne religiöse In¬
differenz zu toleranten Männern machte, so war es bei vielen
gerade die religiöse Überzeugung selbst, die sie zur Tolerierung
anderer Religionen führte: wie im 17. Jahrhundert etwa Balzac
oder Milton oder Jeremy Taylor oder William Penn.
Andere, wie Bayle, gelangten auf dem Wege logischer Deduk¬
tionen zu einer weitherzigeren Auffassung. Männer wie der
Kanzler L’Hopital, wie die „Politiker“ in Frankreich wünschten
eine Politik der Duldsamkeit herbei, weil sie die schweren poli¬
tischen Schäden wahrnahmen, die aus der Entzweiung der Na¬
tionen erwachsen. Noch andere stellten die wirtschaftlichen
Gesichtspunkte in den Vordergrund, wenn sie für die Duldung
der verschiedenen Religionsgemeinschaften eintraten: ich denke
1 Neal, Hist, of the Puritans 2, 271.
450
Zweiter Abschnitt: Der Staat
an Männer wieVauban oder Willem IY. von Holland, aber
auch an Cromwell, als er die Juden hereinließ, oder an Jakob II.,
der in seiner Indulgenzerklärung (1687) meinte : „persecution was
unfavourable to population and to trade , oder an die allei
katholischste österreichische Kaiserin, die verfugte, den Alt¬
katholiken, die sich im Lande nicht ansässig machen konnten,
sei „der Weeg zu eröffnen, sich in erbländische Handelssocie-
täten einzulassen, solchenfalls aber, . . . ihnen der jeweilige
Aufenthalt ihrer Handelsgeschäfte wegen ... zu gestatten“ h
Oder das allgemeine Staatsinteresse gab den Ausschlag, wie bei
Friedrich Wilhelm I., als er den Salzburgern Zuflucht ge¬
währte 1 2.
Wir können an der Art und Weise, wie gerade der Toleranz¬
gedanke sich im Leben Geltung verschafft, deutlich wahrnehmen,
welche Mächte letzten Endes über die Gestaltung dieser Menschen¬
welt entscheiden; wir können ganz genau verfolgen, wie dieser
Gedanke solange ohne Wirkung bleibt, als er nur in den Köpfen
und Herzen wohlwollender Menschenfreunde lebt, wie er sich
erst Bahn bricht in dem Augenblick, da er von starken Inter¬
essen, sei es staatlichen, sei es wirtschaftlichen, unterstützt und
befördert wird; in dem Augenblicke aber auch, wo er als Not¬
wendigkeit sich aus den Widersprüchen ergibt, in die sich die
Politik der Intoleranz verwickelt hatte.
Hier ist nicht der Ort, die Genesis des Toleranzgedankens
und seines Eindringens in die Politik der modernen Staaten zu
verfolgen. Es muß genügen, wenn wir uns die wichtigsten
Etappen ins Gedächtnis rufen, die seinen Siegeszug bezeichnen.
Man wird nicht irre gehen, wenn man Wilhelm v on Oranien
den ersten Fürsten nennt, der das Toleranzprinzip grundsätzlich
vertritt, und die Sieben Provinzen als den ersten Staat bezeichnet,
in dem die religiöse Duldung einen wesentlichen* Bestandteil der
Politik gebildet habe. Mit vollem Rechte konnte Willem IY. in
seiner Propositie ter Generaliteit erklären3: Toleranz sei gewesen
1 Ptibram, Österr. Gewerbepol. 1, 146.
2 Bekanntlich besteht seit Menschengedenken ein heftiger Streit
über die Motive, die Friedrich Wilhelm I. zu jenem Schritte veranlaßt
haben sollen: ob berechnende Politik oder religiöses Mitgefühl. Noch
jetzt wieder polemisiert Arnold gegen Pariset. Mir scheint
Paris et für diesen Fall das richtige zu treffen, wenn er schreibt:
bei dem preußischen Könige habe gewiß „une intime Union des sentiments
religieux et des interets materiels“ bestanden: P ar i s e t , 1. c. p. 797.
3 Zit. bei Koenen, Geschiedenes der Joden in Ned. (1843), 156/5/.
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 457
von Anbeginn an „de standvastige Staatkunde van de Republiek,
oni deze landen te maken tot eene veilige en altoos verzekerde
vnjplaats voor alle vervolgde en verdrukte vreemdelingen“. So
wurde, wie Bayle es ausdrückte, Holland zu einer Arche,’ die
die allerorts Schiffbrüchigen aufnahm. Und kaum hundert Jahre
nach der Utrechter Union, zu einer Zeit, als das übrige Europa
noch von den Flammen der Religionskriege blutrot beschienen
war, schildert uns ein helläugiger Beobachter die Zustände in
den Niederlanden wie folgt*: . . . les Juifs ont leurs Sinagogues
a Amsterdam et ä Rotterdam, il n’y a point de secte qui soit
connue parmy les Chrestiens qui n’ait ses Assemblees publiques
, ans la premiere de ces deux places . . . “ „L’on a de la peine
a s imaginer comment cette violence et cette aigreur , qui est
comme mseparable de la diversite des Religions dans les autres
pais, semble estre appaissee et adoucie en celuy-cy, ä cause de
la liberte generale , dont tont le monde joüit ou par adveu ou
par connivence.“ „II se peut que la Religion fasse plus de bien
en d autre pays ; mais c’est en celuicy oü eile fait le moins de
mal.“
A on dem Mutterlande aus ist dann die Idee der Toleranz
auch in die holländischen Kolonien übertragen worden: das erste
Abkommen mit einer kolonialen Bevölkerung, in dem neben
dem Monopol des Gewürzbezuges freie Religionsausübung aus¬
drücklich ausbedungen wurde, ist der Vertrag mit der kleinen
Republik auf Banda vom Jahre 1602 2.
Aber an einer andern Stelle brach, ohne Zusammenhang mit
dem Vorgehen der Holländer, eine zweite Quelle der Toleranz
auf: m den englischen Kolonien , zunächst denen in Nordamerika.
Diese weisen neben .den Typen unduldsamer Puritanerstaaten
und ebenso unduldsamer Hochkirchstaaten einen dritten Typus:
den der religionsparitätischen oder wenigstens religiös-duldsamen
Staaten auf. Die erste Kolonie, die das Prinzip der Toleranz in
Gesetzgebung und Verwaltung aufnahm, war wohl das von dem
katholischen Lord Baltimore gegründete Maryland , dessen
Assembly (zwischen 1637 und 1657) für Governor und Council
folgende Eidesformel beschließt: „I will not, by myself or any
othei , directly or indirectly trouble , molest or discountenance
any person professing t’o believe in Jesus Christ, for or in respect
1 "William Temple in seinen Remarques sur l’estat des pro-
vmees unies des Pai's-bas, faites en Pan 1672 (1674), 263. 270.
J. L. Motley, Hist, of the United Netherlands 4 (1867), 109.
458
Zweiter Abschnitt: Der Staat
of religion.“ 1 Ein Akt von 1649 bestätigt diese Auffassung, der
zufolge sich nun — ähnlich wie in Holland — in dieser Kolonie
ein buntes Gemisch von Sekten aller Art ansammelt2.
Ebenso enthält die erste Charte für Carolina vom Jahre 1662/63
in Art. 18 die Zusicherung von „indulgences and dispensations“
für Nicht -Konformisten 3 , und die Const. 97 der zweiten Charte
(von 1669) (als deren Verfasser -bekanntlich Locke angesehen
wird) bestimmt: „Any seven or more persons agreeing any reli¬
gion shall constitute a church or profession, to which they shall
give some name, to distinguisli it from others.“4 Auf durchaus
toleranter Basis ruht von vornherein die Verfassung der An¬
siedlung William Penns: Pennsylvania5.
Dann endlich greift der Toleranzgedanke auf das Mutterland,
England, hinüber, in dem das Jahr 1689 den Toleration Act bringt.
Dieser enthält zwar noch keineswegs eine grundsätzliche An¬
erkennung der nicht - konformistischen Religionsgemeinschaften
(behielt vielmehr die „persecution“ als Regel bei), legt doch aber
den offenen Kampf gegen die Dissenters bei : er läßt die Sekten
unter bestimmten Bedingungen (Unterschreibung bestimmter
Glaubensartikel, Ableistung des Treueides usw.) ihren Gottes¬
dienst’ halten. (In Irland dauern die Verfolgungen und Be¬
drängungen der Non-Conformists das ganze 18. Jahrhundert hin¬
durch noch an: erst im Jahre 1782 wird ein irischer Toleration
Act Gesetz.)
Ein gewisses Maß von Duldung übte von den größeren Staaten
während des 17. Jahrhunderts nur noch Brandenburg - Preußen
unter der Regierung des Großen Kurfürsten, dessen Idee stark
unter oranischem Einflüsse sich gebildet hatte 6. Hier öffnete das
1 Bei Anderson, Church 1, 488.. In einer einzelnen Stadt
(Providence) war schon kurz vorher (1636), von dem aus Massachusetts
vertriebenen Independenten Rogers Williams gepredigt, in dem grund¬
legenden Vertrag der Sezessionisten die unbeschränkte Freiheit der
religiösen Überzeugung anerkannt dadurch , daß die Gründer dieser
Stadt Gehorsam den Gesetzen „only in civil things“ versprachen.
S. Green Arnold, History of the State of Rhode Island 1 (1859),
103, zitiert bei G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte (1895), 35.
3 Anderson, 1. c. 2, 29.
8 Anderson, 1. c. 2, 317 ff.
4 Anderson, 1. c. 2, 324.
5 Anderson, 1. c. 2, 423 ff.
8 Das weist mit guten Gründen L. Keller a. a. 0. nach.
Aclitundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 459
Edikt von Potsdam (8. Nov. 1685) den flüchtigen französischen
Reformierten die Tore der kurfürstlichen Lande; am 2. Febr. 1732
wurde das Patent zugunsten der Salzburger erlassen.
Die allgemeine Anerkenntnis der Toleranzidee als eines wesent¬
lichen Bestandteils der Staatsverfassung fällt erst in das Ende
des 18. Jahrhunderts, als die Josefinischen Reformen, die ameri¬
kanischen und französischen Menschenrechtserklärungen kurz auf-
einander folgen. Damit wird die hochkapitalistische Epoche ein-
geleitet, mit der wir es hier noch nicht zu tun haben.
Hier muß mit einem Worte nur wieder der staatsrechtlichen
Sonderstellung der Juden Erwähnung geschehen.
Die Juden werden geduldet und genießen weiter Rechte in
Holland seit der Unabhängigkeitserklärung, in England seit 1654,
in einigen amerikanischen Staaten und einigen deutschen Städten
seit dem Ende des 16. bzw. dem 17. Jahrhundert. Aber auch
in denjenigen Ländern, in denen die Juden erst viel später zu¬
gelassen wurden, fanden die Fürsten Auswege, um den Juden
— wenigstens den reichen unter ihnen — die Ausübung der wirt¬
schaftlichen Tätigkeit zu ermöglichen : durch das System der
Privilegierungen und namentlich durch die Ausbildung der In¬
stitution des Hofjudentums l.
Worin die große Bedeutung des wenigstens vereinzelten
Durchdringens des Toleranzgedankens für das Wirtschaftsleben
beruht, bedarf nicht erst besonderer Hervorhebung : die Duldung
der verschiedenen Religionsgemeinschaften in einem Lande übt
denselben Einfluß auf die Wanderungsbewegung (im umgekehrten
Sinne), wie die Verfolgungen ihn ausgeübt hatten: Anhänger
bestimmter Religionsgemeinschaften werden in den toleranten
Ländern zurückgehalten , die sonst auswandern würden , oder
werden nach ihnen hingezogen, wenn sie aus andern Ländern
wegzuwandern gezwungen werden. Was L. Keller2 von den
Wirkungen des Edikts von Potsdam sagt: daß es „Wanderungen
und Wandelungen einleitete, die die Machtverhältnisse und die
Kulturzustände Mitteleuropas dauernd beeinflussen sollten“ : das
gilt von den kirchenpolitischen Maßnahmen jener Tage überhaupt.
1 Näheres über diese Dinge in meinem Judenbuclie.
2 L. Keller, Der Große Kurfürst und die Begründung des mo¬
dernen Toleranzstaates, a. a. 0. S. 251.
460
Zweiter Abschnitt: Der Staat
Anhang: Die Ordnung des Privatrechts
Die entscheidenden und grundsätzlichen Wandlungen des
Privatrechts sowohl in formaler wie materialer Beziehung —
fallen in die folgende Epoche oder doch an das Ende des früh-
kapitalistischen Zeitalters.
Unter der Herrschaft des absoluten Fürstentums vollziehen
sich nur diese Neugestaltungen :
1. Das Handelsrecht, das bis zum 17. Jahrhundert über¬
wiegend auf Gewohnheitsrecht beruht hatte, fängt an, kodifiziert
zu werden. Die ersten staatlichen Kodifikationen sind die fran¬
zösische Ord. de commerce (1673) und die Ord. touch. la marine
(1681). In Deutschland werden durch Landesgesetze bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts nur einzelne handelsrechtliche In¬
stitute geregelt1, während die erste größere Kodifikation durch
das Preußische Landrecht von 1794 erfolgt.
2. Das Wechselrecht insbesondere wurde in zahlreichen
staatlichen und städtischen Wechselordnungen während des
17. Jahrhunderts festgelegt und inhaltlich den Anforderungen
der Zeit angepaßt. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es 48 Wechsel¬
ordnungen 2 * * *.
Dei entscheidende Schritt, den das neue Wechselrecht tat,
wai der Übergang zu einem allgemeinen , nicht mehr standes-
mäßig gesonderten Recht.
• bestimmt z. B. das Branderiburgische Wechselrecht Art. 4 :
„ Alle diejenigen, so sich unternehmen einen Wechselbrief auszustellen
sie seyn gleich männlichen oder weiblichen Geschlechts, Pürsten’
Grafen, Freyherrn, Hofbediente, Adeliche , Gelehrte oder Militair-
Personen , wes Condition , Standeswürde und Bedienung sie immer
wollen, sollen ebenso fest als die Handelsleute an die Wechsel-
oidnung, ohne Unterschied und Exception verbunden seyn . .
Will man das, was sich hier zum ersten Male in dem Gebiete
der Rechtsbildung vollzog, in seiner grundsätzlichen Bedeutung
1 Siehe die Zusammenstellung bei K. Co sack, Lehrb. d. H.R
§ 4 n 2 a- DJ® Edikte der französischen Könige im 16. Jahrhundert
(z. B. das Ed. Karls IX. von 1563, durch welches das Pariser Handels¬
gericht geregelt wurde), haben einen verwaltungsreehtlichen Inhalt,
während die Regelung des privaten Handelsrechts erst durch die ge¬
nannte Kodifikation erfolgte. 6
2 sinc* gesammelt in D. Siegels Corp. jur. cambialis. 1742.
2 Ile., nebst Uhls zwei Fortsetzungen, 1758 u. 1764 Vgl noch
L*d°vici Kmfm, Syst. (1768) § 889, und Siegels Einleitung
zum Wechselrechte, 1751. B
Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche
461
richtig erfassen, so muß man in den neuen Gesetzen eine Ent¬
persönlichung auch des Rechts Erkennen. Aber wie ge
sagt : gleichwie auf vielen andern Gebieten der Kulturentwicklung
beobachten wir während der frühkapitalistischen Epoche erst die
ersten Anfänge der neuen Bildungen.
3. Eine nicht imwesentliche Umbildung, die den kapitalistischen
Interessen zu dienen bestimmt war, erfuhr schon während des
frühkapitalistischen Zeitalters die Rechtsordnung auf prozes¬
sualem Gebiet. Die Hauptpunkte waren folgende: a) den
kaufmännischen Urkunden wird eine möglichst feste Beweiskraft
und eine möglichst feste Obligationswirkung zugeteilt (Ent¬
persönlichung !) ; b) der Exekutivprozeß oder die exekutive Kraft
der Schuldurkunde wird ausgebildet. Natürlich im Interesse vor¬
nehmlich des Handels, für den die Ordinarprozedur unerträglich
war. Für ihn bedeutet es die größte Wohltat, wenn er auf
klare Darlegung der Schuld hin wenigstens vorläufig die Voll¬
streckung gegen den Schuldner erreicht. Die Exekutivkraft der
Schuldurkunde dehnt sich von den Handelsstädten Toskanas und
der Lombardei über ganz Italien und weiter seit dem 15. Jahr¬
hundert aus. Damit entwickelt sich auch das Exekutiv verfahren 1 .
4. Daß die Rezeption des römischen Rechts in
Deutschland nicht im „kapitalistischen“ Interesse erfolgt ist, ja
wahrscheinlich überhaupt wenig mit wirtschaftlichen Vorgängen
und Forderungen im Zusammenhänge steht, scheint jetzt mehr
und mehr die Ansicht der Rechtshistoriker zu werden 2. In der
Tat: warum hätte gerade Deutschland diesen Wandel aus öko¬
nomischen Gründen vollziehen sollen, nicht Frankl eich, nicht
Holland, nicht England, die doch damals ein viel höher ent¬
wickeltes Wirtschaftsleben hatten. Auch ist zu erwägen, daß
die -der kapitalistischen Entwicklung hauptsächlich dienenden
Rechtsgebiete: Seerecht, Handels- und Wechselrecht, insbesondere
Gesellschaftsrecht, nur in sehr geringem Umfange aus römisch-
1 Siehe z. B. W. En de mann, Beiträge zur Kenntniss des
Handelsrechts im M.A. , in der Zeitschr. f. d. ges. HR. 5 (1862),
333 ff., nam. 393 ff. Vgl. Marquardns, De jure merc. Cap. VII ff.
des III. Buches.
2 Siehe die Übersicht über die bisherige Literatur bei v. Below,
Die Ursachen der Rezeption des 'römischen Rechts. 1905. v. B.
selbst lehnt mit Entschiedenheit die Ansicht ab, wonach das römische
Recht in Deutschland eingeführt sei, um den „Anforderungen des
Verkehrs“ zu genügen, die angeblich das deutsche Recht nicht zu
befriedigen vermocht habe.
462
Zweiter Abschnitt: Der Staat
rechtlichen Quellen stammten, jedenfalls ihre Entstehung nicht
einer „Rezeption des römischen Rechts“ verdankten, sondern
höchstens allmählich römisch-rechtliche Gedanken aufnahmen.
Auch für Italien sucht man jetzt den Nachweis zu führen,
daß die neue (römische) Rechtsschule die längste Zeit eine rein
wissenschaftliche Bewegung gewesen sei : von der Rechtswissen¬
schaft sei im 12. Jahrhundert aus rein wissenschaftlichem Inter¬
esse die Wiederbelebung der Antike begonnen , die nach der
Rechtswissenschaft die Scholastik auf philosophischem Gebiete
dann fortsetzte b
1 Walter Goetze, Das Wiederaufleben des römischen Rechts
im 12. Jahrhundert, im Archiv f. Kulturgesch. 10 (1912), 25 ff.
DATE DUE
0
TRENT UNI VERS
64 0230736
HB501
. S67 1919 Bd.l
pt . 1
UTLAS
Sombart, Werner, 1863-1941
Der moderne Kapitalismus;
historisch-systematische Darstel¬
lung des gesamteuropäischen
Wirtschaftslebens ~
Anfängen bis zur O 3 I U
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203976