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Full text of "Der Monismus: Dargestellt in Beiträgen seiner Vertreter"

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MIT BUCHAUSSTATTUNG VON F. H. EHMCKE. 
VON DIESEM BUCHE WURDEN 30 ABZÜGE ZUM 
PREISE VON FÜNFUNDZWANZIG MARK FÜR 
JEDES EXEMPLAR AUF OLD STRATPORD BÜT- 
TEN HERGESTELLT / IN PERGAMENT GEBUN- 
DEN UND HANDSCHRIFTLICH NUMERIERT 



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ARTHUR LIEBERT • MONISMUS UND 
RENAISSANCE 



i IE kultur- und philosophiegeschichtliche 
Forschung unserer Tage hat sich mit fast 
ungestümer Begeisterung dem gewaltigen 
Problemkomplex der Renaissance zuge- 
wendet. Und Je mehr unsere Einsicht in 
] die Struktur dieser Zeit gewachsen ist, um 
so mehr haben wir uns als ihre Zöglinge 
^ und als Fortsetzer vieler ihrer Anpflan- 
zungen auf theoretischem und praktischem Felde erkannt. In 
gleichem Maße ist aber auch unsere Bewunderung, ja unsere 
Verehrung für sie gewachsen; und das Gefühl unserer Ver- 
pflichtung ihr gegenüber ist immer größer geworden. Der Zau- 
ber jener Zeit will nicht verblassen. 

Allerdings ist vor der rücksichtslosen wissenschaftlichen Ana- 
lyse mancher romantische Nebel zerstoben. Scheinbar Uner- 
klärliches, das wie ein großes Fragezeichen in der geschicht- 
lichen Situation dastand und jede kausale Begründung zu- 
rückzuweisen schien, ist als ein natürliches Produkt des histo- 
rischen Geschehens dargetan worden. Oft ist es gelungen, die 
treibenden Ursachen aufzufinden, soweit wissenschaftlicher 
Erklärung eine solche Leistung überhaupt vergönnt ist. Die 
eindringende und allseitige Durchleuchtung jenes Kultur- 
systems, das in fast überirdischem Glänze erstrahlte, hat die 
Tatsache zahlreicher Entlehnungen und Abhängigkeiten von 
der mittelalterlichen Scholastik ans Licht gestellt. Wir haben 
gelernt und lernen immer mehr, daß die Abbiegung von der 
mittelalterlichen Fährte zwar den üblichen Schritt geschicht- 
licher Entwickelung übertrifft, aber doch das Prinzip des orga- 
nischen Werdens nicht verleugnet. In den Adern der Renais- 
sance fließt noch manches Tröpflein scholastischen Blutes, und 
die Antike ist nicht ihre alleinige Nährmutter gewesen. 

Unser Enthusiasmus für die Renaissance ist keineswegs in 
erster Linie die Folge jener Anerkennung, die aus der wissen- 
schaftlichen, sozusagen rein objektiven Geschichtsbetrachtung 
sich ergibt. Andere, stärkere Momente treten auf den Plan. Sie 




erst knüpfen jene Fäden. Sie erst räumen der Renaissance jene 
ganz einzigartige Stellung in der Ahnenreihe vergangener Kul- 
turperioden ein , die uns doch alle Güter zu Lehen übertragen 
haben. Sie erst stellen die Renaissance dem klassischen Alter- 
tum als ebenbürtige Schwester zur Seite. So ist das, was uns 
ihrem Lichtkreis so ganz besonders naherückt, mehr als das 
alltägliche Bewußtsein unserer historischen Dependenz von ihr. 
Stand denn die Wiege unserer Kultur allein in der Blütenstadt 
Florenz ? 

Historische Pietät wird erst dann zur Liebe, wenn neben der 
Einsicht in die Abhängigkeit das Gefühl der Verwandtschaft, die 
Überzeugung geistiger Gleichheit mit gleicher Rechtsgeltung 
auftritt. BloBe Abhängigkeit schUeßt nicht die Möglichkeit und 
die Ausprägung strenger Wesensverschiedenheit aus. Rein 
historisch gesehen, lagern in der Kultur der Renaissance uns 
verwandt anmutende Züge in enger Verbindung neben solchen, 
die aus einer uns fremd gewordenen Schicht von bloß antiqua- 
rischer Bedeutung herstammen. Aber jene ersteren Züge allein 
sind es, die für uns noch einen lebendigen Wert besitzen. Sie 
allein sind es, die eine mehr als historische Teilnahme herausfor- 
dern, Sie allein gewähren die festen Grundlagen für unsere Be- 
ziehungen und Sympathieen. Wir fassen nicht sowohl die- 
jenige Geltung, die sie in ihrer Zeit besessen haben, ins Auge als 
die Geltung, die sie in ihrer kausalen Auswirkung errangen. 
Das aber sind dann diejenigen Potenzen der alten Kultur, 
welche dem Geiste unserer Zeit fruchtbare Anregung gegeben 
und ihre Kraft auch zur Stunde noch nicht eingebüßt haben. 
Derartige Werte mögen zu ihrer Zeit nur zarte Keime, nur 
schwache Ansätze, Gedanken der Dämmerung und des Halb- 
dunkels in wenigen Auserwählten gewesen sein : Wir dagegen 
sehen sie stark und herrschgewaltig, weil wir in ihre Betrach- 
tung den uns von ihnen gespendeten Wert hineinlegen, weil die 
Kenntnis ihrer Leistung, die Einsicht in ihre spätere historische 
Fruchtbarkeit unbewußt mit einfließt in die objektive Unter- 
suchung ihrer tatsächlichen Macht zur Zeit ihres Entstehens. 
So verwechseln wir den Keim mit der Spende. Wir ignorieren, 
übersehen ihren Kampf gegen die brüske Masse der Tradition. 
Wir befreien sie von ihrer Vermischung mit denjenigen Ele- 
menten, die für uns zu inhaltslosen, bloß historischen Reiz be- 
sitzenden Raritäten erstarrt und verknöchert sind. Daß aber hier 
konstruktives Bemühen mit im Spiele ist, gestehen wir offen ein. 



I 



Auf diese Weise grabe:i wir die intimen, die unmittelbar psr- 
s&nlichen Beziehungen auf. Wir schieben die bunte Fülle das 
historischen Materials zur Seite und lösen jene M^mante heraus, 
die zu unserem persönlichen Empfinden sprechen, die in ihrer 
menschheitlichen Geltung und Hohe jenseits zeitgeschichtlicher 
Bedingtheit stehen. 

Da zeigt sich denn eine seltsame Gleichartigkeit des geisti- 
gen Wesens der Geganwart mit der Z;it der Renaissance, eine 
tiefe und bedeutsame Verwandtschaft in jenen metaphysi- 
schen Tendenzen, in jenen gehsimnisvollen Charakterkräften, 
die dem theoretischen wie praktischen Menschen seine Stellung 
zur Welt und ihren Problemen festlegen. Wenn wir den Schutt 
der, wie in jeder Periode, so auch damals vorhandenen Anlage- 
rungen wegräumen, so begegnen wir einer beinahe faszinieren- 
den Ähnlichkeit der Lebenstemperamente. Bildet diese aber 
nicht schließlich die Voraussetzung für alles Verständnis, und 
nicht nur für das Verständnis, sondern ebenso für alle Billigung 
und Sympathie? Und wenn es die Metaphysik ist, welche die 
großen Erlebnisse und Weltdeutungen einer Zeit oder einer Per- 
sönlichkeit in das Schema einer abstrakten Formel zu bannen 
sucht, so werden wir uns darüber nicht wundern, daß der Nie- 
derschlag des mataphysischen Triebes unserer Zeit mehr als 
ein Symptom der Verwandtschaft mit der Metaphysik der 
Renaissance aufweist. Wir müssen die verhallenden Schläge 
und leisen Hoffnungen des Herzens einer alten Zeit in uns zu 
kräftigem Widerhall erwecken, um jene Zeit klarer zu sehen, 
als sie sich selbst sah, um in dem Echo ihres Tongewirres den 
Leitton zu vernehmen. Nur bei einer derartigen, fast rücksichts- 
losen historischen Abstraktion, nur bei einer solchen Verein^ 
heitlichung und Vereinfachung, nur bei einer solchen Her- 
anziehung des historischen Gefühls, das an einem Gesamt- 
komplex zeitlicher Gegebenheiten das historisch Wertvolle 
und Bedeutsame instinktiv auszeichnet, offenbart sich die 
auffallende Ähnlichkeit des gedankenvollsten Ergebnisses der 
Renaissancephilosophie mit dem Kerne unserer Weltinterpre- 
tation, mag die Energie jenes Gedankens damals schon zu 
voller Entfaltung gelangt sein oder nicht. Und so stellen wir 
die Fragen : 

Welches ist die Weltformel der Renaissance!' 

WelcheGeltunghat sie für das Verständnis der Welt- 
totalität? 



Welches ist ihre psychologische Voraussetzung und 
welches die Geistesverfassung ihrer Vertreter? 

In welcher Weise gewinnt sie in den einzelnen phi- 
losophischen Disziplinen grundlegende Kraft? 

I. DIE WELTFORMEL DER RENAISSANCE 
Schon die Beantwortung der ersten Frage scheint auf unauf- 
hebbare Schwierigkeiten zu stoßen. ,, Renaissance" bedeutet ja 
nicht einen einheitlichen, in sich geschlossenen und abgegrenz- 
ten Begriff. Einer rund drei Jahrhunderte umfassenden, mit 
heißer Kraft fortschreitenden Entwickelung entspricht eine 
unübersehbare Fülle kraus gemischter Ansichten über Gott und 
Welt. Vielgestaltig ist die Schar antiker Philosopheme, die in 
jener Zeit ihre Auferstehung feiert. Wo bleibt da die Möglich- 
lichkeit, eine einheitliche, allgemein zutreffende Weltformel 
zu finden, wenn die historische Mannigfaltigkeit nicht scho- 
nungslos preisgegeben werden soll ? 

Die Schwierigkeiten lassen sich aber beseitigen. Zu ihrer Til- 
gung hat die Renaissance selbst Hand angelegt. Sie bleibt nicht 
bei der Vielheit geschichtlicher Traditionen und metaphysischer 
Systeme stehen, so bereitwillig sie ihr auch das Tor geöffnet hat. 
Mit eigentümlicher Spürkraft sucht sie in der Vielheit der Theo- 
reme eine letzte Übereinstimmung, eine „Concordanz", um so 
die Menge zur Einheit zusammenzuschnüren. „So weit die 
Systeme aller Denker voneinander abzuweichen scheinen," 
sagt einer ihrer Wortführer, Giovanni Pico, ,,so sind sie im 
Grunde genommen doch alle die Ausläufer einer und derselben 
Wahrheit, die Ausstrahlungen einer Sonne." 

Diese zahlreich unternommenen Versuche, den Nachweis der 
Einstimmigkeit zu führen, — hier steht an erster Stelle der Neu- 
platoniker MarsiUo Ficino — sind jedoch nichts weniger als 
vorurteilslose, sachliche Untersuchungen. Eine dogmatische 
Antizipation führt die Feder. Wir werden sogleich sehen, wor- 
in diese besteht. Vorerst sei der monistische, unifizierende Zug 
der Renaissance gleichsam in seiner äußerlichsten Form kon- 
statiert. Jene Zeit erträgt es nicht, Pythagoras, Piaton, Ari- 
stoteles, Plotin, Proklus und das ganze Heer der Kirchenväter, 
ja die Häupter der arabischen Philosophie als voneinander iso- 
lierte Götzen hinzustellen, von denen jeder der Lehre und dem 
Kultus des anderen Fehde angesagt habe. Ein Grundgedanke 
lebe in allen Systemen, ein einheitlicher Geist durchwehe sie 




alle. Das ist die herrschende Überzeugung. Welches ist aber 
dieser Geist? Ist er einem Vertreter jener Reihe im besonderen 
zu eigen? Mit nichten. Er besteht vielmehr in demjenigen Ge- 
danken, der ihnen allen gemeinsam ist, in dem sie nicht von- 
einander abweichen. 

Wenn nun in der Renaissance Deduktionen zur Auffindung 
jener Einheit unternommen werden, so ist es von vorneherein 
klar, daB sie sich nicht auf eine objektive Analyse stützen 
können. Richtet man den Blick ernsthaft auf die eben erwähn- 
ten Denker, so ergibt sich von Anfang an die Aussichtslosig- 
keit aller Versuche der „Concordanz", Aus allen Ecken und 
Enden der Welt des Geistes sind Vertreter herangezogen. Will 
man sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringen: Nun, 
ohne dogmatische Antizipation ist die Durchführung einer sol- 
chen Zusaramenkoppelung auf ewig ein leerer Wahn. 

Dieses Dogma ist nun das gleiche, das auch bei den eigenen 
Sy Stern bildungen der Renaissance wirksam und grundlegend 
ist. Es ist das Dogma des monistischen Pantheismus. 
Es ist die charakteristische Voraussetzung der weithin ver- 
tretenen Lehre von der Geistigkeit oder Göttlichkeit des 
Alls. Das ist der Grundgedanke, das Leitmotiv, das sowohl 
für alle Unifizierung der ererbten Systems wie für den Aufbau 
der eigenen zur Richtschnur dient. Mit resoluter Vergewalti- 
gung weist man die Spuren jenes Gedankens aller Orten in der 
Vergangenheit nach. Und in den philosophischen Schöpfungen 
der Renaissance selbst betätigt er seine inspirierende Kraft, 
von seiner noch etwas verfließanden Fassung bei dem groflen 
Deutschen Nikolaus Cusanus an bis zu seiner scharfen und 
klassischen Ausprägung in dem gewaltigen Weltsystem Gior- 
dano Brunos. 

Brunos Weltsystem, getragen von einem hinreißenden philo- 
sophischen Eros, überstrahlt alle vorhergehenden, noch im 
unsicheren Zwielicht schwebenden pantheistischen Gedanken 
durch die unvergleichliche Konzentration seines Ausdrucks, 
durch die Leidenschaft seines Vortrages utid besonders durch 
die zu begrifflicher Klarheit durchgedrungene Erkenntnis des 
metaphysischen Weltprinzipes. Gemüt und Verstand wirken in 
ihm in vielverflochtener Verbindung. Im Geiste Giordano 
Brunos leuchtet die Gesamtidee der Renaissance in 
hellster Eigenbesinnung auf. Brunogibt dasMotto für die 
Metaphysik der Renaissance. Er formuliert den Satz: ,,GeistEn- 



det sich in allen Dingen, und es ist auch nicht das winzigste 
Körperchen, das davon nicht einen ausreichenden Anteil an sich 
hätte, um sich beleben zu können," Und immer wieder und in 
immer neuen, durch glückliche Gleichnisse unterstützten Wen- 
dungen verkündet er den großen Gedanken, daß kein Ding des 
göttlichen Geistes entbehre, daß die Weltseele, daß die Gott- 
heit in jeglichemDinge als allgegenwärtige, immanente Gestal- 
tungs- und Lebenskraft wirksam sei. 

Der Allbeseelungsgedanke ermöglicht das spekulative Gerüst 
der Renaissancephilosophie, ein zwar nicht neuer, doch küh- 
ner Gedanke, der über das Weltpanorama einen seltsamen 
Schein ausgießt. Ein Gedanke der Spekulation und deshalb we- 
der das Resultat induktiven noch analytischen Verfahrens. Die 
Geistesart und die Grundgesinnung jener Philosophen macht 
die Gewinnung einer Erkenntnis durch eines dieser beiden Vor- 
gehen von Anfang an unmöglich. Wir werden noch einen Ein- 
blick in die Werkstatt ihres Geistes tun. So viel sei schon jetzt 
gesagt: Durchdringende Aufmerksamkeit, genaueste Beobach- 
tung dessen, was die Kreise der Erfahrung zu bieten vermö- 
gen, finden sich nicht unter den Organen ihrer psychischen 
Verfassung. 

Wird nun überhaupt jegliches System der Vergangenheit in 
das Licht jenes Gedankens eingetaucht, so ist es natürlich, daß 
diejenige Philosophie, die schon von sich aus in pantheistischem 
Lichte strahlt, In eine dominierende Stellung einrückt. Das ist 
der antike Neuplatonismus, die mystisch - theosophische 
Metaphysik eines Ammonias Sakkas und seines großen Schülers 
Plotin, des scharfsinnigen Proklus, des Jamblichus und ihrer 
Trabanten. Ihre Wiederbelebung ist nach dem bahnbrechenden 
Vorgange des Georgios Gemistos Plethon das Werk der Mit- 
glieder der Florentiner Akademie, der ästhetisierenden Philo- 
sophen und Humanisten des Hauses Medici, eines Marsilio 
Ficino, Giovanni Pico della Mirandola, Angelo Poli- 
ziano u. a. 

Die philosophische Kraft des Pantheismus ruht in seinem 
Zuge zum MoniEmus. Der Monismus besitzt sowohl die Be- 
deutung des Ausgangspunktes, die Bedeutung der psychologi- 
schen Grundvoraussetzung, eines Wunsches, einer HoHnung, 
wie such die des Endes und der Erfüllung. Mit der Göttlich 
keit der Welt wird zugleich ihre Einheit proklami 
Und mit der Einheit ihre Harmonie. 



I 




MONISMUS UND RENAISSANCE 7 

' Somit können wir die gesuchte Formel aussprechen. Die 
Wirklichkeit ist ein einheitlicher, geschlossener, har- 
monischer Zusammenhang. Sie ist eine einheitliche, 
göttliche Substanz, in der alle Unterschiede und Be- 
dingtheiten des Einzelnen und Endlichen und Zeit- 
lichen aufgehoben sind, eine kosmische Einheit, die 
alle Vielheit ausschließt. Jeder Teil hat im Ganzen 
seine Notwendigkeit. 

Als eine lebendige, geistig -göttliche Totalität wurde die Wirk- 
lichkeit begriffen. Sie erhielt so ihre metaphysische Tiefe und 
Großartigkeit. ,, Wirklich leben" und „an Gottes Sein Anteil ha- 
ben", sind kongruente Vorstellungen. Unzählige Male begegnet 
diese in dem Boden religiös-mystischer Überzeugung verankerte 
Ansicht in den philosophischen Schriften jener Zeit. So lehrt C u - 
sanus: ,,Gott ist die absolute Einheit, vermöge welcher alles 
wirklich ist, was sein kann." — ,,Die unendliche Einheit ist der 
Inbegriff von Allem. — Gott ist der Inbegriff von Allem in dem 
Sinn, daß Alles in ihm ist ; er ist die Entfaltung von Allem, so- 
fern er in Allem ist" (Scharpff). Die gleiche Anschauung spricht 
Giovanni Pico in markanten Worten aus: ,, Alles, was ist, ist 
in Gott, Er ist eines jeden Dinges wirkende, vorbildliche und ziel- 
setzende Ursache." — ,,Im Sein der Dinge können wir Gottes 
schöpferische Kraft bewundern, in ihrer Wahrheit die Weis- 
heit ihres Bildners verehren, bei der Behaglichkeit, in der sie 
sich befinden, jubeln über die Freigebigkeit dessen, der sie mit 
seiner Liebe umfängt, aus der Einheitlichkeit ihres Seins end- 
lich die klare Einheitlichkeit ihres Schöpfers entnehmen." Und 
Agrippa von Nettesheim bekennt sich zu demselben Ge- 
danken, Auch ihm ist das All eine geistig-göttliche Einheit, der 
alle Teile organisch eingefügt sind. „Es gibt eine Weltseele, ein 
einiges Leben, das alles erfüllt und durchströmt, alles in sich 
zusammenhält und verknüpft, um die Maschine der gesamten 
Welt zu einer Einheit zu machen" (Cassirer). Und hören wir 
schließlich noch ein Wort desjenigen Philosophen, der in ge- 
wissem Sinne einen Abschluß dieser mystisch-pantheistischen 
Richtung darstellt und schon hart vor der Schwelle des Zeitalters 
der Aufklärung, des Rationalismus steht, Jakob Böhmes: 
,, Alles ist nur eine Offenbarung des Einen, da ein jedes Ding 
mag aus Einem in Viel gebracht werden und aus Vielem hin- 
wieder in Eins." Das sind Klänge, die aus der Philosophie Plo- 
tins herübertönen. Er charakterisiert das „Eine" als das „all- 



bedingende Unbedingte, dem alles inhäriert, aus dem alles ent- 
sprungen ist, von welchem alles abhängt, das aber selbst 7on 
nichts weiter abhängt" (Drews, Plotin S. io6). 

z. DIE GELTUNG DER NEUEN FORMEL FÜR DAS VER- 
STÄNDNIS DER WELTTOTALITÄT 

Das ist die hypertroph -monistische Metaphysik der Renais- 
sance. Das Stichwort des Monismus besagt für sich allein aber 
zu wenig. Die Zurückführung des Vielen auf ein einziges Grund- 
prinzip, die Vereinheitlichung der Unendlichkeit der indivi- 
duellen Erscheinungsformen kann auch in materialistischem 
Geiste geleitet werden. Aber von einer solchen Metaphysik ist 
die Renaissance meilenweit entfernt. Und so trifft auch die an- 
tiken Vertreter des Materialismus Ablehnung, ja Verachtung. 
Noch war die Stunde nicht gekommen, um auch einem Demo- 
krit und Epikur zu neuem Leben zu verhelfen. Erst mußte ein 
gründlicher Wandel im Charakter der philosophischen Inter- 
essen eintreten, die phantastische Naturmystik mußte erst vor 
dem Streben nach mathematisch - mechanischer Naturerklä- 
rung zurückweichen, bevor Pierre Gtissendi der epikureischen 
Atomistik Geltung verschaffen konnte (1647), 

Also nicht bloß Einheit schlechthin ist das Schlagwort der 
Renaissance. Wie wir sogleich bei der Betrachtung ihrer Natur- 
philosophie noch genauer sehen werden, spricht sich die philo- 
sophische Stimmung in einer idealistischen Metaphysik 
aus. Die Welteinheit ist keine tote, starre Masse, keine licht- 
lose, dumpfe Materialität. Sie ist als göttliche Einheit ein 
Zusammenhang voll Geist, Leben, Kraft, Wirksam- 
keit; kurz: ein dynamisches, sinn- und zweckvolles 
Ganzes, ein lebendiger Organismus. 

Das ist das Schiboleth der Weltanschauung der Renaissance. 
Damit ist eine grandiose Erhöhung der Würde und der Bedeu- 
tung der Welt proklamiert, eine Erhöhung und Erhebung, an 
der auch die Auffassung vom Wesen des Menschen tiefen An- 
teil nahm. Zugleich aber ist es, historisch gesehen, die Wieder- 
belebung der Philosophie Plotins. 

Wie später der Gedanke der mathematisch - mechanischen 
Kausalität die Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche 
Erkenntnis wurde, so erblickte man damals in der Auffassung 
der Welt als einer Geistigkeit, Lebendigkeit, Beseeltheit, Gött- 
lichkeit die Zauberformel für alles Begreifen. Und das allein 



4 



gilt als wahres Begreifen, als Erfassen des Weltgehei 
von innen heraus. So denken die Italiener: Carolus Bovillus, 
Marsilio Ficino, Giovanni Pico, Leo Hebraeo, Car- 
dano, Patrizzio, Campanella, Bruno. So denken die 
Deutschen: Nikolaus Cusanus, Agrippa, Paracelsus, 
Reuchlin, Kepler, Böhme. 

Mit dieser monistisch-idealistischen Metaphysik war nun 
eine energische Opposition gegen Aristoteles und dessen schola- 
stischen Nachwuchs eingeleitet. Man verwarf den Aristoteli- 
schen Dualismus von „Form" und „Stoff" als den beiden ko- 
ordinierten Weltprinzipien. Man verhöhnte die Lehre, nach 
der es in der Welt eine Mehrheit von Substanzen geben sollte. 
Man brandmarkte diese Auffassung als ein Kennzeichen philo- 
sophischer Banausltät, geistiger Dürftigkeit. Unter dem Zei- 
chen Piatos führte man den Kampf. Eine seltsame Untreue 
gegenüber der Behauptung der Obereinstimmung beider an- 
tiken Denker. Eigentlich aber richtete sich die Polemik nicht 
sowohl gegen den Stagiriten wie gegen die Scholastik. Und 
eigentlich war es nicht der echte, der historische Piaton, der 
die Rolle des Heerführers spielte. Es war nicht der Denker, 
der die Welt der Urbilder, der immateriellen Ideen in scharfer 
Abgrenzung der Welt der Abbilder, der vergänglichen Einzel- 
dinge gegenüberstellte. Man erfaßte Piatos Bild im Spiegel 
neuplatontscher Umformung. Man ließ ihn als einen antizipier- 
ten Plotin lehren, daß die Welt die einheitlich-kontinuierliche 
Ausstrahlung der göttlichen Urkraft sei, und daß diese gött- 
liche Kraft die innere Gewähr für den dauernden Bestand der 
Welt böte, indem sie das Sein in unerschöpflicher Fülle durch- 
strahlt und wie ein lebendiger Quell fort und fort tränkt und 
erhält. 

Warum aber sagte sich die Renaissance vom Dualismus so 
entschieden los? Weil ihr eine duaUstisch konstruierte Wirk- 
lichkeit den Makel der Disharmonie und das Brandmal des 
Verfalls zu tragen schien. Das dualistische Sein ist ein dis- 
harmonisches und ein getrübtes und gefährdetes Sein. Es 
krankt an einer Differenz. Nichts aber verabscheut das moni- 
stische Streben mehr als die Anerkennung kosmischer Diffe- 
renzen. Man erfaßte den Begriff des Kosmos in seinem strengen, 
ursprünglichen Wortsinne als Ordnung, Harmonie, Zusammen- 
stimmung, planvolle Ausgeglichenheit aller Diskrepanzen. 
Hinter dem Dualismus aber lauert der Pluralismus. Der postu- 



Uert viele selbständige, einzelne Dinge. Und hätte diese An- 
schauung recht, so wäre der göttliche Zusanunenhang zer^>al- 
ten zu einer Vielheit selbständiger Konkreta, und an die Stelle 
der kosmischen Sympathie aller Dinge zueinander wäre der 
Streit, der Kampf getreten. Für die Einzeltatsache als solche 
kann die göttliche Einheit nicht als Grundursache in Anspruch 
genommen werden. „Sofern die Dinge vermindert, getrennt usw. 
sind, können sie nicht aus dem Größten sein, weil diese Zu- 
stände keine positive Ursache haben. Von Gott also hat es 
das Geschöpfliche, einig, unterschieden und mit dem Univer- 
sum verbunden zu sein, und zwar je mehr geeint, desto ähn- 
licher ist es Gott. DaB aber seine Einheit in Vielheit, sein Un- 
terschiedenes in Verwirrung, seine Verbindung in Disharmonie 
sich befindet, das hat es nicht von Gott, noch von irgendeiner po- 
sitiven Ursache, sondern zufällig." (Scharpfi.) So des Nikolaus 
Cusanus Entscheidung, eine unter zahllosen ganz gleichen. 

Das Divergierende, die Einheit Kreuzende ist aber nur ein 
Schein. Es bildet für den Philosophen der Renaissance einen 
Ansporn, die reale Einheit aufzufinden. Denn daß eine allum- 
fassende Einheit vorhanden sei, setzt er mit intuitiver Gewiß- 
heit voraus. Und die am meisten charakteristischen Erzeugnisse 
seiner theoretischen Betätigung: Alchymie, Astrologie, Magie 
dienen lediglich dazu, für jene Intuition eine exakte und empi- 
rische Rechtfertigung herbeizuschaffen. Sie stellen die prak- 
tische Metaphysik jener Zeit dar, ein weit gesponnenes System 
von Geheimwissenschaften, das sich von Roger Bacons (um 
1250} Epistola de secretis operibus und Petrarcas Secretum 
■uum an durch Giovanni Picos Heptaplus, Reuchlins Ars 
cabbalistic«, des Paracelsus Astronomia magna, Agrippas 
Occulta Philosophie bis zu des Cardanus Encomium Astrolo- 
g|«t, Glambattista Portas Magia naturalis, Vaninis Dia- 
loBia über die wunderbaren Geheimnisse der Natur, Jakob 
BAhmai Myttprlum magnum und Keplers Mysterium cos- 
moKriplilcuni fortzieht. Alle diese Schriften streben dem Ziele 
■U, »Insn iwnKelfreien Nachweis für die kosmische Einheit und 
•Ina wUienichaftlich- Bach liehe Anleitung zu ihrer realen Ver- 
wcrtdung fu bietan. — „Denn wie der, der das Eine nicht ver- 
lUht, nichta versteht, so versteht der Alles, der wahrhaft das 
Bin« varitoht; und wer sich der Erkenntnis des Einen mehr 
•nnlhart, kommt auch der Erkenntnis von allem näher." 
(Olordtno Bruno.) 



Krause Phantastik, kindliches Spiel mit Metaphern, wesen- 
lose Symbolistik, Talmudistik und Rabulisterei, so mögen die 
Noten lauten, die wir jenen Schriften anhängen. Wie ferne 
stehen sie jeglicher rationalen Denkart. Zum Beleg seien ein 
paar Stellen aus den Schriften Giovanni Picos zitiert. „Die 
wahre Magie war den Weisen immer willkommen, und alle 
Nationen, die Blick und Verständnis für überirdische Dinge 
besaßen, hielten sie in Ehren. Sie galt als eine erhabene und 
wahrhaft zuverlässige philosophische Wissenschaft. — Sie wirkt 
nicht selbst Wunder, sondern sie unterstützt nur den Betrieb 
der wirkenden Natur. ^ Sie bohrt sich hinein in das Verständ- 
nis des Wesens aller Dinge, sie zieht aus dem Schöße der Erde 
und aus deren geheimnisvollen Vorratskammern die verbor- 
genen Wunder Gottes hervor, als hätte sie selbst diese erschaf- 
fen. Wie der Landmann den Weinstock an den Stamm der 
Ulme bindet, als vermähle er Ulme und Weinlaub, so eint 
der Magier Himmel und Erde und führt das Niedere in nahe 
Berührung mit den Kräften der höheren Welt." — ,,AIle Philo- 
sophen vertreten die von mir ausgesprochene Ansicht, daß ge- 
wissen Figuren und Zahlen in der Magie eine besondere Wirk- 
samkeit zukomme, und daß ihnen eine geheimnisvolle Bedeu- 
tung zugrunde liege." — ,,Was von den Zahlen gilt, trifft eben- 
so für die Namen zu. Auchihnen wird eine besondere Wirksam- 
keit in der natürlichen Magie zugeschrieben. Die Benennung 
eines Gegenstandes ist ja keine zufällige, sondern zwischen 
Namen und Objekt waltet eine natürliche Beziehung." 

3. DIE PSYCHOLOGISCHE VORAUSSETZUNG FÜR JENE 
WELTFORMEL UND DIE GEISTESVERFASSUNG IHRER 
VERTRETER 
Solche Anschauungen verraten eine Geistesart, die in wissen- 
schaftlichen Fragen das Stadium der Mythologie noch nicht 
überwunden hat. Sie entströmen alle einem heißen Gefühl. In 
seltsame Tiefen, wo die Fackel der Vernunft erloschen ist, 
müssen wir hinuntersteigen, um zu den Voraussetzungen jener 
Anschauungen zu gelangen. Geisteskräfte und Gemütszustände 
mystisch-intuitiver Art sind es, die in jenen Tiefen lagern. Sie 
erst ermöglichen die Erfassung der Welttotalität, das Eindrin- 
gen in die universelle Einheit unter dem angegebenen Gesichts- 
punkt. „Wiewohl Fleisch und Blut das göttliche Wesen nicht 
ergreifen kann, sondern der Geist, wenn er von Gott erleuchtet 



ARTHUR LIEBERT 

und angezündet wird," belehrt uns Boehme. Wir sehen: Der 
Hauptbegriff der Renaissancephilosophie, die Begreifung der 
Welt als Gott-Einheit, stützt sich auf ein metaphysisches, die 
ganze Persönlichkeit durchdringendes und durch die Eigenart 
dieser Persönlichkeit bedingtes Erlebnis. 

Der Verstand als solcher gilt als unfähig, den Weltorganis- 
mus in seinem einheitlichen Gefüge zu erfassen. Wohl unter- 
scheidet man ihn von der sinnlichen Wahrnehmung, der Ima- 
glnatio, die keine ernsthafte, wissenschaftliche Einsicht zu 
liefern und die Einzel tat Sachen eben nur als Einzeltatsachen, 
als zusammenhangslose Konkreta zu begreifen vermag. Aber 
auch er, der Verstand (ratio), gewährt nicht die Möglichkeit 
einer letzten und endgiltigen Erkenntnis, die das Ganze als 
Ganzes, als kosmische, einheitlich gegliederte und kontinuier- 
lich sich entfaltende Universalität begreift. Nie will das Den- 
ken der Welttotalität gelingen. Was das Denken erkennt, das 
sind die einzelnen Gesetze, denen ein Ding auf Grund seiner 
allgemeinen Verfassung angehört. So wird die körperliche, aus- 
gedehnte Seite dem Zusammenhang der Ausdehnung, der 
Räumlichkeit ein- und zugeordnet. Und die geistige Seite eines 
Dinges, seine Form und Idee, gilt als ein Teil der formalen oder 
geistigen Wirklichkeitsentfaltung, als eine Spezies der Geistig- 
keit. Bleibt die sinnliche Wahrnehmung an der Einzelheit haf- 
ten, so erfaßt der Verstand das Attribut. 

Wie es aber über allen attributiven Erscheinungsweisen 
einen universalen Zusammenhang gibt, der die verschiedenen 
und voneinander getrennten Systemreihen und Systemreiche 
zu einem in sich harmonisch geschlossenen, ,, sympathischen" 
Gesamtsystem zusammenbiegt, so besitzt der Mensch auch 
die Fähigkeit, jene letzte und höchste Einheit zu erfassen. Sie 
bedeutet die höchst-erreichbare Synthese unserer Erkenntnis, 
die nur unter Zuhilfenahme des Gefühls und mystisch -medi- 
tativen Sicheinlebens in das Ganze möglich ist. 

Jene höchste Form der Erkenntnis besitzt zwei Seiten, die 
aufs innerlichste miteinander verflochten sind. Mit der ver- 
standesmäßigen Vereinheitlichung, dem Aufstreben zu immer 
allgemeineren und abstrakteren Gedanken geht eine Gefühls- 
versenkung Hand in Hand. Der logisch -rationalen Preisgabe 
alles Einzelnen und Konkreten entspricht ein psychologisches 
Verblassen aller individuellen Empfindungen und aller auf die 
Persönlichkeit gerichteten Wollungen. Es ist eine synoptische, 



I 



künstlerische Schau der Einheit, der Harmonie, der gegensei- 
tigen Zueinandergehörigkeit aller Dinge, eine Schau, die uns 
gewisseste Kunde schickt, daß alle Wesen Einem Wesen ein- 
gelagert sind, von Einem Geiste durchglüht werden. Erst diese 
Erkenntnisart gewährt die psychologische, die theoretische 
Grundlage für die pantheistische Metaphysik, Und es ist nur 
natürlich, daß sie sich in der Zuspitzung der Ekstase von psy- 
cho-pathologischen Einflüssen nicht frei hält. 

Die kurz angedeutete Lehre von den drei Stadien der Er- 
kenntnis ist ebenso wenig eine originale Schöpfung der Renais- 
sance, wie jene Metaphysik selber. Wie eine gewaltige Welle 
durchzieht diese Geistesrichtung das Morgen- und das Abend- 
land. Die uralte Philosophie der indischen Veden und ihre 
Tochter, die Theosophie des Buddhismus, atmen schon diesen 
Hauch. Schon sie lehren eine stufenweise Läuterung der reli- 
giösen Meditation. In den vier ,,Dhyänas" erhebt sich der Geist 
des Gläubigen von allem Konkreten und Sinnlichen, von allem 
Empirischen und Differenzierten zur wahren Erkenntnis, zum 
reinen WeltbewuBtsein , welches das Einzelne als nichtigen 
Schein entlarvt und das,, Wissen" aus jeder empirischen Bezie- 
hung befreit. Und wo wir in der Geschichte des Denkens die 
Spuren der Mystik treffen, da begegnen wir auch den gleichen 
Werkzeugen für die Lösung des Welträtsels. 

Das klassische Vorbild für die Renaissance gibt im besonde- 
ren Plotin ab. Er unterscheidet scharf Wahrnehmung, Ver- 
stand und anschauende Vernunft. Dieselbe Lehre tragen die 
beiden Victoriner, Hugo {um 1120) und David (um 1150) vor, 
und auch nach Bonaventura (um 1250) durchläuft die Seele 
auf ihrem Wege zu Gott (itinerariummentisadDeum) jene drei 
Stufen. Unter den Mystikern der Spätscholastik verbindet Jo- 
hannes Gerson (um 1400) die intellektuale Anschauung mit 
dem affektiven Zustand inbrünstiger Gottesliebe, Die gleiche 
Lehre verkündet zurzeit der Frührenaissance der jüdische Phi- 
losoph Leo Hebraeo, der in einigen Partien seiner Dialoge 
wie ein Vorläufer von Brunos „Degli eroici furori" erscheint, 
SchtieBlich begegnen uns die drei Erkenntnisstufen bei Spi- 
noza. Seine Philosophie hat man so oft als das Muster küh- 
len, ja herb -nüchternen, mathematisch - logischen Raisonne- 
ments bezeichnet. Aber selbst dieser Denker, der energische 
Vertreter des Pantheismus, kündet ein innerliches Begreifen 
der Totalität, das weder reines Erkennen noch reines Gefühl 




ARTHUR LIEBERT 

ist. In dem amor Dei intellecttialis ist Beides zur Einheit ein- 
gegangen. Und schicklich heißt diese ganze Richtung ratio- 
nale Mystik, — 

Die Betrachtung der psychologischen Voraussetzung der Me- I 
taphysik oder Mystik der Renaissance gewährt die Möglichkeit, 
ein klares Bild der Denker-Persönlichkeiten zu gewinnen. Zu 
deutlich leben die Züge ihrer Natur in ihren Schriften, zu stark 
ist das Band zwischen Leben und Lehre. Ihre ganze Philo- 
sophie ist unmittelbar durch ihre äußerst persönliche Geistesart 
bedingt. 

Goethes Urteil über Cardanus in den „Materialien zur 
Geschichte der Farbenlehre" trifft in eminentem Sinne auf fast 
alle Häupter der Renaissancephilosophie zu. „Er betrachtet die 
Wissenschaften überall in Verbindung mit sich selbst, seiner 
Persönlichkeit, seinem Lebensgange, und so spricht aus seinen 
Werken eine Natürlichkeit und Lebendigkeit, die uns anzieht, 
anregt, erfrischt und in Tätigkeit setzt. Er ist nicht der Doktor 
im langen Kleide, der uns vom Katheder herab belehrt; es 
ist der Mensch, der umherwandelt, aufmerkt, erstaunt, von 
Freude und Schmerz ergriffen wird und uns davon eine leiden- 
schaftliche Mitteilung aufdrängt," Ihr persönliches Lebensge- 
fühl, der Charakter und die Färbung ihrer individuellen Exi- 
stenz, das gibt den Mutterboden ab für alle ihre wissenschaft- 
lichen und philosophischen Bemühungen. Genies der Subjek- 
tivität sind diese Männer. Kühle Reflexion ist nicht ihre starke 
Seite. Sie alle sind mehr oder minder dichterisch veranlagte 
Naturen, Metaphysiker mit der Gabe grüblerischer Ausdeutung 
der Welt. Auch Phantasten und Menschen der Dithyramben 
fehlen nicht in der Reihe. Wie der Sturmwind geht ihr Gefühl. 
Von Grund aus packt es die Seele und reißt sie zu Visionen und 
zu mystischem Aufgehen im Allleben fort. Die zeitliche Welt 
und das zeitliche Ich entschwinden. Zur Ewigkeit hebt sich das 
Dasein empor. 

Die charakteristische Kompliziertheit dieser Persönlichkeiten 
ruht nun aber darin, daß auch auf der Stufe gefühlsmäßiger 
Erfassung der Einheit der rationale Faktor nicht gänzlich aus- 
geschaltet ist. Selbst in der Ekstase schweigt nicht der Verstand. 
So kommt eine Brüchigkeit in ihre Seele. Diese Geister sind wun- 
derlich gemischt aus Tendenzen zu abstrakter Spekulation und 
aus glühenden Neigungen zu einer bildhaften, phantastischen 
Formung ihrer Gedanken. Sie reden die Sprache des Dichters, 




und ihr Geist ist erfüllt von leuchtenden Träumen. Aber über 
die bunte Farbenwelt legt sich der graue Schleier scholastischer 
Begriffserötterung, syllogistischer Deduktion, verstandesklarer 
Auseinanderzerrung des intuitiven Gesamteindrucks. Zu tief 
hatte der scholastische Rationalismus seine Wurzeln eingetrie- 
ben, als daß der religiöse Enthusiasmus, etls daß die mystische 
Versenkung frei und ungehindert sich hätte entfalten können. 
Es fehlt jenen Renaissancehumanisten doch von Grund aus jene 
quellende Naivität und Unmittelbarkeit des Empfindens. Man 
kann sich des Eindrucks einer gewissen Unwahr haftigkeit , ja 
Gewaltsamkeit ihrer mystischen Ekstase nicht erwehren, ein 
Eindruck, der sich der schhcht-kräftigen Herzensfrömmigkeit 
eines Eckhart oder Böhme gegenüber nicht einstellt. Die „ra- 
tionale Mystik" setzt eben „rationale Mystiker" voraus. 

Aber noch ein anderes Moment in der seelischen Verfassung 
dieser Menschen bedarf der deutlichen Hervorhebung. Das ist 
ihr Ästhetizismus, ihr Schönheitsstreben und ihr Schönheits- 
gefühl. Dieses erst macht ihre philosophische Eigenart ganz ver- 
ständlich; denn es ist ein einflußreicher Faktor ihres Denkens. 

Der Gedanke der Einheit wäre nicht mit so starker, innerer 
Überzeugung zum Ausdruck gelangt und in den Vordergrund 
gestellt worden, er wäre nicht schlechthin das Cachet jener 
Zeit, wenn nicht das Gefühl lebendig gewesen wäre, damit den 
Kosmos unter den Aspekt der Schönheit zu rücken. Und es ist 
leicht einzusehen, daß jedes monistische Bedürfnis, welches in 
der pantheistischen Metaphysik seine Befriedigung erreicht, 
eine eigentümliche ästhetische Gesinnung, den Drang nach 
einer großen Schönheit umschließt. Die grandiose Auffassung 
der Welt als einer reinen Harmonie, als eines universalen Liebes- 
spieles weist auf jene Gesinnung als ihren Quell zurück. Und 
damit stimmt jener von fast allen Philosophen der Renaissance 
überlieferte Zug frischer, bis zu andachtsvoller Verehrung ge- 
steigerter Naturfreudigkeit zusammen. Diese Liebe kommt auf 
einmal wieder in warmen, vollen Wellen. Sie sprüht zum ersten 
Male empor in den „Fioretti" des heiligen Franz von Assisi. 
Sie betätigt sich in dem Umgange mit der Natur, in der Ein- 
richtung prächtiger Gärten, die die Villegiaturen der Vornehmen 
umsäumen, wie bei der Villa der Medicis in der Nähe von Ca- 
reggi oder bei der Villa des Kardinals Triulzio bei Tivoli. Sie ist 
die Triebfeder für die Fahrten des Aeneas Sylvio durch die 
Auen und über die Berge Italiens, deren Schönheiten dieser 



i6 



ARTHUR LIEBER! 



universale Mann wie eine Neuentdeckung mit Jubel und Preis 
verkündet. Und aus dieser ästhetischen Grund Stimmung heraus 
freuen sich jene Männer über jeden Zug der Harmonie, der sich 
im Weltall bekundet. Daß die Stembahn eine elliptische Form 
darstellt, gibt ihr, da sie somit die Mannigfaltigkeit in der Ein- 
heit bedeutet, schon darum in den Augen Keplers den Vorzug 
vor der gleichförmigen Kreisbahn. Die Kopernikanische Theorie 
empfiehlt sich dem Galilei schon wegen ihrer einleuchtenden 
und einfachen Erklärung der Sternbewegungen, die eben nach 
dieser Theorie eine harmonisch - zentrale Struktur besitzen 
(J oel, Urspr. d. Naturphil, aus d. Geiste der Mystik, S. 12). Die 
Versenkung in die Einheit der Wirklichkeit war zugleich eine ' 
Versenkung in die Schönheit der Wirklichkeit. I 



4. DER EINFLUSS DER PANTHEISTISCHEN META- 
PHYSIK AUF DIE EINZELNEN PHILOSOPHISCHEN DIS- 
ZIPLINEN 
Die neue pantheistische Weltansicht wurde die grundlegende 
geistige Macht, die auf die Bewegung in den einzelnen philo- 
sophischen Problemen einwirkte und den Charakter der Inan- 
griffnahme und der Lösung dieser Probleme bestimmte. 

a) DIE NEUE NATURPHILOSOPHIE ■ 

Die begriffliche Auflösung eines Problems ist nur zum kleinen 
Teile abhängig von den in Frage kommenden empirischen Be- 
obachtungen und Tatsachen. Der subjektive Gesichtspunkt, un- 
ter dem die Problemerledigung geführt wird, die Eigentümlich- 
keit der mit dem Wesen des denkenden Subjekts selbst ge- 
gebenen Voraussetzungen bestimmen Anlage und Ausführung 
in erheblichem Grade. 

Dieses Verfahren wird von der Naturspekulation der Renais- 
sance in unmißverständlicher Weise befolgt. Es leitet schon die 
Fragestellung und legt in diese den Schlüssel für das Mysterium 
hinein. Man fängt die Natur von einem rein persönlich beding- 
ten Augenpunkte aus auf und unterwirft sie so lange einer Um- 
formung, bis sie der absichtsvollen Fragestellung homogen ist. 
So fragt die Renaissance nicht blind darauf losi Was ist die Na- 
tur? Sondern wie und als was muß ich die Natur auffassen, da- 
mit sie der Voraussetzung, ja der Forderung, Einheit zu sein, 
entspreche ? 

Das ist eine wahrhaft bedeutungsvolle Fragestellung, so stark 



MONISMUS UND RENAISSANCE 



17 



auch die Antizipation ist, die in ihr steckt. Denn von Anfang 
an wird die Natur eingetaucht in den phanth eistischen Cha- 
rakter der Gesamtwirklichkeit. Sie sollte von vorneherein als 
ein zugehöriges Glied zu dem einheitlichen Strom der Gesamt- 
existenz betrachtet werden. 

Nichts liegt der naiven, unkritischen Überzeugung näher 
als die Meinung, daß die Natur aus zwei streng voneinander ge- 
schiedenen, einander wildfremden Prinzipien bestehe, aus Geist 
oder Seele und Materie oder Körper. Dabei mag hier unberück- 
sichtigt bleiben, daß auf dieser Stufe auch der Geist als ein zwar 
zartes, doch immerhin stoffartiges Gebilde, als ein feiner Hauch 
oder Nebel betrachtet wird. 

Die gleiche dualistische Gestalt zeigt die den Spuren des Ari- 
stoteles folgende Naturphilosophie der Scholastik. Sie ist in 
ihrer prinzipiellen Struktur eigentlich weiter nichts als der in 
die Formeln der philosophischen Terminologie gebrachte Dua- 
lismus des unwissenschaftlichen Bewußtseins. 

Von jenen beiden Grundprinzipien der Natur wird aber der 
Materie noch keine wahrhafte Realität zuerkannt. Sie stellt in 
ihrem Wesen lediglich die bloße Möglichkeit, die Voraussetzung 
dar. Wirkliches Sein und Leben fehlt ihr durchaus. Sie ist blo- 
ßer „Mangel", bloße ,, Entbehrung". Zu eigentlicher Realität 
und Wirklichkeit gelangt sie erst kraft der Einwirkung der 
Form. Diese allein ist das Prinzip des Lebens. So schon bei 
Aristoteles. Und in der geschichtlichen Entwickelung der Scho- 
lastik wurde die Materie immer mehr herabgedrückt zu einer 
trägen, starren, absolut passiven Substanz. Die Körperwelt 
wurde zu einem toten Wesen, zu einem nichtigen, verwehen- 
den Gewebe, welchem die Form als der von Grund aus anders 
geartete Bestandteil schroff gegenübergestellt wurde. Sie, die 
,,Form" allein stammt aus dem göttlichen Ureinen, und sie 
ist aus diesem Grunde der unverwechselbare Gegenpol zu der 
dumpfen Materialität der Körperwelt. Ihre Verbindung mit 
der Materie ist nur eine zufällige und äußerliche. Alles Gesche- 
hen wird von außen durch einen transzendenten Eingriff be- 
wirkt. 

Von dieser scholastischen Konstruktion des Naturwirklichen 
reißt sich die Renaissance los. An die Stelle des schroffen Dua- 
lismus tritt der Gedanke innigen Zusammengehörens von Natur 
und Gott, Diesseits und Jenseits, Fleisch und Geist. Wie die 
ganze Weite der Wirklichkeit als von Gottes Geist erfüllt und 



i8 ARTHUR HEBERT 

▼on Gottes Kraft beseelt gedacht wird, so bleibt auch der Stein 
und die Pflanze und das Tier, kurz jedes Naturgebilde kein to- 
tes Wesen. Jedes Empirische und Konkrete ist der Ausdruck 
und das Symbol eines Innens. 

Natur und Geist sind nur die beiden aufeinander bezogenen» 
innerlichst aufeinander angewiesenen Seiten desselben einheit- 
lichen Grundwesens. Form und Stoff stehen in synthetischer 
Verbindung. Welcher Gedanke überbrückt aber die Kluft zwi- 
schen Form und Stoff? Das ist, wie Cassirer nachweist , der 
»^schillernde Begriff der Entwickelung''. Entwickelung setzt 
jedoch Kraft voraus. Der Gegensatz von Form imd Stoff wird 
gemildert durch eine neue Verhältnisbestimmung zwischen 
diesen Weltprinzipien. Die Spekulation versteigt sich nicht 
zu der Behauptung der Identität von Geist und Materie. Son- 
dern an die Stelle des scholastischen Gedankens ihrer krassen 
Divergenz tritt der neue Gedanke einer positiven Beziehung* 
Form und Stoff» Geist und Materie stehen nicht mehr fremd 
und feindlich gegenüber. Nicht mehr gilt die Form als etwas 
der Materie äußerlich Aufgeprägtes. Sie wird als Kraft zu der 
der Materie immanenten Art alles Seins und Lebens. Jedes Na- 
turgebilde besteht aus krafterfüllter Materie. Als solches ist es 
Voraussetzung und Vorstufe für ein nächsthöheres Gebilde» 
das eben darum als ein höheres angesehen wird, weil sich an 
ihm die Wirksamkeit der Kraft deutlicher enthüllt, weil es 
einen höheren Grad der Lebendigkeit erreicht hat. Das Aufiere» 
der Körper, ist nur der Wechselbegriff des Inneren» des Geistes» 
beide nur die zueinander gehörigen Seiten des einheitlichen 
Seins. So formuliert Bruno: „Die Form ist der Materie imma- 
nent» eine ist schlechthin n'cht ohne die andere.'' „Diese Simul- 
taneität der wirkenden Kraft und des Bewirktwerdens ist eine 
sehr wichtige Bestimmung: die Materie ist nichts ohne die 
Wirksamkeit der Form» diese also das Vermögen und das iimere 
Leben der Materie.'' 

,,Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, 
Dexm was innen, das ist außen." (Goethe) 

So erscheint die Natur als ein von lebendigen Kräften allsei- 
tig durchströmtes System. Sie ist ein streng gebundenes Ganzes» 
das von primitiven Zuständen an in kontinuierlicher Entfaltimg 
zu Höherem aufsteigt. Auch die Natur im besonderen Sinne ist 
wie die ganze Wirklichkeit ein dynamischer Prozeß. Sie ist nicht 



wesenlos und tot, sondern in ruheloser Tätigkeit und ziel- 
strebiger Bewegung begriffen. Die feindlichen Gegensätze sind 
getilgt. Eine polyphone und doch harmonisch gesetzte Sympho- 
nie durchwebt das All. Alles strebt zu Allem, zu liebender Ver- 
einigung, zu universeller Einheitlichkeit. ,,Es ist in der ewigen 
Natur alles ineinander, als ein kräftig ringendes Liebesspiel", 
sagt Böhme. Der Gott, der bis dahin als nur von außen stos- 
send angesehen wurde, wird als die innere, emporbildende Ur- 
sache, als causa immanens, non vere transiens anerkannt. Die 
Natur als Gottes immanentes Produkt (natura naturata) läßt 
allüberall, in jedem Strauch und Baum und Stein und Sein 
ihre Geist- und KrafterfüUtheit den zur Intuition Begabten 
schauen. 

So wird Gott oder der All-Geist als die schaffende Weltkraft 
(natura naturans) in den Bereich der geschaffenen oder ge- 
wirkten Natur einbezogen, zu ihrem innersten Seinsprinzip ge- 
macht. Oder mit anderen Worten: Die Natur wird zu Gott em- 
porgehoben, in Gottes Wesen eingepflanzt, sie wird vergött- 
licht. Das ist der Bruch mit dem Dualismus, mit der An- 
schauung der Widergöttlichkeit der Natur. 

An dieser Stelle sei eine gedankinvoUe Betrachtung Se- 
bastian Francks, die diesen neuen Standpunkt glücklich und 
lebendig verdeutlicht, nach Carri^res etwas zusammengezoge- 
ner Darstellung eingeflochten. ,, Habe acht auf dieWerkeGottes, 
so wird dir die Welt mit allen Kreaturen ein offenes Buch und 
eine lebendige Bibel, daraus du Gottes Kunst studieren und sei- 
nen Willen lernen magst. Wer aber Gottes Werke bloß angaHt 
imd sich nicht selbst in ihnen findet, der sieht und hört alles ver- 
gebens; jedoch dem Gottseligen offenbaren die Kreaturen mehr 
als dem Gottlosen alle Biblien. Denn das Wort und seine Kraft 
will im Tun und Wirken erkannt werden, wie es alles in allem 
ist. Die Natur etwas Göttliches, nichts anderes, als was Gott 
selbst will und gibt, denn Gott selbst ist in der Natur und zwar 
beständig wirkend. Gleichwie die Luft alles erfüllt und nirgends 
nicht ist oder etwas leer läßt und doch in keinem Orte beschlos- 
sen werden mag und wie der Sonnenschein den ganzen Erdboden 
überleuchtet und ihn grün und fruchtbar macht, also Ist Gott 
in allem und wiederum alles in ihm beschlossen. Denn wie er 
alle Dinge durch sein Wort in ein Wesen und Natur hat gestellt 
und erschaffen, also hat er sein Wort, Natur, Wesen und Fäuste 
nicht wieder daraus- oder davongezogen, wie ein Schuhmacher, 




so er einen Schuh ausmacht und liegen läßt, oder wie ein StrauB 
sein Ei, sondern er hat sein Wort in den Dingen gelassen, daB 
er alles regiere, in allem lebe, webe, wachse, daB das Wort, wie 
es aller Dinge Natur und Wesen ist, so ihre Mutter, Erzieherin 
und Erhalterin sei, daß Gott nicht eigentlicher beschrieben wer- 
den mag, denn daß er sei aller Wesen Wesen und alles Lebens 
Leben." 

Unter dem gleichen Gesichtspunkt erscheint, um noch ein 
Beispiel anzuführen, auch die Naturphilosophie Agrippas von 
Nettesheim. Der kreatürlichen Welt kommt erst und nur 
dann wahre Wirklichkeit zu, wenn ihr ein Prinzip des Lebens 
innewohnt, wenn wir sie als beseelt ansehen können. „Absurd 
wäre es, wenn der Himmel, die Sterne und die Elemente, die für 
alle Einzelwesen der Quell des Lebens und der Beseelung sind, 
selbst ihrer ermangeln sollten; wenn jede Pflanze, jeder Baum 
an einer edleren Bestimmung Anteil hätte, als die Sterne und 
die Elemente, die seine natürlichen Erzeuger sind" (Cassirer). 

Die Starrheit des Seins wird aufgelockert, und es erwächst 
der folgenschwere Gedanke, daß alles Sein im Wirken Wesen 
und Bestand habe. Diese d^^namische Theorie der Materie, die 
in der Naturphilosophie der Renaissance häufig ohne deutliche 
Einsicht in ihre Bedeutung und Tragweite ausgesprochen und 
auch nur selten mit unzweideutiger Energie vertreten wurde, 
hat sich in der Folgezeit immer entschiedener herausgebildet. 
Leibniz, der intime Kenner jener Naturphilosophie, formu- 
liert den Renaissancegedanken mit markanter Schärfe: Das 
Wesen der Substanz besteht in der Kraft. Die Monade, der 
metaphysische Grundkonstituent der Wirklichkeit, das An-sich 
der Dinge, ist ein Intensivum. Und ebenso löst Kant, aller- 
dings auf Grund einer ganz anderen Betrachtungsweise und 
mit ganz anderem Geltungsanspruch, die extensionale Starr- 
heit der Materie auf und sieht das Kennzeichen ihrer Realität 
in ihrer Intensität. So entwickelte sich jener große Gedanke, 
der zur Grundanschauung der modernen Energetik gewor- 
den ist. 

Was aber, so fragen wir im Geiste der Renaissance, ist durch 
diese Naturauffassung gewonnen? Im Prinzip nichts weniger 
als ein wirkliches Naturverständnis. Ist nämlich der Kern 
der Natur Geist, ihr Prinzip Leben, dann ist eine solche Natur 
zweifellos in ihrem eigentlichen und tiefsten Wesen dem Er- 
kennen zugänglich. Denn nun ist sie ja nichts Totes, Ungedank- 



> 



i 



liches mehr. Sie ist Fleisch von unserem Fleisch. Sie ist dem er- 
kennenden Subjekt Wesens verwandt und für dieses daher be- 
greiflich. Heimisch fühlt sich der menschliche Geist in ihr und 
vertraulich berührt. 

Hier sei eine kurze Bemerkung der Kritik eingerückt. In je- 
ner Naturphilosophie bekundet sich noch ein naiver erkenntnis- 
theoretischer Standpunkt. Man ist noch nicht zur scharfen Unter- 
scheidung von Denk- und von Seinsformen durchgedrungen. Die 
mittelalterlich-thomistische Auffassung der Begriffe, der sub- 
jektiven Geistesformen als dinglicher Realitäten wirkt nach. 
Statt in der Form und im Stoff und in der synthetisch-spekula- 
tiven Verknüpfung beider lediglich abstrakte Konstruktions- 
prinzipien der Wirklichkeit, Erkenntnismittel des wissenschaft- 
lichen Bewußtseins zu sehen, werden sie zu realen Wesenheiten 
verkörpert. Die Lebendigkeit der eigenen Seele, die eigene, 
tief erregte Innerlichkeit wurde von dem Philosophen der Re- 
naissance in die Dinge selbst hineingelegt.* Immer wieder ver- 
steht er das All von sich, vom Menschen aus, getreu dem Worte 
Goethes: 



P Zweifellos bedeutet in erkenntniskritischer Hinsicht jene ro- 
' mantische Hypostasierung des Ichs eine Gefahr für das wirk- 
liche Naturerkennen. Es wurde damit jene ontologische Verding- 
lichung des Geistes und seiner Formen vorgenommen, die für 
die Logik des Aristoteles und der unter seinem Banne stehenden 
Scholastik kennzeichnend ist. Ob man die Naturphilosophie des 
Patrizzi oderTelesio, des Begründers der Akademie von Co- 
senza, oder des Campanella ins Auge .faßt, überall bleibt, 
trotz allen Strebens nach positiv-exakter Beobachtung der 
physikalischen Tatsachen, trotz allen Hindrängens zu einem 
geistes- und naturwissenschaftlichen Empirismus, der Hang 
typisch und maßgebend, den Begriffen, dem erkennenden 
Geiste, dem Ich, transsubjektive Realität als dinglicher Form 
zuzuschreiben. 

Und so läßt sich denn auch an diesem Punkte die Bedingt- 
heit der Naturphilosophie der Renaissance durch ihre Metaphy- 
sik aufzeigen. Diese metaphysische Anschauung, nach der die 
'Vgl. die feinsinnige Analyse in Karl Jo eis Welk: Der Ursprung der Natur- 
philosophie aus dem Geiste der Mjrstik, Kap. 11: Die Naturphilosophie der 



22 ARTHUR LIEBERT 

Wirklichkeit die immanente Offenbarung des Weltgeistes, ein 
ungeheueres, doch streng einheitliches System kontinuierlich 
aufeinanderfolgender Kraftabstufungen ist, wurde zum Unter- 
bau der Naturerklärung. Wie aber jene pantheistische Meta- 
phjrsik selbst von religiösen Motiven mitgetragen und durch- 
flochten ist, so wird auch der Gottesbegriff zu einem Erklä- 
rungsprinzip des Naturgeschehens gemacht, und statt einer 
ruhigen, e3cakten, kausalen Begründung und Ableitung der Ein- 
zelphänomene aus ihren Gresetzen, statt einer geduldigen Auf- 
suchung ihrer empirischen Ursachen tritt in jener Naturphilo- 
sophie ein theologisch-metaphysisches Eltinent auf und zwar an 
führender Stelle. Mit falschem, dialektischem Rechtsanspruch 
wird in dem dunklen, der Erklänmg doch erst bedürftigen 
Worte Geist oder Gotteskraft in dem verwendeten Sinne eine 
pseudowissenschaftliche Erkenntnis der Natur dargeboten. Die 
Motivation des Naturgeschehens durch den Hinweis auf eine sol- 
che mystische Kraft ist ein wahres Asylium ignorantiae. Noch 
war die Djrnamik der Naturvorgänge nicht dem mechanistischen 
Gesichtspunkt unterstellt. Der mittelalterliche Glaube des Dä- 
monenspukes konnte ungestört fortwuchern. Noch war die Luft 
von allen irrationalen Einflüssen nicht durchaus gereinigt. 

b) DIE NEUE ETHIK 

Wie die Tempelinschrift über dem Eingange zum delphischen 
Heiligtum, wie das sokratische Mahnwort: Erkenne dich selbsti 
den lapidaren Ausdruck der griechischen Ethik darstellt, so be- 
sitzt auch die Ethik der Renaissance ein geschlossenes Losungs- 
wort. Leon Battista Alberti hat es geprägt, und Burckhardt 
berichtet es. „Die Menschen können von sich aus alles, sobald 
sie wollen.'^ 

Jede Aufdeckung und Zergliederung der Lebenspraxis jener 
Zeit ist nur eine Paraphrase jenes Wortes Albertis. 

Es sei an dieser Stelle davon Abstand genommen, die neue 
Weltstimmung mit ihrer glühenden Bejahung des Lebens, ihrer 
taumelnden Weltfreudigkeit, der stürmischen, tyrannischen 
Durchsetzung eines seiner selbst bewußt gewordenen Herr- 
scherwillens zu schildern. Jakob Burckhardt und Wilhelm Dil- 
they haben diese Aufgabe in ausgezeichneter Form und mit 
tiefer Eindringlichkeit gelöst. Wir wollen uns diese neue Situa- 
tion nur durch eine flüchtige, hinhuschende Überschau vergegen- 
wärtigen, und dann die Frage streifen, in welcher inneren Be- 



I 



»ehung die neue Lebenspraxis zu der Metaphysik, die ihren 
theoretischen Hintergrund bildet, stehe. 

Die Tage der Renaissance bringen einen machtvollen, pathe- 
tischen Rhythmus in die Lebensführung. Sie zeitigen einen Stil 
der großen, imposanten Gebärde- Zwar zeigt dieser noch nicht 
sofort und nicht in allen Punkten feste Formung und klare Li- 
nien. Aber wenn auch das Tasten dem Zupacken vorangeht, so 
fiuBert sich doch eben in diesem Tasten nach einem Neuen ein 
manchmal leidenschaftliches Streben, die Akzente und Werte 
des Daseins anders zu verteilen, als es bisher geschah. Das Be- 
wußtsein der Majestät, der Autonomie beginnt sich im Men- 
schen zu regen. Das zeigt schon sein äußerliches Auftreten. Das 
zeigen auch seine literarischen und seine künstlerischen Lei- 
stungen. Diesen neuen Charakter der ästhetischen Schöpfun- 
gen hat Heinrich Wolfflin in überzeugender Weise hervorge- 
hoben. — 

Der Schwerpunkt der mittelalterlich-christlichen Ethik, der 
Schlußstein dieses Moralsystems ist hinausgehoben über den 
Dunstkreis des Diesseits und verflochten in einen Zusammen- 
bang von Gütern und Werten übernatürlicher Art. Die eigent- 
lich menschlichen Kräfte des Menschen, das immanente Ge- 
iarächs seiner erdgeborenen Persönlichkeit reicht nicht hinein 
in jenen transzendenten Zusammenhang. Eine gewaltige Kluft 
gähnt auf. Denn jenes supranaturalistische Ideal der christ- 
lichen Ethik, die transzendente Vergottung des Menschen, ist 
der Theorie nach nur erreichbar auf dem harten Wege der Ab- 
tötung alles dessen, was als natürliche Lebensausstattung an- 
zusehen ist. Hart ist der Weg. Ein Vermittler und kundiger 
Führer unentbehrlich. Fleischeslust und Hingabe an diese Welt 
und ihre Freuden klammern sich an den aufwärts klimmenden 
Fuß und bringen ihn zum Straucheln. Da muß die Kirche ihre 
fürsorgliche und kraftspendende Hand bieten. Kein Fuß beträte 
sonst den heiligen Boden. Ja, streng und uniachgiebig schließt 
die Kirche selbst das Eingangstor, verschmäht der freche Stolz 
ihre Hilfe. 

Die Ethik, die Moraltheologie des Mittelalters gründet sich 
ganz und gar auf eine Transzendenz des LebensgeFühls. Sie ist 
im Prinzip eine Lehre der Weltvern einung, eine pessimistische 
Verurteilung des Diesseits, Der positive Gedanke in diesem 
Meere der Negationen predigt lediglich ein Ideal im Jenseits. 
Er konstruiert die Welt hinieden als das Tal der Tränen und 



ARTHUR LIEBERT 



der Dämonen, und selbst die Familie, die allernächste Gemein- 
schaft der Seele und des Herzens, findet selten eine zustimmende 
sittliche Schätzung. Der Lehre nach ist die Welt trüb und dü- 
ster und eine Flucht aus ihr der einzige Lebenszweck. 

So wurde das natürliche Gefühl des Menschen Irre gemacht, 
ihm selbst die Einheitlichkeit seines Wollens und Handelns ge- 
nommen. Die Welt, der er als irdisches Geschöpf nun doch ein- 
mal angehört, ward in der ärgsten Weise beschimpft, jede posi- 
tive Lebensarbeit, achtet man auf das höchste Prinzip der christ- 
lichen Ethik, unterbunden. Der transzendenten Metaphy- 
sik entsprach eine transzendente Ethik. Die historische 
Gerechtigkeit zwingt aber zu dem Geständnis, daß die pessimi- 
stische Trübseligkeit gegenüber der Welt und ihren Gütern eben 
nur den Kern der Theorie bildet. Die Lebensstimmung und Le- 
benspraxis des Mittelalters zeigt nicht überall jene Tönung Grau 
in Grau. Klarer Weltsinn und Lust am Dasein mangeln natür- 
lich jenen Menschen nicht, und es fehlte in Wirklichkeit viel 
daran, aus der Welt eine riesige Mönchszelle zu machen, wie 
die Theorie es bezweckte. 

Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der morali- 
schen Konstruktion der Welt durch die Renaissance 
zu. Der prinzipielle, der theoretische Standpunkt wandelt sich. 
Die Überzeugung von der Immanenz des göttlichen Wirkens in 
der Welt, die Vergöttlichung der Wirklichkeit, der monistische 
Pantheismus führte zu einer Rehabiütierung und entschiedenen 
Würdigung des Diesseits. Ist und wirkt Gott in der Welt, ist diese 
ihm nicht fremd und wesensungleich, so birgt sie ja Ziele und 
Zwecke, auf deren Erreichung eine in sich gerechtfertigte Ar- 
beit gerichtet sein kann. Die Wirklichkeit enthüllt sich nun als 
ein zweckvoller Zusammenhang voller Schönheit und Größe, 
der zu Leistungen herausfordert und Leistungen belohnt. Nicht 
mehr draußen, nicht mehr in einem nebelblassen Jenseits liegt 
das einzige Ideal. Hier unten gibt es genug der Gelegenheiten zu 
rüstigem Schaffen, zu werthegender Tätigkeit. Das heiter-sichere 
Gefühl schönen Lebensgenusses wird wach, seitdem die mensch- 
lich - empirische Regsamkeit vom Fluche losgesprochen ist. 
Das Leben selbst bietet Beweggründe zum Handeln, die nicht 
erst eine transzendente Sanktion fordern. Der gegenwärtige 
Augenblick und sein Inhalt an Arbeit werden freigemacht von 
der Knechtung unter eine jenseitige Lebensansicht. Ich weiS 
diese Abfertigung der messianisch- supranaturalistischen An- 



scbauung nicht besser zu charakterisieren als durch ein Wort 
Lessings in seinen theologischen Streitschriften: ,,Ober die Be- 
kümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Toren das ge- 
genwärtige." So mochte auch die Renaissance empfinden. 

Auf diese Weise wurde dem Menschen seine moralische Selb- 
ständigkeit und die Einheit seines Handelns, die eindeutige Te- 
leologie seines Wesens zurückerobert. Sein frischer, tapferer, ja 
trotziger Lebensdrang wurde nicht beleidigt durch die Verhöh- 
nung alles dessen, worauf seine Natur und seine Triebe angelegt 
waren, nicht erkältet durch den steten Hinweis auf ein schemen- 
haftes Ideal. Denn so empfand der Bürger dieses neuen Jahr- 
hunderts die Doktrin der Scholastik. Zweifel und Ablehnung 
ihr gegenüber klingen eben nicht selten in den Schriften der Hu- 
manisten an. Die Götter des alten Griechenlands stehlen sich mit 
ihrer hinreißenden Heiterkeit, mit dem lachenden Glänze ihres 
gesunden, freudigen Weltsinnes unwiderstehlich ein in die Her- 
zen der Menschen. Da darf man sich nicht wundern, auch den 
Epikureismus wieder auferstehen zu sehen. Laurentius Val- 
las , (Dialog von der Lust" ist eine solche erste, nicht nur anti- 
quarisch gemeinte Renaissance der Hedonik Epikurs. 

Und weiter. Erweist sich, auf Grund der metaphysischen Über- 
zeugung, die Welt dem höheren Streben des Menschen wesens- 
gleich, ja mit ihm wesenseins, und bietet sie einen ehrenvollen 
Tummelplatz seinem Wirken und jedweder Fähigkeit, so ruft 
sie auch Liebe für sich wach. Die Welt ist ja, was der Mensch 
selbst ist. Sie ist Leben. Drängendes, ringendes Leben. Je mehr 
Leben aber, desto mehr Tätigkeit und je mehr Tätigkeit, desto 
mehr Liebe. Nicht durch tote Worte und Verheißungen der 
Schrift und der Kirche braucht das Göttlich-Gute garantiert zu 
werden. Die Welt, deine, meine Welt offenbart und verkündet 
ja selbst in überwältigender Macht die innere Nähe des Guten. 

Alles ist von Natur göttlich und gut. Dieses Wort Sebastian 
Francks ist eine unter unzähligen Preisungen der Natur. Wie 
sollte man einer solchen Natur stumm und teilnahmlos gegen- 
überstehen! Wie sollte man sich da nicht tief beglückt ihrer 
Harmonie einfügen und in seliger Hingabe nicht einstimmen in 
den Lobgesang des Alls! Die große physische und moralische 
Einheit weckt Liebe und Begeisterung. Sie ist kein schnöder Ab- 
fall von Gott, sie ist nicht das Werk des Gottfeindes. Die sicht- 
bare Welt ist von einem sie liebenden Gotte ins Leben gerufen, 
sie ist erschaffen als ein Abbild des im göttlichen Geiste existie- 



36 ARTHUR LIEBERT 

renden Vorbildes. Die Welt ist ein erhabenes Kunstwerk. Mit 
der Ethisierung der Wirklichkeit verbindet sich ihre Ästhetisie- 
rung. So verschränken sich auch hier der ästhetische und der 
ethische Gesichtspunkt, wie es schon bei Piaton und Plotin der 
Fall gewesen war (Drews, Plotin S. 298). 

Dieser universale Optimismus durchweht die wunder- 
vollen Hymnen Lorenzos, des Prächtigen. „Gott liebt die 
Welt, wie er von ihr wieder geliebt wird. Wie Gott sich selbst 
liebt, so liebt er auch die Menschen, und die Liebe Gottes zu 
den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott 
sind ein und dasselbe". So Spinoza in seiner Ethik. Diese 
große, heilige Weltiiebe mußte erst wieder lebendig werden, 
und die Stellung der Menschen zur Welt mußte erst im Gefühle 
ihre Begründung finden, bevor ihr Leibniz in seiner The odicec 
die theoretische Rechtfertigung verschaffen konnte. -^ 

c) DIE NEUE STAATSTHEORIE 

Das Absterben der von der Theorie betonten Weltverdrossen- 
heit des Mittelalters, das auch von der neuen Philosophie sajik- 
tionierte Streben, diese Welt und ihre Werte zu entdecken und 
zu gewinnen, tritt an einem Punkte mit besonderer Entschie- 
denheit in die Erscheinung. Aus der Tiefe jener auf energische 
Wirksamkeit gerichteten, behaglicher Selbst beschaulichkeit ab- 
holden Naturen steigt eine scharfe Agitation gegen die trost- 
losen politischen Zustände empor. Wie diese beschaffen waren 
— hier fallt der Blick vornehmUch auf Italien, denn in Frank- 
reich war durch das Emporkommen eines starken monarchi- 
schen Regimentes schon seit einiger Zeit eine Wendung zum 
Besseren eingetreten — so mußten sie den genußvollen Besitz 
der Erde zerstören, jede gedeihlich-sachliche Entwickelung ab- 
schneiden, die Erstarkung praktisch -sozialer Tendenzen, die 
Zunahme der ökonomisch-politischen Prosperität unterbinden. 
Der sichere Bestand jedes Gemeinwesens war durch das Ty- 
rannen- und Kondottierenunwesen bedroht, der Bürger jeden 
Augenblick in Gefahr, zum Sklaven eines Winkelmachthabers 
degradiert zu werden. Die inneren Kräfte, das Arsenal sitt- 
licher Potenzen und materieller Wohlfahrt schienen in den 
unaufhörlichen, bisweilen mit teuflischer Bestialität ausge- 
fochtenen Familienzwisten der nahen Erschöpfung verfallen 
zu sein. 

Gegen diese entsetzlichen Kleintreibereien erhebt sich eine 



MONISMUS UND RENAISSANCE a/ 

tief gesunde Abwehrbewegung. Sie hat ihren schärrsten und 
stärksten Vorkämpfer in Niccolo Macchiarellis „Buch vom 
Fürsten". Es ist, wie schon Gervinus gesagt hat, eine Tendenz- 
schrift gegen die jammervolle politische Zerstückelung, in der 
jeder Teil wider den anderen schürt und streitet. Mit rationaler 
Sachlichkeit predigt es das streng monarchische Ideal. Der 
„Fürst", das ist der Mann, der mit eiserner Hand ein Reich, 
einen straff geschlossenen Staat zu schmieden vermag. Ein 
Vers Homers könnte diesem Buche als Motto dienen: 



„Vielherrschaft bringt nimmer Gedeihn, i 



si Herrscher." 



Und noch ein anderes Moment sichert dem Buche Macchia- 
vellis seine reformatorische Stellung. Wenngleich nicht mit all- 
sichtbarer Deutlichkeit betont, wirkt doch der Gegensatz zu je- 
ner scholastisch- transzendenten Staats theorie, wie sie Au r e 1 i us 
Augustinus in seinem „Gottesstaat" in die klassische Form 
gebracht hat, als energische Hintergrundskraft. Hier die Lehre 
Ton der absoluten Unterordnung aller natürlichen Einrichtun- 
gen und aller welthch gesinnten Lebensarbeit unter das theolo- 
gische Ideal der christlichen Ethik; hier eine fast verachtungs- 
Tolle Niederdrückung des weltlichen Staates als einer bloß se- 
kundären, als einer bloß menschlich-kreatürllchen und darum 
bestand- und wertlosen Schöpfung. Selbst seine empirische Exi- 
stenz, rein als solche, empfängt erst durch die Kirche ihre Be- 
glaubigung und Stütze. DerweltUche Staat gründet sich auf das 
armselige menschliche Recht — die Kirche, die irdische Er- 
scheinung des Gottesstaates, aber auf göttliche Satzung. Ver- 
gängliche, niedrig-eudätnonistische Zwecke sucht der weltliche 
Staat zu verwirklichen. Die sogenannten Tugenden seiner Mit- 
glieder sind nur glänzende Laster. Augustinus formuliert die 
Omnipotenz der Kirche. Und wie oft hatten die Päpste von Pe- 
lagius bis zu Innozenz III. mit schneidender Entschiedenheit 
in Theorie und Praxis die Suprematie der Kirche verfochten! 

In diesem welthistorischen Gegensatz zwischen Kirche und 
Staat prägt sich die Brüchigkeit der scholastischen Weltan- 
schauung in neuer Gestalt aus. Der Einstellung aller Gedanken 
und Handlungen auf das kirchliche Ideal widersprachen die 
Triebkräfte der menschlichen Natur; der Bekennung zum Dies- 
seits wehrte die Theorie. 

Diesem scholastischen Supranatural ismus Augustins sagt 
Macchiavelli Fehde an. Nicht mit offenem Visier. Aber die oppo- 



sitionelle Tendenz glüht in der Tiefe. Hier unten ist meine Welt. 
Auf sie ist der Blick zu richten. Praktische Mittel sind zu finden, 
Reformen anzubahnen zur ökonomisch-sozialen und politischen 
Förderung. Das Leben trägt ein heiliges Recht in sich selber. 
Es motiviert sich selbst und verleiht seiner Arbeit den Rechts- 
grund. Mit eigener Hand mag der Mensch sein Schicksal schmie- 
den. „Wohl mag das Glück", sagt Macchiavelli, „die Hälfte 
aller menschlichen Angelegenheiten beherrschen; aber die an- 
dere Hälfte, oder doch beinahe so viel, muß es uns selbst über- 
lassen." Es gibt soziale Funktionen, die ethischer Natur sind. 
Die gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge haben ihre Au- 
tonomie. Die Pflege der sozialen und politischen Wohlfahrt 
braucht nicht ängstlich nach einer kirchlichen oder transzen- 
denten Satisfaktion zu schielen. 

Damit ist ein neues Prinzip der sozialen Ethik geboren. Oder 
eigentlich: Das antike Prinzip, der große sittlich-soziologische 
Gedanke eines Piaton oder Aristoteles gewinnt wieder seine 
Kraft. Der teleologische Zusammenhang erhält in dem Leben 
und Gedeihen der Gesellschaft sein bestimmtes, konkret faßliches 
Ziel. Ja, man darf sich in den Dienst des Tages und des Lebens 
stellen. Die irdischen Instinkte werden erlöst. Das Handeln des 
Menschen erhält eine klare, eindeutige Richtschnur. Der Mensch 
ist beglaubigt als ein Bürger dieser Erde. Ein politischer Monis- 
mus, begründet in der Bewegung zu universaler Verweltlichung, 
begründet in der neuen Ethik und Metaphysik, wird zum Grund- 
gedanken der neuen Staatsform. Seine Tendenz ist ein ökono- 
misch-sozialer Eudämonismus. Das ist die Gesamtkontur der 
politischen Kulturverfassung. Sie wird natürlich von den einzel- 
nen Staats rechtsl ehre rn mannigfach variiert und in wechseln- 
den Farben aus getuscht. 

In diesen Zusammenhang gehört die Erwähnung einer Reihe 
typischer Schriften, sozialer undpoUtischerZukunftsträume,der 
„Utopie" des Thomas Morus, des „Sonnenstaates" des Tho- 
mas Campanella und der „Nova Atlantis" des Francis 
Bacon. Sie alle wollen dem einen Zwecke dienen, diese Erde 
wohnlich und behaglich einzurichten, den Himmel auf die Erde 
zu verpflanzen, den prakti s ch -eudämon ist i sehen Idealen, deren 
gutes Recht mit freier Stirnc ausgesprochen wird, im Leben 
der Menschen Wohnstatt und Geltung zu verschaffen. In Fran- 
cis Bacons Enzyklopädie gibt es ein Buch, das der ,,scientia 
civilis" gewidmet ist. Es enthält praktische Vorschriften zur 




Klugheit im privaten und geschäftlichen Verkehr und im Ver- 
kehr mit der Regierung. 

d) DIE NEUE RELIGIONSPHILOSOPHIE 
Welch inniger Wesenszusammenhang zwischen Metaphysik 
und Religion obwaltet, bedarf keines genaueren Nachweises. Die 
monistische Linie, deren Verlauf in einigen ihrer Stadien wir 
bisher verfolgt haben, mündet in einer Religionsphilosophie, die, 
über allen Separatismus der Kirchen und Konfessionen, über 
alle dogmatische Verengung und Vereinzelung hinaus, zur Be- 
gründung und Proklamierung eines religiösen Universalismus 
hindrängt. Diese unifizierende Bewegung äußert sich einmal in 
der Richtung, daß die vorchristlichen Religionen, tm besonde- 
ren das Judentum, nur als Vorstufen, als fragmentarische Vor- 
offenbarurgen des Christentums, daß Mose und die Propheten 
des Alten Bundes als Vorboten Christi und seiner endgültigen 
Heilswahrheit aufgefaßt werden. Es herrsche zwischen Juden- 
tum und Christentum so wenig ein tieferer, auf ihre Wurzeln 
sich beziehender Unterschied, wie ein solcher zwischen der heid- 
nischen und der christlichen Philosophie bestehe. Allerorten sei 
in dem Alten Testament ein Hinweis auf das Evangelium und 
seinen Verkünder zu finden für das Auge dessen, der nicht durch 
die Verschiedenheit der Worte und Darstellungen getäuscht wer- 
de. Hören wir eine Stelle ausGiovanni Picos berühmter Rede 
„Über die Würde des Menschen", in der von der Erwerbung und 
dem Studium der jüdischen Kabbalah die Rede ist: , .Nachdem 
ich mir diese Bücher um vieles Geld beschafft und sie mit un- 
ermüdlicher Anstrengung studiert hatte, da erkannte ich, und 
ich rufe Gott zum Zeugen meiner Behauptung an, daß ihr In- 
halt sich nicht sowohl auf die mosaische als auf die christliche 
Religion beziehe. In ihnen ist die Rede von dem Mysterium der 
Trinität, von der Fleischwerdung des göttlichen Wortes und von 
der göttlichen Natur des Messias. Ich fand in ihnen die Lehre 
von der Erbsünde und ihrer Sühnung durch Christi Opfertod. 
Sie erzählen von dem himmlischen Jerusalem, von dem Sturze 
der Dämonen, von der Rangordnung im Reiche der Engel, vom 
Fegefeuer und von den zur Hölle Verstoßenen. Ich las in die- 
sen Büchern, was wir täglich bei Paulus und Dionysios, bei Hie- 
ronymus und Augustinus lesen. In den philosophischen Par- 
tien glaubt man Pythagoras und Piaton sprechen zu hören, des- 
sen Lehren der christlichen Religion so nahestehen, daB Augu- 





sttnus ein inniges Gebet zu Gott emporschickte, als ihm die B 
eher der Platoniker in die Hände gefallen waren." 

Man wird diese Anschauung Picos, die sich auf eine sehr ge- 
zwungene kabbalistische Interpretation des Alten Testaments 
stützt, als eine Vorstufe zu einer universalhistorischen Auffas- 
sung der Religion bezeichnen dürfen. Es ist ein erster Versuch, 
die Vielheit der historischen Religionen in der Einheit der Re- 
ligion aufgehen zu lassen. Was jedoch an diesem Ansatz unbe- 
friedigt läßt, das ist der Umstand, daß schlieQlich doch, und zwar 
nicht allein in bezug auf das Judentum, der Katholizismus zu 
der allein entscheidenden Norm erhoben, die katholische Reli- 
gionzur endgültigen, unüberbietbarenForm der religiösen Wahr- 
heit gestempelt, in den Rahmen ihres Lehrsysteras die An- 
schauungen und Glaubenssätze aller anderen Konfessionen hin- 
eingezwängt werden oder hineingezwängt werden sollen. Es ist 
noch kein freies Schalten und Stehen über den Parteien und 
Sekten. Hier ist jene gewaltige Erweiterung des Gesichtskrei- 
ses nicht erreicht, die den Gedanken fallen läßt, das katholische 
Christentum verkörpere die Universalreligion, und welche über 
alle und jede konfessionelle Besonderheit hinaus und im Ge- 
gensatz zu dieser von der Verwirklichung eines allgemein- 
menschlichen Religionsgedankens träumt. Der Einheitsgedanke 
macht hier ängstlich Halt vor der historischen Gegebenheit des 
Katholizismus. Dessen kirchlich-religiöse Kultur schien gleich- 
sam den religiösen Weltbegriff in abgeschlossener, einzig mög- 
licher und notwendiger Gestalt darzustellen. 

Das Freiwerden der religiösen Vernunft ist der näch- 
ste, entscheidende Schritt auf dem Wege zur Theorie einer wirk- 
lichen Universalreligion. Das bedeutet nicht nur die gegensei- 
tige Anerkennung der verschiedenen Religionsformen, wie sie 
in Boccaccios berühmter Erzählung von den drei Ringen auf- 
leuchtet. Es handelt sich nicht allein um den Gedanken der 
Toleranz, der damals auf der Grundlage einer weiten konfessio- 
nellen Indifferenz theoretisch vertreten wurde. Es handelt 
sich um die Kristallisierung eines neuen Religions- 
gedankens. Schon Macchiavelli legt sich gegen die Allein- 
herrschaft der römischen Kirche ins Zeug, Thomas Mortis 
erzählt, daß die Bewohner der glücklichen Insel Utopia, trotz 
der Bewahrung der einzelnen Konfessionen, einen gemein- 
samen Gotteskultus eingericht;t haben. Er wiederholt damit 
einen Gedanken, den der große, in so vielen Hinsichten in 




die Zukunft weisende Nikolaus Cusanus schon tun 1440 
in seiner Schrift: „Über den Frieden oder die Übereinstimmung 
unter den Religionen" ausgesprochen hatte. Und Jean Bodin 
proklamiert in seinem Dialoge „Heptaplomeres" das neue 
Religionsprinzip als das Bewußtsein von einer allgemeinen 
religiösen und moralischen Wahrheit. Sind da in Venedig sie- 
ben Männer — - daher der Titel des Dialogs — Fürsten an 
Bildung, zusammengekommen zum Zwecke eines Religions- 
disputes. Und während ein jeder von ihnen mit Festigkeit, 
doch ohne Gereiztheit und Fanatismus den Standpunkt seiner 
Konfession verficht, ringt sich eine höhere, umfassendere An- 
sicht frei: Bei allem Partikularismus findet man eine gemein- 
same Form der Verehrung Gottes. Und diese höhere Ansicht, 
die wie der klare Tag über den Dunstkreis sektirerischer Ver- 
schiedenheit aufhellt, hat ihren besonderen Vertreter in der 
Person des Toralba. Alle diese Schriften sind erste frühe An- 
sätze zu einer Konstruktion der natürlichen Religion, die dann 
im Jahrhundert der Aufklärung zu einem vollen System aus- 
gebaut wurden. 

Fragen wir nach dem Inhalt jenes Bewußtseins, so wird uns 
die Antwort: In der Gesinnung der Humanität äußert 
und betätigt sich das Wesen der wahren Religion. Sie 
steht jenseits aller historischen und dogmatisch -systematischen 
Schranken, jenseits der mannigfachen religiösen Erscheinungs- 
formen. Das Allgemein-Menschliche ist ihr Ideal. Das ist die 
eine wahre Religion. Zu dieser „Religion Christi" bekeiuit sich 
Bodin, ein kühner Vorläufer Lessings. 

Die Renaissancephilosophie hat in dieser Hinsicht denGrund- 
stein für die Herausarbeitung dis ethischen Wertes der Re- 
ligion als des ihr wesentlichsten Momentes gelegt imd damit den 
Einigungs- und Schnittpunkt für die einzelnen positiven Reli- 
gionen deutlich bezeichnet. — 

Die metaphysische Einheitslehre empfängt in der religiösen 
Praxis der Humanität ihre Vollendung und Krönung. In der 
Erkenntnis und Verwirklichung der Einheit von Gott und Welt, 
Gott und Mensch, Mensch und Weit erreicht die Renaissance 
die erhabenste Stellungnahme des Menschen zur Wirklichkeit. 
Die kosmische und moralische Harmonie verheißt und gewährt 
ihr die Erfüllung ihrer Lebenshoffnungen. Sie macht ihr das 
Leben lebenswert und lieb. Ein Wort Brunos beschließe un- 
sere Betrachtungen. ,,Das höchste Gut, der höchste Gegen- 




stand des Begehrens, die höchste Vollkommenheit, die höch- 
ste Glückseligkeit besteht in der Einheit, welche alles in sich 
schließt." — 

Wilder regt sich in der Gegenwart der Drang nach Erreichung 
einer großen, umfassenden Synthese, der Drang nach der Ge- 
winnung aller Einzelerkenntnisse und Einzel Wirklichkeiten aus 
dem Gedanken und aus der Realität einer Einheit heraus. In 
den leitenden metaphysischen Systemen unserer Tage wirkt sich 
dieser monistische Trieb aus. Nicht die Willkür des Einzelnen, 
sondern die in ihm waltende metaphysische Vernunft ist der 
Impuls für alle diese Unternehmungen. Lotze, Fechner, Kart- 
mann, Wundt, Paulsen, sie alle erbücken in der Wirklichkeit 
ein einheitliches Wesen, eine unendliche Substanz, der alles Ein- 
zelne eingelagert und untergeordnet und welche in einheitlicher, 
immanent - teleologischer Selbstbewegung begriffen ist. Aber 
auch unsere Wissenschaften streben einem Zusammenschluß 
entgegen. Sie alle bauen sich auf der Idee auf, daß schließlich 
die verschiedenen Teile menschlichen Wissens nicht im Wider- 
streite miteinander verharren. Sie alle sind geleitet von dem heu- 
ristischen Gedanken, an ihrem Teile beizusteuern zu einer ein- 
heitlichen Lösung des Weltproblems, auf daß wir eines Tages 
die Formel finden, die das Rätsel des Wirklichen ausspricht und 
begreiflich macht. 

Diesen monistisch-synthetischen Zug teilen wir mit der Re- 
naissance. Das ist der Punkt unserer tiefen Verwandtschaft mit 
ihr. Daß wir die monistische Entscheidung nicht so leicht wie 
sie im Begriffe und Wesen Gott ;s finden können, daß wir diese 
Lösung als eine unendliche Aufgabe vor uns sehen, ist sowohl 
das Schicksal wie auch die Größe unserer geistigen Arbeit. 




MARIE JOACHIMI-DEGEZUR GESCHICHTE 
DES MONISMUS 




IE logische Wurzel für jeden Monismus ist 
das Einheitsstreben des Denkens. 
Monismus im weitesten Sinne ist jedes 
Bestreben, einen vorhandenen gedank- 
lichen Widerspruch durch das Denken 
zu überwinden; zwei Vorstellungen oder 
Ideen, die nebeneinander unvereinbar sind, 
unter Einem höheren Gesichtspunkt zu 
vereinheitlichen: ,,zu begreifen". In diesem ganz weiten 
Sinne ist jede neue Erkenntnis monistisch in ihrer Ten- 
denz, denn jede neue Erkenntnis schafft aus einer Vielheit 
eine neue Einheit oder ordnet Einzelheiten in eine Einheit ein 
und zielt nach einer absoluten Einheit. Dieses Einheits- 
streben des Denkens ist eine Tatsache , die feststeht. Es ist für 
uns die einzige Tatsache, die feststeht. Sie wird uns in 
jedem Augenblicke empirisch verbürgt. Sie ist uns (wie Kant 
nachwies) a priori gegeben. Das Denken strebt nach Einheit, 
schafft Einheit, ist Einheit. 

Was heißt Monismus also? Monismus im weiteren Sinne ist 
nur ein Wort, das direkt oder indirekt dem Einheitsstreben des 
Geistes Rechnung trägt. Es ist ein Wort zur Beruhigung, ein 
Wort wie Gott, Welt, Natur. Es bezeichnet das universellste und 
individuellste Bedürfnis des denkenden Geistes, sein Bedürfnis 
nach einer all -umfassenden Einheit. Im Worte Monismus ver- 
spricht sich das rastlose Einheitsstreben des Denkens eine ihm 
entsprechende, vollkommene Erkenntniseinheit und damit eine 
vollkommene Erkenntnisbefriedigung, vollkommene Erkennt- 
nisruhe. Es verspricht sie sich, aber es gibt sie sich nicht. Es 
kann sie sich nicht geben, und es darf sie sich nicht geben: denn 
Monismus ist eben nur ein Wort. Aber soIcheWorte sind Merk- 
steine, die der rastlos sich betätigende menschliche Geist sich 
setzt auf dem Wege seiner Entwicklung, Fahnen, die er auf- 
pflanzt, wenn ein neuer Gipfel erklommen oder in Sicht ist. Es 
sind Worte, in denen er sich sein Ziel klarmacht, in denen er 
s ich selbst bejaht. 



i 



Ov UoDiimuE II 



34 MARIE JOACHIMI-DEGE 

Alle Selbstbejahung des Denkens stellt sich im Menschen als 
konzentrierte Tatkraft und Tatenfreude dar; alle Selbstvemei- 
nung des Denkens, sei sie mystischer oder skeptischer Art, zer- 
splittert die Tatkraft und lähmt die Tatenfreude. 

Was wir die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes 
nennen, ist nichts anderes als das Schaffen neuer, reicherer, 
tieferer Einheits- und Konzentrationspunkte. Wie das Denken 
selbst, so ist auch seine menschliche Entwicklung im weitesten 
Sinne Monismus: Der menschliche Geist bereichert sich und 
erweitert und entfaltet sich, indem er inuner reichere und höhere 
Einheitsbegriffe schafft: so entstanden Götter; so wurde aus 
Göttern Ein Gott, so entstanden Weltanschauungen, und so 
entstand der „Monismus als Weltanschauung''. 

Der Monismus als Weltanschauung, so wie er heute populär 
ist, ist eine neue Erscheinung im Massengeist — nicht in 
der Philosophie. Hier steht er am Anfang der Entwicklung, 
und mehr als zwei Jahrtausende geistiger Gedankenarbeit sind 
über ihn hinweg- und hinausgegangen. 

Es wäre daher verkehrt, die Entwicklungsgeschichte des 
menschlichen Geistes als eine streng einheitliche und eng ge- 
schlossene zu betrachten. Der Massengeist mufi sich aus leicht 
erklärbaren Gründen viel langsamer entwickeln als der philo- 
sophisch-logische Geist im Einzel-Menschen. Aber die Entwick- 
lungslinie ist die gleiche. Auf derselben Bahn oder in demselben 
Rhythmus der Bewegung streben beide zur Einheit, zu einem 
absoluten, alles bedingenden und deshalb alles erklärenden 
Mittelpunkt. 

Dem klarsten und stärksten und höchsten Trieb des Menschen, 
seinem geistigen Einheitstrieb, entspricht also nicht wie den 
natürlichen Trieben eine positive Erfahrungstatsache der Be- 
friedigung, in der er sich erschöpfen und erfüllen könnte, son- 
dern eine Tatsache, für die ihm die Erfahrung fehlt und fehlen 
wird. Wir tun gut, uns dies vor Augen zu halten: Das Faustische 
Unbefriedigtsein, die romantische Sehnsucht und so vieles an- 
dere, was sogenannte vernünftige und praktische Menschen in 
sich und andern zu unterdrücken bemüht sind, hat hierin seine 
ewige unantastbare Berechtigung, und mehr! ist uns das Unter- 
pfand dafür, dafi unsere tiefste Wesenheit, unsere ursprüng- 
lichste Bestimmung über das persönliche Leben hinausragt: in 
die Unendlichkeit, in die Ewigkeit, in die Allheit, in die Ein- 
heit. Was dem Geistestrieb die Befriedigung schafft, und zwar 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 



35 



eine Befriedigung, die die Erfüllung und Befriedigung der na- 
türlichen Triebe durch Genuß bei weitem übersteigt, ist einzig 
seine ungehemmte Betätigung und die Erkenntnis seiner un- 
endlichen, ewigen — d. h. seiner über der Zeit und dem Raum 
und der Kausalität oder Bedingtheit stehenden — Wesenheit,^ 
ist die Selbsterkenntnis des Geistes durch sich selbst. 
In den Worten Gott, Natur, Welt, Monismus bejaht sich der 
Geist nicht nur, sondern er erkennt sich auch in ihnen. Seine 
menschliche Entwicklung ist nicht nur ein fortwährendes 
Schaffen von neuen geistigen Einheits- und Konzentrations- 
punkten, es ist auch zugleich eine fortwährend tiefer werdende 
Selbsterkenntnis, d. h, : die schaffende Denkmacht erkennt sich 
in jenen neuen Worten mehr und mehr als aktive Einheit und 
strebt danach, sich schließlich als die absolute Einheit zu er- 
kennen. Oder um es anschaulicher zu sagen; Die aktive Denk- 
einheit strebt danach, in sich die Alleinheit und sich in der Allein- 
heit zu begreifen: Darin besteht ,,das Streben nach Wahrheit". 

Werfen wir einen Blick zurück auf die Entwicklung dieses 
Strebens nach Wahrheit oder, was gleichbedeutend ist: auf die 
Entwicklung des menschlichen Geistes! 

In der Tatsache, daß wir so zurückzublicken vermögen, liegt 
ein Beweis, daß die Denkmacht in uns nicht an die enge Zeit- 
lichkeit unseres Ich -Bewußtseins gebunden ist, sondern sich 
freischaltend und nach eigenen, immanenten Gesetzen kon- 
struierend über den Erfahrungen und Bewußtseinsinhalten von 
Jahrtausenden bewegt; daß sie nicht nur Gegenwärtiges und 
auf Sinneseindrücken Beruhendes als subjektive, persönliche 
Erfahrung, sondern auch Zukünftiges (die Philosophie) und 
Vergangenes {die Geschichte) als objektive Erkenntnis in die 
Erfahrung einer bestimmten, zeitlich begrenzten Persönlich- 
keit zusammenschließt und so deren Ich -Bewußtsein verändert, 
gestaltet, bereichert. 

Blicken wir also zurück, so sehen wir schon ganz im An- 
fange der menschlichen Geistesgeschichte, daß der Gesamtum- 
fang der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Geistes- 
strebens zu drei Einheitsbegriffen verschmolzen ist. Der Mensch 
nennt Götter (später: Gott!) die höchste Ursache, von der er 

l- Ebenso wenig, wie der GeUt dem Gesetz des Raumes und der Zeit, deren 
Formen er schafft, unterstellt werden kann, ebensowenig darf er dem der 
Kausalität unterworfen werden. Siehe Kern: Das Wesen des menschlichen 
Seelen- und Geisteslebens, Berlin 1907, II. AuH. 



3« MARIE JOACHIMI-DBGB 



als Mensch abhängig fühlt, die er nicht mit seinem BewuBt- 
sein erreicht Jenseits der Grense seiner bewuBten Brf ahrmigen 
denkt er die erste und letzte Einheit alles Seienden, den Sinn 
des Daseins, die absolute Einheit Er nennt Welt oder Na- 
tur, was seinen Empfindungen entspricht Vermöge der Raum- 
und Zeitanschauung seines Denkens erweitert und substantia- 
lissert er die Mannigfaltigkeit der Reize von außen, die seinem 
Bewußtsein als Empfindungen gegeben werden, zu einer kon- 
kreten Welteinheit, der er als Analogon der wechselnden 
Empfindungen das Prädikat der Vergänglichkeit beil^, wäh- 
rend die auf reiner Gedankenkonstruktion beruhende All-Ein- 
heit oder Gott-Einheit das Prädikat der Ewigkeit erhält Er 
nennt Seele einen gedachten Punkt, der seine sukzessiven Emp- 
findungen in raumloser und zeitloser (also ewiger) Einheit 
trägt und zusammenhält. 

Von diesen drei Einheiten geht die eigentlich historische Peri- 
ode der menschlichen Geistesentwicklung aus. Die Tendenz, von 
der sie Richtung und Inhalt erhält, ist das Bestreben, diese drei 
Einheiten restlos als All-Einheit ineinander aufgehen zu sehen, 
sie als Eins zu erkennen. 

Bezeichnenderweise wendet sich das menschliche Denken zu- 
erst der All-Einheit zu und sucht in dieser die Erklärung für 
die Welteinheit und Menschheit. Damit nimmt es gleich die 
Grenze der bewußten Erkenntnis in Angriff und überwindet sie 
durch den Begriff eines Obermenschlichen, Göttlichen. — 
Seinem Einheitsstreben folgend, schmilzt es die Vielheit der 
Götter mehr und mehr zusammen, bis sich schließlich aus dem 
Begriff eines obersten Gottes die Idee Eines Gottes klar 
heraushebt. Dieser Eine Gott trägt allerdings die Zuge des 
Menschen und der menschlichen Erfahrung. Er ist aber auch 
zugleich ein Spiegel der Einheit der Denkmacht: Er ist 
über allen Raum und alle Zeit erhaben, ewig und unendlich, er 
ist causa sui (onmipotente Persönlichkeit), er ist der Schöpfer 
von allem Räumlichen, Zeitlichen, kausal Bedingten. 

Mit der Erkenntnis der All-Einheit als Gott ist der erste hohe 
Gipfel in der Geistesgeschichte des Menschen erklommen; die 
erste Epoche der Entwicklung vollendet : die der Mythologie. 
Mit dem theistischen Monismus, oder wie es gewöhnlich 
heißt, dem Monotheismus hat sie ihr Ziel erreicht Im Bilde 
Einer omnipotenten Persönlichkeit als dem Schöpfer, Erhalter 
und erklärenden Einheitspunkt findetdas unendliche, nach 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 37 

Einheit zselende Geistesstreben im Menschen zum erstenmal 
seine volle Selbstbejahung. Wie viel stärker diese geistige Selbst- 
befriedigimg durch eine sogenannte »»begriflliche^' Einheit ist und 
wie viel wertvoller und lebendiger und wahrer sie dem Men- 
schen instinktiv erscheint als sein blofies Ich-Bewufitsein, das 
sehen wir deutlich in Zeiten, in denen die neue Einheitsidee 
des Gottes noch gegen die Vielheit der Götter kämpft. Z. B. 
zur Zeit der Christenverfolgungen. Welch innere Bewegung! 
Welcher Aufruhr 1 Mensch gegen Mensch , Vater gegen Sohn, 
so ringen die alten Götter mit dem Einen. Der Selbsterhaltungs- 
trieb scheint wesenlos geworden. Der Christ stirbt freiwillig, da- 
mit die Idee lebt. Er stirbt im Bewußtsein, daB er Unsterbliches 
leistet, sich selbst die Unsterblichkeit erwirbt. Er stirbt „zum 
ewigen Leben in Crott^' ; d. h. er opfert sein Ich-Bewufitsein, seine 
Persönlichkeit für die Einheit der Idee: Er bejaht mit seinem 
Geist — den Geist. 

Lange bevor der Monotheismus die Periode der Mytholo- 
gie abschliefit, wird schon im Denken des Einzelmenschen die 
neue Epoche des Geistes geboren: die Epoche der Philosophie 
und der Wissenschaf t. Neben das Gottesproblem tritt dasWelt-* 
Problem. 

Die im Begriff der Gottheit geschaffene Einheit war zu eng, 
um die erweiterte Welterfahnmg und Weltempfindung in sich 
aufzunehmen. Denn die Gotteinheit verdankt ihre Existenz aus- 
schliefilich der personifizierenden Kausalitätsfunktion des Den- 
kens: Sie steht für unbedingte Ursache. Die Welteinheit aber 
war das Gebilde von Raum-, Zeit- und kombinierender Kausa- 
litätsfunktion : sie war inhaltlich reicher als die Gotteinheit und 
konnte deshalb nur durch einen Akt der Willkür aus dieser her- 
geleitet werden. Dieser Akt der Willkür, genannt Schöpfung, 
anstatt zu binden, trennte nur noch mehr, da er nicht nur die 
Zweiheit bestehen ließ, sondern auch noch dem Grade und 
Werte nach Gott und Welt voneinander trennte, Gott nicht 
neben die Welt, sondern hoch über und weit ab von der Welt 
stellte. Der Einheitsdrang des menschlichen Denkens geht des- 
halb in unbewußter Logik daran, in der reicheren Einheit, der 
Welteinheit, die ärmeren Einheiten (Gott und Seele) zu be- 
schließen. Er versucht den Einheits- und Mittelpunkt im Welt- 
ganze n zu entdecken. Damit sind Philosophie und Natur-? 
Wissenschaft (beide war^i ursprünglich eins und müssen im 
letzten Grunde immer eins bleiben) geboren. 



38 MARIE JOACHIMI-DEGE 

Um in der Welteinheit die All-Einheit zu entdecken, ordnet 
der Mensch bewuBtermaßen seine Sinneseindrücke seiner Denk- 
kraft unter. Er lernt schärfer sehen, d. h. er lernt denkend 
sehen: Er beobachtet, er forscht. Er wählt unter den Sinnes- 
eindrücken aus, was seinem Einheitsdrang entgegenkonunt, 
und er abstrahiert und substantialisiert sich aus all diesen Ein 
Gemeinsames. Er nennt es Stoff. 

Alles ist ein Stoff. Dies ist der erste Einheitssatz aus dem 
jugendlichen Geiste der philosophierenden Naturwissenschaft 
geboren. — Die Mjrthologie endet mit dem theistischen Monis- 
mus; die Philosophie beginnt mit dem materialistischen 
Monismus. 

Alles ist Wasser, sagt Thaies, indem er eine Eigenschaft des 
Stoffes , die ihm die wichtigste scheint , als das Grundelement 
annimmt. Am Anfang war das Unbegrenzte, sagt Anaximander, 
indem er — der Einheit wegen — einen Stoff ohne alle Eigen- 
schaften sich zu denken müht. Alles ist aus Luft , sagt Anaxi- 
menes, und findet so einen Stoff, der sowohl die Eigenschaften 
des Körpers als des Geistes zu haben scheint, der ihm eine be- 
lebte Materie, wie sie Haeckel erträumt, zu sein scheint. 

Damit ist die materialistisch-monistische Weisheit zu Ende. 
Was sie sonst noch im Laufe der Jahrhunderte zu sagen hat, 
ist im Grunde nichts Neues. Es sei denn, daß man die gedank- 
liche Zerlegung des Stoffes in unendlich kleinste Teile als etwas 
Neues bezeichnet. — Der monistische Materialismus scheitert. 
Der Stoff erklärt immer nur den Stoff — also nichts. Der Welt- 
gedanke, von dem ausgegangen war, wird zum Welträtsel. Es 
ist nicht nur nichts erklärt worden, sondern das Streben des 
Denkens, das den stofflichen Erklärungsversuch machte, ist 
damit durch sich selbst verneint worden. 

So sehen wir denn auch gleich in den Pythagoräern das Be- 
streben, von einer anderen Seite als der stofflichen zum Ein- 
heits- und Erklärungspunkt des All zu gelangen. Gerade das, 
was die monistisch-materialistische Weltanschauung unerklärt 
lassen mußte, erklären sie für „das Wesen der Dinge'': Das 
Wesen der Welt ist der innere Rhsrthmus, die Harmonie, in 
der alles schwingt: die Zahl. Sie tun den Schritt vom Materia- 
lismus zum Mystizismus, der unvermeidlich ist. Im Zentrum 
lebt die „Eins'S das ist das Urfeuer, das dem unbegrenzten 
Stoffe Form und Leben gab. Der Stoff selbst bleibt unerklärt. 
Die Pythagoräer sind die ersten Dualisten. Das ist keine 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 



39 



Schwäche, sondern ein Fortschritt. Jeder materialistische 
Monismus muß die Weiterdenkenden in Dualismus führen. Der 
Weg von einer niederen Einheit zu einer höheren geht über den 
Dualismus. Je schroffer der Dualismus, desto energischer macht 
sich das Einheitsbestreben wieder bemerkbar. 

So folgen auf die Pythagoräer die Eleaten: die ersten intel- 
lektualistischen Monisten. Ihr Einheitsstreben, ihr Durst 
nach Erkenntnis ist stärker als alle Freude am Persönlichen 
und schönen Einzelsein. Sie verachten das Zeugnis der Sinne, 
weil es dem Einheitsstreben ihres Geistes zu widersprechen 
scheint. Sie disputieren das Werden, die Bewegung, die Ver- 
änderung fort, um ihrem Einheitsdrange zu genügen. Sie finden 
den Einheitspunkt im Begriff des ,, Seins". Schon so früh hat 
sich das Einzeldenken zum reinen Begriff erhoben. Schon so 
früh wird der erste Versuch gemacht, das unendlich vielgestal- 
tige wechselvolle All als ewige, einheitliche Idee mensch- 
lich zu begreifen. Schon 500 Jahre bevor der griechische Olymp 
mit seiner konkreten Götterwelt dem ideellen Eingott wich, er- 
klärt Xenophon : Der Begriff der Vielheit widerspricht dem 
Gottes begriff, und behauptet Parmenides: Nicht nur Eine 
Gottheit, sondern überhaupt nur Ein Seiendes kann vor- 
handen sein, nämlich nur das, was die Vernunft als das 
Eine erkennt. 

Damit war erreicht, was auf dem Wege der Abstraktion zu 
erreichen war : Die Einheit des Stoffes war von den Joniern, 
die Einheit der Bewegung war von den Pythagoraern, die Ein- 
heit des Begriffes von den Eleaten zum Träger der Welt ein- 
heit gemacht. Jetzt erfolgt die Synthese durch Heraklit, der 
alle drei Einheiten zu einem System verschmilzt : Die Verän- 
derung ist ein Spiel des Einen. Das Eine ist das Feuer. Alles 
Werden und Vergehen ist ein Krieg der Einzeldinge miteinan- 
der. Das Resultat und der Sinn des Krieges ist die Harmonie 
in Einem: der Einklang des Vielen. 

In dieser ersten Epoche der Philosophie haben wir ein Bild 
des Rhythmus, in dem die Philosophie sich in unermüdlicher 
Anstrengung ihre Erkenntnisse und Geschichte schafft: Vom 
materialistischen Monismus zum mystischen Dualismus und 
vom dualistischen Mystizismus zum strengen, selbstbeherrsch- 
ten, klaren monistischen Intellektualismus; und dann zum 
Schluß als Zwischenglied zwischen einer alten und neuen Epo- 
che eine große Synthese, bei der die Vielheit nicht länger aus 



jo MARIE JOACHIMI'DEOE 

dtr Einheit hinautcedacht wird, sondern in die Einheit hinein- 
gegliedert wird. — Et ist geradezu Terblüffend, diese Bewegung 
durch die Jahrtausende hindurch beobachten su können. Nur 
macht sich in den folgenden Epochen neben dem dualistischen 
Mystizismus immer der ihm im Grunde so nahe verwandte 
Skeptizismus bemerkbar. Und jede neue Epoche nimmt — auf 
den Schultern der alten stehend — von einem höheren Stand- 
punkt aus das Weltproblem in Angriff oder» was dasselbe sagen 
will, beginnt mit einer tiefer greifenden, weiter reichenden Ein- 
heits-H]rpothese : Die Atomisten, die an Stelle des rohen Ur- 
stoffes die Atome postulieren; Anazagoras, d^ als Vertreter 
des mystischen Dualismus den Nous, den Weltgeist, als Ur- 
sache der Bewegung im Stoffe annimmt, der Intellektualismus 
eines Sokrates und die Synthesen des Plato und des Aristoteles — 
wie viel höher betrachten sie, wie viel weiter fassen sie und wie 
viel tiefer begreifen sie das Problem ihrer Philosophie, das 
Problem d^ Welteinheit. 

Eine dritte groBe Epoche scheint für die griechische Philo- 
sophie mit der materialistisch-monistischen Stoa anzubrechen. 
Aber da wird der Geist der Philosophie , der um Jahrhunderte 
reifer ist als der des Volkes, von der anstürmenden Gewalt des 
Massengeistes ergriffen. Während die Philosophie schon das 
Problem der Welt an Stelle des Gottesproblems gesetzt hat und 
in weiterer Entwicklung schon strebt, die Einheit des Gottes mit 
der Welteinheit (und umgekehrt I) zu verschmelzen, ist der 
Massengeist erst zum Begriff der Gotteseinheit hindurch- 
gedrungen. 

Die christliche Religion hat ihren Siegeszug angetreten; sie 
unterwirft sich alles, was denkend nach einer erlösenden Ein- 
heitsidee strebt. So gewaltig und umwälzend wirkt dieser thei- 
stische Monismus, daß die früh entfaltete Blüte hellenischer 
Geistigkeit durch die aufgewühlten Massen verschüttet wird. 
Was aus ihrer Wiurzel weiter keimt, stellt sich als Neuplatonis- 
mus in den Dienst der neuen Religion und wird schlieBlich leere 
Dekoration für die Lehren der Theologie und Scholastik. 

Im Papsttum triumphiert der Bfassengeist und der Geist der 
Theologie über den Einzelgeist. Das Bild Gottes soll der An- 
schauung bieten, was der Verstand rastlos hinter allen Erschei- 
ntuigen sucht. Jeder Gedanke, der an dieser höchsten Bildlich- 
keit etwas zu indem imstande ist, wird rücksichtslos bekämpft. 
Die Folge davon ist, daB für Jahrhunderte die Theologie an die 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 41 

Stelle der Philosophie tritt; daS an Stelle des Strebens nach 
Einheit, nach Wahrheit, die Übung in der Unterwerfung 
unter eine bildliche, symbolische Einheit tritt. — Erst als die 
Theologie in sich uneins wird, über sich selbst hinaus zu stre- 
ben beginnt, als sich aus ihrer innersten Mitte heraus das Er- 
kenntnisstreben mjrstisch spekulierend und unruhig suchend 
geltend macht, als das Gottesbi Id sich ihr selbst allmählich wie* 
der aiun Gottesbegriff erweitert, wird abermals der Versuch 
gemacht, nicht vom Bilde Gottes aus, sondern vom Problem 
der Welt, vom Problem einer realen Einheit aus, zu einer ge- 
danklichen AU-Einheit zu gelangen. 

Damit beginnt die neue Philosophie. Nicht als käme der 
menschliche Geist aus der Gebundenheit, sondern als sei er 
jahrhundertelang an der Arbeit gewesen, so erscheint er vol- 
ler, reicher, tiefer auf dem Boden der in kirchlichen Zwistig- 
keiten zerrissenen L&nder. Und jetzt, nachdem der theistische 
Monismus das Geistesleben Europas vereinheitlicht hat, wird 
nicht nur in einem Volke und nicht nur in streng chronologi- 
chem Aufbau die Philosophie entwickelt, sondern in allen Völ- 
kern Europas wird der Einzelgeist lebendig und beginnt sich 
der Führung der Massen zu bon&cht^en, und lange bevor die 
eine Gedankenrichtimg sich erschöpft hat, beginnt die andere 
und verbindet sich mit der vorhergehenden zum Akkord oder 
Diskord. 

Mit Bacon beginnt der alte Rhythmus aufs neue. Dieser neue 
materialistische Monismus, der von Hobbes auf seinen 
klarsten Ausdruck gebracht wird, nimmt gleich eine bewegte 
Materie, ja, eine gesetzmäßig bewegte Materie zum Aus- 
gangspunkt. Dadurch war das Problem der Bewegung, das die 
Alten immer wieder zum Gottesbegriff trieb, vermieden, aber 
nicht gelöst. Das neue Einheitsbild der Welt bleibt nicht tot 
und starr wie das der alten Monisten, sondern es ist ein gesetz- 
mäßig in sich bewegtes Ganzes: eine Maschine, und der Mensch 
ist eine Maschine in der Maschine — und Gott? Es gibt keine 
Gotteinheit 1 Oder mag es eine geben — was hat sie mit 
Welt der menschlichen Erkenntnis zu tun? — Aber in 
Maschme ist wiederum nicht Platz für das Denken, das sie be* 
griff lieh geschaffen« 

Deshalb läßt Descartes Bacons %iekulation unberüdcsich« 
tigt und versucht von dem „Ich denke'S als der obersten 
Gewißheit aus, sein Erkenntnisstreben zu befriedigen, die Ein- 



42 MARIE JOACHIMI-DEGE 

htitf den Mittelpunkt zu finden. Aber aus der obersten Ge- 
wißheit: „Ich denke'' wird ihm die Erklärung unmöglich; die 
denkende Seele und der nichtdenkende Körper fallen haltlos 
auseinander. So landet Descartes in einem schroffen Dualismus 
zwischen Körper und Geist. Und er nimmt schließlich an, daß 
es der Wille Gottes sei» der beides: Körper wie Geist geschaffen 
und verbunden habe. Damit mündet der spekulative Dualismus 
wie gewöhnlich in die Theologie. Mystizismus (Okkasionalisten 
und Jansenianer) und Skeptizismus (Bayle) folgen ihm auf dem 
FuBe. 

Des Denken des Spinoza war es, das den höheren Einheits- 
begriff, nach dem die Philosophie sucht, findet. Ihm gelingt es, 
Gott und Welt und Mensch zur Einheit so zu verschmelzen, daß 
jeder Begriff die andern beiden einschließt und erklärt. In Spi- 
noza hat die Philosophie ihren ersten hohen Gipfel erklommen, 
ihr erstes Ziel erreicht. Sie hat, ausgehend vom Problem der 
Welt, die drei Einheiten: Gott, Welt und Mensch als eine 
Alleinheit begriffen. Das neue Wort für den neuen Einheits- 
begriff heißt: Pantheismus. 

Wie der Begriff Gott, so ist auch der Begriff Pantheismus 
nicht nur ein Bild menschlicher Erfahrung, sondern auch zu- 
gleich ein Spiegel der Denkmacht. Der theistische Gott ist der 
Urgrund aller Dinge, über Raum und Zeit erhaben. Der pan- 
theistische Gott ist causa sui, ist aller Raum und daher in 
allem Räumlichen und Zeitlichen enthalten. 

Doch auch dieser Pantheismus schafft keine eigentliche Er- 
klärung der Allheit als Einheit, sondern nur ein Wort, das den 
Dualismus von Stoff und Geist verleugnet. In Wirklichkeit blei- 
ben aber beide unbegriffen darin nebeneinander. Nicht vermöge 
einer in ihnen erkannten inneren Beziehung, sondern vermöge 
eines äußerlichen, einfachen Rechenexempels gelingt es Spi- 
noza, sie zu verbinden. Er bringt sie auf einen gemeinsamen 
Nenner (göttliche Attribute) und zählt sie zusammen. Die Sum- 
me heißt Gottwelt oder schlechtweg Gott. In dieser Summe sind 
beide Faktoren ungekürzt und unverändert enthalten. Auch ihre 
Beziehungen zueinander sind nicht vermöge einer neuen Er- 
kenntnis erklärt, sondern nur vermöge eines neuen Wortes 
„Parallelismus'' konstatiert. Auch heute noch entspricht diesem 
Worte kein allgemeingültiger, klarer, eindeutiger Begriff, es ist 
auch heute noch nur die Oberschrift zu Erklärungsversuchen. 
— Kurz, im Worte Pantheismus verspricht sich das mensch- 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 43 

liehe Denken wohl eine höchste Einheit, in der Stoff und Geist 
als Eins zu begreifen sind, beginnt es wohl zu ahnen, daß diese 
beiden begreifbar sind; aber es begreift ihre Identität nicht. 

Da nun das menschliche Denken vermöge seiner menschli- 
chen Erfahrung nicht über diesen immer noch dualistischen 
Pantheismus hinauskommen kann imd doch seiner immanen- 
ten Natur nach darüber hinaus muB, so beginnt es, an sich 
selbst irre zu werden. Es beginnt an seiner Natur zu zweifeln. 
Es wird sich selbst zum Problem. Es sucht nach Selbst- 
erkenntnis. 

Damit beginnt eine neue Epoche in der Philosophie, die Epo- 
che, in welcher wir leben. Der dritte Einheitsbegriff, die mensch- 
liche Seele steht im Mittelpiuikt der Betrachtung, wird der 
neue Ausgangspunkt für das alte Streben nach Alleinheit.^ 

Gibt es eine Einheit, und ist alles Alles Einheit, so muß die- 
ses Eine, das „die Welt im Innersten zusammenhält'S auch in 
uns gefunden werden können, ja hier am unmittelbarsten ge- 
funden werden können. Gibt es aber keine All-Einheit, was be- 
deutet dann dieses Etwas, das uns so rastlos nach einem Mittel- 
punkt für uns und das All suchen läSt? Wer und was treibt uns ? 
Sind es grausame höhere Gewalten, die uns zu diesem ewigen 
geistigen Wandern ohne Ziel und Zweck verdammt haben? Ist 
eine höchste Gewalt in uns lebendig, die wir im Streben nach 
Einheit nur empfinden, die Ziel und Zweck in sich trägt und so 
in ims Ziel und Zweck hineinlegt? Was heißt Wahrheit? Was 
heißtErkenntnis? Was ist Wirklichkeit? Erkennen wir Wahr- 
heit und Wirklichkeit oder sehen wir nur Schein und Schatten? 
Sind wird Wirklichkeit oder sind wir — ? — «Wir träiunen 
von Reisen durch das Weltall? — Die Tiefen unseres Geistes 
kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In 
uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Ver- 
gangenheit imd Zukunft''; so spricht Novalis aus, was seine Zeit 
im Innersten bewegt und charakterisiert. 

Durch diese neuen Probleme wird die Philosophie Erkennt- 
nistheorie. Die erste Lösung finden sie im transzendentalen 
Idealismus. 

Anfang und Grundlage dieser Bewegung heißt Kants Kri- 
tik der reinen Vernunft. Sie verkündet und entwickelt die 

^ Die Monadenlehre Leibnis' ist die Synthese der alten Philosophie und zu*- 
gleich das Zwischenglied «wischen der vergangenen Epoche und der neu an- 
brechenden. 



44 MARIE JOACHIMI-DEGE 

erste und folgenschwerste Entdeckung der neuen Philosophie: 
ein a priori in «11er menschlichen Erfahrung: In aller mensch- 
lichen Erfahrung weist Kant ein Element nach, welches über 
die positive Erfahrung hinausragt und diese bedingt. In uns ist 
eine Macht tätig» die aus einer Menge zusammenhangsloser 
Empfindungen in den menschlichen Sinnesorganen eine Außen- 
welt konstruiert. Gegenstände, Natur, Welt, unser eigener Kör^ 
per werden uns nicht vermöge der Sinnesorgane unmittelbar 
gegeben und offenbar, sondern nur dadurch, daß eine geistige 
Macht in uns lebt, die alle einzelnen bestimmten Empfin- 
dungen nach eigenen immanenten geistigen Gesetzen anordnet: 
sie anordnet als Teile in einem imendlich gedachten Raum» 
als Teil in einer unendlichen Zeit, als Teilvorgang in einer un- 
endlichen Vorgangsreihe (Kausalität). Damit ist der alte Dua- 
lismus von Denken und Ausdehnung überwunden oder bei- 
seite gelegt. Ein neuer tritt an seine Stelle: Empfinden und 
Denken. 

Die geistige, konstruierende Denkmacht ist das „a priori''. 
Sie ist also nicht menschlich bedingt und nicht erst durch die 
Erfahrung geschaffen (wie englische Empiristen meinten), son- 
dern umgekehrt: Dieser Macht verdanken wir es, daß wir 
menschliche Erkenntnis und Erfahrung haben. Sie ist die Vor- 
bedingung aller Erkenntnis. 

Machen wir Ernst mit dieser Entdeckung Kants, so besteht 
das, was wir Erfahrung nennen, aus „von außen bedingten'' 
Empfindungen und aus einer transzendentalen, überpersön- 
lichen Macht (a priori), die frei (nach eigenem Gesetz) diese 
Empfindungen konstruiert und ordnet. Und das Problem erhebt 
sich I. Wie kann aus Empfindungen, die auf einem Äußeren 
beruhen, und aus einer überpersönlichen, allgemeingültigen 
Machta priori ein persönliches Bewußtsein, ein Ich, eine 
Individualität werden? II. Wie haben wir uns die Beziehungen 
zwischen den Empfindungen und jener Macht a priori zu denken ? 
Sollen die Empfindungen von jener Macht a priori durchaus 
verschieden sein, also auch in der Erkenntnistheorie der Dua- 
lismus der Tatsächlichkeiten über das Einheitsbedürfnis und 
Einheitsstreben des Geistes siegen? Oder ist es möglich, die 
Empfindungen des Menschen aus der transzendentalen Natur 
jener Macht a priori zu verstehen? 

Kant hat sich das Problem nicht so gestellt. Er tut, was die 
meisten Philosophen tun: er ninunt das Problematische, das 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 

sich aus ihren Lehren erhebt, als gegebenes Faktum oder Wort 
in sein System auf. 

Das Problem der Individualität, sowie das des Verhältnisses 
zwischen Empfindung und a priori umgeht Kant, indem er die 
Tatsache eines sog. ,, transzendentalen Ichs" verkündet. Er ver- 
kündet ein transzendentales, inhaltsleeres, rein-formales ,,Ich 
denke" als unentbehrlichen Hintergrund und damit obersten 
Gesichtspunkt alles Denkens. Dieses transzendentale Ich steht 
vereinheitlichend über den Empfindungen und dem a priori 
der einzelnen Denkfunktionen. 

Mir scheint, daß Kant mit der Annahme dieses transzenden- 
talen Ichs in Widerspruch tritt gegen die Resultate seiner eige- 
nen kritischen Analyse. Die kritische Untersuchung hat die 
Denkfunktton a priori als Grundlage und Vorbedingung aller 
menschlichen, persönlichen Erfahrung ergeben; sie hat ferner 
diese Macht als die Vorbedingung und Grundlage für und als 
das schaffende Prinzip in aller allgemeingültigen menschlichen 
Wissenschaft erwiesen. Jetzt auf einmal faßt Kant diese trans- 
zendentale Denkmacht als ein an ein Ich gebundenes mensch- 
liches Vermögen. Oder, was ist dieses Ich, welches Kant als 
,, inhaltsleer" und ,, rein-formal" gefaßt haben will? Istesein 
menschliches Ich ohne allen Inhalt, so ist es ein Nichts, leere Ab- 
straktion. Soll es ein transzendentales Ich sein, so ist es ein Postu- 
lat, für das in seiner Kritik kein Beweis erbracht ist. Und wenn 
es ein transzendentales Ich wäre, soll es dann dem a priori der 
Denkfunktionen neb engeordnet werden? Dann entstehen zwei 
apriorische Elemente, von denen das eine unbewiesen ist. Soll 
es ein und dasselbe sein, wie das Denken? Dem widerspricht 
Kants Analyse der Denk funk tion, in der kein Ich gefunden ist. 
Es bleibt also nur die Annahme, daß dieses Ich etwas ist, das 
höher steht als die Denkkraft a priori, etwas, an das das Denken 
durchaus gebunden ist: Also etwas, das wir nicht vermöge 
unseres Denkens erkennen können, sondern nur infolge eines 
guten Willens (,, intuitiv" heißt das Wort dafür) annehmen wol- 
len. Damit wird aber ein unbewiesenes Etwas zum Einheits- 
luid Ausgangspunkt von philosophischen Systemen, die alles 
beweisen wollen und sollen. So ist es in der Tat in dem auf Kant 
folgenden Jahrhundert geschehen. Den Anfang machte Fichte. 
Fichtes absolutes Ich, was ist es anderes als dieses über dem 
Denken stehen sollende, unbeweisbare Ich der transzendentalen 
Apperzeption P In diesem Ich, in diesem transzendentalen Idea- 




t Fichtcs äad«t die Welt ihren wundervollen Einheits- and 
ErUäningspunkt. Die Omnipotenz dieses Ich zugegeben, so ist 
die Fichtesche Philosophie die Tollendete Erklärung der AU- 
Einheit. Aber es ist fast unmöglich, dieses Ich von Tornherein 
zuzugeben. Das fordert eine überaus schwierige, weil gedank- 
lich umnogliche Gedanken^ tion. 

Die neue Philosophie, die vom Uenschen ausgeht, findet im 
Ficbteschen Idealismus, in Ficbtes absohitem Ich einen frühen 
Höhepunkt. Hiefi es im Theismus: Gott schuf den HenscbeM 
ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn, so heiBtcs 
jetzt: das Ich schafft alles sich zum Spiegel, zumBttde eines 
Ich wird alles geschafien. Dieser Idealismus ist keine in Jahr- 
hunderten langsam gereifte Gedankenfrucht, sondern eine auf 
dem dunkeln, schweren, fruchtbaren aber noch undurchackerten 
Boden des Kantschen Kritizismus wxmdenfoU und schnell er- 
blühte Lotosblume, die ihren leuchtenden Kelch, ihre duftigen 
Blätter abwerfen muB, sobald die Frucht in ihr schwillt und reif 
wird. J 

Indessen dieses Urteil mag nach dem Wenigen, was hier ge- I 
sagt werden kann, mit Recht vorschnell und anma&end er- 1 
scheinen. Soviel steht fest, daß Fichte als unbedingter Anhän- 
ger der Kantschen Philosophie die Konsequenzen des transzen- 
dentalen Ichs deutlicher gezogen hat, als Kant selbst, indem er 
das Ich, welches Kant postulierte, für transzendentaler — also 
noch mehr a priori — erklärte als das Denken, indem er dem 
Ich das Denken oder die Welt als dessen Geschöpf oder Nicht- 
Ich unterordnete. 

Gedankhch noch schwieriger als das Fichtesche System, bei 
dem nur der Ausgangpunkt das Denken mit sich selbst in Kon- 
flikt bringt, wird durch dieses transzendentale Ich der Kantsche 
Kritizismus selbst.^ — Dadurch, daß Kant das Denken (a priori !) 
an ein Ich band, muß er zunächst den apriorischen Charakter 
dieser reinen Vernunft wieder beschränken. Diese als eine Funk- 
tion a priori, alle Empfindungen zusammenschließende und alle 
Erfahrung bedingende Geistigkeit wird in Kants Beschreibung 
zu einem an sich leeren, rein-formalen, menschlich be- 

I SclbttreriUndlich kann es von vornherein nichts Leichtes sein, ein KEUit- 
■chet Denken in »ich aufzunehmen. Aber was beim Studium Kants <üe Mühe 
und Aiatttngung verurtacbt, ist nicht nur der Zwanf, sich gedanklich «us- 
4«hnen «u mUsien, sondern auch der Zwang sich gedanklich vecneinea xa 



lES MONISMUS 



47 



schränktenDenkvermÖgen. Er betont nicht die Tatsache, daB 
dieses geistige a priori den Menschen zwingt, alle seine subjek- 
tiven Empfindungen unter dem Ewigkeits- und Unend 
I ich keitspunkt zusammenzuschließen, daß es ihn zwingt, 
mit jeder Erfahrung, jeder Gedankenwendung auf eine abso- 
lute Einheit zu zielen, sondern die Tatsache, daß es „Formen" 
schafft, ,, leere" Formen — sagt er — für einen ,, gegebenen' 
Inhalt. Und er geht welter und behauptet, daß, eben weil nui 
subjektive Empfindungen in diese „leeren Formen" gegossen 
werden, die ganze Erkenntnistätigkeit des Menschen nichts 
weiter ist als eine Verbindung von subjektivem Empfinden 
und Formalismus; daß also alle Erkenntnis nur subjektive, 
menschliche Gültigkeit hat, und daß nichts den Menschen be- 
rechtigt, von diesen seinen leeren Formen anzunehmen, daß 
sie das, was über die Empfindung hinausgeht oder das, was die 
Empfindung verursacht, erkennen lassen ; in andern Worten : 
Diese Formen können dem Menschen keine objektiven Wahr- 
heiten erschließen. Sie vermögen — sagt Kant — aus subjek- 
tiven Empfindungen eine subjektive Erscheinungswelt zu kon- 
struieren, sie reichen aber nicht aus, um uns eine Welt zu zei- 
gen, so wie sie ist. Kurz, für den Menschen gibt es keine 
Erkenntnis der Wahrheit. Die Welt der Dinge-an-sich oder 
die Wirklichkeit ist dem Denken des Menschen auf ewig ver- 
schlossen. — Nur in der Stimme des Gewissens, in dem kate- 
gorischen Imperativ, den wir intuitiv (1) in uns vernehmen, 
offenbart sich dem Menschen unmittelbar, was den Sinn und 
die Wirklichkeit der Welt ausmacht. — 

Wären diese geistigen Funktionen a priori nur leerer Forma- 
Usmus, durchaus an menschliche Empfindungen gebunden, so 
hätte Kant recht, so hätte alles Erkennen immer nur mensch- 
lichen Gültigkeitswert, und jede Erkenntnis der Wahrheit über 
die subjektiven Empfindungen hinaus wäre ein Unding. Dann 
aber hätte Kant diese Funktion niemals als a priori bezeich- 
nen dürfen. Ist sie a priori, so berechtigt nichts, sie als an 
eine Subjektivität gebunden zu betrachten, sie so anzusehen, 
als sei sie in der menschlichen Erfahrung erschöpft und be- 
schlossen, und jenseits des menschlichen Empfindungsgehaltes 
leer, nichtig und wertlos. — Wenn wir diese Macht a priori, 
welche aus flüchtigen, subjektiven Empfindungen in uns die 
Erkenntnis einer Außenwelt und Innenwelt und eines Kosmos 
schafft, die Empfindungen zu zuverlässigen Erfahrungen kon- 



MARIE JOACHIia*DE6£ 



iolidiert imd sie in der Gattungserfahmiig Terewigt, als einen 
keren Fomuilismiis fassen, was ton wir anders» als wenn wir 
X. B« die Elektrizität mit einem TelefAion identifiaiefen? DaB 
Kant diese geistq^e Macht in der persdnHchen Erfahrung des 
Menschen als das Formgebende entdeckte, bereditigte ihn 
nicht, diese Macht als etwas an sich „Leeies'' nnd stets an den 
Menschen Gebundenes zu betrachten ; ebenso wie uns nichts 
berechtigt, die Elektrizität, die wir in einem Froschschenkel 
entdecken, ein für allemal an Froschschenkel gebunden zu be- 
trachten. — Die Tatsache aber, daß das Denken sich über alles 
rein Formale und rein Sub jektive erhebt, indem es sich selbst 
auf seine innerste Wesenheit hin im Denken des Menschen 
untersucht und betrachtet und prüft, diese Tatsache der Selbst- 
erkenntnis des Denkens durch sich selbst, wie sie in der Kritik 
der reinen Vernunft am klarsten zutage tritt, beweist gerade 
das Gegenteil von dem, was die Kritik der reinen Vernunft 
als letztes Resultat verkündet. Diese Tatsache beweist nämlich, 
daB die Denkmacht, das geistige a priori nicht an die subjek- 
tiven Empfindungen der menschlichen Erfahrungen gebunden 
ist, sondern daB sie sich selbst willkürlich als Objekt oder als 
Subjekt setzen kann; daB sie also weder rein subjektiv noch 
rein objektiv ist ; sondern unter Umständen beides zugleich ; 
— daB wir also bei der Betrachtung des a priori mit unserm 
Schema von subjektiv und objektiv überhaupt nicht auskom- 
men, da wir in diesem a priori augenscheinlich eine Macht 
sehen müssen — und zwar die einzige Macht — , die jenseits 
und oberhalb aller Subjektivität und Objektivität steht. 

DaB Kant mit dem Aufzeigen der Anschauungsformen und 
Kategorien in der Tat nicht das ganze Wesen des a priori ge- 
zeigt hat, daß er das apriorische Denken überhaupt viel zu eng 
gef afit hat, und daB er das Hauptmoment des a priori : die Ver- 
einheitlichung alles Einzelnen sub specie aeternitatis unberech- 
tigterweise auBer acht gelassen hat, wird schon in der Kritik 
der reinen Vernunft selbst deutlich. Jene ersten, weitesten und 
ursprünglichen Denkeinheiten, die Begriffe Gott, Welt, Seele 
kann Kant nicht widerspruchslos aus der reinen Vernunft 
erklären. — Sehr begreiflich I Gott, Welt , Seele sind Begriffe, 
die ein durchaus an Empfindungen gebundenes und in den Ka- 
tegorien beschlossenes Denken nie hätte schaffen können. Des- 
halb muB Kant ein neues Vermögen, eine „Vernunft im enge- 
ren Sinne", die über den bloBen Verstand tritt, im Men- 



sehen annehmen. Auf der einen Seite verursacht diese höhere 
Fähigkeit zu Vernunftideen nun bei Kant eine vollständige 
Negation des Verstandes. Denn was bedeutet es anders 
als Negation, wenn Kant zeigt, wie beim Denken dieser ,, Ideen" 
der Verstand rettungslos in Paralogismen und Antino- 
mien landet? Anderseits aber stehen dem Werte nach diese 
Ideen unter dem Verstände, denn es fehlt ihnen, — da sie 
einem ,, leeren Formalismus" ohne Emptindungsinhalt ihre 
Existenz verdanken — jede Beweiskraft. Dennoch aber sollen 
sie nach Kants Vorschrift von uns als Normen für das auf un- 
willkürlichen Empfindungen beruhende Erkennen und Erfahren 
derMenschen angenommen werden. Hier häufen sich die Wider- 
sprüche. 

Denn wenn wir das theoretische Denken oder den „bloßen 
Verstand" unter die Ideen der Vernunft stellen, so tun wir 
nichts anderes, als daß wir den Vernunfteinheiten (oder Ver- 
nunfturteilen) jenseits der Erfahrung eine größere Bedeu- 
tung beimessen als denen, welche auf Erfahrung (d. h. auf 
dem Denken plus Empfindung) beruhen. Wir negieren nicht 
die Bedeutung und den Wert des Denkens, sondern den der 
Empfindung. Wir stellen das sogenannte ,, formale" Denken 
über die menschliche subjektive Empfindung. Anderseits aber 
treten diese Ideen bei Kant unter die Erfahrung, denn es fehlt 
ihnen die Beweiskraft des mit Empfindung verbundenen 
Denkens. Somit ist also nicht das formale Element, sondern die 
subjektive Empfindung in der Erfahrung das Beweiskräftige. 
Damit negieren wir die Bedeutung und den Wert des 
Denkens. Sollen wir diese zum Teil leeren, formalen, unbe- 
wiesenen Begriffe aber als Normen annehmen, nach denen wir 
Erkenntnis und Erfahrung suchen, so wird entweder unserm 
Willen ein Einfluß auf die Welt der Dinge-an-sich zugestanden, 
aus der uns unsere Empfindungen ja ohne unser Zutun gegeben 
werden, oder aber es wird indirekt dem Denken eine höhere 
Macht als bisher eingeräumt, da es dann die Fähigkeit hat, 
unter den ,, gegebenen "Empfindungen auszuwählen, was seinen 
eigenen Zwecken entspricht. 

Kurz, Kant landet in Widersprüchen und Dualismus. Seine 
Gedankenentwicklung zeigt ihm überall ein Zweifaches, das 
sich nicht anders löst, als indem er das eine dem andern mit 
Schärfe zu unterwerfen versucht. Aber vergeblich; es bleibt ein 
Zwiespalt. Kant leugnet nicht die Einheit der Welt, nicht die 



so MARIE JOACHIMI^DEGE 

Einheit des Menschen, nicht die Einheit des Denkens, nicht 
die Einheit des Handehis, aber er postuliert — bzw. beweist 
— einen inneren Widerspruch in diesen. Ein höheres und ein 
niederes steckt darin ; das höhere ist aber immer das, was sich 
nicht dem Denken, sondern der Intuition erschließt. So zer- 
fällt die Welt in die höhere Welt der Dinge-an-sich und in 
die niedere Welt der Erscheinung. Das menschliche Gei- 
steswesen in die höhere praktische Vernunft und die nie- 
dere theoretische Vernunft; die theoretische Vernunft wie- 
der in die höhere Vernunft der Vemunftideen und die nie- 
dere des bloSen Verstandes ; und in der praktischen Vernunft 
siegt das freie „Ich muB'' über das niedere unfreie „Ich 
möchte'', die moralische Selbstüberwindung über die niedere 
unmoralische Natürlichkeit. Trotzdem aber verzichtet Kant 
nicht auf die Annahme einer All-Einheit. Aber da er den an- 
scheinenden Widerspruch von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von 
endlich und unendlich, von frei und bedingt, kurz, die Zweiheit 
von Ich und a priori ohne nähere Untersuchung ihres inneren 
Verhältnisses als „transzendentale Apperzeption'' an die Spitze 
seines Sjrstems gestellt hat, so kann er nur in gelegentlichen 
Bemerkungen von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit 
einer höheren Einheit, in der sich alle Widersprüche lösen, 
sprechen. 

Die Folge ist, daß in Zukunft die Philosophie, diese höhere 
Einheit, die in sich den Dualismus Kants überwinden soll, rast- 
los sucht. Aber sie sucht sie nicht in der reinen Vernunft mehr, 
sondern sie forscht intuitiv nach dem unerkennbaren Ding- 
an-sich. Dieses Ding-an-sich, das man auf den „imaginären 
Engelsflügeln" der Intuition entdeckt, sieht in jeder Philosophie 
anders aus und wird je nach dem Charakter des einzelnen Phi- 
losophen als „Ich", „Tat", „Kunsttrieb", „Geist", „WiUe" be- 
zeichnet. 

Jener Punkt, wo Kant das Unerkennbare in den Menschen 
einströmen läßt, wird der Ausgangspunkt für den transzenden- 
talen Idealismus der nachkantischen 2^it. Daher die Kühnheit 
der Spekulation und die Freude an künstlerischer Konstruk- 
tion, die Möglichkeit einer geschlossenen Systematisierung, mit 
der man im Jahre des Heils 1794 oder 1802 oder 1807 ^U^ ^^- 
sei der Zeit und Ewigkeit auf einmal zu lösen unteminmit : Von 
einem gegebenen archimedischen Punkt jenseits der Welt kann 
man die Welt aus ihren Angeln heben. — Daher aber auch der 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 



51 



gro&e Rückschlag: Die stolze Abwendung der exakten Wissen- 
schaften von der Philosophie ; das Emporwuchern von Skepti- 
zismus, Mystizismus, Materialismus unter dem Namen Philo- 
sophie, die schließliche Zersplitterung der ganzen Wissenschaft 
und die Identifizierung von Philosophie und Philosophiege- 
schichte. Man stand in einer Sackgasse, und es war nur kon- 
sequent, wenn Schopenhauer schließlich der Philosophie Selbst- 
mord predigte. Eigentlich hätte die Philosophie schon mit Kant 
aufhören müssen. Denn was wil! eine Philosophie tun, wenn 
sie erkannt hat, daß ihr Denken rettungslos in Paralogismen 
und Antinomien landet und ihrer Spekulation jede Beweiskraft 
fehlt ? Will sie ohne Gedanken weiter denken und ohne HoS- 
nimg auf Einheit und wirkliche Erkenntnis weiter spekulieren ? I 
Vieltausendmal besser keine Philosophie, als eine, bei der es 
nach Goethes Worten heißen muß : 

,,Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier, im Kreis herum- 
geführt auf einer öden, dürren Heide!" 

Aus all der Verwirrung der nachkanti sehen Philosophie er- 
tönte plötzlich der Ruf: „Zurück zu Kant!" Mit Recht! Kant 
war die unbesiegte Festung im Rücken, die alles Vordringen un- 
möglich machte. 

Zurück zu Kant 1 Das heißt : Kant noch einmal denken ; 
kritisch durchdenken; Kants Erkenntnisse für die Erkenntnis 
nutzen und seine Irrtümer an ihren hundertjährigen Folgen er- 
kennen und meiden. 

Zurück zu KantI Das heißt aber zunächst zurück zur Kritik 
der reinen Vernunft; denn hier liegt Kants größte Tat: die Ent- 
deckung des a priori. Betrachten wir aber dieses a priori näher, 
so ist es nichts anderes, als was wir als das Einheitsstreben in 
der Geschichte des menschlichen Geistes erkannten, und als den 
treibenden Puls alles Fortschrittes empfanden. Denn alles, was 
Kant als das formale Wesen dieses a priori bezeichnet : Die 
Denkbegriffe oder Kategorien, die Anschauungsformen von 
Zeit und Raum, die Kausalität, wie die gesamte logische Funk- 
tion: Analyse und Synthese, Induktion und Deduktion, Ver- 
gleichen und Unterscheiden sind im letzten Grunde nur Worte 
für die Art und Weise, in der sich der Einheitstrteb im 
menschlichen Geiste betätigt, in der sich die unbewußte An- 
nahme einer All-Einheit dem Bewußtsein allmählich erschließt. 
Es sind Formen, in denen eine al lesumfassende und bedingende 
Getstesmacht sich im Menschen darstellt, und zwar sich auch in 

4* 



Sa MARIE JOACHIMI-DEGE 

dieser Gestalt als das Bleibende und allem zugrunde Liegen- 
de darstellt.^ Auch als menschliches Denken trägt diese Macht 
a priori ihren transzendentalen übermenschlichen Charakter: in 
eine unendliche (d. h. nicht bedingte und nicht begrenzte) 
einheitliche Zeit» einen unendlichen, einheitlichen Raum, in 
ein unendlicheSi einheitliches Geschehen ordnet sie eine 
bunte, mannigfaltige und menschlich begrenzte Empfindungs- 
reihe und ein begrenztes Bewußtsein als Ich, d. h. als Einheit 
in die All-Einheit ein. 

Was nun die weitesten und letzten Einheitsbegrifie: Gott, 
Welt, Seele anlangt, so versagt nicht der Verstand als solcher 
vor ihnen, sondern Kants Definition. Hätte Kant das a priori 
nicht durch ein Ich begrenzt, hätte er vielmehr die Tat- 
sache, daß es überhaupt keine menschliche Erkenntnis gibt, 
die nicht die subjektiven Empfindungen unter dem Ewig- 
keits- und Unendlichkeitsgesichtspunkt zusammenschließt 
und vereinheitlicht betont, so wären die Ideen: Gott, Welt, Seele 
nur die auffallendsten Beweise für diese einheitliche und unbe- 
dingte und ewige Natur der reinen Vernimf t gewesen.^ Und an- 
statt an unserem theoretischen Erkenntnisvermögen zu ver- 
zweifeln und eine intuitive Gewißheit beim kategorischen Im- 
perativ vergebens zu suchen, hätte Kant nur die Konsequenzen 
seiner eigenen Entdeckung aus der transzendentalen Natur des 
Erkenntnisvermögens zu ziehen brauchen, um die unbegrenz- 
ten Möglichkeiten der Erkenntnis in diesem Erkenntnisvermö- 
gen selbst begründet zu finden. Er hätte hier auch die Basis für 
alle menschliche Ethik und Kunst finden können. Er hätte 
nicht inuner neue „Vermögen'' im menschlichen Geisteswesen 
konstatieren müssen und Nietzsches Vorwurf: „vermöge eines 
Vermögens'' hätte die Jugend nicht in eine antiphilosophische 
Stinunung treiben können. Vor allem aber wäre der verhäng- 
nisvollste Dualismus, der von Verstand und Vernunft, mit sei- 
nen grausamen Konsequenzen für das philosophierende Indivi- 
duiun und für die Philosophie, uns erspart geblieben. 

Denn daß jene Denkeinheiten: Gott, Welt, Seele durchaus 
nichts Paralogistisches enthalten, sondern richtige, wenn auch 
nicht volle Selbsterkenntnis des reinen Denkgeistes sind, der- 
selben Macht, die Kant auf einer höheren Stufe der Abstraktion 

^ Ich habe im Archiv für systematische Philosophie XII, 4. 1906, S. 490 — 494 
nachzuweisen versucht, wie sich die Paralogismen und Antinomien mit dem 
ganzen Schematismus der Kategorientafel auflösen. 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 



53" 



als das geistige a priori im Menschen entdeckt und nachweist, 
wird schon klar, wenn wir diese Denkeinheiten — nach der 
Weise der Naturforscher, die in den primitivsten Lebewesen das 
eigentliche Wesen der komplizierten Organismen sich zu ent- 
decken bemühen — in ihrer primitiven Bedeutung und geschicht- 
lichen Wirkung betrachten. Da ist bemerkenswert, daß sich der 
Mensch von Anfang an zu diesen Einheiten in ein persönliches 
Abhängigkeitsverhältnis bringt, daß er sie als ewig und 
unendlich bezeichnet und von ihnen seinen Teil an der Ewig- 
keit {dem ewigen Leben) und der Freiheit (Seligkeit) erwartet. 
Man hat dies von philosophischer Seite so angesehen, als sei es 
ein kindisches Vergessen der Tatsache, daß diese Einheiten ja 
erst von ihm selbst geschaffen sind. Man muß aber hierin viel- 
leicht eine andre Tatsache sehen, nämlich die, daß der Mensch 
jene Funktion, jene Denkmacht, die in ihm die Einheitsbe- 
griffe schafft und sich in diesen Begriffen darstellt, instinktiv 
als die absolute, ewige, unendliche Macht in sich erkennt, 
der gegenüber das, was ihm in seinem Empfinden als Mensch 
und Ich gegeben ist, nur ein abhängiger Teil ist. 

Mit dieser Annahme einer instinktiven Erkenntnis 
der über persönlichen Bedeutung des von Kant nachgewiesenen 
a priori stimmt überein, daß sich der Mensch vermöge jener 
als absolut gedachten Einheitsbegriffe seine Teilnahme 
am Weltgeschehen, an der Naturschöpfung und Weltge- 
staltung zu sichern bestrebt ist: Der Wilde möchte das Welt- 
geschehen durch Bestechung der Götter (Opfer) zu seinem 
Vorteil lenken. Die Schüler des Sokrates in Griechenland und 
Rom versuchen durch Erkenntnis der Welt Einfluß auf das 
Gesamtgeschehen zu erlangen. Der moderne Mensch aber strebt 
mit vollem Bewußtsein, die ihm im Denken gegebene Herr- 
schergewalt auszuüben, sich die Außenwelt vermöge jener 
Denkkraft zu unterwerfen; und hierbei tritt klar zutage, daß 
diese überpersönliche Denkmacht ihn wirklich und persönlich 
zur Teilnahme an der Weltschöpfung ^ an der Gestaltung sei- 
ner Erde, seines Ich -Bewußtseins der andern Menschen — be- 
ruft. 

Keineswegs aber erwartet der Mensch ursprünglich die Norm 
für seine Handlungen, die Direktive für sein praktisches Leben 
von einemkategorischen Imperativ, den er gar nicht empfindet; 
er erwartet sie indessen auch nicht von seinen Empfindungen 
und Gefühlen. Sondern er erwartet eine sogenannte ,, höhere" 



54 MARIE JOACHIMI-DEGE 

Norm und Bestimmung von den höchsten Einheitsbegrifien 
seines Denkens: von seinen Göttern die Gebote, von seiner Welt- 
anschauung die Ethik: das heiBt, er unterwirft seine Handlun- 
gen der gedanklichen Einheit» unterstellt sie der Kontrolle sei- 
nes denkenden Einheitsstrebens. 

Denken wir doch nicht gering von diesen ersten und funda- 
mentalen Äußerungen des menschlichen Denkinstinkts. Unsere 
heutige Erfahrung, Logik und Ethik, — das Erbe und die Zu- 
kunft aller Gedankenarbeit — lag sicher schon als Keim und 
Ziel in jenen instinktiven Erkenntnissen. 

Eine auffallende Tatsache aber ist es auch, daB der mensch- 
liche Geist seine Geschichte nicht mit der Einzelerfahrung be- 
ginnt und auch nicht mit der Menscheinheit oder Welteinheit, 
die ihm doch teilweise wenigstens als „Erf ahrung^^ gegeben sind, 
sondern damit, daB er sogleich über die Grenze der Erfahrung 
hinaus das Problem der All-Einheit oder das Gottesproblem 
in Angriff nimmt. Nicht eine dem Ich-BewuBtsein als Erfahrung 
feststehende Tatsache, sondern eine dem Ich-BewuBtsein unfaß- 
bare AU-Einheit wird diesem von Anfang an zur Grundlage und 
letzten Erklärung für seine Erfahrung, zur höchsten Instanz für 
seine Handlung und zum Ausgangspunkt seiner Entwicklungs- 
geschichte. 

Wenn es überhaupt erlaubt ist, aus primitiven Gedanken die 
komplizierteren zu verstehen, so liegt hierin der klarste Beweis, 
daB das menschliche Denken viel mehr ist als unend- 
liches Denken und bewußte Logik, daß es ursprünglich 
überhaupt nicht bewußte Logik ist, sondern unbewußter Trieb 
— also eine überpersönliche, die Persönlichkeit bedingende 
Macht, die als „Denknotwendigkeit^^ empfunden und bezeichnet 
worden ist. Denknotwendigkeit ist nichts anderes als ein Wort 
dafür, daB unser Bewußtsein hinter unserem Denken zurück- 
bleibt, von unserem Denkinstinkt bedingt wird. Wie die Na- 
turgesetze, die dem Menschen als Triebe bewußt werden, den 
Menschen in den Dienst des Alls stellen, ihn in eine höhere 
Einheit und Gesamtheit eingliedern und ihn zwingen, letzten 
Gnmdes in dieser Gesamteinheit auf- und unterzugehen, so 
wird auch die überpersönliche reine Vernunft dem Menschen 
als Einheitstrieb, Denkinstinkt und Denknotwendigkeit bewußt. 
Und dieser geistige Trieb bedeutet für uns letzten Gnmdes das 
Gleiche, wie das, was wir als Naturtrieb in uns bezeichnen: Den 
Zwang, uns in eine höhere, weitere Einheit einzupassen. Un- 



^ 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 55 

bewußter maßen strebt alles menschliche Denken zu einer abso- 
luten Einheit und will sich dort verlieren; bewußtermaßen aber 
strebt es danach, sich als vollwertigen Teil im Ganzen zu be- 
haupten und das Ganze in sich zu begreifen. Hier liegt das 
Problem der Individualität. Bei dessen Lösung aber darf nicht 
vergessen werden, daß niemals bewußtes und unbewußtes Den- 
ken im Menschen getrennt voneinander erscheinen. In jeder 
einzelnen Erkenntnis steckt zugleich die unbewußte Beziehung 
auf ein Absolutes, Unendliches; und jede unbewußte Erkennt- 
nis über die Erfahrung hinaus umschließt und gründet sich auf 
die gesamte bewußte Erfahrung. Eine ungezählte Menge von 
unbewußten Gedankenvorgängen geht dem bewußten Denken 
voraus, begleitet es und folgt ihm. Rein empirisches Denken 
ist eine Fiktion, wie der isolierte Mensch eine Fiklion ist. Aber 
das, was unbewußt über das Ich hinausdenkt, ist nichts anderes, 
als was im Ich denkt, wodurch das Ich gedacht wird. Es ist 
dieselbe transzendentale Weltmacht, die auch als menschliches 
Denken sich als einheitliche Macht und einheitschaffende Macht 
darstellt und das Ich des Menschen zwingt, sich bewußt und un- 
bewußt einer im Bewußtsein noch nicht gekannten All-Einheit 
einzugliedern: unbewußt ermaßen Monist zu sein, bewuß- 
termaSen danach zu streben, es zu werden. 

Ein innerer Widerspruch zwischen dem erfahrungsmäßig be- 
wußten Denken oder dem Verstand und den über den positiven 
Bewußtseinsinhalt hinausgreifenden Vemunftideen Gott, Welt, 
Seele darf nicht angenommen werden. Diese Einheiten sind 
nichts Leeres, was, soweit ihm keine Erfahrung zugrunde liegt, 
nur formale Bedeutung hat, sondern Bezeichnungen für etwas 
durchaus Positives, das in aller Erfahrung {nur unter anderem 
Namen oder namenlos!) steckt. Diese Einheiten sind die Aus- 
gangspunkte aller menschlichen Erfahrung'und Wissenschaft 
und Philosophie und nicht, wie Kant annahm, unerreichte 
Höhepunkte imd Ziele. Sie sind Urformen des menschlichen 
Erkennens, nicht formale Ideale desselben. Welche Macht will 
es denn wagen, dem Denken von vornherein ein bestimmtes 
Resultat als Ideal vorzuschreiben?! Sie bedeuten keine Normen 
und Aufgaben für das Denken, keine Ziele, die es zu erreichen 
gälte, sondern es sind Ziele, die erreicht sind, und die Auf- 
gabe, die sich das Denken selbst kraft seiner transzendentalen 
(oder apriorischen) Natur augenscheinlich gestellt hat, ist ihre 
Überwindung, ihre Verschmelzung zur Einheit. Nicht um 



56 MARIE JOACHIMI-DEGE 

diese drei zu erkennen und zu stützen, sondern in dem Be- 
streben, sie zur Einheit aufzulösen, kommt menschliche Philo- 
sophie und Wissenschaft zustande. — Dies lehrte ein einfacher 
Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte des menschlichen 
Denkens. Er zeigte, wie die Menschheit sowohl im Gesamt- 
denken wie als philosophisch-wissenschaftliches Einzeldenken 
danach ringt, „ihr Zentrum zu finden'', d. h. einen Punkt, von 
dem aus betrachtet sich die Dreiheit und damit die Allheit zur 
Einheit löst. 

Die Tatsache, daB augenblicklich im Massengeist der mate- 
rialistische Monismus Haeckels so gezündet hat, zeigt vielleicht, 
daB jetzt im Massengeist das Weltproblem an Stelle des Gottes- 
problems treten soll; daB also der Massengeist jetzt da steht, wo 
der philosophische Geist des Einzelnen begann. 

Aber auch trotz der Einschränkung bleibt Kants überragende 
GröSe unangetastet. Seine großartige Entdeckung des tatsäch- 
lichen Vorhandenseins des a priori im Menschen, was bisher 
von der Menschheit nur instinktiv als Denknotwendigkeit emp- 
funden oder nur in der Phantasie geschaut und in den Religi- 
onen als Offenbarung verehrt worden war, bleibt die Tat des 
gröBten philosophischen Genius aller vergangenen Zeiten. 
Kants Kritik der reinen Vernunft ist der Fels, auf dem allein 
die Zukunft der Geistesgeschichte aufgebaut werden kann. Der 
Irrtiun eines solchen Geistes schafft mehr geistiges Leben und 
Streben als die Quintessenz des Denkens gewöhnlicher Geister 
durch Jahrhunderte. 

Die große Tatsache bleibt: Kant hat uns auf analytisch-kri- 
tischem Wege ein Element entdeckt, das über die enge Ichheit 
des Menschen hinaus ein unbedingtes aktives Prinzip darstellt: 
ein Bleibendes, sich immer Gleichbleibendes in der Erschei- 
nungen Flucht, ein a priori, das sich im Menschen als einheit-. 
schaffendes Denken darstellt und den Menschen zwingt, seine 
Einheit in die All-Einheit einzugliedern. — Im menschlichen 
Denken haben wir eine Darstellung der Macht, die einheitlich 
schaffend über den Menschen hinausragt und deshalb ihn fort- 
während über sich selbst hinaustreibt; und nichts berechtigt 
uns zu der Annahme, daB diese Macht a priori in sich selbst 
widerspruchsvoll sei, oder den Menschen zum unvermeidlichen 
Widerspruch triebe. Sie treibt ihn allerdings, aber nur dazu: 
alles Zwiespältige, Widerspruchsvolle durch eine höhere Ein- 
heit in sich zu überwinden. 



Wenn wir nim diesem unserem innersten und höchsten Triebe 
gemäB nach einem ersten und letzten Einheitspunkt und Ein- 
heitsgrund alles Seienden suchen, nach Einem Grundprinzip, 
das alles in sich begreift, — wo wollen wir es finden als eben 
in dieser Macht a priori, die auch als Teil in uns alles in sich 
zu begreifen strebt; wo können wir es finden, wenn nicht in 
diesem geistigen Moment a priori, das wir in der Kritik der rei- 
nen Vernunft als die Grundlage und Vorbedingung aller Erfah- 
rung erkannt haben; das seiner Natur nach Subjektivität und 
Objektivität vereint, und das sich in allen Einheits begriffen, 
die es dem Menschen schafft, als All-Einheit spiegelt. Freilich, 
Kant hat mit der Entdeckung des a priori nur den Anfang zu 
einer ganz neuen Erkenntnisweise gemacht, erst die Basis für 
eine neue Philosophie geschaffen. Den Umfang, die Weite, Tiefe, 
Größe, Bedeutung dieses geistigen a priori zu ermessen, die Trag- 
weite dieser Entdeckung für unsere zukünftige Erkenntnis aus- 
zunutzen, die Allheit in dieser Einheit immer mehr zu entdecken, 
das ist die Aufgabe des Denkens einer unermeßlichen Zukunft; 
— das eben ist menschliche Philosophie. 

Wir stehen heute um loo Jahre höher in der Erfahrung und 
in der Erforschung der Natur als zu Kants Zeiten; und in diesen 
100 Jahren ist die Naturwissenschaft dahin gelangt, daß sie alle 
Stoffe, alle Veränderungen, alles anscheinend Zwiespältige als 
die Erscheinung Einer aktiven Einheit oder einheitlichen Ak- 
tivität begreift. Ist diese ,, Energie", zu der sich dem Naturfor- 
scher alles auflöst, aus der sich alles gestaltet, nicht die gleiche 
Aktivität, die sich auch in uns als apriorische Funktion zu er- 
kennen gibt? Sind also Mensch und Natur, Körper und Seele, 
Weltleben und Empfindungsleben in einem höheren Sinne ein 
und dasselbe: Ein großes, einheitliches, geistiges Geschehen? 
Können wir auch Empfindungen und Gefühle als Teilvorgänge 
in dieser Einheitlichkeit erkennent* Ist ,, Leben" am Ende auch 
nur die Offenbarung, ein anderes Wort für dieses unendlich volle 
a priori? Diese Fragen sind in letzter Zeit von naturwissen- 
schaftlicher Seite mit ,,Ja" beantwortet. Kern gelingt es unter 
Wahrung widerspruchsloser Einstimmigkeit zwischen moder- 
ner naturwissenschaftlich-materieller und philosophisch - im- 
materieller Betrachtungsweise, das, was der transzendentale 
Idealismus vermöge der intuitiven Betrachtungsweise nur po- 
stulieren konnte: Die Identität von Leib und Seele, von Natur 
und Geist, zu demonstrieren und dem a priori — ,,dem weit- 



bildenden Denken" — als der höchsten Einheit die Empfin- 
dung, die Gefühle, den Willen als Teilvorgänge einzugliedern. 

So ist heute nach vielen spekulativen Irrfahrten und müh- 
samem induktiven Vorwärtsdringen unser Selbstbewußtsein stark 
genug geworden, um der Übergewalt der Autorität Kants die 
Wage zu halten. Wir erleben jetzt die Zeit, in der es nicht mehr 
als unreife Vermessenheit gilt, an Kants Denkresultate mit kri- 
tischem Geiste heranzutreten. Anders war es vor loo Jahren. 
Damals wurde neben Kant ein Jüngling reif, der, als geborener 
Denker und Philosoph, zugleich die Größe und den Widerspruch 
der Kantschen Philosophie am eigenen Leben fühlte; der dann 
von der unermeßlichen Gewalt des Fichteschen Idealismus er- 
griffen, sein Ich zum All zu erweitern strebte, und dann von 
der Unmöglichkeit dieses Beginnens ermattet, sich als ein im 
Geiste Gedemütigter in den Schoß der katholischen Kirche flüch- 
tete. Dieser Jüngling war Friedrich Schlegel. Er lebte Philoso- 
phie! Und er war es, der zuerst mit kritischem Geiste an die 
Kantsche Philosophie herantrat und auch in dem neuen Idealis- 
mus das Unmögliche erkannte, ohne die Fähigkeit zu besitzen, 
das, was er darüber hinaus oder dazu zu bemerken hatte, s o zu 
sagen, daß es vernommen werden mußte. 

So schreibt er 1798: ,,Laß uns nicht länger vergleichen, son- 
dern gleich von der höchsten unter den Kräften des Menschen 
reden, welche die Philosophie erzeugen und bilden und wieder 
von ihr gebildet werden. Das ist nach dem allgemeinen Urteile 
und Sprachgebrauche derVerstand. Zwar setztdie jetzige Philo- 
sophie ihn nicht selten herab und erhebt die Vernunft weit höher. 
Es ist auch ganz natürlich, daß eine Philosophie, die mehr zum 
Unendlichen fortschreitet als Unendliches gibt, mehr alles ver- 
bindet und mischt als Einzelnes vollendet, nichts höher schätzt 
im menschlichen Geiste, als das Vermögen, Vorstellungen an 
Vorstellungen zu knüpfen, und den Faden des Denkens auf un- 
endlich viele Weisen ins Endlose fortzusetzen. Diese Eigentüm- 
lichkeit ist indessen kein allgemeingültiges Gesetz. . . Verstand 
aber ist das, worauf es eigentlich ankommt, wenn von dem Geiste 
eines Menschen die Rede ist. Verstand ist das Vermögen von 
Gedanken. Ein Gedanke ist eine Vorstellung, die vollkommen 
für sich besteht, völlig ausgebildet ist, ganz und innerhalb der 
Grenzenunendlich; das Göttlichste, wases immensch- 
lichen Geiste gibt." 

1780 aber findet er sich mit dem Idealismus seiner Zeit ab» 



ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 



59 



„Der Idealismus, in praktischer Ansicht nichts anderes als der 
Geist jener Revolution, die groBen Maximen derselben, ist in 
theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch 
nur ein Teil, ein Zweig, eine ÄuBerungsart von dem Phänomen 
aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften 
ringt, ihr Zentrum zu finden. . . . Der Idealismus in jeder 
Formmußauf die eine oder andre Art aussichherausgehen, 
um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben, was er ist. 
Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein ebenso 
grenzenloser Realismus erheben." 

Dieser Idealismus der Zukunft, von dem Friedrich Schlegel 
hier weissagt, der ,,aus sich selbst" herausfindet von der 
Menscheinheit zur All-Einheit, dieser Idealismus ist, so scheint 
es, jetzt im Entstehen. — Der Mensch hat auf dem „geheim- 
nisvollen Weg nach Innen", von dem Novalis redet, wirk- 
lich „die Ewigkeit mit ihren Welten", „die Vergangenheit und 
Zukunft" entdeckt. Und jetzt, wo er aus einem Selbst, seinem 
Innern, aus dem Ich wieder herausgeht, eröffnet sich ihm in 
Verbindung mit den Errungenschaften der Naturwissenschaft 
ein „grenzenloser Realismus", eine reale geistige All-Einheit, 
die auch dem Ich des Menschen neues Leben, neue Bedeutung 
und ein neues Gebiet der Betätigung und eine neue Heimat gibt. 

Ein neuer Monismus, der Idealismus und Realismus in sich 
vereinigt, ist das Wesen und Ziel dieses neuen Idealismus. 

Der populäre materialistische Monismus aber ist eine vor- 
schnelle Begriffs bildung. 



OTTO WEISS - 



SCHOPENHAUERS MONIS- 
MUS 




IE Philosophie des Rationalismus, welche 
fast zweitausend Jahre die abendländische 
Weltanschauung beherrschte, ist, soweit 
sie überhaupt monistisch war, recht eigent- 
lich Philosophie des abstrakten Monismus 
gewesen. In ihrem Bestreben, von der Man- 
nigfaltigkeit der Erscheinungen zu einem 
obersten Prinzip vorzudringen, mag dies 
nun auf einem mehr objektiven oder mehr subjektiven Wege 
gesucht, mag es als allerrealstes und vollkommenstes Wesen 
{Gott), als Gipfelpunkt der Welt, auf den alle Dinge mehr oder 
weniger hinweisen, oder mag es als hinter uns liegendes, den 
WeltprozeB produzierendes Subjekt gedacht werden, immer 
mußte sie, sobald sie einmal Denken mit Sein identifiziert hatte 
und nun ihrem Grundsatz „alles was ist, ist vernünftig" treu 
blieb, bei einem abstrakten, aller konkreten Bestimmung ent- 
behrenden Ziele anlangen. Durch fortgesetzte Abstraktion von 
allen sinnlichen Eigenschaften als bloßer Akzidentien an der zu- 
grunde liegenden Substanz, mußte sich ihr die ganze Welt in 
einen Traum, in eine bloße Illusion verflüchtigen, während sie 
das dahinterliegende Wesen in einer abstrakten, rein begriff- 
lichen Einheit suchte. Auch der nachkantische Rationalismus, 
der nun wenigstens von der subjektiven Seite zum wahren Sein 
unmittelbar vordringen zu können glaubte, scheiterte daran, daß 
er von allem Inhalt des Bewußtseins abstrahierte und in der 
reinen BewuBtseinsf orm, die doch nur durch den jeweiligen In- 
halt ihre ganze Bedeutung erhält, das Sein uiunittelbar finden 
wollte, indem sie er zur metaphysischen Funktion hyposta- 
sierte. 

Es ist das größte Verdienst Schopenhauers, sich dadurch, daß 
er von vornherein auf apodiktische Gewißheit seiner Philoso- 
phie verzichtete, die Möglichkeit geschaffen zu haben, über die 
Sphäre des reinen Denkens, des idealen Seins hinauszugelangen. 
Er stellte in seinem Irrationalismus der rationalistischen „nega- 
tiven Philosophie" eine „positive" des realen Seins gegenüber. 



SCHOPENHAUERS MONISMUS 6i 

Wohl hatte der nachkantische Rationalismus darauf verzichtet, 
wie etwa Spinoza, in dem Schneckengange rational -logischer 
Begründung das als mechanische Einheit gedachte Weltganze 
zu durchmessen, er erfand sich in dem philosophischen Organ 
der intellektuellen Anschauung ein Mittel, in ästhetisch-my- 
stischer Kontemplation das All als lebendiges Ganzes unmittel- 
bar zu erfassen ; aber er scheute sich dann allerdings nicht, was 
er hier geschaut und erlebt hatte, in rein begrifflicher Weise zu 
entwickeln und die dialektische Methode geradezu als die adä- 
quate Wiederholung des Weltprozesses hinzustellen. Damit 
hatte er dem bewußten Denken doch wieder metaphysische Be- 
deutimg beigelegt, d. h. Bewußtsein und Sein einander gleich- 
gesetzt und sich mit Recht den Vorwurf des Neospinozismus 
zugezogen. 

Auch Schopenhauer schloß sich in den Jahren 1811 — 14 
durchaus an den Rationalismus an. Besonders das eifrige Stu- 
dium Piatons, dann aber auch der Einfluß Schellings legten ihm 
den Standpunkt des „besseren Bewußtseins'' — so können wir 
diese Periode seines Denkens am besten bezeichnen — nahe. 
Im Gegensatz zu dem gewöhnlichen, empirischen Bewußtsein 
nämlich, das uns immer nur eine Welt der Vorstellung, des bloß 
idealen Seins zeigt, sollte das bessere Bewußtsein die Ideen oder 
Urbilder in ihrem wahren Sein unmittelbar zum Objekte haben. 
Die in Raum und Zeit ausgebreitete sinnliche Welt, wie wir sie 
täglich und stündlich durch unser Bewußtsein, kennen lernen, 
sollte nur ein verzerrtes Spiegelbild, eine undeutliche, mangel- 
hafte Erscheinung jener Welt der Ideen sein, welche wir nur 
in den glücklichen Augenblicken künstlerischer Intuition zu 
erfassen imstande sind. Hier sollten dann Subjekt und Objekt, 
die Formen des empirischen Bewußtseins, gänzlich verschwin- 
den, das erkennende Subjekt sollte sich in seliger Kontempla- 
tion in das Objekt versenken und bis zu völliger Identität in 
ihm aufgehen. Während das empirische Bewußtsein der Viel- 
heit und Mannigfaltigkeit, den räumlich-zeitlichen Beziehungen, 
also gerade der unwesentlichen und erscheinungsmäßigen Seite 
der Welt seine Aufmerksamkeit zuwandte, sollte im besseren 
Bewußtsein das Subjekt aus diesem Meer der kausalen Verket- 
tung gleichsam emportauchen und, seine eigene Individualität 
vergessend, der Identität mit dem wahren Sein unmittelbar ge- 
wiß werden. Jetzt galt es nicht mehr, in diskursivem Denken 
Erkenntnisse nach dem Satz vom Grimde zu gewinnen, um da- 



62 OTTO WEISS 



mit dem Individualwillen — demi nur als solchen kannte ihn 
Schopenhauer in dieser Zeit, Wille galt ihm als Verstrickung^ 
in den Trug der Individualität — zu befriedigen, jetzt war vtel^ 
mehr im willensfreien Erkennen der Kreis der Identität ge- 
schlossen, das erkennende Subjekt war zugleich auch das er- 
kannte Objekt, das Erkennen des Seins als des Objekts zugleich 
das Erkennen des Seins als des Subjekts; Sein und Bewußtsein 
waren also identisch. 

War aber einmal die konkrete Vielheit und Mannigfaltigkeit 
als eine dem wesenhaften Kern der Welt fremde Erscheinungs- 
form erkannt, so konnten auch die inuner noch als Mehrzahl 
gedachten Ideen noch kein schlechthin Letztes, noch nicht das 
endgültig wahre Sein darstellen. War der Weg einmal betreten, 
durch Abstraktion von der konkreten Vielheit zu dem Wesen 
der Dinge vorzudringen, so konnten auch die Ideen nur als eine 
Zwischenstufe, nur als Ob jektivationen des wahren Seins gelten, 
dieses aber mußte letzten Endes in einer abstrakten Einheit ge- 
funden werden. War die Welt wirklich nur eine Illusion, ein 
Spinngewebe des Satzes vom Grunde, ein Schleier der Maya, der 
uns das wahre Wesen verbirgt, dann konnte dieses nur in der 
völligen Negation aller Bestimmtheit, in einem attributlosen ab- 
strakten Prinzip zu suchen sein. In der Tat befand sich Scho- 
penhauer, als er die anfangs angenommene Mehrzahl von Ideen 
auf eine einzige, oberste Idee zurückführte und diese dann dem 
kantischen Ding an sich gleichsetzte, auf dem besten Wege nach 
einem abstrakten Monismus, und wäre er durch den kan- 
tischen Begriff des Willens nicht schließlich auf ganz andere 
Bahnen gelenkt worden, so hätte er die Philosophie des Brah- 
manismus in ihrer reinsten Form erneuert. 

Auch der Brahmanismus, wie wir ihn aus den vier Veden, 
den darauf sich gründenden Brahma -Sutras des Bädaräyana 
und dem Kommentare des Qankara kennen, huldigte, wenig- 
stens in seiner esoterischen Lehre, einem konsequenten abstrak- 
ten Monismus. Auch er war durch fortgesetzte Abstraktion von 
allem Inhalt der Erfahrung zu einem rationalistischen, rein 
geistigen Prinzip gelangt, das geradezu die Negation aller Be- 
stimmung war. Jedes Prädikat hätte eine Verendlichung des 
Absoluten, also einen Widerspruch bedeutet, es konnte über- 
haupt durch alle Eigenschaften nur negativ, als nicht von ihnen 
behaftet, als „neti, neti" (nicht so, nicht so) bezeichnet werden. 
Der Brahmane mußte, wenn er sich mystisch in die Identität 



mit diesem Brahma oder höchsten Sein versenken wollte, allen 
Inhalt Ton seinem Bewußtsein möglichst fernhalten, und wenn 
er ganz gedankenlos dalag, kam er diesem Ziele am nächsten. 
Die notwendige Kehrseite dieses abstrakten Monismus bildet 
der Akosmismus, d. h. der Glaube, daß die Welt der empirischen 
Wirklichkeit, wie wir sie durch unser Bewußtsein kennen lernen, 
nur scheinbar eine wirkliche, In Wahrheit aber eine nicht sei- 
ende und trügerische Welt, ein Blendwerk der Maya sei. Indem 
ich das wahre Sein in einer abstrakten Einheit finde, hat für 
mich die ganze Welt der sinnlichen Mannigfaltigkeit ihre meta- 
physische Bedeutung verloren, sie ist zum wahrheitslosenTraum, 
zur wesenlosen Illusion herabgesunken. Freilich entsteht dabei 
die Schwierigkeit, die Existenz dieser Illusion aus der abstrak* 
ten Einheit zu erklären. Ja, es will fast scheinen, als würde in 
dem Begriff der Maya dem Brahma ein zweites Prinzip an die 
Seite gestellt, das dann allerdings dessen Absolutheit beeinträch- 
tigen müßte; denn war diese Maya einZwang von auBen,die viel- 
heitlich-getrennte Erscheinungswelt aus sich herauszusetzen, 
so war eben dieses Brahma kein letzthin Unbedingtes, sondern 
selbst wieder mehr oder weniger abhängig; war die Maya aber 
ein Moment Im Brahma selbst, so mußte dies auch von vorn- 
herein mehr sein als eine abstrakte Einheit. Auch der Versuch, 
die Maya auf die Beschränktheit der subjektiven Auffassung 
des menschlichen Denkens zurückzuführen und damit den ob- 
jektiven Monismus in einen subjektiven umzuwandeln, mußte 
notwendig scheitern, denn woher sollte die Individuation, die 
Trennung in viele beschränkte Einzelbewußtseine stammen, 
wenn nicht eben aus dem objektiven Brahma I 

Es ist letzten Endes nichts anderes, als die unüberbrückbare 
Kluft, wie sie sich auch in der spinozistischen Deduktion be- 
sonders stark bemerkbar macht, wenn sie versucht, die Welt 
der Vielheit aus der abstrakten Substanz abzuleiten I Spinoza 
glaubte sich schließlich dadurch helfen zu können, daß er 
die Unendlichkeit, also Bestimmungslosigkeit seiner Substanz 
in eine unendliche Bestimmtheit (unendliche Zahl von Be- 
stimmungen) umdeutete. Er stützte sich dabei auf den scho- 
lastischen Grundsatz, daß eine Substanz um so mehr Realität 
habe, je mehr Attribute ihr zukommen, ohne zu bedenken, 
daß er damit bereits seiner Voraussetzung: „omnis determi- 
natio est negatio" (Jede Bestimmung ist eine Einschränkung) 
widersprach, denn danach hätte eine unendliche Anzahl von 



Bestimmungen eine unendliche Einschränkung bedeuten müs- 
sen. So finden wir auch im Brahmanismus ein höheres, maya- 
freies und ein niederes, majra- umstricktes, mit Attributen 
behaftetes Brahma in unvermitteltem Gegensatze nebenein- 
ander bestehen. Das reine Brahma oder Brahma im eigent- 
lichen Sinne verharrt als absolutes Subjekt in absoluter Ruhe, 
während das maya-umstrickte Brahma mit Attributen behaf- 
tet ist und sich im Welttraum als eine Vielheit von be- 
schränkten Subjekten anschaut. Damit neigte sich der Brah- 
manismus, falls er überhaupt konsequent sein wollte, dem 
Solipsismus zu, d. h. er mußte die Vielheit der Gesichtspunkte 
für die Weltbetrachtung leugnen und dem Ich allein als einem 
absoluten Subjekt Realität zuschreiben. Allein diese Folgerung 
zu ziehen blieb erst dem nachkantischen Rationalismus vorbe- 
halten, im indischen Denken kam es hierzu noch nicht, teils 
weil ihm die bestimmte geistige Individualität noch zu sehr in 
der Allgemeinheit des geistigen Lebens verschwand, um abge- 
sondert aufgefaßt und verabsolutiert zu werden, teils weil seine 
Aufmerksamkeit sich allmählich mehr ethischen Gesichtspunk- 
tun zuwandte. 

Wenn es galt, die brahmanische Religion beim ganzen Volke 
zu verbreiten und besonders auch bei der größeren Menge durch- 
zudringen, so mußte sie aus den transzendenten Höhen herab- 
steigen und den Schwerpunkt von der positiven Seite, der ab- 
strakten Einheit oder Wirklichkeit auf die zwar negative, aber 
wenigstens durch die Sprache positiv darstellbare Seite, die 
Maya oder Illusion verlegen, d. h. sie mußte der Vorstufe, der 
Abwendung von der Welt der Vielheit, größere Beachtung als 
dem eigentlichen Ziele, der Vereinigung mit dem Brahma, 
schenken. Damit tat sie aber einen erheblichen Schritt vor- 
wärts. Indem sie nämlich die scheinhafte, nichtwirkliche Welt 
als eine nichtseinsollende, aus ethischen Gesichtspunkten ver- 
werfliche auffaßte und an Stelle des eudämonistischen Zieles, 
der mystischen Vereinigung mit dem Brahman, die moralische 
Pflicht zur Askese setzte, gelangte sie zu einer metaphysisch 
begründeten Ethik. Allein eine solche asketische Moral, welche 
sich auf den Akosmismus gründet, kaim die Unterscheidung 
von Gut und Böse selbst nicht aufrecht erhalten, denn auch 
diese Gegensätze gehören nur der Maya an, sind also unwahr. 
Sie verwirft eine Tat nicht nur, wenn sie böse ist, sondern sie 
muß überhaupt jede Tat als solche schon verwerfen, weil sie 



SCHOPENHAUERS MONISMUS 



65 



uns in die Welt der Vielheit verstrickt. DaB diese rein aske- 
tische Moral mit dem unerschütterlichen Glauben an die Nicht- 
wirklichkeit der Welt dem Bedürfnis eines ganzen Volkes nicht 
gerecht werden kann, liegt auf der Hand, es kann uns deshalb 
nicht wundern, wenn im Gegensatz hierzu eine exoterische 
Lehre sich Geltung verschaffte, welche sich besonders auf das 
Gesetzbuch des Manu gründete und eine heteronome Moral als 
propädeutische Vorstufe für die Autonomie der esoterischen 
Lehre aufstellte. Sie versöhnte den Brahmanismus mit den 
praktischen Anforderungen des staatlichen Lebens, indem sie 
den Werken der Liebe einen höheren Wert als denen des Has- 
ses und der Selbstsucht beilegte, allein der Widerspruch mit dem 
Prinzip des abstrakten Monismus blieb bestehen. 

Wenn wir ausführlicher, als vielleicht erwartet, auf denBrah- 
manismus zu sprechen kamen, so geschah es nicht nur, um die 
Darstellung des abstrakten Monismus aus den Quellen zu 
schöpfen, in denen er seine vollkommenste Ausbildung erhal- 
ten hat, und somit den vorübergehenden Standpunkt in dieser 
Periode des Schopenhauer sehen Denkens schärfer zu charakte- 
risieren, als dies nach den spärlichen Zeugnissen möglich wäre, 
sondern vielmehr weil auch die weitere Entwicklung der indi- 
schen Philosophie eine auffallende Ähnlichkeit und ParalleUtät 
mit dem allmählichen Ausreifen des Schopenhauerschen Sy- 
stems zeigt. Dies wird um so weniger überraschen, als nicht nur 
der Ausgangspunkt bei beiden derselbe war, sondern auch Scho- 
penhauer selbst mit einer gewissen Genugtuung auf die Über- 
einstimmung mit der indischen Weltanschauung hinwies. Frei- 
lich über die Entwicklung derselben besaß er infolge der damals 
mangelhaften Kenntnis der indischen Quellen noch keine Klar- 
heit, er setzte den Buddhismus viel zu frühe an und hielt ihn 
sogar für älter als den Brahmanismus, aber trotzdem griff er 
mit sicherem Blick immer gerade die Elemente heraus, die der 
Fortbildung seines Systems förderlich sein konnten, und ahmte 
so unbewußt die Genesis der indischen Philosophie geradezu 
nach, um dann, auf ihrer letzten Stufe angelangt, über sie hin- 
wegzu seh reiten. Daß er selbst wohl glaubte, umgekehrt von den 
einseitigen Ausläufern {für einen solchen hielt er den Brahma- 
nismus) zu der indischen Urlehre, die er im Buddhismus suchte, 
vorzudringen, ändert an der Folgerichtigkeit der innern Ver- 
kettung des Ganzen nichts. 

Auch Schopenhauer ging vom abstrakten Monismus aus. Wie 

Der «onisnus II 5 



der Brahmanismus von seinen Naturgöttern durch fortschrei- 
tende Vergeisttgung allmählich zu seinem abstrakten Brahma 
gelangt war, so faßte Schopenhauer die Ideen Piatons, die be- 
reits im Gegensatz zu der sinnlich -empirischen Welt standen, 
in eine einzige (abstrakte) Idee zusammen. Zwar vertrat er 
den abstrakten Monismus seiner positiven Seite nach nie mit 
der Strenge der brahmanischen Philosophie, davor bewahrte 
ihn doch seine Abneigung gegen rein abstraktes Denken, er 
schwankte, wenigstens solange er eine Vielheit von Ideen 
gelten ließ, zwischen abstrakten, bloß die Einheit betonenden, 
und konkreten, die Vielheit in der Einheit einschließenden 
Ideen. In der negativen Seite, der Leugnung der Realität aller 
Vielheit jedoch, schloß er sich ganz dem indischen Denken an. 
Die sinnlich-wahrnehmbare Welt sollte nur die räumlich-zeit- 
liche Ausbreitung des wahren Seins der Ideen, sollte nur ein 
Blendwerk unseres Verstandes sein. Dieser wird beherrscht von 
dem Satz des Grundes in seinen vier Formen, er begnügt sich 
damit, an einer endlosen Kette von Ursache und Wirkung ent- 
langzusch reiten, ohne Je durch diesen selbstgewobenen Schleier 
zum wahren Sein vorzudringen. Allein als Schopenhauer nur 
noch eine einzige Idee bestehen ließ und diese dem kantischen 
„Ding an sich" gleichsetzte, mußte ihm der Kontrast zwischen 
dem Sein der Einheit und dem Schein der Vielheit in so schar- 
fem Lichte erscheinen, daß er der abstrakten Fassung des 
Prinzips nicht mehr entgehen konnte. Hier ist auch der 
Punkt, wo sich zum erstenmal für Schopenhauer das meta- 
physische Problem mit dem erkenntnistheoretischen vermengte, 
Das bessere Bewußtsein, welches die Ideen unmittelbar zu 
seinem Objekt haben sollte, unterschied sich zwar von dem 
empirischen Bewußtsein durch die Identität des Subjekts und 
des Objekts, durch das ästhetisch-intuitive Versenken in den 
Gegenstand; allein es konnte noch nicht die Identität mit einer 
abstrakten Einheit herbeiführen. Jetzt aber, wo nur noch 
eine Idee in Betracht kam, wo also von der objektiven Seite 
dem abstrakten Monismus nichts mehr im Wege stand, machte 
Schopenhauer halt — eine intellektuelle Anschauung als ab- 
strakt-philosophisches Organ ließ er nicht gelten, er kannte sie 
nur als ästhetisch -geniales Schauen; die Philosophie stand für 
ihn den Künsten zu nahe, um diesen letzten konsequenten 
Schritt des Rationalismus mitzumachen, lieber brach er ganz 
mit dessen Prinzip und suchte das wahre Sein in einer ganz 



SCHOPENHAUERS MONISMUS 



«7 



anderen Richtung. Zunächst jedoch begnügte er sich damit, 
nach dem Vorgange Kants das Ding an sich für etwas Un- 
bekanntes und Unerkennbares zu halten. 

Es fällt nicht schwer, diesen Standpunkt des Skeptizismus 
mit der brahmanischen Lehre von der Unerkennbarkeit des 
Brahma in Beziehung zu setzen. Weil das Brahma als reine 
Geistigkeit geradezu die Möglichkeit alles Erkennens darstellt, 
gibt es außer ihm kein Erkennendes, m. a. W. weil es bei jedem 
Erkenntnisakt selbst das Subjekt ist, durch das erkannt wird, 
kann es nicht selbst auch Objekt des Erkennens sein, Produ- 
zent und Produkt können niemals unmittelbar identisch wer- 
den. Ganz ähnlich folgert Schopenhauer, wenn er die Uner- 
kennbarkeit des vorstellenden Subjekts behauptet. Alles Er- 
kennen, sagt er, beruht auf dem korrelativen Verhältnis von 
Subjekt und Objekt und besteht nur in der Beziehung zwischen 
beiden. Wie zwei Pole ihre Bedeutung verlieren, wenn man 
sie voneinander loslöst, so kann das erkennende Subjekt nie- 
mals ohne ein Objekt erkennen. Hier brach Schopenhauer 
mit dem Dogma des subjektiven Idealismus Kants. Dieser 
hatte zwar eingesehen, daß der naive Realismus unrecht hat, 
wenn er im Bewußtseinsinhalt unmittelbar das Sein ergreifen 
zu können glaubt ; er hatte die vorstellungsmäßige Beschaffen- 
heit unserer Erkenntnis wohl durchschaut und hielt es für un- 
möglich, durch Abstraktion von diesem Bewußtseinsinhalt aus 
jemals zum realen Sein zu gelangen. Aber er glaubte nun um- 
gekehrt in der leeren Form des Bewußtseins eine selbständige 
Substanz gefunden zu haben, indem er sie zu einem aktiven 
und produktiven realen Subjekt hypostasierte. Dies Subjekt 
sollte sich dann in der Form des Bewußtseins immittelbar er- 
kennen. Allein abgesehen davon, daß diese Bewußtseinsform 
weit entfernt war, eine produktive Substanz zu sein und los- 
gelöst von dem jeweiligen Bewußtseinsinhalt noch Anspruch 
auf irgendwelche besondere Bedeutung machen zu dürfen, 
war jedenfalls soviel gewiß, daß die Vorstellung, die wir von 
der Bewußtseinsform haben, nur durch Abstraktion von dem 
ganzen Inhalt unserer Erfahrung gewonnen sein konnte, also 
statt einer unmittelbar erfaßten produktiven Funktion nur 
der tote Begriff der Einheit unsres Bewußtseins war. 

Allein lange blieb Schopenhauer beim Skeptizismus nicht 
stehen. Schon seit dem Beginn seines philosophischen Denkens 
war es ihm als höchstes Ziel erschienen, eine Philosophie zu 



68 



OTTO WEISS 



begründen, die Metaphysik und Ethik zugleich sein sollte. 
Auch hierzu sollte ihm schließlich Kant behilflich sein. Schon 
Fichte hatte im Anschluß an die Kritik der praktischen Ver- 
nunft das kantische Subjekt des Erkennens als Wille, als (sitt- 
liche) absolute Tätigkeit aufgefaßt, das nun die Welt lediglich 
zum Zwecke seiner moralischen Betätigung produzieren sollte. 
Mit diesem ethischen Idealismus war zwar eine autonome 
Moral gewonnen, indem das absolute Ich aus völliger Freiheit 
handelte, allein dieser Vorzug war doch zugleich mit dem 
Nachteile des Buddhismus erkauft, denn er hatte, wie dieser, die 
sittliche Weltordnung verabsolutiert, für die Selbständigkeit 
einzelner Individuen aber keinen Platz gelassen. 

Diesem Fehler suchte Schopenhauer zu entgehen. Auch er 
setzte zwar das Ding an sich dem Willen gleich, allein wie er 
vorher die Folgerungen des abstrakten Monismus nicht bis zu 
Ende gedacht und hinter dem Ding an sich nie die Vielheit 
der Ideen ganz aus den Augen verloren hatte, so zerfiel ihm 
auch jetzt bald der eine Wille in mehrere Willensindividuen, 
die er den kantischen intelligiblen Charakteren gleichsetzte. 
Damit ging er über die abstrakte Elnheits lehre des Buddhismus 
ebenso wie über den subjektiven Idealismus Fichtes hinaus 
und näherte sich mehr einem pluralistischen Emanatismus, 
Es besteht kein Zweifel, daß Schopenhauer mit diesem vor- 
übergehenden Standpunkt einem konkreten Monismus am 
nächsten stand. Sowohl der Buddhismus, wie der Fichtesche 
subjektive Idealismus waren schließlich wieder in den abstrak- 
ten Monismus zurückgefallen, der Buddhismus, weil er trotz 
seiner emanatistischen Ansätze doch die göttliche Weltord- 
nung als abstraktes Gesetz verabsolutierte, Fichte, weil er trotz 
seines subjektiven Ausgangspunktes in der inhaltsleeren Be- 
wußtseinsform das wahre Sein suchte. Schopenhauer dagegen 
hatte sich einerseits so weit von dem abstrakten Monismus ent- 
fernt, um eine Vielheit von Einzelideen beibehalten zu können, 
und er hätte diese nur als aufgehobene Momente in einer ab- 
soluten Idee zusammenfassen brauchen, um zu einem kon- 
kreten Monismus emporzusteigen; andrerseits aber hatte er 
sich dem Naturalismus so weit genähert, um mit Hilfe des 
Willens diese passive ideale Vielheit der einzelnen Momente in 
eine aktive Vielheit realer Individuen zu zerspalten. Er hätte 
auch hier wiederum nur die gemeinsame Willensseite dieser 
einzelnen Monaden in einen absoluten Willen zusammenfassen 



müssen, um zu einem zweiten, der absoluten tdee koordinierten 
Prinzip zu gelangen. Beide Prinzipien hätten sich dann als 
Attribute an einer absoluten Substanz in einem konkreten Mo- 
nismus vereinigen lassen. 

Es liegt im Wesen der Geschichte begründet, daQ auf eine 
einseitige Anschauung ihr Gegenteil als das andre Extrem folgt 
und die zwischen beiden vermittelnde Synthese erst an dritter 
Stelle ermöglicht wird. Meist führt die Erkenntnis eines Irr- 
tums eine so heftige Reaktion herbei, daß sie über das Ziel 
hinausschießt und statt der beabsichtigten Befreiung einen 
neuen ebenso einseitigen Irrtum bringt. So konnte auch 
Schopenhauer noch nicht die Vermittelung zwischen dem ab- 
strakten Monismus und dem naturalistischen Pluralismus fin- 
den; indem er die Einseitigkeit des Rationalismus zu über- 
winden suchte, geriet er in einen ebenso einseitigen Naturalis- 
mus, ja sogar bis nahe an die Grenze des Materialismus und 
verfiel mit seinem Irrationalismus in das andre Extrem. Er 
konnte noch nicht die nötige Übersicht über die Vorteile und 
Nachteile auf beiden Seiten haben, um eine möglichst vorteil- 
hafte Synthese zustande zu bringen. Er war einen großen 
Schritt über den Buddhismus hinausgegangen, indem er neben 
der idealen Einheit die konkrete Vielheit nicht vernachlässigte, 
er hatte auch die versuchte Annäherung an den Naturalismus 
vollbracht und neben dem idealen Prinzip ein reales, nämlich 
den Willen gestellt. Allein während der Buddhismus über- 
haupt nicht so weit gelangte und wieder In den alten Irrtum 
zurückfiel, überschritt Schopenhauer diese Mittelstellung und 
verfiel schließlich ganz dem Naturahsmus. 

Auch hierfür fand er bei Kant einen Anknüpfungspunkt, 
und zwar in dem naturphilosophischen Begriff der Kraft. Die 
kantische Philosophie krankt nämlich an einem eigentüm- 
lichen Innern Widerspruch. Indem sie einerseits den logischen, 
begrifflichen Teil unseres Bewußtseinsinhaltes, die Ordnung 
der Empfindungen zu einer einheitlichen Erfahrung der An- 
wendung kategor ialer Funktionen zuschrieb und diese wieder- 
um zum metaphysischen Subjekt desErkennens hypostasierte, 
gelangte sie auf dem Wege des subjektiven Idealismus zu 
einem „Ding an sich". Andrerseits aber zeigen sich bei Kant 
auch Spuren eines transzendentalen Realismus. Wenn näm- 
lich die kategorialen Funktionen wirklich nur den formalen 
Teil unserer Erkenntnis beisteuern, wenn sie sich wirklich nur 



r 



70 



OTTO WEISS 



migeordneten^^H 



attf die Ordnung nnsexes F rnpfin <tnn gT"' 1 '*«^i* b 
so nmB doch wohl in diesen sobjcktiven, nodi angeordneten . 
Fmrfim tr'Pgfn das Charaktertstikiini unserer Erfahrung liegen, 
Afrm fc- gw«! gerade der Inhalt aller unserer Kr fc *n nf i; i<f oimmer- 
mdir auf die formalen KategiHien, soodem nur auf die subjek- 
tirea Empfindungen zuröckzufähm sein. Diese aber mumm 
wiederum auf ein Ding an sich — Kant erlaubt sich hier aller- 
dings einen transzendenten Gebrauch von der Kategorie der 
Kausalität — als der Ursache ihrer selbst hinweisen, das zwar 
die Kategorien zu ihrer Betätigung herausfordert, im übrigen 
aber doch den Ausschlag für die qualitatiTe Beschafienhett 
tmserer Erfahrung betsteoert. Sind nun die formalen Kate- 
gorien dazu bestimmt, erst Einheit und Gesetzmäili^eit in die 
Mannigfaltigkeit der Empfindtmgen zu bringen, so muS dies 
noch unbearbeitete Empfindungsmaterial ein blindes, wirres 
Chaos sein, m. a. W. es muS eine Kraft auäer uns bestehen, 
welche unsre eigne spontane Tätigkeit hemmt und uns zwingt, 
gerade diesen und keinen anderen Bewußtseinsinhalt zu hat>m. 
In dieser erkenntnistheoretischen Kluft zwischen Ding an sich 
und Erscheinung spiegelt sich noch einmal der ganze Gegensatz 
zwischen abstraktem Honismus und realistischem Naturalis- 
mus wieder. Der subjektive Idealismus rettet zwar die Einheit 
des BewuStseins, verliert aber dafür die konkrete Vielheit und 
behält nur die eine abstrakte, formale Einheit übrig; der Na- 
turalismus hingegen bleibt bei der Vielheit seiner Willen&> 
individuen stehen, ohne sie in einer idealen Einheit zusanunen- 
fassen zu können. 

Hatte Schopenhauer einmal das Ding an sich als Wille, als 
blinde, aller logischen und rationalen Gesetzmäßigkeit he- 
terogene Kraft, wie sie der Natur als realer Erscheinung un- 
mittelbar zugrunde liegen sollte, angenonmien, so konnte es 
nicht ausbleiben, daß er nun die rationale Seite der Welt ver- 
oacblassigte und in extremen Gegensatz zum Rationalismus 
geriet; hatte dieser die ReaUtät in Idealität, in Vorstellungssein 
verflüchtigt, so glaubte Schopenhauer die Idealität oder inhalt- 
liche Beschaffenheit aus der blinden Realität ableiten zu 
können. Hatte die vorkantische Scholastik gehofft, aus dem 
B^riS eines vollkommensten d.h. mit einer UnendUchkeit von 
Eigenschaften begabten Wesens die Realität als eine dieser 
Eigenschaften herausklauben zu können, und hatte die nach- | 
kantische Scholastik diesen Fehler nur erneuert, indem sie a 



der zum Subjekt aufgebauschten Form des Bewußtseins die 
Welt dialektisch herauszuspinnen suchte, so verfiel jetzt 
Schopenhauer in den entgegengesetzten Fehler, wenn er aus 
der blinden alogischen Realität die logische Ordnung und Ge- 
setzmäßigkeit abzuleiten hoffte. Er hatte wohl ein offenes Auge 
für die Unvernunft und Blindheit des Willens als des Real- 
prinzips, aber er übersah darüber das gleichberechtigte ideale, 
logische Prinzip, das die inhaltliche Beschaffenheit der Welt 
erklären sollte, und drückte diese zu einem bloßen Schein, zu 
einer Illusion herab. Er hatte, wie der Buddhismus, sich so 
weit dem abstrakten Monismus angeschlossen, um in der kon- 
kreten Vielheit keine unmittelbare Wirklichkeit, sondern nur 
eine Erscheinung zu sehen und nun nach dem wesenhaften 
Urgrund dieser Erscheinung zu suchen; aber er fiel nicht, wie 
dieser, wieder in den abstrakten Monismus zurück, sondern er 
verfiel dem Naturalismus und glaubte, in der ebenso inhaltleeren 
blinden Realität den letzten Kern zu finden. 

Von nun an mußte ihm der von Kant und Flaton über- 
nommene rationale Bestandteil seines Systems ein Dorn im 
Auge sein, denn es war ein vergebliches Bemühen, ihn aus 
dem irrationalen Willen abzuleiten. Er versuchte zwar eine 
Vermittelung dadurch herbeizuführen, daß er im Sinne eines 
psychophysischen Monismus beide als die Erscheinungsweisen 
ein- und desselben ,, Dinges an sich" ansah, das einerseits in 
der Form des Willens, anderseits in der Form der Vorstellung 
gegeben sei, allein dann war eben doch nur die Erscheinungs- 
weise als Wille dem ,|Ding an sich" wirklich adäquat, wäh- 
rend die Welt der Vorstellung es in einer völlig heterogenen 
Form, in einer fremdartigen Verhüllung zeigte, die ihre 
metaphysische Erklärung doch wieder nur in dem Wesen, 
also in der andern Erscheinungsform finden konnte. Es 
kann uns daher nicht wundern, wenn Schopenhauer bemüht 
war, den aus der ersten Periode seines Philosophierens stehen 
gebliebenen rationalen Bestandteil seines Systems auszu- 
merzen. Vollständig freilich konnte ihm dies nicht gelingen. 
Wie der abstrakte Monismus die Vielheit in der Welt nicht 
hatte leugnen können, sondern sie wenigstens als Illusion be- 
stehen lassen mußte, so konnte auch Schopenhauer die inhalt- 
haltliche Gesetzmäßigkeit nicht wegdisputieren und ließ sie 
ebenfalls als eine Illusion, als eine in unserem Verstände be- 
gründete subjektive Täuschung gelten. Aber wenigstens meta- 



TS OTTO WEISS 

physische Bedeutung konnte und durfte ihr nicht eingeräumt 
werden. Die Unmöglichkeit, die Maya aus dem Willen abzu- 
leiten, lehrte ihn auf eine intellektuelle Anschauung im Sinne 
des Rationalismus verzichten ; er mußte einsehen, daß weder 
aus dem Inhalt, noch aus der Form unseres Bewußtseins steh 
das Sein unmittelbar erfassen lasse. Darüber konnte er sich 
jetzt nicht mehr täuschen, daß, wenn der Wille allem Bewußt- 
sein heterogen war, er nimmermehr mit Hilfe des Bewußtseins 
könne erkannt werden. Ein besseres Bewußtsein, das die Ideen 
unmittelbar zu seinem Objekt hatte, konnte ihm nun für eine 
metaphysische Erkenntnis keine Dienste mehr leisten, einmal 
weil es überhaupt Bewußtsein war, dann aber auch, weil die 
Ideen vor jedem andern Bewußtseinsinhalt an wahrem Sein 
nichts mehr voraushaben konnten. Früher hätte ihn das 
bessere Bewußtsein zum abstrakten Monismus führen können. 
Wenn er nämlich den Kontrast zwischen den einheitlichen Ur- 
bildern und ihrer vielheitlichen Entfaltung in der Erscheinungs- 
welt immer schärfer gefaßt und das höchste Sein schließlich in 
der Einheit einer einzigen Idee gesucht hätte, dann wäre das 
bessere Bewußtsein in die Identität mit der abstrakten Ein- 
heit übergegangen und hätte zu der intellektuellen Anschauung 
des Rationalismus geführt, jetzt aber mußte das bessere Be- 
wußtsein in das empirische versinken, denn jede rationale Be- 
stimmung, sowohl die Vielheit wie die Einheit, gehörten von 
vornherein der Illusion an. Der Rationalismus identifizierte 
Sein und Bewußtsein und gelangte daher über das passive, 
ideelle Sein nicht hinaus ; Schopenhauer hingegen suchte das 
Sein gerade im Gegensatz zu dem passiven Bewußtsein in der 
Aktivität, im Willen ; da er aber außerhalb des Bewußtseins 
kein ideelles Sein gelten ließ, leugnete er dessen metaphysische 
Bedeutung von vornherein. 

Allein ganz konnte Schopenhauer die Ideen doch nicht ent- 
behren. Es ist zwar sein unsterbliches Verdienst, das Prinzip 
der Realität in dem blinden alogischen Willen gefunden zu ha- 
ben, doch seine Einseitigkeit wiederum besteht darin, daß er 
glaubte, mit diesem ziellosen Willen allein auszukommen. Denn 
ebensowenig wie aus dem inhaltsleeren Begriff der Einheit 
konnte aus dem blinden, unvernünftigen Willen eine Vielheit 
und Mannigfaltigkeit der Weit abgeleitet, ja konnte dieser 
Wille überhaupt als ein tätiger begriffen werden. Ein Wille, 
der nicht auch etwas Bestimmtes wollte, konnte höchstens ein 



schlummernder, potentieller, noch nicht in Tätigkeit begriffe- 
ner Wille sein. Sollte er jedoch wirklich und wahrhaft wollen, 
sollte er nicht nur die Potenz, sondern den realen Aktus dar- 
stellen, so mußte ihm auch notwendig ein Ziel gesetzt werden, 
und dieses Ziel kormte nur eine allerdings unbewußte Vorstel- 
lung, d. h. ein noch nicht Verwirkhchtes, sondern erst idealiter 
Gedachtes sein. Dies scheint auch Schopenhauer geahnt zu ha- 
ben, wenn er die Ideen die unmittelbarsten, adäquaten Objek- 
tivationen nennt und darunter die einzelnen Willensakte ver- 
steht, in die sich der unendliche Wille zerteilt. Hätte Schopen- 
hauer den Begriff einer unbewußten Vorstellung gekannt, so 
hätte er nicht nötig gehabt, die Ideen mit dem Bewußtsein zu 
identifizieren und mit der bewußten Vorstellung auch zugleich 
die Ideen und überhaupt jedes rationale Element aus seiner Me- 
taphysik zu verbannen. Zu dieser Einsicht jedoch versperrte 
ihm die Einseitigkeit seines Irrationalismus den Weg. 

Der Rationalismus hatte das Denken dem Sein gleichgesetzt 
und damit eine Einseitigkeit begangen. Er war damit in die 
Sphäre des logischen, idealen, rein passiven Seins eingeschlos- 
sen und konnte nie zu einem Willen als dem Prinzip des realen 
Seins gelangen. Er hatte aber auch das Bewußtsein dem Sein 
gleichgesetzt und in der intellektuellen Anschauung ein philo- 
sophisches Organ postuliert, mit Hilfe dessen er das Sein un- 
mittelbar erfassen und die Philosophie als eine apodiktisch ge- 
wisse Wissenschaft ausgeben konnte. Schopenhauer dagegen 
suchte das Sein im Gegensatz zum Denken in einem blinden, 
vernunftlosen Willen, hatte infolgedessen auch keine Möglich- 
keit mehr, von dem Bewußtsein unmittelbar zum realen Sein 
zu gelangen. Wäre er nun folgerichtig verfahren, so hätte er 
unter Verzicht auf eine apodiktisch gewisse Philosophie mit 
der intellektuellen Anschauung des Rationalismus gebrochen 
und eine induktiv von der Erfahrung ausgehende, nur mittel- 
bar erschlossene Metaphysik begründet. Statt dessen aber 
hielt er doch an einer unmittelbaren Erkenntnis des Dinges 
an sich fest und erneuerte, wenn auch in ganz anderer Form, 
die intellektuelle Anschauung des Rationalismus, indem er 
glaubte, in dem wollenden Subjekt wie durch einen unterirdi- 
schen Gang den Willen als Ding an sich unmittelbar zu erfassen. 
Daß das erkennende Subjekt sich nicht selbst wiederum erken- 
nen und zum Objekt werden, sondern im höchsten Fall eine 
Vorstellung seiner früheren Tätigkeit haben könne, war ihm 



zwar einleuchtend; wohl aber glaubte er, daß das wollende Sub- I 
jekt dem erkennenden unmittelbar zum Objekt dienen könne. 
Freilich, die Identität des erkennenden und wollenden Sub- 
jekts mußte er dann voraussetzen, sonst hätte überhaupt 
keine unmittelbare Erkenntnis stattfinden können ; allein 
diese setzte er als eine zweifellose, wenn auch unbegreifliche 
Gewißheit voraus und nannte sie das philosophische Wunder 
xai ito%fiv. Mit dieser Annahme ei ner^unmittel baren Erkennt- 
nis des Willens war er zugleich in den subjektiven Ideatismus 
zurückgefallen. Nun hatte er ja in dem Ich doch noch einen 
Punkt gefunden, wo es unmittelbar an dem Ding an sich 
teilhatte und sich dieser Tatsache unmittelbar versichern 
konnte. Er hatte dann nur nötig, vom eignen Ich aus auf 
alle andern Dinge zu schließen und auch hier hinter der Er- 
scheinung den Willen zu vermuten. Damit glaubte er seinen 
Realismus unmittelbar erwiesen zu haben. Analog dem eignen 
Ich sollte die ganze Welt ihrem Wesen nach Wille sein und nur 
dem Intellekt als eine individuell-getrennte Welt der Vorstel- 
lung erscheinen. 

Der exoterische Brahmanismus hatte in seiner Lehre von der 
Seelen Wanderung und der Vererbung der Schuld den Weg zu 
einem konkreten Monismus beschritten, er faßte das Karman, 
den Werkschatz der wandernden Seele, sowohl regulativ als 
motorisch auf; es sollte nicht nur als das moralische Resultat 
des vorhergehenden Lebens das Schicksal für die folgende Ver- 
körperung ideal vorwegnehmen, sondern es sollte zugleich auch 
den realen Anstoß zu dieser Entfaltung geben, es sollte zugleich 
die Kraft besitzen, dies Schicksal durchzusetzen. Der Buddhis- 
mus war aber wieder in den abstrakten Monismus zurückge- 
fallen, indem er nur die ideale (regulative) Seite an diesem 
Karma berücksichtigte und sie in einer abstrakten sittlichen 
Weltordnung zusammenfaßte. Schopenhauer hingegen faßte 
das motorische Element, die einzelnen Individualkräfte in sei- 
nem Willen zusammen, verlor aber dafür die regulative (inhalt- 
liche) Seite und beschränkte sich auf einen blinden, unvernünf- 
tigen Willen. 

Im letzten Grunde ist es das alte Problem der Willensfrei- 
heit, in das sich der ganze Unterschied dieser drei Weltan- 
schauungen zuspitzt. Der Brahmanismus als Rationalismus 
mußte notwendig zu einem radikalen Determinismus gelan- 
gen, Mochte er nun, wie anfangs, das Brahma noch mehr my- 



SCHOPENHAUERS MONISMUS 



75 



thisch als Schöpfer, oder mochte er es als aparam brahma, als 
Identität einer Vielheit von intellektuellen Seelenkräften auf- 
fassen, oder mochte er endlich, wie in seiner exoterischen Lehre 
von der Seelenwanderung, dem Begriff der Seele das Karma als 
das notwendige Schicksal für die Wiederverkörperung anhän- 
gen, immer mußte er die Vorausbestimmung des Charakters, 
die Unfreiheit des Individuums anerkennen. Es liegt in der Na- 
tur des Idealismus, sowohl des objektiven wie des subjektiven 
begründet, daß das empirische Geschehen, soweit er überhaupt 
ein solches kennt, sich mit strenger Notwendigkeit vollzieht. 
Hier könnte der Spinozismus als Beispiel des strengsten Deter- 
minismus auf rationalistischer Basis angeführt werden. Jede 
Handlung folgt mit mathematischer Notwendigkeit aus dem 
Charakter, und dieser wieder ist vollständig vorausbestimmt 
von Gott, der absoluten Substanz. Ja, selbst diese hat ihn nicht 
aus freier Wahl festgesetzt, sondern handelt dabei nur nach 
einem eigenen inneren Gesetz — es ist der abstrakte Monismus, 
der hier wiederum das letzte Wort spricht. Ähnlich schreibt der 
Brahmanismus die Handlungen eines Individuums dem Zu- 
sammenwirken einer Kraft (gaktt- Charakter) und der Motive 
zu, beide Korrelate treten mit gleicher Notwendigkeit auf, denn 
nach seinen idealistischen Voraussetzungen gestaltet sich ja 
die Welt der Vorstellung, also auch der Motive, nach den Be- 
dürfnissen des Karma. Und dieses wiederum folgt nicht aus 
einer freien Bestimmung Gottes, sondern das Resultat des frü- 
heren Lebenslaufs wirkt ebenso streng als Motiv auf Gottes Ge- 
rechtigkeit und prädestiniert ebenso notwendig des kommende 
Schicksal, wie dies die Handlungen des Individuums. Der Bud- 
dhismus hingegen, der nicht vom Absoluten ausgeht und daraus 
die Einzelseele abzuleiten sucht, sondern der die Vielheit der 
Illusion, das ewige Werden selbst verabsolutiert, gelangt da- 
durch zu einer autonomen Moral und vollständigen Willens- 
freiheit. Für ihn gibt es Ja kein Karma mehr, das dem Indivi- 
duum heteronom sein Schicksal vorschreibt, jetzt steht der 
einzelne Mensch unmittelbar auf eignen Füßen, es hängt nun 
von ihm selbst ab, ob und wie lange er an der Illusion, an dem 
Leiden der Welt teilnehmen will, es war ihm jederzeit vorbe- 
halten, aus freier Selbstentscheidung die Erlösung, die Selbst- 
vernichtung zu wählen; dann sank mit ihm auch die ganze 
Illusion in nichts zusammen. Allerdings, als er sich gezwungen 
sah, um seinen Pessimismus zu rechtfertigen, die sittliche Welt- 



Ordnung zum wahren Sein zu erheben und somit in den ab-J 
strakten Monismus zurückzusinken, erneuerte er damit auch ' 
wieder die Lehre von der Unfreiheit des Individuums, denn jetzt 
war es ja wieder das absolute Sittengesetz, das von oberster In- 
stanz aus über das Schicksal entschied. 

Schopenhauer versuchte das Problem entsprechend seiner 
eigentümhchen Mittelstellung zwischen Irrationalismus und 
Rationalismus zu lösen. Seiner Metaphysik, also seinem Willens- 
realismus zufolge hätte er vollständige Willensfreiheit zuer- 
kennen müssen. Denn was sollte dem einzigen Absoluten, dem 
blinden und ziellosen Willen Gesetze vorschreiben oder irgend- 
ein Hemmnis bereiten ! Er war von Hause aus, ebenso wie der 
Fichtesche absolute Wille, völlige Freiheit. Aber ebenso wie der 
rationale Bestand seines Systems allmählich in die Welt der Vor- 
stellung, in einer unerklärlichenlllusion zusammengeschmolzen 
war, so sollte hier im Reiche der Vorstellung auch ein Unter- 
schlupf für den Determinismus erhalten bleiben. Wo der Satz 
vom Grunde herrschte, wo alles nach rationaler Gesetzmäßigkeit 
und Ordnung verlief, mußte auch der Charakter in seinen Hand- 
lungen eine strenge Gesetzmäßigkeit erhalten — er wurde als 
vierte Klasse von Objekten des Satzes vom Grunde behandelt 
und dem Gesetz der Motivation unterworfen. Während wir 
nämlich jederzeit glauben, uns aus freiem Gutdünken für un- 
sere Handlungen so entscheiden, reagieren wir nur mit unent- 
fliehbarer Notwendigkeit mit unserem Charakter auf die von 
uns vorgestellten Motive. Freilich, das haben wir vor den Tieren 
voraus, — wie die Natur im Intellekt, so gipfelt dieser wiederum 
in der Vernunft; dies ist vielleicht die höchste Stufe und Steige- 
rung der Illusion — daß wir mit Hilfe der Begriffe, die wir der 
Vernunft verdanken, außer dem gerade gegenwärtigen noch 
andre Motive vor Augen haben können. Allein wir rea- i 
gieren unter diesen vielen Motiven doch nur auf dasjenige, das J 
unser Charakter mit strenger Notwendigkeit fordert ; wenn 1 
uns der Charakter eines Menschen bis in seine Einzelheiten be- I 
kannt wäre, könnten wir auch das Verhalten desselben in allen I 
erdenklichen Situationen voraussagen. Soweit Schopenhauer ] 
Metaphysiker ist, soweit die Welt als Wille in Betracht kommt, 
erkennt er vollkommene Freiheit an, innerhalb der Welt der j 
Vorstellung gesehen, ist aber auch unser Handeln dem Satz vom J 
Grunde notwendig unterworfen. Allein auch hier macht sich! 
die Schwierigkeit geltend, von der Welt als Wille den Übergang I 



zur Welt als Vorstellung zu finden. Ebenso wie es unbegreif- 
lich ist, wie der vernunftlose Wille auch nur die Illusion einer 
gesetzmäßig geordneten Welt aus sich heraus erzeugen kann, so 
läßt sich auch ebensowenig erl^laren, wie der bhnde und eine 
Wille imstande sein soll, sich in eine Vielheit von einzelnen 
Charakteren zu zerspalten, die dann wiederum in der Welt der 
Erscheinung ihren Inhalt aus sich heraus entwickeln sollte. Es 
läßt sich nicht leugnen: ganz konnte Schopenhauer die Ideen 
niemals entbehren, obgleich ihre sonderbare Mittelstellung sich 
ebensowenig rechtfertigen läßt, wie die Ers che inungs weit, die 
sie mit dem Willen vermitteln soll. Als unmittelbare Objekti- 
vation des Willens gehört sie dem Bereiche des Seins an, sie ist 
das vom Willen frei gewählte Ziel seines Willens. Als Summe 
der in der Welt der Vorstellung entfalteten einzelnen Akte ge- 
hört sie, ebenso wie diese, der Illusion an, Ist sie ein von den 
einzelnen Handlungen abstrahierter Begriff, also nur ein Hirn- 
gespinst, so kann sie allerdings nur der Welt der Vorstellung 
angehören, ja steht dieser sogar noch nach, ist sie aber das vor- 
und überzeitliche prius aller Äußerungen des Charakters, nimmt 
sie also den Inhalt der Welt als passive Möglichkeit vorweg, 
dann kommt ihr wohl ein selbständiges Sein zu, aber sie muß 
dann auch als ein gleichberechtigtes Prinzip dem blinden Wil- 
len an die Seite gestellt werden. Allein die einseitige Meinung 
Schopenhauers, mit dem Realprinzip des blinden Willens aus- 
kommen zu können, zwingt ihn, diese unentschiedene Stellung 
einzunehmen. Der Gedanke an eine unbewußte Vorstellung, 
welche dem inhaltsleeren Willen unmittelbar als Ziel vor- 
schweben und ihm einen Inhalt zur Verwirklichung geben 
konnte, lag seinem Irrationalismus so ferne, daß er alles ideale 
Sein kurzweg mit dem Bewußtsein gleichsetzte und in die Welt 
der Vorstellung verwies. War es daher zu verwundern, wenn 
er durch seinen einseitigen Realismus allmählich in einen na- 
turalistischen Emanatismus, ja sogar bis hart an die Grenze des 
Materialismus geriet, wenn sieh ihm der anfangs supranatura- 
listische Wille in einen naturalistischen umwandelte ? Jetzt sah 
er sich ja, ebenso wie der Materialismus, gezwungen, die Vor- 
stellung aus der blinden Realität abzuleiten, ob diese nun als 
das geistlose Sein der Atome, oder ob sie als der unvernünftige 
Trieb des Willens aufgefaßt wurde, änderte nichts an der Sache. 
Schelling behandelte die Naturphilosophie idealistisch, indem er 
das Realprinzip, den Willen vergaß, er konnte daher nur von 



einer passTcn, idealen, mtwiiklicfaen Katur sprechen, er konntefl 
uns, wie in einem BanpUne. nai über die Mö^chkeit unter- I 
richten, nie aber auf das reale Gebinde selbst hinweisen, Scho- 
penhauer hingegen glaubte, es genüge eiae Schar Arbeiter, 
wenn sie nur jdanlos Steine beramsclileppten und auf einander- 
tännten, es werde schon tot selbst ein wohlgefngtes Gebäude 
daraus. Es brauchte nur eine blinde NatmlEiaft sich nt betäti- 
gen — das war im Grrmde | 
Natur mit all ihrer ü 
heit werde scblie&Uch Ton selbst daiaiB hervorgeben. Als Pes- 
simist hatte er oicht, wie H^d, ein afl ene s Auge fär die won- 
derbare Gesetzmäfli^eit und Oidnong der Hatnr, er sali *■■"*—' 
allem nur die b&nde, rohe Kr^ den onslillbsrcn Dmst nadi 
Dasein und Verwiifclidnin|t er ^^'**''** sidi andi nic^ daio 
begeistem. planvoll an dem gfolcnGctnebe MJliuailieitea md 
auch seinerseils einen Teil xnr * » i« J i»*> «Mi g an das ^^ '<»'■' bei- 
zotragen, dezm für ihn gab es ja BBtn posnircs Endsd, cc 
konnte keinen Te mün ftigen Zweck «ns der Katnr beraosksen, 
für ihn gab es nnr eine E il B suug , das Ende. 
So war er i 

n Mflhimnuu dP af w wlT iwwsatBW 




79 

l Es war die Absicht Schopenhauers gewesen, die Mystik des 
-ahmanismus mit dem buddhistischen Pessimismus zu ver- 
binden, allein die Ausführung ist ihm nur schlecht gelungen. 
Er wandte sich zwar mit derselben Enttäuschung wie der Brah- 
manismus von der inhaltlichen Vielheit der Welt ab und suchte 
das wahre Sein in einer mystischen Einheit. Er fand diese Ein- 
heit zwar nicht, wie dieser, in einer abstrakten Idee, wohl aber 
in einem ebenso inhaltsleeren blinden Willen, Beide verloren 
dabei die Selbständigkeit der Vielheit neben der Einheit, allein 
während der Brahmanismus wenigstens die Einheit, wenn auch 
als abstrakte gewann, gelang Schopenhauer nicht einmal dies. 
Denn im Grunde genommen widerspricht dem irrationalen Wil- 
len das Prädikat der Einheit ebensosehr wie das der Vielheit. 
Dem irrationalen Willen als Prinzip der Realität kann über- 
haupt kein begriffliches Prädikat beigelegt werden, er ist weder 
Einheit noch Vielheit, sondern wird dies erst, je nachdem er 
sich auf eine Einheit oder Vielheit von Zielen richtet. Wie mein 
Wollen ursprünglich weder eines noch vieles ist, sondern erst 
durch die Anzahl der Objekte, auf die es sich bezieht, gespalten 
wird, so kann auch der absolute Wille erst durch seinen Inhalt 
zur Einheit oder Vielheit kommen. Nun kann zwar der Wille 
zugleich immer nur eines wollen, aber diese Einheit kann eine 
Viel-Einheit, die Vielheit nicht aus- sondern einschließende 
sein, sie kann ein großer Weltplan sein, in dem zwar alle Ein- 
zelheiten als aufgehobene Momente verschwinden, aber doch 
integrierende Bestandteile des Ganzen bilden und der Einheit 
somit erst Inhalt und Bedeutung verleihen. Als solche wäre sie 
aber eine konkrete Idee gewesen und hätte dem Willen un- 
mittelbar zu seinem Inhalt gegeben werden müssen. Andrer- 
seits aber konnte er auch den buddhistischen Pessimismus nicht 
auf sein System übertragen. Er schloß zwar, wie dieser, von 
einer scheinhaften, nicht wirklichen auf eine nicht sein sollende 
und schlechte Welt und übertrug die Schuld daran auf einen 
absoluten blinden Willen, allein dieser Wille war doch nur als 
ein aktiver, wirkender, als ein in Tätigkeit begriffener Wille 
ein verwerflicher, nicht aber als Zustand der Ruhe, der Potenz. 
Nur solange er wirklich wollte, also einen Inhalt hatte, war er 
von Übel und mußte negiert werden. Dazu aber bedurfte es 
wiederum der absoluten Idee als eines dem Willen gleichgeord- 
neten Prinzips, Das sah Schopenhauer ein, daß sowohl die 
Bejahung (das in actum Übergehen) als auch die Verneinung 



des Willens (das Zurückgehen in die Potentialität) ein meta- 
physischer Akt ist, ebenso wie die Wahl des intelligiblen Cha- 
rakters ein überzeitlicher sein sollte, so sollte auch der Vernei- 
nung eine überindividuelle Bedeutung zukommen, allein diese 
Einsicht konnte ihn doch nicht dazu bewegen, auch wirklich 
die notwendigen Bedingungen hierzu in seinem System zu 
schaffen und neben dem irrationalen Realprinzip das passiv- 
ideale Sein der konkreten Idee anzuerkennen. 

Erst Schelllng war es, dank dem unermüdlichen Eifer, mit 
dem er seine philosophischen Probleme zu verfolgen pflegte, 
bestimmt, als Frucht eines langen, allmählich, aber sicher fort- 
schreitenden wissenschaftlichen Denkens 2u der Erkenntnis der 
Ergänzungsbedürftigkeit des Rationalismus zu gelangen, ohne 
zugleich für dessen Wert und Bedeutung das Verständnis zu 
verlieren. In seiner Freiheitslehre fand er den Weg zu der Ver- 
bindung des rationalen Determinismus mit einem irrationalen 
Indeterminismus. In seiner „positiven Philosophie" stellte er 
dann der, .negativen Philosophie" des idealen Seins, der bloßen 
Möglichkeit ein Prinzip des realen Seins zur Seite und vollzog 
damit die Synthese beider Prinzipien. Er ging, auch wie Scho- 
penhauer, vom Rationalismus aus und gelangte selbständig und 
unabhängig von ihm zu dem Realprinzip des Willens, allein 
er sah darin von vornherein nur eine Ergänzung des Idealis- 
mus, ohne wie Schopenhauer in die Einseitigkeit des Irrationa- 
lismus zu verfallen. Somit schuf erst Schelllng den vollkomme- 
nen Realidealismus, der Wille und Idee als koordinierte Prin- 
zipien gelten ließ und beide dann in einem konkreten Monis- 
mus zusammenfaßte, indem er sie zu Attributen der absoluten 
Substanz machte. Doch finden sich bei Schelling ^ wie es über- 
haupt in der Art dieses Philosophen lag, nur fruchtbare Gedan- 
ken und Skizzen auszustreuen, die weitere Ausführung aber 
andern zu überlassen — nur Entwürfe und Andeutungen zu 
einem solchen System. Erst Eduard von Hartmann war es, der 
diese Schellingsche Prinzipienlehre zur Grundlage seines eignen 
Denkens machte und sie zu einem ganzen System vervollstän- 
digte. Dies war allerdings erst möglich, nachdem Hegel und 
Schopenhauer die Prinzipien einzeln zum Gegenstande einer 
speziellen Untersuchung und Durcharbeitung gemacht hatten, 
nachdem Hegel die rationale Seite, das Gebiet des passiven ide- 
alen Seins, Schopenhauer das Realprinzip des irrationalen Wil- 
lens zur Begründung eines einseitigen Systems benutzt hatten, 




und darin beruht schlieBUch auch die historische Rechtferti- 
gung und Notwendigkeit dieser beiden Einseitigkeiten. 

Allein, so hoch wir ihre Bedeutung für die Entwickelung der 
Philosophie anschlagen wollen, so können wir doch nicht um- 
hin, sie als Sjrsteme ihrer Einseitigkeit und Un Vollständigkeit 
wegen zu verurteilen. Beide weisen schließlich doch nur auf 
ihre Synthese, auf die Verschmelzung zu einem k snkreten Mo- 
nismus nach dem Vorbilde der Schellingschen Prinzipienlehre 
hin, in dem sich ihre Vorzüge summieren, ihre Nachteile und 
Mängel aber gegenseitig aufheben, und erscheinen zwar als not- 
wendige aber doch aufgehobene Momente in dem konkreten 
Monismus des Hartmannschen Systems. 



MAX WENTSCHER • LOT2ES „MONISMUS" 



ARF man Lotze als „Monisten" bezeichnenl 
Gibt es in seiner Weltanschauung nicht 
Momente genug, die ihn viel eher gerade 
als „Dualisten" zu charakterisieren schei- 
nen ? Zwei Punkte vor allem kämen hier in 
Frage: zuerst die scharfe Trennung des 
Geistigenund Körperlichen; und sodann die 
Behauptung selbständiger Regsamkeit der 
Einzelwesen trotz ihres sonst überall betonten Enthaltenseins 
im Unendlichen, All-Einen. Zwar finden beide Punkte im Zu- 
sammenhange des Ganzen dieser Lehre ihre Erledigung in einem 
Sinne, der den Namen des Monismus für diese Gesamtanschau- 
ung gar wohl rechtfertigen könnte. Allein es kann immer noch 
gefragt werden, ob diese Art der Erledigung der in Rede stehen- 
den Probleme auch wirklich zu Recht besteht, oder ob hier 
nicht trotz alles aufgebotenen Scharfsinns zuletzt doch unge- 
löste, vielleicht überhaupt unlösbare Schwierigkeiten und Be- 
denken zurückbleiben. Beide Probleme dürfen — auch abge- 
sehen von dieser hier entwickelten Fragestellung — noch ein 
besonderes Interesse für sich in Anspruch nehmen. Einmal 
schon, weil die zu ihrer Lösung herangezogenen Grundüberzeu- 
gungen sehr wesentliche Bestandteile der ganzen Lotzeschen 
Weltanschauung bilden ; sodann aber, weil es sich dabei um 
grundlegende Probleme aller Weltanschauung überhaupt han- 
delt. So rechtfertigt es sich, wenn wir die Erörterung der Frage^ 
in welchem Sinne und mit welchem Grunde Lotze als ,, Monist" 
bezeichnet werden darf, wesentlich nach den beiden genannten 
Gesichtspunkten orientieren. 



L GEIST UND MATERIE 
Scheidung der beiden Arter von Substanzen trotz der „Allbeseeltheit". — 1 
„Wechselwirkung", nicht ,,Parallelisnius". — Alle endlichen Substanzen | 
wurzeln im Unendlichen. 






Gegenüber dem „Materialismus", der infolge des gewaltigen i 
Aufschwunges der Naturwissenschaften und ihres Populätwer- 




LOTZES MONISMUS 



83 



dens um die Mitte des letzten Jahrhunderts zuversichtlicher 
als je das Haupt erhob, hat Lotze seine Lehre von der Be- 
seeltheit aller Wirklichkeitselemente herausgebildet. 
Mit der Grundanschauung der Leibnizschen Monadologie 
im wesentlichen zusammenstimmend, behauptet diese Lehre 
die prinzipielle Gleichartigkeit aller dieser Wirklichkeits de- 
mente, und zwar so, daß die Seele oder das Selbstbewußtsein, 
wie wir es in uns selbst unmittelbar erleben, den in mannig- 
fachsten Abstufungen immer wiederkehrenden Grundtypus 
bildet. Das ,,Sein" scheint ihm nicht, wie es der Materialismus 
betrachtet, in einem bloßen Für-anderes-sein aufgehen zu 
können, sondern nur erst in einem Für-sich-sein die volle 
Entfaltung seines eigentlichen Sinnes finden zu können. Sol- 
ches „Für-sich-sein" aber findet er nur da wirklich gegeben, wo 
in irgendeiner Form wenn auch noch so dumpfen Selbstbe- 
wußtseins oder Selbstgefühls die erlebten Zustände zur Empfin- 
dung gelangen, zu einem gewissen Selbstgenuß führen. Somit 
sind nur beseelte Wesen eines Für-sich-seins und so auch 
eines wahren, eigentlichen Seins fähig. Und sofern also die 
Atome und das sonstige Wirklichkeitsmaterial der Naturwis- 
senschaft und des Materialismus Realität haben soll, muß die 
Konsequenz gezogen werden, daß alle diese Grundbestandteile 
des Wirklichen „beseelt" sind, den eigentlichen ,, Seelen" in 
abgestufter Rangordnung vergleichbar, ja, wesens verwandt. — 
Damit wäre denn ein prinzipieller „Monismus" in gewissem 
Sinne erreicht, und zwar in der Form eines spiritualisti- 
schen Monismus; denn das Seelische, Geistige soll hier ja der 
alleinige, einheitliche Typus des Wirklichkeitselementes 
sein, wo immer ein solches auftritt und als solches anerkannt 
werden kann. „Alle Realität ist Geistigkeit.'" Allein mit 
dieser Einreihung Lotzes in die Rubrik des Monismus wäre doch 
noch wenig gewonnen. Denn trotz dieser dem Materialismus 
entgegengehaltenen Lehre von der Wesensverwandtschaft des 
Geistigen und Körperlichen oder von der allgemeinen Besee- 
lung des Wirklichen, wird doch keinen Augenblick die völlige 
Unvergleichbarkeit außer acht gelassen, welche die physischen 
Vorgänge als solche von den Erlebnissen des Bewußtseins ent- 
scheidend trennt.'' Mit Entschiedenheit wird jede Auffassung 
abgelehnt, welche zwischen den Tatbeständen des geistigen Le- 



, »chril 



5. 90ff. 1 



,) S. 53iff. * Mikr- I (4- Aufl.) S. lösff., Streil 



84 



MAX WENTSCHER 



I 



bens und gewissen Analogien, die man auf dem Boden'des phy^fl^ 
sischen Geschehens finden könnte, einen realen inneren Zu- 
sammenhang konstruieren möchte. Vor allem sind es die auf 
die Einheit des Bewußteins hinweisenden Betätigungen des 
Vergleichens, Beziehens und Urteilens, für die auf physischem 
Boden niemals etwas zu analog einheitlichen Leistungen Befä- 
higtes aufgezeigt werden könnte. Aus diesem Grunde tritt Lotze 
auch der Anschauung eines psychophysischen ,, Parallelismus", 
wie er in jener Zeit in Fechner einen seiner bedeutsamsten 
Vertreter gefunden, nachdrücklich entgegen. Es sei unzulässig, 
die hier einander durch eine na 11 gerne ingesetzlichen Zusammen- 
hang koordinierten Vorgänge einfach als Außen- und Innenseite 
eines und desselben Geschehens zu fassen. Das oft herangezogene 
Bild von der Kreislinie, die, je nachdem man sie von außen oder 
von innen betrachte, dem Beobachter gänzlich verschieden er- 
scheine, treffe eben in dem entscheidenden Punkte nicht zu; 
denn auf dem Boden der psychophysischen Zusammenhänge sei 
solch ein Drittes schlechterdings nicht angebbar, als dessen be- 
greifliche Konsequenzen bei einer Betrachtung ,,von innen" das 
psychische Leben, bei einer solchen ,,von außen" die räumlich- 
zeitlich geordneten physischen Vorgänge sich fassen ließen. 
Dagegen findet Lotze in dieser Unvergleichbarkeit des Geistigen 
mit dem Physischen keinerlei Veranlassung, von der Annahme 
einer Wechsel Wirkung zwischen,, Leib" und,, Seele" sich ab- 
bringen zu lassen. In diesem Punkte nimmt er somit eine der 
sonst üblichen Auffassung gerade entgegengesetzte Stellung 
ein. Denn eben die fundamentale Wesens Verschiedenheit zwi- 
schen Geistigem und Materiellem und die darin begründete Un- 
begreiflichkejt eines Herüberwirkens des einen in den Ablauf 
der Vorgänge des anderen, pflegt man sonst als Hauptargu- 
ment im Sinne der Ausschließung jeder Wechselwirkung 
zwischen beiden zu verwerten ; und dementsprechend erscheint 
dann der Parallelismus als einzige, aus dieser Schwierigkeit 
heraushelfende Auffassung des wechselseitigen Verhältnisses 
der beiden Vorgangsreihen. Lotze dagegen findet in der Un- 
begreiflichkeit eines Wirkungszusammenhanges kein Hin- 
dernis, diesen dennoch vorauszusetzen; um so weniger, da 
im letzten Grunde die letzten, einfachsten Wirkungszusammen- 
hänge ihrem eigentlichen Zustandekommennach nirgends für 
uns begreiflich sind; auch im Gebiete des Physischen nicht, 
obschon hier eine gewisse, uns darüber leicht hinwegtäuschende 





Anschaulichkeit der Wirkungsübertragungen vielfach allerdings 
gegeben ist. So gut, wie nun innerhalb des Physischen dennoch 
ein eigentlicher Kausalzusammenhang angenommen werde, — 
und gerade auch von den Anhängern des psycho physischen 
Parallelismus, -^ so gut dürfe man ihn auch zwischen Seeli- 
schem und Körperüchem voraussetzen. Nichts weiter gehöre 
dazu, als daß auch hier ein streng gesetzlicher Zusammen- 
hang durch die Erfahrung bestätigt sei, derart, daß bei Wieder- 
kehr eines bestimmten psychischen Vorganges auch allemal 
der allgemeingesetzlich ihm zugeordnete physische Vorgang 
tatsächlich wiederkehre. Dagegen erscheint ihm die Behaup- 
tung eines stetigen Parallelgehens der beiden Vorgangsreihen, 
in dem Sinne, daß der Kausalnexus, wie er innerhalb des 
Physischen besteht, überall von sich aus korrespondierende 
Veränderungen und Wirkungszusammenhänge hervorbringen 
solle, wie der auf dem Boden des Psychischen bestehende, eben 
durch die völlige Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Vor- 
gänge gänzlich ausgeschlossen. 

Übrigens ist es hierbei interessant, zu bemerken, wie diese 
beiden einander gegenüberstehenden Auffassungen über das 
Wechsel Verhältnis von Leib und Seele, eine jede in ihrer Art, 
den Anspruch erheben, die Selbständigkeit des geistigen Lebens 
gegenüber dem Materialismus sicherzustellen. Die Vertreter 
der parallelistischen Theorie meinen dadurch, daß sie alles 
Psychische immer wieder ausschließlich aus Psychischem kau- 
sal hervorgehen lassen, daß sie es also niemals, auch in keinem 
seiner Momente, als ableitbar aus physischen Bedingungen wol- 
len gelten lassen, diese Selbständigkeit am reinsten herstellen 
zu können. Sie übersehen dabei nur, daß sie doch zugleich, eben 
zufolge der parallelistischen Grundanschauung, auch dem psy- 
chischen Leben zuletzt jede eigene Regsamkeit abzusprechen 
genötigt sind, welche nicht innerhalb des Physischen, mit den 
Mitteln der dort herrschenden physischen Kausalität, in allen 
für ihren kausalen Zusammenhang irgend in Betracht kom- 
menden Momenten ihre vollständige, äquivalente Abbildung 
finden könnte. — Die Lotzesche Annahme dagegen, wonach 
eine eigentliche Wechselwirkung zwischen Physischem und 
Psychischem stattfinden soll, gesteht zwar eine gewisse allge- 
meingesetzliche Abhängigkeit des letzteren von materiellen 
Bedingungen zu, beschränkt aber zugleich das Bereich dieser 
Abhängigkeit auf die niederen, in jedem Falle doch einmal 



mechanisch bedingten Zusammenhänge des Seelenlebens. 
Den höheren, eigentlich geistigen Betätigungen aber wird dafür 
eine um so echtere Selbständigkeit vorbehalten, für die auf 
physischem Boden keinerlei , .Korrelat" erst gesucht zu werden 
braucht, noch auch — wenigstens in dem, worauf es dabei an- 
kommt — überhaupt denkbar wäre. Mit dieser Auffassung sind 
sogar freie Willensbetätigungen vereinbar, wie sie Lotze 
in der Tat im Zusammenhange seiner Gesamt- Weltanschauung 
unbedingt fordert, während sie bei der parallellstischen An- 
sicht — zufolge der strengen Gesetzmäßigkeit des physischen 
Geschehens und der daraus hier gefolgerten ,, Geschlossenheit 
der Naturkausalität" — von vornherein völlig ausgeschlossen 
sein würden. — 

Eben dieser Punkt aber fordert uns noch zu einer weiteren 
Bemerkung auf. Der Unterschied des Physischen und Psychi- 
schen war in den bisher vorgeführten Gedankengängen Lotzes 
zwar bereits scharf genug betont und in der Bevorzugung der 
Lehre von der Wechselwirkung gegenüber dem Parallel istnus 
geltend gemacht. Allein dieser Gegensatz fand doch eine ge- 
wisse Beschwichtigung durch die schon erwähnte Perspektive 
auf die allgemeine Beseeltheit aller Wirklichkeitselemente. Als 
reale Substanzen sollten sie alle ihrem Wesen nach als ,, gei- 
stig" vorgestellt werden, im letzten Grunde also — trotz aller 
zwischen ihnen bereits festgestellten Unvergleichbarkeit — 
eben doch wesenseins sein. Diese Behauptung gründete sich 
freilich nicht etwa auf das allgemeine Einh ei tsver langen unse- 
res erkennenden Geistes, nicht auf die methodische Maxime, 
principia praeter necessitatem non esse multiplicanda. Vielmehr 
war es ein gewisses poetisches Bedürfnis gewesen, was unsetn 
Philosophen zu jener seltsamen Annahme bestimmt hatte. Es 
schien ihm unerträglich, daß die eine Hälfte des Gesamtwirk- 
lichen von allem Genuß der Weltwirklichkeit und ihrer Schön- 
heit dauernd ausgeschlossen sein, daß sie lediglich als toter 
Stoff dasein, überall als bloß passives Substrat zu bloßer Bewe- 
gung auf Grund eines erlittenen Stoßes oder Druckes befähigt 
sein sollte. So wollte er das Glück der Beseelung über alles zur 
Wirklichkeit Gehörende ausgegossen wissen. In irgendwelchen 
inneren Zuständen, als Wohl oder Wehe sollte allen Weltele- 
menten wenn auch noch so dumpf das Geschehen zum Bewußt- 
sein gelangen, das die Anschauungsweise der mechanischen 
Physik ihnen nur als ein äußerliches Geschoben- und Gezogen- 



werden anheftet, an dem ihr eigenes Wesen keinerlei Anteil 
hätte. Zwar stellt Lotze diese ganze Anschauung nur als eine 
mögliche Hypothese hin, allein man bemerkt leicht, daB ei 
ein Lieblingsgedanke ist, der darin seinen Ausdruck gefun- 
den. In der Tat gibt er dieser Hypothese ursprünglich überall 
den Vorzug vor der rein phänomcnalis tischen Auffassungin 
betreff der materiellen Dinge, als seien diese nur Erscheinungen 
für die beseelten Wesen, ohne jede eigene, selbständige Wesen- 
heit, nur dazu da, den bewußten Wesen das Bild einer zusam- 
menhängenden Weltwirklichkeit vorzuführen. — Später frei- 
lich tritt bei ihm die Lehre von der Altbeseelung merklich in 
den Hintergrund. Je mehr sich nämlich seine Grundanschau- 
ung von der allumfassenden einheitlichen Substanz als einer 
wesenhaften Macht entwickelt, in der alle Wirkungs- und 
Wirklichkeitszusammenhänge ihre Wurzel haben, je mehr er 
also alles Wirkliche in diesem allumfassenden, lebendigen Welt- 
grunde geborgen weiß, um so weniger legt er Wert darauf, 
auch den Elementen der sogenannten materiellen Welt noch 
ein besonderes ,,Für-sich-sein" und selbständiges Dasein zu vin- 
dizieren. Dafür, daß auch diesen Elementen eine höhere, gei- 
stige Daseinsart neben ihrer materiellen Erscheinungsform zu- 
komme, scheint ihm nunmehr in der Geistigkeit jenes Welt- 
grundes oder des ,, Unendlichen" genügende Bürgschaft gebo- 
ten ; einer eigenen, individuellen Geistigkeit bedarf es dazu nicht 
mehr. Als ,,unaufheblich" gilt ihm jetzt nur noch „das Dasein 
geistiger Wesen", sowie ,,die Einheit des wahrhaft Seienden"; 
die materiellen Elemente, die Atome sind ihm nichts weiter 
mehr, als , ,elementare, ewig gleichförmig erhaltene Aktionen 
des einen Weltgrundes, dazu bestimmt, als unwandelbarer Be- 
ziehungspunkt in dem Spiele gesetzmäßiger Ereignisse zu die- 
nen".' Und ausdrücklich werden ihnen gegenüber die beseelten 
Wesen jetzt als bevorzugt gefaßt ,, durch die wunderbare, keiner 
Einsicht weiter erklärbare Fähigkeit, sich selbst als tätige Mit- 
telpunkte eines von ihnen ausgehenden Lebens zu fühlen und 
zu wissen" ; sie sind auch nicht ewig gleichförmig unterhaltene, 
sondern „an bestimmten Punkten des Weltlaufs beginnende 
Aktionen, welche für einen Ausschnitt desselben ein früher 
nicht vorhanden gewesenes Zentrum der Verinnerlichung er- 
zeugen". 



' cf. Metaphysik v. 79: S. iS6ff., S. 3S1 1 
Schriften III, i. S. 430. 



I Glaube, Kl. 



Hier also tritt ein ausgesprochener Gegensatz hervor zwischen 
den geistigen Wesen auf der einen, den materiellen Elementen 
auf der andern Seite. Die dualistische Scheidung zwischen Phy- 
sischem und Psychischem tritt scharfer als je hervor, obschcn 
in dem gemeinsemen Enthaltensein in dem allumfassenden ein- 
heitlichen Weltgrunde ein neues monistisches Band uns darge- 
boten wird. Der Unterschied zwischen Beseeltem und Materi- 
ellem liegt nicht eigentlich in metaphysischen Bestimmungen. 
Denn beide sind wirklich nur als „Aktionen" des Unendlichen, 
allein wahrhaft Seienden; und was die Beseelung anlangt, so 
wird sie auch jetzt den materiellen Dingen keineswegs entschei- 
dend abgesprochen, sordern sie erscheint nur als nunmehr 
überfiüfsig geworden, ihres früher damit verbundenen Sinnes 
verlustig gegangen. Das Entscheidende Hegt vielmehr darin, 
daß jetzt das geistige Leben der beseelten Wesen In seiner hö- 
heren Eigenart erfaßt wird. Dem die „UnaufhebUchkeit" 
ihres Daseins liegt zuletzt in dem sittlichen Werte einer Welt 
frei wollender und wirkungsfähiger Wesen begründet; nicht 
also in ihrer Beseeltheit oder Geistigkeit als solcher, sondern 
erst in der darauf sich gründenden freien Willens- und Wir- 
kungsfähigkeit. ^ 

Eben hieimit gelangen wir aber zu dem Punkt, wo der Dua- 
lismus in der Lotzeschen Gesamtanschauung das bisher be- 
trachtete Gebiet des Verhältnisses vom Psychischen zum Phy- 
sischen verläßt, dafür aber in um so veiwickelterer Form in dem 
Verhältnis der selbständigen geistigen Wesen zum einheitlichen 
Weltgrunde wiederkehrt. Denn nachdem den materiellen Ele- 
menten das selbständige Fürsichsein abgesprochen, sie zu bloßen 
elementaren Aktionen des Weltgrundes gemacht waren, können 
sie als solche dem monistischen Grundgedanken, der in der 
Herausarbeitung dieses einheitlichen Weltgrundes immer be- 
stimmter hervortritt, nicht mehr im Wege sein, Eofern sie ja 
nur ncch in der Regsamkeit dieses letzteren selbst zur Geltung 
gelangen sollen. Wie aber soll es nun gedacht werden, daß den 
geistigen Wesen, die doch gleichfalls nur solche ,, Aktionen" 
des Weltgrundes sein sollen, nichtsdestoweniger eine Ei gen reg- 
samkeit zugesprochen wird, die von jener des Weltgrundes als 
etwas Besonderes, Eigenes sich abhebtP Jede Selbständigkeit, 
die den Einzelwesen zugesprochen wird, muß sie, wie es scheint, 
in einen neuen dualistischen Gegensatz bringen, — jetzt zwar 



nicht mehr zu den materiellen Elementen eines selbständig wirk- 
lichen Physischen, wohl aber zu jenem Weltgrunde selbst, dem 
sie sich nicht in gleicher Weise, eben durch Preisgabe ihrer 
Selbständigkeit, wollen einordnen lassen, wie die materiellen 
Dinge. Damit sind wir bei dem zweiten Hauptproblem angelangt, 
das, wie wir sahen, durch die Erörterung des Lotzeschen „Monis- 
mus" uns gestellt wird. 



IL DIE SELBSTÄNDIGKEIT DER EINZELWESEN 

Stellung der Einzelwesen zum ,, Unendlichen". — Die metaphysische Be- 
gründung ihrer „Immanenz" in dem allumfassenden, einheitlichen Welt- 
grunde. — Freiheit der Einzelwesen. — Religionsphilosophische Gesamt- 
anschauung. 

Zu wirklichem Sein, zu eigentlicher ,, Realität" sollte nach 
Lotze bloß dasjenige befähigt sein, dem ein ,, Fürsichsein" 
mit Fug und Recht zugesprochen werden konnte. Und nur in 
dem einen Beispiel desgeistigenLebens konnte klar gemacht 
werden, was ein solches vollgültiges Fürsichsein eigentlich be- 
deutet und in sich schließt. Nun aber betont Lotze überall, und 
die ganzen metaphysischen Grundlagen seines Systems nötigen 
ihn dazu, daß auch den geistigen Wesen kein in ihnen 
selbst begründetes Substanzen recht zukommt, das ihnen etwa 
die Fähigkeit selbständigen Daseins außerhalb des Einen, allein 
wahrhaft Seienden erteilte. Auch für sie gilt, was ganz allge- 
mein von den Einzeldingen gesagt wurde: ,, jeder Grund rela- 
tiver Selbständigkeit, den die Dinge gegeneinander zeigen, ist 
selbst die Folge ihrer absoluten Unselbständigkeit gegenüber 
dem Unendlichen, welches sie niemals aus seiner Einheit ent- 
läßt".' Auch die „einzelnen Seelen" sind ja für Lotze so gut, 
wie die realen Elemente des Stoffes, nur , .Aktionen des Einen 
wahrhaft Seienden".^ Wie verträgt es sich mit diesem so 
ausgesprochenen ,, Monismus", wenn den Einzelwesen nun 
dennoch die Fähigkeit zugesprochen wird, ,,sich selbst als tätige 
Mittelpunkte eines von ihnen ausgehenden Lebens zu fühlen 
und zu wissen"? Wie soll etwas, was nur ,, Aktion des Unend- 
lichen" ist, nun dennoch imstande sein, „sich als ein Selbst zu 
fühlen und gelten zu machen"? 

Wir würden hier den Sinn der Lotzeschen Ausführungen voll- 
kommen verfehlen, wenn wir jene in Rede stehende Selbstän- 
digkeit der geistigen Einzelwesen etwa nur als einen für diese 



90 MAX WENTSCHER 

selbst bestehenden Schein fassen wollten. Mit nachdrücklich- 
stem Ernst vielmehr wird — im Zusammenhange der ethischen 
und religionsphilosophischen Untersuchungen — überall an 
der Annahme einer Willensfreiheit festgehalten, als unent- 
behrlicher Voraussetzung für die Erfüllung sittlicher Gebote, 
deren „verpflichtende Majestät" als „die absoluteste, keiner 
Herleitung aus irgend einer andern Quelle bedürftige Gewiß- 
heit" gefaßt wird. Ja, Lotze erklärt, diese Überzeugung sei „der 
durchaus fundamentale Punkt, auf welchem aller religiöse 
Charakter unserer Weltansicht ruht". Und wer sie nicht un- 
mittelbar empfinde und zugebe, für den seien alle religions- 
philosophischen Fragen überhaupt kein Bedürfnis.^ Man mag 
geneigt sein, diese Sätze zu bestreiten: Das interessiert uns im 
Augenblick nicht weiter. So viel aber ist gewiß: wer so spricht, 
kann nicht gewillt sein, die so geforderte Freiheit zuletzt den- 
noch in bloße Illusion aufzulösen, als wären die Einzelgeister 
in Wahrheit bloße Marionetten, ohnmächtige Zuschauer des 
ganzen buntbewegten Spieles vermeintlich freier Entschlies- 
sungen, Vorstellungen eines sie beständig verfolgenden Verant- 
wortungsbewußtseins und der daran sich anschließenden Ge- 
wissensregungen. Daß Lotze diese Freiheit in der Tat als real 
gefaßt wissen will, geht mit voller Bestimmtheit aus all den 
Untersuchungen hervor, die er der Vereinbarkeit solcher Frei- 
heit der Einzelwesen mit der Erhaltung der gesetzmäßigen Ord- 
nung des Weltganzen, und weiterhin mit den der Gottheit zu- 
geschriebenen Prädikaten der Allmacht und Allwissenheit wid- 
met.' 

Angesichts dieser ethisch -religiösen Orientierung der An- 
nahme freier, selbständiger Regsamkeit der persönlichen Geister 
ist es somit offenbar nicht statthaft, diese Freiheit zu bloßer 
Erscheinung zu verflüchtigen, die nur für die endlichen Gei- 
ster bestünde, während in Wahrheit alle Aktivität im Weltgan- 
zen ausschließlich dem ,, Unendlichen" vorbehalten bliebe. Es 
bleibt nur folgende Alternative: entweder muß man behaupten, 
Lotze habe hier einander Widersprechendes gefordert, wie 
es ja auch so manchem andern großen Philosophen gelegentlich 
begegnet sei, und man dürfe daher seine Aufstellungen auf sich 
beruhen lassen; — oder aber, man ist genötigt, jenes , .Enthal- 
tensein" der endlichen Wesen im Unendlichen als dessen ,,Ak- 
' Vgl. Grundzüge der Religionsphilosophie, II. Aufl. (Diktat von 1S75), g 59. 
= Mikr. III (3. Aufl.), S. 6ooff. 




LOTZES MONISM US 

tion" in einem Sinne zu deuten, der, ohne aus dem Gefüge der 
metaphysischen Grundlagen dieser ganzen Weltanschauung 
herauszutreten, dennoch die Annahme der freien Einzelwesen 
mit der des ,, allein wahrhaft Seienden" in befriedigender Weise 
zu vereinigen gestattet. Der erstere Weg würde offenbar der 
bequemere sein und am einfachsten aus der nun einmal nicht 
abzuleugnenden Schwierigkeit, die hier in Rede steht, heraus- 
helfen. Allein es ist doch zu beachten: es handelt sich hier nicht 
etwa um bloße Nebenpunkte der Lotzeschen Weltansicht, in 
denen man sonst einem Philosophen wohl das Recht zugesteht, 
auch einmal fehl zu gehen und mit sich selbst in Widerspruch 
zu geraten. Vielmehr sind es zwei seiner fundamentalsten 
Behauptungen, deren Vereinbarkeit oder NichtVereinbarkeit 
hier in Frage kommt. Welchen Wert Lotze selbst auf die Frei- 
heit der Einzelwesen legt, haben wir bereits gehört; und ander- 
seits ist die Einheit des alle Wirkungszusammenhänge in der 
Welt tragenden und aus sich hervorbringenden Weltgrundes 
so sehr das eigentliche Ziel all seiner metaphysischen Unter- 
suchungen, daß es von vornherein völlig ausgeschlossen ist, 
diesen Gedanken aus seiner maßgebenden Stellung in dem Gan- 
zen dieser Weltanschauung entfernen zu wollen. Es kommt 
hinzu, daß wir bei Lotze salbst sichere Andeutungen finden, daß 
er jene beiden Gedankengänge für durchaus vereinbar mitein- 
ander gehalten hat. Denn wenn er z. B. bei seiner grundlegen- 
den Untersuchung über die Möglichkeit des ,,transeunten Wir- 
kens", auf dem aller Weltzusammenhang beruht, die Leibnizsche 
Lehre von der ,,prästabiliertea Harmonie" darum zurückweist, 
weilsie jegliche Freiheit der Einzelgeister ausschlie3en würde,' 
und dann seinen eigenen Begriff der unendlichen Substanz oder 
der Einheit des Weltgrundes ableitet, so muß er doch der Über- 
zeugung gewesen sein, darin etwas gewonnen zu haben, was 
gerade auch in dem fraglichen Punkte seiner eigenen Annahme 
vor der Leibnizschen den Vorzug gewährt. Aber zugestanden 
werden muß allerdings, daß eine ausdrückliche Behandlung 
oder gar eine befriedigende und einwandfreie Lösung der hier 
vorliegenden Schwierigkeit von Lotze nirgends gegeben ist. Wir 
erfahren nur, daß die Dinge , .nicht durch ein Heraustreten 
aus dem einen Unendlichen" erst Selbständigkeit des Daseins 
etwa zu erlangen vermöchten, „als wäre diese Transzendenz, 
deren eigentlichen Sinn dann anzugeben unmöglich wäre, die 




92 



MAX WENTSCHER 



vorangehende Bedingung, an welcher das ersehnte Für-sich- 
sein als Folge hinge; sondern: indem Etwas für sich ist, sich 
auf sich selbst bezieht, sich von Anderem unterscheidet, löst es 
sich eben hierdurch, durch dieses sein Tun von dem Unend- 
lichen ab, erwirbt nicht hierdurch, sondern besitzt hierin in 
der einzigen denkbaren Weise jene Selbständigkeit eines wahr- 
haften Seins, die wir mit einem sehr unpassenden räumlichen 
Bilde aus dem unmöglichen Akte einer Transzendenz entsprin- 
gen lassen . . , Was imstande ist, sich als ein Selbst zu fühlen 
und geltend zu machen, das verdient, als abgelöst von dem 
allgemeinen allesumfassenden Grunde und als seiend außer 
ihm bezeichnet zu werden".' Allein positiv erfahren wir doch 
nicht, woher nun diese Fähigkeit, sich als solches Selbst zu 
fühlen und zu bewähren, eigentlich stammt, und wie sie als 
solche zu denken ist, wenn doch' anderseits alle selbständige 
Regsamkeit im Weltganzen ausschließlich dem Unendlichen 
und seinen ,, Aktionen" vorbehalten bleiben soll. Wie soll in dem 
Ganzen dieser Anschauung das Einzelwesen dazu gelangen 
können, ,, eigene Zustände zu haben, die unmittelbar nicht 
Zustände der , allgemeinen Substanz' sind, und Anfänge zu 
Vorgängen zu geben, die aus jener Substanz nicht Pießen"?- 
Um hier zu einer klaren Entscheidung zu gelangen, sind wir 
genötigt, auf die metaphysischen Grundlagen näher einzuge- 
hen, auf denen der Lotzesche Begriff des Unendlichen als des 
einheitlichen, allumfassenden Weltgrundes sich aufbaut. Den 
Ausgangspunkt bildet hier das Problem des allgemeinge- 
setzlichen Wirkungszusammenhanges der Dinge, wie 
ihn die Naturwissenschaft überall voraussetzt und die Erfah- 
rung in weitester Ausdehnung tatsächlich vorfindet. Lotze un- 
terscheidet dabei zunächst zwei wesentlich verschiedene Arten 
von Wirkungszusammenhängen, die er als ,, immanentes" 
und als ,,transeuntes" Wirken bezeichnet. Ersteres soll das- 
jenige sein, bei dem die ,, Ursache" und die zugehörige , (Wir- 
kung" innerhalb eines und desselben Wesens sich abspie- 
len. Es lasse eine weitere ,, Erklärung" zwar nicht mehr zu, 
müsse vielmehr als letzte, einfachste Wirklichkeitssignatur ein- 
fach anerkannt werden ; denn wir würden doch nicht ins Un- 

' Met. V. 79T S. 190. ' Diese Worte sind zitiert aus den Oiklaten zur Re- 
ligion sphilosophie vcm Jahre 1875, § 56. Sie geben wohl die unzweideutigste 

Formulierung der von Lotze eigentlich gemeinten Selbständigkeit der Ein- 
zelwesen gegenüber dem Unendlichen. — 



endliche den Versuch der Erklärung, als Zurückführung auf 
noch Einfacheres, fortsetzen wollen; vielmehr ließe sich deut- 
lich voraussehen, daß jeder solche Erklärungsversuch Vor- 
stellungen zu Hilfe nehmen müßte, in denen eben dieses Pro- 
blem, das man hier lösen wollte, schon aufs neue wieder ent- 
halten sei. Anderseits aber bedürfe dieses „immanente" Wir- 
ken auch keiner weiteren Rechtfertigung; die dabei voraus- 
gesetzte Einheit des Wesens, innerhalb dessen die Vorgänge 
sich abspielen, die wir hier als „Ursache" und , .Wirkung" be- 
zeichnen, gebe uns eine immerhin einwandfreie Vorstellung 
einer Art von Zusammengehörigkeit beider und eines sie zu- 
sammenhaltenden Bandes. 

Anders aber liegt die Sache im Falte des sogenannten 
i.transeunten" Wirkens, bei dem nach der gewöhnlichen 
Vorstellung ein Vorgang, der in einem ersten Dinge (oder We- 
sen) sich abspielt, die „Ursache" sein soll für einen Vorgang 
in einem anderen, davon getreniten Dinge {oder Wesen). Hier 
liege ein gewisser Widerspruch, eine logische U.im iglichkeit 
vor, sofern zuerst jene zwei Dinge als völlig getrennt, einander 
nichts angehend betrachtet werden, und dann dennoch ihnen 
zugemutet wird, voneinander in der Weise Notiz zu nehmen, 
daß das eine sich nach den Zuständen (oder inneren Vorgän- 
gen) des anderen richtet, sie mit eigenen Zustandsveränderun- 
geti beantwortet. Eben das Widerspruchsvolle, das so in 
dem Begriffe des ,,tranäeunten" Wirkens liege, miche es un- 
möglich, auch ihn etwa, wie den des ,, immanenten" Wirkens, 
schlechthin als letzte, einfachste Signatur eines Wirklichksits- 
zusammenhanges anzuerkennen. Vielmehr sei hier eine Erklä- 
. rung oder doch eine Rechtfertigung dieser in sich widerspruchs- 
vollen Annahme unerläßlich. Nun aber zeigt es sich, daß alle 
hier überhaupt denkbaren Erklärungsversuche des als ,,trans- 
euntes Wirken" gedeuteten Tatbestandes vollständig versagen. 
Anderseits jedoch kann dieser Tatbestand selbst aus unserer 
Natur- und Wirk 1 i chkeits auf fassung unm'iglich hinweggeleug- 
net werden; er bildet vielmehr die ganz unentbehrliche Grund- 
lage unseres eigenen Handelns und Wirkens in dieser Welt- 
wirklichkeit, an der doch gerade für Lotze alles gelegen ist. So 
bleibt nichts übrig, als es mit einer der gewöhnlichen Auf- 
fassung gerade entgegengesetzten Ausdeutung dieses Tatbe- 
standes zu versuchen, nämlich die Annahme der substantiellen 
Getrenntheit der Dinge, ihre Auffassung als Zusammenhang- 



I 



loaer Vielheit aufzugeben und sie alle als enthalten in einei 
umfassenden Wesensei nheit zudenken. So sind also nicht zu- 
erst die Dinge, ein jedes für sich, wirklich und treten erst dann 
in „Beziehungen" miteinander, wie sie in ihrer „Wechselwir- 
kung" oder im „transeunten Wirken" ihren Ausdruck finden. 
Vielmehr zeigt eben dieser unserer Erfahrung als Erstes vorlie- 
gende Tatbestand eines „transeunten" Wirkungszusammenhan- 
ges zwischen scheinbar getrennten, für sich existierenden Einzel- 
dingen, daß zwischen ihnen ein sie alle umfassender Zusam- 
menhang bereits besteht; dieser Zusammenhang aber ist in 
der wesenhaften Einheit des Weltgrundes oder des Unendlichen 
zu suchen. Mit dieser Annahme allererst hört das Problem des 
scheinbar „transeunten" Wirkens, das zwischen getrennten 
Substanzen stattfinden sollte, auf, in sich widerspruchsvoll und 
darum unlösbar zusein; dieses ,,transeunte" Wirken ver- 
wandelt sich für Lotze jetzt vielmehr in ein „immanentes" 
Wirken innerhalb der Wesenseinheit dereinen, allein wahr- - 
haft seienden, unendlichen Substanz. ■ 

Zu diesen Ausführurgen tritt nun jedoch noch ein ergänzen- !■ 
der Gedankengang hinzu, der für die kritische Würdigung des " 
Ganzen von wesentlicher Bedeutung ist. Zur Erläuterung 
nämlich einer solchen wesenhaften Einheit, wie sie als 
Grundlage für die Rechtfertigung der Annahme eines ,, im- 
manenten" Wirkens Verwendung findet, werden wir auf die 
Einheit unseres eigenen Bewußtseinslebens hingewie- 
sen. In ihm erleben wir es unmittelbar, was es heißt und 
wie es kommen kann, daß eine solche Wesenseinheit die etwa 
eingetretenen Veränderungen, die sie in sich vorfindet, von 
sich aus mit einer Reaktion, einer neuen Veränderung beant- 
wortet, die nun zu der ersten — als „Wirkung" zur ,, Ursache" 
— hinzutritt. Ja, es ist dies die einzige Art, wie wir uns 
eine zu der hier geforderten Leistung eines immanenten Wir- 
kens wirkhch befähigte Wesenseinheit überhaupt zu denken 
vermögen. Und so gelangt Lotze denn zuletzt dazu, auch jene 
oberste, allumfassende Wesenseinheit des Unendlichen nach 
Analogie der Einheit unseres Bewußtaeinslebens, unserer „ Per - 
sönlichkeit" zu fassen, — wobeier nur aus diesemPersönlich- 
keitsbegriff alle diejenigen Momente entfernt oder entsprechend 
modifiziert wissen will, die uns zufolge unserer Endlichkeit als 
Schranken anhaften. Der Ausgangspunkt, die Orientie- 
rungsbasis gleichsam dieser Gedankengänge ist somit die 




Selbsterfahrung unseres eigenen Bewußtseinslebens, nicht et- 
wa eine a. priori konstruierte Idee der „unendlichen Substanz", 
wie es z. B. bei Spinoza in der Darstellung seiner Ethik er- 
scheint. Wir ziehen daraus die Folgerung, daß für Lotze das 
Gewisseste, keiner weiteren Herleitung oder Rechtfertigung Be- 
dürfende, das er selbst als gesicherte Grundlage aller weiteren 
Untersuchungen verwendet, eben diese in unserer Selbsterfah- 
rung erlebte Einheit unseres Bewußtsei ns lebe ns mit dessen im- 
manenten Wirkungszusammenhängen ist. Und von hier aus 
nun glauben wir uns berechtigt, auf eine offenkundige Lücke 
hinzuweisen, die sich in den metaphysischen Argumentationen, 
die zuletzt in der Ableitung des Begriffes des Unendlichen 
gipfeln, konstatieren läßt. Nicht zur Erklärung des imma- 
nenten, sondern nur des scheinbar gegebenen „transeun- 
ten" Wirkungszusammenhanges zwischen den Dingen war 
dieser Begriff herangezogen, — eben um durch Herstellung der 
allumfassenden Wesensgemeinschaft und substantiellen Ein- 
heit das uns als „transeunt" erscheinende Wirken in ein in 
Wahrheit ,, immanentes" zu verwandeln, das innerhalb die- 
ser umfassenden Wesenseinheit sich abspielen sollte. Genauer 
aber hätte der hier zur Verwendung gelangende logische Leit- 
gedanke eben im Zusammenhange der Lotzeschen Argumen- 
tationen — vielmehr so gefaßt werden müssen, daß nicht so- 
gleich alle scheinbar gegebene selbständige Regsamkeit der 
Einzeldinge zugunsten der allein „wahren" Wesenhaftigkeit 
und Eigenregsamkeit des ,, Unendlichen" aufgehoben wurde; 
nur das konnte behauptet werden: soweit die Dinge für unsere 
Erfahrung in einem transeunten Wirkungszusammen hange 
zu stehen scheinen, so weit sind sie in Wahrheit als einbegrif- 
fen in eine umfassende Wesenseinheit zu denken. Damit aber 
wäre sofort die weitere Konsequenz gegeben ; soweit die Dinge 
{oder Wesen) zu einem ihnen selbst „immanenten" Wir- 
kungszusammenhange befähigt sind, so weit können sie recht 
wohl als außerhalb jener Wesenseinheit des ,, Unendlichen" 
stehend gefaßt werden. Der Name dieses letzteren darf uns 
hier nicht irre machen, so wenig wie etwa der andere des ,, all- 
umfassenden Weltgrundes", oder welchen man sonst dafür 
wählen mag. Denn sie alle sind ja nichts weiter, oder sollen 
doch zunächst nicht anders gemeint sein, wie als Bezeichnun- 
gen jener Wesenseinheit, welche zur Erklärung des scheinbar 
transeunten Wirkens herangezogen war; ihre Bedeutung 



MAX WENTSCHER 



96 

reicht daher auch — auf Grund des bisher Erörterten wenig- 
stens — in keinem Sinne über die Grenzen des hier zu decken- 
den Erklärungsbedürfnisses hinaus; und wir können sie jeden 
Augenblick zurücknehmen, durch andere ersetzen, sobald man 
aus ihnen Konsequenzen ziehen will, die damit gar nicht beab- 
sichtigt waren. — Daß wir bei Lotze selbst in seinen metaphy- 
sischen Untersuchungen die ausdrückliche Herausarbeitung 
dieser Konsequenz vermissen, bleibt freilich zu bedauern. Sie 
würde gerade für das, was ohne sie bei ihm als unmotivierte, 
ja widerspruchsvolle Aufstellung erscheint, — eben für die Ei- 
genregsamkeit der persönlichen Einzelwesen, eine höchst er- 
vriinschte theoretische Stütze abgegeben haben. Daß sie bei 
ihm ihrem wesentlichen Sinne nach in dem Ganzen seiner Welt- 
anschauung dennoch im Hintergrunde steht, zeigen deutlich 
solche Aussprüche, wie der oben bereits zitierte, wonach die 
Einzelwesen zu „eigenen Zuständen" befähigt gedacht werden, 
,,die unmittelbar nicht Zustände der allgemeinen Substanz 
sind," und dementsprechend fähig, „Anfänge zu Vorgängen zu 
geben, die aus jener Substanz nicht fließen". — Hier wird 
unmittelbar Anwendung gemacht von dem Gedanken selbstän- 
diger immanenter Wirkungsfähigkeit der Einzelwesen trotz 
ihres partiellen Enthai tenseins in jener einheitlichen Sub- 
stanz. — 

Eines aber bleibt trotz solcher Wiederherstellung einer Sphäre 
selbständiger Eigenregsamkeit der Einzelwesen doch bestehen: 
sie können sich nach außen hin nur geltend machen, sofern 
sie zugleich jenem umfassenden einheitlichen Wesenzusam- 
menhange der „Substanz" angehören. Prinzipiell freilich wür- 
den auch Wesen denkbar sein, denen bloß immanente Wir- 
kungsfähigkeit zukäme; allein das Fehlen der Sphäre eines 
„transeunten" Wirkens würde alsdann ihnen jede Möglich- 
keit abschneiden, von ihrer Existenz nach außen hin irgend 
etwas merke n zu lassen. Es wäre für die ganze übrige Weltwirk- 
lichkeit geradeso gut, als wenn sie nicht vorhanden wären. Uns 
interessieren, für uns überhaupt in Frage kommen könn- 
ten somit immer nur solche Einzelwesen, die mit einem Teil 
ihres eigenen Wesens wenigstens im allgemeinen Weltgrunde 
wurzeln. Aber weiter noch: da diese Einzelwesen nicht von 
Ewigkeit her existieren — wenigstens für unsere Erfahrung 
nicht — , und da sie doch auch nicht etwa sich selbst geschaffen 
haben können so müssen sie auch ihre erste Entstehung 



I 



I 




notwendig jenem einheitlichen Weltgrunde verdanken. Es 
bleibt somit auch hier allerdings zuletzt bei einem „Monis- 
mus": alles Wirkliche nimmt seinen Ursprung allein aus dem 
Einen und bleibt auch dauernd wenigstens mit einem Teil 
seines Gesamtwesens in ihm enthalten. Aber anderseits ist nun 
doch nicht mehr alle Aktivität in der Welt ausschließlich un- 
mittelbare Eigenregsamkeit des Einen, „Unendlichen". Viel- 
mehr hat dieses aus sich selbst, aus seiner Wesenseinheit jene 
Einzelwesen partiell entlassen, diese mit einer die eigene in 
kleinem Maßstabe wiederholenden Fähigkeit zur Eigenregsam- 
keit, zu „immanentem Wirken" ausgestattet, doch so, daß es 
sie mit einem andern Teil ihres Wesens auch jetzt noch be- 
ständig in sich hegt und ihnen dadurch ein „transeuntes" 
Wirken auf andere Wesen und „Wirklichkeitselemente" hin- 
über ermöglicht. Wir können uns das hier in Frage kommende 
Verhältnis des Einzelwesens zum „Unendlichen" durch ein 
einfaches geometrisches Bild veranschaulichen, — wobei wir uns 
selbstverständlich bewußt bleiben, daß derartige „Veranschau- 
lichungen" noch keine „Erklärungen" sind, daß sie nur das 
Gemeinte, Geforderte klarer herausstellen können, ohne doch 
etwa zu zeigen, wie dem so Geforderten in der Wirklichkeit 
mit den dort zur Verfügung stehenden Erklärungsmomenten 
Genüge geschehen kann. Unter diesem Vorbehalt wählen wir 
nun folgende Darstellung jenes Verhältnisses: ein verhält- 
nismäßig großer Kreis wird von einem kleinen geschnitten, 
wobei der erstere dem ,, Unendlichen", der letztere dem 
Einzelwesen entsprechend gedacht wird. Es entstehen dabei 
drei verschiedene Gebiete oder Sphären: die erste derselben 
umfaßt alle Punkte, welche nur der Fläche des großen Kreises 
allein angehören, ohne zugleich von dem kleinen umfaßt zu sein; 
die zweite ist das beiden Kreisflächen gemeinsame Gebiet, 
in dem sie einander überdecken; die dritte die ausschließlich 
dem kleinen Kreise noch verbleibende Fläche. Diese letztere 
nun kann uns die Sphäre der dem Einzelwesen hier zugeschrie- 
benen Eigenregsamkeit oder der ausschließlich ,, imma- 
nenten Wirkungsfähigkeit" desselben veranschaulichen. Nun 
aber kann — zufolge der Wesenseinheit des in dem kleinen 
Kreise repräsentierten Einzelwesens — eine in einem beliebigen 
Punkte dieser Sphäre entstandene Zustandsveränderung natur- 
gemäß auch eine solche in einem Punkte zur Folge haben, der 
der zweiten der oben unterschiedenen Sphären angehört, also 



98 MAX WENTSCHER 



zugleich eine Zustandsveränderung innerhalb des Unend- 
lichen bedeuten würde. Von da aus aber wiederum kann — 
zufolge der Wesenseinheit dieses Unendlichen — dieselbe Zu- 
standsveränderung weiterhin mit einer Folge verknüpft wer- 
den, die nunmehr in irgendeinem Punkte der ersten Sphäre 
darzustellen sein würde. Und ebenso würde umgekehrt das 
Einzelwesen von außen, aus der Sphäre des Unendlichen, be- 
ständig Anregungen und Einwirkungen erfahren können, die 
zunächst Zustandsveränderungen in der zweiten, beiden ge- 
meinsamen Sphäre hervorbringen; von dort würde sie erfor- 
derlichenfalls mit Hilfe der Wesenseinheit des Einzelwesens in 
die ausschließlich diesem letzteren vorbehaltene Sphäre hin- 
übergeleitet werden können, um dann etwa durch die hier ge- 
gebene immanente Wirkungsfähigkeit des Einzelwesens eine 
diesem letzteren spezifisch eigene Beantwortung zu empfan- 
gen. — 

Was hier etwa noch einer weiteren Erklärung oder doch 
Rechtfertigung bedarf, liegt weniger in dem Verhältnis des 
Unendlichen zum Einzelwesen, nachdem dieses letztere ein- 
mal in die Wirklichkeit eingetreten ist und nunmehr „exi- 
stiert. Vielmehr darin liegt die eigentliche Schwierigkeit, daß 
solche partiell wenigstens selbständigen Einzelwesen einmal 
aus dem Unendlichen hervorgegangen sein sollen. Wie kann 
etwas als selbständig, als fähig zu wirklich eigener Selbstbe- 
tätigung gefaßt werden, wenn es diese seine erste Entstehung, 
samt allen darin doch schon enthalten zu denkenden Keimen 
seiner ganzen Wesensentwickelung einem anderen Wesen 
verdankt? 

Es würde hier nicht ganz zureichen, wenn man diese 
Schwierigkeit durch den Hinweis erledigen wollte, daß ja auch 
andere Auffassungen, z. B. die populäre religiöse von der 
„Schöpfung'' des Menschen durch die Gottheit, genau das- 
selbe Problem einschlössen, und daß man nicht wohl ver- 
pflichtet sein könne, über solche, die letzten Anfänge einer 
jeden Weltauffassung betreffenden Schwierigkeiten noch wei- 
tere Auskunft zu geben. In Wahrheit liegt das Problem für 
Lotze zuletzt doch noch etwas anders, als für jene anderen 
Schöpfungsauffassungen. Bei diesen letzteren steht nämlich 
überall, wenn auch nicht immer deutlich ausgesprochen, der 
Gedanke im Hintergrunde, als gäbe es schon vor der „Schöp- 
fung'' Gottes eine allgemeine Ordnung, der alles Wirkliche oder 



„Mögliche" notwendig gehorchen müsse und an die auch Gott 
selbst bei dieser seiner Schöpfung gebunden sei. Dieser Gedanke 
hat gelegentlich zu der Vorstellung eines ,, dunklen Welt- 
grundes" geführt, der außerhalb der Gottheit, oder auch wohl 
in ihr selbst, anzunehmen sei, und der ^ nach Art eines Fa- 
tums — ■ gegenüber dem bewußt absichtlichen Willen Gottes 
hemmend oder gar ungewollte Nebenerfolge ihm anheftend sich 
geltend mache. Vor allem wurde dieser ,, dunkle Grund" zur 
Erklärung der Unvollkommenheiten und der Übel in der 
Welt herangezogen. ^Lotze aber will solch ein ursprüngliches, 
selbst dem Unendlichen noch übergeordnetes selbständiges 
Recht des Geschehens in keiner Fassung anerkennen. Ge- 
rade hierin zeigt er sich als viel konsequenterer Monist, als die 
meisten, die man sonst als Monisten zu bezeichnen pflegt. Sein 
Weltgrund soll Alles in Allem sein, außer und neben ihm 
nichts ursprünglich Eigenes, Selbständiges existieren können, 
— weder eine Materie, noch Gesetze eines Wirklichkeitszusam- 
menhanges überhaupt, noch „ewige Wahrheiten". Vielmehr 
sollen diese Gesetze und Wahrheiten nur der Ausdruck der 
eigenen allgemeinenVerfahrungsweisen des Unendlichen 
im Spiele seiner Aktionen sein. — ^ Somit hat die gewöhnliche 
Schöpfungsauffassung augenscheinlich den Vorteil, daß sie die 
Besonderheiten der ursprünglichen Ausstattung der Einzel- 
wesen keineswegs in einem ausdrücklich darauf gerichteten 
und alles Einzelne bestimmenden Schöpfungswillen Gottes be- 
gründet zu fassen braucht; sie kann auf jenes im Dunklen ge- 
lassene Bereich des an sich Notwendigen, Unaufklär baren hin- 
weisen und so Geschöpfe gewinnen, in denen etwas Neues, von 
der Gottheit selbst nicht eigentlich Gewolltes, vielleicht gar 
auch der Urgrund des Bösen zutage tritt. Aber diese Erklä- 
rungsmöglichkeit ist für Lotze eben abgeschnitten. Sei- 
nem obersten Weltgrund oder dem Unendlichen schreibt er, 
wie wir schon gehört haben, absolute, unbegrenzte Persönlich- 
keit zu. Alles, was in uns, als endlichen Wesen, nur frag- 
mentarisch ausgebildet ist an Momenten einer eigenen, 
wahren Persönlichkeit, soll in diesem Unendlichen in unbe- 
schränkter Vollendung enthalten sein. Für diese ,, unendliche 
Persönlichkeit" aber gibt es oflenbar dann keinerlei Zurück- 
greifen mehr auf eine außer ihm schon an sich bestehende Welt- 
wirklichkeit und notwendige Ordnung. Vielmehr muß alles Ge- 
schehen ausschließlich in dem bewußten Willen dieser Gottheit 



loo MAX WENTSCHER 

selbst seinen ersten, ursprünglichen Grund haben. Somit wird 
hier allerdings das Problem in besonderem MaBe akut, wie 
nun die Einzelwesen aus einem solchen Weltgrunde hervorge- 
gangen sein und dennoch ein selbständiges, eigenes Wesen emp- 
fangen haben sollen, auf Grund dessen sie zu Betätigungen be- 
fähigt wären, die aus jenem Willen der Schöpfertätigkeit nicht 
fließen, auch nicht als mittelbar wenigstens notwendige 
Konsequenzen der ihnen von jenem mitgegebenen Wesensbe- 
stimmtheit. 

Eine ausdrückliche Erörterung des hier vorliegenden Pro- 
blems hat Lotze nicht gegeben. Und seine Untersuchungen 
über die Vereinbarkeit der von ihm geforderten Freiheit der 
Einzelwesen mit seinen etwas scholastisch gehaltenen Speku- 
lationen über die „Unbedingtheit'^ und „Allwissenheit'' der 
Gottheit sind wenig geeignet, uns eine irgend befriedigende 
Aufklärung zu geben. Das dieser Gottheit dort zugesprochene 
„überzeitliche Wissen'' der „freien Handlungen" der Einzel- 
geister würde zuletzt mit Notwendigkeit dennoch auf ein „Vor- 
herwissen", und somit auf eine Aufhebung dieser Freiheit 
hinauslaufen. Denn die Art, wie sich das in Gottes zeitlosem 
Wissen Enthaltene in der Weltwirklichkeit und ihrer Zeitreihe 
tatsächlich verwirklicht, mit der bestimmten Reihenfolge, in 
der dieses geschieht, würde doch entweder in jenem Wissen 
schon unmittelbar enthaltenzudenken sein; oder der wirk- 
liche zeitliche Verlauf müßte wenigstens nach einer bestimmten, 
allgemeingesetzlichen Ordnung sich daraus ergeben, so daß die 
Gottheit jederzeit ihr „Wissen" zu einem „Vorherwissen" zu 
gestalten imstande wäre. In der Tat würde ja sonst ihr Wissen 
Schranken aufzeigen, wie sie nicht einmal dem unsrigen an- 
haften. In jedem Falle bleibt aber die göttliche „Allwissenheit", 
die auch die „freien Handlungen" umfassen soll, eine für diese 
letzteren verhängnisvolle Vorstellung, die sie — gegen den aus- 
gesprochenen Willen Lotzes — zu bloßen Illusionen herab- 
drücken würde. Es bleibt somit nur der andere Weg übrig, 
nämlich anzuerkennen, daß eine in obigem Sinne gefaßte „All- 
wissenheit" garnicht zu den eigentlich wertvollen Vollkom- 
menheitsprädikaten der Gottheit zu rechnen ist, daß sie viel- 
mehr zugunsten des höheren ethischen Interesses zurück- 
stehen muß, das wir mit der Gottheit als Schöpferin einer 
Welt freier, persönlicher Wesen zu verbinden gewohnt sind, 
und das auch Lotze sonst überall entschlossen zu oberst stellt. 



■■Damit aber finden wir uns zu dem gerade für uns in Frage 
istehenden Problem wieder zurückgeführt, wie nämlich die Mög- 
lichkeit des Hervorgehens eben dieser freien Wesen als solcher 
aus dem schöpferischen Willen der Gottheit gedacht werden 
soll, und zwar so, daß dabei der Gedanke dieser „Freiheit" und 
Selbständigkeit doch im vollen Umfange aufrecht erhalten 
bleibt. Eine eigentliche Lösung der Rätsel der Schöpfung, eine 
genauere Angabe, wie die Gottheit es angefangen habe, der- 
gleichen hervorzubringen, kann nun freihch auch von der 
Lotzeschen Philosophie nicht erwartet werden; und auch unser 
Interpretati ons versuch dieser letzteren kann dazu nicht ver- 
pflichtet sein. Das allein muß verlangt werden, daß sich 
mit hinreichender Bestimmtheit und ohne Widersprüche an- 
geben läßt, wie die Annahme der Entstehung freier Wesen mit 
dem streng monistischen Grundgedanken dieser Philosophie 
ohne Widerspruch in Zusammenstimmung gebracht werden 
kann. — Die Lösung dieser Schwierigkeit aber kann offenbar 
nur in der Richtung gesucht werden, daß man eben diesen Be- 
griff der Freiheit selbst zum Ausgangspunkte nimmt und das, 
worauf es dabei in dem vorliegenden Zusammenhange eigent- 
lich ankommt, klar herausstellt. In ihm liegt — nach Lotzes 
eigenen, wiederholt ausgesprochenen Gedankengängen — die 
Vorstellung eingeschlossen, daß nicht alle Betätigungen nur 
einfach die notwendige Konsequenz vorangegangener Erleb- 
nisse und Betätigungen seien, sondern daß die betreffenden 
Wesen in frei schöpferischer Tätigkeit etwas Neues, völlig Ei- 
genes zu erzeugen imstande sind. Über die Möglichkeit oder 
Unmöglichkeit des Gedankens solcher Freiheit selbst haben wir 
hier nicht weiter zu reden. Nur darum handelt es sich jetzt, 
diese Annahme von den Schwierigkeiten zu befreien, welche 
ihr entgegenstehen, sobald man sie mit der Schöpfungstätigkeit 
der Gottheit in Zusammenhang zu bringen versucht. Es müßte 
offenbar der Gottheit die Fähigkeit zugeschrieben werden, Wesen 
eben von der Art zu ,,schaffen" (oder aus sich ,, partiell zu entlas- 
sen"), daß diese selbst nunmehr zu analoger freischöpferischer 
Tätigkeit — natürlich in entsprechend verkleinertem Maßstabe 
— befähigt sind, wie die, von der die Gottheit selbst Gebrauch 
macht. Diese Forderung aber enthält an sich nichts Unmög- 
liches, Widerspruchsvolles — , wenigstens für den Indetermi- 
nisten nicht. Zu ihr wird derjenige, der mit Lotze beim Aufbau 
seiner Weltanschauung das ethische Interesse an einer Welt 



freier geistiger Wesen zu oberst stellt, notwendig zurückgreifen 
müssen. Nur der Determinist pflegt die einzelnen Betätigungen 
eines jeden Wesens sich so vorzustellen, daß sie restlos kausal 
bedingt sind einerseits in den von außen herankommenden Ein- 
wirkungen und den darin herrschenden allgemeingesetzlichen 
Zusammenhängen, anderseits in dem in der ursprünglichen 
Ausstattung enthaltenen Gesamtwesen dieses Individuums und 
dessen innerer Gesetzlichkeit. Der Inde terminist dagegen nimmt 
diese ganze Kette von Einwirkungen und Gesetzlichkeiten noch 
nicht für die einzigenFaktoren, welche die Entwickelung des 
Einzelwesens und dessen Betätigungen bestimmen; vielmehr 
hält er dieses selbst für befähigt, aus sich heraus, selbsttätig 
etwas hervorzubringen und in jenem Kausalnexus mit zu ver- 
wirklichen, was jeder Ableitung aus Vorangegangenem, schon 
Gegebenem prinzipiell unzugänglich ist. Auf solchem Boden 
mithin würde die Schöpfung einer Welt freier, geistiger Wesen 
durch das Eine, Unendliche, eine in sich durchaus konsequente, 
widerspruchsfreie Forderung sein. Der ,, Monismus", der auch 
so noch bestehen bleibt, würde dann freilich nicht mehr ein 
solcher sein, bei dem nur ein wahrhaft Seiendes dauernd Alles 
in Allem bliebe und auch alle Aktivität in der Welt als einziges 
aktionsfähiges Subjekt unmittelbar von sich selbst, als eigent- 
liche Selbstbetätigung ausgehen ließe. Vielmehr nur insofern 
bliebe die Einheit des Weltgrundes erhalten, als in seiner We- 
senhaftigkeit allein die Entstehung und alle Selbständigkeit der 
Einzelwesen ihren Ausgang nehmen kann. Zugleich aber treten 
die von ihm geschaffenen endlichen, freien Einzelwesen ihm 
nun mit der von ihm selbst beabsichtigten Fähigkeit gegenüber, 
selbständige Eigenregsamkeit zu entwickeln, in wie enge Gren- 
zen diese auch Immer eingeschlossen bleiben mag. Eben damit 
aber ist zugleich die Möglichkeit ethischer Beziehungen 
gewonnen zwischen den Einzelwesen und dem Unendlichen, 
und somit auch einer ethischen Wertschätzung dieses Welt- 
ganzen, an welcher für Lotze Alles gelegen ist. 




WILH- VON SCHNEHEN • HAECKELS „REI- 
NER" UND „KONSEQUENTER" MONISMUS 



SSnNTER all den vielen Denkern, die sich mehr 
Sj R%{C 9 ' o^ci' weniger entschieden zum Monismus 
!Rm NC^Nb n^ bekannt und dem großen Ziele einer ein- 
heitlichen Weltanschauung bald selbstän- 
dig, bald im Anschluß an irgendeinen 
Vorgänger zugestrebt haben, kann sich 
kein anderer eines ähnlichen äußeren Er- 
folges rühmen, wie Ernst Haeckel. Vor 
neun Jahren erst veröffentlicht, ist sein Welträtselbuch inzwi- 
schen schon in fünfzehn verschiedene Sprachen übersetzt wor- 
den; allein von der deutschen Ausgabe sind heute etwa 250000 
Exemplare verbreitet, und zum mindesten die Hälfte aller dieser 
Leser dürfte den Verfasser tatsächlich als den Überwinder alles 
Dualismus verehren. Ein solcher Mann darf in dieser Galerie be- 
rühmter Monisten nicht fehlen. Und da Dr. Heinrich Schmidt, 
der getreuste Schüler und Anhänger Haeckels, den ursprünglich 
zugesagten Beitrag über das Weltbild seines Meisters leider nicht 
eingesandt hat, so habe ich es auf Wunsch des Herausgebers 
übernomimen, eine Darstellung des Haeckelschen ,, Monismus" 
zu geben. Ich enthalte mich dabei nach Möglichkeit jeden eige- 
nen Urteils, soweit ein solches nicht schon zur Auswahl, An- 
ordnung, Verknüpfung und Erläuterung der für Haeckels allge- 
meine Weltanschauung bedeutsamsten Aussprüche unbedingt 
erforderlich ist und in all dem notwendig auch zum Ausdruck 
kommen muß. Und ebenso wie meine eigenen Ansichten, über 
die sich der Leser ja leicht im ersten Bande dieses Werkes unter- 
richten kann, lasse ich auch die Einwände all der zahlreichen 
Gegner und Kritiker der ,, Welträtsel" entweder ganz aus dem 
Spiel oder weise nur gelegentlich in einer Anmerkung auf sie 
hin. Denn nur auf Haeckels Ansichten kommt es hier an. Die- 
se, womöglich mit seinen eigenen Worten, im Zusammenhange 
darzustellen und ihre grundlegenden Gedanken klar herauszu- 
arbeiten, das allein ist es, was mir an dieser Stelle obliegt. 

Freilich ist schon das keine leichte Aufgabe. Denn soviel 
Haeckel auch in den vierzig Jahren seiner schriftstellerischen 




WILHELM VON SCHNEHEN 



T&tigkeit veröffentlicht hat, die letzten entscheidenden Fragen 
aller Weltanschauung: die Fragen nach dem Verhältnis von Sein 
und Denken, Körper und Bewußtsein, Leib und Seele, Gelstund 
Natur, Kraft und Stoff, Einheit und Vielheit, Wesen und Er- 
scheinung, Gott und Welt u. a. hat er doch kaum recht im Zu- 
sammenhangesystematisch erörtert, sondern meist nurzwischen 
breiteren, seinem Hauptziele einer allseitigen Begründung und 
Durchführung der Entwicklungslehre gewidmeten Arbeiten in 
kurzen, oft wiederholten Anläufen bald von dieser, bald von jener 
Seite her flüchtig gestreift. Und wenn er sich auch im großen 
und ganzen, in seinen allgemeinen Ansichten und Bestrebungen 
während all dieser Zeit ohne Frage treu geblieben ist und keine 
jener vollständigen Wandlungen oder , .psychologischen Meta- 
morphosen" durchgemacht hat, über die er sich bei anderen ver- 
wundert, so ist doch Im einzelnen seine Antwort auf gar manche 
bedeutsame Frage zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden aus- 
gefallen oder wenigstens in verschiedene Formeln und Worte 
gekleidet. Alle diese verschiedenen Formeln aber sind natürlich 
gleichermaßen zu berücksichtigen: keine darf von vornherein 
zugunsten irgendeiner anderen vernachlässigt werden. Und so 
muß denn ein jeder, der die Weltanschauung Haeckels wirklich 
in ihren Grundzügen treu wiedergeben will, die einzelnen Bau- 
steine zu seiner Darstellung notwendig von weit her zusammen- 
tragen und immer wieder Aussprüche, die an sich durch große 
räumliche und zeltliche Abstände getrennt sind, dicht zueinan- 
der rücken: wobei für jeden einzelnen von Ihnen immer wieder 
die Quelle nachzuweisen ist. Das erweckt dann, trotz aller Be- 
mühungen um eine in sich zusammenhängende Darstellung, 
leicht den Eindruck der Flickarbeit und ergibt jedenfalls eine 
für das Auge störende Überlastung des Druckes mit zahllosen 
Verweisen. Aber Ich darf wohl hoffen, daß der billig denkende 
Leser diese Mißstände um der Sache selbst willen mit In den 
Kauf nimmt oder wenigstens dem Bearbeiter nicht zur Last legt, 
was dieser selbst gern anders gehabt hätte, aber nicht zu ändern 
vermocht hat.* — 

' Dr. HeinrichSchmidt sagt: Haeckel liebe es nur deswegen, verschiedene 
Warte für einen und denselben Begriff anzuwenden, weil ihm das Wort 
nichts, die Sache alles gelte. Und nur wer seinen klaren Begriffsbestim- 
mungen nicht folge oder folgen könne, werde dadurch in Verwirrung geraten. 
(„Der Kampf umdie WelträUel." S. 42,) — Prof. GeorgAdickes dagegen, 
der scharfsinnigste Kritiker der „Welträtsel", spricht gelegentlich von einer 
„Orgie der Begriffsverwirrung" und meint, Haeckel verdanke seine äuBe- 



HAECKELS „REIHER" MONISMUS 



105 



Cich verweise mit W. auf die Welträtsel (Volksausgabe), mit 
: auf die Lebenswunder (Volksausgabe), mit M. auf die Alten- 
burger Rede „Der Monismus als Band zwischen Religion und 
Wissenschaft" {9. Aufl.), mit V. I u. II auf die beiden Bande der 
„Gemeinverständlichen Vorträge und Abhandlungen aus dem 
Gebiete der Entwickelungslehre" (2. Aufl. 1902), mit M. I u. II 
auf die beiden Bände der „Generellen Morphologie", mit S. auf 
die „Natürliche Schöpfungsgeschichte", mit N. auf die Flug- 
schrift „Monismus und Naturgesetz", und mit K. auf die drei 
Berliner Vorträge ,,Der Kampf um den Entwicklungsgedanken". 



Monismus im Sinne Haeckels bedeutet eine rein natürliche 
Weltanschauung (V. II. 352) oder eine einheitliche Auffassung 
der Gesamtnatur (M. 9), Denn der Begriff der Natur umfaßt 
nach seiner Ansicht die gesamte wissenschaftlich erkennbare 
Welt (L. 37. 189). Daher ist auch die Naturwissenschaft die 
Wissenschaft schlechthin. Es gibt kein einziges Gebiet mensch- 
licher Wissenschaft, das den Rahmen der Naturwissenschaft 
überschritte: so wenig als der Natur selbst etwas Übernatür- 
liches gegenübersteht (L. 37). Auch die sog. ,, Geisteswissen- 
schaften" sind, genau besehen, nur Teile oder Zweige der Natur- 
wissenschaft (L. 9. 37 u.a.). Und was wir mit einem Worte ,, Phi- 
losophie" nennen, ist nur die einheitliche Zusammenfassung 
aller besonderen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (L. 1. 
33) oder auch: die Erkenntnis des ursächlichen Zusammen- 
hanges aller einzelnen Erscheinungen, also die erklärende Natur- 
wissenschaf t im Gegensatz zu der bloß beschreibenden Natur- 
kunde {W. 3. 13—14). Denn indem sie sich von der bloßen Be- 
obachtung, Beschreibung und Ansammlung einzelner Erfah- 
rungstatsachen zu deren denkender Zusammenfassung und zur 
Ableitung allgemeiner Gesetze erhebt, wird die Naturforschung 
selbst schon zur Philosophie: zur Philosophie der Natur. Und 
eine andere als diese gibt es nicht (V, II. 352). Alle wahre Natur- 
wissenschaft ist Philosophie, und alle wahre Philosophie ist 
Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber istNaturphi- 

ren „Erfolge" zum guten Teil grade dem Umstände, daß die Verschwom- 
menheit und Unklarheit seiner Terminologie auch seine Leser der unbe- 
quemen Notwendigkeit enthoben, sich etwas Bestimmtes dabei zu denken. 
(„Kant contra Haeckel" S. zo, 33, 151—152.) Als bloQer Berichterstatter 
muQ ich es ganz dem geneigten Leser Überlassen, für welche von beiden An. 
sichten er sich entscheiden will. 



losDphie (M. 11. 447). ,, Monistische Philosophie" also ist das-l 
selbe wie „monistische Naturwissenschaft" (W. 158), Und der 
,, reine" oder „konsequente Monismus" ist notwendig auch ein 
rein naturwissenschaftlicher Monismus. — Nun ist aber der 
grundlegende Teil der Naturwissenschaft die Physik. Diese 
ist die eigentliche Fundamental Wissenschaft, die allen ande- 
ren voransteht (L. 189). Ja, im Grunde umschließt die Phy- 
sik, im weiteren Sinne verstanden, alle menschliche Erkenntnis. 
Denn wie die gesamte Geisteswissenschaft nur ein Teil der Le- 
bensforschung oder Biologie, so ist diese wiederum nur ein Teil 
der Physik (L. 38. W. 87). Wir haben also zunächst die physi- 
kalischen Grundlagen „unseres konsequenten Monismus" 
darzustellen und beginnen mit der Frage nach dem Wesen imd 
der Zusammensetzung der Materie. 

Die Materie ist für Haeckel ganz im allgemeinen „das Aus- 
gedehnte" oder ,, Raumerfüllende" (W. 99, L. 186. N. 1 1). D. h, 
sie ist dasselbe, was man in gewöhnlicher Sprache „Stoff" nennt. 
Stoff und Materie sind für Haeckel Wechselbegriffe (W. 86 
u. a.). Eine rein dynamische Auffassung der Materie, eine Auf- 
lösung der Natur in bloße Kräfte oder KraftäuBerungen lehnt er 
entschieden ab. Die Ausdehnung oder Raumerfültung, das wich- 
tigste Merkmai der Materie, sagt er, sei durch bloße Kraftäuße- 
rungen oder Energietätigkeiten nicht zu erklären (N. 12). Auch 
bedürfe man für die Kraft ja schon eines Trägers, der nur in 
dem Stoff gesucht werden könne {L. 36). Und die Annahme von 
raumerfüllenden, also ausgedehnten und stofflichen Massenteil- 
chen sei in diesem Sinne eine unentbehrliche Annahme der mo- 
dernen Naturwissenschaft, die von dieser schon um der Anschau- 
lichkeit willen { ! ) nicht preisgegeben werden dürfe {L. 190). — 
Die Raumerfüllung der Materie ist jedoch keine gleichmäßige. 
Wenigstens heute nicht. Sie war es nur „im ursprünglichen Ruhe- 
zustande". Dann aber ist aus gewissen, in seinen Ureigenschaf- 
ten selbst liegenden Ursachen an bestimmten Stellen des Rau- 
mes eine Verdichtung des anfänglich überall gleichmäßigen U r - 
Stoffes erfolgt: gewissermaßen eine erste Arbeitsteilung des 
Stoffes, die zu dessen Scheidung in zwei verschiedenartige Be- 
standteile führte: in die ponderable Materie oder wägbare Masse 
und die imponderable Materie oder den unwägbaren Äther {W. 
89.92—93.98). Nur die Masse ist atomistisch gegliedert: d.h. 
sie besteht aus kleinen gesonderten, aber gleichartigen und raum- 
erfüUenden Stoffteilchen, die an sich unteilbar, unveränderlich, 



unelastisch und undurchdringlich sind (M. 17). Der Äther da- 
gegen ist ein stetig in sich zusammenhängender, sehr dünner 
und äußerst beweglicher Stoff und erfüllt als solcher gleichmäßig 
den ganzen Weltraum, soweit dieser nicht von der Masse des 
wägbaren Stoffes oder dessen getrennten Teilen eingenommen 
ist (W. 89. 92). 

Freilich neigen heute wohl die meisten Physiker zu der An- 
nahme, daß der Äther ebenso wie die Masse atomistisch geglie- 
dert, also aus getrennten Teilen zusammengesetzt sei (M. 42). 
Und Haeckel redet hier „als bloßer Dilettant", der „mit Physik 
und Mathematik zu wenig vertraut ist, um die Licht- und Schat- 
tenseiten gewisser Lehren sondern zu können" {W. 92. 89. N. 
15 — 16). Aber ,,als ein solcher unvollkommen gebildeter Laie" 
(N. 15} lehnt er ,, entsprechend dem Grade seiner Sachkenntnis 
und Urteilskraft" (W. 92) jene Annahme der Fachmänner ab, 
weil sie uns unvermeidlich zu der Vorstellung eines leeren (d. h. 
stoffleeren) Raumes und einer unvermittelten Fern Wirkung der 
Körper führe, die von der modernen Physik gegenwärtig aller- 
dings noch zäh festgehalten werde (?l W. 89), aber in Wahrheit 
bei dem heutigen Stande der Haturerkenntnis kaum mehr mög- 
lich sei oder wenigstens zu keiner , .klaren monistischen Vor- 
stellung" führe (W, 92). Und er nimmt statt dessen eine eigen- 
tümliche Struktur des Äthers an, die man vorläufig (ohne wei- 
tere Bestimmung!) als „ätherisch" oder „dynamisch" bezeich- 
nen kann (11 W. 92. M. 42). Wie innerhalb eines stofflich voll- 
kommen ausgefüllten Raumes noch Bewegung irgendwelcher 
Teile ohne Widerspruch denkbar ist und wie sich die , .klare", 
dem Monismus unentbehrliche Vorstellung eines nicht aus Ato- 
men bestehenden, „ätherischen" Äthers damit vereinen läßt, 
daß „der Monismus alle Erscheinungen — ohne Ausnahme — 
auf Mechanik der Atome zurückzuführen bestrebt sein muß" 
(M. 15, L. 190), darüber geben uns Haeckels Werke nirgends 
einen Aufschluß. Wir vernehmen nur, daß der Äther, dessen Da- 
sein noch im Jahre 1878 „kein Mensch irgendwie objektiv zu 
beweisen imstande war" (V. II. 262), seither „eine positive Tat- 
sache" geworden ist und jeden Augenblick in der luftleeren Glas- 
glocke schwingend wahrgenommen werden kann(!) (W. 91. M. 
16). Damit sind natürlich auch alle erkenntnistheoretischen 
Zweifel an dem wirklichen Dasein eines Stoffes außerhalb des 
Bewußtseins erledigt. Maß und Gewicht, chemische und me- 
chanische, elektrische und optische Versuche überzeugen uns, 



i68 



WILHELM VON SCHNEHEN 



daß ein wirklicher Stoff in Gestalt der Masse und des Äthers un- 
abhängig von unserer Vorstellung tatsächlich existiert, wenn 
auch „unkundige Philosophen" und selbst einzelne , .vorsich- 
tige exakte Physiker" noch immer das Gegenteil behaupten 
(W. 92}-^ 

Untrennbar verbunden aber mit diesem Stoff ist die Kraft 
oder Energie. Denn sowenig wie die Erscheinung der Materie 
in ihrer räumlichen Ausdehnung erst nachträglich durch Kräfte 
hervorgebracht werden kann, ebensowenig kann die Kraft 
nachträglich aus dem Stoff oder dessen Tätigkeit abgeleitet 
werden (N. 12. V. IL 356). Es gibt keinen Stoff ohne Kraft 
und keine Kraft ohne Stoff. Beide sind gleich ursprünglich 
und von jeher miteinander gegeben (W. 90. L, 34 — 35. 186. u.a.). 
Darauf, wie wir uns diese unzweifelhafte Verbindung zweier so 
verschiedener Wesenheiten denn nun eigentlich zu denken ha- 
ben, läßt sich Haeckel nicht weiter ein. Der exakte Physiker 
oder Mathematiker mag die Frage aufwerfen: wie die Atom- 
kraft, die (wenn sie überhaupt eine genau bestimmte und be- 
stimmbare Wirkung haben soll) nur eine punktuelle „Zentral- 
kraft" sein darf, mit dem stofflichen Atomkörper verbunden 
ist. Und ein Metaphysiker, wie Ed. v. Hartmann, magdenNach- 
weis versuchen, daß eine solche Verbindung überhaupt nicht 
ohne Widerspruch denkbar sei und man eben deswegen schon 
aus physikalischen Gründen zu einem reinen Dynamismus 
(atom istischen Dynamismus) fortgehen müsse. Für Haeckels 
,, allgemeinere Betrachtung" kommen solche Einzelheiten nicht 
in Betracht. Er erkennt die Grundfrage nach dem Zusammen- 
hang von Materie und Kraft ganz im allgemeinen als die Eine 
noch wirklich vorhandene Grenze des Naturerkennens bereit- 
willig an (M. 40, V. II. 3S7) und begnügt sich im übrigen mit 
dem Hinweis auf die Erfahrung, die uns, wie er meint, noch 
keine einzige Kraft kennen gelehrt habe, welche nicht an den 
Stoff gebunden ist. (?) Oder was dasselbe (?) besagt: keine ein- 
zige Form der Energie, welche nicht durch Bewegungen der 
Materie , .vermittelt" wird {! W. 90). 

1 Von einem Philosophen, meint Haeckel, könne man nicht verlangen, daO 
er über alle Fragen erst vieljährige ernste und gründliche Studien anstelle, 
ehe er darüber schreibt (N. 15). Nach diesem, so von ihm selbst festgelegten 
Maßstäbe sind also Haeckels „philosophische" Ausflüge nicht nur ii 
Physik, sondern auch in die Erkenntnistheorie, die Psychologie, die Metall 
physik u. a. zu beurteilen. 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 



109 



Denn wie Materie und Stoff, ebenso sind für Haeckel auch 
''Energie und Kraft Wechselbegriffe, die er, wie es gerade 
kommt, überall miteinander vertauscht. Zwar hat die Physik 
diese beiden ursprünglich gleichbedeutenden ( f) Begriffe in 
neuester Zeit schärfer voneinander getrennt (W. 87. 93). Und 
sie versteht unter „Kraft" jetzt allgemein die Ursache der Be- 
wegung, während sie die ,, Energie" oder Arbeit jetzt gewöhn- 
lich als das Produkt von Kraft und Weg bestimmt (N. 19. 
L, 186). Aber „für die allgemeinere Betrachtung" der „Welt- 
rätsel" ist „dieser feinere Unterschied gleichgültig" (W. 87. 93}. 
Und Haeckel fährt darum auch trotz der ihm gemachten Ein- 
wände fort, sie als Wechselbegriffe zu gebrauchen. Zumal da 
sich unter Kraft im allgemeinen, wie unter Triebkraft und 
Spannkraft im besonderen ,,auch der gewöhnliche Arbeiter 
und der gebildete Laie doch irgend etwas (1) denken kann, 
unter aktueller und potentieller Energie ohne vorhergehende 
umständliche wissenschaftliche Belehrung aber nicht" (N. 20). 
Und so bleiben wir auch im Unklaren darüber, was Haeckel 
selbst eigentlich unter Kraft oder Energie versteht: ob die Ur- 
sache der Bewegung {„bewegende Kraft" W. 87. N, 7) oder die 
bei der Bewegung geleistete Arbeit mit Einschluß der Arbeits- 
fähigkeit ruhender Körper {also die ,, Energie") oder die Bewe- 
gung selbst {W. 88. 89. L. 186. u, a.) oder schließlich auch den 
Geist (L. 34. V. II. 356 u, a.). Wahrscheinlich kommen alle 
diese ,, feineren Unterschiede" für seine , .allgemeine Unter- 
suchung" nicht in Betracht. Und wir müssen uns mit der Ein- 
sicht begnügen, daß es für den ,, reinen" oder „konsequenten" 
Monismus , .gleichgültig" ist, ob wir sagen: Kraft und Stoff 
sind von jeher untrennbar miteinander verbunden gewesen 
(W. 90. L. 35. N. 11) oder Materie und Energie (W. 14 u. a.) 
oder bewegter Stoff und Empfindung (W. 97. L. 186) oder Ma- 
terie und Geist {W. 14. N. 11) oder ,, irgend etwas" sonst.' 

Jedenfalls wird es nunmehr allen denkenden Lesern ebenso 
wie Haeckel ,, selbst verstand lieh" erscheinen, daß auch jene 

' Wenn Haeckel den „Kanon der Physik", das vottreßliche Werk seines 
Freundes Auerbach, eher kennen gelernt hätte, so würde er, wie er selbst 
neuerdings einräumt, manche physikalisch- philosophische Grundbegriffe 
schärfer erfaßt und in andere Ausdrücke gekleidet haben Iß. 21). So ist sein 
eigenes Werk freilich in diesen wie in manchen anderen Einzelheiten irr- 
tümlich; abar diese Detail-Mängel fallen dem großen Ganzen gegenüber so 
wenig ins Gewicht, daQ er sie auch in etwa noch folgenden Auflagen nicht 
zu ändern gedenktl (N. 34). „Eine reife Frucht vom Baum der Erkenntnis" 





WILHELM VON SCHNEHEN 



beiden Grundgesetze der modernen Naturwissenschaft: 
chemische Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und das ' 
physikalische Gesetz von der Erhaltung der Kraft untrenn- 
bar zusammengehören (W. 86 — 8'/), Zwar erfreut sich diese 
naturgemäße Überzeugung noch keineswegs allgemeiner An- 
erkennung: die meisten Lehrbücher der Physik wie der Meta- 
physik berühren diese grundlegende Frage gar nicht oder nur 
flüchtig {N. 9. 13), und alle Anhänger des Dualismus be- 
kämpfen (?) die Annahme einer solchen wesentlichen Einheit 
jener beiden großen Gesetze (N. 13. W. 87). Aber Haecket hat 
schon im Jahre 1892 ihre innere Zusammengehörigkeit betont 
und sie unter dem Begriff des „Substanzgesetzes" vereinigt, 
da ihm (wie wir später noch näher sehen werden) der spino- 
zistische Begriff der „Substanz" als der einfachste, klarste und 
sachgemäQeste Ausdruck für das Grundverhältnis von Kraft 
und Stoff erschien (N. 9) oder Kraft und Stoff für „unseren 
Monismus" nur verschiedene unveräußerliche Erscheinungen 
eines einzigen Weltwesens, der Substanz, sind (M. 14. W. 87). 
So verstanden: als Ausdruck des untrennbaren Zusammenhan- 
ges jener beiden begrifflich getrennten Gesetze ist „das klare 
Substanzgesetz" von grundlegender Bedeutung für unsere mo- 
nistische Weltanschauung (W. 87, 151 u.a.). Es ist das oberste 
und allumfassende Naturgesetz: das wahre und einzige kosmo- 
logische Grundgesetz, insofern es alle anderen anerkannten 
Naturgesetze in sich vereinigt. Und seine Entdeckung und Fest- 
stellung ist die größte Geistestat des 19. Jahrhunderts 
{W. 86. N. 13). Im Grunde genommen folgt es freilich schon 
aus dem Prinzip der Kausalität (W. 87). Ja, es ist im Wesen 
identisch mit dem allgemeinen „Kausalgesetz der Metaphysik", 
mit dem universalen Prinzip der Ursache und Wirkung (N. 13) 
oder nur ein anderer konkreter Ausdruck für dieses abstrakte 
große Gesetz der mechanischen Kausalität (W. 146). Und in- 
dem es überall nur mechanische Ursachen in den Erscheinungen 
„nachweist" (! W, 94), ist es der sichere, unverrückbare Leit- 
stern, der ,, unsere monistische Philosophie" durch das gewal- 
tige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt (W. 8. 146). 
Nur eins gibt es noch, was dem Substanzgesetz ebenbürtig ist 

bleibt das Welträtselbuch ja doch: die „ehrliche und gewissenhafte Arbeit" 
eines Mannes, der die Ergebnisse seiner mühsamen Forschungen „nach 
bestem Wissen und Gewissen" seinen Mitmenschen nutzbar machen möchte 
(W. 4. 5. 154}. 



HAECKELS „REINER** MONISMUS iii 

und es gewissermaßen ergänzt: nämlich die von Goethe, La- 
marck und Darwin begründete und von Haeckel selbst weiter 
ausgeführte Entwicklungslehre (W. 8). Aber die Tatsache, 
daß es die Substanz oder der „Kraftstoff'* (L. 185) selbst ist, 
der sich überall bewegt und umbildet, stempelt im Grunde 
das Substanzgesetz selbst schon zum universalen Entwicke- 
lungsgesetz (W. 151). Und so können wir wirklich sagen, daß 
in diesem obersten „naturwissenschaftlichen Glaubenssatze** 
(M. 39) alle Strahlen unserer Erkenntnis zusammenlaufen und 
in ihm die Möglichkeit zur einheitlichen Erklärung aller Er- 
scheinungen und die sichere Grundlage des Monismus gege- 
ben ist. — 

Betrachten wir in seinem Lichte zunächst die allgemeinen 
kosmologischen Probleme: die Fragen nach der Entstehung 
und der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Welt. Das 
Gesetz von der Erhaltung des Stoffes belehrt uns über dessen 
wesentliche Unzerstörbarkeit. Kein Atom im Weltall ist jemals 
verschwunden: das ist eine Tatsache der Erfahrung (1 S. 8). Und 
kein Teil der „bewegenden Kraft** im Weltall geht je verloren: 
dessen sind wir ebenso unbedingt sicher (N. 7. W. 87). Dann aber 
sind wir auch zu der Annahme berechtigt und logisch gezwun- 
gen, daß die „Erhaltung** des Stoffes und der Kraft zu allen 
Zeiten ebenso allgemein „bestanden** hat, wie sie heute ohne 
Ausnahme besteht (W. 98). Und es ergeben sich zunächst die 
beiden folgenden überaus wichtigen Sätze: der Weltraum ist 
unendlich und überall mit Stoff ausgefüllt. Und die Weltzeit ist 
ebenfalls unendlich; sie hat keinen Anfang und kein Ende: sie 
ist Ewigkeit (! W. 98. 11). So begründet das Substanzgesetz, 
indem es Stoff und Kraft als unzerstörbar nachweist, wissen- 
schaftlich die „monistische Ansicht** von der Unendlichkeit 
des Weltalls nicht nur in der Zeit, sondern auch im Räume 
(! ? N. 3z. W. 8). Und wir können diesen Lehrsatz nunmehr als 
„bewiesen** ansehen (W. zi). Damit aber wird zugleich auch 
die erkenntnistheoretische Frage nach dem Geltungsbereich 
unserer beiden Anschauungsformen erledigt. Die von idealisti- 
schen Philosophen wohl bezweifelte transzendentale oder aufler- 
bewußte Realität von Raum und Zeit ist jetzt endgültig be- 
wiesen. Denn nachdenl wir die unhaltbare Vorstellung vom 
leeren Raum glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das 
unendliche „raumerfüllende Medium** die Materie und als das 
„zeiterfüllende Geschehen** die ewige Bewegung oder genetische 



Energie ( I ! W. 99). Und umgekehrt überzeugen uns dann Raum 
und Zeit als die beiden „Formen der Anschauung" auch wieder 
von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls (I! W. 99). 
Die Frage nach dem Ursprung der Bewegung, dieses zweite 
Welträtsel, aber ,, lösen" wir einfach durch die Annahme, daß 
die Bewegung von jeher als seine ursprüngliche Eigenschaft 
mit dem Stoff verbunden gewesen ist. Und die Berechtigung zu 
dieser „monistischen Annahme" finden wir wieder in dem 
Substanzgesetz und den großen Fortschritten der Astronomie 
und Physik in der zweiten Hälfte des 19, Jahrhunderts (W. 97 
bis 98). Die Vor Stellung ein er voll endeten Unendlichkeit {infini- 
tas finita) enthält also für „das folgerichtige und klare Den- 
ken" eines „konsequenten Monisten" nicht etwa einen Wider- 
spruch in sich, wie man sonst wohl gemeint hat. Und in dem 
,, Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft" ist es keineswegs, 
wie gewisse , .unkundige Philosophen" behaupten, eine sinn- 
lose Redensart, wenn man von der Unveränderlichkeit einer 
unendUchen Größe redet. Nein, das Gesetz von der Erhaltung 
des Stoffes und der Kraft „beweist", daß die unendlich große 
Summe der Energie ebenso wie die der Materie tatsächlich im- 
mer unverändert oder ewig dieselbe bleibt (W. 98. 100). 

Nun gibt es allerdings neben diesem ersten noch einen zwei- 
ten Hauptsatz der Energielehre: den vor etwa fünfzig Jahren 
durch Clausius und Thomson aufgestellten und seither bei den 
Physikern allgemein anerkannten Satz von der fortschreitenden 
Entwertung der Energie oder ihrem Übergang in Wärme, 
die sich immer mehr im Weltall zerstreut und nicht mehr in 
mechanische Arbeit zu rück verwandelt werden kann (W. 100. 
N. 23). Und aus diesem Satze, derauf ebenso breitem und festem 
(wenn nicht festerem) Boden der Erfahrung ruht, wie der erste 
Satz von der Erhaltung der Energie, müssen wir folgern, daß 
der Weltprozeß vor endlicher, wenn auch unvordenklicher Zeit 
begonnen hat und in endlicher Zeit zu einem allgemeinen Still- 
stande führt (N. 24. W, 100), Was ja auch in Übereinstimmung 
wäre mit der gewöhnlichen Form der von Kant und Laptace 
begründeten Nebularhypothese, insofern diese einen bestimm- 
ten Anfang der Entwicklung voraussetzt (W. 97), Aber für 
Haeckels , .monistische und streng folgerichtige Auffassung" ist 
das eine so unhaltbar wie das andere. Denn nach dem Sub- 
stanzgesetz kann es ebensowenig einen Anfang wie ein Ende 
der Welt geben. ,,Der zweite Hauptsatz der mechanischen 



Wärmelehre widerspricht dem ersten und muß aufgegeben 
werden" (W, loo). Der „scharfsinnige Begründer der mecha- 
nischen Wärmelehre, Clausius" scheint freilich von diesem 
„offenkundigen Widerspruch" (N, 23) nichts bemerkt zu haben, 
und auch andere namhafte Physiker wollen nicht einsehen, 
daß die fortschreitende Zerstreuung der Energie im Wider- 
spruch stehen soll mit der Erhaltung der Energie. Aber 
Haeckel sagt es und belehrt uns zugleich, der zweite Hauptsatz 
gelte nur für einzelne Vorgänge, wie sie uns auf unserer Erde 
bekannt sind. Im großen Ganzen des Wettalls aber herrschen 
ganz andere Verhältnisse. Hier nämlich werden beim Zusam- 
menstoße zweier aufeinander zustürzender Weltkörper unge- 
heure Wärmemengen frei, während die zerstäubten Massen in 
den Weltraum hinausgeschleudert und zerstreut werden. Und 
dieser Vorgang, der, nach Haeckel, also auf unsrer Erde kei- 
nerlei Gegenstück im Kleinen hat, ist nicht etwa, wie man 
glauben könnte, gerade ein Beispiel für die Zerstreuung der 
Energie, sondern vielmehr dafür, wie — - sich latente Wärme 
in mechanische Arbeit zu rück verwandelt (! W. 100). Und wir 
dürfen somit die Grundgedanken der ,, monistischen Kosmo> 
genie" in folgenden, „jetzt größtenteils bewiesenen" (W. 11) 
Lehrsätzen zusammenfassen: Die Welt ist unendlich in Raum 
und Zeit. Sie ist nirgends leer, sondern allenthalben mit Stoff 
ausgefüllt. Die von der unzerstörbaren Energie bewirkte Be- 
wegung dieses unzerstörbaren Stoffes ist ein ewiger Kreislauf 
mit periodisch sich wiederholenden Entwicklungszuständen. 
Verdichtung und Auflösung wechseln dabei in jedem einzelnen 
Teile der Welt miteinander ab und erfolgen beide gleichzeitig 
an verschiedenen Stellen des Weltraumes. Während hier der 
Urstoff sich in Äther und wägbare Masse sondert und durch 
weitere Verdichtung erst kleine und dann große Weltkörper 
entstehen, verlaufen dort die Vorgänge in umgekehrter Rich- 
tung (W. 98. 97. II — 12, 148 — 149). Damit ist die Frage nach 
dem Ursprung der Bewegung , .erledigt" {W, 12. 97}/ — 
' Der Petersburger Physiker O. D. Chwolson, der Verfasser eines der 
besten größeren Lehrbücher der Physik, hat in einer kritischen Studie 
(,,Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot") die sämUichen phy- 
sikalischen Teile der „Welträtsel" eingehend untersucht und kommt zu 
dem „haarsträubenden Ergebnis", daB „sie eine kaum glaubliche Unkennt- 
nis der elementarsten Fragen bezeugen, von hohlem Phrasengeist erfüllt 
sind und Sätze enthalten, die die schlimmsten und lächerlichsten natur- 
wissenschaftlichen Ausspruche von Nichtnaturforschorn weit hinter sich 
er MoDiifuu) II 6 



Eng zusammen damit hängt eine weitere bedeutsame Er- 
kenn tnis, die wirebenfallsdemSubstanzgesetz verdanken: dieEf- 
kenntnisvonderEinheitallerNaturkräfte(W. 102). Wie alle 
chemischen Vorgänge auf Formwandlungen des Stoffes, so be- 
ruhen alle physikalischen Erscheinungen auf Formwandlungen 
der Kraft oder Metamorphosen der Energie. Alle die verschie- 
denen gewöhnlich sogenannten,, Naturkräfte"|Wie mechanische 
und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektri- 
zität können als wandelbare Energieformen ineinander über- 
gehen (N. 7) und erweisen sich damit als verschiedene Erschei- 
nungsformen einer und derselben Urkraft (W. 103). Meist wird 
diese gemeinsame alleinige ,, Urkraft" als eine schwingende 
Bewegung der kleinsten Massenteilchen gedacht {!? W. 88); 
Haeckel aber zieht es gemäß seiner Auffassung der Materie vor, 
sie mit J. G. Vogt als Verdichtungsstreben eines ursprünglich 
gleichförmigen Weltstoffes zu denken (W. 89). Jedenfalls ergibt 
sich aus der Tatsache jener Umwandlung selbst, so oder so, die 
innere Verwandtschaft oder Einheit aller jener scheinbar ver- 
schiedenen Naturkräfte: also ein Monismus der Energie 
(N. 22. W. 103). 

Im gesamten Gebiet der unorganischen Natur ist denn auch 
diese Einheit der Naturkräfte heute allgemein anerkannt (W. 
103. L. 24). Anders verhält sich scheinbar die organische 
Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Hier 
nehmen manche Leute immer noch besondere geistige oder 
richtende Kräfte an: besonders zur Erklärung des Seelenle- 
bens. Aber die Entwicklungslehre schlägt eine Brücke zwischen 
den beiden, scheinbar getrennten Gebieten. „Wir sind jetzt zu 
der klaren Überzeugung gelangt, daß alle Erscheinungen des 
organischen Lebens dem allgemeinen Substanzgesetz unter- 
worfen sind: genau so wie die anorganischen" (W. 103. 94). Und 
Haeckel hat diesen „Monismus des Kosmos" (oder „kos- 

lasscn" (S. 76 — 77 u. a.). — Aber Chwolsan ist, so versichert uns wenigstens 
Haeckel, ein „eingebildeter Narr", der von blassem Neid über den buch- 
händlerischen Erfolg der „Welträtsel" beseelt ist: der Tjpus eines bornier- 
ten Spezialisten, der, wie alle solche beschränkten Köpfe, im Hochmut 
seiner Fachgelehrsamkeit einen intensiven Haß gegen alle Philosophie und 
alle Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse hegt (N, 23. 32 — 33), 
— Wobei es freilich unerklärt bleibt, warum eben dieser Gegner aller Phi- 
losophie gleichzeitig bekennt, er habe Ed. von Hartmanns Werk „Die 
Weltanschauung der modernen Physik" „mit staunender Bewunderung itu- 
dieit" (S. 89, vergl. auch S. 33}. — 



mischen Monismus" L. i6) schon vor vierzig Jahren sehr ein- 
gehend begründet (W. 103). Die grundsätzliche Einheit der an- 
organischen und der aus dieser so spät erst entstandenen orga- 
nischen Natur ist eine notwendige Forderung des monistischen 
Denkens (M. 9. 37). Wir können wohl den Gegensatz von an- 
ziehenden und abstoßenden Kräften anerkennen (M. 14 — 15), 
aber keine „immateriellen Kräfte": d.h. Kräfte ohne stofflichen 
Träger. Denn von solchen hat uns die Erfahrung bis heute 
keine einzige kennen gelehrt (W, 90) und sie wären unserer 
wissenschaftlichen Erkenntnis unzugänglich (L. 23. u. a.). Frei- 
lich sind auch die Atome und deren mechanische Zentralkräfte 
kein Gegenstand der Erfahrung, sondern nur ein solcher des 
wissenschaftlichen Glaubens. Kein Naturforscher hat diese 
kleinen materiellen Teile jemals gesehen: sie sind eine so un- 
bewiesene und unbeweisbare Hypothese, wie es nur irgendeine 
geben kann (V. II. 263. M, 37). Aber diese Annahme ist ver- 
nünftig: sie überschreitet nicht die Grenzen der Natur, fügt sich 
dem Substanzgesetz ohne Widerspruch ein, wahrt so die Ein- 
heit der Naturkräfte und befriedigt das stetige Kausalitätsbe- 
dürfnis unserer Vernunft (L. 24). Immaterielle Lebenskräfte 
dagegen, d.h. Kräfte ohne stofflichen Träger wären übernatür- 
liche Kräfte: sie gehörten nicht in den Rahmen des Substanz- 
gesetzes, höben also die Einheit der Natur auf, wären mit der 
Anerkennung fester Naturgesetze unvereinbar und können des- 
halb von der wahren, allen Wunderglauben bekämpfenden 
Wissenschaft nicht anerkannt werden (L. 24 u. a.). Der Monis- 
mus fordert die grundsätzliche Einheit, d, h. die wesentliche 
Gleichartigkeit aller Naturerscheinungen: der organischen wie 
der anorganischen. Beide müssen in gleicher Weise auf rein 
natürliche Ursachen, d. h. auf physikalische und chemische 
Kräfte zurückgeführt werden (W. 94. 103). Denn „natürlich" 
■ — das ist der Eine alledem zugrunde liegende Gedanke — 
natürlich sind nur physikalische und chemische Kräfte. Die 
Grenzen des materiellen, physikalischen Geschehens sind auch 
die Grenzen der Natur. Die Natur ist die Welt des Stoffes, die 
Welt der bewegten Atome: d. h. die Körperwelt oder Welt der 
siimlichen Erscheinungen (L. 37. 189). Und „alles, was unserer 
wissenschafthchen Erkenntnis zugängHch ist, bildet einen Teil 
dieser Körperwelt, des mundus sensibilis von Kant" {L. 181).^ 
' Man vergleiche über die Berechtigung dieses „naturwissenschaftlichen 
Glaubenssatzes" (M. 37}, der petitio principii der ganzen mechanistischen 



it6 



WILHELM VON SCHNEHEN 



Früher allerdings — das gesteht auch Haeckel zu — lag h 
dem Mangel einer rein natürlichen Erklärung all der unleug- 
baren Zweckmäßigkeiten in Bau und Verrichtungen der Lebe- 
wesen auch der Gedanke an irgendeine zweckmäßig wirkende 
Sonderursache, sei es eine einmalige göttliche Schöpf er tätigkeit 
oder eine unbewußt wirkende Lebenskraft, eigentlich recht 
nahe(W, 23, 105). Heute aber sind „wir" auf Grund eingehender 
Untersuchungen zu der klaren Einsicht gelangt, daß die Le- 
benserscheinungen rein mechanisch zu erklären und 
im Reiche der organischen Natur keine anderen Kräfte und 
Gesetze wirksam sind als in dem der unorganischen Natur auch 
(W. 94 u, a.)- Stoffe und Formen sind ja ohne Zweifel hier wie 
dort dieselben (L. 16 — 18), Und auch zu den sogenannten Le- 
benstätigkeiten bietet uns die unbelebte Natur zahlreiche Ana- 
logien (?). Die Besonderung zur Einheit einer abgeschlossenen 
Gestalt (Individualisierung), bestimmt gerichtete Bewegungen 
und gewisse innere Wechselbeziehungen zwischen den Teilen, 
Wachstum durch Aneignung äußerer Stoffe und Vermehrung 
oder Fortpflanzung beim Überschreiten der natürlichen Wachs- 
tumsschwelle: all das beobachten wir ja schon bei den Kristal- 
len (1 L, 18 — 19. 94. 103. 106). Noch mehr äußerhch ähnlich 
und innerlich verwandt aber ist dem Lebensvorgang die Flamme 
(! L. 12). Zwar ist es bei einem Teil der Lebensvorgänge bisher 
noch nicht gelungen, sie wirklich auf die bekannten physikali^ , 
sehen und chemischen Eigenschaften der Materie zurückzu^ I 
führen; aber viele sind doch heute schon auf diese Weise e 
klärt {?), und deswegen nehmen „alle unbefangenen Physiol 
gen" gegenwärtig übereinstimmend an, daß auch jene ander« 
imGründereinphysikalischerNatursind((?)L.83. 105.W. 102).' 
Und wenn uns die höheren Organismen mit ihrem zweckmäßi- 
gen Zusammenwirken verschiedener Organe zu dem einheit- 
lichen Lebenszweck des Ganzen allerdings auf den ersten Blick 
in einem unüberwindbaren Gegensatz zu den Gebilden der un- 
organischen Natur zu stehen scheinen {L. 13—15), so hilft uns 
die Entwicklungslehre auch diese Kluft überbrücken. Denn 
die einfachsten Lebewesen, aus denen sich doch alle übrigen 
entwickelt haben müssen, nämlich die von Haeckel selbst ent- 



Weltanschauung die einschlägieen Bemerkungen Ed. von Harlmanns 
in seinem Werke „Das Problem de» Lebens" (bes. S. 81—87. »a? bis 
129 u.a.] und in demaus seinem NachlaQ veröffentlichten „GrundriB der 
Naturphilosophie". 



^deckten Moneren haben, wenigstens zum Teil, noch gar keine 
Organe: nicht einmal einen Kern. Sie sind, trotz der gegentei- 
ligen Behauptung anderer Naturforscher, „tatsächlich" nur ho- 
mogene Plasmakügelchen (S. 163 — 165. 364—365, L. 75—83. 
14). Ihre Kugelform mitsamt ihrer Oberflächenmembran ent- 
steht rein nach physikalischen Gesetzen, Und ihre Ernährung, 
ihr Wachstum, ihre Fortpflanzung: kurz, alle ihre Lebenser- 
scheinungen erklären sich ebenfalls ,, leicht" durch physikalische 
oder chemische Ursachen auf mechanischem Wege (L. 78^79). 
Das ganze Lebenswunder beschränkt sich hier ,, tatsächlich" 
auf den chemischen Vorgang der Plasmodomie oder Kohlen- 
stoffaneignung; dieser aber steht auf gleicher Stufe mit der 
Auflösung (Katalyse) anorganischer Verbindungen ( ! L. 87. 79. 
15). Ob das eigentliche Lebensrätsel nicht vielmehr erst darin 
besteht, daß trotz dieses Stoffwechsels die individuelle Lebens- 
einheit erhalten bleibt, und ob dazu nicht bei den Moneren 
ebenfalls schon ein zweckmäßiges Zusammenwirken der nur 
hier noch nicht verschieden ausgebildeten Teile zu dem einheit- 
lichen Lebenszwecke des Ganzen nötig ist: das sind Fragen, 
die sich Haeckel gar nicht vorlegt. Für ihn ist es ohne weiteres 
eine ,, Tatsache", daß die ganze Lebenstätigkeit der Moneren 
einfach ein chemischer Prozeß ist und also auch für irgend- 
welche zweckmäßig wirkende Lebenskräfte hier überhaupt 
nichts mehr «u tun bleibt {L. 83. 87). 

Steht es aber somitdeneinfachstenLebewesen, den Urvätern 
aller höheren, dann ist das Leben überhaupt nur ein chemi- 
scher Prozeß und besteht in dem Stoffwechsel, dem fortwähren- 
den Zerfall und Wiederaufbau bestimmter Eiweißverbindungen : 
auch das ist eine von der Wissenschaft längst „festgestellte 
Tatsache" {W. 103, L. 16. 54 — 55). Also sind es, wie Haeckel 
schon im Jahre 1866 erkannt hat, auch nur die eigentümlichen, 
physikalisch-chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffes, be- 
sonders seine Vierwertigkeit, worin wir die letzten, rein mecha- 
nischen Ursachen aller Lebensvorgänge zu suchen haben 
(S. 357. L. 14—16. V. II. 56—57). Und dank dieser „monisti- 
schen Theorie", die wohl häufig angegriffen, aber von niemand 
durch eine bessere ersetzt worden ist (W. 103), löst sich nun 
auch die bedeutsame Frage nach dem Ursprung des Lebens. 
Wir brauchen ,,nur" anzunehmen, daß der chemische Prozeß 
der Stoffaneignung, der sich heute in jeder Pflanzenzelle voll- 
zieht und eine erbliche Gewohnheit darstellt, ursprünglich 



einmal „von selbst" eingetreten ist (L. 141). UnddieEntstehung; 
einfacher Moneren aus anorganischen Eiweißverbindungen 
bietet „ebensowenig Schwierigkeiten", wie ihre spätere Ver- 
wandlung in die einfachsten kernhaltigen Zellen (K. 36). Ja, 
im Grunde weniger Schwierigkeiten! Denn der Unterschied 
zwischen den Moneren und den höchsten uns bekannten Orga- 
nismen ist (nach Haeckels Ansicht) in jeder Beziehung größer 
als der Unterschied zwischen den organischen Moneren und 
unorganischen Kristallen (! L. 15), denen wir auf Grund ihres 
(rein äußerlichen!) Wachstums ja auch schon im gewissen Sinne 
,, Leben" zuschreiben können (L. 18), obwohl ihnen gerade das 
eine wesentliche Merkmal des Lebens, der Stoffwechsel, 
fehlt (! L. 19). 

Die ganze spätere Entwicklung der Lebewelt aber: die Ent- 
stehung immer neuer und höherer Formen mit zweckmäßigen, 
für die Lebensaufgaben des Ganzen verschieden ausgebildeten 
Teilen erklärt sich „leicht" aus der Wirkung der natürlichen 
Zuchtwahl (L. 15. 158). Die Lebenseigenschaften der Verer- 
bimg und der Anpassung oder {I) Veränderlichkeit sind die 
blinden, bewußtlos und zwecklos wirkenden „Naturkräfte", 
welche dieser ganzen Entwicklung als treibende Mächte oder 
wirkende Ursachen zugrunde liegen (S, 24—27. V. I. 57 u. a.). 
Und wenn auch keine der bisher aufgestellten Theorien die 
Rätsel der Vererbung und der Anpassung vollkommen gelöst 
und sich allgemeine Anerkennung errungen hat (L. 151. S. 205 
u. a.), ja, eine wirkliche Erklärung beider Vorgänge vorerst 
noch unmöglich erscheint (S. 28 — 29. 205), so „weiß doch jeder 
Naturforscher" und Haeckel hat es schon oft ausgeführt, daß 
sie „rein mechanischer Natur" sind: ebenso wie die Ernährungs- 
und Fortpflanzungsvorgänge überhaupt, denen wir sie einzu- 
reihen haben (S. 149. L, 149 — 150. V. 1. 57). Die Art ihrer je- 
weiligen Wechselwirkung aber bestimmt sich durch den Kampf 
ums Dasein: dieser ist der züchtende Gott, der ohne Absicht 
immer höhere und mannigfaltigere Lebensformen hervorbringt. 

So hat uns Darwin in seiner Zuchtwahllehre den Schlüssel 
zur monistischen Erklärung der Lebewelt gegeben. Er ist wirk- 
lich jener ,, Newton der organischen Natur" geworden, der die 
von Kant noch für unlösbar gehaltene Aufgabe tatsächlich ge- 
löst hat: die Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, 
die keine Absicht geordnet hat, begreiflich zu machen (! S. 104. 
W. 105 — 106). Daran hält Haeckel wie vor vierzig Jahren, so 



i 



^^Hauch heute 
^^^^- tipiipr Zeit 1 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 



119 



tauch heute unbeirrt fest. Alle Einwände, die in alter wie in 
'- neuer Zeit gegen diese „Erklärung" vorgebracht worden sind, 
hält er gar nicht einmal zu widerlegen für nötig. Das Wieder- 
aufleben des alten, totgeglaubten Vitalismus im Laufe der letzten 
zwanzig Jahre erscheint allerdings auch ihm „befremdend" 
(L. 33), nachdem durch Darwin das Rätsel der unabsichtlichen 
Entstehung zweckmäßiger Gebilde ja längst endgültig ,, gelöst" 
und das unheimliche ,, Gespenst der Lebenskraft auch aus seinen 
letzten Schlupfwinkeln (der Seelentätigkeit und der Fortpflan- 
zung) vertrieben" worden war {W. 106. L. 22). Aber alle diese 
vitahstischen Annahmen widersprechen „unserer" reinen Ver- 
nunft, der Einheit der Natur und dem Substanzgesetz (L. 148). 
Und wenn man neuerdings gar hört, der {eigentliche) Darwi- 
nismus sei stark im Rückgänge und das ganze jüngere Ge- 
schlecht der Naturforscher habe sich mit wenigen Ausnahmen 
von ihm abgewendet, so zeugt das nach Haecket von gründ- 
licher Unkenntnisder Sachlage und der Literatur. Der unschätz- 
bare Wert der Zuchtwahllehre, so versichert er uns, wird auch 
gegenwärtig noch von den meisten sachkundigen und unbefan- 
genen Vertretern der wissenschaftlichen Lebenskunde aner- 
kannt (L. 149).^ 

IMit dieser Ausschaltung des Zweckbegriffs aber ist das 
größte Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Natur- 
auffassung beseitigt (W. 106). Darin liegt die ungeheuere philo- 
sophische Bedeutung der Darwinschen Selektionstheorie und der 
Haeckelschen Urzeugungshypothese samt der eng damit ver- 
knüpften Kohlenstoff theorie: sie entscheiden den Kampf zwi- 
schen der teleologischen oder (!) dualistischen und der mecha- 
nischen oder (!) monistischen Weltansicht (W. 104. 106. 108). 
Denn daß beide: die zweckmäßige und die ursächliche Betrach- 
tung miteinander unvereinbar sind, ist für Haeckel eine ausge- 
machte Sache. Ein ,,Metaphysiker", wie Ed. von Hartmann, 
mag wohl behaupten (und sogar in einer Schrift, die direkt ge- 
gen Haeckel gerichtet ist), ursächlicher Zusammenhang und 
* Vergl. dazu R. H. Francs ,,Der heutige Stand der Darwinschen Fragen" 
(Theod. Thomas, Leipzig, 1906). Und Ed. von Hartmann „Das Problem 
des Lebens": bes. Kap. I „Die Abstammungslehre seit Darwin" (S. i — 77) 
und Kap. II. „Mechanismus und Vitalismus in der modernen Biologie" 
(S. 78—156). Aus beiden Werken, die (im Gegensatz zu Haeckels ganz all- 
gemein gehaltener Behauptung) die Ansichten aller namhaften Forscher 
der letzten Jahrzehnte genau wiedergeben, gewinnt man freilich einen 
ganz anderen Gindruck von dem wirklichea Stande der Dinge. 



WILHELM VON SCHNEHEK 



Naturzwecktätigkeit seien gar keine Gegensätze, sondern die 
eine nur die Kehrseite des anderen. Ja, er mag darauf hinwei- 
sen, daß in dem konkreten Gesetz, nach dem sich in jedem Ein- 
zelfalle die Umwandlung der Ursache in die Wirkung vollzieht, 
ja die Richtung auf ein bestimmtes Ziel, also dieFinalität, schon 
mitgegeben sei. Und er mag auch die Frage aufwerfen, wie sich 
denn die bewußte Zwecktätigkeit der Individuen mit dem an- 
geblich rein mechanischen und rein ursächlichen Naturzusam- 
menhange vereinen lasse. Für Haeckel sind alle solche meta- 
physischen Spitzfindigkeiten nicht der Beachtung wert, „ebenso- 
wenig wie die naiven, damit verknüpften Einwände gegen den 
Darwinismus" (W. io6). Für ihn ist Kausalität ohne weiteres 
gleichbedeutend mit Mechanismus, beides aber unvereinbar mit 
irgendwelcher Finalität. Endursachen und Zweckursachen sind 
für ihn ausschließende Gegensätze. Und ebenso sicher wie er 
überzeugt ist, daß es keine Zwecktätigkeit der Natur geben kön- 
ne, weil diese mit dem ursächlichen Zusammenhange im Wider- 
spruch stehe, ebenso unbekümmert nimmt er zweckmäßige 
Handlungen der Menschen oder höheren Tiere an und ,, erklärt" 
sogar die sekundären Instinkte und die apriorischen Denk- und 
Anschauungsformen unseres Geistes aus ursprünglichen bewuß- 
ten Zweckhandlungen, die allmählich zurGewohnheit geworden 
seien und nunmehr unbewußt ausgeübt würden (W. 53). Einen 
Widerspruch zwischen beiden Behauptungen empfindet er nicht. 
Er ist überzeugt, daß der Mechanismus allein eine wirkliche Er- 
klärung der Naturerscheinungen gibt (W. 104). Auch die An- 
nahme einer unbewußtenNaturzwecktätigkeit oder einer im- 
manenten Finalität bekämpft er als ,, an throp istische Vorstel- 
lung", d. h. als Vermenschlichung der Natur (W. 105 — 107). 
Und das hohe Ziel einer vernünftigen und einheitlichen Na- 
turauffassung scheint ihm erst dann erreicht, wenn die ganze 
organische Entwicklung ebenso wie das unorganische Geschehen 
auf blinde, bewußtlos und planlos wirkende Naturkräfte, also 
auf unvernünftige Ursachen zurückgeführt ist (W. 104. 
V.L57)-'- 

^ Irgendwie näher begründet oder auch nur erläutert ist jene Ansicht von 
dem Ursprung unserer Denk- und Anschauungsformen (reilich nirgends in 
allen Werken Haeckels. Nur in der anonymen Schrlit „Das Unbewußte vom 
Standpunkt der Physiologie und der Deszendenztheorie" (1E72) war ein Ao- 
lauf dazu genommen, und Haeckel empfahl „diese ausgezeichnete Schrift" 
denn auch im Vorworte zur vierten Auflage seiner „Natürlichen Schöpfungs- 



I 

4 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 



121 



In diese groBe, rein mechanisch zu erklärende Entwicklung 
ist nun selbstverständlich auch der Mensch mit eingeschlossen. 
Gleich allen anderen Lebewesen, Pflanzen oder Tieren, ist auch 
er nur ein Erzeugnis der Natur, ihnen allen durch gemeinsame 
Abstammung verwandt und wie in körperlicher, so auch in gei- 
stiger Hinsicht von ihnen nur dem Grade, aber nicht dem Wesen 
nach verschieden. Diese einfache, allerdings unzweifelhafte Tat- 
sache unserer geistigen und körperlichen Verwandtschaft mit 
den übrigen Lebewesen betrachtet Haeckel selbst als „die feste 
Grundlage und den gemeinsamen Ausgangspunkt für sämtliche 
Gebiete seiner monistischen Philosophie" (W. 164. vgl. 158, L. 
37) und wird darum auch nicht müde, sie mit denselben Wor- 
ten immer wieder neu zu ,, begründen". Nicht nur die ganze 
zweibändige ,,Anthropogenie" und längere Abschnitte ebenso 
in der „Generellen Morphologie" wie in der ,, Natürlichen Schöp- 
fungsgeschichte ", sondern auch noch vier ganze Kapitel seines 
Welträtsel buch es beschäftigen sich allein mit der körperlichen 
Seite dieser Frage. Und sechs weitere Kapitel über die Seele die- 
nen in erster Linie dem Zweck, auch die geistige Verwandt- 
schaft des Menschen mit den Tieren ,, gründlich" zu erweisen. 

Da wird uns z, B. in einer „Stufenleiter der Seele" {W.47 
bis 55) erst eine Skala der Empfindungen, dann eine solche der 
Bewegungen (!), dann eine der Reflexe mit sieben Stufen, dann 
eine der Vorstellungen und schließlich eine des Gedächtnisses 
mit den vier Stufen des Zellulargedächtnisses, des Histonal- 
gedächtnisses, des unbewußten Gedächtnisses in den Ganglien 
und des bewußten Gedächtnisses in den Hirnzellen vorge- 
führt. Wir hören weiter in einer „Keimesgeschichte der 
Seele" näheres über die Seelenmischung bei der Befruch- 
tung und wie „die Spannkräfte der beiden Elternseelen mittels 
Verschmelzung der beiden erotischen Zellkerne erblich über- 
tragen werden" {W. 59). Ja, wir bekommen auf Grund der ver- 
steinerten Überreste von Knochen früherer Tiergeschlechter so- 
gar eine ausführliche ,, Stammesgeschichte derSeele" {W. 
62 — 70), bei der wir deutlich die folgenden Hauptstufen unter- 



ge schichte" deren Lesern warm als den 
nen Ansichten. Als sich dann aber Ed. 
auswies und die Unzulänglichkeit des v 
darlat, da — schwieg Haeckel. Und ( 



wesentlichen Ausdruck seiner eige- 
Ton Hartmann als der Verfasser 
in ihm selbst gemachten Versuches 
hat bis heute weiter geschwiegen, 



D daß ich den Lesern leider auch nicht verraten kann, wie er sich jene 
Entstehung unserer Denk- und Anschauungsformen „aus Erfahrung" denn 
nun eigentlicii näher ausmalt und verständlich zu machen sucht. 



scheiden können: erst die Zellseele oder „Cytopsyche", bei 
der die seelischen (!) Vorgänge der Empfindung und Bewe* 
gung (!) noch mit den molekularen Lebensprozessen im Plas- 
ma selber zusammenfallen (W. 63); dann die Zellvereinseele 
oder „Coenobialpsyche", bei der wir die seelischen Tatsachen 
der Bewegung und der Empfindung „unmittelbar beobachten 
können" (! W. 64); dann die Gewebeseele oder „Histopsyche", 
bei der wir außer den Sonderseelen der einzelnen Zellen auch 
noch eine einheitliche sie beherrschende Staatsseele „unmittel- 
bar nachweisen" können (W. 65); dann die Pflanzenseele oder 
„Phytopsyche", bei der die Reizleitung mit zu den Seelentätig- 
keiten gehört (W. 66); dann die Seele nervenloser Metazoen: 
als da sind die Gasträaden oder Urdarmtiere, die Spongien oder 
Schwammtiere und die Nessel tiere oder Cnidaria, bei denen „sich 
die geschichtliche Entstehung der Nervenseele aus der Gewebe- 
seele vor unseren Augen vollzieht" (W. 67); und schließlich die 
Nervenseele oder „Neuropsyche", die durch einen eigenen, mehr 
oder minder komplizierten „Seelenapparat" „vermittelt" wird 
und durch achtPerioden in der Bildung des Medullär- Rohrs end- 
lich bis zur Menschenaffen- und Menschenseele hinaufführt (W. 
67—68). 

Auf diese schönen, zum größeren Teil durch ihn selbst erst 
entdeckten ,, Tatsachen", über die der wißbegierige Leser das 
Nähere in den „Welträtseln" selbst nachsehen muß, gründet 
sich nunHaeckels ,, monistische Seelenlehre", die sich zu- 
nächst in entschiedenen Gegensatz stellt zu der heute, wenig- 
stens in Europa, unter dem Einfluß der Kirche und der Schule 
noch allgemein herrschenden Ansicht, wonach die Seele des 
Menschen ein besonderes Wesen sein soll, das nur zeitweilig im 
Gehirn oder im ganzen Leibe seine Wohnung genommen hat 
und nach dem Tode selbständig weiterleben wird {L. 9. W. 40. 
81). Die durch Abstammungslehre und vergleichende Seelenfor- 
schung erwiesene Tatsache der Verwandtschaft aller Lebewesen 
auch in geistiger Hinsicht, die allmähliche Entwicklung der See- 
le sowohl im Einzelteben wie im Laufe der Stanunesgeschichte 
und die offensichtliche Abhängigkeit aller seelischen Tätigkeit 
von bestimmten körperlichen Anlagen und Zuständen: all das 
widerlegt, wie Haeckel mit Recht nicht müde wird, zu betonen, 
für jeden Unbefangenen jene hergebrachte ,, triviale" und ,|dua- 
listische Auffassung" von dem Wesen der menschlichen Seele 
(W. 40. 83—84 u. a.). Aber es beweist, so meint er, auch noch 



mehr: es beweist, daß die Seele eine bloße Naturerscheinung 
und jede sogenannte „geistige Tätigkeit" in Wahrheit auch nur 
eine körperliche Tätigkeit ist. Zwar haben nicht nur von jeher 
dualistische (und monistische!) Philosophen, sondern auch me- 
chanistische Naturforscher, wie z.B. du Bois-Reymond, das 
Bewußtsein als eine unübersteigliche „Grenze des Naturer- 
kennens" bezeichnet: als eine über das Gebiet der Natur und 
der Naturwissenschaft hinausliegende Erscheinung, die zu 
äen körperlichen Vorgängen in grundsätzlichem Gegensatze 
stehe (M. 44). Aber Haeckel muß gegen ein solches testlmonium 
paupertatis der Naturwissenschaft ausdrücklich Verwahrung 
einlegen (V. II, 146). Es gibt nichts, so versichert er, was der 
naturwissenschaftlichen Erkenntnis unerreichbar wäre (L. 37), 
Und vor allem ist es eine , .veraltete Ansicht", daß das Bewußt- 
sein ein Welträtsel für sich sei (M. 44). Es gibt nicht zwei ver- 
schiedene, schlechthin unvergleichbare Welten: eine geistige 
Innenwelt des Bewußtseins und eine körperliche Außenwelt 
des materiellen Daseins (W. 74). Diese angeblichen zwei Welten 
sind in Wahrheit nur Eine. Und die Entwicklungslehre schlägt 
die Brücke zwischen ihnen (L. 12 u. a.). Denn sie lehrt uns, 
daß auch das Bewußtsein nur eine verwickelte Tätigkeit der 
Nervenzellen ist, die im Laufe der Stammesge schichte erst all- 
mählich durch Anpassung erworben und durch Vererbung lang- 
sam weiter entwickelt wurde {V, I. 192): und zwar aus ur- 
sprünglich unbewußten Empfindungen und Vorstellungen, 
die auch heute noch bei uns Menschen fließend in bewußte 
übergehen (V. 1. 191. W, 71, L. 115). 

Nun stimmen freilich heute fast alle Philosophen darin über- 
ein, daß eine ,, unbewußte Empfindung" ein Widerspruch in 
sich sei, weil , .Empfinden" ja gerade das ,,Insichfinden" oder 
„Bewußt werden eines Eindrucks" bedeute. Und man liest wohl, 
das Bewußtsein seiimGrunde nichts weiter alsEmpfindungs-Sein 
oder die Seinsart der Empfindungen.' Aber Haeckel erklärt diese 
Ansicht für entschieden ,, verwerflich" (L. 115). Er kennt nicht 
nur „unbewußte Empfindungen", sondern auch ein , .unbewuß- 
tes Gedächtnis", eine ,, unbewußte Vorstellung als das innere 
Bild des äußeren Objektes" usw. (! W. 50—51 u. a.). Und wie 
sich das Bewußtsein als ,,die subjektive Spiegelung der objek- 

I Siehe Arthur Drews: „Die Religion als SelbsbewuQtsein Gottes" S. 336 
bis 288. „Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung" S. 3^8 
bis 333. 




WILHELM VON SCHNEHEN 



IZ4 

tiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen" ( ! 1 W. 
55) aus der unbewußten „ Assozionsarbeit" im „Phronema" un- 
serer älteren Wirbel tierahneii stufenweise und allmählich histo- 
risch entwickelt hat (L. 12), so gewinnen auch heute noch un- 
sere Sinnesorgane in de^Form von unbewußten Empfindungen 
„Kenntnisse von der Außenwelt"; aus diesen werden durch die 
verknüpfende Tätigkeit der „Assozionszentren" unbewußte 
Bilder oder Vorstellungen gewonnen, und diese werden dann 
erst nachträglich im Bewußtsein der Denkherde gespiegelt (L. 
6 — 7. W. 67. 50—51). Ob nicht mit dieser Spiegelung der „un- 
bewußten Empfindungen" (oder auch der „objektiven inneren 
Nervenvor gange") im Bewußtsein eben doch wieder ein Ge- 
gensatz zweier Seinsweisen, eine subjektiv - ideale Welt 
des Bewußtseins neben der objektiv- realen Welt des unbewuß- 
ten Daseins anerkannt ist, überlegt Haeckel nicht. Er ist ohne 
weiteres überzeugt, daß er durch seine unbewußten Empfin- 
dungen mit Hilfe der Entwicklungslehre und der Lehre von 
den spezifischen Sinnesenergien {L. 185) eine Brücke zwischen 
jenen beiden nur mit Unrecht für verschieden gehaltenen 
Welten geschlagen und die rein natürliche Beschaffenheit 
auch des Bewußtseins erwiesen hat. 

Und so ist denn für ihn die ,, Seele" als Inbegriff aller seeli- 
schen Tätigkeiten des Plasma eine , ,ph ysiologische Abstraktion" : 
genau wie der Begriff ,, Stoffwechsel" oder ,, Zeugung" (! W. 47). 
Das Bewußtsein ist ein physiologisches oder neurologisches Pro- 
blem (W. 75. M. 23). Empfinden, Denken, Urteilen, Schließen sind 
Gehirntätigkeiten (W, 83, L. 2, 6), Empfindung und Gefühl rein 
physiologische Begriffe (L. 1 18), Bewußtsein, Vernunft und Ge- 
müt körperliche Arbeitsleistungen, wie der Herzschlag und die 
Muskelbewegung (W. 54. M.z2. L. i28u. a.). Bei den einfachsten 
Tieren ist das ganze Plasma der Träger der Seele; bei den höhe- 
ren Tieren sind die Ganglienzellen als die eigentlich aktiven Ele- 
mentarorgane der Seele zu betrachten (W. 68. 83. L. 135): sie 
„bewirken" alles Vorstellen und Denken (W. 67). Und die che- 
mischen Vorgänge in den Ganglienzellen der Großhirnrinde 
müssen {bei uns Menschen und den höheren Tieren) als die ei- 
gentlichen ,, Faktoren der Erkenntnis" gelten (L. 9). Darum heißt 
das Gehirn auch kurzweg ,, Seelenorgan" oder ,, Denkorgan" 
(W.39. 53), die vier großen Denkherde oder ,, Assozionszentren" 
(nämlich: das Stirnhirn oder ,, frontale Assozionszentrum", das 
Scheitelhirn oder ,, parietale Assozionszentrum", das Prinzipal - 



IW. ■ 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 125 

him oder groBe „occipito- temporale Ässozionszentrum'' und 
das Inselhim oder „insulare Assozionszentrum") gelten als jene 
höchsten „Werkzeuge der Seelentätigkeit"» welche das Denken 
und das Bewußtsein „vermitteln" (W. 76. L. 6 — 7). Und das 
„Phronema", d. h. die graue Nervenmasse der Vorderhirnrinde, 
ist „nach unserer monistischen Überzeugung" der „psychische 
Organapparat" oder das eigentliche „Organ des Denkens" in 
demselben Sinne, wie das Herz das zentrale Organ des Blutkreis- 
laufes ist (L. 7. 8.)- Demgemäß ist denn für Haeckel auch die 
Seelenlehre nur ein Zweig der Physiologie oder Lehre von den 
Lebenstätigkeiten der Organismen (M, 22. W. 164). Sie steht als 
nächstverwandte Wissenschaft neben der Sinneslehre, der Be- 
wegungslehre, der Lehre vom Stoffwechsel und der Lehre von 
der Zeugung als den vier übrigen Teilen der Wissenschaft vom 
Leben (W. 94) und ist, soweit es sich um die menschliche Seele 
handelt, nichts weiter als Gehimf orschung (L. 193). Ja, die re- 
flektorischen, instinktiven und spontanen Bewegungen ge- 
hören als solche selbst schon zu den seelischen Tätigkeiten 
oder „psychologischen Tatsachen", die wir, ebenso wie die 
Empfindungen auch, „unmittelbar beobachten" (W. 64. 48 
u. a.)* Und es ist daher auch ganz in der Ordnimg, wenn uns 
z. B. in der „Stammesgeschichte der Seele" die Entwicklung 
des Rückenmarks vorgeführt wird; denn damit haben wir ja 
auch schon die Entwicklung der Wirbeltierseele selbst vor 
Augen. 

Nun beruhen aber alle Lebenstätigkeiten ohne Ausnahme auf 
einem Energieumsatz oder Kraftwechsel. Und davon machen 
auch die Seelentätigkeiten keine Ausnahme. Auch sie beruhen, 
nach Haeckel, auf Verwandlung von Spannkraft in lebendige 
Kraft oder umgekehrt (W. 94). Das Gedächtnis z. B. ist als Über- 
gang der Vorstellungen aus dem potentiellen in den aktuellen 
Zustand nichts weiter als Verwandlung der latenten Spannkraft 
des Psychoplasma in aktive lebendige Kraft (W. 51).^ Was wir 
Empfindung oder ( ! ) Reizwirkung nennen, kann als eine beson- 
dere Form der lebendigen Kraft oder aktuellen Energie ange- 
sehen werden, die Empfindlichkeit oder Reizbarkeit dagegen als 

^ Die betreffende Steile (W. 5 z) gehört zu den kostbarsten Offenbarungen 
Haeckelschen Tief sinns. Ich gebe sie deshalb hier zur Belehrung der Leser 
unverkürzt wieder. Sie lautet: „Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reis 
als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen gewor- 
den waren, werden durch das Gedächtnis neu belebt; sie gdien aus dem po- 
tentiellen in den aktuellen Zustand über. Die latente Spannkralt im Psycho* 



126 



WILHELM VON SCHNEHEN 



eine Spannkraft oder eine Form der potentiellen Energie (L. 1 1 6), 
Und die Umsetzung eines äußeren Reizes in eine innere Emp- 
findung wird von der „monistischen Physiologie" als ein Vor- 
gang des Kraftwechsels betrachtet: als Verwandlung einer Ener- 
gieform in die andere (L. 185). Wie die einfachsten physikali- 
schen und chemischen Vorgänge, lassen sich also auch die höch- 
sten Leistungen des Menschengeistes auf besondere Formen 
der Energie oder allgemeinen Naturkraft zurückführen (L. 36). 
Das gesamte Seelenleben der höheren Tiere, Denken und Ver- 
nunft des Menschen sind nur besonders verwickelte und hoch- 
entwickelte Energieformen (W. 90); eigentümliche Erschei- 
nungsformen der Nervenenergie, die man als „phronetische 
Energie" oder Arbeitsleistungen der Denkherde der grauen 
Vorderhirnrinde von den übrigen Äußerungen der Kervenener- 
gie unterscheiden kann (L. 135). Auch das Bewußtsein ist 
nichts weiter als eine solche besondere Form der Nervenenergie 
(L. 185). Zwar unterscheidet es sich von allen übrigen Energie- 
formen in eigentümlicher Weise dadurch, daß es nicht, wie sie, 
objektiv und von außen mit den Sinnen oder Maßstäben der Na- 
turwissenschaft, sondern immer nur von innen, auf subjektivem 
Wege zu beobachten ist (W. 42. 70). Auch besteht nach dem 
Weber-Fechnerschen Gesetz zwischen der Stärke der von außen 
auf uns einwirkenden Reize und der Stärke der dadurch ausge- 
lösten Empfindungen des Bewußtseins keine Gleichwertigkeit 
(Äquivalenz), sondern vielmehr ein logarithmisches Verhältnis 
{W. 43). Aber Haeckel schließt daraus nicht, daß bei dem Über- 
gang vom Reiz zur bewußten Empfindung das Gesetz von der 
Erhaltung der Energie eben seine Gültigkeit verliert, sondern 
meint vielmehr, durch jene ,,Psychophysiker" sei die strenge 
Geltung physikalischer Gesetze auf einem, wenn auch nur 
sehr kleinen Gebiete des sogenannten ,, Geisteslebens" dargetan 
worden (W. 43. 44. L. ir4. K. 71 — 72). Und er hält somit daran 
fest, daß das Bewußtsein, wie alle anderen Äußerungen des See- 
lenlebens, eine bloße Naturerscheinung und darum gleich ihnen 
auch dem Substanzgesetz unbedingt unterworfen sei (W. 70. 77. 

83. 54- N. 37!)-' _^ 

plasma verwandelt sich in aktive lebendige KrafL" Auch nach W. 50 kön' 
nen die Empfindungen (I) bleibende Spuren im Psych oplasma hinterlassen, 
und diese bleibenden Eindrücke ([) werden später vom Gedächtnis reprodU' 
ziert, was wir nur erklären können durch die Annahme einer an das Psycho- 
plasma der assoziierten Gewebezelten gebundenen „Histonal Vorstellung". — 
^ VgL meine Schrift „Energetische Weltanschauung?" Eine kritische Studie 



Nun bestehen aber nach Haeckel alle energetischen Vorgänge 
letzten Endes in Bewegungen der Materie oder ihrer kleinsten 
Teile (W. go. L. i86). Bei jeder Verwandlung einer Energieform 
in eine andere handelt es sich, ebenso wie bei jedem Übergang 
von potentieller in aktuelle Energie, um Lageve ränderungen der 
Atome, die sich ohne Ausnahme den allgemeinen Gesetzen der 
Mechanik unterordnen (L, 185). Und auch die Physiologie ist, 
wie wir sahen, nichts weiter als Physik der Organismen oder 
physikochemische (d. h. mechanische) Erforschung der leben- 
digen Naturkörper (L. 38. W, 87), Gleichviel also, ob sie uns im 
Einzelfalle als „energetische" oder aber als ,, physiologische" 
Vorgänge hingestellt werden; beides kann im Sinne eines rein 
naturwissenschaftlichen Monismus, der ,,aUe Erscheinungen 
ohne Ausnahme auf Mechanik der Atome zurückzuführen be- 
strebt sein muß" (M. ig), immer nur besagen, daßauch die see- 
lischen Erscheinungen nur mechanische Vorgänge oder 
bestinunte gesetzmäßige Bewegungen kleinster Stoffteile seien. 
Und das ist tatsächhch auch Haeckels an vielen Stellen unzwei- 
deutig ausgesprochene Ansicht. So wird z. B. gegenüber Vir- 
chow die Seele ausdrücklich als eine besondere Form der Bewe- 
gung bezeichnet (V.U. 253). Gleich allen anderen Lebenserschei- 
nungen, heißt es, beruhen auch die des Seelenlebens nur auf ma- 
teriellen Bewegungsvorgängen: und zwar auf Bewegungen der 
Plassonmoleküle oder Plastidule, der kleinsten Teile des Proto- 
plasmeis. Wir würden sie, gleich allen anderen Naturvorgängen, 
wirklich erklären und begreifen können, wenn wir imstande 
wären, sie auf Mechanik der Atome zurückzuführen (V. II. 248 
bis 249. 252). Aber die chemischen Prozesse sind hier eben sehr 
verwickelt und bestehen in besonders auffallenden, periodisch 
sich wiederholenden Bewegungen. Das ist es, was wir meinen, 
wenn wir die Organismen als „beseelt" bezeichnen (V. IL 
354). Wenn diese psychische (!) Mechanik, die Psychophysik, 
nicht so unendlich zusammengesetzt und verwickelt wäre, 
wenn wir imstande wären, auch die geschichtliche Entwick- 
lung der psychischen Funktionen vollständig zu übersehen, 
so würden wir sie alle, mit Einschluß des Bewußtseins, in eine 
mathematische Seelenformel bringen können (! V. II. 249). Nur 
weil wir das heute noch nicht können, erscheint uns das ei- 

mit besonderer Rücksicht auf Wilh. Ostwalds Naturphilosophie. {Leipzig 1 908. 
Verlag von Tbeod, Thomas): bes. Kap. IV. Energie, Bewußtsein und Seele 
(S. 103—133). 



gentliche Wesen des Bewußtseins unverständlich (V. II. 146. 
L. 116). 

Indessen die Entwicklungslehre hilft uns, wie schon früher 
dargetan ist, auch über diese Schwierigkeiten hinweg (V. I. 
190 — 192. W. 77. L. 136). Bei den niederen Lebewesen tritt ja 
die rein mechanische Beschaffenheit der Seelen Vorgänge oflen 
zutage (W. 63. 65). Alles höhere Seelenleben aber hat sich doch 
nur durch eine lange Reihe verschiedener Stufen aus diesen nie- 
deren Formen entwickelt. Es beruht also auf Vererbung (^ Fort- 
pflanzung) und Anpassung {= Ernährung). Und da diese Vor- 
gänge auf molekulare Bewegungen mechanisch zurückführbar 
sind, so auch die des Seelenlebens (V. II. 355. L. 117). „Sie ver- 
laufen als physikalische Prozesse im Neuroplasma des Gehirns" 
(L. 136 ähnlich L. iij)- Davon machen auch, wie Haeckel schon 
vor vierzig Jahren richtig erkannt hat, die bewußten Seelenzu- 
stände keine Ausnahme (L. 1 1. W, 75). Wie diese Ansicht damit 
zu vereinen ist, daß das Bewußtsein nur ,,die subjektive Spie- 
gelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der 
Seelenzellen" sein soll (W. 55), und zwar keine reale, also doch 
wohl eine rein ideelle Spiegelung (N. 23), darüber vernehmen 
wir nirgends etwas Näheres. Um so entschiedener aber klingt 
uns, jetzt sogar von jeder bedingenden Einschränkung befreit 
und aus dem futurum ins praesens übersetzt, die Versicherung 
von der rein mechanischen Erklärbarkeit des Bewußtseins ent- 
gegen. ,,Das Bewußtsein ist", so vernehmen wir, ,,in gleicher 
Weise wie die Empfindung und der Wille der höheren Tiere eine 
mechanische Arbeit der Ganglienzellen und als solche auf che- 
mische und physikalische Vorgänge im Plasma derselben zu- 
rückzuführen" (M, 23, L. 117. 136. W. 75). ,, Jetzt wissen wir", 
daß, wie das Flammenlicht eine Summe von elektrischen Äther- 
schwingungen ist, so die ganze Seele nur „eine Summe von Plas- 
mabewegungen in den Ganglienzellen" (M. 45). Bei unserem 
Tode aber gehen ,,die komplizierten chemischen Verbindungen 
unserer Nervenmasse durch Zersetzung in andere Verbindungen 
über und die von ihr produzierten lebendigen Kräfte (nämlich 
die Empfindungen, Gedanken und sonstige unter dem Namen 
„Seele" zusammengefaßte mechanische ,, Arbeiten") werden in 
andere Bewegungsformen umgesetzt" (M. 24, vgl, 23). — 

Nach Ausweis dieser Stellen, die sich leicht noch vermehren 
ließen, wäre also Ha eckeis monistische Seelenlehre rein 
materialistisch (W. 40. V. II. 248), obschon sie diese ihre 



wahre Beschaffenheit für gewöhnlich unter allgemeineren Aus- 
drücken (wie physiologische Funktion, Energiewechsel usw.) 
etwas verbirgt. Und sie unterscheidet sich von der Kraftstoff lehre 
Ludwig Büchners, der von Haeckel auch als monistischer 
, .Philosoph" vielfach lobend erwähnt wird {W. 80 u. a.), nur 
durch ihre Verbindung mit dem Entwicklungsgedanken: d, h. 
durch den Glauben, das täglich in jedem Lebewesen sich neu 
wiederholende Wunder der Entstehung des Bewußtseins aus 
äußeren Bewegungen stofflicher Teilchen werde leichter ver- 
ständlich, wenn es aus der Gegenwart in die Vergangenheit 
zurückverlegt und hier auf eine lange Reihe nicht näher an- 
zugebender ,, Übergangsstufen" verteilt wird. Freilich wünscht 
Haeckel selbst die Einseitigkeit des Materialismus (ebenso wie 
die des Spiritualismus) dadurch zu überwinden, daß er eine AI 1 - 
beseelung der Materie annimmt, und er wird nicht müde, 
diesen Gedanken als einen wesentlichen Bestandteil und Vorzug 
seines ,, reinen und konsequenten Monismus" zu bezeichnen 
(W. 14. L. 118. 135 u. a.). Es gibt keine tote Materie, so lesen wir 
immer wieder: die Empfindung ist ebenso eine allgemeine Eigen- 
schaft der Materie, wie die Bewegung, und kommt demgemäß 
auch schon deren kleinsten Bestandteilen, den Atomen, zu (V. 
H. 60.W. 73). Jedes Atom hat außer seiner stofflichen Masse 
auch eine ewige, unzerstörbare ,, Seele" (V. II. 61). Aber dann 
heißt es doch auch: ,, beseelt" seien die Atome nur insofern, als 
ein jedes von ihnen eine ,, inhärente Summe von Kraft" besitze 
(V. n. 60). „Die Summe der zentralen Atomkräfte können wir 
in konsequent monistischem Sinne auch , Atomseele' nennen" 
(V. II. 133). Denn Lust und Unlust, Lieben und Hassen der 
Atome sind ja ,,nur andere Ausdrücke" für die ihnen inne- 
wohnenden Kräfte der Anziehung und Abstoßung (M. 14. V. 
II. 354). Und da für ,, unseren Monismus" der ,, feinere Unter- 
schied zwischen Kraft und Energie" nicht in Betracht kommt 
(W. 87. 93), so liefe seine Allbeseelungslehre am Ende doch 
bloß auf die Ansicht hinaus, daß — alle Materie mit Energie 
verbunden ist. 

In der Tat zieht denn auch Haeckel selbst diese unvermeid- 
liche Folgerung. Seine Ansicht, so sagt er, gehe dahin, daß alle 
Substanz „beseelt", d. h. mit Energie begabt sei (L. 118). Und 
er fügt noch hinzu, gerade in dieser energetischen Auf- 
fassung der Substanz unterscheide sich sein Monismus wesent- 
lich von der materialistischen Lehre, die mit Unrecht allem 



130 WILHELM VON SCHNEHEN 

Stoffe oder einem Teile des Stoffes alle Empfindung abspreche 
und die aktuelle Energie als eine Funktion der toten Materie 
ansehe (L. ii8. 35). Auch haben wir ja die Empfindung schon 
als eine besondere Form der lebendigen Kraft oder der aktu- 
ellen Energie, wie die Empfindlichkeit oder Reizbarkeit als eine 
Spannkraft oder besondere Form der potentiellen Energie ken- 
nen gelernt (L. 116). Und es stimmt ganz damit überein, wenn 
die ,,Zellseele*' im monistischen Sinne als die ^^Gesamtsumme 
der Spannkräfte'* bezeichnet wird, die im Protoplasma aufge- 
speichert sind (V. IL 145) oder auch als die Summe der psychi- 
schen (I) Spannkräfte, deren materieller Träger der Zellkern ist 
(W. 59). Denn „psychische Spannkraft" oder, wie es anderwärts 
heißt, „psychische Energie** (W. 81) bedeutet nach Haeckels 
ausdrücklicher Versicherung nichts anderes als „eine besondere 
Kombination von echten (d. h. mechanischen) Naturkräften** 
(N. 9). Wie ja auf der anderen Seite auch das Protoplasma, in- 
sofern es der Träger dieser besonderen, unter den Begriff der 
„Seele** zusammengefaßten Verbindungen von Atomkräften 
ist, gern als „Psychoplasma**, als „Seelensubstanz im moni- 
stischen Sinne**, als „psychische Materie** oder kurzweg als 
„Seelenstoff** bezeichnet wird (W. 47. 81 1). Und wir kämen 
somit auch hier wieder auf die gewöhnliche materialistische 
Auffassimg des Seelenlebens zurück: die Allbeseelungslehre 
Haeckels wäre nur ein anderer Name für die Kraftstofflehre 
Ludwig Büchners, und wie für diesen, so gäbe es auch für jenen 
in Wahrheit keinen seelischen Innenzustand, sondern nur 
äußere Bewegungen stofflicher Teilchen, die durch deren me- 
chanische Zentral- oder Potentialkräfte bewirkt werden.^ 

Nun läuft aber neben dieser Auffassung der Atomseele als 
Atomkraft bei Haeckel noch eine zweite, ganz andersartige 
einher, die einen Unterschied zwischen Kraft und Empfindung 
voraussetzt und uns wirklich über den Gedankenkreis des Ma- 
terialismus hinaus zu seelischen Innenzuständen führt. 
Masse und Äther, so heißt es, sind nicht tot und nur durch 

^ Wenn sich Haeckel selbst trotzdem auch mit dieser Anschauung schon im 
Gegensatz zum Materialismus zu befinden meint, so kommt das wohl da- 
her, daß er in solchen Augenblicken nur andiereineStofflehre oder Stolf- 
bewegungslehre des älteren, konsequenten Materialismus denkt (Demo- 
krlt, Gassendi u. a.)> aber nicht an die Kraftstofflehre des neueren, 
inkonsequenten Materialismus (Büchner u. a.}* Nur jener ist ein Monis- 
mus (freilich der dümmste von allen!}, dieser dagegen ein metaphysischer 
Dualismus. 



äußere Kräfte beweglich, sondern sie besitzen Empfindung und 
Willen, natürlich niedrigsten Grades; sie empfinden Lust bei 
Verdichtung, Unlust bei Spannung; sie streben nach der ersteren 
und kämpfen gegen die letztere (W. 89). Man darf sich diese 
elementaren seelischen Tätigkeiten der Empfindung und des 
Willens in den Atomen nur nicht bewußt denken, sondern un- 
bewußt (W. 73). Und es wäre daher vielleicht zweckmäßiger, 
sie als Fühlung {Asthesis) und Strebung (Tropesis) zu bezeich- 
nen (L. 118). Ob dabei die Empfindung von Haeckel als Ursache 
oder aber als Folge der Bewegung angesehen wird, läßt sich 
nach den vorliegenden Aussprüchen schwer entscheiden. Für 
gewöhnlich erscheint sie als die Ursache der Bewegung, die 
durch sie ausgelöst wird {L. 187, ähnlich L, iS. 35. i2i.V.II. 60). 
Was auch damit übereinstimmt, daß die Empfindung für 
Haeckel nicht ein Leiden, sondern eine Tätigkeit ist, die so- 
gar neben der Bewegung als , .elementare Naturkraft" auf- 
tritt (1 W. 47. 73). Dann aber erscheinen die Empfindungen 
der Lust und Unlust oder Wohlbehagen und Mißbehagen auch 
wieder als die Begleitzustände oder Folgen der Bewegung (L. 
187), die ihrerseits nun als Äußerung eines unbewußten Wol- 
lens oder Strebens nach Lust und Unlust angesehen wird (L. 
118. W. 89. 54). Was jedoch nicht verhindert, daß Empfin- 
dung und Wille zuweilen auch beide miteinander als Ursachen 
der Bewegung auftreten {V. IL 60 — 61} oder daß das Streben der 
Atome selbst schon als Willensbewegung einfachster Art be- 
zeichnetwird(W. 89). Und nicht minder schwer zu entscheiden 
ist es, was nun eigentlich die Kraft noch bedeutet, nachdem sie 
ihre alte Stelle als Ursache der Bewegung an die Empfindung 
oder an den Willen abgetreten hat. Zuweilen scheint es, als wolle 
Haeckel im Anschluß an Schopenhauer (L. 187) und Hart- 
mann den an sich ja völlig dunklen Begriff der ,, Kraft" inner- 
lich als ,, Willen" deuten, wobei dann freilich das Verhältnis zwi- 
schen Willen und Empfindung noch der näheren Aufklärung be- 
dürfte. Zu anderen Zeiten aber ist es ganz unzweifelhaft, daß 
unter „Kraft" oder „Energie" im Sinne der Physik und im Un- 
terschiede von den inneren Triebfedern der Empfindung und des 
Willens einfach die Bewegung selber verstanden wird: „die 
Schwingung der bewegten Massenteilchen im Räume" (L. 186. 
W. 88 — 89. vergl. auch L, 1S7 ,,die Energie als bewegte Sub- 
stanz"). Werden uns doch auch Empfindung und Bewegung 
immer wieder als die beiden gleich ursprünglichen und offenbar 

9* 



X32 WILHELM VON SCHNEHEN 



einzigen Eigenschaften der Substanz oder der Materie bezeich- 
net (W. 97. V. IL 356. W. 47. L. 186 u. a.). 

Indes, was nun auch Haeckels eigentliche Ansicht über diese 
Dinge sein möge, eins ist klar: mit der Annahme einer, gleich- 
viel ob bewußten oder unbewußten, Empfindung in den beweg- 
ten Atomen sind, wenigstens bei diesen, zwei verschiedene, 
wohl zusammengehörige, aber doch ihrer Beschaffenheit nach 
unvergleichbare Seiten anerkannt: eine Innenseite des geistigen 
Geschehens und eine Außenseite des natürlichen, räumlichen 
Daseins und Wirkens. Das Gebiet der Naturwissenschaft : die 
sinnlich wahrnehmbare Körperwelt ist im Widerspruch mit der 
ursprünglichen Absicht (L. 37. 181) nun doch überschritten und 
wir haben eine doppelseitige Erscheinungswelt, die nur 
mit ihrer einen, nach außen hin gekehrten Seite den Sinnen 
und den Maßstäben der Naturwissenschaft zugänglich ist, mit 
der anderen, nach innen zu gekehrten Seite aber nicht. (Phä- 
nomenaler Dualismus). 

Allerdings dient diese Annahme einer geistigen Innenseite in 
den Atomen bei Haeckel zunächst und vorwiegend nur zur Er- 
klärung der natürlichen Erscheinungen. Oder um uns die 
äußeren mechanischen Vorgänge innerlich näher zu bringen 
und ihrem eigentlichen Wesen nach verständlich zu machen 
W. 88. L. 185). Womit offenbar eingeräumt wird, daß wir die 
Welt schließlich doch nur nach Analogie unserer eigenen, uns 
allein unmittelbar gegebenen seelischen Innenzustände wirklich 
verstehen können, während die bloßen Bewegungen stofflicher 
Teile an sich etwas völlig Unverständliches, Sinnloses darstel- 
len. In diesem Sinne heißt es: ohne die Annahme eines Empfin- 
dungsvermögens auch in der unbelebten Materie sei schon die 
einfachste chemische Erscheinung (wie z.B. die Wahlverwandt- 
schaft) und der einfachste physikalische Vorgang (wie z. B. die 
Massenanziehung) nicht zu begreifen (W. 165. L. 35. 186. V. II. 
60). Ohne Empfindung, natürlich unbewußter Art, können sich 
nach Haeckels Ansicht die Moleküle eines in der Bildung be- 
findlichen Kristalles nicht in bestimmter Richtung bewegen 
und nach festen Gesetzen aneinanderlegen (L. 18); ohne sie 
ist die gesetzmäßige Anordnung der beweglichen Massenteile 
zu einem Gebilde von bestimmter Form nicht zu erklären 
(L. 35). Ja, sogar das verschiedene Verhalten der chemischen 
Elemente gegen thermische Reize müssen wir auf die Wärme- 
empfindung der sie zusammensetzenden Atome zurückführen 



(I L. I2i).' — Das ist Haeckels Hylozoismus: diesesWortin 
seinem eigentlichen Sinne als ,, Stoff beseelungslehre", nicht als 
bloße ,, Kraftstoff lehre" verstanden. Inbezug auf alles höhere 
Seelenleben — von der Urzelle bis hinauf zum Menschen — ist 
freilich auch diese Ansicht noch als Materialismus zu be- 
zeichnen. Denn sie erkennt auch in geistiger Hinsicht keinen 
grundsätzlichen Unterschied zwischen unbelebter und belebter 
Matur an, läßt in dieser keine anderen Kräfte und Gesetze gel- 
ten als in jener und „erklärt" alle höheren seelischen Erschei- 
nungen in den Lebewesen eben doch wieder aus den bloBen 
Eigenschaften und mechanischen Bewegungen der Materie. Sie 
gesteht also eine geistige Innenseite im wahren Sinne des Wortes 
nur den Atomen zu, den höheren Individuen als solchen, als 
einheitlichen Organismen im Unterschiede von den einzelnen 
sie zusammensetzenden Atomen und deren getrennten Empfin- 
dungen, aber nicht. Also da, wo der Geist uns als etwas mehr 
oder weniger Einheitliches unmittelbar in der Erfahrung gege- 
ben ist: in unserem eigenen Bewußtsein, da wird er als solcher 
geleugnet und als falscher Schein einer gar nicht vorhandenen 
Einheit entweder in eine Summe von getrennten Atomempfin- 
dungen oder gar in bloße Bewegungen einzelner stofflicher Teile 
aufgelöst. Da aber, wo wir ihn nur durch einen recht kühnen 
Analogieschluß hineintragen: in den unsichtbaren, nicht ein- 
mal mit ihrer stofflichen Außenseite jemals wahrgenommenen 
Atomen, da erhält er sein Heimrecht 1 1 

Irgendwie näher ausgelassen über diese Schwierigkeit eines 
jeden rein mechanistischen Hylozoismus hat sich Haeckel nir- 
gends. Wohl aber wird zuweilen der Gedanke angedeutet, durch 
zufälliges Zusammentreffen und mannigfaltige Verbindung der 
Atomempfindungen könnten sich aus diesen zunächst die zu- 
sammengesetzten Empfindungen der Moleküle und Plastidule, 
aus deren seelischen Tätigkeiten oder Innenzuständen durch 
Vereinigung wieder die höheren Empfindungen der Zellseelen 

' Also: erst führt die NatumissenschaEt das, was wir „Wärme" nennen 
oder als solche empfinden, auf bestinmite Bewegungszustände der Atome 
in den fraglichen Körpern zurück, und dann erklären wir nach Haeckel 
diese eigenartigen Bewegungszustände der Atome wieder aus deren Wärme- 
empfindungen ! I Vielleicht verrät uns Dr. Heinrich Schmidt demnächst 
auch, ob man in Jena ebenso jene Äthers chwingungen, die in unserem Be- 
wußtsein die Empfindung „blau" hervorrufen, schon auf die Farbenempfin- 
dung des schwingenden Äthers zurückgeführt hat. Die Leser würden ihm für 
t solche Aufklärung gewiß dankbar sein. 



134 



WILHELM VON SCHNEHEN 



(V. II. 133 — 134) und aus diesen schließlich durch weitereVei 
knüpfung und Vereinheitlichung (Assoziation und Integration! " 
die Empfindungen und Vorstellungen aller höheren Grade des 
Seelenlebens bis hinauf zu denen des Menschen erklären lassen 
{W. 40, 48. 52). ,,Die einfachste Empfindung von Lust und Un- 
lust", so lesen wir, „die einfachste Bewegungsform von Anzie- 
hung und Abstoßung : das sind die wahren Elemente, aus denen 
sich in unendlich mannigfaltiger und verwickelter Verbindung 
alle Seelentätigkeit aufbaut. Der Atome Hassen und Lieben, An- 
ziehung und AbstoBung der Moleküle, Bewegung und Empfin- 
dung der aus Zellen zusammengesetzten Organismen, Gedan- 
kenbildung und Bewußtsein des Menschen — das sind nur ver- 
schiedene Stufen des universalen psychologischen Entwick- 
lungsprozesses" (V. II. 134). Indes spielen hier eben doch in 
die inneren seelischen Vorgänge der „Empfindung" überall 
noch die äußeren der „Bewegung" mit hinein, und es bleibt ziun 
mindesten unklar, ob jene ,,Assozion (!) der früher isolierten 
und lokalisierten Empfindungen" (W. 52) nicht am Ende doch 
(nach Analogie von M. 34 und all den anderen vorerwähnten 
Stellen) rein materialistisch nur als ein t)esonders verwickelter 
Bewegungsvorgang, als ein äußeres Zusammentreten der stoff- 
lichen Atomkörper oder bestenfalls als ein ebenso äußerliches 
Zusammenwirken ihrer Kräfte verstanden wird. Ausgeschlos- 
sen aber scheint jede solche Deutung, wenn wir lesen: alle 
Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme seien stets 
mit materiellen Vorgängen in der lebenden Substanz des Kör- 
pers, im Protoplasma,, verbunden" (W. 47; ähnlich noch einmal J 
auf derselben Seite). Oder auch: die psychologische Reaktioi|<B 
sei stets mit entsprechenden Veränderungen im Psychoplasma, | 
also auch mit chemischen Energieumsätzen ,, verbunden" 
(L. ii6, 118). Denn wenn diese Sätze überhaupt einen Sinn 
haben, so kann es nur der sein, daß körperliche und seelische 
Vorgängeais etwas Verschiedenes: als zwei irgendwie, gleich- 
viel ob in Wechselwirkung oder nicht, nebeneinander herlau- 
fende Reihen ungleichartiger Vorgänge anzuerkennen sind. 
Auch erklärt Haeckel gegen Ende der „Lebenswunder" unzwei- J 
deutig: die Vorgänge der Empfindung ließen sich schwer un-l 
mittelbar mit denen der Bewegung verknüpfen (L. 185). Undl 
wir sehen ihn deshalb zu guter Letzt bei der ,, Überzeugung" 
anlangen, daß, ebenso wie die Summe des Stoffes und der| 
Energie (oder der , .bewegenden Kraft"), auch die Summe det 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 



ias 



Empfindungen im Weltall eine ewige und unveränderliche 
Größe darstelle und jeder Wechsel der Empfindungen auf der 
Verwandlung einer Psychomform (d. i. Empfindungsform) tn 
andere Formen beruhe (L. 187), 

Freilich: wie wir uns diese Verwandlung und Verschmelzung 
der Empfindungen eigentlich zu denken haben, das ist nirgends 
näher angegeben. Doch stehen, wenn man sie annimmt, zur 
Erklärung der gegebenen seelischen Tatsachen nur zwei Wege 
offen: entweder man läßt die „inhärenten" Empfindungen der 
Atome sich bei deren gegenseitiger Annäherung und Berührung 
selbständig von ihnen ablösen und zu höheren Gebilden ver- 
schmelzen, oder man nimmt besondere, natürlich unbewußte, 
Seelen tätigkeiten an, die die Verschmelzung der an sich unselb- 
ständigen und unwirksamen Einzelempfindungen besorgen. Hier 
ist die Einheit des bewußten Seelenlebens wirklich erklärt, dort 
bleibt sie im Grunde doch immer noch völlig unverständlich. 
In beiden Fällen aber sind für die geistigen Innenvorgänge der 
Empfindung offenbar noch besondere Gesetze anerkannt, die 
mit den rein mechanischen Gesetzen der äußeren Bewegungs- 
Torgängenicht mehrzusammenfallen. Und wirdürfen deshalb 
die wenigen dahin lautenden Aussprüche Haeckels wohl nur für 
gelegentliche Einfälle halten, die seine eigentliche Meinung 
nicht wiedergeben. Denn wenn irgend etwas als der Grundge- 
danke seiner ganzen Weltanschauung bezeichnet werden kann, 
so ist es der, daß alles Geschehen in der Welt sich ausschließ- 
lich nach rein mechanischen Gesetzen vollziehe (W, 94 u. a,). 
Darum können auch die höheren seelischen Erscheinungen im 
Sinne , .unseres reinen und konsequenten Monismus" nur als 
eigentümlich verwickelte Bewegungsformen der Atome aufge- 
faßt oder aus solchen , .erklärt" werden; gleichviel ob daneben 
den Atomen eine wirkliche geistige Innenseite der Empfindung 
zuerkannt oder die Atomseele nur als Atomkraft verstanden 
wird. Und die zahlreichen, früher angeführten Stellen lassen im 
Grunde ja auch keinen Zweifel darüber, daß Haeckel tatsäch- 
lich einer solchen materialistischen oder hylozoistischen Auf- 
fassung des Seelenlebens huldigt, — 

Indes, mit alledem stehenwirdocherstvor der Hauptfrage. 
Mögen Kraft und Stoff immerhin in jedem Atom unlösbar mit- 
einander verbunden sein, mag es keinen wesentlichen Unter- 
schied zwischen lebender und lebloser Natur geben, mögen un- 
bewußte und bewußte Vorgänge ohne Grenze ineinander über- 



136 WILHELM VON SCHNEHEN 

gehen, mag die Seele mitsamt dem Bewußtsein nichts weiter 
als eine T&tigkeit bestimmter Kohlenstoffverbindungen sein, ja, 
mögen alle geistigen, ebenso wie alle körperlichen Vorgänge 
sich am letzten Ende in Bewegimgen kleiner beseelter, empfin« 
dender und wollender Stoff teilchen auflösen und diese überall 
gleichartigen Kraftstoffatome sich ohne irgendeinen Zweck 
nur nach blinder mechanischer Gesetzmäßigkeit ewig hin und 
her bewegen: was haben wir mit all dem eigentlich gewonnen? 
Wir haben diese in der Erfahrung gegebene vielheitliche Welt 
doppelseitiger Erscheinimgen zwar als wesensgleich oder 
durchweg gleichartig erkannt, aber noch nicht als wesens- 
ein s. Wir haben wohl dieEinerleiheit oder Einzigartigkeit 
aller Teile der Welt erreicht, aber keineswegs ihre Einheit, 
Der Hylozoismus ist an sich durchaus kein Monismus, 
sondern vielmehr als Kraftstoff lehre ein metaphysischer Du- 
alismus und als Atomlehre obendrein noch ein ontologischer 
Pluralismus: also keine Einheitslehre, sondern eine recht 
zwiespältige Vielheitslehre. Und darüber hilft uns auch das 
„Substanzgesetz'' in dem früher angegebenen Sinne nicht hin- 
weg. Denn als bloße Zusammenfassung jener beiden Gnmdge- 
setze der neueren Naturwissenschaft oder als begrifflicher AuSf 
druck für deren inneren Zusammenhang (W. 87) besagt es ja 
in Wahrheit nichts weiter als dies: daß die Summe der untrenn- 
bar miteinander verbundenen Stoffe und Kräfte im Weltall 
immer unverändert bleibt (N. 6 — 7. W. 87. M. 14. 33. L. i86). 
Aber eine unverändert bleibende Summe von einzelnen Stoffen 
und Kräften oder so und so vielen unvernichtbaren Kraftstoff- 
atomen ist wegen dieser ihrer Unveränderlichkeit doch noch 
lange keine Einheit. Diese erreichen wir erst, wenn wir alle 
einzelnen Stoffteile ebenso als an sich imselbständige Be&onde« 
rungen eines Allstoffes, wie alle einzelnen Kraftäußerungen 
als gesonderte Tätigkeiten einer Allkraft auffassen (M. 13) 
und beide, den Allstof! und die Allkraft, wieder nur als die bei- 
den zusammengehörigen Seiten, Eigenschaften oder Wesensbe- 
stimmungen (Attribute) eines und desselben Allwesens. Und 
das ist auch der Weg, den Ernst Haeckel, ganz unbekümmert 
darum, ob er ihn nicht am Ende doch über die Crexuen der 
Naturwissenschaft hinaus ins Gebiet des Übersinnlichen führe, 
angeblich im Anschluße an und in Übereinstimmung mit Spi« 
noza beschreitet. 

In der ganzen unendlichen Fülle wechselnder Formen, so 



137 

hören wir ihn sagen, offenbart sich nur ein einziges, allum- 
fassendes Weltwesen (L. 42). Alle einzelnen Dinge dieserWelt, 
alle individuellen Formen des Daseins sind, wie Spinoza rich- 
tig erkannt hat, nur besondere vergängliche Formen (Akziden- 
tien oder Modi) einer und derselben Substanz: einer Universal- 
substanz (W. 88), gleichviel wie man diese des näheren bezeich- 
nen möge; ob als Natur oder Kosmos, als Weltgeist oder Gott 
(L. 4z). Die Hauptsache ist, daß es nur eine einzige Substanz 
gibt (W, 14}, die in sich untrennbar vereinigt die Bedingungen 
sowohl zur Entwicklung der körperlichen, wie zu der der geisti- 
gen Welt enthält (N. 10): also einen letzten gemeinsamen 
Urgrund aller einzelnen Dinge und Erscheinungen (V. I. 263. 
W. iii). Spinoza hat diesem Grundgedanken in seinem identi- 
tätsphilosophischen Monismus den vollkommensten Ausdruck 
gegeben und den Begriff der „Substanz" als des allumfassenden 
Weltwesens am reinsten aufgefaßt {L. 34). Und alle Wandlungen, 
die der Substanzbegriff später durchgemacht hat, kommen bei 
konsequenter Analyse auf die Formel des Spinoza zurück: so 
heute nach zweihundert Jahren auch der ,, gereinigte Monis- 
mus" Haeckels, der in jenem Grundbegriffe des großen jüdi- 
schen Denkers mit Goethe einen der erhabensten, tiefsten und 
wahrsten Gedanken aller Zeiten zu verehren erklärt {W, 88. 
N. 10—11). Allerdings bezeichnete Spinoza als die beiden er- 
kennbaren Attribute oder unveränderlichen Grund ei genschaften 
der Substanz ,, Ausdehnung" und ,, Denken" (extensio und co- 
gitatio). Aber das bedeutet (nach Haeckel) dasselbe wie in un- 
serer modernen Ausdrucksweise ,, Stoff" und „Kraft" (L. 185. 
N. 11). Denn „das Ausgedehnte" d, h. den Raum Erfüllende ist 
eben die Materie oder der Stoff; , .Denken" aber bedeutet auch 
bei Spinoza selbstverständlich nicht das bewußte Denken des 
Menschen, sondern im allgemeinsten Sinne die Energie (L. 185), 
also die Kraft, oder auch die unbewußte Empfindung (L. 34), 
oder schließlich auch den Geist schlechthin im Unterschiede 
vom Stoff {W. 88. 14). Denn alle diese Ausdrücke: bewegende 
Kraft, Energie, Geist, Denken und Empfinden bezeichnen ja 
(nach Haeckel) im Grunde eins und dasselbe: die mit der äuße- 
ren stofflichen Seite untrennbar verbundene geistige Seite aller 
Dinge. Und in diesem Sinne will Haeckel, so versichert er uns 
gleich zu Anfang der ,, Welträtsel", durchaus festhalten an dem 
klaren und unzweideutigen Monismus von Spinoza: die Materie 
(oder der raumerfüllende Stoff W. 88), als die unendUch ausge- 



138 



WILHELM VON SCHNEHEN 



dehnte Substanz (!), und der Geist (oder die „Energie" oder nach 
W. 88 die „bewegende Kraft"), als die empfindende oder den- 
kende Substanz (!), sind die beiden fundamentalen Attribute 
oder (untrennbaren) Grundeigenschaften des allumfassenden 
göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz (W. 14.88. Ii). 
Und auch in den „Lebens wundern" wird uns erst auf S. 34 und 
dann noch auf S. 185 zweimal die Kraftstofflehre in dem an- 
gegebenen Sinne als gleichbedeutend mit dem „reinen Monis- 
mus" Spinozas und Goethes vorgeführt: nur daß die Ausdrücke 
Energie, Kraft, Geist und Empfindung als verschiedene Namen 
für dieselbe Sache miteinander abwechseln, (Vergl. auch L. 35. 
36. 38.) 

Dann aber {L. 1 85) erfahren wir auf einmal von den ,,S c h wie- 
rigkeiten, welche die Verbindung unseres Monismus mit der 
Substanzlehre von Spinoza darbietet." Denn tatsächlich, so 
heißt es, finde ja die Energie, auf welche die moderne Energetik 
alle Erscheinungen zurückführen will, in der Substanzlehre von 
Spinoza keinen selbständigen Platz neben der Empfindung. 
Vielmehr seien bei ihm „in dem Attribute des Denkens {d. h. 
der Psyche, des Geistes oder der Kraft) Empfindung und Ener- 
gie noch vereinigt" (L. 186). Darum geht Haeckel nun darauf 
aus, den Begriff der Energie von dem der Empfindung abzulö- 
sen und ganz auf die Mechanik zu beschränken, so daß die Be- 
wegung (=^ Kraft oder Energiel) als dritte Grundeigenschaft 
der Substanz neben die Materie {das ,, Ausgedehnte") und die 
Empfindung (das ,, Denkende"!) gestellt wird (L. 185—186). 
Wir überwinden also die Schwierigkeiten jener ,, älteren Iden- 
titälslehre" einfach dadurch, daß wir das Attribut des Geistes 
(oder des ,, Denkens" im Sinne von Spinoza) in zwei koordinierte 
Attribute zerlegen: in Empfindung (Psychoma) und Kraft oder 
Energie, und gelangen so ,,zu einer reinen Trinität des Mo- 
nismus," die den befriedigenden Ausgleich aller Gegensätze 
darstellt (L. 186). Wer es aber vorzieht, der kann auch den Be- 
griff der Energie in aktive Energie (^ „Willen" im Sinne 
Schopenhauers) und in passive Energie (^^ ,, Empfindung" im 
weitesten Sinne) zerlegen: Haeckel, frei von aller ängstlichen 
Begriffsklauberei und duldsam gegen fremde Meinungen, hat 
auch dagegen nichts einzuwenden (L. 1S5). Nur daran muß er 
festhalten, daß Empfindung ebenso untrennbar mit aller Materie 
verbunden ist, wie Bewegung (^ Kraft oder Energie!), und 
daß gerade diese Dreieinigkeit der Substanz die sicherste 



I 



I 



Basis für seinen modernen Monismus oder „Hylomsmus" bietet 
{L. 186), weshalb er denn auch jedes dieser drei Attribute noch- 
mals ausführlich für sich und im Zusammenhange mit dem 
Substanzgesetze betrachtet (L, 186—188). 

Damit scheint Spinoza endgültig überwunden: seine vielge- 
priesene Identitätsphilosophie muß als ,, vollkommenster Aus- 
druck der universalen Wahrheit" {L. 34} dem „neuen trinitari- 
sehen System des hylonistischen Monismus von Jena" ihren 
Platz einräumen. Aber nicht für lange. Denn in dem ersten 
Hefte der Flugschriften des deutschen Monistenbundes, also 
zwei Jahre später (1906), hat sich „unser moderner Monismus" 
wieder in die Anschauung des Spinoza zu rück verwandelt: die 
Empfindung als dritte Grundeigenschaft der Substanz ist ver- 
schwunden ; es bleiben nur die unendliche Ausdehnung und das 
unendliche Denken oder ,,in die moderne Ausdrucksweise über- 
setzt": die Materie und die Energie (^ Stoff und Kraft) als die 
beiden gleichwertigen, einander nebengeordneten und von je- 
her untrennbar verbundenen Grundeigenschaften der Substanz 
zurück, ,,wie es auch Spinoza annahm," und wir erfahren, daß 
in diesem Identitätsgedanken fernerhin jeder Naturforscher 
seinen allein seligmachenden Glauben zu suchen habe (N, 10 
bis 11): was uns dann durch den Jenaer Vortrag über ,,Das 
Menschenproblem und die Herrentiere des Linn6" (S. 39^40) 
noch einmal bestätigt wird. (Vergl. auch schon die Berliner Vor- 
träge K. 9z!). — 

Aber wenn nun „der Grundgedanke dieser Identitätsphiloso- 
phie das monistische Prinzip ist, daß Geistiges und Körper- 
liches, Denken und Sein in einem gemeinsamen Dritten eins 
sind und nur zwei verschiedene Seiten eines und desselben We- 
sens bilden" (N. 11), was ist dann dies gemeinsame Dritte 
selbst: diese Eine Substanz, die nach Haeckels Ansicht zwei 
andere „Substanzen" zu ihren ,, Attributen" hat? Was ist die- 
ses einheitliche Allwesen, ohne das Geist und Korper, 
Denken und Sein „oder" Kraft und Stoff eben doch nur einen 
letzten unüberwindlichen Gegensatz, einenDualismus zweier 
schlechthin verschiedenartiger und nur von uns in Gedanken 
zusammen gekoppelter Urdinge, Seinsformen oder Wesenheiten 
darstellen? Ja, wenn alle einzelnen Dinge dieser Welt, alle indi- 
viduellen Formen des Daseins nur besondere vergängliche For- 
men, Akzidentien oder Modi einer und derselben Substanz sein 
sollen (W. 88), die, an sich „ewig und unveränderlich", sich nur 



X40 WILHELM VON SCHNEHEN 

in einer Fülle wechselnder Gestalten als deren gemeinsamer un- 
vergänglicher Urgrund immer neu offenbart (L. 42), was ist 
dann diese Eine absolute Substanz, diese ewige und unr 
veränderliche Urwesenheit selber ? Man sollte denken, sie müßte 
als ihr gemeinsamer Urgrund oder Träger: als das, was sie erst 
zu einer wirklichen Einheit verbindet, ihren vielen Akzidentien 
ebenso wie ihren zwei Attributen, wenn nicht realiter, so doch 
wenigstens ideell vorangehen und sich irgendwie begrifflich von 
ihrer bloBen Sunune unterscheiden lassen. Und doch ist das bri 
Haeckel offenbar nicht der Fall. Man lese nur einmal Kap. 12 
und 13 der „WelträtseP^ Da vernehmen wir z. B., die Substanz 
(„die ewige und unveränderliche Substanz*' ! L. 42) befinde sich 
selbst in ununterbrochener Bewegung und Veränderung (W. 98, 
ebenso 11). Wir erfahren, sie besitze aufier der Bewegung als 
zweite ursprüngliche Eigenschaft noch die Empfindung (W. 
97); sie sei teils unwägbar, teils wägbar, und zerfalle demge- 
mäß in die beiden Hauptbestandteile Äther und Masse (W. 93. 
89)« J&) ^if lesen anderwärts von dem Weltäther als der be-* 
weglichen, schwingenden oder „aktiven Substanz'* im Gegen-t 
Satz zu der Weltmasse als träger, beharrender oder „passiver 
Substanz*' (W. 42). Und wir hören endlich gar, die (wägbare) 
Substanz sei „zusammengesetzt" oder „bestehe aus Molekülen 
und Atomen** (L. 39. M. 42), die geradezu als „bewegte Sub-i 
Stanzteilchen** bezeichnet werden (W. 89). Wie ist all das, samt 
vielen ähnlichen Aussprüchen (bes. W. 88 — 89), anders zu ver-i 
stehen als so, daß für Haeckel die Substanz doch eben nur 
ein anderer Name für die Materie ist, oder daß diese, die bei 
ihm mit dem Stoff zusammenfällt, selbst schon die Sub<^ 
stanz ist und als solche den Träger der Empfindung und der 
Kraft (oder der Bewegimg) darstellt? 

In der Tat, es ist keine andere Auffassung möglich. Auch be- 
zeichnet ja Haeckel seine Weltanschauung meist und mit un-i 
verkennbarer Vorliebe selbst als „Hfylonismus** oder „Hylozois- 
mus**, d. h. als Allstofflehre oder Stoffbeseelungslehre: gleich- 
sam als wolle er von vornherein unzweideutig dartun, wo ihr 
Schwerpunkt zu suchen ist. Und er hat darin ganz recht. Denn 
ein ewiger, unentstandener und unvergänglicher Stoff, der un-? 
abhängig von jeder bewußten Vorstellung an sich da ist (W. 
92) und den Weltraum ausfüllt: ein solcher wirklicher, an sich 
daseiender Stoff ist eben schon das, was man mit dem Worte 
„Substanz** bezeichnet: nämlich das unvergängliche Wesen 



I 



aller Dinge und der Träger ihrer Tätigkeiten oder KraftäuSe- 
ningen. Und hinter, neben oder über diesem unentstandenen 
und unvergänglichen d. h. eben substanziellen Stoffe hat eine 
zweite Substanz weder in der Wirklichkeit noch in unserem 
Denken irgendeinen Platz mehr. Auch begreift man so erst, 
warum Haeckel den Gedanken eines stetigen, in sich zusam- 
menhängenden Weltäthers trotz der Einwände der Physik wie 
der Mathematik als für seine „monistische Substanzansicht" 
,, unentbehrlich" nicht preisgeben will (W. 89. 92): er fürchtet 
eben mit der Annahme einer durchgängigen atomistischen Glie- 
derung aller Materie, sowohl der unwägbaren wie der wäg- 
baren, auch jede Einheit der Substanz zu verlieren und ohne 
Rettung dem Pluralismus zu verfallen. Das „hylonis tische 
System des Monismus" wäre also, wie schon sein Name besagt, 
im Grunde doch nichts weiter als eben nur ein Materialis- 
mus, der seinem wesenhaften Stoff neben der Ausdehnung und 
Bewegung noch die zweite oder dritte Eigenschaft der Kraft, 
Energie oder Empfindung zuspricht (V. 11. 355 — 356). 

Nun läuft aber neben dieser materialistischen Auffassung der 
Substanznocheineandere,agnostische oder relativistische 
einher, wonach der Substanzbegriff nur der einfachste Aus- 
druck für das Grundverhältnis von Kraft und Stoff sein soll (N. 
9). In diesem Sinne allein ist der Name ,, Substanzgesetz" als be- 
griffliche Zusammenfassung für die beiden Erhaltungsgesetze 
zu verstehen (W. 87. N. 9). ,,Der Begriff , Substanz' kann so 
durch , Kraftstoff' ersetzt werden" (L, 185) und die Frage nach 
dem eigentlichen Wesen der Substanz wird für Haeckel eins 
mit der Frage nach dem Zusammenhange von Materie und Kraft 
(M. 40 zweimal!). D. h. die Substanz wird zu einer bloßen Re- 
lation: und diese ist unerkennbar (M. 40). Als das letzte, 
wohin wir mit unserem Denken vordringen können, erscheint 
dieZweiheit von Stoff und Kraft. Ja, in Wahrheit nicht einmal 
diese, sondern eben nur die einzelnen vergänglichen Erschei- 
nungen dieser Welt (W. 88), deren jede sich in unbegreiflicher 
Weise aus Kraft und Stoff zusammensetzt. Wir vermögen eben 
nur die Erscheinung der Dinge zu erkennen, aber nicht ihr 
innerstes unbekanntes Wesen (L. 1 82): wissen also auch nicht, ob 
dieses Eins ist oder nicht. Ja, die Frage nach dem Zusammen- 
hange von Materie und Kraft bildet die Eine noch wirklich vor- 
handene Grenze des Naturerkennens, die auch Haeckel bereit- 
willig anerkennt und sogar als ihrer Natur nach unüberwindlich 



142 WILHELM VON SCHNEHEN 

bezeichnet (M. 40). Nur innerhalb dieser menschlichen Erkennt-» 
nisgrenzen, die von Kant richtig bestimmt worden sind (I? M» 
40. W.92. L. 182), ist ein positives monistisches Naturerkennen 
möglich und besteht in der Erkenntnis des rein mechanischen 
Kausalzusammenhanges aller Vorgänge mit Ausschluß aller 
übernatürlichen Erklärungen (M.40. W. 151)^. D.h. die Einheit, 
die wir erkennen können, ist nur die Einheit der Entwicklung: 
die Einheit des ursächlichen Zusammenhanges. Also nur eine 
Einheit des Werdens, nicht eine Einheit des Seins oder Wesens.. 
Wir wissen nur, daß die Summe aller Stoffe und Kräfte im Welt» 
all immer unverändert bleibt imd daß alles einzelne Geschehen 
in der Welt nur auf Formwandlungen dieser Stoffe imd Kräfte 
beruht; aber wie diese Stoffe und Kräfte sich ineinander ver> 
wandeln können, ja, wie sie auch nur rein äußerlich in demseU 
ben Räume zusammengehalten werden: das verstehen wir nicht. 
Der letzte gemeinsame Urgrund aller Dinge ist uns, wenigstens 
bei der gegenwärtigen Organisation unseres Gehirns (1), nicht er- 
kennbar: in diesem Zugeständnis begegnet sich die kritische Na- 
turphilosophie Haeckels mit der dogmatischen Religion (V. L 
263—264. 27s). 

Und sie begegnet sich ebenso mit dem bekannten „Ignora- 
mus'' seines Gegners Dubois-Reymond. „Wir sind unfähig, 
das innerste Wesen dieser realen Welt der Naturdinge zu er- 
kennen'' (W. 118). Auch die wunderbaren Fortschritte unse- 
rer modernen Kosmologie haben das Substanzproblem, 
dieses allumfassende Welträtsel, nicht gelöst, ja uns seiner 
Lösung nicht einmal näher gebracht (W. 151). „Wir'', d. h. 
Haeckel und die Seinen, stehen dem innersten Wesen der Na- 
tur heute vielleicht noch ebenso fremd und „verständnislos'* 
gegenüber, wie Anaximander und Empedokles vor zwei- 
tausend Jahrenl Ja, „wir" müssen sogar „eingestehen, daß uns 

^ Kant hat die wissenschaftliche Erkenntnis, worunter er freilich nur 
eine unbedingt gewisse Erkenntnis verstand, auf subjektive Erscheinun- 
gen, d. h. auf den Inhalt des Bewußtseins beschränkt und alles darüber hin- 
aus liegende oder „transzendente'* Sein (im erkenntnis theoretischen 
Sinne des Wortes) für unerkennbar erklärt Haeckel aber sucht den Gegen- 
stand der Naturwissenschaft (richtig) in außerbewußten, an sich daseienden 
Dingen, die durch Vorstellungen im Bewußtsein abgebildet werden (W. zz8. 
50) und uns mit ihren Eigenschaften bis zu einem gewissen Grade erkenn- 
bar sind (L. 39). Wie sich dessen ungeachtet „unser moderner Monismus'' 
mit der Lehre Kants wohl vereinen läßt (W. 99. M. 40), dürfte dem Leser 
ohne weitere Aufklärung nicht ganz verständlich sein. Hier läge eine dank- 
bare Aufgabe für Herrn Dr. Heinrich Schmidt vor. 



I 



dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer 
und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer 
Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher 
wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwick- 
lung kennen lernen. Was als ,Ding an sich' hinter den erkenn- 
baren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch 
nicht. Aber was geht uns dieses mystische ,Ding an sich' über- 
haupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, 
wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? 
Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses 
ideale Gespenst den , .reinen Metaphysikern" {W. 151).^ Für 
,, unsere" monistische Naturphilosophie, die nichts weiter als 
„echte Physik" ist und sein will, entwickeltsich aus dem,, dunk- 
len" Substanzproblemdas,,klare"Substanzgesetz(! W. 151), 
das seinem Wesen nach identisch ist mit dem rein mechanisch 
verstandenen ,,Kausalgesetz der Metaphysik" (I N. 13). Das rät- 
selhafte „Ding an sich" aber, das hinter den Erscheinungen 
stecken soll und von dessen Dasein wir doch nichts wissen, ist 
für sie nur ein Dogma (W. 158). Und da die Frage nach dem 
„Ding an sich" gleichbedeutend ist mit der Frage nach dem 
„Zusammenhange von Materie und Kraft" (M. 40), so könnte 
es scheinen, als wäre auch dieser nur ein Dogma: ein ideales 
Gespenst, das wir am besten den reinen Metaphysikern über- 
ließen. Aber wenn uns so am Ende der ,,Welträtser' um den 
Monismus und die verborgene unerkennbare Einheit dieser viel- 
heitlichen Welt doppelseitiger Erscheinungen bange werden soll- 
te, dann erinnern wir uns gern der zu Anfang empfangenen 
trostreichen Versicherung, daß die Frage nach dem Wesen von 
Materie und Kraft, samt den beiden anderen angeblich unlös- 
baren Fragen nach dem Ursprung der Bewegung und der Ent- 

* Adickes (S. 23 — 24) bemerkt dazu: „Fürwahr, Haeckel hat seinen wahr- 
sten Beruf verfehlt: er hätte Verwand! ungskün stier werdea sollen, und die 
„phänomenalsten" Erfolge wären ihm sicher gewesen. Welche unübertreff- 
liche Kunst in dieser kleinen Stellel Wirklichkeitsfroh beginnt sie mit dem 
„eigentlichen Wesen der Substanz", das ja immerhin etwas Rätselhaftes sein 
mag, aber doch zweifellos wirklich existiert. Dann wird es zum „Ding an 
sich", ohne zunächst auch nur einen Schatten von Realität einzubüBen. Aber 
plötzlich erhebt sich ein leichter Nebel auf der Bühne, das Ding an sich wird 
„mystisch", schon weiQ man nicht mehr recht, ob es überhaupt existiert und — 
bocus pocus abracadabra — entschwunden ist es als „ideales Gespenst". — 
Indessen; Adickes ist, obwohl er sich selbst zum Monismus bekennt (S. 75 
bis 116), nach Haeckels Aussage nur ein „Dualist", und damit sind auch „für 
uns" alle seine Einwände binlällig. 



144 WILHELM VON SCHNEHEN 

stehung des Bewußtseins, durch Haeckels Auffassung der Sub- 
stanz ,, erledigt'' ist (W. Z2), und empfinden es dankbar, daß 
der „Monismus'' nun doch kein bloBer Traum, sondern eine 
Wahrheit ist: nicht blofi eine schöne Dichtung des gläubigen 
Gemüts, sondern eine klare, sichere Erkenntnis des auf Erfah- 
rung gestützten vernünftigen Denkens oder der durch Ernst 
Haeckel glücklich vollzogenen Verbindung von Naturwissen- 
schaft und Philosophie. — 

Und dieser „reine Monismus" unserer modernen Naturphilo- 
sophie von Jena ist dem Gottesglauben keineswegs feind- 
lich. Nicht aus der Welt schaffen will er die Religion, sondern 
sie nur durch zeitgemäße Umbildung mit den Ergebnissen der 
Wissenschaft, d. h. der Naturwissenschaft, versöhnen (V. II. 
362). M. a. W. er will den Gegensatz ausgleichen, der zwischen 
diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistestätig- 
keit ganz unnötigerweise noch besteht, und so die Bedürfnisse 
des Gemüts und die der Vernunft gleichmäßig befriedigen (W. 
133. V. II. 350). Dazu darf er sich freilich nicht auf den ver- 
alteten, durch eine klare Naturerkenntnis ebenso wie durch eine 
kritische Geschichtsforschung längst überwundenen Köhler- 
glauben an übernatürliche Offenbarungen und Wunder stützen, 
sondern auf die Vernunft als das höchste Gut des Menschen 
(V. II. 362). Er muß rücksichtslos alle Vorstellungen ausschei- 
den, die mit den klar erkannten Lehrsätzen der empirischen 
Naturforschung und den allgemeinen Forderungen der Vernunft 
in unlösbarem Widerspruch stehen (M. 27 — 28. V. II. 350). Das 
aber gilt von allen Formen des Theismus, wo Gott bekanntlich 
als selbständiges Wesen der Welt oder der Natur gegenüberge- 
stellt und als persönlicher Schöpfer verehrt wird (W. 116). Von 
der Tätigkeit eines solchen außerweltlichen Gottes ist im weiten 
Umkreise der Natur nichts zu erkennen (L. 190). Ja, der Glaube 
an einen liebenden Gottvater, der die frommen Wünsche seiner 
Menschenkinder berücksichtigt, sie beschützt und ihre Bitten 
erfüllt, ist gegenüber den Erfahrungen des Lebens nur durch 
einen Selbstbetrug noch aufrecht zu erhalten (W. iio). Die un- 
vollkommene, leidvolle Beschaffenheit dieser Welt ist der un- 
zweideutigste Beweis gegen ihre Erschaffung und Leitung durch 
einen bewußten, allgültigen und vollkommenen Schöpfer (M.3i). 
Auch erweist sich der persönliche Gott, etwas näher betrachtet, 
doch immer nur als ein Abbild des Menschen: als ein Wesen, 
das, wenn auch in unendlich vollkommnerer Form, doch im 



HAECKELS „REINER" MONISMUS 145 

Grunde so empfindet, denkt und handelt wie ein Mensch (W. 
116. iii). Ja, mag man die körperliche Erscheinung auch ganz 
von ihm abstreifen und ihn als reinen Geist verehren, es bleibt 
doch immer dieunwürdige Vorstellung, daß er dem Menschen 
ähnlich sei (M. 46): bleibt das Gemeinsame beider ihre Seelen- 
oder Geistestätigkeit, so daß wir (bei der offenbaren Abhängig- 
keit alles höheren bewußten Geisteslebens von der ungestörten 
Tätigkeit eines hoch entwickelten Gehirns) folgerichtig zu der 
widersinnigen Vorstellung eines „gasförmigen Wirbeltieres" 
kommen (M. 46. W. 116). Darum ist der Glaube an den per- 
sönlichen Gott mitsamt dem darin eingeschlossenen Gedanken 
einer liebevollen Vorsehung ebenso unhaltbar, wie der Glaube 
an die menschliche Unsterblichkeit und die Willensfreiheit (W. 
94. 151 u. a,). Diese drei Dogmen müssen fallen und mit ihnen 
das eigentliche Christentum, wenn wir zu einer wahren Ver- 
nunftreligion kommen wollen (W. 135}.' 

Auch ist ja im Laufe der menschlichen Entwicklung mehr 
als irgendein anderer gerade der Begriff „Gott" umgewandelt 
worden, da er wie kein anderer zugleich die höchsten Aufgaben 
des erkennenden Verstandes und die tiefsten Interessen des gläu- 
bigen Gemüts und der dichtenden Phantasie berührt {W. 111). 
Zu seiner reinsten und wahrsten Gestalt aber läutert der Gottes- 
begriff sich erst in dem „reinen Monismus" Ernst HaeckeIs(M. 
35. L. 188), wenn auch Spinoza und Goethe ihm schon vorge- 
arbeitet haben (W. 133. L. 198 u. a.). Gott erscheint hier nicht 
mehr als ein persönliches, außerweltliches oder auch nur über- 
natürliches Wesen, sondern ist als innerweit lieh es Wesen allent- 
halben die Natur selbst. Insofern kann man die neue „monisti- 
sche Naturreligion" (M. 30. 35) auch als Pantheismus be- 
zeichnen (W. 116}. Atheismus aber darf sie heißen, insofern 
sie eben jeden Unterschied zwischen Gott und Welt bestreitet 
(W. 117). Gott und Welt oder Gott und Natur sind eins und 
dasselbe {L. V.) : nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. 
Deus sive natura: das ist die Formel der monistischen Theo- 
logie (L. 198. 37). Denn es gibt nur eine einzige Substanz, die 
1 Ich habe mich hier natüihch auf die Hauptpunkte beschränken müssen. 
Im einzelnen sind von Haeckels Auslassungen begreiflicherweise gerade die 
über das Christentum besonders scharf angegriffen worden. Aber Jul. Bau- 
mann '„Haeckels Welträtsel" Vorwort) bemerkt dazu : es könne jemand un- 
recht haben in allem, was er bezüglich gewisser Punkte sagt, und doch in 
der Sache selbst mehr für sich haben, als es nach der leicht widerlegbareo 
Form scheinen möge. — 
■ D<r Honinsui II lO 



146 WILHELM VOM SCHHEHEN 

Gott und Natur lugfitich ist: der unendliche Stofi und die Kraft 
oder Energie sind nur die beiden Gnindfigenschaften dieses 
allumfassenden gdttlichen Wdtwesens (W. 14. 88. L. 42). Man 
kann aber Gott auch als die im Inneren der Substanz (d. h. hier 
wieder: des Stoffes) tätige Kraft oder Energie beseichnen (W. 
1x6): als dieKraftsumme des Alls, die von seiner Stoffsumme 
untrennbar ist (V. IL 355, ähnlich K. 93) oder als die unendliche 
Summe aller Naturkräfte (M. 33). So wird er als bewegender 
Geist ins Innere des Kosmos hineingelegt (M. 13. N. 31), und 
man kann sageUt daB ein göttlicher Geist in allen Ding^ lebt 
(M. 9. 33): eine allumfassende Weltseele, von der auch unsere 
menschliche Seele nur ein wimdger Teil ist, gleichwie unser 
menschlicher Körper nur ein Teil der großen Körperwelt (M. 13 
bis Z4). 

Nicht minder freilich wäre es im Sinne einer aufgeklärten 
Theologie und führt zum »»reinsten Monotheismus/' wenn man 
Grott |»als die Summe aller Kräfte und Wirkungen betrachtet'* 
(W. 165). Oder: da es der bewegliche Äther ist» aus dem vermutlich 
die wägbare Masse erst hervorgegangen ist, so kann man jenen 
auch als die alltunfassende und »»schaffende Gottheit'' der trä- 
gen und schweren Masse als ihrem Schöpfungsstoffe gegenüber- 
stellen und so den Gottesglauben mit den letzten Glaubens- 
sätzen der Naturwissenschaft vereinen (M. z6. 37). Ja» insofern 
sich unsere ganze Naturerkenntnis begrifflich in das Eine große 
Gesetz von der Erhaltung der Substanz (= der Summe aller 
Kräfte und Stoffe) zusammenfassen läßt» kann man dieses 
oberste Gesetz auch als den festen Grundstein oder § z der mo- 
nistischen »»Vernunft-" oder »»Naturreligion" bezeichnen (V. IL 
36z — 362. M. 39) und Gott selbst als das oberste Natur- oder 
»»Weltgesetz"» das sich auch als »»Wirken des allgemeinen Rau- 
mes" darstellt (N. 40. M. 33). Und auch dagegen haben »,Wir" 
nicht das mindeste einzuwenden» daß man den persönlichen 
Gott in die personifizierte Idee der Wahrheit umdeutet. Bildet 
doch gerade diese Vorstellung eine wertvolle Brücke» welche 
das Wunderland religiöser Dichtung mit dem Lichtreiche wis- 
senschaftlicher Naturerkenntnis verbindet (M. 33). Ja» wenn wir 
die Idee der Wahrheit noch durch die der Güte und der Schön- 
heit ergänzen» dann gewinnen wir als reinen Gottesbegriff ein 
iidreieiniges Gottesideal"» gewinnen »»die naturwahre Tri- 
nität des Monismus"» der das zwanzigste Jahrhundert seine Al- 
täre erbauen wird» und dürfen Gott» »»die Summe aller Atom- 



kräfte und Ätherschwingungen", (M, 3 3) frommen Herzens als 
den „Geist des Guten, des Schönen und der Wahrheit" verehren 
{M. 36. W. 135). Denn ,, nicht auf denNamenkommtes bei die- 
sem höchsten Glaubenssatze an, sondern auf die Einheit der 
Grundvorstellung" (M. 33) und auf klare philosophische Begriffe 
(M. 27) als die feste Grundlage auch aller guten Sittenlehre (V. 
II. 349). Daß aber diese Einheit und Klarheit der Grundvorstel- 
lung in den vorerwähnten, getreu nach den Originalia ange- 
führten Sätzen zu finden ist, wird der Leser unschwer erkennen 
und darum auch nicht zweifeln, daß diese ,, monistische Natur- 
religion" E. Haeckels mit der Ansicht Spinozas und Goethes in 
der Hauptsache übereinstimmt und tatsächlich die höchste bis- 
her erreichte Form des Gottesglaubens darstellt. — - 

Blicken wir nun „von diesem glücklich erklommenen Hoch- 
gipfel monistischer Erkenntnis", auf dem sich uns „der beweg- 
liche Äther" oder ,,die Summe aller Atomkräfte und Äther- 
schwingungen" als ,, schaffende Gottheit" und als der ,,all-Eine 
Geist des Guten, des Schönen und des Wahren" entschleiert hat, 
noch einmal auf den hinter uns liegenden Weg zurück, so „of- 
fenbaren sich unserem freudig bewegten Sinne neue überra- 
schende Perspektiven" (M. 16). Wir sehen, daß der „gereinigte 
Monismus"; „der Monismusin dem bestimmten Sinne, wieer 
zuerst i.J. 1866 in der , Generellen Morphologie' festgestellt wor- 
den ist" und (nach Haeckels tröstlicher Versicherung!) „heute 
von den meisten Philosophen und Naturforschern geteilt wird" 
(V. II. 352) zunächst gleichbedeutend ist mit dem Mechanis- 
mus, insofern er — auch bei den Lebens vor gangen und den 
Bewußtseinserscheinungen — mit Ausschluß aller zweckmäßig 
wirkenden Kräfte nur mechanische Ursachen als wirkliche Ur- 
sachen anerkennt (V. II. 353. L. 104). Ebenso gut kann man ihn 
aber auch als theoretischen Materialismus oder Hylonismus 
bezeichnen, da nach ihm alle Erscheinungen auf Bewegungen 
beseelter Stoffteile oder Kraftstoffatome beruhen (V. II. 355, L. 
35. S. 32). Nicht minder zutreffend freilich wäre es, ihm den 
Namen Panpsychismus oder Spiritualismus zu geben, da 
er ja aller Materie bis hinab zu den Atomen eine geistige Innen- 
seite der Empfindung, der Kraft oder Energie zuerkennt (V. II. 
354 — 356). Eben darum aber kann man ihn auch Hylozois- 
mus nennen, wenn man hervorheben will, daß er als „konse- 
quenter Monismus" ebenso die Einseitigkeit des konsequenten 
Materialismus wie die des konsequenten Dynamismus (^ Enei- 



getik„oder"Spiritualismusll) glücklich vermeidet, — Insofern 
er dann die Weltentwicklung als einen bis zu gewissem Grade 
erkennbaren Naturprozeß betrachtet, kann man ihn auch als 
Kosmonismus bezeichnen und in Gegensatz zu dem Agno- 
stizismus stellen (!! V. II. 357). Kosmotheismus oder Pan- 
theismus aber ist er, insofern ihm Gott mit der Kraftsumme 
des Universums, die von seiner Stoffsumme unabtrennbar ist, 
zusammenfällt (V. II. 355. W. 116), Atheismus, insofern er 
jeden Unterschied zwischen Gott und Welt leugnet (W. 117), 
und Theismus wieder, insofern er Gott als die personifizierte 
Idee der Wahrheit oder den Geist des Guten verehrt (M. 33). 
Darum weist denn auch Haeckel, wo er von den Lesern der 
„Welträtsel" Abschied nimmt, ,, versöhnlich" darauf hin, daß 
der schroffe Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus, wie 
er in seinem Buche betont war, sich „bei konsequentem und 
klarem Denken bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst 
bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völ- 
lig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der 
höchsten Prinzipien auf das gesamte Gebiet des Kosmos — der 
organischen und anorganischen Natur — , nähern sich die Ge- 
gensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und 
Mechanismus (sowie schließlich auch die des Realismus und 
Idealismus) bis zur Berührung". ,,Aber freilich, konsequen- 
tes Denken bleibt eine seltene Naturerscheinung" (W. 
152). Wäre dem nicht so, dann — wäre ja am Ende das Buch 
über ,,die Welträtsel" gar nicht geschrieben worden oder — 
hätte nicht geschrieben zu werden brauchen! Nun aber werden 
es sicher alle Leser dankbar empfinden, daß Ernst Haeckel, der 
sich im Besitz jener seltenen Fähigkeit zu folgerichtigem Den- 
ken weiß, ihnen die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen 
Forschungen nach bestem Wissen und Gewissen zugänglich ge- 
macht hat (W. 154). Und es ist nur zu hoffen, daß sie, unge- 
achtet ihrer geringeren Begabung, doch imstande sein wer- 
den, seinen eigenartigen „logischen" Gedankengängen wenig- 
stens zu folgen und sich zu überzeugen, ob er ihnen tatsäch- 
lich, wie er selbst zuversichtlich verkündet (W. 163), eine , .mo- 
nistische Weltanschauung" bietet, die „aus einem Guß ist" und 
Geist und Natur, Seele und Leib, Gott und Welt ,, einheitlich und 
ohne Widerspruch" verbindet. 




OTTO BRAUN • RUDOLF EUCKENS MONIS- 
MUS 




UDOLF Eucken, der Philosoph in Jena, 
der Hochburg des deutschen Idealismus, 
dessen großartige Gedankenarbeit immer 
tiefer in die Gestaltung des geistigen Lebens 
unserer Zeit eingreift, hat sich mehrfach 
mit dem Problem des Monismus ausdrück- 
lich beschäftigt und zu ihm Stellung ge- 
nommen; den Hintergrund all seiner Er- 
örterungen bildet es fast stets, wenn auch verborgen und in 
wechselnder Fassung. 

Das erste große Buch, in dem Eucken sein eigenes Weltbild 
begründete, ist ganz der Frage des Monismus gewidmet und 
drückt dies schon im Titel aus: ,,Die Einheit des Geisteslebens 
in Bewußtsein und Tat der Menschheit" (1888); ihm voran gin- 
gen ,,Prolegomena". In seinen „Geistigen Strömungen der Ge- 
genwart" (3. Aufl. 1904) beleuchtet er kritisch Monismus und 
Dualismus in der Geschichte der Philosophie. In anderen Wer- 
ken (,, Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", II. Aufl. 1907, 
,, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" 1907) findet sich 
dies Wort selten, die Sache aber ist mit den Grundlagen seines 
Systems verwoben. Die prinzipielle, metaphysische Begründung 
seines Monismus findet sich in dem ältesten Werk, während die 
neueren Bücher der mehr konkret-lebendigen Ausgestaltung 
der Lebensanschauung sich widmen. Es ist dies die Folge einer 
langsamen und stetigen Wandlung in Euckens Gedankenrich- 
tung: sein Interesse neigt sich immer mehr einer bloß abstrakt- 
begrifflichen Untersuchung ab und einer kraftvollen Lebens- 
philosophie zu, die nicht nur die Grundlagen unseres Daseins 
und der Welt begrifflich klären will, sondern das Streben des 
Menschen zu vertiefen und in sein Leben umgestaltend einzu- 
greifen bezweckt. Euckens eigenstes geistiges Wesen spricht 
sich darin aus: ihn treibt es zur Betätigung, er will selbst nicht 
bei der kühlen ,, Bearbeitung der Begriffe" k la Herbart stehen 
bleiben; er ist eine geistige Kämpfernatur, kein Denker, der 
schon im Ausspinnen seiner Begriffe Befriedigung und Genuß 



I 



I 



ISO OTTO BRAUN 



findet. Er hat in sich die umwandelnde Kraft des Geistes erfah- 
ren, nun will er auch seinen Mitmenschen, zu denen er wahre 
Liebe empfoidet, den Weg des Heiles weisen; er will sie im In- 
nersten ergreifen und ihr Wesen befreien und zum Schaffen 
aufrufen. 

,,Warum sucht' ich den Weg so sehnsuphUvoll» 
Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?** 

Goethe, Zueignung (17S4) 

Dieses Wort unseres größten Dichters, zu dessen innerlicher 
Kenntnis Eucken so manches beigetragen (vgl. seine „Lebens- 
anschauungen großer Denker'' imd „Gesammelte Aufsätze'') 
gilt ihm von jeher als Richtschnur. Er hat sich von seinem 
Wege, um den er mit eindringender Arbeit gertmgen, nicht 
durch die anfängliche Gleichgültigkeit der Zeit abbringen lassen 
und hat immer wieder versucht, auf die Mitwelt zu wirken. 
Immer wieder wandte er sich an die „Brüder", unter denen er 
nicht die oft nur zu sehr in ihrer Kleinarbeit vergrabenen Fach- 
genossen verstand, sondern alle die, „die eine gemeinsame Not 
empfinden" (R. Wagner). 

Ihre Zahl ist ständig gewachsen und vornehmlich die Jugend 
hat sich dem energischen Schöpfer des Neuidealismus ange- 
schlossen. Schon vielen hat er den Weg gewiesen, sie zu inne- 
rer Freiheit geführt ! Und seine Werke vermögen das, weil sie 
nicht eine bloB „gelehrte" Philosophie enthalten, sondern weil 
sie „Lebensphilosophie" geben. Eucken hat Philosophie und 
Leben wieder in Zusammenhang gebracht, er hat in seiner 
Wissenschaft den Sinn für die großen Probleme wieder geweckt 
und den Mut, sie zu lösen, gestärkt, er hat der Philosophie 
wieder ihre alte, hohe Aufgabe gewiesen, den Menschen Welt- 
anschauung zu bieten. 

Wie schon gesagt: erst allmählich hat Eucken diese Stellung 
sich errungen, seine ersten Werke sind fast nur für Leser be- 
rechnet, die in der Philosophie zu Hause sind, während die neu- 
eren sich an weitere Kreise wenden und jedem intelligenten 
Leser verständlich sind. Sein methodologisches Werk, die„Pro- 
legomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens", 
ist eins der schwersten Werke der gesamten philosophischen 
Literatur, sein Gehalt ist auch noch keineswegs gewürdigt imd 
ausgeschöpft. In ihm und in der „Einheit des Geisteslebens" 
schafft sich Eucken auch seine eigene Terminologie, etwa fünf- 



I 



RUDOLF EUCKENS MONISMUS 151 

undzwanzig ihm eigentümliche Termini werden mit deutlicher 
Erklärung eingeführt. 

Davon ist in späteren Schriften direkt kaum etwas zu mer- 
ken, von Fremdworten findet sich fast nur der Begriff der „noo - 
logischen'' Methode. 

Die anderen Termini sind aber auch da, nur verdeutscht oder 
sonst deutlich genutcht. Diese Entwicklung ist eine organische: 
Hucken war sich bewuSt, etwas Neues zu bringeni um das sich 
selbst und anderen klar zu machen, war die Schöpfung einer 
eigenen Terminologie zunächst notwendig. 

Dann aber mußte und konnte Eucken das technische Gerüst 
immer mehr in den Hinterg^rund treten lassen, um sich weite- 
ren Kreisen verständlicher zu machen. Allerdings — wer seine 
Eigentümlichkeit voll erfassen und mehr als eine innere Anre- 
gung von ihm gewinnen will, der muB zu den „gelehrten'' 
Schriften vordringen und sich in sie hineinarbeiten. 

Euckens charakteristischer Begriff des Monismus erwächst 
aus seinem Kampf gegen Naturalismus und Intellektualismus. 
Der Naturalismus löst alle Einheit wesentlicher Art auf. Das 
mechanische System „läBt nirgends ein Ganzes und ein Wirken 
aus dem Ganzen zu, sondern kennt nur individuelle und ele- 
mentare Kräfte. Was sich an Einheit findet, ist Einheit der Zu- 
sammensetzung (unitas compositionis) und daher nicht Prinzip,, 
sondern Ergebnis ; eine Einheit haben die Dinge nicht an sich, 
sondern nur im Verhältnis zu anderen, indem sich die Wirkun- 
gen benachbarter Elemente summieren und so dem Fremden 
wie ein Ganzes entgegentreten. Wenn im Widerspruch damit 
das geschichtliche Leben andersartige und anspruchsvollere 
Gebilde aufweist, so müssen sie sich als Verirrungen diskursi- 
ven Tuns herausstellen, ihre Beseitigung aber eine Befreiung 
und Steigerung der ersten Kräfte verheißen" (Einheit des Gei- 
steslebens, S. 19). Anders liegt es beim Intellektualismus: hier 
soll die Wirklichkeit in einem Denkprozeß aufgehen und dabei 
muß alles Nebeneinander Glied eines einheitlichen, umfassen- 
den Geschehens werden. 

Der Intellektualismus übt hier eine berechtigte Kritik an dem 
Naturalismus und weist Tatsachen auf, die jenen widerlegen. 
Es ist vor allem die Tatsache einer inneren Gemeinschaft in 
der Arbeit innerhalb des menschlichen Kreises, die der absolu- 
ten Vereinzelung widerspricht. Es bilden sich aus sachlicher 
Notwendigkeit innerliche Zusammenhänge unter den Menschen, 



die nichts mit äußerer Wechselwirkung singulärer Elemente 
gemeinsam haben. Das Einswerden zweier Menschen in geisti- 
ger Liebe, das Großwerden unseres Wesens in solchem Bunde 
sind möglich und an manchen Stellen wirkhch. Solche geistige 
Einheit ist für alle Entwickelung des Geisteslebens, ja für das 
erste Aufkommen der Kultur unbedingt erforderlich. ,,Ohne sie 
könnte sich keine Mitteilung der Gedanken, keine Ausbildung 
einer gemeinsamen Begriffssprache finden, ohne sie nicht den 
sinnlichen Erfahrungen ein Reich ideeller Großen abgerungen 
werden. Hat sich aber die Geraeinschaft einer inneren Welt tat- 
sächlich bewährt, sind die Leistungen in eine zusammenhän- 
gende Welt eingetragen, so ist von Haus aus eine wesentliche 
Zusammengehörigkeit zu setzen; was im Ergebnis unanfecht- 
bar, ist auch im Prinzip anzuerkennen" (S. 97). Die Geschichte 
vornehmlich zeigt, wie das Einzelne vom Ganzen abhängt. Auch 
bei jedem Schaffen ist die Fühlung mit der Umgebung not- 
wendig. 

Aber auch beim Intellektualismus können wir uns nicht be- 
ruhigen; auch er gibt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit, 
Tatsachen des geistigen Lebens stehen auch ihm entgegen. 
,,Der Gegensatz von Einheit und Vielheit, von Allgemeinem 
und Besonderem soll . . . seine Erledigung finden, indem alle 
Mannigfaltigkeit des Alls als Entwickelung und Verzweigung 
des einen Denkprozesses erwiesen wird. Einem unendlichen 
Reichtum von Gestalten soll der freieste Spielraum bleiben, nur 
liegt jedes Einzelne innerhalb des Ganzen und empfängt seine 
Beschaffenheit aus der Lage des Ganzen, seine Bedeutung aus 
der Leistung für das Ganze". (S. 264.) 

Diesem extremen Intellektualismus (NoStismus) widerspricht 
schon der Schein einer Sonderexistenz, der mehr Selbständig- 
keit des Einzelnen bezeigt. ,, Weiter aber enthält jene Einfügung 
aller Mannigfaltigkeit in die Einheit des Prozesses eine Be- 
hauptung von der Beschaffenheit des Einzelnen, welche an der 
Erfahrung des Menschheitslebens notwendig scheitert. Die be- 
sondere Existenz dürfte^hier keinen Inhalt aufweisen, den sie 
nicht aus der Entwickelung des Ganzen empfangen hätte, keine 
Kraft, die nicht aus dem Ganzen flösse. Nun und nimmer 
könnte der Lebensprozeß von Einzelpunkten her aufgenommen 
werden. In diese Begrenzung geht aber der Reichtum des Da- 
seins tatsächlich nicht auf. Zunächst läßt sich schon die Po- 
sitivität des Nebeneinander und des Nacheinander in der sinn- 



4 



RUDOLF EUCKENS MONISMUS 153 

liehen Wirklichkeit unmöglich durch begriffliche Entwicke- 
lung ableiten. Weiter aber gewinnen auch die Einzelexistenzen 
einen eigentümlichen Inhalt, sie bieten eine unvergleichliche 
Synthese der Elemente, die einzeln für sich alle innerhalb 
des Umfangs des Allgemeinen liegen mögen, die aber im Gan- 
zen etwas Neues werden, eine S3mthese aus dem Ganzen und 
zum Ganzen, die sich nicht deduktiv, sondern immer nur in- 
tuitiv vergegenwärtigen läfit. Als selbständige Kraft aber be- 
kundet sich die Einzelexistenz sowohl in dem Widerstände 
gegen die Gesamtbewegimg, als in einer unentbehrlichen Er- 
gänzung der allgemeinen Strebungen''. (S. 265.) 

DaS wir eine Gegenwart erleben, ist ein weiteres Zeichen da- 
für, dafi die Verkettung der Glieder nicht alle Unmittelbarkeit 
der Existenz aufhebt. Wenn das Individuum nur ein Durch - 
gangspunkt der Gesamtbewegung wäre, so wäre ein Ich, ein 
Fürsichsein unmöglich. „Das Individuum zeigt sich aber selbst- 
ständig schon in der energischen Behauptung seiner Existenz 
bis zum Widerstände gegen alle allgemeinen Ordntmgen, selbst- 
ständiger noch in der Entwickelung zum Mikrokosmus, dem 
Streben, das ganze All, und zwar in eigentümlicherweise, mit- 
zuerleben, am selbständigsten aber als sittliche Persönlichkeit, 
sofern hier verschiedene Gesamtrichtungen im Einzelnen zu- 
sammentreffen und seine Entscheidung fordern. All dieses Le- 
ben der Sonderkreise mit seinen Aufgaben und Leistungen, 
seinen Freuden und Schmerzen ist ein unablässiger Protest ge- 
gen die Verwandlung des Daseins in einen einzigen Gesamt- 
prozeß''. (S. 266.) 

Den Fortschritt der Menschheit haben stets die großen Ein- 
zelnen, die starken Persönlichkeiten gebracht. „Das Größte 
einer solchen schaffenden Persönlichkeit liegt nicht in dem, 
was sie an Werken nach außen herausstellt, sondern in dem 
inneren Schaffen eines ausgeprägten Lebensganzen; vor allen 
anderen Werken steht als die entscheidende Tatsache 
das Werk des Persönlichseins selber.^ . . . 

Könnten mm die Persönlichkeiten eine solche Stellung in der 
Entwicklung einnehmen, wenn ihnen nicht eine Weltordnung 
entspräche, nicht hinter dem Denkprozeß ein All des Persön- 
lichseins aufstiege?" 

Hier deutet Eucken schon seine charakteristische Auffassung 
an. Nach zwei Seiten hin ist sie zunächst ausgebildet, ent- 

^ Von mir gesperrt! 



» 



sprechend der Kritik an den beiden Lebenssystemen (Syntag- 
men) : dem Naturalismus mit seiner Vereinzelung der Ele- 
mente gegenüber behauptet er eine innerliche Einheit im 
Grunde der Dinge, dem Intellektualismus gegenüber vertritt er 
das Vorhandensein eines Einheitspunlttes jenseits und über dem 
kosmischen Prozesse. Was hier mehr abstrakt -begrifflich ab- 
geleitet wird, das erscheint in seinen späteren Werken als For- 
derung des geistigen Lebens; eine Einheit muß uns mit den 
anderen Geisteswesen umschließen, wenn unser Schaffen Sinn 
haben soll, und der Kulturprozeß muß irgendwie zu uns zurück- 
biegen, wir müssen für uns einen Ertrag davon haben, nicht 
bloße Glieder des Prozesses, sondern überlegene Einheits punkte 
müssen wir sein, und nicht nur der Prozeß hat Realität, son- 
dern auch sein Ertrag muß eine konzentrierte Art der meta- 
physischen Existenz behalten. 

In den ,,Frolegomena" wirft Eucken die Frage nach dem 
Monismus des Geisteslebens so auf: ,,Gibt es einen einheitlichen 
Charakter des Geisteslebens und bezeugt sich dieser in fort- 
währenderTat?" Das Problem liegt also innerhalb des geistigen 
Seins, nicht handelt es sich um eine Vereinheitlichung natura- 
listischer Art von Geist und Materie — das ist ja unmittelbar 
klar. 

Charakterisiert vtrird die Frage durch den Zusatz: „Bezeugt 
sich dieser in fortwährender Tat." Dadurch grenzt Eucken sein 
Ziel von einem scheinbar verwandten ab: „Auch bloße Über- 
legung kann die Lebenserscheinungen zu irgendwelchem Zu- 
sammenhange verknüpfen. . . . Solcher Einigung durch bloße 
Reflexion setzen wir die Einigung durch die Tat entgegen, als 
das, worauf es uns ankommt. Was wir fragen, ist dieses, obder 
Fülle der Erscheinungen eine umfassende Einheit innewohne, 
ob vom Grund her ein Gesamtgeschehen ausgeprägter Art 
wirke, ob dasselbe alles Einzelne trage, treibe und einer Ge- 
meinsamkeit des Sinnes zuführe." (Prolegomena S. 2.) Diese 
natürliche Einigung nennt Eucken „Inbegriff". 

So grenzt sich Euckens Untersuchung scharf ab gegen eine 
bloße Reflexion; es handelt sich bei ihm nicht darum, der vor- 
handenen Wirklichkeit eine zweite nachträglich hinzuzuden- 
ken, die Welt soll nicht mit einem Gewebe abstrakter Begriffe 
umsponnen werden. Sondern als wirkend in der Welt soll ein 
einheitliches Geistesleben erwiesen werden, ein „Taterweis" 
soll geführt werden, d. h. es soll gezeigt v/erden, daß überall in 




RUDOLF EUCKENS MONISMUS 



I 




der Welt ein solcher Inbegriff am Werke ist. Es gilt, die Welt 
auf ihre wahre Tiefe zu führen. ,,Es käme also darauf an, etwas, 
das in uns steckt, zu voller Selbsttätigkeit zu erwecken und zu- 
gleich innerlich zu erhöhen, was zerstreut nach der gesuchten 
Richtung schon wirkt, zu gemeinsamer Leistung zu verbinden, 
in dem Alten und vermeintlich Selbstverständlichen Neues und 
vielleicht Überraschendes zu erkennen, damit die Wahrheit der 
Welt auch unsere Wahrheit werde und unserem Leben Kraft 
gebe." (Grundlinien einer neuen Lebensanschauung.) Wir kön- 
nennichtmehrwiefrühereZeiten an ein zweites, abgeschlossenes 
Basein, an eine andere, neben uns befindliche Welt uns halten, 
diese bequeme Zuflucht ist uns viel zu fremd und ungewiß ge- 
worden (Kampf um einen geistigen Lebensinhalt). Wir müssen, 
um unserm Leben Halt zu geben, eine innere Umwandlung des 
Weltbestandes erstreben. Daß ein geistiges „Selbstleben" in der 
Welt aufzukommen strebt, das zeigt Hucken an vielen Stellen 
seinerWerke in eingehender Kritik des Naturalismus, Intellek- 
tualismus usw. Diesem Aufstreben gilt es, mit bewußter Arbeit 
zu Hilfe zu kommen, „es gilt, die Zusammenhänge, welche 
vom Grunde her schon wirken, deutlicher herauszuarbeiten, 
sie als Gesamtmacht zur Anerkennung zu bringen." (Einheit 
des Geisteslebens.) 

Daß eine irgendwie geartete Einheit uns mit der Welt und 
den anderen Individuen verbindet, ist von vorneherein klar; 
sonst gäbe es ja keine Kultur, jedes geistige Schaffen wäre bei 
der absoluten Vereinzelung ein Unding. Nun gilt es aber, den 
näheren Charakter dieser Einheit festzustellen. 

Eucken erschließt diesen — seinem Prinzip gemäß — aus 
den Forderungen des Geisteslebens in der Menschheit, Das 
Wirken der Menschheit hat eine ungeheure Verzweigung er- 
reicht; wenn es nicht auseinanderfallen soll, so ist für eine dem 
Fluß überlegene Einheit zu sorgen, gegenüber aller zeitlichen 
Veränderung ein zeitloses Wirken zu suchen. Diese Bewegung 
muß aber auf ein Selbst hinlenken, „weil eine Vertiefung des 
Wirkens zur Geistigkeit, eine fortschreitende Vergeistigung des 
Daseins nicht möglich ist, ohne Wiederaufnehmen und Um- 
arbeiten der früheren Ergebnisse ; dazu aber muß das Tatwesen 
zu sich selber zurückkehren und in dem früheren Stande sein 
eigenes Werk, sich selbst wiederfinden können." (Einheit des 
Geisteslebens, S. 315.) Jedes Schaffen setzt die Überwindung 
des Gegensatzes von Funktion und Sache voraus, das Zwischen- 



ISO 



UN 



geschehen muB dabei zum Innengeschehen werden. „Ein Iitfl 
nengeschehen aber werden kann es nur, wenn ein Selbst das'* 
ganze Vorgehen umspannt und in dessen Entwicklung sein 
eigenes Ergehen erlebt." Der Intellektualismus hat recht mit 
der Forderung, daß sich das Leben dem rastlosen Fluß der Ent- 
wickelung hingeben soll; aber es darf sich nicht in ihm ver- 
lieren. Der Geistescharakter des Daseins läßt sich abernur fest- 
halten, wenn in allumspannender Zusammenfassung das zeit- 
liche Wirken in ein zeitloses, das fortschreitende in ein behar- 
rendes übergeht. Auf einem einheitlichen Urbestandemußdie 
Welt ruhen, und das wird mit der Wendung zum Selbst erfüllt. 

Auch unterscheidende Züge dieses Selbst werden hier schon 
ersichtlich. Es darf nicht in transzendenter Ferne über dem 
Leben thronen, es darf nicht bloß ein jenseitiger Träger des Ge- 
schehens sein, ,, nicht ein Plus, das zu einem gegebenen Be-J 
Stande hinzukäme, sondern eine innerhalb des Geschehens wir-J 
kende und seine Beschaffenheit herstellende Macht." 1 

So ist dieses Selbst Voraussetzung der Ausbildung einer 
Geisteswelt. Es ist aber ein großer Unterschied zwischen der 
Stufe, auf der das Selbst im Grunde der Dinge verborgen wirkt, 
und einer anderen, wo es sich in seiner Ganzheit entfaltet. 
,, Dennoch ist das Selbst in einem Sinne Voraussetzung, in dem 
anderen Vollendung des Strebens, dort als Selbstwesen, hier als 
Selbstleben, dort als Faktum, hier als Aufgabe. Ein unermeß- 
licher Weg liegt zwischen beiden Punkten, und in der Mitte 
steht der Mensch der geschichtlichen Lage." 

Diese Worte enthalten die Grundrichtungen von Euckens 
Monismus angedeutet, die gewiß manches mit anderen Fassun- 
gen gemeinsam haben. Man wird an die ,,drei Stufen in Gott" 
der alten Mystik erinnert : deus implicitus als das Urfaktum und 
der absolute Grund der Weltentwickelung, deus explicitus als 
das Ziel der Entwickelung, und dazwischen Gott als in der Welt 
wirkender und sich vollendender in der Endlichkeit. Auch die 
deutsche Spekulation, namentlich Schelling, hat diese Unter- 
schiede; von den Neueren wären in erster Linie Hartmann und 
Drews zu erwähnen. Eucken ist erfüllt von freudigem, vertieftem 
Optimismus. Über den Beginn des Weltprozesses äußert er sich 
bei seiner Vorsicht und Abneigung gegen den Intellektualismus 
nie oder sehr zurückhaltend. Ich glaube der Wahrheit am 
nächsten zu kommen, wenn ich diese ,,Urtat" etwa so be- 
zeichne; nicht aus einem grundlosen, und besser nicht ge- 



' schehenen Abfall ist die endliche Welt hervorgegangen, kein 
nutzloser Umweg ist die Individuation Gottes in derWelt; son- 
dern Gott selbst kann sich erst in der Endlichkeit und Indivi- 
dualität entfalten, er wird durch den Weltprozeß vollendet, 
nicht nur , .erlöst" im negativen Sinne. Wie sollte anders das 
Absolute die Fülle seiner Möglichkeiten realisieren, als durch 
sein Eingehen in die Endlichkeit? Der deusexplicitus wird zum 
Ideal, das zu realisieren unsere Lebensaufgabe ist. Wir sind 
zur Vollendung Gottes nötig, Gott braucht uns, um seinen Ge- 
halt erschöpfen zu können. So kommt die wahre geistige Welt 
vorwärts durch uns, unser Streben hat Sinn. 

Euckens Untersuchung des Selbst als Faktum und als Auf- 
gabe klingt auch an Fichte an, mit dem Eucken auch Manches 
gemeinsam hat: auch Fichte unterschied Gott als Ausgangs- 
punkt und Gott als Zielpunkt, Gott als die erste Ursache und 
Alles in Allem und Gott als Inbegriff der höchsten Werte {vgl. 
M. Raich, Fichte, Tübingen 1905, S. 166}. 

Unabweisliche Tatsachen des Lebens treiben uns also zur 
Anerkennung eines kosmischen, umspannenden Setbstlebens. 
Zwar ist damit erst eine allgemeine Form gefunden, deren In- 
halt sich erst — aus der Erfahrung der Geschichte — finden 
muß; aber dieses Selbst ist keine partikulare Existenz, sondern 
in dem Selbst des Geistes findet die ganze Wirklichkeit ihr 
Selbst. „In aller Verkettung der mechanischen Beziehungen, 
in aller Spannung und Bewegung des Reiches der Lebewesen, 
in der ungeheuren Aufregung des Kampfes ums Dasein findet 
sich sonst nichts, dem das Alles zugute käme, nichts, das die 
Unermefllichkeit zusammenfaßte, nichts, dasinder Aufbietung 
der Kräfte sich selber erlebte. Wir stehen vor dem Dilemma, 
daß entweder alles ins Leere verrinnt oder in dem Geiste die 
Wendung zu einem kosmischen Selbstleben eintritt" (Einheit 
des Geisteslebens, S. 319). 

So wäre denn jetzt in] allgemeinen Umrissen festgestellt, 
„daß nicht ein rastlos fortlaufendes, sondern nur ein in sich 
beruhendes und im Wirken fortwährend zu einem Einheits- 
punkte zurückkehrendes Geschehen die Wirklichkeit tragen 
kann, daß das Handeln nicht in freischwebenden einzelnen 
Akten verläuft, sondern daß es durch die Kraft eines seiner 
ganzen Ausbreitung innewohnenden Ganzen einen substantiel- 
len Charakter annehmen *muß, daß die schaffende Leistung 
nicht in den unmittelbaren Akten . . . vorliegt, sondern viel- 



258 OTTO BRAUN 



mehr transzendentaler Natur ist'' (a. a« O. S. 341). Wir müssen 
aber über diese ontologischen Bestimmungen hinaus zu einer 
neuen Wirklichkeit, zu neuen Aufgaben und Inhalten des Le- 
bens vorzudringen suchen, wir müssen sehen, ob das neue 
Prinzip des Selbstlebens einen eigenartigen Weltdurchblick aus 
sich herrortreibt. 

Der naturgemäße Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist 
es, daß wir im Gesichtskreise des Menschen nach einer Erschei- 
ntmg suchen, die das Prinzip des Selbstlebens irgendwie ver- 
körpert. Hier entdecken wir denn leicht jenen Einheitspunkt, 
jene Beherrschung des Vielen, die wir als „Persönlichkeit'' 
bezeichnen. Alles Problematische und Schwankende dieses Be- 
griffes kann uns nicht der Pflicht entheben, ihn in unsere Un- 
tersuchung einzuführen, denn er drängt sich uns direkt als 
Ausgangspunkt auf. 

Mannigfache Umwandlungen muß allerdings der landläufige 
Begriff erfahren, er muß abgetrennt werden von dem Zusam- 
menfließen mit dem Begriff der naturgegebenen Individual- 
existenz, er muß geschieden werden von dem bloßen Fürsich- 
sein. Vor allem muß das Personalsein als Weltwesen gefaßt 
werden. Die starre Einzelheit der Individualpunkte muß über- 
wunden werden, sonst erhalten wir unzusanunenhängende^ 
kleine Kreise, kommen aber nicht zu der großen Welt, wie es 
das Selbstleben in oben entwickelter Fassung fordert. Aus der 
Kritik des Naturalismus und Intellektualismus und aus dem 
dabei gewonnenen Einheitsbegriff ist das schon klar. Hier 
kommen wir der charakteristischen Fassung der Einheit schon 
näher. „Ein personales Lebenssystem kann es schlechterdings 
nur geben zusammen mit einem Ganzen personaler Wirklich- 
keit, einer personalen Welt. Diese aber läßt sich . . . nur ge- 
winnen, wenn eine kosmische Einheit die Wirklichkeit um- 
spannt, wenn alles Geschehen einen Einheitspunkt hat, wenn 
also ein universales Personalwesen^ die Grundlage der 
Entfaltung alles Personallebens bildet. Nicht die einzelnen 
Punkte können eine personale Welt zusammensetzen, sondern 
die Einzelexistenzen müssen von vornherein einem universalen 
Personalleben angehören, um das sein oder doch werden zu 
können, worauf das Streben ihrer Natur geht; erst aus einem 
universalen Personalleben werden die Partikularwesen über- 
haupt einen Personalcharakter gewinnen.'' (a. a. O. S. 355*) 



^ Von mir gesperrt! 



RUDOLF EUCKENS MONISMUS 159 

Als Anhaltspunkt für diesen Begriff eines universalen Per- 
sonalwesens finden sich im Reiche der Erfahrung mannigfache 
Tatsachen. So zunächst, daB der Einzelne seine Punktualität 
überwinden kann, indem er — wie ich oben schon ausführte — 
einen anderen Menschen innerlich in sich hineinzieht und mit 
ihm zu einer höheren Einheit verschmilzt.' 

Auch die Tatsache, daß von großen Persönlichkeiten der Fort- 
schritt in der Kulturentwickelung gebracht wird, darf zweifel- 
los als Zeugnis für eine begründende und umfassende Welt des 
Persönlichseins gelten. 

So fanden sich mannigfache Anknüpfungspunkte, die den 
Begriff eines universalen Personalwesens stützen. Den ersten, 
aller begrifflichen Überlegung vorausgehenden Grund hat das 
Postulat eines kosmischen Selbstlebens aber darin, daß Eucken 
sein eigenes geistiges Leben in so hohem Grade als „persönlich^' 
im besten Sinne empfindet. Für ihn gibt es gar kein Leben als 
unter der Form des „Persönlichseins'': und wir müssen ihm 
unbedingt zustimmen. Ein Monismus, der eine vage, im All 
verschwimmende Absolutheit als Wesen der Welt fordert, kann 
allenfalls eine verflachende Lebensanschauung der „ästheti- 
schen Kultur" erzeugen (z. B. Ellen Key), aber keinen tatkräf- 
tigen, dem vollen Leben zugewandten Idealismus begründen. 
Jedes Leben muß einen Einheitspunkt haben, muß ein Erleben 
sein, und das ist nur sub specie personalitiitis möglich. 

Die bisherigen Entwickelungen genügen für Eucken zur 
Grundlage seines „Lebenssystems der Personalwelt", er kann 
es jetzt unternehmen, aufzuweisen, daß das Selbst mit lebendi- 
ger Kraft für uns wirkt. Für die Frage des Monismus kommen 
hier nur einzelne Punkte in Betracht. 

Die allgemeine Entwickelung der Kultur weist auf ein be- 
gründendes Personalwesen schon insofern hin, als in der geisti- 
gen Arbeit durchgängig innerliche Zusammenhänge in der 
Wirklichkeit geschaffen werden. 

Sehr wichtig ist auch, daß die Kulturentfaltung nicht das 
Bild eines einheitlichen Stromes bietet, wie es der Intellektua- 
lismus behauptet. Es bilden sich innerhalb des Ganzen einzelne 
Konzentrationspunkte, die eigenartige Verkörperungen des 
Ganzen sind. „Von da aus erwächst nicht nur eine unermeß- 
liche Bereicherung, sondern geradezu eine Umwandlung des 

* Vgl. auch meinen Artikel „Monismus und Ethik'' in dieser Sammlung und 
„Egoismus und Wesenswelt'* in der „Philos. Wochenschrift". 



x6o OTTO BRAUN 



Lebensprozesses. An jedem einzelnen Punkte entspringt ein be- 
sonderer Lebensstrom, und diese mannigfachen Ströme laufen 
nicht gesondert nebeneinander her, sondern sie stehen inner- 
halb eines allgegenwärtigen Ganzen in lebendiger Wechselwir- 
kungy ja innerlicher Durchdringung. Alle einzelnen Bewegim- 
gen verbinden sich schließlich ohne Verzicht auf ihre Eigen- 
art zu einem unermeBlichen Gesamtleben. So entsteht eine 
Welt von Welten y eine Wirklichkeit von Wirklichkeiten'' 

(s. 36s). 

Hier könnte man bei Eucken Anklänge an Gedankengänge 
in Lotzes Metaphysik finden — doch haben solche Parallelen 
wenig Wert. Lotzes Ideen stehen auf rein erkenntnistheoreti- 
scher Basis, während Eucken um eine Substanz des Lebens 
ringt. 

Die eigenartige Gegenwart des Ganzen im Einzelnen ist nun 
das Charakteristikum des Persönlichseins; so wirkt die Tat- 
sache einer Einheitenbildung innerhalb des Stromes der Geistes- 
entwickelung mit aller Kraft zur Anerkennung einer Welt der 
Personalität. „Nur in ihr findet die Oberwindung des Gegen- 
satzes von isolierter Punktualität der Atome und bloß akziden- 
teller Zugehörigkeit aller Mannigfaltigkeit zu einem Tätigkeits- 
strome, wie die Geisteswelt sie tatsächlich zeigt, ihre prinzipielle 
Begründung . . .'' 

Mit allen entwickelten Bestinunungen sind wir inuner noch 
nicht zu einer inhaltlichen Abgrenzung der Personalwelt ge- 
langt. „Eine inhaltliche Wendung nun, die über alle bisherigen 
Ermittelungen hinausreicht, ergibt sich aus der Tatsache der 
Wertbildung in allem Geistesleben, ja in allem Leben'' (a. a. O. 

S. 372). 

Begriffe, die nur eine Beschaffenheit des Seins bezeichnen 
(ontologisch) und solche, die eine Beziehung auf das Interesse 
der Lebewesen ausdrücken (timologisch) scheiden sich vonein- 
ander; sie sind auch nicht auseinander abzuleiten. Die Werte 
stehen selbständig den bloßen Existenzen gegenüber, schweben 
dabei aber nicht als Schatten über dem Sein, sie sind nicht bloße 
nachträgliche Urteile, sondern sind der Ausdruck einer eigen- 
tümlichen Beschaffenheit des Realgeschehens, sie sind objektiv. 
„So hat überhaupt auf einer gewissen Stufe das Sein oder we- 
nigstens ein Teil des Seins von Haus aus einen Wert. Nur unter 
solcher Voraussetzung wird begreiflich, daß die Werte bewe- 
gende Mächte werden und so tief in den Lebensprozeß eingrei- 



fen können, wie sie es in Wahrheit tun." So scheidet sich ein 
qualitätsloses von einem qualifizierten Sein. „Wie viel Dunkel- 
heiten dieses qualifizierte Sein, das den Lebewesen eigentüm- 
lich, enthalten mag : daß es ein Erleben der Mannigfaltigkeit 
von einem Einheitspunkte bekundet, und daß die Einheit hier 
nicht bloß einen formalen Beziehungspunkt, sondern die Kon- 
zentration eines Selbstlebens bedeutet, ist augenscheinlich. 
Nicht die Einheit an sich, sondern nur die Einheit eines Selbst- 
lebens vermag den Vorgängen einen Wert zu geben." 

,,Wert" heißt immer ,|für jemand wert" — so möchte ich er- 
klärend hinzufügen; es gibt keinen Wert ohne jemand, für den 
er Wert ist. Absolute Werte müssen also Werte für das Abso- 
lute sein, ein universales Personalwesen muß die Werte des Gu- 
ten, Schönen und Wahren erzeugen, da sie nicht aus dem In- 
dividuum stammen. 

Diese Werte werden für uns oberste Werte und Ideale, indem 
wir mit dem iimersten Kern unseres Wesens teilhaben an der 
Personal weit. 

Mit diesen Bestimmungen findet die ganze moderne ,, Wert- 
lehre" erst ihre Fundierung. In Windelbands Weltauffassung 
z.B. schweben die Normen in vager Schattenhaftigkeit in der 
Luft, man weiß nicht, woher sie stammen und woher sie den 
Zwang nehmen, mit dem sie in unser Bewußtsein eintreten; 
das ist der Mangel seiner sonst so wertvollen Untersuchung 
„Normen und Naturgesetze" (in ,, Präludien"). 

So ist in den Werten und Normen eine inhaltliche Bestim- 
mung der Personalwelt gefunden. Alle Werte bekunden den 
wesentlichen Zusammenhang eines Lebenskreises, ja die Ein- 
heit eines Selbstlebens. 

„Gibt es also ein Reich spezifisch geistiger Werte, so ist da- 
mit eine Konzentration des geistigen Seins, ein Selbstleben gei- 
stiger Art dargetan. Ohne ein solches kein Schätzen und Messen, 
kein Abstufen und Einordnen auf mentalem Gebiete. Daß jenes 
Selbstleben seinen Mittelpunkt nicht im Individuum findet, ist 
augenscheinlich; also wird er jenseits der erfahrungsmäßigen 
Größen in einer intelligiblen Welt zu suchen sein, er wird nir- 
gends anders als im Ganzen des Geisteslebens selbst liegen kön- 
nen" (375). 

Um aber anzudeuten, daß der Begriff des Wertes nichts Sub- 
jektives ausdrückt, sondern in der Sache begründet ist, muß er 
durch den des Gutes ergänzt werden ; und endlich müssen sich 



i62 OTTO BRAUN 



Wert und Gut als Seiten eines umfassenden Gutes^ eines We- 
sensgutes erkennen. 

Hier ergibt sich eine weitere Bestimmung, die Euckens Mo- 
nismus charakterisiert. Eucken gibt näher an, wie er sich die 
Einordnung der Werte in der Personalwelt denkt, er läßt nicht 
wie Plato etwa die Ordnung der Ideen im Unklaren. 

Vor aller Verzweigung muß ein zusammenhaltendes Gut 
stehen : „die Idee einer Erhebung des Selbstwesens zur Wesens- 
tat, d. h. einem universalen Lebenswerte, das Selbstleben als 
Volltat im Gegensatz zu aller bloßen Kraftentwickelung. So 
lassen sich nicht an erster Stelle verschiedene Güter wie die des 
Sittlich-guten, Wahren, Schönen aufzählen und aus ihnen ein 
Reich der Werte zusammensetzen, sondern sie alle bedeuten 
nur einzelne Seiten jenes einen überlegenen Gutes, das auch in 
ihre Summe keineswegs aufgeht; dieses Wesens- und Lebens- 
gut muß an jeder Stelle zugegen sein, um den besonderen Gü- 
tern einen präzisen Inhalt und eine bewegende Kraft zu geben. 
Daß demnach das Geistesleben erstwesentlich an sich selbst, als 
Realisierung der Gesamtvemunft, ein Gut ist, nicht wegen mo- 
ralischer oder intellektueller Leistungen, daß die Ideen des Gu- 
ten und des Wahren eine Macht werden, weil sie jenes Ganze 
hinter sich haben, nicht in ihrer Absonderung, das bildet eine 
bestimmte Abgrenzung gegen den landläufigen Idealismus, der 
den Zusammenhang mit der Lebenseinheit vernachlässigt' ' 

(S. 434). 

„Die gemeinsame Unterordnung aller besonderen Güter im- 
ter ein Wesensgut verhindert aber keineswegs ein Vorantreten 
des einen vor dem andern; im besonderen sind es die Ideen des 
Wahren und des Sittlich-guten, welche nunmehr eine ausge- 
zeichnete Stellung erhalten.^' Die Idee der Wahrhaftigkeit er- 
weitert sich über das intellektuelle Gebiet, Wahrheit, Einigimg 
von Wirken und Wesen wird zur allumfassenden Aufgabe. Und 
da nur durch Freiheit das Sein zum Wesen erhoben wird, so 
läßt sich auch das Gebiet der ethischen Aufgabe nicht irgendwie 
einschränken. 

Überall ist ethische Entscheidung notwendig, muß das Wesen 
in das Wollen aufgenommen werden. 

Die ethische Tat ist für das Fortbestehen aller geistigen Rea- 
lität unerläßlich. 

„Die Moralität existiert in und mit dem Ganzen der geistigen 
Wirklichkeit, nicht als ein partikularer Zweck neben anderem.'^ 




■«3 
' Auffallend und bezeichnend ist das Zurücktreten des Schö- 
"lien: Eucken ist ein durchaus ethischer Geist, und sieht in der 
Bevorzugung des Schönen und der Kunst in unserer Zeit mit 
Recht eine große Gefahr. 

Eucltens Weltbild ist ein ethisches, die ethische Betätigung 
ist die eigentlich wesenhafte und begründende, Ethik ist aber 
Sache des persönlichen Lebens, und so ,,kann nur das Ganze 
einer personalen Lebensführung, eines personalen Lebenswer- 
kes Vorbild und Triebkraft des Handelns sein ; in diesem Gan- 
zen müssen einmal die Wurzeln der menschlichen Existenz lie- 
gen, sonst könnte es nie angeeignet werden, andrerseits muB es 
sich in überlegener Hoheit gegen die menschliche Lage befin- 
den, sonst würde es nicht in der Form eines Gesetzes zu uns 
wirken. — Die Verfolgung dieses Gedankens führt notwendig 
auf die Idee einer Universalpersönlichkeit, durch welche die 
individuelle Existenz sich allererst zu einer Teilnahme an der 
personalen Welt erhebt und damit zugleich eine Teilpersönlich- 
keit wird. Die Entwickelung dieses personalen Lebens, die Hin- 
einstellung des Daseins in die Zusammenhänge des Ganzen und 
die Umwandlung des vorgefundenen Wesens von da aus erweist 
sich als der Kern aller Ethik" (S. sSof.). 

Wir haben die metaphysischen Bestimmungen, die Euckens 
Monismus auszeichnen, kennen gelernt. Wir sahen, wie die 
Untersuchung von dem Begriff einer unbestimmten Einheit, 
die gegenüber dem Naturalismus behauptet wird, zu einem Ein- 
heitspunkte fortschreitet, dann zum ,, Selbstleben" gelangt und 
endlich in der Forderung einer „Personalwelt" gipfelt. Diese 
Charakteristik der geforderten Einheit des Geisteslebens, des 
Inbegriffs, ist für Eucken ebenso bezeichnend wie seine Me- 
thode. 

Wir haben keine begriffliche Spekulation vor uns: Eucken 
geht vom Geistesleben, vom allgemeinen Lebensprozeß aus 
und gewinnt die Formulierung seines Monismus als Forderung 
eines solchen Geisteslebens. Diesen Ausgangspunkt hat Eucken 
mit Fichte gemein und erkennt das ausdrücklich an: ,, Nicht 
weit können wir mit dem gewaltigen Stürmer gehen ; um so ent- 
schiedener müssen wir aussprechen, daß sein Ausgangspunkt, 
sein Grundgedanke eines ursprünglichen und weltschaffenden 
Lebensprozesses im Menschen, auch uns als das Fundament 
nicht nur aller ausgeprägten Philosophie, sondern aller künfti- 
gen Vernunftarbeit gilt''(Kampf um einen geistigen Lebensin- 



x64 OTTO BRAUN 



halt, II. Aufl., S. 29). Nicht vom Ich geht Eucken aus, sondern 
von der viel ursprünglicheren Tatsache des überindividuellen 
Geisteslebens in uns. 

Der Fortgang seiner Untersuchung charakterisiert seine Me- 
thode näher. Seine Begriffe gewinnt er nicht aus abstrakter 
Deduktion, er zieht überall die — allerdings vergeistigte und 
auf ihren Kern geführte Erfahrung heran, um seinen Begriffen 
Halt zu geben, die zunächst rein hypothetisch aufgenommen 
werden. Gewiß handelt es sich auch hier um „Begriffe'S ^^^ ^ 
jedem Denken; aber diese Begriffe wachsen heraus aus der 
Wirklichkeit, sie werden an tatsächliche Daten der Er- 
fahrung angeknüpft und müssen ihre Richtigkeit erst da- 
durch erweisen, daß sie Andeutungen der Erfahrung auf 
ihr wahres Wesen bringen und zusammenfassen. Es ist 
eben jene verinnerlichende Methode, die Eucken so glücklich 
„noologisch" nennt. 

In unseren bisherigen Erörterungen war von der Stellung des 
Menschen zu der gefundenen Personalwelt noch wenig die Rede. 
Die Art, wie Eucken dieses Verhältnis faßt, soll uns ein letztes 
Charakteristikum seines Monismus liefern. 

Ober das Verhältnis der untermenschlichen Natur zum Gei- 
stesleben hat sich Eucken nur flüchtig geäußert. 

Die Natur faßt er als werdenden Geist auf, in ihr muß schon 
von Anfang an das Geistige angelegt sein, um im Menschen 
seine volle Ausprägung zu finden. „Mag in unserer Erfahrung 
das Geistige sich als die späte Frucht einer langwierigen Welt- 
bewegung ausnehmen: schon von der Wurzel her muß ein 
Trieb dahin wirken, wenn sich in jener Frucht das Ganze voll- 
enden soll'' (Kampf 109). „Vorstufe des Geistes" nennt er die 
Natur. „Als solche muß sie eine gewisse Vernimft enthalten und 
eine höhere vorbereiten" (a. a. O. S. 179). 

Wenn wir in unserm Denken den Standpunkt der bloßen 
Reflexion überschreiten, so kommen wir zu Weiterbildungen 
der Sache selbst. „Dies schöpferische Denken in uns, das zu- 
gleich unser eigenes Denken ist, bildet ein Zeugnis für ein Sich- 
begegnen unseres Denkens mit einem aus den Dingen und aus 
dem Ganzen wirkenden Denken; die Unvorstellbarkeit eines 
solchen Denkens sollte nie zur Leugnung einer kosmischen 
Logik verleiten, mit der alle wissenschaftliche Forschung steht 
und fällt. Die Aufdeckung eines solchen Zusammenhanges aber 
gibt unserem Denken inmitten aller Zweifel einen festen Grund, 



eine freudige Gewißheit, eine unermeßliche Aufgabe." (Grund- 
linien, S. i88.) 

Diesen vereinzelten Andeutungen stehen die breiten Aus- 
führungen gegenüber, die Eucben von dem Problem der Stel- 
lung des Menschen zum Geistesleben gegeben hat. Ja — wie ich 
schon oben andeutete — diesjsteigentlichder Kern seinerganzen 
Arbeit geworden, um diesen Punkt dreht sich sein Denken. Das 
menschliche Leben ist ja der Gegenstand seines Sinnens, für 
dieses Leben ist aber das Verhältnis zum Geistigen ausschlag- 
gebend. So gilt es vor allem, dieses Verhältnis zu klären. Die 
abstrakte Spekulation tritt bei Eucken immer mehr in den Hin- 
tergrund, er empfindet geradezu eine Abneigung gegen seine 
ersten tiefsinnigen Arbeiten, weil sie ihm zu intellekt-jalistisch 
sind. Er wird nicht müde, den Unterschied seiner Metaphysik 
der früheren gegenüber zu betonen. Der Zug unserer Zeit geht 
ja gegen eine Metaphysik. ,,Er widerspricht mit Recht, sofern 
er sich die Metaphysik nach der Art vergangener Zeiten vor- 
stellt, als eine bloße Begriffsspekulation eines freischwebenden 
Denkens über die vorgefundene Welt, er widerspricht ihr mit 
Unrecht, wenn er mit der Erschütterung jener älteren Art alle 
und jede Metaphysik beseitigt glaubt. Denn es kann auch eine 
Metaphysik nicht aus dem bloßen Denken, sondern aus dem 
ganzen Leben hervorgehen; sie besagt dann dieses, daß im Le- 
ben selbst eine Verlegung des Schwerpunktes und damit eine 
Umwälzung des bisherigen Standes zu erfolgen hat, daß eine 
in ihm wirksame Tatsächlichkeit aus der bisherigen Zurück- 
stellung herausgehoben und damit zu voller Wirkung gebracht 
wird. Es wird also nicht zu einer vorhandenen Wirklichkeit 
etwas nur hinzugedacht oder sie in ein Gewebe von Begriffen 
umgedacht, sondern es wird die Wirklichkeit bei sich selbst zu 
ergreifen und in ihrer vollen Tiefe für uns zu beleben gesucht. 
Alle Wandlung des Denkens ruht dann auf eine Wandlung des 
Lebens." (Grundlinien, S. 115.) Auf das Leben kommt es an, 
nicht auf die Begriffel Der Schwerpunkt des Lebens muß in das 
Geistige verlegt werden. Durch bloße Begriffsspekulation wird 
die Wirklichkeit nicht verändert. Wirkt dagegen das Denken 
zu einer Vergeistigung unseres Wesens, so wird an unserer 
Stelle die Wirklichkeit nach dem Geistesleben hin verschoben, 
dann wird ein Stück Natur für den Geist gewonnen. Auf eine 
Vertiefung derWirklichkeit ist es abgesehen, nicht auf begriff- 
liche Formulierung der Wirklichkeit. 



x66 OTTO BRAUN 



Das ist Euckens Ziel in seinen letzten Werken, besonders in 
den mehrfach schon zitierten „Grundlinien einer neuen Lebens- 
anschauung'^ Um ein klares Bild davon zu erhalten, wie 
Eucken heute zu seinem Monismus kommt, wollen wir den 
Ausführungen dieses Werkes näher folgen. 

Euckens ganze Arbeit ist dadurch zur Notwendigkeit gewor- 
den, daß dem Leben selbst die ihm bisher gewiesenen Maße zu 
eng geworden sind. Verschiedene Lebensordnungen wirken in 
unsere Zeit hinein, ältere und neuere; so die Lebensordnung 
der Religion, des kosmischen Idealismus, des Naturalismus, 
Sozialismus und des künstlerischen Subjektivismus. Alle diese 
Versuche, das Leben zu fassen, genügen heute nicht, so weist 
Eucken in eingehender Kritik nach, sie erweisen sich als un- 
zulänglich, „indem sie in eben den Stand der Unsicherheit 
zurückführen, den es zu überwinden gilt. Ihre Verneinung aber 
trägt in sich ein gewisses Ja, das der Untersuchung ihre Haupt- 
richtung einigermaßen vorzeichnet. Kein äußerlicher Kompro- 
miß, sondern ein Gewinnen eines überlegenen Standortes, der 
jedem sein Recht ohne Schwäche zu geben gestattet; keine 
Flucht in die Geschichte, sondern ein Wirken aus der Gegen- 
wart, aber aus einer Gegenwart nicht des bloßen Augenblicks, 
sondern der weltgeschichtlichen Arbeit; kein Voranstellen 
eines einzelnen Punktes oder Gebietes, sondern ein Kampf um 
ein neues Ganzes; keine Wendung zur Persönlichkeit, bevor 
nicht dieser vom All her eine sichere Grundlage gegeben istl 
Wir müssen . . . nach einer neuen Lebensordnung streben • . •'' 
(S. 79). „Der Grundbestand der Wahrheit selbst, aller Sinn 
unseres Daseins zeigte sich als ins Ungewisse geraten. Das Ge- 
dankengefüge, von dem aus wir bis dahin die Wirklichkeit 
sahen und die zuströmende Flut der Erscheinungen lenkten, 
hat sich gelockert und aufgelöst; so sind wir wehrlos geworden 
gegenüber den Eindrücken der Umgebung, die uns mit wach- 
sender Stärke packen und bald hier bald dorthin werfen. In 
solcher Auflösung ist uns nicht bloß dieses oder jenes am 
menschlichen Sein, sondern es ist uns das Ganze des Seins pro- 
blematisch geworden'^ (S. 82). 

Aus der Not des Lebens heraus erwächst also für Eucken 
seine Aufgabe; nicht ein Widerspruch in Begriffen ist es, den er 
aufzuheben unternimmt, sondern er will für das Leben etwas 
leisten. Euckens innerstes Wesen zeigt sich uns in diesem Be- 
streben, wie wir schon oben ausführten. 



Entsprechend seiner Methode und seinem Ziele, Erweckiuig 
und Aufrufung von Leben zu gewinnen, sucht Eucken nun in 
dem Umkreis des menschlichen Lebens selbst die Anknüpfun- 
gen für seine geplante Vertiefung. Es handelt sich nach der 
ganzen Lage unserer Zeit zunächst darum, ein Hinauswachsen 
des Menschen über die Natur festzustellen. Denn die größten 
Schwächungen erfährt heute das Leben von selten des Natu- 
rahsmus, der das ganze Wesen des Menschen als bloßes Stück 
der Natur betrachtet. Diesem gegenüber unternimmt es nun 
Eucken, nachzuweisen, daß der Mensch in vielen Punkten 
seiner Lebensbetätigung eine andere Form des Seins aufweist, 
als es die der Natur ist. 

Am unmittelbarsten zeigt sich die Lösung von der Natur in 
unserm Welterkennen darin, da3 wir uns überhaupt mit Be- 
wußtsein von der Welt lösen und sie von unserm Punkte aus 
überschauen. ,,Eine eigentümliche Leistung des Menschen kann 
auch der eifrigste Vorkämpfer der bloßen Natur nicht leugnen: 
wir gehören nicht nur zur Natur, wir wissen auch, daß wir es 
tun, und dies Wissen schon genügt, um aus uns etwas anderes 
zu machen als bloße Natur. Denn im Wissen und sei es zu- 
nächst auch noch so gering genommen, noch so sehr mit der 
Abbildung äußerer Vorgänge beschäftigt, liegt eine andere Art 
des Lebens, als die Stufe der Natur sie in dem Nebeneinander 
und Nacheinander zeigt. Denn zum Wissen gehört, daß wir die 
einzelnen Punkte gegenwärtig halten und zu einer Kette ver- 
binden; wie aber könnten wir das, ohne aus dem bloßen Nach- 
einander irgend herauszutreten und es von einem überlegenen 
Punkte zu überblicken ? Damit wir vom Früheren zum Späteren 
vorauseilen, vom Späteren zum Früheren zurückblicken, damit 
wir Mannigfaches zusammenhalten können, muß irgendwelche 
Einheit in uns walten, und eine derartige Einheit liefert der 
bloße Mechanismus der Natur nun und nimmer. So erfolgt im 
Denken schon eine Überschreitung der Natur, auch wenn es 
die Natur nur abbildet, sie unserem Bewußtsein nur dar- 
stellt." 

Werm wir das Denken näher betrachten, so zeigt es sich in 
allen seinen charakteristischen Merkmalen von der Natur gänz- 
lich geschieden. So löst es sich z. B. von der Zeit ab. „Das 
Denken treibt nicht dahin mit der Zeit; so gewiß es Wahrheit 
will, so gewiß muß es sich über jene hinausheben und eine zeit- 
lose Betrachtung ausbilden, zur Wahrheit gehört ein zeitloses 



x68 OTTO BRAUN 



Gelten, eine Erfassung der Dinge „unter der Form der Ewig» 
keit"." 

So erhebt sich das Denken über das Nacheinander und so 
löst es sich auch vom Nebeneinander. „Das menschliche Zu- 
sammensein bildet nicht bloß ein Nebeneinander von Einzel- 
punkten mit mannigfachster Verschlingung, sondern in Familie, 
Staat, Gesamtheit der Menschheit erwachsen innere Zusam- 
menhänge, Lebenskreise mit eigentümlichen Inhalten und Gü- 
tern; wie diese die Werke der Individuen wesentlich über- 
schreiten, andere Gefühle und Bestrebungen auslösen, so kön- 
nen ihre Forderungen denen der individuellen Selbsterhaltung 
direkt widersprechen/' 

Das Streben nach bloßer Selbsterhaltung ist überhaupt im 
menschlichen Kreise oft zurückgedrängt. „Wieviel echte Liebe 
und echtes Mitleiden die Erfahrung der Menschheit aufweist, 
das ist eine Frage für sich ; schon als bloße Möglichkeiten un- 
seres Wesens, als Gedankendinge, die uns beschäftigen, als 
Aufgaben und Probleme bekunden sie ein Hinauswachsen un- 
seres Lebens über die bloße Natur." 

Sehr charakteristisch für Eucken ist ein weiterer Punkt, an 
dem er ein übernatürliches Wesen des Menschen aufweist : es 
ist das innere Verhältnis, das der Mensch zu seiner Arbeit — 
sei sie, welcher Art nur immer — gewinnen kann. Eine Arbeit 
wird vielleicht erst nur aus äußeren Gründen übernommen. 
Dann aber nimmt sie uns ganz in Anspruch, sie fordert unser 
Interesse, wir haben unsere Freude an ihr und suchen alles zu 
erfüllen, was sich als Notwendigkeit für sie ergibt. 

„Was uns zu Beginn ein bloßes Mittel war und vielleicht 
recht widerwillig betrieben wurde, das beginnt mehr und mehr 
seiner selbst wegen anzuziehen und festzuhalten, das wird zu 
einem Selbstzweck und vermag uns so einzunehmen, daß es 
den Gedanken des Nutzens völlig zurückdrängt. Die Arbeit 
kann uns so lieb und wert werden, daß wir ihrem Gelingen 
Opfer bringen, sie in direktem Gegensatz zu unserem eigenen 
Vorteil fortführen können." Aus eigenstem Erleben fließen 
diese Worte; denn Euckens ganzes Leben ist Arbeit, rastlose 
Arbeit im Dienste dessen, was er als wahr und gut erkannt hat* 
Und bei dieser Arbeit hat er das edelste Lebensglück gefunden. 

Eucken weist auch darauf hin, daß die Menschheit im Lauf 
der Geschichte die Welt immer mehr in Gedankengrößen um- 
gestaltet. „Liegt nicht eine solche Umsetzung in Gedanken- 



RUDOLF EUCKENS MONISMUS 169 

großen vor, wenn wir in uns selbst vornehmlich nicht das sinn* 
liehe Naturwesen, sondern eine Persönlichkeit oder Individua» 
lität sehen, wenn wir im Zusanunensein die Staatsidee bilden 
und uns als Bürger des Staates fühlen, wenn wir die verwand- 
ten Wesen um uns vom Begriff der Menschheit aus sehen und 
schätzen? Es geht aber durch die ganze Geschichte der Mensch- 
heit eine starke Bewegung nach dieser Richtung, das Sinnliche 
verschwindet nicht, aber es wird mehr und mehr auf etwas Ge- 
dankliches aufgetragen und gestaltet sich zur Erscheinung einer 
Gedankengröfie, mehr und mehr wird die Credankenarbeit der 
Standort, von dem wir das Leben führen. So eine fortschreitende 
Vergeistigung der Religion, der Moral, des Rechts, des ganzen 
Kulturlebens. Oberall erfolgt eine Zurückverlegung des Lebens, 
ein Inneres gewinnt eine Selbständigkeit gegenüber der Umge- 
bung und übt an ihr eine umwandelnde Macht.'' 

Die Gewalt, die das Denken über uns hat, ist auch grundver- 
schieden von physischem Zwange. Liegen in unserer Gedan- 
kenwelt oder in unserem Leben Widersprüche, so können wir 
sie, wenn wir sie einmal erkannt haben, nicht einfach auf sich 
beruhen lassen, sondern müssen irgendwie eine Lösung herbei- 
führen. 

„Diese Bewegungen zeigen das menschliche Leben in eigen- 
tümlichem Bilde. Es steigt in ihm etwas auf, das unbekümmert 
um das Wohl und Wehe des Menschen mit absoluter Forderung 
seinen eigenen Weg verfolgt, das mehr als irgend etwas anderes 
alles ruhige Behagen stört und zerstört. Wie schwer hat 
Deutschland die religiöse Bewegung der Reformation durch 
eine politische, nationale, wirtschaftliche Zurückwerf ung büBen 
müssen 1 Ja alle Bewegimgen idealer Art, die soziale der Ge- 
genwart einbegriffen, müssen vom bloB natürlichen Wohlsein 
aus lästige und verderbliche Störungen scheinen. Als mehr 
gelten können sie uns nur, wenn wir anerkennen, daB das Le- 
ben nicht in die Beziehung nach auBen und das Streben nicht 
in die Herstellung eines Gleichgewichts mit der Umgebung 
aufgeht, sondern daB eine innere Aufgabe aus ihm selbst her- 
vorwächst und dem Dasein des Menschen allererst einen Wert 
und eine Würde verleiht.'' 

An all den angeführten Punkten zeigt sich im Menschenleben 
das Geistige wirksam, das Leben wird dadurch zunächst zwie- 
spältig, wir kommen zu einem schroffen Dualismus. Denn im 
Wesen des Menschen selbst scheiden sich dabei zwei Stuf en» eine 



naturhafte und eine geistige, alles vereinigt sich zu dem Ergeb- 
nis, daß in unserer Seele eine neue Art des Lebens gegenüber 
der bloßen Natur aufsteigt. So scheint das Leben in Schröter 
Spaltung zu verlaufen: als das Wertvollste im Menschen 
schätzen wir das Geistige, und doch ist dieses zunächst nur in 
keimhaften Anfängen beimMenschenzugewrahren. Das Geistes- 
leben soll vom Menschen aus als neue Welt erschlossen wer- 
den: ,,wie kann eine neue Welt aufbauen, was vor allem ein 
Stück einer gegebenen Welt ist?" Wie kommen wir aus diesem 
Dualismus zu einem Monismus des Lebens zurück ? 

Das ist nur so möglich, daß wir nicht beim ersten Weltan- 
blick stehen bleiben, sondern zu der schon oben charakterisier- 
ten Metaphysik des Lebens fortschreiten: hinter den Ansätzen 
des Geistigen muß mehr stecken, wenn sie nicht als sinnloses 
Beiwerk erscheinen sollen, wir müssen sie auffassen als Hinein- 
wirken einer ganzen, neuen Welt des Geisteslebens, die in den 
Menschen hineinragt und den innersten Kern seines Wesens 
ausmacht. Soll das Geistige Bedeutung und Sinn haben, ja die 
höchste Äußerung des Menschenwesens sein, so darf es nicht 
die vereinzelte Erscheinung bleiben, als die es sich auf den 
ersten Blick darstellt, sondern es muß unabhängig vom Men- 
schen eine wahrhafte Form des Seins haben, es muß sich zu 
einem einheitlichenGesamtleben zusammenschließen. Wirtref- 
fen hier wieder auf die ,, Personal weit", die wir schon kennen, J 
Eucken kommt auf sie aber hier vom Leben aus, weniger vonl 
den Begriffen, wie in der ,, Einheit des Geisteslebens". ^ 

Um aus der Spaltung heraus zu einem Monismus kom- 
men zu können, müssen verschiedene Postulate erfüllt sein. 
Das Geistesleben darf nicht in jenseitiger Hoheit von uns ge- 
trennt bleiben, sondern muß in uns voll gegenwärtig sein. 
Kommen wir dann zur Erkenntnis dieser Gegenwart des Höhe- 
ren in uns, so wird die Schattenhaftigkeit und Unerträ glich keit 
des gewöhnlichen Lebens uns voll zur Empfindung kommen. 
„Erst die Eröffnung eines bei sich selbst befindlichen und sich 
selbst zu einer Wirklichkeit entfaltenden Lebens kann darin 
Wandel schalen und vom Schein und Schatten des Lebens zu 
wahrhaftigem Leben führen." Dazu ist aber die Anerkennung 
einer Freiheit in bestimmtem Sinne notwendig: das Wesen des 
Menschen muß wandlungsfähig sein, wenn er das geistige Prin- 
zip in sich wirksam machen und durchbilden solll Das Wesen 
des Menschen darf nicht starr imd unveränderlich sein, sonst 



ist eine „Wesensbildung", diese erste Aufgabe des Menschen, 
unmöglich. 

So kommen wir allmählich zu dem Charakteristikum von 
Euckens Monismus, das wir noch suchen. Das Wesen des Men- 
schen ist nicht fertig — sondern es ist eine Aufgabe, ein Ideal. 
So müssen denn auch Begriffe wie Persönlichkeit z. B. einen 
Wandel dadurch erfahren, daß wir uns immer gegenwärtig 
halten: wir sind nicht Persönlichkeiten, sondern können es nur 
durch unablässiges Suchen werden. 

„Wie große Erregung und Spannung dabei entstehen kann, 
das zeigt die innere Geschichte aller schaffenden Geister, sie 
zeigt sie schon dann, wenn die Hauptrichtung leicht gefunden 
wurde und nur die nähere Gestaltung zu suchen war, sie zeigt 
sie noch mehr, wenn jene Richtung selbst in Frage stand. Wie 
mühsam war es oft, auf den Punkt der Stärke zu kommen, und 
damit von tastender Reflexion zu sicherem Schaden zu gelan- 
gen, den ganzen Umfang der Kräfte zu gemeinsamer Leistung 
zusammenzuschließen, den überkommenen Stand des Geistes- 
lebens wesentlich zu erhöhen. So war auch den vom Schicksal 
verschwenderisch ausgestatteten Naturen, wie z. B. einem 
Goethe, das Leben keineswegs eine fertige Gabe und ein beque- 
mer Genuß, aber in dem Kampf um sich selbst gewann es eine 
volle Selbständigkeit und trotzige Überlegenheit gegen alles 
Äußere." 

Ist aber das menschliche Wesen noch nicht von vornherein 
fertig, so ist auch die Wirklichkeit noch nicht vollendet! Der 
Mensch ist nicht als geschlossenes Einzelwesen in eine ge< 
schlossene Welt gestellt. Dann hätte sein Leben keinen Sinn, es 
würde eben in den mit mechanischem Zwange vorgeschriebenen 
Bahnen ablaufen. Seine geistige Tätigkeit müßte sich darin er- 
schöpfen, die Welt ■ — wie sie nun einmal ist — kontemplativ 
abzubilden, sich also rein als Zuschauer zu ihr zu verhalten. 
So kämen wir zu einer ästhetischen Welt- und Lebensanschau- 
ung, wie sie am reinsten Schelling vertritt.^ Dadurch wird aber 
das Leben mattl Der Mensch muß am innersten Bestände der 
Welt mitschaffen können, die Welt darf nicht schon ohne sein 
Zutun fertig sein. Der Kern und das Wesen der Welt ist aber 
das Geistige, dieses allein hat wahre Realität. Diese ist aber in 
uns noch unausgebildet, es ist ja gerade unsere Aufgabe, sie zu 



>■ Vgl. meine Arbeit; Schellings gel Btige Wandlungen ii 
1810. Leipzig oö. 






172 OTTO BRAUN 



▼ollenden ! Damit erhalten wir eine sehr wichtige und charak» 
teristische Fassung von ,, Wirklichkeit' ': sie ist kein Faktum» 
sondern ein Problem und Ideal, sie liegt nicht am Anfang, son- 
dern am Ende des Wegs. Die Wirklichkeit soll erst durch den 
Menschen vollendet werden, dadurch erhält sein Leben erst 
Sinn und eine große Aufgabe. 

„Die Welt, unsere Welt, ist kein abgeschlossenes System, 
sondern erst in der Entwickelung zu einer vollen Einheit be- 
griffen, die erste und letzte Wirklichkeit für uns kein Datum, 
sondern ein Problem oder vielmehr ein Postulat'^ (Einheit 
S. 239). Nicht mit einem Schlage etwa ist die Einheit zu reali- 
sieren. „Die Welt der Beziehungen verschwindet nicht einfach, 
die Freiheit muß sich fortwährend von neuem aufringen und 
gegen einen anhaltenden Widerstand sowohl der Feindschaft 
als der Trägheit behaupten. So ist die neue und erste Wirklich- 
keit . . • idealer Art, die Realität selbst erscheint als ein Ideal- 
begrifl, das ideale Sein aber als der Kern der Realität, nicht als 
ein subjektives BessemwoUen der Wirklichkeit. . . J* 

„Das Wesen bildet nicht schon einen vorhandenen Grund, 
den es nur aufzudecken gälte, sondern das Wesen liegt vor uns, 
es ist Ziel und Aufgabe des Handelns, es ist, was es ist, nicht 
ohne Entwickelung des Selbstlebens, nicht ohne Freiheit. • . • 
Der ersten Wirklichkeit gegenüber ergibt sich daraus eine un- 
geheure und fortdauernde Aufgabe. Eine prinzipielle Umwand- 
lung ist zu vollziehen, ein neuer Ausgangspunkt des Tuns zu 
gewinnen, ein neuer Daseinsraum herzustellen. Zur Kraft der 
Volltat wird diese Wendung erst mit der anhaltenden und 
durchdringenden Arbeit. Das Dasein läßt sich nicht durch einen 
einzigen großen Entschluß auf den neuen Boden versetzen, 
sondern es gilt, in unendlicher Tätigkeit alles Sein hinüberzu- 
ziehen, das Falsche abzustreifen, das Wahre weiterzuentwickeln, 
neue Zusammenhänge nach Auflösung der alten zu gewinnen, 
Sinnloses in Sinnvolles zu verwandeln.'^ (Einheit S. 422 f.) 

Damit sind wir zxxr Bestimmung des Monismus bei Eucken 
gelangt: die Einheit ist nicht gegeben, sondern ein Ideall Der 
Monismus fällt uns nicht von selbst zu, sondern ihn gilt es erst 
durchzusetzen, er ist das Ziel des ganzen Kulturprozesses. Der 
Monismus als Aufgabe — das ist also die charakteristische 
Fassung bei Eucken 1 

Wie diese mit seinem innersten Wesen 2aisammenhängt, ist 
leicht zu sehen: er strebt ja gerade nach Betätigung, er ist ja 



unablässig beim Schaffen: so ist ihm das Wesen der Welt das 
Ethische. Auf die Tat des Menschen konunt alles an: so be- 
greifen wir immer mehr, wie der Begriff der ,, Arbeit" seine Be- 
deutung bei Eucken erhält. Es Ist eben der innerste Wert der 
Arbeit, daQ sie den Menschen selbst zur Vergeistigung seines 
Wesens bringt. Energisches Wollen und Streben nur kann uns 
vorwärts bringen. Denn nicht in raschem Entschluß gelingt es, 
die Geistigkeit sich zu eigen zu machen: nur dauernder Innen- 
tat kann das gelingen. Niemals dürfen wir träge ausruhen und 
den Besitz bloQ genießen; denn von der errungenen Höhe sinkt 
der Geist sogleich wieder herab, wenn nicht weitere Arbeit ihn 
dort erhält. So ist unser Leben eine fortwährende Arbeit. 

„Die hier entwickelte Lebensordnung empfängt ihre eigen- 
tümliche Färbung und Stimmung namenthch durch die Voran- 
stellung der Tatsache, daß wir nicht von Haus aus einer Welt 
der Vernunft angehören, die nur in Anschauung und Genuß zu 
verwandeln wäre, sondern daß wir zu einer solchen Welt erst 
vordringen müssen und dazu einer Umwälzung der ersten Lage 
bedürfen. Der Standort wahren Lebens ist immer von neuem 
zu erringen, und es enthält auch die Leistung im Einzelnen 
immer eine Entscheidung von Ganzem zu Ganzem, Nur in un- 
ablässiger Tätigkeit kann das Leben die errungene Höhe wah- 
ren. . . . Bei solchem Vorantreten der Tätigkeit, solcher Akti- 
vität, darf dieses Lebenssystem wohl das des Aktivismus heißen. 
Aber dieser Aktivismus erweist seine Eigentümlichkeit und 
entwickelt sein Vermögen nur bei deutlicher Abgrenzung gegen 
andere scheinbar verwandte Richtungen. In den Stand der 
Aktivität bringt uns nicht schon ein rascher Entschluß, noch 
auch eine bloße Anfeuerung der Kraft. Denn uns umfängt und 
umklammert zunächst eine Welt von starrer Natur und matter 
Geistigkeit, eine Welt, die zugleich von menschlichem Schein- 
wesen durchsetzt ist. . . . Eine Aktivität ohne eine Befreiung 
von der gegebenen Welt ist ein Unding, erreichbar aber ist eine 
solche nur aus der lebendigen Gegenwart einerWelt der Selbst- 
tätigkeit, nur ihre Kraft kann auch den einzelnen Punkt zur 
Selbsttätigkeit erwecken. Wie aber sollte der Mensch diese 
Welt sich aneignen, ohne ihr Leben in sein eigenes zu verwan- 
deln, ohne ihren Inhalt als auch für sich gültig anzuerkennen, 
ohne ihre Ordnungen zu Normen seines Handelns zu machen? 
— Damit erlangt die Aktivität einen ethischen Charakter . . ." 

Aus dieser Bestimmung des Monismus als Aufgabe ergibt 



174 OTTO BRAUN 



sich auch eine charakteristische Fassung desVerh&ltnisses von 
Einheit und Vielheit. Wir müssen ja bei dem Geistigen schei- 
den zwischen seiner Substanz und seiner Existenz. Was in 
der Substanz ein einheitliches Ganze ist, das legt sich in der 
Existenz zur Vielheit auseinander (vgl. Kampf um einen gei- 
stigen Lebensinhalt). Jedes einzeln existierende Glied bekommt 
seine Selbständigkeit dadurch, daS sich das einheitliche Ganze 
ihm in bestimmter Weise mitteilt. Dadurch wird das Viele für 
das Eine wirksam und bedeutsam. So kommen wir trotz un- 
serer Anerkennung des Einen als der wahren Realität doch zur 
Fülle der individuellen Gestaltungen, das Leben wird nicht leer 
und schattenhaft durch diesen Monismus, sondern das Indivi- 
duelle behält seinen vollsten Wert. Diese Auffassung erinnert 
stark an den „konkreten Monismus" E. v. Hartmanns. 

Durch dieses Verhältnis von Einheit und Vielheit zueinander 
bekommt auch das Seelenleben eine doppelte Aufgabe. „Ein- 
mal geht der Zug in die Vielheit hinein, um dem Grundleben 
gegenüber eine Existenz zu entwickeln. Hier heißt es, alle Be- 
sonderheit deutlich abzuheben und kräftig auszubilden. Sodann 
aber ist von der Verzweigung immer wieder zur umfassenden 
Einheit zurückzukehren und der Ertrag der einzelnen Kreise in 
einen Gewinn für das Ganze zu verwandeln.'' 

Wir sind am Ende: Einheit als Selbstleben, als Personal- 
wesen und als Aufgabe, das sind die drei charakteristischen 
Züge des Euckenschen Monismus, die ersten beiden metaphy- 
sischer Art, der letztere aus der Stellung des Menschen zu den 
beiden Welten der Natur und des Geisteslebens erwachsend. Die 
Hauptbedeutung dieses Monismus ist, daß er vom Leben aus 
für das Leben geschaffen istl 

Für viele schon — und auch für mich — sind Euckens Ideen 
eine erlösende Botschaft gewesen — vielleicht erwerben diese 
Zeilen ihm neue Freunde! 




ALMA VON HARTMANN ■ EDUARD VON 
HARTMANNS KONKRETER MONISMUS 



3IE es heute gewiß ein vergebliches Unter- 
fangen wäre, eine der vorhandenen Reli- 
gionsgemeinschaften wissenschaftlich so 
fest zu begründen, daß sie zur absoluten 
Religion erhoben werden könnte, so ist 
es auch eine ganz zwecklose Mühe, irgend- 
n anderes, wichtiges Problem dem Streit 
des Tages zu entziehen und auf eine Höhe 
zu stellen, die es vor allen Zweifeln und Angriffen bewahrt. Und 
doch hat man immer wieder versucht, einzelne Lehrmeinungen 
so zu erhöhen, daß sie als eine unmittelbare Notwendigkeit, die 
das Leben durchdringt und keinen Widerspruch duldet, erschei- 
nen. So hat man es auch mit dem monistischen Gedanken, des- 
sen Tragweite überspannend, gemacht. Wenn es, ganz allge- 
mein gesprochen, die Aufgabe schlechthin des Weltprozesses 
ist, das Bewußtsein der Menschheit zu einer immer reineren 
Gotteserkenntnis zu führen, so ergibt sich daraus für den Mo- 
nismus, der diesen Namen verdient und Denken und Sein in 
Einklang bringen will, der Gedanke, die einzelnen, bis jetzt her- 
vorgetretenen Religionen zwar nicht für betrügerische Illu- 
sionen des religiösen Bewußtseins, wohl aber für überwindungs- 
bedürftige Stufen im Entwicklungsprozeß der Wahrheit zu hal- 
ten und den Wert dieser Stufen darnach einzuschätzen, wie 
weit sie zur Erklärung des Weltganzen, die ohne die Erkennt- 
nis Gottes keine vollgültige wird, beigetragen haben und noch 
beitragen. Der bewußte Geist, der die Welt zu erkennen strebt, 
muß freilich darin Bestandteile seines eigenen Geistes erblicken, 
denn sonst kommt es zu keiner Erkenntnis, aber darüber hin- 
aus muß er sich einer Sphäre zu nähern versuchen, die seinem 
Bewußtseinsleben überlegen ist, ohne es deshalb doch in seinem 
Wert zu beeinträchtigen, denn mit der bloßen Beschränkung 
auf die Welt des bewußten Daseins bliebe man in einem zu 
kleinen Kreis eingespannt. Für den Monismus handelt es sich 
darum, zu prüfen, wie weit es jeder Religion gelungen ist, die 
metaphysische Realität, also die Welt des Seins, ohne deren 



176 ALMA VON HARTMANN 

Anerkennung in irgendeiner Form keine Religionsgemeinschaft 
zu denken ist, in Beziehung zu setzen zu der Welt des Da- 
seins, der Erfahrung, und die Frage nach dem einheitlichen 
Wesen der Welt den gesteigerten Ansprüchen des Menschheits- 
bewußtseins gemäß zu beantworten. 

In dieser Frage, die jede Religion aufwerfen muß, liegt schon 
das Zugeständnis, daß die Welt der sinnlichen Erfahrung, die 
dem tieferen Erklärungsbedürfnis keine Antwort bietet, nicht 
das letzte Wort sein könne; aber der in der Welt vorhandene 
Kontrast zwischen Sinnlichem und Geistigem verführte erst zu 
einer einfacheren Lösimg, indem man die Einheitssehnsucht 
unterdrückte und in einer dualistischen Weltanschauung Gott 
und Welt, Gut und Böse, das Logische und das Unlogische, 
Geist und Natur, oder wie man den großen, sich dem Nachden- 
ken zuerst aufdrängenden Gegensatz zu nennen beliebte, kurz- 
weg zur ewigen Einzelhaft verurteilte, ohne sich mit dem Be- 
dürfnis des philosophischen Denkens und religiösen Empfindens 
nach einer Überwindung dieses Standpunktes näher zu beschäf- 
tigen. Der Theismus ist die höchste Ausbildung, die der Dualis- 
mus in den Religionen gefunden hat, aber auch in ihm haben 
sich im 19. Jahrhundert die bedeutendsten Ansätze zu einer 
Überführung in den Pantheismus gefunden, der als Schule des 
Monismus anzusehen ist, wenngleich die Befangenheit in der Be- 
wußtseinsphilosophie ein gänzliches Aufgeben der Anwendung 
des Bewußtseinsbegriffs auf die Gottheit unmöglich machte. 
Selbst die fortgeschrittensten unter den Vertretern des spekula- 
tiven Theismus hielten mit Ausnahme etwa von Schleiermacher 
an dem Bewußtsein und der Persönlichkeit des Absoluten fest 
wie Jacobi, Krause, Rothe, Fechner, Weiße, der ältere Dorner, 
Biedermann usw., wenn auch ihr Gottesbegriff diesen Stempel 
der Zugehörigkeit zum Theismus oft erst nachträglich und nicht 
ohne Zwang erhielt. Der Wunsch nach einer monistischen 
Gottesauffassung trieb sie zu einer so starken Betonung des 
Immanenzprinzips, daß darüber die Persönlichkeit und das Be- 
wußtsein des Absoluten mehr oder weniger unhaltbar wurde. 
Jedenfalls gewannen diese Begriffe in ihrer Anwendung auf das 
Absolute einen Inhalt, der sie als das gerade Gegenteil dessen, 
was man im menschlichen Dasein mit diesen Worten bezeich- 
nete, erscheinen ließ, so daß schließlich nur noch das gleiche 
Wort übrig blieb, mit dem man zwei sehr verschiedene Begriffe 
ausstattete. Bis auf den Katholiken Günther waren fast alle 



EDUARD VOM HARTMANSS KONKRETER MONISMUS 177 

theistischen Theologen von pantheistischen Velleitäten erfüllt, 
weil sie den im Deismus ausgeprägten Dualismus überwunden 
hatten und das Immanenzprinzip des Pantheismus für stark ge- 
nug hielten, um die Persönlichkeit und die Bewußtheit des Ab- 
soluten, diese letzten Anthropomorphismen, die als Postulate 
des religiösen Bewußtseins vom Deismus übernommen worden 
waren, zu stützen und zu tragen. Keiner von ihnen würde sich 
einen Dualisten nennen; obgleich die Bewußtheit ihres Abso- 
luten einen wirklichen Monismus ausschloß, hielten sie an der 
Ansicht, daß sie die Alleinheit des göttlichen Wesens lehrten, 
mit voller Überzeugung fest, da sie sich der Widersprüche in 
ihren Lehren noch gar nicht bewußt geworden waren. 

Im Gegensatz zu diesem sich auf Monismus beziehenden reli- 
giösen Gedankenkreis, bei dem es ziemlich gleichgültig blieb, 
ob er unitarisch war, d. h. die erste Person der Gottheit betonte, 
oder ob er einer trinitarischen Ausgestaltung des Gottesbegriffes 
das Wort redete, bildete sich in atheistischen Kreisen ein mate- 
rialistischer Monismus aus, der einer gewissen religiösen Bei- 
mischung indessen nicht entbehrte. Seine Berechtigung, sich 
Monismus zu nennen, leitete er aus der Annahme der Natur als 
Einheitsprinzips her. Es ist ja immer interessant zu beobachten, 
wie zu gewissen Zeiten ein Problem Völker und Menschen so 
stark beschäftigt, daß alle, ohne es zu merken, an demselben 
Thema arbeiten. So ist es jetzt das Problem der Welterkenntnis 
auf monistischer Basis, das seiner Lösung näher zu kommen 
versucht. Die armseligen Tatsachen des Stoffes und der Materie 
verlangen gebieterisch nach einer Ergänzung durch ein höheres 
Prinzip. Schon Schelling hatte gesagt: ,,Die neue Religion wird 
in einer Wiedergeburt der Natur zum Symbol der ewigen Ein- 
heit erkannt", er hatte aber in allzu tiefer Ergriffenheit vor der 
Größe des absoluten Geistes diesem zu weitgehende Rechte ver- 
liehen und die Wirklichkeit, die Objektivationsstufen des Gött- 
lichen, dabei zu sehr aus den Augen verloren. Es handelte sich 
nun darum, einen Standpunkt zu gewinnen, der Schellings kost- 
bare Ansätze zu einem der modernen Wissenschaft entspre- 
chenden Ganzen fortbildete. 

Ein solches Ziel hatte sich Eduard von Hartmann gesteckt. 
Das Motto auf der ersten Ausgabe der Philosophie des Unbe- 
wußten im Jahre 1869: , .Spekulative Resultate nach induktiv 
naturwissenschaftlicher Methode" ist kein leeres Wort geblie- 
ben. Ferne und entlegene Wege, wie seine Vorgänger sie ge- 



178 ALMA VON HARTMANN 

wandelt waren, verschmähend, stieg er von dem Boden der 
sicheren Erfahrung erst dann in die Höhe, als er ausgefimden 
hatte, wie eng und kümmerlich die Erkenntnis, die sich inner- 
halb der BewuBtseinstatsachen hielt, bleiben müßte, wenn sie 
nicht durch den Ausblick auf Hypothesen des Geistes erweitert 
würde. Voller Würdigung für den Wert des Bewußtseinslebens, 
das ja für ihn das Hauptmittel zur Förderung der logischen 
Zwecke des Absoluten im Weltprozesse war, wenn er auch das 
menschliche Bewußtsein nicht als Träger aller Wirklichkeits- 
werte schätzte, sah er doch in der Herausstellung des Begriffs 
des Unbewußten, von dem Schelling zuerst ein deutliches Ge- 
fühl aufgegangen war, die Lösung vieler Widersprüche und Er- 
klärungsschwierigkeiten anderer Systeme. 

So sehr war das Unbewußte für ihn Quellpunkt alles Seins 
imd Geschehens, daß sich ihm daraus keine andere als eine mo- 
nistische Weltanschauung ergeben konnte. Die Angriffe auf 
sein System, die ihn des Dualismus ziehen, weil die allem Da- 
sein zugrunde liegende Einheit keine starre, wandellose, son- 
dern in die Attribute Wille und Idee oder in ein Realprinzip 
und ein Idealprinzip gegliedert war, prallten wirkungslos an der 
Festigkeit ab, mit der er diesen monistischen Standpunkt in 
allen Untersuchungen festhielt. Er nannte ihn „konkreten Mo- 
nismus'' und wollte damit seinen Gegensatz zu allen Formen 
des abstrakten Monismus, der die Vielheit der Erscheinimg zu- 
gunsten eines abstrakten Oberseins leugnet, betonen. „Das re- 
ligiöse Bewußtsein muß daran festhalten, daß der Mensch eben- 
sowohl real sei gegen die Welt und seinesgleichen, wie daß er 
nichtig und wertlos sei gegen Gott; ohne die Realität gegen die 
übrigen Erscheinungsindividuen würde das Handeln gegen die- 
selben zum bloßen Schein und damit der Begriff des Bösen zur 
Illusion, — ohne die Nichtigkeit und Wesenlosigkeit gegen 
Gott käme die Absolutheit und unendliche Erhabenheit des 
allein wahrhaft seienden Gottes über den Menschen nicht zur 
vollen Geltung." (Religion des Geistes S. 227.) 

Hartmann war ein eminent sjrstematisch denkender Geist, 
d. h. ihm ordnete sich die verwirrende Mannigfaltigkeit des 
Weltganzen mit allen den irrationalen Erscheinimgen auf jedem 
Gebiet, das er in seiner unerschöpflich reichen Schaffenskraft 
neu betrat, immer wieder zu einer alle Dissonanzen auflösenden 
Harmonie, weil er in dem Begriff des Unbewußten ein Prinzip 
gewonnen hatte, dessen Fruchtbarkeit ohnegleichen war. Mit 



I 



EDUARD VON HARTMANNS KONKRETER MONISMUS 179 

kühnem und ernstem Entschluß faßte er nicht allein das Ewige 
als das wirkliche Ziel aller Erkenntnis, sondern wagte auch den 
Versuch, der religiösen Sehnsucht des Menschengeschlechts eine 
neue Formel des Ewigen zu geben, eine Formel, die als Keim 
schon in vielen geistreichen Köpfen vorhanden gewesen war, 
aber noch niemals durch die Reflerion eines logischen Denkens 
eine feste Gestalt gewonnen hatte. Zweierlei muß zusanunen- 
konunen, um ein großes System lebensfähig zu machen, der 
philosophierende Intellekt und das Verständnis der seelischen 
Not, die nur durch ein vollständig einheitliches Weltprinzip, 
das Verstand und Gemüt zugleich befriedigt, zur Ruhe gebracht 
werden kann. Jedes philosophische Streben hat letzten Endes 
ein ethisches Ideal, wenn dies auch nicht immer als Motiv klar 
zutage tritt. Das, was die Bekenner eines Systems am stärksten 
bindet, ist nicht die logische Beweisführung, obgleich der höher 
Stehende deren nicht entraten kann, sondern die ethische Kraft, 
und diese Kraft ist um so größer, je umfassender das System 
das ganze Sein und das ganze Dasein zu einer unlöslichen Ein- 
heit verschmilzt. Auf drei Gebieten war der Hartmatuische Mo- 
nismus besonders klärend, auf dem der Erkenntnistheorie, der 
Religionsbetrachtung, die in der Ethik dann wieder das sittliche 
Handeln als praktische Folge der religiösen Vorstellungen unter 
sich befaßte, und in der Ästhetik. 

In Hartmanns Untersuchungen über die Erkenntnis, die in 
dem ,, Transzendentalen Realismus", dem ,, Grundprob lern der 
Erkenntnistheorie", der ,, Kategorienlehre" und in dem „Grund- 
riß der Erkenntnislehre", welcher als erster Teil des nachge- 
lassenen „Systems" im Frühjahr 1907 erschienen ist, ihren 
hauptsächlichsten Ausdruck gefunden haben, ist vor allem die 
entschiedene Verwerfung jedes Skeptizismus und Agnostizis- 
mus zu betonen, selbst wenn er sich unter der Maske des er- 
kenntnistheoretischen Idealismus als Monismus aufspielt. Hart- 
mann nennt seinen Standpunkt ,, transzendentalen Realismus" 
und tritt damit in Gegensatz erstens gegen den naiven Realis- 
mus, der die Welt der Dinge an sich nicht nur mit den Wahr- 
nehmungssubjekten, sondern auch mit unseren Vorstellungen 
von ihnen identifiziert, und zweitens gegen die verschiedenen 
Formen des transzendentalen Ideatismus, dessen sich scheinbar 
auf die Erfahrung stützenden Beweise er einer zersetzenden 
Kritik unterzieht. Die Vorführung aller möglichen Schattierun- 
gen eines Erkenntnisstandpunktes im „Grundproblem" gehört 



in die geistreichsten Kapitel der Hartmannschen Philosoph! 
Das Bestreben der Idealisten, eine ,, monistische" Auffassung' 
dadurch herzustellen, daß sie trotz der begrifflichen Differenz 
von Ding an sich und Wahrnehmungsobjekt in der Gleichset- 
zung von Sein und Bewußtsein, Welt und Ich eine Einheit kon- 
struieren, wird als ein auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie 
durchaus ungehöriges, jedenfalls überflüssiges Verfahren ge- 
kennzeichnet. ,,Es entspringt dies aus einer unvorsichtigen 
Übertragung des Ansehens, welches der Monismus in der Meta- 
physik genießt, auf das anders geartete Gebiet der Erkenntnis- 
theorie. Auch in der Metaphysik kann der Monismus nicht an- 
ders als abstrakt, leer und tot ausfallen, wenn er nicht in sich 
einen Dualismus als aufgehobenes Moment birgt, durch dessen 
Zwiespältigkeit er erst seine Wesenseinheit zur inneren Mannig- 
faltigkeit entfaltet. Im Erkenntnisprozeß haben wir es eben 
nicht mit metaphysischen Prinzipien zu tun, in welchen freilich 
alle Zwiespältigkeit letzten Endes zur Einheit aufgehoben sein 
muß, sondern mit dem Gegensatz von Dasein und Bewußtsein, 
Sein und Wissen, Ding und Denken, Realem und Idealem, Ob- 
jekt und Subjekt, Welt und Ich, Erkanntem und Erkennendem." 
(Grundproblem S. 114.) 

Die Synthese ist überall das Wichtigere. Wie bei denlntellek- 
tualfunktionen, die das Rohmaterial der zeitlichen Schwingun- 
gen zu intensiven Empfindungen verknüpfen und dadurch un- 
sere Erfahrungswelt aufbauen, den synthetischen bei weitem 
die wichtigste Rolle zufällt, so ist es auch bei den letzten Vor- 
gängen des bewußten Erkennens nach dem Sondern und Unter- 
scheiden vor allem das Verknüpfen, das das Erkennen zu Ende 
führt, weil die Vereinzelung niemals das letzte Wort bleib« 
darf, sondern nur als Durchgangspunkt zur Einheit dient 
muß. In den Anfängen der Erkenntnis beruht aber alles Er^ 
kennen darauf, daß man Unterschiede anerkennt, das Wahr- 
nehmungsobjekt in seiner Gegensätzlichkeit einerseits zum 
Ding an sich, andererseits zum Wahrnehmungssubjekt heraus- 
stellt. ,,Ein Erkennen ohne diesen Dualismus als Grundlage 
wäre eben keinErkennen mehr, sondern eine absolute Intuition, 
in welcher die absolute Identität von ideal Geschautem und 
real Gesetztem bestände ; es wäre nicht mehr ein bewußtes Er- 
kennen des schon Vorhandenen, sondern ein unbewußtes Schaf- 
fen des noch nicht Vorhandenen. Alles bewußte Erkennen be- 
ruht darauf, daß ein vorhandenes reales Erkenntnissubjekt ein 



'SM 



vorhandenes reales Sein sich für sich vergegenwärtigt oder in- 
nerhalb seiner BewuBtseinssphäre abbildlich repräsentiert." 
(Grundproblem S. 114.) 

Es ist ein ganz ungerechtfertigter Anspruch des philosophi- 
schen Idealismus, sich Monismus zu nennen bloß darum, weil 
man sich ganz auf das Wahrnehmungssubjekt und dessen Vor- 
stellungsweit zurückzieht, so daß darüber jeder Gegensatz 
zwischen Erkennendem und Erkanntem verschwindet. Man 
muß es als einen der größten Irrtümer der Bewußtseinsphilo- 
sophie betrachten, daß sie aus pseudomonistischen Beweggrün- 
den den bloßen Bewußtseinsinhalt ohne transzendentale Be- 
ziehung auf ein transzendentales Korrelat denkt und diesen 
Bewußtseinsinhalt dann Ich nennt. Das Bewußtsein an sich ist 
niemals Tätigkeit, sondern weist auf ein (unbewußtes) Subjekt 
der Tätigkeit zurück, das aber wegen seiner Unbewußtheit nicht 
unmittelbar mit dem Bewußtsein erschlossen, sondern nur 
mittelbar erkannt werden kann. Der konsequente (monistische) 
Idealismus ist eine solche Einseitigkeit, ein so geflissentliches 
Verblenden gegen die Tatsächlichkeit der umgebenden Welt 
zugunsten einer Theorie, daß es kaum einen Vertreter desselben, 
den einzigen Stirner etwa ausgenommen, gibt, der den Mut ge- 
habt hätte, ihn bis zu Ende nicht allein zu denken, sondern 
auch für die Praxis des Lebens anzunehmen. Schon Hume hat 
gesagt, daß die Natur immer stärker ist als ein Prinzip. Eine 
gewisse Art von Skepsis gehört zu den Treib hausblüten philo- 
sophischer Betrachtungen, von denen man keine nachhaltige 
Erquickung verlangt, wenn man sie auch im ersten Augenblick 
bewundert. Dieser auf skeptischer Basis emporgeschossene er- 
kenntnistheoretische Monismus läuft außerdem die größte Ge- 
fahr, in den Pluralismus, also in das gerade Gegenteil des Monis- 
mus, den er anstrebt, hineinzugeraten, wenn er, von der Macht 
des Tatsächlichen verführt, für jedes Individuum einen Bewußt-, 
seinstraum, also so viele Traumwelten (in der Form von sub- 
jektiv idealen Erscheinungs weiten), als Bewußtseine existieren, 
zuließe, oder deren Möglichkeit wenigstens nicht in Abrede 
stellte. Freilich wäre ein Aufeinanderwirken der Individuen auf- 
einander bei dieser Annahme auch wieder illusorisch und nur, 
wie bei Fichte, der aus sittlichem Gesichtspunkt dies Aufein- 
anderwirken nicht entbehren mochte, durch Inkonsequenz ge- 
gen den eigentlichen Ausgangspunkt zu erreichen. 

Der Dualismus genießt überhaupt mit Unrecht eines schlech- 




I 
I 



x82 ALMA VON HARTMANN 

ten Rufes. Die Vertreter der mechanistischen Weltanschauung 
halten es im Interesse des Monismus schon für ein zu weit 
gehendes Zugeständnis, mehr als eine Erklärung zuzulassen. 
Es heißt immer: entweder — oder; niemals: sowohl — als 
auch. Wenn es sich um die Erklärung der GesetzmäBi^eit 
handelt, soll alles Geschehen nur durch ein Prinzip möglich 
sein, und da die mechanische Vermittlung als nächste Erklärung 
sich darbietet, so wird sie zur alleinigen Ursache aller Vorgänge 
aufgebauscht, und das teleologische Prinzip wird als unwesent- 
lich ganz beiseite geschoben. Eine Frage, die man aus ihrer 
gliedlichen Unterordnung unter das Allgemeine herausgerissen 
hat, verliert die Wichtigkeit ihrer Besonderung wieder, wenn 
man sich ihrer Relativität bewußt wird. So ist auch die mo- 
nistische beziehungsweise dualistische Frage nicht überall am 
Platze. Die Unvollkommenheit der Erfahrung und der auf sie 
gestützten Begriilsbildung zwingt zu der Annahme eines zwei- 
ten nebenher laufenden und sogar noch eines dritten beiden 
übergeordneten Erklärungsprinzips. Der in der Metaphysik un- 
entbehrliche Monismus hat eben auf dem Gebiet der Erkennt- 
nistheorie (und der Materialismus behauptet ja, eine eigene Er- 
kenntnistheorie zu haben) nur insofern Berechtigtmg, als an- 
erkannt wird, daß die Wurzelfasern aller Erkenntnis aus dem 
metaphysischen Gebiet herausgewachsen sind, also in gewissem 
Sinne teilhaben an der ursprünglichen Einheit des Urprinzips. 
Aber den Gegensatz, der in der metaphysischen Region keine 
Geltung hat, auch auf dem Gebiete des Erkennens hinwegstrei- 
fen zu wollen, das hieße dem Bewußtsein, das sich deutlich vom 
objektiven Sein unterscheidet und dadurch nicht allein im Er- 
kennen, sondern auch im Handeln zu den höchsten Resultaten 
kommt, jeden Berechtigungsgrund versagen. 

Nicht dadurch wird der Monismus gefördert, daß man in 
skeptischem Indifferentismus die transzendent reale Welt für 
eine psychologische Illusion ohne jede Wahrheit hält und die 
Einwirkung der Wahrnehmungsobjekte auf dieWahmehmungs- 
sub jekte ebenfalls, sondern dadurch, daß man das Auseinander- 
legen der Substanz, des Absoluten, des Urprinzips, oder wie 
man sonst das allem Dasein und Geschehen zugrunde liegende 
Urwesen nennen mag, in den Dualismus von äußeren Dingen 
und Bewußtseinsrepräsentanten akzeptiert in dem vollen Gre- 
fühl, die ursprüngliche Einheit dadurch nicht geschädigt, son-« 
dern bereichert zu haben. Zudem findet diese Auffassung in 



dem psychologischen Begriß der allotropen Kausalität, die 
vom geistigen Gebiet auf die Sphäre der mechanischen Vermitt- 
lung hinübergreift und damit das Einheitsband kräftigt, eine 
willkommene Stütze, während die entgegenstehenden (sogen, 
monistischen) Ansichten, die nur eine immanente Kausalität 
der Wahrnehmungsobjekte wie im Traum gelten lassen, sich 
in die unhaltbarsten, aller Psychologie zuwiderlaufenden An- 
nahmen verstricken; die Wahrnehmung ist eine nicht gewollte 
und doch unabweislich sich aufdrängende; die Empfindung 
zwingt uns, Wirkung und Ursache (und zwar eine transzen- 
dente jenseits meines Bewußtseins liegende, objektiv reale, in 
den Dingen an sich liegende Ursache) aufeinander zu beziehen. 
,, Beziehungslos existierende Dinge an sich sind für mich so 
gut, als ob sie nicht existierten; also kann auch die Annahme 
ihrer Existenz für mich keinerlei Vorzug vor der Annahme 
ihrer Nichtexistenz haben. — Man hat deshalb nicht mit Un- 
recht die Kausalität die zentrale Urkategorie genannt, an der 
alle anderen hangen; sie ist es wenigstens für unser Erkennen, 
insofern sie allein dem Denken die Brücke vom Immanenten 
zum Transzendenten zu schlagen vermag und sowohl für das 
Daß als auch für das Was der Dinge an sich dem Erkennen die 
zureichenden Gründe liefert." (Grundproblem S. 78 und 79.) 
Der transzendentale Gebrauch der Kausalität ist nur die erste 
Etappe auf dem Wege zur Einheit, die durch das Zugeständ- 
nis, daß auch die übrigen Denkformen zum transzendenten 
Gebrauch zugelassen werden, in immer größere Nähe gerückt 
wird. Diese Einheit liegt in der Substanz, und der substantielle 
Monismus ,,ist die einzig mögliche Gestalt aller bis zu Ende 
gedachten philosophischen Systeme. Der substantielle Monis- 
mus darf aber nicht als ein abstrakter, die Vielheit realer 
Modi ausschließender, sondern nur als ein konkreter, sie ein- 
schließender gedacht werden." (Grundproblem.) Die Weltsub- 
stanz muß immanent und transzendent zugleich sein; sie ist 
die einheitliche Wurzel, aus welcher der vielästige Weltbaum 
entspringt. Die Existenz liegt auf der Seite der Erscheinung, 
die aber nicht als etwas von der Substanz getrenntes aufzu- 
fassen ist; diese vielmehr subsistiert allem Existierenden oder 
Realen, das zum bloßen Schein herabsinken müßte, wenn ihm 
diese Existenzgrundlage entzogen würde. — 

Man sieht, wie die Erkenntnistheorie in die Metaphysik um- 
schlägt und von dort aus ihren letzten Erklärungsgrund holt. 






^ 



Da6 es für die religiöse Betrachtung, mit der die Ethik als an- 
gewandte Religion so eng zusammenhängt, nicht viel anders 
sein kann, ist selbstverständlich. Zwar hat es die Religion nicht 
so sehr mit dei absoluten Substanz als mit der in Wechselver- 
kehr mit dem religiösen Subjekt getretenen Gottheit (das Ab- 
solute als Objekt des religiösen Verhältnisses) zu tun, aber die 
Kraft der Religion liegt doch in der metaphysischen Sphäre, 
d. h. die Motivationskraft der religiösen Idee ist um so stärker, 
je mehr der Begriff, den der Einzelne sich von der Gottheit ge- 
macht hat, dem fortgeschrittenen religiösen und togischen Be- 
wußtsein der Menschheit genügt. Bei den zwei für den Stufen- 
bau des abendländischen religiösen Bewußtseins wichtigsten 
Religionen, dem Judentum und dem Christentum, zeigt sich die 
zu dem großen Ziel der Alleinheitslehre hinstrebende Entwick- 
lung ganz deutlich. Das Judentum besaß das Immanenzprinzip 
des Geistes (als Lehre von der Weisheit oder als Lehre von dem 
Logos) nur in abstrakter Form und als Eigentum exklusiver 
Kreise. Der Volksglaube hielt an dem deistischen Prinzip der 
Transzendenz fest, und es war erst dem Paulinimus vorbehtJ- 
ten, dem Immanenzprinzip durch die Erhöhung Jesu zum 
Sohne Gottes eine wirksame Gestalt zu geben. Die Kirchen- 
lehre schritt dann unter dem Einfluß der griechischen Philoso- 
phie dazu fort, den Gottesbegrifl trinitarisch zu gestalten, in- 
dem sie neben den Vater und den Sohn den Geist stellte. Wie 
Paulus durch die Transzendenz des jüdischen Gottvaters dazu 
genötigt wurde, Christus als das die Immanenz und Transzen- 
denz vermittelnde Prinzip gelten zu lassen, so war die Kirchen- 
lehre dazu genötigt, nachdem Christus immer hoher in die 
transzendente Sphäre entrückt worden war, sich nach einem 
neuen Gott und Welt verbindenden Prinzip umzusehen und 
griff zum Geist, damit den trinitarischen Gottesbegriff vollen- 
dend. Die Christologie enthielt den Keim zu der Lehre von der 
allgemeinen religiösen Gottmenschheit, wenn auch in Formen, 
die der damaligen Anschauungsweise angepaßt waren; jetzt 
handelt es sich darum, die widerspruchsvollen Vorstellungen, 
die sich auf eine einmalige historische Verwirklichung bezogen, 
endgültig abzustreifen und die dritte Form der Gottheit, den 
Geist, als das allein gültige Immanenzprinzip anzuerkennen. 
Der Geist ist immer zugleich immanent und transzendent. „Die 
Transzendenz des Absoluten, welches als Absolutes niemals in 
das Endliche eingehen kann, weil das Unendliche nicht in dem 



Endlichen aufgeht, bleibt also dem Gott-Geist nicht mindet 
gewahrt als dem Gott-Vater; die Transzendenz der Persön- 
lichkeit, die Wesenfremdheit der einen PersÖnhchkeit gegen die 
andere — ist eben die falsche, unwahre, unberechtigte und 
schädliche Transzendenz des Theismus, um derentwillen der 
ursprünglich eine Gott seine Immanenz eingebüßt hat, um 
derentwillen deshalb erst das Bedürfnis nach der Ergänzung 
des tmmanenzunfähig gewordenen Gottes durch ein hinzu- 
kommendes Immaner^zprinzip auftauchte." (Rel. Bewußtsein 
S. Ö07,) Das religiöse Bewußtsein als psychologische Tatsache 
genommen, abgesehen von jeder dogmatischen Beeinflussung, 
sagt aus, daß im religiösen Verhältnis die Einheit von Gott und 
Mensch, also der religiöse Monismus, vollzogen ist. Es hat 
sich also schon seine Religionsmetaphysik gebildet und bedarf 
nur noch der Bestätigung durch die logischen Beweise des 
schließenden Denkens, um sich ganz fest und sicher zu fühlen, 
Mit einer bloßen Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch 
ist ihm nicht gedient ; es verlangt nach einer Vergewisserung 
der fundamentalen unbewußten Einheit des Menschen mit Gott 
und läßt sich durch eine Vertröstung auf das Jenseits nicht ab- 
speisen. 

So sehen wir ein immer mehr sich steigerndes Ringen nach 
der Wesenseinheit von Gott und Mensch, wie es aus der Ferne 
des gottentfremdeten Bewußtseins allmählich zu Immer klarerer 
Einsicht in den göttlich -mensch liehen Heilsprozeß gelangt, in- 
dem es sich in der Religion des Gott-Geistes mit der auf ein be- 
stimmtes Ziel gerichteten aktiven Energie ganz und durchaus 
erfüllt. „Die Entwicklungsgeschichte des religiösen Bewußtseins 
ist nichts als der Prozeß des allmählichen Zusichselberkommens 
des Geistes in religiöser Hinsicht; sobald das Objekt des religi- 
ösen Verhältnisses als Gott-Geist erkannt, und dieser Gott- 
Geist als das autonome und autosoterische Immanenzprinzip 
des religiösen Bewußtseins begriffen ist, ist dieser Prozeß prin- 
zipiell vollendet und nur noch der feineren und reicheren Durch- 
bildung fähig." (Rel. Bewußtsein S. 625.) 

Es ist jetzt nicht mehr möglich, dem logischen Denken irgend- 
ein Gebiet des Geisteslebens zu verbieten. Die Lehre von der 
doppelten Wahrheit hat nur noch insofern Geltung, als das Re- 
sultat des Denkens und Glaubens auf verschiedenen Wegen ge- 
wonnen worden ist. Aber die Verschiedenheit des Ausgangs- 
punktes darf keinen ewig nebeneinander herlaufenden Paralle- 



I 



x86 ALMA VON HARTMANN 

lismus bedeuten, sondern die Wege müssen einmal in einem 
Punkt zusammentreffen, wenn anders das Bedürfnis nach einem 
logischen Zusammenhang des Weltganzen gewahrt bleiben soll. 
Auch hier zeigt sich die monistische Tendenz als ein Grundbe- 
dürfnis des spekulierenden Denkens. Die Substanz muß viel- 
einig sein, um aus sich herausgehen und zur Welt der Vielh<ut 
kommen zu können, um deren Erklärung es uns allein zu tun 
ist. „Nur eine konkret Eine Substanz mit Attributen, nichteine 
abstrakt Eine ohne solche, ist imstande, als ausreichendes Er- 
klänmgsprinzip der vielseitigen Welt und ihrer Veränderungen 
zu dienen; nur die erstere kann als brauchbare Hypothese gel- 
ten, während die letztere eine für ihren Zweck unbrauchbare 
Hypothese wäre. Sogar die Annahme einer Substanz mit nur 
einem Attribut wäre eine leistungsunfähige Hypothese, weil der 
Prozeß sich nur aus einem Gegensatz entfalten kann, ein solcher 
aber zwischen dem Einen Attribut und der Substanz nicht nach- 
weisbar wäre." (Kategorienlehre S. 536.) 

Der Weltprozeß muß sich also aus einem im Absoluten selbst 
liegenden Gegensatz entfalten, und da wir überall den Gegen- 
satz zwischen einem Real- und einem Idealprinzip, zwischen 
der Kraft und der Idee sehen, so zwingt uns unser Denken, die 
Zweiheit dieser im Dasein wahrgenonunenen Entfaltung auf 
das ewige Sein als letzten Grund zu übertragen. Daraus ergibt 
sich das Nebeneinandersein von Real- und Idealprinzip oder 
von Wille und Idee und nach der Erhebung des Realprinzips 
ziun Wollen, diesem Urzufall, oder um theologisch zu sprechen, 
dieser Urschuld, die Erfüllung des WoUens mit der Vorstellung, 
bis deren Weisheit ihn quiesziert und ins Nichtwollen zurück- 
gewendet hat. Das religiöse Bewußtsein, das auf seiner höchsten 
Stufe die Welt gern als im Grunde nicht sein sollend anerkennt, 
sieht die Weisheit Gottes sowohl in dem Endzweck als in den 
Mittelzwecken und fühlt sich in dem monistischen Gedanken 
der Wesensidentität mit dem Absoluten durch den Glauben, ja 
die Gewißheit, an die Möglichkeit einer Erlösung gestärkt und 
beruhigt. — 

Die Ethik Hartmanns ist ganz auf diesem Boden des kon- 
kreten Monismus erbaut und benutzt dabei den Pessimismus, 
d. h. die Lehre von einem Oberwiegen der Unlust über die Lust 
in der Welt des Daseins als Motiv zur Oberwindung von der 
Welt. Aber es wäre falsch, aus dieser pessimistischen Anschau- 
ungsweise als notwendige Konsequenz den Verzicht auf jede 



Mitarbeit am KulturprozeB ableiten zu wollen. Das könnte nur 
dann der Fall sein, wenn man den Lohn auf Glückseligkeit als 
Motiv des Handelns ansähe. Wer aber an dem Grundsatz fest- 
hält, daB der Mensch kein Recht auf Glück hat, sondern in die 
Welt gesandt ist, um die göttlichen Zwecke zu erkennen und 
durch Mitarbeit daran seine Aufgabe zu erfüllen, der sieht auch 
den Überschuß der Unlust über die Lust in seinem Dasein, wie 
er sich einer vorurteilslosen nüchternen Beobachtung oHenbart, 
nicht als ein seine Energie lähmendes, sondern als das unaus- 
weichliche Ergebnis des Willensprozesses im einzelnen und im 
ganzen mit Ergebung und Ruhe an. Von diesem Standpunkt 
aus teilt sich die Moral ganz von selbst in eine echte und eine 
unechte Moral; die echte Moral erhält ihre Motive aus dem 
monistischen Prinzip der Wesensidentität aller Individuen unter- 
einander und mit dem Absoluten ; sie verzichtet auf jeden An- 
spruch auf Glückseligkeit, sei sie in diesem oder in jenem Le- 
ben in Aussicht gestellt, und handelt im wahrsten Sinne um 
Gottes willen, wenn auch die zunächst angestrebten Mittel- 
zwecke die erste Tatkraft in Beschlag nehmen und das Bewußt- 
sein der vollständigen sittlichen Weltordnung nicht immer ztim 
klaren Ausdruck kommt. Nachdem die unechte Moral, der eine 
wertvolle propädeutische Bedeutung nicht abzusprechen ist, 
sich in allen Formen der egoistischen Pseudomoral erschöpft 
und schließlich zum Bankerott des Egoismus, d, h. zu der Ein- 
sicht, daß wahre Befriedigung durch das Nachgeben an den 
glückshungrigen Eigenwillen nicht zu erlangen ist, geführt hat, 
tritt das echte sittliche Bewußtsein auf den Plan und liefert in 
der Geschmacks- und Gefühlsmoral eine Reihe mehr oder we- 
niger brauchbarer autonomer Moralprinzipien, bis auch diese 
den gereiften Menschen erkennen lassen, daß eine Ergänzung 
durch die höhere Stufe der Vernunftmoral nötig wird. Bei der 
Geschmacks- und Gefühlsmoral ist es die unbewußte Wirksam- 
keit der Vernunft, die sie sitthch wertvoll macht; die Vernunft- 
moral hat die Aufgabe zu lösen, die rationellen Gründe für das 
sittliche Handeln ins helle Licht des Bewußtseins zu rücken; 
sie verwirft die Geschmacks- und Gefühlsmoral keineswegs, 
sondern zieht sie in der Erkenntnis ihrer stärkenden Kraft zur 
Hilfe heran, da die abstrakte Vernunft allein oft nicht imstande 
wäre, das für richtig Erkannte den Neigungen gegenüber durch- 
zusetzen. 

Die Zerfahrenheit der Meinimgen über die Grundlagen der 



x88 ALMA VON HARTMANN 

Sittlichkeit wird erst dann ihr Ende erreicht haben, wenn man 
in der Metaphysik wie das Fundament der Religion, so auch das 
der Moral erkennt. Neuere Richtungen der Ethik, denen es Tor 
aUem darauf ankonunt, die Ethik von der Religion loszulösen, 
haben freilich den Versuch gemacht, die Metaphysik als gleich- 
gültig beiseite zu schieben und die Ethik ganz auf eigene FüBe 
zu stellen» Man hat bei dem Moralismus, der die Religion zu 
ersetzen bestrebt ist, zu unterscheiden, ob er rein auf sich selbst 
gestellt ist, oder ob er unbewuSterweise doch auf einem religi- 
ösen Moralprinzip beruht. Er enthält dann, Tielleicht ohne es zu 
wollen, religiöse Momente, und diese allein befähigen ihn, einen 
Ersatz für die Religion zu bilden; erTemichtetdann aber auch 
nicht, wie er angibt, die Religion, sondern bietet im Gegenteil 
den Anlaß, eine religiöse Weltanschauung durch Heraussetzung 
der in ihm enthaltenen religiösen Momente zu entwickeln. So- 
lange es sich um eine konfessionelle Ethik handelt, ist das Vor- 
gehen der „Befreier'' ein ganz berechtigtes. Denn es ist das 
Wesen der Sittlichkeit, sich von den Fesseln der menschlichen 
Autorität, in welchem Gewände sie auch auftreten mag, zu be- 
freien und von der allerhöchsten Stelle, dem eigenen Gewissen, 
direkt seine Vorschriften zu empfangen. Aber es gehört zu den 
Überspanntheiten der Gewissensfanatiker, wenn sie das Recht 
des Menschen auf Selbstbestimmimg dahin erweitern, daß sie 
den menschlichen Geist in seiner Isolierung nicht allein anim 
alleinigen Richter, sondern auch amm alleinigen Gesetzgeber 
aller seiner Handlungen machen. Mit der Ablehnung einer über 
die Einzelzwecke des Menschen hinübergreifenden sittlichen 
Weltordnung verabsolutieren sie das Individuum und kommen 
damit dem transzendentalen Idealismus nahe. Sie verwischen 
jeden Unterschied von Gott und Mensch, indem sie die Erschei- 
nung als die alleinige Wirklichkeit, neben der es kein Transzen- 
dentes gibt, hinstellen. Nicht in dem Sinne Meister Eckharts, 
der das Ziel der Schöpfung in der Gottwerdung des Ich sieht, 
sondern in dem rein atheistisch-materialistischen Sinne eines 
Teils der modernen Naturforschung, die den Gottglauben als 
den Bestandteil einer überwundenen Stufe des Denkens milde 
lächelnd beiseite gelegt hat, lehnen sie eine allgemeine teleolo- 
gische Betrachtung ab und lassen nur die Zwecke des Einzelnen 
gelten. Ihre Ethik stützt sich zwar auf den Altruismus, aber 
nicht, weil sie das Streben an und für sich verneinen, sondern weil 
sie nach Einsicht in die durch das Streben nach Einzelwohl un- 



befriedigt gebliebene Seele Befriedigung, d. h. Glück durch das 
Wirken für andere erhoffen. Kann der Einzelne glücklich wer- 
den ohne das Wirken für andere, so ist er von diesem Stand- 
punkt aus nicht unsittlich zu schelten; solange seine Hand- 
lungen das Behagen und die Freiheit der Mitmenschen nicht 
beeinträchtigen, kann ihm aus seinem „wohltemperierten" 
Egoismus kein Vorwurf gemacht werden, da es auf diesem 
Standpunkt kein allgemein verbindliches übergreifendes Moral- 
gesetz, dem sich die Einzelzwecke unterzuordnen hätten, gibt, 
es sei denn das der größtmöglichen allgemeinen Glückselig- 
keit, die zu befördern der Einzelne aber nur dann verpflichtet 
ist, wenn er auf anderem Wege sein eigenes größtmögliches 
Glück nicht zu erreichen vermag. Dieser Theorie gegenüber 
,, kommt dem Pessimismus das Verdienst zu, die Widersinnig- 
keit alles individuellen Glückseligkeitsstrebe ns zu enthüllen und 
dadurch auch für den Gegensatz von Individualwohl und Ge- 
samtwohl die Augen zu öHnen, ohne doch das Streben nach 
fremdem Wohl zu untergraben. Da nun der Durchbruch vom 
bloß Natürlichen zum Sittlichen wesentlich in der praktischen 
Anerkennung der Gegensätzlichkeit zwischen Streben nach 
eigenem und Streben nach fremdem Wohl und der Zurück- 
setzung des ersteren hinter das letztere zu suchen ist, so er- 
gibt sich hier wiederum, daß der Pessimismus, weit entfernt, 
die Sittlichkeit zu schädigen, vielmehr einen Grundpfeiler der- 
selben bildet, dessen Nichtbeachtung bisher die Unzulänglich- 
keit der allermeisten ethischen Systeme verursacht hat." {Sittl. 
Bewußtsein S, 485.) Der Pessimismus in seiner philosophischen 
Gestalt leistet aber noch viel mehr, da er durch seine stets das 
Ganze im Auge behaltende Betrachtungsweise dem Einheits- 
gefühl die stärksten Stützen liefert. Er ist ein weit mächtigeres 
monistisches Prinzip als der Optimismus, dessen (theistischer 
oder atheistischer) Rückgang auf den Weltgrund so wenig 
mehr dem modernen religiösen Bewußtsein entspricht, daß die 
Vertreter des Optimismus in der Ethik gern die Metaphysik 
beiseite schieben, damit aber Gefahr laufen, auch den mo- 
nistischen Standpunkt zu verlieren und in den Pluralismus 
zurückfallen. 

Hat man den Egoismus, die Vereinzelung des Individuums 
als die Quelle alles Bösen erkannt, so ist es klar, daß eine Welt- 
anschauung, welche diese Vereinzelung aufhebt, am geeignet- 
sten ist, zur Überwindung des Bösen zu führen. Wetm das sitt- 



I90 



ALMA VON HARTHANN 



liehe Bewußtsein die gesuchte Begründung weder in den sub- 
jektiven noch in den objektiven Prinzipien gefunden hat, so 
mufi es sich nach einem absoluten Prinzip umsehen, das in der 
metaphysischen Sphäre jenseits des Reichs der Individuation 
liegt. Da bietet sich nun das monistische Prinzip der Wesens- 
identität aller Individuen als das beste Mittel zur Verwirklichung 
echter Sittlichkeit dar. Hier berührt sich die Ethik mit der Re- 
ligion, beide mit der Metaphysik. Es handelt sich um die Aner- 
kennung eines ,, substantiellen Monismus des Wesens, der aber 
die innere Vielheit der realen (d. h. objektiv- phänomenalen) 
Manifestationen oder Objektivationen des All-Einen nicht aus-, 
sondern einschließt, einem Monismus, der das Bewußtsein und 
die Persönlichkeit nur in der Sphäre der Individuation (nicht in 
derjenigen der Einheit) sucht, und alle Objektivationen des Ab- 
soluten als schlechthin determiniert und als vergänglich be- 
trachtet unbeschadet der Freiheit und Ewigkeit des all-einen 
Wesens, das in ihnen sich manifestiert." Schon im Mitleid, in 
der Liebe und der Freundschaft waren Ahnungen von der ewi- 
gen Einheit alles Daseienden zu spüren, und in dem Moralprin- 
zip des Zweckes erfuhren sie eine Steigerung, da sich heraus- 
stellte, daß der Mensch nicht Selbstzweck ist, sondern nur ein 
allerdings höchst bedeutsames Mittel zu einem höheren Zweck. 
Der logische Evolutionismus Hegels hat sich aller skeptischen 
Anwandlungen des 19. Jahrhunderts zum Trotz schließlich doch 
siegreich behauptet; es ist jetzt in der Wissenschaft ziemlich 
allgemein zugestanden, daß eine kausale Gesetzmäßigkeit die 
Welt beherrscht, und von dieser Annahme zu der Annahme 
einer Finalität fortzuschreiten, ist kein allzu großer Schritt mehr. 
„Versteht man die bewußte Finalität richtig, nämlich als eine 
unbewußte Finalität, deren Hauptstationen so weit ins Bewußt- 
sein hineinscheinen als nötig ist, um auf sie diese Kategorie an- 
zuwenden, dann ist dieselbe allerdings das wichtigste Moment 
im ganzen psychischen Leben. Daß alles Handeln der Indivi- 
duen, soweit es nicht bloß reflektorisch oder instinktiv ist, auf 
bewußter Finalität ruht, wird man ohne weiteres zugeben. Die 
individuellen Zwecke mögen bloß eudämoiüstisch oder ethisch 
oder religiös sein, immer wird das Handeln ein bewußt-finales 
sein." (Kategorienlehre S. 433.) Alle Wertbemessung stützt 
sich auf die Finalität; man beurteilt alles darnach, in wel- 
chem Maße und Grade es einem bestimmten Zweck dient, und 
d& das Reich der Werte im bewuBtgeistigen Leben die größte 



Rolle spielt, so ist die Finalität von der größten Bedeutung. 
Jedes Individuum verfolgt zunächst seine eigenen Zwecke, aber 
es fühlt sich auch als Glied einer höheren Ordnung und siebt 
sich genötigt, deren Zwecken zu dienen. „Der Individual- 
zweck höherer Ordnung weiß sich seinen Untergebenen nicht 
nur da durchzusetzen, wo er mit deren Sonderzwecken har- 
moniert, sondern auch da, wo er mit ihnen kollidiert. Kolli- 
sionen der Finalität gibt es eben nicht bloß zwischen kon- 
kurrierenden Individuen gleicher Individuahtätsstufe , son- 
dern auch zwischen dem höheren Individuum und dem von 
ihm umspannten und dem außer ihm stehenden niederen". 
(Kategorienlehre S. 445.) Das höchste Individuum, das zu- 
gleich den höchsten Organismus darstellt, ist das lebendige 
Universum, in dem alle finalen Betätigungen ihre Vereini- 
gung finden. Für die Ethik stellt sich die Finalität als das Mo- 
ralprinzip des Zweckes dar und erfährt seine Erfüllung durch 
das monistische Prinzip der Wesensidentität aller Individuen 
untereinander, dem sich dann noch das religiöse Prinzip der 
Wesensidentität mit dem Absoluten, dem wir schon bei der 
Religionsbetrachtung begegnet sind, überordnet. Damit ist ein 
Prinzip gewonnen, das dem Eigenwillen jede sittliche Berech- 
tigung abspricht und das zugleich dem sittlichen Bewußtsein 
einen absoluten Stützpunkt bietet, indem es jeden Zwiespalt als 
der Sphäre der Erscheinung angehörig durchschaut und dadurch 
aufhebt. „Der konkrete Monismus hebt jede substantielle Tren- 
nung, jede Fremdheit zwischen Gott und Mensch auf, indem er 
Gott als das eine Wesen erkennen lehrt, das in allen seinen Er- 
scheinungen lebt und webt; er beugt aber auch jeder Verwi- 
schimg des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch vor, in- 
dem er die Erscheinung und die in ihre Sphäre fallende Indivi- 
duation als die alleinige Wirklichkeit und objektive Realität 
hinstellt. Ich brauche Gott nicht mehr zu suchen — ja sogar, 
daß ich ihn schon habe, wäre viel zu wenig gesagt — denn was 
in mir ist, das ist Er; aber weder bin ich ein bloß aufzuheben- 
der und in ihm zu vernichtender Schein, noch ist mein Geistes- 
leben das absolute Geistesleben schlechthin." (Sittl. Bewußtsein 
S. 647.) 

Die in der Bewußtheit wurzelnde Fremdheit Gottes, die den 
Menschen dessen Gebote immer als die eines fremden Willens 
empfinden läßt, verschwindet auf dem Standpunkt des konkre- 
ten Monismus vollkommen. Zugleich offenbaren sich dort auch 



192 



ALMA VON HARTMANN 



1 Region dflf^^H 



die tiefen Zusammenhänge zwischen der warmen I 
Gemütes und der kühleren Region des Verstandeslebens. In* 
wunderbar harmonischer Weise wird die Vereinigung der Welt 
der Begriffe, deren Stütze der moderne Mensch nicht mehr ent- 
raten kann, mit der Welt der praktischen Zweckmäßigkeit voll- 
zogen. Gemüt und Verstand kommen in gleicher Weise zu ihrem 
Recht. Nicht die gewöhnliche Fertigkeit im Trennen und Ver- 
binden der einzelnen Faktoren des Geisteslebens, wie sie der 
Schulgebrauch überliefert hat, erhebt den Standpunkt des kon- 
kreten Monismus in der Ethik zu einer so einzigartigen Höhe, 
sondern die Überwindung des Egoismus in jeder auch der er- 
fülltesten Form an der Hand fortgesetzter Induktionsreihen, 
die die Wahrscheinlichkeit einer teleologischen Weltleitung zu 
einer so großen macht, daß sie jede ethische Skepsis von sich 
abzuschütteln vermag. Der organische Zusammenhang aller 
Entwicklungsstufen des sittlichen Bewußtseins drängt unwei- 
gerlich auch zur Beantwortung der letzten Frage nach dem 
Warum der Welt. „Auch der Ungebildetste, wofern er über- 
haupt ein denkender Kopf ist, hat eine Antwort auf jenes Wort 
bereit; wer einmal zur Erörterung metaphysischer Probleme 
aufgestiegen ist, wird noch weniger geneigt sein, sich die Be- 
schäftigung mit dieser Frage als ein noU me tangere verbieten 
zu lassen. Ja sogar die Materialisten geben auf dieses Wozu 
eine ganz bestimmte Antwort, wenn auch eine negative, denn 
sie behaupten, daß die Welt zu gar nichts, um nichts und wieder 
nichts, d. h. zu keinerlei Zweck da sei." (Sittl. Bewußtsein S. 
665 — 666.) Was aber der einen Denkrichtung erlaubt ist, das 
muß auch einer anderen frei stehen, weiui man nicht in den 
gröbsten Dogmatismus zurückfallen will. Die absolute Teleo- 
logie, d. h. die Teleologie des Weltprozesses vom Standpunkt 
des absoluten Subjekts aus gesehen, führt über das, was man 
im Menschheitsdasein Sittlichkeit nennt, hinaus und bereitet 
den Boden zu einer über alle Menschheitswerte hinausragen- 
den Erhabenheit. Der konkrete Monist weiß, daß er die Ein- 
heit mit Gott besitzt, aber er weiß auch, daß er dadurch nicht 
(wie die Ansicht der Mystiker zu allen Zeiten gewesen ist) 
selbst Gott wird, wenn auch der Unterschied nur einer der Er- 
scheinung, keiner des Wesens ist. ,, Die Welt ist nur die Summe 
der Erscheinungsindividuen, obschon in ihr die vom Schau- 
platz Abtretenden immer neu ersetzt werden und dadurch die 
immanente Qual perpetuiert wird; die Welt als Ganzes kann 



daher nur erlöst werden, wenn das Absolute erlöst wird. Das 
Individuum als solches findet also die Erlösung, deren es fähig 
ist, ganz von selbst im Laufe der Natur, die Welt aber findet 
sie nur durch die Beendigung des Weltprozesses, d. h. durch 
die Erlösung des Absoluten vermittelst der Erfüllung des Welt- 
zwecks." (Sittl. Bewußtsein S.688.) 

Wie alles in der Welt Mittel für den Menschen ist, so darf 
dieser sich nicht weigern, seinerseits Mittel für den Zweck des 
Absoluten zu sein. Er risse sich sonst von dem einheitlichen 
Boden der sittlichen Weltordnung los und fiele in den Dualis- 
mus von Ich und Welt zurück, den der Monismus auf sittlichem 
Gebiete gerade beseitigen will. Die Teilnahme und die Arbeit des 
Einzelnen an den Mittelzwecken ist die einzige Möglichkeit, sich 
praktisch zum Monismus zu bekennen, da jeder Rückfall in die 
Einzelhaft des selbstzwecklichen Egoismus den monistischen 
Standpunkt gefährdet. — 

Auf ästhetischem Gebiete hat man vielfach versucht, einen 
einheitlichen Quellpunkt für die Entstehung des Schönen zu 
verwerfen. Nach der Ansicht neuerer Kritiker soll es sich in 
der Ästhetik eigentlich weniger um das Kunstwerk als um den 
Künstler handeln, dessen Persönlichkeit so sehr den Mittelpunkt 
des Interesses bildet, daß man darüber sein Werk beiseite schiebt. 
Diese Auffassung hängt mit der von Nietzsche ausgehenden Strö- 
mung der Überschätzung des Individuellen zusammen, gegen 
die sich Hartmann immer energisch gestemmt hat. So hoch er 
im Leben eine charaktervolle und eigenartige Persönlichkeit zu 
werten wußte { — ,,das Glück der Liebe ruht aber auf der Liebe 
selbst und auf dem Wert der Persönlichkeit, der stets ein einzig- 
artiger und unvergleichlicher ist, und deshalb keine Vergleiche 
gestattet", schrieb er mir einstmals — ), sowenig wollte er von 
einem Fersönlichkeitskultus wissen, der ihm nur ein Altar der 
Eitelkeit zu sein schien. Vollends den Künstler und den For- 
scher über sein Werk zu stellen, das schien ihm der Gipfelpunkt 
einer Torheit zu sein, welche das Bewußtseins leben zu einer 
Wichtigkeit aufbauschte, die ihm den unbewußten Faktoren 
des Geisteslebens gegenüber nicht gebührte. Die Welt des Schö- 
nen war ihm durch und durch ideerfüllt; wie die Wahrheit auf 
dem Gebiete der Forschung, erschien ihm die Schönheit auf 
dem Gebiete der Kunst als der Leitstern des Schaflenden, als 
ein Strahl der göttlichen Idee, der vom unbewußten Geiste des 
Künstlers aufgefangen und wiedergegeben wurde im schönen 

Dv McKÜimui II 13 



I 

I 

I 



Schein des Kunstwerks. Freilich vermaß er sich nicht, das Letzte 
und Tiefste im Schönen aufdecken zu wollen. ,,Je höher und 
konkreter die Stufe der Idee ist, welche uns im ästhetischen 
Schein entgegentritt, desto schwerer wird es uns, ihre teleolo- 
gische Bestimmtheit und Bedeutung unmittelbar zu erkeimen 
oder uns dieselbe mittelbar, d. h. durch Konkreszenz aus ab- 
strakteren und darum leichter verständlichen Gestalten der 
Zweckmäßigkeit begreiflich zn machen, desto mehr sind wir 
auf das schon in den abstraktesten Stufen nicht zu entbehrende 
unbewußte, ahnungsvolle, gefühlsmäßig- implizite Erfassen des 
unbewußten, dem ästhetischen Schein immanenten Ideengehalts 
angewiesen." (Phil, des Schönen S. 19S.) 

Je" höher das Schöne, um so geheimnisvoller wird es; es er- 
greift am meisten, wenn das rationelle, diskursive, bewußte 
Denken in dem großen letzten Endes unerklärlichen Gefühl des 
Genießenden, dem die ahnungsmäßig erfaßte Idee des Weltplana 
aufgeht, verschwindet. Das materielle Universum ist das Mittel 
für das Zusichselberkommen des Geistes, und da es der Mensch 
ist, in dem das Bewußtsein dieses Vorgangs zuerst deutlich wird, 
so ist er es auch, der zuerst diese Beziehung seiner selbst zum 
Universum erfaßt und in der menschlichen Individualidee den 
höchsten Inhalt des Schönen wie den höchsten Inhalt des Da- 
seins erblickt. Die ästhetische Wirkung der Individualidee wird 
sich nicht auf den untersten und nicht auf den höchsten Stufen 
entfalten können. Die untersten Stufen der Individualidee, die 
Moleküle, Piastiden und Zellen sind durch ihre Kleinheit und 
die Ärmlichkeit ihrer geistigen Beziehungen von der Versinn- 
lichung im ästhetischen Schein ebenso ausgeschlossen wie die 
höchsten Stufen der Staaten, Planeten, Sonnensysteme undWelt- 
linsen durch die Größe, Feme und Unübersehbarkeit ihrer Be- 
ziehungen. Im Menschen spiegelt sich die geistige Bedeutung 
des Makrokosmos am deutlichsten, deshalb gibt die unerschöpf- 
liche Vielheit der menschlichen Individualideen auch für das 
Schöne den geeignetsten Inhalt dar. Aber auch auf diesem schein- 
bar dem Beschauer so klar zutage tretenden Gebiete bleibt das 
Letzte und Tiefste im Schönen ein Mysterium, und die Ästhetik 
vermag es nicht mit Worten aufzulösen. 

Hartmann wollte im Gegensatz zu den modernen Kritikern . 
und Theoretikern die Schönheit nicht aus dem Weltganzen los- 
lösen, sondern sie, hierin wieder ganz Monist, eingliedern in d 
große Reich der objektiven Zwecke. ,, Wahrheit, Religion und-J 




EDUARD VON HARTMANNS KONKRETER MONISMUS 195 

Schönheit treffen darin zusammen, daß sie Anfang und Ende, 
Ausgangspunkt und Schlußpunkt, Ursprung und Ziel, Grund 
und Zweck des Daseins zum tiefsten Inhalt haben, während die 
Sittlichkeit nur Durchgangspunkt und geistiger Weg zum Ziel, 
die materielle Kultur oder Menschheitswohlfahrt in bezug auf 
Befriedigung der realen Bedürfnisse sogar nur Sockel und Un- 
terbau für das ganze Leben des Geistes ist." (Phil, des Schönen 

S.461.) 

Im theoretischen Verhalten löst man im Streben nach der 
Wahrheit die sinnliche Scheinhaf tigkeit der Erfahrung auf, wäh- 
rend man sie im ästhetischen Verhalten gerade festhält und jede 
StÖnmg durch die abstrakte Reflexion abzuweisen sucht. Der 
ästhetische Schein ist als reiner Schein der theoretischen Wahr- 
heit, die auf Erkenntnis des objektiv Realen ausgeht, absolut 
entgegengesetzt, weil er gerade bestrebt ist, auch die Erschei- 
nung, also das objektiv Reale, in Schein aufzulösen und damit 
gerade den Gegenstand der theoretischen Erkenntnis vernichtet. 
Aber dieser Unterschied in formeller Hinsicht verschwindet, je 
mehr man sich der tieferen metaphysischen Bedeutung des Wor- 
tes Wahrheit nähert, die auf die Übereinstimmung der objektiv- 
realen Erscheinungswelt mit dem transzendenten Wesen imd 
Grunde derselben hinweist. Die Schönheit befindet sich zwar im 
Gegensatz zu der Wissenschaft, die es mit der realistischen Wahr- 
heit zu tun hat, aber sie ist der Philosophie mit ihrer metaphy- 
sischen oder idealistischen Wahrheit verwandt. „Die Schönheit 
beruht ebenfalls auf Übereinstinunung des Bewußtseinsinhalts 
des Beschauers mit dem idealen Wesen und Grunde der Welt, 
aber sie schließt ihrer Natur nach jenen Durchgang durch die 
reale Welt der Individuation und die Übereinstimmung mit der- 
selben aus, weiche von der Wahrheit gefordert wird, und macht 
unmittelbar den Sprung von der subjektiven Erscheinung als 
solchen auf das ideale Wesen. Die idealistische Wahrheit des 
Schönen entbehrt deshalb der Garantie einer jederzeit kontrol- 
lierbaren reflexionsmäßigen Vermittlung, wie die Philosophie 
sie von Rechts wegen haben muß, hat aber dafür die unmittel- 
bare, faszinierende Überzeugungskraft voraus, welche allein die 
sinnliche Anschauung und niemals die schrittweise reflektie- 
rende Vermittlung besitzt." (Phil, des Schönen S. 436.) 

Die reale Welt der Individuation erhält ihre innerste Daseins- 
berechtigung erst durch ihre Beziehung auf die metaphysische 
Wahrheit und dadurch ihren (monistischen) Zusammenhang 

13* 



X96 ALMA VON HARTMANN 

mit dem Weltganzen. Das Wesen der Schönheit, wenn man es 
auf die sinnliche Sphäre einschränkte und seiner Beziehungen 
zum metaph]rsischen Sein beraubte, würde in seinen gewaltigen 
Wirkungen ganz unTerständlich bleiben; was ihm seine Kraft 
verleiht, ist zwar in gewissem Sinne seine sinnliche Scheinhaf- 
tigkeit, die dem Menschen ja auch in anderer als in schöner Ge- 
stalt entgegentritt, würde aber seine Würde doch nicht erklären 
können. Alles, was den Menschen auf dem Gebiete des Schönen 
innerlich ergreift, ist nicht die konkrete, sinnliche Erscheinung, 
sondern der ideale Gehalt des Objekts, die idealistische Wahr- 
heit, die als sein wesentlicher Kern auch im Scheinhaften den 
ursprünglichen Wesensgrund erkennen läfit. In gewisser Weise 
ist es ja gerade hier, wo die materiellen Bedürfnisse schweigen, 
leichter, trotz der unumgänglich notwendigen Bedingtheit der 
sinnlichen Vermittlung die Beziehung auf den idealen Wesens- 
grund zu betonen. Diese idealistische Wahrheit des Scheins, die 
von der ihm auch anhaftenden realistischen Wahrheit abstra- 
hiert, kann nun immer nur annähernd der ungetrübte Ausdruck 
des ihm immanenten Wesensgrundes sein; aber die hohe Stel- 
lung des freien Kunstschönen im Weltganzen ist doch nur dar- 
aus zu erklären, daB in ihm die idealistische Wahrheit irgend- 
wie zur Erscheinung konunt. Das Schöne enthält gleichsam im 
Bild einen Ausschnitt der göttlichen Totalidee und rechtfertigt 
dadurch die hohe Lust des ästhetischen Genusses, die nur des- 
halb eine so intensive und nachhaltige sein kann, weil sie von 
teleologischer Bedeutung ist. „Die Schönheit wird Mittelzweck 
für den absoluten Geist sein müssen, sofern sie, die Wahrheit 
imd Religion ergänzend, im Schein oder Bilde das Weltdasein 
einerseits auf einen absoluten Grund bezieht und andrerseits auf 
dessen Relativität imd Oberwindbarkeit antizipierend zurück- 
deutend im sinnlichen Gewände selbst auf das Obersinnliche als 
dessen ideale Wahrheit zurückweist.^^ (Phil, des Schönen S.489.) 
Die teleologische Weltanschauung feiert in der Würdigung des 
Schönen ihren höchsten Triumph, da sie in ihrer Beziehung auf 
die ideale Seite des Weltprozesses allein der Erhabenheit des 
Schönen gerecht zu werden vermag, während die mechanisti- 
sche Weltanschauung in der Ablehnung jedes metaphysischen 
Hintergrundes auf jedes Erklärungsprinzip und damit auf jede 
Ästhetik verzichten muB. Freilich wird die adäquate Objektiva- 
tion der Idee dadurch gehemmt, daB sie sich des Künstlers als 
Mediums bedienen muB, und dieser immer wieder ein Kind sei- 



ner Zeit lond den Einflüssen derselben Untertan bleibt. Das Schö- 
ne, das seine Berechtigung aus der es beseelenden Idee herleitet, 
muß es sich heute gefallen lassen, seinen Berechtigungsnach- 
weis auf allen Gebieten neu zu führen. Die Ästhetik, die ja 
eigentlich eine Lehre von den Gesetzen des Schönen ist, wird 
geradezu zu einer Wissenschaft der Gesetzlosigkeit gestempelt, 
und jeder Kritiker fühlt sich berufen, die vollständige Freiheit 
des Künstlers von allen ästhetischen Gesetzen als das innerste 
Wesen seines Genius zu proklamieren. Nie ist irgendwo der Plu- 
ralismus üppiger ins Kraut geschossen als auf dem Felde der 
Kunstkritik (die sich fälschlich Ästhetik nennt, wenn sie nicht 
einfach vorzieht, die Ästhetik als Wissenschaft vom Schönen 
einfach zu ignorieren), weil sie den Zusammenhang von Schön- 
heit und idealem Wesensgrund nicht kennt, nicht kennen will 
und an seine Stelle den ausschweifendsten künstlerischen Indi- 
vidualismus mit seiner alle Gesetze verachtenden Willkür setzt. 
Daß die umfassendste Bekanntschaft mit dem empirischen Ma- 
terial nicht genügt, um die Gesetze und das Wesen der Schön- 
heit zu ergründen oder ein Kunstwerk zu erschauen, ist diesen 
Ästhetikern, die ganz in das reale Objekt versenkt sind und in 
der Naturtreue das wesentlichste Kriterium eines Kunstwerks 
sehen, schwer verständlich zu machen, weil die Tatsache der 
vorhandenen Künstlerschaft sie blendet gegen eine Herleitung 
des Schönen aus anderen Quellen als denen der Willkür des 
schaffenden Künstlers. 

Aber das theoretische Interesse, das die innerliche Wahrheit 
des Schönen zu ergründen strebt, läßt sich auf die Dauer an 
dem Hinweis auf die subjektive Kraft des Künstlers als allein 
gesetzgebenden Faktor nicht genügen, sondern schreitet fort zu 
neuen Fragen und Antworten, die dem Schönen einen selbstän- 
digen Platz im Weltganzen sichern und seine Bedeutung vor 
und trotz allem, was sich heute Künstlerschaft nennt, sicher- 
stellen. Alle Richtungen des geistigen Lebens bedingen und un- 
terstützen sich gegenseitig, eine von ihnen ganz unterdrücken 
zu wollen, hieße die Triebkraft der anderen mit beschneiden. 
Schönheit, Religion, Wahrheit und Sittlichkeit stehen mitein- 
ander in Zusammenhang. Die Immanenz des göttlichen Wesens- 
grundes in der Erscheinungswelt ist das ewige Thema alles 
Kunstschönen, und in der Religion ist sie das Motiv der Sittlich- 
keit. „Die Wahrheit ist klar und hell aber kalt, die religiöse 
Andachtsglut heiß aber dunkel und unfaßbar bestimmt in dem 



198 



ALMA VON HARTMANN 



Inhalt des mystischen Gefühls, die Schönheit klar und bestimmt' 
\a ihrem Sinnenschein und mildwarm in ihren ästhetischen 
Scheingefühlen, aber doch mysteriös und unsagbar in der Ein- 
heit des klaren Scheins und des in ihm gefühlsmäßig geahnten 
idealen Gehalts." {Phil, des Schönen S. 463.) 

Wenn man den Lebensnerv des Schönen unterbindet, ver- 
trocknet es zu harter Realität und vermag seine befreiende 
Kraft, die es allein durch seine Beziehung auf den idealen We- 
sensgrund erhält, nicht mehr auszuüben. Selbst auf den nieder- 
sten Stufen des Schönen, z. B. dem mathematisch Gefälligen, 
wird das ästhetische Gefallen nur durch die Versinnlichung des 
idealen Gehalts erreicht, weil die sich darin aussprechende 
Logizität der Idee es ist, die dem idealen Bedürfnis des Be- 
schauers ,, angenehm" auffällt, ohne daß er sich natürlich über 
die Gründe seines Wohlgefallens klar wird. 

Hartmann hat in einer zweibändigen Ästhetik, deren erster 
Teil eine umfassende Übersicht aller irgendwie namhaften ästhe- 
tischen Systeme und Ansichten seit Kant enthält, während der 
zweite Teil, die ,, Philosophie des Schönen" das Wesen und die 
Gesetze des Schönen darstellt, den Versuch unternommen, auch 
auf ästhetischem Gebiet den konkreten Monismus zur Geltung 
zu bringen, und dem wichtigen von Schiller zuerst angewandten 
Begriff des ästhetischen Scheins einen festen Platz zu erringen. 
,,Das Schöne ist das Scheinen der Idee." In diesem kurzen Satz 
faßt sich der ganze reiche Inhalt des großen Werks zusammen. 
Ohne die Idee wäre das Schöne ein einzelhaft Zufälliges, das 
ebenso auch nicht sein konnte; ohne den sinnlichen Schein 
büßte es seine Wirklichkeit ein. Freilich ist dieser Schein auch 
wieder etwas von der realen Wirklichkeit mit ihren materiellen 
Bedürfnissen Losgelöstes, aber diese Ablösung ist doch nur eine 
von dem ästhetisch Genießenden vollzogene, die an die Bedin- 
gungen der Konkretion gebunden ist. Die immanente Idee muß 
der Perzeption wie der Produktion des Schönen zugrunde lie- 
gen, weim sie auch unbewußt bleibt. Bei der Produktion des 
Naturschönen wird das kaum angezweifelt, während man die 
Produktion des Kunstschönen, also das Schaffen des Künstlers, 
gern von der Unbewußtheit der ihn erfüllenden Idee befreien 
und dem bewußten Seelenleben allein unterstellen möchte. Aber 
die innerliche künstlerische Bestimmtheit stammt aus Tiefen, 
die dem diskursiven Verstände unzugänglich sind; nur die ne- 
gative Kritik und die technische Beihilfe sind bewußten Ur- 



I 



Sprungs. Gerade die UnbewuBtheit des künstlerischen Genius ist 
es, die ihn mit der höchsten Kraft erfüllt; je größer seine Fähig- 
keit ist, sich in die Abgründe unbewußten Schauens zu versen- 
ken und die Nähe des göttlichen Wesens zu spüren, um so 
größer die Werke, Mit dem Bewußtsein ist das Mysterium der 
Schönheit nicht unmittelbar zu erfassen; nur mittelbar in den 
durch das Kunstwerk hervorgerufenen Scheingefühlen geht uns 
eine Ahnung von der Erhabenheit der dem Schönen zugrunde 
liegenden Idee auf. Dann erst sind wir annähernd imstande, die 
Stellung des Schönen im Weltganzen zu begreifen. Die alte 
Möglichkeiten umspannende Totalidee ist der Wiedergabe im 
ästhetischen Schein entrückt, weil sie als abstrakter Begriff 
nicht versinnlicht werden kann. Aber die Immanenz dieser Idee 
kann in ihren Spaltungen als Partialidee erfaßt werden und be- 
währt ihre Kraft dadurch, daß sie um so höhere ästhetische 
Wirkungen erzielt, je deutlicher sie „einerseits den Gliedbau 
der Totalidee im kleinen in sich wiederholt, und je deutlicher 
sie sich andrerseits auf die Totalidee bezieht", (Philosophie des 
Schönen. ) 

Aber die absolute Idee ist noch nicht das letzte metaphysische 
Prinzip, auf das das Schöne hinweist. Hinter ihr steht der abso- 
lute Geist, der außer der Idee noch den Willen in sich befaßt. 
Freilich hat dies zweite Attribut der absoluten Substanz im 
Schönen direkt kein Betätigungsfeld, weil der ästhetische Schein 
die Realität von sich ausschließt. Aber die Idee bietet doch im 
Schönen ein Bild tatsächlicher Verhältnisse, die schließlich nicht 
nurinlogischenBeziehungen, sondern auch in Willenskonflikten 
bestehen; sie repräsentiert also nicht bloß sich in ihrer Logizi- 
tät, sondern auch sich in ihrer Anwendung auf das Alogische 
des Realisationsprinzips und vertritt also, wenn auch nur ideell, 
den absoluten Geist auch im ästhetischen Schein. Dem Natur* 
schönen ist der absolute Geist sowohl nach seinem Ideal- wie 
nach seinem Realprinzip immanent; im freien Kunstschönen 
ist er nur noch ideell vorhanden, wenn er auch vorher noch in 
der Person des Künstlers als real wirkender aufgetreten war. 
Es ist also lediglich die Idee, die im Schönen den absoluten Geist 
vertritt und das Realprinzip, d. h. die dynamischen Veriaältnisse 
aktueller Energien nur indirekt wiedergibt. , .Indern der ästhe- 
tische Schein von der Realität, der er anhaftet, durch das ästhe- 
tisch auffassende Subjekt abgelöst wird, wird zugleich auch die 
Idee von dem Willen abgelöst, den sie übrigens fortfährt, durch 



I 



I 



I 



200 ALMA VON HARTMANN 

die geiefamiBigen dynamischen Intensttätsrerhihniflse mit ab- 
zoMpiegiin; beides ist aber keine reelle Ablösung, sondern eine 
bloB sub jektsre Abstraktion, die das Ding an sidi und die ihm 
immanente Einheit Ton Idee und Wille tatsächlich unberührt 
läBt" (PhU. des Schönen S. 473) 

Im individualistischen Pluralismus der BewuBtseinsphiloso- 
phie wird die Wahrheit verschleiert^ daB es der absolute Geist 
ist, der im Künstler die Konzeption hervorruft und die Schaf- 
fenskraft anregt; im konkreten Monismus kommt diese Wahr- 
heit zu leuchtender Klarheit. Der konkrete Monismus sieht „im 
Wirken des Künstlers nur eine Fortsetzung des künstlerischen 
Wirkens des unbewußten absoluten Geistes in der Sphäre der 
bewufiten Geistij^t, eine gesteigerte Naturwirksamkeit auf 
höherer Stufe". (PhiL des Schönen S. 474.) Nur im konkreten 
Monismus wird die ästhetische Lust am Schönen vollkommen 
erklärlich, weil man das Schöne als eine der Ofienbarungswei- 
sen des absoluten imbewuSten Geistes erkennt und dabei eine 
Konformität zwischen der Beschaffenheit des lustbringenden 
Objekts und der Beschaffenheit des aufnehmenden Subjekts 
konstatiert, die die monistische Wurzel des Vorgangs bloßlegt. 
Die Tatsache der ästhetischen Illusion, in der das Subjekt sich 
ganz verliert imd an das Objekt hingibt, findet nun erst die 
richtige psychologische Würdigung. In der Hingabe an den rei- 
nen Schein des Schönen, in der Loslösung der ästhetischen 
Scheingefühle von jedem praktisch materiellen Hintergrunde 
vollzieht sich, wenn auch nur momentan, jene Vereinigung mit 
dem absoluten Geist, die als Sehnsucht den Einzelnen, der sich 
der Trennungsschranken einmal schmerzlich bewußt geworden 
ist, durch das ganze Leben begleitet. „Vor dem Anblick des 
Schönen erstirbt wie in der Liebe ,das Ich, der finstere Despot^ 
um im Morgenrot der Schönheit als einsgeworden mit dem Ob- 
jekt, d. h. hier mit der Selbstoffenbarung des absoluten Geistes, 
wieder aufzuerstehen. Die Ichheit ist aber der Kerker, in den 
das Subjekt gebannt ist, aus dem sich sein besseres Teil hinaus- 
sehnt nach Erlösung; all sein heimlichstes und innerlichstes 
Trachten und Sehnen geht nach Wiederaufhebung der objektiv- 
realen Phänomenalitätsschranke, durch welche es von Gott ge- 
schieden ist, nach Wiederherstellung der in der Individuation 
aufgehobenen vollen Einheit mit Gott, die es in der Sphäre der 
Realität vergeblich anstrebt.'' (Phil, des Schönen S. 488.) 

Die Erkenntnislehre bietet die monistische Wahrheit dem 



Verstände in abstrakt begrifflicher Form, die Religion eine Ah- 
nung davon im mystisch religiösen Einheitsgefühl; auf dem Ge- 
biete der Ethik bewährt sie sich in dem Prinzip der Wesens- 
identität der Individuen untereinander und mit dem Absoluten; 
die ästhetische Illusion verwirklicht sie auf dem Gebiete des 
Schönen am unmittelbarsten und bringt sie auch denen zum 
Bewußtsein, die sich der philosophischen Erkenntnis und den 
religiösen Gefühlen sonst zu verschließen pflegen. 



INHALT DES ZWEITEN BANDES 



ARTHUR LIEBERT, Monismus und Renaissance . z 
MARIE JOACHIMI-DEGE, Zur Geschichte des Mo- 

nismus 33 

OTTO WEISS, Schopenhauers Monismus .... 60 

MAX WENTSCHER, Lotzes ,,Monismus'' .... 82 
WILHELM VON SCHNEHEN, Haeckels ,,reiner'< 

imd »»konsequenter^' Monismus Z03 

OTTO BRAUN, Rudolf Euckens Monismus . . . 149 
ALMA VON HARTMANN, Eduard von Hartmanns 

konkreter Monismus 175 



DER MONISMUS 

DARGESTELLT IN BEITRÄGEN SEINER VER- 
TRETER. HERAUSG. VON ARTHUR DREWS. 
BAND I. SYSTEMATISCHES. Br. Mk. 6.—. geb. Mk. 7.50 

Inhalt: Arthur Drews, Die verschiedenen Arten des Manis- 
mus. Wilhelm von Schnehen, Monismus und Dualismus. 
Leonhard Veeh, Monismus und Individualismus. Otto Braun, 
Monismus und Ethik. Friedrich Steudel, Monismus und 
Religion. Karl WoUf, Monismus und Kunst. Christoph 
Schrempf, Monismus und Christentum. Max Dressler, Der 
Monismus des Gesetzes und das Ideal der Freiheit. Bruno Wille, 
Faustischer Monismus. Karl Paul Hasse, Parmenides. Hans 
Thoma, Die 6 Schöpfungstage. 

GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA, Ausgewählte Schriften. 
Übersetzt und eingeleitet von ARTHUR LIEBERT. Mit Porträt. 
Er. Mk. 8. — , in Halbpergament geb. Mk. 10.^ 
Inhalt: Picos Leben und Philosophie. Briefe von und an Pico. Heptaplus. 
Ober das Sein und die Einheit. Ober die Würde des Menschen. Apologie. 
Theologische Aphorismen. Gebet an Gott. Gegen die Astrologie. 
Walter Pater: Er »uchte Erkenntnis und ging von System zu System 
und wagte viel, aber neniger, weil er wirkliches Wissen wollte, als weil er 
an eine Welt der Ordnung und Schönheit im Wissen glaubte. In dieser 
Einheit der Gegensitze, im lebendigen Wesen des Menschen Pico liegt 
seine geheime Anziehungskraft für uns. Er läBt uns nicht los, so daB wir 
die vergessenen Seiten seiner Werke wieder und wieder nachschlagen 



MARIE JOACHIMI, Die Weltanschauung der deutschen Romantik. 
Br. Mk. 4.—, geb. Mk. 5.— 

Inhalt: Die literaturgeschichtliche Stellung der Romantik. Die Stellung 
der Romantik in der Philosophie. Die Gottheit. Das Universum. Die 
Menschheit. Die romantische Poesie. Das Genie. Kunstwerk und Kunst- 

„Während Haym die einzelnen Strömungen der Romantik nachweist, zeigt 
ims Marie Joachim! den See, in den sie alle einmünden, die romantische 
Weltanschauung. Aus allen Blüten der Romantik saugt sie den Honig, aus 
allen Werken der Romantiker nimmt sie das Wertvolle und Charakteristische 
und verarbeitet es zu einem einheitlichen Weltbilde, wie es in der Seele 
der jungen Dichter und Denker sich abgespiegelt hat. Das scheinbar 
Widerspruchsvolle lost sich bei ihr auf in Harmonie, und als organisches 
Ganzes überblicken wir nun die vielumstrittene, vieldeutige Romantik. 
Und die ganie schwierige Interpretation ist in eine schSne Form ge- 
gossen. Nicht nur der richtigste, sondern auch der schönste Ausdruck 
steht Marie Joachim! zu Gebote. In stilistischer Vollendung deutet sie 
uns das tiefsinnige Weltgedicht, die Romantik." Der Bund (Bern) 



GEDRUCKT BEI 

OSCAR BRANDSTETTER 

IN LEIPZIG 



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Stanford University Libraries 
Stanford, California 




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