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MONISMUS
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MIT BUCHAUSSTATTUNG VON F. H. EHMCKE.
VON DIESEM BUCHE WURDEN 30 ABZÜGE ZUM
PREISE VON FÜNFUNDZWANZIG MARK FÜR
JEDES EXEMPLAR AUF OLD STRATPORD BÜT-
TEN HERGESTELLT / IN PERGAMENT GEBUN-
DEN UND HANDSCHRIFTLICH NUMERIERT
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ARTHUR LIEBERT • MONISMUS UND
RENAISSANCE
i IE kultur- und philosophiegeschichtliche
Forschung unserer Tage hat sich mit fast
ungestümer Begeisterung dem gewaltigen
Problemkomplex der Renaissance zuge-
wendet. Und Je mehr unsere Einsicht in
] die Struktur dieser Zeit gewachsen ist, um
so mehr haben wir uns als ihre Zöglinge
^ und als Fortsetzer vieler ihrer Anpflan-
zungen auf theoretischem und praktischem Felde erkannt. In
gleichem Maße ist aber auch unsere Bewunderung, ja unsere
Verehrung für sie gewachsen; und das Gefühl unserer Ver-
pflichtung ihr gegenüber ist immer größer geworden. Der Zau-
ber jener Zeit will nicht verblassen.
Allerdings ist vor der rücksichtslosen wissenschaftlichen Ana-
lyse mancher romantische Nebel zerstoben. Scheinbar Uner-
klärliches, das wie ein großes Fragezeichen in der geschicht-
lichen Situation dastand und jede kausale Begründung zu-
rückzuweisen schien, ist als ein natürliches Produkt des histo-
rischen Geschehens dargetan worden. Oft ist es gelungen, die
treibenden Ursachen aufzufinden, soweit wissenschaftlicher
Erklärung eine solche Leistung überhaupt vergönnt ist. Die
eindringende und allseitige Durchleuchtung jenes Kultur-
systems, das in fast überirdischem Glänze erstrahlte, hat die
Tatsache zahlreicher Entlehnungen und Abhängigkeiten von
der mittelalterlichen Scholastik ans Licht gestellt. Wir haben
gelernt und lernen immer mehr, daß die Abbiegung von der
mittelalterlichen Fährte zwar den üblichen Schritt geschicht-
licher Entwickelung übertrifft, aber doch das Prinzip des orga-
nischen Werdens nicht verleugnet. In den Adern der Renais-
sance fließt noch manches Tröpflein scholastischen Blutes, und
die Antike ist nicht ihre alleinige Nährmutter gewesen.
Unser Enthusiasmus für die Renaissance ist keineswegs in
erster Linie die Folge jener Anerkennung, die aus der wissen-
schaftlichen, sozusagen rein objektiven Geschichtsbetrachtung
sich ergibt. Andere, stärkere Momente treten auf den Plan. Sie
erst knüpfen jene Fäden. Sie erst räumen der Renaissance jene
ganz einzigartige Stellung in der Ahnenreihe vergangener Kul-
turperioden ein , die uns doch alle Güter zu Lehen übertragen
haben. Sie erst stellen die Renaissance dem klassischen Alter-
tum als ebenbürtige Schwester zur Seite. So ist das, was uns
ihrem Lichtkreis so ganz besonders naherückt, mehr als das
alltägliche Bewußtsein unserer historischen Dependenz von ihr.
Stand denn die Wiege unserer Kultur allein in der Blütenstadt
Florenz ?
Historische Pietät wird erst dann zur Liebe, wenn neben der
Einsicht in die Abhängigkeit das Gefühl der Verwandtschaft, die
Überzeugung geistiger Gleichheit mit gleicher Rechtsgeltung
auftritt. BloBe Abhängigkeit schUeßt nicht die Möglichkeit und
die Ausprägung strenger Wesensverschiedenheit aus. Rein
historisch gesehen, lagern in der Kultur der Renaissance uns
verwandt anmutende Züge in enger Verbindung neben solchen,
die aus einer uns fremd gewordenen Schicht von bloß antiqua-
rischer Bedeutung herstammen. Aber jene ersteren Züge allein
sind es, die für uns noch einen lebendigen Wert besitzen. Sie
allein sind es, die eine mehr als historische Teilnahme herausfor-
dern, Sie allein gewähren die festen Grundlagen für unsere Be-
ziehungen und Sympathieen. Wir fassen nicht sowohl die-
jenige Geltung, die sie in ihrer Zeit besessen haben, ins Auge als
die Geltung, die sie in ihrer kausalen Auswirkung errangen.
Das aber sind dann diejenigen Potenzen der alten Kultur,
welche dem Geiste unserer Zeit fruchtbare Anregung gegeben
und ihre Kraft auch zur Stunde noch nicht eingebüßt haben.
Derartige Werte mögen zu ihrer Zeit nur zarte Keime, nur
schwache Ansätze, Gedanken der Dämmerung und des Halb-
dunkels in wenigen Auserwählten gewesen sein : Wir dagegen
sehen sie stark und herrschgewaltig, weil wir in ihre Betrach-
tung den uns von ihnen gespendeten Wert hineinlegen, weil die
Kenntnis ihrer Leistung, die Einsicht in ihre spätere historische
Fruchtbarkeit unbewußt mit einfließt in die objektive Unter-
suchung ihrer tatsächlichen Macht zur Zeit ihres Entstehens.
So verwechseln wir den Keim mit der Spende. Wir ignorieren,
übersehen ihren Kampf gegen die brüske Masse der Tradition.
Wir befreien sie von ihrer Vermischung mit denjenigen Ele-
menten, die für uns zu inhaltslosen, bloß historischen Reiz be-
sitzenden Raritäten erstarrt und verknöchert sind. Daß aber hier
konstruktives Bemühen mit im Spiele ist, gestehen wir offen ein.
I
Auf diese Weise grabe:i wir die intimen, die unmittelbar psr-
s&nlichen Beziehungen auf. Wir schieben die bunte Fülle das
historischen Materials zur Seite und lösen jene M^mante heraus,
die zu unserem persönlichen Empfinden sprechen, die in ihrer
menschheitlichen Geltung und Hohe jenseits zeitgeschichtlicher
Bedingtheit stehen.
Da zeigt sich denn eine seltsame Gleichartigkeit des geisti-
gen Wesens der Geganwart mit der Z;it der Renaissance, eine
tiefe und bedeutsame Verwandtschaft in jenen metaphysi-
schen Tendenzen, in jenen gehsimnisvollen Charakterkräften,
die dem theoretischen wie praktischen Menschen seine Stellung
zur Welt und ihren Problemen festlegen. Wenn wir den Schutt
der, wie in jeder Periode, so auch damals vorhandenen Anlage-
rungen wegräumen, so begegnen wir einer beinahe faszinieren-
den Ähnlichkeit der Lebenstemperamente. Bildet diese aber
nicht schließlich die Voraussetzung für alles Verständnis, und
nicht nur für das Verständnis, sondern ebenso für alle Billigung
und Sympathie? Und wenn es die Metaphysik ist, welche die
großen Erlebnisse und Weltdeutungen einer Zeit oder einer Per-
sönlichkeit in das Schema einer abstrakten Formel zu bannen
sucht, so werden wir uns darüber nicht wundern, daß der Nie-
derschlag des mataphysischen Triebes unserer Zeit mehr als
ein Symptom der Verwandtschaft mit der Metaphysik der
Renaissance aufweist. Wir müssen die verhallenden Schläge
und leisen Hoffnungen des Herzens einer alten Zeit in uns zu
kräftigem Widerhall erwecken, um jene Zeit klarer zu sehen,
als sie sich selbst sah, um in dem Echo ihres Tongewirres den
Leitton zu vernehmen. Nur bei einer derartigen, fast rücksichts-
losen historischen Abstraktion, nur bei einer solchen Verein^
heitlichung und Vereinfachung, nur bei einer solchen Her-
anziehung des historischen Gefühls, das an einem Gesamt-
komplex zeitlicher Gegebenheiten das historisch Wertvolle
und Bedeutsame instinktiv auszeichnet, offenbart sich die
auffallende Ähnlichkeit des gedankenvollsten Ergebnisses der
Renaissancephilosophie mit dem Kerne unserer Weltinterpre-
tation, mag die Energie jenes Gedankens damals schon zu
voller Entfaltung gelangt sein oder nicht. Und so stellen wir
die Fragen :
Welches ist die Weltformel der Renaissance!'
WelcheGeltunghat sie für das Verständnis der Welt-
totalität?
Welches ist ihre psychologische Voraussetzung und
welches die Geistesverfassung ihrer Vertreter?
In welcher Weise gewinnt sie in den einzelnen phi-
losophischen Disziplinen grundlegende Kraft?
I. DIE WELTFORMEL DER RENAISSANCE
Schon die Beantwortung der ersten Frage scheint auf unauf-
hebbare Schwierigkeiten zu stoßen. ,, Renaissance" bedeutet ja
nicht einen einheitlichen, in sich geschlossenen und abgegrenz-
ten Begriff. Einer rund drei Jahrhunderte umfassenden, mit
heißer Kraft fortschreitenden Entwickelung entspricht eine
unübersehbare Fülle kraus gemischter Ansichten über Gott und
Welt. Vielgestaltig ist die Schar antiker Philosopheme, die in
jener Zeit ihre Auferstehung feiert. Wo bleibt da die Möglich-
lichkeit, eine einheitliche, allgemein zutreffende Weltformel
zu finden, wenn die historische Mannigfaltigkeit nicht scho-
nungslos preisgegeben werden soll ?
Die Schwierigkeiten lassen sich aber beseitigen. Zu ihrer Til-
gung hat die Renaissance selbst Hand angelegt. Sie bleibt nicht
bei der Vielheit geschichtlicher Traditionen und metaphysischer
Systeme stehen, so bereitwillig sie ihr auch das Tor geöffnet hat.
Mit eigentümlicher Spürkraft sucht sie in der Vielheit der Theo-
reme eine letzte Übereinstimmung, eine „Concordanz", um so
die Menge zur Einheit zusammenzuschnüren. „So weit die
Systeme aller Denker voneinander abzuweichen scheinen,"
sagt einer ihrer Wortführer, Giovanni Pico, ,,so sind sie im
Grunde genommen doch alle die Ausläufer einer und derselben
Wahrheit, die Ausstrahlungen einer Sonne."
Diese zahlreich unternommenen Versuche, den Nachweis der
Einstimmigkeit zu führen, — hier steht an erster Stelle der Neu-
platoniker MarsiUo Ficino — sind jedoch nichts weniger als
vorurteilslose, sachliche Untersuchungen. Eine dogmatische
Antizipation führt die Feder. Wir werden sogleich sehen, wor-
in diese besteht. Vorerst sei der monistische, unifizierende Zug
der Renaissance gleichsam in seiner äußerlichsten Form kon-
statiert. Jene Zeit erträgt es nicht, Pythagoras, Piaton, Ari-
stoteles, Plotin, Proklus und das ganze Heer der Kirchenväter,
ja die Häupter der arabischen Philosophie als voneinander iso-
lierte Götzen hinzustellen, von denen jeder der Lehre und dem
Kultus des anderen Fehde angesagt habe. Ein Grundgedanke
lebe in allen Systemen, ein einheitlicher Geist durchwehe sie
alle. Das ist die herrschende Überzeugung. Welches ist aber
dieser Geist? Ist er einem Vertreter jener Reihe im besonderen
zu eigen? Mit nichten. Er besteht vielmehr in demjenigen Ge-
danken, der ihnen allen gemeinsam ist, in dem sie nicht von-
einander abweichen.
Wenn nun in der Renaissance Deduktionen zur Auffindung
jener Einheit unternommen werden, so ist es von vorneherein
klar, daB sie sich nicht auf eine objektive Analyse stützen
können. Richtet man den Blick ernsthaft auf die eben erwähn-
ten Denker, so ergibt sich von Anfang an die Aussichtslosig-
keit aller Versuche der „Concordanz", Aus allen Ecken und
Enden der Welt des Geistes sind Vertreter herangezogen. Will
man sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringen: Nun,
ohne dogmatische Antizipation ist die Durchführung einer sol-
chen Zusaramenkoppelung auf ewig ein leerer Wahn.
Dieses Dogma ist nun das gleiche, das auch bei den eigenen
Sy Stern bildungen der Renaissance wirksam und grundlegend
ist. Es ist das Dogma des monistischen Pantheismus.
Es ist die charakteristische Voraussetzung der weithin ver-
tretenen Lehre von der Geistigkeit oder Göttlichkeit des
Alls. Das ist der Grundgedanke, das Leitmotiv, das sowohl
für alle Unifizierung der ererbten Systems wie für den Aufbau
der eigenen zur Richtschnur dient. Mit resoluter Vergewalti-
gung weist man die Spuren jenes Gedankens aller Orten in der
Vergangenheit nach. Und in den philosophischen Schöpfungen
der Renaissance selbst betätigt er seine inspirierende Kraft,
von seiner noch etwas verfließanden Fassung bei dem groflen
Deutschen Nikolaus Cusanus an bis zu seiner scharfen und
klassischen Ausprägung in dem gewaltigen Weltsystem Gior-
dano Brunos.
Brunos Weltsystem, getragen von einem hinreißenden philo-
sophischen Eros, überstrahlt alle vorhergehenden, noch im
unsicheren Zwielicht schwebenden pantheistischen Gedanken
durch die unvergleichliche Konzentration seines Ausdrucks,
durch die Leidenschaft seines Vortrages utid besonders durch
die zu begrifflicher Klarheit durchgedrungene Erkenntnis des
metaphysischen Weltprinzipes. Gemüt und Verstand wirken in
ihm in vielverflochtener Verbindung. Im Geiste Giordano
Brunos leuchtet die Gesamtidee der Renaissance in
hellster Eigenbesinnung auf. Brunogibt dasMotto für die
Metaphysik der Renaissance. Er formuliert den Satz: ,,GeistEn-
det sich in allen Dingen, und es ist auch nicht das winzigste
Körperchen, das davon nicht einen ausreichenden Anteil an sich
hätte, um sich beleben zu können," Und immer wieder und in
immer neuen, durch glückliche Gleichnisse unterstützten Wen-
dungen verkündet er den großen Gedanken, daß kein Ding des
göttlichen Geistes entbehre, daß die Weltseele, daß die Gott-
heit in jeglichemDinge als allgegenwärtige, immanente Gestal-
tungs- und Lebenskraft wirksam sei.
Der Allbeseelungsgedanke ermöglicht das spekulative Gerüst
der Renaissancephilosophie, ein zwar nicht neuer, doch küh-
ner Gedanke, der über das Weltpanorama einen seltsamen
Schein ausgießt. Ein Gedanke der Spekulation und deshalb we-
der das Resultat induktiven noch analytischen Verfahrens. Die
Geistesart und die Grundgesinnung jener Philosophen macht
die Gewinnung einer Erkenntnis durch eines dieser beiden Vor-
gehen von Anfang an unmöglich. Wir werden noch einen Ein-
blick in die Werkstatt ihres Geistes tun. So viel sei schon jetzt
gesagt: Durchdringende Aufmerksamkeit, genaueste Beobach-
tung dessen, was die Kreise der Erfahrung zu bieten vermö-
gen, finden sich nicht unter den Organen ihrer psychischen
Verfassung.
Wird nun überhaupt jegliches System der Vergangenheit in
das Licht jenes Gedankens eingetaucht, so ist es natürlich, daß
diejenige Philosophie, die schon von sich aus in pantheistischem
Lichte strahlt, In eine dominierende Stellung einrückt. Das ist
der antike Neuplatonismus, die mystisch - theosophische
Metaphysik eines Ammonias Sakkas und seines großen Schülers
Plotin, des scharfsinnigen Proklus, des Jamblichus und ihrer
Trabanten. Ihre Wiederbelebung ist nach dem bahnbrechenden
Vorgange des Georgios Gemistos Plethon das Werk der Mit-
glieder der Florentiner Akademie, der ästhetisierenden Philo-
sophen und Humanisten des Hauses Medici, eines Marsilio
Ficino, Giovanni Pico della Mirandola, Angelo Poli-
ziano u. a.
Die philosophische Kraft des Pantheismus ruht in seinem
Zuge zum MoniEmus. Der Monismus besitzt sowohl die Be-
deutung des Ausgangspunktes, die Bedeutung der psychologi-
schen Grundvoraussetzung, eines Wunsches, einer HoHnung,
wie such die des Endes und der Erfüllung. Mit der Göttlich
keit der Welt wird zugleich ihre Einheit proklami
Und mit der Einheit ihre Harmonie.
I
MONISMUS UND RENAISSANCE 7
' Somit können wir die gesuchte Formel aussprechen. Die
Wirklichkeit ist ein einheitlicher, geschlossener, har-
monischer Zusammenhang. Sie ist eine einheitliche,
göttliche Substanz, in der alle Unterschiede und Be-
dingtheiten des Einzelnen und Endlichen und Zeit-
lichen aufgehoben sind, eine kosmische Einheit, die
alle Vielheit ausschließt. Jeder Teil hat im Ganzen
seine Notwendigkeit.
Als eine lebendige, geistig -göttliche Totalität wurde die Wirk-
lichkeit begriffen. Sie erhielt so ihre metaphysische Tiefe und
Großartigkeit. ,, Wirklich leben" und „an Gottes Sein Anteil ha-
ben", sind kongruente Vorstellungen. Unzählige Male begegnet
diese in dem Boden religiös-mystischer Überzeugung verankerte
Ansicht in den philosophischen Schriften jener Zeit. So lehrt C u -
sanus: ,,Gott ist die absolute Einheit, vermöge welcher alles
wirklich ist, was sein kann." — ,,Die unendliche Einheit ist der
Inbegriff von Allem. — Gott ist der Inbegriff von Allem in dem
Sinn, daß Alles in ihm ist ; er ist die Entfaltung von Allem, so-
fern er in Allem ist" (Scharpff). Die gleiche Anschauung spricht
Giovanni Pico in markanten Worten aus: ,, Alles, was ist, ist
in Gott, Er ist eines jeden Dinges wirkende, vorbildliche und ziel-
setzende Ursache." — ,,Im Sein der Dinge können wir Gottes
schöpferische Kraft bewundern, in ihrer Wahrheit die Weis-
heit ihres Bildners verehren, bei der Behaglichkeit, in der sie
sich befinden, jubeln über die Freigebigkeit dessen, der sie mit
seiner Liebe umfängt, aus der Einheitlichkeit ihres Seins end-
lich die klare Einheitlichkeit ihres Schöpfers entnehmen." Und
Agrippa von Nettesheim bekennt sich zu demselben Ge-
danken, Auch ihm ist das All eine geistig-göttliche Einheit, der
alle Teile organisch eingefügt sind. „Es gibt eine Weltseele, ein
einiges Leben, das alles erfüllt und durchströmt, alles in sich
zusammenhält und verknüpft, um die Maschine der gesamten
Welt zu einer Einheit zu machen" (Cassirer). Und hören wir
schließlich noch ein Wort desjenigen Philosophen, der in ge-
wissem Sinne einen Abschluß dieser mystisch-pantheistischen
Richtung darstellt und schon hart vor der Schwelle des Zeitalters
der Aufklärung, des Rationalismus steht, Jakob Böhmes:
,, Alles ist nur eine Offenbarung des Einen, da ein jedes Ding
mag aus Einem in Viel gebracht werden und aus Vielem hin-
wieder in Eins." Das sind Klänge, die aus der Philosophie Plo-
tins herübertönen. Er charakterisiert das „Eine" als das „all-
bedingende Unbedingte, dem alles inhäriert, aus dem alles ent-
sprungen ist, von welchem alles abhängt, das aber selbst 7on
nichts weiter abhängt" (Drews, Plotin S. io6).
z. DIE GELTUNG DER NEUEN FORMEL FÜR DAS VER-
STÄNDNIS DER WELTTOTALITÄT
Das ist die hypertroph -monistische Metaphysik der Renais-
sance. Das Stichwort des Monismus besagt für sich allein aber
zu wenig. Die Zurückführung des Vielen auf ein einziges Grund-
prinzip, die Vereinheitlichung der Unendlichkeit der indivi-
duellen Erscheinungsformen kann auch in materialistischem
Geiste geleitet werden. Aber von einer solchen Metaphysik ist
die Renaissance meilenweit entfernt. Und so trifft auch die an-
tiken Vertreter des Materialismus Ablehnung, ja Verachtung.
Noch war die Stunde nicht gekommen, um auch einem Demo-
krit und Epikur zu neuem Leben zu verhelfen. Erst mußte ein
gründlicher Wandel im Charakter der philosophischen Inter-
essen eintreten, die phantastische Naturmystik mußte erst vor
dem Streben nach mathematisch - mechanischer Naturerklä-
rung zurückweichen, bevor Pierre Gtissendi der epikureischen
Atomistik Geltung verschaffen konnte (1647),
Also nicht bloß Einheit schlechthin ist das Schlagwort der
Renaissance. Wie wir sogleich bei der Betrachtung ihrer Natur-
philosophie noch genauer sehen werden, spricht sich die philo-
sophische Stimmung in einer idealistischen Metaphysik
aus. Die Welteinheit ist keine tote, starre Masse, keine licht-
lose, dumpfe Materialität. Sie ist als göttliche Einheit ein
Zusammenhang voll Geist, Leben, Kraft, Wirksam-
keit; kurz: ein dynamisches, sinn- und zweckvolles
Ganzes, ein lebendiger Organismus.
Das ist das Schiboleth der Weltanschauung der Renaissance.
Damit ist eine grandiose Erhöhung der Würde und der Bedeu-
tung der Welt proklamiert, eine Erhöhung und Erhebung, an
der auch die Auffassung vom Wesen des Menschen tiefen An-
teil nahm. Zugleich aber ist es, historisch gesehen, die Wieder-
belebung der Philosophie Plotins.
Wie später der Gedanke der mathematisch - mechanischen
Kausalität die Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche
Erkenntnis wurde, so erblickte man damals in der Auffassung
der Welt als einer Geistigkeit, Lebendigkeit, Beseeltheit, Gött-
lichkeit die Zauberformel für alles Begreifen. Und das allein
4
gilt als wahres Begreifen, als Erfassen des Weltgehei
von innen heraus. So denken die Italiener: Carolus Bovillus,
Marsilio Ficino, Giovanni Pico, Leo Hebraeo, Car-
dano, Patrizzio, Campanella, Bruno. So denken die
Deutschen: Nikolaus Cusanus, Agrippa, Paracelsus,
Reuchlin, Kepler, Böhme.
Mit dieser monistisch-idealistischen Metaphysik war nun
eine energische Opposition gegen Aristoteles und dessen schola-
stischen Nachwuchs eingeleitet. Man verwarf den Aristoteli-
schen Dualismus von „Form" und „Stoff" als den beiden ko-
ordinierten Weltprinzipien. Man verhöhnte die Lehre, nach
der es in der Welt eine Mehrheit von Substanzen geben sollte.
Man brandmarkte diese Auffassung als ein Kennzeichen philo-
sophischer Banausltät, geistiger Dürftigkeit. Unter dem Zei-
chen Piatos führte man den Kampf. Eine seltsame Untreue
gegenüber der Behauptung der Obereinstimmung beider an-
tiken Denker. Eigentlich aber richtete sich die Polemik nicht
sowohl gegen den Stagiriten wie gegen die Scholastik. Und
eigentlich war es nicht der echte, der historische Piaton, der
die Rolle des Heerführers spielte. Es war nicht der Denker,
der die Welt der Urbilder, der immateriellen Ideen in scharfer
Abgrenzung der Welt der Abbilder, der vergänglichen Einzel-
dinge gegenüberstellte. Man erfaßte Piatos Bild im Spiegel
neuplatontscher Umformung. Man ließ ihn als einen antizipier-
ten Plotin lehren, daß die Welt die einheitlich-kontinuierliche
Ausstrahlung der göttlichen Urkraft sei, und daß diese gött-
liche Kraft die innere Gewähr für den dauernden Bestand der
Welt böte, indem sie das Sein in unerschöpflicher Fülle durch-
strahlt und wie ein lebendiger Quell fort und fort tränkt und
erhält.
Warum aber sagte sich die Renaissance vom Dualismus so
entschieden los? Weil ihr eine duaUstisch konstruierte Wirk-
lichkeit den Makel der Disharmonie und das Brandmal des
Verfalls zu tragen schien. Das dualistische Sein ist ein dis-
harmonisches und ein getrübtes und gefährdetes Sein. Es
krankt an einer Differenz. Nichts aber verabscheut das moni-
stische Streben mehr als die Anerkennung kosmischer Diffe-
renzen. Man erfaßte den Begriff des Kosmos in seinem strengen,
ursprünglichen Wortsinne als Ordnung, Harmonie, Zusammen-
stimmung, planvolle Ausgeglichenheit aller Diskrepanzen.
Hinter dem Dualismus aber lauert der Pluralismus. Der postu-
Uert viele selbständige, einzelne Dinge. Und hätte diese An-
schauung recht, so wäre der göttliche Zusanunenhang zer^>al-
ten zu einer Vielheit selbständiger Konkreta, und an die Stelle
der kosmischen Sympathie aller Dinge zueinander wäre der
Streit, der Kampf getreten. Für die Einzeltatsache als solche
kann die göttliche Einheit nicht als Grundursache in Anspruch
genommen werden. „Sofern die Dinge vermindert, getrennt usw.
sind, können sie nicht aus dem Größten sein, weil diese Zu-
stände keine positive Ursache haben. Von Gott also hat es
das Geschöpfliche, einig, unterschieden und mit dem Univer-
sum verbunden zu sein, und zwar je mehr geeint, desto ähn-
licher ist es Gott. DaB aber seine Einheit in Vielheit, sein Un-
terschiedenes in Verwirrung, seine Verbindung in Disharmonie
sich befindet, das hat es nicht von Gott, noch von irgendeiner po-
sitiven Ursache, sondern zufällig." (Scharpfi.) So des Nikolaus
Cusanus Entscheidung, eine unter zahllosen ganz gleichen.
Das Divergierende, die Einheit Kreuzende ist aber nur ein
Schein. Es bildet für den Philosophen der Renaissance einen
Ansporn, die reale Einheit aufzufinden. Denn daß eine allum-
fassende Einheit vorhanden sei, setzt er mit intuitiver Gewiß-
heit voraus. Und die am meisten charakteristischen Erzeugnisse
seiner theoretischen Betätigung: Alchymie, Astrologie, Magie
dienen lediglich dazu, für jene Intuition eine exakte und empi-
rische Rechtfertigung herbeizuschaffen. Sie stellen die prak-
tische Metaphysik jener Zeit dar, ein weit gesponnenes System
von Geheimwissenschaften, das sich von Roger Bacons (um
1250} Epistola de secretis operibus und Petrarcas Secretum
■uum an durch Giovanni Picos Heptaplus, Reuchlins Ars
cabbalistic«, des Paracelsus Astronomia magna, Agrippas
Occulta Philosophie bis zu des Cardanus Encomium Astrolo-
g|«t, Glambattista Portas Magia naturalis, Vaninis Dia-
loBia über die wunderbaren Geheimnisse der Natur, Jakob
BAhmai Myttprlum magnum und Keplers Mysterium cos-
moKriplilcuni fortzieht. Alle diese Schriften streben dem Ziele
■U, »Insn iwnKelfreien Nachweis für die kosmische Einheit und
•Ina wUienichaftlich- Bach liehe Anleitung zu ihrer realen Ver-
wcrtdung fu bietan. — „Denn wie der, der das Eine nicht ver-
lUht, nichta versteht, so versteht der Alles, der wahrhaft das
Bin« varitoht; und wer sich der Erkenntnis des Einen mehr
•nnlhart, kommt auch der Erkenntnis von allem näher."
(Olordtno Bruno.)
Krause Phantastik, kindliches Spiel mit Metaphern, wesen-
lose Symbolistik, Talmudistik und Rabulisterei, so mögen die
Noten lauten, die wir jenen Schriften anhängen. Wie ferne
stehen sie jeglicher rationalen Denkart. Zum Beleg seien ein
paar Stellen aus den Schriften Giovanni Picos zitiert. „Die
wahre Magie war den Weisen immer willkommen, und alle
Nationen, die Blick und Verständnis für überirdische Dinge
besaßen, hielten sie in Ehren. Sie galt als eine erhabene und
wahrhaft zuverlässige philosophische Wissenschaft. — Sie wirkt
nicht selbst Wunder, sondern sie unterstützt nur den Betrieb
der wirkenden Natur. ^ Sie bohrt sich hinein in das Verständ-
nis des Wesens aller Dinge, sie zieht aus dem Schöße der Erde
und aus deren geheimnisvollen Vorratskammern die verbor-
genen Wunder Gottes hervor, als hätte sie selbst diese erschaf-
fen. Wie der Landmann den Weinstock an den Stamm der
Ulme bindet, als vermähle er Ulme und Weinlaub, so eint
der Magier Himmel und Erde und führt das Niedere in nahe
Berührung mit den Kräften der höheren Welt." — ,,AIle Philo-
sophen vertreten die von mir ausgesprochene Ansicht, daß ge-
wissen Figuren und Zahlen in der Magie eine besondere Wirk-
samkeit zukomme, und daß ihnen eine geheimnisvolle Bedeu-
tung zugrunde liege." — ,,Was von den Zahlen gilt, trifft eben-
so für die Namen zu. Auchihnen wird eine besondere Wirksam-
keit in der natürlichen Magie zugeschrieben. Die Benennung
eines Gegenstandes ist ja keine zufällige, sondern zwischen
Namen und Objekt waltet eine natürliche Beziehung."
3. DIE PSYCHOLOGISCHE VORAUSSETZUNG FÜR JENE
WELTFORMEL UND DIE GEISTESVERFASSUNG IHRER
VERTRETER
Solche Anschauungen verraten eine Geistesart, die in wissen-
schaftlichen Fragen das Stadium der Mythologie noch nicht
überwunden hat. Sie entströmen alle einem heißen Gefühl. In
seltsame Tiefen, wo die Fackel der Vernunft erloschen ist,
müssen wir hinuntersteigen, um zu den Voraussetzungen jener
Anschauungen zu gelangen. Geisteskräfte und Gemütszustände
mystisch-intuitiver Art sind es, die in jenen Tiefen lagern. Sie
erst ermöglichen die Erfassung der Welttotalität, das Eindrin-
gen in die universelle Einheit unter dem angegebenen Gesichts-
punkt. „Wiewohl Fleisch und Blut das göttliche Wesen nicht
ergreifen kann, sondern der Geist, wenn er von Gott erleuchtet
ARTHUR LIEBERT
und angezündet wird," belehrt uns Boehme. Wir sehen: Der
Hauptbegriff der Renaissancephilosophie, die Begreifung der
Welt als Gott-Einheit, stützt sich auf ein metaphysisches, die
ganze Persönlichkeit durchdringendes und durch die Eigenart
dieser Persönlichkeit bedingtes Erlebnis.
Der Verstand als solcher gilt als unfähig, den Weltorganis-
mus in seinem einheitlichen Gefüge zu erfassen. Wohl unter-
scheidet man ihn von der sinnlichen Wahrnehmung, der Ima-
glnatio, die keine ernsthafte, wissenschaftliche Einsicht zu
liefern und die Einzel tat Sachen eben nur als Einzeltatsachen,
als zusammenhangslose Konkreta zu begreifen vermag. Aber
auch er, der Verstand (ratio), gewährt nicht die Möglichkeit
einer letzten und endgiltigen Erkenntnis, die das Ganze als
Ganzes, als kosmische, einheitlich gegliederte und kontinuier-
lich sich entfaltende Universalität begreift. Nie will das Den-
ken der Welttotalität gelingen. Was das Denken erkennt, das
sind die einzelnen Gesetze, denen ein Ding auf Grund seiner
allgemeinen Verfassung angehört. So wird die körperliche, aus-
gedehnte Seite dem Zusammenhang der Ausdehnung, der
Räumlichkeit ein- und zugeordnet. Und die geistige Seite eines
Dinges, seine Form und Idee, gilt als ein Teil der formalen oder
geistigen Wirklichkeitsentfaltung, als eine Spezies der Geistig-
keit. Bleibt die sinnliche Wahrnehmung an der Einzelheit haf-
ten, so erfaßt der Verstand das Attribut.
Wie es aber über allen attributiven Erscheinungsweisen
einen universalen Zusammenhang gibt, der die verschiedenen
und voneinander getrennten Systemreihen und Systemreiche
zu einem in sich harmonisch geschlossenen, ,, sympathischen"
Gesamtsystem zusammenbiegt, so besitzt der Mensch auch
die Fähigkeit, jene letzte und höchste Einheit zu erfassen. Sie
bedeutet die höchst-erreichbare Synthese unserer Erkenntnis,
die nur unter Zuhilfenahme des Gefühls und mystisch -medi-
tativen Sicheinlebens in das Ganze möglich ist.
Jene höchste Form der Erkenntnis besitzt zwei Seiten, die
aufs innerlichste miteinander verflochten sind. Mit der ver-
standesmäßigen Vereinheitlichung, dem Aufstreben zu immer
allgemeineren und abstrakteren Gedanken geht eine Gefühls-
versenkung Hand in Hand. Der logisch -rationalen Preisgabe
alles Einzelnen und Konkreten entspricht ein psychologisches
Verblassen aller individuellen Empfindungen und aller auf die
Persönlichkeit gerichteten Wollungen. Es ist eine synoptische,
I
künstlerische Schau der Einheit, der Harmonie, der gegensei-
tigen Zueinandergehörigkeit aller Dinge, eine Schau, die uns
gewisseste Kunde schickt, daß alle Wesen Einem Wesen ein-
gelagert sind, von Einem Geiste durchglüht werden. Erst diese
Erkenntnisart gewährt die psychologische, die theoretische
Grundlage für die pantheistische Metaphysik, Und es ist nur
natürlich, daß sie sich in der Zuspitzung der Ekstase von psy-
cho-pathologischen Einflüssen nicht frei hält.
Die kurz angedeutete Lehre von den drei Stadien der Er-
kenntnis ist ebenso wenig eine originale Schöpfung der Renais-
sance, wie jene Metaphysik selber. Wie eine gewaltige Welle
durchzieht diese Geistesrichtung das Morgen- und das Abend-
land. Die uralte Philosophie der indischen Veden und ihre
Tochter, die Theosophie des Buddhismus, atmen schon diesen
Hauch. Schon sie lehren eine stufenweise Läuterung der reli-
giösen Meditation. In den vier ,,Dhyänas" erhebt sich der Geist
des Gläubigen von allem Konkreten und Sinnlichen, von allem
Empirischen und Differenzierten zur wahren Erkenntnis, zum
reinen WeltbewuBtsein , welches das Einzelne als nichtigen
Schein entlarvt und das,, Wissen" aus jeder empirischen Bezie-
hung befreit. Und wo wir in der Geschichte des Denkens die
Spuren der Mystik treffen, da begegnen wir auch den gleichen
Werkzeugen für die Lösung des Welträtsels.
Das klassische Vorbild für die Renaissance gibt im besonde-
ren Plotin ab. Er unterscheidet scharf Wahrnehmung, Ver-
stand und anschauende Vernunft. Dieselbe Lehre tragen die
beiden Victoriner, Hugo {um 1120) und David (um 1150) vor,
und auch nach Bonaventura (um 1250) durchläuft die Seele
auf ihrem Wege zu Gott (itinerariummentisadDeum) jene drei
Stufen. Unter den Mystikern der Spätscholastik verbindet Jo-
hannes Gerson (um 1400) die intellektuale Anschauung mit
dem affektiven Zustand inbrünstiger Gottesliebe, Die gleiche
Lehre verkündet zurzeit der Frührenaissance der jüdische Phi-
losoph Leo Hebraeo, der in einigen Partien seiner Dialoge
wie ein Vorläufer von Brunos „Degli eroici furori" erscheint,
SchtieBlich begegnen uns die drei Erkenntnisstufen bei Spi-
noza. Seine Philosophie hat man so oft als das Muster küh-
len, ja herb -nüchternen, mathematisch - logischen Raisonne-
ments bezeichnet. Aber selbst dieser Denker, der energische
Vertreter des Pantheismus, kündet ein innerliches Begreifen
der Totalität, das weder reines Erkennen noch reines Gefühl
ARTHUR LIEBERT
ist. In dem amor Dei intellecttialis ist Beides zur Einheit ein-
gegangen. Und schicklich heißt diese ganze Richtung ratio-
nale Mystik, —
Die Betrachtung der psychologischen Voraussetzung der Me- I
taphysik oder Mystik der Renaissance gewährt die Möglichkeit,
ein klares Bild der Denker-Persönlichkeiten zu gewinnen. Zu
deutlich leben die Züge ihrer Natur in ihren Schriften, zu stark
ist das Band zwischen Leben und Lehre. Ihre ganze Philo-
sophie ist unmittelbar durch ihre äußerst persönliche Geistesart
bedingt.
Goethes Urteil über Cardanus in den „Materialien zur
Geschichte der Farbenlehre" trifft in eminentem Sinne auf fast
alle Häupter der Renaissancephilosophie zu. „Er betrachtet die
Wissenschaften überall in Verbindung mit sich selbst, seiner
Persönlichkeit, seinem Lebensgange, und so spricht aus seinen
Werken eine Natürlichkeit und Lebendigkeit, die uns anzieht,
anregt, erfrischt und in Tätigkeit setzt. Er ist nicht der Doktor
im langen Kleide, der uns vom Katheder herab belehrt; es
ist der Mensch, der umherwandelt, aufmerkt, erstaunt, von
Freude und Schmerz ergriffen wird und uns davon eine leiden-
schaftliche Mitteilung aufdrängt," Ihr persönliches Lebensge-
fühl, der Charakter und die Färbung ihrer individuellen Exi-
stenz, das gibt den Mutterboden ab für alle ihre wissenschaft-
lichen und philosophischen Bemühungen. Genies der Subjek-
tivität sind diese Männer. Kühle Reflexion ist nicht ihre starke
Seite. Sie alle sind mehr oder minder dichterisch veranlagte
Naturen, Metaphysiker mit der Gabe grüblerischer Ausdeutung
der Welt. Auch Phantasten und Menschen der Dithyramben
fehlen nicht in der Reihe. Wie der Sturmwind geht ihr Gefühl.
Von Grund aus packt es die Seele und reißt sie zu Visionen und
zu mystischem Aufgehen im Allleben fort. Die zeitliche Welt
und das zeitliche Ich entschwinden. Zur Ewigkeit hebt sich das
Dasein empor.
Die charakteristische Kompliziertheit dieser Persönlichkeiten
ruht nun aber darin, daß auch auf der Stufe gefühlsmäßiger
Erfassung der Einheit der rationale Faktor nicht gänzlich aus-
geschaltet ist. Selbst in der Ekstase schweigt nicht der Verstand.
So kommt eine Brüchigkeit in ihre Seele. Diese Geister sind wun-
derlich gemischt aus Tendenzen zu abstrakter Spekulation und
aus glühenden Neigungen zu einer bildhaften, phantastischen
Formung ihrer Gedanken. Sie reden die Sprache des Dichters,
und ihr Geist ist erfüllt von leuchtenden Träumen. Aber über
die bunte Farbenwelt legt sich der graue Schleier scholastischer
Begriffserötterung, syllogistischer Deduktion, verstandesklarer
Auseinanderzerrung des intuitiven Gesamteindrucks. Zu tief
hatte der scholastische Rationalismus seine Wurzeln eingetrie-
ben, als daß der religiöse Enthusiasmus, etls daß die mystische
Versenkung frei und ungehindert sich hätte entfalten können.
Es fehlt jenen Renaissancehumanisten doch von Grund aus jene
quellende Naivität und Unmittelbarkeit des Empfindens. Man
kann sich des Eindrucks einer gewissen Unwahr haftigkeit , ja
Gewaltsamkeit ihrer mystischen Ekstase nicht erwehren, ein
Eindruck, der sich der schhcht-kräftigen Herzensfrömmigkeit
eines Eckhart oder Böhme gegenüber nicht einstellt. Die „ra-
tionale Mystik" setzt eben „rationale Mystiker" voraus.
Aber noch ein anderes Moment in der seelischen Verfassung
dieser Menschen bedarf der deutlichen Hervorhebung. Das ist
ihr Ästhetizismus, ihr Schönheitsstreben und ihr Schönheits-
gefühl. Dieses erst macht ihre philosophische Eigenart ganz ver-
ständlich; denn es ist ein einflußreicher Faktor ihres Denkens.
Der Gedanke der Einheit wäre nicht mit so starker, innerer
Überzeugung zum Ausdruck gelangt und in den Vordergrund
gestellt worden, er wäre nicht schlechthin das Cachet jener
Zeit, wenn nicht das Gefühl lebendig gewesen wäre, damit den
Kosmos unter den Aspekt der Schönheit zu rücken. Und es ist
leicht einzusehen, daß jedes monistische Bedürfnis, welches in
der pantheistischen Metaphysik seine Befriedigung erreicht,
eine eigentümliche ästhetische Gesinnung, den Drang nach
einer großen Schönheit umschließt. Die grandiose Auffassung
der Welt als einer reinen Harmonie, als eines universalen Liebes-
spieles weist auf jene Gesinnung als ihren Quell zurück. Und
damit stimmt jener von fast allen Philosophen der Renaissance
überlieferte Zug frischer, bis zu andachtsvoller Verehrung ge-
steigerter Naturfreudigkeit zusammen. Diese Liebe kommt auf
einmal wieder in warmen, vollen Wellen. Sie sprüht zum ersten
Male empor in den „Fioretti" des heiligen Franz von Assisi.
Sie betätigt sich in dem Umgange mit der Natur, in der Ein-
richtung prächtiger Gärten, die die Villegiaturen der Vornehmen
umsäumen, wie bei der Villa der Medicis in der Nähe von Ca-
reggi oder bei der Villa des Kardinals Triulzio bei Tivoli. Sie ist
die Triebfeder für die Fahrten des Aeneas Sylvio durch die
Auen und über die Berge Italiens, deren Schönheiten dieser
i6
ARTHUR LIEBER!
universale Mann wie eine Neuentdeckung mit Jubel und Preis
verkündet. Und aus dieser ästhetischen Grund Stimmung heraus
freuen sich jene Männer über jeden Zug der Harmonie, der sich
im Weltall bekundet. Daß die Stembahn eine elliptische Form
darstellt, gibt ihr, da sie somit die Mannigfaltigkeit in der Ein-
heit bedeutet, schon darum in den Augen Keplers den Vorzug
vor der gleichförmigen Kreisbahn. Die Kopernikanische Theorie
empfiehlt sich dem Galilei schon wegen ihrer einleuchtenden
und einfachen Erklärung der Sternbewegungen, die eben nach
dieser Theorie eine harmonisch - zentrale Struktur besitzen
(J oel, Urspr. d. Naturphil, aus d. Geiste der Mystik, S. 12). Die
Versenkung in die Einheit der Wirklichkeit war zugleich eine '
Versenkung in die Schönheit der Wirklichkeit. I
4. DER EINFLUSS DER PANTHEISTISCHEN META-
PHYSIK AUF DIE EINZELNEN PHILOSOPHISCHEN DIS-
ZIPLINEN
Die neue pantheistische Weltansicht wurde die grundlegende
geistige Macht, die auf die Bewegung in den einzelnen philo-
sophischen Problemen einwirkte und den Charakter der Inan-
griffnahme und der Lösung dieser Probleme bestimmte.
a) DIE NEUE NATURPHILOSOPHIE ■
Die begriffliche Auflösung eines Problems ist nur zum kleinen
Teile abhängig von den in Frage kommenden empirischen Be-
obachtungen und Tatsachen. Der subjektive Gesichtspunkt, un-
ter dem die Problemerledigung geführt wird, die Eigentümlich-
keit der mit dem Wesen des denkenden Subjekts selbst ge-
gebenen Voraussetzungen bestimmen Anlage und Ausführung
in erheblichem Grade.
Dieses Verfahren wird von der Naturspekulation der Renais-
sance in unmißverständlicher Weise befolgt. Es leitet schon die
Fragestellung und legt in diese den Schlüssel für das Mysterium
hinein. Man fängt die Natur von einem rein persönlich beding-
ten Augenpunkte aus auf und unterwirft sie so lange einer Um-
formung, bis sie der absichtsvollen Fragestellung homogen ist.
So fragt die Renaissance nicht blind darauf losi Was ist die Na-
tur? Sondern wie und als was muß ich die Natur auffassen, da-
mit sie der Voraussetzung, ja der Forderung, Einheit zu sein,
entspreche ?
Das ist eine wahrhaft bedeutungsvolle Fragestellung, so stark
MONISMUS UND RENAISSANCE
17
auch die Antizipation ist, die in ihr steckt. Denn von Anfang
an wird die Natur eingetaucht in den phanth eistischen Cha-
rakter der Gesamtwirklichkeit. Sie sollte von vorneherein als
ein zugehöriges Glied zu dem einheitlichen Strom der Gesamt-
existenz betrachtet werden.
Nichts liegt der naiven, unkritischen Überzeugung näher
als die Meinung, daß die Natur aus zwei streng voneinander ge-
schiedenen, einander wildfremden Prinzipien bestehe, aus Geist
oder Seele und Materie oder Körper. Dabei mag hier unberück-
sichtigt bleiben, daß auf dieser Stufe auch der Geist als ein zwar
zartes, doch immerhin stoffartiges Gebilde, als ein feiner Hauch
oder Nebel betrachtet wird.
Die gleiche dualistische Gestalt zeigt die den Spuren des Ari-
stoteles folgende Naturphilosophie der Scholastik. Sie ist in
ihrer prinzipiellen Struktur eigentlich weiter nichts als der in
die Formeln der philosophischen Terminologie gebrachte Dua-
lismus des unwissenschaftlichen Bewußtseins.
Von jenen beiden Grundprinzipien der Natur wird aber der
Materie noch keine wahrhafte Realität zuerkannt. Sie stellt in
ihrem Wesen lediglich die bloße Möglichkeit, die Voraussetzung
dar. Wirkliches Sein und Leben fehlt ihr durchaus. Sie ist blo-
ßer „Mangel", bloße ,, Entbehrung". Zu eigentlicher Realität
und Wirklichkeit gelangt sie erst kraft der Einwirkung der
Form. Diese allein ist das Prinzip des Lebens. So schon bei
Aristoteles. Und in der geschichtlichen Entwickelung der Scho-
lastik wurde die Materie immer mehr herabgedrückt zu einer
trägen, starren, absolut passiven Substanz. Die Körperwelt
wurde zu einem toten Wesen, zu einem nichtigen, verwehen-
den Gewebe, welchem die Form als der von Grund aus anders
geartete Bestandteil schroff gegenübergestellt wurde. Sie, die
,,Form" allein stammt aus dem göttlichen Ureinen, und sie
ist aus diesem Grunde der unverwechselbare Gegenpol zu der
dumpfen Materialität der Körperwelt. Ihre Verbindung mit
der Materie ist nur eine zufällige und äußerliche. Alles Gesche-
hen wird von außen durch einen transzendenten Eingriff be-
wirkt.
Von dieser scholastischen Konstruktion des Naturwirklichen
reißt sich die Renaissance los. An die Stelle des schroffen Dua-
lismus tritt der Gedanke innigen Zusammengehörens von Natur
und Gott, Diesseits und Jenseits, Fleisch und Geist. Wie die
ganze Weite der Wirklichkeit als von Gottes Geist erfüllt und
i8 ARTHUR HEBERT
▼on Gottes Kraft beseelt gedacht wird, so bleibt auch der Stein
und die Pflanze und das Tier, kurz jedes Naturgebilde kein to-
tes Wesen. Jedes Empirische und Konkrete ist der Ausdruck
und das Symbol eines Innens.
Natur und Geist sind nur die beiden aufeinander bezogenen»
innerlichst aufeinander angewiesenen Seiten desselben einheit-
lichen Grundwesens. Form und Stoff stehen in synthetischer
Verbindung. Welcher Gedanke überbrückt aber die Kluft zwi-
schen Form und Stoff? Das ist, wie Cassirer nachweist , der
»^schillernde Begriff der Entwickelung''. Entwickelung setzt
jedoch Kraft voraus. Der Gegensatz von Form imd Stoff wird
gemildert durch eine neue Verhältnisbestimmung zwischen
diesen Weltprinzipien. Die Spekulation versteigt sich nicht
zu der Behauptung der Identität von Geist und Materie. Son-
dern an die Stelle des scholastischen Gedankens ihrer krassen
Divergenz tritt der neue Gedanke einer positiven Beziehung*
Form und Stoff» Geist und Materie stehen nicht mehr fremd
und feindlich gegenüber. Nicht mehr gilt die Form als etwas
der Materie äußerlich Aufgeprägtes. Sie wird als Kraft zu der
der Materie immanenten Art alles Seins und Lebens. Jedes Na-
turgebilde besteht aus krafterfüllter Materie. Als solches ist es
Voraussetzung und Vorstufe für ein nächsthöheres Gebilde»
das eben darum als ein höheres angesehen wird, weil sich an
ihm die Wirksamkeit der Kraft deutlicher enthüllt, weil es
einen höheren Grad der Lebendigkeit erreicht hat. Das Aufiere»
der Körper, ist nur der Wechselbegriff des Inneren» des Geistes»
beide nur die zueinander gehörigen Seiten des einheitlichen
Seins. So formuliert Bruno: „Die Form ist der Materie imma-
nent» eine ist schlechthin n'cht ohne die andere.'' „Diese Simul-
taneität der wirkenden Kraft und des Bewirktwerdens ist eine
sehr wichtige Bestimmung: die Materie ist nichts ohne die
Wirksamkeit der Form» diese also das Vermögen und das iimere
Leben der Materie.''
,,Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Dexm was innen, das ist außen." (Goethe)
So erscheint die Natur als ein von lebendigen Kräften allsei-
tig durchströmtes System. Sie ist ein streng gebundenes Ganzes»
das von primitiven Zuständen an in kontinuierlicher Entfaltimg
zu Höherem aufsteigt. Auch die Natur im besonderen Sinne ist
wie die ganze Wirklichkeit ein dynamischer Prozeß. Sie ist nicht
wesenlos und tot, sondern in ruheloser Tätigkeit und ziel-
strebiger Bewegung begriffen. Die feindlichen Gegensätze sind
getilgt. Eine polyphone und doch harmonisch gesetzte Sympho-
nie durchwebt das All. Alles strebt zu Allem, zu liebender Ver-
einigung, zu universeller Einheitlichkeit. ,,Es ist in der ewigen
Natur alles ineinander, als ein kräftig ringendes Liebesspiel",
sagt Böhme. Der Gott, der bis dahin als nur von außen stos-
send angesehen wurde, wird als die innere, emporbildende Ur-
sache, als causa immanens, non vere transiens anerkannt. Die
Natur als Gottes immanentes Produkt (natura naturata) läßt
allüberall, in jedem Strauch und Baum und Stein und Sein
ihre Geist- und KrafterfüUtheit den zur Intuition Begabten
schauen.
So wird Gott oder der All-Geist als die schaffende Weltkraft
(natura naturans) in den Bereich der geschaffenen oder ge-
wirkten Natur einbezogen, zu ihrem innersten Seinsprinzip ge-
macht. Oder mit anderen Worten: Die Natur wird zu Gott em-
porgehoben, in Gottes Wesen eingepflanzt, sie wird vergött-
licht. Das ist der Bruch mit dem Dualismus, mit der An-
schauung der Widergöttlichkeit der Natur.
An dieser Stelle sei eine gedankinvoUe Betrachtung Se-
bastian Francks, die diesen neuen Standpunkt glücklich und
lebendig verdeutlicht, nach Carri^res etwas zusammengezoge-
ner Darstellung eingeflochten. ,, Habe acht auf dieWerkeGottes,
so wird dir die Welt mit allen Kreaturen ein offenes Buch und
eine lebendige Bibel, daraus du Gottes Kunst studieren und sei-
nen Willen lernen magst. Wer aber Gottes Werke bloß angaHt
imd sich nicht selbst in ihnen findet, der sieht und hört alles ver-
gebens; jedoch dem Gottseligen offenbaren die Kreaturen mehr
als dem Gottlosen alle Biblien. Denn das Wort und seine Kraft
will im Tun und Wirken erkannt werden, wie es alles in allem
ist. Die Natur etwas Göttliches, nichts anderes, als was Gott
selbst will und gibt, denn Gott selbst ist in der Natur und zwar
beständig wirkend. Gleichwie die Luft alles erfüllt und nirgends
nicht ist oder etwas leer läßt und doch in keinem Orte beschlos-
sen werden mag und wie der Sonnenschein den ganzen Erdboden
überleuchtet und ihn grün und fruchtbar macht, also Ist Gott
in allem und wiederum alles in ihm beschlossen. Denn wie er
alle Dinge durch sein Wort in ein Wesen und Natur hat gestellt
und erschaffen, also hat er sein Wort, Natur, Wesen und Fäuste
nicht wieder daraus- oder davongezogen, wie ein Schuhmacher,
so er einen Schuh ausmacht und liegen läßt, oder wie ein StrauB
sein Ei, sondern er hat sein Wort in den Dingen gelassen, daB
er alles regiere, in allem lebe, webe, wachse, daB das Wort, wie
es aller Dinge Natur und Wesen ist, so ihre Mutter, Erzieherin
und Erhalterin sei, daß Gott nicht eigentlicher beschrieben wer-
den mag, denn daß er sei aller Wesen Wesen und alles Lebens
Leben."
Unter dem gleichen Gesichtspunkt erscheint, um noch ein
Beispiel anzuführen, auch die Naturphilosophie Agrippas von
Nettesheim. Der kreatürlichen Welt kommt erst und nur
dann wahre Wirklichkeit zu, wenn ihr ein Prinzip des Lebens
innewohnt, wenn wir sie als beseelt ansehen können. „Absurd
wäre es, wenn der Himmel, die Sterne und die Elemente, die für
alle Einzelwesen der Quell des Lebens und der Beseelung sind,
selbst ihrer ermangeln sollten; wenn jede Pflanze, jeder Baum
an einer edleren Bestimmung Anteil hätte, als die Sterne und
die Elemente, die seine natürlichen Erzeuger sind" (Cassirer).
Die Starrheit des Seins wird aufgelockert, und es erwächst
der folgenschwere Gedanke, daß alles Sein im Wirken Wesen
und Bestand habe. Diese d^^namische Theorie der Materie, die
in der Naturphilosophie der Renaissance häufig ohne deutliche
Einsicht in ihre Bedeutung und Tragweite ausgesprochen und
auch nur selten mit unzweideutiger Energie vertreten wurde,
hat sich in der Folgezeit immer entschiedener herausgebildet.
Leibniz, der intime Kenner jener Naturphilosophie, formu-
liert den Renaissancegedanken mit markanter Schärfe: Das
Wesen der Substanz besteht in der Kraft. Die Monade, der
metaphysische Grundkonstituent der Wirklichkeit, das An-sich
der Dinge, ist ein Intensivum. Und ebenso löst Kant, aller-
dings auf Grund einer ganz anderen Betrachtungsweise und
mit ganz anderem Geltungsanspruch, die extensionale Starr-
heit der Materie auf und sieht das Kennzeichen ihrer Realität
in ihrer Intensität. So entwickelte sich jener große Gedanke,
der zur Grundanschauung der modernen Energetik gewor-
den ist.
Was aber, so fragen wir im Geiste der Renaissance, ist durch
diese Naturauffassung gewonnen? Im Prinzip nichts weniger
als ein wirkliches Naturverständnis. Ist nämlich der Kern
der Natur Geist, ihr Prinzip Leben, dann ist eine solche Natur
zweifellos in ihrem eigentlichen und tiefsten Wesen dem Er-
kennen zugänglich. Denn nun ist sie ja nichts Totes, Ungedank-
>
i
liches mehr. Sie ist Fleisch von unserem Fleisch. Sie ist dem er-
kennenden Subjekt Wesens verwandt und für dieses daher be-
greiflich. Heimisch fühlt sich der menschliche Geist in ihr und
vertraulich berührt.
Hier sei eine kurze Bemerkung der Kritik eingerückt. In je-
ner Naturphilosophie bekundet sich noch ein naiver erkenntnis-
theoretischer Standpunkt. Man ist noch nicht zur scharfen Unter-
scheidung von Denk- und von Seinsformen durchgedrungen. Die
mittelalterlich-thomistische Auffassung der Begriffe, der sub-
jektiven Geistesformen als dinglicher Realitäten wirkt nach.
Statt in der Form und im Stoff und in der synthetisch-spekula-
tiven Verknüpfung beider lediglich abstrakte Konstruktions-
prinzipien der Wirklichkeit, Erkenntnismittel des wissenschaft-
lichen Bewußtseins zu sehen, werden sie zu realen Wesenheiten
verkörpert. Die Lebendigkeit der eigenen Seele, die eigene,
tief erregte Innerlichkeit wurde von dem Philosophen der Re-
naissance in die Dinge selbst hineingelegt.* Immer wieder ver-
steht er das All von sich, vom Menschen aus, getreu dem Worte
Goethes:
P Zweifellos bedeutet in erkenntniskritischer Hinsicht jene ro-
' mantische Hypostasierung des Ichs eine Gefahr für das wirk-
liche Naturerkennen. Es wurde damit jene ontologische Verding-
lichung des Geistes und seiner Formen vorgenommen, die für
die Logik des Aristoteles und der unter seinem Banne stehenden
Scholastik kennzeichnend ist. Ob man die Naturphilosophie des
Patrizzi oderTelesio, des Begründers der Akademie von Co-
senza, oder des Campanella ins Auge .faßt, überall bleibt,
trotz allen Strebens nach positiv-exakter Beobachtung der
physikalischen Tatsachen, trotz allen Hindrängens zu einem
geistes- und naturwissenschaftlichen Empirismus, der Hang
typisch und maßgebend, den Begriffen, dem erkennenden
Geiste, dem Ich, transsubjektive Realität als dinglicher Form
zuzuschreiben.
Und so läßt sich denn auch an diesem Punkte die Bedingt-
heit der Naturphilosophie der Renaissance durch ihre Metaphy-
sik aufzeigen. Diese metaphysische Anschauung, nach der die
'Vgl. die feinsinnige Analyse in Karl Jo eis Welk: Der Ursprung der Natur-
philosophie aus dem Geiste der Mjrstik, Kap. 11: Die Naturphilosophie der
22 ARTHUR LIEBERT
Wirklichkeit die immanente Offenbarung des Weltgeistes, ein
ungeheueres, doch streng einheitliches System kontinuierlich
aufeinanderfolgender Kraftabstufungen ist, wurde zum Unter-
bau der Naturerklärung. Wie aber jene pantheistische Meta-
phjrsik selbst von religiösen Motiven mitgetragen und durch-
flochten ist, so wird auch der Gottesbegriff zu einem Erklä-
rungsprinzip des Naturgeschehens gemacht, und statt einer
ruhigen, e3cakten, kausalen Begründung und Ableitung der Ein-
zelphänomene aus ihren Gresetzen, statt einer geduldigen Auf-
suchung ihrer empirischen Ursachen tritt in jener Naturphilo-
sophie ein theologisch-metaphysisches Eltinent auf und zwar an
führender Stelle. Mit falschem, dialektischem Rechtsanspruch
wird in dem dunklen, der Erklänmg doch erst bedürftigen
Worte Geist oder Gotteskraft in dem verwendeten Sinne eine
pseudowissenschaftliche Erkenntnis der Natur dargeboten. Die
Motivation des Naturgeschehens durch den Hinweis auf eine sol-
che mystische Kraft ist ein wahres Asylium ignorantiae. Noch
war die Djrnamik der Naturvorgänge nicht dem mechanistischen
Gesichtspunkt unterstellt. Der mittelalterliche Glaube des Dä-
monenspukes konnte ungestört fortwuchern. Noch war die Luft
von allen irrationalen Einflüssen nicht durchaus gereinigt.
b) DIE NEUE ETHIK
Wie die Tempelinschrift über dem Eingange zum delphischen
Heiligtum, wie das sokratische Mahnwort: Erkenne dich selbsti
den lapidaren Ausdruck der griechischen Ethik darstellt, so be-
sitzt auch die Ethik der Renaissance ein geschlossenes Losungs-
wort. Leon Battista Alberti hat es geprägt, und Burckhardt
berichtet es. „Die Menschen können von sich aus alles, sobald
sie wollen.'^
Jede Aufdeckung und Zergliederung der Lebenspraxis jener
Zeit ist nur eine Paraphrase jenes Wortes Albertis.
Es sei an dieser Stelle davon Abstand genommen, die neue
Weltstimmung mit ihrer glühenden Bejahung des Lebens, ihrer
taumelnden Weltfreudigkeit, der stürmischen, tyrannischen
Durchsetzung eines seiner selbst bewußt gewordenen Herr-
scherwillens zu schildern. Jakob Burckhardt und Wilhelm Dil-
they haben diese Aufgabe in ausgezeichneter Form und mit
tiefer Eindringlichkeit gelöst. Wir wollen uns diese neue Situa-
tion nur durch eine flüchtige, hinhuschende Überschau vergegen-
wärtigen, und dann die Frage streifen, in welcher inneren Be-
I
»ehung die neue Lebenspraxis zu der Metaphysik, die ihren
theoretischen Hintergrund bildet, stehe.
Die Tage der Renaissance bringen einen machtvollen, pathe-
tischen Rhythmus in die Lebensführung. Sie zeitigen einen Stil
der großen, imposanten Gebärde- Zwar zeigt dieser noch nicht
sofort und nicht in allen Punkten feste Formung und klare Li-
nien. Aber wenn auch das Tasten dem Zupacken vorangeht, so
fiuBert sich doch eben in diesem Tasten nach einem Neuen ein
manchmal leidenschaftliches Streben, die Akzente und Werte
des Daseins anders zu verteilen, als es bisher geschah. Das Be-
wußtsein der Majestät, der Autonomie beginnt sich im Men-
schen zu regen. Das zeigt schon sein äußerliches Auftreten. Das
zeigen auch seine literarischen und seine künstlerischen Lei-
stungen. Diesen neuen Charakter der ästhetischen Schöpfun-
gen hat Heinrich Wolfflin in überzeugender Weise hervorge-
hoben. —
Der Schwerpunkt der mittelalterlich-christlichen Ethik, der
Schlußstein dieses Moralsystems ist hinausgehoben über den
Dunstkreis des Diesseits und verflochten in einen Zusammen-
bang von Gütern und Werten übernatürlicher Art. Die eigent-
lich menschlichen Kräfte des Menschen, das immanente Ge-
iarächs seiner erdgeborenen Persönlichkeit reicht nicht hinein
in jenen transzendenten Zusammenhang. Eine gewaltige Kluft
gähnt auf. Denn jenes supranaturalistische Ideal der christ-
lichen Ethik, die transzendente Vergottung des Menschen, ist
der Theorie nach nur erreichbar auf dem harten Wege der Ab-
tötung alles dessen, was als natürliche Lebensausstattung an-
zusehen ist. Hart ist der Weg. Ein Vermittler und kundiger
Führer unentbehrlich. Fleischeslust und Hingabe an diese Welt
und ihre Freuden klammern sich an den aufwärts klimmenden
Fuß und bringen ihn zum Straucheln. Da muß die Kirche ihre
fürsorgliche und kraftspendende Hand bieten. Kein Fuß beträte
sonst den heiligen Boden. Ja, streng und uniachgiebig schließt
die Kirche selbst das Eingangstor, verschmäht der freche Stolz
ihre Hilfe.
Die Ethik, die Moraltheologie des Mittelalters gründet sich
ganz und gar auf eine Transzendenz des LebensgeFühls. Sie ist
im Prinzip eine Lehre der Weltvern einung, eine pessimistische
Verurteilung des Diesseits, Der positive Gedanke in diesem
Meere der Negationen predigt lediglich ein Ideal im Jenseits.
Er konstruiert die Welt hinieden als das Tal der Tränen und
ARTHUR LIEBERT
der Dämonen, und selbst die Familie, die allernächste Gemein-
schaft der Seele und des Herzens, findet selten eine zustimmende
sittliche Schätzung. Der Lehre nach ist die Welt trüb und dü-
ster und eine Flucht aus ihr der einzige Lebenszweck.
So wurde das natürliche Gefühl des Menschen Irre gemacht,
ihm selbst die Einheitlichkeit seines Wollens und Handelns ge-
nommen. Die Welt, der er als irdisches Geschöpf nun doch ein-
mal angehört, ward in der ärgsten Weise beschimpft, jede posi-
tive Lebensarbeit, achtet man auf das höchste Prinzip der christ-
lichen Ethik, unterbunden. Der transzendenten Metaphy-
sik entsprach eine transzendente Ethik. Die historische
Gerechtigkeit zwingt aber zu dem Geständnis, daß die pessimi-
stische Trübseligkeit gegenüber der Welt und ihren Gütern eben
nur den Kern der Theorie bildet. Die Lebensstimmung und Le-
benspraxis des Mittelalters zeigt nicht überall jene Tönung Grau
in Grau. Klarer Weltsinn und Lust am Dasein mangeln natür-
lich jenen Menschen nicht, und es fehlte in Wirklichkeit viel
daran, aus der Welt eine riesige Mönchszelle zu machen, wie
die Theorie es bezweckte.
Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der morali-
schen Konstruktion der Welt durch die Renaissance
zu. Der prinzipielle, der theoretische Standpunkt wandelt sich.
Die Überzeugung von der Immanenz des göttlichen Wirkens in
der Welt, die Vergöttlichung der Wirklichkeit, der monistische
Pantheismus führte zu einer Rehabiütierung und entschiedenen
Würdigung des Diesseits. Ist und wirkt Gott in der Welt, ist diese
ihm nicht fremd und wesensungleich, so birgt sie ja Ziele und
Zwecke, auf deren Erreichung eine in sich gerechtfertigte Ar-
beit gerichtet sein kann. Die Wirklichkeit enthüllt sich nun als
ein zweckvoller Zusammenhang voller Schönheit und Größe,
der zu Leistungen herausfordert und Leistungen belohnt. Nicht
mehr draußen, nicht mehr in einem nebelblassen Jenseits liegt
das einzige Ideal. Hier unten gibt es genug der Gelegenheiten zu
rüstigem Schaffen, zu werthegender Tätigkeit. Das heiter-sichere
Gefühl schönen Lebensgenusses wird wach, seitdem die mensch-
lich - empirische Regsamkeit vom Fluche losgesprochen ist.
Das Leben selbst bietet Beweggründe zum Handeln, die nicht
erst eine transzendente Sanktion fordern. Der gegenwärtige
Augenblick und sein Inhalt an Arbeit werden freigemacht von
der Knechtung unter eine jenseitige Lebensansicht. Ich weiS
diese Abfertigung der messianisch- supranaturalistischen An-
scbauung nicht besser zu charakterisieren als durch ein Wort
Lessings in seinen theologischen Streitschriften: ,,Ober die Be-
kümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Toren das ge-
genwärtige." So mochte auch die Renaissance empfinden.
Auf diese Weise wurde dem Menschen seine moralische Selb-
ständigkeit und die Einheit seines Handelns, die eindeutige Te-
leologie seines Wesens zurückerobert. Sein frischer, tapferer, ja
trotziger Lebensdrang wurde nicht beleidigt durch die Verhöh-
nung alles dessen, worauf seine Natur und seine Triebe angelegt
waren, nicht erkältet durch den steten Hinweis auf ein schemen-
haftes Ideal. Denn so empfand der Bürger dieses neuen Jahr-
hunderts die Doktrin der Scholastik. Zweifel und Ablehnung
ihr gegenüber klingen eben nicht selten in den Schriften der Hu-
manisten an. Die Götter des alten Griechenlands stehlen sich mit
ihrer hinreißenden Heiterkeit, mit dem lachenden Glänze ihres
gesunden, freudigen Weltsinnes unwiderstehlich ein in die Her-
zen der Menschen. Da darf man sich nicht wundern, auch den
Epikureismus wieder auferstehen zu sehen. Laurentius Val-
las , (Dialog von der Lust" ist eine solche erste, nicht nur anti-
quarisch gemeinte Renaissance der Hedonik Epikurs.
Und weiter. Erweist sich, auf Grund der metaphysischen Über-
zeugung, die Welt dem höheren Streben des Menschen wesens-
gleich, ja mit ihm wesenseins, und bietet sie einen ehrenvollen
Tummelplatz seinem Wirken und jedweder Fähigkeit, so ruft
sie auch Liebe für sich wach. Die Welt ist ja, was der Mensch
selbst ist. Sie ist Leben. Drängendes, ringendes Leben. Je mehr
Leben aber, desto mehr Tätigkeit und je mehr Tätigkeit, desto
mehr Liebe. Nicht durch tote Worte und Verheißungen der
Schrift und der Kirche braucht das Göttlich-Gute garantiert zu
werden. Die Welt, deine, meine Welt offenbart und verkündet
ja selbst in überwältigender Macht die innere Nähe des Guten.
Alles ist von Natur göttlich und gut. Dieses Wort Sebastian
Francks ist eine unter unzähligen Preisungen der Natur. Wie
sollte man einer solchen Natur stumm und teilnahmlos gegen-
überstehen! Wie sollte man sich da nicht tief beglückt ihrer
Harmonie einfügen und in seliger Hingabe nicht einstimmen in
den Lobgesang des Alls! Die große physische und moralische
Einheit weckt Liebe und Begeisterung. Sie ist kein schnöder Ab-
fall von Gott, sie ist nicht das Werk des Gottfeindes. Die sicht-
bare Welt ist von einem sie liebenden Gotte ins Leben gerufen,
sie ist erschaffen als ein Abbild des im göttlichen Geiste existie-
36 ARTHUR LIEBERT
renden Vorbildes. Die Welt ist ein erhabenes Kunstwerk. Mit
der Ethisierung der Wirklichkeit verbindet sich ihre Ästhetisie-
rung. So verschränken sich auch hier der ästhetische und der
ethische Gesichtspunkt, wie es schon bei Piaton und Plotin der
Fall gewesen war (Drews, Plotin S. 298).
Dieser universale Optimismus durchweht die wunder-
vollen Hymnen Lorenzos, des Prächtigen. „Gott liebt die
Welt, wie er von ihr wieder geliebt wird. Wie Gott sich selbst
liebt, so liebt er auch die Menschen, und die Liebe Gottes zu
den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott
sind ein und dasselbe". So Spinoza in seiner Ethik. Diese
große, heilige Weltiiebe mußte erst wieder lebendig werden,
und die Stellung der Menschen zur Welt mußte erst im Gefühle
ihre Begründung finden, bevor ihr Leibniz in seiner The odicec
die theoretische Rechtfertigung verschaffen konnte. -^
c) DIE NEUE STAATSTHEORIE
Das Absterben der von der Theorie betonten Weltverdrossen-
heit des Mittelalters, das auch von der neuen Philosophie sajik-
tionierte Streben, diese Welt und ihre Werte zu entdecken und
zu gewinnen, tritt an einem Punkte mit besonderer Entschie-
denheit in die Erscheinung. Aus der Tiefe jener auf energische
Wirksamkeit gerichteten, behaglicher Selbst beschaulichkeit ab-
holden Naturen steigt eine scharfe Agitation gegen die trost-
losen politischen Zustände empor. Wie diese beschaffen waren
— hier fallt der Blick vornehmUch auf Italien, denn in Frank-
reich war durch das Emporkommen eines starken monarchi-
schen Regimentes schon seit einiger Zeit eine Wendung zum
Besseren eingetreten — so mußten sie den genußvollen Besitz
der Erde zerstören, jede gedeihlich-sachliche Entwickelung ab-
schneiden, die Erstarkung praktisch -sozialer Tendenzen, die
Zunahme der ökonomisch-politischen Prosperität unterbinden.
Der sichere Bestand jedes Gemeinwesens war durch das Ty-
rannen- und Kondottierenunwesen bedroht, der Bürger jeden
Augenblick in Gefahr, zum Sklaven eines Winkelmachthabers
degradiert zu werden. Die inneren Kräfte, das Arsenal sitt-
licher Potenzen und materieller Wohlfahrt schienen in den
unaufhörlichen, bisweilen mit teuflischer Bestialität ausge-
fochtenen Familienzwisten der nahen Erschöpfung verfallen
zu sein.
Gegen diese entsetzlichen Kleintreibereien erhebt sich eine
MONISMUS UND RENAISSANCE a/
tief gesunde Abwehrbewegung. Sie hat ihren schärrsten und
stärksten Vorkämpfer in Niccolo Macchiarellis „Buch vom
Fürsten". Es ist, wie schon Gervinus gesagt hat, eine Tendenz-
schrift gegen die jammervolle politische Zerstückelung, in der
jeder Teil wider den anderen schürt und streitet. Mit rationaler
Sachlichkeit predigt es das streng monarchische Ideal. Der
„Fürst", das ist der Mann, der mit eiserner Hand ein Reich,
einen straff geschlossenen Staat zu schmieden vermag. Ein
Vers Homers könnte diesem Buche als Motto dienen:
„Vielherrschaft bringt nimmer Gedeihn, i
si Herrscher."
Und noch ein anderes Moment sichert dem Buche Macchia-
vellis seine reformatorische Stellung. Wenngleich nicht mit all-
sichtbarer Deutlichkeit betont, wirkt doch der Gegensatz zu je-
ner scholastisch- transzendenten Staats theorie, wie sie Au r e 1 i us
Augustinus in seinem „Gottesstaat" in die klassische Form
gebracht hat, als energische Hintergrundskraft. Hier die Lehre
Ton der absoluten Unterordnung aller natürlichen Einrichtun-
gen und aller welthch gesinnten Lebensarbeit unter das theolo-
gische Ideal der christlichen Ethik; hier eine fast verachtungs-
Tolle Niederdrückung des weltlichen Staates als einer bloß se-
kundären, als einer bloß menschlich-kreatürllchen und darum
bestand- und wertlosen Schöpfung. Selbst seine empirische Exi-
stenz, rein als solche, empfängt erst durch die Kirche ihre Be-
glaubigung und Stütze. DerweltUche Staat gründet sich auf das
armselige menschliche Recht — die Kirche, die irdische Er-
scheinung des Gottesstaates, aber auf göttliche Satzung. Ver-
gängliche, niedrig-eudätnonistische Zwecke sucht der weltliche
Staat zu verwirklichen. Die sogenannten Tugenden seiner Mit-
glieder sind nur glänzende Laster. Augustinus formuliert die
Omnipotenz der Kirche. Und wie oft hatten die Päpste von Pe-
lagius bis zu Innozenz III. mit schneidender Entschiedenheit
in Theorie und Praxis die Suprematie der Kirche verfochten!
In diesem welthistorischen Gegensatz zwischen Kirche und
Staat prägt sich die Brüchigkeit der scholastischen Weltan-
schauung in neuer Gestalt aus. Der Einstellung aller Gedanken
und Handlungen auf das kirchliche Ideal widersprachen die
Triebkräfte der menschlichen Natur; der Bekennung zum Dies-
seits wehrte die Theorie.
Diesem scholastischen Supranatural ismus Augustins sagt
Macchiavelli Fehde an. Nicht mit offenem Visier. Aber die oppo-
sitionelle Tendenz glüht in der Tiefe. Hier unten ist meine Welt.
Auf sie ist der Blick zu richten. Praktische Mittel sind zu finden,
Reformen anzubahnen zur ökonomisch-sozialen und politischen
Förderung. Das Leben trägt ein heiliges Recht in sich selber.
Es motiviert sich selbst und verleiht seiner Arbeit den Rechts-
grund. Mit eigener Hand mag der Mensch sein Schicksal schmie-
den. „Wohl mag das Glück", sagt Macchiavelli, „die Hälfte
aller menschlichen Angelegenheiten beherrschen; aber die an-
dere Hälfte, oder doch beinahe so viel, muß es uns selbst über-
lassen." Es gibt soziale Funktionen, die ethischer Natur sind.
Die gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge haben ihre Au-
tonomie. Die Pflege der sozialen und politischen Wohlfahrt
braucht nicht ängstlich nach einer kirchlichen oder transzen-
denten Satisfaktion zu schielen.
Damit ist ein neues Prinzip der sozialen Ethik geboren. Oder
eigentlich: Das antike Prinzip, der große sittlich-soziologische
Gedanke eines Piaton oder Aristoteles gewinnt wieder seine
Kraft. Der teleologische Zusammenhang erhält in dem Leben
und Gedeihen der Gesellschaft sein bestimmtes, konkret faßliches
Ziel. Ja, man darf sich in den Dienst des Tages und des Lebens
stellen. Die irdischen Instinkte werden erlöst. Das Handeln des
Menschen erhält eine klare, eindeutige Richtschnur. Der Mensch
ist beglaubigt als ein Bürger dieser Erde. Ein politischer Monis-
mus, begründet in der Bewegung zu universaler Verweltlichung,
begründet in der neuen Ethik und Metaphysik, wird zum Grund-
gedanken der neuen Staatsform. Seine Tendenz ist ein ökono-
misch-sozialer Eudämonismus. Das ist die Gesamtkontur der
politischen Kulturverfassung. Sie wird natürlich von den einzel-
nen Staats rechtsl ehre rn mannigfach variiert und in wechseln-
den Farben aus getuscht.
In diesen Zusammenhang gehört die Erwähnung einer Reihe
typischer Schriften, sozialer undpoUtischerZukunftsträume,der
„Utopie" des Thomas Morus, des „Sonnenstaates" des Tho-
mas Campanella und der „Nova Atlantis" des Francis
Bacon. Sie alle wollen dem einen Zwecke dienen, diese Erde
wohnlich und behaglich einzurichten, den Himmel auf die Erde
zu verpflanzen, den prakti s ch -eudämon ist i sehen Idealen, deren
gutes Recht mit freier Stirnc ausgesprochen wird, im Leben
der Menschen Wohnstatt und Geltung zu verschaffen. In Fran-
cis Bacons Enzyklopädie gibt es ein Buch, das der ,,scientia
civilis" gewidmet ist. Es enthält praktische Vorschriften zur
Klugheit im privaten und geschäftlichen Verkehr und im Ver-
kehr mit der Regierung.
d) DIE NEUE RELIGIONSPHILOSOPHIE
Welch inniger Wesenszusammenhang zwischen Metaphysik
und Religion obwaltet, bedarf keines genaueren Nachweises. Die
monistische Linie, deren Verlauf in einigen ihrer Stadien wir
bisher verfolgt haben, mündet in einer Religionsphilosophie, die,
über allen Separatismus der Kirchen und Konfessionen, über
alle dogmatische Verengung und Vereinzelung hinaus, zur Be-
gründung und Proklamierung eines religiösen Universalismus
hindrängt. Diese unifizierende Bewegung äußert sich einmal in
der Richtung, daß die vorchristlichen Religionen, tm besonde-
ren das Judentum, nur als Vorstufen, als fragmentarische Vor-
offenbarurgen des Christentums, daß Mose und die Propheten
des Alten Bundes als Vorboten Christi und seiner endgültigen
Heilswahrheit aufgefaßt werden. Es herrsche zwischen Juden-
tum und Christentum so wenig ein tieferer, auf ihre Wurzeln
sich beziehender Unterschied, wie ein solcher zwischen der heid-
nischen und der christlichen Philosophie bestehe. Allerorten sei
in dem Alten Testament ein Hinweis auf das Evangelium und
seinen Verkünder zu finden für das Auge dessen, der nicht durch
die Verschiedenheit der Worte und Darstellungen getäuscht wer-
de. Hören wir eine Stelle ausGiovanni Picos berühmter Rede
„Über die Würde des Menschen", in der von der Erwerbung und
dem Studium der jüdischen Kabbalah die Rede ist: , .Nachdem
ich mir diese Bücher um vieles Geld beschafft und sie mit un-
ermüdlicher Anstrengung studiert hatte, da erkannte ich, und
ich rufe Gott zum Zeugen meiner Behauptung an, daß ihr In-
halt sich nicht sowohl auf die mosaische als auf die christliche
Religion beziehe. In ihnen ist die Rede von dem Mysterium der
Trinität, von der Fleischwerdung des göttlichen Wortes und von
der göttlichen Natur des Messias. Ich fand in ihnen die Lehre
von der Erbsünde und ihrer Sühnung durch Christi Opfertod.
Sie erzählen von dem himmlischen Jerusalem, von dem Sturze
der Dämonen, von der Rangordnung im Reiche der Engel, vom
Fegefeuer und von den zur Hölle Verstoßenen. Ich las in die-
sen Büchern, was wir täglich bei Paulus und Dionysios, bei Hie-
ronymus und Augustinus lesen. In den philosophischen Par-
tien glaubt man Pythagoras und Piaton sprechen zu hören, des-
sen Lehren der christlichen Religion so nahestehen, daB Augu-
sttnus ein inniges Gebet zu Gott emporschickte, als ihm die B
eher der Platoniker in die Hände gefallen waren."
Man wird diese Anschauung Picos, die sich auf eine sehr ge-
zwungene kabbalistische Interpretation des Alten Testaments
stützt, als eine Vorstufe zu einer universalhistorischen Auffas-
sung der Religion bezeichnen dürfen. Es ist ein erster Versuch,
die Vielheit der historischen Religionen in der Einheit der Re-
ligion aufgehen zu lassen. Was jedoch an diesem Ansatz unbe-
friedigt läßt, das ist der Umstand, daß schlieQlich doch, und zwar
nicht allein in bezug auf das Judentum, der Katholizismus zu
der allein entscheidenden Norm erhoben, die katholische Reli-
gionzur endgültigen, unüberbietbarenForm der religiösen Wahr-
heit gestempelt, in den Rahmen ihres Lehrsysteras die An-
schauungen und Glaubenssätze aller anderen Konfessionen hin-
eingezwängt werden oder hineingezwängt werden sollen. Es ist
noch kein freies Schalten und Stehen über den Parteien und
Sekten. Hier ist jene gewaltige Erweiterung des Gesichtskrei-
ses nicht erreicht, die den Gedanken fallen läßt, das katholische
Christentum verkörpere die Universalreligion, und welche über
alle und jede konfessionelle Besonderheit hinaus und im Ge-
gensatz zu dieser von der Verwirklichung eines allgemein-
menschlichen Religionsgedankens träumt. Der Einheitsgedanke
macht hier ängstlich Halt vor der historischen Gegebenheit des
Katholizismus. Dessen kirchlich-religiöse Kultur schien gleich-
sam den religiösen Weltbegriff in abgeschlossener, einzig mög-
licher und notwendiger Gestalt darzustellen.
Das Freiwerden der religiösen Vernunft ist der näch-
ste, entscheidende Schritt auf dem Wege zur Theorie einer wirk-
lichen Universalreligion. Das bedeutet nicht nur die gegensei-
tige Anerkennung der verschiedenen Religionsformen, wie sie
in Boccaccios berühmter Erzählung von den drei Ringen auf-
leuchtet. Es handelt sich nicht allein um den Gedanken der
Toleranz, der damals auf der Grundlage einer weiten konfessio-
nellen Indifferenz theoretisch vertreten wurde. Es handelt
sich um die Kristallisierung eines neuen Religions-
gedankens. Schon Macchiavelli legt sich gegen die Allein-
herrschaft der römischen Kirche ins Zeug, Thomas Mortis
erzählt, daß die Bewohner der glücklichen Insel Utopia, trotz
der Bewahrung der einzelnen Konfessionen, einen gemein-
samen Gotteskultus eingericht;t haben. Er wiederholt damit
einen Gedanken, den der große, in so vielen Hinsichten in
die Zukunft weisende Nikolaus Cusanus schon tun 1440
in seiner Schrift: „Über den Frieden oder die Übereinstimmung
unter den Religionen" ausgesprochen hatte. Und Jean Bodin
proklamiert in seinem Dialoge „Heptaplomeres" das neue
Religionsprinzip als das Bewußtsein von einer allgemeinen
religiösen und moralischen Wahrheit. Sind da in Venedig sie-
ben Männer — - daher der Titel des Dialogs — Fürsten an
Bildung, zusammengekommen zum Zwecke eines Religions-
disputes. Und während ein jeder von ihnen mit Festigkeit,
doch ohne Gereiztheit und Fanatismus den Standpunkt seiner
Konfession verficht, ringt sich eine höhere, umfassendere An-
sicht frei: Bei allem Partikularismus findet man eine gemein-
same Form der Verehrung Gottes. Und diese höhere Ansicht,
die wie der klare Tag über den Dunstkreis sektirerischer Ver-
schiedenheit aufhellt, hat ihren besonderen Vertreter in der
Person des Toralba. Alle diese Schriften sind erste frühe An-
sätze zu einer Konstruktion der natürlichen Religion, die dann
im Jahrhundert der Aufklärung zu einem vollen System aus-
gebaut wurden.
Fragen wir nach dem Inhalt jenes Bewußtseins, so wird uns
die Antwort: In der Gesinnung der Humanität äußert
und betätigt sich das Wesen der wahren Religion. Sie
steht jenseits aller historischen und dogmatisch -systematischen
Schranken, jenseits der mannigfachen religiösen Erscheinungs-
formen. Das Allgemein-Menschliche ist ihr Ideal. Das ist die
eine wahre Religion. Zu dieser „Religion Christi" bekeiuit sich
Bodin, ein kühner Vorläufer Lessings.
Die Renaissancephilosophie hat in dieser Hinsicht denGrund-
stein für die Herausarbeitung dis ethischen Wertes der Re-
ligion als des ihr wesentlichsten Momentes gelegt imd damit den
Einigungs- und Schnittpunkt für die einzelnen positiven Reli-
gionen deutlich bezeichnet. —
Die metaphysische Einheitslehre empfängt in der religiösen
Praxis der Humanität ihre Vollendung und Krönung. In der
Erkenntnis und Verwirklichung der Einheit von Gott und Welt,
Gott und Mensch, Mensch und Weit erreicht die Renaissance
die erhabenste Stellungnahme des Menschen zur Wirklichkeit.
Die kosmische und moralische Harmonie verheißt und gewährt
ihr die Erfüllung ihrer Lebenshoffnungen. Sie macht ihr das
Leben lebenswert und lieb. Ein Wort Brunos beschließe un-
sere Betrachtungen. ,,Das höchste Gut, der höchste Gegen-
stand des Begehrens, die höchste Vollkommenheit, die höch-
ste Glückseligkeit besteht in der Einheit, welche alles in sich
schließt." —
Wilder regt sich in der Gegenwart der Drang nach Erreichung
einer großen, umfassenden Synthese, der Drang nach der Ge-
winnung aller Einzelerkenntnisse und Einzel Wirklichkeiten aus
dem Gedanken und aus der Realität einer Einheit heraus. In
den leitenden metaphysischen Systemen unserer Tage wirkt sich
dieser monistische Trieb aus. Nicht die Willkür des Einzelnen,
sondern die in ihm waltende metaphysische Vernunft ist der
Impuls für alle diese Unternehmungen. Lotze, Fechner, Kart-
mann, Wundt, Paulsen, sie alle erbücken in der Wirklichkeit
ein einheitliches Wesen, eine unendliche Substanz, der alles Ein-
zelne eingelagert und untergeordnet und welche in einheitlicher,
immanent - teleologischer Selbstbewegung begriffen ist. Aber
auch unsere Wissenschaften streben einem Zusammenschluß
entgegen. Sie alle bauen sich auf der Idee auf, daß schließlich
die verschiedenen Teile menschlichen Wissens nicht im Wider-
streite miteinander verharren. Sie alle sind geleitet von dem heu-
ristischen Gedanken, an ihrem Teile beizusteuern zu einer ein-
heitlichen Lösung des Weltproblems, auf daß wir eines Tages
die Formel finden, die das Rätsel des Wirklichen ausspricht und
begreiflich macht.
Diesen monistisch-synthetischen Zug teilen wir mit der Re-
naissance. Das ist der Punkt unserer tiefen Verwandtschaft mit
ihr. Daß wir die monistische Entscheidung nicht so leicht wie
sie im Begriffe und Wesen Gott ;s finden können, daß wir diese
Lösung als eine unendliche Aufgabe vor uns sehen, ist sowohl
das Schicksal wie auch die Größe unserer geistigen Arbeit.
MARIE JOACHIMI-DEGEZUR GESCHICHTE
DES MONISMUS
IE logische Wurzel für jeden Monismus ist
das Einheitsstreben des Denkens.
Monismus im weitesten Sinne ist jedes
Bestreben, einen vorhandenen gedank-
lichen Widerspruch durch das Denken
zu überwinden; zwei Vorstellungen oder
Ideen, die nebeneinander unvereinbar sind,
unter Einem höheren Gesichtspunkt zu
vereinheitlichen: ,,zu begreifen". In diesem ganz weiten
Sinne ist jede neue Erkenntnis monistisch in ihrer Ten-
denz, denn jede neue Erkenntnis schafft aus einer Vielheit
eine neue Einheit oder ordnet Einzelheiten in eine Einheit ein
und zielt nach einer absoluten Einheit. Dieses Einheits-
streben des Denkens ist eine Tatsache , die feststeht. Es ist für
uns die einzige Tatsache, die feststeht. Sie wird uns in
jedem Augenblicke empirisch verbürgt. Sie ist uns (wie Kant
nachwies) a priori gegeben. Das Denken strebt nach Einheit,
schafft Einheit, ist Einheit.
Was heißt Monismus also? Monismus im weiteren Sinne ist
nur ein Wort, das direkt oder indirekt dem Einheitsstreben des
Geistes Rechnung trägt. Es ist ein Wort zur Beruhigung, ein
Wort wie Gott, Welt, Natur. Es bezeichnet das universellste und
individuellste Bedürfnis des denkenden Geistes, sein Bedürfnis
nach einer all -umfassenden Einheit. Im Worte Monismus ver-
spricht sich das rastlose Einheitsstreben des Denkens eine ihm
entsprechende, vollkommene Erkenntniseinheit und damit eine
vollkommene Erkenntnisbefriedigung, vollkommene Erkennt-
nisruhe. Es verspricht sie sich, aber es gibt sie sich nicht. Es
kann sie sich nicht geben, und es darf sie sich nicht geben: denn
Monismus ist eben nur ein Wort. Aber soIcheWorte sind Merk-
steine, die der rastlos sich betätigende menschliche Geist sich
setzt auf dem Wege seiner Entwicklung, Fahnen, die er auf-
pflanzt, wenn ein neuer Gipfel erklommen oder in Sicht ist. Es
sind Worte, in denen er sich sein Ziel klarmacht, in denen er
s ich selbst bejaht.
i
Ov UoDiimuE II
34 MARIE JOACHIMI-DEGE
Alle Selbstbejahung des Denkens stellt sich im Menschen als
konzentrierte Tatkraft und Tatenfreude dar; alle Selbstvemei-
nung des Denkens, sei sie mystischer oder skeptischer Art, zer-
splittert die Tatkraft und lähmt die Tatenfreude.
Was wir die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes
nennen, ist nichts anderes als das Schaffen neuer, reicherer,
tieferer Einheits- und Konzentrationspunkte. Wie das Denken
selbst, so ist auch seine menschliche Entwicklung im weitesten
Sinne Monismus: Der menschliche Geist bereichert sich und
erweitert und entfaltet sich, indem er inuner reichere und höhere
Einheitsbegriffe schafft: so entstanden Götter; so wurde aus
Göttern Ein Gott, so entstanden Weltanschauungen, und so
entstand der „Monismus als Weltanschauung''.
Der Monismus als Weltanschauung, so wie er heute populär
ist, ist eine neue Erscheinung im Massengeist — nicht in
der Philosophie. Hier steht er am Anfang der Entwicklung,
und mehr als zwei Jahrtausende geistiger Gedankenarbeit sind
über ihn hinweg- und hinausgegangen.
Es wäre daher verkehrt, die Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Geistes als eine streng einheitliche und eng ge-
schlossene zu betrachten. Der Massengeist mufi sich aus leicht
erklärbaren Gründen viel langsamer entwickeln als der philo-
sophisch-logische Geist im Einzel-Menschen. Aber die Entwick-
lungslinie ist die gleiche. Auf derselben Bahn oder in demselben
Rhythmus der Bewegung streben beide zur Einheit, zu einem
absoluten, alles bedingenden und deshalb alles erklärenden
Mittelpunkt.
Dem klarsten und stärksten und höchsten Trieb des Menschen,
seinem geistigen Einheitstrieb, entspricht also nicht wie den
natürlichen Trieben eine positive Erfahrungstatsache der Be-
friedigung, in der er sich erschöpfen und erfüllen könnte, son-
dern eine Tatsache, für die ihm die Erfahrung fehlt und fehlen
wird. Wir tun gut, uns dies vor Augen zu halten: Das Faustische
Unbefriedigtsein, die romantische Sehnsucht und so vieles an-
dere, was sogenannte vernünftige und praktische Menschen in
sich und andern zu unterdrücken bemüht sind, hat hierin seine
ewige unantastbare Berechtigung, und mehr! ist uns das Unter-
pfand dafür, dafi unsere tiefste Wesenheit, unsere ursprüng-
lichste Bestimmung über das persönliche Leben hinausragt: in
die Unendlichkeit, in die Ewigkeit, in die Allheit, in die Ein-
heit. Was dem Geistestrieb die Befriedigung schafft, und zwar
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
35
eine Befriedigung, die die Erfüllung und Befriedigung der na-
türlichen Triebe durch Genuß bei weitem übersteigt, ist einzig
seine ungehemmte Betätigung und die Erkenntnis seiner un-
endlichen, ewigen — d. h. seiner über der Zeit und dem Raum
und der Kausalität oder Bedingtheit stehenden — Wesenheit,^
ist die Selbsterkenntnis des Geistes durch sich selbst.
In den Worten Gott, Natur, Welt, Monismus bejaht sich der
Geist nicht nur, sondern er erkennt sich auch in ihnen. Seine
menschliche Entwicklung ist nicht nur ein fortwährendes
Schaffen von neuen geistigen Einheits- und Konzentrations-
punkten, es ist auch zugleich eine fortwährend tiefer werdende
Selbsterkenntnis, d. h, : die schaffende Denkmacht erkennt sich
in jenen neuen Worten mehr und mehr als aktive Einheit und
strebt danach, sich schließlich als die absolute Einheit zu er-
kennen. Oder um es anschaulicher zu sagen; Die aktive Denk-
einheit strebt danach, in sich die Alleinheit und sich in der Allein-
heit zu begreifen: Darin besteht ,,das Streben nach Wahrheit".
Werfen wir einen Blick zurück auf die Entwicklung dieses
Strebens nach Wahrheit oder, was gleichbedeutend ist: auf die
Entwicklung des menschlichen Geistes!
In der Tatsache, daß wir so zurückzublicken vermögen, liegt
ein Beweis, daß die Denkmacht in uns nicht an die enge Zeit-
lichkeit unseres Ich -Bewußtseins gebunden ist, sondern sich
freischaltend und nach eigenen, immanenten Gesetzen kon-
struierend über den Erfahrungen und Bewußtseinsinhalten von
Jahrtausenden bewegt; daß sie nicht nur Gegenwärtiges und
auf Sinneseindrücken Beruhendes als subjektive, persönliche
Erfahrung, sondern auch Zukünftiges (die Philosophie) und
Vergangenes {die Geschichte) als objektive Erkenntnis in die
Erfahrung einer bestimmten, zeitlich begrenzten Persönlich-
keit zusammenschließt und so deren Ich -Bewußtsein verändert,
gestaltet, bereichert.
Blicken wir also zurück, so sehen wir schon ganz im An-
fange der menschlichen Geistesgeschichte, daß der Gesamtum-
fang der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Geistes-
strebens zu drei Einheitsbegriffen verschmolzen ist. Der Mensch
nennt Götter (später: Gott!) die höchste Ursache, von der er
l- Ebenso wenig, wie der GeUt dem Gesetz des Raumes und der Zeit, deren
Formen er schafft, unterstellt werden kann, ebensowenig darf er dem der
Kausalität unterworfen werden. Siehe Kern: Das Wesen des menschlichen
Seelen- und Geisteslebens, Berlin 1907, II. AuH.
3« MARIE JOACHIMI-DBGB
als Mensch abhängig fühlt, die er nicht mit seinem BewuBt-
sein erreicht Jenseits der Grense seiner bewuBten Brf ahrmigen
denkt er die erste und letzte Einheit alles Seienden, den Sinn
des Daseins, die absolute Einheit Er nennt Welt oder Na-
tur, was seinen Empfindungen entspricht Vermöge der Raum-
und Zeitanschauung seines Denkens erweitert und substantia-
lissert er die Mannigfaltigkeit der Reize von außen, die seinem
Bewußtsein als Empfindungen gegeben werden, zu einer kon-
kreten Welteinheit, der er als Analogon der wechselnden
Empfindungen das Prädikat der Vergänglichkeit beil^, wäh-
rend die auf reiner Gedankenkonstruktion beruhende All-Ein-
heit oder Gott-Einheit das Prädikat der Ewigkeit erhält Er
nennt Seele einen gedachten Punkt, der seine sukzessiven Emp-
findungen in raumloser und zeitloser (also ewiger) Einheit
trägt und zusammenhält.
Von diesen drei Einheiten geht die eigentlich historische Peri-
ode der menschlichen Geistesentwicklung aus. Die Tendenz, von
der sie Richtung und Inhalt erhält, ist das Bestreben, diese drei
Einheiten restlos als All-Einheit ineinander aufgehen zu sehen,
sie als Eins zu erkennen.
Bezeichnenderweise wendet sich das menschliche Denken zu-
erst der All-Einheit zu und sucht in dieser die Erklärung für
die Welteinheit und Menschheit. Damit nimmt es gleich die
Grenze der bewußten Erkenntnis in Angriff und überwindet sie
durch den Begriff eines Obermenschlichen, Göttlichen. —
Seinem Einheitsstreben folgend, schmilzt es die Vielheit der
Götter mehr und mehr zusammen, bis sich schließlich aus dem
Begriff eines obersten Gottes die Idee Eines Gottes klar
heraushebt. Dieser Eine Gott trägt allerdings die Zuge des
Menschen und der menschlichen Erfahrung. Er ist aber auch
zugleich ein Spiegel der Einheit der Denkmacht: Er ist
über allen Raum und alle Zeit erhaben, ewig und unendlich, er
ist causa sui (onmipotente Persönlichkeit), er ist der Schöpfer
von allem Räumlichen, Zeitlichen, kausal Bedingten.
Mit der Erkenntnis der All-Einheit als Gott ist der erste hohe
Gipfel in der Geistesgeschichte des Menschen erklommen; die
erste Epoche der Entwicklung vollendet : die der Mythologie.
Mit dem theistischen Monismus, oder wie es gewöhnlich
heißt, dem Monotheismus hat sie ihr Ziel erreicht Im Bilde
Einer omnipotenten Persönlichkeit als dem Schöpfer, Erhalter
und erklärenden Einheitspunkt findetdas unendliche, nach
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 37
Einheit zselende Geistesstreben im Menschen zum erstenmal
seine volle Selbstbejahung. Wie viel stärker diese geistige Selbst-
befriedigimg durch eine sogenannte »»begriflliche^' Einheit ist und
wie viel wertvoller und lebendiger und wahrer sie dem Men-
schen instinktiv erscheint als sein blofies Ich-Bewufitsein, das
sehen wir deutlich in Zeiten, in denen die neue Einheitsidee
des Gottes noch gegen die Vielheit der Götter kämpft. Z. B.
zur Zeit der Christenverfolgungen. Welch innere Bewegung!
Welcher Aufruhr 1 Mensch gegen Mensch , Vater gegen Sohn,
so ringen die alten Götter mit dem Einen. Der Selbsterhaltungs-
trieb scheint wesenlos geworden. Der Christ stirbt freiwillig, da-
mit die Idee lebt. Er stirbt im Bewußtsein, daB er Unsterbliches
leistet, sich selbst die Unsterblichkeit erwirbt. Er stirbt „zum
ewigen Leben in Crott^' ; d. h. er opfert sein Ich-Bewufitsein, seine
Persönlichkeit für die Einheit der Idee: Er bejaht mit seinem
Geist — den Geist.
Lange bevor der Monotheismus die Periode der Mytholo-
gie abschliefit, wird schon im Denken des Einzelmenschen die
neue Epoche des Geistes geboren: die Epoche der Philosophie
und der Wissenschaf t. Neben das Gottesproblem tritt dasWelt-*
Problem.
Die im Begriff der Gottheit geschaffene Einheit war zu eng,
um die erweiterte Welterfahnmg und Weltempfindung in sich
aufzunehmen. Denn die Gotteinheit verdankt ihre Existenz aus-
schliefilich der personifizierenden Kausalitätsfunktion des Den-
kens: Sie steht für unbedingte Ursache. Die Welteinheit aber
war das Gebilde von Raum-, Zeit- und kombinierender Kausa-
litätsfunktion : sie war inhaltlich reicher als die Gotteinheit und
konnte deshalb nur durch einen Akt der Willkür aus dieser her-
geleitet werden. Dieser Akt der Willkür, genannt Schöpfung,
anstatt zu binden, trennte nur noch mehr, da er nicht nur die
Zweiheit bestehen ließ, sondern auch noch dem Grade und
Werte nach Gott und Welt voneinander trennte, Gott nicht
neben die Welt, sondern hoch über und weit ab von der Welt
stellte. Der Einheitsdrang des menschlichen Denkens geht des-
halb in unbewußter Logik daran, in der reicheren Einheit, der
Welteinheit, die ärmeren Einheiten (Gott und Seele) zu be-
schließen. Er versucht den Einheits- und Mittelpunkt im Welt-
ganze n zu entdecken. Damit sind Philosophie und Natur-?
Wissenschaft (beide war^i ursprünglich eins und müssen im
letzten Grunde immer eins bleiben) geboren.
38 MARIE JOACHIMI-DEGE
Um in der Welteinheit die All-Einheit zu entdecken, ordnet
der Mensch bewuBtermaßen seine Sinneseindrücke seiner Denk-
kraft unter. Er lernt schärfer sehen, d. h. er lernt denkend
sehen: Er beobachtet, er forscht. Er wählt unter den Sinnes-
eindrücken aus, was seinem Einheitsdrang entgegenkonunt,
und er abstrahiert und substantialisiert sich aus all diesen Ein
Gemeinsames. Er nennt es Stoff.
Alles ist ein Stoff. Dies ist der erste Einheitssatz aus dem
jugendlichen Geiste der philosophierenden Naturwissenschaft
geboren. — Die Mjrthologie endet mit dem theistischen Monis-
mus; die Philosophie beginnt mit dem materialistischen
Monismus.
Alles ist Wasser, sagt Thaies, indem er eine Eigenschaft des
Stoffes , die ihm die wichtigste scheint , als das Grundelement
annimmt. Am Anfang war das Unbegrenzte, sagt Anaximander,
indem er — der Einheit wegen — einen Stoff ohne alle Eigen-
schaften sich zu denken müht. Alles ist aus Luft , sagt Anaxi-
menes, und findet so einen Stoff, der sowohl die Eigenschaften
des Körpers als des Geistes zu haben scheint, der ihm eine be-
lebte Materie, wie sie Haeckel erträumt, zu sein scheint.
Damit ist die materialistisch-monistische Weisheit zu Ende.
Was sie sonst noch im Laufe der Jahrhunderte zu sagen hat,
ist im Grunde nichts Neues. Es sei denn, daß man die gedank-
liche Zerlegung des Stoffes in unendlich kleinste Teile als etwas
Neues bezeichnet. — Der monistische Materialismus scheitert.
Der Stoff erklärt immer nur den Stoff — also nichts. Der Welt-
gedanke, von dem ausgegangen war, wird zum Welträtsel. Es
ist nicht nur nichts erklärt worden, sondern das Streben des
Denkens, das den stofflichen Erklärungsversuch machte, ist
damit durch sich selbst verneint worden.
So sehen wir denn auch gleich in den Pythagoräern das Be-
streben, von einer anderen Seite als der stofflichen zum Ein-
heits- und Erklärungspunkt des All zu gelangen. Gerade das,
was die monistisch-materialistische Weltanschauung unerklärt
lassen mußte, erklären sie für „das Wesen der Dinge'': Das
Wesen der Welt ist der innere Rhsrthmus, die Harmonie, in
der alles schwingt: die Zahl. Sie tun den Schritt vom Materia-
lismus zum Mystizismus, der unvermeidlich ist. Im Zentrum
lebt die „Eins'S das ist das Urfeuer, das dem unbegrenzten
Stoffe Form und Leben gab. Der Stoff selbst bleibt unerklärt.
Die Pythagoräer sind die ersten Dualisten. Das ist keine
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
39
Schwäche, sondern ein Fortschritt. Jeder materialistische
Monismus muß die Weiterdenkenden in Dualismus führen. Der
Weg von einer niederen Einheit zu einer höheren geht über den
Dualismus. Je schroffer der Dualismus, desto energischer macht
sich das Einheitsbestreben wieder bemerkbar.
So folgen auf die Pythagoräer die Eleaten: die ersten intel-
lektualistischen Monisten. Ihr Einheitsstreben, ihr Durst
nach Erkenntnis ist stärker als alle Freude am Persönlichen
und schönen Einzelsein. Sie verachten das Zeugnis der Sinne,
weil es dem Einheitsstreben ihres Geistes zu widersprechen
scheint. Sie disputieren das Werden, die Bewegung, die Ver-
änderung fort, um ihrem Einheitsdrange zu genügen. Sie finden
den Einheitspunkt im Begriff des ,, Seins". Schon so früh hat
sich das Einzeldenken zum reinen Begriff erhoben. Schon so
früh wird der erste Versuch gemacht, das unendlich vielgestal-
tige wechselvolle All als ewige, einheitliche Idee mensch-
lich zu begreifen. Schon 500 Jahre bevor der griechische Olymp
mit seiner konkreten Götterwelt dem ideellen Eingott wich, er-
klärt Xenophon : Der Begriff der Vielheit widerspricht dem
Gottes begriff, und behauptet Parmenides: Nicht nur Eine
Gottheit, sondern überhaupt nur Ein Seiendes kann vor-
handen sein, nämlich nur das, was die Vernunft als das
Eine erkennt.
Damit war erreicht, was auf dem Wege der Abstraktion zu
erreichen war : Die Einheit des Stoffes war von den Joniern,
die Einheit der Bewegung war von den Pythagoraern, die Ein-
heit des Begriffes von den Eleaten zum Träger der Welt ein-
heit gemacht. Jetzt erfolgt die Synthese durch Heraklit, der
alle drei Einheiten zu einem System verschmilzt : Die Verän-
derung ist ein Spiel des Einen. Das Eine ist das Feuer. Alles
Werden und Vergehen ist ein Krieg der Einzeldinge miteinan-
der. Das Resultat und der Sinn des Krieges ist die Harmonie
in Einem: der Einklang des Vielen.
In dieser ersten Epoche der Philosophie haben wir ein Bild
des Rhythmus, in dem die Philosophie sich in unermüdlicher
Anstrengung ihre Erkenntnisse und Geschichte schafft: Vom
materialistischen Monismus zum mystischen Dualismus und
vom dualistischen Mystizismus zum strengen, selbstbeherrsch-
ten, klaren monistischen Intellektualismus; und dann zum
Schluß als Zwischenglied zwischen einer alten und neuen Epo-
che eine große Synthese, bei der die Vielheit nicht länger aus
jo MARIE JOACHIMI'DEOE
dtr Einheit hinautcedacht wird, sondern in die Einheit hinein-
gegliedert wird. — Et ist geradezu Terblüffend, diese Bewegung
durch die Jahrtausende hindurch beobachten su können. Nur
macht sich in den folgenden Epochen neben dem dualistischen
Mystizismus immer der ihm im Grunde so nahe verwandte
Skeptizismus bemerkbar. Und jede neue Epoche nimmt — auf
den Schultern der alten stehend — von einem höheren Stand-
punkt aus das Weltproblem in Angriff oder» was dasselbe sagen
will, beginnt mit einer tiefer greifenden, weiter reichenden Ein-
heits-H]rpothese : Die Atomisten, die an Stelle des rohen Ur-
stoffes die Atome postulieren; Anazagoras, d^ als Vertreter
des mystischen Dualismus den Nous, den Weltgeist, als Ur-
sache der Bewegung im Stoffe annimmt, der Intellektualismus
eines Sokrates und die Synthesen des Plato und des Aristoteles —
wie viel höher betrachten sie, wie viel weiter fassen sie und wie
viel tiefer begreifen sie das Problem ihrer Philosophie, das
Problem d^ Welteinheit.
Eine dritte groBe Epoche scheint für die griechische Philo-
sophie mit der materialistisch-monistischen Stoa anzubrechen.
Aber da wird der Geist der Philosophie , der um Jahrhunderte
reifer ist als der des Volkes, von der anstürmenden Gewalt des
Massengeistes ergriffen. Während die Philosophie schon das
Problem der Welt an Stelle des Gottesproblems gesetzt hat und
in weiterer Entwicklung schon strebt, die Einheit des Gottes mit
der Welteinheit (und umgekehrt I) zu verschmelzen, ist der
Massengeist erst zum Begriff der Gotteseinheit hindurch-
gedrungen.
Die christliche Religion hat ihren Siegeszug angetreten; sie
unterwirft sich alles, was denkend nach einer erlösenden Ein-
heitsidee strebt. So gewaltig und umwälzend wirkt dieser thei-
stische Monismus, daß die früh entfaltete Blüte hellenischer
Geistigkeit durch die aufgewühlten Massen verschüttet wird.
Was aus ihrer Wiurzel weiter keimt, stellt sich als Neuplatonis-
mus in den Dienst der neuen Religion und wird schlieBlich leere
Dekoration für die Lehren der Theologie und Scholastik.
Im Papsttum triumphiert der Bfassengeist und der Geist der
Theologie über den Einzelgeist. Das Bild Gottes soll der An-
schauung bieten, was der Verstand rastlos hinter allen Erschei-
ntuigen sucht. Jeder Gedanke, der an dieser höchsten Bildlich-
keit etwas zu indem imstande ist, wird rücksichtslos bekämpft.
Die Folge davon ist, daB für Jahrhunderte die Theologie an die
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 41
Stelle der Philosophie tritt; daS an Stelle des Strebens nach
Einheit, nach Wahrheit, die Übung in der Unterwerfung
unter eine bildliche, symbolische Einheit tritt. — Erst als die
Theologie in sich uneins wird, über sich selbst hinaus zu stre-
ben beginnt, als sich aus ihrer innersten Mitte heraus das Er-
kenntnisstreben mjrstisch spekulierend und unruhig suchend
geltend macht, als das Gottesbi Id sich ihr selbst allmählich wie*
der aiun Gottesbegriff erweitert, wird abermals der Versuch
gemacht, nicht vom Bilde Gottes aus, sondern vom Problem
der Welt, vom Problem einer realen Einheit aus, zu einer ge-
danklichen AU-Einheit zu gelangen.
Damit beginnt die neue Philosophie. Nicht als käme der
menschliche Geist aus der Gebundenheit, sondern als sei er
jahrhundertelang an der Arbeit gewesen, so erscheint er vol-
ler, reicher, tiefer auf dem Boden der in kirchlichen Zwistig-
keiten zerrissenen L&nder. Und jetzt, nachdem der theistische
Monismus das Geistesleben Europas vereinheitlicht hat, wird
nicht nur in einem Volke und nicht nur in streng chronologi-
chem Aufbau die Philosophie entwickelt, sondern in allen Völ-
kern Europas wird der Einzelgeist lebendig und beginnt sich
der Führung der Massen zu bon&cht^en, und lange bevor die
eine Gedankenrichtimg sich erschöpft hat, beginnt die andere
und verbindet sich mit der vorhergehenden zum Akkord oder
Diskord.
Mit Bacon beginnt der alte Rhythmus aufs neue. Dieser neue
materialistische Monismus, der von Hobbes auf seinen
klarsten Ausdruck gebracht wird, nimmt gleich eine bewegte
Materie, ja, eine gesetzmäßig bewegte Materie zum Aus-
gangspunkt. Dadurch war das Problem der Bewegung, das die
Alten immer wieder zum Gottesbegriff trieb, vermieden, aber
nicht gelöst. Das neue Einheitsbild der Welt bleibt nicht tot
und starr wie das der alten Monisten, sondern es ist ein gesetz-
mäßig in sich bewegtes Ganzes: eine Maschine, und der Mensch
ist eine Maschine in der Maschine — und Gott? Es gibt keine
Gotteinheit 1 Oder mag es eine geben — was hat sie mit
Welt der menschlichen Erkenntnis zu tun? — Aber in
Maschme ist wiederum nicht Platz für das Denken, das sie be*
griff lieh geschaffen«
Deshalb läßt Descartes Bacons %iekulation unberüdcsich«
tigt und versucht von dem „Ich denke'S als der obersten
Gewißheit aus, sein Erkenntnisstreben zu befriedigen, die Ein-
42 MARIE JOACHIMI-DEGE
htitf den Mittelpunkt zu finden. Aber aus der obersten Ge-
wißheit: „Ich denke'' wird ihm die Erklärung unmöglich; die
denkende Seele und der nichtdenkende Körper fallen haltlos
auseinander. So landet Descartes in einem schroffen Dualismus
zwischen Körper und Geist. Und er nimmt schließlich an, daß
es der Wille Gottes sei» der beides: Körper wie Geist geschaffen
und verbunden habe. Damit mündet der spekulative Dualismus
wie gewöhnlich in die Theologie. Mystizismus (Okkasionalisten
und Jansenianer) und Skeptizismus (Bayle) folgen ihm auf dem
FuBe.
Des Denken des Spinoza war es, das den höheren Einheits-
begriff, nach dem die Philosophie sucht, findet. Ihm gelingt es,
Gott und Welt und Mensch zur Einheit so zu verschmelzen, daß
jeder Begriff die andern beiden einschließt und erklärt. In Spi-
noza hat die Philosophie ihren ersten hohen Gipfel erklommen,
ihr erstes Ziel erreicht. Sie hat, ausgehend vom Problem der
Welt, die drei Einheiten: Gott, Welt und Mensch als eine
Alleinheit begriffen. Das neue Wort für den neuen Einheits-
begriff heißt: Pantheismus.
Wie der Begriff Gott, so ist auch der Begriff Pantheismus
nicht nur ein Bild menschlicher Erfahrung, sondern auch zu-
gleich ein Spiegel der Denkmacht. Der theistische Gott ist der
Urgrund aller Dinge, über Raum und Zeit erhaben. Der pan-
theistische Gott ist causa sui, ist aller Raum und daher in
allem Räumlichen und Zeitlichen enthalten.
Doch auch dieser Pantheismus schafft keine eigentliche Er-
klärung der Allheit als Einheit, sondern nur ein Wort, das den
Dualismus von Stoff und Geist verleugnet. In Wirklichkeit blei-
ben aber beide unbegriffen darin nebeneinander. Nicht vermöge
einer in ihnen erkannten inneren Beziehung, sondern vermöge
eines äußerlichen, einfachen Rechenexempels gelingt es Spi-
noza, sie zu verbinden. Er bringt sie auf einen gemeinsamen
Nenner (göttliche Attribute) und zählt sie zusammen. Die Sum-
me heißt Gottwelt oder schlechtweg Gott. In dieser Summe sind
beide Faktoren ungekürzt und unverändert enthalten. Auch ihre
Beziehungen zueinander sind nicht vermöge einer neuen Er-
kenntnis erklärt, sondern nur vermöge eines neuen Wortes
„Parallelismus'' konstatiert. Auch heute noch entspricht diesem
Worte kein allgemeingültiger, klarer, eindeutiger Begriff, es ist
auch heute noch nur die Oberschrift zu Erklärungsversuchen.
— Kurz, im Worte Pantheismus verspricht sich das mensch-
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 43
liehe Denken wohl eine höchste Einheit, in der Stoff und Geist
als Eins zu begreifen sind, beginnt es wohl zu ahnen, daß diese
beiden begreifbar sind; aber es begreift ihre Identität nicht.
Da nun das menschliche Denken vermöge seiner menschli-
chen Erfahrung nicht über diesen immer noch dualistischen
Pantheismus hinauskommen kann imd doch seiner immanen-
ten Natur nach darüber hinaus muB, so beginnt es, an sich
selbst irre zu werden. Es beginnt an seiner Natur zu zweifeln.
Es wird sich selbst zum Problem. Es sucht nach Selbst-
erkenntnis.
Damit beginnt eine neue Epoche in der Philosophie, die Epo-
che, in welcher wir leben. Der dritte Einheitsbegriff, die mensch-
liche Seele steht im Mittelpiuikt der Betrachtung, wird der
neue Ausgangspunkt für das alte Streben nach Alleinheit.^
Gibt es eine Einheit, und ist alles Alles Einheit, so muß die-
ses Eine, das „die Welt im Innersten zusammenhält'S auch in
uns gefunden werden können, ja hier am unmittelbarsten ge-
funden werden können. Gibt es aber keine All-Einheit, was be-
deutet dann dieses Etwas, das uns so rastlos nach einem Mittel-
punkt für uns und das All suchen läSt? Wer und was treibt uns ?
Sind es grausame höhere Gewalten, die uns zu diesem ewigen
geistigen Wandern ohne Ziel und Zweck verdammt haben? Ist
eine höchste Gewalt in uns lebendig, die wir im Streben nach
Einheit nur empfinden, die Ziel und Zweck in sich trägt und so
in ims Ziel und Zweck hineinlegt? Was heißt Wahrheit? Was
heißtErkenntnis? Was ist Wirklichkeit? Erkennen wir Wahr-
heit und Wirklichkeit oder sehen wir nur Schein und Schatten?
Sind wird Wirklichkeit oder sind wir — ? — «Wir träiunen
von Reisen durch das Weltall? — Die Tiefen unseres Geistes
kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In
uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Ver-
gangenheit imd Zukunft''; so spricht Novalis aus, was seine Zeit
im Innersten bewegt und charakterisiert.
Durch diese neuen Probleme wird die Philosophie Erkennt-
nistheorie. Die erste Lösung finden sie im transzendentalen
Idealismus.
Anfang und Grundlage dieser Bewegung heißt Kants Kri-
tik der reinen Vernunft. Sie verkündet und entwickelt die
^ Die Monadenlehre Leibnis' ist die Synthese der alten Philosophie und zu*-
gleich das Zwischenglied «wischen der vergangenen Epoche und der neu an-
brechenden.
44 MARIE JOACHIMI-DEGE
erste und folgenschwerste Entdeckung der neuen Philosophie:
ein a priori in «11er menschlichen Erfahrung: In aller mensch-
lichen Erfahrung weist Kant ein Element nach, welches über
die positive Erfahrung hinausragt und diese bedingt. In uns ist
eine Macht tätig» die aus einer Menge zusammenhangsloser
Empfindungen in den menschlichen Sinnesorganen eine Außen-
welt konstruiert. Gegenstände, Natur, Welt, unser eigener Kör^
per werden uns nicht vermöge der Sinnesorgane unmittelbar
gegeben und offenbar, sondern nur dadurch, daß eine geistige
Macht in uns lebt, die alle einzelnen bestimmten Empfin-
dungen nach eigenen immanenten geistigen Gesetzen anordnet:
sie anordnet als Teile in einem imendlich gedachten Raum»
als Teil in einer unendlichen Zeit, als Teilvorgang in einer un-
endlichen Vorgangsreihe (Kausalität). Damit ist der alte Dua-
lismus von Denken und Ausdehnung überwunden oder bei-
seite gelegt. Ein neuer tritt an seine Stelle: Empfinden und
Denken.
Die geistige, konstruierende Denkmacht ist das „a priori''.
Sie ist also nicht menschlich bedingt und nicht erst durch die
Erfahrung geschaffen (wie englische Empiristen meinten), son-
dern umgekehrt: Dieser Macht verdanken wir es, daß wir
menschliche Erkenntnis und Erfahrung haben. Sie ist die Vor-
bedingung aller Erkenntnis.
Machen wir Ernst mit dieser Entdeckung Kants, so besteht
das, was wir Erfahrung nennen, aus „von außen bedingten''
Empfindungen und aus einer transzendentalen, überpersön-
lichen Macht (a priori), die frei (nach eigenem Gesetz) diese
Empfindungen konstruiert und ordnet. Und das Problem erhebt
sich I. Wie kann aus Empfindungen, die auf einem Äußeren
beruhen, und aus einer überpersönlichen, allgemeingültigen
Machta priori ein persönliches Bewußtsein, ein Ich, eine
Individualität werden? II. Wie haben wir uns die Beziehungen
zwischen den Empfindungen und jener Macht a priori zu denken ?
Sollen die Empfindungen von jener Macht a priori durchaus
verschieden sein, also auch in der Erkenntnistheorie der Dua-
lismus der Tatsächlichkeiten über das Einheitsbedürfnis und
Einheitsstreben des Geistes siegen? Oder ist es möglich, die
Empfindungen des Menschen aus der transzendentalen Natur
jener Macht a priori zu verstehen?
Kant hat sich das Problem nicht so gestellt. Er tut, was die
meisten Philosophen tun: er ninunt das Problematische, das
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
sich aus ihren Lehren erhebt, als gegebenes Faktum oder Wort
in sein System auf.
Das Problem der Individualität, sowie das des Verhältnisses
zwischen Empfindung und a priori umgeht Kant, indem er die
Tatsache eines sog. ,, transzendentalen Ichs" verkündet. Er ver-
kündet ein transzendentales, inhaltsleeres, rein-formales ,,Ich
denke" als unentbehrlichen Hintergrund und damit obersten
Gesichtspunkt alles Denkens. Dieses transzendentale Ich steht
vereinheitlichend über den Empfindungen und dem a priori
der einzelnen Denkfunktionen.
Mir scheint, daß Kant mit der Annahme dieses transzenden-
talen Ichs in Widerspruch tritt gegen die Resultate seiner eige-
nen kritischen Analyse. Die kritische Untersuchung hat die
Denkfunktton a priori als Grundlage und Vorbedingung aller
menschlichen, persönlichen Erfahrung ergeben; sie hat ferner
diese Macht als die Vorbedingung und Grundlage für und als
das schaffende Prinzip in aller allgemeingültigen menschlichen
Wissenschaft erwiesen. Jetzt auf einmal faßt Kant diese trans-
zendentale Denkmacht als ein an ein Ich gebundenes mensch-
liches Vermögen. Oder, was ist dieses Ich, welches Kant als
,, inhaltsleer" und ,, rein-formal" gefaßt haben will? Istesein
menschliches Ich ohne allen Inhalt, so ist es ein Nichts, leere Ab-
straktion. Soll es ein transzendentales Ich sein, so ist es ein Postu-
lat, für das in seiner Kritik kein Beweis erbracht ist. Und wenn
es ein transzendentales Ich wäre, soll es dann dem a priori der
Denkfunktionen neb engeordnet werden? Dann entstehen zwei
apriorische Elemente, von denen das eine unbewiesen ist. Soll
es ein und dasselbe sein, wie das Denken? Dem widerspricht
Kants Analyse der Denk funk tion, in der kein Ich gefunden ist.
Es bleibt also nur die Annahme, daß dieses Ich etwas ist, das
höher steht als die Denkkraft a priori, etwas, an das das Denken
durchaus gebunden ist: Also etwas, das wir nicht vermöge
unseres Denkens erkennen können, sondern nur infolge eines
guten Willens (,, intuitiv" heißt das Wort dafür) annehmen wol-
len. Damit wird aber ein unbewiesenes Etwas zum Einheits-
luid Ausgangspunkt von philosophischen Systemen, die alles
beweisen wollen und sollen. So ist es in der Tat in dem auf Kant
folgenden Jahrhundert geschehen. Den Anfang machte Fichte.
Fichtes absolutes Ich, was ist es anderes als dieses über dem
Denken stehen sollende, unbeweisbare Ich der transzendentalen
Apperzeption P In diesem Ich, in diesem transzendentalen Idea-
t Fichtcs äad«t die Welt ihren wundervollen Einheits- and
ErUäningspunkt. Die Omnipotenz dieses Ich zugegeben, so ist
die Fichtesche Philosophie die Tollendete Erklärung der AU-
Einheit. Aber es ist fast unmöglich, dieses Ich von Tornherein
zuzugeben. Das fordert eine überaus schwierige, weil gedank-
lich umnogliche Gedanken^ tion.
Die neue Philosophie, die vom Uenschen ausgeht, findet im
Ficbteschen Idealismus, in Ficbtes absohitem Ich einen frühen
Höhepunkt. Hiefi es im Theismus: Gott schuf den HenscbeM
ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn, so heiBtcs
jetzt: das Ich schafft alles sich zum Spiegel, zumBttde eines
Ich wird alles geschafien. Dieser Idealismus ist keine in Jahr-
hunderten langsam gereifte Gedankenfrucht, sondern eine auf
dem dunkeln, schweren, fruchtbaren aber noch undurchackerten
Boden des Kantschen Kritizismus wxmdenfoU und schnell er-
blühte Lotosblume, die ihren leuchtenden Kelch, ihre duftigen
Blätter abwerfen muB, sobald die Frucht in ihr schwillt und reif
wird. J
Indessen dieses Urteil mag nach dem Wenigen, was hier ge- I
sagt werden kann, mit Recht vorschnell und anma&end er- 1
scheinen. Soviel steht fest, daß Fichte als unbedingter Anhän-
ger der Kantschen Philosophie die Konsequenzen des transzen-
dentalen Ichs deutlicher gezogen hat, als Kant selbst, indem er
das Ich, welches Kant postulierte, für transzendentaler — also
noch mehr a priori — erklärte als das Denken, indem er dem
Ich das Denken oder die Welt als dessen Geschöpf oder Nicht-
Ich unterordnete.
Gedankhch noch schwieriger als das Fichtesche System, bei
dem nur der Ausgangpunkt das Denken mit sich selbst in Kon-
flikt bringt, wird durch dieses transzendentale Ich der Kantsche
Kritizismus selbst.^ — Dadurch, daß Kant das Denken (a priori !)
an ein Ich band, muß er zunächst den apriorischen Charakter
dieser reinen Vernunft wieder beschränken. Diese als eine Funk-
tion a priori, alle Empfindungen zusammenschließende und alle
Erfahrung bedingende Geistigkeit wird in Kants Beschreibung
zu einem an sich leeren, rein-formalen, menschlich be-
I SclbttreriUndlich kann es von vornherein nichts Leichtes sein, ein KEUit-
■chet Denken in »ich aufzunehmen. Aber was beim Studium Kants <üe Mühe
und Aiatttngung verurtacbt, ist nicht nur der Zwanf, sich gedanklich «us-
4«hnen «u mUsien, sondern auch der Zwang sich gedanklich vecneinea xa
lES MONISMUS
47
schränktenDenkvermÖgen. Er betont nicht die Tatsache, daB
dieses geistige a priori den Menschen zwingt, alle seine subjek-
tiven Empfindungen unter dem Ewigkeits- und Unend
I ich keitspunkt zusammenzuschließen, daß es ihn zwingt,
mit jeder Erfahrung, jeder Gedankenwendung auf eine abso-
lute Einheit zu zielen, sondern die Tatsache, daß es „Formen"
schafft, ,, leere" Formen — sagt er — für einen ,, gegebenen'
Inhalt. Und er geht welter und behauptet, daß, eben weil nui
subjektive Empfindungen in diese „leeren Formen" gegossen
werden, die ganze Erkenntnistätigkeit des Menschen nichts
weiter ist als eine Verbindung von subjektivem Empfinden
und Formalismus; daß also alle Erkenntnis nur subjektive,
menschliche Gültigkeit hat, und daß nichts den Menschen be-
rechtigt, von diesen seinen leeren Formen anzunehmen, daß
sie das, was über die Empfindung hinausgeht oder das, was die
Empfindung verursacht, erkennen lassen ; in andern Worten :
Diese Formen können dem Menschen keine objektiven Wahr-
heiten erschließen. Sie vermögen — sagt Kant — aus subjek-
tiven Empfindungen eine subjektive Erscheinungswelt zu kon-
struieren, sie reichen aber nicht aus, um uns eine Welt zu zei-
gen, so wie sie ist. Kurz, für den Menschen gibt es keine
Erkenntnis der Wahrheit. Die Welt der Dinge-an-sich oder
die Wirklichkeit ist dem Denken des Menschen auf ewig ver-
schlossen. — Nur in der Stimme des Gewissens, in dem kate-
gorischen Imperativ, den wir intuitiv (1) in uns vernehmen,
offenbart sich dem Menschen unmittelbar, was den Sinn und
die Wirklichkeit der Welt ausmacht. —
Wären diese geistigen Funktionen a priori nur leerer Forma-
Usmus, durchaus an menschliche Empfindungen gebunden, so
hätte Kant recht, so hätte alles Erkennen immer nur mensch-
lichen Gültigkeitswert, und jede Erkenntnis der Wahrheit über
die subjektiven Empfindungen hinaus wäre ein Unding. Dann
aber hätte Kant diese Funktion niemals als a priori bezeich-
nen dürfen. Ist sie a priori, so berechtigt nichts, sie als an
eine Subjektivität gebunden zu betrachten, sie so anzusehen,
als sei sie in der menschlichen Erfahrung erschöpft und be-
schlossen, und jenseits des menschlichen Empfindungsgehaltes
leer, nichtig und wertlos. — Wenn wir diese Macht a priori,
welche aus flüchtigen, subjektiven Empfindungen in uns die
Erkenntnis einer Außenwelt und Innenwelt und eines Kosmos
schafft, die Empfindungen zu zuverlässigen Erfahrungen kon-
MARIE JOACHIia*DE6£
iolidiert imd sie in der Gattungserfahmiig Terewigt, als einen
keren Fomuilismiis fassen, was ton wir anders» als wenn wir
X. B« die Elektrizität mit einem TelefAion identifiaiefen? DaB
Kant diese geistq^e Macht in der persdnHchen Erfahrung des
Menschen als das Formgebende entdeckte, bereditigte ihn
nicht, diese Macht als etwas an sich „Leeies'' nnd stets an den
Menschen Gebundenes zu betrachten ; ebenso wie uns nichts
berechtigt, die Elektrizität, die wir in einem Froschschenkel
entdecken, ein für allemal an Froschschenkel gebunden zu be-
trachten. — Die Tatsache aber, daß das Denken sich über alles
rein Formale und rein Sub jektive erhebt, indem es sich selbst
auf seine innerste Wesenheit hin im Denken des Menschen
untersucht und betrachtet und prüft, diese Tatsache der Selbst-
erkenntnis des Denkens durch sich selbst, wie sie in der Kritik
der reinen Vernunft am klarsten zutage tritt, beweist gerade
das Gegenteil von dem, was die Kritik der reinen Vernunft
als letztes Resultat verkündet. Diese Tatsache beweist nämlich,
daB die Denkmacht, das geistige a priori nicht an die subjek-
tiven Empfindungen der menschlichen Erfahrungen gebunden
ist, sondern daB sie sich selbst willkürlich als Objekt oder als
Subjekt setzen kann; daB sie also weder rein subjektiv noch
rein objektiv ist ; sondern unter Umständen beides zugleich ;
— daB wir also bei der Betrachtung des a priori mit unserm
Schema von subjektiv und objektiv überhaupt nicht auskom-
men, da wir in diesem a priori augenscheinlich eine Macht
sehen müssen — und zwar die einzige Macht — , die jenseits
und oberhalb aller Subjektivität und Objektivität steht.
DaB Kant mit dem Aufzeigen der Anschauungsformen und
Kategorien in der Tat nicht das ganze Wesen des a priori ge-
zeigt hat, daß er das apriorische Denken überhaupt viel zu eng
gef afit hat, und daB er das Hauptmoment des a priori : die Ver-
einheitlichung alles Einzelnen sub specie aeternitatis unberech-
tigterweise auBer acht gelassen hat, wird schon in der Kritik
der reinen Vernunft selbst deutlich. Jene ersten, weitesten und
ursprünglichen Denkeinheiten, die Begriffe Gott, Welt, Seele
kann Kant nicht widerspruchslos aus der reinen Vernunft
erklären. — Sehr begreiflich I Gott, Welt , Seele sind Begriffe,
die ein durchaus an Empfindungen gebundenes und in den Ka-
tegorien beschlossenes Denken nie hätte schaffen können. Des-
halb muB Kant ein neues Vermögen, eine „Vernunft im enge-
ren Sinne", die über den bloBen Verstand tritt, im Men-
sehen annehmen. Auf der einen Seite verursacht diese höhere
Fähigkeit zu Vernunftideen nun bei Kant eine vollständige
Negation des Verstandes. Denn was bedeutet es anders
als Negation, wenn Kant zeigt, wie beim Denken dieser ,, Ideen"
der Verstand rettungslos in Paralogismen und Antino-
mien landet? Anderseits aber stehen dem Werte nach diese
Ideen unter dem Verstände, denn es fehlt ihnen, — da sie
einem ,, leeren Formalismus" ohne Emptindungsinhalt ihre
Existenz verdanken — jede Beweiskraft. Dennoch aber sollen
sie nach Kants Vorschrift von uns als Normen für das auf un-
willkürlichen Empfindungen beruhende Erkennen und Erfahren
derMenschen angenommen werden. Hier häufen sich die Wider-
sprüche.
Denn wenn wir das theoretische Denken oder den „bloßen
Verstand" unter die Ideen der Vernunft stellen, so tun wir
nichts anderes, als daß wir den Vernunfteinheiten (oder Ver-
nunfturteilen) jenseits der Erfahrung eine größere Bedeu-
tung beimessen als denen, welche auf Erfahrung (d. h. auf
dem Denken plus Empfindung) beruhen. Wir negieren nicht
die Bedeutung und den Wert des Denkens, sondern den der
Empfindung. Wir stellen das sogenannte ,, formale" Denken
über die menschliche subjektive Empfindung. Anderseits aber
treten diese Ideen bei Kant unter die Erfahrung, denn es fehlt
ihnen die Beweiskraft des mit Empfindung verbundenen
Denkens. Somit ist also nicht das formale Element, sondern die
subjektive Empfindung in der Erfahrung das Beweiskräftige.
Damit negieren wir die Bedeutung und den Wert des
Denkens. Sollen wir diese zum Teil leeren, formalen, unbe-
wiesenen Begriffe aber als Normen annehmen, nach denen wir
Erkenntnis und Erfahrung suchen, so wird entweder unserm
Willen ein Einfluß auf die Welt der Dinge-an-sich zugestanden,
aus der uns unsere Empfindungen ja ohne unser Zutun gegeben
werden, oder aber es wird indirekt dem Denken eine höhere
Macht als bisher eingeräumt, da es dann die Fähigkeit hat,
unter den ,, gegebenen "Empfindungen auszuwählen, was seinen
eigenen Zwecken entspricht.
Kurz, Kant landet in Widersprüchen und Dualismus. Seine
Gedankenentwicklung zeigt ihm überall ein Zweifaches, das
sich nicht anders löst, als indem er das eine dem andern mit
Schärfe zu unterwerfen versucht. Aber vergeblich; es bleibt ein
Zwiespalt. Kant leugnet nicht die Einheit der Welt, nicht die
so MARIE JOACHIMI^DEGE
Einheit des Menschen, nicht die Einheit des Denkens, nicht
die Einheit des Handehis, aber er postuliert — bzw. beweist
— einen inneren Widerspruch in diesen. Ein höheres und ein
niederes steckt darin ; das höhere ist aber immer das, was sich
nicht dem Denken, sondern der Intuition erschließt. So zer-
fällt die Welt in die höhere Welt der Dinge-an-sich und in
die niedere Welt der Erscheinung. Das menschliche Gei-
steswesen in die höhere praktische Vernunft und die nie-
dere theoretische Vernunft; die theoretische Vernunft wie-
der in die höhere Vernunft der Vemunftideen und die nie-
dere des bloSen Verstandes ; und in der praktischen Vernunft
siegt das freie „Ich muB'' über das niedere unfreie „Ich
möchte'', die moralische Selbstüberwindung über die niedere
unmoralische Natürlichkeit. Trotzdem aber verzichtet Kant
nicht auf die Annahme einer All-Einheit. Aber da er den an-
scheinenden Widerspruch von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von
endlich und unendlich, von frei und bedingt, kurz, die Zweiheit
von Ich und a priori ohne nähere Untersuchung ihres inneren
Verhältnisses als „transzendentale Apperzeption'' an die Spitze
seines Sjrstems gestellt hat, so kann er nur in gelegentlichen
Bemerkungen von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit
einer höheren Einheit, in der sich alle Widersprüche lösen,
sprechen.
Die Folge ist, daß in Zukunft die Philosophie, diese höhere
Einheit, die in sich den Dualismus Kants überwinden soll, rast-
los sucht. Aber sie sucht sie nicht in der reinen Vernunft mehr,
sondern sie forscht intuitiv nach dem unerkennbaren Ding-
an-sich. Dieses Ding-an-sich, das man auf den „imaginären
Engelsflügeln" der Intuition entdeckt, sieht in jeder Philosophie
anders aus und wird je nach dem Charakter des einzelnen Phi-
losophen als „Ich", „Tat", „Kunsttrieb", „Geist", „WiUe" be-
zeichnet.
Jener Punkt, wo Kant das Unerkennbare in den Menschen
einströmen läßt, wird der Ausgangspunkt für den transzenden-
talen Idealismus der nachkantischen 2^it. Daher die Kühnheit
der Spekulation und die Freude an künstlerischer Konstruk-
tion, die Möglichkeit einer geschlossenen Systematisierung, mit
der man im Jahre des Heils 1794 oder 1802 oder 1807 ^U^ ^^-
sei der Zeit und Ewigkeit auf einmal zu lösen unteminmit : Von
einem gegebenen archimedischen Punkt jenseits der Welt kann
man die Welt aus ihren Angeln heben. — Daher aber auch der
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
51
gro&e Rückschlag: Die stolze Abwendung der exakten Wissen-
schaften von der Philosophie ; das Emporwuchern von Skepti-
zismus, Mystizismus, Materialismus unter dem Namen Philo-
sophie, die schließliche Zersplitterung der ganzen Wissenschaft
und die Identifizierung von Philosophie und Philosophiege-
schichte. Man stand in einer Sackgasse, und es war nur kon-
sequent, wenn Schopenhauer schließlich der Philosophie Selbst-
mord predigte. Eigentlich hätte die Philosophie schon mit Kant
aufhören müssen. Denn was wil! eine Philosophie tun, wenn
sie erkannt hat, daß ihr Denken rettungslos in Paralogismen
und Antinomien landet und ihrer Spekulation jede Beweiskraft
fehlt ? Will sie ohne Gedanken weiter denken und ohne HoS-
nimg auf Einheit und wirkliche Erkenntnis weiter spekulieren ? I
Vieltausendmal besser keine Philosophie, als eine, bei der es
nach Goethes Worten heißen muß :
,,Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier, im Kreis herum-
geführt auf einer öden, dürren Heide!"
Aus all der Verwirrung der nachkanti sehen Philosophie er-
tönte plötzlich der Ruf: „Zurück zu Kant!" Mit Recht! Kant
war die unbesiegte Festung im Rücken, die alles Vordringen un-
möglich machte.
Zurück zu Kant 1 Das heißt : Kant noch einmal denken ;
kritisch durchdenken; Kants Erkenntnisse für die Erkenntnis
nutzen und seine Irrtümer an ihren hundertjährigen Folgen er-
kennen und meiden.
Zurück zu KantI Das heißt aber zunächst zurück zur Kritik
der reinen Vernunft; denn hier liegt Kants größte Tat: die Ent-
deckung des a priori. Betrachten wir aber dieses a priori näher,
so ist es nichts anderes, als was wir als das Einheitsstreben in
der Geschichte des menschlichen Geistes erkannten, und als den
treibenden Puls alles Fortschrittes empfanden. Denn alles, was
Kant als das formale Wesen dieses a priori bezeichnet : Die
Denkbegriffe oder Kategorien, die Anschauungsformen von
Zeit und Raum, die Kausalität, wie die gesamte logische Funk-
tion: Analyse und Synthese, Induktion und Deduktion, Ver-
gleichen und Unterscheiden sind im letzten Grunde nur Worte
für die Art und Weise, in der sich der Einheitstrteb im
menschlichen Geiste betätigt, in der sich die unbewußte An-
nahme einer All-Einheit dem Bewußtsein allmählich erschließt.
Es sind Formen, in denen eine al lesumfassende und bedingende
Getstesmacht sich im Menschen darstellt, und zwar sich auch in
4*
Sa MARIE JOACHIMI-DEGE
dieser Gestalt als das Bleibende und allem zugrunde Liegen-
de darstellt.^ Auch als menschliches Denken trägt diese Macht
a priori ihren transzendentalen übermenschlichen Charakter: in
eine unendliche (d. h. nicht bedingte und nicht begrenzte)
einheitliche Zeit» einen unendlichen, einheitlichen Raum, in
ein unendlicheSi einheitliches Geschehen ordnet sie eine
bunte, mannigfaltige und menschlich begrenzte Empfindungs-
reihe und ein begrenztes Bewußtsein als Ich, d. h. als Einheit
in die All-Einheit ein.
Was nun die weitesten und letzten Einheitsbegrifie: Gott,
Welt, Seele anlangt, so versagt nicht der Verstand als solcher
vor ihnen, sondern Kants Definition. Hätte Kant das a priori
nicht durch ein Ich begrenzt, hätte er vielmehr die Tat-
sache, daß es überhaupt keine menschliche Erkenntnis gibt,
die nicht die subjektiven Empfindungen unter dem Ewig-
keits- und Unendlichkeitsgesichtspunkt zusammenschließt
und vereinheitlicht betont, so wären die Ideen: Gott, Welt, Seele
nur die auffallendsten Beweise für diese einheitliche und unbe-
dingte und ewige Natur der reinen Vernimf t gewesen.^ Und an-
statt an unserem theoretischen Erkenntnisvermögen zu ver-
zweifeln und eine intuitive Gewißheit beim kategorischen Im-
perativ vergebens zu suchen, hätte Kant nur die Konsequenzen
seiner eigenen Entdeckung aus der transzendentalen Natur des
Erkenntnisvermögens zu ziehen brauchen, um die unbegrenz-
ten Möglichkeiten der Erkenntnis in diesem Erkenntnisvermö-
gen selbst begründet zu finden. Er hätte hier auch die Basis für
alle menschliche Ethik und Kunst finden können. Er hätte
nicht inuner neue „Vermögen'' im menschlichen Geisteswesen
konstatieren müssen und Nietzsches Vorwurf: „vermöge eines
Vermögens'' hätte die Jugend nicht in eine antiphilosophische
Stinunung treiben können. Vor allem aber wäre der verhäng-
nisvollste Dualismus, der von Verstand und Vernunft, mit sei-
nen grausamen Konsequenzen für das philosophierende Indivi-
duiun und für die Philosophie, uns erspart geblieben.
Denn daß jene Denkeinheiten: Gott, Welt, Seele durchaus
nichts Paralogistisches enthalten, sondern richtige, wenn auch
nicht volle Selbsterkenntnis des reinen Denkgeistes sind, der-
selben Macht, die Kant auf einer höheren Stufe der Abstraktion
^ Ich habe im Archiv für systematische Philosophie XII, 4. 1906, S. 490 — 494
nachzuweisen versucht, wie sich die Paralogismen und Antinomien mit dem
ganzen Schematismus der Kategorientafel auflösen.
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
53"
als das geistige a priori im Menschen entdeckt und nachweist,
wird schon klar, wenn wir diese Denkeinheiten — nach der
Weise der Naturforscher, die in den primitivsten Lebewesen das
eigentliche Wesen der komplizierten Organismen sich zu ent-
decken bemühen — in ihrer primitiven Bedeutung und geschicht-
lichen Wirkung betrachten. Da ist bemerkenswert, daß sich der
Mensch von Anfang an zu diesen Einheiten in ein persönliches
Abhängigkeitsverhältnis bringt, daß er sie als ewig und
unendlich bezeichnet und von ihnen seinen Teil an der Ewig-
keit {dem ewigen Leben) und der Freiheit (Seligkeit) erwartet.
Man hat dies von philosophischer Seite so angesehen, als sei es
ein kindisches Vergessen der Tatsache, daß diese Einheiten ja
erst von ihm selbst geschaffen sind. Man muß aber hierin viel-
leicht eine andre Tatsache sehen, nämlich die, daß der Mensch
jene Funktion, jene Denkmacht, die in ihm die Einheitsbe-
griffe schafft und sich in diesen Begriffen darstellt, instinktiv
als die absolute, ewige, unendliche Macht in sich erkennt,
der gegenüber das, was ihm in seinem Empfinden als Mensch
und Ich gegeben ist, nur ein abhängiger Teil ist.
Mit dieser Annahme einer instinktiven Erkenntnis
der über persönlichen Bedeutung des von Kant nachgewiesenen
a priori stimmt überein, daß sich der Mensch vermöge jener
als absolut gedachten Einheitsbegriffe seine Teilnahme
am Weltgeschehen, an der Naturschöpfung und Weltge-
staltung zu sichern bestrebt ist: Der Wilde möchte das Welt-
geschehen durch Bestechung der Götter (Opfer) zu seinem
Vorteil lenken. Die Schüler des Sokrates in Griechenland und
Rom versuchen durch Erkenntnis der Welt Einfluß auf das
Gesamtgeschehen zu erlangen. Der moderne Mensch aber strebt
mit vollem Bewußtsein, die ihm im Denken gegebene Herr-
schergewalt auszuüben, sich die Außenwelt vermöge jener
Denkkraft zu unterwerfen; und hierbei tritt klar zutage, daß
diese überpersönliche Denkmacht ihn wirklich und persönlich
zur Teilnahme an der Weltschöpfung ^ an der Gestaltung sei-
ner Erde, seines Ich -Bewußtseins der andern Menschen — be-
ruft.
Keineswegs aber erwartet der Mensch ursprünglich die Norm
für seine Handlungen, die Direktive für sein praktisches Leben
von einemkategorischen Imperativ, den er gar nicht empfindet;
er erwartet sie indessen auch nicht von seinen Empfindungen
und Gefühlen. Sondern er erwartet eine sogenannte ,, höhere"
54 MARIE JOACHIMI-DEGE
Norm und Bestimmung von den höchsten Einheitsbegrifien
seines Denkens: von seinen Göttern die Gebote, von seiner Welt-
anschauung die Ethik: das heiBt, er unterwirft seine Handlun-
gen der gedanklichen Einheit» unterstellt sie der Kontrolle sei-
nes denkenden Einheitsstrebens.
Denken wir doch nicht gering von diesen ersten und funda-
mentalen Äußerungen des menschlichen Denkinstinkts. Unsere
heutige Erfahrung, Logik und Ethik, — das Erbe und die Zu-
kunft aller Gedankenarbeit — lag sicher schon als Keim und
Ziel in jenen instinktiven Erkenntnissen.
Eine auffallende Tatsache aber ist es auch, daB der mensch-
liche Geist seine Geschichte nicht mit der Einzelerfahrung be-
ginnt und auch nicht mit der Menscheinheit oder Welteinheit,
die ihm doch teilweise wenigstens als „Erf ahrung^^ gegeben sind,
sondern damit, daB er sogleich über die Grenze der Erfahrung
hinaus das Problem der All-Einheit oder das Gottesproblem
in Angriff nimmt. Nicht eine dem Ich-BewuBtsein als Erfahrung
feststehende Tatsache, sondern eine dem Ich-BewuBtsein unfaß-
bare AU-Einheit wird diesem von Anfang an zur Grundlage und
letzten Erklärung für seine Erfahrung, zur höchsten Instanz für
seine Handlung und zum Ausgangspunkt seiner Entwicklungs-
geschichte.
Wenn es überhaupt erlaubt ist, aus primitiven Gedanken die
komplizierteren zu verstehen, so liegt hierin der klarste Beweis,
daB das menschliche Denken viel mehr ist als unend-
liches Denken und bewußte Logik, daß es ursprünglich
überhaupt nicht bewußte Logik ist, sondern unbewußter Trieb
— also eine überpersönliche, die Persönlichkeit bedingende
Macht, die als „Denknotwendigkeit^^ empfunden und bezeichnet
worden ist. Denknotwendigkeit ist nichts anderes als ein Wort
dafür, daB unser Bewußtsein hinter unserem Denken zurück-
bleibt, von unserem Denkinstinkt bedingt wird. Wie die Na-
turgesetze, die dem Menschen als Triebe bewußt werden, den
Menschen in den Dienst des Alls stellen, ihn in eine höhere
Einheit und Gesamtheit eingliedern und ihn zwingen, letzten
Gnmdes in dieser Gesamteinheit auf- und unterzugehen, so
wird auch die überpersönliche reine Vernunft dem Menschen
als Einheitstrieb, Denkinstinkt und Denknotwendigkeit bewußt.
Und dieser geistige Trieb bedeutet für uns letzten Gnmdes das
Gleiche, wie das, was wir als Naturtrieb in uns bezeichnen: Den
Zwang, uns in eine höhere, weitere Einheit einzupassen. Un-
^
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS 55
bewußter maßen strebt alles menschliche Denken zu einer abso-
luten Einheit und will sich dort verlieren; bewußtermaßen aber
strebt es danach, sich als vollwertigen Teil im Ganzen zu be-
haupten und das Ganze in sich zu begreifen. Hier liegt das
Problem der Individualität. Bei dessen Lösung aber darf nicht
vergessen werden, daß niemals bewußtes und unbewußtes Den-
ken im Menschen getrennt voneinander erscheinen. In jeder
einzelnen Erkenntnis steckt zugleich die unbewußte Beziehung
auf ein Absolutes, Unendliches; und jede unbewußte Erkennt-
nis über die Erfahrung hinaus umschließt und gründet sich auf
die gesamte bewußte Erfahrung. Eine ungezählte Menge von
unbewußten Gedankenvorgängen geht dem bewußten Denken
voraus, begleitet es und folgt ihm. Rein empirisches Denken
ist eine Fiktion, wie der isolierte Mensch eine Fiklion ist. Aber
das, was unbewußt über das Ich hinausdenkt, ist nichts anderes,
als was im Ich denkt, wodurch das Ich gedacht wird. Es ist
dieselbe transzendentale Weltmacht, die auch als menschliches
Denken sich als einheitliche Macht und einheitschaffende Macht
darstellt und das Ich des Menschen zwingt, sich bewußt und un-
bewußt einer im Bewußtsein noch nicht gekannten All-Einheit
einzugliedern: unbewußt ermaßen Monist zu sein, bewuß-
termaSen danach zu streben, es zu werden.
Ein innerer Widerspruch zwischen dem erfahrungsmäßig be-
wußten Denken oder dem Verstand und den über den positiven
Bewußtseinsinhalt hinausgreifenden Vemunftideen Gott, Welt,
Seele darf nicht angenommen werden. Diese Einheiten sind
nichts Leeres, was, soweit ihm keine Erfahrung zugrunde liegt,
nur formale Bedeutung hat, sondern Bezeichnungen für etwas
durchaus Positives, das in aller Erfahrung {nur unter anderem
Namen oder namenlos!) steckt. Diese Einheiten sind die Aus-
gangspunkte aller menschlichen Erfahrung'und Wissenschaft
und Philosophie und nicht, wie Kant annahm, unerreichte
Höhepunkte imd Ziele. Sie sind Urformen des menschlichen
Erkennens, nicht formale Ideale desselben. Welche Macht will
es denn wagen, dem Denken von vornherein ein bestimmtes
Resultat als Ideal vorzuschreiben?! Sie bedeuten keine Normen
und Aufgaben für das Denken, keine Ziele, die es zu erreichen
gälte, sondern es sind Ziele, die erreicht sind, und die Auf-
gabe, die sich das Denken selbst kraft seiner transzendentalen
(oder apriorischen) Natur augenscheinlich gestellt hat, ist ihre
Überwindung, ihre Verschmelzung zur Einheit. Nicht um
56 MARIE JOACHIMI-DEGE
diese drei zu erkennen und zu stützen, sondern in dem Be-
streben, sie zur Einheit aufzulösen, kommt menschliche Philo-
sophie und Wissenschaft zustande. — Dies lehrte ein einfacher
Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte des menschlichen
Denkens. Er zeigte, wie die Menschheit sowohl im Gesamt-
denken wie als philosophisch-wissenschaftliches Einzeldenken
danach ringt, „ihr Zentrum zu finden'', d. h. einen Punkt, von
dem aus betrachtet sich die Dreiheit und damit die Allheit zur
Einheit löst.
Die Tatsache, daB augenblicklich im Massengeist der mate-
rialistische Monismus Haeckels so gezündet hat, zeigt vielleicht,
daB jetzt im Massengeist das Weltproblem an Stelle des Gottes-
problems treten soll; daB also der Massengeist jetzt da steht, wo
der philosophische Geist des Einzelnen begann.
Aber auch trotz der Einschränkung bleibt Kants überragende
GröSe unangetastet. Seine großartige Entdeckung des tatsäch-
lichen Vorhandenseins des a priori im Menschen, was bisher
von der Menschheit nur instinktiv als Denknotwendigkeit emp-
funden oder nur in der Phantasie geschaut und in den Religi-
onen als Offenbarung verehrt worden war, bleibt die Tat des
gröBten philosophischen Genius aller vergangenen Zeiten.
Kants Kritik der reinen Vernunft ist der Fels, auf dem allein
die Zukunft der Geistesgeschichte aufgebaut werden kann. Der
Irrtiun eines solchen Geistes schafft mehr geistiges Leben und
Streben als die Quintessenz des Denkens gewöhnlicher Geister
durch Jahrhunderte.
Die große Tatsache bleibt: Kant hat uns auf analytisch-kri-
tischem Wege ein Element entdeckt, das über die enge Ichheit
des Menschen hinaus ein unbedingtes aktives Prinzip darstellt:
ein Bleibendes, sich immer Gleichbleibendes in der Erschei-
nungen Flucht, ein a priori, das sich im Menschen als einheit-.
schaffendes Denken darstellt und den Menschen zwingt, seine
Einheit in die All-Einheit einzugliedern. — Im menschlichen
Denken haben wir eine Darstellung der Macht, die einheitlich
schaffend über den Menschen hinausragt und deshalb ihn fort-
während über sich selbst hinaustreibt; und nichts berechtigt
uns zu der Annahme, daB diese Macht a priori in sich selbst
widerspruchsvoll sei, oder den Menschen zum unvermeidlichen
Widerspruch triebe. Sie treibt ihn allerdings, aber nur dazu:
alles Zwiespältige, Widerspruchsvolle durch eine höhere Ein-
heit in sich zu überwinden.
Wenn wir nim diesem unserem innersten und höchsten Triebe
gemäB nach einem ersten und letzten Einheitspunkt und Ein-
heitsgrund alles Seienden suchen, nach Einem Grundprinzip,
das alles in sich begreift, — wo wollen wir es finden als eben
in dieser Macht a priori, die auch als Teil in uns alles in sich
zu begreifen strebt; wo können wir es finden, wenn nicht in
diesem geistigen Moment a priori, das wir in der Kritik der rei-
nen Vernunft als die Grundlage und Vorbedingung aller Erfah-
rung erkannt haben; das seiner Natur nach Subjektivität und
Objektivität vereint, und das sich in allen Einheits begriffen,
die es dem Menschen schafft, als All-Einheit spiegelt. Freilich,
Kant hat mit der Entdeckung des a priori nur den Anfang zu
einer ganz neuen Erkenntnisweise gemacht, erst die Basis für
eine neue Philosophie geschaffen. Den Umfang, die Weite, Tiefe,
Größe, Bedeutung dieses geistigen a priori zu ermessen, die Trag-
weite dieser Entdeckung für unsere zukünftige Erkenntnis aus-
zunutzen, die Allheit in dieser Einheit immer mehr zu entdecken,
das ist die Aufgabe des Denkens einer unermeßlichen Zukunft;
— das eben ist menschliche Philosophie.
Wir stehen heute um loo Jahre höher in der Erfahrung und
in der Erforschung der Natur als zu Kants Zeiten; und in diesen
100 Jahren ist die Naturwissenschaft dahin gelangt, daß sie alle
Stoffe, alle Veränderungen, alles anscheinend Zwiespältige als
die Erscheinung Einer aktiven Einheit oder einheitlichen Ak-
tivität begreift. Ist diese ,, Energie", zu der sich dem Naturfor-
scher alles auflöst, aus der sich alles gestaltet, nicht die gleiche
Aktivität, die sich auch in uns als apriorische Funktion zu er-
kennen gibt? Sind also Mensch und Natur, Körper und Seele,
Weltleben und Empfindungsleben in einem höheren Sinne ein
und dasselbe: Ein großes, einheitliches, geistiges Geschehen?
Können wir auch Empfindungen und Gefühle als Teilvorgänge
in dieser Einheitlichkeit erkennent* Ist ,, Leben" am Ende auch
nur die Offenbarung, ein anderes Wort für dieses unendlich volle
a priori? Diese Fragen sind in letzter Zeit von naturwissen-
schaftlicher Seite mit ,,Ja" beantwortet. Kern gelingt es unter
Wahrung widerspruchsloser Einstimmigkeit zwischen moder-
ner naturwissenschaftlich-materieller und philosophisch - im-
materieller Betrachtungsweise, das, was der transzendentale
Idealismus vermöge der intuitiven Betrachtungsweise nur po-
stulieren konnte: Die Identität von Leib und Seele, von Natur
und Geist, zu demonstrieren und dem a priori — ,,dem weit-
bildenden Denken" — als der höchsten Einheit die Empfin-
dung, die Gefühle, den Willen als Teilvorgänge einzugliedern.
So ist heute nach vielen spekulativen Irrfahrten und müh-
samem induktiven Vorwärtsdringen unser Selbstbewußtsein stark
genug geworden, um der Übergewalt der Autorität Kants die
Wage zu halten. Wir erleben jetzt die Zeit, in der es nicht mehr
als unreife Vermessenheit gilt, an Kants Denkresultate mit kri-
tischem Geiste heranzutreten. Anders war es vor loo Jahren.
Damals wurde neben Kant ein Jüngling reif, der, als geborener
Denker und Philosoph, zugleich die Größe und den Widerspruch
der Kantschen Philosophie am eigenen Leben fühlte; der dann
von der unermeßlichen Gewalt des Fichteschen Idealismus er-
griffen, sein Ich zum All zu erweitern strebte, und dann von
der Unmöglichkeit dieses Beginnens ermattet, sich als ein im
Geiste Gedemütigter in den Schoß der katholischen Kirche flüch-
tete. Dieser Jüngling war Friedrich Schlegel. Er lebte Philoso-
phie! Und er war es, der zuerst mit kritischem Geiste an die
Kantsche Philosophie herantrat und auch in dem neuen Idealis-
mus das Unmögliche erkannte, ohne die Fähigkeit zu besitzen,
das, was er darüber hinaus oder dazu zu bemerken hatte, s o zu
sagen, daß es vernommen werden mußte.
So schreibt er 1798: ,,Laß uns nicht länger vergleichen, son-
dern gleich von der höchsten unter den Kräften des Menschen
reden, welche die Philosophie erzeugen und bilden und wieder
von ihr gebildet werden. Das ist nach dem allgemeinen Urteile
und Sprachgebrauche derVerstand. Zwar setztdie jetzige Philo-
sophie ihn nicht selten herab und erhebt die Vernunft weit höher.
Es ist auch ganz natürlich, daß eine Philosophie, die mehr zum
Unendlichen fortschreitet als Unendliches gibt, mehr alles ver-
bindet und mischt als Einzelnes vollendet, nichts höher schätzt
im menschlichen Geiste, als das Vermögen, Vorstellungen an
Vorstellungen zu knüpfen, und den Faden des Denkens auf un-
endlich viele Weisen ins Endlose fortzusetzen. Diese Eigentüm-
lichkeit ist indessen kein allgemeingültiges Gesetz. . . Verstand
aber ist das, worauf es eigentlich ankommt, wenn von dem Geiste
eines Menschen die Rede ist. Verstand ist das Vermögen von
Gedanken. Ein Gedanke ist eine Vorstellung, die vollkommen
für sich besteht, völlig ausgebildet ist, ganz und innerhalb der
Grenzenunendlich; das Göttlichste, wases immensch-
lichen Geiste gibt."
1780 aber findet er sich mit dem Idealismus seiner Zeit ab»
ZUR GESCHICHTE DES MONISMUS
59
„Der Idealismus, in praktischer Ansicht nichts anderes als der
Geist jener Revolution, die groBen Maximen derselben, ist in
theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch
nur ein Teil, ein Zweig, eine ÄuBerungsart von dem Phänomen
aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften
ringt, ihr Zentrum zu finden. . . . Der Idealismus in jeder
Formmußauf die eine oder andre Art aussichherausgehen,
um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben, was er ist.
Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein ebenso
grenzenloser Realismus erheben."
Dieser Idealismus der Zukunft, von dem Friedrich Schlegel
hier weissagt, der ,,aus sich selbst" herausfindet von der
Menscheinheit zur All-Einheit, dieser Idealismus ist, so scheint
es, jetzt im Entstehen. — Der Mensch hat auf dem „geheim-
nisvollen Weg nach Innen", von dem Novalis redet, wirk-
lich „die Ewigkeit mit ihren Welten", „die Vergangenheit und
Zukunft" entdeckt. Und jetzt, wo er aus einem Selbst, seinem
Innern, aus dem Ich wieder herausgeht, eröffnet sich ihm in
Verbindung mit den Errungenschaften der Naturwissenschaft
ein „grenzenloser Realismus", eine reale geistige All-Einheit,
die auch dem Ich des Menschen neues Leben, neue Bedeutung
und ein neues Gebiet der Betätigung und eine neue Heimat gibt.
Ein neuer Monismus, der Idealismus und Realismus in sich
vereinigt, ist das Wesen und Ziel dieses neuen Idealismus.
Der populäre materialistische Monismus aber ist eine vor-
schnelle Begriffs bildung.
OTTO WEISS -
SCHOPENHAUERS MONIS-
MUS
IE Philosophie des Rationalismus, welche
fast zweitausend Jahre die abendländische
Weltanschauung beherrschte, ist, soweit
sie überhaupt monistisch war, recht eigent-
lich Philosophie des abstrakten Monismus
gewesen. In ihrem Bestreben, von der Man-
nigfaltigkeit der Erscheinungen zu einem
obersten Prinzip vorzudringen, mag dies
nun auf einem mehr objektiven oder mehr subjektiven Wege
gesucht, mag es als allerrealstes und vollkommenstes Wesen
{Gott), als Gipfelpunkt der Welt, auf den alle Dinge mehr oder
weniger hinweisen, oder mag es als hinter uns liegendes, den
WeltprozeB produzierendes Subjekt gedacht werden, immer
mußte sie, sobald sie einmal Denken mit Sein identifiziert hatte
und nun ihrem Grundsatz „alles was ist, ist vernünftig" treu
blieb, bei einem abstrakten, aller konkreten Bestimmung ent-
behrenden Ziele anlangen. Durch fortgesetzte Abstraktion von
allen sinnlichen Eigenschaften als bloßer Akzidentien an der zu-
grunde liegenden Substanz, mußte sich ihr die ganze Welt in
einen Traum, in eine bloße Illusion verflüchtigen, während sie
das dahinterliegende Wesen in einer abstrakten, rein begriff-
lichen Einheit suchte. Auch der nachkantische Rationalismus,
der nun wenigstens von der subjektiven Seite zum wahren Sein
unmittelbar vordringen zu können glaubte, scheiterte daran, daß
er von allem Inhalt des Bewußtseins abstrahierte und in der
reinen BewuBtseinsf orm, die doch nur durch den jeweiligen In-
halt ihre ganze Bedeutung erhält, das Sein uiunittelbar finden
wollte, indem sie er zur metaphysischen Funktion hyposta-
sierte.
Es ist das größte Verdienst Schopenhauers, sich dadurch, daß
er von vornherein auf apodiktische Gewißheit seiner Philoso-
phie verzichtete, die Möglichkeit geschaffen zu haben, über die
Sphäre des reinen Denkens, des idealen Seins hinauszugelangen.
Er stellte in seinem Irrationalismus der rationalistischen „nega-
tiven Philosophie" eine „positive" des realen Seins gegenüber.
SCHOPENHAUERS MONISMUS 6i
Wohl hatte der nachkantische Rationalismus darauf verzichtet,
wie etwa Spinoza, in dem Schneckengange rational -logischer
Begründung das als mechanische Einheit gedachte Weltganze
zu durchmessen, er erfand sich in dem philosophischen Organ
der intellektuellen Anschauung ein Mittel, in ästhetisch-my-
stischer Kontemplation das All als lebendiges Ganzes unmittel-
bar zu erfassen ; aber er scheute sich dann allerdings nicht, was
er hier geschaut und erlebt hatte, in rein begrifflicher Weise zu
entwickeln und die dialektische Methode geradezu als die adä-
quate Wiederholung des Weltprozesses hinzustellen. Damit
hatte er dem bewußten Denken doch wieder metaphysische Be-
deutimg beigelegt, d. h. Bewußtsein und Sein einander gleich-
gesetzt und sich mit Recht den Vorwurf des Neospinozismus
zugezogen.
Auch Schopenhauer schloß sich in den Jahren 1811 — 14
durchaus an den Rationalismus an. Besonders das eifrige Stu-
dium Piatons, dann aber auch der Einfluß Schellings legten ihm
den Standpunkt des „besseren Bewußtseins'' — so können wir
diese Periode seines Denkens am besten bezeichnen — nahe.
Im Gegensatz zu dem gewöhnlichen, empirischen Bewußtsein
nämlich, das uns immer nur eine Welt der Vorstellung, des bloß
idealen Seins zeigt, sollte das bessere Bewußtsein die Ideen oder
Urbilder in ihrem wahren Sein unmittelbar zum Objekte haben.
Die in Raum und Zeit ausgebreitete sinnliche Welt, wie wir sie
täglich und stündlich durch unser Bewußtsein, kennen lernen,
sollte nur ein verzerrtes Spiegelbild, eine undeutliche, mangel-
hafte Erscheinung jener Welt der Ideen sein, welche wir nur
in den glücklichen Augenblicken künstlerischer Intuition zu
erfassen imstande sind. Hier sollten dann Subjekt und Objekt,
die Formen des empirischen Bewußtseins, gänzlich verschwin-
den, das erkennende Subjekt sollte sich in seliger Kontempla-
tion in das Objekt versenken und bis zu völliger Identität in
ihm aufgehen. Während das empirische Bewußtsein der Viel-
heit und Mannigfaltigkeit, den räumlich-zeitlichen Beziehungen,
also gerade der unwesentlichen und erscheinungsmäßigen Seite
der Welt seine Aufmerksamkeit zuwandte, sollte im besseren
Bewußtsein das Subjekt aus diesem Meer der kausalen Verket-
tung gleichsam emportauchen und, seine eigene Individualität
vergessend, der Identität mit dem wahren Sein unmittelbar ge-
wiß werden. Jetzt galt es nicht mehr, in diskursivem Denken
Erkenntnisse nach dem Satz vom Grimde zu gewinnen, um da-
62 OTTO WEISS
mit dem Individualwillen — demi nur als solchen kannte ihn
Schopenhauer in dieser Zeit, Wille galt ihm als Verstrickung^
in den Trug der Individualität — zu befriedigen, jetzt war vtel^
mehr im willensfreien Erkennen der Kreis der Identität ge-
schlossen, das erkennende Subjekt war zugleich auch das er-
kannte Objekt, das Erkennen des Seins als des Objekts zugleich
das Erkennen des Seins als des Subjekts; Sein und Bewußtsein
waren also identisch.
War aber einmal die konkrete Vielheit und Mannigfaltigkeit
als eine dem wesenhaften Kern der Welt fremde Erscheinungs-
form erkannt, so konnten auch die inuner noch als Mehrzahl
gedachten Ideen noch kein schlechthin Letztes, noch nicht das
endgültig wahre Sein darstellen. War der Weg einmal betreten,
durch Abstraktion von der konkreten Vielheit zu dem Wesen
der Dinge vorzudringen, so konnten auch die Ideen nur als eine
Zwischenstufe, nur als Ob jektivationen des wahren Seins gelten,
dieses aber mußte letzten Endes in einer abstrakten Einheit ge-
funden werden. War die Welt wirklich nur eine Illusion, ein
Spinngewebe des Satzes vom Grunde, ein Schleier der Maya, der
uns das wahre Wesen verbirgt, dann konnte dieses nur in der
völligen Negation aller Bestimmtheit, in einem attributlosen ab-
strakten Prinzip zu suchen sein. In der Tat befand sich Scho-
penhauer, als er die anfangs angenommene Mehrzahl von Ideen
auf eine einzige, oberste Idee zurückführte und diese dann dem
kantischen Ding an sich gleichsetzte, auf dem besten Wege nach
einem abstrakten Monismus, und wäre er durch den kan-
tischen Begriff des Willens nicht schließlich auf ganz andere
Bahnen gelenkt worden, so hätte er die Philosophie des Brah-
manismus in ihrer reinsten Form erneuert.
Auch der Brahmanismus, wie wir ihn aus den vier Veden,
den darauf sich gründenden Brahma -Sutras des Bädaräyana
und dem Kommentare des Qankara kennen, huldigte, wenig-
stens in seiner esoterischen Lehre, einem konsequenten abstrak-
ten Monismus. Auch er war durch fortgesetzte Abstraktion von
allem Inhalt der Erfahrung zu einem rationalistischen, rein
geistigen Prinzip gelangt, das geradezu die Negation aller Be-
stimmung war. Jedes Prädikat hätte eine Verendlichung des
Absoluten, also einen Widerspruch bedeutet, es konnte über-
haupt durch alle Eigenschaften nur negativ, als nicht von ihnen
behaftet, als „neti, neti" (nicht so, nicht so) bezeichnet werden.
Der Brahmane mußte, wenn er sich mystisch in die Identität
mit diesem Brahma oder höchsten Sein versenken wollte, allen
Inhalt Ton seinem Bewußtsein möglichst fernhalten, und wenn
er ganz gedankenlos dalag, kam er diesem Ziele am nächsten.
Die notwendige Kehrseite dieses abstrakten Monismus bildet
der Akosmismus, d. h. der Glaube, daß die Welt der empirischen
Wirklichkeit, wie wir sie durch unser Bewußtsein kennen lernen,
nur scheinbar eine wirkliche, In Wahrheit aber eine nicht sei-
ende und trügerische Welt, ein Blendwerk der Maya sei. Indem
ich das wahre Sein in einer abstrakten Einheit finde, hat für
mich die ganze Welt der sinnlichen Mannigfaltigkeit ihre meta-
physische Bedeutung verloren, sie ist zum wahrheitslosenTraum,
zur wesenlosen Illusion herabgesunken. Freilich entsteht dabei
die Schwierigkeit, die Existenz dieser Illusion aus der abstrak*
ten Einheit zu erklären. Ja, es will fast scheinen, als würde in
dem Begriff der Maya dem Brahma ein zweites Prinzip an die
Seite gestellt, das dann allerdings dessen Absolutheit beeinträch-
tigen müßte; denn war diese Maya einZwang von auBen,die viel-
heitlich-getrennte Erscheinungswelt aus sich herauszusetzen,
so war eben dieses Brahma kein letzthin Unbedingtes, sondern
selbst wieder mehr oder weniger abhängig; war die Maya aber
ein Moment Im Brahma selbst, so mußte dies auch von vorn-
herein mehr sein als eine abstrakte Einheit. Auch der Versuch,
die Maya auf die Beschränktheit der subjektiven Auffassung
des menschlichen Denkens zurückzuführen und damit den ob-
jektiven Monismus in einen subjektiven umzuwandeln, mußte
notwendig scheitern, denn woher sollte die Individuation, die
Trennung in viele beschränkte Einzelbewußtseine stammen,
wenn nicht eben aus dem objektiven Brahma I
Es ist letzten Endes nichts anderes, als die unüberbrückbare
Kluft, wie sie sich auch in der spinozistischen Deduktion be-
sonders stark bemerkbar macht, wenn sie versucht, die Welt
der Vielheit aus der abstrakten Substanz abzuleiten I Spinoza
glaubte sich schließlich dadurch helfen zu können, daß er
die Unendlichkeit, also Bestimmungslosigkeit seiner Substanz
in eine unendliche Bestimmtheit (unendliche Zahl von Be-
stimmungen) umdeutete. Er stützte sich dabei auf den scho-
lastischen Grundsatz, daß eine Substanz um so mehr Realität
habe, je mehr Attribute ihr zukommen, ohne zu bedenken,
daß er damit bereits seiner Voraussetzung: „omnis determi-
natio est negatio" (Jede Bestimmung ist eine Einschränkung)
widersprach, denn danach hätte eine unendliche Anzahl von
Bestimmungen eine unendliche Einschränkung bedeuten müs-
sen. So finden wir auch im Brahmanismus ein höheres, maya-
freies und ein niederes, majra- umstricktes, mit Attributen
behaftetes Brahma in unvermitteltem Gegensatze nebenein-
ander bestehen. Das reine Brahma oder Brahma im eigent-
lichen Sinne verharrt als absolutes Subjekt in absoluter Ruhe,
während das maya-umstrickte Brahma mit Attributen behaf-
tet ist und sich im Welttraum als eine Vielheit von be-
schränkten Subjekten anschaut. Damit neigte sich der Brah-
manismus, falls er überhaupt konsequent sein wollte, dem
Solipsismus zu, d. h. er mußte die Vielheit der Gesichtspunkte
für die Weltbetrachtung leugnen und dem Ich allein als einem
absoluten Subjekt Realität zuschreiben. Allein diese Folgerung
zu ziehen blieb erst dem nachkantischen Rationalismus vorbe-
halten, im indischen Denken kam es hierzu noch nicht, teils
weil ihm die bestimmte geistige Individualität noch zu sehr in
der Allgemeinheit des geistigen Lebens verschwand, um abge-
sondert aufgefaßt und verabsolutiert zu werden, teils weil seine
Aufmerksamkeit sich allmählich mehr ethischen Gesichtspunk-
tun zuwandte.
Wenn es galt, die brahmanische Religion beim ganzen Volke
zu verbreiten und besonders auch bei der größeren Menge durch-
zudringen, so mußte sie aus den transzendenten Höhen herab-
steigen und den Schwerpunkt von der positiven Seite, der ab-
strakten Einheit oder Wirklichkeit auf die zwar negative, aber
wenigstens durch die Sprache positiv darstellbare Seite, die
Maya oder Illusion verlegen, d. h. sie mußte der Vorstufe, der
Abwendung von der Welt der Vielheit, größere Beachtung als
dem eigentlichen Ziele, der Vereinigung mit dem Brahma,
schenken. Damit tat sie aber einen erheblichen Schritt vor-
wärts. Indem sie nämlich die scheinhafte, nichtwirkliche Welt
als eine nichtseinsollende, aus ethischen Gesichtspunkten ver-
werfliche auffaßte und an Stelle des eudämonistischen Zieles,
der mystischen Vereinigung mit dem Brahman, die moralische
Pflicht zur Askese setzte, gelangte sie zu einer metaphysisch
begründeten Ethik. Allein eine solche asketische Moral, welche
sich auf den Akosmismus gründet, kaim die Unterscheidung
von Gut und Böse selbst nicht aufrecht erhalten, denn auch
diese Gegensätze gehören nur der Maya an, sind also unwahr.
Sie verwirft eine Tat nicht nur, wenn sie böse ist, sondern sie
muß überhaupt jede Tat als solche schon verwerfen, weil sie
SCHOPENHAUERS MONISMUS
65
uns in die Welt der Vielheit verstrickt. DaB diese rein aske-
tische Moral mit dem unerschütterlichen Glauben an die Nicht-
wirklichkeit der Welt dem Bedürfnis eines ganzen Volkes nicht
gerecht werden kann, liegt auf der Hand, es kann uns deshalb
nicht wundern, wenn im Gegensatz hierzu eine exoterische
Lehre sich Geltung verschaffte, welche sich besonders auf das
Gesetzbuch des Manu gründete und eine heteronome Moral als
propädeutische Vorstufe für die Autonomie der esoterischen
Lehre aufstellte. Sie versöhnte den Brahmanismus mit den
praktischen Anforderungen des staatlichen Lebens, indem sie
den Werken der Liebe einen höheren Wert als denen des Has-
ses und der Selbstsucht beilegte, allein der Widerspruch mit dem
Prinzip des abstrakten Monismus blieb bestehen.
Wenn wir ausführlicher, als vielleicht erwartet, auf denBrah-
manismus zu sprechen kamen, so geschah es nicht nur, um die
Darstellung des abstrakten Monismus aus den Quellen zu
schöpfen, in denen er seine vollkommenste Ausbildung erhal-
ten hat, und somit den vorübergehenden Standpunkt in dieser
Periode des Schopenhauer sehen Denkens schärfer zu charakte-
risieren, als dies nach den spärlichen Zeugnissen möglich wäre,
sondern vielmehr weil auch die weitere Entwicklung der indi-
schen Philosophie eine auffallende Ähnlichkeit und ParalleUtät
mit dem allmählichen Ausreifen des Schopenhauerschen Sy-
stems zeigt. Dies wird um so weniger überraschen, als nicht nur
der Ausgangspunkt bei beiden derselbe war, sondern auch Scho-
penhauer selbst mit einer gewissen Genugtuung auf die Über-
einstimmung mit der indischen Weltanschauung hinwies. Frei-
lich über die Entwicklung derselben besaß er infolge der damals
mangelhaften Kenntnis der indischen Quellen noch keine Klar-
heit, er setzte den Buddhismus viel zu frühe an und hielt ihn
sogar für älter als den Brahmanismus, aber trotzdem griff er
mit sicherem Blick immer gerade die Elemente heraus, die der
Fortbildung seines Systems förderlich sein konnten, und ahmte
so unbewußt die Genesis der indischen Philosophie geradezu
nach, um dann, auf ihrer letzten Stufe angelangt, über sie hin-
wegzu seh reiten. Daß er selbst wohl glaubte, umgekehrt von den
einseitigen Ausläufern {für einen solchen hielt er den Brahma-
nismus) zu der indischen Urlehre, die er im Buddhismus suchte,
vorzudringen, ändert an der Folgerichtigkeit der innern Ver-
kettung des Ganzen nichts.
Auch Schopenhauer ging vom abstrakten Monismus aus. Wie
Der «onisnus II 5
der Brahmanismus von seinen Naturgöttern durch fortschrei-
tende Vergeisttgung allmählich zu seinem abstrakten Brahma
gelangt war, so faßte Schopenhauer die Ideen Piatons, die be-
reits im Gegensatz zu der sinnlich -empirischen Welt standen,
in eine einzige (abstrakte) Idee zusammen. Zwar vertrat er
den abstrakten Monismus seiner positiven Seite nach nie mit
der Strenge der brahmanischen Philosophie, davor bewahrte
ihn doch seine Abneigung gegen rein abstraktes Denken, er
schwankte, wenigstens solange er eine Vielheit von Ideen
gelten ließ, zwischen abstrakten, bloß die Einheit betonenden,
und konkreten, die Vielheit in der Einheit einschließenden
Ideen. In der negativen Seite, der Leugnung der Realität aller
Vielheit jedoch, schloß er sich ganz dem indischen Denken an.
Die sinnlich-wahrnehmbare Welt sollte nur die räumlich-zeit-
liche Ausbreitung des wahren Seins der Ideen, sollte nur ein
Blendwerk unseres Verstandes sein. Dieser wird beherrscht von
dem Satz des Grundes in seinen vier Formen, er begnügt sich
damit, an einer endlosen Kette von Ursache und Wirkung ent-
langzusch reiten, ohne Je durch diesen selbstgewobenen Schleier
zum wahren Sein vorzudringen. Allein als Schopenhauer nur
noch eine einzige Idee bestehen ließ und diese dem kantischen
„Ding an sich" gleichsetzte, mußte ihm der Kontrast zwischen
dem Sein der Einheit und dem Schein der Vielheit in so schar-
fem Lichte erscheinen, daß er der abstrakten Fassung des
Prinzips nicht mehr entgehen konnte. Hier ist auch der
Punkt, wo sich zum erstenmal für Schopenhauer das meta-
physische Problem mit dem erkenntnistheoretischen vermengte,
Das bessere Bewußtsein, welches die Ideen unmittelbar zu
seinem Objekt haben sollte, unterschied sich zwar von dem
empirischen Bewußtsein durch die Identität des Subjekts und
des Objekts, durch das ästhetisch-intuitive Versenken in den
Gegenstand; allein es konnte noch nicht die Identität mit einer
abstrakten Einheit herbeiführen. Jetzt aber, wo nur noch
eine Idee in Betracht kam, wo also von der objektiven Seite
dem abstrakten Monismus nichts mehr im Wege stand, machte
Schopenhauer halt — eine intellektuelle Anschauung als ab-
strakt-philosophisches Organ ließ er nicht gelten, er kannte sie
nur als ästhetisch -geniales Schauen; die Philosophie stand für
ihn den Künsten zu nahe, um diesen letzten konsequenten
Schritt des Rationalismus mitzumachen, lieber brach er ganz
mit dessen Prinzip und suchte das wahre Sein in einer ganz
SCHOPENHAUERS MONISMUS
«7
anderen Richtung. Zunächst jedoch begnügte er sich damit,
nach dem Vorgange Kants das Ding an sich für etwas Un-
bekanntes und Unerkennbares zu halten.
Es fällt nicht schwer, diesen Standpunkt des Skeptizismus
mit der brahmanischen Lehre von der Unerkennbarkeit des
Brahma in Beziehung zu setzen. Weil das Brahma als reine
Geistigkeit geradezu die Möglichkeit alles Erkennens darstellt,
gibt es außer ihm kein Erkennendes, m. a. W. weil es bei jedem
Erkenntnisakt selbst das Subjekt ist, durch das erkannt wird,
kann es nicht selbst auch Objekt des Erkennens sein, Produ-
zent und Produkt können niemals unmittelbar identisch wer-
den. Ganz ähnlich folgert Schopenhauer, wenn er die Uner-
kennbarkeit des vorstellenden Subjekts behauptet. Alles Er-
kennen, sagt er, beruht auf dem korrelativen Verhältnis von
Subjekt und Objekt und besteht nur in der Beziehung zwischen
beiden. Wie zwei Pole ihre Bedeutung verlieren, wenn man
sie voneinander loslöst, so kann das erkennende Subjekt nie-
mals ohne ein Objekt erkennen. Hier brach Schopenhauer
mit dem Dogma des subjektiven Idealismus Kants. Dieser
hatte zwar eingesehen, daß der naive Realismus unrecht hat,
wenn er im Bewußtseinsinhalt unmittelbar das Sein ergreifen
zu können glaubt ; er hatte die vorstellungsmäßige Beschaffen-
heit unserer Erkenntnis wohl durchschaut und hielt es für un-
möglich, durch Abstraktion von diesem Bewußtseinsinhalt aus
jemals zum realen Sein zu gelangen. Aber er glaubte nun um-
gekehrt in der leeren Form des Bewußtseins eine selbständige
Substanz gefunden zu haben, indem er sie zu einem aktiven
und produktiven realen Subjekt hypostasierte. Dies Subjekt
sollte sich dann in der Form des Bewußtseins immittelbar er-
kennen. Allein abgesehen davon, daß diese Bewußtseinsform
weit entfernt war, eine produktive Substanz zu sein und los-
gelöst von dem jeweiligen Bewußtseinsinhalt noch Anspruch
auf irgendwelche besondere Bedeutung machen zu dürfen,
war jedenfalls soviel gewiß, daß die Vorstellung, die wir von
der Bewußtseinsform haben, nur durch Abstraktion von dem
ganzen Inhalt unserer Erfahrung gewonnen sein konnte, also
statt einer unmittelbar erfaßten produktiven Funktion nur
der tote Begriff der Einheit unsres Bewußtseins war.
Allein lange blieb Schopenhauer beim Skeptizismus nicht
stehen. Schon seit dem Beginn seines philosophischen Denkens
war es ihm als höchstes Ziel erschienen, eine Philosophie zu
68
OTTO WEISS
begründen, die Metaphysik und Ethik zugleich sein sollte.
Auch hierzu sollte ihm schließlich Kant behilflich sein. Schon
Fichte hatte im Anschluß an die Kritik der praktischen Ver-
nunft das kantische Subjekt des Erkennens als Wille, als (sitt-
liche) absolute Tätigkeit aufgefaßt, das nun die Welt lediglich
zum Zwecke seiner moralischen Betätigung produzieren sollte.
Mit diesem ethischen Idealismus war zwar eine autonome
Moral gewonnen, indem das absolute Ich aus völliger Freiheit
handelte, allein dieser Vorzug war doch zugleich mit dem
Nachteile des Buddhismus erkauft, denn er hatte, wie dieser, die
sittliche Weltordnung verabsolutiert, für die Selbständigkeit
einzelner Individuen aber keinen Platz gelassen.
Diesem Fehler suchte Schopenhauer zu entgehen. Auch er
setzte zwar das Ding an sich dem Willen gleich, allein wie er
vorher die Folgerungen des abstrakten Monismus nicht bis zu
Ende gedacht und hinter dem Ding an sich nie die Vielheit
der Ideen ganz aus den Augen verloren hatte, so zerfiel ihm
auch jetzt bald der eine Wille in mehrere Willensindividuen,
die er den kantischen intelligiblen Charakteren gleichsetzte.
Damit ging er über die abstrakte Elnheits lehre des Buddhismus
ebenso wie über den subjektiven Idealismus Fichtes hinaus
und näherte sich mehr einem pluralistischen Emanatismus,
Es besteht kein Zweifel, daß Schopenhauer mit diesem vor-
übergehenden Standpunkt einem konkreten Monismus am
nächsten stand. Sowohl der Buddhismus, wie der Fichtesche
subjektive Idealismus waren schließlich wieder in den abstrak-
ten Monismus zurückgefallen, der Buddhismus, weil er trotz
seiner emanatistischen Ansätze doch die göttliche Weltord-
nung als abstraktes Gesetz verabsolutierte, Fichte, weil er trotz
seines subjektiven Ausgangspunktes in der inhaltsleeren Be-
wußtseinsform das wahre Sein suchte. Schopenhauer dagegen
hatte sich einerseits so weit von dem abstrakten Monismus ent-
fernt, um eine Vielheit von Einzelideen beibehalten zu können,
und er hätte diese nur als aufgehobene Momente in einer ab-
soluten Idee zusammenfassen brauchen, um zu einem kon-
kreten Monismus emporzusteigen; andrerseits aber hatte er
sich dem Naturalismus so weit genähert, um mit Hilfe des
Willens diese passive ideale Vielheit der einzelnen Momente in
eine aktive Vielheit realer Individuen zu zerspalten. Er hätte
auch hier wiederum nur die gemeinsame Willensseite dieser
einzelnen Monaden in einen absoluten Willen zusammenfassen
müssen, um zu einem zweiten, der absoluten tdee koordinierten
Prinzip zu gelangen. Beide Prinzipien hätten sich dann als
Attribute an einer absoluten Substanz in einem konkreten Mo-
nismus vereinigen lassen.
Es liegt im Wesen der Geschichte begründet, daQ auf eine
einseitige Anschauung ihr Gegenteil als das andre Extrem folgt
und die zwischen beiden vermittelnde Synthese erst an dritter
Stelle ermöglicht wird. Meist führt die Erkenntnis eines Irr-
tums eine so heftige Reaktion herbei, daß sie über das Ziel
hinausschießt und statt der beabsichtigten Befreiung einen
neuen ebenso einseitigen Irrtum bringt. So konnte auch
Schopenhauer noch nicht die Vermittelung zwischen dem ab-
strakten Monismus und dem naturalistischen Pluralismus fin-
den; indem er die Einseitigkeit des Rationalismus zu über-
winden suchte, geriet er in einen ebenso einseitigen Naturalis-
mus, ja sogar bis nahe an die Grenze des Materialismus und
verfiel mit seinem Irrationalismus in das andre Extrem. Er
konnte noch nicht die nötige Übersicht über die Vorteile und
Nachteile auf beiden Seiten haben, um eine möglichst vorteil-
hafte Synthese zustande zu bringen. Er war einen großen
Schritt über den Buddhismus hinausgegangen, indem er neben
der idealen Einheit die konkrete Vielheit nicht vernachlässigte,
er hatte auch die versuchte Annäherung an den Naturalismus
vollbracht und neben dem idealen Prinzip ein reales, nämlich
den Willen gestellt. Allein während der Buddhismus über-
haupt nicht so weit gelangte und wieder In den alten Irrtum
zurückfiel, überschritt Schopenhauer diese Mittelstellung und
verfiel schließlich ganz dem Naturahsmus.
Auch hierfür fand er bei Kant einen Anknüpfungspunkt,
und zwar in dem naturphilosophischen Begriff der Kraft. Die
kantische Philosophie krankt nämlich an einem eigentüm-
lichen Innern Widerspruch. Indem sie einerseits den logischen,
begrifflichen Teil unseres Bewußtseinsinhaltes, die Ordnung
der Empfindungen zu einer einheitlichen Erfahrung der An-
wendung kategor ialer Funktionen zuschrieb und diese wieder-
um zum metaphysischen Subjekt desErkennens hypostasierte,
gelangte sie auf dem Wege des subjektiven Idealismus zu
einem „Ding an sich". Andrerseits aber zeigen sich bei Kant
auch Spuren eines transzendentalen Realismus. Wenn näm-
lich die kategorialen Funktionen wirklich nur den formalen
Teil unserer Erkenntnis beisteuern, wenn sie sich wirklich nur
r
70
OTTO WEISS
migeordneten^^H
attf die Ordnung nnsexes F rnpfin <tnn gT"' 1 '*«^i* b
so nmB doch wohl in diesen sobjcktiven, nodi angeordneten .
Fmrfim tr'Pgfn das Charaktertstikiini unserer Erfahrung liegen,
Afrm fc- gw«! gerade der Inhalt aller unserer Kr fc *n nf i; i<f oimmer-
mdir auf die formalen KategiHien, soodem nur auf die subjek-
tirea Empfindungen zuröckzufähm sein. Diese aber mumm
wiederum auf ein Ding an sich — Kant erlaubt sich hier aller-
dings einen transzendenten Gebrauch von der Kategorie der
Kausalität — als der Ursache ihrer selbst hinweisen, das zwar
die Kategorien zu ihrer Betätigung herausfordert, im übrigen
aber doch den Ausschlag für die qualitatiTe Beschafienhett
tmserer Erfahrung betsteoert. Sind nun die formalen Kate-
gorien dazu bestimmt, erst Einheit und Gesetzmäili^eit in die
Mannigfaltigkeit der Empfindtmgen zu bringen, so muS dies
noch unbearbeitete Empfindungsmaterial ein blindes, wirres
Chaos sein, m. a. W. es muS eine Kraft auäer uns bestehen,
welche unsre eigne spontane Tätigkeit hemmt und uns zwingt,
gerade diesen und keinen anderen Bewußtseinsinhalt zu hat>m.
In dieser erkenntnistheoretischen Kluft zwischen Ding an sich
und Erscheinung spiegelt sich noch einmal der ganze Gegensatz
zwischen abstraktem Honismus und realistischem Naturalis-
mus wieder. Der subjektive Idealismus rettet zwar die Einheit
des BewuStseins, verliert aber dafür die konkrete Vielheit und
behält nur die eine abstrakte, formale Einheit übrig; der Na-
turalismus hingegen bleibt bei der Vielheit seiner Willen&>
individuen stehen, ohne sie in einer idealen Einheit zusanunen-
fassen zu können.
Hatte Schopenhauer einmal das Ding an sich als Wille, als
blinde, aller logischen und rationalen Gesetzmäßigkeit he-
terogene Kraft, wie sie der Natur als realer Erscheinung un-
mittelbar zugrunde liegen sollte, angenonmien, so konnte es
nicht ausbleiben, daß er nun die rationale Seite der Welt ver-
oacblassigte und in extremen Gegensatz zum Rationalismus
geriet; hatte dieser die ReaUtät in Idealität, in Vorstellungssein
verflüchtigt, so glaubte Schopenhauer die Idealität oder inhalt-
liche Beschaffenheit aus der blinden Realität ableiten zu
können. Hatte die vorkantische Scholastik gehofft, aus dem
B^riS eines vollkommensten d.h. mit einer UnendUchkeit von
Eigenschaften begabten Wesens die Realität als eine dieser
Eigenschaften herausklauben zu können, und hatte die nach- |
kantische Scholastik diesen Fehler nur erneuert, indem sie a
der zum Subjekt aufgebauschten Form des Bewußtseins die
Welt dialektisch herauszuspinnen suchte, so verfiel jetzt
Schopenhauer in den entgegengesetzten Fehler, wenn er aus
der blinden alogischen Realität die logische Ordnung und Ge-
setzmäßigkeit abzuleiten hoffte. Er hatte wohl ein offenes Auge
für die Unvernunft und Blindheit des Willens als des Real-
prinzips, aber er übersah darüber das gleichberechtigte ideale,
logische Prinzip, das die inhaltliche Beschaffenheit der Welt
erklären sollte, und drückte diese zu einem bloßen Schein, zu
einer Illusion herab. Er hatte, wie der Buddhismus, sich so
weit dem abstrakten Monismus angeschlossen, um in der kon-
kreten Vielheit keine unmittelbare Wirklichkeit, sondern nur
eine Erscheinung zu sehen und nun nach dem wesenhaften
Urgrund dieser Erscheinung zu suchen; aber er fiel nicht, wie
dieser, wieder in den abstrakten Monismus zurück, sondern er
verfiel dem Naturalismus und glaubte, in der ebenso inhaltleeren
blinden Realität den letzten Kern zu finden.
Von nun an mußte ihm der von Kant und Flaton über-
nommene rationale Bestandteil seines Systems ein Dorn im
Auge sein, denn es war ein vergebliches Bemühen, ihn aus
dem irrationalen Willen abzuleiten. Er versuchte zwar eine
Vermittelung dadurch herbeizuführen, daß er im Sinne eines
psychophysischen Monismus beide als die Erscheinungsweisen
ein- und desselben ,, Dinges an sich" ansah, das einerseits in
der Form des Willens, anderseits in der Form der Vorstellung
gegeben sei, allein dann war eben doch nur die Erscheinungs-
weise als Wille dem ,|Ding an sich" wirklich adäquat, wäh-
rend die Welt der Vorstellung es in einer völlig heterogenen
Form, in einer fremdartigen Verhüllung zeigte, die ihre
metaphysische Erklärung doch wieder nur in dem Wesen,
also in der andern Erscheinungsform finden konnte. Es
kann uns daher nicht wundern, wenn Schopenhauer bemüht
war, den aus der ersten Periode seines Philosophierens stehen
gebliebenen rationalen Bestandteil seines Systems auszu-
merzen. Vollständig freilich konnte ihm dies nicht gelingen.
Wie der abstrakte Monismus die Vielheit in der Welt nicht
hatte leugnen können, sondern sie wenigstens als Illusion be-
stehen lassen mußte, so konnte auch Schopenhauer die inhalt-
haltliche Gesetzmäßigkeit nicht wegdisputieren und ließ sie
ebenfalls als eine Illusion, als eine in unserem Verstände be-
gründete subjektive Täuschung gelten. Aber wenigstens meta-
TS OTTO WEISS
physische Bedeutung konnte und durfte ihr nicht eingeräumt
werden. Die Unmöglichkeit, die Maya aus dem Willen abzu-
leiten, lehrte ihn auf eine intellektuelle Anschauung im Sinne
des Rationalismus verzichten ; er mußte einsehen, daß weder
aus dem Inhalt, noch aus der Form unseres Bewußtseins steh
das Sein unmittelbar erfassen lasse. Darüber konnte er sich
jetzt nicht mehr täuschen, daß, wenn der Wille allem Bewußt-
sein heterogen war, er nimmermehr mit Hilfe des Bewußtseins
könne erkannt werden. Ein besseres Bewußtsein, das die Ideen
unmittelbar zu seinem Objekt hatte, konnte ihm nun für eine
metaphysische Erkenntnis keine Dienste mehr leisten, einmal
weil es überhaupt Bewußtsein war, dann aber auch, weil die
Ideen vor jedem andern Bewußtseinsinhalt an wahrem Sein
nichts mehr voraushaben konnten. Früher hätte ihn das
bessere Bewußtsein zum abstrakten Monismus führen können.
Wenn er nämlich den Kontrast zwischen den einheitlichen Ur-
bildern und ihrer vielheitlichen Entfaltung in der Erscheinungs-
welt immer schärfer gefaßt und das höchste Sein schließlich in
der Einheit einer einzigen Idee gesucht hätte, dann wäre das
bessere Bewußtsein in die Identität mit der abstrakten Ein-
heit übergegangen und hätte zu der intellektuellen Anschauung
des Rationalismus geführt, jetzt aber mußte das bessere Be-
wußtsein in das empirische versinken, denn jede rationale Be-
stimmung, sowohl die Vielheit wie die Einheit, gehörten von
vornherein der Illusion an. Der Rationalismus identifizierte
Sein und Bewußtsein und gelangte daher über das passive,
ideelle Sein nicht hinaus ; Schopenhauer hingegen suchte das
Sein gerade im Gegensatz zu dem passiven Bewußtsein in der
Aktivität, im Willen ; da er aber außerhalb des Bewußtseins
kein ideelles Sein gelten ließ, leugnete er dessen metaphysische
Bedeutung von vornherein.
Allein ganz konnte Schopenhauer die Ideen doch nicht ent-
behren. Es ist zwar sein unsterbliches Verdienst, das Prinzip
der Realität in dem blinden alogischen Willen gefunden zu ha-
ben, doch seine Einseitigkeit wiederum besteht darin, daß er
glaubte, mit diesem ziellosen Willen allein auszukommen. Denn
ebensowenig wie aus dem inhaltsleeren Begriff der Einheit
konnte aus dem blinden, unvernünftigen Willen eine Vielheit
und Mannigfaltigkeit der Weit abgeleitet, ja konnte dieser
Wille überhaupt als ein tätiger begriffen werden. Ein Wille,
der nicht auch etwas Bestimmtes wollte, konnte höchstens ein
schlummernder, potentieller, noch nicht in Tätigkeit begriffe-
ner Wille sein. Sollte er jedoch wirklich und wahrhaft wollen,
sollte er nicht nur die Potenz, sondern den realen Aktus dar-
stellen, so mußte ihm auch notwendig ein Ziel gesetzt werden,
und dieses Ziel kormte nur eine allerdings unbewußte Vorstel-
lung, d. h. ein noch nicht Verwirkhchtes, sondern erst idealiter
Gedachtes sein. Dies scheint auch Schopenhauer geahnt zu ha-
ben, wenn er die Ideen die unmittelbarsten, adäquaten Objek-
tivationen nennt und darunter die einzelnen Willensakte ver-
steht, in die sich der unendliche Wille zerteilt. Hätte Schopen-
hauer den Begriff einer unbewußten Vorstellung gekannt, so
hätte er nicht nötig gehabt, die Ideen mit dem Bewußtsein zu
identifizieren und mit der bewußten Vorstellung auch zugleich
die Ideen und überhaupt jedes rationale Element aus seiner Me-
taphysik zu verbannen. Zu dieser Einsicht jedoch versperrte
ihm die Einseitigkeit seines Irrationalismus den Weg.
Der Rationalismus hatte das Denken dem Sein gleichgesetzt
und damit eine Einseitigkeit begangen. Er war damit in die
Sphäre des logischen, idealen, rein passiven Seins eingeschlos-
sen und konnte nie zu einem Willen als dem Prinzip des realen
Seins gelangen. Er hatte aber auch das Bewußtsein dem Sein
gleichgesetzt und in der intellektuellen Anschauung ein philo-
sophisches Organ postuliert, mit Hilfe dessen er das Sein un-
mittelbar erfassen und die Philosophie als eine apodiktisch ge-
wisse Wissenschaft ausgeben konnte. Schopenhauer dagegen
suchte das Sein im Gegensatz zum Denken in einem blinden,
vernunftlosen Willen, hatte infolgedessen auch keine Möglich-
keit mehr, von dem Bewußtsein unmittelbar zum realen Sein
zu gelangen. Wäre er nun folgerichtig verfahren, so hätte er
unter Verzicht auf eine apodiktisch gewisse Philosophie mit
der intellektuellen Anschauung des Rationalismus gebrochen
und eine induktiv von der Erfahrung ausgehende, nur mittel-
bar erschlossene Metaphysik begründet. Statt dessen aber
hielt er doch an einer unmittelbaren Erkenntnis des Dinges
an sich fest und erneuerte, wenn auch in ganz anderer Form,
die intellektuelle Anschauung des Rationalismus, indem er
glaubte, in dem wollenden Subjekt wie durch einen unterirdi-
schen Gang den Willen als Ding an sich unmittelbar zu erfassen.
Daß das erkennende Subjekt sich nicht selbst wiederum erken-
nen und zum Objekt werden, sondern im höchsten Fall eine
Vorstellung seiner früheren Tätigkeit haben könne, war ihm
zwar einleuchtend; wohl aber glaubte er, daß das wollende Sub- I
jekt dem erkennenden unmittelbar zum Objekt dienen könne.
Freilich, die Identität des erkennenden und wollenden Sub-
jekts mußte er dann voraussetzen, sonst hätte überhaupt
keine unmittelbare Erkenntnis stattfinden können ; allein
diese setzte er als eine zweifellose, wenn auch unbegreifliche
Gewißheit voraus und nannte sie das philosophische Wunder
xai ito%fiv. Mit dieser Annahme ei ner^unmittel baren Erkennt-
nis des Willens war er zugleich in den subjektiven Ideatismus
zurückgefallen. Nun hatte er ja in dem Ich doch noch einen
Punkt gefunden, wo es unmittelbar an dem Ding an sich
teilhatte und sich dieser Tatsache unmittelbar versichern
konnte. Er hatte dann nur nötig, vom eignen Ich aus auf
alle andern Dinge zu schließen und auch hier hinter der Er-
scheinung den Willen zu vermuten. Damit glaubte er seinen
Realismus unmittelbar erwiesen zu haben. Analog dem eignen
Ich sollte die ganze Welt ihrem Wesen nach Wille sein und nur
dem Intellekt als eine individuell-getrennte Welt der Vorstel-
lung erscheinen.
Der exoterische Brahmanismus hatte in seiner Lehre von der
Seelen Wanderung und der Vererbung der Schuld den Weg zu
einem konkreten Monismus beschritten, er faßte das Karman,
den Werkschatz der wandernden Seele, sowohl regulativ als
motorisch auf; es sollte nicht nur als das moralische Resultat
des vorhergehenden Lebens das Schicksal für die folgende Ver-
körperung ideal vorwegnehmen, sondern es sollte zugleich auch
den realen Anstoß zu dieser Entfaltung geben, es sollte zugleich
die Kraft besitzen, dies Schicksal durchzusetzen. Der Buddhis-
mus war aber wieder in den abstrakten Monismus zurückge-
fallen, indem er nur die ideale (regulative) Seite an diesem
Karma berücksichtigte und sie in einer abstrakten sittlichen
Weltordnung zusammenfaßte. Schopenhauer hingegen faßte
das motorische Element, die einzelnen Individualkräfte in sei-
nem Willen zusammen, verlor aber dafür die regulative (inhalt-
liche) Seite und beschränkte sich auf einen blinden, unvernünf-
tigen Willen.
Im letzten Grunde ist es das alte Problem der Willensfrei-
heit, in das sich der ganze Unterschied dieser drei Weltan-
schauungen zuspitzt. Der Brahmanismus als Rationalismus
mußte notwendig zu einem radikalen Determinismus gelan-
gen, Mochte er nun, wie anfangs, das Brahma noch mehr my-
SCHOPENHAUERS MONISMUS
75
thisch als Schöpfer, oder mochte er es als aparam brahma, als
Identität einer Vielheit von intellektuellen Seelenkräften auf-
fassen, oder mochte er endlich, wie in seiner exoterischen Lehre
von der Seelenwanderung, dem Begriff der Seele das Karma als
das notwendige Schicksal für die Wiederverkörperung anhän-
gen, immer mußte er die Vorausbestimmung des Charakters,
die Unfreiheit des Individuums anerkennen. Es liegt in der Na-
tur des Idealismus, sowohl des objektiven wie des subjektiven
begründet, daß das empirische Geschehen, soweit er überhaupt
ein solches kennt, sich mit strenger Notwendigkeit vollzieht.
Hier könnte der Spinozismus als Beispiel des strengsten Deter-
minismus auf rationalistischer Basis angeführt werden. Jede
Handlung folgt mit mathematischer Notwendigkeit aus dem
Charakter, und dieser wieder ist vollständig vorausbestimmt
von Gott, der absoluten Substanz. Ja, selbst diese hat ihn nicht
aus freier Wahl festgesetzt, sondern handelt dabei nur nach
einem eigenen inneren Gesetz — es ist der abstrakte Monismus,
der hier wiederum das letzte Wort spricht. Ähnlich schreibt der
Brahmanismus die Handlungen eines Individuums dem Zu-
sammenwirken einer Kraft (gaktt- Charakter) und der Motive
zu, beide Korrelate treten mit gleicher Notwendigkeit auf, denn
nach seinen idealistischen Voraussetzungen gestaltet sich ja
die Welt der Vorstellung, also auch der Motive, nach den Be-
dürfnissen des Karma. Und dieses wiederum folgt nicht aus
einer freien Bestimmung Gottes, sondern das Resultat des frü-
heren Lebenslaufs wirkt ebenso streng als Motiv auf Gottes Ge-
rechtigkeit und prädestiniert ebenso notwendig des kommende
Schicksal, wie dies die Handlungen des Individuums. Der Bud-
dhismus hingegen, der nicht vom Absoluten ausgeht und daraus
die Einzelseele abzuleiten sucht, sondern der die Vielheit der
Illusion, das ewige Werden selbst verabsolutiert, gelangt da-
durch zu einer autonomen Moral und vollständigen Willens-
freiheit. Für ihn gibt es Ja kein Karma mehr, das dem Indivi-
duum heteronom sein Schicksal vorschreibt, jetzt steht der
einzelne Mensch unmittelbar auf eignen Füßen, es hängt nun
von ihm selbst ab, ob und wie lange er an der Illusion, an dem
Leiden der Welt teilnehmen will, es war ihm jederzeit vorbe-
halten, aus freier Selbstentscheidung die Erlösung, die Selbst-
vernichtung zu wählen; dann sank mit ihm auch die ganze
Illusion in nichts zusammen. Allerdings, als er sich gezwungen
sah, um seinen Pessimismus zu rechtfertigen, die sittliche Welt-
Ordnung zum wahren Sein zu erheben und somit in den ab-J
strakten Monismus zurückzusinken, erneuerte er damit auch '
wieder die Lehre von der Unfreiheit des Individuums, denn jetzt
war es ja wieder das absolute Sittengesetz, das von oberster In-
stanz aus über das Schicksal entschied.
Schopenhauer versuchte das Problem entsprechend seiner
eigentümhchen Mittelstellung zwischen Irrationalismus und
Rationalismus zu lösen. Seiner Metaphysik, also seinem Willens-
realismus zufolge hätte er vollständige Willensfreiheit zuer-
kennen müssen. Denn was sollte dem einzigen Absoluten, dem
blinden und ziellosen Willen Gesetze vorschreiben oder irgend-
ein Hemmnis bereiten ! Er war von Hause aus, ebenso wie der
Fichtesche absolute Wille, völlige Freiheit. Aber ebenso wie der
rationale Bestand seines Systems allmählich in die Welt der Vor-
stellung, in einer unerklärlichenlllusion zusammengeschmolzen
war, so sollte hier im Reiche der Vorstellung auch ein Unter-
schlupf für den Determinismus erhalten bleiben. Wo der Satz
vom Grunde herrschte, wo alles nach rationaler Gesetzmäßigkeit
und Ordnung verlief, mußte auch der Charakter in seinen Hand-
lungen eine strenge Gesetzmäßigkeit erhalten — er wurde als
vierte Klasse von Objekten des Satzes vom Grunde behandelt
und dem Gesetz der Motivation unterworfen. Während wir
nämlich jederzeit glauben, uns aus freiem Gutdünken für un-
sere Handlungen so entscheiden, reagieren wir nur mit unent-
fliehbarer Notwendigkeit mit unserem Charakter auf die von
uns vorgestellten Motive. Freilich, das haben wir vor den Tieren
voraus, — wie die Natur im Intellekt, so gipfelt dieser wiederum
in der Vernunft; dies ist vielleicht die höchste Stufe und Steige-
rung der Illusion — daß wir mit Hilfe der Begriffe, die wir der
Vernunft verdanken, außer dem gerade gegenwärtigen noch
andre Motive vor Augen haben können. Allein wir rea- i
gieren unter diesen vielen Motiven doch nur auf dasjenige, das J
unser Charakter mit strenger Notwendigkeit fordert ; wenn 1
uns der Charakter eines Menschen bis in seine Einzelheiten be- I
kannt wäre, könnten wir auch das Verhalten desselben in allen I
erdenklichen Situationen voraussagen. Soweit Schopenhauer ]
Metaphysiker ist, soweit die Welt als Wille in Betracht kommt,
erkennt er vollkommene Freiheit an, innerhalb der Welt der j
Vorstellung gesehen, ist aber auch unser Handeln dem Satz vom J
Grunde notwendig unterworfen. Allein auch hier macht sich!
die Schwierigkeit geltend, von der Welt als Wille den Übergang I
zur Welt als Vorstellung zu finden. Ebenso wie es unbegreif-
lich ist, wie der vernunftlose Wille auch nur die Illusion einer
gesetzmäßig geordneten Welt aus sich heraus erzeugen kann, so
läßt sich auch ebensowenig erl^laren, wie der bhnde und eine
Wille imstande sein soll, sich in eine Vielheit von einzelnen
Charakteren zu zerspalten, die dann wiederum in der Welt der
Erscheinung ihren Inhalt aus sich heraus entwickeln sollte. Es
läßt sich nicht leugnen: ganz konnte Schopenhauer die Ideen
niemals entbehren, obgleich ihre sonderbare Mittelstellung sich
ebensowenig rechtfertigen läßt, wie die Ers che inungs weit, die
sie mit dem Willen vermitteln soll. Als unmittelbare Objekti-
vation des Willens gehört sie dem Bereiche des Seins an, sie ist
das vom Willen frei gewählte Ziel seines Willens. Als Summe
der in der Welt der Vorstellung entfalteten einzelnen Akte ge-
hört sie, ebenso wie diese, der Illusion an, Ist sie ein von den
einzelnen Handlungen abstrahierter Begriff, also nur ein Hirn-
gespinst, so kann sie allerdings nur der Welt der Vorstellung
angehören, ja steht dieser sogar noch nach, ist sie aber das vor-
und überzeitliche prius aller Äußerungen des Charakters, nimmt
sie also den Inhalt der Welt als passive Möglichkeit vorweg,
dann kommt ihr wohl ein selbständiges Sein zu, aber sie muß
dann auch als ein gleichberechtigtes Prinzip dem blinden Wil-
len an die Seite gestellt werden. Allein die einseitige Meinung
Schopenhauers, mit dem Realprinzip des blinden Willens aus-
kommen zu können, zwingt ihn, diese unentschiedene Stellung
einzunehmen. Der Gedanke an eine unbewußte Vorstellung,
welche dem inhaltsleeren Willen unmittelbar als Ziel vor-
schweben und ihm einen Inhalt zur Verwirklichung geben
konnte, lag seinem Irrationalismus so ferne, daß er alles ideale
Sein kurzweg mit dem Bewußtsein gleichsetzte und in die Welt
der Vorstellung verwies. War es daher zu verwundern, wenn
er durch seinen einseitigen Realismus allmählich in einen na-
turalistischen Emanatismus, ja sogar bis hart an die Grenze des
Materialismus geriet, wenn sieh ihm der anfangs supranatura-
listische Wille in einen naturalistischen umwandelte ? Jetzt sah
er sich ja, ebenso wie der Materialismus, gezwungen, die Vor-
stellung aus der blinden Realität abzuleiten, ob diese nun als
das geistlose Sein der Atome, oder ob sie als der unvernünftige
Trieb des Willens aufgefaßt wurde, änderte nichts an der Sache.
Schelling behandelte die Naturphilosophie idealistisch, indem er
das Realprinzip, den Willen vergaß, er konnte daher nur von
einer passTcn, idealen, mtwiiklicfaen Katur sprechen, er konntefl
uns, wie in einem BanpUne. nai über die Mö^chkeit unter- I
richten, nie aber auf das reale Gebinde selbst hinweisen, Scho-
penhauer hingegen glaubte, es genüge eiae Schar Arbeiter,
wenn sie nur jdanlos Steine beramsclileppten und auf einander-
tännten, es werde schon tot selbst ein wohlgefngtes Gebäude
daraus. Es brauchte nur eine blinde NatmlEiaft sich nt betäti-
gen — das war im Grrmde |
Natur mit all ihrer ü
heit werde scblie&Uch Ton selbst daiaiB hervorgeben. Als Pes-
simist hatte er oicht, wie H^d, ein afl ene s Auge fär die won-
derbare Gesetzmäfli^eit und Oidnong der Hatnr, er sali *■■"*—'
allem nur die b&nde, rohe Kr^ den onslillbsrcn Dmst nadi
Dasein und Verwiifclidnin|t er ^^'**''** sidi andi nic^ daio
begeistem. planvoll an dem gfolcnGctnebe MJliuailieitea md
auch seinerseils einen Teil xnr * » i« J i»*> «Mi g an das ^^ '<»'■' bei-
zotragen, dezm für ihn gab es ja BBtn posnircs Endsd, cc
konnte keinen Te mün ftigen Zweck «ns der Katnr beraosksen,
für ihn gab es nnr eine E il B suug , das Ende.
So war er i
n Mflhimnuu dP af w wlT iwwsatBW
79
l Es war die Absicht Schopenhauers gewesen, die Mystik des
-ahmanismus mit dem buddhistischen Pessimismus zu ver-
binden, allein die Ausführung ist ihm nur schlecht gelungen.
Er wandte sich zwar mit derselben Enttäuschung wie der Brah-
manismus von der inhaltlichen Vielheit der Welt ab und suchte
das wahre Sein in einer mystischen Einheit. Er fand diese Ein-
heit zwar nicht, wie dieser, in einer abstrakten Idee, wohl aber
in einem ebenso inhaltsleeren blinden Willen, Beide verloren
dabei die Selbständigkeit der Vielheit neben der Einheit, allein
während der Brahmanismus wenigstens die Einheit, wenn auch
als abstrakte gewann, gelang Schopenhauer nicht einmal dies.
Denn im Grunde genommen widerspricht dem irrationalen Wil-
len das Prädikat der Einheit ebensosehr wie das der Vielheit.
Dem irrationalen Willen als Prinzip der Realität kann über-
haupt kein begriffliches Prädikat beigelegt werden, er ist weder
Einheit noch Vielheit, sondern wird dies erst, je nachdem er
sich auf eine Einheit oder Vielheit von Zielen richtet. Wie mein
Wollen ursprünglich weder eines noch vieles ist, sondern erst
durch die Anzahl der Objekte, auf die es sich bezieht, gespalten
wird, so kann auch der absolute Wille erst durch seinen Inhalt
zur Einheit oder Vielheit kommen. Nun kann zwar der Wille
zugleich immer nur eines wollen, aber diese Einheit kann eine
Viel-Einheit, die Vielheit nicht aus- sondern einschließende
sein, sie kann ein großer Weltplan sein, in dem zwar alle Ein-
zelheiten als aufgehobene Momente verschwinden, aber doch
integrierende Bestandteile des Ganzen bilden und der Einheit
somit erst Inhalt und Bedeutung verleihen. Als solche wäre sie
aber eine konkrete Idee gewesen und hätte dem Willen un-
mittelbar zu seinem Inhalt gegeben werden müssen. Andrer-
seits aber konnte er auch den buddhistischen Pessimismus nicht
auf sein System übertragen. Er schloß zwar, wie dieser, von
einer scheinhaften, nicht wirklichen auf eine nicht sein sollende
und schlechte Welt und übertrug die Schuld daran auf einen
absoluten blinden Willen, allein dieser Wille war doch nur als
ein aktiver, wirkender, als ein in Tätigkeit begriffener Wille
ein verwerflicher, nicht aber als Zustand der Ruhe, der Potenz.
Nur solange er wirklich wollte, also einen Inhalt hatte, war er
von Übel und mußte negiert werden. Dazu aber bedurfte es
wiederum der absoluten Idee als eines dem Willen gleichgeord-
neten Prinzips, Das sah Schopenhauer ein, daß sowohl die
Bejahung (das in actum Übergehen) als auch die Verneinung
des Willens (das Zurückgehen in die Potentialität) ein meta-
physischer Akt ist, ebenso wie die Wahl des intelligiblen Cha-
rakters ein überzeitlicher sein sollte, so sollte auch der Vernei-
nung eine überindividuelle Bedeutung zukommen, allein diese
Einsicht konnte ihn doch nicht dazu bewegen, auch wirklich
die notwendigen Bedingungen hierzu in seinem System zu
schaffen und neben dem irrationalen Realprinzip das passiv-
ideale Sein der konkreten Idee anzuerkennen.
Erst Schelllng war es, dank dem unermüdlichen Eifer, mit
dem er seine philosophischen Probleme zu verfolgen pflegte,
bestimmt, als Frucht eines langen, allmählich, aber sicher fort-
schreitenden wissenschaftlichen Denkens 2u der Erkenntnis der
Ergänzungsbedürftigkeit des Rationalismus zu gelangen, ohne
zugleich für dessen Wert und Bedeutung das Verständnis zu
verlieren. In seiner Freiheitslehre fand er den Weg zu der Ver-
bindung des rationalen Determinismus mit einem irrationalen
Indeterminismus. In seiner „positiven Philosophie" stellte er
dann der, .negativen Philosophie" des idealen Seins, der bloßen
Möglichkeit ein Prinzip des realen Seins zur Seite und vollzog
damit die Synthese beider Prinzipien. Er ging, auch wie Scho-
penhauer, vom Rationalismus aus und gelangte selbständig und
unabhängig von ihm zu dem Realprinzip des Willens, allein
er sah darin von vornherein nur eine Ergänzung des Idealis-
mus, ohne wie Schopenhauer in die Einseitigkeit des Irrationa-
lismus zu verfallen. Somit schuf erst Schelllng den vollkomme-
nen Realidealismus, der Wille und Idee als koordinierte Prin-
zipien gelten ließ und beide dann in einem konkreten Monis-
mus zusammenfaßte, indem er sie zu Attributen der absoluten
Substanz machte. Doch finden sich bei Schelling ^ wie es über-
haupt in der Art dieses Philosophen lag, nur fruchtbare Gedan-
ken und Skizzen auszustreuen, die weitere Ausführung aber
andern zu überlassen — nur Entwürfe und Andeutungen zu
einem solchen System. Erst Eduard von Hartmann war es, der
diese Schellingsche Prinzipienlehre zur Grundlage seines eignen
Denkens machte und sie zu einem ganzen System vervollstän-
digte. Dies war allerdings erst möglich, nachdem Hegel und
Schopenhauer die Prinzipien einzeln zum Gegenstande einer
speziellen Untersuchung und Durcharbeitung gemacht hatten,
nachdem Hegel die rationale Seite, das Gebiet des passiven ide-
alen Seins, Schopenhauer das Realprinzip des irrationalen Wil-
lens zur Begründung eines einseitigen Systems benutzt hatten,
und darin beruht schlieBUch auch die historische Rechtferti-
gung und Notwendigkeit dieser beiden Einseitigkeiten.
Allein, so hoch wir ihre Bedeutung für die Entwickelung der
Philosophie anschlagen wollen, so können wir doch nicht um-
hin, sie als Sjrsteme ihrer Einseitigkeit und Un Vollständigkeit
wegen zu verurteilen. Beide weisen schließlich doch nur auf
ihre Synthese, auf die Verschmelzung zu einem k snkreten Mo-
nismus nach dem Vorbilde der Schellingschen Prinzipienlehre
hin, in dem sich ihre Vorzüge summieren, ihre Nachteile und
Mängel aber gegenseitig aufheben, und erscheinen zwar als not-
wendige aber doch aufgehobene Momente in dem konkreten
Monismus des Hartmannschen Systems.
MAX WENTSCHER • LOT2ES „MONISMUS"
ARF man Lotze als „Monisten" bezeichnenl
Gibt es in seiner Weltanschauung nicht
Momente genug, die ihn viel eher gerade
als „Dualisten" zu charakterisieren schei-
nen ? Zwei Punkte vor allem kämen hier in
Frage: zuerst die scharfe Trennung des
Geistigenund Körperlichen; und sodann die
Behauptung selbständiger Regsamkeit der
Einzelwesen trotz ihres sonst überall betonten Enthaltenseins
im Unendlichen, All-Einen. Zwar finden beide Punkte im Zu-
sammenhange des Ganzen dieser Lehre ihre Erledigung in einem
Sinne, der den Namen des Monismus für diese Gesamtanschau-
ung gar wohl rechtfertigen könnte. Allein es kann immer noch
gefragt werden, ob diese Art der Erledigung der in Rede stehen-
den Probleme auch wirklich zu Recht besteht, oder ob hier
nicht trotz alles aufgebotenen Scharfsinns zuletzt doch unge-
löste, vielleicht überhaupt unlösbare Schwierigkeiten und Be-
denken zurückbleiben. Beide Probleme dürfen — auch abge-
sehen von dieser hier entwickelten Fragestellung — noch ein
besonderes Interesse für sich in Anspruch nehmen. Einmal
schon, weil die zu ihrer Lösung herangezogenen Grundüberzeu-
gungen sehr wesentliche Bestandteile der ganzen Lotzeschen
Weltanschauung bilden ; sodann aber, weil es sich dabei um
grundlegende Probleme aller Weltanschauung überhaupt han-
delt. So rechtfertigt es sich, wenn wir die Erörterung der Frage^
in welchem Sinne und mit welchem Grunde Lotze als ,, Monist"
bezeichnet werden darf, wesentlich nach den beiden genannten
Gesichtspunkten orientieren.
L GEIST UND MATERIE
Scheidung der beiden Arter von Substanzen trotz der „Allbeseeltheit". — 1
„Wechselwirkung", nicht ,,Parallelisnius". — Alle endlichen Substanzen |
wurzeln im Unendlichen.
Gegenüber dem „Materialismus", der infolge des gewaltigen i
Aufschwunges der Naturwissenschaften und ihres Populätwer-
LOTZES MONISMUS
83
dens um die Mitte des letzten Jahrhunderts zuversichtlicher
als je das Haupt erhob, hat Lotze seine Lehre von der Be-
seeltheit aller Wirklichkeitselemente herausgebildet.
Mit der Grundanschauung der Leibnizschen Monadologie
im wesentlichen zusammenstimmend, behauptet diese Lehre
die prinzipielle Gleichartigkeit aller dieser Wirklichkeits de-
mente, und zwar so, daß die Seele oder das Selbstbewußtsein,
wie wir es in uns selbst unmittelbar erleben, den in mannig-
fachsten Abstufungen immer wiederkehrenden Grundtypus
bildet. Das ,,Sein" scheint ihm nicht, wie es der Materialismus
betrachtet, in einem bloßen Für-anderes-sein aufgehen zu
können, sondern nur erst in einem Für-sich-sein die volle
Entfaltung seines eigentlichen Sinnes finden zu können. Sol-
ches „Für-sich-sein" aber findet er nur da wirklich gegeben, wo
in irgendeiner Form wenn auch noch so dumpfen Selbstbe-
wußtseins oder Selbstgefühls die erlebten Zustände zur Empfin-
dung gelangen, zu einem gewissen Selbstgenuß führen. Somit
sind nur beseelte Wesen eines Für-sich-seins und so auch
eines wahren, eigentlichen Seins fähig. Und sofern also die
Atome und das sonstige Wirklichkeitsmaterial der Naturwis-
senschaft und des Materialismus Realität haben soll, muß die
Konsequenz gezogen werden, daß alle diese Grundbestandteile
des Wirklichen „beseelt" sind, den eigentlichen ,, Seelen" in
abgestufter Rangordnung vergleichbar, ja, wesens verwandt. —
Damit wäre denn ein prinzipieller „Monismus" in gewissem
Sinne erreicht, und zwar in der Form eines spiritualisti-
schen Monismus; denn das Seelische, Geistige soll hier ja der
alleinige, einheitliche Typus des Wirklichkeitselementes
sein, wo immer ein solches auftritt und als solches anerkannt
werden kann. „Alle Realität ist Geistigkeit.'" Allein mit
dieser Einreihung Lotzes in die Rubrik des Monismus wäre doch
noch wenig gewonnen. Denn trotz dieser dem Materialismus
entgegengehaltenen Lehre von der Wesensverwandtschaft des
Geistigen und Körperlichen oder von der allgemeinen Besee-
lung des Wirklichen, wird doch keinen Augenblick die völlige
Unvergleichbarkeit außer acht gelassen, welche die physischen
Vorgänge als solche von den Erlebnissen des Bewußtseins ent-
scheidend trennt.'' Mit Entschiedenheit wird jede Auffassung
abgelehnt, welche zwischen den Tatbeständen des geistigen Le-
, »chril
5. 90ff. 1
,) S. 53iff. * Mikr- I (4- Aufl.) S. lösff., Streil
84
MAX WENTSCHER
I
bens und gewissen Analogien, die man auf dem Boden'des phy^fl^
sischen Geschehens finden könnte, einen realen inneren Zu-
sammenhang konstruieren möchte. Vor allem sind es die auf
die Einheit des Bewußteins hinweisenden Betätigungen des
Vergleichens, Beziehens und Urteilens, für die auf physischem
Boden niemals etwas zu analog einheitlichen Leistungen Befä-
higtes aufgezeigt werden könnte. Aus diesem Grunde tritt Lotze
auch der Anschauung eines psychophysischen ,, Parallelismus",
wie er in jener Zeit in Fechner einen seiner bedeutsamsten
Vertreter gefunden, nachdrücklich entgegen. Es sei unzulässig,
die hier einander durch eine na 11 gerne ingesetzlichen Zusammen-
hang koordinierten Vorgänge einfach als Außen- und Innenseite
eines und desselben Geschehens zu fassen. Das oft herangezogene
Bild von der Kreislinie, die, je nachdem man sie von außen oder
von innen betrachte, dem Beobachter gänzlich verschieden er-
scheine, treffe eben in dem entscheidenden Punkte nicht zu;
denn auf dem Boden der psychophysischen Zusammenhänge sei
solch ein Drittes schlechterdings nicht angebbar, als dessen be-
greifliche Konsequenzen bei einer Betrachtung ,,von innen" das
psychische Leben, bei einer solchen ,,von außen" die räumlich-
zeitlich geordneten physischen Vorgänge sich fassen ließen.
Dagegen findet Lotze in dieser Unvergleichbarkeit des Geistigen
mit dem Physischen keinerlei Veranlassung, von der Annahme
einer Wechsel Wirkung zwischen,, Leib" und,, Seele" sich ab-
bringen zu lassen. In diesem Punkte nimmt er somit eine der
sonst üblichen Auffassung gerade entgegengesetzte Stellung
ein. Denn eben die fundamentale Wesens Verschiedenheit zwi-
schen Geistigem und Materiellem und die darin begründete Un-
begreiflichkejt eines Herüberwirkens des einen in den Ablauf
der Vorgänge des anderen, pflegt man sonst als Hauptargu-
ment im Sinne der Ausschließung jeder Wechselwirkung
zwischen beiden zu verwerten ; und dementsprechend erscheint
dann der Parallelismus als einzige, aus dieser Schwierigkeit
heraushelfende Auffassung des wechselseitigen Verhältnisses
der beiden Vorgangsreihen. Lotze dagegen findet in der Un-
begreiflichkeit eines Wirkungszusammenhanges kein Hin-
dernis, diesen dennoch vorauszusetzen; um so weniger, da
im letzten Grunde die letzten, einfachsten Wirkungszusammen-
hänge ihrem eigentlichen Zustandekommennach nirgends für
uns begreiflich sind; auch im Gebiete des Physischen nicht,
obschon hier eine gewisse, uns darüber leicht hinwegtäuschende
Anschaulichkeit der Wirkungsübertragungen vielfach allerdings
gegeben ist. So gut, wie nun innerhalb des Physischen dennoch
ein eigentlicher Kausalzusammenhang angenommen werde, —
und gerade auch von den Anhängern des psycho physischen
Parallelismus, -^ so gut dürfe man ihn auch zwischen Seeli-
schem und Körperüchem voraussetzen. Nichts weiter gehöre
dazu, als daß auch hier ein streng gesetzlicher Zusammen-
hang durch die Erfahrung bestätigt sei, derart, daß bei Wieder-
kehr eines bestimmten psychischen Vorganges auch allemal
der allgemeingesetzlich ihm zugeordnete physische Vorgang
tatsächlich wiederkehre. Dagegen erscheint ihm die Behaup-
tung eines stetigen Parallelgehens der beiden Vorgangsreihen,
in dem Sinne, daß der Kausalnexus, wie er innerhalb des
Physischen besteht, überall von sich aus korrespondierende
Veränderungen und Wirkungszusammenhänge hervorbringen
solle, wie der auf dem Boden des Psychischen bestehende, eben
durch die völlige Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Vor-
gänge gänzlich ausgeschlossen.
Übrigens ist es hierbei interessant, zu bemerken, wie diese
beiden einander gegenüberstehenden Auffassungen über das
Wechsel Verhältnis von Leib und Seele, eine jede in ihrer Art,
den Anspruch erheben, die Selbständigkeit des geistigen Lebens
gegenüber dem Materialismus sicherzustellen. Die Vertreter
der parallelistischen Theorie meinen dadurch, daß sie alles
Psychische immer wieder ausschließlich aus Psychischem kau-
sal hervorgehen lassen, daß sie es also niemals, auch in keinem
seiner Momente, als ableitbar aus physischen Bedingungen wol-
len gelten lassen, diese Selbständigkeit am reinsten herstellen
zu können. Sie übersehen dabei nur, daß sie doch zugleich, eben
zufolge der parallelistischen Grundanschauung, auch dem psy-
chischen Leben zuletzt jede eigene Regsamkeit abzusprechen
genötigt sind, welche nicht innerhalb des Physischen, mit den
Mitteln der dort herrschenden physischen Kausalität, in allen
für ihren kausalen Zusammenhang irgend in Betracht kom-
menden Momenten ihre vollständige, äquivalente Abbildung
finden könnte. — Die Lotzesche Annahme dagegen, wonach
eine eigentliche Wechselwirkung zwischen Physischem und
Psychischem stattfinden soll, gesteht zwar eine gewisse allge-
meingesetzliche Abhängigkeit des letzteren von materiellen
Bedingungen zu, beschränkt aber zugleich das Bereich dieser
Abhängigkeit auf die niederen, in jedem Falle doch einmal
mechanisch bedingten Zusammenhänge des Seelenlebens.
Den höheren, eigentlich geistigen Betätigungen aber wird dafür
eine um so echtere Selbständigkeit vorbehalten, für die auf
physischem Boden keinerlei , .Korrelat" erst gesucht zu werden
braucht, noch auch — wenigstens in dem, worauf es dabei an-
kommt — überhaupt denkbar wäre. Mit dieser Auffassung sind
sogar freie Willensbetätigungen vereinbar, wie sie Lotze
in der Tat im Zusammenhange seiner Gesamt- Weltanschauung
unbedingt fordert, während sie bei der parallellstischen An-
sicht — zufolge der strengen Gesetzmäßigkeit des physischen
Geschehens und der daraus hier gefolgerten ,, Geschlossenheit
der Naturkausalität" — von vornherein völlig ausgeschlossen
sein würden. —
Eben dieser Punkt aber fordert uns noch zu einer weiteren
Bemerkung auf. Der Unterschied des Physischen und Psychi-
schen war in den bisher vorgeführten Gedankengängen Lotzes
zwar bereits scharf genug betont und in der Bevorzugung der
Lehre von der Wechselwirkung gegenüber dem Parallel istnus
geltend gemacht. Allein dieser Gegensatz fand doch eine ge-
wisse Beschwichtigung durch die schon erwähnte Perspektive
auf die allgemeine Beseeltheit aller Wirklichkeitselemente. Als
reale Substanzen sollten sie alle ihrem Wesen nach als ,, gei-
stig" vorgestellt werden, im letzten Grunde also — trotz aller
zwischen ihnen bereits festgestellten Unvergleichbarkeit —
eben doch wesenseins sein. Diese Behauptung gründete sich
freilich nicht etwa auf das allgemeine Einh ei tsver langen unse-
res erkennenden Geistes, nicht auf die methodische Maxime,
principia praeter necessitatem non esse multiplicanda. Vielmehr
war es ein gewisses poetisches Bedürfnis gewesen, was unsetn
Philosophen zu jener seltsamen Annahme bestimmt hatte. Es
schien ihm unerträglich, daß die eine Hälfte des Gesamtwirk-
lichen von allem Genuß der Weltwirklichkeit und ihrer Schön-
heit dauernd ausgeschlossen sein, daß sie lediglich als toter
Stoff dasein, überall als bloß passives Substrat zu bloßer Bewe-
gung auf Grund eines erlittenen Stoßes oder Druckes befähigt
sein sollte. So wollte er das Glück der Beseelung über alles zur
Wirklichkeit Gehörende ausgegossen wissen. In irgendwelchen
inneren Zuständen, als Wohl oder Wehe sollte allen Weltele-
menten wenn auch noch so dumpf das Geschehen zum Bewußt-
sein gelangen, das die Anschauungsweise der mechanischen
Physik ihnen nur als ein äußerliches Geschoben- und Gezogen-
werden anheftet, an dem ihr eigenes Wesen keinerlei Anteil
hätte. Zwar stellt Lotze diese ganze Anschauung nur als eine
mögliche Hypothese hin, allein man bemerkt leicht, daB ei
ein Lieblingsgedanke ist, der darin seinen Ausdruck gefun-
den. In der Tat gibt er dieser Hypothese ursprünglich überall
den Vorzug vor der rein phänomcnalis tischen Auffassungin
betreff der materiellen Dinge, als seien diese nur Erscheinungen
für die beseelten Wesen, ohne jede eigene, selbständige Wesen-
heit, nur dazu da, den bewußten Wesen das Bild einer zusam-
menhängenden Weltwirklichkeit vorzuführen. — Später frei-
lich tritt bei ihm die Lehre von der Altbeseelung merklich in
den Hintergrund. Je mehr sich nämlich seine Grundanschau-
ung von der allumfassenden einheitlichen Substanz als einer
wesenhaften Macht entwickelt, in der alle Wirkungs- und
Wirklichkeitszusammenhänge ihre Wurzel haben, je mehr er
also alles Wirkliche in diesem allumfassenden, lebendigen Welt-
grunde geborgen weiß, um so weniger legt er Wert darauf,
auch den Elementen der sogenannten materiellen Welt noch
ein besonderes ,,Für-sich-sein" und selbständiges Dasein zu vin-
dizieren. Dafür, daß auch diesen Elementen eine höhere, gei-
stige Daseinsart neben ihrer materiellen Erscheinungsform zu-
komme, scheint ihm nunmehr in der Geistigkeit jenes Welt-
grundes oder des ,, Unendlichen" genügende Bürgschaft gebo-
ten ; einer eigenen, individuellen Geistigkeit bedarf es dazu nicht
mehr. Als ,,unaufheblich" gilt ihm jetzt nur noch „das Dasein
geistiger Wesen", sowie ,,die Einheit des wahrhaft Seienden";
die materiellen Elemente, die Atome sind ihm nichts weiter
mehr, als , ,elementare, ewig gleichförmig erhaltene Aktionen
des einen Weltgrundes, dazu bestimmt, als unwandelbarer Be-
ziehungspunkt in dem Spiele gesetzmäßiger Ereignisse zu die-
nen".' Und ausdrücklich werden ihnen gegenüber die beseelten
Wesen jetzt als bevorzugt gefaßt ,, durch die wunderbare, keiner
Einsicht weiter erklärbare Fähigkeit, sich selbst als tätige Mit-
telpunkte eines von ihnen ausgehenden Lebens zu fühlen und
zu wissen" ; sie sind auch nicht ewig gleichförmig unterhaltene,
sondern „an bestimmten Punkten des Weltlaufs beginnende
Aktionen, welche für einen Ausschnitt desselben ein früher
nicht vorhanden gewesenes Zentrum der Verinnerlichung er-
zeugen".
' cf. Metaphysik v. 79: S. iS6ff., S. 3S1 1
Schriften III, i. S. 430.
I Glaube, Kl.
Hier also tritt ein ausgesprochener Gegensatz hervor zwischen
den geistigen Wesen auf der einen, den materiellen Elementen
auf der andern Seite. Die dualistische Scheidung zwischen Phy-
sischem und Psychischem tritt scharfer als je hervor, obschcn
in dem gemeinsemen Enthaltensein in dem allumfassenden ein-
heitlichen Weltgrunde ein neues monistisches Band uns darge-
boten wird. Der Unterschied zwischen Beseeltem und Materi-
ellem liegt nicht eigentlich in metaphysischen Bestimmungen.
Denn beide sind wirklich nur als „Aktionen" des Unendlichen,
allein wahrhaft Seienden; und was die Beseelung anlangt, so
wird sie auch jetzt den materiellen Dingen keineswegs entschei-
dend abgesprochen, sordern sie erscheint nur als nunmehr
überfiüfsig geworden, ihres früher damit verbundenen Sinnes
verlustig gegangen. Das Entscheidende Hegt vielmehr darin,
daß jetzt das geistige Leben der beseelten Wesen In seiner hö-
heren Eigenart erfaßt wird. Dem die „UnaufhebUchkeit"
ihres Daseins liegt zuletzt in dem sittlichen Werte einer Welt
frei wollender und wirkungsfähiger Wesen begründet; nicht
also in ihrer Beseeltheit oder Geistigkeit als solcher, sondern
erst in der darauf sich gründenden freien Willens- und Wir-
kungsfähigkeit. ^
Eben hieimit gelangen wir aber zu dem Punkt, wo der Dua-
lismus in der Lotzeschen Gesamtanschauung das bisher be-
trachtete Gebiet des Verhältnisses vom Psychischen zum Phy-
sischen verläßt, dafür aber in um so veiwickelterer Form in dem
Verhältnis der selbständigen geistigen Wesen zum einheitlichen
Weltgrunde wiederkehrt. Denn nachdem den materiellen Ele-
menten das selbständige Fürsichsein abgesprochen, sie zu bloßen
elementaren Aktionen des Weltgrundes gemacht waren, können
sie als solche dem monistischen Grundgedanken, der in der
Herausarbeitung dieses einheitlichen Weltgrundes immer be-
stimmter hervortritt, nicht mehr im Wege sein, Eofern sie ja
nur ncch in der Regsamkeit dieses letzteren selbst zur Geltung
gelangen sollen. Wie aber soll es nun gedacht werden, daß den
geistigen Wesen, die doch gleichfalls nur solche ,, Aktionen"
des Weltgrundes sein sollen, nichtsdestoweniger eine Ei gen reg-
samkeit zugesprochen wird, die von jener des Weltgrundes als
etwas Besonderes, Eigenes sich abhebtP Jede Selbständigkeit,
die den Einzelwesen zugesprochen wird, muß sie, wie es scheint,
in einen neuen dualistischen Gegensatz bringen, — jetzt zwar
nicht mehr zu den materiellen Elementen eines selbständig wirk-
lichen Physischen, wohl aber zu jenem Weltgrunde selbst, dem
sie sich nicht in gleicher Weise, eben durch Preisgabe ihrer
Selbständigkeit, wollen einordnen lassen, wie die materiellen
Dinge. Damit sind wir bei dem zweiten Hauptproblem angelangt,
das, wie wir sahen, durch die Erörterung des Lotzeschen „Monis-
mus" uns gestellt wird.
IL DIE SELBSTÄNDIGKEIT DER EINZELWESEN
Stellung der Einzelwesen zum ,, Unendlichen". — Die metaphysische Be-
gründung ihrer „Immanenz" in dem allumfassenden, einheitlichen Welt-
grunde. — Freiheit der Einzelwesen. — Religionsphilosophische Gesamt-
anschauung.
Zu wirklichem Sein, zu eigentlicher ,, Realität" sollte nach
Lotze bloß dasjenige befähigt sein, dem ein ,, Fürsichsein"
mit Fug und Recht zugesprochen werden konnte. Und nur in
dem einen Beispiel desgeistigenLebens konnte klar gemacht
werden, was ein solches vollgültiges Fürsichsein eigentlich be-
deutet und in sich schließt. Nun aber betont Lotze überall, und
die ganzen metaphysischen Grundlagen seines Systems nötigen
ihn dazu, daß auch den geistigen Wesen kein in ihnen
selbst begründetes Substanzen recht zukommt, das ihnen etwa
die Fähigkeit selbständigen Daseins außerhalb des Einen, allein
wahrhaft Seienden erteilte. Auch für sie gilt, was ganz allge-
mein von den Einzeldingen gesagt wurde: ,, jeder Grund rela-
tiver Selbständigkeit, den die Dinge gegeneinander zeigen, ist
selbst die Folge ihrer absoluten Unselbständigkeit gegenüber
dem Unendlichen, welches sie niemals aus seiner Einheit ent-
läßt".' Auch die „einzelnen Seelen" sind ja für Lotze so gut,
wie die realen Elemente des Stoffes, nur , .Aktionen des Einen
wahrhaft Seienden".^ Wie verträgt es sich mit diesem so
ausgesprochenen ,, Monismus", wenn den Einzelwesen nun
dennoch die Fähigkeit zugesprochen wird, ,,sich selbst als tätige
Mittelpunkte eines von ihnen ausgehenden Lebens zu fühlen
und zu wissen"? Wie soll etwas, was nur ,, Aktion des Unend-
lichen" ist, nun dennoch imstande sein, „sich als ein Selbst zu
fühlen und gelten zu machen"?
Wir würden hier den Sinn der Lotzeschen Ausführungen voll-
kommen verfehlen, wenn wir jene in Rede stehende Selbstän-
digkeit der geistigen Einzelwesen etwa nur als einen für diese
90 MAX WENTSCHER
selbst bestehenden Schein fassen wollten. Mit nachdrücklich-
stem Ernst vielmehr wird — im Zusammenhange der ethischen
und religionsphilosophischen Untersuchungen — überall an
der Annahme einer Willensfreiheit festgehalten, als unent-
behrlicher Voraussetzung für die Erfüllung sittlicher Gebote,
deren „verpflichtende Majestät" als „die absoluteste, keiner
Herleitung aus irgend einer andern Quelle bedürftige Gewiß-
heit" gefaßt wird. Ja, Lotze erklärt, diese Überzeugung sei „der
durchaus fundamentale Punkt, auf welchem aller religiöse
Charakter unserer Weltansicht ruht". Und wer sie nicht un-
mittelbar empfinde und zugebe, für den seien alle religions-
philosophischen Fragen überhaupt kein Bedürfnis.^ Man mag
geneigt sein, diese Sätze zu bestreiten: Das interessiert uns im
Augenblick nicht weiter. So viel aber ist gewiß: wer so spricht,
kann nicht gewillt sein, die so geforderte Freiheit zuletzt den-
noch in bloße Illusion aufzulösen, als wären die Einzelgeister
in Wahrheit bloße Marionetten, ohnmächtige Zuschauer des
ganzen buntbewegten Spieles vermeintlich freier Entschlies-
sungen, Vorstellungen eines sie beständig verfolgenden Verant-
wortungsbewußtseins und der daran sich anschließenden Ge-
wissensregungen. Daß Lotze diese Freiheit in der Tat als real
gefaßt wissen will, geht mit voller Bestimmtheit aus all den
Untersuchungen hervor, die er der Vereinbarkeit solcher Frei-
heit der Einzelwesen mit der Erhaltung der gesetzmäßigen Ord-
nung des Weltganzen, und weiterhin mit den der Gottheit zu-
geschriebenen Prädikaten der Allmacht und Allwissenheit wid-
met.'
Angesichts dieser ethisch -religiösen Orientierung der An-
nahme freier, selbständiger Regsamkeit der persönlichen Geister
ist es somit offenbar nicht statthaft, diese Freiheit zu bloßer
Erscheinung zu verflüchtigen, die nur für die endlichen Gei-
ster bestünde, während in Wahrheit alle Aktivität im Weltgan-
zen ausschließlich dem ,, Unendlichen" vorbehalten bliebe. Es
bleibt nur folgende Alternative: entweder muß man behaupten,
Lotze habe hier einander Widersprechendes gefordert, wie
es ja auch so manchem andern großen Philosophen gelegentlich
begegnet sei, und man dürfe daher seine Aufstellungen auf sich
beruhen lassen; — oder aber, man ist genötigt, jenes , .Enthal-
tensein" der endlichen Wesen im Unendlichen als dessen ,,Ak-
' Vgl. Grundzüge der Religionsphilosophie, II. Aufl. (Diktat von 1S75), g 59.
= Mikr. III (3. Aufl.), S. 6ooff.
LOTZES MONISM US
tion" in einem Sinne zu deuten, der, ohne aus dem Gefüge der
metaphysischen Grundlagen dieser ganzen Weltanschauung
herauszutreten, dennoch die Annahme der freien Einzelwesen
mit der des ,, allein wahrhaft Seienden" in befriedigender Weise
zu vereinigen gestattet. Der erstere Weg würde offenbar der
bequemere sein und am einfachsten aus der nun einmal nicht
abzuleugnenden Schwierigkeit, die hier in Rede steht, heraus-
helfen. Allein es ist doch zu beachten: es handelt sich hier nicht
etwa um bloße Nebenpunkte der Lotzeschen Weltansicht, in
denen man sonst einem Philosophen wohl das Recht zugesteht,
auch einmal fehl zu gehen und mit sich selbst in Widerspruch
zu geraten. Vielmehr sind es zwei seiner fundamentalsten
Behauptungen, deren Vereinbarkeit oder NichtVereinbarkeit
hier in Frage kommt. Welchen Wert Lotze selbst auf die Frei-
heit der Einzelwesen legt, haben wir bereits gehört; und ander-
seits ist die Einheit des alle Wirkungszusammenhänge in der
Welt tragenden und aus sich hervorbringenden Weltgrundes
so sehr das eigentliche Ziel all seiner metaphysischen Unter-
suchungen, daß es von vornherein völlig ausgeschlossen ist,
diesen Gedanken aus seiner maßgebenden Stellung in dem Gan-
zen dieser Weltanschauung entfernen zu wollen. Es kommt
hinzu, daß wir bei Lotze salbst sichere Andeutungen finden, daß
er jene beiden Gedankengänge für durchaus vereinbar mitein-
ander gehalten hat. Denn wenn er z. B. bei seiner grundlegen-
den Untersuchung über die Möglichkeit des ,,transeunten Wir-
kens", auf dem aller Weltzusammenhang beruht, die Leibnizsche
Lehre von der ,,prästabiliertea Harmonie" darum zurückweist,
weilsie jegliche Freiheit der Einzelgeister ausschlie3en würde,'
und dann seinen eigenen Begriff der unendlichen Substanz oder
der Einheit des Weltgrundes ableitet, so muß er doch der Über-
zeugung gewesen sein, darin etwas gewonnen zu haben, was
gerade auch in dem fraglichen Punkte seiner eigenen Annahme
vor der Leibnizschen den Vorzug gewährt. Aber zugestanden
werden muß allerdings, daß eine ausdrückliche Behandlung
oder gar eine befriedigende und einwandfreie Lösung der hier
vorliegenden Schwierigkeit von Lotze nirgends gegeben ist. Wir
erfahren nur, daß die Dinge , .nicht durch ein Heraustreten
aus dem einen Unendlichen" erst Selbständigkeit des Daseins
etwa zu erlangen vermöchten, „als wäre diese Transzendenz,
deren eigentlichen Sinn dann anzugeben unmöglich wäre, die
92
MAX WENTSCHER
vorangehende Bedingung, an welcher das ersehnte Für-sich-
sein als Folge hinge; sondern: indem Etwas für sich ist, sich
auf sich selbst bezieht, sich von Anderem unterscheidet, löst es
sich eben hierdurch, durch dieses sein Tun von dem Unend-
lichen ab, erwirbt nicht hierdurch, sondern besitzt hierin in
der einzigen denkbaren Weise jene Selbständigkeit eines wahr-
haften Seins, die wir mit einem sehr unpassenden räumlichen
Bilde aus dem unmöglichen Akte einer Transzendenz entsprin-
gen lassen . . , Was imstande ist, sich als ein Selbst zu fühlen
und geltend zu machen, das verdient, als abgelöst von dem
allgemeinen allesumfassenden Grunde und als seiend außer
ihm bezeichnet zu werden".' Allein positiv erfahren wir doch
nicht, woher nun diese Fähigkeit, sich als solches Selbst zu
fühlen und zu bewähren, eigentlich stammt, und wie sie als
solche zu denken ist, wenn doch' anderseits alle selbständige
Regsamkeit im Weltganzen ausschließlich dem Unendlichen
und seinen ,, Aktionen" vorbehalten bleiben soll. Wie soll in dem
Ganzen dieser Anschauung das Einzelwesen dazu gelangen
können, ,, eigene Zustände zu haben, die unmittelbar nicht
Zustände der , allgemeinen Substanz' sind, und Anfänge zu
Vorgängen zu geben, die aus jener Substanz nicht Pießen"?-
Um hier zu einer klaren Entscheidung zu gelangen, sind wir
genötigt, auf die metaphysischen Grundlagen näher einzuge-
hen, auf denen der Lotzesche Begriff des Unendlichen als des
einheitlichen, allumfassenden Weltgrundes sich aufbaut. Den
Ausgangspunkt bildet hier das Problem des allgemeinge-
setzlichen Wirkungszusammenhanges der Dinge, wie
ihn die Naturwissenschaft überall voraussetzt und die Erfah-
rung in weitester Ausdehnung tatsächlich vorfindet. Lotze un-
terscheidet dabei zunächst zwei wesentlich verschiedene Arten
von Wirkungszusammenhängen, die er als ,, immanentes"
und als ,,transeuntes" Wirken bezeichnet. Ersteres soll das-
jenige sein, bei dem die ,, Ursache" und die zugehörige , (Wir-
kung" innerhalb eines und desselben Wesens sich abspie-
len. Es lasse eine weitere ,, Erklärung" zwar nicht mehr zu,
müsse vielmehr als letzte, einfachste Wirklichkeitssignatur ein-
fach anerkannt werden ; denn wir würden doch nicht ins Un-
' Met. V. 79T S. 190. ' Diese Worte sind zitiert aus den Oiklaten zur Re-
ligion sphilosophie vcm Jahre 1875, § 56. Sie geben wohl die unzweideutigste
Formulierung der von Lotze eigentlich gemeinten Selbständigkeit der Ein-
zelwesen gegenüber dem Unendlichen. —
endliche den Versuch der Erklärung, als Zurückführung auf
noch Einfacheres, fortsetzen wollen; vielmehr ließe sich deut-
lich voraussehen, daß jeder solche Erklärungsversuch Vor-
stellungen zu Hilfe nehmen müßte, in denen eben dieses Pro-
blem, das man hier lösen wollte, schon aufs neue wieder ent-
halten sei. Anderseits aber bedürfe dieses „immanente" Wir-
ken auch keiner weiteren Rechtfertigung; die dabei voraus-
gesetzte Einheit des Wesens, innerhalb dessen die Vorgänge
sich abspielen, die wir hier als „Ursache" und , .Wirkung" be-
zeichnen, gebe uns eine immerhin einwandfreie Vorstellung
einer Art von Zusammengehörigkeit beider und eines sie zu-
sammenhaltenden Bandes.
Anders aber liegt die Sache im Falte des sogenannten
i.transeunten" Wirkens, bei dem nach der gewöhnlichen
Vorstellung ein Vorgang, der in einem ersten Dinge (oder We-
sen) sich abspielt, die „Ursache" sein soll für einen Vorgang
in einem anderen, davon getreniten Dinge {oder Wesen). Hier
liege ein gewisser Widerspruch, eine logische U.im iglichkeit
vor, sofern zuerst jene zwei Dinge als völlig getrennt, einander
nichts angehend betrachtet werden, und dann dennoch ihnen
zugemutet wird, voneinander in der Weise Notiz zu nehmen,
daß das eine sich nach den Zuständen (oder inneren Vorgän-
gen) des anderen richtet, sie mit eigenen Zustandsveränderun-
geti beantwortet. Eben das Widerspruchsvolle, das so in
dem Begriffe des ,,tranäeunten" Wirkens liege, miche es un-
möglich, auch ihn etwa, wie den des ,, immanenten" Wirkens,
schlechthin als letzte, einfachste Signatur eines Wirklichksits-
zusammenhanges anzuerkennen. Vielmehr sei hier eine Erklä-
. rung oder doch eine Rechtfertigung dieser in sich widerspruchs-
vollen Annahme unerläßlich. Nun aber zeigt es sich, daß alle
hier überhaupt denkbaren Erklärungsversuche des als ,,trans-
euntes Wirken" gedeuteten Tatbestandes vollständig versagen.
Anderseits jedoch kann dieser Tatbestand selbst aus unserer
Natur- und Wirk 1 i chkeits auf fassung unm'iglich hinweggeleug-
net werden; er bildet vielmehr die ganz unentbehrliche Grund-
lage unseres eigenen Handelns und Wirkens in dieser Welt-
wirklichkeit, an der doch gerade für Lotze alles gelegen ist. So
bleibt nichts übrig, als es mit einer der gewöhnlichen Auf-
fassung gerade entgegengesetzten Ausdeutung dieses Tatbe-
standes zu versuchen, nämlich die Annahme der substantiellen
Getrenntheit der Dinge, ihre Auffassung als Zusammenhang-
I
loaer Vielheit aufzugeben und sie alle als enthalten in einei
umfassenden Wesensei nheit zudenken. So sind also nicht zu-
erst die Dinge, ein jedes für sich, wirklich und treten erst dann
in „Beziehungen" miteinander, wie sie in ihrer „Wechselwir-
kung" oder im „transeunten Wirken" ihren Ausdruck finden.
Vielmehr zeigt eben dieser unserer Erfahrung als Erstes vorlie-
gende Tatbestand eines „transeunten" Wirkungszusammenhan-
ges zwischen scheinbar getrennten, für sich existierenden Einzel-
dingen, daß zwischen ihnen ein sie alle umfassender Zusam-
menhang bereits besteht; dieser Zusammenhang aber ist in
der wesenhaften Einheit des Weltgrundes oder des Unendlichen
zu suchen. Mit dieser Annahme allererst hört das Problem des
scheinbar „transeunten" Wirkens, das zwischen getrennten
Substanzen stattfinden sollte, auf, in sich widerspruchsvoll und
darum unlösbar zusein; dieses ,,transeunte" Wirken ver-
wandelt sich für Lotze jetzt vielmehr in ein „immanentes"
Wirken innerhalb der Wesenseinheit dereinen, allein wahr- -
haft seienden, unendlichen Substanz. ■
Zu diesen Ausführurgen tritt nun jedoch noch ein ergänzen- !■
der Gedankengang hinzu, der für die kritische Würdigung des "
Ganzen von wesentlicher Bedeutung ist. Zur Erläuterung
nämlich einer solchen wesenhaften Einheit, wie sie als
Grundlage für die Rechtfertigung der Annahme eines ,, im-
manenten" Wirkens Verwendung findet, werden wir auf die
Einheit unseres eigenen Bewußtseinslebens hingewie-
sen. In ihm erleben wir es unmittelbar, was es heißt und
wie es kommen kann, daß eine solche Wesenseinheit die etwa
eingetretenen Veränderungen, die sie in sich vorfindet, von
sich aus mit einer Reaktion, einer neuen Veränderung beant-
wortet, die nun zu der ersten — als „Wirkung" zur ,, Ursache"
— hinzutritt. Ja, es ist dies die einzige Art, wie wir uns
eine zu der hier geforderten Leistung eines immanenten Wir-
kens wirkhch befähigte Wesenseinheit überhaupt zu denken
vermögen. Und so gelangt Lotze denn zuletzt dazu, auch jene
oberste, allumfassende Wesenseinheit des Unendlichen nach
Analogie der Einheit unseres Bewußtaeinslebens, unserer „ Per -
sönlichkeit" zu fassen, — wobeier nur aus diesemPersönlich-
keitsbegriff alle diejenigen Momente entfernt oder entsprechend
modifiziert wissen will, die uns zufolge unserer Endlichkeit als
Schranken anhaften. Der Ausgangspunkt, die Orientie-
rungsbasis gleichsam dieser Gedankengänge ist somit die
Selbsterfahrung unseres eigenen Bewußtseinslebens, nicht et-
wa eine a. priori konstruierte Idee der „unendlichen Substanz",
wie es z. B. bei Spinoza in der Darstellung seiner Ethik er-
scheint. Wir ziehen daraus die Folgerung, daß für Lotze das
Gewisseste, keiner weiteren Herleitung oder Rechtfertigung Be-
dürfende, das er selbst als gesicherte Grundlage aller weiteren
Untersuchungen verwendet, eben diese in unserer Selbsterfah-
rung erlebte Einheit unseres Bewußtsei ns lebe ns mit dessen im-
manenten Wirkungszusammenhängen ist. Und von hier aus
nun glauben wir uns berechtigt, auf eine offenkundige Lücke
hinzuweisen, die sich in den metaphysischen Argumentationen,
die zuletzt in der Ableitung des Begriffes des Unendlichen
gipfeln, konstatieren läßt. Nicht zur Erklärung des imma-
nenten, sondern nur des scheinbar gegebenen „transeun-
ten" Wirkungszusammenhanges zwischen den Dingen war
dieser Begriff herangezogen, — eben um durch Herstellung der
allumfassenden Wesensgemeinschaft und substantiellen Ein-
heit das uns als „transeunt" erscheinende Wirken in ein in
Wahrheit ,, immanentes" zu verwandeln, das innerhalb die-
ser umfassenden Wesenseinheit sich abspielen sollte. Genauer
aber hätte der hier zur Verwendung gelangende logische Leit-
gedanke eben im Zusammenhange der Lotzeschen Argumen-
tationen — vielmehr so gefaßt werden müssen, daß nicht so-
gleich alle scheinbar gegebene selbständige Regsamkeit der
Einzeldinge zugunsten der allein „wahren" Wesenhaftigkeit
und Eigenregsamkeit des ,, Unendlichen" aufgehoben wurde;
nur das konnte behauptet werden: soweit die Dinge für unsere
Erfahrung in einem transeunten Wirkungszusammen hange
zu stehen scheinen, so weit sind sie in Wahrheit als einbegrif-
fen in eine umfassende Wesenseinheit zu denken. Damit aber
wäre sofort die weitere Konsequenz gegeben ; soweit die Dinge
{oder Wesen) zu einem ihnen selbst „immanenten" Wir-
kungszusammenhange befähigt sind, so weit können sie recht
wohl als außerhalb jener Wesenseinheit des ,, Unendlichen"
stehend gefaßt werden. Der Name dieses letzteren darf uns
hier nicht irre machen, so wenig wie etwa der andere des ,, all-
umfassenden Weltgrundes", oder welchen man sonst dafür
wählen mag. Denn sie alle sind ja nichts weiter, oder sollen
doch zunächst nicht anders gemeint sein, wie als Bezeichnun-
gen jener Wesenseinheit, welche zur Erklärung des scheinbar
transeunten Wirkens herangezogen war; ihre Bedeutung
MAX WENTSCHER
96
reicht daher auch — auf Grund des bisher Erörterten wenig-
stens — in keinem Sinne über die Grenzen des hier zu decken-
den Erklärungsbedürfnisses hinaus; und wir können sie jeden
Augenblick zurücknehmen, durch andere ersetzen, sobald man
aus ihnen Konsequenzen ziehen will, die damit gar nicht beab-
sichtigt waren. — Daß wir bei Lotze selbst in seinen metaphy-
sischen Untersuchungen die ausdrückliche Herausarbeitung
dieser Konsequenz vermissen, bleibt freilich zu bedauern. Sie
würde gerade für das, was ohne sie bei ihm als unmotivierte,
ja widerspruchsvolle Aufstellung erscheint, — eben für die Ei-
genregsamkeit der persönlichen Einzelwesen, eine höchst er-
vriinschte theoretische Stütze abgegeben haben. Daß sie bei
ihm ihrem wesentlichen Sinne nach in dem Ganzen seiner Welt-
anschauung dennoch im Hintergrunde steht, zeigen deutlich
solche Aussprüche, wie der oben bereits zitierte, wonach die
Einzelwesen zu „eigenen Zuständen" befähigt gedacht werden,
,,die unmittelbar nicht Zustände der allgemeinen Substanz
sind," und dementsprechend fähig, „Anfänge zu Vorgängen zu
geben, die aus jener Substanz nicht fließen". — Hier wird
unmittelbar Anwendung gemacht von dem Gedanken selbstän-
diger immanenter Wirkungsfähigkeit der Einzelwesen trotz
ihres partiellen Enthai tenseins in jener einheitlichen Sub-
stanz. —
Eines aber bleibt trotz solcher Wiederherstellung einer Sphäre
selbständiger Eigenregsamkeit der Einzelwesen doch bestehen:
sie können sich nach außen hin nur geltend machen, sofern
sie zugleich jenem umfassenden einheitlichen Wesenzusam-
menhange der „Substanz" angehören. Prinzipiell freilich wür-
den auch Wesen denkbar sein, denen bloß immanente Wir-
kungsfähigkeit zukäme; allein das Fehlen der Sphäre eines
„transeunten" Wirkens würde alsdann ihnen jede Möglich-
keit abschneiden, von ihrer Existenz nach außen hin irgend
etwas merke n zu lassen. Es wäre für die ganze übrige Weltwirk-
lichkeit geradeso gut, als wenn sie nicht vorhanden wären. Uns
interessieren, für uns überhaupt in Frage kommen könn-
ten somit immer nur solche Einzelwesen, die mit einem Teil
ihres eigenen Wesens wenigstens im allgemeinen Weltgrunde
wurzeln. Aber weiter noch: da diese Einzelwesen nicht von
Ewigkeit her existieren — wenigstens für unsere Erfahrung
nicht — , und da sie doch auch nicht etwa sich selbst geschaffen
haben können so müssen sie auch ihre erste Entstehung
I
I
notwendig jenem einheitlichen Weltgrunde verdanken. Es
bleibt somit auch hier allerdings zuletzt bei einem „Monis-
mus": alles Wirkliche nimmt seinen Ursprung allein aus dem
Einen und bleibt auch dauernd wenigstens mit einem Teil
seines Gesamtwesens in ihm enthalten. Aber anderseits ist nun
doch nicht mehr alle Aktivität in der Welt ausschließlich un-
mittelbare Eigenregsamkeit des Einen, „Unendlichen". Viel-
mehr hat dieses aus sich selbst, aus seiner Wesenseinheit jene
Einzelwesen partiell entlassen, diese mit einer die eigene in
kleinem Maßstabe wiederholenden Fähigkeit zur Eigenregsam-
keit, zu „immanentem Wirken" ausgestattet, doch so, daß es
sie mit einem andern Teil ihres Wesens auch jetzt noch be-
ständig in sich hegt und ihnen dadurch ein „transeuntes"
Wirken auf andere Wesen und „Wirklichkeitselemente" hin-
über ermöglicht. Wir können uns das hier in Frage kommende
Verhältnis des Einzelwesens zum „Unendlichen" durch ein
einfaches geometrisches Bild veranschaulichen, — wobei wir uns
selbstverständlich bewußt bleiben, daß derartige „Veranschau-
lichungen" noch keine „Erklärungen" sind, daß sie nur das
Gemeinte, Geforderte klarer herausstellen können, ohne doch
etwa zu zeigen, wie dem so Geforderten in der Wirklichkeit
mit den dort zur Verfügung stehenden Erklärungsmomenten
Genüge geschehen kann. Unter diesem Vorbehalt wählen wir
nun folgende Darstellung jenes Verhältnisses: ein verhält-
nismäßig großer Kreis wird von einem kleinen geschnitten,
wobei der erstere dem ,, Unendlichen", der letztere dem
Einzelwesen entsprechend gedacht wird. Es entstehen dabei
drei verschiedene Gebiete oder Sphären: die erste derselben
umfaßt alle Punkte, welche nur der Fläche des großen Kreises
allein angehören, ohne zugleich von dem kleinen umfaßt zu sein;
die zweite ist das beiden Kreisflächen gemeinsame Gebiet,
in dem sie einander überdecken; die dritte die ausschließlich
dem kleinen Kreise noch verbleibende Fläche. Diese letztere
nun kann uns die Sphäre der dem Einzelwesen hier zugeschrie-
benen Eigenregsamkeit oder der ausschließlich ,, imma-
nenten Wirkungsfähigkeit" desselben veranschaulichen. Nun
aber kann — zufolge der Wesenseinheit des in dem kleinen
Kreise repräsentierten Einzelwesens — eine in einem beliebigen
Punkte dieser Sphäre entstandene Zustandsveränderung natur-
gemäß auch eine solche in einem Punkte zur Folge haben, der
der zweiten der oben unterschiedenen Sphären angehört, also
98 MAX WENTSCHER
zugleich eine Zustandsveränderung innerhalb des Unend-
lichen bedeuten würde. Von da aus aber wiederum kann —
zufolge der Wesenseinheit dieses Unendlichen — dieselbe Zu-
standsveränderung weiterhin mit einer Folge verknüpft wer-
den, die nunmehr in irgendeinem Punkte der ersten Sphäre
darzustellen sein würde. Und ebenso würde umgekehrt das
Einzelwesen von außen, aus der Sphäre des Unendlichen, be-
ständig Anregungen und Einwirkungen erfahren können, die
zunächst Zustandsveränderungen in der zweiten, beiden ge-
meinsamen Sphäre hervorbringen; von dort würde sie erfor-
derlichenfalls mit Hilfe der Wesenseinheit des Einzelwesens in
die ausschließlich diesem letzteren vorbehaltene Sphäre hin-
übergeleitet werden können, um dann etwa durch die hier ge-
gebene immanente Wirkungsfähigkeit des Einzelwesens eine
diesem letzteren spezifisch eigene Beantwortung zu empfan-
gen. —
Was hier etwa noch einer weiteren Erklärung oder doch
Rechtfertigung bedarf, liegt weniger in dem Verhältnis des
Unendlichen zum Einzelwesen, nachdem dieses letztere ein-
mal in die Wirklichkeit eingetreten ist und nunmehr „exi-
stiert. Vielmehr darin liegt die eigentliche Schwierigkeit, daß
solche partiell wenigstens selbständigen Einzelwesen einmal
aus dem Unendlichen hervorgegangen sein sollen. Wie kann
etwas als selbständig, als fähig zu wirklich eigener Selbstbe-
tätigung gefaßt werden, wenn es diese seine erste Entstehung,
samt allen darin doch schon enthalten zu denkenden Keimen
seiner ganzen Wesensentwickelung einem anderen Wesen
verdankt?
Es würde hier nicht ganz zureichen, wenn man diese
Schwierigkeit durch den Hinweis erledigen wollte, daß ja auch
andere Auffassungen, z. B. die populäre religiöse von der
„Schöpfung'' des Menschen durch die Gottheit, genau das-
selbe Problem einschlössen, und daß man nicht wohl ver-
pflichtet sein könne, über solche, die letzten Anfänge einer
jeden Weltauffassung betreffenden Schwierigkeiten noch wei-
tere Auskunft zu geben. In Wahrheit liegt das Problem für
Lotze zuletzt doch noch etwas anders, als für jene anderen
Schöpfungsauffassungen. Bei diesen letzteren steht nämlich
überall, wenn auch nicht immer deutlich ausgesprochen, der
Gedanke im Hintergrunde, als gäbe es schon vor der „Schöp-
fung'' Gottes eine allgemeine Ordnung, der alles Wirkliche oder
„Mögliche" notwendig gehorchen müsse und an die auch Gott
selbst bei dieser seiner Schöpfung gebunden sei. Dieser Gedanke
hat gelegentlich zu der Vorstellung eines ,, dunklen Welt-
grundes" geführt, der außerhalb der Gottheit, oder auch wohl
in ihr selbst, anzunehmen sei, und der ^ nach Art eines Fa-
tums — ■ gegenüber dem bewußt absichtlichen Willen Gottes
hemmend oder gar ungewollte Nebenerfolge ihm anheftend sich
geltend mache. Vor allem wurde dieser ,, dunkle Grund" zur
Erklärung der Unvollkommenheiten und der Übel in der
Welt herangezogen. ^Lotze aber will solch ein ursprüngliches,
selbst dem Unendlichen noch übergeordnetes selbständiges
Recht des Geschehens in keiner Fassung anerkennen. Ge-
rade hierin zeigt er sich als viel konsequenterer Monist, als die
meisten, die man sonst als Monisten zu bezeichnen pflegt. Sein
Weltgrund soll Alles in Allem sein, außer und neben ihm
nichts ursprünglich Eigenes, Selbständiges existieren können,
— weder eine Materie, noch Gesetze eines Wirklichkeitszusam-
menhanges überhaupt, noch „ewige Wahrheiten". Vielmehr
sollen diese Gesetze und Wahrheiten nur der Ausdruck der
eigenen allgemeinenVerfahrungsweisen des Unendlichen
im Spiele seiner Aktionen sein. — ^ Somit hat die gewöhnliche
Schöpfungsauffassung augenscheinlich den Vorteil, daß sie die
Besonderheiten der ursprünglichen Ausstattung der Einzel-
wesen keineswegs in einem ausdrücklich darauf gerichteten
und alles Einzelne bestimmenden Schöpfungswillen Gottes be-
gründet zu fassen braucht; sie kann auf jenes im Dunklen ge-
lassene Bereich des an sich Notwendigen, Unaufklär baren hin-
weisen und so Geschöpfe gewinnen, in denen etwas Neues, von
der Gottheit selbst nicht eigentlich Gewolltes, vielleicht gar
auch der Urgrund des Bösen zutage tritt. Aber diese Erklä-
rungsmöglichkeit ist für Lotze eben abgeschnitten. Sei-
nem obersten Weltgrund oder dem Unendlichen schreibt er,
wie wir schon gehört haben, absolute, unbegrenzte Persönlich-
keit zu. Alles, was in uns, als endlichen Wesen, nur frag-
mentarisch ausgebildet ist an Momenten einer eigenen,
wahren Persönlichkeit, soll in diesem Unendlichen in unbe-
schränkter Vollendung enthalten sein. Für diese ,, unendliche
Persönlichkeit" aber gibt es oflenbar dann keinerlei Zurück-
greifen mehr auf eine außer ihm schon an sich bestehende Welt-
wirklichkeit und notwendige Ordnung. Vielmehr muß alles Ge-
schehen ausschließlich in dem bewußten Willen dieser Gottheit
loo MAX WENTSCHER
selbst seinen ersten, ursprünglichen Grund haben. Somit wird
hier allerdings das Problem in besonderem MaBe akut, wie
nun die Einzelwesen aus einem solchen Weltgrunde hervorge-
gangen sein und dennoch ein selbständiges, eigenes Wesen emp-
fangen haben sollen, auf Grund dessen sie zu Betätigungen be-
fähigt wären, die aus jenem Willen der Schöpfertätigkeit nicht
fließen, auch nicht als mittelbar wenigstens notwendige
Konsequenzen der ihnen von jenem mitgegebenen Wesensbe-
stimmtheit.
Eine ausdrückliche Erörterung des hier vorliegenden Pro-
blems hat Lotze nicht gegeben. Und seine Untersuchungen
über die Vereinbarkeit der von ihm geforderten Freiheit der
Einzelwesen mit seinen etwas scholastisch gehaltenen Speku-
lationen über die „Unbedingtheit'^ und „Allwissenheit'' der
Gottheit sind wenig geeignet, uns eine irgend befriedigende
Aufklärung zu geben. Das dieser Gottheit dort zugesprochene
„überzeitliche Wissen'' der „freien Handlungen" der Einzel-
geister würde zuletzt mit Notwendigkeit dennoch auf ein „Vor-
herwissen", und somit auf eine Aufhebung dieser Freiheit
hinauslaufen. Denn die Art, wie sich das in Gottes zeitlosem
Wissen Enthaltene in der Weltwirklichkeit und ihrer Zeitreihe
tatsächlich verwirklicht, mit der bestimmten Reihenfolge, in
der dieses geschieht, würde doch entweder in jenem Wissen
schon unmittelbar enthaltenzudenken sein; oder der wirk-
liche zeitliche Verlauf müßte wenigstens nach einer bestimmten,
allgemeingesetzlichen Ordnung sich daraus ergeben, so daß die
Gottheit jederzeit ihr „Wissen" zu einem „Vorherwissen" zu
gestalten imstande wäre. In der Tat würde ja sonst ihr Wissen
Schranken aufzeigen, wie sie nicht einmal dem unsrigen an-
haften. In jedem Falle bleibt aber die göttliche „Allwissenheit",
die auch die „freien Handlungen" umfassen soll, eine für diese
letzteren verhängnisvolle Vorstellung, die sie — gegen den aus-
gesprochenen Willen Lotzes — zu bloßen Illusionen herab-
drücken würde. Es bleibt somit nur der andere Weg übrig,
nämlich anzuerkennen, daß eine in obigem Sinne gefaßte „All-
wissenheit" garnicht zu den eigentlich wertvollen Vollkom-
menheitsprädikaten der Gottheit zu rechnen ist, daß sie viel-
mehr zugunsten des höheren ethischen Interesses zurück-
stehen muß, das wir mit der Gottheit als Schöpferin einer
Welt freier, persönlicher Wesen zu verbinden gewohnt sind,
und das auch Lotze sonst überall entschlossen zu oberst stellt.
■■Damit aber finden wir uns zu dem gerade für uns in Frage
istehenden Problem wieder zurückgeführt, wie nämlich die Mög-
lichkeit des Hervorgehens eben dieser freien Wesen als solcher
aus dem schöpferischen Willen der Gottheit gedacht werden
soll, und zwar so, daß dabei der Gedanke dieser „Freiheit" und
Selbständigkeit doch im vollen Umfange aufrecht erhalten
bleibt. Eine eigentliche Lösung der Rätsel der Schöpfung, eine
genauere Angabe, wie die Gottheit es angefangen habe, der-
gleichen hervorzubringen, kann nun freihch auch von der
Lotzeschen Philosophie nicht erwartet werden; und auch unser
Interpretati ons versuch dieser letzteren kann dazu nicht ver-
pflichtet sein. Das allein muß verlangt werden, daß sich
mit hinreichender Bestimmtheit und ohne Widersprüche an-
geben läßt, wie die Annahme der Entstehung freier Wesen mit
dem streng monistischen Grundgedanken dieser Philosophie
ohne Widerspruch in Zusammenstimmung gebracht werden
kann. — Die Lösung dieser Schwierigkeit aber kann offenbar
nur in der Richtung gesucht werden, daß man eben diesen Be-
griff der Freiheit selbst zum Ausgangspunkte nimmt und das,
worauf es dabei in dem vorliegenden Zusammenhange eigent-
lich ankommt, klar herausstellt. In ihm liegt — nach Lotzes
eigenen, wiederholt ausgesprochenen Gedankengängen — die
Vorstellung eingeschlossen, daß nicht alle Betätigungen nur
einfach die notwendige Konsequenz vorangegangener Erleb-
nisse und Betätigungen seien, sondern daß die betreffenden
Wesen in frei schöpferischer Tätigkeit etwas Neues, völlig Ei-
genes zu erzeugen imstande sind. Über die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit des Gedankens solcher Freiheit selbst haben wir
hier nicht weiter zu reden. Nur darum handelt es sich jetzt,
diese Annahme von den Schwierigkeiten zu befreien, welche
ihr entgegenstehen, sobald man sie mit der Schöpfungstätigkeit
der Gottheit in Zusammenhang zu bringen versucht. Es müßte
offenbar der Gottheit die Fähigkeit zugeschrieben werden, Wesen
eben von der Art zu ,,schaffen" (oder aus sich ,, partiell zu entlas-
sen"), daß diese selbst nunmehr zu analoger freischöpferischer
Tätigkeit — natürlich in entsprechend verkleinertem Maßstabe
— befähigt sind, wie die, von der die Gottheit selbst Gebrauch
macht. Diese Forderung aber enthält an sich nichts Unmög-
liches, Widerspruchsvolles — , wenigstens für den Indetermi-
nisten nicht. Zu ihr wird derjenige, der mit Lotze beim Aufbau
seiner Weltanschauung das ethische Interesse an einer Welt
freier geistiger Wesen zu oberst stellt, notwendig zurückgreifen
müssen. Nur der Determinist pflegt die einzelnen Betätigungen
eines jeden Wesens sich so vorzustellen, daß sie restlos kausal
bedingt sind einerseits in den von außen herankommenden Ein-
wirkungen und den darin herrschenden allgemeingesetzlichen
Zusammenhängen, anderseits in dem in der ursprünglichen
Ausstattung enthaltenen Gesamtwesen dieses Individuums und
dessen innerer Gesetzlichkeit. Der Inde terminist dagegen nimmt
diese ganze Kette von Einwirkungen und Gesetzlichkeiten noch
nicht für die einzigenFaktoren, welche die Entwickelung des
Einzelwesens und dessen Betätigungen bestimmen; vielmehr
hält er dieses selbst für befähigt, aus sich heraus, selbsttätig
etwas hervorzubringen und in jenem Kausalnexus mit zu ver-
wirklichen, was jeder Ableitung aus Vorangegangenem, schon
Gegebenem prinzipiell unzugänglich ist. Auf solchem Boden
mithin würde die Schöpfung einer Welt freier, geistiger Wesen
durch das Eine, Unendliche, eine in sich durchaus konsequente,
widerspruchsfreie Forderung sein. Der ,, Monismus", der auch
so noch bestehen bleibt, würde dann freilich nicht mehr ein
solcher sein, bei dem nur ein wahrhaft Seiendes dauernd Alles
in Allem bliebe und auch alle Aktivität in der Welt als einziges
aktionsfähiges Subjekt unmittelbar von sich selbst, als eigent-
liche Selbstbetätigung ausgehen ließe. Vielmehr nur insofern
bliebe die Einheit des Weltgrundes erhalten, als in seiner We-
senhaftigkeit allein die Entstehung und alle Selbständigkeit der
Einzelwesen ihren Ausgang nehmen kann. Zugleich aber treten
die von ihm geschaffenen endlichen, freien Einzelwesen ihm
nun mit der von ihm selbst beabsichtigten Fähigkeit gegenüber,
selbständige Eigenregsamkeit zu entwickeln, in wie enge Gren-
zen diese auch Immer eingeschlossen bleiben mag. Eben damit
aber ist zugleich die Möglichkeit ethischer Beziehungen
gewonnen zwischen den Einzelwesen und dem Unendlichen,
und somit auch einer ethischen Wertschätzung dieses Welt-
ganzen, an welcher für Lotze Alles gelegen ist.
WILH- VON SCHNEHEN • HAECKELS „REI-
NER" UND „KONSEQUENTER" MONISMUS
SSnNTER all den vielen Denkern, die sich mehr
Sj R%{C 9 ' o^ci' weniger entschieden zum Monismus
!Rm NC^Nb n^ bekannt und dem großen Ziele einer ein-
heitlichen Weltanschauung bald selbstän-
dig, bald im Anschluß an irgendeinen
Vorgänger zugestrebt haben, kann sich
kein anderer eines ähnlichen äußeren Er-
folges rühmen, wie Ernst Haeckel. Vor
neun Jahren erst veröffentlicht, ist sein Welträtselbuch inzwi-
schen schon in fünfzehn verschiedene Sprachen übersetzt wor-
den; allein von der deutschen Ausgabe sind heute etwa 250000
Exemplare verbreitet, und zum mindesten die Hälfte aller dieser
Leser dürfte den Verfasser tatsächlich als den Überwinder alles
Dualismus verehren. Ein solcher Mann darf in dieser Galerie be-
rühmter Monisten nicht fehlen. Und da Dr. Heinrich Schmidt,
der getreuste Schüler und Anhänger Haeckels, den ursprünglich
zugesagten Beitrag über das Weltbild seines Meisters leider nicht
eingesandt hat, so habe ich es auf Wunsch des Herausgebers
übernomimen, eine Darstellung des Haeckelschen ,, Monismus"
zu geben. Ich enthalte mich dabei nach Möglichkeit jeden eige-
nen Urteils, soweit ein solches nicht schon zur Auswahl, An-
ordnung, Verknüpfung und Erläuterung der für Haeckels allge-
meine Weltanschauung bedeutsamsten Aussprüche unbedingt
erforderlich ist und in all dem notwendig auch zum Ausdruck
kommen muß. Und ebenso wie meine eigenen Ansichten, über
die sich der Leser ja leicht im ersten Bande dieses Werkes unter-
richten kann, lasse ich auch die Einwände all der zahlreichen
Gegner und Kritiker der ,, Welträtsel" entweder ganz aus dem
Spiel oder weise nur gelegentlich in einer Anmerkung auf sie
hin. Denn nur auf Haeckels Ansichten kommt es hier an. Die-
se, womöglich mit seinen eigenen Worten, im Zusammenhange
darzustellen und ihre grundlegenden Gedanken klar herauszu-
arbeiten, das allein ist es, was mir an dieser Stelle obliegt.
Freilich ist schon das keine leichte Aufgabe. Denn soviel
Haeckel auch in den vierzig Jahren seiner schriftstellerischen
WILHELM VON SCHNEHEN
T&tigkeit veröffentlicht hat, die letzten entscheidenden Fragen
aller Weltanschauung: die Fragen nach dem Verhältnis von Sein
und Denken, Körper und Bewußtsein, Leib und Seele, Gelstund
Natur, Kraft und Stoff, Einheit und Vielheit, Wesen und Er-
scheinung, Gott und Welt u. a. hat er doch kaum recht im Zu-
sammenhangesystematisch erörtert, sondern meist nurzwischen
breiteren, seinem Hauptziele einer allseitigen Begründung und
Durchführung der Entwicklungslehre gewidmeten Arbeiten in
kurzen, oft wiederholten Anläufen bald von dieser, bald von jener
Seite her flüchtig gestreift. Und wenn er sich auch im großen
und ganzen, in seinen allgemeinen Ansichten und Bestrebungen
während all dieser Zeit ohne Frage treu geblieben ist und keine
jener vollständigen Wandlungen oder , .psychologischen Meta-
morphosen" durchgemacht hat, über die er sich bei anderen ver-
wundert, so ist doch Im einzelnen seine Antwort auf gar manche
bedeutsame Frage zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden aus-
gefallen oder wenigstens in verschiedene Formeln und Worte
gekleidet. Alle diese verschiedenen Formeln aber sind natürlich
gleichermaßen zu berücksichtigen: keine darf von vornherein
zugunsten irgendeiner anderen vernachlässigt werden. Und so
muß denn ein jeder, der die Weltanschauung Haeckels wirklich
in ihren Grundzügen treu wiedergeben will, die einzelnen Bau-
steine zu seiner Darstellung notwendig von weit her zusammen-
tragen und immer wieder Aussprüche, die an sich durch große
räumliche und zeltliche Abstände getrennt sind, dicht zueinan-
der rücken: wobei für jeden einzelnen von Ihnen immer wieder
die Quelle nachzuweisen ist. Das erweckt dann, trotz aller Be-
mühungen um eine in sich zusammenhängende Darstellung,
leicht den Eindruck der Flickarbeit und ergibt jedenfalls eine
für das Auge störende Überlastung des Druckes mit zahllosen
Verweisen. Aber Ich darf wohl hoffen, daß der billig denkende
Leser diese Mißstände um der Sache selbst willen mit In den
Kauf nimmt oder wenigstens dem Bearbeiter nicht zur Last legt,
was dieser selbst gern anders gehabt hätte, aber nicht zu ändern
vermocht hat.* —
' Dr. HeinrichSchmidt sagt: Haeckel liebe es nur deswegen, verschiedene
Warte für einen und denselben Begriff anzuwenden, weil ihm das Wort
nichts, die Sache alles gelte. Und nur wer seinen klaren Begriffsbestim-
mungen nicht folge oder folgen könne, werde dadurch in Verwirrung geraten.
(„Der Kampf umdie WelträUel." S. 42,) — Prof. GeorgAdickes dagegen,
der scharfsinnigste Kritiker der „Welträtsel", spricht gelegentlich von einer
„Orgie der Begriffsverwirrung" und meint, Haeckel verdanke seine äuBe-
HAECKELS „REIHER" MONISMUS
105
Cich verweise mit W. auf die Welträtsel (Volksausgabe), mit
: auf die Lebenswunder (Volksausgabe), mit M. auf die Alten-
burger Rede „Der Monismus als Band zwischen Religion und
Wissenschaft" {9. Aufl.), mit V. I u. II auf die beiden Bande der
„Gemeinverständlichen Vorträge und Abhandlungen aus dem
Gebiete der Entwickelungslehre" (2. Aufl. 1902), mit M. I u. II
auf die beiden Bände der „Generellen Morphologie", mit S. auf
die „Natürliche Schöpfungsgeschichte", mit N. auf die Flug-
schrift „Monismus und Naturgesetz", und mit K. auf die drei
Berliner Vorträge ,,Der Kampf um den Entwicklungsgedanken".
Monismus im Sinne Haeckels bedeutet eine rein natürliche
Weltanschauung (V. II. 352) oder eine einheitliche Auffassung
der Gesamtnatur (M. 9), Denn der Begriff der Natur umfaßt
nach seiner Ansicht die gesamte wissenschaftlich erkennbare
Welt (L. 37. 189). Daher ist auch die Naturwissenschaft die
Wissenschaft schlechthin. Es gibt kein einziges Gebiet mensch-
licher Wissenschaft, das den Rahmen der Naturwissenschaft
überschritte: so wenig als der Natur selbst etwas Übernatür-
liches gegenübersteht (L. 37). Auch die sog. ,, Geisteswissen-
schaften" sind, genau besehen, nur Teile oder Zweige der Natur-
wissenschaft (L. 9. 37 u.a.). Und was wir mit einem Worte ,, Phi-
losophie" nennen, ist nur die einheitliche Zusammenfassung
aller besonderen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (L. 1.
33) oder auch: die Erkenntnis des ursächlichen Zusammen-
hanges aller einzelnen Erscheinungen, also die erklärende Natur-
wissenschaf t im Gegensatz zu der bloß beschreibenden Natur-
kunde {W. 3. 13—14). Denn indem sie sich von der bloßen Be-
obachtung, Beschreibung und Ansammlung einzelner Erfah-
rungstatsachen zu deren denkender Zusammenfassung und zur
Ableitung allgemeiner Gesetze erhebt, wird die Naturforschung
selbst schon zur Philosophie: zur Philosophie der Natur. Und
eine andere als diese gibt es nicht (V, II. 352). Alle wahre Natur-
wissenschaft ist Philosophie, und alle wahre Philosophie ist
Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber istNaturphi-
ren „Erfolge" zum guten Teil grade dem Umstände, daß die Verschwom-
menheit und Unklarheit seiner Terminologie auch seine Leser der unbe-
quemen Notwendigkeit enthoben, sich etwas Bestimmtes dabei zu denken.
(„Kant contra Haeckel" S. zo, 33, 151—152.) Als bloQer Berichterstatter
muQ ich es ganz dem geneigten Leser Überlassen, für welche von beiden An.
sichten er sich entscheiden will.
losDphie (M. 11. 447). ,, Monistische Philosophie" also ist das-l
selbe wie „monistische Naturwissenschaft" (W. 158), Und der
,, reine" oder „konsequente Monismus" ist notwendig auch ein
rein naturwissenschaftlicher Monismus. — Nun ist aber der
grundlegende Teil der Naturwissenschaft die Physik. Diese
ist die eigentliche Fundamental Wissenschaft, die allen ande-
ren voransteht (L. 189). Ja, im Grunde umschließt die Phy-
sik, im weiteren Sinne verstanden, alle menschliche Erkenntnis.
Denn wie die gesamte Geisteswissenschaft nur ein Teil der Le-
bensforschung oder Biologie, so ist diese wiederum nur ein Teil
der Physik (L. 38. W. 87). Wir haben also zunächst die physi-
kalischen Grundlagen „unseres konsequenten Monismus"
darzustellen und beginnen mit der Frage nach dem Wesen imd
der Zusammensetzung der Materie.
Die Materie ist für Haeckel ganz im allgemeinen „das Aus-
gedehnte" oder ,, Raumerfüllende" (W. 99, L. 186. N. 1 1). D. h,
sie ist dasselbe, was man in gewöhnlicher Sprache „Stoff" nennt.
Stoff und Materie sind für Haeckel Wechselbegriffe (W. 86
u. a.). Eine rein dynamische Auffassung der Materie, eine Auf-
lösung der Natur in bloße Kräfte oder KraftäuBerungen lehnt er
entschieden ab. Die Ausdehnung oder Raumerfültung, das wich-
tigste Merkmai der Materie, sagt er, sei durch bloße Kraftäuße-
rungen oder Energietätigkeiten nicht zu erklären (N. 12). Auch
bedürfe man für die Kraft ja schon eines Trägers, der nur in
dem Stoff gesucht werden könne {L. 36). Und die Annahme von
raumerfüllenden, also ausgedehnten und stofflichen Massenteil-
chen sei in diesem Sinne eine unentbehrliche Annahme der mo-
dernen Naturwissenschaft, die von dieser schon um der Anschau-
lichkeit willen { ! ) nicht preisgegeben werden dürfe {L. 190). —
Die Raumerfüllung der Materie ist jedoch keine gleichmäßige.
Wenigstens heute nicht. Sie war es nur „im ursprünglichen Ruhe-
zustande". Dann aber ist aus gewissen, in seinen Ureigenschaf-
ten selbst liegenden Ursachen an bestimmten Stellen des Rau-
mes eine Verdichtung des anfänglich überall gleichmäßigen U r -
Stoffes erfolgt: gewissermaßen eine erste Arbeitsteilung des
Stoffes, die zu dessen Scheidung in zwei verschiedenartige Be-
standteile führte: in die ponderable Materie oder wägbare Masse
und die imponderable Materie oder den unwägbaren Äther {W.
89.92—93.98). Nur die Masse ist atomistisch gegliedert: d.h.
sie besteht aus kleinen gesonderten, aber gleichartigen und raum-
erfüUenden Stoffteilchen, die an sich unteilbar, unveränderlich,
unelastisch und undurchdringlich sind (M. 17). Der Äther da-
gegen ist ein stetig in sich zusammenhängender, sehr dünner
und äußerst beweglicher Stoff und erfüllt als solcher gleichmäßig
den ganzen Weltraum, soweit dieser nicht von der Masse des
wägbaren Stoffes oder dessen getrennten Teilen eingenommen
ist (W. 89. 92).
Freilich neigen heute wohl die meisten Physiker zu der An-
nahme, daß der Äther ebenso wie die Masse atomistisch geglie-
dert, also aus getrennten Teilen zusammengesetzt sei (M. 42).
Und Haeckel redet hier „als bloßer Dilettant", der „mit Physik
und Mathematik zu wenig vertraut ist, um die Licht- und Schat-
tenseiten gewisser Lehren sondern zu können" {W. 92. 89. N.
15 — 16). Aber ,,als ein solcher unvollkommen gebildeter Laie"
(N. 15} lehnt er ,, entsprechend dem Grade seiner Sachkenntnis
und Urteilskraft" (W. 92) jene Annahme der Fachmänner ab,
weil sie uns unvermeidlich zu der Vorstellung eines leeren (d. h.
stoffleeren) Raumes und einer unvermittelten Fern Wirkung der
Körper führe, die von der modernen Physik gegenwärtig aller-
dings noch zäh festgehalten werde (?l W. 89), aber in Wahrheit
bei dem heutigen Stande der Haturerkenntnis kaum mehr mög-
lich sei oder wenigstens zu keiner , .klaren monistischen Vor-
stellung" führe (W, 92). Und er nimmt statt dessen eine eigen-
tümliche Struktur des Äthers an, die man vorläufig (ohne wei-
tere Bestimmung!) als „ätherisch" oder „dynamisch" bezeich-
nen kann (11 W. 92. M. 42). Wie innerhalb eines stofflich voll-
kommen ausgefüllten Raumes noch Bewegung irgendwelcher
Teile ohne Widerspruch denkbar ist und wie sich die , .klare",
dem Monismus unentbehrliche Vorstellung eines nicht aus Ato-
men bestehenden, „ätherischen" Äthers damit vereinen läßt,
daß „der Monismus alle Erscheinungen — ohne Ausnahme —
auf Mechanik der Atome zurückzuführen bestrebt sein muß"
(M. 15, L. 190), darüber geben uns Haeckels Werke nirgends
einen Aufschluß. Wir vernehmen nur, daß der Äther, dessen Da-
sein noch im Jahre 1878 „kein Mensch irgendwie objektiv zu
beweisen imstande war" (V. II. 262), seither „eine positive Tat-
sache" geworden ist und jeden Augenblick in der luftleeren Glas-
glocke schwingend wahrgenommen werden kann(!) (W. 91. M.
16). Damit sind natürlich auch alle erkenntnistheoretischen
Zweifel an dem wirklichen Dasein eines Stoffes außerhalb des
Bewußtseins erledigt. Maß und Gewicht, chemische und me-
chanische, elektrische und optische Versuche überzeugen uns,
i68
WILHELM VON SCHNEHEN
daß ein wirklicher Stoff in Gestalt der Masse und des Äthers un-
abhängig von unserer Vorstellung tatsächlich existiert, wenn
auch „unkundige Philosophen" und selbst einzelne , .vorsich-
tige exakte Physiker" noch immer das Gegenteil behaupten
(W. 92}-^
Untrennbar verbunden aber mit diesem Stoff ist die Kraft
oder Energie. Denn sowenig wie die Erscheinung der Materie
in ihrer räumlichen Ausdehnung erst nachträglich durch Kräfte
hervorgebracht werden kann, ebensowenig kann die Kraft
nachträglich aus dem Stoff oder dessen Tätigkeit abgeleitet
werden (N. 12. V. IL 356). Es gibt keinen Stoff ohne Kraft
und keine Kraft ohne Stoff. Beide sind gleich ursprünglich
und von jeher miteinander gegeben (W. 90. L, 34 — 35. 186. u.a.).
Darauf, wie wir uns diese unzweifelhafte Verbindung zweier so
verschiedener Wesenheiten denn nun eigentlich zu denken ha-
ben, läßt sich Haeckel nicht weiter ein. Der exakte Physiker
oder Mathematiker mag die Frage aufwerfen: wie die Atom-
kraft, die (wenn sie überhaupt eine genau bestimmte und be-
stimmbare Wirkung haben soll) nur eine punktuelle „Zentral-
kraft" sein darf, mit dem stofflichen Atomkörper verbunden
ist. Und ein Metaphysiker, wie Ed. v. Hartmann, magdenNach-
weis versuchen, daß eine solche Verbindung überhaupt nicht
ohne Widerspruch denkbar sei und man eben deswegen schon
aus physikalischen Gründen zu einem reinen Dynamismus
(atom istischen Dynamismus) fortgehen müsse. Für Haeckels
,, allgemeinere Betrachtung" kommen solche Einzelheiten nicht
in Betracht. Er erkennt die Grundfrage nach dem Zusammen-
hang von Materie und Kraft ganz im allgemeinen als die Eine
noch wirklich vorhandene Grenze des Naturerkennens bereit-
willig an (M. 40, V. II. 3S7) und begnügt sich im übrigen mit
dem Hinweis auf die Erfahrung, die uns, wie er meint, noch
keine einzige Kraft kennen gelehrt habe, welche nicht an den
Stoff gebunden ist. (?) Oder was dasselbe (?) besagt: keine ein-
zige Form der Energie, welche nicht durch Bewegungen der
Materie , .vermittelt" wird {! W. 90).
1 Von einem Philosophen, meint Haeckel, könne man nicht verlangen, daO
er über alle Fragen erst vieljährige ernste und gründliche Studien anstelle,
ehe er darüber schreibt (N. 15). Nach diesem, so von ihm selbst festgelegten
Maßstäbe sind also Haeckels „philosophische" Ausflüge nicht nur ii
Physik, sondern auch in die Erkenntnistheorie, die Psychologie, die Metall
physik u. a. zu beurteilen.
HAECKELS „REINER" MONISMUS
109
Denn wie Materie und Stoff, ebenso sind für Haeckel auch
''Energie und Kraft Wechselbegriffe, die er, wie es gerade
kommt, überall miteinander vertauscht. Zwar hat die Physik
diese beiden ursprünglich gleichbedeutenden ( f) Begriffe in
neuester Zeit schärfer voneinander getrennt (W. 87. 93). Und
sie versteht unter „Kraft" jetzt allgemein die Ursache der Be-
wegung, während sie die ,, Energie" oder Arbeit jetzt gewöhn-
lich als das Produkt von Kraft und Weg bestimmt (N. 19.
L, 186). Aber „für die allgemeinere Betrachtung" der „Welt-
rätsel" ist „dieser feinere Unterschied gleichgültig" (W. 87. 93}.
Und Haeckel fährt darum auch trotz der ihm gemachten Ein-
wände fort, sie als Wechselbegriffe zu gebrauchen. Zumal da
sich unter Kraft im allgemeinen, wie unter Triebkraft und
Spannkraft im besonderen ,,auch der gewöhnliche Arbeiter
und der gebildete Laie doch irgend etwas (1) denken kann,
unter aktueller und potentieller Energie ohne vorhergehende
umständliche wissenschaftliche Belehrung aber nicht" (N. 20).
Und so bleiben wir auch im Unklaren darüber, was Haeckel
selbst eigentlich unter Kraft oder Energie versteht: ob die Ur-
sache der Bewegung {„bewegende Kraft" W. 87. N, 7) oder die
bei der Bewegung geleistete Arbeit mit Einschluß der Arbeits-
fähigkeit ruhender Körper {also die ,, Energie") oder die Bewe-
gung selbst {W. 88. 89. L. 186. u, a.) oder schließlich auch den
Geist (L. 34. V. II. 356 u, a.). Wahrscheinlich kommen alle
diese ,, feineren Unterschiede" für seine , .allgemeine Unter-
suchung" nicht in Betracht. Und wir müssen uns mit der Ein-
sicht begnügen, daß es für den ,, reinen" oder „konsequenten"
Monismus , .gleichgültig" ist, ob wir sagen: Kraft und Stoff
sind von jeher untrennbar miteinander verbunden gewesen
(W. 90. L. 35. N. 11) oder Materie und Energie (W. 14 u. a.)
oder bewegter Stoff und Empfindung (W. 97. L. 186) oder Ma-
terie und Geist {W. 14. N. 11) oder ,, irgend etwas" sonst.'
Jedenfalls wird es nunmehr allen denkenden Lesern ebenso
wie Haeckel ,, selbst verstand lieh" erscheinen, daß auch jene
' Wenn Haeckel den „Kanon der Physik", das vottreßliche Werk seines
Freundes Auerbach, eher kennen gelernt hätte, so würde er, wie er selbst
neuerdings einräumt, manche physikalisch- philosophische Grundbegriffe
schärfer erfaßt und in andere Ausdrücke gekleidet haben Iß. 21). So ist sein
eigenes Werk freilich in diesen wie in manchen anderen Einzelheiten irr-
tümlich; abar diese Detail-Mängel fallen dem großen Ganzen gegenüber so
wenig ins Gewicht, daQ er sie auch in etwa noch folgenden Auflagen nicht
zu ändern gedenktl (N. 34). „Eine reife Frucht vom Baum der Erkenntnis"
WILHELM VON SCHNEHEN
beiden Grundgesetze der modernen Naturwissenschaft:
chemische Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und das '
physikalische Gesetz von der Erhaltung der Kraft untrenn-
bar zusammengehören (W. 86 — 8'/), Zwar erfreut sich diese
naturgemäße Überzeugung noch keineswegs allgemeiner An-
erkennung: die meisten Lehrbücher der Physik wie der Meta-
physik berühren diese grundlegende Frage gar nicht oder nur
flüchtig {N. 9. 13), und alle Anhänger des Dualismus be-
kämpfen (?) die Annahme einer solchen wesentlichen Einheit
jener beiden großen Gesetze (N. 13. W. 87). Aber Haecket hat
schon im Jahre 1892 ihre innere Zusammengehörigkeit betont
und sie unter dem Begriff des „Substanzgesetzes" vereinigt,
da ihm (wie wir später noch näher sehen werden) der spino-
zistische Begriff der „Substanz" als der einfachste, klarste und
sachgemäQeste Ausdruck für das Grundverhältnis von Kraft
und Stoff erschien (N. 9) oder Kraft und Stoff für „unseren
Monismus" nur verschiedene unveräußerliche Erscheinungen
eines einzigen Weltwesens, der Substanz, sind (M. 14. W. 87).
So verstanden: als Ausdruck des untrennbaren Zusammenhan-
ges jener beiden begrifflich getrennten Gesetze ist „das klare
Substanzgesetz" von grundlegender Bedeutung für unsere mo-
nistische Weltanschauung (W. 87, 151 u.a.). Es ist das oberste
und allumfassende Naturgesetz: das wahre und einzige kosmo-
logische Grundgesetz, insofern es alle anderen anerkannten
Naturgesetze in sich vereinigt. Und seine Entdeckung und Fest-
stellung ist die größte Geistestat des 19. Jahrhunderts
{W. 86. N. 13). Im Grunde genommen folgt es freilich schon
aus dem Prinzip der Kausalität (W. 87). Ja, es ist im Wesen
identisch mit dem allgemeinen „Kausalgesetz der Metaphysik",
mit dem universalen Prinzip der Ursache und Wirkung (N. 13)
oder nur ein anderer konkreter Ausdruck für dieses abstrakte
große Gesetz der mechanischen Kausalität (W. 146). Und in-
dem es überall nur mechanische Ursachen in den Erscheinungen
„nachweist" (! W, 94), ist es der sichere, unverrückbare Leit-
stern, der ,, unsere monistische Philosophie" durch das gewal-
tige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt (W. 8. 146).
Nur eins gibt es noch, was dem Substanzgesetz ebenbürtig ist
bleibt das Welträtselbuch ja doch: die „ehrliche und gewissenhafte Arbeit"
eines Mannes, der die Ergebnisse seiner mühsamen Forschungen „nach
bestem Wissen und Gewissen" seinen Mitmenschen nutzbar machen möchte
(W. 4. 5. 154}.
HAECKELS „REINER** MONISMUS iii
und es gewissermaßen ergänzt: nämlich die von Goethe, La-
marck und Darwin begründete und von Haeckel selbst weiter
ausgeführte Entwicklungslehre (W. 8). Aber die Tatsache,
daß es die Substanz oder der „Kraftstoff'* (L. 185) selbst ist,
der sich überall bewegt und umbildet, stempelt im Grunde
das Substanzgesetz selbst schon zum universalen Entwicke-
lungsgesetz (W. 151). Und so können wir wirklich sagen, daß
in diesem obersten „naturwissenschaftlichen Glaubenssatze**
(M. 39) alle Strahlen unserer Erkenntnis zusammenlaufen und
in ihm die Möglichkeit zur einheitlichen Erklärung aller Er-
scheinungen und die sichere Grundlage des Monismus gege-
ben ist. —
Betrachten wir in seinem Lichte zunächst die allgemeinen
kosmologischen Probleme: die Fragen nach der Entstehung
und der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Welt. Das
Gesetz von der Erhaltung des Stoffes belehrt uns über dessen
wesentliche Unzerstörbarkeit. Kein Atom im Weltall ist jemals
verschwunden: das ist eine Tatsache der Erfahrung (1 S. 8). Und
kein Teil der „bewegenden Kraft** im Weltall geht je verloren:
dessen sind wir ebenso unbedingt sicher (N. 7. W. 87). Dann aber
sind wir auch zu der Annahme berechtigt und logisch gezwun-
gen, daß die „Erhaltung** des Stoffes und der Kraft zu allen
Zeiten ebenso allgemein „bestanden** hat, wie sie heute ohne
Ausnahme besteht (W. 98). Und es ergeben sich zunächst die
beiden folgenden überaus wichtigen Sätze: der Weltraum ist
unendlich und überall mit Stoff ausgefüllt. Und die Weltzeit ist
ebenfalls unendlich; sie hat keinen Anfang und kein Ende: sie
ist Ewigkeit (! W. 98. 11). So begründet das Substanzgesetz,
indem es Stoff und Kraft als unzerstörbar nachweist, wissen-
schaftlich die „monistische Ansicht** von der Unendlichkeit
des Weltalls nicht nur in der Zeit, sondern auch im Räume
(! ? N. 3z. W. 8). Und wir können diesen Lehrsatz nunmehr als
„bewiesen** ansehen (W. zi). Damit aber wird zugleich auch
die erkenntnistheoretische Frage nach dem Geltungsbereich
unserer beiden Anschauungsformen erledigt. Die von idealisti-
schen Philosophen wohl bezweifelte transzendentale oder aufler-
bewußte Realität von Raum und Zeit ist jetzt endgültig be-
wiesen. Denn nachdenl wir die unhaltbare Vorstellung vom
leeren Raum glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das
unendliche „raumerfüllende Medium** die Materie und als das
„zeiterfüllende Geschehen** die ewige Bewegung oder genetische
Energie ( I ! W. 99). Und umgekehrt überzeugen uns dann Raum
und Zeit als die beiden „Formen der Anschauung" auch wieder
von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls (I! W. 99).
Die Frage nach dem Ursprung der Bewegung, dieses zweite
Welträtsel, aber ,, lösen" wir einfach durch die Annahme, daß
die Bewegung von jeher als seine ursprüngliche Eigenschaft
mit dem Stoff verbunden gewesen ist. Und die Berechtigung zu
dieser „monistischen Annahme" finden wir wieder in dem
Substanzgesetz und den großen Fortschritten der Astronomie
und Physik in der zweiten Hälfte des 19, Jahrhunderts (W. 97
bis 98). Die Vor Stellung ein er voll endeten Unendlichkeit {infini-
tas finita) enthält also für „das folgerichtige und klare Den-
ken" eines „konsequenten Monisten" nicht etwa einen Wider-
spruch in sich, wie man sonst wohl gemeint hat. Und in dem
,, Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft" ist es keineswegs,
wie gewisse , .unkundige Philosophen" behaupten, eine sinn-
lose Redensart, wenn man von der Unveränderlichkeit einer
unendUchen Größe redet. Nein, das Gesetz von der Erhaltung
des Stoffes und der Kraft „beweist", daß die unendlich große
Summe der Energie ebenso wie die der Materie tatsächlich im-
mer unverändert oder ewig dieselbe bleibt (W. 98. 100).
Nun gibt es allerdings neben diesem ersten noch einen zwei-
ten Hauptsatz der Energielehre: den vor etwa fünfzig Jahren
durch Clausius und Thomson aufgestellten und seither bei den
Physikern allgemein anerkannten Satz von der fortschreitenden
Entwertung der Energie oder ihrem Übergang in Wärme,
die sich immer mehr im Weltall zerstreut und nicht mehr in
mechanische Arbeit zu rück verwandelt werden kann (W. 100.
N. 23). Und aus diesem Satze, derauf ebenso breitem und festem
(wenn nicht festerem) Boden der Erfahrung ruht, wie der erste
Satz von der Erhaltung der Energie, müssen wir folgern, daß
der Weltprozeß vor endlicher, wenn auch unvordenklicher Zeit
begonnen hat und in endlicher Zeit zu einem allgemeinen Still-
stande führt (N. 24. W, 100), Was ja auch in Übereinstimmung
wäre mit der gewöhnlichen Form der von Kant und Laptace
begründeten Nebularhypothese, insofern diese einen bestimm-
ten Anfang der Entwicklung voraussetzt (W. 97), Aber für
Haeckels , .monistische und streng folgerichtige Auffassung" ist
das eine so unhaltbar wie das andere. Denn nach dem Sub-
stanzgesetz kann es ebensowenig einen Anfang wie ein Ende
der Welt geben. ,,Der zweite Hauptsatz der mechanischen
Wärmelehre widerspricht dem ersten und muß aufgegeben
werden" (W, loo). Der „scharfsinnige Begründer der mecha-
nischen Wärmelehre, Clausius" scheint freilich von diesem
„offenkundigen Widerspruch" (N, 23) nichts bemerkt zu haben,
und auch andere namhafte Physiker wollen nicht einsehen,
daß die fortschreitende Zerstreuung der Energie im Wider-
spruch stehen soll mit der Erhaltung der Energie. Aber
Haeckel sagt es und belehrt uns zugleich, der zweite Hauptsatz
gelte nur für einzelne Vorgänge, wie sie uns auf unserer Erde
bekannt sind. Im großen Ganzen des Wettalls aber herrschen
ganz andere Verhältnisse. Hier nämlich werden beim Zusam-
menstoße zweier aufeinander zustürzender Weltkörper unge-
heure Wärmemengen frei, während die zerstäubten Massen in
den Weltraum hinausgeschleudert und zerstreut werden. Und
dieser Vorgang, der, nach Haeckel, also auf unsrer Erde kei-
nerlei Gegenstück im Kleinen hat, ist nicht etwa, wie man
glauben könnte, gerade ein Beispiel für die Zerstreuung der
Energie, sondern vielmehr dafür, wie — - sich latente Wärme
in mechanische Arbeit zu rück verwandelt (! W. 100). Und wir
dürfen somit die Grundgedanken der ,, monistischen Kosmo>
genie" in folgenden, „jetzt größtenteils bewiesenen" (W. 11)
Lehrsätzen zusammenfassen: Die Welt ist unendlich in Raum
und Zeit. Sie ist nirgends leer, sondern allenthalben mit Stoff
ausgefüllt. Die von der unzerstörbaren Energie bewirkte Be-
wegung dieses unzerstörbaren Stoffes ist ein ewiger Kreislauf
mit periodisch sich wiederholenden Entwicklungszuständen.
Verdichtung und Auflösung wechseln dabei in jedem einzelnen
Teile der Welt miteinander ab und erfolgen beide gleichzeitig
an verschiedenen Stellen des Weltraumes. Während hier der
Urstoff sich in Äther und wägbare Masse sondert und durch
weitere Verdichtung erst kleine und dann große Weltkörper
entstehen, verlaufen dort die Vorgänge in umgekehrter Rich-
tung (W. 98. 97. II — 12, 148 — 149). Damit ist die Frage nach
dem Ursprung der Bewegung , .erledigt" {W, 12. 97}/ —
' Der Petersburger Physiker O. D. Chwolson, der Verfasser eines der
besten größeren Lehrbücher der Physik, hat in einer kritischen Studie
(,,Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot") die sämUichen phy-
sikalischen Teile der „Welträtsel" eingehend untersucht und kommt zu
dem „haarsträubenden Ergebnis", daB „sie eine kaum glaubliche Unkennt-
nis der elementarsten Fragen bezeugen, von hohlem Phrasengeist erfüllt
sind und Sätze enthalten, die die schlimmsten und lächerlichsten natur-
wissenschaftlichen Ausspruche von Nichtnaturforschorn weit hinter sich
er MoDiifuu) II 6
Eng zusammen damit hängt eine weitere bedeutsame Er-
kenn tnis, die wirebenfallsdemSubstanzgesetz verdanken: dieEf-
kenntnisvonderEinheitallerNaturkräfte(W. 102). Wie alle
chemischen Vorgänge auf Formwandlungen des Stoffes, so be-
ruhen alle physikalischen Erscheinungen auf Formwandlungen
der Kraft oder Metamorphosen der Energie. Alle die verschie-
denen gewöhnlich sogenannten,, Naturkräfte"|Wie mechanische
und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektri-
zität können als wandelbare Energieformen ineinander über-
gehen (N. 7) und erweisen sich damit als verschiedene Erschei-
nungsformen einer und derselben Urkraft (W. 103). Meist wird
diese gemeinsame alleinige ,, Urkraft" als eine schwingende
Bewegung der kleinsten Massenteilchen gedacht {!? W. 88);
Haeckel aber zieht es gemäß seiner Auffassung der Materie vor,
sie mit J. G. Vogt als Verdichtungsstreben eines ursprünglich
gleichförmigen Weltstoffes zu denken (W. 89). Jedenfalls ergibt
sich aus der Tatsache jener Umwandlung selbst, so oder so, die
innere Verwandtschaft oder Einheit aller jener scheinbar ver-
schiedenen Naturkräfte: also ein Monismus der Energie
(N. 22. W. 103).
Im gesamten Gebiet der unorganischen Natur ist denn auch
diese Einheit der Naturkräfte heute allgemein anerkannt (W.
103. L. 24). Anders verhält sich scheinbar die organische
Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Hier
nehmen manche Leute immer noch besondere geistige oder
richtende Kräfte an: besonders zur Erklärung des Seelenle-
bens. Aber die Entwicklungslehre schlägt eine Brücke zwischen
den beiden, scheinbar getrennten Gebieten. „Wir sind jetzt zu
der klaren Überzeugung gelangt, daß alle Erscheinungen des
organischen Lebens dem allgemeinen Substanzgesetz unter-
worfen sind: genau so wie die anorganischen" (W. 103. 94). Und
Haeckel hat diesen „Monismus des Kosmos" (oder „kos-
lasscn" (S. 76 — 77 u. a.). — Aber Chwolsan ist, so versichert uns wenigstens
Haeckel, ein „eingebildeter Narr", der von blassem Neid über den buch-
händlerischen Erfolg der „Welträtsel" beseelt ist: der Tjpus eines bornier-
ten Spezialisten, der, wie alle solche beschränkten Köpfe, im Hochmut
seiner Fachgelehrsamkeit einen intensiven Haß gegen alle Philosophie und
alle Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse hegt (N, 23. 32 — 33),
— Wobei es freilich unerklärt bleibt, warum eben dieser Gegner aller Phi-
losophie gleichzeitig bekennt, er habe Ed. von Hartmanns Werk „Die
Weltanschauung der modernen Physik" „mit staunender Bewunderung itu-
dieit" (S. 89, vergl. auch S. 33}. —
mischen Monismus" L. i6) schon vor vierzig Jahren sehr ein-
gehend begründet (W. 103). Die grundsätzliche Einheit der an-
organischen und der aus dieser so spät erst entstandenen orga-
nischen Natur ist eine notwendige Forderung des monistischen
Denkens (M. 9. 37). Wir können wohl den Gegensatz von an-
ziehenden und abstoßenden Kräften anerkennen (M. 14 — 15),
aber keine „immateriellen Kräfte": d.h. Kräfte ohne stofflichen
Träger. Denn von solchen hat uns die Erfahrung bis heute
keine einzige kennen gelehrt (W, 90) und sie wären unserer
wissenschaftlichen Erkenntnis unzugänglich (L. 23. u. a.). Frei-
lich sind auch die Atome und deren mechanische Zentralkräfte
kein Gegenstand der Erfahrung, sondern nur ein solcher des
wissenschaftlichen Glaubens. Kein Naturforscher hat diese
kleinen materiellen Teile jemals gesehen: sie sind eine so un-
bewiesene und unbeweisbare Hypothese, wie es nur irgendeine
geben kann (V. II. 263. M, 37). Aber diese Annahme ist ver-
nünftig: sie überschreitet nicht die Grenzen der Natur, fügt sich
dem Substanzgesetz ohne Widerspruch ein, wahrt so die Ein-
heit der Naturkräfte und befriedigt das stetige Kausalitätsbe-
dürfnis unserer Vernunft (L. 24). Immaterielle Lebenskräfte
dagegen, d.h. Kräfte ohne stofflichen Träger wären übernatür-
liche Kräfte: sie gehörten nicht in den Rahmen des Substanz-
gesetzes, höben also die Einheit der Natur auf, wären mit der
Anerkennung fester Naturgesetze unvereinbar und können des-
halb von der wahren, allen Wunderglauben bekämpfenden
Wissenschaft nicht anerkannt werden (L. 24 u. a.). Der Monis-
mus fordert die grundsätzliche Einheit, d, h. die wesentliche
Gleichartigkeit aller Naturerscheinungen: der organischen wie
der anorganischen. Beide müssen in gleicher Weise auf rein
natürliche Ursachen, d. h. auf physikalische und chemische
Kräfte zurückgeführt werden (W. 94. 103). Denn „natürlich"
■ — das ist der Eine alledem zugrunde liegende Gedanke —
natürlich sind nur physikalische und chemische Kräfte. Die
Grenzen des materiellen, physikalischen Geschehens sind auch
die Grenzen der Natur. Die Natur ist die Welt des Stoffes, die
Welt der bewegten Atome: d. h. die Körperwelt oder Welt der
siimlichen Erscheinungen (L. 37. 189). Und „alles, was unserer
wissenschafthchen Erkenntnis zugängHch ist, bildet einen Teil
dieser Körperwelt, des mundus sensibilis von Kant" {L. 181).^
' Man vergleiche über die Berechtigung dieses „naturwissenschaftlichen
Glaubenssatzes" (M. 37}, der petitio principii der ganzen mechanistischen
it6
WILHELM VON SCHNEHEN
Früher allerdings — das gesteht auch Haeckel zu — lag h
dem Mangel einer rein natürlichen Erklärung all der unleug-
baren Zweckmäßigkeiten in Bau und Verrichtungen der Lebe-
wesen auch der Gedanke an irgendeine zweckmäßig wirkende
Sonderursache, sei es eine einmalige göttliche Schöpf er tätigkeit
oder eine unbewußt wirkende Lebenskraft, eigentlich recht
nahe(W, 23, 105). Heute aber sind „wir" auf Grund eingehender
Untersuchungen zu der klaren Einsicht gelangt, daß die Le-
benserscheinungen rein mechanisch zu erklären und
im Reiche der organischen Natur keine anderen Kräfte und
Gesetze wirksam sind als in dem der unorganischen Natur auch
(W. 94 u, a.)- Stoffe und Formen sind ja ohne Zweifel hier wie
dort dieselben (L. 16 — 18), Und auch zu den sogenannten Le-
benstätigkeiten bietet uns die unbelebte Natur zahlreiche Ana-
logien (?). Die Besonderung zur Einheit einer abgeschlossenen
Gestalt (Individualisierung), bestimmt gerichtete Bewegungen
und gewisse innere Wechselbeziehungen zwischen den Teilen,
Wachstum durch Aneignung äußerer Stoffe und Vermehrung
oder Fortpflanzung beim Überschreiten der natürlichen Wachs-
tumsschwelle: all das beobachten wir ja schon bei den Kristal-
len (1 L, 18 — 19. 94. 103. 106). Noch mehr äußerhch ähnlich
und innerlich verwandt aber ist dem Lebensvorgang die Flamme
(! L. 12). Zwar ist es bei einem Teil der Lebensvorgänge bisher
noch nicht gelungen, sie wirklich auf die bekannten physikali^ ,
sehen und chemischen Eigenschaften der Materie zurückzu^ I
führen; aber viele sind doch heute schon auf diese Weise e
klärt {?), und deswegen nehmen „alle unbefangenen Physiol
gen" gegenwärtig übereinstimmend an, daß auch jene ander«
imGründereinphysikalischerNatursind((?)L.83. 105.W. 102).'
Und wenn uns die höheren Organismen mit ihrem zweckmäßi-
gen Zusammenwirken verschiedener Organe zu dem einheit-
lichen Lebenszweck des Ganzen allerdings auf den ersten Blick
in einem unüberwindbaren Gegensatz zu den Gebilden der un-
organischen Natur zu stehen scheinen {L. 13—15), so hilft uns
die Entwicklungslehre auch diese Kluft überbrücken. Denn
die einfachsten Lebewesen, aus denen sich doch alle übrigen
entwickelt haben müssen, nämlich die von Haeckel selbst ent-
Weltanschauung die einschlägieen Bemerkungen Ed. von Harlmanns
in seinem Werke „Das Problem de» Lebens" (bes. S. 81—87. »a? bis
129 u.a.] und in demaus seinem NachlaQ veröffentlichten „GrundriB der
Naturphilosophie".
^deckten Moneren haben, wenigstens zum Teil, noch gar keine
Organe: nicht einmal einen Kern. Sie sind, trotz der gegentei-
ligen Behauptung anderer Naturforscher, „tatsächlich" nur ho-
mogene Plasmakügelchen (S. 163 — 165. 364—365, L. 75—83.
14). Ihre Kugelform mitsamt ihrer Oberflächenmembran ent-
steht rein nach physikalischen Gesetzen, Und ihre Ernährung,
ihr Wachstum, ihre Fortpflanzung: kurz, alle ihre Lebenser-
scheinungen erklären sich ebenfalls ,, leicht" durch physikalische
oder chemische Ursachen auf mechanischem Wege (L. 78^79).
Das ganze Lebenswunder beschränkt sich hier ,, tatsächlich"
auf den chemischen Vorgang der Plasmodomie oder Kohlen-
stoffaneignung; dieser aber steht auf gleicher Stufe mit der
Auflösung (Katalyse) anorganischer Verbindungen ( ! L. 87. 79.
15). Ob das eigentliche Lebensrätsel nicht vielmehr erst darin
besteht, daß trotz dieses Stoffwechsels die individuelle Lebens-
einheit erhalten bleibt, und ob dazu nicht bei den Moneren
ebenfalls schon ein zweckmäßiges Zusammenwirken der nur
hier noch nicht verschieden ausgebildeten Teile zu dem einheit-
lichen Lebenszwecke des Ganzen nötig ist: das sind Fragen,
die sich Haeckel gar nicht vorlegt. Für ihn ist es ohne weiteres
eine ,, Tatsache", daß die ganze Lebenstätigkeit der Moneren
einfach ein chemischer Prozeß ist und also auch für irgend-
welche zweckmäßig wirkende Lebenskräfte hier überhaupt
nichts mehr «u tun bleibt {L. 83. 87).
Steht es aber somitdeneinfachstenLebewesen, den Urvätern
aller höheren, dann ist das Leben überhaupt nur ein chemi-
scher Prozeß und besteht in dem Stoffwechsel, dem fortwähren-
den Zerfall und Wiederaufbau bestimmter Eiweißverbindungen :
auch das ist eine von der Wissenschaft längst „festgestellte
Tatsache" {W. 103, L. 16. 54 — 55). Also sind es, wie Haeckel
schon im Jahre 1866 erkannt hat, auch nur die eigentümlichen,
physikalisch-chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffes, be-
sonders seine Vierwertigkeit, worin wir die letzten, rein mecha-
nischen Ursachen aller Lebensvorgänge zu suchen haben
(S. 357. L. 14—16. V. II. 56—57). Und dank dieser „monisti-
schen Theorie", die wohl häufig angegriffen, aber von niemand
durch eine bessere ersetzt worden ist (W. 103), löst sich nun
auch die bedeutsame Frage nach dem Ursprung des Lebens.
Wir brauchen ,,nur" anzunehmen, daß der chemische Prozeß
der Stoffaneignung, der sich heute in jeder Pflanzenzelle voll-
zieht und eine erbliche Gewohnheit darstellt, ursprünglich
einmal „von selbst" eingetreten ist (L. 141). UnddieEntstehung;
einfacher Moneren aus anorganischen Eiweißverbindungen
bietet „ebensowenig Schwierigkeiten", wie ihre spätere Ver-
wandlung in die einfachsten kernhaltigen Zellen (K. 36). Ja,
im Grunde weniger Schwierigkeiten! Denn der Unterschied
zwischen den Moneren und den höchsten uns bekannten Orga-
nismen ist (nach Haeckels Ansicht) in jeder Beziehung größer
als der Unterschied zwischen den organischen Moneren und
unorganischen Kristallen (! L. 15), denen wir auf Grund ihres
(rein äußerlichen!) Wachstums ja auch schon im gewissen Sinne
,, Leben" zuschreiben können (L. 18), obwohl ihnen gerade das
eine wesentliche Merkmal des Lebens, der Stoffwechsel,
fehlt (! L. 19).
Die ganze spätere Entwicklung der Lebewelt aber: die Ent-
stehung immer neuer und höherer Formen mit zweckmäßigen,
für die Lebensaufgaben des Ganzen verschieden ausgebildeten
Teilen erklärt sich „leicht" aus der Wirkung der natürlichen
Zuchtwahl (L. 15. 158). Die Lebenseigenschaften der Verer-
bimg und der Anpassung oder {I) Veränderlichkeit sind die
blinden, bewußtlos und zwecklos wirkenden „Naturkräfte",
welche dieser ganzen Entwicklung als treibende Mächte oder
wirkende Ursachen zugrunde liegen (S, 24—27. V. I. 57 u. a.).
Und wenn auch keine der bisher aufgestellten Theorien die
Rätsel der Vererbung und der Anpassung vollkommen gelöst
und sich allgemeine Anerkennung errungen hat (L. 151. S. 205
u. a.), ja, eine wirkliche Erklärung beider Vorgänge vorerst
noch unmöglich erscheint (S. 28 — 29. 205), so „weiß doch jeder
Naturforscher" und Haeckel hat es schon oft ausgeführt, daß
sie „rein mechanischer Natur" sind: ebenso wie die Ernährungs-
und Fortpflanzungsvorgänge überhaupt, denen wir sie einzu-
reihen haben (S. 149. L, 149 — 150. V. 1. 57). Die Art ihrer je-
weiligen Wechselwirkung aber bestimmt sich durch den Kampf
ums Dasein: dieser ist der züchtende Gott, der ohne Absicht
immer höhere und mannigfaltigere Lebensformen hervorbringt.
So hat uns Darwin in seiner Zuchtwahllehre den Schlüssel
zur monistischen Erklärung der Lebewelt gegeben. Er ist wirk-
lich jener ,, Newton der organischen Natur" geworden, der die
von Kant noch für unlösbar gehaltene Aufgabe tatsächlich ge-
löst hat: die Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen,
die keine Absicht geordnet hat, begreiflich zu machen (! S. 104.
W. 105 — 106). Daran hält Haeckel wie vor vierzig Jahren, so
i
^^Hauch heute
^^^^- tipiipr Zeit 1
HAECKELS „REINER" MONISMUS
119
tauch heute unbeirrt fest. Alle Einwände, die in alter wie in
'- neuer Zeit gegen diese „Erklärung" vorgebracht worden sind,
hält er gar nicht einmal zu widerlegen für nötig. Das Wieder-
aufleben des alten, totgeglaubten Vitalismus im Laufe der letzten
zwanzig Jahre erscheint allerdings auch ihm „befremdend"
(L. 33), nachdem durch Darwin das Rätsel der unabsichtlichen
Entstehung zweckmäßiger Gebilde ja längst endgültig ,, gelöst"
und das unheimliche ,, Gespenst der Lebenskraft auch aus seinen
letzten Schlupfwinkeln (der Seelentätigkeit und der Fortpflan-
zung) vertrieben" worden war {W. 106. L. 22). Aber alle diese
vitahstischen Annahmen widersprechen „unserer" reinen Ver-
nunft, der Einheit der Natur und dem Substanzgesetz (L. 148).
Und wenn man neuerdings gar hört, der {eigentliche) Darwi-
nismus sei stark im Rückgänge und das ganze jüngere Ge-
schlecht der Naturforscher habe sich mit wenigen Ausnahmen
von ihm abgewendet, so zeugt das nach Haecket von gründ-
licher Unkenntnisder Sachlage und der Literatur. Der unschätz-
bare Wert der Zuchtwahllehre, so versichert er uns, wird auch
gegenwärtig noch von den meisten sachkundigen und unbefan-
genen Vertretern der wissenschaftlichen Lebenskunde aner-
kannt (L. 149).^
IMit dieser Ausschaltung des Zweckbegriffs aber ist das
größte Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Natur-
auffassung beseitigt (W. 106). Darin liegt die ungeheuere philo-
sophische Bedeutung der Darwinschen Selektionstheorie und der
Haeckelschen Urzeugungshypothese samt der eng damit ver-
knüpften Kohlenstoff theorie: sie entscheiden den Kampf zwi-
schen der teleologischen oder (!) dualistischen und der mecha-
nischen oder (!) monistischen Weltansicht (W. 104. 106. 108).
Denn daß beide: die zweckmäßige und die ursächliche Betrach-
tung miteinander unvereinbar sind, ist für Haeckel eine ausge-
machte Sache. Ein ,,Metaphysiker", wie Ed. von Hartmann,
mag wohl behaupten (und sogar in einer Schrift, die direkt ge-
gen Haeckel gerichtet ist), ursächlicher Zusammenhang und
* Vergl. dazu R. H. Francs ,,Der heutige Stand der Darwinschen Fragen"
(Theod. Thomas, Leipzig, 1906). Und Ed. von Hartmann „Das Problem
des Lebens": bes. Kap. I „Die Abstammungslehre seit Darwin" (S. i — 77)
und Kap. II. „Mechanismus und Vitalismus in der modernen Biologie"
(S. 78—156). Aus beiden Werken, die (im Gegensatz zu Haeckels ganz all-
gemein gehaltener Behauptung) die Ansichten aller namhaften Forscher
der letzten Jahrzehnte genau wiedergeben, gewinnt man freilich einen
ganz anderen Gindruck von dem wirklichea Stande der Dinge.
WILHELM VON SCHNEHEK
Naturzwecktätigkeit seien gar keine Gegensätze, sondern die
eine nur die Kehrseite des anderen. Ja, er mag darauf hinwei-
sen, daß in dem konkreten Gesetz, nach dem sich in jedem Ein-
zelfalle die Umwandlung der Ursache in die Wirkung vollzieht,
ja die Richtung auf ein bestimmtes Ziel, also dieFinalität, schon
mitgegeben sei. Und er mag auch die Frage aufwerfen, wie sich
denn die bewußte Zwecktätigkeit der Individuen mit dem an-
geblich rein mechanischen und rein ursächlichen Naturzusam-
menhange vereinen lasse. Für Haeckel sind alle solche meta-
physischen Spitzfindigkeiten nicht der Beachtung wert, „ebenso-
wenig wie die naiven, damit verknüpften Einwände gegen den
Darwinismus" (W. io6). Für ihn ist Kausalität ohne weiteres
gleichbedeutend mit Mechanismus, beides aber unvereinbar mit
irgendwelcher Finalität. Endursachen und Zweckursachen sind
für ihn ausschließende Gegensätze. Und ebenso sicher wie er
überzeugt ist, daß es keine Zwecktätigkeit der Natur geben kön-
ne, weil diese mit dem ursächlichen Zusammenhange im Wider-
spruch stehe, ebenso unbekümmert nimmt er zweckmäßige
Handlungen der Menschen oder höheren Tiere an und ,, erklärt"
sogar die sekundären Instinkte und die apriorischen Denk- und
Anschauungsformen unseres Geistes aus ursprünglichen bewuß-
ten Zweckhandlungen, die allmählich zurGewohnheit geworden
seien und nunmehr unbewußt ausgeübt würden (W. 53). Einen
Widerspruch zwischen beiden Behauptungen empfindet er nicht.
Er ist überzeugt, daß der Mechanismus allein eine wirkliche Er-
klärung der Naturerscheinungen gibt (W. 104). Auch die An-
nahme einer unbewußtenNaturzwecktätigkeit oder einer im-
manenten Finalität bekämpft er als ,, an throp istische Vorstel-
lung", d. h. als Vermenschlichung der Natur (W. 105 — 107).
Und das hohe Ziel einer vernünftigen und einheitlichen Na-
turauffassung scheint ihm erst dann erreicht, wenn die ganze
organische Entwicklung ebenso wie das unorganische Geschehen
auf blinde, bewußtlos und planlos wirkende Naturkräfte, also
auf unvernünftige Ursachen zurückgeführt ist (W. 104.
V.L57)-'-
^ Irgendwie näher begründet oder auch nur erläutert ist jene Ansicht von
dem Ursprung unserer Denk- und Anschauungsformen (reilich nirgends in
allen Werken Haeckels. Nur in der anonymen Schrlit „Das Unbewußte vom
Standpunkt der Physiologie und der Deszendenztheorie" (1E72) war ein Ao-
lauf dazu genommen, und Haeckel empfahl „diese ausgezeichnete Schrift"
denn auch im Vorworte zur vierten Auflage seiner „Natürlichen Schöpfungs-
I
4
HAECKELS „REINER" MONISMUS
121
In diese groBe, rein mechanisch zu erklärende Entwicklung
ist nun selbstverständlich auch der Mensch mit eingeschlossen.
Gleich allen anderen Lebewesen, Pflanzen oder Tieren, ist auch
er nur ein Erzeugnis der Natur, ihnen allen durch gemeinsame
Abstammung verwandt und wie in körperlicher, so auch in gei-
stiger Hinsicht von ihnen nur dem Grade, aber nicht dem Wesen
nach verschieden. Diese einfache, allerdings unzweifelhafte Tat-
sache unserer geistigen und körperlichen Verwandtschaft mit
den übrigen Lebewesen betrachtet Haeckel selbst als „die feste
Grundlage und den gemeinsamen Ausgangspunkt für sämtliche
Gebiete seiner monistischen Philosophie" (W. 164. vgl. 158, L.
37) und wird darum auch nicht müde, sie mit denselben Wor-
ten immer wieder neu zu ,, begründen". Nicht nur die ganze
zweibändige ,,Anthropogenie" und längere Abschnitte ebenso
in der „Generellen Morphologie" wie in der ,, Natürlichen Schöp-
fungsgeschichte ", sondern auch noch vier ganze Kapitel seines
Welträtsel buch es beschäftigen sich allein mit der körperlichen
Seite dieser Frage. Und sechs weitere Kapitel über die Seele die-
nen in erster Linie dem Zweck, auch die geistige Verwandt-
schaft des Menschen mit den Tieren ,, gründlich" zu erweisen.
Da wird uns z, B. in einer „Stufenleiter der Seele" {W.47
bis 55) erst eine Skala der Empfindungen, dann eine solche der
Bewegungen (!), dann eine der Reflexe mit sieben Stufen, dann
eine der Vorstellungen und schließlich eine des Gedächtnisses
mit den vier Stufen des Zellulargedächtnisses, des Histonal-
gedächtnisses, des unbewußten Gedächtnisses in den Ganglien
und des bewußten Gedächtnisses in den Hirnzellen vorge-
führt. Wir hören weiter in einer „Keimesgeschichte der
Seele" näheres über die Seelenmischung bei der Befruch-
tung und wie „die Spannkräfte der beiden Elternseelen mittels
Verschmelzung der beiden erotischen Zellkerne erblich über-
tragen werden" {W. 59). Ja, wir bekommen auf Grund der ver-
steinerten Überreste von Knochen früherer Tiergeschlechter so-
gar eine ausführliche ,, Stammesgeschichte derSeele" {W.
62 — 70), bei der wir deutlich die folgenden Hauptstufen unter-
ge schichte" deren Lesern warm als den
nen Ansichten. Als sich dann aber Ed.
auswies und die Unzulänglichkeit des v
darlat, da — schwieg Haeckel. Und (
wesentlichen Ausdruck seiner eige-
Ton Hartmann als der Verfasser
in ihm selbst gemachten Versuches
hat bis heute weiter geschwiegen,
D daß ich den Lesern leider auch nicht verraten kann, wie er sich jene
Entstehung unserer Denk- und Anschauungsformen „aus Erfahrung" denn
nun eigentlicii näher ausmalt und verständlich zu machen sucht.
scheiden können: erst die Zellseele oder „Cytopsyche", bei
der die seelischen (!) Vorgänge der Empfindung und Bewe*
gung (!) noch mit den molekularen Lebensprozessen im Plas-
ma selber zusammenfallen (W. 63); dann die Zellvereinseele
oder „Coenobialpsyche", bei der wir die seelischen Tatsachen
der Bewegung und der Empfindung „unmittelbar beobachten
können" (! W. 64); dann die Gewebeseele oder „Histopsyche",
bei der wir außer den Sonderseelen der einzelnen Zellen auch
noch eine einheitliche sie beherrschende Staatsseele „unmittel-
bar nachweisen" können (W. 65); dann die Pflanzenseele oder
„Phytopsyche", bei der die Reizleitung mit zu den Seelentätig-
keiten gehört (W. 66); dann die Seele nervenloser Metazoen:
als da sind die Gasträaden oder Urdarmtiere, die Spongien oder
Schwammtiere und die Nessel tiere oder Cnidaria, bei denen „sich
die geschichtliche Entstehung der Nervenseele aus der Gewebe-
seele vor unseren Augen vollzieht" (W. 67); und schließlich die
Nervenseele oder „Neuropsyche", die durch einen eigenen, mehr
oder minder komplizierten „Seelenapparat" „vermittelt" wird
und durch achtPerioden in der Bildung des Medullär- Rohrs end-
lich bis zur Menschenaffen- und Menschenseele hinaufführt (W.
67—68).
Auf diese schönen, zum größeren Teil durch ihn selbst erst
entdeckten ,, Tatsachen", über die der wißbegierige Leser das
Nähere in den „Welträtseln" selbst nachsehen muß, gründet
sich nunHaeckels ,, monistische Seelenlehre", die sich zu-
nächst in entschiedenen Gegensatz stellt zu der heute, wenig-
stens in Europa, unter dem Einfluß der Kirche und der Schule
noch allgemein herrschenden Ansicht, wonach die Seele des
Menschen ein besonderes Wesen sein soll, das nur zeitweilig im
Gehirn oder im ganzen Leibe seine Wohnung genommen hat
und nach dem Tode selbständig weiterleben wird {L. 9. W. 40.
81). Die durch Abstammungslehre und vergleichende Seelenfor-
schung erwiesene Tatsache der Verwandtschaft aller Lebewesen
auch in geistiger Hinsicht, die allmähliche Entwicklung der See-
le sowohl im Einzelteben wie im Laufe der Stanunesgeschichte
und die offensichtliche Abhängigkeit aller seelischen Tätigkeit
von bestimmten körperlichen Anlagen und Zuständen: all das
widerlegt, wie Haeckel mit Recht nicht müde wird, zu betonen,
für jeden Unbefangenen jene hergebrachte ,, triviale" und ,|dua-
listische Auffassung" von dem Wesen der menschlichen Seele
(W. 40. 83—84 u. a.). Aber es beweist, so meint er, auch noch
mehr: es beweist, daß die Seele eine bloße Naturerscheinung
und jede sogenannte „geistige Tätigkeit" in Wahrheit auch nur
eine körperliche Tätigkeit ist. Zwar haben nicht nur von jeher
dualistische (und monistische!) Philosophen, sondern auch me-
chanistische Naturforscher, wie z.B. du Bois-Reymond, das
Bewußtsein als eine unübersteigliche „Grenze des Naturer-
kennens" bezeichnet: als eine über das Gebiet der Natur und
der Naturwissenschaft hinausliegende Erscheinung, die zu
äen körperlichen Vorgängen in grundsätzlichem Gegensatze
stehe (M. 44). Aber Haeckel muß gegen ein solches testlmonium
paupertatis der Naturwissenschaft ausdrücklich Verwahrung
einlegen (V. II, 146). Es gibt nichts, so versichert er, was der
naturwissenschaftlichen Erkenntnis unerreichbar wäre (L. 37),
Und vor allem ist es eine , .veraltete Ansicht", daß das Bewußt-
sein ein Welträtsel für sich sei (M. 44). Es gibt nicht zwei ver-
schiedene, schlechthin unvergleichbare Welten: eine geistige
Innenwelt des Bewußtseins und eine körperliche Außenwelt
des materiellen Daseins (W. 74). Diese angeblichen zwei Welten
sind in Wahrheit nur Eine. Und die Entwicklungslehre schlägt
die Brücke zwischen ihnen (L. 12 u. a.). Denn sie lehrt uns,
daß auch das Bewußtsein nur eine verwickelte Tätigkeit der
Nervenzellen ist, die im Laufe der Stammesge schichte erst all-
mählich durch Anpassung erworben und durch Vererbung lang-
sam weiter entwickelt wurde {V, I. 192): und zwar aus ur-
sprünglich unbewußten Empfindungen und Vorstellungen,
die auch heute noch bei uns Menschen fließend in bewußte
übergehen (V. 1. 191. W, 71, L. 115).
Nun stimmen freilich heute fast alle Philosophen darin über-
ein, daß eine ,, unbewußte Empfindung" ein Widerspruch in
sich sei, weil , .Empfinden" ja gerade das ,,Insichfinden" oder
„Bewußt werden eines Eindrucks" bedeute. Und man liest wohl,
das Bewußtsein seiimGrunde nichts weiter alsEmpfindungs-Sein
oder die Seinsart der Empfindungen.' Aber Haeckel erklärt diese
Ansicht für entschieden ,, verwerflich" (L. 115). Er kennt nicht
nur „unbewußte Empfindungen", sondern auch ein , .unbewuß-
tes Gedächtnis", eine ,, unbewußte Vorstellung als das innere
Bild des äußeren Objektes" usw. (! W. 50—51 u. a.). Und wie
sich das Bewußtsein als ,,die subjektive Spiegelung der objek-
I Siehe Arthur Drews: „Die Religion als SelbsbewuQtsein Gottes" S. 336
bis 288. „Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung" S. 3^8
bis 333.
WILHELM VON SCHNEHEN
IZ4
tiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen" ( ! 1 W.
55) aus der unbewußten „ Assozionsarbeit" im „Phronema" un-
serer älteren Wirbel tierahneii stufenweise und allmählich histo-
risch entwickelt hat (L. 12), so gewinnen auch heute noch un-
sere Sinnesorgane in de^Form von unbewußten Empfindungen
„Kenntnisse von der Außenwelt"; aus diesen werden durch die
verknüpfende Tätigkeit der „Assozionszentren" unbewußte
Bilder oder Vorstellungen gewonnen, und diese werden dann
erst nachträglich im Bewußtsein der Denkherde gespiegelt (L.
6 — 7. W. 67. 50—51). Ob nicht mit dieser Spiegelung der „un-
bewußten Empfindungen" (oder auch der „objektiven inneren
Nervenvor gange") im Bewußtsein eben doch wieder ein Ge-
gensatz zweier Seinsweisen, eine subjektiv - ideale Welt
des Bewußtseins neben der objektiv- realen Welt des unbewuß-
ten Daseins anerkannt ist, überlegt Haeckel nicht. Er ist ohne
weiteres überzeugt, daß er durch seine unbewußten Empfin-
dungen mit Hilfe der Entwicklungslehre und der Lehre von
den spezifischen Sinnesenergien {L. 185) eine Brücke zwischen
jenen beiden nur mit Unrecht für verschieden gehaltenen
Welten geschlagen und die rein natürliche Beschaffenheit
auch des Bewußtseins erwiesen hat.
Und so ist denn für ihn die ,, Seele" als Inbegriff aller seeli-
schen Tätigkeiten des Plasma eine , ,ph ysiologische Abstraktion" :
genau wie der Begriff ,, Stoffwechsel" oder ,, Zeugung" (! W. 47).
Das Bewußtsein ist ein physiologisches oder neurologisches Pro-
blem (W. 75. M. 23). Empfinden, Denken, Urteilen, Schließen sind
Gehirntätigkeiten (W, 83, L. 2, 6), Empfindung und Gefühl rein
physiologische Begriffe (L. 1 18), Bewußtsein, Vernunft und Ge-
müt körperliche Arbeitsleistungen, wie der Herzschlag und die
Muskelbewegung (W. 54. M.z2. L. i28u. a.). Bei den einfachsten
Tieren ist das ganze Plasma der Träger der Seele; bei den höhe-
ren Tieren sind die Ganglienzellen als die eigentlich aktiven Ele-
mentarorgane der Seele zu betrachten (W. 68. 83. L. 135): sie
„bewirken" alles Vorstellen und Denken (W. 67). Und die che-
mischen Vorgänge in den Ganglienzellen der Großhirnrinde
müssen {bei uns Menschen und den höheren Tieren) als die ei-
gentlichen ,, Faktoren der Erkenntnis" gelten (L. 9). Darum heißt
das Gehirn auch kurzweg ,, Seelenorgan" oder ,, Denkorgan"
(W.39. 53), die vier großen Denkherde oder ,, Assozionszentren"
(nämlich: das Stirnhirn oder ,, frontale Assozionszentrum", das
Scheitelhirn oder ,, parietale Assozionszentrum", das Prinzipal -
IW. ■
HAECKELS „REINER" MONISMUS 125
him oder groBe „occipito- temporale Ässozionszentrum'' und
das Inselhim oder „insulare Assozionszentrum") gelten als jene
höchsten „Werkzeuge der Seelentätigkeit"» welche das Denken
und das Bewußtsein „vermitteln" (W. 76. L. 6 — 7). Und das
„Phronema", d. h. die graue Nervenmasse der Vorderhirnrinde,
ist „nach unserer monistischen Überzeugung" der „psychische
Organapparat" oder das eigentliche „Organ des Denkens" in
demselben Sinne, wie das Herz das zentrale Organ des Blutkreis-
laufes ist (L. 7. 8.)- Demgemäß ist denn für Haeckel auch die
Seelenlehre nur ein Zweig der Physiologie oder Lehre von den
Lebenstätigkeiten der Organismen (M, 22. W. 164). Sie steht als
nächstverwandte Wissenschaft neben der Sinneslehre, der Be-
wegungslehre, der Lehre vom Stoffwechsel und der Lehre von
der Zeugung als den vier übrigen Teilen der Wissenschaft vom
Leben (W. 94) und ist, soweit es sich um die menschliche Seele
handelt, nichts weiter als Gehimf orschung (L. 193). Ja, die re-
flektorischen, instinktiven und spontanen Bewegungen ge-
hören als solche selbst schon zu den seelischen Tätigkeiten
oder „psychologischen Tatsachen", die wir, ebenso wie die
Empfindungen auch, „unmittelbar beobachten" (W. 64. 48
u. a.)* Und es ist daher auch ganz in der Ordnimg, wenn uns
z. B. in der „Stammesgeschichte der Seele" die Entwicklung
des Rückenmarks vorgeführt wird; denn damit haben wir ja
auch schon die Entwicklung der Wirbeltierseele selbst vor
Augen.
Nun beruhen aber alle Lebenstätigkeiten ohne Ausnahme auf
einem Energieumsatz oder Kraftwechsel. Und davon machen
auch die Seelentätigkeiten keine Ausnahme. Auch sie beruhen,
nach Haeckel, auf Verwandlung von Spannkraft in lebendige
Kraft oder umgekehrt (W. 94). Das Gedächtnis z. B. ist als Über-
gang der Vorstellungen aus dem potentiellen in den aktuellen
Zustand nichts weiter als Verwandlung der latenten Spannkraft
des Psychoplasma in aktive lebendige Kraft (W. 51).^ Was wir
Empfindung oder ( ! ) Reizwirkung nennen, kann als eine beson-
dere Form der lebendigen Kraft oder aktuellen Energie ange-
sehen werden, die Empfindlichkeit oder Reizbarkeit dagegen als
^ Die betreffende Steile (W. 5 z) gehört zu den kostbarsten Offenbarungen
Haeckelschen Tief sinns. Ich gebe sie deshalb hier zur Belehrung der Leser
unverkürzt wieder. Sie lautet: „Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reis
als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen gewor-
den waren, werden durch das Gedächtnis neu belebt; sie gdien aus dem po-
tentiellen in den aktuellen Zustand über. Die latente Spannkralt im Psycho*
126
WILHELM VON SCHNEHEN
eine Spannkraft oder eine Form der potentiellen Energie (L. 1 1 6),
Und die Umsetzung eines äußeren Reizes in eine innere Emp-
findung wird von der „monistischen Physiologie" als ein Vor-
gang des Kraftwechsels betrachtet: als Verwandlung einer Ener-
gieform in die andere (L. 185). Wie die einfachsten physikali-
schen und chemischen Vorgänge, lassen sich also auch die höch-
sten Leistungen des Menschengeistes auf besondere Formen
der Energie oder allgemeinen Naturkraft zurückführen (L. 36).
Das gesamte Seelenleben der höheren Tiere, Denken und Ver-
nunft des Menschen sind nur besonders verwickelte und hoch-
entwickelte Energieformen (W. 90); eigentümliche Erschei-
nungsformen der Nervenenergie, die man als „phronetische
Energie" oder Arbeitsleistungen der Denkherde der grauen
Vorderhirnrinde von den übrigen Äußerungen der Kervenener-
gie unterscheiden kann (L. 135). Auch das Bewußtsein ist
nichts weiter als eine solche besondere Form der Nervenenergie
(L. 185). Zwar unterscheidet es sich von allen übrigen Energie-
formen in eigentümlicher Weise dadurch, daß es nicht, wie sie,
objektiv und von außen mit den Sinnen oder Maßstäben der Na-
turwissenschaft, sondern immer nur von innen, auf subjektivem
Wege zu beobachten ist (W. 42. 70). Auch besteht nach dem
Weber-Fechnerschen Gesetz zwischen der Stärke der von außen
auf uns einwirkenden Reize und der Stärke der dadurch ausge-
lösten Empfindungen des Bewußtseins keine Gleichwertigkeit
(Äquivalenz), sondern vielmehr ein logarithmisches Verhältnis
{W. 43). Aber Haeckel schließt daraus nicht, daß bei dem Über-
gang vom Reiz zur bewußten Empfindung das Gesetz von der
Erhaltung der Energie eben seine Gültigkeit verliert, sondern
meint vielmehr, durch jene ,,Psychophysiker" sei die strenge
Geltung physikalischer Gesetze auf einem, wenn auch nur
sehr kleinen Gebiete des sogenannten ,, Geisteslebens" dargetan
worden (W. 43. 44. L. ir4. K. 71 — 72). Und er hält somit daran
fest, daß das Bewußtsein, wie alle anderen Äußerungen des See-
lenlebens, eine bloße Naturerscheinung und darum gleich ihnen
auch dem Substanzgesetz unbedingt unterworfen sei (W. 70. 77.
83. 54- N. 37!)-' _^
plasma verwandelt sich in aktive lebendige KrafL" Auch nach W. 50 kön'
nen die Empfindungen (I) bleibende Spuren im Psych oplasma hinterlassen,
und diese bleibenden Eindrücke ([) werden später vom Gedächtnis reprodU'
ziert, was wir nur erklären können durch die Annahme einer an das Psycho-
plasma der assoziierten Gewebezelten gebundenen „Histonal Vorstellung". —
^ VgL meine Schrift „Energetische Weltanschauung?" Eine kritische Studie
Nun bestehen aber nach Haeckel alle energetischen Vorgänge
letzten Endes in Bewegungen der Materie oder ihrer kleinsten
Teile (W. go. L. i86). Bei jeder Verwandlung einer Energieform
in eine andere handelt es sich, ebenso wie bei jedem Übergang
von potentieller in aktuelle Energie, um Lageve ränderungen der
Atome, die sich ohne Ausnahme den allgemeinen Gesetzen der
Mechanik unterordnen (L, 185). Und auch die Physiologie ist,
wie wir sahen, nichts weiter als Physik der Organismen oder
physikochemische (d. h. mechanische) Erforschung der leben-
digen Naturkörper (L. 38. W, 87), Gleichviel also, ob sie uns im
Einzelfalle als „energetische" oder aber als ,, physiologische"
Vorgänge hingestellt werden; beides kann im Sinne eines rein
naturwissenschaftlichen Monismus, der ,,aUe Erscheinungen
ohne Ausnahme auf Mechanik der Atome zurückzuführen be-
strebt sein muß" (M. ig), immer nur besagen, daßauch die see-
lischen Erscheinungen nur mechanische Vorgänge oder
bestinunte gesetzmäßige Bewegungen kleinster Stoffteile seien.
Und das ist tatsächhch auch Haeckels an vielen Stellen unzwei-
deutig ausgesprochene Ansicht. So wird z. B. gegenüber Vir-
chow die Seele ausdrücklich als eine besondere Form der Bewe-
gung bezeichnet (V.U. 253). Gleich allen anderen Lebenserschei-
nungen, heißt es, beruhen auch die des Seelenlebens nur auf ma-
teriellen Bewegungsvorgängen: und zwar auf Bewegungen der
Plassonmoleküle oder Plastidule, der kleinsten Teile des Proto-
plasmeis. Wir würden sie, gleich allen anderen Naturvorgängen,
wirklich erklären und begreifen können, wenn wir imstande
wären, sie auf Mechanik der Atome zurückzuführen (V. II. 248
bis 249. 252). Aber die chemischen Prozesse sind hier eben sehr
verwickelt und bestehen in besonders auffallenden, periodisch
sich wiederholenden Bewegungen. Das ist es, was wir meinen,
wenn wir die Organismen als „beseelt" bezeichnen (V. IL
354). Wenn diese psychische (!) Mechanik, die Psychophysik,
nicht so unendlich zusammengesetzt und verwickelt wäre,
wenn wir imstande wären, auch die geschichtliche Entwick-
lung der psychischen Funktionen vollständig zu übersehen,
so würden wir sie alle, mit Einschluß des Bewußtseins, in eine
mathematische Seelenformel bringen können (! V. II. 249). Nur
weil wir das heute noch nicht können, erscheint uns das ei-
mit besonderer Rücksicht auf Wilh. Ostwalds Naturphilosophie. {Leipzig 1 908.
Verlag von Tbeod, Thomas): bes. Kap. IV. Energie, Bewußtsein und Seele
(S. 103—133).
gentliche Wesen des Bewußtseins unverständlich (V. II. 146.
L. 116).
Indessen die Entwicklungslehre hilft uns, wie schon früher
dargetan ist, auch über diese Schwierigkeiten hinweg (V. I.
190 — 192. W. 77. L. 136). Bei den niederen Lebewesen tritt ja
die rein mechanische Beschaffenheit der Seelen Vorgänge oflen
zutage (W. 63. 65). Alles höhere Seelenleben aber hat sich doch
nur durch eine lange Reihe verschiedener Stufen aus diesen nie-
deren Formen entwickelt. Es beruht also auf Vererbung (^ Fort-
pflanzung) und Anpassung {= Ernährung). Und da diese Vor-
gänge auf molekulare Bewegungen mechanisch zurückführbar
sind, so auch die des Seelenlebens (V. II. 355. L. 117). „Sie ver-
laufen als physikalische Prozesse im Neuroplasma des Gehirns"
(L. 136 ähnlich L. iij)- Davon machen auch, wie Haeckel schon
vor vierzig Jahren richtig erkannt hat, die bewußten Seelenzu-
stände keine Ausnahme (L. 1 1. W, 75). Wie diese Ansicht damit
zu vereinen ist, daß das Bewußtsein nur ,,die subjektive Spie-
gelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der
Seelenzellen" sein soll (W. 55), und zwar keine reale, also doch
wohl eine rein ideelle Spiegelung (N. 23), darüber vernehmen
wir nirgends etwas Näheres. Um so entschiedener aber klingt
uns, jetzt sogar von jeder bedingenden Einschränkung befreit
und aus dem futurum ins praesens übersetzt, die Versicherung
von der rein mechanischen Erklärbarkeit des Bewußtseins ent-
gegen. ,,Das Bewußtsein ist", so vernehmen wir, ,,in gleicher
Weise wie die Empfindung und der Wille der höheren Tiere eine
mechanische Arbeit der Ganglienzellen und als solche auf che-
mische und physikalische Vorgänge im Plasma derselben zu-
rückzuführen" (M, 23, L. 117. 136. W. 75). ,, Jetzt wissen wir",
daß, wie das Flammenlicht eine Summe von elektrischen Äther-
schwingungen ist, so die ganze Seele nur „eine Summe von Plas-
mabewegungen in den Ganglienzellen" (M. 45). Bei unserem
Tode aber gehen ,,die komplizierten chemischen Verbindungen
unserer Nervenmasse durch Zersetzung in andere Verbindungen
über und die von ihr produzierten lebendigen Kräfte (nämlich
die Empfindungen, Gedanken und sonstige unter dem Namen
„Seele" zusammengefaßte mechanische ,, Arbeiten") werden in
andere Bewegungsformen umgesetzt" (M. 24, vgl, 23). —
Nach Ausweis dieser Stellen, die sich leicht noch vermehren
ließen, wäre also Ha eckeis monistische Seelenlehre rein
materialistisch (W. 40. V. II. 248), obschon sie diese ihre
wahre Beschaffenheit für gewöhnlich unter allgemeineren Aus-
drücken (wie physiologische Funktion, Energiewechsel usw.)
etwas verbirgt. Und sie unterscheidet sich von der Kraftstoff lehre
Ludwig Büchners, der von Haeckel auch als monistischer
, .Philosoph" vielfach lobend erwähnt wird {W. 80 u. a.), nur
durch ihre Verbindung mit dem Entwicklungsgedanken: d, h.
durch den Glauben, das täglich in jedem Lebewesen sich neu
wiederholende Wunder der Entstehung des Bewußtseins aus
äußeren Bewegungen stofflicher Teilchen werde leichter ver-
ständlich, wenn es aus der Gegenwart in die Vergangenheit
zurückverlegt und hier auf eine lange Reihe nicht näher an-
zugebender ,, Übergangsstufen" verteilt wird. Freilich wünscht
Haeckel selbst die Einseitigkeit des Materialismus (ebenso wie
die des Spiritualismus) dadurch zu überwinden, daß er eine AI 1 -
beseelung der Materie annimmt, und er wird nicht müde,
diesen Gedanken als einen wesentlichen Bestandteil und Vorzug
seines ,, reinen und konsequenten Monismus" zu bezeichnen
(W. 14. L. 118. 135 u. a.). Es gibt keine tote Materie, so lesen wir
immer wieder: die Empfindung ist ebenso eine allgemeine Eigen-
schaft der Materie, wie die Bewegung, und kommt demgemäß
auch schon deren kleinsten Bestandteilen, den Atomen, zu (V.
H. 60.W. 73). Jedes Atom hat außer seiner stofflichen Masse
auch eine ewige, unzerstörbare ,, Seele" (V. II. 61). Aber dann
heißt es doch auch: ,, beseelt" seien die Atome nur insofern, als
ein jedes von ihnen eine ,, inhärente Summe von Kraft" besitze
(V. n. 60). „Die Summe der zentralen Atomkräfte können wir
in konsequent monistischem Sinne auch , Atomseele' nennen"
(V. II. 133). Denn Lust und Unlust, Lieben und Hassen der
Atome sind ja ,,nur andere Ausdrücke" für die ihnen inne-
wohnenden Kräfte der Anziehung und Abstoßung (M. 14. V.
II. 354). Und da für ,, unseren Monismus" der ,, feinere Unter-
schied zwischen Kraft und Energie" nicht in Betracht kommt
(W. 87. 93), so liefe seine Allbeseelungslehre am Ende doch
bloß auf die Ansicht hinaus, daß — alle Materie mit Energie
verbunden ist.
In der Tat zieht denn auch Haeckel selbst diese unvermeid-
liche Folgerung. Seine Ansicht, so sagt er, gehe dahin, daß alle
Substanz „beseelt", d. h. mit Energie begabt sei (L. 118). Und
er fügt noch hinzu, gerade in dieser energetischen Auf-
fassung der Substanz unterscheide sich sein Monismus wesent-
lich von der materialistischen Lehre, die mit Unrecht allem
130 WILHELM VON SCHNEHEN
Stoffe oder einem Teile des Stoffes alle Empfindung abspreche
und die aktuelle Energie als eine Funktion der toten Materie
ansehe (L. ii8. 35). Auch haben wir ja die Empfindung schon
als eine besondere Form der lebendigen Kraft oder der aktu-
ellen Energie, wie die Empfindlichkeit oder Reizbarkeit als eine
Spannkraft oder besondere Form der potentiellen Energie ken-
nen gelernt (L. 116). Und es stimmt ganz damit überein, wenn
die ,,Zellseele*' im monistischen Sinne als die ^^Gesamtsumme
der Spannkräfte'* bezeichnet wird, die im Protoplasma aufge-
speichert sind (V. IL 145) oder auch als die Summe der psychi-
schen (I) Spannkräfte, deren materieller Träger der Zellkern ist
(W. 59). Denn „psychische Spannkraft" oder, wie es anderwärts
heißt, „psychische Energie** (W. 81) bedeutet nach Haeckels
ausdrücklicher Versicherung nichts anderes als „eine besondere
Kombination von echten (d. h. mechanischen) Naturkräften**
(N. 9). Wie ja auf der anderen Seite auch das Protoplasma, in-
sofern es der Träger dieser besonderen, unter den Begriff der
„Seele** zusammengefaßten Verbindungen von Atomkräften
ist, gern als „Psychoplasma**, als „Seelensubstanz im moni-
stischen Sinne**, als „psychische Materie** oder kurzweg als
„Seelenstoff** bezeichnet wird (W. 47. 81 1). Und wir kämen
somit auch hier wieder auf die gewöhnliche materialistische
Auffassimg des Seelenlebens zurück: die Allbeseelungslehre
Haeckels wäre nur ein anderer Name für die Kraftstofflehre
Ludwig Büchners, und wie für diesen, so gäbe es auch für jenen
in Wahrheit keinen seelischen Innenzustand, sondern nur
äußere Bewegungen stofflicher Teilchen, die durch deren me-
chanische Zentral- oder Potentialkräfte bewirkt werden.^
Nun läuft aber neben dieser Auffassung der Atomseele als
Atomkraft bei Haeckel noch eine zweite, ganz andersartige
einher, die einen Unterschied zwischen Kraft und Empfindung
voraussetzt und uns wirklich über den Gedankenkreis des Ma-
terialismus hinaus zu seelischen Innenzuständen führt.
Masse und Äther, so heißt es, sind nicht tot und nur durch
^ Wenn sich Haeckel selbst trotzdem auch mit dieser Anschauung schon im
Gegensatz zum Materialismus zu befinden meint, so kommt das wohl da-
her, daß er in solchen Augenblicken nur andiereineStofflehre oder Stolf-
bewegungslehre des älteren, konsequenten Materialismus denkt (Demo-
krlt, Gassendi u. a.)> aber nicht an die Kraftstofflehre des neueren,
inkonsequenten Materialismus (Büchner u. a.}* Nur jener ist ein Monis-
mus (freilich der dümmste von allen!}, dieser dagegen ein metaphysischer
Dualismus.
äußere Kräfte beweglich, sondern sie besitzen Empfindung und
Willen, natürlich niedrigsten Grades; sie empfinden Lust bei
Verdichtung, Unlust bei Spannung; sie streben nach der ersteren
und kämpfen gegen die letztere (W. 89). Man darf sich diese
elementaren seelischen Tätigkeiten der Empfindung und des
Willens in den Atomen nur nicht bewußt denken, sondern un-
bewußt (W. 73). Und es wäre daher vielleicht zweckmäßiger,
sie als Fühlung {Asthesis) und Strebung (Tropesis) zu bezeich-
nen (L. 118). Ob dabei die Empfindung von Haeckel als Ursache
oder aber als Folge der Bewegung angesehen wird, läßt sich
nach den vorliegenden Aussprüchen schwer entscheiden. Für
gewöhnlich erscheint sie als die Ursache der Bewegung, die
durch sie ausgelöst wird {L. 187, ähnlich L, iS. 35. i2i.V.II. 60).
Was auch damit übereinstimmt, daß die Empfindung für
Haeckel nicht ein Leiden, sondern eine Tätigkeit ist, die so-
gar neben der Bewegung als , .elementare Naturkraft" auf-
tritt (1 W. 47. 73). Dann aber erscheinen die Empfindungen
der Lust und Unlust oder Wohlbehagen und Mißbehagen auch
wieder als die Begleitzustände oder Folgen der Bewegung (L.
187), die ihrerseits nun als Äußerung eines unbewußten Wol-
lens oder Strebens nach Lust und Unlust angesehen wird (L.
118. W. 89. 54). Was jedoch nicht verhindert, daß Empfin-
dung und Wille zuweilen auch beide miteinander als Ursachen
der Bewegung auftreten {V. IL 60 — 61} oder daß das Streben der
Atome selbst schon als Willensbewegung einfachster Art be-
zeichnetwird(W. 89). Und nicht minder schwer zu entscheiden
ist es, was nun eigentlich die Kraft noch bedeutet, nachdem sie
ihre alte Stelle als Ursache der Bewegung an die Empfindung
oder an den Willen abgetreten hat. Zuweilen scheint es, als wolle
Haeckel im Anschluß an Schopenhauer (L. 187) und Hart-
mann den an sich ja völlig dunklen Begriff der ,, Kraft" inner-
lich als ,, Willen" deuten, wobei dann freilich das Verhältnis zwi-
schen Willen und Empfindung noch der näheren Aufklärung be-
dürfte. Zu anderen Zeiten aber ist es ganz unzweifelhaft, daß
unter „Kraft" oder „Energie" im Sinne der Physik und im Un-
terschiede von den inneren Triebfedern der Empfindung und des
Willens einfach die Bewegung selber verstanden wird: „die
Schwingung der bewegten Massenteilchen im Räume" (L. 186.
W. 88 — 89. vergl. auch L, 1S7 ,,die Energie als bewegte Sub-
stanz"). Werden uns doch auch Empfindung und Bewegung
immer wieder als die beiden gleich ursprünglichen und offenbar
9*
X32 WILHELM VON SCHNEHEN
einzigen Eigenschaften der Substanz oder der Materie bezeich-
net (W. 97. V. IL 356. W. 47. L. 186 u. a.).
Indes, was nun auch Haeckels eigentliche Ansicht über diese
Dinge sein möge, eins ist klar: mit der Annahme einer, gleich-
viel ob bewußten oder unbewußten, Empfindung in den beweg-
ten Atomen sind, wenigstens bei diesen, zwei verschiedene,
wohl zusammengehörige, aber doch ihrer Beschaffenheit nach
unvergleichbare Seiten anerkannt: eine Innenseite des geistigen
Geschehens und eine Außenseite des natürlichen, räumlichen
Daseins und Wirkens. Das Gebiet der Naturwissenschaft : die
sinnlich wahrnehmbare Körperwelt ist im Widerspruch mit der
ursprünglichen Absicht (L. 37. 181) nun doch überschritten und
wir haben eine doppelseitige Erscheinungswelt, die nur
mit ihrer einen, nach außen hin gekehrten Seite den Sinnen
und den Maßstäben der Naturwissenschaft zugänglich ist, mit
der anderen, nach innen zu gekehrten Seite aber nicht. (Phä-
nomenaler Dualismus).
Allerdings dient diese Annahme einer geistigen Innenseite in
den Atomen bei Haeckel zunächst und vorwiegend nur zur Er-
klärung der natürlichen Erscheinungen. Oder um uns die
äußeren mechanischen Vorgänge innerlich näher zu bringen
und ihrem eigentlichen Wesen nach verständlich zu machen
W. 88. L. 185). Womit offenbar eingeräumt wird, daß wir die
Welt schließlich doch nur nach Analogie unserer eigenen, uns
allein unmittelbar gegebenen seelischen Innenzustände wirklich
verstehen können, während die bloßen Bewegungen stofflicher
Teile an sich etwas völlig Unverständliches, Sinnloses darstel-
len. In diesem Sinne heißt es: ohne die Annahme eines Empfin-
dungsvermögens auch in der unbelebten Materie sei schon die
einfachste chemische Erscheinung (wie z.B. die Wahlverwandt-
schaft) und der einfachste physikalische Vorgang (wie z. B. die
Massenanziehung) nicht zu begreifen (W. 165. L. 35. 186. V. II.
60). Ohne Empfindung, natürlich unbewußter Art, können sich
nach Haeckels Ansicht die Moleküle eines in der Bildung be-
findlichen Kristalles nicht in bestimmter Richtung bewegen
und nach festen Gesetzen aneinanderlegen (L. 18); ohne sie
ist die gesetzmäßige Anordnung der beweglichen Massenteile
zu einem Gebilde von bestimmter Form nicht zu erklären
(L. 35). Ja, sogar das verschiedene Verhalten der chemischen
Elemente gegen thermische Reize müssen wir auf die Wärme-
empfindung der sie zusammensetzenden Atome zurückführen
(I L. I2i).' — Das ist Haeckels Hylozoismus: diesesWortin
seinem eigentlichen Sinne als ,, Stoff beseelungslehre", nicht als
bloße ,, Kraftstoff lehre" verstanden. Inbezug auf alles höhere
Seelenleben — von der Urzelle bis hinauf zum Menschen — ist
freilich auch diese Ansicht noch als Materialismus zu be-
zeichnen. Denn sie erkennt auch in geistiger Hinsicht keinen
grundsätzlichen Unterschied zwischen unbelebter und belebter
Matur an, läßt in dieser keine anderen Kräfte und Gesetze gel-
ten als in jener und „erklärt" alle höheren seelischen Erschei-
nungen in den Lebewesen eben doch wieder aus den bloBen
Eigenschaften und mechanischen Bewegungen der Materie. Sie
gesteht also eine geistige Innenseite im wahren Sinne des Wortes
nur den Atomen zu, den höheren Individuen als solchen, als
einheitlichen Organismen im Unterschiede von den einzelnen
sie zusammensetzenden Atomen und deren getrennten Empfin-
dungen, aber nicht. Also da, wo der Geist uns als etwas mehr
oder weniger Einheitliches unmittelbar in der Erfahrung gege-
ben ist: in unserem eigenen Bewußtsein, da wird er als solcher
geleugnet und als falscher Schein einer gar nicht vorhandenen
Einheit entweder in eine Summe von getrennten Atomempfin-
dungen oder gar in bloße Bewegungen einzelner stofflicher Teile
aufgelöst. Da aber, wo wir ihn nur durch einen recht kühnen
Analogieschluß hineintragen: in den unsichtbaren, nicht ein-
mal mit ihrer stofflichen Außenseite jemals wahrgenommenen
Atomen, da erhält er sein Heimrecht 1 1
Irgendwie näher ausgelassen über diese Schwierigkeit eines
jeden rein mechanistischen Hylozoismus hat sich Haeckel nir-
gends. Wohl aber wird zuweilen der Gedanke angedeutet, durch
zufälliges Zusammentreffen und mannigfaltige Verbindung der
Atomempfindungen könnten sich aus diesen zunächst die zu-
sammengesetzten Empfindungen der Moleküle und Plastidule,
aus deren seelischen Tätigkeiten oder Innenzuständen durch
Vereinigung wieder die höheren Empfindungen der Zellseelen
' Also: erst führt die NatumissenschaEt das, was wir „Wärme" nennen
oder als solche empfinden, auf bestinmite Bewegungszustände der Atome
in den fraglichen Körpern zurück, und dann erklären wir nach Haeckel
diese eigenartigen Bewegungszustände der Atome wieder aus deren Wärme-
empfindungen ! I Vielleicht verrät uns Dr. Heinrich Schmidt demnächst
auch, ob man in Jena ebenso jene Äthers chwingungen, die in unserem Be-
wußtsein die Empfindung „blau" hervorrufen, schon auf die Farbenempfin-
dung des schwingenden Äthers zurückgeführt hat. Die Leser würden ihm für
t solche Aufklärung gewiß dankbar sein.
134
WILHELM VON SCHNEHEN
(V. II. 133 — 134) und aus diesen schließlich durch weitereVei
knüpfung und Vereinheitlichung (Assoziation und Integration! "
die Empfindungen und Vorstellungen aller höheren Grade des
Seelenlebens bis hinauf zu denen des Menschen erklären lassen
{W. 40, 48. 52). ,,Die einfachste Empfindung von Lust und Un-
lust", so lesen wir, „die einfachste Bewegungsform von Anzie-
hung und Abstoßung : das sind die wahren Elemente, aus denen
sich in unendlich mannigfaltiger und verwickelter Verbindung
alle Seelentätigkeit aufbaut. Der Atome Hassen und Lieben, An-
ziehung und AbstoBung der Moleküle, Bewegung und Empfin-
dung der aus Zellen zusammengesetzten Organismen, Gedan-
kenbildung und Bewußtsein des Menschen — das sind nur ver-
schiedene Stufen des universalen psychologischen Entwick-
lungsprozesses" (V. II. 134). Indes spielen hier eben doch in
die inneren seelischen Vorgänge der „Empfindung" überall
noch die äußeren der „Bewegung" mit hinein, und es bleibt ziun
mindesten unklar, ob jene ,,Assozion (!) der früher isolierten
und lokalisierten Empfindungen" (W. 52) nicht am Ende doch
(nach Analogie von M. 34 und all den anderen vorerwähnten
Stellen) rein materialistisch nur als ein t)esonders verwickelter
Bewegungsvorgang, als ein äußeres Zusammentreten der stoff-
lichen Atomkörper oder bestenfalls als ein ebenso äußerliches
Zusammenwirken ihrer Kräfte verstanden wird. Ausgeschlos-
sen aber scheint jede solche Deutung, wenn wir lesen: alle
Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme seien stets
mit materiellen Vorgängen in der lebenden Substanz des Kör-
pers, im Protoplasma,, verbunden" (W. 47; ähnlich noch einmal J
auf derselben Seite). Oder auch: die psychologische Reaktioi|<B
sei stets mit entsprechenden Veränderungen im Psychoplasma, |
also auch mit chemischen Energieumsätzen ,, verbunden"
(L. ii6, 118). Denn wenn diese Sätze überhaupt einen Sinn
haben, so kann es nur der sein, daß körperliche und seelische
Vorgängeais etwas Verschiedenes: als zwei irgendwie, gleich-
viel ob in Wechselwirkung oder nicht, nebeneinander herlau-
fende Reihen ungleichartiger Vorgänge anzuerkennen sind.
Auch erklärt Haeckel gegen Ende der „Lebenswunder" unzwei- J
deutig: die Vorgänge der Empfindung ließen sich schwer un-l
mittelbar mit denen der Bewegung verknüpfen (L. 185). Undl
wir sehen ihn deshalb zu guter Letzt bei der ,, Überzeugung"
anlangen, daß, ebenso wie die Summe des Stoffes und der|
Energie (oder der , .bewegenden Kraft"), auch die Summe det
HAECKELS „REINER" MONISMUS
ias
Empfindungen im Weltall eine ewige und unveränderliche
Größe darstelle und jeder Wechsel der Empfindungen auf der
Verwandlung einer Psychomform (d. i. Empfindungsform) tn
andere Formen beruhe (L. 187),
Freilich: wie wir uns diese Verwandlung und Verschmelzung
der Empfindungen eigentlich zu denken haben, das ist nirgends
näher angegeben. Doch stehen, wenn man sie annimmt, zur
Erklärung der gegebenen seelischen Tatsachen nur zwei Wege
offen: entweder man läßt die „inhärenten" Empfindungen der
Atome sich bei deren gegenseitiger Annäherung und Berührung
selbständig von ihnen ablösen und zu höheren Gebilden ver-
schmelzen, oder man nimmt besondere, natürlich unbewußte,
Seelen tätigkeiten an, die die Verschmelzung der an sich unselb-
ständigen und unwirksamen Einzelempfindungen besorgen. Hier
ist die Einheit des bewußten Seelenlebens wirklich erklärt, dort
bleibt sie im Grunde doch immer noch völlig unverständlich.
In beiden Fällen aber sind für die geistigen Innenvorgänge der
Empfindung offenbar noch besondere Gesetze anerkannt, die
mit den rein mechanischen Gesetzen der äußeren Bewegungs-
Torgängenicht mehrzusammenfallen. Und wirdürfen deshalb
die wenigen dahin lautenden Aussprüche Haeckels wohl nur für
gelegentliche Einfälle halten, die seine eigentliche Meinung
nicht wiedergeben. Denn wenn irgend etwas als der Grundge-
danke seiner ganzen Weltanschauung bezeichnet werden kann,
so ist es der, daß alles Geschehen in der Welt sich ausschließ-
lich nach rein mechanischen Gesetzen vollziehe (W, 94 u. a,).
Darum können auch die höheren seelischen Erscheinungen im
Sinne , .unseres reinen und konsequenten Monismus" nur als
eigentümlich verwickelte Bewegungsformen der Atome aufge-
faßt oder aus solchen , .erklärt" werden; gleichviel ob daneben
den Atomen eine wirkliche geistige Innenseite der Empfindung
zuerkannt oder die Atomseele nur als Atomkraft verstanden
wird. Und die zahlreichen, früher angeführten Stellen lassen im
Grunde ja auch keinen Zweifel darüber, daß Haeckel tatsäch-
lich einer solchen materialistischen oder hylozoistischen Auf-
fassung des Seelenlebens huldigt, —
Indes, mit alledem stehenwirdocherstvor der Hauptfrage.
Mögen Kraft und Stoff immerhin in jedem Atom unlösbar mit-
einander verbunden sein, mag es keinen wesentlichen Unter-
schied zwischen lebender und lebloser Natur geben, mögen un-
bewußte und bewußte Vorgänge ohne Grenze ineinander über-
136 WILHELM VON SCHNEHEN
gehen, mag die Seele mitsamt dem Bewußtsein nichts weiter
als eine T&tigkeit bestimmter Kohlenstoffverbindungen sein, ja,
mögen alle geistigen, ebenso wie alle körperlichen Vorgänge
sich am letzten Ende in Bewegimgen kleiner beseelter, empfin«
dender und wollender Stoff teilchen auflösen und diese überall
gleichartigen Kraftstoffatome sich ohne irgendeinen Zweck
nur nach blinder mechanischer Gesetzmäßigkeit ewig hin und
her bewegen: was haben wir mit all dem eigentlich gewonnen?
Wir haben diese in der Erfahrung gegebene vielheitliche Welt
doppelseitiger Erscheinimgen zwar als wesensgleich oder
durchweg gleichartig erkannt, aber noch nicht als wesens-
ein s. Wir haben wohl dieEinerleiheit oder Einzigartigkeit
aller Teile der Welt erreicht, aber keineswegs ihre Einheit,
Der Hylozoismus ist an sich durchaus kein Monismus,
sondern vielmehr als Kraftstoff lehre ein metaphysischer Du-
alismus und als Atomlehre obendrein noch ein ontologischer
Pluralismus: also keine Einheitslehre, sondern eine recht
zwiespältige Vielheitslehre. Und darüber hilft uns auch das
„Substanzgesetz'' in dem früher angegebenen Sinne nicht hin-
weg. Denn als bloße Zusammenfassung jener beiden Gnmdge-
setze der neueren Naturwissenschaft oder als begrifflicher AuSf
druck für deren inneren Zusammenhang (W. 87) besagt es ja
in Wahrheit nichts weiter als dies: daß die Summe der untrenn-
bar miteinander verbundenen Stoffe und Kräfte im Weltall
immer unverändert bleibt (N. 6 — 7. W. 87. M. 14. 33. L. i86).
Aber eine unverändert bleibende Summe von einzelnen Stoffen
und Kräften oder so und so vielen unvernichtbaren Kraftstoff-
atomen ist wegen dieser ihrer Unveränderlichkeit doch noch
lange keine Einheit. Diese erreichen wir erst, wenn wir alle
einzelnen Stoffteile ebenso als an sich imselbständige Be&onde«
rungen eines Allstoffes, wie alle einzelnen Kraftäußerungen
als gesonderte Tätigkeiten einer Allkraft auffassen (M. 13)
und beide, den Allstof! und die Allkraft, wieder nur als die bei-
den zusammengehörigen Seiten, Eigenschaften oder Wesensbe-
stimmungen (Attribute) eines und desselben Allwesens. Und
das ist auch der Weg, den Ernst Haeckel, ganz unbekümmert
darum, ob er ihn nicht am Ende doch über die Crexuen der
Naturwissenschaft hinaus ins Gebiet des Übersinnlichen führe,
angeblich im Anschluße an und in Übereinstimmung mit Spi«
noza beschreitet.
In der ganzen unendlichen Fülle wechselnder Formen, so
137
hören wir ihn sagen, offenbart sich nur ein einziges, allum-
fassendes Weltwesen (L. 42). Alle einzelnen Dinge dieserWelt,
alle individuellen Formen des Daseins sind, wie Spinoza rich-
tig erkannt hat, nur besondere vergängliche Formen (Akziden-
tien oder Modi) einer und derselben Substanz: einer Universal-
substanz (W. 88), gleichviel wie man diese des näheren bezeich-
nen möge; ob als Natur oder Kosmos, als Weltgeist oder Gott
(L. 4z). Die Hauptsache ist, daß es nur eine einzige Substanz
gibt (W, 14}, die in sich untrennbar vereinigt die Bedingungen
sowohl zur Entwicklung der körperlichen, wie zu der der geisti-
gen Welt enthält (N. 10): also einen letzten gemeinsamen
Urgrund aller einzelnen Dinge und Erscheinungen (V. I. 263.
W. iii). Spinoza hat diesem Grundgedanken in seinem identi-
tätsphilosophischen Monismus den vollkommensten Ausdruck
gegeben und den Begriff der „Substanz" als des allumfassenden
Weltwesens am reinsten aufgefaßt {L. 34). Und alle Wandlungen,
die der Substanzbegriff später durchgemacht hat, kommen bei
konsequenter Analyse auf die Formel des Spinoza zurück: so
heute nach zweihundert Jahren auch der ,, gereinigte Monis-
mus" Haeckels, der in jenem Grundbegriffe des großen jüdi-
schen Denkers mit Goethe einen der erhabensten, tiefsten und
wahrsten Gedanken aller Zeiten zu verehren erklärt {W, 88.
N. 10—11). Allerdings bezeichnete Spinoza als die beiden er-
kennbaren Attribute oder unveränderlichen Grund ei genschaften
der Substanz ,, Ausdehnung" und ,, Denken" (extensio und co-
gitatio). Aber das bedeutet (nach Haeckel) dasselbe wie in un-
serer modernen Ausdrucksweise ,, Stoff" und „Kraft" (L. 185.
N. 11). Denn „das Ausgedehnte" d, h. den Raum Erfüllende ist
eben die Materie oder der Stoff; , .Denken" aber bedeutet auch
bei Spinoza selbstverständlich nicht das bewußte Denken des
Menschen, sondern im allgemeinsten Sinne die Energie (L. 185),
also die Kraft, oder auch die unbewußte Empfindung (L. 34),
oder schließlich auch den Geist schlechthin im Unterschiede
vom Stoff {W. 88. 14). Denn alle diese Ausdrücke: bewegende
Kraft, Energie, Geist, Denken und Empfinden bezeichnen ja
(nach Haeckel) im Grunde eins und dasselbe: die mit der äuße-
ren stofflichen Seite untrennbar verbundene geistige Seite aller
Dinge. Und in diesem Sinne will Haeckel, so versichert er uns
gleich zu Anfang der ,, Welträtsel", durchaus festhalten an dem
klaren und unzweideutigen Monismus von Spinoza: die Materie
(oder der raumerfüllende Stoff W. 88), als die unendUch ausge-
138
WILHELM VON SCHNEHEN
dehnte Substanz (!), und der Geist (oder die „Energie" oder nach
W. 88 die „bewegende Kraft"), als die empfindende oder den-
kende Substanz (!), sind die beiden fundamentalen Attribute
oder (untrennbaren) Grundeigenschaften des allumfassenden
göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz (W. 14.88. Ii).
Und auch in den „Lebens wundern" wird uns erst auf S. 34 und
dann noch auf S. 185 zweimal die Kraftstofflehre in dem an-
gegebenen Sinne als gleichbedeutend mit dem „reinen Monis-
mus" Spinozas und Goethes vorgeführt: nur daß die Ausdrücke
Energie, Kraft, Geist und Empfindung als verschiedene Namen
für dieselbe Sache miteinander abwechseln, (Vergl. auch L. 35.
36. 38.)
Dann aber {L. 1 85) erfahren wir auf einmal von den ,,S c h wie-
rigkeiten, welche die Verbindung unseres Monismus mit der
Substanzlehre von Spinoza darbietet." Denn tatsächlich, so
heißt es, finde ja die Energie, auf welche die moderne Energetik
alle Erscheinungen zurückführen will, in der Substanzlehre von
Spinoza keinen selbständigen Platz neben der Empfindung.
Vielmehr seien bei ihm „in dem Attribute des Denkens {d. h.
der Psyche, des Geistes oder der Kraft) Empfindung und Ener-
gie noch vereinigt" (L. 186). Darum geht Haeckel nun darauf
aus, den Begriff der Energie von dem der Empfindung abzulö-
sen und ganz auf die Mechanik zu beschränken, so daß die Be-
wegung (=^ Kraft oder Energiel) als dritte Grundeigenschaft
der Substanz neben die Materie {das ,, Ausgedehnte") und die
Empfindung (das ,, Denkende"!) gestellt wird (L. 185—186).
Wir überwinden also die Schwierigkeiten jener ,, älteren Iden-
titälslehre" einfach dadurch, daß wir das Attribut des Geistes
(oder des ,, Denkens" im Sinne von Spinoza) in zwei koordinierte
Attribute zerlegen: in Empfindung (Psychoma) und Kraft oder
Energie, und gelangen so ,,zu einer reinen Trinität des Mo-
nismus," die den befriedigenden Ausgleich aller Gegensätze
darstellt (L. 186). Wer es aber vorzieht, der kann auch den Be-
griff der Energie in aktive Energie (^ „Willen" im Sinne
Schopenhauers) und in passive Energie (^^ ,, Empfindung" im
weitesten Sinne) zerlegen: Haeckel, frei von aller ängstlichen
Begriffsklauberei und duldsam gegen fremde Meinungen, hat
auch dagegen nichts einzuwenden (L. 1S5). Nur daran muß er
festhalten, daß Empfindung ebenso untrennbar mit aller Materie
verbunden ist, wie Bewegung (^ Kraft oder Energie!), und
daß gerade diese Dreieinigkeit der Substanz die sicherste
I
I
Basis für seinen modernen Monismus oder „Hylomsmus" bietet
{L. 186), weshalb er denn auch jedes dieser drei Attribute noch-
mals ausführlich für sich und im Zusammenhange mit dem
Substanzgesetze betrachtet (L, 186—188).
Damit scheint Spinoza endgültig überwunden: seine vielge-
priesene Identitätsphilosophie muß als ,, vollkommenster Aus-
druck der universalen Wahrheit" {L. 34} dem „neuen trinitari-
sehen System des hylonistischen Monismus von Jena" ihren
Platz einräumen. Aber nicht für lange. Denn in dem ersten
Hefte der Flugschriften des deutschen Monistenbundes, also
zwei Jahre später (1906), hat sich „unser moderner Monismus"
wieder in die Anschauung des Spinoza zu rück verwandelt: die
Empfindung als dritte Grundeigenschaft der Substanz ist ver-
schwunden ; es bleiben nur die unendliche Ausdehnung und das
unendliche Denken oder ,,in die moderne Ausdrucksweise über-
setzt": die Materie und die Energie (^ Stoff und Kraft) als die
beiden gleichwertigen, einander nebengeordneten und von je-
her untrennbar verbundenen Grundeigenschaften der Substanz
zurück, ,,wie es auch Spinoza annahm," und wir erfahren, daß
in diesem Identitätsgedanken fernerhin jeder Naturforscher
seinen allein seligmachenden Glauben zu suchen habe (N, 10
bis 11): was uns dann durch den Jenaer Vortrag über ,,Das
Menschenproblem und die Herrentiere des Linn6" (S. 39^40)
noch einmal bestätigt wird. (Vergl. auch schon die Berliner Vor-
träge K. 9z!). —
Aber wenn nun „der Grundgedanke dieser Identitätsphiloso-
phie das monistische Prinzip ist, daß Geistiges und Körper-
liches, Denken und Sein in einem gemeinsamen Dritten eins
sind und nur zwei verschiedene Seiten eines und desselben We-
sens bilden" (N. 11), was ist dann dies gemeinsame Dritte
selbst: diese Eine Substanz, die nach Haeckels Ansicht zwei
andere „Substanzen" zu ihren ,, Attributen" hat? Was ist die-
ses einheitliche Allwesen, ohne das Geist und Korper,
Denken und Sein „oder" Kraft und Stoff eben doch nur einen
letzten unüberwindlichen Gegensatz, einenDualismus zweier
schlechthin verschiedenartiger und nur von uns in Gedanken
zusammen gekoppelter Urdinge, Seinsformen oder Wesenheiten
darstellen? Ja, wenn alle einzelnen Dinge dieser Welt, alle indi-
viduellen Formen des Daseins nur besondere vergängliche For-
men, Akzidentien oder Modi einer und derselben Substanz sein
sollen (W. 88), die, an sich „ewig und unveränderlich", sich nur
X40 WILHELM VON SCHNEHEN
in einer Fülle wechselnder Gestalten als deren gemeinsamer un-
vergänglicher Urgrund immer neu offenbart (L. 42), was ist
dann diese Eine absolute Substanz, diese ewige und unr
veränderliche Urwesenheit selber ? Man sollte denken, sie müßte
als ihr gemeinsamer Urgrund oder Träger: als das, was sie erst
zu einer wirklichen Einheit verbindet, ihren vielen Akzidentien
ebenso wie ihren zwei Attributen, wenn nicht realiter, so doch
wenigstens ideell vorangehen und sich irgendwie begrifflich von
ihrer bloBen Sunune unterscheiden lassen. Und doch ist das bri
Haeckel offenbar nicht der Fall. Man lese nur einmal Kap. 12
und 13 der „WelträtseP^ Da vernehmen wir z. B., die Substanz
(„die ewige und unveränderliche Substanz*' ! L. 42) befinde sich
selbst in ununterbrochener Bewegung und Veränderung (W. 98,
ebenso 11). Wir erfahren, sie besitze aufier der Bewegung als
zweite ursprüngliche Eigenschaft noch die Empfindung (W.
97); sie sei teils unwägbar, teils wägbar, und zerfalle demge-
mäß in die beiden Hauptbestandteile Äther und Masse (W. 93.
89)« J&) ^if lesen anderwärts von dem Weltäther als der be-*
weglichen, schwingenden oder „aktiven Substanz'* im Gegen-t
Satz zu der Weltmasse als träger, beharrender oder „passiver
Substanz*' (W. 42). Und wir hören endlich gar, die (wägbare)
Substanz sei „zusammengesetzt" oder „bestehe aus Molekülen
und Atomen** (L. 39. M. 42), die geradezu als „bewegte Sub-i
Stanzteilchen** bezeichnet werden (W. 89). Wie ist all das, samt
vielen ähnlichen Aussprüchen (bes. W. 88 — 89), anders zu ver-i
stehen als so, daß für Haeckel die Substanz doch eben nur
ein anderer Name für die Materie ist, oder daß diese, die bei
ihm mit dem Stoff zusammenfällt, selbst schon die Sub<^
stanz ist und als solche den Träger der Empfindung und der
Kraft (oder der Bewegimg) darstellt?
In der Tat, es ist keine andere Auffassung möglich. Auch be-
zeichnet ja Haeckel seine Weltanschauung meist und mit un-i
verkennbarer Vorliebe selbst als „Hfylonismus** oder „Hylozois-
mus**, d. h. als Allstofflehre oder Stoffbeseelungslehre: gleich-
sam als wolle er von vornherein unzweideutig dartun, wo ihr
Schwerpunkt zu suchen ist. Und er hat darin ganz recht. Denn
ein ewiger, unentstandener und unvergänglicher Stoff, der un-?
abhängig von jeder bewußten Vorstellung an sich da ist (W.
92) und den Weltraum ausfüllt: ein solcher wirklicher, an sich
daseiender Stoff ist eben schon das, was man mit dem Worte
„Substanz** bezeichnet: nämlich das unvergängliche Wesen
I
aller Dinge und der Träger ihrer Tätigkeiten oder KraftäuSe-
ningen. Und hinter, neben oder über diesem unentstandenen
und unvergänglichen d. h. eben substanziellen Stoffe hat eine
zweite Substanz weder in der Wirklichkeit noch in unserem
Denken irgendeinen Platz mehr. Auch begreift man so erst,
warum Haeckel den Gedanken eines stetigen, in sich zusam-
menhängenden Weltäthers trotz der Einwände der Physik wie
der Mathematik als für seine „monistische Substanzansicht"
,, unentbehrlich" nicht preisgeben will (W. 89. 92): er fürchtet
eben mit der Annahme einer durchgängigen atomistischen Glie-
derung aller Materie, sowohl der unwägbaren wie der wäg-
baren, auch jede Einheit der Substanz zu verlieren und ohne
Rettung dem Pluralismus zu verfallen. Das „hylonis tische
System des Monismus" wäre also, wie schon sein Name besagt,
im Grunde doch nichts weiter als eben nur ein Materialis-
mus, der seinem wesenhaften Stoff neben der Ausdehnung und
Bewegung noch die zweite oder dritte Eigenschaft der Kraft,
Energie oder Empfindung zuspricht (V. 11. 355 — 356).
Nun läuft aber neben dieser materialistischen Auffassung der
Substanznocheineandere,agnostische oder relativistische
einher, wonach der Substanzbegriff nur der einfachste Aus-
druck für das Grundverhältnis von Kraft und Stoff sein soll (N.
9). In diesem Sinne allein ist der Name ,, Substanzgesetz" als be-
griffliche Zusammenfassung für die beiden Erhaltungsgesetze
zu verstehen (W. 87. N. 9). ,,Der Begriff , Substanz' kann so
durch , Kraftstoff' ersetzt werden" (L, 185) und die Frage nach
dem eigentlichen Wesen der Substanz wird für Haeckel eins
mit der Frage nach dem Zusammenhange von Materie und Kraft
(M. 40 zweimal!). D. h. die Substanz wird zu einer bloßen Re-
lation: und diese ist unerkennbar (M. 40). Als das letzte,
wohin wir mit unserem Denken vordringen können, erscheint
dieZweiheit von Stoff und Kraft. Ja, in Wahrheit nicht einmal
diese, sondern eben nur die einzelnen vergänglichen Erschei-
nungen dieser Welt (W. 88), deren jede sich in unbegreiflicher
Weise aus Kraft und Stoff zusammensetzt. Wir vermögen eben
nur die Erscheinung der Dinge zu erkennen, aber nicht ihr
innerstes unbekanntes Wesen (L. 1 82): wissen also auch nicht, ob
dieses Eins ist oder nicht. Ja, die Frage nach dem Zusammen-
hange von Materie und Kraft bildet die Eine noch wirklich vor-
handene Grenze des Naturerkennens, die auch Haeckel bereit-
willig anerkennt und sogar als ihrer Natur nach unüberwindlich
142 WILHELM VON SCHNEHEN
bezeichnet (M. 40). Nur innerhalb dieser menschlichen Erkennt-»
nisgrenzen, die von Kant richtig bestimmt worden sind (I? M»
40. W.92. L. 182), ist ein positives monistisches Naturerkennen
möglich und besteht in der Erkenntnis des rein mechanischen
Kausalzusammenhanges aller Vorgänge mit Ausschluß aller
übernatürlichen Erklärungen (M.40. W. 151)^. D.h. die Einheit,
die wir erkennen können, ist nur die Einheit der Entwicklung:
die Einheit des ursächlichen Zusammenhanges. Also nur eine
Einheit des Werdens, nicht eine Einheit des Seins oder Wesens..
Wir wissen nur, daß die Summe aller Stoffe und Kräfte im Welt»
all immer unverändert bleibt imd daß alles einzelne Geschehen
in der Welt nur auf Formwandlungen dieser Stoffe imd Kräfte
beruht; aber wie diese Stoffe und Kräfte sich ineinander ver>
wandeln können, ja, wie sie auch nur rein äußerlich in demseU
ben Räume zusammengehalten werden: das verstehen wir nicht.
Der letzte gemeinsame Urgrund aller Dinge ist uns, wenigstens
bei der gegenwärtigen Organisation unseres Gehirns (1), nicht er-
kennbar: in diesem Zugeständnis begegnet sich die kritische Na-
turphilosophie Haeckels mit der dogmatischen Religion (V. L
263—264. 27s).
Und sie begegnet sich ebenso mit dem bekannten „Ignora-
mus'' seines Gegners Dubois-Reymond. „Wir sind unfähig,
das innerste Wesen dieser realen Welt der Naturdinge zu er-
kennen'' (W. 118). Auch die wunderbaren Fortschritte unse-
rer modernen Kosmologie haben das Substanzproblem,
dieses allumfassende Welträtsel, nicht gelöst, ja uns seiner
Lösung nicht einmal näher gebracht (W. 151). „Wir'', d. h.
Haeckel und die Seinen, stehen dem innersten Wesen der Na-
tur heute vielleicht noch ebenso fremd und „verständnislos'*
gegenüber, wie Anaximander und Empedokles vor zwei-
tausend Jahrenl Ja, „wir" müssen sogar „eingestehen, daß uns
^ Kant hat die wissenschaftliche Erkenntnis, worunter er freilich nur
eine unbedingt gewisse Erkenntnis verstand, auf subjektive Erscheinun-
gen, d. h. auf den Inhalt des Bewußtseins beschränkt und alles darüber hin-
aus liegende oder „transzendente'* Sein (im erkenntnis theoretischen
Sinne des Wortes) für unerkennbar erklärt Haeckel aber sucht den Gegen-
stand der Naturwissenschaft (richtig) in außerbewußten, an sich daseienden
Dingen, die durch Vorstellungen im Bewußtsein abgebildet werden (W. zz8.
50) und uns mit ihren Eigenschaften bis zu einem gewissen Grade erkenn-
bar sind (L. 39). Wie sich dessen ungeachtet „unser moderner Monismus''
mit der Lehre Kants wohl vereinen läßt (W. 99. M. 40), dürfte dem Leser
ohne weitere Aufklärung nicht ganz verständlich sein. Hier läge eine dank-
bare Aufgabe für Herrn Dr. Heinrich Schmidt vor.
I
dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer
und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer
Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher
wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwick-
lung kennen lernen. Was als ,Ding an sich' hinter den erkenn-
baren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch
nicht. Aber was geht uns dieses mystische ,Ding an sich' über-
haupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen,
wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht?
Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses
ideale Gespenst den , .reinen Metaphysikern" {W. 151).^ Für
,, unsere" monistische Naturphilosophie, die nichts weiter als
„echte Physik" ist und sein will, entwickeltsich aus dem,, dunk-
len" Substanzproblemdas,,klare"Substanzgesetz(! W. 151),
das seinem Wesen nach identisch ist mit dem rein mechanisch
verstandenen ,,Kausalgesetz der Metaphysik" (I N. 13). Das rät-
selhafte „Ding an sich" aber, das hinter den Erscheinungen
stecken soll und von dessen Dasein wir doch nichts wissen, ist
für sie nur ein Dogma (W. 158). Und da die Frage nach dem
„Ding an sich" gleichbedeutend ist mit der Frage nach dem
„Zusammenhange von Materie und Kraft" (M. 40), so könnte
es scheinen, als wäre auch dieser nur ein Dogma: ein ideales
Gespenst, das wir am besten den reinen Metaphysikern über-
ließen. Aber wenn uns so am Ende der ,,Welträtser' um den
Monismus und die verborgene unerkennbare Einheit dieser viel-
heitlichen Welt doppelseitiger Erscheinungen bange werden soll-
te, dann erinnern wir uns gern der zu Anfang empfangenen
trostreichen Versicherung, daß die Frage nach dem Wesen von
Materie und Kraft, samt den beiden anderen angeblich unlös-
baren Fragen nach dem Ursprung der Bewegung und der Ent-
* Adickes (S. 23 — 24) bemerkt dazu: „Fürwahr, Haeckel hat seinen wahr-
sten Beruf verfehlt: er hätte Verwand! ungskün stier werdea sollen, und die
„phänomenalsten" Erfolge wären ihm sicher gewesen. Welche unübertreff-
liche Kunst in dieser kleinen Stellel Wirklichkeitsfroh beginnt sie mit dem
„eigentlichen Wesen der Substanz", das ja immerhin etwas Rätselhaftes sein
mag, aber doch zweifellos wirklich existiert. Dann wird es zum „Ding an
sich", ohne zunächst auch nur einen Schatten von Realität einzubüBen. Aber
plötzlich erhebt sich ein leichter Nebel auf der Bühne, das Ding an sich wird
„mystisch", schon weiQ man nicht mehr recht, ob es überhaupt existiert und —
bocus pocus abracadabra — entschwunden ist es als „ideales Gespenst". —
Indessen; Adickes ist, obwohl er sich selbst zum Monismus bekennt (S. 75
bis 116), nach Haeckels Aussage nur ein „Dualist", und damit sind auch „für
uns" alle seine Einwände binlällig.
144 WILHELM VON SCHNEHEN
stehung des Bewußtseins, durch Haeckels Auffassung der Sub-
stanz ,, erledigt'' ist (W. Z2), und empfinden es dankbar, daß
der „Monismus'' nun doch kein bloBer Traum, sondern eine
Wahrheit ist: nicht blofi eine schöne Dichtung des gläubigen
Gemüts, sondern eine klare, sichere Erkenntnis des auf Erfah-
rung gestützten vernünftigen Denkens oder der durch Ernst
Haeckel glücklich vollzogenen Verbindung von Naturwissen-
schaft und Philosophie. —
Und dieser „reine Monismus" unserer modernen Naturphilo-
sophie von Jena ist dem Gottesglauben keineswegs feind-
lich. Nicht aus der Welt schaffen will er die Religion, sondern
sie nur durch zeitgemäße Umbildung mit den Ergebnissen der
Wissenschaft, d. h. der Naturwissenschaft, versöhnen (V. II.
362). M. a. W. er will den Gegensatz ausgleichen, der zwischen
diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistestätig-
keit ganz unnötigerweise noch besteht, und so die Bedürfnisse
des Gemüts und die der Vernunft gleichmäßig befriedigen (W.
133. V. II. 350). Dazu darf er sich freilich nicht auf den ver-
alteten, durch eine klare Naturerkenntnis ebenso wie durch eine
kritische Geschichtsforschung längst überwundenen Köhler-
glauben an übernatürliche Offenbarungen und Wunder stützen,
sondern auf die Vernunft als das höchste Gut des Menschen
(V. II. 362). Er muß rücksichtslos alle Vorstellungen ausschei-
den, die mit den klar erkannten Lehrsätzen der empirischen
Naturforschung und den allgemeinen Forderungen der Vernunft
in unlösbarem Widerspruch stehen (M. 27 — 28. V. II. 350). Das
aber gilt von allen Formen des Theismus, wo Gott bekanntlich
als selbständiges Wesen der Welt oder der Natur gegenüberge-
stellt und als persönlicher Schöpfer verehrt wird (W. 116). Von
der Tätigkeit eines solchen außerweltlichen Gottes ist im weiten
Umkreise der Natur nichts zu erkennen (L. 190). Ja, der Glaube
an einen liebenden Gottvater, der die frommen Wünsche seiner
Menschenkinder berücksichtigt, sie beschützt und ihre Bitten
erfüllt, ist gegenüber den Erfahrungen des Lebens nur durch
einen Selbstbetrug noch aufrecht zu erhalten (W. iio). Die un-
vollkommene, leidvolle Beschaffenheit dieser Welt ist der un-
zweideutigste Beweis gegen ihre Erschaffung und Leitung durch
einen bewußten, allgültigen und vollkommenen Schöpfer (M.3i).
Auch erweist sich der persönliche Gott, etwas näher betrachtet,
doch immer nur als ein Abbild des Menschen: als ein Wesen,
das, wenn auch in unendlich vollkommnerer Form, doch im
HAECKELS „REINER" MONISMUS 145
Grunde so empfindet, denkt und handelt wie ein Mensch (W.
116. iii). Ja, mag man die körperliche Erscheinung auch ganz
von ihm abstreifen und ihn als reinen Geist verehren, es bleibt
doch immer dieunwürdige Vorstellung, daß er dem Menschen
ähnlich sei (M. 46): bleibt das Gemeinsame beider ihre Seelen-
oder Geistestätigkeit, so daß wir (bei der offenbaren Abhängig-
keit alles höheren bewußten Geisteslebens von der ungestörten
Tätigkeit eines hoch entwickelten Gehirns) folgerichtig zu der
widersinnigen Vorstellung eines „gasförmigen Wirbeltieres"
kommen (M. 46. W. 116). Darum ist der Glaube an den per-
sönlichen Gott mitsamt dem darin eingeschlossenen Gedanken
einer liebevollen Vorsehung ebenso unhaltbar, wie der Glaube
an die menschliche Unsterblichkeit und die Willensfreiheit (W.
94. 151 u. a,). Diese drei Dogmen müssen fallen und mit ihnen
das eigentliche Christentum, wenn wir zu einer wahren Ver-
nunftreligion kommen wollen (W. 135}.'
Auch ist ja im Laufe der menschlichen Entwicklung mehr
als irgendein anderer gerade der Begriff „Gott" umgewandelt
worden, da er wie kein anderer zugleich die höchsten Aufgaben
des erkennenden Verstandes und die tiefsten Interessen des gläu-
bigen Gemüts und der dichtenden Phantasie berührt {W. 111).
Zu seiner reinsten und wahrsten Gestalt aber läutert der Gottes-
begriff sich erst in dem „reinen Monismus" Ernst HaeckeIs(M.
35. L. 188), wenn auch Spinoza und Goethe ihm schon vorge-
arbeitet haben (W. 133. L. 198 u. a.). Gott erscheint hier nicht
mehr als ein persönliches, außerweltliches oder auch nur über-
natürliches Wesen, sondern ist als innerweit lieh es Wesen allent-
halben die Natur selbst. Insofern kann man die neue „monisti-
sche Naturreligion" (M. 30. 35) auch als Pantheismus be-
zeichnen (W. 116}. Atheismus aber darf sie heißen, insofern
sie eben jeden Unterschied zwischen Gott und Welt bestreitet
(W. 117). Gott und Welt oder Gott und Natur sind eins und
dasselbe {L. V.) : nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache.
Deus sive natura: das ist die Formel der monistischen Theo-
logie (L. 198. 37). Denn es gibt nur eine einzige Substanz, die
1 Ich habe mich hier natüihch auf die Hauptpunkte beschränken müssen.
Im einzelnen sind von Haeckels Auslassungen begreiflicherweise gerade die
über das Christentum besonders scharf angegriffen worden. Aber Jul. Bau-
mann '„Haeckels Welträtsel" Vorwort) bemerkt dazu : es könne jemand un-
recht haben in allem, was er bezüglich gewisser Punkte sagt, und doch in
der Sache selbst mehr für sich haben, als es nach der leicht widerlegbareo
Form scheinen möge. —
■ D<r Honinsui II lO
146 WILHELM VOM SCHHEHEN
Gott und Natur lugfitich ist: der unendliche Stofi und die Kraft
oder Energie sind nur die beiden Gnindfigenschaften dieses
allumfassenden gdttlichen Wdtwesens (W. 14. 88. L. 42). Man
kann aber Gott auch als die im Inneren der Substanz (d. h. hier
wieder: des Stoffes) tätige Kraft oder Energie beseichnen (W.
1x6): als dieKraftsumme des Alls, die von seiner Stoffsumme
untrennbar ist (V. IL 355, ähnlich K. 93) oder als die unendliche
Summe aller Naturkräfte (M. 33). So wird er als bewegender
Geist ins Innere des Kosmos hineingelegt (M. 13. N. 31), und
man kann sageUt daB ein göttlicher Geist in allen Ding^ lebt
(M. 9. 33): eine allumfassende Weltseele, von der auch unsere
menschliche Seele nur ein wimdger Teil ist, gleichwie unser
menschlicher Körper nur ein Teil der großen Körperwelt (M. 13
bis Z4).
Nicht minder freilich wäre es im Sinne einer aufgeklärten
Theologie und führt zum »»reinsten Monotheismus/' wenn man
Grott |»als die Summe aller Kräfte und Wirkungen betrachtet'*
(W. 165). Oder: da es der bewegliche Äther ist» aus dem vermutlich
die wägbare Masse erst hervorgegangen ist, so kann man jenen
auch als die alltunfassende und »»schaffende Gottheit'' der trä-
gen und schweren Masse als ihrem Schöpfungsstoffe gegenüber-
stellen und so den Gottesglauben mit den letzten Glaubens-
sätzen der Naturwissenschaft vereinen (M. z6. 37). Ja» insofern
sich unsere ganze Naturerkenntnis begrifflich in das Eine große
Gesetz von der Erhaltung der Substanz (= der Summe aller
Kräfte und Stoffe) zusammenfassen läßt» kann man dieses
oberste Gesetz auch als den festen Grundstein oder § z der mo-
nistischen »»Vernunft-" oder »»Naturreligion" bezeichnen (V. IL
36z — 362. M. 39) und Gott selbst als das oberste Natur- oder
»»Weltgesetz"» das sich auch als »»Wirken des allgemeinen Rau-
mes" darstellt (N. 40. M. 33). Und auch dagegen haben »,Wir"
nicht das mindeste einzuwenden» daß man den persönlichen
Gott in die personifizierte Idee der Wahrheit umdeutet. Bildet
doch gerade diese Vorstellung eine wertvolle Brücke» welche
das Wunderland religiöser Dichtung mit dem Lichtreiche wis-
senschaftlicher Naturerkenntnis verbindet (M. 33). Ja» wenn wir
die Idee der Wahrheit noch durch die der Güte und der Schön-
heit ergänzen» dann gewinnen wir als reinen Gottesbegriff ein
iidreieiniges Gottesideal"» gewinnen »»die naturwahre Tri-
nität des Monismus"» der das zwanzigste Jahrhundert seine Al-
täre erbauen wird» und dürfen Gott» »»die Summe aller Atom-
kräfte und Ätherschwingungen", (M, 3 3) frommen Herzens als
den „Geist des Guten, des Schönen und der Wahrheit" verehren
{M. 36. W. 135). Denn ,, nicht auf denNamenkommtes bei die-
sem höchsten Glaubenssatze an, sondern auf die Einheit der
Grundvorstellung" (M. 33) und auf klare philosophische Begriffe
(M. 27) als die feste Grundlage auch aller guten Sittenlehre (V.
II. 349). Daß aber diese Einheit und Klarheit der Grundvorstel-
lung in den vorerwähnten, getreu nach den Originalia ange-
führten Sätzen zu finden ist, wird der Leser unschwer erkennen
und darum auch nicht zweifeln, daß diese ,, monistische Natur-
religion" E. Haeckels mit der Ansicht Spinozas und Goethes in
der Hauptsache übereinstimmt und tatsächlich die höchste bis-
her erreichte Form des Gottesglaubens darstellt. — -
Blicken wir nun „von diesem glücklich erklommenen Hoch-
gipfel monistischer Erkenntnis", auf dem sich uns „der beweg-
liche Äther" oder ,,die Summe aller Atomkräfte und Äther-
schwingungen" als ,, schaffende Gottheit" und als der ,,all-Eine
Geist des Guten, des Schönen und des Wahren" entschleiert hat,
noch einmal auf den hinter uns liegenden Weg zurück, so „of-
fenbaren sich unserem freudig bewegten Sinne neue überra-
schende Perspektiven" (M. 16). Wir sehen, daß der „gereinigte
Monismus"; „der Monismusin dem bestimmten Sinne, wieer
zuerst i.J. 1866 in der , Generellen Morphologie' festgestellt wor-
den ist" und (nach Haeckels tröstlicher Versicherung!) „heute
von den meisten Philosophen und Naturforschern geteilt wird"
(V. II. 352) zunächst gleichbedeutend ist mit dem Mechanis-
mus, insofern er — auch bei den Lebens vor gangen und den
Bewußtseinserscheinungen — mit Ausschluß aller zweckmäßig
wirkenden Kräfte nur mechanische Ursachen als wirkliche Ur-
sachen anerkennt (V. II. 353. L. 104). Ebenso gut kann man ihn
aber auch als theoretischen Materialismus oder Hylonismus
bezeichnen, da nach ihm alle Erscheinungen auf Bewegungen
beseelter Stoffteile oder Kraftstoffatome beruhen (V. II. 355, L.
35. S. 32). Nicht minder zutreffend freilich wäre es, ihm den
Namen Panpsychismus oder Spiritualismus zu geben, da
er ja aller Materie bis hinab zu den Atomen eine geistige Innen-
seite der Empfindung, der Kraft oder Energie zuerkennt (V. II.
354 — 356). Eben darum aber kann man ihn auch Hylozois-
mus nennen, wenn man hervorheben will, daß er als „konse-
quenter Monismus" ebenso die Einseitigkeit des konsequenten
Materialismus wie die des konsequenten Dynamismus (^ Enei-
getik„oder"Spiritualismusll) glücklich vermeidet, — Insofern
er dann die Weltentwicklung als einen bis zu gewissem Grade
erkennbaren Naturprozeß betrachtet, kann man ihn auch als
Kosmonismus bezeichnen und in Gegensatz zu dem Agno-
stizismus stellen (!! V. II. 357). Kosmotheismus oder Pan-
theismus aber ist er, insofern ihm Gott mit der Kraftsumme
des Universums, die von seiner Stoffsumme unabtrennbar ist,
zusammenfällt (V. II. 355. W. 116), Atheismus, insofern er
jeden Unterschied zwischen Gott und Welt leugnet (W. 117),
und Theismus wieder, insofern er Gott als die personifizierte
Idee der Wahrheit oder den Geist des Guten verehrt (M. 33).
Darum weist denn auch Haeckel, wo er von den Lesern der
„Welträtsel" Abschied nimmt, ,, versöhnlich" darauf hin, daß
der schroffe Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus, wie
er in seinem Buche betont war, sich „bei konsequentem und
klarem Denken bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst
bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völ-
lig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der
höchsten Prinzipien auf das gesamte Gebiet des Kosmos — der
organischen und anorganischen Natur — , nähern sich die Ge-
gensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und
Mechanismus (sowie schließlich auch die des Realismus und
Idealismus) bis zur Berührung". ,,Aber freilich, konsequen-
tes Denken bleibt eine seltene Naturerscheinung" (W.
152). Wäre dem nicht so, dann — wäre ja am Ende das Buch
über ,,die Welträtsel" gar nicht geschrieben worden oder —
hätte nicht geschrieben zu werden brauchen! Nun aber werden
es sicher alle Leser dankbar empfinden, daß Ernst Haeckel, der
sich im Besitz jener seltenen Fähigkeit zu folgerichtigem Den-
ken weiß, ihnen die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen
Forschungen nach bestem Wissen und Gewissen zugänglich ge-
macht hat (W. 154). Und es ist nur zu hoffen, daß sie, unge-
achtet ihrer geringeren Begabung, doch imstande sein wer-
den, seinen eigenartigen „logischen" Gedankengängen wenig-
stens zu folgen und sich zu überzeugen, ob er ihnen tatsäch-
lich, wie er selbst zuversichtlich verkündet (W. 163), eine , .mo-
nistische Weltanschauung" bietet, die „aus einem Guß ist" und
Geist und Natur, Seele und Leib, Gott und Welt ,, einheitlich und
ohne Widerspruch" verbindet.
OTTO BRAUN • RUDOLF EUCKENS MONIS-
MUS
UDOLF Eucken, der Philosoph in Jena,
der Hochburg des deutschen Idealismus,
dessen großartige Gedankenarbeit immer
tiefer in die Gestaltung des geistigen Lebens
unserer Zeit eingreift, hat sich mehrfach
mit dem Problem des Monismus ausdrück-
lich beschäftigt und zu ihm Stellung ge-
nommen; den Hintergrund all seiner Er-
örterungen bildet es fast stets, wenn auch verborgen und in
wechselnder Fassung.
Das erste große Buch, in dem Eucken sein eigenes Weltbild
begründete, ist ganz der Frage des Monismus gewidmet und
drückt dies schon im Titel aus: ,,Die Einheit des Geisteslebens
in Bewußtsein und Tat der Menschheit" (1888); ihm voran gin-
gen ,,Prolegomena". In seinen „Geistigen Strömungen der Ge-
genwart" (3. Aufl. 1904) beleuchtet er kritisch Monismus und
Dualismus in der Geschichte der Philosophie. In anderen Wer-
ken (,, Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", II. Aufl. 1907,
,, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" 1907) findet sich
dies Wort selten, die Sache aber ist mit den Grundlagen seines
Systems verwoben. Die prinzipielle, metaphysische Begründung
seines Monismus findet sich in dem ältesten Werk, während die
neueren Bücher der mehr konkret-lebendigen Ausgestaltung
der Lebensanschauung sich widmen. Es ist dies die Folge einer
langsamen und stetigen Wandlung in Euckens Gedankenrich-
tung: sein Interesse neigt sich immer mehr einer bloß abstrakt-
begrifflichen Untersuchung ab und einer kraftvollen Lebens-
philosophie zu, die nicht nur die Grundlagen unseres Daseins
und der Welt begrifflich klären will, sondern das Streben des
Menschen zu vertiefen und in sein Leben umgestaltend einzu-
greifen bezweckt. Euckens eigenstes geistiges Wesen spricht
sich darin aus: ihn treibt es zur Betätigung, er will selbst nicht
bei der kühlen ,, Bearbeitung der Begriffe" k la Herbart stehen
bleiben; er ist eine geistige Kämpfernatur, kein Denker, der
schon im Ausspinnen seiner Begriffe Befriedigung und Genuß
I
I
ISO OTTO BRAUN
findet. Er hat in sich die umwandelnde Kraft des Geistes erfah-
ren, nun will er auch seinen Mitmenschen, zu denen er wahre
Liebe empfoidet, den Weg des Heiles weisen; er will sie im In-
nersten ergreifen und ihr Wesen befreien und zum Schaffen
aufrufen.
,,Warum sucht' ich den Weg so sehnsuphUvoll»
Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?**
Goethe, Zueignung (17S4)
Dieses Wort unseres größten Dichters, zu dessen innerlicher
Kenntnis Eucken so manches beigetragen (vgl. seine „Lebens-
anschauungen großer Denker'' imd „Gesammelte Aufsätze'')
gilt ihm von jeher als Richtschnur. Er hat sich von seinem
Wege, um den er mit eindringender Arbeit gertmgen, nicht
durch die anfängliche Gleichgültigkeit der Zeit abbringen lassen
und hat immer wieder versucht, auf die Mitwelt zu wirken.
Immer wieder wandte er sich an die „Brüder", unter denen er
nicht die oft nur zu sehr in ihrer Kleinarbeit vergrabenen Fach-
genossen verstand, sondern alle die, „die eine gemeinsame Not
empfinden" (R. Wagner).
Ihre Zahl ist ständig gewachsen und vornehmlich die Jugend
hat sich dem energischen Schöpfer des Neuidealismus ange-
schlossen. Schon vielen hat er den Weg gewiesen, sie zu inne-
rer Freiheit geführt ! Und seine Werke vermögen das, weil sie
nicht eine bloB „gelehrte" Philosophie enthalten, sondern weil
sie „Lebensphilosophie" geben. Eucken hat Philosophie und
Leben wieder in Zusammenhang gebracht, er hat in seiner
Wissenschaft den Sinn für die großen Probleme wieder geweckt
und den Mut, sie zu lösen, gestärkt, er hat der Philosophie
wieder ihre alte, hohe Aufgabe gewiesen, den Menschen Welt-
anschauung zu bieten.
Wie schon gesagt: erst allmählich hat Eucken diese Stellung
sich errungen, seine ersten Werke sind fast nur für Leser be-
rechnet, die in der Philosophie zu Hause sind, während die neu-
eren sich an weitere Kreise wenden und jedem intelligenten
Leser verständlich sind. Sein methodologisches Werk, die„Pro-
legomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens",
ist eins der schwersten Werke der gesamten philosophischen
Literatur, sein Gehalt ist auch noch keineswegs gewürdigt imd
ausgeschöpft. In ihm und in der „Einheit des Geisteslebens"
schafft sich Eucken auch seine eigene Terminologie, etwa fünf-
I
RUDOLF EUCKENS MONISMUS 151
undzwanzig ihm eigentümliche Termini werden mit deutlicher
Erklärung eingeführt.
Davon ist in späteren Schriften direkt kaum etwas zu mer-
ken, von Fremdworten findet sich fast nur der Begriff der „noo -
logischen'' Methode.
Die anderen Termini sind aber auch da, nur verdeutscht oder
sonst deutlich genutcht. Diese Entwicklung ist eine organische:
Hucken war sich bewuSt, etwas Neues zu bringeni um das sich
selbst und anderen klar zu machen, war die Schöpfung einer
eigenen Terminologie zunächst notwendig.
Dann aber mußte und konnte Eucken das technische Gerüst
immer mehr in den Hinterg^rund treten lassen, um sich weite-
ren Kreisen verständlicher zu machen. Allerdings — wer seine
Eigentümlichkeit voll erfassen und mehr als eine innere Anre-
gung von ihm gewinnen will, der muB zu den „gelehrten''
Schriften vordringen und sich in sie hineinarbeiten.
Euckens charakteristischer Begriff des Monismus erwächst
aus seinem Kampf gegen Naturalismus und Intellektualismus.
Der Naturalismus löst alle Einheit wesentlicher Art auf. Das
mechanische System „läBt nirgends ein Ganzes und ein Wirken
aus dem Ganzen zu, sondern kennt nur individuelle und ele-
mentare Kräfte. Was sich an Einheit findet, ist Einheit der Zu-
sammensetzung (unitas compositionis) und daher nicht Prinzip,,
sondern Ergebnis ; eine Einheit haben die Dinge nicht an sich,
sondern nur im Verhältnis zu anderen, indem sich die Wirkun-
gen benachbarter Elemente summieren und so dem Fremden
wie ein Ganzes entgegentreten. Wenn im Widerspruch damit
das geschichtliche Leben andersartige und anspruchsvollere
Gebilde aufweist, so müssen sie sich als Verirrungen diskursi-
ven Tuns herausstellen, ihre Beseitigung aber eine Befreiung
und Steigerung der ersten Kräfte verheißen" (Einheit des Gei-
steslebens, S. 19). Anders liegt es beim Intellektualismus: hier
soll die Wirklichkeit in einem Denkprozeß aufgehen und dabei
muß alles Nebeneinander Glied eines einheitlichen, umfassen-
den Geschehens werden.
Der Intellektualismus übt hier eine berechtigte Kritik an dem
Naturalismus und weist Tatsachen auf, die jenen widerlegen.
Es ist vor allem die Tatsache einer inneren Gemeinschaft in
der Arbeit innerhalb des menschlichen Kreises, die der absolu-
ten Vereinzelung widerspricht. Es bilden sich aus sachlicher
Notwendigkeit innerliche Zusammenhänge unter den Menschen,
die nichts mit äußerer Wechselwirkung singulärer Elemente
gemeinsam haben. Das Einswerden zweier Menschen in geisti-
ger Liebe, das Großwerden unseres Wesens in solchem Bunde
sind möglich und an manchen Stellen wirkhch. Solche geistige
Einheit ist für alle Entwickelung des Geisteslebens, ja für das
erste Aufkommen der Kultur unbedingt erforderlich. ,,Ohne sie
könnte sich keine Mitteilung der Gedanken, keine Ausbildung
einer gemeinsamen Begriffssprache finden, ohne sie nicht den
sinnlichen Erfahrungen ein Reich ideeller Großen abgerungen
werden. Hat sich aber die Geraeinschaft einer inneren Welt tat-
sächlich bewährt, sind die Leistungen in eine zusammenhän-
gende Welt eingetragen, so ist von Haus aus eine wesentliche
Zusammengehörigkeit zu setzen; was im Ergebnis unanfecht-
bar, ist auch im Prinzip anzuerkennen" (S. 97). Die Geschichte
vornehmlich zeigt, wie das Einzelne vom Ganzen abhängt. Auch
bei jedem Schaffen ist die Fühlung mit der Umgebung not-
wendig.
Aber auch beim Intellektualismus können wir uns nicht be-
ruhigen; auch er gibt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit,
Tatsachen des geistigen Lebens stehen auch ihm entgegen.
,,Der Gegensatz von Einheit und Vielheit, von Allgemeinem
und Besonderem soll . . . seine Erledigung finden, indem alle
Mannigfaltigkeit des Alls als Entwickelung und Verzweigung
des einen Denkprozesses erwiesen wird. Einem unendlichen
Reichtum von Gestalten soll der freieste Spielraum bleiben, nur
liegt jedes Einzelne innerhalb des Ganzen und empfängt seine
Beschaffenheit aus der Lage des Ganzen, seine Bedeutung aus
der Leistung für das Ganze". (S. 264.)
Diesem extremen Intellektualismus (NoStismus) widerspricht
schon der Schein einer Sonderexistenz, der mehr Selbständig-
keit des Einzelnen bezeigt. ,, Weiter aber enthält jene Einfügung
aller Mannigfaltigkeit in die Einheit des Prozesses eine Be-
hauptung von der Beschaffenheit des Einzelnen, welche an der
Erfahrung des Menschheitslebens notwendig scheitert. Die be-
sondere Existenz dürfte^hier keinen Inhalt aufweisen, den sie
nicht aus der Entwickelung des Ganzen empfangen hätte, keine
Kraft, die nicht aus dem Ganzen flösse. Nun und nimmer
könnte der Lebensprozeß von Einzelpunkten her aufgenommen
werden. In diese Begrenzung geht aber der Reichtum des Da-
seins tatsächlich nicht auf. Zunächst läßt sich schon die Po-
sitivität des Nebeneinander und des Nacheinander in der sinn-
4
RUDOLF EUCKENS MONISMUS 153
liehen Wirklichkeit unmöglich durch begriffliche Entwicke-
lung ableiten. Weiter aber gewinnen auch die Einzelexistenzen
einen eigentümlichen Inhalt, sie bieten eine unvergleichliche
Synthese der Elemente, die einzeln für sich alle innerhalb
des Umfangs des Allgemeinen liegen mögen, die aber im Gan-
zen etwas Neues werden, eine S3mthese aus dem Ganzen und
zum Ganzen, die sich nicht deduktiv, sondern immer nur in-
tuitiv vergegenwärtigen läfit. Als selbständige Kraft aber be-
kundet sich die Einzelexistenz sowohl in dem Widerstände
gegen die Gesamtbewegimg, als in einer unentbehrlichen Er-
gänzung der allgemeinen Strebungen''. (S. 265.)
DaS wir eine Gegenwart erleben, ist ein weiteres Zeichen da-
für, dafi die Verkettung der Glieder nicht alle Unmittelbarkeit
der Existenz aufhebt. Wenn das Individuum nur ein Durch -
gangspunkt der Gesamtbewegung wäre, so wäre ein Ich, ein
Fürsichsein unmöglich. „Das Individuum zeigt sich aber selbst-
ständig schon in der energischen Behauptung seiner Existenz
bis zum Widerstände gegen alle allgemeinen Ordntmgen, selbst-
ständiger noch in der Entwickelung zum Mikrokosmus, dem
Streben, das ganze All, und zwar in eigentümlicherweise, mit-
zuerleben, am selbständigsten aber als sittliche Persönlichkeit,
sofern hier verschiedene Gesamtrichtungen im Einzelnen zu-
sammentreffen und seine Entscheidung fordern. All dieses Le-
ben der Sonderkreise mit seinen Aufgaben und Leistungen,
seinen Freuden und Schmerzen ist ein unablässiger Protest ge-
gen die Verwandlung des Daseins in einen einzigen Gesamt-
prozeß''. (S. 266.)
Den Fortschritt der Menschheit haben stets die großen Ein-
zelnen, die starken Persönlichkeiten gebracht. „Das Größte
einer solchen schaffenden Persönlichkeit liegt nicht in dem,
was sie an Werken nach außen herausstellt, sondern in dem
inneren Schaffen eines ausgeprägten Lebensganzen; vor allen
anderen Werken steht als die entscheidende Tatsache
das Werk des Persönlichseins selber.^ . . .
Könnten mm die Persönlichkeiten eine solche Stellung in der
Entwicklung einnehmen, wenn ihnen nicht eine Weltordnung
entspräche, nicht hinter dem Denkprozeß ein All des Persön-
lichseins aufstiege?"
Hier deutet Eucken schon seine charakteristische Auffassung
an. Nach zwei Seiten hin ist sie zunächst ausgebildet, ent-
^ Von mir gesperrt!
»
sprechend der Kritik an den beiden Lebenssystemen (Syntag-
men) : dem Naturalismus mit seiner Vereinzelung der Ele-
mente gegenüber behauptet er eine innerliche Einheit im
Grunde der Dinge, dem Intellektualismus gegenüber vertritt er
das Vorhandensein eines Einheitspunlttes jenseits und über dem
kosmischen Prozesse. Was hier mehr abstrakt -begrifflich ab-
geleitet wird, das erscheint in seinen späteren Werken als For-
derung des geistigen Lebens; eine Einheit muß uns mit den
anderen Geisteswesen umschließen, wenn unser Schaffen Sinn
haben soll, und der Kulturprozeß muß irgendwie zu uns zurück-
biegen, wir müssen für uns einen Ertrag davon haben, nicht
bloße Glieder des Prozesses, sondern überlegene Einheits punkte
müssen wir sein, und nicht nur der Prozeß hat Realität, son-
dern auch sein Ertrag muß eine konzentrierte Art der meta-
physischen Existenz behalten.
In den ,,Frolegomena" wirft Eucken die Frage nach dem
Monismus des Geisteslebens so auf: ,,Gibt es einen einheitlichen
Charakter des Geisteslebens und bezeugt sich dieser in fort-
währenderTat?" Das Problem liegt also innerhalb des geistigen
Seins, nicht handelt es sich um eine Vereinheitlichung natura-
listischer Art von Geist und Materie — das ist ja unmittelbar
klar.
Charakterisiert vtrird die Frage durch den Zusatz: „Bezeugt
sich dieser in fortwährender Tat." Dadurch grenzt Eucken sein
Ziel von einem scheinbar verwandten ab: „Auch bloße Über-
legung kann die Lebenserscheinungen zu irgendwelchem Zu-
sammenhange verknüpfen. . . . Solcher Einigung durch bloße
Reflexion setzen wir die Einigung durch die Tat entgegen, als
das, worauf es uns ankommt. Was wir fragen, ist dieses, obder
Fülle der Erscheinungen eine umfassende Einheit innewohne,
ob vom Grund her ein Gesamtgeschehen ausgeprägter Art
wirke, ob dasselbe alles Einzelne trage, treibe und einer Ge-
meinsamkeit des Sinnes zuführe." (Prolegomena S. 2.) Diese
natürliche Einigung nennt Eucken „Inbegriff".
So grenzt sich Euckens Untersuchung scharf ab gegen eine
bloße Reflexion; es handelt sich bei ihm nicht darum, der vor-
handenen Wirklichkeit eine zweite nachträglich hinzuzuden-
ken, die Welt soll nicht mit einem Gewebe abstrakter Begriffe
umsponnen werden. Sondern als wirkend in der Welt soll ein
einheitliches Geistesleben erwiesen werden, ein „Taterweis"
soll geführt werden, d. h. es soll gezeigt v/erden, daß überall in
RUDOLF EUCKENS MONISMUS
I
der Welt ein solcher Inbegriff am Werke ist. Es gilt, die Welt
auf ihre wahre Tiefe zu führen. ,,Es käme also darauf an, etwas,
das in uns steckt, zu voller Selbsttätigkeit zu erwecken und zu-
gleich innerlich zu erhöhen, was zerstreut nach der gesuchten
Richtung schon wirkt, zu gemeinsamer Leistung zu verbinden,
in dem Alten und vermeintlich Selbstverständlichen Neues und
vielleicht Überraschendes zu erkennen, damit die Wahrheit der
Welt auch unsere Wahrheit werde und unserem Leben Kraft
gebe." (Grundlinien einer neuen Lebensanschauung.) Wir kön-
nennichtmehrwiefrühereZeiten an ein zweites, abgeschlossenes
Basein, an eine andere, neben uns befindliche Welt uns halten,
diese bequeme Zuflucht ist uns viel zu fremd und ungewiß ge-
worden (Kampf um einen geistigen Lebensinhalt). Wir müssen,
um unserm Leben Halt zu geben, eine innere Umwandlung des
Weltbestandes erstreben. Daß ein geistiges „Selbstleben" in der
Welt aufzukommen strebt, das zeigt Hucken an vielen Stellen
seinerWerke in eingehender Kritik des Naturalismus, Intellek-
tualismus usw. Diesem Aufstreben gilt es, mit bewußter Arbeit
zu Hilfe zu kommen, „es gilt, die Zusammenhänge, welche
vom Grunde her schon wirken, deutlicher herauszuarbeiten,
sie als Gesamtmacht zur Anerkennung zu bringen." (Einheit
des Geisteslebens.)
Daß eine irgendwie geartete Einheit uns mit der Welt und
den anderen Individuen verbindet, ist von vorneherein klar;
sonst gäbe es ja keine Kultur, jedes geistige Schaffen wäre bei
der absoluten Vereinzelung ein Unding. Nun gilt es aber, den
näheren Charakter dieser Einheit festzustellen.
Eucken erschließt diesen — seinem Prinzip gemäß — aus
den Forderungen des Geisteslebens in der Menschheit, Das
Wirken der Menschheit hat eine ungeheure Verzweigung er-
reicht; wenn es nicht auseinanderfallen soll, so ist für eine dem
Fluß überlegene Einheit zu sorgen, gegenüber aller zeitlichen
Veränderung ein zeitloses Wirken zu suchen. Diese Bewegung
muß aber auf ein Selbst hinlenken, „weil eine Vertiefung des
Wirkens zur Geistigkeit, eine fortschreitende Vergeistigung des
Daseins nicht möglich ist, ohne Wiederaufnehmen und Um-
arbeiten der früheren Ergebnisse ; dazu aber muß das Tatwesen
zu sich selber zurückkehren und in dem früheren Stande sein
eigenes Werk, sich selbst wiederfinden können." (Einheit des
Geisteslebens, S. 315.) Jedes Schaffen setzt die Überwindung
des Gegensatzes von Funktion und Sache voraus, das Zwischen-
ISO
UN
geschehen muB dabei zum Innengeschehen werden. „Ein Iitfl
nengeschehen aber werden kann es nur, wenn ein Selbst das'*
ganze Vorgehen umspannt und in dessen Entwicklung sein
eigenes Ergehen erlebt." Der Intellektualismus hat recht mit
der Forderung, daß sich das Leben dem rastlosen Fluß der Ent-
wickelung hingeben soll; aber es darf sich nicht in ihm ver-
lieren. Der Geistescharakter des Daseins läßt sich abernur fest-
halten, wenn in allumspannender Zusammenfassung das zeit-
liche Wirken in ein zeitloses, das fortschreitende in ein behar-
rendes übergeht. Auf einem einheitlichen Urbestandemußdie
Welt ruhen, und das wird mit der Wendung zum Selbst erfüllt.
Auch unterscheidende Züge dieses Selbst werden hier schon
ersichtlich. Es darf nicht in transzendenter Ferne über dem
Leben thronen, es darf nicht bloß ein jenseitiger Träger des Ge-
schehens sein, ,, nicht ein Plus, das zu einem gegebenen Be-J
Stande hinzukäme, sondern eine innerhalb des Geschehens wir-J
kende und seine Beschaffenheit herstellende Macht." 1
So ist dieses Selbst Voraussetzung der Ausbildung einer
Geisteswelt. Es ist aber ein großer Unterschied zwischen der
Stufe, auf der das Selbst im Grunde der Dinge verborgen wirkt,
und einer anderen, wo es sich in seiner Ganzheit entfaltet.
,, Dennoch ist das Selbst in einem Sinne Voraussetzung, in dem
anderen Vollendung des Strebens, dort als Selbstwesen, hier als
Selbstleben, dort als Faktum, hier als Aufgabe. Ein unermeß-
licher Weg liegt zwischen beiden Punkten, und in der Mitte
steht der Mensch der geschichtlichen Lage."
Diese Worte enthalten die Grundrichtungen von Euckens
Monismus angedeutet, die gewiß manches mit anderen Fassun-
gen gemeinsam haben. Man wird an die ,,drei Stufen in Gott"
der alten Mystik erinnert : deus implicitus als das Urfaktum und
der absolute Grund der Weltentwickelung, deus explicitus als
das Ziel der Entwickelung, und dazwischen Gott als in der Welt
wirkender und sich vollendender in der Endlichkeit. Auch die
deutsche Spekulation, namentlich Schelling, hat diese Unter-
schiede; von den Neueren wären in erster Linie Hartmann und
Drews zu erwähnen. Eucken ist erfüllt von freudigem, vertieftem
Optimismus. Über den Beginn des Weltprozesses äußert er sich
bei seiner Vorsicht und Abneigung gegen den Intellektualismus
nie oder sehr zurückhaltend. Ich glaube der Wahrheit am
nächsten zu kommen, wenn ich diese ,,Urtat" etwa so be-
zeichne; nicht aus einem grundlosen, und besser nicht ge-
' schehenen Abfall ist die endliche Welt hervorgegangen, kein
nutzloser Umweg ist die Individuation Gottes in derWelt; son-
dern Gott selbst kann sich erst in der Endlichkeit und Indivi-
dualität entfalten, er wird durch den Weltprozeß vollendet,
nicht nur , .erlöst" im negativen Sinne. Wie sollte anders das
Absolute die Fülle seiner Möglichkeiten realisieren, als durch
sein Eingehen in die Endlichkeit? Der deusexplicitus wird zum
Ideal, das zu realisieren unsere Lebensaufgabe ist. Wir sind
zur Vollendung Gottes nötig, Gott braucht uns, um seinen Ge-
halt erschöpfen zu können. So kommt die wahre geistige Welt
vorwärts durch uns, unser Streben hat Sinn.
Euckens Untersuchung des Selbst als Faktum und als Auf-
gabe klingt auch an Fichte an, mit dem Eucken auch Manches
gemeinsam hat: auch Fichte unterschied Gott als Ausgangs-
punkt und Gott als Zielpunkt, Gott als die erste Ursache und
Alles in Allem und Gott als Inbegriff der höchsten Werte {vgl.
M. Raich, Fichte, Tübingen 1905, S. 166}.
Unabweisliche Tatsachen des Lebens treiben uns also zur
Anerkennung eines kosmischen, umspannenden Setbstlebens.
Zwar ist damit erst eine allgemeine Form gefunden, deren In-
halt sich erst — aus der Erfahrung der Geschichte — finden
muß; aber dieses Selbst ist keine partikulare Existenz, sondern
in dem Selbst des Geistes findet die ganze Wirklichkeit ihr
Selbst. „In aller Verkettung der mechanischen Beziehungen,
in aller Spannung und Bewegung des Reiches der Lebewesen,
in der ungeheuren Aufregung des Kampfes ums Dasein findet
sich sonst nichts, dem das Alles zugute käme, nichts, das die
Unermefllichkeit zusammenfaßte, nichts, dasinder Aufbietung
der Kräfte sich selber erlebte. Wir stehen vor dem Dilemma,
daß entweder alles ins Leere verrinnt oder in dem Geiste die
Wendung zu einem kosmischen Selbstleben eintritt" (Einheit
des Geisteslebens, S. 319).
So wäre denn jetzt in] allgemeinen Umrissen festgestellt,
„daß nicht ein rastlos fortlaufendes, sondern nur ein in sich
beruhendes und im Wirken fortwährend zu einem Einheits-
punkte zurückkehrendes Geschehen die Wirklichkeit tragen
kann, daß das Handeln nicht in freischwebenden einzelnen
Akten verläuft, sondern daß es durch die Kraft eines seiner
ganzen Ausbreitung innewohnenden Ganzen einen substantiel-
len Charakter annehmen *muß, daß die schaffende Leistung
nicht in den unmittelbaren Akten . . . vorliegt, sondern viel-
258 OTTO BRAUN
mehr transzendentaler Natur ist'' (a. a« O. S. 341). Wir müssen
aber über diese ontologischen Bestimmungen hinaus zu einer
neuen Wirklichkeit, zu neuen Aufgaben und Inhalten des Le-
bens vorzudringen suchen, wir müssen sehen, ob das neue
Prinzip des Selbstlebens einen eigenartigen Weltdurchblick aus
sich herrortreibt.
Der naturgemäße Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist
es, daß wir im Gesichtskreise des Menschen nach einer Erschei-
ntmg suchen, die das Prinzip des Selbstlebens irgendwie ver-
körpert. Hier entdecken wir denn leicht jenen Einheitspunkt,
jene Beherrschung des Vielen, die wir als „Persönlichkeit''
bezeichnen. Alles Problematische und Schwankende dieses Be-
griffes kann uns nicht der Pflicht entheben, ihn in unsere Un-
tersuchung einzuführen, denn er drängt sich uns direkt als
Ausgangspunkt auf.
Mannigfache Umwandlungen muß allerdings der landläufige
Begriff erfahren, er muß abgetrennt werden von dem Zusam-
menfließen mit dem Begriff der naturgegebenen Individual-
existenz, er muß geschieden werden von dem bloßen Fürsich-
sein. Vor allem muß das Personalsein als Weltwesen gefaßt
werden. Die starre Einzelheit der Individualpunkte muß über-
wunden werden, sonst erhalten wir unzusanunenhängende^
kleine Kreise, kommen aber nicht zu der großen Welt, wie es
das Selbstleben in oben entwickelter Fassung fordert. Aus der
Kritik des Naturalismus und Intellektualismus und aus dem
dabei gewonnenen Einheitsbegriff ist das schon klar. Hier
kommen wir der charakteristischen Fassung der Einheit schon
näher. „Ein personales Lebenssystem kann es schlechterdings
nur geben zusammen mit einem Ganzen personaler Wirklich-
keit, einer personalen Welt. Diese aber läßt sich . . . nur ge-
winnen, wenn eine kosmische Einheit die Wirklichkeit um-
spannt, wenn alles Geschehen einen Einheitspunkt hat, wenn
also ein universales Personalwesen^ die Grundlage der
Entfaltung alles Personallebens bildet. Nicht die einzelnen
Punkte können eine personale Welt zusammensetzen, sondern
die Einzelexistenzen müssen von vornherein einem universalen
Personalleben angehören, um das sein oder doch werden zu
können, worauf das Streben ihrer Natur geht; erst aus einem
universalen Personalleben werden die Partikularwesen über-
haupt einen Personalcharakter gewinnen.'' (a. a. O. S. 355*)
^ Von mir gesperrt!
RUDOLF EUCKENS MONISMUS 159
Als Anhaltspunkt für diesen Begriff eines universalen Per-
sonalwesens finden sich im Reiche der Erfahrung mannigfache
Tatsachen. So zunächst, daB der Einzelne seine Punktualität
überwinden kann, indem er — wie ich oben schon ausführte —
einen anderen Menschen innerlich in sich hineinzieht und mit
ihm zu einer höheren Einheit verschmilzt.'
Auch die Tatsache, daß von großen Persönlichkeiten der Fort-
schritt in der Kulturentwickelung gebracht wird, darf zweifel-
los als Zeugnis für eine begründende und umfassende Welt des
Persönlichseins gelten.
So fanden sich mannigfache Anknüpfungspunkte, die den
Begriff eines universalen Personalwesens stützen. Den ersten,
aller begrifflichen Überlegung vorausgehenden Grund hat das
Postulat eines kosmischen Selbstlebens aber darin, daß Eucken
sein eigenes geistiges Leben in so hohem Grade als „persönlich^'
im besten Sinne empfindet. Für ihn gibt es gar kein Leben als
unter der Form des „Persönlichseins'': und wir müssen ihm
unbedingt zustimmen. Ein Monismus, der eine vage, im All
verschwimmende Absolutheit als Wesen der Welt fordert, kann
allenfalls eine verflachende Lebensanschauung der „ästheti-
schen Kultur" erzeugen (z. B. Ellen Key), aber keinen tatkräf-
tigen, dem vollen Leben zugewandten Idealismus begründen.
Jedes Leben muß einen Einheitspunkt haben, muß ein Erleben
sein, und das ist nur sub specie personalitiitis möglich.
Die bisherigen Entwickelungen genügen für Eucken zur
Grundlage seines „Lebenssystems der Personalwelt", er kann
es jetzt unternehmen, aufzuweisen, daß das Selbst mit lebendi-
ger Kraft für uns wirkt. Für die Frage des Monismus kommen
hier nur einzelne Punkte in Betracht.
Die allgemeine Entwickelung der Kultur weist auf ein be-
gründendes Personalwesen schon insofern hin, als in der geisti-
gen Arbeit durchgängig innerliche Zusammenhänge in der
Wirklichkeit geschaffen werden.
Sehr wichtig ist auch, daß die Kulturentfaltung nicht das
Bild eines einheitlichen Stromes bietet, wie es der Intellektua-
lismus behauptet. Es bilden sich innerhalb des Ganzen einzelne
Konzentrationspunkte, die eigenartige Verkörperungen des
Ganzen sind. „Von da aus erwächst nicht nur eine unermeß-
liche Bereicherung, sondern geradezu eine Umwandlung des
* Vgl. auch meinen Artikel „Monismus und Ethik'' in dieser Sammlung und
„Egoismus und Wesenswelt'* in der „Philos. Wochenschrift".
x6o OTTO BRAUN
Lebensprozesses. An jedem einzelnen Punkte entspringt ein be-
sonderer Lebensstrom, und diese mannigfachen Ströme laufen
nicht gesondert nebeneinander her, sondern sie stehen inner-
halb eines allgegenwärtigen Ganzen in lebendiger Wechselwir-
kungy ja innerlicher Durchdringung. Alle einzelnen Bewegim-
gen verbinden sich schließlich ohne Verzicht auf ihre Eigen-
art zu einem unermeBlichen Gesamtleben. So entsteht eine
Welt von Welten y eine Wirklichkeit von Wirklichkeiten''
(s. 36s).
Hier könnte man bei Eucken Anklänge an Gedankengänge
in Lotzes Metaphysik finden — doch haben solche Parallelen
wenig Wert. Lotzes Ideen stehen auf rein erkenntnistheoreti-
scher Basis, während Eucken um eine Substanz des Lebens
ringt.
Die eigenartige Gegenwart des Ganzen im Einzelnen ist nun
das Charakteristikum des Persönlichseins; so wirkt die Tat-
sache einer Einheitenbildung innerhalb des Stromes der Geistes-
entwickelung mit aller Kraft zur Anerkennung einer Welt der
Personalität. „Nur in ihr findet die Oberwindung des Gegen-
satzes von isolierter Punktualität der Atome und bloß akziden-
teller Zugehörigkeit aller Mannigfaltigkeit zu einem Tätigkeits-
strome, wie die Geisteswelt sie tatsächlich zeigt, ihre prinzipielle
Begründung . . .''
Mit allen entwickelten Bestinunungen sind wir inuner noch
nicht zu einer inhaltlichen Abgrenzung der Personalwelt ge-
langt. „Eine inhaltliche Wendung nun, die über alle bisherigen
Ermittelungen hinausreicht, ergibt sich aus der Tatsache der
Wertbildung in allem Geistesleben, ja in allem Leben'' (a. a. O.
S. 372).
Begriffe, die nur eine Beschaffenheit des Seins bezeichnen
(ontologisch) und solche, die eine Beziehung auf das Interesse
der Lebewesen ausdrücken (timologisch) scheiden sich vonein-
ander; sie sind auch nicht auseinander abzuleiten. Die Werte
stehen selbständig den bloßen Existenzen gegenüber, schweben
dabei aber nicht als Schatten über dem Sein, sie sind nicht bloße
nachträgliche Urteile, sondern sind der Ausdruck einer eigen-
tümlichen Beschaffenheit des Realgeschehens, sie sind objektiv.
„So hat überhaupt auf einer gewissen Stufe das Sein oder we-
nigstens ein Teil des Seins von Haus aus einen Wert. Nur unter
solcher Voraussetzung wird begreiflich, daß die Werte bewe-
gende Mächte werden und so tief in den Lebensprozeß eingrei-
fen können, wie sie es in Wahrheit tun." So scheidet sich ein
qualitätsloses von einem qualifizierten Sein. „Wie viel Dunkel-
heiten dieses qualifizierte Sein, das den Lebewesen eigentüm-
lich, enthalten mag : daß es ein Erleben der Mannigfaltigkeit
von einem Einheitspunkte bekundet, und daß die Einheit hier
nicht bloß einen formalen Beziehungspunkt, sondern die Kon-
zentration eines Selbstlebens bedeutet, ist augenscheinlich.
Nicht die Einheit an sich, sondern nur die Einheit eines Selbst-
lebens vermag den Vorgängen einen Wert zu geben."
,,Wert" heißt immer ,|für jemand wert" — so möchte ich er-
klärend hinzufügen; es gibt keinen Wert ohne jemand, für den
er Wert ist. Absolute Werte müssen also Werte für das Abso-
lute sein, ein universales Personalwesen muß die Werte des Gu-
ten, Schönen und Wahren erzeugen, da sie nicht aus dem In-
dividuum stammen.
Diese Werte werden für uns oberste Werte und Ideale, indem
wir mit dem iimersten Kern unseres Wesens teilhaben an der
Personal weit.
Mit diesen Bestimmungen findet die ganze moderne ,, Wert-
lehre" erst ihre Fundierung. In Windelbands Weltauffassung
z.B. schweben die Normen in vager Schattenhaftigkeit in der
Luft, man weiß nicht, woher sie stammen und woher sie den
Zwang nehmen, mit dem sie in unser Bewußtsein eintreten;
das ist der Mangel seiner sonst so wertvollen Untersuchung
„Normen und Naturgesetze" (in ,, Präludien").
So ist in den Werten und Normen eine inhaltliche Bestim-
mung der Personalwelt gefunden. Alle Werte bekunden den
wesentlichen Zusammenhang eines Lebenskreises, ja die Ein-
heit eines Selbstlebens.
„Gibt es also ein Reich spezifisch geistiger Werte, so ist da-
mit eine Konzentration des geistigen Seins, ein Selbstleben gei-
stiger Art dargetan. Ohne ein solches kein Schätzen und Messen,
kein Abstufen und Einordnen auf mentalem Gebiete. Daß jenes
Selbstleben seinen Mittelpunkt nicht im Individuum findet, ist
augenscheinlich; also wird er jenseits der erfahrungsmäßigen
Größen in einer intelligiblen Welt zu suchen sein, er wird nir-
gends anders als im Ganzen des Geisteslebens selbst liegen kön-
nen" (375).
Um aber anzudeuten, daß der Begriff des Wertes nichts Sub-
jektives ausdrückt, sondern in der Sache begründet ist, muß er
durch den des Gutes ergänzt werden ; und endlich müssen sich
i62 OTTO BRAUN
Wert und Gut als Seiten eines umfassenden Gutes^ eines We-
sensgutes erkennen.
Hier ergibt sich eine weitere Bestimmung, die Euckens Mo-
nismus charakterisiert. Eucken gibt näher an, wie er sich die
Einordnung der Werte in der Personalwelt denkt, er läßt nicht
wie Plato etwa die Ordnung der Ideen im Unklaren.
Vor aller Verzweigung muß ein zusammenhaltendes Gut
stehen : „die Idee einer Erhebung des Selbstwesens zur Wesens-
tat, d. h. einem universalen Lebenswerte, das Selbstleben als
Volltat im Gegensatz zu aller bloßen Kraftentwickelung. So
lassen sich nicht an erster Stelle verschiedene Güter wie die des
Sittlich-guten, Wahren, Schönen aufzählen und aus ihnen ein
Reich der Werte zusammensetzen, sondern sie alle bedeuten
nur einzelne Seiten jenes einen überlegenen Gutes, das auch in
ihre Summe keineswegs aufgeht; dieses Wesens- und Lebens-
gut muß an jeder Stelle zugegen sein, um den besonderen Gü-
tern einen präzisen Inhalt und eine bewegende Kraft zu geben.
Daß demnach das Geistesleben erstwesentlich an sich selbst, als
Realisierung der Gesamtvemunft, ein Gut ist, nicht wegen mo-
ralischer oder intellektueller Leistungen, daß die Ideen des Gu-
ten und des Wahren eine Macht werden, weil sie jenes Ganze
hinter sich haben, nicht in ihrer Absonderung, das bildet eine
bestimmte Abgrenzung gegen den landläufigen Idealismus, der
den Zusammenhang mit der Lebenseinheit vernachlässigt' '
(S. 434).
„Die gemeinsame Unterordnung aller besonderen Güter im-
ter ein Wesensgut verhindert aber keineswegs ein Vorantreten
des einen vor dem andern; im besonderen sind es die Ideen des
Wahren und des Sittlich-guten, welche nunmehr eine ausge-
zeichnete Stellung erhalten.^' Die Idee der Wahrhaftigkeit er-
weitert sich über das intellektuelle Gebiet, Wahrheit, Einigimg
von Wirken und Wesen wird zur allumfassenden Aufgabe. Und
da nur durch Freiheit das Sein zum Wesen erhoben wird, so
läßt sich auch das Gebiet der ethischen Aufgabe nicht irgendwie
einschränken.
Überall ist ethische Entscheidung notwendig, muß das Wesen
in das Wollen aufgenommen werden.
Die ethische Tat ist für das Fortbestehen aller geistigen Rea-
lität unerläßlich.
„Die Moralität existiert in und mit dem Ganzen der geistigen
Wirklichkeit, nicht als ein partikularer Zweck neben anderem.'^
■«3
' Auffallend und bezeichnend ist das Zurücktreten des Schö-
"lien: Eucken ist ein durchaus ethischer Geist, und sieht in der
Bevorzugung des Schönen und der Kunst in unserer Zeit mit
Recht eine große Gefahr.
Eucltens Weltbild ist ein ethisches, die ethische Betätigung
ist die eigentlich wesenhafte und begründende, Ethik ist aber
Sache des persönlichen Lebens, und so ,,kann nur das Ganze
einer personalen Lebensführung, eines personalen Lebenswer-
kes Vorbild und Triebkraft des Handelns sein ; in diesem Gan-
zen müssen einmal die Wurzeln der menschlichen Existenz lie-
gen, sonst könnte es nie angeeignet werden, andrerseits muB es
sich in überlegener Hoheit gegen die menschliche Lage befin-
den, sonst würde es nicht in der Form eines Gesetzes zu uns
wirken. — Die Verfolgung dieses Gedankens führt notwendig
auf die Idee einer Universalpersönlichkeit, durch welche die
individuelle Existenz sich allererst zu einer Teilnahme an der
personalen Welt erhebt und damit zugleich eine Teilpersönlich-
keit wird. Die Entwickelung dieses personalen Lebens, die Hin-
einstellung des Daseins in die Zusammenhänge des Ganzen und
die Umwandlung des vorgefundenen Wesens von da aus erweist
sich als der Kern aller Ethik" (S. sSof.).
Wir haben die metaphysischen Bestimmungen, die Euckens
Monismus auszeichnen, kennen gelernt. Wir sahen, wie die
Untersuchung von dem Begriff einer unbestimmten Einheit,
die gegenüber dem Naturalismus behauptet wird, zu einem Ein-
heitspunkte fortschreitet, dann zum ,, Selbstleben" gelangt und
endlich in der Forderung einer „Personalwelt" gipfelt. Diese
Charakteristik der geforderten Einheit des Geisteslebens, des
Inbegriffs, ist für Eucken ebenso bezeichnend wie seine Me-
thode.
Wir haben keine begriffliche Spekulation vor uns: Eucken
geht vom Geistesleben, vom allgemeinen Lebensprozeß aus
und gewinnt die Formulierung seines Monismus als Forderung
eines solchen Geisteslebens. Diesen Ausgangspunkt hat Eucken
mit Fichte gemein und erkennt das ausdrücklich an: ,, Nicht
weit können wir mit dem gewaltigen Stürmer gehen ; um so ent-
schiedener müssen wir aussprechen, daß sein Ausgangspunkt,
sein Grundgedanke eines ursprünglichen und weltschaffenden
Lebensprozesses im Menschen, auch uns als das Fundament
nicht nur aller ausgeprägten Philosophie, sondern aller künfti-
gen Vernunftarbeit gilt''(Kampf um einen geistigen Lebensin-
x64 OTTO BRAUN
halt, II. Aufl., S. 29). Nicht vom Ich geht Eucken aus, sondern
von der viel ursprünglicheren Tatsache des überindividuellen
Geisteslebens in uns.
Der Fortgang seiner Untersuchung charakterisiert seine Me-
thode näher. Seine Begriffe gewinnt er nicht aus abstrakter
Deduktion, er zieht überall die — allerdings vergeistigte und
auf ihren Kern geführte Erfahrung heran, um seinen Begriffen
Halt zu geben, die zunächst rein hypothetisch aufgenommen
werden. Gewiß handelt es sich auch hier um „Begriffe'S ^^^ ^
jedem Denken; aber diese Begriffe wachsen heraus aus der
Wirklichkeit, sie werden an tatsächliche Daten der Er-
fahrung angeknüpft und müssen ihre Richtigkeit erst da-
durch erweisen, daß sie Andeutungen der Erfahrung auf
ihr wahres Wesen bringen und zusammenfassen. Es ist
eben jene verinnerlichende Methode, die Eucken so glücklich
„noologisch" nennt.
In unseren bisherigen Erörterungen war von der Stellung des
Menschen zu der gefundenen Personalwelt noch wenig die Rede.
Die Art, wie Eucken dieses Verhältnis faßt, soll uns ein letztes
Charakteristikum seines Monismus liefern.
Ober das Verhältnis der untermenschlichen Natur zum Gei-
stesleben hat sich Eucken nur flüchtig geäußert.
Die Natur faßt er als werdenden Geist auf, in ihr muß schon
von Anfang an das Geistige angelegt sein, um im Menschen
seine volle Ausprägung zu finden. „Mag in unserer Erfahrung
das Geistige sich als die späte Frucht einer langwierigen Welt-
bewegung ausnehmen: schon von der Wurzel her muß ein
Trieb dahin wirken, wenn sich in jener Frucht das Ganze voll-
enden soll'' (Kampf 109). „Vorstufe des Geistes" nennt er die
Natur. „Als solche muß sie eine gewisse Vernimft enthalten und
eine höhere vorbereiten" (a. a. O. S. 179).
Wenn wir in unserm Denken den Standpunkt der bloßen
Reflexion überschreiten, so kommen wir zu Weiterbildungen
der Sache selbst. „Dies schöpferische Denken in uns, das zu-
gleich unser eigenes Denken ist, bildet ein Zeugnis für ein Sich-
begegnen unseres Denkens mit einem aus den Dingen und aus
dem Ganzen wirkenden Denken; die Unvorstellbarkeit eines
solchen Denkens sollte nie zur Leugnung einer kosmischen
Logik verleiten, mit der alle wissenschaftliche Forschung steht
und fällt. Die Aufdeckung eines solchen Zusammenhanges aber
gibt unserem Denken inmitten aller Zweifel einen festen Grund,
eine freudige Gewißheit, eine unermeßliche Aufgabe." (Grund-
linien, S. i88.)
Diesen vereinzelten Andeutungen stehen die breiten Aus-
führungen gegenüber, die Eucben von dem Problem der Stel-
lung des Menschen zum Geistesleben gegeben hat. Ja — wie ich
schon oben andeutete — diesjsteigentlichder Kern seinerganzen
Arbeit geworden, um diesen Punkt dreht sich sein Denken. Das
menschliche Leben ist ja der Gegenstand seines Sinnens, für
dieses Leben ist aber das Verhältnis zum Geistigen ausschlag-
gebend. So gilt es vor allem, dieses Verhältnis zu klären. Die
abstrakte Spekulation tritt bei Eucken immer mehr in den Hin-
tergrund, er empfindet geradezu eine Abneigung gegen seine
ersten tiefsinnigen Arbeiten, weil sie ihm zu intellekt-jalistisch
sind. Er wird nicht müde, den Unterschied seiner Metaphysik
der früheren gegenüber zu betonen. Der Zug unserer Zeit geht
ja gegen eine Metaphysik. ,,Er widerspricht mit Recht, sofern
er sich die Metaphysik nach der Art vergangener Zeiten vor-
stellt, als eine bloße Begriffsspekulation eines freischwebenden
Denkens über die vorgefundene Welt, er widerspricht ihr mit
Unrecht, wenn er mit der Erschütterung jener älteren Art alle
und jede Metaphysik beseitigt glaubt. Denn es kann auch eine
Metaphysik nicht aus dem bloßen Denken, sondern aus dem
ganzen Leben hervorgehen; sie besagt dann dieses, daß im Le-
ben selbst eine Verlegung des Schwerpunktes und damit eine
Umwälzung des bisherigen Standes zu erfolgen hat, daß eine
in ihm wirksame Tatsächlichkeit aus der bisherigen Zurück-
stellung herausgehoben und damit zu voller Wirkung gebracht
wird. Es wird also nicht zu einer vorhandenen Wirklichkeit
etwas nur hinzugedacht oder sie in ein Gewebe von Begriffen
umgedacht, sondern es wird die Wirklichkeit bei sich selbst zu
ergreifen und in ihrer vollen Tiefe für uns zu beleben gesucht.
Alle Wandlung des Denkens ruht dann auf eine Wandlung des
Lebens." (Grundlinien, S. 115.) Auf das Leben kommt es an,
nicht auf die Begriffel Der Schwerpunkt des Lebens muß in das
Geistige verlegt werden. Durch bloße Begriffsspekulation wird
die Wirklichkeit nicht verändert. Wirkt dagegen das Denken
zu einer Vergeistigung unseres Wesens, so wird an unserer
Stelle die Wirklichkeit nach dem Geistesleben hin verschoben,
dann wird ein Stück Natur für den Geist gewonnen. Auf eine
Vertiefung derWirklichkeit ist es abgesehen, nicht auf begriff-
liche Formulierung der Wirklichkeit.
x66 OTTO BRAUN
Das ist Euckens Ziel in seinen letzten Werken, besonders in
den mehrfach schon zitierten „Grundlinien einer neuen Lebens-
anschauung'^ Um ein klares Bild davon zu erhalten, wie
Eucken heute zu seinem Monismus kommt, wollen wir den
Ausführungen dieses Werkes näher folgen.
Euckens ganze Arbeit ist dadurch zur Notwendigkeit gewor-
den, daß dem Leben selbst die ihm bisher gewiesenen Maße zu
eng geworden sind. Verschiedene Lebensordnungen wirken in
unsere Zeit hinein, ältere und neuere; so die Lebensordnung
der Religion, des kosmischen Idealismus, des Naturalismus,
Sozialismus und des künstlerischen Subjektivismus. Alle diese
Versuche, das Leben zu fassen, genügen heute nicht, so weist
Eucken in eingehender Kritik nach, sie erweisen sich als un-
zulänglich, „indem sie in eben den Stand der Unsicherheit
zurückführen, den es zu überwinden gilt. Ihre Verneinung aber
trägt in sich ein gewisses Ja, das der Untersuchung ihre Haupt-
richtung einigermaßen vorzeichnet. Kein äußerlicher Kompro-
miß, sondern ein Gewinnen eines überlegenen Standortes, der
jedem sein Recht ohne Schwäche zu geben gestattet; keine
Flucht in die Geschichte, sondern ein Wirken aus der Gegen-
wart, aber aus einer Gegenwart nicht des bloßen Augenblicks,
sondern der weltgeschichtlichen Arbeit; kein Voranstellen
eines einzelnen Punktes oder Gebietes, sondern ein Kampf um
ein neues Ganzes; keine Wendung zur Persönlichkeit, bevor
nicht dieser vom All her eine sichere Grundlage gegeben istl
Wir müssen . . . nach einer neuen Lebensordnung streben • . •''
(S. 79). „Der Grundbestand der Wahrheit selbst, aller Sinn
unseres Daseins zeigte sich als ins Ungewisse geraten. Das Ge-
dankengefüge, von dem aus wir bis dahin die Wirklichkeit
sahen und die zuströmende Flut der Erscheinungen lenkten,
hat sich gelockert und aufgelöst; so sind wir wehrlos geworden
gegenüber den Eindrücken der Umgebung, die uns mit wach-
sender Stärke packen und bald hier bald dorthin werfen. In
solcher Auflösung ist uns nicht bloß dieses oder jenes am
menschlichen Sein, sondern es ist uns das Ganze des Seins pro-
blematisch geworden'^ (S. 82).
Aus der Not des Lebens heraus erwächst also für Eucken
seine Aufgabe; nicht ein Widerspruch in Begriffen ist es, den er
aufzuheben unternimmt, sondern er will für das Leben etwas
leisten. Euckens innerstes Wesen zeigt sich uns in diesem Be-
streben, wie wir schon oben ausführten.
Entsprechend seiner Methode und seinem Ziele, Erweckiuig
und Aufrufung von Leben zu gewinnen, sucht Eucken nun in
dem Umkreis des menschlichen Lebens selbst die Anknüpfun-
gen für seine geplante Vertiefung. Es handelt sich nach der
ganzen Lage unserer Zeit zunächst darum, ein Hinauswachsen
des Menschen über die Natur festzustellen. Denn die größten
Schwächungen erfährt heute das Leben von selten des Natu-
rahsmus, der das ganze Wesen des Menschen als bloßes Stück
der Natur betrachtet. Diesem gegenüber unternimmt es nun
Eucken, nachzuweisen, daß der Mensch in vielen Punkten
seiner Lebensbetätigung eine andere Form des Seins aufweist,
als es die der Natur ist.
Am unmittelbarsten zeigt sich die Lösung von der Natur in
unserm Welterkennen darin, da3 wir uns überhaupt mit Be-
wußtsein von der Welt lösen und sie von unserm Punkte aus
überschauen. ,,Eine eigentümliche Leistung des Menschen kann
auch der eifrigste Vorkämpfer der bloßen Natur nicht leugnen:
wir gehören nicht nur zur Natur, wir wissen auch, daß wir es
tun, und dies Wissen schon genügt, um aus uns etwas anderes
zu machen als bloße Natur. Denn im Wissen und sei es zu-
nächst auch noch so gering genommen, noch so sehr mit der
Abbildung äußerer Vorgänge beschäftigt, liegt eine andere Art
des Lebens, als die Stufe der Natur sie in dem Nebeneinander
und Nacheinander zeigt. Denn zum Wissen gehört, daß wir die
einzelnen Punkte gegenwärtig halten und zu einer Kette ver-
binden; wie aber könnten wir das, ohne aus dem bloßen Nach-
einander irgend herauszutreten und es von einem überlegenen
Punkte zu überblicken ? Damit wir vom Früheren zum Späteren
vorauseilen, vom Späteren zum Früheren zurückblicken, damit
wir Mannigfaches zusammenhalten können, muß irgendwelche
Einheit in uns walten, und eine derartige Einheit liefert der
bloße Mechanismus der Natur nun und nimmer. So erfolgt im
Denken schon eine Überschreitung der Natur, auch wenn es
die Natur nur abbildet, sie unserem Bewußtsein nur dar-
stellt."
Werm wir das Denken näher betrachten, so zeigt es sich in
allen seinen charakteristischen Merkmalen von der Natur gänz-
lich geschieden. So löst es sich z. B. von der Zeit ab. „Das
Denken treibt nicht dahin mit der Zeit; so gewiß es Wahrheit
will, so gewiß muß es sich über jene hinausheben und eine zeit-
lose Betrachtung ausbilden, zur Wahrheit gehört ein zeitloses
x68 OTTO BRAUN
Gelten, eine Erfassung der Dinge „unter der Form der Ewig»
keit"."
So erhebt sich das Denken über das Nacheinander und so
löst es sich auch vom Nebeneinander. „Das menschliche Zu-
sammensein bildet nicht bloß ein Nebeneinander von Einzel-
punkten mit mannigfachster Verschlingung, sondern in Familie,
Staat, Gesamtheit der Menschheit erwachsen innere Zusam-
menhänge, Lebenskreise mit eigentümlichen Inhalten und Gü-
tern; wie diese die Werke der Individuen wesentlich über-
schreiten, andere Gefühle und Bestrebungen auslösen, so kön-
nen ihre Forderungen denen der individuellen Selbsterhaltung
direkt widersprechen/'
Das Streben nach bloßer Selbsterhaltung ist überhaupt im
menschlichen Kreise oft zurückgedrängt. „Wieviel echte Liebe
und echtes Mitleiden die Erfahrung der Menschheit aufweist,
das ist eine Frage für sich ; schon als bloße Möglichkeiten un-
seres Wesens, als Gedankendinge, die uns beschäftigen, als
Aufgaben und Probleme bekunden sie ein Hinauswachsen un-
seres Lebens über die bloße Natur."
Sehr charakteristisch für Eucken ist ein weiterer Punkt, an
dem er ein übernatürliches Wesen des Menschen aufweist : es
ist das innere Verhältnis, das der Mensch zu seiner Arbeit —
sei sie, welcher Art nur immer — gewinnen kann. Eine Arbeit
wird vielleicht erst nur aus äußeren Gründen übernommen.
Dann aber nimmt sie uns ganz in Anspruch, sie fordert unser
Interesse, wir haben unsere Freude an ihr und suchen alles zu
erfüllen, was sich als Notwendigkeit für sie ergibt.
„Was uns zu Beginn ein bloßes Mittel war und vielleicht
recht widerwillig betrieben wurde, das beginnt mehr und mehr
seiner selbst wegen anzuziehen und festzuhalten, das wird zu
einem Selbstzweck und vermag uns so einzunehmen, daß es
den Gedanken des Nutzens völlig zurückdrängt. Die Arbeit
kann uns so lieb und wert werden, daß wir ihrem Gelingen
Opfer bringen, sie in direktem Gegensatz zu unserem eigenen
Vorteil fortführen können." Aus eigenstem Erleben fließen
diese Worte; denn Euckens ganzes Leben ist Arbeit, rastlose
Arbeit im Dienste dessen, was er als wahr und gut erkannt hat*
Und bei dieser Arbeit hat er das edelste Lebensglück gefunden.
Eucken weist auch darauf hin, daß die Menschheit im Lauf
der Geschichte die Welt immer mehr in Gedankengrößen um-
gestaltet. „Liegt nicht eine solche Umsetzung in Gedanken-
RUDOLF EUCKENS MONISMUS 169
großen vor, wenn wir in uns selbst vornehmlich nicht das sinn*
liehe Naturwesen, sondern eine Persönlichkeit oder Individua»
lität sehen, wenn wir im Zusanunensein die Staatsidee bilden
und uns als Bürger des Staates fühlen, wenn wir die verwand-
ten Wesen um uns vom Begriff der Menschheit aus sehen und
schätzen? Es geht aber durch die ganze Geschichte der Mensch-
heit eine starke Bewegung nach dieser Richtung, das Sinnliche
verschwindet nicht, aber es wird mehr und mehr auf etwas Ge-
dankliches aufgetragen und gestaltet sich zur Erscheinung einer
Gedankengröfie, mehr und mehr wird die Credankenarbeit der
Standort, von dem wir das Leben führen. So eine fortschreitende
Vergeistigung der Religion, der Moral, des Rechts, des ganzen
Kulturlebens. Oberall erfolgt eine Zurückverlegung des Lebens,
ein Inneres gewinnt eine Selbständigkeit gegenüber der Umge-
bung und übt an ihr eine umwandelnde Macht.''
Die Gewalt, die das Denken über uns hat, ist auch grundver-
schieden von physischem Zwange. Liegen in unserer Gedan-
kenwelt oder in unserem Leben Widersprüche, so können wir
sie, wenn wir sie einmal erkannt haben, nicht einfach auf sich
beruhen lassen, sondern müssen irgendwie eine Lösung herbei-
führen.
„Diese Bewegungen zeigen das menschliche Leben in eigen-
tümlichem Bilde. Es steigt in ihm etwas auf, das unbekümmert
um das Wohl und Wehe des Menschen mit absoluter Forderung
seinen eigenen Weg verfolgt, das mehr als irgend etwas anderes
alles ruhige Behagen stört und zerstört. Wie schwer hat
Deutschland die religiöse Bewegung der Reformation durch
eine politische, nationale, wirtschaftliche Zurückwerf ung büBen
müssen 1 Ja alle Bewegimgen idealer Art, die soziale der Ge-
genwart einbegriffen, müssen vom bloB natürlichen Wohlsein
aus lästige und verderbliche Störungen scheinen. Als mehr
gelten können sie uns nur, wenn wir anerkennen, daB das Le-
ben nicht in die Beziehung nach auBen und das Streben nicht
in die Herstellung eines Gleichgewichts mit der Umgebung
aufgeht, sondern daB eine innere Aufgabe aus ihm selbst her-
vorwächst und dem Dasein des Menschen allererst einen Wert
und eine Würde verleiht.''
An all den angeführten Punkten zeigt sich im Menschenleben
das Geistige wirksam, das Leben wird dadurch zunächst zwie-
spältig, wir kommen zu einem schroffen Dualismus. Denn im
Wesen des Menschen selbst scheiden sich dabei zwei Stuf en» eine
naturhafte und eine geistige, alles vereinigt sich zu dem Ergeb-
nis, daß in unserer Seele eine neue Art des Lebens gegenüber
der bloßen Natur aufsteigt. So scheint das Leben in Schröter
Spaltung zu verlaufen: als das Wertvollste im Menschen
schätzen wir das Geistige, und doch ist dieses zunächst nur in
keimhaften Anfängen beimMenschenzugewrahren. Das Geistes-
leben soll vom Menschen aus als neue Welt erschlossen wer-
den: ,,wie kann eine neue Welt aufbauen, was vor allem ein
Stück einer gegebenen Welt ist?" Wie kommen wir aus diesem
Dualismus zu einem Monismus des Lebens zurück ?
Das ist nur so möglich, daß wir nicht beim ersten Weltan-
blick stehen bleiben, sondern zu der schon oben charakterisier-
ten Metaphysik des Lebens fortschreiten: hinter den Ansätzen
des Geistigen muß mehr stecken, wenn sie nicht als sinnloses
Beiwerk erscheinen sollen, wir müssen sie auffassen als Hinein-
wirken einer ganzen, neuen Welt des Geisteslebens, die in den
Menschen hineinragt und den innersten Kern seines Wesens
ausmacht. Soll das Geistige Bedeutung und Sinn haben, ja die
höchste Äußerung des Menschenwesens sein, so darf es nicht
die vereinzelte Erscheinung bleiben, als die es sich auf den
ersten Blick darstellt, sondern es muß unabhängig vom Men-
schen eine wahrhafte Form des Seins haben, es muß sich zu
einem einheitlichenGesamtleben zusammenschließen. Wirtref-
fen hier wieder auf die ,, Personal weit", die wir schon kennen, J
Eucken kommt auf sie aber hier vom Leben aus, weniger vonl
den Begriffen, wie in der ,, Einheit des Geisteslebens". ^
Um aus der Spaltung heraus zu einem Monismus kom-
men zu können, müssen verschiedene Postulate erfüllt sein.
Das Geistesleben darf nicht in jenseitiger Hoheit von uns ge-
trennt bleiben, sondern muß in uns voll gegenwärtig sein.
Kommen wir dann zur Erkenntnis dieser Gegenwart des Höhe-
ren in uns, so wird die Schattenhaftigkeit und Unerträ glich keit
des gewöhnlichen Lebens uns voll zur Empfindung kommen.
„Erst die Eröffnung eines bei sich selbst befindlichen und sich
selbst zu einer Wirklichkeit entfaltenden Lebens kann darin
Wandel schalen und vom Schein und Schatten des Lebens zu
wahrhaftigem Leben führen." Dazu ist aber die Anerkennung
einer Freiheit in bestimmtem Sinne notwendig: das Wesen des
Menschen muß wandlungsfähig sein, wenn er das geistige Prin-
zip in sich wirksam machen und durchbilden solll Das Wesen
des Menschen darf nicht starr imd unveränderlich sein, sonst
ist eine „Wesensbildung", diese erste Aufgabe des Menschen,
unmöglich.
So kommen wir allmählich zu dem Charakteristikum von
Euckens Monismus, das wir noch suchen. Das Wesen des Men-
schen ist nicht fertig — sondern es ist eine Aufgabe, ein Ideal.
So müssen denn auch Begriffe wie Persönlichkeit z. B. einen
Wandel dadurch erfahren, daß wir uns immer gegenwärtig
halten: wir sind nicht Persönlichkeiten, sondern können es nur
durch unablässiges Suchen werden.
„Wie große Erregung und Spannung dabei entstehen kann,
das zeigt die innere Geschichte aller schaffenden Geister, sie
zeigt sie schon dann, wenn die Hauptrichtung leicht gefunden
wurde und nur die nähere Gestaltung zu suchen war, sie zeigt
sie noch mehr, wenn jene Richtung selbst in Frage stand. Wie
mühsam war es oft, auf den Punkt der Stärke zu kommen, und
damit von tastender Reflexion zu sicherem Schaden zu gelan-
gen, den ganzen Umfang der Kräfte zu gemeinsamer Leistung
zusammenzuschließen, den überkommenen Stand des Geistes-
lebens wesentlich zu erhöhen. So war auch den vom Schicksal
verschwenderisch ausgestatteten Naturen, wie z. B. einem
Goethe, das Leben keineswegs eine fertige Gabe und ein beque-
mer Genuß, aber in dem Kampf um sich selbst gewann es eine
volle Selbständigkeit und trotzige Überlegenheit gegen alles
Äußere."
Ist aber das menschliche Wesen noch nicht von vornherein
fertig, so ist auch die Wirklichkeit noch nicht vollendet! Der
Mensch ist nicht als geschlossenes Einzelwesen in eine ge<
schlossene Welt gestellt. Dann hätte sein Leben keinen Sinn, es
würde eben in den mit mechanischem Zwange vorgeschriebenen
Bahnen ablaufen. Seine geistige Tätigkeit müßte sich darin er-
schöpfen, die Welt ■ — wie sie nun einmal ist — kontemplativ
abzubilden, sich also rein als Zuschauer zu ihr zu verhalten.
So kämen wir zu einer ästhetischen Welt- und Lebensanschau-
ung, wie sie am reinsten Schelling vertritt.^ Dadurch wird aber
das Leben mattl Der Mensch muß am innersten Bestände der
Welt mitschaffen können, die Welt darf nicht schon ohne sein
Zutun fertig sein. Der Kern und das Wesen der Welt ist aber
das Geistige, dieses allein hat wahre Realität. Diese ist aber in
uns noch unausgebildet, es ist ja gerade unsere Aufgabe, sie zu
>■ Vgl. meine Arbeit; Schellings gel Btige Wandlungen ii
1810. Leipzig oö.
172 OTTO BRAUN
▼ollenden ! Damit erhalten wir eine sehr wichtige und charak»
teristische Fassung von ,, Wirklichkeit' ': sie ist kein Faktum»
sondern ein Problem und Ideal, sie liegt nicht am Anfang, son-
dern am Ende des Wegs. Die Wirklichkeit soll erst durch den
Menschen vollendet werden, dadurch erhält sein Leben erst
Sinn und eine große Aufgabe.
„Die Welt, unsere Welt, ist kein abgeschlossenes System,
sondern erst in der Entwickelung zu einer vollen Einheit be-
griffen, die erste und letzte Wirklichkeit für uns kein Datum,
sondern ein Problem oder vielmehr ein Postulat'^ (Einheit
S. 239). Nicht mit einem Schlage etwa ist die Einheit zu reali-
sieren. „Die Welt der Beziehungen verschwindet nicht einfach,
die Freiheit muß sich fortwährend von neuem aufringen und
gegen einen anhaltenden Widerstand sowohl der Feindschaft
als der Trägheit behaupten. So ist die neue und erste Wirklich-
keit . . • idealer Art, die Realität selbst erscheint als ein Ideal-
begrifl, das ideale Sein aber als der Kern der Realität, nicht als
ein subjektives BessemwoUen der Wirklichkeit. . . J*
„Das Wesen bildet nicht schon einen vorhandenen Grund,
den es nur aufzudecken gälte, sondern das Wesen liegt vor uns,
es ist Ziel und Aufgabe des Handelns, es ist, was es ist, nicht
ohne Entwickelung des Selbstlebens, nicht ohne Freiheit. • . •
Der ersten Wirklichkeit gegenüber ergibt sich daraus eine un-
geheure und fortdauernde Aufgabe. Eine prinzipielle Umwand-
lung ist zu vollziehen, ein neuer Ausgangspunkt des Tuns zu
gewinnen, ein neuer Daseinsraum herzustellen. Zur Kraft der
Volltat wird diese Wendung erst mit der anhaltenden und
durchdringenden Arbeit. Das Dasein läßt sich nicht durch einen
einzigen großen Entschluß auf den neuen Boden versetzen,
sondern es gilt, in unendlicher Tätigkeit alles Sein hinüberzu-
ziehen, das Falsche abzustreifen, das Wahre weiterzuentwickeln,
neue Zusammenhänge nach Auflösung der alten zu gewinnen,
Sinnloses in Sinnvolles zu verwandeln.'^ (Einheit S. 422 f.)
Damit sind wir zxxr Bestimmung des Monismus bei Eucken
gelangt: die Einheit ist nicht gegeben, sondern ein Ideall Der
Monismus fällt uns nicht von selbst zu, sondern ihn gilt es erst
durchzusetzen, er ist das Ziel des ganzen Kulturprozesses. Der
Monismus als Aufgabe — das ist also die charakteristische
Fassung bei Eucken 1
Wie diese mit seinem innersten Wesen 2aisammenhängt, ist
leicht zu sehen: er strebt ja gerade nach Betätigung, er ist ja
unablässig beim Schaffen: so ist ihm das Wesen der Welt das
Ethische. Auf die Tat des Menschen konunt alles an: so be-
greifen wir immer mehr, wie der Begriff der ,, Arbeit" seine Be-
deutung bei Eucken erhält. Es Ist eben der innerste Wert der
Arbeit, daQ sie den Menschen selbst zur Vergeistigung seines
Wesens bringt. Energisches Wollen und Streben nur kann uns
vorwärts bringen. Denn nicht in raschem Entschluß gelingt es,
die Geistigkeit sich zu eigen zu machen: nur dauernder Innen-
tat kann das gelingen. Niemals dürfen wir träge ausruhen und
den Besitz bloQ genießen; denn von der errungenen Höhe sinkt
der Geist sogleich wieder herab, wenn nicht weitere Arbeit ihn
dort erhält. So ist unser Leben eine fortwährende Arbeit.
„Die hier entwickelte Lebensordnung empfängt ihre eigen-
tümliche Färbung und Stimmung namenthch durch die Voran-
stellung der Tatsache, daß wir nicht von Haus aus einer Welt
der Vernunft angehören, die nur in Anschauung und Genuß zu
verwandeln wäre, sondern daß wir zu einer solchen Welt erst
vordringen müssen und dazu einer Umwälzung der ersten Lage
bedürfen. Der Standort wahren Lebens ist immer von neuem
zu erringen, und es enthält auch die Leistung im Einzelnen
immer eine Entscheidung von Ganzem zu Ganzem, Nur in un-
ablässiger Tätigkeit kann das Leben die errungene Höhe wah-
ren. . . . Bei solchem Vorantreten der Tätigkeit, solcher Akti-
vität, darf dieses Lebenssystem wohl das des Aktivismus heißen.
Aber dieser Aktivismus erweist seine Eigentümlichkeit und
entwickelt sein Vermögen nur bei deutlicher Abgrenzung gegen
andere scheinbar verwandte Richtungen. In den Stand der
Aktivität bringt uns nicht schon ein rascher Entschluß, noch
auch eine bloße Anfeuerung der Kraft. Denn uns umfängt und
umklammert zunächst eine Welt von starrer Natur und matter
Geistigkeit, eine Welt, die zugleich von menschlichem Schein-
wesen durchsetzt ist. . . . Eine Aktivität ohne eine Befreiung
von der gegebenen Welt ist ein Unding, erreichbar aber ist eine
solche nur aus der lebendigen Gegenwart einerWelt der Selbst-
tätigkeit, nur ihre Kraft kann auch den einzelnen Punkt zur
Selbsttätigkeit erwecken. Wie aber sollte der Mensch diese
Welt sich aneignen, ohne ihr Leben in sein eigenes zu verwan-
deln, ohne ihren Inhalt als auch für sich gültig anzuerkennen,
ohne ihre Ordnungen zu Normen seines Handelns zu machen?
— Damit erlangt die Aktivität einen ethischen Charakter . . ."
Aus dieser Bestimmung des Monismus als Aufgabe ergibt
174 OTTO BRAUN
sich auch eine charakteristische Fassung desVerh<nisses von
Einheit und Vielheit. Wir müssen ja bei dem Geistigen schei-
den zwischen seiner Substanz und seiner Existenz. Was in
der Substanz ein einheitliches Ganze ist, das legt sich in der
Existenz zur Vielheit auseinander (vgl. Kampf um einen gei-
stigen Lebensinhalt). Jedes einzeln existierende Glied bekommt
seine Selbständigkeit dadurch, daS sich das einheitliche Ganze
ihm in bestimmter Weise mitteilt. Dadurch wird das Viele für
das Eine wirksam und bedeutsam. So kommen wir trotz un-
serer Anerkennung des Einen als der wahren Realität doch zur
Fülle der individuellen Gestaltungen, das Leben wird nicht leer
und schattenhaft durch diesen Monismus, sondern das Indivi-
duelle behält seinen vollsten Wert. Diese Auffassung erinnert
stark an den „konkreten Monismus" E. v. Hartmanns.
Durch dieses Verhältnis von Einheit und Vielheit zueinander
bekommt auch das Seelenleben eine doppelte Aufgabe. „Ein-
mal geht der Zug in die Vielheit hinein, um dem Grundleben
gegenüber eine Existenz zu entwickeln. Hier heißt es, alle Be-
sonderheit deutlich abzuheben und kräftig auszubilden. Sodann
aber ist von der Verzweigung immer wieder zur umfassenden
Einheit zurückzukehren und der Ertrag der einzelnen Kreise in
einen Gewinn für das Ganze zu verwandeln.''
Wir sind am Ende: Einheit als Selbstleben, als Personal-
wesen und als Aufgabe, das sind die drei charakteristischen
Züge des Euckenschen Monismus, die ersten beiden metaphy-
sischer Art, der letztere aus der Stellung des Menschen zu den
beiden Welten der Natur und des Geisteslebens erwachsend. Die
Hauptbedeutung dieses Monismus ist, daß er vom Leben aus
für das Leben geschaffen istl
Für viele schon — und auch für mich — sind Euckens Ideen
eine erlösende Botschaft gewesen — vielleicht erwerben diese
Zeilen ihm neue Freunde!
ALMA VON HARTMANN ■ EDUARD VON
HARTMANNS KONKRETER MONISMUS
3IE es heute gewiß ein vergebliches Unter-
fangen wäre, eine der vorhandenen Reli-
gionsgemeinschaften wissenschaftlich so
fest zu begründen, daß sie zur absoluten
Religion erhoben werden könnte, so ist
es auch eine ganz zwecklose Mühe, irgend-
n anderes, wichtiges Problem dem Streit
des Tages zu entziehen und auf eine Höhe
zu stellen, die es vor allen Zweifeln und Angriffen bewahrt. Und
doch hat man immer wieder versucht, einzelne Lehrmeinungen
so zu erhöhen, daß sie als eine unmittelbare Notwendigkeit, die
das Leben durchdringt und keinen Widerspruch duldet, erschei-
nen. So hat man es auch mit dem monistischen Gedanken, des-
sen Tragweite überspannend, gemacht. Wenn es, ganz allge-
mein gesprochen, die Aufgabe schlechthin des Weltprozesses
ist, das Bewußtsein der Menschheit zu einer immer reineren
Gotteserkenntnis zu führen, so ergibt sich daraus für den Mo-
nismus, der diesen Namen verdient und Denken und Sein in
Einklang bringen will, der Gedanke, die einzelnen, bis jetzt her-
vorgetretenen Religionen zwar nicht für betrügerische Illu-
sionen des religiösen Bewußtseins, wohl aber für überwindungs-
bedürftige Stufen im Entwicklungsprozeß der Wahrheit zu hal-
ten und den Wert dieser Stufen darnach einzuschätzen, wie
weit sie zur Erklärung des Weltganzen, die ohne die Erkennt-
nis Gottes keine vollgültige wird, beigetragen haben und noch
beitragen. Der bewußte Geist, der die Welt zu erkennen strebt,
muß freilich darin Bestandteile seines eigenen Geistes erblicken,
denn sonst kommt es zu keiner Erkenntnis, aber darüber hin-
aus muß er sich einer Sphäre zu nähern versuchen, die seinem
Bewußtseinsleben überlegen ist, ohne es deshalb doch in seinem
Wert zu beeinträchtigen, denn mit der bloßen Beschränkung
auf die Welt des bewußten Daseins bliebe man in einem zu
kleinen Kreis eingespannt. Für den Monismus handelt es sich
darum, zu prüfen, wie weit es jeder Religion gelungen ist, die
metaphysische Realität, also die Welt des Seins, ohne deren
176 ALMA VON HARTMANN
Anerkennung in irgendeiner Form keine Religionsgemeinschaft
zu denken ist, in Beziehung zu setzen zu der Welt des Da-
seins, der Erfahrung, und die Frage nach dem einheitlichen
Wesen der Welt den gesteigerten Ansprüchen des Menschheits-
bewußtseins gemäß zu beantworten.
In dieser Frage, die jede Religion aufwerfen muß, liegt schon
das Zugeständnis, daß die Welt der sinnlichen Erfahrung, die
dem tieferen Erklärungsbedürfnis keine Antwort bietet, nicht
das letzte Wort sein könne; aber der in der Welt vorhandene
Kontrast zwischen Sinnlichem und Geistigem verführte erst zu
einer einfacheren Lösimg, indem man die Einheitssehnsucht
unterdrückte und in einer dualistischen Weltanschauung Gott
und Welt, Gut und Böse, das Logische und das Unlogische,
Geist und Natur, oder wie man den großen, sich dem Nachden-
ken zuerst aufdrängenden Gegensatz zu nennen beliebte, kurz-
weg zur ewigen Einzelhaft verurteilte, ohne sich mit dem Be-
dürfnis des philosophischen Denkens und religiösen Empfindens
nach einer Überwindung dieses Standpunktes näher zu beschäf-
tigen. Der Theismus ist die höchste Ausbildung, die der Dualis-
mus in den Religionen gefunden hat, aber auch in ihm haben
sich im 19. Jahrhundert die bedeutendsten Ansätze zu einer
Überführung in den Pantheismus gefunden, der als Schule des
Monismus anzusehen ist, wenngleich die Befangenheit in der Be-
wußtseinsphilosophie ein gänzliches Aufgeben der Anwendung
des Bewußtseinsbegriffs auf die Gottheit unmöglich machte.
Selbst die fortgeschrittensten unter den Vertretern des spekula-
tiven Theismus hielten mit Ausnahme etwa von Schleiermacher
an dem Bewußtsein und der Persönlichkeit des Absoluten fest
wie Jacobi, Krause, Rothe, Fechner, Weiße, der ältere Dorner,
Biedermann usw., wenn auch ihr Gottesbegriff diesen Stempel
der Zugehörigkeit zum Theismus oft erst nachträglich und nicht
ohne Zwang erhielt. Der Wunsch nach einer monistischen
Gottesauffassung trieb sie zu einer so starken Betonung des
Immanenzprinzips, daß darüber die Persönlichkeit und das Be-
wußtsein des Absoluten mehr oder weniger unhaltbar wurde.
Jedenfalls gewannen diese Begriffe in ihrer Anwendung auf das
Absolute einen Inhalt, der sie als das gerade Gegenteil dessen,
was man im menschlichen Dasein mit diesen Worten bezeich-
nete, erscheinen ließ, so daß schließlich nur noch das gleiche
Wort übrig blieb, mit dem man zwei sehr verschiedene Begriffe
ausstattete. Bis auf den Katholiken Günther waren fast alle
EDUARD VOM HARTMANSS KONKRETER MONISMUS 177
theistischen Theologen von pantheistischen Velleitäten erfüllt,
weil sie den im Deismus ausgeprägten Dualismus überwunden
hatten und das Immanenzprinzip des Pantheismus für stark ge-
nug hielten, um die Persönlichkeit und die Bewußtheit des Ab-
soluten, diese letzten Anthropomorphismen, die als Postulate
des religiösen Bewußtseins vom Deismus übernommen worden
waren, zu stützen und zu tragen. Keiner von ihnen würde sich
einen Dualisten nennen; obgleich die Bewußtheit ihres Abso-
luten einen wirklichen Monismus ausschloß, hielten sie an der
Ansicht, daß sie die Alleinheit des göttlichen Wesens lehrten,
mit voller Überzeugung fest, da sie sich der Widersprüche in
ihren Lehren noch gar nicht bewußt geworden waren.
Im Gegensatz zu diesem sich auf Monismus beziehenden reli-
giösen Gedankenkreis, bei dem es ziemlich gleichgültig blieb,
ob er unitarisch war, d. h. die erste Person der Gottheit betonte,
oder ob er einer trinitarischen Ausgestaltung des Gottesbegriffes
das Wort redete, bildete sich in atheistischen Kreisen ein mate-
rialistischer Monismus aus, der einer gewissen religiösen Bei-
mischung indessen nicht entbehrte. Seine Berechtigung, sich
Monismus zu nennen, leitete er aus der Annahme der Natur als
Einheitsprinzips her. Es ist ja immer interessant zu beobachten,
wie zu gewissen Zeiten ein Problem Völker und Menschen so
stark beschäftigt, daß alle, ohne es zu merken, an demselben
Thema arbeiten. So ist es jetzt das Problem der Welterkenntnis
auf monistischer Basis, das seiner Lösung näher zu kommen
versucht. Die armseligen Tatsachen des Stoffes und der Materie
verlangen gebieterisch nach einer Ergänzung durch ein höheres
Prinzip. Schon Schelling hatte gesagt: ,,Die neue Religion wird
in einer Wiedergeburt der Natur zum Symbol der ewigen Ein-
heit erkannt", er hatte aber in allzu tiefer Ergriffenheit vor der
Größe des absoluten Geistes diesem zu weitgehende Rechte ver-
liehen und die Wirklichkeit, die Objektivationsstufen des Gött-
lichen, dabei zu sehr aus den Augen verloren. Es handelte sich
nun darum, einen Standpunkt zu gewinnen, der Schellings kost-
bare Ansätze zu einem der modernen Wissenschaft entspre-
chenden Ganzen fortbildete.
Ein solches Ziel hatte sich Eduard von Hartmann gesteckt.
Das Motto auf der ersten Ausgabe der Philosophie des Unbe-
wußten im Jahre 1869: , .Spekulative Resultate nach induktiv
naturwissenschaftlicher Methode" ist kein leeres Wort geblie-
ben. Ferne und entlegene Wege, wie seine Vorgänger sie ge-
178 ALMA VON HARTMANN
wandelt waren, verschmähend, stieg er von dem Boden der
sicheren Erfahrung erst dann in die Höhe, als er ausgefimden
hatte, wie eng und kümmerlich die Erkenntnis, die sich inner-
halb der BewuBtseinstatsachen hielt, bleiben müßte, wenn sie
nicht durch den Ausblick auf Hypothesen des Geistes erweitert
würde. Voller Würdigung für den Wert des Bewußtseinslebens,
das ja für ihn das Hauptmittel zur Förderung der logischen
Zwecke des Absoluten im Weltprozesse war, wenn er auch das
menschliche Bewußtsein nicht als Träger aller Wirklichkeits-
werte schätzte, sah er doch in der Herausstellung des Begriffs
des Unbewußten, von dem Schelling zuerst ein deutliches Ge-
fühl aufgegangen war, die Lösung vieler Widersprüche und Er-
klärungsschwierigkeiten anderer Systeme.
So sehr war das Unbewußte für ihn Quellpunkt alles Seins
imd Geschehens, daß sich ihm daraus keine andere als eine mo-
nistische Weltanschauung ergeben konnte. Die Angriffe auf
sein System, die ihn des Dualismus ziehen, weil die allem Da-
sein zugrunde liegende Einheit keine starre, wandellose, son-
dern in die Attribute Wille und Idee oder in ein Realprinzip
und ein Idealprinzip gegliedert war, prallten wirkungslos an der
Festigkeit ab, mit der er diesen monistischen Standpunkt in
allen Untersuchungen festhielt. Er nannte ihn „konkreten Mo-
nismus'' und wollte damit seinen Gegensatz zu allen Formen
des abstrakten Monismus, der die Vielheit der Erscheinimg zu-
gunsten eines abstrakten Oberseins leugnet, betonen. „Das re-
ligiöse Bewußtsein muß daran festhalten, daß der Mensch eben-
sowohl real sei gegen die Welt und seinesgleichen, wie daß er
nichtig und wertlos sei gegen Gott; ohne die Realität gegen die
übrigen Erscheinungsindividuen würde das Handeln gegen die-
selben zum bloßen Schein und damit der Begriff des Bösen zur
Illusion, — ohne die Nichtigkeit und Wesenlosigkeit gegen
Gott käme die Absolutheit und unendliche Erhabenheit des
allein wahrhaft seienden Gottes über den Menschen nicht zur
vollen Geltung." (Religion des Geistes S. 227.)
Hartmann war ein eminent sjrstematisch denkender Geist,
d. h. ihm ordnete sich die verwirrende Mannigfaltigkeit des
Weltganzen mit allen den irrationalen Erscheinimgen auf jedem
Gebiet, das er in seiner unerschöpflich reichen Schaffenskraft
neu betrat, immer wieder zu einer alle Dissonanzen auflösenden
Harmonie, weil er in dem Begriff des Unbewußten ein Prinzip
gewonnen hatte, dessen Fruchtbarkeit ohnegleichen war. Mit
I
EDUARD VON HARTMANNS KONKRETER MONISMUS 179
kühnem und ernstem Entschluß faßte er nicht allein das Ewige
als das wirkliche Ziel aller Erkenntnis, sondern wagte auch den
Versuch, der religiösen Sehnsucht des Menschengeschlechts eine
neue Formel des Ewigen zu geben, eine Formel, die als Keim
schon in vielen geistreichen Köpfen vorhanden gewesen war,
aber noch niemals durch die Reflerion eines logischen Denkens
eine feste Gestalt gewonnen hatte. Zweierlei muß zusanunen-
konunen, um ein großes System lebensfähig zu machen, der
philosophierende Intellekt und das Verständnis der seelischen
Not, die nur durch ein vollständig einheitliches Weltprinzip,
das Verstand und Gemüt zugleich befriedigt, zur Ruhe gebracht
werden kann. Jedes philosophische Streben hat letzten Endes
ein ethisches Ideal, wenn dies auch nicht immer als Motiv klar
zutage tritt. Das, was die Bekenner eines Systems am stärksten
bindet, ist nicht die logische Beweisführung, obgleich der höher
Stehende deren nicht entraten kann, sondern die ethische Kraft,
und diese Kraft ist um so größer, je umfassender das System
das ganze Sein und das ganze Dasein zu einer unlöslichen Ein-
heit verschmilzt. Auf drei Gebieten war der Hartmatuische Mo-
nismus besonders klärend, auf dem der Erkenntnistheorie, der
Religionsbetrachtung, die in der Ethik dann wieder das sittliche
Handeln als praktische Folge der religiösen Vorstellungen unter
sich befaßte, und in der Ästhetik.
In Hartmanns Untersuchungen über die Erkenntnis, die in
dem ,, Transzendentalen Realismus", dem ,, Grundprob lern der
Erkenntnistheorie", der ,, Kategorienlehre" und in dem „Grund-
riß der Erkenntnislehre", welcher als erster Teil des nachge-
lassenen „Systems" im Frühjahr 1907 erschienen ist, ihren
hauptsächlichsten Ausdruck gefunden haben, ist vor allem die
entschiedene Verwerfung jedes Skeptizismus und Agnostizis-
mus zu betonen, selbst wenn er sich unter der Maske des er-
kenntnistheoretischen Idealismus als Monismus aufspielt. Hart-
mann nennt seinen Standpunkt ,, transzendentalen Realismus"
und tritt damit in Gegensatz erstens gegen den naiven Realis-
mus, der die Welt der Dinge an sich nicht nur mit den Wahr-
nehmungssubjekten, sondern auch mit unseren Vorstellungen
von ihnen identifiziert, und zweitens gegen die verschiedenen
Formen des transzendentalen Ideatismus, dessen sich scheinbar
auf die Erfahrung stützenden Beweise er einer zersetzenden
Kritik unterzieht. Die Vorführung aller möglichen Schattierun-
gen eines Erkenntnisstandpunktes im „Grundproblem" gehört
in die geistreichsten Kapitel der Hartmannschen Philosoph!
Das Bestreben der Idealisten, eine ,, monistische" Auffassung'
dadurch herzustellen, daß sie trotz der begrifflichen Differenz
von Ding an sich und Wahrnehmungsobjekt in der Gleichset-
zung von Sein und Bewußtsein, Welt und Ich eine Einheit kon-
struieren, wird als ein auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie
durchaus ungehöriges, jedenfalls überflüssiges Verfahren ge-
kennzeichnet. ,,Es entspringt dies aus einer unvorsichtigen
Übertragung des Ansehens, welches der Monismus in der Meta-
physik genießt, auf das anders geartete Gebiet der Erkenntnis-
theorie. Auch in der Metaphysik kann der Monismus nicht an-
ders als abstrakt, leer und tot ausfallen, wenn er nicht in sich
einen Dualismus als aufgehobenes Moment birgt, durch dessen
Zwiespältigkeit er erst seine Wesenseinheit zur inneren Mannig-
faltigkeit entfaltet. Im Erkenntnisprozeß haben wir es eben
nicht mit metaphysischen Prinzipien zu tun, in welchen freilich
alle Zwiespältigkeit letzten Endes zur Einheit aufgehoben sein
muß, sondern mit dem Gegensatz von Dasein und Bewußtsein,
Sein und Wissen, Ding und Denken, Realem und Idealem, Ob-
jekt und Subjekt, Welt und Ich, Erkanntem und Erkennendem."
(Grundproblem S. 114.)
Die Synthese ist überall das Wichtigere. Wie bei denlntellek-
tualfunktionen, die das Rohmaterial der zeitlichen Schwingun-
gen zu intensiven Empfindungen verknüpfen und dadurch un-
sere Erfahrungswelt aufbauen, den synthetischen bei weitem
die wichtigste Rolle zufällt, so ist es auch bei den letzten Vor-
gängen des bewußten Erkennens nach dem Sondern und Unter-
scheiden vor allem das Verknüpfen, das das Erkennen zu Ende
führt, weil die Vereinzelung niemals das letzte Wort bleib«
darf, sondern nur als Durchgangspunkt zur Einheit dient
muß. In den Anfängen der Erkenntnis beruht aber alles Er^
kennen darauf, daß man Unterschiede anerkennt, das Wahr-
nehmungsobjekt in seiner Gegensätzlichkeit einerseits zum
Ding an sich, andererseits zum Wahrnehmungssubjekt heraus-
stellt. ,,Ein Erkennen ohne diesen Dualismus als Grundlage
wäre eben keinErkennen mehr, sondern eine absolute Intuition,
in welcher die absolute Identität von ideal Geschautem und
real Gesetztem bestände ; es wäre nicht mehr ein bewußtes Er-
kennen des schon Vorhandenen, sondern ein unbewußtes Schaf-
fen des noch nicht Vorhandenen. Alles bewußte Erkennen be-
ruht darauf, daß ein vorhandenes reales Erkenntnissubjekt ein
'SM
vorhandenes reales Sein sich für sich vergegenwärtigt oder in-
nerhalb seiner BewuBtseinssphäre abbildlich repräsentiert."
(Grundproblem S. 114.)
Es ist ein ganz ungerechtfertigter Anspruch des philosophi-
schen Idealismus, sich Monismus zu nennen bloß darum, weil
man sich ganz auf das Wahrnehmungssubjekt und dessen Vor-
stellungsweit zurückzieht, so daß darüber jeder Gegensatz
zwischen Erkennendem und Erkanntem verschwindet. Man
muß es als einen der größten Irrtümer der Bewußtseinsphilo-
sophie betrachten, daß sie aus pseudomonistischen Beweggrün-
den den bloßen Bewußtseinsinhalt ohne transzendentale Be-
ziehung auf ein transzendentales Korrelat denkt und diesen
Bewußtseinsinhalt dann Ich nennt. Das Bewußtsein an sich ist
niemals Tätigkeit, sondern weist auf ein (unbewußtes) Subjekt
der Tätigkeit zurück, das aber wegen seiner Unbewußtheit nicht
unmittelbar mit dem Bewußtsein erschlossen, sondern nur
mittelbar erkannt werden kann. Der konsequente (monistische)
Idealismus ist eine solche Einseitigkeit, ein so geflissentliches
Verblenden gegen die Tatsächlichkeit der umgebenden Welt
zugunsten einer Theorie, daß es kaum einen Vertreter desselben,
den einzigen Stirner etwa ausgenommen, gibt, der den Mut ge-
habt hätte, ihn bis zu Ende nicht allein zu denken, sondern
auch für die Praxis des Lebens anzunehmen. Schon Hume hat
gesagt, daß die Natur immer stärker ist als ein Prinzip. Eine
gewisse Art von Skepsis gehört zu den Treib hausblüten philo-
sophischer Betrachtungen, von denen man keine nachhaltige
Erquickung verlangt, wenn man sie auch im ersten Augenblick
bewundert. Dieser auf skeptischer Basis emporgeschossene er-
kenntnistheoretische Monismus läuft außerdem die größte Ge-
fahr, in den Pluralismus, also in das gerade Gegenteil des Monis-
mus, den er anstrebt, hineinzugeraten, wenn er, von der Macht
des Tatsächlichen verführt, für jedes Individuum einen Bewußt-,
seinstraum, also so viele Traumwelten (in der Form von sub-
jektiv idealen Erscheinungs weiten), als Bewußtseine existieren,
zuließe, oder deren Möglichkeit wenigstens nicht in Abrede
stellte. Freilich wäre ein Aufeinanderwirken der Individuen auf-
einander bei dieser Annahme auch wieder illusorisch und nur,
wie bei Fichte, der aus sittlichem Gesichtspunkt dies Aufein-
anderwirken nicht entbehren mochte, durch Inkonsequenz ge-
gen den eigentlichen Ausgangspunkt zu erreichen.
Der Dualismus genießt überhaupt mit Unrecht eines schlech-
I
I
x82 ALMA VON HARTMANN
ten Rufes. Die Vertreter der mechanistischen Weltanschauung
halten es im Interesse des Monismus schon für ein zu weit
gehendes Zugeständnis, mehr als eine Erklärung zuzulassen.
Es heißt immer: entweder — oder; niemals: sowohl — als
auch. Wenn es sich um die Erklärung der GesetzmäBi^eit
handelt, soll alles Geschehen nur durch ein Prinzip möglich
sein, und da die mechanische Vermittlung als nächste Erklärung
sich darbietet, so wird sie zur alleinigen Ursache aller Vorgänge
aufgebauscht, und das teleologische Prinzip wird als unwesent-
lich ganz beiseite geschoben. Eine Frage, die man aus ihrer
gliedlichen Unterordnung unter das Allgemeine herausgerissen
hat, verliert die Wichtigkeit ihrer Besonderung wieder, wenn
man sich ihrer Relativität bewußt wird. So ist auch die mo-
nistische beziehungsweise dualistische Frage nicht überall am
Platze. Die Unvollkommenheit der Erfahrung und der auf sie
gestützten Begriilsbildung zwingt zu der Annahme eines zwei-
ten nebenher laufenden und sogar noch eines dritten beiden
übergeordneten Erklärungsprinzips. Der in der Metaphysik un-
entbehrliche Monismus hat eben auf dem Gebiet der Erkennt-
nistheorie (und der Materialismus behauptet ja, eine eigene Er-
kenntnistheorie zu haben) nur insofern Berechtigtmg, als an-
erkannt wird, daß die Wurzelfasern aller Erkenntnis aus dem
metaphysischen Gebiet herausgewachsen sind, also in gewissem
Sinne teilhaben an der ursprünglichen Einheit des Urprinzips.
Aber den Gegensatz, der in der metaphysischen Region keine
Geltung hat, auch auf dem Gebiete des Erkennens hinwegstrei-
fen zu wollen, das hieße dem Bewußtsein, das sich deutlich vom
objektiven Sein unterscheidet und dadurch nicht allein im Er-
kennen, sondern auch im Handeln zu den höchsten Resultaten
kommt, jeden Berechtigungsgrund versagen.
Nicht dadurch wird der Monismus gefördert, daß man in
skeptischem Indifferentismus die transzendent reale Welt für
eine psychologische Illusion ohne jede Wahrheit hält und die
Einwirkung der Wahrnehmungsobjekte auf dieWahmehmungs-
sub jekte ebenfalls, sondern dadurch, daß man das Auseinander-
legen der Substanz, des Absoluten, des Urprinzips, oder wie
man sonst das allem Dasein und Geschehen zugrunde liegende
Urwesen nennen mag, in den Dualismus von äußeren Dingen
und Bewußtseinsrepräsentanten akzeptiert in dem vollen Gre-
fühl, die ursprüngliche Einheit dadurch nicht geschädigt, son-«
dern bereichert zu haben. Zudem findet diese Auffassung in
dem psychologischen Begriß der allotropen Kausalität, die
vom geistigen Gebiet auf die Sphäre der mechanischen Vermitt-
lung hinübergreift und damit das Einheitsband kräftigt, eine
willkommene Stütze, während die entgegenstehenden (sogen,
monistischen) Ansichten, die nur eine immanente Kausalität
der Wahrnehmungsobjekte wie im Traum gelten lassen, sich
in die unhaltbarsten, aller Psychologie zuwiderlaufenden An-
nahmen verstricken; die Wahrnehmung ist eine nicht gewollte
und doch unabweislich sich aufdrängende; die Empfindung
zwingt uns, Wirkung und Ursache (und zwar eine transzen-
dente jenseits meines Bewußtseins liegende, objektiv reale, in
den Dingen an sich liegende Ursache) aufeinander zu beziehen.
,, Beziehungslos existierende Dinge an sich sind für mich so
gut, als ob sie nicht existierten; also kann auch die Annahme
ihrer Existenz für mich keinerlei Vorzug vor der Annahme
ihrer Nichtexistenz haben. — Man hat deshalb nicht mit Un-
recht die Kausalität die zentrale Urkategorie genannt, an der
alle anderen hangen; sie ist es wenigstens für unser Erkennen,
insofern sie allein dem Denken die Brücke vom Immanenten
zum Transzendenten zu schlagen vermag und sowohl für das
Daß als auch für das Was der Dinge an sich dem Erkennen die
zureichenden Gründe liefert." (Grundproblem S. 78 und 79.)
Der transzendentale Gebrauch der Kausalität ist nur die erste
Etappe auf dem Wege zur Einheit, die durch das Zugeständ-
nis, daß auch die übrigen Denkformen zum transzendenten
Gebrauch zugelassen werden, in immer größere Nähe gerückt
wird. Diese Einheit liegt in der Substanz, und der substantielle
Monismus ,,ist die einzig mögliche Gestalt aller bis zu Ende
gedachten philosophischen Systeme. Der substantielle Monis-
mus darf aber nicht als ein abstrakter, die Vielheit realer
Modi ausschließender, sondern nur als ein konkreter, sie ein-
schließender gedacht werden." (Grundproblem.) Die Weltsub-
stanz muß immanent und transzendent zugleich sein; sie ist
die einheitliche Wurzel, aus welcher der vielästige Weltbaum
entspringt. Die Existenz liegt auf der Seite der Erscheinung,
die aber nicht als etwas von der Substanz getrenntes aufzu-
fassen ist; diese vielmehr subsistiert allem Existierenden oder
Realen, das zum bloßen Schein herabsinken müßte, wenn ihm
diese Existenzgrundlage entzogen würde. —
Man sieht, wie die Erkenntnistheorie in die Metaphysik um-
schlägt und von dort aus ihren letzten Erklärungsgrund holt.
^
Da6 es für die religiöse Betrachtung, mit der die Ethik als an-
gewandte Religion so eng zusammenhängt, nicht viel anders
sein kann, ist selbstverständlich. Zwar hat es die Religion nicht
so sehr mit dei absoluten Substanz als mit der in Wechselver-
kehr mit dem religiösen Subjekt getretenen Gottheit (das Ab-
solute als Objekt des religiösen Verhältnisses) zu tun, aber die
Kraft der Religion liegt doch in der metaphysischen Sphäre,
d. h. die Motivationskraft der religiösen Idee ist um so stärker,
je mehr der Begriff, den der Einzelne sich von der Gottheit ge-
macht hat, dem fortgeschrittenen religiösen und togischen Be-
wußtsein der Menschheit genügt. Bei den zwei für den Stufen-
bau des abendländischen religiösen Bewußtseins wichtigsten
Religionen, dem Judentum und dem Christentum, zeigt sich die
zu dem großen Ziel der Alleinheitslehre hinstrebende Entwick-
lung ganz deutlich. Das Judentum besaß das Immanenzprinzip
des Geistes (als Lehre von der Weisheit oder als Lehre von dem
Logos) nur in abstrakter Form und als Eigentum exklusiver
Kreise. Der Volksglaube hielt an dem deistischen Prinzip der
Transzendenz fest, und es war erst dem Paulinimus vorbehtJ-
ten, dem Immanenzprinzip durch die Erhöhung Jesu zum
Sohne Gottes eine wirksame Gestalt zu geben. Die Kirchen-
lehre schritt dann unter dem Einfluß der griechischen Philoso-
phie dazu fort, den Gottesbegrifl trinitarisch zu gestalten, in-
dem sie neben den Vater und den Sohn den Geist stellte. Wie
Paulus durch die Transzendenz des jüdischen Gottvaters dazu
genötigt wurde, Christus als das die Immanenz und Transzen-
denz vermittelnde Prinzip gelten zu lassen, so war die Kirchen-
lehre dazu genötigt, nachdem Christus immer hoher in die
transzendente Sphäre entrückt worden war, sich nach einem
neuen Gott und Welt verbindenden Prinzip umzusehen und
griff zum Geist, damit den trinitarischen Gottesbegriff vollen-
dend. Die Christologie enthielt den Keim zu der Lehre von der
allgemeinen religiösen Gottmenschheit, wenn auch in Formen,
die der damaligen Anschauungsweise angepaßt waren; jetzt
handelt es sich darum, die widerspruchsvollen Vorstellungen,
die sich auf eine einmalige historische Verwirklichung bezogen,
endgültig abzustreifen und die dritte Form der Gottheit, den
Geist, als das allein gültige Immanenzprinzip anzuerkennen.
Der Geist ist immer zugleich immanent und transzendent. „Die
Transzendenz des Absoluten, welches als Absolutes niemals in
das Endliche eingehen kann, weil das Unendliche nicht in dem
Endlichen aufgeht, bleibt also dem Gott-Geist nicht mindet
gewahrt als dem Gott-Vater; die Transzendenz der Persön-
lichkeit, die Wesenfremdheit der einen PersÖnhchkeit gegen die
andere — ist eben die falsche, unwahre, unberechtigte und
schädliche Transzendenz des Theismus, um derentwillen der
ursprünglich eine Gott seine Immanenz eingebüßt hat, um
derentwillen deshalb erst das Bedürfnis nach der Ergänzung
des tmmanenzunfähig gewordenen Gottes durch ein hinzu-
kommendes Immaner^zprinzip auftauchte." (Rel. Bewußtsein
S. Ö07,) Das religiöse Bewußtsein als psychologische Tatsache
genommen, abgesehen von jeder dogmatischen Beeinflussung,
sagt aus, daß im religiösen Verhältnis die Einheit von Gott und
Mensch, also der religiöse Monismus, vollzogen ist. Es hat
sich also schon seine Religionsmetaphysik gebildet und bedarf
nur noch der Bestätigung durch die logischen Beweise des
schließenden Denkens, um sich ganz fest und sicher zu fühlen,
Mit einer bloßen Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch
ist ihm nicht gedient ; es verlangt nach einer Vergewisserung
der fundamentalen unbewußten Einheit des Menschen mit Gott
und läßt sich durch eine Vertröstung auf das Jenseits nicht ab-
speisen.
So sehen wir ein immer mehr sich steigerndes Ringen nach
der Wesenseinheit von Gott und Mensch, wie es aus der Ferne
des gottentfremdeten Bewußtseins allmählich zu Immer klarerer
Einsicht in den göttlich -mensch liehen Heilsprozeß gelangt, in-
dem es sich in der Religion des Gott-Geistes mit der auf ein be-
stimmtes Ziel gerichteten aktiven Energie ganz und durchaus
erfüllt. „Die Entwicklungsgeschichte des religiösen Bewußtseins
ist nichts als der Prozeß des allmählichen Zusichselberkommens
des Geistes in religiöser Hinsicht; sobald das Objekt des religi-
ösen Verhältnisses als Gott-Geist erkannt, und dieser Gott-
Geist als das autonome und autosoterische Immanenzprinzip
des religiösen Bewußtseins begriffen ist, ist dieser Prozeß prin-
zipiell vollendet und nur noch der feineren und reicheren Durch-
bildung fähig." (Rel. Bewußtsein S. 625.)
Es ist jetzt nicht mehr möglich, dem logischen Denken irgend-
ein Gebiet des Geisteslebens zu verbieten. Die Lehre von der
doppelten Wahrheit hat nur noch insofern Geltung, als das Re-
sultat des Denkens und Glaubens auf verschiedenen Wegen ge-
wonnen worden ist. Aber die Verschiedenheit des Ausgangs-
punktes darf keinen ewig nebeneinander herlaufenden Paralle-
I
x86 ALMA VON HARTMANN
lismus bedeuten, sondern die Wege müssen einmal in einem
Punkt zusammentreffen, wenn anders das Bedürfnis nach einem
logischen Zusammenhang des Weltganzen gewahrt bleiben soll.
Auch hier zeigt sich die monistische Tendenz als ein Grundbe-
dürfnis des spekulierenden Denkens. Die Substanz muß viel-
einig sein, um aus sich herausgehen und zur Welt der Vielh<ut
kommen zu können, um deren Erklärung es uns allein zu tun
ist. „Nur eine konkret Eine Substanz mit Attributen, nichteine
abstrakt Eine ohne solche, ist imstande, als ausreichendes Er-
klänmgsprinzip der vielseitigen Welt und ihrer Veränderungen
zu dienen; nur die erstere kann als brauchbare Hypothese gel-
ten, während die letztere eine für ihren Zweck unbrauchbare
Hypothese wäre. Sogar die Annahme einer Substanz mit nur
einem Attribut wäre eine leistungsunfähige Hypothese, weil der
Prozeß sich nur aus einem Gegensatz entfalten kann, ein solcher
aber zwischen dem Einen Attribut und der Substanz nicht nach-
weisbar wäre." (Kategorienlehre S. 536.)
Der Weltprozeß muß sich also aus einem im Absoluten selbst
liegenden Gegensatz entfalten, und da wir überall den Gegen-
satz zwischen einem Real- und einem Idealprinzip, zwischen
der Kraft und der Idee sehen, so zwingt uns unser Denken, die
Zweiheit dieser im Dasein wahrgenonunenen Entfaltung auf
das ewige Sein als letzten Grund zu übertragen. Daraus ergibt
sich das Nebeneinandersein von Real- und Idealprinzip oder
von Wille und Idee und nach der Erhebung des Realprinzips
ziun Wollen, diesem Urzufall, oder um theologisch zu sprechen,
dieser Urschuld, die Erfüllung des WoUens mit der Vorstellung,
bis deren Weisheit ihn quiesziert und ins Nichtwollen zurück-
gewendet hat. Das religiöse Bewußtsein, das auf seiner höchsten
Stufe die Welt gern als im Grunde nicht sein sollend anerkennt,
sieht die Weisheit Gottes sowohl in dem Endzweck als in den
Mittelzwecken und fühlt sich in dem monistischen Gedanken
der Wesensidentität mit dem Absoluten durch den Glauben, ja
die Gewißheit, an die Möglichkeit einer Erlösung gestärkt und
beruhigt. —
Die Ethik Hartmanns ist ganz auf diesem Boden des kon-
kreten Monismus erbaut und benutzt dabei den Pessimismus,
d. h. die Lehre von einem Oberwiegen der Unlust über die Lust
in der Welt des Daseins als Motiv zur Oberwindung von der
Welt. Aber es wäre falsch, aus dieser pessimistischen Anschau-
ungsweise als notwendige Konsequenz den Verzicht auf jede
Mitarbeit am KulturprozeB ableiten zu wollen. Das könnte nur
dann der Fall sein, wenn man den Lohn auf Glückseligkeit als
Motiv des Handelns ansähe. Wer aber an dem Grundsatz fest-
hält, daB der Mensch kein Recht auf Glück hat, sondern in die
Welt gesandt ist, um die göttlichen Zwecke zu erkennen und
durch Mitarbeit daran seine Aufgabe zu erfüllen, der sieht auch
den Überschuß der Unlust über die Lust in seinem Dasein, wie
er sich einer vorurteilslosen nüchternen Beobachtung oHenbart,
nicht als ein seine Energie lähmendes, sondern als das unaus-
weichliche Ergebnis des Willensprozesses im einzelnen und im
ganzen mit Ergebung und Ruhe an. Von diesem Standpunkt
aus teilt sich die Moral ganz von selbst in eine echte und eine
unechte Moral; die echte Moral erhält ihre Motive aus dem
monistischen Prinzip der Wesensidentität aller Individuen unter-
einander und mit dem Absoluten ; sie verzichtet auf jeden An-
spruch auf Glückseligkeit, sei sie in diesem oder in jenem Le-
ben in Aussicht gestellt, und handelt im wahrsten Sinne um
Gottes willen, wenn auch die zunächst angestrebten Mittel-
zwecke die erste Tatkraft in Beschlag nehmen und das Bewußt-
sein der vollständigen sittlichen Weltordnung nicht immer ztim
klaren Ausdruck kommt. Nachdem die unechte Moral, der eine
wertvolle propädeutische Bedeutung nicht abzusprechen ist,
sich in allen Formen der egoistischen Pseudomoral erschöpft
und schließlich zum Bankerott des Egoismus, d, h. zu der Ein-
sicht, daß wahre Befriedigung durch das Nachgeben an den
glückshungrigen Eigenwillen nicht zu erlangen ist, geführt hat,
tritt das echte sittliche Bewußtsein auf den Plan und liefert in
der Geschmacks- und Gefühlsmoral eine Reihe mehr oder we-
niger brauchbarer autonomer Moralprinzipien, bis auch diese
den gereiften Menschen erkennen lassen, daß eine Ergänzung
durch die höhere Stufe der Vernunftmoral nötig wird. Bei der
Geschmacks- und Gefühlsmoral ist es die unbewußte Wirksam-
keit der Vernunft, die sie sitthch wertvoll macht; die Vernunft-
moral hat die Aufgabe zu lösen, die rationellen Gründe für das
sittliche Handeln ins helle Licht des Bewußtseins zu rücken;
sie verwirft die Geschmacks- und Gefühlsmoral keineswegs,
sondern zieht sie in der Erkenntnis ihrer stärkenden Kraft zur
Hilfe heran, da die abstrakte Vernunft allein oft nicht imstande
wäre, das für richtig Erkannte den Neigungen gegenüber durch-
zusetzen.
Die Zerfahrenheit der Meinimgen über die Grundlagen der
x88 ALMA VON HARTMANN
Sittlichkeit wird erst dann ihr Ende erreicht haben, wenn man
in der Metaphysik wie das Fundament der Religion, so auch das
der Moral erkennt. Neuere Richtungen der Ethik, denen es Tor
aUem darauf ankonunt, die Ethik von der Religion loszulösen,
haben freilich den Versuch gemacht, die Metaphysik als gleich-
gültig beiseite zu schieben und die Ethik ganz auf eigene FüBe
zu stellen» Man hat bei dem Moralismus, der die Religion zu
ersetzen bestrebt ist, zu unterscheiden, ob er rein auf sich selbst
gestellt ist, oder ob er unbewuSterweise doch auf einem religi-
ösen Moralprinzip beruht. Er enthält dann, Tielleicht ohne es zu
wollen, religiöse Momente, und diese allein befähigen ihn, einen
Ersatz für die Religion zu bilden; erTemichtetdann aber auch
nicht, wie er angibt, die Religion, sondern bietet im Gegenteil
den Anlaß, eine religiöse Weltanschauung durch Heraussetzung
der in ihm enthaltenen religiösen Momente zu entwickeln. So-
lange es sich um eine konfessionelle Ethik handelt, ist das Vor-
gehen der „Befreier'' ein ganz berechtigtes. Denn es ist das
Wesen der Sittlichkeit, sich von den Fesseln der menschlichen
Autorität, in welchem Gewände sie auch auftreten mag, zu be-
freien und von der allerhöchsten Stelle, dem eigenen Gewissen,
direkt seine Vorschriften zu empfangen. Aber es gehört zu den
Überspanntheiten der Gewissensfanatiker, wenn sie das Recht
des Menschen auf Selbstbestimmimg dahin erweitern, daß sie
den menschlichen Geist in seiner Isolierung nicht allein anim
alleinigen Richter, sondern auch amm alleinigen Gesetzgeber
aller seiner Handlungen machen. Mit der Ablehnung einer über
die Einzelzwecke des Menschen hinübergreifenden sittlichen
Weltordnung verabsolutieren sie das Individuum und kommen
damit dem transzendentalen Idealismus nahe. Sie verwischen
jeden Unterschied von Gott und Mensch, indem sie die Erschei-
nung als die alleinige Wirklichkeit, neben der es kein Transzen-
dentes gibt, hinstellen. Nicht in dem Sinne Meister Eckharts,
der das Ziel der Schöpfung in der Gottwerdung des Ich sieht,
sondern in dem rein atheistisch-materialistischen Sinne eines
Teils der modernen Naturforschung, die den Gottglauben als
den Bestandteil einer überwundenen Stufe des Denkens milde
lächelnd beiseite gelegt hat, lehnen sie eine allgemeine teleolo-
gische Betrachtung ab und lassen nur die Zwecke des Einzelnen
gelten. Ihre Ethik stützt sich zwar auf den Altruismus, aber
nicht, weil sie das Streben an und für sich verneinen, sondern weil
sie nach Einsicht in die durch das Streben nach Einzelwohl un-
befriedigt gebliebene Seele Befriedigung, d. h. Glück durch das
Wirken für andere erhoffen. Kann der Einzelne glücklich wer-
den ohne das Wirken für andere, so ist er von diesem Stand-
punkt aus nicht unsittlich zu schelten; solange seine Hand-
lungen das Behagen und die Freiheit der Mitmenschen nicht
beeinträchtigen, kann ihm aus seinem „wohltemperierten"
Egoismus kein Vorwurf gemacht werden, da es auf diesem
Standpunkt kein allgemein verbindliches übergreifendes Moral-
gesetz, dem sich die Einzelzwecke unterzuordnen hätten, gibt,
es sei denn das der größtmöglichen allgemeinen Glückselig-
keit, die zu befördern der Einzelne aber nur dann verpflichtet
ist, wenn er auf anderem Wege sein eigenes größtmögliches
Glück nicht zu erreichen vermag. Dieser Theorie gegenüber
,, kommt dem Pessimismus das Verdienst zu, die Widersinnig-
keit alles individuellen Glückseligkeitsstrebe ns zu enthüllen und
dadurch auch für den Gegensatz von Individualwohl und Ge-
samtwohl die Augen zu öHnen, ohne doch das Streben nach
fremdem Wohl zu untergraben. Da nun der Durchbruch vom
bloß Natürlichen zum Sittlichen wesentlich in der praktischen
Anerkennung der Gegensätzlichkeit zwischen Streben nach
eigenem und Streben nach fremdem Wohl und der Zurück-
setzung des ersteren hinter das letztere zu suchen ist, so er-
gibt sich hier wiederum, daß der Pessimismus, weit entfernt,
die Sittlichkeit zu schädigen, vielmehr einen Grundpfeiler der-
selben bildet, dessen Nichtbeachtung bisher die Unzulänglich-
keit der allermeisten ethischen Systeme verursacht hat." {Sittl.
Bewußtsein S, 485.) Der Pessimismus in seiner philosophischen
Gestalt leistet aber noch viel mehr, da er durch seine stets das
Ganze im Auge behaltende Betrachtungsweise dem Einheits-
gefühl die stärksten Stützen liefert. Er ist ein weit mächtigeres
monistisches Prinzip als der Optimismus, dessen (theistischer
oder atheistischer) Rückgang auf den Weltgrund so wenig
mehr dem modernen religiösen Bewußtsein entspricht, daß die
Vertreter des Optimismus in der Ethik gern die Metaphysik
beiseite schieben, damit aber Gefahr laufen, auch den mo-
nistischen Standpunkt zu verlieren und in den Pluralismus
zurückfallen.
Hat man den Egoismus, die Vereinzelung des Individuums
als die Quelle alles Bösen erkannt, so ist es klar, daß eine Welt-
anschauung, welche diese Vereinzelung aufhebt, am geeignet-
sten ist, zur Überwindung des Bösen zu führen. Wetm das sitt-
I90
ALMA VON HARTHANN
liehe Bewußtsein die gesuchte Begründung weder in den sub-
jektiven noch in den objektiven Prinzipien gefunden hat, so
mufi es sich nach einem absoluten Prinzip umsehen, das in der
metaphysischen Sphäre jenseits des Reichs der Individuation
liegt. Da bietet sich nun das monistische Prinzip der Wesens-
identität aller Individuen als das beste Mittel zur Verwirklichung
echter Sittlichkeit dar. Hier berührt sich die Ethik mit der Re-
ligion, beide mit der Metaphysik. Es handelt sich um die Aner-
kennung eines ,, substantiellen Monismus des Wesens, der aber
die innere Vielheit der realen (d. h. objektiv- phänomenalen)
Manifestationen oder Objektivationen des All-Einen nicht aus-,
sondern einschließt, einem Monismus, der das Bewußtsein und
die Persönlichkeit nur in der Sphäre der Individuation (nicht in
derjenigen der Einheit) sucht, und alle Objektivationen des Ab-
soluten als schlechthin determiniert und als vergänglich be-
trachtet unbeschadet der Freiheit und Ewigkeit des all-einen
Wesens, das in ihnen sich manifestiert." Schon im Mitleid, in
der Liebe und der Freundschaft waren Ahnungen von der ewi-
gen Einheit alles Daseienden zu spüren, und in dem Moralprin-
zip des Zweckes erfuhren sie eine Steigerung, da sich heraus-
stellte, daß der Mensch nicht Selbstzweck ist, sondern nur ein
allerdings höchst bedeutsames Mittel zu einem höheren Zweck.
Der logische Evolutionismus Hegels hat sich aller skeptischen
Anwandlungen des 19. Jahrhunderts zum Trotz schließlich doch
siegreich behauptet; es ist jetzt in der Wissenschaft ziemlich
allgemein zugestanden, daß eine kausale Gesetzmäßigkeit die
Welt beherrscht, und von dieser Annahme zu der Annahme
einer Finalität fortzuschreiten, ist kein allzu großer Schritt mehr.
„Versteht man die bewußte Finalität richtig, nämlich als eine
unbewußte Finalität, deren Hauptstationen so weit ins Bewußt-
sein hineinscheinen als nötig ist, um auf sie diese Kategorie an-
zuwenden, dann ist dieselbe allerdings das wichtigste Moment
im ganzen psychischen Leben. Daß alles Handeln der Indivi-
duen, soweit es nicht bloß reflektorisch oder instinktiv ist, auf
bewußter Finalität ruht, wird man ohne weiteres zugeben. Die
individuellen Zwecke mögen bloß eudämoiüstisch oder ethisch
oder religiös sein, immer wird das Handeln ein bewußt-finales
sein." (Kategorienlehre S. 433.) Alle Wertbemessung stützt
sich auf die Finalität; man beurteilt alles darnach, in wel-
chem Maße und Grade es einem bestimmten Zweck dient, und
d& das Reich der Werte im bewuBtgeistigen Leben die größte
Rolle spielt, so ist die Finalität von der größten Bedeutung.
Jedes Individuum verfolgt zunächst seine eigenen Zwecke, aber
es fühlt sich auch als Glied einer höheren Ordnung und siebt
sich genötigt, deren Zwecken zu dienen. „Der Individual-
zweck höherer Ordnung weiß sich seinen Untergebenen nicht
nur da durchzusetzen, wo er mit deren Sonderzwecken har-
moniert, sondern auch da, wo er mit ihnen kollidiert. Kolli-
sionen der Finalität gibt es eben nicht bloß zwischen kon-
kurrierenden Individuen gleicher Individuahtätsstufe , son-
dern auch zwischen dem höheren Individuum und dem von
ihm umspannten und dem außer ihm stehenden niederen".
(Kategorienlehre S. 445.) Das höchste Individuum, das zu-
gleich den höchsten Organismus darstellt, ist das lebendige
Universum, in dem alle finalen Betätigungen ihre Vereini-
gung finden. Für die Ethik stellt sich die Finalität als das Mo-
ralprinzip des Zweckes dar und erfährt seine Erfüllung durch
das monistische Prinzip der Wesensidentität aller Individuen
untereinander, dem sich dann noch das religiöse Prinzip der
Wesensidentität mit dem Absoluten, dem wir schon bei der
Religionsbetrachtung begegnet sind, überordnet. Damit ist ein
Prinzip gewonnen, das dem Eigenwillen jede sittliche Berech-
tigung abspricht und das zugleich dem sittlichen Bewußtsein
einen absoluten Stützpunkt bietet, indem es jeden Zwiespalt als
der Sphäre der Erscheinung angehörig durchschaut und dadurch
aufhebt. „Der konkrete Monismus hebt jede substantielle Tren-
nung, jede Fremdheit zwischen Gott und Mensch auf, indem er
Gott als das eine Wesen erkennen lehrt, das in allen seinen Er-
scheinungen lebt und webt; er beugt aber auch jeder Verwi-
schimg des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch vor, in-
dem er die Erscheinung und die in ihre Sphäre fallende Indivi-
duation als die alleinige Wirklichkeit und objektive Realität
hinstellt. Ich brauche Gott nicht mehr zu suchen — ja sogar,
daß ich ihn schon habe, wäre viel zu wenig gesagt — denn was
in mir ist, das ist Er; aber weder bin ich ein bloß aufzuheben-
der und in ihm zu vernichtender Schein, noch ist mein Geistes-
leben das absolute Geistesleben schlechthin." (Sittl. Bewußtsein
S. 647.)
Die in der Bewußtheit wurzelnde Fremdheit Gottes, die den
Menschen dessen Gebote immer als die eines fremden Willens
empfinden läßt, verschwindet auf dem Standpunkt des konkre-
ten Monismus vollkommen. Zugleich offenbaren sich dort auch
192
ALMA VON HARTMANN
1 Region dflf^^H
die tiefen Zusammenhänge zwischen der warmen I
Gemütes und der kühleren Region des Verstandeslebens. In*
wunderbar harmonischer Weise wird die Vereinigung der Welt
der Begriffe, deren Stütze der moderne Mensch nicht mehr ent-
raten kann, mit der Welt der praktischen Zweckmäßigkeit voll-
zogen. Gemüt und Verstand kommen in gleicher Weise zu ihrem
Recht. Nicht die gewöhnliche Fertigkeit im Trennen und Ver-
binden der einzelnen Faktoren des Geisteslebens, wie sie der
Schulgebrauch überliefert hat, erhebt den Standpunkt des kon-
kreten Monismus in der Ethik zu einer so einzigartigen Höhe,
sondern die Überwindung des Egoismus in jeder auch der er-
fülltesten Form an der Hand fortgesetzter Induktionsreihen,
die die Wahrscheinlichkeit einer teleologischen Weltleitung zu
einer so großen macht, daß sie jede ethische Skepsis von sich
abzuschütteln vermag. Der organische Zusammenhang aller
Entwicklungsstufen des sittlichen Bewußtseins drängt unwei-
gerlich auch zur Beantwortung der letzten Frage nach dem
Warum der Welt. „Auch der Ungebildetste, wofern er über-
haupt ein denkender Kopf ist, hat eine Antwort auf jenes Wort
bereit; wer einmal zur Erörterung metaphysischer Probleme
aufgestiegen ist, wird noch weniger geneigt sein, sich die Be-
schäftigung mit dieser Frage als ein noU me tangere verbieten
zu lassen. Ja sogar die Materialisten geben auf dieses Wozu
eine ganz bestimmte Antwort, wenn auch eine negative, denn
sie behaupten, daß die Welt zu gar nichts, um nichts und wieder
nichts, d. h. zu keinerlei Zweck da sei." (Sittl. Bewußtsein S.
665 — 666.) Was aber der einen Denkrichtung erlaubt ist, das
muß auch einer anderen frei stehen, weiui man nicht in den
gröbsten Dogmatismus zurückfallen will. Die absolute Teleo-
logie, d. h. die Teleologie des Weltprozesses vom Standpunkt
des absoluten Subjekts aus gesehen, führt über das, was man
im Menschheitsdasein Sittlichkeit nennt, hinaus und bereitet
den Boden zu einer über alle Menschheitswerte hinausragen-
den Erhabenheit. Der konkrete Monist weiß, daß er die Ein-
heit mit Gott besitzt, aber er weiß auch, daß er dadurch nicht
(wie die Ansicht der Mystiker zu allen Zeiten gewesen ist)
selbst Gott wird, wenn auch der Unterschied nur einer der Er-
scheinung, keiner des Wesens ist. ,, Die Welt ist nur die Summe
der Erscheinungsindividuen, obschon in ihr die vom Schau-
platz Abtretenden immer neu ersetzt werden und dadurch die
immanente Qual perpetuiert wird; die Welt als Ganzes kann
daher nur erlöst werden, wenn das Absolute erlöst wird. Das
Individuum als solches findet also die Erlösung, deren es fähig
ist, ganz von selbst im Laufe der Natur, die Welt aber findet
sie nur durch die Beendigung des Weltprozesses, d. h. durch
die Erlösung des Absoluten vermittelst der Erfüllung des Welt-
zwecks." (Sittl. Bewußtsein S.688.)
Wie alles in der Welt Mittel für den Menschen ist, so darf
dieser sich nicht weigern, seinerseits Mittel für den Zweck des
Absoluten zu sein. Er risse sich sonst von dem einheitlichen
Boden der sittlichen Weltordnung los und fiele in den Dualis-
mus von Ich und Welt zurück, den der Monismus auf sittlichem
Gebiete gerade beseitigen will. Die Teilnahme und die Arbeit des
Einzelnen an den Mittelzwecken ist die einzige Möglichkeit, sich
praktisch zum Monismus zu bekennen, da jeder Rückfall in die
Einzelhaft des selbstzwecklichen Egoismus den monistischen
Standpunkt gefährdet. —
Auf ästhetischem Gebiete hat man vielfach versucht, einen
einheitlichen Quellpunkt für die Entstehung des Schönen zu
verwerfen. Nach der Ansicht neuerer Kritiker soll es sich in
der Ästhetik eigentlich weniger um das Kunstwerk als um den
Künstler handeln, dessen Persönlichkeit so sehr den Mittelpunkt
des Interesses bildet, daß man darüber sein Werk beiseite schiebt.
Diese Auffassung hängt mit der von Nietzsche ausgehenden Strö-
mung der Überschätzung des Individuellen zusammen, gegen
die sich Hartmann immer energisch gestemmt hat. So hoch er
im Leben eine charaktervolle und eigenartige Persönlichkeit zu
werten wußte { — ,,das Glück der Liebe ruht aber auf der Liebe
selbst und auf dem Wert der Persönlichkeit, der stets ein einzig-
artiger und unvergleichlicher ist, und deshalb keine Vergleiche
gestattet", schrieb er mir einstmals — ), sowenig wollte er von
einem Fersönlichkeitskultus wissen, der ihm nur ein Altar der
Eitelkeit zu sein schien. Vollends den Künstler und den For-
scher über sein Werk zu stellen, das schien ihm der Gipfelpunkt
einer Torheit zu sein, welche das Bewußtseins leben zu einer
Wichtigkeit aufbauschte, die ihm den unbewußten Faktoren
des Geisteslebens gegenüber nicht gebührte. Die Welt des Schö-
nen war ihm durch und durch ideerfüllt; wie die Wahrheit auf
dem Gebiete der Forschung, erschien ihm die Schönheit auf
dem Gebiete der Kunst als der Leitstern des Schaflenden, als
ein Strahl der göttlichen Idee, der vom unbewußten Geiste des
Künstlers aufgefangen und wiedergegeben wurde im schönen
Dv McKÜimui II 13
I
I
I
Schein des Kunstwerks. Freilich vermaß er sich nicht, das Letzte
und Tiefste im Schönen aufdecken zu wollen. ,,Je höher und
konkreter die Stufe der Idee ist, welche uns im ästhetischen
Schein entgegentritt, desto schwerer wird es uns, ihre teleolo-
gische Bestimmtheit und Bedeutung unmittelbar zu erkeimen
oder uns dieselbe mittelbar, d. h. durch Konkreszenz aus ab-
strakteren und darum leichter verständlichen Gestalten der
Zweckmäßigkeit begreiflich zn machen, desto mehr sind wir
auf das schon in den abstraktesten Stufen nicht zu entbehrende
unbewußte, ahnungsvolle, gefühlsmäßig- implizite Erfassen des
unbewußten, dem ästhetischen Schein immanenten Ideengehalts
angewiesen." (Phil, des Schönen S. 19S.)
Je" höher das Schöne, um so geheimnisvoller wird es; es er-
greift am meisten, wenn das rationelle, diskursive, bewußte
Denken in dem großen letzten Endes unerklärlichen Gefühl des
Genießenden, dem die ahnungsmäßig erfaßte Idee des Weltplana
aufgeht, verschwindet. Das materielle Universum ist das Mittel
für das Zusichselberkommen des Geistes, und da es der Mensch
ist, in dem das Bewußtsein dieses Vorgangs zuerst deutlich wird,
so ist er es auch, der zuerst diese Beziehung seiner selbst zum
Universum erfaßt und in der menschlichen Individualidee den
höchsten Inhalt des Schönen wie den höchsten Inhalt des Da-
seins erblickt. Die ästhetische Wirkung der Individualidee wird
sich nicht auf den untersten und nicht auf den höchsten Stufen
entfalten können. Die untersten Stufen der Individualidee, die
Moleküle, Piastiden und Zellen sind durch ihre Kleinheit und
die Ärmlichkeit ihrer geistigen Beziehungen von der Versinn-
lichung im ästhetischen Schein ebenso ausgeschlossen wie die
höchsten Stufen der Staaten, Planeten, Sonnensysteme undWelt-
linsen durch die Größe, Feme und Unübersehbarkeit ihrer Be-
ziehungen. Im Menschen spiegelt sich die geistige Bedeutung
des Makrokosmos am deutlichsten, deshalb gibt die unerschöpf-
liche Vielheit der menschlichen Individualideen auch für das
Schöne den geeignetsten Inhalt dar. Aber auch auf diesem schein-
bar dem Beschauer so klar zutage tretenden Gebiete bleibt das
Letzte und Tiefste im Schönen ein Mysterium, und die Ästhetik
vermag es nicht mit Worten aufzulösen.
Hartmann wollte im Gegensatz zu den modernen Kritikern .
und Theoretikern die Schönheit nicht aus dem Weltganzen los-
lösen, sondern sie, hierin wieder ganz Monist, eingliedern in d
große Reich der objektiven Zwecke. ,, Wahrheit, Religion und-J
EDUARD VON HARTMANNS KONKRETER MONISMUS 195
Schönheit treffen darin zusammen, daß sie Anfang und Ende,
Ausgangspunkt und Schlußpunkt, Ursprung und Ziel, Grund
und Zweck des Daseins zum tiefsten Inhalt haben, während die
Sittlichkeit nur Durchgangspunkt und geistiger Weg zum Ziel,
die materielle Kultur oder Menschheitswohlfahrt in bezug auf
Befriedigung der realen Bedürfnisse sogar nur Sockel und Un-
terbau für das ganze Leben des Geistes ist." (Phil, des Schönen
S.461.)
Im theoretischen Verhalten löst man im Streben nach der
Wahrheit die sinnliche Scheinhaf tigkeit der Erfahrung auf, wäh-
rend man sie im ästhetischen Verhalten gerade festhält und jede
StÖnmg durch die abstrakte Reflexion abzuweisen sucht. Der
ästhetische Schein ist als reiner Schein der theoretischen Wahr-
heit, die auf Erkenntnis des objektiv Realen ausgeht, absolut
entgegengesetzt, weil er gerade bestrebt ist, auch die Erschei-
nung, also das objektiv Reale, in Schein aufzulösen und damit
gerade den Gegenstand der theoretischen Erkenntnis vernichtet.
Aber dieser Unterschied in formeller Hinsicht verschwindet, je
mehr man sich der tieferen metaphysischen Bedeutung des Wor-
tes Wahrheit nähert, die auf die Übereinstimmung der objektiv-
realen Erscheinungswelt mit dem transzendenten Wesen imd
Grunde derselben hinweist. Die Schönheit befindet sich zwar im
Gegensatz zu der Wissenschaft, die es mit der realistischen Wahr-
heit zu tun hat, aber sie ist der Philosophie mit ihrer metaphy-
sischen oder idealistischen Wahrheit verwandt. „Die Schönheit
beruht ebenfalls auf Übereinstinunung des Bewußtseinsinhalts
des Beschauers mit dem idealen Wesen und Grunde der Welt,
aber sie schließt ihrer Natur nach jenen Durchgang durch die
reale Welt der Individuation und die Übereinstimmung mit der-
selben aus, weiche von der Wahrheit gefordert wird, und macht
unmittelbar den Sprung von der subjektiven Erscheinung als
solchen auf das ideale Wesen. Die idealistische Wahrheit des
Schönen entbehrt deshalb der Garantie einer jederzeit kontrol-
lierbaren reflexionsmäßigen Vermittlung, wie die Philosophie
sie von Rechts wegen haben muß, hat aber dafür die unmittel-
bare, faszinierende Überzeugungskraft voraus, welche allein die
sinnliche Anschauung und niemals die schrittweise reflektie-
rende Vermittlung besitzt." (Phil, des Schönen S. 436.)
Die reale Welt der Individuation erhält ihre innerste Daseins-
berechtigung erst durch ihre Beziehung auf die metaphysische
Wahrheit und dadurch ihren (monistischen) Zusammenhang
13*
X96 ALMA VON HARTMANN
mit dem Weltganzen. Das Wesen der Schönheit, wenn man es
auf die sinnliche Sphäre einschränkte und seiner Beziehungen
zum metaph]rsischen Sein beraubte, würde in seinen gewaltigen
Wirkungen ganz unTerständlich bleiben; was ihm seine Kraft
verleiht, ist zwar in gewissem Sinne seine sinnliche Scheinhaf-
tigkeit, die dem Menschen ja auch in anderer als in schöner Ge-
stalt entgegentritt, würde aber seine Würde doch nicht erklären
können. Alles, was den Menschen auf dem Gebiete des Schönen
innerlich ergreift, ist nicht die konkrete, sinnliche Erscheinung,
sondern der ideale Gehalt des Objekts, die idealistische Wahr-
heit, die als sein wesentlicher Kern auch im Scheinhaften den
ursprünglichen Wesensgrund erkennen läfit. In gewisser Weise
ist es ja gerade hier, wo die materiellen Bedürfnisse schweigen,
leichter, trotz der unumgänglich notwendigen Bedingtheit der
sinnlichen Vermittlung die Beziehung auf den idealen Wesens-
grund zu betonen. Diese idealistische Wahrheit des Scheins, die
von der ihm auch anhaftenden realistischen Wahrheit abstra-
hiert, kann nun immer nur annähernd der ungetrübte Ausdruck
des ihm immanenten Wesensgrundes sein; aber die hohe Stel-
lung des freien Kunstschönen im Weltganzen ist doch nur dar-
aus zu erklären, daB in ihm die idealistische Wahrheit irgend-
wie zur Erscheinung konunt. Das Schöne enthält gleichsam im
Bild einen Ausschnitt der göttlichen Totalidee und rechtfertigt
dadurch die hohe Lust des ästhetischen Genusses, die nur des-
halb eine so intensive und nachhaltige sein kann, weil sie von
teleologischer Bedeutung ist. „Die Schönheit wird Mittelzweck
für den absoluten Geist sein müssen, sofern sie, die Wahrheit
imd Religion ergänzend, im Schein oder Bilde das Weltdasein
einerseits auf einen absoluten Grund bezieht und andrerseits auf
dessen Relativität imd Oberwindbarkeit antizipierend zurück-
deutend im sinnlichen Gewände selbst auf das Obersinnliche als
dessen ideale Wahrheit zurückweist.^^ (Phil, des Schönen S.489.)
Die teleologische Weltanschauung feiert in der Würdigung des
Schönen ihren höchsten Triumph, da sie in ihrer Beziehung auf
die ideale Seite des Weltprozesses allein der Erhabenheit des
Schönen gerecht zu werden vermag, während die mechanisti-
sche Weltanschauung in der Ablehnung jedes metaphysischen
Hintergrundes auf jedes Erklärungsprinzip und damit auf jede
Ästhetik verzichten muB. Freilich wird die adäquate Objektiva-
tion der Idee dadurch gehemmt, daB sie sich des Künstlers als
Mediums bedienen muB, und dieser immer wieder ein Kind sei-
ner Zeit lond den Einflüssen derselben Untertan bleibt. Das Schö-
ne, das seine Berechtigung aus der es beseelenden Idee herleitet,
muß es sich heute gefallen lassen, seinen Berechtigungsnach-
weis auf allen Gebieten neu zu führen. Die Ästhetik, die ja
eigentlich eine Lehre von den Gesetzen des Schönen ist, wird
geradezu zu einer Wissenschaft der Gesetzlosigkeit gestempelt,
und jeder Kritiker fühlt sich berufen, die vollständige Freiheit
des Künstlers von allen ästhetischen Gesetzen als das innerste
Wesen seines Genius zu proklamieren. Nie ist irgendwo der Plu-
ralismus üppiger ins Kraut geschossen als auf dem Felde der
Kunstkritik (die sich fälschlich Ästhetik nennt, wenn sie nicht
einfach vorzieht, die Ästhetik als Wissenschaft vom Schönen
einfach zu ignorieren), weil sie den Zusammenhang von Schön-
heit und idealem Wesensgrund nicht kennt, nicht kennen will
und an seine Stelle den ausschweifendsten künstlerischen Indi-
vidualismus mit seiner alle Gesetze verachtenden Willkür setzt.
Daß die umfassendste Bekanntschaft mit dem empirischen Ma-
terial nicht genügt, um die Gesetze und das Wesen der Schön-
heit zu ergründen oder ein Kunstwerk zu erschauen, ist diesen
Ästhetikern, die ganz in das reale Objekt versenkt sind und in
der Naturtreue das wesentlichste Kriterium eines Kunstwerks
sehen, schwer verständlich zu machen, weil die Tatsache der
vorhandenen Künstlerschaft sie blendet gegen eine Herleitung
des Schönen aus anderen Quellen als denen der Willkür des
schaffenden Künstlers.
Aber das theoretische Interesse, das die innerliche Wahrheit
des Schönen zu ergründen strebt, läßt sich auf die Dauer an
dem Hinweis auf die subjektive Kraft des Künstlers als allein
gesetzgebenden Faktor nicht genügen, sondern schreitet fort zu
neuen Fragen und Antworten, die dem Schönen einen selbstän-
digen Platz im Weltganzen sichern und seine Bedeutung vor
und trotz allem, was sich heute Künstlerschaft nennt, sicher-
stellen. Alle Richtungen des geistigen Lebens bedingen und un-
terstützen sich gegenseitig, eine von ihnen ganz unterdrücken
zu wollen, hieße die Triebkraft der anderen mit beschneiden.
Schönheit, Religion, Wahrheit und Sittlichkeit stehen mitein-
ander in Zusammenhang. Die Immanenz des göttlichen Wesens-
grundes in der Erscheinungswelt ist das ewige Thema alles
Kunstschönen, und in der Religion ist sie das Motiv der Sittlich-
keit. „Die Wahrheit ist klar und hell aber kalt, die religiöse
Andachtsglut heiß aber dunkel und unfaßbar bestimmt in dem
198
ALMA VON HARTMANN
Inhalt des mystischen Gefühls, die Schönheit klar und bestimmt'
\a ihrem Sinnenschein und mildwarm in ihren ästhetischen
Scheingefühlen, aber doch mysteriös und unsagbar in der Ein-
heit des klaren Scheins und des in ihm gefühlsmäßig geahnten
idealen Gehalts." {Phil, des Schönen S. 463.)
Wenn man den Lebensnerv des Schönen unterbindet, ver-
trocknet es zu harter Realität und vermag seine befreiende
Kraft, die es allein durch seine Beziehung auf den idealen We-
sensgrund erhält, nicht mehr auszuüben. Selbst auf den nieder-
sten Stufen des Schönen, z. B. dem mathematisch Gefälligen,
wird das ästhetische Gefallen nur durch die Versinnlichung des
idealen Gehalts erreicht, weil die sich darin aussprechende
Logizität der Idee es ist, die dem idealen Bedürfnis des Be-
schauers ,, angenehm" auffällt, ohne daß er sich natürlich über
die Gründe seines Wohlgefallens klar wird.
Hartmann hat in einer zweibändigen Ästhetik, deren erster
Teil eine umfassende Übersicht aller irgendwie namhaften ästhe-
tischen Systeme und Ansichten seit Kant enthält, während der
zweite Teil, die ,, Philosophie des Schönen" das Wesen und die
Gesetze des Schönen darstellt, den Versuch unternommen, auch
auf ästhetischem Gebiet den konkreten Monismus zur Geltung
zu bringen, und dem wichtigen von Schiller zuerst angewandten
Begriff des ästhetischen Scheins einen festen Platz zu erringen.
,,Das Schöne ist das Scheinen der Idee." In diesem kurzen Satz
faßt sich der ganze reiche Inhalt des großen Werks zusammen.
Ohne die Idee wäre das Schöne ein einzelhaft Zufälliges, das
ebenso auch nicht sein konnte; ohne den sinnlichen Schein
büßte es seine Wirklichkeit ein. Freilich ist dieser Schein auch
wieder etwas von der realen Wirklichkeit mit ihren materiellen
Bedürfnissen Losgelöstes, aber diese Ablösung ist doch nur eine
von dem ästhetisch Genießenden vollzogene, die an die Bedin-
gungen der Konkretion gebunden ist. Die immanente Idee muß
der Perzeption wie der Produktion des Schönen zugrunde lie-
gen, weim sie auch unbewußt bleibt. Bei der Produktion des
Naturschönen wird das kaum angezweifelt, während man die
Produktion des Kunstschönen, also das Schaffen des Künstlers,
gern von der Unbewußtheit der ihn erfüllenden Idee befreien
und dem bewußten Seelenleben allein unterstellen möchte. Aber
die innerliche künstlerische Bestimmtheit stammt aus Tiefen,
die dem diskursiven Verstände unzugänglich sind; nur die ne-
gative Kritik und die technische Beihilfe sind bewußten Ur-
I
Sprungs. Gerade die UnbewuBtheit des künstlerischen Genius ist
es, die ihn mit der höchsten Kraft erfüllt; je größer seine Fähig-
keit ist, sich in die Abgründe unbewußten Schauens zu versen-
ken und die Nähe des göttlichen Wesens zu spüren, um so
größer die Werke, Mit dem Bewußtsein ist das Mysterium der
Schönheit nicht unmittelbar zu erfassen; nur mittelbar in den
durch das Kunstwerk hervorgerufenen Scheingefühlen geht uns
eine Ahnung von der Erhabenheit der dem Schönen zugrunde
liegenden Idee auf. Dann erst sind wir annähernd imstande, die
Stellung des Schönen im Weltganzen zu begreifen. Die alte
Möglichkeiten umspannende Totalidee ist der Wiedergabe im
ästhetischen Schein entrückt, weil sie als abstrakter Begriff
nicht versinnlicht werden kann. Aber die Immanenz dieser Idee
kann in ihren Spaltungen als Partialidee erfaßt werden und be-
währt ihre Kraft dadurch, daß sie um so höhere ästhetische
Wirkungen erzielt, je deutlicher sie „einerseits den Gliedbau
der Totalidee im kleinen in sich wiederholt, und je deutlicher
sie sich andrerseits auf die Totalidee bezieht", (Philosophie des
Schönen. )
Aber die absolute Idee ist noch nicht das letzte metaphysische
Prinzip, auf das das Schöne hinweist. Hinter ihr steht der abso-
lute Geist, der außer der Idee noch den Willen in sich befaßt.
Freilich hat dies zweite Attribut der absoluten Substanz im
Schönen direkt kein Betätigungsfeld, weil der ästhetische Schein
die Realität von sich ausschließt. Aber die Idee bietet doch im
Schönen ein Bild tatsächlicher Verhältnisse, die schließlich nicht
nurinlogischenBeziehungen, sondern auch in Willenskonflikten
bestehen; sie repräsentiert also nicht bloß sich in ihrer Logizi-
tät, sondern auch sich in ihrer Anwendung auf das Alogische
des Realisationsprinzips und vertritt also, wenn auch nur ideell,
den absoluten Geist auch im ästhetischen Schein. Dem Natur*
schönen ist der absolute Geist sowohl nach seinem Ideal- wie
nach seinem Realprinzip immanent; im freien Kunstschönen
ist er nur noch ideell vorhanden, wenn er auch vorher noch in
der Person des Künstlers als real wirkender aufgetreten war.
Es ist also lediglich die Idee, die im Schönen den absoluten Geist
vertritt und das Realprinzip, d. h. die dynamischen Veriaältnisse
aktueller Energien nur indirekt wiedergibt. , .Indern der ästhe-
tische Schein von der Realität, der er anhaftet, durch das ästhe-
tisch auffassende Subjekt abgelöst wird, wird zugleich auch die
Idee von dem Willen abgelöst, den sie übrigens fortfährt, durch
I
I
I
200 ALMA VON HARTMANN
die geiefamiBigen dynamischen Intensttätsrerhihniflse mit ab-
zoMpiegiin; beides ist aber keine reelle Ablösung, sondern eine
bloB sub jektsre Abstraktion, die das Ding an sidi und die ihm
immanente Einheit Ton Idee und Wille tatsächlich unberührt
läBt" (PhU. des Schönen S. 473)
Im individualistischen Pluralismus der BewuBtseinsphiloso-
phie wird die Wahrheit verschleiert^ daB es der absolute Geist
ist, der im Künstler die Konzeption hervorruft und die Schaf-
fenskraft anregt; im konkreten Monismus kommt diese Wahr-
heit zu leuchtender Klarheit. Der konkrete Monismus sieht „im
Wirken des Künstlers nur eine Fortsetzung des künstlerischen
Wirkens des unbewußten absoluten Geistes in der Sphäre der
bewufiten Geistij^t, eine gesteigerte Naturwirksamkeit auf
höherer Stufe". (PhiL des Schönen S. 474.) Nur im konkreten
Monismus wird die ästhetische Lust am Schönen vollkommen
erklärlich, weil man das Schöne als eine der Ofienbarungswei-
sen des absoluten imbewuSten Geistes erkennt und dabei eine
Konformität zwischen der Beschaffenheit des lustbringenden
Objekts und der Beschaffenheit des aufnehmenden Subjekts
konstatiert, die die monistische Wurzel des Vorgangs bloßlegt.
Die Tatsache der ästhetischen Illusion, in der das Subjekt sich
ganz verliert imd an das Objekt hingibt, findet nun erst die
richtige psychologische Würdigung. In der Hingabe an den rei-
nen Schein des Schönen, in der Loslösung der ästhetischen
Scheingefühle von jedem praktisch materiellen Hintergrunde
vollzieht sich, wenn auch nur momentan, jene Vereinigung mit
dem absoluten Geist, die als Sehnsucht den Einzelnen, der sich
der Trennungsschranken einmal schmerzlich bewußt geworden
ist, durch das ganze Leben begleitet. „Vor dem Anblick des
Schönen erstirbt wie in der Liebe ,das Ich, der finstere Despot^
um im Morgenrot der Schönheit als einsgeworden mit dem Ob-
jekt, d. h. hier mit der Selbstoffenbarung des absoluten Geistes,
wieder aufzuerstehen. Die Ichheit ist aber der Kerker, in den
das Subjekt gebannt ist, aus dem sich sein besseres Teil hinaus-
sehnt nach Erlösung; all sein heimlichstes und innerlichstes
Trachten und Sehnen geht nach Wiederaufhebung der objektiv-
realen Phänomenalitätsschranke, durch welche es von Gott ge-
schieden ist, nach Wiederherstellung der in der Individuation
aufgehobenen vollen Einheit mit Gott, die es in der Sphäre der
Realität vergeblich anstrebt.'' (Phil, des Schönen S. 488.)
Die Erkenntnislehre bietet die monistische Wahrheit dem
Verstände in abstrakt begrifflicher Form, die Religion eine Ah-
nung davon im mystisch religiösen Einheitsgefühl; auf dem Ge-
biete der Ethik bewährt sie sich in dem Prinzip der Wesens-
identität der Individuen untereinander und mit dem Absoluten;
die ästhetische Illusion verwirklicht sie auf dem Gebiete des
Schönen am unmittelbarsten und bringt sie auch denen zum
Bewußtsein, die sich der philosophischen Erkenntnis und den
religiösen Gefühlen sonst zu verschließen pflegen.
INHALT DES ZWEITEN BANDES
ARTHUR LIEBERT, Monismus und Renaissance . z
MARIE JOACHIMI-DEGE, Zur Geschichte des Mo-
nismus 33
OTTO WEISS, Schopenhauers Monismus .... 60
MAX WENTSCHER, Lotzes ,,Monismus'' .... 82
WILHELM VON SCHNEHEN, Haeckels ,,reiner'<
imd »»konsequenter^' Monismus Z03
OTTO BRAUN, Rudolf Euckens Monismus . . . 149
ALMA VON HARTMANN, Eduard von Hartmanns
konkreter Monismus 175
DER MONISMUS
DARGESTELLT IN BEITRÄGEN SEINER VER-
TRETER. HERAUSG. VON ARTHUR DREWS.
BAND I. SYSTEMATISCHES. Br. Mk. 6.—. geb. Mk. 7.50
Inhalt: Arthur Drews, Die verschiedenen Arten des Manis-
mus. Wilhelm von Schnehen, Monismus und Dualismus.
Leonhard Veeh, Monismus und Individualismus. Otto Braun,
Monismus und Ethik. Friedrich Steudel, Monismus und
Religion. Karl WoUf, Monismus und Kunst. Christoph
Schrempf, Monismus und Christentum. Max Dressler, Der
Monismus des Gesetzes und das Ideal der Freiheit. Bruno Wille,
Faustischer Monismus. Karl Paul Hasse, Parmenides. Hans
Thoma, Die 6 Schöpfungstage.
GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA, Ausgewählte Schriften.
Übersetzt und eingeleitet von ARTHUR LIEBERT. Mit Porträt.
Er. Mk. 8. — , in Halbpergament geb. Mk. 10.^
Inhalt: Picos Leben und Philosophie. Briefe von und an Pico. Heptaplus.
Ober das Sein und die Einheit. Ober die Würde des Menschen. Apologie.
Theologische Aphorismen. Gebet an Gott. Gegen die Astrologie.
Walter Pater: Er »uchte Erkenntnis und ging von System zu System
und wagte viel, aber neniger, weil er wirkliches Wissen wollte, als weil er
an eine Welt der Ordnung und Schönheit im Wissen glaubte. In dieser
Einheit der Gegensitze, im lebendigen Wesen des Menschen Pico liegt
seine geheime Anziehungskraft für uns. Er läBt uns nicht los, so daB wir
die vergessenen Seiten seiner Werke wieder und wieder nachschlagen
MARIE JOACHIMI, Die Weltanschauung der deutschen Romantik.
Br. Mk. 4.—, geb. Mk. 5.—
Inhalt: Die literaturgeschichtliche Stellung der Romantik. Die Stellung
der Romantik in der Philosophie. Die Gottheit. Das Universum. Die
Menschheit. Die romantische Poesie. Das Genie. Kunstwerk und Kunst-
„Während Haym die einzelnen Strömungen der Romantik nachweist, zeigt
ims Marie Joachim! den See, in den sie alle einmünden, die romantische
Weltanschauung. Aus allen Blüten der Romantik saugt sie den Honig, aus
allen Werken der Romantiker nimmt sie das Wertvolle und Charakteristische
und verarbeitet es zu einem einheitlichen Weltbilde, wie es in der Seele
der jungen Dichter und Denker sich abgespiegelt hat. Das scheinbar
Widerspruchsvolle lost sich bei ihr auf in Harmonie, und als organisches
Ganzes überblicken wir nun die vielumstrittene, vieldeutige Romantik.
Und die ganie schwierige Interpretation ist in eine schSne Form ge-
gossen. Nicht nur der richtigste, sondern auch der schönste Ausdruck
steht Marie Joachim! zu Gebote. In stilistischer Vollendung deutet sie
uns das tiefsinnige Weltgedicht, die Romantik." Der Bund (Bern)
GEDRUCKT BEI
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Stanford University Libraries
Stanford, California
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